Reiſe in die Aequinoktial-Gegenden
des neuen Kontinents.
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung
Nachfolger.
[]
Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.
Reiſe in die Aequinoktial-Gegenden.
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 1
[[2]][[3]]
Vierundzwanzigſtes Kapitel.
Der Caſſiquiare — Gabelteilung des Orinoko.
Am 10. Mai. In der Nacht war unſere Piroge ge-
laden worden, und wir ſchifften uns etwas vor Sonnenauf-
gang ein, um wieder den Rio Negro bis zur Mündung des
Caſſiquiare hinaufzufahren und den wahren Lauf dieſes Fluſſes,
der Orinoko und Amazonenſtrom verbindet, zu unterſuchen. Der
Morgen war ſchön; aber mit der ſteigenden Wärme fing auch der
Himmel an ſich zu bewölken. Die Luft iſt in dieſen Wäldern
ſo mit Waſſer geſättigt, daß, ſobald die Verdunſtung an der
Oberfläche des Bodens auch noch ſo wenig zunimmt, die
Dunſtbläschen ſichtbar werden. Da der Oſtwind faſt niemals
zu ſpüren iſt, ſo werden die feuchten Schichten nicht durch
trockenere Luft erſetzt. Dieſer bedeckte Himmel machte uns
mit jedem Tage verdrießlicher. Bonpland verdarben bei der
übermäßigen Feuchtigkeit ſeine geſammelten Pflanzen und ich
beſorgte auch im Thal des Caſſiquiare das trübe Wetter des
Rio Negro anzutreffen. Seit einem halben Jahrhundert zwei-
felte kein Menſch in dieſen Miſſionen mehr daran, daß hier
wirklich zwei große Stromſyſteme miteinander in Verbindung
ſtehen; der Hauptzweck unſerer Flußfahrt beſchränkte ſich alſo
darauf, mittels aſtronomiſcher Beobachtungen den Lauf des
Caſſiquiare aufzunehmen, beſonders den Punkt, wo er in den
Rio Negro tritt, und den anderen, wo der Orinoko ſich gabelt.
Waren weder Sonne noch Sterne ſichtbar, ſo war dieſer Zweck
nicht zu erreichen und wir hatten uns vergeblich langen,
ſchweren Mühſeligkeiten unterzogen. Unſere Reiſegefährten
wären gern auf dem kürzeſten Wege über den Pimichin und
die kleinen Flüſſe heimgekehrt; aber Bonpland beharrte mit
mir auf dem Reiſeplane, den wir auf der Fahrt durch die
großen Katarakte entworfen. Bereits hatten wir von San
Fernando de Apure nach San Carlos (über den Apure,
[4] Orinoko, Atabapo, Temi, Tuamini und Rio Negro) 810 km
zurückgelegt. Gingen wir auf dem Caſſiquiare in den Orinoko
zurück, ſo hatten wir von San Carlos bis Angoſtura wieder
1440 km zu machen. Auf dieſem Wege hatten wir zehn
Tage lang mit der Strömung zu kämpfen, im übrigen ging
es immer den Orinoko hinab. Es wäre eine Schande für
uns geweſen, hätte uns der Aerger wegen des trüben Himmels
oder die Furcht vor den Moskiten auf dem Caſſiquiare den
Mut benommen. Unſer indianiſcher Steuermann, der erſt
kürzlich in Mandavaca geweſen war, ſtellte uns die Sonne
und „die großen Sterne, welche die Wolken eſſen“, in
Ausſicht, ſobald wir die ſchwarzen Waſſer des Rio
Negro hinter uns haben würden. So brachten wir denn
unſer erſtes Vorhaben, über den Caſſiquiare nach San Fer-
nando am Atabapo zurückzugehen, in Ausführung, und zum
Glück für unſere Arbeiten ging die Prophezeiung des In-
dianers in Erfüllung. Die weißen Waſſer brachten uns
nach und nach wieder heiteren Himmel, Sterne, Moskiten
und Krokodile.
Wir fuhren zwiſchen den dichtbewachſenen Inſeln Zaruma
und Mini oder Mibita durch, und liefen, nachdem wir die
Stromſchnellen an der Piedra de Uinumane hinaufgegangen,
15 km weit von der Schanze San Carlos in den Rio
Caſſiquiare ein. Jene Piedra, das Granitgeſtein, das den
kleinen Katarakt bildet, zog durch die vielen Quarzgänge darin
unſere Aufmerkſamkeit auf ſich. Die Gänge waren mehrere
Zoll breit, und ihren Maſſen nach waren ſie augenſcheinlich
nach Alter und Formation untereinander ſehr verſchieden. Ich
ſah deutlich, daß überall an den Kreuzungsſtellen die Gänge,
welche Glimmer und ſchwarzen Schörl führten, die anderen,
welche nur weißen Quarz und Feldſpat enthielten, durchſetzten
und verwarfen. Nach Werners Theorie waren alſo die
ſchwarzen Gänge von neuerer Formation als die weißen. Als
Zögling der Freiberger Bergſchule mußte ich mit einer ge-
wiſſen Befriedigung beim Fels Uinumane verweilen und in
der Nähe des Aequators Erſcheinungen beobachten, die ich in
den heimiſchen Bergen ſo oft vor Augen gehabt. Ich geſtehe,
die Theorie, nach welcher die Gänge Spalten ſind, die mit
verſchiedenen Subſtanzen von oben her ausgefüllt worden,
behagt mir jetzt nicht mehr ſo ganz wie damals; aber dieſes
ſich Durchkreuzen und Verwerfen von Geſtein- und Metall-
adern verdient darum doch, als eines der allgemeinſten und
[5] gleichförmigſten geologiſchen Phänomene, die volle Aufmerkſam-
keit des Reiſenden. Oſtwärts von Javita, längs des ganzen
Caſſiquiare, beſonders aber in den Bergen von Duida ver-
mehren ſich die Gänge im Granit. Dieſelben ſind voll von
Druſen, und ihr häufiges Vorkommen ſcheint auf ein nicht
ſehr hohes Alter des Granites in dieſem Landſtriche hinzu-
deuten.
Wir fanden einige Flechten auf dem Felſen Uinumane,
der Inſel Chamanare gegenüber, am Rande der Stromſchnellen;
und da der Caſſiquiare bei ſeiner Mündung eine raſche Wen-
dung von Oſt nach Südweſt macht, ſo lag jetzt zum erſtenmal
dieſer majeſtätiſche Arm des Orinoko in ſeiner ganzen Breite
vor uns da. Er gleicht, was den allgemeinen Charakter der
Landſchaft betrifft, ſo ziemlich dem Rio Negro. Wie im
Becken dieſes Fluſſes laufen die Waldbäume bis ans Ufer
vor und bilden ein Dickicht: aber der Caſſiquiare hat weißes
Waſſer und ändert ſeine Richtung öfter. Bei den Strom-
ſchnellen am Uinamare iſt er faſt breiter als der Rio Negro
und bis über Vaſiva hinauf fand ich ihn überall 490 bis
545 m breit. Ehe wir an der Inſel Garigave vorbei kamen,
ſahen wir gegen Nordoſten beinahe am Horizont einen Hügel
mit halbkugeligem Gipfel. Dieſe Form iſt in allen Himmels-
ſtrichen den Granitbergen eigentümlich. Da man fortwährend
von weiten Ebenen umgeben iſt, ſo hängt ſich die Aufmerk-
ſamkeit des Reiſenden an jeden freiſtehenden Fels und Hügel.
Zuſammenhängende Berge kommen erſt weiter nach Oſt, den
Quellen des Pacimoni, Siapa und Mavaca zu. Südlich vom
Raudal von Caravine bemerkten wir, daß der Caſſiquiare auf.
ſeinem gekrümmten Laufe San Carlos wieder nahe kommt.
Von der Schanze in die Miſſion San Francisco, wo wir
übernachteten, ſind es zu Lande nur 11 bis 12 km, während
man auf dem Fluſſe 30 bis 36 km rechnet. Ich verweilte
einen Teil der Nacht im Freien in der vergeblichen Hoffnung,
die Sterne zum Vorſchein kommen zu ſehen. Die Luft war
nebelig trotz der weißen Waſſer, die uns einem allezeit
ſternenhellen Himmel entgegenführen ſollten.
Die Miſſion San Francisco Solano auf dem linken Ufer
des Caſſiquiare heißt ſo zu Ehren eines der Befehlshaber bei
der „Grenzexpedition“, Don Joſeph Solano, von dem wir in
dieſem Werke ſchon öfter zu ſprechen Gelegenheit gehabt.
Dieſer gebildete Offizier iſt nie über das Dorf San Fernando
am Atabapo hinausgekommen; er hat weder die Gewäſſer
[6] des Rio Negro und des Caſſiquiare, noch den Orinoko oſt-
wärts vom Einfluſſe des Guaviare geſehen. Infolge eines
Mißverſtändniſſes, das aus der Unkenntnis der ſpaniſchen
Sprache entſprang, meinten manche Geographen auf La Cruz
Olmedillas berühmter Karte einen 1800 km langen Weg an-
gegeben zu finden, auf dem Don Joſeph Solano zu den
Quellen des Orinoko, an den See Parime oder das Weiße
Meer, an die Ufer des Cababury und Uteta gekommen ſein
ſollte. Die Miſſion San Francisco wurde, wie die meiſten
chriſtlichen Niederlaſſungen ſüdlich von den großen Katarakten
des Orinoko, nicht von Mönchen, ſondern von Militärbehör-
den gegründet. Bei der Grenzexpedition legte man Dörfer
an, wo ein Subteniente oder Korporal mit ſeiner Mann-
ſchaft Poſto gefaßt hatte. Die Eingeborenen, die ihre Un-
abhängigkeit behaupten wollten, zogen ſich ohne Gefecht zurück,
andere, deren einflußreichſte Häuptlinge man gewonnen, ſchloſſen
ſich den Miſſionen an. Wo man keine Kirche hatte, richtete
man nur ein großes Kreuz aus rotem Holze auf und baute
daneben eine Casa fuerte, das heißt ein Haus, deſſen Wände
aus ſtarken, wagerecht übereinander gelegten Balken beſtanden.
Dasſelbe hatte zwei Stockwerke; im oberen ſtanden zwei Stein-
böller oder Kanonen von kleinem Kaliber; zu ebener Erde
hauſten zwei Soldaten, die von einer indianiſchen Familie
bedient wurden. Die Eingeborenen, mit denen man im Frieden
lebte, legten ihre Pflanzungen um die Casa fuerte an. Hatte
man einen feindlichen Angriff zu fürchten, ſo wurden ſie von
den Soldaten mit dem Horn oder einem Botuto aus ge-
brannter Erde zuſammengerufen. So waren die neunzehn
angeblichen chriſtlichen Niederlaſſungen beſchaffen, die Don
Antonio Santos auf dem Wege von Esmeralda bis zum
Everato gegründet. Militärpoſten, die mit der Civiliſation
der Eingeborenen gar nichts zu thun hatten, waren auf den
Karten und in den Schriften der Miſſionäre als Dörfer
(pueblos) und redicciones apostolicas angegeben. Die Mili-
tärbehörde behielt am Orinoko die Oberhand bis zum Jahre
1785, mit dem das Regiment der Franziskaner ſeinen Anfang
nimmt. Die wenigen Miſſionen, die ſeitdem gegründet oder
vielmehr wiederhergeſtellt worden, ſind das Werk der Obſer-
vanten, und die Soldaten, die in den Miſſionen liegen, ſtehen
jetzt unter den Miſſionären, oder die geiſtliche Hierarchie maßt
ſich doch dieſes Verhältnis an.
Die Indianer, die wir in San Francisco Solano trafen,
[7] gehörten zwei Nationen an, den Pacimonales und den Cheru-
vichahenas. Da letztere Glieder eines anſehnlichen Stammes
ſind, der am Rio Tomo in der Nachbarſchaft der Manivas
am oberen Rio Negro hauſt, ſo ſuchte ich von ihnen über den
oberen Lauf und die Quellen dieſes Fluſſes Erkundigung
einzuziehen; aber mein Dolmetſcher konnte ihnen den Sinn
meiner Fragen nicht deutlich machen. Sie wiederholten nur
zum Ueberdruß, die Quellen des Rio Negro und des Inirida
ſeien ſo nahe beiſammen, „wie die Finger der Hand“. In
einer Hütte der Pacimonales kauften wir zwei ſchöne, große
Vögel, einen Tukan (Piapoco), der dem Ramphastos erythro-
rynchos nahe ſteht, und den Ana, eine Art Ara, 45 cm
lang, mit durchaus purpurrotem Gefieder, gleich dem Psittacus
Macao. Wir hatten in unſerer Piroge bereits ſieben Papa-
geien, zwei Felshühner, einen Motmot, zwei Guane oder
Pavas de Monte, zwei Manaviri (Cercoleptes oder Viverra
caudivolvula) und acht Affen, nämlich zwei Atelen (die
Marimonda von den großen Katarakten, Briſſots Simia
Belzebuth), zwei Titi (Simia sciurea, Buffons Saïmiri),
eine Viudita (Simia lugens), zwei Douroucouli oder Nacht-
affen (Cuſicuſi oder Simia trivirgata), und den Cacajao mit
kurzem Schwanz (Simia melanocephala). 1 Pater Zea war
auch im ſtillen ſehr ſchlecht damit zufrieden, daß ſich unſere
wandernde Menagerie mit jedem Tage vermehrte. Der Tukan
gleicht nach Lebensweiſe und geiſtiger Anlage dem Raben;
es iſt ein mutiges, leicht zu zähmendes Tier. Sein langer
Schnabel dient ihm als Verteidigungswaffe. Er macht ſich
zum Herrn im Hauſe, ſtiehlt, was er erreichen kann, badet
ſich oft und fiſcht gern am Ufer des Stromes. Der Tukan,
den wir gekauft, war ſehr jung, dennoch neckte er auf der
ganzen Fahrt mit ſichtbarer Luſt die Cuſicuſi, die trübſeligen,
zornmütigen Nachtaffen. Ich habe nicht bemerkt, daß, wie
in manchen naturgeſchichtlichen Werken ſteht, der Tukan in-
folge des Baues ſeines Schnabels ſein Futter in die Luft
werfen und ſo verſchlingen müßte. Allerdings nimmt er das-
ſelbe etwas ſchwer vom Boden auf; hat er es aber einmal
mit der Spitze ſeines ungeheuren Schnabels gefaßt, ſo darf
er nur den Kopf zurückwerfen und den Schnabel, ſolange er
ſchlingt, aufrecht halten. Wenn er trinken will, macht der
[8] Vogel ganz ſeltſame Gebärden. Die Mönche ſagen, er mache
das Zeichen des Kreuzes über dem Waſſer, und wegen dieſes
Volksglaubens haben die Kreolen dem Tukan den ſonderbaren
Namen Diostedè (Gott vergelt’s dir) geſchöpft.
Unſere Tiere waren meiſt in kleinen Holzkäfigen, manche
liefen aber frei überall auf der Piroge herum. Wenn Regen
drohte, erhoben die Ara ein furchtbares Geſchrei, und der
Tukan wollte ans Ufer, um Fiſche zu fangen, die kleinen
Titiaffen liefen Pater Zea zu und krochen in die ziemlich
weiten Aermel ſeiner Franziskanerkutte. Dergleichen Auftritte
kamen oft vor und wir vergaßen darüber der Plage der Mos-
kiten. Nachts im Biwak ſtellte man in die Mitte einen
ledernen Kaſten (petaca) mit dem Mundvorrat, daneben unſere
Inſtrumente und die Käfige mit den Tieren, ringsum wurden
unſere Hängematten befeſtigt und weiterhin die der Indianer.
Die äußerſte Grenze bildeten die Feuer, die man anzündet,
um die Jaguare im Walde ferne zu halten. So war unſer
Nachtlager am Ufer des Caſſiquiare angeordnet. Die Indianer
ſprachen oft von einem kleinen Nachttier mit langer Naſe,
das die jungen Papageien im Neſte überfalle und mit den
Händen freſſe wie die Affen und die Manaviri oder Kin-
kaju. Sie nannten es Guachi; es iſt wahrſcheinlich ein
Coati, vielleicht Viverra nasua, die ich in Mexiko im freien
Zuſtande geſehen, nicht aber in den Strichen von Südamerika,
die ich bereiſt. Die Miſſionäre verbieten den Eingeborenen
alles Ernſtes, das Fleiſch des Guachi zu eſſen, da ſie einen
weit verbreiteten Glauben teilen und dieſem Fleiſche ſtimulie-
rende Eigenſchaften zuſchreiben, wie die Orientalen dem Fleiſche
der Skinko (Lacerta scincus) und die Amerikaner dem der
Kaimane.
Am 11. Mai. Wir brachen ziemlich ſpät von der Miſſion
San Francisco Solano auf, da wir nur eine kleine Tagereiſe
machen wollten. Die untere Dunſtſchicht fing an, ſich in
Wolken mit feſten Umriſſen zu teilen, und in den oberen
Luftregionen ging etwas Oſtwind. Dieſe Zeichen deuteten
auf einen bevorſtehenden Witterungswechſel, und wir wollten
uns nicht weit von der Mündung des Caſſiquiare entfernen,
da wir hoffen durften, in der folgenden Nacht den Durchgang
eines Sternes durch den Meridian beobachten zu können. Wir
ſahen ſüdwärts den Caño Daquiapo, nordwärts den Guacha-
paru und einige Seemeilen weiterhin die Stromſchnellen von
Cananivacari. Die Strömung betrug 2,05 m in der Sekunde,
[9] und ſo hatten wir im Raudal mit Wellen zu kämpfen, die
ein ziemlich ſtarkes Scholken verurſachten. Wir ſtiegen aus
und Bonpland entdeckte wenige Schritte vom Ufer einen Al-
mandron (Juvia), einen prachtvollen Stamm der Berthol-
letia excelsa. Die Indianer verſicherten uns, in San Fran-
cisco Solano, Vaſiva und Esmeralda wiſſe man nichts davon,
daß dieſer koſtbare Baum am Caſſiquiare wachſe. Sie glaub-
ten übrigens nicht, daß der Baum, der über 20 m hoch war,
aus Samen aufgewachſen, die zufällig ein Reiſender verſtreut.
Nach Verſuchen, die man in San Carlos gemacht, weiß man,
daß die Bertholletia wegen der holzigen Fruchthülle und des
leicht ranzig werdenden Oeles der Mandel ſehr ſelten zum
Keimen zu bringen iſt. Vielleicht war dieſer Stamm ein An-
zeichen, daß tiefer im Lande gegen Oſt und Nordoſt eine
Waldung von Bertholletia beſteht. Wir wiſſen wenigſtens
beſtimmt, daß dieſer ſchöne Baum unter dem 3. Grade der
Breite in den Cerros von Guyana wild vorkommt. Die
geſellig lebenden Gewächſe haben ſelten ſcharf abgeſchnittene
Grenzen, und häufig ſtößt man, bevor man zu einem Palmar
oder einem Pinal1 gelangt, auf einzelne Palmen oder Fichten.
Dieſelben gleichen Koloniſten, die in ein mit anderen Gewächſen
bevölkertes Land ſich hinausgewagt haben.
Sieben bis acht Kilometer von den Stromſchnellen von
Cananivacari ſtehen mitten in der Ebene ſeltſam geſtaltete Felſen.
Zuerſt kommt eine ſchmale, 26 m hohe ſenkrechte Mauer, und
dann, am ſüdlichen Ende derſelben, erſcheinen zwei Türmchen
mit faſt horizontalen Granitſchichten. Dieſe Felſen von Gua-
nari ſind ſo ſymmetriſch gruppiert, daß ſie wie die Trümmer
eines alten Gebäudes erſcheinen. Sind es Ueberbleibſel von
Eilanden in einem Binnenmeere, das einſt das völlig ebene
Land zwiſchen der Sierra Parime und der Sierra dos Parecis
bedeckte, 2 oder wurden dieſe Felswände, dieſe Granittürme
von den elaſtiſchen Kräften, die noch immer im Inneren
unſeres Planeten thätig ſind, emporgehoben? Von ſelbſt
[10] grübelt der Gedanke über die Entſtehung der Berge, wenn
man in Mexiko Vulkane und Trachytgipfel auf einer langen
Spalte ſtehen, in den Anden von Südamerika Urgebirgs- und
vulkaniſche Bildungen in einer Bergkette lang hingeſtreckt ſah,
wenn man der ungemein hohen Inſel von 5,6 km Umfang
gedenkt, die in jüngſter Zeit bei Unalaſchka vom Boden des
Weltmeeres aufgeſtiegen.
Eine Zierde der Ufer des Caſſiquiare iſt die Chiriva-
palme mit gefiederten, an der unteren Fläche ſilberweißen
Blättern. Sonſt beſteht der Wald nur aus Bäumen mit
großen, lederartigen, glänzenden, nicht gezahnten Blättern.
Dieſen eigentümlichen Charakter erhält die Vegetation am Rio
Negro, Tuamini und Caſſiquiare dadurch, daß in der Nähe
des Aequators die Familien der Guttiferen, der Sapotillen
und der Lorbeeren vorherrſchen. Da der heitere Himmel uns
eine ſchöne Nacht verhieß, ſchlugen wir ſchon um fünf Uhr
abends unſer Nachtlager bei der Piedra de Culimacari
auf, einem freiſtehenden Granitfelſen, gleich allen zwiſchen
Atabapo und Caſſiquiare, deren ich Erwähnung gethan. Da
wir die Flußkrümmungen aufnahmen, zeigte es ſich, daß dieſer
Fels ungefähr unter dem Parallel der Miſſion San Francisco
Solano liegt. In dieſen wüſten Ländern, wo der Menſch
bis jetzt nur flüchtige Spuren ſeines Daſeins hinterlaſſen hat,
ſuchte ich meine Beobachtungen immer an einer Flußmündung
oder am Fuße eines an ſeiner Geſtalt leicht kenntlichen Felſens
anzuſtellen. Nur ſolche von Natur unverrückbare Punkte
können bei Entwerfung geographiſcher Karten als Grundlagen
dienen. In der Nacht vom 10. zum 11. Mai konnte ich an
α des ſüdlichen Kreuzes die Breite gut beobachten; die Länge
wurde, indeſſen nicht ſo genau, nach den zwei ſchönen Sternen
an den Füßen des Kentauren chronometriſch beſtimmt. Durch
dieſe Beobachtung wurde, und zwar für geographiſche Zwecke
hinlänglich genau, die Lage der Mündung des Rio Pacimoni,
der Schanze San Carlos und des Einfluſſes des Caſſiquiare
in den Rio Negro zumal ermittelt. Der Fels Culimacari
liegt ganz genau, unter 2° 0′ 42″ der Breite und wahrſchein-
lich unter 69° 33′ 50″ der Länge. In zwei ſpaniſch ge-
ſchriebenen Abhandlungen, die ich dem Generalkapitän von
Caracas und dem Miniſter Staatsſekretär d’Urquijo überreicht,
habe ich den Wert dieſer aſtronomiſchen Beſtimmungen für
die Berichtigung der Grenzen der portugieſiſchen Kolonieen
auseinandergeſetzt. Zur Zeit von Solanos Expedition ſetzte
[11] man den Einfluß des Caſſiquiare in den Rio Negro einen
halben Grad nördlich vom Aequator, und obgleich die Grenz-
kommiſſion niemals zu einem Endreſultate gelangte, galt in
den Kommiſſionen immer der Aequator als vorläufig anerkannte
Grenze. Aus meinen Beobachtungen ergibt ſich nun aber,
daß San Carlos am Rio Negro, oder, wie man ſich hier
vornehm ausdrückt, die Grenzfeſtung keineswegs unter 0° 20′,
wie Pater Caulin behauptet, noch unter 0° 53′, wie La Cruz
und Surville (die offiziellen Geographen der Real Expedicion
de limites) annehmen, ſondern unter 1° 53′ 42″ der Breite
liegt. Der Aequator läuft alſo nicht nördlich vom portugie-
ſiſchen Fort San Joſe de Marabitanos, wie bis jetzt alle
Karten mit Ausnahme der neuen Ausgabe der Arrowſmitſchen
Karte angeben, ſondern 112 km weiter gegen Süd zwiſchen
San Felipe und der Mündung des Rio Guape. Aus der
handſchriftlichen Karte Requenas, die ich beſitze, geht hervor,
daß dieſe Thatſache den portugieſiſchen Aſtronomen ſchon im
Jahre 1783 bekannt war, alſo 35 Jahre bevor man in Europa
anfing, dieſelbe in die Karten aufzunehmen.
Da man in der Capitania general von Caracas von
jeher der Meinung war, der geſchickte Ingenieur Don Gabriel
Clavero habe die Schanze San Carlos del Rio Negro gerade
auf die Aequinoktiallinie gebaut, und da in der Nähe der-
ſelben die beobachteten Breiten, nach La Condamine, gegen
Süd zu groß angenommen waren, ſo war ich darauf gefaßt,
den Aequator 1° nördlich von San Carlos, demnach an den
Ufern des Temi und Tuamini zu finden. Schon die Beobach-
tungen in der Miſſion San Baltaſar (Durchgang dreier
Sterne durch den Meridian) ließen mich vermuten, daß dieſe
Annahme unrichtig ſei; aber erſt durch die Breite der Piedra
Culimacari lernte ich die wirkliche Lage der Grenze kennen.
Die Inſel San Joſe im Rio Negro, die bisher als Grenze
zwiſchen den ſpaniſchen und portugieſiſchen Beſitzungen galt,
liegt wenigſtens unter 1° 38′ nördlicher Breite, und hätte
Ituriagas und Solanos Kommiſſion ihre langen Verhand-
lungen zum Abſchluß gebracht, wäre der Aequator vom Hofe
zu Liſſabon definitiv als Grenze beider Staaten anerkannt
worden, ſo gehörten jetzt ſechs portugieſiſche Dörfer und das
Fort San Joſe ſelbſt, die nördlich vom Rio Guape liegen,
der ſpaniſchen Krone. Was man damals mit ein paar ge-
nauen aſtronomiſchen Beobachtungen erworben hätte, iſt von
größerem Belang, als was man jetzt beſitzt; es iſt aber zu
[12] hoffen, daß zwei Völker, welche auf einer ungeheuren Land-
ſtrecke Südamerikas oſtwärts von den Anden die erſten Keime
der Kultur gelegt haben, den Grenzſtreit um einen 148 km
breiten Landſtrich und um den Beſitz eines Fluſſes, auf dem
die Schiffahrt frei ſein muß, wie auf dem Orinoko und dem
Amazonenſtrom, nicht wieder aufnehmen werden.
Am 12. Mai. Befriedigt vom Erfolge unſerer Beobach-
tungen, brachen wir um halb zwei Uhr in der Nacht von der
Piedra Culimacari auf. Die Plage der Moskiten, der wir
jetzt wieder unterlagen, wurde ärger, je weiter wir vom Rio
Negro wegkamen. Im Thale des Caſſiquiare gibt es keine
Zancudos (Culex), aber die Inſekten aus der Gattung Si-
mulium und alle anderen aus der Familie der Tibulä ſind
um ſo häufiger und giftiger. Da wir, ehe wir in die Miſſion
Esmeralda kamen, in dieſem naſſen, ungeſunden Klima noch
acht Nächte unter freiem Himmel zuzubringen hatten, ſo war
es der Steuermann wohl zufrieden, die Fahrt ſo einzurichten,
daß wir die Gaſtfreundſchaft des Miſſionärs von Mandavaca
in Anſpruch nehmen und im Dorfe Vaſiva Obdach finden
konnten. Nur mit Anſtrengung kamen wir gegen die Strö-
mung vorwärts, die 2,9 m, an manchen Stellen, wo ich ſie
genau gemeſſen, 3,78 m in der Sekunde, alſo gegen 15 km
in der Stunde betrug. Unſer Nachtlager war in gerader
Linie ſchwerlich 3 qkm von der Miſſion Mandavaca ent-
fernt, unſere Ruderer waren nichts weniger als unfleißig, und
doch brauchten wir 14 Stunden zu der kurzen Strecke.
Gegen Sonnenuntergang kamen wir an der Mündung
des Rio Pacimoni vorüber. Es iſt dies der Fluß, von dem
oben bei Gelegenheit des Handels mit Sarſaparille die Rede
war und der in ſo auffallender Weiſe (durch den Baria) mit
dem Cababuri verzweigt iſt. Der Pacimoni entſpringt in
einem bergigen Landſtriche und aus der Vereinigung dreier
kleiner Gewäſſer, die auf den Karten der Miſſionäre nicht
verzeichnet ſind. Sein Waſſer iſt ſchwarz, doch nicht ſo ſtark
als das des Sees bei Vaſiva, der auch in den Caſſiquiare
mündet. Zwiſchen dieſen beiden Zuflüſſen von Oſt her liegt
die Mündung des Rio Idapa, der weißes Waſſer hat. Ich
komme nicht darauf zurück, wie ſchwer es zu erklären iſt, daß
dicht nebeneinander verſchieden gefärbte Flüſſe vorkommen; ich
erwähne nur, daß uns an der Mündung des Pacimoni und
am Ufer des Sees Vaſiva die Reinheit und ungemeine Durch-
ſichtigkeit dieſer braunen Waſſer von neuem auffiel. Bereits
[13] alte arabiſche Reiſende haben die Bemerkung gemacht, daß
der aus dem Hochgebirge kommende Nilarm, der ſich bei Halfaja
mit dem Bahr el Abiad vereinigt, grünes Waſſer hat, das
ſo durchſichtig iſt, daß man die Fiſche auf dem Grunde des
Fluſſes ſieht. 1
Ehe wir in die Miſſion Mandavaca kamen, liefen wir
durch ziemlich ungeſtüme Stromſchnellen. Das Dorf, das
auch Quirabuena heißt, zählt nur 60 Eingeborene. Dieſe
chriſtlichen Niederlaſſungen befinden ſich meiſt in ſo kläglichem
Zuſtande, daß längs des ganzen Caſſiquiare auf einer Strecke
von 225 km keine 200 Menſchen leben. Ja die Ufer des
Fluſſes waren bevölkerter, ehe die Miſſionäre ins Land kamen.
Die Indianer zogen ſich in die Wälder gegen Oſt, denn die
Ebenen gegen Weſt ſind faſt menſchenleer. Die Eingeborenen
leben einen Teil des Jahres von den großen Ameiſen, von
denen oben die Rede war. Dieſe Inſekten ſind hierzulande
ſo ſtark geſucht wie in der ſüdlichen Halbkugel die Spinnen
der Sippe Epeira, die für die Wilden auf Neuholland ein
Leckerbiſſen ſind. In Mandavaca fanden wir den guten alten
Miſſionär, der bereits „ſeine zwanzig Moskitojahre in den
Bosques del Caſſiquiare“ zugebracht hatte und deſſen Beine
von den Stichen der Inſekten ſo gefleckt waren, daß man
kaum ſah, daß er eine weiße Haut hatte. Er ſprach uns
von ſeiner Verlaſſenheit, und wie er ſich in der traurigen
Notwendigkeit ſehe, in den beiden Miſſionen Mandavaca und
Vaſiva häufig die abſcheulichſten Verbrechen ſtraflos zu laſſen.
[14] Vor wenigen Jahren hatte im letzteren Ort ein indianiſcher
Alkade eines ſeiner Weiber verzehrt, die er in ſeinen Conuco1
hinausgenommen und gut genährt hatte, um ſie fett zu
machen. Wenn die Völker in Guyana Menſchenfleiſch eſſen,
ſo werden ſie nie durch Mangel oder durch gottesdienſtlichen
Aberglauben dazu getrieben, wie die Menſchen auf den Süd-
ſeeinſeln; es beruht meiſt auf Rachſucht des Siegers und —
wie die Miſſionäre ſagen — auf „Verirrung des Appetites“.
Der Sieg über eine feindliche Horde wird durch ein Mahl
gefeiert, wobei der Leichnam eines Gefangenen zum Teil ver-
zehrt wird. Ein andermal überfällt man bei Nacht eine
wehrloſe Familie oder tötet einen Feind, auf den man zufällig
im Walde ſtößt, mit einem vergifteten Pfeil. Der Leichnam
wird zerſtückt und als Trophäe nach Hauſe getragen. Erſt
die Kultur hat dem Menſchen die Einheit des Menſchen-
geſchlechtes zum Bewußtſein gebracht und ihm offenbart, daß
ihn auch mit Weſen, deren Sprache und Sitten ihm fremd
ſind, ein Band der Blutsverwandtſchaft verbindet. Die Wil-
den kennen nur ihre Familie, und ein Stamm erſcheint
ihnen nur als ein größerer Verwandtſchaftskreis. Kommen
Indianer, die ſie nicht kennen, aus dem Walde in die Miſſion,
ſo brauchen ſie einen Ausdruck, deſſen naive Einfalt mir oft
aufgefallen iſt: „Gewiß ſind dies Verwandte von mir, denn
ich verſtehe ſie, wenn ſie mit mir ſprechen.“ Die Wilden
verabſcheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder ihrem
Stamme gehört, und Indianer einer benachbarten Völkerſchaft,
mit der ſie im Kriege leben, jagen ſie, wie wir das Wild.
Die Pflichten gegen Familie und Verwandtſchaft ſind ihnen
wohl bekannt, keineswegs aber die Pflichten der Menſchlichkeit,
die auf dem Bewußtſein beruhen, daß alle Weſen, die ge-
ſchaffen ſind wie wir, ein Band umſchlingt. Keine Regung
von Mitleid hält ſie ab, Weiber oder Kinder eines feindlichen
Stammes ums Leben zu bringen. Letztere werden bei den
Mahlzeiten nach einem Gefecht oder einem Ueberfall vorzugs-
weiſe verzehrt.
Der Haß der Wilden faſt gegen alle Menſchen, die eine
andere Sprache reden und ihnen als Barbaren von nied-
rigerer Raſſe als ſie ſelbſt erſcheinen, bricht in den Miſſionen
[15] nicht ſelten wieder zu Tage, nachdem er lange geſchlummert.
Wenige Monate vor unſerer Ankunft in Esmeralda war ein
im Walde 1 hinter dem Duida geborener Indianer allein unter-
wegs mit einem anderen, der von den Spaniern am Ventuario
gefangen worden war und ruhig im Dorfe, oder, wie man
hier ſagt, „unter der Glocke“, „debaxo de la campaña“,
lebte. Letzterer konnte nur langſam gehen, weil er an einem
Fieber litt, wie ſie die Eingeborenen häufig befallen, wenn
ſie in die Miſſionen kommen und raſch die Lebensweiſe ändern.
Sein Reiſegefährte ärgerlich über den Aufenthalt, ſchlug ihn
tot und verſteckte den Leichnam in dichtem Gebüſch in der
Nähe von Esmeralda. Dieſes Verbrechen, wie ſo manches
dergleichen, was unter den Indianern vorfällt, wäre unent-
deckt geblieben, hätte nicht der Mörder Anſtalt gemacht, tags
darauf eine Mahlzeit zu halten. Er wollte ſeine Kinder, die
in der Miſſion geboren und Chriſten geworden waren, be-
reden, mit ihm einige Stücke des Leichnams zu holen. Mit
Mühe brachten ihn die Kinder davon ab, und durch den Zank,
zu dem die Sache in der Familie führte, erfuhr der Sol-
dat, der in Esmeralda lag, was die Indianer ihm ſo gerne
verborgen hätten.
Anthropophagie und Menſchenopfer, die ſo oft damit
verknüpft ſind, kommen bekanntlich überall auf dem Erdballe
und bei Völkern der verſchiedenſten Raſſen vor; 2 aber beſon-
ders auffallend erſcheint in der Geſchichte der Zug, daß die
Menſchenopfer ſich auch bei bedeutendem Kulturfortſchritt er-
[16] halten, und daß die Völker, die eine Ehre darin ſuchen, ihre
Gefangenen zu verzehren, keineswegs immer die verſunkenſten
und wildeſten ſind. Dieſe Bemerkung hat etwas peinlich Er-
greifendes, Niederſchlagendes; ſie entging auch nicht den Miſ-
ſionären, die gebildet genug ſind, um über die Sitten der
Völkerſchaften, unter denen ſie leben, nachzudenken. Die
Cabres, die Guipunavis und die Kariben waren von jeher
mächtiger und civiliſierter als die anderen Horden am Orinoko,
und doch ſind die beiden erſteren Menſchenfreſſer, während
es die letzteren niemals waren. Man muß zwiſchen den ver-
ſchiedenen Zweigen, in welche die große Familie der karibiſchen
Völker zerfällt, genau unterſcheiden. Dieſe Zweige ſind ſo
zahlreich, wie die Stämme der Mongolen und weſtlichen Ta-
taren oder Turkomannen. Die Kariben auf dem Feſtlande,
auf den Ebenen zwiſchen dem unteren Orinoko, dem Rio
Branco, dem Eſſequibo und den Quellen des Oyapoc verab-
ſcheuen die Sitte, die Gefangenen zu verzehren. Dieſe bar-
bariſche Sitte 1 beſtand bei der Entdeckung von Amerika nur
bei den Kariben auf den antilliſchen Inſeln. Durch ſie ſind
die Worte Kannibalen, Kariben und Menſchenfreſſer gleich-
bedeutend geworden, und die von ihnen verübten Grauſam-
keiten veranlaßten das im Jahre 1504 erlaſſene Geſetz, das
den Spaniern geſtattet, jeden Amerikaner, der erweislich kari-
biſchen Stammes iſt, zum Sklaven zu machen. Ich glaube
übrigens, daß die Menſchenfreſſerei der Bewohner der An-
tillen in den Berichten der erſten Seefahrer ſtark übertrieben
iſt. Ein ernſter, ſcharfſinniger Geſchichtſchreiber, Herrera, hat
ſich nicht geſcheut, dieſe Geſchichten in die Decades historicas
[17] aufzunehmen; er glaubte ſogar an den merkwürdigen Fall,
der die Kariben veranlaßt haben ſoll, ihrer barbariſchen Sitte
zu entſagen. „Die Eingeborenen einer kleinen Inſel hatten
einen Dominikanermönch verzehrt, den ſie von der Küſte von
Portorico fortgeſchleppt. Sie wurden alle krank, und mochten
fortan weder Mönch noch Laien verzehren.“
Wenn die Kariben am Orinoko ſchon zu Anfang des
16. Jahrhunderts andere Sitten hatten als die auf den An-
tillen, wenn ſie immer mit Unrecht der Anthropophagie be-
ſchuldigt worden ſind, ſo iſt dieſer Unterſchied nicht wohl
daher zu erklären, daß ſie geſellſchaftlich höher ſtanden. Man
begegnet den ſeltſamſten Kontraſten in dieſem Völkergewirre,
wo die einen nur von Fiſchen, Affen und Ameiſen leben, an-
dere mehr oder weniger Ackerbauer ſind, mehr oder weniger
das Verfertigen und Bemalen von Geſchirren, die Weberei
von Hängematten und Baumwollenzeug als Gewerbe treiben.
Manche der letzteren halten an unmenſchlichen Gebräuchen
feſt, von denen die erſteren gar nichts wiſſen. Im Charakter
und in den Sitten eines Volkes wie in ſeiner Sprache ſpiegeln
ſich ſowohl ſeine vergangenen Zuſtände als die gegenwärtigen:
man müßte die ganze Geſchichte der Geſittung oder der Ver-
wilderung einer Horde kennen, man müßte den menſchlichen
Vereinen in ihrer ganzen Entwickelung und auf ihren ver-
ſchiedenen Lebensſtufen nachgehen können, wollte man Pro-
bleme löſen, die ewig Rätſel bleiben werden, wenn man nur
die gegenwärtigen Verhältniſſe ins Auge faſſen kann.
„Sie machen ſich keine Vorſtellung davon,“ ſagte der
alte Miſſionär in Mandavaca, „wie verdorben dieſe familia
de Indios iſt. Man nimmt Leute von einem neuen Stamme
im Dorfe auf; ſie ſcheinen ſanftmütig, redlich, gute Arbeiter;
man erlaubt ihnen einen Streifzug (entrada) mitzumachen,
um Eingeborene einzubringen, und hat genug zu thun, zu
verhindern, daß ſie nicht alles, was ihnen in die Hände kommt,
umbringen und Stücke der Leichname verſtecken.“ Denkt man
über die Sitten dieſer Indianer nach, ſo erſchrickt man ordent-
lich über dieſe Verſchmelzung von Gefühlen, die ſich auszu-
ſchließen ſcheinen, über die Unfähigkeit dieſer Völker, ſich an-
ders als nur teilweiſe zu humaniſieren, über dieſe Uebermacht
der Bräuche, Vorurteile und Ueberlieferungen über die natür-
lichen Regungen des Gemütes. Wir hatten in unſerer Piroge
einen Indianer, der vom Rio Guaiſia entlaufen war und
ſich in wenigen Wochen ſo weit civiliſiert hatte, daß er uns
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 2
[18] beim Aufſtellen der Inſtrumente zu den nächtlichen Beobach-
tungen gute Dienſte leiſten konnte. Er ſchien ſo gutmütig
als geſcheit und wir hatten nicht übel Luſt, ihn in unſeren
Dienſt zu nehmen. Wie groß war unſer Verdruß, als wir
im Geſpräch mittels eines Dolmetſchers von ihm hören
mußten, „das Fleiſch der Manimodasaffen ſei allerdings
ſchwärzer, er meine aber doch, es ſchmecke wie Menſchen-
fleiſch“. Er verſicherte, „ſeine Verwandten (das heißt
ſeine Stammverwandten) eſſen vom Menſchen wie vom Bären
die Handflächen am liebſten“. Und bei dieſem Ausſpruch äußerte
er durch Gebärden ſeine rohe Luſt. Wir ließen den ſonſt ſehr
ruhigen und bei den kleinen Dienſten, die er uns leiſtete, ſehr
gefälligen jungen Mann fragen, ob er hie und da noch Luſt
ſpüre, „Cheruvichahenafleiſch zu eſſen“; er erwiderte ganz un-
befangen, in der Miſſion werde er nur eſſen, was er los
padres eſſen ſehe. Den Eingeborenen wegen des abſcheulichen
Brauchs, von dem hier die Rede iſt, Vorwürfe zu machen,
hilft rein zu nichts; es iſt gerade, als ob ein Brahmane
vom Ganges, der in Europa reiſte, uns darüber anließe, daß
wir das Fleiſch der Tiere eſſen. In den Augen des Indianers
vom Rio Guaiſia war der Cheruvichahena ein von ihm ſelbſt
völlig verſchiedenes Weſen; ihn umzubringen war ihm kein
größeres Unrecht, als die Jaguare im Walde umzubringen.
Es war nur Gefühl für Anſtand, wenn er, ſolange er in
der Miſſion war, nur eſſen wollte, was los padres genoſſen.
Entlaufen die Eingeborenen zu den Ihrigen (al monte), oder
treibt ſie der Hunger, ſo werden ſie alsbald wieder Menſchen-
freſſer wie zuvor. Und wie ſollten wir uns über dieſen Un-
beſtand der Völker am Orinoko wundern, da uns aufs glaub-
würdigſte bezeugt iſt, was ſich in Hungersnot bei civiliſierten
Völkern ſchon Gräßliches ereignet hat? In Aegypten griff im
13. Jahrhundert die Sucht, Menſchenfleiſch zu eſſen, unter
allen Ständen um ſich; beſonders aber ſtellte man den Aerzten
nach. Hatte einer Hunger, ſo gab er ſich für krank aus und
ließ einen Arzt rufen, aber nicht, um ſich bei ihm Rats zu
erholen, ſondern um ihn zu verzehren. Ein ſehr glaub-
würdiger Schriftſteller, Abd-Allatif, erzählt uns, „wie eine
Sitte, die anfangs Abſcheu und Entſetzen einflößte, bald gar
nicht mehr auffiel“. 1
[19]
So leicht die Indianer am Caſſiquiare in ihre barbari-
ſchen Gewohnheiten zurückfallen, ſo zeigen ſie doch in den
Miſſionen Verſtand und einige Luſt zur Arbeit, beſonders
aber große Fertigkeit, ſich ſpaniſch auszudrücken. Da in den
Dörfern meiſt drei, vier Nationen beiſammen leben, die ein-
ander nicht verſtehen, ſo hat eine fremde Sprache, die zugleich
die Sprache der bürgerlichen Behörde, des Miſſionärs iſt, den
Vorteil, daß ſie als allgemeines Verkehrsmittel dient. Ich
ſah einen Poignaveindianer ſich ſpaniſch mit einem Guahibo-
indianer unterhalten, und doch hatten beide erſt ſeit drei Mo-
naten ihre Wälder verlaſſen. Alle Viertelſtunden brachten ſie
einen mühſelig zuſammengeſtoppelten Satz zu Tage, und dabei
war das Zeitwort, ohne Zweifel nach der Syntax ihrer eigenen
Sprachen, immer im Gerundium geſetzt. (Quando io mirando
Padre, Padre, me diciendo, ſtatt: als ich den Pater ſah,
ſagte er mir.) Ich habe oben erwähnt, wie verſtändig mir
die Idee der Jeſuiten ſchien, eine der kultivierten amerikani-
ſchen Sprachen, etwa das Peruaniſche, die Lingua del Inca,
zur allgemeinen Sprache zu machen und die Indianer in einer
Mundart zu unterrichten, die wohl in den Wurzeln aber nicht
1
[20] im Bau und in den grammatiſchen Formen von den ihrigen
abweicht. Man that damit nur, was die Inka oder die
prieſterlichen Könige von Peru ſeit Jahrhunderten zur Aus-
führung gebracht, um die barbariſchen Völkerſchaften am
oberen Amazonenſtrom unter ihrer Gewalt zu behalten und
zu humaniſieren, und ſolch ein Syſtem iſt doch nicht ganz ſo
ſeltſam als der Vorſchlag, der auf einem Provinzialkonzil in
Mexiko alles Ernſtes gemacht worden, man ſolle die Einge-
borenen Amerikas lateiniſch ſprechen lehren.
Wie man uns ſagte, zieht man am unteren Orinoko,
beſonders in Angoſtura, die Indianer vom Caſſiquiare und
Rio Negro wegen ihres Verſtandes und ihrer Rührigkeit den
Bewohnern der anderen Miſſionen vor. Die in Mandavaca
ſind bei den Völkern ihrer Raſſe berühmt, weil ſie ein Curare-
gift bereiten, das in der Stärke dem von Esmeralda nicht
nachſteht. Leider geben ſich die Eingeborenen damit weit
mehr ab als mit dem Ackerbau, und doch iſt an den Ufern
des Caſſiquiare der Boden ausgezeichnet. Es findet ſich da-
ſelbſt ein ſchwarzbrauner Granitſand, der in den Wäldern
mit dicken Humusſchichten, am Ufer mit einem Thon bedeckt
iſt, der faſt kein Waſſer durchläßt. Am Caſſiquiare ſcheint
der Boden fruchtbarer als im Thale des Rio Negro, wo der
Mais ziemlich ſchlecht gerät. Reis, Bohnen, Baumwolle,
Zucker und Indigo geben reichen Ertrag, wo man ſie nur
anzubauen verſucht hat. Bei den Miſſionen San Miguel de
Davipe, San Carlos und Mandavaca ſahen wir Indigo wild
wachſen. Es läßt ſich nicht in Abrede ziehen, daß mehrere
amerikaniſche Völker, namentlich die Mexikaner, ſich lange vor
der Eroberung zu ihren hieroglyphiſchen Malereien eines wirk-
lichen Indigos bedienten, und daß dieſer Farbſtoff in kleinen
Broten auf dem großen Markte von Tenochtitlan verkauft
wurde. Aber ein chemiſch identiſcher Farbſtoff kann aus
Pflanzen gezogen werden, die einander nahe ſtehenden Gat-
tungen angehören, und ſo möchte ich jetzt nicht entſcheiden,
ob die in Amerika einheimiſchen Indigofera ſich nicht generiſch
von Indigofera anil und Indigofera argentea der Alten
Welt unterſcheiden. Bei den Kaffeebäumen der beiden Welten
iſt ein ſolcher Unterſchied wirklich beobachtet.
Die feuchte Luft und, als natürliche Folge davon, die
Maſſe von Inſekten laſſen hier wie am Rio Negro neue
Kulturen faſt gar nicht aufkommen. Selbſt bei hellem, blauem
Himmel ſahen wir das Delucſche Hygrometer niemals unter
[21] 52° ſtehen. Ueberall trifft man jene großen Ameiſen, die in
gedrängten Haufen einherziehen und ſich deſto eifriger über
die Kulturpflanzen hermachen, da dieſelben krautartig und
ſaftreich ſind, während in den Wäldern nur Gewächſe mit
holzigen Stengeln ſtehen. Will ein Miſſionär verſuchen,
Salat oder irgend ein europäiſches Küchenkraut zu ziehen, ſo
muß er ſeinen Garten gleichſam in die Luft hängen. Er
füllt ein altes Kanoe mit gutem Boden und hängt es 1,3 m
über dem Boden an Chiquichiquiſtricken auf; meiſt aber ſtellt
er es auf ein leichtes Gerüſte. Die jungen Pflanzen ſind
dabei vor Unkraut, vor Erdwürmern und vor den Ameiſen
geſchützt, die immer geradeaus ziehen, und da ſie nicht wiſſen,
was über ihnen wächſt, nicht leicht von ihrem Wege ablenken,
um an Pfählen ohne Rinde hinaufzukriechen. Ich erwähne
dieſes Umſtandes zum Beweiſe, wie ſchwer es unter den Tro-
pen, an den Ufern der großen Ströme dem Menſchen an-
fangs wird, wenn er es verſucht, in dieſem unermeßlichen
Naturgebiete, wo die Tiere herrſchen und der wilde Pflanzen-
wuchs den Boden überwuchert, einen kleinen Erdwinkel ſich
zu eigen zu machen.
Am 13. Mai. Ich hatte in der Nacht einige gute Stern-
beobachtungen machen können, leider die letzten am Caſſiquiare,
Mandavaca liegt unter 2° 47′ der Breite und, nach dem
Chronometer, 69° 27′ der Länge. Die Inklination der Mag-
netnadel fand ich gleich 25° 25′. Dieſelbe hatte alſo ſeit der
Schanze San Cartos bedeutend zugenommen. Das an-
ſtehende Geſtein war indeſſen derſelbe, etwas hornblendehal-
tige Granit, den wir in Javita getroffen, und der ſyenitartig
ausſieht. Wir brachen von Mandavaca um 2½ Uhr in der
Nacht auf. Wir hatten noch acht ganze Tage mit der Strö-
mung des Caſſiquiare zu kämpfen, und das Land, durch das
wir zu fahren hatten, bis wir wieder nach San Fernando
de Atabapo kamen, iſt ſo menſchenleer, daß wir erſt nach
13 Tagen hoffen durften, wieder zu einem Obſervanten, zum
Miſſionär von Santa Barbara zu gelangen. Nach ſechsſtün-
diger Fahrt liefen wir am Einfluſſe des Rio Idapa oder
Siapa vorbei, der oſtwärts auf dem Berge Unturan entſpringt
und zwiſchen deſſen Quellen und dem Rio Mavaca, der in
den Orinoko läuft, ein Trageplatz iſt. Dieſer Fluß hat weißes
Waſſer; er iſt nur halb ſo breit als der Pacimoni, deſſen
Waſſer ſchwarz iſt Sein oberer Lauf iſt auf den Karten
von La Cruz und Surville, die allen ſpäteren als Vorbild
[22] gedient haben, ſeltſam entſtellt. Ich werde, wenn von den
Quellen des Orinoko die Rede iſt, Gelegenheit finden, von
den Vorausſetzungen zu ſprechen, die zu dieſen Irrtümern
Anlaß gegeben haben. Hätte Pater Caulin die Karte ſehen
können, die man ſeinem Werke beigegeben, ſo hätte er ſich
nicht wenig gewundert, daß man darin die Fiktionen wieder
aufgenommen, die er mit zuverläſſigen, an Ort und Stelle
eingezogenen Nachrichten widerlegt hat. Dieſer Miſſionär ſagt
lediglich, der Idapa entſpringe in einem bergigen Lande,
bei dem die Amuiſanasindianer hauſen. Aus dieſen In-
dianern wurden Amoizanas oder Amazonas gemacht, und
den Rio Idapa ließ man aus einer Quelle entſpringen, die
am Flecke ſelbſt, wo ſie aus der Erde ſprudelt, ſich in
zwei Zweige teilt, die nach gerade entgegengeſetzten Seiten
laufen. Eine ſolche Gabelung einer Quelle iſt ein reines
Phantaſiebild.
Wir übernachteten unter freiem Himmel beim Raudal
des Cunuri. Das Getöſe des kleinen Kataraktes wurde in der
Nacht auffallend ſtärker. Unſere Indianer behaupteten, dies
ſei ein ſicheres Vorzeichen des Regens. Ich erinnerte mich,
daß auch die Bewohner der Alpen auf dieſes Wetterzeichen 1
ſehr viel halten. Wirklich regnete es lange vor Sonnenauf-
gang. Uebrigens hatte uns das lange anhaltende Geheul
der Araguaten, lange bevor der Waſſerfall lauter wurde, ver-
kündet, daß ein Regenguß im Anzug ſei.
[23]
Am 14. Mai. Die Moskiten und mehr noch die Ameiſen
jagten uns vor 2 Uhr in der Nacht vom Ufer. Wir hatten
bisher geglaubt, die letzteren kriechen nicht an den Stricken
der Hängematten hinauf; ob dies nun aber unbegründet iſt,
oder ob die Ameiſen aus den Baumgipfeln auf uns herab-
fielen, wir hatten vollauf zu thun, uns dieſer läſtigen In-
ſekten zu entledigen. Je weiter wir fuhren, deſto ſchmäler
wurde der Fluß und die Ufer waren ſo ſumpfig, daß Bon-
pland ſich nur mit großer Mühe an den Fuß einer mit großen
purpurroten Blüten bedeckten Carolinea princeps durcharbeiten
konnte. Dieſer Baum iſt die herrlichſte Zierde der Wälder
hier und am Rio Negro. Wir unterſuchten mehrmals am
Tage die Temperatur des Caſſiquiare. Das Waſſer zeigte
an der Oberfläche nur 24° (in der Luft ſtand der Thermo-
meter auf 25,6°), alſo ungefähr ſo viel als der Rio Negro,
aber 4 bis 5° weniger als der Orinoko. Nachdem wir weſtwärts
die Mündung des Caño Caterico, der ſchwarzes, ungemein
durchſichtiges Waſſer hat, hinter uns gelaſſen, verließen wir
das Flußbett und landeten an einer Inſel, auf der die Miſſion
Vaſiva liegt. Der See, der die Miſſion umgibt, iſt 4,5 km
breit und hängt durch drei Kanäle mit dem Caſſiquiare zu-
ſammen. Das Land umher iſt ſehr ſumpfig und fiebererzeu-
gend. Der See, deſſen Waſſer bei durchgehendem Lichte gelb
iſt, trocknet in der heißen Jahreszeit aus und dann können
es ſelbſt die Indianer in den Miasmen, welche ſich aus dem
Schlamme entwickeln, nicht aushalten. Daß gar kein Wind
weht, trägt viel dazu bei, daß dieſe Landſtriche ſo ungemein
ungeſund ſind. Ich habe die Zeichnung des Grundriſſes von
Vaſiva, den ich am Tage unſerer Ankunft aufgenommen,
ſtechen laſſen. Das Dorf wurde zum Teil an einen trockeneren
Platz gegen Nord verlegt, und daraus entſpann ſich ein langer
Streit zwiſchen dem Statthalter von Guyana und den Mön-
chen. Der Statthalter behauptete, letzteren ſtehe nicht das
Recht zu, ohne Genehmigung der bürgerlichen Behörde ihre
Dörfer zu verlegen; da er aber gar nicht wußte, wo der Caſſi-
quiare liegt, richtete er ſeine Beſchwerde an den Miſſionär
von Carichana, der 675 km von Vaſiva hauſt und nicht be-
griff, von was es ſich handelte. Dergleichen geographiſche
Mißverſtändniſſe kommen ſehr häufig vor, wo die Leute faſt
nie im Beſitz einer Karte der Länder ſind, die ſie zu
regieren haben. Im Jahre 1785 übertrug man die Miſſion
Padamo dem Pater Valor mit der Weiſung, „ſich unver-
[24] züglich zu den Indianern zu verfügen, die ohne Seelen-
hirten ſeien.“ Und ſeit länger als fünfzehn Jahren gab es
kein Dorf Padamo mehr und die Indianer waren al monte
gelaufen.
Vom 14. bis 21. Mai brachten wir die Nacht immer
unter freiem Himmel zu, ich kann aber die Orte, wo wir
unſer Nachtlager aufſchlugen, nicht angeben. Dieſer Landſtrich
iſt ſo wild und ſo wenig von Menſchen betreten, daß die
Indianer, ein paar Flüſſe ausgenommen, keinen der Punkte,
die ich mit dem Kompaß aufnahm, mit Namen zu nennen
wußten. Einen ganzen Grad weit konnte ich durch keine
Sternbeobachtung die Breite beſtimmen. Oberhalb des Punktes,
wo der Itinivini vom Caſſiquiare abgeht und weſtwärts den
Granithügeln von Daripabo zuläuft, ſahen wir die ſumpfigen
Ufer des Stromes mit Bamburohr bewachſen. Dieſe baum-
artigen Gräſer werden 6,5 m hoch; ihr Halm iſt gegen die
Spitze immer umgebogen. Es iſt eine neue Art Bambuſa
mit ſehr breiten Blättern. Bonpland war ſo glücklich, ein
blühendes Exemplar zu finden. Ich erwähne dieſes Um-
ſtandes, weil die Gattungen Naſtus und Bambuſa bis jetzt
ſehr ſchlecht auseinander gehalten waren, und man in der
Neuen Welt dieſe gewaltigen Gräſer ungemein ſelten blühend
antrifft. Mutis botaniſierte zwanzig Jahre in einem Lande,
wo die Bambusa Guadua mehrere Meilen breite ſumpfige
Wälder bildet, und war nie im ſtande, einer Blüte habhaft
zu werden. Wir ſchickten dieſem Gelehrten die erſten Bam-
buſaähren aus den gemäßigten Thälern von Popayan. Wie
kommt es, daß ſich die Befruchtungsorgane ſo ſelten bei einer
Pflanze entwickeln, die im Lande zu Hauſe iſt und vom
Meeresſpiegel bis in 1750 m Höhe äußerſt kräftig wächſt,
alſo in eine ſubalpiniſche Region hinaufreicht, wo unter den
Tropen das Klima dem des mittägigen Spaniens gleicht?
Die Bambusa latifolia ſcheint den Becken des oberen Orinoko,
des Caſſiquiare und des Amazonenſtromes eigentümlich zu
ſein; es iſt ein geſelliges Gewächs, wie alle Gräſer aus der
Familie der Naſtoiden; aber in dem Striche von Spaniſch-
Guyana, durch den wir gekommen, tritt ſie nicht in den ge-
waltigen Maſſen auf, welche die Hiſpanoamerikaner Gua-
duales oder Bambuwälder nennen.
Unſer erſtes Nachtlager oberhalb Vaſiva war bald auf-
geſchlagen. Wir trafen einen kleinen trockenen, von Büſchen
freien Fleck ſüdlich vom Caño Curamuni, an einem Orte, wo
[25] wir Kapuzineraffen, 1 kenntlich am ſchwarzen Barte und der
trübſeligen ſcheuen Miene, langſam auf den horizontalen Aeſten
einer Genipa hin und her gehen ſahen. Die fünf folgenden
Nächte wurden immer beſchwerlicher, je näher wir der Gabel-
teilung des Orinoko kamen. Die Ueppigkeit des Pflanzen-
wuchſes ſteigerte ſich in einem Grade, von dem man ſich keinen
Begriff macht, ſelbſt wenn man mit dem Anblick der tropi-
ſchen Wälder vertraut iſt. Ein Gelände iſt gar nicht mehr
vorhanden; ein Pfahlwerk aus dichtbelaubten Bäumen bildet
das Flußufer. Man hat einen 390 m breiten Kanal vor ſich,
den zwei ungeheure, mit Laub und Lianen bedeckte Wände
einfaſſen. Wir verſuchten öfters zu landen, konnten aber nicht
aus dem Kanoe kommen. Gegen Sonnenuntergang fuhren
wir zuweilen eine Stunde lang am Ufer hin, um, nicht eine
Lichtung (dergleichen gibt es gar nicht), ſondern nur einen
weniger dicht bewachſenen Fleck zu entdecken, wo unſere In-
dianer mit der Axt ſo weit aufräumen konnten, um für
12 bis 13 Perſonen ein Lager aufzuſchlagen. In der Piroge
konnten wir die Nacht nicht zubringen. Die Moskiten, die
uns den Tag über plagten, ſetzten ſich haufenweiſe unter
den Toldo, d. h. unter das Dach aus Palmblättern, das
uns vor dem Regen ſchützte. Nie waren uns Hände und
Geſicht ſo ſtark geſchwollen geweſen. Pater Zea, der ſich bis
dahin immer gerühmt, er habe in ſeinen Miſſionen an den
Katarakten die größten und wildeſten (las mas feroces) Mos-
kiten, gab nach und nach zu, nie haben ihn die Inſektenſtiche
ärger geſchmerzt als hier am Caſſiquiare. Mitten im dicken
Walde konnten wir uns nur mit ſchwerer Mühe Brennholz
verſchaffen; denn in dieſen Ländern am Aequator, wo es be-
ſtändig regnet, ſind die Baumzweige ſo ſaftreich, daß ſie faſt
gar nicht brennen. Wo es keine trockenen Ufer gibt, findet
man auch ſo gut wie kein altes Holz, das, wie die Indianer
ſagen, an der Sonne gekocht iſt. Feuer bedurften wir
übrigens nur als Schutzwehr gegen die Tiere des Waldes;
unſer Vorrat an Lebensmitteln war ſo gering, daß wir zur
Zubereitung der Speiſen des Feuers ziemlich hätten entbehren
können.
Am 18. Mai gegen Abend kamen wir an einen Ort, wo
wilde Kakaobäume das Ufer ſäumen. Die Bohne derſelben
iſt klein und bitter; die Indianer in den Wäldern ſaugen
[26] das Mark aus und werfen die Bohnen weg, und dieſe wer-
den von den Indianern in den Miſſionen aufgeleſen und
an ſolche verkauft, die es bei der Bereitung ihrer Schokolade
nicht genau nehmen. „Hier iſt der Puerto del Cacao,“
ſagte der Steuermaun, „hier übernachten los padres, wenn
ſie nach Esmeralda fahren, um Blaſeröhren und Juvia
(die wohlſchmeckenden Mandeln der Bertholletia) zu kaufen.“
Indeſſen befahren im Jahre nicht fünf Kanoen den Caſſi-
quiare, und ſeit Maypures, alſo ſeit einem Monate, war
uns auf den Flüſſen, die wir hinauffuhren, keine Seele
begegnet, außer in der nächſten Nähe der Miſſionen. Süd-
wärts vom See Duractumini übernachteten wir in einem
Palmenwalde. Der Regen goß in Strömen herab; aber die
Pothos, die Arum und die Schlinggewächſe bildeten eine
natürliche, ſo dichte Laube, daß wir darunter Schutz fanden
wie unter dichtbelaubten Bäumen. Die Indianer, die am
Ufer lagen, hatten Helikonien und Muſaceen ineinander ver-
ſchlungen und damit über ihren Hängematten eine Art Dach
gebildet. Unſere Feuer beleuchteten auf 16 bis 20 m Höhe die
Palmſtämme, die mit Blüten bedeckten Schlinggewächſe und
die weißlichten Rauchſäulen, die gerade gen Himmel ſtiegen;
ein prachtvoller Anblick, aber um desſelben mit Ruhe zu ge-
nießen, hätte man eine Luft atmen müſſen, die nicht von In-
ſekten wimmelte.
Unter allen körperlichen Leiden wirken diejenigen am
niederſchlagendſten, die in ihrer Dauer immer dieſelben ſind,
und gegen die es kein Mittel gibt als Geduld. Die Aus-
dünſtungen in den Wäldern am Caſſiquiare haben wahrſchein-
lich bei Bonpland den Keim zu der ſchweren Krankheit gelegt,
der er bei unſerer Ankunft in Angoſtura beinahe erlegen wäre.
Zu unſerem Glück ahnte er ſo wenig als ich die Gefahr, die
ihm drohte. Der Anblick des Fluſſes und das Summen der
Moskiten kamen uns allerdings etwas einförmig vor; aber
unſer natürlicher Frohſinn war nicht ganz gebrochen und half
uns über die lange Oede weg. Wir machten die Bemerkung,
daß wir uns den Hunger auf mehrere Stunden vertrieben,
wenn wir etwas trockenen geriebenen Kakao ohne Zucker aßen.
Die Ameiſen und die Moskiten machten uns mehr zu ſchaffen
als die Näſſe und der Mangel an Nahrung. So großen
Entbehrungen wir auch auf unſeren Zügen in den Kordilleren
ausgeſetzt geweſen, die Flußfahrt von Mandavaca nach Es-
meralda erſchien uns immer als das beſchwerdereichſte Stück
[27] unſeres Aufenthaltes in Amerika. Ich rate den Reiſen-
den, den Weg über den Caſſiquiare dem über den Atabapo
nicht vorzuziehen, ſie müßten denn ſehr großes Verlangen
haben, die große Gabelteilung des Orinoko mit eigenen Augen
zu ſehen.
Oberhalb des Caño Duractumuni läuft der Caſſiquiare
geradeaus von Nordoſt nach Südweſt. Hier hat man am
rechten Ufer mit dem Bau des Dorfes Vaſiva begonnen.
Die Miſſionen Pacimona, Capivari, Buenaguardia, ſowie
die angebliche Schanze am See bei Vaſiva auf unſeren Karten
ſind lauter Fiktionen. Es fiel uns auf, wie ſtark durch die
raſchen Anſchwellungen des Caſſiquiare die beiderſeitigen Ufer-
abhänge unterhöhlt waren. Entwurzelte Bäume bilden natür-
liche Flöße; ſie ſtecken halb im Schlamme und können den
Pirogen ſehr gefährlich werden. Hätte man das Unglück,
in dieſen unbewohnten Strichen zu ſcheitern, ſo verſchwände
man ohne Zweifel, ohne daß eine Spur des Schiffbruches
verriete, wo und wie man untergegangen. Man erführe
nur an der Küſte, und das ſehr ſpät, ein Kanoe, das von
Vaſiva abgegangen, ſei 450 km weiterhin, in den Miſſionen
Santa Barbara und San Fernando de Atabapo nicht geſehen
worden.
Die Nacht des 20. Mai, die letzte unſerer Fahrt auf
dem Caſſiquiare, brachten wir an der Stelle zu, wo der Ori-
noko ſich gabelt. Wir hatten einige Ausſicht, eine aſtrono-
miſche Beobachtung machen zu können; denn ungewöhnlich
große Sternſchnuppen ſchimmerten durch die Dunſthülle, die
den Himmel umzog. Wir ſchloſſen daraus, die Dunſtſchicht
müſſe ſehr dünn ſein, da man ſolche Meteore faſt niemals
unter dem Gewölk ſieht. Die uns zu Geſicht kamen, liefen
nach Nord und folgten aufeinander faſt in gleichen Pauſen.
Die Indianer, welche die Zerrbilder ihrer Phantaſie nicht
leicht durch den Ausdruck veredeln, nennen die Sternſchnuppen
den Urin, und den Tau den Speichel der Sterne.
Aber das Gewölk wurde wieder dicker und wir ſahen weder
die Meteore mehr noch die wahren Sterne, deren wir ſeit
mehreren Tagen mit ſo großer Ungeduld harrten.
Man hatte uns geſagt, in Esmeralda werden wir die
Inſekten „noch grauſamer und gieriger“ finden als auf dem
Arm des Orinoko, den wir jetzt hinauffuhren; trotz dieſer
Ausſicht erheiterte uns die Hoffnung, endlich einmal wieder
an einem bewohnten Orte ſchlafen und uns beim Botaniſieren
[28] einige Bewegung machen zu können. Beim letzten Nachtlager am
Caſſiquiare wurde unſere Freude getrübt. Ich nehme keinen
Anſtand, hier einen Vorfall zu erzählen, der für den Leſer von
keinem großen Belang iſt, der aber in einem Tagebuche, das
die Begebniſſe auf der Fahrt durch ein ſo wildes Land ſchil-
dert, immerhin eine Stelle finden mag. Wir lagerten am
Waldſaume. Mitten in der Nacht meldeten uns die Indianer,
man höre den Jaguar ganz in der Nähe brüllen, und zwar
von den naheſtehenden Bäumen herab. Die Wälder ſind hier
ſo dicht, daß faſt keine anderen Tiere darin vorkommen, als
ſolche, die auf die Bäume klettern, Vierhänder, Cercolepten,
Viverren und verſchiedene Katzenarten. Da unſere Feuer hell
brannten, und da man durch lange Gewöhnung Gefahren,
die durchaus nicht eingebildet ſind, ich möchte ſagen ſyſtema-
tiſch nicht achten lernt, ſo machten wir uns aus dem Brüllen
des Jaguars nicht viel. Der Geruch und die Stimme unſeres
Hundes hatten ſie hergelockt. Der Hund (eine große Dogge)
bellte anfangs; als aber der Tiger näher kam, fing er an zu
heulen und kroch unter unſere Hängematten, als wollte er
beim Menſchen Schutz ſuchen. Seit unſeren Nachtlagern am
Rio Apure waren wir daran gewöhnt, bei dem Tiere, das
jung, ſanftmütig und einſchmeichelnd war, in dieſer Weiſe
Mut und Schüchternheit wechſeln zu ſehen. Wie groß war
unſer Verdruß, als uns am Morgen, da wir eben das Fahr-
zeug beſteigen wollten, die Indianer meldeten, der Hund
ſei verſchwunden! Es war kein Zweifel, die Jaguare hatten
ihn fortgeſchleppt. Vielleicht war er, da er ſie nicht mehr
brüllen hörte, von den Feuern weg dem Ufer zu gegangen;
vielleicht aber auch hatten wir den Hund nicht winſeln hören,
da wir im tiefſten Schlafe lagen. Am Orinoko und am
Magdalenenſtrome verſicherte man uns oft, die älteſten Jaguare
(alſo ſolche, die viele Jahre bei Nacht gejagt haben) ſeien
ſo verſchlagen, daß ſie mitten aus einem Nachtlager Tiere
herausholen, indem ſie ihnen den Hals zudrücken, damit ſie
nicht ſchreien können. Wir warteten am Morgen lange, in der
Hoffnung, der Hund möchte ſich nur verlaufen haben. Drei
Tage ſpäter kamen wir an denſelben Platz zurück. Auch jetzt
hörten wir die Jaguare wieder brüllen, denn dieſe Tiere
haben eine Vorliebe für gewiſſe Orte, aber all unſer Suchen
war vergeblich. Die Dogge, die ſeit Caracas unſer Begleiter
geweſen und ſo oft ſchwimmend den Krokodilen entgangen
war, war im Walde zerriſſen worden. Ich erwähne dieſes
[29] Vorfalles nur, weil er einiges Licht auf die Kunſtgriffe dieſer
großen Katzen mit geflecktem Fell wirft.
Am 21. Mai liefen wir 13,5 km unterhalb der Miſſion
Esmeralda wieder in das Bett des Orinoko ein. Vor einem
Monate hatten wir dieſen Fluß bei der Einmündung des
Guaviare verlaſſen. Wir hatten nun noch 1390 km nach
Angoſtura, aber es ging den Strom abwärts, und dieſer Ge-
danke war geeignet, uns unſere Leiden erträglicher zu machen.
Fährt man die großen Ströme hinab, ſo bleibt man im Thal-
wege, wo es nur wenige Moskiten gibt; ſtromaufwärts dagegen
muß man ſich, um die Wirbel und Gegenſtrömungen zu be-
nutzen, nahe am Ufer halten, wo es wegen der Nähe der
Wälder und des organiſchen Detritus, der aufs Ufer geworfen
wird, von Mücken wimmelt. 1 Der Punkt, wo die vielberufene
Gabelteilung des Orinoko ſtattfindet, gewährt einen ungemein
großartigen Anblick. Am nördlichen Ufer erheben ſich hohe
Granitberge; in der Ferne erkennt man unter denſelben den
Maraguaca und den Duida. Auf dem linken Ufer des Ori-
noko, weſtlich und ſüdlich von der Gabelung, ſind keine Berge
bis dem Einfluſſe des Tamatama gegenüber. Hier liegt der
Fels Guaraco, der in der Regenzeit zuweilen Feuer ſpeien
ſoll. Da wo der Orinoko gegen Süd nicht mehr von Bergen
umgeben iſt und er die Oeffnung eines Thales oder vielmehr
einer Senkung erreicht, welche ſich nach dem Rio Negro hin-
unterzieht, teilt er ſich in zwei Aeſte. Der Hauptaſt (der
Rio Paragua der Indianer) ſetzt ſeinen Lauf weſt-nord-weſt-
wärts um die Berggruppe der Parime herum fort; der Arm,
der die Verbindung mit dem Amazonenſtrome herſtellt, läuft
über Ebenen, die im ganzen ihr Gefäll gegen Süd haben,
wobei aber die einzelnen Gehänge im Caſſiquiare gegen Süd-
weſt, im Becken des Rio Negro gegen Südoſt fallen. Eine
ſcheinbar ſo auffallende Erſcheinung, die ich an Ort und Stelle
unterſucht habe, verdient ganz beſondere Aufmerkſamkeit, um
ſo mehr, als ſie über ähnliche Fälle, die man im inneren
Afrika beobachtet zu haben glaubt, einigen Aufſchluß geben
kann. Ich beſchließe dieſes Kapitel mit allgemeinen Betrach-
tungen über das hydrauliſche Syſtem von Spaniſch-Gu-
yana, und verſuche es, durch Anführung von Fällen auf dem
alten Kontinent darzuthun, daß dieſe Gabelteilung, die für
[30] die Geographen, welche Karten von Amerika entwarfen, ſo
lange ein Schreckbild war, immerhin etwas Seltenes iſt, aber
in beiden Halbkugeln vorkommt.
Wir ſind gewöhnt, die europäiſchen Flüſſe nur in dem
Teile ihres Laufes zu betrachten, wo ſie zwiſchen zwei Waſſer-
ſcheiden liegen, ſomit in Thäler eingeſchloſſen ſind; wir be-
achten nicht, daß die Bodenhinderniſſe, welche Nebenflüſſe und
Hauptwaſſerbehälter ablenken, gar nicht ſo oft Bergketten ſind,
als vielmehr ſanfte Böſchungen von Gegenhängen; und ſo
fällt es uns ſchwer, uns eine Vorſtellung davon zu machen,
wie in der Neuen Welt die Ströme ſich ſo ſtark krümmen,
ſich gabelig teilen und ineinander münden ſollen. An dieſem
ungeheuren Kontinent fällt die weite Erſtreckung und Ein-
förmigkeit ſeiner Ebenen noch mehr auf als die rieſenhafte
Höhe ſeiner Kordilleren. Erſcheinungen, wie wir ſie in unſerer
Halbkugel an den Meeresküſten oder in den Steppen von
Bactriana um Binnenmeere, um den Aral und das Kaſpiſche
Meer beobachten, kommen in Amerika 1300 bis 1800 km von
den Strommündungen vor. Die kleinen Bäche, die ſich durch
unſere Wieſengründe (die vollkommenſten Ebenen bei uns)
ſchlängeln, geben im kleinen ein Bild jener Verzweigungen
und Gabelteilungen; man hält es aber nicht der Mühe wert,
bei ſolchen Kleinigkeiten zu verweilen, und ſo fällt einem bei
den hydrauliſchen Syſtemen der beiden Welten mehr der
Kontraſt auf als die Analogie. Die Vorſtellung, der Rhein
könnte an die Donau, die Weichſel an die Oder, die Seine
an die Loire einen Arm abgeben, erſcheint uns auf den erſten
Blick ſo ausſchweifend, daß wir, wenn wir auch nicht daran
zweifeln, daß Orinoko und Amazonenſtrom in Verbindung
ſtehen, den Beweis verlangen, daß was wirklich iſt, auch
möglich iſt.
Fährt man über das Delta des Orinoko nach Angoſtura
und zum Einfluſſe des Rio Apure hinauf, ſo hat man die
hohe Gebirgskette der Parime fortwährend zur Linken. Dieſe
Kette bildet nun keineswegs, wie mehrere berühmte Geographen
angenommen haben, eine Waſſerſcheide zwiſchen dem Becken
des Orinoko und dem des Amazonenſtroms, vielmehr ent-
ſpringen am Südabhange derſelben die Quellen des erſteren
Stromes. Der Orinoko beſchreibt (ganz wie der Arno in der
bekannten Voltata zwiſchen Bibieno und Ponta Sieve) drei
Vierteile eines Ovals, deſſen große Achſe in der Richtung
eines Parallels liegt. Er läuft um einen Bergſtock herum,
[31] von deſſen beiden entgegengeſetzten Abhängen die Gewäſſer
ihm zulaufen. Von den Alpenthälern des Maraguaca an
läuft der Fluß zuerſt gegen Weſt oder Weſt-Nord-Weſt, als
ſollte er ſich in die Südſee ergießen; darauf, beim Einfluſſe
des Guaviare, fängt er an, nach Nord umzubiegen und läuft
in der Richtung eines Meridians bis zur Mündung des
Apure, wo ein zweiter „Wiederkehrungspunkt“ liegt. Auf
dieſem Stücke ſeines Laufes füllt der Orinoko eine Art
Rinne, die durch das ſanfte Gefälle, das ſich von der ſehr
fernen Andenkette von Neugranada herunterzieht und durch
den ganz kurzen Gegenhang, der oſtwärts zur ſteilen Gebirgs-
wand der Parime hinaufläuft, gebildet wird. Infolge dieſer
Bodenbildung kommen die bedeutendſten Zuflüſſe dem Orinoko
von Weſten her zu. Da der Hauptbehälter ganz nahe an
den Gebirgen der Parime liegt, um die er ſich von Süd nach
Nord herumbiegt (als ſollte er Portocabello an der Nordküſte
von Venezuela zu laufen), ſo iſt ſein Bett von Felsmaſſen
verſtopft. Dies iſt der Strich der großen Katarakte; der
Strom bricht ſich brüllend Bahn durch die Ausläufer, die
gegen Weſt fortſtreichen, ſo daß auf der großen „Land-Meer-
enge“ 1 (détroit terrestre) zwiſchen den Kordilleren von Neu-
granada und der Sierra Parime die Felſen am weſtlichen
Ufer des Stromes nach dieſer Sierra angehören. Beim Ein-
fluſſe des Rio Apure ſieht man nun den Orinoko zum zweiten-
mal, und faſt plötzlich, aus ſeiner Richtung von Süd nach
Nord in die von Weſt nach Oſt umbiegen, wie weiter oben
der Einfluß des Guaviare den Punkt bezeichnet, wo der weſt-
liche Lauf raſch zum nördlichen wird. Bei dieſen beiden Bie-
gungen wird die Richtung des Hauptbehälters nicht allein
durch den Stoß der Gewäſſer des Nebenfluſſes beſtimmt, ſon-
[32] dern auch durch die eigentümliche Lage der Hänge und Gegen-
hänge, die ſowohl auf die Richtung der Nebenflüſſe als auf
die des Orinoko ſelbſt ihren Einfluß äußern. Umſonſt ſieht
man ſich bei den geographiſch ſo wichtigen „Wiederkehrungs-
punkten“ nach Bergen oder Hügeln um, die den Strom ſeinen
bisherigen Lauf nicht fortſetzen ließen. Beim Einfluſſe des
Guaviare ſind keine vorhanden, und bei der Mündung des
Apure konnte der niedrige Hügel von Cabruta auf die Rich-
tung des Orinoko ſicher keinen Einfluß äußern. Dieſe Ver-
änderungen der Richtung ſind Folgen allgemeinerer Urſachen;
ſie rühren her von der Lage der großen geneigten Ebenen,
aus denen die polyedriſche Fläche der Niederungen beſteht.
Die Bergketten ſteigen nicht wie Mauern auf wagerechten
Grundflächen empor; ihre mehr oder weniger prismatiſchen
Stöcke ſtehen immer auf Plateaus, und dieſe Plateaus ſtreichen
mit ſtärkerer oder geringerer Abdachung dem Thalwege des
Stromes zu. Der Umſtand, daß die Ebenen gegen die Berge
anſteigen, iſt ſomit die Urſache, daß ſich die Flüſſe ſo ſelten
an den Bergen ſelbſt brechen und den Einfluß dieſer Waſſer-
ſcheiden, ſozuſagen, in bedeutender Entfernung fühlen. Geo-
graphen, welche Topographie nach der Natur ſtudiert und
ſelbſt Bodenvermeſſungen vorgenommen haben, können ſich
nicht wundern, daß auf Karten, auf denen wegen ihres Maß-
ſtabes ein Gefälle von 3 bis 5° ſich nicht angeben läßt, die
Urſachen der großen Flußkrümmungen materiell gar nicht er-
ſichtlich ſind. Der Orinoko läuft von der Mündung des Apure
bis zu ſeinem Ausfluſſe an der Oſtküſte von Amerika parallel
mit ſeiner anfänglichen Richtung, aber derſelben entgegen; ſein
Thalweg wird dort gegen Norden durch eine faſt unmerkliche
Abdachung, die ſich gegen die Küſtenkette von Venezuela hin-
aufzieht, gegen Süden durch den kurzen ſteilen Gegenhang
an der Sierra Parime gebildet. Infolge dieſer eigentümlichen
Terrainbildung umgibt der Orinoko denſelben granitiſchen Ge-
birgsſtock in Süd, Weſt und Nord, und befindet ſich nach
einem Laufe von 2500 km 556 km von ſeinem Urſprunge.
Es iſt ein Fluß, deſſen Mündung bis auf 2° im Meridian
ſeiner Quellen liegt.
Der Lauf des Orinoko, wie wir ihn hier flüchtig geſchil-
dert, zeigt drei ſehr bemerkenswerte Eigentümlichkeiten: 1) daß
er dem Bergſtock, um den er in Süd, Weſt und Nord her-
läuft, immer ſo nahe bleibt; 2) daß ſeine Quellen in einem
Landſtriche liegen, der, wie man glauben ſollte, dem Becken
[33] des Rio Negro und des Amazonenſtromes angehört; 3) daß
er ſich gabelt und einem anderen Flußſyſteme einen Arm zu-
ſendet. Nach bloß theoretiſchen Vorſtellungen ſollte man an-
nehmen, die Flüſſe, wenn ſie einmal aus den Alpenthälern
heraus ſind, in deren oberen Enden ſie entſprungen, müßten
raſch von den Bergen weg auf einer mehr oder weniger ge-
neigten Ebene fortziehen, deren ſtärkſter Fall ſenkrecht iſt auf
die große Achſe der Kette oder die Hauptwaſſerſcheide. Eine
ſolche Vorausſetzung widerſpräche aber dem Verhalten der
großartigſten Ströme Indiens und Chinas. Es iſt eine Eigen-
tümlichkeit dieſer Flüſſe, daß ſie nach ihrem Austritte aus dem
Gebirge mit der Kette parallel laufen. Die Ebenen, deren
Gehänge gegen die Gebirge anſteigen, ſind am Fuße derſelben
unregelmäßig geſtaltet. Nicht ſelten mag die Erſcheinung,
von der hier die Rede iſt, von der Beſchaffenheit des geſchich-
teten Geſteines und daher rühren, daß die Schichten den
großen Ketten parallel ſtreichen; da aber der Granit der
Sierra Parime faſt durchaus maſſig, nicht geſchichtet iſt, ſo
deutet der Umſtand, daß der Orinoko ſich ſo nahe um dieſen
Gebirgsſtock herumſchlingt, auf eine Terrainſenkung hin, die
mit einer allgemeineren geologiſchen Erſcheinung zuſammen-
hängt, auf eine Urſache, die vielleicht bei der Bildung der
Kordilleren ſelbſt im Spiele war. In den Meeren und den
Binnenſeen finden ſich die tiefſten Stellen da, wo die Ufer
am höchſten und ſteilſten ſind. Fährt man von Esmeralda
nach Angoſtura den Orinoko hinab, ſo ſieht man (ob die Rich-
tung Weſt, Nord oder Oſt iſt) 1125 km weit am rechten Ufer
beſtändig ſehr hohe Berge, am linken dagegen Ebenen, ſo weit
das Auge reicht. Die Linie der größten Tiefen, die Maxima
der Senkung, liegen alſo am Fuße der Kordillere ſelbſt, am
Umriſſe der Sierra Parime.
Eine andere Eigentümlichkeit, die uns auf den erſten
Anblick am Laufe des Orinoko auffällig erſcheint, iſt, daß das
Becken dieſes Stromes urſprünglich mit dem Becken eines
anderen, des Amazonenſtromes, zuſammenzufallen ſcheint.
Wirft man einen Blick auf die Karte, ſo ſieht man, daß der
obere Orinoko von Oſt nach Weſt über dieſelbe Ebene läuft,
durch die der Amazonenſtrom parallel mit ihm, aber in ent-
gegengeſetzter Richtung, von Weſt nach Oſt zieht. Aber das
Becken iſt nur ſcheinbar ein gemeinſchaftliches; man darf nicht
vergeſſen, daß die großen Bodenflächen, die wir Ebenen nen-
nen, ihre Thäler haben, ſo gut wie die Berge. Jede Ebene
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 3
[34] beſteht aus verſchiedenen Syſtemen alternativer Hänge, 1 und
dieſe Syſteme ſind voneinander durch ſekundäre Waſſer-
ſcheiden von ſo geringer Höhe getrennt, daß das Auge ſie
faſt nicht bemerkt. Eine ununterbrochene, waldbedeckte Ebene
füllt den ungeheuren Raum zwiſchen 3½° nördlicher und
dem 14. Grad ſüdlicher Breite, zwiſchen der Kordillere der
Parime und der Kordillere von Chiquitos und der braſilia-
niſchen. Bis zum Parallel der Quellen des Rio Temi (2° 45′
nördlicher Breite), auf einer Oberfläche von 4131000 qkm, 2
laufen alle Gewäſſer dem Amazonenſtrom als Hauptbehälter
zu; aber weiter gegen Norden hat infolge eigentümlicher Ter-
rainbildung auf einer Fläche von nicht 30000 qkm ein anderer
großer Strom, der Orinoko, ſein eigenes hydrauliſches Syſtem.
Die Centralebene von Südamerika umfaßt alſo zwei Strom-
becken; denn ein Becken iſt die Geſamtheit aller umliegenden
Bodenflächen, deren ſtärkſte Falllinien dem Thalwege, das heißt
der Längenvertiefung, welche das Bett des Hauptbehälters
bildet, zulaufen. Auf dem kurzen Striche zwiſchen dem 68.
und 70. Grad der Länge nimmt der Orinoko die Gewäſſer
auf, die vom Südabhange der Kordillere der Parime herab-
kommen; aber die Nebenflüſſe, die am ſelben Abhange öſtlich
vom Meridian von 68° zwiſchen dem Berge Maraguaca und
den Bergen des portugieſiſchen Guyana entſpringen, gehen
in den Amazonenſtrom. Alſo nur auf einer 225 km langen
Strecke haben in dieſem ungeheuren Thale unter dem Aequator
die Bodenflächen zunächſt am Fuße der Kordillere der Parime
ihren ſtärkſten Fall in einer Richtung, die aus dem Thale
hinaus zuerſt nordwärts, dann oſtwärts weiſt. In Ungarn
ſehen wir einen ähnlichen, ſehr merkwürdigen Fall, wo Flüſſe,
die ſüdwärts von einer Bergkette entſpringen, dem hydrau-
liſchen Syſteme des Nordhanges angehören. Die Waſſerſcheide
zwiſchen dem Baltiſchen und dem Schwarzen Meere liegt ſüdlich
der Tatra, einem Ausläufer der Karpathen, zwiſchen Teplicz
und Ganocz, auf einem nur 580 m hohen Plateau. Waag
und Hernad laufen ſüdwärts der Donau zu, während der
Poprad um das Tatragebirge gegen Weſt herumläuft und
mit dem Dunajetz nordwärts der Weichſel zufließt. Der
Poprad, der ſeiner Lage nach zu den Gewäſſern zu gehören
[35] ſcheint, die dem Schwarzen Meere zufließen, trennt ſich ſchein-
dar vom Becken derſelben los und wendet ſich dem Baltiſchen
Meere zu.
In Südamerika enthält eine ungeheure Ebene das Becken
des Amazonenſtromes und einen Teil des Beckens des Orinoko;
aber in Deutſchland, zwiſchen Melle und Osnabrück, haben
wir den ſeltenen Fall, daß ein ſehr enges Thal die Becken
zweier kleiner, voneinander unabhängiger Flüſſe verbindet. Die
Elſe und die Haaſe laufen anfangs nahe bei einander und
parallel von Süd nach Nord; wo ſie aber in die Ebene treten,
weichen ſie von Oſt nach Weſt auseinander und ſchließen ſich
zwei ganz geſonderten Flußſyſtemen, dem der Werra und dem
der Ems, an.
Ich komme zur dritten Eigentümlichkeit im Laufe des
Orinoko, zu jener Gabelteilung, die man im Moment, da
ich nach Amerika abreiſte, wieder in Zweifel gezogen hatte.
Dieſe Gabelteilung (divergium amnis) liegt nach meinen
aſtronomiſchen Beobachtungen in der Miſſion Esmeralda
unter 3° 10′ nördlicher Breite und 68° 37′ weſtlicher Länge
vom Meridian von Paris. Im Inneren von Südamerika
erfolgt dasſelbe, was wir unter allen Landſtrichen an den
Küſten vorkommen ſehen. Nach den einfachſten geometriſchen
Grundſätzen haben wir anzunehmen, daß die Bodenbildung
und der Stoß der Zuflüſſe die Richtung der ſtrömenden Ge-
wäſſer nach feſten, gleichförmigen Geſetzen beſtimmen. Die
Delta entſtehen dadurch, daß auf der Ebene eines Küſten-
landes eine Gabelteilung erfolgt, und bei näherer Betrachtung
zeigen ſich zuweilen in der Nähe dieſer ozeaniſchen Gabelung
Verzweigungen mit anderen Flüſſen, von denen Arme nicht
weit abliegen. Kommen nun aber Bodenflächen, ſo eben wie
das Küſtenland im Inneren der Feſtländer gleichfalls vor,
ſo müſſen ſich dort auch dieſelben Erſcheinungen wiederholen.
Aus denſelben Urſachen, welche an der Mündung eines großen
Stromes Gabelteilungen herbeiführen, können dergleichen auch
an ſeinen Quellen und in ſeinem oberen Laufe entſtehen.
Drei Umſtände tragen vorzugsweiſe dazu bei: die höchſt un-
bedeutenden wellenförmigen Steigungen und Senkungen einer
Ebene, die zwei Strombecken zugleich umfaßt, die Breite des
einen der Hauptbehälter, und die Lage des Thalweges am
Rande ſelbſt, der beide Becken ſcheidet.
Wenn die Linie des ſtärkſten Falles durch einen gegebenen
Punkt läuft, und wenn ſie, noch ſo weit verlängert, nicht auf
[36] den Fluß trifft, ſo kann dieſer Punkt, er mag noch ſo nahe
am Thalwege liegen, nicht wohl demſelben Becken angehören.
In anſtoßenden Becken ſehen wir häufig die Zuflüſſe des
einen Behälters ganz nahe bei dem anderen zwiſchen zwei
Zuflüſſen des letzteren entſpringen. Infolge dieſer eigentüm-
lichen Koordinationsverhältniſſe zwiſchen den alternativen Ge-
hängen werden die Grenzen der Becken mehr oder weniger
gekrümmt. Die Längenfurche oder der Thalweg iſt keines-
wegs notwendig in der Mitte des Beckens; er befindet ſich
nicht einmal immer an den tiefſten Stellen, denn dieſe können
von Kämmen umgeben ſein, ſo daß die Linien des ſtärkſten
Falles nicht hinlaufen. Nach der ungleichen Länge der Zu-
flüſſe an beiden Ufern eines Fluſſes ſchätzen wir ziemlich
ſicher, welche Lage der Thalweg den Grenzen des Beckens
gegenüber hat. Am leichteſten erfolgt nun eine Gabelteilung,
wenn der Hauptbehälter einer dieſer Grenzen nahe gerückt iſt,
wenn er längs dem Kamme hinläuft, der die Waſſerſcheide
zwiſchen beiden Becken bildet. Die geringſte Erniedrigung
dieſes Kammes kann dann die Erſcheinung herbeiführen, von
der hier die Rede iſt, wenn nicht der Fluß, vermöge der
einmal angenommenen Geſchwindigkeit, ganz in ſeinem Bette
zurückbleibt. Erfolgt aber die Gabelteilung, ſo läuft die
Grenze zwiſchen beiden Becken der Länge nach durch das Bett
des Hauptbehälters, und ein Teil des Thalweges von a ent-
hält Punkte, von denen die Linien des ſtärkſten Falles zum
Thalwege von b weiſen. Der Arm, der ſich abſondert, kann
nicht mehr zu a zurückkommen, denn ein Waſſerfaden, der
einmal in ein Becken gelangt iſt, kann dieſem nicht mehr ent-
weichen, ohne durch das Bett des Fluſſes, der alle Gewäſſer
desſelben vereinigt, hindurchzugehen.
Es iſt nun noch zu betrachten, inwiefern die Breite eines
Fluſſes unter ſonſt gleichen Umſtänden die Bildung ſolcher
Gabelteilungen begünſtigt, welche, gleich den Kanälen mit
Teilungspunkten, infolge der natürlichen Bodenbildung
eine ſchiffbare Linie zwiſchen zwei benachbarten Strombecken
herſtellen. Sondiert man einen Fluß nach dem Querdurch-
ſchnitt, ſo zeigt ſich, daß ein Bett gewöhnlich aus mehreren
Rinnen von ungleicher Tiefe beſteht. Je breiter der Strom
iſt, deſto mehr ſind dieſer Rinnen, ſie laufen ſogar große
Strecken weit mehr oder weniger einander parallel. Es folgt
hieraus, daß die meiſten Flüſſe betrachtet werden können als aus
dicht aneinander gerückten Kanälen beſtehend, und daß eine
[37] Gabelung ſich bildet, wenn ein kleiner Bodenabſchnitt am Ufer
niedriger liegt als der Grund einer Seitenrinne.
Den hier auseinander geſetzten Verhältniſſen zufolge bilden
ſich Flußgabelungen entweder im ſelben Becken oder auf der
Waſſerſcheide zwiſchen zweien. Im erſteren Falle ſind es ent-
weder Arme, die in den Thalwegen, von dem ſie ſich abgezweigt,
früher oder ſpäter wieder einmünden, oder aber Arme, die
ſich mit weiter abwärts gelegenen Nebenflüſſen vereinigen.
Zuweilen ſind es auch Delta, 1 die ſich entweder nahe der
Mündung der Flüſſe ins Meer oder beim Zuſammenfluſſe
mit einem anderen Strome bilden. Erfolgt die Gabelung an
der Grenze zweier Becken und läuft dieſe Grenze durch das
Bett des Hauptbehälters ſelbſt, ſo ſtellt der ſich abzweigende
Arm eine hydrauliſche Verbindung zwiſchen zwei Flußſyſtemen
her und verdient deſto mehr unſere Aufmerkſamkeit, je breiter
und ſchiffbarer er iſt. Nun iſt aber der Caſſiquiare zwei-
bis dreimal breiter als die Seine beim Jardin des plantes
in Paris, und zum Beweiſe, wie merkwürdig dieſer Fluß iſt,
bemerke ich, daß eine ſorgfältige Forſchung nach Fällen von
Gabelteilungen im Inneren der Länder, ſelbſt zwiſchen weit
weniger bedeutenden Flüſſen, ihrer bis jetzt nur drei bis vier
unzweifelhaft zu Tage gefördert hat. Ich ſpreche nicht von
den Verzweigungen der großen indiſch-chineſiſchen Flüſſe, von
den natürlichen Kanälen, durch welche die Flüſſe in Ava und
Pegu, wie in Siam und Kambodſcha zuſammenzuhängen ſchei-
nen; die Art dieſer Verbindungen iſt noch nicht gehörig auf-
geklärt. Ich beſchränke mich darauf, einer hydrauliſchen Er-
ſcheinung zu erwähnen, welche durch Baron Hermelins ſchöne
Karten von Norwegen nach allen Teilen bekannt geworden iſt.
In Lappland ſendet der Torneofluß einen Arm (den Tärendoelf)
[38] zum Calixelf, der ein kleines hydrauliſches Syſtem für ſich
bildet. Dieſer Caſſiquiare der nördlichen Zone iſt nur
45 bis 54 km lang, er macht aber alles Land am bottniſchen
Buſen zu einer wahren Flußinſel. Durch Leopold von Buch
wiſſen wir, daß die Exiſtenz dieſes natürlichen Kanales lange
ſo hartnäckig geleugnet wurde, wie die eines Armes des Ori-
noko, der in das Becken des Amazonenſtromes läuft. Eine
andere Gabelteilung, die wegen des alten Verkehres zwiſchen
den Völkern Latiums und Etruriens noch mehr Intereſſe hat,
ſcheint ehemals am Traſimeniſchen See ſtattgefunden zu haben.
Auf ſeiner vielberufenen Voltata von Süd nach Weſt und
Nord zwiſchen Bibieno und Ponta Sieve teilte ſich der Arno
bei Arezzo in zwei Arme, deren einer, wie jetzt, über Florenz
und Piſa dem Meere zulief, während der andere durch das
Thal von Chiana floß und ſich mit dem Tiber vereinigte,
entweder unmittelbar oder durch die Paglia als Zwiſchenglied.
Foſſombroni hat dargethan, wie ſich im Mittelalter durch An-
ſchwemmungen im Thale von Chiana eine Waſſerſcheide bildete,
und wie jetzt das nördliche Stück des Arno Teverino von
Süd nach Nord (auf dem Gegenhange) aus dem kleinen See
von Montepulciano in den Arno fließt. So hatte denn der
klaſſiſche Boden Italiens neben ſo vielen Wundern der Natur
und der Kunſt auch eine Gabelteilung aufzuweiſen, wie ſie
in den Wäldern der Neuen Welt in ungleich größerem Maß-
ſtabe auftritt.
Ich bin nach meiner Rückkehr vom Orinoko oft gefragt
worden, ob ich glaube, daß der Kanal des Caſſiquiare allmählich
durch Anſchwemmungen verſtopft werden möchte, ob ich nicht
der Anſicht ſei, daß die zwei größten Flußſyſteme Amerikas
unter den Tropen im Laufe der Jahrhunderte ſich ganz von-
einander trennen werden. Da ich es mir zum Geſetz gemacht
habe, nur Thatſächliches zu beſchreiben und die Verhältniſſe,
die in verſchiedenen Ländern zwiſchen der Bodenbildung und
dem Laufe der Gewäſſer beſtehen, zu vergleichen, ſo habe ich
alles bloß Hypothetiſche zu vermeiden. Zunächſt bemerke ich,
daß der Caſſiquiare in ſeinem gegenwärtigen Zuſtande keines-
wegs placidus et mitissimus amnis iſt, wie es bei den Poeten
Latiums heißt; er gleicht durchaus nicht dem errans languido
flumine Cocytus, da er im größten Teile ſeines Laufes die
ungemeine Geſchwindigkeit von 1,95 bis 2,6 m in der Sekunde
hat. Es iſt alſo wohl nicht zu fürchten, daß er ein mehrere
hundert Kilometer breites Bett ganz verſtopft. Dieſer Arm
[39] des oberen Orinoko iſt eine zu großartige Erſcheinung, als
daß die kleinen Umwandlungen, die wir an der Erdoberfläche
vorgehen ſehen, demſelben ein Ende machen oder auch nur
viel daran verändern könnten. Wir beſtreiten nicht, vollends
wenn es ſich von minder breiten und ſehr langſam ſtrömen-
den Gewäſſern handelt, daß alle Flüſſe eine Neigung haben,
ihre Verzweigungen zu vermindern und ihre Becken zu iſolieren.
Die majeſtätiſchten Ströme erſcheinen, wenn man die ſteilen
Hänge der alten weitab liegenden Ufer betrachtet, nur als
Waſſerfäden, die ſich durch Thäler winden, die ſie ſelbſt ſich
nicht haben graben können. Der heutige Zuſtand ihres Bettes
weiſt deutlich darauf hin, daß die ſtrömenden Gewäſſer all-
mählich abgenommen haben. Ueberall treffen wir die Spuren
alter ausgetrockneter Arme und Gabelungen, für die kaum
ein hiſtoriſches Zeugnis vorliegt. Die verſchiedenen, mehr
oder weniger parallelen Rinnen, aus denen die Betten der
amerikaniſchen Flüſſe beſtehen, und die ſie weit waſſerreicher
erſcheinen laſſen, als ſie wirklich ſind, verändern allgemach
ihre Richtung; ſie werden breiter und verſchmelzen dadurch,
daß die Längsgräten zwiſchen denſelben abbröckeln. Was an-
fangs nur ein Arm war, wird bald der einzige Waſſerbe-
hälter, und bei Strömen, die langſam ziehen, verſchwinden
die Gabelteilungen oder Verzweigungen zwiſchen zwei hydrau-
liſchen Syſtemen auf dreierlei Wegen: entweder der Ver-
bindungskanal zieht den ganzen gegabelten Strom in ſein
Becken hinüber, oder der Kanal verſtopft ſich durch Anſchwem-
mungen an der Stelle, wo er vom Strome abgeht, oder endlich
in der Mitte ſeines Laufes bildet ſich ein Querkamm, eine
Waſſerſcheide, wodurch das obere Stück einen Gegenhang
erhält und das Waſſer in umgekehrter Richtung zurückfließt.
Sehr niedrige und großen periodiſchen Ueberſchwemmungen
ausgeſetzte Länder, wie Guyana in Amerika und Dar-Saley
oder Bagirmi in Afrika, 1 geben uns ein Bild davon, wie
viel häufiger dergleichen Verbindungen durch natürliche Kanäle
früher geweſen ſein mögen als jetzt.
Nachdem ich die Gabelteilung des Orinoko aus dem Ge-
ſichtspunkte der vergleichen den Hydrographie betrachtet,
[40] habe ich noch kurz die Geſchichte der Entdeckung dieſes merk-
würdigen Phänomens zu beſprechen. Es ging mit der Ver-
bindung zwiſchen zwei großen Flußſyſtemen wie mit dem Laufe
des Nigirs gegen Oſt. Man mußte mehrere Male entdecken,
was auf den erſten Anblick der Analogie und angenommenen
Hypotheſen widerſprach. Als bereits durch Reiſende ausge-
macht war, auf welche Weiſe Orinoko und Amazonenſtrom
zuſammenhängen, wurde noch, und zwar zu wiederholten Malen
bezweifelt, ob die Sache überhaupt möglich ſei. Eine Berg-
kette, die der Geograph Hondius zu Ende des 16. Jahr-
hunderts als Grenzſcheide beider Flüſſe gefabelt hatte, wurde
bald angenommen, bald geleugnet. Man dachte nicht daran,
daß ſelbſt wenn dieſe Berge vorhanden wären, deshalb die
beiden hydrauliſchen Syſteme nicht notwendig getrennt ſein
müßten, da ja die Gewäſſer durch die Kordillere der Anden
und die Himalayakette, 1 die höchſte bekannte der Welt, ſich
Bahn gebrochen haben. Man behauptete, und nicht ohne
Grund, Fahrten, die mit demſelben Kanoe ſollten gemacht
worden ſein, ſchließen die Möglichkeit nicht aus, daß die
Waſſerſtraße durch Trageplätze unterbrochen geweſen. Ich
habe dieſe ſo lange beſtrittene Gabelteilung nach ihrem ganzen
Verhalten ſelbſt beobachtet, bin aber deshalb weit entfernt,
Gelehrte zu tadeln, die, gerade weil es ihnen nur um die
Wahrheit zu thun war, Bedenken trugen, als wirklich gelten
zu laſſen, was ihnen noch nicht genau genug unterſucht zu
ſein ſchien.
Ta der Amazonenſtrom von den Portugieſen und den
Spaniern ſchon lange befahren wurde, ehe die beiden Neben-
buhler den oberen Orinoko kennen lernten, ſo kam die erſte
unſichere Kunde von der Verzweigung zweier Ströme von der
Mündung des Rio Negro nach Europa. Die Konquiſtadoren
und mehrere Geſchichtſchreiber, wie Herrera, Fray Pedro Simon
und der Pater Garcia verwechſelten unter dem Namen Rio
grande und Mar dulce den Orinoko und den Marañon.
Der Name des erſteren Fluſſes kommt noch nicht einmal auf
Diego Riberos vielberufener Karte von Amerika aus dem
[41] Jahre 1529 vor. Durch die Expeditionen des Orellana (1540)
und des Lope de Aguirre (1560) erfuhr man nichts über die
Gabelteilung des Orinoko; da aber Aguirre ſo auffallend ſchnell
die Inſel Margarita erreicht hatte, glaubte man lange, derſelbe
ſei nicht durch eine der großen Mündungen des Amazonen-
ſtromes, ſondern durch eine Flußverbindung im Inneren auf
die See gelangt. Der Jeſuit Acuña hat ſolches als Be-
hauptung aufgeſtellt; aber das Ergebnis meiner Nachforſchungen
in den Schriften der früheſten Geſchichtſchreiber der Eroberung
ſpricht nicht dafür. „Wie kann man glauben,“ ſagt dieſer
Miſſionär, „daß Gott es zugelaſſen, daß ein Tyrann es
hinausführe und die ſchöne Entdeckung der Mündung des
Marañon mache!“ Acuña ſetzt voraus, Aguirre ſei durch den
Rio Felipe an die See gelangt, und dieſer Fluß „ſei nur
wenige Meilen von Cabo del Norte entfernt.“
Ralegh brachte auf verſchiedenen Fahrten, die er ſelbſt
gemacht oder die auf ſeine Koſten unternommen worden, nichts
über eine hydrauliſche Verbindung zwiſchen Orinoko und Ama-
zonenſtrom in Erfahrung; aber ſein Unterbefehlshaber Keymis,
der aus Schmeichelei (beſonders aber wegen des Vorganges,
daß der Marañon nach Orellana benannt worden) dem Ori-
noko den Namen Raleana beigelegt, bekam zuerſt eine un-
beſtimmte Vorſtellung von den Trageplätzen zwiſchen dem
Eſſequibo, dem Carony und dem Rio Branco oder Parime.
Aus dieſen Trageplätzen machte er einen großen Salzſee, und
in dieſer Geſtalt erſchienen ſie auf der Karte, die 1599 nach
Raleghs Berichten entworfen wurde. Zwiſchen Orinoko und
Amazonenſtrom zeichnet man eine Kordillere ein, und ſtatt
der wirklichen Gabelung gibt Hondius eine andere, völlig ein-
gebildete an: er läßt den Amazonenſtrom (mittels des Rio
Tocantins) mit dem Parana und dem San Francisco in
Verbindung treten. Dieſe Verbindung blieb über ein Jahr-
hundert auf den Karten ſtehen, wie auch eine angebliche Gabel-
teilung des Magdalenenſtromes, von dem ein Arm zum Golf
von Maracaybo laufen ſollte.
Im Jahre 1639 machten die Jeſuiten Chriſtoval de Acuña
und Andres de Artedia, im Gefolge des Kapitäns Texeira,
die Fahrt von Quito nach Gran-Para. Am Einfluſſe des Rio
Negro in den Amazonenſtrom erfuhren ſie, „erſterer Fluß,
von den Eingeborenen wegen der braunen Farbe ſeines Waſſers
Curiguacura oder Uruna genannt, gebe einen Arm an
den Rio Grande ab, der ſich in die nördliche See ergießt,
[42] und an deſſen Mündung ſich holländiſche Niederlaſſungen be-
finden.“ Acuña gibt den Rat, „nicht am Einfluſſe des Rio
Negro in den Amazonenſtrom, ſondern am Punkte, wo der
Verbindungsaſt abgeht“, eine Feſtung zu bauen. Er beſpricht
die Frage, was wohl dieſer Rio Grande ſein möge, und
kommt zum Schluſſe, der Orinoko ſei es ſicher nicht, vielleicht
aber der Rio Dulce oder der Rio de Felipe, derſelbe,
durch den Aguirre zur See gekommen. Letztere dieſer An-
nahmen ſcheint ihm die wahrſcheinlichſte. Man muß bei der-
gleichen Angaben unterſcheiden zwiſchen dem, was die Reiſen-
den an der Mündung des Rio Negro von den Indianern
erfahren, und dem, was jene nach den Vorſtellungen, die ihnen
der Zuſtand der Geographie zu ihrer Zeit an die Hand gab,
ſelbſt hinzuſetzten. Ein Flußarm, der vom Rio Negro ab-
geht, ſoll ſich in einen ſehr großen Fluß ergießen, der in das
nördliche Meer läuft an einer Küſte, auf der Menſchen
mit roten Haaren wohnen; ſo bezeichneten die Indianer
die Holländer, da ſie gewöhnt waren, nur Weiße mit
ſchwarzen oder braunen Haaren, Spanier oder Portu-
gieſen, zu ſehen. Wir kennen nun aber jetzt, vom Einfluſſe
des Rio Negro in den Amazonenſtrom bis zum Caño Pimichin,
auf dem ich in den erſteren Fluß gekommen, alle Nebenflüſſe
von Nord und Oſt her. Nur ein einziger darunter, der
Caſſiquiare, ſteht mit einem anderen Fluſſe in Verbindung. Die
Quellen des Rio Branco ſind auf den neuen Karten des
braſilianiſchen hydrographiſchen Depots ſehr genau aufgenom-
men, und wir wiſſen, daß dieſer Fluß keineswegs durch einen
See mit dem Carony, dem Eſſequibo oder irgend einem an-
deren Gewäſſer der Küſte von Surinam und Cayenne in Ver-
bindung ſteht. Eine hohe Bergkette, die von Pacaraymo,
liegt zwiſchen den Quellen des Paraguamuſi (eines Neben-
fluſſes des Carony) und denen des Rio Branco, wie es von
Don Antonio Santos auf ſeiner Reiſe von Angoſtura nach
Gran-Para im Jahre 1775 ausgemacht worden. Südwärts
von der Bergkette Pacaraymo und Quimiropaca befindet ſich
ein Trageplatz von drei Tagereiſen zwiſchen dem Sarauri
(einem Arme des Rio Branco) und dem Rupunuri (einem
Arme des Eſſequibo). Ueber dieſen Trageplatz kam im Jahre
1759 der Chirurg Nikolas Hortsmann, ein Hildesheimer,
deſſen Tagebuch ich in Händen gehabt; es iſt dies derſelbe
Weg, auf dem Don Francisco Joſe Rodriguez Barata, Oberſt-
lieutenant des erſten Linienregimentes in Para, im Jahre 1793
[43] im Auftrage ſeiner Regierung zweimal vom Amazonenſtrome
nach Surinam ging. In noch neuerer Zeit, im Februar 1811,
kamen engliſche und holländiſche Koloniſten zum Trageplatz
am Rupunuri und ließen den Befehlshaber am Rio Negro
um die Erlaubnis bitten, zum Rio Branco ſich begeben zu
dürfen; der Kommandant willfahrte dem Geſuch und ſo kamen
die Koloniſten in ihren Kanoen zum Fort San Joaquin am
Rio Branco. Wir werden in der Folge noch einmal auf
dieſe Landenge zurückkommen, einen teils bergigen, teils
fumpfigen Landſtrich, auf den Keymis (der Verfaſſer des
Berichtes von Raleghs zweiter Reiſe) den Dorado und die
große Stadt Manoa verlegt, der aber, wie wir jetzt beſtimmt
wiſſen, die Quellen des Carony, des Rupunuri und des
Rio Branco trennt, die drei verſchiedenen Flußſyſtemen an-
gehören, dem Orinoko, dem Eſſequibo und dem Rio Negro
oder Amazonenſtrom.
Aus dem Bisherigen geht hervor, daß die Eingeborenen,
die Texeira und Acuña von der Verbindung zweier großer
Ströme ſprachen, vielleicht ſelbſt über die Richtung des Caſſi-
quiare im Irrtum waren, oder daß Acuña ihre Aeußerungen
mißverſtanden hat. Letzteres iſt um ſo wahrſcheinlicher, da
ich, wenn ich mich, gleich dem ſpaniſchen Reiſenden, eines
Dolmetſchers bediente, oft ſelbſt die Erfahrung gemacht habe,
wie leicht man etwas falſch auffaßt, wenn davon die Rede
iſt, ob ein Fluß Arme abgibt oder aufnimmt, ob ein Neben-
fluß mit der Sonne geht oder „gegen die Sonne“ läuft. Ich
bezweifle, daß die Indianer mit dem, was ſie gegen Acuña
geäußert, die Verbindung mit den holländiſchen Beſitzungen
über die Trageplätze zwiſchen dem Rio Branco und dem Rio
Eſſequibo gemeint haben. Die Kariben kamen an den Rio
Negro auf beiden Wegen, über die Landenge beim Rupunuri
und auf dem Caſſiquiare; aber eine ununterbrochene Waſſer-
ſtraße mußte den Indianern als etwas erſcheinen, das für die
Fremden ungleich mehr Belang habe, und der Orinoko mündet
allerdings nicht in den holländiſchen Beſitzungen aus, liegt
aber doch denſelben ſehr nahe. Acuñas Aufenthalt an der
Mündung des Rio Negro verdankt Europa nicht nur die erſte
Kunde von der Verbindung zwiſchen Amazonenſtrom und Ori-
noko, derſelbe hatte auch aus dem Geſichtspunkte der Huma-
nität gute Folgen. Texeiras Mannſchaft wollte den Befehls-
haber zwingen, in den Rio Negro einzulaufen, um Sklaven
zu holen. Die beiden Geiſtlichen, Acuña und Artedia, legten
[44] ſchriftliche Verwahrung gegen ein ſolch ungerechtes und politiſch
unkluges Unternehmen ein. Sie behaupteten dabei (und der
Satz iſt ſonderbar genug), „das Gewiſſen geſtatte den Chriſten
nicht, Eingeborene zu Sklaven zu machen, ſolche ausgenommen,
die als Dolmetſcher zu dienen hätten“. Was man auch von
dieſem Satze halten mag, auf die hochherzige, mutvolle Ver-
wahrung der beiden Geiſtlichen unterblieb der beabſichtigte
Raubzug.
Im Jahre 1680 entwarf der Geograph Sanſon nach
Acuñas Reiſebericht eine Karte vom Orinoko und dem Ama-
zonenſtrome. Sie iſt für den Amazonenſtrom, was Gumillas
Karte ſo lange für den unteren Orinoko geweſen. Im ganzen
Striche nördlich vom Aequator iſt ſie rein hypothetiſch, und
der Caqueta, wie ſchon oben bemerkt, gabelt ſich darauf unter
einem rechten Winkel. Der eine Arm des Caqueta iſt der
Orinoko, der andere der Rio Negro. In dieſer Weiſe glaubte
Sanſon auf der erwähnten Karte, und auf einer anderen
von ganz Südamerika aus dem Jahre 1656, die unbeſtimm-
ten Nachrichten, welche Acuña im Jahre 1639 über die
Verzweigungen des Caqueta und über die Verbindungen
zwiſchen Amazonenſtrom und Orinoko erhalten, vereinigen
zu können. Die irrige Vorſtellung, der Rio Negro ent-
ſpringe aus dem Orinoko oder aus dem Caqueta, von dem
der Orinoko nur ein Zweig wäre, hat ſich bis in die Mitte
des 18. Jahrhunderts erhalten, wo der Caſſiquiare entdeckt
wurde.
Pater Fritz war mit einem anderen deutſchen Jeſuiten,
dem Pater Richler, nach Quito gekommen; er entwarf im
Jahre 1690 eine Karte des Amazonenſtromes, die beſte, die
man vor La Condamines Reiſe beſaß. Nach dieſer Karte
richtete ſich der franzöſiſche Akademiker auf ſeiner Flußfahrt,
wie ich auf dem Orinoko nach den Karten von La Cruz und
Caulin. Es iſt auffallend, daß Pater Fritz bei ſeinem langen
Aufenthalt am Amazonenſtrom (der Kommandant eines por-
tugieſiſchen Forts hielt ihn zwei Jahre gefangen) keine Kunde
vom Caſſiquiare erhalten haben ſoll. Die geſchichtlichen Notizen,
die er auf dem Rande ſeiner handſchriftlichen Karte beigeſetzt
und die ich in neueſter Zeit ſorgfältig unterſucht habe, ſind
ſehr mangelhaft; auch ſind ihrer nicht viele. Er läßt eine
Bergkette zwiſchen den beiden Flußſyſtemen ſtreichen und rückt
nur einen der Zweige, die den Rio Negro bilden, nahe an
einen Nebenfluß des Orinoko, der, der Lage nach, der Rio
[45] Caura zu ſein ſcheint. In den 100 Jahren zwiſchen Acuñas
Reiſe und der Entdeckung des Caſſiquiare durch Pater Roman
blieb alles im Ungewiſſen.
Die Verzweigung des Orinoko und des Amazonenſtromes
durch den Rio Negro und eine Gabelteilung des Caqueta,
die Sanſon aufgebracht und die Pater Fritz und Blaeuw ver-
warfen, erſchienen auf de l’Isles erſten Karten wieder; aber
gegen das Ende ſeines Lebens gab der berühmte Geograph
ſie wieder auf. Da man ſich hinſichtlich der Art und Weiſe
der Verbindung geirrt, war man ſchnell bei der Hand und
zog die Verbindung ſelbſt in Abrede. Es iſt wirklich ſehr
merkwürdig, daß zur Zeit, wo die Portugieſen am häufigſten
den Amazonenſtrom, den Rio Negro und den Caſſiquiare
hinauffuhren, und wo Pater Gumillas Briefe (durch die
natürliche Flußverzweigung) vom unteren Orinoko nach Gran-
Para gelangten, dieſer ſelbe Miſſionär ſich alle Mühe gab,
in Europa die Meinung zu verbreiten, daß die Becken
des Orinoko und des Amazonenſtromes völlig voneinander
geſchieden ſeien. Er verſichert, „er ſei öfters erſteren Fluß
bis zum Raudal von Tabaje, unter 1° 4′ der Breite, hinauf-
gefahren und habe niemals einen Fluß, den man für den
Rio Negro hätte halten können, abgehen oder hereinkommen
ſehen“. „Zudem,“ fährt er fort, „läuft eine große Kordillere 1
von Oſt und Weſt und läßt die Gewäſſer nicht ineinander
münden, wie ſie auch alle Erörterung über die angebliche
Verbindung beider Ströme ganz überflüſſig macht.“ Pater
Gumillas Irrtümer entſpringen daher, daß er der feſten Ueber-
zeugung war, auf dem Orinoko bis zum Parallel von 1° 4′
gekommen zu ſein. Er irrte ſich um mehr als fünf Grad
zehn Minuten in der Breite; denn in der Miſſion Atures,
[46] 58,5 km ſüdwärts von den Stromſchnellen von Tabaje, fand
ich die Breite 5° 37′ 34″. Da Pater Gumilla nicht weit
über den Einfluß des Meta hinaufgekommen, ſo iſt es nicht
zu verwundern, daß er die Gabelteilung des Orinako nicht
gekannt hat, die, den Krümmungen des Fluſſes nach, 540 km
vom Raudal von Tabaje liegt. Dieſer Miſſionär, der drei
Jahre am unteren Orinoko gelebt hat (nicht dreißig, wie durch
ſeine Ueberſetzer in Umlauf gekommen), hätte ſich darauf be-
ſchränken ſollen, zu berichten, was er bei ſeinen Fahrten auf
dem Apure, dem Meta und Orinoko von Guyana Vieja bis
in die Nähe des erſten großen Kataraktes mit eigenen Augen
geſehen. Sein Werk (das erſte über dieſe Länder vor Cau-
lins und Gilis Schriften) wurde anfangs gewaltig erhoben,
und ſpäter in den ſpaniſchen Kolonieen um ſo weiter und zu
weit herabgeſetzt. Allerdings begegnet man im Orinoco
ilustrado nicht der genauen Kenntnis der Oertlichkeiten,
der naiven Einfalt, wodurch die Berichte der Miſſionäre einen
gewiſſen Reiz erhalten; der Stil iſt gekünſtelt und die Sucht
zu übertreiben gibt ſich überall kund; trotz dieſer Fehler fin-
den ſich in Pater Gumillas Buch ſehr richtige Anſichten über
die Sitten und die natürlichen Anlagen der verſchiedenen Völker-
ſchaften am unteren Orinoko und in den Llanos am Caſanare.
Auf ſeiner denkwürdigen Fahrt auf dem Amazonenſtrom
im Jahre 1743 hatte La Condamine zahlreiche Belege für die
vom ſpaniſchen Jeſuiten geleugnete Verbindung zwiſchen bei-
den Strömen geſammelt. Als den bündigſten derſelben ſah
er damals die nicht verdächtige Ausſage einer Cauriacani-
indianerin an, mit der er geſprochen und die vom Orinoko
(von der Miſſion Pararuma) im Kanoe nach Gran-Para
gelangt war. Ehe La Condamine in das Vaterland zurück-
kam, ſetzten die Fahrt des Pater Manuel Roman und der
Umſtand, daß Miſſionäre vom Orinoko und vom Ama-
zonenſtrom ſich zufällig begegneten, die Thatſache, die zuerſt
Acuña kund geworden, außer allen Zweifel.
Auf den Streifzügen zur Sklavenjagd, welche ſeit der
Mitte des 17. Jahrhunderts unternommen wurden, waren die
Portugieſen nach und nach aus dem Rio Negro über den
Caſſiquiare in das Bett eines großen Stromes gekommen,
von dem ſie nicht wußten, daß es der Orinoko ſei. Ein flie-
gendes Lager der Tropa de rescate1 leiſtete dieſem un-
[47] menſchlichen Handel Vorſchub. Man hetzte die Eingeborenen,
ſich zu bekriegen, und kaufte dann die Gefangenen los; und
um dem Sklavenhandel einen Anſtrich von Rechtmäßigkeit zu
geben, gingen Geiſtliche mit der Tropa de rescate, die unter-
ſuchten, „ob diejenigen, welche Sklaven verkauften, auch dazu
berechtigt ſeien, weil ſie dieſelben in offenem Kampfe zu Ge-
fangenen gemacht“. Vom Jahre 1737 an wiederholten ſich
dieſe Züge der Portugieſen an den oberen Orinoko ſehr oft.
Die Gier, Sklaven (poitos) gegen Beile, Fiſchangeln und
Glaswaren zu vertauſchen, trieb die indianiſchen Völkerſchaften
zum blutigen Streite gegeneinander. Die Quipunave, unter
ihrem tapferen und grauſamen Häuptling Macapu, waren vom
Inirida zum Zuſammenfluſſe des Atabapo und des Orinoko
herabgekommen. „Sie verkauften,“ ſagt der Miſſionär Gili,
„die Gefangenen, die ſie nicht verzehrten.“ Ueber dieſem
Treiben wurden die Jeſuiten am unteren Orinoko unruhig,
und der Superior der ſpaniſchen Miſſionen, Pater Roman,
ein vertrauter Freund Gumillas, faßte mutig den Entſchluß,
ohne Begleitung von ſpaniſchen Soldaten über die großen
Katarakte hinaufzugehen und die Quipunave heimzuſuchen.
Er ging am 4. Februar 1744 von Carichana ab; angelangt
am Zuſammenfluſſe des Guaviare, des Atabapo und des Ori-
noko, an der Stelle, wo letzterer Fluß aus ſeiner Richtung
von Oſt nach Weſt in die von Süd nach Nord übergeht, ſah
er von weitem eine Piroge, ſo groß wie die ſeinige, voll
von europäiſch gekleideten Leuten. Er ließ, gemäß der Sitte
der Miſſionäre, wenn ſie in unbekanntem Lande auf dem
Waſſer ſind, als Friedenszeichen das Kruzifix am Vorderteile
ſeines Fahrzeuges aufpflanzen. Die Weißen (es waren por-
tugieſiſche Sklavenhändler vom Rio Negro) erkannten mit
Jubel das Ordenskleid des heiligen Ignatius. Sie verwun-
derten ſich, als ſie hörten, der Fluß, auf dem dieſe Begeg-
nung ſtattgefunden, ſei der Orinoko, und ſie nahmen Pater
Roman über den Caſſiquiare in die Niederlaſſungen am Rio
Negro mit ſich. Der Superior der ſpaniſchen Miſſionen ſah
ſich genötigt, beim fliegenden Lager der Tropa de rescate
zu verweilen, bis der portugieſiſche Jeſuit Avogadri, der in
Geſchäften nach Gran-Para gegangen, zurück war. Auf dem-
ſelben Wege, über den Caſſiquiare und den oberen Orinoko,
fuhr Pater Roman mit ſeinen Salivasindianern nach Para-
ruma, etwas nördlich von Carichana, zurück, nachdem er ſieben
Monate ausgeweſen. Er iſt der erſte Weiße, der vom Rio
[48] Negro, und ſomit aus dem Becken des Amazonenſtromes (ohne
ſeine Kanoen über einen Trageplatz ſchaffen zu laſſen) in das
Becken des Orinoko gelangt iſt.
Die Kunde dieſer merkwürdigen Fahrt verbreitete ſich ſo
raſch, daß La Condamine in einer öffentlichen Sitzung der
Akademie ſieben Monate nach Pater Romans Rückkehr nach
Pararuma Mitteilung davon machen konnte. Er ſagt: „Die
nunmehr beglaubigte Verbindung des Orinoko und des Ama-
zonenſtromes kann um ſo mehr für eine geographiſche Ent-
deckung gelten, als zwar dieſe Verbindung auf den alten
Karten (nach Acuñas Berichten) angegeben iſt, aber von den
heutigen Geographen auf den neuen Karten, wie auf Verab-
redung, weggelaſſen wird. Es iſt dies nicht das erſte Mal,
daß etwas für fabelhaft gegolten hat, was doch vollkommen
richtig war, daß man die Kritik zu weit trieb, und daß dieſe
Verbindung von Leuten für ſchimäriſch erklärt wurde, die am
beſten davon hätten wiſſen ſollen.“ Seit Pater Romans
Fahrt im Jahre 1744 hat in Spaniſch-Guyana und an den
Küſten von Cumana und Caracas kein Menſch mehr die Exi-
ſtenz des Caſſiquiare und die Gabelteilung des Orinoko in
Zweifel gezogen. Sogar Pater Gumilla, den Bouguer in
Cartagena de Indias getroffen hatte, geſtand, daß er ſich
geirrt, und kurz vor ſeinem Tode las er Pater Gili ein für
eine neue Ausgabe ſeiner Geſchichte des Orinoko beſtimmtes
Supplement vor, in dem er munter 1 erzählte, in welcher
Weiſe er enttäuſcht worden. Durch Ituriagas und Solanos
Grenzexpedition wurden die geographiſchen Verhältniſſe des
oberen Orinoko und die Verzweigung dieſes Fluſſes mit dem
Rio Negro vollends genau bekannt. Solano ließ ſich im
Jahre 1756 an der Mündung des Atabapo nieder, und von
nun an fuhren ſpaniſche und portugieſiſche Kommiſſäre mit
ihren Pirogen oft über den Caſſiquiare vom unteren Orinoko
an den Rio Negro, um ſich in ihren Hauptquartieren Cabruta 2
[49] und Mariva zu beſuchen. Seit 1767 kamen regelmäßig jedes
Jahr zwei bis drei Pirogen von der Schanze San Carlos
über die Gabelteilung des Orinoko nach Angoſtura, um Salz
und den Sold für die Truppen zu holen. Dieſe Fahrten
von einem Flußbecken in das andere durch den natürlichen
Kanal des Caſſiquiare machen jetzt bei den Koloniſten ſo wenig
Aufſehen mehr, als wenn Schiffe die Loire herab auf dem
Kanal von Orleans in die Seine kommen.
Seit Pater Romans Fahrt im Jahre 1744 war man
in den ſpaniſchen Beſitzungen in Amerika von der Richtung
des oberen Orinoko von Oſt nach Weſt und von der Art ſeiner
Verbindung mit dem Rio Negro genau unterrichtet, aber in
Europa wurde letztere erſt weit ſpäter bekannt. Noch im
Jahre 1750 nahmen La Condamine und d’Anville an, der
Orinoko ſei ein Arm des Caqueta, der von Südoſt herkomme,
und der Rio Negro entſpringe unmittelbar daraus. Erſt in
einer zweiten Ausgabe ſeines Südamerika läßt d’Anville, ohne
gleichwohl eine Verzweigung des Caqueta vermittelſt des
Iniricha (Inirida) mit dem Orinoko und dem Rio Negro
aufzugeben, den Orinoko im Oſten in der Nähe der Quellen
des Rio Branco entſpringen und gibt er den Rio Caſſiquiare
an, der vom oberen Orinoko zum Rio Negro läuft. Wahr-
ſcheinlich hatte ſich der unermüdliche Forſcher durch ſeinen
ſtarken Verkehr mit den Miſſionären, die damals, wie noch
jetzt, für das eigentliche Herz der Feſtländer die einzigen geo-
graphiſchen Autoritäten waren, Nachweiſungen über die Art
der Gabelteilung verſchafft. Hinſichtlich des Zuſammenfluſſes
des Caſſiquiare mit dem Rio Negro irrte er ſich um 3½ Breiten-
grade, aber die Lage des Atabapo und der bewaldeten Land-
enge, über die ich von Javita an den Rio Negro gekommen,
gibt er ſchon ziemlich richtig an. Durch die in den Jahren
1775 und 1778 veröffentlichten Karten von La Cruz Olme-
dilla 1 und Surville ſind, neben Pater Caulins Werke, die
2
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 4
[50] Arbeiten der Grenzexpedition am beſten bekannt geworden;
denn die zahlreichen Widerſprüche darauf beziehen ſich auf
die Quellen des Orinoko und des Rio Branco, nicht auf den
Lauf des Caſſiquiare und des Rio Negro, die ſo richtig an-
gegeben ſind, als man es beim gänzlichen Mangel an aſtro-
nomiſchen Beobachtungen verlangen kann.
So ſtand es mit den hydrographiſchen Entdeckungen im
Inneren von Guyana, als kurze Zeit vor meinem Abgang
von Europa ein Gelehrter, deſſen Arbeiten die Geographie
ſo bedeutend gefördert haben, Acuñas Bericht, die Karte des
Paters Samuel Fritz und La Cruz Olmedillas „Südamerika“
noch einmal näher prüfen zu müſſen glaubte. Die politiſchen
Verhältniſſe in Frankreich machten vielleicht, daß ſich Buache
nicht verſchaffen oder nicht benutzen konnte, was Caulin und
Gili geſchrieben, die zwei Miſſionäre, die am Orinoko lebten,
als die Grenzexpedition zwiſchen der ſpaniſchen Schanze am
Rio Negro und der Stadt Angoſtura, über den Caſſiquiare und
den oberen Orinoko, den Verkehr eröffnete, der über ein halbes
Jahrhundert regelmäßig im Gange war. Auf der im Jahre 1798
erſchienenen Carte générale de la Guyane iſt der Caſſiquiare
und das Stück des oberen Orinoko oſtwärts von Esmeralda
als ein Nebenfluß des Rio Negro, der mit dem Orinoko gar
nicht zuſammenhängt, dargeſtellt. Eine Bergkette ſtreicht über
die Ebene, welche die Landenge zwiſchen dem Tuamini und
dem Pimichin bildet. Dieſe Kette läßt die Karte gegen
Nordoſt fortlaufen und zwiſchen den Gewäſſern des Orinoko
und denen des Rio Negro und Caſſiquiare, 90 km weſtlich
von Esmeralda, eine Waſſerſcheide bilden. In einer An-
merkung auf der Karte heißt es: „Die ſchon lange her an-
genommene Verbindung zwiſchen dem Orinoko und dem
Amazonenſtrom ſei eine geographiſche Ungeheuerlichkeit, die
Olmedillas Karte ohne allen Grund in der Welt verbreitet,
und um die Vorſtellungen über dieſen Punkt zu berichtigen,
habe man die Richtung der großen Bergkette, welche die
Waſſerſcheide bilde, zu ermitteln.“
Ich war ſo glücklich, dieſe Bergkette an Ort und Stelle
zu ermitteln. Ich übernachtete am 24. Mai mit meiner
Piroge am Stücke des Orinoko, wo nach Buaches Annahme
1
[51] eine Kordillere über das Flußbett laufen ſollte. Befände ſich
an dieſem Punkt eine Waſſerſcheide, ſo hätte ich die erſten
90 km weſtwärts von Esmeralda einen Fluß hinauf, ſtatt,
wie ich gethan, mit raſcher Strömung hinab fahren müſſen.
Derſelbe Fluß, der oſtwärts von dieſer Miſſion entſpringt
und einen Arm (den Caſſiquiare) an den Rio Negro abgibt,
läuft ohne Unterbrechung Santa Barbara und San Fernando
de Atabapo zu. Es iſt dies das Stück des Orinoko, das
von Südoſt nach Nordweſt gerichtet iſt und bei den Indianern
Rio Paragua heißt. Nachdem er ſeine Gewäſſer mit denen
des Guaviare und des Atabapo vermiſcht, wendet ſich der-
ſelbe Fluß gegen Norden und geht durch die großen Kata-
rakten. Alle dieſe Punkte ſind auf der großen Karte von
La Cruz im ganzen gut angegeben; ohne Zweifel hat aber
Buache vorausgeſetzt, bei den verſchiedenen Fahrten, die
zwiſchen Amazonenſtrom und Orinoko ausgeführt worden ſein
ſollten, ſeien die Kanoen von einem Nebenfluß zum anderen
über irgend einen Trageplatz (arastradero) geſchleppt worden.
Dem geachteten Geographen lag die Annahme, die Flüſſe
laufen in Wirklichkeit nicht ſo, wie die neueren ſpaniſchen
Karten angeben, deſto näher, als auf denſelben Karten um
den See Parime herum (das angebliche, 12 150 qkm große
Weiße Meer) die ſeltſamſten, unwahrſcheinlichſten Flußver-
zweigungen vorkommen. Man könnte auf den Orinoko an-
wenden, was Pater Acuña vom Amazonenſtrom ſagt, deſſen
Wunder er beſchreibt: „Nacieron hermanadas en las cosas
grandes la novedad y el descredito.“1
Hätten die Völker in den Niederungen von Südamerika
teilgehabt an der Kultur, welche in der kalten Alpenregion
verbreitet war, ſo hätte dieſes ungeheure Meſopotamien zwiſchen
Orinoko und Amazonenſtrom die Entwickelung ihres Gewerbe-
fleißes gefördert, ihren Handel belebt, den geſellſchaftlichen
Fortſchritt beſchleunigt. In der Alten Welt ſehen wir überall
einen ſolchen Einfluß der Oertlichkeit auf die keimende Kultur
der Völker. Die Inſel Meroe zwiſchen dem Aſtaboras und
dem Nil, das Pendſchab des Indus, das Duab des Ganges,
das Meſopotamien des Euphrat ſind glänzende Belege dafür
in den Annalen des Menſchengeſchlechts. Aber die ſchwachen
[52] Völkerſtämme, die auf den Grasfluren und in den Wäldern
von Südamerika herumziehen, haben aus den Vorzügen ihres
Bodens und den Verzweigungen ihrer Flüſſe gar wenig
Nutzen gezogen. Die Einfälle der Kariben, die weither den
Orinoko, den Caſſiquiare und Rio Negro heraufkamen, um
Sklaven zu rauben, rüttelten ein paar verſunkene Völker-
ſchaften aus ihrer Trägheit auf und zwangen ſie, Vereine zur
gemeinſamen Verteidigung zu bilden; aber das wenige Gute,
das dieſe Kriege mit den Kariben (den Beduinen der Ströme
Guyanas) mit ſich gebracht, war ein ſchlechter Erſatz für die
Uebel, die ſie zur Folge hatten, Verwilderung der Sitten
und Verminderung der Bevölkerung. Unzweifelhaft hat die
Terrainbildung Griechenlands, die mannigfaltige Geſtaltung
des Landes, ſeine Zerteilung durch kleine Bergketten und
Buſen des Mittelmeeres, in den Anfängen der Kultur die
geiſtige Entwickelung der Hellenen bedeutend gefördert. Aber
dieſer Einfluß des Klimas und der Bodenbildung äußert
ſich nur da in ſeiner ganzen Stärke, wo Menſchenſtämme
mit glücklicher Begabung nach Geiſt und Gemüt einen An-
ſtoß von außen erhalten. Gewinnt man einen Ueberblick
über die Geſchichte unſeres Geſchlechtes, ſo ſieht man dieſe
Mittelpunkte antiker Kultur da und dort gleich Lichtpunkten
über den Erdball verſtreut, und gewahrt mit Ueberraſchung,
wie ungleich die Geſittung unter den Völkern iſt, die faſt
unter demſelben Himmelsſtriche wohnen und über deren
Wohnſitze ſcheinbar die Natur dieſelben Segnungen ver-
breitet hat.
Seit ich den Orinoko und den Amazonenſtrom verlaſſen
habe, bereitet ſich für die geſellſchaftlichen Verhältniſſe der
Völker des Occidents eine neue Aera vor. Auf den Jammer
der bürgerlichen Zwiſte werden die Segnungen des Friedens
und eine freiere Entwickelung aller Gewerbthätigkeit folgen.
Da wird denn die europäiſche Handelswelt jene Gabelteilung
des Orinoko, jene Landenge am Tuamini, durch die ſo leicht
ein künſtlicher Kanal zu ziehen iſt, ins Auge faſſen. Da
wird der Caſſiquiare, ein Strom, ſo breit wie der Rhein
und 330 km lang, nicht mehr umſonſt eine ſchiffbare Linie
zwiſchen zwei Strombecken bilden, die 3 850 000 qkm Ober-
fläche haben. Das Getreide aus Neugranada wird an die
Ufer des Rio Negro kommen, von den Quellen des Napo
und des Ucayale, von den Anden von Quito und Oberperu
wird man zur Mündung des Orinoko hinabfahren, und dies
[53] iſt ſo weit wie von Timbuktu nach Marſeille. Ein Land,
neun- bis zehnmal größer als Spanien und reich an den
mannigfaltigſten Produkten, kann mittels des Naturkanals
des Caſſiquiare und der Gabelteilung der Flüſſe nach allen
Richtungen hin befahren werden. Eine Erſcheinung, die eines
Tages von bedeutendem Einfluß auf die politiſchen Verhält-
niſſe der Völker ſein muß, verdiente es gewiß, daß man ſie
genau ins Auge faßte.
[[54]]
fünfundzwanzigſtes Kapitel.
Der obere Orinoko von Esmeralda bis zum Einfluß des Gua-
viare. — Zweite Fahrt durch die Katarakte von Atures und May-
pures. — Der untere Orinoko zwiſchen der Mündung des Apure
und Angoſtura, der Hauptſtadt von Spaniſch-Guyana.
Noch habe ich von der einſamſten, abgelegenſten chriſt-
lichen Niederlaſſung am oberen Orinoko zu ſprechen. Gegen-
über dem Punkte, wo die Gabelteilung erfolgt, auf dem
rechten Ufer des Fluſſes erhebt ſich amphitheatraliſch der
Granitbergſtock des Duida. Dieſer Berg, den die Miſſionäre
einen Vulkan nennen, iſt gegen 2600 m hoch. Er nimmt
ſich, da er nach Süd und Weſt ſteil abfällt, äußerſt großartig
aus. Sein Gipfel iſt kahl und ſteinig; aber überall, wo auf
den weniger ſteilen Abhängen Dammerde haftet, hängen an
den Seiten des Duida gewaltige Wälder wie in der Luft.
An ſeinem Fuße liegt die Miſſion Esmeralda, ein Dörfchen
mit 80 Einwohnern, auf einer herrlichen, von Bächen mit
ſchwarzem, aber klarem Waſſer durchzogenen Ebene, einem
wahren Wieſengrund, auf dem in Gruppen die Mauritia-
palme, der amerikaniſche Sagobaum, ſteht. Dem Berge zu,
der nach meiner Meſſung 14,2 km vom Miſſionskreuz liegt,
wird die ſumpfige Wieſe zur Savanne, die um die untere
Region der Kordillere herläuft. Hier trifft man ungemein
große Ananas von köſtlichem Geruch. Dieſe Bromeliaart
wächſt immer einzeln zwiſchen den Gräſern, wie bei uns
Colchicum autumnale, während der Karatas, eine andere
Art derſelben Gattung, ein geſelliges Gewächs iſt gleich un-
ſeren Heiden und Heidelbeeren. Die Ananas von Esmeralda
ſind in ganz Guyana berühmt. In Amerika wie in Europa
gibt es für die verſchiedenen Früchte gewiſſe Landſtriche, wo
ſie zur größten Vollkommenheit gedeihen. Man muß auf der
Inſel Margarita oder in Cumana Sapotillen (Achras), in
[55] Loxa in Peru Chilimoyas (ſehr verſchieden vom Coroſſol oder
der Anona der Antillen), in Caracas Granadillas oder
Parchas, in Esmeralda und auf Cuba Ananas gegeſſen haben,
um die Lobſprüche, womit die älteſten Reiſenden die Köſt-
lichkeit der Produkte der heißen Zone preiſen, nicht übertrieben
zu finden. Die Ananas ſind die Zierde der Felder bei der
Havana, wo ſie in Reihen nebeneinander gezogen werden;
an den Abhängen des Duida ſchmücken ſie den Raſen der
Savannen, wenn ihre gelben, mit einem Büſchel ſilberglän-
zender Blätter gekrönten Früchte über den Setarien, den
Paspalum und ein paar Cyperaceen hervorragen. Dieſes
Gewächs, das die Indianer Ana-curua nennen, verbreitete
ſich ſchon im 16. Jahrhundert im inneren China, und noch
in neueſter Zeit fanden es engliſche Reiſende mit anderen,
unzweifelhaft amerikaniſchen Gewächſen (Mais, Maniok, Me-
lonenbaum, Tabak, Piment) an den Ufern des Rio Kongo in
Afrika.
In Esmeralda iſt kein Miſſionär. Der Geiſtliche, der
hier Meſſe leſen ſoll, ſitzt in Santa Barbara, über 225 km
weit. Er braucht den Fluß herauf vier Tage, er kommt
daher auch nur fünf- oder ſechsmal im Jahre. Wir wurden
von einem alten Soldaten ſehr freundlich aufgenommen; der
Mann hielt uns für kataloniſche Krämer, die in den Miſſionen
ihren Kleinhandel treiben wollten. Als er unſere Papier-
ballen zum Pflanzentrocknen ſah, lächelte er über unſere naive
Unwiſſenheit. „Ihr kommt in ein Land,“ ſagte er, „wo
derartige Ware keinen Abſatz findet. Geſchrieben wird hier
nicht viel, und trockene Mais-, Platano- (Bananen-) und
Vijaho- (Helikonia-) Blätter brauchen wir hier, wie in Europa
das Papier, um Nadeln, Fiſchangeln und andere kleine
Sachen, die man ſorgfältig aufbewahren will, einzuwickeln.“
Der alte Soldat vereinigte in ſeiner Perſon die bürgerliche
und die geiſtliche Behörde. Er lehrte die Kinder, ich ſage
nicht den Katechismus, aber doch den Roſenkranz beten, er
läutete die Glocken zum Zeitvertreib, und im geiſtlichen Amts-
eifer bediente er ſich zuweilen ſeines Küſterſtocks in einer
Weiſe, die den Eingeborenen ſchlecht behagte.
So klein die Miſſion iſt, werden in Esmeralda doch
drei indianiſche Sprachen geſprochen: Idapaminariſch, Ca-
tarapeñiſch und Maquiritaniſch. Letztere Sprache iſt am
oberen Orinoko vom Einfluß des Ventuari bis zu dem
des Padamo die herrſchende, wie am unteren Orinoko das
[56] Karibiſche, am Einfluß des Apure das Otomakiſche, bei den
großen Katarakten das Tamanakiſche und Maypuriſche und
am Rio Negro das Maravitaniſche. Es ſind dies die fünf
oder ſechs verbreitetſten Sprachen. Wir wunderten uns, in
Esmeralda viele Zambos, Mulatten und andere Farbige an-
zutreffen, die ſich aus Eitelkeit Spanier nennen und ſich
für weiß halten, weil ſie nicht rot ſind wie die Indianer.
Dieſe Menſchen führen ein jämmerliches Leben. Sie ſind
meiſt als Verwieſene (desterrados) hier. Um im inneren
Lande, das man gegen die Portugieſen abſperren wollte, in
Eile Kolonieen zu gründen, hatte Solano in den Llanos und
bis zur Inſel Margarita hin Landſtreicher und Uebelthäter,
denen die Juſtiz bis dahin vergeblich nachgeſpürt, zuſammen-
gerafft und ſie den Orinoko hinaufgeführt, wo ſie mit den
unglücklichen, aus den Wäldern weggeſchleppten Indianern
zuſammengethan wurden. Durch ein mineralogiſches Miß-
verſtändnis wurde Esmeralda berühmt. Der Granit des
Duida und des Maraguaca enthält in offenen Gängen ſchöne
Bergkriſtalle, die zum Teil ſehr durchſichtig, zum Teil mit
Chlorit (Talkglimmer) gefärbt und mit Aktinot (Strahlſtein)
gemengt ſind; man hatte ſie für Diamanten und Smaragden
(Esmeralda) gehalten. So nahe den Quellen des Orinoko
träumte man in dieſen Bergen von nichts als vom Dorado,
der nicht weit ſein konnte, vom See Parime und von den
Trümmern der großen Stadt Manoa. Ein Mann, der wegen
ſeiner Leichtgläubigkeit und wegen ſeiner Sucht zur Ueber-
treibung noch jetzt im Lande wohlbekannt iſt, Don Apolli-
nario Diez de la Fuente, nahm den vollklingenden Titel
eines Capitan poblador und Cabo militar des Forts am
Caſſiquiare an. Dieſes Fort beſtand in ein paar mit Bret-
tern verbundenen Baumſtämmen, und um die Täuſchung voll-
ſtändig zu machen, ſprach man in Madrid für die Miſſion
Esmeralda, ein Dörfchen von zwölf bis fünfzehn Hütten, die
Gerechtſame einer Villa an. Es iſt zu beſorgen, daß Don
Apollinario, der in der Folge Statthalter der Provinz Los
Quixos im Königreich Quito wurde, bei Entwerfung der
Karten von La Cruz und Surville die Hand im Spiele ge-
habt hat. Da er die Windſtriche des Kompaſſes kannte,
nahm er keinen Anſtand, in den zahlreichen Denkſchriften, die
er dem Hof übermachte, ſich Kosmograph der Grenzexpedition
zu nennen.
Während die Befehlshaber dieſer Expedition von der
[57] Exiſtenz der Nueva Villa de Esmeralda überzeugt waren, ſo-
wie vom Reichtum des Cerro Duida an koſtbaren Mineralien,
da doch nichts darin zu finden iſt als Glimmer, Bergkriſtall,
Aktinot und Rutil, ging eine aus den ungleichſten Elementen
beſtehende Kolonie allgemach wieder zu Grunde. Die Land-
ſtreicher aus den Llanos hatten ſo wenig Luſt zur Arbeit als
die Indianer, die gezwungen „unter der Glocke“ lebten.
Erſteren diente ihr Hochmut zu weiterer Rechtfertigung ihrer
Faulheit. In den Miſſionen nennt ſich jeder Farbige, der
nicht geradezu ſchwarz iſt wie ein Afrikaner oder kupferfarbig
wie ein Indianer, einen Spanier; er gehört zur Gente
de razon, zur vernunftbegabten Raſſe, und dieſe, wie nicht
zu leugnen, hie und da übermütige und arbeitsſcheue Ver-
nunft redet den Weißen und denen, die es zu ſein glauben,
ein, der Landbau ſei ein Geſchäft für Sklaven, für Poitos,
und für neubekehrte Indianer. Die Kolonie Esmeralda war
nach dem Muſter der neuholländiſchen gegründet, wurde aber
keineswegs ebenſo weiſe regiert. Da die amerikaniſchen Kolo-
niſten von ihrem Heimatland nicht durch Meere, ſondern
durch Wälder und Savannen geſchieden waren, ſo verliefen ſie
ſich, die einen nach Nord, dem Caura und Carony zu, die
anderen nach Süd in die portugieſiſchen Beſitzungen. So
hatte es mit der Herrlichkeit der Villa und den Smaragd-
gruben am Duida ein jähes Ende, und Esmeralda galt wegen
der furchtbaren Inſektenmaſſe, welche das ganze Jahr die
Luft verfinſtert, bei den Ordensleuten für einen fluchwürdigen
Verbannungsort.
Ich erwähnte oben, daß der Vorſteher der Miſſionen
den Laienbrüdern, um ſie in der Zucht zu halten, zuweilen
droht, ſie nach Esmeralda zu ſchicken; man wird damit, wie
die Mönche ſagen „zu den Moskiten verurteilt, verurteilt,
von den ſummenden Mücken (Zancudos gritones) gefreſſen
zu werden, die Gott den Menſchen zur Strafe erſchaffen hat“.
Einer ſo ſeltſamen Strafe unterlagen aber nicht immer nur
Laienbrüder. Um Jahr 1788 brach in der Ordenswelt eine
der Revolutionen aus, die einem in Europa nach den Vor-
ſtellungen, die man von den friedlichen Zuſtänden der chriſt-
lichen Niederlaſſungen in der Neuen Welt hat, faſt unbegreif-
lich ſind. Schon längſt hätten die Franziskaner, die in
Guyana ſaßen, gerne eine Republik für ſich gebildet und
ſich vom Kollegium von Piritu in Nueva Barcelona unab-
hängig gemacht. Mißvergnügt, daß zum wichtigen Amte eines
[58] Präſidenten der Miſſionen Fray Gutierez de Aquilera von
einem Generalkapitel gewählt und vom König beſtätigt worden,
traten fünf oder ſechs Mönche vom oberen Orinoko, Caſſi-
quiare und Rio Negro in San Fernando de Atabapo zu-
ſammen, wählten in aller Eile und aus ihrer eigenen Mitte
einen neuen Superior und ließen den alten, der zu ſeinem
Unglück zur Viſitation ins Land kam, feſtnehmen. Man legte
ihm Fußſchellen an, warf ihn in ein Kanoe und führte ihn
nach Esmeralda als Verbannungsort. Da es von der Küſte
zum Schauplatz dieſer Empörung ſo weit war, ſo hofften die
Mönche, ihre Frevelthat werde jenſeits der großen Katarakte
lange nicht bekannt werden. Man wollte Zeit gewinnen, um
zu intrigieren, zu negoziieren, um Anklageakten aufzuſetzen
und all die kleinen Ränke ſpielen zu laſſen, durch die man
überall in der Welt die Ungültigkeit einer erſten Wahl dar-
thut. Der alte Superior ſeufzte in ſeinem Kerker zu Es-
meralda; ja er wurde von der furchtbaren Hitze und dem
beſtändigen Hautreiz durch die Moskiten ernſtlich krank. Zum
Glück für die geſtürzte Autorität blieben die meuteriſchen
Mönche nicht einig. Einem Miſſionär vom Caſſiquiare wurde
bange, wie dieſer Handel enden ſollte; er fürchtete verhaftet
und nach Cadiz geſchickt zu werden, oder, wie man in den
Kolonieen ſagt, baxo partido de registro; aus Angſt wurde
er ſeiner Partei untreu und machte ſich unverſehens davon.
Man ſtellte an der Mündung des Atabapo, bei den großen
Katarakten, überall wo der Flüchtling auf dem Weg zum
unteren Orinoko vorbeikommen mußte, Indianer als Wachen
auf. Trotz dieſer Maßregeln kam er nach Angoſtura und
von da in das Miſſionskollegium von Piritu; er gab ſeine
Kollegen an und erhielt zum Lohn für ſeine Ausſage den
Auftrag, die zu verhaften, mit denen er ſich gegen den Prä-
ſidenten der Miſſionen verſchworen hatte. In Esmeralda,
wo man von den politiſchen Stürmen, die ſeit 30 Jahren
das alte Europa erſchüttern, noch gar nicht hat ſprechen
hören, iſt der ſogenannte Alboroto de los frailes (die Meu-
terei der Mönche) noch immer eine wichtige Begebenheit. Hier-
zulande, wie im Orient, weiß man nur von Revolutionen,
die von den Gewalthabern ſelbſt ausgehen, und wir haben
geſehen, daß ſie in ihren Folgen eben nicht ſehr bedenk-
lich ſind.
Wenn die Villa Esmeralda mit ihrer Bevölkerung von
12 bis 15 Familien gegenwärtig für einen ſchrecklichen Auf-
[59] enthaltsort gilt, ſo kommt dies nur vom Mangel an Anbau,
von der Entlegenheit von allen bewohnten Landſtrichen und
von der furchtbaren Menge der Moskiten. Die Lage der
Miſſion iſt ungemein maleriſch, das Land umher äußerſt
freundlich und ſehr fruchtbar. Nie habe ich ſo gewaltig große
Bananenbüſchel geſehen; Indigo, Zucker, Kakao kämen vor-
trefflich fort, aber man mag ſich nicht die Mühe geben, ſie
zu bauen. Um den Cerro Duida herum gibt es ſchöne Wei-
den, und wenn die Obſervanten aus dem Kollegium von
Piritu nur etwas von der Betriebſamkeit der kataloniſchen
Kapuziner von Carony hätten, ſo liefen zwiſchen dem Cunu-
cunumo und Padamo zahlreiche Herden. Wie die Sachen
jetzt ſtehen, iſt keine Kuh, kein Pferd vorhanden und die Ein-
wohner haben oft, zur Buße ihrer Faulheit, nichts zu eſſen
als Schinken von Brüllaffen und das Mehl von Fiſchknochen,
von dem in der Folge die Rede ſein wird. Man baut nur
etwas Maniok und Bananen; und wenn der Fiſchfang nicht
reichlich ausfällt, ſo iſt die Bevölkerung eines von der Natur ſo
hoch begünſtigten Landes dem grauſamſten Mangel preisgegeben.
Da die wenigſten Kanoen, die vom Rio Negro über den
Caſſiquiare nach Anguſtora gehen, nicht gerne nach Esmeralda
hinauffahren, ſo läge die Miſſion weit beſſer an der Stelle,
wo der Orinoko ſich gabelt. Sicher wird dieſes große Land
nicht immer ſo verwahrloſt bleiben wie bisher, da die Un-
vernunft des Mönchsregiments und der Geiſt des Monopols,
der nun einmal allen Körperſchaften eigen iſt, es niederhielten;
ja es läßt ſich vorausſagen, an welchen Punkten des Ori-
noko Gewerbfleiß und Handel ſich am kräftigſten entwickeln
werden. Unter allen Himmelsſtrichen drängt ſich die Bevöl-
kerung vorzüglich an den Mündungen der Nebenflüſſe zuſammen.
Durch den Rio Apure, auf dem die Erzeugniſſe der Provinzen
Varidas und Merida ausgeführt werden, muß die kleine Stadt
Cabruta eine große Bedeutung erhalten; ſie wird mit San
Fernando de Apure konkurrieren, wo bis jetzt der ganze
Handel konzentriert war. Weiter oben wird ſich eine neue
Niederlaſſung am Einfluß des Meta bilden, der über die
Llanos am Caſanare mit Neugranada in Verbindung ſteht.
Die zwei Miſſionen bei den Katarakten werden ſich vergrößern,
weil dieſe Punkte durch den Transport der Pirogen ſehr
lebhaft werden müſſen; denn das ungeſunde, naſſe Klima und
die furchtbare Menge der Moskiten werden dem Fortſchritt
der Kultur am Orinoko ſo wenig Einhalt thun als am Mag-
[60] dalenenſtrome, ſobald einmal ernſtliches kaufmänniſches Intereſſe
neue Anſiedler herzieht. Gewohnte Uebel werden leichter er-
tragen, und wer in Amerika geboren iſt, hat keine ſo großen
Schmerzen zu leiden wie der friſch angekommene Europäer.
Auch wird wohl die allmähliche Ausrodung der Wälder in
der Nähe der bewohnten Orte die ſchreckliche Plage der Mücken
etwas vermindern. In San Fernando de Atabapo, Javita,
San Carlos, Esmeralda werden wohl (wegen ihrer Lage an
der Mündung des Guaviare, am Trageplatz zwiſchen Tuamini
und Rio Negro, am Ausfluß des Caſſiquiare und am Gabe-
lungspunkt des oberen Orinoko) Bevölkerung und Wohlſtand
bedeutend zunehmen. Mit dieſen fruchtbaren, aber brach lie-
genden Ländern, durch welche der Huallaga, der Amazonen-
ſtrom und der Orinoko ziehen, wird es gehen wie mit der
Landenge von Panama, dem Nikaraguaſee und dem Rio
Huaſacualco, durch welche zwei Meere miteinander in Ver-
bindung ſtehen. Mangelhafte Staatsformen konnten ſeit
Jahrhunderten Orte, in denen der Welthandel ſeine Mittel-
punkte haben ſollte, in Wüſten verwandeln; aber die Zeit iſt
nicht mehr fern, wo die Feſſeln fallen werden; eine wider-
ſinnige Verwaltung kann ſich nicht ewig dem Geſamtintereſſe
der Menſchheit entgegenſtemmen, und unwiderſtehlich muß die
Kultur in Ländern einziehen, welche die Natur ſelbſt durch
die phyſiſche Geſtaltung des Bodens, durch die erſtaunliche
Verzweigung der Flüſſe und durch die Nähe zweier Meere,
welche die Küſten Europas und Indiens beſpülen, zu großen
Geſchicken auserſehen hat.
Esmeralda iſt berühmt als der Ort, wo am beſten am
Orinoko das ſtarke Gift bereitet wird, das im Krieg, zur
Jagd, und, was ſeltſam klingt, als Mittel gegen gaſtriſche
Beſchwerden dient. Das Gift der Ticuna am Amazonenſtrome,
das Upas-Tieute auf Java und das Curare in Guyana
ſind die tödlichſten Subſtanzen, die man kennt. Bereits
am Ende des 16. Jahrhunderts hatte Ralegh das Wort
Urari gehört, wie man einen Pflanzenſtoff nannte, mit dem
man die Pfeile vergiftete. Indeſſen war nichts Zuverläſſiges
über dieſes Gift in Europa bekannt geworden. Die Miſſio-
näre Gumilla und Gili hatten nicht bis in die Länder kom-
men können, wo das Curare bereitet wird. Gumilla behaup-
tete, „dieſe Bereitung werde ſehr geheim gehalten; der Haupt-
beſtandteil komme von einem unterirdiſchen Gewächs, von
einer knolligen Wurzel, die niemals Blätter treibe und raiz
[61] de si misma (die Wurzel an ſich) ſei; durch die giftigen
Dünſte aus den Keſſeln gehen die alten Weiber (die un-
nützeſten), die man zur Arbeit verwende, zu Grunde; end-
lich, die Pflanzenſäfte erſcheinen erſt dann konzentriert genug,
wenn ein paar Tropfen des Saftes auf eine gewiſſe Ent-
fernung eine Repulſivkraft auf das Blut ausüben. Ein
Indianer ritzt ſich die Haut; man taucht einen Pfeil in das
flüſſige Curare und bringt ihn der Stichwunde nahe. Das
Gift gilt für gehörig konzentriert, wenn es das Blut in die
Gefäße zurücktreibt, ohne damit in Berührung gekommen zu
ſein.“ — Ich halte mich nicht dabei auf, dieſe von Pater
Gumilla zuſammengebrachten Märchen zu widerlegen. Warum
hätte der Miſſionär nicht glauben ſollen, daß das Curare
aus der Ferne wirke, da er unbedenklich an die Eigenſchaften
einer Pflanze glaubte, deren Blätter erbrechen machen oder
purgieren, je nachdem man ſie von oben herab oder von unten
herauf vom Stiele reißt?
Als wir nach Esmeralda kamen, kehrten die meiſten In-
dianer von einem Ausflug oſtwärts über den Rio Padamo
zurück, wobei ſie Juvias oder die Früchte der Bertholletia
und eine Schlingpflanze, welche das Curare gibt, geſammelt
hatten. Dieſe Heimkehr wurde durch eine Feſtlichkeit be-
gangen, die in der Miſſion la fiesta de las Juvias heißt
und unſeren Ernte- oder Weinleſefeſten entſpricht. Die Weiber
hatten viel gegorenes Getränke bereitet, und zwei Tage lang
ſah man nur betrunkene Indianer. Bei Völkern, für welche
die Früchte der Palmen und einiger anderen Bäume, welche
Nahrungsſtoff geben, von großer Wichtigkeit ſind, wird die
Ernte der Früchte durch öffentliche Luſtbarkeiten gefeiert, und
man teilt das Jahr nach dieſen Feſten ein, die immer auf
dieſelben Zeitpunkte fallen.
Das Glück wollte, daß wir einen alten Indianer trafen,
der weniger betrunken als die anderen und eben beſchäftigt
war, das Curaregift aus den friſchen Pflanzen zu bereiten.
Der Mann war der Chemiker des Ortes. Wir fanden bei
ihm große thönerne Pfannen zum Kochen der Pflanzenſäfte,
flachere Gefäße, die durch ihre große Oberfläche die Verdun-
ſtung befördern, tütenförmig aufgerollte Bananenblätter zum
Durchſeihen der mehr oder weniger faſerige Subſtanzen ent-
haltenden Flüſſigkeiten. Die größte Ordnung und Reinlich-
keit herrſchten in dieſer zum chemiſchen Laboratorium ein-
gerichteten Hütte. Der Indianer, der uns Auskunft erteilen
[62] ſollte, heißt in der Miſſion der Giftmeiſter(amo del
Curare); er hatte das ſteife Weſen und den pedantiſchen
Ton, den man früher in Europa den Apothekern zum Vor-
wurf machte. „Ich weiß,“ ſagte er, „die Weißen ver-
ſtehen die Kunſt, Seife zu machen und das ſchwarze Pulver,
bei dem das Ueble iſt, daß es Lärm macht und die Tiere
verſcheucht, wenn man ſie fehlt. Das Curare, deſſen Berei-
tung bei uns vom Vater auf den Sohn übergeht, iſt beſſer
als alles, was ihr dort drüben (über dem Meere) zu machen
wißt. Es iſt der Saft einer Pflanze, der ganz leiſe tötet
(ohne daß man weiß, woher der Schuß kommt).“
Dieſe chemiſche Operation, auf die der Meiſter des
Curare ſo großes Gewicht legte, ſchien uns ſehr einfach.
Das Schlinggewächs (Bejuco), aus dem man in Esmeralda
das Gift bereitet, heißt hier wie in den Wäldern bei Javita.
Es iſt der Bejuco de Mavacure, und er kommt öſtlich von
der Miſſion am linken Ufer des Orinoko, jenſeits des Rio
Amaguaca im granitiſchen Bergland von Guanaya und Yu-
mariquin in Menge vor. Obgleich die Bejucobündel, die wir
im Hauſe des Indianers fanden, gar keine Blätter mehr
hatten, blieb uns doch kein Zweifel, daß es dasſelbe Gewächs
aus der Familie der Strychneen (Aublets Rouhamon ſehr
nahe ſtehend), das wir im Wald beim Pimichin unterſucht.
Der Mavacure wird ohne Unterſchied friſch oder ſeit meh-
reren Wochen getrocknet verarbeitet. Der friſche Saft der
Liane gilt nicht für giftig; vielleicht zeigt er ſich nur wirkſam,
wenn er ſtark konzentriert iſt. Das furchtbare Gift iſt in
der Rinde und einem Teil des Splintes enthalten. Man
ſchabt mit einem Meſſer 8 bis 11 mm dicke Mavacurezweige
ab und zerſtößt die abgeſchabte Rinde auf einem Stein, wie
er zum Reiben des Maniokmehls dient, in ganz dünne Faſern.
Da der giftige Saft gelb iſt, ſo nimmt die ganze faſerige
Maſſe die nämliche Farbe an. Man bringt dieſelbe in einen
24 cm hohen, 10 cm weiten Trichter. Dieſen Trichter ſtrich
der Giftmeiſter unter allen Gerätſchaften des indianiſchen La-
boratoriums am meiſten heraus. Er fragte uns mehreremal,
ob wir por alla (dort drüben, das heißt in Europa) jemals
etwas geſehen hätten, das ſeinem Embudo gleiche? Es war
ein tütenförmig aufgerolltes Bananenblatt, das in einer an-
deren ſtärkeren Tüte aus Palmblättern ſteckte; die ganze Vor-
richtung ruhte auf einem leichten Geſtell von Blattſtielen und
Fruchtſpindeln einer Palme. Man macht zuerſt einen kalten
[63] Aufguß, indem man Waſſer an den faſerigen Stoff, die ge-
ſtoßene Rinde des Mavacure, gießt. Mehrere Stunden lang
tropft ein gelbliches Waſſer vom Embudo, dem Blatttrichter,
ab. Dieſes durchſickernde Waſſer iſt die giftige Flüſſigkeit;
ſie erhält aber die gehörige Kraft erſt dadurch, daß man ſie
wie die Melaſſe in einem großen thönernen Gefäß abdampft.
Der Indianer forderte uns von Zeit zu Zeit auf, die Flüſſig-
keit zu koſten; nach dem mehr oder minder bitteren Geſchmack
beurteilt man, ob der Saft eingedickt genug iſt. Dabei iſt
keine Gefahr, da das Curare nur dann tödlich wirkt, wenn
es unmittelbar mit dem Blute in Berührung kommt. Des-
halb ſind auch, was auch die Miſſionare am Orinoko in dieſer
Beziehung geſagt haben mögen, die Dämpfe vom Keſſel nicht
ſchädlich. Fontana hat durch ſeine ſchönen Verſuche mit dem
Ticunagift am Amazonenſtrome längſt dargethan, daß die
Dämpfe, die das Gift entwickelt, wenn man es auf glühende
Kohle wirft, ohne Schaden eingeatmet werden, und daß es
unrichtig iſt, wenn La Condamine behauptet, zum Tode ver-
urteilte indianiſche Weiber ſeien durch die Dämpfe des Ti-
cunagifts getötet worden.
Der noch ſo ſtark eingedickte Saft des Mavacure iſt
nicht dick genug, um an den Pfeilen zu haften. Alſo bloß
um dem Gift Körper zu geben, ſetzt man dem eingedickten
Aufguß einen ſehr klebrigen Pflanzenſaft bei, der von einem
Baum mit großen Blättern, genannt Ciracaguero, kommt.
Da dieſer Baum ſehr weit von Esmeralda wächſt, und er
damals ſo wenig als der Bejuco de Mavacure Blüten und
Früchte hatte, ſo können wir ihn botaniſch nicht beſtimmen.
Ich habe ſchon mehrmals davon geſprochen, wie oft ein eigenes
Mißgeſchick die intereſſanteſten Gewächſe der Unterſuchung der
Reiſenden entzieht, während tauſend andere, bei denen man
nichts von chemiſchen Eigenſchaften weiß, voll Blüten und
Früchten hängen. Reiſt man ſchnell, ſo bekommt man ſelbſt
unter den Tropen, wo die Blütezeit der holzigen Gewächſe
ſo lange dauert, kaum an einem Achtteil der Gewächſe die
Fruktifikationsorgane zu ſehen. Die Wahrſcheinlichkeit, daß
man, ich ſage nicht die Familie, aber Gattung und Art be-
ſtimmen kann, iſt demnach gleich 1 zu 8, und dieſes nach-
teilige Verhältnis empfindet man begreiflich noch ſchwerer,
wenn man dadurch um die nähere Kenntnis von Gegenſtän-
den kommt, die noch in anderer Hinſicht als nur für die be-
ſchreibende Botanik von Bedeutung ſind.
[64]
Sobald der klebrige Saft des Ciracaguerobaums dem
eingedickten, kochenden Gift zugegoſſen wird, ſchwärzt ſich dieſer
und gerinnt zu einer Maſſe von der Konſiſtenz des Teers
oder eines dicken Sirups. Dieſe Maſſe iſt nun das Curare,
wie es in den Handel kommt. Hört man die Indianer
ſagen, zur Bereitung des Giftes ſei der Ciracaguero ſo not-
wendig als der Bejuco de Mavacure, ſo kann man auf die
falſche Vermutung kommen, auch erſterer enthalte einen ſchäd-
lichen Stoff, während er nur dazu dient, dem eingedickten
Curareſaft mehr Körper zu geben (was auch der Algarobbo
und jede gummiartige Subſtanz thäten). Der Farbenwechſel
der Miſchung rührt von der Zerſetzung einer Verbindung von
Kohlenſtoff und Waſſerſtoff her. Der Waſſerſtoff verbrennt
und der Kohlenſtoff wird frei. Das Curare wird in den
Früchten der Crescentia verkauft; da aber die Bereitung des-
ſelben in den Händen weniger Familien iſt und an jedem
Pfeile nur unendlich wenig Gift haftet, ſo iſt das Curare
beſter Qualität, das von Esmeralda und Mandavaca, ſehr
teuer. Ich ſah für zwei Unzen 5 bis 6 Frank bezahlen. Ge-
trocknet gleicht der Stoff dem Opium; er zieht aber die Feuch-
tigkeit ſtark an, wenn er der Luft ausgeſetzt wird. Er ſchmeckt
ſehr angenehm bitter, und Bonpland und ich haben oft kleine
Mengen verſchluckt. Gefahr iſt keine dabei, wenn man nur
ſicher iſt, daß man an den Lippen oder am Zahnfleiſch nicht
blutet. Bei Mangilis neuen Verſuchen mit dem Viperngift
verſchluckte einer der Anweſenden alles Gift, das von vier
großen italieniſchen Vipern geſammelt werden konnte, ohne
etwas darauf zu ſpüren. Bei den Indianern gilt das Curare
innerlich genommen als ein treffliches Magenmittel. Die
Piraoa- und Saliva-Indianer bereiten dasſelbe Gift; es
hat auch ziemlichen Ruf, iſt aber doch nicht ſo geſucht wie
das von Esmeralda. Die Bereitungsart ſcheint überall un-
gefähr dieſelbe; es liegt aber kein Beweis vor, daß die ver-
ſchiedenen Gifte, welche unter demſelben Namen am Orinoko
und am Amazonenſtrom verkauft werden, identiſch ſind und
von derſelben Pflanze herrühren. Orfila hat daher ſehr wohl
gethan, wenn er in ſeiner Toxicologie générale das Woorara
aus Holländiſch-Guyana, das Curare vom Orinoko, das Ticuna
vom Amazonenſtrom und all die Subſtanzen, welche man
unter dem unbeſtimmten Namen „amerikaniſche Gifte“ zu-
ſammenwirft, für ſich betrachtet. Vielleicht findet man ein-
mal in Giftpflanzen aus verſchiedenen Gattungen eine gemein-
[65] ſchaftliche alkaliſche Baſis, ähnlich dem Morphium im Opium
und der Vauqueline in den Strychnosarten.
Man unterſcheidet am Orinoko zwiſchen Curare de raiz
(aus Wurzeln) und Curare de bejuco (aus Lianen oder
der Rinde der Zweige). Wir haben nur letzteres bereiten
ſehen; erſteres iſt ſchwächer und weit weniger geſucht. Am
Amazonenſtrom lernten wir die Gifte verſchiedener Indianer-
ſtämme kennen, der Ticuna, Yagua, Peva und Jivaro,
die von derſelben Pflanze kommen und vielleicht mehr oder
weniger ſorgfältig zubereitet ſind. Das Toxique des Ticunas,
das durch La Condamine in Europa ſo berühmt geworden iſt
und das man jetzt, etwas uneigentlich, „Ticuna“ zu nennen
anfängt, kommt von einer Liane, die auf der Inſel Mormo-
rote im oberen Marañon wächſt. Dieſes Gift wird zum
Teil von den Ticunaindianern bezogen, die auf ſpaniſchem
Gebiet bei den Quellen des Yacarique unabhängig geblieben
ſind, zum Teil von den Indianern desſelben Stammes, die
in der portugieſiſchen Miſſion Loreto leben. Da Gifte in
dieſem Klima für Jägervölker ein unentbehrliches Bedürf-
nis ſind, ſo widerſetzen ſich die Miſſionäre am Orinoko und
Amazonenſtrom der Bereitung derſelben nicht leicht. Die hier
genannten Gifte ſind völlig verſchieden vom Gift von La
Peca 1 und vom Gift von Lamas und Moyobamba. Ich
führe dieſe Einzelheiten an, weil die Pflanzenreſte, die wir
unterſuchen konnten, uns (gegen die allgemeine Annahme)
den Beweis geliefert haben, daß die drei Gifte, das der Ti-
cuna, das von La Peca und das von Moyobamba, nicht von
derſelben Art kommen, wahrſcheinlich nicht einmal von ver-
wandten Gewächſen. So einfach das Curare iſt, ſo lang-
wierig und verwickelt iſt die Bereitungsweiſe des Giftes von
Moyobamba. Mit dem Saft des Bejucode Ambihuasca,
dem Hauptingrediens, miſcht man Piment (Capsicum),
Tabak, Barbasco (Jacquinia armillaris), Sanango (Tabernae
montana) und die Milch einiger anderen Apocyneen. Der
friſche Saft der Ambihuasca wirkt tödlich, wenn er mit
dem Blut in Berührung kommt; der Saft des Mavacure
wird erſt durch Einkochen ein tödliches Gift, und der Saft
der Wurzel der Jatropha Manihot verliert durch Kochen ganz
ſeine ſchädliche Eigenſchaft. Als ich bei ſehr großer Hitze
die Liane, von der das ſchreckliche Gift von La Peca kommt,
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 5
[66] lange zwiſchen den Fingern rieb, wurden mir die Hände pel-
zig; eine Perſon, die mit mir arbeitete, ſpürte gleich mir dieſe
Folgen einer raſchen Aufſaugung durch die unverletzten Haut-
decken.
Ich laſſe mich hier auf keine Erörterung der phyſiologi-
ſchen Wirkungen dieſer Gifte der Neuen Welt ein, die ſo raſch
töten, wie die Strychnosarten Aſiens (die Brechnuß, das Upas-
tieute und die Ignatiusbohne), aber ohne, wenn ſie in den
Magen kommen, Erbrechen zu erregen und ohne die gewaltige
Reizung des Rückenmarkes, welche den bevorſtehenden Tod
verkündet. Wir haben während unſeres Aufenthaltes in
Amerika Curare vom Orinoko und Bamburohrſtücke mit Gift
der Ticuna und von Moyobamba den Chemikern Fourcroy
und Vauquelin übermacht; wir haben ferner nach unſerer
Rückkehr Magendie und Delille, die mit den Giften der
Neuen Welt ſo ſchöne Verſuche angeſtellt, Curare mitge-
teilt, das auf dem Transport durch feuchte Länder ſchwächer
geworden war. Am Orinoko wird ſelten ein Huhn geſpeiſt,
das nicht durch einen Stich mit einem vergifteten Pfeil ge-
tötet worden wäre; ja die Miſſionäre behaupten, das Fleiſch
der Tiere ſei nur dann gut, wenn man dieſes Mittel an-
wende. Unſer Reiſebegleiter, der am dreitägigen Fieber lei-
dende Pater Zea, ließ ſich jeden Morgen einen Pfeil und
das Huhn, das wir ſpeiſen ſollten, lebend in ſeine Hänge-
matte bringen. Er hätte eine Operation, auf die er trotz
ſeines Schwächezuſtandes ein ſehr großes Gewicht legte, keinem
anderen überlaſſen mögen. Große Vögel, z. B. ein Guan
(Pava de monte) oder ein Hocco (Alector) ſterben, wenn
man ſie in den Schenkel ſticht, in 2 bis 3 Minuten; bei einem
Schwein oder Pecari dauert es oft 10 bis 12. Bonpland fand,
daß dasſelbe Gift in verſchiedenen Dörfern, wo man es kaufte,
ſehr verſchieden war. Wir bekamen am Amazonenſtrom echtes
Gift der Ticunaindianer, das ſchwächer war als alle Sorten
des Curare vom Orinoko. Es wäre unnütz, den Reiſenden
die Angſt ausreden zu wollen, die ſie häufig äußern, wenn
ſie bei der Ankunft in den Miſſionen hören, daß die Hühner,
die Affen, die Leguane, die großen Flußfiſche, die ſie eſſen,
mit giftigen Pfeilen getötet ſind. Gewöhnung und Nach-
denken machen dieſer Angſt bald ein Ende. Magendie hat
ſogar durch ſinnreiche Verſuche mit der Transfuſion dargethan,
daß das Blut von Tieren, die mit den oſtindiſchen bitteren
Strychnosarten getötet worden ſind, auf andere Tiere keine
[67] ſchädliche Wirkung äußert. Einem Hund wurde eine bedeu-
tende Menge vergifteten Bluts in die Venen geſpritzt; es
zeigte ſich aber keine Spur von Reizung des Rückenmarkes.
Ich brachte das ſtärkſte Curare mit den Schenkelnerven
eines Froſches in Berührung, ohne, wenn ich den Grad der
Irritabilität der Organe mittels eines aus heterogenen Me-
tallen beſtehenden Bogens maß, eine merkliche Veränderung
wahrzunehmen. Aber bei Vögeln, wenige Minuten nachdem
ich ſie mit einem vergifteten Pfeile getötet, wollten die gal-
vaniſchen Verſuche ſo gut wie nicht gelingen. Dieſe Beob-
achtungen ſind von Intereſſe, da ermittelt iſt, daß auch eine
Auflöſung von Upastieute, wenn man ſie auf den Hüftnerven
gießt oder in das Nervengewebe ſelbſt bringt, wenn ſie alſo
mit der Markſubſtanz ſelbſt in Berührung kommt, gleichfalls
auf die Irritabilität der Organe keinen merkbaren Einfluß
äußert. Das Curare, wie die meiſten anderen Strychneen
(denn wir glauben immer noch, daß der Mavacure einer nahe
verwandten Familie angehört) werden nur dann gefährlich,
wenn das Gift auf das Gefäßſyſtem wirkt. In Maypures
rüſtete ein Farbiger (ein Zambo, ein Miſchling von Indianer
und Neger) für Bonpland giftige Pfeile, wie man ſie in die
Blaſerohre ſteckt, wenn man kleine Affen und Vögel jagt.
Es war ein Zimmermann von ungemeiner Muskelkraft. Er
hatte die Unvorſichtigkeit, das Curare zwiſchen den Fingern
zu reiben, nachdem er ſich unbedeutend verletzt, und ſtürzte
zu Boden, von einem Schwindel ergriffen, der eine halbe
Stunde anhielt. Zum Glück war es nur ſchwaches (destem-
plado) Curare, deſſen man ſich bedient, um ſehr kleine Tiere
zu ſchießen, das heißt ſolche, welche man wieder zum Leben
bringen will, indem man ſalzſaures Natron in die Wunde
reibt. Auf unſerer Rückfahrt von Esmeralda nach Atures
entging ich ſelbſt einer ziemlich nahen Gefahr. Das Curare
hatte Feuchtigkeit angezogen, war flüſſig geworden und aus
dem ſchlecht verſchloſſenen Gefäß über unſere Wäſche gelaufen.
Beim Waſchen vergaß man einen Strumpf innen zu unter-
ſuchen, der voll Curare war, und erſt als ich den klebrigen
Stoff mit der Hand berührte, merkte ich, daß ich einen ver-
gifteten Strumpf angezogen hätte. Die Gefahr war deſto
größer, da ich gerade an den Zehen blutete, weil mir Sand-
flöhe (pulex penetrans) ſchlecht ausgegraben worden waren.
Aus dieſem Fall mögen Reiſende abnehmen, wie vorſichtig
man ſein muß, wenn man Gift mit ſich führt.
[68]
In Europa wird die Unterſuchung der Eigenſchaften der
Gifte der Neuen Welt eine ſchöne Aufgabe für Chemie und
Phyſiologie ſein, wenn man ſich einmal bei ſtärkerem Verkehr
aus den Ländern, wo ſie bereitet werden, und ſo, daß ſie
nicht zu verwechſeln ſind, all die Gifte verſchaffen kann, das
Curare de bejuco, das Curare de raiz, und die verſchie-
denen Sorten vom Amazonenſtrom, vom Huallaga und aus
Braſilien. Da die Chemie die reine Blauſäure und ſo viele
neue ſehr giftige Stoffe entdeckt hat, wird man in Europa
hinſichtlich der Einführung dieſer von wilden Völkern be-
reiteten Gifte nicht mehr ſo ängſtlich ſein; indeſſen kann man
doch allen, die in ſehr volkreichen Städten (den Mittelpunkten
der Kultur, des Elendes und der Sittenverderbnis) ſo heftig
wirkende Stoffe in Händen haben, nicht genug Vorſicht em-
pfehlen. Was unſere botaniſche Kenntnis der Gewächſe betrifft,
aus denen Gift bereitet wird, ſo werden ſie ſich nur äußerſt
langſam berichtigen. Die meiſten Indianer, die ſich mit der
Verfertigung vergifteter Pfeile abgeben, ſind mit dem Weſen
der giftigen Subſtanzen, die ſie aus den Händen anderer
Völker erhalten, völlig unbekannt. Ueber der Geſchichte der
Gifte und Gegengifte liegt überall der Schleier des Ge-
heimniſſes. Ihre Bereitung iſt bei den Wilden Monopol
der Piaches, die zugleich Prieſter, Gaukler und Aerzte ſind,
und nur von den in die Miſſionen verſetzten Eingeborenen
kann man über die rätſelhaften Stoffe etwas Sicheres er-
fahren. Jahrhunderte vergingen, ehe Mutis’ Beobachtungs-
geiſt die Europäer mit dem Bejuco del Guaco (Mikania
Guako) bekannt machte, welches das kräftige Gegengift gegen
den Schlangenbiß iſt und das wir zuerſt botaniſch beſchreiben
konnten.
In den Miſſionen herrſcht allgemein die Meinung, Ret-
tung ſei unmöglich, wenn das Curare friſch und ſtark ein-
gedickt und ſo lange in der Wunde geblieben iſt, daß viel
davon in den Blutlauf übergegangen. Unter allen Gegen-
mitteln, die man am Orinoko und (nach Leschenault) im In-
diſchen Archipel braucht, iſt das ſalzſaure Natron das ver-
breitetſte. 1 Man reibt die Wunde mit dem Salz und nimmt
[69] es innerlich. Ich ſelbſt kenne keinen gehörig beglaubigten Fall,
der die Wirkſamkeit des Mittels bewieſe, und Magendies und De-
lilles Verſuche ſprechen vielmehr dagegen. Am Amazonenſtrom
gilt der Zucker für das beſte Gegengift, und da das ſalzſaure
Natron den Indianern in den Wäldern faſt ganz unbekannt
iſt, ſo iſt wahrſcheinlich der Bienenhonig und der mehlige
Zucker, den die an der Sonne getrockneten Bananen aus-
ſchwitzen, früher in ganz Guyana zu dieſem Zweck gebraucht
worden. Ammoniak und Lucienwaſſer ſind ohne Erfolg gegen
das Curare verſucht worden; man weiß jetzt, wie unzuverläſſig
dieſe angeblichen ſpezifiſchen Mittel auch gegen Schlangenbiß
ſind. Sir Everard Home hat dargethan, daß man die Hei-
lung meiſt einem Mittel zuſchreibt, während ſie nur erfolgt
iſt, weil die Verwundung unbedeutend und die Wirkung des
Giftes eine ſehr beſchränkte war. Man kann Tiere ohne
Schaden mit vergifteten Pfeilen verwunden, wenn die Wunde
offen bleibt und man die vergiftete Spitze nach der Verwun-
dung ſogleich zurückzieht. Wendet man in ſolchen Fällen
Salz oder Zucker an, ſo wird man verführt, ſie für vortreff-
liche ſpezifiſche Mittel zu halten. Nach der Schilderung von
Indianern, die im Krieg mit Waffen, die in Curare getaucht
geweſen, verwundet worden, ſind die Symptome ganz ähnlich
wie beim Schlangenbiß. Der Verwundete fühlt Kongeſtionen
gegen den Kopf und der Schwindel nötigt ihn, ſich niederzu-
ſetzen; ſodann Uebelſein, wiederholtes Erbrechen, brennender
Durſt und das Gefühl von Pelzigſein am verwundeten
Körperteil.
Dem alten Indianer, dem Giftmeiſter, ſchien es zu
ſchmeicheln, daß wir ihm bei ſeinem Laborieren mit ſo großem
Intereſſe zuſahen. Er fand uns ſo geſcheit, daß er nicht
zweifelte, wir könnten Seife machen; dieſe Kunſt erſchien ihm,
nach der Bereitung des Curare, als eine der ſchönſten Erfin-
dungen des menſchlichen Geiſtes. Als das flüſſige Gift in
die zu ſeiner Aufnahme beſtimmten Gefäße gegoſſen war,
begleiteten wir den Indianer zum Juviasfeſte. Man
feierte durch Tänze die Ernte der Juvias, der Früchte der
Bertholletia excelsa, und überließ ſich der roheſten Völlerei.
In der Hütte, wo die Indianer ſeit mehreren Tagen zu-
ſammenkamen, ſah es ganz ſeltſam aus. Es waren weder
1
[70] Tiſche noch Bänke darin, aber große gebratene, vom Rauch
geſchwärzte Affen ſah man ſymmetriſch an die Wand gelehnt.
Es waren Marimondas (Ateles Belzebuth) und die bär-
tigen ſogenannten Kapuzineraffen, die man nicht mit dem Machi
oder Saï (Buffons Simia Capucina) verwechſeln darf. Die
Art, wie dieſe menſchenähnlichen Tiere gebraten werden, trägt
viel dazu bei, wenn ihr Anblick dem civiliſierten Menſchen ſo
widerwärtig iſt. Ein kleiner roſt oder Gitter aus ſehr hartem
Holz wird einen Fuß über dem Boden befeſtigt. Der abge-
zogene Affe wird zuſammengebogen, als ſäße er; meiſt legt
man ihn ſo, daß er ſich auf ſeine langen, mageren Arme ſtützt,
zuweilen kreuzt man ihm die Hände auf dem Rücken. Iſt
er auf dem Gitter befeſtigt, ſo zündet man ein helles Feuer
darunter an. Flammen und Rauch umſpielen den Affen und
er wir zugleich gebraten und berußt. 1 Sieht man nun die
Eingeborenen Arm oder Bein eines gebratenen Affen verzehren,
ſo kann man ſich kaum des Gedankens erwehren, die Gewohn-
heit, Tiere zu eſſen, die im Körperbau dem Menſchen ſo nahe
ſtehen, möge in gewiſſem Grade dazu beitragen, daß die Wil-
den ſo wenig Abſcheu vor dem Eſſen von Menſchenfleiſch haben.
Die gebratenen Affen, beſonders die mit ſehr rundem Kopf,
gleichen auf ſchauerliche Weiſe Kindern, daher auch Europäer.
wenn ſie ſich von Vierhändern nähren müſſen, lieber Kopf
und Hände abſchneiden und nur den Rumpf auftragen laſſen.
Das Affenfleiſch iſt ſo mager und trocken, daß Bonpland in
ſeinen Sammlungen in Paris einen Arm und eine Hand
aufbewahrt hat, die in Esmeralda am Feuer geröſtet worden;
nach vielen Jahren rochen die Teile nicht im geringſten.
Wir ſahen die Indianer tanzen. Der Tanz iſt um ſo
einförmiger, da die Weiber nicht daran teilnehmen dürfen.
Die Männer, alt und jung, faſſen ſich bei den Händen, bil-
den einen Kreis und drehen ſich ſo, bald rechts, bald links,
ſtundenlang, in ſchweigſamem Ernſt. Meiſt machen die Tänzer
ſelbſt die Muſik dazu. Schwache Töne auf einer Reihe von
Rohrſtücken von verſchiedener Länge geblaſen, bilden eine lang-
ſame, melancholiſche Begleitung. Um den Takt anzugeben,
beugt der Vortänzer im Rhythmus beide Kniee. Zuweilen
[71] bleiben alle ſtehen und machen kleine ſchwingende Bewegungen,
indem ſie den Körper ſeitlich hin und her werfen. Jene in
eine Reihe geordneten und zuſammengebundenen Rohrſtücke
gleichen der Pansflöte, wie wir ſie bei bacchiſchen Aufzügen
auf großgriechiſchen Vaſen abgebildet ſehen. Es iſt ein höchſt
einfacher Gedanke, der allen Völkern kommen mußte, Rohre
von verſchiedener Länge zu vereinigen und ſie nacheinander,
während man ſie an den Lippen vorbeiführt, anzublaſen.
Nicht ohne Verwunderung ſahen wir, wie raſch junge In-
dianer, wenn ſie am Fluſſe Rohr (carices) fanden, dergleichen
Pfeifen ſchnitten und ſtimmten. In allen Himmelsſtrichen
leiſten dieſe Gräſer mit hohem Halme den Menſchen im Na-
turzuſtande mancherlei Dienſte. Die Griechen ſagten mit Recht,
das Rohr ſei ein Mittel geweſen zur Unterjochung der Völker,
weil es Pfeile liefere, zur Milderung der Sitten durch den
Reiz der Muſik, zur Geiſtesentwickelung, weil es das erſte
Werkzeug geboten, mit dem man Buchſtaben geſchrieben. Dieſe
verſchiedenen Verwendungsarten des Rohres bezeichnen gleich-
ſam drei Abſchnitte im Leben der Völker. Die Horden am
Orinoko ſtehen unleugbar auf der unterſten Stufe einer be-
ginnenden Kulturentwickelung. Das Rohr dient ihnen nur
zu Krieg und Jagd und Pans Flöte ſind auf jenen fernen
Ufern noch keine Töne entlockt worden, die ſanfte, menſchliche
Empfindungen wecken können.
In der Feſthütte fanden wir verſchiedene vegetabiliſche
Produkte, welche die Indianer aus den Bergen von Guanaya
mitgebracht und die unſere ganze Aufmerkſamkeit in Anſpruch
nahmen. Ich verweile hier nur bei der Frucht des Juvia,
bei den Rohren von ganz ungewöhnlicher Länge und bei den
Hemden aus der Rinde des Marimabaumes. Der Almen-
dron oder Juvia, einer der großartigſten Bäume in den
Wäldern der Neuen Welt, war vor unſerer Reiſe an den Rio
Negro ſo gut wie unbekannt. Vier Tagereiſen öſtlich von
Esmeralda, zwiſchen dem Padamo und dem Ocamo am Fuße
des Cerro Mapaya, am rechten Ufer des Orinoko, tritt er
nach und nach auf; noch häufiger iſt er auf dem linken Ufer
beim Cerro Guanaya zwiſchen dem Rio Amaguaca und dem
Gehete. Die Einwohner von Esmeralda verſicherten uns,
oberhalb des Gehete und des Chiguire werde der Juvia
und der Kakaobaum ſo gemein, daß die wilden Indianer (die
Guaicas und Guaharibos blancos) die Indianer aus den
Miſſionen ungeſtört die Früchte ſammeln laſſen. Sie miß-
[72] gönnen ihnen nicht, was ihnen die Natur auf ihrem eigenen
Grund und Boden ſo reichlich ſchenkt. Kaum noch hat man
es am oberen Orinoko verſucht, den Almendron fortzupflanzen.
Die Trägheit der Einwohner läßt es noch weniger dazu kommen
als der Umſtand, daß das Oel in den mandelförmigen Samen
ſo ſchnell ranzig wird. Wir fanden in der Miſſion San
Carlos nur drei Bäume und in Esmeralda zwei. Die maje-
ſtätiſchen Stämme waren acht bis zehn Jahre alt und hatten
noch nicht geblüht. Wie oben erwähnt, fand Bonpland Almen-
drone unter den Bäumen am Ufer des Caſſiquiare in der
Nähe der Stromſchnellen von Cananivacari.
Schon im 16. Jahrhundert ſah man in Europa nicht
die große Steinfrucht in der Form einer Kokosnuß, welche
die Mandeln enthält, wohl aber die Samen mit holziger drei-
eckiger Hülle. Ich erkenne dieſe auf einer ziemlich mangel-
haften Zeichnung des Cluſius. Dieſer Botaniker nennt ſie
Almendras del Peru, vielleicht weil ſie als eine ſehr
ſeltene Frucht an den oberen Amazonenſtrom und von dort
über die Kordilleren nach Quito und Peru gekommen waren.
Jean de Laets Novus Orbis, in dem ich die erſte Nachricht
vom Kuhbaum fand, enthält auch eine Beſchreibung und ganz
richtige Abbildung des Samens der Bertholletia. Laet nennt
den Baum Totocke und erwähnt der Steinfrucht von der
Größe eines Menſchenkopfes, welche die Samen enthält. Dieſe
Früchte, erzählt er, ſeien ſo ungemein ſchwer, daß die Wilden
es nicht leicht wagen, die Wälder zu betreten, ohne Kopf und
Schultern mit einem Schild aus ſehr hartem Holz zu bedecken.
Von ſolchen Schilden wiſſen die Eingeborenen in Esmeralda
nichts, wohl aber ſprachen ſie uns auch davon, daß es gefähr-
lich ſei, wenn die Früchte reifen und 16 bis 20 m herabfallen.
In Portugal und England verkauft man die dreieckigen Samen
der Juvia unter dem unbeſtimmten Namen Kaſtanien (Ca-
stañas) oder Nüſſe aus Braſilien und vom Amazonenſtrom,
und man meinte lange, ſie wachſen, wie die Frucht der Pekea,
einzeln auf Fruchtſtielen. Die Einwohner von Granpara
treiben ſeit einem Jahrhundert einen ziemlich ſtarken Handel
damit. Sie ſchicken ſie entweder direkt nach Europa oder
nach Cayenne, wo ſie Touka heißen. Der bekannte Bota-
niker Correa de Serra ſagte uns, der Baum ſei in den Wäl-
dern bei Macapa an der Mündung des Amazonenſtromes ſehr
häufig und die Einwohner ſammeln die Mandeln, wie die
der Lecythis, um Oel daraus zu ſchlagen. Eine Ladung
[73] Juviamandeln, die im Jahr 1807 in Havre einlief und von
einem Kaper aufgebracht war, wurde gleichfalls ſo benutzt.
Der Baum, von dem die „braſilianiſchen Kaſtanien“
kommen, iſt meiſt nur 60 bis 90 cm dick, wird aber 30 bis
40 m hoch. Er hat nicht den Habitus der Mammea, des
Sternapfelbaumes und verſchiedener anderer tropiſcher Bäume,
bei denen die Zweige (wie bei den Lorbeeren der gemäßigten
Zone) faſt gerade gen Himmel ſtehen. Bei der Bertholletia
ſtehen die Aeſte weit auseinander, ſind ſehr lang, dem Stamm
zu faſt blätterlos und an der Spitze mit dichten Laubbüſcheln
beſetzt. Durch dieſe Stellung der halb lederartigen, unterhalb
leicht ſilberfarbigen, über 65 cm langen Blätter beugen ſich
die Aeſte abwärts, wie die Wedel der Palmen. Wir haben
den majeſtätiſchen Baum nicht blühen ſehen. Er ſetzt vor
dem fünfzehnten Jahre keine Blüten an, und dieſelben brechen
vor Ende März oder Anfang April auf. Die Früchte reiſen
gegen Ende Mai, und an manchen Stämmen bleiben ſie bis
in den Auguſt hängen. Da dieſelben ſo groß ſind wie ein
Kindskopf und oft 32 bis 35 cm Durchmeſſer haben, ſo fallen
ſie mit gewaltigem Geräuſch vom Baumgipfel. Ich weiß
nichts, woran einem die wunderbare Kraft des organiſchen
Lebens im heißen Erdſtrich augenfälliger entgegenträte, als
der Anblick der mächtigen holzigen Fruchthüllen, z. B. des
Kokosbaums (Lodoicea) unter den Monokotyledonen, und
der Bertholletia und der Lecythis unter den Dikotyledonen.
In unſeren Klimaten bringen allein die Kürbisarten innerhalb
weniger Monate Früchte von auffallender Größe hervor, aber
dieſe Früchte ſind fleiſchig und ſaftreich. Unter den Tropen
bildet die Bertholletia innerhalb 50 bis 60 Tagen eine Frucht-
hülle, deren holziger Teil 13 mm dick und mit den ſchärfſten
Werkzeugen kaum zu durchſägen iſt. Ein bedeutender Natur-
forſcher (Richard) hat bereits die Bemerkung gemacht, daß
das Holz der Früchte meiſt ſo hart wird, wie das Holz
der Baumſtämme nur ſelten. Die Fruchthülle der Bertholletia
zeigt die Rudimente von vier Fächern; zuweilen habe ich ihrer
auch fünf gefunden. Die Samen haben zwei ſcharf geſon-
derte Hüllen, und damit iſt der Bau der Frucht komplizierter
als bei den Lecythis-, Pekea- und Saouvariarten. Die erſte
Hülle iſt beinartig oder holzig, dreieckig, außen höckerig und
zimtfarbig. Vier bis fünf, zuweilen acht ſolcher dreieckigen
Nüſſe ſind an einer Scheidewand befeſtigt. Da ſie ſich mit
der Zeit ablöſen, liegen ſie frei in der großen kugeligen Frucht-
[74] hülle. Die Kapuzineraffen (Simia chiropotes) lieben ungemein
die „braſilianiſchen Kaſtanien“, und ſchon das Raſſeln der
Samen, wenn man die Frucht, wie ſie vom Baum fällt,
ſchüttelt, macht die Eßluſt dieſer Tiere in hohem Grade rege.
Meiſt habe ich nur 15 bis 22 Nüſſe in einer Frucht gefunden.
Der zweite Ueberzug der Mandeln iſt häutig und braungelb.
Der Geſchmack derſelben iſt ſehr angenehm, ſolange ſie friſch
ſind; aber das ſehr reichliche Oel, durch das ſie ökonomiſch
ſo nützlich werden, wird leicht ranzig. Wir haben am oberen
Orinoko häufig, weil ſonſt nichts zu haben war, dieſe Mandel
in bedeutender Menge gegeſſen und nie einen Nachteil davon
empfunden. Die kugelige Fruchthülle der Bertholletia iſt oben
durchbohrt, ſpringt aber nicht auf; das obere bauchige Ende
des Säulchens bildet allerdings (nach Kunth) eine Art inneren
Deckel, wie bei der Frucht der Lecythis, aber er öffnet ſich
nicht wohl von ſelbſt. Viele Samen verlieren durch die Zer-
ſetzung des Oels in den Samenlappen die Keimkraft, bevor
in der Regenzeit die Holzkapſel der Fruchthülle infolge der
Fäulnis aufgeht. Nach einem am unteren Orinoko weit ver-
breiteten Märchen ſetzen ſich die Kapuziner- und Cacajaoaffen
(Simia chiropotes und Simia melanocephala) im Kreis um-
her, klopfen mit einem Stein auf die Frucht und zerſchlagen
ſie wirklich, ſo daß ſie zu den dreieckigen Mandeln kommen
können. Dies wäre wegen der ausnehmenden Härte und
Dicke der Fruchthülle geradezu unmöglich. Man mag geſehen
haben, wie Affen die Früchte der Bertholletia am Boden rollten,
und dieſelben haben zwar ein kleines Loch, an welches das obere
Ende des Säulchens befeſtigt iſt, aber die Natur hat es den
Affen nicht ſo leicht gemacht, die holzige Fruchthülle der Ju-
via zu öffnen, wie bei der Lecythis, wo ſie den Deckel ab-
nehmen, der in den Miſſionen la tapa (Deckel) del coca de
monos heißt. Nach der Ausſage mehrerer ſehr glaubwürdiger
Indianer gelingt es nur den kleinen Nagern, namentlich den
Aguti (Cavia Aguti, Cavia Paca), vermöge des Baues
ihrer Zähne und der unglaublichen Ausdauer, mit der ſie
ihrem Zerſtörungswerk obliegen, die Frucht der Bertholletia
zu durchbohren. Sobald die dreieckigen Nüſſe auf den Boden
ausgeſtreut ſind, kommen alle Tiere des Waldes herbeigeeilt;
Affen, Manaviri, Eichhörner, Aguti, Papageien und Ara
ſtreiten ſich um die Beute. Sie ſind alle ſtark genug, um den
holzigen Ueberzug des Samens zu zerbrechen; ſie nehmen die
Mandel heraus und klettern damit auf die Bäume. „So haben ſie
[75] auch ihr Feſt,“ ſagten die Indianer, die von der Ernte kamen,
und hört man ſie ſich über die Tiere beſchweren, ſo merkt
man wohl, daß ſie ſich für die alleinigen rechtmäßigen Herren
des Waldes halten.
Das häufige Vorkommen des Juvia oftwärts von Es-
meralda ſcheint darauf hinzudeuten, daß die Flora des Ama-
zonenſtromes an dem Stück des oberen Orinoko beginnt, das
im Süden der Gebirge hinläuft. Es iſt dies gewiſſermaßen
ein weiterer Beweis dafür, daß hier zwei Flußbecken vereinigt
ſind. Bonpland hat ſehr gut auseinandergeſetzt, wie man zu
verfahren hätte, um die Bertholletia excelsa am Ufer des
Orinoko, des Apure, des Meta, überhaupt in der Provinz
Venezuela anzupflanzen. Man müßte da, wo der Baum wild
wächſt, die bereits keimenden Samen zu Tauſenden ſammeln und
ſie in Kaſten mit derſelben Erde legen, in der ſie zu vegetieren
angefangen. Die jungen Pflanzen, durch Blätter von Mu-
ſaceen oder Palmblätter gegen die Sonnenſtrahlen geſchützt,
würden auf Pirogen oder Flöße gebracht. Man weiß, wie
ſchwer in Europa (trotz der Anwendung von Chlor, wovon
ich anderswo geſprochen) Samen mit hornartiger Fruchthülle,
Palmen, Kaffeearten, Chinaarten und große holzige Nüſſe
mit leicht ranzig werdendem Oel, zum Keimen zu bringen
ſind. Alle dieſe Schwierigkeiten wären beſeitigt, wenn man
nur Samen ſammelte, die unter dem Baume ſelbſt gekeimt
haben. Auf dieſe Weiſe iſt es uns gelungen, zahlreiche Exem-
plare ſehr ſeltener Pflanzen, z. B. die Coumarouna odora
oder Tongabohne, von den Katarakten des Orinoko nach An-
goſtura zu bringen und in den benachbarten Pflanzungen zu
verbreiten.
Eine der vier Pirogen, mit denen die Indianer auf
der Juviasernte, geweſen waren, war großenteils mit der
Rohrart (Carice) gefüllt, aus der Blaſerohre gemacht werden.
Die Rohre waren 5 bis 6 m lang, und doch war keine Spur
von Knoten zum Anſatz von Blättern oder Zweigen zu be-
merken. Sie waren vollkommen gerade, außen glatt und
völlig cylindriſch. Dieſe Carices kommen vom Fuße der
Berge von Yumariquin und Guanaya. Sie ſind ſelbſt jen-
ſeits des Orinoko unter dem Namen „Rohr von Esmeralda“
ſehr geſucht. Ein Jäger führt ſein ganzes Leben dasſelbe
Blaſerohr; er rühmt die Leichtigkeit, Genauigkeit und Politur
desſelben, wie wir an unſeren Feuergewehren dieſelben Eigen-
ſchaften rühmen. Was mag dies für ein monokotyledoniſches
[76] Gewächs 1 ſein, von dem dieſe herrlichen Rohre kommen? Haben
wir wirklich die Internodia einer Grasart aus der Sippe
der Noſtoiden vor uns gehabt? oder ſollte dieſer Carice eine
Cyperacea 2 ohne Knoten ſein? Ich vermag dieſe Fragen nicht
zu beantworten, ſo wenig ich weiß, welcher Gattung ein an-
deres Gewächs angehört, von dem die Marimahemden
kommen. Wir ſahen am Abhang des Cerro Duida über 16 m
hohe Stämme des Hemdbaumes. Die Indianer ſchneiden
cylindriſche Stücke von 2,6 m Durchmeſſer davon ab und
nehmen die rote, faſerige Rinde weg, wobei ſie ſich in acht
nehmen, keinen Längsſchnitt zu machen. Dieſe Rinde gibt
ihnen eine Art Kleidungsſtück, das Säcken ohne Naht von
ſehr grobem Stoffe gleicht. Durch die obere Oeffnung ſteckt
man den Kopf, und um die Arme durchzuſtecken, ſchneidet
man zur Seite zwei Löcher ein. Der Eingeborene trägt dieſe
Marimahemden bei ſehr ſtarkem Regen; ſie haben die Form
der baumwollenen Ponchos und Ruanas, die in Neu-
granada, Quito und Peru allgemein getragen werden. Da
die überſchwengliche Freigebigkeit der Natur in dieſen Him-
melsſtrichen für die Haupturſache gilt, warum die Menſchen
ſo träge ſind, ſo vergeſſen die Miſſionäre, wenn ſie Marima-
hemden vorweiſen, nie die Bemerkung zu machen, „in den
Wäldern am Orinoko wachſen die Kleider fertig auf den
Bäumen“. Zu dieſer Geſchichte von den Hemden gehören
auch die ſpitzen Mützen, welche die Blumenſcheiden gewiſſer
Palmen liefern und die einem weitmaſchigen Gewebe gleichen.
Beim Feſte, dem wir beiwohnten, waren die Weiber vom
Tanz und jeder öffentlichen Luſtbarkeit ausgeſchloſſen; ihr
trauriges Geſchäft beſtand darin, den Männern Affenbraten,
gegorenes Getränk und Palmkohl aufzutragen. Des letzteren
Produktes, das wie unſer Blumenkohl ſchmeckt, erwähne ich
nur, weil wir in keinem Lande ſo ausnehmend große Stücke
geſehen haben. Die noch nicht entwickelten Blätter ſind mit
dem jungen Stengel verſchmolzen, und wir haben Cylinder
gemeſſen, die 2 m lang und 11 m m dick waren. Eine andere,
weit nahrhaftere Subſtanz kommt aus dem Tierreich, das
[77]Fiſchmehl (manioc de peseado). Ueberall am oberen
Orinoko braten die Indianer die Fiſche, dörren ſie an der
Sonne und ſtoßen ſie zu Pulver, ohne die Gräten davon zu
trennen. Ich ſah Quantitäten von 25 bis 30 kg dieſes
Mehles, das ausſieht wie Maniokmehl. Zum Eſſen rührt
man es mit Waſſer zu einem Teige an. Unter allen Klimaten,
wo es viele Fiſche gibt, iſt man auf dieſelben Mittel zur
Aufbewahrung derſelben gekommen. So beſchreiben Plinius
und Diodor von Sizilien das Fiſchbrot der Ichthyophagen 1
am Perſiſchen Meerbuſen und am Roten Meer.
In Esmeralda, wie überall in den Miſſionen, leben die
Indianer, die ſich nicht taufen laſſen wollten und ſich nur
frei der Gemeinde angeſchloſſen haben, in Polygamie. Die
Zahl der Weiber iſt bei den verſchiedenen Stämmen ſehr ver-
ſchieden, am größten bei den Kariben und bei all den Völker-
ſchaften, bei denen ſich die Sitte, junge Mädchen von benach-
barten Stämmen zu entführen, lange erhalten hat. Wie kann
bei einer ſo ungleichen Verbindung von häuslichem Glück die
Rede ſein! Die Weiber leben in einer Art Sklaverei, wie
bei den meiſten ſehr verſunkenen Völkern. Da die Männer
im Beſitz der unumſchränkten Gewalt ſind, ſo wird in ihrer
Gegenwart keine Klage laut. Im Hauſe herrſcht ſcheinbar
Ruhe, und die Weiber beeifern ſich alle, den Wünſchen eines
anſpruchsvollen, übellaunigen Gebieters zuvorzukommen. Sie
pflegen ohne Unterſchied ihre eigenen Kinder und die der
anderen Weiber. Die Miſſionäre verſichern (und was ſie ſagen,
iſt ſehr glaublich), dieſer innere Frieden, die Frucht gemein-
ſamer Furcht, werde gewaltig geſtört, ſobald der Mann länger
von Hauſe abweſend ſei. Dann behandelt diejenige, mit der
ſich der Mann zuerſt verbunden, die anderen als Beiſchläferinnen
und Mägde. Der Zank nimmt kein Ende, bis der Gebieter
wieder kommt, der durch einen Laut, durch eine bloße Gebärde,
und wenn er es zweckdienlich erachtet, durch etwas ſchärfere
Mittel die Leidenſchaften niederzuſchlagen weiß. Bei den
Tamanaken iſt eine gewiſſe Ungleichheit unter den Weibern
[78] hinſichtlich ihrer Rechte durch den Sprachgebrauch bezeichnet.
Der Mann nennt die zweite und dritte Frau Gefährtinnen
der erſten; die erſte behandelt die Gefährtinnen als Neben-
buhlerinnen und Feinde (ipucjatoje), was allerdings nicht
ſo höflich iſt, aber wahrer und ausdrucksvoller. Da alle Laſt
der Arbeit auf den unglücklichen Weibern liegt, ſo iſt es nicht
zu verwundern, daß bei manchen Nationen ihre Anzahl auf-
fallend gering iſt. In ſolchem Falle bildet ſich eine Art
Vielmännerei, wie wir ſie, nur entwickelter, in Tibet und im
Gebirge am Ende der oſtindiſchen Halbinſel finden. Bei den
Avanos und Maypures haben oft mehrere Brüder nur eine
Frau. Wird ein Indianer, der mehrere Weiber hat, Chriſt,
ſo zwingen ihn die Miſſionäre, eine zu wählen, die er behalten
will, um die anderen zu verſtoßen. Der Moment der Tren-
nung iſt nun der kritiſche; der Neubekehrte findet, daß ſeine
Weiber doch höchſt ſchätzbare Eigenſchaften haben: die eine
verſteht ſich gut auf die Gärtnerei, die andere weiß Chiza
zu bereiten, das berauſchende Getränk aus der Maniokwurzel;
eine erſcheint ihm ſo unentbehrlich wie die andere. Zuweilen
ſiegt beim Indianer das Verlangen, ſeine Weiber zu behalten,
über die Neigung zum Chriſtentum; meiſt aber läßt der
Mann den Miſſionär wählen, und nimmt dies hin wie einen
Spruch des Schickſals.
Die Indianer, die vom Mai bis Auguſt Fahrten oſt-
wärts von Esmeralda unternehmen, um in den Bergen von
Yumariquin Pflanzenprodukte zu ſammeln, konnten uns ge-
naue Auskunft über den Lauf des Orinoko im Oſten der
Miſſion geben. Dieſer Teil meiner Reiſekarte weicht von
den früheren völlig ab. Ich beginne die Beſchreibung dieſer
Länder mit dem Granitſtock des Duida, an deſſen Fuße wir
weilten. Derſelbe wird im Weſten vom Rio Tamatama, im
Oſten vom Rio Guapo begrenzt. Zwiſchen dieſen beiden
Nebenflüſſen des Orinoko, durch die Morichales oder die
Gebüſche von Mauritiapalmen, die Esmeralda umgeben, kommt
der Rio Sodomoni herab, vielberufen wegen der vortrefflichen
Ananas, die an ſeinen Ufern wachſen. Am 22. Mai maß
ich auf einer Grasflur am Fuß des Duida eine Standlinie
von 475 m; der Winkel, unter dem die Spitze des Berges
in 13 827 m Entfernung erſcheint, beträgt noch 9°. Nach
meiner genauen trigonometriſchen Meſſung iſt der Duida
(das heißt der höchſte Gipfel ſüdweſtlich vom Cerro Mara-
guaca) 2179 m über der Ebene von Esmeralda hoch, alſo
[79] wahrſcheinlich gegen 2530 über dem Meeresſpiegel; ich ſage
wahrſcheinlich, denn leider war mein Barometer zerbrochen,
ehe wir nach Esmeralda kamen. Der Regen war ſo ſtark,
daß wir in den Nachtlagern das Inſtrument nicht vor Feuch-
tigkeit ſchützen konnten, und bei der ungleichen Ausdehnung
des Holzes zerbrach die Röhre. Der Unfall war mir deſto
verdrießlicher, weil wohl nie ein Barometer größere Reiſen
mitgemacht hat. Ich hatte dasſelbe ſchon ſeit drei Jahren in
den Gebirgen von Steiermark, Frankreich und Spanien, in
Amerika auf dem Wege von Cumana an den oberen Orinoko
geführt. Das Land zwiſchen Javita, Vaſiva und Esmeralda
iſt eine weite Ebene, und da ich an den beiden erſteren Orten
den Barometer beobachtet habe, ſo kann ich mich hinſichtlich der
abſoluten Höhe der Savannen am Sodomoni höchſtens um 30
bis 38 m irren. Der Cerro Duida ſteht an Höhe dem St. Gott-
hard und der Silla bei Caracas am Küſtenland von Venezuela
nur wenig (kaum 155 bis 195 m) nach. Er gilt auch hier-
zulande für einen koloſſalen Berg, woraus wir ziemlich ſicher
auf die mittlere Höhe der Sierra Parime und aller Berge
im öſtlichen Amerika ſchließen können. Oeſtlich von der
Sierra Nevada de Merida, ſowie ſüdöſtlich vom Paramo
de las Roſas erreicht keine der Bergketten, die in der Rich-
tung eines Parallels ſtreichen, die Höhe des Centralkamms der
Pyrenäen.
Der Granitgipfel des Duida fällt ſo ſteil ab, daß die
Indianer vergeblich verſucht haben hinauf zu kommen. Be-
kanntlich ſind gar nicht hohe Berge oft am unzugänglichſten.
Zu Anfang und zu Ende der Regenzeit ſieht man auf der
Spitze des Duida kleine Flammen, und zwar, wie es ſcheint,
nicht immer am ſelben Orte. Wegen dieſer Erſcheinung, die
bei den übereinſtimmenden Ausſagen nicht wohl in Zweifel
zu ziehen iſt, hat man den Berg mit Unrecht einen Vulkan
genannt. Da er ziemlich iſoliert liegt, könnte man denken,
der Blitz zünde zuweilen das Strauchwerk an; dies erſcheint
aber unwahrſcheinlich, wenn man bedenkt, wie ſchwer in
dieſem naſſen Klima die Gewächſe brennen. Noch mehr: man
verſichert, es zeigen ſich oft kleine Flammen an Stellen, wo
das Geſtein kaum mit Raſen bedeckt ſcheint; auch beobachte
man ganz ähnliche Feuererſcheinungen, und zwar an Tagen
ohne alles Gewitter, am Gipfel des Guaraco oder Murcie-
lago, eines Hügels gegenüber der Mündung des Rio Tama-
tama auf dem ſüdlichen Ufer des Orinoko. Dieſer Hügel
[80] erhebt ſich kaum 100 m über die umliegende Ebene. Sind
die Ausſagen der Eingeborenen begründet, ſo rühren beim
Duida und Guaraco die Flammen wahrſcheinlich von einer
unterirdiſchen Urſache her; denn man ſieht dergleichen niemals
auf den hohen Bergen am Rio Jao und am Berg Mara-
guaca, um den ſo oft die Gewitter toben. Der Granit des
Cerro Duida iſt von teils offenen, teils mit Quarzkriſtallen
und Kieſen gefüllten Gängen durchzogen. Durch dieſelben
mögen gasförmige, brennbare Emanationen (Waſſerſtoff oder
Naphtha) aufſteigen. In den Gebirgen von Karamanien, im
Hindukuſch und im Himalaya ſind dergleichen Erſcheinungen
häufig. In vielen Landſtrichen des öſtlichen Amerika, die
den Erdbeben ausgeſetzt ſind, ſieht man ſogar (wie am Cuchi-
vano bei Cumanacoa) aus ſekundären Gebirgsbildungen
Flammen aus dem Boden brechen. Dieſelben zeigen ſich,
wenn der erſte Regen auf den von der Sonne ſtark erhitzten
Boden fällt, oder wenn dieſer nach ſtarken Niederſchlägen
wieder zu trocknen anfängt. Die Grundurſache dieſer Feuer-
erſcheinungen iſt in ungeheurer Tiefe, weit unter den ſekun-
dären Formationen, in den Urgebirgsarten zu ſuchen; der
Regen und die Zerſetzung des atmoſphäriſchen Waſſers ſpielen
dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die heißeſten Quellen
in der Welt kommen unmittelbar aus dem Granit; das
Steinöl quillt aus dem Glimmerſchiefer; in Encaramada
zwiſchen den Flüſſen Arauca und Cuchivero, mitten auf dem
Granitboden der Sierra Parime am Orinoko, hört man furcht-
bares Getöſe. Hier, wie überall auf dem Erdball, liegt der
Herd der Vulkane in den älteſten Bildungen, und zwiſchen
den großen Phänomenen, wobei die Rinde unſeres Planeten
emporgehoben und geſchmolzen wird, und den Feuermeteoren,
die ſich zuweilen an der Oberfläche zeigen und die man,
ihrer Unbedeutendheit wegen, nur atmoſphäriſchen Einflüſſen
zuſchreiben möchte, ſcheint ein Kauſalzuſammenhang zu be-
ſtehen.
Der Duida hat zwar nicht die Höhe, welche der Volks-
glaube ihm zuſchreibt, er iſt aber im ganzen Bergſtock zwi-
ſchen Orinoko und Amazonenſtrom der beherrſchende Punkt.
Dieſe Berge fallen gegen Nordweſt, gegen den Puruname,
noch raſcher ab als gegen Oſt, gegen den Padamo und den
Rio Ocamo. In der erſteren Richtung ſind die höchſten
Gipfel nach dem Duida der Cuneva, an den Quellen des
Rio Paru (eines Nebenfluſſes des Ventuari), der Sipapo,
[81] der Calitamini, der mit dem Cunavami und dem Pik
Uniana zu einer Gruppe gehört. Oſtwärts vom Duida
zeichnen ſich durch ihre Höhe aus: am rechten Ufer des Ori-
noko der Maravaca oder die Sierra Maraguaca zwiſchen
dem Rio Caurimoni und dem Padamo, auf dem linken Ufer
die Berge von Guanaya und Yumariquin zwiſchen den
Flüſſen Amaguaca und Gehete. Ich brauche kaum noch ein-
mal zu bemerken, daß die Linie, welche über dieſe hohen
Gipfel läuft (wie in den Pyrenäen, den Karpathen und
ſo vielen Bergketten der Alten Welt), keineswegs mit der
Waſſerſcheide zuſammenfällt. Die Waſſerſcheide zwiſchen den
Zuflüſſen des unteren und des oberen Orinoko ſchneidet
den Meridian von 64° unter dem vierten Grad der Breite.
Sie läuft zuerſt zwiſchen den Quellen des Rio Branco
und des Carony durch und dann nach Nordweſt, ſo daß
die Gewäſſer des Pado, Jao und Ventuari nach Süd,
die Gewäſſer des Arui, Caura und Cuchivero nach Nord
fließen.
Man kann von Esmeralda den Orinoko gefahrlos hinauf-
fahren bis zu den Katarakten, an denen die Guaicaindianer
ſitzen, welche die Spanier nicht weiter hinauf kommen laſſen;
es iſt dies eine Fahrt von ſechs und einem halben Tag. In
den zwei erſten kommt man an den Einfluß des Rio Padamo,
nachdem man gegen Nord die kleinen Flüſſe Tamatama, So-
domoni, Guapo, Caurimoni und Simirimoni, gegen Süd den
Einfluß des Cuca zwiſchen dem Hügel Guaraco, der Flammen
auswerfen ſoll, und dem Cerro Canelilla, hinter ſich gelaſſen.
Auf dieſem Strich bleibt der Orinoko 580 bis 780 m breit.
Auf dem rechten Ufer kommen mehr Flüſſe herein, weil ſich
an dieſer Seite die hohen Berge Duida und Maraguaca
hinziehen, auf welchen ſich die Wolken lagern, während das
linke Ufer niedrig und an die Ebene ſtößt, die im großen
gegen Südweſt abfällt. Prachtvolle Wälder mit Bauholz be-
decken die nördlichen Kordilleren. In dieſem heißen, beſtändig
feuchten Landſtrich iſt das Wachstum ſo ſtark, daß es Stämme
von Bombax Ceiba von 5 m Durchmeſſer gibt. Der Rio
Padamo oder Patamo, über den früher die Miſſionäre am
oberen Orinoko mit denen am Rio Caura verkehrten, iſt für
die Geographen zu einer Quelle von Irrtümern geworden.
Pater Caulin nennt ihn Macoma und ſetzt einen andern Rio
Padamo zwiſchen den Punkt der Gabelteilung des Orinoko
und einen Berg Ruida, womit ohne Zweifel der Cerro Duida
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 6
[82] gemeint iſt. Surville läßt den Padamo ſich mit dem Rio
Ocamo (Ucamu) verbinden, der ganz unabhängig von ihm
iſt; auf der großen Karte von La Cruz endlich iſt ein kleiner
Nebenfluß des Orinoko, weſtlich von der Gabelteilung, als
Rio Padamo bezeichnet und der eigentliche Fluß dieſes Na-
mens heißt Rio Maquiritari. Von der Mündung dieſes
Fluſſes, der ziemlich breit iſt, kommen die Indianer in einem
und einem halben Tag an den Rio Mavaca, der in den
hohen Gebirgen von Unturan entſpringt, von denen oben
die Rede war. Der Trageplatz zwiſchen den Quellen dieſes
Nebenfluſſes und denen des Idapa oder Siapa hat zu der
Fabel vom Zuſammenhang des Idapa mit dem oberen Ori-
noko Anlaß gegeben. Der Rio Mavaca ſteht mit einem See
in Verbindung, an deſſen Ufer die Portugieſen, ohne Vor-
wiſſen der Spanier in Esmeralda, vom Rio Negro herkom-
men, um die aromatiſchen Samen des Laurus Pucheri zu
ſammeln, die im Handel als Pichurimbohne und Toda
Specie bekannt ſind. Zwiſchen den Mündungen des Pa-
damo und des Mavaca nimmt der Orinoko von Nord her
den Ocamo auf, in den ſich der Rio Matacona ergießt. An
den Quellen des letzteren Fluſſes wohnen die Guainares, die
lange nicht ſo ſtark kupferfarbig oder braun ſind als die
übrigen Bewohner dieſer Länder. Dieſer Stamm gehört zu
denen, welche bei den Miſſionären Indios blancos heißen,
und über die ich bald mehr ſagen werde. An der Mündung
des Ocamo zeigt man den Reiſenden einen Fels, der im
Lande für ein Wunder gilt. Es iſt ein Granit, der in Gneis
übergeht, ausgezeichnet durch die eigentümliche Verteilung des
ſchwarzen Glimmers, der kleine verzweigte Adern bildet. Die
Spanier nennen den Fels Piedra mapaya (Landkartenſtein).
Ueber dem Einfluß des Mavaca nimmt der Orinoko an
Breite und Tiefe auf einmal ab. Sein Lauf wird ſehr ge-
krümmt, wie bei einem Alpſtrom. An beiden Ufern ſtehen
Gebirge; von Süden her kommen jetzt bedeutend mehr Ge-
wäſſer herein, indeſſen bleibt die Kordillere im Norden am
höchſten. Von der Mündung des Mavaca bis zum Rio
Gehete ſind es zwei Tagereiſen, weil die Fahrt ſehr be-
ſchwerlich iſt und man oft, wegen zu ſeichten Waſſers, die
Piroge am Ufer ſchleppen muß. Auf dieſer Strecke kommen
von Süd der Daracapo und der Amaguaca herein; ſie laufen
nach Weſt und Oſt um die Berge von Guanaya und Yu-
mariquin herum, wo man die Früchte der Bertholletia ſammelt.
[83] Von den Bergen gegen Nord, deren Höhe vom Cerro Mara-
guaca an allmählich abnimmt, kommt der Rio Manaviche
herab. Je weiter man auf dem Orinoko hinaufkommt, deſto
häufiger werden die Krümmungen und die kleinen Strom-
ſchnellen (chorros y remolinos). Man läßt links den Caño
chiguirie, an dem die Guaica, gleichfalls ein Stamm weißer
Indianer, wohnen, und 9 km weiter kommt man zur Mün-
dung des Gehete, wo ſich ein großer Katarakt befindet. Ein
Damm von Granitfelſen läuft über den Orinoko; dies ſind
die Säulen des Herkules, über die noch kein Weißer hinaus-
gekommen iſt. Dieſer Punkt, der ſogenannte Raudal de
Guaharibos, ſcheint ¾° oſtwärts von Esmeralda, alſo unter
67° 38′ der Länge zu liegen. Durch eine militäriſche Ex-
pedition, die der Kommandant von San Carlos, Don Fran-
cisco Bovadilla, unternommen, um die Quellen des Orinoko
aufzuſuchen, hat man die genaueſten Nachrichten über die
Katarakte der Guaharibos. Er hatte erfahren, daß Neger,
welche in Holländiſch-Guyana entſprungen, nach Weſt (über
die Landenge zwiſchen den Quellen des Rio Carony und des
Rio Branco hinaus) gelaufen ſeien und ſich zu unabhängigen
Indianern geſellt haben. Er unternahm eine Entrada (Ein-
fall) ohne Erlaubnis des Statthalters; der Wunſch, afrika-
niſche Sklaven zu bekommen, die zur Arbeit beſſer taugen als
die kupferfarbigen Menſchen, war dabei ungleich ſtärker im
Spiel, als der Eifer für die Förderung der Erdkunde. Ich
hatte in Esmeralda und am Rio Negro Gelegenheit, mehrere
ſehr verſtändige Militärs zu fragen, die den Zug mitgemacht.
Bovadilla kam ohne Schwierigkeit bis zum kleinen Raudal
dem Gehete gegenüber; aber am Fuße des Felsdammes, welcher
den großen Katarakt bildet, wurde er unverſehens, während
des Frühſtücks, von den Guaharibos und den Guaica über-
fallen, zwei kriegeriſchen und wegen der Stärke des Curare,
mit dem ſie ihre Pfeile vergiften, vielberufenen Stämmen.
Die Indianer beſetzten die Felſen mitten im Fluß. Sie
ſahen keine Bogen in den Händen der Spanier, von Feuer-
gewehr wußten ſie nichts, und ſo gingen ſie Leuten zu Leibe,
die ſie für wehrlos hielten. Mehrere Weiße wurden ge-
fährlich verwundet, und Bovadilla mußte die Waffen brauchen.
Es erfolgte ein furchtbares Gemetzel unter den Eingeborenen,
aber von den holländiſchen Negern, die ſich hierher geflüchtet
haben ſollten, wurde keiner gefunden. Trotz des Sieges, der
ihnen nicht ſchwer geworden, wagten es die Spanier nicht,
[84] in gebirgigem Land auf einem tief eingeſchnittenen Fluſſe
weiter gegen Oſt hinaufzugehen.
Die Guaharibos blancos haben über den Katarakt aus
Lianen eine Brücke geſchlagen, die an den Felſen befeſtigt iſt,
welche ſich, wie meiſtens in den Pongos im oberen Marañon,
mitten aus dem Flußbett erheben. Dieſe Brücke, die ſämt-
liche Einwohner in Esmeralda wohl kennen, ſcheint zu be-
weiſen, daß der Orinoko an dieſer Stelle bereits ziemlich
ſchmal iſt. Die Indianer geben ſeine Breite meiſt nur zu
65 bis 100 m an; ſie behaupten, oberhalb des Raudals der
Guaharibos ſei der Orinoko kein Fluß mehr, ſondern ein
Riachuelo (ein Bergwaſſer), wogegen ein ſehr unterrichteter
Geiſtlicher, Fray Juan Gonzales, der das Land beſucht hat,
mich verſicherte, da, wo man den weiteren Lauf des Orinoko
nicht mehr kenne, ſei er immer noch zu zwei Dritteilen ſo
breit als der Rio Negro bei San Carlos. Letztere Angabe
ſcheint mir unwahrſcheinlicher; ich gebe aber nur wieder, was
ich in Erfahrung bringen konnte, und ſpreche über nichts ab.
Nach den vielen Meſſungen, die ich vorgenommen, weiß ich
gut, wie leicht man ſich hinſichtlich der Größe der Flußbetten
irren kann. Ueberall erſcheinen die Flüſſe breiter oder ſchmaler,
je nachdem ſie von Bergen oder von Ebenen umgeben, frei
oder voll Riffen, von Regengüſſen geſchwellt oder nach langer
Trockenheit waſſerarm ſind. Es verhält ſich übrigens mit
dem Orinoko wie mit dem Ganges, deſſen Lauf nordwärts
von Gangotra nicht bekannt iſt; auch hier glaubt man wegen
der geringen Breite des Fluſſes, der Punkt könne nicht weit
von der Quelle liegen.
Im Felsdamm, der über den Orinoko läuft und den
Raudal der Guaharibos bildet, wollen ſpaniſche Soldaten die
ſchöne Art Sauſſurit (den Amazonenſtein), von dem oben die
Rede war, gefunden haben. Es iſt dies eine ſehr zweifel-
hafte Geſchichte, und die Indianer, die ich darüber befragt,
verſicherten mich, die grünen Steine, die man in Esmeralda
Piedras de Macagua nennt, ſeien von den Guaica und
Guaharibos gekauft, die mit viel weiter oſtwärts lebenden
Horden Handel treiben. Es geht mit dieſen Steinen wie
mit ſo vielen anderen koſtbaren Produkten beider Indien.
An den Küſten, einige hundert Meilen weit weg, nennt man
das Land, wo ſie vorkommen, mit voller Beſtimmtheit; kommt
man aber mit Mühe und Not in dieſes Land, ſo zeigt es
ſich, daß die Eingeborenen das Ding, das man ſucht, nicht
[85] einmal dem Namen nach kennen. Man könnte glauben, die
Amulette aus Sauſſurit, die man bei den Indianern am Rio
Negro gefunden, kommen vom unteren Amazonenſtrom, und
die, welche man über die Miſſionen am oberen Orinoko und
Rio Carony bezieht, aus einem Landſtrich zwiſchen den Quellen
des Eſſequibo und des Rio Branco. Indeſſen haben weder der
Chirurg Hortsmann, ein geborener Hildesheimer, noch Don
Antonio Santos, deſſen Reiſetagebuch mir zu Gebote ſtand,
den Amazonenſtein auf der Lagerſtätte geſehen, und es iſt
eine ganz grundloſe, obgleich in Angoſtura ſtark verbreitete
Meinung, dieſer Stein komme in weichem, teigigem Zuſtand
aus dem kleinen See Amucu, aus dem man die Laguna
del Dorado gemacht hat. So iſt denn in dieſem öſtlichen
Strich von Amerika noch eine ſchöne geognoſtiſche Entdeckung
zu machen, nämlich im Urgebirge ein Euphotidgeſtein (Gabbro)
aufzufinden, das die Piedra de Mecagua enthält.
Ich gebe hier einigen Aufſchluß über die Indianerſtämme
von weißlicher Hautfarbe und ſehr kleinem Wuchs, die alte
Sagen ſeit Jahrhunderten an die Quellen des Orinoko ſetzen.
Ich hatte Gelegenheit, in Esmeralda einige zu ſehen, und
kann verſichern, daß man die Kleinheit der Guaica und
die Weiße der Guaharibos, die Pater Caulin Guaribos
blancos nennt, in gleichem Maße übertrieben hat. Die
Guaica, die ich gemeſſen, meſſen im Durchſchnitt 1486
bis 1513 mm. Man behauptet, der ganze Stamm ſei ſo
ausnehmend klein; man darf aber nicht vergeſſen, daß das,
was man hier einen Stamm nennt, im Grunde nur eine
einzige Familie iſt. Wo alle Vermiſchung mit Fremden aus-
geſchloſſen iſt, pflanzen ſich Spielarten und Abweichungen
vom gemeinſamen Typus leichter fort. Nach den Guaica
ſind die Guainares und die Poignaves die kleinſten unter
den Indianern. Es iſt ſehr auffallend, daß alle dieſe Völker-
ſchaften neben den Kariben wohnen, die von ungemein hohem
Wuchſe ſind. Beide leben im ſelben Klima und haben die-
ſelben Nahrungsmittel. Es ſind Raſſenſpielarten, deren Bil-
dung ohne Zweifel weit über die Zeit hinaufreicht, wo dieſe
Stämme (große und kleine, weißliche und dunkelbraune) ſich
nebeneinander niedergelaſſen. Die vier weißeſten Nationen
am oberen Orinoko ſcheinen mir die Guaharibos am Rio
Gehete, die Guainares am Ocamo, die Guaica am Caño
Chiguire und die Maquiritares an den Quellen des Padamo,
des Jao und des Ventuari. Da Eingeborene mit weißlicher
[86] Haut unter einem glühenden Himmel und mitten unter ſehr
dunkelfarbigen Völkern eine auffallende Erſcheinung ſind, ſo
haben die Spanier zur Erklärung derſelben zwei ſehr gewagte
Hypotheſen aufgebracht. Die einen meinen, Holländer aus
Surinam und vom Rio Eſſequibo mögen ſich mit Guaharibos
und Guainares vermiſcht haben; andere behaupten aus Haß
gegen die Kapuziner am Carony und die Obſervanten am
Orinoko, dieſe weißlichen Indianer ſeien, was man in Dal-
matien Muso di frate nennt, Kinder, deren eheliche Geburt
einigem Zweifel unterliegt. In beiden Fällen wären die
Indios blancos Meſtizen, Abkömmlinge einer Indianerin und
eines Weißen. Ich habe aber Tauſende von Meſtizen ge-
ſehen und kann behaupten, daß die Vergleichung durchaus
unrichtig iſt. Die Individuen der weißlichen Stämme, die
wir zu unterſuchen Gelegenheit hatten, haben die Geſichts-
bildung, den Wuchs, die ſchlichten, glatten ſchwarzen Haare,
wie ſie allen anderen Indianern zukommen. Unmöglich könnte
man ſie für Miſchlinge halten, ähnlich den Abkömmlingen
von Eingeborenen und Europäern. Manche ſind dabei ſehr
klein, andere haben den gewöhnlichen Wuchs der kupferroten
Indianer. Sie ſind weder ſchwächlich, noch kränklich, noch
Albinos; ſie unterſcheiden ſich von den kupferfarbigen Stämmen
allein durch weit weniger dunkle Hautfarbe. Nach dieſen
Bemerkungen braucht man den weiten Weg vom oberen
Orinoko zum Küſtenland, auf dem die Holländer ſich nieder-
gelaſſen, gar nicht in Anſchlag zu bringen. Ich leugne nicht,
daß man Abkömmlinge entlaufener Neger (negros alzados
del palenque) unter den Kariben an den Quellen des Eſſe-
quibo gefunden haben mag; aber niemals iſt ein Weißer von
den Oſtküſten ſo tief in Guyana hinein, an den Rio Gehete
und an den Ocamo gekommen. Noch mehr: ſo auffallend es
erſcheinen mag, daß Völkerſchaften mit weißlicher Haut öſtlich
von Esmeralda nebeneinander wohnen, ſo iſt doch ſo viel
gewiß, daß man auch in anderen Ländern Amerikas Stämme
gefunden hat, die ſich von ihren Nachbarn durch weit weniger
dunkle Hautfarbe unterſcheiden. Dahin gehören die Ari-
virianos und Maquiritares am Rio Ventuario und am Pa-
damo, die Paudacoten und Paravenas am Erevato, die Viras
und Arigua am Caura, die Mologagos in Braſilien und
die Guayana am Uruguay. 1.
[87]
Alle dieſe Erſcheinungen verdienen deſto mehr Aufmerk-
ſamkeit, als ſie den großen Zweig der amerikaniſchen Völker
betreffen, den man gemeiniglich dem am Pole lebenden Zweig,
den Eskimo-Tſchugaſen, entgegenſtellt, deren Kinder weiß ſind
und die mongoliſch gelbe Farbe erſt durch den Einfluß der
Luft und der Feuchtigkeit annehmen. In Guyana ſind die
Horden, welche mitten in den dichteſten Wäldern leben, meiſt
nicht ſo dunkel als ſolche, welche an den Ufern des Ori-
noko Fiſchfang treiben. Aber dieſer unbedeutende Unter-
ſchied, der ja auch in Europa zwiſchen den ſtädtiſchen Hand-
werkern und den Landbauern oder Küſtenfiſchern vorkommt,
erklärt keineswegs das Phänomen der Indios blancos, die
Exiſtenz von Indianerſtämmen mit einer Haut wie die der
Meſtizen. Dieſelben ſind von anderen Waldindianern (Indios
del monte) umgeben, die, obgleich ganz den nämlichen
phyſiſchen Einflüſſen ausgeſetzt, braunrot ſind. Die Ur-
ſachen dieſer Erſcheinungen liegen in der Zeit ſehr weit
rückwärts, und wir ſagen wieder mit Tacitus: „Est durans
originis vis.“
Dieſe Stämme mit weißlicher Haut, welche wir in der
Miſſion Esmeralda zu ſehen Gelegenheit gehabt, bewohnen
einen Strich des Berglandes zwiſchen den Quellen von ſechs
Nebenflüſſen des Orinoko, des Padamo, Jao, Ventuari,
Erevato, Aruy und Paragua. Bei den ſpaniſchen und portu-
1
[88] gieſiſchen Miſſionären heißt dieſes Land gemeiniglich die
Parime. Hier, wie in verſchiedenen anderen Ländern von
Spaniſch-Amerika, haben die Wilden wieder erobert, was die
Civiliſation oder vielmehr die Miſſionäre, die nur die Vor-
läufer der Civiliſation ſind, ihnen abgerungen. Solanos
Grenzexpedition und der abenteuerliche Eifer, mit dem ein
Statthalter von Guyana 1 den Dorado ſuchte, hatte in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Unternehmungs-
geiſt wieder wachgerufen, der die Kaſtilianer bei der Ent-
deckung von Amerika beſeelte. Man hatte am Rio Padamo
hinauf durch Wälder und Savannen einen Weg von zehn
Tagereiſen von Esmeralda zu den Quellen des Ventuari ent-
deckt; in zwei weiteren Tagen war man von dieſen Quellen
auf dem Erevato in die Miſſionen am Rio Caura gelangt.
Zwei verſtändige, beherzte Männer, Don Antonio Santos
und der Kapitän Bareto, hatten mit Hilfe der Maquiritares
auf dieſer Linie von Esmeralda an den Rio Erevato eine
militäriſche Poſtenkette angelegt; dieſelbe beſtand aus zwei-
ſtockigen, mit Steinböllern beſetzten Häuſern (casas fuertes),
wie ich ſie oben beſchrieben und die auf den Karten, die
zu Madrid herauskamen, als 19 Dörfer figurierten. Die
ſich ſelbſt überlaſſenen Soldaten bedrückten in jeder Weiſe
die Indianer, die ihre Pflanzungen bei den Casas fuertes
hatten, und da dieſe Plackereien nicht ſo methodiſch waren,
das heißt nicht ſo gut ineinander griffen wie die in den
Miſſionen, an die ſich die Indianer nach und nach gewöhnen,
ſo verbündeten ſich im Jahre 1776 mehrere Stämme gegen
die Spanier. In einer Nacht wurden alle Militärpoſten
auf der ganzen 225 km langen Linie angegriffen, die Häuſer
niedergebrannt, viele Soldaten niedergemacht; nur wenige
verdankten ihr Leben dem Erbarmen der indianiſchen Weiber.
Noch jetzt ſpricht man mit Entſetzen von dieſem nächtlichen
Ueberfall. Derſelbe wurde in der tiefſten Heimlichkeit ver-
abredet und mit der Uebereinſtimmung ausgeführt, die bei
den Eingeborenen von Süd- wie von Nordamerika, welche
feindſelige Gefühle ſo meiſterhaft in ſich zu verſchließen wiſſen,
niemals fehlt, wo es ſich um gemeinſamen Vorteil handelt.
Seit 1776 hat nun kein Menſch mehr daran gedacht, den
Landweg vom oberen an den unteren Orinoko wiederher-
[89] zuſtellen, und konnte kein Weißer von Esmeralda an den
Erevato gehen. Und doch iſt kein Zweifel darüber, daß es
in dieſem Gebirgslande zwiſchen den Quellen des Padamo
und des Ventuari (bei den Orten, welche bei den Indianern
Aurichapa, Ichuana und Irique heißen) mehrere Gegenden
mit gemäßigtem Klima und mit Weiden gibt, die Vieh in
Menge nähren könnten. Die Militärpoſten leiſteten ihrer
Zeit ſehr gute Dienſte gegen die Einfälle der Kariben,
die von Zeit zu Zeit zwiſchen dem Erevato und dem Pa-
damo Sklaven fortſchleppten, wenn auch nur wenige. Sie
hätten wohl auch den Angriffen der Eingeborenen wider-
ſtanden, wenn man ſie, ſtatt ſie ganz vereinzelt und nur
in den Händen der Soldaten zu laſſen, in Dörfer ver-
wandelt und wie die Gemeinden der neubekehrten Indianer
verwaltet hätte.
Wir verließen die Miſſion Esmeralda am 17. Mai.
Wir waren eben nicht krank, aber wir fühlten uns alle matt
und ſchwach infolge der Inſektenplage, der ſchlechten Nahrung
und der langen Fahrt in engen, naſſen Kanoen. Wir gingen
den Orinoko nicht über den Einfluß des Rio Guapo hinauf;
wir hätten es gethan, wenn wir hätten verſuchen können, zu
den Quellen des Fluſſes zu gelangen. Unter den gegen-
wärtigen Verhältniſſen müſſen ſich bloße Privatleute, welche
Erlaubnis haben, die Miſſionen zu betreten, bei ihren Wan-
derungen auf die friedlichen Striche des Landes beſchränken.
Vom Guapo bis zum Raudal der Guaharibos ſind noch
67 km. Bei dieſem Katarakt, über den man auf einer Brücke
aus Lianen geht, ſtehen Indianer mit Bogen und Pfeilen,
die keinen Weißen und keinen, der aus dem Gebiet der
Weißen kommt, weiter nach Oſten laſſen. Wie konnten wir
hoffen, über einen Punkt hinauszukommen, wo der Befehls-
haber am Rio Negro, Don Francisco Bovadilla, hatte Halt
machen laſſen, als er mit bewaffneter Macht jenſeits des
Gehete vordringen wollte? Durch das Blutbad, das man
unter ihnen angerichtet, ſind die Eingeborenen gegen die Be-
wohner der Miſſionen noch grimmiger und mißtrauiſcher ge-
worden. Man erinnere ſich, daß beim Orinoko bis jetzt den
Geographen zwei beſondere, aber gleich wichtige Probleme
vorlagen: die Lage ſeiner Quellen und die Art ſeiner Ver-
bindung mit dem Amazonenſtrom. Der letztere war der
Zweck der Reiſe, die ich im bisherigen beſchrieben; was die
endliche Auffindung der Quellen betrifft, ſo iſt dies Sache
[90] der ſpaniſchen und der portugieſiſchen Regierung. Eine kleine
Abteilung Soldaten, die von Angoſtura oder vom Rio Negro
aufbräche, könnte den Guaharibos, Guaica und Kariben,
deren Kraft und Anzahl man in gleichem Maße übertreibt,
die Spitze bieten. Dieſe Expedition könnte entweder von
Esmeralda oſtwärts oder auf dem Rio Carony und dem Pa-
ragua ſüdweſtwärts, oder endlich auf dem Rio Padaviri oder
dem Rio Branco und dem Urariquera nach Nordweſt gehen.
Da der Orinoko in der Nähe ſeines Urſprungs wahrſchein-
lich weder unter dieſem Namen noch unter dem Namen Pa-
ragua 1 bekannt iſt, ſo wäre es ſicherer auf ihm über den
Gehete hinaufzugehen, nachdem man das Land zwiſchen
Esmeralda und dem Raudal der Guaharibos, das ich oben
genau beſchrieben, hinter ſich gelaſſen. Auf dieſe Weiſe ver-
wechſelte man nicht den Hauptſtamm des Fluſſes mit einem
oberen Nebenfluß, und wo das Bett mit Felſen verſtopft
wäre, ginge man bald am einen, bald am anderen Ufer am
Orinoko hinauf. Wollte man aber, ſtatt ſich nach Oſt zu
wenden, die Quellen weſtwärts auf dem Rio Carony, dem
Eſſequibo oder dem Rio Branco ſuchen, ſo müßte man den
Zweck der Expedition erſt dann als erreicht anſehen, wenn
man auf dem Fluß, den man für den Orinoko angeſehen,
bis zum Einfluß des Gehete und zur Miſſion Esmeralda
herabgekommen wäre. Das portugieſiſche Fort San Joaquim,
am linken Ufer des Rio Branco beim Einfluß des Tacutu,
wäre ein weiterer günſtig gelegener Ausgangspunkt; ich em-
pfehle ihn, weil ich nicht weiß, ob die Miſſion Santa Roſa,
die vom Statthalter Don Manuel Centurion, als die Ciudad
Guirior angelegt wurde, weiter nach Weſt am Ufer des
Urariapara gegründet worden, nicht bereits wieder einge-
gangen iſt. Verfolgte man den Lauf des Paragua weſtwärts
vom Deſtacamento oder Militärpoſten Guirior, der in den
Miſſionen der kataloniſchen Kapuziner liegt, oder ginge man
vom portugieſiſchen Fort San Joaquim im Thale des Rio
Uruariquera gegen Weſt, ſo käme man am ſicherſten zu den
Quellen des Orinoko. Die Längenbeobachtungen, die ich in
Esmeralda angeſtellt, können das Suchen erleichtern, wie ich
in einer an das ſpaniſche Miniſterium unter König Karl IV.
gerichteten Denkſchrift auseinandergeſetzt habe.
[91]
Wenn das große, nützliche Werk der amerikaniſchen Miſ-
ſionen allmählich die Verbeſſerungen erhielte, auf die mehrere
Biſchöfe angetragen haben, wenn man, ſtatt die Miſſionäre
faſt aufs Geratewohl aus den ſpaniſchen Klöſtern zu ergänzen,
junge Geiſtliche in Amerika ſelbſt in Seminarien oder Miſ-
ſionskollegien erzöge, ſo würden militäriſche Expeditionen, wie
ich ſie eben vorgeſchlagen, überflüſſig. Das Ordenskleid des
heiligen Franziskus, ob es nun braun iſt wie bei den Kapu-
zinern am Carony, oder blau wie bei den Obſervanten am
Orinoko, übt immer noch einen gewiſſen Zauber über die
Indianer dieſer Länder. Sie knüpfen daran gewiſſe Vor-
ſtellungen von Wohlſtand und Behagen, die Ausſicht, in den
Beſitz von Aexten, Meſſern und Fiſchereigeräten zu gelangen.
Selbſt ſolche, die an Unabhängigkeit und Vereinzelung zähe
feſthalten und es verſchmähen, ſich „vom Glockenklang regieren
zu laſſen“, ſind erfreut, wenn ein benachbarter Miſſionär ſie
beſucht. Ohne die Bedrückungen der Soldaten und die feind-
lichen Einfälle der Mönche, ohne die Entradas und Conquistas
apostolicas, hätten ſich die Eingeborenen nicht von den Ufern
des Stromes weggezogen. Gäbe man das unvernünftige
Syſtem auf, die Kloſterzucht in den Wäldern und Savannen
Amerikas einführen zu wollen, ließe man die Indianer der
Früchte ihrer Arbeit froh werden, regierte man ſie nicht ſo
viel, das heißt, legte man nicht ihrer natürlichen Freiheit bei
jedem Schritte Feſſeln an, ſo würden die Miſſionäre raſch
den Kreis ihrer Thätigkeit ſich erweitern ſehen, deren Ziel ja
kein anderes iſt, als menſchliche Geſittung.
Die Niederlaſſungen der Mönche haben in den Aequinok-
tialländern der Neuen Welt wie im nördlichen Europa die
erſten Keime des geſellſchaftlichen Lebens ausgeſtreut. Noch
jetzt bilden ſie einen weiten Gürtel um die europäiſchen Be-
ſitzungen, und wie viele und große Mißbräuche ſich auch in
ein Regiment eingeſchlichen haben mögen, wobei alle Gewalten
in einer einzigen verſchmolzen ſind, ſo würde es doch ſchwer
halten, dasſelbe durch ein anderes zu erſetzen, das nicht noch
weit größere Uebelſtände mit ſich führte, und dabei ebenſo wohl-
feil und dem ſchweigſamen Phlegma der Eingeborenen ebenſo
angemeſſen wäre. Ich komme ſpäter auf dieſe chriſtlichen An-
ſtalten zurück, deren politiſche Wichtigkeit in Europa nicht
genug gewürdigt wird. Hier ſei nur bemerkt, daß die von
der Küſte entlegenſten gegenwärtig am meiſten verwahrloſt
ſind. Die Ordensleute leben dort im tiefſten Elende. Allein
[92] von der Sorge für den täglichen Unterhalt befangen, beſtändig
darauf bedacht, auf eine Miſſion verſetzt zu werden, die näher
bei der civiliſierten Welt liegt, das heißt bei weißen und ver-
nünftigen Leuten, kommen ſie nicht leicht in Verſuchung,
weiter ins Land zu dringen. Es wird raſch vorwärts gehen,
ſobald man (nach dem Vorgange der Jeſuiten) den entlegen-
ſten Miſſionen außerordentliche Unterſtützungen zu teil werden
läßt, und auf die äußerſten Poſten, Guirior, San Luis del
Erevato und Esmeralda, 1 die mutigſten, verſtändigſten und
in den Indianerſprachen bewandertſten Miſſionäre ſtellt. Das
kleine Stück, das vom Orinoko noch zu berichtigen iſt (wahr-
ſcheinlich eine Strecke von 112 bis 136 km), wird bald ent-
deckt ſein; in Süd- wie in Nordamerika ſind die Miſſionäre
überall zuerſt auf dem Platze, weil ihnen Vorteile zu ſtatten
kommen, die anderen Reiſenden abgehen. „Ihr thut groß
damit, wie weit ihr über den Oberſee hinaufgekommen,“ ſagte
ein Indianer aus Kanada zu Pelzhändlern aus den Vereinig-
ten Staaten; „ihr denkt alſo nicht daran, daß die ‚Schwarz-
röcke‘ vorher dageweſen, und daß dieſe euch den Weg nach
Weſten gewieſen haben!“
Unſere Piroge war erſt gegen drei Uhr abends bereit
uns aufzunehmen. Während der Fahrt auf dem Caſſiquiare
hatten ſich unzählige Ameiſen darin eingeniſtet und nur mit
Mühe ſäuberte man davon den Toldo, das Dach aus Palm-
blättern, unter dem wir nun wieder zweiundzwanzig Tage
lang ausgeſtreckt liegen ſollten. Einen Teil des Vormittags
verwendeten wir dazu, um die Bewohner von Esmeralda noch-
mals über einen See auszufragen, der gegen Oſt liegen ſollte.
Wir zeigten den alten Soldaten, die in der Miſſion ſeit ihrer
Gründung lagen, die Karten von Surville und La Cruz. Sie
lachten über die angebliche Verbindung zwiſchen dem Orinoko
und dem Rio Idapa und über das Weiße Meer, durch
das erſterer Fluß laufen ſoll. Was wir höflich Fiktionen
der Geographen nennen, hießen ſie „Lügen von dort drüben“
(mentiras de por allá). Die guten Leute konnten nicht be-
greifen, wie man von Ländern, in denen man nie geweſen,
Karten machen kann und aufs genaueſte Dinge wiſſen will,
wovon man an Ort und Stelle gar nichts weiß. Der See
[93] der Parime, die Sierra Mey, die Quellen, die vom Punkte
an, wo ſie aus dem Boden kommen, auseinanderlaufen —
von all dem weiß man in Esmeralda nichts. Immer hieß
es, kein Menſch ſei je oſtwärts über den Raudal der Gua-
haribos hinaufgekommen; oberhalb dieſes Punktes komme, wie
manche Indianer glauben, der Orinoko als ein kleiner Berg-
ſtrom von einem Gebirgsſtocke herab, an dem die Corotos-
indianer wohnen. Dieſe Umſtände verdienen wohl Beachtung;
denn wäre bei der königlichen Grenzexpedition oder nach dieſer
denkwürdigen Zeit ein weißer Menſch wirklich zu den Quellen
des Orinoko und zu dem angeblichen See der Parime ge-
kommen, ſo müßte ſich die Erinnerung daran in der nächſt-
gelegenen Miſſion, über die man kommen mußte, um eine
ſo wichtige Entdeckung zu machen, erhalten haben. Nun machen
aber die drei Perſonen, die mit den Ergebniſſen der Grenz-
expedition bekannt wurden, Pater Caulin, La Cruz und Sur-
ville, Angaben, die ſich geradezu widerſprechen. Wären ſolche
Widerſprüche denkbar, wenn dieſe Gelehrten, ſtatt ihre Karten
nach Annahmen und Hypotheſen zu entwerfen, die in Madrid
ausgeheckt worden, einen wirklichen Reiſebericht vor Augen
gehabt hätten? Pater Gili, der achtzehn Jahre (von 1749
bis 1767) am Orinoko gelebt hat, ſagt ausdrücklich, „Don
Apolinario Diez ſei abgeſandt worden, um die Quellen des
Orinoko zu ſuchen; er habe oſtwärts von Esmeralda den
Strom voll Klippen gefunden; er habe aus Mangel an
Lebensmitteln umgekehrt und von der Exiſtenz eines Sees
nichts, gar nichts vernommen“. Dieſe Angabe ſtimmt voll-
kommen mit dem, was ich fünfunddreißig Jahre ſpäter in
Esmeralda gehört, wo Don Apolinarios Name noch im
Munde aller Einwohner iſt und von wo man fortwährend
über den Einfluß des Gehete hinauffährt.
Die Wahrſcheinlichkeit einer Thatſache vermindert ſich
bedeutend, wenn ſich nachweiſen läßt, daß man an dem Orte,
wo man am beſten damit bekannt ſein müßte, nichts davon
weiß, und wenn diejenigen, die ſie mitteilen, ſich widerſprechen,
nicht etwa in minder weſentlichen Umſtänden, ſondern gerade
in allen wichtigen. Ich verfolge dieſe rein geographiſche Er-
örterung hier nicht weiter; ich werde in der Folge zeigen,
wie die Verſtöße auf den neuen Karten von der Sitte her-
rühren, ſie den alten nachzuzeichnen, wie Trageplätze für Fluß-
verzweigungen gehalten wurden, wie man Flüſſe, die bei den
Indianern große Waſſer heißen, in Seen verwandelte,
[94] wie man zwei dieſer Seen (den Caſſipa und den Parime) ſeit
dem 16. Jahrhundert verwechſelte und hin und her ſchob,
wie man endlich in den Namen der Nebenflüſſe des Rio
Branco den Schlüſſel zu den meiſten dieſer uralten Fiktionen
findet.
Als wir im Begriffe waren, uns einzuſchiffen, drängten
ſich die Einwohner um uns, die weiß und von ſpaniſcher Ab-
kunft ſein wollen. Die armen Leute beſchworen uns, beim
Statthalter von Angoſtura ein gutes Wort für ſie einzulegen,
daß ſie in die Steppen (Llanos) zurückkehren dürften, oder,
wenn man ihnen dieſe Gnade verſage, daß man ſie in die
Miſſionen am Rio Negro verſetze, wo es doch kühler ſei und
nicht ſo viele Inſekten gebe. „Wie ſehr wir uns auch ver-
fehlt haben mögen,“ ſagten ſie, „wir haben es abgebüßt durch
zwanzig Jahre der Qual in dieſem Moskitoſchwarm.“ Ich
nahm mich in einem Berichte an die Regierung über die in-
duſtriellen und kommerziellen Verhältniſſe dieſer Länder der
Verwieſenen an, aber die Schritte, die ich that, blieben er-
folglos. Die Regierung war zur Zeit meiner Reiſe mild und
zu gelinden Maßregeln geneigt; wer aber das verwickelte
Räderwerk der alten ſpaniſchen Monarchie kennt, weiß auch,
daß der Geiſt eines Miniſteriums auf das Wohl der Bevölke-
rung am Orinoko, in Neukalifornien und auf den Philippinen
von ſehr geringem Einfluſſe war.
Halten ſich die Reiſenden nur an ihr eigenes Gefühl, ſo
ſtreiten ſie ſich über die Menge der Moskiten, wie über die
allmähliche Zunahme und Abnahme der Temperatur. Die
Stimmung unſerer Organe, die Bewegung der Luft, das Maß
der Feuchtigkeit oder Trockenheit, die elektriſche Spannung
tauſenderlei Umſtände wirken zuſammen, daß wir von der
Hitze und den Inſekten bald mehr, bald weniger leiden. Meine
Reiſegefährten waren einſtimmig der Meinung, in Esmeralda
peinigen die Moskiten ärger als am Caſſiquiare und ſelbſt
in den beiden Miſſionen an den großen Katarakten; mir meiner-
ſeits, der ich für die hohe Lufttemperatur weniger empfindlich
war als ſie, ſchien der Hautreiz, den die Inſekten verurſachen,
in Esmeralda nicht ſo ſtark als an der Grenze des oberen
Orinoko. Wir brauchten kühlende Waſchwaſſer; Zitronenſaft
und noch mehr der Saft der Ananas lindern das Jucken der
alten Stiche bedeutend; die Geſchwulſt vergeht nicht davon,
wird aber weniger ſchmerzhaft. Hört man von dieſen leidigen
Inſekten der heißen Länder ſprechen, ſo findet man es kaum
[95] glaublich, daß man unruhig werden kann, wenn ſie nicht da
ſind, oder vielmehr wenn ſie unerwartet verſchwinden. In
Esmeralda erzählte man uns, im Jahre 1795 ſei eine Stunde
vor Sonnenuntergang, wo ſonſt die Moskiten eine ſehr dichte
Wolke bilden, die Luft auf einmal 20 Minuten lang ganz
frei geweſen. Kein einziges Inſekt ließ ſich blicken, und doch
war der Himmel wolkenlos und kein Wind deutete auf Regen.
Man muß in dieſen Ländern ſelbſt gelebt haben, um zu be-
greifen, in welchem Maße dieſes plötzliche Verſchwinden der
Inſekten überraſchen mußte. Man wünſchte einander Glück,
man fragte ſich, ob dieſe Felicidad, dieſes Alivio (Erleichte-
rung) wohl von Dauer ſein könne. Nicht lange aber, und
ſtatt des Augenblickes zu genießen, fürchtete man ſich vor
ſelbſtgemachten Schreckbildern; man bildete ſich ein, die Ord-
nung der Natur habe ſich verkehrt. Alte Indianer, die Lokal-
gelehrten, behaupteten, das Verſchwinden der Moskiten könne
nichts anderes bedeuten als ein großes Erdbeben. Man ſtritt
hitzig hin und her, man lauſchte auf das leiſeſte Geräuſch im
Baumlaub, und als ſich die Luft wieder mit Moskiten füllte,
freute man ſich ordentlich, daß ſie wieder da waren. Welcher
Vorgang in der Atmoſphäre mag nun dieſe Erſcheinung ver-
urſacht haben, die man nicht damit verwechſeln darf, daß zu
beſtimmten Tageszeiten die eine Inſektenart die andere ablöſt?
Wir konnten dieſe Frage nicht beantworten, aber die lebendige
Schilderung der Einwohner war uns intereſſant. Mißtrauiſch,
ängſtlich, was ihm bevorſtehen möge, ſeine alten Schmerzen
zurückwünſchen, das iſt ſo echt menſchlich.
Bei unſerem Abgange von Esmeralda war das Wetter
ſehr ſtürmiſch. Der Gipfel des Duida war in Wolken ge-
hüllt, aber dieſe ſchwarzen, ſtark verdichteten Dunſtmaſſen
ſtanden noch 1750 m über der Niederung. Schätzt man die
mittlere Höhe der Wolken, d. h. ihre untere Schicht, in ver-
ſchiedenen Zonen, ſo darf man nicht die zerſtreuten einzelnen
Gruppen mit den Wolkendecken verwechſeln, die gleichförmig
über den Niederungen gelagert ſind und an eine Bergkette
ſtoßen. Nur die letzteren können ſichere Reſultate geben;
einzelne Wolkengruppen verfangen ſich in Thälern, oft nur
durch die niedergehenden Luftſtröme. Wir ſahen welche bei
der Stadt Caracas in 975 m Meereshöhe; es iſt aber ſchwer
zu glauben, daß die Wolken, die man über den Küſten von
Cumana und der Inſel Margarita ſieht, nicht höher ſtehen
ſollten. Das Gewitter, das ſich am Gipfel des Duida entlud,
[96] zog nicht in das Thal des Orinoko herunter; überhaupt haben
wir in dieſem Thale nicht die ſtarken elektriſchen Entladungen
beobachtet, wie ſie in der Regenzeit den Reiſenden, wenn er
von Cartagena nach Honda den Magdalenenſtrom hinauf-
fährt, faſt jede Nacht ängſtigen. Es ſcheint, daß in einem
flachen Lande die Gewitter regelmäßiger dem Bette eines
großen Fluſſes nachziehen als in einem ungleichförmig mit
Bergen beſetzten Lande, wo viele Seitenthäler durcheinander-
laufen. Wir beobachteten zu wiederholten Malen die Tempe-
ratur des Orinoko an der Waſſerfläche bei 30° Lufttemperatur;
wir fanden nur 26°, alſo 3° weniger als in den großen
Katarakten und 2° mehr als im Rio Negro. In der ge-
mäßigten Zone in Europa ſteigt die Temperatur der Donau
und der Elbe mitten im Sommer nicht über 17 bis 19°. Am
Orinoko konnte ich niemals einen Unterſchied zwiſchen der
Wärme des Waſſers bei Tag und bei Nacht bemerken, wenn
ich nicht den Thermometer da in den Fluß brachte, wo das
Waſſer wenig Tiefe hat und ſehr langſam über ein breites,
ſandiges Geſtade fließt, wie bei Uruana und bei den Mün-
dungen des Apure. Obgleich in den Wäldern von Guyana
unter einem meiſtens bedeckten Himmel die Strahlung des
Bodens bedeutend verlangſamt iſt, ſo ſinkt doch die Lufttem-
peratur bei Nacht nicht unbedeutend. Die obere Waſſerſchicht
iſt dann wärmer als der umgebende Erdboden, und wenn
die Miſchung zweier mit Feuchtigkeit faſt geſättigter Luft-
maſſen über dem Wald und über dem Fluſſe keinen ſicht-
baren Nebel erzeugt, ſo kann man dies nicht dem Umſtande
zuſchreiben, daß die Nacht nicht kühl genug ſei. Während
meines Aufenthaltes am Orinoko und Rio Negro war das
Flußwaſſer oft um 2 bis 3° bei Nacht wärmer als die wind-
ſtille Luft.
Nach vierſtündiger Fahrt flußabwärts kamen wir an die
Stelle der Gabelteilung. Wir ſchlugen unſer Nachtlager am
Ufer des Caſſiquiare am ſelben Flecke auf, wo wenige Tage
zuvor die Jaguare höchſt wahrſcheinlich uns unſere große
Dogge geraubt hatten. Alles Suchen der Indianer nach einer
Spur des Tieres war vergebens. Der Himmel blieb umzogen
und ich wartete vergeblich auf die Sterne; ich beobachtete
aber hier wieder, wie ſchon in Esmeralda, die Inklination
der Magnetnadel. Am Fuße des Cerro Duida hatte ich
28° 25′ gefunden, faſt 3° mehr als in Mandavaca. An der
Mündung des Caſſiquiare erhielt ich 28° 75′; der Duida
[97] ſchien alſo keinen merklichen Einfluß geäußert zu haben. Die
Jaguare ließen ſich die ganze Nacht hören. 1 Sie ſind in
dieſer Gegend zwiſchen dem Cerro Maraguaca, dem Unturan
und den Ufern des Pamoni ungemein häufig. Hier kommt
auch der ſchwarze Tiger2 vor, von dem ich in Esmeralda
ſchöne Felle geſehen. Dieſes Tier iſt wegen ſeiner Stärke
und Wildheit vielberufen und es ſcheint noch größer zu ſein
als der gemeine Jaguar. Die ſchwarzen Flecken ſind auf
dem ſchwarzbraunen Grunde ſeines Felles kaum ſichtbar. Nach
der Angabe der Indianer ſind die ſchwarzen Tiger ſehr ſelten,
vermiſchen ſich nie mit den gemeinen Jaguaren und „ſind eine
andere Raſſe“. Ich glaube, Prinz Maximilian von Neuwied,
der die Zoologie von Amerika mit ſo vielen wichtigen Beob-
achtungen bereichert hat, iſt weiter nach Süd, im heißen
Landſtriche von Braſilien ebenſo berichtet worden. In Para-
guay ſind Albinos von Jaguaren vorgekommen; denn dieſe
Tiere, die man den ſchönen amerikaniſchen Panther nennen
könnte, haben zuweilen ſo blaſſe Flecken, daß man ſie auf
dem ganz weißen Grunde kaum bemerkt. Beim ſchwarzen
Jaguar werden im Gegenteile die Flecken unſichtbar, weil
der Grund dunkel iſt. Man müßte lange in dieſer Gegend
leben und die Indianer in Esmeralda auf der gefährlichen
Tigerjagd begleiten, um ſich beſtimmt darüber ausſprechen
zu können, was bei ihnen Art und was nur Spielart iſt.
Bei allen Säugetieren, beſonders aber bei der großen Familie
der Affen, hat man, glaube ich, weniger auf die Farbenüber-
gänge bei einzelnen Exemplaren ſein Augenmerk zu richten,
als auf den Trieb der Tiere, ſich abzuſondern und Rudel für
ſich zu bilden.
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 7
[98]
Am 24. Mai. Wir brachen von unſerem Nachtlager
vor Sonnenaufgang auf. In einer Felsbucht, wo die Duri-
mundi-Indianer gehauſt hatten, war der aromatiſche Duft
der Gewächſe ſo ſtark, daß es uns läſtig fiel, obgleich wir
unter freiem Himmel lagen und bei unſerer Gewöhnung an
ein Leben voll Beſchwerden unſer Nervenſyſten eben nicht
ſehr reizbar war. Wir konnten nicht ermitteln, was für
Blüten es waren, die dieſen Geruch verbreiteten; der Wald
war undurchdringlich. Bonpland glaubte, in den benachbarten
Sümpfen werden große Büſche von Pancratium und einigen
anderen Liliengewächſen ſtecken. Wir kamen ſofort den Ori-
noko abwärts zuerſt am Einfluß des Cunucunumo, dann am
Guanami und Puruname vorüber. Beide Ufer des Haupt-
ſtroms ſind völlig unbewohnt; gegen Norden erheben ſich
hohe Gebirge, gegen Süden dehnt ſich, ſo weit das Auge reicht,
eine Ebene bis über die Quellen des Atacavi hinaus, der
weiter unten Atabapo heißt. Der Anblick eines Fluſſes, auf
dem man nicht einmal einem Fiſcherboot begegnet, hat etwas
Trauriges, Niederſchlagendes. Unabhängige Völkerſchaften,
die Abirianos und Maquiritares, leben hier im Gebirgsland,
aber auf den Grasfluren zwiſchen Caſſiquiare, Atabapo, Ori-
noko und Rio Negro findet man gegenwärtig faſt keine Spur
einer menſchlichen Wohnung. Ich ſage gegenwärtig; denn
hier, wie anderswo in Guyana, findet man auf den härteſten
Granitfelſen rohe Bilder eingegraben, welche Sonne, Mond
und verſchiedene Tiere vorſtellen und darauf hinweiſen, daß
hier früher ein ganz anderes Volk lebte, als das wir an den
Ufern des Orinoko kennen gelernt. Nach den Ausſagen der
Indianer und der verſtändigſten Miſſionare kommen dieſe
ſymboliſchen Bilder ganz mit denen überein, die wir 450 km
weiter nördlich von Caycara, der Einmündung des Apure
gegenüber, geſehen haben.
Die Ueberreſte einer alten Kultur fallen um ſo mehr
auf, je größer der Flächenraum iſt, auf dem ſie vorkommen,
und je ſchärfer ſie von der Verwilderung abſtechen, in die
wir ſeit der Eroberung alle Horden in den heißen öſtlichen
Landſtrichen Amerikas verſunken ſehen. 630 km oſtwärts
von den Ebenen am Caſſiquiare und Conorichite, zwiſchen
den Quellen des Rio Branco und des Rio Eſſequibo, findet
man gleichfalls Felſen mit ſymboliſchen Bildern. Ich ent-
nehme dieſen Umſtand, der mir ſehr merkwürdig ſcheint, dem
Tagebuch des Reiſenden Hortsmann, das mir in einer Ab-
[99] ſchrift von der Hand des berühmten d’Anville vorliegt. Dieſer
Reiſende, deſſen ich in dieſem Buche ſchon mehreremal ge-
dacht, fuhr den Rupunuvini, einen Nebenfluß des Eſſequibo,
herauf. Da wo der Fluß eine Menge kleiner Fälle bildet
und ſich zwiſchen den Bergen von Maracana durchſchlängelt,
fand er, 1 bevor er an den See Amucu kam, „Felſen, bedeckt
mit Figuren oder (wie er ſich portugieſiſch ausdrückt) varias
letras“. Dieſes Wort Buchſtaben haben wir nicht in
ſeinem eigentlichen Sinn zu nehmen. Man hat auch uns am
Felſen Culimacari am Ufer des Caſſiquiare und im Hafen
von Caycara am unteren Orinoko Striche gezeigt, die man
für aneinander gereihte Buchſtaben hält. Es waren aber nur
unförmliche Figuren, welche die Himmelskörper, Tiger, Kroko-
dile, Boa und Werkzeuge zur Bereitung des Maniokmehls
vorſtellen ſollen. An den gemalten Felſen (ſo nennen
die Indianer dieſe mit Figuren bedeckten Steine) iſt durchaus
keine ſymmetriſche Anordnung, keine regelmäßige Abteilung
in Schriftzeichen zu bemerken. Die Striche, die der Miſſionär
Fray Ramon Bueno in den Bergen von Uruana entdeckt hat,
nähern ſich allerdings einer Buchſtabenſchrift mehr, indeſſen
iſt man über dieſe Züge, von denen ich anderswo gehandelt,
noch ſehr im unklaren.
Was auch dieſe Figuren bedeuten ſollen und zu welchem
Zweck ſie in den Granit gegraben werden, immer verdienen
ſie von ſeiten des Geſchichtsphiloſophen die größte Beachtung.
Reiſt man von der Küſte von Caracas dem Aequator zu,
ſo kommt man zuerſt zur Anſicht, dieſe Denkmale ſeien der
Bergkette der Encamarada eigentümlich; man findet ſie beim
Hafen von Sedeño bei Caycara, bei San Rafael del Capu-
chino, Cabruta gegenüber, faſt überall, wo in der Savanne
zwiſchen dem Cerro Curiquima und dem Ufer des Caura das
Granitgeſtein zu Tage kommt. Die Völker von tamanaki-
ſchem Stamme, die alten Bewohner dieſes Landes, haben eine
lokale Mythologie, Sagen, die ſich auf dieſe Felſen mit Bildern
beziehen. Amalivaca, der Vater der Tamanaken, das
[100] heißt der Schöpfer des Menſchengeſchlechtes (jedes Volk hält
ſich für den Urſtamm der anderen Völker), kam in einer Barke
an, als ſich bei der großen Ueberſchwemmung, welche die
„Waſſerzeit“ 1 heißt, die Wellen des Ozeans mitten im Lande
an den Bergen der Encaramada brachen. Alle Menſchen,
oder vielmehr alle Tamanaken, ertranken, mit Ausnahme eines
Mannes und einer Frau, die ſich auf einen Berg am Ufer
des Aſiveru, von den Spaniern Cuchivero genannt, flüchteten.
Dieſer Berg iſt der Ararat der aramäiſchen oder ſemitiſchen
Völker, der Tlaloc oder Colhuacan der Mexikaner. Amali-
vaca fuhr in ſeiner Barke herum und grub die Bilder von
Sonne und Mond auf den gemalten Fels (Tepumereme)
an der Encamarada. Granitblöcke, die ſich gegeneinander
lehnen und eine Art Höhle bilden, heißen noch heute das
Haus des großen Stammvaters der Tamanaken. Bei dieſer
Höhle auf den Ebenen von Maita zeigt man auch einen
großen Stein, der, wie die Indianer ſagen, ein muſikaliſches
Inſtrument Amalivacas, ſeine Trommel war. Wir erwähnen
bei dieſer Gelegenheit, das dieſer Heros einen Bruder, Vochi,
hatte, der ihm zur Hand ging, als er der Erdoberfläche ihre
jetzige Geſtalt gab. Die beiden Brüder, ſo erzählen die Ta-
manaken, wollten bei ihren eigenen Vorſtellungen von Per-
fektibilität den Orinoko zuerſt ſo legen, daß man hinab und
hinauf immer mit der Strömung fahren konnte. Sie ge-
dachten damit den Menſchen die Mühe des Ruderns zu er-
ſparen, wenn ſie den Quellen der Flüſſe zuführen; aber ſo
mächtig dieſe Erneuerer der Welt waren, es wollte ihnen nie
gelingen, dem Orinoko einen doppelten Fall zu geben, und
ſie mußten es aufgeben, eines ſo wunderlichen hydrauliſchen
Problemes Meiſter zu werden. Amalivaca beſaß Töchter, die
große Neigung zum Umherziehen hatten; die Sage erzählt,
ohne Zweifel im bildlichen Sinne, er habe ihnen die Beine
zerſchlagen, damit ſie an Ort und Stelle bleiben und die
Erde mit Tamanaken bevölkern müßten. Nachdem er in Ame-
rika, diesſeits des großen Waſſers, alles in Ordnung ge-
bracht, ſchiffte ſich Amalivaca wieder ein und fuhr ans an-
dere Ufer zurück an den Ort, von dem er gekommen. Seit
die Eingeborenen Miſſionäre zu ſich kommen ſehen, denken
[101] ſie, dieſes „andere Ufer“ ſei Europa, und einer fragte Pater
Gili naiv, ob er dort drüben den großen Amalivaca ge-
ſehen habe, den Vater der Tamanaken, der auf die Felſen
ſymboliſche Figuren gezeichnet.
Dieſe Vorſtellungen von einer großen Flut; das Paar, das
ſich auf einen Berggipfel flüchtet und Früchte der Mauritiapalme
hinter ſich wirft, um die Welt wieder zu bevölkern; dieſer
Nationalgott Amalivaca, der zu Waſſer aus fernem Lande
kommt, der Natur Geſetze vorſchreibt und die Völker zwingt,
ihr Wanderleben aufzugeben — alle dieſe Züge eines uralten
Glaubens verdienen alle Beachtung. Was die Tamanaken
und die Stämme, die mit dem Tamanakiſchen verwandte Spra-
chen haben, uns jetzt erzählen, iſt ihnen ohne Zweifel von
anderen Völkern überliefert, die vor ihnen dasſelbe Land be-
wohnt haben. Der Name Amalivaca iſt über einen Land-
ſtrich von mehr als 100 000 qkm verbreitet; er kommt mit
der Bedeutung Vater der Menſchen (unſer Urvater)
ſelbſt bei den karibiſchen Völkern vor, deren Sprache mit dem
Tamanakiſchen nur verwandt iſt wie das Deutſche mit dem
Griechiſchen, dem Perſiſchen und dem Sanskrit. Amalivaca
iſt urſprünglich nicht der große Geiſt, der Alte im
Himmel, das unſichtbare Weſen, deſſen Verehrung aus
der Verehrung der Naturkräfte entſpringt, wenn in den
Völkern allmählich das Bewußtſein der Einheit dieſer Kräfte
erwacht; er iſt vielmehr eine Perſon aus dem heroiſchen
Zeitalter, ein Mann, der aus weiter Ferne gekommen,
im Lande der Tamanaken und Kariben gelebt, ſymboliſche
Zeichen in die Felſen gegraben hat und wieder verſchwunden
iſt, weil er ſich zum Lande über dem Weltmeere, wo er früher
gewohnt, wieder zurückwendet. Der Anthropomorphismus bei
der Geſtaltung der Gottheit hat zwei gerade entgegengeſetzte
Quellen, 1 und dieſer Gegenſatz ſcheint nicht ſowohl auf dem
verſchiedenen Grade der Geiſtesbildung zu beruhen, als darauf,
daß manche Völker von Natur mehr zur Myſtik neigen, wäh-
rend andere unter der Herrſchaft der Sinne, der äußeren
Eindrücke ſtehen. Bald läßt der Menſch die Gottheiten zur
Erde niederſteigen und es über ſich nehmen, die Völker zu
regieren und ihnen Geſetze zu geben, wie in den Mythen des
Orients; bald, wie bei den Griechen und anderen Völkern
[102] des Occidents, werden die erſten Herrſcher, die Prieſterkönige,
deſſen, was menſchlich an ihnen iſt, entkleidet und zu National-
gottheiten erhoben. Amalivaca war ein Fremdling, wie Manco-
Capac, Bochica und Quetzalcohuatl, dieſe außerordentlichen
Menſchen, die im alpiniſchen oder civiliſierten Striche Ame-
rikas, auf den Hochebenen von Peru, Neugranada und Ana-
huac, die bürgerliche Geſellſchaft geordnet, den Opferdienſt
eingerichtet und religiöſe Brüderſchaften geſtiftet haben. Der
mexikaniſche Quetzalcohuatl, deſſen Nachkommen Montezuma
in den Begleitern des Cortez zu erkennen glaubte, hat noch
einen weiteren Zug mit Amalivaca, der mythiſchen Perſon
des barbariſchen Amerikas, der Ebenen der heißen Zone, ge-
mein. In hohem Alter verließ der Hoheprieſter von Tula das
Land Anahuac, das er mit ſeinen Wundern erfüllt, und ging
zurück in ein unbekanntes Land, genannt Tlalpallan. Als
der Mönch Bernhard von Sahagun nach Mexiko kam, richtete
man genau dieſelben Fragen an ihn, wie zweihundert Jahre
ſpäter in den Wäldern am Orinoko an den Miſſionär Gili:
man wollte wiſſen, ob er vom anderen Ufer komme, aus
dem Lande, wohin Quetzalcohuatl gegangen.
Wir haben oben geſehen, daß die Region der Felſen mit
Bildwerk oder der gemalten Steine weit über den unteren
Orinoko, über den Landſtrich (7° 5′ bis 7° 40′ der Breite,
68° 50′ bis 69° 45′ der Länge) hinausreicht, dem die Sage
angehört, die man als den Lokalmythus der Tamanaken
bezeichnen kann. Man findet dergleichen Felſen mit Bildern
zwiſchen dem Caſſiquiare und Atabapo (2° 5′ bis 3° 20′ der
Breite, 69° bis 70° der Länge), zwiſchen den Quellen des
Eſſequibo und des Rio Branco (3° 50′ der Breite, 62° 32′
der Länge). Ich behaupte nicht, daß dieſe Bilder beweiſen,
daß ihre Verfertiger den Gebrauch des Eiſens gekannt, auch
nicht, daß ſie auf eine bedeutende Kulturſtufe hinweiſen;
ſetzte man aber auch voraus, ſie haben keine ſymboliſche Be-
deutung, ſondern ſeien rein Erzeugniſſe müßiger Jägervölker,
ſo müßte man doch immer annehmen, daß vor den Völkern,
die jetzt am Orinoko und Rupunuri leben, eine ganz andere
Menſchenart hier gelebt. Je weniger in einem Lande Er-
innerungen an vergangene Geſchlechter leben, deſto wichtiger
iſt es, wo man ein Denkmal vor ſich zu haben glaubt, auch
die unbedeutendſten Spuren zu verfolgen. Auf den Ebenen
im Oſten Nordamerikas findet man nur jene merkwürdigen
Ringwälle, die an die feſten Lager (die angeblichen Städte
[103] von ungeheurem Umfang) der alten und der heutigen noma-
diſchen Völker in Aſien erinnern. Auf den öſtlichen Ebenen
Südamerikas iſt durch die Uebermacht des Pflanzenwuchſes,
des heißen Klimas und die allzu große Freigebigkeit der Natur
der Fortſchritt der menſchlichen Kultur in noch engeren Schran-
ken gehalten worden. Zwiſchen Orinoko und Amazonenſtrom
habe ich von keinem Erdwall, von keinem Ueberbleibſel eines
Dammes, von keinem Grabhügel ſprechen hören; nur auf den
Felſen, und zwar auf einer weiten Landſtrecke, ſieht man, in
unbekannter Zeit von Menſchenhand eingegraben, rohe Um-
riſſe, die ſich an religiöſe Ueberlieferungen knüpfen. Wenn
einmal die Bewohner des doppelten Amerikas mit weniger
Geringſchätzung auf den Boden ſehen, der ſie ernährt, ſo wer-
den ſich die Spuren früherer Jahrhunderte unter unſeren Augen
von Tag zu Tag mehren. Ein ſchwacher Schimmer wird
ſich dann über die Geſchichte dieſer barbariſchen Völker ver-
breiten, über die Felswände, die uns verkünden, daß dieſe
jetzt ſo öden Länder einſt von thätigeren, geiſteskräftigeren
Geſchlechtern bewohnt waren.
Ich glaubte, bevor ich vom wildeſten Striche des oberen
Orinoko ſcheide, Erſcheinungen beſprechen zu müſſen, die nur
dann von Bedeutung werden, wenn man ſie aus einem Ge-
ſichtspunkte betrachtet. Was ich von unſerer Fahrt von Es-
meralda bis zum Einfluſſe des Atabapo berichten könnte, wäre
nur trockene Aufzählung von Flüſſen und unbewohnten Orten.
Vom 24. bis 27. Mai ſchliefen wir nur zweimal am Lande,
und zwar das erſtemal am Einfluß des Rio Jao und dann
oberhalb der Miſſion Santa Barbara auf der Inſel Miniſi.
Da der Orinoko hier frei von Klippen iſt, führte uns der
indianiſche Steuermann die Nacht durch fort, indem er die
Piroge der Strömung überließ. Dieſes Stück meiner Karte
zwiſchen dem Jao und dem Ventuari iſt daher auch hinſicht-
lich der Krümmungen des Fluſſes nicht ſehr genau. Rechnet
man den Aufenthalt am Ufer, um den Reis und die Ba-
nanen zuzubereiten, ab, ſo brauchten wir von Esmeralda nach
Santa Barbara nur 35 Stunden. Dieſe Miſſion liegt nach
dem Chronometer unter 70° 3′ der Länge; wir hatten alſo
gegen 7,5 km in der Stunde zurückgelegt, eine Geſchwindig-
keit (2,05 m in der Sekunde), die zugleich auf Rechnung
der Strömung und der Bewegung der Ruder kommt. Die
Indianer behaupten, die Krokodile gehen im Orinoko nicht
über den Einfluß des Rio Jao hinauf, und die Seekühe
[104] kommen ſogar oberhalb des Kataraktes von Maypures nicht
mehr vor. Hinſichtlich der erſteren kann man ſich leicht
täuſchen. Wenn der Reiſende an ihren Anblick noch ſo ſehr
gewöhnt iſt, kann er einen 4 bis 5 m langen Baumſtamm
für ein ſchwimmendes Krokodil halten, von dem man nur
Kopf und Schwanz zum Teil über dem Waſſer ſieht.
Die Miſſion Santa Barbara liegt etwas weſtlich vom Ein-
fluſſe des Rio Ventuari oder Venituari, den Pater Francisco
Valor im Jahre 1800 unterſucht hat. Wir fanden im kleinen
Dorfe von 120 Einwohnern einige Spuren von Induſtrie. Der
Ertrag derſelben kommt aber ſehr wenig den Indianern zu gute,
ſondern nur den Mönchen, oder, wie man hierzulande ſagt,
der Kirche und dem Kloſter. Man verſicherte uns, eine große
Lampe, maſſiv von Silber, die auf Koſten der Bekehrten an-
geſchafft worden, werde aus Madrid erwartet. Wenn ſie da
iſt, wird man hoffentlich auch daran denken, die Indianer zu
kleiden, ihnen einiges Ackergeräte anzuſchaffen und für ihre
Kinder eine Schule einzurichten. In den Savannen bei der
Miſſion läuft wohl einiges Vieh, man braucht es aber ſelten,
um die Mühle zum Auspreſſen des Zuckerrohres (trapiche)
zu treiben; das iſt ein Geſchäft der Indianer, die dabei ohne
Lohn arbeiten, wie überall, wo die Arbeit auf Rechnung der
Kirche geht. Am Fuße der Berge um Santa Barbara herum
ſind die Weiden nicht ſo fett wie bei Esmeralda, aber doch
beſſer als bei San Fernando de Atabapo. Der Raſen iſt
kurz und dicht, und doch iſt die oberſte Bodenſchicht nur
trockener, dürrer Granitſand. Dieſe nicht ſehr üppigen Gras-
fluren am Guaviare, Meta und oberen Orinoko ſind ſowohl
ohne Dammerde, die in den benachbarten Wäldern ſo maſſen-
haft daliegt, als ohne die dicke Thonſchicht, die in den Llanos
von Venezuela den Sandſtein bedeckt. Kleine krautartige
Mimoſen helfen in dieſer Zone das Vieh fett machen, ſie
werden aber zwiſchen dem Rio Jao und der Mündung des
Guaviare ſehr ſelten.
In den wenigen Stunden, die wir uns in der Miſſion
Santa Barbara aufhielten, erhielten wir ziemlich genaue An-
gaben über den Rio Ventuari, der mir nach dem Guaviare
der bedeutendſte unter allen Nebenflüſſen des oberen Orinoko
ſchien. Seine Ufer, an denen früher die Maypures geſeſſen,
ſind noch jetzt von einer Menge unabhängiger Völkerſchaften
bewohnt. Fährt man durch die Mündung des Ventuari, die
ein mit Palmen bewachſenes Delta bildet, hinauf, ſo kommen
[105] nach drei Tagereiſen von Oft der Cumaruita und der Paru
herein, welche zwei Nebenflüſſe am Fuße der hohen Berge von
Cuneva entſpringen. Weiter oben, von Weſt her, kommen
der Mariata und der Manipiare, an denen die Macos- und
Curacicana-Indianer wohnen. Letztere Nation zeichnet ſich
durch ihren Eifer für den Baumwollenbau aus. Bei einem
Streifzuge (entrada) fand man ein großes Haus, in dem 30
bis 40 ſehr fein gewobene Hängematten, geſponnene Baum-
wolle, Seilwerk und Fiſchereigeräte waren. Die Eingeborenen
waren davongelaufen und Pater Valor erzählte uns, „die
Indianer aus ſeiner Miſſion, die er bei ſich hatte, haben das
Haus in Brand geſteckt, ehe er dieſe Produkte des Gewerb-
fleißes der Curacicana retten konnte.“ Die neuen Chriſten
in Santa Barbara, die ſich über dieſen ſogenannten Wilden
weit erhaben dünken, ſchienen mir lange nicht ſo gewerbthätig.
Der Rio Manipiare, einer der Hauptäſte des Ventuari, liegt,
ſeiner Quelle zu, in der Nähe der hohen Berge, an deren
Nordabhang der Cuchivero entſpringt. Sie ſind ein Aus-
läufer der Kette des Baraguan, und hierher ſetzt Pater Gili
die „Hochebene des Siamacu“, deren gemäßigtes Klima er
preiſt. Der obere Lauf des Ventuari, oberhalb des Einfluſſes
des Aſiſi und der „großen Raudales“ iſt ſo gut wie unbe-
kannt. Ich hörte nur, der obere Ventuari ziehe ſich ſo ſtark
gegen Oft, daß die alte Straße von Esmeralda an den Rio
Caura über das Flußbett laufe. Dadurch, daß die Neben-
flüſſe des Carony, des Caura und des Ventuari einander ſo
nahe liegen, kamen die Kariben ſeit Jahrhunderten an den
oberen Orinoko. Banden dieſes kriegeriſchen Handelsvolkes
zogen vom Rio Carony über den Paragua an die Quellen
des Paruspa. Ueber einen Trageplatz gelangten ſie an den
Chavarro, einen öſtlichen Nebenfluß des Caura: ſie fuhren
auf ihren Pirogen zuerſt dieſen Nebenfluß und dann den
Caura ſelbſt hinunter bis zur Mündung des Erevato. Nach-
dem ſie dieſen gegen Südweſt hinaufgefahren, kamen ſie drei
Tagereiſen weit über große Grasfluren und endlich über den
Manipiare in den großen Rio Ventuari. Ich beſchreibe
dieſen Weg ſo genau, nicht nur weil auf dieſer Straße der
Handel mit eingeborenen Sklaven betrieben wurde, ſondern
auch um die Männer, welche einſt nach wiederhergeſtellter
Ruhe Guyana regieren werden, auf die Wichtigkeit dieſes
Flußlabyrinthes aufmerkſam zu machen.
Auf vier Nebenflüſſen des Orinoko, den größten unter
[106] denen, die von rechts her in dieſen majeſtätiſchen Strom ſich
ergießen, auf dem Carony und dem Caura, dem Padamo und
dem Ventuari, wird die europäiſche Kultur in das 215 000 qkm
große Wald- und Gebirgsland dringen, das der Orinoko gegen
Nord, Weſt und Süd umſchlingt. Bereits haben Kapuziner
aus Katalonien und Obſervanten aus Andaluſien und Va-
lencia Niederlaſſungen in den Thälern des Carony und des
Caura gegründet; es war natürlich, daß an die Nebenflüſſe
des unteren Orinoko, als die der Küſte und dem angebauten
Striche von Venezuela zunächſt liegenden, Miſſionare und mit
ihnen einige Keime des geſellſchaftlichen Lebens zuerſt kamen.
Bereits im Jahre 1797 zählten die Niederlaſſungen der Ka-
puziner am Carony 16 600 Indianer, die friedlich in Dörfern
lebten. Am Rio Caura waren es zu jener Zeit unter der
Obhut der Obſervanten, nach gleichfalls offiziellen Zählungen,
nur 640. Dieſer Unterſchied rührt daher, daß die ſehr aus-
gedehnten Weiden am Carony, Upatu und Cuyuni von vor-
züglicher Güte ſind, und daß die Miſſionen der Kapuziner
näher bei der Mündung des Orinoko und der Hauptſtadt
von Guyana liegen, aber auch vom inneren Getriebe der Ver-
waltung, von der induſtriellen Rührigkeit und dem Handels-
geiſte der kataloniſchen Mönche. Dem Carony und Caura,
die gegen Nord fließen, entſprechen zwei große Nebenflüſſe
des oberen Orinoko, die gegen Süd herunterkommen, der
Padamo und der Ventuari. Bis jetzt ſteht an ihren Ufern
kein Dorf, und doch bieten ſie für Ackerbau und Viehzucht
günſtige Verhältniſſe, wie man ſie im Thale des großen
Stromes, in den ſie ſich ergießen, vergeblich ſuchen würde.
Wir brachen am 26. Mai morgens vom kleinen Dorfe
Santa Barbara auf, wo wir mehrere Indianer aus Esmeralda
getroffen hatten, die der Miſſionär zu ihrem großen Verdruß
hatte kommen laſſen, weil er ſich ein zweiſtockiges Haus
bauen wollte. Den ganzen Tag genoſſen wir der Ausſicht
auf die ſchönen Gebirge von Sipapo, die in 81 km Ent-
fernung gegen Nord-Nord-Weſt ſich hinbreiten. Die Vege-
tation an den Ufern des Orinoko iſt hier ausnehmend mannig-
faltig; Baumfarne kommen von den Bergen herunter und
miſchen ſich unter die Palmen in der Niederung. Wir über-
nachteten auf der Inſel Miniſi und langten, nachdem wir an
den Mündungen der kleinen Flüſſe Quejanuma, Ubua und
Maſao vorübergekommen, am 27. Mai in San Fernando de
Atabapo an. Vor einem Monat, auf dem Wege zum Rio
[107] Negro, hatten wir im ſelben Hauſe des Präſidenten der
Miſſionen gewohnt. Wir waren damals gegen Süd., den
Atabapo und Temi hinaufgefahren; jetzt kamen wir von
Weſt her nach einem weiten Umwege über den Caſſiquiare
und den oberen Orinoko zurück. Während unſerer langen
Abweſenheit waren dem Präſidenten der Miſſionen über den
eigentlichen Zweck unſerer Reiſe, über mein Verhältnis zu den
Mitgliedern des hohen Klerus in Spanien, über die Kenntnis
des Zuſtandes der Miſſionen, die ich mir verſchafft, bedeu-
tende Bedenken aufgeſtiegen. Bei unſerem Aufbruche nach
Angoſtura, der Hauptſtadt von Guyana, drang er in mich,
ihm ein Schreiben zu [hinterlaſſen], in dem ich bezeugte, daß
ich die chriſtlichen Niederlaſſungen am Orinoko in guter Ord-
nung angetroffen, und daß die Eingeborenen im allgemeinen
milde behandelt würden. Dieſem Anſinnen des Superiors
lag gewiß ein ſehr löblicher Eifer für das Beſte ſeines Or-
dens zu Grunde, nichtsdeſtoweniger ſetzte es mich in Ver-
legenheit. Ich erwiderte, das Zeugnis eines im Schoße der
reformierten Kirche geborenen Reiſenden könne in dem end-
loſen Streite, in dem faſt überall in der Neuen Welt welt-
liche und geiſtliche Macht miteinander liegen, doch wohl von
keinem großen Gewichte ſein. Ich gab ihm zu verſtehen, da
ich 900 km von der Küſte, mitten in den Miſſionen und,
wie die Cumaner boshaft ſagen, en el poder de los frayles
(in der Gewalt der Mönche) ſei, möchte das Schreiben, das
wir am Ufer des Atabapo miteinander abfaßten, wohl
ſchwerlich als ein ganz freier Willensakt von meiner Seite
angeſehen werden. Der Gedanke, daß er einen Calviniſten
gaſtfreundlich aufgenommen, erſchreckte den Präſidenten nicht.
Ich glaube allerdings, daß man vor meiner Ankunft ſchwer-
lich je einen in den Miſſionen des heiligen Franziskus ge-
ſehen hat; aber Unduldſamkeit kann man den Miſſionären in
Amerika nicht zur Laſt legen. Die Ketzereien des alten Eu-
ropa machen ihnen nicht zu ſchaffen, es müßte denn an den
Grenzen von Holländiſch-Guyana ſein, wo ſich die Prädikanten
auch mit dem Miſſionsweſen abgeben. Der Präſident beſtand
nicht weiter auf der Schrift, die ich hätte unterzeichnen ſollen,
und wir benutzten die wenigen Augenblicke, die wir noch bei-
ſammen waren, um den Zuſtand des Landes, und ob Aus-
ſicht ſei, die Indianer an den Segnungen der Kultur teil-
nehmen zu laſſen, freimütig zu beſprechen. Ich ſprach mich
ſtark darüber aus, wie viel Schaden die Entradas, die feind-
[108] lichen Einfälle angerichtet, wie unbillig es ſei, daß man die
Eingeborenen der Früchte ihrer Arbeit ſo wenig genießen
laſſe, wie ungerechtfertigt, daß man ſie zwinge, in Angelegen-
heiten, die ſie nichts angehen, weite Reiſen zu machen, endlich
wie notwendig es erſcheine, den jungen Geiſtlichen, die be-
rufen ſeien, großen Gemeinden vorzuſtehen, in einem beſon-
deren Kollegium einige Bildung zu geben. Der Präſident
ſchien mich freundlich anzuhören; indeſſen glaube ich doch, er
wünſchte im Herzen (ohne Zweifel im Intereſſe der Natur-
wiſſenſchaft), Leute, welche Pflanzen aufleſen und das Geſtein
unterſuchen, möchten ſich nicht ſo vorlaut mit dem Wohle der
kupferfarbigen Raſſe und mit den Angelegenheiten der menſch-
lichen Geſellſchaft befaſſen. Dieſer Wunſch iſt in beiden
Welten gar weit verbreitet; man begegnet ihm überall, wo
der Gewalt bange iſt, weil ſie meint, ſie ſtehe nicht auf
feſten Füßen.
Wir blieben nur einen Tag in San Fernando de Ata-
bapo, obgleich dieſes Dorf mit ſeinen ſchönen Pihiguao-
palmen mit Pfirſichfrüchten uns ein köſtlicher Aufenthalt ſchien.
Zahme Pauxis1 liefen um die Hütten der Indianer her.
In einer derſelben ſahen wir einen ſehr ſeltenen Affen, der
am Guaviare lebt. Es iſt dies der Caparro, den ich in
meinen Observations de zoologie et d’anatomie comparée
bekannt gemacht, und der nach Geoffroy eine neue Gattung
(Lagothrix) bildet, die zwiſchen den Atelen und den Aluaten
in der Mitte ſteht. Der Pelz dieſes Affen iſt marder-
grau und fühlt ſich ungemein zart an. Der Caparro zeich-
net ſich ferner durch einen runden Kopf und einen ſanften,
angenehmen Geſichtsausdruck aus. Der Miſſionär Gili iſt,
glaube ich, der einzige Schrifſteller, der vor mir von dieſem
intereſſanten Tiere geſprochen hat, um das die Zoologen
andere, und zwar braſilianiſche Affen zu gruppieren an-
fangen.
Am 27. Mai kamen wir von San Fernando mit der
raſchen Strömung des Orinoko in nicht ganz ſieben Stunden
zum Einfluſſe des Rio Mataveni. Wir brachten die Nacht
unter freiem Himmel unterhalb des Granitfelſens El Caſtillito
zu, der mitten aus dem Fluſſe aufſteigt und deſſen Geſtalt
[109] an den Mäuſeturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert.
Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art
Droſera auf, die ganz den Habitus der europäiſchen Droſera
hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich geſtiegen,
und die bedeutend beſchleunigte Strömung trug uns in zehn
Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen
Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge-
legte Weg betrug 58,5 km. Mit Intereſſe erinnerten wir
uns der Orte, wo wir ſtromaufwärts übernachtet; wir trafen
Indianer wieder, die uns beim Botaniſieren begleitet, und
wir beſuchten nochmals die ſchöne Quelle, die hinter dem
Hauſe des Miſſionärs aus einem geſchichteten Granitfelſen
kommt; ihre Temperatur hatte ſich nicht um 0,3° verändert.
Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war
uns, als reiſten wir in einem Lande, in dem wir lange ge-
wohnt. Wir lebten ebenſo ſchmal, wir wurden von denſelben
Mücken geſtochen, aber die gewiſſe Ausſicht, daß in wenigen
Wochen unſere phyſiſchen Leiden ein Ende hätten, hielt uns
aufrecht.
Der Transport der Piroge über den großen Katarakt
hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo
Zea, der Miſſionär bei den Raudales, der uns an den Rio
Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit ſeinen
Indianern vollends nach Atures führen. Einer derſelben,
Zerepe, der Dolmetſcher, den man auf dem Strande von
Pararuma ſo unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch ſeine
tiefe Niedergeſchlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In-
dianerin verloren, mit der er verlobt geweſen, und zwar infolge
einer falſchen Nachricht, die über die Richtung unſerer Reiſe
in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren,
aber bei ſeinen Eltern vom Stamme der Macos im Walde
erzogen. Er hatte in die Miſſion ein zwölfjähriges Mädchen
mitgebracht, das er nach unſerer Rückkehr zu den Katarakten
zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Miſſionen
behagte der jungen Indianerin ſchlecht, denn man hatte ihr
geſagt, die Weißen gehen ins Land der Portugieſen (nach
Braſilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging,
wie ſie gehofft, bemächtigte ſie ſich eines Kanoe, fuhr mit
einem anderen Mädchen vom ſelben Alter durch den Raudal
und lief al monte zu den Ihrigen. Dieſer kecke Streich
war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niedergeſchlagenheit hielt
übrigens nicht lange an. Er war unter Chriſten geboren,
[110] er war bis zur Schanze am Rio Negro gekommen, er ver-
ſtand Spaniſch und die Sprache der Macos, und dünkte
ſich weit erhaben über die Leute ſeines Stammes; wie hätte
er da nicht ein Mädchen vergeſſen ſollen, das im Walde auf-
gewachſen?
Am 31. Mai fuhren wir über die Stromſchnellen der
Guahibos und bei Garcita. Die Inſeln mitten im Strome
glänzten im herrlichſten Grün. Der winterliche Regen hatte
die Blumenſcheiden der Vadgiaipalmen entwickelt, deren
Blätter gerade himmelan ſtehen. Man wird nicht müde,
Punkte zu betrachten, wo Baum und Fels der Landſchaft den
großartigen, ernſten Charakter geben, den man auf dem
Hintergrunde von Tizians und Pouſſins Bildern bewundert.
Kurz vor Sonnenuntergang ſtiegen wir am öſtlichen Ufer des
Orinoko, beim Puerto de la Expedicion, ans Land, und
zwar um die Höhle von Ataruipe zu beſuchen, von der oben
die Rede war, und wo ein ganzer ausgeſtorbener Volksſtamm
ſeine Grabſtätte zu haben ſcheint. Ich verſuche dieſe bei den
Eingeborenen vielberufene Höhle zu beſchreiben.
Man erſteigt mühſam und nicht ganz gefahrlos einen
ſteilen, völlig kahlen Granitfelsberg. Man könnte auf der
glatten, ſtark geneigten Fläche faſt unmöglich Fuß faſſen,
wenn nicht große Feldſpatkriſtalle, welche nicht ſo leicht
verwittern, hervorſtünden und Anhaltspunkte böten. Auf dem
Gipfel des Berges angelangt, erſtaunten wir über den außer-
ordentlichen Anblick des Landes in der Runde. Ein Archipel
mit Palmen bewachſener Inſeln füllt das ſchäumende Strom-
bett. Weſtwärts, am linken Ufer des Orinoko, breiten ſich
die Savannen am Meta und Caſanare hin, wie eine grüne
See, deren dunſtiger Horizont von der untergehenden Sonne
beleuchtet war. Das Geſtirn, das wie ein Feuerball über
der Ebene hing, der einzeln ſtehende Spitzberg Uniana, der
um ſo höher erſchien, da ſeine Umriſſe im Dunſt verſchwam-
men; alles wirkte zuſammen, die großartige Szenerie noch
erhabener zu machen. Wir ſahen zunächſt in ein tiefes, ringsum
geſchloſſenes Thal hinunter. Raubvögel und Ziegenmelker
ſchwirrten einzeln durch den unzugänglichen Zirkus. Mit
Vergnügen verfolgten wir ihre flüchtigen Schatten, wie ſie
langſam an den Felswänden hinglitten.
Ueber einen ſchmalen Grat gelangten wir auf einen be-
nachbarten Berg, auf deſſen abgerundetem Gipfel ungeheure
Granitblöcke lagen. Dieſe Maſſen haben 13 bis 16 m Durch-
[111] meſſer und ſind ſo vollkommen kugelförmig, daß man, da ſie
nur mit wenigen Punkten den Boden zu berühren ſchienen, meint,
beim geringſten Stoße eines Erdbebens müßten ſie in die
Tiefe rollen. Ich erinnere mich nicht, unter den Verwitte-
rungserſcheinungen des Granites irgendwo etwas Aehnliches
geſehen zu haben. Lägen die Kugeln auf einer anderen Ge-
birgsart, wie die Blöcke im Jura, ſo könnte man meinen, ſie
ſeien im Waſſer gerollt oder durch den Stoß eines elaſtiſchen
Fluidums hergeſchleudert; da ſie aber auf einem Gipfel
liegen, der gleichfalls aus Granit beſteht, ſo iſt wahrſchein-
licher, daß ſie von allmählicher Verwitterung des Geſteines
herrühren.
Zu hinterſt iſt das Thal mit dichtem Wald bedeckt. An
dieſem ſchattigen, einſamen Orte, am ſteilen Abhange eines
Berges, iſt der Eingang der Höhle vom Ataruipe. Es iſt
übrigens nicht ſowohl eine Höhle, als ein vorſpringender
Fels, in dem die Gewäſſer, als ſie bei den alten Umwäl-
zungen unſeres Planeten ſo weit heraufreichten, ein weites
Loch ausgewaſchen haben. In dieſer Grabſtätte einer ganzen
ausgeſtorbenen Völkerſchaft zählten wir in kurzer Zeit gegen
600 wohlerhaltene und ſo regelmäßig verteilte Skelette, daß
man ſich hinſichtlich ihrer Zahl nicht leicht hätte irren können.
Jedes Skelett liegt in einer Art Korb aus Palmblattſtielen.
Dieſe Körbe, von den Eingeborenen Mapires genannt,
bilden eine Art viereckiger Säcke. Ihre Größe entſpricht
dem Alter der Leichen; es gibt ſogar welche für Kinder, die
während der Geburt geſtorben; Sie wechſeln in der Länge
von 26 cm bis 1,07 m. Die Skelette ſind alle zuſammen-
gebogen und ſo vollſtändig, daß keine Rippe, kein Fingerglied
fehlt. Die Knochen ſind auf dreierlei Weiſen zubereitet, ent-
weder an Luft und Sonne gebleicht, oder mit Onoto, dem
Farbſtoff der Bixa Orellana, rot gefärbt, oder mumienartig
zwiſchen wohlriechenden Harzen in Helikonia- und Bananen-
blätter eingeknetet. Die Indianer erzählten uns, man lege
die friſche Leiche in die feuchte Erde, damit ſich das Fleiſch
allmählich verzehre. Nach einigen Monaten nehme man ſie
wieder heraus und ſchabe mit ſcharfen Steinen den Reſt des
Fleiſches von den Knochen. Mehrere Horden in Guyana
haben noch jetzt dieſen Brauch. Neben den „Mapires“ oder
Körben ſieht man Gefäße von halbgebranntem Thon, welche
die Gebeine einer ganzen Familie zu enthalten ſchienen. Die
größten dieſer Graburnen ſind 1 m hoch und 1,38 cm lang.
[112] Sie ſind graugrün, oval, von ganz gefälligem Anſehen, mit
Henkeln in Geſtalt von Krokodilen und Schlangen, am Rande
mit Mäandern, Labyrinthen und mannigfach kombinierten ge-
raden Linien geſchmückt. Dergleichen Malereien kommen unter
allen Himmelsſtrichen vor, bei allen Völkern, mögen ſie geo-
graphiſch und dem Grade der Kultur nach noch ſo weit aus-
einander liegen. Die Bewohner der kleinen Miſſion May-
pures bringen ſie noch jetzt auf ihrem gemeinſten Geſchirr
an; ſie zieren die Schilder der Tahitier, das Fiſchergeräte des
Eskimos, die Wände des mexikaniſchen Palaſtes in Mitla und
die Gefäße Großgriechenlands. Ueberall ſchmeichelt eine rhyth-
miſche Wiederholung derſelben Formen dem Auge, wie eine
taktmäßige Wiederkehr von Tönen dem Ohre. Aehnlichkeiten,
welche im innerſten Weſen unſerer Empfindungen, in unſerer
natürlichen Geiſtesanlage ihren Grund haben, ſind wenig
geeignet, über die Verwandtſchaft und die alten Verbindungen
der Völker Licht zu verbreiten.
Hinſichtlich der Zeit, aus der ſich die Mapires und die
bemalten Gefäße in der Knochenhöhle von Ataruipe her-
ſchreiben, konnten wir uns keine beſtimmte Vorſtellung bilden.
Die meiſten ſchienen nicht über hundert Jahre alt, da ſie
aber vor jeder Feuchtigkeit geſchützt und in ſehr gleichförmiger
Temperatur ſind, ſo wären ſie wohl gleich gut erhalten, wenn
ſie auch aus weit früherer Zeit herrührten. Nach einer Sage
der Guahibosindianer flüchteten ſich die kriegeriſchen Atures,
von den Kariben verfolgt, auf die Felſen mitten in den
großen Katarakten, und hier erloſch nach und nach dieſe einſt
ſo zahlreiche Nation und mit ihr ihre Sprache. Noch im
Jahre 1767, zur Zeit des Miſſionärs Gili, lebten die letzten
derſelben; auf unſerer Reiſe zeigte man in Maypures (ein
ſonderbares Faktum) einen alten Papagei, von dem die Ein-
wohner behaupten, „man verſtehe ihn nicht, weil er aturiſch
ſpreche“.
Wir öffneten, zum großen Aergernis unſerer Führer,
mehrere Mapires, um die Schädelbildung genau zu unter-
ſuchen. Alle zeigten den Typus der amerikaniſchen Raſſe;
nur zwei oder drei näherten ſich dem kaukaſiſchen. Wir
haben oben erwähnt, daß man mitten in den Katarakten,
an den unzugänglichſten Orten, eiſenbeſchlagene Kiſten mit
europäiſchen Werkzeugen, mit Reſten von Kleidungsſtücken
und Glaswaren findet. Dieſe Sachen, die zu den abge-
ſchmackteſten Gerüchten, als hätten die Jeſuiten dort ihre
[113] Schätze verſteckt, Anlaß gegeben, gehörten wahrſcheinlich por-
tugieſiſchen Handelsleuten, die ſich in dieſe wilden Länder
herausgewagt. Läßt ſich nun wohl auch annehmen, daß die
Schädel von europäiſcher Bildung, die wir unter den Skeletten
der Eingeborenen und ebenſo ſorgfältig aufbewahrt gefunden,
portugieſiſchen Reiſenden angehörten, die hier einer Krankheit
unterlagen oder im Kampfe erſchlagen worden? Der Wider-
willen der Eingeborenen gegen alles, was nicht ihres Stammes
iſt, macht dies nicht wahrſcheinlich; vielleicht hatten ſich Me-
ſtizen, die aus den Miſſionen am Meta und Apure entlaufen,
an den Katarakten niedergelaſſen und Weiber aus dem Stamme
der Atures genommen. Dergleichen Verbindungen kommen
in dieſer Zone zuweilen vor, freilich nicht ſo häufig wie in
Kanada und in Nordamerika überhaupt, wo Jäger euro-
päiſcher Abkunft unter die Wilden gehen, ihre Sitten an-
nehmen und es oft zu großen Ehren unter ihnen bringen.
Wir nahmen aus der Höhle von Ataruipe mehrere
Schädel, das Skelett eines Kindes von ſechs bis ſieben Jahren
und die Skelette zweier Erwachſenen von der Nation der
Atures mit. Alle dieſe zum Teil rot bemalten, zum Teil
mit Harz überzogenen Gebeine lagen in den oben beſchriebenen
Körben (Mapires oder Canastos). Sie machten faſt eine
ganze Maultierladung aus, und da uns der abergläubiſche
Widerwillen der Indianer gegen einmal beigeſetzte Leichen wohl-
bekannt war, hatten wir die „Canaſtos“ in friſch geflochtene
Matten einwickeln laſſen. Bei dem Spürſinn der Indianer
und ihrem feinen Geruch half aber dieſe Vorſicht leider zu
nichts. Ueberall, wo wir in den Miſſionen der Kariben, auf
den Llanos zwiſchen Angoſtura und Nueva Barcelona Halt
machten, liefen die Eingeborenen um unſere Maultiere zu-
ſammen, um die Affen zu bewundern, die wir am Orinoko
gekauft. Kaum aber hatten die guten Leute unſer Gepäck
angerührt, ſo prophezeiten ſie, daß das Laſttier, „das den
Toten trage“, zu Grunde gehen werde. Umſonſt verſicherten
wir, ſie irren ſich, in den Körben ſeien Krokodil- und See-
kuhknochen; ſie blieben dabei, ſie riechen das Harz, womit die
Skelette überzogen ſeien, und „das ſeien ihre alten Ver-
wandten“. Wir mußten die Autorität der Mönche in An-
ſpruch nehmen, um des Widerwillens der Eingeborenen Herr
zu werden und friſche Maultiere zu bekommen. Einer der
Schädel, den wir aus der Höhle von Ataruipe mitgenommen,
iſt in meines alten Lehrers Blumenbach ſchönem Werke über
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 8
[114] die Varietäten des Menſchengeſchlechts gezeichnet; aber die
Skelette der Indianer gingen mit einem bedeutenden Teil
unſerer Sammlungen an der Küſte von Afrika bei einem
Schiffbruch verloren, der unſerem Freunde und Reiſegefährten,
Fray Juan Gonzales, einem jungen Franziskaner, das Leben
koſtete.
Schweigend gingen wir von der Höhle von Ataruipe
nach Hauſe. Es war eine der ſtillen, heiteren Nächte, welche
im heißen Erdſtrich ſo gewöhnlich ſind. Die Sterne glänzten
in mildem, planetariſchem Licht. Ein Funkeln war kaum am
Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflecken der ſüdlichen
Halbkugel zu beleuchten ſchienen. Ungeheure Inſektenſchwärme
verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewach-
ſene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte ſich die
geſtirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergeſenkt. Vor
der Höhle blieben wir noch öfters ſtehen und bewunderten
den Reiz des merkwürdigen Ortes. Duftende Vanille und
Bignonien ſchmückten den Eingang, und darüber, auf der Spitze
des Hügels, wiegten ſich ſäuſelnd die Schafte der Palmen.
Wir gingen an den Fluß hinab und ſchlugen den Weg
zur Miſſion ein, wo wir ziemlich ſpät in der Nacht eintrafen.
Was wir geſehen, hatte ſtarken Eindruck auf unſere Einbil-
dungskraft gemacht. In einem Lande, wo einem die menſch-
liche Geſellſchaft als eine Schöpfung der neueſten Zeit er-
ſcheint, hat alles, was an eine Vergangenheit erinnert,
doppelten Reiz. Sehr alt waren nun hier die Erinnerungen
nicht; aber in allem, was Denkmal heißt, iſt das Alter nur
ein relativer Begriff, und leicht verwechſeln wir alt und
rätſelhaft. Den Aegyptern erſchienen die geſchichtlichen Er-
innerungen der Griechen gar jung; hätten die Chineſen, oder
wie ſie ſich ſelbſt lieber nennen, die Bewohner des „himm-
liſchen Reiches“, mit den Prieſtern von Heliopolis verkehren
können, ſo hätten ſie wohl zu den Anſprüchen der alten
Aegypter gelacht. Ebenſo auffallende Gegenſätze finden ſich
im nördlichen Europa und Aſien, in der Neuen Welt, überall,
wo die Menſchheit ſich auf ihr eigenes Leben nicht weit zu-
rückbeſinnt. Auf der Hochebene von Anahuac reicht die älteſte
geſchichtliche Begebenheit, die Wanderung der Tolteken, nicht
über das 6. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung hinauf. Die
unentbehrlichen Grundlagen einer genauen Zeitrechnung, ein
gutes Schaltſyſtem, überhaupt die Kalenderreform ſtammen
aus dem Jahr 1091. Dieſe Zeitpunkte, die uns ſo nahe
[115] ſcheinen, fallen in fabelhafte Zeiten, wenn wir auf die Ge-
ſchichte unſeres Geſchlechtes zwiſchen Orinoko und Amazonen-
fluß blicken. Wir finden dort auf Felſen ſymboliſche Bilder,
aber keine Sage gibt über ihren Urſprung Aufſchluß. Im
heißen Striche von Guyana kommen wir nicht weiter zurück
als zu der Zeit, wo kaſtilianiſche und portugieſiſche Eroberer,
und ſpäter friedliche Mönche unter den barbariſchen Völker-
ſchaften auftraten.
Nordwärts von den Katarakten, am Engpaß beim Ba-
raguan, ſcheint es ähnliche mit Knochen gefüllte Höhlen zu
geben wie die oben beſchriebenen. Ich hörte dies erſt nach
meiner Rückkehr, und die indianiſchen Steuerleute ſagten uns
nichts davon, als wir im Engpaß anlegten. Dieſe Gräber
haben ohne Zweifel Anlaß zu einer Sage der Otomaken ge-
geben, nach der die einzeln ſtehenden Granitfelſen am Ba-
raguan, die ſehr ſeltſame Geſtalten zeigen, die Großväter,
die alten Häuptlinge des Stammes ſind. Der Brauch,
das Fleiſch ſorgfältig von den Knochen zu trennen, der im
Altertum bei den Maſſageten herrſchte, hat ſich bei mehreren
Horden am Orinoko erhalten. Man behauptet ſogar, und es
iſt ganz wahrſcheinlich, die Guaranos legen die Leichen in
Netzen ins Waſſer, wo dann die kleinen Karibenfiſche, die
„Serra-Solmes“, die wir überall in ungeheurer Menge an-
trafen, in wenigen Tagen das Muskelfleiſch verzehren und
das Skelett „präparieren“. Begreiflich iſt ſolches nur an
Orten thunlich, wo es nicht viele Krokodile gibt. Manche
Stämme, z. B. die Tamanaken, haben den Brauch, die Felder
des Verſtorbenen zu verwüſten und die Bäume, die er ge-
pflanzt, umzuhauen. Sie ſagen, „Dinge ſehen zu müſſen,
die Eigentum ihrer Angehörigen geweſen, mache traurig“.
Sie vernichten das Andenken lieber, als daß ſie es erhalten.
Dieſe indianiſche Empfindſamkeit wirkt ſehr nachteilig auf
den Landbau, und die Mönche widerſetzen ſich mit Macht den
abergläubiſchen Gebräuchen, welche die zum Chriſtentum be-
kehrten Eingeborenen in den Miſſionen beibehalten.
Die indianiſchen Gräber am Orinoko ſind bis jetzt nicht
gehörig unterſucht worden, weil ſie keine Koſtbarkeiten ent-
halten wie die in Peru, und weil man jetzt an Ort und
Stelle an die früheren Mären vom Reichtum der alten Ein-
wohner des Dorado nicht mehr glaubt. Der Golddurſt geht
allerorten dem Trieb zur Belehrung und dem Sinn für
Erforſchung des Altertums voraus. Im gebirgigen Teil von
[116] Südamerika, von Merida und Santa Marta bis zu den
Hochebenen von Quito und Oberperu hat man bergmänniſch
nach Gräbern, oder wie es die Kreolen mit einem verdor-
benen Worte der Inkaſprache nennen, nach Huacas geſucht.
Ich war an der Küſte von Peru, in Manciche, in der Huaca
von Toledo, aus der man Goldmaſſen erhoben hat, die im
16. Jahrhundert fünf Millionen Livres Turnois wert waren.1
Aber in den Höhlen, die ſeit den älteſten Zeiten den Einge-
borenen in Guyana als Grabſtätten dienen, hat man nie
eine Spur von koſtbaren Metallen entdeckt. Aus dieſem Um-
ſtande geht hervor, daß auch zur Zeit, wo die Kariben und
andere Wandervölker gegen Südweſt Streifzüge unternahmen,
das Gold nur in ganz unbedeutender Menge von den Ge-
birgen von Peru den Niederungen im Oſten zufloß.
Ueberall, wo ſich im Granit nicht die großen Höhlungen
finden, wie ſie ſich durch die Verwitterung des Geſteins oder
durch die Aufeinandertürmung der Blöcke bilden, beſtatten
die Indianer den Leichnam in die Erde. Die Hängematte
(Chinchorro), eine Art Netz, worin der Verſtorbene im Leben
geſchlafen, dient ihm als Sarg. Man ſchnürt dieſes Netz
feſt um den Körper zuſammen, gräbt ein Loch in der Hütte
ſelbſt und legt den Toten darin nieder. Dies iſt nach dem
Bericht des Miſſionärs Gili und nach dem, was ich aus
Pater Zeas Munde weiß, das gewöhnliche Verfahren. Ich
glaube nicht, daß es in ganz Guyana einen Grabhügel gibt,
nicht einmal in den Ebenen des Caſſiquiare und Eſſequibo.
In den Savannen von Varinas dagegen, wie in Kanada
weſtlich von den Alleghanies,2 trifft man welche an. Es er-
[117] ſcheint übrigens ziemlich auffallend, daß die Eingeborenen am
Orinoko, trotz des Ueberfluſſes an Holz im Lande, ſo wenig
als die alten Skythen ihre Toten verbrennen. Scheiterhaufen
errichten ſie nur nach einem Gefechte, wenn der Gebliebenen
ſehr viele ſind. So verbrannten die Parecas im Jahre 1748
nicht allein die Leichen ihrer Feinde, der Tamanaken, ſondern
auch die der Ihrigen, die auf dem Schlachtfelde geblieben.
Wie alle Völker im Naturzuſtande haben auch die Indianer
in Südamerika die größte Anhänglichkeit an die Orte, wo
die Gebeine ihrer Väter ruhen. Dieſes Gefühl, das ein
großer Schriftſteller in einer Epiſode der Atala ſo rührend
ſchildert, hat ſich in ſeiner vollen urſprünglichen Stärke bei
den Chineſen erhalten. Dieſe Menſchen, bei denen alles
Kunſtprodukt, um nicht zu ſagen Ausfluß einer uralten Kultur
iſt, wechſeln nie den Wohnort, ohne die Gebeine ihrer Ahnen
mit ſich zu führen. An den Ufern der großen Flüſſe ſieht
man Särge ſtehen, die mit dem Hausrat der Familie zu
Schiff in eine ferne Provinz wandern ſollen. Dieſes Mit-
ſichführen der Gebeine, das früher unter den nordamerikani-
ſchen Wilden noch häufiger war, kommt bei den Stämmen
in Guyana nicht vor. Dieſe ſind aber auch keine Nomaden,
wie Völker, die ausſchließlich von der Jagd leben.
In der Miſſion Atures verweilten wir nur, bis unſere
Piroge durch den großen Katarakt geſchafft war. Der Boden
unſeres kleinen Fahrzeuges war ſo dünn geworden, daß große
Vorſicht nötig war, damit er nicht ſprang. Wir nahmen
Abſchied vom Miſſionär Bernardo Zea, der in Atures blieb,
nachdem er zwei Monate lang unſer Begleiter geweſen und
alle unſere Beſchwerden geteilt hatte. Der arme Mann hatte
immer noch ſeine alten Anfälle von Tertianfieber, aber ſie
waren für ihn ein gewohntes Uebel geworden und er achtete
wenig mehr darauf. Bei unſerem zweiten Aufenthalt in
Atures herrſchten daſelbſt andere gefährlichere Fieber. Die
Mehrzahl der Indianer war an die Hängematte gefeſſelt, und
um etwas Kaſſavebrot (das unentbehrliche Nahrungsmittel
hierzulande) mußten wir zum unabhängigen, aber nahebei
wohnenden Stamme der Piraoa ſchicken. Bis jetzt blieben
wir von dieſen bösartigen Fiebern verſchont, die ich nicht
immer für anſteckend halte.
Wir wagten es, in unſerer Piroge durch die letzte Hälfte
des Raudals von Atures zu fahren. Wir ſtiegen mehrere
Male aus und kletterten auf die Felſen, die wie ſchmale
[118] Dämme die Inſeln untereinander verbinden. Bald ſtürzen
die Waſſer über die Dämme weg, bald fallen ſie mit dumpfem
Getöſe in das Innere derſelben. Wir fanden ein beträcht-
liches Stück des Orinoko trocken gelegt, weil ſich der Strom
durch unterirdiſche Kanäle einen Weg gebrochen hat. An
dieſen einſamen Orten niſtet das Felshuhn mit goldigem Ge-
fieder (Pipra rupicola), einer der ſchönſten tropiſchen Vögel.
Wir hielten uns im Raudalito von Canucari auf, der durch
ungeheure, aufeinander getürmte Granitblöcke gebildet wird.
Dieſe Blöcke, worunter Sphäroide von 1,6 bis 2 m Durch-
meſſer, ſind ſo übereinander geſchoben, daß ſie geräumige
Höhlen bilden. Wir gingen in eine derſelben, um Konferven
zu pflücken, womit die Spalten und die naſſen Felswände
bekleidet waren. Dieſer Ort bot eines der merkwürdigſten
Naturſchauſpiele, die wir am Orinoko geſehen. Ueber unſeren
Köpfen rauſchte der Strom weg, und es brauſte, wie wenn
das Meer ſich an Klippen bricht; aber am Eingange der
Höhle konnte man trocken hinter einer breiten Waſſermaſſe
ſtehen, die ſich im Bogen über den Steindamm ſtürzte. In
anderen tieferen, aber nicht ſo großen Höhlen war das Ge-
ſtein durch langdauernde Einſickerung durchbohrt. Wir ſahen
21 bis 22 cm dicke Waſſerſäulen von der Decke des Gewölbes
herabkommen und durch Spalten entweichen, die auf weite
Strecken zuſammenzuhängen ſchienen.
Die Waſſerfälle in Europa, die aus einem einzigen Sturz
oder aus mehreren dicht hintereinander beſtehen, können keine
ſo mannigfaltigen Landſchaftsbilder erzeugen. Dieſe Mannig-
faltigkeit kommt nur „Stromſchnellen“ zu, wo auf mehrere
Kilometer weit viel kleine Fälle in einer Reihe hintereinander
liegen, Flüſſen, die ſich über Felsdämme und durch aufge-
türmte Blöcke Bahn brechen. Wir genoſſen des Anblicks
dieſes außerordentlichen Naturbildes länger, als uns lieb war.
Unſer Kanoe ſollte am öſtlichen Ufer einer ſchmalen Inſel
hinfahren und uns nach einem weiten Umweg wieder auf-
nehmen. Wir warteten anderthalb Stunden vergeblich. Die
Nacht kam heran und mit ihr ein furchtbares Gewitter; der
Regen goß in Strömen herab. Wir fürchteten nachgerade,
unſer ſchwaches Fahrzeug möchte an den Felſen zerſchellt ſein,
und die Indianer mit ihrer gewöhnlichen Gleichgültigkeit beim
Ungemach anderer ſich auf den Weg zur Miſſion gemacht
haben. Wir waren nur unſer drei; ſtark durchnäßt und voll
Sorge um unſere Piroge bangten wir vor der Ausſicht, eine
[119] lange Aequinoktialnacht ſchlaflos im Lärm der Raudals zu-
zubringen. Bonpland faßte den Entſchluß, mich mit Don
Nicolas Soto auf der Inſel zu laſſen und über die Fluß-
arme zwiſchen den Granitdämmen zu ſchwimmen. Er hoffte
den Wald erreichen und in der Miſſion bei Pater Zea Bei-
ſtand holen zu können. Nur mit Mühe hielten wir ihn von
dieſem gewagten Beginnen ab. Er war unbekannt mit dem
Labyrinth von Waſſerrinnen, in die der Orinoko zerſchlagen
iſt und in denen meiſt ſtarke Wirbel ſind. Und was jetzt,
da wir eben über unſere Lage beratſchlagten, unter unſeren
Augen vorging, bewies hinreichend, daß die Indianer fälſch-
lich behauptet hatten, in den Katarakten gäbe es keine Kroko-
dile. Die kleinen Affen, die wir ſeit mehreren Monaten mit
uns führten, hatten wir auf die Spitze unſerer Inſel geſtellt;
vom Gewitterregen durchnäßt und für die geringſte Wärme-
abnahme empfindlich, wie ſie ſind, erhoben die zärtlichen Tiere
ein klägliches Geſchrei und lockten damit zwei nach ihrer Größe
und ihrer bleigrauen Farbe ſehr alte Krokodile herbei. Bei
dieſer unerwarteten Erſcheinung war uns der Gedanke, daß
wir bei unſerem erſten Aufenthalt in Atures mitten im Rau-
dal gebadet, eben nicht behaglich. Nach langem Warten kamen
die Indianer endlich, als ſchon der Tag ſich neigte. Die
Staffel, über die ſie hatten herab wollen, um die Inſel zu
umfahren, war wegen zu ſeichten Waſſers nicht fahrbar, und
der Steuermann hatte im Gewirre von Felſen und kleinen
Inſeln lange nach einer beſſeren Durchfahrt ſuchen müſſen.
Zum Glück war unſere Piroge nicht beſchädigt und in we-
niger als einer halben Stunde waren unſere Inſtrumente,
unſere Mundvorräte und unſere Tiere eingeſchifft.
Wir fuhren einen Teil der Nacht durch, um unſer Nacht-
lager wieder auf der Inſel Panumana aufzuſchlagen. Mit
Vergnügen erkannten wir die Plätze wieder, wo wir bei der
Fahrt den Orinoko hinauf botaniſiert hatten. Wir unter-
ſuchten noch einmal am Ufer die kleine Sandſteinformation,
die unmittelbar dem Granit aufgelagert iſt. Das Vorkommen
iſt dasſelbe wie beim Sandſtein, den mein unglücklicher Lands-
mann Burckhardt an der Grenze von Nubien dem Granit
von Syene aufgelagert geſehen hat. Wir fuhren, ohne ſie
zu betreten, an der neuen Miſſion San Borja vorüber und
hörten einige Tage darauf mit Bedauern, die kleine Kolonie
von Guahibosindianern ſei al monte gelaufen, da ſie ſich
eingebildet, wir wollen ſie fortſchleppen und als Poitos, das
[120] heißt als Sklaven verkaufen. Nachdem wir durch die Strom-
ſchnellen Tabaje und den Raudal Cariven am Einfluß des
großen Rio Meta gegangen, langten wir wohlbehalten in
Carichana an. Der Miſſionär, Fray Joſe Antonio de Torre,
nahm uns mit der herzlichen Gaſtfreundſchaft auf, die er uns
ſchon bei unſerem erſten Aufenthalt hatte zu teil werden
laſſen. Zu aſtronomiſchen Beobachtungen war der Himmel
nicht günſtig; in den großen Katarakten hatten wir wieder
welche gemacht, aber von dort bis zum Einfluß des Apure
mußte man darauf verzichten. In Carichana konnte Bonpland
zu ſeiner Befriedigung eine 3 m lange Seekuh ſezieren. Es
war ein Weibchen und ihr Fleiſch glich dem Rindfleiſch. Ich
habe oben vom Fang dieſes grasfreſſenden Waſſerſäugetieres
geſprochen. Die Piraoa, von denen einige Familien in der
Miſſion Carichana leben, verabſcheuen dieſes Tier ſo ſehr,
daß ſie ſich verſteckten, um es nicht anrühren zu müſſen, als
es in unſere Hütte geſchafft wurde. Sie behaupten, „die
Leute ihres Stammes ſterben unfehlbar, wenn ſie davon
eſſen“. Dieſes Vorurteil iſt deſto auffallender, da die Nach-
barn der Piraoa, die Guamos und Otomaken, nach dem
Seekuhfleiſch ſehr lüſtern ſind. Wir werden bald ſehen, daß
in dieſem Gewirre von Völkerſchaften das Fleiſch des Kroko-
dils bald verabſcheut, bald ſtark geſucht iſt.
Ich erwähne hier eines wenig bekannten Umſtandes als
Beitrag zur Geſchichte der Seekuh. Südlich vom Meerbuſen
von Xagua auf Cuba, mehrere Kilometer von der Küſte, ſind
Quellen ſüßen Waſſers mitten im Meer. Man erklärt ſich die-
ſelben aus einem hydroſtatiſchen Druck von den hohen Ge-
birgen von Trinidad herab durch unterirdiſche Kanäle. Kleine
Fahrzeuge nehmen in dieſem Strich zuweilen Waſſer ein, und
was ſehr merkwürdig iſt, große Seekühe halten ſich beſtändig
dort auf. Ich habe die Forſcher bereits darauf aufmerkſam
gemacht, daß die Krokodile aus den Flußmündungen weit
in die See hinausgehen. Bei den alten Umwälzungen unſeres
Planeten mögen ähnliche Umſtände das ſonderbare Gemenge
von Knochen und Verſteinerungen, die der See, und ſolchen,
die dem ſüßen Waſſer angehören, wie es in manchen neuen
Formationen vorkommt, verurſacht haben.
Der Aufenthalt in Carichana kam uns ſehr zu ſtatten,
um uns von unſeren Strapazen zu erholen. Bonpland trug
den Keim einer ſchweren Krankheit in ſich; er hätte dringend
der Ruhe bedurft, da aber das Nebenflußdelta zwiſchen
[121] dem Horeda und dem Paruaſi mit dem üppigſten Pflan-
zenwuchſe bedeckt iſt, konnte er der Luſt nicht widerſtehen,
große botaniſche Exkurſionen zu machen, und wurde den Tag
über mehrere Male durchnäßt. Im Hauſe des Miſſionärs
wurde für alle unſere Bedürfniſſe zuvorkommend geſorgt; man
verſchaffte uns Maismehl, ſogar Milch. Die Kühe geben in
den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es
fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne
dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältniſſe im Indi-
ſchen Archipelagus das Vorurteil verbreitet iſt, als ob ein
heißes Klima auf die Milchabſonderung ungünſtig wirkte. Es
begreift ſich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents ſich aus
der Milch nicht viel machen, da das Land urſprünglich keine
Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man ſich,
daß die ungeheure chineſiſche Bevölkerung, die doch großen-
teils außerhalb der Tropen unter denſelben Breiten wie die
nomadiſchen Stämme in Centralaſien lebt, ebenſo gleichgültig
iſt. Wenn die Chineſen einmal ein Hirtenvolk waren, wie
geht es zu, daß ſie Sitten und einem Geſchmack, die ihrem
früheren Zuſtande ſo ganz angemeſſen ſind, ungetreu gewor-
den? Dieſe Fragen ſcheinen mir von großer Bedeutung ſo-
wohl für die Geſchichte der Völker von Oſtaſien als hinſicht-
lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwiſchen
dieſem Weltteil und dem nördlichen Mexiko ſtattgefunden
haben können.
Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana
zur Miſſion Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den
vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten
öfters an, um die Geſchwindigkeit des Stromes und ſeine
Temperatur an der Oberfläche zu meſſen. Letztere betrug
27° 4′, die Geſchwindigkeit 65 cm in der Sekunde (102,8 m
in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des
Orinoko über 3900 m breit und 19,5 bis 23 m tief war.
Der Fall des Fluſſes iſt allerdings von den Katarakten bis
Angoſtura höchſt unbedeutend,1 und ohne barometriſche Meſ-
ſung ließe ſich der Höhenunterſchied ungefähr ſchätzen, wenn
man von Zeit zu Zeit die Geſchwindigkeit und Breite und
Tiefe des Stromſtückes mäße. In Uruana konnten wir einige
Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Miſſion
[122] gleich 7° 8′, da aber die verſchiedenen Sterne abweichende Re-
ſultate gaben, blieb ſie um mehr als eine Minute unſicher.
Die Moskitoſchicht am Boden war ſo dicht, daß ich mit dem
Richten des künſtlichen Horizontes nicht fertig werden konnte,
und ich bedauerte, nicht mit einem Queckſilberhorizont verſehen
zu ſein. Am 7. Juni erhielt ich durch gute abſolute Sonnen-
höhen eine Länge von 69° 40′. Seit Esmeralda waren
wir um 1° 17′ gegen Weſt vorgerückt, und dieſe chrono-
metriſche Beſtimmung verdient volles Zutrauen, weil wir
auf dem Hin- und dem Herweg, in den großen Kata-
rakten und an den Mündungen des Atabapo und des Apure
beobachtet hatten.
Die Miſſion Uruana iſt ungemein maleriſch gelegen;
das kleine indianiſche Dorf lehnt ſich an einen hohen Granit-
berg. Ueberall ſteigen Felſen wie Pfeiler über dem Walde
auf und ragen über die höchſten Baumwipfel empor. Nir-
gends nimmt ſich der Orinoko majeſtätiſcher aus als bei der
Hütte des Miſſionärs Fray Ramon Bueno. Er iſt hier über
5067 m breit und läuft gerade gegen Oſt, ohne Krümmung,
wie ein ungeheurer Kanal. Durch zwei lange, ſchmale Inſeln
(Isla de Uruana und Isla vieja de la Manteca) wird das
Flußbett noch ausgedehnter; indeſſen laufen die Ufer parallel
und man kann nicht ſagen, der Orinoko teile ſich in mehrere
Arme.
Die Miſſion iſt von Otomaken bewohnt, einem verſun-
kenen Stamme, an dem man eine der merkwürdigſten phyſio-
logiſchen Erſcheinungen beobachtet. Die Otomaken eſſen Erde,
das heißt, ſie verſchlingen ſie mehrere Monate lang täglich in
ziemlich bedeutender Menge, um den Hunger zu beſchwichtigen,
ohne daß ihre Geſundheit dabei leidet. Dieſe unzweifelhafte
Thatſache hat ſeit meiner Rückkehr nach Europa lebhaften
Widerſpruch gefunden, weil man zwei ganz verſchiedene Sätze:
Erde eſſen, und ſich von Erde nähren, zuſammenwarf.
Wir konnten uns zwar nur einen einzigen Tag in Uruana
aufhalten, aber dies reichte hin, um die Bereitung der Poya
(der Erdkugeln) kennen zu lernen, die Vorräte, welche die
Eingeborenen davon angelegt, zu unterſuchen und die Quan-
tität Erde, die ſie in 24 Stunden verſchlingen, zu beſtimmen.
Uebrigens ſind die Otomaken nicht das einzige Volk am Ori-
noko, bei dem Thon als Nahrungsmittel gilt. Auch bei den
Guamos findet man Spuren von dieſer Verirrung des Nah-
rungstriebes, und zwiſchen den Einflüſſen des Meta und des
[123] Apure ſpricht jedermann von der Geophagie als von etwas
Altbekanntem. Ich teile hier nur mit, was wir mit eigenen
Augen geſehen oder aus dem Munde des Miſſionärs vernom-
men, den ein ſchlimmes Geſchick dazu verurteilt hat, zwölf
Jahre unter dem wilden, unruhigen Volke der Otomaken zu
leben.
Die Einwohner von Uruana gehören zu den Savannen-
völkern (Indios andantes), die ſchwerer zu civiliſieren ſind
als die Waldvölker (Indios del monte), ſtarke Abneigung
gegen den Landbau haben und faſt ausſchließlich von Jagd
und Fiſchfang leben. Es ſind Menſchen von ſehr ſtarkem
Körperbau, aber häßlich, wild, rachſüchtig, den gegorenen Ge-
tränken leidenſchaftlich ergeben. Sie ſind im höchſten Grad
„omnivore Tiere“; die anderen Indianer, die ſie als Bar-
baren anſehen, ſagen daher auch, „nichts ſei ſo ekelhaft, das
ein Otomake nicht eſſe“. Solange das Waſſer im Orinoko
und ſeinen Nebenflüſſen tief ſteht, leben die Otomaken von
Fiſchen und Schildkröten. Sie ſchießen jene mit überraſchender
Fertigkeit mit Pfeilen, wenn ſie ſich an der Waſſerfläche
blicken laſſen. Sobald die Anſchwellungen der Flüſſe erfolgen,
die man in Südamerika wie in Aegypten und Nubien irr-
tümlich dem Schmelzen des Schnees zuſchreibt, und die in der
ganzen heißen Zone periodiſch eintreten, iſt es mit dem Fiſch-
fang faſt ganz vorbei. Es iſt dann ſo ſchwer, in den tiefen
Flüſſen Fiſche zu bekommen, als auf offener See. Die armen
Miſſionäre am Orinoko haben oft gar keine, weder an Faſt-
tagen, noch an Nichtfaſttagen, obgleich alle jungen Indianer
im Dorfe verpflichtet ſind, „für das Kloſter zu fiſchen“. Zur
Zeit der Ueberſchwemmungen nun, die zwei bis drei Monate
dauern, verſchlingen die Otomaken Erde in unglaublicher Maſſe.
Wir fanden in ihren Hütten pyramidaliſch aufgeſetzte, 1 bis
1,3 m Kugelhaufen; die Kugeln hatten 8 bis 10 cm im
Durchmeſſer. Die Erde, welche die Otomaken eſſen, iſt ein
ſehr feiner, ſehr fetter Letten; er iſt gelbgrau, und da er ein
wenig am Feuer gebrannt wird, ſo ſticht die harte Kruſte
etwas ins Rote, was vom darin enthaltenen Eiſenoxyd her-
rührt. Wir haben von dieſer Erde, die wir vom Wintervor-
rat der Indianer genommen, mitgebracht. Daß ſie ſpeckſtein-
artig ſei und Magneſia enthalte, iſt durchaus unrichtig. Vau-
quelin fand keine Spur davon darin, dagegen mehr Kieſelerde
als Alaunerde und 3 bis 4 Prozent Kalk.
Die Otomaken eſſen nicht jede Art Thon ohne Unterſchied;
[124] ſie ſuchen die Alluvialſchichten auf, welche die fetteſte, am
feinſten anzufühlende Erde enthalten. Ich fragte den Miſ-
ſionär, ob man den befeuchteten Thon wirklich, wie Pater
Gumilla behauptet, die Art von Zerſetzung durchmachen laſſe,
wobei ſich Kohlenſäure und Schwefelwaſſerſtoff entwickeln, und
die in allen Sprachen faulen heißt; er verſicherte uns aber,
die Eingeborenen laſſen den Thon niemals faulen, und ver-
miſchen ihn auch weder mit Maismehl, noch mit Schildkrötenöl
oder Krokodilfett. Wir ſelbſt haben ſchon am Orinoko und
nach unſerer Heimkehr in Paris die mitgebrachten Kugeln
unterſucht und keine Spur einer organiſchen, ſei es mehligen
oder öligen Subſtanz darin gefunden. Dem Wilden gilt
alles für nahrhaft, was den Hunger beſchwichtigt; fragt man
daher den Otomaken, von was er in den zwei Monaten, wo
der Fluß am vollſten iſt, lebe, ſo deutet er auf ſeine Letten-
kugeln. Er nennt ſie ſeine Hauptnahrung, denn in dieſer Zeit
bekommt er nur ſelten eine Eidechſe, eine Farnwurzel, einen
toten Fiſch, der auf dem Waſſer ſchwimmt. Ißt nun der
Indianer zwei Monate lang Erde aus Not (und zwar 375
bis 625 g in 24 Stunden), ſo läßt er ſie ſich doch auch das
übrige Jahr ſchmecken. In der trockenen Jahreszeit, beim
ergiebigſten Fiſchfang, reibt er ſeine Poyaklöße und mengt
etwas Thon unter ſeine Speiſen. Das Auffallendſte iſt, daß
die Otomaken nicht vom Fleiſche fallen, ſolange ſie Erde in
ſo bedeutender Menge verzehren. Sie ſind im Gegenteil ſehr
kräftig und haben keineswegs einen geſpannten, aufgetriebenen
Bauch. Der Miſſionär Fray Ramon Bueno verſichert, er habe
nie bemerkt, daß die Geſundheit der Eingeborenen während der
Ueberſchwemmung des Orinoko eine Störung erlitten hätte.
Das Thatſächliche, das wir ermitteln konnten, iſt ganz
einfach folgendes. Die Otomaken eſſen mehrere Monate lang
täglich 375 g am Feuer etwas gehärteten Letten, ohne daß
ihre Geſundheit dadurch merklich leidet. Sie netzen die Erde
wieder an, ehe ſie ſie verſchlucken. Es ließ ſich bis jetzt nicht
genau ermitteln, wie viel nährende vegetabiliſche oder tieriſche
Subſtanz ſie während dieſer Zeit in der Woche zu ſich neh-
men; ſo viel iſt aber ſicher, ſie ſelbſt ſchreiben ihr Gefühl der
Sättigung dem Letten zu und nicht den kümmerlichen Nah-
rungsmitteln, die ſie von Zeit zu Zeit daneben genießen.
Keine phyſiologiſche Erſcheinung ſteht für ſich allein da, und
ſo wird es nicht ohne Intereſſe ſein, wenn ich mehrere ähn-
liche Erſcheinungen, die ich zuſammengebracht, hier beſpreche.
[125]
In der heißen Zone habe ich allerorten bei vielen In-
dividuen, bei Kindern, Weibern, zuweilen aber auch bei er-
wachſenen Männern einen abnormen, faſt unwiderſtehlichen
Trieb bemerkt, Erde zu eſſen, keineswegs alkaliſche oder kalk-
haltige Erde, um (wie man gemeiniglich glaubt) ſaure Säfte
zu neutraliſieren, ſondern einen fetten, ſchlüpfrigen, ſtark rie-
chenden Thon. Oft muß man den Kindern die Hände bin-
den oder ſie einſperren, um ſie vom Erdeeſſen abzuhalten, wenn
der Regen aufhört. Im Dorfe Banco am Magdalenenſtrom
ſah ich indianiſche Weiber, die Töpfergeſchirr verfertigen, fort-
während große Stücke Thon verzehren. Dieſelben waren
nicht ſchwanger und verſicherten, „die Erde ſei eine Speiſe,
die ihnen nicht ſchade“. Bei anderen amerikaniſchen Völker-
ſchaften werden die Menſchen bald krank und zehren aus,
wenn ſie ſich von der Sucht, Thon zu verſchlucken, zu ſehr
hinreißen laſſen. In der Miſſion San Borja ſahen wir ein
Kind von der Nation der Guahibos, das mager war wie ein
Skelett. Die Mutter ließ uns durch den Dolmetſcher ſagen,
die Abmagerung komme von unordentlicher Eßluſt her. Seit
vier Monaten wollte das kleine Mädchen faſt nichts anderes
zu ſich nehmen als Letten. Und doch ſind es nur 112 km
von San Borja nach Uruana, wo der Stamm der Otomaken
wohnt, die, ohne Zweifel infolge allmählicher Angewöhnung,
die Poya ohne Nachteil verſchlucken. Pater Gumilla be-
hauptet, trete bei den Otomaken Verſtopfung ein, ſo führen
ſie mit Krokodilöl, oder vielmehr mit geſchmolzenem Krokodil-
fett ab; aber der Miſſionär, den wir bei ihnen antrafen,
wollte hiervon nichts wiſſen. Man fragte ſich, warum in kalten
und gemäßigten Himmelsſtrichen die Sucht, Erde zu eſſen,
weit ſeltener iſt als in der heißen Zone, warum ſie in Europa
nur bei ſchwangeren Weibern und ſchwächlichen Kindern vor-
kommt? Dieſer Unterſchied zwiſchen der heißen und der ge-
mäßigten Zone rührt vielleicht nur von der Trägheit der
Funktion des Magens infolge der ſtarken Hautausdünſtung
her. Man meinte die Beobachtung zu machen, daß bei den
afrikaniſchen Sklaven der abnorme Trieb, Erde zu eſſen, zu-
nimmt und ſchädlicher wird, wenn ſie auf reine Pflanzenkoſt
geſetzt werden und man ihnen die geiſtigen Getränke entzieht.
Wird durch letztere das Letteneſſen weniger ſchädlich, ſo hätte
man den Otomaken beinahe Glück dazu zu wünſchen, daß ſie
ſo große Trunkenbolde ſind.
Auf der Küſte von Guinea eſſen die Neger als Lecker-
[126] biſſen eine gelbliche Erde, die ſie Caouac nennen. Die
nach Amerika gebrachten Sklaven ſuchen ſich denſelben Genuß
zu verſchaffen, aber immer auf Koſten ihrer Geſundheit. Sie
ſagen, „die Erde auf den Antillen ſei nicht ſo verdaulich, wie
die in ihrem Lande“. Thibaut de Chanvalon äußert in ſeiner
Reiſe nach Martinique über dieſe pathologiſche Erſcheinung
ſehr richtig: „Eine andere Urſache des Magenwehs iſt, daß
manche Neger, die von der Küſte von Guinea herüberkommen,
Erde eſſen. Es iſt dies bei ihnen nicht verdorbener Geſchmack
oder Folge einer Krankheit, ſondern Gewöhnung von Afrika
her, wo ſie, wie ſie ſagen, eine gewiſſe Erde eſſen, die ihnen
wohlſchmeckt, und zwar ohne davon beläſtigt zu werden. Auf
unſeren Inſeln ſehen ſie ſich nun nach der Erde um, die
jener am nächſten kommt, und greifen zu einem rotgelben
(vulkaniſchen) Tuff. Man verkauft denſelben heimlich auf den
Märkten, ein Mißbrauch, dem die Polizei ſteuern ſollte. Die
Neger, welche dieſe Unſitte haben, ſind ſo lüſtern nach Caouac,
daß keine Strafe ſie vom Genuß desſelben abzuhalten vermag.“
Im Indiſchen Archipel, auf Java, ſah Labillardière zwi-
ſchen Surabaya und Samarang kleine viereckige, rötliche
Kuchen verkaufen. Dieſe Kuchen, Tanaampo genannt,
waren Waffeln aus leicht geröſtetem Thon, den die Ein-
geborenen mit Appetit verzehren. Da ſeit meiner Rückkehr
vom Orinoko die Phyſiologen auf dieſe Erſcheinungen von
Geophagie aufmerkſam geworden waren, ſo machte Leſchenault
(einer der Naturforſcher bei der Entdeckungsreiſe nach Au-
ſtralien unter Kapitän Baudin) intereſſante Angaben über
den Tanaampo oder Ampo der Javaner. „Man legt,“
ſagt er, „den rötlichen, etwas eiſenſchüſſigen Thon, den die
Einwohner von Java zuweilen als Leckerei genießen, in kleinen
Rollen, in der Form wie die Zimtrinde, auf eine Blechplatte
und röſtet ihn; in dieſer Form heißt er Ampo und iſt
auf dem Markte feil. Die Subſtanz hat einen eigentümlichen
Geſchmack, der vom Röſten herrührt; ſie iſt ſtark abſorbierend,
klebt an der Zunge und macht ſie trocken. Der Ampo wird
faſt nur von den javaniſchen Weibern gegeſſen, entweder
in der Schwangerſchaft, oder weil ſie mager werden wollen,
denn Mangel an Körperfülle gilt dortzulande für ſchön. Der
Erdegenuß iſt der Geſundheit nachteilig; die Weiber verlieren
allmählich die Eßluſt und nehmen nur mit Widerwillen ſehr
wenig Speiſe zu ſich. Aber der Wunſch, mager und ſchlank
zu bleiben, läßt ſie aller Gefahr trotzen und erhält den Ampo
[127] bei Kredit.“ — Auch die barbariſchen Bewohner von Neu-
kaledonien eſſen zur Zeit der Not, um den Hunger zu
beſchwichtigen, mächtige Stücke eines weißen, zerreiblichen
Topfſteins. Vauquelin fand darin bei der Analyſe, neben
Magneſia und Kieſelerde zu gleichen Teilen, eine kleine Menge
Kupferoxyd. Eine Erde, welche Golberry die Neger in Afrika
auf den Inſeln Bunck und Los Idolos eſſen ſah und von der
er ohne Beſchwerde ſelbſt gegeſſen, iſt gleichfalls ein weißer,
zerreiblicher Speckſtein. Alle dieſe Fälle gehören der heißen
Zone an; überblickt man ſie, ſo muß es auffallen, daß ein
Trieb, von dem man glauben ſollte, die Natur werde ihn
nur den Bewohnern der unfruchtbarſten Landſtriche eingepflanzt
haben, bei verwilderten, trägen Völkern vorkommt, die gerade
die herrlichſten, fruchtbarſten Länder bewohnen. In Popayan
und mehreren Gebirgsſtrichen von Peru ſahen wir auf offenem
Markte an die Eingeborenen unter anderen Waren auch ſehr
fein gepulverten Kalk verkaufen. Man mengt dieſes Pulver
mit Coca, das heißt mit den Blättern des Erythroxylon
peruvianum. Bekanntlich nehmen die indianiſchen Boten-
läufer mehrere Tage lang keine andere Nahrung zu ſich als
Kalk und Coca; beide befördern die Abſonderung des Speichels
und des Magenſaftes; ſie benehmen die Eßluſt, ohne dem
Körper Nahrungsſtoff zuzuführen. Anderswo in Südamerika,
am Rio de la Hacha, verſchlucken die Guajiro nur den Kalk
ohne Zuſatz von Pflanzenſtoff. Sie führen beſtändig eine
kleine Büchſe mit Kalk bei ſich, wie wir die Tabaksdoſe und
die Aſiaten die Betelbüchſe. Dieſe amerikaniſche Sitte war
ſchon den erſten ſpaniſchen Seefahrern auffallend erſchienen.
Der Kalk ſchwärzt die Zähne, und im Oſtindiſchen Archipel,
wie bei manchen amerikaniſchen Horden, gelten ſchwarze Zähne
für ſchön. Im kalten Landſtrich des Königreichs Quito eſſen
in Tiaua die Eingeborenen täglich aus Leckerei und ohne Be-
ſchwerde einen ſehr feinen, mit Quarzſand gemengten Thon.
Dieſer Thon macht das Waſſer, in dem er ſuſpendiert iſt,
milchig. Man ſieht in ihren Hütten große Gefäße mit dieſem
Waſſer, das als Getränk dient und bei den Indianern Agua
oder Leche de Llanka (Thonmilch) heißt.
Ueberblickt man alle dieſe Fälle, ſo zeigt ſich, daß dieſer
abnorme Trieb zum Genuß von Thonerde, Talkerde und Kalk
am häufigſten bei Bewohnern der heißen Zone vorkommt,
daß er nicht immer Krankheit zur Folge hat, und daß manche
Stämme Erde aus Leckerei eſſen, während andere (die Oto-
[128] maken in Amerika und die Neukaledonier in der Südſee) ſie
aus Not verzehren, um den Hunger zu beſchwichtigen. Aus
ſehr vielen phyſiologiſchen Erſcheinungen geht hervor, daß der
Hunger augenblicklich geſtillt werden kann, ohne daß die Sub-
ſtanzen, die man der Wirkung der Verdauungsorgane unter-
wirft, eigentlich nahrhaft ſind. Der Letten der Otomaken,
der aus Thonerde und Kieſelerde beſteht, enthält wahrſchein-
lich nichts oder ſo gut wie nichts, was zur Bildung der Or-
gane des Menſchen beiträgt. Kalkerde und Talkerde ſind
enthalten in den Knochen, in der Lymphe des Bruſtganges,
im Farbſtoff des Blutes und in den weißen Haaren; Kieſel-
erde in ſehr kleiner Menge in den ſchwarzen Haaren und,
nach Vauquelin, Thonerde nur in ein paar Atomen in den
Knochen, obgleich ſie in vielen Pflanzenſtoffen, die uns als
[Nahrung] dienen, in Menge vorkommt. Es iſt beim Menſchen
nicht wie bei belebten Weſen auf niedrigerer Organiſations-
ſtufe. Bei jenem werden nur die Stoffe aſſimiliert, aus
denen die Knochen, die Muskeln, das Nervenmark und das
Gehirn weſentlich znſammengeſetzt ſind; die Gewächſe dagegen
ſaugen aus dem Boden die Salze auf, die ſich zufällig darin
vorfinden, und die Beſchaffenheit ihres Faſergewebes richtet
ſich nach dem Weſen der Erdarten, die an ihrem Standorte
die vorherrſchenden ſind. Es iſt ein Punkt, der zur eifrigſten
Forſchung auffordert, und der auch mich ſchon lange beſchäftigt
hat, daß ſo wenige einfache Stoffe (Erden und Metalle) in
den Geweben der belebten Weſen enthalten ſind, und daß
nur ſie geeignet ſcheinen, den chemiſchen Lebensprozeß, wenn
man ſo ſagen darf, zu unterhalten.
Das Gefühl des Hungers und das unbeſtimmte Schwäche-
gefühl infolge von Nahrungsmangel und anderen pathologi-
ſchen Urſachen ſind nicht zu verwechſeln. Das Gefühl des
Hungers hört auf, lange bevor die Verdauung vorüber oder
der Chymus in Chylus verwandelt iſt. Es hört auf entweder
weil die Nahrungsſtoffe auf die Magenwände toniſch wirken,
oder weil der Verdauungsapparat mit Stoffen gefüllt iſt,
welche die Schleimhäute zu reichlicher Abſonderung des Magen-
ſaftes reizen. Dieſem toniſchen Eindruck auf die Magennerven
kann man die raſche heilſame Wirkung der ſogenannten näh-
renden Arzneimittel zuſchreiben, der Schokolade und aller
Stoffe, die gelinde reizen und zugleich nähren. Für ſich allein
gebraucht iſt ein Nahrungsſtoff (Stärkemehl, Gummi oder
Zucker) zur Aſſimilation und zum Erſatz der Verluſte, welche
[129] der menſchliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es
dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt,
wird in Aſien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht:
es wirkt als toniſches Mittel. Iſt aber der Stoff, der den
Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als
aſſimilierbar, noch als ein toniſcher Nervenreiz zu betrachten,
ſo rührt die Beſchwichtigung wahrſcheinlich von der reichlichen
Abſonderung des Magenſaftes her. Wir berühren hier ein
Gebiet der Phyſiologie, auf dem noch manches dunkel iſt.
Der Hunger wird beſchwichtigt, das unangenehme Gefühl der
Leere hört auf, ſobald der Magen angefüllt iſt. Man ſagt,
der Magen müſſe Ballaſt haben; in allen Sprachen gibt es
figürliche Ausdrücke für die Vorſtellung, daß eine mechaniſche
Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verurſacht.
Zum Teil noch in ganz neuen phyſiologiſchen Werken iſt von
der ſchmerzhaften Zuſammenziehung des Magens im Hunger,
von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir-
kung des ſauren Magenſaftes auf das Gewebe der Ver-
dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, beſonders
aber Magendies intereſſante Verſuche widerſprechen dieſen
veralteten Vorſtellungen. Nach 24-, 48-, ſogar 60ſtündiger
Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine
Zuſammenziehung des Magens; erſt am vierten und fünften
Tage ſcheinen die Dimenſionen des Organes etwas abzunehmen.
Je länger die Nahrungsentziehung dauert, deſto mehr ver-
mindert ſich der Magenſaft. Derſelbe häuft ſich keineswegs
an, er wird vielmehr wahrſcheinlich wie ein Nahrungsmittel
verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen
Körper, z. B. einen Kieſel ſchlucken, ſo wird in die Magen-
höhle in Menge eine ſchleimige, ſaure Flüſſigkeit ausgeſondert,
die nach ihrer Zuſammenſetzung dem menſchlichen Magenſafte
nahe ſteht. Nach dieſen Thatſachen ſcheint es mir wahrſchein-
lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsſtoff die Otomaken
und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin-
durch Thon und Speckſtein zu verſchlingen, dieſe Erden im
Verdauungsapparat dieſer Menſchen eine vermehrte Abſonde-
rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch-
ſpeicheldrüſe zur Folge haben. Meine Beobachtungen am
Orinoko wurden in neueſter Zeit durch direkte Verſuche zweier
ausgezeichneter junger Phyſiologen, Hippolyt Cloquet und
Breſchet, beſtätigt. Sie ließen ſich hungrig werden und aßen
dann fünf Unzen eines grünlich ſilberfarbigen, blätterigen,
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 9
[130] ſehr biegſamen Talkes, und eine Nahrung, an welche ihre
Organe ſo gar nicht gewöhnt waren, verurſachte ihnen keine
Beſchwerde. Bekanntlich werden im Orient Bolus und Siegel-
erde von Lemnos, die Thon mit Eiſenoxyd ſind, noch jetzt
ſtark gebraucht. In Deutſchland ſtreichen die Arbeiter in den
Sandſteinbrüchen am Kyffhäuſer ſtatt der Butter einen ſehr
feinen Thon, den ſie Steinbutter1 nennen, auf ihr Brot.
Derſelbe gilt bei ihnen für ſehr ſättigend und leicht verdaulich.
Wenn einmal infolge der Aenderungen, welche der Ver-
faſſung der ſpaniſchen Kolonieen bevorſtehen, die Miſſionen
am Orinoko häufiger von unterrichteten Reiſenden beſucht
werden, ſo wird man genau ermitteln, wie viele Tage die
Otomaken leben können, ohne neben der Erde wirklichen tie-
riſchen oder vegetabiliſchen Nahrungsſtoff zu ſich zu nehmen.
Es iſt eine bedeutende Menge Magenſaft und Saft der Bauch-
ſpeicheldrüſe erforderlich, um eine ſolche Maſſe Thon zu ver-
dauen oder vielmehr einzuhüllen und mit dem Kot auszu-
treiben. Daß die Abſonderung dieſer Säfte, welche beſtimmt
ſind, ſich mit dem Chymus zu verbinden, durch den Thon im
Magen und im Darm geſteigert wird, iſt leicht zu begreifen;
wie kommt es aber, daß eine ſo reichliche Sekretion, die dem
Körper keineswegs neue Beſtandteile zuführt, ſondern nur
Beſtandteile, die auf anderen Wegen bereits da ſind, anders-
wohin ſchafft, auf die Länge kein Gefühl der Erſchöpfung zur
Folge hat? Die vollkommene Geſundheit, deren die Otomaken
genießen, ſolange ſie ſich wenig Bewegung machen und ſich
auf ſo ungewöhnliche Weiſe nähren, iſt eine ſchwer zu erklä-
rende Erſcheinung. Man kann ſie nur einer durch lange Ge-
ſchlechtsfolge erworbenen Gewöhnung zuſchreiben. Der Ver-
dauungsapparat iſt ſehr verſchieden gebaut, je nachdem die
Tiere ausſchließlich von Fleiſch oder Pflanzenſtoff leben; wahr-
ſcheinlich iſt auch der Magenſaft verſchieden, je nachdem er
tieriſche oder vegetabiliſche Subſtanzen zu verdauen hat, und
doch bringt man es allmählich dahin, daß Pflanzenfreſſer und
Fleiſchfreſſer ihre Koſt vertauſchen, daß jene Fleiſch, dieſe
Körner freſſen. Der Menſch kann ſich daran gewöhnen, un-
gemein wenig Nahrung zu ſich zu nehmen, und zwar ohne
Schmerzgefühl, wenn er toniſche oder reizende Mittel an-
[131] wendet (verſchiedene Arzneimittel, kleine Mengen Opium,
Betel, Tabak, Cocablätter), oder wenn er von zeit zu Zeit
den Magen mit erdigen, geſchmackloſen, für ſich nicht nähren-
den Stoffen anfüllt. Gleich dem wilden Menſchen verſchlucken
auch manche Tiere im Winter aus Hunger Thon oder zerreib-
lichen Speckſtein, namentlich die Wölfe im nordöſtlichen Europa,
die Renntiere, und, nach Patrins Beobachtung, die Rehe in
Sibirien. Am Jeniſei und Amur brauchen die ruſſiſchen Jäger
einen Thon, den ſie Felsbutter nennen, als Köder. Die
Tiere wittern den Thon von weitem; ſie riechen ihn gern, wie
die Weiber in Spanien und Portugal den Bucarosthon, 1 die
ſogenannten wohlriechenden Erden (Tierras olorosas). Brown
erzählt in ſeiner Geſchichte von Jamaika, die Krokodile in Süd-
amerika verſchlingen kleine Steine oder Stücke ſehr harten Holzes,
wenn die Seen, in denen ſie leben, ausgetrocknet ſind, oder ſie
ſonſt keine Nahrung finden. Im Magen eines 3,6 m langen
Krokodils, das Bonpland und ich in Batallez am Magdalenen-
ſtrome zergliederten, fanden wir halbverdaute Fiſche und runde,
8 bis 10 cm ſtarke Granitſtücke. Es iſt nicht anzunehmen, daß
die Krokodile dieſe Steine zufällig verſchlucken, denn, wenn ſie
die Fiſche unten im Strome packen, ruht ihre untere Kinnlade
nicht auf dem Boden. Die Indianer haben die abgeſchmackte
Idee ausgeheckt, dieſe trägen Tiere machen ſich ſo gern
ſchwerer, um leichter zu tauchen. Ich glaube vielmehr, ſie
nehmen große Kieſel in den Magen auf, um dadurch eine
reichliche Abſonderung des Magenſaftes herbeizuführen. Ma-
gendies Verſuche ſprechen für dieſe Auffaſſung. Was die Ge-
wohnheit der körnerfreſſenden Vögel, namentlich der hühner-
artigen und der Strauße betrifft, Sand und kleine Steine
zu verſchlucken, ſo hat man ſie bisher dem inſtinktmäßigen
Triebe der Tiere zugeſchrieben, die Zerreibung der Nahrung
in ihrem dicken Muskelmagen zu beſchleunigen.
Wir haben oben geſehen, daß Negerſtämme am Gambia
Thon unter ihren Reis miſchen; vielleicht hatten früher manche
Familien der Otomaken den Brauch, Mais und andere meh-
lige Samen in ihrer Poya „faulen“ zu laſſen, um Erde
[132] und ſtärkemehlhaltigen Stoff zugleich zu genießen; vielleicht
iſt es eine unklare Beſchreibung einer ſolchen Zubereitung,
wenn Pater Gumilla im erſten Bande ſeines Werkes behaup-
tet, „die Guamos und Otomacos nähren ſich nur deshalb von
Erde, weil dieſelbe mit Substancia del maiz und Kai-
manfett getränkt ſei.“ Ich habe ſchon oben erwähnt, daß
weder der gegenwärtige Miſſionär in Uriana, noch Fray Juan
Gonzales, der lange in dieſen Ländern gelebt, von dieſer Ver-
mengung tieriſchen und vegetabiliſchen Stoffes mit der Poya
etwas wiſſen. Vielleicht hat Pater Gumilla die Zubereitung
der Erde, welche die Eingeborenen eſſen, mit einem anderen
Brauche derſelben verwechſelt (von dem ſich Bonpland an Ort
und Stelle überzeugte), nämlich die Bohnen einer Mimoſen-
art in den Boden zu graben, dieſelben ſich zerſetzen zu laſſen,
und ein weißes, ſchmackhaftes, aber ſchwer verdauliches Brot
daraus zu bereiten. Die Poyakugeln, die wir dem Winter-
vorrate der Indianer entnommen, enthielten, ich wiederhole
es, keine Spur von tieriſchem Fette oder von Stärkemehl.
Gumilla iſt einer der leichtgläubigſten Reiſenden, die wir
kennen, und ſo ſieht man ſich faſt verſucht, an Umſtände zu
glauben, die er meint leugnen zu müſſen. Zum Glücke nimmt
der Jeſuit im zweiten Bande ſeines Werkes großenteils wieder
zurück, was er im erſten behauptet: er zweifelt jetzt nicht
daran, „daß das Brot der Otomacos und Guamos wenigſtens
(a lo menos) zur Hälfte Thon enthält; er verſichert, Kinder
und Erwachſene eſſen, ohne Schaden für die Geſundheit, nicht
nur dieſes Brot, ſondern auch große Maſſen reinen Thon
(muchos terrones de pura greda)“. Er ſagt weiter, wer
davon den Magen beſchwert fühle, führe ein paar Tage mit
Krokodilfett ab, und dieſes Fett bringe ihnen die Eßluſt
wieder, ſo daß ſie von neuem bloße Erde eſſen können. Ich
bezweifle, daß die Manteca de Caiman ein Abführmittel iſt,
da ſie aber ſehr flüſſig iſt, ſo mag ſie die Erde, die nicht mit
dem Kote weggeſchafft worden iſt, einhüllen helfen. So viel
iſt gewiß, daß die Guamos wenn nicht das Fett, ſo doch das
Fleiſch des Krokodils, das uns weiß und ohne Biſam-
geruch ſchien, ſehr gern eſſen. In Sennaar iſt dasſelbe, nach
Burckhardt, gleichfalls geſucht und wird auf dem Markte
verkauft.
Ich kann hier Fragen nicht unberührt laſſen, die in
mehreren Abhandlungen, zu denen meine Reiſe auf dem Ori-
noko Anlaß gegeben, beſprochen worden ſind. Leſchenault wirft
[133] die Frage auf, ob nicht der Gebrauch des Ampo (des java-
niſchen Thones) dadurch gute Dienſte leiſten könnte, daß er
augenblicklich den Hunger beſchwichtigt, wenn man keine Nah-
rungsmittel hat oder zu ungeſunden, ſchädlichen, wenn auch
organiſchen Subſtanzen greifen müßte. Ich glaube, bei Ver-
ſuchen über die Folgen langer Entziehung der Nahrung würde
ſich zeigen, daß ein Tier, das man (nach der Art der Oto-
maken) Thon verſchlucken ließe, weniger zu leiden hätte als
ein anderes, in deſſen Magen man gar keine Nahrung brächte.
Ein italieniſcher Phyſiologe hebt hervor, wie wenig phosphor-
ſaure Kalk- und Bittererde, Kieſelerde, Schwefel, Natron,
Fluor, Eiſen und Mangan, und dagegen wie viel Kohlen-
ſäure, Sauerſtoff, Stickſtoff und Waſſerſtoff in den feſten und
flüſſigen Teilen des menſchlichen Körpers enthalten ſei, und
fragt, ob die Atmung nicht als ein fortwährender Er-
nährungsakt zu betrachten ſei, während der Verdauungs-
apparat mit Lehm gefüllt iſt? Die chemiſche Analyſe der
eingeatmeten und der ausgeatmeten Luft ſpricht nicht für dieſe
Annahme. Der Verluſt einer ſehr kleinen Menge Stickſtoff
iſt ſchwer zu ermitteln, und es iſt anzunehmen, daß ſich die
Funktion des Atmens im allgemeinen darauf beſchränkt, Kohlen-
ſtoff und Waſſerſtoff dem Körper zu entziehen.
Ein befeuchtetes Gemiſch von phosphorſaurem und kohlen-
ſaurem Kalk kann nicht nährend ſein, wie gleichfalls ſtickſtoff-
loſe, aber dem organiſchen Reiche angehörende Subſtanzen
(Zucker, Gummi, Stärkemehl). Unſere Verdauungsapparate
ſind gleichſam galvaniſche Säulen, die nicht alle Subſtanzen
zerlegen. Die Aſſimilation hört auf, nicht allein weil die
Stoffe, die in den Magen gelangen, keine Elemente enthalten,
die mit denen, aus welchen der menſchliche Körper beſteht,
übereinkommen, ſondern auch, weil die Verdauung (die chemiſche
Zerſetzung) nicht alle Verbindungen ohne Unterſchied in ihren
Bereich zieht. Beſchäftigt man ſich übrigens mit ſolchen all-
gemeinen phyſiologiſchen Problemen, ſo fragt man ſich unwill-
kürlich, wie es mit der Geſellſchaft, oder vielmehr mit dem
Menſchengeſchlechte ſtünde, wenn der Menſch keine Produkte
der Organiſation und der Lebenskraft als Nahrungsmittel
nötig hätte. Keine Gewöhnung kann die Art und Weiſe der
Ernährung weſentlich abändern. Wir werden niemals Erde
verdauen und aſſimilieren lernen; ſeit aber Gay-Luſſacs und
Thenards wichtige Forſchungen uns belehrt haben, daß das
härteſte Holz und das Stärkemehl ſich nur dadurch unter-
[134] ſcheiden, daß die Verhältniſſe zwiſchen Sauerſtoff, Waſſerſtoff
und Kohlenſtoff dort und hier ein klein wenig anders ſind,
wie ſollte man da beſtreiten, daß es der Chemie noch gelingen
könnte, jene ungeheuren vegetabiliſchen Maſſen, jene Gewebe
verhärteter Faſern, aus denen die Stämme unſerer Wald-
bäume beſtehen, in Nahrungsſtoff zu verwandeln? Von Be-
lang könnte eine ſolche Entdeckung nur werden, wenn das
Verfahren einfach und nicht koſtſpielig wäre; unter dieſer,
allerdings keineswegs wahrſcheinlichen Vorausſetzung müßten
aber dadurch in der ganzen Verfaſſung des Geſellſchaftskör-
pers, im Tagelohn, in der Verteilung der Bevölkerung über
die Erdoberfläche die größten Veränderungen eintreten. Einer-
ſeits würde der Menſch damit unabhängiger, andererſeits wäre
die notwendige Folge, daß die Bande der Geſellſchaft ſich
löſten und die Grundlagen des Gewerbfleißes und der Kultur
untergraben würden.
Das kleine Dorf Uruana iſt ſchwerer zu regieren als die
meiſten anderen Miſſionen. Die Otomaken ſind ein unruhiges,
lärmendes, in ſeinen Leidenſchaften ungezügeltes Volk. Nicht
nur ſind ſie dem Genuſſe der gegorenen Getränke aus Maniok
und Mais und des Palmweines im Uebermaße ergeben, ſie
verſetzen ſich auch noch in einen eigentümlichen Zuſtand von
Rauſch, man könnte faſt ſagen von Wahnſinn, durch den
Gebrauch des Niopopulvers. 1 Sie ſammeln die langen
Schoten einer Mimoſenart, die wir unter dem Namen Acacia
Niopo bekannt gemacht haben; ſie reißen ſie in Stücke, feuch-
ten ſie an und laſſen ſie gären. Wenn die durchweichten
Pflanzen anfangen ſchwarz zu werden, kneten ſie dieſelben wie
einen Teig, mengen Maniokmehl und Kalk, der aus der
Muſchel einer Ampullaria gebrannt wird, darunter und ſetzen
die Maſſe auf einem Roſte von hartem Holze einem ſtarken
Feuer aus. Der erhärtete Teig bildet kleine Kuchen. Will
man ſich derſelben bedienen, ſo werden ſie zu feinem Pulver
zerrieben und dieſes auf einen 13 bis 16 cm breiten Teller
geſtreut. Der Otomake hält den Teller, der einen Stiel hat,
in der rechten Hand und zieht das Niopo durch einen gabel-
förmigen Vogelknochen, deſſen zwei Enden in die Naſenlöcher
geſteckt ſind, in die Naſe. Der Knochen, ohne den der Oto-
make dieſe Art Schnupftabak nicht nehmen zu können meinte,
iſt 18 cm lang und es ſchien mir der Fußwurzelknochen
[135] eines großen Stelzenläufers zu ſein. Ich habe das Niopo
ſamt dem ganzen ſeltſamen Apparate Fourcroy in Paris über-
macht. Das Niopo iſt ſo reizend, daß ganz wenig davon
heftiges Nieſen verurſacht, wenn man nicht daran gewöhnt
iſt. Pater Gumilla ſagt, „dieſes Teufelspulver der Otomaken,
das von einem baumartigen Tabake komme, berauſche ſie durch
die Naſenlöcher (emboracha por las narices), raube ihnen
auf einige Stunden die Vernunft und mache ſie im Gefechte
raſend“. Die Samen, Säfte und Wurzeln der Familie der
Schotengewächſe haben auffallend verſchiedene chemiſche und
arzneiliche Eigenſchaften; wenn aber auch der Saft der Frucht
der Mimosa nilotica ſtark adſtringierend iſt, ſo iſt doch nicht
wohl zu glauben, daß die Schote der Acacia Niopo dem
Tabake der Otomaken zunächſt ſeine reizende Eigenſchaft ver-
leiht. Dieſelbe rührt vielmehr vom friſchgebrannten Kalke her.
Wir haben oben geſehen, daß die Bergbewohner in den Anden
von Popayan und die Guajiro, die zwiſchen dem See Mara-
caybo und dem Rio la Hacha umherziehen, auch Kalk ver-
ſchlucken, und zwar als Reizmittel, um die Abſonderung des
Speichels und des Magenſaftes zu befördern.
Dadurch, daß die umſtändliche Vorrichtung, deren ſich
die Otomaken zum Aufziehen des Niopopulvers bedienen,
durch mich nach Europa kam, wurden die Gelehrten auf einen
ähnlichen Brauch aufmerkſam gemacht, den La Condamine am
oberen Marañon beobachtet hat. Die Omagua, deren Name
durch ihre Züge zur Entdeckung des Dorado vielberufen iſt,
haben denſelben Teller, dieſelben hohlen Vogelknochen, durch
die ſie ihr Curupapulver in die Naſe ziehen. Der Samen,
von dem dieſes Pulver kommt, iſt ohne Zweifel auch eine
Mimoſe; denn die Otomaken nennen, dem Pater Gili zufolge,
noch jetzt, 1170 km vom Amazonenſtrome, die Acacia Niopo
Curupa. Seit meinen neuerlichen geographiſchen Unter-
ſuchungen über den Schauplatz der Thaten Philipps von
Hutten und über die wahre Lage der Provinz Papamene oder
der Omagua hat die Vermutung einer früheren Verbindung
zwiſchen den Otomaken am Orinoko und den Omagua am
Amazonenſtrome an Bedeutung und Wahrſcheinlichkeit ge-
wonnen. Erſtere kamen vom Rio Meta, vielleicht aus dem
Lande zwiſchen dieſem Fluſſe und dem Guaviare; letztere
wollen ſelbſt in großer Anzahl über den Rio Japura, vom
öſtlichen Abhange der Anden von Neugranada her, an den
Marañon gekommen ſein. Nun ſcheint aber das Land der
[136] Omagua, das die Abenteurer von Coro und Tocuyo vergeb-
lich zu erobern ſuchten, gerade zwiſchen dem Guayavero, der
in den Guaviare fällt, und dem Caqueta zu liegen, der weiter
unten Japura heißt. Allerdings beſteht ein auffallender
Gegenſatz zwiſchen der jetzigen Verſunkenheit der Otomaken
und der früheren Civiliſation der Omagua; vielleicht waren
aber nicht alle Unterabteilungen dieſer Nation in der Kultur
gleich vorgeſchritten, und an Beiſpielen, daß Stämme völlig
verſinken können, iſt die Geſchichte unſeres Geſchlechtes leider
nur zu reich. Zwiſchen Otomaken und Omagua läßt ſich
noch eine weitere Uebereinſtimmung bemerklich machen. Beide
ſind unter den Völkerſchaften am Orinoko und am Amazonen-
ſtrome deshalb berufen, weil ſie vom Kautſchuk oder der ver-
dickten Milch der Euphorbiaceen und Urticeen ſo ausgedehnten
Gebrauch machen.
Der eigentliche krautartige Tabak, 1 denn die Miſſionäre
nennen das Niopo oder Curupa „Baumtabak“, wird ſeit
unvordenklicher Zeit von allen eingeborenen Völkern am Ori-
noko gebaut; man fand auch bei der Eroberung die Sitte
des Rauchens in beiden Amerika gleich verbreitet. Die
Tamanaken und Maypuren in Guyana umwickeln die Ci-
garren mit Mais, wie bereits die Mexikaner vor Cortez’ An-
kunft gethan. Nach dieſem Vorgange nehmen die Spanier
ſtatt Maisblättern Papier. Die armen Indianer in den
Wäldern am Orinoko wiſſen ſo gut als die großen Herren
am Hofe Montezumas, daß der Tabakrauch ein vortreffliches
Narkotikum iſt; ſie bedienen ſich desſelben nicht nur, um ihre
Sieſta zu halten, ſondern auch, um ſich in den Zuſtand
von Quietismus zu verſetzen, den ſie ein „Träumen mit
offenen Augen“, „Träumen bei Tage“ nennen. In allen
amerikaniſchen Miſſionen wird jetzt, wie mir ſchien, ungemein
wenig Tabak verbraucht, und in Neuſpanien rauchen die Ein-
geborenen, die faſt ſämtlich von der unterſten Klaſſe des azte-
kiſchen Volkes abſtammen, zum großen Leidweſen des Fiskus,
[137] gar nicht. Pater Gili verſichert, den Indianern am unteren
Orinoko ſei die Sitte des Tabakkauens unbekannt. Ich
möchte die Richtigkeit dieſer Behauptung bezweifeln; denn
die Sercucuma am Erevato und Caura, Nachbarn der weiß-
lichen Paparitos, verſchlucken, wie man mir ſagte, zerhackten
und mit anderen ſtark reizenden Säften getränkten Tabak,
wenn ſie ſich zum Gefechte anſchicken. Von den vier Nikotiana-
arten, die in Europa gebaut werden (N. tabacum, N. rustica,
N. paniculata und N. glutinosa) ſahen wir nur die beiden
letzteren wild; aber Nicotiana lolaxensis und N. Andicola,
die ich in 3605 m Meereshöhe auf dem Rücken der Anden
gefunden, ſtehen Nicotiana tabacum und rustica ſehr nahe.
Die ganze Gattung iſt übrigens faſt ausſchließlich amerika-
niſch und die meiſten Arten ſchienen mir dem gebirgigen und
gemäßigten Landſtriche unter den Tropen anzugehören.
Weder aus Virginien, noch aus Südamerika, wie irrtüm-
lich in mehreren agronomiſchen und botaniſchen Schriften ſteht,
ſondern aus der mexikaniſchen Provinz Yucatan iſt um das
Jahr 1559 der erſte Tabakſamen nach Europa gekommen. 1
Der Mann, der die Fruchtbarkeit der Ufer des Orinoko am
lauteſten geprieſen, der berühmte Ralegh, hat auch die Sitte
des Rauchens unter den nordiſchen Völkern am meiſten be-
fördert. Bereits am Schluſſe des 16. Jahrhunderts be-
ſchwerte man ſich in England bitter über „dieſe Nachahmung
der Gebräuche eines barbariſchen Volkes“. Man fürchtete bei
dem überhandnehmenden Tabakrauchen, „ne Anglorum cor-
pora in barbarorum naturam degenerent“.2
[138]
Wenn ſich die Otomaken in Uruana durch den Genuß
des Niopo (ihres Baumtabaks) und gegorener Getränke in
einen Zuſtand von Trunkenheit verſetzt haben, der mehrere
Tage dauert, ſo bringen ſie einander um, ohne ſich mit Waffen
zu ſchlagen. Die bösartigſten vergiften ſich den Daumennagel
mit Curare, und nach der Ausſage der Miſſionäre kann der
geringſte Ritz mit dieſem vergifteten Nagel tödlich werden,
wenn das Curare ſehr ſtark iſt und unmittelbar in die Blut-
maſſe gelangt. Begehen die Indianer bei Nacht infolge eines
Zankes einen Totſchlag, ſo werfen ſie den Leichnam in den
Fluß, weil ſie fürchten, es möchten Spuren der erlittenen
Gewalt an ihm zu bemerken ſein. „So oft ich,“ äußerte
Pater Bueno gegen uns, „die Weiber an einer anderen Stelle
des Ufers als gewöhnlich Waſſer ſchöpfen ſehe, vermute ich,
daß ein Mord in meiner Miſſion begangen worden.“
Wir fanden in Uruana in den Hütten der Indianer den-
ſelben vegetabiliſchen Stoff (Yesca de hormigas, Ameiſen-
zunder), den wir bei den großen Katarakten hatten kennen
lernen und den man zum Blutſtillen braucht. Dieſer Zunder,
der weniger uneigentlich Ameiſenneſter hieße, iſt in einem
Lande, deſſen Bewohner nichts weniger als friedfertig ſind,
ſehr geſucht. Eine neue ſchön ſmaragdgrüne Art Ameiſen
(Formica spinicollis) ſammelt auf den Blättern einer Mela-
ſtomenart zu ihrem Neſte einen baumwollenartigen, gelbbraunen,
ſehr zart anzufühlenden Flaum. Ich glaube, daß der „Yesca
oder Ameiſenzunder“ vom oberen Orinoko (das Tier kommt,
wie verſichert wird, nur ſüdlich von Apures vor) einmal
ein Handelsartikel werden kann. Der Stoff iſt weit vor-
züglicher als die „Ameiſenneſter“ von Cayenne, die man in
Europa in den Hoſpitälern verwendet, die aber ſchwer zu be-
kommen ſind.
Ungern ſchieden wir (am 7. Juni) vom Pater Ramon
Bueno. Unter den zehn Miſſionären, die wir auf dem un-
geheuren Gebiete von Guyana kennen gelernt, ſchien mir nur
er auf alle Verhältniſſe der eingeborenen Völkerſchaften zu
achten. Er hoffte in kurzem nach Madrid zurückkehren und
das Ergebnis ſeiner Unterſuchungen über die Bilder und
Züge auf den Felſen bei Uruana bekannt machen zu können.
In den Ländern, wie wir eben bereiſt, zwiſchen dem
Meta, Arauca und Apure, fand man bei den erſten Ent-
deckungszügen an den Orinoko, z. B. bei dem des Alonzo
de Herrera im Jahre 1535, ſtumme Hunde, von den Ein-
[139] geborenen Maios und Auries genannt. Dieſer Umſtand
iſt in mehr als einer Beziehung intereſſant. Was auch Pater
Gili ſagen mag, es unterliegt keinem Zweifel, daß der Hund
in Südamerika einheimiſch iſt. Die verſchiedenen indianiſchen
Sprachen haben Namen für das Tier, die nicht wohl von
europäiſchen Sprachen herkommen können. Das Wort Auri,
das Alonzo de Herrera vor dreihundert Jahren nannte, kommt
noch jetzt im Maypuriſchen vor. Die Hunde, welche wir am
Orinoko geſehen, mögen von denen abſtammen, welche die
Spanier an die Küſten von Caracas gebracht; aber nichts-
deſtoweniger ſteht feſt, daß es vor der Eroberung in Peru,
Neugranada und Guyana eine unſeren Schäferhunden ähn-
liche Hunderaſſe gab. Der Allco der Eingeborenen in Peru,
und faſt alle Hunde, die wir in den wildeſten Strichen von
Südamerika angetroffen, bellen häufig; die älteſten Geſchicht-
ſchreiber ſprechen aber alle von ſtummen Hunden (Perros
mudos). Es gibt noch dergleichen in Kanada, und, was mir
ſehr zu beachten ſcheint, die ſtumme Spielart wurde in Mexiko
und am Orinoko vorzugsweiſe gegeſſen. Ein ſehr unterrichteter
Reiſender, Gieſecke, der ſechs Jahre in Grönland gelebt hat, ver-
ſicherte mich, die Hunde der Eskimo, die beſtändig in freier
Luft ſind und ſich winters in den Schnee graben, bellen
auch nicht, ſondern heulen wie die Wölfe. 1
Gegenwärtig iſt der Gebrauch, Hundefleiſch zu eſſen, am
Orinoko unbekannt; da aber dieſe Sitte im öftlichen Aſien
ganz allgemein iſt, ſcheint mir der Beweis, daß dieſelbe früher
in den heißen Strichen von Guyana und auf der Hochebene
von Mexiko zu Hauſe war, von großem Belang für die
Völkergeſchichte. Ich bemerke auch, daß auf den Grenzen der
Provinz Durango, am nördlichen Ende von Neuſpanien, die
Komantſchenindianer noch jetzt große Hunde, die ſie auf ihren
Zügen begleiten, mit ihren Zelten aus Büffelfellen beladen.
Bekanntlich dient auch am Sklavenſee und in Sibirien der
Hund gewöhnlich als Laſt- und Zugtier. Ich hebe ſolche
Züge von Uebereinſtimmung in den Sitten der Völker ab-
[140] ſichtlich hervor; ſie erhalten einiges Gewicht, wenn ſie nicht
für ſich allein daſtehen, und Aehnlichkeiten im Sprachbau, in
der [Zeitrechnung], im Glauben und den gottesdienſtlichen Ge-
bräuchen dazu kommen.
Wir übernachteten auf der Inſel Cucuruparu, auch Playa
de la Tortuga genannt, weil die Indianer von Uruana dort
Schildkröteneier holen. Es iſt dies einer der Punkte am
Orinoko, deren Breite am genaueſten beſtimmt iſt. Das
Glück wollte, daß ich drei Durchgänge von Sternen durch
den Meridian beobachten konnte. Oſtwärts von der Inſel
iſt die Mündung des Caño de la Tortuga, der von den Bergen
der Cerbatana herunterkommt, an denen beſtändig Gewitter-
wolken hängen. Am ſüdlichen Ufer dieſes Caño liegt die
faſt ganz eingegangene Miſſion San Miguel de la Tortuga.
Die Indianer verſicherten uns, in der Nähe dieſer kleinen
Miſſion gebe es eine Menge Fiſchottern mit ſehr feinem
Pelze, welche bei den Spaniern Perritos de agua, Waſſer-
hunde heißen, und, was merkwürdiger iſt, Eidechſen (Lagartos)
mit zwei Füßen. Dieſer ganze Landſtrich zwiſchen dem
Rio Cuchivero und der Stromenge am Baraguan ſollte ein-
mal von einem guten Zoologen beſucht werden. Der Lagarto
ohne Hinterbeine iſt vielleicht eine Art Siren, abweichend
vom Siren lacertina in Carolina. Wäre es ein Saurier, ein
eigentlicher „Bimane“ (Chirotes, Cuvier), ſo hätten die Ein-
geborenen das Tier nicht mit einer Eidechſe verglichen. Außer
den Arrau-Schildkröten, von denen ich oben ausführlich ge-
ſprochen, leben am Orinoko zwiſchen Uruana nnd Encara-
mada auch Landſchildkröten, die ſogenannten Morocoi in
zahlloſer Menge. In der großen Sonnenhitze und Trocken-
heit ſtecken dieſe Tiere, ohne zu freſſen, unter Steinen oder
in Löchern, die ſie gegraben. Erſt wenn ſie nach den erſten
Regen ſpüren, daß die Erde feucht wird, kommen ſie aus
ihrem Verſteck hervor und fangen wieder an zu freſſen. Die
Terekay oder Tajelus, Süßwaſſerſchildkröten, haben
dieſelbe Lebensweiſe. Ich habe ſchon oben vom Sommer-
ſchlaf mancher Tiere unter den Tropen geſprochen. Die
Eingeborenen kennen die Löcher, in denen die Schildkröten
im ausgetrockneten Boden ſchlafen, und graben ſie 40 bis
48 cm tief in Menge auf einmal aus. Nach Pater Gili,
der ſolches mit angeſehen, iſt dies nicht gefahrlos, weil ſich
im Sommer häufig Schlangen mit den Terekay eingraben.
Von der Inſel Cucuruparu hatten wir bis zur Haupt-
[141] ſtadt von Guyana, gemeiniglich Angoſtura genannt, noch
9 Tage zu fahren; es ſind nicht ganz 430 km. Wir brachten
die Nacht ſelten am Lande zu; aber die Plage der Moskiten
nahm merklich ab, je weiter wir hinabkamen. Am 8. Juni
gingen wir bei einem Hofe (Hato de San Rafael del
Capuchino), dem Einfluſſe des Rio Apure gegenüber, ans
Land. Ich konnte gute Breiten- und Längenbeobachtungen
machen. Ich hatte vor zwei Monaten auf dem anderen Ufer
Stundenwinkel aufgenommen, und dieſe Beſtimmungen waren
jetzt von Wert, um den Gang meines Chronometers zu kon-
trollieren und die Beobachtungsorte am Orinoko mit denen
an der Küſte von Venezuela in Verbindung zu bringen. Die
Lage dieſes Hofes am Punkte, wo der Orinoko aus der Rich-
tung von Süd nach Nord in die von Weſt nach Oſt umbiegt,
iſt ſehr maleriſch. Granitfelſen erheben ſich wie Eilande auf
den weiten Prärieen. Von ihrer Spitze ſahen wir nordwärts
die Lanos oder Steppen von Calabozo ſich bis zum Horizont
ausbreiten. Da wir ſeit lange an den Anblick der Wälder
gewöhnt waren, machte dieſe Ausſicht einen großen Eindruck
auf uns. Nach Sonnenuntergang bekam die Steppe ein grau-
grünes Kolorirt, und da die Sehlinie nur durch die Krüm-
mung der Erde abgebrochen wird, ſo gingen die Sterne wie
aus dem Schoße des Meeres auf und der erfahrenſte See-
mann hätte glauben müſſen, er ſtehe auf einer Felſenküſte,
auf einem hinausſpringenden Vorgebirge. Unſer Wirt war
ein Franzoſe (François Doizan), der unter ſeinen zahlreichen
Herden lebte. Er hatte ſeine Mutterſprache verlernt, ſchien
aber doch mit Vergnügen zu hören, daß wir aus ſeiner Hei-
mat kamen. Er hatte dieſelbe vor 40 Jahren verlaſſen, und
er hätte uns gern ein paar Tage in ſeinem Hofe behalten.
Von den politiſchen Umwälzungen in Europa war ihm ſo
gut wie nichts zu Ohren gekommen. Er ſah darin nur eine
Empörung gegen den Klerus und die Mönche. „Dieſe Em-
pörung,“ ſagte er, „wird fortdauern, ſolange die Mönche
Widerſtand leiſten.“ Bei einem Manne, der ſein ganzes
Leben an der Grenze der Miſſionen zugebracht, wo von nichts
die Rede iſt, als vom Streit zwiſchen der geiſtlichen und der
weltlichen Gewalt, war eine ſolche Anſicht ziemlich natürlich.
Die kleinen Städte Caycara und Cabruta ſind nur ein paar
Kilometer vom Hofe, aber unſer Wirt war einen Teil des
Jahres hindurch völlig abgeſchnitten. Durch die Ueberſchwem-
mungen des Apure und des Orinoko wird der Capuchino
[142] zur Inſel und man kann mit den benachbarten Höfen nur
zu Schiffe verkehren. Das Hornvieh zieht ſich dann auf den
höher gelegenen Landſtrich, der ſüdwärts der Bergkette der
Encaramada zuläuft.
Am 9. Juni morgens begegneten uns eine Menge Fahr-
zeuge mit Waren, die mit Segeln den Orinoko und dann
den Apure hinauffuhren. Es iſt dies eine ſtark befahrene
Handelsſtraße zwiſchen Angoſtura und dem Hafen von Toru-
nos in der Provinz Varinas. Unſer Reiſebegleiter, Don
Nicolas Soto, der Schwager des Statthalters von Varinas,
ſchlug denſelben Weg ein, um zu ſeiner Familie zurückzu-
kehren. Bei Hochwaſſer braucht man mehrere Monate gegen
die Strömung des Orinoko, des Apure und des Rio Santo
Domingo. Die Schiffsleute müſſen ihre Fahrzeuge an Baum-
ſtämme binden und ſie am Tau den Fluß hinaufziehen. In
den ſtarken Krümmungen des Fluſſes kommen ſie oft in
ganzen Tagen nicht über 380 bis 580 m vorwärts. Seit
meiner Rückkehr nach Europa iſt der Verkehr zwiſchen der
Mündung des Orinoko und den Provinzen am öſtlichen Ab-
hange der Gebirge von Merida, Pamplona und Santa Fé
de Bogota ungleich lebhafter geworden, und es iſt zu er-
warten, daß die lange Fahrt auf dem Orinoko, dem Apure,
der Portugueſa, dem Rio Santo Domingo, dem Orivante,
Meta und Guaviare durch Dampfſchiffe abgekürzt wird. Man
könnte, wie an den großen Strömen in den Vereinigten
Staaten, an den Ufern gefälltes Holz unter Schuppen nieder-
legen. Solche Veranſtaltung wäre um ſo nötiger, da man
ſich in den Ländern, die wir bereiſt, nicht leicht trockenes Holz
verſchafft, wie man es zum ſtarken Feuer unter dem Keſſel
einer Dampfmaſchine braucht.
Unterhalb San Rafael del Capuchino gingen wir rechts
bei Villa Caycara, an einer Bucht, Puerto Sedeño genannt,
ans Land. Es ſtehen hier ein paar Häuſer beiſammen und
dieſe führen den vornehmen Titel Villa. Alta Gracia,
Ciudad de la Piedra, Real Corona, Borbon, lauter Villas
zwiſchen dem Einfluß des Apure und Angoſtura, ſind ebenſo
elend. Ich habe oben erwähnt, daß es bei den Präſidenten
der Miſſionen und den Statthaltern der Provinzen Brauch
war, wenn eben der Grund zu einer Kirche gelegt wurde, in
Madrid für den Ort das Privilegium als Villa oder Ciudad
nachzuſuchen. Man wollte damit das Miniſterium glauben
machen, daß Bevölkerung und Wohlſtand in den Kolonieen
[143] in raſcher Zunahme begriffen ſeien. Bei Caycara, am „Cerro
del Tirano“, ſieht man Bilder von Sonne und Mond, wovon
oben die Rede war, eingehauen. „Das iſt ein Werk der
Alten“ (das heißt unſerer Väter), ſagen die Eingeborenen.
Man verſichert, auf einem Fels weiter vom Ufer ab, Tecoma
genannt, ſtehen die ſymboliſchen Figuren 30 m hoch. Die
Indianer kannten früher einen Landweg von Caycara nach
Demerary und Eſſequibo. Sind etwa die Völker, welche die
vom Reiſenden Hortsmann beſchriebenen Bilder eingehauen,
auf dieſem Wege an den See Amucu gekommen?
Caycara gegenüber, am nördlichen Ufer des Orinoko,
liegt die Miſſion Cabruta, die als vorgeſchobener Poſten
gegen die Kariben im Jahre 1740 vom Jeſuiten Rotella an-
gelegt wurde. Schon ſeit mehreren Jahrhunderten hatten die
Indianer an dieſem Fleck ein Dorf Namens Cabritu. Als
der kleine Ort eine chriſtliche Niederlaſſung wurde, glaubt
man, derſelbe liege unter dem 5. Grad der Breite, alſo um
2° 40′ weiter nach Süd, als ich durch direkte Beobachtungen
in San Rafael und an der Mündung des Rio Apure ge-
funden. Man hatte damals keinen Begriff davon, welche
Richtung ein Landweg nach Nueva Valencia und Caracas
haben müßte, von welchen Orten man ſich unendlich weit
entfernt dachte. Ein Weib iſt zuallererſt von der Villa de
San Juan Baptiſta del Pao über die Llanos nach Cabruta
gegangen. Pater Gili erzählt, Donna Maria Bargas habe
mit ſolcher Leidenſchaft an den Jeſuiten gehangen, daß ſie
es unternahm, auf eigene Hand einen Weg in die Miſſionen
zu ſuchen. Man wunderte ſich nicht wenig, als man ſie in
Cabruta von Norden her ankommen ſah. Sie ließ ſich bei
den Jüngern des heiligen Ignatius nieder und ſtarb in ihren
Miſſionen am Orinoko. Von dieſer Zeit an bevölkerte ſich
der ſüdliche Strich der Llanos ziemlich ſtark, und der Weg
aus den Thälern von Aragua über Calabozo nach San Fer-
nando de Apure und nach Cabruta iſt jetzt ſtark begangen.
Am letzteren Ort hatte auch im Jahre 1754 der Befehlshaber
der vielberufenen Grenzexpedition Werften angelegt und die
Fahrzeuge zum Transport der Truppen an den oberen Ori-
noko bauen laſſen. Der kleine Berg nordöſtlich von Cabruta
iſt ſehr weit in den Steppen ſichtbar und dient den Reiſenden
als Landmarke.
Wir ſchifften uns morgens in Caycara ein und fuhren
mit der Strömung des Orinoko zuerſt am Einfluſſe des Rio
[144] Cuchivero, wohin eine alte Sage die Aikeam-benanos
oder Weiber ohne Männer verſetzt, dann am kleinen
Dorf Alta Gracia, nach einer ſpaniſchen Stadt ſo genannt,
vorüber. Hier in der Nähe hatte Don Joſe de Iturriaga
den Pueblo de Ciudad Real angelegt, der noch auf den
neueſten Karten vorkommt, obgleich der Ort wegen der un-
geſunden Lage ſeit 50 Jahren gar nicht mehr beſteht.
Unterhalb der Stelle, wo ſich der Orinoko gegen Oſt wendet,
hat man fortwährend zur rechten Hand Wälder, zur linken
die Llanos oder Steppen von Venezuela. Die Wälder, die
ſich am Strom hinziehen, ſind indeſſen nicht mehr ſo dicht,
wie am oberen Orinoko. Die Bevölkerung nimmt merkbar
zu, je näher man der Hauptſtadt kommt; man trifft wenige
Indianer mehr, dagegen Weiße, Neger und Miſchlinge. Der
Neger ſind nicht viele, und leider iſt hier, wie überall, die
Armut ihrer Herren daran Schuld, daß ſie nicht beſſer be-
handelt werden und ihr Leben nicht mehr geſchont wird. Ein
Einwohner von Caycara, V—a, war vor kurzem zu vier-
jährigem Gefängnis und 100 Piaſtern Geldbuße verurteilt
worden, weil er in der Zornwut eine Negerin mit den Bei-
nen an den Schweif ſeines Pferdes gebunden und ſie im
vollen Galopp über die Savanne geſchleift hatte, bis ſie vor
Schmerz den Geiſt aufgab. Mit Vergnügen bemerke ich, daß
die Audiencia allgemein getadelt wurde, weil ſie eine ſo
ſchändliche Behandlung nicht härter beſtraft habe. Nur einige
wenige Perſonen (und zwar gerade die, welche ſich für die
aufgeklärteſten und klügſten hielten) meinten, einen Weißen
zu beſtrafen, während die Schwarzen auf San Domingo in
offenem Aufſtand begriffen ſeien, erſcheine nicht als ſtaats-
klug. Wenn Inſtitutionen, die ſich verhaßt gemacht haben,
bedroht ſind, fehlt es nie an Leuten, die zu Aufrechterhaltung
derſelben den Rat geben, daran feſtzuhalten, wenn ſie auch
der Gerechtigkeit und der Vernunft noch ſo offen wider-
ſprächen. Seit ich von dieſen Ländern Abſchied genommen,
hat der Bürgerkrieg den Sklaven die Waffen in die Hände
gegeben, und nach einer ſchrecklichen Erfahrung haben es die
Einwohner von Venezuela zu bereuen, daß ſie nicht auf die
Stimme Don Domingo Tovars und anderer hochherziger
Bürger gehört, die ſchon im Jahre 1795 im Cabildo von
Caracas ſich laut gegen die weitere Einführung von Negern
ausgeſprochen und Mittel, ihre Lage zu verbeſſern, in Vor-
ſchlag gebracht haben.
[145]
Nachdem wir am 10. Juni auf einer Inſel mitten im
Strom (ich glaube auf der, welche bei Pater Caulin Acaru
heißt) die Nacht zugebracht, fuhren wir an der Mündung des
Rio Caura vorüber, der neben dem Aruy und Carony der
größte Nebenfluß des unteren Orinoko von rechts her iſt.
Da ich während meines Aufenthalts in den Miſſionen
der Franziskaner viel geographiſches Material über den Caura
ſammeln konnte, habe ich eine Spezialkarte desſelben ent-
worfen. Alle chriſtlichen Niederlaſſungen befinden ſich gegen-
wärtig nahe an der Mündung des Fluſſes, und die Dörfer
San Pedro, Aripao, Urbani und Guaraguaraico liegen nur
wenige Meilen hinter einander. Das erſte iſt das volkreichſte
und hat doch nur 250 Seelen; San Luis de Guaraguaraico
iſt eine Kolonie freigelaſſener oder flüchtiger Neger vom Eſſe-
quibo und verdient Aufmunterung von ſeiten der Regierung.
Die Verſuche, die Sklaven an den Boden zu feſſeln und ſie
als Pächter der Früchte ihrer Arbeit als Landbauer genießen
zu laſſen, ſind höchſt empfehlenswert. Der zum großen Teil
noch unberührte Boden am Rio Caura iſt ungemein frucht-
bar; man findet dort Weiden für mehr als 15 000 Stück
Vieh; aber den armen Anſiedlern fehlt es gänzlich an Pfer-
den und an Hornvieh. Mehr als ſechs Siebenteile der Ufer-
ſtriche am Caura liegen wüſte oder ſind in den Händen wilder,
unabhängiger Stämme. Das Flußbett wird zweimal durch
Felſen eingeengt, und an dieſen Stellen ſind die Raudales
Mura und Para oder Paru; letzterer hat einen Trageplatz,
weil die Pirogen nicht darüber gehen können. Bei der
Grenzexpedition war am nördlichen Katarakt, dem von Mura,
eine kleine Schanze angelegt worden. Der Statthalter Don
Manuel Centurion hatte alsbald ein paar Häuſern, welche
ſpaniſche (das heißt nicht indianiſche) Familien, Weiße und
Mulatten, bei der Schanze gebaut, den Titel Ciudad de
San Carlos gegeben. Südlich vom Katarakt Para, ge-
rade am Einfluſſe des Erevato in den Caura, lag damals
die Miſſion San Luis und von da führte ein Landweg nach
der Hauptſtadt Angoſtura. Alle dieſe Civiliſationsverſuche
führten zu nichts. Oberhalb des Raudals von Mura ſteht
kein Dorf mehr, und die Eingeborenen haben ſozuſagen das
Land wieder zurückerobert. Indeſſen kann das Thal des Caura
wegen ſeines reichen Ertrags, und wegen der leichten Ver-
bindung mit dem Rio Ventuari, dem Carony und Cuyuni,
eines Tages von großer Bedeutung werden. Ich habe oben
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 10
[146] auseinandergeſetzt, wie wichtig die vier Flüſſe ſind, die von
den Gebirgen der Parime in den Orinoko gehen. In der
Nähe der Mündung des Caura, zwiſchen den Dörfern San
Pedro de Alcantara und San Francisco de Aripao, bildete
ſich im Jahre 1792 durch einen Erdfall und infolge eines
Erdbebens ein kleiner See von 580 m Durchmeſſer. Ein
Stück Wald bei Aripao ſenkte ſich 26 bis 32 m unter das
Niveau des anſtoßenden Bodens. Die Bäume blieben mehrere
Monate grün; man glaubte ſogar, manche haben unter Waſſer
Blätter getrieben. Dieſe Erſcheinung verdient um ſo mehr
Beachtung, da der Boden dort wahrſcheinlich Granit iſt. Ich
bezweifle, daß die ſekundären Formationen der Llanos ſich
ſüdwärts bis zum Thale des Caura erſtrecken.
Am 11. Juni landeten wir, um Sonnenhöhen aufzu-
nehmen, am rechten Orinokoufer beim Puerto de los
Frailes, 13,5 km oberhalb Ciudad de la Piedra. Der
Punkt liegt unter 67° 26′ 20″ der Länge oder 1° 41′ oſt-
wärts vom Einfluß des Apure. Weiterhin zwiſchen den
Villas de la Piedra und Muitaco oder Real Corona kommt
der Torno und der Höllenſchlund, zwei Punkte, die früher
von den Schiffern gefürchtet wurden. Der Orinoko ändert
auf einmal ſeine Richtung; er fließt anfangs nach Oſt, dann
nach Nord-Nord-Weſt und endlich wieder nach Oſt. Etwas
oberhalb des Caño Marapiche, der am nördlichen Ufer her-
einkommt, teilt eine ſehr lange Inſel den Fluß in zwei Arme.
Wir fuhren ohne Schwierigkeit ſüdwärts an derſelben vorbei;
gegen Norden bildet eine Reihe kleiner, bei hohem Waſſer
halb bedeckter Felſen Wirbel und Stromſchnellen. Dies heißt
nun Boca del Infierno und der Raudal von Camiſeta.
Durch Diego de Ordaz’ (1531) und Alonzo de Herreras (1535)
erſte Expeditionen wurde dieſe Stromſperre vielberufen. Die
großen Katarakte von Atures und Maypures kannte man
nicht und mit den plumpen Fahrzeugen (Vergantines), mit
denen man eigenſinnig den Strom hinauf wollte, war ſehr
ſchwer über die Stromſchnellen zu kommen. Gegenwärtig
fährt man den Orinoko zu jeder Jahreszeit von der Mün-
dung bis zum Einfluſſe des Apure und des Meta ohne Be-
ſorgnis auf und ab. Die einzigen Fälle auf dieſer Strecke
ſind die beim Torno oder Camiſeta, bei Marimara und bei
Cariven oder Carichana Vieja. Keines dieſer drei Hinder-
niſſe iſt zu fürchten, wenn man erfahrene indianiſche Steuer-
leute hat. Ich gehe auf dieſe hydrographiſchen Angaben darum
[147] ein, weil die Verbindung zwiſchen Angoſtura und den Ufern
des Meta und des Apure, welche zum Oſtabhang der Kor-
dilleren von Neugranada führen, jetzt in politiſcher und
kommerzieller Beziehung von großem Belang iſt. Die Fahrt
auf dem unteren Orinoko von der Mündung bis zur Provinz
Varinas iſt allein wegen der ſtarken Strömung beſchwerlich.
Im Flußbett ſelbſt ſind nirgends ſtärkere Hinderniſſe zu über-
winden, als auf der Donau zwiſchen Wien und Linz. Große
Felsſchwellen, eigentliche Waſſerfälle kommen erſt oberhalb
des Meta. Daher bildet auch der obere Orinoko mit dem
Caſſiquiare und dem Rio Negro ein beſonderes Flußſyſtem,
das dem induſtriellen Leben in Angoſtura und auf dem
Küſtenland von Caracas noch lange fremd bleiben wird.
Ich konnte auf einer Inſel mitten in der Boca del In-
fierno, wo wir unſere Inſtrumente aufgeſtellt hatten, Stun-
denwinkel der Sonne aufnehmen. Der Punkt liegt nach dem
Chronometer unter 67° 10′ 31″ der Länge. Ich wollte die
Inklination der Magnetnadel und die Intenſität der Kraft
beobachten, aber ein Gewitterregen vereitelte den Verſuch.
Da der Himmel nachmittags wieder heiter wurde, ſchlugen wir
unſer Lager auf einem breiten Geſtade am ſüdlichen Ufer des
Orinoko, beinahe im Meridian der kleinen Stadt Muitaco oder
Real Corona, auf. Mittels dreier Sterne fand ich die Breite
8° 0′ 26″, die Länge 67° 5′ 19″. Als die Obſervanten im
Jahre 1752 ihre erſten Entradas auf das Gebiet der Ka-
riben machten, bauten ſie an dieſem Punkt ein kleines Fort
oder eine Casa fuerte. Durch den Umſtand, daß die hohen
Gebirge von Araguacais ſo nahe liegen, iſt Muitaco einer
der geſundeſten Orte am unteren Orinoko. Hier ſchlug Itur-
riaga im Jahre 1756 ſeinen Wohnſitz auf, um ſich von den
Strapazen der Grenzexpedition zu erholen, und da er ſeine
Geneſung dem mehr heißen als feuchten Klima zuſchrieb, er-
hielt die Stadt oder vielmehr das Dorf Real Corona den
Namen Pueblo del puerto sano. Weiterhin gegen Oſt ließen
wir nordwärts den Einfluß des Rio Pao, ſüdwärts den des
Rio Arui. Letzterer Fluß iſt ziemlich bedeutend; er kommt
in Raleghs Berichten häufig vor. Lange ließen die Geo-
graphen den Aroy oder Arvi (Arui), den Caroli (Carony)
und den Coari (Caura) aus dem vielberufenen See Caſſipa
entſpringen, der ſpäter der Laguna del Dorado Platz machte.
Je weiter wir abwärts kamen, deſto langſamer wurde die
Strömung des Orinoko. Ich maß mehrmals am Ufer eine
[148] Linie ab, um zu beſtimmen, wie viel Zeit ſchwimmende Körper
brauchten, um eine bekannte Strecke zurückzulegen. Oberhalb
Alta Gracia, beim Einfluß des Rio Ujape, hatte ich 74 cm
in der Sekunde gefunden; zwiſchen Muitaco und Borbon war
die Geſchwindigkeit nur noch 54 cm. Aus den barometriſchen
Meſſungen in den benachbarten Steppen geht hervor, um wie
wenig der Boden vom 69. Grade der Länge bis zur Oſtküſte
von Guyana fällt. Muitaco war der letzte Ort, wo wir am
Ufer des Orinoko die Nacht unter freiem Himmel zubrachten;
wir fuhren noch zwei Nächte durch, ehe wir unſer Reiſeziel,
Angoſtura, erreichten. Eine ſolche Fahrt auf dem Thalweg
eines großen Stroms iſt ungemein bequem: man hat nichts
zu fürchten außer den natürlichen Flößen aus Bäumen, die
der Fluß, wenn er austritt, von den Ufern abreißt. In dun-
keln Nächten ſcheitern die Pirogen an dieſen ſchwimmenden
Eilanden wie an Sandbänken.
Nur ſchwer vermöchte ich das angenehme Gefühl zu
ſchildern, mit dem wir in Angoſtura, der Hauptſtadt von Spa-
niſch-Guyana, das Land betraten. Die Beſchwerden, denen
man in kleinen Fahrzeugen zur See unterworfen iſt, ſind
nichts gegen das, was man auszuſtehen hat, wenn man unter
einem glühenden Himmel, in einem Schwarm von Moskiten,
monatelang in einer Piroge liegen muß, in der man ſich
wegen ihrer Unſtätigkeit gar keine Bewegung machen kann.
Wir hatten in 75 Tagen auf den fünf großen Flüſſen Apure,
Orinoko, Atabapo, Rio Negro und Caſſiquiare 2250 km zu-
rückgelegt, und auf dieſer ungeheuren Strecke nur ſehr wenige
Orte angetroffen. Obgleich nach unſerem Leben in den Wäl-
dern unſer Anzug nichts weniger als gewählt war, ſäumten
wir doch nicht, uns Don Felipe de Ynciarte, dem Statthalter
der Provinz Guyana, vorzuſtellen. Er nahm uns auf das
zuvorkommendſte auf und wies uns beim Sekretär der In-
tendanz unſere Wohnung an. Da wir aus faſt menſchen-
leeren Ländern kamen, fiel uns das Treiben in einer Stadt,
die keine 6000 Einwohner hat, ungemein auf. Wir ſtaunten
an, was Gewerbfleiß und Handel dem civiliſierten Menſchen
an Bequemlichkeit bieten; beſcheidene Wohnräume kamen uns
prachtvoll vor, wer uns anredete, erſchien uns geiſtreich. Nach
langer Entbehrung gewähren Kleinigkeiten hohen Genuß, und
mit unbeſchreiblicher Freude ſahen wir zum erſtenmal wieder
Weizenbrot auf der Tafel des Statthalters. Vielleicht brauchte
ich nicht bei Empfindungen zu verweilen, die jedem, der weite
[149] Reiſen gemacht hat, wohl bekannt ſind. Sich wieder im
Schoße der Kultur zu wiſſen, iſt ein großer Genuß, aber er
hält nicht lange an, wenn man für die Wunder der Natur
im heißen Erdſtrich ein lebendiges Gefühl hat. Die überſtan-
denen Beſchwerden ſind bald vergeſſen, und kaum iſt man auf
der Küſte, auf dem von den ſpaniſchen Koloniſten bewohnten
Boden, ſo entwirft man den Plan, wieder ins Binnenland
zu gehen.
Ein ſchlimmer Umſtand nötigte uns, einen ganzen Monat
in Angoſtura zu verweilen. In den erſten Tagen nach un-
ſerer Ankunft fühlten wir uns matt und ſchwach, aber voll-
kommen geſund. Bonpland fing an, die wenigen Pflanzen
zu unterſuchen, welche er vor den Wirkungen des feuchten
Klimas hatte ſchützen können; ich war beſchäftigt, Länge und
Breite der Hauptſtadt 1 zu beſtimmen und die Inklination der
Magnetnadel zu beobachten. Aber nicht lange, ſo wurden wir
in der Arbeit unterbrochen; faſt am ſelben Tage befiel uns
eine Krankheit, die bei meinem Reiſegefährten den Charakter
eines ataktiſchen Fiebers annahm. Die Luft war zur Zeit
in Angoſtura vollkommen geſund, und da ſich bei dem ein-
zigen Diener, den wir von Cumana mitgebracht, die Vor-
boten desſelben Uebels einſtellten, ſo zweifelte unſere Um-
gebung, von der wir aufs ſorgfältigſte gepflegt wurden, nicht
daran, daß wir den Keim des Typhus aus den feuchten Wäl-
dern am Caſſiquiare mitgebracht. Es kommt häufig vor, daß
ſich bei Reiſenden die Folgen der Miasmen erſt dann äußern,
wenn ſie wieder in reinerer Luft ſind und ſich zu erholen
anfangen. Eine gewiſſe geiſtige Anſpannung kann eine Zeit-
lang die Wirkung krankmachender Urſachen hinausſchieben.
Da unſer Diener dem heftigen Regen weit mehr als wir
ausgeſetzt geweſen war, entwickelte ſich die Krankheit bei ihm
furchtbar raſch. Seine Kräfte lagen ſo danieder, daß man
uns am neunten Tage ſeinen Tod meldete. Es war aber nur
eine mehrſtündige Ohnmacht, auf die eine heilſame Kriſe ein-
trat. Zur ſelben Zeit wurde auch ich von einem ſehr hef-
tigen Fieber befallen; man gab mir mitten im Anfall ein
Gemiſch von Honig und Extrakt der China vom Rio Carony
[150] (Extractum corticis Angosturae). Es iſt dies ein Mittel,
das die Kapuziner in den Miſſionen höchlich preiſen. Das
Fieber wurde darauf ſtärker, hörte aber gleich am anderen
Tage auf. Bonplands Zuſtand war ſehr bedenklich, und wir
ſchwebten mehrere Wochen in der höchſten Beſorgnis. Zum
Glück behielt der Kranke Kraft genug, um ſich ſelbſt behan-
deln zu können. Er nahm gelindere, ſeiner Konſtitution an-
gemeſſenere Mittel als die China vom Rio Carony. Das
Fieber war anhaltend und wurde, wie faſt immer unter den
Tropen, durch eine Komplikation mit Ruhr noch geſteigert.
Während der ganzen ſchmerzhaften Krankheit behielt Bonpland
die Charakterſtärke und die Sanftmut, die ihn auch in der
ſchlimmſten Lage niemals verlaſſen haben. Mich ängſtigten
trübe Ahnungen. Der Botaniker Löffling, ein Schüler Linnés,
war nicht weit von Angoſtura, am Ufer des Carony, ein
Opfer ſeines Eifers für die Naturwiſſenſchaft geworden.
Wir hatten noch kein volles Jahr im heißen Erdſtrich zuge-
bracht, und mein nur zu treues Gedächtnis vergegenwärtigte
mir alles, was ich in Europa über die Gefährlichkeit der Luft
in den Wäldern geleſen hatte. Statt den Orinoko hinaufzu-
fahren, hätten wir ein paar Monate im gemäßigten, geſunden
Klima der Sierra Nevada von Merida zubringen können.
Den Weg über die Flüſſe hatte ich ſelbſt gewählt, und in
der Gefahr, in der mein Reiſegefährte ſchwebte, erblickte ich
die unſelige Folge dieſer unvorſichtigen Wahl.
Nachdem das Fieber in wenigen Tagen einen ungemeinen
Grad von Heftigkeit erreicht hatte, nahm es einen weniger
beunruhigenden Charakter an. Die Entzündung des Darm-
kanals wich auf die Anwendung erweichender Mittel, wozu
Malvenarten dienten. Die Sida- und Melochia-Arten ſind
im heißen Erdſtrich ungemein wirkſam. Indeſſen ging es mit
der Wiedergeneſung des Kranken ſehr langſam, wie immer
bei noch nicht ganz akklimatiſierten Europäern. Die Regenzeit
dauerte noch immer an, und an die Küſte von Cumana zurück
mußten wir wieder über die Llanos, wo man auf halbüber-
ſchwemmtem Boden ſelten ein Obdach und etwas anderes als
an der Sonne gedörrtes Fleiſch zu eſſen findet. Um nicht
Bonpland einem gefährlichen Rückfall auszuſetzen, beſchloſſen
wir bis zum 10. Juli in Angoſtura zu bleiben. Wir brachten
dieſe Zeit zum Teil auf einer Pflanzung 1 in der Nachbar-
[151] ſchaft zu, wo Mangobäume und Brotfruchtbäume 1 gezogen
werden. Letztere waren im ſechſten Jahr bereits über 13 m
hoch. Manche Artokarpusblätter, die wir maßen, waren 92 cm
lang und 48 cm breit, bei einem Gewächs aus der Familie
der Dikotyledonen eine ſehr auffallende Größe.
Ich beſchließe dieſes Kapitel mit einer kurzen Beſchrei-
bung des ſpaniſchen Guyana (Provincia de la Guyana),
welche einen Teil der alten Capitania general von Caracas
ausmacht. Nachdem ich ausführlich berichtet, was die Flüſſe
Apure, Orinoko, Atabapo, Rio Negro und Caſſiquiare an
Momenten zur Geſchichte unſeres Geſchlechts und an Natur-
erzeugniſſen Bemerkenswertes bieten, erſcheint es von Wert,
dieſe zerſtreuten Züge zuſammenzufaſſen und ein allgemeines
Bild eines Landes zu entwerfen, das einer großen Zukunft
entgegengeht und ſchon jetzt die Augen Europas auf ſich zieht.
Ich beſchreibe zuerſt die Lage von Angoſtura, der jetzigen
Hauptſtadt der Provinz, und verfolge dann den Orinoko bis
zum Delta, das er an ſeiner Mündung bildet. Ich entwickle
darauf den wahren Lauf des Rio Carony, an deſſen frucht-
baren Ufern die Mehrzahl der indianiſchen Bevölkerung der
Provinz lebt, und beweiſe aus der Geſchichte der Geographie,
wie die fabelhaften Seen entſtanden ſind, die ſo lange unſere
Karten verunziert haben.
Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts haben hinter-
einander drei Städte den Namen Santo Tome de la
Guyana geführt. Die erſte lag der Inſel Faxardo gegen-
über beim Einfluſſe des Carony in den Orinoko; ſie wurde
von den Holländern unter dem Befehl des Kapitäns Adrian
Janſon im Jahre 1579 zerſtört. Die zweite, gegründet im
Jahre 1591 von Antonio de Berrio, etwa 54 km oſtwärts
vom Einfluſſe des Carony, wehrte ſich mutig gegen Sir Walter
Ralegh, den die ſpaniſchen Geſchichtſchreiber der Eroberung
nur unter dem Namen des Korſaren Reali kennen. Die
dritte Stadt, der jetzige Hauptort der Provinz, liegt 234 km
weſtwärts vom Einfluſſe des Carony. Sie wurde im Jahre
1764 unter dem Statthalter Don Juaquin Moreno de Men-
doza angelegt, und man unterſcheidet ſie in den offiziellen
Schriftſtücken von der zweiten Stadt, die gewöhnlich die Feſtung
(el castillo oder las fortalezas) oder Altguyana (Vieja
Guyana) heißt, als Santo Tome de la Nueva Guyana.
[152] Da dieſer Name ſehr lang iſt, ſo ſagt man dafür im gemeinen
Leben Angoſtura (Engpaß).1 Die Bevölkerung dieſer Län-
der weiß kaum, daß die Namen Santiago de Leon und Santo
Tome auf unſeren Karten die beiden Hauptſtädte von Vene-
zuela und Guyana bedeuten.
Angoſtura, deſſen Länge und Breite ſich nach aſtronomi-
ſchen Beobachtungen ſchon oben angegeben, lehnt ſich an einen
kahlen Hügel von Hornblendeſchiefer. Die Straßen ſind ge-
rade und laufen meiſt dem Strome parallel. Viele Häuſer
ſtehen auf dem nackten Fels, und hier, wie in Carichana und
in manchen Miſſionen, glaubt man, daß durch die ſchwarzen
ſtark von der Sonne erhitzten Flächen die Luft ungeſund
werde. Für gefährlicher halte ich die Lachen ſtehenden Waſſers
(Lagunas y anegadizos), die hinter der Stadt gegen Südoſt
ſich hinziehen. Die Häuſer in Angoſtura ſind hoch, angenehm
und meiſtens aus Stein. Dieſe Bauart beweiſt, daß man
ſich hierzulande vor den Erdbeben nicht ſehr fürchtet; leider
gründet ſich aber dieſe Sicherheit keineswegs auf einen Schluß
aus zuverläſſigen Beobachtungen. Im Küſtenland von Neu-
andaluſien ſpürt man allerdings zuweilen ſehr ſtarke Stöße,
die ſich nicht über die Llanos hinüber fortpflanzen. Von der
furchtbaren Kataſtrophe in Cumana am 4. Februar 1797 fühlte
man in Angoſtura nichts, aber beim großen Erdbeben vom
Jahre 1766, das jene Stadt gleichfalls zerſtörte, wurde der
Granitboden beider Orinokoufer bis zu den Katarakten von
Atures und Maypures erſchüttert. Südlich von denſelben ſpürt
man zuweilen Stöße, die ſich auf das Becken des oberen
Orinoko und des Rio Negro beſchränken. Dieſelben ſcheinen
von einem vulkaniſchen Herd auszugehen, der von dem auf
den Kleinen Antillen weit abliegt. Nach den Angaben der
Miſſionäre in Javita und San Fernando de Atabapo waren
im Jahr 1798 zwiſchen dem Guaviare und dem Rio Negro
ſehr ſtarke Erdbeben, die nordwärts, Maypures zu, nicht
[153] mehr geſpürt wurden. Man kann nicht aufmerkſam genug
alles beachten, was die Gleichzeitigkeit der Bodenſchwingungen
und die Unabhängigkeit derſelben auf zuſammenhängenden
Landſtrichen betrifft. Alles weiſt darauf hin, daß die Be-
wegung ſich nicht an der Oberfläche fortpflanzt, ſondern durch
ſehr tiefe Spalten, die in verſchiedene Herde auslaufen.
Die Umgebung der Stadt Angoſtura bietet wenig Ab-
wechſelung; indeſſen iſt die Ausſicht auf den Strom, der einen
ungeheuren von Südweſt nach Nordoſt laufenden Kanal dar-
ſtellt, höchſt großartig. Nach einem langen Streit über die
Verteidigung des Platzes und die Kanonenſchußweite wollte
die Regierung genau wiſſen, wie breit der Strom bei dem
Punkte ſei, welcher der Engpaß heißt, und wo ein Fels
liegt (el Peñon), der bei Hochwaſſer ganz bedeckt wird. Ob-
gleich bei der Provinzialregierung ein Ingenieur angeſtellt iſt,
hatte man wenige Monate vor meiner Ankunft in Angoſtura
aus Caracas Don Matias Yturbur hergeſchickt, um den Ori-
noko zwiſchen der geſchleiften Schanze San Gabriel und der
Redoute San Rafael meſſen zu laſſen. Ich hörte in nicht
zuverläſſiger Weiſe, bei dieſer Meſſung haben ſich etwas über
800 varas castellanas (669 m) ergeben. Der Stadtplan,
welcher der großen Karte von Südamerika von La Cruz Ol-
medilla beigegeben iſt, gibt 940 (785 m) an. Ich ſelbſt habe
den Strom zweimal ſehr genau trigonometriſch gemeſſen, ein-
mal beim Engpaß ſelbſt zwiſchen den beiden Schanzen San
Gabriel und San Rafael, und dann oſtwärts von Angoſtura
auf dem großen Spaziergang (Alameda) beim Embarcadero
del ganado. Ich fand für den erſteren Punkt (als Minimum
der Breite) 1130 m, für letzteren 955 m. Der Strom iſt
alſo hier noch immer vier- bis fünfmal breiter als die Seine
beim Pflanzengarten, und doch heißt dieſe Strecke am Ori-
noko eine Einſchnürung, ein Engpaß. Nichts gibt einen
beſſeren Begriff von der Waſſermaſſe der großen Ströme
Amerikas als die Dimenſionen dieſer ſogenannten Engpäſſe.
Der Amazonenſtrom iſt nach meiner Meſſung beim Pongo
de Rentema 423 m, beim Pongo de Manſeriche, nach La
Condamine, 48 und beim Engpaß Pauxis 1750 m breit.
Letzterer Engpaß iſt alſo beinahe ſo breit als der Orinoko im
Engpaß beim Baraguan. 1
Bei Hochwaſſer überſchwemmt der Strom die Quais, und
[154] es kommt vor, daß Unvorſichtige in der Stadt ſelbſt den Kro-
kodilen zur Beute werden. Ich ſetze aus meinem Tagebuche
einen Fall her, der während Bonplands Krankheit vorge-
kommen. Ein Guaykari-Indianer von der Inſel Margarita
wollte ſeine Piroge in einer Bucht anbinden, die nicht drei
Fuß tief war. Ein ſehr wildes Krokodil, das immer in der
Gegend herumſtrich, packte ihn beim Bein und ſchwamm vom
Ufer weg, wobei es an der Oberfläche blieb. Das Geſchrei
des Indianers zog eine Menge Zuſchauer herbei. Man ſah,
wie der Unglückliche mit unerhörter Entſchloſſenheit zuerſt ein
Meſſer in der Taſche ſeines Beinkleides ſuchte. Da er es
nicht fand, packte er den Kopf des Krokodils und ſtieß ihm
die Finger in die Augen. In den heißen Landſtrichen Ame-
rikas iſt es jedermann bekannt, daß dieſes mit einem harten,
trockenen Schuppenpanzer bedeckte fleiſchfreſſende Reptil an
den wenigen weichen, nicht geſchützten Körperteilen, wie an
den Augen, den Achſelhöhlen, den Naſenlöchern und unterhalb
des Unterkiefers, wo zwei Biſamdrüſen ſitzen, ſehr empfindlich
iſt. Der Guaykari ergriff das Mittel, durch das Mungo-
Parks Neger und das Mädchen in Uritucu, von denen oben
die Rede war, ſich gerettet; aber er war nicht ſo glücklich
wie ſie, und das Krokodil machte den Rachen nicht auf, um
ſeine Beute fahren zu laſſen. Im Schmerz tauchte aber das
Tier unter, ertränkte den Indianer, erſchien wieder auf der
Waſſerfläche und ſchleppte den Leichnam auf eine Inſel dem
Hafen gegenüber. Ich kam im Moment an Ort und Stelle,
wo viele Einwohner von Angoſtura das ſchreckliche Ereignis
mit angeſehen hatten.
Da das Krokodil vermöge des Baues ſeines Kehlkopfes,
ſeines Zungenbeins und der Faltung ſeiner Zunge ſeine
Beute unter Waſſer wohl packen, aber nicht verſchlingen kann,
ſo verſchwindet ſelten ein Menſch, ohne daß man ganz nahe
an der Stelle, wo das Unglück geſchehen, nach ein paar Stun-
den das Tier zum Vorſchein kommen und am nächſten Ufer
ſeine Beute verſchlingen ſieht. Weit mehr Menſchen, als
man in Europa glaubt, werden alljährlich Opfer ihrer Un-
vorſichtigkeit und der Gier der Reptilien. Es kommt beſon-
ders in den Dörfern vor, deren Umgegend häufig überſchwemmt
wird. Dieſelben Krokodile halten ſich lange am nämlichen
Orte auf. Sie werden von Jahr zu Jahr kecker, zumal, wie
die Indianer behaupten, wenn ſie einmal Menſchenfleiſch ge-
koſtet haben. Die Tiere ſind ſo ſchlau, daß ſie ſehr ſchwer zu
[155] erlegen ſind. Eine Kugel dringt nicht durch ihre Haut, und
der Schuß iſt nur dann tödlich, wenn er in den Rachen oder
in die Achſelhöhle trifft. Die Indianer, welche ſich ſelten der
Feuerwaffen bedienen, greifen das Krokodil mit Lanzen an,
ſobald es an ſtarken, ſpitzen eiſernen Haken, auf die Fleiſch ge-
ſteckt iſt und die mit einer Kette an einem Baumſtamm befeſtigt
ſind, angebiſſen hat. Man geht dem Tier erſt dann zu Leibe,
wenn es ſich lange abgemüht hat, um vom Eiſen, das ihm
in der oberen Kinnlade ſteckt, loszukommen. Es iſt nicht
wahrſcheinlich, daß man es je dahin bringt, das Land
von Krokodilen zu ſäubern, da aus einem Labyrinth zahlloſer
Flüſſe Tag für Tag neue Schwärme vom Oſtabhang der Anden
über den Meta und den Apure an die Küſten von Spaniſch-
Guyana herabkommen. Mit dem Fortſchritt der Kultur wird
man es nur dahin bringen, daß die Tiere ſcheuer werden und
leichter zu verſcheuchen ſind.
Man erzählt rührende Fälle, wo afrikaniſche Sklaven
ihr Leben aufs Spiel ſetzten, um ihren Herren das Leben zu
retten, die in den Rachen eines Krokodils geraten waren.
Vor wenigen Jahren ergriff zwiſchen Uritucu und der Miſſion
de abaxo in den Llanos von Calabozo ein Neger auf das
Geſchrei ſeines Herrn ein langes Meſſer (machete) und
ſprang in den Fluß. Er ſtach dem Tiere die Augen aus
und zwang es ſo, ſeine Beute fahren zu laſſen und ſich
unter dem Waſſer zu verbergen. Der Sklave trug ſeinen
ſterbenden Herrn ans Ufer, aber alle Verſuche, ihn wieder zum
Leben zu bringen, blieben fruchtlos; er war ertrunken, denn
ſeine Wunden waren nicht tief. Das Krokodil ſcheint, wie
der Hund, beim Schwimmen die Kinnladen nicht feſt zu
ſchließen. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß die Kinder
des Verſtorbenen, obgleich ſie ſehr arm waren, dem Sklaven
die Freiheit ſchenkten.
Für die Anwohner des Orinoko und ſeiner Nebenflüſſe
ſind die Gefahren, denen ſie ausgeſetzt ſind, ein Gegenſtand
der täglichen Unterhaltung. Sie haben die Sitten des Kroko-
dils beobachtet, wie der Torero die Sitten des Stieres.
Sie wiſſen die Bewegungen des Tieres, ſeine Angriffsmittel,
den Grad ſeiner Keckheit gleichſam voraus zu berechnen. Sehen
ſie ſich angegriffen, ſo greifen ſie mit der Geiſtesgegenwart
und Entſchloſſenheit, die den Indianern, den Zambos, über-
haupt den Farbigen eigen ſind, zu all den Mitteln, die man
ſie von Kindheit auf kennen gelehrt. In Ländern, wo die
[156] Natur ſo gewaltig und furchtbar erſcheint, iſt der Menſch be-
ſtändig gegen die Gefahr gerüſtet. Wir haben oben erwähnt,
was das junge indianiſche Mädchen ſagte, das ſich ſelbſt aus
dem Rachen des Krokodils losgemacht: „Ich wußte, daß es
mich fahren ließ, wenn ich ihm die Finger in die Augen
drückte.“ Dieſes Mädchen gehörte der dürftigen Volksklaſſe
an, wo die Gewöhnung an phyſiſche Not die moraliſche Kraft
ſteigert; es iſt aber wahrhaft überraſchend, wenn man in von
ſchrecklichen Erdbeben zerrütteten Ländern, auf der Hochebene
von Quito, Frauen aus den höchſten Geſellſchaftsklaſſen im
Augenblick der Gefahr dieſelbe Kaltblütigkeit, dieſelbe über-
legte Entſchloſſenheit entwickeln ſieht.
Ich gebe zum Beleg dafür nur ein Beiſpiel. Als am
4. Februar 1797 36000 Indianer in wenigen Minuten ihren
Tod fanden, rettete eine junge Mutter ſich und ihre Kinder
dadurch, daß ſie im Augenblick, wo der geborſtene Boden ſie
verſchlingen wollte, ihnen zurief, die Arme auszuſtrecken. Als
man gegen das mutige Weib Verwunderung über eine ſo
außerordentliche Geiſtesgegenwart äußerte, erwiderte ſie ganz
einfach: „Ich habe von Jugend auf gehört: überraſcht dich
das Erdbeben im Hauſe, ſo ſtelle dich unter die Verbindungs-
thür zwiſchen zwei Zimmern; biſt du im Freien und fühlſt
du, daß der Boden unter dir ſich aufthut, ſo ſtrecke beide
Arme aus und ſuche dich an den Rändern der Spalte zu
halten.“ So iſt der Menſch in dieſen wilden oder häufigen
Zerrüttungen unterworfenen Ländern gerüſtet, den Tieren des
Waldes entgegenzutreten, ſich aus dem Rachen der Krokodile
zu befreien, ſich aus dem Kampfe der Elemente zu retten.
So oft in ſehr heißen und naſſen Jahren bösartige
Fieber in Angoſtura herrſchen, ſtreitet man darüber, ob die
Regierung wohl gethan, die Stadt von Vieja Guyana
an den Engpaß zwiſchen der Inſel Maruanta und dem
Einfluß des Rio Orocopiche zu verlegen. Man behauptet,
der alten Stadt ſeien, da ſie näher an der See gelegen, die
kühlen Seewinde mehr zu gute gekommen, und die große
Sterblichkeit, die dort geherrſcht, ſei nicht ſowohl örtlichen Ur-
ſachen als der Lebensweiſe der Einwohner zuzuſchreiben ge-
weſen. An den fruchtbaren, feuchten Ufern des Orinoko unter-
halb des Einfluſſes des Carony wachſen in überſchwenglicher
Menge Waſſermelonen (Patillas), Bananen und Papayas. 1
[157] Dieſe Früchte wurden roh gegeſſen, ſogar unreif, und da das
Volk dem Genuß geiſtiger Getränke übermäßig ergeben war,
ſo nahm infolge dieſer unordentlichen Lebensweiſe die Volks-
zahl Jahr um Jahr ab. In den Archiven von Caracas liegen
eine Menge Schriften, die davon handeln, daß die jeweilige
Hauptſtadt von Guyana notwendig verlegt werden müſſe.
Nach den mir mitgeteilten Aktenſtücken ſchlug man bald vor,
wieder in die Fortaleza, das heißt nach Vieja Guyana
zu ziehen, bald die Hauptſtadt ganz nahe an der großen Mün-
dung des Orinoko (45 km weſtwärts vom Kap Barima, am
Einfluß des Rio Acquire) anzulegen, bald ſie 112 km unter-
halb Angoſtura auf die Savanne zu ſtellen, auf der das Dorf
San Miguel liegt. Es war allerdings eine engherzige Politik,
wenn die Regierung glaubte, „zur beſſeren Verteidigung der
Provinz den Hauptort in der ungeheuren Entfernung von
382 km von der See anlegen zu müſſen und auf dieſer
Strecke keine Stadt erbauen zu dürfen, die den Einfällen des
Feindes bloßgeſtellt wäre“. Zu dem Umſtand, daß europäiſche
Fahrzeuge den Orinoko ſehr ſchwer bis Angoſtura hinauf-
kommen (weit ſchwerer als auf dem Potomac bis Waſhington),
kommt noch der andere für die Agrikulturinduſtrie ſehr nach-
teilige, daß der Mittelpunkt des Handels oberhalb der Stelle
liegt, wo die Ufer des Stromes den Fleiß des Koloniſten am
meiſten lohnen. Es iſt nicht einmal richtig, daß die Stadt
Angoſtura oder Santo Tome de la Nueva Guyana da an-
gelegt worden, wo im Jahr 1764 das bebaute Land anfing;
damals wie jetzt war die Hauptmaſſe der Bevölkerung von
Guyana in den Miſſionen der kataloniſchen Kapuziner zwiſchen
den Flüſſen Carony und Cuyuni. Nun iſt aber dieſes Ge-
biet, das wichtigſte in der ganzen Provinz, wo ſich der Feind
Hilfsmittel aller Art verſchaffen kann, eben durch Vieja
Guyana geſchützt — oder man nimmt dies doch an — in
keiner Weiſe aber durch die Werke der neuen Stadt Angoſtura.
Die in Vorſchlag gebrachte Stelle bei San Miguel liegt
ein Stück oſtwärts vom Einfluß des Carony, alſo zwiſchen der
See und dem bevölkertſten Landſtriche. Legt man den Haupt-
ort der Provinz noch weiter unten, ganz nahe am Ausfluß
des Orinoko an, wie de Pons will, ſo hat man weniger von
der Nähe der Kariben zu beſorgen, die man ſich leicht vom
Leibe hielte, als vom Umſtand, daß der Feind über die kleinen
weſtlichen Mündungen des Orinoko, die Caños Macareo und
Manamo, den Platz umgehen und in das Innere der Provinz
[158] vordringen könnte. Bei einem Fluſſe, deſſen Delta ſchon
205 km von der See den Anfang nimmt, kommen, wenn es
ſich von der Anlage einer großen Stadt handelt, zwei Inter-
eſſen ins Spiel, die militäriſche Verteidigung und die Rück-
ſicht auf Handel und Ackerbau. Der Handel verlangt, daß
die Stadt ſo nahe als möglich bei der großen Mündung, der
Boca de Navios liege; aus dem Geſichtspunkt der militäriſchen
Sicherung ſtände ſie beſſer oberhalb des Beginns des Deltas,
weſtlich vom Punkt, wo der Caño Manamo vom Hauptſtrome
abgeht und durch mannigfache Verzweigungen mit den acht
kleinen Mündungen (Bocas chicas) zwiſchen der Inſel Cang-
rejos und der Mündung des Rio Guarapiche in Verbindung
ſteht. Die Lage von Vieja wie von Nueva Guyana entſpricht
der letzteren Bedingung. Die der alten Stadt hat noch den
weiteren Vorteil, daß ſie in gewiſſem Grade die ſchönen Nie-
derlaſſungen der kataloniſchen Kapuziner am Carony deckt.
Man könnte dieſelben angreifen, wenn man vom rechten Ufer
des Brazo Imataca ans Land ginge; aber die Mündung
des Carony, in der die Pirogen die Unruhe des Waſſers von
den nahen Katarakten her (Salto de Carony) ſpüren, iſt durch
die Werke von Altguyana verteidigt.
Ich bin bei dieſer Erörterung ins einzelne gegangen,
weil dieſe dünn bevölkerten Länder durch die politiſchen Er-
eigniſſe in neueſter Zeit große Wichtigkeit erhalten haben.
Ich habe die verſchiedenen Pläne beſprochen, ſoweit ich bei
meiner Lage und meinem Verhältnis zur ſpaniſchen Regierung
die Oertlichkeiten am unteren Orinoko habe kennen lernen.
Es iſt Zeit, daß man der in den ſpaniſchen und portugieſi-
ſchen Kolonieen herrſchenden Sucht, Städte zu verſetzen wie
Nomadenlager, entgegentritt. Nicht als ob die Gebäude in
Angoſtura zu bedeutend und zu feſt wären, als daß man an
eine Zerſtörung der Stadt denken könnte; bei ihrer Lage am
Fuße eines Felſens ſcheint ſie ſich ſchwer weiter ausdehnen
zu können; aber trotz dieſer Uebelſtände läßt man doch lieber
ſtehen, was ſeit fünfzig Jahren gediehen iſt. Unmerklich ver-
knüpft ſich mit der Exiſtenz einer Hauptſtadt, ſo klein ſie auch
ſein mag, das Bewußtſein geſicherter öffentlicher Zuſtände,
und wenn das Handelsintereſſe eine teilweiſe Abänderung
durchaus verlangt, ſo könnte man ja ſpäter, während Ango-
ſtura der Sitz der Verwaltung und der Mittelpunkt der Ge-
ſchäfte bliebe, näher an der großen Mündung des Orinoko
einen anderen Hafen anlegen. So iſt ja Guayra der Stapel-
[159] platz von Caracas, und ſo mag eines Tages Veracruz der
Hafen von Xalapa werden. Die Fahrzeuge aus Europa und
aus den Vereinigten Staaten, die mehrere Monate in dieſen
Strichen verweilen, könnten, wenn ſie wollten, bis Angoſtura
hinauf gehen, die anderen nähmen ihre Ladung im Hafen
zunächſt der Punta Barima ein, wo ſich in Friedenszeit die
Magazine, die Seilerbahnen und die Werfte befänden. Zur
Deckung des Landes zwiſchen der Hauptſtadt und dem Stapel-
platz oder dem Puerto de la Boca grande gegen einen feind-
lichen Einfall befeſtigte man die Ufer des Orinoko nach einem
dem Terrain angepaßten Verteidigungsſyſtem, etwa bei Ima-
taca oder Zacupana, bei Barrancas oder San Rafael (an
der Stelle, wo der Caño Manama vom Hauptſtrom abgeht),
bei Vieja Guyana, bei der Inſel Faxardo (dem Einfluß des
Carony gegenüber) und beim Einfluß des Mamo. In dieſe
Werke, die ohne große Koſten zu beſchaffen wären, flüchteten
ſich auch die Kanonierſchaluppen, die an den Punkten ſtatio-
niert ſind, welche die feindlichen Fahrzeuge, wenn ſie gegen
die Strömung heraufſegeln, in Sicht haben müſſen, um neue
Schläge zu machen. Dieſe Verteidigungsmittel ſcheinen mir
um ſo dringender geboten, da ſie nur zu lange vernachläſſigt
worden ſind.1
Die Nordküſten von Südamerika ſind größtenteils durch
eine Bergkette gedeckt, die von Weſt nach Oſt ſtreichend zwi-
ſchen dem Uferſtrich und den Llanos von Neuandaluſien, Bar-
celona, Venezuela und Varinas liegt. Dieſe Küſten haben
die Aufmerkſamkeit des Mutterlandes wohl zu ausſchließlich
in Anſpruch genommen: dort liegen ſechs feſte Plätze mit
ſchönem, zahlreichem Geſchütz, nämlich Cartagena, San Carlos
de Maracaybo, Porto Cabello, La Guayra, der Moro de Nueva
Barcelona und Cumana. Die Oſtküſten von Spaniſch-Amerika,
die von Guyana und Buenos Ayres ſind niedrig und ohne
Schutz; einem unternehmenden Feinde fällt es nicht ſchwer,
ins Innere des Landes bis zum Oſtabhange der Kordilleren
von Neugranada und Chile vorzudringen. Die Richtung des
[160] Rio de la Plata, 1 der durch den Uruguay, Parana und Pa-
raguay gebildet wird, nötigt das angreifende Heer, wenn es
oſtwärts vordringen will, über die Steppen (Pampas) bis
Cordova oder Mendoza zu ziehen; aber nördlich vom Aequa-
tor, in Spaniſch-Guyana bietet der Lauf des Orinoko 2 und
ſeiner beiden großen Nebenflüſſe Apure und Meta in der
Richtung eines Parallelkreiſes eine Waſſerſtraße, auf der ſich
Munition und Lebensmittel leicht fortbringen laſſen. Wer
Herr von Angoſtura iſt, dringt nach Gefallen nordwärts in
die Steppen von Cumana, Barcelona und Caracas, nordweſt-
wärts in die Provinz Varinas, weſtwärts in die Provinzen
am Caſanare bis an den Fuß der Gebirge von Pamplona,
Tunja und Santa Fé de Bogota vor. Zwiſchen der Provinz
Spaniſch-Guyana und dem reichen, ſtark bevölkerten, gut an-
gebauten Uferſtriche liegen nur die Niederungen am Orinoko,
Apure und Meta. Die feſten Plätze (Cumana, La Guayra
und Porto Cabello) ſchützen dieſe Länder kaum vor einer
Landung an der Nordküſte. An dieſen Angaben über die
Bodenbildung und die gegenwärtige Verteilung der feſten
Punkte mag es genügen. Man erſieht daraus wohl hinläng-
lich, daß zur politiſchen Sicherung der vereinigten Provinzen
Caracas und Neugranada eine Deckung der Orinokomündungen
unumgänglich iſt, und daß Spaniſch-Guyana, obgleich kaum
urbar gemacht und ſo dünn bevölkert, im Kampfe zwiſchen
den Kolonieen und dem Mutterlande eine große Bedeutung
erlangt. Dieſe militäriſche Bedeutung des Landes erkannte
der berühmte Ralegh ſchon vor 200 Jahren. Im Berichte
über ſeine erſte Expedition kommt er öfters darauf zurück, wie
leicht es der Königin Eliſabeth wäre, „auf dem Orinoko und
den zahlloſen Flüſſen, die ſich in denſelben ergießen“, einen
großen Teil der ſpaniſchen Kolonieen zu erobern. Wir haben
oben angeführt, daß Girolamo Benzoni im Jahre 1545 die
Revolutionen auf San Domingo, „das in kurzem Eigentum
der Schwarzen werden müſſe“, vorherſagte. Hier finden wir
in einem Werke, das 1596 erſchien, einen Feldzugsplan, der
ſich durch Ereigniſſe der jüngſten Zeit als ganz richtig er-
wieſen hat.
In den erſten Jahren nach der Gründung ſtand die
Stadt Angoſtura in keinem unmittelbaren Verkehr mit dem
[161] Mutterlande. Die Einwohner beſchränkten ſich darauf, dürres
Fleiſch und Tabak auf die Antillen und über den Rio Cayuni
in die holländiſche Provinz am Eſſequibo zu ſchmuggeln.
Man erhielt unmittelbar aus Spanien weder Wein, noch Oel,
noch Mehl, die drei geſuchteſten Einfuhrartikel. Im Jahre 1771
ſchickten einige Handelsleute die erſte Goelette nach Cadiz,
und ſeitdem wurde der direkte Tauſchhandel mit den anda-
luſiſchen und kataloniſchen Häfen ſehr lebhaft. Seit 1785
nahm die Bevölkerung von Angoſtura, 1 nachdem ſie lange ſehr
zurückgeblieben war, ſtark zu, indeſſen war ſie bei meinem
Aufenthalte in Guyana noch weit hinter der Bevölkerung der
nächſten engliſchen Stadt Stabrock zurück. Die Mündungen
des Orinoko haben etwas vor allen Häfen von Terra Firma
voraus: man verkehrt aus denſelben am raſcheſten mit der
ſpaniſchen Halbinſel. Man fährt zuweilen von Cadiz zur
Punta Barima in 18 bis 20, und nach Europa zurück in
30 bis 35 Tagen. Da dieſe Mündungen unter dem Winde
aller Inſeln liegen, ſo können die Schiffe von Angoſtura einen
vorteilhafteren Verkehr mit den Kolonieen auf den Antillen
unterhalten als Guayra und Porto Cabello. Die Handelsleute
in Caracas ſehen daher auch immer mit eiferſüchtigen Blicken
auf die Fortſchritte der Induſtrie in Spaniſch-Guyana, und
da Caracas bisher der höchſte Regierungsſitz war, ſo wurde
der Hafen von Angoſtura noch weniger begünſtigt als die
Häfen von Cumana und Nueva Barcelona. Der innere Ver-
kehr iſt am lebhafteſten mit der Provinz Varinas. Aus der-
ſelben kommen nach Angoſtura Maultiere, Kakao, Indigo,
Baumwolle und Zucker, und ſie erhält dafür „Generos“, das
heißt europäiſche Manufakturprodukte. Ich ſah lange Fahr-
zeuge (Lanchas) abgehen, deren Ladung auf 8000 bis
10000 Piaſter geſchätzt wurde. Dieſe Fahrzeuge fahren zuerſt
den Orinoko bis Cabruta, dann den Apure bis San Vicente,
endlich den Rio Santo Domingo bis Torunos hinauf, welches
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 11
[162] der Stapelplatz von Varinas Nuevas iſt. Die kleine Stadt
San Fernando de Apure, die ich oben beſchrieben, dient als
Niederlage bei dieſem Flußhandel, der durch die Einführung
der Dampfſchiffahrt noch weit bedeutender werden kann.
Das linke Ufer des Orinoko und alle Mündungen des
Stromes, mit Ausnahme der Boca de Navios, gehören zu der
Provinz Cumana. Dieſer Umſtand hat ſchon lange Anlaß
zum Projekt gegeben, Angoſtura gegenüber (da wo gegenwärtig
die Batterie San Rafael ſteht) eine neue Stadt zu gründen,
um vom Gebiete der Provinz Cumana ſelbſt, und ohne über
den Orinoko ſetzen zu müſſen, die Maultiere und das dürre
Fleiſch der Llanos ausführen zu können. Kleinliche Eifer-
ſüchteleien, wie ſie immer zwiſchen zwei benachbarten Regie-
rungen im Schwange ſind, werden dieſem Plane Vorſchub
leiſten; aber beim gegenwärtigen Zuſtande des Ackerbaues im
Lande iſt zu wünſchen, daß er noch lange vertagt bleibt.
Warum ſollte man an den Ufern des Orinoko zwei kon-
kurrierende Städte bauen, die kaum 780 m auseinander lägen?
Ich habe im bisherigen das Land beſchrieben, das wir
auf einer 2250 km langen Flußfahrt durchzogen; es bleibt
jetzt nur noch das kleine 3,52 Längengrade betragende Stück
zwiſchen der gegenwärtigen Hauptſtadt und der Mündung des
Orinoko übrig. Eine genaue Kenntnis des Deltas und des
Laufes des Rio Carony iſt für die Hydrographie und den
europäiſchen Handel von gleichem Belange. Um den Flächen-
raum und die Bildung eines von Flußarmen durchſchnittenen
und periodiſchen Ueberſchwemmungen unterworfenen Landes
beurteilen zu können, hatte ich die aſtronomiſche Lage der
Punkte, wo die Spitze und die äußerſten Arme des Deltas
liegen, zu ermitteln. Churruca, der mit Don Juaquin Fidalgo
den Auftrag hatte, die Nordküſten von Terra Firma und die
Antillen aufzunehmen, hat Länge und Breite der Boca de
Manamo, der Punta Baxa und von Vieja Guyana beſtimmt.
Aus Eſpinoſas Denkſchriften kennen wir die wahre Lage der
Punta Barima, und ich glaube daher, wenn ich nach den
Punkten Puerto Eſpaña auf der Inſel Trinidad und dem
Schloſſe San Antonio bei Cumana (Punkten, welche durch
meine eigenen Beobachtungen und durch Oltmanns ſcharf-
ſinnige Unterſuchungen gegeben ſind) eine Reduktion vornehme
und dadurch die abſoluten Längen näher beſtimme, hinlänglich
genaue Angaben machen zu können. Es iſt wünſchenswert,
daß einmal auf einer ununterbrochenen Fahrt auf chrono-
[163] metriſchem Wege die Meridianunterſchiede zwiſchen Puerto
Eſpaña und den kleinen Mündungen des Orinoko, zwiſchen
San Rafael (der Spitze des Deltas) und Santo Tome de
Angoſtura beſtimmt werden.
Die ganze Oſtküſte von Südamerika vom Kap San
Roque, und beſonders vom Hafen von Maranham bis zum
Gebirgsſtock von Paria iſt ſo niedrig, daß, nach meiner An-
ſicht, das Delta des Orinoko und ſeine Bodenbildung nicht
wohl den Anſchwemmungen eines Stromes zugeſchrieben
werden kann. Ich will nach der Ausſage der Alten nicht in
Abrede ziehen, daß das Nildelta einſt ein Buſen des Mittel-
meers war, der allmählich durch Anſchwemmung ausgefüllt
wurde. Es begreift ſich leicht, daß ſich an der Mündung
aller großen Ströme da, wo die Geſchwindigkeit der Strö-
mung raſch abnimmt, eine Bank, ein Eiland bildet, daß ſich
Material abſetzt, das nicht weiter geſchwemmt werden kann.
Es iſt ebenſo begreiflich, daß der Fluß, da er um dieſe Bank
herum muß, ſich in zwei Arme ſpaltet, und daß die An-
ſchwemmungen, da ſie an der Spitze des Deltas einen Stütz-
punkt finden, ſich immer weiter ausbreiten, während die Fluß-
arme auseinander weichen. Der Vorgang bei der erſten
Gabelung wiederholt ſich bei jedem einzelnen Stromſtücke, ſo
daß die Natur durch denſelben Prozeß ein Labyrinth kleiner ge-
gabelter Kanäle hervorbringen kann, die ſich im Laufe der
Jahrhunderte, je nach der Stärke und der Richtung der Hoch-
gewäſſer, ausfüllen oder vertiefen. Auf dieſe Weiſe hat ſich
unzweifelhaft der Hauptſtamm des Orinoko 112 km weſtwärts
von der Boca de Navios in zwei Arme, den von Zacupana
und den von Imataca, geteilt. Das Netz kleinerer Zweige
dagegen, die gegen Nord vom Fluſſe abgehen und deren Mün-
dungen Bocas chicas (die kleinen Mündungen) heißen, ſcheint
mir eine Erſcheinung, die ganz mit der Bildung der Delta
von Nebenflüſſen übereinkommt. Wenn mehrere hundert
Kilometer von der Küſte ein Fluß (z. B. der Apure oder
Jupura) ſich mittels einer Menge von Zweigen mit einem
anderen Fluſſe verbindet, ſo ſind dieſe mannigfachen Gabelungen
nur Rinnen in einem völlig ebenen Boden. Ebenſo verhält es
ſich mit den ozeaniſchen Delta überall, wo bei allgemeinen
Ueberflutungen in Zeiten, bevor Orinoko und Amazonenſtrom
beſtanden, die Küſten mit erdigen Niederſchlägen bedeckt wur-
den. Ich bezweifle, daß alle ozeaniſchen Delta einſt Meer-
buſen, oder, wie einige neuere Geographen ſich ausdrücken,
[164]negative Delta waren. Wenn einmal die Mündungen
des Ganges, des Indus, des Senegal, der Donau, des Ama-
zonenſtromes, des Orinoko und des Miſſiſſippi geologiſch ge-
nauer unterſucht ſind, wird ſich zeigen, daß nicht alle denſelben
Urſprung haben, man wird dann zwiſchen Küſten unterſchei-
den, die infolge der ſich häufenden Anſchwemmungen raſch in
die See hinaus vorrücken, und Küſten, die ſich innerhalb des
allgemeinen Umriſſes der Kontinente halten; man wird unter-
ſcheiden zwiſchen einem, von einem gegabelten Strome ge-
bildeten Landſtriche, und den von ein paar Seitenarmen durch-
zogenen Niederungen, die zu einem aufgeſchwemmten Lande
gehören, das mehrere tauſend Quadratmeilen Flächenraum hat.
Das Delta des Orinoko zwiſchen der Inſel Cangrejos
und der Boca de Manamo (der Landſtrich, wo die Guaraunen
wohnen) läßt ſich mit der Inſel Marajo oder Joanes an der
Mündung des Amazonenſtromes vergleichen. Dort liegt das
aufgeſchwemmte Land nördlich, hier ſüdlich vom Hauptſtamme
des Stromes. Aber die Inſel Joanes ſchließt ſich nach ihrer
Form der allgemeinen Bodenbildung in der Provinz Maranhãõ
gerade ſo an, wie die Küſte bei den Bocas chicas des Orinoko
den Küſten am Rio Eſſequibo und am Meerbuſen von Paria.
Nichts weiſt darauf hin, daß einmal letzterer Meerbuſen ſüd-
wärts von der Boca de Manamo bis Vieja Guyana ins
Land hinein gereicht oder daß der Amazonenſtrom die ganze
Bucht zwiſchen Villa Viſtoſa und Gran Para mit ſeinen Ge-
wäſſern gefüllt hat. Nicht alles, was an den Flüſſen liegt,
iſt ihr Werk. Meiſt haben ſie ſich in aufgeſchwemmtem Lande
ein Bett gegraben, aber dieſe Anſchwemmungen ſind von
höherem geologiſchem Alter, hängen mit den großen Umwäl-
zungen zuſammen, die unſer Planet erlitten. Es iſt zu er-
mitteln, ob zwiſchen den gegabelten Zweigen eines Fluſſes
der Schlick nicht auf einer Schicht von Geſchieben liegt, wie
man ſie ſehr weit vom fließenden Waſſer findet. Die Arme
des Orinoko weichen auf 87 km auseinander; es iſt dies die
Breite des ozeaniſchen Deltas zwiſchen Punta Barima und
der am weiteſten nach Weſt gelegenen Boca chica. Dieſer
Landſtrich iſt bis jetzt nicht genau aufgenommen, und ſo kennt
man auch nicht die Zahl der Mündungen. Nach der ge-
meinen Annahme hat der Orinoko ihrer ſieben, und dies er-
innert an die im Altertume ſo berufenen septem ostia Nili.
Aber das ägyptiſche Delta war nicht immer auf dieſe Zahl
beſchränkt, und an den überſchwemmten Küſten von Guyana
[165] kann man wenigſtens elf ganz anſehnliche Mündungen zählen.
Nach der Boca de Navios, welche die Schiffer nach der Punta
Barima erkennen, ſind vom größten Werte für die Schiffahrt
die Bocas Mariuſas, Macareo, Pedernales und Manamo
grande. Der Strich des Deltas weſtwärts von der Boca
Macareo wird von den Gewäſſern des Meerbuſens von Paria
oder Golfo triste beſpült. Dieſes Becken wird durch die Oſt-
küſte der Provinz Cumana und die Weſtküſte der Inſel
Trinidad gebildet; es ſteht mit dem Meere der Antillen durch
die vielberufenen Bocas de Dragos (Mündungen des Drachen)
in Verbindung, welche die Küſtenpiloten ſeit Chriſtoph Ko-
lumbus’ Zeit ziemlich uneigentlich als die Mündungen des
Orinoko betrachten.
Will ein Schiff von der hohen See her in die Haupt-
mündung des Orinoko, die Bocas de Navios einlaufen, ſo
muß es die Punta Barima in Sicht bekommen. Das rechte,
ſüdliche Ufer iſt das höhere; es kommt auch nicht weit davon
landeinwärts, zwiſchen dem Caño Barima, dem Aquire und
dem Cuyuni, das Granitgeſtein auf dem moraſtigen Boden
zu Tage. Das linke oder nördliche Stromufer, welches über
das Delta bis zur Boca de Mariuſas und der Punta Baxa
läuft, iſt ganz niedrig; man erkennt es von weitem nur an
den Gruppen von Mauritiapalmen, welche die Landſchaft
zieren. Der Baum iſt der Sagobaum dieſes Landſtriches; 1
man gewinnt daraus das Mehl zum Yurumabrote, und
[166] die Mauritia iſt keineswegs eine „Küſtenpalme“, wie Chamae-
rops humilis, wie der gemeine Kokosbaum und Commerſons
Lodoicea, ſondern geht, als „Sumpfpalme“, bis zu den
Quellen des Orinoko hinauf. Während der Ueberſchwem-
mungen nehmen ſich dieſe Mauritiabüſche wie ein Wald aus,
der aus dem Waſſer taucht. Der Schiffer, wenn er bei Nacht
durch die Kanale des Orinokodeltas fährt, ſieht mit Ueber-
raſchung die Wipfel der Palmen von großen Feuern beleuchtet.
Dies ſind die an den Baumäſten aufgehängten Wohnungen
der Guaraunen (Raleghs Tivitiva und Uaraueti). Dieſe
Völkerſchaften ſpannen Matten in der Luft aus, füllen ſie
mit Erde und machen auf einer befeuchteten Thonſchicht ihr
Haushaltungsfeuer an. Seit Jahrhunderten verdanken ſie
ihre Freiheit und politiſche Unabhängigkeit dem unfeſten,
ſchlammigen Boden, auf dem ſie in der trockenen Jahreszeit
umherziehen und auf dem nur ſie ſicher gehen können, ihrer
Abgeſchiedenheit auf dem Delta des Orinoko, ihrem Leben
auf den Bäumen, wohin religiöſe Schwärmerei ſchwerlich je
amerikaniſche Styliten1 treibt.
Ich habe ſchon anderswo bemerkt, daß die Mauritiapalme,
der „Lebensbaum“ der Miſſionäre, den Guaraunen nicht nur beim
Hochwaſſer des Orinoko eine ſichere Behauſung bietet, ſondern
ihnen in ſeinen ſchuppigen Früchten, in ſeinem mehligen Staube,
in ſeinem zuckerreichen Safte, endlich in den Faſern ſeiner Blatt-
ſtiele Nahrungsmittel, Wein und Schnüre zu Stricken und Hänge-
matten gibt. Gleiche Gebräuche wie bei den Indianern auf
dem Delta des Orinoko herrſchten früher im Meerbuſen von
Darien (Uraba) und auf den meiſten zeitweiſe unter Waſſer
ſtehenden Landſtrichen zwiſchen dem Guarapiche und der Mün-
dung des Amazonenſtromes. Es iſt ſehr merkwürdig, auf der
niedrigſten Stufe menſchlicher Kultur das Leben einer ganzen
Völkerſchaft an eine einzige Palmenart gekettet zu ſehen, In-
ſekten gleich, die ſich nur von einer Blüte, vom ſelben Teile
eines Gewächſes nähren.
Es iſt nicht zu verwundern, daß die Breite der Haupt-
[167] mündung des Orinoko (Boca de Navios) ſo verſchieden ge-
ſchätzt wird. Die große Inſel Cangrejos iſt nur durch einen
ſchmalen Kanal von dem unter Waſſer ſtehenden Boden ge-
trennt, der zwiſchen den Bocas Nuina und Mariuſas liegt,
ſo daß 37 oder 25 km herauskommen, je nachdem man (in
einer der Strömung entgegengeſetzten Richtung) von der Punta
Barima zum nächſten gegenüberliegenden Ufer, oder von der-
ſelben Punta zum öſtlichen Teile der Inſel Cangrejos mißt.
Ueber die Waſſerſtraße läuft eine Sandbank, eine Barre, in
5,5 m Tiefe; man gibt derſelben eine Breite von 4870 bis
5450 m. Wie beim Amazonenſtrome, beim Nil und allen
Flüſſen, die ſich in mehrere Arme teilen, iſt auch beim Ori-
noko die Mündung nicht ſo groß, als man nach der Länge
ſeines Laufes und nach der Breite, die er noch mehrere hun-
dert Kilometer weit im Lande hat, vermuten ſollte. Man
weiß nach Malaſpinas Aufnahme, daß der Rio de la Plata
von Punta del Eſte bei Maldonado bis zum Cabo San An-
tonio über 187 km breit iſt; fährt man aber nach Buenos
Ayres hinauf, ſo nimmt die Breite ſo raſch ab, daß ſie
Colonia del Sacramento gegenüber nur noch 39 km beträgt.
Was man gemeiniglich die Mündung des Rio de la Plata
heißt, iſt eben ein Meerbuſen, in den ſich der Uruguay und
der Parana ergießen, zwei Flüſſe, die nicht ſo breit ſind wie
der Orinoko. Um die Größe der Mündung des Amazonen-
ſtromes zu übertreiben, rechnet man die Inſeln Marajo und
Caviana dazu, ſo daß von Punta Tigioca bis zu Cabo del
Norte die ungeheure Breite von 3 ½° oder 315 km heraus-
kommt; betrachtet man aber näher das hydrauliſche Syſtem
des Kanals Tagypuru, des Rio Tocantins, des Amazonen-
ſtromes und des Araguari, die ihre ungeheuren Waſſermaſſen
vereinigen, ſo ſieht man, daß dieſe Schätzung rein aus der
Luft gegriffen iſt. Zwiſchen Macapa und dem weſtlichen
Ufer der Inſel Marajo (Ilha de Joanes) iſt der eigentliche
Amazonenſtrom in zwei Arme geteilt, die zuſammen nur
49,5 km breit ſind. Weiter unten läuft das Nordufer der
Inſel Marajo in der Richtung eines Parallels fort, während
die Küſte von portugieſiſch Guyana zwiſchen Macapa und
Cabo del Norte von Süd nach Nord ſtreicht. So kommt
es, daß der Amazonenſtrom bei den Inſeln Maxiana und
Caviana, da wo die Gewäſſer des Stromes und die des
Atlantiſchen Ozeans zuerſt aufeinander ſtoßen, einen gegen
74 km breiten Meerbuſen bildet. Der Orinoko ſteht noch
[168] mehr hinſichtlich der Länge des Laufes als der Breite im
Binnenlande dem Amazonenſtrome nach, er iſt ein Fluß
zweiter Ordnung; man darf aber nicht vergeſſen, daß alle
dieſe Einteilungen nach der Länge des Laufes oder der Breite
der Mündungen ſehr willkürlich ſind. Die Flüſſe der britan-
niſchen Inſeln laufen in Meerbuſen oder Süßwaſſerſeen aus,
in denen durch die Ebbe und Flut des Meeres die Waſſer
periodiſch hin und her getrieben werden; ſie weiſen uns deut-
lich darauf hin, daß man die Bedeutung eines hydrauliſchen
Syſtemes nicht einzig nach der Breite der Mündungen ſchätzen
darf. Jede Vorſtellung von relativer Größe iſt ſchwan-
kend, ſolange man nicht durch Meſſung der Geſchwindigkeit
und des Flächenraumes von Querſchnitten die Waſſermaſſen
vergleichen kann. Leider ſind Aufnahmen derart an Be-
dingungen geknüpft, die der einzelne Reiſende nicht erfüllen
kann. So muß man das ganze Flußbett ſondieren können,
und zwar in verſchiedenen Jahreszeiten. Da ſcheinbar ſehr
breite Flüſſe meiſt nicht ſehr tiefe, von mehreren parallelen
Rinnen durchzogene Becken ſind, ſo führen ſie auch weit
weniger Waſſer, als man auf den erſten Blick glaubt. Zwi-
ſchen dem Maximum und dem Minimum des Waſſerſtandes
während der großen Ueberſchwemmungen und in der trockenen
Jahreszeit kann die Waſſermaſſe um das Fünfzehn- bis Zwanzig-
fache größer oder kleiner ſein.
Sobald man Punta Barima umſegelt hat und in das
Bett des Orinoko ſelbſt eingelaufen iſt, findet man dieſes
nur 5850 m breit. Höhere Angaben beruhen auf dem Ver-
ſehen, daß die Steuerleute den Fluß auf einer Linie meſſen,
die nicht ſenkrecht auf die Richtung der Strömung gezogen
iſt. Die Inſel Cangrejos zu befeſtigen, bei der das Waſſer
7,8 bis 9,75 m tief iſt, wäre unnütz; die Fahrzeuge wären
hier außerhalb Kanonenſchußweite. Das Labyrinth von Ka-
nälen, die zu den kleinen Mündungen führen, wechſelt Tag
für Tag nach Geſtalt und Tiefe. Viele Steuerleute ſind der
feſten Anſicht, die Caños Cocuina, Pedernales und Macareo,
durch welche der Küſtenhandel mit der Inſel Trinidad ge-
trieben wird, ſeien in den letzten Jahren tiefer geworden und
der Strom ziehe ſich immer mehr von der Boca de Navios
weg und wende ſich mehr nach Nordweſt. Vor dem Jahre
1760 wagten ſich Fahrzeuge mit mehr als 3 bis 4 m Tief-
gang ſelten in die kleinen Kanäle des Deltas. Gegenwärtig
ſcheut man die „kleinen Mündungen“ des Orinoko faſt gar
[169] nicht mehr, und feindliche Schiffe, welche nie dieſe Striche
befahren haben, finden an den Guaraunen willige, geübte
Wegweiſer. Die Civiliſierung dieſer Völkerſchaft, deren Wohn-
ſitze ſich zum Orinoko verhalten wie die der Nhengahyba
oder Igaruana zum Amazonenſtrome, iſt für jede Regierung,
die am Orinoko Herr bleiben will, von großem Belange.
Ebbe und Flut ſind im April, beim tiefſten Waſſerſtande,
bis über Angoſtura hinauf zu ſpüren, alſo mehr als 382 km land-
einwärts. Beim Einfluſſe des Carony, 270 km von der Küſte,
ſteigt das Waſſer durch Stauung um 40 cm. Dieſe Schwin-
gungen der Waſſerfläche, dieſe Unterbrechung des Laufes ſind
nicht mit der aufſteigenden Flut zu verwechſeln. Bei der
großen Mündung des Orinoko am Kap Barima beträgt die
Fluthöhe 60 bis 92 cm, dagegen weiter gegen Nordweſt, im
Golfo triste, zwiſchen der Boca Pedernales, dem Rio Guara-
piche und der Weſtküſte von Trinidad, 2,2 bis 2,8, ſogar
9,75 m. So viel macht auf einer Strecke von 135 bis 180 km
der Einfluß des Umriſſes der Küſten aus, ſowie der Umſtand,
daß die Gewäſſer durch die Bocas de Dragos langſamer ab-
fließen. Wenn man in ganz neuen Werken angegeben findet,
der Orinoko verurſache 2 bis 3° in die hohe See hinaus be-
ſondere Strömungen, die Farbe des Seewaſſers verändere
ſich dadurch und im Golfo triste ſei ſüßes Waſſer (Gumillas
Mar dulce), ſo ſind das lauter Fabeln. Die Strömung geht
an dieſer ganzen Küſte vom Kap Orange an nach Nordweſt,
und der Einfluß der ſüßen Gewäſſer des Orinoko auf die
Stärke dieſer allgemeinen Strömung, auf die Durchſichtigkeit
und die Farbe des Meerwaſſers bei reflektiertem Lichte iſt
ſelten weiter als 13 bis 18 km nordoſtwärts von der Inſel
Cangrejos zu ſpüren. Das Waſſer im Golfo triste iſt geſalzen,
nur weniger als im übrigen Meere der Antillen wegen
der kleinen Mündungen des Orinokodeltas und der Waſſer-
maſſe, welche der Rio Guarapiche hereinbringt. Aus den-
ſelben Gründen gibt es keine Salzwerke an dieſen Küſten,
und ich habe in Angoſtura Schiffe aus Cadiz ankommen ſehen,
die Salz, ja, was für die Induſtrie in den Kolonieen be-
zeichnend iſt, Backſteine zum Bau der Hauptkirche geladen
hatten.
Den Umſtand, daß die unbedeutende Flut an der Küſte
im Bette des Orinoko und des Amazonenſtromes ſo ungemein
weit aufwärts zu ſpüren iſt, hat man bis jetzt als einen
ſicheren Beweis angeſehen, daß beide Ströme auf einer Strecke
[170] von 382 und 900 km nur um wenige Fuß fallen können.
Dieſer Beweis erſcheint aber durchaus nicht als ſtichhaltig,
wenn man bedenkt, daß die Stärke der ſich fortpflanzenden
Schwankungen im Niveau von vielen örtlichen Umſtänden
abhängig iſt, von der Form, den Krümmungen und der Zahl
der ineinander mündenden Kanäle, vom Widerſtande des
Grundes, auf dem die Flutwelle heraufkommt, vom Abprallen
des Waſſers an den gegenüberliegenden Ufern und von der
Einſchnürung des Stromes in einen Engpaß. Ein gewandter
Ingenieur, Bremontier, hat in neueſter Zeit dargethan, daß
im Bette der Garonne die Flutwellen wie auf einer geneigten
Ebene weit über das Niveau der See an der Mündung des
Fluſſes hinaufgehen. Im Orinoko kommen die ungleich hohen
Fluten von Punta Barima und vom Golfo triste in un-
gleichen Intervallen durch die große Waſſerſtraße der Boca
de Navios und durch die engen, gewundenen, zahlreichen
Bocas chicas herauf. Da dieſe kleinen Kanäle am ſelben
Punkte, bei San Rafael, vom Hauptſtamme abgehen, ſo wäre
es von Intereſſe, die Verzögerung des Eintrittes der Flut
und die Fortpflanzung der Flutwellen im Bette des Orinoko
oberhalb und unterhalb San Rafael, auf der See bei Kap
Barima und im Golfo triste bei der Boca Manamo zu beob-
achten. Die Waſſerbaukunſt und die Theorie der Bewegung
von Flüſſigkeiten in engen Kanälen müßten beide Nutzen aus
einer Arbeit ziehen, für welche der Orinoko und der Amazonen-
ſtrom beſonders günſtige Gelegenheit böten.
Bei der Fahrt auf dem Fluſſe, ob nun die Schiffe durch
die Boca de Navios einlaufen oder ſich durch das Labyrinth
der Bocas chicas wagen, ſind beſondere Vorſichtsmaßregeln
erforderlich, je nachdem das Bett voll oder der Waſſerſtand
ſehr tief iſt. Die Regelmäßigkeit, mit der der Orinoko zu
beſtimmten Zeiten anſchwillt, war von jeher für die Reiſen-
den ein Gegenſtand der Verwunderung, wie ja auch das Aus-
treten des Nils für die Philoſophen des Altertums ein
ſchwer zu löſendes Problem war. Der Orinoko und der
Nil laufen, der Richtung des Ganges, Indus, Rio de la
Plata und Euphrat entgegen, von Süd nach Nord; aber die
Quellen des Orinoko liegen um 5 bis 6° näher am Aequator
als die des Nil. Da uns die zufälligen Wechſel im Luft-
kreiſe täglich ſo ſtark auffallen, wird uns die Anſchauung
ſchwer, daß in großen Zeiträumen die Wirkungen dieſes
Wechſels ſich gegenſeitig ausgleichen ſollen, daß in einer
[171] langen Reihe von Jahren die Unterſchiede im durchſchnittlichen
Betrage der Temperatur, der Feuchtigkeit und des Luftdruckes
von Monat zu Monat ganz unbedeutend ſind, und daß die
Natur, trotz der häufigen partiellen Störungen, in der Reihen-
folge der meteorologiſchen Erſcheinungen einen feſten Typus
befolgt. Die großen Ströme ſammeln die Waſſer, die auf
einer mehrere tauſend Quadratmeilen großen Erdfläche nieder-
fallen, in einen Behälter. So ungleich auch die Regenmenge
ſein mag, die im Laufe der Jahre in dieſem oder jenem Thale
fällt, auf den Waſſerſtand der Ströme von langem Lauf
haben dergleichen lokale Wechſel ſo gut wie keinen Einfluß.
Die Anſchwellungen ſind der Ausdruck des mittleren Feuch-
tigkeitsſtandes im ganzen Becken; ſie treten Jahr für Jahr
in denſelben Verhältniſſen auf, weil ihr Anfang und ihre
Dauer eben auch vom Durchſchnitt der ſcheinbar ſehr ver-
änderlichen Epochen des Eintrittes und des Endes der Regen-
zeit unter den Breiten, durch welche der Hauptſtrom und
ſeine Nebenflüſſe laufen, abhängig ſind. Es folgt daraus,
daß die periodiſchen Schwankungen im Waſſerſtande der Ströme,
gerade wie die unveränderliche Temperatur der Höhlen und
der Quellen, ſichtbar darauf hinweiſen, daß Feuchtigkeit und
Wärme auf einem Striche von beträchtlichem Flächenraum
von einem Jahre zum anderen regelmäßig verteilt ſind. Die-
ſelben machen ſtarken Eindruck auf die Einbildungskraft des
Volkes, wie ja Ordnung in allen Dingen überraſcht, wo die
erſten Urſachen ſchwer zu erfaſſen ſind, wie ja die Durch-
ſchnittstemperaturen aus einer langen Reihe von Monaten
und Jahren den in Verwunderung ſetzen, der zum erſtenmal
eine Abhandlung über klimatiſche Verhältniſſe zu Geſicht be-
kommt. Ströme, die ganz in der heißen Zone liegen, zeigen
in ihren periodiſchen Bewegungen die wundervolle Regel-
mäßigkeit, die einem Erdſtriche eigen iſt, wo derſelbe Wind
faſt immer Luftſchichten von derſelben Temperatur herführt,
und wo die Deklinationsbewegung der Sonne jedes Jahr
zur ſelben Zeit mit der elektriſchen Spannung, mit dem Auf-
hören der Seewinde und dem Eintritte der Regenzeit eine
Störung des Gleichgewichtes verurſacht. Der Orinoko, der
Rio Magdalena und der Kongo oder Zaire ſind die einzigen
großen Ströme im Aequinoktialſtriche des Erdballes, die in der
Nähe des Aequators entſpringen und deren Mündung in
weit höherer Breite, aber noch innerhalb der Tropen liegt.
Der Nil und der Rio de la Plata laufen in zwei ent-
[172] gegengeſetzten Halbkugeln aus der heißen in die gemäßigte
Zone.1
Solange man den Rio Paragua bei Esmeralda mit
dem Rio Guaviare verwechſelte und die Quellen des Orinoko
ſüdweſtwärts am Oſtabhange der Anden ſuchte, ſchrieb man
das Steigen des Stromes dem periodiſchen Schmelzen des
Schnees zu. Dieſer Schluß war ſo unrichtig, als wenn man
früher den Nil durch das Schneewaſſer aus Abeſſinien aus-
treten ließ. Die Kordilleren von Neugranada, in deren
Nähe die weſtlichen Nebenflüſſe des Orinoko, der Gua-
viare, der Meta und der Apure entſpringen, reichen, mit
einziger Ausnahme der Paramos von Chita und Mucuchies,
ſo wenig zu der Grenze des ewigens Schnees hinauf als die
abeſſiniſchen Alpen. Schneeberge ſind im heißen Erdſtriche
weit ſeltener, als man gewöhnlich glaubt; und die Schnee-
ſchmelze, die in keiner Jahreszeit bedeutend iſt, wird zur Zeit
der Hochwaſſer des Orinoko keineswegs ſtärker. Die Quellen
dieſes Stromes liegen (oſtwärts von Esmeralda) in den Ge-
birgen der Parime, deren höchſte Gipfel nicht über 2340
bis 2530 m hoch ſind, und von Grita bis Neiva (von 7 ½
bis 3° der Breite) hat der öſtliche Zweig der Kordillere
viele Paramos von 3500 bis 3700 m Höhe, aber nur eine
Gruppe von Nevados, das heißt Bergen, höher als 4680 m
und zwar die fünf Pichacos de Chita. In den ſchnee-
loſen Paramos von Cundinamarca entſpringen die drei großen
Nebenflüſſe des Orinoko von Weſten her. Nur kleinere Neben-
flüſſe, die in den Meta und Apure fallen, nehmen einige
Aguas de nieve auf, wie der Rio Caſanare, der vom Ne-
vado de Chita, und der Rio de Santo Domingo, der von
der Sierra Nevada de Merida herunterkommt und durch die
Provinz Varinas läuft.
[173]
Die Urſache des periodiſchen Austretens des Orinoko
wirkt in gleichem Maße auf alle Flüſſe, die im heißen Erd-
ſtrich entſpringen. Nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche
verkündet das Aufhören der Seewinde den Eintritt der Regen-
zeit. Das Steigen der Flüſſe, die man als natürliche Re-
genmeſſer betrachten kann, iſt der Regenmenge, die in den
verſchiedenen Landſtrichen fällt, proportional. Mitten in den
Wäldern am oberen Orinoko und Rio Negro ſchienen mir
über 2,43 bis 2,7 m Regen im Jahre zu fallen. Die Ein-
geborenen unter dem trüben Himmel von Esmeralda und am
Atabapo wiſſen daher auch ohne die geringſte Kenntnis von
der Phyſik, ſo gut wie einſt Eudoxus und Eratoſthenes,1 daß
das Austreten großer Ströme allein vom tropiſchen Regen
herrührt. Der ordnungsmäßige Verlauf im Steigen und
Fallen des Orinoko iſt folgender. Gleich nach der Frühlings-
Tag- und Nachtgleiche (das Volk nimmt den 25. März an)
bemerkt man, daß der Fluß zu ſteigen anfängt, anfangs nur
um 2,5 cm in 24 Stunden; im April fällt der Fluß zu-
weilen wieder; das Maximum des Hochwaſſers erreicht er im
Juli, bleibt voll (im ſelben Niveau) vom Ende Juli bis zum
25. Auguſt, und fällt dann allmählich, aber langſamer, als
er geſtiegen. Im Januar und Februar iſt er auf dem Mi-
nimum. In beiden Welten haben die Ströme der nördlichen
heißen Zone ihre Hochwaſſer ungefähr zur ſelben Zeit. Ganges,
Nigir und Gambia erreichen wie der Orinoko ihr Maximum
im Auguſt.2 Der Nil bleibt um zwei Monate zurück, ſei es
infolge gewiſſer lokaler klimatiſcher Verhältniſſe in Abeſſinien,
ſei es wegen der Länge ſeines Laufes vom Lande Berber oder
vom 17. Breitengrade bis zur Teilung am Delta. Die ara-
biſchen Geographen behaupten, in Sennaar und Abeſſinien
ſteige der Nil ſchon im April (ungefähr wie der Orinoko);
in Kairo wird aber das Steigen erſt gegen das Sommer-
ſolſtitium merklich und der höchſte Waſſerſtand tritt Ende
September ein.3 Auf dieſem erhält ſich der Fluß bis Mitte
Oktober; das Minimum fällt im April und Mai, alſo in
eine Zeit, wo in Guyana die Flüſſe ſchon wieder zu ſteigen
anfangen. Aus dieſer raſchen Ueberſicht ergibt ſich, daß wenn
auch die Form der natürlichen Kanäle und lokale klimatiſche
[174] Verhältniſſe eine Verzögerung herbeiführen, die große Er-
ſcheinung des Steigens und Fallens der Flüſſe in der heißen
Zone ſich überall gleich bleibt. Auf den beiden Tierkreiſen,
die man gewöhnlich den tatariſchen und chaldäiſchen
oder ägyptiſchen nennt (auf dem Tierkreiſe, der das Bild der
Ratte, und auf dem, der die Bilder der Fiſche und des
Waſſermanns hat) beziehen ſich beſondere Konſtellationen auf
die periodiſchen Ueberſchwemmungen der Flüſſe. Wahre
Cyklen, Zeiteinteilungen, wurden allmählich zu Teilungen des
Raumes; da aber die phyſikaliſche Erſcheinung der Ueber-
ſchwemmungen eine ſo allgemeine iſt, ſo konnte der Tierkreis,
der durch die Griechen auf uns gekommen und der durch das
Vorrücken der Tag- und Nachtgleichen ein geſchichtliches Denk-
mal von hohem Alter wird, weit von Theben und dem hei-
ligen Nilthale entſtanden ſein. Auf den Tierkreiſen der Neuen
Welt, z. B. auf dem mexikaniſchen, kommen auch Zeichen für
Regen und Ueberſchwemmung vor, die dem Chu (der
Ratte) des chineſiſchen und tibetaniſchen Cyklus der Tſe und
den Fiſchen und dem Waſſermann des zwölfteiligen
Tierkreiſes entſprechen. Dieſe zwei mexikaniſchen Zeichen ſind
das Waſſer(atl) und der Cipactli, das Seeungeheuer
mit einem Horne. Dieſes Tier iſt zugleich die Fiſchgazelle
der Hindu, der Steinbock unſeres Tierkreiſes, der Deu-
kalion der Griechen und der Noah (Coxcox) der Azteken.
So finden wir denn die allgemeinen Ergebniſſe der verglei-
chenden Hydrographie ſchon auf den aſtrologiſchen Denk-
mälern, in den Zeiteinteilungen und den religiöſen Ueber-
lieferungen von Völkern, die geographiſch und dem Grade ihrer
Geiſtesbildung nach am weiteſten auseinander liegen.
Da die Aequatorialregen auf den Niederungen eintreten,
wenn die Sonne durch das Zenith den Ortes geht, das heißt,
wenn ihre Deklination der Zone zwiſchen dem Aequator und
einem der Wendekreiſe gleichnamig wird, ſo fällt das Waſſer
im Amazonenſtrom, während es im Orinoko merklich ſteigt.
In einer ſehr ſcharfſinnigen Erörterung über den Urſprung
des Rio Kongo hat man die Phyſiker bereits auf die Modi-
fikationen aufmerkſam gemacht, welche das periodiſche Steigen
im Laufe eines Fluſſes erleiden muß, bei dem Quellen und
Mündung nicht auf derſelben Seite der Aequinoktiallinie
liegen. Bei den hydrauliſchen Syſtemen des Orinoko und
des Amazonenſtromes verwickeln ſich die Umſtände in noch
auffallenderer Weiſe. Sie ſind durch den Rio Negro und den
[175] Caſſiquiare, einen Arm des Orinoko, verbunden, und dieſe
Verbindung bildet zwiſchen zwei großen Flußbecken eine ſchiff-
bare Linie, über welche der Aequator läuft. Der Amazonen-
ſtrom hält nach Angaben, die mir an den Ufern desſelben
gemacht worden, die Epochen des Steigens und Fallens lange
nicht ſo regelmäßig ein als der Orinoko; indeſſen fängt er
meiſt im Dezember an zu ſteigen und erreicht ſein Maximum
im März. Mit dem Mai fällt er wieder und im Juli und
Auguſt, alſo zur Zeit, wo der untere Orinoko das Land weit
und breit überſchwemmt, iſt ſein Waſſerſtand im Minimum.
Da infolge der allgemeinen Bodenbildung kein ſüdamerikani-
ſcher Fluß von Süd nach Nord über den Aequator laufen
kann, ſo äußern die Ueberſchwemmungen des Orinoko Einfluß
auf den Amazonenſtrom, durch die des letzteren dagegen er-
leiden die Oszillationen des Orinoko keine Störung in ihrem
Gange. Aus dieſen Verhältniſſen ergibt ſich, daß beim Ama-
zonenſtrom und dem Orinoko die konkaven und die kon-
vexen Spitzen der Kurve, welche der ſteigende und fal-
lende Waſſerſtand beſchreibt, einander ſehr regelmäßig ent-
ſprechen, da ſie den ſechsmonatlichen Unterſchied bezeichnen,
der durch die Lage der Ströme in entgegengeſetzten Hemi-
ſphären bedingt wird. Nur dauert es beim Orinoko nicht
ſo lange, bis er zu ſteigen anfängt; er ſteigt merklich, ſobald
die Sonne über den Aequator gegangen iſt; der Amazonen-
ſtrom dagegen wächſt erſt zwei Monate nach dem Aequinok-
tium. Bekanntlich tritt in den Wäldern nördlich von der
Linie der Regen früher ein, als in den nicht ſo ſtark be-
waldeten Niederungen der ſüdlichen heißen Zone. Zu dieſer
örtlichen Urſache kommt eine andere, die vielleicht auch im
Spiele iſt, wenn der Nil ſo ſpät ſteigt. Der Amazonenſtrom
erhält einen großen Teil ſeiner Gewäſſer von der Kordillere
der Anden, wo, wie überall in den Gebirgen, die Jahres-
zeiten einen eigentümlichen, dem der Niederungen meiſt ent-
gegengeſetzten Typus haben.
Das Geſetz des Steigens und Fallens des Orinoko iſt
in Bezug auf das räumliche Moment oder die Größe der
Schwankungen ſchwerer zu ermitteln als hinſichtlich des zeit-
lichen, des Eintretens der Maxima und Minima. Da meine
eigenen Meſſungen des Waſſerſtandes ſehr unvollſtändig ſind,
teile ich Schätzungen, die ſehr ſtark voneinander abweichen,
nur unter allem Vorbehalt mit. Die fremden Schiffen neh-
men an, daß der untere Orinoko gewöhnlich um 29,2 m
[176] ſteige; Pons, der bei ſeinem Aufenthalte in Caracas im all-
gemeinen ſehr genaue Notizen geſammelt hat, bleibt bei 25,3 m
ſtehen. Der Waſſerſtand wechſelt natürlich nach der Breite
des Bettes und der Zahl der Nebenflüſſe, die in den Haupt-
ſtamm des Stromes hereinkommen. Der Nil ſteigt in Ober-
ägypten um 9,7 bis 11,3 m, bei Kairo um 8,1, an der Nord-
ſeite des Deltas um 1,3 m. Bei Angoſtura ſcheint der Strom
im Durchſchnitt nicht über 7,8 bis 8 m zu ſteigen. Es liegt
hier mitten im Fluſſe eine Inſel, wo man den Waſſerſtand
ſo bequem beobachten könnte wie am Nilmeſſer (Megyas)
an der Spitze der Inſel Rudah. Ein ausgezeichneter Ge-
lehrter, der ſich in neueſter Zeit am Orinoko aufgehalten hat,
Zea, wird meine Beobachtungen über einen ſo wichtigen
Punkt ergänzen. Das Volk glaubt, alle 25 Jahre ſteige der
Orinoko um 1 m höher als ſonſt; auf dieſen Cyklus iſt man
aber keineswegs durch genaue Meſſungen gekommen. Aus
den Zeugniſſen des Altertums geht hervor, daß die Niveau-
ſchwankungen des Nil nach Höhe und Dauer ſeit Jahr-
tauſenden ſich gleich geblieben ſind. Es iſt dies ein ſehr
beachtenswerter Beweis, daß der mittlere Feuchtigkeits- und
Wärmezuſtand im weiten Nilbecken ſich verändert. Wird dieſe
Stetigkeit der phyſikaliſchen Erſcheinungen, dieſes Gleichgewicht
der Elemente ſich auch in der Neuen Welt erhalten, wenn
einmal die Kultur ein paar hundert Jahre alt iſt? Ich denke,
man kann die Frage bejahen, denn alles, was die Geſamt-
kraft des Menſchen vermag, kann auf die allgemeinen
Urſachen, von denen das Klima Guyanas abhängt, keinen
Einfluß äußern.
Nach der Barometerhöhe von San Fernando de Apure
finde ich, daß der Fall des Apure und unteren Orinoko von
dieſer Stadt bis zur Boca de Navios 49 mm auf den Kilo-
meter beträgt.1 Man könnte ſich wundern, daß bei einem
ſolchen kaum merklichen Falle die Strömung ſo ſtark iſt; ich
erinnere aber bei dieſer Gelegenheit daran, daß nach Meſſun-
gen, die von Haſtings angeordnet worden, der Ganges auf
einer Strecke von 111 km (die Krümmungen eingerechnet)
auch nur 2,2 cm auf den Kilometer fällt und daß die mitt-
lere Geſchwindigkeit dieſes Stromes in der trockenen Jahres-
[177] zeit 5,5, in der Regenzeit 11 bis 15 km in der Stunde be-
trägt. Die Stärke der Strömung hängt alſo, beim Ganges
wie beim Orinoko, nicht ſowohl vom Gefälle des Bettes ab,
als von der ſtarken Anhäufung des Waſſers im oberen Strom-
lauf infolge der ſtarken Regenniederſchläge und der vielen
Zuflüſſe. Schon ſeit 250 Jahren ſitzen europäiſche Anſiedler
an den Mündungen des Orinoko, und in dieſer langen Zeit
haben ſich, nach einer von Geſchlecht zu Geſchlecht fortge-
pflanzten Ueberlieferung, die periodiſchen Oszillationen des
Stromes (der Zeitpunkt, wo er zu ſteigen anfängt und der
höchſte Waſſerſtand) nie um mehr als 12 bis 15 Tage
verzögert.
Wenn Fahrzeuge mit großem Tiefgange im Januar und
Februar mit dem Seewinde und der Flut nach Angoſtura
hinaufgehen, ſo laufen ſie Gefahr, auf dem Schlamme aufzu-
fahren. Die Waſſerſtraße ändert ſich häufig nach Breite und
Richtung; bis jetzt aber bezeichnet noch nirgends eine Bake
die Anſchwemmungen, die ſich überall im Fluſſe bilden, wo
das Waſſer ſeine urſprüngliche Geſchwindigkeit verloren hat.
Südlich vom Kap Barima beſteht ſowohl über den Fluß
dieſes Namens als über den Rio Moroca und mehrere Eſteres
(aestuaria) eine Verbindung mit der engliſchen Kolonie am
Eſſequibo. Man kann mit kleinen Fahrzeugen bis zum Rio
Poumaron, an dem die alten Niederlaſſungen Zeland und
Middelburg liegen, ins Land hineinkommen. Dieſe Verbin-
dung hatte früher für die Regierung in Caracas nur darum
einige Wichtigkeit, weil dadurch dem Schleichhandel Vorſchub
geleiſtet wurde; ſeit aber Berbice, Demerary und Eſſequibo
einem mächtigen Nachbar in die Hände gefallen ſind, be-
trachten die Hiſpano-Amerikaner dieſelbe aus dem Geſichts-
punkte der Sicherheit der Grenze. Flüſſe, die der Küſte parallel
laufen und nur 9 bis 11 km davon entfernt bleiben, ſind
dem Uferſtriche zwiſchen dem Orinoko und dem Amazonenſtrom
eigentümlich.
45 km vom Kap Barima teilt ſich das große Bett
des Orinoko zum erſtenmal in zwei 3900 m breite Arme;
dieſelben ſind unter den indianiſchen Namen Zacupana und
Imataca bekannt. Der erſtere, nördlichere, ſteht weſtwärts
von den Inſeln Cangrejos und Burro mit den Bocas chicas
Lauran, Nuina und Mariuſas in Verbindung. Die Inſel
Burro verſchwindet beim Hochwaſſer, iſt alſo leider nicht zu
befeſtigen. Das ſüdliche Ufer des brazo Imataca iſt von
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 12
[178] einem Labyrinth kleiner Waſſerrinnen zerſchnitten, in welche
ſich der Rio Imataca und der Rio Aquire ergießen. Auf
den fruchtbaren Savannen zwiſchen dem Imataca und dem
Cuyuni erhebt ſich eine lange Reihe Granithügel, Ausläufer
der Kordillere der Parime, die ſüdlich von Angoſtura den
Horizont begrenzt, die vielberufenen Katarakte des Rio Ca-
rony bildet und dem Orinoko beim Fort Vieja Guyana wie
ein vorgeſchobenes Kap nahe rückt. Die volkreichen Miſſionen
der Kariben und Guayanos unter der Obhut der kataloniſchen
Kapuziner liegen den Quellen des Imataca und des Aquire
zu. Am weiteſten gegen Oſt liegen die Miſſionen Miamu,
Cumamu und Palmar auf einem bergigen Landſtriche, der ſich
gegen Tupuquen, Santa Maria und Villa de Upata hinzieht.
Geht man den Rio Aquire hinauf und über die Weiden gegen
Süd, ſo kommt man zur Miſſion Belem de Tumeremo und
von da an den Zuſammenfluß des Curumu mit dem Rio
Cuyuni, wo früher der ſpaniſche Poſten oder Destacamento
de Cuyuni lag. Ich mache dieſe einzelnen topographiſchen
Angaben, weil der Rio Cuyuni oder Cuduvini auf eine Strecke
von 2 ½ bis 3 Längegraden dem Orinoko parallel von Oſt nach
Weſt läuft, und eine vortreffliche natürliche Grenze zwiſchen
dem Gebiete von Caracas und Engliſch-Guyana abgibt.
Die beiden Arme des Orinoko, der Zacupana und Ima-
taca bleiben 63 km weit getrennt; weiter oben findet man
die Gewäſſer des Stromes in einem ſehr breiten Bette bei-
ſammen. Dieſes Stromſtück iſt gegen 36 km lang; an ſeinem
weſtlichen Ende erſcheint eine zweite Gabelung, und da die
Spitze des Deltas im nördlichen Arme des gegabelten Fluſſes
liegt, ſo iſt dieſer Teil des Orinoko für die militäriſche Ver-
teidigung des Landes von großer Bedeutung. Alle Kanäle,
die den Bocas chicas zulaufen, entſpringen am ſelben Punkte
aus dem Stamme des Orinoko. Der Arm (Caño Manamo),
der beim Dorfe San Rafael abgeht, verzweigt ſich erſt nach
einem Laufe von 13 bis 18 km, und ein Werk, das man
oberhalb der Inſel Chaguanes anlegte, würde Angoſtura gegen
einen Feind decken, der durch eine der Bocas chicas eindringen
wollte. Zu meiner Zeit lagen die Kanonierſchaluppen öſtlich
von San Rafael, am nördlichen Ufer des Orinoko. Dieſen
Punkt müſſen die Fahrzeuge in Sicht bekommen, die durch
die nördliche Waſſerſtraße bei San Rafael, welche die breiteſte,
aber ſeichteſte iſt, nach Angoſtura hinaufſegeln.
27 km oberhalb des Punktes, wo der Orinoko einen
[179] Zweig an die Bocas chicas abgibt, liegt das alte Fort (Los ca-
stillos de la Vieja oder Antigua Guyana), das im 16. Jahr-
hundert zuerſt angelegt wurde. An dieſem Punkte liegen viele
felſige Eilande im Strome, der hier gegen 1266 m breit ſein
ſoll. Die Stadt iſt faſt ganz zerſtört, aber die Werke ſtehen
noch und verdienen alle Aufmerkſamkeit von ſeiten der Re-
gierung von Terra Firma. In der Batterie auf einem Hügel
nordweſtwärts von der alten Stadt hat man eine prachtvolle
Ausſicht. Bei Hochwaſſer iſt die alte Stadt ganz von Waſſer
umgeben. Lachen, die in den Orinoko münden, bilden natür-
liche Baſſins für Schiffe, welche auszubeſſern ſind. Hoffent-
lich, wenn der Friede dieſen ſchönen Ländern wieder geſchenkt
iſt und keine engherzige Staatskunſt mehr den Fortſchritt der
Induſtrie hemmt, werden ſich Werften an dieſen Lachen bei
Vieja Guyana erheben. Kein Strom nach dem Amazonen-
ſtrom kann aus den Wäldern, durch die er läuft, ſo präch-
tiges Schiffsbauholz liefern. Dieſe Hölzer aus den großen
Familien der Laurineen, der Guttiferen, der Rutaceen und
der baumartigen Schotengewächſe bieten nach Dichtigkeit,
ſpezifiſcher Schwere und mehr oder weniger harziger Be-
ſchaffenheit alle nur wünſchenswerten Abſtufungen. Was im
Lande allein fehlt, das iſt ein leichtes, elaſtiſches Maſt-
holz mit parallelen Faſern, wie die Nadelhölzer der ge-
mäßigten Landſtriche und der hohen Gebirge unter den Tropen
es liefern.
Iſt man an den Werken von Vieja Guyana vorbei, ſo
wird der Orinoko wieder breiter. Hinſichtlich des Anbaues
des Landes zeigen beide Ufer einen auffallenden Kontraſt.
Gegen Nord ſieht man nur den öden Strich der Provinz
Cumana, die unbewohnten Steppen (Llanos), die ſich bis jen-
ſeits der Quellen des Rio Mamo, dem Plateau oder der
Meſa von Guanipa zu, erſtrecken. Südwärts ſieht man drei
volkreiche Dörfer, die zu den Miſſionen am Carony gehören,
San Miguel de Uriala, San Felix und San Joaquin. Letz-
teres Dorf, am Carony unmittelbar unterhalb des großen
Kataraktes gelegen, gilt für den Stapelplatz der kataloniſchen
Miſſionen. Fährt man weiter gegen Weſt, ſo hat der Steuer-
mann zwiſchen der Mündung des Carony und Angoſtura die
Klippen Guarampo, die Untiefe des Mamo und die Piedra
del Rosario zu vermeiden. Ich habe nach dem umfangreichen
Material, das ich mitgebracht, und nach den aſtronomiſchen
Unterſuchungen, deren Hauptergebniſſe ich oben mitgeteilt,
[180] eine Karte des Landes zwiſchen dem Delta des Orinoko,
dem Carony und dem Cuyuni entworfen. Es iſt dies der
Teil von Guyana, der wegen der Nähe der Küſte eines
Tages für europäiſche Anſiedler die meiſte Anziehungskraft
haben wird.
In ihrem gegenwärtigen Zuſtande ſteht die ganze Be-
völkerung dieſer großen Provinz, mit Ausnahme einiger ſpa-
niſcher Kirchſpiele (Pueblos y villas de Españoles), unter
der Regierung zweier Mönchsorden. Schätzt man die Zahl
der Einwohner von Guyana, die nicht in wilder Unabhängig-
keit leben, auf 35000, ſo leben etwa 24000 in den Miſ-
ſionen und ſind dem unmittelbaren Einfluſſe des weltlichen
Armes ſo gut wie entzogen. Zur Zeit meiner Reiſe hatte das
Gebiet der Franziskaner von der Kongregation der Obſer-
vanten 7300 Einwohner, das der Capuchinos catalanes
17000; ein auffallendes Mißverhältnis, wenn man bedenkt,
wie klein letzteres Gebiet iſt gegenüber den ungeheuren Ufer-
ſtrecken am oberen Orinoko, Atabapo, Caſſiquiare und Rio
Negro. Aus dieſen Angaben geht hervor, daß gegen zwei
Dritteile der Bevölkerung einer Provinz von 16800 Meilen
Flächeninhalt zwiſchen dem Rio Imataca und der Stadt
Santo Tome de Angoſtura auf einem 250 km langen und
135 km breiten Striche zuſammengedrängt ſind. Dieſe beiden
mönchiſchen Regierungen ſind den Weißen gleich unzugäng-
lich und bilden einen status in statu. Ich habe bisher
nach meinen eigenen Beobachtungen die der Obſervanten be-
ſchrieben, und es bleibt mir jetzt noch übrig mitzuteilen, was
ich über das andere Regiment, das der kataloniſchen Kapu-
ziner, in Erfahrung gebracht. Verderbliche bürgerliche Zwiſte
und epidemiſche Fieber haben in den letzten Jahren den Wohl-
ſtand der Miſſionen am Carony, nachdem er lange im Zu-
nehmen geweſen, heruntergebracht; aber trotz dieſer Verluſte iſt
der Landſtrich, den wir beſuchen wollen, noch immer national-
ökonomiſch ſehr intereſſant.
Die Miſſionen der kataloniſchen Kapuziner hatten im
Jahre 1804 zum wenigſten 60000 Stücke Vieh auf den Sa-
vannen, die ſich vom öſtlichen Ufer des Carony und Para-
gua bis zu den Ufern des Imataca, Curumu und Cuyuni
erſtrecken; ſie grenzen gegen Südoſt an das engliſche Guyana
oder die Kolonie Eſſequibo, gegen Süd, an den öden Ufern
des Paragua und Paraguamuſi hinauf und über die Kordillere
von Pacaraimo, laufen ſie bis zu den portugieſiſchen Nieder-
[181] laſſungen am Rio Branco. Dieſer ganze Landſtrich iſt offen,
voll ſchöner Savannen, ganz anders als das Land, über das
wir am oberen Orinoko gekommen ſind. Undurchdringlich
werden die Wälder erſt dem Süden zu, gegen Nord ſind
Wieſengründe, von bewaldeten Hügeln durchſchnitten. Die ma-
leriſchten Landſchaften ſind bei den Fällen des Carony und
in der 487 m hohen Bergkette zwiſchen den Nebenflüſſen des
Orinoko und denen des Cuyuni. Hier liegen Villa de Upata,
der Hauptort der Miſſionen, Santa Maria und Cupapui.
Auf kleinen Hochebenen herrſcht ein geſundes, gemäßigtes
Klima; Kakao, Reis, Baumwolle, Indigo und Zucker wachſen
überall in Fülle, wo der unberührte, mit dicker Grasnarbe
bedeckte Boden beackert wird. Die erſten chriſtlichen Nieder-
laſſungen reichen, glaube ich, nicht über das Jahr 1721 hinauf.
Die Elemente der gegenwärtigen Bevölkerung ſind drei in-
dianiſche Völkerſchaften, die Guayanos, die Kariben und die
Guaica. Letztere ſind ein Gebirgsvolk und lange nicht von
ſo kleinem Wuchſe wie die Guaica, die wir in Esmeralda
getroffen. Sie ſind ſchwer an die Scholle zu feſſeln und die
drei jüngſten Miſſionen, in denen ſie beiſammen lebten, Cura,
Curucuy und Arechica, ſind bereits wieder eingegangen. Von
den Guyanos erhielt im 16. Jahrhundert die ganze weite
Provinz ihren Namen; ſie ſind nicht ſo intelligent, aber ſanft-
mütiger, und leichter, wenn nicht zu civiliſieren, doch zu bän-
digen, als die Kariben. Ihre Sprache ſcheint zum großen
Stamme der karibiſchen und tamanakiſchen Sprachen zu ge-
hören. Sie iſt mit denſelben in den Wurzeln und gram-
matiſchen Formen verwandt, wie unter ſich Sanskrit, Perſiſch,
Griechiſch und Deutſch. Bei etwas, das ſeinem Weſen nach
unbeſtimmt iſt, laſſen ſich nicht leicht feſte Formen aufſtellen,
und man verſtändigt ſich ſehr ſchwer über die Unterſchiede
zwiſchen Dialekt, abgeleiteter Sprache und Stammſprache.
Durch die Jeſuiten in Paraguay kennen wir in der ſüdlichen
Halbkugel eine andere Horde Guayanos, die in den dichten
Wäldern am Parana leben. Obgleich ſich nicht in Abrede
ziehen läßt, daß die Völker, die nördlich und ſüdlich vom
Amazonenſtrom hauſen, durch weite Wanderzüge in gegen-
ſeitige Verbindung getreten ſind, ſo möchte ich doch nicht ent-
ſcheiden, ob jene Guayanos am Parana und Uruguay mit
denen am Carony mehr gemein haben als einen gleichlauten-
den Namen, was auf einem Zufall beruhen kann.
Die bedeutendſten chriſtlichen Niederlaſſungen liegen jetzt
[182] zwiſchen den Bergen bei Santa Maria, der Miſſion San
Miguel und dem öſtlichen Ufer des Carony, von San Buena-
ventura bis Guri und dem Stapelplatz San Joaquin, auf
einem Landſtrich von nur 9300 qkm beiſammen. Gegen
Oſt und Süd ſind die Savannen faſt gar nicht bewohnt;
dort liegen nur weit zerſtreut die Miſſionen Belem, Tumu-
remo, Tupuquen, Puedpa und Santa Clara. Es wäre zu
wünſchen, daß der Boden vorzugsweiſe abwärts von den
Flüſſen bebaut würde, wo das Terrain höher und die Luft
geſünder iſt. Der Rio Carony, ein herrlich klares, an Fiſchen
armes Waſſer, iſt von Villa de Barceloneta an, die etwas
über dem Einfluſſe des Paragua liegt, bis zum Dorfe Guri
frei von Klippen. Weiter nordwärts ſchlängelt er ſich zwi-
ſchen zahlloſen Eilanden und Felſen durch, und nur die kleinen
Kanoen der Kariben wagen ſich in dieſe Raudales oder Strom-
ſchnellen des Carony hinein. Zum Glück teilt ſich der Fluß
häufig in mehrere Arme, ſo daß man denjenigen wählen kann.
der nach Waſſerſtand am wenigſten Wirbel und Klippen über
dem Waſſer hat. Der große Salto, vielberufen wegen der
maleriſchen Reize der Landſchaft, liegt etwas oberhalb des
Dorfes Aguacagua oder Carony, das zu meiner Zeit eine
Bevölkerung von 700 Indianern hatte. Der Waſſerfall ſoll
5 bis 6 m hoch ſein, aber die Schwelle läuft nicht über das
ganze mehr als 100 m breite Flußbett. Wenn ſich einmal
die Bevölkerung mehr gegen Oſt ausbreitet, ſo kann ſie die
kleinen Flüſſe Imataca und Aquire benutzen, die ziemlich ge-
fahrlos zu befahren ſind. Die Mönche, die gern einſam
hauſen, um ſich der Aufſicht der weltlichen Macht zu ent-
ziehen, wollten ſich bis jetzt nicht am Orinoko anſiedeln. In-
deſſen können die Miſſionen am Carony nur auf dieſem Fluſſe
oder auf dem Cuyuni und dem Eſſequibo ihre Produkte aus-
führen. Der letztere Weg iſt noch nicht verſucht worden, ob-
gleich an einem der bedeutendſten Nebenflüſſe des Cuyuni, am
Rio Juruario, bereits mehrere chriſtliche Niederlaſſungen liegen.
Dieſer Nebenfluß zeigt bei Hochgewäſſer die merkwürdige Er-
ſcheinung einer Gabelung; er ſteht dann über den Jurari-
cuima und den Aurapa mit dem Rio Carony in Verbindung,
ſo daß der Landſtrich zwiſchen dem Orinoko, der See, dem
Cuyuni und dem Carony zu einer wirklichen Inſel wird.
Furchtbare Stromſchnellen erſchweren die Schiffahrt auf dem
oberen Cuyuni; man hat daher in der neueſten Zeit verſucht,
einen Weg in die Kolonie Eſſequibo viel weiter gegen Südoſt
[183] zu bahnen, wobei man an den Cuyuni weit unterhalb der
Mündung des Cucumu käme.
In dieſem ganzen ſüdlichen Landſtriche ziehen Horden un-
abhängiger Kariben umher, die ſchwachen Reſte des kriegeri-
ſchen Volksſtammes, der ſich bis zu den Jahren 1733 und
1735 den Miſſionären ſo furchtbar machte, um welche Zeit
der ehrwürdige Biſchof Gervais de Labrid,1 Kanonikus des
Metropolitankapitels zu Lyon, der Pater Lopez und mehrere
andere Geiſtliche von den Kariben erſchlagen wurden. Dergleichen
Unfälle, die früher ziemlich häufig vorkamen, ſind jetzt nicht
mehr zu befahren, weder in den Miſſionen am Carony noch
in denen am Orinoko; aber die unabhängigen Kariben ſind
wegen ihres Verkehrs mit den holländiſchen Koloniſten am
Eſſequibo für die Regierung von Guyana noch immer ein
Gegenſtand des Mißtrauens und des Haſſes. Dieſe Stämme
leiſten dem Schleichhandel an den Küſten und durch die Ka-
näle oder Eſteres zwiſchen dem Rio Barima und dem Rio
Moroca Vorſchub; ſie treiben den Miſſionären das Vieh weg
und verleiten die neubekehrten Indianer (die unter der
Glocke leben), wieder in den Wald zu laufen. Die freien
Horden haben überall den natürlichen Trieb, ſich den Fort-
ſchritten der Kultur und dem Vordringen der Weißen zu
widerſetzen. Die Kariben und Aruaken verſchaffen ſich in
Eſſequibo und Demerary Feuergewehre, und als der Handel
mit amerikaniſchen Sklaven (Poitos) in Blüte ſtand, beteiligten
ſich Abenteurer von holländiſchem Blut an den Einfällen an
den Paragua, Erevato und Ventuario. Die Menſchenjagd
wurde an dieſen Flüſſen betrieben, wie wahrſcheinlich noch jetzt
am Senegal und Gambia. In beiden Welten haben die
Europäer dieſelben Kunſtgriffe gebraucht, dieſelben Unthaten
begangen, um einen Handel zu treiben, der die Menſchheit
ſchändet. Die Miſſionäre am Carony und Orinoko ſchreiben
alles Ungemach, das ſie von den freien Kariben zu erdulden
haben, dem Haſſe ihrer Nachbarn, der calviniſtiſchen Prädi-
kanten am Eſſequibo, zu. Ihre Schriften ſind daher auch voll
Klagen über die Secta diabolica de Calvins y de Lutero
und gegen die Ketzer in Holländiſch-Guyana, die ſich zu-
weilen herausnehmen, das Miſſionsweſen zu treiben und Keime
der Geſittung unter den Wilden ausſtreuen zu wollen.
[184]
Unter allen vegetabiliſchen Erzeugniſſen dieſes Landes
iſt durch die Betriebſamkeit der kataloniſchen Kapuziner der
Baum, von dem die Cortex Angosturae kommt, fälſch-
lich „China von Carony“ genannt, am berühmteſten geworden.
Wir haben ihn zuerſt als eine neue, von der Cinchona ganz
verſchiedene Gattung der Familie der Meliaceen bekannt ge-
macht. Früher meinte man, dieſes wirkſame Arzneimittel
aus Südamerika komme von der Brucea ferruginea, die in
Abeſſinien wächſt, von der Magnolia glauca und Magnolia
Plumieri. Während der ſchweren Krankheit meines Reiſe-
gefährten ſchickte Ravago einen vertrauten Mann in die Miſ-
ſionen am Carony und ließ uns durch die Kapuziner in Upata
blühende Zweige des Baumes verſchaffen, den wir wünſchten
beſchreiben zu können. Wir bekamen ſehr ſchöne Exemplare,
deren 40 cm lange Blätter einen ſehr angenehmen aroma-
tiſchen Geruch verbreiteten. Wir ſahen bald, daß der Cu-
ſpare (dies iſt der indianiſche Name der Cascarilla oder der
Corteza del Angostura) eine neue Gattung bildet; und bei
Ueberſendung von Orinokopflanzen an Wildenow erſuchte ich
dieſen, die Gattung nach Bonpland zu benennen. Der jetzt
unter dem Namen Bonplandia trifoliata bekannte
Baum wächſt 21 bis 27 km vom öſtlichen Ufer des Carony
am Fuße der Hügel, welche die Miſſionen Copapui, Upata
und Alta Gracia einſchließen. Die Kariben gebrauchen einen
Aufguß der Rinde des Cuſpare als ein ſtärkendes Mittel.
Bonpland hat denſelben Baum weſtwärts von Cumana im
Meerbuſen Santa Fé entdeckt, und dort kann er für Neu-
andaluſien ein Ausfuhrartikel werden.
Die kataloniſchen Mönche bereiten einen Extrakt aus der
Cortex Angosturae, das ſie in die Klöſter ihrer Provinz
verſenden und das im nördlichen Europa bekannter zu ſein
verdiente. Hoffentlich wird die gegen Fieber und Ruhr ſo
wirkſame Rinde der Bonplandia auch ferner angewendet, ob-
gleich man unter dem Namen „Falſche Angoſtura“ eine andere
Rinde eingeführt hat, die mit jener häufig verwechſelt wird.
Dieſe „Falſche Angoſtura“ oder „Angostura pseudoferrugi-
nosa“ kommt, wie man behauptet, von der Brucea anti-
dyssenterica; ſie wirkt ſehr ſtark auf die Nerven, bringt
heftige Anfälle von Starrkrampf hervor und enthält nach
Pelletiers und Caventous Verſuchen ein eigentümliches Alkali,
das mit dem Morphium und dem Strychnin Aehnlichkeit hat.
Der Baum, von dem die echte Cortex Angosturae kommt,
[185] iſt nicht ſehr häufig, und es erſcheint daher als wünſchens-
wert, daß man ihn anpflanzt. Die kataloniſchen Ordensleute
ſind ganz dazu geeignet, dieſen Kulturzweig in Aufnahme
zu bringen. Sie ſind haushälteriſcher, betriebſamer und rüh-
riger als die anderen Miſſionäre. Bereits haben ſie in einigen
Dörfern Gerbereien und Baumwollſpinnereien angelegt, und
wenn ſie fortan die Indianer die Früchte ihrer Arbeit genießen
laſſen, ſo finden ſie ſicher an der eingeborenen Bevölkerung
kräftige Unterſtützung. Da hier die Mönche auf kleinem Ge-
biet beiſammen leben, fühlen ſie ihre politiſche Bedeutung,
und ſie haben zu wiederholten Malen der weltlichen Gewalt
wie der des Biſchofs Widerſtand geleiſtet. Die Statthalter
in Angoſtura haben mit ſehr ungleichem Erfolg mit ihnen
gekämpft, je nachdem das Miniſterium in Madrid ſich der
kirchlichen Hierarchie gefällig erzeigen wollte oder ihre Macht
zu beſchränken ſuchte. Im Jahre 1768 ließ Don Manuel
Centurion den Miſſionären über 20000 Stücke Vieh weg-
nehmen und ſie unter die dürftigſten Einwohner verteilen.
Dieſe auf ziemlich ungeſetzliche Weiſe geübte Freigebigkeit
hatte wichtige Folgen. Der Statthalter wurde auf die Klage
der kataloniſchen Mönche abgeſetzt, obgleich er das Gebiet
der Miſſionen gegen Süd bedeutend erweitert und über dem
Zuſammenfluſſe des Carony mit dem Paragua die Villa
Barceloneta und bei der Vereinigung des Paragua mit dem
Paraguamuſi die Ciudad Guirior gegründet hatte. Seit
jener Zeit bis auf die politiſchen Stürme, welche gegenwärtig
in den ſpaniſchen Kolonieen toben, vermied die bürgerliche Be-
hörde ſorgfältig jede Einmiſchung in die Angelegenheiten der
Kapuziner. Man gefällt ſich darin, ihren Wohlſtand zu über-
treiben, wie man früher bei den Jeſuiten in Paraguay gethan.
Die Miſſionen am Carony vereinigen infolge der Boden-
bildung1 und des Wechſels von Savannen und Ackerland die
Vorzüge der Llanos von Calabozo und der Thäler von Ara-
gua. Der wahre Reichtum des Landes beruht auf der Vieh-
zucht und dem Bau von Kolonialprodukten. Es iſt zu wün-
ſchen, daß hier, wie in der ſchönen furchtbaren Provinz Vene-
zuela, die Bevölkerung dem Landbau treu bleibt und nicht
ſo bald darauf ausgeht, Erzgruben zu ſuchen. Deutſchlands
und Mexikos Beiſpiel beweiſt allerdings, daß Bergbau und
[186] eine blühende Landwirtſchaft keineswegs unverträglich ſind;
aber nach Volksſagen kommt man über die Ufer des Carony
zum See Dorado und zum Palaſt des vergoldeten Man-
nes,1 und da dieſer See und dieſer Palaſt ein Lokalmy-
thus ſind, ſo wäre es gefährlich, Erinnerungen zu wecken,
die ſich allmählich zu verwiſchen beginnen. Man hat mich ver-
ſichert, noch bis zum Jahre 1760 ſeien die freien Kariben
zum Cerro de Pajarcima, einem Berge ſüdlich von Vieja
Guyana gekommen, um das verwitterte Geſtein auszuwaſchen.
Der dabei gewonnene Goldſtaub wurde in Kalebaſſen der
Crescentia Cujete aufbewahrt und in Eſſequibo an die Hollän-
der verkauft. Noch ſpäter mißbrauchten mexikaniſche Berg-
leute die Leichtgläubigkeit des Intendanten von Caracas, Don
Joſe Avalo, und legten mitten in den Miſſionen am Carony,
bei der Villa Upata in den Cerros del Potrero und Chirica
große Hüttenwerke an. Sie erklärten, die ganze Gebirgsart
ſei goldhaltig, und man baute Werkſtätten und Schmelzöfen.
Nachdem man beträchtliche Summen verſchleudert, zeigte es
ſich, daß die Kieſe keine Spur von Gold enthielten. Dieſe
Verſuche, ſo fruchtlos ſie waren, riefen den alten Aberglauben
wach, daß in Guyana „jedes glänzende Geſtein una madre
del oro ſei“. Man begnügte ſich damit, Glimmerſchiefer zu
ſchmelzen; bei Angoſtura zeigte man mir Schichten von Horn-
blendeſchiefer ohne fremdartige Beimengung, die man unter
dem wunderlichen Namen: ſchwarzes Golderz, oro negro,
ausbeutete.
Zur Vervollſtändigung der Beſchreibung des Orinoko
teile ich an dieſer Stelle die Hauptergebniſſe meiner Unter-
ſuchungen über den Dorado, über das Weiße Meer oder
Laguna Parime und die Quellen des Orinoko mit, wie
ſie auf den neueſten Karten gezeichnet ſind. Die Vorſtellung
von einem überſchwenglich reichen Goldlande war ſeit dem
Ende des 16. Jahrhunderts mit der anderen verbunden, daß
ein großer Binnenſee den Orinoko, den Rio Branco und den
Rio Eſſequibo zugleich mit Waſſer ſpeiſe. Ich glaube durch
genauere Kenntnis der Oertlichkeiten, durch langes mühſames
Studium der ſpaniſchen Schriftſteller, die vom Dorado han-
deln, beſonders aber durch Vergleichung ſehr vieler alten,
chronologiſch geordneten Karten den Quellen dieſes Irrtums
auf die Spur gekommen zu ſein. Allen Märchen liegt etwas
[187] Wirkliches zu Grunde; das vom Dorado gleicht den Mythen
des Altertums, die bei ihrer Wanderung von Land zu Lande
immer den verſchiedenen Oertlichkeiten angepaßt wurden. Um
Wahrheit und Irrtum zu unterſcheiden, braucht man in den
Wiſſenſchaften meiſtens nur die Geſchichte der Vorſtellungen
und ihre allmähliche Entwickelung zu verfolgen. Die Unter-
ſuchung, mit der ich dieſes Kapitel beſchließe, iſt nicht allein
deshalb von Belang, weil ſie Licht verbreitet über die Vor-
gänge bei der Eroberung und über die lange Reihe unglück-
licher Expeditionen, die unternommen worden, um den Dorado
zu ſuchen, und deren letzte (man ſchämt ſich, es ſagen zu
müſſen) in das Jahr 1775 fällt; neben dieſem rein hiſtori-
ſchen Intereſſe haben ſie noch ein anderes unmittelbareres
und allgemeineres: ſie können dazu dienen, die Geographie
von Südamerika zu berichtigen, und auf den Karten, die ge-
genwärtig erſcheinen, die großen Seen und das ſeltſame Fluß-
netz auszumerzen, die wie aufs Geratewohl zwiſchen dem 60.
und 69. Längengrad eingezeichnet werden. In Europa glaubt
kein Menſch mehr an die Schätze in Guyana und an das
Reich des großen Patiti. Die Stadt Manoa und ihre mit
maſſiven Goldplatten bedeckten Paläſte ſind längſt verſchwun-
den; aber der geographiſche Apparat, mit dem die Sage vom
Dorado aufgeputzt war, der See Parime, in dem ſich, wie
im See bei Mexiko, ſo viele herrliche Gebäude ſpiegelten,
wurde von den Geographen gewiſſenhaft beibehalten. Im
Laufe von drei Jahrhunderten erlitten dieſelben Sagen ver-
ſchiedene Umwandlungen; aus Unkenntnis der amerikaniſchen
Sprachen hielt man Flüſſe für Seen und Trageplätze für
Flußverzweigungen; man rückte einen See (den Caſſipa) um
5 Breitengrade zu weit nach Süd, während man einen anderen
(den Parime oder Dorado) 450 km weit weg vom weſt-
lichen Ufer des Rio Branco auf das öſtliche verſetzte. Durch
ſolch mancherlei Umwandlungen iſt das Problem, das uns
hier vorliegt, weit verwickelter geworden, als man gewöhnlich
glaubt. Der Geographen, welche bei Entwerfung einer Karte
die drei Fundamentalpunkte, die Maße, die Vergleichung der
beſchreibenden Schriften und die etymologiſche Unterſuchung
der Namen immer im Auge haben, ſind ſehr wenige. Faſt
alle ſeit 1775 erſchienenen Karten von Südamerika ſind, was
das Binnenland zwiſchen den Steppen von Venezuela und
dem Amazonenſtrom, zwiſchen dem Oſtabhang der Anden und
den Küſten von Cayenne betrifft, reine Kopieen der großen
[188] ſpaniſchen Karte des La Cruz Olmedilla. Eine Linie darauf,
welche den Landſtrich bezeichnet, den Don Joſe Solano ent-
deckt und durch ſeine Truppen und Emiſſäre zur Ruhe ge-
bracht haben wollte, hielt man für den Weg, den der Kom-
miſſär zurückgelegt, während er nie über San Fernando de
Atabapo, das 720 km vom angeblichen See Parime liegt,
hinausgekommen iſt. Man verſäumte es, das Werk des Pater
Caulin zu Rate zu ziehen, des Geſchichtſchreibers von Solanos
Expedition, der nach den Angaben der Indianer ſehr klar
auseinanderſetzt, „wie der Name des Fluſſes Parime das
Märchen vom Dorado und einem Binnenmeere veranlaßt hat“.
Ganz unbenutzt ließ man ferner eine Karte vom Orinoko,
die drei Jahre jünger iſt als die von La Cruz, und die
von Surville nach dem ganzen zuverläſſigen wie hypothetiſchen
Material in den Archiven des Despacho universal de Indias
gezeichnet wurde. Die Fortſchritte der Geographie, ſoweit
ſie ſich auf den Karten zu erkennen geben, ſind weit lang-
ſamer, als man nach der Menge brauchbarer Reſultate, die
in den Litteraturen der verſchiedenen Völker zerſtreut ſind,
glauben ſollte. Aſtronomiſche Beobachtungen, topographiſche
Nachweiſungen häufen ſich viele Jahre lang an, ohne daß ſie
benutzt werden, und aus ſonſt ſehr lobenswertem Konſerva-
tismus wollen die Kartenzeichner oft lieber nichts Neues
bringen, als einen See, eine Bergkette oder ein Flußnetz opfern,
die man nun einmal ſeit Jahrhunderten eingezeichnet hat.
Da die fabelhaften Sagen vom Dorado und vom See
Parime nach dem Charakter der Länder, denen man ſie an-
paſſen wollte, verſchiedentlich gewendet worden ſind, ſo iſt
herauszufinden, was daran richtig ſein mag und was rein
chimäriſch iſt. Um nicht zu ſehr ins einzelne zu gehen, was
beſſer der „Analyſe des geographiſchen Atlas“ vorbehalten
bleibt, mache ich den Leſer vor allem auf die Oertlichkeiten
aufmerkſam, welche zu verſchiedenen Zeiten der Schauplatz
der Expeditionen zur Entdeckung des Dorado geweſen. Hat
man ſich mit der Phyſiognomie des Landes und mit den
örtlichen Umſtänden, wie wir ſie jetzt zu beſchreiben imſtande
ſind, bekannt gemacht, ſo wird einem klar, wie die verſchie-
denen Vorausſetzungen auf unſeren Karten nach und nach
entſtehen und einander modifizieren konnten. Um einen Irr-
tum zu berichtigen, hat man nur die wechſelnden Geſtalten
zu betrachten, unter denen er zu verſchiedenen Zeiten aufge-
treten iſt.
[189]
Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war das unge-
heure Gebiet zwiſchen den Bergen von Franzöſiſch-Guyana
und den Wäldern am oberen Orinoko, zwiſchen den Quellen
des Rio Carony und dem Amazonenſtrom (von 0 bis 4°
nördlicher Breite und vom 57. bis 68. Grade der Länge) ſo wenig
bekannt, daß die Geographen nach Gefallen Seen, Flußver-
bindungen, mehr oder weniger hohe Berge einzeichnen konnten.
Sie haben ſich dieſer Freiheit in vollem Maße bedient, und
die Lage der Seen, wie der Lauf und die Verzweigungen
der Flüſſe wurden ſo verſchiedenartig dargeſtellt, daß es nicht
zu wundern wäre, wenn ſich unter den zahlloſen Karten ein
paar fänden, die das Richtige getroffen hätten. Heutzutage
iſt das Feld der Hypotheſen ſehr bedeutend kleiner geworden.
Die Länge von Esmeralda am oberen Orinoko iſt von mir
beſtimmt; weiter nach Oſt, mitten in den Niederungen der
Parime (ein unbekanntes Land, wie Wangara und Dar-Saley
in Afrika) iſt ein 90 km breiter Strich von Nord nach Süd
an den Ufern des Rio Carony und des Rio Branco hin,
unter dem 63. Grade der Länge, bereits begangen. Es iſt dies
der gefährliche Weg, den Don Antonio Santos von Santo
Tome de Angoſtura an den Rio Negro und den Amazonen-
ſtrom eingeſchlagen, derſelbe, auf dem in neueſter Zeit An-
ſiedler aus Surinam mit den Bewohnern von Gran Para
verkehrt haben. Dieſer Weg ſchneidet die Terra incognita
der Parime in zwei ungleiche Stücke; zugleich ſetzt er den
Quellen des Orinoko Grenzen, ſo daß man dieſelben nicht
mehr nach Belieben gegen Oſt ſchieben kann, weil ſonſt das
Bett des oberen Orinoko, der von Oſt nach Weſt läuft, über
das Bett des Rio Branco liefe, der von Nord nach Süd
fließt. Verfolgt man den Rio Branco oder den Streifen
Bauland, der zur Capitania general von Gran Para gehört,
ſo ſieht man Seen, die von den Geographen zum Teil aus
der Luft gegriffen, zum Teil vergrößert ſind, zwei geſonderte
Gruppen bilden. Die erſte derſelben begreift die Seen, die
man zwiſchen Esmeralda und den Rio Branco verlegt, zur
zweiten gehören die, welche man auf dem Landſtrich zwiſchen
dem Rio Branco und den Bergen von Franzöſiſch- und Hollän-
diſch-Guyana einander gegenüber liegen läßt. Aus dieſer
Ueberſicht ergibt ſich, daß die Frage, ob es oſtwärts vom
Rio Branco einen See Parime gibt, mit der Frage nach den
Quellen des Orinoko gar nichts zu thun hat.
Außer dem eben bezeichneten Landſtriche (dem Dorado de
[190] la Parime, durch den der Rio Branco läuft) gibt es 1170 km
gegen Weſt am Oſtabhange der Kordilleren der Anden ein
anderes Land, das in den Expeditionen zur Aufſuchung des
Dorado ebenſo berufen iſt. Es iſt dies das Meſopotamien
zwiſchen dem Caqueta, dem Rio Negro, dem Uaupes und dem
Jurubeſh, von dem ich oben ausführlich geſprochen, der Do-
rado der Omagua, wo der See Manoa des Pater
Acuña, die Laguna de oro der Guanesindianer und das
Goldland liegen, aus dem Pater Fritz gegen das Ende des
17. Jahrhunderts in ſeiner Miſſion am Amazonenſtrom Gold-
bleche erhalten hat.
Die erſten und zumal berühmteſten Unternehmungen zur
Auffindung des Dorado waren gegen den Oſtabhang der
Anden von Neugranada gerichtet. Voll Verwunderung über
den Bericht eines Indianers aus Tacunga von den Schätzen
des Königs oder Zague von „Cundirumarca“, ſchickte Seba-
ſtian de Belalcazar im Jahre 1535 die Hauptleute Añasco
und Ampudia aus, das Valle del Dorado zu ſuchen, das
zwölf Tagereiſen von Huallabamba, alſo in den Gebirgen
zwiſchen Paſto und Popayan liegen ſollte. Die Nachrichten,
welche Pedro de Añasco von den Eingeborenen eingezogen,
in Verbindung mit den ſpäteren Mitteilungen des Diaz de
Pineda (1536), der die Provinzen Quixos und Canela zwi-
ſchen dem Rio Napo und dem Rio Paſtaça entdeckt hatte,
brachten auf die Vorſtellung, daß öſtlich von den Nevados
von Tunguragua, Cayambe und Popayan „weite Ebenen
liegen, reich an edlen Metallen, wo die Eingeborenen Rüſtun-
gen aus maſſiven Golde trügen“. Als man nun dieſe
Schätze aufſuchte, entdeckte Gonzalo Pizarro (1539) zufällig
den amerikaniſchen Zimtbaum (Laurus cinnamomoides)
und gelangte Francisco de Orellana über den Napo hinunter
in den Amazonenſtrom. Von da an wurden zu gleicher Zeit
von Venezuela, Neugranada, Quito und Peru, ja von Bra-
ſilien und vom Rio de la Plata aus Expeditionen zur Er-
oberung des Dorado unternommen. Am längſten haben ſich
die Züge in das Land ſüdlich vom Guaviare, Rio Fragua
und Caqueta im Gedächtnis erhalten, und durch ſie vor allen
hat das Märchen von den Schätzen der Manaos, der Oma-
gua und Guaypes, wie von der Exiſtenz der Lagunas de
oro und der Stadt des vergoldeten Königs (der große
Patiti, der große Moxo, der große Paru oder Enim)
Verbreitung gefunden. Da Orellana zwiſchen den Neben-
[191] flüſſen des Jupura und des Rio Negro Götzenbilder von
maſſivem Golde gefunden hatte, ſo glaubte man an ein Gold-
land zwiſchen dem Papamene und dem Guaviare. Seine
Erzählung und die Reiſeberichte Jorges de Eſpira (Georg
von Speier), Hernans Perez de Guezada und Felipes de
Urre (Philipp von Hutten) verraten, neben vielen Uebertrei-
bungen, genaue Lokalkenntniſſe. Betrachtet man ſie rein aus
geographiſchem Geſichtspunkte, ſo ſieht man, daß das Beſtre-
ben der erſten Konquiſtadoren fortwährend dahin ging, zum
Landſtriche zwiſchen den Quellen des Rio Negro, des Uaupes
(Guape) und des Jupura oder Caqueta zu gelangen. Dieſen
Landſtrich haben wir oben, zum Unterſchied vom Dorado
der Parime, den Dorado der Omagua genannt. Aller-
dings hieß alles Land zwiſchen dem Amazonenſtrom und dem
Orinoko im allgemeinen „Provincias del Dorado“; aber auf
dieſem ungeheuren, mit Wäldern, Savannen und Gebirgen
bedeckten Raume ſtrebte man, wenn man den großen See mit
goldreichen Ufern und den vergoldeten König ſuchte, doch
immer nur zwei Punkten zu, nordöſtlich und ſüdweſtlich vom
Rio Negro, nämlich der Parime (dem Iſthmus zwiſchen dem
Carony, Eſſequibo und Rio Branco) und den alten Wohn-
plätzen der Manaos an den Ufern des Jurubeſh. Die Lage der
letzteren Landſtriches, der in der Geſchichte der „Eroberung“ vom
Jahre 1535 bis zum Jahre 1560 vielberufen war, habe ich
oben angegeben; ich habe nun noch von der Bodenbildung
zwiſchen den ſpaniſchen Miſſionen am Carony und den por-
tugieſiſchen am Rio Branco zu ſprechen. Es iſt dies das
Land in der Nähe des oberen Orinoko, Esmeraldas und
von Holländiſch- und Franzöſiſch-Guyana, das am Ende des
16. Jahrhunderts Raleghs Unternehmungen und übertriebene
Berichte in ſo hellem Glanze ſtrahlen ließen.
Infolge des Laufes des Orinoko, indem er nacheinander
erſt gegen Weſt, dann gegen Nord und endlich gegen Oſt
fließt, liegt ſeine Mündung faſt im ſelben Meridian wie ſeine
Quellen; geht man daher von Altguyana gegen Süd, ſo
kommt man über das ganze Land, in das die Geographen
nacheinander ein Binnenmeer (Mar blanco) und die verſchie-
denen Seen verſetzen, die mit der Sage vom Dorado der
Parime verknüpft ſind. Zuerſt kommt man an den Rio
Carony, zu dem zwei faſt gleich ſtarke Zweige zuſammentreten,
der eigentliche Carony und der Rio Paragua. Die Miſſionäre
von Piritu nennen letzteren Fluß einen See (laguna). Er
[192] iſt voll Klippen und kleiner Waſſerfälle; „da er aber über
ein völlig ebenes Land läuft, tritt er zugleich häufig ſehr
ſtark aus und man kann ſein eigentliches Bett (su verdadera
caxa) kaum erkennen“. Die Eingeborenen nennen ihn Pa-
ragua oder Parava, was auf karibiſch Meer oder großer
See bedeutet. Dieſe örtlichen Verhältniſſe und dieſe Be-
nennung ſind ohne Zweifel die Veranlaſſung geworden, daß
man aus dem Rio Paragua, einem Nebenfluſſe des Carony,
einen See gemacht und denſelben Caſſipa genannt hat,
nach den Caſſipagoten, die in der Gegend wohnten. Ralegh
gab dieſem Waſſerbecken 58,5 km Breite, und da alle Seen
der Parime Goldſand haben müſſen, ſo ermangelt er nicht zu
verſichern, wenn ſommers das Waſſer falle, finde man da-
ſelbſt Goldgeſchiebe von bedeutendem Gewichte.
Da die Quellen der Nebenflüſſe des Carony, Arui und
Caura (Caroli, Arvi und Caora der alten Geographen) ganz
nahe bei einander liegen, ſo kam man auf den Gedanken, alle
dieſe Flüſſe aus dem angeblichen See Caſſipa entſpringen zu
laſſen. Sanſon vergrößert den See auf 189 km Länge und
67,5 km Breite. Die alten Geographen kümmern ſich wenig
darum, ob ſie die Zuflüſſe an beiden Ufern immer in derſelben
Weiſe einander gegenüberſetzen, und ſo geben ſie die Mündung
des Carony und den See Caſſipa, der durch den Carony mit
dem Orinoko zuſammenhängt, zuweilen oberhalb des Ein-
fluſſes des Meta an. So ſchiebt Hondius den See bis zum
2. und 3. Breitengrad hinunter und gibt ihm die Geſtalt
eines Rechteckes, deſſen größte Seiten von Nord nach Süd
gerichtet ſind. Dieſer Umſtand iſt bemerkenswert, weil man,
indem man nach und nach dem See Caſſipa eine ſüdlichere
Breite gab, denſelben vom Carony und Arui loslöſte und ihn
Parime nannte. Will man dieſe Metamorphoſe in ihrer all-
mählichen Entwickelung verfolgen, ſo muß man die Karten,
die ſeit Raleghs Reiſe bis heute erſchienen ſind, vergleichen.
La Cruz, dem alle neueren Geographen nachgezeichnet haben,
läßt ſeinem See Parime die längliche Geſtalt des Sees Caſſipa,
obgleich dieſe Geſtalt von der des alten Sees Parime oder
Rupunuwini, deſſen große Achſe von Oſt nach Weſt gerichtet
war, völlig abweicht. Ferner war dieſer alte See (der des
Hondius, Sanſon und Coronelli) von Bergen umgeben und
es entſprang kein Fluß daraus, während der See Parime des
La Cruz und der neueren Geographen mit dem oberen Orinoko
zuſammenhängt, wie der Caſſipa mit dem unteren Orinoko.
[193]
Ich habe hiermit den Urſprung der Fabel vom See
Caſſipa erklärt, ſowie den Einfluß, den ſie auf die Vorſtellung
gehabt, als ob der Orinoko aus dem See Parime entſpränge.
Sehen wir jetzt, wie es ſich mit dem letzteren Waſſerbecken
verhält, mit dem angeblichen Binnenmeere, das bei den
Geographen des 16. Jahrhunderts Rupunuwini heißt.
Unter 4 oder 4,5° der Breite (leider fehlt es in dieſer Rich-
tung, ſüdlich von Santo Tome de Angoſtura, auf 8° weit
ganz an aſtronomiſchen Beobachtungen) verbindet eine lange,
ſchmale Kordillere, Pacaraimo, Quimiropaca und Ucucuamo
genannt, die von Oſt nach Südweſt ſtreicht, den Bergſtock der
Parime mit den Bergen von Holländiſch- und Franzöſiſch-
Guyana. Sie bildet die Waſſerſcheide zwiſchen dem Carony,
Rupunury oder Rupunuwini und dem Rio Branco, und ſomit
zwiſchen den Thälern des unteren Orinoko, des Eſſequibo und
des Rio Negro. Nordweſtlich von dieſer Kordillere von Paca-
raimo, über die nur wenige Europäer gekommen ſind (im
Jahre 1739 der deutſche Chirurg Nikolaus Hortsmann, im
Jahre 1775 ein ſpaniſcher Offizier, Don Antonio Santos,
im Jahre 1791 der portugieſiſche Oberſt Barata, und im
Jahre 1811 mehrere engliſche Koloniſten) kommen der Nocapra,
der Paraguamuſi und der Paragua herab, die in den Carony
fallen; gegen Nordoſt kommt der Rupunuwini herunter, ein
Nebenfluß des Eſſequibo; gegen Süd vereinigen ſich der Tacutu
und der Uraricuera zum vielberufenen Rio Parime oder Rio
Branco.
Dieſer Iſthmus zwiſchen den Zweigen des Rio Eſſequibo
und des Rio Branco (das heißt zwiſchen dem Rupunuwini
einerſeits, und dem Pirara, Mahu und Uraricuera oder Rio
Parime andererſeits) iſt als der eigentliche klaſſiſche Boden
des Dorado der Parime zu betrachten. Am Fuße der
Berge von Pacaraimo treten die Flüſſe häufig aus, und ober-
halb Santa Roſa heißt das rechte Ufer des Urariapara, der
ſich in den Uraricuera ergießt, „el valle de la inundacion“.
Ferner findet man zwiſchen dem Rio Parime und dem Xurumu
große Lachen; auf den in neueſter Zeit in Braſilien gezeich-
neten Karten, die über dieſen Landſtrich ſehr genau ſind,
finden ſich dieſe Waſſerſtücke angegeben. Weiter nach Weſt
kommt der Caño Pirara, der in den Mahu läuft, aus einem
Binſenſee. Das iſt der von Nikolaus Hortsmann beſchriebene
See Amucu, derſelbe, über den mir Portugieſen aus Barcelos,
die am Rio Branco (Rio Parime oder Rio Paravigiana)
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 13
[194] geweſen waren, während meines Aufenthaltes in San Carlos
del Rio Negro genaue Notizen gegeben haben. Der See
Amucu iſt mehrere Meilen breit und hat zwei kleine Inſeln,
die ich Santas Islas Ipomucena nennen hörte. Der Rupu-
nuwini, an deſſen Ufer Hortsmann Felſen mit hieroglyphiſchen
Bildern entdeckt hat, kommt dieſem See ganz nahe, ſteht aber
in keiner Verbindung mit demſelben. Der Trageplatz zwiſchen
dem Rupunuwini und dem Mahu liegt weiter gegen Nord,
wo der Berg Ucucuamo ſich erhebt, der bei den Eingeborenen
noch jetzt der Goldberg heißt. Sie gaben Hortsmann den
Rat, um den Rio Mahu herum eine Silbergrube (ohne Zweifel
großblätteriger Glimmer), Diamanten und Smaragde zu ſuchen:
der Reiſende fand aber nichts als Bergkriſtall. Aus ſeinem
Berichte ſcheint hervorzugehen, daß der ganze nach Oſt ſtreichende
Zug der Gebirge am oberen Orinoko (Sierra Parime) aus
Graniten beſteht, in denen, wie am Pik Duida, häufig
Druſen und offene Gänge vorkommen. In dieſer Gegend,
die noch immer für ſehr goldreich gilt, leben an der Weſt-
grenze von Holländiſch-Guyana die Macuſi, Aturajos und
Acuvajos; ſpäter fand Santos dieſe Völkerſchaften zwiſchen
dem Rupunuwini, dem Mahu und der Bergkette Pacaraimo
angeſiedelt. Das glimmerreiche Geſtein am Berge
Ucucuamo, der Name des Rio Parime, das Aus-
treten der Flüſſe Urariapara, Parime und Xurumu,
beſonders aber der See Amucu (der nahe beim
Rio Rupunuwini liegt und für die Hauptquelle
des Rio Parime gilt) haben die Fabel vom Weißen
Meere und dem Dorado der Parime veranlaßt.
Alle dieſe Momente (und eben dadurch wirkten ſie zu einer
Vorſtellung zuſammen) finden ſich auf einer von Nord nach
Süd 36 bis 40 km breiten, von Oſt nach Weſt 180 km
langen Strecke nebeneinander. Dieſe Lage gab man auch bis
zum Anfange des 16. Jahrhunderts dem Weißen Meere,
nur daß man es in der Richtung eines Parallels verlängerte.
Dieſes Weiße Meer iſt nun aber nichts anderes als der
Rio Parime, der auch Weißer Fluß, Rio Branco oder
de aguas blancas heißt und dieſen ganzen Landſtrich, über
den er läuft, unter Waſſer ſetzt. Auf den älteſten Karten
heißt das Weiße Meer Rupunuwini, und daraus geht
hervor, daß die Sage eben hier zu Hauſe iſt, da unter allen
Nebenflüſſen des Eſſequibo der Rio Rupunuwini dem See
Amucu am nächſten kommt. Bei ſeiner erſten Reiſe (1595)
[195] machte ſich Ralegh noch keine beſtimmte Vorſtellung von der
Lage des Dorado und des Sees Parime, den er für geſalzen
hielt und den er ein „zweites Kaſpiſches Meer“ nennt. Erſt
bei der zweiten, gleichfalls auf Raleghs Koſten unternommenen
Reiſe (1596) gab Lawrence Keymis die Oertlichkeiten des
Dorado ſo beſtimmt an, daß, wie mir dünkt, an der Identität
der Parime de Manoa mit dem See Amucu und dem
Iſthmus zwiſchen dem Rupunuwini (der in den Eſſequibo
läuft) und dem Rio Parime oder Rio Branco gar nicht zu
zweifeln iſt. „Die Indianer,“ ſagt Keymis, „fahren den
Eſſequibo ſüdwärts in 20 Tagen hinauf. Um die Stärke des
Fluſſes anzudeuten, nennen ſie ihn den Bruder des Ori-
noko. Nach 20tägiger Fahrt ſchaffen ſie ihre Kanoen über
einen Trageplatz in einem einzigen Tage aus dem Fluſſe
Deſſekebe auf einen See, den die Jaos Roponowini, die
Kariben Parime nennen. Dieſer See iſt groß wie ein Meer;
es fahren unzählige Kanoen darauf, und ich vermute (die
Indianer hatten ihm alſo nichts davon geſagt), daß es der-
ſelbe See iſt, an dem die Stadt Manoa liegt.“ Hondius
gibt eine merkwürdige Abbildung von jenem Trageplatz, und
da nach der damaligen Vorſtellung die Mündung des Carony
unter dem 4. Breitengrad (ſtatt unter 8° 8′) lag, ſo ſetzte
man den Trageplatz ganz nahe an den Aequator. Zur ſelben
Zeit ließ man den Viapoco (Oyapoc) und den Rio Cayane
(Maroni?) aus jenem See Parime kommen. Der Umſtand,
daß die Kariben den weſtlichen Zweig des Rio Branco ebenſo
nennen, hat vielleicht ſoviel dazu beigetragen, den See Amucu
in der Einbildung zu vergrößern, als die Ueberſchwemmungen
der verſchiedenen Nebenflüſſe des Uraricuera von der Mündung
des Tacutu bis zum Valle de la inundacion.
Wir haben oben geſehen, daß die Spanier den Rio
Paragua oder Parava, der in den Carony fällt, für einen
See hielten, weil das Wort ParavaMeer, See, Fluß
bedeutet. Ebenſo ſcheint Parime großes Waſſer im all-
gemeinen zu bedeuten, denn die Wurzel par kommt in kari-
biſchen Benennungen von Flüſſen, Lachen, Seen und Meeren
vor. Im Arabiſchen und im Perſiſchen dienen ebenſo bahr
und deria gleichmäßig zur Bezeichnung des Meeres, der Seen
und der Flüſſe, und dieſer Brauch, der ſich bei vielen Völkern
in beiden Welten findet, hat auf den alten Karten Seen in
Flüſſe und Flüſſe in Seen umgewandelt. Zur Bekräftigung
des eben Geſagten führe ich einen ſehr achtbaren Zeugen auf,
[196] Pater Caulin. „Als ich,“ ſagt dieſer Miſſionär, der ſich
länger als ich am unteren Orinoko aufgehalten hat, „die
Indianer fragte, was denn die Parime ſei, ſo erwiderten
ſie, es ſei nichts als ein Fluß, der aus einer Bergkette komme,
an deren anderem Abhange der Eſſequibo entſpringe.“ Caulin
weiß nichts vom See Amucu, und erklärt den Glauben an
ein Binnenmeer nur aus den Ueberſchwemmungen der Ebenen,
a las inundaciones dilatadas por los bajos del pays.1 Ihm
zufolge rühren alle Mißgriffe der Geographen von dem leidigen
Umſtande her, daß alle Flüſſe in Guyana an ihren Mün-
dungen andere Namen haben als an ihren Quellen. „Ich
zweifle nicht,“ ſagt er weiter, „daß einer der oberen Zweige
des Rio Branco derſelbe Rio Parime iſt, den die Spanier
für einen See gehalten haben (a quien suponian laguna).“
Dieſe Notizen hatte der Geſchichtſchreiber der Grenzexpedition
an Ort und Stelle geſammelt, und er hätte wohl nicht ge-
glaubt, daß La Cruz und Surville richtige Begriffe und alte
Vorſtellungen vermengen und auf ihren Karten das Mar
Dorado oder Mar Blanco wieder zum Vorſchein bringen
würden. So kommt es, daß, obgleich ich ſeit meiner Rückkehr
aus Amerika vielfach den Beweis geführt, daß ein Binnen-
meer, aus dem der Orinoko entſpränge, gar nicht exiſtiert, in
neueſter Zeit unter meinem Namen eine Karte2 erſchienen iſt,
auf der die Laguna de Parime wiederum auftritt.
Aus allem Bisherigen geht hervor: 1) daß die Laguna
Rupunuwini oder Parime aus Raleghs Reiſe und auf den
Karten des Hondius ein chimäriſcher See iſt, zu dem der
See Amucu und die häufigen Ueberſchwemmungen der Neben-
flüſſe des Uraricuera Veranlaſſung gegeben; 2) daß die Laguna
Parime auf Survilles Karte der See Amucu iſt, aus dem
der Rio Pirara und (zugleich mit dem Mahu, dem Tacutu,
dem Uraricuera oder dem eigentlich ſogenannten Rio Parime)
der Rio Branco entſpringt; 3) daß die Laguna Parime
des La Cruz eine eingebildete Erweiterung des Rio Parime
(der mit dem Orinoko verwechſelt wird) unterhalb der Ver-
einigung des Mahu mit dem Xurumu iſt. Von der Mün-
dung des Mahu bis zu der des Tacutu beträgt die Ent-
fernung kaum 0° 40′; La Cruz macht 7 Breitengrade daraus.
[197] Er nennt das obere Stück des Rio Branco (in das der Mahu
fällt) Orinoko oder Puruma. Dies iſt ohne allen Zweifel
der Xurumu, ein Nebenfluß des Tacutu, der den Einwoh-
nern des benachbarten Forts San Joaquim wohlbekannt iſt.
Alle Namen, die in der Sage vom Dorado vorkommen, finden
ſich unter den Nebenflüſſen des Rio Branco. Geringfügige
örtliche Verhältniſſe und die Erinnerung an den Salzſee in
Mexiko, zumal aber an den See Manoa im Dorado der
Omagua wirkten zuſammen zur Ausmalung eines Bildes,
das der Einbildungskraft Raleghs und ſeiner beiden Unter-
befehlshaber, Keymis und Maſham, den Urſprung verdankt.
Nach meiner Anſicht laſſen ſich die Ueberſchwemmungen des
Rio Branco höchſtens mit denen des Red River in Louiſiana
zwiſchen Natchitotches und Cados vergleichen, keineswegs aber
mit der Laguna de los Xarayes, die eine periodiſche Aus-
breitung des Rio Paraguay iſt. 1
Wir haben im Bisherigen ein Weißes Meer be-
ſprochen, durch das man den Hauptſtamm des Rio Branco
laufen läßt, und ein zweites, 2 das man oſtwärts von dieſem
Fluſſe ſetzt, und das mit demſelben mittels des Caño Pirara
zuſammenhängt. Noch gibt es einen dritten See, 3 den man
weſtwärts vom Rio Branco verlegt, und über den ich erſt
kürzlich intereſſante Angaben im handſchriftlichen Tagebuch
des Chirurgen Hortsmann gefunden habe. „Zwei Tagereiſen
unterhalb des Einfluſſes des Mahu (Tacutu) in den Rio
Parime (Uraricuera) liegt auf einem Berggipfel ein See, in
dem dieſelben Fiſche vorkommen wie im Parime; aber die
Waſſer des erſteren ſind ſchwarz, die des letzteren weiß.“ Hat
nun nicht vielleicht Surville nach einer dunkeln Kunde von
dieſem Waſſerbecken auf der Karte, die er zu Pater Caulins
Werk entworfen, ſich einen 45 km langen Alpenſee ausgedacht,
bei dem (gegen Oſt) der Orinoko und der Idapa, ein Neben-
fluß des Rio Negro, zumal entſpringen? So unbeſtimmt die
[198] Angabe des Chirurgen aus Hildesheim lautet, ſo läßt ſich
doch unmöglich annehmen, daß der Berg, auf deſſen Gipfel
ſich ein See befindet, nördlich vom Parallel von 2° ½′ liege,
und dieſe Breite kommt ungefähr mit der des Cerro Unturan
überein. Es ergibt ſich daraus, daß Hortsmanns Alpſee, der
d’Anvilles Aufmerkſamkeit entgangen iſt, und der vielleicht
mitten in einer Berggruppe liegt, nordöſtlich vom Trageplatz
zwiſchen dem Idapa und Mavaca und ſüdöſtlich vom Orinoko,
oberhalb Esmeralda, zu ſuchen iſt.
Die meiſten Geſchichtſchreiber, welche die erſten Jahr-
hunderte nach der Eroberung beſchrieben haben, ſchienen der
feſten Anſicht, daß die Namen Provincias und Pais del
Dorado urſprünglich jeden goldreichen Landſtrich bedeuteten.
Sie vergeſſen den etymologiſchen Sinn des Wortes Dorado
(der Vergoldete) und bemerken nicht, daß die Sage ein
Lokalmythus iſt, wie ja auch faſt alle Mythen der Griechen,
Hindu und Perſer. Die Geſchichte vom vergoldeten
Mann iſt urſprünglich in den Anden von Neugranada zu
Hauſe, beſonders auf den Niederungen am Oſtabhange der-
ſelben; nur allmählich, wie ich oben gezeigt, ſieht man ſie
1350 km gegen Oſt-Nord-Oſt von den Quellen des Caqueta
an die des Rio Branco und des Eſſequibo herüberrücken.
Man hat in verſchiedenen Gegenden von Südamerika bis zum
Jahr 1536 Gold geſucht, ohne daß das Wort Dorado aus-
geſprochen worden wäre, und ohne daß man an die Exiſtenzen
eines anderen Mittelpunktes der Kultur und der Schätze als
das Reich der Inka von Cuzco geglaubt hätte. Länder, aus
denen gegenwärtig auch nicht die kleinſte Menge edlen Metalls
in den Handel kommt, die Küſte von Paria, Terra Firma
(Castilla del Oro), die Berge von Santa Marta und die
Landenge Darien waren damals ſo vielberufen, wie in neuerer
Zeit der goldhaltige Boden in Sonora, Choco und Braſilien.
Diego de Ordaz (1531) und Alonzo de Herrera (1535)
zogen auf ihren Entdeckungsreiſen an den Ufern des unteren
Orinoko hin. Erſterer iſt der berüchtigte Konquiſtador von
Mexiko, der ſich rühmte, Schwefel aus dem Krater des Piks
Popokatepetl geholt zu haben, und dem Karl V. die Erlaubnis
erteilte, einen brennenden Vulkan im Wappen zu führen.
Ordaz war zum Adelantado allen Landes ernannt worden,
das er zwiſchen Braſilien und Venezuela erobern könnte, und
das damals das Land der deutſchen Kompanie der Welſer
(Velzares) hieß, und ging auf ſeinem Zuge von der Mündung
[199] des Amazonenſtromes aus. Er ſah dort in den Händen der
Eingeborenen „fauſtgroße Smaragde“. Es waren ohne Zweifel
Stücke Sauſſurit, von dem dichten Feldſpat, den wir vom
Orinoko zurückgebracht, und den La Condamine an der Mün-
dung des Rio Tapajos in Menge angetroffen. Die Indianer
ſagten Diego de Ordaz, „wenn er ſo und ſo viele Sonnen
gegen Weſten hinauffahre, komme er an einen großen Fels
(peña) von grünem Geſtein“; bevor er aber dieſen vermeint-
lichen Smaragdberg (Euphotitgeſtein?) erreichte, machte ein
Schiffbruch allen weiteren Entdeckungen ein Ende. Mit ge-
nauer Not retteten ſich die Spanier in zwei kleinen Fahrzeugen.
Sie eilten, aus der Mündung des Amazonenſtromes hinaus-
zukommen, und die Strömungen, die in dieſen Strichen ſtark
nach Nordweſt gehen, führten Ordaz an die Küſte von Paria
oder auf das Gebiet der Kaziken von Yuripari (Uriapari,
Viapari). Sedeño hatte die Casa fuerte de Paria gebaut,
und da dieſer Poſten ganz nahe an der Mündung des Orinoko
lag, beſchloß der mexikaniſche Konquiſtador, eine Expedition
auf dieſem großen Strome zu verſuchen. Er hielt ſich zuerſt
in Carao (Caroa, Carora) auf, einem großen indianiſchen
Dorfe, das mir etwas oſtwärts vom Einfluß des Carony ge-
legen zu haben ſcheint; er fuhr ſofort nach Cabruta (Cabuta,
Cabritu) hinauf und an den Einfluß des Meta (Metacuyu),
wo er mit großen Fährlichkeiten ſeine Fahrzeuge über den
Raudal von Cariven ſchaffte. Wir haben oben geſehen, daß
das Bett des Orinoko bei der Einmündung des Meta voll
Klippen iſt. Die Aruakenindianer, die Ordaz als Wegweiſer
dienten, rieten ihm, den Meta hinaufzufahren; ſie verſicherten
ihn, weiter gegen Weſt finde er bekleidete Menſchen und Gold
in Menge. Ordaz wollte lieber auf dem Orinoko weiterfahren,
aber die Katarakte bei Tabaje (vielleicht ſogar die bei Atures)
nötigten ihn, ſeine Entdeckungen aufzugeben.
Auf dieſem Zuge, der lange vor den des Orellana fällt
und alſo der bedeutendſte war, den die Spanier bis dahin
auf einem Strome der Neuen Welt unternommen, hörte man
zum erſtenmal den Namen Orinoko ausſprechen. Ordaz, der
Anführer der Expedition, verſichert, von der Mündung bis zum
Einfluß des Meta heiße der Strom Uriaparia, oberhalb dieſes
Einfluſſes aber Orinucu. Dieſes Wort (ähnlich gebildet
wie die Worte Tamanacu, Otomacu, Sinarucu) ge-
hört wirklich der tamanakiſchen Sprache an, und da die Ta-
manaken ſüdöſtlich von Encaramada wohnen, ſo iſt es natür-
[200] lich, daß die Konquiſtadoren den jetzigen Namen des Stromes
erſt in der Nähe des Rio Meta zu hören bekamen. Auf
dieſem Nebenfluß erhielt Diego de Ordaz von den Eingeborenen
die erſte Kunde von civiliſierten Völkern, welche auf den Hoch-
ebenen der Anden von Neugranada wohnen, „von einem ge-
waltigen, einäugigen Fürſten und von Tieren, kleiner als
Hirſche, auf denen man aber reiten könne, wie die Spanier
auf den Pferden“. Ordaz zweifelte nicht, daß dieſe Tiere
Lama oder Ovejas del Peru ſeien. Soll man annehmen,
daß die Lama, die man in den Anden vor dem Pflug und
als Laſttiere, aber nicht zum Reiten brauchte, früher nördlich
und öſtlich von Quito verbreitet geweſen? Ich finde wirklich,
daß Orellana welche am Amazonenſtrom geſehen hat, oberhalb
des Einfluſſes des Rio Negro, alſo in einem Klima, das von
dem der Hochebene der Anden bedeutend abweicht. Das Mär-
chen von einem auf Lama berittenen Heere von Omagua
mußte dazu dienen, den Bericht der Begleiter Felipes de Urre
über ihren ritterlichen Zug an den oberen Orinoko auszu-
ſchmücken. Dergleichen Sagen ſind äußerſt beachtenswert,
weil ſie darauf hinzuweiſen ſcheinen, daß die Haustiere Quitos
und Perus bereits angefangen hatten von den Kordilleren
herabzukommen und ſich allmählich in den öſtlichen Landſtrichen
von Südamerika zu verbreiten.
Im Jahre 1533 wurde Herrera, der Schatzmeiſter bei
Diegos de Ordaz’ Expedition, vom Statthalter Geronimo de
Ortal mit der weiteren Erforſchung des Orinoko und des
Meta beauftragt. Er brachte zwiſchen Punta Barima und
dem Einfluſſe des Carony faſt 13 Monate mit dem Bau
platter Fahrzeuge und den notwendigen Zurüſtungen zu einer
langen Reiſe hin. Man lieſt nicht ohne Verwunderung die
Erzählung dieſer kühnen Unternehmungen, wobei man drei-,
vierhundert Pferde einſchiffte, um ſie ans Land zu ſetzen, ſo
oft die Reiterei am einen oder dem anderen Ufer etwas aus-
richten konnte. Wir finden bei Herreras Expedition dieſelben
Stationen wieder, die wir bereits kennen gelernt: die Feſte
Paria, das indianiſche Dorf Uriaparia (wahrſcheinlich unter-
halb Imataca an einem Punkte, wo ſich die Spanier wegen
der Ueberſchwemmung des Deltas kein Brennholz verſchaffen
konnten), Caroa in der Provinz Carora, die Flüſſe Caranaca
(Caura?) und Caxavana (Cuchivero?), das Dorf Cabritu
(Cabruta) und den Raudal am Einfluß des Meta. Da der
Rio Meta ſehr berühmt war, weil ſeine Quellen und ſeine
[201] Nebenflüſſe den goldhaltigen Kordilleren von Neugranada
(Cundinamarca) nahe liegen, ſo verſuchte er ihn hinaufzufahren.
Er fand daſelbſt civiliſiertere Völker als am Orinoko, die aber
das Fleiſch ſtummer Hunde aßen. In einem Gefecht
wurde Herrera durch einen mit Curareſaft (Yierva) vergifteten
Pfeil getötet; ſterbend ernannte er Alvaro de Ordaz zu ſei-
nem Stellvertreter. Dieſer führte (1535) die Trümmer der
Expediton nach der Feſte Paria zurück, nachdem er vollends
die wenigen Pferde eingebüßt, die einen achtzehnmonatlichen
Feldzug ausgehalten.
Dunkle Gerüchte über die Schätze der Völker am Meta
und anderen Nebenflüſſen am Oſtabhang der Kordilleren von
Neugranada veranlaßten nacheinander, in den Jahren 1535
und 1536, Geronimo de Ortal, Nikolaus Federmann und
Jorge de Eſpira (Georg von Speier) zu Expeditionen auf
Landwegen gegen Süd und Südweſt. Vom Vorgebirge Paria
bis zum Cabo de la Vela hatte man ſchon ſeit den Jahren
1498 und 1500 in den Händen der Eingeborenen kleine ge-
goſſene Goldbilder geſehen. Die Hauptmärkte für dieſe Amu-
lette, die den Weibern als Schmuck dienten, waren die Dörfer
Curiana (Coro) und Cauchieto (beim Rio la Hacha). Die
Gießer in Cauchieto erhielten das Metall aus einem Berg-
land weit gegen Süden. Die Expeditionen des Ordaz und
des Herrera hatten das Verlangen, dieſe goldreichen Land-
ſtriche zu erreichen, natürlich geſteigert. Georg von Speier
brach (1535) von Coro auf und zog über die Gebirge von
Merida an den Apure und Meta. Er ging über dieſe bei-
den Flüſſe nahe bei ihren Quellen, wo ſie noch nicht breit
ſind. Die Indianer erzählten ihm, weiter vorwärts ziehen
weiße Menſchen auf den Ebenen umher. Speier, der ſich
nahe am Amazonenſtrome glaubte, zweifelte nicht, daß
dieſe umherziehenden Spanier, Schiffbrüchige von der Expedi-
tion des Ordaz ſeien. Er zog über die Savannen von San
Juan de los Llanos, die reich an Gold ſein ſollten, und
blieb lange in einem indianiſchen Dorfe, Pueblo de Nueſtra
Señora, ſpäter Fragua genannt, ſüdöſtlich vom Paramo de
la Suma Paz. Ich war am Weſtabhange dieſes Bergſtocks,
in Fuſagaſuga, und hörte, die Ebenen gegen Oſt am Fuße der
Berge ſeien noch jetzt bei den Eingeborenen wegen ihres Reich-
tums berufen. Im volkreichen Dorfe Fragua fand Speier
eine Casa del Sol (Sonnentempel) und ein Jungfrauenkloſter,
ähnlich denen in Peru und Neugranada. Hatte ſich hier der
[202] Kultus gegen Oſt ausgebreitet, oder ſind etwa die Ebenen
bei San Juan die Wiege desſelben? Nach der Sage war
allerdings Bochica, der Geſetzgeber von Neugranada und Ober-
prieſter von Iraca, von den Ebenen gegen Oſt auf das Pla-
teau von Bogota heraufgekommen. Da aber Bochica in einer
Perſon Sohn und Sinnbild der Sonne iſt, ſo kann ſeine
Geſchichte rein aſtrologiſche Allegorien enthalten. Auf ſeinem
weiteren Zuge nach Süd ging Speier über die zwei Zweige
des Guaviare, den Ariare und Guayavero, und gelangte ans
Ufer des großen Rio Papamene oder Caqueta. Der Wider-
ſtand, den er ein ganzes Jahr lang in der Provinz Los Cho-
ques fand, machte dieſer denkwürdigen Expedition ein Ende
(1537). Nikolaus Federmann und Geronimo de Ortal ver-
folgten von Macarapana und der Mündung des Rio Neveri
aus Jorges de Eſpira Spuren. Erſterer ſuchte Gold im
großen Magdalenenſtrome, letzterer wollte einen Sonnen-
tempel am Ufer des Meta entdecken. Da man die Landes-
ſprache nicht verſtand, ſah man am Fuße der Kordilleren
überall einen Abglanz der großartigen Tempel von Iraca
(Sogamozo), dem damaligen Mittelpunkt der Kultur in Cun-
dinamarca.
Ich habe bis jetzt aus geographiſchem Geſichtspunkt die
Reiſen beſprochen, welche auf dem Orinoko und gegen Weſt
und Süd an den Oſtabhang der Anden unternommen wurden,
bevor ſich die Sage vom Dorado unter den Konquiſtadoren
verbreitet hatte. Dieſe Sage ſtammt, wie wir oben angeführt,
aus dem Königreich Quito, wo Luis Daça im Jahre 1535
einen Indianer aus Neugranada traf, der von ſeinem Fürſten
(ohne Zweifel vom Zippa von Bogota oder vom Zaque
von Tunja) abgeſandt war, um von Atahualpa, dem Inka
von Peru, Kriegshilfe zu erbitten. Dieſer Abgeſandte pries
wie gewöhnlich die Schätze ſeiner Heimat; was aber den
Spaniern, die mit Daça in der Stadt Tacunga (Llactaconga)
waren, ganz beſonders auffiel, das war die Geſchichte von
einem vornehmen Mann, „der, den Körper mit Goldſtaub be-
deckt, in einen See mitten im Gebirge ging“. Dieſer See
könnte die Laguna die Tota, etwas oſtwärts vom Sogamozo
(Iraca) und Tunja (Hunca) ſein, wo das geiſtliche und das
weltliche Haupt des Reiches Cundinamarca oder Condirumarca
ihren Sitz hatten; da ſich aber keinerlei geſchichtliche Erinne-
rung an dieſen See knüpft, ſo glaube ich vielmehr, daß mit
dem, in welchen man den vergoldeten großen Herrn
[203] gehen ließ, der heilige See Guatavita, oſtwärts von
den Steinſalzgruben vor Zipaquira, gemeint iſt. Ich ſah am
Rande dieſes Waſſerbeckens die Reſte einer in den Fels ge-
hauenen Treppe, die bei den gottesdienſtlichen Waſchungen
gebraucht wurde. Die Indianer erzählen, man habe Goldſtaub
und Goldgeſchirr hineingeworfen, als Opfer für die Götzen des
Adoratorio de Guatavita. Man ſieht noch die Spuren eines
Einſchnittes, den die Spanier gemacht, um den See trocken
zu legen. Da der Sonenntempel von Sogamozo den Nord-
küſten von Terra Firma ziemlich nahe liegt, ſo wurden die
Vorſtellungen vom vergoldeten Mann bald auf einen Ober-
prieſter von der Sekte des Bochica oder Idacanzas überge-
tragen, der ſich gleichfalls jeden Morgen, um das Opfer zu
verrichten, auf Geſicht und Hände, nachdem er dieſelben mit
Fett eingerieben, Goldſtaub kleben ließ. Nach anderen Nach-
richten, die in einem Schreiben Oviedos an den berühmten
Kardinal Bembo aufbehalten ſind, ſuchte Gonzalo Pizarro, als
er den Landſtrich entdeckte, wo die Zimtbäume wachſen, zu-
gleich „einen großen Fürſten, von dem hierzulande viel die
Rede geht, der immer mit Goldſtaub überzogen iſt, ſo daß
er vom Kopf zu Fuß ausſieht wie una figura d’oro lavo-
rata di mano d’un buonissimo orifice. Der Goldſtaub
wird mittels eines wohlriechenden Harzes am Leibe befeſtigt;
da aber dieſe Art Anzug ihm beim Schlafen unbequem
wäre, ſo wäſcht ſich der Fürſt jeden Abend und läßt ſich
morgens wieder vergolden, welches beweiſt, daß das Reich
des Dorado ungemein viele Goldgruben haben muß.“ Es
iſt ganz wohl anzunehmen, daß unter den von Bochica ein-
geführten gottesdienſtlichen Zeremonien eine war, die zu einer
ſo allgemein verbreiteten Sage Anlaß gab. Fand man doch
in der Neuen Welt die allerwunderlichſten Gebräuche. In
Mexiko bemalten ſich Opferprieſter den Körper; ja ſie trugen
eine Art Meßgewand mit hängenden Aermeln aus gegerbter
Menſchenhaut. Ich habe Zeichnungen derſelben bekannt ge-
macht, die von den alten Einwohnern von Anahuac herrühren
und in ihren gottesdienſtlichen Büchern aufbehalten ſind.
Am Rio Caura und in anderen wilden Landſtrichen von
Guyana, wo der Körper bemalt ſtatt tättowiert wird,
reiben ſich die Eingeborenen mit Schildkrötenfett ein und kleben
ſich metalliſch glänzende, ſilberweiße und kupferrote Glimmer-
plättchen auf die Haut. Von weitem ſieht dies aus, als
trügen ſie mit Borten beſetzte Kleider. Der Sage vom ver-
[204] goldeten Mann liegt vielleicht ein ähnlicher Brauch zu
Grunde, und da es in Neugranada zwei ſouveräne Fürſten
gab,1 den Lama in Iraca und das weltliche Oberhaupt oder
den Zaque in Tunja, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß das-
ſelbe Zeremoniell bald dem König, bald dem Oberprieſter zu-
geſchrieben wird. Auffallender erſcheint es, daß man vom
Jahre 1535 an das Land des Dorado oſtwärts von den
Anden geſucht hat. Robertſon nimmt in ſeiner Geſchichte des
neuen Kontinents an, die Sage ſei zuerſt Orellana (1540)
am Amazonenſtrom zu Ohren gekommen; aber das Buch des
Fray Pedro Simon, dem Queſadas, des Eroberers von Cundi-
rumarca, Aufzeichnungen zu Grunde liegen, beweiſt das Gegen-
teil, und bereits im Jahre 1536 ſuchte Gonzalo Diaz de
Pineda den vergoldeten Mann jenſeits der Niederungen
der Provinz Quixos. Der Geſandte aus Bogota, den Daça
im Königreich Quito getroffen, hatte von einem oſtwärts
gelegenen Lande geſprochen; that er etwa ſo, weil die Hochebene
von Neugranada nicht nordwärts, ſondern nordoſtwärts von
Quito liegt? Man ſollte meinen, die Sage von einem nackten,
mit Goldſtaub überzogenen Mann müßte urſprünglich in einem
heißen Lande zu Hauſe ſein, und nicht auf den kalten Hoch-
ebenen von Cundirumarca, wo ich den Thermometer oft unter
4 oder 5° fallen ſah; indeſſen iſt das Klima infolge der un-
gewöhnlichen Bodenbildung auch in Guatavita, Tunja, Iraca
und am Ufer des Sogamozo ſehr verſchieden. Nicht ſelten
behält man gottesdienſtliche Gebräuche bei, die aus einem
anderen Erdſtrich herrühren, und nach alten Sagen ließen die
Muysca ihren erſten Geſetzgeber und Stifter ihres Gottes-
dienſtes, Bochica, aus den Ebenen oſtwärts von den Kordilleren
herkommen. Ich laſſe unentſchieden, ob dieſe Sagen auf einer
geſchichtlichen Thatſache beruhten oder ob damit, wie ſchon
oben bemerkt, nur angedeutet ſein ſollte, daß der erſte Lama,
der Sohn und Sinnbild der Sonne iſt, notwendig aus Län-
dern gegen Aufgang gekommen ſein müſſe. Wie dem ſei, ſo
viel iſt gewiß, der Ruf, den der Orinoko, der Meta und die
Provinz Papamene zwiſchen den Quellen des Guaviare und
Caqueta durch die Expeditionen des Ordaz, Herrera und
Georgs von Speier bereits erlangt, trug dazu bei, die Sage
[205] vom Dorado in der Nähe des Oſtabhanges der Kordilleren
zu fixieren.
Daß auf der Hochebene von Neugranada drei Heerhaufen
zuſammentrafen, machte, daß ſich in ganz Amerika, ſoweit
es von den Spaniern beſetzt war, die Kunde von einem noch
zu erobernden reichen, ſtark bevölkerten Lande verbreitete.
Sebaſtian de Belalcazar zog von Quito über Popayan nach
Bogota (1536); Nikolaus Federmann kam von Venezuela,
von Oſt her über die Ebenen am Meta. Dieſe beiden An-
führer trafen auf der Hochebene von Condirumarca bereits
den vielberufenen Adelantado Gonzalo Ximenes de Que-
ſada, von dem ich einen Nachkommen bei Zipaquira barfuß
das Vieh habe hüten ſehen. Das zufällige Zuſammentreffen
der drei Konquiſtadoren, eines der merkwürdigſten und dra-
matiſchten Ereigniſſe in der Geſchichte der Eroberung, fand
im Jahre 1538 ſtatt. Belalcazar erhitzte durch ſeine Berichte
die Phantaſie abenteuerluſtiger Krieger; man verglich, was
der Indianer aus Tacunga Luis Daça erzählt, mit den ver-
worrenen Vorſtellungen von den Schätzen eines großen ein-
äugigen Königs und von einem bekleideten, auf Lama reiten-
den Volke, die Ordaz vom Meta mitgebracht. Pedro de
Limpias, ein alter Soldat, der mit Federmann auf der Hoch-
ebene von Bogota geweſen war, brachte die erſte Kunde vom
Dorado nach Coro, wo das Andenken an die Expedition
Georgs von Speier (1535 bis 1537) an den Rio Papamene
noch ganz friſch war. Von dieſer ſelben Stadt Coro aus
unternahm auch Felipe de Hutten (Urre, Utre) ſeine vielbe-
rufene Reiſe in das Gebiet der Omagua, während Pizarro,
Orellana und Hernan Perez de Queſada, der Bruder des
Adelantado, das Goldland am Rio Napo, längs des Ama-
zonenſtromes und in der öſtlichen Kette der Anden von Neu-
granada ſuchten. Die Eingeborenen, um ihrer unbequemen
Gäſte los zu werden, verſicherten allerorten, zum Dorado
ſei leicht zu kommen, und zwar ganz in der Nähe. Es war
wie ein Phantom, das vor den Spaniern entwich und ihnen
beſtändig zurief. Es liegt in der Natur des flüchtigen Erden-
bewohners, daß er das Glück in der unbekannten Weite ſucht.
Der Dorado, gleich dem Atlas und den Heſperiſchen Inſeln,
rückte allgemach vom Gebiete der Geographie auf das der
Mythendichtung hinüber.
Die vielfachen Unternehmungen zur Aufſuchung dieſes
eingebildeten Landes zu erzählen, liegt nicht in meiner Abſicht.
[206] Ohne Zweifel verdankt man denſelben großenteils die Kennt-
nis vom Inneren Amerikas; ſie leiſteten der Geographie Dienſte,
wie ja der Irrtum oder gewagte Theorieen nicht ſelten zur
Wahrheit führen; aber in der vorliegenden Erörterung kann
ich mich nur bei den Umſtänden aufhalten, die auf die Ent-
werfung der alten und neuen Karten unmittelbar Einfluß
gehabt haben. Hernan Perez de Queſada ſuchte nach der
Abreiſe ſeines Bruders, des Adelantado, nach Europa von
neuem (1539), diesmal aber im Berglande nordöſtlich von
Bogota, den Sonnentempel (Casa del Sol), von dem Gero-
nimo de Ortal (1536) am Meta hatte ſprechen hören. Der
von Bochica eingeführte Sonnendienſt und der hohe Ruf des
Heiligtums zu Iraca oder Sogamozo gaben Anlaß zu jenen
verworrenen Gerüchten von Tempeln und Götzenbildern aus
maſſivem Golde; aber auf den Bergen wie in den Niede-
rungen glaubte man immer weit davon zu ſein, weil die
Wirklichkeit den chimäriſchen Träumen der Einbildungskraft
ſo wenig entſprach. Francisco de Orellana fuhr, nachdem er
mit Pizarro den Dorado in der Provincia de los canelos
und an den goldhaltigen Ufern des Napo vergebens geſucht,
den großen Amazonenſtrom hinunter (1540). Er fand dort
zwiſchen den Mündungen des Javari und des Rio de la
Trinidad (Yupura?) einen goldreichen Landſtrich, genannt
Machiparo (Muchifaro), in der Nähe des Aomaguas oder
Omaguas. Dieſe Kunde trug dazu bei, daß der Dorado
ſüdoſtwärts verlegt wurde, denn Omaguas (Om-Aguas,
Aguas), Dit-Aguas und Papamene waren Benennungen
für dasſelbe Land, für das, welches Georg von Speier auf
ſeinem Zuge an den Caqueta entdeckt hatte. Mitten auf den
Niederungen nordwärts vom Amazonenſtrom wohnten die
Omagua, die Manaos oder Manoas und die Guaypes
(Uaupes oder Guayupes), drei mächtige Völker, deren letzteres,
deſſen Wohnſitze weſtwärts am Guaupe oder Uaupe liegen,
ſchon in den Reiſeberichten Queſadas und Huttens erwähnt
wird. Dieſe beiden in der Geſchichte Amerikas gleich berühmten
Konquiſtadoren kamen auf verſchiedenen Wegen in die Llanos
von San Juan, die damals Valle de Nueſtra Señora
hießen. Hernan Perez de Queſada ging (1541) über die Kor-
dilleren von Cundirumarca, wahrſcheinlich zwiſchen den Para-
mos Chingaſa und Suma Paz, während Felipe de Hutten,
in Begleitung Pedros de Limpias (desſelben, der von den
Hochebenen von Bogota die erſte Kunde vom Dorado nach
[207] Venezuela gebracht hatte) von Nord nach Süd den Weg ein-
ſchlug, auf dem Georg von Speier am Oſtabhang der Ge-
birge hingezogen war. Hutten brach von Coro, dem Haupt-
ſitz der deutſchen Faktorei oder Geſellſchaft der Welſer
auf, als Heinrich Remboldt an der Spitze derſelben ſtand.
Nachdem er über die Ebenen am Caſanare, Meta und Caguan
gezogen (1541), kam er an den oberen Guaviare (Guayare),
den man lange für den Urſprung des Orinoko gehalten hat
und deſſen Mündung ich auf dem Wege von San Fernando
de Atabapo an den Rio Negro geſehen habe. Nicht weit
vom rechten Ufer des Guaviare kam Hutten in die Stadt
der Guaypes, Macatoa. Das Volk daſelbſt trug Kleider,
die Felder ſchienen gut angebaut, alles deutete auf eine Kul-
tur, die ſonſt dieſem heißen Landſtrich im Oſten der Kor-
dilleren fremd war. Wahrſcheinlich war Georg von Speier
bei ſeinem Zuge an den Rio Caqueta und in die Provinz
Papamene weit oberhalb Macatoa über den Guaviare gegan-
gen, bevor die beiden Zweige dieſes Fluſſes, der Ariari und
der Guayavero, ſich vereinigen. Hutten erfuhr, auf dem Wege
weiter nach Südoſt komme er auf das Gebiet der großen
Nation des Omagua, deren Prieſter-König Quareca heiße und
große Herden von Lama beſitze. Dieſe Spuren von Kul-
tur, dieſe alten Verbindungen mit der Hochebene von Quito
ſcheinen mir ſehr bemerkenswert. Wir haben ſchon oben er-
wähnt, daß Orellana bei einem indianiſchen Häuptling am
Amazonenſtrom Lama geſehen, und daß Ordaz auf den
Ebenen am Meta davon hatte ſprechen hören.
Ich halte mich nur an das, was in den Bereich der
Geographie fällt, und beſchreibe weder nach Hutten jene un-
ermeßlich große Stadt, die er von weitem geſehen, noch
das Gefecht mit den Omagua, wobei 39 Spanier (ihrer 14
ſind in den Nachrichten aus jener Zeit namentlich aufgeführt)
mit 15000 Indianern zu thun hatten. Dieſe lügenhaften
Gerüchte haben zur Ausſchmückung der Sage vom Dorado
ſehr viel beigetragen. Der Name der Stadt der Omagua
kommt in Huttens Bericht nicht vor, aber die Manoas, von
denen Pater Fritz noch im 17. Jahrhundert in ſeiner Miſſion
Yurimaguas Goldbleche erhielt, ſind Nachbarn der Omagua.
Später wurde der Name Manoa aus dem Lande der Ama-
zonen auf eine eingebildete Stadt im Dorado der Parime
übergetragen. Der bedeutende Ruf, in dem die Länder
zwiſchen dem Caqueta (Papamene) und Guaupe (einem
[208] Nebenfluſſe des Rio Negro) ſtanden, veranlaßte (1560) Pedro
de Urſua zu der unheilvollen Expedition, welche mit der Em-
pörung des Tyrannen Aguirre endigte. Als er den Caqueta
hinabfuhr, um ſofort in den Amazonenſtrom zu gelangen,
hörte Urſua von der Provinz Caricuri ſprechen. Dieſe
Benennung weiſt deutlich auf das Goldland hin, denn, wie
ich ſehe, heißt Gold auf tamanakiſch Caricuri, auf karibiſch
Carucuru. Sollte der Ausdruck für Gold bei den Völkern
am Orinoko ein Fremdwort ſein, wie Zucker und Coton
in den europäiſchen Sprachen? Dies wieſe wohl darauf hin,
daß dieſe Völker die edlen Metalle mit den fremden Erzeug-
niſſen haben kennen lernen, die ihnen von den Kordilleren 1
oder von den Ebenen am Oſtabhang der Anden zugekommen.
Wir kommen jetzt zum Zeitpunkt, wo der Mythus vom
Dorado ſich im öſtlichen Strich von Guyana, zuerſt beim
angeblichen See Caſſipa (an den Ufern des Paragua, eines
Nebenfluſſes des Carony) und dann zwiſchen den Quellen
des Rio Eſſequibo und des Rio Branco, feſtſetzte. Dieſer
Umſtand iſt vom bedeutendſten Einfluſſe auf die Geographie
dieſer Länder geweſen. Antonio de Berrio, der Schwieger-
ſohn und einzige Erbe des großen Adelantado Ximenez de
Queſada, ging weſtwärts von Tunja über die Kordilleren,
ſchiffte ſich auf dem Rio Caſanare ein und fuhr auf dieſem
Fluß, auf dem Meta und Orinoko hinab nach der Inſel
Trinidad. Wir wiſſen von dieſer Reiſe faſt nur, was Ralegh
davon berichtet; ſie ſcheint wenige Jahre vor die erſte Grün-
dung von Vieja Guyana im Jahr 1591 zu fallen. Einige
Jahre darauf (1595) ließ Berrio durch ſeinen Maese de
Campo, Domingo de Vera, eine Expedition von 2000 Mann
ausrüſten, welche den Orinoko hinaufgehen und den Dorado
erobern ſollte, den man jetzt das Land Manoa, ſogar
Laguna de la Gran Manoa zu nennen anfing. Reiche
Grundeigentümer verkauften ihre Höfe, um den Kreuzzug mit-
zumachen, dem ſich zwölf Obſervanten und zehn Weltgeiſtliche
anſchloſſen. Die Mären eines gewiſſen Martinez (Juan
Martin de Albujar?), der bei der Expedition des Diego de
Ordaz wollte zurückgelaſſen und von Stadt zu Stadt in die
[209] Hauptſtadt des Dorado geſchleppt worden ſein, hatten Berrios
Phantaſie erhitzt. Was dieſer Konquiſtador auf der Fahrt
den Orinoko herab ſelbſt beobachtet, iſt ſchwer von dem zu
unterſcheiden, was er, wie er angibt, aus einem in Por-
torico aufbewahrten Tagebuche des Martinez geſchöpft hat.
Man ſieht, man hatte damals vom neuen Kontinent im all-
gemeinen dieſelben Vorſtellungen, wie wir ſo lange von
Afrika. Man meinte tiefer im Lande mehr Kultur anzu-
treffen als an den Küſten. Bereits Juan Gonzalez, den
Diego de Ordaz abgeſandt hatte, die Ufer des Orinoko zu
unterſuchen (1531), behauptete, „je weiter man auf dem
Orinoko hinaufkomme, deſto ſtärker werde die Bevölkerung“.
Berrio erwähnt zwiſchen den Mündungen des Meta und des
Cuchivero der häufig unter Waſſer ſtehenden Provinz Ama-
paja, wo er viele kleine gegoſſene goldene Götzenbilder ge-
funden, ähnlich denen, welche in Cauchieto öſtlich von Coro
verfertigt wurden. Er meinte, dieſes Gold komme aus dem
Granitboden des bergigen Landes zwiſchen Carichana, Uruana
und dem Cuchivero. Und allerdings haben in neuerer Zeit
die Eingeborenen in der Quebrada del tigre bei der Miſ-
ſion Encamerada ein Goldgeſchiebe gefunden. Oſtwärts von
der Provinz Amapaja erwähnt Berrio des Rio Carony (Ca-
roly), den man aus einem großen See entſpringen ließ, weil
man einen der Nebenflüſſe des Carony, den Rio Paragua
(Fluß des großen Waſſers), aus Unbekanntſchaft mit den
indianiſchen Sprachen für ein Binnenmeer gehalten hatte.
Mehrere ſpaniſche Geſchichtſchreiber glaubten, dieſer See, die
Quelle des Carony, ſei Berrios Gran Manoa; aber aus
den Nachrichten, die Berrio Ralegh mitgeteilt, iſt erſichtlich,
daß man annahm, die Laguna de Manoa (del Dorado
oder de Parime) liege ſüdlich vom Rio Paragua, aus dem
man die Laguna Caſſipa gemacht hatte. „Dieſe beiden
Waſſerbecken hatten goldhaltigen Sand; aber am Ufer des
Caſſipa lag Macureguaria (Margureguaira), die Hauptſtadt
des Kaziken Aromaja und die vornehme Stadt des eingebil-
deten Reiches Guyana.“
Da dieſe häufig überſchwemmten Landſtriche von jeher von
Völkern karibiſchen Stammes bewohnt waren, die tief ins
Land hinein mit den entlegenſten Gegenden einen ungemein
lebhaften Handel trieben, ſo iſt nicht zu verwundern, daß man
hier bei den Indianern mehr Gold fand als irgendwo. Die
Eingeborenen im Küſtenland brauchten dieſes Metall nicht
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 14
[210] allein zum Schmuck und zu Amuletten, ſondern auch in ge-
wiſſen Fällen als Tauſchmittel. Es erſcheint daher ganz
natürlich, daß das Gold an den Küſten von Paria und bei
den Völkern am Orinoko verſchwunden iſt, ſeit der Verkehr
mit dem Inneren durch die Europäer abgeſchnitten wurde.
Die unabhängig gebliebenen Eingeborenen ſind gegenwärtig
unzweifelhaft elender, träger und verſunkener als vor der
Eroberung. Der König von Morequito, derſelbe, deſſen Sohn
Ralegh nach England mitgenommen hatte, war im Jahre
1594 nach Cumana gekommen, um gegen eine große Menge
maſſiver Goldbilder eiſerne Geräte und europäiſche Waren
einzutauſchen. Dieſes unerwartete Auftreten eines indiani-
ſchen Häuptlings ſteigerte noch den Ruf der Schätze des
Orinoko. Man ſtellte ſich vor, der Dorado müſſe nicht weit
vom Lande ſein, aus dem der König von Morequito gekom-
men; und da das Land dort häufig unter Waſſer ſtand und
die Flüſſe die allgemeinen Namen „großes Meer“, „großes
Waſſerſtück“ führten, ſo mußte ſich der Dorado am Ufer
eines Sees befinden. Man dachte nicht daran, daß das Gold,
das die Kariben und andere Handelsvölker mitbrachten, ſo
wenig ein Erzeugnis ihres Bodens war, als die braſilianiſchen
und oſtindiſchen Diamanten Erzeugniſſe der europäiſchen Län-
der ſind, wo ſie ſich am meiſten zuſammenhäufen. Berrios
Expedition, die, während die Schiffe in Cumana, bei Mar-
garita und Trinidad anlegten, ſehr ſtark an Mannſchaft ge-
worden war, ging über Morequito (bei Vieja Guyana) dem
Rio Paragua, einem Nebenfluß des Carony, zu; aber Krank-
heiten, der wilde Mut der Eingeborenen und der Mangel an
Lebensmitteln ſetzten dem Zug der Spanier unüberſteigliche
Hinderniſſe entgegen. Alle gingen zu Grunde bis auf dreißig,
welche im kläglichſten Zuſtand zum Poſten Santo Tome
zurückkamen.
Dieſe Unfälle kühlten den Eifer, mit dem bis zur Mitte
des 17. Jahrhunderts der Dorado aufgeſucht wurde, keines-
wegs ab. Der Statthalter von Trinidad, Antonio de Berrio,
wurde von Sir Walter Ralegh gefangen genommen, als
dieſer im Jahr 1595 den vielberufenen Einfall auf die Küſte
von Venezuela und an die Mündungen des Orinoko machte.
Von Berrio und anderen Gefangenen, die Kapitän Preſton
bei der Einnahme von Caracas gemacht, konnte Ralegh alles
in Erfahrung bringen, was man damals von den Ländern
ſüdwärts von Vieja Guyana wußte. Er glaubte an die
[211] Märchen, welche Juan Martin de Albujar ausgeheckt, und
zweifelte weder an der Exiſtenz der beiden Seen Caſſipa und
Rupunuwini, noch am Beſtehen des großen Reiches des Inka,
das flüchtige Fürſten (nach Atahualpas Tode) an den Quellen
des Rio Eſſequibo gegründet haben ſollten. Die Karte, welche
Ralegh entworfen und deren Geheimhaltung er Lord Charles
Howard empfahl, beſitzen wir nicht mehr; aber der Geograph
Hondius hat dieſe Lücke ausgefüllt; ja er gibt ſeiner Karte
ein Verzeichnis von Längen- und Breitenangaben bei, wobei
die Laguna del Dorado und die kaiſerliche Stadt
Manoas vorkommen. Während Ralegh an der Punta del
Gallo (auf der Inſel Trinidad) ſich aufhielt, ließ er durch
ſeine Unterbefehlshaber die Mündungen des Orinoko, nament-
lich die von Capuri, Gran Amana (Manamo grande) und
Macureo (Macareo) unterſuchen. Da ſeine Schiffe einen
bedeutenden Tiefgang hatten, hielt es ſehr ſchwer, in die Bocas
chicas einzulaufen, und er mußte ſich flache Fahrzeuge bauen
laſſen. Er bemerkte die Feuer der Trivitivas (Tibitibies) vom
Stamme der Guaraunen auf den Mauritiapalmen, deren Frucht,
fructum squamorum, similem Palmae Pini, er zuerſt nach
Europa gebracht hat. Es wundert mich, daß von der Nieder-
laſſung, die Berrio unter dem Namen Santo Tome (la Vieja
Guyana) gegründet, ſo gut wie gar nicht die Rede iſt; und
doch reicht dieſelbe bis zum Jahre 1591 hinauf, und obgleich
nach Fray Pedro Simon „Religion und Politik jeden Handels-
verkehr zwiſchen Chriſten (Spaniern) und Ketzern (Holländern
und Engländern) verbieten“, wurde damals, am Ende des
16. Jahrhunderts, wie gegenwärtig ein lebhafter Schleich-
handel über die Mündungen des Orinoko getrieben. Ralegh
ging über den Fluß Europa (Guarapo) und „die Ebenen
der Saymas (Chaymas), die im ſelben Niveau bis Cumana
und Caracas fortſtreichen“; in Morequito (vielleicht etwas
nordwärts von Villa de Upata in den Miſſionen am Carony)
machte er Halt, und hier beſtätigte ihm ein alter Kazike alle
phantaſtiſchen Vorſtellungen Berrios von einem Einfall frem-
der Völker (Orejones und Epuremei) in Guyana. Die
Katarakten des Caroli (Carony), welcher Fluß damals für
den kürzeſten Weg zu den beiden am See Caſſipa und
am See Rupunuwini oder Dorado gelegenen Städten
Macureguarai und Manoa galt, ſteckten der Expedition
ein Ziel.
Ralegh hat den Orinoko nur auf einer Strecke von kaum
[212] 270 km befahren; er nennt aber nach den ſchwankenden An-
gaben, die er zuſammengebracht, die oberen Zuflüſſe, den
Cari, den Pao, den Apure (Capuri?), den Guarico (Voari?),
den Meta, ſogar „in der Provinz Baraguan den großen
Waſſerfall Athule (Atures), der aller weiteren Flußfahrt ein
Ende macht“. Trotz ſeiner Uebertreibungen, die ſich für einen
Staatsmann wenig ziemen, bieten Raleghs Berichte wichtiges
Material zur Geſchichte der Geographie. Der Orinoko ober-
halb des Einfluſſes des Apure war damals den Europäern
ſo wenig bekannt, als heutzutage der Lauf des Nigir unter-
halb Segu. Man hatte die Namen verſchiedener, weit ent-
fernter Nebenflüſſe vernommen, aber man wußte nicht, wo
ſie lagen; man zählte ihrer mehr auf, als wirklich ſind, wenn
derſelbe Name, verſchieden ausgeſprochen oder vom Ohr un-
richtig aufgefaßt, verſchieden klang. Andere Irrtümer haben
vielleicht ihre Quellen darin, daß dem ſpaniſchen Statthalter
Antonio de Berrio wenig daran gelegen ſein konnte, Ralegh
richtige, genaue Notizen zu geben; letzterer beklagt ſich auch
über ſeinen Gefangenen „als einen Menſchen ohne Bildung,
der Oſt und Weſt nicht zu unterſcheiden wiſſe“. Ob Ralegh
an alles, was er vorbringt, an die Binnenmeere, ſo groß wie
das Kaſpiſche Meer, an die kaiſerliche Stadt Manoa (imperial
and golden city), an die prächtigen Paläſte, welche der
„Kaiſer Inga von Guayana“ nach dem Vorbild ſeiner perua-
niſchen Ahnen erbaut, — ob er an all das wirklich geglaubt
oder ſich nur ſo angeſtellt, das will ich hier nicht unterſuchen.
Der gelehrte Geſchichtſchreiber von Braſilien, Southey, und
der Biograph Raleghs, Cayley, haben in neueſter Zeit viel
Licht über dieſen Punkt verbreitet. Daß der Führer der Ex-
pedition und die unter ihm Befehlenden ungemein leichtgläubig
waren, iſt ſchwerlich zu bezweifeln. Man ſieht, Ralegh paßte
alles von vornherein angenommenen Vorausſetzungen an.
Sicher war er ſelbſt getäuſcht, wenn es aber galt, die Phan-
taſie der Königin Eliſabeth zu erhitzen und die Plane ſeiner
ehrgeizigen Politik durchzuführen, ſo ließ er keinen Kunſtgriff
der Schmeichelei unverſucht. Er ſchildert der Königin „das
Entzücken der barbariſchen Völker beim Anblick ihres Bild-
niſſes; der Name der erhabenen Jungfrau, welche ſich Reiche
zu unterwerfen weiß, ſoll bis zum Lande der kriegeriſchen
Weiber am Orinoko und Amazonenſtrom dringen; er ver-
ſichert, als die Spanier den Thron von Cuzco umgeſtoßen,
habe man eine alte Prophezeiung gefunden, der zufolge die
[213] Dynaſtie der Inka dereinſt Großbritannien ihre Wiederher-
ſtellung zu danken haben werde; er gibt den Rat. unter dem
Vorwand, das Gebiet gegen äußere Feinde ſchützen zu wollen,
Beſatzungen von drei-, viertauſend Mann in die Städte des
Inka zu legen und dieſen ſo zu einem jährlichen Tribut von
300000 Pfund Sterling an Königin Eliſabeth zu nötigen;
endlich äußert er mit einem Blick in die Zukunft, alle dieſe
gewaltigen Länder Südamerikas werden eines Tages Eigentum
der engliſchen Nation ſein“.
Raleghs vier Fahrten auf dem unteren Orinoko fallen
zwiſchen die Jahre 1595 und 1617. Nach all dieſen vergeb-
lichen Unternehmungen ließ der Eifer, mit dem man den
Dorado aufſuchte, allmählich nach. Fortan kam keine Ex-
pedition mehr zuſtande, an der ſich zahlreiche Koloniſten be-
teiligten, wohl aber Unternehmungen einzelner, zu denen
nicht ſelten die Statthalter der Provinzen aufmunterten. Die
Kunde vom Goldland der Manoasindianer am Jurubeſh und
von der Laguna de oro, die durch die Reiſen der Patres
Acuña (1688) und Fritz (1637) in Umlauf kam, trugen das
Ihrige dazu bei, daß die Vorſtellungen vom Dorado in den
portugieſiſchen und ſpaniſchen Kolonieen im Norden und Süden
des Aequators wieder rege wurden. In Cuença im König-
reich Quito traf ich Leute, die im Auftrag des Biſchofs Marfil
öſtlich von den Kordilleren auf den Ebenen von Macas die
Trümmer der Stadt Logroño, die in einem goldreichen Lande
liegen ſollte, aufgeſucht hatten. Aus dem ſchon mehrmals
erwähnten Tagebuche Hortsmanns erſehen wir, daß man im
Jahre 1740 von Holländiſch-Guyana her zum Dorado zu
gelangen glaubte, wenn man den Eſſequibo hinauffuhr. In
Santo Tome de Angoſtura entwickelte der Statthalter Don
Manuel Centurion ungemeinen Eifer, um zum eingebildeten
See Manoa zu dringen. Arimuicaipi, ein Indianer von der
Nation der Ipurucoten, fuhr den Rio Carony hinab und
entzündete durch lügenhafte Berichte die Phantaſie der ſpani-
ſchen Koloniſten. Er zeigte ihnen am Südhimmel die Ma-
gelhaensſchen Wolken, deren weißliches Licht er für den Wider-
ſchein der ſilberhaltigen Felſen mitten in der Laguna Parime
erklärte. Es war dies eine ſehr poetiſche Schilderung des
Glanzes des Glimmer- und Talkſchiefers ſeines Landes. Ein
anderer indianiſcher Häuptling, bei den Kariben am Eſſequibo
als Kapitän Jurado bekannt, gab ſich vergebliche Mühe,
den Statthalter Centurion zu enttäuſchen. Man machte frucht-
[214] loſe Verſuche auf dem Caura und dem Rio Paragua. Mehrere
hundert Menſchen kamen bei dieſen tollen Unternehmungen
elend ums Leben. Die Geographie zog indeſſen einigen
Nutzen daraus. Nicolas Rodriguez und Antonio Santos
wurden vom ſpaniſchen Statthalter auf dieſe Weiſe gebraucht
(1775 bis 1780). Letzterer gelangte auf dem Carony, dem
Paragua, dem Paraguamuſi, dem Anocapra und über die
Berge Pacaraimo und Quimiropaca an den Uraricuera und
den Rio Branco. Die Reiſetagebücher dieſer abenteuerlichen
Unternehmungen haben mir treffliche Notizen geliefert.
Die Seekarten, welche der Florentiner Reiſende Amerigo
Veſpucci 1 in den erſten Jahren des 16. Jahrhunderts als
Piloto mayor der Casa de Contratacion zu Sevilla ent-
worfen und auf die er, vielleicht in ſchlauer Abſicht, den
Namen Terra de Amerigo geſetzt, ſind nicht auf uns ge-
kommen. Die älteſte geographiſche Urkunde des neuen Kon-
tinents iſt die einer römiſchen Ausgabe des Ptolemäus vom
Jahr 1508 beigegebene Weltkarte des Johann Ruyſch. 2 Man
erkennt darauf Yucatan und Honduras (den ſüdlichſten Teil
von Mexiko), die als eine Inſel unter dem Namen Culicar
dargeſtellt ſind. Eine Landenge von Panama iſt nicht vor-
handen, ſondern eine Meerenge, durch die man geradeaus
von Europa nach Indien fahren kann. Auf der großen ſüd-
lichen Inſel (Südamerika) ſteht der Name Terra de Careas,
die von zwei Flüſſen, dem Rio Lareno und dem Rio For-
moſo, begrenzt iſt. Dieſe Careas ſind ohne Zweifel die
Einwohner von Caria, welchen Namen Chriſtoph Columbus
bereits im Jahre 1498 vernommen hatte und mit dem lange
Zeit ein großer Teil von Amerika bezeichnet wurde. Der
Biſchof Geraldini ſagt in einem Briefe an Papſt Leo X. aus
dem Jahr 1516 deutlich: „Insula illa, quae Europa et Asia
est major, quam indocti continentem Asiae appellant, et
alii Americam vel Pariam nuncupant.“ Auf der Welt-
karte von 1508 finde ich noch keine Spur vom Orinoko.
Dieſer Strom erſcheint zum erſtenmal unter dem Namen Rio
dulce auf der berühmten Karte, die Diego Ribero, Kosmo-
[215] graph Kaiſer Karls V., im Jahr 1529 entworfen und die
Sprengel im Jahre 1795 mit einem gelehrten Kommentar
herausgegeben hat. Weder Columbus (1498) noch Alonſo
de Guda, bei dem Amerigo Veſpucci war (1499), hatten die
eigentliche Mündung des Orinoko geſehen. Sie hatten die-
ſelbe mit der nördlichen Oeffnung des Meerbuſens von Paria
verwechſelt, dem man, wie denn Uebertreibungen derart bei
den Seefahrern jener Zeit ſo häufig vorkommen, eine unge-
heure Maſſe ſüßen Waſſers zuſchrieb. Vicente Pañez Pinçon,
nachdem er die Mündung des Rio Marañon entdeckt, war
auch der erſte, der die Mündung des Orinoko ſah (1500).
Er nannte dieſen Strom Rio dulce, welcher Name ſich
ſeit Ribero lange auf den Karten erhalten hat und zu-
weilen irrtümlich dem Maroni und dem Eſſequibo beigelegt
wurde.
Der große See Parime erſcheint auf den Karten erſt
nach Raleghs erſter Reiſe. Jodocus Hondius war der Mann,
der mit dem Jahre 1599 den Vorſtellungen der Geographen
eine beſtimmte Richtung gab und das Innere von Spaniſch-
Guyana als ein völlig bekanntes Land darſtellte. Der Iſth-
mus zwiſchen dem Rio Branco und dem Rio Rupunuwini
(einem Nebenfluß des Eſſequibo) wird von ihm in den 900 km
langen, 180 km breiten See Rupuniwini, Carime oder
Dorado, zwiſchen dem 1° 45′ ſüdlicher und dem 2° nörd-
licher Breite verwandelt. Dieſes Binnenmeer, größer als
das Kaſpiſche Meer, wird bald mitten in ein gebirgiges Land,
ohne Verbindung mit irgend einem anderen Fluß, hineinge-
zeichnet, bald läßt man den Rio Oyapok (Waiapago, Joapoc,
Viapoco) und den Rio de Cayana daraus entſpringen. Der
erſtere Fluß wurde im achten Artikel des Utrechter Vertrages
mit dem Rio de Vincente Pinçon (Rio Calſoene oder Maya-
cari?) verwechſelt und blieb bis zum letzten Wiener Kongreß
der Gegenſtand endloſer Streitigkeiten zwiſchen den franzö-
ſiſchen und den portugieſiſchen Diplomaten. Der letztere iſt
eine chimäriſche Verlängerung des Tonnegrande oder aber des
Oyac (Wia?). Das Binnenmeer (Laguna Parime) wurde
anfangs ſo geſtellt, daß ſein weſtliches Ende in den Meridian
des Zuſammenfluſſes des Apure und des Orinoko fiel; allmäh-
lich aber ſchob man es nach Oſt vor, ſo daß das weſtliche
Ende ſüdlich von den Mündungen des Orinoko zu liegen kam.
Dieſer Wechſel zog auch Abänderungen in der reſpektiven Lage
des Sees Parime und des Sees Caſſipa, ſowie in der Richtung
[216] des Laufs des Orinoko nach ſich. Dieſen großen Strom läßt
man von ſeiner Mündung bis über den Meta hinauf, gleich
dem Magdalenenſtrom, von Süd nach Nord laufen. Die
Nebenflüſſe, die man aus dem See Caſſipa kommen ließ, der
Carony, der Arui und der Caura, laufen damit in der Rich-
tung eines Parallels, während ſie in der Wirklichkeit in der
Richtung eines Meridians liegen. Außer dem Parime und dem
Caſſipa gab man auf den Karten einen dritten See an, aus
dem man den Aprouague (Apurwaca) kommen ließ. Es war
damals bei den Geographen allgemeiner Brauch, alle Flüſſe
mit großen Seen in Verbindung zu bringen. Auf dieſe Weiſe
verband Ortelius den Nil mit dem Zaire oder Rio Kongo,
die Weichſel mit der Wolga und dem Dnjepr. Im nörd-
lichen Mexiko, in den angeblichen Königreichen Guivira und
Cibola, die durch die Lügen des Mönchs Marcos de Niza
berühmt geworden, hatte man ein großes Binnenmeer ein-
gezeichnet, aus dem man den kaliforniſchen Rio Colorado ent-
ſpringen ließ. 1 Vom Rio Magdalena lief ein Arm in den
See Maracaybo, und der See Xarayes, in deſſen Nähe man
einen ſüdlichen Dorado ſetzte, ſtand mit dem Amazonen-
ſtrom, mit dem Miari (Meary) und dem Rio San Francisco
in Verbindung. Die meiſten dieſer hydrographiſchen Träume
ſind verſchwunden; nur die Seen Caſſipa und Dorado haben
ſich lange nebeneinander auf unſeren Karten erhalten.
Verfolgt man die Geſchichte der Geographie, ſo ſieht
man den Caſſipa, der als ein rechtwinkeliges Viereck darge-
ſtellt wird, ſich allmählich auf Koſten des Dorado vergrößern.
Letzterer wurde zuweilen ganz weggelaſſen, aber nie wagte
man es, ſich am erſteren zu vergreifen, der nichts iſt als der
durch periodiſche Ueberſchwemmungen geſchwellte Rio Para-
gua (ein Nebenfluß des Carony). Als d’Anville durch Solanos
Expedition in Erfahrung brachte, daß der Orinoko ſeine Quellen
keineswegs weſtwärts am Abhang der Anden von Paſto habe,
[217] ſondern von Oſten her von den Gebirgen der Parime herab-
komme, nahm er in der zweiten Ausgabe ſeiner ſchönen Karte
von Amerika (1760) die Laguna Parime wieder auf und
ließ ſie ganz willkürlich durch den Mazuruni und den Cuyuni
mit drei Flüſſen (dem Orinoko, dem Rio Branco und dem
Eſſequibo) in Verbindung ſtehen. Er verlegte ſie unter den
3. bis 4. Grad nördlicher Breite, wohin man bisher den
See Caſſipa geſetzt hatte.
Der ſpaniſche Geograph La Cruz Olmedilla (1775) folgte
d’Anvilles Vorgang. Der alte, unter dem Aequator gelegene
See Parime war vom Orinoko ganz unabhängig; der neue,
der an der Stelle des Caſſipa und wieder in der Geſtalt
eines Vierecks auftrat, deſſen längſte Seiten von Süd nach
Nord laufen, 1 zeigt die ſeltſamſten hydrauliſchen Verbindungen.
Bei La Cruz entſpringt der Orinoko unter dem Namen Pa-
rime und Puruma (Xuruma?) im gebirgigen Lande zwiſchen
den Quellen des Ventuari und des Caura (unter dem 5. Grad
der Breite im Meridian der Miſſion Esmeralda) aus einem
kleinen See, der Ipava heißt. Dieſer See läge auf meiner
Reiſekarte nordöſtlich von den Granitbergen von Cunevo,
woraus zur Genüge hervorgeht, daß wohl ein Nebenfluß des
Rio Branco oder des Orinoko daraus entſpringen könnte,
nicht aber der Orinoko ſelbſt. Dieſer Rio Parime oder Pu-
ruma nimmt nach einem Lauf von 180 km gegen Oſt-Nord-
Oſt und von 270 km gegen Südoſt den Rio Mahu auf, den
wir bereits als einen der Hauptzweige des Rio Branco kennen;
darauf läuft er in den See Parime, den man 135 km lang
und 90 km breit macht. Aus dieſem See entſpringen un-
mittelbar drei Flüſſe, der Rio Ucamu (Ocamo), der Rio Idapa
(Siapa) und der Rio Branco. Der Orinoko oder Puruma
iſt als unterirdiſche Durchſickerung am Weſtabhang der Sierra
Mei, welche den See oder das Weiße Meer gegen Weſten
begrenzt, gezeichnet. Dieſe zweite Quelle des Orinoko liegt
unter dem 2. Grad nördlicher Breite und 3½° oſtwärts
vom Meridian von Esmeralda. Nachdem der neue Fluß
225 km gegen Weſt-Nord-Weſt gelaufen, nimmt er zu-
erſt den Ucamu auf, der aus dem Parime kommt, ſodann
den Rio Maquiritari (Padamo), der zwiſchen dem See Ipava
[218] und einem anderen Alpſee, von La Cruz Laguna Cavija
genannt, entſpringt. Da See maypuriſch Cavia heißt, ſo
bedeutet das Wort Laguna Cavia, wie Laguna Parime,
nichts als Waſſerbecken, laguna de agua. Dieſe ſeltſame
Flußzeichnung iſt nun das Vorbild für faſt alle neueren Karten
von Guyana geworden. Ein Mißverſtändnis, das aus der
Unkenntnis des Spaniſchen entſprang, hat der Karte des La
Cruz, auf der richtige Angaben mit ſyſtematiſchen, den alten
Karten entnommenen Vorſtellungen vermengt ſind, vollends
großes Anſehen verſchafft. Eine punktierte Linie umgibt den
Landſtrich, über den Solano einige Erkundigung hatte ein-
ziehen können; dieſe Linie hielt man für den von Solano
zurückgelegten Weg, ſo daß dieſer das ſüdweſtliche Ende
des Weißen Meeres geſehen haben müßte. Auf der Karte
des La Cruz ſteht geſchrieben: „Dieſer Weg bezeichnet, was
vom Statthalter von Caracas, Don Joſe Solano, entdeckt
und zur Ruhe gebracht worden iſt.“ Nun weiß man aber
in den Miſſionen, daß Solano nie über San Fernando de
Atabapo hinausgekommen iſt, daß er den Orinoko oſtwärts
vom Einfluſſe des Guaviare gar nicht geſehen und daß er
ſeine Nachrichten über dieſe Länder nur von gemeinen Sol-
daten haben konnte, die der Sprachen der Eingeborenen un-
kundig waren. Das Werk des Pater Caulin, der ja der
Geſchichtſchreiber der Expedition war, das Zeugnis Don Apo-
linarios Diaz de la Fuente und Santos’ Reiſe thun zur Ge-
nüge dar, daß nie ein Menſch das Weiße Meer des La Cruz
geſehen hat, das, wie aus den Namen der ſich darein er-
gießenden Flüſſe hervorgeht, nichts iſt als eine eingebildete
Ausbreitung des weſtlichen Zweigs des Rio Branco oberhalb
des Einfluſſes des Tacutu und des Uraricuera oder Rio Pa-
rime. Ließe man aber auch Angaben gelten, deren Unrichtig-
keit jetzt zur Genüge dargethan iſt, ſo ſähe man nach all-
gemein anerkannten hydrographiſchen Grundſätzen nicht ein,
mit welchem Recht der See Ipava die Quelle des Orinoko
heißen könnte. Wenn ein Fluß in einen See fällt und von
dieſem ſelben Waſſerbecken drei andere abgehen, ſo weiß man
nicht, welchem von dieſen man den Namen des erſteren bei-
legen ſoll. Noch viel weniger iſt es zu rechtfertigen, wenn
der Geograph denſelben Namen einem Fluſſe läßt, deſſen
Quelle durch eine hohe Bergkette vom See getrennt iſt und
der durch Durchſickerung unterirdiſch entſtan den ſein ſoll.
Vier Jahre nach der großen Karte von La Cruz Olmedilla
[219] erſchien das Werk des Pater Caulin, der die Grenzexpedition
mitgemacht hatte. Das Buch wurde 1759 am Ufer des Ori-
noko ſelbſt geſchrieben, und nur einige Anmerkungen wurden
ſpäter in Europa beigefügt. Der Verfaſſer, ein Franziskaner
von der Kongregation der Obſervanten, zeichnet ſich durch
ſeine Aufrichtigkeit aus, und an kritiſchem Geiſte iſt er allen
ſeinen Vorgängern überlegen. Er ſelbſt iſt nicht über den
großen Katarakt hinausgekommen, aber alles, was Solano
und Ituriaga Wahres und Schwankendes zuſammengebracht,
ſtand zu ſeiner Verfügung. Zwei Karten, die Pater Caulin
im Jahre 1756 entworfen, wurden von Surville, einem Archiv-
beamten beim Staatsſekretariat, in eine zuſammengezogen und
nach angeblichen Entdeckungen vervollſtändigt (1778). Schon
oben, als von unſerem Aufenthalte in Esmeralda (dem den
unbekannten Quellen zunächſt gelegenen Punkte) die Rede war,
habe ich bemerkt, wie willkürlich man bei dieſen Abänderungen
zu Werke ging. Sie gründeten ſich auf die lügenhaften Be-
richte, mit denen man die Leichtgläubigkeit des Statthalters
Centurion und Don Apolinarios Diaz de la Fuente, eines
Kosmographen, der weder Inſtrumente, noch Kenntniſſe, noch
Bücher hatte, Tag für Tag bediente.
Das Tagebuch Pater Caulins ſteht mit der Karte, die
demſelben beigegeben iſt, in fortwährendem Widerſpruche. Der
Verfaſſer ſetzt die Umſtände auseinander, welche zu der Fabel
vom See Parime Anlaß gegeben haben; aber die Karte bringt
dieſen See auch wieder, nur ſchiebt ſie ihn weit weg von den
Quellen des Orinoko, oſtwärts vom Rio Branco. Nach Pater
Caulin heißt der Orinoko Rio Maraguaca unter dem Meridian
des Granitberges dieſes Namens, der auf meiner Reiſekarte
gezeichnet iſt. „Es iſt viel mehr ein Bergſtrom als ein Fluß;
er kommt zugleich mit dem Rio Omaguaca und dem Macoma,
unter 2½° der Breite, aus dem kleinen See Cabiya.“ Dies
iſt der See, aus dem La Cruz den Maquiritari (Padamo)
entſpringen läßt und den er unter 5½° der Breite, nördlich
vom See Ipava, ſetzt. Die Exiſtenz von Caulins Rio Ma-
coma ſcheint ſich auf ein verworrenes Bild der Flüſſe Padamo,
Ocamo und Matacona zu gründen, von denen man vor meiner
Reiſe glaubte, ſie ſtehen miteinander in Verbindung. Vielleicht
gab auch der See, aus dem der Macapa kommt (etwas weſt-
lich vom Amaguaca), Anlaß zu dieſen Irrtümern hinſichtlich
des Urſprunges des Orinoko und der Quellen des Idapa in
der Nähe.
[220]
Surville ſetzt unter 2° 10′ der Breite an die Stelle des
Sees Parime des La Cruz einen anderen See ohne Namen,
der nach ihm die Quelle des Ucamu (Ocamo) iſt. In der
Nähe dieſes Alpenſees entſpringen aus derſelben Quelle
der Orinoko und der Idapa, ein Nebenfluß des Caſſiquiare.
Der See Amucu, die Quelle des Mahu, wird zum Mar
Dorado oder zur Laguna Parime erweitert. Der Rio
Branco hängt nur noch durch zwei ſeiner ſchwächſten Neben-
flüſſe mit dem Waſſerbecken zuſammen, aus dem der Ucamu
kommt. Aus dieſer rein hypothetiſchen Anordnung ergibt ſich,
daß der Orinoko aus keinem See entſpringt und daß die
Quellen desſelben vom See Parime und dem Rio Branco
durchaus unabhängig ſind. Trotz der ſich gabelnden Quelle
iſt das hydrographiſche Syſtem der Survilleſchen Karte nicht
ſo abgeſchmackt als das auf der Karte des La Cruz. Wenn
die neueren Geographen ſich ſo lange beharrlich an die ſpa-
niſchen Karten gehalten haben, ohne dieſelben miteinander zu
vergleichen, ſo erſcheint es doch auffallend, daß ſie nicht wenig-
ſtens der neueſten Karte den Vorzug gegeben haben, der
Survilleſchen, die auf königliche Koſten und auf Befehl des
Miniſters für Indien, Don Joſe de Galvez erſchienen iſt.
Ich habe hiermit, wie ich oben angekündigt, die wechſeln-
den Geſtalten entwickelt, welche die geographiſchen Irrtümer
zu verſchiedenen Zeiten angenommen. Ich habe auseinander-
geſetzt, wie die Bodenbildung, der Lauf der Ströme, die
Namen der Nebenflüſſe und die zahlreichen Trageplätze zur
Annahme eines Binnenmeeres im Herzen von Guyana führen
konnten. So trocken Erörterungen der Art ſein mögen, für
unnütz und unfruchtbar darf man ſie nicht halten. Man
erſieht daraus, was alles die Reiſenden noch zu entdecken
haben; ſie ſtellen uns vor Augen, welcher Grad von Zu-
verläſſigkeit lange Zeit wiederholten Behauptungen zukommt.
Es verhält ſich mit den Karten wie mit den Tafeln aſtro-
nomiſcher Poſitionen in unſeren für die Seefahrer beſtimmten
Ephemeriden. Von lange her iſt zu ihrer Entwerfung das
verſchiedenartigſte Material zuſammengetragen worden, und
zöge man nicht die Geſchichte der Geographie zu Rate, ſo
wäre ſpäter ſo gut wie gar nicht auszumitteln, auf welcher
Autorität jede einzelne Angabe beruht.
Ehe ich den Faden meiner Erzählung wieder aufnehme,
habe ich noch einige allgemeine Bemerkungen über die gold-
haltigen Gebirgsarten zwiſchen dem Amazonenſtrome und dem
[221] Orinoko beizubringen. Wir haben dargethan, daß der Mythus
vom Dorado, gleich den berühmteſten Mythen der Völker
der Alten Welt, nacheinander auf verſchiedene Oertlichkeiten
bezogen worden iſt. Wir haben denſelben von Südweſt nach
Nordoſt, vom Oſtabhange der Anden gegen die Ebenen am
Rio Branco und Eſſequibo vorrücken ſehen, ganz in der Rich-
tung, in der die Kariben ſeit Jahrhunderten ihre Kriegs-
und Handelszüge machten. Man ſieht leicht, wie das Gold
von den Kordilleren von Hand zu Hand durch eine Menge
Völkerſchaften bis an das Küſtenland von Guyana gelangen
konnte; waren doch, lange bevor der Pelzhandel engliſche,
ruſſiſche und amerikaniſche Schiffe an die Nordweſtküſten von
Amerika zog, eiſerne Werkzeuge von Neumexiko und Kanada
bis über die Rocky Mountains gewandert. Infolge eines
Irrtums in der Länge, deſſen Spuren man auf ſämtlichen
Karten des 16. Jahrhunderts begegnet, nahm man die gold-
führenden Gebirge von Peru und Neugranada weit näher bei
den Mündungen des Orinoko und des Amazonenſtromes an,
als ſie in Wirklichkeit ſind. Es iſt einmal Sitte bei den
Geographen, neu entdeckte Länder übermäßig zu vergrößern
und ins Breite zu ziehen. Auf der Karte von Peru, welche
Paulo di Forlani in Verona herausgab, liegt die Stadt Quito
1800 km von der Küſte der Südſee unter dem Meridian von
Cumana; die Kordillere der Anden füllt faſt die ganze
Oberfläche des ſpaniſchen, franzöſiſchen und holländiſchen
Guyana aus. Dieſe falſche Anſicht von der Breite der Anden
iſt ohne Zweifel im Spiel, wenn man den granitiſchen Ebenen
am Oſtabhange derſelben ſo große Wichtigkeit zugeſchrieben
hat. Da man die Nebenflüſſe des Amazonenſtromes und des
Orinoko oder (wie Raleghs Unterbefehlshaber aus Schmeichelei
für ihren Oberen ſagten) des Rio Raleana beſtändig ver-
wechſelte, ſo bezog man auf dieſen alle Sagen, die einem über
den Dorado von Quixos, über die Omagua und Manoas
zu Ohren gekommen. Nach des Geographen Hondius An-
nahme lagen die durch ihre Chinawälder berühmten Anden
von Loxa nur 90 km vom See Parime und dem Ufer des
Rio Branco. Bei dieſer Nähe erſchien die Kunde, daß ſich
der Inka in die Wälder von Guyana geflüchtet und daß
die Schätze aus Cuzco in die öſtlichſten Striche von Guyana
geſchafft worden, glaubwürdig. Fuhr man den Meta oder
den Amazonenſtrom hinauf, ſo ſah man allerdings zwiſchen
dem Purus, dem Jupura und dem Iquiari die Eingeborenen
[222] civiliſierter werden. Man fand dort Amulette und kleine
Götzenbilder aus gegoſſenem Golde, künſtlich geſchnitzte Stühle
und dergleichen; aber von ſolchen Spuren einer aufkeimenden
Kultur zu den Städten und ſteinernen Häuſern, wie Ralegh
und ſeine Nachfolger ſie beſchreiben, iſt ein großer Sprung.
Wir haben oſtwärts von den Kordilleren, in der Provinz
Jaen de Bracamoros, auf dem Wege von Loxa an den Ama-
zonenſtrom herab, die Trümmer großer Gebäude gezeichnet;
bis hierher waren die Inka mit ihren Waffen, mit ihrer
Religion und mit ihren Künſten vorgedrungen. Die ſich ſelbſt
überlaſſenen Eingeborenen am Orinoko waren vor der Er-
oberung etwas civiliſierter als jetzt die unabhängigen Horden.
Sie hatten dem Fluſſe entlang volkreiche Dörfer und ſtanden
mit ſüdlicher wohnenden Völkern in regelmäßigem Handels-
verkehr; aber nichts weiſt darauf hin, daß ſie je ein ſteinernes
Gebäude errichtet hätten. Wir haben auf unſerer ganzen
Flußfahrt nie die Spur eines ſolchen geſehen.
Obgleich nun aber Spaniſch-Gayana ſeinen Ruf, ein
reiches Land zu ſein, großenteils ſeiner geographiſchen Lage
und den Irrtümern der alten Karten zu danken hat, ſo iſt
man deshalb doch nicht zu der Behauptung berechtigt, daß
auf dieſem Flächenraume von 1660500 qkm zwiſchen dem
Orinoko und dem Amazonenſtrome, oſtwärts von den Anden
von Quito und Neugranada, gar keine goldhaltige Gebirgs-
art vorkomme. Soweit ich dieſes Land zwiſchen dem 2. und
8. Grad der Breite und dem 66. und 71. Grad der Länge
kennen gelernt habe, beſteht es durchgängig aus Granit und
aus einem Gneis, der in Glimmerſchiefer und Talkſchiefer
übergeht. Dieſe Gebirgsarten kommen in den hohen Ge-
birgen der Parime, wie in den Niederungen am Atabapo und
Caſſiquiare zu Tage. Der Granit überwiegt über die anderen
Gebirgsarten, und wenn auch der Granit von alter Formation
überall faſt durchgängig keine Golderze enthält, ſo iſt daraus
doch nicht zu folgern, daß der Granit der Parime gar keinen
Gang, keine Schicht goldhaltigen Quarzes einſchließe. Oſt-
wärts vom Caſſiquiare, den Quellen des Orinoko zu, ſahen
wir dergleichen Schichten und Gänge häufiger auftreten. Nach
ſeinem Bau, nach der Beimiſchung von Hornblende und anderen
gleich bedeutſamen geologiſchen Merkmalen ſcheint mir der
Granit in dieſem Landſtrich von neuerer Formation zu ſein,
vielleicht jünger als der Gneis und analog den zinnhaltigen
Graniten, den Hyalomikten und Pegmatiten. Die jüngeren
[223] Granite ſind nun aber nicht ſo arm an Metallen, und manche
goldführende Flüſſe und Bäche in den Anden, im Salzburgi-
ſchen, im Fichtelgebirge und auf der Hochebene beider Kaſtilien
machen es wahrſcheinlich, daß dieſe Granite hin und wieder
gediegenes Gold und in der ganzen Gebirgsmaſſe goldhaltigen
Schwefelkies und Bleiglanz eingeſprengt enthalten, wie Zinn,
Magneteiſenſtein und Eiſenglimmer. Der Bergſtock der Parime,
in dem mehrere Gipfel 2530 m Meereshöhe erreichen, war
vor unſerer Reiſe an den Orinoko faſt ganz unbekannt, und
doch iſt er gegen 650 km lang und 360 km breit, und wenn
er auch überall, wo Bonpland und ich darüber gekommen
ſind, uns in ſeinem Bau ſehr gleichförmig ſchien, ſo läßt ſich
doch keineswegs behaupten, daß nicht im Inneren dieſes ge-
waltigen Bergſtockes ſehr metallreiche Glimmerſchiefer und
Uebergangsgebirgsarten dem Granit aufgelagert ſein könnten.
Wie oben bemerkt, verdankt Guyana ſeinen hohen Ruf
als metallreiches Land zum Teil dem Silberglanze des ſo
häufig vorkommenden Glimmers. Der Spitzberg Calitamini,
der jeden Abend bei Sonnenuntergang in rötlichem Feuer
ſtrahlt, nimmt noch jetzt die Aufmerkſamkeit der Einwohner
von Maypures in Anſpruch. Eilande aus Glimmerſchiefer
im See Amucu ſteigern, wie die Eingeborenen einem vor-
lügen, den Glanz der Nebelflecken am Südhimmel. „Jeder
Berg,“ ſagt Ralegh, „jeder Stein in den Wäldern am Orinoko
glänzt gleich edlen Metallen; iſt das kein Gold, ſo iſt es doch
Madre del oro“. Er verſichert, Stufen von weißem goldhaltigen
Quarz (harde withe spar) mitgebracht zu haben, und zum
Beweiſe, wie reich dieſe Erze ſeien, beruft er ſich auf die von
den Münzbeamten zu London angeſtellten Verſuche. Ich habe
keinen Grund zu vermuten, daß die damaligen Scheidekünſtler
Königin Eliſabeth täuſchen wollten; ich will Raleghs An-
denken keineswegs zu nahe treten und mit ſeinen Zeitgenoſſen
argwöhnen, der goldhaltige Quarz, den er mitgebracht, ſei
gar nicht in Amerika erhoben worden. Ueber Dinge, die in
der Zeit ſo weit abliegen, läßt ſich kein Urteil fällen. Der
Gneis der Küſtenkette enthält Spuren von edeln Metallen,
und in den Gebirgen der Parime bei der Miſſion Encaramada
hat man hin und wieder Goldkörner gefunden. Wie ſollte
man nach einem rein negativen Zeugniſſe nach dem Umſtande,
daß wir auf einer dreimonatlichen Reiſe keinen Gang geſehen,
der am Ausgehenden goldhaltig geweſen wäre, auf die abſolute
Taubheit der Urgebirgsarten in Guyana ſchließen?
[224]
Um hier alles zuſammenzufaſſen, was die Regierung
dieſes Landes über einen ſo lange beſtrittenen Punkt aufzu-
klären imſtande iſt, mache ich einige allgemeinere geologiſche
Bemerkungen. — Die Gebirge Braſiliens liefern, trotz der
zahlreichen Spuren von Erzlagern zwiſchen Sanct Paul und
Villarica, bis jetzt nur Waſchgold. Von den 78000 Mark
Gold,1 welche zu Anfang des 19. Jahrhunderts jährlich aus
Amerika in den europäiſchen Handel gefloſſen ſind, kommen
mehr als ſechs Siebenteile nicht aus der hohen Kordillere der
Anden, ſondern aus dem aufgeſchwemmten Lande öſtlich und
weſtlich von den Kordilleren. Dieſe Striche haben geringe
Meereshöhe, wie die bei La Sonora (in Mexiko), bei Choco
und Barbacoas (in Neugranada), oder das Alluvium liegt
auf Hochebenen, wie im Inneren Braſiliens. 2 Iſt es nun
nicht wahrſcheinlich, daß andere goldhaltige Anſchwemmungen
der nördlichen Halbkugel zu, bis an die Ufer des oberen
Orinoko und des Rio Negro, ſtreichen, deren Becken ja mit dem
des Amazonenſtromes zuſammenfällt? Als vom Dorado de
Canelas, von dem der Omagua und am Iquiari die Rede
war, bemerkte ich, daß alle Flüſſe, welche von Weſt her
kommen, reichlich Gold führen, und zwar ſehr weit von den
Kordilleren weg. Von Loxa bis Popayan beſtehen die Kor-
dilleren abwechſelnd aus Trachyt und aus Urgebirge. Die
Ebenen bei Zamora, Logroño und Macas (Sevilla del Oro),
der große Rio Napo mit ſeinen Nebenflüſſen (dem Anſupi
und dem Coca in der Provinz Quixos), der Caqueta von
Mocoa bis zum Einfluſſe des Fragua, endlich alles Land
zwiſchen Jaen de Bracamoros und dem Guaviare behaupten
noch immer ihren alten Ruf großen Metallreichtums. Weiter
gegen Oſt, zwiſchen den Quellen des Guainia (Rio Negro),
des Uaupes, Iquiari und Jurubeſh finden wir ein anderes
unſtreitig goldhaltiges Gebiet. Hierher ſetzen Acuña und
Pater Fritz ihre Laguna del oro, und manches, was ich in
San Carlos aus dem Munde der portugieſiſchen Amerikaner
vernommen, macht vollkommen erklärlich, was La Condamine
von den Goldblechen erzählt, die bei den Eingeborenen ge-
funden worden. Gehen wir vom Iquiari auf das linke Ufer
des Rio Negro, ſo betreten wir ein völlig unbekanntes Land
[225] zwiſchen dem Rio Branco, den Quellen des Eſſequibo und
den Gebirgen von Portugieſiſch-Guyana. Acuña ſpricht vom
Golde, das die nördlichen Nebenflüſſe des Amazonenſtromes
führen, wie der Rio Trombetas (Oriximina), der Curupatuba
und der Ginipape (Rio de Paru). Alle dieſe Flüſſe, und
dieſer Umſtand ſcheint mir bemerkenswert, kommen von der-
ſelben Hochebene herab, auf deren nördlichem Abhange der
See Amucu, der Dorado Raleghs und der Holländer, der
Iſthmus zwiſchen dem Rupunuri (Rupunuwini) und dem Rio
Mahu liegen. Nichts ſtreitet wider die Annahme, daß auf-
geſchwemmtes goldhaltiges Land weit von den Kordilleren der
Anden nördlich vom Amazonenſtrome vorkommt, wie ſüdlich
von demſelben in den Gebirgen Braſiliens. Die Kariben am
Carony, Cuyuni und Eſſequibo haben von jeher im auf-
geſchwemmten Lande Goldwäſcherei im kleinen getrieben. Das
Becken des Orinoko, des Rio Negro und des Amazonenſtromes
wird nordwärts von den Gebirgen der Parime, ſüdwärts von
denen von Minas Geraes und Matogroſſo begrenzt. Häufig
ſtimmen die einander gegenüberliegenden Abhänge desſelben
Thales im geologiſchen Verhalten überein.
Ich habe in dieſem Bande die großen Provinzen Vene-
zuela und Spaniſch-Guyana beſchrieben. Die Unterſuchung
ihrer natürlichen Grenzen, ihrer klimatiſchen Verhältniſſe und
ihrer Produkte hat mich dazu geführt, den Einfluß der Boden-
bildung auf den Ackerbau, den Handel und den mehr oder
weniger langſamen Gang der geſellſchaftlichen Entwickelung
zu erörtern. Ich habe nacheinander die drei Zonen durch-
wandert, die von Nord nach Süd, vom Mittelmeer der An-
tillen bis in die Wälder am oberen Orinoko und am Ama-
zonenſtrom hintereinander liegen. Hinter dem fruchtbaren
Uferſtriche, dem Mittelpunkte des auf den Ackerbau gegrün-
deten Wohlſtandes, kommen die von Hirtenvölkern bewohnten
Steppen. Dieſe Steppen ſind wiederum begrenzt von der
Waldregion, wo der Menſch, ich ſage nicht der Freiheit, die
immer eine Frucht der Kultur iſt, aber einer wilden Unab-
hängigkeit genießt. Die Grenze dieſer zwei letzteren Zonen
iſt gegenwärtig der Schauplatz des Kampfes, der über die
Unabhängigkeit und das Wohl Amerikas entſcheiden ſoll. Die
Umwandlungen, die bevorſtehen, können den eigentümlichen
Charakter jeder Region nicht verwiſchen; aber die Sitten und
die ganzen Zuſtände der Einwohner müſſen ſich gleichförmiger
färben. Durch dieſe Rückſicht mag eine zu Anfang des
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 15
[226] 19. Jahrhunderts unternommene Reiſe einen Reiz weiter er-
halten. Gerne ſieht man wohl in einem Bilde nebeneinander
die Schilderung der civiliſierten Völker am Meeresufer und
der ſchwachen Ueberreſte der Eingeborenen am Orinoko, die
von keinem anderen Gottesdienſte wiſſen außer der Verehrung
der Naturkräfte, und, gleich den Germanen des Tacitus,
deorum nominibus appellant secretum illud, quod sola
reverentia vident.
[[227]]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel.
Die Llanos del Pao oder des öſtlichen Striches der Steppen von
Venezuela. — Miſſionen der Kariben. — Letzter Aufenthalt auf den
Küſten von Nueva Barcelona, Cumana und Araya.
Es war bereits Nacht, als wir zum letztenmal über das
Bett des Orinoko fuhren. Wir wollten bei der Schanze San
Rafael übernachten und dann mit Tagesanbruch die Reiſe
durch die Steppen von Venezuela antreten. Faſt ſechs Wochen
waren ſeit unſerer Ankunft in Angoſtura verfloſſen; wir ſehn-
ten uns nach der Küſte, um entweder in Cumana oder in
Nueva Barcelona ein Fahrzeug zu beſteigen, das uns auf die
Inſel Cuba und von dort nach Mexiko brächte. Nach den
Beſchwerden, die wir mehrere Monate lang in engen Kanoen
auf von Mücken wimmelnden Flüſſen durchgemacht, hatte der
Gedanke an eine lange Seereiſe für unſere Einbildungskraft
einen gewiſſen Reiz. Wir gedachten nicht mehr nach Süd-
amerika zurückzukommen. Wir brachten die Anden von Peru
dem noch ſo wenig bekannten Archipel der Philippinen zum
Opfer und beharrten bei unſerem alten Plan, uns ein Jahr
in Neuſpanien aufzuhalten, mit der Galione von Acapulco
nach Manilla zu gehen und über Baſora und Aleppo nach
Europa zurückzukehren. Wir dachten, wenn wir einmal die
ſpaniſchen Beſitzungen in Amerika im Rücken hätten, könnte
der Sturz eines Miniſteriums, deſſen großherzigem Vertrauen
ich ſo unbeſchränkte Befugniſſe zu danken hatte, der Durch-
führung unſeres Unternehmens nicht mehr hinderlich werden.
Lebhaft bewegten uns dieſe Gedanken während der einförmigen
Reiſe durch die Steppen. Nichts hilft ſo leicht über die kleinen
Widerwärtigkeiten des Lebens weg, als wenn der Geiſt mit
der bevorſtehenden Ausführung eines gewagten Unternehmens
beſchäftigt iſt.
[228]
Unſere Maultiere warteten unſer am linken Ufer des
Orinoko. Durch die Pflanzenſammlungen und die geologiſchen
Suiten, die wir ſeit Esmeralda und dem Rio Negro mit uns
führten, war unſer Gepäck bedeutend ſtärker geworden. Da
es mißlich geweſen wäre, uns von unſeren Herbarien zu
trennen, ſo mußten wir uns auf eine ſehr langſame Reiſe
durch die Lanos gefaßt machen. Durch das Zurückprallen
der Sonnenſtrahlen vom faſt pflanzenloſen Boden war die
Hitze ungemein ſtark. Indeſſen ſtand der hundertteilige Ther-
mometer bei Tag doch nur auf 30 bis 34, bei Nacht auf
27 bis 28°. Wie faſt überall unter den Tropen war es daher
nicht ſowohl der abſolute Hitzegrad als das Andauern der-
ſelben, was widrig auf unſere Organe wirkte. Wir brauchten
13 Tage, um über die Steppen zu kommen, wobei wir uns
in den Miſſionen der Kariben und in der kleinen Stadt Pao
etwas aufhielten. Ich habe oben das phyſiſche Gemälde
dieſer unermeßlichen Ebenen entworfen, die zwiſchen den Wäl-
dern von Guyana und der Küſtenkette liegen. Der öſtliche
Strich der Llanos, über den wir von Angoſtura nach Nueva
Barcelona kamen, bietet denſelben öden Anblick wie der
weſtliche, über den wir von den Thälern von Aragua nach
San Fernando am Apure gegangen waren. In der trockenen
Jahreszeit, welche hier Sommer heißt, obgleich dann die
Sonne in der ſüdlichen Halbkugel iſt, weht der Seewind in
den Steppen von Cumana weit ſtärker als in denen von
Caracas; denn dieſe weiten Ebenen bilden, gleich den ange-
bauten Fluren der Lombardei, ein nach Oſt offenes, nach Nord,
Süd und Weſt durch hohe Urgebirgsketten geſchloſſenes Becken.
Leider kam uns dieſer erfriſchende Wind, von dem die Llaneros
(die Steppenbewohner) mit Entzücken ſprechen, nicht zu gute.
Nordwärts vom Aequator war Regenzeit; in den Llanos ſelbſt
regnete es freilich nicht, aber durch den Wechſel in der Ab-
weichung der Sonne hatte das Spiel der Polarſtrömungen längſt
aufgehört. In dieſen Landſtrichen am Aequator, wo man ſich
nach dem Zug der Wolken orientieren kann, und wo die Schwan-
kungen des Queckſilbers im Barometer faſt wie eine Uhr die
Stunde weiſen, iſt alles einem regelmäßigen, gleichförmigen
Typus unterworfen. Das Aufhören der Seewinde, der Ein-
tritt der Regenzeit und die Häufigkeit elektriſcher Entladungen
ſind durch unabänderliche Geſetze verknüpfte Erſcheinungen.
Beim Einfluß des Apure in den Orinoko, am Berge
Sacuima, hatten wir einen franzöſiſchen Landwirt getroffen,
[229] der unter ſeinen Herden in völliger Abgeſchiedenheit lebte.
Es war das der Mann, der in ſeiner Einfalt glaubte, die
politiſchen Revolutionen in der Alten Welt und die daraus
entſprungenen Kriege rühren nur „vom langen Widerſtande
der Obſervanten“ her. Kaum hatten wir die Llanos von
Neubarcelona betreten, ſo brachten wir die erſte Nacht wieder bei
einem Franzoſen zu, der uns mit der liebenswürdigſten Gaſt-
freundlichkeit aufnahm. Er war aus Lyon gebürtig, hatte
das Vaterland in früher Jugend verlaſſen und ſchien ſich um
alles, was jenſeits des Atlantiſchen Meeres, oder, wie man
hier für Europa ziemlich geringſchätzig ſagt, „auf der anderen
Seite der großen Lache“ (del otro lado del charco) vor-
geht, ſehr wenig zu kümmern. Wir ſahen unſeren Wirt be-
ſchäftigt, große Holzſtücke mittels eines Leimes, der Guayca
heißt, aneinander zu fügen. Dieſer Stoff, deſſen ſich auch
die Tiſchler in Angoſtura bedienen, gleicht dem beſten aus
dem Tierreich gewonnenen Leim. Derſelbe liegt ganz fertig
zwiſchen Rinde und Splint einer Liane aus der Familie der
Kombretaceen. 1 Wahrſcheinlich kommt er in ſeinem chemiſchen
Verhalten nahe überein mit dem Vogelleim, einem vegetabi-
liſchen Stoff, der aus den Beeren der Miſtel und der inneren
Rinde der Stechpalme gewonnen wird. Man erſtaunt, in
welcher Maſſe dieſer klebrige Stoff ausfließt, wenn man die
rankenden Zweige des Vejuco de Guayca abſchneidet. So
findet man denn unter den Tropen in reinem Zuſtande und
in beſonderen Organen abgelagert, was man ſich in der ge-
mäßigten Zone nur auf künſtlichem Wege verſchaffen kann.
Erſt am dritten Tage kamen wir in die karibiſchen Miſ-
ſionen am Cari. Wir fanden hier den Boden durch die Trocken-
heit nicht ſo ſtark aufgeſprungen wie in den Lanos von Cala-
bozo. Ein paar Regengüſſe hatten der Vegetation neues
Leben gegeben. Kleine Grasarten und beſonders jene kraut-
artigen Senſitiven, von denen das halbwilde Vieh ſo fett
wird, bildeten einen dichten Raſen. Weit auseinander ſtan-
den hie und da Stämme der Fächerpalme (Corypha tectorum),
der Rhopala (Chaparro) und Malpighia mit lederartigen,
glänzenden Blättern. Die feuchten Stellen erkennt man von
weitem an den Büſchen von Mauritia, welche der Sagobaum
dieſes Landſtriches iſt. Auf den Küſten iſt dieſe Palme das
ganze Beſitztum der Guaraunenindianer, und, was ziemlich auf-
[230] fallend iſt, wir haben ſie 1170 km weiter gegen Süd mitten
in den Wäldern am oberen Orinoko, auf den Grasfluren um
den Granitgipfel des Duida angetroffen. Der Baum hing in
dieſer Jahreszeit voll ungeheurer Büſchel roter, den Tannen-
zapfen ähnlicher Früchte. Unſere Affen waren ſehr lüſtern
nach dieſen Früchten, deren gelbes Fleiſch ſchmeckt wie über-
reife Aepfel. Die Tiere ſaßen zwiſchen unſerem Gepäck auf
dem Rücken der Maultiere und ſtrengten ſich gewaltig an,
um der über ihren Köpfen hängenden Büſchel habhaft zu
werden. Die Ebene ſchwankte wellenförmig infolge der Luft-
ſpiegelung, und als wir nach einer Stunde Wegs dieſe Palm-
ſtämme, die ſich am Horizont wie Maſten ausnahmen, er-
reichten, ſahen wir mit Ueberraſchung, wie viele Dinge an
das Daſein eines einzigen Gewächſes geknüpft ſind. Die
Winde, vom Laub und den Zweigen im raſchen Zuge aufge-
halten, häufen den Sand um den Stamm auf. Der Geruch
der Früchte, das glänzende Grün locken von weitem die Zug-
vögel her, die ſich gern auf den Wedeln der Palme wiegen.
Ringsum vernimmt man ein leiſes Rauſchen. Niedergedrückt
von der Hitze, gewöhnt an die trübſelige Stille der Steppe,
meint man gleich einige Kühlung zu ſpüren, wenn ſich das
Laub auch nur ein wenig rührt. Unterſucht man den Boden
an der Seite abwärts vom Winde, ſo findet man ihn noch
lange nach der Regenzeit feucht. Inſekten und Würmer, 1
ſonſt in den Lanos ſo ſelten, ziehen ſich hierher und pflanzen
ſich fort. So verbreitet ein einzeln ſtehender, häufig ver-
krüppelter Baum, den der Reiſende in den Wäldern am Ori-
noko gar nicht beachtete, in der Wüſte Leben um ſich her.
Wir langten am 13. Juli im Dorfe Cari 2 an, der
erſten der karibiſchen Miſſionen, die unter den Mönchen
von der Kongregation der Obſervanten aus dem Kollegium von
Piritu 3 ſtehen. Wir wohnten, wie gewöhnlich, im Kloſter, das
[231] heißt beim Pfarrer. Wir hatten außer den Päſſen des General-
kapitäns der Provinz Empfehlungen der Biſchöfe und des
Guardians der Miſſionen am Orinoko. Von den Küſten von
Neukalifornien bis Valdivia und an die Mündung des Rio
de la Plata, auf einer Strecke von 9000 km, laſſen ſich alle
Schwierigkeiten einer langen Landreiſe überwinden, wenn man
des Schutzes der amerikaniſchen Geiſtlichkeit genießt. Die
Macht, welche dieſe Körperſchaft im Staate ausübt, iſt zu feſt
begründet, als daß ſie in einer neuen Ordnung der Dinge
ſo bald erſchüttert werden könnte. Unſerem Wirt war un-
begreiflich, „wie Leute aus dem nördlichen Europa von den
Grenzen von Braſilien her, über Rio Negro und Orinoko, und
nicht auf dem Wege von Cumana her zu ihm kamen“. Er
behandelte uns ungemein freundlich, verleugnete indeſſen keines-
wegs die etwas läſtige Neugier, welche das Erſcheinen eines nicht
ſpaniſchen Europäers in Südamerika immer rege macht. Die
Mineralien, die wir geſammelt, mußten Gold enthalten; ſo
ſorgfältig getrocknete Pflanzen konnten nur Arzneigewächſe
ſein. Hier, wie in ſo vielen Ländern in Europa, meint man,
die Wiſſenſchaft ſei nur dann eine würdige Beſchäftigung für
den Geiſt, wenn dabei für die Welt ein materieller Nutzen
herauskomme.
Wir fanden im Dorfe Cari über 500 Kariben und in
den Miſſionen umher ſahen wir ihrer noch viele. Es iſt höchſt
merkwürdig, ein Volk vor ſich zu haben, das, früher nomadiſch,
erſt kürzlich an feſte Wohnſitze gefeſſelt worden und ſich durch
Körper- und Geiſteskraft von allen anderen Indianern unter-
ſcheidet. Ich habe nirgends anderswo einen ganzen ſo hoch-
gewachſenen (1,78 bis 1,88 m) und ſo koloſſal gebauten Volks-
ſtamm geſehen. Die Männer, und dies kommt in Amerika
ziemlich häufig vor, ſind mehr bekleidet als die Weiber. Dieſe
tragen nur den Guayuco oder Gürtel in Form eines Ban-
des, bei den Männern iſt der ganze Unterteil des Körpers
bis zu den Hüften in ein Stück dunkelblauen, faſt ſchwarzen
Tuches gehüllt. Dieſe Bekleidung iſt ſo weit, daß die Kariben,
wenn gegen Abend die Temperatur abnimmt, ſich eine Schul-
ter damit bedecken. Da ihr Körper mit Onoto bemalt iſt,
ſo gleichen ihre großen, maleriſch drapierten Geſtalten von
weitem, wenn ſie ſich in der Steppe vom Himmel abheben, an-
3
[232] tiken Bronzeſtatuen. Bei den Männern iſt das Haar ſehr charak-
teriſtiſch geſchnitten, nämlich wie bei den Mönchen oder den
Chorknaben. Die Stirne iſt zum Teil glatt geſchoren, wo-
durch ſie ſehr hoch erſcheint. Ein ſtarker, kreisrund geſchnittener
Haarbüſchel fängt erſt ganz nahe am Scheitel an. Dieſe
Aehnlichkeit der Kariben mit den Mönchen iſt nicht etwa eine
Folge des Lebens in den Miſſionen; ſie rührt nicht, wie man
fälſchlich behauptet hat, daher, daß es die Eingeborenen ihren
Herren und Meiſtern, den Patres Franizskanern, gleich thun
wollen. Die Stämme, die zwiſchen den Quellen des Carony
und des Rio Branco in wilder Unabhängigkeit verharren,
zeichnen ſich durch eben dieſen Cerquillo de frailes
aus, den ſchon bei der Entdeckung von Amerika die früheſten
ſpaniſchen Geſchichtſchreiber den Völkern von karibiſchem
Stamme zuſchrieben. Alle Glieder dieſes Stammes, die wir
bei unſerer Fahrt auf dem unteren Orinoko und in den Miſ-
ſionen von Piritu geſehen, unterſcheiden ſich von den übrigen
Indianern nicht allein durch ihren hohen Wuchs, ſondern auch
durch ihre regelmäßigen Züge. Ihre Naſe iſt nicht ſo breit
und platt, ihre Backenknochen ſpringen nicht ſo ſtark vor, der
ganze Geſichtsausdruck iſt weniger mongoliſch. Aus ihren
Augen, die ſchwärzer ſind als bei den anderen Horden in
Guyana, ſpricht Verſtand, faſt möchte man ſagen Nachdenk-
lichkeit. Die Kariben haben etwas Ernſtes in ihrem Benehmen
und etwas Schwermütiges im Blick, wie die Mehrzahl der
Ureinwohner der Neuen Welt. Der ernſte Ausdruck ihrer
Züge wird noch bedeutend dadurch geſteigert, daß ſie die Aug-
brauen mit dem Saft des Caruto färben, ſie ſtärker machen
und zuſammenlaufen laſſen; häufig machen ſie ſich im ganzen
Geſicht ſchwarze Flecke, um grimmiger auszuſehen. Die Ge-
meindebeamten, der Governador und die Alkalden, die allein
das Recht haben, lange Stöcke zu tragen, machten uns ihre
Aufwartung. Es waren junge Indianer von achtzehn, zwanzig
Jahren darunter; denn ihre Wahl hängt einzig vom Gut-
dünken des Miſſionärs ab. Wir wunderten uns nicht wenig,
als uns an dieſen mit Onoto bemalten Kariben das wichtig
thuende Weſen, die gemeſſene Haltung, das kalte, herabſehende
Benehmen entgegentraten, wie man ſie hin und wieder bei
Beamten in der Alten Welt findet. Die karibiſchen Weiber
ſind nicht ſo kräftig und häßlicher als die Männer. Die Laſt
der häuslichen Geſchäfte und der Feldarbeit liegt faſt ganz
auf ihnen. Sie baten uns dringend um Stecknadeln, die ſie
[233] in Ermanglung von Taſchen unter die Unterlippe ſteckten; ſie
durchſtechen damit die Haut ſo, daß der Kopf der Nadel im
Munde bleibt. Dieſen Brauch haben ſie aus ihrem wilden
Zuſtande mit herübergenommen. Die jungen Mädchen ſind
rot bemalt und außer dem Guayuco ganz nackt. Bei den
verſchiedenen Völkern beider Welten iſt der Begriff der Nackt-
heit nur ein relativer. In einigen Ländern Aſiens iſt es
einem Weibe nicht geſtattet, auch nur die Fingerſpitzen ſehen
zu laſſen, während eine Indianerin vom karibiſchen Stamme
ſich gar nicht für nackt hält, wenn ſie einen zwei Zoll breiten
Guayuco trägt. Dabei gilt noch dieſe Leibbinde für ein weni-
ger weſentliches Kleidungsſtück als die Färbung der Haut. Aus
der Hütte zu gehen, ohne mit Onoto gefärbt zu ſein, wäre
ein Verſtoß gegen allen karibiſchen Anſtand.
Die Indianer in den Miſſionen von Piritu nahmen
unſere Aufmerkſamkeit um ſo mehr in Anſpruch, als ſie einem
Volke angehören, das durch ſeine Kühnheit, durch ſeine Kriegs-
züge und ſeinen Handelsgeiſt auf die weite Landſtrecke zwiſchen
dem Aequator und den Nordküſten bedeutenden Einfluß geübt
hat. Allerorten am Orinoko hatten wir das Andenken an
jene feindlichen Einfälle der Kariben lebendig gefunden; die-
ſelben erſtreckten ſich früher von den Quellen des Carony und
des Erevato bis zum Ventuari, Atacavi und Rio Negro.
Die karibiſche Sprache iſt daher auch eine der verbreitetſten
in dieſem Teile der Welt; ſie iſt ſogar (wie im Weſten der
Alleghanies die Sprache der Lenni-Lenape oder Algonkin und
die der Natchez oder Muskoghi) auf Völker übergegangen,
die nicht desſelben Stammes ſind.
Ueberblickt man den Schwarm von Völkern, die in Süd-
und Nordamerika oſtwärts von den Kordilleren der Anden
hauſen, ſo verweilt man vorzugsweiſe bei ſolchen, die lange
über ihre Nachbarn geherrſcht und auf dem Schauplatz der
Welt eine wichtigere Rolle geſpielt haben. Der Geſchicht-
ſchreiber fühlt das Bedürfnis, die Ereigniſſe zu gruppieren,
Maſſen zu ſondern, zu den gemeinſamen Quellen ſo vieler
Bewegungen und Wanderungen im Leben der Völker zurück-
zugehen. Große Reiche, eine förmlich organiſierte prieſterliche
Hierarchie und eine Kultur, wie ſie auf den erſten Entwicke-
lungsſtufen der Geſellſchaft durch eine ſolche Organiſation ge-
fördert wird, fanden ſich nur auf den Hochgebirgen im Weſten.
In Mexiko ſehen wir eine große Monarchie, die zerſtreute
kleine Republiken einſchließt, in Cundinamarca und Peru
[234] wahre Prieſterſtaaten. Befeſtigte Städte, Straßen und große
ſteinerne Gebäude, ein merkwürdig entwickeltes Lebensſyſtem,
Sonderung der Kaſten, Männer- und Frauenklöſter, geiſtliche
Brüderſchaften mit mehr oder minder ſtrenger Regel, ſehr
verwickelte Zeiteinteilungen, die mit den Kalendern, den Tier-
kreiſen und der Aſtrologie der kultivierten aſiatiſchen Völker
Verwandtſchaft haben, all das gehört in Amerika nur einem
einzelnen Landſtrich an, dem langen und ſchmalen Streifen
Alpenland, der ſich vom 30. Grad nördlicher bis zum 25.
ſüdlicher Breite erſtreckt. In der Alten Welt ging der Zug
der Völker von Oſt nach Weſt; nacheinander traten Basken
oder Iberer, Kelten, Germanen und Pelasger auf. In der
Neuen Welt gingen ähnliche Wanderungen in der Richtung
von Nord nach Süd. In beiden Halbkugeln richtete ſich die
Bewegung der Völker nach dem Zug der Gebirge; aber im
heißen Erdſtrich wurden die gemäßigten Hochebenen der Kor-
dilleren von bedeutenderem Einfluſſe auf die Geſchicke des
Menſchengeſchlechtes als die Gebirge in Centralaſien und
Europa. Da nun nur civiliſierte Völker eine eigentliche Ge-
ſchichte haben, ſo geht die Geſchichte der Amerikaner in der
Geſchichte einiger weniger Gebirgsvölker auf. Tiefes Dunkel
liegt auf dem unermeßlichen Lande, das ſich vom Oſtabhang
der Kordilleren zum Atlantiſchen Ozean erſtreckt, und gerade
deshalb nimmt alles, was in dieſem Lande auf das Ueber-
gewicht einer Nation über die andere, auf weite Wanderzüge,
auf phpſiognomiſche, fremde Abſtammung verratende Züge
deutet, unſer Intereſſe ſo lebhaft in Anſpruch.
Mitten auf den Niederungen von Nordamerika hat ein
mächtiges ausgeſtorbenes Volk kreisrunde, viereckige, achteckige
Feſtungswerke gebaut, Mauern, 11,7 km lang, Erdhügel von
195 bis 230 m Durchmeſſer und 45 m Höhe, die bald rund
ſind, bald mehrere Stockwerke haben und Tauſende von
Skeletten enthalten. Dieſe Skelette gehörten Menſchen an,
die nicht ſo hoch gewachſen, unterſetzter waren als die gegen-
wärtigen Bewohner dieſer Länder. Andere Gebeine, in Ge-
webe gehüllt, die mit denen auf den Sandwichs- und Viti-
inſeln Aehnlichkeit haben, findet man in natürlichen Höhlen
in Kentucky. Was iſt aus jenen Völkern in Louiſiana ge-
worden, die vor den Lenni-Lenape, den Shawanoes im Lande
ſaßen, vielleicht ſogar vor den Sioux (Nadoweſſier, Dacota)
am Miſſouri, die ſtark „mongoliſiert“ ſind und von denen
man, nach ihren eigenen Sagen, annimmt, daß ſie von den
[235] aſiatiſchen Küſten herübergekommen? Auf den Niederungen
von Südamerika trifft man, wie oben bemerkt, kaum ein paar
künſtliche Hügel (cerros hechos a mano) an, nirgends Be-
feſtigungen wie am Ohio. Auf einem ſehr großen Landſtrich,
am unteren Orinoko wie am Caſſiquiare und zwiſchen den
Quellen des Eſſequibo und Rio Branco, findet man indeſſen
Granitfelſen, die mit ſymboliſchen Bildern bedeckt ſind. Dieſe
Bildwerke weiſen darauf hin, daß die ausgeſtorbenen Ge-
ſchlechter anderen Völkern angehörten, als die jetzt dieſe Länder
bewohnen. Im Weſten, auf dem Rücken der Kordillere der
Anden, erſcheinen die Geſchichte von Mexiko und die von
Cundinamarca und Peru ganz unabhängig voneinander; aber
auf den Niederungen gegen Oſten zeigt eine kriegeriſche Na-
tion, die lange als die herrſchende aufgetreten, in den Geſichts-
zügen und dem Körperbau Spuren fremder Abſtammung. Die
Kariben haben noch Sagen, die auf einen Verkehr zwiſchen
beiden Hälften Amerikas in alter Zeit hinzudeuten ſcheinen.
Eine ſolche Erſcheinung verdient ganz beſondere Aufmerkſam-
keit; ſie verdient ſolche, wie tief auch die Verſunkenheit und
die Barbarei ſein mag, in der die Europäer am Ende des
15. Jahrhunderts alle Völker des neuen Kontinents mit Aus-
nahme der Gebirgsvölker antrafen. Wenn es wahr iſt, daß
die meiſten Wilden, wie ihre Sprachen, ihre kosmogoniſchen
Mythen und ſo viele andere Merkmale darzuthun ſcheinen, nur
verwilderte Geſchlechter ſind, Trümmer, die einem großen
gemeinſamen Schiffbruch entgangen, ſo wird es doppelt von
Wichtigkeit, zu unterſuchen, auf welchen Wegen dieſe Trüm-
mer aus einer Halbkugel in die andere geworfen worden ſind.
Das ſchöne Volk der Kariben bewohnt heutzutage nur
einen kleinen Teil der Länder, die es vor der Entdeckung
von Amerika inne hatte. Durch die Greuel der Europäer
iſt dasſelbe auf den Antillen und auf den Küſten von Darien
völlig ausgerottet, wogegen es unter der Miſſionszucht in den
Provinzen Nueva Barcelona und Spaniſch-Guyana volk-
reiche Dörfer gegründet hat. Man kann, glaube ich, die Zahl
der Kariben, die in den Llanos von Piritu und am Carony
und Cuyuni wohnen, auf mehr als 35000 veranſchlagen.
Rechnete man dazu die unabhängigen Kariben, die weſtwärts
von den Gebirgen von Cayenne und Pacaraimo zwiſchen den
Quellen des Eſſequibo und des Rio Branco hauſen, ſo käme
vielleicht eine Geſamtzahl von 40000 Köpfen von einer,
mit anderen eingeborenen Stämmen nicht gemiſchten Raſſe
[236] heraus. Ich lege auf dieſe Angaben um ſo mehr Gewicht,
als vor meiner Reiſe in vielen geographiſchen Werken von
den Kariben nur wie von einem ausgeſtorbenen Volkſtamm
die Rede war. Da man vom Inneren der ſpaniſchen Kolo-
nien auf dem Feſtland nichts wußte, ſetzte man voraus, die
kleinen Inſeln Dominica, Guadeloupe und St. Vincent ſeien
der Hauptwohnſitz dieſes Volkes geweſen, und von demſelben
beſtehe (auf allen öſtlichen Antillen) nichts mehr als verſteinerte
oder vielmehr in einem Madreporenkalk eingeſchloſſene Skelette. 1
Nach dieſer Vorausſetzung wären die Kariben in Amerika aus-
geſtorben, wie die Guanchen auf dem Archipel der Kanarien.
Stämme, welche, demſelben Volke angehörig, ſich gemein-
ſamen Urſprung zuſchreiben, werden auch mit denſelben Na-
men bezeichnet. Meiſt wird der Name einer einzelnen Horde
von den benachbarten Völkern allen anderen beigelegt; zu-
weilen werden auch Ortsnamen zu Volksnamen, oder letztere
entſpringen aus Spottnamen oder aus der zufälligen Ver-
drehung eines Wortes infolge ſchlechter Ausſprache. Das
Wort „Caribes“, das ich zuerſt in einem Briefe des Peter
Martyr d’Anghiera finde, kommt von Calina und Caripuna,
wobei aus l und p r und b wurden. Ja es iſt ſehr merk-
würdig, daß dieſer Name, den Kolumbus aus dem Munde
der haytiſchen Völker hörte, bei den Kariben auf den Inſeln
und bei denen auf dem Feſtland zugleich vorkam. Aus Ca-
rina oder Calina machte man Galibi (Karibi), wie in Fran-
zöſiſch-Guyana eine Völkerſchaft heißt, die von weit kleinerem
Wuchſe iſt als die Einwohner am Cari, aber eine der zahl-
reichen Mundarten der karibiſchen Sprache ſpricht. Die Be-
wohner der Inſeln nannten ſich in der Männerſprache Cali-
nago, in der Weiberſprache Callipinan. Dieſer Unterſchied
zwiſchen beiden Geſchlechtern in der Sprechweiſe iſt bei den
Völkern von karibiſchem Stamm auffallender als bei ande-
ren amerikaniſchen Nationen (den Omagua, Guarani und
Chiquitos), bei welchen derſelbe nur wenige Begriffe betrifft, wie
z. B. die Worte Mutter und Kind. Es begreift ſich, wie
[237] die Weiber bei ihrer abgeſchloſſenen Lebensweiſe ſich Redens-
arten bilden, welche die Männer nicht annehmen mögen.
Schon Cicero 1 bemerkt, daß die alten Sprachformen ſich vor-
zugsweiſe im Munde der Weiber erhalten, weil ſie bei ihrer
Stellung in der Geſellſchaft nicht ſo ſehr den Lebenswechſeln
(dem Wechſel von Wohnort und Beſchäftigung) ausgeſetzt
ſind, wodurch bei den Männern die urſprüngliche Reinheit
der Sprache leicht leidet. Bei den karibiſchen Völkern iſt
aber der Unterſchied zwiſchen den Mundarten beider Geſchlechter
ſo groß und auffallend, daß man zur befriedigenden Erklä-
rung desſelben ſich nach einer anderen Quelle umſehen muß.
Dieſe glaubte man nun in dem barbariſchen Brauche zu fin-
den, die männlichen Gefangenen zu töten und die Weiber
der Beſiegten als Sklaven fortzuſchleppen. Als die Kariben
in den Archipel der Kleinen Antillen einfielen, kamen
ſie als eine kriegeriſche Horde, nicht als Koloniſten, die ihre
Familien bei ſich hatten. Die Weiberſprache bildete ſich nun
in dem Maße, als die Sieger ſich mit fremden Weibern ver-
banden. Damit kamen neue Elemente herein, Worte weſent-
lich verſchieden von den karibiſchen Worten, 2 die ſich im
Frauengemach von Geſchlecht zu Geſchlecht fortpflanzten, doch
ſo, daß der Bau, die Kombinationen und die grammatiſchen
Formen der Männerſprache Einfluß darauf äußerten. So voll-
zog ſich hier in einem beſchränkten Verein von Individuen,
was wir an der ganzen Völkergruppe des neuen Kontinents
beobachten. Völlige Verſchiedenheit hinſichtlich der Worte
neben großer Aehnlichkeit im Bau, das iſt die Eigentümlich-
keit der amerikaniſchen Sprachen von der Hudſonsbai bis
zur Magelhaensſchen Meerenge. Es iſt verſchiedenes Material
in ähnlichen Formen. Bedenkt man nun, daß die Erſchei-
nung faſt von einem Pol zum anderen über die ganze Hälfte
unſeres Planeten reicht, betrachtet man die Eigentümlichkeiten
in den grammatiſchen Kombinationen (die Formen für die
Genera bei den drei Perſonen des Zeitwortes, die Redupli-
kationen, die Frequentative, die Duale), ſo kann man ſich
nicht genug wundern, wie einförmig bei einem ſo beträcht-
[238] lichen Bruchteil des Menſchengeſchlechtes der Entwickelungs-
gang in Geiſt und Sprache iſt.
Wir haben geſehen, daß die Mundart der karibiſchen
Weiber auf den Antillen Reſte einer ausgeſtorbenen Sprache
enthält. Was war dies für eine Sprache? Wir wiſſen es
nicht. Einige Schriftſteller vermuten, es könnte die Sprache
der Ygneri oder der Ureinwohner der karibiſchen Inſeln ſein,
von denen ſich ſchwache Ueberreſte auf Guadeloupe erhalten
haben; andere fanden darin Aehnlichkeit mit der alten Sprache
von Cuba oder mit den Sprachen der Aruaken und Apa-
lachiten in Florida; allein alle dieſe Annahmen gründen ſich
auf eine höchſt mangelhafte Kenntnis der Mundarten, die
man zu vergleichen unternommen.
Lieſt man die ſpaniſchen Schriftſteller des 16. Jahrhun-
derts mit Aufmerkſamkeit, ſo ſieht man, daß die karibiſchen
Völkerſchaften damals auf einer Strecke von 18 bis 19 Breiten-
graden, von den Jungfraueninſeln oſtwärts von Portorico
bis zu den Mündungen des Amazonenſtromes ausgebreitet
waren. Daß ihre Wohnſitze auch gegen Weſt, längs der Küſten-
kette von Santa Marta und Venezuela ſich erſtreckt, erſcheint
weniger gewiß. Indeſſen nennen Lopez de Gomara und die
älteſten Geſchichtſchreiber Caribana nicht, wie ſeitdem ge-
ſchehen, das Land zwiſchen den Quellen des Orinoko und
den Gebirgen von Franzöſiſch-Guyana, 1 ſondern die ſumpfigen
Niederungen zwiſchen den Mündungen des Rio Atrato und
des Rio Sinu. Ich war, als ich von der Havana nach Por-
tobelo wollte, ſelbſt auf dieſen Küſten und hörte dort, das
Vorgebirge, das den Meerbuſen von Darien oder Uraba gegen
Oſt begrenzt, heiße noch jetzt Punta Caribana. Früher war
ſo ziemlich die Anſicht herrſchend, die Kariben der antilliſchen
Inſeln ſtammen von den kriegeriſchen Völkern in Darien ab,
und haben ſogar den Namen von ihnen. „Inde Uraban ab
orientali prehendit ora, quam appellant in digenae Caribana,
unde Caribes insulares originem habere nomenque retinere
dicuntur.“ So drückt ſich Anghiera in den Oceanica aus.
[239] Ein Neffe Amerigo Veſpuccis hatte ihm geſagt, von dort bis
zu den Schneegebirgen von Santa Marta ſeien alle Einge-
borenen „e genere Caribium sive Canibalium“. Ich ziehe
nicht in Abrede, daß echte Kariben am Meerbuſen von Darien
gehauſt haben können, und daß ſie durch die öſtlichen Strö-
mungen dahin getrieben worden ſein mögen; es kann aber
ebenſo gut ſein, daß die ſpaniſchen Seefahrer, die auf die
Sprachen wenig achteten, jede Völkerſchaft von hohem Wuchs
und wilder Gemütsart Karibe und Kanibale nannten. Jeden-
falls erſcheint es ſehr unwahrſcheinlich, daß das karibiſche
Volk auf den Antillen und in der Parime ſich ſelbſt nach dem
Lande, in dem es urſprünglich lebte, genannt haben ſollte.
Oſtwärts von den Anden und überall, wohin die Kultur noch
nicht gedrungen iſt, geben vielmehr die Völker den Land-
ſtrichen, wo ſie ſich niedergelaſſen, die Namen. Wir haben
ſchon mehrmals Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die
Worte Caribes und Canibales bedeutſam zu ſein ſcheinen,
daß es wohl Beinamen ſind, die auf Mut und Kraft, ſelbſt
auf Geiſtesüberlegenheit anſpielen. 1 Es iſt ſehr bemerkens-
wert, daß die Braſilianer, als die Portugieſen ins Land
kamen, ihre Zauberer gleichfalls Caribes nannten. Wir
wiſſen, daß die Kariben in der Parime das wanderluſtigſte
Volk in Amerika waren; vielleicht ſpielten ſchlaue Köpfe in
dieſem umherziehenden Volk dieſelbe Rolle wie die Chaldäer
in der Alten Welt. Völkernamen hängen ſich leicht an ge-
wiſſen Gewerbe, und als unter den Cäſaren ſo viele Formen
des Aberglaubens aus dem Orient in Italien eindrangen,
kamen die Chaldäer ſo wenig von den Ufern des Euphrat,
als die Menſchen, die man in Frankreich Egyptiens und Bohé-
miens nennt (die einen indiſchen Dialekt reden, Zigeuner),
vom Nil und von der Elbe.
Wenn eine und dieſelbe Nation auf dem Feſtlande und
auf benachbarten Inſeln lebt, ſo hat man die Wahl zwiſchen
zwei Annahmen: ſie ſind entweder von den Inſeln auf den
Kontinent, oder von dem Kontinent auf die Inſeln gewandert.
Dieſe Streitfrage erhebt ſich auch bei den Iberern (Basken),
die ſowohl in Spanien als auf den Inſeln im Mittelmeer
ihre Wohnſitze hatten; 2 ebenſo bei den Malaien, die auf der
[240] Halbinſel Malakka und im Diſtrikt Menangkabau auf der
Inſel Sumatra Autochthonen zu ſein ſcheinen. 1 Der Archipel
der großen und der kleinen Antillen hat die Geſtalt einer
ſchmalen, zerriſſenen Landzunge, die der Landenge von Pa-
nama parallel läuft und nach der Annahme mancher Geo-
graphen einſt Florida mit dem nordöſtlichen Ende von Süd-
amerika verband. Es iſt gleichſam das öſtliche Ufer eines
Binnenmeeres, das man ein Becken mit mehreren Ausgängen
nennen kann. Dieſe ſonderbare Bildung des Landes hat den
verſchiedenen Wanderſyſtemen, nach denen man die Nieder-
laſſung der karibiſchen Völker auf den Inſeln und auf dem
benachbarten Feſtlande zu erklären ſuchte, zur Stütze gedient.
Die Kariben des Feſtlandes behaupten, die kleinen Antillen
ſeien vor Zeiten von den Aruaken bewohnt geweſen, einer
kriegeriſchen Nation, deren Hauptmaſſe noch jetzt an den un-
geſunden Ufern des Surinam und des Berbice lebt. Dieſe
Aruaken ſollen, mit Ausnahme der Weiber, von den Kariben,
die von den Mündungen des Orinoko hinübergekommen, ſämt-
lich ausgerottet worden ſein, und ſie berufen ſich zur Bewahr-
heitung dieſer Sage auf die Aehnlichkeit zwiſchen der Sprache
der Aruaken und der Weiberſprache bei den Kariben. Man
muß aber bedenken, daß die Aruaken, wenn ſie gleich Feinde
der Kariben ſind, doch mit ihnen zur ſelben Völkerfamilie
gehören, und daß das Aruakiſche und das Karibiſche einander
ſo nahe ſtehen wie Griechiſch und Perſiſch, Deutſch und Sans-
krit. Nach einer anderen Sage ſind die Kariben auf den
Inſeln von Süden hergekommen, nicht als Eroberer, ſondern
aus Guyana von den Aruaken vertrieben, die urſprünglich
über alle benachbarten Völker das Uebergewicht hatten. End-
lich eine dritte, weit verbreitetere und auch wahrſcheinlichere
Sage läßt die Kariben aus Nordamerika, namentlich aus
Florida kommen. Ein Reiſender, der ſich rühmt, alles zu-
ſammengebracht zu haben, was auf dieſe Wanderungen von
Nord nach Süd Bezug hat, Briſtok, behauptet, ein Stamm der
Confachiqui habe lange mit den Apalachiten im Kriege gelegen;
dieſe haben jenem Stamme den fruchtbaren Diſtrikt Amana
[241] abgetreten und ſofort ihre neuen Bundesgenoſſen Karibes (d. h.
tapfere Fremdlinge) genannt; aber infolge eines Zwiſtes
über den Gottesdienſt ſeien die Confachiquicaribes aus Flo-
rida vertrieben worden. Sie gingen zuerſt in ihren kleinen
Kanoen auf die Yucayas oder die lucayiſchen Inſeln (auf Ci-
gateo und die zunächſtliegenden Inſeln), von da nach Ayay
(Hayhay, heutzutage Santa Cruz) und auf die kleinen An-
tillen, endlich auf das Feſtland von Südamerika. Dies,
glaubt man, ſei gegen das Jahr 1100 unſerer Zeitrechnung
geſchehen; allein bei dieſer Schätzung nimmt man an (wie
bei manchen orientaliſchen Mythen), „bei der Mäßigkeit und
Sitteneinfalt der Wilden“ könne die mittlere Dauer einer
Generation 180 bis 200 Jahre betragen haben, wodurch dann
eine beſtimmte Zeitangabe als völlig aus der Luft gegriffen
erſcheint. Auf dieſer ganzen langen Wanderung hatten die
Kariben die großen Antillen nicht berührt, wo indeſſen die
Eingeborenen gleichfalls aus Florida zu ſtammen glaubten.
Die Inſulaner auf Cuba, Hayti und Borriken (Portorico)
waren nach der einſtimmigen Ausſage der erſten Konquiſtadoren
von den Kariben völlig verſchieden; ja bei der Entdeckung von
Amerika waren dieſe bereits von der Gruppe der kleinen lu-
cayiſchen Inſeln abgezogen, auf denen, wie in allen von Schiff-
brüchigen und Flüchtlingen bewohnten Ländern, eine erſtaun-
liche Mannigfaltigkeit von Sprachen herrſchte.
Die Herrſchaft, welche die Kariben ſo lange über einen
großen Teil des Feſtlandes ausgeübt, und das Andenken an ihre
alte Größe gab ihnen ein Gefühl von Würde und nationaler
Ueberlegenheit, das in ihrem Benehmen und ihren Aeuße-
rungen zu Tage kommt. „Nur wir ſind ein Volk,“ ſagen ſie
ſprichwörtlich, „die anderen Menſchen (oquili) ſind dazu da,
uns zu dienen.“ Die Kariben ſehen auf ihre alten Feinde
ſo hoch herab, daß ich ein zehnjähriges Kind vor Wut ſchäumen
ſah, weil man es einen Cabre oder Cavere nannte. Und
doch hatte es in ſeinem Leben keinen Menſchen dieſes un-
glücklichen Volkes geſehen, von dem die Stadt Cabruta (Ca-
britu) ihren Namen hat und das von den Kariben faſt völlig
ausgerottet wurde. Ueberall, bei halb barbariſchen Horden
wie bei den civiliſierteſten Völkern in Europa, finden wir
dieſen eingewurzelten Haß und die Namen feindlicher Völker
als die gröbſten Schimpfworte gebraucht.
Der Miſſionär führte uns in mehrere indianiſche Hütten,
wo Ordnung und die größte Reinlichkeit herrſchten. Mit
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 16
[242] Verdruß ſahen wir hier, wie die karibiſchen Mütter ſchon die
kleinſten Kinder quälen, um ihnen nicht nur die Waden größer
zu machen, ſondern am ganzen Bein vom Knöchel bis oben
am Schenkel das Fleiſch ſtellenweiſe hervorzutreiben. Bänder
von Leder oder Baumwollenzeug werden 5 bis 8 cm von-
einander feſt umgelegt und immer ſtärker angezogen, ſo
daß die Muskeln zwiſchen zwei Bandſtreifen überquellen.
Unſere Kinder im Wickelzeug haben lange nicht ſo viel zu
leiden als die Kinder bei den karibiſchen Völkern, bei einer
Nation, die dem Naturzuſtand noch ſo viel näher ſein ſoll.
Umſonſt arbeiten die Mönche in den Miſſionen, ohne Rouſ-
ſeaus Werke oder auch nur den Namen des Mannes zu kennen,
dieſem alten Syſtem des Kinderaufziehens entgegen; der Menſch,
der eben aus den Wäldern kommt, an deſſen Sitteneinfalt
wir glauben, iſt keineswegs gelehrig, wenn es ſich von ſeinem
Putz und von ſeinen Vorſtellungen von Schönheit und Anſtand
handelt. Ich wunderte mich übrigens, daß der Zwang, dem
man die armen Kinder unterwirft, und der den Blutumlauf
hemmen ſollte, der Muskelbewegung keinen Eintrag thut. Es
gibt auf der Welt kein kräftigeres und ſchnellfüßigeres Volk
als die Kariben.
Wenn die Weiber ihren Kindern Beine und Schenkel
modeln, um Wellenlinien hervorzubringen, wie die Maler es
nennen, ſo unterlaſſen ſie es in den Llanos wenigſtens, ihnen
von der Geburt an den Kopf zwiſchen Kiſſen und Brettern
platt zu drücken. Dieſer Brauch, der früher auf den Inſeln
und bei manchen karibiſchen Stämmen in der Parime und in
Franzöſiſch-Guyana ſo verbreitet war, kommt in den Miſ-
ſionen, die wir beſucht haben, nicht vor. Die Leute haben
dort gewölbtere Stirnen als die Chaymas, Otomaken, Macos,
Marvaitanos und die meiſten Eingebornen am Orinoko. Nach
ſyſtematiſchem Begriffe ſind ihre Stirnen, wie ſie ihren geiſtigen
Fähigkeiten entſprechen. Dieſe Beobachtung überraſchte uns
um ſo mehr, da die in manchen anatomiſchen Werken abge-
bildeten Karibenſchädel 1 ſich von allen Menſchenſchädeln durch
die niedrigſte Stirne und den kleinſten Geſichtswinkel unter-
ſcheiden. Man hat aber in unſeren oſteologiſchen Samm-
lungen Kunſtprodukte mit Naturbildungen verwechſelt. Die
[243] „faſt ſtirnloſen“ ſogenannten Karibenſchädel von der Inſel
Sankt Vincent ſind zwiſchen Brettern gemodelte Köpfe von
Zambos (ſchwarzen Kariben), Abkömmlingen von Negern und
wirklichen Kariben. Der barbariſche Brauch, die Stirne platt
zu drücken, kommt übrigens bei mehreren Völkern vor, die
nicht desſelben Stammes ſind; man hat denſelben in neueſter
Zeit auch in Nordamerika angetroffen; aber der Schluß von
einer gewiſſen Uebereinſtimmung in Sitten und Gebräuchen
auf gleiche Abſtammung iſt ſehr gewagt.
Reiſt man in den karibiſchen Miſſionen, ſo ſollte man
bei dem daſelbſt herrſchenden Geiſte der Ordnung und des
Gehorſams gar nicht glauben, daß man ſich unter Kannibalen
befindet. Dieſes amerikaniſche Wort von nicht ganz ſicherer
Bedeutung ſtammt wahrſcheinlich aus der Sprache von Hayti
oder Portorico. Es iſt ſchon zu Ende des 15. Jahrhunderts,
als gleichbedeutend mit Menſchenfreſſer, in die europäiſchen
Sprachen übergegangen. „Edaces humanarum carnium novi
anthropophagi, quos diximus Caribes, alias Canibales
appellari,“ ſagt Anghiera in der dritten Dekade ſeiner Papſt
Leo X. gewidmeten Oceanica. Ich bezweifle keineswegs, daß
die Inſelkariben als eroberndes Volk die Ygneris oder alten
Bewohner der Antillen, die ſchwach und unkriegeriſch waren,
grauſam behandelt haben; dennoch iſt anzunehmen, daß dieſe
Grauſamkeiten von den erſten Reiſenden, welche nur Völker
hörten, die von jeher Feinde der Kariben geweſen, übertrieben
wurden. Nicht immer werden nur die Beſiegten von den
Zeitgenoſſen verleumdet; auch am Uebermut des Siegers
rächt man ſich, indem man das Regiſter ſeiner Greuel ver-
größert.
Alle Miſſionäre am Carony, am unteren Orinoko und in
den Llanos del Cari, die wir zu befragen Gelegenheit ge-
habt, verſichern, unter allen Völkern des neuen Kontinents
ſeien die Kariben vielleicht am wenigſten Menſchenfreſſer; und
ſolches behaupten ſie ſogar von den unabhängigen Horden,
die oſtwärts von Esmeralda zwiſchen den Quellen des Rio
Branco und des Eſſequibo umherziehen. Es begreift ſich, daß
die verzweifelte Erbitterung, mit der ſich die unglücklichen Ka-
riben gegen die Spanier wehrten, nachdem im Jahre 1504 ein
königliches Ausſchreiben ſie für Sklaven erklärt hatte, ſie vollends
in den Ruf der Wildheit brachte, in dem ſie ſtehen. 1 Der erſte
[244] Gedanke, dieſem Volke zu Leibe zu gehen und es ſeiner Freiheit
und ſeiner natürlichen Rechte zu berauben, rührt von Chriſtoph
Kolumbus her, der die Anſichten des 15. Jahrhunderts teilte
und durchaus nicht immer ſo menſchlich war, als man im 18.
aus Haß gegen ſeine Verkleinerer behauptete. Später wurde
der Licentiat Rodrigo de Figueroa vom Hofe beauftragt
(1520), auszumachen, welche Völkerſchaften in Südamerika
für karibiſchen oder kannibaliſchen Stammes gelten könnten,
und welche Guatiaos wären, d. h. friedliche, von lange
her mit den Kaſtilianern befreundete Indianer. Dieſes ethno-
graphiſche Aktenſtück, „El auto de Figueroa“ genannt, iſt eine
der merkwürdigſten Urkunden für die Barbarei der erſten Kon-
quiſtadoren. Nie hatte Syſtemſucht ſo trefflich dazu gedient,
die Leidenſchaften zu beſchönigen. Unſere Geographen gehen
nicht willkürlicher zu Werke, wenn ſie in Centralaſien mon-
goliſche und tatariſche Völker unterſcheiden, als Figueroa,
wenn er zwiſchen Kannibalen und Guatiaos die Grenze zog.
Ohne auf die Sprachverwandtſchaft zu achten, erklärte man
willkürlich alle Horden, denen man Schuld geben konnte, daß
ſie nach dem Gefechte einen Gefangenen verzehrt, für karibiſch.
Die Einwohner von Uriapari (der Halbinſel Paria) wurden
Kariben, die Urinaken (die Uferbewohner am unteren Orinoko
oder Orinuku) Guatiaos genannt. Alle Stämme, die Figueroa
als Kariben bezeichnete, waren der Sklaverei verfallen; man
konnte ſie nach Belieben verkaufen oder niedermachen. In
dieſen blutigen Kämpfen wehrten ſich die karibiſchen Weiber
nach dem Tode ihrer Männer mit ſo verzweifeltem Mute,
daß man ſie, wie Anghiera ſagt, für Amazonenvölker hielt.
Die gehäſſigen Deklamationen eines Dominikanermönchs (Tho-
mas Hortiz) trugen dazu bei, den Jammer zu verlängern,
der auf ganzen Völkern laſtete. Indeſſen, und man ſpricht
es mit Vergnügen aus, gab es auch beherzte Männer, die
mitten in den an den Kariben verübten Greueln die Stimme
der Menſchlichkeit und der Gerechtigkeit hören ließen. Manche
Geiſtliche ſprachen ſich in entgegengeſetztem Sinne aus, als
ſie anfangs gethan. In einem Jahrhundert, in dem man
nicht hoffen durfte, die öffentliche Freiheit auf bürgerliche Ein-
richtungen zu gründen, ſuchte man wenigſtens die perſönliche
1
[245] Freiheit zu verteidigen. „Es iſt,“ ſagt Gomara im Jahre
1551, „ein heiliges Geſetz (lex sanctissima), durch das unſer
Kaiſer verboten hat, die Indianer zu Sklaven zu machen. Es
iſt gerecht, daß die Menſchen, die alle frei zur Welt kommen,
nicht einer des andern Sklaven werden.“
Bei unſerem Aufenthalt in den karibiſchen Miſſionen
überraſchte es uns, mit welcher Gewandtheit junge achtzehn-
zwanzigjährige Indianer, wenn ſie zum Amte eines Alguacil
oder Fiskal herangebildet ſind, ſtundenlange Anreden an
die Gemeinde halten. Die Betonung, die ernſte Haltung, die
Gebärden, mit denen der Vortrag begleitet wird, alles verrät
ein begabtes, einer hohen Kulturentwickelung fähiges Volk.
Ein Franziskaner, der ſo viel karibiſch verſtand, daß er zu-
weilen in dieſer Sprache predigen konnte, machte uns darauf
aufmerkſam, wie lang und gehäuft die Sätze in den Reden
der Indianer ſind, und doch nie verworren und unklar werden.
Eigentümliche Flexionen des Verbums bezeichnen zum voraus
die Beſchaffenheit des regierten Wortes, je nachdem es belebt
iſt oder unbelebt, in der Einzahl oder in der Mehrzahl. Durch
kleine angehängte Formen (Suffixe) wird der Empfindung
ein eigener Ausdruck gegeben, und hier, wie in allen auf
dem Wege ungehemmter Entwickelung entſtandenen Sprachen,
entſpringt die Klarheit aus dem ordnenden Inſtinkte, 1 der auf
den verſchiedenſten Stufen der Barbarei und der Kultur als
das eigentliche Weſen der menſchlichen Geiſteskraft erſcheint.
An Feſttagen verſammelt ſich nach der Meſſe die ganze Ge-
meinde vor der Kirche. Die jungen Mädchen legen zu den
Füßen des Miſſionärs Holzbündel, Mais, Bananenbüſchel und
andere Lebensmittel nieder, deren er in ſeinem Haushalt bedarf.
Zugleich treten der Governador, der Fiskal und die Ge-
meindebeamten, lauter Indianer, auf, ermahnen die Einge-
borenen zum Fleiß, teilen die Arbeiten, welche die Woche
über vorzunehmen ſind, aus, geben den Trägen Verweiſe, und
— es ſoll nicht verſchwiegen werden — prügeln die Unbot-
mäßigen unbarmherzig durch. Die Stockſtreiche werden ſo kalt-
blütig hingenommen als ausgeteilt. Dieſe Akte der vollziehen-
den Juſtiz kommen dem Reiſenden, der von Angoſtura an
die Küſte über die Lanos geht, ſehr gedehnt vor und allzu-
[246] ſehr gehäuft. Man ſähe es lieber, wenn der Prieſter nicht
vom Altar weg körperliche Züchtigungen verhängte, man
wünſchte, er möchte es nicht im prieſterlichen Gewande mit
anſehen, wie Männer und Weiber abgeſtraft werden; aber
dieſer Mißbrauch, oder, wenn man will, dieſer Verſtoß gegen
den Anſtand fließt aus dem Grundſatz, auf dem das ganze
ſeltſame Miſſionsregiment beruht. Die willkürlichſte bürgerliche
Gewalt iſt mit den Rechten, welche dem Geiſtlichen der kleinen
Gemeinde zuſtehen, völlig verſchmolzen, und obgleich die Ka-
riben ſo gut wie keine Kannibalen ſind, und ſo ſehr man
wünſchen mag, daß ſie mit Milde und Vorſicht behandelt werden,
ſo ſieht man doch ein, daß es zuweilen etwas kräftiger Mittel
bedarf, um in einem ſo jungen Gemeinweſen die Ruhe auf-
recht zu erhalten.
Die Kariben ſind um ſo ſchwerer an feſte Wohnſitze zu
feſſeln, da ſie ſeit Jahrhunderten auf den Flüſſen Handel
getrieben haben. Wir haben dieſes rührige Volk, ein Volk
von Handelsleuten und von Kriegern, ſchon oben kennen ge-
lernt, wie es Sklavenhandel trieb und mit ſeinen Waren
von den Küſten von Holländiſch-Guyana bis in das Becken
des Amazonenſtromes zog. Die wandernden Kariben waren
die Bocharen des tropiſchen Amerika, und ſo hatte ſie denn
auch das tägliche Bedürfnis, die Gegenſtände ihres kleinen
Handels zu berechnen und einander Nachrichten mitzuteilen,
dazu gebracht, die Handhabung der Quippos, oder, wie
man in den Miſſionen ſagt, der Cordoncillos con nudos, zu
verbeſſern und zu erweitern. Dieſe Quippos oder Schnüre
kommen in Kanada, in Mexiko (wo Boturini welche bei den
Tlascalteken bekam), in Peru, auf den Niederungen von
Guyana, in Centralaſien, in China und in Indien vor. Als
Roſenkränze wurden ſie in den Händen der abendländiſchen
Chriſten Werkzeuge der Andacht; als Suampan dienten ſie
zu den Griffen der palpabeln oder Handarithmetik der
Chineſen, Tataren und Ruſſen. 1 Die unabhängigen Kariben,
[247] welche in dem noch ſo wenig bekannten Lande zwiſchen den
Quellen des Orinoko und den Flüſſen Eſſequibo, Carony
und Parime (Rio Branco oder Rio de aguas blancas) hauſen,
teilen ſich in Stämme; ähnlich den Völkern am Miſſouri,
in Chile und im alten Germanien bilden ſie eine Art poli-
tiſcher Bundesgenoſſenſchaft. Eine ſolche Verfaſſung ſagt am
beſten der Freiheitsliebe dieſer kriegeriſchen Horden zu, die
geſellſchaftliche Bande nur dann vorteilhaft finden, wenn es
gemeinſame Verteidigung gilt. In ihrem Stolze ſondern ſich
die Kariben von allen anderen Stämmen ab, ſelbſt von ſol-
chen, die der Sprache nach ihnen verwandt ſind. Auf dieſer
Abſonderung beſtehen ſie auch in den Miſſionen. Dieſe ſind
ſelten gediehen, wenn man den Verſuch gemacht hat, Kariben
gemiſchten Gemeinden einzuverleiben, das heißt ſolchen, wo
jede Hütte von einer Familie bewohnt iſt, die wieder einem
anderen Volke angehört und eine andere Mundart hat. Bei
den unabhängigen Kariben vererbt ſich die Häuptlingswürde
vom Vater auf den Sohn, nicht durch die Schweſterkinder.
Letztere Erbfolge beruht auf einem grundſätzlichen Mißtrauen,
das eben nicht für große Sittenreinheit ſpricht; dieſelbe herrſcht
in Indien, bei den Aſchanti in Afrika und bei mehreren
wilden Horden in Nordamerika. 1 Bei den Kariben müſſen
1
[248] die jungen Häuptlinge, wie die Jünglinge, die heiraten wollen,
faſten und ſich den ſeltſamſten Büßungen unterziehen. Man
purgiert ſie mit der Frucht gewiſſer Euphorbien, man läßt
ſie in Kaſten ſchwitzen und gibt ihnen von den Marirri
oder Piaches bereitete Mittel ein, die in den Landſtrichen
jenſeits der Alleghanies Kriegstränke, Tränke zum
Mutmachen (war-physics) heißen. Die karibiſchen Marirri
ſind die berühmteſten von allen; ſie ſind Prieſter, Gaukler
und Aerzte in einer Perſon, und ihre Lehre, ihre Kunſtgriffe
und ihre Arzneien vererben ſich. Letztere werden unter Auf-
legen der Hände gereicht und mit verſchiedenen geheimnis-
vollen Gebärden oder Handlungen, wie es ſcheint, von Uralters
her bekannte Manipulationen des tieriſchen Magnetismus.
Ich hatte Gelegenheit, mehrere Leute zu ſprechen, welche die
verbündeten Kariben genau hatten beobachten können, ich
konnte aber nicht erfahren, ob die Marirri eine Kaſte für
ſich bilden. In Nordamerika hat man gefunden, daß bei den
Shawanoes, die in mehrere Stämme zerfallen, die Prieſter,
die die Opfer vornehmen (wie bei den Hebräern), nur aus
einem Stamme, dem der Mequachakes, ſein dürfen. Wie
mir dünkt, muß alles, was man noch in Amerika über die
Spuren einer alten Prieſterkaſte ausfindig macht, von be-
deutendem Intereſſe ſein, wegen jener Prieſterkönige in Peru,
die ſich Söhne der Sonne nannten, und jener Sonnen-
könige bei den Natchez, bei denen man unwillkürlich an die
Heliaden der erſten öſtlichen Kolonie von Rhodus denkt.1 Um
Sitten und Gebräuche des karibiſchen Volkes vollkommen
kennen zu lernen, müßte man die Miſſionen in den Llanos,
die am Carony und die Savannen ſüdlich von den Gebirgen
von Pacaraimo zugleich beſuchen. Je mehr man ſie kennen
lernt, verſichern die Franziskaner, deſto mehr müſſen die Vor-
urteile ſchwinden, die man gegen ſie in Europa hat, wo ſie
für wilder, oder um mich des naiven Ausdrucks eines Herrn
von Montmartin zu bedienen, für weit weniger liberal
gelten als andere Völkerſchaften in Guyana.2 Die Sprache
1
[249] der Kariben auf dem Feſtlande iſt dieſelbe von den Quellen
des Rio Branco bis zu den Steppen von Cumana. Ich war
ſo glücklich, in Beſitz einer Handſchrift zu gelangen, die einen
Auszug des Paters Sebaſtian Garcia aus der „Gramatica
de la lengua Caribe del P. Fernando Ximenez“ enthielt.
Dieſe wertvolle Handſchrift wurde bei Vaters1 und meines
Bruders, Wilhelm von Humboldt, nach noch weit umfaſſen-
derem Plane angelegten Unterſuchungen über den Bau der
amerikaniſchen Sprachen benützt.
Als wir von der Miſſion Cari aufbrechen wollten, ge-
rieten wir in einen Wortwechſel mit unſeren indianiſchen
Maultiertreibern. Sie hatten, zu unſerer nicht geringen Ver-
wunderung, ausfindig gemacht, daß wir Skelette aus der
Höhle von Ataruipe mit uns führten, und ſie waren feſt
überzeugt, daß das Laſttier, das „die Körper ihrer alten Ver-
wandten“ trug, auf dem Wege zu Grunde gehen müſſe. Alle
unſere Vorſichtsmaßregeln, um die Skelette zu verbergen,
waren vergeblich; nichts entgeht dem Scharfſinn und dem
Geruch eines Kariben, und es brauchte das ganze Anſehen
des Miſſionärs, um unſer Gepäck in Gang zu bringen. Ueber
den Rio Cari mußten wir im Boote fahren, über den Rio
de agua clara waten, faſt könnte ich ſagen ſchwimmen.
Wegen des Triebſands am Boden iſt letzterer Uebergang bei
Hochwaſſer ſehr beſchwerlich. Man wundert ſich, daß in einem
ſo ebenen Lande die Strömung ſo ſtark iſt; die Steppen-
flüſſe drängen aber auch, um mich eines ganz richtigen Aus-
drucks des jüngeren Plinius zu bedienen, „nicht ſowohl wegen
des Bodenfalls, als wegen ihrer Fülle und wie durch ihr
eigenes Gewicht vorwärts“.2 Wir hatten, ehe wir in die
kleine Stadt Pao kamen, zwei ſchlechte Nachtlager in Mata-
gorda und Los Riecietos. Ueberall dasſelbe: kleine Rohrhütten
mit Leder gedeckt, berittene Leute mit Lanzen, die das Vieh
hüten, halb wilde Hornviehherden von auffallend gleicher
Färbung, die den Pferden und Maultieren die Weide ſtreitig
machen. Keine Schafe, keine Ziegen auf dieſen unermeßlichen
Steppen! Die Schafe pflanzen ſich in Amerika nur auf
2
[250] Plateaus, die über 1950 m hoch liegen, gut fort; nur dort wird
die Wolle lang und zuweilen ſehr ſchön. Im glühend heißen
Klima der Niederungen, wo ſtatt der Wölfe die Jaguare
auftreten, können ſich dieſe kleinen wehrloſen und in ihren
Bewegungen ſchwerfälligen Wiederkäuer nicht in Maſſe halten.
Am 15. Juli langten wir in der Fundacion oder
Villa del Pao an, die im Jahre 1744 gegründet wurde und
ſehr vorteilhaft gelegen iſt, um zwiſchen Nueva Barcelona
und Angoſtura als Stapelplatz zu dienen. Ihr eigentlicher
Name iſt Concepcion del Pao; Alcedo, La Cruz Olmedilla
und viele andere Geographen gaben ihre Lage falſch an, weil
ſie den Ort entweder mit San Juan Baptiſta del Pao in
den Llanos von Caracas, oder mit El Valle del Pao am
Zarate verwechſelten. Trotz des bedeckten Himmels erhielt ich
einige Höhen von α im Centauren, nach denen ſich die Breite
des Orts beſtimmen ließ. Dieſelbe beträgt 8° 37′ 57″. Aus
Sonnenhöhen ergab ſich eine Länge von 67° 8′ 12″, Ango-
ſtura unter 66° 15′ 21″ angenommen. Die aſtronomiſchen
Beſtimmungen in Calabozo und in Concepcion del Pao ſind
nicht ohne Belang für die Geographie dieſer Landſtriche, wo
es inmitten der Grasfluren durchaus an feſten Punkten fehlt.
In der Umgegend von Pao findet man einige Fruchtbäume,
eine ſeltene Erſcheinung in den Steppen. Wir ſahen ſogar
Kokosbäume, die trotz der weiten Entfernung von der See
ganz kräftig ſchienen. Ich lege einiges Gewicht auf letztere
Wahrnehmung, da man die Glaubwürdigkeit von Reiſenden,
welche den Kokosbaum, eine Küſtenpalme, in Timbuktu,
mitten in Afrika, angetroffen haben wollten, in Zweifel ge-
zogen hat. Wir hatten öfters Gelegenheit, Kokosbäume mitten
im Baulande am Magdalenenſtrom, 450 km von der Küſte,
zu ſehen.
In fünf Tagen, die uns ſehr lang vorkamen, gelangten
wir von der Villa del Pao in den Hafen von Nueva Bar-
celona. Je weiter wir kamen, deſto heiterer wurde der Himmel,
deſto ſtaubiger der Boden, deſto glühender die Luft. Dieſe
ungemein drückende Hitze rührt nicht von der Lufttemperatur
her, ſondern vom feinen Sand, der in der Luft ſchwebt, nach
allen Seiten Wärme ſtrahlt und dem Reiſenden ins Geſicht
ſchlägt, wie an die Kugel des Thermometers. Indeſſen habe
ich in Amerika den hundertteiligen Thermometer mitten im
Sandwinde niemals über 45,8° ſteigen ſehen. Kapitän
Lyon, den ich nach ſeiner Rückkehr von Murzuk zu ſprechen
[251] das Vergnügen hatte, ſchien mir auch geneigt anzunehmen,
daß die Temperatur von 52 Grad, der man in Fezzan ſo
oft ausgeſetzt iſt, großenteils von den Quarzkörnern herrührt,
die in der Luft ſuſpendiert ſind. Zwiſchen Pao und dem im
Jahre 1749 gegründeten, von 500 Kariben bewohnten Dorfe
Santa Cruz de Cachipo1 kamen wir über den weſtlichen Strich
des kleinen Plateau, das unter dem Namen Meſa de Amana
bekannt iſt. Dieſes Plateau bildet die Waſſerſcheide zwiſchen
dem Orinoko, dem Guarapiche und dem Küſtenland von Neu-
Andaluſien. Die Erhöhung desſelben iſt ſo gering, daß es
der Schiffbarmachung dieſes Strichs der Llanos wenig Hinder-
niſſe in den Weg legen wird. Indeſſen konnte der Rio Mamo,
der oberhalb des Einfluſſes des Carony in den Orinoko fällt
und den d’Anville (ich weiß nicht, nach weſſen Angabe) auf
der erſten Ausgabe ſeiner großen Karte aus dem See von
Valencia kommen und die Gewäſſer des Guayre aufnehmen
läßt, nie als natürlicher Kanal zwiſchen zwei Flußbecken
dienen. Es beſteht in der Steppe nirgends eine Gabelteilung
der Art. Sehr viele Kariben, welche jetzt in den Miſſionen
von Piritu leben, ſaßen früher nördlich und weſtlich vom
Plateau Amana zwiſchen Maturin, der Mündung de Rio
Areo und dem Guarapiche; die Einfälle Don Joſef Careños,
eines der unternehmendſten Statthalter der Provinz Cumana,
gaben im Jahr 1720 Anlaß zu einer allgemeinen Wanderung
der unabhängigen Kariben an den unteren Orinoko.
Dieſer ganze weitgedehnte Landſtrich beſteht, wie wir
ſchon oben bemerkt, aus ſekundären Gebirgsbildungen, die
ſich gegen Süden unmittelbar an die Granitgebirge am Ori-
noko lehnen. Gegen Nordweſt trennt ſich ein ziemlich ſchmaler
Streif von Uebergangsgebirg von den aus Urgebirg beſtehen-
den Bergen auf dem Küſtenland von Caracas. Dieſes ge-
waltige Auftreten von ſekundären Bildungen, die ohne Unter-
brechung einen Flächenraum von 1458000 qkm bedecken (wobei
nur der gegen Süden vom Rio Apure, gegen Weſten von der
Sierra Nevada de Merida und vom Paramo de las Roſas
begrenzte Teil der Llanos gerechnet iſt), iſt in dieſen Erd-
ſtrichen eine um ſo merkwürdigere Erſcheinung, da in der ganzen
Sierra de la Parime, zwiſchen dem rechten Ufer des Orinoko
und dem Rio Negro, gerade wie in Skandinavien, die ſekun-
dären Bildungen auffallenderweiſe gänzlich fehlen. Der rote
[252] Sandſtein, der hie und da Stücke foſſilen Holzes (aus der
Familie der Monokotyledonen) enthält, kommt in den Step-
pen von Calabozo überall zu Tage. Weiter gegen Oſten ſind
Kalkſtein und Gips demſelben aufgelagert und machen ihn
der geologiſchen Forſchung unzugänglich. Weiter gegen Nor-
den, der Miſſion San Joſef de Curataquiche zu, fand Bon-
pland ſchöne gebänderte Stücke Jaſpis oder „ägyptiſche Kieſel“.
Wir ſahen dieſelben nicht in der Gebirgsart eingeſchloſſen
und wiſſen daher nicht, ob ſie einem ganz neuen Konglomerat
angehören oder dem Kalkſtein, den wir am Morro von Nueva
Barcelona angetroffen, und der kein Uebergangsgeſtein iſt,
obgleich er Schichten von Kieſelſchiefer enthält.
Man kann die Steppen oder Grasfluren von Südamerika
nicht durchziehen, ohne in Gedanken bei der Ausſicht zu ver-
weilen, daß man ſie eines Tages zu dem benützen wird, zu
dem ſie ſich beſſer eignen als irgend ein Landſtrich des Erd-
balls, zur Meſſung der Grade eines Erdbogens in der Rich-
tung eines Meridians oder einer auf dem Meridian ſenk-
rechten Linie. Dieſe Operation wäre für die genaue Kenntnis
der Geſtalt der Erde von großer Wichtigkeit. Die Llanos
von Venezuela liegen 13° oſtwärts von den Punkten, wo
einerſeits die franzöſiſchen Akademiker mittels Dreiecken, die
ſich auf die Gipfel der Kordilleren ſtützten, andererſeits Maſon
und Dixon, ohne trigonometriſche Mittel (auf den Ebenen
von Pennſylvanien), ihre Meſſungen ausgeführt haben; ſie
liegen faſt unter demſelben Parallel (und dieſer Umſtand iſt
von großem Belang) wie die indiſche Hochebene zwiſchen
Junne und Madura, wo Oberſt Lambton ſo ausgezeichnet
operierte. So viele Bedenken auch noch hinſichtlich der Ge-
nauigkeit der Inſtrumente, der Beobachtungsfehler und der
Einflüſſe örtlicher Anziehungen beſtehen mögen, beim jetzigen
Zuſtand unſerer Kenntniſſe iſt nicht wohl in Abrede zu ziehen,
daß die Erde ungleichförmig abgeplattet iſt. Iſt einmal
zwiſchen den freien Regierungen von La Plata und Venezuela
ein innigeres Verhältnis hergeſtellt, ſo wird man ſich ohne
Zweifel dieſen Vorteil und den allgemeinen Frieden zu Nutze
machen und nördlich und ſüdlich vom Aequator, in den Lla-
nos und in den Pampas die Meſſungen vornehmen, die wir
hier in Vorſchlag bringen. Die Llanos von Pao und Cala-
bozo ſind faſt unter demſelben Meridian gelegen wie die
Pampas ſüdlich von Cordova, und der Breitenunterſchied
dieſer Niederungen, die ſo vollkommen eben ſind, als hätte
[253] lange Waſſer darauf geſtanden, beträgt 45 Grad. Dieſe geo-
dätiſchen und aſtronomiſchen Operationen wären bei der Be-
ſchaffenheit des Terrains auch gar nicht koſtſpielig. Schon
La Condamine hat im Jahre 1734 dargethan, wie vorteil-
hafter und beſonders weniger zeitraubend es geweſen wäre,
wenn man die Akademiker in die (vielleicht etwas zu ſtark
bewachſenen und ſumpfigen) Ebenen im Süden von Cayenne,
dem Einfluſſe des Rio Xingu in den Amazonenſtrom zu, ge-
ſchickt hätte, ſtatt ſie auf den Hochebenen von Quito mit Froſt,
Stürmen und vulkaniſchen Ausbrüchen kämpfen zu laſſen.
Die ſpaniſch-amerikaniſchen Regierungen dürfen keines-
wegs meinen, daß die in Rede ſtehenden, mit Pendelbeobach-
tungen verbundenen Meſſungen in den Llanos nur ein rein
wiſſenſchaftliches Intereſſe hätten: dieſelben gäben zugleich die
Hauptgrundlagen für Karten ab, ohne welche keine regelmäßige
Verwaltung in einem Lande beſtehen kann. Bis jetzt mußte
man ſich auf eine rein aſtronomiſche Aufnahme beſchrän-
ken, und es iſt dies das ſicherſte und raſcheſte Verfahren
bei einer Oberfläche von ſehr großer Ausdehnung. Man
ſuchte einige Punkte an den Küſten und im Inneren ab-
ſolut zu beſtimmen, das heißt nach Himmelserſcheinungen
oder Reihen von Monddiſtanzen. Man ſtellte die Lage der
bedeutendſten Orte nach den drei Koordinaten der Breite, der
Länge und der Höhe feſt. Die dazwiſchenliegenden Punkte
wurden mit den Hauptpunkten auf chronometriſchem
Wege verknüpft. Durch den ſehr gleichförmigen Gang der
Chronometer in Kanoen und durch die ſonderbaren Krüm-
mungen des Orinoko wurde dieſe Anknüpfung erleichtert.
Man brachte die Chronometer zum Ausgangspunkte zurück,
oder man beobachtete zweimal (im Hinweg und im Herweg)
an einem dazwiſchenliegenden Punkte, man knüpfte die Enden
der chronometriſchen Linien1 an ſehr weit auseinander
liegende Lokalitäten, deren Lage nach abſoluten, das heißt rein
aſtronomiſchen Erſcheinungen beſtimmt iſt, und ſo konnte man
die Summe der etwa begangenen Fehler ſchätzen. Auf dieſe
Weiſe (und vor meiner Reiſe war im Binnenlande die Länge
[254] keines Punktes beſtimmt worden) habe ich Cumana, Ango-
ſtura, Esmeralda, San Carlos del Rio Negro, San Fernando
de Apure, Porto Cabello und Caracas aſtronomiſch verknüpft.
Dieſe Beobachtungen umfaſſen eine Bodenfläche von mehr als
202000 qkm. Das Syſtem der Beobachtungspunkte auf dem
Küſtenlande und die wertvollen Ergebniſſe der Aufnahme bei
Fidalgos Seereiſe wurden mit dem Syſtem der Beobachtungs-
punkte am Orinoko und Rio Negro durch zwei chronometriſche
Linien in Verbindung gebracht, deren eine über die Llanos
von Calabozo, die andere über die Llanos von Pao läuft.
Die Beobachtungen in der Parime bilden einen Streifen, der
eine ungeheure Landſtrecke (1470000 qkm), auf der bis jetzt
nicht ein einziger Punkt aſtronomiſch beſtimmt iſt, in zwei
Teile teilt. Durch dieſe verſchiedenen Arbeiten, die ich mit
geringen Mitteln, aber nach einem allgemeinen Plane unter-
nommen, wurde, wie ich mir wohl ſchmeicheln darf, der erſte
aſtronomiſche Grund zur Geographie dieſer Länder gelegt;
es iſt aber Zeit, dieſelben vielfach wieder aufzunehmen, ſie
zu berichtigen, beſonders aber da, wo der Anbau des Landes
es geſtattet, trigonometriſche Meſſungen an ihre Stelle treten
zu laſſen. An beiden Rändern der Llanos, die ſich gleich
einem Meerbuſen vom Delta des Orinoko bis zu den Schnee-
gebirgen von Merida ausdehnen, ſtreichen im Norden und
im Süden zwei Granitketten parallel mit dem Aequator.
Dieſe früheren Küſten eines inneren Seebeckens ſind in den
Steppen von weitem ſichtbar und können zur Aufſtellung von
Signalen dienen. Der Spitzberg Guacharo, der Corollor und
Turimiquiri, der Bergantin, die Morros San Juan und San
Sebaſtian, die Galera, welche die Llanos wie eine Felsmauer
begrenzt, der kleine Cerro de Flores, den ich in Calabozo,
und zwar in einem Moment geſehen habe, wo die Luftſpie-
gelung beinahe Null war, werden am Nordrande der Nie-
derungen zum Dreiecknetz dienen. Dieſe Berggipfel ſind großen-
teils ſowohl in den Llanos als im angebauten Küſtenlande
ſichtbar. Gegen Süden liegen die Granitketten am Orinoko oder
in der Parime etwas abwärts von den Rändern der Steppen
und ſind für geodätiſche Operationen nicht ganz ſo günſtig.
Indeſſen werden die Berge oberhalb Angoſtura und Muitaco,
der Cerro del Tirano bei Caycara, der Pan de Azucar und
der Sacuima beim Einfluß des Apure in den Orinoko gute
Dienſte leiſten, namentlich wenn man die Winkel bei bedeck-
tem Himmel aufnimmt, damit nicht das Spiel der ungewöhn-
[255] lichen Refraktionen über einem ſtark erhitzten Boden die Berg-
gipfel, welche unter zu kleinen Höhenwinkeln erſcheinen, ver-
zieht und verrückt. Pulverſignale, deren Widerſchein am
Himmel ſo weit hin ſichtbar iſt, werden ſehr förderlich ſein.
Ich glaubte hier im Intereſſe der Sache angeben zu ſollen,
was meine Ortskenntnis und das Studium der Geographie
von Amerika mir an die Hand gegeben. Ein ausgezeichneter
Geometer, Lenz, der bei mannigfaltigen Kenntniſſen in allen
Zweigen der Mathematik im Gebrauch aſtronomiſcher Inſtru-
mente ſehr geübt iſt, beſchäftigt ſich gegenwärtig damit, die
Geographie dieſer Länder weiter auszubilden und im Auftrag
der Regierung von Venezuela die Plane, die ich bereits im
Jahre 1799 der Beachtung des ſpaniſchen Miniſteriums ver-
geblich empfohlen hatte, zum Teil auszuführen.
Am 26. Juli brachten wir die Nacht im indianiſchen
Dorfe Santa Cruz de Cachipo zu. Dieſe Miſſion wurde im
Jahre 1749 mit mehreren karibiſchen Familien gegründet,
welche an den überſchwemmten, ungeſunden Ufern der Lagu-
netas de Anache, gegenüber dem Einfluſſe des Rio Puruay
in den Orinoko, lebten. Wir wohnten beim Miſſionär1 und
erſahen aus den Kirchenbüchern, welch raſche Fortſchritte der
Wohlſtand der Gemeinde durch ſeinen Eifer und ſeine Einſicht
gemacht hatte. Seit wir in die Mitte der Steppen gelangt
waren, hatte die Hitze ſo zugenommen, daß wir gerne gar
nicht mehr bei Tage gereiſt wären; wir waren aber unbe-
waffnet und die Llanos waren damals von ganzen Räuber-
banden unſicher gemacht, die mit raffinierter Grauſamkeit die
Weißen, welche ihnen in die Hände fielen, mordeten. Nichts
kläglicher, als die Rechtspflege in dieſen überſeeiſchen Kolo-
nieen! Ueberall fanden wir die Gefängniſſe mit Verbrechern
gefüllt, deren Urteil ſieben, acht Jahre auf ſich warten läßt.
Etwa ein Dritteil der Verhafteten entſpringt, und die men-
ſchenleeren, aber von Herden wimmelnden Ebenen bieten ihnen
Zuflucht und Unterhalt. Sie treiben ihr Räubergewerbe zu
Pferde in der Weiſe der Beduinen. Die Ungeſundheit der
Gefängniſſe überſtiege alles Maß, wenn ſie ſich nicht von
Zeit zu Zeit durch das Entſpringen der Verhafteten leerten.
Es kommt auch nicht ſelten vor, daß Todesurteile, wenn ſie
endlich ſpät genug von der Audiencia zu Caracas gefällt ſind,
nicht vollzogen werden können, weil es an einem Nachrichter
[256] fehlt. Nach einem ſchon oben erwähnten barbariſchen Brauch
begnadigt man denjenigen der Uebelthäter, der es auf ſich
nehmen will, die anderen zu henken. Unſere Führer erzählten
uns, kurz vor unſerer Ankunft auf der Küſte von Cumana
habe ein wegen ſeiner Roheit berüchtigter Zambo ſich ent-
ſchloſſen, Henker zu werden und ſich ſo der Strafe zu entziehen.
Die Zurüſtungen zur Hinrichtung machten ihn aber in ſeinem
Entſchluſſe wankend; er entſetzte ſich über ſich ſelbſt, er zog
den Tod der Schande vor, die er vollends auf ſich häufte,
wenn er ſich das Leben rettete, und ließ ſich die Ketten, die
man ihm abgenommen, wieder anlegen. Er ſaß nicht mehr
lange; die Niederträchtigkeit eines Mitſchuldigen half ihm
zum Vollzug ſeiner Strafe. Ein ſolches Erwachen des Ehr-
gefühls in der Seele eines Mörders iſt eine pſychologiſche
Erſcheinung, die zum Nachdenken auffordert. Ein Menſch,
der beim Berauben der Reiſenden in der Steppe ſchon ſo oft
Blut vergoſſen hat, ſchaudert beim Gedanken, ſich zum Werk-
zeug der Gerechtigkeit hergeben, an anderen eine Strafe voll-
ziehen zu ſollen, die er, wie er vielleicht fühlt, ſelbſt ver-
dient hat.
Wenn ſchon in den ruhigen Zeiten, in denen Bonpland
und ich das Glück hatten, die beiden Amerika zu bereiſen,
die Llanos den Uebelthätern, welche in den Miſſionen am
Orinoko ein Verbrechen begangen, oder aus den Gefängniſſen
des Küſtenlandes entſprungen waren, als Verſteck dienten,
wie viel ſchlimmer mußte dies noch infolge der bürgerlichen
Unruhen werden, im blutigen Kampfe, der mit der Freiheit
und Unabhängigkeit dieſer gewaltigen Länder ſeine Endſchaft
erreichte! Die franzöſiſchen „Landes“ und unſere Heiden geben
nur ein entferntes Bild jener Grasfluren auf dem neuen
Kontinent, wo Flächen von 162000 und 202000 qkm ſo
eben ſind wie der Meeresſpiegel. Die Unermeßlichkeit des
Raumes ſichert dem Landſtreicher die Strafloſigkeit; in den Sa-
vannen verſteckt man ſich leichter als in unſeren Gebirgen
und Wäldern, und die Kunſtgriffe der europäiſchen Polizei
ſind ſchwer anwendbar, wo es wohl Reiſende gibt, aber keine
Wege, Herden, aber keine Hirten, und wo die Höfe ſo dünn
geſäet ſind, daß man, trotz des bedeutenden Einfluſſes der
Luftſpiegelung, ganze Tagereiſen machen kann, ohne daß man
einen am Horizont auftauchen ſieht.
Zieht man über die Llanos von Caracas, Barcelona und
Cumana, die von Weſt nach Oſt von den Bergen bei Truxillo
[257] und Merida bis zur Mündung des Orinoko hintereinander
liegen, ſo fragt man ſich, ob dieſe ungeheuren Landſtrecken
von der Natur dazu beſtimmt ſind, ewig als Weideland zu
dienen, oder ob Pflug und Hacke ſie eines Tages für den
Ackerbau erobern werden? Dieſe Frage iſt um ſo wichtiger,
da die an beiden Enden von Südamerika gelegenen Llanos
der politiſchen Verbindung der Provinzen, die ſie auseinander
halten, Hinderniſſe in den Weg legen. Sie machen, daß der
Ackerbau ſich nicht von den Küſten von Venezuela Guyana
zu, ſich nicht von Potoſi gegen die Mündung des Rio de la
Plata ausbreiten kann. Die dazwiſchen geſchobenen Steppen
behalten mit dem Hirtenleben einen Charakter von Roheit
und Wildheit, der ſie iſoliert und von der Kultur der ſchon
lange urbar gemachten Landſtriche fern hält. Aus demſelben
Grunde wurden ſie im Freiheitskriege der Schauplatz des
Kampfes zwiſchen den feindlichen Parteien und ſahen die
Einwohner von Calabozo faſt unter ihren Mauern das Ge-
ſchick der verbündeten Provinzen Venezuela und Cundinamarca
ſich entſcheiden. Ich will wünſchen, daß man bei den Grenz-
beſtimmungen der neuen Staaten und ihrer Unterabteilungen
nicht zuweilen zu bereuen habe, die Bedeutung der Llanos
außer Augen geſetzt zu haben, ſofern ſie dahin wirken, Ge-
meinheiten auseinander zu halten, welche durch gemeinſame
Intereſſen aufeinander angewieſen ſind. Die Steppen würden,
wie Meere oder die Urwälder unter den Tropen, als natür-
liche Grenzen dienen, wenn ſie nicht von Heeren um ſo leichter
durchzogen würden, da ſie mit ihren unzähligen Pferde-,
Maultier- und Viehherden Transport- und Unterhaltsmittel
aller Art bieten.
Nirgends in der Welt iſt die Bodenbildung und die Be-
ſchaffenheit der Oberfläche ſo feſt ausgeprägt; nirgends äußern
ſie aber auch ſo bedeutenden Einfluß auf die Spaltung des
Geſellſchaftskörpers, der durch die Ungleichheit nach Abſtam-
mung, Farbe und perſönlicher Freiheit ſchon genug zerriſſen
iſt. Es ſteht nicht in der Macht des Menſchen, die klima-
tiſchen Unterſchiede zu ändern, die aus der auf kleinem Flächen-
raum raſch wechſelnden Bodenhöhe hervorgehen, und welche
die Quelle des Widerwillens ſind, der zwiſchen den Bewoh-
nern der Terra caliente und denen der Terra fria
beſteht, eines Widerwillens, der auf Gegenſätzen im Charakter,
in Sitten und Gebräuchen beruht. Dieſe moraliſchen und
politiſchen Einflüſſe machen ſich beſonders in Ländern geltend,
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 17
[258] wo die Extreme von Landhöhe und Tiefland am auffallendſten
ſind, wo Gebirge und Niederungen am maſſenhafteſten auf-
treten und ſich am weiteſten ausdehnen. Hierher gehören Neu-
granada oder Cundinamarca, Chile und Peru, wo die Inka-
ſprache reich iſt an treffenden, naiven Ausdrücken für dieſe
klimatiſchen Gegenſätze in Temperament, Neigungen und
geiſtigen Fähigkeiten. Im Staate Venezuela dagegen bilden
die „Montañeros“ in den Hochgebirgen von Bocono, Timotes
und Merida nur einen unbedeutenden Bruchteil der Geſamt-
bevölkerung, und die volkreichen Thäler der Küſtenkette von
Caracas und Caripe liegen nur 580 bis 780 m über dem
Meer. So kam es, daß, als die Staaten Venezuela und
Neugranada unter dem Namen Kolumbia verſchmolzen wurden,
die bedeutende Gebirgsbevölkerung von Santa Fé, Popayan
Paſto und Quito, wo nicht ganz, doch über die Hälfte durch
den Zuwachs von 8 bis 900000 Bewohnern der Terra ca-
liente aufgewogen wurde. Der Oberflächenzuſtand des Bo-
dens iſt nicht ſo unveränderlich als ſeine Reliefbildung und
ſo erſcheint es als möglich, daß die ſcharfen Gegenſätze zwi-
ſchen den undurchdringlichen Wäldern Guyanas und den baum-
loſen, grasbewachſenen Llanos eines Tages verſchwinden
könnten; aber wie viele Jahrhunderte brauchte es wohl, bis
ein ſolcher Wechſel in den unermeßlichen Steppen von Vene-
zuela am Meta, am Caqueta und in Buenos Ayres merkbar
würde? Die Beweiſe, die der Menſch von ſeiner Macht im
Kampfe gegen die Naturkräfte in Gallien, in Germanien und
in neuerer Zeit in den Vereinigten Staaten, immer aber außer-
halb der Tropen, gegeben hat, kann nicht wohl als Maßſtab
für die vorausſichtlichen Fortſchritte der Kultur im heißen
Erdſtriche dienen. Es war oben davon die Rede, wie lang-
ſam man mit Feuer und Axt Wälder ausrodet, wenn die
Baumſtämme 2,6 bis 5,2 m dick ſind, wenn ſie im Fallen
ſich aneinander lehnen, und wenn das Holz, vom unaufhör-
lichen Regen befeuchtet, ſo ungemein hart iſt. Die Frage,
ob die Llanos oder Pampas urbar zu machen ſind, wird von
den Koloniſten, die darin leben, keineswegs einſtimmig bejaht,
und ganz im allgemeinen läßt ſich auch gar nicht darüber
entſcheiden. Die Savannen von Venezuela entbehren größten-
teils des Vorteils, den die Savannen in Nordamerika dadurch
haben, daß ſie der Länge nach von drei großen Flüſſen, dem
Miſſouri, dem Arkanſas und dem Red River von Natchitoches
durchzogen werden; durch die Savannen am Araure, bei Cala-
[259] bozo und am Pao laufen die Nebenflüſſe des Orinoko, von
denen die öſtlichſten (Cari, Pao, Acaru und Manapire) in
der trockenen Jahreszeit ſehr waſſerarm ſind, nur der Quere
nach. Alle dieſe Flüſſe reichen nicht weit gegen Nord, ſo
daß in der Mitte Steppen, weite, entſetzlich dürre Landſtriche
(Bancos und Mesas) bleiben. Am kulturfähigſten ſind die
weſtlichen, von der Portugueſa, vom Masparro und Orivante
und den nahe bei einander liegenden Nebenflüſſen derſelben
bewäſſerten Striche. Der Boden beſteht aus mit Thon ge-
mengtem Sand über einer Schicht von Quarzgeſchieben. Die
Dammerde, die Hauptnahrungsquelle der Gewächſe, iſt aller-
orten ſehr dünn; ſie erhält ſo gut wie keinen Zuwachs durch
das dürre Laub, das in den Wäldern der heißen Zone abfällt
wie in den gemäßigten Klimaten, wenn auch nicht ſo ſtreng
periodiſch. Seit Jahrtauſenden wächſt aber auf den Llanos
weder Baum noch Buſchwerk; die einzelnen, in der Savanne
zerſtreuten Palmen liefern ſehr wenig von jener Kohlen- und
Waſſerſtoffverbindung, von jenem Extraktivſtoff, auf dem (nach
den Verſuchen von Sauſſure, Davy und Braconnot) die Frucht-
barkeit des Bodens beruht. Die geſelligen Gewächſe, die in
den Steppen faſt ausſchließlich herrſchen, ſind Monokotyledonen,
und es iſt bekannt, wie ſtark die Gräſer den Boden ausſaugen,
in den ſie ihre Wurzeln mit dichtgedrängten Faſern treiben.
Dieſe Wirkung der Killingia-, Paspalum- und Cenchrusarten,
aus denen der Raſen beſteht, äußert ſich überall gleich, wo
aber das Geſtein beinahe zu Tage kommt, da iſt der Boden
verſchieden, je nachdem er auf rotem Sandſtein oder auf feſtem
Kalkſtein und auf Gips liegt; ſowie je nachdem die perio-
diſchen Ueberſchwemmungen an den tiefſten Stellen Erdreich
angeſchwemmt haben oder das Waſſer von den kleinen Pla-
teaus die wenige Dammerde vollends weggeſpült hat. Bereits
beſtehen mitten im Weideland einzelne Pflanzungen an Stel-
len, wo ſich fließendes Waſſer oder ein paar Büſche der Mau-
ritiapalme fanden. Dieſe Höfe, bei denen man Mais und
Maniok baut, werden ſich bedeutend vermehren, wenn es ge-
lingt, mehr Bäume und Gebüſch fortzubringen.
Die Dürre der Meſas1 und die große Hitze, die darauf
herrſcht, rühren nicht allein von der Beſchaffenheit ihrer Ober-
fläche und der örtlichen Reverberation des Bodens her; ihre
[260] klimatiſchen Verhältniſſe hängen ob von der Umgebung, von
der ganzen Steppe, von der die Meſas ein Teil ſind. Bei
den Wüſten in Afrika oder in Arabien, bei den Llanos in
Südamerika, bei den großen Heiden, die von der Spitze von
Jütland bis zur Mündung der Schelde fortſtreichen, beruht
die feſte Begrenzung der Wüſten, der Llanos, der Heiden
großenteils auf ihrer unermeßlichen Ausdehnung, auf der
Kahlheit dieſer Landſtriche infolge einer Umwälzung, welche
den früheren Pflanzenwuchs unſeres Planeten vernichtet hat.
Durch ihre Ausdehnung, ihr ununterbrochenes Fortſtreichen
und ihre Maſſe widerſtehen ſie dem Eindringen der Kultur,
behalten ſie, als wären ſie in das Land einſchneidende Buchten,
ihren feſten Uferumriß. Ich laſſe mich nicht auf die große
Frage ein, ob in der Sahara, dieſem Mittelmeer von Flug-
ſand, der Keime des organiſchen Lebens heutzutage mehr
werden. Je ausgebreiteter unſere geographiſchen Kenntniſſe
wurden, deſto zahlreicher ſahen wir im öſtlichen Teil der Wüſte
grüne Eilande, mit Palmen bedeckte Oaſen zu Archipelen ſich
zuſammendrängen und den Karawanen ihre Häfen öffnen;
wir wiſſen aber nicht, ob ſeit Herodots Tode der Umriß der
Oaſe nicht fortwährend derſelbe geblieben iſt. Unſere Ge-
ſchichtsbücher ſind von zu kurzem Datum und zu unvollſtän-
dig, als daß wir der Natur in ihrem langſamen, ſtetigen
Gange folgen könnten.
Von dieſen völlig öden Räumen, von denen ein gewalt-
ſames Ereignis die Pflanzendecke und die Dammerde weg-
geriſſen hat, von den ſyriſchen und afrikaniſchen Wüſten, die
in ihrem verſteinerten Holz noch die Urkunden der erlittenen
Veränderungen aufweiſen, blicken wir zurück auf die mit
Gräſern bewachſenen Llanos. Hier iſt die Erörterung der
Erſcheinungen dem Kreiſe unſerer täglichen Beobachtungen
näher gerückt. In den amerikaniſchen Steppen angeſiedelte
Landwirte ſind hinſichtlich der Möglichkeit eines umfaſſenderen
Anbaues derſelben ganz zu den Anfichten gekommen, wie ich
ſie aus dem klimatiſchen Einfluſſe der Steppen unter dem
Geſichtspunkte als ununterbrochene Flächen oder Maſſen her-
geleitet habe. Sie haben die Beobachtung gemacht, daß Hei-
den, die rings von angebautem oder mit Holz bewachſenem
Lande umgeben ſind, nicht ſo lange dem Anbau Widerſtand
leiſten, als Striche vom ſelben Umfange, die aber einer weiten
Fläche von gleicher Beſchaffenheit angehören. Die Beobach-
tung iſt richtig, ob nun das eingeſchloſſene Stück eine Gras-
[261] flur iſt oder mit Heiden bewachſen, wie im nördlichen Eu-
ropa, oder mit Ciſtus, Lentisken und Chamärops, wie in
Spanien, oder mit Kaktus, Argenome und Brathys, wie im
tropiſchen Amerika. Einen je größeren Raum der Pflanzen-
verein einnimmt, deſto ſtärkeren Widerſtand leiſten die geſelligen
Gewächſe dem Anbau. Zu dieſer allgemeinen Urſache kommt
in den Llanos von Venezuela der Umſtand, daß die kleinen
Grasarten während der Reife der Samen den Boden aus-
ſaugen, ferner der gänzliche Mangel an Bäumen und Buſch-
werk, die Sandwinde, deren Gluthitze geſteigert wird durch
die Berührung mit einem Boden, der zwölf Stunden lang
die Sonnenſtrahlen einſaugt, ohne daß je ein anderer Schatten
als der der Ariſtiden, Cenchrus und Paspalum darauf fällt.
Die Fortſchritte, welche der große Baumwuchs und der An-
bau dikotyledoniſcher Gewächſe in der Umgebung der Städte,
zum Beiſpiel um Calabozo und Pao gemacht haben, beweiſen,
daß man der Steppe Boden abgewinnen könnte, wenn man
ſie in kleinen Stücken angriffe, ſie nach und nach von der
Maſſe abſchlöſſe, ſie durch Einſchnitte und Bewäſſerungskanäle
zerſtückte. Vielleicht gelänge es, den Einfluß der den Boden
ausdörrenden Winde zu verringern, wenn man im großen,
auf 15 bis 20 Morgen, Pſidium, Kroton, Kaſſia, Tamarin-
den anſäete, Pflanzen, welche trockene, offene Stellen lieben.
Ich bin weit entfernt zu glauben, daß der Menſch je die
Savannen ganz austilgen wird, und daß die Llanos, die ja
als Weiden und für den Viehhandel ſo nutzbar ſind, jemals
angebaut ſein werden wie die Thäler von Aragua oder andere
den Küſten von Caracas und Cumana nahe gelegene Land-
ſtriche; aber ich bin überzeugt, daß ein beträchtliches Stück
dieſer Ebenen im Laufe der Jahrhunderte, unter einer den
Gewerbfleiß fördernden Regierung, das wilde Ausſehen ver-
lieren wird, das ſie ſeit der erſten „Eroberung“ durch die
Europäer behauptet haben.
Dieſer allmähliche Wechſel, dieſes Wachſen der Bevölke-
rung werden nicht nur den Wohlſtand dieſer Länder ſteigern, ſie
werden auch auf die ſittlichen und politiſchen Zuſtände gün-
ſtigen Einfluß äußern. Die Llanos machen über zwei Drit-
teile des Stücks von Venezuela oder der alten Capitania
general von Caracas aus, das nördlich vom Orinoko und
Rio Apure liegt. Bei bürgerlichen Unruhen dienen nun aber
die Llanos durch ihre Oede und den Ueberfluß an Nahrungs-
mitteln, die ihre zahlloſen Herden liefern, der Partei, welche
[262] die Fahne des Aufruhres entfalten will, zugleich als Schlupf-
winkel und als Stützpunkt. Bewaffnete Banden (Guerillas)
können ſich darin halten und die Bewohner des Küſtenlandes,
des Mittelpunktes der Kultur und des Bodenreichtums, be-
unruhigen. Wäre nicht der untere Orinoko durch den Patrio-
tismus einer kräftigen, kriegsgewohnten Bevölkerung hinläng-
lich verteidigt, ſo wäre beim gegenwärtigen Zuſtande der
Llanos ein feindlicher Einfall auf den Weſtküſten doppelt ge-
fährlich. Die Verteidigung der Ebenen und Spaniſch-Guya-
nas hängen aufs engſte zuſammen, und ſchon oben, wo von
der militäriſchen Bedeutung der Mündungen des Orinoko die
Rede war, habe ich gezeigt, daß die Feſtungswerke und die
Batterien, womit man die Nordküſte von Cumana bis Car-
tagena geſpickt hat, keineswegs die eigentlichen Bollwerke
der vereinigten Provinzen von Venezuela ſind. Zu dieſem
politiſchen Intereſſe kommt ein anderes, noch wichtigeres und
dauernderes. Eine erleuchtete Regierung kann nur mit Be-
dauern ſehen, daß das Hirtenleben mit ſeinen Sitten, welche
Faulheit und Landſtreicherei ſo ſehr befördern, auf mehr als
zwei Dritteilen ihres Gebietes herrſcht. Der Teil der Küſten-
bevölkerung, der jährlich in die Llanos abfließt, um ſich in
den Hatos de ganado1 niederzulaſſen und die Herden zu
hüten, macht einen Rückſchritt in der Kultur. Wer möchte
bezweifeln, daß durch die Fortſchritte des Ackerbaues, durch
die Anlage von Dörfern an allen Punkten, wo fließendes
Waſſer iſt, ſich die ſittlichen Zuſtände der Steppenbewohner
weſentlich beſſern müſſen? Mit dem Ackerbau müſſen mildere
Sitten, die Liebe zu feſtem Wohnſitz und die häuslichen Tu-
genden ihren Einzug halten.
Nach dreitägigem Marſch kam uns allmählich die Berg-
kette von Cumana zu Geſicht, die zwiſchen den Llanos, oder,
wie man hier oft ſagen hört, „dem großen Meer von Grün“ 2
und der Küſte des Meeres der Antillen liegt. Iſt der Ber-
gantin über 1560 m hoch, ſo kann man ihn, auch nur eine
gewöhnliche Refraktion von 1/14 des Bogens angenommen,
auf 50 km Entfernung ſehen; aber die Luftbeſchaffenheit
[263] entzog uns lange den ſchönen Anblick dieſer Bergwand. Sie
erſchien zuerſt wie eine Wolkenſchicht, welche die Sterne in
der Nähe des Pols beim Auf- und Untergang bedeckte;
allmählich ſchien dieſe Dunſtmaſſe größer zu werden, ſich zu
verdichten, ſich bläulich zu färben, einen gezackten, feſten Um-
riß anzunehmen. Was der Seefahrer beobachtet, wenn er
ſich einem neuen Lande nähert, das bemerkt der Reiſende
auch am Rande der Steppe. Der Horizont fing an ſich gegen
Nord zu erweitern, und das Himmelsgewölbe ſchien dort
nicht mehr in gleicher Entfernung auf dem grasbewachſenen
Boden aufzuruhen.
Einem Llanero oder Steppenbewohner iſt nur wohl,
wenn er, nach dem naiven Volksausdruck, „überall um ſich
ſehen kann“. Was uns als ein bewachſenes, leicht gewelltes,
kaum hie und da hügeliges Land erſcheint, iſt für ihn ein ſchreck-
liches, von Bergen ſtarrendes Land. Unſer Urteil über die
Unebenheit des Bodens und die Beſchaffenheit ſeiner Ober-
fläche iſt ein durchaus relatives. Hat man mehrere Monate
in den dichten Wäldern am Orinoko zugebracht, hat man ſich
dort daran gewöhnt, daß man, ſobald man vom Strome ab-
geht, die Sterne nur in der Nähe des Zenith und wie aus
einem Brunnen heraus ſehen kann, ſo hat eine Wanderung
über die Steppen etwas Angenehmes, Anziehendes. Die
neuen Bilder, die man aufnimmt, machen großen Eindruck;
wie dem Llanero iſt einem ganz wohl, „daß man ſo gut um
ſich ſehen kann“. Aber dieſes Behagen (wir haben es an uns
ſelbſt erfahren) iſt nicht von langer Dauer. Allerdings hat
der Anblick eines unabſehbaren Horizonts etwas Ernſtes,
Großartiges. Dieſes Schauſpiel erfüllt uns mit Bewunde-
rung, ob wir nun auf dem Gipfel der Anden und der Hoch-
alpen uns befinden, oder mitten auf dem unermeßlichen
Ozean, oder auf den weiten Ebenen von Venezuela und Tu-
cuman. Die Unermeßlichkeit des Raumes (die Dichter aller
Zungen haben ſolches ausgeſprochen) ſpiegelt ſich in uns ſelbſt
wider; ſie verknüpft ſich mit Vorſtellungen höherer Ordnung,
ſie weitet die Seele deſſen aus, der in der Stille einſamer
Betrachtung ſeinen Genuß findet. Allerdings aber hat der
Anblick eines ſchrankenloſen Raumes an jedem Orte wieder
einen eigenen Charakter. Das Schauſpiel, deſſen man auf
einem freiſtehenden Berggipfel genießt, wechſelt, je nachdem
die Wolken, die auf der Niederung lagern, ſich in Schichten
ausbreiten, ſich zu Maſſen ballen, oder den erſtaunten
[264] Blick durch weite Ritzen auf die Wohnſitze des Menſchen, das
bebaute Land, den ganzen grünen Boden des Luftozeans
niedertauchen laſſen. Eine ungeheure Waſſerfläche, belebt bis
auf den Grund von tauſenderlei verſchiedenen Weſen, nach
Färbung und Anblick wechſelnd, beweglich an der Oberfläche,
gleich dem Element, von dem ſie aufgerührt wird, hat auf
langer Seereiſe großen Reiz für die Einbildungskraft, aber
die einen großen Teil des Jahres hindurch ſtaubige, aufge-
riſſene Steppe ſtimmt trübe durch ihre ewige Eintönigkeit.
Iſt man nach acht- oder zehntägigem Marſch gewöhnt an das
Spiel der Luftſpiegelung und an das glänzende Grün der
Mauritiabüſche, 1 die von Meile zu Meile zum Vorſchein kom-
men, ſo fühlt man das Bedürfnis mannigfaltigerer Eindrücke;
man ſehnt ſich nach dem Anblick der gewaltigen Bäume der
Tropen, des wilden Sturzes der Bergſtröme, der Gelände
und Thalgründe, bebaut von der Hand des Landmanns.
Wenn unglücklicherweiſe das Phänomen der afrikaniſchen
Wüſten und der Llanos oder Savannen der Neuen Welt (ein
Phänomen, deſſen Urſache ſich in dem Dunkel der früheſten
Geſchichte unſeres Planeten verliert) noch einen größeren
Raum befaßte, ſo wäre die Natur um einen Teil der herr-
lichen, dem heißen Erdſtrich eigentümlichen Produkte ärmer. 2
Die nordiſchen Heiden, die Steppen an Wolga und Don
ſind kaum ärmer an Pflanzen und Tierarten als unter dem
herrlichſten Himmel der Welt, im Erdſtrich der Bananen und
des Brotfruchtbaums, 567000 qkm Savannen, die im Halb-
kreiſe von Nordoſt nach Südweſt, von den Mündungen des
Orinoko bis zum Caqueta und Putumayo ſich fortziehen.
[265] Der überall ſonſt belebende Einfluß des tropiſchen Klimas
macht ſich da nicht fühlbar, wo ein mächtiger Verein von
Grasarten faſt jedes andere Gewächs ausgeſchloſſen hat. Beim
Anblick des Bodens, an Punkten, wo die zerſtreuten Palmen
fehlen, hätten wir glauben können, in der gemäßigten Zone,
ja noch viel weiter gegen Norden zu ſein; aber bei Einbruch
der Nacht mahnten uns die ſchönen Sternbilder am Süd-
himmel (der Centaur, Canopus, und die zahlloſen Nebelflecken,
von denen das Schiff Argo glänzt) daran, daß wir nur 8°
vom Aequator waren.
Eine Erſcheinung, auf die bereits Deluc aufmerkſam ge-
worden und an der ſich in den letzten Jahren der Scharfſinn
der Geologen geübt hat, machte uns auf der Reiſe durch die
Steppen viel zu ſchaffen. Ich meine nicht die Urgebirgs-
blöcke, die man (wie am Jura) am Abhang der Kalkgebirge
findet, ſondern die ungeheuren Granit- und Syenitblöcke,
die, innerhalb von der Natur ſcharf gezogener Grenzen, im
nördlichen Holland und Deutſchland und in den baltiſchen
Ländern zerſtreut vorkommen. Es ſcheint jetzt bewieſen, daß
dieſe wie ſtrahlenförmig verteilten Geſteine bei den alten
Umwälzungen unſeres Erdballs aus der ſkandinaviſchen Halb-
inſel gegen Süd herabgekommen ſind, und daß ſie nicht
von den Granitketten des Harzes und in Sachſen ſtammen,
denen ſie nahe kommen, ohne indeſſen ihren Fluß zu erreichen.
Ich bin auf den ſandigen Ebenen der baltiſchen Länder ge-
boren, und bis zu meinem 18. Jahre wußte ich, was eine
Gebirgsart ſei, nur von dieſen zerſtreuten Blöcken her, und
ſo mußte ich doppelt neugierig ſein, ob die Neue Welt eine
ähnliche Erſcheinung aufzuweiſen habe. Und ich ſah zu meiner
Ueberraſchung auch nicht einen einzigen Block der Art in den
Llanos von Venezuela, obgleich dieſe unermeßlichen Ebenen
gegen Süden unmittelbar von einem ganz aus Granit gebauten
Bergſtock 1 begrenzt werden, der in ſeinen gezackten, faſt ſäulen-
förmigen Gipfeln die Spuren der gewaltigſten Zerrüttung
zeigt. Gegen Norden ſind die Llanos von der Granitkette der
Silla bei Caracas und von Porto Cabello durch eine Berg-
wand getrennt, die zwiſchen Villa de Cura und Parapara
aus Schiefergebirg, zwiſchen dem Bergantin und Caripe aus
Kalkſtein beſteht. Das Nichtvorhandenſein von Blöcken fiel
mir ebenſo an den Ufern des Amazonenſtromes auf. Schon
[266] La Condamine hatte verſichert, vom Pongo de Manſeriche bis
zum Engpaſſe der Pauxis ſei auch nicht der kleinſte Stein zu
finden. Das Becken des Rio Negro und des Amazonen-
ſtromes iſt aber auch nichts als ein Llano, eine Ebene wie
die in Venezuela und Buenos Ayres, und der Unterſchied
beſteht allein in der Art des Pflanzenwuchſes. Die beiden
Llanos am Nord- und am Südende von Südamerika ſind
mit Gras bewachſen, es ſind baumloſe Grasfluren; das da-
zwiſchenliegende Llano, das am Amazonenſtrom, welches im
Striche der faſt unaufhörlichen Aequatorialregen liegt, iſt ein
dichter Wald. Ich erinnere mich nicht gehört zu haben, daß
auf den Pampas von Buenos Ayres oder auf den Savannen
am Miſſouri 1 und in Neumexiko Granitblöcke vorkommen.
Die Erſcheinung ſcheint in der Neuen Welt überhaupt ganz zu
fehlen, und wahrſcheinlich auch in der afrikaniſchen Sahara;
denn die Geſteinmaſſen, welche mitten in der Wüſte zu Tage
kommen und deren die Reiſenden häufig erwähnen, ſind nicht
mit bloßen zerſtreuten Bruchſtücken zu verwechſeln. Aus
dieſen Beobachtungen ſcheint hervorzugehen, daß die ſkandi-
naviſchen Granitblöcke, welche die ſandigen Ebenen im Süden
des Baltiſchen Meeres, in Weſtfalen und Holland bedecken,
von einer beſonderen, von Norden her ausgebrochenen Waſſer-
flut, von einem rein örtlichen Vorgang herrühren. Das alte
Konglomerat (der rote Sandſtein), das nach meinen Beobach-
tungen zum großen Teil die Llanos von Venezuela und das
Becken des Amazonenſtromes bedeckt, ſchließt ohne Zweifel
Trümmer der Urgebirgsbildungen ein, aus denen die benach-
barten Berge beſtehen; aber die Umwälzungen, von denen
dieſe Gebirge ſo deutliche Spuren aufzuweiſen haben, ſcheinen
nicht von den Umſtänden begleitet geweſen zu ſein, durch
welche die Wegführung dieſer Blöcke in weite Ferne begün-
ſtigt wurde. Dieſe geognoſtiſche Erſcheinung iſt um ſo uner-
warteter, da ſonſt nirgends in der Welt eine Erdfläche vor-
kommt, die ſo eben wäre und ſich ſo ohne alle Unterbrechung
bis zum ſteilen Abhang einer ganz aus Granit aufgebauten
Kordillere fortzöge. Bereits vor meinem Abgang von Europa
war mir aufgefallen, daß die Urgebirgsblöcke weder in der
Lombardei vorkommen noch auf der großen bayeriſchen Ebene,
die ein alter, 490 m über dem Meeresſpiegel liegender See-
[267] boden iſt. Dieſe Ebene wird gegen Nord vom Granit der
Oberpfalz, gegen Süd vom Alpenkalk, dem Uebergangsthon-
ſchiefer und Glimmerſchiefer Tirols begrenzt.
Am 23. Juli langten wir in der Stadt Nueva Barce-
lona an, weniger angegriffen von der Hitze in den Llanos,
an die wir längſt gewöhnt waren, als von den Sandwinden,
die auf die Länge ſchmerzhafte Schrunden in der Haut ver-
urſachen. Vor ſieben Monaten hatten wir auf dem Wege
von Cumana nach Caracas ein paar Stunden am Morro
von Barcelona angelegt, einem befeſtigten Felſen, der dem Dorfe
Pozuelos zu nur durch eine Landzunge mit dem Feſtlande
zuſammenhängt. Im Hauſe eines reichen Handelsmannes von
franzöſiſcher Abkunft, Don Pedro Lavie, fanden wir die freund-
lichſte Aufnahme und alles, was zuvorkommende Gaſtfreund-
ſchaft bieten kann. Lavie war beſchuldigt worden, den un-
glücklichen Eſpaña, als er im Jahre 1796 ſich als Flüchtling
auf dieſer Küſte befand, aufgenommen zu haben, und wurde
auf Befehl der Audiencia aufgehoben und nach Caracas ins
Gefängnis geführt. Die Freundſchaft des Statthalters von
Cumana und die Erinnerung an die Dienſte, die er dem auf-
keimenden Gewerbfleiß des Landes geleiſtet, verhalfen ihm
wieder zur Freiheit. Wir hatten ihn im Gefängnis beſucht
und uns bemüht ihn zu zerſtreuen; jetzt hatten wir die Freude,
ihn wieder im Schoße ſeiner Familie zu finden. Seine
phyſiſchen Leiden hatten ſich durch die Haft verſchlimmert, und
er erlag, bevor der Tag der Unabhängigkeit Amerikas ange-
brochen war, den ſein Freund Don Joſef Eſpaña bei ſeiner
Hinrichtung verkündigt hatte. „Ich ſterbe,“ ſprach dieſer
Mann, ein Mann, wie geſchaffen zur Durchführung großer
Unternehmungen, „ich ſterbe eines ſchimpflichen Todes; aber
in kurzem werden meine Mitbürger mit Ehrfurcht meine
Aſche ſammeln und mein Name wird mit Ehren genannt
werden.“ Dieſe merkwürdigen Worte wurden am 8. Mai
1799 auf dem großen Platze zu Caracas geſprochen; ſie wur-
den mir noch im ſelben Jahre von Leuten mitgeteilt, von
denen manche Eſpañas Abſichten ſo ſehr verabſcheuten, als
andere ſein Los betrauerten.
Schon oben war von der Bedeutung des Handels von
Nueva Barcelona die Rede. Die kleine Stadt, die im Jahre
1790 kaum 10000 Einwohner, im Jahre 1800 über 16000
hatte, wurde 1637 von einem kataloniſchen Konquiſtador, Juan
Urpin, gegründet. Man verſuchte damals, aber vergeblich,
[268] der ganzen Provinz den Namen Neukatalonien zu geben.
Da auf unſeren Karten häufig zwei Städte ſtatt einer, Bar-
celona und Cumanagoto, angegeben ſind, oder man dieſe
zwei Namen für gleichbedeutend hält, ſo erſcheint es nicht
nutzlos, die Quelle dieſes Irrtums hier anzugeben. An der
Mündung des Rio Neveri ſtand früher eine indianiſche,
von Lucas Faxardo im Jahre 1588 gebaute Stadt, unter dem
Namen San Criſtoval delos Cumanagotos. Dieſelbe
war nur von Eingeborenen bewohnt, die von den Salzwerken
bei Apaicuare hierher gezogen waren. Im Jahre 1637 grün-
dete Urpin 9 km herwärts vom inneren Lande mit einigen
Einwohnern von Cumanagoto und vielen Kataloniern die
ſpaniſche Stadt Nueva Barcelona. 34 Jahre lang lagen
die Nachbargemeinden in beſtändigem Streit, bis im Jahre
1671 der Statthalter Angulo es dahin brachte, daß ſie ſich
an einer dritten Bauſtelle vereinigten, wo nunmehr die Stadt
Barcelona ſteht, die nach meinen Beobachtungen unter dem
10° 6′ 52″ der Breite liegt. Die alte Stadt Cumanagoto
iſt im Lande vielberufen wegen eines wunderthätigen Bildes
der heil. Jungfrau, 1 das, wie die Indianer erzählen, im hohlen
Stamm eines Tutumo oder alten Flaſchenkürbisbaumes
(Crescentia Cujete) gefunden worden iſt. Dasſelbe wurde
in Prozeſſion nach Nueva Barcelona gebracht; aber ſo oft die
Geiſtlichkeit mit den Bewohnern der neuen Stadt unzufrieden
war, entfloh es bei Nacht und kehrte in den Baumſtamm an
der Mündung des Fluſſes zurück. Dieſes Wunder hörte nicht
eher auf, als bis man den Mönchen von der Regel des hei-
ligen Franziskus ein großes Kloſter (das Kollegium der Pro-
paganda) gebaut hatte. Wir haben oben geſehen, daß der
Biſchof von Caracas in einem ähnlichen Fall das Bild Unſerer
lieben Frau de los Valencianos in die biſchöflichen Archive brin-
gen ließ, und daß es dort dreißig Jahre unter Siegel blieb.
Das Klima von Barcelona iſt nicht ſo heiß als das von
Cumana, aber feucht und in der Regenzeit etwas ungeſund.
Bonpland hatte die beſchwerliche Reiſe über die Llanos ganz
gut ausgehalten; er war wieder ganz bei Kräften und ſeine
große Thätigkeit die alte; ich dagegen war in Barcelona un-
wohler als in Angoſtura, unmittelbar nachdem die Reiſe auf
den Flüſſen hinter uns lag. Einer der tropiſchen Regen, bei
[269] denen bei Sonnenuntergang weit auseinander außerordentlich
große Tropfen fallen, hatte mir ein Unwohlſein zugezogen,
das einen Anfall des Typhus, der eben auf der Küſte herrſchte,
befürchten ließ. Wir verweilten faſt einen Monat in Barce-
lona, im Genuß aller Bequemlichkeiten, welche die aufmerk-
ſamſte Freundſchaft bieten kann. Wir trafen hier auch wie-
der den trefflichen Ordensmann, Fray Juan Gonzales, deſſen
ich ſchon erwähnt habe, und der vor uns am oberen Orinoko ge-
weſen war. Er bedauerte, und mit Recht, daß wir auf den
Beſuch dieſes unbekannten Landes nur ſo wenige Zeit hatten
verwenden können; er muſterte unſere Pflanzen und Tiere
mit dem Intereſſe, das auch der Ungebildetſte für die Pro-
dukte eines Landes hat, wo er lange gelebt. Fray Juan
hatte beſchloſſen, nach Europa zurückzukehren und uns dabei
bis auf die Inſel Cuba zu begleiten. Wir bleiben fortan
ſieben Monate beiſammen; der Mann war munter, geiſtreich
und dienſtfertig. Wer mochte ahnen, welches Unglück ſeiner
wartete! Er nahm einen Teil unſerer Sammlungen mit; ein
gemeinſchaftlicher Freund vertraute ihm ein Kind an, das
man in Spanien erziehen laſſen wollte; die Sammlungen,
das Kind, der junge Geiſtliche, alles wurde von den Wellen
verſchlungen.
Neun Kilometer ſüdoſtwärts von Nueva Barcelona er-
hebt ſich eine hohe Bergkette, die ſich an den Cerro del Ber-
gantin lehnt, den man von Cumana aus ſieht. Der Ort
iſt unter dem Namen Aguas calientes bekannt. Als ich
mich gehörig hergeſtellt fühlte, unternahmen wir an einem
friſchen, nebeligen Morgen einen Ausflug dahin. Das mit
Schwefelwaſſerſtoff geſchwängerte Waſſer kommt aus einem
quarzigen Sandſtein, der demſelben dichten Kalkſtein aufge-
lagert iſt, den wir beim Morro unterſucht hatten. Die Tem-
peratur desſelben iſt nur 43,2° (bei einer Lufttemperatur von
27°); es fließt zuerſt 78 m weit über den Felsboden, ſtürzt
ſich dann in eine natürliche Höhle, dringt durch den Kalkſtein
und kommt am Fuß des Berges, am linken Ufer des kleinen
Fluſſes Narigual wieder zu Tage. Durch die Berührung
mit dem Sauerſtoff der Luft ſchlagen die Quellen viel Schwefel
nieder. Die Luftblaſen, welche ſich ſtoßweiſe aus den Ther-
men entwickeln, habe ich hier nicht geſammelt, wie in Mariara.
Sie enthalten ohne Zweifel viel Stickſtoff, weil der Schwefel-
waſſerſtoff das in der Quelle aufgelöſte Gemenge von Sauer-
ſtoff und Stickſtoff zerſetzt. Die Schwefelwaſſer von San
[270] Juan, die wie die am Bergantin aus dem Kalkſtein kommen,
haben auch nur eine geringe Temperatur (31,3°), während
im ſelben Landſtrich die Schwefelwaſſer von Mariara und
Las Trincheras (bei Porto Cabello), die unmittelbar aus dem
granitiſchen Gneis kommen, 58,9° und 90,4° heiß ſind. Es
iſt als ob die Wärme, welche die Quellen im Erdinneren an-
genommen, abnähme, je weiter ſie aus dem Urgebirge in die
aufgelagerten ſekundären Formationen gelangen.
Unſer Ausflug zu den Aguas calientes am Bergantin
endete mit einem leidigen Unfall. Unſer Gaſtfreund hatte
uns ſeine ſchönſten Reitpferde gegeben. Man hatte uns zu-
gleich gewarnt, nicht durch den kleinen Fluß Narigual zu
reiten. Wir gingen daher über eine Art Brücke oder viel-
mehr aneinander gelegte Baumſtämme, und ließen unſere
Pferde am Zügel hinüberſchwimmen. Da verſchwand das
meinige auf einmal; es ſchlug noch eine Weile unter dem
Waſſer um ſich, aber trotz alles Suchens konnten wir nicht
ausfindig machen, was den Unfall veranlaßt haben mochte.
Unſere Führer vermuteten, das Tier werde von den Kaimanen,
die hier ſehr häufig ſind, an den Beinen gepackt worden ſein.
Meine Verlegenheit war ſehr groß; denn bei dem Zartgefühl
und dem großen Wohlſtand unſeres Gaſtfreundes konnte ich
kaum daran denken, ihm einen ſolchen Verluſt erſetzen zu
wollen. Lavie ging unſere Betroffenheit näher als der Ver-
luſt ſeines Pferdes, und er ſuchte uns zu beruhigen, indem
er, wohl mit Uebertreibung, verſicherte, wie leicht man ſich
in den benachbarten Savannen ſchöne Pferde verſchaffen könne.
Die Krokodile ſind im Rio Neveri groß und zahlreich,
beſonders der Mündung zu; im ganzen aber ſind ſie nicht
ſo bösartig als die im Orinoko. In der Gemütsart dieſer
Tiere beobachtet man in Amerika dieſelben Kontraſte wie in
Aegypten und Nubien, wie man deutlich ſieht, wenn man die
Berichte des unglücklichen Burckhard und die Belzonis auf-
merkſam vergleicht. Nach dem Kulturzuſtand der verſchiedenen
Länder, nach der mehr oder weniger dichten Bevölkerung in
der Nähe der Flüſſe ändern ſich auch die Sitten dieſer großen
Saurier, die auf trockenem Lande ſchüchtern ſind und vor
dem Menſchen ſogar im Waſſer fliehen, wenn ſie reichliche
Nahrung haben und der Angriff mit einiger Gefahr verbun-
den iſt. In Nueva Barcelona ſieht man die Indianer das
Holz auf ſonderbare Weiſe zu Markt bringen. Große Scheite
von Zygophyllum und Cäſalpinia werden in den Fluß
[271] geworfen; ſie treiben mit der Strömung fort und der Eigen-
tümer mit ſeinen älteſten Söhnen ſchwimmt bald hier- bald
dorthin, um die Stücke, die in den Krümmungen des Fluſſes
ſtecken bleiben, wieder flott zu machen. In den meiſten
amerikaniſchen Flüſſen, in denen Krokodile vorkommen, ver-
böte ſich ein ſolches Verfahren von ſelbſt. Die Stadt Bar-
celona hat nicht, wie Cumana, eine indianiſche Vorſtadt, und
ſieht man hie und da einen Indianer, ſo ſind ſie aus den
benachbarten Miſſionen, oder aus den über die Ebene zer-
ſtreuten Hütten. Beide ſind nicht von karibiſchem Stamm,
ſondern ein Miſchvolk von Cumanagoten, Palenques und
Piritu, von kleinem Wuchs, unterſetzt, arbeitsſcheu und dem
Trunk ergeben. Der gegorene Maniok iſt hier das belieb-
teſte Getränk; der Palmwein, den man am Orinoko hat, iſt
an den Küſten ſo gut wie unbekannt. Es iſt merkwürdig,
wie in den verſchiedenen Erdſtrichen der Menſch, um den Hang
zur Trunkenheit zu befriedigen, nicht nur alle Familien
monokotyledoniſcher und dikotyledoniſcher Gewächſe herbeizieht,
ſondern ſogar den giftigen Fliegenſchwamm (Amanita mus-
caria), von dem die Korjäken denſelben Saft zu wiederholten
Malen fünf Tage hintereinander trinken, worauf ſie aus ekel-
hafter Sparſamkeit gekommen ſind. 1
Die Paketboote (Correos), die von Coruna nach der
Havana und nach Mexiko laufen, waren ſeit drei Monaten
ausgeblieben. Man vermutete, ſie ſeien von den engliſchen
Kreuzern aufgebracht worden. Da wir Eile hatten, nach
Cumana zu kommen, um mit der erſten Gelegenheit nach Vera-
cruz gehen zu können, ſo mieteten wir (am 26. Auguſt 1800)
ein Kanoe ohne Verdeck (Lancha). Solcher Fahrzeuge bedient
man ſich gewöhnlich in dieſen Strichen, wo oſtwärts vom
Kap Codera die See faſt nie unruhig iſt. Die Lancha war
[272] mit Kakao beladen und trieb Schleichhandel mit der Inſel
Trinidad. Gerade deshalb glaubte der Eigner von den
feindlichen Fahrzeugen, welche damals alle ſpaniſchen Häfen
blockierten, nichts zu fürchten zu haben. Wir ſchifften unſere
Pflanzenſammlungen, unſere Inſtrumente und unſere Affen
ein und hofften bei herrlichem Wetter eine ganz kurze Ueber-
fahrt von der Mündung des Rio Neveri nach Cumana zu
haben; aber kaum waren wir im engen Kanal zwiſchen dem
Feſtland und den Felſeneilanden Borracha und Chimanas, ſo
ſtießen wir zu unſerer großen Ueberraſchung auf ein bewaff-
netes Fahrzeug, das uns anrief und zugleich auf große Ent-
fernung einige Flintenſchüſſe auf uns abfeuerte. Es waren
Matroſen, die zu einem Kaper aus Halifax gehörten, und
unter ihnen erkannte ich an der Geſichtsbildung und der
Mundart einen Preußen, aus Memel gebürtig. Seit ich in
Amerika war, hatte ich nicht mehr Gelegenheit gehabt, meine
Mutterſprache zu ſprechen, und ich hätte mir wohl einen er-
freulicheren Anlaß dazu gewünſcht. Unſer Proteſtieren half
nichts und man brachte uns an Bord des Kapers, der that,
als ob er von den Päſſen, die der Gouverneur von Trinidad
für den Schmuggel ausſtellte, nichts wüßte, und uns für
gute Priſe erklärte. Da ich mich im Engliſchen ziemlich fertig
ausdrücke, ſo ließ ich mich mit dem Kapitän in Unterhand-
lungen ein, um nicht nach Neuſchottland gebracht zu werden;
ich bat ihn, mich an der nahen Küſte ans Land zu ſetzen.
Während ich in der Kajüte meine und des Eigners des
Kanoes Rechte zu verfechten ſuchte, hörte ich Lärm auf dem
Verdeck. Einer kam und ſagte dem Kapitän etwas ins Ohr.
Dieſer ſchien beſtürzt und ging hinaus. Zu unſerem Glück
kreuzte auch eine engliſche Korvette (die Sloop Hawk) in
dieſen Gewäſſern. Sie hatte durch Signale den Kapitän
des Kapers zu ſich gerufen, und da dieſer ſich nicht beeilte
Folge zu leiſten, feuerte ſie eine Kanone ab und ſchickte einen
Midſhipman zu uns an Bord. Dieſer war ein ſehr artiger
junger Mann und machte mir Hoffnung, daß man das Kanoe
mit Kakao herausgeben und uns des anderen Tages werde weiter
fahren laſſen. Er ſchlug mir zugleich vor, mit ihm zu gehen,
mit der Verſicherung, ſein Kommandant, Kapitän Garnier von
der königlichen Marine, werde mir ein angenehmeres Nacht-
lager anbieten, als ich auf einem Fahrzeug aus Halifax fände.
Ich nahm das freundliche Anerbieten an und wurde von
Kapitän Garnier aufs höflichſte aufgenommen. Er hatte mit
[273] Vancouver die Reiſe an die Nordweſtküſte gemacht; und alles,
was ich ihm von den großen Katarakten bei Atures und
Maypures, von der Gabelteilung des Orinoko und von
ſeiner Verbindung mit dem Amazonenſtrom erzählte, ſchien
ihn höchlich zu intereſſieren. Er nannte mir unter ſeinen
Offizieren mehrere, die mit Lord Macartney in China ge-
weſen waren. Seit einem Jahre war ich nicht mehr mit
ſo vielen unterrichteten Männern beiſammen geweſen. Man
war aus den engliſchen Zeitungen über den Zweck meiner
Reiſe im allgemeinen unterrichtet; man bewies mir großes
Zutrauen und ich erhielt mein Nachtlager im Zimmer des
Kapitäns. Beim Abſchied wurde ich mit den Jahrgängen
der aſtronomiſchen Ephemeriden beſchenkt, die ich in Frankreich
und Spanien nicht hatte bekommen können. Kapitän Garnier
habe ich die Trabantenbeobachtungen zu verdanken, die ich
jenſeits des Aequators angeſtellt, und es wird mir zur Pflicht,
hier dem aufrichtigen Danke für ſeine Gefälligkeit Ausdruck
zu geben. Wenn man aus den Wäldern am Caſſiquiare
kommt und monatelang in den engen Lebenskreis der Miſ-
ſionäre wie gebannt war, ſo fühlt man ſich ganz glücklich, wenn
man zum erſtenmal wieder Männer trifft, die das Leben zur
See durchgemacht und auf einem ſo wechſelvollen Schauplatz
den Kreis ihrer Ideen erweitert haben. Ich ſchied vom eng-
liſchen Schiff mit Empfindungen, die in mir unverwiſcht ge-
blieben ſind und meine Anhänglichkeit an die Laufbahn, der
ich meine Kräfte gewidmet, noch ſteigerten.
Am folgenden Tag ſetzten wir unſere Ueberfahrt fort
und wunderten uns ſehr über die Tiefe der Kanäle zwiſchen
den Caracasinſeln, die ſo bedeutend iſt, daß die Korvette beim
Wenden faſt an den Felſen ſtreifte. Welch ein Kontraſt im
ganzen Anſehen zwiſchen dieſen Kalkeilanden, die nach Rich-
tung und Geſtaltung an die große Kataſtrophe erinnern, die
ſie vom Feſtlande losgeriſſen, und jenem vulkaniſchen Archipel
nordwärts von Lancerote, wo Baſaltkuppen durch Hebung
aus dem Meer emporgeſtiegen ſcheinen! Die vielen Alcatras,
die größer ſind als unſere Schwanen, und Flamingo, die in
den Buchten fiſchten oder den Pelikanen ihre Beute abzujagen
ſuchten, ſagten uns, daß wir nicht mehr weit von Cumana
wären. Es iſt ſehr intereſſant, bei Sonnenaufgang die See-
vögel auf einmal erſcheinen und die Landſchaft beleben zu
ſehen. Solches erinnert an den einſamſten Orten an das
rege Leben in unſeren Städten beim erſten Morgengrauen.
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 18
[274] Gegen neun Uhr morgens befanden wir uns vor dem Meer-
buſen von Cariaco, welcher der Stadt Cumana als Reede
dient. Der Hügel, auf dem das Schloß San Antonio liegt,
hob ſich weiß von der dunkeln Bergwand im Inneren ab.
Mit lebhafter Empfindung ſahen wir das Ufer wieder, wo
wir die erſten Pflanzen in Amerika gepflückt und wo ein paar
Monate darauf Bonpland in ſo großer Gefahr geſchwebt
hatte. Zwiſchen den Kaktus, die 6,5 m hoch in Säulen- oder
Kandelaberform daſtehen, kamen die Hütten der Guaykeri
zum Vorſchein. Die ganze Landſchaft war uns ſo wohl be-
kannt, der Kaktuswald, und die zerſtreuten Hütten, und der
gewaltige Ceibabaum, unter dem wir bei Einbruch der Nacht
ſo gerne gebadet. Unſere Freunde kamen uns aus Cumana
entgegen; Menſchen aller Stände, die auf unſeren vielen
botaniſchen Exkurſionen mit uns in Berührung gekommen
waren, äußerten ihre Freude um ſo lebhafter, da ſich ſeit
mehreren Monaten das Gerücht verbreitet hatte, wir haben
an den Ufern des Orinoko den Tod gefunden. Anlaß dazu
mochte Bonplands ſchwere Krankheit gegeben haben, oder auch
der Umſtand, daß unſer Kanoe durch einen Windſtoß ober-
halb der Miſſion Uruana beinahe umgeſchlagen wäre.
Wir eilten, uns dem Statthalter Don Vicente Emparan
vorzuſtellen, deſſen Empfehlungen und beſtändige Vorſorge
uns auf der langen, nunmehr vollendeten Reiſe ſo ungemein
förderlich geweſen waren. Er verſchaffte uns mitten in der
Stadt ein Haus, 1 das für ein Land, das ſtarken Erdbeben
ausgeſetzt iſt, vielleicht zu hoch, aber für unſere Inſtrumente
ungemein bequem war. Es hatte Terraſſen (Azoteas), auf
denen man einer herrlichen Ausſicht auf die See, auf die
Landenge Araya und auf den Archipel der Caracas-, Picuita-
und Borrachainſeln genoß. Der Hafen von Cumana wurde
täglich ſtrenger blockiert und durch das Ausbleiben der ſpani-
ſchen Poſtſchiffe wurden wir noch drittehalb Monate feſtge-
halten. Oft fühlten wir uns verſucht, auf die däniſchen
Inſeln überzuſetzen, die einer glücklichen Neutralität genoſſen;
[275] wir beſorgten aber, hätten wir einmal die ſpaniſchen Kolonieen
verlaſſen, möchte es ſchwer halten, dahin zurückzukommen.
Bei den umfaſſenden Befugniſſen, wie ſie uns in einer guten
Stunde zu teil geworden, durfte man ſich auf nichts einlaſſen,
was den Lokalbehörden mißfallen konnte. Wir wendeten
unſere Zeit dazu an, die Flora von Cumana zu vervollſtän-
digen, den öſtlichen Teil der Halbinſel Araya geognoſtiſch zu
unterſuchen und eine anſehnliche Reihe von Trabantenimmer-
ſionen zu beobachten, wodurch die auf anderem Wege gefun-
dene Länge des Orts beſtätigt wurde. Wir ſtellten auch
Verſuche an über ungewöhnliche Strahlenbrechung, über Ver-
dunſtung und Luftelektrizität.
Die lebenden Tiere, die wir vom Orinoko mitgebracht,
waren für die Einwohner von Cumana ein Gegenſtand leb-
hafter Neugier. Der Kapuziner von Esmeralda (Simia
chiropotes), der im Geſichtsausdruck ſo große Menſchen-
ähnlichkeit hat, und der Schlafaffe (Simia trivirgata), der
Typus einer neuen Gruppe, waren an dieſer Küſte noch nie
geſehen worden. Wir dachten dieſelben der Menagerie im
Pariſer Pflanzengarten zu; denn die Ankunft einer franzöſi-
ſchen Eskadre, die ihren Angriff auf Curaçao hatte mißlingen
ſehen, bot uns unerwartet eine treffliche Gelegenheit nach
Guadeloupe. General Jeannet und der Kommiſſär Breſſeau,
Agent der vollziehenden Gewalt auf den Antillen, verſprachen
uns, die Sendung zu beſorgen. Aber Affen und Vögel
gingen auf Guadeloupe zu Grunde, und nur durch einen glück-
lichen Zufall gelangte der Balg des Simia chiropotes, der
ſonſt in Europa gar nicht exiſtiert, vor einigen Jahren in
den Pflanzengarten, nachdem ſchon früher der Couxio (Simia
Satanas) und der Stentor oder Aluate aus den Steppen
von Caracas (Simia ursina), die ich in meinem Recueil de
zoologie et d’anatomie comparée abgebildet, daſelbſt ange-
kommen waren. Die Anweſenheit ſo vieler franzöſiſcher Sol-
daten und die Aeußerung politiſcher und religiöſer Anſichten,
die eben nicht ganz mit denen übereinſtimmten, durch welche
die Mutterländer ihre Macht zu befeſtigen meinen, brachten
die Bevölkerung von Cumana in gewaltige Aufregung. Der
Statthalter beobachtete den franzöſiſchen Behörden gegenüber
die angenehmen Formen, wie der Anſtand und das innige
Verhältnis, das damals zwiſchen Frankreich und Spanien be-
ſtand, ſie vorſchrieben. Auf den Straßen ſah man die Far-
bigen ſich um den Agenten des Direktoriums drängen, der
[276] reich und theatraliſch gekleidet war; da aber Leute mit ganz
weißer Haut, wo ſie ſich nur verſtändlich machen konnten,
mit unbeſcheidener Neugier ſich auch danach erkundigten, wie-
viel Einfluß auf die Regierung von Guadeloupe die fran-
zöſiſche Republik den Koloniſten einräume, ſo entwickelten die
königlichen Beamten doppelten Eifer in der Verproviantierung
der kleinen Eskadre. Fremde, die ſich rühmten frei zu ſein,
ſchienen ihnen überläſtige Gäſte, und in einem Lande, deſſen
fortwährend ſteigender Wohlſtand auf dem Schleichverkehr
mit den Inſeln beruhte und auf einer Art Handelsfreiheit,
die man dem Miniſterium abgerungen, erlebte ich es, daß
die Hiſpano-Europäer ſich nicht entblödeten, die alte Weisheit
des Geſetzbuches (Leyes de Indias), demzufolge die Häfen
keinen fremden Fahrzeugen geöffnet werden ſollen außer in
äußerſten Notfällen, bis zu den Wolken zu erheben. Ich
hebe dieſe Gegenſätze zwiſchen den unruhigen Wünſchen der
Koloniſten und der argwöhniſchen Starrheit der herrſchenden
Kaſte hervor, weil ſie einiges Licht auf die großen politiſchen
Ereigniſſe werfen, welche, von lange her vorbereitet, Spanien
von ſeinen Kolonieen oder — vielleicht richtiger geſagt —
von ſeinen überſeeiſchen Provinzen losgeriſſen haben.
Vom 3. bis zum 5. November verbrachten wir wieder
einige ſehr angenehme Tage auf der Halbinſel Araya, über
dem Meerbuſen von Cariaco, Cumana gegenüber, deren Perlen,
deren Salzlager und unterſeeiſche Quellen flüſſigen, farb-
loſen Steinöls ich ſchon oben beſchrieben habe. Wir hatten
gehört, die Indianer bringen von Zeit zu Zeit natürlichen
Alaun, der in den benachbarten Bergen vorkomme, in be-
deutenden Maſſen in die Stadt. An den Proben, die man
uns zeigte, ſah man gleich, daß es weder Alaunſtein war,
ähnlich dem Geſtein von Tolfa und Piombino, noch jene
haarförmigen, ſeidenartigen Salze von ſchwefelſaurer Thon-
und Bittererde, welche Gebirgsſpalten und Höhlen auskleiden,
ſondern wirklich Maſſen natürlichen Alauns, mit muſcheligem
oder unvollkommen blätterigem Bruch. Man machte uns Hoff-
nung, daß wir die Alaungrube im Schiefergebirg bei Mani-
quarez finden könnten. Eine ſo neue geognoſtiſche Erſchei-
nung mußte unſere ganze Aufmerkſamkeit in Anſpruch nehmen.
Frater Juan Gonzalez und der Schatzmeiſter Don Manuel
Navarete, der uns ſeit unſerer Ankunft auf dieſer Küſte mit
ſeinem Rat beigeſtanden hatte, begleiteten uns auf dem kleinen
Ausflug. Wir gingen am Vorgebirge Caney ans Land und
[277] beſuchten wieder das alte Salzwerk, das durch den Einbruch
des Meeres in einen See verwandelt worden, die ſchönen
Trümmer des Schloſſes Araya und den Kalkberg Barigon,
der, weil er gegen Weſt ſchroff abfällt, ziemlich ſchwer zu
beſteigen iſt. Der Salzthon, vermiſcht mit Erdpech und linſen-
förmigem Gips, und zuweilen in einen ſchwarzbraunen, ſalz-
freien Thon übergehend, iſt eine auf dieſer Halbinſel, auf der
Inſel Margarita und auf dem gegenüberliegenden Feſtland
beim Schloß San Antonio in Cumana ſehr verbreitete For-
mation. Sehr wahrſcheinlich hat ſie ſogar zum Teil die
Spalten und das ganze zerriſſene Weſen des Bodens veran-
laßt, das dem Geognoſten auffällt, wenn er auf einer der
Anhöhen der Halbinſel Araya ſteht. Die aus Glimmerſchiefer
und Tonſchiefer beſtehende Kordillere derſelben iſt gegen Nord
durch den Kanal von Cubagua von der ähnlich gebildeten
Bergkette der Inſel Margarita getrennt; gegen Süden liegt der
Meerbuſen von Cariaco zwiſchen der Kordillere und der hohen
Kalkgebirgskette des Feſtlandes. Der ganze dazwiſchen liegende
Boden ſcheint einſt mit Salzthon ausgefüllt geweſen zu ſein,
und vom Meere beſtändig angefreſſen, verſchwand ohne Zweifel
die Formation allmählich und aus der Ebene wurden zuerſt
Lagunen, dann Buchten und zuletzt ſchiffbare Kanäle. Der
neueſte Vorgang am Schloſſe Araya beim Einbruch des Meeres
in das alte Salzwerk, die Form der Lagune Chacopata und
ein 18 km langer See, der die Inſel Margarita beinahe in
zwei Stücke teilt, ſind offenbare Beweiſe dieſer allmählichen
Abſpülungen. Im ſeltſamen Umriß der Küſten, im Morro
von Chacopata, in den kleinen Inſeln Caribes, Lobos und
Tunal, in der großen Inſel Coche und dem Vorgebirg Carnero
und dem „der Manglebäume“ glaubt man auch die Trümmer
einer Landenge vor ſich zu haben, welche einſt in der Rich-
tung von Nord nach Süd die Halbinſel Araya und die Inſel
Margarita verband. Auf letzterer verbindet nur noch eine
ganz niedrige, 5850 m lange und nicht 390 m breite Land-
zunge gegen Nord die zwei unter dem Namen Vega de San
Juan und Macanao bekannten Berggruppen. Die Laguna
grande auf Margarita hat gegen Süd eine ſehr enge Öeff-
nung und kleine Kanoen kommen „arastradas“, das heißt
über einen Trageplatz, über die Landzunge oder den Damm
im Norden hinüber. Wenn ſich auch heutzutage in dieſen
Seeſtrichen das Waſſer vom Feſtland zurückzuziehen ſcheint,
ſo wird doch höchſt wahrſcheinlich im Laufe der Jahrhunderte
[278] entweder durch ein Erdbeben oder durch ein plötzliches An-
ſchwellen des Ozeans die große langgeſtreckte Inſel Margarita
in zwei viereckige Felſeneilande zerfallen.
Bei der Beſteigung des Cerro del Barigon wiederholten
wir die Verſuche, die wir am Orinoko über den Unterſchied
zwiſchen der Temperatur der Luft und des verwitterten Ge-
ſteins gemacht hatten. Erſtere betrug gegen 11 Uhr vor-
mittags, des Seewinds wegen, nur 27°, letztere dagegen 49,6°.
Der Saft in den Fackeldiſteln (Cactus quadrangularis) zeigte
38 bis 41°; ſoviel zeigte ein Thermometer, deſſen Kugel ich in
den fleiſchigen, ſaftigen Stamm der Kaktus hineinſteckte. Dieſe
innere Temperatur eines Gewächſes iſt das Produkt der Wärme
des Sandes, in dem die Wurzeln ſich verbreiten, der Luft-
temperatur, der Oberflächenbeſchaffenheit des den Sonnen-
ſtrahlen ausgeſetzten Stammes und der Leitungsfähigkeit des
Holzes. Es wirken ſomit ſehr verwickelte Vorgänge zum Re-
ſultat zuſammen. Der Kalkſtein des Barigon, der zu der
großen Sandſtein- und Kalkformation von Cumana gehört, be-
ſteht faſt ganz aus Seeſchaltieren, die ſo wohl erhalten ſind,
wie die in den anderen tertiären Kalkgebilden in Frankreich und
Italien. Wir brachen für das königliche Kabinett zu Madrid
Blöcke ab, die Auſtern von 20 cm Durchmeſſer, Kammmuſcheln,
Venusmuſcheln und Polypengehäuſe enthielten. Ich möchte
Naturforſcher, welche beſſere Paläontologen ſind, als ich da-
mals war, auffordern, dieſe Felſenküſte genau zu unterſuchen.
Sie iſt europäiſchen Fahrzeugen, die nach Cumana, Guayra
oder Curaçao gehen, leicht zugänglich. Es wäre von großem
Intereſſe, auszumachen, ob manche dieſer verſteinerten Mol-
lusken- und Zoophytenarten noch jetzt das Meer der Antillen
bewohnen, wie es Bonpland vorkam, und wie es auf der
Inſel Timor und wohl auch bei Grande-Terre auf Guade-
loupe der Fall iſt.
Am 4. November um 1 Uhr nachts gingen wir unter
Segel, um die natürliche Alaungrube aufzuſuchen. Ich hatte
den Chronometer und mein großes Dollondſches Fernrohr
mit eingeſchifft, um bei der Laguna chica, öſtlich vom Dorfe
Maniquarez, die Immerſion des erſten Jupitertrabanten zu
beobachten. Daraus wurde indes nichts, da wir des widrigen
Windes wegen nicht vor Tag hinkamen. Nur das Schau-
ſpiel des Meerleuchtens, deſſen Pracht durch die um unſere
Piroge gaukelnden Delphine noch erhöht wurde, konnte uns
für dieſe Verzögerung entſchädigen. Wir fuhren wieder über
[279] den Strich, wo auf dem Meeresboden aus dem Glimmer-
ſchiefer Quellen von Bergöl brechen, die man ſehr weit
riecht. Bedenkt man, daß weiter nach Oſt; bei Cariaco,
warme unterſeeiſche Quellen ſo ſtark ſind, daß ſie die Tem-
peratur des Meerbuſens an der Oberfläche erhöhen, ſo läßt
ſich wohl nicht bezweifeln, daß das Bergöl aus ungeheuren
Tiefen wie herauf deſtilliert wird, daß es aus den Urgebirgs-
bildungen kommt, unter denen der Herd aller vulkaniſchen
Erſchütterungen liegt.
Die Laguna chica iſt eine von ſteil abfallenden Bergen
umgebene Bucht, die mit dem Meerbuſen von Cariaco nur
durch einen engen, 45 m tiefen Kanal zuſammenhängt. Es
ſieht aus, als wäre ſie, wie auch der ſchöne Hafen von Aca-
pulco, durch ein Erdbeben gebildet. Ein kleiner flacher Ufer-
ſtrich ſcheint darauf hinzudeuten, daß die See ſich hier vom
Lande zurückzieht wie an der gegenüberliegenden Küſte von
Cumana. Die Halbinſel Araya verengert ſich zwiſchen den
Vorgebirgen Mero und Las Minas auf 2730 m und iſt bei
der Laguna chica von einem Seeſtrich zum anderen etwas
über 7800 m breit. Dieſe unbedeutende Strecke hatten wir
zurückzulegen, um zum natürlichen Alaun und zum Vorgebirge,
genannt Punta de Chuparuparu, zu gelangen. Der Gang
iſt nur darum beſchwerlich, weil gar kein Weg gebahnt iſt
und man zwiſchen ziemlich tiefen Abgründen über völlig kahle
Felsgräten mit ſtark fallenden Schichten gehen muß. Der
höchſte Punkt liegt gegen 428 m hoch, aber die Berge zeigen,
wie ſo häufig auf felſigen Landengen, die ſeltſamſten Bil-
dungen. Die Tetas de Chacopata und de Cariaco, halbwegs
zwiſchen der Laguna chica und der Stadt Cariaco, ſind
wahre Spitzberge, die von der Plattform des Schloſſes in
Cumana aus ganz frei zu ſtehen ſcheinen. Dammerde findet
ſich in dieſem Landſtrich nur bis zur Höhe von 58 m über
dem Meer. Oft regnet es 15 Monate lang gar nicht; fallen
aber auch nur ein paar Tropfen Waſſer unmittelbar nach der
Blüte der Melonen, der Waſſermelonen und Kürbiſſe, ſo
tragen dieſelben, trotz der anſcheinenden Trockenheit der Luft,
Früchte von 30 bis 35 kg. Ich ſage die anſcheinende Trocken-
heit der Luft, denn aus meinen hygrometriſchen Beobachtungen
geht hervor, daß in Cumana und Araya die Luft faſt zu
neun Zehnteilen mit Waſſerdunſt geſättigt iſt. Dieſe zugleich
heiße und feuchte Luft ſpeiſt die vegetabiliſchen Quellen,
die kürbisartigen Gewächſe, die Agaven und Melokaktus, die
[280] halb im Sand vergraben ſind. Als wir die Halbinſel im
vorigen Jahr beſuchten, herrſchte da furchtbarer Waſſermangel.
Die Ziegen, die kein Gras mehr fanden, gingen zu Hunderten
zu Grunde. Während unſeres Aufenthaltes am Orinoko ſchien
ſich die Reihenfolge der Jahreszeiten völlig umgekehrt zu
haben. Es hatte in Araya, auf Cochen, ſogar auf der Inſel
Margarita reichlich geregnet, und dieſe Güſſe machten noch
in der Erinnerung den Einwohnern ſo viel zu ſchaffen, als
den Phyſikern in Europa ein Aerolithenfall.
Unſer indianiſcher Führer kannte kaum die Richtung, in
der wir den Alaun zu ſuchen hatten; die eigentliche Lager-
ſtätte war ihm ganz unbekannt. Dieſer Mangel an Orts-
kenntnis iſt hier faſt allen Führern eigen, die der faulſten
Volksklaſſe angehören. Wir liefen faſt auf Geratewohl ſieben,
acht Stunden zwiſchen den Felſen herum, auf denen nicht das
geringſte wuchs. Der Glimmerſchiefer geht zuweilen in ſchwarz-
grauen Thonſchiefer über. Auch hier fiel mir wieder die un-
gemeine Regelmäßigkeit im Streichen und Fallen der Schich-
ten auf. Sie ſtreichen Nord 50 Grad Oſt und Fallen unter
einem Winkel von 60 bis 70° nach Nordweſt. Dieſes allge-
meine Streichungsverhältnis hatte ich auch am granitiſchen
Gneis bei Caracas und am Orinoko, an den Hornblende-
ſchiefern bei Angoſtura beobachtet, ſogar an den meiſten ſekun-
dären Formationen, die wir unterſucht. Auf ſehr weite Strecken
bilden die Schichten denſelben Winkel mit dem Meridian des
Orts; ſie zeigen einen Parallelismus (oder vielmehr Loxo-
dromismus), der als eines der großen geognoſtiſchen Ge-
ſetze zu betrachten iſt, die durch genaue Meſſung zu ermitteln
ſind. Gegen das Kap Chuparuparu zu ſahen wir die Quarz-
gänge im Glimmerſchiefer mächtiger werden. Wir fanden
welche, 2 bis 4 m breit, voll kleiner büſchelförmiger Kriſtalle
von Titanerz. Vergeblich ſuchten wir darin nach Cyanit, den
wir in Blöcken bei Maniquarez gefunden. Weiterhin erſchei-
nen im Glimmerſchiefer nicht Gänge, ſondern kleine Schichten
von Graphit oder Kohlenſtoffeiſen. Sie ſind 5 bis 8 cm dick
und ſtreichen und fallen genau wie die Gebirgsart. Mit dem
Graphit im Urgebirge tritt zum erſtenmal in den Gebirgs-
ſchichten der Kohlenſtoff auf, und zwar als nicht an Waſſer-
ſtoff gebundener Kohlenſtoff. Er iſt älter als die Zeit, wo
ſich die Erde mit monokotyledoniſchen Gewächſen bedeckte.
Von dieſen öden Bergen herab hatten wir eine groß-
artige Ausſicht auf die Inſel Margarita. Zwei Berggruppen,
[281] die bereits genannten, der Macanao und die Vega de San
Juan, ſteigen gerade aus dem Waſſer auf. In der letzteren,
der öſtlichſten, liegt der Hauptort der Inſel, La Aſuncion, der
Hafen Pampatar und die Dörfer Pueblo de la Mar, Pueblo
del Norte und San Juan. Die weſtliche Gruppe, der Ma-
canao, iſt faſt ganz unbewohnt. Die Landenge, welche dieſe
gewaltigen Glimmerſchiefermaſſen verbindet, war kaum ſicht-
bar; ſie erſchien durch die Luftſpiegelung verzogen und man
erkannte dieſes Zwiſchenglied des Landes, durch das die
Laguna grande läuft, nur an zwei kleinen zuckerhutförmigen
Bergen, die unter dem Meridian der Punta de Piedras lie-
gen. Weiter herwärts ſahen wir auf den kleinen öden Archipel
der vier Morros del Tunal, der Karibes und Lobos hinab.
Nach langem vergeblichem Suchen fanden wir endlich,
ehe wir zur Nordküſte der Halbinſel Araya hinabgingen, in
einer ungemein ſchwer zugänglichen Schlucht (Aroyo del
Robalo) das Mineral, das man uns in Cumana gezeigt hatte.
Der Glimmerſchiefer ging raſch in kohlenhaltigen, glänzenden
Thonſchiefer über. Es war Ampelit; das Waſſer (denn es
gibt hier kleine Quellen, und kürzlich hat man ſelbſt beim
Dorfe Maniquarez eine gefunden) war mit gelbem Eiſen-
oxyd geſchwängert und hatte einen zuſammenziehenden Ge-
ſchmack. Die anſtehenden Felswände waren mit ausgewit-
terter haarförmiger ſchwefelſaurer Thonerde bedeckt, und wirk-
liche 5 bis 8 cm dicke Schichten natürlichen Alauns ſtrichen im
Thonſchiefer fort, ſo weit das Auge reichte. Der Alaun iſt
weißgrau, an der Oberfläche etwas matt, im Inneren hat er
faſt Glasglanz; der Bruch iſt nicht faſerig, ſondern unvoll-
kommen muſchelig. An nicht ſtarken Bruchſtücken iſt er halb
durchſichtig. Der Geſchmack iſt ſüßlich, adſtringierend, ohne
Bitterkeit. Ich fragte mich noch an Ort und Stelle, ob dieſer
ſo reine Alaun, der ohne die geringſte Lücke eine Schicht im
Thonſchiefer bildet, gleichzeitig mit der Gebirgsart gebildet,
oder ob ihm ein neuerer, ſozuſagen ſekundärer Urſprung
zuzuſchreiben iſt, wie dem ſalzſauren Natron, das man zu-
weilen in kleinen Gängen an Stellen findet, wo hochſohlige
Salzquellen durch Gips- oder Thonſchichten hindurchgehen?
Nichts weiſt aber hier auf eine Bildungsweiſe hin, die auch
noch gegenwärtig vorkommen könnte. Das Schiefergeſtein
hat lediglich keine offene Spalte, zumal keine, die dem Strei-
chen der Blätter parallel liefe. Man fragt ſich ferner, ob
dieſer Alaunſchiefer eine dem Urglimmerſchiefer von Araya
[282] aufgelagerte Uebergangsbildung iſt, oder ob er nur dadurch
entſteht, daß die Glimmerſchieferſchichten nach Zuſammen-
ſetzung und Textur eine Veränderung erlitten haben? Ich
halte letztere Annahme für die wahrſcheinlichere; denn der
Uebergang iſt allmählich und Thonſchiefer und Glimmerſchiefer
ſcheinen mir hier einer und derſelben Formation anzugehören.
Das Vorkommen von Cyanit, Titanerz und Granaten, und
daß kein lydiſcher Stein, daß nirgends ein Trümmergeſtein
zu finden iſt, ſcheinen die Formation, die wir hier beſchreiben,
dem Urgebirge zuzuweiſen.
Als ſich im Jahre 1783 bei einem Erdbeben in Aroyo
del Robalo eine große Felsmaſſe abgelöſt hatte, laſen die
Guaykeri in Los Serritos 13 bis 15 cm ſtarke, ungemein
durchſichtige und reine Alaunſtücke auf. Zu meiner Zeit ver-
kaufte man in Cumana an Färber und Gerber das Pfund zu
zwei Realen (ein Viertel eines harten Piaſters), während der
ſpaniſche Alaun zwölf Realen koſtete. Dieſer Preisunterſchied
rührte weit mehr von Vorurteilen und von Hemmungen im
Handel her, als davon, daß der einheimiſche Alaun, der vor der
Anwendung durchaus nicht gereinigt wird, von geringerer
Güte wäre. Derſelbe kommt auch in der Glimmer- und Thon-
ſchieferkette an der Nordweſtküſte von Trinidad vor, ferner
auf Margarita und beim Kap Chuparuparu nördlich vom
Cerro del Deſtiladero. Die Indianer lieben von Natur das
Geheimnis, und ſo verheimlichen ſie auch gern die Orte, wo
ſie den natürlichen Alaun graben; das Mineral muß aber
ziemlich reich ſein, denn ich habe in ihren Händen ganz
anſehnliche Maſſen auf einmal geſehen. Es wäre für die
Regierung von Belang, entweder das oben beſchriebene Mi-
neral oder die Alaunſchiefer, die damit vorkommen, ordent-
lich abbauen zu laſſen. Letztere könnte man röſten und ſie
zur Auslaugung an der glühenden tropiſchen Sonne gra-
dieren.
Südamerika erhält gegenwärtig ſeinen Alaun aus Europa,
wie ihn Europa ſeinerſeits bis zum 15. Jahrhundert von den
aſiatiſchen Völkern erhielt. Vor meiner Reiſe kannten die
Mineralogen keine anderen Subſtanzen, aus denen man, ge-
röſtet oder nicht, unmittelbar Alaun (ſchwefelſaures Alaunerde-
kali) gewann, als Gebirgsarten aus der Trachytformation
und kleine Gänge, welche Schichten von Braunkohlen und
bituminöſem Holz durchſetzen. Beide Subſtanzen, ſo verſchie-
denen Urſprungs ſie ſind, enthalten alle Elemente des Alauns,
[283] nämlich Thonerde, Schwefelſäure und Kali. Die alaunhaltigen
Geſteine im Trachyt verſchiedener Länder rühren unzweifelhaft
daher, daß ſchwefligſaure Dämpfe die Gebirgsart durchdrun-
gen haben. Sie ſind, wie man ſich in den Solfataren bei
Pozzuoli und auf dem Pik von Tenerifa überzeugen kann,
Produkte einer ſchwachen, lange andauernden vulkaniſchen
Thätigkeit. Das Waſſer, das dieſe alaunhaltigen Gebirgs-
arten vulkaniſcher Herkunft durchdringt, ſetzt indeſſen kleine
Maſſen natürlichen Alauns ab; zur Gewinnung desſelben
müſſen die Geſteine geröſtet werden. Ich kenne nirgends
Alaunniederſchläge, ähnlich denen, wie ich ſie aus Cumana
mitgebracht; denn die haarförmigen und faſerigen Maſſen, die
man in Gängen in Braunkohlenſchichten findet (an den Ufern
der Eger, zwiſchen Saaz und Komotau in Böhmen) oder
ſich in Hohlräumen (Freienwalde in Brandenburg, Segario
in Sardinien) durch Auswitterung bilden, ſind unreine Salze,
oft ohne Kali, vermengt mit ſchwefelſaurem Ammoniak und
ſchwefelſaurer Bittererde. Eine langſame Zerſetzung der
Schwefelkieſe, die vielleicht als ebenſoviele kleine galvaniſche
Säulen wirken, macht die Gewäſſer, welche die Braunkohle
und die Alaunerde durchziehen, alaunhaltig. Aehnliche chemiſche
Vorgänge können nun aber in Ur- und Uebergangsſchiefern
ſo gut wie in tertiären Bildungen ſtattfinden. Alle Schiefer,
und dieſer Umſtand iſt ſehr wichtig, enthalten gegen fünf
Prozent Kali, Schwefeleiſen, Eiſenperoxyd, Kohle u. ſ. w.
So viele ungleichartige Stoffe, in gegenſeitiger Berührung und
von Waſſer befeuchtet, müſſen notwendig Neigung haben, ſich
nach Form und Zuſammenſetzung zu verändern. Die ausge-
witterten Salze, welche in der Schlucht Robalo die Alaun-
ſchiefer in Menge bedecken, zeigen, wie ſehr dieſe chemiſchen
Vorgänge durch die hohe Temperatur dieſes Klimas gefördert
werden; aber — ich wiederhole es — in einem Geſtein ohne
Spalten, ohne dem Streichen und Fallen ſeiner Schichten
parallel laufende Hohlräume iſt ein natürlicher, ſeine Lager-
ſtätte völlig ausfüllender, halb durchſichtiger Alaun mit muſche-
ligem Bruch als gleichen Alters mit der einſchließenden Ge-
birgsart zu betrachten.
Nachdem wir lange in dieſer Einöde unter den völlig
kahlen Felſen umhergeirrt, ruhten unſere Blicke mit Luſt auf
den Malpighia- und Krotonbüſchen, die wir auf dem Wege
zur Küſte hinab trafen. Dieſe baumartigen Kroton waren
ſogar zwei neue, durch ihren Habitus ſehr intereſſante, der
[284] Halbinſel Araya allein angehörige Arten. 1 Wir kamen zu
ſpät zur Laguna chica, um noch eine andere Bucht weiter
oſtwärts, als Laguna grande oder del Olispo vielberufen,
beſuchen zu können. Wir begnügten uns, dieſelbe von den
ſie beherrſchenden Bergen herab zu bewundern. Außer den
Häfen von Ferrol und Acapulco gibt es vielleicht keinen mehr
von ſo ſonderbarer Bildung. Es iſt eine von Oſt nach Weſt
5 km lange, 1,8 km breite geſchloſſene Bucht. Die Glim-
merſchieferfelſen, die den Hafen einſchließen, laſſen nur eine
490 m breite Einfahrt. Ueberall findet man 27 bis 36 m
Waſſertiefe. Wahrſcheinlich wird die Regierung von Cumana
dieſe geſchloſſene Bucht und die von Mochima, die 15 km
oſtwärts von der ſchlechten Reede von Nueva Barcelona liegt,
einmal zu benützen wiſſen. Navaretes Familie erwartete uns
mit Ungeduld am Strand, und obgleich unſer Kanoe ein
großes Segel führte, kamen wir doch erſt bei Nacht nach
Maniquarez.
Wir blieben nur noch vierzehn Tage in Cumana. Da
wir alle Hoffnung aufgegeben hatten, ein Poſtſchiff aus Co-
runa eintreffen zu ſehen, ſo benützten wir ein amerikaniſches
Fahrzeug, das in Nueva Barcelona Salzfleiſch lud, um es
auf die Inſel Cuba zu bringen. Wir hatten 16 Monate auf
dieſen Küſten und im Inneren von Venezuela zugebracht. Wir
hatten zwar noch über 50000 Frank in Wechſeln auf die
erſten Häuſer in der Havana; dennoch wären wir hinſichtlich
der baren Mittel in großer Verlegenheit geweſen, wenn uns
nicht der Statthalter von Cumana vorgeſchoſſen hätte, ſo viel
wir verlangen mochten. Das Zartgefühl, mit dem Herr von
Emparan ihm ganz unbekannte Fremde behandelte, verdient
die höchſte Anerkennung und meinen lebhafteſten Dank. Ich
erwähne dieſer Umſtände, die nur unſere Perſon betrafen, um
die Reiſenden zu warnen, daß ſie ſich nicht zu ſehr auf den
Verkehr unter den verſchiedenen Kolonieen desſelben Mutter-
landes verlaſſen. Wie es im Jahre 1799 in Cumana und
Caracas mit dem Handel ſtand, hätte man einen Wechſel
leichter auf Cadiz und London ziehen können, als auf Car-
tagena de Indias, die Havana oder Veracruz. Am 16. No-
vember verabſchiedeten wir uns von unſeren Freunden, um
nun zum drittenmal von der Mündung des Buſens von
[285] Cariaco nach Nueva Barcelona überzufahren. Die Nacht war
köſtlich kühl. Nicht ohne Rührung ſahen wir die Mondſcheibe
zum letztenmal die Spitzen der Kokospalmen an den Ufern
des Manzanares beleuchten. Lange hingen unſere Blicke an
der weißlichen Küſte, wo wir uns nur ein einziges Mal über
die Menſchen zu beklagen gehabt hatten. Der Seewind war
ſo ſtark, daß wir nach nicht ganz ſechs Stunden beim Morro
von Nueva Barcelona den Anker auswarfen. Das Fahrzeug,
das uns nach der Havana bringen ſollte, lag ſegelfertig da.
[[286]]
Siebenundzwanzigſtes Kapitel.
Allgemeine Bemerkungen über das Verhältnis des neuen zum alten
Kontinent. — Ueberfahrt von den Küſten von Venezuela nach der
Havana.
Als ich nach meiner Rückkehr nach Deutſchland den „Essai
politique sur la nouvelle Espagne“ herausgab,
veröffentlichte ich zugleich einen Teil des von mir über den
Bodenreichtum von Südamerika geſammelten Materials. Dieſe
vergleichende Schilderung der Bevölkerung, des Ackerbaues und
des Handels aller ſpaniſchen Kolonieen wurde zu einer Zeit
entworfen, wo große Mängel in der geſellſchaftlichen Ver-
faſſung, das Prohibitivſyſtem und andere gleich verderbliche
Mißgriffe in der Regierungskunſt die Entwickelung der Kultur
niederhielten. Seit ich auseinandergeſetzt, welch unermeßliche
Hilfsmittel den Völkern des gedoppelten Amerika durch ihre
Lage an ſich und durch ihren Handelsverkehr mit Europa
und Aſien in Ausſicht ſtänden, ſobald ſie der Segnungen
einer vernünftigen Freiheit genößen, hat eine der großen Um-
wälzungen, welche von Zeit zu Zeit das Menſchengeſchlecht
aufrütteln, die geſellſchaftlichen Zuſtände in den von mir
durchreiſten gewaltigen Ländern umgewandelt. Gegenwärtig
teilen ſich, kann man wohl ſagen, drei Völker europäiſcher
Abkunft in das Feſtland der Neuen Welt: das eine, das
mächtigſte, iſt germaniſchen Stammes, die beiden anderen ge-
hören nach Sprache, Litteratur und Sitten dem lateiniſchen
Europa an. Die Teile der Alten Welt, die am weiteſten ge-
gen Weſten vorſpringen, die Iberiſche Halbinſel und die Briti-
ſchen Inſeln, ſind auch diejenigen, deren Kolonieen die be-
deutendſte Ausdehnung haben; aber ein 18000 km langer,
nur von Nachkommen von Spaniern und Portugieſen bewohnter
Küſtenſtrich legt Zeugnis dafür ab, wie hoch ſich die Völker
der Halbinſel im 15. und 16. Jahrhundert durch ihre Unter-
[287] nehmungen zur See über die anderen ſeefahrenden Völker
emporgeſchwungen hatten. Die Verbreitung ihrer Sprachen
von Kalifornien bis an den Rio de la Plata, auf dem Rücken
der Kordilleren wie in den Wäldern am Amazonenſtrom iſt
ein Denkmal nationalen Ruhms, das alle politiſchen Revo-
lutionen überdauern wird.
Gegenwärtig überwiegt die Bevölkerung des ſpaniſchen
und portugieſiſchen Amerika die von engliſcher Raſſe ums
Doppelte. Die franzöſiſchen, holländiſchen und däniſchen Be-
ſitzungen auf dem neuen Kontinent ſind von geringem Um-
fang; zählt man aber die Völker her, welche auf das Geſchick
der anderen Halbkugel Einfluß äußern können, ſo ſind noch
zwei nicht zu übergehen, einerſeits die Anſiedler ſlawiſcher Ab-
kunft, die von der Halbinſel Alaska bis nach Kalifornien
Niederlaſſungen ſuchen, andrerſeits die freien Afrikaner auf
Hayti, welche wahr gemacht haben, was der Mailänder Rei-
ſende Benzoni ſchon im Jahre 1545 vorausgeſagt. Daß die
Afrikaner auf einer Inſel, zweieinhalbmal größer als Sizilien,
im Schoße des Mittelmeeres der Antillen hauſen, macht ſie
politiſch um ſo wichtiger. Alle Freunde der Menſchheit wün-
ſchen aufrichtig, daß eine Civiliſation, welche wider alles Er-
warten nach ſo viel Greueln und Blut Wurzel geſchlagen,
ſich fort und fort entwickeln möge. Das ruſſiſche Amerika
gleicht bis jetzt nicht ſowohl einer Ackerbaukolonie als einem
der Kontore, wie ſie die Europäer zum Verderben der Ein-
geborenen auf den Küſten von Afrika errichtet. Es beſteht
nur aus Militärpoſten, aus Sammelplätzen für Fiſcher und
ſibiriſche Jäger. Allerdings iſt es eine merkwürdige Erſchei-
nung, daß ſich der Ritus der griechiſchen Kirche auf einem
Striche Amerikas feſtgeſetzt hat, und daß zwei Nationen,
welche das Oſt- und das Weſtende von Europa bewohnen,
Ruſſen und Spanier, Nachbarn werden auf einem Feſtlande,
in das ſie auf entgegengeſetzten Wegen gekommen; aber beim
halb wilden Zuſtand der Küſten von Ochotsk und Kamtſchatka,
bei der Geringfügigkeit der Mittel, welche die aſiatiſchen Häfen
liefern können, und bei der Art und Weiſe, wie bis jetzt die
ſlawiſchen Kolonieen in der Neuen Welt verwaltet worden,
müſſen dieſe noch lange in der Kindheit verharren. Da man
nun bei nationalökonomiſchen Unterſuchungen gewöhnt iſt,
nur Maſſen ins Auge zu faſſen, ſo ſtellt es ſich heraus, daß
das amerikaniſche Feſtland eigentlich nur unter drei große
Nationen von engliſcher, ſpaniſcher und portugieſiſcher Abkunft
[288] geteilt iſt. Die erſte derſelben, die Anglo-Amerikaner, iſt zu-
gleich nach dem engliſchen Volk in Europa diejenige, welche
ihre Flagge über die weiteſten Meeresſtrecken trägt. Ohne
entlegene Kolonieen hat ſich ihr Handel zu einer Höhe aufge-
ſchwungen, zu der niemals ein Volk der Alten Welt gelangt
iſt, mit Ausnahme desjenigen, das ſeine Sprache, den Glanz
ſeiner Litteratur, ſeine Arbeitsluſt, ſeinen Hang zur Freiheit
und einen Teil ſeiner bürgerlichen Einrichtungen nach Nord-
amerika hinübergetragen hat.
Die engliſchen und portugieſiſchen Anſiedler haben nur
die Europa gegenüberliegenden Küſten bevölkert; die Kaſtilianer
dagegen ſind gleich zu Anfang der Eroberung über die Kette
der Anden gedrungen und haben ſelbſt in den am weiteſten
nach Weſt gelegenen Landſtrichen Niederlaſſungen gegründet.
Nur dort, in Mexiko, Cundinamarca, Quito und Peru, fan-
den ſie Spuren einer alten Kultur, ackerbauende Völker,
blühende Reiche. Durch dieſen Umſtand, durch die raſche Zu-
nahme einer eingeborenen Gebirgsbevölkerung, durch den faſt
ausſchließlichen Beſitz großer Metallſchätze, und durch die
Handelsverbindungen mit dem Indiſchen Archipel, die gleich
mit dem Anfang des 16. Jahrhunderts in Gang kamen, er-
hielten die ſpaniſchen Beſitzungen in Amerika ein ganz eigenes
Gepräge. In den öſtlichen, von den engliſchen und portu-
gieſiſchen Anſiedlern in Beſitz genommenen Landſtrichen waren
die Eingeborenen umherziehende Jägervölker. Statt wie auf
der Hochebene von Anahuac, in Guatemala und im oberen
Peru, einen Beſtandteil der arbeitſamen, ackerbauenden Be-
völkerung zu bilden, zogen ſie ſich vor den vorrückenden
Weißen größtenteils zurück. Man brauchte Arbeiterhände, man
baute vorzugsweiſe Zuckerrohr, Indigo und Baumwolle, und
dies, mit der Habſucht, welche ſo oft die Begleiterin des Ge-
werbefleißes iſt und ſein Schandfleck, führte den ſchändlichen
Negerhandel herbei, der in ſeinen Folgen für beide Welten
gleich verderblich geworden iſt. Zum Glück iſt auf dem Feſt-
lande von Spaniſch-Amerika die Zahl der afrikaniſchen Sklaven
ſo unbedeutend, daß ſie ſich zur Sklavenbevölkerung in Bra-
ſilien und in den ſüdlichen Teilen der Vereinigten Staaten
wie 1 zu 5 verhält. Die geſamten ſpaniſchen Kolonieen,
mit Einſchluß der Inſeln Cuba und Portorico, haben auf
einem Areal, das mindeſtens um ein Fünftel größer iſt als
Europa, nicht ſo viel Neger als der Staat Virginien allein.
Mit den vereinigten Ländern Neuſpanien und Guatemala
[289] liefern die Hiſpano-Amerikaner das einzige Beiſpiel im heißen
Erdſtrich, daß eine Nation von acht Millionen nach euro-
päiſchen Geſetzen und Einrichtungen regiert wird, Zucker,
Kakao, Getreide und Wein zumal baut, und faſt keine Skla-
ven beſitzt, die dem Boden von Afrika gewaltſam entführt
worden.
Die Bevölkerung des neuen Kontinents iſt bis jetzt kaum
etwas ſtärker als die von Frankreich oder Deutſchland. In
den Vereinigten Staaten verdoppelt ſie ſich in 23 bis 25 Jah-
ren; in Mexiko hat ſie ſich, ſogar unter der Herrſchaft des
Mutterlandes, in 40 bis 45 Jahren verdoppelt. Ohne der
Zukunft allzuviel zuzutrauen, läßt ſich annehmen, daß in
weniger als anderthalbhundert Jahren Amerika ſo ſtark be-
völkert ſein wird als Europa. Dieſer ſchöne Wetteifer in
der Kultur, in den Künſten des Gewerbefleißes und des
Handels wird keineswegs, wie man ſo oft prophezeien hört,
den alten Kontinent auf Koſten des neuen ärmer machen;
er wird nur die Konſumtionsmittel und die Nachfrage danach,
die Maſſe der produktiven Arbeit und die Lebhaftigkeit des
Austauſches ſteigern. Allerdings iſt infolge der großen Um-
wälzungen, denen die menſchlichen Geſellſchaftsvereine unter-
liegen, das Geſamtvermögen, das gemeinſchaftliche Erbgut
der Kultur, unter die Völker beider Welten ungleich verteilt;
aber allgemach ſtellt ſich das Gleichgewicht her, und es iſt
ein verderbliches, ja ich möchte ſagen gottloſes Vorurteil, zu
meinen, es ſei ein Unheil für das alte Europa, wenn auf
irgend einem anderen Stück unſeres Planeten der öffentliche
Wohlſtand gedeiht. Die Unabhängigkeit der Kolonieen wird
nicht zur Folge haben, ſie zu iſolieren, ſie werden vielmehr
dadurch den Völkern von alter Kultur näher gebracht werden.
Der Handel wirkt naturgemäß dahin, zu verbinden, was eifer-
ſüchtige Staatskunſt ſo lange auseinander gehalten. Noch
mehr: es liegt im Weſen der Civiliſation, daß ſie ſich aus-
breiten kann, ohne deshalb da, von wo ſie ausgegangen, zu
erlöſchen. Ihr allmähliches Vorrücken von Oſt nach Weſt, von
Aſien nach Europa, beweiſt nichts gegen dieſen Satz. Ein
ſtarkes Licht behält ſeinen Glanz, auch wenn es einen größe-
ren Raum beleuchtet. Geiſtesbildung, die fruchtbare Quelle
des Nationalwohlſtands, teilt ſich durch Berührung mit; ſie
breitet ſich aus, ohne von der Stelle zu rücken. Ihre Be-
wegung vorwärts iſt keine Wanderung; im Orient kam uns
dies nur ſo vor, weil barbariſche Horden ſich Aegyptens, Klein-
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 19
[290] aſiens bemächtigt hatten, und Griechenlands, des einſt freien,
der verlaſſenen Wiege der Kultur unſerer Väter.
Die Verwilderung der Völker iſt eine Folge der Unter-
drückung durch einheimiſchen Deſpotismus oder durch einen
fremden Eroberer; mit ihr Hand in Hand geht immer ſtei-
gende Verarmung, Verſiegung des öffentlichen Wohlſtandes.
Freie, ſtarke, den Intereſſen aller entſprechende Staatsformen
halten dieſe Gefahren fern, und die Zunahme der Kultur in
der Welt, die Mitwerbung in Arbeit und Austauſch bringen
Staaten nicht herab, deren Gedeihen aus natürlicher Quelle
fließt. Das gewerbfleißige und handeltreibende Europa wird
aus der neuen Ordnung der Dinge, wie ſie ſich im ſpaniſchen
Amerika geſtaltet, ſeinen Nutzen ziehen, wie ihm die Steige-
rung der Konſumtion zu gute käme, wenn der Weltlauf der
Barbarei in Griechenland, auf der Nordküſte von Afrika und
in allen Ländern, auf denen die Tyrannei der Osmanen
laſtet, ein Ende machte. Die einzige Gefahr, die den Wohl-
ſtand des alten Kontinents bedrohte, wäre, wenn die inneren
Zwiſte kein Ende nähmen, welche die Produktion niederhalten
und die Zahl der Verzehrenden und zu gleicher Zeit deren
Bedürfniſſe verringern. Im ſpaniſchen Amerika geht der
Kampf, der ſechs Jahre, nachdem ich es verlaſſen, ausge-
brochen, allmählich ſeinem Ende entgegen. Bald werden wir
unabhängige, unter ſehr verſchiedenen Verfaſſungsformen
lebende, aber durch das Andenken gemeinſamer Herkunft,
durch dieſelbe Sprache und durch die Bedürfniſſe, wie ſie
von ſelbſt aus der Kultur entſpringen, verknüpfte Völker
auf beiden Ufern des Atlantiſchen Ozeans wohnen ſehen.
Man kann wohl ſagen, durch die ungeheuren Fortſchritte in
der Schiffahrtskunſt ſind die Meeresbecken enger geworden.
Schon jetzt erſcheint unſeren Blicken das Atlantiſche Meer
als ein ſchmaler Kanal, der die Neue Welt und die euro-
päiſchen Handelsſtaaten nicht weiter auseinander hält, als in
der Kindheit der Schiffahrt das Mittelmeer die Griechen im
Peloponnes und die in Jonien, auf Sizilien und in Cyrenaika
auseinander hielt.
Allerdings wird noch manches Jahr vergehen, bis 17 Mil-
lionen, über eine Länderſtrecke zerſtreut, die um ein Fünftel
größer iſt als ganz Europa, durch Selbſtregierung zu einem
feſten Gleichgewicht kommen. Der eigentlich kritiſche Zeit-
punkt iſt der, wo es lange Zeit unterjochten Völkern auf
einmal in die Hand gegeben iſt, ihr Leben nach den Erfor-
[291] derniſſen ihres Wohlergehens einzurichten. Man hört immer
wieder behaupten, die Hiſpano-Amerikaner ſeien für freie In-
ſtitutionen nicht weit genug in der Kultur vorgeſchritten. Es
iſt noch nicht lange her, ſo ſagte man dasſelbe von anderen
Völkern aus, bei denen aber die Civiliſation überreif ſein
ſollte. Die Erfahrung lehrt, daß bei Nationen wie beim
einzelnen das Glück ohne Talent und Wiſſen beſtehen kann;
aber ohne leugnen zu wollen, daß ein gewiſſer Grad von
Aufklärung und Volksbildung zum Beſtand von Republiken
und konſtitutionellen Monarchieen unentbehrlich iſt, ſind wir
der Anſicht, daß dieſer Beſtand lange nicht ſo ſehr vom
Grade der geiſtigen Bildung abhängt, als von der Stärke
des Volkscharakters, vom Verein von Thatkraft und Ruhe,
von Leidenſchaftlichkeit und Geduld, der eine Verfaſſung auf-
recht und am Leben erhält, ferner von den örtlichen Zu-
ſtänden, in denen ſich das Volk befindet, und von den politi-
ſchen Verhältniſſen zwiſchen einem Staate und ſeinen Nachbar-
ſtaaten.
Wenn die heutigen Kolonieen nach ihrer Emanzipation
mehr oder weniger zu republikaniſcher Verfaſſungsform hin-
neigen, ſo iſt die Urſache dieſer Erſcheinung nicht allein im
Nachahmungstrieb zu ſuchen, der bei Volksmaſſen noch mäch-
tiger iſt als beim einzelnen; ſie liegt vielmehr zunächſt im eigen-
tümlichen Verhältnis, in dem eine Geſellſchaft ſich befindet,
die ſich auf einmal von einer Welt mit älterer Kultur los-
getrennt, aller äußeren Bande entledigt ſieht und aus Indi-
viduen beſteht, die nicht einer Kaſte das Uebergewicht im
Staate zugeſtehen. Durch die Vorrechte, welche das Mutter-
land einer ſehr beſchränkten Anzahl von Familien in Amerika
erteilte, hat ſich dort durchaus nicht gebildet, was in Europa
eine Adelsariſtokratie heißt. Die Freiheit mag in Anarchie
oder durch die vorübergehende Uſurpation eines verwegenen
Parteihauptes zu Grunde gehen, aber die wahren Grundlagen
der Monarchie ſind im Schoße der heutigen Kolonieen nir-
gends zu finden. Nach Braſilien wurden ſie von außen her-
eingebracht zur Zeit, da dieſes gewaltige Land des tiefſten
Friedens genoß, während das Mutterland unter ein fremdes
Joch geraten war.
Ueberdenkt man die Verkettung menſchlicher Geſchicke, ſo
ſieht man leicht ein, wie die Exiſtenz der heutigen Kolonieen,
oder vielmehr wie die Entdeckung eines halb menſchenleeren
Kontinents, auf dem allein eine ſo erſtaunliche Entwickelung
[292] des Kolonialſyſtems möglich war, republikaniſche Staatsformen
in großem Maßſtab und in ſo großer Zahl wieder ins Leben
rufen mußte. Nach der Anſchauung berühmter Schriftſteller
ſind die Umwandlungen auf dem Boden der Geſellſchaft,
welche ein bedeutender Teil von Europa in unſeren Tagen
erlitten hat, eine Nachwirkung der religiöſen Reform zu An-
fang des 16. Jahrhunderts. Es iſt nicht zu vergeſſen, daß
in dieſe denkwürdige Zeit, in der ungezügelte Leidenſchaften
und der Hang zu ſtarren Dogmen die Klippen der euro-
päiſchen Staatskunſt waren, auch die Eroberung von Mexiko,
Peru und Cundinamarca fällt, eine Eroberung, durch die, wie
ſich der Verfaſſer des Esprit des lois ſo ſchön ausdrückt, das
Mutterland eine unermeßliche Schuld auf ſich genommen, die
es der Menſchheit abzutragen hat. Ungeheure Provinzen
wurden durch kaſtilianiſche Tapferkeit den Anſiedlern aufge-
than und durch die Bande gemeinſamer Sprache, Sitte und
Gottesverehrung verknüpft. Und ſo hat denn durch das merk-
würdigſte Zuſammentreffen von Ereigniſſen die Regierung
des mächtigſten und unumſchränkteſten Monarchen Europas,
Karls V., die Keime ausgeſtreut zum Kampfe des 19. Jahr-
hunderts und den Grund gelegt zu den ſtaatlichen Vereinen,
die, eben erſt ins Leben getreten, uns durch ihren Umfang
und die Gleichförmigkeit der dabei herrſchenden Grundſätze in
Erſtaunen ſetzen. Befeſtigt ſich die Emanzipation des ſpani-
ſchen Amerika, wie man bis jetzt mit allem Grund hoffen
darf, ſo ſieht ein Meeresarm, der Atlantiſche Ozean, auf ſeinen,
beiden Ufern Regierungsformen, die, ſo grundverſchieden ſie
ſind, einander nicht notwendig feindſelig gegenübertreten.
Nicht allen Völkern beider Welten mag dieſelbe Verfaſſung
zum Heile gereichen; der wachſende Wohlſtand einer Republik
iſt kein Schimpf für monarchiſche Staaten, ſolange ſie mit
Weisheit und Achtung vor den Geſetzen und öffentlichen Frei-
heiten regiert werden.
Seit die Entwickelung der Schiffahrtskunſt und die ſich
ſteigernde Thätigkeit der Handelsvölker die Küſten der beiden
Feſtländer einander näher gerückt haben, ſeit die Havana,
Rio Janeiro und der Senegal uns kaum entlegener vor-
kommen als Cadiz, Smyrna und die Häfen des Baltiſchen
Meeres, nimmt man Anſtand, die Leſer mit einer Ueberfahrt
von der Küſte von Caracas nach der Inſel Cuba zu behelligen.
Das Meer der Antillen iſt ſo bekannt wie das Becken des
Mittelmeeres, und wenn ich hier aus meinem Seetagebuch
[293] einige Beobachtungen niederlege, ſo thue ich es nur, um den
Faden meiner Reiſebeſchreibung nicht zu verlieren und allge-
meine Betrachtungen über Meteorologie und phyſiſche Geo-
graphie daran zu knüpfen. Um die wechſelnden Zuſtände
der Atmoſphäre recht kennen zu lernen, muß man am Ab-
hang der Gebirge und auf der unermeßlichen Meeresfläche
beobachten; in einem Forſcher, der ſeinen Scharfſinn im Be-
fragen der Natur lange in ſeinem Studierzimmer geübt hat,
mögen ſchon auf der kleinſten Ueberfahrt, auf einer Reiſe
von den Kanarien nach Madeira, ganz neue Anſichten ſich
geſtalten.
Am 24. November um 9 Uhr abends gingen wir auf
der Reede von Nueva Barcelona unter Segel und fuhren um
die kleine Felſeninſel Borrachita herum. Zwiſchen derſelben
und Gran Borracha iſt eine tiefe Straße. Die Nacht brachte
die Kühle, welche den tropiſchen Nächten eigen iſt und einen
angenehmen Eindruck macht, von dem man ſich erſt Rechen-
ſchaft geben kann, wenn man die nächtliche Temperatur von
23 bis 24° des hundertteiligen Thermometers mit der mitt-
leren Tagestemperatur vergleicht, die in dieſen Strichen, ſelbſt
auf den Küſten, meiſt 28 bis 29° beträgt. Tags darauf,
kurz nach der Beobachtung um Mittag, befanden wir uns im
Meridian der Inſel Tortuga; ſie iſt, gleich den Eilanden
Coche und Cubagua, ohne Pflanzenwuchs und erhebt ſich auf-
fallend wenig über den Meeresſpiegel. Da man in neueſter
Zeit über die aſtronomiſche Lage von Tortuga Zweifel ge-
äußert hat, ſo bemerke ich hier, daß Louis Berthouds Chrono-
meter mir für den Mittelpunkt der Inſel 0° 49′ 40″ weſt-
wärts von Nueva Barcelona ergab; dieſe Länge iſt aber doch
wohl noch ein wenig zu weit weſtlich.
Am 26. November. — Windſtille, auf die wir um ſo
weniger gefaßt waren, da der Oſtwind in dieſen Strichen
von Anfang November an meiſt ſehr ſtark iſt, während vom
Mai bis Oktober von Zeit zu Zeit die Nordweſt- und die
Südwinde auftreten. Bei Nordweſtwind bemerkt man eine
Strömung von Weſt nach Oſt, welche zuweilen zwei, drei
Wochen lang die Fahrt von Cartagena nach Trinidad be-
ſchleunigt. Der Südwind gilt auf der ganzen Küſte von
Terra Firma für ſehr ungeſund, weil er (ſo ſagt das Volk)
die faulichten Effluvien aus den Wäldern am Orinoko her-
führt. Gegen 9 Uhr morgens bildete ſich ein ſchöner Hof um
die Sonne, und im ſelben Moment fiel in der tiefen Luft-
[294] region der Thermometer plötzlich um 3½°. War dieſes Fallen
die Folge eines niedergehenden Luftſtroms? Der 1° breite
Streif, der den Hof bildete, war nicht weiß, ſondern hatte
die lebhafteſten Regenbogenfarben, während das Innere des
Hofes und das ganze Himmelsgewölbe blau waren ohne eine
Spur von Dunſt.
Wir verloren nachgerade die Inſel Margarita aus dem
Geſicht, und ich verſuchte die Höhe der Felskuppe Ma-
canao zu beſtimmen. Sie erſchien unter einem Winkel von
0° 16′ 35″, woraus ſich beim geſchätzten Abſtand von 112 km
für den Glimmerſchieferſtock Macanao eine Höhe von etwa
1286 m ergäbe, und dieſes Reſultat läßt mich in einem
Erdſtrich, wo die irdiſchen Refraktionen ſo gleichförmig ſind,
vermuten, daß wir uns nicht ſo weit von der Inſel befanden,
als wir meinten. Die Kuppel der Silla bei Caracas, die in
Süd 62° Weſt liegen blieb, feſſelte lange unſeren Blick. Mit
Vergnügen betrachtet man den Gipfel eines hohen Berges,
den man nicht ohne Gefahr beſtiegen hat, wie er nach und
nach unter den Horizont ſinkt. Wenn die Küſte dunſtfrei iſt,
muß die Silla auf hoher See, den Einfluß der Refraktion
nicht gerechnet, auf 55 km zu ſehen ſein. An dieſem und
den folgenden Tagen war die See mit einer bläulichen Haut
bedeckt, die unter dem zuſammengeſetzten Mikroſkop aus zahl-
loſen Fäden zu beſtehen ſchien. Man findet dergleichen Fäden
häufig im Golfſtrom und im Kanal von Bahama, ſowie im
Seeſtrich von Buenos Ayres. Manche Naturforſcher halten
ſie für Reſte von Molluskeneiern, mir ſchienen ſie vielmehr
zerriebene Algen zu ſein. Indeſſen ſcheint das Leuchten der
See durch ſie geſteigert zu werden, namentlich zwiſchen dem
28. und 30. Grad der Breite, was allerdings auf tieriſchen
Urſprung hindeutete.
Am 27. November. Wir rückten langſam auf die Inſel
Orchila zu; wie alle kleinen Eilande in der Nähe der frucht-
baren Küſte von Terra Firma iſt ſie unbewohnt geblieben.
Ich fand die Breite des nördlichen Vorgebirges 11° 51′ 44″
und die Länge des öſtlichen Vorgebirges 68° 26′ 5″ (Nueva
Barcelona zu 67° 4′ 8″ angenommen). Dem weſtlichen Kap
gegenüber liegt ein Fels, an dem ſich die Wellen mit ſtarkem
Getöſe brechen. Einige mit dem Sextanten aufgenommene
Winkel ergaben für die Länge der Inſel von Oſt nach Weſt
15,6 km, für die Breite kaum 6 km. Die Inſel Orchila,
die ich mir nach ihrem Namen als ein dürres, mit Flechten
[295] bedecktes Eiland vorgeſtellt hatte, zeigte ſich jetzt in ſchönem
Grün; die Gneishügel waren mit Gräſern bewachſen. Im
geologiſchen Bau ſcheint Orchila im kleinen mit der Inſel
Margarita übereinzukommen; ſie beſteht aus zwei, durch eine
Landzunge verbundenen Felsgruppen; jene iſt ein mit Sand
bedeckter Iſthmus, der ausſieht, als wäre er beim allmählichen
Sinken des Meeresſpiegels aus dem Waſſer geſtiegen. Die
Felſen erſchienen hier, wie überall, wo ſie ſich einzeln ſteil
aus der See erheben, weit höher als ſie wirklich ſind; ſie
ſind kaum 155 bis 175 m hoch. Gegen Nordweſt ſtreicht
die Punta rasa hinaus und verliert ſich als Untiefe im
Waſſer. Sie kann den Schiffen gefährlich werden, wie auch
der Mogote, der, 4 km vom weſtlichen Kap, von Klippen
umgeben iſt. Wir betrachteten die Felſen ganz in der Nähe
und ſahen die Gneisſchichten nach Nordweſt fallen und von
dicken Quarzlagern durchzogen. Von der Verwitterung dieſer
Lager rührte ohne Zweifel der Sand des umgebenden Strandes
her. Ein paar Baumgruppen beſchatten die Gründe; oben
auf den Hügeln ſtehen Palmen mit fächerförmigem Laub.
Es iſt wahrſcheinlich die Palma de Sombrero der Llanos
(Corypha tectorum). Es regnet wenig in dieſen Strichen,
indeſſen fände man auf der Inſel Orchila wahrſcheinlich doch
einige Quellen, wenn man ſie ſo eifrig ſuchte, wie im Glim-
merſchiefergeſtein auf Punta Araya. Wenn man bedenkt, wie
viele dürre Felſeneilande zwiſchen dem 16. und 26. Grad der
Breite im Archipel der Kleinen Antillen und der Bahamainſeln
bewohnt und gut angebaut ſind, ſo wundert man ſich, dieſe
den Küſten von Cumana, Barcelona und Caracas ſo nahe
gelegenen Eilande wüſte liegen zu ſehen. Es wäre längſt
anders, wenn ſie unter einer andern Regierung als unter der
von Terra Firma ſtänden. Nichts kann Menſchen veranlaſſen,
ihre Thätigkeit auf den engen Bezirk einer Inſel zu beſchrän-
ken, wenn das nahe Feſtland ihnen größere Vorteile bietet.
Bei Sonnenuntergang kamen uns die zwei Spitzen der
Roca de afuera zu Geſicht, die ſich wie Türme aus der
See erheben. Nach der Aufnahme mit dem Kompaß liegt
der öſtlichſte dieſer Felſen 0° 19′ weſtwärts vom weſtlichen
Kap von Orchila. Die Wolken blieben lange um dieſe Inſel
geballt, ſo daß man ihre Lage weit in See erkannte. Der
Einfluß, den eine kleine Landmaſſe auf die Verdichtung der
1560 m hoch ſchwebenden Waſſerdünſte äußert, iſt eine ſehr
auffallende Erſcheinung, aber allen Seefahrern wohl bekannt.
[296] Durch dieſe Anſammlung von Wolken erkennt man die Lage
der niedrigſten Inſeln in ſehr bedeutender Entfernung.
Am 29. November. Bei Sonnenaufgang ſahen wir faſt
dicht am Meereshorizont die Kuppel der Silla bei Caracas
noch ganz deutlich. Wir glaubten 175 bis 180 km davon
entfernt zu ſein, woraus, die Höhe des Berges (2630 m),
ſeine aſtronomiſche Lage und den Schiffsort als richtig be-
ſtimmt angenommen, eine für dieſe Breite etwas ſtarke Re-
fraktion zwiſchen ⅙ und 1/7 folgte. Um Mittag verkündeten
alle Zeichen am Himmel gegen Nord einen Witterungswechſel;
die Luft kühlte ſich auf einmal auf 22,8° ab, während die
See an der Oberfläche eine Temperatur von 25,6° behielt.
Während der Beobachtung um Mittag brachten daher auch die
Schwingungen des Horizontes, der von ſchwarzen Streifen
oder Bändern von ſehr veränderlicher Breite durchzogen war,
einen Wechſel von 3 bis 4 Minuten in der Refraktion hervor.
Bei ganz ſtiller Luft fing die See an hoch zu gehen; alles
deutete auf einen Sturm zwiſchen den Kaimanseilanden und
dem Kap San Antonio. Und wirklich ſprang am 30. No-
vember der Wind auf einmal nach Nord-Nord-Oſt um und
die Wogen wurden ausnehmend hoch. Gegen Nord war der
Himmel ſchwarzblau, und unſer kleines Fahrzeug ſchlingerte
um ſo ſtärker, da man im Anſchlagen der Wellen zwei ſich
kreuzende Seen unterſchied, eine aus Nord, eine andere aus
Nord-Nord-Oſt. Auf 2 km weit bildeten ſich Waſſerhoſen und
liefen raſch von Nord-Nord-Oſt nach Nord-Nord-Weſt. So oft
die Waſſerhoſe uns am nächſten kam, fühlten wir den Wind
ſtärker werden. Gegen Abend brach durch die Unvorſichtigkeit
unſeres amerikaniſchen Kochs Feuer auf dem Oberleuf aus.
Es wurde leicht gelöſcht; bei ſehr ſchlimmem Wetter mit
Windſtößen, und da wir Fleiſch geladen hatten, das des Fettes
wegen ungemein leicht brennt, hätte das Feuer raſch um ſich
greifen können. Am 1. Dezember morgens wurde die See
allmählich ruhiger, je mehr ſich der Wind in Nordoſt feſtſetzte.
Ich war zu dieſer Zeit des gleichförmigen Ganges meines
Chronometers ziemlich gewiß; der Kapitän wollte aber zur
Beruhigung einige Punkte der Inſel Domingo peilen. Am
2. Dezember kam wirklich Kap Beata in Sicht, an einem
Punkte, wo wir ſchon lange Wolkenhaufen geſehen hatten.
Nach Höhen des Achernar, die ich in der Nacht aufnahm,
waren wir 118 km davon entfernt. In dieſer Nacht be-
obachtete ich eine ſehr intereſſante optiſche Erſcheinung, die
[297] ich aber nicht zu erklären verſuche. Es war über 12½ Uhr;
der Wind wehte ſchwach aus Oſt; der Thermometer ſtand
auf 23,2°, der Fiſchbeinhygronometer auf 57°. Ich war
auf dem Oberleuf geblieben, um die Kulmination einiger
großen Sterne zu beobachten. Der volle Mond ſtand ſehr
hoch. Da auf einmal bildete ſich auf der Seite des Mondes,
45 Minuten vor ſeinem Durchgang durch den Meridian,
ein großer Bogen in allen Farben des Spektrums, aber
unheimlich anzuſehen. Der Bogen reichte über den Mond
hinauf; der Streifen in den Farben des Regenbogens war
gegen 2° breit und ſeine Spitze ſchien etwa 80 bis 85° über
dem Meereshorizont zu liegen. Der Himmel war vollkommen
rein, von Regen keine Spur; am auffallendſten war mir aber,
daß die Erſcheinung, die vollkommen einem Mondregenbogen
glich, ſich nicht dem Monde gegenüber zeigte. Der Bogen
blieb 8 bis 10 Minuten, ſcheinbar wenigſtens, unverrückt;
im Moment aber, wo ich verſuchte, ob er durch Reflexion
im Spiegel des Sextanten zu ſehen ſein werde, fing er an
ſich zu bewegen und über den Mond und Jupiter, der nicht
weit unterhalb des Mondes ſtand, hinabzurücken. Es war
12 Uhr 54 Minuten (wahre Zeit), als die Spitze des Bo-
gens unter dem Horizont verſchwand. Dieſe Bewegung eines
farbigen Bogens ſetzte die wachhabenden Matroſen auf dem
Oberleuf in Erſtaunen; ſie behaupteten, wie beim Erſcheinen
jedes auffallenden Meteors, „das bedeute Sturm“. Arago
hat die Zeichnung dieſes Bogens in meinem Reiſetagebuche
unterſucht; nach ſeiner Anſicht hätte das im Waſſer reflektierte
Bild des Mondes keinen Hof von ſo großem Durchmeſſer
geben können. Die Raſchheit der Bewegung iſt ein weiteres
Moment, das dieſe Erſcheinung, die alle Beachtung verdient,
ebenſo ſchwer erklärlich macht.
Am 3. Dezember. Man war unruhig, weil ſich ein
Fahrzeug ſehen ließ, das man für einen Kaper hielt. Als
es auf uns zukam, ſah man, daß es die Balandra del
Frayle (Goelette des Mönchs) war. Was eine ſo ſeltſame
Benennung ſagen wollte, war mir unklar. Es war aber nur
das Fahrzeug eines Miſſionärs vom Franziskanerorden (Frayle
Observante), eines ſehr reichen Pfarrers eines indianiſchen
Dorfes in den Llanos von Barcelona, der ſeit mehreren
Jahren einen kleinen, ziemlich einträglichen Schmuggelhandel
mit den däniſchen Inſeln trieb. In der Nacht ſahen Bon-
pland und mehrere andere Paſſagiere auf eine Viertelsſeemeile
[298] unter dem Wind eine kleine Flamme an der Meeresfläche,
die gegen Südweſt fortlief und die Luft erhellte. Man ſpürte
keinen Erdſtoß, keine Aenderung in der Richtung der Wellen.
War es ein phosphoriſcher Schein, den eine große Maſſe
faulender Mollusken verbreitete, oder kam die Flamme vom
Meeresboden herauf, wie ſolches zuweilen in von Vulkanen
erſchütterten Seeſtrichen beobachtet worden ſein ſoll? Letztere
Annahme ſcheint mir durchaus unwahrſcheinlich. Vulkaniſche
Flammen können nur dann aus den Wellen hervorbrechen,
wenn der feſte Boden des Meeres bereits emporgehoben iſt,
ſo daß Flammen und glühende Schlacken aus dem oberen ge-
wölbten und zerklüfteten Teil hervorkommen und nicht durch
das Waſſer ſelbſt hindurchgehen.
Am 4. Dezember. Um 10½ Uhr morgens befanden
wir uns unter dem Meridian des Vorgebirges Bacco (Punta
Abaccu), deſſen Länge ich gleich 76° 7′ 50″ oder 9° 3′ 2″
von Nueva Barcelona fand. Im Frieden laufen, nach dem
alten Brauche der ſpaniſchen Schiffer, die Fahrzeuge, die
zwiſchen Cumana oder Barcelona und der Havana mit Salz-
fleiſch Handel treiben, durch den Kanal von Portorico und
über „den alten“ Kanal nördlich von Cuba; zuweilen gehen
ſie auch zwiſchen Kap Tiburon und Kap Morant durch und
fahren an der Nordküſte von Jamaika hin. In Kriegszeiten
gelten dieſe Wege für gleich gefährlich, weil man zu lange im
Angeſicht des Landes bleibt. Aus Furcht vor den Kapern
fuhren wir daher, ſobald wir den Parallel von 17° erreicht
hatten, gerade über die Bank Vibora hin, bekannter unter
dem Namen Pedro Shoals. Dieſe Bank iſt über 1000 qkm
groß und ihr Umriß fällt dem Geologen ſtark ins Auge, weil
derſelbe mit dem des benachbarten Jamaika ſo große Aehn-
lichkeit hat. Es iſt, als hätte eine Erhebung des Meeres-
bodens die Waſſerfläche nicht erreichen können, um ſofort eine
Inſel zu bilden, faſt ſo groß wie Portorico. Seit dem
5. Dezember glaubten die Steuerleute in großer Entfernung
nacheinander die Ranaseilande (Morant Kays), Kap Portland
und Pedro Kays zu peilen. Wahrſcheinlich irrte man ſich
bei mehreren dieſer Peilungen vom Maſtkorbe aus; ich habe
dieſer Beſtimmungen anderswo Erwähnung gethan, 1 nicht um
ſie gegen die Beobachtungen geübter engliſcher Seefahrer in
dieſen ſtark befahrenen Seeſtrichen aufzuſtellen, ſondern allein,
[299] um die Punkte, die ich in den Wäldern am Orinoko und im
Archipel der Antillen beſtimmt, zu einem Syſtem von Be-
obachtungen zu verknüpfen. Die milchige Farbe des Waſſers
zeigte uns an, daß wir uns am öſtlichen Rande der Bank
befanden; der hundertteilige Thermometer, der an der Meeres-
fläche weit ab von der Bank ſeit mehreren Tagen auf 27°
und 27,3° geſtanden hatte (bei einer Lufttemperatur von 21,2°)
fiel ſchnell auf 25,7°. Das Wetter war vom 4. bis zum
6. Dezember ſehr ſchlecht; es regnete in Strömen, in der
Ferne tobte ein Gewitter und die Windſtöße aus Nord-Nord-
Weſt wurden immer heftiger. In der Nacht befanden wir
uns eine Zeitlang in einer ziemlich bedenklichen Lage. Man
hörte vor dem Vorderteil die See an Klippen branden, auf
die das Schiff zulief. Bei phosphoriſchem Schein des ſchäu-
menden Meeres ſah man, in welcher Richtung die Riffe lagen.
Das ſah faſt aus wie der Raudal von Garcita und andere
Stromſchnellen, die wir im Bett des Orinoko geſehen. Der
Kapitän ſchob die Schuld weniger auf die Nachläſſigkeit des
Steuermanns als auf die Mangelhaftigkeit der Seekarten.
Es gelang das Schiff zu wenden, und in weniger als einer
Viertelſtunde waren wir außer aller Gefahr, das Senkblei
zeigte zuerſt 16,5, dann 22, dann 27 m. Wir legten die
Nacht vollends bei; der Nordwind drückte den Thermometer
auf 19,7° (15,7° Reaumur) herab. Am anderen Tage fand
ich nach chronometriſcher Beobachtung in Verbindung mit der
korrigierten Schätzung vom vorigen Tag, daß jene Klippen
ungefähr unter 16° 50′ der Breite und 80° 43′ 49″ der Länge
liegen. Die Klippe, an der das ſpaniſche Schiff El Monarca
im Jahre 1798 beinahe zu Grunde gegangen wäre, liegt
unter 16° 44′ der Breite und 80° 23′ der Länge, alſo viel
weiter gegen Oſt. Während wir von Süd-Süd-Oſt nach Nord-
Nord-Weſt über die Bank Vibora fuhren, verſuchte ich es oft,
die Temperatur des Meerwaſſers an der Oberfläche zu meſſen.
Mitten auf der Bank war die Abkühlung nicht ſo ſtark als
an den Rändern, was wir den Strömungen zuſchrieben, die
in dieſen Strichen die Waſſer verſchiedener Breiten miſchen.
Südwärts von Pedro Kays zeigte die Meeresfläche bei 45 m
Tiefe 26,4°, bei 27 m Tiefe 26,2°. Oeſtlich von der Bank
war die Temperatur der See 26,8° geweſen. Dieſe Ver-
ſuche können in dieſen Strichen nur dann genaue Reſultate
geben, wenn man ſie zu einer Zeit anſtellt, wo der Wind
nicht aus Nord bläſt und die Strömungen nicht ſo ſtark ſind.
[300] Die Nordwinde und die Strömungen kühlen nach und nach
das Waſſer ab, ſelbſt wo die See ſehr tief iſt. Südwärts
vom Kap Corrientes unter 20° 43′ der Breite fand ich die
Temperatur des Meeres an der Oberfläche 24,6°, die der
Luft 19,8°. Manche amerikaniſche Schiffer verſichern, zwiſchen
den Bahamainſeln merken ſie oft, wenn ſie in der Kajüte
ſitzen, ob ſie ſich über Untiefen befinden; ſie behaupten, die
Lichter bekommen kleine Höfe in den Regenbogenfarben und
die ausgeatmete Luft verdichte ſich zu ſichtbarem Dunſt. Letz-
teres Faktum iſt denn doch wohl zu bezweifeln; unterhalb
dem 30. Grad der Breite iſt die Erkältung durch das Waſſer
der Untiefen nicht bedeutend genug, um dieſe Erſcheinung
hervorzubringen. Während wir über die Bank Vibora liefen,
war der Zuſtand der Luft ganz anders, als gleich nachdem
wir ſie verlaſſen hatten. Der Regen hielt ſich innerhalb der
Grenzen der Bank, und wir konnten von ferne ihren Umriß
an den Dunſtmaſſen erkennen, die darauf lagerten.
Am 9. Dezember. Je näher wir den Kaimanseilanden 1
kamen, deſto ſtärker wurde wieder der Nordoſtwind. Trotz
des ſtürmiſchen Wetters konnte ich einige Sonnenhöhen auf-
nehmen, als wir uns auf 22 km Entfernung im Meridian des
Gran-Kaiman, der mit Kokosbäumen bewachſen iſt, zu befinden
glaubten. Ich habe anderswo die Lage des Gran-Kaiman
und der beiden Eilande oſtwärts von demſelben erörtert.
Seit lange ſind dieſe Punkte auf unſeren hydrographiſchen
Karten ſehr unſicher, und ich fürchte, nicht glücklicher geweſen
zu ſein als andere Beobachter, die ihre wahre Lage ausge-
macht zu haben glaubten. Die ſchönen Karten des Depoſito
zu Madrid gaben dem Oſtkap von Gran-Kaiman zu verſchie-
denen Zeiten 82° 58′ (von 1795 bis 1804), 83° 43′ (1809),
wieder 82° 59′ (1821). Letztere Angabe, die auf der Karte
von Barcaiztegui aufgenommen iſt, ſtimmt mit der überein,
bei der ich ſtehen geblieben war; aber nach der Verſicherung
eines ausgezeichneten Seefahrers, des Kontreadmirals Rouſſin,
dem man eine ausgezeichnete Arbeit über die Küſten von
Braſilien verdankt, ſcheint es jetzt ausgemacht, daß das weſt-
liche Vorgebirge von Gran-Kaiman unter 83° 45′ der Länge
liegt.
[301]
Das Wetter war fortwährend ſchlecht und die See ging
ungemein hoch; der Thermometer ſtand zwiſchen 19,2° und
20,3°. Bei dieſer niedrigen Temperatur wurde der Geruch
des Salzfleiſches, mit dem das Schiff beladen war, noch un-
erträglicher. Der Himmel zeigte zwei Wolkenſchichten; die
untere war ſehr dick und wurde ausnehmend raſch gegen Süd-
oſt gejagt, die obere ſtand ſtill und war in gleichen Abſtänden
in gekräuſelte Streifen geteilt. In der Nähe des Kap San
Antonio legte ſich der Wind endlich. Ich fand die Nordſpitze
des Kaps unter 87° 17′ 22″, oder 2° 34′ 14″ oſtwärts vom
Morro von Havana gelegen. Dieſe Länge geben demſelben
die beſten Karten noch jetzt. Wir waren noch 5 km vom
Lande, und doch verriet ſich die Nähe von Cuba durch einen
köſtlichen aromatiſchen Geruch. Die Seeleute verſichern, wenn
man ſich dem Vorgebirge Catoche an der dürren Küſte von
Mexiko nähere, ſei kein ſolcher Geruch zu ſpüren. Sobald
das Wetter heiterer wurde, ſtieg der Thermometer im Schatten
nach und nach auf 27°; wir rückten raſch nach Norden vor
mittels einer Strömung aus Süd-Süd-Oſt, deren Temperatur
an der Waſſerfläche 26,7° betrug, während ich außerhalb der-
ſelben Strömung nur 24,6° gefunden hatte. In der Beſorg-
nis, oſtwärts von der Havana zu kommen, wollte man an-
fangs die Schildkröteninſeln (Dry Tortugas) am Südweſt-
ende der Halbinſel Florida aufſuchen; aber ſeit Kap San
Antonio in Sicht geweſen, hatten wir zu Louis Verthouds
Chronometer ſo großes Zutrauen geſaßt, daß ſolches über-
flüſſig erſchien. Wir ankerten im Hafen der Havana am
19. Dezember nach einer 25tägigen Fahrt bei beſtändig ſchlech-
tem Wetter.
Appendix A Inhalts-Verzeichnis.
- Erſter Band.
- Seite
- Vorwort V
- Vorrede des Herausgebers VII
- Erſtes Kapitel3
Vorbereitungen. — Abreiſe von Spanien. — Auf-
enthalt auf den Kanariſchen Inſeln. - Zweites Kapitel55
Aufenthalt auf Tenerifa. — Reiſe von Santa Cruz
nach Orotava. — Beſteigung des Piks. - Drittes Kapitel126
Ueberfahrt von Tenerifa an die Küſte von Südame-
rika. — Ankunft in Cumana. - Viertes Kapitel154
Erſter Aufenthalt in Cumana. — Die Ufer des
Manzanares. - Fünftes Kapitel184
Die Halbinſel Araya. — Salzſümpfe. — Die Trüm-
mer des Schloſſes Santiago. - Sechſtes Kapitel212
Die Berge von Neuandaluſien. — Das Thal von
Cumanacoa. — Der Gipfel des Cocollar. — Miſſionen
der Chaymasindianer. - Siebentes Kapitel259
Das Kloſter Caripe. — Die Höhle des Guacharo. —
Nachtvögel. - Achtes Kapitel275
Abreiſe von Caripe. — Berg und Wald Santa
Maria. — Die Miſſion Catuaro. — Hafen von Cariaco. - Zweiter Band.
- Neuntes Kapitel3
Körperbeſchaffenheit und Sitten der Chaymas. —
Ihre Sprachen. - Seite
- Zehntes Kapitel43
Zweiter Aufenthalt in Cumana. — Erdbeben. — Un-
gewöhnliche Meteore. - Elftes Kapitel60
Reiſe von Cumana nach Guayra. — Morro de Nueva
Barcelona. — Das Vorgebirge Codera. — Weg von Guayra
nach Caracas. - Zwölftes Kapitel94
Allgemeine Bemerkungen über die Provinzen von
Venezuela. — Ihre verſchiedenen Intereſſen. — Die Stadt
Caracas. — Ihr Klima. - Dreizehntes Kapitel120
Aufenthalt in Caracas. — Berge um die Stadt. —
Beſteigung des Gipfels der Silla. - Vierzehntes Kapitel148
Erdbeben von Caracas. — Zuſammenhang zwiſchen
dieſen Erſcheinungen und den vulkaniſchen Ausbrüchen auf
den Antillen. - Fünfzehntes Kapitel168
Abreiſe von Caracas. — Gebirge von San Pedro und
Los Teques. — Victoria. — Thäler von Aragua. - Sechzehntes Kapitel200
Der See von Valencia. — Die heißen Quellen von
Mariara. — Die Stadt Nueva Valencia de el Rey. —
Weg zur Küſte von Porto Cabello hinab. - Siebzehntes Kapitel261
Gebirge zwiſchen den Thälern von Aragua und den
Llanos von Caracas. — Villa de Cara. — Parapara. —
Llanos oder Steppen. — Calabozo. - Dritter Band.
- Achtzehntes Kapitel3
San Fernando de Apure. — Verſchlingungen und
Gabelteilungen der Flüſſe Apure und Arauca. — Fahrt
auf dem Rio Apure. - Neunzehntes Kapitel39
Zuſammenfluß des Apure mit dem Orinoko. —
Die Gebirge von Encaramada. — Uruana. — Bara-
guan. — Carichana. — Der Einfluß des Meta. — Die
Inſel Panumana. - Zwanzigſtes Kapitel100
Die Mündung des Rio Anaveni. — Der Pik Uniana. —
Die Miſſion Atures. — Der Katarakt oder Raudal Ma-
para. — Die Inſeln Surupamana und Uirapuri. - Seite
- Einundzwanzigſtes Kapitel161
Der Raudal von Garcita. — Maypures. — Die Ka-
tarakte von Quituna. — Der Einfluß des Vichada und
Zama. — Der Fels von Aricagua. — Siquita. - Zweiundzwanzigſtes Kapitel197
San Fernando de Atabapo. — San Baltaſar. —
Die Flüſſe Temi und Tuamini. — Javita. — Trageplatz
zwiſchen dem Tuamini und dem Rio Negro. - Dreiundzwanzigſtes Kapitel246
Der Rio Negro. — Die braſilianiſche Grenze. - Vierter Band.
- Vierundzwanzigſtes Kapitel3
Der Caſſiquiare. — Gabelteilung des Orinoko. - Fünfundzwanzigſtes Kapitel54
Der obere Orinoko von Esmeralda bis zum Einfluß
des Guaviare. — Zweite Fahrt durch die Katarakte von
Atures und Maypures. — Der untere Orinoko zwiſchen
der Mündung des Apure und Angoſtura, der Hauptſtadt
von Spaniſch-Guyana. - Sechsundzwanzigſtes Kapitel227
Die Lanos del Pao oder des öſtlichen Striches der
Steppen von Venezuela. — Miſſionen der Kariben. —
Letzter Aufenthalt auf den Küſten von Nueva Barcelona,
Cumana und Araya. - Siebenundzwanzigſtes Kapitel286
Allgemeine Bemerkungen über das Verhältnis des
neuen zum alten Kontinent. — Ueberfahrt von den Küſten
von Venezuela nach der Havana.
[][][]
Form, Palmwälder (palmetum) und Fichtenwälder (pinetum) be-
deuten.
den Bergketten, welche zwiſchen 3° 30′ nördlicher und 14° ſüd-
licher Breite die Thäler oder Becken des Caſſiquiare, Rio Negro
und Amazonenſtromes begrenzen.
bei manchen arabiſchen Geographen der Grüne Nil heißt, und daß
die perſiſchen Dichter zuweilen den Himmel grün (akhzar), ſowie
den Beryll blau (zark) nennen. Man kann doch nicht annehmen,
daß die Völker vom ſemitiſchen Namen in ihren Sinneseindrücken
grün und blau verwechſeln, wie nicht ſelten ihr Ohr die Vokale o
und u, e und i verwechſelt. Das Wort azrek wird von jedem
ſehr klaren, nicht milchigen Waſſer gebraucht, und abirank (waſſer-
farbig) bedeutet blau. Abd-Allatif, wo er vom klaren grünen
Arm des Nil ſpricht, der aus einem See im Gebirge ſüdöſtlich
von Sennaar entſpringt, ſchreibt bereits die grüne Farbe dieſes
Alpenſees „vegetabiliſchen Subſtanzen zu, die ſich in den ſtehen-
den Waſſern in Menge finden“. Weiter oben habe ich die ge-
färbten, unrichtig aguas negras genannten Waſſer ebenſo erklärt.
Ueberall ſind die klarſten, durchſichtigſten Waſſer gerade ſolche, die
nicht weiß ſind.
Landhaus, wo ſich die Eingeborenen lieber aufhalten als in den
Miſſionen.
in den Miſſionen, und ſolchen, die in den Wäldern geboren ſind.
Das Wort monte wird in den Kolonieen häufiger für Wald
(bosque) gebraucht als für Berg, und dieſer Umſtand hat auf
unſeren Karten große Irrtümer veranlaßt, indem man Bergketten
(sierras) einzeichnete, wo nichts als dicker Wald, monte espeso, iſt.
wurden, gaben in den ſpaniſchen Kolonieen Anlaß zum Glauben,
als gäbe es unter den afrikaniſchen Völkerſchaften Anthropophagen.
Einige Reiſende behaupten ſolches, es wird aber durch Barrows
Beobachtungen im inneren Afrika widerlegt. Abergläubiſche Ge-
bräuche mögen Anlaß zu Beſchuldigungen gegeben haben, die wohl
ſo ungerecht ſind als die, unter denen in den Zeiten der Intoleranz
und der Verfolgungsſucht die Juden zu leiden hatten. [Die Exiſtenz
von Kannibalenvölkern in Afrika iſt durch die neueren Forſchungen
jeglichem Zweifel entrückt. — D. Herausg.]
colebant feri trucesque, qui puerorum et virorum carnibus,
quos aliis in insulis bello aut latrociniis coepissent, vescebantur;
a feminis abstinebant, Canibales appellati.“ Iſt das Wort
Kannibale, das hier von den Kariben auf den Antillen ge-
braucht wird, aus einer der Sprachen dieſes Archipels (der haytiſchen),
oder hat man es in einer Mundart zu ſuchen, die in Florida zu
Hauſe iſt, das nach einigen Sagen die urſprüngliche Heimat der
Kariben ſein ſoll? Hat das Wort überhaupt einen Sinn, ſo
ſcheint es vielmehr „ſtarke, tapfere Fremde“ als Menſchenfreſſer zu
bedeuten. Garcia in ſeinen etymologiſchen Phantaſieen erklärt es
geradezu für phöniziſch. Annibal und Cannibal können nach
ihm nur von derſelben ſemitiſchen Wurzel herkommen.
traduite par Silvestre de Sacy. — „Als die Armen anfingen
gräßliche Gerichte ſo groß, daß von nichts als von dieſen Greueln
geſprochen wurde; man gewöhnte ſich aber in der Folge dergeſtalt
daran und man fand ſo großen Geſchmack an der entſetzlichen
Speiſe, daß man reiche und ganz ehrbare Leute ſie für gewöhnlich
genießen, zum Feſteſſen machen, ja Vorräte davon anlegen ſah.
Es kamen verſchiedene Zubereitungsarten des Fleiſches auf, und
da der Brauch einmal beſtand, verbreitete er ſich auch über die
Provinzen, ſo daß allerorten in Aegypten Fälle vorkamen. Und da
verwunderte man ſich gar nicht mehr darüber; das Entſetzen, das
man zu Anfang darob empfunden, ſchwand ganz und gar, und man
ſprach davon und hörte davon ſprechen als von etwas ganz Gleich-
gültigem und Alltäglichem. Die Sucht, einander aufzueſſen, griff
unter den Armen dergeſtalt um ſich, daß die meiſten auf dieſe
Weiſe umkamen. Die Elenden brauchten alle möglichen Liſten, um
Menſchen zu überfallen oder ſie unter falſchem Vorgeben zu ſich
ins Haus zu locken. Von den Aerzten, die zu mir kamen, ver-
fielen drei dieſem Loſe, und ein Buchhändler, der Bücher an mich
verkaufte, ein alter, ſehr fetter Mann, fiel in ihre Netze und kam
nur mit knapper Not davon. Alle Vorfälle, von denen wir als
Augenzeugen berichten, ſind uns zufällig vor Augen gekommen,
denn meiſt gingen wir einem Anblicke aus dem Wege, der uns mit
ſolchem Entſetzen erfüllte.“
hört,“ heißt es in den Alpen wie in den Anden. Deluc hat die
Erſcheinung dadurch zu erklären verſucht, daß infolge eines Wechſels
im barometriſchen Druck mehr Luftblaſen an der Waſſerfläche platzen.
Dieſe Erklärung iſt ſo gezwungen als unbefriedigend. Ich will ihr
keine andere Hypotheſe entgegenſtellen, ich mache nur darauf auf-
merkſam, daß die Erſcheinung auf einer Modifikation der Luft be-
ruht, welche auf die Schallwellen und auf die Lichtwellen
zumal Einfluß äußert. Wenn die Verſtärkung des Schalles als
Wetterzeichen gilt, ſo hängt dies ganz genau damit zuſammen, daß
man der geringeren Schwächung des Lichtes dieſelbe Bedeutung bei-
legt. Die Aelpler behaupten mit Zuverſicht, das Wetter ändere ſich,
wenn bei ruhiger Luft die mit ewigem Schnee bedeckten Alpen dem
Beobachter auf einmal nahe gerückt ſcheinen und ſich ihre Umriſſe
ungewöhnlich ſcharf vom Himmelsblau abheben. Was iſt die Ur-
ſache, daß in den vertikalen Luftſchichten der Mangel an Homogeneität
ſo raſch aufgehoben wird?
gemacht.
welche die vereinigten Becken des oberen Orinoko und
des Amazonenſtromes mit dem Becken des unteren
Orinoko oder den Llanos von Venezuela in Verbindung
ſtehen. Wir betrachten dieſe Oeffnung geologiſch als ein détroit
terrestre, als eine Land-Meerenge, weil ſie macht, daß aus einem
dieſer Becken in das andere Gewäſſer ſtrömen, und weil ohne ſie
die Bergkette der Parime, die, gleich den Ketten des Küſtenlandes
von Caracas und denen von Mato-Groſſo oder Chiquitos, von
Oſten nach Weſten ſtreicht, unmittelbar mit den Anden von Neu-
granada zuſammenhinge.
geneigt ſind.
des Orinoko, des Rio Magdalena, des Ganges; 2) Delta an
den Ufern von Binnenmeeren, wie die des Oxus und
Sihon; 3) Delta von Nebenflüſſen, wie an den Mün-
dungen des Apure, des Arauca und des Rio Branco. Fließen
mehrere untergeordnete Gewäſſer in der Nähe des Deltas von
Nebenflüſſen, ſo wiederholt ſich im Binnenlande ganz, was im
Küſtenlande an den ozeaniſchen Delta vorgeht. Die einander zu-
nächſt gelegenen Zweige teilen ſich ihre Gewäſſer mit und bilden
ein Flußnetz, das zur Zeit der großen Ueberſchwemmungen faſt un-
kenntlich wird.
Sudan, wo, nach den letzten Ermittelungen meines unglücklichen
Freundes Ritchie, der Nigir den Schari aufnimmt und ſich in den
Weißen Nil ergießt.
Theesla und der Brahmaputra laufen durch Querthäler, d. h. ſenk-
recht auf die große Achſe der Himalayakette. Alle dieſe Flüſſe
durchbrechen alſo die Kette, wie der Amazonenſtrom, der Paute und
der Paſtaza die Kordillere der Anden.
wahrheitgetreues, ſehr wertvolles Buch (Historia corografica de
la Nueva Andalusia y vertientes del Rio Orinoco) erſt 1779
erſchien, beſtreitet mit vielem Scharfſinn die Vorſtellung, daß
eine Bergkette jede Verbindung zwiſchen den Becken des Orinoko
und des Amazonenſtromes ausſchließe. „Pater Gumillas Irrtum,“
ſagt er, „beſteht darin, daß er ſich vorſtellt, von den Grenzen
von Neugranada bis Cayenne müſſe ſich eine Kordillere ununter-
brochen, wie eine ungeheure Mauer fortziehen. Er beachtet nicht,
daß Bergketten häufig von tiefen (Quer-)Thälern durchſchnitten
ſind, während ſie, aus der Ferne geſehen, ſich als contiguas ò
indivisas darſtellen.“
ſpäter in Cabruta krank lag, wurde im Jahre 1760 vom portu-
gieſiſchen Oberſten Don Gabriel de Souſa y Figueira beſucht, der
von Gran-Para aus gegen 4050 km im Kanoe zurückgelegt hatte.
Der ſchwediſche Botaniker Löfling, der dazu auserſehen war, die
Grenzexpedition auf Koſten der ſpaniſchen Regierung zu begleiten,
häufte in ſeiner lebhaften Phantaſie die Verzweigungen der großen
Amerika zu Grunde. (Mapa geografica de America meridional
por D. Juan de la Cruz Cano y Olmedilla 1775.) Die Original-
ausgabe, die ich beſitze, iſt deſto ſeltener, als, wie man allgemein
glaubt, die Kupferplatten auf Befehl eines Kolonialminiſters zer-
aus dem Rio Negro und dem Amazonenſtrome in den Rio de la
Plata fahren.
genau ſein. Ich kann verſichern, daß ſie dieſen Vorwurf nur hin-
ſichtlich weniger Punkte verdient.
gehen Neuheit und Unglauben Hand in Hand.
vegetabiliſche Gifte. In den Miſſionen verfehlt man nicht, den
europäiſchen Reiſenden alles Ernſtes zu verſichern, mit Salz im
Munde habe man in Curare getauchte Pfeile ſo wenig zu fürchten,
empfiehlt Knoblauchſaft als Gegengift gegen des Ourari (Curare).
land nach einer geiſtvollen Zeichnung Schicks in Rom ein Kupfer-
ſtich heraus, eines unſerer Nachtlager am Orinoko vorſtellend. Im
Vordergrunde ſind Indianer beſchäftigt, einen Affen zu braten.
von keinem Gewächs aus der Familie der Schirmpflanzen kommen
können.
in Menge wächſt, wird 2,6 bis 5 m lang.
am Orinoko, dörrten geradezu die friſchen Fiſche an der Sonne.
Bei ihnen hatte der Fiſchteig die Form von Backſteinen, und man
ſetzte zuweilen den aromatiſchen Samen des Paliurus (Rhamnus)
zu, gerade wie man in Deutſchland und anderen nördlichen Ländern
Kümmel und Fenchel in das Brot thut.
Guamos, und ſie haben vielleicht zu den verworrenen Vorſtellungen
von amerikaniſchen Negern, die in der erſten Zeit der Er-
oberung in Europa verbreitet waren, Anlaß gegeben. Was waren
die Negros de Quareca, die Gomara auf denſelben Iſthmus von
Panama verſetzt, woher uns zuerſt die albernen Geſchichten von
einem Volke von Albinos in Amerika zugekommen? Lieſt man die
Geſchichtſchreiber aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts mit Auf-
merkſamkeit, ſo ſieht man, daß durch die Entdeckung von Amerika,
wodurch auch eine neue Menſchenraſſe entdeckt worden war, die
Reiſenden großes Intereſſe für die Abarten unſeres Geſchlechtes
gewonnen hatten. Hätte nun unter den kupferfarbigen Menſchen
eine ſchwarze Raſſe gelebt, wie auf den Inſeln der Südſee, ſo
hätten die Konquiſtadoren ſich ſicher beſtimmt darüber ausgeſprochen.
Zudem kommen in den religiöſen Ueberlieferungen der Amerikaner
in ihren heroiſchen Zeiten wohl weiße bärtige Männer als Prieſter
und Geſetzgeber vor, aber in keiner dieſer Sagen iſt von einem
ſchwarzen Volksſtamme die Rede.
de la Guayana von 1766 bis 1777.
am Rio Carony, am Rio Caura und am oberen Orinoko.
gibt, ſo häufig ſind, iſt ziemlich auffallend. Die Tiger am oberen
Orinoko führen ein elendes Leben gegenüber denen in den Pampas
von Buenos Ayres, in den Lanos von Caracas und auf anderen
mit Herden von Hornvieh bedeckten Ebenen. In den ſpaniſchen
Kolonieen werden jährlich über 4000 Jaguare erlegt, von denen
manche die mittlere Größe des aſiatiſchen Königstigers erreichen.
Buenos Ayres führte früher 2000 Jaguarhäute jährlich aus, die
bei den Pelzhändlern in Europa „große Pantherfelle“ heißen.
auf. Es iſt nicht zu verwechſeln mit dem großen amerikaniſchen
Löwen, Felis concolor, der vom kleinen Löwen (Puma) der Anden
von Quito ſehr verſchieden iſt.
Tag an Ort und Stelle auf, was ihm Bemerkenswertes vorgekommen.
Er verdient um ſo mehr Zutrauen, da er, höchſt mißvergnügt, daß
er nicht gefunden, was er geſucht (den See Dorado und Gold- und
Diamantengruben), auf alles, was ihm unterwegs vorkommt, mit
Geringſchätzung zu blicken ſcheint.
Zeitalter, die vierte Erneuerung der Welt.
dern der Crax alector.
Jahren 1576 und 1592 an das Schatzamt (Caxas reales) von
Truxillo bezahlt wurde. Die Regiſter ſind noch vorhanden. In
Perſien, in Hochaſien, in Aegypten, wo man auch Gräber aus ſehr
verſchiedenen Zeitaltern öffnet, hat man, ſoviel ich weiß, niemals
Schätze von Belang entdeckt.
kurzem in den Vereinigten Staaten in einer Höhle entdeckt. Sie
ſollen einer Menſchenart angehören, die mit der auf den Sandwich-
inſeln Aehnlichkeit hat. Die Beſchreibung dieſer Gräber erinnert
einigermaßen an das, was ich in den Gräbern von Ataruipe beob-
achtet. — Die Miſſionäre in den Vereinigten Staaten beklagen ſich
über den Geſtank, den die Nantikokes verbreiten, wenn ſie mit den
Gebeinen ihrer Ahnen umherziehen.
265 km nur 2,2 m Fall auf den Kilometer.
Bergbutter, einer ſalzigen Subſtanz, die aus der Zerſetzung
des Alaunſchiefers entſteht.
dieſen Gefäßen wegen des Geruches des Thones. Die Weiber in
der Provinz Alemtejo gewöhnen ſich an, die Bucaroerde zu kauen,
und ſie empfinden es als eine große Entbehrung, wenn ſie dieſes
abnorme Gelüſte nicht befriedigen können.
Mais, Kazike, Maguey (Agave) und Manati (Seekuh), der alten
Sprache von Hayti oder San Domingo an. Es bedeutete eigentlich
nicht das Kraut, ſondern die Röhre, das Werkzeug, mittels deſſen
man den Rauch einzog. Es muß auffallen, daß ein ſo allgemein
verbreitetes vegetabiliſches Produkt bei benachbarten Völkern ver-
ſchiedene Namen hatte.
hunderts auf den Antillen kennen. Ich habe oben bemerkt, daß
der Anbau dieſes narkotiſchen Gewächſes um 120 bis 140 Jahre
älter iſt als die ſegensreiche Anpflanzung der Kartoffel. Als Ralegh
im Jahre 1586 den Tabak aus Virginien nach England brachte,
gab es in Portugal bereits ganze Felder voll davon.
p. 143 (1585) wie folgt: „Ex illo sane tempore (tabacum) usu
cepit esse creberrimo in Anglia et magno pretio, dum quam-
plurimi graveolentem illius fumum per tubulum testaceum
hauriunt et mox e naribus afflant, adeo ut Anglorum corpora
in barbarorum naturam degenerasse videantur, quum iidem
ac barbari delectentur.“ Man ſieht aus dieſer Stelle, daß man
durch die Naſe rauchte, während man am Hofe Montezumas in der
einen Hand die Pfeife hatte und mit der anderen die Naſe zuhielt,
um den Rauch leichter ſchlucken zu können.
dann fallen die anderen im ſelben Tone ein. Gerade ſo heulen die
Rudel von Aluaten, unter denen die Indianer den „Vorſänger“
herauskennen. In Mexiko wurde der ſtumme Hund (Techichi) ver-
ſchnitten, damit er fett werde, und dies mußte zur Veränderung
des Stimmorganes des Hundes beitragen.
Guyana, gemeiniglich Angoſtura oder der Engpaß genannt,
liegt nach meinen Beobachtungen unter 8° 8′ 11″ der Breite und
66° 15′ 21″ der Länge.
Europa durch den handel der Katalonier mit der China vom Rio
Carony, welche die heilkräftige Rinde der Bonplandia trifoliata
iſt. Da dieſe Rinde von Nueva Guyana kam, ſo nannte man ſie
Corteza oder Cascarilla del Angostura, Cortex An-
gosturae. Die Botaniker wußten ſo wenig, woher dieſe geo-
graphiſche Benennung rührte, daß ſie anfangs Anguſtura und
dann Auguſta ſchrieben.
enthaltes in Angoſtura die Geſamtverteidigungsmittel der Provinz
aus 7 Lanchas canoneras und 600 Mann aller Farben und Waffen-
gattungen beſtanden, eingerechnet die ſogenannten Garniſonen der
vier Grenzforts, der Destacamentos von Nueva Guyana, San
Carlos del Rio Negro, Guirior und Cuyuni.
im Jahre 1780 vorgenommene Zählung ergab 1513 (nämlich 455
Weiße, 449 Neger, 363 Mulatten und Zambos, 246 Indianer). Im
Jahre 1789 war die Bevölkerung auf 4590, und 1800 auf 6600
Seelen geſtiegen. Der Hauptort der engliſchen Kolonie Deme-
rary, die Stadt Stabrock, liegt nur 225 km ſüdoſtwärts von der
Mündung des Orinoko. Sie hat, nach Bolingbroke, gegen 10000
Einwohner.
bäume findet ſich vorzugsweiſe bei einer Gruppe von Palmen, die
Kunth Calameen nennt; es kommt indeſſen auch in den Stämmen
von Cycas revoluta, Phoenix farinifera, Corypha umbraculifera
und Caryota urens vor und wird im Indiſchen Archipel von dieſen
Bäumen geſammelt und in den Handel gebracht. Der echte aſiatiſche
Sagobaum (Sagus Rumphii oder Metroxylon Sagu, Roxburgh)
gibt mehr Nahrungsſtoff als alle anderen nutzbaren Gewächſe. Von
einem einzigen Stamme gewinnt man im fünften Jahre zuweilen
300 kg Sago oder Mehl (denn das Wort Sagu bedeutet im am-
boiniſchen Dialekt Mehl). Crawfurd, der ſich ſo lange auf dem
Indiſchen Archipel aufgehalten hat, berechnet, daß auf 4029 Quadrat-
metern 435 Sagobäume wachſen können, die über 4000 kg Mehl
jährlich geben. Dieſer Ertrag iſt dreimal ſo hoch als beim Getreide,
und doppelt ſo hoch als bei der Kartoffel in Frankreich. Die Ba-
nanen geben auf derſelben Bodenfläche noch mehr Nahrungsſtoff
als der Sagobaum.
Er brachte in myſtiſcher Beſchaulichkeit 37 Jahre auf 5 Säulen zu,
von denen die letzte 36 m hoch war. Die Säulenheiligen,
sancti columnares, wollten auch in Deutſchland, im Trierſchen,
ihre luftigen Klöſter einführen, aber die Biſchöfe widerſetzten ſich
einem ſo tollen, halsbrechenden Unternehmen.
majeſtätiſchen indiſch-chineſiſchen Flüſſe dem Aequator zu. Die
erſteren kommen aus der gemäßigten Zone in die heiße. Der Um-
ſtand, daß die Flüſſe entgegengeſetzte Richtungen haben (dem Aequator
oder den gemäßigten Erdſtrichen zu), äußert Einfluß auf den Ein-
tritt und die Größe der Ueberſchwemmungen, auf die Art und die
Mannigfaltigkeit der Produkte längs der Ufer, auf die größere oder
geringere Lebhaftigkeit des Handels, und, darf ich nach dem, was
wir über die Völker Aegyptens, Meroes und Indiens wiſſen, wohl
ſagen, auf den Gang der Kultur die Stromthäler entlang.
Kilometer.
para las quatro partes del mundo) geweiht.
und Tupuquen ſcheinen über 290 m Meereshöhe zu haben.
Mr. de Humboldt, par Fried. Wien 1818.
haben in der ſüdlichen Halbkugel lange dieſelbe Rolle geſpielt, wie
der See Parime in der nördlichen. Hondius und Sanſon ließen
aus der Laguna de los Xarayes den Rio de la Plata, den Rio
Tapajos (einen Nebenfluß des Amazonenſtroms), den Rio Tocantins
und den Rio de San Francisco entſpringen.
la Laguna Parime nennt.
Dairi und der Kubo in Japan.
heißt Gold Cori, woher Chichicori, Goldſtaub, und Corikoya,
Golderz.
Archiven von Simancas erwieſen hat.
geben ſind, ſieht man noch keine Spur von den Entdeckungen des
Columbus.
Küſten Schiffe voll Waren aus Catayo (China) gefunden haben
wollte und wo Fray Marcos (wie Hutten im Lande der Omagua)
die vergoldeten Dächer einer großen Stadt, einer der Siete Ciudades,
von weitem ſah. Die Einwohner haben große Hunde, en los
quales quando se mudan cargan su menage. Spätere Ent-
deckungen laſſen übrigens keinen Zweifel, daß dieſer Landſtrich früher
ein Mittelpunkt der Kultur war.
Oſt nach Weſt gerichtet.
Capitania Minas Geraes nur 584.
welche Kapitän Lyon, der Reiſebegleiter meines mutigen unglücklichen
Freundes Ritchie, in der Wüſte Fezzan in Lachen gefunden, die von
den Arabern gegeſſen werden und wie Kaviar ſchmecken? Sollten
es nicht Inſekteneier ſein, ähnlich dem Aguautle, den ich in
Mexiko auf dem Markte habe verkaufen ſehen, und der an der
Oberfläche des Sees Tezcuco gefiſcht wird?
Jahre 1761.
ganda fide en la Nueva Barcelona.
Sie ſind in einer Madreporen-Breccie eingeſchloſſen, welche die
Neger ſehr naiv maçonne bon Dieu nennen, und die, neuer For-
mation wie der italieniſche Travertin, Topfſcherben und andere Pro-
dukte der Menſchenhand enthält. Dauxiou Lavayſſe und Dr. König
machten in Europa zuerſt dieſe Erſcheinung bekannt, die eine Zeit-
lang die Aufmerkſamkeit der Geologen in Anſpruch nahm.
der Sprache der Männer (M) und der Weiber (W): Inſeloubao (M),
acaera (W);Menſchouekelli (M), eyeri (W);Maisichen (M),
atica (W).
von Raleghs Reiſebeſchreibung beigegeben iſt. In der holländiſchen
Ausgabe heißen die Llanos von Caracas zwiſchen den Gebirgen von
Merida und dem Rio Pao „Caribana“. Man ſieht hier wieder,
was ſo oft in der Geſchichte der Geographie vorkommt, daß eine
Benennung allmählich von Weſten nach Oſten gerückt wurde.
sapientiae viros vocantes.
mit keineswegs ausſprechen, daß die Völker hier geſchaffen worden,
was gar nicht Sache der Geſchichte iſt, ſondern nur ſo viel ſagen,
daß wir von keinem anderen Volke wiſſen, das älter wäre als das
autochthone.
gezeichnete Tafel an: Viri adulti cranium ex Caraibensium insula
Sancti Vicentii in Museo Clinii asservatum, 1785.
servitutem obscoenos hominum voratores redigat. Anghiera,
Dec. I, Lib. 1; Dec. III, Lib. 6.
ſtudium in Beziehung auf die verſchiedenen Epochen der Sprach-
entwickelung“ (Seite 13).
heißen Wampum. Anghiera (Dec. III, Lib. 9) erzählt einen ſehr
merkwürdigen Fall, aus dem hervorzugehen ſcheint, daß die umher-
ziehenden Kariben mit gebundenen Büchern, wie denen der Mexi-
kaner und den unſeren, nicht ganz unbekannt waren. Der inter-
eſſanten Entdeckung von Bilderheften bei den Panosindianern am
Ucayale habe ich anderswo gedacht (Vues des Cordillères, T. I,
oberſte Würde in der weiblichen Linie; nicht der Sohn iſt der Nach-
folger, ſondern der Sohn der Schweſter oder der nächſte Verwandte
von weiblicher Seite. Bei dieſer Erbfolge iſt man ſicher, daß die
oberſte Gewalt beim Blute des letzten Häuptlings bleibt; der Brauch
iſt eine Gewähr für die Legitimität. Ich habe bei den königlichen
Dynaſtieen auf den Antillen alte Spuren dieſer in Afrika und
Oſtindien ſehr verbreiteten Erbfolge gefunden. „In testamentis
autem quam fatue sese habeant, intelligamus: ex sorore prima
primogenitum, si insit, reliquunt regnorum haeredem; sin
minus, ex altera, vel tertia, si ex secunda proles desit: quia
a suo sanguine creatam sobolem eam certum est. Filios autem
glyphiſche Malereien, ähnlich den mexikaniſchen, nur roher. Be-
malter Blätter bedienten ſie ſich ſeit der Eroberung zum Beichten
in der Kirche. Vielleicht hatte der Karibe, der nach Anghieras Er-
zählung tief aus dem Lande nach Darien kam, Gelegenheit gehabt,
in Quito oder Cundinamarca ein peruaniſches Buch zu ſehen. Ich
brauche, wie die erſten ſpaniſchen Reiſenden, das Wort Buch, weil
dasſelbe keineswegs den Gebrauch einer Buchſtabenſchrift vorausſetzt.
ſie ſind aber nicht ſehr liberal, denn ſie eſſen gern Menſchenfleiſch,
quotquot placet. Ex uxoribus cariores cum regulo sepeliri
patiuntur. (Anghiera, Decas III, Lib. 9.)
sed ipsa sui copia et quasi pondere impellitur.
par Pierre d’Avity, Seigneur de Montmartin, 1660.)
welche durch die Punkte laufen, die mittels Uebertragung der Zeit
beſtimmt worden und ſomit voneinander abhängig ſind. Von der
zweckmäßigen Richtung dieſer Linien hängt die Genauigkeit einer
rein aſtronomiſchen Aufnahme ab.
übrige Steppe.
und Peones para el rodeo wohnen, d. h. die Leute, welche die
halbwilden Pferde- und Viehherden warten oder vielmehr beauf-
ſichtigen.
mir folgendes ergeben: Die Llanos von Cumana, Barcelona und
Caracas vom Delta des Orinoko bis zum nördlichen Ufer des Apure
umfaſſen 160000 qkm; die Llanos zwiſchen dem Apure und dem
oberen Amazonenſtrome 425000 qkm; die Pampas nordweſtlich
von Buenos Ayres 810000 qkm; die Pampas ſüdwärts vom
Parallel von Buenos Ayres 607000 qkm. Der Geſamtflächen-
raum der grasbewachſenen Llanos in Südamerika beträgt demnach
1990000 qkm (Spanien hat 328000 qkm). Die große afrikaniſche
Ebene, die ſogenannte Sahara iſt 4930000 qkm groß, die ver-
ſchiedenen Oaſen dazu gerechnet, aber nicht Bornu und Darfur.
(Das Mittelmeer hat nur 1616000 qkm Oberfläche.)
Blöcke vor?
auch Virgen del Tutumo genannt.
dieſe ſehr merkwürdige phyſiologiſche Erſcheinung zuerſt bekannt ge-
macht. Ich beſchreibe ſie hier, doch lieber lateiniſch. — Coriae-
corum gens, in ora Asiae septentrioni opposita, potum sibi
excogitavit ex succo inebriante Agarici muscarii, qui succus
(aeque ut asparagorum), vel per humanum corpus transfusus,
temulentiam nihilominus facit. Quare gens misera et inops,
quo rarius mentis sit suae, propriam urinam bibit identidem;
continuoque mingens rursusque hauriens eundem succum (dicas,
ne ulla in parte mundi desit ebrietas) pauculis agaricis pro-
ducere in diem quintum temulentiam potest.
Platz, an dem ich vom 28. Juli bis 17. November 1799 beobachtet
hatte. Alle aſtronomiſchen Beobachtungen, ſowie die über die Luft-
ſpiegelung, nach dem 29. Auguſt 1800 ſind im Hauſe Martinez
angeſtellt. Ich erwähne dieſes Umſtandes, da er von Intereſſe ſein
mag, wenn einmal einer die Genauigkeit meiner Beobachtungen
prüfen will.
eilanden den Namen Penascales de las tortugas gegeben, wegen
der Seeſchildkröten, die er in dieſem Striche ſchwimmen ſah.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnhx.0