[][][][][][][[I]]
Der
Achtzehnte Brumaire
des
Louis Bonaparte.


Zweite Ausgabe.


Hamburg:
Otto Meißner.
1869.
[[II]]

Vorwort.

Mein zu früh verſtorbener Freund Joſeph Weydemeyer*)
beabſichtigte vom 1. Januar 1852 an eine [politiſche] Wochen¬
ſchrift in New–York herauszugeben. Er forderte mich auf, für
dieſelbe die Geſchichte des coup d'état zu liefern. Ich [ſchrieb]
ihm daher wöchentlich bis Mitte Februar Artikel unter dem Titel:
„Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“. Unterdeß war
Weydemeyer's urſprünglicher Plan geſcheitert. Dagegen veröffent¬
lichte er im Frühling 1852 eine Monatsſchrift: „Die Revo¬
lution
“, deren zweites Heft aus meinem „Achtzehnten Brumaire“
beſteht. Einige hundert Exemplare davon fanden damals den
Weg nach Deutſchland, ohne jedoch in den eigentlichen Buch¬
handel zu kommen. Ein äußerſt radikal thuender deutſcher
Buchhändler, dem ich den Vertrieb anbot, antwortete mit wahr¬
haft ſittlichem Entſetzen über ſolch „zeitwidrige Zumuthung“.


[IV]

Man erſieht aus dieſen Angabe, daß die vorliegende Schrift
unter dem unmittelbaren Druck der Ereigniſſe entſtand und ihr
hiſtoriſches Material nicht über den Monat Februar (1852) hinaus¬
reicht. Ihre jetzige Wiederveröffentlichung iſt theils buchhändle¬
rifcher Nachfrage, theils dem Andringen meiner Freunde in
Deutſchland geſchuldet.


Von den Schriften, welche ungefähr gleichzeitig mit
der meinigen denſelben Gegenſtand behandelten, ſind nur zwei
bemerkenswerth: Victor Hugo's: „Napoléon le Petit
und Proudhon's: „Coup d'État“.


Victor Hugo beſchränkt ſich auf bittere und geiſtreiche Invek¬
tive gegen den verantwortlichen Herausgeber des Staatsſtreichs.
Das Ereigniß ſelbſt erſcheint bei ihm wie ein Blitz aus heitrer
Luft. Er ſieht darin nur die Gewaltthat eines einzelnen Indivi¬
duums. Er merkt nicht, daß er dies Individuum groß ſtatt klein
macht, indem er ihm eine perſönliche Gewalt der Initiative zu¬
schreibt, wie ſie beiſpiellos in der Weltgeſchichte daſtehen würde.
Proudhon ſeinerſeits ſucht den Staatsſtreich als Reſultat einer
vorhergegangenen geſchichtlichen Entwicklung darzustellen. Unter
der Hand verwandelt ſich ihm jedoch die geſchichtliche Konſtruktion
des Staatsſtreichs in eine geſchichtliche Apologie des Staatsſtreichs¬
helden. Er verfällt ſo in den Fehler unſerer ſogenannten objek¬
tiven Geſchichtsſchreiber. Ich weiſe dagegen nach, wie der
Klaſſenkampf in Frankreich Umſtände und Verhältniſſe ſchuf,
welche einer mittelmäßigen und grotesken Perſonage das Spiel der
Heldenrolle ermöglichten.


[V]

Eine Umarbeitung der vorliegenden Schrift hätte ſie ihrer
eigenthümlichen Färbung beraubt. Ich habe mich daher auf bloße
Korrektur von Druckfehlern beſchränkt und auf Wegſtreichung jetzt
nicht mehr verſtändlicher Anſpielungen.


Der Schlußſatz meiner Schrift: „Aber wenn der Kaiſer¬
mantel endlich auf die Schultern Louis Bonaparte's fällt, wird
das eherne Standbild Napoleon's von der Höhe der Bendômeſäule
herabſtürzen“, hat ſich bereits erfüllt.


Oberſt Charras eröffnete den Angriff auf den Napoleon-
Kultus in ſeinem Werke über den Feldzug von 1815. Seitdem,
und namentlich in den letzten Jahren, hat die franzöſiſche Literatur
mit den Waffen der Geſchichtsforſchung, der Kritik, der Satyre
und des Witzes der Napoleon-Legende den Garaus gemacht.
Außerhalb Frankreichs ward dieſer gewaltſame Bruch mit dem
traditionellen Volksglauben, dieſe ungeheure geiſtige Revolution,
wenig beachtet und noch weniger begriffen.


Schließlich hoffe ich, daß meine Schrift zur Beſeitigung der
jetzt namentlich in Deutſchland landläufigen Schulphraſe vom
ſogenannten Cäſarismus beitragen wird. Bei dieſer oberfläch¬
lichen geſchichtlichen Analogie vergißt man die Hauptſache, daß
nämlich im alten Rom der Klaſſenkampf nur innerhalb einer
privilegirten Minorität ſpielte, zwiſchen den freien Reichen und den
freien Armen, während die große produktive Maſſe der Bevölkerung,
die Sklaven, das blos paſſive Piedeſtal für jene Kämpfer bildete.
Man vergißt Sismondi's bedeutenden Ausſpruch: Das römiſche
Proletariat lebte auf Koſten der Geſellſchaft, während die moderne
[VI] Geſellſchaft auf Koſten des Proletariats lebt. Bei ſo gänzlicher
Verſchiedenheit zwiſchen den materiellen, ökonomiſchen Bedingungen
des antiken und des modernen Klaſſenkampfs können auch ſeine
politiſchen Ausgeburten nicht mehr mit einander gemein haben als
der Erzbiſchof von Canterbury mit dem Hohenprieſter Samuel.


London, 23. Juni 1869.


Karl Marx.

[[1]]

Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.

I.

Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeſchichtlichen Thatſachen
und Perſonen ſich ſo zu ſagen zweimal ereignen. Er hat vergeſſen hinzuzu¬
fügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Cauſſidiere
für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848–51
für die Montagne von 1793–95, der Neffe für den Onkel. Und dieſelbe
Karrikatur in den Umſtänden, unter denen die zweite Auflage des achtzehnten
Brumaire herausgegeben wird!


Die Menſchen machen ihre eigene Geſchichte, aber ſie machen ſie nicht
aus freien Stücken, nicht unter ſelbſtgewählten, ſondern unter unmittelbar
vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umſtänden. Die Tradition aller
todten Geſchlechter laſtet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und
wenn ſie eben damit beſchäftigt ſcheinen, ſich und die Dinge umzuwälzen, noch
nicht Dageweſenes zu ſchaffen, gerade in ſolchen Epochen revolutionärer Kriſe
beſchwören ſie ängſtlich die Geiſter der Vergangenheit zu ihrem Dienſte
herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Koſtüm, um in dieſer altehr¬
würdigen Verkleidung und mit dieſer erborgten Sprache die neue Weltge¬
ſchichtsſcene aufzuführen. So maskirte ſich Luther als Apoſtel Paulus, die
Revolution von 1789–1814 drapirte ſich abwechſelnd als römiſche Re¬
publik und als römiſches Kaiſerthum, und die Revolution von 1848 wußte
nichts Beſſeres zu thun, als hier 1789, dort die revolutionäre Ueberlieferung
von 1793–95 zu parodiren. So überſetzt der Anfänger, der eine neue
Sprache erlernt hat, ſie immer zurück in ſeine Mutterſprache, aber den Geiſt
1[2] der neuen Sprache hat er ſich nur angeeignet und frei in ihr zu produziren
vermag er nur, ſobald er ſich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm
angeſtammte Sprache in ihr vergißt.


Bei Betrachtung jener weltgeſchichtlichen Todtenbeſchwörungen zeigt ſich
ſofort ein ſpringender Unterſchied. Camille Desmoulins, Danton, Robespierre,
St. Juſt, Napoleon, die Heroen, wie die Parteien und die Maſſe der alten
franzöſiſchen Revolution, vollbrachten in dem römiſchen Koſtüme und mit
römiſchen Phraſen die Aufgabe ihrer Zeit, die Entfeſſelung und Herſtellung
der modernen bürgerlichen Geſellſchaft. Die Einen ſchlugen den feudalen
Boden in Stücke und mähten die feudalen Köpfe ab, die darauf gewachſen
waren. Der Andere ſchuf im Innern von Frankreich die Bedingungen,
worunter erſt die freie Konkurrenz entwickelt, das parzellirte Grundeigenthum
ausgebeutet, die entfeſſelte induſtrielle Produktivkraft der Nation verwandt
werden konnte, und jenſeits der franzöſiſchen Grenzen fegte er überall die
feudalen Geſtaltungen weg, ſo weit es nöthig war, um der bürgerlichen Geſell¬
ſchaft in Frankreich eine entſprechende, zeitgemäße Umgebung auf dem euro¬
päiſchen Kontinent zu verſchaffen. Die neue Geſellſchaftsformation einmal
hergeſtellt, verſchwanden die vorſündfluthlichen Koloſſe und mit ihnen das
wieder auferſtandene Römerthum — die Brutuſſe, Gracchuſſe, Publicolas,
die Tribunen, die Senatoren und Cäſar ſelbſt. Die bürgerliche Geſellſchaft
in ihrer nüchternen Wirklichkeit hatte ſich ihre wahren Dolmetſcher und
Sprachführer erzeugt in den Says, Couſins, Royer-Collards, Benjamin
Conſtants und Guizots, ihre wirklichen Heerführer ſaßen hinter dem Comp¬
toirtiſch und der Speckkopf Ludwig's XVIII. war ihr politiſches Haupt. Ganz
abſorbirt in die Produktion des Reichthums und in den friedlichen Kampf
der Konkurrenz begriff ſie nicht mehr, daß die Geſpenſter der Römerzeit ihre
Wiege gehütet hatten. Aber unheroiſch, wie die bürgerliche Geſellſchaft iſt,
hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des
Bürgerkriegs und der Völkerſchlachten, um ſie auf die Welt zu ſetzen. Und
ihre Gladiatoren fanden in den klaſſiſch ſtrengen Ueberlieferungen der römiſchen
Republik die Ideale und die Kunſtformen, die Selbſttäuſchungen, deren ſie
bedurften, um den bürgerlich beſchränkten Inhalt ihrer Kämpfe ſich ſelbſt zu
verbergen und ihre Leidenſchaft auf der Höhe der großen geſchichtlichen Tragö¬
die zu halten. So hatten auf einer andern Entwicklungsſtufe, ein Jahr¬
hundert früher, Cromwell und das engliſche Volk dem alten Teſtament
Sprache, Leidenſchaften und Illuſionen für ihre bürgerliche Revolution ent¬
[3] lehnt. Als das wirkliche Ziel erreicht, als die bürgerliche Umgeſtaltung der
engliſchen Geſellſchaft vollbracht war, verdrängte Locke den Habakuk.


Die Todtenerweckung in jenen Revolutionen diente alſo dazu, die neuen
Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodiren, die gegebene Aufgabe
in der Phantaſie zu übertreiben, nicht vor ihrer Löſung in der Wirklichkeit
zurückzuflüchten, den Geiſt der Revolution wieder zu finden, nicht ihr Ge¬
ſpenſt wieder umgehen zu machen.


18481851 ging nur das Geſpenſt der alten Revolution um, von
Marraſt, dem Républicain en gants jaunes, der ſich in den alten Bailly ver¬
kleidete, bis auf den Abenteurer, der ſeine trivial-widrigen Züge unter der
eiſernen Todtenlarve Napoleons verſteckt. Ein ganzes Volk, das ſich durch
eine Revolution eine beſchleunigte Bewegungskraft gegeben zu haben glaubt,
findet ſich plötzlich in eine verſtorbene Epoche zurückverſetzt, und damit keine
Täuſchung über den Rückfall möglich iſt, ſtehn die alten Data wieder auf,
die alte Zeitrechnung, die alten Namen, die alten Edikte, die längſt der an¬
tiquariſchen Gelehrſamkeit verfallen, und die alten Schergen, die längſt verfault
ſchienen. Die Nation kömmt ſich vor, wie jener närriſche Engländer in Bed¬
lam, der zur Zeit der alten Pharaonen zu leben meint und täglich über die
harten Dienſte jammert, die er in den äthiopiſchen Bergwerken als Gold¬
gräber verrichten muß, eingemauert in dies unterirdiſche Gefängniß, eine ſpär¬
lich leuchtende Lampe auf dem eigenen Kopfe befeſtigt, hinter ihm der Sclaven¬
aufſeher mit langer Peitſche und an den Ausgängen ein Gewirr von bar¬
bariſchen Kriegsknechten, die weder die Zwangsarbeiter in den Bergwerken,
noch ſich unter einander verſtehn, weil ſie keine gemeinſame Sprache reden.
„Und dies Alles wird mir,“ — ſeufzt der närriſche Engländer — „mir dem
freigebornen Briten zugemuthet, um Gold für die alten Pharaonen zu
machen.“ „Um die Schulden der Familie Bonaparte zu zahlen,“ —
ſeufzt die franzöſiſche Nation. Der Engländer, ſo lange er bei Verſtand war,
konnte die fixe Idee des Goldmachens nicht los werden. Die Franzoſen, ſo
lange ſie revolutionirten, nicht die napoleoniſche Erinnerung, wie die Wahl
vom 10. Dezember bewies. Sie ſehnten ſich aus den Gefahren der Revo¬
lution zurück nach den Fleiſchtöpfen Aegyptens, und der 2. Dezember 1851
war die Antwort. Sie haben nicht nur die Karrikatur des alten Napoleon,
ſie haben den alten Napoleon ſelbſt, karrikirt wie er ſich ausnehmen muß in
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.


Die ſoziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poeſie
1*[4] nicht aus der Vergangenheit ſchöpfen, ſondern nur aus der Zukunft. Sie
kann nicht mit ſich ſelbſt beginnen, bevor ſie allen Aberglauben an die Ver¬
gangenheit abgeſtreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltge¬
ſchichtlichen Rückerinnerungen, um ſich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben.
Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Todten ihre Todten
begraben laſſen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die
Phraſe über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phraſe hinaus.


Die Februarrevolution war eine Ueberrumpelung, eine Ueber¬
raſchung
der alten Geſellſchaft, und das Volk proklamirte dieſen unver¬
hofften Handſtreich als eine weltgeſchichtliche That, womit die neue Epoche
eröffnet ſei. Am 2. Dezember wird die Februarrevolution eskamotirt durch
die Volte eines falſchen Spielers, und was umgeworfen ſcheint, iſt nicht
mehr die Monarchie, es ſind die liberalen Konzeſſionen, die ihr durch Jahr¬
hundert lange Kämpfe abgetrotzt waren. Statt daß die Geſellſchaft
ſelbſt ſich einen neuen Inhalt erobert hätte, ſcheint nur der Staat zu ſeiner
älteſten Form zurückgekehrt, zur unverſchämt einfachen Herrſchaft von Säbel
und von Kutte. So antwortet auf den coup de main vom Februar 1848
der coup de tête vom Dezember 1851. Wie gewonnen, ſo zerronnen. Un¬
terdeſſen iſt die Zwiſchenzeit nicht unbenutzt vorübergegangen. Die fran¬
zöſiſche Geſellſchaft hat während der Jahre 18481851 die Studien und
Erfahrungen nachgeholt, und zwar in einer abkürzenden, weil revolutionären
Methode, die bei regelmäßiger, ſo zu ſagen ſchulgerechter Entwickelung der
Februarrevolution hätten vorhergehn müſſen, ſollte ſie mehr als eine Er¬
ſchütterung der Oberfläche ſein. Die Geſellſchaft ſcheint jetzt hinter ihren
Ausgangspunkt zurückgetreten; in Wahrheit hat ſie ſich erſt den revolutio¬
nären Ausgangspunkt zu ſchaffen, die Situation, die Verhältniſſe, die Be¬
dingungen, unter denen allein die moderne Revolution ernſthaft wird.


Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, ſtür¬
men raſcher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatiſchen Effekte überbieten ſich,
Menſchen und Dinge ſcheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Extaſe iſt der
Geiſt jedes Tages; aber ſie ſind kurzlebig, bald haben ſie ihren Höhepunkt
erreicht und ein langer Katzenjammer erfaßt die Geſellſchaft, ehe ſie die Reſul¬
tate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern ſich aneignen lernt. Proleta¬
riſche Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritiſiren
beſtändig ſich ſelbſt, unterbrechen ſich fortwährend in ihrem eignen Lauf,
kommen auf das ſcheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzu¬
[5] fangen, verhöhnen grauſam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärm¬
lichkeiten ihrer erſten Verſuche, ſcheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen,
damit er neue Kräfte aus der Erde ſauge und ſich rieſenhafter ihnen gegen¬
über wieder aufrichte, ſchrecken ſtets von Neuem zurück vor der unbeſtimmten
Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geſchaffen iſt, die
jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältniſſe ſelbſt rufen:


Hic Rhodus, hic salta!

Hier iſt die Roſe, hier tanze!

Jeder erträgliche Beobachter übrigens, ſelbſt wenn er nicht Schritt vor
Schritt dem Gang der franzöſiſchen Entwicklung gefolgt war, mußte ahnen,
daß der Revolution eine unerhörte Blamage bevorſtehe. Es genügte das
ſelbſtgefällige Siegsgekläffe zu hören, womit die Herren Demokraten ſich wech¬
ſelweis zu den Gnadenwirkungen des 2. Mai 1852 beglückwünſchten. Der
2. Mai 1852 war in ihren Köpfen zur fixen Idee geworden, zum Dogma,
wie der Tag, an dem Chriſtus wiedererſcheinen und das tauſendjährige Reich
beginnen ſollte, in den Köpfen der Chiliaſten. Die Schwäche hatte ſich wie
immer in den Wunderglauben gerettet, glaubte den Feind überwunden, wenn
ſie ihn in der Phantaſie weghexte, und verlor alles Verſtändniß der Gegen¬
wart über der thatloſen Verhimmelung der Zukunft, die ihr bevorſtehe, und
der Thaten, die ſie in petto habe, aber nur noch nicht an den Mann bringen
wolle. Jene Helden, die ihre bewieſene Unfähigkeit dadurch zu widerlegen
ſuchen, daß ſie ſich wechſelſeitig ihr Mitleiden ſchenken und ſich zu einem
Haufen zuſammenthun, hatten ihre Bündel geſchnürt, ſtrichen ihre Lorbeer¬
kronen auf Vorſchuß ein und waren eben damit beſchäftigt, auf dem Wechſel¬
markt die Republiken in partibus diskontiren zu laſſen, für die ſie bereits in
aller Stille ihres anſpruchsloſen Gemüths das Regierungsperſonal vorſorg¬
lich organiſirt hatten. Der 2. Dezember traf ſie wie ein Blitzſtrahl aus
heiterm Himmel, und die Völker, die in Epochen kleinmüthiger Verſtimmung
ſich gern ihre innere Angſt von den lauteſten Schreiern übertäuben laſſen,
werden ſich vielleicht überzeugt haben, daß die Zeiten vorüber ſind, wo das
Geſchnatter von Gänſen das Kapitol retten konnte.


Die Konſtitution, die Nationalverſammlung, die dynaſtiſchen Partheien,
die blauen und die rothen Republikaner, die Helden von Afrika, der Donner
der Tribüne, das Wetterleuchten der Tagespreſſe, die geſammte Literatur, die
politiſchen Namen und die geiſtigen Renomméen, das bürgerliche Geſetz und
das peinliche Recht, die liberté, égalité, fraternité und der 2. Mai 1852
[6] Alles iſt verſchwunden wie eine Phantasmagorie vor der Bannformel eines
Mannes, den ſeine Feinde ſelbſt für keinen Hexenmeiſter ausgeben. Das
allgemeine Wahlrecht ſcheint nur einen Augenblick überlebt zu haben, damit es
eigenhändig vor den Augen aller Welt ſein Teſtament mache und im Namen
des Volkes ſelbſt erkläre: Alles was beſteht, iſt werth, daß es zu Grunde geht.


Es genügt nicht zu ſagen, wie die Franzoſen thun, daß ihre Nation
überraſcht worden ſei. Einer Nation und einer Frau wird die unbewachte
Stunde nicht verziehen, worin der erſte beſte Abenteurer ihnen Gewalt anthun
konnte. Das Räthſel wird durch dergleichen Wendungen nicht gelöſt, ſondern
nur anders formulirt. Es bliebe zu erklären, wie eine Nation von 36 Millio¬
nen durch drei Induſtrieritter überraſcht und widerſtandslos in die Gefan¬
genſchaft abgeführt werden kann.


Rekapituliren wir in allgemeinen Zügen die Phaſen, die die franzö¬
ſiſche Revolution vom 24. Februar 1848 bis zum Dezember 1851 durch¬
laufen hat.


Drei Hauptperioden ſind unverkennbar: die Februarperiode;
4. Mai 1848 bis zum 29. Mai 1849: Periode der Konſtituirung
der Republik
oder der konſtituirenden Nationalverſamm¬
lung
; 29. Mai 1849 bis zum 2. Dezember 1851. Periode kon¬
ſtitutionellen Republik
oder der legislativen Nationalver¬
ſammlung
.


Die erſte Periode vom 24. Februar oder dem Sturze Louis
Philipps bis zum 4. Mai 1848, dem Zuſammentritt der konſtituirenden Ver¬
ſammlung, die eigentliche Februarperiode, kann als der Prolog der
Revolution bezeichnet werden. Ihr Charakter ſprach ſich offiziell darin aus,
daß die von ihr improviſirte Regierung ſich ſelbſt für proviſoriſch erklärte,
und wie die Regierung gab Alles, was in dieſer Periode angeregt, verſucht,
ausgeſprochen wurde, ſich für nur proviſoriſch aus. Niemand und Nichts
wagte das Recht des Beſtehens und der wirklichen That für ſich in Anſpruch
zu nehmen. Alle Elemente, die die Revolution vorbereitet oder beſtimmt
hatten, dynaſtiſche Oppoſition, republikaniſche Bourgeoiſie, demokratiſch¬
republikaniſches Kleinbürgerthum, ſozial-demokratiſches Arbeiterthum fanden
proviſoriſch ihren Platz in der Februar-Regierung.


Es konnte nicht anders ſein. Die Februartage bezweckten urſprünglich
eine Wahlreform, wodurch der Kreis der politiſch Privilegirten unter der
beſitzenden Klaſſe ſelbſt erweitert, und die ausſchließliche Herrſchaft der
[7] Finanzariſtokratie geſtürzt werden ſollte. Als es aber zum wirklichen Konflikt
kam, das Volk auf die Barrikaden ſtieg, die Nationalgarde ſich paſſiv verhielt,
die Armee keinen ernſtlichen Widerſtand leiſtete und das Königthum davonlief,
ſchien ſich die Republik von ſelbſt zu verſtehn. Jede Partei deutete ſie in
ihrem Sinn. Von dem Proletariat die Waffen in der Hand ertrotzt, prägte
es ihr ſeinen Stempel auf und proklamirte ſie als ſoziale Republik.
So wurde der allgemeine Inhalt der modernen Revolution angedeutet, der
in ſonderbarſtem Widerſpruch ſtand zu Allem, was mit dem vorliegenden
Material, mit der erreichten Bildungsſtufe der Maſſe, unter den gegebenen
Umſtänden und Verhältniſſen zunächſt unmittelbar in's Werk geſetzt werden
konnte. Andrerſeits wurde der Anſpruch aller übrigen Elemente, die zur
Februarrevolution mitgewirkt hatten, anerkannt in dem Löwenantheil, den ſie
an der Regierung erhielten. In keiner Periode finden wir daher ein bunte¬
res Gemiſch von überfliegenden Phraſen und thatſächlicher Unſicherheit und
Unbeholfenheit, von enthuſiaſtiſcherem Neuerungsſtreben und von gründliche¬
rer Herrſchaft der alten Routine, von mehr ſcheinbarer Harmonie der ganzen
Geſellſchaft und von tieferer Entfremdung ihrer Elemente. Während das
Pariſer Proletariat noch in dem Anblick der großen Perſpektive, die ſich ihm
eröffnet hatte, ſchwelgte und ſich in ernſtgemeinte Diskuſſionen über die
ſozialen Probleme erging, hatten ſich die alten Mächte der Geſellſchaft grup¬
pirt, geſammelt, beſonnen und fänden eine unerwartete Stütze an der
Maſſe der Nation, den Bauern und Kleinbürgern, die alle auf einmal auf
die politiſche Bühne ſtürzten, nachdem die Barrieren der Julimonarchie ge¬
fallen waren.


Die zweite Periode vom 4. Mai 1848 bis Ende Mai 1849 iſt
die Periode der Konſtituirung, der Begründung der bürger¬
lichen Republik
. Unmittelbar nach den Februartagen war nicht nur die
dynaſtiſche Oppoſition überraſcht worden durch die Republikaner, die Re¬
publikaner durch die Sozialiſten, ſondern ganz Frankreich durch Paris. Die
Nationalverſammlung, die am 4. Mai 1848 zuſammentrat, aus den Wahlen
der Nation hervorgegangen, repräſentirte die Nation. Sie war ein leben¬
diger Proteſt gegen die Zumuthungen der Februartage und ſollte die Reſul¬
tate der Revolution auf den bürgerlichen Maßſtab zurückführen. Vergebens
verſuchte das Pariſer Proletariat, das den Charakter dieſer Nationalver¬
ſammlung ſofort begriff, wenige Tage nach ihrem Zuſammentritt, am 15. Mai,
ihre Exiſtenz, gewaltſam wegzuleugnen, ſie aufzulöſen, die organiſche Geſtalt,
[8] worin der reagirende Geiſt der Nation es bedrohte, wieder in ihre einzelnen
Beſtandtheile zu zerſtreuen. Der 15. Mai hatte bekanntlich kein anderes Re¬
ſultat, als Blanqui und Genoſſen, d. h. die wirklichen Führer der proleta¬
riſchen Partei, für die ganze Dauer des Cyklus, den wir betrachten, vom
öffentlichen Schauplatz zu entfernen.


Auf die bürgerliche Monarchie Louis Philipps kann nur die
bürgerliche Republik folgen, d.h. wenn unter dem Namen des Königs
ein beſchränkter Theil der Bourgeoiſie geherrſcht hat, ſo wird jetzt im Namen
des Volks die Geſammtheit der Bourgeoiſie herrſchen. Die Forderungen des
Pariſer Proletariats ſind utopiſtiſche Flauſen, womit geendet werden muß.
Auf dieſe Erklärung der konſtituirenden Nationalverſammlung antwortete
das Pariſer Proletariat mit der Juni-Inſurrektion, dem koloſſalſten
Ereigniß in der Geſchichte der europäiſchen Bürgerkriege. Die bürgerliche
Republik ſiegte. Auf ihrer Seite ſtand die Finanzariſtokratie, die induſtrielle
Bourgeoiſie, der Mittelſtand, die Kleinbürger, die Armee, das als Mobil¬
garde organiſirte Lumpenproletariat, die geiſtigen Kapacitäten, die Pfaffen
und die Landbevölkerung. Auf der Seite des Pariſer Proletariats ſtand
Niemand als es ſelbſt. Ueber 3000 Inſurgenten wurden niedergemetzelt
nach dem Siege, 15000 ohne Urtheil transportirt. Mit dieſer Niederlage
tritt das Proletariat in den Hintergrund der revolutionären Bühne.
Es verſucht ſich jedesmal wieder vorzudrängen, ſobald die Bewegung einen
neuen Anlauf zu nehmen ſcheint, aber mit immer ſchwächerem Kraftaufwand
und ſtets geringerem Reſultat. Sobald eine der höher über ihm liegenden
Geſellſchaftsſchichten in revolutionäre Gährung geräth, geht es eine Verbin¬
dung mit ihr ein und theilt ſo alle Niederlagen, die die verſchiedenen Par¬
teien nach einander erleiden. Aber dieſe nachträglichen Schläge ſchwächen
ſich immer mehr ab, je mehr ſie ſich auf die ganze Oberfläche der Geſellſchaft
vertheilen. Seine bedeutenderen Führer in der Verſammlung und in der
Preſſe fallen der Reihe nach den Gerichten als Opfer und immer zweideutigere
Figuren treten an ſeine Spitze. Zum Theil wirft es ſich auf doktrinäre
Experimente
, Tauſchbanken und Arbeiter-Aſſoziationen,
alſo in eine Bewegung, worin es darauf verzichtet, die
alte Welt mit ihren eigenen großen Geſammtmitteln um¬
zuwälzen
, vielmehr hinter dem Rücken der Geſellſchaft,
auf Privatweiſe, innerhalb ſeiner beſchränkten Exiſtenz¬
bedingungen
, ſeine Erlöſung zu vollbringen ſucht, alſo
[9] nothwendig ſcheitert
. Es ſcheint weder in ſich ſelbſt die revolutionäre
Größe wiederfinden, noch aus den neu eingegangenen Verbindungen neue
Energie gewinnen zu können, bis alle Klaſſen, womit es im Juni ge¬
kämpft, neben ihm ſelbſt platt darniederliegen. Aber wenigſtens erliegt es
mit den Ehren des großen weltgeſchichtlichen Kampfes; nicht nur Frankreich,
ganz Europa zittert vor dem Junierdbeben, während die nachfolgenden Nieder¬
lagen der höhern Klaſſen ſo wohlfeil erkauft werden, daß ſie der frechen
Uebertreibung von Seiten der ſiegenden Partei bedürfen, um überhaupt als
Ereigniſſe paſſiren zu können, und um ſo ſchmachvoller werden, je weiter die
unterliegende Partei von der proletariſchen entfernt iſt.


Die Niederlage der Juniinſurgenten hatte nun allerdings das Terrain
vorbereitet, geebnet, worauf die bürgerliche Republik begründet, aufgeführt
werden konnte; aber ſie hatte zugleich gezeigt, daß es ſich in Europa um andre
Fragen handelt, als „um Republik oder Monarchie.“ Sie hatte offen¬
bart, daß bürgerliche Republik hier die uneingeſchränkte Despotie
einer Klaſſe über andre Klaſſen bedeute. Sie hatte bewieſen, daß in alt¬
ziviliſirten Ländern mit entwickelter Klaſſenbildung, mit modernen Produktions¬
bedingungen und mit einem geiſtigen Bewußtſein, worin alle überlieferten
Ideen durch Jahrhundert lange Arbeit aufgelöſ't ſind, die Republik über¬
haupt nur die politiſche Umwälzungsform der bürger¬
lichen Geſellſchaft
bedeutet und nicht ihre konſervative Lebens¬
form
, wie z. B. in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo zwar
ſchon Klaſſen beſtehn, aber ſich noch nicht fixrirt haben, ſondern in beſtändigem
Fluſſe fortwährend ihre Beſtandtheile wechſeln und an einander abtreten, wo
die modernen Produktionsmittel, ſtatt mit einer ſtagnanten Uebervölkerung
zuſammenzufallen, vielmehr den relativen Mangel an Köpfen und Händen
erſetzen, und wo endlich die fieberhaft jugendliche Bewegung der materiellen
Produktion, die eine neue Welt ſich anzueignen hat, weder Zeit noch Gelegen¬
heit ließ, die alte Geiſterwelt abzuſchaffen.


Alle Klaſſen und Parteien hatten ſich während der Junitage zur Par¬
tei der Ordnung
vereint gegenüber der proletariſchen Klaſſe, als der
Partei der Anarchie, des Sozialismus, des Kommunismus. Sie
hatten die Geſellſchaft „gerettet“ gegen „die Feinde der Geſell¬
ſchaft
.“ Sie hatten die Stichworte der alten Geſellſchaft, „Eigenthum,
Familie, Religion, Ordnung,“ als Parole unter ihr Heer ausge¬
theilt und der kontrerevolutionären Kreuzfahrt zugerufen: „Unter dieſem
[10] Zeichen wirſt du ſiegen!“ Von dieſem Augenblick, ſobald eine der zahlreichen
Parteien, die ſich unter dieſem Zeichen gegen die Juniinſurgenten geſchaart
hatten, in ihrem eigenen Klaſſenintereſſe den revolutionären Kampfplatz zu
behaupten ſucht, unterliegt ſie vor dem Rufe: „Eigenthum, Familie, Religion,
Ordnung.“ Die Geſellſchaft wird eben ſo oft gerettet, als ſich der Kreis
ihrer Herrſcher verengt, als ein exkluſiveres Intereſſe dem weiteren gegenüber
behauptet wird. Jede Forderung der einfachſten bürgerlichen Finanzreform,
des ordinärſten Liberalismus, des formalſten Republikanerthums, der platte¬
ſten Demokratie, wird gleichzeitig als „Attentat auf die Geſellſchaft“ beſtraft
und als „Sozialismus“ gebrandmarkt. Und ſchließlich werden die Hohen¬
prieſter der „Religion und Ordnung“ ſelbſt mit Fußtritten von ihren Pythia¬
ſtühlen verjagt, bei Nacht und Nebel aus ihren Betten geholt, in Zellenwagen
geſteckt, in Kerker geworfen oder in's Exil geſchickt, ihr Tempel wird der Erde
gleich gemacht, ihr Mund wird verſiegelt, ihre Feder zerbrochen, ihr Geſetz
zerriſſen, im Namen der Religion, des Eigenthums, der Familie, der Ordnung.
Ordnungsfanatiſche Bourgeois auf ihren Balkonen werden von beſoffenen Sol¬
datenhaufen zuſammengeſchoſſen, ihr Familienheiligthum wird entweiht, ihre
Häuſer werden zum Zeitvertreib bombardirt — im Namen des Eigenthums, der
Familie, der Religion und der Ordnung. Der Auswurf der bürgerlichen
Geſellſchaft bildet ſchließlich die heilige Phalanx der Ordnung und
Held Crapülinsky zieht in die Tuilerien ein als „Retter der Geſell¬
ſchaft
.“

II.

Nehmen wir den Faden der Entwicklung wieder auf.


Die Geſchichte der konſtituirenden Nationalverſammlung
ſeit den Junitagen iſt die Geſchichte der Herrſchaft und der Auf¬
löſung der republikaniſchen Bourgeois-Fraktion
, jener
Fraktion, die man unter dem Namen trikolore Republikaner, reine Republi¬
kaner, politiſche Republikaner, formaliſtiſche Republikaner u. ſ. w. kennt.


Sie hatte unter der bürgerlichen Monarchie Louis Philipps die offi¬
zielle
republikaniſche Oppoſition und daher einen anerkannten Be¬
ſtandtheil der damaligen politiſchen Welt gebildet. Sie beſaß ihre Vertreter
in den Kammern und in der Preſſe einen bedeutenden Wirkungskreis. Ihr
Pariſer Organ, der “National”, galt in ſeiner Weiſe für ebenſo reſpektabel
[11] als das „Journal des Débats“. Dieſer Stellung unter der konſtitutionellen
Monarchie entſprach ihr Charakter. Es war dies keine durch große gemein¬
ſame Intereſſen zuſammengehaltene und durch eigenthümliche Produktionsbe¬
dingungen abgegrenzte Fraktion der Bourgeoiſie. Es war eine Koterie
von republikaniſch geſinnten Bourgeois, Schriftſtellern, Advokaten, Offi¬
zieren und Beamten, deren Einfluß auf den perſönlichen Antipathien des
Landes gegen Louis Philipp, auf Erinnerungen an die alte Republik, auf
dem republikaniſchen Glauben einer Anzahl von Schwärmern, vor Allem aber
auf dem franzöſiſchen Nationalismus beruhte, deſſen Haß gegen
die Wiener Verträge und gegen die Allianz mit England ſie fortwährend
wach hielt. Einen großen Theil des Anhangs, den der „National“ unter
Louis Philipp beſaß, ſchuldete er dieſem verſteckten Imperialismus, der ihm
daher ſpäter unter der Republik als ein vernichtender Konkurrent in der Perſon
Louis Bonaparte's gegenüber treten konnte. Die Finanzariſtokratie bekämpfte
er, wie die ganze übrige bürgerliche Oppoſition es that. Die Polemik gegen
das Budget, die in Frankreich genau mit der Bekämpfung der Finanzariſto¬
kratie zuſammenhing, verſchaffte eine zu wohlfeile Popularität und zu reich¬
haltigen Stoff zu puritaniſchen leading articles, um nicht ausgebeutet zu
werden. Die induſtrielle Bourgeoiſie war ihm dankbar für ſeine ſklaviſche
Vertheidigung des franzöſiſchen Schutzzollſyſtems, das er indeß auf mehr
nationale als nationalökonomiſche Gründe hin aufnahm, die Geſammt¬
bourgeoiſie für ſeine gehäſſigen Denunciationen des Kommunismus und
Sozialismus. Im Uebrigen war die Partei des „Nationalrein republi¬
kaniſch
, d. h. ſie verlangte eine republikaniſche ſtatt einer monarchiſchen
Form der Bourgeois–Herrſchaft und vor Allem ihren Löwenantheil an dieſer
Herrſchaft. Ueber die Bedingungen dieſer Umwandlung war ſie ſich durch¬
aus nicht klar. Was ihr dagegen ſonnenklar war und auf den Reform-Ban¬
ketten in der letzten Zeit Louis Philipps öffentlich erklärt wurde, war ihre
Unpopularität bei den demokratiſchen Kleinbürgern und insbeſondere bei dem
revolutionären Proletariat. Dieſe reinen Republikaner, wie reine Republi¬
kaner denn ſind, ſtanden auch ſchon auf dem Sprunge, ſich zunächſt mit einer
Regentſchaft der Herzogin von Orleans zu begnügen, als die Februarrevo¬
lution ausbrach und ihren bekannteſten Vertretern einen Platz in der provi¬
ſoriſchen Regierung anwies. Sie beſaßen natürlich von vornherein das Ver¬
trauen der Bourgeoiſie und die Majorität der konſtituirenden Nationalver¬
ſammlung. Aus der Exekutiv–Commiſſion, welche die Nationalverſammlung
[12] bei ihrem Zuſammentritt bildete, wurden ſofort die ſozialiſtiſchen Elemente
der proviſoriſchen Regierung ausgeſchloſſen und die Partei des “National
benutzte den Ausbruch der Juniinſurrektion, um auch die Exekutiv-Com¬
miſſion abzudanken und damit ihre nächſten Rivalen, die kleinbürger¬
lichen oder demokratiſchen Republikaner (Ledru-Rollin u. ſ. w.)
los zu werden. Cavaignac, der General der bourgeois-republikaniſchen Par¬
tei, der die Juniſchlacht kommandirte, trat an die Stelle der Exekutiv-Com¬
miſſion mit einer Art diktatoriſcher Gewalt. Marraſt, ehemaliger Redakteur
en chef des “National“, wurde der perpetuirliche Präſident der konſtituirenden
Nationalverſammlung und die Miniſterien, wie ſämmtliche übrigen bedeuten¬
den Poſten, fielen den reinen Republikanern anheim.


Die republikaniſche Bourgeois-Fraktion, die ſich ſeit lange als legitime
Erbin der Julimonarchie betrachtet hatte, fand ſich ſo in ihrem Ideal über¬
troffen, aber ſie gelangte zur Herrſchaft, nicht wie ſie unter Louis Philipp
geträumt hatte, durch eine liberale Revolte der Bourgeoiſie gegen den Thron,
ſondern durch eine niederkartätſchte Emeute des Proletariats gegen das Kapi¬
tal. Was ſie als das revolutionärſte Ereigniß ſich vorgeſtellt hatte,
trug ſich in der Wirklichkeit zu als das kontrerevolutionärſte. Die
Frucht fiel ihr in den Schooß, aber ſie fiel vom Baum der Erkenntniß, nicht
vom Baum des Lebens.


Die ausſchließliche Herrſchaft der Bourgeois-Republika¬
ner währte nur vom 24. Juni bis zum 10. Dezember 1848. Sie reſü¬
mirt ſich in der Abfaſſung einer republikaniſchen Konſtitution
und im Belagerungszuſtand von Paris.


Die neue Konſtitution war im Grunde nur die republikaniſirte
Ausgabe der konſtitutionellen Charte von 1830. Der enge Wahlcenſus der
Julimonarchie, der ſelbſt einen großen Theil der Bourgeoiſie von der poli¬
tiſchen Herrſchaft ausſchloß, war unvereinbar mit der Exiſtenz der bürger¬
lichen Republik. Die Februarrevolution hatte ſofort an der Stelle dieſes
Cenſus das direkte allgemeine Wahlrecht proklamirt. Die Bourgeois-Re¬
publikaner konnten dieſes Ereigniß nicht ungeſchehn machen. Sie mußten ſich
damit begnügen, die beſchränkende Beſtimmung eines ſechsmonatlichen Domi¬
zils am Wahlorte hinzuzufügen. Die alte Organiſation der Verwaltung,
des Gemeindeweſens, der Rechtspflege, der Armee u. ſ. w. blieb unverſehrt
beſtehen, oder wo die Konſtitution ſie änderte, betraf die Aenderung das In¬
haltsregiſter, nicht den Inhalt, den Namen, nicht die Sache.


[13]

Der unvermeidliche Generalſtab der Freiheiten von 1848, perſönliche
Freiheit, Preß-, Rede-, Aſſoziations-, Verſammlungs-, Lehr- und Religions-
Freiheit u. ſ. w., erhielt eine konſtitutionelle Uniform, die ſie unverwundbar
machte. Jede dieſer Freiheiten wird nämlich als das unbedingte Recht
des franzöſiſchen Citoyen proklamirt, aber mit der beſtändigen Randgloſſe,
daß ſie ſchrankenlos ſei, ſo weit ſie nicht durch die „gleichen Rechte An¬
derer
und die öffentliche Sicherheit“ beſchränkt werde, oder durch
„Geſetze“, die eben dieſe Harmonie der individuellen Freiheiten unter einan¬
der und mit der öffentlichen Sicherheit vermitteln ſollen. Z. B.: „die Bür¬
ger haben das Recht ſich zu aſſoziren, ſich friedlich und unbewaffnet zu ver¬
ſammeln, zu petitioniren und ihre Meinungen durch die Preſſe oder wie ſonſt
immer auszudrücken. Der Genuß dieſer Rechte hat keine an¬
dere Schranke
, als die gleichen Rechte Andrer und die
öffentliche Sicherheit
.“ (Kap. II. der franzöſiſchen Konſtitution, §. 8.)
— „Der Unterricht iſt frei. Die Freiheit des Unterrichts ſoll genoſſen
werden unter den vom Geſetze fixirten Bedingungen und unter der Oberauf¬
ſicht des Staats.“ (A. a. O. §. 9.) — „Die Wohnung jedes Bürgers iſt
unverletzlich außer in den vom Geſetz vorgeſchriebenen Formen.“ (Kap. I.
§. 3.) U. ſ. w., u. ſ. w. — Die Konſtitution weiſt daher beſtändig auf
zukünftige organiſche Geſetze hin, die jene Randgloſſen ausführen und
den Genuß dieſer unbeſchränkten Freiheiten ſo reguliren ſollen, daß ſie weder
unter einander, noch mit der öffentlichen Sicherheit anſtoßen. Und ſpäter
ſind dieſe organiſchen Geſetze von den Ordnungsfreunden in's Leben gerufen
und alle jene Freiheiten ſo regulirt worden, daß die Bourgeoiſie in deren
Genuß an den gleichen Rechten der andern Klaſſen keinen Anſtoß findet.
Wo ſie „den Andern“ dieſe Freiheiten ganz unterſagt oder ihren Genuß un¬
ter Bedingungen erlaubt, die eben ſo viele Polizei-Fallſtricke ſind, geſchah
dies immer nur im Intereſſe der „öffentlichen Sicherheit,“ d. h.
der Sicherheit der Bourgeoiſie, wie die Konſtitution vorſchreibt. Beide Seiten
berufen ſich daher in der Folge mit vollem Recht auf die Konſtitution, ſowohl
die Ordnungsfreunde, die alle jene Freiheiten aufhoben, wie die Demokraten,
die ſie alle heraus verlangten. Jeder Paragraph der Konſtitution enthält
nämlich ſeine eigene Antitheſe, ſein eignes Ober- und Unterhaus in ſich, näm¬
lich in der allgemeinen Phraſe die Freiheit, in der Randgloſſe die Aufhebung
der Freiheit. So lange alſo der Name der Freiheit reſpektirt und nur die
wirkliche Ausführung derſelben verhindert wurde, auf geſetzlichem Wege
[14] verſteht ſich, blieb das konſtitutionelle Daſein der Freiheit unverſehrt,
unangetaſtet, mochte ihr gemeines Daſein noch ſo ſehr todtgeſchlagen ſein.


Dieſe auf ſo ſinnige Weiſe unverletzlich gemachte Konſtitution war indeß
wie Achilles an einem Punkte verwundbar, nicht an der Ferſe, aber am
Kopfe oder vielmehr an den zwei Köpfen, worin ſie ſich verlief, — geſetz¬
gebende Verſammlung einerſeits, Präſident andrerſeits. Man
durchfliege die Konſtitution, und man wird finden, daß nur die Paragraphen,
worin das Verhältniß des Präſidenten zur geſetzgebenden Verſammlung be¬
ſtimmt wird, abſolut, poſitiv, widerſpruchslos, unverdrehbar ſind. Hier galt
es nämlich für die Bourgeois-Republikaner, ſich ſelbſt ſicher zu ſtellen.
§§. 4570 der Konſtitution ſind ſo abgefaßt, daß die Nationalverſammlung
den Präſidenten konſtitutionell, der Präſident die Nationalverſammlung nur
inkonſtitutionell beſeitigen kann, nur indem er die Konſtitution ſelbſt beſeitigt.
Hier fordert ſie alſo ihre gewaltſame Vernichtung heraus. Sie heiligt nicht
nur wie die Charte von 1830 die Theilung der Gewalten, ſie erweitert ſie
bis zum unerträglichen Widerſpruch. Das Spiel der konſtitutionel¬
len Gewalten
, wie Guizot den parlamentariſchen Krakehl zwiſchen geſetz¬
gebender und vollziehender Gewalt nannte, ſpielt in der Konſtitution von
1848 beſtändig va banque. Auf der einen Seite 750 durch allgemeines
Stimmrecht gewählte und wieder wählbare Volksrepräſentanten, die eine un¬
kontrollirbare, unauflösbare, untheilbare Nationalverſammlung bilden, eine
Nationalverſammlung, welche geſetzgeberiſche Allmacht genießt, über Krieg,
Frieden und Handelsverträge in letzter Inſtanz entſcheidet, allein das Recht der
Amneſtie beſitzt, und durch ihre Permanenz unaufhörlich den Vordergrund der
Bühne behauptet. Andrerſeits der Präſident, mit allen Attributen der könig¬
lichen Macht, mit der Befugniß, ſeine Miniſter unabhängig von der
Nationalverſammlung ein- und abzuſetzen, mit allen Mitteln der exekutiven
Gewalt in ſeinen Händen, alle Stellen vergebend und d. h. in Frankreich
wenigſtens über Millionen Exiſtenzen entſcheidend, denn ſo viel hängen
an den 500,000 Beamten und an den Offizieren aller Grade. Er hat die
ganze bewaffnete Macht hinter ſich. Er genießt das Privilegium, einzelne
Verbrecher zu begnadigen, Nationalgarden zu ſuspendiren, die von den Bür¬
gern ſelbſt erwählten General–, Kantonal– und Gemeinderäthe im Ein¬
verſtändniß mit dem Staatsrath abzuſetzen. Initiative und Leitung aller Ver¬
träge mit dem Ausland ſind ihm vorbehalten. Während die Verſammlung
beſtändig auf den Brettern ſpielt und dem kritiſch gemeinen Tageslicht
[15] ausgeſetzt iſt, führt er ein verborgenes Leben in den elyſeiſchen Gefilden
und zwar mit Artikel 45 der Konſtitution vor Augen und im Herzen, der
ihm täglich zuruft: “frère, il faut mourir!” Deine Macht hört auf am
zweiten Sonntag des ſchönen Monats Mai im vierten Jahr deiner Wahl!
Dann iſt die Herrlichkeit am Ende, das Stück ſpielt nicht zweimal, und wenn
du Schulden haſt, ſiehe bei Zeiten zu, daß du ſie mit den dir von der Kon¬
ſtitution ausgeworfenen 600,000 Franken abzahlſt, ziehſt du nicht etwa vor,
am zweiten Montag des ſchönen Monats Mai nach Clichy zu wandern! —
Wenn die Konſtitution ſo dem Präſidenten die faktiſche Gewalt beilegt, ſucht
ſie der Nationalverſammlung die moraliſche Macht zu ſichern. Abgeſehn
davon, daß es unmöglich iſt, durch Geſetzesparagraphen eine moraliſche Macht
zu ſchaffen, hebt die Konſtitution ſich hierin wieder ſelbſt auf, indem ſie den
Präſidenten von allen Franzoſen durch direktes Stimmrecht wählen läßt.
Während die Stimmen Frankreichs ſich auf die 750 Mitglieder der National¬
verſammlung zerſplittern, konzentriren ſie ſich dagegen hier auf Ein Indivi¬
duum. Während jeder einzelne Volksrepräſentant nur dieſe oder jene Partei,
dieſe oder jene Stadt, dieſen oder jenen Brückenkopf oder auch nur die Noth¬
wendigkeit vertritt, einen beliebigen Siebenhundertundfünfzigſten zu wählen,
bei dem man ſich weder die Sache noch den Mann ſo genau anſieht, iſt Er
der Erwählte der Nation und der Akt ſeiner Wahl iſt der große Trumpf, den
das ſouveräne Volk alle 4 Jahre einmal ausſpielt. Die erwählte National¬
verſammlung ſteht in einem metaphyſiſchen, aber der erwählte Präſident in
einem perſönlichen Verhältniß zur Nation. Die Nationalverſammlung ſtellt
wohl in ihren einzelnen Repräſentanten die mannigfaltigen Seiten des
Nationalgeiſtes dar, aber in dem Präſidenten inkarnirt er ſich. Er beſitzt
ihr gegenüber eine Art von göttlichem Recht, er iſt von Volkesgnaden.


Thetis, die Meergöttin, hatte dem Achilles prophezeit, daß er in der
Blüthe der Jugend ſterben werde. Die Konſtitution, die ihren faulen Fleck
hat, wie Achilles, hatte auch ihre Ahnung, wie Achilles, daß ſie frühen Todes
abgehn müſſe. Es genügte den konſtituirenden reinen Republikanern, einen
Blick aus dem Wolkenhimmel ihrer idealen Republik auf die profane Welt
zu werfen, um zu erkennen, wie der Uebermuth der Royaliſten, der Bonapar¬
tiſten, der Demokraten, der Kommuniſten, und ihr eigner Mißkredit täglich
ſtiegen, in demſelben Maße, als ſie ſich der Vollendung ihres großen geſetz¬
geberiſchen Kunſtwerks näherten, ohne daß Thetis deshalb das Meer zu ver¬
laſſen und ihnen das Geheimniß mitzutheilen brauchte. Sie ſuchten das Ver¬
[16] hängniß konſtitutionell-pfiffig zu überliſten durch §. 111 der Konſtitution,
wonach jeder Vorſchlag zur Reviſion der Verfaſſung in drei ſucces¬
ſiven Debatten, zwiſchen denen immer ein ganzer Monat zu liegen hat, von
wenigſtens ¾ der Stimmen votirt werden muß, vorausgeſetzt noch, daß nicht
weniger als 500 Mitglieder der Nationalverſammlung ſtimmen. Sie machten
damit nur den ohnmächtigen Verſuch, noch als parlamentariſche Minorität,
als welche ſie ſich ſchon prophetiſch im Geiſte erblickten, eine Macht auszu¬
üben, die in dieſem Augenblicke, wo ſie über die parlamentariſche Majorität
verfügten und über alle Mittel der Regierungsgewalt, täglich mehr ihren
ſchwachen Händen entſchlüpfte.


Endlich vertraut die Konſtitution, in einem melodramatiſchen Para¬
graphen, ſich ſelbſt „der Wachſamkeit und dem Patriotismus des ganzen
franzöſiſchen Volkes wie jedes einzelnen Franzoſen“ an, nachdem ſie vorher
ſchon in einem andern Paragraphen die „Wachſamen“ und „Patriotiſchen“
der zarten, hochnothpeinlichen Aufmerkſamkeit des eigens von ihr erfundenen
Hochgerichts, „haute cour“, anvertraut hatte.


Das war die Konſtitution von 1848, die am 2. Dezember 1851 nicht
von einem Kopfe umgeworfen wurde, ſondern vor der Berührung mit
einem bloßen Hute umfiel; allerdings war dieſer Hut ein dreieckiger Napo¬
leonshut.


Während die Bourgeois-Republikaner in der Verſammlung damit be¬
ſchäftigt waren, dieſe Konſtitution auszuſpintiſiren, zu diskutiren und zu
votiren, hielt Cavaignac außerhalb der Verſammlung den Belagerungs¬
zuſtand von Paris
aufrecht. Der Belagerungszuſtand von Paris war
der Geburtshelfer der Konſtituante bei ihren republikaniſchen Schöpfungs¬
wehen. Wenn die Konſtitution ſpäter durch Bajonette aus der Welt geſchafft
wird, ſo darf man nicht vergeſſen, daß ſie ebenfalls durch Bajonette, und
zwar gegen das Volk gekehrte, ſchon im Mutterleibe beſchützt und durch Bajo¬
nette auf die Welt geſetzt werden mußte. Die Vorfahren der „honetten Re¬
publikaner“ hatten ihr Symbol, die Trikolore, die Tour durch Europa machen
laſſen. Sie ihrerſeits machten auch eine Erfindung, die von ſelbſt den Weg
über den ganzen Kontinent fand, aber mit immer erneuter Liebe nach Frank¬
reich zurückkehrte, bis ſie jetzt in der Hälfte ſeiner Departements Bürgerrecht
erworben hat — den Belagerungszuſtand. Treffliche Erfindung,
periodiſch angewandt in jeder nachfolgenden Kriſe, im Laufe der franzöſiſchen
Revolution. Aber Kaſerne und Bivouak, die man ſo der franzöſiſchen
[17] Geſellſchaft periodiſch auf den Kopf legte, um ihr das Hirn zuſammenzupreſſen
und ſie zum ſtillen Mann zu machen; Säbel und Muskete, die man periodiſch
richten und verwalten, bevormunden und cenſiren, Polizei üben und Nacht¬
wächterdienſt verrichten ließ; Schnurrbart und Kommißrock, die man periodiſch
als höchſte Weisheit der Geſellſchaft und als Rektor der Geſellſchaft aus¬
poſaunte; — mußten Kaſerne und Bivouak, Säbel und Muskete, Schnurr¬
bart und Kommißrock nicht ſchließlich auf den Einfall kommen, lieber ein für
allemal die Geſellſchaft zu retten, indem ſie ihr eignes régime als das oberſte
ausriefen und die bürgerliche Geſellſchaft ganz von der Sorge befreiten, ſich
ſelbſt zu regieren? Kaſerne und Bivouak, Säbel und Muskete, Schurrbart und
Kommißrock mußten um ſo mehr auf dieſen Einfall kommen, als ſie dann
auch beſſere baare Zahlung für ihr erhöhtes Verdienſt erwarten konnten, wäh¬
rend bei dem blos periodiſchen Belagerungszuſtand und den vorübergehenden
Geſellſchaftsrettungen im Geheiß dieſer oder jener Bourgeois-Fraktion wenig
Solides abfiel außer einigen Todten und Verwundeten und einigen freund¬
lichen Bürgergrimaſſen. Sollte das Militär nicht endlich auch einmal in
ſeinem eignen Intereſſe und für ſein eignes Intereſſe Belagerungszuſtand
ſpielen und zugleich die bürgerlichen Börſen belagern? Man vergeſſe übrigens
nicht, im Vorbeigehn ſei es bemerkt, daß Oberſt Bernard, derſelbe
Militärkommiſſions-Präſident, der unter Cavaignac 15,000 Inſurgenten
zur Deportation ohne Urtheil verhalf, ſich in dieſem Augenblick wieder an der
Spitze der in Paris thätigen Militärkommiſſionen bewegt.


Wenn die honetten, die reinen Republikaner mit dem Belagerungszu¬
ſtand in Paris die Pflanzſchule angelegt, worin die Prätorianer des 2. De¬
zember 1851 groß wachſen ſollten, verdienen ſie dagegen das Lob, daß ſie,
ſtatt wie unter Louis Philipp das Nationalgefühl zu übertreiben, jetzt, wo
ſie über die nationale Macht geboten, vor dem Auslande kriechen und ſtatt
Italien frei zu machen, es von Oeſterreichern und Neapolitanern wieder¬
erobern laſſen. Louis Bonaparte's Wahl zum Präſidenten am 10. Dezem¬
ber 1848 machte der Diktatur Cavaignac's und der Konſtituante ein Ende.


In §. 44 der Konſtitution heißt es: „der Präſident der franzöſiſchen
Republik darf nie ſeine Eigenſchaft als franzöſiſcher Bürger verloren
haben.“ Der erſte Präſident der franzöſiſchen Republik, L. N. Bonaparte,
hatte nicht allein ſeine Eigenſchaft als franzöſiſcher Bürger verloren, war nicht
nur engliſcher Spezial-Konſtabler geweſen, er war ſogar ein naturaliſirter
Schweizer.


2[18]

Ich habe an einem andern Orte die Bedeutung der Wahl vom 10. De¬
zember entwickelt. Ich komme hier nicht darauf zurück. Es genügt hier
zu bemerken, daß ſie eine Reaktion der Bauern, die die Koſten der
Februarrevolution hatten zahlen müſſen, gegen die übrigen Klaſſen der Nation,
eine Reaktion des Landes gegen die Stadt war. Sie fand großen
Anklang in der Armee, der die Republikaner des „National“ keinen Ruhm
verſchafft hatten, noch Zulage, unter der großen Bourgeoiſie, die den Bonaparte
als Brücke zur Monarchie, unter den Proletariern und Kleinbürgern, die
ihn als Geißel für Cavaignac begrüßten. Ich werde ſpäter Gelegenheit
finden, auf das Verhältniß der Bauern zur franzöſiſchen Revolution näher
einzugehn.


Die Epoche vom 20. Dezember 1848 bis zur Auflöſung der Konſtitu¬
ante im Mai 1849 umfaßt die Geſchichte des Untergangs der Bourgeois-
Republikaner. Nachdem ſie eine Republik für die Bourgeoiſie gegründet,
das revolutionäre Proletariat von dem Terrain vertrieben und das demo¬
kratiſche Kleinbürgerthum einſtweilen zum Schweigen gebracht haben, werden
ſie ſelbſt von der Maſſe der Bourgeoiſie bei Seite geſchoben, die dieſe Re¬
publik mit Recht als ihr Eigenthum mit Beſchlag belegt. Dieſe
Bourgeois–Maſſe war aber royaliſtiſch. Ein Theil derſelben, die großen
Grundeigenthümer, hatte unter der Reſtauration geherrſcht und war
daher legitimiſtiſch. Der andre, die Finanzariſtokraten und großen
Induſtriellen, hatte unter der Julimonarchie geherrſcht und war daher orlea¬
niſtiſch
. Die Großwürdenträger der Armee, der Univerſität, der Kirche,
des Barreau's, der Akademie und der Preſſe vertheilten ſich auf beide Seiten,
wenn auch in verſchiedener Proportion. Hier in der bürgerlichen Republik, die
weder den Namen Bourbon noch den Namen Orleans trug, ſondern den
Namen Kapital, hatten ſie die Staatsform gefunden, worunter ſie gemein¬
ſam
herrſchen konnten. Schon die Juniinſurrektion hatte ſie zur „Partei der
Ordnung“ vereinigt. Jetzt galt es zunächſt, die Koterie der Bourgeois-Re¬
publikaner zu beſeitigen, die noch die Sitze der Nationalverſammlung inne
hielt. Eben ſo brutal, wie dieſe reinen Republikaner dem Volke gegenüber
die phyſiſche Gewalt mißbraucht hatten, ebenſo feig, kleinlaut, muthlos,
gebrochen, kampfunfähig wichen ſie jetzt zurück, wo es galt, der exekutiven
Gewalt und den Royaliſten gegenüber ihr Republikanerthum und ihr geſetz¬
geberiſches Recht zu behaupten. Ich habe hier nicht die ſchmähliche Geſchichte
ihrer Auflöſung zu erzählen. Es war ein Vergehen, kein Untergehen. Ihre
[19] Geſchichte hat für immer ausgeſpielt und in der folgenden Periode figuriren
ſie, ſei es innerhalb; ſei es außerhalb der Verſammlung, nur noch als Erin¬
nerungen, Erinnerungen, die wieder lebendig zu werden ſcheinen, ſobald es
ſich wieder um den bloßen Namen Republik handelt und ſo oft der revolutio¬
näre Konflikt auf das niedrigſte Niveau herabzuſinken droht. Ich bemerke im
Vorbeigehn, daß das Journal, welches dieſer Partei ihren Namen gab, der
National”, ſich in der folgenden Periode zum Sozialismus bekehrt.


Ehe wir mit dieſer Periode abſchließen, müſſen wir noch einen Rückblick auf
die beiden Mächte werfen, von denen die eine die andre am 2. Dezember 1851
vernichtet, während ſie vom 20. Dezember 1848 bis zum Abtritt der Konſtituante
in ehelichem Verhältniſſe lebten. Wir meinen Louis Bonaparte einerſeits
und die Partei der koaliſirten Royaliſten, der Ordnung, der großen Bourgeoiſie
andrerſeits. Beim Antritt ſeiner Präſidentſchaft bildete Bonaparte ſofort
ein Miniſterium der Partei der Ordnung, an deſſen Spitze er Odilon Bar¬
rot ſtellte, nota bene den alten Führer der liberalſten Fraktion der parlamen¬
tariſchen Bourgeoiſie. Herr Barrot hatte endlich das Miniſterium erjagt,
deſſen Geſpenſt ihn ſeit 1830 verfolgte, und noch mehr, die Präſidentſchaft
in dieſem Miniſterium; aber nicht, wie er ſich unter Louis Philipp einge¬
bildet, als der avancirteſte Chef der parlamentariſchen Oppoſition, ſon¬
dern mit der Aufgabe ein Parlament todt zu machen, und als Verbündeter
mit allen ſeinen Erzfeinden, Jeſuiten und Legitimiſten. Er führt endlich die
Braut heim, aber erſt nachdem ſie proſtituirt war. Bonaparte ſelbſt eklipſirte
ſich ſcheinbar vollſtändig. Jene Partei handelte für ihn.


Gleich im erſten Miniſterkonſeil wurde die Expedition nach Rom be¬
ſchloſſen, die man hinter dem Rücken der Nationalverſammlung auszuführen
und wofür man ihr die Mittel unter falſchem Vorwande zu entreißen über¬
einkam. So wurde begonnen mit einer Prellerei der Nationalverſammlung
und einer heimlichen Konſpiration mit den abſoluten Mächten des Auslandes
gegen die revolutionäre römiſche Republik. Bonaparte bereitete auf dieſelbe Weiſe
und durch dieſelben Manöver ſeinen Coup vom 2. Dezember gegen die roya¬
liſtiſche Legislative und ihre konſtitutionelle Republik vor. Vergeſſen wir nicht,
daß dieſelbe Partei, die am 20. Dezember 1848 Bonaparte's Miniſterium, am
2. Dezember 1851 die Majorität der legislativen Nationalverſammlung bildete.


Die Konſtituante hatte im Auguſt beſchloſſen, ſich erſt aufzulöſen,
nachdem ſie eine ganze Reihe organiſcher Geſetze, die die Konſtitution
ergänzen ſollten, ausgearbeitet und promulgirt habe. Die Ordnungspartei
2*[20] ließ ihr durch den Repräſentanten Rateau am 6. Januar 1849 vorſchlagen,
die organiſchen Geſetze laufen zu laſſen und vielmehr ihre eigene Auf¬
löſung zu beſchließen. Nicht nur das Miniſterium, Herr Odilon Barrot
an der Spitze, ſämmtliche royaliſtiſche Mitglieder der Nationalverſammlung
herrſchten ihr in dieſem Augenblicke zu, ihre Auflöſung ſei nothwendig zur
Herſtellung des Kredits, zur Konſolidirung der Ordnung, um dem unbe¬
ſtimmten Proviſorium ein Ende zu machen und einen definitiven Zuſtand zu
gründen, ſie hindre die Produktivität der neuen Regierung und ſuche ihr
Daſein blos aus Rancune zu friſten, das Land ſei ihrer müde. Bonaparte
merkte ſich alle dieſe Invektiven gegen die geſetzgebende Gewalt, lernte ſie
auswendig und bewies den parlamentariſchen Royaliſten am 2. Dezember
1851, daß er von ihnen gelernt habe. Er wiederholte ihre eignen Stich¬
worte gegen ſie.


Das Miniſterium Barrot und die Ordnungspartei gingen weiter. Sie
riefen Petitionen an die Nationalverſammlung in ganz
Frankreich hervor, worin dieſe freundlichſt gebeten wurde zu verſchwinden.
So führten ſie gegen die Nationalverſammlung, den konſtitutionell organiſir¬
ten Ausdruck des Volkes, ſeine unorganiſchen Maſſen ins Feuer. Sie lehr¬
ten Bonaparte von den parlamentariſchen Verſammlungen an das Volk
appelliren. Endlich am 29. Januar 1849 war der Tag gekommen, an dem
die Konſtituante über ihre eigne Auflöſung beſchließen ſollte. Die Nationalver¬
ſammlung fand ihr Sitzungsgebäude militäriſch beſetzt; Changarnier, der
General der Ordnungspartei, in deſſen Händen der Oberbefehl über National¬
garde und Linientruppen vereinigt war, hielt große Truppenſchau in Paris,
als wenn eine Schlacht bevorſtehe, und die koaliſirten Royaliſten erklärten der
Konſtituante drohend, daß man Gewalt anwenden werde, wenn ſie nicht
willig ſei. Sie war willig und marktete ſich nur noch eine ganz kurze Lebens¬
friſt aus. Was war der 29. Januar anders, als der Coup d'état vom
2. Dezember 1851, nur mit Bonaparte von den Royaliſten gegen die
republikaniſche Nationalverſammlung ausgeführt? Die Herren bemerkten
nicht oder wollten nicht merken, daß Bonaparte den 29. Januar 1849 be¬
nutzte, um einen Theil der Truppen vor den Tuilerien an ſich vorbeideſiliren
zu laſſen und gerade dies erſte öffentliche Aufgebot der Militärmacht gegen
die parlamentariſche Macht begierig aufgriff, um den Caligula anzudeuten.
Sie ſahen allerdings nur ihren Changainier.


Ein Motiv, das die Partei der Ordnung noch insbeſondere bewog, die
[21] Lebensdauer der Konſtituante gewaltſam abzukürzen, waren die organiſchen,
die Konſtitution ergänzenden Geſetze, wie das Unterrichtsgeſetz, Kultusge¬
ſetz u. f. w. Den koaliſirten Royaliſten lag alles daran, dieſe Geſetze ſelbſt
zu machen und nicht von den mißtrauiſch gewordenen Republikanern machen
zu laſſen. Unter dieſen organiſchen Geſetzen befand ſich indeß auch ein Ge¬
ſetz über die Verantwortlichkeit des Präſidenten der Republik. 1851 war die
legislative Verſammlung eben mit Abfaſſung eines ſolchen Geſetzes beſchäf¬
tigt, als Bonaparte dieſem Coup durch den Coup vom 2. Dezember zuvorkam.
Was hätten die koaliſirten Royaliſten in ihrem parlamentariſchen Winter¬
feldzug von 1851 darum gegeben, wenn ſie das Verantwortlichkeitsgeſetz
fertig vorgefunden und zwar verfaßt von einer mißtrauiſchen, gehäſſigen,
republikaniſchen Verſammlung!


Nachdem am 29. Januar 1849 die Konſtituante ihre letzte Waffe ſelbſt
zerbrochen hatte, hetzten das Miniſterium Barrot und die Ordnungsfreunde
ſie zu Tode, ließen Nichts ungeſchehn, was ſie demüthigen konnte, und trotz¬
ten ihrer an ſich ſelbſt verzweifelnden Schwäche Geſetze ab, die ſie den letzten
Reſt von Achtung bei dem Publikum koſteten. Bonaparte, mit ſeiner fixen
napoleoniſchen Idee beſchäftigt, war keck genug, dieſe Herabwürdigung der
parlamentariſchen Macht öffentlich zu exploitiren. Als nämlich die National¬
verſammlung am 8. Mai 1849 dem Miniſterium ein Tadelsvotum wegen
der Beſetzung Civita-Vecchia's durch Oudinot ertheilte und die römiſche
Expedition zu ihrem angeblichen Zweck zurückzuführen befahl, publizirte
Bonaparte denſelben Abend im Moniteur einen Brief an Oudinot, worin er
ihm zu ſeinen Heldenthaten Glück wünſcht und ſich ſchon im Gegenſatz zu
den federfuchſenden Parlamentären als den großmüthigen Protecteur der
Armee geberdet. Die Royaliſten lächelten dazu. Sie hielten ihn einfach
für ihren Dupe. Endlich als Marraſt, der Präſident der Konſtituante, einen
Augenblick die Sicherheit der Nationalverſammlung gefährdet glaubte und auf
die Konſtitution geſtützt einen Oberſt mit ſeinem Regimente requirirte,
weigerte ſich der Oberſt, bezog ſich auf die Disziplin und verwies Marraſt
an Changarnier, der ihn höhniſch abwies mit der Bemerkung, er liebe nicht
die bayonettes intelligentes. November 1851, als die koaliſirten Royaliſten
den entſcheidenden Kampf mit Bonaparte beginnen wollten, ſuchten ſie in
ihrer berüchtigten Quäſtorenbill das Prinzip der direkten Requiſition
der Truppen durch den Präſidenten der Nationalverſammlung durchzuſetzen.
Einer ihrer Generale, Leflô, hatte den Geſetzvorſchlag unterzeichnet. Ver¬
[22] gebens ſtimmte Changarnier für den Vorſchlag und huldigte Thiers der um¬
ſichtigen Weisheit der ehemaligen Konſtituante. Der Kriegsminiſter
St
. Arnaud antwortete ihm, wie dem Marraſt Changarnier geantwortet
hatte, und — unter dem Beifallsruf der Montagne!


So hatte die Partei der Ordnung ſelbſt, als ſie noch nicht
Nationalverſammlung, als ſie nur noch Miniſterium war, das parlamen¬
tariſche Regime
gebrandmarkt. Und ſie ſchreit auf, als der 2. Dezem¬
ber 1851 es aus Frankreich verbannt!


Wir wünſchen ihm glückliche Reiſe.

III.

Am 29. Mai 1849 trat die geſetzgebende Nationalverſammlung zuſammen.
Am 2. Dezember 1851 ward ſie geſprengt. Dieſe Periode umfaßt die Lebens¬
dauer der konſtitutionellen oder parlamentariſchen Republik.


In der erſten franzöſiſchen Revolution folgt auf die Herrſchaft der
Konſtitutionellen die Herrſchaft der Girondins und auf die Herr¬
ſchaft der Girondins die Herrſchaft der Jakobiner. Jede dieſer Par¬
teien ſtützt ſich auf die fortgeſchrittenere. Sobald ſie die Revolution weit
genug geführt hat, um ihr nicht mehr folgen, noch weniger ihr vorangehn zu
können, wird ſie von dem kühnern Verbündeten, der hinter ihr ſteht, bei
Seite geſchoben, und auf die Guillotine geſchickt. Die Revolution bewegt
ſich ſo in aufſteigender Linie.


Umgekehrt die Revolution von 1848. Die proletariſche Partei erſcheint
als Anhang der kleinbürgerlich-demokratiſchen. Sie wird von ihr verrathen
und fallen gelaſſen am 16. April, am 15. Mai und in den Junitagen. Die
demokratiſche Partei ihrerſeits lehnt ſich auf die Schultern der bourgeois¬
republikaniſchen. Die Bourgeois-Republikaner glauben kaum feſtzuſtehn, als
ſie den läſtigen Kameraden abſchütteln und ſich ſelbſt auf die Schultern der
Ordnungspartei ſtützen. Die Ordnungspartei zieht ihre Schultern ein, läßt
die Bourgeois-Republikaner purzeln und wirft ſich auf die Schultern der
bewaffneten Gewalt. Sie glaubt noch auf ihren Schultern zu ſitzen, als ſie
an einem ſchönen Morgen bemerkt, daß ſich die Schultern in Bajonette ver¬
wandelt haben. Jede Partei ſchlägt von hinten aus nach der weiterdrängen¬
den, und lehnt ſich von vorn über auf die zurückdrängende. Kein Wunder,
daß ſie in dieſer lächerlichen Poſitur das Gleichgewicht verliert, und, nachdem
[23] ſie die unvermeidlichen Grimaſſen geſchnitten, unter ſeltſamen Kapriolen
zuſammenſtürzt. Die Revolution bewegt ſich ſo in abſteigender Linie. Sie
befindet ſich in dieſer rückgängigen Bewegung, ehe die letzte Februar-Bar¬
rikade weggeräumt und die erſte Revolutionsbehörde conſtituirt iſt.


Die Periode die wir vor uns haben, umfaßt das bunteſte Gemiſch
ſchreiender Widerſprüche: Konſtitutionelle, die offen gegen die Konſtitution
konſpiriren, Revolutionäre, die eingeſtandener Maßen konſtitutionell ſind,
eine Nationalverſammlung, die allmächtig ſein will und ſtets parlamen¬
tariſch bleibt; eine Montagne, die im Dulden ihren Beruf findet und durch
die Prophezeihung künftiger Siege ihre gegenwärtigen Niederlagen parirt;
Royaliſten, die die patres conscripti der Republik bilden, und durch die
Situation gezwungen werden, die feindlichen Königshäuſer, denen ſie an¬
hängen, im Auslande, und die Republik, die ſie haſſen, in Frankreich zu
halten; eine Exekutivgewalt, die in ihrer Schwäche ſelbſt ihre Kraft und in
der Verachtung, die ſie einflößt, ihre Reſpektabilität findet; eine Republik,
die nichts anders iſt, als die zuſammengeſetzte Infamie zweier Monarchien,
der Reſtauration und der Julimonarchie, mit einer imperialiſtiſchen Etiquette,
— Verbindungen, deren erſte Klauſel die Trennung, Kämpfe, deren
erſtes Geſetz die Entſcheidungsloſigkeit iſt, im Namen der Ruhe müſte,
inhaltsloſe Agitation, im Namen der Revolution feierlichſtes Predigen
der Ruhe, Leidenſchaften ohne Wahrheit, Wahrheiten ohne Leiden¬
ſchaft, Helden ohne Heldenthaten, Geſchichte ohne Ereigniſſe; Entwickelung,
deren einzige Triebkraft der Kalender ſcheint, durch beſtändige Wiederholung
derſelben Spannungen und Abſpannungen ermüdend; Gegenſätze, die ſich
ſelbſt periodiſch nur auf die Höhe zu treiben ſcheinen, um ſich abzuſtumpfen
und zuſammenzufallen, ohne ſich auflöſen zu können; prätentiös zur Schau
getragene Anſtrengungen und bürgerliche Schrecken vor der Gefahr des Welt¬
unterganges, und von den Weltrettern gleichzeitig die kleinlichſten Intriguen
und Hofkomödien geſpielt, die in ihrem laisser aller weniger an den jüngſten
Tag als an die Zeiten der Fronde erinnern, — das offizielle Geſammtgenie
Frankreichs von der pfiffigen Dummheit eines einzelnen Individuums zu
Schanden gemacht; der Geſammtwille der Nation, ſo oft er im allgemeinen
Wahlrecht ſpricht, in den verjährten Feinden der Maſſenintereſſen ſeinen ent¬
ſprechenden Ausdruck ſuchend, bis er ihn endlich in dem Eigenwillen eines
Flibuſtiers findet. Wenn irgend ein Geſchichtsausſchnitt grau in grau
gemalt iſt, ſo iſt es dieſer. Menſchen und Ereigniſſe erſcheinen als umge¬
[24] kehrte Schlemihle, als Schatten, denen der Körper abhanden gekommen iſt.
Die Revolution ſelbſt paralyſirt ihre eigenen Träger und ſtattet nur ihre
Gegner mit leidenſchaftlicher Gewaltſamkeit aus. Wenn das „rothe Ge¬
ſpenſt“, von den Kontrerevolutionären beſtändig heraufbeſchworen und
gebannt, endlich erſcheint, ſo erſcheint es nicht mit anarchiſcher Phrygier¬
mütze auf dem Kopfe, ſondern in der Uniform der Ordnung, in rothen
Plumphoſen
.


Wir haben geſehn: das Miniſterium, das Bonaparte am 20. Dezem¬
ber 1848, am Tage ſeiner Himmelfahrt inſtallirte, war ein Miniſterium der
Ordnungspartei, der legitimiſtiſchen und orleaniſtiſchen Koalition. Dies
Miniſterium Barrot-Falloux hatte die republikaniſche Konſtituante, deren
Lebensdauer es mehr oder minder gewaltſam abkürzte, überwintert und befand
ſich noch am Ruder. Changarnier, der General der verbündeten Royaliſten,
vereinigte fortwährend in ſeiner Perſon das Generalkommando der erſten
Militärdiviſion und der Pariſer Nationalgarde. Die allgemeinen Wahlen
endlich hatten der Ordnungspartei die große Majorität in der Nationalver¬
ſammlung geſichert. Hier begegneten die Deputirten und Pairs Louis Philipp's
einer heiligen Schaar von Legitimiſten, für welche zahlreiche Wahlzettel der
Nation ſich in Eintrittskarten auf die politiſche Bühne verwandelt hatten.
Die bonapartiſtiſchen Volksrepräſentanten waren zu dünn geſät, um eine
ſelbſtſtändige parlamentariſche Partei bilden zu können. Sie erſchienen nur
als mauvaise queue der Ordnungspartei. So war die Ordnungspartei im
Beſitz der Regierungsgewalt, der Armee und des geſetzgebenden Körpers, kurz
der Geſammtmacht des Staats, moraliſch gekräftigt durch die allgemeinen
Wahlen, die ihre Herrſchaft als den Willen des Volkes erſcheinen ließen, und
durch den gleichzeitigen Sieg der Kontrerevolution auf dem geſammten euro¬
päiſchen Kontinent.


Nie eröffnete eine Partei mit größern Mitteln und unter günſtigern
Auspicien ihren Feldzug.


Die ſchiffbrüchigen reinen Republikaner fanden ſich in der
geſetzgebenden Nationalverſammlung auf eine Klique von ungefähr 50 Mann
zuſammengeſchmolzen, an ihrer Spitze die afrikaniſchen Generale Cavaignac,
Lamoricière, Bedeau. Die große Oppoſitionspartei aber wurde gebildet
durch die Montagne. Dieſen parlamentariſchen Taufnamen hatte ſich
die ſozial-demokratiſche Partei gegeben. Sie verfügte über mehr
als 200 von den 750 Stimmen der Nationalverſammlung und war
[25] daher wenigſtens eben ſo mächtig als irgend eine der drei Fraktionen der
Ordnungspartei für ſich genommen. Ihre relative Minorität gegen die ge¬
ſammte royaliſtiſche Koalition ſchien durch beſondere Umſtände aufgewogen.
Nicht nur zeigten die Departementswahlen, daß ſie einen bedeutenden Anhang
unter der Landbevölkerung gewonnen hatte. Sie zählte beinahe alle Depu¬
tirten von Paris unter ſich, die Armee hatte durch die Wahl von drei Unter¬
offizieren ein demokratiſches Glaubensbekenntniß abgelegt und der Chef der
Montagne, Ledru-Rollin, war im Unterſchiede von allen Repräſentanten der
Ordnungspartei in den parlamentariſchen Adelſtand erhoben worden durch
fünf Departements, die ihre Stimmen auf ihn vereinigt. Die Montagne
ſchien alſo am 29. Mai 1849, bei den unvermeidlichen Kolliſionen der Roya¬
liſten unter ſich und der geſammten Ordnungspartei mit Bonaparte, alle
Elemente des Erfolgs vor ſich zu haben. Vierzehn Tage ſpäter hatte ſie
Alles verloren, die Ehre eingerechnet.


Ehe wir der parlamentariſchen Geſchichte weiter folgen, ſind einige Be¬
merkungen nöthig, um gewöhnliche Täuſchungen über den ganzen Charakter
der Epoche, die uns vorliegt, zu vermeiden. In der demokratiſchen Manier
zu ſehn, handelt es ſich während der Periode der geſetzgebenden National¬
verſammlung, um was es ſich in der Periode der konſtituirenden handelte,
um den einfachen Kampf zwiſchen Republikanern und Royaliſten. Die Be¬
wegung ſelbſt aber faſſen ſie in Ein Stichwort zuſammen: „Reaktion“,
Nacht, worin alle Katzen grau ſind, und die ihnen erlaubt, ihre nachtwächter¬
lichen Gemeinplätze abzuleiern. Und allerdings, auf den erſten Blick zeigt
die Ordnungspartei einen Knäuel von verſchiedenen royaliſtiſchen Fraktionen,
die nicht nur gegen einander intriguiren, um jede ihren eignen Prätendenten
auf den Thron zu erheben und den Prätendenten der Gegenpartei auszu¬
ſchließen, ſondern auch ſich alle vereinigen in gemeinſchaftlichem Haß und ge¬
meinſchaftlichen Angriffen gegen die „Republik“. Die Montagne ihrerſeits
erſcheint im Gegenſatze zu dieſer royaliſtiſchen Konſpiration als Vertreterin
der „Republik“. Die Ordnungspartei erſcheint beſtändig beſchäftigt mit
einer „Reaktion“, die ſich nicht mehr nicht minder als in Preußen gegen
Preſſe, Aſſoziation u. dgl. richtet, und in brutalen Polizeieinmiſchungen der
Bureaukratie, der Gensdarmerie und der Parkette ſich vollſtreckt wie in
Preußen. Die „Montagne“ ihrerſeits wieder iſt ebenſo fortwährend be¬
ſchäftigt, dieſe Angriffe abzuwehren und ſo die „ewigen Menſchenrechte“ zu
vertheidigen, wie jede ſogenannte Volkspartei mehr oder minder ſeit anderthalb
[26] Jahrhunderten gethan hat. Vor einer nähern Betrachtung der Situation und
der Parteien verſchwindet indeß dieſer oberflächliche Schein, der den Klaſſen¬
kampf
und die eigenthümliche Phyſiognomie dieſer Periode verſchleiert.


Legitimiſten und Orleaniſten bildeten, wie geſagt, die zwei großen
Fraktionen der Ordnungspartei. Was dieſe Fraktionen an ihren Präten¬
denten feſthielt, und ſie wechſelſeitig auseinander hielt, war es nichts Andres,
als Lilie und Trikolore, Haus Bourbon und Haus Orleans, verſchiedene
Schattirungen des Royalismus, war es überhaupt das Glaubensbekenntniß
des Royalismus? Unter den Bourbonen hatte das große Grundeigen¬
thum
regiert mit ſeinen Pfaffen und Lakaien, unter den Orleans die hohe
Finanz, die große Induſtrie, der große Handel, d. h. das Kapital mit
ſeinem Gefolge von Advokaten, Profeſſoren und Schönrednern. Das legitime
Königthum war blos der politiſche Ausdruck für die angeſtammte Herrſchaft
der Herren von Grund und Boden, wie die Julimonarchie nur der politiſche
Ausdruck für die uſurpirte Herrſchaft der bürgerlichen Parvenüs. Was alſo
dieſe Fraktionen auseinander hielt, es waren keine ſogenannten Prinzipien, es
waren ihre materiellen Exiſtenzbedingungen, zwei verſchiedene Arten des Eigen¬
thums, es war der alte Gegenſatz von Stadt und Land, die Rivalität zwiſchen
Kapital und Grundeigenthum. Daß gleichzeitig alte Erinnerungen, perſön¬
liche Feindſchaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurtheile und Illuſionen,
Sympathien und Antipathien, Ueberzeugungen, Glaubensartikel und Prin¬
zipien ſie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es?
Auf den verſchiedenen Formen des Eigenthums, auf den ſozialen Exiſtenzbe¬
dingungen, erhebt ſich ein ganzer Ueberbau verſchiedener und eigenthümlich
geſtalteter Empfindungen, Illuſionen, Denkweiſen und Lebensanſchauungen.
Die ganze Klaſſe ſchafft und geſtaltet ſie aus ihren materiellen Grundlagen
heraus und aus den entſprechenden geſellſchaftlichen Verhältniſſen. Das
einzelne Individuum, dem ſie durch Tradition und Erziehung zufließen,
kann ſich einbilden, daß ſie die eigentlichen Beſtimmungsgründe und den
Ausgangspunkt ſeines Handelns bilden. Wenn Orleaniſten, Legitimiſten,
jede Fraktion ſich ſelbſt und der andern vorzureden ſuchte, daß die Anhäng¬
lichkeit an ihre zwei Königshäuſer ſie trenne, bewies ſpäter die Thatſache, daß
vielmehr ihr geſpaltenes Intereſſe die Vereinigung der zwei Königshäuſer
verbot. Und wie man im Privatleben unterſcheidet zwiſchen dem, was ein
Menſch von ſich meint und ſagt, und dem, was er wirklich iſt und thut, ſo
muß man noch mehr in geſchichtlichen Kämpfen die Phraſen und Einbildungen
[27] der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen In¬
tereſſen, ihre Vorſtellung von ihrer Realität unterſcheiden. Orleaniſten und
Legitimiſten fanden ſich in der Republik neben einander mit gleichen An¬
ſprüchen. Wenn jede Seite gegen die andre die Reſtauration ihres
eignen Königshauſes durchſetzen wollte, ſo hieß das nichts Andres, als
daß die zwei großen Intereſſen, worin die Bourgeoiſie ſich
ſpaltet — Grundeigenthum und Kapital — jedes ſeine eigne Suprematie
und die Unterordnung des andern zu reſtauriren ſuchte. Wir ſprechen von
zwei Intereſſen der Bourgeoiſie, denn das große Grundeigenthum, trotz ſeiner
feudalen Koketterie und ſeines Racenſtolzes, war durch die Entwicklung der
modernen Geſellſchaft vollſtändig verbürgerlicht. So haben die Tories in
England ſich lange eingebildet, daß ſie für das Königthum, die Kirche und
die Schönheiten der altengliſchen Verfaſſung ſchwärmten, bis der Tag der
Gefahr ihnen das Geſtändniß entriß, daß ſie nur für die Grundrente
ſchwärmen.


Die koaliſirten Royaliſten ſpielten ihre Intrigue gegen einander in der
Preſſe, in Ems, in Claremont, außerhalb des Parlaments. Hinter den
Couliſſen zogen ſie ihre alten orleaniſtiſchen und legitimiſtiſchen Livreen
wieder an und führten ihre alten Turniere wieder auf. Aber auf der öffent¬
lichen Bühne, in ihren Haupt- und Staatsaktionen, als große parlamenta¬
riſche Partei, fertigen ſie ihre reſpektiven Königshäuſer mit bloßen Reveren¬
zen ab und vertagen die Reſtauration der Monarchie in infinitum. Sie ver¬
richten ihr wirkliches Geſchäft als Partei der Ordnung, d. h. unter
einem geſellſchaftlichen, nicht unter einem politiſchen Titel, als
Vertreter der bürgerlichen Weltordnung, nicht als Ritter fahrender Prin¬
zeſſinnen, als Bourgeoisklaſſe gegenüber andern Klaſſen, nicht als Royaliſten
gegenüber den Republikanern. Und als Partei der Ordnung haben ſie eine
unumſchränktere und härtere Herrſchaft über die andern Klaſſen der Geſell¬
ſchaft ausgeübt, als je zuvor unter der Reſtauration oder unter der Juli¬
monarchie, wie ſie überhaupt nur unter der Form der parlamentariſchen
Republik möglich war, denn nur unter dieſer Form konnten die zwei
großen Abtheilungen der franzöſiſchen Bourgeoiſie ſich vereinigen, alſo die
Herrſchaft ihrer Klaſſe ſtatt des Regimes einer privilegirten Fraktion derſel¬
ben auf die Tagesordnung ſetzen. Wenn ſie trotzdem auch als Partei der
Ordnung die Republik inſultiren und ihren Widerwillen gegen ſie ausſprechen,
ſo geſchah das nicht nur aus royaliſtiſcher Erinnerung. Es lehrte ſie
[28] der Inſtinkt, daß die Republik zwar ihre politiſche Herrſchaft vollen¬
det, aber zugleich deren geſellſchaftliche Grundlage unterwühlt, indem ſie
nun ohne Vermittlung, ohne den Verſteck der Krone, ohne das nationale In¬
tereſſe durch ihre untergeordneten Kämpfe unter einander und mit dem König¬
thum ableiten zu können, den unterjochten Klaſſen gegenüberſtehn und mit
ihnen ringen müſſen. Es war Gefühl der Schwäche, das ſie vor den reinen
Bedingungen ihrer eignen Klaſſenherrſchaft zurückbeben und ſich nach den
unvollſtändigern, unentwickelteren und eben darum gefahrloſeren Formen
derſelben zurückſehnen ließ. So oft die koaliſirten Royaliſten dagegen in
Konflikt mit dem Prätendenten gerathen, der ihnen gegenüberſteht, mit
Bonaparte, ſo oft ſie ihre parlamentariſche Allmacht von der Exekutivgewalt
gefährdet glauben, ſo oft ſie alſo den politiſchen Titel ihrer Herrſchaft heraus¬
kehren müſſen, treten ſie als Republikaner auf und nicht als Roya¬
liſten
, von dem Orleaniſten Thiers, der die Nationalverſammlung warnt,
daß die Republik ſie am wenigſten trenne, bis auf den Legitimiſten Berryer,
der am 2. Dezember 1851 die dreifarbige Schärpe umgewunden, das vor
dem Mairiegebäude des zehnten Arrondiſſements verſammelte Volk als Tribun
im Namen der Republik haranguirt. Allerdings ruft ihm das Echo ſpottend
zurück: Henri V.! Henri V.!


Der koaliſirten Bourgeoiſie gegenüber hatte ſich eine Koalition zwiſchen
Kleinbürgern und Arbeitern gebildet, die ſogenannte ſozial-demokra¬
tiſche
Partei. Die Kleinbürger ſahen ſich nach den Junitagen 1848 ſchlecht
belohnt, ihre materiellen Intereſſen gefährdet und die demokratiſchen Garan¬
tien, die ihnen die Geltendmachung dieſer Intereſſen ſichern ſollten, von der
Kontrerevolution in Frage geſtellt. Sie näherten ſich daher den Arbeitern.
Ihre parlamentariſche Repräſentation andrerſeits die Montagne, wäh¬
rend der Diktatur der Bourgeois–Republikaner bei Seite geſchoben, hatte in
der letzten Lebenshälfte der Konſtituante durch den Kampf mit Bonaparte
und den royaliſtiſchen Miniſtern ihre verlorene Popularität wiedererobert.
Sie hatte mit den ſozialiſtiſchen Führern eine Allianz geſchloſſen. Februar
1849 wurden Verſöhnungs–Bankette gefeiert. Ein gemeinſchaftliches
Programm wurde entworfen, gemeinſchaftliche Wahlkomités wurden geſtiftet
und gemeinſchaftliche Kandidaten aufgeſtellt. Den ſozialen Forderungen des
Proletariats ward die revolutionäre Pointe abgebrochen und eine demokra¬
tiſche Wendung gegeben, den demokratiſchen Anſprüchen des Kleinbürger¬
thums die blos politiſche Form abgeſtreift und ihre ſozialiſtiſche Pointe
[29] herausgekehrt. So entſtand die Sozial-Demokratie. Die neue Mon¬
tagne
, das Ergebniß dieſer Kombination, enthielt, einige Figuranten aus
der Arbeiterklaſſe und einige ſozialiſtiſche Sektirer abgerechnet, dieſelben Ele¬
mente wie die alte Montagne, nur numeriſch ſtärker. Aber im Laufe der Ent¬
wicklung hatte ſie ſich verändert mit der Klaſſe, die ſie vertrat. Der eigen¬
thümliche Charakter der Sozial-Demokratie faßt ſich dahin zuſammen, daß
demokratiſch-republikaniſche Inſtitutionen als Mittel verlangt werden, nicht
um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, ſondern um
ihren Gegenſatz abzuſchwächen und in Harmonie zu verwandeln. Wie ver¬
ſchiedene Maßregeln zur Erreichung dieſes Zweckes vorgeſchlagen werden
mögen, wie ſehr er mit mehr oder minder revolutionären Vorſtellungen ſich
verbrämen mag, der Inhalt bleibt derſelbe. Dieſer Inhalt iſt die Umände¬
rung der Geſellſchaft auf demokratiſchem Wege, aber eine Umänderung inner¬
halb der Grenzen des Kleinbürgerthums. Man muß ſich nur nicht die
bornirte Vorſtellung machen, als wenn das Kleinbürgerthum prinzipiell ein
egoiſtiſches Klaſſenintereſſe durchſetzen wolle. Es glaubt vielmehr, daß die
beſondern Bedingungen ſeiner Befreiung die allgemeinen Beding¬
ungen ſind, innerhalb deren allein die moderne Geſellſchaft gerettet und der
Klaſſenkampf vermieden werden kann. Man muß ſich ebenſowenig vorſtellen,
daß die demokratiſchen Repräſentanten nun alle shopkeepers ſind oder für
dieſelben ſchwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer individuellen Lage
nach himmelweit von ihnen getrennt ſein. Was ſie zu Vertretern des Klein¬
bürgers macht, iſt, daß ſie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen,
worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß ſie daher zu denſelben Auf¬
gaben und Löſungen theoretiſch getrieben werden, wohin jenen das materielle
Intereſſe und die geſellſchaftliche Lage praktiſch treiben. Dies iſt überhaupt
das Verhältniß der politiſchen und literariſchen Vertreter einer
Klaſſe zu der Klaſſe, die ſie vertreten.


Nach der gegebenen Auseinanderſetzung verſteht ſich von ſelbſt, daß, wenn
die Montagne mit der Ordnungspartei fortwährend um die Republik und die
ſogenannten Menſchenrechte ringt, weder die Republik noch die Menſchenrechte
ihr letzter Zweck ſind, ſo wenig wie eine Armee, die man ihrer Waffen berauben
will und die ſich zur Wehr ſetzt, auf den Kampfplatz getreten iſt, um im Beſitz
ihrer eignen Waffen zu bleiben.


Die Partei der Ordnung provozirte gleich beim Zuſammentritt der Na¬
tionalverſammlung die Montagne. Die Bourgeoiſie fühlte jetzt die Nothwen¬
[30] digkeit, mit den demokratiſchen Kleinbürgern fertig zu werden, wie ſie ein Jahr
vorher die Nothwendigkeit begriffen hatte, mit dem revolutionären Proletariat
zu enden. Nur war die Situation des Gegners eine verſchiedene. Die Stärke
der proletariſchen Partei war auf der Straße, die der Kleinbürger in der Na¬
tionalverſammlung ſelbſt. Es galt alſo, ſie aus der Nationalverſammlung
auf die Straße zu locken und ſie ſelbſt ihre parlamentariſche Macht zerbrechen
zu laſſen, ehe Zeit und Gelegenheit ſie konſolidiren konnten. Die Montagne
ſprengte mit verhängtem Zügel in die Falle.


Das Bombardement Rom's durch die franzöſiſchen Truppen war der
Köder, der ihr hingeworfen wurde. Es verletzte Artikel V. der Konſtitution,
der der franzöſiſchen Republik unterſagt, ihre Streitkräfte gegen die Freiheiten
eines andern Volks zu verwenden. Zudem verbot auch Art. IV jede Kriegs¬
erklärung von Seiten der Exekutivgewalt ohne Zuſtimmung der Nationalver¬
ſammlung, und die Konſtituante hatte durch ihren Beſchluß vom 8. Mai die
römiſche Expedition mißbilligt. Auf dieſe Gründe hin deponirte Ledru-Rollin
am 11. Juni 1849 einen Anklageakt gegen Bonaparte und ſeine Miniſter.
Durch die Wespenſtiche von Thiers aufgereizt, ließ er ſich ſogar zu der Dro¬
hung fortreißen, die Konſtitution mit allen Mitteln vertheidigen zu wollen, ſelbſt
mit den Waffen in der Hand. Die Montagne erhob ſich wie Ein Mann und
wiederholte dieſen Waffenruf. Am 12. Juni verwarf die Nationalverſamm¬
lung den Anklageakt und die Montagne verließ das Parlament. Die Ereig¬
niſſe des 13. Juni ſind bekannt: die Proklamation eines Theils der Montagne,
wodurch Bonaparte und ſeine Miniſter „außerhalb der Konſtitution“ erklärt
wurden; die Straßenprozeſſion der demokratiſchen Nationalgarden, die waffen¬
los, wie ſie waren, bei dem Zuſammentreffen mit den Truppen Changarnier's
auseinanderſtoben u. ſ. w. u. ſ. w. Ein Theil der Montagne flüchtete in's
Ausland, ein anderer wurde dem Hochgericht in Bourges überwieſen, und ein
parlamentariſches Reglement unterwarf den Reſt der ſchulmeiſterlichen Aufſicht
des Präſidenten der Nationalverſammlung. Paris wurde wieder in Belage¬
rungszuſtand verſetzt und der demokratiſche Theil ſeiner Nationalgarde aufge¬
löſt. So war der Einfluß der Montagne im Parlament und die Macht der
Kleinbürger in Paris gebrochen.


Lyon, wo der 13. Juni das Signal zu einem blutigen Arbeiteraufſtand
gegeben hatte, wurde mit den fünf umliegenden Departements ebenfalls in
Belagerungszuſtand erklärt, ein Zuſtand, der bis auf dieſen Augenblick fort¬
dauert.


[31]

Das Gros der Montagne hatte ſeine Avantgarde im Stiche gelaſſen, in¬
dem es ihrer Proklamation die Unterſchriften verweigerte. Die Preſſe war
deſertirt, indem nur zwei Journale das Pronunziamento zu veröffentlichen
wagten. Die Kleinbürger verriethen ihre Repräſentanten, indem die Natio¬
nalgarden ausblieben oder wo ſie erſchienen, den Barrikadenbau verhinderten.
Die Repräſentanten hatten die Kleinbürger dupirt, indem die angeblichen
Affiliirten von der Armee nirgends zu erblicken waren. Endlich, ſtatt von
ihm Kraftzuſchuß zu gewinnen, hatte die demokratiſche Partei das Proleta¬
riat mit ihrer eignen Schwäche angeſteckt, und, wie gewöhnlich bei demokra¬
tiſchen Hochthaten, hatten die Führer die Genugthuung, ihr „Volk“ der De¬
ſertion und das Volk die Genugthuung, ſeine Führer der Prellerei beſchuldigen
zu können.


Selten war eine Aktion mit größerem Geräuſch verkündet worden, als
der bevorſtehende Feldzug der Montagne, ſelten ein Ereigniß mit mehr Sicher¬
heit und länger vorher austrompetet, als der unvermeidliche Sieg der Demo¬
kratie. Ganz gewiß: die Demokraten glauben an die Poſaunen, vor deren
Stößen die Mauern Jericho's einſtürzten. Und ſo oft ſie den Wällen des
Despotismus gegenüberſtehn, ſuchen ſie das Wunder nachzumachen. Wenn
die Montagne im Parlamente ſiegen wollte, durfte ſie nicht zu den Waffen
rufen. Wenn ſie im Parlamente zu den Waffen rief, durfte ſie ſich auf der
Straße nicht parlamentariſch verhalten. Wenn die friedliche Demonſtration
ernſt gemeint war, ſo war es albern, nicht vorherzuſehn, daß ſie kriegeriſch
empfangen werden würde. Wenn es auf den wirklichen Kampf abgeſehn war,
ſo war es originell, die Waffen abzulegen, mit denen er geführt werden mußte.
Aber die revolutionären Drohungen der Kleinbürger und ihrer demokratiſchen
Vertreter ſind bloße Einſchüchterungsverſuche des Gegners. Und wenn ſie
ſich in eine Sackgaſſe verrannt, wenn ſie ſich hinlänglich kompromittirt haben,
um zur Ausführung ihrer Drohungen gezwungen zu ſein, ſo geſchieht es in
einer zweideutigen Weiſe, die nichts mehr vermeidet als die Mittel zum Zwecke
und nach Vorwänden zum Unterliegen haſcht. Die ſchmetternde Ouverture,
die den Kampf verkündete, verliert ſich in ein kleinlautes Knurren, ſobald er
beginnen ſoll, die Schauſpieler hören auf ſich au sérieux zu nehmen und die
Handlung fällt platt zuſammen, wie ein luftgefüllter Ballon, den man mit
einer Nadel pickt.


Keine Partei übertreibt ſich mehr ihre Mittel, als die demokratiſche, keine
täuſcht ſich leichtſinniger über die Situation. Wenn ein Theil der Armee für
[32] ſie geſtimmt hatte, war die Montagne nun auch überzeugt, daß die Armee für
ſie revoltiren werde. Und bei welchem Anlaſſe? Bei einem Anlaſſe, der vom
Standpunkt der Truppen keinen andern Sinn hatte, als daß die Revolutio¬
näre für die römiſchen Soldaten gegen die franzöſiſchen Soldaten Partei er¬
griffen. Andrerſeits waren die Erinnerungen an den Juni 1848 noch zu
friſch, als daß nicht eine tiefe Abneigung des Proletariats gegen die National¬
garde und ein durchgreifendes Mißtrauen der Chefs der geheimen Geſell¬
ſchaften gegen die demokratiſchen Chefs exiſtiren mußten. Um dieſe Differenzen
auszugleichen, dazu bedurfte es großer gemeinſchaftlicher Intereſſen, die auf
dem Spiele ſtanden. Die Verletzung eines abſtrakten Verfaſſungsparagraphen
konnte das Intereſſe nicht bieten. War die Verfaſſung nicht ſchon wiederholt
verletzt worden nach der Verſicherung der Demokraten ſelbſt? Hatten die
populärſten Journale ſie nicht als ein kontrerevolutionäres Machwerk gebrand¬
markt? Aber der Demokrat, weil er das Kleinbürgerthum vertritt, alſo eine
Uebergangsklaſſe, worin die Intereſſen zweier Klaſſen ſich zugleich ab¬
ſtumpfen, dünkt ſich über den Klaſſengegenſatz überhaupt erhaben. Die De¬
mokraten geben zu, daß eine privilegirte Klaſſe ihnen gegenüberſteht, aber ſie
mit der ganzen übrigen Umgebung der Nation bilden das Volk. Was ſie
vertreten, iſt das Volksrecht; was ſie intereſſirt, iſt das Volksinter¬
eſſe
. Sie brauchen daher bei einem bevorſtehenden Kampfe die Intereſſen
und Stellungen der verſchiedenen Klaſſen nicht zu prüfen. Sie brauchen ihre
eigenen Mittel nicht allzu bedenklich abzuwägen. Sie haben eben nur das
Signal zu geben, damit das Volk mit allen ſeinen unerſchöpflichen Reſſourcen
über die Dränger herfalle. Stellen ſich nun in der Ausführung ihre In¬
tereſſen als unintereſſant und ihre Macht als Ohnmacht heraus, ſo liegt das
entweder an verderblichen Sophiſten, die das untheilbare Volk in ver¬
ſchiedene feindliche Lager ſpalten, oder die Armee war zu verthiert und zu ver¬
blendet, um die reinen Zwecke der Demokratie als ihr eignes Beſte zu be¬
greifen, oder an einem Detail der Ausführung iſt das Ganze geſcheitert, oder
aber ein unvorhergeſehener Zufall hat für diesmal die Partie vereitelt. Jeden¬
falls geht der Demokrat eben ſo makellos aus der ſchmählichſten Niederlage
heraus, wie er unſchuldig in ſie hineingegangen iſt, mit der neugewonnenen
Ueberzeugung, daß er ſiegen muß, nicht daß er ſelbſt und ſeine Partei den
alten Standpunkt aufzugeben, ſondern umgekehrt, daß die Verhältniſſe ihm
entgegenzureifen haben.


Man muß ſich daher die dezimirte, gebrochene und durch das neue par¬
[33] lamentariſche Reglement gedemüthigte Montagne nicht gar zu unglücklich vor¬
ſtellen. Wenn der 13. Juni ihre Chefs beſeitigt hatte, ſo macht er andrer¬
ſeits untergeordneteren Kapazitäten Platz, denen dieſe neue Stellung
ſchmeichelt. Wenn ihre Machtloſigkeit im Parlamente nicht mehr bezweifelt
werden konnte, ſo waren ſie nun auch berechtigt, ihre That auf Ausbrüche ſitt¬
licher Entrüſtung und polternde Deklamation zu beſchränken. Wenn die Ord¬
nungspartei in ihnen als den letzten offiziellen Repräſentanten der Revolution
alle Schrecken der Anarchie verkörpert zu ſehn vorgab, ſo konnten ſie in der
Wirklichkeit deſto platter und beſcheidener ſein. Ueber den 13. Juni aber ver¬
tröſteten ſie ſich mit der tiefen Wendung: Aber wenn man das allgemeine
Wahlrecht anzugreifen wagt, aber dann! Dann werden wir zeigen, wer wir
ſind. Nous verrons.


Was die in's Ausland geflüchteten Montagnards betrifft, ſo genügt es
hier zu bemerken, daß Ledru-Rollin, weil es ihm gelungen war, in kaum zwei
Wochen die mächtige Partei, an deren Spitze er ſtand, rettungslos zu ruiniren,
ſich nun berufen fand, eine franzöſiſche Regierung in partibus zu bilden; daß
ſeine Figur, in der Ferne, vom Boden der Aktion weggehoben, im Maßſtab
als das Niveau der Revolution ſank und die offiziellen Größen des offiziellen
Frankreichs zwerghafter wurden, an Größe zu wachſen ſchien; daß er als repu¬
blikaniſcher Prätendent für 1852 figuriren konnte, daß er periodiſche Rund¬
ſchreiben an die Walachen und andere Völker erließ, worin den Despoten des
Kontinents mit ſeinen und ſeiner Verbündeten Thaten gedroht wird. Hatte
Proudhon ganz Unrecht, wenn er dieſen Herren zurief: „Vous n'êtes que
des blagueurs
?“


Die Ordnungspartei hatte am 13. Juni nicht nur die Montagne ge¬
brochen, ſie hatte die Unterordnung der Konſtitution unter die
Majoritätsbeſchlüſſe der Nationalverſammlung
durchgeſetzt.
Und ſo verſtand ſie die Republik. Daß die Bourgeoiſie hier in parlamenta¬
riſchen Formen herrſche, ohne wie in der Monarchie an dem Veto der Exeku¬
tivgewalt oder an der Auflösbarkeit des Parlaments eine Schranke zu finden.
Das war die parlamentariſche Republik, wie Thiers ſie nannte.
Aber wenn die Bourgeoiſie am 13. Juni ihre Allmacht innerhalb des Parla¬
mentsgebäudes ſicherte, ſchlug ſie nicht das Parlament ſelbſt, der Exekutivgewalt
und dem Volke gegenüber, mit unheilbarer Schwäche, indem ſie den populärſten
Theil deſſelben ausſtieß? Indem ſie zahlreiche Deputirte ohne weitere Cere¬
monien der Requiſition der Parkette preisgab, hob ſie ihre eigne parlamen¬
3[34] tariſche Unverletzlichkeit auf. Das demüthigende Reglement, dem ſie die
Montagne unterwarf, erhöht in demſelben Maße den Präſidenten der Repu¬
blik, als es den einzelnen Repräſentanten des Volks herabdrückt. Indem ſie
die Inſurrektion zum Schutz der konſtitutionellen Verfaſſung als anarchiſche,
auf den Umſturz der Geſellſchaft abzweckende That brandmarkt, verbot ſie ſich
ſelbſt den Appell an die Inſurrektion, ſobald die Exekutivgewalt ihr gegenüber
die Verfaſſung verletzen würde. Und die Ironie der Geſchichte will, daß der
General, der im Auftrage Bonaparte's Rom bombardirt und ſo den unmittel¬
baren Anlaß zu der konſtitutionellen Emeute vom 13. Juni gegeben hat,
daß Oudinot am 2. Dezember 1851 dem Volke von der Ordnungspartei
flehentlich und vergeblich als General der Konſtitution gegen Bonaparte an¬
geboten werden muß. Ein anderer Held des 13. Juni, Bieyra, der von
der Tribüne der Nationalverſammlung Lob einerntet für die Brutalitäten,
die er in demokratiſchen Zeitungslokalen an der Spitze einer der hohen Finanz
angehörigen Rotte von Nationalgarden verübt hatte, dieſer ſelbe Bieyra war
in die Verſchwörung Bonaparte's eingeweiht und trug weſentlich dazu bei, in
ihrer Todesſtunde der Nationalverſammlung jeden Schutz von Seiten der
Nationalgarde abzuſchneiden.


Der 13. Juni hatte noch einen andern Sinn. Die Montagne hatte
Bonaparte's Verſetzung in Anklagezuſtand ertrotzen wollen. Ihre Niederlage
war alſo ein direkter Sieg Bonaparte's, ſein perſönlicher Triumph über ſeine
demokratiſchen Feinde. Die Partei der Ordnung erfocht den Sieg, Bona¬
parte hatte ihn nur einzukaſſiren. Er that es. Am 14. Juni war eine
Proklamation an den Mauern von Paris zu leſen, worin der Präſident, gleich¬
ſam ohne ſein Zuthun, widerſtrebend, durch die bloße Macht der Ereigniſſe
gezwungen, aus ſeiner klöſterlichen Abgeſchiedenheit hervortritt, als verkannte
Tugend über die Verläumdungen ſeiner Widerſacher klagt und während er ſeine
Perſon mit der Sache der Ordnung zu identifiziren ſcheint, vielmehr die Sache
der Ordnung mit ſeiner Perſon identifizirt. Zudem hatte die Nationalver¬
ſammlung die Expedition gegen Rom zwar nachträglich gebilligt, aber Bona¬
parte hatte die Initiative dazu ergriffen. Nachdem er den Hoheprieſter Samuel
in den Vatikan wieder eingeführt, konnte er hoffen, als König David die Tui¬
lerien zu beziehen. Er hatte die Pfaffen gewonnen.


Die Emeute vom 13. Juni beſchränkte ſich, wie wir geſehn, auf eine
friedliche Straßenprozeſſion. Es waren alſo keine kriegeriſchen Lorbeeren
gegen ſie zu gewinnen. Nichts deſto weniger, in dieſer helden- und ereigni߬
[35] armen Zeit verwandelte die Ordnungspartei dieſe Schlacht ohne Blutvergießen
in ein zweites Auſterlitz. Tribüne und Preſſe prieſen die Armee als die Macht
der Ordnung gegenüber den Volksmaſſen als der Ohnmacht der Anarchie, und
den Changarnier als das „Bollwerk der Geſellſchaft“. Myſtifikation, an die
er ſchließlich ſelbſt glaubte. Unter der Hand aber wurden die Korps, die zwei¬
deutig ſchienen, aus Paris verlegt, die Regimenter, deren Wahlen am demo¬
kratiſchſten ausgefallen waren, aus Frankreich nach Algier verbannt, die un¬
ruhigen Köpfe unter den Truppen in Strafabtheilungen verwieſen, endlich die
Abſperrung der Preſſe von der Kaſerne und der Kaſerne von der bürgerlichen
Geſellſchaft ſyſtematiſch durchgeführt.


Wir ſind hier bei dem entſcheidenden Wendepunkt in der Geſchichte der
franzöſiſchen Nationalgarde angelangt. 1830 hatte ſie den Sturz der Re¬
ſtauration entſchieden. Unter Louis Philipp mißglückte jede Emeute, worin
die Nationalgarde auf Seite der Truppen ſtand. Als ſie in den Februar¬
tagen 1848 ſich paſſiv gegen den Aufſtand und zweideutig gegen Louis Phi¬
lipp zeigte, gab er ſich verloren und war er verloren. So ſchlug die Ueber¬
zeugung Wurzel, daß die Revolution nicht ohne, und die Armee nicht gegen
die Nationalgarde ſiegen könne. Es war dies der Aberglaube der Armee an
die bürgerliche Allmacht. Die Junitage 1848, wo die geſammte National¬
garde mit den Linientruppen die Inſurrektion niederwarf, hatten den Aber¬
glauben befeſtigt. Nach Bonaparte's Regierungsantritt ſank die Stellung der
Nationalgarde einigermaßen durch die konſtitutionswidrige Vereinigung ihres
Kommandos mit dem Kommando der erſten Militärdiviſion in der Perſon
Changarnier's.


Wie das Commando über die Nationalgarde hier als ein Attribut des
militäriſchen Oberbefehlshabers erſchien, ſo ſie ſelbſt nur noch als Anhang der
Linientruppen. Am 13. Juni endlich wurde ſie gebrochen: nicht nur durch ihre
theilweiſe Auflöſung, die ſich ſeit dieſer Zeit periodiſch an allen Punkten Frank¬
reichs wiederholte und nur Trümmer von ihr zurückließ. Die Demonſtration
des 13. Juni war vor Allem eine Demonſtration der demokratiſchen National¬
garden. Sie hatten zwar nicht ihre Waffen, wohl aber ihre Uniformen der
Armee gegenübergeführt, aber gerade in dieſer Uniform ſaß der Talisman.
Die Armee überzeugte ſich, daß dieſe Uniform ein wollener Lappen wie ein
andrer war. Der Zauber ging verloren. In den Junitagen 1848 waren
Bourgeoiſie und Kleinbürgerthum als Nationalgarde mit der Armee gegen
das Proletariat vereinigt, am 13. Juni 1849 ließ die Bourgeoiſie die klein¬
3*[36] bürgerliche Nationalgarde durch die Armee auseinander ſprengen, am 2. De¬
zember 1851 war die Nationalgarde der Bourgeoiſie ſelbſt verſchwunden
und Bonaparte konſtatirte nur dies Faktum, als er nachträglich ihr Auf¬
löſungsdekret unterſchrieb. So hatte die Bourgeoiſie ſelbſt ihre letzte Waffe
gegen die Armee zerbrochen, aber ſie mußte ſie zerbrechen von dem Augen¬
blicke, wo das Kleinbürgertum nicht mehr als Vaſall hinter, ſondern als Rebell
vor ihr ſtand, wie ſie überhaupt alle ihre Vertheidigungsmittel gegen den Abſolu¬
tismus mit eigner Hand zerſtören mußte, ſobald ſie ſelbſt abſolut geworden war.


Die Ordnungspartei feierte unterdeß die Wiedereroberung einer
Macht, die 1848 nur verloren ſchien, um 1849 von ihren Schranken be¬
freit wiedergefunden zu werden, durch Invektiven gegen die Republik
und die Konſtitution, durch Verfluchung aller zukünftigen, gegenwärtigen
und vergangenen Revolutionen, die eingerechnet, welche ihre eignen Füh¬
rer gemacht hatten, und in Geſetzen, wodurch die Preſſe geknebelt, die
Aſſoziation vernichtet und der Belagerungszuſtand als organiſches Inſtitut
regulirt wurde. Die Nationalverſammlung vertagte ſich dann von Mitte
Auguſt bis Mitte October, nachdem ſie eine Permanenzkommiſſion für die
Zeit ihrer Abweſenheit ernannt hatte. Während dieſer Ferien intriguirten
die Legitimiſten mit Ems, die Orleaniſten mit Claremont, Bonaparte durch
prinzliche Rundreiſen, und die Departementalräthe in Berathungen über die
Reviſion der Verfaſſung, — Vorfälle, die in den periodiſchen Ferien der
Nationalverſammlung regelmäßig wiederkehren und auf die ich erſt eingehn
will, ſobald ſie zu Ereigniſſen werden. Hier ſei nur noch bemerkt, daß die
Nationalverſammlung unpolitiſch handelte, als ſie für längere Intervalle von
der Bühne verſchwand und auf der Spitze der Republik nur noch Eine, wenn
auch klägliche Geſtalt erblicken ließ, die Louis Bonaparte's, während die Partei
der Ordnung zum Skandale des Publikums in ihre royaliſtiſchen Beſtand¬
theile auseinander und ihren ſich widerſtreitenden Reſtaurationsgelüſten nach¬
ging. So oft während dieſer Ferien der verwirrende Lärm des Parlaments
verſtummte und ſein Körper ſich in die Nation auflöſte, zeigte ſich unver¬
kennbar, daß nur noch Eins fehle, um die wahre Geſtalt dieſer Republik zu
vollenden: ſeine Ferien permanent machen und ihre Aufſchrift: Liberté,
égalité, fraternité, erſetzen durch die unzweideutigen Worte: Infanterie,
Cavalerie, Artillerie
!


[37]

IV.

Mitte Oktober 1849 trat die Nationalverſammlung wieder zuſammen.
Am 1. November überraſchte Bonaparte ſie mit einer Botſchaft, worin er die
Entlaſſung des Miniſteriums Barrot–Falloux und die Bildung eines neuen
Miniſteriums anzeigte. Man hat Lakaien nie mit weniger Ceremonien aus
dem Dienſte gejagt, als Bonaparte ſeine Miniſter. Die Fußtritte, die der
Nationalverſammlung beſtimmt waren, erhielt vorläufig Barrot u. Comp.


Das Miniſterium Barrot war, wie wir geſehen haben, aus Legitimiſten
und Orleaniſten zuſammengeſetzt, ein Miniſterium der Ordnungspartei. Bo¬
naparte hatte deſſelben bedurft, um die republikaniſche Konſtituante aufzulöſen,
die Expedition gegen Rom zu bewerkſtelligen und die demokratiſche Partei zu
brechen. Hinter dieſem Miniſterium hatte er ſich ſcheinbar eklipſirt, die Re¬
gierungsgewalt in die Hände der Ordnungspartei abgetreten und die beſcheidene
Charaktermaske angelegt, die unter Louis Philipp der verantwortliche Ge¬
rant der Zeitungspreſſe trug, die Maske des homme de paille. Jetzt
warf er eine Larve weg, die nicht mehr der leichte Vorhang war, worunter
er ſeine Phyſiognomie verſtecken konnte, ſondern die eiſerne Maske, die ihn
verhinderte, eine eigne Phyſiognomie zu zeigen. Er hatte das Miniſterium
Barrot eingeſetzt, um im Namen der Ordnungspartei die republikaniſche
Nationalverſammlung zu ſprengen; er entließ es, um ſeinen eignen Namen
von der Nationalverſammlung der Ordnungspartei unabhängig zu erklären.


An plauſiblen Vorwänden zu dieſer Entlaſſung fehlte es nicht. Das
Miniſterium Barrot vernachläſſigte ſelbſt die Anſtandsformen, die den Präſi¬
denten der Republik als eine Macht neben der Nationalverſammlung hätten
erſcheinen laſſen. Während der Ferien der Nationalverſammlung veröffent¬
lichte Bonaparte einen Brief an Edgar Ney, worin er das illiberale Auftreten
des Pabſtes zu mißbilligen ſchien, wie er im Gegenſatz zur Konſtituante einen
Brief veröffentlicht hatte, worin er Oudinot für den Angriff auf die römiſche
Republik belobte. Als nun die Nationalverſammlung das Budget für die
römiſche Expedition votirte, brachte Victor Hugo aus angeblichem Liberalis¬
mus jenen Brief zur Sprache. Die Ordnungspartei erſtickte den Einfall,
als ob Bonaparte's Einfälle irgend ein politiſches Gewicht haben könnten,
unter verächtlich ungläubigen Ausrufungen. Keiner der Miniſter nahm den
Handſchuh für ihn auf. Bei einer andern Gelegenheit ließ Barrot mit
ſeinem bekannten hohlen Pathos Worte der Entrüſtung von der Rednerbühne
auf die „abominablen Umtriebe“ fallen, die nach ſeiner Ausſage in der
[38] nächſten Umgebung des Präſidenten vorgingen. Endlich verweigerte das
Miniſterium, während es der Herzogin von Orleans einen Witwengehalt
von der Nationalverſammlung erwirkte, jeden Antrag auf Erhöhung der
präſidentiellen Civilliſte. Und in Bonaparte verſchmolz der kaiſerliche Prä¬
tendent ſo innig mit dem heruntergekommenen Glücksritter, daß die Eine
große Idee, er ſei berufen, das Kaiſerthum zu reſtauriren, ſtets von der
andern ergänzt ward, das franzöſiſche Volk ſei berufen, ſeine Schulden zu zahlen.


Das Miniſterium Barrot-Falloux war das erſte und letzte parlamen¬
tariſche Miniſterium
, das Bonaparte in's Leben rief. Die Entlaſſung
deſſelben bildet daher einen entſcheidenden Wendepunkt. Mit ihm verlor die
Ordnungspartei, um ihn nie wieder zu erobern, einen unentbehrlichen Poſten
für die Behauptung des parlamentariſchen Regimes, die Handhabe der Exe¬
kutivgewalt. Man begreift ſogleich, daß in einem Lande wie Frankreich, wo
die Exekutivgewalt über ein Beamtenheer von mehr als einer halben Million
von Individuen verfügt, alſo eine ungeheure Maſſe von Intereſſen und Exi¬
ſtenzen beſtändig in der unbedingteſten Abhängigkeit erhält, wo der Staat die
bürgerliche Geſellſchaft von ihren umfaſſendſten Lebensäußerungen bis zu
ihren unbedeutendſten Regungen hinab, von ihren allgemeinſten Daſeins¬
weiſen bis zur Privatexiſtenz der Individuen umſtrickt, kontrollirt, maßregelt,
überwacht und bevormundet, wo dieſer Paraſitenkörper durch die außerordent¬
lichſte Centraliſation eine Allgegenwart, Allwiſſenheit, eine beſchleunigte Be¬
wegungsfähigkeit und Schnellkraft gewinnt, die nur in der hülfloſen Unſelbſt¬
ſtändigkeit, in der zerfahrenen Unförmlichkeit des wirklichen Geſellſchaftskör¬
pers ein Analogon finden, daß in einem ſolchen Lande die Nationalverſamm¬
lung mit der Verfügung über die Miniſterſtellen jeden wirklichen Einfluß ver¬
loren gab, wenn ſie nicht gleichzeitig die Staatsverwaltung vereinfachte, das
Beamtenheer möglichſt verringerte, endlich die bürgerliche Geſellſchaft und die
öffentliche Meinung ihre eignen von der Regierungsgewalt unabhängigen
Organe erſchaffen ließ. Aber das materielle Intereſſe der franzö¬
ſiſchen Bourgeoiſie iſt gerade auf das Innigſte mit der Erhaltung jener breiten
und vielverzweigten Staatsmaſchine verwebt. Hier bringt ſie ihre überſchüſſige
Bevölkerung unter und ergänzt in der Form von Staatsgehalten, was ſie
nicht in der Form von Profiten, Zinſen, Renten und Honoraren einſtecken
kann. Andrerſeits zwang ihr politiſches Intereſſe ſie, die Repreſſion,
alſo die Mittel und das Perſonal der Staatsgewalt täglich zu vermehren,
während ſie gleichzeitig einen ununterbrochenen Krieg gegen die öffentliche
[39] Meinung führen und die ſelbſtſtändigen Bewegungsorgane der Geſellſchaft
mißtrauiſch verſtümmeln, lähmen mußte, wo es ihr nicht gelang, ſie gänzlich
zu amputiren. So war die franzöſiſche Bourgeoiſie durch ihre Klaſſenſtellung
gezwungen, einerſeits die Lebensbedingungen einer jeden, alſo auch ihrer eig¬
nen parlamentariſchen Gewalt zu vernichten, andrerſeits die ihr feindliche
Exekutivgewalt unwiderſtehlich zu machen.


Das neue Miniſterium hieß das Miniſterium d'Hautpoul. Nicht als
hätte General d'Hautpoul den Rang eines Miniſterpräſidenten erhalten.
Mit Barrot ſchaffte Bonaparte vielmehr zugleich dieſe Würde ab, die den
Präſidenten der Republik allerdings zur legalen Nichtigkeit eines konſtitu¬
tionellen Königs verdammte, aber eines konſtitutionellen Königs ohne Thron
und ohne Krone, ohne Scepter und ohne Schwert, ohne Unverantwortlich¬
keit, ohne den unverjährbaren Beſitz der höchſten Staatswürde, und was
das Fatalſte war, ohne Civilliſte. Das Miniſterium d'Hautpoul beſaß nur
einen Mann von parlamentariſchem Rufe, den Juden Fould, eins der
berüchtigtſten Glieder der hohen Finanz. Ihm fiel das Finanzminiſterium
anheim. Man ſchlage die Pariſer Börſennotationen nach und man wird
finden, daß vom 1. November 1849 an die franzöſiſchen Fonds ſteigen
und fallen mit dem Fallen und Steigen der bonapartiſtiſchen Aktien. Wäh¬
rend Bonaparte ſo ſeinen Affiliirten in der Börſe gefunden hatte, bemäch¬
tigte er ſich zugleich der Polizei durch Carlier's Ernennung zum Polizei¬
präfekten von Paris.


Indeß konnten ſich die Folgen des Miniſterwechſels erſt im Laufe der
Entwicklung herausſtellen. Zunächſt hatte Bonaparte nur einen Schritt vor¬
wärts gethan, um deſto augenfälliger rückwärts getrieben zu werden. Seiner
barſchen Botſchaft folgte die ſervilſte Unterthänigkeitserklärung an die Natio¬
nalverſammlung. So oft die Miniſter den ſchüchternen Verſuch wagten,
ſeine perſönlichen Marotten als Geſetzesvorſchläge einzubringen, ſchienen ſie
ſelbſt nur widerwillig und durch ihre Stellung gezwungen die komiſchen Auf¬
träge zu erfüllen, von deren Erfolgloſigkeit ſie im voraus überzeugt waren.
So oft Bonaparte im Rücken der Miniſter ſeine Abſichten ausplauderte und mit
ſeinen „idées napoléoniennes“ ſpielte, desavouirten ihn die eignen Miniſter
von der Tribüne der Nationalverſammlung herab. Seine Uſurpationsgelüſte,
ſchienen nur laut zu werden, damit das ſchadenfrohe Gelächter ſeiner Gegner
nicht verſtumme. Er gebärdete ſich als ein verkanntes Genie, das alle
Welt für einen Simpel ausgibt. Nie genoß er in vollerem Maße die
[40] Verachtung aller Klaſſen, als während dieſer Periode. Nie herrſchte die
Bourgeoiſie unbedingter, nie trug ſie prahleriſcher die Inſignien der Herr¬
ſchaft zur Schau.


Ich habe hier nicht die Geſchichte ihrer geſetzgeberiſchen Thätigkeit zu
ſchreiben, die ſich während dieſer Periode in zwei Geſetzen reſümirt: in dem
Geſetze, das die Weinſteuer wiederherſtellt, in dem Unterrichtsge¬
ſetze, das den Unglauben abſchafft. Wenn den Franzoſen das Weintrinken
erſchwert, ward ihnen deſto reichlicher vom Waſſer des wahren Lebens ge¬
ſchenkt. Wenn die Bourgeoiſie in dem Geſetze über die Weinſteuer das alte
gehäſſige franzöſiſche Steuerſyſtem für unantaſtbar erklärt, ſuchte ſie durch
das Unterrichtsgeſetz den alten Gemüthszuſtand der Maſſen zu ſichern, der
es ertragen ließ. Man iſt erſtaunt, die Orleaniſten, die liberalen Bourgeois,
dieſe alten Apoſtel des Voltairianismus und der eklektiſchen Philoſophie, ihren
Stammfeinden, den Jeſuiten, die Verwaltung des franzöſiſchen Geiſtes an¬
vertrauen zu ſehn. Aber Orleaniſten und Legitimiſten konnten in Be¬
ziehung auf den Kronprätendenten auseinandergehn, ſie begriffen, daß ihre
vereinte Herrſchaft die Unterdrückungsmittel zweier Epochen zu vereinigen
gebot, daß die Unterjochungsmittel der Julimonarchie durch die Unterjochungs¬
mittel der Reſtauration ergänzt und verſtärkt werden mußten.


Die Bauern, in allen ihren Hoffnungen getäuſcht, durch den niedrigen
Stand der Getreidepreiſe einerſeits, durch die wachſende Steuerlaſt und
Hypothekenſchuld andrerſeits mehr als je erdrückt, begannen ſich in den Depar¬
tements zu regen. Man antwortete ihnen durch eine Hetzjagd auf die Schul¬
meiſter, die den Geiſtlichen, durch eine Hetzjagd auf die Maires, die den
Präfekten, und durch ein Syſtem der Spionage, dem Alle unterworfen wur¬
den. In Paris und den großen Städten trägt die Reaktion ſelbſt die
Phyſiognomie ihrer Epoche und fordert mehr heraus, als ſie niederſchlägt.
Auf dem Lande wird ſie platt, gemein, kleinlich, ermüdend, plackend, mit
einem Worte Gensdarm. Man begreift, wie drei Jahre vom Regime des
Gensdarmen, eingeſegnet durch das Regime des Pfaffen, unreife Maſſen
demoraliſiren mußten.


Welche Summe von Leidenſchaft und Deklamation die Ordnungspartei
von der Tribüne der Nationalverſammlung herab gegen die Minorität auf¬
wenden mochte, ihre Rede blieb einſylbig, wie die des Chriſten, deſſen Worte
ſein ſollen: Ja, ja, nein, nein! Einſylbig von der Tribüne herab, wie in
der Preſſe. Fad wie ein Räthſel, deſſen Löſung im voraus bekannt iſt.
[41] Handelte es ſich um Petitionsrecht oder um Weinſteuer, um Preßfreiheit oder
um Freihandel, um Klubs oder um Munizipalverfaſſung, um Schutz der per¬
ſönlichen Freiheit oder um Regelung des Staatshaushaltes, das Loſungswort
kehrt immer wieder, das Thema bleibt immer daſſelbe, der Urtheilsſpruch iſt
immer fertig und lautet unveränderlich: „Sozialismus!“ Für ſozia¬
liſtiſch
wird ſelbſt der bürgerliche Liberalismus erklärt, für ſozialiſtiſch die
bürgerliche Aufklärung, für ſozialiſtiſch die bürgerliche Finanzreform. Es
war ſozialiſtiſch, eine Eiſenbahn zu bauen, wo ſchon ein Kanal vorhanden war,
und es war ſozialiſtiſch, ſich mit dem Stocke zu vertheidigen, wenn man mit
dem Degen angegriffen wurde.


Es war dies nicht bloße Redeform, Mode, Parteitaktik. Die Bourgeoiſie
hatte die richtige Einſicht, daß alle Waffen, die ſie gegen den Feudalismus
geſchmiedet, ihre Spitze gegen ſie ſelbſt kehrten, daß alle Bildungsmittel, die
ſie erzeugt, gegen ihre eigne Civiliſation rebellirten, daß alle Götter, die ſie
geſchaffen, von ihr abgefallen waren. Sie begriff, daß alle ſogenannten bürger¬
lichen Freiheiten und Fortſchrittsorgane ihre Klaſſenherrſchaft zugleich
an der geſellſchaftlichen Grundlage und an der politiſchen Spitze angriffen
und bedrohten, alſo „ſozialiſtiſch“ geworden waren. In dieſer Drohung
und in dieſem Angriffe fand ſie mit Recht das Geheimniß des Sozialismus,
deſſen Sinn und Tendenz ſie richtiger beurtheilt, als der ſogenannte Sozialis¬
mus ſich ſelbſt zu beurtheilen weiß, der daher nicht begreifen kann, wie die
Bourgeoiſie ſich verſtockt gegen ihn verſchließt, mag er nun ſentimental über
die Leiden der Menſchheit winſeln, oder chriſtlich das tauſendjährige Reich
und die allgemeine Bruderliebe verkünden, oder humaniſtiſch von Geiſt, Bil¬
dung, Freiheit faſeln, oder doktrinär ein Syſtem der Vermittlung und der
Wohlfahrt aller Klaſſen aushecken. Was ſie aber nicht begriff, war die
Konſequenz, daß ihr eignes parlamentariſches Regime, daß
ihre politiſche Herrſchaft überhaupt nun auch als ſozialiſtiſch
dem allgemeinen Verdammungsurtheil verfallen mußte. So lange die Herr¬
ſchaft der Bourgeoisklaſſe ſich nicht vollſtändig organiſirt, nicht ihren reinen
politiſchen Ausdruck gewonnen hatte, konnte auch der Gegenſatz der andern
Klaſſen nicht rein hervortreten, und wo er hervortrat, nicht die gefährliche
Wendung nehmen, die jeden Kampf gegen die Staatsgewalt in einen Kampf
gegen das Kapital verwandelt. Wenn ſie in jeder Lebensregung der Geſell¬
ſchaft die „Ruhe“ gefährdet ſah, wie konnte ſie an der Spitze der Geſell¬
ſchaft das Regime der Unruhe, ihr eignes Regime, das parlamen¬
[42] tariſche Regime
behaupten wollen, dieſes Regime, das nach dem Aus¬
drucke eines ihrer Redner im Kampfe und durch den Kampf lebt? Das par¬
lamentariſche Regime lebt von der Diskuſſion, wie ſoll es die Diskuſſion
verbieten? Jedes Intereſſe, jede geſellſchaftliche Einrichtung wird hier in allge¬
meine Gedanken verwandelt, als Gedanken verhandelt, wie ſoll irgend ein Inter¬
eſſe, eine Einrichtung ſich über dem Denken behaupten und als Glaubensartikel
imponiren? Der Rednerkampf auf der Tribüne ruft den Kampf der Pre߬
bengel hervor, der debattirende Klub im Parlament ergänzt ſich nothwendig
durch debattirende Klubs in den Salons und in den Kneipen, die Repräſen¬
tanten, die beſtändig an die Volksmeinung appelliren, berechtigen die Volks¬
meinung, in Petitionen ihre wirkliche Meinung zu ſagen. Das parlamen¬
tariſche Regime überläßt Alles der Entſcheidung der Majoritäten, wie ſollen
die großen Majoritäten jenſeits des Parlaments nicht entſcheiden wollen?
Wenn ihr auf dem Gipfel des Staates die Geige ſtreicht, was Andres erwar¬
ten, als daß die drunten tanzen?


Indem alſo die Bourgeoiſie, was ſie früher als „liberal“ gefeiert,
jetzt als „ſozialiſtiſch“ verketzert, geſteht ſie ein, daß ihr eignes Intereſſe
gebietet, ſie der Gefahr des Selbſtregierens zu überheben, daß um die Ruhe
im Lande herzuſtellen, vor Allem ihr Bourgeois-Parlament zur Ruhe gebracht,
um ihre geſellſchaftliche Macht unverſehrt zu erhalten, ihre politiſche Macht
gebrochen werden müſſe, daß die Privatbourgeois nur fortfahren können, die
andern Klaſſen zu exploitiren und ſich ungetrübt des Eigenthums, der Familie,
der Religion und der Ordnung zu erfreuen, unter der Bedingung, daß ihre
Klaſſe neben den andern Klaſſen zu gleicher politiſcher Nichtigkeit verdammt
werde, daß um ihren Beutel zu retten, die Krone ihr abgeſchlagen und das
Schwert, das ſie beſchützen ſolle, zugleich als Damoklesſchwert über ihr eignes
Haupt gehängt werden müſſe.


In dem Bereiche der allgemeinen bürgerlichen Intereſſen zeigte ſich die
Nationalverſammlung ſo unproduktiv, daß z. B. die Verhandlungen über die
Paris-Avignoner Eiſenbahn, die im Winter 1850 begannen, am 2. Dezem¬
ber 1851 noch nicht zum Schluß reif waren. Wo ſie nicht unterdrückte,
reagirte, war ſie mit unheilbarer Unfruchtbarkeit geſchlagen.


Während Bonaparte's Miniſterium theils die Initiative zu Geſetzen im
Geiſte der Ordnungspartei ergriff; theils ihre Härte in der Ausführung und
Handhabung noch übertrieb, ſuchte er andrerſeits durch kindiſch alberne Vor¬
ſchläge Popularität zu erobern, ſeinen Gegenſatz zur Nationalverſammlung
[43] zu konſtatiren und auf einen geheimen Hinterhalt hinzudeuten, der nur durch
die Verhältniſſe einſtweilen verhindert werde, dem franzöſiſchen Volke ſeine
verborgenen Schätze zu erſchließen. So der Vorſchlag, den Unteroffizieren
eine tägliche Zulage von vier Sous zu dekretiren. So der Vorſchlag einer
Ehrenleihbank für die Arbeiter. Geld geſchenkt und Geld gepumpt zu erhalten,
das war die Perſpektive, womit er die Maſſen zu ködern hoffte. Schenken
und Pumpen, darauf beſchränkt ſich die Finanzwiſſenſchaft des Lumpenprole¬
tariats, des vornehmen und des gemeinen. Darauf beſchränkten ſich die
Springfedern, die Bonaparte in Bewegung zu ſetzen wußte. Nie hat ein
Prätendent platter auf die Plattheit der Maſſen ſpekulirt.


Die Nationalverſammlung brauſte wiederholt auf bei dieſen unverkenn¬
baren Verſuchen auf ihre Koſten Popularität zu erwerben, bei der wachſenden
Gefahr, daß dieſer Abenteurer, den die Schulden voranpeitſchten und kein
erworbener Ruf zurückhielt, einen verzweifelten Streich wagen werde. Die
Verſtimmung zwiſchen der Ordnungspartei und dem Präſidenten hatte einen
drohenden Charakter angenommen, als ein unerwartetes Ereigniß ihn reuig
in ihre Arme zurückwarf. Wir meinen die Nachwahlen vom 10.
März 1850. Dieſe Wahlen fanden ſtatt, um die Repräſentantenſtellen,
die nach dem 13. Juni durch das Gefängniß oder das Exil erledigt worden
waren, wieder zu beſetzen. Paris wählte nur ſozial-demokratiſche Kandidaten.
Es vereinte ſogar die meiſten Stimmen auf einen Inſurgenten des Juni 1848,
auf Deflotte. So rächte ſich das mit dem Proletariat alliirte Pariſer Klein¬
bürgerthum für ſeine Niederlage am 13. Juni 1849. Es ſchien im Augen¬
blick der Gefahr nur vom Kampfplatz verſchwunden zu ſein, um ihn bei
günſtiger Gelegenheit mit maſſenhafteren Streitkräften und mit einer kühnern
Kampfparole wieder zu betreten. Ein Umſtand ſchien die Gefahr dieſes
Wahlſieges zu erhöhen. Die Armee ſtimmte in Paris für den Juniinſurgen¬
ten gegen Lahitte, einen Miniſter Bonaparte's, und in den Departements
zum großen Theil für die Montagnards, die auch hier, zwar nicht ſo ent¬
ſchieden wie in Paris, das Uebergewicht über ihre Gegner behaupteten.


Bonaparte ſah ſich plötzlich wieder die Revolution gegenüber ſtehen.
Wie am 29. Januar 1849, wie am 13. Juni 1849, verſchwand er, am
10. März 1850 hinter der Partei der Ordnung. Er beugte ſich, er that
kleinmüthig Abbitte, er erbot ſich auf Befehl der parlamentariſchen Majori¬
tät jedes beliebige Miniſterium zu ernennen, er flehte ſogar die orleaniſtiſchen
und legitimiſtiſchen Parteiführer, die Thiers, die Berryer, die Broglio, die
[44] Mole, kurz die ſogenannten Burggrafen, das Staatsruder in eigner Perſon
zu ergreifen. Die Partei der Ordnung wußte dieſen unwiederbringlichen
Augenblick nicht zu benutzen. Statt ſich kühn der angebotenen Gewalt zu be¬
mächtigen, zwang ſie Bonaparte nicht einmal, das am 1. November entlaſſene
Miniſterium wieder einzuſetzen; ſie begnügte ſich, ihn durch die Verzeihung
zu demüthigen und dem Miniſterium d'Hautpoul Herrn Baroche beizuge¬
ſellen. Dieſer Baroche hatte als öffentlicher Ankläger, das eine Mal gegen
die Revolutionäre vom 15. Mai, das andere Mal gegen die Demokraten des
13. Juni vor dem Hochgerichte zu Bourges gewüthet, beide Male wegen
Attentat auf die Nationalverſammlung. Keiner der Miniſter Bonaparte's
trug ſpäter mehr dazu bei, die Nationalverſammlung herabzuwürdigen, und
nach dem 2. Dezember 1851 finden wir ihn wieder als wohlbeſtallten und
theuer bezahlten Vizepräſidenten des Senats. Er hatte den Revolutionären
in die Suppe geſpuckt, damit Bonaparte ſie aufeſſe.


Die ſozial-demokratiſche Partei ihrerſeits ſchien nur nach Vorwänden
zu haſchen, um ihren eignen Sieg wieder in Frage zu ſtellen und ihm die
Pointe abzubrechen. Vidal, einer der neu erwählten Pariſer Repräſentanten
war gleichzeitig in Straßburg gewählt worden. Man bewog ihn, die Wahl
für Paris abzulehnen und die für Straßburg anzunehmen. Statt alſo
ihrem Siege auf dem Wahlplatze einen definitiven Charakter zu geben und
dadurch die Ordnungspartei zu zwingen, ihn ſofort im Parlamente ſtreitig
zu machen, ſtatt ſo den Gegner im Augenblick des Volksenthuſiasmus und
der günſtigen Stimmung der Armee zum Kampfe zu treiben, ermüdete die
demokratiſche Partei Paris während der Monate März und April mit einer
neuen Wahlagitation, ließ die aufgeregten Volksleidenſchaften in dieſem aber¬
maligen proviſoriſchen Stimmenſpiel ſich aufreiben, die revolutionäre That¬
kraft in konſtitutionellen Erfolgen ſich ſättigen, in kleinen Intriguen, hohlen
Deklamationen und Scheinbewegungen verpuffen, die Bourgeoiſie ſich ſam¬
meln und ihre Vorkehrungen treffen, endlich die Bedeutung der Märzwahlen
in der nachträglichen Aprilwahl, in der Wahl Eugen Sue's, einen ſentimental
abſchwächenden Kommentar finden. Mit einem Worte, ſie ſchickte den 10.
März in den April.


Die parlamentariſche Majorität begriff die Schwäche ihres Gegners.
Ihre ſiebzehn Burggrafen, denn Bonaparte hatte ihr die Leitung und die
Verantwortlichkeit des Angriffs überlaſſen, arbeiteten ein neues Wahlgeſetz
aus, deſſen Vorlage dem Herrn Faucher, der ſich dieſe Ehre ausbat, anver¬
[45] traut wurde. Am 8. Mai brachte er das Geſetz ein, wodurch das allgemeine
Wahlrecht abgeſchafft, ein dreijähriges Domizil an dem Orte der Wahl den
Wählern als Bedingung auferlegt, endlich der Nachweis dieſes Domizils für
die Arbeiter von dem Zeugniſſe ihrer Arbeitgeber abhängig gemacht wurde.


Wie revolutionär die Demokraten während des konſtitutionellen Wahl¬
kampfes aufgeregt und getobt hatten, ſo konſtitutionell predigten ſie jetzt, wo
es galt, mit den Waffen in der Hand den Ernſt jener Wahlſiege zu beweiſen,
Ordnung, majeſtätiſche Ruhe (calme majestueux), geſetzliche Haltung, d. h.
blinde Unterwerfung unter den Willen der Kontrerevolution, der ſich als Ge¬
ſetz breit machte. Während der Debatte beſchämte der Berg die Partei
der Ordnung, indem er gegen ihre revolutionäre Leidenſchaftlichkeit die
leidenſchaftsloſe Haltung des Biedermanns geltend machte, der den Rechts¬
boden behauptet, und indem er ſie mit dem furchtbaren Vorwurfe zu Boden
ſchlug, daß ſie revolutionär verfahre. Selbſt die neugewählten Deputirten
bemühten ſich durch anſtändiges und beſonnenes Auftreten zu beweiſen, welche
Verkennung es war, ſie als Anarchiſten zu verſchreien und ihre Wahl als
einen Sieg der Revolution auszulegen. Am 31. Mai ging das neue Wahl¬
geſetz durch. Die Montagne begnügte ſich damit, dem Präſidenten einen
Proteſt in die Taſche zu ſchmuggeln. Dem Wahlgeſetz folgte ein neues
Preßgeſetz, wodurch die revolutionäre Zeitungspreſſe vollſtändig beſeitigt
wurde. Sie hatte ihr Schickſal verdient. „National“ und „la Presse“, zwei
bürgerliche Organe, blieben nach dieſer Sündfluth als äußerſte Vorpoſten der
Revolution zurück.


Wir haben geſehn, wie die demokratiſchen Führer während März und
April Alles gethan hatten, um das Volk von Paris in einen Scheinkampf zu
verwickeln, wie ſie nach dem 8. Mai Alles thaten, um es vom wirklichen
Kampf abzuhalten. Wir dürfen zudem nicht vergeſſen, daß das Jahr 1850
eines der glänzendſten Jahre induſtrieller und kommerzieller Prosperität, alſo
das Pariſer Proletariat vollſtändig beſchäftigt war. Allein das Wahlgeſetz
vom 31. Mai 1850 ſchloß es von aller Theilnahme an der politiſchen Ge¬
walt aus. Es ſchnitt ihm das Kampfterrain ſelbſt ab. Es warf die Ar¬
beiter in die Pariaſtellung zurück, die ſie vor der Februarrevolution einge¬
nommen hatten. Indem ſie einem ſolchen Ereigniſſe gegenüber ſich von den
Demokraten lenken laſſen und das revolutionäre Intereſſe ihrer Klaſſe über
einem augenblicklichen Wohlbehagen vergeſſen konnten, verzichteten ſie auf die
Ehre eine erobernde Macht zu ſein, unterwarfen ſich ihrem Schickſale, be¬
[46] wieſen daß die Niederlage vom Juni 1848 ſie für Jahre kampfunfähig ge¬
macht und daß der geſchichtliche Prozeß zunächſt wieder über ihren
Köpfen vor ſich gehen müſſe. Was die kleinbürgerliche Demokratie betrifft,
die am 13. Juni geſchrien hatte, „aber wenn erſt das allgemeine Wahlrecht
angetaſtet wird, aber dann!“ — ſo tröſtete ſie ſich jetzt damit, daß der kontre¬
revolutionäre Schlag, der ſie getroffen, kein Schlag und das Geſetz vom
31. Mai kein Geſetz ſei. Am 2. Mai 1852 erſcheint jeder Franzoſe auf
dem Wahlplatze, in der einen Hand den Stimmzettel, in der andern das
Schwert. Mit dieſer Prophezeihung that ſie ſich ſelbſt Genüge. Die Armee
endlich wurde, wie für die Wahlen vom 29. Mai 1849, ſo für die vom März
und April 1850 von ihren Vorgeſetzten gezüchtigt. Diesmal ſagte ſie ſich
aber entſchieden: „die Revolution prellt uns nicht zum dritten Mal.“


Das Geſetz vom 31. Mai 1850 war der coup d'état der Bourgeoiſie.
Alle ihre bisherigen Eroberungen über die Revolution hatten einen nur
proviſoriſchen Charakter. Sie waren in Frage geſtellt, ſobald die jetzige
Nationalverſammlung von der Bühne abtrat. Sie hingen von dem Zufall
einer neuen allgemeinen Wahl ab und die Geſchichte der Wahlen ſeit 1848
bewies unwiderleglich, daß in demſelben Maße wie die faktiſche Herrſchaft
der Bourgeoiſie ſich entwickelte, ihre moraliſche Herrſchaft über die Volks¬
maſſen verloren ging. Das allgemeine Wahlrecht erklärte ſich am 10. März
direkt gegen die Herrſchaft der Bourgeoiſie, die Bourgeoiſie antwortete mit
der Aechtung des allgemeinen Wahlrechts. Das Geſetz vom 31. Mai war
alſo eine der Nothwendigkeiten des Klaſſenkampfes. Andrerſeits erheiſchte die
Konſtitution, damit die Wahl des Präſidenten der Republik gültig ſei, ein
Minimum von zwei Millionen Stimmen. Erhielt keiner der Präſidentſchafts¬
kandidaten dies Minimum, ſo ſollte die Nationalverſammlung unter den drei
Kandidaten, denen die meiſten Stimmen zufallen würden, den Präſidenten
wählen. Zur Zeit, wo die Konſtituante dies Geſetz machte, waren zehn
Millionen Wähler auf den Stimmliſten eingeſchrieben. In ihrem Sinne
reichte alſo ein Fünftel der Wahlberechtigten hin, um die Präſidentſchaftswahl
gültig zu machen. Das Geſetz vom 31. Mai ſtrich wenigſtens drei Millio¬
nen Stimmen von den Wahlliſten, reduzirte die Zahl der Wahlberechtigten
auf ſieben Millionen und behielt nichts deſto weniger das geſetzliche Minimum
von zwei Millionen für die Präſidentſchaftswahl bei. Es erhöhte alſo das
geſetzliche Minimum von ein Fünftel auf beinahe ein Drittel der wahlfähigen
Stimmen, d. h. es that Alles, um die Präſidentenwahl aus den Händen des
[47] Volkes [...]n die Hände der Nationalverſammlung hinüberzuſchmuggeln. So
ſchien [...]ie Partei der Ordnung durch das Wahlgeſetz vom 31. Mai ihre
Herrſchft doppelt befeſtigt zu haben, indem ſie die Wahl der Nationalver¬
ſamml [...]ng und die des Präſidenten der Republik dem ſtationären Theil der
Geſelchaft anheimgab.

V.

Der Kampf brach ſofort wieder aus zwiſchen der Nationalverſammlung
[...]nd Bonaparte, ſobald die revolutionäre Kriſe überdauert und das allgemeine
Wahlrecht abgeſchafft war.


Die Konſtitution hatte das Gehalt Bonaparte's auf 600,000 Francs
feſtgeſetzt. Kaum ein halbes Jahr nach ſeiner Inſtallirung gelang es ihm,
dieſe Summe auf das Doppelte zu erhöhn. Odilon Barrot ertrotzte nämlich
von der konſtituirenden Nationalverſammlung einen jährlichen Zuſchuß von
600,000 Francs für ſogenannte Repräſentationsgelder. Nach dem 13. Juni
hatte Bonaparte ähnliche Anliegen verlauten laſſen, ohne diesmal bei Barrot
Gehör zu finden. Jetzt nach dem 31. Mai benutzte er ſofort den günſtigen
Augenblick und ließ ſeine Miniſter eine Civilliſte von drei Millionen in der
Nationalverſammlung beantragen. Ein langes abenteuerndes Vagabunden¬
leben hatte ihn mit den entwickeltſten Fühlhörnern begabt, um die ſchwachen
Momente herauszutaſten, wo er ſeinem Bourgeois Geld abpreſſen durfte.
Er trieb förmliche Chantage. Die Nationalverſammlung hatte die Volks¬
ſouveränitat mit ſeiner Mithülfe und ſeinem Mitwiſſen geſchändet. Er drohte
ihr Verbrechen dem Volksgericht zu denunziren, falls ſie nicht den Beutel
ziehe und ſein Stillſchweigen mit drei Millionen jährlich erkaufe. Sie hatte
[...]Millionen Franzoſen ihres Stimmrechts beraubt. Er verlangte für jeden
[...]Cours geſetzten Franzoſen einen Cours habenden Franken, genaudrei
[...]onen Francs. Er, der Erwählte von ſechs Millionen, fordert Schaden¬
[...] für die Stimmen, um die man ihn nachträglich geprellt habe. [...]
[...]miſſion der Nationalverſammlung wies den Zudringlichen ab. [...]
[...]partiſtiſche Preſſe drohte. Konnte die Nationalverſammlung n [...]
[...]identen der Republik brechen in einem Augenblicke, wo ſieprinzi [...]
[...]itiv mit der Maſſe der Nation gebrochen hatte? Sie verwa [...]
[48] jährliche Civilliſte, aber ſie bewilligte einen einmaligen Zuſchuß von 2,60,000
Francs. Sie machte ſich ſo der doppelten Schwäche ſchuldig, das Geld zu
bewilligen und zugleich durch ihren Aerger zu zeigen, daß ſie es nur wider¬
willig bewillige. Wir werden ſpäter ſehen, wozu Bonaparte das Geld
brauchte. Nach dieſem ärgerlichen Nachſpiel, das der Abſchaffung des allge¬
meinen Stimmrechts auf dem Fuße folgte, und worin Bonaparte ſeine, demü¬
thige Haltung während der Kriſe des März und April mit herausfordernder
Unverſchämtheit gegen das uſurpatoriſche Parlament vertauſchte, vertagt ſich
die Nationalverſammlung für drei Monate, vom 11. August bis 11. No¬
vember. Sie ließ an ihrer Stelle eine Permanenzkommiſſion von 18 Mit¬
gliedern zurück, die keinen Bonapartiſten enthielt, wohl aber einige gemäßigte
Republikaner. Die Permanenzkommiſſion vom Jahre 1849 hatte nur
Männer der Ordnung und Bonapartiſten gezählt. Aber damals erklärte,
ſich die Partei der Ordnung in Permanenz gegen die Revolution. Diesmal
erklärte ſich die parlamentariſche Republik in Permanenz gegen den Präſidenten.
Nach dem Gesetze vom 31. Mai ſtand der Partei der Ordnung nur noch
dieſer Rival gegenüber.


Als die Nationalverſammlung im November 1850 wieder zuſammentrat,
ſchien ſtatt ihrer bisherigen kleinlichen Plänkeleien mit dem Präſidenten ein
großer rückſichtsloſer Kampf, ein Kampf der beiden Gewalten auf Leben und
Tod unvermeidlich geworden zu ſein.


Wie im Jahre 1849 war die Partei der Ordnung während der dies¬
jährigen Parlamentsferien in ihre einzelnen Fraktionen aus einander ge¬
gangen, jede beſchäftigt mit ihren eignen Reſtaurationsintriguen, die durch
den Tod Louis Philipp's neue Nahrung erhalten hatten. Der Legitimiſten¬
könig Heinrich V. hatte ſogar ein förmliches Miniſterium ernannt, das zu
Paris reſidirte und worin Mitglieder der Permanenzkommiſſion ſaßen.
Bonaparte war alſo berechtigt, ſeinerſeits Rundreiſen durch die franzöſiſchen
Departements zu machen und je nach der Stimmung der Stadt, die e [...]
mit ſeiner Gegenwart beglückte, bald verſteckter, bald offener ſeine eignen R [...]
rationspläne auszuplaudern und Stimmen für ſich zu werben. Auf dieſen
Zügen, die der große offizielle Moniteur und die kleinen Privatmoniteure
Bonaparte's natürlich als Triumphzüge feiern mußten, war er fortwährend
begleitet von Affiliirten der Geſellſchaft des 10. Dezember. Dieſe
Geſellſchaft datirt vom Jahre 1849. Unter dem Vorwande eine Wohl¬
tätigkeitsgeſellſchaft zu ſtiften, war das Pariſer Lumpenproletariat ingeheime
[49] Sektionen organiſirt worden, jede Sektion von bonapartiſtiſchen Agenten ge¬
leitet, an der Spitze des Ganzen ein bonapartiſtiſcher General. Neben zer¬
rütteten Roués mit zweideutigen Subſiſtenzmitteln und von zweideutiger Her¬
kunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoiſie,
Vagabunden, entlaſſene Soldaten, entlaſſene Zuchthausſträflinge, entlaufene
Galeerenſklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taſchendiebe, Taſchenſpieler,
Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Laſtträger, Literaten, Orgeldreher,
Lumpenſammler, Scherenſchleifer, Keſſelflicker, Bettler, kurz die ganze unbe¬
ſtimmte, aufgelöſte, hin- und hergeworfene Maſſe, die die la Bohème
nennen; mit dieſem ihm verwandten Elemente bildete Bonaparte den Stock
der Geſellſchaft vom 10. Dezember. „Wohlthätigkeitsgeſellſchaft“ — in
ſofern alle Mitglieder gleich Bonaparte das Bedürfniß fühlten, ſich auf Koſten
der arbeitenden Nation wohlzuthun. Dieſer Bonaparte, der ſich als Chef
des Lumpenproletariats
konſtituirt, der hier allein in maſſenhafter
Form die Intereſſen wiederfindet, die er perſönlich verfolgt, der in dieſem
Auswurfe, Abfall, Abhub aller Klaſſen die einzige Klaſſe erkennt, auf die er
ſich unbedingt ſtützen kann, er iſt der wirkliche Bonaparte, der Bonaparte
sans phrase. Alter durchtriebener Roué faßt er das geſchichtliche Leben der
Völker und die Haupt– und Staatsaktionen derſelben als Komödie im ordi¬
närſten Sinne auf, als eine Maskerade, wo die großen Koſtüme, Worte und
Poſituren nur der kleinlichſten Lumperei zur Maske dienen. So bei ſeinem
Zuge nach Straßburg, wo ein eingeſchulter Schweizer Geier den napoleoniſchen
Adler vorſtellt. Für ſeinen Einfall in Boulogne ſteckt er einige Londoner
Lakaien in franzöſiſche Uniform. Sie ſtellen die Armee vor. In ſeiner Ge¬
ſellſchaft vom 10. Dezember ſammelt er 10,000 Lumpenkerls, die das Volk
vorſtellen müſſen, wie Klaus Zettel den Löwen. In einem Augenblicke, wo
die Bourgeoiſie ſelbſt die vollſtändigſte Komödie ſpielte, aber in der ernſt¬
hafteſten Weiſe von der Welt, ohne irgend eine der pedantiſchen Bedingungen
der franzöſiſchen dramatiſchen Etiquette zu verletzen, und ſelbſt halb geprellt,
halb überzeugt von der Feierlichkeit ihrer eignen Haupt– und Staatsaktionen,
mußte der Abenteurer ſiegen, der die Komödie platt als Komödie nahm. Erſt
wenn er ſeinen feierlichen Gegner beſeitigt hat, wenn er nun ſelbſt ſeine kaiſer¬
liche Rolle im Ernſte nimmt und mit der napoleoniſchen Maske den wirklichen
Napoleon vorzuſtellen meint, wird er das Opfer ſeiner eignen Weltanſchauung,
der ernſthafte Hanswurſt, der nicht mehr die Weltgeſchichte als eine Komödie,
ſondern ſeine Komödie als Weltgeſchichte nimmt. Was für die ſozialiſtiſchen
4[50] Arbeiter die Nationalateliers, was für die Bourgeois–Republikaner die Gardes¬
mobiles, das war für Bonaparte die Geſellſchaft vom 10. Dezember, die ihnr
eigenthümliche Parteiſtreitkraft. Auf ſeinen Reiſen mußten die auf der Eiſen¬
bahn verpackten Abtheilungen derſelben ihm ein Publikum improviſiren, den
öffentlichen Enthuſiasmus aufführen, vive l'Emperenr heulen, die Republi¬
kaner inſultiren und durchprügeln, natürlich unter dem Schutze der Polizei.
Auf ſeinen Rückfahrten nach Paris mußten ſie die Avantgarde bilden, Gegen¬
demonſtrationen zuvorkommen oder ſie auseinanderjagen. Die Geſellſchaft
vom 10. Dezember gehörte ihm, ſie war ſein Wert, ſein eigenſter Gedanke.
Was er ſich ſonſt aneignet, gibt ihm die Macht der Verhältniſſe anheim, was
er ſonſt thut, thun die Verhältniſſe für ihn oder begnügt er ſich von den
Thaten Andrer zu kopiren; aber er, mit den offiziellen Redensarten der Ord¬
nung, der Religion, der Familie, des Eigenthums öffentlich vor den Bürgern,
hinter ihm die geheime Geſellſchaft der Schufterles und der Spiegelbergs, die
Geſellſchaft der Unordnung, der Proſtitution und des Diebſtahls, das iſt Bo¬
naparte ſelbſt als Originalautor und die Geſchichte der Geſellſchaft des
10. Dezember iſt ſeine eigne Geſchichte. Es hatte ſich nun ausnahmsweiſe
ereignet, daß der Ordnungspartei angehörige Volksrepräſentanten unter
die Stöcke der Dezembriſten geriethen. Noch mehr. Der der Nationalver¬
ſammlung zugewieſene, mit der Bewachung ihrer Sicherheit beauftragte Po¬
lizeikommiſſär Yon zeigte auf die Ausſage eines gewiſſen Alais hin der Per¬
manenzkommiſſion an, eine Sektion der Dezembriſten habe die Ermor¬
dung des Generals Changarnier und Dupin's, des Präſidenten der National¬
verſammlung, beſchloſſen und zu deren Vollſtreckung ſchon die Individuen
beſtimmt. Man begreift den Schreck des Herrn Dupin. Eine parlamentariſche
Enquête über die Geſellſchaft vom 10. Dezember, d. h. die Profanirung der
bonaparte'ſchen Geheimwelt, ſchien unvermeidlich. Grade vor dem Zuſammen¬
tritt der Nationalverſammlung löſte Bonaparte vorſorglich ſeine Geſellſchaft auf,
natürlich nur auf dem Papiere, denn noch Ende 1851 ſuchte der Polizeipräfect
Carlier in einem ausführlichen Memoire ihn vergeblich zur wirklichen Aus¬
einanderjagung der Dezembriſten zu bewegen.


Die Geſellſchaft vom 10. Dezember ſollte ſo lange die Privatarmee
Bonaparte's bleiben, bis es ihm gelang, die öffentliche Armee in eine Geſell¬
ſchaft vom 10. Dezember zu verwandeln. Bonaparte machte hierzu den erſten
Verſuch kurz nach Vertagung der Nationalverſammlung, und zwar mit dem
eben ihr abgetrotzten Gelde. Als Fataliſt lebt er der Ueberzeugung, daß es
[51] gewiſſe höhere Mächte gibt, denen der Menſch und insbeſondere der Soldat
nicht widerſtehen kann. Unter dieſe Mächte zählt er in erſter Linie Cigarre
und Champagner, kaltes Geflügel und Knoblauchswurſt. Er traktirte daher in
den Gemächern des Elyſée zunächſt Offiziere und Unteroffiziere mit Cigarre
und Champagner, mit kaltem Geflügel und Knoblauchswurſt. Am 3. Oktober
wiederholt er dieſes Manöver mit den Truppenmaſſen bei der Revue von
St. Maur und am 10. October daſſelbe Manöver auf noch größerer Stufen¬
leiter bei der Armeeſchau von Satory. Der Onkel erinnerte ſich der Feld¬
züge Alexander's in Aſien, der Neffe der Eroberungszüge des Bacchus in dem¬
ſelben Lande. Alexander war allerdings ein Halbgott, aber Bacchus war ein
Gott und dazu der Schutzgott der Geſellſchaft vom 10. Dezember.


Nach der Revue vom 3. Oktober lud die Permanenzkommiſſion den
Kriegsminiſter d'Hautpoul vor ſich. Er verſprach, jene Disziplinarwidrig¬
keiten ſollten ſich nicht wiederholen. Man weiß, wie Bonaparte am 10. Ok¬
tober d'Hautpoul's Wort hielt. In beiden Revuen hatte Changarnier kom¬
mandirt als Oberbefehlshaber der Armee von Paris. Er, zugleich Mitglied
der Permanenzkommiſſion, Chef der Nationalgarde, „Retter“ vom 29. Ja¬
nuar und 13. Juni, „Bollwerk der Geſellſchaft,“ Candidat der Ordnungs¬
partei für die Präſidentenwürde, der geahnte Monk zweier Monarchien, hatte
bisher nie ſeine Unterordnung unter den Kriegsminiſter anerkannt, die repu¬
blikaniſche Konſtitution ſtets offen verhöhnt, Bonaparte mit einer zweideutig
vornehmen Protektion verfolgt. Jetzt eiferte er für die Disziplin gegen den
Kriegsminiſter und für die Konſtitution gegen Bonaparte. Während am 10.
Oktober ein Theil der Kavallerie den Ruf „vive Napoleon! vivent les sau¬
cissons!
“ ertönen ließ, veranſtaltete Changarnier, daß wenigſtens die unter
dem Kommando ſeines Freundes Neumeyer vorbeidefilirende Infanterie ein
eiſiges Stillſchweigen beobachtete. Zur Strafe entſetzte der Kriegsminiſter
auf Bonaparte's Antrieb den General Neumeyer ſeines Poſtens in Paris,
unter dem Vorwand, ihn als Obergeneral der 14. und 15. Militärdiviſion
zu beſtallen, Neumeyer ſchlug dieſen Stellenwechſel aus und mußte ſo ſeine
Entlaſſung nehmen. Changarnier ſeinerſeits veröffentlichte am 2. November
eine Tagesordnung, worin er den Truppen verbot, politiſche Ausrufungen
und Demonſtrationen irgend einer Art ſich unter den Waffen zu erlauben.
Die elyſeiſchen Blätter griffen Changarnier an, die Blätter der Ordnungs¬
partei Bonaparte, die Permanenzkommiſſion wiederholte geheime Sitzungen,
worin wiederholt beantragt wurde, das Vaterland in Gefahr zu erklären, die
4*[52] Armee ſchien in zwei feindliche Lager getheilt mit zwei feindlichen General¬
ſtäben, der eine im Elyſée, wo Bonaparte, der andere in den Tuilerien, wo
Changarnier hauſte. Es ſchien nur des Zuſammentritts der Nationalver¬
ſammlung zu bedürfen, damit das Signal zum Kampfe erſchalle. Das fran¬
zöſiſche Publikum beurtheilte dieſe Reibungen zwiſchen Bonaparte und Chan¬
garnier wie jener engliſche Journaliſt, der ſie mit folgenden Worten charak¬
teriſirt hat: „Die politiſchen Hausmägde Frankreichs kehren die glühende Lava
der Revolution mit alten Beſen weg, und keifen ſich aus, während ſie ihre
Arbeit verrichten.“


Unterdeß beeilte ſich Bonaparte, den Kriegsminiſter d'Hautpoul zu ent¬
ſetzen, ihn Hals über Kopf nach Algier zu ſpediren und an ſeine Stelle General
Schramm zum Kriegsminiſter zu ernennen. Am 12. November ſandte er
der Nationalverſammlung eine Botſchaft von amerikaniſcher Weitläufigkeit,
überladen mit Details, ordnungsduftend, verſöhnungslüſtern, konſtitutionell¬
reſignirt, von Allem und Jedem handelnd, nur nicht von den questions
brûlantes
des Augenblickes. Wie im Vorbeigehen ließ er die Worte fallen,
daß den ausdrücklichen Beſtimmungen der Konſtitution gemäß der Präſident
allein über die Armee verfüge. Die Botſchaft ſchloß mit folgenden hochbe¬
theuernden Worten:


Frankreich verlangt vor allem Andern Ruhe . . . .
Allein durch einen Eid gebunden, werde ich mich inner¬
halb der engen Grenzen halten
, die er mir gezogen hat . . . .
Was mich betrifft, vom Volke erwählt, und ihm allein meine Macht ſchuldend,
ich werde mich ſtets ſeinem geſetzlich ausgedrückten Willen fügen. Beſchließt
Ihr in dieſer Sitzung die Reviſion der Konſtitution, ſo wird eine konſtituirende
Verſammlung die Stellung der Exekutivgewalt regeln. Wo nicht, ſo wird
das Volk 1852 feierlich ſeinen Entſchluß verkünden. Was aber immer die
Löſungen der Zukunft ſein mögen, laßt uns zu einem Verſtändniß kommen,
damit niemals Leidenſchaft, Ueberraſchung oder Gewalt über das Schickſal
einer großen Nation entſcheiden . . . . Was vor Allem meine Aufmerkſamkeit
in Anſpruch nimmt, iſt nicht, zu wiſſen, wer 1852 über Frankreich regieren
wird, ſondern die Zeit, die zu meiner Verfügung ſteht, ſo zu verwenden, daß
die Zwiſchenperiode ohne Agitation und Störung vorübergehe. Ich habe mit
Aufrichtigkeit mein Herz vor Euch eröffnet, Ihr werdet meiner Offenheit mit
Eurem Vertrauen antworten, meinem guten Streben durch Eure Mitwirkung,
und Gott wird das Uebrige thun.“


[53]

Die honette, heuchleriſch gemäßigte, tugendhaft gemeinplätzliche Sprache
der Bourgeoiſie offenbart ihren tiefſten Sinn im Munde des Selbſtherrſchers
der Geſellſchaft vom 10. Dezember und des Piknikhelden von St. Maur und
Satory.


Die Burggrafen der Ordnungspartei täuſchten ſich keinen Augenblick
über das Vertrauen, das dieſe Herzenseröffnung verdiene. Ueber Eide waren
ſie längſt blaſirt, ſie zählten Veteranen, Virtuoſen des politiſchen Meineids
in ihrer Mitte, ſie hatten die Stelle über die Armee nicht überhört. Sie
bemerkten mit Unwillen, daß die Botſchaft in der weitſchweifigen Aufzählung
der jüngſt erlaſſenen Geſetze das wichtigſte Geſetz, das Wahlgeſetz, mit affek¬
tirtem Stillſchweigen überging und vielmehr im Falle der Nichtreviſion der
Verfaſſung die Wahl des Präſidenten für 1852 dem Volke anheimſtellte.
Das Wahlgeſetz war die Bleikugel an den Füßen der Ordnungspartei, die
ſie am Gehen verhinderte und nun gar am Stürmen! Zudem hatte Bona¬
parte durch die amtliche Auflöſung der Geſellſchaft vom 10. Dezember und
die Entlaſſung des Kriegsminiſters d'Hautpoul die Sündenböcke mit eigener
Hand auf dem Altar des Vaterlandes geopfert. Er hatte der erwarteten
Kolliſion die Spitze abgebrochen. Endlich ſuchte die Ordnungspartei ſelbſt
ängſtlich jeden entſcheidenden Conflikt mit der Exekutivgewalt zu umgehen,
abzuſchwächen, zu vertuſchen. Aus Furcht, die Eroberungen über die Revo¬
lution zu verlieren, ließen ſie ihren Rivalen die Früchte derſelben gewinnen.
„Frankreich verlangt vor allem Andern Ruhe.“ So rief die Ordnungspartei
der Revolution ſeit Februar zu, ſo rief Bonaparte's Botſchaft der Ordnungs¬
partei zu. „Frankreich verlangt vor Allem Ruhe.“ Bonaparte beging Hand¬
lungen, die auf Uſurpation hinzielten, aber die Ordnungspartei beging die
„Unruhe“ wenn ſie Lärm über dieſe Handlungen ſchlug und ſie hypochon¬
driſch auslegte. Die Würſte von Satory waren mausſtill, wenn Niemand
von ihnen ſprach. „Frankreich verlangt vor Allem Ruhe.“ Alſo verlangte
Bonaparte, daß man ihn ruhig gewähren laſſe, und die parlamentariſche Par¬
tei war von doppelter Furcht gelähmt, von der Furcht die revolutionäre Un¬
ruhe wieder heraufzubeſchwören, von der Furcht ſelbſt als der Unruhſtifter in
den Augen ihrer eignen Klaſſe, in den Augen der Bourgeoiſie zu erſcheinen.
Da Frankreich alſo vor allem Andern Ruhe verlangte, wagte die Ordnungs¬
partei nicht, nachdem Bonaparte in ſeiner Botſchaft „Frieden“ geſprochen
hatte, „Krieg“ zu antworten. Das Publikum, das ſich mit großen Skandal¬
ſcenen bei Eröffnung der Nationalverſammlung geſchmeichelt hatte, wurde in
[54] ſeinen Erwartungen geprellt. Die Oppoſitionsdeputirten, welche Vorlage der
Protokolle der Permanenzkommiſſion über die Oktoberereigniſſe verlangten,
wurden von der Majorität überſtimmt. Man floh prinzipiell alle Debatte,
die aufregen konnte. Die Arbeiten der Nationalverſammlung während No¬
vember und Dezember 1850 waren ohne Intereſſe.


Endlich gegen Ende Dezember begann der Guerillakrieg um einzelne
Prärogativen des Parlaments. In kleinlichen Chikanen um die Präroga¬
tive der beiden Gewalten verſumpfte die Bewegung, ſeitdem die Bourgeoiſie
mit der Abſchaffung des allgemeinen Wahlrechts den Klaſſenkampf zunächſt
abgemacht hatte.


Gegen Mauguin, einen der Volksrepräſentanten, war Schulden halber
ein gerichtliches Urtheil erwirkt worden. Auf Anfrage des Gerichtspräſidenten
erklärte der Juſtizminiſter Rouher, es ſei ohne weitere Umſtände ein Verhafts¬
befehl gegen den Schuldner auszufertigen. Mauguin wurde alſo in den
Schuldthurm geworfen. Die Nationalverſammlung brauſte auf, als ſie das
Attentat erfuhr. Sie verordnete nicht nur ſeine ſofortige Freilaſſung, ſon¬
dern ließ ihn auch noch denſelben Abend von ihrem Greffier gewaltſam aus
Clichy herausholen. Um jedoch ihren Glauben an die Heiligkeit des Privat¬
eigenthums zu bewähren, und mit dem Hintergedanken, im Nothfall ein Aſyl
für läſtig gewordene Montagnards zu eröffnen, erklärte ſie die Schuldhaft von
Volksrepräſentanten nach vorheriger Einholung ihrer Erlaubniß für zuläſſig.
Sie vergaß zu dekretiren, daß auch der Präſident Schulden halber eingeſperrt
werden könne. Sie vernichtete den letzten Schein von Unverletzlichkeit, der
die Glieder ihres eigenen Körpers umgab.


Man erinnert ſich, daß der Polizeikommiſſär Yon eine Sektion der De¬
zembriſten auf Ausſage eines gewiſſen Alais hin wegen Mordplans auf Du¬
pin und Changarnier denunzirt hatte. Gleich in der erſten Sitzung machten
die Quäſtoren mit Bezug hierauf den Vorſchlag, eine eigne parlamentariſche
Polizei zu bilden, beſoldet aus dem Privatbudget der Nationalverſammlung
und durchaus unabhängig von dem Polizeipräfekten. Der Miniſter des
Innern, Baroche, hatte gegen dieſen Eingriff in ſein Reſſort proteſtirt. Man
ſchloß darauf einen elenden Kompromiß, wonach der Polizeikommiſſär der
Verſammlung zwar aus ihrem Privatbudget beſoldet und von ihren Quäſtoren
ein- und abgeſetzt werden ſolle, aber nach vorheriger Verſtändigung mit dem
Miniſter des Innern. Unterdeſſen war Alais gerichtlich von der Regierung
verfolgt worden und hier war es leicht, ſeine Ausſagen als eine Myſtifikation
[55] darzuſtellen und durch den Mund des öffentlichen Anklägers einen lächerlichen
Schein auf Dupin, Changarnier, Yon und die ganze Nationalverſammlung
zu werfen. Jetzt, am 29. Dezember, ſchreibt der Miniſter Baroche einen
Brief an Dupin, worin er die Entlaſſung Yon's verlangt. Das Bureau der
Nationalverſammlung beſchließt Yon in ſeiner Stelle zu erhalten, aber die
Nationalverſammlung, über ihre Gewaltſamkeit in Mauguin's Angelegenheit
erſchreckt, und gewohnt, wenn ſie einen Schlag gegen die Exekutivgewalt ge¬
wagt hat, zwei Schläge von ihr in Austauſch zurückzuerhalten, ſanktionirt
dieſen Beſchluß nicht. Sie entläßt Yon zur Belohnung ſeines Dienſteifers
und beraubt ſich einer parlamentariſchen Prärogative, unerläßlich gegen einen
Menſchen, der nicht in der Nacht beſchließt, um bei Tage auszuführen, ſon¬
dern bei Tage beſchließt und in der Nacht ausführt.


Wir haben geſehn, wie die Nationalverſammlung während der Monate
November und Dezember bei großen ſchlagenden Veranlaſſungen den
Kampf mit der Exekutivgewalt umging, niederſchlug. Jetzt ſehen wir ſie
gezwungen, ihn bei den kleinlichſten Anläſſen aufzunehmen. In der Ange¬
legenheit Mauguin's beſtätigt ſie dem Prinzipe nach die Schuldhaft der Volks¬
repräſentanten, behält ſich aber vor, es nur auf ihr mißliebige Repräſentanten
anwenden zu laſſen, und um dieſes infame Privilegium hadert ſie mit dem
Juſtizminiſter. Statt den angeblichen Mordplan zu benutzen, um eine En¬
quête über die Geſellſchaft vom 10. Dezember zu verhängen und Bonaparte
in ſeiner wahren Geſtalt als das Haupt des Pariſer Lumpenproletariats vor
Frankreich und Europa rettungslos bloszuſtellen, läßt ſie die Kolliſion auf
einen Punkt herabſinken, wo es ſich zwiſchen ihr und dem Miniſter des Innern
nur noch darum handelt, zu weſſen Kompetenz die Ein- und Abſetzung eines
Polizeikommiſſärs gehört. So ſehn wir die Partei der Ordnung während
dieſer ganzen Periode durch ihre zweideutige Stellung gezwungen, ihren Kampf
mit der Exekutivgewalt in kleinliche Kompetenzzwiſte, Chikanen, Rabuliſtereien,
Grenzſtreitigkeiten zu verpuffen, zu verbröckeln und die abgeſchmackteſten Form¬
fragen zum Inhalt ihrer Thätigkeit zu machen. Sie wagt die Kolliſion nicht
aufzunehmen in dem Augenblicke, wo ſie eine prinzipielle Bedeutung
hat, wo die Exekutivgewalt ſich wirklich blosgeſtellt hat und die Sache der
Nationalverſammlung die nationale Sache wäre. Sie würde dadurch der
Nation eine Marſchordre ausſtellen und ſie fürchtet nichts mehr, als daß ſich
die Nation bewege. Bei ſolchen Gelegenheiten weiſt ſie daher die Anträge
der Montagne zurück und geht zur Tagesordnung über. Nachdem die Streit¬
[56] frage ſo in ihren großen Dimenſionen aufgegeben iſt, wartet die Exekutivge¬
walt ruhig den Zeitpunkt ab, wo ſie dieſelbe bei kleinlich unbedeutenden An¬
läſſen wieder aufnehmen kann, wo ſie ſo zu ſagen nur noch ein parlamenta¬
riſches Lokalintereſſe bietet. Dann bricht die verhaltene Wuth der Ordnungs¬
partei aus, dann reißt ſie den Vorhang von den Couliſſen, dann denunzirt
ſie den Präſidenten, dann erklärt ſie die Republik in Gefahr, aber dann er¬
ſcheint auch ihr Pathos abgeſchmackt und der Anlaß des Kampfes als heuch¬
leriſcher Vorwand oder überhaupt des Kampfes nicht werth. Der parlamen¬
tariſche Sturm wird zu einem Sturm in einem Glaſe Waſſer, der Kampf zur
Intrigue, die Kolliſion zum Skandal. Während die Schadenfreude der revo¬
lutionären Klaſſen ſich an der Demüthigung der Nationalverſammlung weidet,
denn ſie ſchwärmen eben ſo ſehr für die parlamentariſchen Prärogativen der¬
ſelben, wie jene Verſammlung für die öffentlichen Freiheiten, begreift die
Bourgeoiſie außerhalb des Parlaments nicht, wie die Bourgeoiſie innerhalb
des Parlaments ihre Zeit mit ſo kleinlichen Zänkereien vergeuden und die
Ruhe durch ſo elende Rivalitäten mit dem Präſidenten blosſtellen kann. Sie
wird verwirrt über eine Strategie, die in dem Augenblicke Frieden ſchließt,
wo alle Welt Schlachten erwartet, und in dem Augenblicke angreift, wo alle
Welt den Frieden geſchloſſen glaubt.


Am 20. Dezember interpellirte Pascal Duprat den Miniſter des Innern
über die Goldbarren-Lotterie. Dieſe Lotterie war eine „Tochter aus Elyſium,“
Bonaparte hatte ſie mit ſeinen Getreuen auf die Welt geſetzt und der Polizei¬
präfekt Carlier ſie unter ſeine offizielle Protektion geſtellt, obgleich das fran¬
zöſiſche Geſetz alle Lotterien mit Ausnahme der Verlooſung zu wohlthä¬
tigen Zwecken unterſagt. Sieben Millionen Looſe, Stück für Stück ein
Frank, der Gewinn angeblich beſtimmt zur Verſchiffung von Pariſer Vaga¬
bunden nach Kalifornien. Einerſeits ſollten goldene Träume die ſozialiſtiſchen
Träume des Pariſer Proletariats verdrängen, die verführeriſche Ausſicht auf
das große Loos das doktrinäre Recht auf Arbeit. Die Pariſer Arbeiter er¬
kannten natürlich in dem Glanze der kaliforniſchen Goldbarren die unſchein¬
baren Franken nicht wieder, die man ihnen aus der Taſche lockte. In der
Hauptſache aber handelte es ſich um eine direkte Prellerei. Die Vagabunden,
die kaliforniſche Goldminen eröffnen wollten, ohne ſich aus Paris wegzube¬
mühn, waren Bonaparte ſelbſt und ſeine ſchuldenzerrüttete Tafelrunde. Die
von der Nationalverſammlung bewilligten drei Millionen waren verjubelt,
die Kaſſe mußte auf eine oder die andre Weiſe wieder gefüllt werden, Ver¬
[57] gebens hatte Bonaparte zur Errichtung von ſogenannten cites ouvrières eine
Nationalſubſcription eröffnet, an deren Spitze er ſelbſt mit einer bedeutenden
Summe figurirte. Die hartherzigen Bourgeois warteten mißtrauiſch die Ein¬
zahlung ſeiner Aktie ab, und da dieſe natürlich nicht erfolgte, fiel die Speku¬
lation auf die ſozialiſtiſchen Luftſchlöſſer platt zu Boden. Die Goldbarren
zogen beſſer. Bonaparte und Genoſſen begnügten ſich nicht damit, den Ueber¬
ſchuß der ſieben Millionen über die auszuſpielenden Barren theilweiſe in die
Taſche zu ſtecken, ſie fabrizirten falſche Looſe, ſie gaben auf dieſelbe Nummer
10, funfzehn bis zwanzig Looſe aus, Finanzoperation im Geiſte der Geſell¬
ſchaft vom 10. Dezember! Hier hatte die Nationalverſammlung nicht den
fiktiven Präſidenten der Republik ſich gegenüber, ſondern den Bonaparte in
Fleiſch und Blut. Hier konnte ſie ihn auf der That ertappen im Konflikte
nicht mit der Konſtitution, ſondern mit dem Code pénal. Wenn ſie auf
Duprat's Interpellation zur Tagesordnung überging, geſchah es nicht nur,
weil Girardin's Antrag ſich für „satisfait“ zu erklären, der Ordnungspartei
ihre ſyſtematiſche Korruption in's Gedächtniß rief. Der Bourgeois, und
vor Allem der zum Staatsmann aufgeblähte Bourgeois ergänzt ſeine praktiſche
Gemeinheit durch eine theoretiſche Ueberſchwenglichkeit. Als Staatsmann wird
er wie die Staatsgewalt, die ihm gegenüberſteht, ein höheres Weſen, das nur
in höherer, geweihter Weiſe bekämpft werden kann.


Bonaparte, der eben als Bohémien, als prinzlicher Lumpenproletarier
den Vorzug vor dem ſchuftigen Bourgeois hatte, daß er den Kampf gemein
führen konnte, ſah nun, nachdem die Verſammlung ſelbſt ihn über den ſchlüpf¬
rigen Boden der Militärbanquets, der Revuen, der Geſellſchaft vom 10. De¬
zember und endlich des Code pénal mit eigner Hand hinübergeleitet hatte,
den Augenblick gekommen, wo er aus der ſcheinbaren Defenſive in die Offen¬
ſive übergehn konnte. Wenig genirten ihn die mitten durch ſpielenden kleinen
Niederlagen des Juſtizminiſters, des Kriegsminiſters, des Marineminiſters,
des Finanzminiſters, wodurch die Nationalverſammlung ihr knurriges Mi߬
vergnügen kundgab. Er verhinderte nicht nur die Miniſter abzutreten und
ſo die Unterwerfung der Exekutivgewalt unter das Parlament anzuerkennen.
Er konnte nun vollbringen, womit er während der Ferien der Nationalver¬
ſammlung begonnen hatte, die Losreißung der Mililärgewalt vom Parlamente,
die Abſetzung Changarnier's.


Ein elyſeiſches Blatt veröffentlichte einen Tagesbefehl, während des
Monats Mai angeblich an die erſte Militärdiviſion gerichtet, alſo von Chan¬
[58] garnier ausgehend, worin den Offizieren empfohlen wurde, im Falle einer
Empörung den Verräthern in ihren eignen Reihen kein Quartier zu geben,
ſie ſofort zu erſchießen und der Nationalverſammlung die Truppen zu ver¬
weigern, wenn ſie dieſelben requiriren ſollte. Am 3. Januar 1851 wurde
das Kabinet über dieſen Tagesbefehl interpellirt. Es verlangt zur Prüfung
dieſer Angelegenheit erſt drei Monate, dann eine Woche, endlich nur vier und
zwanzig Stunden Bedenkzeit. Die Verſammlung beſteht auf ſofortigem Auf¬
ſchluſſe. Changarnier erhebt ſich und erklärt, daß dieſer Tagesbefehl nie
exiſtirt habe. Er fügt hinzu, daß er ſich ſtets beeilen werde, den Aufforde¬
rungen der Nationalverſammlung nachzukommen, und daß ſie in einem Kolli¬
ſionsfalle auf ihn rechnen könne. Sie empfängt ſeine Erklärung mit unaus¬
ſprechlichem Applaus und dekretirt ihm ein Vertrauensvotum. Sie dankt ab,
ſie dekretirt ihre eigne Machtloſigkeit und die Allmacht der Armee, indem ſie
ſich unter die Privatprotektion eines Generals begibt, aber der General täuſcht
ſich, wenn er ihr gegen Bonaparte eine Macht zu Gebot ſtellt, die er nur als
Lehen von demſelben Bonaparte hält, wenn er ſeinerſeits Schutz von dieſem
Parlamente, von ſeinem ſchutzbedürftigen Schützlinge erwartet. Aber Chan¬
garnier glaubt an die myſteriöſe Macht, womit ihn die Bourgeoiſie ſeit dem
29. Januar 1849 ausgeſtattet. Er hält ſich für die dritte Gewalt neben
den beiden übrigen Staatsgewalten. Er theilt das Schickſal der übrigen
Helden oder vielmehr Heiligen dieſer Epoche, deren Größe eben in der inter¬
eſſirten großen Meinung beſteht, die ihre Partei von ihnen aufbringt, und
die in Alltagsfiguren zuſammenfallen, ſobald die Verhältniſſe ſie einladen
Wunder zu verrichten. Der Unglaube iſt überhaupt der tödtliche Feind dieſer
vermeinten Helden und wirklichen Heiligen. Daher ihre würdevoll-ſittliche
Entrüſtung über die enthuſiasmusarmen Witzlinge und Spötter.


An demſelben Abende wurden die Miniſter nach dem Elyſée beſchieden,
Bonaparte dringt auf die Abſetzung Changarnier's, fünf Miniſter weigern
ſich ſie zu zeichnen, der Moniteur kündigt eine Miniſterkriſe an und die Ord¬
nungspreſſe droht mit der Bildung einer parlamentariſchen Armee unter dem
Kommando Changarnier's. Die Partei der Ordnung hatte die konſtitutio¬
nelle Befugniß zu dieſem Schritte. Sie brauchte blos Changarnier zum Präſi¬
denten der Nationalverſammlung zu ernennen und eine beliebige Truppen¬
maſſe zu ihrer Sicherheit zu requiriren. Sie konnte es um ſo ſicherer, als
Changarnier noch wirklich an der Spitze der Armee und der Pariſer National¬
garde ſtand, und nur darauf lauerte, mitſammt der Armee requirirt zu wer¬
[59] den. Die bonapartiſtiſche Preſſe wagte noch nicht einmal das Recht der
Nationalverſammlung zu direkter Requiſition der Truppen in Frage zu ſtellen,
ein juriſtiſcher Skrupel, der unter den gegebenen Verhältniſſen keinen Erfolg
verſprach. Daß die Armee dem Befehle der Nationalverſammlung gehorcht
hätte, iſt wahrſcheinlich, wenn man erwägt, daß Bonaparte acht Tage in ganz
Paris ſuchen mußte, um endlich zwei Generale zu finden — Baraguay d'Hil¬
liers und St. Jean d'Angely —, die ſich bereit erklärten, die Abſetzung
Changarnier's zu kontraſigniren. Daß die Ordnungspartei in ihren eignen
Reihen und im Parlamente die zu einem ſolchen Beſchluſſe nöthige Stimmen¬
zahl gefunden hätte, iſt mehr als zweifelhaft, wenn man bedenkt, daß acht
Tage ſpäter 286 Stimmen ſich von ihr trennten, und daß die Montagne
einen ähnlichen Vorſchlag noch im Dezember 1851, in der letzten Stunde der
Entſcheidung, verwarf. Indeſſen wäre es vielleicht den Burggrafen jetzt noch
gelungen, die Maſſe ihrer Partei zu einem Heroismus hinzureißen, der darin
beſtand, ſich hinter einem Walde von Bajonnetten ſicher zu fühlen und den
Dienſt einer Armee anzunehmen, die in ihr Lager deſertirt war. Statt deſſen
begaben ſich die Herren Burggrafen am Abende des 6. Januar in's Elyſée,
um durch ſtaatskluge Wendungen und Bedenken Bonaparte von der Abſetzung
Changarnier's abſtehn zu machen. Wen man zu überreden ſucht, den erkennt
man als den Meiſter der Situation an. Bonaparte, durch dieſen Schritt
ſicher gemacht, ernennt am 12. Januar ein neues Miniſterium, worin die
Führer des alten, Fould und Baroche, verbleiben. St. Jean d'Angely wird
Kriegsminiſter, der Moniteur bringt das Abſetzungsdekret Changarnier's, ſein
Kommando wird getheilt unter Baraguay d'Hilliers, der die erſte Militär¬
diviſion, und Perrot, der die Nationalgarde erhält. Das Bollwerk der Ge¬
ſellſchaft iſt abgedankt, und wenn kein Stein darüber vom Dache fällt, ſteigen
dagegen die Börſenkurſe.


Indem ſie die Armee, die ſich ihr in Changarnier's Perſon zur Ver¬
fügung ſtellt, zurückſtößt und ſo unwiderruflich dem Präſidenten überant¬
wortet, erklärt die Ordnungspartei, daß die Bourgeoiſie den Beruf zum
Herrſchen verloren hat. Es exiſtirte bereits kein parlamentariſches Miniſte¬
rium mehr. Indem ſie nun noch die Handhabe der Armee und Nationalgarde
verlor, welches Gewaltmittel blieb ihr, um gleichzeitig die uſurpirte Gewalt
des Parlaments über das Volk und ſeine konſtitutionelle Gewalt gegen den
Präſidenten zu behaupten? Keins. Es blieb ihr nur noch der Appell an
gewaltloſe Prinzipien, die ſie ſelbſt ſtets nur als allgemeine Regeln ausgelegt
[60] hatte, die man Dritten vorſchreibt, um ſich ſelbſt deſto freier bewegen zu
können. Mit der Abſetzung Changarnier's, mit dem Anheimfall der Mi¬
litärgewalt an Bonaparte, ſchließt der erſte Abſchnitt der Periode, die wir
betrachten, der Periode des Kampfes zwiſchen der Ordnungspartei und der
Exekutivgewalt. Der Krieg zwiſchen den beiden Gewalten iſt jetzt offen erklärt,
wird offen geführt, aber erſt nachdem die Ordnungspartei Waffen und Sol¬
daten verloren hat. Ohne Miniſterium, ohne Armee, ohne Volk, ohne öffent¬
liche Meinung, ſeit ihrem Wahlgeſetz vom 31. Mai nicht mehr die Repräſen¬
tantin der ſouveränen Nation, ohn' Aug, ohn' Ohr, ohn' Zahn, ohn' Alles,
hatte ſich die Nationalverſammlung allgemach in ein altfranzöſiſches
Parlament
verwandelt, das die Aktion der Regierung überlaſſen und ſich
ſelbſt mit knurrenden Remonſtrationen post festum begnügen muß.


Die Ordnungspartei empfängt das neue Miniſterium mit einem Sturme
der Entrüſtung. General Bedeau ruft die Milde der Permanenzkommiſſion
während der Ferien in's Gedächtniß zurück und die übergroße Rückſicht, wo¬
mit ſie auf die Veröffentlichung ihrer Protokolle verzichtet habe. Der Miniſter
des Innern beſteht nun ſelbſt auf Veröffentlichung dieſer Protokolle, die jetzt
natürlich ſchaal wie abgeſtandenes Waſſer geworden ſind, keine neue Thatſache
enthüllen und ohne die geringſte Wirkung in das blaſirte Publikum fallen.
Auf Remuſat's Vorſchlag zieht ſich die Nationalverſammlung in ihre Bureaux
zurück und ernennt ein „Komité außerordentlicher Maßregeln.“ Paris tritt
um ſo weniger aus dem Geleiſe ſeiner alltäglichen Ordnung, als der Handel
in dieſem Augenblicke prosperirt, die Manufakturen beſchäftigt ſind, die Ge¬
treidepreiſe niedrig ſtehn, die Lebensmittel überfließen, die Sparkaſſen täglich
neue Depoſiten erhalten. Die „anßerordentlichen Maßregeln,“ die das Par¬
lament ſo geräuſchvoll angekündigt hat, verpuffen am 18. Januar in ein
Mißtrauensvotum gegen die Miniſter, ohne daß General Changarnier auch
nur erwähnt wurde. Die Ordnungspartei war zu dieſer Faſſung ihres Vo¬
tums gezwungen, um ſich die Stimmen der Republikaner zu ſichern, da dieſe
von allen Maßregeln des Miniſteriums gerade nur die Abſetzung Changar¬
nier's billigen, während die Ordnungspartei in der That die übrigen miniſte¬
riellen Akte nicht tadeln kann, die ſie ſelbſt diktirt hatte.


Für das Mißtrauensvotum vom 18. Januar entſchieden 415 gegen
286 Stimmen. Es wurde alſo nur durchgeſetzt durch eine Koalition der
entſchiedenen Legitimiſten und Orleaniſten mit den reinen Republikanern und
der Montagne. Es bewies alſo, daß die Partei der Ordnung nicht nur das
[61] Miniſterium, nicht nur die Armee, ſondern in Konflikten mit Bonaparte auch
ihre ſelbſtſtändige parlamentariſche Majorität verloren hatte, daß ein Trupp
von Repräſentanten aus ihrem Lager deſertirt war, aus Vermittlungsfana¬
tismus, aus Furcht vor dem Kampfe, aus Abſpannung, aus Familienrückſicht
für blutverwandte Staatsgehalte, aus Spekulation auf frei werdende Miniſter¬
poſten (Odilon Barrot), aus dem platten Egoismus, womit der gewöhnliche
Bourgeois ſtets geneigt iſt, das Geſammtintereſſe ſeiner Klaſſe dieſem oder
jenem Privatmotive zu opfern. Die bonapartiſtiſchen Repräſentanten gehörten
von vornherein der Ordnungspartei nur im Kampfe gegen die Revolution.
Der Chef der katholiſchen Partei, Montalembert, warf ſeinen Einfluß ſchon
damals in die Wagſchale Bonaparte's, da er an der Lebensfähigkeit der par¬
lamentariſchen Partei verzweifelte. Die Führer dieſer Partei endlich, Thiers
und Berryer, der Orleaniſt und Legitimiſt, waren gezwungen, ſich offen als
Republikaner zu proklamiren, zu bekennen, daß ihr Herz königlich, aber ihr
Kopf republikaniſch geſinnt, daß die parlamentariſche Republik die einzig mög¬
liche Form für die Herrſchaft der Geſammtbourgeoiſie ſei. Sie waren ſo
gezwungen, die Reſtaurationspläne, die ſie unverdroſſen hinter dem Rücken
des Parlaments weiter verfolgten, vor den Augen der Bourgeoisklaſſe ſelbſt
als eine eben ſo gefahrvolle wie kopfloſe Intrigue zu brandmarken.


Das Mißtrauensvotum vom 18. Januar traf die Miniſter und nicht
den Präſidenten. Aber nicht das Miniſterium, der Präſident hatte Changarnier
abgeſetzt. Sollte die Ordnungspartei Bonaparte ſelbſt in Anklagezuſtand
verſetzen? Wegen ſeiner Reſtaurationsgelüſte? Sie ergänzten nur ihre eignen.
Wegen ſeiner Konſpiration in den Militärrevuen und der Geſellſchaft vom
10. Dezember? Sie hatten dieſe Themata längſt unter einfachen Tages¬
ordnungen begraben. Wegen der Abſetzung des Helden vom 29. Januar
und vom 13. Juni, des Mannes, der Mai 1850 im Falle einer Emeute
Paris an allen vier Ecken in Brand zu ſtecken drohte? Ihre Alliirten von
der Montagne und Cavaignac erlaubten ihnen nicht einmal, das gefallene
Bollwerk der Geſellſchaft durch eine offizielle Beileidsbezeugung aufzurichten.
Sie ſelbſt konnten dem Präſidenten die konſtitutionelle Befugniß einen Ge¬
neral abzuſetzen nicht beſtreiten. Sie tobten nur, weil er von ſeinem konſti¬
tutionellen Rechte einen unparlamentariſchen Gebrauch machte. Hatten ſie
von ihrer parlamentariſchen Prärogative nicht fortwährend einen unkonſtitu¬
tionellen Gebrauch gemacht und namentlich bei der Abſchaffung des allgemeinen
Wahlrechts? Sie waren alſo darauf angewieſen, ſich genau innerhalb der
[62] parlamentariſchen Schranken zu bewegen. Und es gehörte jene eigenthümliche
Krankheit dazu, die ſeit 1848 auf dem ganzen Kontinent graſſirt hat, der
parlamentariſche Kretinismus, der die Angeſteckten in eine einge¬
bildete Welt feſtbannt und ihnen allen Sinn, alle Erinnerung, alles Ver¬
ſtändniß für die rauhe Außenwelt raubt, dieſer parlamentariſche Kretinismus
gehörte dazu, wenn ſie, die alle Bedingungen der parlamentariſchen Macht
mit eignen Händen zerſtört hatten und in ihrem Kampfe mit den andern
Klaſſen zerſtören mußten, ihre parlamentariſchen Siege noch für Siege hielten
und den Präſidenten zu treffen glaubten, indem ſie auf ſeine Miniſter ſchlugen.
Sie gaben ihm nur Gelegenheit, die Nationalverſammlung von Neuem in
den Augen der Nation zu demüthigen. Am 20. Januar meldete der Moni¬
teur, daß die Entlaſſung des Geſammtminiſteriums angenommen ſei. Unter
dem Vorwande, daß keine parlamentariſche Partei mehr die Majorität beſitze,
wie das Votum vom 18. Januar, dieſe Frucht der Koalition zwiſchen Mon¬
tagne und Royaliſten beweiſe, und um die Neubildung einer Majorität abzu¬
warten, ernannte Bonaparte ein ſogenanntes Uebergangsminiſterium, wovon
kein Mitglied dem Parlamente angehörte, lauter durchaus unbekannte und
bedeutungsloſe Individuen, ein Miniſterium von bloßen Kommis und Schrei¬
bern. Die Ordnungspartei konnte ſich jetzt im Spiele mit dieſen Marionetten
abarbeiten, die Exekutivgewalt hielt es nicht mehr der Mühe werth, ernſthaft
in der Nationalverſammlung vertreten zu ſein. Bonaparte konzentrirte um
ſo ſichtbarer die ganze Exekutivgewalt in ſeiner Perſon, er hatte um ſo freiern
Spielraum, ſie zu ſeinen Zwecken auszubeuten, je mehr ſeine Miniſter reine
Statiſten waren.


Die mit der Montagne koaliſirte Ordnungspartei rächte ſich, indem ſie
die präſidentielle Dotation von 1,800,000 Frcs. verwarf, zu deren Vorlage
das Haupt der Geſellſchaft vom 10. Dezember ſeine miniſteriellen Kommis
gezwungen hatte. Diesmal entſchied eine Majorität von nur 102 Stimmen,
es waren alſo ſeit dem 18. Januar neuerdings 27 Stimmen abgefallen, die
Auflöſung der Ordnungspartei ging voran. Damit man ſich keinen Augen¬
blick über den Sinn ihrer Koalition mit der Montagne täuſche, verſchmähte
ſie gleichzeitig einen von 189 Mitgliedern der Montagne unterzeichneten An¬
trag auf allgemeine Amneſtie der politiſchen Verbrecher auch nur in Betracht
zu ziehen. Es genügte, daß der Miniſter des Innern, ein gewiſſer Baiſſé,
erklärte, die Ruhe ſei nur ſcheinbar, im Geheimen herrſche große Agitation,
im Geheimen organiſirten ſich allgegenwärtige Geſellſchaften, die demokratiſchen
[63] Blätter machten Anſtalten um wieder zu erſcheinen, die Berichte aus den De¬
partements lauteten ungünſtig, die Flüchtlinge von Genf leiteten eine Ver¬
ſchwörung über Lyon durch ganz Südfrankreich, Frankreich ſtehe am Rande
einer induſtriellen und kommerziellen Kriſe, die Fabrikanten von Roubaix
hätten die Arbeitszeit vermindert, die Gefangenen von Belle Isle ſich empört
— es genügte, daß ſelbſt nur ein Vaissé das rothe Geſpenſt heraufbeſchwor,
damit die Partei der Ordnung ohne Diskuſſion einen Antrag verwarf, der
der Nationalverſammlung eine ungeheure Popularität erobern und Bonaparte
in ihre Arme zurückwerfen mußte. Statt ſich von der Exekutivgewalt durch
die Perſpektive neuer Unruhen einſchüchtern zu laſſen, hätte ſie vielmehr dem
Klaſſenkampf einen kleinen Spielraum gewähren müſſen, um die Exekutive von
ſich abhängig zu erhalten. Aber ſie fühlte ſich nicht der Aufgabe gewachſen,
mit dem Feuer zu ſpielen.


Unterdeſſen vegetirte das ſogenannte Uebergangsminiſterium bis Mitte
April fort. Bonaparte ermüdete, foppte die Nationalverſammlung mit be¬
ſtändig neuen Miniſterkombinationen. Bald ſchien er ein republikaniſches
Miniſterium bilden zu wollen mit Lamartine und Billault, bald ein parla¬
mentariſches mit dem unvermeidlichen Odilon Barrot, deſſen Name nie fehlen
darf, wenn ein Dupe nothwendig iſt, bald ein legitimiſtiſches mit Vatismenil
und Benoiſt d'Azy, bald ein orleaniſtiſches mit Malleville. Während er ſo
die verſchiedenen Fraktionen der Ordnungspartei in Spannung gegen ein¬
ander erhält und ſie insgeſammt mit der Ausſicht auf ein republikaniſches
Miniſterium und die dann unvermeidlich gewordene Herſtellung des allge¬
meinen Wahlrechts ängſtet, bringt er gleichzeitig bei der Bourgeoiſie die Ueber¬
zeugung hervor, daß ſeine aufrichtigen Bemühungen um ein parlamentariſches
Miniſterium an der Unverſöhnlichkeit der royaliſtiſchen Fraktionen ſcheitern.
Die Bourgeoiſie ſchrie aber um ſo lauter nach einer „ſtarken Regierung,“ ſie
fand es um ſo unverzeihlicher, Frankreich „ohne Adminiſtration“ zu laſſen,
jemehr eine allgemeine Handelskriſe nun im Anmarſche ſchien und in den
Städten für den Sozialismus warb, wie der ruinirend niedrige Preis des
Getreides auf dem Lande. Der Handel wurde täglich flauer, die unbeſchäf¬
tigten Hände vermehrten ſich zuſehends, in Paris waren wenigſtens 10,000
Arbeiter brodlos, in Rouen, Mühlhauſen, Lyon, Roubaix, Tourcoing, St.
Etienne, Elbeuf u. ſ. w. ſtanden zahlloſe Fabriken ſtill. Unter dieſen Um¬
ſtänden konnte Bonaparte es wagen, am 11. April das Miniſterium vom
18. Januar zu reſtauriren. Die Herren Rouher, Fould, Baroche ꝛc. verſtärkt
[——64—] durch Herrn Léon Faucher, den die conſtituirende Verſammlung während
ihrer letzten Tage einſtimmig mit Ausnahme von fünf Miniſterſtimmen wegen
Verbreitung falſcher telegraphiſcher Depeſchen mit einem Mißtrauensvotum
gebrandmarkt hatte. Die Nationalverſammlung hatte alſo am 18. Januar
einen Sieg über das Miniſterium davongetragen, ſie hatte während drei
Monaten mit Bonaparte gekämpft, damit am 11. April Fould und Baroche
den Puritaner Faucher als Dritten in ihren miniſteriellen Bund auf¬
nehmen konnten.


November 1849 hatte ſich Bonaparte mit einem unparlamen¬
tariſchen
Miniſterium begnügt, Januar 1851 mit einem außerpar¬
lamentariſchen
, am 11. April fühlte er ſich ſtark genug, ein anti¬
parlamentariſches
Miniſterium zu bilden, das die Mißtrauensvota
beider Verſammlungen, der Konſtituante und der Legislativen, der republi¬
kaniſchen und der royaliſtiſchen, harmoniſch in ſich vereinigte. Dieſe Stufen¬
leiter von Miniſterien war der Thermometer, woran das Parlament die
Abnahme der eignen Lebenswärme meſſen konnte. Dieſe war Ende April ſo
tief genug geſunken, daß Perſigny den Changarnier in einer perſönlichen Zu¬
ſammenkunft auffordern konnte, in das Lager des Präſidenten überzugehn,
Bonaparte, verſicherte er ihm, betrachte den Einfluß der Nationalverſamm¬
lung als vollſtändig vernichtet und ſchon liege die Proklamation bereit, die
nach dem beſtändig beabſichtigten, aber zufällig wieder aufgeſchobenen coup
d'état
veröffentlicht werden ſolle. Changarnier theilte den Führern der
Ordnungspartei die Todesanzeige mit, aber wer glaubt, daß der Biß von
Wanzen tödte? Und das Parlament, ſo geſchlagen, ſo aufgelöſt, ſo ſterbefaul
es war, konnte ſich nicht überwinden, in dem Duelle mit dem grotesken Chef
der Geſellſchaft vom 10. Dezember etwas Andres zu ſehen, als das Duell
mit einer Wanze. Aber Bonaparte antwortete der Partei der Ordnung
wie Ageſilaus dem Könige Agis: „Ich ſcheine Dir Ameiſe, aber
ich werde einmal Löwe ſein
.“

VI.

Die Koalition mit der Montagne und den reinen Republikanern, wozu
die Ordnungspartei in ihren vergeblichen Anſtrengungen den Beſitz der
[65] Militärgewalt zu behaupten und die oberſte Leitung der Exekutivgewalt wie¬
der zu erobern, ſich verurtheilt ſah, bewies unwiderſprechlich, daß ſie die ſelbſt¬
ſtändige parlamentariſche Majorität eingebüßt hatte. Die bloße
Macht des Kalenders, der Stundenzeiger gab am 29. Mai das Signal ihrer
völligen Auflöſung. Mit dem 29. Mai begann das letzte Lebensjahr der
Nationalverſammlung. Sie mußte ſich nun entſcheiden für unveränderte
Fortdauer oder für Reviſion der Verfaſſung. Aber Reviſion der Verfaſſung,
das hieß nicht nur Herrſchaft der Bourgeoiſie oder der kleinbürgerlichen
Demokratie, Demokratie oder proletariſche Anarchie, parlamentariſche Repu¬
blik oder Bonaparte, das hieß zugleich Orleans oder Bourbon! So fiel mit¬
ten in das Parlament der Erisapfel, an dem ſich der Widerſtreit der In¬
tereſſen, welche die Ordnungspartei in feindliche Fraktionen ſonderten, offen
entzünden mußte. Die Ordnungspartei war eine Verbindung von hetero¬
genen geſellſchaftlichen Subſtanzen. Die Reviſionsfrage erzeugte eine
politiſche Temperatur, worin das Produkt wieder in ſeine urſprünglichen
Beſtandtheile zerfiel.


Das Intereſſe der Bonapartiſten an der Reviſion war einfach. Für
ſie handelte es ſich vor Allem um Abſchaffung des Art. 45, der Bonaparte's
Wiederwahl unterſagte und die Prorogation ſeiner Gewalt. Nicht minder
einfach ſchien die Stellung der Republikaner. Sie verwarfen unbedingt jede
Reviſion, ſie ſahen in ihr eine allſeitige Verſchwörung gegen die Republik.
Da ſie über mehr als ein Viertel der Stimmen in der National¬
verſammlung verfügten, und verfaſſungsmäßig drei Viertel der Stimmen
zum rechtsgültigen Beſchluſſe der Reviſion und zur Einberufung einer revi¬
direnden Verſammlung erfordert waren, brauchten ſie nur ihre Stim¬
men zu zählen, um des Sieges ſicher zu ſein. Und ſie waren des
Sieges ſicher.


Dieſen klaren Stellungen gegenüber befand ſich die Partei der Ord¬
nung in unentwirrbaren Widerſprüchen. Verwarf ſie die Reviſion, ſo ge¬
fährdete ſie den Statusquo, indem ſie Bonaparte nur noch einen Ausweg
übrig ließ, den der Gewalt, indem ſie Frankreich am 2. Mai 1852, im
Augenblicke der Entſcheidung, der revolutionären Anarchie preisgab, mit
einem Präſidenten, der ſeine Autorität verlor, mit einem Parlamente, das
ſie längſt nicht mehr beſaß, und mit einem Volke, das ſie wieder zu erobern
dachte. Stimmte ſie für die verfaſſungsmäßige Reviſion, ſo wußte ſie, daß
5[66] ſie umſonſt ſtimmte und am Veto der Republikaner verfaſſungsmäßig ſcheitern
müſſe. Erklärte ſie verfaſſungswidrig die einfache Stimmenmajorität für
bindend, ſo konnte ſie die Revolution nur zu beherrſchen hoffen, wenn ſie
ſich unbedingt der Botmäßigkeit der Exekutivgewalt unterwarf, ſo machte ſie
Bonaparte zum Meiſter über die Verfaſſung, über die Reviſion und über ſich
ſelbſt. Eine nur theilweiſe Reviſion, welche die Gewalt des Präſidenten ver¬
längerte, bahnte der imperialiſtiſchen Uſurpation den Weg. Eine allgemeine
Reviſion, welche die Exiſtenz der Republik abkürzte, brachte die dynaſtiſchen
Anſprüche in unvermeidlichen Konflikt, denn die Bedingungen für eine
bourboniſche und die Bedingungen für eine orleaniſtiſche Reſtauration waren
nicht nur verſchieden, ſie ſchloſſen ſich wechſelſeitig aus.


Die parlamentariſche Republik war mehr als das neutrale
Gebiet, worin die zwei Fraktionen der franzöſiſchen Bourgeoiſie, Legitimiſten
und Orleaniſten, großes Grundeigenthum und Induſtrie, gleichberechtigt
nebeneinander hauſen konnten. Sie war die unumgängliche Bedingung
ihrer gemeinſamen Herrſchaft, die einzige Staatsform, worin ihr
allgemeines Klaſſenintereſſe ſich zugleich die Anſprüche ihrer beſondern Frak¬
tionen wie alle übrigen Klaſſen der Geſellſchaft unterwarf. Als Royaliſten
fielen ſie in ihren alten Gegenſatz zurück, in den Kampf um die Suprematie
des Grundeigenthums oder des Geldes, und der höchſte Ausdruck dieſes
Gegenſatzes, die Perſonifikation deſſelben, waren ihre Könige ſelbſt, ihre
Dynaſtien. Daher das Sträuben der Ordnungspartei gegen die Rückbe¬
rufung der Bourbonen.


Der Orleaniſt und Volksrepräſentant Creton hatte 1849, 1850 und
1851 periodiſch den Antrag geſtellt, das Verbannungsdekret gegen die
königlichen Familien aufzuheben. Das Parlament bot eben ſo periodiſch das
Schauſpiel einer Verſammlung von Royaliſten, welche ihren verbannten Königen
hartnäckig die Thore verſchließt, durch die ſie heimkehren könnten. Richard
III. hatte Heinrich VI. ermordet mit dem Bemerken, daß er zu gut für dieſe
Welt ſei und in den Himmel gehöre. Sie erklärten Frankreich für zu
ſchlecht, ſeine Könige wieder zu beſitzen. Durch die Macht der Verhältniſſe
gezwungen waren ſie Republikaner geworden und ſanktionirten wiederholt den
Volksbeſchluß, der ihre Könige aus Frankreich verwies.


Die Reviſion der Verfaſſung — und ſie in Betracht zu ziehen zwangen
die Umſtände — ſtellte mit der Republik zugleich die gemeinſame Herrſchaft
der beiden Bourgeois–Fraktionen in Frage und rief, mit der Möglichkeit der
[67] Monarchie, die Rivalität der Intereſſen, die ſie abwechſelnd vorzugsweiſe ver¬
treten hatte, in's Leben zurück, den Kampf um die Suprematie der einen Frak¬
tion über die andre. Die Diplomaten der Ordnungspartei glaubten den Kampf
ſchlichten zu können durch eine Verſchmelzung beider Dynaſtien, durch eine ſo¬
genannte Fuſion der royaliſtiſchen Parteien und ihrer Königshäuſer. Die
wirkliche Fuſion der Reſtauration und der Julimonarchie war die parlamentari¬
ſche Republik, worin orleaniſtiſche und legitimiſtiſche Farben ausgelöſcht wurden
und die Bourgeois-Arten in dem Bourgeois ſchlechtweg, in der Bourgeois-
Gattung verſchwanden. Jetzt aber ſollte der Orleaniſt Legitimiſt, der Legi¬
timiſt Orleaniſt werden. Das Königthum, worin ſich ihr Gegenſatz perſoni¬
fizirte, ſollte ihre Einheit verkörpern, der Ausdruck ihrer ausſchließlichen
Fraktionsintereſſen zum Ausdruck ihres gemeinſamen Klaſſenintereſſes werden,
die Monarchie das leiſten, was nur die Aufhebung zweier Monarchien, die
Republik leiſten konnte und geleiſtet hatte. Es war dies der Stein des
Weiſen, an deſſen Herſtellung ſich die Doktoren der Ordnungspartei die
Köpfe zerbrachen. Als könnte die legitime Monarchie jemals die Monarchie
der induſtriellen Bourgeois oder das Bürgerkönigthum jemals das König¬
thum der angeſtammten Grundariſtokratie werden. Als könnten Grund¬
eigenthum und Induſtrie ſich unter einer Krone verbrüdern, wo die Krone
nur auf ein Haupt fallen konnte, auf das Haupt des ältern Bruders oder
des jüngern. Als könnte die Induſtrie ſich überhaupt mit dem Grundei¬
genthum ausgleichen, ſo lange das Grundeigenthum ſich nicht entſchließt,
ſelbſt induſtriell zu werden. Wenn Henri V. morgen ſtürbe, der Graf von
Paris würde darum nicht der König der Legitimiſten, es ſei denn, daß er
aufhörte, der König der Orleaniſten zu ſein. Die Philoſophen der Fuſion
jedoch, die ſich in dem Maße breit machten, als die Reviſionsfrage in den Vor¬
dergrund trat, die ſich in der “Assemblée nationale” ein offizielles Tages¬
organ geſchaffen hatten, die ſogar in dieſem Augenblicke (Februar 1852)
wieder am Werke ſind, erklärten ſich die ganze Schwierigkeit aus dem
Widerſtreben und der Rivalität der beiden Dynaſtien. Die Verſuche, die
Familie Orleans mit Heinrich V. zu verſöhnen, ſeit dem Tode Louis
Philipp's begonnen, aber wie die dynaſtiſchen Intriguen überhaupt nur
während der Ferien der Nationalverſammlung, in den Zwiſchenakten, hinter
den Couliſſen geſpielt, mehr ſentimentale Koquetterie mit dem alten Aber¬
glauben als ernſtgemeintes Geſchäft, wurden nun zu Haupt- und Staats¬
aktionen und von der Ordnungspartei auf der öffentlichen Bühne aufgeführt,
5*[68] ſtatt wie bisher auf dem Liebhabertheater. Die Kuriere flogen von Paris nach
Venedig, von Venedig nach Claremont, von Claremont nach Paris. Der
Graf von Chambord erläßt ein Manifeſt, worin er „mit Hülfe aller Glieder
ſeiner Familie“ nicht ſeine, ſondern die „nationale“ Reſtauration anzeigt.
Der Orleaniſt Salvandy wirft ſich Heinrich V. zu Füßen. Die Legitimiſten¬
chefs Berryer, Benoit d'Azy, St. Prieſt, wandern nach Claremont, um die
Orleans zu überreden, aber vergeblich. Die Fuſioniſten gewahren zu ſpät,
daß die Intereſſen der beiden Bourgeois-Fraktionen weder an Ausſchließlich¬
keit verlieren, noch an Nachgiebigkeit gewinnen, wo ſie in der Form von
Familienintereſſen, von Intereſſen zweier Königshäuſer ſich zuſpitzen. Wenn
Heinrich V. den Grafen von Paris als Nachfolger anerkannte — der einzige
Erfolg, den die Fuſion im beſten Fall erzielen konnte —, ſo gewann das
Haus Orleans keinen Anſpruch, den ihm die Kinderloſigkeit Heinrichs V. nicht
ſchon geſichert hätte, aber es verlor alle Anſprüche, die es durch die Juli¬
revolution erobert hatte. Es verzichtete auf ſeine Originalanſprüche, auf
alle Titel, die es in einem beinahe hundertjährigen Kampfe dem ältern
Zweige der Bourbonen abgerungen, es tauſchte ſeine hiſtoriſche Prärogative,
die Prärogative des modernen Königthums, gegen die Prärogative ſeines
Stammbaums aus. Die Fuſion war alſo nichts, als eine freiwillige
Abdankung des Hauſes Orleans, die legitimiſtiſche Reſignation deſſelben,
der reuige Rücktritt aus der proteſtantiſchen Staatskirche in die katholiſche.
Ein Rücktritt, der es dazu nicht einmal auf den Thron, den es verloren
hatte, ſondern auf die Stufe des Throns brachte, auf der es geboren war.
Die alten orleaniſtiſchen Miniſter Guizot, Duchatel ꝛc., die ebenfalls nach
Claremont eilten, um die Fuſion zu bevorworten, vertraten in der That nur
den Katzenjammer über die Julirevolution, die Verzweiflung am Bürger¬
königthum und am Königthum der Bürger, den Aberglauben an die Legiti¬
mität als das letzte Amulet gegen die Anarchie. In ihrer Einbildung Ver¬
mittler zwiſchen Orleans und Bourbon waren ſie in der Wirklichkeit nur
noch abgefallene Orleaniſten, und als ſolche empfing ſie der Prinz v. Join¬
ville. Der lebensfähige, kriegeriſche Theil der Orleaniſten dagegen, Thiers,
Baze u. ſ. w., überzeugten die Familie Louis Philipp's um ſo leichter, daß
wenn jede unmittelbar monarchiſche Reſtauration die Fuſion der beiden
Dynaſtien, jede ſolche Fuſion aber die Abdankung des Hauſes Orleans
vorausſetze, es dagegen ganz der Tradition ihrer Vorfahren entſpreche,
vorläufig die Republik anzuerkennen und abzuwarten, bis die Ereigniſſe er¬
[69] laubten, den Präſidentenſtuhl in einen Thron zu verwandeln. Joinville's
Kandidatur wurde gerüchtsweiſe ausgeſprengt, die öffentliche Neugier in der
Schwebe erhalten, und einige Monate ſpäter, nach Verwerfung der Reviſion,
im September öffentlich proklamirt.


Der Verſuch einer royaliſtiſchen Fuſion zwiſchen Orleaniſten und Le¬
gitimiſten war ſo nicht nur geſcheitert, er hatte ihre parlamentariſche
Fuſion
, ihre republikaniſche Gemeinform gebrochen und die Ordnungs¬
partei wieder in ihre urſprünglichen Beſtandtheile zerſetzt; aber je mehr die
Entfremdung zwiſchen Claremont und Venedig wuchs, ihre Ausgleichung ſich
zerſchlug, die Joinville-Agitation um ſich griff, deſto eifriger, ernſter
wurden die Verhandlungen zwiſchen Faucher, dem Miniſter Bonaparte's,
und den Legitimiſten.


Die Auflöſung der Ordnungspartei blieb nicht bei ihren urſprünglichen
Elementen ſtehen. Jede der beiden großen Fraktionen zerſetzte ſich ihrerſeits
von Neuem. Es war, als wenn alle die alten Nuancen, die ſich früher
innerhalb jedes der beiden Kreiſe, ſei es des legitimen, ſei es des orleani¬
ſtiſchen, bekämpft und gedrängt hatten, wieder aufgethaut wären, wie ver¬
trocknete Infuſorien bei Berührung mit Waſſer, als wenn ſie von Neuem
Lebenskraft genug gewonnen hätten, um eigne Gruppen und ſelbſtändige
Gegenſätze zu bilden. Die Legitimiſten träumten ſich zurück in die Streit¬
fragen zwiſchen den Tuilerien und dem Pavillon Marſan, zwiſchen Villèle
und Polignac. Die Orleaniſten durchlebten von Neuem die goldene Zeit der
Turniere zwiſchen Guizot, Molé, Broglio, Thiers und Odilon Barrot.

Der reviſionsluſtige, aber über die Grenzen der Reviſion wieder
uneinige Theil der Ordnungspartei, zuſammengeſetzt aus den Legitimiſten
unter Berryer und Falloux einerſeits, unter Larochejaquelin andrerſeits, und
den kampfmüden Orleaniſten unter Mole, Broglio, Montalembert und
Odilon Barrot, vereinbarte ſich mit den bonapartiſtiſchen Repräſentanten zu
folgendem unbeſtimmten und weitgefaßten Antrage: „Die unterzeichneten
Repräſentanten, mit dem Zwecke, der Nation die volle Ausübung ihrer
Souveränität wiederzugeben, ſtellen die Motion, daß die Verfaſſung
revidirt werde.“ Gleichzeitig aber erklären ſie einſtimmig durch ihren Be¬
richterſtatter Tocqueville, die Nationalverſammlung habe nicht das Recht, die
Abſchaffung der Republik zu beantragen, dies Recht ſtehe nur der
Reviſionskammer zu. Uebrigens könne die Verfaſſung nur auf „legale
Weiſe revidirt werden, alſo nur, wenn das verfaſſungsmäßig vorgeſchrie¬
[70] bene Dreiviertel der Stimmenzahl für Reviſion entſcheide. Nach ſechstä¬
gigen ſtürmiſchen Debatten, am 19. Juli, wurde die Reviſion, wie vorher¬
zuſehn, verworfen. Es ſtimmten 446 dafür, aber 278 dagegen. Die
entſchiedenen Orleaniſten Thiers, Changarnier ꝛc. ſtimmten mit den Repu¬
blikanern und der Montagne.


Die Majorität des Parlaments erklärte ſich ſo gegen die Verfaſſung,
aber dieſe Verfaſſung ſelbſt erklärte ſich für die Minorität, und ihren
Beſchluß für bindend. Hatte aber die Ordnungspartei nicht am 31. Mai
1850, nicht am 13. Juni 1849 die Verfaſſung der parlamentariſchen Ma¬
jorität untergeordnet? Beruhte ihre ganze bisherige Politik nicht auf der
Unterordnung der Verfaſſungsparagraphen unter die parlamentariſchen
Majoritätsbeſchlüſſe? Hatte ſie den altteſtamentariſchen Aberglauben an den
Buchſtaben des Geſetzes nicht den Demokraten überlaſſen und an den De¬
mokraten gezüchtigt? In dieſem Augenblicke aber hieß Reviſion der Ver¬
faſſung nichts Andres, als Fortdauer der präſidentiellen Gewalt, wie Fort¬
dauer der Verfaſſung nichts Andres hieß als Abſetzung Bonaparte's. Das
Parlament hatte ſich für ihn erklärt, aber die Verfaſſung erklärte ſich gegen
das Parlament. Er handelte alſo im Sinne des Parlaments, wenn er die
Verfaſſung zerriß, und er handelte im Sinne der Verfaſſung, wenn er das
Parlament auseinanderjagte.


Das Parlament hatte die Verfaſſung und mit ihr ſeine eigene Herrſchaft
„außerhalb der Majorität“ erklärt, es hatte durch ſeinen Beſchluß die Ver¬
faſſung aufgehoben und die präſidentielle Gewalt verlängert und zugleich er¬
klärt, daß weder die eine ſterben noch die andre leben könne, ſo lange es
ſelbſt fortbeſtehe. Die Füße derer, die es begraben ſollten, ſtanden vor der
Thüre. Während es die Reviſion debattirte, entfernte Bonaparte den
General Baraguay d'Hilliers, der ſich unſchlüſſig zeigte, von dem Kommando
der erſten Militärdiviſion und ernannte an ſeine Stelle den General Magnan,
den Sieger von Lyon, den Helden der Dezembertage, eine ſeiner Kreaturen,
die ſich ſchon unter Louis Philipp bei Gelegenheit der Expedition von Bou¬
logne mehr oder minder für ihn kompromittirt hatte.


Die Ordnungspartei bewies durch ihren Beſchluß über die Reviſion,
daß ſie weder zu herrſchen noch zu dienen, weder zu leben noch zu ſterben,
weder die Republik zu ertragen noch ſie umzuſtürzen, weder die Verfaſſung
aufrecht zu erhalten noch ſie über den Haufen zu werfen, weder mit dem
Präſidenten zuſammenzuwirken noch mit ihm zu brechen verſtand. Von wem
[71] erwartete ſie denn die Löſung aller Widerſprüche? Von dem Kalender, von
dem Gang der Ereigniſſe. Sie hörte auf, ſich die Gewalt über die Ereig¬
niſſe anzumaßen. Sie forderte alſo die Ereigniſſe heraus, ihr Gewalt
anzuthun, und damit die Macht, woran ſie im Kampfe mit dem Volke ein
Attribut nach dem andern abgetreten hatte, bis ſie ſelbſt ihr gewaltlos
gegenüberſtand. Damit der Chef der Exekutivgewalt deſto ungeſtörter den
Kampfplan gegen ſie entwerfen, ſeine Angriffsmittel verſtärken, ſeine Werk¬
zeuge auswählen, ſeine Poſitionen befeſtigen könne, beſchloß ſie mitten in
dieſem kritiſchen Augenblicke von der Bühne abzutreten und ſich auf drei
Monate zu vertagen, vom 10. Auguſt bis 4. November.


Die parlamentariſche Partei war nicht nur in ihre zwei großen Frak¬
tionen, jede dieſer Fraktionen war nicht nur innerhalb ihrer ſelbſt aufgelöſt,
ſondern die Ordnungspartei im Parlamente war mit der Ordnungspartei
außerhalb des Parlaments zerfallen. Die Wortführer und die Schrift¬
gelehrten der Bourgeoiſie, ihre Tribüne und ihre Preſſe, kurz die Ideologen
der Bourgeoiſie und die Bourgeoiſie ſelbſt, die Repräſentanten und die
Repräſentirten, ſtanden ſich entfremdet gegenüber und verſtanden ſich
nicht mehr.


Die Legitimiſten in den Provinzen, mit ihrem beſchränkten Horizont
und ihrem unbeſchränkten Enthuſiasmus, bezüchtigten ihre parlamentariſchen
Führer, Berryer und Falloux, der Deſertion in's bonapartiſtiſche Lager und
des Abfalls von Heinrich V. Ihr Lilienverſtand glaubte an den Sündenfall,
aber nicht an die Diplomatie.


Ungleich verhängnißvoller und entſcheidender war der Bruch der kom¬
merziellen Bourgeoiſie mit ihren Politikern. Sie warf ihnen vor, nicht wie
die Legitimiſten den ihren, von dem Prinzip abgefallen zu ſein, ſondern um¬
gekehrt, an unnütz gewordenen Prinzipien feſtzuhalten.


Ich habe ſchon früher angedeutet, daß ſeit dem Eintritt Fould's in's
Miniſterium der Theil der kommerziellen Bourgeoiſie, der den Löwenantheil
an Louis Philipp's Herrſchaft beſeſſen hatte, daß die Finanzariſtokratie
bonapartiſtiſch geworden war. Fould vertrat nicht nur Bonaparte's Intereſſe
an der Börſe, er vertrat zugleich das Intereſſe der Börſe bei Bonaparte.
Die Stellung der Finanzariſtokratie ſchildert am ſchlagendſten ein Citat aus
ihrem europäiſchen Organ, dem Londoner Oekonomiſt. In ſeiner Num¬
mer vom 1. Februar 1851 läßt er ſich aus Paris ſchreiben: „Nun haben
wir es konſtatirt von allen Seiten her, daß Frankreich vor Allem nach Ruhe
[72] verlangt. Der Präſident erklärt es in ſeiner Botſchaft an die legislative
Verſammlung, es tönt als Echo zurück von der nationalen Rednertribüne,
es wird betheuert von den Zeitungen, es wird verkündet von der Kanzel, es
wird bewieſen durch die Empfindlichkeit der Staats¬
papiere bei der geringſten Ausſicht auf Störung
, durch
ihre Feſtigkeit
, ſo oft die Exekutivgewalt ſiegt.“


In ſeiner Nummer vom 29. November 1851 erklärt der Oekono¬
miſt
in ſeinem eignen Namen: „Auf allen Börſen von Europa
iſt der Präſident nun als die Schildwache der Ordnung
anerkannt
.“ Die Finanzariſtokratie verdammte alſo den parlamentariſchen
Kampf der Ordnungspartei mit der Exekutivgewalt als eine Störung der
Ordnung
, und feierte jeden Sieg des Präſidenten über ihre angeblichen
Repräſentanten als einen Sieg der Ordnung. Man muß hier unter
der Finanzariſtokratie nicht nur die großen Anleihunternehmer und Spekulanten
in Staatspapieren verſtehn, von denen es ſich ſofort begreift, daß ihr Intereſſe
mit dem Intereſſe der Staatsgewalt zuſammenfällt. Das ganze moderne Geld¬
geſchäft, die ganze Bankwirthſchaft iſt auf das Innigſte mit dem öffentlichen
Kredit verwebt. Ein Theil ihres Geſchäftskapitals wird nothwendig in ſchnell
konvertiblen Staatspapieren angelegt und verzinſt. Ihre Depoſiten, das ihnen
zur Verfügung geſtellte und von ihnen unter Kaufleute und Induſtrielle ver¬
theilte Kapital ſtrömt theilweis aus den Dividenden der Staatsrentner
her. Der ganze Geldmarkt und die Prieſter dieſes Geldmarkts, wenn zu
jeder Epoche die Stabilität der Staatsgewalt Moſes und die Propheten für
ſie bedeutet hat, wie nicht erſt heute, wo jede Sündfluth mit den alten
Staaten die alten Staatsſchulden wegzuſchwemmen droht?


Auch die induſtrielle Bourgeoiſie ärgerte ſich in ihrem Ord¬
nungsfanatismus über die Zänkereien der parlamentariſchen Ordnungspartei
mit der Exekutivgewalt. Thiers, Angles, Saint Beuve u. ſ. w. erhielten
nach ihrem Votum vom 18. Januar, bei Gelegenheit der Abſetzung Chan¬
garnier's, von ihren Mandatgebern gerade aus den induſtriellen Bezirken
öffentliche Zurechtweiſungen, worin namentlich ihre Koalition mit der Montagne
als Hochverrath an der Ordnung gegeißelt wurde. Wenn wir geſehn haben,
daß die prahleriſchen Neckereien, die kleinlichen Intriguen, worin ſich der
Kampf der Ordnungspartei mit dem Präſidenten kundgab, keine beſſere Auf¬
nahme verdienten, ſo war andererſeits dieſe Bourgeoispartei, die von ihren
Vertretern verlangt, die Militärgewalt aus den Händen ihres eignen Parla¬
[73] ments widerſtandslos in die eines abenteuernden Prätendenten übergehn zu
laſſen, nicht einmal der Intriguen werth, die in ihrem Intereſſe verſchwendet
wurden. Sie bewies, daß der Kampf um die Behauptung ihres öffent¬
lichen
Intereſſes, ihres eignen Klaſſenintereſſes, ihrer poli¬
tiſchen Macht
, ſie als Störung des Privatgeſchäfts nur beläſtige und
verſtimme.


Die bürgerlichen Honoratioren der Departementalſtädte, die Magiſtrate,
Handelsrichter u. ſ. w. empfingen mit kaum einer Ausnahme Bonaparte
überall auf ſeinen Rundreiſen in der ſervilſten Weiſe, ſelbſt wenn er wie in
Dijon die Nationalverſammlung und ſpeziell die Ordnungspartei rückhaltlos
angriff.


Wenn der Handel gut ging, wie noch Anfang 1851, tobte die kommer¬
zielle Bourgeoiſie gegen jeden parlamentariſchen Kampf, damit dem Handel
ja nicht der Humor ausgehe. Wenn der Handel ſchlecht ging, wie fort¬
dauernd ſeit Ende Februar 1851, klagte ſie die parlamentariſchen Kämpfe als
Urſache der Stockung an und ſchrie nach ihrem Verſtummen, damit der Han¬
del wieder laut werde. Die Reviſionsdebatten fielen gerade in dieſe ſchlechte
Zeit. Da es ſich hier um Sein oder Nichtſein der beſtehenden Staatsform
handelte, fühlte ſich die Bourgeoiſie um ſo berechtigter, von ihren Repräſen¬
tanten das Ende dieſes folternden Proviſoriums und zugleich die Erhaltung
des Statusquo zu verlangen. Es war dies kein Widerſpruch. Unter dem
Ende des Proviſoriums verſtand ſie gerade ſeine Fortdauer, das Hinaus¬
ſchieben des Augenblicks, wo es zu einer Entſcheidung kommen mußte, in eine
blaue Ferne. Der Statusquo konnte nur auf zwei Wegen erhalten werden
Verlängerung der Gewalt Bonaparte's oder verfaſſungsmäßiger Abtritt
deſſelben und Wahl Cavaignac's. Ein Theil der Bourgeoiſie wünſchte die
letztere Löſung und wußte ſeinen Repräſentanten keinen beſſern Rath zu geben,
als zu ſchweigen, den brennenden Punkt unberührt zu laſſen. Wenn ihre
Repräſentanten nicht ſprächen, meinten ſie, werde Bonaparte nicht handeln.
Sie wünſchten ſich ein Straußenparlament, das ſeinen Kopf verſtecke, um
ungeſehn zu bleiben. Ein andrer Theil der Bourgeoiſie wünſchte Bonaparte,
weil er einmal auf dem Präſidentenſtuhl ſaß, auf dem Präſidentenſtuhl
ſitzen zu laſſen, damit Alles im alten Geleiſe bleibe. Es empörte ſie, daß
ihr Parlament nicht offen die Konſtitution brach und ohne Umſtände
abdankte.


Die Generalräthe der Departements, dieſe Provinzialvertretungen der
[74] großen Bourgeoiſie, die während der Ferien der Nationalverſammlung vom
25. Auguſt an tagten, erklärten ſich faſt einſtimmig für die Reviſion, alſo
gegen das Parlament und für Bonaparte.


Noch unzweideutiger als den Zerfall mit ihren parlamentariſchen
Repräſentanten
, legte die Bourgeoiſie ihre Wuth über ihre literariſchen
Vertreter, über ihre eigne Preſſe, an den Tag. Die Verurtheilungen zu
unerſchwinglichen Geldſummen und zu ſchamloſen Gefängnißſtrafen durch die
Bourgeois-Jurys für jeden Angriff der Bourgeois-Journaliſten auf die Uſur¬
pationsgelüſte Bonaparte's, für jeden Verſuch der Preſſe, die politiſchen
Rechte der Bourgeoiſie gegen die Exekutivgewalt zu vertheidigen, ſetzten nicht
nur Frankreich, ſondern ganz Europa in Erſtaunen.


Wenn die parlamentariſche Ordungspartei, wie ich ge¬
zeigt habe, durch ihr Schreien nach Ruhe ſich ſelbſt zur Ruhe verwies, wenn
ſie die politiſche Herrſchaft der Bourgeoiſie für unverträglich mit der Sicherheit
und dem Beſtand der Bourgeoiſie erklärte, indem ſie im Kampfe gegen die
andern Klaſſen der Geſellſchaft alle Bedingungen ihres eignen Regimes, des
parlamentariſchen Regimes, mit eigner Hand vernichtete; ſo forderte dagegen
die außerparlamentariſche Maſſe der Bourgeoiſie durch
ihre Servilität gegen den Präſidenten, durch ihre Schmähungen gegen das
Parlament, durch die brutale Mißhandlung der eignen Preſſe Bonaparte auf,
ihren ſprechenden und ſchreibenden Theil, ihre Politiker und ihre Literaten,
ihre Rednertribüne und ihre Preſſe zu unterdrücken, zu vernichten, damit ſie
nun vertrauensvoll unter dem Schutze einer ſtarken und uneingeſchränkten
Regierung ihren Privatgeſchäften nachgehen könne. Sie erklärte unzwei¬
deutig, daß ſie ihre eigne politiſche Herrſchaft loszuwerden ſchmachte, um die
Mühen und Gefahren der Herrſchaft loszuwerden.


Und ſie, die ſich ſchon gegen den blos parlamentariſchen und literariſchen
Kampf für die Herrſchaft ihrer eignen Klaſſe empört und die Führer dieſes
Kampfes verrathen hatte, ſie wagt jetzt nachträglich das Proletariat anzu¬
klagen, daß es nicht zum blutigen Kampfe, zum Kampfe auf Leben und Tod
für ſie aufgeſtanden ſei! Sie, die jeden Augenblick ihr allgemeines Klaſſen¬
intereſſe, d. h. ihr politiſches Intereſſe dem bornirteſten, ſchmutzigſten Privat¬
intereſſe aufopferte und an ihre Vertreter die Zumuthung eines ähnlichen
Opfers ſtellte, ſie jammert jetzt, das Proletariat habe ſeinen materiellen In¬
tereſſen ihre idealen politiſchen Intereſſen geopfert. Sie gebahrt ſich als
ſchöne Seele, die von dem durch Sozialiſten irregeleiteten Proletariat ver¬
[75] kannt und im entſcheidenden Augenblicke verlaſſen worden ſei. Und ſie findet
ein allgemeines Echo in der bürgerlichen Welt. Ich ſpreche natürlich hier
nicht von deutſchen Winkelpolitikern und Geſinnungslümmeln. Ich verweiſe
z. B. auf denſelben Oekonomiſt, der noch am 29. November 1851,
alſo vier Tage vor dem Staatsſtreich, Bonaparte für die „Schildwache der
Ordnung“, die Thiers und Berryer aber für „Anarchiſten“ erklärt hatte
und ſchon am 27. Dezember 1851, nachdem Bonaparte jene Anarchiſten zur
Ruhe gebracht hat, über den Verrath ſchreit, den „ignorante, unerzogne,
ſtupide Proletariermaſſen an dem Geſchick, der Kenntniß, der Disziplin, dem
geiſtigen Einfluß, den intellektuellen Hülfsquellen und dem moraliſchen
Gewicht der mittleren und höheren Geſellſchaftsränge“ verübt hätten. Die
ſtupide, ignorante und gemeine Maſſe war Niemand anders, als die Bourgeois¬
maſſe ſelbſt.


Frankreich hatte allerdings im Jahre 1851 eine Art von kleiner Han¬
delskriſis erlebt. Ende Februar zeigte ſich Verminderung des Exports gegen
1850, im März litt der Handel und ſchloſſen ſich die Fabriken, im April
ſchien der Stand der induſtriellen Departements ſo verzweifelt wie nach den
Februartagen, im Mai war das Geſchäft noch nicht wieder aufgelebt, noch
am 28. Juni zeigte das Portefeuille der Bank von Frankreich durch ein unge¬
heures Wachſen der Depoſiten und eine ebenſo große Abnahme der Vorſchüſſe
auf Wechſel den Stillſtand der Produktion, und erſt Mitte Oktober trat
wieder eine progreſſive Beſſerung des Geſchäfts ein. Die franzöſiſche
Bourgeoiſie erklärte ſich dieſe Handelsſtockung aus rein politiſchen Gründen,
aus dem Kampfe zwiſchen dem Parlamente und der Exekutivgewalt, aus der
Unſicherheit einer nur proviſoriſchen Staatsform, aus der Schreckensausſicht
auf den 2. Mai 1852. Ich will nicht läugnen, daß alle dieſe Umſtände
einige Induſtriezweige in Paris und in den Departements herabdrückten.
Jedenfalls war aber dieſe Einwirkung der politiſchen Verhältniſſe nur lokal und
unerheblich. Bedarf es eines andern Beweiſes, als daß die Beſſerung des Han¬
dels gerade in dem Augenblicke eintrat, wo ſich der politiſche Zuſtand verſchlech¬
terte, der politiſche Horizont verdunkelte und jeden Augenblick ein Blitzstrahl aus
dem Elyſium erwartet wurde, gegen Mitte Oktober? Der franzöſiſche Bourgeois,
deſſen „Geſchick, Kenntniß, geiſtige Einſicht und intellektuelle Hülfsquellen“ nicht
weiter reichen als ſeine Naſe, konnte übrigens während der ganzen Dauer der
Induſtrieausſtellung in London mit der Naſe auf die Urſache ſeiner Handels¬
miſère ſtoßen. Während in Frankreich die Fabriken geſchloſſen wurden,
[76] brachen in England kommerzielle Bankerutte aus. Während der induſtrielle
Panic im April und Mai einen Höhepunkt in Frankreich erreichte, erreichte
der kommerzielle Panic April und Mai einen Höhepunkt in England. Wie
die franzöſiſche litt die engliſche Wollinduſtrie, wie die franzöſiſche die eng¬
liſche Seidenmanufaktur. Wenn die engliſchen Baumwollfabriken weiter
arbeiteten, geſchah es nicht mehr mit demſelben Profit, wie 1849 und 1850.
Der Unterſchied war nur der, daß die Kriſe in Frankreich induſtriell, in
England kommerziell, daß während in Frankreich die Fabriken ſtillſetzten, ſie
ſich in England ausdehnten, aber unter ungünſtigeren Bedingungen als in
den vorhergehenden Jahren, daß in Frankreich der Export, in England der
Import die Hauptſchläge erhielt. Die gemeinſame Urſache, die natürlich
nicht innerhalb der Grenzen des franzöſiſch-politiſchen Horizonts zu ſuchen iſt,
war augenſcheinlich. 1849 und 1850 waren Jahre der größten materiellen
Prosperität und einer Ueberproduktion, die erſt 1851 als ſolche hervortrat.
Sie wurde im Anfang dieſes Jahres durch die Ausſicht auf die Induſtrie¬
ausſtellung noch beſonders befördert. Als eigenthümliche Umſtände kamen
hinzu: erſt der Mißwachs der Baumwollenernte von 1850 und 1851,
dann die Sicherheit einer größern Baumwollenernte als erwartet war, erſt
das Steigen, dann das plötzliche Fallen, kurz die Schwankungen der Baum¬
wollenpreiſe. Die Rohſeidenernte war wenigſtens in Frankreich noch unter
dem Durchſchnittsertrag ausgefallen. Die Wollenmanufaktur endlich hatte
ſich ſeit 1848 ſo ſehr ausgedehnt, daß die Wollproduktion ihr nicht nach¬
folgen konnte und der Preis der Rohwolle in einem großen Mißverhältniſſe
zu dem Preiſe der Wollfabrikate ſtieg. Hier haben wir alſo in dem Roh¬
material von drei Weltmarktsinduſtrien ſchon dreifaches Material zu einer
Handelsſtockung. Von dieſen beſondern Umſtänden abgeſehn war die ſchein¬
bare Kriſe des Jahres 1851 nichts Anders als der Halt, den Ueberproduk¬
tion und Ueberſpekulation jedes Mal in der Beſchreibung des induſtriellen
Kreislaufes macht, bevor ſie alle ihre Kraftmittel zuſammenrafft, um
fieberhaft den letzten Kreisabſchnitt zu durchjagen und bei ihrem Aus¬
gangspunkt, der allgemeinen Handelskriſe, wieder anzulangen.
In ſolchen Intervallen der Handelsgeſchichte brechen in England kommerzielle
Bankerutte aus, während in Frankreich die Induſtrie ſelbſt ſtillgeſetzt wird,
theils durch die gerade dann unerträglich werdende Konkurrenz der Engländer
auf allen Märkten zum Rückzug gezwungen, theils als Luxusinduſtrie
vorzugsweiſe von jeder Geſchäftsſtockung angegriffen. So macht Frankreich
[77] außer den allgemeinen Kriſen ſeine eignen nationalen Handelskriſen durch,
die jedoch weit mehr durch den allgemeinen Stand des Weltmarkts als durch
franzöſiſche Lokaleinflüſſe beſtimmt und bedingt werden. Es wird nicht ohne
Intereſſe ſein, dem Vorurtheil des franzöſiſchen Bourgeois das Urtheil des
engliſchen Bourgeois gegenüber zu ſtellen. Eins der größten Liverpooler
Häuſer ſchreibt in ſeinem Jahres-Handelsberichte für 1851: „Wenige
Jahre haben die bei ihrem Beginn gehegten Anticipationen mehr getäuſcht,
als das eben abgelaufene; ſtatt der großen Prosperität, der man einſtimmig
entgegenſah, bewies es ſich als eins der entmuthigendſten Jahre ſeit einem
Vierteljahrhundert. Es gilt dies natürlich nur von den merkantilen, nicht
von den induſtriellen Klaſſen. Und doch waren ſicherlich Gründe vorhanden,
beim Beginne des Jahres auf das Gegentheil zu ſchließen, die Produktenvor¬
räthe waren ſpärlich, Kapital überflüſſig, Nahrungsmittel wohlfeil, ein reicher
Herbſt war geſichert; ungebrochner Friede auf dem Kontinent und keine poli¬
tiſchen oder finanziellen Störungen zu Hauſe; in der That, die Flügel des
Handels waren nie feſſelloſer . . . Wem dies ungünſtige Reſultat zuſchreiben?
Wir glauben dem Ueberhandel ſowohl in Importen als Exporten.
Wenn unſere Kaufleute nicht ſelbſt ihrer Thätigkeit engere Grenzen ziehen,
kann uns Nichts im Gleiſe halten, als alle drei Jahr ein Panic.“


Man ſtelle ſich nun den franzöſiſchen Bourgeois vor, wie mitten in
dieſem Geſchäftspanic ſein handelskrankes Gehirn gefoltert, umſchwirrt,
betäubt wird von Gerüchten über Staatsſtreiche und Herſtellung des allge¬
meinen Wahlrechts, von dem Kampfe zwiſchen Parlament und Exekutivgewalt,
von dem Frondekrieg der Orleaniſten und Legitimiſten, von kommuniſtiſchen
Konſpirationen in Südfrankreich, von angeblichen Jacquerien in den Nièvre-
und Cher-Departements, von den Reklamen der verſchiedenen Präſident¬
ſchaftskandidaten, von den marktſchreieriſchen Löſungen der Journale, von den
Drohungen der Republikaner, mit den Waffen in der Hand die Konſtitution
und das allgemeine Stimmrecht behaupten zu wollen, von den Evangelien der
emigrirten Helden in partibus, die den Weltuntergang für den 2. Mai 1852
anzeigten, und man begreift, daß der Bourgeois in dieſer unſäglichen,
geräuſchvollen Konfuſion von Fuſion, Reviſion, Prorogation, Konſtitution,
Konſpiration, Koalition, Emigration, Uſurpation und Revolution ſeiner
parlamentariſchen Republik toll zuſchnaubt: „Lieber ein Ende mit
Schrecken
, als ein Schrecken ohn' Ende!“


Bonaparte verſtand dieſen Schrei. Sein Begriffsvermögen wurde ge¬
[78] ſchärft durch den wachſenden Ungeſtüm von Gläubigern, die mit jedem Son¬
nenuntergang, der den Verfalltag, den 2. Mai 1852 näher rückte, einen
Proteſt der Geſtirnbewegung gegen ihre irdiſchen Wechſel erblickten. Sie
waren zu wahren Aſtrologen geworden. Die Nationalverſammlung hatte
Bonaparte die Hoffnung auf konſtitutionelle Prorogation ſeiner Gewalt ab¬
geſchnitten, die Kandidatur des Prinzen von Joinville geſtattete kein längeres
Schwanken.


Wenn je ein Ereigniß lange vor ſeinem Eintritt ſeinen Schatten vor
ſich hergeworfen hat, ſo war es Bonaparte's Staatsſtreich. Schon am 29.
Januar 1849, kaum einen Monat nach ſeiner Wahl; hatte er den Vorſchlag
dazu dem Changarnier gemacht. Sein eigner Premierminiſter Odilon
Barrot hatte im Sommer 1849 verhüllt, Thiers im Winter 1850 offen die
Politik der Staatsſtreiche denunzirt. Perſigny hatte im Mai 1851 Chan¬
garnier noch einmal für den Coup zu gewinnen geſucht, der „Messager de
l'Assemblée
“ hatte dieſe Unterhandlung veröffentlicht. Die bonapartiſtiſchen
Journale drohten bei jedem parlamentariſchen Sturme mit einem Staats¬
ſtreich, und je näher die Kriſe rückte, deſto lauter wurde ihr Ton. In den
Orgien, die Bonaparte jede Nacht mit männlichem und weiblichem swell
mob
feierte, ſo oft die Mitternachtsſtunde heranrückte und reichliche Liba¬
tionen die Zunge gelöſt und die Phantaſie erhitzt hatten, wurde der Staats¬
ſtreich für den folgenden Morgen beſchloſſen. Die Schwerter wurden ge¬
zogen, die Gläſer klirrten, die Repräſentanten flogen zum Fenſter hinaus,
der Kaiſermantel fiel auf die Schultern Bonaparte's, bis der nächſte Morgen
wieder den Spuk vertrieb und das erſtaunte Paris von wenig verſchloſſenen
Beſtalinen und indiskreten Paladinen die Gefahr erfuhr, der es noch
einmal entwiſcht war. In den Monaten September und Oktober über¬
ſtürzten ſich die Gerüchte von einem Coup d'état. Der Schatten nahm zu¬
gleich Farbe an, wie ein buntes Daguerreotyp. Man ſchlage die Monats¬
gänge für September und Oktober in den Organen der europäiſchen Tages¬
preſſe nach und man wird wörtlich Andeutungen wie folgende finden:
[Staatsſtreich-Gerüchte] erfüllen Paris. Die Hauptſtadt ſoll während der
Nacht mit Truppen gefüllt werden und der andre Morgen Dekrete bringen,
die die Nationalverſammlung auflöſen, das Departement der Seine in Be¬
lagerungszuſtand verſetzen, das allgemeine Wahlrecht wiederherſtellen, an's
Volk appelliren. Bonaparte ſoll Miniſter für die Ausführung dieſer illegalen
Dekrete ſuchen.“ Die Korreſpondenzen, die dieſe Nachrichten bringen,
[79] enden ſtets verhängnißvoll mit „aufgeſchoben“. Der Staatsſtreich
war ſtets die fixe Idee Bonaparte's. Mit dieſer Idee hatte er den franzö¬
ſiſchen Boden wieder betreten. Sie beſaß ihn ſo ſehr, daß er ſie forwährend
verrieth und ausplauderte. Er war ſo ſchwach, daß er ſie ebenſo fortwährend
wieder aufgab. Der Schatten des Staatsſtreiches war den Pariſern als
Geſpenſt ſo familiär geworden, daß ſie nicht an ihn glauben wollten, als er
endlich in Fleiſch und Blut erſchien. Es war alſo weder die verſchloſſene
Zurückhaltung des Chefs der Geſellſchaft vom 10. Dezember, noch eine un¬
geahnte Ueberrumpelung von Seiten der Nationalverſammlung, was den
Staatsſtreich gelingen ließ. Wenn er gelang, gelang er trotz ſeiner In¬
diskretion und mit ihrem Vorwiſſen, ein nothwendiges, unvermeidliches
Reſultat der vorhergegangenen Entwickelung.


Am 10. Oktober kündete Bonaparte ſeinen Miniſtern den Entſchluß
an, das allgemeine Wahlrecht wieder herſtellen zu wollen, am 16. gaben ſie
ihre Entlaſſung, am 26. erfuhr Paris die Bildung des Miniſteriums
Thorigny. Der Polizeipräfekt Cartier wurde gleichzeitig durch Maupas
erſetzt, der Chef der erſten Militärdiviſion, Magnan, zog die zuverläſſigſten
Regimenter der Hauptſtadt zuſammen. Am 4. November eröffnete die
Nationalverſammlung wieder ihre Sitzungen. Sie hatte nichts mehr zu
thun, als in einem kurzen bündigen Repetitorium den Curſus, den ſie durch¬
gemacht hatte, zu wiederholen und zu beweiſen, daß ſie erſt begraben wurde,
nachdem ſie geſtorben war.


Der erſte Poſten, den ſie im Kampfe mit der Exekutivgewalt eingebüßt
hatte, war das Miniſterium. Sie mußte dieſen Verluſt feierlich eingeſtehn,
indem ſie das Miniſterium Thorigny, ein bloßes Scheinminiſterium, als
voll hinnahm. Die Permanenzkommiſſion hatte Herrn Giraud mit Lachen
empfangen, als er ſich im Namen der neuen Miniſter vorſtellte. Ein ſo
ſchwaches Miniſterium für ſo ſtarke Maßregeln, wie die Wiederherſtellung
des allgemeinen Wahlrechts! Aber handelte ſich eben darum, Nichts im
Parlament, Alles gegen das Parlament durchzuſetzen.


Gleich am erſten Tage ihrer Wiedereröffnung erhielt die Nationalver¬
ſammlung die Botſchaft Bonaparte's, worin er Wiederherſtellung des allge¬
meinen Wahlrechts und Abſchaffung des Geſetzes vom 31. Mai 1850 ver¬
langte. Seine Miniſter brachten an demſelben Tage ein Dekret in dieſem
Sinne ein. Die Verſammlung verwarf den Dringlichkeitsantrag der Mini¬
ſter ſofort und das Geſetz ſelbſt am 13. November, mit 355 gegen 348
[80] Stimmen. Sie zerriß ſo noch einmal ihr Mandat, ſie beſtätigte noch ein¬
mal, daß ſie ſich aus der freigewählten Repräſentation des Volkes in das
uſurpatoriſche Parlament einer Klaſſe verwandelt, ſie bekannte noch einmal,
daß ſie ſelbſt die Muskeln entzweigeſchnitten hatte, die den parlamentariſchen
Kopf mit dem Körper der Nation verbanden.


Wenn die Exekutivgewalt durch ihren Antrag auf Wiederherſtellung
des allgemeinen Wahlrechts von der Nationalverſammlung an das Volk,
appellirte die geſetzgebende Gewalt durch ihre Quäſtorenbill von dem Volke
an die Armee. Dieſe Quäſtorenbill ſollte ihr Recht auf unmittelbare Requi¬
ſition der Truppen, auf Bildung einer parlamentariſchen Armee feſtſetzen.
Wenn ſie ſo die Armee zum Schiedsrichter zwiſchen ſich und dem Volke,
zwiſchen ſich und Bonaparte ernannte, wenn ſie die Armee als entſcheidende
Staatsgewalt anerkannte, mußte ſie andrerſeits beſtätigen, daß ſie längſt den
Anſpruch auf Herrſchaft über dieſelbe aufgegeben habe. Indem ſie, ſtatt
ſofort Truppen zu requiriren, das Recht der Requiſition debattirte, verrieth
ſie den Zweifel an ihrer eignen Macht. Indem ſie die Quäſtorenbill ver¬
warf, geſtand ſie offen ihre Ohnmacht. Dieſe Bill fiel durch mit einer
Minorität von 108 Stimmen, die Montagne hatte ſo den Ausſchlag ge¬
geben. Sie befand ſich in der Lage von Buridan's Eſel, zwar nicht zwiſchen
zwei Säcken Heu, um zu entſcheiden, welcher der anziehendere, wohl aber
zwiſchen zwei Trachten Prügel, um zu entſcheiden, welche die härtere ſei.
Auf der einen Seite die Furcht vor Changarnier, auf der andern die
Furcht vor Bonaparte. Man muß geſtehn, daß die Lage keine heroiſche war.


Am 18. November wurde zu dem von der Ordnungspartei eingebrach¬
ten Geſetze über die Kommunalwahlen das Amendement geſtellt, daß ſtatt
drei Jahren ein Jahr Domizil für die Kommunalwähler genügen ſolle.
Das Amendement fiel mit einer einzigen Stimme durch, aber dieſe eine
Stimme ſtellte ſich ſofort als ein Irrthum heraus. Die Ordnungspartei
hatte durch Zerſplitterung in ihre feindlichen Fraktionen längſt ihre
ſelbſtſtändig-parlamentariſche Majorität eingebüßt. Sie zeigte jetzt, daß
überhaupt keine Majorität im Parlament mehr vorhanden war. Die
Nationalverſammlung war beſchlußunfähig geworden. Ihre ato¬
miſtiſchen Beſtandtheile hingen durch keine Kohäſionskraft mehr zuſammen,
ſie hatte ihren letzten Lebensathem verbraucht, ſie war todt.


Die außerparlamentariſche Maſſe der Bourgeoiſie endlich ſollte ihren
[81] Bruch mit der Bourgeoiſie im Parlamente noch einmal einige Tage vor der
Kataſtrophe feierlich beſtätigen. Thiers, als parlamentariſcher Held vorzugs¬
weiſe von der unheilbaren Krankheit des parlamentariſchen Kretinismus
angeſteckt, hatte nach dem Tode des Parlaments eine neue parlamentariſche
Intrigue mit dem Staatsrathe ausgeheckt, ein Verantwortlichkeitsgeſetz, das
den Präſidenten in die Schranken der Verfaſſung feſtbannen ſollte. Wie
Bonaparte am 15. September bei Grundlegung zu den neuen Markthallen
von Paris die dames des halles, die Fiſchweiber, als zweiter Maſaniello
bezaubert hatte — allerdings wog ein Fiſchweib an realer Gewalt 17 Burg¬
grafen auf —, wie er nach Vorlegung der Quäſtorenbill die in dem Elyſee
traktirten Lieutenants begeiſterte, ſo riß er jetzt am 25. November die indu¬
ſtrielle Bourgeoiſie mit ſich fort, die im Circus verſammelt war, um aus
ſeiner Hand Preismedaillen für die Londoner Induſtrieausſtellung ent¬
gegenzunehmen. Ich gebe den bezeichnenden Theil ſeiner Rede nach dem
Journal des Débats:“ „Mit ſolch' unverhofften Erfolgen bin ich berechtigt
zu wiederholen, wie groß die franzöſiſche Republik ſein würde, wenn es ihr
geſtattet wäre, ihre realen Intereſſen zu verfolgen und ihre Inſtitutionen zu
reformiren, ſtatt beſtändig geſtört zu werden einerſeits durch die Demagogen,
andrerſeits durch die monarchiſchen Hallucinationen. (Lauter, ſtürmiſcher
und wiederholter Applaus von jedem Theile des Amphitheaters.) Die
monarchiſchen Hallucinationen verhindern allen Fortſchritt und alle ernſten
Induſtriezweige. Statt des Fortſchritts nur Kampf. Man ſieht Männer,
die früher die eifrigſten Stützen der königlichen Autorität und Prärogative
waren, Parteigänger eines Konvents werden, blos um die Autorität zu
ſchwächen, die aus dem allgemeinen Stimmrecht entſprungen iſt. (Lauter
und wiederholter Applaus.) Wir ſehen Männer, die am meiſten von der
Revolution gelitten und ſie am meiſten bejammert haben, eine neue provo¬
ziren, und nur um den Willen der Nation zu feſſeln . . . . . . . . Ich ver¬
ſpreche Euch Ruhe für die Zukunft ꝛc. ꝛc. (Bravo, Bravo, ſtürmiſches Bravo.)“
— So klatſcht die induſtrielle Bourgeoiſie dem Staatsſtreiche vom 2. Dezem¬
ber, der Vernichtung des Parlaments, dem Untergang ihrer eignen Herr¬
ſchaft, der Diktatur Bonaparte's ihr ſerviles Bravo zu. Der Beifalls¬
donner vom 25. November erhielt ſeine Antwort in dem Kanonendonner
vom 4. Dezember, und das Haus des Herrn Sallandrouze, der die meiſten
Bravos geklatſcht hatte, wurde von den meiſten Bomben zerklatſcht.


Cromwell, als er das lange Parlament auflöſte, begab ſich allein in
6[82] die Mitte deſſelben, zog ſeine Uhr heraus, damit es keine Minute über die
von ihm feſtgeſetzte Friſt fortexiſtire und verjagte jedes einzelne Parlaments¬
glied mit heiter humoriſtiſchen Schmähungen. Napoleon, kleiner als ſein
Vorbild, begab ſich am 18. Brumaire wenigſtens in den geſetzgebenden
Körper und verlas ihm, wenn auch mit beklommener Stimme, ſein
Todesurtheil. Der zweite Bonaparte, der ſich übrigens im Beſitz einer
ganz andern Exekutivgewalt befand, als Cromwell oder Napoleon, ſuchte ſein
Vorbild nicht in den Annalen der Weltgeſchichte, ſondern in den Annalen
der Geſellſchaft vom 10. Dezember, in den Annalen der Kriminalgerichts¬
barkeit. Er beſtiehlt die Bank von Frankreich um 25 Millionen Franks,
kauft den General Magnan mit einer Million, die Soldaten Stück für Stück
mit 15 Franks und mit Schnaps, findet ſich wie ein Dieb in der Nacht mit
ſeinen Spießgeſellen heimlich zuſammen, läßt in die Häuſer der gefährlichſten
Parlamentsführer einbrechen und Cavaignac, Lamoricière, Leflô, Changar¬
nier, Charras, Thiers, Baze ꝛc. aus ihren Betten entführen, die Haupt¬
plätze von Paris ſowie das Parlamentsgebäude mit Truppen beſetzen und
früh am Morgen marktſchreieriſche Plakate an allen Mauern anſchlagen, worin
die Auflöſung der Nationalverſammlung und des Staatsraths, die Wieder¬
herſtellung des allgemeinen Wahlrechts und die Verſetzung des Seinedepar¬
tements in Belagerungszuſtand verkündet werden. So rückt er kurz nachher
ein falſches Dokument in den Moniteur ein, wonach einflußreiche parlamen¬
tariſche Namen ſich in einer Staatskonſulta um ihn gruppirt hätten.


Das im Mairiegebäude des 10. Arrondiſſements verſammelte Rumpf¬
parlament, hauptſächlich aus Legitimiſten und Orleaniſten beſtehend, be¬
ſchließt unter dem wiederholten Rufe, „es lebe die Republik,“ die Abſetzung
Bonaparte's, haranguirt umſonſt die vor dem Gebäude gaffende Maſſe und
wird endlich unter dem Geleite afrikaniſcher Scharfſchützen erſt in die Kaſerne
d'Orſay geſchleppt, ſpäter in Zellenwagen verpackt und nach den Gefäng¬
niſſen von Mazas, Ham und Vincennes transportirt. So endete die Ord¬
nungspartei, die legislative Verſammlung und die Februarrevolution. Ehe
wir zum Schluß eilen, kurz das Schema ihrer Geſchichte:


I. Erſte Periode. Vom 24. Februar bis 4. Mai 1848. Februar¬
periode. Prolog. Allgemeiner Verbrüderungsſchwindel.


II. Zweite Periode. Periode der Konſtituirung der Republik und
der konſtituirenden Nationalverſammlung.


[83]

1) 4. Mai bis 25. Juni 1848. Kampf ſämmtlicher Klaſſen gegen
das Proletariat. Niederlage des Proletariats in den Juni¬
tagen.


2) 25. Juni bis 10. Dezember 1848. Diktatur der reinen Bourgeois-
Republikaner. Entwerfung der Konſtitution. Verhängung
des Belagerungszuſtandes über Paris. Die Bourgeois-Diktatur
am 10. Dezember beſeitigt durch die Wahl Bonaparte's zum
Präſidenten.


3) 20. Dezember 1848 bis 29. Mai 1849. Kampf der Konſtitu¬
ante mit Bonaparte und der mit ihm vereinigten Ordnungs¬
partei. Untergang der Konſtituante. Fall der republikaniſchen
Bourgeoiſie.


III. Dritte Periode. Periode der konſtitutionellen Re¬
publik
und der legislativen Nationalverſammlung.


1) 29. Mai 1849 bis 13. Juni 1849. Kampf der Kleinbürger mit
der Bourgeoiſie und mit Bonaparte. Niederlage der kleinbürger¬
lichen Demokratie.


2) 13. Juni 1849 bis 31. Mai 1850. Parlamentariſche Diktatur
der Ordnungspartei. Vollendet ihre Herrſchaft durch Abſchaffung
des allgemeinen Wahlrechts, verliert aber das parlamentariſche
Miniſterium.


3) 31. Mai 1850 bis 2. Dezember 1851. Kampf zwiſchen der par¬
lamenlariſchen Bourgeoiſie und Bonaparte.


a) 31. Mai 1850 bis 12. Januar 1851. Das Parlameut ver¬
liert den Oberbefehl über die Armee.


b) 12. Januar bis 11. April 1851. Es unterliegt in den Ver¬
ſuchen ſich der Adminiſtrativgewalt wieder zu bemächtigen.
Die Ordnungspartei verliert die ſelbſtſtändige parlamentariſche
Majorität. Ihre Koalition mit den Republikanern und der
Montagne.


c) 11. April 1851 bis 9. Oktober 1851. Reviſions-, Fuſions-,
Prorogations-Verſuche. Die Ordnungspartei löſt ſich in ihre
einzelnen Beſtandtheile auf. Der Bruch des Bourgeoiſpar¬
laments und der Bourgeoispreſſe mit der Bourgeoismaſſe kon¬
ſolidirt ſich.


6 *[84]

d) 9. Oktober bis 2. Dezember 1851. Offner Bruch zwiſchen
dem Parlament und der Exekutivgewalt. Es vollzieht ſeinen
Sterbeakt und unterliegt, von ſeiner eigenen Klaſſe, von der
Armee, von allen übrigen Klaſſen im Stiche gelaſſen. Untergang
des parlamentariſchen Regimes und der Bourgeoisherrſchaft.
Sieg Bonaparte's, Imperialiſtiſche Reſtaurationsparodie.

VII.

Die ſoziale Republik erſchien als Phraſe, als Prophezeihung an
der Schwelle der Februarrevolution. In den Junitagen 1848 wurde ſie im
Blute des Pariſer Proletariats erſtickt, aber ſie geht in den fol¬
genden Akten des Dramas als Geſpenſt um. Die demokratiſche Re¬
publik
kündigt ſich an. Sie verpufft am 13. Juni 1849 mit ihren davon¬
gelaufenen Kleinbürgern, aber im Fliehen wirft ſie doppelt renommi¬
rende Reklamen hinter ſich. Die parlamentariſche Republik mit
der Bourgeoiſie bemächtigt ſich der ganzen Bühne, ſie lebt ſich aus in der
vollen Breite ihrer Exiſtenz, aber der 2. Dezember 1851 begräbt ſie unter
dem Angſtſchrei der koaliſirten Royaliſten: „Es lebe, die Republik!“


Die franzöſiſche Bourgeoiſie bäumte ſich gegen die Herrſchaft des ar¬
beitenden Proletariats, ſie hat das Lumpenproletariat zur Herrſchaft gebracht,
an der Spitze den Chef der Geſellſchaft vom 10. Dezember. Die Bourgeoiſie
hielt Frankreich in athemloſer Furcht vor den zukünftigen Schrecken der rothen
Anarchie; Bonaparte escomptirte ihr dieſe Zukunft, als er am 4. Dezember
die vornehmen Bürger des Boulevard Montmartre und des Boulevard des
Italiens durch die ſchnapsbegeiſterte Armee der Ordnung von ihren Fenſtern
herabſchießen ließ. Sie apotheoſirte den Säbel; der Säbel beherrſcht ſie.
Sie vernichtete die revolutionäre Preſſe; ihre eigne Preſſe iſt vernichtet.
Sie ſtellte die Volksverſammlungen unter Polizeiaufſicht; ihre Salons ſtehn
unter der Aufſicht der Polizei. Sie löſte die demokratiſchen Nationalgarden
auf; ihre eigne Nationalgarde iſt aufgelöſt. Sie verhing den Belagerungs¬
zuſtand; der Belagerungszuſtand iſt über ſie verhängt. Sie verdrängte die
Jurys durch Militärkommiſſionen; ihre Jurys ſind durch Militärkommiſſionen
[85] verdrängt. Sie unterwarf den Volksunterricht den Pfaffen; die Pfaffen
unterwerfen ſie ihrem eignen Unterricht. Sie transportirte ohne Urtheil; ſie
wird ohne Urtheil transportirt. Sie unterdrückte jede Regung der Geſell¬
ſchaft durch die Staatsmacht; jede Regung ihrer Geſellſchaft wird durch die
Staatsmacht erdrückt. Sie rebellirte aus Begeiſterung für ihren Geldbeutel,
gegen ihre eignen Politiker und Literaten; ihre Politiker und Literaten ſind
beſeitigt, aber ihr Geldbeutel wird geplündert, nachdem ſein Mund geknebelt
und ſeine Feder zerbrochen iſt. Die Bourgeoiſie rief der Revolution uner¬
müdlich zu, wie der heilige Arſenius den Chriſten: „Fuge, Tace, Quiesce!
Fliehe, Schweige, Ruhe!“ Bonaparte ruft der Bourgeoiſie zu: „Fuge,
Tace, Quiesce! Fliehe, Schweige, Ruhe!“


Die franzöſiſche Bourgeoiſie hatte längſt das Dilemma Napoleon's
gelöſt: „Dans cinquante ans l'Europe sera républicaine ou cosaque.
Sie hatte es gelöſt in der „république cosaque.“ Keine Circe hat das
Kunſtwerk der bürgerlichen Republik durch böſen Zauber in eine Ungeſtalt
verzerrt. Jene Republik hat nichts verloren als den Schein der Reſpektabi¬
lität. Das jetzige Frankreich war fertig in der parlamentariſchen Republik
enthalten. Es bedürfte nur eines Bajonnetſtichs, damit die Blaſe platze und
das Ungeheuer in die Augen ſpringe.


Warum hat ſich das Pariſer Proletariat nicht nach dem 2. Dezember
erhoben?


Noch war der Sturz der Bourgeoiſie erſt dekretirt, das Dekret war
nicht vollzogen. Jeder ernſte Aufſtand des Proletariats hätte ſie ſofort neu
belebt, mit der Armee ausgeſöhnt und den Arbeitern eine zweite Juninieder¬
lage geſichert.


Am 4. Dezember wurde das Proletariat von Bourgeois und Epicier
zum Kampfe aufgeſtachelt. Am Abende dieſes Tages verſprachen mehrere
Legionen der Nationalgarde bewaffnet und uniformirt auf dem Kampfplatze
zu erſcheinen. Bourgeois und Epicier waren nämlich dahinter gekommen,
daß Bonaparte in einem ſeiner Dekrete vom 2. Dezember das geheime Votum
abſchaffte und ihnen anbefahl, in den offiziellen, Regiſtern hinter ihren
Namen ihr Ja oder Nein einzutragen. Der Widerſtand vom 4. Dezember
ſchüchterte Bonaparte ein. Während der Nacht ließ er an allen Straßen¬
ecken von Paris Plakate anſchlagen, welche die Wiederherſtellung des geheimen
Votums verkündeten. Bourgeois und Epicier glaubten ihren Zweck erreicht
[86] zu haben. Wer nicht am andern Morgen erſchien, waren Epicier und
Bourgeois.


Das Pariſer Proletariat war durch einen Handſtreich Bonaparte's wäh¬
rend der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember ſeiner Führer, der Barrikaden¬
chefs, beraubt worden. Eine Armee ohne Offiziere, durch die Erinnerungen
vom Juni 1848 und 1849 und vom Mai 1850 abgeneigt unter dem
Banner der Montagnards zu kämpfen, überließ es ſeiner Avantgarde, den
geheimen Geſellſchaften, die Rettung der inſurrektionellen Ehre von Paris,
welche die Bourgeoiſie ſo widerſtandslos der Soldateska preisgab, daß Bona¬
parte ſpäter die Nationalgarde mit dem höhniſchen Motive entwaffnen
konnte: er fürchte, daß ihre Waffen gegen ſie ſelbſt von den Anarchiſten mi߬
braucht werden würden!


C'est le triomphe complet et définitifduSocia¬
lisme!“ So charakteriſirte Guizot den 2. Dezember. Aber wenn der
Sturz der parlamentariſchen Republik dem Keime nach den Triumph der
proletariſchen Revolution in ſich enthält, ſo war ihr nächſtes handgreifliches
Reſultat der Sieg Bonaparte's über das Parlament, der
Exekutivgewalt über die Legislativgewalt
, der Gewalt
ohne Phraſe über die Gewalt der Phraſe
. In dem Parla¬
mente erhob die Nation ihren allgemeinen Willen zum Geſetze, d. h. das
Geſetz der herrſchenden Klaſſe zu ihrem allgemeinen Willen. Vor der
Exekutivgewalt dankt ſie jeden eignen Willen ab und unterwirft ſich dem
Machtgebot des fremden, der Autorität. Die Exekutivgewalt im Gegenſatz
zur Legislativen drückt die Heteronomie der Nation im Gegenſatz zu ihrer
Autonomie aus. Frankreich ſcheint alſo nur der Despotie einer Klaſſe ent¬
laufen, um unter die Despotie eines Individuums zurückzufallen und zwar
unter die Autorität eines Individuums ohne Autorität. Der Kampf ſcheint
ſo geſchlichtet, daß alle Klaſſen gleich machtlos und gleich lautlos vor dem
Kolben niederknien.


Aber die Revolution iſt gründlich. Sie iſt noch auf der Reiſe durch
das Fegefeuer begriffen. Sie vollbringt ihr Geſchäft mit Methode. Bis
zum 2. Dezember 1851 hatte ſie die eine Hälfte ihrer Vorbereitung ab¬
ſolvirt, ſie abſolvirt jetzt die andre. Sie vollendete erſt die parlamentariſche
Gewalt, um ſie ſtürzen zu können. Jetzt, wo ſie dies erreicht, vollendet ſie
die Exekutivgewalt, reduzirt ſie auf ihren reinſten Ausdruck, iſolirt ſie,
ſtellt ſie ſich als einzigen Vorwurf gegenüber, um alle ihre Kräfte der Zer¬
[87] ſtörung gegen ſie zu konzentriren. Und wenn ſie dieſe zweite Hälfte ihrer
Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von ſeinem Sitze aufſpringen und
jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!


Dieſe Exekutivgewalt mit ihrer ungeheuern bureaukratiſchen und mili¬
täriſchen Organiſation, mit ihrer weitſchichtigen und künſtlichen Staats¬
maſchinerie, ein Beamtenheer von einer halben Million neben einer Armee
von einer andern halben Million, dieſer fürchterliche Paraſitenkörper, der
ſich wie eine Netzhaut um den Leib der franzöſiſchen Geſellſchaft ſchlingt und
ihr alle Poren verſtopft, entſtand in der Zeit der abſoluten Monarchie, beim
Verfall des Feudalweſens, den er beſchleunigen half. Die herrſchaftlichen
Privilegien der Grundeigenthümer und Städte verwandelten ſich in eben ſo
viele Attribute der Staatsgewalt, die feudalen Würdenträger in bezahlte
Beamte und die bunte Muſtercharte der widerſtreitenden mittelalterlichen
Machtvollkommenheiten in den geregelten Plan einer Staatsmacht, deren
Arbeit fabrikmäßig getheilt und zentraliſirt iſt. Die erſte franzöſiſche Revo¬
lution mit ihrer Aufgabe, alle lokalen, territorialen, ſtädtiſchen und provin¬
ziellen Sondergewalten zu brechen, um die bürgerliche Einheit der Nation zu
ſchaffen, mußte entwickeln, was die abſolute Monarchie begonnen hatte, die
Centraliſation, aber zugleich den Umfang, die Attribute und die Handlanger
der Regierungsgewalt. Napoleon vollendete dieſe Staatsmaſchinerie. Die
legitime Monarchie und die Julimonarchie fügten nichts hinzu, als eine
größere Theilung der Arbeit, in demſelben Maße wachſend, als die Thei¬
lung der Arbeit innerhalb der bürgerlichen Geſellſchaft neue Gruppen von
Intereſſen ſchuf, alſo neues Material für die Staatsverwaltung. Jedes
gemeinſame Intereſſe wurde ſofort von der Geſellſchaft losgelöſt, als
höheres, allgemeines Intereſſe ihr gegenübergeſtellt, der Selbſtthätigkeit
der Geſellſchaftsglieder entriſſen und zum Gegenſtand der Regierungs¬
thätigkeit gemacht, von der Brücke, dem Schulhaus und dem Kommunal¬
vermögen einer Dorfgemeinde bis zu den Eiſenbahnen, dem Nationalver¬
mögen und der Landesuniverſität Frankreichs. Die parlamentariſche
Republik endlich ſah ſich in ihrem Kampfe wider die Revolution gezwungen,
mit den Repreſſivmaßregeln die Mittel und die Centraliſation der Regie¬
rungsgewalt zu verſtärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten dieſe
Maſchine ſtatt ſie zu brechen. Die Parteien, die abwechſelnd um die Herr¬
ſchaft rangen, betrachteten die Beſitznahme dieſes ungeheueren Staatsgebäudes
als die Hauptbeute des Siegers.


[88]

Aber unter der abſoluten Monarchie, während der erſten Revolution,
unter Napoleon, war die Bureaukratie nur das Mittel, die Klaſſenherrſchaft
der Bourgeoiſie vorzubereiten. Unter der Reſtauration, unter Louis Philipp,
unter der parlamentariſchen Republik war ſie das Inſtrument der herrſchen¬
den Klaſſe, ſo ſehr ſie auch nach Eigenmacht ſtrebte.


Erſt unter dem zweiten Bonaparte ſcheint ſich der Staat völlig ver¬
ſelbſtſtändigt zu haben. Die Staatsmaſchine hat ſich der bürgerlichen Geſell¬
ſchaft gegenüber ſo befeſtigt, daß an ihrer Spitze der Chef der Geſell¬
ſchaft vom 10. Dezember genügt, ein aus der Fremde herbeigelaufener
Glücksritter, auf das Schild gehoben von einer trunkenen Soldateska, die er
durch Schnaps und Würſte erkauft hat, nach der er ſtets von Neuem mit der
Wurſt werfen muß. Daher die kleinlaute Verzweiflung, das Gefühl der
ungeheuerſten Demüthigung, Herabwürdigung, das die Bruſt Frankreichs
beklemmt und ſeinen Athem ſtocken macht. Es fühlt ſich wie entehrt.


Und dennoch ſchwebt die Staatsgewalt nicht in der Luft. Bonaparte
vertritt eine Klaſſe und zwar die zahlreichſte Klaſſe der franzöſiſchen Geſell¬
ſchaft, die Parzellenbauern.


Wie die Bourbons die Dynaſtie des großen Grundeigenthums, wie die
Orleans die Dynaſtie des Geldes, ſo ſind die Bonapartes die Dynaſtie der
Bauern, d. h. der franzöſiſchen Volksmaſſe. Nicht der Bonaparte, der ſich
dem Bourgeoisparlamente unterwarf, ſondern der Bonaparte, der das
Bourgeoisparlament auseinanderjagte, iſt der Auserwählte der Bauern.
Drei Jahre war es den Städten gelungen, den Sinn der Wahl vom 10.
Dezember zu verfälſchen und die Bauern um die Wiederherſtellung des Kaiſer¬
reichs zu prellen. Die Wahl vom 10. Dezember 1848 iſt erſt erfüllt worden
durch den coup d'état vom 2. Dezember 1851.


Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Maſſe, deren Glieder in
gleicher Situation leben, aber ohne in mannichfache Beziehung zu einander
zu treten. Ihre Produktionsweiſe iſolirt ſie von einander, ſtatt ſie in
wechſelſeitigen Verkehr zu bringen. Die Iſolirung wird gefördert durch die
ſchlechten franzöſiſchen Kommunikationsmittel und die Armuth der Bauern.
Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, läßt in ſeiner Kultur keine Theilung der
Arbeit zu, keine Anwendung der Wiſſenſchaft, alſo keine Mannichfaltigkeit
der Entwickelung, keine Verſchiedenheit der Talente, keinen Reichthum der
geſellſchaftlichen Verhältniſſe. Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinahe
ſich ſelbſt, produzirt unmittelbar ſelbſt den größten Theil ihres Konſums und
[89] gewinnt ſo ihr Lebensmaterial mehr im Austauſche mit der Natur, als im
Verkehr mit der Geſellſchaft. Die Parzelle, der Bauer und die Familie;
daneben eine andre Parzelle, ein andrer Bauer und eine andre Familie.
Ein Schock davon macht ein Dorf und ein Schock von Dörfern macht ein
Departement. So wird die große Maſſe der franzöſiſchen Nation gebildet
durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kar¬
toffeln einen Kartoffelſack bildet. Inſofern Millionen von Familien unter
ökonomiſchen Exiſtenzbedingungen leben, die ihre Lebensweiſe, ihre Intereſſen
und ihre Bildung von denen der andern Klaſſen trennen und ihnen feindlich
gegenüberſtellen, bilden ſie eine Klaſſe. Inſofern ein nur lokaler Zuſammen¬
hang unter den Parzellenbauern beſteht, die Dieſelbigkeit ihrer Intereſſen
keine Gemeinſamkeit, keine nationale Verbindung und keine politiſche Orga¬
niſation unter ihnen erzeugt, bilden ſie keine Klaſſe. Sie ſind daher unfähig,
ihr Klaſſenintereſſe im eigenen Namen, ſei es durch ein Parlament, ſei es durch
einen Konvent geltend zu machen. Sie können ſich nicht vertreten, ſie müſſen ver¬
treten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität
über ihnen erſcheinen, als eine unumſchränkte Regierungsgewalt, die ſie vor
den andern Klaſſen beſchützt und ihnen von oben Regen und Sonnenſchein
ſchickt. Der politiſche Einfluß der Parzellenbauern findet alſo darin ſeinen
letzten Ausdruck, daß die Exekutivgewalt ſich die Geſellſchaft unterordnet.


Durch die geſchichtliche Tradition iſt der Wunderglaube der franzöſiſchen
Bauern entſtanden, daß ein Mann Namens Napoleon ihnen alle Herrlichkeit
wiederbringen werde. Und es fand ſich ein Individuum, das ſich für dieſen
Mann ausgibt, weil es den Namen Napoleon trägt, in Folge des Code
Napoléon
, der anbefiehlt: La recherche de la paternité est interdite.
Nach zwanzigjähriger Vagabundage und einer Reihe von grotesken Aben¬
teuern erfüllt ſich die Sage und der Mann wird Kaiſer der Franzoſen. Die
fixe Idee des Neffen verwirklichte ſich, weil ſie mit der fixen Idee der zahl¬
reichſten Klaſſe der Franzoſen zuſammenfiel.


Aber, wird man mir einwerfen, die Bauernaufſtände in halb Frank¬
reich, die Treibjagden der Armee auf die Bauern, die maſſenhafte Einker¬
kerung und Transportation der Bauern?


Seit Ludwig XIV. hat Frankreich keine ähnliche Verfolgung der Bauern
„wegen demagogiſcher Umtriebe“ erlebt.


Aber man verſtehe wohl. Die Dynaſtie Bonaparte repräſentirt nicht
den revolutionären, ſondern den konſervativen Bauer, nicht den Bauer, der
[90] über ſeine ſoziale Exiſtenzbedingung, die Parzelle hinausdrängt, ſondern der
ſie vielmehr befeſtigen will, nicht das Landvolk, das durch eigne Energie im
Anſchluß an die Städte die alte Ordnung umſtürzen, ſondern umgekehrt
dumpf verſchloſſen in dieſer alten Ordnung ſich mitſammt ſeiner Parzelle
von dem Geſpenſte des Kaiſerthums gerettet und bevorzugt ſehen will. Sie
repräſentirt nicht die Aufklärung, ſondern den Aberglauben des Bauern,
nicht ſein Urtheil, ſondern ſein Vorurtheil, nicht ſeine Zukunft, ſondern
ſeine Vergangenheit, nicht ſeine modernen Cevennen, ſondern ſeine moderne
Vendee.


Die dreijährige harte Herrſchaft der parlamentariſchen Republik hatte
einen Theil der franzöſiſchen Bauern von der napoleoniſchen Illuſion befreit
und wenn auch nur noch oberflächlich revolutionirt, aber die Bourgeoiſie warf
ſie gewaltſam zurück, ſo oft ſie ſich in Bewegung ſetzten. Unter der parla¬
mentariſchen Republik rang das moderne mit dem traditionellen Bewußtſein
der franzöſiſchen Bauern. Der Prozeß ging vor ſich in der Form eines un¬
aufhörlichen Kampfes zwiſchen den Schulmeiſtern und den Pfaffen. Die
Bourgeoiſie ſchlug die Schulmeiſter nieder. Die Bauern machten zum erſten
Mal Anſtrengungen, der Regierungsthätigkeit gegenüber ſich ſelbſtſtändig zu
verhalten. Es erſchien dies in dem fortgeſetzten Konflikte der Maires mit
den Präfekten. Die Bourgeoiſie ſetzte die Maires ab. Endlich erhoben ſich
die Bauern verſchiedener Orte während der Periode, der parlamentariſchen
Republik gegen ihre eigne Ausgeburt, die Armee. Die Bourgeoiſie beſtrafte
ſie mit Belagerungszuſtänden und Exekutionen. Und dieſelbe Bourgeoiſie
ſchreit jetzt über die Stupidität der Maſſen, der vile multitude, die ſie an Bo¬
naparte verrathen habe. Sie ſelbſt hat den Imperialismus der Bauernklaſſe
gewaltſam befeſtigt, ſie hielt die Zuſtände feſt, die die Geburtsſtätte dieſer
Bauernreligion bilden. Allerdings muß die Bourgeoiſie die Dummheit der
Maſſen fürchten, ſo lange ſie konſervativ bleiben, und die Einſicht der Maſſen,
ſobald ſie revolutionär werden.


In den Aufſtänden nach dem coup d'état proteſtirte ein Theil der
franzöſiſchen Bauern mit den Waffen in der Hand gegen ſein eignes Votum
vom 10. Dezember 1848. Die Schule ſeit 1848 hatte ſie gewitzigt.
Allein ſie hatten ſich der geſchichtlichen Unterwelt verſchrieben, die Geſchichte
hielt ſie beim Worte und noch war die Mehrzahl ſo befangen, daß gerade in
den rotheſten Departements die Bauernbevölkerung öffentlich für Bonaparte
ſtimmte. Die Nationalverſammlung hatte ihn nach ihrer Anſicht am Gehn
[91] verhindert. Er halte jetzt nur die Feſſel gebrochen, die die Städte dem
Willen des Landes angelegt. Sie trugen ſich ſtellenweiſe ſogar mit der
grotesken Vorſtellung : neben einem Napoleon ein Konvent.


Nachdem die erſte Revolution die halbhörigen Bauern in freie Grund¬
eigenthümer verwandelt hatte, befeſtigte und regelte Napoleon die Bedingun¬
gen, worin ſie ungeſtört den eben erſt ihnen anheim gefallenen Boden
Frankreichs ausbeuten und die jugendliche Luſt am Eigenthum büßen konnten.
Aber woran der franzöſiſche Bauer jetzt untergeht, es iſt ſeine Parzelle ſelbſt,
die Theilung des Grund und Bodens, die Eigenthumsform, die Napoleon
in Frankreich konſolidirte. Es ſind eben die materiellen Bedingungen, die
den franzöſiſchen Feudalbauer zum Parzellenbauer und Napoleon zum Kaiſer
machten. Zwei Generationen haben hingereicht, um das unvermeidliche
Reſultat zu erzeugen : progreſſive Verſchlechterung des Ackerbaues, progreſſive
Verſchuldung des Ackerbauers. Die „Napoleoniſche“ Eigenthumsform, die im
Anfange des neunzehnten Jahrhunderts die Bedingung für die Befreiung und
die Bereicherung des franzöſiſchen Landvolkes war, hat ſich im Laufe dieſes
Jahrhunderts als das Geſetz ihrer Sklaverei und ihres Pauperismus entwickelt.
Und eben dies Geſetz iſt die erſte der „idées napoléoniennes,“ die der zweite
Bonaparte zu behaupten hat. Wenn er mit den Bauern noch die Illuſion
theilt, nicht im Parzelleneigenthum ſelbſt, ſondern außerhalb im Einfluſſe
ſekundärer Umſtände die Urſache ihres Ruins zu ſuchen, ſo werden ſeine
Experimente wie Seifenblaſen an den Produktionsverhältniſſen zerſchellen.


Die ökonomiſche Entwickelung des Parzelleneigenthums hat das Ver¬
hältniß der Bauern zu den übrigen Geſellſchaftsklaſſen von Grund aus
verkehrt. Unter Napoleon ergänzte die Parzellirung des Grund und Bodens
auf dem Lande die freie Konkurrenz und die beginnende große Induſtrie in
den Städten. Die Bauernklaſſe war der allgegenwärtige Proteſt gegen die
eben erſt geſtürzte Grundariſtokratie. Die Wurzeln, die das Parzellen¬
eigenthum in dem franzöſiſchen Grund und Boden ſchlug, entzogen dem
Feudalismus jeden Nahrungsſtoff. Seine Grenzpfähle bildeten das natürliche
Befeſtigungswert der Bourgeoiſie gegen jeden Handſtreich ihrer alten Ober¬
herren. Aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts trat an die Stelle
des Feudalen der ſtädtiſche Wucherer, an die Stelle der Feudalpflichtigkeit
des Bodens die Hypothek, an die Stelle des ariſtokratiſchen Grundeigenthums
das bürgerliche Kapital. Die Parzelle des Bauern iſt nur noch der
Vorwand, der dem Kapitaliſten erlaubt, Proſit, Zinſen und Rente von dem
[92] Acker zu ziehn und den Ackerbauer ſelbſt zuſehn zu laſſen, wie er ſeinen Ar¬
beitslohn herausſchlägt. Die auf dem franzöſiſchen Boden laſtende Hypo¬
thekarſchuld legt der franzöſiſchen Bauernſchaft einen Zins auf, ſo groß wie
der Jahreszins der geſammten britiſchen Nationalſchuld. Das Parzellen¬
eigenthum in dieſer Sklaverei vom Kapital, wozu ſeine Entwicklung unver¬
meidlich hindrängt, hat die Maſſe der franzöſiſchen Nation in Troglodyten
verwandelt. Sechszehn Millionen Bauern (Frauen und Kinder eingerechnet)
hauſen in Höhlen, wovon ein großer Theil nur eine Oeffnung, der andre
nur zwei, und der bevorzugteſte nur drei Oeffnungen hat. Die Fenſter ſind
an einem Haus, was die fünf Sinne für den Kopf ſind. Die bürgerliche
Ordnung, die im Anfange des Jahrhunderts den Staat als Schildwache vor
die neu entſtandene Parzelle ſtellte und ſie mit Lorbeeren düngte, iſt zum Vam¬
pyr geworden, der ihr Herzblut und Hirnmark ausſaugt und ſie in den
Alchymiſtenkeſſel des Kapitals wirft. Der Code Napoléon iſt nur noch der
Code der Exekution, der Subhaſtation und der Zwangsverſteigerung. Zu
den vier Millionen (Kinder u. ſ. w. eingerechnet) offizieller Paupers, Vaga¬
bunden, Verbrecher und Proſtituirten, die Frankreich zählt, kommen fünf
Millionen hinzu, die an dem Abgrunde der Exiſtenz ſchweben und entweder
auf dem Lande ſelbſt hauſen oder beſtändig mit ihren Lumpen und ihren
Kindern von dem Lande in die Städte und von den Städten auf das Land
deſertiren. Das Intereſſe der Bauern befindet ſich alſo nicht mehr, wie unter
Napoleon, im Einklange, ſondern im Gegenſatze mit den Intereſſen der
Bourgeoiſie, mit dem Kapital. Sie finden alſo ihren natürlichen Verbün¬
deten und Führer in dem ſtädtiſchen Proletariat, deſſen Aufgabe
der Umſturz der bürgerlichen Ordnung iſt. Aber die ſtarke und unum¬
ſchränkte Regierung
, — und dies iſt die zweite „idée napoléoni¬
enne,“ die, der zweite Napoleon auszuführen hat, iſt zur gewaltſamen Ver¬
theidigung dieſer „materiellen“ Ordnung berufen. Auch gibt dieſer „ordre
matériel
“ in allen Proklamationen Bonaparte's gegen die aufrühriſchen
Bauern das Stichwort ab.


Neben, der Hypothek, die das Kapital ihr auferlegt, laſtet auf der Par¬
zelle die Steuer. Die Steuer iſt die Lebensquelle der Bureaukratie, der
Armee, der Pfaffen und des Hofes, kurz des ganzen Apparats der Exekutiv¬
gewalt. Starke Regierung und ſtarke Steuer ſind identiſch. Das Parzel¬
leneigenthum eignet ſich ſeiner Natur nach zur Grundlage einer allgewal¬
tigen und zahlloſen Bureaukratie. Es ſchafft ein gleichmäßiges Niveau der
[93] Verhältniſſe und der Perſonen über der ganzen Oberfläche des Landes.
Es erlaubt alſo auch die gleichmäßige Einwirkung nach allen Punkten dieſer
gleichmäßigen Maſſe von einem oberſten Centrum aus. Es vernichtet die
ariſtokratiſchen Mittelſtufen zwiſchen der Volksmaſſe und der Staatsgewalt,
Es ruft alſo von allen Seiten das direkte Eingreifen dieſer Staatsgewalt und
das Zwiſchenſchieben ihrer unmittelbaren Organe hervor. Es erzeugt
endlich eine unbeſchäftigte Ueberbevölkerung, die weder auf dem Lande noch in
den Städten Platz findet und daher nach den Staatsämtern als einer Art
von reſpektablem Almoſen greift und die Schöpfung von Staatsämtern
provozirt. Napoleon gab in den neuen Märkten, die er mit dem Bajonnette
eröffnete, in der Plünderung des Kontinents, die Zwangsſteuer mit Zinſen
zurück. Sie war ein Stachel für die Induſtrie des Bauern, während ſie
jetzt ſeine Induſtrie der letzten Hülfsquellen beraubt, ſeine Widerſtandsloſigkeit
gegen den Pauperismus vollendet. Und eine enorme Bureaukratie, wohl¬
galonirt und wohlgenährt, iſt die „idée napoléonienne,“ die dem zweiten
Bonaparte von allen am meiſten zuſagt. Wie ſollte ſie nicht, da er ge¬
zwungen iſt, neben den wirklichen Klaſſen der Geſellſchaft eine künſtliche Kaſte
zu ſchaffen, für welche die Erhaltung ſeines Regimes zur Meſſer- und Gabel¬
frage wird. Eine ſeiner erſten Finanzoperationen war, daher auch die
Wiedererhöhung der Beamtengehalte auf ihren alten Betrag und Schöpfung
neuer Sinekuren.


Eine andre „idée napoléonienne“ iſt die Herrſchaft der Pfaffen als
Regierungsmittel. Aber wenn die neu entſtandene Parzelle in ihrem Ein¬
klang mit der Geſellſchaft, in ihrer Abhängigkeit von den Naturgewalten und
ihrer Unterwerfung unter die Autorität, die ſie von oben beſchützte, natürlich
religiös war, wird die ſchuldzerrüttete, mit der Geſellſchaft und der Autorität
zerfallene, über ihre eigne Beſchränktheit hinausgetriebene Parzelle natürlich
irreligiös. Der Himmel war eine ganz ſchöne Zugabe zu dem eben gewon¬
nenen ſchmalen Erdſtrich, zumal da er das Wetter macht; er wird zum
Inſult, ſobald er als Erſatz für die Parzelle aufgedrängt wird. Der Pfaffe
erſcheint, dann nur noch als der geſalbte Spürhund der irdiſchen Polizei, —
eine andre „idée napoléonienne.“ — Die Expedition gegen Rom wird das
nächſte Mal in Frankreich ſelbſt ſtattfinden, aber im umgekehrten Sinne des
Herrn v. Montalembert.


Der Kulminirpunkt der „idées napoléoniennes“ endlich iſt das Ueber¬
gewicht der Armee. Die Armee war der point d'honneur der Parzellen¬
[94] bauern, ſie ſelbſt in Heroen verwandelt, nach außen hin den neuen Beſitz
vertheidigend, ihre eben erſt errungene Nationalität verherrlichend, die Welt
plündernd und revolutionirend. Die Uniform war ihr eignes Staatskoſtüm,
der Krieg ihre Poeſie, die in der Phantaſie verlängerte und abgerundete
Parzelle das Vaterland und der Patriotismus die ideale Form des Eigen¬
thumsſinnes. Aber die Feinde, wogegen der franzöſiſche Bauer jetzt ſein
Eigenthum zu vertheidigen hat, es ſind nicht die Koſacken, es ſind die
Huiſſiers und Steuerexekutoren. Die Parzelle liegt nicht mehr im ſogenannten
Vaterland, ſondern im Hypothekenbuch. Die Armee ſelbſt iſt nicht mehr
die Blüthe der Bauernjugend, ſie iſt die Sumpfblume des bäuerlichen Lum¬
penproletariats. Sie beſteht großentheils aus Remplacants, aus Erſatz¬
männern, wie der zweite Bonaparte ſelbſt nur Remplacant, der Erſatzmann
für Napoleon iſt. Ihre Heldenthaten verrichtet ſie jetzt in den Gems- und
Treibjagden auf die Bauern, im Gendarmendienſt, und wenn die innern
Widerſprüche ſeines Syſtems den Chef der Geſellſchaft des 10. Dezember
über die franzöſiſche Grenze jagen, wird ſie nach einigen Banditenſtreichen
keine Lorbeeren, ſondern Prügel ernten.


Man ſieht: Alleidées napoléoniennesſind Ideen der un¬
entwickelten
, jugendfriſchen Parzelle, ſie ſind ein Widerſinn für
die überlebte Parzelle. Sie ſind nur die Hallucinationen ihres Todeskampfes,
Worte, die in Phraſen, Geiſter, die in Geſpenſter verwandelt. Aber die
Parodie des Imperialismus war nothwendig, um die Maſſe der franzöſiſchen
Nation von der Wucht der Tradition zu befreien und den Gegenſatz der
Staatsgewalt zur Geſellſchaft rein herauszuarbeiten. Mit der fortſchrei¬
tenden Zerrüttung des Parzelleneigenthums bricht das aus ihm aufgeführte
Staatsgebäude zuſammen. Die ſtaatliche Centraliſation, deren die moderne
Geſellſchaft bedarf, erhebt ſich mir auf den Trümmern der militäriſch¬
büreaukratiſchen Regierungsmaſchinerie, die im Gegenſatz zum Feudalismus
geſchmiedet ward.


Die franzöſiſchen Bauernverhältniſſe enthüllen uns das Räthſel der
allgemeinen Wahlen vom20. und21. Dezember, die den
zweiten Bonaparte auf den Berg Sinai führten, nicht um Geſetze zu er¬
halten, ſondern um ſie zu geben.


Die Bourgeoiſie hatte jetzt offenbar keine andere Wahl, als Bonaparte
zu wählen. Als die Puritaner auf dem Konzile von Konſtanz über das
laſterhafte Leben der Päpſte klagten und über die Nothwendigkeit der Sitten¬
[95] reform jammerten, donnerte der Kardinal Pierre d'Ailly ihnen zu: „Nur
noch der Teufel in eigner Perſon kann die katholiſche Kirche retten und Ihr
verlangt Engel.“ So rief die franzöſiſche Bourgeoiſie nach dem coup
d’état
: Nur noch der Chef der Geſellſchaft vom 10. Dezember kann die bür¬
gerliche Geſellſchaft retten! Nur noch der Diebſtahl das Eigenthum, der
Meineid die Religion, das Baſtardthum die Familie, die Unordnung die
Ordnung!


Bonaparte als die verſelbſtſtändigte Macht der Exekutivgewalt fühlt
ſeinen Beruf, die „bürgerliche Ordnung“ ſicher zu ſtellen. Aber die Stärke
dieſer bürgerlichen Ordnung iſt die Mittelklaſſe. Er weiß ſich daher als
Repräſentant der Mittelklaſſe und erläßt Dekrete in dieſem Sinne. Er iſt
jedoch nur dadurch etwas, daß er die politiſche Macht dieſer Mittelklaſſe ge¬
brochen hat und täglich von Neuem bricht. Er weiß ſich daher als Gegner
der politiſchen und literariſchen Macht der Mittelklaſſe. Aber indem er ihre
materielle Macht beſchützt, erzeugt er von Neuem ihre politiſche Macht.
Die Urſache muß daher am Leben erhalten, aber die Wirkung, wo ſie ſich
zeigt, aus der Welt geſchafft werden. Aber ohne kleine Verwechſelungen
von Urſache und Wirkung kann dies nicht abgehn, da beide in der Wechſel¬
wirkung ihre Unterſcheidungsmerkmale verlieren. Neue Dekrete, die die
Grenzlinie verwiſchen. Bonaparte weiß ſich zugleich gegen die Bourgeoiſie
als Vertreter der Bauern und des Volkes überhaupt, der innerhalb der bür¬
gerlichen Geſellſchaft die untern Vollsklaſſen beglücken will. Neue Dekrete,
die die „wahren Sozialiſten“ im voraus um ihre Regierungsweisheit prellen.
Aber Bonaparte weiß ſich vor Allem als Chef der Geſellſchaft vom 10. De¬
zember, als Repräſentanten des Lumpenproletariats, dem er ſelbſt, ſeine
entourage, ſeine Regierung und ſeine Armee angehören, und für das es ſich
vor Allem, darum handelt, ſich wohlzuthun und kaliforniſche Looſe aus dem
Staatsſchatze zu ziehn. Und er beſtätigt ſich als Chef der Geſellſchaft vom
10.Dezember mit Dekreten, ohne Dekrete und trotz der Dekrete.


Dieſe widerſpruchsvolle Aufgabe des Mannes erklärt die Widerſprüche
ſeiner Regierung, das unklare Hin- und Hertappen, das bald dieſe, bald
jene Klaſſe bald zu gewinnen, bald zu demüthigen ſucht und alle gleichmäßig
gegen ſich aufbringt, deſſen praktiſche Unſicherheit einen hochkomiſchen Kon¬
traſt bildet zu dem gebieteriſchen, kategoriſchen Style der Regierungsakte,
der dem Onkel folgſam nachkopirt wird.


Induſtrie und Handel, alſo die Geſchäfte der Mittelklaſſe ſollen unter
[96] der ſtarken Regierung treibhausmäßig aufblühn. Verleihen einer Unzahl
von Eiſenbahnkonzeſſionen. Aber das bonapartiſtiſche Lumpenproletariat ſoll
ſich bereichern. Tripotage mit den Eiſenbahntonzeſſionen auf der Börſe von
den vorher Eingeweihten. Aber es zeigt ſich kein Kapital für die Eiſenbah¬
nen. Verpflichtung der Bank, auf Eiſenbahnaktien vorzuſchießen. Aber die
Bank ſoll zugleich perſönlich exploitirt und daher cajolirt werden. Entbin¬
dung der Bank von der Pflicht, ihren Bericht wöchentlich zu veröffentlichen.
Leoniniſcher Vertrag der Bank mit der Regierung. Das Volk ſoll be¬
ſchäftigt werden. Anordnungen von Staatsbauten. Aber die Staatsbauten
erhöhen die Steuerpflichten des Volkes. Alſo Herabſetzung der Steuern
durch Angriff auf die Rentiers, durch Konvertirung der fünfprozentigen
Renten in 4 ½ prozentige. Aber der Mittelſtand muß wieder ein Douceur
erhalten. Alſo Verdoppelung der Weinſteuer für das Volk, das ihn en
détail
kauft und Herabſetzung um die Hälfte für den Mittelſtand, der ihn
en gros trinkt. Auflöſung der wirklichen Arbeiteraſſoziationen, aber Ver¬
heißung von künftigen Aſſoziationswundern. Den Bauern ſoll geholfen
werden. Hypothekenbanken, die ihre Verſchuldung und die Conzentration
des Eigenthums beſchleunigen. Aber dieſe Banken ſollen benutzt werden,
um Geld aus den konfiſzirten Gütern des Hauſes Orleans herauszuſchlagen.
Kein Kapitaliſt will ſich zu dieſer Bedingung verſtehn, die nicht in dem
Dekrete ſteht, und die Hypothekenbank bleibt ein bloßes Dekret, u. ſ. w.
u. ſ. w.


Bonaparte möchte als der patriarchaliſche Wohlthäter aller Klaſſen er¬
ſcheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen. Wie
man zur Zeit der Fronde vom Herzog von Guiſe ſagte, daß er der oblige¬
anteſte Mann von Frankreich ſei, weil er alle ſeine Güter in Obligationen
ſeiner Partiſanen gegen ſich verwandelt habe, ſo möchte Bonaparte der obli¬
geanteſte Mann von Frankreich ſein und alles Eigenthum, alle Arbeit Frank¬
reichs in eine perſönliche Obligation gegen ſich verwandeln. Er möchte ganz
Frankreich ſtehlen, um es an Frankreich verſchenken, oder vielmehr um
Frankreich mit franzöſiſchem Gelde wiederkaufen zu können, denn als Chef
der Geſellſchaft vom 10. Dezember muß er kaufen, was ihm gehören ſoll.
Und zu dem Inſtitute des Kaufens werden alle Staatsinſtitute, der Senat,
der Staatsrath, der geſetzgebende Körper, die Ehrenlegion, die Soldaten¬
medaille, die Waſchhäuſer, die Staatsbauten, die Eiſenbahnen, der état
major
der Nationalgarde ohne Gemeine, die konfiſzirten Güter des Hauſes
[97] Orleans. Zum Kaufmittel wird jeder Platz in der Armee und der Re¬
gierungsmaſchine. Das Wichtigſte aber bei dieſem Prozeſſe, wo Frankreich
genommen wird, um ihm zu geben, ſind die Prozente, die während des Um¬
ſatzes für das Haupt und die Glieder der Geſellſchaft vom 10. Dezember
abfallen. Das Witzwort, womit die Gräfin L., die Maitreſſe des Herrn
de Morny, die Konfiskation der orleans'ſchen Güter charakteriſirte: „C'est le
premier vol de l'aigle
,“ * paßt auf jeden Flug dieſes Adlers, der mehr
Rabe iſt. Er ſelbſt und ſeine Anhänger rufen ſich täglich zu, wie jener
italieniſche Karthäuſer dem Geizhals, der prunkend die Güter aufzählte, an
denen er noch für Jahre zu zehren habe: „Tu fai conto sopra i beni,
bisogna prima far il conto sopra gli anni
.“ ** Um ſich in den Jahren nicht
zu verrechnen, zählen ſie nach Minuten. An den Hof, in die Miniſterien,
an die Spitze der Verwaltung und der Armee drängt ſich ein Haufe von
Kerlen, von deren Beſtem zu ſagen iſt, daß man nicht weiß, von wannen er
kommt, eine geräuſchvolle, anrüchige, plünderungsluſtige Bohème, die mit
derſelben grotesken Würde in gallonirte Röcke kriecht, wie Soulouque's
Großwürdenträger. Man kann dieſe höhere Schichte der Geſellſchaft vom
10. Dezember ſich anſchaulich machen, wenn man erwägt, daß Véron-
Crevel*** ihr Sittenprediger iſt und Granier de Caſſagnac ihr
Denker. Als Guizot zur Zeit ſeines Miniſteriums dieſen Granier in einem
Winkelblatte gegen die dynaſtiſche Oppoſition verwandte, pflegte er ihn mit
der Wendung zu rühmen: „C'est le roi des drôles,“ „ das iſt der Narren¬
könig.“ Man hätte Unrecht, bei dem Hofe und der Sippe Louis Bonaparte's
an die Regentſchaft oder Ludwig XV. zu erinnern. Denn „oft ſchon hat
Frankreich eine Maitreſſenregierung erlebt, aber noch nie eine Regierung von
hommes entretenus.“ ****


Von den widerſprechenden Forderungen ſeiner Situation gejagt, zu¬
gleich wie ein Taſchenſpieler in der Nothwendigkeit, durch beſtändige Ueber¬
raſchung die Augen des Publikums auf ſich als den Erſatzmann Napoleon's
gerichtet zu halten, alſo jeden Tag einen Staatsſtreich en miniature zu ver¬
richten, bringt Bonaparte die ganze bürgerliche Wirthſchaft in Wirrwarr,
7[98] taſtet Alles an, was der Revolution von 1848 unantaſtbar ſchien, macht die
Einen revolutionsgeduldig, die Andern revolutionsluſtig und erzeugt die
Anarchie ſelbſt im Namen der Ordnung, während er zugleich der ganzen
Staatsmaſchine den Heiligenſchein abſtreift, ſie profanirt, ſie zugleich ekelhaft
und lächerlich macht. Den Kultus des heiligen Rocks zu Trier wiederholt er
zu Paris im Kultus des napoleoniſchen Kaiſermantels. Aber wenn der
Kaiſermantel endlich auf die Schultern des Louis Bonaparte fällt, wird das
eherne Standbild Napoleon's von der Höhe der Bendômeſäule herabſtürzen.


[][][]
Notes
*)

Während des amerikaniſchen Bürgerkriegs Militärkommandant des Diſtrikts
von St. Louis.
*
Vol heißt Flug und Diebſtahl.
**
Du berechneſt deine Güter, du ſollteſt vorher deine Jahre berechnen.
***
Balzac in der Couſine Bette ſtellt in Crevel, den er nach Dr. Véron, dem
Eigenthümer des Conſtitutionnel, entwarf, den grundliderlichen Pariſer Philiſter dar.
****
Worte der Frau von Girardin.

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TextGrid Repository (2025). Marx, Karl. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnhb.0