Biographie
in der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung.
1804.
Nro. 33. Strahlglimmer.
Die Bruͤder — Wina.
Seelige, heilige Tage, welche auf die Verſoͤh¬
nungsſtunde der Menſchen folgen! Die Liebe iſt
wieder bloͤde und jungfraͤulich, der Geliebte neu
und verklaͤrt, das Herz feiert ſeinen Mai und
die Auferſtandenen vom Schlachtfelde begreifen
den vorigen vergeſſenen Krieg nicht.
Schlachten heitern den bezognen Himmel
auf; beide Bruͤder ſtanden nach der ihrigen im
hellſten Wetter da und ſahen ſich und alles ſchoͤn
beleuchtet. Walt, der nichts war als Lieben
und Geben, wuſte jezt gar nicht, wie er beides
noch zaͤrter, noch waͤrmer gegen ſeinen Bruder
ſein koͤnnte; denn er trachtete nach dem hoͤchſten
Grade; die Narben der kleinen Gewiſſensbiſſe
brannten ihn noch ein wenig und die Thraͤnen
des ſonſt duͤrren Vults hatt' er in ſeiner Seele
aufgehoben. Vult ſtand ſelber als ein Menſch
mit neuen Melodien aus dem Kanon der Liebe
da. Ob er dieſe gleich mehr durch Thaten als
Flegeljahre III. Bd. 1[2] durch Zeichen wirken lies, ſo war ſie doch zu ſe¬
hen; ſein haͤufiges Kommen, ſein Nachgeben,
ſeine Milde, ſeine Helfbegierde, und bei dem
Abſchiede — wenn er eben ſchnell genug die Trep¬
pe und Unſichtbarkeit erwiſchen konnte — oft
ſein Bruder-Kuß verriethen ſein Inneres. „Nie¬
mand, ſagte einſt Walt zu ihm, kann ruͤhrender
ausſehen als du, wenn du eben die Milde in dei¬
ne Feueraugen bringſt; ſo kamen mir immer die
Sparter vor, wenn ſie mit ihren Floͤten auf das
Schlachtfeld zogen.“ — „Es muß mir freilich
laſſen, ſagte er, als wenn ein Seehund Mama
ſagt *), ja ich moͤchte es faſt einen leiſen pianen
Sturmwind nennen. Aber ernſthaft zu ſprechen,
ich bin jezt noch bei Konzert-Geld und deswe¬
gen ein gutes frohes Lamm; mein Leben iſt ein
Buch voll geſchlagnen Golds, die Blaͤtter ſind
ſo weich und ſo beweglich, freilich Gold-Blaͤt¬
gen auch, mein Kind!“
Walt nahm ſolche Reden gar nicht uͤbel.
Soweit indeß auch Vult das Lieben trieb — da er
[3] ſich fuͤr den naͤchſten und lachenden Thron-Er¬
ben des abgegangenen Freund-Grafens anſe¬
hen konnte — ſo merkte er doch, daß er darin
ſeinen Bruder nur bezahle, nicht beſchenke und
daß dieſer ihm ſtets um einen warmen Tag vor¬
aus war.
Einſt hoͤrte Vult von ſeinem Klingeldrath —
er hieß eine ganze Maͤdgen-Penſion ſo — die
ganze heftige Schutzrede wieder, womit der ſanf¬
te Walt gerade in der Liebes-Pauſe fuͤr ihn ge¬
gen ſeine Antipathetiker an Neupeters Tafel auf¬
getreten war. Walt hatte ihm nicht ein Wort da¬
von geſagt — wiewohl aus Liebe, nicht blos
gegen den Bruder, ſondern auch gegen alle Welt,
ſo wie er aus doppelter Liebe das Kabelſche
Teſtament, das den Bruder ein wenig beleidigen
konnte, zu zeigen verweigerte. Vult druͤckte ihm
beim Eintritt im Feuer der Liebe beide Achſeln
und machte ſolchem dadurch Luft, daß er die
Neupeter'ſchen ſcherzend handhabte. Aber er
traf die falſche Zeit, wo Walt am Hoppelpop¬
pel ſchrieb und den Schreib-Arm allen fuͤnf
Welttheilen liebend, fuͤhrend bot und wo er ſo
[4] ſehr an den verlornen Klothar dachte, weil er
eben im Buch Freudenfeſte findender und ge¬
fundner Seelen begieng. Mit eigner wehmuͤthi¬
ger Freude ſchrieb er jezt daran unter dem Be¬
trauern des abgeſtorbenen Freundes, ſo wie ſonſt
mit Schmerzen unter dem Nachjagen nach ihm;
und wunderte ſich uͤber den Unterſchied.
Der ſchoͤne Begeiſterungs-Mittag bei Neu¬
peter, auf welchen ihn Vult durch ſeinen Dank
zuruͤckfuͤhrte, ſtellte ihm den Grafen zu nahe
wieder an die Bruſt; er bekannte es dem Bru¬
der ganz offen, wie ihm der Ferne mit ſeinem
ausgeleerten Daſein und mit der verlornen Wina
immer in dem Kopfe liege und ſo ſchwer auf
der Bruſt — wie er ihn einſam in dem zugeſperr¬
ten Wagen ſitzen und zuruͤckdenken ſehe — wie
ihn ein ſolcher aus ſeinem Himmel in einen Kaͤ¬
fig getriebene Adler erbarme und wie darum
keine Marter bitterer auf der Erde gefunden
werde, als das Bewuſtſein, einem edlen Geiſt
irgend eine zugefuͤhrt zu haben. O Vult, troͤ¬
ſte mich nur recht, wenn du kannſt — ſagt er
bei dem heftigſten Ausbruch — Mein unſchul¬
[5] diger Wille troͤſtet mich wenig. Wenn du zu¬
faͤlligſt, ohne boͤſe Abſicht, ja in der beſten viel¬
mehr, durch einen der Hoͤlle entflognen Funken
ein Krankenhaus, oder ein unſchuldiges Schwei¬
zerdorf oder ein Haus voll Gefangner angezuͤndet
haͤtteſt, und du ſaͤheſt die Flammen und darauf
die Gerippe: ach Gott, wer haͤlfe dir?“
„Mir die kalte Vernunft und dir ich, (ſagt'
er, aber ohne Groll.) Denn ich werde mich bei
der Maͤdchenpenſion hart neben mir an nach
den naͤhern Umſtaͤnden erkundigen. Als ich noch
im Erblinden ſtand, ſaß ich jeden Abend druͤben,
es iſt die ſchnelleſte Wiener Klapperpoſt, die mir
noch vorgekommen, da ſie manche Sachen ſchon
liefert, indem ſie noch geſchehen. — Der Graf
wird nicht wie du durch Zufaͤlle entſchuldigt fuͤr
ſeine niedrigen Vorausſetzungen uͤber das Leſen
und Uebergeben des Briefs; er macht' es ganz
nach Art der Großen und der galliſchen Tragi¬
ker, die, um etwas zu erklaͤren, lieber die groͤſte
Suͤnde als eine kleine annehmen, lieber eine
Blutſchande als Unkeuſchheit.“ Der Notar ge¬
ſtand, Klothars Verſuͤndigung erleichtere die Laſt
[6] der ſeinigen; blieb aber bei ſeinem Gefuͤhl. In
der Geſellſchaft kann man einen Menſchen leich¬
ter herabſetzen als hinauf; bei Walt umgekehrt.
Vult gieng und verſprach, bald wieder zu
kommen.
Eines Nachmittags huͤpfte Flitte, deſſen
Tanzſaal die ganze Stadt war, in Walts Stuͤb¬
gen. Er war gewohnt, an jedem Orte ſo viele
und gute alte Bekannte zu zaͤhlen als Einwohner
darin waren; daher ſchlug er den zur Volks¬
menge gehoͤrigen Notar ohne Umſtaͤnde zur
Freundes-Menge. Dieſer glaubte gern, er kom¬
me ſeinetwegen und wurde durch die Freude und
die Angſt, einen ſolchen Weltmann zu beherber¬
gen, etwas auſſer ſich gebracht. Sein Ich fuhr
aͤngſtlich oben in allen vier Gehirnkammern und
darauf unten in den beiden Herzkammern wie
eine Maus umher, um darin ein ſchmackhaftes
Ideen-Koͤrngen aufzutreiben, das er dem El¬
ſaſſer zutragen und vorlegen koͤnnte zum Imbis.
Er fand wenig, was dieſem ſchmeckte, aber der
Elſaſſer hatte auch keinen Hunger und keine
Zaͤhne. Gelehrte Studierſtuben-Saßen, welche
[7] die ganze Woche, Tag aus Tag ein, im Ban¬
quet und Pikenik der feinſten, reizendſten Ideen
und Gerichte aus allen Weltaltern und Welt¬
theilen ſchwelgen, bilden ſich gar zu leicht ein,
daß der Welt- und Geſchaͤftsmann verdruͤslich
und trocken bei ihnen werde, wenn ſie ihn nicht
immer heiß und fett mit Ideen uͤbergießen am
Bratenwender des Geſpraͤchs, indeß der Ge¬
ſchaͤftsmann ſchon zufrieden geſtellt waͤre, wenn
er ſaͤße, und der Weltmann, wenn er am Fen¬
ſter ſtaͤnde, oder vernaͤhme, daß die Markgraͤfin
geſtern bei Tafel unmaͤßig genießet und daß der
Baron von Kleinſchwager, deſſen Namen er gar
nie gehoͤrt, dieſen Morgen blos durchpaßirt, oh¬
ne anzuhalten. Gelehrten kann das ſchwerlich
zu oft vorgeſtellt werden; ſie ziehen ſonſt immer
einen Proviant-Wagen fuͤr die Geſellſchaft mit
mehreren oder wenigern Gedanken nach oder gar
mit Witz. Rechte gewoͤhnliche und doch befrie¬
digende Unterhaltung iſt allgemein unter den
Menſchen die, daß einer das ſagt, was der
andere ſchon weiß, worauf dieſer aber etwas
verſezt, was jener auch weiß, ſo daß jeder ſich
[8] zweimal hoͤrt, gleichſam ein geiſtiger Doppelt¬
gaͤnger.
Mit Flitten, der ſo leer an Realien war,
als Gottwalt an Perſonalien, konnte dieſer we¬
nig anfangen. Indeß ſprach, ſang und tanzte
der Elſaſſer ſo gut es gieng, trat oft ans Fen¬
ſter, und oft ans Buͤcherbret und ſuchte daruͤber
etwas zu ſagen, weil er gern von jedem, mit
dem prahlte, was jeder eben war. Einige Men¬
ſchen ſind Klaviere, die nur einſam zu ſpielen
ſind, manche ſind Fluͤgel, die in ein Konzert
gehoͤren; Flitte konnte nur vor vielen reden; und
blieb im Duett faſt zu dumm.
Als endlich der gute Notar an der Lang¬
weile, die er zu machen glaubte, ſelber eine fand
— denn im Geſpraͤch, wie im Pharao, iſt erwie¬
ſen der Gewinn (des Vergnuͤgens wie des Gel¬
des) nie groͤßer als der Einſaz von beiden: ſo
ſtudirte er am Elſaſſer heimlich den Franzoſen,
(denn Elſas, ſagt' er, iſt doch franzoͤſiſch genug)
und goß ihn im Vorbeigehen ab, fuͤr den Abgu߬
ſaal ſeines Romans und hob ihn auf.
Unter dem Gießen macht' er ploͤzlich das
[9] Fenſter zu und eine Verbeugung in den Garten
durchs Glas hinaus, weil ihn Raphaela, welche
drunten neben Wina der Veſperſonne entgegen¬
gieng, mit zuruͤckgewandtem Kopfe leicht gegruͤſ¬
ſet hatte. — Da flog Flitte herbei. Raphaela
drehte ſich, blickte ſchnell noch einmal um und
erkannte nun dieſen. Wina gieng langſam und
wie ſchwere Schmerzen tragend darneben, den
Kopf nach der Abendſonne gehoben, und das
Schnupftuch mehrmals in die Augen druͤckend.
Raphaela ſchien heftig zu ſprechen und einzu¬
dringen und ordentlich an jeder nebligen Lebens-
Stelle verborgnen tiefen Thraͤnen-Quellen nach¬
zugraben.
Walt vergas ſich ſo, daß er laut ſeufzete.
„Ich glaube nur, ſetzt' er gemaͤſſigter hinzu, daß
die gute Generals Tochter weint.“ — „Drun¬
ten? fragte Flitte kalt. So iſts in Verzweiflung
uͤber den eingebuͤßten Grafen; denn ſie kann ſei¬
nen Verluſt nicht uͤberleben. Ein andermal! —
a revoir, ami!“ So flog er in den Garten
hinab.
Walt ſetzte ſich nieder, ſtuͤtzte den Kopf auf
[10] die Hand, die ſeine Augen zudekte, und hatte ei¬
nen langen reinen Schmerz. Er war nicht im
Stand, das liebliche Angeſicht des ſchoͤnen Maͤd¬
gens oder deſſen Leiden zu behorchen mit Blicken,
wenn ſie den Garten herwaͤrts kam. Er erſchrack
vor der erſten Stunde, wo er bei ihrem Vater ko¬
pieren und ihr aufſtoſſen koͤnnte. Die unterge¬
hende Sonne waͤrmte ihn endlich muͤtterlich aus
dem Winterſchlafe der boͤſen Stunde auf. Der
Garten war leer; er gieng hinunter. Er wußte
nicht, was er drunten wollte. Im Gebuͤſch flat¬
terte ein halb zerriſſenes feines Brief-Papierblatt.
Er nahm es, es war von weiblicher Hand und
enthielt eine aus einem fremden Briefe kopierte
Stelle, wie er aus den ſogenannten Gaͤnſefuͤſſen
erſah. Ein halbes Blatt, ein entzweigeſchliztes,
eine Kopie eines zweiten Briefes — einen erſten
haͤtt’ er nie geleſen — konnt' er wohl anſehen und
leſen:
„„ — Blumen entzwei. Glaub' es mir.
O wie leicht und froh verſchmerzt man eignen
Schmerz! Wie ſo ſchwer den fremden, den man,
wiewohl ſchuldlos und gezwungen, hergefuͤhrt!
[11] Wie kann ein Weſen, das doch auch ein ſchlagen¬
des Herz hat, ganze Voͤlker weinen laſſen, wenn
ſchon der erſte Ungluͤckliche, den man machen muͤſ¬
ſen, ſo wehe thut? Verbirg und verſchweige aber
meine Klage gewiſſenhaft, damit ſie nicht meinen
Vater quaͤle, der ſo leicht alles erfaͤhrt! Doch du
thuſt es ohnehin. Indeſſen ſteht mein Entſchluß
ſo feſt als je; nur will ich ihn bezahlen durch
Schmerzen. Ich kann jezt nichts thun als leiden
und beſſer werden, ich gehe haͤufiger in die Kir¬
che, ich ſchreibe oͤfter an meine Mutter, ich bin
gefaͤlliger gegen meinen Vater, gegen jede Menſchen-
Seele. Denn es gehoͤrt ſich, daß ich, da mir die
Kirche befiehlt, Freuden zu nehmen, es anders¬
wo einbringe, wo ſie es erlaubt, einige zu ver¬
mehren. Meine haben laͤngſt aufgehoͤrt und fruͤ¬
her als ich Ihn verloren. — O ſei du gluͤcklich,
meine liebe Raphaela!“ — Daraus kannſt du ſe¬
hen, Schoͤnſte, wie dieſe Wunde meiner W. mein
zu weiches Herz zerdruͤcken muß. Leb' wohl!
Das goldne Herz, wenn du es nicht ſchon beim
Schmidt beſtellet haſt, muß durchaus drei Loth
wiegen. Den Haſenbrecher und das Armband
hat meine Mutter bekommen. Deine Raphaela.
[12]
Walt wurde unter dem Leſen aus ſeinem Fen¬
ſter namentlich gerufen von Vult mit den freudig¬
ſten Minen; er las es unterwegs gar aus. „Du
kennſt, fieng jener luſtig an, meine euſtachiſche
Fama's Trompete? — Naͤmlich meine kumaͤiſche
Sybille der Vergangenheit? Das heiſſet meine
Miethfackel? — Himmel, verſteheſt du mich
noch nicht? Ich meine meine hiſtoriſche Oktapla
und 8 partes orationis (denn ſo viele Maͤdgen
ſinds)? Zum Henker, die Schnapwaiſe? Die
Penſion naͤmlich! Von dieſer nun erfahr' ich
eben folgendes aus reinſter Quelle, weil der Ge¬
neral, der ſie zuweilen beſucht, ihr, wie alle Neu¬
gierige, eben ſoviel vorerzaͤhlt als abhorcht.
Genau genommen iſts die Dogareſſa und Di¬
rektrice der Maͤdgen, die dem General fuͤr ein
paar Neuigkeiten und Hoͤflichkeiten gerade ſoviel
Toͤchterſeelen opfert, als mir referiren, 8. Es
war vorgeſtern, daß der General ſein Wiegenfeſt
begieng, und nach ſeiner Sitte das h. Abendmal
vor ſeinem Mittagsmal nahm und darauf der
Seelen-Arzenei viel nachtrank. Die Tochter muß
[13] allemal mit beichten. Ich weiß nicht, ob du viel
mit ausſchweifenden Groſſen umgegangen, zu
welchen Moͤnche am leichteſten ſagen wie zu Hun¬
den: faites la belle, fuͤr welche der Ohren¬
beicht-Stuhl das Abſonderungsgefaͤs ihres geiſti¬
gen Uebertrunks und Ueberfraſſes iſt, und welche,
wie der Norden, ihre Bekehrung den Weibern ver¬
danken, willſt du anders Ludwigs 14. lezten
Stunden glauben. Kurz der General mag ſo et¬
was ſeyn. An ſeinem Geburts- und Beicht-Tage
liebt' er von jeher ſeine Tochter ganz beſonders,
weil er eine Art Taufwaſſer — um zwei entlegne
Sakramente durch Fluͤſſigkeiten zu vereinen — den
ganzen Tag unter der Gehirnſchaale dem Kopfe
aufgieſſet. Er hat uͤberhaupt das Gute, daß er
aufrichtig gut gegen ſie iſt; er ſieht ihr ſogar
nach, daß ſie der ihm verhaßten proteſtantiſchen
Mutter in Leipzig anhaͤngt. Da er nun ſo den
ganzen Tag mit ſeiner Beicht- und Vater-Tochter
beiſammen bleibt: ſo trinkt und weint er ſehr. Er
foderte jezt Rechenſchaft von ihr, warum ſie noch
ſo trauerte, daß ſie faſt den Grafen mehr zu lie¬
ben ſchiene als ihren Gott und die h. Kirche und
[14] ihren Vater. Sie antwortete heftig: das ſei es
am wenigſten; ſogar dem Kirchenrathe Glanz,
der oͤfters mit ihr uͤber den heil. Glauben geſpro¬
chen, habe ſie nur hoͤflich zugehoͤrt; den Grafen
aber nicht mehr geliebt als jeden guten Men¬
ſchen.“ Zablocki fragte erſtaunt, warum ſie ihn
bei ihrer Freiheit der Wahl, doch heirathen wol¬
len? „Ich dachte, ſagte ſie, ich koͤnnt' ihn viel¬
leicht zu unſerer Religion durch rechtes Aufopfern
bringen.“ Walt! einen Philoſophen bekehren!
Tauft und tonſurirt lieber eine Peruͤcke! —
Der General laͤchelte und weinte zugleich vor
Luſt, lief aber immer mehr auf das weiche zarte
Weſen Sturm, ſtieg ins ofne Herz und holte ſich
das zweite Geheimnis. Sie hofte naͤmlich ihrer
abgeſchiedenen proteſtantiſchen Mutter (und wohl
dem verſchuldeten Vater) zu Zeiten ein Kopfkiſſen
aus dem reichen Ehebette zuzuwerfen; geſtand es
es aber ohne Metaphern. Da konnte ſich der
trunkene Vater nicht enthalten, zu ſchwoͤren,
ihm ſolle lieber ein Traubenſchuß in den Magen
fahren, oder ſein Warſchauer Prozeß verloren ge¬
hen, woll' er je einem ſolchen ſeelentreuen Kinde
[15] etwas abſchlagen oder aufdringen. Und ſo wei¬
ter! Biſt du getroͤſtet?“ —
Walt ſchwieg; Vult bat ihn um das zerriſ¬
ſene Blatt in ſeiner Hand. Er las es froh und
fand darin ſeinen Bericht beſiegelt, und machte
ſeinen Spas uͤber Raphaelens weibliche Weiſe,
Herz und Waͤſche, Groͤſtes und Kleinſtes in ein¬
ander zu ſtecken. Aber Walt ſagte, eben das, ſo
wie ihr Erzaͤhlen, beweiſe, daß die Weiber mehr
epiſch ſeyen, die Maͤnner hingegen lyriſch.
Ein Laͤufer Zablockis kam hinein und melde¬
te, er ſolle morgen um 4 Uhr erſcheinen zum be¬
wußten Kopieren. Er verbarg muͤhſam den gan¬
zen Abend die Staͤrke ſeiner Bewegungen.
Nro. 34. Inkruſtirte Kletten.
Kopierſtunde.
Um 4 Uhr erſchien Walt vor dem General,
der wie gewoͤhnlich, laͤchelnd den Blauaͤugigen
aufnahm. Vergeblich hatte er vor einer Erinne¬
rung an den Brief oder einer Erſcheinung der Ver¬
faſſerin gezagt. Zablocki gab ihm die namenlo¬
[16] ſen oder nur taufnamigen Briefe auf dem ſchoͤn
geaͤderten Sekretair ſamt Schreibbefehlen und gieng
davon. Mit ſo ſehr ausgeſuchten End-Lettern
oder Final-Schweifen, als nur je aus Paris ver¬
ſandt werden nebſt viel ſchlimmern Polaritaͤten,
z. B. Robespierriſchen Schweifen, Culs de Paris,
— kopierte der Notar und ſah ſich ſpaͤt um.
Das ſchoͤne Kabinet war von den Tapeten
zu einer Blumenlaube gemalt, aber voll Blumen¬
duͤfte, die aus einer wahren kam und voll gruͤner
Daͤmmerung. Die Jalouſie-Gitter waren vor¬
gezogen, fuͤr ihn ein gruͤner Schleier eines blen¬
denden Tags; ſogar im Winter gruͤnte ihn dieſes
Blaͤtter-Skelet der vertrokneten bunten Zeit wie
ein Zauber an. „In dem nahen Wand-Schrank
haͤngt — ſagt' er zu ſich — Winas himmelblaues
Kleid, denk' ich. Wie auf einer ſanftwallenden
Wolke ſaß er, und ſchrieb oft eine briefliche Wen¬
dung ab, die ſich fuͤr ſeine Lage ſehr gut ſchickte.
Es wiegt' ihn auf und nieder, daß er ſich doch
mit Ihr, mit derjenigen in Einer Zimmer-Ebene,
unter Einem Dache befand, mit welcher er das
Trauerband derſelben Schmerzen trug und die ihm
[17] nach dem Untergang der Freundſchaftsſonne als
ſtiller Liebes-Heſperus fortſchimmerte.
Er kopierte mit geſpizten Ohren, weil er
(nicht ohne alle Hoffnung) in der Furcht daſaß,
daß Wina gar in's Kabinet und an einen oder
den andern Sekretair fliege, den hoͤlzernen oder
den lebendigen. Indes kam nichts. Er uͤberleg¬
te ſehr, ob er nicht in den Wandſchrank einbre¬
chen und das himmelblaue Kleid als den blauen
Aether der fernen Sonne leicht anruͤhren ſollte mit
Hand oder mit Mund — als der General ein¬
trat, ihn erſchreckte und das Kopieren pries und
ſchlos.
So gluͤcklich gieng die Schreibſtunde, und
die Gefahr, Wina zu ſehen, voruͤber, und er
wankte heim mit einem Kopfe, der ſich ein wenig
im Herzen vollgetrunken hatte.
Auf den Thurmknoͤpfen und Parke-Gipfeln
lag noch ſuͤßes rothes Sonnenlicht und wekte zu¬
gleich das Sehnen und Hoffen der Menſchen in
und außer Haslau.
Er kopierte den zweiten Tag, ſtets mit der¬
ſelben Angſt, daß Wina die Thuͤre aufmache.
Flegeljahre III. Bd. 2[18] Der dritte aber — wo wieder nichts kam — mach¬
te ihn, wie jeden Krieger die Zeit, ſo muthig und
ſo zum Mann am vierten, daß er in der That
ſich ſehnte nach Gefahr. Ganze Naͤchte mußte
jezt das fromme Maͤdgen vor ſeiner Seele ſtehen
— er hatte dabei ſeinen ewigen Fruͤhling blos
weil er einen Plan nach dem andern entwarf und
verwarf, wie er noch jezt, um die Folgen des
ofnen Briefs zu verguͤten, etwan durch die Sanfte
fuͤr den Grafen wirken koͤnnte. Es wollte ihm
aber nie etwas Bedeutendes einfallen.
Am 4. Tage hoͤrt' er unter dem Abſchreiben
einer ſchoͤnen erotiſchen Geſtikulation im Briefe,
eine weibliche Singſtimme, die, obwohl aus dem
dritten Zimmer, doch eben ſo gut aus dem dritten
Himmel kommen konnte. Er kopierte feurig wei¬
ter; aber eine Sonnenſtadt nach der andern er¬
baueten in ihm dieſe Orpheus-Toͤne und die Fel¬
ſen des Lebens tanzten nach ihnen. Er erinnerte
ſich noch recht gut, was ihm Vult uͤber Winas
Singen geſchrieben. Als er darauf unter dem
Heimgehen dieſelbe Stimme fortſingend vor ſich
mit einer Schachtel unter dem Arm auf der Treppe
[19] ſah und auf jeder Staffel erſtaunte und nach¬
dachte: ſo macht' es ihm das ſchlechteſte Vergnuͤ¬
gen von der Welt, dieſe Stimme auf der Gaſſe
zu einer andern ſagen zu hoͤren, ihre Fraͤulein —
denn es war die Puzjungfer — komme erſt naͤch¬
ſten Freitag aus Elterlein zuruͤck — — er ſpuͤrte
ordentliches Sehnen, einmal in ſeinem Geburts¬
oͤrtlein zu ſeyn, und aus der ſo heiſſen Stadt her¬
auszukommen.
Himmel, ſchlos er indes, wenn ſchon dieſe
Puzjungfer Karyatide der fernen Goͤttin ſo ſingt,
wie muß erſt dieſe glaͤnzen, ſowohl im Geſang
als ſonſt! Er wurde unendlich begierig, einem
Wiederſcheine der heiligen Nachbarſchaft Winas
ins Geſicht zu ſehen, uͤberhaupt einer Perſon, de¬
ren goͤttlichen Geiſt der Toͤne er hinter ihr gehend
anbetete, kurz der Soubrette. Denn er glaubte
laͤngſt, eine erſte Saͤngerin ſei gewis nicht die lezte
Monatsheilige oder eine Sirene; und eine baby¬
loniſche Hetaͤre behalte keine Stimme, geſezt ſie
haͤtte eine beſeſſen; eine Meinung, die gutmuͤthige
Weltleute mehr ſeiner Unbekanntſchaft mit Buͤhne
und Welt zuſchreiben ſollten als ſeiner Dummheit.
Er mochte kaum drei ſchnellere Schritte ge¬
than haben, um ihr vorzukommen: als er drei
Fluͤche und ein Kothwort vernahm. Er drehte
ſich heftig um, mit der glaͤnzenden Ordenskette
in Haͤnden, die er der anſcheinenden Ordensſchwe¬
ſter der Sklavinnen der Tugend vom Sing-Halſe
geriſſen; und in einer dunkeln Allee der Stadt
ließ er Thraͤnen fallen, daruͤber, daß eine ſolche
rauhe Seele eine Singſtimme beſitze, und daß ſie
der heiligen ſo nahe wohne. Hoch aber zog Wi¬
nas Geſtalt in ihrem glaͤnzenden Wolkenhimmel
weiter; und ihm war, als koͤnne nur ein Tod ihn,
wie zu Gott, ſo zur Goͤttin bringen.
Nro. 35. Chryſopras.
Traͤumen — Singen — Beten — Traͤumen.
Am Freitage darauf, wo Wina wiederkom¬
men ſollte, ſprang er, ohne an ſie zu denken, ſo
innig-vergnuͤgt aus dem Bette in den Tag, als
waͤr's ein Brauttag. Er wußte keinen Grund als
daß er die ganze Nacht einen immer zuruͤkflattern¬
dern Traum geſehen, wovon er kein Bild und
[21] Wort und nichts behalten, als einige anonyme
Seligkeit. Wie Himmelsblumen werden oft Traͤu¬
me durch die Menſchennacht getragen, und am
Tageslicht bezeichnet nur ein fremder Fruͤhlings¬
duft die Spuren der verſchwundenen.
Die Sonne blizte ihm reiner und naͤher, die
Menſchen ſah er wie durch einen Traum der Trun¬
kenheit ſchoͤner und werther gehen, und die Quel¬
len der Nacht hatten ſeine Bruſt mit ſo viel Liebe
vollgegoſſen, daß er nicht wußte, wohin er ſie
leiten ſollte.
Zu Papier ſucht' er ſie anfangs zu bringen,
aber kein Strekvers und kein Kapitel gelang. Er
hatte einen Tag wie nach einer vertanzten Nacht,
man will nichts machen als hoͤchſtens Traͤume,
und auch nichts anderes haben — alles ſoll ſanft
ſeyn, ſogar die Freude — ſie ſoll nicht mit Wind¬
ſtoͤſſen an den Fluͤgeln reiſſen, ſtill ſollen die aus¬
geſtrekten Schwingen das duͤnne Blau durchſchnei¬
den und durchſinken — nur Abendlieder will der
der Menſch ſogar am Morgen, aber kein einziges
Kriegslied, und ein Flor, aber ein hellgefaͤrbter,
bezieht und daͤmpft die Trommel des Erden-
Tobens.
Walt konnte nichts anders machen — „nur
heute kein Inſtrument, das gebe Gott!“ wuͤnſch¬
te er — als einen Spaziergang in das Van der
Kabelſche Hoͤlzgen, das er einſt erben kann, und
wo er den entfremdeten Grafen zum erſtenmale
auf der Erde geſehen. Um ihn flogen, giengen,
ſtanden Traͤume aus tiefen Jahrhunderten — aus
Bluͤten- und Blumenlaͤndern — aus Knabenzei¬
ten — ja ein Traͤumgen ſaß und ſang im ſpan¬
nenlangen gruͤnen Weihnachts-Gaͤrtgen der Kind¬
heit, das ſich der kleine Menſch auf vier Raͤdern
am Faden nachzieht. Siehe da bewegte vom Him¬
mel ſich ein Zauberſtab uͤber die ganze Landſchaft
voll Schloͤſſer, Landhaͤuſer und Waͤldgen, und
verwandelte ſie in eine bluͤtendicke Provence aus
dem Mittelalter. In der Ferne ſah er mehrere
Provenzalen aus Olivenwaͤldern kommen — ſie
ſangen heitere Lieder in heiterer Luft — die leich¬
ten Juͤnglinge zogen voll Freude und voll Liebe mit
Saitenſpielen in die Thaͤler vor hohe goldbedekte
Burgen auf fernen Bergſpitzen — aus den engen
Fenſtern ſahen ritterliche Jungfrauen herunter —
ſie wurden herabgelockt, und lieſſen in den Auen
[23] Zelte aufſpannen, um mit den Provenzalen ein
Wort zu reden (wie in jenen Zeiten und Laͤndern,
wo die Erde noch ein leichtes Luſtlager der Dicht¬
kunſt war und der Troubadour, ja der Conteur
ſich in Damen hoͤchſten Standes verlieben durfte)
— und ein ewiger Fruͤhling ſang auf der Erde
und im Himmel, das Leben war ein weicher Tanz
in Blumen.
„Suͤſſe Freudenthaͤler hinter den Bergen,
ſang Walt, ich moͤchte auch hinuͤber ziehen in das
morgenrothe Leben, wo die Liebe nichts verlangt
als eine Jungfrau und einen Dichter — ich moͤch¬
te druͤben in wehender Fruͤhlingsluft mit einer
Laute zwiſchen den Zelten mitgehen, und die ſtille
Liebe ſingen und ſchnell aufhoͤren, wenn Wina
vorbeigienge.“
Darauf kehrte Walt in ſein Kaͤmmergen zu¬
ruͤck, fand aber, mit ſeiner geographiſchen und
hiſtoriſchen Provence in der Bruſt, ſo wenig Plaz
darin, daß er mit einiger Kuͤhnheit — denn die
Poeſie hatt' ihn ſehr gleich und frei gemacht —
in Neupeters Park hinabſpazierte, wo er Floren,
mit Fruͤchten wie eine Pomona beſchwert, in den
[24] Wurf kam und die Hand gab. Dem Dichter
glaͤnzet die ganze Welt, doch aber eine herzogliche,
koͤnigliche Krone matter als ein ſchoͤner weiblicher
Kopf unter Krone und Herzogshut, oder als ein
anderer, der nichts aufhat als den Himmel uͤber
ſich; er iſt beſcheiden, wenn er einer Fuͤrſtin, und
aufgerichtet, wenn er einer Hirtin die Hand giebt;
nur zu den Vaͤtern beider laͤſſet er ſich oft gar
nicht herab.
In einer Laube fand er ein Strumpfband.
Ein italiſcher Vers — denn Raphaela verſtand
welſch, obwohl er nicht — und ihr Name war
darauf geſtickt. Da er an dieſem geiſtigen Mor¬
gen merkte, daß er einen provenzaliſchen Ritter
und Poeten zugleich in ſich verbinde: ſo faßt' er
den freien Entſchluß, das Strumpfband — denn
er hielts fuͤr ein Armband — ſelber Raphaelen,
die er briefleſend ſchleichen ſah, mit einigen bedeu¬
tenden Worten zu uͤberreichen. Er legte das Band
weich vorn auf die flache Hand wie auf einen Praͤ¬
ſentirteller und trug es ihr zart mit der Wendung
entgegen — die er aus vielen andern uͤber weltli¬
chen Arm und Arm aus den Wolken ausgele¬
[23] ſen —: „er ſei ſo gluͤklich geweſen, ein ſchoͤnes
Band der Liebe zu finden, eine Senne an Amors
Bogen, gleichſam den groͤſſern Ring an ſchoͤner
Hand und er wiſſe nicht, wer gluͤklicher ſei, der
ſo ihn abzoͤge oder der ihn anlegte.“ Raphaela er¬
roͤthete beſchaͤmend-verſchaͤmt, nahm das Band,
ſteckt' es ſchnell ein und gieng ſtumm fort; Walt
dachte: faſt ein gar zu zartes Gemuͤth!
Er brachte noch viel von ſeiner Morgenfreude
an die Wirthstafel: als er zu ſeinem Erſtaunen
da erfuhr — was er ſchon laͤngſt gewußt —,
daß an der Juden-Vigilie, am Freitag, die Ka¬
tholiken faſteten. Er legte Meſſer und Gabel ne¬
ben den Teller hin. Keinen Biſſen — und waͤr'
er aus dem Reichs-Ochſen in Frankfurt bei der
Kaiſerkroͤnung ausgeſchnitten geweſen — haͤtt' er
noch an die Zunge heben koͤnnen. „Ich will nicht
koͤſtlich ſchwelgen, dachte er — betagtes Vaccine¬
fleiſch war aufgeſezt —, in der Stunde, wo eine
ſo wohlwollende Seele wie Wina darben muß.“
— Wie eine Ehefrau, hatte er bei der Gleichguͤl¬
tigkeit gegen eigene Eß-Entbehrungen ein weinen¬
des Erbarmen uͤber fremde. Er dachte nach und
[26] fand es immer haͤrter, daß die Kirche auch Non¬
nen faſten lieſſe, nicht die Moͤnche allein; da es
vielleicht ſchon genug waͤre, wenn nur Spizbuben,
Spieler, Moͤrder nichts rechts zu eſſen haͤtten.
Er gieng in die Kopierſtube zum General,
nicht nur mit dem voͤlligen Wunſche, das Maͤd¬
gen zu ſehen, das heute — an ſeinem romantiſchen
Tage — eine Maͤrtyrin geweſen, ſondern auch mit
der Gewißheit, ſie ſei von Elterlein zuruͤck und er¬
ſcheine. Waͤhrend er mit unſaͤglichem Vergnuͤgen
einen aͤußerſt frechen Brief einer gewiſſen Libette,
wie er nur aus der moraliſchen Lutetia *) voll Epi¬
kurs-Staͤlle kommen kann, ins Reine ſchrieb —
denn er ſchmekte in dieſen Freudenkelchen nur den
Abendmalswein der geiſtigen Liebe und keinen ge¬
ſchwefelten —, ſo drang aus den halbofnen Zim¬
mern kein Laut in ſein Kabinet, den er nicht zu
einer Ankuͤndigung einer Erſcheinung zitternd mach¬
te. Wie in weiten dichten Waldungen ferne lange
Toͤne hier und dort romantiſch durchklingen: ſo
kamen ihm einzelne Akkorde auf dem Fortepiano —
[27] Rufe des Generals — Antworten an Wina vor —
Endlich hoͤrt' er wirklich Wina ſelber im naͤchſten
Zimmer mit ihrem Vater vom Singen ſprechen.
Er gluͤhte bis zur Stirn hinauf, und buͤkte den
unruhigen Kopf faſt bis an die Feder nieder. Sie
hatte jenen innigſten, herzlichſten, mehr aus der
Bruſt als Kehle heraufgeholten Sprachton, den
Weiber und Schweizer viel haͤufiger angeben, als
andre Leute.
Indem der General eintrat und Walt flam¬
mend fortkopieren wollte: hatt' er das Ungluͤk,
daß das Maͤdgen Singnoten aus dem Kabinette
fliegend wegholte, ohne daß er vor lauter Zart¬
heit etwas geſehen hatte, wenn man nicht die
weiſſe Schleppe zu hoch anſchlagen will. Bald
darauf fieng im zweiten Zimmer ihre Singſtim¬
me an — „O nein doch, rief der General,
durch die ofnen Thuͤren, den lezten Wunſch von
Reichard meint' ich*).“
Sie brach ab, und fieng den begehrten
Wunſch an. „Singe, unterbrach er ſie wieder,
nur die erſte und lezte Strophe ohne die
ennuyanten.“ Sie hielt innen, mit Fingern
uͤber den Taſten ſchwebend und antwortete: gut,
Vater!“
Die Verſe heiſſen:
[29]
Wina begann, ihre ſuͤße Sprache zer¬
ſchmolz in den noch ſuͤßern Geſang, aus Nach¬
tigallen und Echo's gemacht — ſie wollte ihr
liebewarmes Herz in jeden Ton draͤngen und
gießen, gleichſam in einen toͤnenden Seufzer; —
den Notar umfieng der lang getraͤumte Seelen¬
klang mit der Herrlichkeit der Gegenwart ſo,
daß ihn das heranrollende Meer, das er von
Fernen rollen und wallen ſahen, nun mit hohen
Fluthen nahm und deckte. Der General ſah un¬
ter dem Singen die Kopie des frechen lezten Brie¬
fes mit einiger witziger Heiterkeit auf dem Ge¬
ſichte durch und fragte laͤchelnd: wie gefaͤllt Ih¬
nen die wilde Libette? — „Wie der jezige Ge¬
ſang, ſo wahr, ſo innig und ſo tief gefuͤhlt“
verſezte Gottwalt. — „Das glaub' ich auch“
ſagte Zablocki mit einem ironiſchen Minen-
Glanz, den Walt fuͤr Hoͤr-Verklaͤrung nahm.
„Was ſind ſo Ihre vorzuͤglichſten Notariats-
Inſtrumente bisher geweſen?“ fragte der Gene¬
ral. Walt gab viele kurz und ſchleunig an,
ſehr verdruͤslich, daß er ſein Ohr — wie ſein
Leben — zwiſchen Geſang und Proſa thei¬
[30] len ſollte. Ob er gleich ſich ſo weniger Seelenkraͤf¬
te und Worte dabei bediente als er nur konnte:
ſo war fuͤr Zablocki doch kein Menſch, — weder
aus Wezlar noch Regensburg oder aus irgend
einem ſchriftſtelleriſchen bureau des longitudes
et des longueurs — zu lang, zu weitſchwei¬
fig, ſondern blos zu abrupt. „Ich glaube,
fuhr Zablocki fort, Sie machten auch einige Sa¬
chen fuͤr den Grafen von Klothar?“
„Keine Zeile“ verſezte Walt zu eilfertig; er
war voͤllig von den ſchoͤnen Toͤnen weggeſpuͤhlt,
und begrif's nicht, daß der General, der ſelber
dieſe ſchoͤnen Laute vorgeſchrieben, ſie uͤber platte
verhoͤren wollte. „O Gott, wie kann ein Menſch
nicht im harmoniſchen Strome unterſinken, ſon¬
dern daraus noch etwas vorſtecken, beſonders
die Zunge? Iſt das moͤglich, zumal wenn es ei¬
nen ſo nahe angeht, wie hier den verwaiſten
General?“ — Walt glaubte naͤmlich, der Ge¬
neral, der von der Frau und auch von der Ju¬
gend geſchieden war, habe ſolche und aͤhnliche
Zeilen wie
[31]
blos als Nachtigallen-Darſtellungen eigener See¬
len-Klagen ſingen laſſen. Es konnte ihn weit
mehr ruͤhren — zumal da es auch viel reiner
war, — wenn er Ton-Spruͤche auf fremde Lei¬
den und Wuͤnſche, als wenn er ſie auf eigne be¬
zog; und darum war ihm der vergebliche Antheil
an Zablocki ſo unlieb.
Vult aber, dem er alles vortrug, ſprach ſpaͤ¬
ter den Weltmann mit dieſen Worten frei: „er
iſt an Hof-Konzerte gewoͤhnt, mithin an Taub-
Bleiben — wie Cremen, iſt das Weltleben gleich
kalt und ſuͤß; — indes hat der Weltmann oft
viel Ohr bei wenig Herz (wie anden umgekehrt)
und behorcht wenigſtens die Form der Tonkunſt
ganz gut.“
„Keine Zeile“ hatte Walt eilfertig geſagt. —
„Wie ſo? verſezte Zablocki. Mein Gerichtshal¬
ter ſagte mir gerade das Gegentheil.“ Hier ent¬
fuhren Walten die Thraͤnen; — er konnte nicht
anders, die lezten Sang-Zeilen hatten ihn mit-
und weggenommen; die Scham uͤber die unwill¬
[32] kuͤhrliche Unrichtigkeit trug weniger bei: „wahr¬
haftig — verſezt' er — das meint' ich eben;
denn die Schenkungs-Akte wurde unterbrochen.
— die erſten Zeilen ſchrieb' ich natuͤrlich.“ Der
General ſchrieb die Verwirrung des geruͤhrteſten
Geſichts nicht der ſchoͤnern Stimme zu, ſondern
ſeiner eignen — brach gutmuͤthig mit den Ab¬
ſchiedsworten ab, daß er auf einige Wochen des
Kopieren einſtelle, weil er morgen mit ſeiner Toch¬
ter nach Leipzig auf die Meſſe reiſe. Hier hoͤr¬
te das Singen auf; und Walts kurzes Ent¬
zuͤcken.
Nro. 36. Kompasmuſchel.
Traͤume aus Traͤumen.
Auf der hellen Gaſſe war dem aus dem Zablocki¬
ſchen Hauſe wankenden Notar, als ſei ihm etwas
aus den Haͤnden gezogen, etwa ein ganzer brennen¬
der Chriſtbaum oder eine Himmelsleiter, die er
an die Sonne anlegen wollen. Ploͤzlich ſah er
— ohne zu faſſen, wie — die boͤſe After-Saͤn¬
gerin oder Puzjungfer des Generals und vor ihr
[33] Wina gehen, in die katholiſche Kirche. Leztere
macht' er ohne Umſtaͤnde zur Simultankirche und
trat der zarten Nonne nach, um von ihr die
Zeile: „wann, o Schikſal, wann wird endlich“
fortſingen zu hoͤren; denn ſein inneres Ohr hoͤrte
ſie noch ganz deutlich auf der Gaſſe.
Im Tempel fand er ſie kniend und gebogen
auf den Stufen des Hochaltars, ihr ſchmucklo¬
ſer Kopf ſenkte ſich zum Gebet, ihr weiſſes Kleid
floß die Stufen herab. — Der Meßprieſter in
wunderlicher Kleidung und Bedienung machte
geheimnisvolle Bewegungen — die Altarlichter
loderten wie Opferfeuer — ein Weihrauchwoͤlkgen
hieng am hohen Fenſterbogen — und die unter¬
gehende Sonne blickte noch gluͤhend durch die
oberſten bunten Scheiben hindurch und erleuch¬
tete das Woͤlkgen — unten im weiten Tempel
war es Nacht. Walt, der Lutheraner, dem ein
betendes Maͤdgen am Altare eine neue himmli¬
ſche Erſcheinung war, zerfloß faſt hinter ihrem
Ruͤcken in Licht und Feuer, in Andacht und
Liebe. Als waͤre die heilige Jungfrau, aus dem
beflammten Altarblatte, worauf ſie gen Him¬
Flegeljahre III. Bd. 3[34] mel ſtieg, herabgezogen auf die Stufen, um noch
einmal auf der Erde zu beten, ſo heilig-ſchoͤn
ſah er das Maͤdgen liegen. Er hielt es fuͤr
Suͤnde, fuͤnf Schritte weiter vorzutreten und der
Beterin gerade ins fromme Angeſicht zu ſehen,
obgleich dieſe fuͤnf Schritte ihn fuͤnf goldne
Sproſſen auf der Himmelsleiter hoͤher gebracht
haͤtten. Zulezt zwang ihn ſein Gewiſſen, gar
ſelber — wiewohl er proteſtantiſch dachte — hin¬
ter den ſtillen Gebeten einige eigne leichte zu ver¬
richten; die Haͤnde waren ſchon laͤngſt gehoͤrig
gefaltet geweſen, eh' er nur darauf gedacht, etwas
dazu zu beten.
Es iſt aber zu glauben, daß in der Welt
hinter den Sternen, die gewiß ihre eignen, ganz
ſonderbaren Begriffe von Andacht hat, ſchon
das unwillkuͤhrliche Haͤndefalten ſelber fuͤr ein
gutes Gebet gegolten, wie denn mancher hieſige
Handdruk und Lippendruk, ja mancher Fluch
droben fuͤr ein Stos- und Schusgebet kurſiren
mag; indeß zu gleicher Zeit den groͤßten Kirchen¬
lichtern hienieden die Gebete, die ſie fuͤr den
Druck und Verlag ohne alle Selbſt-Ruͤckſichten
blos fuͤr fremde Beduͤrfniſſe mit beſtaͤndiger Hin¬
[35] ficht auf wahre maͤnnliche Kanzelberedſamkeit
im Manuſkripte ausarbeiten, droben als baare
Fluͤche angeſchrieben werden.
Wenn nun ſolche Lichter dort von einem
und dem andern Engel des Lichts ausgeſchneuzet
werden, wenn ſolche Conſiſtorialvoͤgel zu voͤlli¬
geln Galgenvoͤgeln gerupft im Himmel fliegen:
ſo duͤrfen verkannte Galgenvoͤgel dieſer Art in
ihren theologiſchen Journalen, falls ſie droben
welche ſchreiben, mit Recht darauf aufmerkſam
machen, daß die zweite Welt wunderliche
Heiligen habe, und noch manche Aufklaͤ¬
rung brauche, bis ſie ſo weit vorruͤcke, daß ſie
Gebete auf dem Theater und Gebete auf dem
Schreibepult, nach Einem liturgiſchen Styliſti¬
kum, ſo zu ſagen, abgeflucht, gleich gut auf¬
nehme.
Walt blieb, bis Wina aufſtand und vor¬
uͤber gieng, um ſie anzuſehen. Er konnt' es
aber nachher gar nicht begreifen, daß er, als ſie
in der groͤßten Naͤhe war, unwillkuͤhrlich wie
krampfhaft die Augen zugedruͤckt; „und was
half's mir viel, ſagt' er, daß ich ihr durch drei
Gaſſen hinter ihr nachguckte?“
Er ſchweifte aus der Stadt hinaus. Es
war ihm, als wenn zwei einander entgegen we¬
hende Stuͤrme eine Roſe mitten im Himmel
ſchwebend erhielten. Draußen ſtand ein langes
bergiges Abendroth wie ein Nordſchein am Him¬
mel und machte Licht. Er ſuchte jezt ſeine alte
Sitte hervor, große Erregungen — z.B. wenn
er irgend einen Virtuoſen geſehen, und waͤr's auf
dem Tanzſeile geweſen — dadurch zu naͤhren
und zu ſtillen, daß er ſich frei einen Superlativ
des Falls austraͤumte, wo er die Sache noch
Millionenmal weiter trieb. Er wagte dreiſt den
herrlichſten Traum uͤber Wina und ſich. „Wi¬
na iſt eine Pfarrerstochter aus Elterlein —
fieng er an — zufaͤllig reiſ' ich durch mit Suite;
ich bin etwa ein Markgraf, oder Grosherzog,
naͤmlich der Erbprinz davon — noch jung (doch
ich bin's jezt auch), ſo bildſchoͤn, ſehr lang, mit
ſo himmliſchen Augen, ich bin vielleicht der
ſchoͤnſte Juͤngling in meinem Lande, ganz aͤhn¬
lich dem Grafen — Sie ſah mich vor dem
Pfarrhauſe vorbei ſprengen auf meinem Araber;
da wirft ein Gott aus dem Himmel den unaus¬
[37] loͤ'chlichen Brand der Liebe in ihre arme zarte
Bruſt, als er das Zeichen, einen Erbprinzen auf
einem Araber, erblickt. Ich ſah ſie aber nicht
im Galopp.
Ich halte mich indeß im ſchlechten Wirths¬
haus nicht lange auf, ſondern beſteige ohne Sui¬
te den nahen Himmelsberg, wovon man mich
verſicherte, daß er die ſchoͤnſten Ausſichten des
Doͤrfgens um ſich ſammle. Und ich fand es
auch wahr. Ich komme vor die hinabſteigende
Sonne, auf goldnen Bergen der Erde ſtehen gold¬
ne Berge der Wolken; o nur die gluͤckliche Son¬
ne darf hinter die ſeeligen Gebuͤrge gehen, wel¬
che das alte ewig verlangte roſenrothe Liebesthal
des Herzens umſchließen — Und ich ſehne mich
bitter hinuͤber, weil ich noch nicht lieben durfte
als Prinz und traͤume mir Szenen. Da ſchlaͤgt
eine Nachtigall hinter mir ſo heiß, als zoͤge ſie
ihren Ton gewaltſam aus meiner Bruſt; ſie ſizt
auf der linken Schulter der Pfarrtochter, die, oh¬
ne von mir zu wiſſen und mich zu ſehen, her¬
auf vor die Abendſonne gegangen war. Und
ihre beiden Augen weinen und ſie weiß nicht
[38] warum, denn ſie ſchreibt's den Toͤnen ihrer zahm
gemachten Philomele zu. Ein Weſen ſeh' ich
da, wie ich noch nie geſehen, ausgenommen im
Konzert — doch es iſt eben Wina — eine Men¬
ſchen-Blume ſeh' ich, die ohne Bewuſtſein
prangt und deren Blaͤtter nichts oͤffnet und
ſchlieſſet, als der Himmel. Abendroͤthe und Son¬
ne moͤchten ordentlich gern naͤher zu ihr, das
Purpurwoͤlkgen wuͤnſchte herunter, weil ſie die
Liebe ſelber iſt, und wieder die Liebe ſelber ſucht,
ſie zieht alles Leben an ſich heran. Eine Tur¬
teltaube laͤuft um ihre Fuͤſſe und girrt mit zit¬
ternden Fluͤgeln. Die andern Nachtigallen flat¬
tern faſt alle aus ihren Buͤſchen und ſingen um
die ſingende herum.
Hier wendet ſich ihr Blau-Auge von der
Sonne und faͤllt aufgeſchlagen auf mich; aber
ſie zittert. Auch ich zittere, aber vor Freude,
und auch ihrentwegen. Ich gehe zu ihr durch
die ſchlagenden Nachtigallen hin; wir ſind uns
in nichts gleich als in der Schoͤnheit, denn mei¬
ne Liebe iſt noch heiſſer als ihre. Sie buͤckt ihr
Haupt und weint und bebt, und ich glaube
[39] nicht, daß allein mein hoher Stand ſie ſo er¬
ſchuͤttert.
Was gehen mich gefuͤrſtete Huͤte und Stuͤh¬
le mehr an? Ich ſchenke alles dem Gott der
Liebe hin; „wenn du mich auch kennſt, Jung¬
frau, ſag' ich, ſo liebe mich doch“: ſie redet
nicht, aber ihre Nachtigall fliegt auf meine
Schulter und ſingt. „Sieh!“ ſag' ich ehrerbie¬
tig und mehr nicht; und nehme ihre rechte Hand
und druͤcke ſie mit beiden Haͤnden feſt an mein
Herz. Sie will ſie aber mit der linken holen und
losmachen; aber ich faſſe und druͤcke nun auch
die Linke. So bleiben wir, ich ſeh' ſie unauf¬
hoͤrlich an, und ſie blickt zuweilen auf, ob ich's
noch thue. „Jungfrau, wie iſt dein Name?“
ſag' ich ſpaͤt. So leiſe, daß ich's kaum verneh¬
me, ſagt ſie: Wina. Mich durchzittert der
Laut wie eine ferne alte Bruder-Stimme.
„Wina bedeutet Siegerin“ antwort' ich. Sie
druͤckt, glaub' ich, ſchwach meine Hand; die
Liebe hat ſie erhoben, uͤber Pfarrers- und uͤber
Prinzenſtand. So blick' ich ſie unaufhoͤrlich an,
und ſie mich zuweilen — die rufenden Nachti¬
[40] gallen ſchlieſſen uns ein — die bluͤhenden Abend¬
wolken gehen unter — der laͤchelnde Abendſtern
geht unter — der Sternenhimmel zieht ſein Sil¬
ber-Nez um uns — wir haben die Sterne in
der Hand und in der Bruſt, und ſchweigen und
lieben. Da faͤngt eine ferne Floͤte hinter dem
Himmelsberge an, und ſagt alles laut, was
uns ſchmerzt und freuet: es iſt mein guter Bru¬
der, ſag' ich, und im Dorfe wohnen meine lie¬
ben Eltern.“ — Hier kam Walt zu ſich; er ſah
umher, im Fluſſe (er ſtand vor einem) ſank ſein
Fuͤrſtenſtuhl ein und ein Wind blies ihm die
leichte Krone ab. „Es waͤr' auch zuviel fuͤr ei¬
nen Menſchentraum, Sie gar zu kuͤſſen“ ſagt' er
und gieng nach Hauſe. Unterwegs pruͤft' er die
Rechtmaͤßigkeit des Traums und hielt ihn ſo
Stuͤck fuͤr Stuͤck an den moraliſchen Probierſtein,
daß er ihn auf die beſte Weiſe zum zweitenmale
hatte. So haͤlt ſich die fromme Seele, welche
bange ſchwimmt, gern an jedem Zweige feſt,
der auch ſchwimmt. So iſt die erſte Liebe, wie¬
wohl die unverſtaͤndigſte, doch die heiligſte; ihre
Binde iſt zwar dicker und breiter — denn ſie geht
[41] uͤber Augen, Ohren und Mund zugleich —
aber ihre Schwungfedern ſind laͤnger und weiſſer,
als irgend einer andern Liebe.
Vor Neupeters Hauſe unten ſah er lang
zu ſeinem Fenſter auf, ſeine Zelle kam ihm or¬
dentlich fremd vor und er ſich, und es war ihm,
als muͤſſe der Notar jede Minute oben heraus
gucken auf ihn herunter. Ploͤzlich fieng am Fen¬
ſter eine Floͤte an; er fuhr ſehr kurz zuſammen,
da ſein lieber Bruder ihn droben erwartete. Er
brachte ihm das Feuer zu, in welches Wina ihr
mildes Oel gegoſſen. Vult war ganz liebreich
und freundlich; denn er hatte unterdeſſen im
Doppel-Roman das neue Stuͤck Gartenland be¬
ſehen und umſchritten, das Walt bisher daran
fertig gemacht und gemauert, — und hatte da
gefunden, daß die gruͤnen Haͤngbruͤcken, die
vom Herkules-Tempel der Freundſchaft weg¬
fuͤhrten, ſehr ſchoͤn gut gebogen und angeſtri¬
chen, die Moos- und Rinden-Einſiedelei der
erſten Liebe aber, die ſich ſelber noch fuͤr ein¬
ſam und einherzig haͤlt, vortreflich, naͤmlich ſtill
und dunkel und romantiſch angelegt worden, ſo
[42] daß nun nichts weiter mehr fehlte als die Vo¬
gelhaͤuſer, Klingel-Haͤusgen, Satyrs und an¬
dere Garten-Goͤtter, die Vult ſeines Orts und
Amts von der Bruͤcke an ausſchweifend zu poſti¬
ren hatte.
Er pries gewaltig, wiewohl heute das Lob
den Notar weniger entzuͤckte als erweichte. „Bruͤ¬
derlein, ſagt' er, kennt' ich dich und die Macht
der Kunſt nicht ſo gut, ſo ſchwuͤr' ich, du waͤ¬
reſt ſchon auf dem elektriſchen Iſolir-Schemel
der erſten Liebe geſtanden, und haͤtteſt geblizt;
ſo wahr und huͤbſch ſteht jeder Funke da.“ Denn
Vult hatte bisher, ungeachtet oder vielmehr we¬
gen aller Offenherzigkeit des Bruders, das Ver¬
gißmeinnicht der Liebe nicht in ihm bemerkt,
weil alles in ihm voll Liebes-Blumen ſtand,
und weil Vult ſelber jezt nicht viel aus den
Weibern machte. Sein Schmolgeiſt, ſagt' er
oft, meide den weiblichen; man muͤſſe aus ei¬
nem lakirten Staͤbgen, das nur fuͤr die
weiblichen Blumen in der Erde ſteht, eine roͤ¬
miſche Saͤule werden, deren Kapital jene Blu¬
men blos bekraͤnzen.
Sehr erſtaunte Walt, — der im Doppel¬
roman nur der Dichter, naͤmlich das ſtille Meer
geweſen, das alle Bewegungen, der Seegefechte
und des Himmels, abſpiegelt, ohne ſelber in ei¬
ner zu ſein — als Vult aus dem Buche von
weitem ſchließen wollte, er liebe vielleicht. Er
glaubte dem gereiſeten Floͤteniſten aufs Wort;
ſagte aber ſelber keines davon und war heimlich
ganz vergnuͤgt, daß er's jezt gerade ſo habe, wie
er's hinſchreibe. Stundenlang frappirte ihn eine
neue Rolle, worin er etwas zu ſpielen hatte,
was ſchon Millionenmal auf allen Planeten ge¬
ſpielet worden.
Als nun die Bruͤder nach ihrer Gewohnheit
ihre gegenſeitigen Tagsgeſchichten gegen einander
austauſchen wollten: ſo gieng dem Notar die
ſeinige ſehr ſchwer und klebend von der Zunge;
— er hielt ſich mehr an den General und an
deſſen mémoires érotiques, um ſeine eignen
zu decken.
Er lobte die geiſtige reine Bluͤthe in jenen;
Vult laͤchelte daruͤber und ſagte: „Du biſt eine
verdammte gute Seele!“ Die Liebe, welche das
[44] ganze Herz oͤffnet, ſo wie verſchenkt, verſchließet
und behaͤlt doch den Winkel, wo ſie ſelber niſtet;
und diktirt dem beſten Juͤngling die erſte Luͤge,
wie der beſten Jungfrau die laͤngſte.
Walt begleitete — bei ſeinen innern Bewe¬
gungen, deren Blutkuͤgelgen wie hoͤhere Kugeln
einen freien Himmel zum Bewegen brauchten — den
Bruder nach Hauſe. Dieſer begleitete erfreut wieder
jenen; Walt wieder dieſen, um vor Winas Fenſtern
auf dem Heimwege vorbeizukommen. So trieben
ſie es oft, bis der Notarius ſiegte.
Einſam unter dem breiten Sternenhimmel
konnt' er die gluͤhende Seele recht ausdehnen und
abkuͤhlen. „Sollt' ich denn den romantiſchen, ſo
oft gedichteten Fall jezt wirklich in der Wirklich¬
keit erleben, daß ich liebte? ſagte er. Nun ſo
will ich — ſezt' er dazu, und der bisher winter¬
lich eingepuppte, gefrorne Schmetterling ſprengte
die Puppen-Huͤlſe weit ab, und fuhr auf und
wiegte feuchte Schwingen — lieben wie niemand
und bis zum Tod und Schmerz — denn ich kann's
ja gut, da Sie mich nicht kennt und nicht liebt,
und ich ihr nichts ſchade und ſie ſehr von Stand
[45] iſt und jezt vollends auf I Monat verreiſet. Ja
es ſei Ihr ganz und voll hingereicht, das unbe¬
kannte Herz, und wie unterirdiſchen Goͤttern,
will ich ihr ſchweigend opfern. O ich koͤnnte dieſe
Sterne fuͤr Sie pfluͤcken zum blitzenden Juwelen-
Straus und weiche Lilien aus dem Monde darein
binden; und es in Ihrem Schlafe neben Ihr Kiſ¬
ſen legen; wuͤßt' es auch kein Weſen, wer es ge¬
than, ich waͤre zufrieden.
Er gieng die Gaſſe herab an Zablockis Haus.
Alle Lichter waren ausgeloͤſcht. Eine kernſchwarze
Wolke hieng ſich uͤber das Dach; er haͤtte ſie gern
herabgeriſſen. Alles war ſo ſtill, daß er die
Wanduhren gehen hoͤrte. Der Mond ſchuͤttete
ſeinen fremden Tag in die Fenſter des dritten Stok¬
werks. „O waͤr' ich ein Stern — ſo ſang es in
ihm und er hoͤrte nur zu — ich wollte Ihr leuch¬
ten; — waͤr' ich eine Roſe, ich wollte Ihr bluͤ¬
hen; — waͤr' ich ein Ton, ich draͤng' in Ihr
Herz; — waͤr' ich die Liebe, die gluͤcklichſte, ich
bliebe darin; — ja waͤr' ich nur der Traum, ich
wollt' in Ihren Schlummer ziehen und der Stern
und die Roſe und die Liebe und alles ſeyn, und
gern verſchwinden, wenn ſie erwachte.“
Er gieng nach Hauſe zum ernſten Schlaf,
und hofte, daß ihm vielleicht traͤume, er ſei der
Traum.
Nro. 37. Eine auserleſene Kabinetsdruͤſe.
Neues Teſtament.
Der September war ſo ſchoͤn, der die ſchoͤn¬
ſte Roſe, Wina, verſezt hatte, daß dem Notar
Rock, Stube und Stadt zu enge wurde; er woll¬
te ein wenig in die weite Welt hinaus. Er rei¬
ſete unſaͤglich gern, beſonders in unbekannte Ge¬
genden, weil er unterwegs glaubte, es ſey moͤg¬
lich, daß ihm eines der romantiſchſten lieblichſten
Abentheuer zuflattere, von dem er noch je geleſen.
Daher war das erſte, was er in einer neuen Stadt
machte, kleine Stundenreiſen um ſie herum. Hatt'
er aber lange da gewohnt, ſo lief er zu Zeiten in
eine neue Gaſſe ein, und machte ſich mit beſonde¬
rem Vergnuͤgen glaublich, er ſei eben auf Reiſen
in einer ganz fremden Stadt, aus der er noch da¬
zu die Freude hatte, in ſeiner anzulangen, ſobald
er nur um die Ecke umbog. Ja ſah er nicht traͤu¬
[47] mend dem Laufe der Chauſſeen nach, die wie
Fluͤſſe die Landſchaft ſchmuͤcken, weil ſie, wie die¬
ſe, ohne wohin und woher unendlich ziehen,
und das Leben ſpiegeln? — Und dacht' er jezt
nicht, auf einer davon geht das ſtille Maͤdgen da¬
hin, und ſieht den blauen Himmel und den Vater
an und denkt an vieles? —
Nur war er lange in Zweifel und Skrupel,
ob's nicht Suͤnde ſei, das wenige von den Eltern
und Inſtrumenten gewonnene Geld blos vergnuͤgt
zu verreiſen, zumal da der Bruder Vult nach ſei¬
ner Gewohnheit wieder anfieng, nicht viel zu ha¬
ben. Er las alle moraliſchen Regeln des reinen
Satzes genau durch, um zu erfahren, ob er dieſe
ſuͤßtoͤnende Ausweichung oder dieſe Quinten-Fort¬
ſchreitung von Luſt zu Luſt in ſein Kirchenſtuͤk
aufnehmen duͤrfe; und noch war er unentſchie¬
den; als Flitte alles dadurch entſchied, daß er
den Stadtthuͤrmer, bei welchem er wohnte, zu
ihm ſchikte und ſagen ließ, er liege auf dem Ster¬
bebette und wuͤnſche noch dieſen Abend ſein Teſta¬
ment durch einen Notar zu machen.
Wenn die Welt hinter dem Notar den Thurm
[48] beſteigen ſoll, wo der Elſaſſer ſich toͤdtlich gebettet,
ſo muͤſſen ihr vorher, ohne lange daruͤber zu re¬
den, die nothwendigſten Treppen hingeſtellt wer¬
den, die zu ſeinem Lager bringen; alles war ſo:
Das Gluͤk iſt ein ſo ſchlechter Freund, als
deſſen Guͤnſtlinge — die Natur giebt den Weiſen
auf die Lebensreiſe zu wenig Diaͤtengelder mit —
Flitte war ein ſolcher Weiſer, und wiewohl er
laͤngſt die Regel kannte, daß das Ende des Gel¬
des wie das eines Parks geſchikt verborgen werden
muͤſſe: ſo fehlt' ihm doch der allgemeine nervus
rerum gerendarum zu dieſer Liſt.
In Staͤdten, wo Flitte nur durchflog, ver¬
mocht' er leichter etwas, und waͤr' es auch nur
dadurch geweſen, daß er ſich als ſeinen eigenen
reichen Bedienten ankleidete und ſich ſelber anmel¬
dete, als ſeinen Herrn, und zum zweitenmal ohne
den Kerl wieder kam. In Haslau that es ihm
einen Monat lang gute Dienſte, daß er auf ſeine
Koſten einen Teich abziehen und darin nach einem
koſtbaren Tafelſteine ſtochern und wuͤhlen ließ,
den er wollte hinein verloren haben. Aber der
Hunger, der eben ſowohl als Philipp II, zumal
[49] unter des leztern Regierung, der Mittagsteu¬
fel heiſſen ſollte, und noch mehr der Kleiderteu¬
fel, und jeder Tag hatten ihm allmaͤlich ein an¬
ſtaͤndiges Gefolge von Lehnlakaien oder valets
de fantaisie, das immer hinter ihm gieng unter
dem bekannten Namen Glaͤubiger, in die
Dienſte gefuͤhret und zugewaͤlzt. Oft ſchikten
dieſe wahren Kammer-Mohren ihre eignen
Laden- und andere Diener als Mephiſtophileſſe,
die, ohne zitirt zu ſeyn, ihn ſelber zitirten.
Deswegen zog er auf den Glockenthurm —
ſeinen Schuldthurm —, um durch die unzaͤhligen
Treppen manche Beſuche zu verleiden, oder aus
dem Glockenſtuhle vorauszuſehen. Unten in der
Stadt ſchwur er ſtets, er hab' es gethan, um
eine ſchoͤne freie Ausſicht zu genieſſen, ſo ſehr
er auch die Beſchwerden ſich vorher habe denken
koͤnnen.
Unter ſeinen Glaͤubigern war nun ein junger
Arzt, Namens Hut, der ſich ſehr aufblies und
der wenige Patienten hatte, weil er ihnen das
Sterbliche auszog und ſie verklaͤrte. Dieſer Hut
hatte den vier groſſen Browniſchen Kartenkoͤnigin¬
Flegeljahre III. Bd. 4[50] nen ſeine vier ganzen Gehirnkammern eingeraͤumt
— der Sthenie die erſte vorn heraus — der Hy¬
perſthenie die zweite — der Aſthenie die dritte —
der Hyperaſthenie die vierte als wichtigſte, — ſo
daß die vier groſſen Ideen ganz bequem allein oh¬
ne irgend eine andere dann hauſen konnten. Gleich¬
wohl macht' er mit der heiligen Tetraktys von 4
mediziniſchen ſyllogiſtiſchen Figuren, ſelber noch
keine ſonderliche; der alte Spaß uͤber den Doktor¬
hut des D. Huts wurde ſtets erneuert.
Der galante Flitte that nun ſeinem Glaͤubi¬
ger folgenden Antrag: „die Stadt ſtecke voll Vor¬
urtheile — er ſelber in leichten Schulden — ge¬
ſezt aber, er ſtelle ſich ein wenig toͤdtlich krank,
und mache ſein Teſtament: ſo heile erſtlich durch
einen Betrug ſich die Stadt von ihrem Selbſtbe¬
trug, wenn H. Dr. Hut ihn oͤffentlich wieder
herſtelle, und er ſelber zweitens, wenn er ſein
Vermoͤgen dem Hofagent Neupeter vermache, ge¬
winne dieſen nach der ſchon laͤngſt gewonnenen
Tochter und koͤnne ſie heirathen und Herrn Hut
leichter bezahlen. Der Doktor gieng weigernd
den Antrag ein.
Nach wenigen Tagen erkrankte der Elſaſſer
ſehr toͤdtlich — erbrach ſich — aß und trank nichts
mehr (ausgenommen in ſeltenen einſamen Augen¬
blicken) — nahm das Abendmahl, das er und
andere, wie er dachte, ja auch in geſunden Ta¬
gen naͤhmen. Endlich mußte zum Notar in der
Nacht geſchikt werden, damit er den lezten Wil¬
len aufſezte.
Walt erſchrak; Flittens tanzende bluͤhende
Jugend hatt' er geliebt und ihn dauerte ihre Nie¬
derlage. Schwer, ſchwuͤl, bewoͤlkt legt' er den
langen hohen Treppen-Gang zuruͤk. Die dicke
Glocke ſchlug 11 Uhr, und ihm klang's, als be¬
wegte der Todesengel den Leichen-Kloͤppel darin.
Matt und leiſe und geſchminkt (aber weiß) lag
der Elſaſſer da, unter ſieben Teſtir-Zeugen, wo¬
von der Fruͤhprediger Flachs auch einer war, der
es mit ſeinem blaſſen langen Geſicht zu keinem
Veſperprediger bringen konnte.
Walt nahm ſtumm voll Mitleids des Pa¬
zienten Hand mit der Rechten und zog mit der
Linken ſein Petſchaft und Papier aus der Taſche;
und uͤberzaͤhlte mit den Augen kurz die Zeugen.
[52] Er foderte drei Lichter, weil ſie das promptua¬
rium juris von ihm foderte zu Nachtteſtamen¬
ten; war aber mit Einem elenden zufrieden, weil
auf dem ganzen Leucht-Thurm kein zweites zu
haben ſtand, desgleichen kein drittes, und er viel
zu mitleidig und zu eilig war, jemand in die Nacht
und den Thurm herabzuſchicken nach Licht.
Der Kranke fieng an, das erſte Vermaͤchtnis
zu diktiren, nach welchem dem Kaufmann Neupe¬
ter Flittens ganze Dividende am laͤngſt erwarteten
weſtindiſchen Schiffe zuſtarb, desgleichen ein ver¬
ſiegeltes mit OUF bezeichnetes Juwelenkaͤſtgen,
das von den Gebruͤdern Heiligenbeil in Bremen
abzufodern war. — Es war ſichtbar, daß Flitte,
obwohl halb todt, doch uͤberall auf diktirte gut
ſtiliſirte Schreibart ausgieng. — Aber Walt mu߬
te einhalten und einen Loͤffel Waſſer fordern, um
einige Dinte aus dem Dintenpulver zu machen,
in das er eintunkte. Als die Dinte fertig war,
fand er wieder ſehr ungern, daß die neue ganz
anders ausſehe als die alte, und daß er ſo das
Inſtrument — geradezu entgegen allen Notariats-
Ordnungen — mit doppelter Dinte hinſchreibe.
[53] Gleichwohl bracht' er's nicht uͤber ſein hoͤfliches
Herz, alles zu zerreiſſen und von neuem anzu¬
heben.
Darauf teſtirte der Kranke dem duͤrftigen
Flachs ſeine ſilbernen Sporen und ſeinen mit See¬
hund bezognen leeren Koffer, und die Reitpeitſche.
Dem D. Hut vermacht' er alles, was er an Aktiv-
Schulden in der Stadt zu fodern hatte.
Er mußte innen halten, um einige Kraͤfte zu
ſchoͤpfen. „Auch vermach' ich dem H. Notar Har¬
niſch, hob er mit ſchwacher Stimme wieder an,
fuͤr das Vergnuͤgen ihn zu kennen, alles, was
ſich theils an Baarſchaft, theils an Wechſeln nach
meinem Tode bei mir vorfinden mag, und was
ſich gegenwaͤrtig nicht uͤber 20 Friedrichsd'or be¬
laufen wird, daher ich ihn bitte vorlieb zu neh¬
men, und meinen goldnen Fingerring noch bei¬
fuͤge.“
Walt konnte kaum die Feder fuͤhren; und
wollt' es auch nicht mehr; denn er verroͤthete,
vor ſo vielen Zeugen, und von einem ſterbenden
Menſchen, dem er nichts vergelten konnte, ſo an¬
ſehnlich beſchenkt zu werden; er ſtand auf, druͤkte
[54] ſtumm vor Mitleiden und Liebe die gebende Hand
und ſagte: nein, und bat ihn, doch einen Arzt
zu waͤhlen.
„Dem Hrn. Stadtthuͤrmer Heering“ — woll¬
te Flitte fortfahren, ſank aber geſchwaͤcht durch
Sprechen aufs Kiſſen zuruͤk. Heering ſprang her¬
bei, lockerte die Kiſſen beſſer auf und ſezte den Pa¬
zienten ein wenig in die Hoͤhe. Es ſchlug 12 Uhr;
und Heering ſollte nachſchlagen; aber er wollte in
einen ſolchen Aktus nicht haͤmmern auf der Glocke,
ſondern erhielt Stille, damit man den Teſtirer
forthoͤre: „ihn alſo bedenk' ich mit meinem feinen
weiſſen Zeuge, desgleichen mit allen meinen Klei¬
dern — nur die Reitſtiefel gehoͤren der Magd —
und alles was noch von einer reichbeſezten Taba¬
tiere in meinem Koffer uͤbrig bleibt, wenn man
davon Leichen- und andere Koſten beſtritten hat.“
Bald nach einigen Legaten und nach den For¬
malitaͤten, die den lezten Willen eines Menſchen
noch mehr erſchweren als den ſchlimmſten vorher,
war alles abgethan. Noch drang der ſichtbar
mehr ermattende Elſaſſer darauf, daß der Notar
jezt alle ſeine Effekten mit dem Notariatsſiegel zu¬
[55] petſchiere. Er thats, da ihm alle Promptuarien,
ſowohl von Hommel als Muͤller, dafuͤr buͤrgten,
daß er's koͤnne.
Es war ihm bitter, von dem armen luſtigen
Vogel — der ihm Feder und goldne Eier zuruͤk¬
ließ — zu ſcheiden, und ihn ſchon in den Krallen
der rupfenden Todes-Eule um ſich ſchlagen zu
ſehen. Heering leuchtete ihm und ſaͤmtlichen Zeu¬
gen herab. „Mir will's ſchwanen, ſagte der
Thuͤrmer, daß er die Nacht nicht uͤberſteht; ich
habe meine kurioſen Zeichen. Ich haͤnge aber mor¬
gen fruͤh mein Schnupftuch aus dem Thurme,
wenn er wirklich abgefahren iſt.“ Schauerlich
trat man die langen Treppenleitern durch die lee¬
ren dumpfen Thurm-Gekluͤfte, worin nichts war,
als eine Treppe, herunter. Der langſame eiſerne
Perpendikelſchlag, gleichſam das Hin- und Her¬
maͤhen der an die Uhr gehangenen Eiſen-Senſe
der Zeit, — das aͤuſſere Windſtoſſen an den Thurm
— das einſame Gepolter der 9 lebendigen Men¬
ſchen — die ſeltſamen Beleuchtungen, die die ge¬
tragene Laterne durch die oberſte Empor hinunter
in die Stuhlreihen flattern ließ, in deren jeder ein
[56] gelber Todter andaͤchtig ſitzen konnte, ſo wie auf
der Kanzel einer ſtehen, — und die Erwartung,
daß bei jedem Tritte Flitte verſcheiden und als
bleicher Schein durch die Kirche fliegen koͤnne, — —
das alles jagte wie ein banger Traum den Notar
im duͤſtern Lande der Schatten und Schrecken um¬
her, daß er ordentlich von Todten auferſtand, als
er aus dem ſchmalen Thurme unter den ofnen
Sternenhimmel hinaustrat, wo droben Auge an
Auge, Leben an Leben funkelte und die Welt wei¬
ter machte. —
Flachs, als Geiſtlicher von den vier lezten
Dingen mehr lebend als ergriffen, ſagte zu Walt:
„Sie haben Gluͤk bei Teſtamenten“. Aber dieſer
bezog es auf ſeinen Stil und Stand, er dachte
an nichts, als an das naͤrriſche huͤpfende Lebens-
Karnaval, wo der zu ernſthafte Tod am Schluſſe
den Taͤnzern nicht nur die Larven abzieht, auch
die Geſichter. Im Bette betete er herzlich fuͤr den
jezt kaͤmpfenden Juͤngling um einige Abendroͤthe
oder Fruͤhlingsſtralen in der wolkigen Stunde,
welche auf jeden Menſchen, wie ein unendlicher
Wolkenhimmel ploͤzlich oben herunter faͤllt und
[57] ihn zugehuͤllt aufloͤſet. Er druͤckte dabei feſt die
Augen zu, um uͤber nichts zufaͤlliges etwan zu¬
ſammen zu ſchaudern.
Nro. 38. Marienglas.
Raphaela.
Als Gottwalt erwachte, hatt' er anfangs
alles vergeſſen, und die Abendberge vor ſeinem
Bettfenſter ſtanden ſo roth im Morgenſchein, daß
ſein Wunſch der Reiſe wieder kam — darauf der
Einwurf der Armuth — endlich der Gedanke,
daß er aber ja uͤber 20 Louisd'or gebiete. Da
ſah er nach dem Stadtthurm, worauf als ei¬
nem caſtrum doloris nun der verſtorbne Flit¬
te liegen konnte, und wollte traurig auf¬
blicken.
Aber ſein Geſicht blieb aufgeheitert, ſo mit¬
leidig er auch die Augen aufzog; die romantiſche
Reiſe in ſolchen blauen Tagen — in ſolchen
Verhaͤltniſſen — ſo ploͤzlich geſchenkt — das
war ihm ein Durchgang durch die helleſte Gluͤcks¬
[58] ſonne, wo es Licht ſtaͤubt und man ſich ganz
mit Flimmern uͤberlegt.
Ganz verdruͤslich zulezt daruͤber, daß er
nicht traurig werden wollte, fuhr er ohne Gebet
aus den Federn, und hoͤrte ſein Herz ab. Er mochte
aber fragen und zanken, ſo lang' er wollte, und
dem Herzen den blaßen jungen Leichnam auf
dem Thurme hinhalten, und deſſen zugedruͤckte
Augen, die mit keiner Morgenſonne mehr auf¬
giengen: es half gar nichts, die Reiſe und mit¬
hin die Reiſegelder behielten ihren Goldglanz,
und das Herz ſah ſehr gern hinein. Endlich
fragt' er aufgebracht, ob es denn, wie er ſehe,
des Teufels lebendig ſei und ob es, wenn es
koͤnnte, etwa den armen Teſtator nicht ſogleich
und mit Freuden rettete und aufbraͤchte? Man
beſaͤnftigte ihn ein wenig durch die Antwort:
mit Freuden und auf der Stelle. Hier fiel ihm
das Verſprechen des Thuͤrmers ein, ein weiſſes
Schnupftuch als Trauerflagge am Thurme aus¬
zuſtecken, wenn der junge Menſch verſchieden
waͤre. Da er aber droben keines fand, und doch
daruͤber einige Freude verſpuͤrte: ſo entlies er das
[59] arme verhoͤrte Herz und war ordentlich auf ſich
aͤrgerlich, ohne Noth dem ehrlichen guten Schelm
ſo zugeſezt zu haben.
Er haͤtt' aber nur dieſen Schelm fragen
ſollen, wie ihn bei zehnmal groͤßerer Erbſchaft,
z. B. der Tod des Bruders geſtimmt haben
wuͤrde: ſo wuͤrd' er, wenn er gefunden haͤtte,
daß dann die Laſt viel zu ſchwer, der Kopf zu
gebeugt geweſen waͤre, um nur etwas anderes
zu ſehen, als das Grab und den Verluſt, leicht
den Schluß gezogen haben, daß nur die Liebe
den Schmerz erſchaffe, und daß er vergeblich
einen zu großen, bei einer zu kleinen fuͤr den El¬
ſaſſer von ſich gefordert.
Izt ſah er ein weiſſes Schnupftuch, aber
nicht am Thurm, ſondern an Raphaelen, die
im Parke traurig luſtwandelte, und welcher
die modiſche Taſchenloſigkeit das Gluͤck gewaͤhr¬
te, dieſen Schmuͤcklappen des Gefuͤhls, dieſe
Flughaut der Phantaſie in der Hand zu haben.
Sie ſah oft nach dem Thurme, einigemal an
ſein Fenſter, gruͤſt' ihn mitten im Schmerz; ja
als wenn ſie ihm winke, hinunter zu kommen,
[60] kam es ihm vor, aber nicht glaublich genug,
weil er aus engliſchen Romanen wuſte, wie
weit weibliche Zartheit gehe. Indeß kam Flora
und bat ihn wirklich hinab.
Er gieng zur Bewegten als ein Bewegter.
„Ich denke mir leicht, dacht' er ſich auf der
Treppe, wie ihr iſt, wenn ſie an den Stadt¬
thurm ſieht, und droben den Einzigen Menſchen
bald aufgebahret glauben muß, der nur durch
eine herzlichſte Liebe, wie eine muͤtterliche gegen
ein misgeſchafnes Kind, den Eindruck ihrer
Widrigkeit ſchoͤn uͤberwand.“ — „Verzeihen Sie
meinen Schritt — fieng ſie ſtockend an, und nahm
das Schnupftuch, dieſe Schuͤrze eines troknen
Herzens, von den feuchten Augen weg, — wenn
er Ihnen mit der Delikateſſe, die mein Geſchlecht
gegen Ihres behaupten muß, ſollte zu ſtreiten
ſcheinen.“
Schade oder ein Gluͤck war's, daß ſie gera¬
de dieſe Phraſis nicht dem haſtigen Quoddeus
Vult ſagte; denn da es ſchwerlich in Europa
oder in Paris oder Berlin, einen Mann gab,
der es in dem Grade ſo verfluchte — und er¬
[61] rieth — als er, wenn eine Frau beſtimmt auf
ihr Geſchlecht und auf das fremde und auf die
noͤthigen Zartheiten zwiſchen beiden hinwies und
es haͤufig anmerkte, wie da mancher Handkuß
ſie eine unreine Seele errathen laſſe, dort man¬
cher wilde Blick, und wie das zaͤrtere Geſchlecht
ſich gar nicht genug decken koͤnne: ſo wuͤrde der
Floͤtenſpieler ohne Umſtaͤnde geaͤuſſert haben:
„eine freimuͤthige H — ſei eine kecke Heilige gegen
ſolche Abgruͤnde feiger und eitler Sinnlichkeit zu¬
gleich — er kenne dergleichen Herzen, welche das
Schlimme argwohnen, um nur es ungeſtraft
zu denken, die es woͤrtlich bekriegen, um es
laͤnger feſt zu halten, — ja manche ſehen ſich
wohl gar in der Arzneikunde ein wenig um, da¬
mit ſie im Namen der Wiſſenſchaft (dieſe habe
kein Geſchlecht) ein unſchuldiges Wort reden
koͤnnen — und lagern ſich vor dem Altar und
uͤberall wie Friedrich II ſo ſchlachtfertig, en
ordre de bataille, wie auf dem Sopha.“ —
„Warlich, ſezt' er dazu, ſie gehen ins leibliche,
oder ins geiſtige Zergliederungshaus, um die
Leichen zu — ſehen. „Unſchuld, nur, wenn
[62] du dich nicht kennſt, wie die kindliche, dann
biſt du eine; aber dein Bewuſtſein iſt dein
Tod.““
So ſcheint gleichnisweiſe, zermalmtes
Glas ganz weis, aber ganzes iſt beinahe
gar unſichtbar.
So dachte aber nicht Walt: ſondern als
Raphaela an ihn die obige Anrede gehalten, gab
er die aufrichtige Antwort, daß er nicht einmal
bei ſeinem eignen Geſchlechte, geſchweige bei dem
heiligſten, das er kenne, irgend einen Schritt
anders auslege, als das fremde Herz be¬
gehre.
Indeß hatte ſie ihn weiter nichts zu fragen,
als: wie der Sterbende — dem ſie als einem
Freunde ihres Vaters wohl gewollet, wie allen
Menſchen und den ſie ſehr bedauert — ſich in
der Nacht bei ſeinem lezten Willen (wovon durch
die ſieben Zeugen, als durch ſieben Thore eben
ſo viele Brode hinlaͤnglicher Nachrichten der
Stadt herausgereicht waren) ſich benommen ha¬
be, was ſie gern zu wiſſen wuͤnſche, da ein
Sterbender ein hoͤheres Wort ſei als ein Le¬
bender.
Der Notar antwortete gewiſſenhaft, das
heiſſet als ein Notar, und ſagte, er hoffe, nach
dem Schnupftuch zu ſchließen, er ſei noch leben¬
dig. Sie berichtete, daß der D. Hut, der geru¬
fen worden, ihn zwar angenommen, aber als ei¬
nen verlornen Menſchen, und ſie wuͤnſchte dem
Doktor, mit ihrem weichen Leumund, keine un¬
gluͤckliche Kur.
„Das iſt doch ſchon was, und die uͤberleb¬
te Nacht dazu“ verſezte Walt ganz wohlge¬
muth. Aber ſie verſicherte, ſie troͤſte ſich leider
nicht ſo leicht und ſie ſei uͤberhaupt ſo ungluͤck¬
lich, daß das fremde Leiden, auch das kleinſte
ihrer Verwandten, ſie heftig angreife und ſie
Thraͤnen koſte. Sie brach in einige aus; ſie
wurde von ſich ſo leicht, als von andern ſchwer
geruͤhrt. Auch iſt das Sprechen von Weinen
bei Weibern ein Mittel zum Weinen. Der No¬
tar war ſeelenvergnuͤgt uͤber alle die Ruͤhrungen
die er theils ſah, theils theilte. Liebes Frauen-
Weinen war ihm eine ſo ſeltene Koſt, als langer
gruͤner Ungar, Nierenſteiner Hammelhoden,
Wormſer liebe Frauen-Milch oder andere Wei¬
[64] ne, die bei H. Kaufmann Corthum in Zerbſt zu
haben ſind. Er blikte ihr mit allen Zeichen des
theilnehmenden Herzens in ihre Augen voll Waſ¬
ſer-Feuer, und haͤtte wohl gewuͤnſcht, die Deli¬
kateſſe engliſcher Romane verſtattete ihm, ihre
zarte weiſſe Hand in etwas zu faſſen, welche
vor ihm ſtark im beſonnten Gruͤne gaukelte, und
in den Thau der Gebuͤſche fuhr, und darauf ins
Haar, um es damit nach der Vorſchrift eines
Englaͤnders wie andere Gewaͤchſe zu ſtaͤrken.
Beide ſtellten ſich jezt — der Pyramide und
dem ſteinernen Grosvater auf der Inſel gegen¬
uͤber — an eine Urne aus Baumrinde. Raphae¬
la hatte eine Leſetafel mit der Inſchrift: „bis
daher dauere die Freundſchaft“ daran gemacht.
Sie ſchlang den Arm aufwaͤrts um die Urne,
ſo daß er immer ſchneeweiſſer wurde durch
Bluts-Verhalt, und verſicherte, hier denke ſie
oft an ihre ferne Wina von Zablocki, die ihr
leider jaͤhrlich zweimal, durch die Michaelis-
und die Oſtermeſſe, nach Leipzig vom Generale
entfuͤhret werde, ſeinem Vertrage mit der Mut¬
ter zufolge. Ohne ihr Wiſſen war ihr Ton
[65] durch langes Beſchreiben der Schmerzen ganz
munter geworden. Walt lobte ſehr ihre Freund¬
ſchaft und ihre — Freundin. Sie erhob die
Freundin noch gewaltiger als er. Da konnt' er
nicht laͤnger mit dem anſchwellenden Herzen blei¬
ben. Mit Zuruͤckberufung des alten Klagetons
und einem Trauerblik gegen den Thurm ſchied
ſie von dem Juͤngling.
In dieſem aber wurde ein Flug von Daͤm¬
merungsvoͤgeln — um ſeine Ideen ſo zu nen¬
nen — wach und flog ihm 36 Stunden lange
dermaßen um ſeinen Kopf, daß er ihnen nicht
anders zu entkommen wuſte, als — zu Fuß,
durch eine Reiſe. Winas lebendigeres Bild —
die September-Sonne, die aus blauem Aether
brannte — moͤgliches Reiſegeld — und ein gan¬
zes wuͤnſchendes Herz, das alles auf der einen
Seite — und auf der andern und ſchlimmen D.
Huts lautes Bedauern und Rezeptiren — Flit¬
tes laute Agonien — Heerings peinliches
Schnupf- oder Bahrtuch, das jede Minute flat¬
tern konnte — Walts verſaͤumte poetiſche Sing-
Stunden (denn was war in ſolcher Kriſis zu
Flegeljahre III. Bd. 5[66] dichten?) — viele geſperrte Traͤume — und end¬
lich 36 innere Fecht-Stunden dazu — — ſo
viel und nicht weniger muſte ſich in einander
hacken, damit Walt, weil's nicht mehr auszu¬
halten war, keine weitere Umſtaͤnde machte, ſon¬
dern zwei noͤthige Gaͤnge, den erſten zu den Te¬
ſtaments-Vollſtreckern, um den dritten langen
anzuſagen als Notariats-Pauſe; und darauf
den zweiten zum Floͤtenſpieler, um ihm hun¬
dert Anlaͤſſe zur Reiſe, und die Reiſe zu
melden.
Beide Bruͤder freuten ſich wochenlang auf
alles, was jeder nun dem andern Geſchichtliches
werde zu erzaͤhlen haben, wenn er wochenlang
weggeweſen; jezt war Walt der Geber. Vult
hatte ſich uͤber viel zu wundern. Sehr ſchwer
fiel' es ihm, die juriſtiſche Regel, daß Worte
eines Sterbenden Eiden gleich gelten wie die ei¬
nes Quaͤkers, auf den prahlenden Flitte anzu¬
wenden; indeß blieb ihm die Angel verdeckt, um
welche ſich die ganze Taͤuſchung drehte. „Mir
iſt, ſagt' er, als haͤtten die Narren dich zum
— Weiſen; ich weiß aber nicht wo. Um Got¬
[67] teswillen, junger Menſch, ſei eine Kutſche, (fol¬
ge einem aͤltern) und habe hinten dein rundes
Fenſtergen, damit kein Dieb dir Geld abſchnei¬
det oder Ehre.“
Ich habe leider nichts zu erzaͤhlen, ſagte
Vult.
Aber der Notar konnte zum Gluͤck noch viel
Mittheilen. Er erzaͤhlte chronologiſch — denn
Vult gebot's, weil jener ſonſt alles ausließ —
und mit hoͤchſter Behutſamkeit — denn Walt
kannte deſſen unmetriſche Haͤrten gegen Weiber —
Raphaelens Geſpraͤch. Allein es half wenig; er ha¬
ſte alles Neupeter'ſche und beſonders das weibliche.
„Raphaela, ſagt' er, iſt lauter Lug und Trug.“
— „Und einer ſo armen Haͤslichen, verſezte
Walt, koͤnnt' ich einen vergeben, obgleich we¬
der mir noch einer noch einem Geliebten.“ —
„Sie will nur, das mein' ich — fuhr Vult
fort — ſich auf ihre innere Bruſt bruͤſten, und
waͤhrend Ein Liebhaber ausloͤſcht, einen Suk¬
zeſſor im 'truͤben Thraͤnenwaſſer erfiſchen. Ein
Weib iſt ein weiblicher Reim, der ſich auf
zwei Laute reimt; ein maͤnnlicher auf einen.
[68] Es iſt nicht viel beſſer, Alter, als wenn ſie als
Falkenier zu dir Falken ſagte, und ſich als Tau¬
be dir vorwuͤrfe: rupf' an, Maͤnngen!“
„Die Moͤglichkeit ſolcher Taͤuſchungen —
ſagte Walt — ſeh' ich wohl auch voraus, und
dein Argwohn iſt mir oft nichts neues; aber
uͤber die Wirklichkeit in jedem Falle, dar¬
uͤber iſt der Skrupel. Und Liebe kann ja eben
ſo wohl ſtimmen als Haß verſtimmen. Iſt Ra¬
phaelens Freude uͤber mein Lob auf ihre Freun¬
din kein ſchoͤnes Zeichen?“ — „Nein, ſagte
Vult. Nur eine Schoͤnheit iſt an ausſchlieſſen¬
de Grade des Lobes und Feuers verwoͤhnt und
haſſet jede Unvollſtaͤndigkeit und Theilung der
fremden Empfindung; aber eine untergeordnete
Geſtalt iſt genoͤthigt zur Zufriedenheit mit mitt¬
lern Stufen, und vergiebt manches, ausgenom¬
men manches.“
Walt hatte nichts weiter zu berichten, als
ſeinen Plan, den reinen Himmel zu athmen auf
einigen Tagreiſen, wo er auf nichts ausgehe,
als auf den Weg. Vult genehmigte ihn ſtark.
Jener wollte ſehr ſcheiden; aber der Floͤtenſpieler,
[69] durch Reiſen der Abſchieds-Abende gewohnt,
machte nicht viel Weſens, ſondern ſagte luſtig:
fahre dahin, fahre daher, gute Nacht, gluͤckli¬
che Reiſe.“
Die ſchoͤnſten Reiſe-Winke ſtanden am Him¬
mel. Glaͤnzend-ſcharf durchſchnitt die Mond-
Sichel der Abendblumen das Blau; friſche Mor¬
genluft ſtrich ſchon uͤber dunkelrothen Wolken-
Beeten am Himmel; und ein Stern nach dem
andern verhieß einen reinen Tag.
Nro. 39. Papiernautilus.
Antritt der Reiſe.
Am Morgen ſah er auf der Schwelle reiſe¬
fertig noch einmal ſeine dunkle weſtliche Stube
an, darauf ſogar in die Kammer hinein, und
flog mit zwei liebreichen Blicken, die einen Ab¬
ſchied bedeuten ſollten, und mit einem an den
Thurm, dem der Tod noch kein Schnupftuch zu¬
geworfen, freudig auf einen leeren Plaz am
Thore hinaus, wo er ſich uͤberall umſehen, und
[70] unter den vier Holz-Armen eines Wegzeigers,
bei ſich feſtſetzen konnte, wohin er gegenwaͤrtig
gedenke, ob nach Weſten, Norden, Nordoſten,
oder Oſten; aus Suͤden, dem Stadtthor, kam er
aber [h]er.
Seine Hauptabſicht war, den Namen der
Stadt gar nicht zu wiſſen, der er etwa unter
Wegs aufſtieß, desgleichen der Doͤrfer. Durch
eine ſolche Unwiſſenheit hoft' er ohne alles Ziel
unter den geſchlaͤngelten Blumenbeeten der Reiſe
umher zu ſchweifen, und nichts zu begehren ſo
wie zu beſehen, als was er eben habe — in ei¬
nem fort bei jedem Tritte anzukommen — ſich
in jedes goldgruͤne Luſt-Waͤldgen zu betten,
und ſtaͤnd' es hinter ihm — in jeder Ortſchaft
ſelber den Namen der Ortſchaft zu erfragen, und
daruͤber ſich ganz heimlich zu ergoͤtzen — und
dabei, bei ſolchen Maasregeln in einem ſolchen
Strich Landes, der vielleicht mit Landhaͤuſern,
Irrgaͤrten, Tharanden, plauiſchen Gruͤnden vor¬
her, Bergſchloͤſſern voll herunterſehender Fraͤu¬
leins-Augen, Kapellen voll aufgehobner Beter-
Augen und uͤberhaupt mit Pilgern, Zufaͤllen
[71] und Maͤdgen ordentlich uͤberſaͤet ſein konnte, in
romantiſche Abentheuer von ſolcher Zahl und
Guͤte hinein zugerathen, als er freilich nie erwar¬
ten wollen.
„Mein guter Unendlicher in deinem blauen
Morgenhimmel, betete er in ſeiner durchdringen¬
den Entzuͤckung, laſſe doch die Freude dasmal
nichts vorbedeuten.“
Er hatte ſich in Acht genommen, an den
Wegweiſer hinauf zu ſehen, der wie ein Affe vier
Arme hatte, um nicht etwa an den abgewaſche¬
nen Armroͤhren einer Stelle anſichtig zu werden,
von welcher die Zeit, beſonders die Regenzeit,
den Namen der Poſt-Stadt noch nicht rein weg¬
gerieben hatte. Am welt- und geiſtlichen Arm-
Paar waͤr' er dieſe Gefahr nicht gelaufen, ſon¬
dern dieſes zeiget allgemeiner ins Blaue.
In Norden lag Elterlein; in Oſten ſtanden
die Peſtizer oder Lindenſtaͤdter Gebuͤrge, uͤber
welche die Straſſe nach Leipzig — auch eine Lin¬
denſtadt — weglief; zwiſchen beiden nun nahm
der Notar den Weg, um die Hoͤhen, hinter wel¬
chen die holdſelige Wina jezt rollte oder ruhte,
[72] niemals aus den Augen zu verlieren, welche bald
aus Blumenkelchen, bald aus Wolken auf Ge¬
buͤrgen trinken wollten. — Ein Gluͤck iſt's fuͤr den
gegenwaͤrtigen Beſchreiber der Reiſe und des Rei¬
ſenden, daß Walt ſelber fuͤr ſein und des Floͤ¬
teniſten Vergnuͤgen ein ſo umſtaͤndliches Tage-
oder Sekunden-Buch ſeiner Reiſe gleichſam als
ein Opfer- und Sublimier-Gefaͤß des Lebens
vollgefuͤllt, daß ein anderer weiter nichts zu
thun braucht, als den Deckel dieſem Zucker- und
Mutterfaſſe auszuſchlagen und alles in ſein Din¬
tenfaß einzulaſſen fuͤr jeden, der trinken will.
Der leidende Menſch hat einen Erfreueten noͤthig
— der Erfreuete in der Wirklichkeit einen in der
Poeſie — und dieſer, wie Walt, verdoppelt ſich
wieder, wenn er ſich beſchreibt.
„Faſt wollt' ich hoffen, ſo faͤngt Walt das
Sekunden- und Terzienbuch an Vult an, daß
mein liebes Bruͤderlein mich nicht auslachen wer¬
de, wenn ich meine unbedeutende Reiſe nicht ſo
wohl in deutſche Meilen als ruſſiſche Werſte ab¬
theile, welche als bloße Viertelſtunden freilich
ſehr kurz ſind, aber doch nicht zu kurz, ich mei
[73] ne fuͤr einen Menſchen auf der Erde. So wie
es nicht auszukommen waͤre mit dem fluͤchtigen
Leben, wenn man es, ſtatt an Minuten- und
Stunden-Uhren, lieber an Achttage- oder gar
Saͤkular-Uhren abmaͤße, gleichſam einen kurzen
Faden an ungeheuern Welt-Raͤdern: ſo moͤchte
man, zumal wenn ein Reich es thut, dem es
am wenigſten an Raum fehlt, das ruſſiſche,
dieſelbe Entſchuldigung haben, wenn man, da der
kleine Fuß und der Schuh des Menſchen ſo¬
wohl ſein eignes Maas als das ſeiner Wege iſt,
fuͤr bloße Fußreiſen die Werſte zum Wegmeſſer
erwaͤhlt. Die Ewigkeit iſt ganz ſo groß als die
Unermeslichkeit; wir Fluͤchtlinge in beiden haben
daher fuͤr beide nur Ein kleines Wort, Bruder,
Zeit-Raum.“
Als er ſeine erſte Werſte nordoͤſtlich antrat,
Winas Gebuͤrge und die Fruͤh-Sonne zur Rech¬
ten und mitlaufende Regenbogen in den bethaue¬
ten Wieſen zur Linken: ſo ſchlug er die Haͤnde
als Schellen einer morgenlaͤndiſchen Muſik gegen
einander vor Luſt und wurde ſo leicht und be¬
hend von ſich ſelber dahin getragen, daß er kaum
[74] aufzutreten brauchte! Laͤuferſchuhe und Hoſen¬
ſaͤcke der Ohnehoſen geben dem Menſchen, wenn
er ſonſt lange Stiefel und kurze Hoſen trug,
faſt Fluͤgel. Sein Geſicht war voll Morgenluft
und ein Orient der Phantaſie war in ſeinen Bli¬
cken gemahlt. Sein ſaͤmmtliches Muͤnzkabinet
oder Studentengut hatt' er eingeſteckt, als Sur¬
plus- und Operazionskaſſe, um an dieſer Geld-
Kaze einen Schwimm-Guͤrtel fuͤr alle Hoͤllen-
und Paradieſes-Fluͤſſe zugleich zu haben. Er
bewegte ſich durch das widerſtrebende Leben ſo frei
wie der Schmetterling uͤber ihm, der nichts
braucht als eine Blume und einen zweiten Schmet¬
terling. Der Kunſtſtraße, woran er einen gan¬
zen Klumpen Reformatoren und Weg-Frotteurs
ſtampfen und klopfen ſah, gieng er aus dem
Wege, weil er ſich nicht damit plagen wollte,
entweder Einen Morgengrus lang durch ſie hin¬
zuziehen, oder den naͤmlichen laͤcherlich immer
von neuem zu ſagen, und doch wohl falſch ab¬
zuſetzen. Huͤgelauf, Thalein lief er in naſſen
Gras-Bluͤthen und verlohr und erhielt abwech¬
ſelnd die Stadt, von welcher er indeß wuͤnſchte,
[75] daß er ſie endlich einbuͤſte, weil ihm ſonſt immer
nicht recht war, als ſei er fort.
Er muſte noch zwei ſtarke Werſte zuruͤck le¬
gen, ehe ſie hinter den Obſthuͤgeln untergieng.
Noch war ihm nichts beſonders unterwegs begeg¬
net, als der Weg ſelber, als er ſeinen Gruß ei¬
nem Menſchen, deſſen Geſicht ein Schnupftuch
zuband, im Fluge zuwerfen konnte. Er gieng
ſo lange fort, bis er glauben durfte, der Mann
habe ſich umgeſehen, und er koͤnn' es auch, oh¬
ne zuſammen zu ſtoſſen. Aber eben ſah jener
her. Er gieng wieder weiter und blickte um —
der Bandagiſt ſeiner Seits auch. Als er's
zum drittenmal that, merkte er, daß der Mann
trotzig ſtehen bleibe, und daß ihn die Ruͤckſicht
gar verdruͤße. Da ließ ihn Walt laufen und
ſtehen.
Er ſtieß bald — ſo wuchſen die Abentheuer
— auf drei alte Frauen und eine blutjunge,
welche mit hochaufgethuͤrmten Koͤrben voll Leſe¬
holz aus einem Waͤldgen kamen. Auf einmal
ſtanden ſie alle in gerader Linie zugleich hinter
einander ſtill, die ſchweren Koͤrbe auf den ſchief¬
[76] untergeſtellten Stecken auflehnend, die ſie vorher als
Badinen getragen. Sein Herz machte viel dar¬
aus, daß ſie, wie Proteſtanten und Katholiken
in Wezlar, ihre Ferien und Feiertage des Gehens
gemeinſchaftlich abthaten, um beiſammen zu blei¬
ben und fort zu reden. Nie entwiſchte ſeinem
Auge die kleinſte Handvoll Federn oder Heu, wo¬
mit ſich der Arme die harte Pritſche in der Wacht¬
ſtube ſeines Lebens etwas weicher bettet und ſich
die Marterbank auspolſtert. Ein liebender Geiſt
ſpuͤret gern die Freuden der Armen aus, um dar¬
uͤber eine zu haben; ein haſſender aber lieber die
Plagen, ſeltener um ſie zu heben, als um uͤber
die Reichen zu bellen, die er vielleicht ſelber ver¬
mehrt.
Herzlich gern wollt' er den Fracht- und Kreuz¬
traͤgerinnen einige Groſchen Trage-Lohn auszah¬
len; er ſchaͤmte ſich aber vor ſo vielen Zeugen ei¬
ner warmen That. Darauf ſchob ein Mann ei¬
nen Karren voll hoher klappernder Blechwaaren
daher; ſein Toͤchtergen war als Vorſpann vorge¬
legt; beide keuchten ſtark. Es zwang ihn, ſich
mit dem Karrenſchieber zuſammen zu halten und
[77] ſich auf die eine Wagſchale zu ſtellen, den Kaͤr¬
ner auf die andere. Da er nun ſogleich bemerkte,
wie ſehr er mit ſeinen Gluͤcksloſen und Zucker¬
huͤten den Kaͤrner uͤberwiege — der alten Holz¬
weiber nicht einmal zu gedenken —; da er finden
mußte, daß ſein freies fliegendes Fortkommen ge¬
gen das traͤge Karren- und Stunden-Rad des
Mannes gemeſſen, mehr der freudigen leichten
Weiſe beikomme, wie die Groſſen reiſen: ſo wurd'
er roth uͤber ſeinen Reichthum und Stand — er
ſah die Weiber noch halten und lehnen — er lief
zuruͤck mit vier Gaben und eilig davon.
„Bei Gott, ſchreibt er in ſein Tagebuch, um
ſich ganz zu rechtfertigen — der armſelige fluͤchti¬
ge Sinnen-Kizel einer beſſern Nahrung, welchen
etwan ein paar geſchenkte Groſchen bereiten koͤn¬
nen und uͤberhaupt der Genuß, der kann nie
der Anlas werden, daß man die Groſchen ſo freu¬
dig hinreicht; aber die Freude, die man da¬
durch auf einen ganzen Tag lang in ein ausge¬
hungertes Herz und in ſeine welken, kalten engen
Adern auswaͤrmend hinein gieſſet, dieſer ſchoͤnſte
Himmel anderer Menſchen iſt doch wohl wohlfeil
[78] genug damit erkauft, daß man ſelber einen dabei
hat.“ Hier kramt er weitlaͤuftig ſeinen alten
Traum von dem Gluͤcke eines reiſenden Mylords
aus, auf einmal durch eine ofne volle Hand ein
ganzes Dorf unter Bier und Fleiſchbruͤhe zu ſe¬
zen und in ein Elyſium langer Erinnerung.
Mit drei Himmeln im unſchuldigen Geſicht —
noch einen mehr hatt' er auf den Geſichtern hinter
ſich gelaſſen — glitt er leicht von Thautropfen
zu Thautropfen. — Das Herz wird wie ein Luft¬
ſchif durch den Auswurf des ſchwerſten Ballaſtes,
des Geldes, ſo leicht, ſo ſchnell, ſo hoch. In¬
deß traf er ziemlich ſpaͤt in dem nur vier kleine
Werſte entlegenen Haͤrmlesberg ein. Denn uͤberall
ſaß und ſchrieb, oder ſtand und ſah er oder las
alles — jede Inſchrift einer Steinbank — und
wollte keine Kleinigkeit uͤbergehen, ſie muͤßte denn
Bevoͤlkerung, Stallfuͤtterung, Wieſenwuchs,
Lehmboden und dergleichen betroffen haben.
„Drinnen will ich, ſagt' er zu ſich, da ich
doch einem groſſen Herren aͤhnlich ſcheinen ſoll,
mein déjeûner d'inatoire einnehmen“ und trat
in den Krug.
[79]
Nro. 40.Cedo nulli.
Wirthshaͤuſer — Reiſebeluſtigungen.
Der Notarius, der unter die Menſchen ge¬
hoͤrte, welche wohl Jahre lang daheim ſparen
koͤnnen, aber nicht unterwegs — hingegen andere
kehren es gerade um — foderte kek ſein Noͤſel
Landwein. Dabei aß und ſaß er und beobachtete
vergnuͤgt die Wirthsſtube, den Tiſch, die Baͤnke
und die Leute. Als einige Handwerkspurſche ih¬
ren Kaffee bezahlten: bemerkte er ſehr wahr, daß
die Milchtoͤpfgen in Franken ihren Giesſchnabel
dem Henkel gegenuͤber haben, in Sachſen aber
links oder gar keinen. Mit gedachten Purſchen
gieng ſeine Seele heimlich auf Reiſen. Giebt es
etwas ſchoͤneres, als ſolche Wanderjahre in der
ſchoͤnſten Jahrszeit und in der ſchoͤnſten Lebenszeit,
bei ſolchen Diaͤtengeldern, die man unterwegs bei
jedem Meiſter erhebt, und bei ſolcher Leichtigkeit,
in die groͤßten Staͤdte Deutſchlands ohne alle Reiſe¬
koſten zu gehen, und ſobald kaltes naſſes Wetter
einbricht, ſogar auf einem Arbeitsſtuhl haͤuslich
zu niſten und zu bruͤten wie der Kreuzſchnabel im
[80] Winter? — „Warum, (ſchreibt ſein Tagebuch
Vulten,) muͤſſen die armen Gelehrten nicht wan¬
dern, denen das Reiſen und das Geld dazu gewis
eben ſo noͤthig und dienlich waͤre als allen Ge¬
ſellen?“ —
„Drauſſen im Reich“ ſagte ſtets Walts Va¬
ter, wenn er bei Schneegeſtoͤber von ſeinen Wan¬
derjahren erzaͤhlte; und daher lag dem Sohne
das Reich in ſo romantiſchem Morgenthau blizend
hin als irgend eine Quadratmeile von Morgen¬
land; in allen Wandergeſellen verjuͤngte ſich ihm
die vaͤterliche Vergangenheit.
Jezt fuhr ein Salzkaͤrner mit Einem Pferde
vor, trat ein, wuſch ſich in einer ganz fremden
Stube oͤffentlich und troknete ſich mit dem an
einem Hirſchgeweih' haͤngenden Handtuch ab, oh¬
ne noch fuͤr einen Kreuzer verzehrt oder begehrt zu
haben. Walt bewunderte den kraͤftigen Welt¬
mann, ob er gleich nich aͤhig geweſen waͤre,
ſich nur unter vier Augen die ſeinigen zu waſchen.
Dennoch exerzirte er — da er in etwas getrun¬
ken — einige Wirthshaus-Freiheiten, und gieng
in der Stube wohlgemuth umher, ja auf und ab.
Ob er gleich nicht im Stande war, unter ei¬
ner fremden Stubendecke den Hut aufzubehalten
— ſogar unter ſeiner ſah er ungern bedekt aus
dem Fenſter aus Artigkeit —: ſo hatt' er doch
ſeine Freude daran, daß andere Gaͤſte ihren auf¬
hatten, und ſonſt uͤberall von den herrlichen aka¬
demiſchen Freiheiten und Independenzakten der
Wirthsſtuben den beſten Gebrauch machten, es
ſei, daß ſie lagen, oder ſchwiegen, oder ſich kraz¬
ten. Ihm ſchienen die Wirthsſtuben ordentlich
als huͤbſche geraͤumliche, aus abgebrochenen ein¬
geaͤſcherten Reichsſtaͤdten unverſehrt herausgeho¬
bene reichsunmittelbare Diogenes-Faͤſſer vorzu¬
kommen, als huͤbſche aus Marathons-Ebenen
ausgeſtochne Gruͤnplaͤtze, vom Keller gruͤnend ge¬
waͤſſert.
Es wurde ſchon erwaͤhnt, daß er auf und
ab gieng; aber er gieng weiter und — denn das
Wirthshausſchild ſezt' er als Achilles-Schild
vor, den Weinbecher als Minervens Helm auf —
ſchrieb unter aller Augen ein und das andere Tex¬
teswort in ſeine Schreibtafel, um, wenn er allein
waͤre Abends im Quartier, daruͤber zu predigen.
Flegeljahre III. Bd. 6[82] Auch trug er ein, daß auf dem Schilde des
Wirthshaͤusgens ein Schilderhaͤusgen ſtand.
Der Muth der Menſchen waͤchſet leicht, iſt
er nur herausgekeimt; — Kommende gruͤßten
leiſe, Gehende laut; der Notarius dankte beiden
lauter. Er war ſo freudig bei einem Freudenbe¬
cher, den nicht einmal ſaͤchſiſcher Landwein haͤtte
waͤſſern koͤnnen. Er liebte jeden Hund, und
wuͤnſchte von jedem Hund geliebt zu ſeyn. Er
knuͤpfte deswegen mit dem Wirthsſpize — um
nur etwas fuͤr das Herz zu haben — ein ſo en¬
ges Band von Bade-Bekanntſchaft und Freund¬
ſchaft an als ein Stuͤckgen Wurſthaut bei ſolchen
Weſen ſeyn kann. Fuͤr warmherzige Neulinge
ſind wohl ſtets die Hunde die Hundsſterne, durch
deren Leitung ſie zur Waͤrme der Menſchen zu ge¬
langen ſuchen, ſie ſind ſo zu ſagen die Saufinder
und Truͤffelhunde tief verſtekter Herzen. „Spiz,
gieb die Pfote, rief der Wirth in Haͤrmlesberg.
Spiz, oder der Spiz — denn der Gattungsname
iſt, was bei dem Menschen ſelten, in Deutſchland
und in Haslau, zugleich der perſoͤnliche, ausge¬
nommen in Thuͤringen, wo die Spize Fixe heiſ¬
[83] ſen — Spiz druͤkte dem Notar die Hand, ſo weit
er wußte.
„Gebt dem Herrn auch eine Patſchhand,
Beſtien, rief der Wirth, als drei kleine, arm¬
lange gepuzte Maͤdgen von einerlei Statur und
Phyſiognomie an der Hand einer jungen ſchoͤnen,
aber ſchneeblaſſen Mutter hereintraten aus der
Schlafkammer. „Es ſind Drillinge und ſollen
zu ihrer Frau Pathin“ ſagte der Wirth. Gott¬
walt ſchwoͤrt im Tagebuch, daß etwas „aller¬
liebſteres herzinniglicheres“ es gar nicht gebe, als
drei ſo liebe huͤbſche, niedliche Maͤdgen von einer¬
lei Hoͤhe, mit ihren Schuͤrzgen, und Haͤubgen und
runden Geſichtergen ſind, wobei nur zu bedauern
ſei, daß es Drillinge geweſen, und nicht Fuͤnf¬
linge, Sechslinge, Hundertlinge. Er kuͤßte ſie
alle vor der ganzen Wirthsſtube kurz und wurde
roth; — es war halb, als hab' er die zarte blei¬
che Mutter mit der Lippe angeruͤhrt; auch ſind ja
die guten Kinder die ſchoͤnſte Weſen- und Jakobs¬
leiter zur Mutter. Dabei ſind ſolche winzige
Maͤdgen fuͤr Notarien, welche ohne Muth und
ohne Elektriſir- und Sprachmaſchine fuͤr erwach¬
[84] ſene Maͤdgen dazuſtehen fuͤrchten, ordentlich die
ſchoͤnen Ableiter und Zuleiter, geſchenkte Rechen¬
knechte fuͤr den Augenblik; — man wundert ſich
froͤlich und heimlich, daß man ein Ding wie ein
Maͤdgen, ſo dreiſt umhalſet. Walt wurde der
Kleinern ſpaͤter ſatt, als ſie ſeiner. Er war ja
dem Drilling — als eigner Zwilling — viel ver¬
wandter, als alle Gaͤſte in der Stube. Er be¬
ſchenkte ſie geldlich zur hoͤchſten Freude der Mut¬
ter. Dafuͤr bekam er drei Kuͤſſe, die er lange
zuruͤklieferte, nur bei ſich betruͤbt, daß ein Tauſch¬
handel ſolcher Artikel ſelber ſo fruͤh dem Tauſche
der Zeit heimfalle. „Ei, Herr guter Harniſch!“
ſagte der Wirth. Walt wunderte ſich uͤber die
Kenntnis ſeines Namens, aber nicht ohne Ver¬
gnuͤgen, ja mit einiger Hofnung, daß es, nach
einem ſolchen Anfange zu urtheilen, wohl noch
ſeltſamere Avantuͤren zu erleben gebe. Er wollte
daher lieber nicht fragen, wie und wo und wann,
aus Furcht, um ſeine Hofnung zu kommen.
Mit Wolluſt ſah er zu, wie der Vater ſich
von den Kindern Aepfel abkaufen ließ, um Walts
Geld von ihnen zu haben — und wie die Mutter
[85] dem erſten Drilling Brod zulangte, damit er
wieder davon furchtſam eine Ziege unter dem Fen¬
ſter abknuppern lieſſe — und wie der zweite herz¬
haft in einen Apfel einbiß, ihn dem dritten zum
Beiſſen hinhielt, und wie beide ihn wechſelnd an¬
biſſen und reichten und jedesmal laͤchelten. „O
waͤr' ich nur ein wenig allmaͤchtig und unendlich
— dachte Walt — ich wollte mir ein beſonderes
Weltkuͤgelgen ſchaffen und es unter die mildeſte
Sonne haͤngen, ein Weltgen, worauf ich nichts
ſezte, als lauter dergleichen liebe Kinderlein; und
die niedlichen Dinger ließ' ich gar nicht wachſen,
ſondern ewig ſpielen. Ganz gewis, wenn ein
Seraph himmelsſatt waͤre oder ſonſt die goldnen
Fluͤgel haͤngen lieſſe, koͤnnt' ich ihn dadurch her¬
ſtellen, daß ich ihn einen Monat lang auf meine
ſpringende jubelnde Kinderwelt herabſchikte, und
kein Engel koͤnnt', ſo lange er ihre Unſchuld ſaͤhe,
ſeine eigene verlieren.
Endlich ruͤkten die Kinder, einander an den
Haͤnden zu fuͤhren befehligt, mit der Mutter aus,
zur Frau Pathin. Ein langer Tyroler mit gruͤ¬
nem Hut, von welchem bunte Baͤnder flatterten.
[86] trat ſingend hinein. — Walt trank und brach
auf. Schoͤn war drauſſen die Welt, ſogar noch
in Haͤrmlesberg. Im Dorfe wurde Zimmerholz
mit lauten Schlaͤgen zugehauen, und, mit der
rothen Meßſchnur angeſchnellet, in gerade For¬
men abgetheilt; — alle Kinderſzenen unter dem
Bauholz ſeines Vaters kamen mit dem Roſenho¬
nig der Erinnerung aus den Kindheitsroſen bela¬
den zuruͤk. Bleicherinnen mit groſſen Huͤten be¬
goſſen, leicht gebuͤkt, die weiſſen Beete aus
Flachs-Lilien. Aus dem Hut, den ein Maͤdgen
an langen Baͤndern an der Hand herunter haͤngen
ließ, floh er zu den blauen, gelben Glaskugeln
eines Gartens auf, und wiegte ſich uͤberall.
Izt kam er in die lange Gaſſe des aus Ber¬
gen, wie aus Pallaͤſten zuſammen gereiheten Ro¬
ſana-Thals hinein — Edens Gartenſchluͤſſel
wurden ihm vorn uͤberreicht, und er ſperrte es
auf. „Der voͤllige Fruͤhling iſt da, der Orpheus
der Natur, ſagt' ich (ſchreibt er) denn die Wieſen
bluͤhen ja — die Dotterblumen ſtehen ſo dicht —
den Heu-Bergen ziehen kleine Kinder mit groſſen
Rechen kleine Huͤgel zu — oben aus den Waͤldern
[87] der Berge ruft die Waldlerche und die Droſſeln
herrlich herunter — ſchoͤne Fruͤhlingswinde ziehen
durch das lange Thal — die Schmetterlinge und
die Muͤcken halten ihren Kinderball und der Ro¬
ſennachfalter oder das Goldvoͤgelgen ſizt ſtill auf
der Erde — die Blaͤtter der Kirſchbaͤume gluͤhen
roth, wie ihre Fruͤchte, nach, und ſtatt blaſſer
Bluͤthen fallen ſchoͤn bemalte Blaͤtter — und im
Fruͤhling wie im Herbſte zieht die Sonne am
Spinnrade der Erde fliegendes Gewebe aus — —
wahrhaftig es iſt ein Fruͤhling, wie ich noch ſel¬
ten einen geſehen.“
Im hohen Aether waren zarte Streifen, Silber¬
blumen gewebt und Meilen-tief darunter zog lang¬
ſam ein Wolken-Gebuͤrge nach dem andern hin;
— zwiſchen dieſe aufgebauete Kluft im Blau flog
Walt, und wandelte auf dem Himmelswege aus
Duft leicht dahin und ſah oben noch hoͤher auf.
Doch ſah er auch herab ins heimliche Thal —
ſah den ſtillen glatten Fluß darin gleiten —
Waͤlder bogen ſich liebend von einem Bergruͤcken
hinein, am andern glaͤnzten Trauben und Wein¬
bergshaͤusgen und reife Beete. — Er fuhr wie¬
[88] der hernieder in ſein langes Thal, wie auf einen
Eltern-Schoos.
„Wie geht es ſich ſo ſchoͤn in den Saͤulenhal¬
len der Natur, auf dem Gruͤn und zwiſchen dem
Gruͤn, in ewiger Begleitung des unendlichen Le¬
bens! ſang er, ohne beſondere Metrik, laut hin,
und ſah ſich um, damit niemand ſeine Singſtim¬
me belauſche. — Wallet nur hin, ihr huͤbſchen
Schmetterlinge, und genieſſet die Honigwoche des
kleinen Seins — ohne Hunger, ohne Durſt *) —
ein ſchoͤnes Sonnenleben — ein Liebesſein — und
die einzige Kammer des Herzens iſt nur eine ewige
Brautkammer der Liebe — beugt die Blumen —
laſſet euch wehen — ſpielt im Glanz und entzit¬
tert nur linde wie Bluͤthen dem Leben.“
Er ſah eine Heerde ſtummer Nachtigallen,
die ſich zum naͤchtlichen Abzug ruͤſteten. „Wo
fliegt ihr hin, ihr ſuͤſſen Fruͤhlings-Klaͤnge?
Sucht ihr die Myrte zur Liebe, ſucht ihr den
Lorbeer zum Sange? Begehrt ihr ewige Bluͤ¬
[89] then und goldne Sterne? So fliegt nur ohne
Stuͤrme unter unſern Wolken fort und beſingt
die ſchoͤnſten Laͤnder, aber fliegt dann liebesbruͤn¬
ſtig in unſern Fruͤhling zuruͤk, und ſingt dem
Herzen in ſchmachtenden Toͤnen das Heimweh
nach goͤttlichen Laͤndern vor.“
„Ihr Baͤume und ihr Blumen, ihr neigt
euch hin und her, und moͤchtet noch lebendiger
werden und reden und fliegen, ich liebe euch, als
waͤr' ich eine Blume und haͤtte Zweige; einſtens
werdet ihr hoͤher leben.“ Und da bog er einen
tief ans Waſſer ſich neigenden Zweig gar ein we¬
nig in die Wellen hinein.
Ploͤzlich hoͤrt' er in tiefer Ferne hinter ſich
eine Floͤte durch das Thal gleichſam auf dem
Strom herunter kommen, dem Wehen entgegen.
Die Ferne iſt die Folie der Floͤte; und ihm, der
mehr ihren Ton als ihren Gang verſtand, war
keine nahe gute nur halb ſo lieb. Die Toͤne ſchie¬
nen nachzukommen, doch ſchwaͤcher. Am Wege
ſtand eine Steinbank, die ihn in dieſer Einſam¬
keit ſchoͤn an die Menſchenſorge fuͤr andere Men¬
ſchen erinnerte. Er ſezte ſich ein wenig darauf,
[90] um gleichſam zu danken. Aber er legte ſich bald
ins hohe Ufer-Gras, um der guten Erde, die
zugleich der Stuhl, der Tiſch und das Bette der
Menſchen iſt, naͤher zu ſeyn, und regte ſich we¬
nig, um die im warmen ſtillen Uferwinkel ſpie¬
lenden Eintags-Fiſchgen nicht wegzuſchrecken. Er
liebte nicht einen und den andern Lebendigen, ſon¬
dern das Leben, nicht einmal die Ausſichten, ſon¬
dern alles, die Wolke und den Gros-Wald der
goldnen Wuͤrmgen, und er bog ihn aus einander,
um ihren Aufenthalt zu ſehen und ihre Brodbaͤum¬
gen und ihre Luſtgaͤrtgen. Er hielt lieber mit
Schreiben und Dichten auf ſeiner Schreibtafel in¬
nen, wenn ein buntes weiches Weſen uͤber die
glatte Flaͤche ſich wegarbeitete, als daß er es
weggeſchnellet oder gar erdruͤkt haͤtte. „Gott, wie
koͤnnte man ein Leben toͤdten, das man recht an¬
geſehen, z. B. nur eine halbe Minute lang“
fragt' er.
Er hoͤrte die Floͤte, die gleichſam aus dem
Herzen der ſtummen Nachtigallen ſprach. Heiſſe
Freudentropfen ſog das dunkle Getoͤn aus ſeinem
von tauſend Reizen uͤberfuͤllten Auge. Izt ſchlu¬
[91] gen ein Paar große helle Tropfen aus einer war¬
men Fluge-Wolke uͤber ihm auf ſeine flache
Hand herab — er ſah ſie lange an, wie er es
ſonſt als Kind bei Regentropfen gemacht, weil
ſie vom hohen fernen heiligen Himmel gekom¬
men. Die Sonne ſtach auf die weiſſe Haut, und
wollte ſie wegkuͤſſen — er kuͤſte ſie auf und ſah
mit unausſprechlicher Liebe nach dem warmen
Himmel auf, wie ein Kind an die Mutter.
Er ſang nicht mehr, ſeitdem er hoͤrte und
weinte. Endlich ſtand er auf, und ſezte ſeinen Him¬
melsweg fort, als er einige Schritte in der Naͤhe
einen aus der Hutſchnur eines Fuhrmanns ent¬
fallenen Zollzettel auf dem Wege gewahr wurde.
In der Hoffnung, daß er dem Mann vielleicht
nachkomme und ihn finde, hob er das Blaͤttgen
auf; weil ihm nichts Fremdes klein, wie nichts
Eignes wichtig vorkam; und weil ſein poetiſcher
Sturm leichter einen Gipfel bog, als eine Blu¬
me. Wenn die Leidenſchaft gluth-verworren
auffliegt, wie ein brennendes Schiff: ſo fliegt
die zarte Dichtkunſt des Herzens nur auf, wie
eine goldne Abendroth-Taube, oder wie ein Chri¬
[92] ſtus, der gen Himmel geht, weil er eben die
Erde nicht vergiſſet.
Die Floͤte floß ihm immer durch das Beete
des Thales nach, ohne doch weder naͤher zu
kommen, wenn er ſtand, oder zuruͤck zu bleiben,
wenn er lief.
Jzt ſchwang ſich die Landſtraße ploͤzlich aus
dem Thale den Berg hinauf. — Die Floͤte drun¬
ten wurde ſtill, da ſich oben die Weltflaͤche weit
und breit vor ihm aufthat, und ſich mit zahl¬
loſen Doͤrfern und weiſſen Schloͤſſern anfuͤllte,
und mit waſſerziehenden Bergen und mit gebog¬
nen Waͤldern umguͤrtete. Er gieng auf dem
Bergruͤcken wie auf einer langen Bogen-Bruͤcke,
uͤber die unten gruͤnende Meeresflaͤche zu beiden
Seiten hin.
Er war ganz allein und vor Ohren ſicher, er
pfiff frei daher figurirte Chorale, Phantaſien, und
zulezt alte Volksmelodien, und hoͤrte nicht ein¬
mal auf, wenn er einathmete. Gegen die Natur
aller andern Blasinſtrumente, bleibt dieſe Mund¬
harmonika wie die andere, romantiſch und ſuͤß
in großer Naͤhe — keinen halben Fuß vom Oh¬
[93] re — und wie bei der Muſik im Traum, iſt
hier der Menſch zugleich der Inſtrumentenma¬
cher, Komponiſt und Spieler, ohne im gering¬
ſten einen andern Lehrmeiſter dazu gehabt zu ha¬
ben als wieder ſich, den Schuͤler ſelber.
Immer betrunkner und gluͤcklicher wurde
Walt, als er auf dieſer erſten Schaͤferpfeife, auf
dieſem erſten Alphorn fort blies, dem Morgen¬
winde entgegen, der die Toͤne in die Bruſt zuruͤck
wehte; und zulezt wurd' ihm, als komme das
verwehte Getoͤn aus weiter Ferne her. Da er
lange ſo gieng und traͤumte — da er von dem
Bergruͤcken bald links in die Hirtenſtuͤcken der
Wieſen hinunter ſah und zu den Kirchthuͤrmen
von Altengruͤn — von Jodiz — von Thalhau¬
ſen — von Wilhelmsluſt — von Kirchenfelda —
und die Jagd- und Luſtſchloͤſſer erblickte, deren
beide Namen allein, wie romantiſche Zauberwor¬
te, alte Gegenden und Paradieſe der Kinderſeele
erſcheinen lieſſen — da er bald wieder rechts hin¬
unter ſchauete auf die zweite Ebene, worin ſich
der gerade Fluß ſeines Thales, die Roſana, frei
geworden auf einem blumigen Tanzplaz ſchlaͤn¬
[94] gelte und das Silber-Schild der Sonne trug
und immer zeigte — und da er das Auge auf
die Lindenſtaͤdter Gebuͤrge warf, wo unter den
hohen hellen Laubholzwaͤldern die dunklen Tan¬
nen-Waldungen gleichſam nur als breite Schlag¬
ſchatten zu ſtehen ſchienen — und da er in den
Himmel ſah, worin ſtill und leicht die Wolke
und die Taube flog — und da in den Waͤldern
des Thals die Herbſtvoͤgel ſchrien, und in den
Steinbruͤchen einzelne Schuͤſſe lang fort halleten:
ſo ſchwieg er wie aus Andacht vor Gott, und
dachte dem, was er ſingen wollte nach, als ob
der Unendliche nicht auch das Denken hoͤre; bis
er mit leiſer Stimme den Strekvers ſang und
wiederhohlte, den er ſchon laͤngſt gemacht:
O wie iſt der Himmel, wie die Erde ſo
voll freudiger Stimmen! Viel ſchoͤner als dort,
wo einſtens der Chorus laut jammerte, und nur
Niobe ſchwieg und unter dem Schleier ſtand
mit dem unendlichem Weh, jauchzen die Choͤ¬
re im Himmel und auf Erden, und nur der
Allſeelige iſt ſtill, und der Aether verſchleiert
ihn.
Darauf ſah er gen Himmel, nannte Gott
zweimal du und ſchwieg lange; und hielt es fuͤr
erlaubt, ſogleich an Wina zu denken. Ploͤzlich
kam ein altes vertrautes, aber wunderbares Mit¬
tagsgelaͤute aus den Fernen heruͤber, ein altes
Toͤnen wie aus dem geſtirnten Morgen dunkler
Kindheit; ſiehe Meilen-tief in Weſten ſah er
Elterlein hinter unzaͤhligen Doͤrfern liegen und
glaubte die alte Dorf-Glocke zu erkennen, und
Winas weiſſes Bergſchloß, ja ſogar das elterliche
Haus. Er dachte voll Sehnen an ſeine fernen
Eltern — an das Stillleben der Kindheit — und
an die ſanfte Wina, die ihm, auch im Stillle¬
ben ihrer Kindheit, einſt die Aurikeln in die Hand
gelegt — ſein Auge hieng an den oͤſtlichen Ge¬
buͤrgen im ſtillen Blau, hinter welche er wie hin¬
ter Kloſtermauern Wina als ſanfte Nonne in
Blumen ihres Kloſter-Gartens ſinnend gehen
ließ. Glocken aus mehreren Doͤrfern toͤnten zu¬
ſammen — der Morgenwind rauſchte ſtaͤrker —
der Himmel wurde blauer und reiner — der bun¬
te! leichte Teppich des Erdenlebens breitete ſich
uͤber die Gegend aus, und flatterte an den En¬
[96] den und Walt wohnte, wie ein Traum, nur in
der Vergangenheit.
Er ſang voll Seeligkeit und nannte ihren
Namen nicht: „es zieht in ſchoͤner Nacht der
Sternenhimmel, es zieht das Fruͤhlings-Roth*),
es ſchlaͤgt die Nachtigall — und der Menſch
ſchlaͤft und merkt es nicht; — endlich geht ſein
Auge auf, und die Sonne ſieht ihn an. O
Lina, Lina, du giengſt auch voruͤber mit dei¬
nen Blumen — mit den ſuͤſſen Toͤnen — und
mit Liebe — aber mein Auge war blind; nun
iſt es aufgethan, allein die Blumen ſind ver¬
welkt, die Worte ſind vergangen, und du glaͤn¬
zeſt hoch als Sonne.“ —
Hier kehrte er um vor dem lauten Wehen;
er fand die Welt ſonderbar ſtill um ſich; nur
das Gelaͤute klang allein und leiſe, wie Schal¬
meien der Kindheit, und er wurde ſehr bewegt.
Er lief wieder und ſang immer heiſſer: „naſſes
Auge, armes Herz, ſiehſt du nicht den Himmel
und den Lenz und das ſchoͤne Leben? Warum
[97] weinſt du? Haſt du was verloren, iſt wer ge¬
ſtorben? Ach ich habe nichts verloren, mir iſt
nichts geſtorben; denn ich habe noch nicht je
geliebt, o laſſ' mich weiter weinen!“
Zulezt ſang er nur einzelne Fuͤſſe noch, oh¬
ne beſondern Zuſammenhang — er kam eiliger
durch Beete — durch gruͤne Thaͤler — uͤber klare
Baͤche — durch Mittagsſtille Doͤrfer — vor
ruhendem Arbeitszeug vorbei — auf dem Zau¬
berkreis der Hoͤhen ſtand Zauberrauch — der
Sturmwind war entflohen, und am klaren Him¬
mel blieb das groſſe unendliche Blaue zuruͤck —
Vergangenheit und Zukunft brannten hell und
nahe, entzuͤndet vor Gegenwart — der Blu¬
menkelch des Lebens umſchloß ihn bunt-daͤm¬
mernd, und wiegte ihn leiſe — und Pans Stun¬
de gieng an — —
„Jezt ergrif mich — ſchreibt er in ſeinem
Tagebuche — Pans Stunde, wie allemal auf
meinen Reiſen. Ich moͤchte wohl wiſſen, wo¬
her ſie dieſe Gewalt bekommt. Nach meiner
Meinung dauert ſie von 11 und 12 bis 1 Uhr;
daher glauben die Griechen an die Pans-, das
Flegeljahre III. Bd. 7[98] Volk an die Tags-Geiſterſtunde, auch die Ruſ¬
ſen *). Die Voͤgel ſchweigen um dieſe Zeit. Die
Menſchen ſchlafen neben ihrem Arbeitszeug. In
der ganzen Natur iſt etwas Heimliches, ja Un¬
heimliches, als wenn die Traͤume der Mittags¬
ſchlaͤfer umherſchlichen. In der Naͤhe iſt es lei¬
ſe, in der Ferne an den Himmels-Graͤnzen
ſchweifet Getoͤn. Man erinnert ſich nicht ſowohl
der Vergangenheit, ſondern ſie erinnert ſich an
uns und durchzieht uns mit nagender Sehn¬
ſucht; der Strahl des Lebens bricht in ſeltſam¬
ſcharfe Farben. — Allmaͤhlig gegen die Veſ¬
per wird das Leben wieder friſcher und kraͤfti¬
ger.“ —
Nro. 41. Troͤdelſchnecke.
Der Bettel-Stab.
In Gruͤnbrunn kehrt' er ein. Im Wirths¬
haus hielt er ſeine Wachsfluͤgel an's Kuͤchen¬
[99] feuer, und ſchmolz ſie ein wenig. In der That
braucht der Menſch bei den beſten Fluͤgeln fuͤr
den Aether doch auch ein Paar Stiefel fuͤr das
Pflaſter. Da der Speiſeſaal ſchon voll Hunde
und Herren war: ſo ſezt' er ſich lieber unter eine
Vorhalle oder Vordachung zu Tiſch, die ſo breit
war als der Tiſch. Es war ihm, als ſei er ein
Patriarch, da er in einem ofnen freien luftigen
Halb-Haus am Hauſe ſitzen, und die ganze
ſich aufblaͤtternde Welt umherhaben konnte.
Er ſah hinaus in die ihm fremden Gegenden und
Felder, und er fuͤhlte ſich einem leichten Trou¬
badour alter Zeiten gleich, nachdem er zuſam¬
men gerechnet hatte, daß er jezt ſchon in einer
Ferne von neunzehn Werſten von ſeiner Heimath
lebe. Er trug in ſein Reiſebuch die oͤkonomiſche
Gewohnheit ein, die er vor ſich ſah, die Wieſen
mit einem Kohl- oder anderen Fruchtbeete zu
umraͤndern, anſtatt daß man ſonſt umgewandt
Beet-Felder in Wieſen-Raine einſchlieſſet; und
bemerkte gegen einen neben ihm eſſenden Bauers¬
mann, das ſehe ſehr niedlich aus.
Man lieſſ' ihn lange in ſeinem Nachklange
[100] des melodiſchen Vormittags, in jener epiſchen
Stimmung ſitzen, worin er das Kommen und
das Verſchwinden der Sterblichen im Wirths¬
hauſe anſah, und warten, bevor man ihm ſein
Tiſch-Tuch und ſeinen Teller Eſſen auftrug.
Es iſt vielleicht der Muͤhe werth, zu bemerken,
daß er nicht aufaß, theils aus Freundlichkeit
gegen den Wirth, um ihn nicht um die Nach¬
leſe zu bringen, theils weil der Menſch, gleich ſeinen
Unter-Koͤnigen, dem Adler und dem Loͤwen, eine
beſondere Neigung hat, nie rein aufzuſpeiſen,
wie man an Kindern am erſten wahrnimmt.
Der Notar begriff gar nicht, wie der Bauers¬
mann und andere Gaͤſte im Stande ſein konnten,
den Teller ordentlich zu ſcheuern und zu troknen,
und jeden abgeglaͤtteten Knochen noch zu tre¬
panieren und, wie Canonen und Perlen, zu
durchbohren.
Nach dem Eſſen ſtellte er ſich vor die ofne
Saalthuͤre der Tafelſtube, um mit dem im Zau¬
berthal gefundenen Zollzettel in der Hand, und
mit deſſen Uebergabe zu warten, bis die ſpeiſen¬
den Fuhrleute, die er in corpore anzureden
[101] und zu befragen ſcheuete, einzeln heraus kaͤmen.
Da ſtand ein junges ſchnippiſches dreizehnjaͤhri¬
ges Fuhrmaͤnnlein in blauem Hemde und dicker
weiſſer Schlafmuͤtze auf, drehte ganz heimlich
des Wirths Sand-Uhr um, und wollte dem
Mann im eigentlichen Sinne (denn es war erſt ein
Drittel Stunden-Sand verlaufen) die Zeit ver¬
treiben.
Aber der Notar fuhr erboſſet hinzu und
kehrte die Umkehrung um, viel zu unvermoͤgend,
ein haͤmiſches Unrecht, das er gegen ſich erdul¬
den konnte, gegen einen andern zu ertragen.
Dieſe Hitze ſezt' ihn in Stand, den Zettel
vor der ganzen table d' hôte empor zu heben
und auszurufen, ob ihn jemand verloren. Ich
Herr, ſagte ein langer heruͤber geſtrekter Arm,
und ergrif ihn, und nikte Einmal kurz mit dem
Kopfe ſtatt der warmen Dankſagung, auf die
Walt aufgeſehen.
Auf dem Fenſter ſah er neben der Uhr das
Schreibbuch des Wirths-Kindes liegen, dem zu
drei Zeilen die drei Worte Gott — Walt —
Harniſch vorgezeichnet waren. Er war ſehr
[102] daruͤber erſtaunt, und fragte den Wirth, ob er
etwan Harniſch heiſſe. „Karner iſt mein Na¬
me“ ſagte dieſer. Walt zeigte ihm das Buch
und ſagte, er ſelber heiſſe wie da ſtehe. Der Wirth
fragte grob, ob er denn auch wie die vorige Sei¬
te heiſſe: Hammel — Knorren — Schwanz — ꝛc.
Jezt wollte der Notar wieder Fluͤgel anſtatt
der Pferde nehmen und fort, und vorher bezah¬
len, als ihn ein Bettelmann dadurch aufhielt
und erfreuete, daß er ſein Allmoſen in Natura¬
lien eintreiben wollte, und um ein Glas Bier
bettelte, wahrſcheinlich ein ſtiller Anhaͤnger des
phyſiokratiſchen Syſtems. Da der Mann unter
dem Einkaſſiren der kleinen Naturalbeſoldung
ſeinen Bettelſtab in eine Ecke ſtellte: ſo gab das
dem Notar Gelegenheit, dieſen dornigen, ſchwe¬
ren Stab in die Hand zu nehmen. Walt hob
und ſchwang ihn mit dem beſondern Gefuͤhl, daß
er nun den Bettelſtab, wovon er ſo oft gehoͤrt
und geleſen, wirklich in Haͤnden halte.
Zulezt — da er ſich es immer waͤrmer aus¬
einander ſezte, wie das der lezte und duͤnnſte Maſt
eines entmaſteten Lebens, ein ſo duͤrrer Zweig
[103] aus keinem goldnen Chriſtbaum, ſondern aus der
Klag-Eiche ſei, eine Speiche aus Jxions Rad —
wurd' er erfaſſet; er handelte dem Bettelmann,
der vom Ernſt nicht anders zu uͤberzeugen war,
als durch Geld, den Stab ab, die einzige Nip¬
pe, die der Mann hatte. „Dieſer Stab — ſag¬
te Walt zu ſich — ſoll mich wie ein Zauberſtab
verwandeln, und beſſer als eine Lorenzo-Doſe
barmherzig machen, wenn ich je vor dem groſ¬
ſen Jammer meiner Mitbruͤder einſt wollte
mit kaltem oder zerſtreuetem Herzen voruͤber¬
gehn; er wird mich erinnern, wie braun und
welk und muͤde die Hand war, die ihn tragen
muſte.
So ſagt' er ſtrafend zu ſich; und der weich¬
herzige Menſch warf ſich, ungleich den harther¬
zigen, vor, er ſei nicht weichherzig genug, indeß
jene ſich das Gegentheil ſchuld geben. Er brauch¬
te dieſes Staͤngeln ſeiner fruchtbringenden Blu¬
men nicht; aber da, wo dieſe Wetterſtange
ſelber waͤchſet, auf den Schlachtfeldern, und um
die Luſtſchloͤſſer vierzehnter Ludwige herum, die
ſchon gleich mit Zaͤhnen auf der Welt ankom¬
[104] men *), an Orten, wo die geheimen Treppen
und Throngeruͤſte aus ſolchem Marter-Holz
gezimmert werden, in Laͤndern, wo der Bettelſtab
der allgemeine oder General-Stab iſt, viel¬
leicht durch den militairiſchen ſelber, da wuͤrd'
es ein erwuͤnſchtes Legat ſein, wenn jeder Bettler
ſeinen Stab in ein eignes Staats-Hoͤlzer-Ka¬
binet vermachte; — wenigſtens iſt zu glauben,
wenn neben jedem Kommando-Stab und Zepter
ein ſolcher laͤge, er diente als Balancirſtange,
und ſchluͤge vielleicht wie ein Moſes-Stecken
aus manchen harten Thron-Felſen weiches
Waſſer.
Der Notar verließ ſein Quartier mit dem
Exulantenſtab ſo froh als es zu erwarten war,
da er den Verkaͤufer deſſelben in Erſtaunen und
Freudenthraͤnen geſezt; und beſonders da er uͤber
die goldne Ernte von Abentheuern hinſah, die
er blos in einem halben Tage eingeerntet. „War¬
lich es iſt ſtark, ſagt' er, in Haͤrmlesberg weiß
man meinen Namen ſchon muͤndlich — in Gruͤn¬
[105] brunn gar ſchriftlich — eine wunderbare Floͤte
geht und ſteht mit mir — einen fremden Wan¬
der-Stab hab' ich desfalls — Gott, was kann
mir nach ſolchen Zeichen nicht in einem ganzen
langen Nachmittag paſſiren? Hundert Wunder!
Denn es ſchlaͤgt erſt halb 2 Uhr.“ So ſchloß
er und ſah mit frohlockenden Augen in den blau¬
ausgewoͤlbten Himmel hinein.
Nro. 42. Schillerſpath.
Das Leben.
Im naͤchſten Fluſſe wuſch er den Bettel¬
ſtab und die Haͤnde ab, in welche er ihn vor
dem Verkaͤufer aus Schonung frei genommen.
Der erſte Akt der Wohlthaͤtigkeit, den er nach
dem Kaufe des Stabes verrichtete, war einer
mit dem Holze ſelber an Floͤs-Holz. Er konnt'
es nicht ertragen, daß, waͤhrend mitten im
Strome viele Floͤs-Scheite luſtig und tanzend
hinunter ſchwammen, eine Menge anderer, die
nicht unbedeutender waren, ſich in Ufer-Win¬
[106] keln ſtieſſen, draͤngten und elend einkerkerten;
eine ſolche Zuruͤckſetzung auf die Expektantenbank
verdienten die Floͤs-Scheite nicht; er nahm da¬
her ſeinen Bettelſtock und half ſo vielen hintan¬
geſezten Scheiten durch Schieben wieder in den
Zug der Wogen hinein, als neben ihm litten;
denn alle Scheite — ſo wie alle Menſchen — zu
befoͤrdern, ſteht auſſer dem Vermoͤgen eines
Sterblichen.
Er holte darauf einen kleinen zerlumpten
Jungen ein, der barfuß in einem Paar rothen
Pluͤſchhoſen voll unzaͤhliger Glazen gieng, das,
von einem Manne abgelegt, eine Pump- und
Strumpfhoſe zugleich an ihm geworden war.
Der Knabe hatte nichts bei ſich als ein Glaͤsgen,
mit deſſen Salbe er ſich unaufhoͤrlich die roth¬
kranken Augen beſtrich. Walt fragte ihm ſanft
ſeine Leidensgeſchichte ab. Sie beſtand nur
darin, daß er von ſeiner Stiefmutter weggelau¬
fen, weil ſein Vater, ein Militair, von dieſer
weggelaufen, und daß er ſich zu den Franzoſen
zu betteln hoffe. „Kannſt du heſſiſche Groſchen
brauchen?“ fragte Walt, der zu ſeinem Schrecken
[107] zu groſſes Geld bei ſich fand. Der Knabe ſah
ihn dumm an, laͤchelte dann, wie uͤber einen Spaß,
und ſagte nichts. Walt wies ihm einen. „O,
ſagt' er, das kenn' er wohl, ſein Vater hab' ihn
oft wechſeln laſſen.“ Der Notar erfuhr endlich,
der Knabe ſei ein Heſſe — und gab ihm alle va¬
terlaͤndiſche Groſchen.
Allmaͤhlig aͤuſſerte jezt der Bettelſtab ſeine
feindſelige Kraft, eine Wetterſtange zu ſeyn, wel¬
che Gewitter zieht. Walt konnte den Fruͤhling
des Vormittags durchaus nicht wieder zuruͤk
bringen, ſondern mußte den Herbſt vor ſich ſte¬
hen ſehen, der gerade ſo epiſch macht, als der
Lenz lyriſch und romantiſch. Er durft' es dem
Stok ſehr aufbuͤrden, daß er nach den Leipziger
Bergen ſah und doch ganz vergeblich hinter ih¬
nen auf der andern Seite in die Leipziger Ebenen
herabzufahren ſuchte bis vor Winas Gartenthuͤ¬
re, weil der Stok ſich gleichſam unter dem Berg-
Schlitten ſtemmte und ſtuͤlpte.
Er ſah nur das Fliehen und Fliegen des Le¬
bens, die Eile auf der Erde, die Flucht des Wol¬
kenſchattens, indeß am Himmel die Wolke ſelber
[108] nur langſam zieht, und die Sonne gar wie ein
Gott ſteht und blikt. Ach in jedem Herbſt fallen
auch dem Menſchen Blaͤtter ab, nur nicht alle.
Er ſah eine abgefreſſene Wieſe aber violet
von ausgeſchloſſenen giftigen Herbſtblumen. Auf
ihr laͤrmten Zugvoͤgel, die mit einander den Plan
zu ihrer Nachtreiſe zu bereden ſchienen. Auf der
Landſtraſſe fuhr ein raſſelnder Wagen hin, unter
den Hinterraͤdern boll ein Hund. Am fernen
Berg-Abhange ſchritt eine weibliche weiſſe Ge¬
ſtalt kaum merkbar hinter ihrem dunkelbraunen
Manne, um in irgend einem unbekannten Doͤrf¬
gen ein Glas und eine Taſſe zu genieſſen, und
dazu vor- und nachher ſo viel von ſchoͤner Natur,
als unterwegs gewoͤhnlich vorkommt. In der
Naͤhe trippelten zwei weißgepuzte Maͤdgen von
Stande, mit Blumen und Schnupfaͤuchern in
den Haͤnden durch die gruͤnen Saaten-Furchen,
und die gelben Schauls flatterten zuruͤck.
Er gieng vor einem bis an die Himmelswa¬
gen hinauf gethuͤrmten ſogenannten Brautwagen
vorbei, worauf alle die Wachsfluͤgel, Fluͤgel¬
decken, Glasfedern, und der Federſtaub einer¬
[109] ſeits, und die Steis- und Schwanzfloſſen, die
Bruſt- und Ruͤckenfloſſen, die Danaidengefaͤſſe,
Waſſerſtuͤcke, Waſſerwagen, Regenmeſſer und
Trockenſeile andererſeits unter dem Namen Haus¬
geraͤthe aufgeladen waren, welche der Menſch
durchaus hienieden haben muß, um nur einiger¬
maſſen halb durch das Leben zu ſchwimmen,
halb daruͤber zu fliegen. Der Eigenthuͤmer aber
ſchritt voll Empfehlungen der groͤßten Vorſichts¬
regeln fuͤr ſeine aufgepakten Fluͤgel und Floſſen
neben dem Wagen her, und verſprach ſich und
andern Schritt vor Schritt ganz andere blauere
Tage in der Zukunft als er in ſeinem vorigen un¬
bekannten Neſte gehabt.
Darauf kam Walt auf ein Filial-Doͤrfgen
von fuͤnf oder ſechs waſchenden, fegenden Haͤuſern
und rauchenden Backoͤfen. Die Juͤnglinge hoben
mit Stangen und halber Lebensgefahr einen Ma¬
rienbaum mit rothen Baͤnder-Fahnen in die Hoͤ¬
he, der fuͤr ein Dorf wohl nicht weniger iſt, als
was eine Vogelſtange fuͤr eine Mittelſtadt. Die
Maͤdgen, welche die Baͤnder hinauf geſchenkt,
ſahen hochroth dem Aufbaͤumen zu, und hatten
[110] nichts im ſeeligen Kopf und Herzen, als den
morgendlichen Kirmes-Tanz um den Baum mit
den allerbedeutendſten Purſchen des Orts.
Darauf begegnete der Notar einem ſchwer
ausgeſchmuͤkten eilfjaͤhrigen Maͤdgen mit einer
Kruͤcke — was ihn unſaͤglich erbarmte — und
die Frau Pathin lief aus dem Oertgen ihrem Kir¬
mesgaſt ſchon entgegen.
Darauf kam ein an ſich ſelber angeketteter
Malefikant zwiſchen ſeinen Kerker-Fuͤhrern; alle
prieſen, ſo weit ſie mit Worten noch vermochten,
das Bier des vorigen Dorfs; auch der Male¬
fikant.
Er kam durch das anſehnlichere Dorf, wor¬
in das Filial nur eingepfarrt war. Da die Mut¬
terkirchen-Thuͤre gerade offen ſtand — aus dem
kurzen dicken Thurme wurde etwas geblaſen,
worein wieder der Viehhirt blies — ſo gieng er
ein wenig hinein; denn unter allen oͤffentlichen
Gebaͤuden beſucht' er Kirchen am liebſten, als
Eispallaͤſte, an deren leere Waͤnde das Altarlicht
ſeiner frommen Phantaſie ſich mit Glanz und ir¬
renden Farben am ſchoͤnſten brach und umher
[111] goß. Es wurde drinnen getauft. Der Taͤufer
und der Taͤufling ſchrien ſehr vor dem Tauf¬
engel. Vier oder fuͤnf Menſchen waren nach
ihrer Art ſonntaͤglich blaſonnirt, gravirt, mit
getriebner Arbeit vom Schneider bedeckt; nur aus
den vornehmſten Kirchen-Logen, den adelichen,
ſchaueten Maͤgde, die Arme in blaue Schuͤrzen
wie in Unter-Schauls gewickelt, im demi¬
négligé des Wochentags heraus. Wirthſchafts-
Kleidung in heiliger Staͤtte war ihm harter Mis¬
ton. Der Pathe des getauften Urenkels war der
Ur-Grosvater deſſelben, der das Schrei-Haͤls¬
gen kaum halten konnte vor Jahren, und deſſen
abgepfluͤkte winterliche nakte Geſtalt Walten be¬
ſonders dadurch ins Herz drang, daß der alte
Mann fuͤnf oder ſechs ſchneeweiſſe Haare —
mehr nicht — zu einem grauen Zoͤpflein zuſammen¬
geſammelt und gedreht hatte, um ſich zu zeigen.
Daß der alte Menſch dem jungen ſo nahe
war, das Kind des Grabes dem Kind der Wiege,
die gelben Stoppeln dem heitern Maien-Bluͤmgen,
das ruͤhrte den Notar noch eine Stunde uͤber das
Dorf hinaus. „Spielet doch Kindtaufens“ ſagt'
[112] er zu einigen Kindern, die ein Kreuz trugen und
Begrabens ſpielen wollten. Gerade aus dem
Herzen flog ihm in den Kopf der Strekvers:
Spielet jauchzend, bunte Kinder! Wenn ihr
einſt wieder Kinder werdet, buͤckt ihr euch lahm
und grau; unter dem weinerlichen Spiele bricht
der Spielplaz ein und uͤberdekt euch. Wohl auch
Abends bluͤht in Oſten und Weſten eine Aurora,
aber das Gewoͤlke verfinſtert ſich und keine Son¬
ne kommt. O huͤpfet luſtig, ihr Kinder, im
Morgenroth, das euch mit Bluͤthen bemalt und
flattert eurer Sonne entgegen.
Die Zauberlaterne des Lebens warf jezt or¬
dentlich ſpielend bunte laufende Geſtalten auf ſei¬
nen Weg; und die Abendſonne war das Licht
hinter den Glaͤſern. Sie wurden gezogen und es
mußte vor ihm voruͤber laufen unten im Strom
ein Meßſchiff — ein niedriger Dorfkirchhof an der
Straſſe, uͤber deſſen Raſenmauer ein fetter Schos¬
hund ſpringen konnte — eine Extrapoſt mit vier
Pferden und vier Bedienten vornen — der Schatte
einer Wolke — nach ihr ins Licht der Schatte
eines Rabenzugs — zerriſſene hohe graue Raub¬
[113] ſchloͤſſer — ganz neue — eine polternde Muͤhle
— ein zu Pferde ſprengender Geburts-Helfer —
der duͤrre Dorfbalbier mit Scheerſak ihm nach¬
ſchieſſend — ein dicker uͤberroͤckiger Landprediger
mit einer geſchriebenen Erntepredigt, um fuͤr die
allgemeine Ernte Gott und fuͤr ſeine den Zuhoͤrern
zu danken — ein Schiebkarren voll Waaren und
ein Stab Bettler, beide um die Kirmeſſen zu be¬
ziehen — ein Vor-Doͤrfgen von drei Haͤuſern mit
einem Menſchen auf der Leiter, um Haͤuſer und
Gaſſen roth zu numeriren — ein Kerl auf ſeinem
Kopfe einen weiſſen Kopf von Gyps tragend,
der entweder einen alten Kaiſer oder Weltweiſen
vorſtellen ſollte oder ſonſt einen Kopf — ein Gym¬
naſiaſt ſpiz auf einem Graͤnzſtein ſeßhaft, mit
einem Leich-Roman vor den Augen, um ſich die
Welt und Jugend poetiſch ausmalen zu laſſen —
und endlich oben auf ferner Hoͤhe und doch noch
zwiſchen gruͤnen Bergen ein vorſchimmerndes
Staͤdtgen, worin Gottwalt uͤbernachten konnte,
und die helle Abendſonne zog alle Spitzen und
Giebel ſehr durch Gold ins Blau empor.
„Wir ſind laufende Strichregen, und bald
Flegeljahre III. Bd. 2[114] herunter,“ ſagt' er, als er auf einem Huͤgel bald
ruͤk-bald vorwaͤrts ſah, um die Kette der aus¬
einander eilenden Geſtalten zu knuͤpfen. Da ſtieg
ihm ein Bilder-Haͤndler mit ſeiner auf eine Walze
gefaͤdelten flatternden Bilder-Bibel und Bilder-Gal¬
lerie auf dem Nabel nach und fragte, ob er nichts
kaufe. „Ich weiß gewis, daß ich nichts kaufe —
ſagte Walt und gab ihm zwoͤlf Kreuzer — aber
laſſen Sie mich ein wenig dafuͤr darin herum¬
blaͤttern.“
„Wer lieber als ich,“ ſagte der Mann, und
bog ſeinen Thorax zuruͤk und ſein Bilderbuch ihm
entgegen. Hier fand der Notar wieder die ſtehen¬
den Bilder der laufenden Bilder, das Leben fuhr
mit Farben auf dem Papiere durch einander, die
halbe Welt- und Regenten-Geſchichte, Potenta¬
ten und Herkulaniſche Topf-Bilder, und Hans¬
wuͤrſte, und Blumen- und Militair-Uniformen,
und alles uͤberlud den Magen des Mannes. Wie
heiſſet das Staͤdtlein droben? ſagte Walt. „Alt¬
fladungen, mein lieber Herr, und die Berge dort
ſind eine praͤchtige Wetterſcheide, ſonſt haͤtte uns
vorgeſtern das liebe Gewitter alles angezuͤndet“
[115] (verſezte der Bildermann) „indeß hab' ich noch
ſchoͤne aparte Stuͤcke zum Anſehen“ und blaͤtterte
das bunte Haͤng-Werk mit beiden Haͤnden auf.
Walts Auge fiel auf eine Quodlibetszeichnung,
auf welcher mit Reisblei faſt alle ſeine heutigen
Weg-Objekte, wie es ſchien, wild hingeworfen
waren. Von jeher hielt er ein ſogenanntes Quod¬
libet fuͤr ein Anagramm und Epigramm des Lebens,
und ſah es mehr truͤbe als heiter an — jezt aber
vollends; denn es ſtand ein Januskopf darauf,
der wenig von ſeinem und Vults Geſichte
verſchieden war. Ein Engel flog uͤber das
das Ganze. Unten ſtand deutſch: was Gott
will, iſt wohl gethan; dann lateiniſch: quod
Deus vult, est benefactus. Er kaufte fuͤr
ſeinen Bruder das tolle Blatt.
Der Bildermann verließ den Huͤgel mit Dank.
Walt heftete das von dem Voruͤberzuge unſeres
malenden und gemalten Lebens geruͤhrte Seelen-
Auge, auf den wetterſcheidenden Berg, der ganz
unter den Roſen der Sonne mit einzelnen Felſen-
Schneiden und mit Schafen gluͤhte, und er
dachte:
„So feſt ſteht er nun ewig da — fruͤh als
noch keine Menſchen hier waren, ſchnitt er auch
die ſchweren Wetterwolken entzwei, und zerbrach
ihre Donnerkeile und machte es hell und ſchoͤn,
im Thale ohne Augen — Und wie tauſendmal
mag das Abendroth im Fruͤhlingsglanz herrlich
ihn vergoldet haben, da noch kein Leben unten
ſtand, das in die Herrlichkeit mit Traͤumen ver¬
ſank. — — Biſt du denn nicht, du groſſe Natur,
gar zu unendlich und zu gros fuͤr die armen
Kleinen hier unten, die nicht Jahre lang, ge¬
ſchweige Jahrtauſende glaͤnzen koͤnnen, ohn' es
zu zeigen — Und dich, o Gott, hat noch kein
Gott geſehen. Wir ſind ganz gewis klein.“
Je mehr es Abend wurde, deſto mehr gieng
das epiſche Gefuͤhl in das ſuͤſſe romantiſche uͤber
und hinter den Roſen-Bergen wandelte wieder
Wina in Gaͤrten. Denn der Abend faͤrbet zu¬
gleich die optiſchen und geiſtigen Schatten bunter
an. Er ſehnte ſich nach einem fremden Menſchen¬
worte; zulezt draͤngt' er ſich an einen Mann, der
einen Schiebekarren voll Wolle ungemein langſam
ſchob, und immer ſtand und nach der Sonne ſah.
[117] „Er ſei, ſagte dieſer ſehr bald aufgeregt,
ſonſt nur ein Hutmann geweſen, und habe auf
einem glaͤſernen Horn ſein Vieh ſo in der Stadt
zuſammen geblaſen, daß mancher Hutmann et¬
was daran gewendet haͤtte, wenn er's Blaſen
halb ſo haͤtte lernen koͤnnen. Nicht ein jedweder
ſei es kapabel. Und er wuͤnſchte zu wiſſen, ob
andern Hirten ihr Vieh ſo nachgegangen, wenn
ſie durch die Elbe vorausgewatet; ihm ſei es wie
Soldaten nachgezogen; und Gott behuͤt' ihn, daß
er ſich deſſen ruͤhmte, aber wahr ſei's.“
Der Notar hatte uͤber nichts ſo viel Freude,
als wenn arme Teufel, die niemand lobte, ſich
ſelber lobten. „Ich ſchiebe noch ganzer fuͤnf
Stunden durch — ſagte der Mann, den der An¬
theil ins Reden ſezte — die friſche Nacht hab' ich
dazu ſehr gern“ — Das kann ich mir leicht den¬
ken, mein Alter, (ſagte Walt, der den unverge߬
lichen dichteriſchen Mann von Tockenburg vor
ſich glaubte), im zweiraͤderigen Schaͤferhaͤusgen,
wo er doch meiſt im Fruͤhling ſchlaͤft, hatt' er
ja den ganzen Sternenhimmel vor ſich, wenn er
aufwachte. Ihm iſt die Nacht gewis beſonders
lieb?
„Ganz natuͤrlich, denk' ich, verſezte der
Schaͤfer; denn ſobald's friſch wird, und es tapfer
thauet, ſo zieht die Wolle die Naͤſſe etwas an ſich,
und ſchlaͤgt mehr in's Gewicht, das muß ein
rechtſchaffener Schaͤfer wiſſen, Herr. Denn zum
Centner will's doch immer etwas ſagen, wenn's
auch nicht viel iſt.
Da ließ ihn Walt mit einer zornigen guten
Nacht ſtehen, und eilte dem rauchenden Berg¬
ſtaͤdtgen zu, wo er, nach den heutigen Doͤrfern
zu ſchlieſſen, im Nachtquartier unter ſolche Aben¬
theuer zu gerathen verhofte, die vielleicht ein an¬
derer mit Wurzeln und Bluͤthen geradezu aushe¬
ben, und in einen Roman verpflanzen koͤnnte.
Nro. 43. Polirter Bernſteinſtengel.
Schauſpieler — der Maskenherr — der Eyertanz —
die Einkaͤuferin.
Er kehrte im Ludwig 18. ein, weil der Gaſt¬
hof vor dem Thore lag, vor deſſen Fragmaſchi¬
nen er nie gern vorbeigieng, naͤmlich ſtillſtand.
Das erſte Abentheuer war ſogleich, daß ihm der
[119] Wirth ein Zimmergen abſchlug; „es ſei alles von
Fraͤnzels Truppe beſezt, ſagte der Ludwigs-
Wirth, der hoͤhere Poſten und Stokwerke nur ſol¬
chen, die auf den hoͤhern des Wagens und der
Pferde kamen, aufſchloß, hingegen den Fußbo¬
den Fußboten anwies. Walt ſah ſich gezwungen
den lauten Markt der Gaſtſtube mit der Ausſicht
zu bewohnen, daß wenigſtens ſein Schlafkaͤm¬
merlein einſam ſei.
Er ſezte ſich an den halbrunden Ausſchnitt
eines Wandtiſches hinein, und zog einen Haus¬
knecht, da er nahe genug voruͤber kam, gelegent¬
lich an ſich, und trug ihm hoͤflich ſeine Bitte um
Trinken vor, die er mit drei guten Gruͤnden un¬
terſtuͤzte. Ohne Gruͤnde haͤtt' er's ſechs Minuten
fruͤher bekommen. Am Klapptiſchgen that er nichts,
als in einem fort die Schauſpieler und Spielerin¬
nen im Allgemeinen hochachten, die aus- und
eingiengen, dann noch beſonders an ihnen hundert
einzelne Sachen — unter andern den mit dem
Glaͤttzahn aufgeſtrichenen Manns-Habit — die
entgegengeſezten Schwimmkleider der Weiber —
die allgemeine hohe Selbſtſchaͤtzung, wodurch je¬
[120] der Akteur leicht der Muͤnzmeiſter ſeiner Preisme¬
daillen und ſein eigner Chevalier d'honneur
war, und jede Aktrice leicht ihre Dekorazions¬
malerin — den Buͤhnen-Muth in der Wirths¬
ſtube — — das Gefuͤhl, daß der Sockus oder
der Kothurn ihre Achilles- Ferſen beſchuͤze — die
bunte Nacht ihrer Diktion, die aus ſo vielen
Stuͤcken ſo gut zugeſchnitten war, als die Uni¬
formen, welche ſich die Frankreicher aus Bett¬
decken, Vorhaͤngen und allem, was ſie erpluͤn¬
derten, machten — und den reinern Dialekt, den
er ſo ſehr beneidete. „Darunter iſt wohl keine
einzige Perſon, dacht' er, die nicht laͤngſt und oft
auf der Buͤhne eine rechtſchaffene, oder beſcheide¬
ne, oder gelehrte, oder unſchuldige, oder gekroͤn¬
te geſpielt“, und er impfte, wie Juͤnglinge pfle¬
gen, dem Holze der Buͤhne, wie des Katheders
und der Kanzel, den Menſchen ein, der darauf
nur ſteht, nicht waͤchſet.
Was ihn betruͤbte, war, daß alle Geſich¬
ter, ſogar die juͤngſten, die Alten- Rollen ſpielten,
indeß auf der Buͤhne, wie auf dem Olymp, ewige
Jugend war, wenn's der Zettel begehrte.
Im Abenddunkel fiel ihm ein Menſch auf,
der keine Mine ruͤckte, mit allen ſprach, aber
hohl, oft, wenn ihn einer fragte, ſtatt der Ant¬
wort dicht an den Frager trat, mit dem ſchwar¬
zen Blicke einmal wetterleuchtete und darauf ſich
umwandte, ohne ein Wort zu ſagen. Er ſchien
zu Fraͤnzels Frucht-eſſender Geſellſchaft zu ge¬
hoͤren; dennoch ſchien dieſe wieder ſehr auf ihn zu
merken. Der Mann ließ ſich jezt eine Melone
bringen, und eine Duͤte Spaniol, zerlegte ſie,
beſtreuete ſie damit, und aß die Tabaks-Schnit¬
te und bot ſie an. Eben kamen Lichter herein,
als er den Teller dem ſtaunenden Notar vor¬
hielt, der vollends ſah, daß der Menſch eine
Maſke, doch keine unfoͤrmliche, vorhatte und
der bekannten eiſernen glich, die ſo alte Schau¬
der in ſeine Phantaſie geworfen. Walt bog und
ſchuͤttelte ſich; es war ihm aber einiges lieb und
er trank.
Darauf ſtieg die Maſke — auch dieſe Phra¬
ſis, wenn Ein Wort eine iſt, war ihm ein
ſchwarz-bedeckter Wagen, der Todte und Tiger
fuͤhren konnte — auf einen Fenſterſtock, machte
[122] das Oberfenſter auf, und fragte einige Akteurs,
ob ſie ein Ei durch das Fenſter zu werfen ſich ge¬
traueten. „Warum?“ ſagte der eine, „Warum
nicht?“ der andere. Die Maſke machte aber
mit etwas Verſtektem in der Hand einige Linien
in die Luft und verſezte kalt: „jezt vielleicht kei¬
ner mehr!“ Er wolle alle Eier zweifach bezah¬
len, ſobald einer nur eines durchwerfe, ſagt' er.
Ein Akteur nach dem andern ſchleuderte — alle
Eier fuhren ſchief — die Maſke verdoppelte den
Preis der Aufgabe — es war unmoͤglich —
Walt, der ſonſt auf dem Lande ſo oft in die
Schleudertaſche gegriffen, that die Geldtaſche auf
und bombardirte gleichfalls mit einem Groſchen
Eier — eben ſo gut haͤtt' er eine Bombe gewor¬
fen ohne Moͤrſer — Eine ganze Bruttafel und
Poularderie von Dottern floß von den Fenſtern
hernieder.
„Es iſt gut, ſagte die, Maſke; aber noch
bis morgen Abend um dieſe Zeit bleibt die Eier¬
feindliche Kraft im Fenſter; dann kann jeder
durchwerfen“ — und ſo gieng er hinaus. Der
Wirth laͤchelte, ohne ſonderlich zu bewundern
[123] gleichſam als ſchien' er mehr zu berechnen, daß er
morgen auf ſeiner Rechentafel aus dieſen Eiern
die beſte Falkonnerie von Raubvoͤgeln ausbruͤten
koͤnnte, die ihm je in Faͤngen einen Fang zuge¬
tragen.
Da die Maſke nicht ſogleich wieder kam:
ſo gieng der Notar mit den Gedanken: „Him¬
mel, was erlebt nicht ein Reiſender in Zeit von
12 Stunden“ auch hinaus — als ſei er nach
neuen Wundern hungrig, — nach ſeiner Weiſe
die Vorſtadt im Zwielicht zu durchſchweifen.
Eine Vorſtadt zog er der Stadt vor, weil jene
dieſe erſt verſpricht, weil ſie halb auf dem Lande
an den Feldern und Baͤumen liegt, und weil ſie
uͤberall ſo frei und offen iſt.
Er gieng nicht lange, ſo traf er unter den
hundert Augen, in die er ſchon geblickt, auf ein
Paar blaue, welche tief in ſeine ſahen, und die
einem ſo ſchoͤnen und ſo gut gekleideten Maͤdgen
angehoͤrten, daß er den Hut abzog, als ſie vor¬
bei war. Sie gieng in ein offenes Kaufgewoͤl¬
be. — Da unter den feſten Plaͤzen ein Kaufla¬
den das iſt, was unter den beweglichen ein Poſt¬
[124] wagen, naͤmlich ein freier, wo der Roman¬
ſchreiber die unaͤhnlichſten Perſonen zuſammen brin¬
gen kann: ſo behandelte er ſich als ſein Selbſt-
Romanſchreiber und ſchafte ſich unter die Schnit¬
waaren hinein, aus welchen er nichts kaufte
als ein Zopfband, um doch einigermaßen ein
Band zwiſchen ſich und dem Blau-Auge anzu¬
knuͤpfen.
Das ſchoͤne Maͤdgen ſtand im Handel uͤber
ein Paar gemslederne Mannshandſchuh, ſtieg
im Bieten an einer Kreuzerleiter hinauf und hielt
auf jeder Sproſſe eine lange Schmaͤhrede gegen
die gemsledernen Handſchuhe. Der beſtuͤrzte
Notar blieb mit dem Zopfband zwiſchen den
Fingern ſo lange vor dem Ladentiſch, bis alle
Reden geendigt, die Leiter erſtiegen und die
Handſchuhe Kaufs-unluſtig dem Kaufmann zu¬
ruͤckgeworfen waren. Walt, der ſich ſogar ſcheu¬
te, ſehr und bedeutend in einen Laden zu blicken,
bloß um keine vergeblichen Hoffnungen eines
groſſen Abſatzes im Vorbeigehen in der feilſte¬
henden Bruſt auszuſaͤen, ſchritt erbittert uͤber die
Haͤrte der Sanftaͤugigen aus dem Gewoͤlbe her¬
[125] aus und ließ ihre Reize, wie ſie die Handſchu¬
he, ſtehen. Schoͤnheit und Eigennuz oder Geiz
waren ihm entgegengeſezte Pole. Im Einkau¬
fe — nicht im Verkaufe — ſind die Weiber
weniger grosmuͤthig und viel kleinlicher als die
Maͤnner, weil ſie argwoͤhniſcher, beſonnener, und
furchtſamer ſind, und mehr an kleine Ausgaben
gewoͤhnt als an groſſe. Das Blau-Auge gieng
vor ihm her, und ſah ſich nach ihm um; aber
er ſah ſich nach der Brief-Poſt um, deren Horn
und Pferd ihm nachlaͤrmte. Am Poſthorne
wollte ſeiner Phantaſie etwas nicht gefallen, oh¬
ne daß er ſich's recht zu ſagen wuſte, bis er
endlich herausfuͤhlte, daß ihm das Horn — ſonſt
das Fuͤllhorn und Fuͤhlhorn ſeiner Zukunft —
jezt ohne alle Sehnſucht — ausgenommen die
nach einer — da ſtehen laſſe und anblaſe, weil
der Klang nichts male und verſpreche, als was
er eben habe, fremdes Land. Auch mag das
oft den Menſchen kalt gegen Briefpoſtreiter un¬
terwegs machen, daß er weiß, ſie haben nichts
an ihn.
Im Ludwig XVIII fand er die Briefpoſt
[126] abgeſattelt. Dieſe fragte ihn, da er ſie ſehr an¬
ſah, wie er heiſſe? Er fragte warum? Sie ver¬
ſezte, falls er heiſſe, wie er hieß, ſo habe ſie
einen Brief an ſeinen Namen. Er war von Vults
Hand. Auf der Adreſſe ſtand noch: „man bit¬
tet ein loͤbliches Poſtamt den Brief, falls H. H.
nicht in Altfladungen ſich befinden ſollte, wieder
retour gehen zu laſſen, an H. van der Harniſch
beim Theaterſchneider Purzel.“
Nro. 44. Katzengold aus Sachſen.
Abentheuer.
Der Brief von Vult war dieſer:
„Ich komme jezt erſt aus den Federn —
indeß deine dich wohl ſchon Werſtenweit getra¬
gen, oder du ſie, — und ſchreibe eilig ohne
Struͤmpfe, damit dich mein Geſchriebenes nur
heute noch erreitet. Es iſt 10 Uhr, um 10½ Uhr
muß der Traum auf die Poſt.
Ich habe nemlich einen ſo ſeltſamen und
prophetiſchen gehabt, daß ich dir ihn nachſchicke,
[127] geſezt auch, du lachſt mich einen Monat lang
aus. Deine ganze heutige und morgende Reiſe¬
route hab' ich klar getraͤumet. Beluͤgt mich der
Quintenmacher von Traum und trift er dich in
Altfladungen nicht an, — worauf ich ſchwoͤren
wollte: — ſo laͤuft er retour an mich, und es
iſt die Frage, ob ich ihn einem Spott- und Spas¬
vogel, wie du, dann je vorzeige.
Ich ſah im Traum, auf der Landzunge ei¬
ner Wolke ſizend, die ganze nordoͤſtliche Land¬
ſchaft mit ihren Bluͤthen-Wieſen und Miſtſtaͤt¬
ten; dazwiſchen hin eine rennende, ſchmale, gelb¬
roͤckige, jubelnde Figur, die den Kopf bald vor
ſich, bald gen Himmel, bald auf den Boden
warf — und natuͤrlich wareſt du es. — Die
Figur ſtand einmal und zog ihr Beutelgen, dann
fuhr ſie in Haͤrmlesberg in der Krug. Darauf
ſah ich ſie oben auf meiner Wolkenzinne durch
das Roſana Thal ziehen, den Bergruͤcken hin¬
auf, vor Doͤrfern vorbei. — In Gruͤnbrunn
verſchwand ſie wieder im Krug. Wahrhaftig
dichteriſch war's vom Traumgott gedacht, daß
er mich allzeit 6 Minuten vorher, eh' du in ei¬
[128] nen Krug eintrateſt, ein dir ganz aͤhnliches We¬
ſen vorher hinſchluͤpfen ſehen ließ, nur aber
glaͤnzender, viel ſchoͤner, mit Fluͤgelgen, wovon
bald ein dunkelblauer bald ein hellrother Strahl,
ſo wie es ſie bewegte, meinen Wolken-Siz ganz
durchfaͤrbte; ich vermuthe alſo, daß der Traum
damit nicht dich — denn den langhoſigen Gelb¬
rock zeigt' er mir zu deutlich — ſondern deinen
Genius andeuten wollte.“
— Vor Bewegung konnte Walt kaum wei¬
ter leſen; denn jezt fand er das Raͤthſel faſt auf¬
geloͤßt, wenn nicht verdoppelt — durch ein
groͤſſeres — warum naͤmlich der Haͤrmlesberger
Wirth ſeinen Namen kannte, warum bei dem
Gruͤnbrunner derſelbe dem Kinde im Schreibbu¬
che vorgezeichnet war, und warum er bei dem
Bildermann das ſeltſame Quodlibet gefunden.
Ordentlich aus Scheu, nun weiter und tiefer in
die aufgedeckte Geiſterwelt des Briefs hineinzuſe¬
hen, erhob er in ſich einige Zweifel uͤber die
Wahrhaftigkeit deſſelben, und fragte den trin¬
kenden Poſtreiter, wann und von wem er den
Brief bekommen. „Das weiß ich nicht, Herr,
[129] ſagt' er ſpoͤttiſch; was mir mein Poſtmeiſter
giebt, das reit' ich auf die Stazion und damit
Gott befohlen.“ Allerdings, ſagte Walt und
las begierig weiter:
„Darauf ſah ich dich wieder ziehen, durch
viele Oerter, endlich in eine Kirche gehen. Der
Genius ſchluͤpfte wieder voraus hinein. Abends
ſtandeſt du auf einem Huͤgel, und nahmeſt im
Staͤdtgen Altfladungen Nachtquartier. Hier
ſah ich vor der Wirthshausthuͤre deine verherr¬
lichte Geſtalt, naͤmlich deinen Genius mit einem
dunklen behangnen Weſen kaͤmpfen, deſſen Kopf
gar kein Geſicht hatte, ſondern uͤberall Haa¬
re.“ — —
Gott! rief Walt, das waͤre ja der Maſken-
Menſch!
„Das Weſen ohne Geſicht behauptete die
Thuͤre, aber der Genius fuhr als eine Fleder¬
maus in die Daͤmmerung zu mir hinauf, ſpreng¬
te dicht an meiner Wolken-Spitze ſeine Fluͤgel
wie Krebsſcheeren ab und hinab und fiel als Maus
odel Maulwurf in die Erde, (etwa eine Meile
von Altfladungen) und ſchien fortzuwuͤhlen (denn
Flegeljahre III. Bd. 9[130] ich ſah es am Wellenbeete) bis wieder zu dir
und warf unweit einer Kegelbahn einen Huͤgel
auf. Es ſchlug acht Uhr in den Wolken um
mich herum; da kam das Ungeſicht zum Huͤgel
und ſtekte etwas wie eine Maulwurfsfalle hin¬
ein. — Du aber warſt hinterher, zogſt ſie
heraus und fandeſt, indem du damit blos den
Erd-Gipfel wegſtreicheſt, einige hundert - - -
jaͤhrige Friedrichsd'or, die der Genius, Gott weiß
aus welcher Tiefe und Breite, vielleicht aus
Berlin, gerade an die Stelle fuͤr dich herge¬
wuͤhlt“. . . .
Jezt kam wirklich die Maſke wieder. Walt
ſah ſie ſchauernd an; hinter der Larve ſteckt ge¬
wiß nur ein Hinterkopf, dacht' er. Es ſchlug
drei Viertel auf 8 Uhr. Der Mann gieng un¬
ruhig auf und ab, hatte ein rundes ſchwarzes
Papier, das, wie er einem Akteur ſagte, an
Herzensſtatt auf dem Herzen eines arquebuſirten
Soldaten zum Zielen gehangen, und ſchnitt ein
Geſicht hinein, wovon Walt im Tagebuch
ſchreibt: „es ſah entweder mir oder meinem Ge¬
nius gleich. Die unabſehliche Winternacht der
[131] Geiſter, wo die Sphinxe und Maſken liegen
und gehen, und nicht einmal ſich ſelber erblicken,
ſchien mit der Larve herausgetreten zu ſein ins
Sommerlicht des Lebens.“
Da es acht Uhr ſchlug, gieng die Larve
hinaus — Walt gieng zitternd-kuͤhn ihr nach
— im Garten des Wirthshauſes war ein Kegel¬
ſchub und der Notar ſah (wobei er maͤßig zu er¬
ſtarren anfieng) wirklich die Larve einen Stab
in einen Maulwurfshuͤgel ſtecken. Kaum war
ſie zuruͤck und weg, ſo nahm er den Stab als
ein Streichholz und rahmte ſo zu ſagen den Huͤ¬
gel wie Milch ab — — Die Sahne einiger ver¬
roſteten Friedrichsd'or konnt' er wirklich einſchoͤp¬
fen mit dem Loͤffel.
Die wenigen haltbaren Gruͤnde, warum der
Notar nicht auf die Stelle fiel, und in Ohn¬
macht, bringt er ſelber bei im Tagebuch, wo
man ſie weitlaͤuftiger nachleſen kann; obgleich
zwei ſchon viel erklaͤren; — naͤmlich der, daß
er ein Strom war, der gegen die ſtaͤrkſte Gegen¬
wart heftig anſchlug, indeß ihn blos der aufloͤ¬
ſende Luft-Himmel der Zukunft duͤnn und ver¬
[132] fliegend in die Hoͤhe zog, wie er nur wollte. Izt
aber nach dieſer Menſchwerdung des Geiſterwe¬
ſens ſtand Walt neben ſeines Gleichen. Der
zweite Grund, warum er ſtehen blieb, war, weil
er im Briefe weiter leſen und ſehen wollte, was
er morgen erfahren, und welchen Weg er nehmen
werde. „Es war wahrhaftig das erſtemal in
meinem Leben, ſchreibt er, daß ich mich der ſelt¬
ſamen Empfindung nahte, ordentlich ſo hell wie
uͤber eine Gegenwart hinweg in eine Zukunft hin¬
ein zu ſehen, und kuͤnftige Stunden zweimal zu
haben, jezt und einſt.“
In der Gaſtſtube war die Maſke nicht mehr.
Er las herzklopfend die Marſch- und Lebensrou¬
te des Morgens:
„Darauf wurde der Traum wieder etwas
menſchlicher. Ich ſah, wie am Morgen darauf
dein Genius, und das Un-Geſicht dir auf zwei
verſchiedenen Wegen vorflogen, um dich zu lo¬
cken; du folgteſt aber dem Genius und giengeſt
ſtatt nach St. Luͤne lieber nach Roſenhof. Dar¬
uͤber fiel das Un-Geſicht in Stuͤcken herab, ei¬
nen Todtenkopf und einige Knochen ſah ich deut¬
[133] lich von der Wolke. Der Genius wurde in der
Ferne eine helle Wolke; ich glaub' aber mehr,
daß er ſie nur um ſich geſchlagen. Du trabteſt
ſingend aus deinem Mittagsquartier, Namens
Jodiz, durch eine Landſchaft voll Luſtſchloͤſſer
bis an die Roſana, die dich ſo lange aufhielt,
bis dich die Faͤhr-Anſtalt hinuͤbergefahren hatte
in die paſſable Stadt Roſenhof. Mir kam's
vor, ſo weit ich die tief in den Horizont hinun¬
ter liegende Stadt erkennen konnte, als habe ſich
uͤber ihr der Genius in ein groſſes blendendes
Gewoͤlke auseinander gezogen, und dich und die
Stadt zulezt darin aufgefaſſet, bis die Wolken¬
ſtrecke unter immer ſtaͤrkerem Leuchten und
Auswerfen von Sternen und Roſen und Gras
zugleich mit meinem Traume aus einander
gieng.
Und damit wollt' er, denk' ich, nur be¬
deuten, daß du dich im Staͤdtlein recht diver¬
tiren, und darauf auf den Heimweg machen
wuͤrdeſt.
Wie eine ſolche Traͤumerei in meinen Kopf
gekommen, laͤſſet ſich nur dadurch begreiflich
[134] machen, daß ich ſeit geſtern immer deinen eignen
mit ſeiner Romantik darin gehabt.
Ich wollte, dein Name waͤre ſo beruͤhmt,
daß der Brief dich faͤnde, wenn blos darauf
ſtuͤnde: an H. H., auf der Erde; wie man z.
B. an den Mann im Monde recht gut ſo
adreſſiren kann. Die ſchoͤnſte Adreſſe hat jener
allein, an den man blos die Aufſchrift zu ma¬
chen braucht: an Den im Univerſum.
Reiſe klug, wie eine Schlange, Bruder.
Habe viele Weltkenntniß und glaube nicht —
wie du dir einmal merken laſſen, — es ſei
thunlich, daß ſich auf, der Briefpoſt blinde Paſ¬
ſagiere aufſetzen koͤnnten oder auch ſehende, und
laſſ' aͤhnliche Fehlſchuͤſſe. Sei verdammt ſeelig
und lebe von den alten Friedrichsd'oren, die der
Maulwurf aufgeworfen, in einigem Saus und
Braus. Erkieſ', o Freund, nur kein Trauerpferd
zu einem Steckenpferd; da ohnehin jedes Kreuz,
vom Ordenskreuze an bis zum Eſelskreuz herab
entweder genug traͤgt oder genug druͤckt. Meide
die groſſe Welt moͤglichſt; ihre Hopstaͤnze ſind
aus F mol geſezt. Das Schickſal nimmt oft
[135] das dicke Suͤsholz, an welchem die Leute kaͤuen,
als einen guten Pruͤgel vor und pruͤgelt ſie ſehr
— Ich wuͤnſchte doch nicht, daß du gerade auf
der erſten Stufe des Throns gleich neben dem
Fuͤrſtenſtuhlbein ſtaͤndeſt, wenn ihn der neue
Regent zur Kroͤnung beſteigt, und daß er dich
dann zu etwas erhoͤbe, in den Adelſtand, zu ei¬
nem Kammer- oder Jagdjunker oder ſo; — wie
ein ſolcher Regent wohl pflegt, weil er in ſei¬
ner neuen Regierung gerade nichts fruͤher macht
als das edelſte, naͤmlich Menſchen, d. h. Kam¬
mer-Herrn, Edelleute u. ſ. w. und erſt ſpaͤter
den Staat und deſſen Gluͤck, ſo wie die alten
Theologen *) behaupten, daß Gott die Engel
vor der Erde und zwar darum erſchaffen, da¬
mit ſie ihn nachher bei deren Schoͤpfung lob¬
ten —
Ich wuͤnſcht' es nicht, ſag' ich, daß du
dem jungen neugebacknen und neubackenden Fuͤr¬
ſten die gedachte Ehre anthaͤteſt, und eine an¬
naͤhmeſt; — warlich ein Thron wird, wie der
[136] Veſuv, gerade hoͤher durch Auswerfen von Hoͤ¬
hen und Hohen um ihn her — und mein Grund
iſt dieſer: weil du, geſezt dir wuͤrde irgend eine
bedeutende maͤnnliche oder weibliche Hof-ja Re¬
gierungs-Charge zu Theil, doch nicht eher ein
ruhiges Leben und eine ſtarke Penſion bekaͤmeſt,
als nach einem tapfern verflucht groſſen Fehltritt
oder bei gaͤnzlicher Untauglichkeit zu irgend et¬
was, worauf der Hof-Menſch Abſchied und
Penſion begehrt und nimmt, gleich dem verur¬
theilten Sokrates, der ſich eine aͤhnliche Strafe
vor Gericht diktirte, naͤmlich lebenslaͤnglichen
Freitiſch als Prytan; wie untuͤchtig aber du zu
rechter Untuͤchtigkeit biſt, das weiſt du am be¬
ſten — Kannſt du waͤhlen auf deiner Spannen-
Reiſe, ſo beſuche lieber den groͤſten europaͤiſchen
Hof als die kleinſten deutſchen, welche jenen in
nichts uͤbertreffen (in den Vorzuͤgen am wenig¬
ſten) als in den Nachtheilen, wie man denn
wahrgenommen, daß auch die Seekrankheit (was
ſie giebt und nimmt, kennſt du) viel aͤrger
wuͤrgt auf Seen als auf Meeren — Suche dein
Heil an Hoͤfen mehr in groben Thaten als in
[137] groben Worten; dieſe werden ſchwerer verziehen.
— Ein Hofmann vergiebt zwar leicht, aber mit
Gift — Auf dieſen ſchluͤpfrigen Abhaͤngen des
Throns betrage dich uͤberhaupt ganz treflich und
bedenke, daß man da wie die Griechen zu Ho¬
mers *) Zeiten, die Verwuͤnſchungen nur leiſe
zu thun habe, weil die lauten auf den Urhe¬
ber zuruͤckſpringen — Sage Fuͤrſten, Markgra¬
fen, Erzherzogen, Koͤnigen zwar die Wahrheit,
aber nicht groͤber als jedem ihrer Bedienten, um
dich von republikaniſchen Autoren zu unterſchei¬
den, die ſich lieber vor Verlegern als vor Poten¬
taten buͤcken — Gegen Maltheſer-Damen, Kon¬
ſuleſſe, Hof- und andere Damen vom hoͤchſten
Rang ſei kein Pariſer Biſam-Schwein, d. h.
keine parfuͤmirte Beſtie, kein verbindlicher Gro¬
bian, der auf die manierlichſte Weiſe von der
Welt des Teufels gegen ſie iſt. — Sei der
ſchoͤnſte, lang gewachſenſte, ſchlankeſte Mann
von 30 Jahren, der mir noch vorgekommen —
Kurz, bleibe ein wahres Muſterbild, bitt' ich dich
als Bruder! Ueberhaupt, ſei paſſabel!
Ich ſchlieſſe den laͤngſten ernſthaften Brief,
den ich ſeit zehn Jahren geſchrieben; denn es ſchlaͤgt
10½ Uhr, und er ſoll durchaus noch fort. Him¬
mel aber! wo magſt du jezt ſeyn? Vielleicht ſchon
mehr als Werſten- weit von unſerm Haslau, und
erfaͤhreſt nun an dir ſelber, wie leicht es groſ¬
ſen Reiſen wird, den Menſchen auszubaͤlgen
und umzuſtuͤlpen wie einen Polypen, und was
es auf ſich habe, wenn Haͤfen und Maͤrkte und
Voͤlker vor uns voruͤbergehen, oder wir, was
daſſelbe iſt, vor ihnen — und wie es einem ziem¬
lich ſchwer ankommt, nicht zu veraͤchtlich auf
Stubenhocker herab zu ſehen, die vielleicht noch
nie uͤber 10 Meilen weit von ihrem Sparofen
weggekrochen und fuͤr welche ein Urtheil uͤber ein
Paar Reiſende, wie wir, eine Unmoͤglichkeit iſt.
Solche Menſchen ſollten, Freund, nur einmal an
ihrer eignen Haut erfahren, wie ſchwer das brit¬
tiſche Geſez, daß Leute, die aus der Stadt kom¬
men, denen ausweichen ſollen, die in ſelbige
reiſen*), manchem Weltmann moraliſch zu hal¬
[139] ten falle: ſie ſaͤhen uns beide anders an. —
Fahre wohl! Folgt mir, noli nolle!
v. d. h.
Postscr. Hebe dieſen Brief, im Falle du ihn
bekommſt — ſonſt nicht — auf, es ſind Gedan¬
ken darin fuͤr unſern Hoppelpoppel.
Nro. 45. Katzenauge.
Eß- und Trink-Wette — das Maͤdgen.
Es mag nun hinter dem Traum ein Geiſt
oder ein Menſch ſtecken, dachte Walt, eines der
groͤßten Abentheuer bleibt er immer. Das ſchwang
ihn uͤber die ganze Stube voll Gaͤſte weg; er fuhr
auf den romantiſchen Schwanzſtern uͤber die Er¬
den hinaus, die wir kennen. Die Friedrichsd'ore,
von denen er viel verthun wollte, waren die gold¬
nen Fluͤgeldecken ſeiner Fluͤgel, und er konnte ohne
Eingriffe in den vaͤterlichen Beutel ſich ein Noͤſel
Wein ausbitten, geſezt auch, der Elſaſſer Teſta¬
tor komme wieder auf.
So froh geſtimmt und leicht gemacht bahnte
er ſich durch das theatraliſche Gewimmel der
[140] Stube ſeinen beſtaͤndigen Hin- und Herweg, wie
durch ein Kornfeld, ſtreifte oft an Chemiſen vor¬
bei, ſtand vor manchen Gruppen ſtill, und laͤ¬
chelte kuͤhn genug in fremdes Geſpraͤch hinein.
Izt trat die Blauaͤugige, welche keine Manns¬
handſchuhe gekauft, in's Zimmer. Der Direkteur
der Truppe ſchnaubte oͤffentlich Winen (ſo ver¬
kuͤrzt' er Jako-bine) hart an, weil ſie ihm zu
theuere Handſchuhe mitgebracht. Mit Vergnuͤ¬
gen entſchuldigte Walt innerlich ihren Handels¬
geiſt mit der alten Theater-Einrichtung ſolcher
Truppen, daß ſie nichts uͤbrig haben, und daß
aller Goldſtaub nur Geigenharzpulver iſt, das
man in ihr Feuer wirft. Das Maͤdgen heftete,
waͤhrend der rohe Direkteur um ſie donnerte, die
heiterſten Blicke auf den Notarius, und ſagte
endlich, der Herr da moͤge doch den Ausſpruch
thun und zeugen. Er thats und zeugte ſtark.
Aber der Donnerer wurde wenig erſchuͤttert.
Da trat die Maske wieder ein. Walt ſcheuete
ſeinen boͤſen Genius. Sie ſchien ihn wenig zu
bemerken, aber deſto mehr den geizigen Prinzipal.
Endlich brachte ſie es durch leiſes Diſputiren da¬
[141] hin, daß zu einer Wette der Regiſſeur 10 Thaler
in Silber auf den Tiſch legte und jene eben ſo viel
in Gold.
Eine Flaſche Wein wurde gebracht, eine
Schuͤſſel, ein Loͤffel und eine neugebakne Zwei¬
pfenning-Semmel. Es wurde nun vor dem gan¬
zen Stuben-Publikum die Wette publizirt, daß
der Masken-Herr in kuͤrzerer Zeit eine Flaſche
Wein mit dem Loͤffel aufzueſſen verſpreche, als
der Direkteur ſeine Semmel hinunterbringe; und
daß dieſer, wie gewoͤhnlich bei Wetten, gerade
auf das Umgekehrte wette. Da die Wette gar zu un¬
gleich ſchien: ſo beneideten die meiſten Hinterſaſſen
des Theater-Lehnsherrn ihrem Vorgeſezten das
ungeheure Gluͤk, ſo leicht — blos durch ein Sem¬
mel-Eſſen — zwei preuſſiſche Goldſtuͤcke, die
nicht einmal aus dem Lande ausgefuͤhrt werden
duͤrfen, in ſeines einzufuͤhren.
Alles hob an, der Larvenherr hielt die Wein¬
ſchuͤſſel wagrecht an Kinn, und fieng das ſchnell¬
ſte Schoͤpfen an.
Der Gros- und Brodherr der Truppe that
einen der unerhoͤrteſten Biſſe in die Semmel, ſo
[142] daß er wohl die Halb- oder Drittels-Kugel ſich
ausſchnitt. Izt aß er unbeſchreiblich — er hatte
eine halbe Weltkugel auf dem Zungenbein zu be¬
wegen, zu zerſtuͤcken, zu mazeriren, alſo auf
troknem und naſſem Weg zugleich zu ſcheiden —
was er von Dienſt-Muskeln in der Wett'-Hoͤhle
beſaß, mußte aufſtehen und ſich regen, er ſpann¬
te und ſchirrte den Beiß- und den Schlaͤfe-Mus¬
kel an, die bekanntlich immer zuſammen ziehen,
— ferner den innern Fluͤgelmuskel, den aͤuſſern
und den zweibaͤuchigen — die Muskeln druͤkten
nebenher die noͤthigſten Speicheldruͤſen, um Men¬
ſtrua und Alkaheſte zu erpreſſen, der zweibaͤuchi¬
ge die Kieferdruͤſe, der Beißmuskel die Ohrdruͤſe,
und ſo jeder jede. Aber wie in einem Ballhauſe
wurde der Magenball im Munde hin und herge¬
ſchlagen; die Kugel, womit er alle zehn Thaler
wie Kegel in den Magen ſchieben wollte, wollte
durchaus die Schlundbahn nicht ganz paſſiren,
ſondern halb und in kleinen Diviſionen, wie ein
Armee-Kern. Auf dieſe Weiſe indeſſen verlor der
theatraliſche Commandeur, der den Larvenherrn
unaufhoͤrlich und ungehindert ſchoͤpfen ſehen mu߬
[143] te, eine unſchaͤzbare Zeit, und indem er den Teu¬
fels-Abbis muͤhſam, Cahiersweiſe, oder in Ra¬
zionen ablieferte und ſchlukte, hatte der Wett-
Herr ſchon ſeine zwei Drittel mit dem Loͤffel leicht
aufgetrunken.
Auſſer ſich wirkte Fraͤnzel in alle ſeine Mus¬
keln hinein — mit den Ceratogloſſis, und den Ge¬
niogloſſis plattirt' er die Zunge, mit den Stylo¬
gloſſis exkavirt' er ſie — darauf hob er Zungen¬
bein und den Kahlkopf empor und ſtieß die Un¬
gluͤks-Kugel wie mit Ladſtoͤcken hinab. An ana¬
tomiſchen Schling-Regeln fehlt' es ihm gar
nicht.
Noch lag eine ganze Drittels-Semmel vor
ihm, und der Larvenherr inkorporirte ſchon zu¬
ſehends das vierte Viertel, ſein Arm ſchien ein
Pumpenſtiefel oder ſein Loͤffel.
Der Ungluͤkliche ſchnappte nach der zweiten
Hemiſphaͤre der Hoͤllenkugel — in Betracht der
Zeit hatt' er ein entſezliches Diviſionsexempel vor
ſich oder in ſich, eine lange Analyſe des Unendli¬
chen — er ſchauete kaͤuend die Zuſchauer an, aber
nur dumm und dachte ſich nichts bei ihnen, ſon¬
[144] dern ſchwizte und malmte verdruͤslich vor ſich —
die zwanzig Thaler auf dem Tiſche ſah er grim¬
mig an, und wechſelnd den Loͤffel-Saͤufer — zu
reden war keine Zeit und das Publikum war ihm
nichts — die elende Pechkugel vom Drachen konnt'
er nicht einmal zu Brei zerſetzen (es floß ihm
nicht) — an's Schlucken durft' er gar nicht den¬
ken, indeß er ſah, wie der Maskenherr den Wein
nur noch zuſammenfiſchte — —
Das fuͤhlt' er wohl, ſein Heil und Heiland
waͤre man geweſen, haͤtte man ihn auf der Stelle
in eine Schlange verkehrt, die alles ganz ein¬
ſchlukt, oder in einen Hamſter, der in die Backen¬
taſchen verſtekt, oder ihm den Thyreopalatinus
ausgeriſſen, der die Eßwaaren hindert, in die
Naſe zu ſteigen.
Endlich ſchuͤttete der Maskenherr die Schuͤſ¬
ſel in den Loͤffel aus — und Fraͤnzel ſtieß und
worfelte den Semmel „globe de Compression“
noch hin und her, ſo nahe am erweiterten Schlund¬
kopfe, aber ohne das geringſte Vermoͤgen, die
Semmel durch das ſo ofne Hoͤllenthor zu treiben,
ſo gut er auch aus den anatomiſchen Hoͤrſaͤlen
[145] wußte, daß er in ſeinem Maule uͤber eine Mus¬
kel-Hebekraft von 200 Pfund zu befehlen habe.
Der Larvenherr war fertig, zeigte endlich
dem Publikum die leere Schuͤſſel und die vollen
Backen des Direkteurs und ſtrich das Wettgeld
mit der Rechten in die Linke, unter der Bitte,
Hr. Fraͤnzel ſolle, wenn er etwas darwider und
die Semmel ſchon hinunter habe, blos das Maul
aufmachen. Fraͤnzel that's auch, aber blos um
den teufliſchen Fangeball durch das groͤſſere Thor
davon zu ſchaffen. Der Maskenherr ſchien froh
zu ſeyn, und bot dieſelbe Wette wieder aus, bei wel¬
cher er glaͤnzende Erleichterungen vorſchlug, z. B.
ſtatt einer Semmel blos einen ganzen kleinen Kuh¬
oder Ziegenkaͤſe, kaum Knie- oder Semmel-Schei¬
ben gros, auf einmal in den Mund zu nehmen
und hinabzueſſen, waͤhrend er trinke ut supra;
aber man dachte ſehr verdaͤchtig von ihm und
niemand wagte.
Den Notar haͤtte der Direkteur zu ſehr ge¬
dauert, wenn er vorhin die ſchoͤne Blondine ſanf¬
ter angefahren haͤtte. Dieſe ſaß und naͤhte, und
hob, ſo oft ſie mit der Nadel aufzog, die groſſen
Flegeljahre III. Bd. 10[146] blauen Augen ſchalkhaft zu Walten auf, bis er
ſich neben ſie ſezte, ſcharf auf die Naht blikte und
auf nichts dachte, als auf eine ſchikliche Vorrede
und Anfurth. Er konnte leicht einen Geſpraͤchs-
Faden lang und fein verſpinnen, aber das erſte
Floͤkgen an die Spindel legen konnt' er ſchwer.
Waͤhrend er neben ihr ſo vor ſeiner eignen Seele
und Gehirnkammer antichambrirte, ſchnellte ſie
leicht die kleinen Schuhe von ihren Fuͤßgen ab,
und rief einen Herrn her, um ſie an den Trocken¬
ofen zu lehnen. Mit Vergnuͤgen waͤr' er ſelber
aufgeſprungen; aber er wurde zu roth; ein weib¬
licher Schuh (denn er gab faſt deſſen Fuß darum)
war ihm ſo heilig, ſo niedlich, ſo bezeichnend, wie
der weibliche Hut, ſo wie es am Manne (ſein
Schuh iſt nichts) nur der Ueberrock iſt, und an
den Kindern jedes Kleidungsſtuͤk.
„Ich daͤchte, Sie ſagten endlich etwas“, ſagte
Jacobine zu Walten, an dem ſie ſtatt der Zunge den
Reſt mobil machte, indem ſie ihr Knaͤul fallen ließ,
und es am Faden halten wollte. Er lief der Gluͤcks¬
kugel nach, ſtrikte und drehte ſich aber in den Faden
dermaſſen ein, daß Jakobine aufſtehen und dieſen von
[147] ſeinem Beine, wie von einer Spindel abwaifen
mußte. Da ſie ſich nun buͤkte, und er ſich buͤk¬
te, und ihre Poſtpapierhaut ſich davon roth be¬
ſchlug — denn ihr ſchlechter Geſundheitspaß wur¬
de auſſer und auf der Buͤhne mit rother Dinte kor¬
rigirt — und er die Roͤthe mit Gluth erwiederte;
und da beide ſich einander ſo nahe kamen und in
den unordentlichſten Zwieſpalt der Rede: ſo war
durch dieſe thaͤtige Gruppirung mehr abgethan
und gethan fuͤr Bekanntſchaft, als wenn er drei
Monate lang geſeſſen und auf ein Praͤludium und
Antrittſprogramm geſonnen haͤtte. — Er war am
Ariadnens Faden des Knaͤuls durch das Labyrinth
des Rede-Introitus ſchon durch, ſo daß er im
Hellen fragen konnte: was ſind Ihre Hauptrol¬
len?“ — „Ich ſpiele die unſchuldigen und nai¬
ven ſaͤmtlich“, verſezte ſie, und der Augenſchein
ſchien das Spielen zu beſtaͤtigen.
Um ihr rechte Freude zu machen, gieng er,
ſo tief er konnte, in's Rollen-Weſen ein, und
ſprach der ſtummen Naͤhterin feurig vor. „Sie
reden ja ſo langweilig, wie der Theaterdichter —
ſagte ſie — oder Sie ſind wohl einer. Dero wer¬
[148] then Namen?“ — Er ſagte ihn. „Ich heiſſe
Jakobine Pamſen; Hr. Fraͤnzel iſt mein Stief¬
vater. Wo gedenken Sie denn eigentlich, H. Har¬
niſch?“ Er verſezte: „wahrſcheinlich nach Ro¬
ſenhof.“ — „Huͤbſch, ſagte ſie. Da ſpielen wir
morgen Abends.“ Nun malte ſie die goͤttliche
Gegend der Stadt, und ſagte: „die Gegend iſt
ganz ſuperb.“ „Nun?“ fragte Walt, und ver¬
ſprach ſich eine kleine Muſter- und Produkten-
Karte der Landſchaft, ein duͤnnes Blaͤtterſkelet da¬
ſigen Baumſchlags und ſo weiter. „Aber — Was
denn? ſagte die Pamſen, die Gegend, ſag' ich,
iſt die goͤttlichſte, ſo man ſchauen kann. Schauen
Sie ſelber nach.“
Da trat der Larvenherr unbefangen hin und
ſagte entſcheidend: „bei Berchtolsgaden im Salz¬
burgiſchen iſt eine aͤhnliche und in der Schweiz
fand' ich ſchoͤnere. Aber kuͤnſtliche Zahnſtocher
ſchnizen die Berchtolsgadner“ und zog einen aus
der Weſte, deſſen Grif ſauber zu einem Spizhund
ausgearbeitet war.
„Wer Luſtreiſen machen kann, fuhr er fort,
mein Herr, findet ſeine Rechnung vielleicht beſſer
[149] im Badort St. Luͤne, wo gegenwaͤrtig drei Hoͤfe
verſiren, der ganze Flachſenfingiſche, dem's ge¬
hoͤrt, darnach der Schneerauer und der Peſtizer
und ein wahrer Zufluß von Kurgaͤſten. Ich reiſe
morgen ſelber dahin.“
Der Notar machte eine matte Verbeugung;
denn das Geſchik hatt' ihn auf dieſen ganzen
Abend verurtheilt, zu erſtaunen. „Allmaͤchtiger
Gott, dacht' er bei ſich, iſt denn das nicht woͤrtlich,
ſo wie in des Bruders Briefe?“ Er ſtand auf —
(Jakobine war aus Haſſe gegen den um 10 fl.
reichern Larvenherrn laͤngſt weggelaufen mit dem
Naͤhzeug in den Haͤnden) — und ſah am Lichte
dieſe Brief-Stelle nach: „ich ſah, wie am Mor¬
gen dein Genius und das Ungeſicht dir auf zwei
verſchiedenen Wegen vorflogen, um dich zu lok¬
ken; du folgteſt aber dem Genius und giengeſt
ſtatt nach St. Luͤne lieber nach Roſenhof“ — Er
ſah nun zu gewiß, die Maske ſei ſein boͤſer Ge¬
nius, Jakobine Pamſen aber, nach manchem zu
urtheilen, ſein beſter, und er wuͤnſchte ſehr, ſie
waͤre nicht aus der Stube gegangen.
Hatt' er ſchon vorher den Entſchluß gefaſſet,
[150] lieber dem Briefe und Traume zu folgen nach Ro¬
ſenhof, weil er aus Homer und Herodot und ganz
Griechenland eine heilige Furcht gelernt, hoͤhern
Winken, dem Zeigefinger aus der Wolke mit fre¬
cher Willkuͤhr zu widerſtehen und gegen ihn die
Menſchen-Hand aufzuheben: ſo wurde ſein Ent¬
ſchluß des Gehorſams jezt durch die Zudringlich¬
keit der Maske und die Einwirkung Jakobinens
und durch das Nez neu verſtaͤrkt, worin Menſchen
und Voͤgel ſich der Farbe wegen fangen, weil es
mit der allgemeinen der Erde und Hoffnung an¬
geſtrichen iſt, naͤmlich der gruͤnen.
Jakobinen ſah er nicht mehr, als blos auf
ihrer Thuͤrſchwelle mit einem Lichte, da er uͤber
die ſeines Kaͤmmerleins trat. Er uͤberdacht' es
darin lange, ob er nicht gegen die Menſchheit
durch Argwohn verſtoſſe, wenn er den Nachtrie¬
gel vorſchiebe. Aber die Maske fiel ihm ein und
er ſties ihn vor. Im Traume war es ihm, als
werd' er leiſe bei dem Namen gerufen. „Wer
da?“ ſchrie er auf. Niemand ſprach. Nur der
hellſte Mond lag auf dem Bett-Kiſſen. Seine
Traͤume wurden verworren, und Jakobine ſezt'
[151] ihn immer wieder in das roſenfarbne Meer ein,
ſo oft ihn auch die Maske an einer Angel auf ei¬
nen heiſſen Schwefel-Boden geſchleudert.
Nro. 46. Edler Granat.
Der friſche Tag.
Am fruͤhen Morgen brach die Truppe, wie
Truppen, die Zelte laͤrmend ab und aus dem
Lager auf. Die Fuhrleute ſtaͤubten das Nacht¬
ſtroh von ſich. Die Roſſe wieherten oder ſcharr¬
ten. Die Friſche des Lebens und Morgens ſpreng¬
te brennenden Morgenthau uͤber alle Felder der
Zukunft, und man hielt es ſehr der Muͤhe werth,
ſolchen zuzureiſen. Das Getoͤſe und Streben be¬
lebte romantiſch das Herz, und es war, als reite
und fahre man gerade aus dem Proſa-Land in's
Dichter-Land, und komme noch an um 7 Uhr,
wenn es die Sonne vergolde. Als vor Walten
die uͤber alles blaſſe Jakobine wie ein bleicher
Geiſt einſaß, ſah er in den Traum und Abend
hinein, wo er dieſen weiſſen Geiſt wieder finden,
auch uͤber die Blaͤſſe fragen konnte; denn er ver¬
[152] rieth faſt leichter Seelen-Schminke, als Wangen-
Schminke, dieſe rothe Herbſtfarbe fallender Blaͤt¬
ter, ſtatt der Fruͤhlingsroͤthe jungfraͤulicher Bluͤ¬
the. Weiſſe Schminke errathen Gelehrte noch
ſchwerer oder gar nicht, weil ſie nicht abſehen
koͤnnen, ſagen ſie, wo ſie nur anfange.
Die Maske ſaß auf, und ſprengte ſeit ab
nach St. Luͤne zu. Gottwalt wußte, daß, wenn
er den Weg nach Jodiz einſchluͤge, der weiſſagen¬
de Traum, daß er da Mittags eſſen werde, ſchon
halb in Erfuͤllung gehe; — er nahm alſo dieſen
Weg. Es ſei, daß der zweite Reiſetag an der
Natur den blendenden Glanz abwiſchet, oder daß
ſein unruhiger Blik in das geweiſſagte Roſenhof
und deſſen Gaben, das leiſe Gruͤn der Natur, das
wie ein Gemaͤlde nur in ein ſtilles Auge kommt,
verſcheuchte: genug, ſtatt des geſtrigen beſchauli¬
chen Morgens hatt' er jezt einen ſtrebenden thaͤti¬
gen. Er ſaß ſelten nieder, er flog, er ſtand und
gieng als Befehlshaber an der Spize ſeiner Tage.
Waͤr' ihm Don Quixote's Roſinante auf einer
Wieſe graſend begegnet, er haͤtte ſich frei auf die
nakte geſchwungen, (er waͤre ſein eigner Sattel
[153] geweſen:) um in die romantiſche Welt hinein zu
reiten bis vor die Hausthuͤre einer Dulzinee von
Toboſo. Er ſah voruͤbergehend in eine hackende
Oelmuͤhle, und trat hinein; die Rieſenmaſchi¬
nen kamen ihm lebendig vor, die hauenden Ruͤſ¬
ſel, die unaufhaltbaren Stampf-Maͤchte und
Kloͤtze wurden von ſeltſamen Kraͤften und Gei¬
ſtern geregt und aufgehoben.
Durch den rein-blauen Himmel brauſete
ein unaufhoͤrlicher Sturm — der ſeine eigne
Windharfe war; — aber nichts weht weiter in
Zauber- und Zukunfts-Laͤnder, als eine ſolche
unſichtbare toͤnende Gewalt. Geiſter flogen im
Sturm; die Waͤlder und Berge der Erden wur¬
den von Ueberirdiſchen geſchuͤttelt und geruͤckt;
— die aͤuſſere Welt ſchien ſo beweglich zu wer¬
den, wie es die innere iſt.
Ueberall lagen auf den Felſen Ritter-Schloͤſ¬
ſer — in den Gaͤrten Luſtſchloͤſſer — an den
kleinen Reben-Bergen weiſſe Haͤuſergen — zu¬
weilen da eine rothglaͤnzende Ziegelhuͤtte, dort
das Schieferdach einer Korn- oder Papiermuͤh¬
le. — — Unter allen dieſen Daͤchern konnten
[154] die ſeltenſten Vaͤter und Toͤchter und Bege¬
benheiten wohnen und heraus treten, und auf
den Notar zugehen; er verſah ſich deſſen ohne
Furcht.
Als eine zweite Straſſe ſeine zu einem Kreuz¬
wege, dieſem Andreaskreuze der Zauberinnen,
durchſchnitt: ſo wehten ihn tiefe Sagen ſchauer¬
lich aus der Kindheit an; im Brennpunkte der
vier Welt-Ecken ſtand er, das fernſte Treiben
der Erde, das Durcheinanderlaufen des Lebens
umſpannt' er auf der wehenden Stelle. Da er¬
blickt' er Jodiz, wo er Vults Traume nach
eſſen ſollte. Es kam ihm aber vor, er hab' es
ſchon laͤngſt geſehen, der Strom um das Dorf,
der Bach durch daſſelbe, der am Fluſſe ſteil auf¬
fahrende Wald-Berg, die Birken-Einfaſſung
und alles war ihm eine Heimath alter Bilder.
Vielleicht hatte einmal der Traumgott vor ihm
ein aͤhnliches Doͤrfgen aus Luft auf den Schlaf
hingebauet und es ihn durchſchweben laſſen *).
[155] Er dachte nicht daran, ſondern an Abentheuer
und an die Natur, die gern mit Aehnlichkeiten
auf Steinen, und in Wolken und mit Zwil¬
lingen ſpielet.
Im Jodizer Wirthshaus wurd' er wieder
uͤberraſcht durch Mangel an allem Ueberraſchen¬
den. Nur die Wirthin war zu Hauſe und er der
erſte Gaſt. Erſt ſpaͤter kam mehr Leben an, ein
Boͤheimer mit vier Verkaufſchweingen, und dem
Hunde; aber da dieſer ſehr lamentirte, daß er
lieber vier Heerden treiben und abſetzen wollte als
allemal die lezten Aeſer, mit denen es nie ein
Ende nehme: ſo ließ ſich Walt ſeine Sonnen¬
ſeite nicht laͤnger zur Winterſeite umdrehen, ſon¬
dern zog mit einer Portativ-Mahlzeit davon.
Er gelangte in einen felſigen ſtillen Wald
und glitt vom Weg ab, und lief ſo lange einer
immer enger ablaufenden Schlucht nach, bis er
an die ſogenannte ſtille Stelle kam, die er im
Tagebuche ſo beſchreibt:
[156]
„Die Felſen draͤngen ſich einander entgegen,
und wollen ſich mit den Gipfeln beruͤhren und
die Baͤume darauf langen wirklich einander die
Arme zu. Keine Farbe iſt da als Gruͤn und oben
etwas Blau. Der Vogel ſingt und niſtet und
huͤpft, nie geſtoͤrt auf dem Boden, auſſer von
mir. Kuͤhle und Quellen wehen hier, kein Luͤft¬
gen kann herein. Ein ewiger dunkler Morgen
iſt da, jede Waldblume iſt feucht, und der Mor¬
genthau lebt bis zum Abendthau. So heimlich
eingebauet, ſo ſicher eingefaſſet iſt das gruͤne
Stillleben hier, und ohne Band mit der Schoͤp¬
fung als durch einige Sonnenſtrahlen, die Mit¬
tags die ſtille Stelle an den allgewaltigen Him¬
mel knuͤpfen. Sonderbar, daß gerade die Tiefe
ſo einſam iſt, wie die Hoͤhe. Auf dem Montblanc
fand Sauſſuͤre nichts als einen Tag- und einen
Nachtſchmetterling, was mich ſehr erfreuete. —
Am Ende wurde ich ſelber ſo ſtill, als die Stelle,
und ſchlief ein. Ein Zaubertraum nach dem an¬
dern legte mir Fluͤgel an, die bald wieder zu
groſſen Blumenblaͤttern wurden, auf denen ich
lag und ſchwankte. Endlich war mir, als rufe
[157] mich eine Floͤte beim Namen und mein Bruder
ſtehe dicht an meinem Bette. Ich ſchlug die Au¬
gen auf, allein ich hoͤrte faſt gewiß noch eine
Floͤte. Ich wuſt' aber durchaus nicht, wo ich
war; ich ſah die Baum-Gipfel mit Gluth-
Roth durchfloſſen; ich entſann mich endlich muͤh¬
ſam der Abreiſe aus Jodiz und erſchrack, daß
ich eine ganze Nacht und den prophezeieten Abend
in Roſenhof, hier verſchlafen haͤtte; denn ich
hielt die Roͤthe fuͤr Morgenroͤthe. Ich draͤngte
mich durch den thauenden Wald hindurch und
auf meine Straſſe hinaus — ein praͤchtiges
Morgen-Land faltete vor mir die gluͤhenden Fluͤ¬
gel auf, und riß mein Herz in das allerheiterſte
Reich. Weite Fichtenwaͤlder waren an den Spi¬
zen gelbroth beſaͤumt, freilich nur durch morden¬
de Fichtenraupen. Die liebe Sonne ſtand ſo,
daß es der Jahreszeit nach 5¾ Uhr am Mor¬
gen ſein mochte, es war aber, die Wahrheit zu
ſagen, 6¼ Uhr Abends. Indeß ſah ich die Lin¬
denſtaͤdter Gebuͤrge roth von der entgegenſtehen¬
den Sonne uͤbergoſſen, die eigentlich der oͤſtlichen
Lage nach uͤber Ihnen ſtehen muſte.
Ich blieb im Wirrwarr, obgleich die Sonne
vielmehr fiel als ſtieg, bis ein junger hagerer
Maler mit ſcharfen und ſchoͤnen Geſichts-Kno¬
chen und langen Beinen und Schritten und ei¬
nem der groͤßten Preuſſiſchen Huͤte vor mir da¬
hin voruͤber wollte, mit einer Mahler-Taſche
in der Hand. „Guten Morgen, Freund, ſagt'
ich, iſt das die Straſſe nach Roſenhof, und wie
lange?“ Dort hinter den Huͤgeln liegt's gleich,
Sie koͤnnen in einer Viertel-Stunde noch vor
Sonnenuntergang ankommen, wenn die Faͤhre
eben da iſt.“ Er entlief mit ſeinen gedachten
Schritten und ich ſagte: Dank, gute Nacht.
Es war mir aber gewaltſam, als wenn ſich die
Welt ruͤckwaͤrts drehte, und als wenn ein großer
Schatte uͤber das Sonnen-Feuer des Lebens kaͤ¬
me, da ich den Morgen zum Abend machen
muſte.“ So weit ſeine Worte.
Jzt ſtand der Notar ſtill, drehte ſich um,
eine lange Ebene hinter ihm ſchloſſen unbekannte
Berge zu; vor ihm ſtanden ſie wie Sturmbalken
der Gewitter, gehoͤrnt und geſpalten hinter den
Huͤgeln gen Himmel und die Berg-Rieſen tru¬
[159] gen die hohen Tannen nur ſpielend. Der flie¬
gende Landſchaftsmaler, ſah er, ſezte ſich auf
die Huͤgel und ſchien, nach ſeiner Richtung zu
ſchlieſſen, die verdeckte Stadt Roſenhof auf ſein
Zeichenpapier heraufzutragen. Gott, dachte
Walt, nun begreif' ich's einigermaßen, wie die
Stadt liegen mag, wie goͤttlich und himmliſch,
wenn der Landſchafts-Maler von Bedeutung
ſich davor ſezt, und nur ſie abreiſſet, indeß er
hinter ſeinem Ruͤcken eine Landſchaft weiß, die
einen Fremdling, der jene nicht kennt, ordent¬
lich mit Abend-Glanz und Anſicht uͤberhaͤuft.
Als er oben vor die Ausſicht kam, ſtand
er neben dem Stand- und Sizpunkte des Ma¬
lers ſtill, und rief nach dem erſten Blick auf die
Landſchaft aus: „Ja, das iſt des Malens¬
werth.“ „Ich zeichne blos“ ſagte der gebuͤckte
Mahler, ohne aufzublicken. Walt blieb ſtehen,
und ſein Auge ſchweifte von dem breiten Roſana-
Strome zu ſeinen Fuͤſſen, aufwaͤrts zur Stadt
am Ufer und Gebuͤrg, und ſtieg auf die waldi¬
gen zwei Felſen-Gipfel uͤber der Stadt, und
fiel auf die Faͤhre, die voll Menſchen und Wa¬
[160] gen zwiſchen Seilen, zu ſeinem Ufer, voll neuer
Paſſagiere, heruͤber glitt, und ſein Auge flog
endlich den Strom hinab, der, lang von der
Abendſonne beglaͤnzt, ſich durch fuͤnf gruͤne helle
Inſeln brennend draͤngte.
Die Faͤhre war gelandet, neues Schiffsvolk
und Fuhrwerk eingeſtiegen, ſie wartete aber noch
und, wie es ihm vorkam, auf ihn. Er lief hin¬
ab und ſprang auf das Fahrzeug. Allein es
wartete auf ſchwerere Befrachtung. Er ſchauete
auf drei hier einlaufende Straſſen hinauf. End¬
lich bemerkte er, daß im Abendglanze ein zierli¬
cher Reiſewagen mit vier Pferden, lange Staub¬
wolken nachſchleppend, daher rollte.
Daruͤber muſte der Notar frohlocken, weil
ſchon ein Fuhrmanns-Karren mit Pferden auf
der Faͤhre ſtand und der Reiſewagen mit den ſei¬
nigen ſie noch viel gedraͤngter und bunter machte,
als ſie es ſchon durch den Kongreß von Bettlern,
Boten, Spaziergaͤngern, Hunden, Kindern, Wan¬
dergeſellen und Grummet-Weibern war, wozu
noch der Tyroler, der Geburtshelfer und der Bet¬
telmann kam, die ihm unterwegs begegnet wa¬
[161] ren. Die Faͤhre war ihm ein zuſammengepreſter
Marktplaz, der ſchwamm, ein ſtolzes Linien-
Schiff zwiſchen zwei Linien-Seilen, ein Bucen¬
tauro, aus welchem ſeine Seele zwei Vermaͤh¬
lungsringe auswarf, einen in den Seeſtrom, ei¬
nen in den glaͤnzenden Abend-Himmel. Er
wuͤnſchte halb und halb, die Ueberfahrt wollte
ſich durch einige Gefahr, die andern nichts ſcha¬
dete, noch treflicher beleben.
Ein ſchoͤner ſtattlicher Mann ſtieg vorher aus
dem angekommenen Wagen aus, eh' dieſer auf
das enge Fahrzeug getrieben, und da gehoͤrig
eingeſchichtet wurde; „er traue ſeinen Pferden
nicht“ ſagte der Herr. Walt fuhr ihm faſt oh¬
ne ausgezeichnete Hoͤflichkeit entgegen vor Jubel,
denn er ſah den General Zablocki vor ſich. Die¬
ſer durch Reiſen haͤufiger an ſolche Erkennungen
gewoͤhnt, bezeugte ein ruhiges Vergnuͤgen, ſei¬
nen erotiſchen Sekretair hier anzutreffen. Der
lange Poſtzug ſtolperte endlich in die Faͤhre mit
dem Wagen herein, und aufzitternd ſah Walt,
daß Zablocki's ſchoͤne Tochter darin ſaß, die
Augen auf die fuͤnf Inſeln heftend, welche der
Flegeljahre III. Bd. II[162] Sonnenglanz mit Roſenfeuer uͤberſchwemmte.
Sein Herz brannte ſanft in ſeinem Himmel, wie
die Sonne in ihrem, und gieng ſeelig auf, und
ſeelig unter. Schon der leere Bekannte waͤr' ihm
auf unbekanntem Boden, wie ein Bruder erſchie¬
nen; aber nun die ſtill geliebte Geſtalt — ſie
gab ihm einen Seelen-Augenblik, den kein
Traum der Phantaſie weiſſagt.
Er ſtand an der Morgenſeite des Kutſchen¬
ſchlags und durfte allda ohne Bedenken, da auf
der Faͤhre alle Welt feſt ſtehen muß, verharren,
und in einem fort hinein ſehen, (er hatte ſich ge¬
gen den Wagen umgekehrt) er ſchlug aber die
Augen oft nieder, aus Furcht, daß ſie ihre her¬
um wende und von ſeinen geſtoͤret werde, ob er
gleich wußte, daß ſie, geblendet von der Sonne,
anfangs ſo viel ſaͤhe als nichts. Er vergaß, daß
ſie ihn wahrſcheinlich gar nie angeſehen. Nach
der herrlichen Pracht-Sonne und nach den 5
Roſen-Inſeln, ſah er nicht hin, ſondern genoß
und erſchoͤpfte ſie ganz dadurch, daß er der ſtil¬
len Jungfrau und dem ſtummen Abendtraume,
womit ſie auf den goldnen Inſeln ruhte, mit
[163] tauſend Wuͤnſchen zuſah, es moͤg' ihr doch noch
beſſer ergehen, und himmliſch, und darauf noch
herrlicher.
Von weitem war's ihm, als wenn die Ro¬
ſana floͤſſe und die Faͤhre ſchifte, und die Wellen
rauſchten, und als wenn die wagrecht einſtroͤ¬
mende Abend-Sonne Hunde und Menſchen mit
Jugendfarben uͤberzoͤge, und jeden Bettler und
Bettelſtab vergoldete, desgleichen das Silber der
Jahre und Haare. Aber er gab nicht beſonders
Acht darauf. Denn die Sonne ſchmuͤckte Wina
mit betenden Entzuͤckungen und die Roſen der
Wangen mit den Roſen des Himmels; — und
die Faͤhre war ihm ein auf Toͤnen ſich wiegen¬
der Sangboden des Lebens, ein durch Abendlicht
ſchiffendes Morgenland, ein Charons-Nachen,
der das Elyſium trug zum Tartarus des Ufers.
Walt ſah unkenntlich aus, fremd, uͤberirdiſch,
denn Winas Verklaͤrung warf den Wiederſchein
auf ihn.
Ein Kruͤppel wollte ihm in der Naͤhe etwas
von ſeiner Noth vorlegen, aber er faſte nicht,
ſondern haſſete es, wenn ein Menſch an einem
[164] ſolchen Abend nicht ſeelig war, wo ſich die bis¬
her betruͤbte Jungfrau erheiterte, und ſich die
Sonne gleichſam wie eine liebe warme Schweſter-
Hand an das Herz druͤckte, das bisher oft
in mancher kalten dunkeln Stunde ſchwer ge¬
ſchlagen.
„Haͤtt' er nur kein Ende, der Abend,
wuͤnſchte Walt, und keine Breite, die Roſana,
— oder man beſchifte wenigſtens ihre Laͤnge, fort
und fort, bis man mit ihr ins Meer ver¬
ſchwaͤmme, und darin untergienge mit der
Sonne.“
Eben war die Sonne uͤber dem Strome
untergegangen. Langſam wandte Wina das Au¬
ge ab und nach der Erde, es fiel zufaͤllig auf
den Notar. Er wollte einen Gruß voll Vereh¬
rungen ſpaͤt in den Wagen werfen, aber die
Faͤhre ſchoß heftig vom Ufer zuruͤck, und zer¬
ſtieß das wenige, was er zuſammen gebauet.
Der Wagen fuhr bedaͤchtlich ans Land. Walt
gab an 4 Groſchen Faͤhrgeld: „fuͤr wen noch?“
fragten die Faͤhrleute. „Fuͤr wer will“ verſezte
Walt; darauf ſprangen, ohne zu fragen und zu
[165] zahlen, mehr zu viele ans Land. Der Ge¬
neral wollte zu Fuß in die ſchoͤne Garten-
Stadt, Walt blieb neben ihm. Jener fragte,
ob ihm geſtern keine Komoͤdianten begegnet. Er
berichtete, daß ſie dieſen Abend in Roſenhof
ſpielten. „Gut! ſagte Zablocki — ſo eſſen
Sie Abends bei mir im Granatapfel — Sie
uͤbernachten doch — und Morgens ſieht man in
Sozietaͤt die ganz ſplendide Felſen-Gruppe, die
Sie droben uͤber der Stadt bemerken.“
Die Entzuͤckung uͤber dieſe Gabe des Ge¬
ſchicks ſpricht Walt in ſeinem Tagebuch kurz ſo
aus: „wie ich vor ihm daruͤber meine Freude
ausſprach, lieber Bruder, das kannſt du dir
vielleicht beſſer denken als ich jezt.“
Nro. 47. Titanium.
Karthauſe der Phantaſie — Bonmots —
Es giebt ſchwerlich etwas Erquicklicheres als
Abends mit dem General Zablocki hinter dem
Wagen ſeiner Tochter zwiſchen den Gaͤrten voll
Roſenſtraͤuche in die ſchoͤne Stadt Roſenhof ein¬
[166] zugehen — ohne alle Sorge und voll Ausmah¬
lungen des Abendeſſens zu ſein — und den ſchoͤ¬
nen Eß-Rauch uͤber der Stadt ordentlich fuͤr die
Zauber-Wolke zu halten, womit der gute Ge¬
nius in Vults Briefe ſie uͤberzogen — und von
den wirthlichen reinen breiten Gaſſen und den
leichten vergaͤnglichen Spielen und Zwecken des
Lebens immer gerade zu den drauſſen uͤber der
Vorſtadt ſtehenden finſtern Gebirgshaͤuptern auf¬
zuſehen, die ſo nahe aus ihrer kalten Hoͤhe auf
die Haͤuſer und die Thuͤrme herunter ſchauen.
Beſonders nahm den Notar die gruͤnende Gaſſe
ein, wo der Granatapfel logirte: „mir iſt or¬
dentlich, ſagte er begeiſtert und redſelig zum
General, als gieng' ich in Chalcis in Eu¬
boͤa *) oder auch einer andern griechiſchen Stadt,
wo ſo viele Baͤume in den Gaſſen ſtanden, daß
man die Stadt kaum ſah. Giebt es eine ſchoͤne¬
re Vermiſchung von Stadt und Land als hier,
Exzellenz? — Und iſt Ihnen nicht auch der
Gedanke ſuͤß, daß hier zu einer gewiſſen Zeit, ſo
[167] wie in Montpellier, alles in Roſen und von Ro¬
ſen lebt, wenn man auch gleich jezt nichts davon
ſieht als die Dornen, Herr General?“
Dieſer, der nicht daraus gehorcht hatte, rief
ſeinem Kutſcher einen derben Fluch zu, weil er
mit ſeinem Wagen faſt an dem Fraͤnzelſchen
geentert haͤtte. Walt ſagte, das ſeien die Ak¬
teurs; und forderte vom Wirth ein vortrefliches
Zimmer, das man ihm leicht zugeſtand, weil
man ihn fuͤr einen Sekretair Zablocki's anſah,
was noch dazu richtig war in Ruͤckſicht der ero¬
tiſchen Memoiren. Da er darein gefuͤhret wur¬
de, erſtaunte er ſchon vorlaͤufig uͤber den Prunk
des Prunkzimmers und wurde geruͤhrt von ſei¬
nem Gluͤcksſchwung, was zunahm, als er den
Bettelſtab, dem er ſeinen Hut aufſezte, an den
Spiegeltiſch ſtellte. Da er aber in hoͤchſter Be¬
quemlichkeit und Seelen-Ruhe auf- und ab
gieng, die Papiertapeten ſtatt des ihm gewoͤhn¬
lichern Tapetenpapiers — die drei Spiegel — die
Kommode-Beſchlaͤge mit Meſſing-Maſken —
die Fenſter-Rouleaux — und vollends die Be¬
dientenklingel ausfand: ſo laͤutete er dieſe zum
[168] erſtenmal in ſeinem Leben, um ſogleich ein Herr
zu ſein und, wenn er eine Flaſche Wein ſich
bringen laſſen, nun die ſuͤßquellende Gegenwart
gehend auszuſchluͤrfen, und uͤberhaupt einen
Abend zu erleben, wie irgend ein Troubadour
ihn genoſſen. Troubadours, ſagt' er ſich, in¬
dem er trank, uͤbernachteten oft in ſehr vergol¬
deten Zimmern der Hoͤfe, — den Tag vorher
vielleicht in einer Moos- und Strohhuͤtte — wie
Toͤne durchdrangen ſie hohe und dicke Mauern —
und dann pflegten ſie ſich darin noch die ſchoͤn¬
ſte Dame von Stand zu aufrichtiger Liebe aus¬
zuleſen und, gleich Petrarka, ſolche in ewiger
Dichtung und Treue gar nie ſelber zu begehren“
— ſezt' er dazu und ſah an die Wand des —
Generals.
Zablocki's Zimmer war ſeinem durch eine
zweimal verriegelte Wand- und Tranſito-Thuͤre
verſperrt und verknuͤpft. Er konnte gehend —
denn ſtehend zuzuhoͤren, hielt er fuͤr Unrecht —
auspacken und jedes heftige Wort des Vaters
an Bediente, und den ſuͤſſen Ton, worein Wina
ſie, wie eine Aeolsharfe den Sturmwind, auf
[169] der Stelle uͤberſezte, leicht vernehmen. Ob er
gleich hofte, unten in der breiten Gaſtſtube Ja¬
kobinen wieder und viel bekannter anzutreffen:
ſo hielt er es doch fuͤr ſeeliger, neben der nahen
Nonne Wina als Wandnachbar auf- und ab zu¬
ſpazieren, und ſie unaufhoͤrlich ſich vorzuſtellen,
beſonders das groſſe beſchattete Auge und die
Freundlichkeit und Stimme und das Abendeſſen
neben ihr.
Er hoͤrte endlich, daß der General ſagte,
er gehe in's Schauſpiel, und daß Wina bat, zu¬
ruͤck bleiben zu duͤrfen, und daß ſie darauf ih¬
rer Kammerdienerin — der gottloſen Saͤngerin
Luzie — die Erlaubniß gab, ſich im Staͤdtgen
umzuſehen. Alsdann wurde alles ſtill. Er ſah
zum Fenſter hinaus an ihres. Winas beide
Fenſter-Fluͤgel (ſie ſchlugen ſich nach der Gaſſe
auf) waren offen, und ein Licht im Zimmer und
am Wirthshausſchild ein Schattenriß, der ſich
regte. Da er aber nichts weiter ſah, ſo kehrte
er wieder mit dem Kopf in ſeine Stube zuruͤck,
worin er — ſo gehend, trinkend, dichtend, —
ein aus Roſenzucker gebackenes Zuckerbrod, ja
[170] Zucker-Eiland nach dem andern aus dem Back¬
ofen auf der Schaufel behutſam heraus holte: —
„O ich bin ſo gluͤcklich!“ dacht' er und ſah nach,
ob man keine Armenbuͤchſe an die Papiertapeten
geſchraubt, weil er in keinem Wirthshauſe ver¬
gaß, in dieſe Stimm-Rize unbekannter Klag¬
ſtimmen, ſo viel er konnte, zu legen; aber das
Zimmer war zu nett zu Wohlthaten.
Es wurde ſehr dunkel. Der fruͤhe Herbſt¬
mond ſtand ſchon als ein halbes Silber-Diadem
auf einem Gebirgshaupt. Der Kellner kam mit
Licht, Walt ſagte: ich brauche keines, ich eſſe
bei dem Hr. General. Er wollte das Stuben¬
lange Mondlicht behalten. An der Fenſterwand
wurde ihm endlich dadurch eine und die andere
Reiſe-Sentenz von fruͤhern Paſſagieren erleuch¬
tet. Er laß die ganze Wand durch, nicht ohne
Zufriedenheit mit den jugendlichen Sentenzen,
welche ſaͤmmtlich Liebe und Freundſchaft und
Erden-Verachtung mit der Bleifeder anprieſen.
— „Ich weiß ſo gut als jemand — ſchreibt er
im Tagebuch — daß es faſt laͤcherlich, wenn
nicht gar unbillig iſt, ſich an fremde Zimmer¬
[171] Wand anzuſchreiben; dennoch ergoͤzet den Nach¬
fahrer ein Vorgaͤnger ſehr dadurch, daß er auch
da geweſen, und die leichte Spur eines Unbe¬
kannten einem Unbekannten nachgelaſſen. Frei¬
lich ſchreiben einige nur den Namen und Jahrs¬
zahl an; aber einem wohlwollenden Menſchen
iſt auch ein leerer Name lieb, ohne welchen eine
entruͤckte verreiſete Geſtalt doch mehr ein Begrif
bliebe als ein Begriffenes, weniger ein Menſch
als eine luftige, auch wohl aͤtheriſche Menſch¬
heit. Und warum ſoll man denn einen leeren
Gedanken lieber haben und vergeben, als einen
leeren Namen? — Ich nehm' es gar nicht uͤbel,
daß einer bloshin anſchrieb I. P. F. R. Wonſi¬
del: Martii anno 1793 — oder ein anderer Vi¬
vat die A. etc., die B. etc., die C. etc., die I. etc.
— oder das Franzoͤſiſche, Griechiſche, Lateini¬
ſche, auch Hebraͤiſche. — Und es ſtehen ja oft
koſtbare Sentenzen daran wie folgende: „im
phyſiſchen Himmel glauben wir ſtets in der
Mitte zu ſein; aber in Ruͤckſicht des innerli¬
chen glauben wir immer am Horizont zu ſtehen;
im oͤſtlichen, wenn wir frohlocken, im weſt¬
[172] lichen, wenn wir jammern.“ Er wagte zu¬
lezt ſelber Winas und Walts Namen ſammt Da¬
tum ans Stammbuch ſo zu ſchreiben. W — W.
Sept. 179 — Er ſchauete wieder auf die
Mondhelle Gaſſe hinaus nach Winen, und er¬
blikte drei herausgelegte Finger, und ein wenig
weiſſe Hutſpize; dabei und davon ließ ſich leben
und traͤumen. Er ſchwebte und ſpielte, wie ein
Sonnenſtaͤubgen, in den langen Mondſtrahlen
der Stube, er ergaͤnzte ſich das ſtille Maͤdgen
aus den drei Fingern; er ſchoͤpfte aus der nie
verſiegenden Zukunft, die beim Abendeſſen als
Gegenwart erſchien. Freuden flogen ihm als pur¬
purne Schmetterlinge nach und die beleuchteten
Stubenbretter wurden Beete von Papillionsblu¬
men — — drei Viertelſtunden lang wuͤnſcht' er
herzlich, ſo einige Monate auf- und nieder zu
gehen, um ſich Wina zu denken und das Eſſen.
Aber der Menſch duͤrſtet am groͤßten Freu¬
denbecher nach einem groͤſſern und zulezt nach
Faͤſſern; Walt fieng an, auf den Gedanken zu
kommen, er koͤnne nach der vaͤterlichen Einla¬
dung ohne Uebelſtand ſich jezt gar ſelber einſtel¬
[173] len bei der einſamen Wina. Er erſchrack genug
— wurde ſcham- und freudenroth — gieng lei¬
ſer auf- und ab — hoͤrte jezt Wina auch auf
und niedergehen — der Vorſaz trieb immer mehr
Wurzeln, und Bluͤthen zugleich — nach einer
Stunde Streit und Gluth war das Wagſtuͤck
ſeiner Erſcheinung und alle zarteſten Entſchuldi¬
gungen derſelben feſt beſchloſſen und abgemacht:
als er den General kommen und ſich rufen hoͤr¬
te. Er riegelte mit dem Hut-Stock in der
Hand, ſeine Wandthuͤre auf, „dieſe iſt zu,
Freund!“ rief der General, und er gieng, den
Misgriff nachfuͤhlend, erſt aus ſeiner durch die
fremde ein.
Bluͤhend von Traͤumen trat er ins helle
Zimmer; halb geblendet ſah er die weiſſe ſchlan¬
ke Wina mit dem leichten weiſſen Hute, wie ei¬
ne Blumengoͤttin neben dem ſchoͤnen Bacchus
ſtehen.
Der leztere hatte ein heiteres Feuer in jeder
Mine. Die Tochter ſah ihn unaufhoͤrlich vor
Freude uͤber die ſeinige an. Bediente muſten ihm
auf Fluͤgeln das Eſſen bringen. Der Notar
[174] wog auf den ſeinigen, verſchwebt in den Glanz
dieſes magiſchen Kabinets, nicht viel uͤber das
Gewicht von fuͤnf Schmetterlingen, ſo leicht und
aͤtheriſch flatterte ihm Gegenwart und Leben vor.
Er ſezte ſich mit weit mehr Welt und Leich¬
tigkeit an das Eß-Taͤfelgen, als er ſelber ge¬
dacht hatte. Der General, der ein unaufhoͤr¬
liches Sprechen und Unterhalten begehrte, ſann
Walten an, etwas zu erzaͤhlen, etwas Aufge¬
wektes. Mit etwas Ruͤhrendem waͤr' er leichter
bei der Hand geweſen; ſo aber ſagt' er: er wolle
nachſinnen. Es fiel ihm nichts bei. Schwerer
iſt wohl nichts als das Improviſiren der Erin¬
nerung. Viel leichter improviſirt der Scharf-
und Tiefſinn, die Phantaſie, als die Erinnerung,
zumal wenn auf allen Gehirn-Huͤgeln die freu¬
digſten Feuer brennen. Dreitauſend fatale Bon¬
mots hatte der Notar allemal ſchon geleſen ge¬
habt, ſobald er ſie von einem andern erzaͤhlen
hoͤrte; aber er ſelber kam nie zuerſt darauf und
er ſchaͤmte ſich nachher vor dem Korreferenten.
Sehr haͤtt' er das Schaͤmen nicht noͤthig, da
ſolche Referendarien des fremden Wizes und
[175] ſolche Poſtſchiffe der Geſellſchaft meiſt platte Ge¬
hirne tragen, auf deren Tenne nie die Blumen
wachſen, die ſie da aufſpeichern und auf¬
troknen.
„Ich ſinne noch nach“ verſezte Walt, ge¬
aͤngſtigt, einem Blicke Zablocki's, und flehte Gott
um einigen Spaß an; denn noch ſah er, daß
er eigentlich nur uͤber das Sinnen ſinne, und
deſſen Wichtigkeit. Die Tochter reichte dem Vater
die Flaſche, die nur er — ſeine Briefe aber ſie —
aufſiegelte. „Trinken Sie dies Gewaͤchs fuͤr
48ger oder 83ger?“ ſagte der General, als man
Walten das Glas bot. Er trank mit der Seele
auf der Zunge und ſuchte forſchend an die Decke
zu blicken. „Er mag wohl, verſezt' er, um die
Haͤlfte aͤlter ſein, als mein voriger Wein, den
ich eher fuͤr jungen 48ger halte; — ja, (ſezt'
er feſt darzu, und blikte ins Glas,) er iſt gewiß
herrliche 83 Jahre alt.“ Zablocki laͤchelte, weil
er eine Anekdote, ſtatt zu hoͤren, erlebte, die er
ſchoͤn weiter geben konnte.
Der General wollt' ihn aus dem ſtillen in¬
nerlichen Schnappen nach Bonmots herausfra¬
[176] gen durch die Rede: wie er nach Roſenhof kom¬
me? Walt wuſte keine rechte oſtenſible Urſa¬
chen — wiewohl dieſe ihm gegenuͤber ſaß im
weiſſen Hute — anzugeben, ausgenommen Na¬
tur und Reiſeluſt. Da aber dieſe keine Geſchaͤf¬
te waren: ſo begriff ihn Zablocki nicht, ſondern
glaubte, er halte hinter irgend einem Berge,
und wollte durchaus hinter ihm kommen. Walt
ſchuͤttelte von ſeinen poetiſchen Schwingen die
koͤſtlichen Berge und Thaͤler und Baͤume auf das
Tiſchtuch, die er auf dem ſeeligen Wege mehr
aufgeladen, als durchflogen hatte. Zablocki
ſagte nach Walts langer Ausſpende von Bil¬
dern: „beim Teufel! nimm' oder ich freſſ'
nicht!“ Wina — denn dieſe hatt' er in jenem
Liebes-Zorn angeredet, den weniger die Vaͤter
gegen ihre Toͤchter als die Maͤnner gegen ihre
Weiber haben — nahm erſchrocken ein groſſes
Stuͤck vom Schnepfen, dem Schoos-Kinde des
vaͤterlichen Gaumens, und reichte, hoͤflicher als
Zablocki, den Teller dem betretenen Notar hin¬
uͤber, um ein Paar hundert Verlegenheiten zu
erſparen. Walt konnte auf keine Weiſe faſſen,
[177] wie bei ſo muͤndlicher lebendiger Darſtellung der
lebendigen beinahe muͤndlichen Natur als ſeine
war, ein Schnepfe mit allem ſeinem Album
graecum noch einige Senſazion zu machen im
Stande ſei. Poetiſche Naturen, wie Walt, ſind
in Nordlaͤndern — denn ein Hof oder die groſſe
Welt iſt der geborne Norden des Geiſtes, ſo wie
der geborne Gleicher des Koͤrpers — nichts wei¬
ter als Elephantenzaͤhne in Siberien, die unbe¬
greiflich an einem Orte abgeworfen worden, wo
der Elephant erfriert.
Mit einſchmeichelnder Stimme fragt' ihn
wieder Zablocki, ob ihm noch nichts eingefal¬
len; und Wina ſah ihn unter dem Abendrothe
des rothtaftenen Hutfutters ſo lieblich Augen¬
nickend und bittend an, daß er ſehr gelitten haͤt¬
te, wenn ihm nicht die drei Bonmots, auf die
er ſich gewoͤhnlich beſann, endlich zugekommen
waͤren, und daß er wieder nahe daran war, ein
gelieferter Mann zu werden, und alles zu vergeſ¬
ſen, weil das kindlich bitthafte Auge zu viel
Plaz — naͤmlich allen — in ſeiner Phantaſie,
Memorie und Seele wegnahm.
„Ein harthoͤriger Miniſter — fieng er an
— hoͤrte an einer fuͤrſtlichen Tafel“. . . . „Wie
heiſſet er und wo?“ fragte Zablocki. Das wuſt'
er nicht. Allein da der Notar den wenigen Hi¬
ſtorien, die ihm zufielen, keinen Boden, Ge¬
burtstag und Geburtsſchein zuzuwenden wuſte —
vorfabeln wollt' er nie: — ſo braucht es Sozie¬
taͤten nicht erſt bewieſen zu werden, wie farben¬
los er als Hiſtorienmaler auftrat, und wie ſehr
eigentlich als ein luftiger hiſtoriſcher Improviſa¬
tore. „Ein harthoͤriger Miniſter hoͤrte an einer
fuͤrſtlichen Tafel die Fuͤrſtin eine komiſche Anek¬
dote erzaͤhlen, und lachte daruͤber mit dem gan¬
zen Zirkel unbeſchreiblich mit, ob er gleich kein
Wort davon vernommen. Izt verſprach er eine
eben ſo komiſche zu erzaͤhlen. Da trug er, zum
allgemeinen Erſtaunen, die eben erzaͤhlte wieder
als eine neue vor.“
Der General glaubte, ſo ſchnapp' es nicht
ab; da er aber hoͤrte, es ſei aus: ſo ſagt'
er ſpaͤt: „Delizioͤs!“ lachte indeß erſt zwei
Minuten ſpaͤter hell auf, weil er gerade ſo viele
brauchte, um ſich heimlich die Anekdote noch
[179] einmal, aber ausfuͤhrlicher, vorzutragen. Der
Menſch will nicht, daß man ihm die ſpitze, blan¬
ke Pointe zu hitzig auf der Schwelle auf das
Zwergfell ſetze. Eine gemeine Anekdote ergreift
ihn mit ihrem Ausgang froh, ſobald er nur
vorher durch viel Langeweile dahin getrieben wur¬
de. Geſchichten wollen Laͤnge, Meinungen Kuͤr¬
ze. Walt trieb die zweite anonyme Geſchichte
von einem Hollaͤnder, auf und vor, welcher
gern ein Landhaus, wegen der herrlichen Aus¬
ſicht auf die See, beſeſſen haͤtte, wie alle Welt
um ihn, allein nicht das Geld dazu hatte. Der
Mann aber liebte Ausſichten dermaſſen, daß er
alle Schwierigkeiten dadurch zu beſiegen ſuchte,
daß er ſich auf einem Huͤgel, den er gegen die
See hatte, eine kurze Wandmauer, und darein
ein Fenſter brechen ließ, in welches er ſich nur
zu legen brauchte, um die ofne See zu genieſſen
und vor ſich zu haben, ſo gut als irgend ein Nach¬
bar in ſeinem Gartenhaus.
Sogar Wina laͤchelte glaͤnzend unter dem
rothen Taft-Schatten hervor. Mit noch mehr
Anmuth als bisher theilte Walt die dritte Anek¬
dote mit.
Ein Fruͤhprediger, deſſen Kehlkopf mehr zur
Kanzel-Proſa als zur Altar-Poeſie geſtimmt
war, ruͤckte zu einer Stelle hinauf, die ihn
zwang, vor dem Altare das „Gott in der Hoͤhe
ſei Ehr'“ zu ſingen. Er nahm viele Singſtun¬
den; endlich nach vierzehn Singtagen ſchmeichel¬
te er ſich, den Vers in der Gewalt und Kehle
zu haben. Die halbe Stadt gieng fruͤher in die
Kirche, um der Anſtrengung zuzuhoͤren. Ganz
muthig trat er aus der Sakriſtei, (denn er hatte
ſich darin vom Singmeiſter noch einmal leiſe
uͤberhoͤren laſſen,) und ſtieg gefaſt auf den Al¬
tar. Alle Erzaͤhler der Anekdote ſtimmen uͤber¬
ein, daß er treflich angehoben, und ſich anſtaͤn¬
dig genug in den Choral hineingeſungen hatte:
als zu ſeinem Ruin ein blaſender Poſtillion drauſ¬
ſen vor der Kirche vorbei ritt, und mit dem Poſt¬
horn ins Kirchenlied einfiel; — das Horn hob
den Prediger aus dem alten Sing-Geleiſe in ein
neues hinein, und er ſah ſich gezwungen, das
ernſte Lied mitten vor dem Altare nach dem vor¬
beireitenden Trompeterſtuͤkgen, auf die luſtigſte
Weiſe hinauszuſingen.
Der General lobte ſehr den Notar, und
gieng heiter aus dem Zimmer; aber er kam
nicht wieder.
Nro. 48. Strahlkies.
Die Roſenhoͤfer-Nacht.
Weder Jakobine noch der General machten
je ein Geheimnis daraus — naͤmlich aus ihrem
wechſelſeitigen; — es kann alſo die Anverwand¬
ten von beiden auf keine Weiſe zu etwas Juriſti¬
ſchem gegen den Verfaſſer der Flegeljahre berech¬
tigen, wenn er im Strahlkies blos kalt er¬
zaͤhlet, daß Zablocki ein wenig in den naͤchſten
Garten ſpazieren gegangen, und die Aktrize Ja¬
kobine zufaͤllig nicht ſo wohl, als in der guten
Abſicht, von ihrer Rolle der Johanna von Mont¬
faucon im Freien zu verſchnaufen. Noch viel
weniger als ſchreibende Verfaſſer, ſind von ho¬
hen Anverwandten allgemeine Saͤtze anzugreifen,
wie z. B. dieſer: daß ſehr leicht der weibliche
theatraliſche Lorbeer ſich ruͤckwaͤrts in eine
Daphne verwandle — und der Saz, daß ei¬
[182] ne Schauſpielerin nach einer ſchweren tragiſchen
Tugend-Rolle am beſten ihr eignes Theater
aux Italiens und ihre eigne Parodie werde —
am wenigſten dieſer, daß das Militair, es ſei
auf Kriegs-oder Friedensfuß, den griechiſchen
Moͤbeln gleiche, die meiſtens auf Satyrfuͤſſen
ſtanden — und endlich der, daß wohl nichts
einander mehr ſucht, und aͤhnlich findet (daher
ſchon die Worte Kriegstheater und Theaterkrieg,
Akzion und Staatsakzion, Truppen,) als eben
Theatertruppen die Kriegstruppen, und vice
versa.
Ich fahre alſo, nachdem ich berichtet, daß
beide ſpazieren gegangen, gleich ihnen ruhig und
ungeſtoͤrt, hoff' ich, fort.
Walts Geſicht wurde eine Roſe unter dem
Ausbleiben des Vaters. Wina heftete die Au¬
gen, die ſich wie ſuͤſſe Fruͤchte unter das breite
Laub der Augenlieder verſtekten, unter dem Hute
auf ihr Strikzeug nieder, das einen langen Kin¬
derhandſchuh vollendete. Ueber den Notar kam
nun wieder die Furcht, daß ſie ihn als den Aus¬
lieferer ihres Briefes zu verabſcheuen anfange.
[183] Er ſah ſie nicht oft an, aus Scheu vor dem zu¬
faͤlligen Augen-Aufſchlag. Beide ſchwiegen.
Weibliches Schweigen bedeutet — ohnehin als
das gewoͤhnlichere — viel weniger als maͤnnli¬
ches. Die befeuernde Wirkung, welche der Wein
haͤtte auf den Notar thun koͤnnen, war durch
ſeine Anſtrengung, den feinſten Geſellſchafter zu
ſpielen, niedergehalten worden. Indeß waͤr' ihm
die Lage nicht unangenehm geweſen, wenn er
nur nicht jede Minute haͤtte fuͤrchten muͤſſen, daß
ſie — vorbei ſei.
Endlich ſah er ſehr ſcharf und lange auf den
Strik-Handſchuh und wurde ſo gluͤcklich, ſich
einen Faden der Rede daraus zu ziehen; er ſchoͤpf¬
te naͤmlich die Bemerkung aus dem Handſchuh,
daß er oft Stundenlang das Stricken beſehen, und
doch nie begriffen.
„Es iſt doch ſehr leicht, Hr. Harniſch“
verſezte Wina, nicht ſpoͤttiſch, ſondern unbefan¬
gen, ohne aufzublicken.
Die Anrede: „Herr Harniſch“ jagte den
Empfaͤnger derſelben wieder in die Denk- und
Schweig-Karthauſe zuruͤck.— „Wie kommt's —
[184] ſagt' er, ſpaͤt heraustretend, und den Strick-
Faden wieder aufnehmend — daß nichts ſo ruͤh¬
rend iſt, als die Kleidungsſtuͤcke der lieben Kin¬
der, z.B. dieſes — ſo ihre Huͤtgen —
Schuͤhgen? — — Das heiſſet freilich am En¬
de, warum lieben wir ſie ſelber ſo ſehr?“ —
„Es wird vielleicht auch darum ſein —
verſezte Wina und hob die ruhigen vollen Au¬
gen zum Notar empor, der vor ihr ſtand —
weil ſie unſchuldige Engel auf der Erde ſind,
und doch ſchon viele Schmerzen leiden.“
„Wahrhaftig, ſo iſt es — (betheuerte Walt,
indem Wina, wie eine ſchoͤne ſtille Flamme glaͤn¬
zend vor ihm aufſtand, um ihr Maͤdgen herzu¬
klingeln) — Und wie duͤrfen Erwachſene kla¬
gen? — Ich will warlich das Sterben eines
Kindes (ſezt' er hinzu, und folgte ihr einige
Schritte nach) ertragen, aber nicht ſein Jam¬
mern; denn in jenem iſt etwas ſo heilig-ſchau¬
erliches.“ Wina kehrte ſich um und nikte.
Luzie kam; Wina fragte, ob der General
ihr nichts aufgetragen. Luzie wuſte von nichts,
als daß ſie ihn in den nahen Garten hinein ſpa¬
[185] zieren ſehen. Raſch trat Wina ans mondhelle
Fenſter, athmete Einmal recht ſeufzend ein, und
ſagte ſchnell: „den Schleier, Luzie! Und du weiſt
es gewiß, liebes Maͤdgen, und auch den Gar¬
ten?“ — Mit einer leiſen Stimme, wie nur
eine maͤhriſche Schweſter anſtimmen kann, ver¬
ſezte Luzie: „ja, Gnaͤdigſte!“ Wina warf den
Schleier uͤber den Hut und redete, hinter dieſem
gewebten Nebel, und fliegenden Sommer unbe¬
ſchreiblich bluͤhend und liebreizend, den Notarius
mit ſanftem Stocken an: „lieber H. Notar —
Sie lieben ja auch, wie ich hoͤrte, die Natur —
und mein guter Vater“ — —
Er war ſchon nach dem Hut-Stock geflo¬
gen, und ſtand bewafnet und reiſefertig da —
und gieng hinter beiden mit hinaus. Denn ein
fremdes Zimmer zu verlaſſen, fuͤhlt' er ſich
ganz berechtigt. Indeß aber ſolches geſchloſſen
wurde, kam er wieder voraus zu ſtehen, nahe an
der Treppe; — und in ihm fieng ein kurzes Tref¬
fen und Scharmuͤzel an uͤber die Frage, ob er
mit entweder duͤrfe oder ſolle — oder weder ei¬
nes noch das andere. Wina konnte ihn nicht
[186] zuruͤck rufen — und ſo kam er innen fechtend
auf die Treppe, und trug das ſtille Handgemen¬
ge bis zur Hausthuͤre hinaus.
Da gieng er ohne weiteres mit und ſezte den
Hut von ſeinem Stock auf den Kopf; aber er
zitterte, nicht ſo wohl vor Furcht oder vor Freu¬
de, ſondern vor einer Erwartung, die beide ver¬
einigt. O es iſt eine laͤcherliche und reine Zeit
im fruͤhen Juͤnglingsalter, wo im Juͤngling die
alte franzoͤſiſche Ritterſchaft mit ihrer heiligen
Scheu erneuert, und wo der Kuͤhnſte gerade der
Bloͤdeſte iſt, weil er ſeine Jungfrau, fuͤr ihn ei¬
ne von dem Himmel geflogne, eine nach dem
Himmel fliegende Geſtalt, ſo ehret wie einen
groſſen Mann, deſſen Nachbarſchaft ihm der
heilige Kreis einer hoͤhern Welt iſt, und deſſen
beruͤhrte Hand ihm eine Gabe wird. Unſeelig,
ſchuldvoll iſt der Juͤngling, der niemals vor der
Schoͤnheit bloͤde war.
Die drei Menſchen giengen durch eine wal¬
dige Gaſſe dem Garten zu. Der Mond zeich¬
nete die wankende Gipfel-Kette auf den lichten
Fußſteig hin, mit jedem zitternden Zweig. Luzie
[187] erzaͤhlte, wie ſchoͤn der Garten, und beſonders
eine ganz blaue Laube darin ſei, aus lauter
blauen Blumen gewebt. Blauer Enzian —
blaue Sternblumen — blauer Ehrenpreis —
blaue Waldreben vergitterten ſich zu einem klei¬
nen Himmel, worin gerade im Herbſt keine
Wolke, d. h. keine Knoſpe war, ſondern ofne
Aetherkelche.
„Da die Blumen leben und ſchlafen, ſagte
Walt bei dieſem Anlaß, ſo traͤumen ſie gewiß
auch, ſo gut wie Kinder und Thiere. Alle We¬
ſen muͤſſen am Ende traͤumen.“ — „Auch
die Heiligen und die h. Engel?“ fragte Wi¬
na. „Ich wollte wohl ſagen Ja — ſagte
Walt — inſofern alle Weſen ſteigen, und ſich
alſo etwas Hoͤheres traͤumen koͤnnen.“ — Ein
Weſen iſt aber auszunehmen, ſagte Wina. —
„Gewiß! Gott traͤumet nicht. Aber wenn ich
nun die Blumen wieder betrachte, ſo mag wohl
in ihren zarten Huͤllen der dunkle Traum von
einem leichtern Traume bluͤhen. Ihre duftende
Seele iſt Nachts zugehuͤllt, nicht durch bloſſe
Blaͤtter, ſondern wahrhaft organiſch, wie denn
[188] unſere auch nicht durch bloſſe Augenlieder zuge¬
ſchloſſen wird. Sobald nun einmal die farbigen
Weſen am Tage Licht und Kraft verſpuͤren: ſo
koͤnnen ſie ja auch Nachts einen traͤumeriſchen
Wiederſchein des Tages genieſſen. Der Allſe¬
hende droben wird den Traum einer Roſe und
den Traum einer Lilie kennen und ſcheiden. Ei¬
ne Roſe koͤnnte wohl von Bienen traͤumen, ei¬
ne Lilie von Schmetterlingen — in dieſer Minu¬
te kommt es mir ordentlich faſt gewiſſer vor —
das Vergißmeinnicht von einem Sonnenſtrahl —
die Tulpe von einer Biene — manche Blume
von einem Zephyr — Denn wo koͤnnte denn
Gottes oder der Geiſter Reich aufhoͤren? Fuͤr
ihn mag wohl ein Blumenkelch auch ein Herz
ſein, und umgekehrt manches Herz ein Blumen-
Kelch.“ —
Izt traten ſie in den Zauber-Garten ein,
deſſen weiſſe Gaͤnge und finſtere Blaͤttergruppen
einander wechſelnd faͤrbten. Die Berge waren,
wie Nachtgoͤtter, hoch aufgeſtanden, und hoben
ihr dunkles Erdenhaupt kuͤhn unter die himmli¬
ſchen Sterne hinein. Der Notar ſah den bisher
[189] auseinander liegenden Farbenthau der Dich¬
tung an Winas Hand ſich als einen Regen¬
bogen aufrichten, und im Himmel ſtehen als
der erſte glaͤnzende Halbzirkel des Lebens-
Kreiſes.
Er wurde — ſo wie Wina immer einſyl¬
biger — immer vielſylbiger und betrank ſich im
Taufwaſſer ſeiner Worte, das er uͤber jeden Berg
und Stern goß, der ihnen vorkam. Es gab
wenige Schoͤnheiten, die er nicht, wenn er vor¬
beigieng, abſchilderte. Es war ihm ſo wohl und
ſo wohlig, als ſei die ganze ſchimmernde Halb¬
kugel um ihn nur unter ſeiner Hirnſchaale von
einem Traume aufgebauet, und er koͤnne alles
ruͤcken und rauben, und die Sterne nehmen und
wie weiſſe Bluͤthen herunterſchlagen auf Winas
Hut und Hand. Je weniger ſie ihn unterbrach
und abkuͤhlte: um ſo groͤſſer machte er ſeine
Ideen, und that zulezt die groͤſte, jene unge¬
heure auf, worin die Welt zerſchmilzt und
bluͤht, ſo daß Luzie, die bisher weltliche Lieder
murmelnd geſungen, damit aufhoͤrte, aus Scheu
vor Gottes Wort.
Eben wurde das Completorium gelaͤutet,
als Wina vor einer uͤberlaubten kleinen Kapelle
vorbei gieng. Sie gieng wie verlegen langſam,
ſtand, und ſagte Luzien etwas ins Ohr. Walt
war ihrer Seele zu nahe, um nicht in ſie zu
ſchauen; er gieng ſchnell voraus, um ſie beten
zu laſſen, und ſie heimlich nachzuahmen. Luzie
hatte leiſe Winen geſagt, ſeitwaͤrts oben die
ſchwarze Laube ſei die blaue. In dieſer wollte
er die Beterin erwarten. Als er naͤher trat,
flog aus der Laube Jakobine luſtig heraus, und
warf ihm ſcherzend einen Schawl uͤber den Kopf
und entfuͤhrte ihn am Arme, um an ſeiner gruͤ¬
nen Seite, ſagte ſie, die koſtbare Nacht zu ge¬
nieſſen.
Ob er gleich nicht von weitem ahnte, mit
welcher frechen Parodie der Morpheus des Zu¬
falls den Menſchen oft mit ſeinem Geſchicke paa¬
re und entzweie: ſo widerſtand doch der Spas,
und die Freiheit und der Kontraſt dem ganzen
Zuge ſeiner hoͤhern Bewegungen. Er ſezt' ihr
eiligſt auseinander, woher, und womit er kom¬
me und ſah bedeutend nach der Kapelle, als
[191] werd' er von dort aus ſtark erwartet. Jacobine
ſcherzte ſchmeichelnd uͤber Walts Damen-Gluͤk
und verſchloß ihm den Mund durch das Ueber¬
fuͤllen ſeines Herzens. Indeß er nun aͤuſſerlich
ſcherzend focht — und innen es auf allen Seiten
uͤberſchlug, wie er ohne wahre Grobheit Jako¬
binens Arm von ſeinem ſchuͤtteln koͤnne: — ſo
ſah er, wie vom Eingange des Gartens her, den
General auf die Tochter loskommen, ſehr freu¬
dig ihre Hand in ſeinen Arm einpacken, und mit
dem Engel der Sterne davon und nach Hauſe
laufen.
„Ach wie ſchnell gehen die ſchoͤnen Sterne
des Menſchen unter!“ — dachte Walt, und ſah
nach den Bergen, wo morgen ein Paar Bil¬
der davon wieder aufgehen konnten; und war
nicht im Stande, Jakobinen zu fragen, ob ſie
die Reize der ſchoͤnen Nacht empfinde?
Dieſe flog kalt vor dem Notar ins Haus und
verſchwand auf der Treppe. Er brauchte dieſen
Abend nichts weiter als ein Kopfkiſſen fuͤr ſei¬
ne wachen Traͤume und ein Stuͤck Mondſchein
im Bette. Aber in der Nachmitternacht — ſo
[192] lange traͤumt' er — fuhr wieder auf der Gaſſe
eine Nachtmuſik auf, welche Zablocki's Leute ab¬
blieſen. Nachdem Walt die Gaſſe wie ein Lo¬
rettohaͤusgen, in die ſchoͤnſte welſche Stadt ge¬
tragen und niedergeſezt, — nachdem er die herr¬
lichen Blize des Klanges, die an den Saiten
wie an Metalldrath herabfuhren, auf ſich ein¬
ſchlagen laſſen — und nachdem er die Sterne
und den Mond nach der irdiſchen Sphaͤrenmu¬
ſik in Tanz geſezt — und nachdem die Luſt
halb aus war: ſo flatterte Jakobine, deren Fluͤ¬
ſtern er vorher faſt im Nebenzimmer zu hoͤren
geglaubt, zur Thuͤre hinein und ans Fenſter, vor
brennender Ungeduld, die Toͤne zu hoͤren, nicht
aber den Notar.
Walt wuſte nicht ſogleich, wo er war oder
bleiben ſollte. Er ſchlich ſich heimlich und leiſe
aus den Kiſſen in die Kleider, und hinter die
Hoͤrerin; wie angezuͤndeter Flachs, war er in
hoͤhere Regionen aufgeflogen, ohne einen Weg
zu wiſſen. Nicht daß er von ihr oder von ſich
etwas beſorgte; aber nur die Welt kannte er,
und ihre Parterre's-Pfeifen gegen jedes kuͤhne
[193] Maͤdgen, ein Ungluͤck, wogegen er lieber ſich
von der zweiten Fama's-Trompete jagdgerecht
anblaſen lieſſe, um nur das Weib zu retten; —
— und er wuſte kaum, ob er nicht aus der Stu¬
be ſo lange unvermerkt entfluͤchten ſollte, bis
die Aktrize in ihre heimgegangen.
Sie hoͤrte drei Seufzer — fuhr um — er
ſtand da — ſie entſchuldigte ſich ſehr, (zu ſei¬
ner Luſt, da er gefuͤrchtet, er habe ſein eignes
Daſein zu exkuſiren) daß ſie in ein beſeztes
Zimmer gekommen, das ihr, da es ohne Nacht¬
riegel geweſen, frei geſchienen. — Er ſchwur,
niemand habe weniger dawider als er; — aber
Jakobinens Reinheit glaubte ſich damit noch
nicht rein gewaſchen, ſie fuhr fort, und ſtellt'
ihm unter dem muſikaliſchen Getoͤſe, ſo laut ſie
konnte, vor, wie ſie denke, wie ihr Nachtmuſik
in Mark und Bein fahre, an Faſt- und Freitaͤ¬
gen ganz beſonders, weil da vielleicht ihr Ner¬
venſyſtem viel ruͤhrbarer ſei, und wie dergleichen
ſie nie unter dem Bette laſſe, ſondern wie ſie
die erſte beſte Waſch-Serviette (ſie hatte eine
Flegeljahre III. Bd. 13[194] um) uͤber den Hals ſchlage, um nur ans Fen¬
ſter zu kommen und zu hoͤren.
Unter dieſer Rede hatte eine fremde Floͤte
ſo naͤrriſch mit feindlichen Toͤnen durch die
Nachtmuſik gegriffen und geſchrien, daß dieſe es
fuͤr angenehmer hielt, uͤberhaupt aufzuhoͤren.
Jakobine ſprach laut, ohn' es zu merken, wei¬
ter: „man uͤberkommt dann Gefuͤhle, die nie¬
mand giebt, weder Freundin noch Freund:“
„Etwas leiſer, Vortrefliche, ums Himmels¬
willen leiſer — ſagte Walt, als ſie den lezten
Saz nach der Muſik geſagt — der General
ſchlaͤft gerade neben an und wacht. Wohl, wohl
iſt meiſtens fuͤr ein weibliches Herz eine Freundin
zu unmaͤnnlich und ein Freund zu unweiblich.“ —
Sie ſprach ſo leiſe als er's haben wollte, und
faſte ihn an der Hand mit beiden Haͤnden an,
wodurch die dicke plumpe Serviette, die ſie bis¬
her mit den Fingern wie mit Nadeln zugehal¬
ten, aus einander fiel. Er erfuhr, was Hoͤllen¬
angſt iſt; denn das leiſere Sprechen und Bei¬
ſammenſtehen, wuſt' er, konnt' ihn ja jede Mi¬
nute, wenn die Thuͤre aufgieng, bei der Welt
[195] in den Ruf eines Libertins, eines frechen Maͤd¬
gen-Wolfs ſetzen, der nicht einmal die Unſchuld
ſchonet, wofuͤr er Jakobine hielt, weil ſie ſanfte
blaue Augen hatte.
„Aber Sie wagen beim Himmel zu kuͤhn!“
ſagt' er. „Schwerlich, ſo bald nur Sie nicht
wagen“ verſezte Sie. Er deutete, was ſie von
ſeinen Anfaͤllen ſagte, irrig auf ſeinen unbeflek¬
ten Ruf, und wuſte nicht, wie er ihr mit Zaͤrte
die Ruͤkſicht auf ſeinen ohne Eigennutz — denn
ihr Ruf war ja noch wichtiger — in der groͤſten
Eile und Kuͤrze (wegen des Generals und der
Thuͤre) auseinander ſetzen ſollte. Und doch war
er von ſo guten ehrlichen Eltern, von ſo unbe¬
ſcholtenem Wandel — und trug den Brautkranz
jungfraͤulicher Sittſamkeit ſo lange vor dem Bru¬
der und jedem mit Ehren, — — er hatte den
Henker davon, wenn der verfluchte Schein und
Ruf hereingrif und ihm den gedachten Kranz vom
Kopfe zog, geſezt auch, es wuchs ihm nachher
eine friſche Martyrerkrone nach.
Ihm wurde ganz warm, das Geſicht roth,
der Blik irre, der Anſtand wild: „gute Jako¬
[196] bine, ſagt' er bittend, Sie errathen — es iſt ſo
ſpaͤt und ſtill — mich und meinen Wunſch ge¬
wiß.“ —
„Nein, ſagte ſie, halten Sie mich fuͤr keine
Eulalia, H. v. Meinau. Schauen Sie lieber
die reine keuſche Luna an!“ — ſagte ſie, und
verdoppelte ſeinen Irrthum. — „Sie geht — ver¬
ſezte er und verdoppelte ihren — in einem hohen
Blau, das kein Erden-Wurf durchreicht. So
will ich wenigſtens meine Thuͤr zuriegeln, damit
wir ſicher ſind.“
„Nein, nein,“ ſagte ſie leiſe, ließ ihn aber
mit einem Handdruck los, um ihre Serviette zu¬
rechte zu falten. Er kehrte ſich jezt um, und
wollte dem Nachtriegel zufliegen, als etwas auf
den Boden hinflog — ein Menſchen-Geſicht.
Jakobine ſchrie auf und rannte davon. Er
nahm das Geſicht, es war die Maſke des Lar¬
venherrn, den er fuͤr den boͤſen Genius ge¬
halten.
Im Mondſchein durchkreuzten ſich ſeine Phan¬
taſien ſo ſehr, daß es ihm am Ende vorkam, Ja¬
kobine habe ſelber die Maſke fallen laſſen und
[197] ihm und ſeinem armen Rufe nachgeſtellt. Er litt
viel; — es richtete ihn nicht auf, daß er ſich
der beſten Behauptungen ſeines Bruders erinnerte,
daß z. B. ſolche Befleckungen des Rufs heut zu
Tage, gleich den Flecken von wohlriechenden Waſ¬
ſern, aus den Schnupftuͤchern und der weiſſen Waͤ¬
ſche von ſelber heraus gehen, ohne alle Prinzeſ¬
ſen-Waſchwaſſer und Fleckausmacher — es troͤ¬
ſtete ihn nicht, daß Vult ihn einmal gefragt,
ob denn die jezigen Fuͤrſten noch wie die alten ge¬
wiſſe moraliſche Deviſen und Symbola haͤtten,
dergleichen geweſen „praesis ut prosis“ und an¬
dere ſpielende, und daß der Floͤteniſt ſelber, ge¬
antwortet, dergleichen habe jezt nicht einmal ein
tiefer Stand, und es koͤnne uͤberhaupt, wenn ſchon in
Taſſo's und Milton's chriſtliche Heldengedichte die
heidniſche Goͤtterlehre hab' eindringen duͤrfen, auch
in unſerem Chriſtenthum ſo viel Goͤtterlehre (wenig¬
ſtens in Betref der ſchoͤnſten Abgoͤttin) Plaz grei¬
fen, als wir gerade beduͤrfen und begehren.“
Darauf dachte Walt wieder an die Moͤglich¬
keit, daß irgend jemand das arme unſchuldige
Maͤdgen geſehen, und daß er ihren unbeſcholtnen
[198] Ruf anſchmize, der — ſchloß er — unbeſchreib¬
lich rein und feſt ſein muſte, da ſie ſo viel gegen die
Weiblichkeit ſich herausnehmen durfte — Dann
fiel ihm die 9te Teſtaments-Klauſel „Ritte der
Teufel“ ein, die Ehebruch und aͤhnliche Suͤn¬
den an ihm beſonders beſtraft — Dann der Gene¬
ral mit ſeiner heiligen Briefſammlung von eroti¬
ſchen Platonikerinnen — Dann Wina und ihr Au¬
ge aus dem Himmel — — Der Notar bracht'
eine der duͤmmſten und elendeſten Naͤchte zu,
die je ein Menſch durchgelegen, der unter dem Ruͤk¬
grath keine Eiderdunen gehabt, welche freilich noch
ſtaͤrker einheizen.
Nro. 49. Blaͤtter-Erz.
Beſchluß der Reiſe.
Heiliger Morgen! Dein Thau heilet die Blumen
und den Menſchen! Dein Stern iſt der Polſtern
unſerer dahingetriebenen Phantaſien und ſeine
kuͤhlen Stralen bringen und fuͤhren das verwirrte
erhizte Auge zurecht, das ſeinen eignen Funken
nachſah und nachlief! —
Als noch viele Sterne in die Daͤmmerung
ſchienen, rief der General den Notarius mit der
froheſten Stimme aus dem Bette zur Berg-Par¬
tie; und dann nahm er ihn ſo liebreich auf — bis
an die Stirnhaare laͤchelte er empor —, daß Walt
ſehr beruhigt war und beſeeligt; der General,
dacht' er, wuͤrde ganz anders mit mir reden, wenn
er etwas wuͤſte. Winas Angeſicht bluͤhte voll
zarter MorgenRoſen; im Paradies am Schoͤ¬
pfungs-Morgen bluͤhten keine vollern.
Sie giengen zu Fuße dem zerſpaltenen Ge¬
buͤrge zu. Die Stadt war tief ſtill, nur in den
Gaͤrten ruͤſtete ſchon einer und der andere Beete
und Roſenhecken fuͤr den Fruͤhling zu und die
Rauchſaͤulen des Morgenbrods bogen ſich uͤber
die Daͤcher. Drauſſen flatterte ſchon Leben auf,
die Singdroſſel wurde in den nahen Tannen wach,
unten an der Faͤhre klang das Poſthorn heruͤber,
und aus dem Gebuͤrge donnerte der ewige Waſſerfall
heraus. Die drei Menſchen ſprachen, wie man
am Morgen pflegt, gleich der grauen Natur um
ſie her, nur einzelne Laute. Sie ſahen gen Oſten,
woran das Gewoͤlke zu einem rothen Vorgebuͤrge
[200] des Tages anfieng aufzubluͤhen, und es wehte
ſchon leiſe, als athme der Morgen vor der Son¬
ne her.
Wina gieng an der einen Hand des Vaters,
der in der andern einen ſogenannten ſchwarzen
Spiegel hatte, um daraus die Natur zum zwei¬
tenmale als ein Luftſchloß, als einen Abgußſaal
einzuſchoͤpfen. Die Fruͤhe — Winas Morgen¬
kleidung — das Traͤumeriſche, das der Morgen¬
ſtern aufloͤſend im Herzen ſo unterhaͤlt, als ſte¬
he er am Abendhorizonte — und Walts Bewe¬
gungen von der Nacht her, ſo wie ſeine Hinſich¬
ten auf die nahe Scheide-Sekunde; das zuſam¬
men machte ihn ſprachlos, leiſe, ſinnend, be¬
wegt, voll wunderbarer Liebe gegen das naͤhere
Jungfrauenherz, welche ſo weich und vielknoſpig
war, daß er ſich auf Unterwegs freuete, um in
der bluͤhenden Seeligkeit recht ruhig zu blaͤttern.
Mit ſuͤſſer Stimme aber that an ihn Wi¬
na die Bitte um Verzeihung des geſtrigen Aus¬
einanderkommens. Da er die Bitte nicht zuruͤck
geben konnte: ſo ſchwieg er. Darauf bat ſie ihn,
Raphaela zu gruͤſſen, und ihr als Urſache ihres
[201] brieflichen Schweigens den Umweg uͤber Roſen¬
hof nach Leipzig zu ſagen. Der General, der
ſo freimuͤthig mit der Tochter vor dem Notarius
ſprach, als laufe dieſer als ein tauber Schatten¬
mann oder als ein ſtummer verſchwiegner Affe
mit, machte Winen geradezu Vorwuͤrfe uͤber ih¬
re vielſeitigen Sorgen und Schreibereien und uͤber
die ewigen Opfer ihres Ichs. Sie verſezte bloß:
„wollte Gott, ſie verdiente den Tadel!“
Als ſie ins Gebuͤrge traten, kroch die Nacht
in die Schluchten zuruͤck, und unter die Thal-
Nebel unter, und der Tag ſtand mit der Glanz-
Stirn ſchon in den Hoͤhen des Aethers. Ploͤz¬
lich lenkte der General das Paar in eine Felſen-
Spalte hinein, worin ſie hoch oben das eine
hoͤchſte Berghorn ſchon vom Morgen-Purpur
umwickelt ſahen, das andere tiefere vom Nacht¬
ſchleier umwunden, zwiſchen beiden ſchimmerte
der Morgenſtern — die Jungfrau und der Juͤng¬
ling riefen mit einander: o Gott!
„Nicht wahr? ſagte der General und ſah
den Himmel im ſchwarzen Spiegel nach — das
iſt einmal fuͤr meine Schwaͤrmerin?“ — Lang¬
[202] ſam und ein wenig nikte ſie mit dem Kopfe,
und mehrmals mit dem Augenliede, weil ſie
vom geſtirnten Himmel nicht wegſehen wollte;
fuͤhrte aber die vaͤterliche Hand an den betenden
Mund, um ihm ſtiller zu danken. Darauf
zankt' er ein wenig, daß ſie ſo ſtark empfinde,
und die Gefuͤhle ſo gern aufnehme, die er ihr
zuleite.
Schnell fuͤhrte er Beide durch einen kuͤnſtli¬
chen Weg vor das ſtaͤubende Grab, worein ſich
der Waſſerfall, wie ein Selbſtmoͤrder, ſtuͤrzte, und
woraus er als ein langer verklaͤrter Strom aufer¬
ſtand und in die Laͤnder grif. Der Strom ſtuͤrz¬
te — ohne daß man ſehen konnte, aus welcher
Hoͤhe — weit uͤber eine alte Ruinen-Mauer
hinuͤber und hinab.
Zablocki ſagte darauf ſchreiend, wenn beide
nicht ſcheueten, ſich auf Gefahr eines ſchwachen
Dampf-Regens mit ihm hart an der Mauer
hin- und durch deren niedrige von lauter gruͤnen
Zweigen zugewebte Pforte durch zu draͤngen: ſo
koͤnnten ſie auch etwas von der ebenen Landſchaft
ſehen.
Er gieng voraus, mit langem Arme ſich Wi¬
nen nachziehend. Als ſie durch das halb ver¬
ſunkne Thor durch waren, ſahen ſie in Weſten
eine Ebene voll Kloͤſter und Doͤrfer mit einem
dunkeln Strom in ſeinem Thal, und in Oſten
die Gebuͤrge, die wieder auf Gebuͤrgen wohnten
und, wie die Zybele, mit rothen Staͤdten aus
Eis, wie mit Goldkronen, im hohen Himmel ſtan¬
den. Die Menſchen erwarteten das Durchbren¬
nen der Sonne, welche den Schnee des Erden-
Alters ſchon ſanft mit ihren warmen Roſen fuͤll¬
te. Der Donner des Waſſers zog noch allein
durch den Morgenhimmel. — Jezt blikte Gott¬
walt von Oſten weg und in die Hoͤhe, denn ein
ſeltſamer Goldſchein uͤberflog das naſſe Gruͤn —
da ſah er uͤber ſeinem Haupte den feſt ſchweben¬
den Waſſerfall vor der Morgenſonne brennen
als eine fliegende Flammenbruͤcke, uͤber welche
der Sonnenwagen mit ſeinen Roſſen entzuͤndend
rollte. — Er warf ſich auf die Knie, und den
Hut ab, und die Haͤnde empor, ſchauete auf
und rief laut: O die Herrlichkeit Gottes, Wi¬
na!
Da erſchien ein Augenblik, — niemand
wuſte wie oder wenn, — wo der Juͤngling auf
die Jungfrau blikte und ſah, daß ſie ihn wun¬
derbar, neu und ſehr bewegt anſchaue. Seine
Augen oͤfneten ihr ſein ganzes Herz; Wina zit¬
terte, er zitterte. Sie ſchauete auf zum Roſen-
und Feuerregen, der die hohen gruͤnen Tannen
mit Goldfunken und Morgenroth beſprizte; und
wie verklaͤrt ſchien ſie vom Boden aufzuſchweben,
und der rothbrennende Regenbogen leuchtete ſchoͤn
auf ihre Geſtalt herunter. Dann ſah ſie ihn wie¬
der an, ſchnell gieng ihr Auge unter, und ſchnell
auf, wie eine Sonne am Pol — das herzerhe¬
bende Donnern und das Wetterleuchten des
Stroms umrauſchte, uͤberdeckte beide mit himm¬
liſchen goldnen Fluͤgeln gegen die Welt — der
Juͤngling ſtrekte die Arme nicht mehr nach dem
Himmel allein aus, ſondern nach dem Schoͤn¬
ſten, was die Erde hat — —
Er vergaß beinahe alles, und war nahe
daran, in Gegenwart des Vaters die Hand des
Weſens zu ergreifen, das uͤber ſein ganzes Le¬
ben dieſen Sonnenblik der Zauberei geworfen.
[205] Wina druͤckte ſchnell die Hand uͤber ihre beiden
Augen, um ſie zu verdecken. Der Vater hatte
bisher den Waſſerfall im ſchwarzen Spiegel beob¬
achtet und ſah nun auf.
Alles wurde geendigt. Sie kehrten zuruͤck.
Der General wuͤnſchte, daß man heftiger und
deutlicher lobte. Das Paar konnt' es nicht.
„Jzt, ſagt' er, nach ſolcher Freude ſehnet man
ſich nach einem rechten Janitſcharen-Marſch!“
— Gottwalt erwiederte: „O wohl, naͤmlich nach
ſolchen Stellen daraus, die piano und aus
Mol zugleich gehen, wodurch vielleicht die Ent¬
zuͤckung fuͤrchterlich ſtark hereinſpricht, wie aus
einem Geiſterreich.“ — „Es regnet heute noch,
verſezte Zablocki, die Morgenroͤthe zieht ſich naͤr¬
riſch uͤber den ganzen Horizont, ſo ganz beſon¬
ders; aber der ſchoͤne Morgen war doch wenig¬
ſtens des Sehens werth, Wina?
Sie gab kein Ja. Schweigend kam man
nach Roſenhof. Zablocki's Wagen, Pferde und
Bedienten ſtanden ſchon reiſefertig da. Darauf
flog alles auseinander, und davon. Die Lieben¬
den gaben ſich kein Zeichen der vorigen Minute,
[206] und der Wagen rollte davon, wie eine Jugend
und eine heilige Stunde.
Walt gieng im Granatapfel noch einige
nachblizende Minuten in ſeiner Stube auf und ab,
dann in die des Generals. In dieſer fand er
ein vergeſſenes beſchriebnes Blatt von Wina,
das er ungeleſen, aber nicht ungekuͤſſet, einſteck¬
te, ſammt einem Flakon. Borſtwiſch und Spreng¬
gefaͤß, die Vorarbeiter neuer Gaͤſte, trieben ihn
in ſein Zimmer zuruͤck. Er ſteckte die ſonderbare
Maſke zu ſich. Darauf machte er — gleich un¬
vermoͤgend, laͤnger zu bleiben und laͤnger zu
reiſen — ſich trunken auf den Weg nach Haslau
zuruͤck. Er ſehnte ſich mit ſeinem Folioband voll
Abentheuer unter dem Arm in die Stube Vults.
Sein Herz hatte genug, und brauchte keinen
Himmel weiter als den blauen.
Jakobine warf ihm von der Treppe, die ſie
hinauf gieng und er herunter, das Verſprechen
nach, im Winter in Haslau zu ſpielen. —
Drauſſen verwelkte der roſenrothe Himmel immer
grauer und bis zu Regenwolken. An der Faͤh¬
re muſt' er lange warten. Es fieng endlich an
[207] zu regnen. Aber da der Vorhang vor dem Sing¬
ſpiele der Liebe aufgegangen war: ſo wuſt' er,
mit Augen und Ohren unter ihren Geſaͤngen und
Lichtern wohnend, wenig oder nicht, ob es auf
das Dach des Opernhauſes regne oder ſchneie.
Da das Schickſal gern nach dem Feſte der
ſuͤſſeſten Brode dem Menſchen verſchimmeltes,
wurmvolles aus dem Brodſchrank vorſchneidet:
ſo ließ es den Notar hinter Jodiz auf Irrwe¬
ge — auf phyſiſche — laufen, was dem Ver¬
haͤngniß leicht wurde, da er ohnehin nichts
Oertliches behielt, nicht den Riß eines Parks,
in welchem er einen ganzen Sommer lang ſpa¬
zieren gegangen. Dann muſt' er die gebogne
weiſſe Hutfeder, welche ohne Kopf von einem
Kavalleriſten aus einem Hohlweg vorſtach, fuͤr
die Schwanzfeder eines laufenden Hahns anſe¬
hen, und nachher den Irrthum dem Militair
gutmeinend entdecken, der ihn ſehr anſchnauzte.
In einem Kirmesdorf wurd' ihm aus den Fen¬
ſtern eines betrunknen Wirthshauſes ein wenig
nachgelacht. Das Roſanathal lief voll Waſſer.
In einem ſchoͤnen Gartenhaus ſpielte der Regen¬
[208] wind auf der Windharfe einen miſtoͤnigen Laͤufer
und Kadenzen voll Schreitoͤne, da er voruͤber¬
lief.
Seelig flog er ſeinen Weg — denn er hatte
Fluͤgel am Kopf, am Herzen, an den Fuͤſſen,
und ſaß als gefluͤgelter Merkur noch auf dem
Fluͤgelpferd — und ohne es kaum zu merken,
kam er durch die vorigen Doͤrfer. Gleich dem
Blitze lief ſein Geiſt nur an den Vergoldungen
des Welt-Gebaͤudes hin. Nur Wina und ihre
Augen fuͤllten ſein Herz; an Zukunft, Folgen,
Moͤglichkeiten dacht' er nicht; er dankte Gott,
daß es noch einige Gegenwart auf der Erde gab.
Eine Freude kleinerer Art genoß er hinter
Gruͤnbrunn, wo ihm der Boͤheimiſche Schwein¬
treiber, deſſen Klagen er in Jodiz gehoͤrt, mit
einem Pilger-Liede aufſtieß, und nichts von
ſeinem Plagevieh mehr bei ſich hatte, als den
Hund.
So trug ihn die rollende Erde ohne Erd¬
ſtoͤſſe wiegend um die bedeckte Sonne. Ge¬
gen Abend ſah er ſchon Haslau, die Meilen
waren ihm Werſten geworden. In Haͤrmlesberg
[209] begegnete er noch einer alten Diebin, die man
daraus bis an den Markſtein mit dem Staub¬
beſen gekehrt hatte.
Aus Haslau kamen ihm Feuerſpritzen ent¬
gegen, welche gluͤcklich hatten loͤſchen helfen.
Als er im naſſen knappen Badegewand mit fort¬
leuchtenden Entzuͤckungen durch das Haslauer
Thor getreten: ſah er an den Kirchthum, wo
Flitte und Hering wohnten; und nahm freudig
wahr, daß der Teſtator Flitte, ſo hergeſtellt
und geſund wie ein Fiſch im Waſſer, aus dem
Schallloch gukte.
Ende des dritten Baͤndgens.
Nro. 50. Halber Blaſenſtein, eines
Dachshunds.
J. P. F. Rs. Brief an den Haslauer Stadtrath.
P. P.
Hier uͤberſend' ich den treflichen Teſtaments-
Exekutoren durch den Student und Dichter Sehu¬
ſter die 3 erſten Baͤnde unſerer Flegeljahre ſammt
Flegeljahre III. Bd. 14[210] dieſem Briefe, der eine Art Vor- und Nachrede
vorſtellen ſoll. Von dem geſchickten Schoͤn- und
Geſchwindſchreiber Halter, bisherigen Infan¬
teriſten beim Regiment Churprinz — der zum
Gluͤcke des elend geſchriebenen Manuſkripts ge¬
rade in dieſem Monat aus Bregenz mit freund¬
lichem Abſchied und geſunder Schreib-Hand nach
Hauſe an das Schreibpult kam, nachdem er
uͤber 4 Jahre ſich auf mehreren Schlachtfeldern
mit den Franzoſen gemeſſen und geſchlagen —
von dieſem ſind, darf ich hoffen, ſowohl die 3
Baͤnde als dieſer Brief ſo gut geſchrieben, daß
ſie ſich leſen laſſen; folglich ſetzen und rezenſieren
ohnehin.
Will ich mich uͤber das Werk hier bis zu
einem gewiſſem Grade aͤuſſern: ſo muͤſſen eini¬
ge allgemeine Sentenzen und Gnomen voraus¬
gehen:
Nicht nur zu einer Peruͤke, auch zu einem
Kopfe gehoͤren mehrere Koͤpfe —
Ferner: Jedem muß ſeine Naſe in ſeinen
Augen viel groͤſſer und verklaͤrter, ja durchſich¬
tiger erſcheinen als ſeinem Nebenmenſchen, weil
[211] dieſer ſie mit andern Augen, und aus einem
viel fernern Standpunkte anſieht —
Weiter: die meiſten jezigen Biographen
(worunter auch die Romanciers gehoͤren) haben
den Spinnen wohl das Spinnen, aber nicht
das Weben abgeſehen —
Ferner: die Verdauung ſpuͤren, heiſſet eben
keine ſpuͤren, ſondern vielmehr Unverdaulich¬
keiten —
Weiter: zur zweiten beſſern Welt, worauf
alle Welt aus iſt und aufſieht, gehoͤret auch der
Hoͤllenpfuhl ſammt Teufeln —
Ferner: der Schatte und die Nacht ſehen weit
mehr als Geſtalten und Wirklichkeit aus, als das
Tageslicht, das doch nur allein exiſtieret, und
jene ſcheinen laͤſſet —
Und zulezt: man reiche dem Leſer etwas in
einer Nus, ſo verlangt er's noch enger als Nus-
Oel; man breche fuͤr ihn aus der ſteinigen Schaa¬
le eine koͤſtliche Mandel, ſo will er um dieſe wie¬
der eine Huͤlſe von Zucker haben — —
Blos dieſe wenigen ſchwachen Saͤtze wende
ein verehrlicher Stadtrath auf das Buch und
[212] ſich und den Leſer an, und frage ſich: „iſt noch
jezt die Frage von dieſen und jenem?“
Noch vier Punkte hab' ich auſſerdem zu be¬
ruͤhren.
Der erſte Punkt iſt nicht der erfreulichſte.
Noch hab' ich nicht mehr als 50 Nummern vom
Kabelſchen Naturalienkabinet (denn dieſer Brief
iſt fuͤr den halben Dachshunds-Blaſenſtein) er¬
ſchrieben; und fahre ſchon mit drei Baͤnden vor,
die abzuladen ſind; da nun das Kabinet 7203
Nummern in allen beſizt: ſo muͤſſen endlich
ſaͤmmtliche Flegeljahre ſo ſtark ausfallen, als
die allgemeine deutſche Bibliothek, welche ſich
doch von ihnen im Gehalte ſo ſehr unterſcheidet.
Ich ſage lezteres nicht aus Beſcheidenheit, ſon¬
dern weil ich's ſelber fuͤhle. Indes werd' ich
naͤchſtens in meinen Vorleſungen uͤber die
Kunſt gehalten in der Leipziger Oſter¬
meſſe 1804 *) erweiſen, daß (was
man ja ſieht) und zweitens warum der Epi¬
ker (in weſſen Gebiet dieſes Werk doch zu ru¬
[213] briziren iſt) unendlich lang werde und nur mit
dem langen Hobels-Arme den Menſchen be¬
wege, anſtatt, daß der Lyrikus mit dem kur¬
zen gewaltig arbeitet. Ein epiſcher Tag hat wie
der Reichstag, kaum einen Abend, geſchweige
einen Garaus; und wie lang Goͤthes Dorothea,
die nur einen Tag einnimmt, iſt, weiß jeder
Deutſche; der Reichsanzeiger wuͤrde eine bloſſe
proſaiſche Geſchichte dieſer poetiſchen Geſchichte,
in den Flaͤchenraum einer Buchhaͤndler Anzeige
einzupreſſen vermoͤgen.
Auch duͤrfte ein verehrlicher Magiſtrat noch
bedenken, daß die Autoren gleich geſpannten Sai¬
ten — welche oben und unten, Anfangs und
Endes ſehr hoch klingen, und nur in der Mitte
ordentlich — eben ſo im Eingange und nachher
im Ausgange eines Werkes die weiteſten und
hoͤchſten Spruͤnge machen (die immer Plaz ein¬
nehmen), um ſich theils zu zeigen, theils zu
empfehlen, in der Mitte aber kurz und gut zu
Werke gehen. Sogar dieſen Dreiband hab' ich
mit Briefen an Teſtaments-Exekutoren begon¬
nen und beſchloſſen, um nur zu ſchimmern. Ich
[214] hoffe von den mittlern Baͤnden der Flegeljahre
das Beſte, naͤmlich lyriſche Verkuͤrzungen
worinn meines Wiſſens Michel Angelo ein wah¬
rer Meiſter iſt.
Der zweite Punkt iſt noch verdruͤslicher,
weil er die Rezenſenten betrift. Es wird ihnen
allen, weiß ich, ſo ſchwer werden, ſich alles
ſeinen und groben, ſchon aus dem Titel Flegel¬
jahre geſchoͤpften und abgerahmten, Spaſſes ge¬
gen mich zu erwehren, als es mir wirklich ſel¬
ber, ſogar in einem offiziellen Schreiben an ver¬
ehrliche Exekutoren, ſauer ankommt, ſolchen
Perſonen mit keinen verſtekten Retorſionen und
Antizipazionen des Titels entgegen zu gehen.
Doch das lieſſe vielleicht ſich hoͤren, wenigſtens
machen — und durch eine Grobheit wird leicht
eine zweite faſt zu einer Hoͤflichkeit — Al¬
lein, verehrte Vaͤter der Stadt, wie der Vor¬
ſtaͤdte, man pakt ſie an, man faͤngt mit der
Exekuzion bei den Exekutoren den Prozeß an.
„Allgemein — ſchreibt man mir ſehr kuͤrzlich
aus Haslau, Weimar, Jena, Berlin, Leipzig
— wundert und aͤrgert man ſich hier, daß
[215] die ...... Exekutoren des Kabelſchen Teſta¬
ments gerade Dir (Ihnen) die Biographie des
Notarius, die nach der Teſtatoriſchen Klauſel ja
eben ſo gut Richardſon, Gellerten, Wielanden,
Scarron, Hermeſen, Marmonteln, Goͤthen,
Lafontainen, Spieſſen, Voltairen, Klingern,
Nikolain, Mds. Stael und Mereau, Schillern,
Dyken, Tieken, u. ſ. w. aufgetragen werden
konnte, eben Dir (Ihnen) zugewandt und das
herrliche Naturalien-Kabinet dazu, das viele
ſchon beſehen. Freunde und Feinde benannter
Autoren wollen — Dich (Sie) ohnehin — den
Haslauer Magiſtrat in Journalen verdammt her¬
unter ſetzen und heimſchicken. Doch bitt' ich dich
(Sie) mich nicht zu nennen. Ein kuͤnftiger Re¬
zenſent ſchwur hoch: Er wolle nicht ehrlich ſein,
wenn Er ehrlich bleibe bei ſo bewandten Um¬
ſtaͤnden.“
Hiergegen laͤſſet ſich nie etwas machen, aus¬
genommen Antikritiken, die aber ins Unendliche
gehen; denn ein Hund bilt das Echo an; es
tritt der alte Zyklus von Juͤcken und Krazen,
und von Krazen und Juͤcken ein. Das ſind
[216] aber boͤſe Hiſtorien; und der Autor leidet dabei
unſaͤglich; er hat immer einen Namen zu verlie¬
ren, und nur der Rezenſent einen zu gewinnen;
er lobt ſich uͤberhaupt das Lob und feiert ſo un¬
gern nach ſeinem Namenstage noch einen Ekel¬
namens-Tag. Es iſt ihm terribel und ſo un¬
angenehm als irgend etwas, daß das deutſche
Publikum von ſeinen Autoren, wie das engliſche
von ſeinen Baͤren, wuͤnſcht, ſie nicht nur tan¬
zen, ſondern auch gehezt zu ſehen. Ein je¬
der Autor hat doch — oder ſolls haben — ſo
viel Stolz als irgend ein Peha, oder Tezet, oder
Iks oder ein anderer Kapital-Letter von Klopf¬
ſtock in deſſen grammatikaliſchen Geſpraͤchen,
beſonders da er ja der Chef dieſer aufgeblaſenen
XXIIger Union oder dieſer grande Bande des
24 Violons ou les vingt-quatre iſt, die er
in Glieder ſtellt auf dem Papier wie er nur will.
Allerdings gaͤb' es ein gutes Mittel und
Projekt dagegen, hoch edler Stadtrath, wenn es
angenommen wuͤrde. Hundertmal hab' ich ge¬
dacht: koͤnnte nicht eine Kompagnie wackerer
Autoren von einerlei Grundſaͤtzen und Lorber¬
[217] kraͤnzen zuſammen treten und ſo viel aufbringen,
daß ſie ſich ihren eignen Rezenſenten hielten, ihn
ſtudieren lieſſen und ſalarirten, aber unter der
Bedingung, daß der Kerl nur allein ſeine Brod¬
herren oͤffentlich in den gangbaren Zeitungen,
ſtreng aber unpartheiiſch und nach den wenigen
aͤſthetiſchen Grundſaͤtzen beurtheilte, die ein ſol¬
cher Famulant und Valet de Fantaiſie haben
und behalten kann? — Wenn ſich eine ſolche
Ordonanz, ſo zu ſagen, in ſeiner Chefs Manier
einſchloͤſſe, nichts weiter triebe und wuͤßte: ſollte
ſie ſich nicht niederſetzen, und hinſchreiben koͤn¬
nen: „da und da, ſo und ſo iſt die Sache; und
wer's laͤugnet, iſt ſo gewiß ein Vieh, als ein
Affe.“
— Einigermaſſen, verehrlicher Stadtrath,
hab' ich einen Anſchlag; und er betrift eben den
jungen Mann, der Ihnen die Flegeljahre per¬
ſoͤnlich uͤberbringt. Der Menſch heiſſet eigent¬
lich Schuſter, hat aber den dumpfen Namen
durch Ein Strichelgen mehr in den hellern Sehu¬
ſter umgepraͤgt. Anfaͤnglich ſtoͤſſet er vielleicht
einen wohlweiſen Rath etwas ab, durch ſein
[218] Aeuſſeres, durch den verworren-grimmigen Blik,
Schweden- und Igelkopf, graͤulichen Backenbart
und durch die Aehnlichkeiten, die er mit ſo ge¬
nannten Grobianen gemein hat. Heimlich aber
iſt er hoͤflich, und er hat uͤberhaupt ſeine Men¬
ſchen, die er venerirt. Ich mochte dieſen Sehu¬
ſter etwan 14 Tage, nachdem er ſein Gymna¬
ſium, als ein ſcheuer ſtiller leiſer Menſch ver¬
laſſen, der eben keinen beſondern Zyklopen und
Enak verſprach, 14 Tage darauf in Jena wie¬
der gefunden haben — Himmel! wer ſtand vor mir?
Ein Fuͤrſt, ein Gigant, ein Flegel aber ein edler,
ein Atlas, der den Himmel trug, den er ſchuf,
ſezend eine neue Welt, zerſezend die alte! Und
doch hatt' er kaum zu hoͤren angefangen, und
wuſte eigentlich nichts Erhebliches; er war noch
ein ausgeſtrekt-liegender Hahn, uͤber deſſen Kopf
und Schnabel Schelling ſeine Gleicher-Linie mit
Kreide gezogen, und der unverruͤckt, ja verruͤckt,
darauf hinſtart und nicht auf kann; aber eben
er war ſchon viel und mehr, das fuͤhlt' er, als
er verſtand und ſchien. Dies beweiſet beilaͤufig,
daß es eben ſo gut im geiſtigen Reiche eine ſchnel¬
[219] le Methode, den innern Menſchen in 14 Tagen
zu einem groſſen Manne aufzufuͤttern, geben
muͤſſe, als es die aͤhnliche im koͤrperlichen giebt,
eine Gans, ſchwebend gehangen, die Au¬
gen verbunden, die Ohren verſtopft, durch
Naͤhren in nicht laͤngerer Zeit ſo weit zu brin¬
gen und zu maͤſten, daß die Leber 4 Pfund
wiegt.
In der That beſtimmte mich dieſes, da der
gute Gigant nichts hat auſſer Kraͤfte, mit vier
andern bellettriſtiſchen herrlichen Verfaſſern —
(ich werde ihnen nie die Schuhriemen aufloͤſen,
— geſezt, ſie verlangtens), aus der Sache zu
ſprechen und ſie zu fragen, ob wir uns nicht koͤnn¬
ten zuſammenſchlagen, und ihn auf den noͤthig¬
ſten Akademien fuͤr unſer Geld abſolvieren laſſen:
„wir hobeln Sehuſtern, ſagt' ich, ganz nach un¬
ſern Werken zu, oder vielmehr er hat ſeine de¬
duzierenden Theorien nach dem Meiſter, und
andern Stuͤcken ſeiner Koſtherren einzurichten,
um einſtens im Stande zu ſeyn, als unſer
Fixſtern-Trabant, Brautfuͤhrer und Cheva¬
lier d'honneur unſerer 5 Muſen, kurz als un¬
[220] ſer Rezenſier-Markoͤr in den verſchiedenen Zeitun¬
gen, die die Welt jezt mithaͤlt, zu beurtheilen
und zu ſchaͤzen.“
Das nahm man an. Und wir Fuͤnfer hat¬
ten wahrhaftig keine Urſache, unſere Ausgaben
zu bereuen, als wir ſpaͤter, im erſten Semeſter
hoͤrten, daß er die Polaritaͤten und die Indifferenz
leiden koͤnne, daß er ein Transzendenter Aequi¬
libriſt ſei, und ein polariſcher Eis-Baͤr, daß er
die Menſchen indifferenziere, ſich aber potenziere,
daß er zwar kein Dichter, kein Arzt, und kein
Philoſoph ſei, aber, was vielleicht mehr iſt, al¬
les dieſes zuſammen genommen. Und in der That
nannt' er uns bald darauf in ſeinen Rezenſionen
die fuͤnf Direktoren, ja die fuͤnf Sinne der gelehr¬
ten Welt, ich ſoll darunter der Geſchmak ſein,
le Goût, el Gusto*) ſpricht aber doch verdammt
frei von jedem andern. „Geſezt, mein feuriger
Schuſter,“ wandt' ich einſtens ein, als er hin¬
geſchrieben hatte, er ſehe voraus, in 4 oder 5
[221] Jahren ſei Goͤthe ſo tief herunter als gegenwaͤrtig
Wieland; — „O was? verſezt' er, ich ſtecke zu¬
weilen einen Kometen-Kern ins blaue Aether¬
Feld, und bekuͤmmere mich nicht, ob er aufgeht
und fliegt als Feuer-Blume. An der Himmels-
Achſe der Unendlichkeit ſind die Pole zugleich Glei¬
cher, alles iſt eines, H. Legaz.!“
Nun halten vier Treffer der Litteratur (fuͤnf
wuͤrd' ich ſagen, waͤr' ich nicht darunter), bei einem
Hochedlen Rathe um das Maushackiſche Le¬
gat, das eben fuͤr arme Studenten aufgeht, fuͤr
den guten Ohnehoſen an; denn lezteres iſt er, wech¬
ſelnd eigentlich und uneigentlich, gleichſam als
differenziere und indifferenziere er auch hier, und
waͤhle Realiſmus und Idealiſmus beliebig als
zwei Wechſelſtandpunkte aus einem dritten. Ich
meine aber ſo: er hat nichts. Sein Marquiſat
de Quinet*) wirft zu wenig ab — er braucht
zu viele erregende Potenzen, wenn er ſelber eine
ſein ſoll, und Weinberge ſind die Terraſſentreppe
zu ſeinem Muſenberg — wir fuͤnf Markis verſpuͤ¬
[222] ren das Ernaͤhren eines ſechsten auch ſtark: —
Wieſe man nun aber Sehuſtern das Maushacki¬
ſche Legat zu: ſo koͤnnt' ers pro forma in Jena
oder Bamberg verzehren; und dabei gemaͤchlich
beurtheilen, einige bekraͤnzen, und ganz weg ha¬
ben, unzaͤhlige kaum von der Seite anſehen, die
Gemeinheit herzlich verachten, viele Sachen de¬
duzieren, wie z. B. den Roman, den Humor,
die Poeſie, aus vier oder fuͤnf Termen und Schrei¬
bern, und voͤllig unter die ſogenannten ganzen
Leute gehoͤren. Der ſeelige Maushack ſelber —
den ich zwar nicht kenne, der aber doch von der
andern Welt muß endlich profitieret haben —
wuͤrde droben, wenn er von dieſen Fruͤchten ſei¬
nes Nachlaſſes hoͤrte, ſeelenvergnuͤgt ſagen: „herz¬
lich goͤnn' ich der wilden Fliege drunten das Le¬
gat, blos weil ſie um eine Welt fruͤher als ich,
von dem Reflexions-Punkte weggeflogen.“
O Gott, Stadtrath! was waͤre noch zu ſa¬
gen, wuͤrd' es nicht gedruckt! Ein Autor giebt
lauter Nuͤſſe aufzubeiſſen, welche dem Gehirne
gleichen, das nach Le Camus ihnen gleicht, und
die alſo 3 Haͤute haben; wer aber ſchaͤlet ſie ab?
[223] — Ein bekannter Autor iſt allerdings beſcheiden;
das iſt aber eben ſein Ungluͤk, daß niemand weiß,
wie beſcheiden man iſt, da man von ſich nicht
ſprechen und es ſagen kann. Er koͤnnte ſeinen
Stiefelknecht hundert Livréefarben anſtreichen, er
koͤnnte den Eiſen-Fang ſeines Windofens zu ſei¬
nem brennenden Namens-Zug verſchweifen und
ringeln laſſen, aber niemand weiß es, daß ers
nicht thut. Erwaͤgt man vollends, wie viele
Schlachten Bonaparte, ſowohl in als außer Eu¬
ropa, ausſtand und lieferte, blos damit nur ein¬
mal ſein Name richtig geſchrieben wuͤrde, ohne
das U, wofuͤr er jezt den Franzoſen jenes X
macht, jenes algebraiſche Zeichen der unbe¬
kannten Groͤſſe, erwaͤgt man alſo, mit wel¬
cher Muͤhe ein Name gemacht, und mit wie leich¬
ter er wieder ausgewiſcht wird: ſo iſt's warlich
ein matter Troſt, daß es in Ruͤckſicht des Ver¬
kennens auch andern groͤſten Maͤnnern nicht beſ¬
ſer ergangen, z. B. dem groſſen Gottſched, der
ſelber ſogar im Gellertiſchen Leipzig ſo manches
erlitt, was man hier nicht wiederholen will.
Der vierte Punkt, wovon ich einem hoched¬
[224] len Magiſtrate zu ſchreiben verſprach, iſt gerade
ein naͤrriſcher, den der junge Schuſter am beſten
ausfechten wuͤrde, in oͤffentlichen Blaͤttern. Ein
hochedler Stadtmagiſtrat wuͤnſchte naͤmlich von
weiten, daß das Werk etwas verweint, und be¬
weglich verfaſſet wuͤrde. Aber wie war das noch
thunlich in unſern Tagen, Verehrteſte, die ein
wahrer einziger heller Tag ſind, wo die Aufklaͤ¬
rung als ein eingeklemmter angezuͤndeter Strik
fort glimmt, an welchem an oͤffentlichen Orten
jedes Tabakskollegium ſeine Koͤpfe anzuͤndet? —
Wer oͤffentlich noch ein wenig empfinden darf —
und der iſt zu beneiden — das ſind entweder die
Buchhaͤndler in ihren Buͤcher-Geburts-Anzei¬
gen, indem man alle etwannige Empfindſamkeit
darin mit dem Eigennuz entſchuldigen kann; oder
es ſinds die lachenden Erben in ihren Todes-An¬
zeigen, wo aus demſelben Grunde der Korkzieher
der Thraͤnen darf eingeſchraubt und angezogen
werden. Sonſt aber hat man gegen Weinen, be¬
ſonders wahres, viel — die Thraͤnenkruͤge ſind
zerſchlagen, die weinenden Marienbilder umge¬
worfen von zeitiger Titanomanie — die beſten
[225] Waſſerwerke ſind noch fruͤher angelegt als die Berg¬
werke, welche davon auszutroknen ſind — wie
in Schmelz-Huͤtten, iſt in die Seelenſchmelz-
Huͤtten, in die Romane, einen Tropfen Waſſer
zu bringen ſtreng verboten, weil ein Tropfe das
Gluth- und Flus-Kupfer zertruͤmmernd auftreibt
— der Menſch faͤngt uͤberhaupt an, und zwar
bei den Thraͤnen (nach Hirſchen und Krokodillen
zu ſchlieſſen), das Thieriſche abzulegen, und das
Menſchliche anzunehmen, wo man bei den La¬
chen anfaͤngt, ſo daß jezt eine poetiſche Zaube¬
rin, wie ſonſt eine proſaiſche Hexe, daran eben
erkannt wird, daß ſie nicht weinen kann.
Kurz, Ruͤhrung wird gegenwaͤrtig nicht ver¬
ſtattet — leichter eine Ruͤckenmarksduͤrre als eine
Augenwaſſerſucht; — und wir Autoren geſtehen
es uns manchmal unter einander heimlich in Brie¬
fen, wie erbaͤrmlich wir uns oft wenden und winden,
damit wir bei Ruͤhr-Anlaͤſſen (wir muͤſſen ſelber
daruͤber lachen) keinen Tropfen fahren laſſen.
Ich ſchlieſſe dieſe Zeilen ungern; aber der Oh¬
nehoſen Sehuſter ſteht hinter dem Kopiſten, Hal¬
ter, ſchon geſtiefelt und wartet auf die Kopie der¬
Flegeljahre III. Bd. 15[226] ſelben mit der Jagdtaſche; denn es waͤre kaum zu
ſagen, was ich den treflichen Teſtaments-Voll¬
ſtreckern, noch zu ſagen haͤtte uͤber das Werk. Moͤg'
ich und die Welt nicht zu lange bei Ihnen auf die
naͤchſten 500 Nummern paſſen muͤſſen! Nachge¬
rade gegen den vierten Band ſpinnt ſich in der
Biographie ordentlich merkbar eine Art von Inte¬
reſſe an. Denn nun muͤſſen die koſtbarſten Sachen
kommen und im Anzug ſein; und ich brenne nach
Nummern. Ueberall ſtehen Tellerfallen, und
Dampfkugeln fliegen, Wildrufdreher ſchleichen,
Hummerſcheeren klaffen — Walls und Winas
neueſter Bund iſt ſeltſam, und kann unmoͤglich
lange bleiben ohne die groͤßten Stuͤrme, die Baͤn¬
de-lang raſen von Meſſe zu Meſſe — Jakobinens
Nachtviſitte muß konfuſe Folgen haben, oder kann's
doch — der Larvenherr muß entlarvt werden (wie¬
wohl ich ihn warlich errathe; denn er iſt mir zu
kenntlich) — Vult hat ſeinen Schmolgeiſt, iſt
— erlogen von Adel, lebt von Luft, ſtuͤrmt ſo leicht
— der teſtierende Elſaßer iſt ganz hergeſtellt und
ſieht zum Schallloch heraus — die meiſten Erben
minieren gewis, ich ſeh' aber, bekenn' ich, noch
[227] nichts — des Helden Vater ſizt zu Hauſe und
rennt und verſchuldet Haus und Hof — Pasvo¬
gel, Harprecht, Glanz, Knol muͤſſen ſich ſehen
laſſen, und graben noch unter der Erde — guter
Gott, welche eine der verwickelſten Geſchichten,
die ich kenne! Walt ſoll Pfarrer werden, und ich
begreife nicht wie, und hundert andere Dinge
nicht beſſer — der Graf Klothar will heirathen,
kommt zuruͤck und findet beim Himmel eine neue
Wirthſchaft und Hiſtorie, die ihn natuͤrlich et¬
was frappieret — Walt will unendlich gut und
willig bleiben, und ein zartes ein Gottes-Lamm
und ſoll daraus ein Schaaf, ein Hammel werden,
unter Wollen-Scheeren, unter Schlachtmeſſern —
Schlingen, Flammen, Feinde, Freunde, Himmel,
Hoͤllen, wohin man nur ſieht! . . . . . .
— Allerdings, verehrlichſter Stadtrath! hat
eine ſolche Geſchichte noch kein Dichter gehabt;
aber ein Jammer iſt es eben und ein noch unbe¬
ſtimmliches Ungluͤck fuͤr die ganze ſchoͤne Littera¬
tur, daß ſie wahr iſt — daß mir ſo etwas nicht
fruͤher eingefallen als zugefallen — daß ich un¬
gluͤckliche Haut, an Teſtaments Klauſeln, und
[228] Naturalien-Nummern gefeſſelt gehend, wie an
klein-ſchrittigem Weiber-Arm, nichts von ro¬
mantiſchen Gaben und Bluͤthen (indem ich doch
auch unter den Romanciers mitlaufe) kuͤnſtlich
pelzen darf auf ſolchen Stamm — — O Kritiker!
Kritiker, waͤrs meine Geſchichte, wie wollt' ich
ſie fuͤr euch erfinden und ſchrauben und verwir¬
ren, und quirlen und kraͤuſeln! Wuͤrfe ich z. B.
etwan nur ein ſchmales Schlachtfeld in eine ſol¬
che goͤttliche Verwiklung — ein Paar Graͤber —
einen Schlegelſchen Révenant des Euripidiſchen
Jons*) — fuͤnf Schaufeln voll italiſcher Erde
oder ſonſt klaſſiſcher — einen ſchwachen Ehe¬
bruch — einen Kloſtergarten ſammt Nonnen —
von einem Tollhauſe die Ketten, wenn nicht die
Haͤusler — ein Paar Maler und deren Stuͤcke —
und den Henker und alles: — — — ich glaube,
Vollſtrecker, es fiele anders aus als jezt, wo
ich blos nur nachſchreibend zuſehen muß, wie die
Sachen gehen, und aus Haslau kommen, ohne
daß ich, im moͤglichen Falle ungewoͤhnlicher Lang¬
[229] weile, etwas anderes fuͤr die Welt und fuͤr H.
Cotta in der Gewalt haͤtte, als wahres Mit¬
leiden mit beiden, faſt zu ſehr von Gewiſſen, und
ſonſt eingeklemmt und angepfaͤhlt.
— Aber mein Rezenſent, der junge Sehu¬
ſter, der eben zwiſchen Schreiber und Abſchreiber
ſteht, treibt auſſerordentlich und will fort, und
ſieht verdruͤslich nach dem Gottesacker hinaus.
Noch ſchluͤßlich erſuch' ich die Vollſtrecker, falls
ſchwere Kapitel, die beſondere Kraft und Stim¬
mung fordern, im Anzuge ſein ſollen, mir ſie
bald und jezt zu ſchicken, wo gerade mein Lokale
(wozu auch mein Leib zu rechnen), mein Schreib¬
fenſter, das den ganzen Ilzgrund beherrſcht,
(denn ich wohne im Grunerſchen Hauſe in der
Gymnaſiumsſtraſſe) und das Bluͤhen der Mei¬
nigen (worunter mein empiriſches Ich mit gehoͤrt)
mich ſichtbar unterſtuͤtzen; ja ich wuͤrde — wenn
nicht ſolche Selbſt-Perſonalien eher vor ein Pu¬
blikum, als vor einen Stadtrath gehoͤrten —
dazu ſelber den gedachten Gottesacker ſchlagen,
wo man eben jezt (es iſt Sonntags 12 Uhr)
halb in der Salvatorskirche, halb auf deren
[230] Kirchhofe im Sonnenſcheine zwiſchen Kindern,
Schmetterlingen, Siz-Graͤbern und fliegenden
Blaͤttern des Herbſtes den ſingenden, orgelnden
und redenden Gottes-Dienſt ſo haͤlt, daß ich
alles hier am Schreibtiſche hoͤre.
Ich koͤnnte dabei manches empfinden; aber
Rezenſent draͤngt erbaͤrmlich — weil die Tage
kuͤrzer werden — und er iſt ſchuld, daß ich in
groͤſter Eile mit der groͤſten Hochachtung erharre
eines Hochedlen Stadtraths
Coburg, den 23. Okt. 1803.
J. P. Fr. Richter.
Appendix A Druckfehler desI. Baͤndgens.
Seite Zeile
31 9 ſtatt derſelbe lies der ſelber
57 10 ſt. Territorine l. Territorien
79 12 ſt. Poſtſtraſſen l. Poſtſtraſſe
— 17 ſt. ihn l. daſſelbe
96 6 ſt. Haͤnde l. Haͤndel
— 9 ſt. gewoͤlkte l. gewoͤlbte
98 11 ſt. ſind l. ſeynd
100 18 ſt. jeder l. in jede
— 19 ſt. verſtehe l. erſtehe
101 v. u. 5 ſt. und l. um
112 v. u. 2 ſt. Thuͤren l. Thurme
119 6 ſt. verbluͤht l. verbluͤft
121 2 ſt. jezt I. jez
138 v. u. 5 nach Wenn fehlt ſich
147 v. u. 6 ſtreiche H. weg.
155 v. u. 9 ſtatt wol l. voll
167 4 ſt. ſchreibe l. ſchreiben
173 2 ſt. ſchreiben I. ſchrieben
204 10 ſtatt ein l. im
meln.
bildlicher Beziehung.
manche das 10te mal beſſer klingen, als das erſte¬
mal, und Dichter und Komponiſt meiſtens ihr ge¬
genſeitiges Echo ſind.
die meiſten keinen Magen.
de, Mittags-Teufelin an. Lauſiz, Monatsſchrift
1797. 12 Stuͤck.
gend, — das Kindheitsdorf des gegenwaͤrtigen
dern in Vogtland, wohin gewiß nicht der Notar
gekommen.
das Anagram, oder umgekehrt, und welche Sprache
verſezte die andere?
haͤndler Quinet.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Flegeljahre. Flegeljahre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bngk.0