Phantaſien
von ſeiner Tochter
J. W. J. v. Voigt, geb. Moͤſer.
Mit Koͤnigl. Preußiſcher, Churſaͤchſiſcher, und Churbrandenbur-
giſcher Freyheit.
bey Friedrich Nicolai,1786.
[][]
Hier haben Sie verlangtermaaßen alles, was
ich von meines Vaters Aufſaͤtzen noch habe
auffinden koͤnnen. Finden Sie etwas darunter, was
Jhnen ſeiner unwuͤrdig ſcheint; ſo laſſen Sie ſol-
ches unbedenklich weg. Jhre Auswahl wird auch
allemal die meinige ſeyn. Denn Sie lieben meinen
Vater auch, nur ich zu ſehr, um uͤber ſeine Schrif-
ten zu urtheilen.
Das wenigſte davon iſt neu, faſt alles iſt bereits
in den Beylagen zu den hieſigen Jntelligenzblaͤttern,
die von 1767 bis in die Mitte des Jahrs 1782 un-
ter ſeiner Aufſicht herausgegeben ſind, erſchienen,
und daraus in verſchiedene Monatsſchriften aufge-
nommen worden. Sie moͤgen es alſo verantworten,
daß Sie dieſe Aufſaͤtze noch einmal dem Drucke
uͤbergeben; mir als Tochter wird das Publikum
leicht verzeihen.
Blos jenes Jntelligenzblatt, das ſich in einem
kleinen Lande ohne Zwang erhalten ſollte, hat mei-
nen Vater, der die Schreiber wie die Spieler
haßt, ob er gleich ſehr gern ſchreibt und ſpielt, zu
dieſer Art von Schreiberey vermocht; denn ob er
gleich darin fruͤhe Verſuche gemacht hat, indem er
vor vierzig Jahren das Hannoͤveriſche Wo-
chenblatt, welchem am Ende der Titel, Ver-
ſuch einiger Gemaͤhlde von den Sitten
unſer Zeit vorgeſetzt iſt *), herausgab, ſo war ihm
doch laͤngſt die Luſt dazu vergangen, nachdem der
angeordnete Cenſor, ihm damals ſeiner Meinung
)( 2nach
[] nach, zu hart behandelt, und manches Stuͤck ohne
Grund verworfen hatte. Zur Probe lege ich Jhnen
eines davon bey *), was damals als anſtoͤßig ge-
gen die Religion in der Cenſur unterdruͤckt, und von
meinem Vater als eine Urkunde der Denkart vor
40 Jahren aufbewahret iſt.
Jetzt iſt dieſer Aufſatz vielleicht keinem als mei-
nem Vater anſtoͤßig, der ſeitdem die chimiſche Un-
terſuchung der menſchlichen Tugenden hoͤchſt zweck-
widrig findet, und wenn ihm das Enſemble gefaͤllt
oder wohl ſchmeckt, die Kunſt des Meiſters in Zu-
ſammenſetzung widriger Jngredienzien bewundert.
Das ſonderbarſte dabey iſt, daß die von dem Cen-
ſor fuͤr ganz abſcheulich erklaͤrte Stelle:
„Glaubet nur, nach funfzig Jahren kann ſich
kein Menſch bekehren“,
die im Grunde weiter nichts ſagen ſoll, als daß
man im Alter ſich nicht leicht neue Fertigkeiten, die
doch zu jeder Sinnesaͤnderung erforderlich ſind, er-
warten kann, woͤrtlich aus Saurins Predigt
Sur le Renvoi de la converſion genommen waren.
Es mag dieſes zugleich zur Probe dienen, wie
meines Vaters Geſchmack ſich mit den Jahren
veraͤndert hat, nachdem er von den Buͤchern zu
Geſchaͤften uͤbergegangen iſt.
Uebrigens vergeſſen Sie nicht ſich zuweilen zu erinnern
Jhrer Freundin
Jenny von Voigts.
[]
Jnhalt
des vierten Theils.
- I Wie man zu einem guten Bortrage ſeiner Empfin-
dungen gelange. Seite 3 - II Ueber das Kunſtgefuͤhl von einem Weinhaͤndler 8
- III. Von der Nationalerziehung der alten Deutſchen. 13
- IV. Ueber die Erziehung des Adels, von einem Edel-
mann. 19 - V. Alſo ſoll der handelnde Theil der Menſchen nicht
wie der ſpeculirende erzogen werden. 23 - VI. Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen. 27
- VII. Etwas zur Policey der Freuden fuͤr die Landleute. 31
- VIII. Es ſollen die Wochenſchriften auch die Anzeigen
der neueſten Moden enthalten. Schreiben von
Amalien. 36 - IX. Antwort an Amalien. 40
- X. Wie iſt die Dreſpe im menſchlichen Geſchlecht am
beſten zu veredeln? Anfrage eines Frauenzim-
mers. 45 - XI Wozu der Putz dient, ein Geſpraͤch zwiſchen Mut-
ter und Tochter. 49 - XII. Schreiben einer alten Ehefrau an eine junge Em-
pfindſame. 50 - XIII. Nachſchrift. 54
- XIV. Schreiben einer Dame an ihren hitzigen Freund. 58
- XV. Alſo ſollte man die Einimpfung der Blattern ganz
verbieten; Schreiben einer jungen Matrone. 64 - XVI. Ein kleiner Umſtand thut oft vieles; aus dem Le-
ben eines Frauenzimmers, von ihr ſelbſt beſchrie-
ben. 68 - XVII. Der Werth der Complimente. Schreiben einer
Witwe. 73 - XVIII. Verdienten ſie die Krone oder nicht? Ein mora-
liſches Problem. 76 - XIX. Was iſt die Liebe zum Vaterlande? 82
- XX. Der Herr Sohn iſt ſchlau. Schreiben an die gnaͤ-
dige Frau Mutter. 84 - XXI. Was iſt nicht alles, wofuͤr Dank gefordert wird?
eine Anektote von Abdera. 88 - XXII. An einen jungen Dichter. 89
- XXIII. Der Autor am Hofe. Schreiben einer Hofdame. 93
- XXIV. Eine Scene aus dem Luſtſpiele, der Sollicitant. 97
- XXV. Jch an meinen Freund. 101
- XXVI. Der Wirth muß vorauf, von einer Landwirthin. 103
- XXVII. Klagen uͤber den Buchſtaben R. von meinem
himmelblauen Maͤdgen. 105 - XXVIII. La Prude et la Coquette zu Deutſch. 107
- XXIX. Alſo ſollte man die Teſtamente auf dem Siech-
bette ganz verbieten. 109 - XXX. Von dem wichtigen Unterſchiede des wuͤrklichen
und foͤrmlichen Rechts. 113 - XXXI. Ueber den Unterſchied einer Chriſtlichen und
Buͤrgerlichen Ehe. 118 - XXXII. Von den Militairehen der Englaͤnder. 123
- XXXIII. Die Artikel und die Punkte. 125
- XXXIV. Ueber die Todesſtraſen. 130
- XXXV. Alſo ſollte man den Zweykaͤmpfen nur eine
beſſere Form geben. 135 - XXXVI. Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks
auf das Oſterfeſt, die Loslaſſung eines Gefange-
nen zu fordern. 139 - XXXVII. Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer. 143
- XXXVIII. Rede eines Baͤckers uͤber die Backproben. 149
- XXXIX. Gewiſſensfrage eines Advokaten. 152
- XL. Vorſchlag zu einem neuen Plan der deutſchen
Reichsgeſchichte. 153 - XLI. Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe. 158
- XLII. Große Herrn duͤrfen keine Freunde haben wie
andre Menſchen. 162 - XLIII. Von dem echten Eigenthum. 164
- XLIV. Schreiben eines Edelmanns ohne Gerichtsbar-
keit an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit. 168 - XLV. Vorſchlag wie die Kirchhoͤfe aus der Stadt zu
bringen. 175 - XLVI. Was will aus unſern Garn und Linnenhandel
werden. 181 - XLVII. Von dem Naturgange der Gaͤnſe. 186
- XLVIII. Toleranz und Jntoleranz. 187
- XLIX. Die Bekehrung im Alter. 188
- L. Eine kurze Nachricht von den Weſtphaͤliſchen Frey-
gerichten. 193 - LI. Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde und des Land-
rechts im Stift Oſnabruͤck. 206 - LII. Ueber die Abſteuer der Toͤchter der Landbeſitzer. 216
- LIII Das Herkommen in Anſehung der Abſteuer und
des Verzichts adelicher Toͤchter im Stifte Oſnabruͤck. 237 - LIV. Vereinigung der Ritterſchaft des Hochſtifts Oſna-
bruͤck uͤber die Abſteuer und den Verzicht adlicher
Toͤchter, wie ſolche von Sr. Koͤniglich Maj. von
Großbrittanien als Vater des Herrn Biſchofs
Friedrichs Koͤnigl. Hoheit Sub dato St. James den
15. Mai 1758. beſtaͤtiget worden. 242 - LV. Warum bildet ſich der deutſche Adel nicht nach dem
engliſchen? 246 - LVI. Von dem Concursprozeſſe uͤber das Landeigenthum. 258
- LVII. Ueber die Adelsprobe. 268
- LVIII. Der Capitularſoldat, Auszug eines Schreibens. 295
- LIX. Alſo ſollten geringe Nebenwohner, wenn ſie woll-
ten, wegen ihrer Schulden nicht gerichtlich belangt,
ſondern mit kurzer Hand zur Zahlung angehalten
werden. 301 - LX. Beherzigung des vorigen Vorſchlags. 306
- LXI. Etwas zur Naturgeſchichte des Leibeigenthums. 311
- LXII. Der Freykauf. 316
- LXIII. Was iſt bey Verwandelung der bisherigen Er-
besbeſetzung mit Leibeignen in eine freye Erbpacht,
zu beachten? 321 - LXIV. Formular eines neuen Colonatcontrakts, nach
welchem einem vormaligen Cammer-Eigenbehoͤ-
rigen, nach vorgaͤngiger Freylaſſung, der Hof uͤber-
geben worden. 334 - LXV. Formular des hierbey ertheilten Freybriefes. 347
- LXVI. Alſo ſollte jeder Gutsherr ſeine Leibeignen vor
Gerichte vertreten, und den Zwangdienſt mildern. 349 - LXVII. Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. 351
Pa-[[1]]
Patriotiſche
Phantaſien.
Vierter Theil.
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. A
[[2]][[3]]
I.
Wie man zu einem guten Vortrage ſeiner
Empfindungen gelange.
Jhre Klage, liebſter Freund! daß Sie ſich in Aus-
druck und Vorſtellung ſelten vollkommen genug
thun koͤnnen, wenn Sie eine wichtige und maͤchtig em-
pfundene Wahrheit andern vortragen wollen, mag leicht
gegruͤndet ſeyn; aber daß dieſes eben einen Mangel der
Sprache zur Urſache habe, davon bin ich noch nicht uͤber-
zeugt. Freylich ſind alle Worte, beſonders die todten
auf dem Papier, welchen es wahrlich ſehr an Phyſiono-
mie zum Ausdrucke fehlt, nur ſehr unvollkommene Zei-
chen unſrer Empfindungen und Vorſtellungen, und man
fuͤhlet oft bey dem Schweigen eines Mannes mehr, als
bey den ſchoͤnſten niedergeſchriebenen Reden. Allein auch
jene Zeichen haben ihre Begleitungen fuͤr den em-
pfindenden und denkenden Leſer, und wer die Muſik ver-
ſteht, wird die Noten nicht ſclaviſch vortragen. Auch
der Leſer, wenn er anders die gehoͤrige Faͤhigkeit hat,
kann an den ihm vorgeſchriebenen, Worten ſich zu dem
Verfaſſer hinauf empfinden, und aus deſſen Seele alles
heraushohlen, was darinn zuruͤckblieb.
A 2Eher
[4]Wie man zu einem guten Vortrage
Eher moͤchte ich ſagen, daß Sie Jhre Empfindun-
gen und Gedanken ſelbſt nicht genug entwickelt haͤtten,
wenn ſie ſolche vortragen wollen. Die mehrſten unter
den Schreibenden begnuͤgen ſich damit, ihren Gegenſtand
mit aller Gelaſſenheit zu uͤberdenken, ſodann eine ſo-
genannte Diſpoſition zu machen, und ihren Satz darnach
auszufuͤhren; oder ſie nuͤtzen die Heftigkeit des erſten
Anfalls, und geben uns aus ihrer gluͤhenden Einbildungs-
kraft ein friſches Gemaͤhlde, was oft bunt und ſtark
genug iſt, und doch die Wuͤrkung nicht thut, welche ſie
erwarteten. Aber ſo noͤthig es auch iſt, daß derjenige,
der eine große Wahrheit maͤchtig vortragen will, dieſelbe
vorher wohl uͤberdenke, ſeinen Vortrag ordne, und ſei-
nen Gegenſtand, nachdem er iſt, mit aller Waͤrme be-
handle: ſo iſt dieſes doch noch der eigentliche Weg nicht,
worauf man zu einer kraͤftigen Darſtellung ſeiner Em-
pfindungen gelangt.
Mir mag eine Wahrheit, nachdem ich mich davon
aus Buͤchern und aus eignen Nachdenken unterrichtet
habe, noch ſo ſehr einleuchten, und ich mag mich damit
noch ſo bekannt duͤnken: ſo wage ich es doch nicht, ſo-
gleich meine Diſpoſition zu machen, und ſie darnach zu
behandeln; vielmehr denke ich, ſie habe noch unzaͤhlige
Falten und Seiten, die nur jetzt verborgen ſind, und
ich muͤßte erſt ſuchen, ſolche ſo viel moͤglich zu gewinnen,
ehe ich an irgend einen Vortrag, oder an Diſpoſition
und Ausfuͤhrung gedenken duͤrfe. Dieſemnach werfe ich
zuerſt, ſobald ich mich von meinem Gegenſtande begei-
ſtert und zum Vortragen geſchickt fuͤhle, alles was mir dar-
uͤber beyfaͤllt, aufs Papier. Des andern Tages verfahre
ich wieder ſo, wenn mich mein Gegenſtand von neuem
zu ſich reißt, und das wiederhole ich ſo lange, als das
Feuer und die Begierde zunimmt, immer tiefer in die
Sache
[5]ſeiner Empfindungen gelange.
Sache einzudringen. So wie ich eine Lieferung auf das
Papier gebracht, und die Seele von ihrer erſten Laſt ent-
lediget habe, dehnt ſie ſich nach und nach weiter aus, und
gewinnet neue Ausſichten, die zuerſt noch von naͤhern
Bildern bedeckt wurden. Je weiter ſie eindringt, und
jemehr ſie entdeckt, deſto feuriger und leidenſchaftlicher
wird ſie fuͤr ihren geliebten Gegenſtand. Sie ſieht
immer ſchoͤnere Verhaͤltniſſe, fuͤhlt ſich leichter und freyer
zum Vergleichen, iſt mit allen Theilen bekannt und ver-
traut, verweilet und gefaͤllt ſich in deren Betrachtung und
hoͤret nicht eher auf, als bis ſie gleichſam die letzte Gunſt
erhalten hat.
Und nun, wenn ich ſo weit bin, womit insgemein
mehrere Tage und Naͤchte, Morgen- und Abendſtunden
zugebracht ſind, indem ich bey dem geringſten Anſchein
von Erſchlaffung die Feder niederlege, fang ich in der
Stunde des Berufs an, mein Geſchriebenes nachzuleſen,
und zu uͤberdenken, wie ich meinen Vortrag einrichten
wolle. Faſt immer hat ſich waͤhrend dieſer Arbeit die
beſte Art und Weiſe, wie die Sache vorgeſtellet ſeyn will,
von ſelbſt entdeckt; oder wo ich hieruͤber noch nicht mit
mir einig werden kann: ſo lege ich mein Papier bey Seite
und erwarte eine gluͤcklichere Stunde, die durchaus von
ſelbſt kommen muß, und leicht kommt, nachdem man
einmal mit einer Wahrheit ſo vertraut geworden iſt. Jſt
aber die beſte Art der Vorſtellung, die immer nur ein-
zig iſt, waͤhrend der Arbeit aus der Sache hervorgegan-
gen: ſo fang ich allmaͤhlig an, alles was ich auf dieſe
Art meiner Seele abgewonnen habe, darnach zu ordnen,
was ſich nicht dazu paßt, wegzuſtreichen, und jedes auf
ſeine Stelle zu bringen.
Jnsgemein faͤllt alles was ich zuerſt niedergeſchrie-
ben habe, ganz weg, oder es ſind zerſtreute Einheiten,
A 3die
[6]Wie man zu einem guten Vortrage
die ich jezt nur mit der herauskommenden Summe zu
bemerken noͤthig habe. Deſtomehr behalte ich von den
folgenden Operationen, worinn ſich alles ſchon mehr zur
Beſtimmung geneigt hat, und der letzte Gewinn dient
mehrentheils nur zur Deutlichkeit und zur Erleichterung
des Vortrags. Die Ordnung oder Stellung der Gruͤnde
folgt nach dem Hauptplan von ſelbſt, und das Kolorit
uͤberlaſſe ich der Hand, die, was die erhitzte Einbildung
nunmehro maͤchtig fuͤhlt, auch maͤchtig und feurig mahlt
ohne dabey einer beſondern Leitung zu beduͤrfen.
Doch will ich eben nicht ſagen, daß Sie ſich ſogleich
hierinn ſelbſt trauen ſollen. Jeder Grund hat ſeine ein-
zige Stelle, und er wuͤrkt nicht auf der einen wie auf
der andern. Geſetzt ich wollte Jhnen beweiſen, daß das
fruͤhe Diſponiren ſehr mißlich ſey, und fienge damit an,
daß ich ihnen ſagte: „Garrick bewunderte die Clairon,
„als Frankreichs groͤßte Actrice, aber er fand es doch
„klein, daß ſie jeden Grad der Raſerey, worauf ſie als
„Medea ſteigen wollte, vorher bey kaltem Blute und in
„ihrem Zimmer beſtimmen konnte“: ſo wuͤrden Sie frey-
lich die Richtigkeit der Vergleichung leicht finden, aber
doch nicht alles dabey fuͤhlen, was ich wollte, daß Sie
dabey fuͤhlen ſollten. Garrick diſponirte ſeine Rolle nie
zum voraus, er arbeitete ſich nur in die Situation der
Perſon hinein, welche er vorzuſtellen hatte, und uͤber-
ließ es dann ſeiner maͤchtigen Seele, ſich ſeiner ganzen
Kunſt nach ihren augenblicklichen Empfindungen zu be-
dienen. Und das muß ein jeder thun der eine maͤchtige
Empfindung maͤchtig ausdenken will.
Das Koloriren iſt leichter, wenn man es von der
Haltung trennt; aber in Verbindung mit derſelben ſchwer.
Hieruͤber laſſen ſich nicht wohl Regeln geben; man lernt
es blos durch eine aufmerkſame Betrachtung der Natur,
und
[7]ſeiner Empfindungen gelange.
und viele Uebung, was man entfernen oder vorruͤcken,
ſtark oder ſchwach ausdruͤcken ſoll. Das mehrſte haͤngt
jedoch hiebey von der Unterordnung in der Gruppirung
ab, und wenn Sie hierinn gluͤcklich uud richtig geweſen
ſind: ſo wird die Verſchiedenheit des Standorts, wor-
aus die Leſer, wofuͤr Sie ſchreiben, ihr Gemaͤhlde an-
ſehen, nur eine allgemeine Ueberlegung verdienen.
Unter Millionen Menſchen iſt vielleicht nur ein ein-
ziger, der ſeine Seele ſo zu preſſen weiß, daß ſie alles
hergiebt, was ſie hergeben kann. Viele, ſehr viele ha-
ben eine Menge von Eindruͤcken, ſie moͤgen nun von der
Kunſt oder von der Natur herruͤhren, bey ſich verborgen,
ohne daß ſie es ſelbſt wiſſen; man muß die Seele in eine
Situation verſetzen, um ſich zu ruͤhren, man muß ſie er-
hitzen, um ſich aufzuſchließen, und zur Schwaͤrmerey
bringen, um alles aufzuopfern. Horgz empfohl den Wein
als eine gelinde Tortur der Seele, andre halten die Liebe
zum Gegenſtande, fuͤr maͤchtiger, oder den Durſt zu Ent-
deckungen: jeder muß hierinn ſich ſelbſt pruͤfen. Rouſ-
ſeau gab nie etwas von den erſten Aufwallungen ſeiner
Seele; wer nur dieſe und nichts mehr giebt, der traͤgt
nur ſolche Wahrheiten vor, die den Menſchen insgemein
auffallen und jedem bekannt ſind. Er hingegen arbeitete
oft zehnmal auf die Art, wie ich es Jhnen vorgeſchlagen
habe, und hoͤrte nicht auf ſo lange noch etwas zu gewin-
nen uͤbrig war. Wenn dieſes ein großer Mann thut:
ſo kann man ſo ziemlich ſicher ſeyn, daß er weiter vorge-
drungen ſey, als irgend ein andrer vor ihm. So oft
Sie ſich maͤchtiger in der Empfindung als im Ausdruck
fuͤhlen, ſo glauben ſie nur dreiſt, ihre Seele ſey faul,
ſie wolle nicht alles hervorbringen. Greifen Sie dieſelbe
an, wenn Sie fuͤhlen, daß es Zeit iſt, und laſſen ſie
arbeiten. Alle Jdeen die ihr jemals eingedruckt ſind und
A 4die
[8]Ueber das Kunſtgefuͤhl.
die ſie ſich ſelbſt aus den eingedruckten unbemerkt gezo-
gen hat, muͤſſen in Bewegung und Glut gebracht werden;
ſie muß vergleichen, ſchließen und empfinden, was ſie
auf andre Art ewig nicht thun wird, ſie muß verliebt
und erhitzt werden gegen ihren großen Gegenſtand —
Aber auch fuͤr die Liebe giebt es keine Diſpoſition; kaum
weiß man es nachher zu erzaͤhlen, wie man von einer
Situation zur andern gekommen iſt.
II.
Ueber das Kunſtgefuͤhl.
Von einem Weinhaͤndler.
Hiebey uͤberſende ich Jhnen, nebſt tauſend Dankſa-
gungen fuͤr Jhre mir letzthin bewieſene viele Freund-
ſchaft, das Faͤßgen, was Sie verlangt haben. Der Wein
iſt gut, und wenn er das noch haͤtte und dieſes nicht: ſo
waͤre mir das Stuͤck davon nicht fuͤr tauſend Gul-
den feil.
Lachen Sie nicht uͤber dieſe ſeltſame Sprache; es
hat nicht viel gefehlt, oder ich waͤre dadurch bey mei-
ner lezten Durchreiſe durch D .... zum Mitgliede ei-
nes gelehrten Klubbs aufgenommen worden. Unſer gu-
ter [Freund] der Kanonicus L … der vermuthlich nicht
wußte wie er den Abend mit einem Weinhaͤndler zubrin-
gen ſollte, hatte mich dahin gefuͤhrt, und ich fand uͤber
zwanzig junge Herrn zuſammen, die immer das Wort
Kunſtgefuͤhl im Munde hatten, und von deſſen Mangel
in gewiſſen Gegenden ein langes und breites ſprachen.
Der eine beſchuldigte mit einer viel bedeutenden Mine
das feindſelige Klima, der andre ſchob die Schuld auf
die
[9]Von einem Weinhaͤndler.
die ſchlaffe Regierungsform, ein dritter klagte die phi-
loſophiſche Erziehungsart an, und ein vierter brachte ſo-
gar die Religion mit ins Spiel, um den eigentlichen
Grund zu beſtimmen, warum in dem einen Lande mehr
Kunſtgefuͤhl und Geſchmack ſey, als in dem andern.
Nachdem ich den Gelehrten meiner Meynung nach
lange genug zugehoͤret hatte, ſo glaubte ich endlich auch
mit etwas von meiner Weißheit aufwarten zu duͤrfen
und ſagte zu ihnen: Aber um des Himmels willen, wie
koͤnnen Sie ſich uͤber eine ſolche Sache ſo lange zanken?
ich kenne alle Gewaͤchſe des Rheingaues, und will nicht
allein alle Arten, ſondern auch alle Jahrgaͤnge auf das
genaueſte unterſcheiden: das iſt aber von ihnen keiner
im Stande, und woher ruͤhrt dieſer Mangel des Ge-
ſchmacks bey ihnen? wahrlich nicht vom Klima und auch
nicht von der Religion, ſondern weil ſie nicht wie ich von
Jugend auf in Kellern geweſen ſind und nicht alle Arten
von Weinen oft genug verſuchet haben.
Anfangs ſchienen ſie zu ſtutzen, aber bald ſagte ei-
ner, das waͤre etwas ganz anders; ein ſolches Memo-
rienwerk als dieſe Weinkenntniß waͤre, koͤnne ein jeder ler-
nen. Der Geſchmack, der dazu gehoͤrte, ſey nicht der
wahre Kunſtgeſchmack, der pruͤfen und gluͤcklich waͤhlen
koͤnnte; es ſey ganz etwas anders, eine Menge von Wei-
nen zu kennen und zu entſcheiden welches der beſte ſey,
man muͤßte ſich ein Jdeal machen koͤnnen ....
Das waͤre doch der Henker verſetzte ich, und nahm
das Glas was eben vor mir auf dem Tiſche ſtand: dieſer
Wein dahier iſt ein Markebrunner von 1759 und wenn
er das noch haͤtte und dieſes nicht: ſo waͤre es der ſchoͤn-
ſte Markebrunner den ich jemals getrunken habe; ich
pruͤfe, waͤhle und entſcheide hier beſſer als der Praͤſident
von allen gelehrten Akademien in Europa, und will den-
A 5jenigen
[10]Ueber das Kunſtgefuͤhl.
jenigen erwarten, der meinen Geſchmack tadeln wird.
So will ich mir in jeder Art des Rheinweins nicht allein
den groͤßten Grad der Guͤte, ſondern auch, weil ſie doch
von Kunſtidealen ſprechen, das moͤglichſt vollkommene
Weinideal in Riedesheimer, Hochheimer, Laubenheimer
und kurz in allen unſern Weinen denken, ich will ſo gut als
wenn ich ſie wuͤrklich getrunken haͤtte, die Weine ſchmecken,
die aus unſern Trauben vom Cap an bis in Weſtphalen
gezogen werden koͤnnen, und wenn das nicht Kunſtgefuͤhl
iſt: ſo weiß ich nicht was es ſey.
Die ganze Geſellſchaft lachte immerfort uͤber meinen
Eyfer, und wiederholte das Wort: wenn er das noch
haͤtte und dieſes nicht. Aber ich ſtoͤrte mich daran nicht,
und behauptete, daß es das einzige Mittel waͤre, deſ-
ſen ſich alle Kunſtverſtaͤndige, zu verſtehen von denen, die
durch den Keller gezogen wuͤrden, bedienten, um zu
hohen Jdealen der Vollkommenheit zu gelangen, und
daß derjenige, welcher nicht lange die Keller beſucht, und
fleißig geſchmeckt hatte, nie zu einem ſo feſten und rich-
tigen Weingeſchmack gelangen ſollte.
So wie endlich der Laͤrm ſich zu einer ruhigen Be-
trachtung herabſtimmte, fiengen einige an auf meine
Seite zu treten; aber wie die andern darauf drungen,
daß man um Geſchmack zu haben, nach Gruͤnden billi-
gen oder verwerfen muͤßte, verſtummeten meine Freun-
de wieder.
Sackerloth! rief ich nach Gruͤnden? Nach Gruͤn-
den? Freylich nach Gruͤnden, aber doch wohl nicht nach
ſolchen, die ihr Herrn in eurer armſeligen Sprache aus-
druͤcken koͤnnet. Lavater hat auch Gruͤnde angegeben,
um die Phyſionomien zu erkennen, und die guten von
den ſchlechten zu unterſcheiden. Aber beym Element,
wann ich einem Kerl ins Geſichte ſchaue: ſo will ich tau-
ſendmal
[11]Von einem Weinhaͤndler.
ſendmal eher wiſſen, was der Knabe im Schilde fuͤh-
ret, als alle diejenigen, ſo ihn nach den von jenem gro-
ſen Meiſter angegebenen Gruͤnden beurtheilen. Jch
habe mehr Menſchengeſichter geſehen, als ich Weine ge-
ſchmecket habe, und die Cindruͤcke ſo ich von ihnen be-
halten habe, dienen mir zu ſo viel Werkzeugen der Men-
ſchenerkenntniß. Mit allen dieſen Werkzeugen beruͤhre
ich den Kerl auf einmal, mein ganzes Gefuͤhl fließt um
ſeine Form, und ich druͤcke ihn damit ſo ab, daß ich
ihn habe wie er da ſteht, von innen und von auſſen; aber
die Gruͤnde davon klar zu denken, ſie in einen duͤnnen
elenden Faden auszuſpinnen, und andern mitzutheilen,
das verſtehe ich ſo wenig, daß ich vielmehr glaube, es
ſey nicht moͤglich, und unſre Sprache ſey ſo wenig das
Werkzeug, alle Empfindungen, die wir durch unſre fuͤnf
Sinne erhalten, auszudruͤcken, als die vier Species das
Mittel ſind, unendliche Groͤßen zu berechnen.
Hier gieng nun der Streit von neuem an; ich behaup-
tete, daß einer der des Menſchen Geſicht in einem Huy
mit zehntauſend, obgleich unerklaͤrbaren Tangenten be-
ruͤhrte, richtiger davon urtheilte, als ein andrer, der
immer nur ein einzelnes Fuͤhlhorn ausſtrecken, und das-
jenige was er dadurch empfaͤnde, deutlich beſchreiben
koͤnnte. Und hieraus zog ich ſodann die Folge, daß es
nothwendig in allen Arten des Geſchmacks zuerſt darauf
ankaͤme, wie viel einer Tangenten haͤtte, und ob ſolche
richtig waͤren? Dieſes bewieſe der Jtaliaͤner, der taͤg-
lich gute Gebaͤude und Gemaͤhlde ſchauete, und ſchoͤne
Muſik hoͤrte; durch die Eindruͤcke ſo er davon erhielte,
gelangte er zu vielen und richtigen Tangenten, und es
gienge ihm mit dem Geſchmack in der Muſik und der
Baukunſt wie mir mit dem Weine. Das Vergleichen
und Entſcheiden folge von ſelbſt, ſobald man vieles kenne,
und
[12]Ueber das Kunſtgefuͤhl.
und neben einander ſtelle; und es fehle nur da an Kunſt-
gefuͤhl und Geſchmack, wo man keine Gelegenheit haͤtte
ſich Tangenten zu erwerben.
Der eine fragte mich: ob es nicht da ſchlechterdings
an dem Weingeſchmack fehlen wuͤrde, wo wie in der Tuͤr-
key, die Religion den Wein verboͤte, und ob alſo nicht
die Religion eine Hinderungsurſache des Kunſtgefuͤhls
ſeyn koͤnnte? Der andre: ob ich nicht am liebſten in ſolche
Laͤnder reiſete, wo der Wein gut bezahlet wuͤrde? und
ob ich viel Wein in den Staaten abſetzte, wo die Unter-
thanen, von Laſten niedergedruckt, das Weintrinken ver-
gaͤßen? Der dritte: ob nicht ein Klima vor dem andern
mehr Waſſer als Wein erforderte? Der vierte: ob man
zu einem guten Weingeſchmack gelangte, wenn man
wuͤſte, daß der eine = A, und der andre = B, der
dritte aber, der mit beyden uͤbereinkaͤme, = AB waͤre?
und alle wollten nun wieder ihren vorigen Satz behaup-
ten, daß Religion, Regierungsform, Klima und Er-
ziehung den guten Geſchmack hindern und befoͤrdern
koͤnnten.
Hier glaubte man mich recht in die Enge getrieben
zu haben. Aber da ich ihnen ſo weit Recht gab, als ſie
Recht hatten: ſo mußten ſie mir auch Recht geben, daß
Religion, Klima, Regierungsform, und eine gewiſſe
Art von Studiren, an und fuͤr ſich keinem Menſchen den
Geſchmack geben oder bilden wuͤrden, wofern er ihm
nicht dadurch gegeben wuͤrde, daß er recht viele und
richtige Tangenten bekaͤme, und ſo kaͤme alles darauf an
wie man ihm dieſe beybraͤchte. Hieruͤber wollte ich mir
den Ausſpruch des gelehrten Klubbs erbitten, und mich
und meine Weine immittelſt beſtens empfohlen haben.
Dieſer
[13]Von einem Weinhaͤndler.
Dieſer fiel endlich dahin aus, daß das Kunſtgefuͤhl
des Weins, und deſſen Wiſſenſchaft zwey ganz unter-
ſchiedne Studien waͤren, wovon jede in ihrem beſondern
Keller erlernet werden muͤßte. Jch aber behauptete,
daß Mengs, der von der Kunſt zu ihrer Wiſſenſchaft
uͤbergegangen waͤre, es in der letztern unendlich weiter
gebracht haͤtte, als diejenigen, welche ſich blos mit der Wiſ-
ſenſchaft der Mahlerey beſchaͤftiget haͤtten, und daß es der
Hauptfehler unſter heutigen Erziehung ſey, daß wir unſre
Jugend fruͤher zur Wiſſenſchaft als zur Kunſt anfuͤhrten.
III.
Von der Nationalerziehung der alten
Deutſchen.
Was Sie von der Nationalerziehung unſrer Vorfah-
ren ſagen, hat meinen vollkommenſten Beyfall;
die Uebung der Jugend in den Waffen machte billig die
Hauptſache aus, da ſie ſich beſtaͤndig ihrer Haut zu weh-
ren hatten: und ſie handelten hierin weit zweckmaͤßiger,
als ihre ſpaͤtern Nachkommen, die kuͤnftige Hofleute roh
und wild aufwachſen laſſen.
Was ich jederzeit am mehrſten dabey bewundert
habe, iſt dieſes, daß die roͤmiſchen Legionen den ſchnellen
Anlauf und das Einſprengen (velocitatem et inſultum:) *)
der
[14]Von der Nationalerziehung
der deutſchen Jnfanterie ſo außerordentlich fuͤrchteten.
Dieſes ſetzt voraus, daß jene im vollen Anlauf, unge-
faͤhr wie unſre heutige Cavallerie, in den Feind ſetzte,
und ihn unter die Fuͤſſe trat. Die gefaͤlleten Spieſe der
Roͤmer, womit ſie ſonſt eine gute Reuterey abhalten konn-
ten, mochten dagegen nicht viel wuͤrken, weil die Deutſchen
mit einem raſchen Sprunge daruͤber hinweg ſetzten, und
mit ihren kurzen und ſcharfen Pfriemen den Roͤmern die
Bruſt durchbohrten. Was gehoͤrte aber nicht dazu, um
ſolche Springer, die ſich mit ofnen Augen in den Todt
ſtuͤrzten, zu bilden? Wie mußten die Sehnen und
Muſkeln dieſer Kerle von Kindesbeinen an gewoͤhnt und
geſtaͤrket ſeyn? und was fuͤr Grundſaͤtze von Ehre und
Schande mußten dieſen kriegeriſchen Seelen einge-
praͤgt ſeyn?
Jhr einziges und ewiges Spiel war, auf ſcharfe
Spieſe einzuſpringen *), um Koͤrper und Auge zu gewoͤh-
nen; und ihre Grundſaͤtze waren jenem Zwecke voͤllig
angemeſſen. Wer im Anlaufe auf den Feind zu langſam
war (ignavus) oder aus Angſt nicht raſch genug einſetzte,
(imbellis) oder wohl gar auf eine ſchaͤndliche Art ſeine
Sehnen unbrauchbar gemacht hatte, (corpore infamis)
den erſtickten ſie in dem naͤchſten Sumpfe, und eine ewige
unausloͤſchliche Schande verfolgte diejenigen, die ihren
Dienſtherrn in der Schlacht verließen.
Dieſe
[15]der alten Deutſchen.
Dieſe Springer waren aber auch nur in der erſten
Linie, und die edelſten Juͤnglinge der Nation *). Ruͤbenfreſ-
ſer ſchickten ſich dazu nicht; und nur unter den Englaͤn-
dern, einer mehrentheils von Fleiſche lebenden Nation,
ſicht man hie und da noch Juͤnglinge, die ohne Zulauf,
uͤber eine Hecke von ſechs Fuß hinwegſetzen.
Ueberhaupt uͤbertrafen ſie alle Nationen im Sprin-
gen. Der Koͤnig der Cimbern Teutoboch**) ſetzte ge-
woͤhnlich uͤber vier und ſechs Pferde weg, und der Koͤ-
nig iſt ſelten der erſte und einzige in ſeiner Art. Ohne
Zweifel gehoͤrte alſo das Voltigiren zur National-Erzie-
hung, und das Gefolge (comitatus) des Koͤnigs war
vermuthlich noch ſtaͤrker in dieſer Kunſt als er. Die
Nerve ihres Arms, womit ſie einen Wurfſpieß auf eine
ungeheure Weite (miſſilia in immenſum vibrant ſagt Ta-
citus) ſchleudern konnten, mußte an der Mutter Bruſt
geſpannet ſeyn.
Da ſie alles in Abſicht auf den Krieg thaten: ſo iſt
auch kein Zweifel uͤbrig, daß das Voltigiren nicht zu-
gleich ſeine unmittelbare Beziehung auf das Reiten hatte,
wie ſie denn auch mit einer verwundernswuͤrdigen Fer-
tigkeit von ihren Pferden auf und ab ſetzten. Die deut-
ſche Cavallerie war in allen Schlachten der roͤmiſchen
uͤberlegen, und die roͤmiſchen Schriftſteller ſind froh, wenn
ſie ſagen koͤnnen: equites ambigue certavere**).
Jhre
[16]Von der Nationalerziehung
Jhre ſchwere Jnfanterie, denn ſie hatten auch eine
leichte, die wie bekannt, mit der leichten Reuterey uͤber-
weg *) lief, hat ſchwerlich viele ihres gleichen gehabt.
Urtheilen ſie aus dem einzigen Zuge: Wie die Cimbern
an die Etſch kamen, ſtelleten ſie ſich, drey oder vier
Mann hoch, in den Strom, **) und wollten ihn mit
ihren Schilden aufhalten. Dies ſetzt voraus, daß Schild
an Schild ſchloß, und dieſes Manoeuvre nicht allein eine
undurchdringliche Mauer ausmachte, ſondern auch der
groͤßten Gewalt widerſtehen konnte. Wo iſt jetzt ein Ge-
neral, der ſich die Erwartung von ſeiner Jnfanterie ma-
chen koͤnnte, daß ſie einen Strom im Laufe aufzuhalten
vermoͤchte? Waͤre den Cimbern ihr Unternehmen gelun-
gen: ſo waren ſie Meiſter von Rom. Mit dem Damme
welchen ſie hernach ſchlugen, vergieng ihnen die Zeit.
Die Catten hatten einen Schandorden eingefuͤhrt, †)
welchen jeder Juͤngling ſo lange tragen mußte, bis er
einen Feind erlegt hatte. Dieſe Erfindung iſt gewiß um
einen Grad feiner, als die Ritterorden in den Philan-
tropinen. Um nur erſt unter die Zahl der ehrbaren Maͤn-
ner zu gelangen, mußte der Juͤngling ſchon Thaten ge-
than haben.
Jeder widmete ſich ſeinem Anfuͤhrer in deſſen Ge-
folge er diente, mit einem ſchweren Eide auf Leib und
Leben; und ſo lange dieſer ſtand, mußte alles ſtehen.
Wer ihn ehe er fiel, verließ, ward, um in unſrer Spra-
che zu reden, vor der Fronte des Gefolges als infam
caſſirt, und keiner wuͤnſchte dieſe Schande zu uͤberleben.
Jhre Subordination war ſo ſtrenge, daß jeder, was er
that
[17]der alten Deutſchen.
that, auf die Rechnung des Anfuͤhrers ſetzen, und ſich
damit nicht ſelbſt erheben durfte *).
Das Frauenzimmer hatte einen eben ſo hohen Be-
griff von Ehre. Wie die Cimbern zulezt uͤberliſtiget
wurden, bat das gefangene Frauenzimmer, unter die
Veſtalinnen aufgenommen zu werden; und wie ihnen
dieſes abgeſchlagen wurde, ſchlugen ſie ihre ſchoͤnen
Haarflechten **) uͤber die Reiffen ihrer Wagen, knuͤpf-
ten ſolche unter das Kinn zuſammen, und erhaͤngten ſich
mit dieſem Wohlſtande unter der Decke ihrer Wagen.
Specioſam mortem nennet es Florus.
Die Dichtkunſt der Nation hatte drey Hauptge-
genſtaͤnde, die Ankunft des Volks von ſeinem Urſprung
an, die Thaten der Krieger, und die Ermunterung
zur Schlacht; ihre Mahlerey gieng blos auf die Ver-
zierung des Schildes, die Tanzkunſt auf den hohen Eh-
rentanz zur Belohnung der Sieger, und auf den Paß
zum marſchiren. Mit einem Worte, alle Wiſſenſchaf-
ten und alle Kuͤnſte giengen bey ihnen lediglich auf den
Krieg; und daß ſie auch in der hoͤhern Strategie erfah-
ren waren, ſchließt man nicht allein daraus, daß ſie fuͤnf
roͤmiſche Conſular-armeen nach einander aus dem Felde
ſchlugen, ſondern auch beſonders aus dem großen Ma-
noeuver des Arioviſts ***), der gleich ſein Lager nur
eine Meile vom roͤmiſchen nahm, des andern Tages den
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. BCaͤſar
[18]Von der Nationalerziehung ꝛc.
Caͤſar tournirte, ihm damit die Zufuhr abſchnitt, darauf
ein Haupttreffen vermied, ſodann die Roͤmer, denen er
in der Zahl leichter Truppen uͤberlegen war, mit Schar-
muͤtzeln aufzureiben ſuchte, in der Schlacht ſelbſt ihnen
durch eine der ſchnelleſten Wendungen ihre ganze Artil-
lerie unbrauchbar machte, und ihren linken Fluͤgel beym
erſten Angrif uͤber den Haufen warf.
Dieſes alles ſetzt eine Erziehung von ganz andrer
Art voraus, als man ſich insgemein von Barbaren ein-
bildet; und man kann dreiſt annehmen, daß es nicht
blos wilde Tapferkeit, ſondern eine wahre eigne, durch
die Erziehung gebildete Kriegeskunſt geweſen, welche
die deutſche Nation den Roͤmern erſt fuͤrchterlich, her-
nach ehrwuͤrdig und zuletzt werth gemacht hat. Die
Roͤmer ſprechen von allen Nationen auſſer der deutſchen
mit Geringſchaͤtzung.
Nur muß man, wie bisher zu wenig geſchehen,
die Erziehung im Gefolge, von der gemeinen Erziehung,
oder den gezogenen Soldaten von dem Bauern unter-
ſcheiden. Jene Erziehung war blos im Gefolge, das
heißt in der damaligen regulairen Militz; doch nehme
ich die Sueven aus, als bey welchen auch der Bauer
enregimentirt, und in ſeiner Maaße geuͤbt war. Von
dieſen ſagten die uͤbrigen deutſchen Voͤlker *), daß ihnen
auch die Goͤtter ſelbſt nicht widerſtehen koͤnnten; ſo ſtark,
ſo einzig war ihre kriegeriſche Verfaſſung. Und wahr-
lich eine Verfaſſung, zu deren Begruͤndung man das
Landeigenthum aufgehoben hatte, mußte von ganz be-
ſondrer Art ſeyn **).
IV.
[19]
IV.
Ueber die Erziehung des Adels von einem
Edelmanne.
Der unermuͤdete Eyfer, womit Euer Hochf. Durch-
laucht ſich der Erziehung der Jugend annehmen,
laͤßt mich hoffen, daß Hoͤchſtdieſelben, ens und anderes,
was ich bey den in ſolcher Abſicht gemachten Einrich-
tungen zu erinnern finde, nicht ungnaͤdig aufnehmen
werden.
Dieſe ſind, wie mir duͤnkt, groͤßtentheils fuͤr kuͤnf-
tige Gelehrte gemacht, und was ſie zur Vorbereitung
der Jugend fuͤr andre Staͤnde beytragen ſollen, ſcheint
mir dasjenige bey weitem nicht zu wuͤrken, was die prak-
tiſche Anfuͤhrung zu denſelben wuͤrken kann. So wie
junge Leute, welche ein Handwerk lernen ſollen, niemals
dasjenige in einer Realſchule lernen werden, was ihnen
in der Werkſtaͤtte eines guten Meiſters gelehrt wird;
eben ſo wenig werden kuͤnftige Staatsmaͤnner in einer
Staats- oder Cameralſchule vollkommen gebildet werden.
Jene muͤſſen, ſo wie ſie ihr vierzehntes Jahr erreichet,
und dasjenige erlernet haben, was ſie erlernen koͤnnen
und muͤſſen, die Schulen der Gelehrten verlaſſen, und
ſich einem Meiſter uͤbergeben; und eben dieſes muͤſſen
meiner Meinung nach auch diejenigen thun, welche ſich
andern Staͤnden widmen wollen.
Mit den Gelehrten iſt es eine eigne Sache; ihre
Anzahl wird in Verhaͤltnis ihrer Mitbuͤrger, immer nur
gering ſeyn duͤrfen, wenn ein Staat, der viele ausuͤ-
bende und nur wenig lehrende Maͤnner gebraucht, groß
B 2und
[20]Ueber die Erziehung des Adels
und maͤchtig bleiben ſoll. Der Adel ſollte ſich gar nicht
in den Stand der Gelehrten begeben; und die Staaten
wurden beſſer regiert, wie ungelehrte Landraͤthe ſtimmten,
und ein gelehrter Canzler die Ausfertigungen darnach
beſorgte, als jetzt wo alles gelehrt iſt.
Unſre Vorfahren, die immer ohne viel zu ſpeculi-
ren mit dem Faden der Erfahrung uͤber Weg giengen,
und Uebung und Arbeit in jeder Kunſt fuͤr ein ſicherers
Mittel hielten, ihre Kinder vom Boͤſen abzuhalten, und
aus ihnen brauchbare Maͤnner zu machen, als alle Re-
geln und Wiſſenſchaften, ob ſie es gleich auch beylaͤufig
hieran nicht ermangeln ließen, ſuchten ihre Soͤhne, je
nachdem ſie an ihnen Luſt oder Faͤhigkeit bemerkten, bey
Hofe, bey der Jagd, bey der Forſt oder beym Stalle
anzubringen. Der Fuͤrſt, der ſie zuerſt als Pagen auf-
nahm, hatte an ſeinem Hofmarſchall, Oberjaͤgermeiſter,
Forſtmeiſter und Stallmeiſter, zunftgerechte Meiſter, und
man ſprach damals von Hoͤfen, wie man jetzt von Aka-
demien ſpricht. Jeder Edelmann wußte, wo ein gerech-
ter Hof gehalten wurde, und jeder Fuͤrſt beſtrebte ſich
den beſten zu haben. Man ſahe den Hof als die wahre
Schule des Adels an, und ein Churprinz von Sachſen
ward Page bey ſeinem Oheime, dem Erzbiſchofe zu
Magdeburg, um Regierung zu lernen.
Jnsbeſondre aber leiſteten die Kriegesſchulen unſerer
Vorfahren, da ein Vater ſeinen Sohn einem guten Mei-
ſter oder Ritter auf ſechs oder ſieben Jahre in die Lehre
gab, und nicht eher zuruͤcknahm, als bis er die Geſel-
len- oder Knapen-Jahre erreicht hatte, und auf die Wan-
derſchaft ziehen konnte, alles was man nach der damali-
gen Kriegesverfaſſung noͤthig hatte; und der Geiſt dieſer
Einrichtung zeichnet ſich unendlich weit vor der Heutigen
aus, nach welcher der Knabe in einem Regimente auf-
dienen
[21]von einem Edelmanne.
dienen muß. Denn der Ritter erhielt die vaͤterliche Ge-
walt uͤber ſeinen jungen Lehrling, und zuͤchtigte ihn vaͤ-
terlich, wenn dieſer aus dem Gleiſe gieng, anſtatt, daß
jetzt ein Oberſter oder Hauptmann ſich kaum berechtiget
haͤlt, einem ihm empfohlnen Fahnenjunker, der nun ſchon
in des Fuͤrſten Dienſte ſteht, und daher nach ganz andern
Grundſaͤtzen behandelt werden muß, in gewiſſen Faͤllen ei-
nen ernſtlichen Verweis zu geben.
Nach dieſen Vorausſetzungen wuͤrden Ew. Hochfl.
Durchlaucht, meiner geringen Einſicht nach beſſer thun,
wenn Hoͤchſtdieſelben an dero Hofe einen ſolchen Ober-
hofmarſchall, Oberjaͤgermeiſter, Oberforſtmeiſter und
Oberſtallmeiſter, welche als gerechte Meiſter in ihren
Kunſt, adliche Juͤnglinge in die Lehre nehmen, und dieſe
mit vaͤterlicher Zucht zu rechtſchaffenen Geſellen bilden
koͤnnten, unterhielten, und dann eine ſolche adliche Ju-
gend unter dem Namen von Pagen aufnaͤhmen. Dieſe
wuͤrden dann nach vollendeten Lehrjahren, anſtatt auf
Akademien zu gehen, wenigſtens drey Jahre andre Hoͤfe
und Laͤnder, Staͤlle, Forſten und Jaͤgereyen beſuchen
muͤſſen, ehe und bevor ſie an dem Orte ihrer Beſtim-
mung zum Dienſte gelaſſen wuͤrden.
Eben ſo wuͤrde ein großer Koͤnig, welcher eine zahl-
reiche Armee zu unterhalten hat, gewiß ſtaͤrkere und ge-
ſuͤndere Officiere erhalten, wenn dieſelben etwa bis ins
zwanzigſte Jahr, einem General oder Oberſten mit voͤlli-
ger vaͤterlicher Gewalt uͤbergeben, und ſodann erſt ins
Regiment geſetzt wuͤrden. Dem Dienſte wuͤrde dadurch
nichts entgehn, indem eine ſolche Jugend alles dasjenige
verrichten koͤnnte, was ſie jetzt verrichtet; und dieſe wuͤrde
auch nichts dabey verlieren, wenn der Koͤnig ſie nach ih-
rem Alter befoͤrderte.
B 3Meine
[22]Ueber die Erziehung des Adels ꝛc.
Meine Meinung iſt hiebey keinesweges, daß dieſe
Jugend gar keines weitern Unterrichts genießen ſolle;
ſie ſollen ihn nur empfangen, wie andre Lehrlinge ihren
Unterricht in Sprachen oder im Schreiben, Rechnen,
Tanzen und andern Fertigkeiten nehmen muͤſſen; und nur
nicht wie kuͤnftige Gelehrte, die einſt wieder andre lehren
ſollen, erzogen werden.
Ew. Hochfuͤrſtl. Durchlaucht haben jetzt drey große
Paͤchter im Lande, die alle bey ihrem Vater fuͤr Jungen,
Halb- und Groß-Knechte gewiſſe Jahre gedienet haben,
und jedermann ruͤhmt ihnen nach, daß ihres Gleichen
auf hundert Meilen nicht zu finden waͤre. Sie haben
ein ſolches Auge fuͤr alles was zum Haushalten gehoͤret,
daß alle Bauern im Dorfe ſie fuͤr ihre Meiſter erkennen,
und alles was ſie unternehmen, bringt Segen. So iſt
auch in Hoͤchſtdero Landſchaft der Herr von = = = und
der Herr von = = =; die beyde bey der vaͤterlichen Wirth-
ſchaft erzogen ſind, weiter nichts als einen guten Hof-
meiſter gehabt, und auch fremde Laͤnder geſehen he-
ben; aber an Einſicht in das wahre Wohl des Landes
alle andre uͤbertreffen. Sie allein wiſſen es, wo es den
Unterthanen druͤckt, und was ſie leiſten koͤnnen; und die-
ſes muß die Hauptwiſſenſchaft des erbgeſeſſenen Edel-
manns ſeyn; ꝛc.
Alſo
[23]
V.
Alſo ſoll der handelnde Theil der Menſchen,
nicht wie der ſpeculirende erzogen werden.
Sie glauben, liebſter Freund, ich habe in dem Schrei-
ben an den Fuͤrſten .... den Taͤnzer mit dem Tanz-
meiſter, oder den Gelehrten mit dem Lehrer verwechſelt?
Wohlan, ich will mich deutlicher erklaͤren, warum ich
den praktiſchen Unterricht dem wiſſenſchaftlichen vorzie-
he, und warum ich glaube, daß der praktiſch erzogne
Menſch, wenn es zur That koͤmmt, ſein Ebentheuer beſ-
ſer beſtehe als der andre.
Laßt uns nur gleich bey dem Landmanne anfangen;
wie viel Standhaftigkeit zeigt derſelbe nicht in ſeinem Un-
gluͤcke? Brennt ihm ſein Haus ab, oder raubt ihm ein
Hagelſchlag ſeine ganze Hofnung im Felde; Gott hat es
gegeben, Gott hat es genommen. Stirbt ihm ſein gu-
tes Weib, oder ſein liebſtes Kind, im ewigen Leben ſieht
er ſie wieder. Unterdruͤckt ihn der Maͤchtige, nach die-
ſer Zeit koͤmmt eine andre. Raubt ihm der Krieg alles,
Gott weis was ihm nuͤtzlich iſt; und allezeit iſt der Na-
me des Herrn muthig gelobet. So finde ich faſt durch-
gehnds den Landmann, und auf dem Sterbebette ſieht
er, des Lebens ſatt und muͤde, ſeiner Abſpannung vom
Joche mit einer beneidenswerthen Ruhe entgegen, ohne
aller der Troͤſtungen zu beduͤrfen, die ſich der Gelehrte
geſammelt hat, und blos mit den Hausmitteln verſorgt,
die ihm der praktiſche Religions-Unterricht gewaͤhrt.
Wo iſt aber der Gelehrte, der aufrichtig ſagen kann, ſo
viel mehr Muth und Standhaftigkeit zu beſitzen, als er
wiſſenſchaftlicher unterrichtet iſt?
B 4Eben
[24]Alſo ſoll der handelnde Theil der Menſchen,
Eben ſo iſt es in andern Verhaͤltniſſen. Wer grif
mit mehrer Zuverſicht an, als Ziethen? wer gieng kuͤh-
ner in die Gefahr als Cook? und wer hat nach Verhaͤlt-
niſſe aller Umſtaͤnde, groͤßere Schritte in der Erkenntnis
gemacht, als ein Kind von zwey oder drey Jahren, das
ſchon von allem ſpricht, ohne jemals eine deutliche Re-
flexion gemacht zu haben? Wenn ich alle Kriegesbuͤcher
und alle Reiſebeſchreibungen auswendig gelernt haͤtte:
ſo wuͤrde ich in dem Augenblicke, da Sehen und Angrei-
fen nur Eins ſeyn muß, dasjenige nicht ſeyn, was jene
blos praktiſch unterrichtete Maͤnner waren.
Sie glauben vielleicht, Ziethen und Cook wuͤrden
groͤßer geweſen ſeyn, wenn Sie bey gleichen Erfahrun-
gen wiſſenſchaftlich waͤren unterrichtet worden? O Freund!
der Weg der letzten Art iſt viel zu langſam; er laͤßt uns
dasjenige nur Stuͤckweiſe genießen, was wir im prakti-
ſchen Unterrichte auf einmal und im ganzen Zuſam-
menhange faſſen. Das Auge, welches die Stellung der
Feinde tauſendmal geſehn hat, ſummirt Totalein-
druͤcke zu Totaleindruͤcken; es vergleicht unendliche Maſ-
ſen mit unendlichen Maſſen, und bringt unendliche Re-
ſultata heraus, anſtatt, daß der wiſſenſchaftlich Unter-
richtete mit lauter einzelnen und beſtimmten Jdeen rech-
net, und Regeln herausbringt, die, wenns zum Tref-
fen koͤmmt, nie gegen den Totaleindruck beſtehen, und
einen in dem Kampfe der Leidenſchaften hoͤchſtens mit dem
Seufzer: Oh! troppo dura legge! verlaſſen.
Zum Vergnuͤgen, und bey muͤßigen Stunden ſtellt
der praktiſch Unterrichtete auch wohl Unterſuchungen ſei-
nes Reichthums an, anatomirt einen Totalbegrif, und
freuet ſich des Philoſophen, der dieſen ſchon vor ihm zer-
legt, und iedem Theilgen deſſelben einen Namen gege-
ben hat; aber im Handel haͤlt ihn ſeine Metaphyſik nicht
auf,
[25]nicht wie der ſpeculirende erzogen werden.
auf, weil er in der Jugend damit nicht angefangen, und
ſeine Seele nicht an den weit langſamern Gang deutli-
cher Jdeen gewoͤhnt hat.
Eben ſo macht es das Frauenzimmer, wovon man
ſagt:
‘Illam quicquid agit, quoquo veſtigia movit,
Componit furtim ſubſequiturque decor.’ ()
Sie hat das componere ſurtim nicht wiſſenſchaftlich
erlernt; ſondern ſich immer unter unzaͤhligen Verhaͤltniſ-
ſen befunden, ſich darnach ohne dieſelben in einzelne Be-
griffe zu zerſtuͤcken, gebildet, und eine ſolche Summe
fuͤr ihr Betragen daraus gezogen, die kein Gelehrter
jemals vollſtaͤndig in einzelne Regeln aufloͤſen wird. Jhre
Regeln ſind uoncreta, die ſo bald ſie durch die Abſtraction
getrennet, oder auch nur deutlich gedacht werden koͤnnen,
nicht mehr ihre ſchnelle Wuͤrkung behalten; indem das
deutliche Denken ganzer Maſſen, nicht ſo geſchwind von
ſtatten geht, als das Empfinden derſelben, und das An-
ſtaͤndige oder Unanſtaͤndige fruͤher auffaͤllt, als die Urſa-
chen davon gedacht werden koͤnnen. Empfindung kann
nur durch Wiederempfindung voͤllig gefaßt, und nicht
durch Worte ausgedruͤckt werden. Le ſentiment ſeul
eſt en etat de juger le ſentiment, ſagt Helvetius.
Jn dem bekannten; video meliora proboque, dete-
riora ſequor, werden kleine abſtrahirte Regeln den all-
maͤchtigen Wuͤrkungen eines Totaleindruckes entgegen ge-
ſtellet; und wie gluͤcklich iſt der Menſch, daß er durch
dieſe und nicht durch jene zum Angriffe beſtimmt wird
indem wahrlich mehr Gutes in der Welt unterbleiben
wuͤrde, als jetzt darinn Boͤſes geſchieht, falls es in des
Menſchen Vermoͤgen waͤre, ſich an der Schnur abgezog-
ner Regeln zu halten, oder jede ſeiner Handlungen
B 5ſo
[26]Alſo ſoll der handelnde Theil der Menſchen,
ſo einzurichten, wie er es ſich in ſeinem Lehrſtuhle bey
kalter Ueberlegung vorgenommen hatte.
Noch eins; zerlegen Sie einmal das componere
furtim, und unterſuchen, woraus die Compoſition be-
ſteht; nicht wahr, Sie finden nichts wie Luͤgen und Be-
trug? Man laͤßt ſcheinen was man nicht hat, und ver-
birgt was man nicht ſehen laſſen darf. Und dennoch
wird der praktiſche Mann die holde Schoͤne wahr und
tugendhaft finden, und des moraliſchen Anatomiſten la-
chen, der ihm ſolche theilweiſe unwahr und fehlerhaft
zeigen kann. Eben ſo wird der durch den ganzen Ein-
druck der Schoͤpfung belehrte Bauer immer des meta-
phyſiſchen Atheiſten lachen, und Gott da erkennen, wo
dieſer ihn nach dem Maaße verlieret, als er trennet, thei-
let, und ins unendliche geht. Unter jenen hat nie einer
an ſeiner eignen Exiſtenz und ſeiner Freyheit gezweifelt;
und es iſt eine erſtaunende Beruhigung, daß die Wuͤr-
kung des Ganzen, Glaube an Gott iſt, und der Zwei-
fel blos aus einem ſublimirten Theilgen aufſteigt.
Ein ſtrenger Moraliſt wird niemals ein guter Miniſter
werden, weil er immer ſein Verhalten mehr nach abſtrahir-
ten Regeln, als nach Totalbegriffen einrichten wird; und
doch ziehen manche Fuͤrſten bey Beſetzung der Miniſte-
rialſtellen, den regelmaͤßig gelehrten dem praktiſchen
Manne vor. Gewis wuͤrden ſie dadurch zu tauſend Un-
gerechtigkeiten Gelegenheit geben, die jeder natuͤrlicher
Weiſe begeht, der nach ſeinem kurzen abſtrakten Maaß-
ſtab, eine menſchliche Handlung abmißt, wenn nicht zum
Gluͤck die mehrſten abgezognen Regeln in dem Augen-
blick der Handlung und Entſcheidung, dem maͤchtigen
Totaleindruͤcke weichen muͤßten. Jn den mehrſten Laͤn-
dern werden die Verbrecher noch nach abſtrahirten Ge-
ſetzen
[27]nicht wie der ſpeculirende erzogen werden.
ſetzen verdammt; aber in England erkennen zwoͤlf Total-
eindruͤcke uͤber die concrete That.
Aber dem allen ungeachtet, ſollen ſie nicht glauben,
daß ich den wiſſenſchaftlichen Unterricht, und die Gelehr-
ſamkeit, welche daraus entſteht, verachte. Nein, ich
ſehe die Gelehrten als eine der edelſten Klaſſen der Men-
ſchen an; der wiſſenſchaftliche Untecricht beſteht hier mit
ſeinem Zwecke vollkommen, und ich weis, daß der prak-
tiſche Unterricht unendlich durch die Reſultate des wiſ-
ſenſchaftlichen gewonnen hat. Allein die Geſchaͤfts-
maͤnner und die uͤbrigen handelnden Menſchen ſollen dieſe
Reſultate nuͤtzen, ohne mit jenen einerley Gang zu ge-
hen; ſie ſollen wie die Frau von Sevigny den Verſtand
an bout de la plume haben, oder wie ein fertiger Muſi-
cus, die Noten durchs Auge in die Finger gehen laſſen,
und das commercium rerum et animae, wie es Baco nen-
net, ſo wenig durch das Denken der Zeichen, als durch
deren Ausdruck aufhalten; und das laͤßt ſich in Geſchaͤf-
ten blos von dem praktiſchen Unterrichte erwarten. Jch
bedenke nie was ich ſchreibe, und leſe nur was ich ge-
ſchrieben habe, aber eben deswegen bin ich mit der groͤß-
ten Fertigkeit ꝛc.
VI.
Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen.
Hoͤre Freund, ich gebs dir zu, es iſt unnoͤthig von
den Daͤchern zu ſingen, wie ſuͤß die Liebe und wie
lieblich der Wein ſey; denn die Natur wirds dem Jun-
gen ſchon ſagen, und es iſt beſſer daß dieſe es thue, als
daß eine Kupplerinn die Roſe vor der Zeit breche. Aber
daß
[28]Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen.
daß ich nun auch auf der andern Seite im Genuſſe aller
Menſchenfreuden ſo ſparſam und pipiſch ſeyn ſoll, damit
bleib mir vom Leibe; ich genieſſe was ich vertragen und
bezahlen kann; das iſt mein Maaß, und das Maaß ei-
nes jeden redlichen Mannes unter der Sonnen *).
Du ſelbſt haſt mir zugeſtanden, daß es keine Suͤnde
ſey, ein Fuͤrſt, Craf oder Edelmann zu ſeyn; unſer
Pfarrer hat es mehrmals oͤffentlich gepredigt, man koͤnne
hunderttauſend Thaler beſitzen und doch ſelig werden,
obs gleich ein bisgen hart hergienge. Wenn ich alſo von
der Ehre und vom Gelde ſo viel nehmen darf, wie ich
vertragen und mit Recht erhalten kann, warum nicht
auch von der Luſt? Wir ſind nicht in Amerika, wo man
ſich mit der Ehre der bloßen Menſchheit begnuͤgen muß,
und ſo lange es dauert, ſo wenig ein Edelmann als ein
Graf ſeyn darf; wir ſind auch keine Wiedertaͤufer, daß
wir alle Freuden wie alle Guͤter gemein haben muͤſſen;
und wenn dieſes nicht iſt, wenn einer Feldmarſchall ſeyn
darf, obgleich hunderttauſend fuͤr Gemeine dienen muͤſ-
ſen; wenn einer eine Million Piſtolen beſitzen mag, ob-
gleich eine Million Menſchen nicht ſo viel Heller zaͤhlt:
ſo denke ich auch, ich duͤrfe ſatt Paſteten eſſen, wenn gleich
alle meine Nachbarn nur grob Brod zu koſten kriegen.
Du nenneſt das hart? .... Gut. Mitleidiger
Mann, ich will allen was mitgeben, es ſoll niemand bey
mir darben; ich will großmuͤthiger ſeyn als der Koͤnig,
der ſeine ganze Ehre fuͤr ſich allein behaͤlt, und billiger
als der Reiche, der immer noch mehr ſammlet. Wir
Meiſter in der Kunſt ſich zu vergnuͤgen, haben einen ed-
lern Hang als beyde, wir laſſen keinen darben; und wir
ſind
[29]Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen.
ſind nicht gluͤcklicher, als wenn die ganze Welt mit uns
gluͤcklich iſt; wir theilen Opern, Redouten, Comedien,
Paſteten und was wir haben, von Herzen gern mit, und
boͤſe Leute allein ſind es, die uns nachreden, daß wir
unſern Wein allein trinken. Unſer groͤßtes Vergnuͤgen
iſt, recht viel vergnuͤgte Leute zu machen; ſind nicht eben
die Redouten und Comedien gerade ſo eingerichtet, daß
ein jeder fuͤr ein billiges daran Theil nehmen kann, und
lachen wir wohl jemals herzlicher, als wenn die ganze
Verſammlung mitlacht? Alſo ....
Aber das geht nicht, wir muͤſſen arbeiten, wir haben
Pflichten gegen uns, gegen andre, gegen Gott …
Richtig, vollkommen richtig! Jedoch geſetzt, wir
wohnten auf Otaheiti, wo die Brodfrucht auf den Baͤu-
men wuchs, und jeder nur den Mund aufthun durfte,
um ſatt zu werden; wo die Einwohner den ganzen Tag
in der Sonne lagen, und nicht anders aufſtunden als um
Comedien zu ſpielen, oder zu tanzen; wo Jungen und
Maͤdgen ſich beſtaͤndig im Graſe waͤlzten, und die Koͤni-
ginn mit ihren Hofdamen den Englaͤndern immerfort in
die Arme lief; wo Eſſen und Trinken und Schlafen die
einzige Berufsarbeit war; wo es keine Arme und keine
Almoſen gab, weil der Schoͤpfer fuͤr jedes menſchliche
Geſchoͤpf mit gleicher Freygebigkeit geſorgt hatte, wo
man anſtatt zu beten, alles nur mit Empfindung, die
man kaum Dankbarkeit nennen konnte, genoß; ſollten
hier die Leute ſich auch Pflichten machen? ſollten ſie die
Brodbaͤume abhauen, um Korn im Schweiß ihres Ange-
ſichts aus der Erde zu ziehen, oder ſich in die ſpaniſche
Bergwerke ſchleppen laſſen, um Urſach zu haben Gott
ſtuͤndlich fuͤr ihre Errettung anflehn zu koͤnnen? He! …
Du
[30]Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen.
Du lachſt! und meinſt Weſtfalen ſeye nicht Ota-
heiti? Je nun ſo kommen wir auf den rechten Fleck zu-
ſammen; ſo iſt die Frage nicht, ob Redouten und Co-
medien erlaubt ſind, nein! alles kommt denn darauf an,
ob ſie dem Orte, worinn ſie gehalten werden, angemeſ-
ſen ſind; und ob die Perſon welche ſie beſucht ihre Pflich-
ten dabey verletzt? Aber wozu denn die allgemeinen Ur-
theile uͤber ihre Sittlichkeit und Unſittlichkeit in Anſehung
unbeſtimmter Oerter und Perſonen?
Man gewinnt doch noch immer etwas damit; man
haͤlt doch noch manchen zuruͤck, der ſich ſonſt dieſem Ver-
gnuͤgen zu ſehr uͤberlaſſen wuͤrde? ..... ſprichſt du?
O Freund! Freund! was ſoll der gemeine Mann denken,
wenn die Sittenlehrer mit aller Macht der Beredſamkeit,
Opern, Comedien und Redouten verdammen, und gleich-
wohl ſieht, daß die großen Fuͤrſten und Fuͤrſtinnen, deren
Weißheit und Tugend eben dieſe Sittenlehrer nicht genug
zu erheben wiſſen, ihrer Lehre gerade zu entgegen han-
deln? Wenn eben diejenigen, welche eine Sache zu pruͤ-
fen und zu ſchaͤtzen wiſſen, ſich an dieſen Vergnuͤgungen
gar nichts abziehen laſſen? Muß er hier nicht ganz irre
werden? Muß er nicht zuletzt glauben, alle Sittenlehre
ſey bloßes Gewaͤſche, und indem er ein Gebot verachtet
ſieht, alle fuͤr gleich veraͤchtlich halten? Und thaͤten wir
nicht vernuͤnftiger, wenn wir aufrichtig ſagten: ſeidne
Kleider ſind gut, aber nicht fuͤr jedermann, als wenn
wir, um die Unvermoͤgenden abzuhalten, ſich nicht auch
darinn zu kleiden, ſie fuͤr ſuͤndlich erklaͤreten, und uns
gleichwohl ſelbſt darinn bruͤſteten? Auch hier kommt alles
auf die Graͤnzlinie an; und ſo ſchwer auch dieſe anzu-
weiſen ſeyn mag: ſo iſt ſie doch vorhanden, und wie
manche andre Sache leichter im Griffe als im Ausdrucke.
Hier-
[31]Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen.
Hieruͤber ſage mir was du weißt, und dann will ich
dich gern hoͤren. Ziehe die Graͤnzlinie ſtrenge, ſie ſoll
mir nicht leicht zu ſtrenge ſeyn; oder wenn du ja ins All-
gemeine gehn willſt: ſo ſage mir erſt, wenn du die noth-
wendige Ungleichheit der Staͤnde und Guͤter in der Welt
als erwieſen annimmſt; warum du die Ungleichheit der
Vergnuͤgungen minder gerecht findeſt?
VII.
Etwas zur Policey der Freuden fuͤr die
Landleute.
Wenn ich Policeycommiſſarius waͤre, es ſollte mir
anders gehn, die Leute ſollten mir wenigſtens
ein- oder zweymal im Jahr, auf der Kirms oder auf
Faſtnacht, voͤllige Freyheit haben, einige Baͤnde ſprin-
gen zu laſſen, oder ich hieſſe nicht Herr Commiſſarius.
Unſre heutige Maͤßigkeit macht lauter Schleicher, die des
Morgens ihr Glaͤsgen und des Abends ihr Kaͤnngen trin-
ken, anſtatt daß die vormalige Ausgelaſſenheit zu gewiſ-
ſen Jahrszeiten, einem Donnerwetter mit Schloſſen glich,
was zwar da, wo es hinfaͤllt, Schaden thut, im Ganzen
aber die Fruchtbarkeit vermehret. — Dagegen aber
wuͤrde ich auch die taͤglichen Saͤufer, wenn ſie ſich auch
nicht voͤllig berauſchten, ohne Barmherzigkeit ins Zucht-
haus ſchicken.
Mit allem ihrem Lehren und Predigen haben es die
Moraliſten endlich ſo weit gebracht, daß die Leute, wel-
che vorhin des Jahrs einen Anker, aber an einem Tage
herunterzechten, ſich jetzt taͤglich mit einem geringern
Maaße, aber des Jahrs nicht mit einem Stuͤckfaſſe begnuͤ-
gen,
[32]Etwas zur Policey der Freuden
gen, und hier moͤchte ich wohl einmal fragen: Ob wir
bey dieſem Tauſche gewonnen oder verlohren haben? Als
Policeycommiſſarius ſage ich, Nein. So viele Freuden
uns auch der Schoͤpfer giebt, und ſo gern er es ſehen
muß, daß wir ſie mit Dank und Maͤßigung genieſſen:
ſo offenbar finde ich, daß die Leute bey dem maͤßigen Ge-
nieſſen zu Grunde gehen, die vorhin des Jahrs nur ein
oder zweymal Kopfweh zu erleiden hatten; ich finde, daß
es fuͤr die Pollcey leichter ſey, einmal des Jahrs Anſtal-
ten gegen einen wilden Ochſen zu machen, als taͤglich die
Kaͤlber zu huͤten.
Bey allem dem aber iſt es doch auch hier zu verwun-
dern, daß die Freuden und Ergoͤtzungen unſerer Vorfah-
ren policeymaͤßiger geweſen ſind, als die unſrigen. Jn
der ganzen bekannten Welt ſind von den aͤlteſten Zeiten
her gewiſſe Tage dem Menſchen dergeſtalt frey gegeben
worden, daß er darinn vornehmen konnte was er wollte,
in ſo fern er nur keinen Klaͤger gegen ſich erweckte. Das
Amt der Obrigkeit ruhete an denſelben voͤllig, und der
Fiſcus ſelbſt konnte nichts beſſers thun als mitmachen.
Man findet alte Stadtordnungen, worinn an zweyen Ta-
gen des Jahrs alle Arten von Gluͤcksſpielen erlaubet wur-
den; die Obrigkeit duldete die Faſtnachtszechen, und
Mummereyen bis in die Kirchen, und ſorgte blos dafuͤr,
daß die unbaͤndigen Menſchen kein Ungluͤck anfiengen; die
Uebermaaße ſelbſt wehrete ſie keinem. Man erinnert ſich
der Saturnalien wie der Narrenfeſte; man weiß, was
zur Carnevalszeit in und auſſer den Kloͤſtern erlaubt war,
und man ſieht, ohne ein Montesquien zu ſeyn, daß aller
Welt Obrigkeit, den Patriarchen zu Conſtantinopel nicht
ausgeſchloſſen *), den Grundſatz angenommen hatte: die
Thor-
[33]fuͤr die Landleute.
heit muß wenigſtens einmal im Jahre ausgaͤhren, damit
ſie das Faß nicht ſprenge.
Eben dieſer Grundſatz herrſchte in andern Theilen
bey unſern Vorfahren. Bey gewiſſen ſeltnen feyerlichen
Gelegenheiten zeigten ſie ſich in verſchwenderiſcher Pracht,
wenn ſie taͤglich in einem ſchlichten Wamſe giengen.
Wenn ſie mit einander haderten: ſo ſchonten ſie ſo wenig
ihrer Lunge als ihrer Faͤuſte; und wenn ſie ſich freueten:
ſo wollten ſie berſten vor lachen. Damit ſchonten ſie ihre
Feyerkleider, und entwehrten ſich des ſchwindſuͤchtigen
Grams, und der Gefahr von einer ploͤtzlichen Freude zu
ſterben. Wir hingegen opfern der Mode durch taͤgliche
kleine Ausgaben unſer beſtes Vermoͤgen auf, verfolgen
unſre Feinde mit der artigſten Manier, und ſchwindeln
bey allen ploͤtzlichen Zufaͤllen.
Jedoch Scherz bey Seite, wenn ich Policeycommiſ-
ſarius waͤre, die Leute ſollten mir zu gewiſſen Zeiten mehr
Freuden haben, damit ſie zu andern fleißiger und ordent-
licher wuͤrden. Jch weiß wie dem Handwerksmanne der
Sonntags Braten ſchmeckt, wenn er ſich die ganze Wo-
che mit einem Gemuͤſe beholfen hat; und wie zufrieden
er mit ſeinem Gemuͤſe iſt, wenn er an den Sonntagsbra-
ten gedenkt. Nach dieſem wahren Grundſatze, wuͤrde
ich jedem Dorfe wo nicht alle Monate, doch wenigſtens
alle Vierteljahr ein Feſt erlauben, um den taͤglichen Ge-
nuß, welcher zuletzt auch oft den Beſten zur Uebermaaße
verfuͤhrt, und um ſo viel gefaͤhrlicher iſt, je unbemerkter
er im Finſtern ſchleicht, und mit der lieben Gewohnheit,
der andern Natur, uͤber Weg geht, ſo vielmehr einzu-
ſchraͤnken. Eine Policey, die ihre Aufmerkſamkeit dahin
wendete, wuͤrde wahrſcheinlich gluͤcklicher ſeyn als dieje-
nige, welche wie die neuere alle Arten von Zechereyen
und Gelagen verbietet, und damit den durch keine Geſetze
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Czu
[34]Etwas zur Policey der Freuden
zu bezwingenden heimlichen und oͤftern Genuß befoͤrdert,
auch wohl ſelbſt das Salz der Freude, was dem geplag-
ten Menſchen Reiz und Dauer zur Arbeit geben ſoll, voͤl-
lig unſchmackhaft macht.
Jn gewiſſen Laͤndern und beſonders am Rheine, laͤßt
der Pfarrer des Sonntags das Zeichen mit der Glocke
geben, wenn der Fideler in der Schenke auf die Tonne
ſteigen darf, und nun faͤngt alles an zu huͤpfen. Jn der
ganzen Woche aber findet man daſelbſt keinen Menſchen
in der Schenke. Jn Frankreich, wo das Tanzen am
Sonntag verboten iſt, ſieht man des Abends nach ver-
richteter Arbeit, haͤufige Taͤnze, und die Nation iſt nuͤch-
tern und fleißig. Jn Genf findet man die Handwerker
alle Abend, wenn es die Witterung erlaubt, eine Stun-
de auf oͤffentlichen Plaͤtzen, um ſich von der unermuͤde-
ten Anſtrengung des Tages zu erholen; und ſo iſt uͤberall,
wo die Geſetzgebung auf Erfahrungen gebauet wird,
Freude und Arbeit vermiſcht, und die eine dient der an-
dern mit maͤchtiger Hand.
Jn andern Laͤndern hingegen, wo die Feyertage nach
einer gebieteriſchen Theorie abgeſchaft, die blauen Mon-
tage eingezogen, die Faſtnachtsluſtbarkeiten verboten,
die Leichen- und Kindelbiere *) zu genau eingeſchraͤnkt,
alle Zehrungen unterſagt, alle Kirmesfreuden durch den
nie ſchlafenden Fiſcal geſtoͤret, und uͤberhaupt alle Luſt-
barkeiten der Unterthanen ſo viel immer moͤglich unter-
druͤckt
[35]fuͤr Landleute.
druͤckt ſind, ſieht man die Leute weit haͤufiger in den
Schenken, ſtiller und trauriger aber oͤfterer trinken, und
auch weniger fleißig arbeiten. Jhre Wirthſchaft geht
bey allen Einſchraͤnkungen ſchlimmer, und der niederge-
ſchlagene Menſch ſchaft mit ſeinen Haͤnden dasjenige nicht,
was der luſtige ſchaft. Die Unterthanen ſehen den Ge-
ſetzgeber wie die Kinder einen graͤmlichen Vater an; ſie
verſammlen ſich in Winkeln, und thun mehr boͤſes als
ſie bey mehrer Freyheit gethan haben wuͤrden. Sie duͤn-
ken ſich ſicher, ſo oft ſie ſich nur nicht die Haͤlſe brechen.
Bisher hat man noch kein eignes Policeyreglement
fuͤr die Luſtbarkeiten der Landleute gehabt, welches haupt-
ſaͤchlich dayer ruͤhrt, daß die Geſetzgeber lieber ſelbſt ha-
ben tanzen als andre tanzen laſſen wollen. Es wuͤrde
aber doch in dem Falle noͤthig ſeyn, wenn meine Wuͤn-
ſche erfuͤllet werden ſollten. Jn demſelben wuͤrde das
erſte ſeyn, daß in einem gewiſſen zu beſtimmenden Di-
ſtricte nur eine einzige Schenke geduldet, dieſe gehoͤrig
und geraͤumig eingerichtet, und mit allen verſehen ſeyn
ſollte, was vernuͤnftige Landleute ergoͤtzen koͤnnte. Der
Wirth ſollte ſeine Vorſchrift haben, was er geben und
nicht geben duͤrfte; der Tag zur Luſtbarkeit ſollte beſtimmt
und an demſelben immer die noͤthige Huͤlfe, um Unord-
nungen zu ſteuren, bey der Hand ſeyn. Auſſer dem be-
ſtimmten Tage, und einigen andern, die noch naͤher be-
ſtimmet werden koͤnnten, ſollte der Wirth gar keine Gaͤ-
ſte ſetzen duͤrfen. Die Spiele ſollten beſtimmt, und an-
gemeſſen ſeyn. Drey alte Maͤnner ſollten des Tages Rich-
ter ſeyn, und alles entſcheiden koͤnnen, was der Cere-
monienmeiſter anderwaͤrts entſcheiden kann. Wer ſich
denſelben widerſetzte, ſollte ſofort der in der Naͤhe ſte-
henden Amtshuͤlfe uͤbergeben; der betrunkene Mann durch
ſie gegen ein gewiſſes Botenlohn ſofort nach Hauſe ge-
C 2bracht;
[36]Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigen
bracht; und die betrunkene Frau vor ihrer Heimfuͤhrung
oͤffentlich ausgeklatſcht werden. — Auf dieſe Weiſe glau-
be ich, daß die vielen und verderblichen Winkelſchenken
geſchloſſen, das beſtaͤndige Leben im Wirthshauſe aufge-
hoben, der Mann, der die Erholung am mehrſten ver-
dient, zum beſten Genuß einer ordentlichen Freude ver-
holfen, und uͤberhaupt mit der Zeit ein beſſerer Natio-
nalgeiſt erzielet werden koͤnnte. Dabey verſtuͤnde es ſich
von ſelbſt, daß an dieſen Tagen alle Frohnen und Bauer-
werke aufhoͤren, und dieſelben alſo gewaͤhlet werden
muͤßten, damit keine eilige Arbeit dadurch aufgehal-
ten wuͤrde.
VIII.
Es ſollten die Wochenſchriften auch die An-
zeigen der neueſten Moden enthalten.
Schreiben von Amalien.
Das Jahr iſt beynahe voruͤber gegangen, ohne daß
Sie auch nur ein Woͤrtgen von unſern ſchoͤnen
neuen Moden geſagt haben. Gelt! Sie ſind des Dings
muͤde, und unſre Veraͤnderungen ſo mannigfaltig gewor-
den, daß ſie ihnen mit Jhrer Muſterung nicht haben fol-
gen koͤnnen! Es geht den Moraliſten wie jenem Maͤdgen
das von einem Huſaren verfolgt und gejagt wurde. Ach
weh meine ſchoͤnen Schuhe! o meine Schuͤrze! o Him-
mel was will Mama ſagen! — rief es zu erſt, als es
hier
[37]der neueſten Moden enthalten.
hier mit dem Abſatze in eine Pfuͤtze trat, und dort mit
der Filetſchuͤrze in der Hecke haͤngen blieb. Wie es aber
Holter Polter durch Dicke und Duͤnne laufen mußte, um
dem boͤſen Manne zu entkommen: ſo ward an keine
Schuhe, an keine Schuͤrze und an keine Mama gedacht.
So gehts mit unſerer Theilnehmung an den Geſchaͤften die-
ſer Welt. So lange man noch ſchreyet, hats keine Noth;
aber wenns uͤber und uͤber geht, ſo ſchweigt man. Nicht
wahr, iſts Jhnen nicht juſt ſo gegangen, oder haben Sie
aus einer beſſern Urſache geſchwiegen?
Jndeſſen hat doch immer das Publicum ſehr dabey
gelitten, daß ſo manche Moden unbemerkt voruͤbergegan-
gen ſind, und viele ſich die Livres de modes mit großen
Koſten haben von Paris kommen laſſen muͤſſen, welche
Sie Jhnen leicht durch eine kleine Beſchreibung haͤtten
erſparen koͤnnen. Manche aber ſind daruͤber gar ſo un-
wiſſend geblieben, daß ſie einen Queuue de Renard von
einem Plumet d’ amitiée nicht haben unterſcheiden gelernt,
und die belle poule noyée mit der belle poule à pleines
voiles verwechſeln. Dieſe Verantwortung bleibt Jhnen
immer, da woͤchentliche Blaͤtter ſo ganz eigentlich dazu
eingerichtet ſind, um von jeder neuen Mode ſofort eine
Anzeige zu thun, und es weit ſchicklicher geweſen ſeyn
wuͤrde, darinn die Veraͤnderungen unſrer Hauben als die
unwichtigen Handlungen einiger laͤngſt vergeſſenen alten
Biſchoͤffe aufzubehalten. Billig ſollte man in jedem wohl-
beſtelleten Staate ein taͤgliches Blatt zur Bekanntma-
chung der Moden haben.
Wenn Sie meinen Rath folgen wollen: ſo verbeſ-
ſern Sie dieſen ihren Fehler in dem kuͤnftigen Jahre.
Jch habe mir aus Utopien, wo die Menſchen auf dem
Felde wachſen, etwas Frauenzimmerſaamen kommen laſ-
C 3ſen,
[38]Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigen
ſen, und ſolchen nach Amilecs*) Methode unterſucht.
Jedes Koͤrngen huͤpfte, wenn ich die Sayte der Mode
ſtrich, und ſo koͤnnen Sie denken, was das fuͤr eine Ernd-
te geben wird, wenn der Saame auf unſrer Heide, ſo
gut wie in dem goldreichen Utopien aufgeht. Jm Vor-
beygehen geſagt, ich hatte mir auch etwas Maͤnnerſaat,
und zwar von dem beſten, verſchrieben. Aber mein Cor-
reſpondent hat mir geantwortet, es waͤre jetzt davon
nichts vorraͤthig, weil es nicht mehr geſucht wuͤrde. Wenn
ich aber Genieſaamen haben wollte: ſo ſtuͤnden mir einige
Laſten zu Dienſte. Aber dieſen mag ich nun eben nicht,
da die Genies bey uns wild wachſen.
Die Almanache, welche ein halbes Jahr vorher ab-
gedruckt werden, und uns doch die Moden fuͤr ein ganzes
kuͤnftiges Jahr zeigen wollen, werden Jhnen hierinn ſicher
keinen Eintrag thun. Sie erhalten uns blos die Erfindun-
gen einer laͤngſt veralteten Einbildung, und dabey ſagt uns
keiner unter allen, wie die Neceſſaires, Badines, Bonbonnieres,
Verrieres, Dejeuners \&c. geformt geweſen; wohin die ver-
ſchiedenen Arten von Venez y voir ihren Pol gehabt, ob die
Schreibzeuge und Milchnaͤppe in Waſen, in Urnen oder in
Obelisken beſtanden, ob der Staudenartige Schmelz **)
oder die Stickerey en filagrame, oder die Haararbeit und
von
[39]der neueſten Moden enthalten.
von welchen Farben, den Vorzug behalten, was die Divina-
toires*) von dem kuͤnftigen Jahre gewahrſaget, und was
Herr Granchez in ſeiner Fabrik zu Clignancourt ſonſt
fuͤr Anſtalten mache die deutſchen Beutel zu fegen. Die-
ſem weſentlichen Fehler unſrer Policey kann allein durch
ein Jntelligenzblatt, was friſch gedruckt und vertheilet
wird, abgeholfen werden; und ich daͤchte, es verlohnte
ſich wohl der Muͤhe, die jungen einheimiſchen Kuͤnſtler
in Zeiten zu benachrichtigen, auf welchem neuen Wege
ſie den ſchoͤpferiſchen Franzoſen den Rang abgewinnen
koͤnnen.
Noch weniger haben Sie davon einen uͤblen Einfluß
auf das gegenwaͤrtige Menſchengeſchlecht zu fuͤrchten.
Daſſelbe iſt ſo bider und gut, es herrſcht unter den lie-
ben Menſchenkindern ſo viele Menſchenliebe und Gutmuͤ-
thigkeit, ihre Veredlung hat einen ſo maͤchtigen Fortgang
gewonnen, und alles iſt ſo voll chriſtlicher Empfindſam-
keit, daß die ſchleunige Bekanntmachung der neuen Mo-
den unmoͤglich eine ſchaͤdliche Veraͤnderung darin hervor-
bringen kann. Ja ich bin verſichert, daß wenn Chriſtus
ſich, wie es ehedem einmal geheißen hat **), von ſei-
ner lieben aber ungetreuen Braut, der chriſtlichen Kir-
che, ſcheiden laſſen wollte, kein Conſiſtorium dahin den
Ausſpruch thun koͤnnte; ſo ſehr hat ſich das gute Ge-
ſchlecht der Menſchen gebeſſert, und ſo ſehr haben auch
die andaͤchtigen Perſonen ihre Peruͤcken und Hauben zu
der ſuͤßen Empfindung des Erloͤſers geformt. Es iſt nie-
mand der ſich beſſer mit dem lieben Gott verſteht, als
ein empfindſames Herz; es dient ihm unter allen Geſtal-
C 4ten
[40]Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigen
ten der Mode, und liebt immer die Ruͤhrung, wenn ſie
nur zu ſeiner Sayte ſtimmt, ſie komme vom Himmel oder
von der Erde; uͤberall hat der liebe Gott jetzt Menſchen-
freuden, und unſre Religion ſollte billig ganz umgeſchaf-
fen werden, da es ſo gut als erwieſen iſt, daß ſie nur
Troſt fuͤr Ungluͤckliche enthalte, man aber jetzt, dem Hoͤch-
ſten ſey Dank! nichts wie Genuß kennt.
Sollte aber Jhr Stilleſchweigen von Jhrem Unver-
moͤgen uns etwas neues hieruͤber zu ſagen, herruͤhren:
o ſo legen Sie mit dieſem Jahre die Feder nieder, und
nehmen von mir die aufrichtige Erklaͤrung an, daß ich
ihre altmodiſchen Blaͤtter nicht mehr leſen werde *).
Amalia.
IX.
Antwort an Amalien.
Halb haben Sie, theureſte Amalie, die Urſachen er-
rathen, warum ich ſeit einiger Zeit von den aus-
ſchweifenden Moden nicht ein Woͤrtgen mehr geſagt habe;
aber eine der vornehmſten iſt Jhnen doch entwiſchet, ohn-
erachtet ich ſie bereits einmal bekannt gemacht habe; und
dieſe beſteht darin, daß ich mit dem Jrokeſiſchen Phi-
loſophen das Staͤdtiſche Gemenge, und alles was nicht
zu der Klaſſe der Ackerbauer, Jaͤger und Hirten gehoͤrt,
als den Abfall oder die Spreu des menſchlichen Geſchlech-
tes
[41]der neueſten Moden enthalten.
tes betrachte, und, wenn ich die mannigfaltigen Kunſt-
werke ſehe, welche unſre Putzmacherinnen daraus hervor-
bringen, die Guͤte des Schoͤpfers bewundre, der auch
der Spreu eine kleine Freude bereitet hat, und ehe ſie
der Wind verwehet, wo nicht andern doch ſich ſelbſt zu
gute kommen laͤßt. Mit dieſer Urſache habe ich noch eine
andre verknuͤpft, um mich nicht mit denen, welche die
liebe gute menſchliche Geſellſchaft fuͤr das hoͤchſte Ungluͤck
unſrer Erden halten, zu uͤberwerfen. Wenn ich naͤmlich
ſehe, daß die Handwerker ſich in ihren einfoͤrmigen Stel-
lungen lahm und blaß arbeiten, die Gelehrten uͤberſpan-
net oder Hypochondriſch werden, die Hofleute ſich zu
Tode walzen, die Fuͤrſten ihre beſte Zeit verſpielen, und
uͤberhaupt die geſelligen Menſchen in den Staͤdten ſich
durch die großen Opfer, welche ſie den Kuͤnſten, den
Wiſſenſchaften und den Moden bringen, taͤglich mehr und
mehr verfeinern, verſchnitzeln und verzaͤrteln, oder wohl
gar verhaͤmmern und verpuffen: ſo ſtelle ich mir vor,
die allguͤtige Vorſehung habe dieſe Mittel, als die ſanf-
teſt abfuͤhrenden gewaͤhlt, um ihr großes Werk von allen
verdorbenen Saͤften zu reinigen, und es ſey ein Eingriff
in ihre Rechte, wenn ich dieſen Mitteln zum Verderben,
Einhalt thun, oder ſie wohl gar zwingen wollte, dazu
Erdbeben und Ueberſchwemmungen zu gebrauchen, und
die Schuldigen mit den Unſchuldigen zu verderben. Jch
verehre in ihren Abfuͤhrungsmitteln die weiſe Sorgfalt,
nach welcher dieſe blos auf das Uebel wuͤrken, und die
edlern Theile verſchonen, und troͤſte mich denn damit,
daß das Geſchlecht was in den Siechenhaͤuſern der Staͤdte
zuſammen ſeuchet, wenn es ja wieder erſetzet werden muß,
darum nicht untergehn, ſondern von dem Abfall auf den
Hoͤfen der edlen und gemeinen Lanſten immer noch hin-
reichend vermehret werden koͤnne ....
C 5Jedoch
[42]Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigen
Jedoch Sie ſind dieſe Art der Philoſophie an mir
nicht gewohnt, und haben alſo unmoͤglich ſolche Urſa-
chen errathen koͤnnen, die mir nie in den Sinn gekom-
men ſind. Alſo fort mit den Abfuͤhrungsmitteln, und
weg ins Feuer weg, mit dieſem Theile eines Briefes,
worin ich es einmal habe verſuchen wollen, ob ich auch
wohl graͤmlich ſeyn koͤnnte, wenn es meine Jahre erfor-
dern ſollten. Jch befuͤrchte es gelingt mir nicht, und ich
gehe ſicherer, wenn ich Jhnen theureſte Amalia, das
Gluͤck unſrer Zeiten von ſeiner beſſeren Seite und in die-
ſem einige beſſere Gruͤnde fuͤr mein Betragen zeige.
Wiſſen Sie alſo, daß Sie von der großen Urſache,
warum ich dem fortrauſchenden Strome der Moden ſo
gelaſſen nachgeſehen habe, ſo viel als gar nichts errathen
haben; ſie ſind edler, ſie ſind folgende. Ueberall wohin
wir unſre Augen wenden, hat die Natur nicht blos fuͤr
unſre Erhaltung, ſondern auch fuͤr unſer Vergnuͤgen ge-
ſorgt. So bald ſie nur das Waſſer erſchaffen hatte, ließ
ſie auch den Weinſtock bluͤhen, und pflanzte die Roſe ne-
ben dem Kornfelde. Sie ſorgte mit gleich muͤtterlicher
Sorgfalt fuͤr alle unſre Sinne, und auch fuͤr edlere Ge-
fuͤhle, indem ſie das holde Maͤdgen, was uns gluͤcklich
machen ſollte, nicht wie eine Truffel unter der Erde rei-
fen, ſondern zur allgemeinen Freude uͤber derſelben auf-
bluͤhen ließ. Jhre Mannigfaltigkeit iſt unendlich, und
ſie haßt die Einfoͤrmigkeit dergeſtalt, daß ſie auch nicht
einmal die Pflanzen von einer Gattung ſich voͤllig aͤhnlich
gemacht hat.
Schwerlich hat der Menſch, ihr edelſtes Werk, min-
der vollkommen werden ſollen. Auch hier in dieſer klei-
nen Welt, wie man den Menſchen nicht ganz unrecht
nennt, hat ſie Blumen und Korn, Waſſer und Wein,
und Truffeln und Maͤdgen erſchaffen, und jedem ſeinen
gehoͤri-
[43]der neueſten Moden enthalten.
gehoͤrigen Platz angewieſen. Auch hier hat ſie die Blume
zur Ergoͤtzung und das Korn zur Erhaltung gepflanzet.
Und wenn dieſes, wie ich nicht zweifle, ſeine Richtigkeit
hat: ſo ſehe ich nicht ein, woher wir das Recht nehmen
wollen, alle Roſen auszureißen, um nichts als Kartof-
feln dafuͤr zu ziehen. Man laſſe jedem ſeine Stelle, und
es wird alles gut gehen.
Durchdrungen von dieſen großen Wahrheiten ſehe
ich den verfeinerten Theil der Menſchen an Hoͤfen und in
Staͤdten mit ihren Moden, Kuͤnſten, Wiſſenſchaften und
witzigen Erfindungen als das Blumenbeet der Natur;
das platte Land hingegen als ihr Kornfeld an. So wie
das letzte gut ſteht, wenn ſich nicht viel Blumen unter
dem Korne befinden: ſo mag auch das erſte immer ſchoͤ-
ner ausſehen, je weniger Korn darauf waͤchſt; und da
einmal die Natur beydes zum allgemeinen Beſten und
Vergnuͤgen angebauet haben will: ſo glaube ich daß wir
keine beſſere Einrichtung treffen koͤnnen, als daß wir die
Blumen in den Staͤdten, und das Korn drauſſen auf dem
Lande ziehen. Auch hierin hat uns die Natur ein fuͤr-
trefliches Beyſpiel gegeben; ſie laͤßt den Weitzen nicht
mit ſchoͤnen Bluͤthen glaͤnzen, und fordert von den ſchoͤn-
ſten Blumen keine Fruͤchte zu unſrer Erhaltung.
Wenn die Kunſt der Natur folgt: ſo hat ſie die be-
ſte Wegweiſerinn, und wir folgen ihr in den Staͤdten,
wenn wir alles in edle Blumen verwandeln. Hiezu die-
nen Wiſſenſchaften, Kuͤnſte und Moden, und aus dieſem
Geſichtspunkte bewundere ich jetzt die unermuͤdete Bemuͤ-
hung der Menſchen in den Staͤdten, ſich um die Wette ſchoͤ-
ner und glaͤnzender zu zeigen; ich ſehe jede Haube als eine
neue Art auslaͤndiſcher Blumen an, die in unſre Gegend
verpflanzet wird, und mache der Tulpe ſo wenig einen
Vor-
[44]Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigen
Vorwurf, daß ſie nur das Auge ergoͤtzt, als ich es der
Nachtviole verdenke, daß ſie nicht bey Tage riecht. Je-
des Ding hat bey mir ſeine Zeit und ſeine Stelle bekom-
men, und damit iſt auch meine ganze Kritik gefallen.
Der einzige Mißbrauch, den wir Moraliſten zu fuͤrch-
ten und abzuwehren haben, iſt dieſer, daß die Blumen
mehr Platz einnehmen als ihnen zukommt. Denn wo ſie
dergeſtalt wuchern, daß ſie den Kartoffeln ihren Platz
rauben, oder wohl gar das Korn erſticken, da ſieht es
gefaͤhrlich aus. Aber hier koͤnnen wir raͤuten, pfluͤgen
und brachen, und wenn wir dieſes zur rechten Zeit thun:
ſo wird die Ordnung der Natur nichts dabey verlieren.
Sie wird gut beſtehen, wenn wir vorher wohl unterſu-
chen, ob ſich ein Landſtaͤdtgen, was Mangel an Korne
hat, ſo gut zum Blumenbeete ſchicke, als eine Haupt-
ſtadt, und die Heide ein Feld ſey um Hyacinthen darauf
zu ziehen.
Gegen dieſen meinen Plan, liebſte Freundinn! wer-
den Sie mir keine Einwendung machen. Sie gehoͤren zu
dem Geſchlechte der Blumen, die nicht blos das Auge
ergoͤtzen, ſondern auch noch uͤberdem ſchoͤne Fruͤchte brin-
gen. Jn ihrem Schatten wird kein Korn erſtickt, und
der Raum, den Sie einnehmen, iſt nicht groͤßer als Jh-
nen gebuͤhrt. Sie ſchuͤtzen vielmehr andre zaͤrtliche Ge-
waͤchſe vor der Macht der Sonne, und wenn Sie ihre
Blaͤtter gleich hoch tragen, und ſich dem begierigen Auge
in ihrem ſchoͤnſten Schmucke zeigen: ſo geſchieht dieſes,
um die kurze Zeit, welche Sie in dieſer Welt zu bluͤhen
haben, ihrer Beſtimmung gemaͤs anzuwenden, und dann
zu einer vollkommenen Frucht zu reifen. Koͤnnen wir dieſe
dann gleich nicht ſo lange wie wir wuͤnſchen aufbewahren:
ſo muͤſſen wir uns damit troͤſten, daß wir fuͤr den Man-
gel
[45]der neueſten Moden enthalten.
gel der Dauer durch die Menge der Reitzungen uͤber-
fluͤßig bezahlt ſind.
Aber am Ende, meine Beſte, bitte ich Sie doch
dieſe kleine Herzſtaͤrkung andern in dieſem neuen Jahre
nicht anders als nach dem Abfuͤhrungsmittel zu geben.
Die Zahl der Blumengecke iſt nicht ſo groß, als der Lieb-
haber des reinen Korns, und wer ſein Gewaͤchs ſicher
verſilbern will, der handelt immer am kluͤgſten, wenn
er mehr Korn als Blumen zu Markte bringt. Nach dem
erſten wird zur Zeit der Noth gar nicht gefragt, und oft
liegt eine Roſe, die des Morgens erſt aufbluͤhete, ehe es
Abend wird, verwelkt, entblaͤttert, und verachtet unter
den Fuͤßen. Das Schickſal aller Blumen iſt einmal zu
ſcheinen und fruͤh zu ſterben, und die Anbauer der Korn-
felder haben nur Augen fuͤr ſie, um ſie auszureißen.
Ein Liebhaber von Beyden.
X.
Wie iſt die Dreſpe im menſchlichen Ge-
ſchlechte am beſten zu veredeln?
An[f]rage eines Frauenzimmers.
O! ſchweigen Sie ja ſtille, mein ſchoͤner Herr! Sie
gehoͤren auch mit unter den Abfall des menſch-
lichen Geſchlechts; der Ausſpruch unſers Jrokeſiſchen
Philoſophen war:
Es giebt nur dreyerley aͤchte Staͤnde unter den
Menſchen, als der Stand der Jaͤger, der Hirten
und
[46]Wie iſt die Dreſpe im menſchl. Geſchlechte
und der Ackerbauer; alles uͤbrige gehoͤrt zum Ab-
fall, worauf man nicht viel rechnen muß.
Und Sie als Dichter, wo Sie ſich nicht bald, wie
die Saͤnger in Arkadien, eine Heerde anſchaffen, fallen
gewiß unter die Spreu, wenn man den Abfall auf die
Schwinge bringt, um noch das Hinterkorn oder die Dre-
ſpe zu gewinnen. Nicht wahr? o! wenn man nur ſeine
Groͤße kennt: ſo betriegt einen der Schneider .... und
auch ſeine eigne gute Meinung nicht.
Sie haben alſo gar keinen Beruf uns guten Maͤd-
gen, die wir ſo ein bisgen mehr Zeit als andre der Lec-
tuͤre ſchenken, und unſern Geiſt wie unſern Koͤrper zu
ſchmuͤcken ſuchen, vorzuwerfen, daß wir die ganze Oeko-
nomie der Natur zerſtoͤrten; und ich daͤchte, wir handel-
ten beyde am kluͤgſten, wenn wir uns einander das Hand-
werk nicht verſchrien.
Aber ſollte es denn wuͤrklich ſo ganz richtig ſeyn, daß
die Jaͤger, die Hirten und die Ackerbauer das reine Korn
in der Welt ausmachten, und alles uͤbrige zur Dreſpe
gehoͤrte? Und ſollte es auf den Fall, daß wir uns dieſe
Jrokeſiſche Eintheilung gefallen laſſen muͤßten, nicht Mit-
tel geben, auch noch die Dreſpe in Preiß zu bringen!
Die Jtaliener warfen lange die abgewundenen Huͤllen der
Seidenwuͤrmer in den Miſt, bis ſie endlich lernten Blu-
men daraus zu machen; und wir Deutſchen ſchufen auch
einmal, denn Schoͤpfer ſind wir doch immer geweſen, aus
den ſonſt weggeſpuͤlten Schuppen der Baͤrſche etwas das
eine Blume heißen ſollte; was duͤnkt ihnen alſo, wenn
wir auch noch ſo etwas aus der Dreſpe oder der Spreu
machten, wenn ich Sie zum Exempel als eine Huͤlſe in
eine Roſe verwandelte, und dieſer ein Plaͤtzgen auf mei-
ner Haube, oder an einem andern Orte, wo Sie viel-
leichtlieber verbluͤheten, einraͤumete; wuͤrden Sie es
wohl
[47]am beſten zu veredeln?
wohl bereuen, nicht blos zum Pumpernickel erſchaffen zu
ſeyn? Es kommt nur darauf an, wie ich das Ding in
meinem Kopfe drehe: ſo ſind Sie Spreu oder Roſe.
So viel bleibt indeſſen immer, wir moͤgen nun ſeyn
was wir wollen, richtig, daß die Drefpe wenn ſie genutzt
und veredelt werden ſoll, eine ganz andre Behandlung
als das reine Korn erfordere, und daß mehrere Arbeit,
und mehrere Kunſt dazu gehoͤren, Baumwolle aus der
Heede als ein Stuͤck Lowend aus gutem Flachſe zu ma-
chen. Sie erinnern ſich wie unſer Jrokeſe die Ohren
ſpitzte, als er hoͤrete, daß ein huͤbſcher junger Menſch
verdammet wurde, zehn Jahre lang mit untergeſchlage-
nen Beinen auf einem Tiſche zu ſitzen, um ſich dereinſt
mit der Scheere und der Nadel in einem kleinen engen
Stuͤbgen ernaͤhren zu koͤnnen. Das heißt, rief er, die
Dreſpe auf eine grauſame Art veredlen; und was wuͤrde
er geſagt haben, wenn er gehoͤrt haͤtte, daß man ſolchen
jungen Burſchen nicht allein manchen Feyertag, ſondern
auch ſogar den Troſt ſich alle vier Wochen einmal recht
ausdehnen zu koͤnnen, oder den ſogenannten blauen Mon-
tag abgeſchnitten haͤtte?
Nun daͤchte ich gewoͤnne die Sache ſchon eine andre
Geſtalt, und wir haͤtten einiges Recht den Moraliſten zu-
zurufen, nicht alles Hinterkorn ſofort in den Wind zu
werfen, oder allenfalls fuͤr das Vieh ſchroten zu laſſen,
wenn es nicht auf die naͤmliche Art brauchbar iſt, wie das
reine. Es iſt ein wunderliches Ding um dieſen Abfall des
menſchlichen Geſchlechts, ſeitdem man keine Reviere von
hundert Meilen fuͤr die Jagd von hundert Jrokeſen un-
gebauet laſſen will, und noch wunderbarer iſt es, daß
oft aus dieſem Abfall das Korn erwaͤchſt, was in die Jro-
keſiſche Wildbahn geſaͤet wird. Nach dem Ausſpruch un-
ſers
[48]Wie iſt die Dreſpe im menſchl. Geſchlechte
ſers Wilden gehoͤrte der Hof, die Buͤrgerſchaft, und die
ganze beruͤhmte Gelahrten Republik zur Spreu, oder wo
noch einige darunter der Jagd und dem Ackerbau ein
Stuͤndgen ſchenken, zum Hinterkorn; was kann aber
daraus nicht gemacht werden, wenn es von geſchickten
Meiſtern und Meiſterinnen geworfelt, gemahlen, gebeu-
telt und verbacken wird?
Jedoch meine Meinung war es nicht, mich auf eine
ſo ernſthafte Sache einzulaſſen. Die Frage unter uns iſt
blos, ob ich als ein kleines Huͤlsgen gerade alle die Ei-
genſchaften und Tugenden eines aͤchten ſchoͤnen, reinen
Weitzens haben muͤſſe, und ob ich nicht, da ich mich gut-
willig unter den Abfall rechnen laſſe, das Privilegium
habe, mich ein bisgen mit einer unſchuldigen, oder wie
Sie es nennen, empfindſamen Lectuͤre zu amuſiren? Die
Umſtaͤnde, welche es noͤthig gemacht haben, daß zwey
geſunde ſtarke Maͤnner den dritten, der oft nur ein klei-
ner feiner Moraliſt iſt, in der Saͤnfte tragen, koͤnnen
es vielleicht auch noͤthig machen, daß tauſend ſich blos
mit Leſen beſchaͤftigen, um eben ſo viel Autoren das Brod
zu geben. Je mehr ſich die Zahl derjenigen vermehrt,
die nicht zum reinen Korn gehoͤren; und je nothwendiger
dieſe Vermehrung iſt, wo wir uns nicht wie die Jroke-
ſen aus unſern Reviren treiben laſſen wollen, deſto haͤu-
figer werden auch die Veredlungsmittel werden muͤſſen.
Unſer Kuͤſter hat ſchon angefangen alle Saͤrger der Laͤnge
nach einzuſenken, weil der Kirchhof zu klein wird; und
ich fuͤrchte, wenn wir dereinſt auch ſo bey lebendigem Leibe
zu ſtehen kommen, es wird noch manche eitle Beſchaͤfti-
gung erdacht werden muͤſſen, um uns alle in Bewegung
zu erhalten.
Ueber-
[49]am beſten zu veredeln.
Ueberlegen Sie es mein Freund, und ſchicken mir
allenfalls einen beſſern Vorſchlag zu meiner Veredelung.
Aber Jhre Puppe will ich nicht ſeyn, ſie moͤchten meiner
ſonſt gar zu balde muͤde werden; auch nicht ihre Ama-
rillis, weil ihnen der Reim gleich eine Phillis bringen
wuͤrde. Jhre Muſe oder ſo etwas was der Dichter ſich
taͤglich wuͤnſcht und niemals erhaͤlt, moͤchte ich am lieb-
ſten ſeyn, um mich ein bisgen zu raͤchen.
Amalia.
XI.
Wozu der Putz diene?
Ein Geſpraͤch
zwiſchen Mutter und Tochter.
Das Kind. Mama! warum hat der Mahler dort
mitten uͤber den ſchoͤnen Spiegel eine Guirlande
gemahlt?
Die Mutter. Siehſt du denn nicht, daß er dort
geborſten iſt, und daß er dieſen Borſt hat verbergen
wollen?
Das Kind. Mama! warum hat der Kaufmann zu
dem ſchoͤnen Chitz, welchen ſie mir gegeben haben, ein
Zeug voll Loͤcher genommen?
Die Mutter. Damit man bey der Schoͤnheit der
Farben die Loͤcher vergeſſen ſollte.
Das Kind. Mama! ſind denn uͤberall Boͤrſte und
Loͤcher, wo uͤberfluͤßiger Schmuck iſt?
Die Mutter. Ja, mein Kind, uͤberall. Viel Putz iſt
immer ein Zeichen, daß irgendwo etwas fehlt, es ſey
nun im Kopfe, oder im Zeuge.
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. DXII.
[50]Schreiben einer alten Ehefrau
XII.
Schreiben einer alten Ehefrau an eine
junge Empfindſame.
Sie thun Jhrem Manne Unrecht, liebes Kind, wenn
Sie von ihm glauben, daß er ſie jetzt weniger
liebe als vorher. Er iſt ein feuriger thaͤtiger Mann, der
Arbeit und Muͤhe liebt, und darinn ſein Vergnuͤgen fin-
det; und ſo lange wie ſeine Liebe gegen Sie ihm Arbeit
und Muͤhe machte, war er ganz damit beſchaͤftiget. Wie
aber dieſes natuͤrlicher Weiſe aufgehoͤret hat: ſo hat ſich
ihr beyderſeitiger Zuſtand, aber keinesweges ſeine Liebe,
wie Sie es nehmen, veraͤndert.
Eine Liebe die erobern will und eine die erobert hat,
ſind zwey ganz unterſchiedene Leidenſchaften. Jene ſpannt
alle Kraͤfte des Helden; ſie laͤßt ihn fuͤrchten, hoffen und
wuͤnſchen; ſie fuͤhrt ihn endlich von Triumph zu Triumph,
und jeder Fuß breit den Sie ihm gewinnen laͤßt, wird ein
Koͤnigreich. Damit unterhaͤlt und ernaͤhrt ſie die ganze
Thaͤtigkeit des Mannes, der ſich ihr uͤberlaͤßt; aber das
kann dieſe nicht. Der gluͤcklich gewordene Ehemann kann
ſich nicht wie der Liebhaber zeigen; er hat nicht wie dieſer
zu fuͤrchten, zu hoffen und zu wuͤnſchen; er hat nicht mehr
die ſuͤße Muͤhe mit ſeinen Triumphen, die er vorhin hatte,
und was er einmal gewonnen hat, wird fuͤr ihn keine
neue Eroberung.
Dieſen ganz natuͤrlichen Unterſchied, liebes Kind!
muͤſſen Sie ſich nur merken: ſo wird Jhnen die ganze
Auffuͤhrung ihres Mannes, der jetzt mehr Vergnuͤgen in
Geſchaͤften als an ihrer gruͤnen Seite findet, gar nicht
widrig vorkommen. Nicht wahr, Sie wuͤnſchten noch
wohl,
[51]an eine junge Empfindſame.
wohl, daß er wie vormals mit ihnen einſam auf der Ra-
ſenbank vor der Grotte ſitzen, ihnen in das blaue Aeu-
gelgen ſehen, und um einen Kuß auf ihre ſchoͤne Hand,
knien ſollte? Sie wuͤnſchten noch wohl, daß er Jhnen
das Gluͤck der Liebe, was der Geliebte ſo ſchlau und
zaͤrtlich ſchildern kann, immer mit kraͤftigern Farben
mahlen, und Sie von einer Entzuͤckung zur andern fuͤh-
ren moͤchte? — meine Wuͤnſche giengen wenigſtens in
dem erſten Jahre, da ich meinen Mann geheyrathet hat-
te, auf nichts weniger als dieſes. Allein es geht nicht,
der beſte Mann iſt auch der thaͤtigſte Mann, und wo die
Liebe aufhoͤrt Arbeit und Muͤhe zu erfordern, wo jeder
Triumph nur eine Wiederholung des vorigen iſt, wo der
Gewinnſt ſowohl an ſeinem Werthe als an ſeiner Neuheit
verloren hat; da verliert auch jener Trieb der Thaͤtig-
keit ſeine gehoͤrige Nahrung, und wendet ſich von ſelbſt
dahin, wo er dieſe beſſer findet. Der weiſeſte Mann
geht auf neue Entdeckungen aus, und ſieht das entdeckte
nur mit Dankbarkeit an. Es gehoͤrt zum Weſen unſrer
Seele, daß ſie immer beſchaͤftiget ſeyn und immer weiter
will, und wenn unſre Maͤnner von der Vernunft auf die-
ſem Wege in den Geſchaͤften ihres Berufs wohl gefuͤhret
werden: ſo duͤrfen wir nicht daruͤber ſchmollen, daß ſie
ſich nicht ſo oft als ehmals mit uns am Silberbache oder
unter Luiſens Buͤche unterhalten. Anfangs kam es mir
auch hart vor, eine ſolche Veraͤnderung zu ertragen.
Aber mein Mann erklaͤrte ſich daruͤber ganz aufrichtig
gegen mich. Die Freude womit du mich empfaͤngſt, ſagte
er, verbirget deinen Gram nicht, und dein truͤbes Auge
zwingt ſich vergeblich heiter zu ſeyn; ich ſehe was du willſt,
ich ſoll mit dir wie zuvor auf der Raſenbank ſitzen, im-
mer. an deiner Seite haͤngen, und von deinem Othem
leben; aber dies iſt mir unmoͤglich. Mit Lebensgefahr
D 2wollte
[52]Schreiben einer alten Ehefrau
wollte ich dich noch auf einer Strickleiter vom Glocken-
thurm herunter tragen, wenn ich dich nicht anders zu be-
kommen wuͤßte; aber nun da ich dich einmal in meinen
Armen feſt habe, da alle Gefahren uͤberwunden, und
alle Hinderniſſe beſiegt ſind; nun findet meine Leidenſchaft
von dieſer Seite ihre vorige Befriedigung nicht. Was
meiner Eigenliebe einmal geopfert iſt, hoͤrt auf ein Opfer
zu ſeyn; die Erfindungs-Entdeckungs- und Eroberungs-
ſucht, die jedem Menſchen angeboren iſt, fordert eine
neue Laufbahn. Ehe ich dich hatte, brauchte ich alle Tu-
genden zu Stuffen, um an dich zu reichen; nun aber da
ich dich habe, ſetze ich dich oben darauf, und du biſt nun
bis dahin die oberſte Stuffe, von welcher ich weiter
ſchaue.
So wenig mir auch der Glockthurm, und daß ich
die Ehre haben ſollte, der hoͤchſte Fußſchemel meines
Mannes zu ſeyn, gefiel: ſo begrif ich doch endlich mit der
Zeit, und nachdem ich dem Laufe der menſchlichen Hand-
lungen weiter nachgedacht hatte, daß es nicht anders ſeyn
koͤnnte. Jch wandte auch meine Thaͤtigkeit, die vielleicht
mit der Zeit auf der Raſenbank Langeweile gefunden ha-
ben wuͤrde, auf die zu meinem Berufe gehoͤrigen haͤus-
lichen Geſchaͤfte, und wann wir dann beyde uns tapfer
getummelt hatten, und uns am Abend einander erzaͤh-
len konnten, was er auf dem Felde und ich im Hauſe
oder im Garten gemacht hatte: ſo waren wir oft froher
und vergnuͤgter als alle liebevollen Seelen in der Welt.
Und was das gluͤcklichſte dabey iſt: ſo hat dieſes Ver-
gnuͤgen uns auch nach unſerm dreyßigjaͤhrigen Eheſtande
nicht verlaſſen. Wir ſprechen noch eben ſo lebhaft von
unſerm Hausweſen, als wir immer gethan haben, ich
habe meines Mannes Geſchmack kennen gelernt, und er-
zaͤhle ihm ſowohl aus politiſchen als gelehrten Zeitungen
was
[53]an eine junge Empfindſame.
was ihm behagt; ich verſchreibe ihm das Buch, und lege
es ihm gebunden hin, was er leſen ſoll; ich fuͤhre die
Correſpondenz mit unſern geheyratheten Kindern, und
erfreue ihn oft mit guten Nachrichten von ihnen und un-
ſern kleinen Enkeln. Was zu ſeinem Rechnungsweſen
gehoͤrt, verſtehe ich ſo gut als er, und erleichtere ihm
daſſelbe damit, daß ich ihm alle Belege vom ganzen Jahre,
die durch meine Haͤnde gehen, zur Hand und Ordnung
halte; zur Noth mache ich auch einen Bericht an die Hoch-
preisliche Cammer, und meine Hand paradirt ſo gut in
unſerm Caſſenbuche als die ſeinige; wir ſind an einerley
Ordnung gewoͤhnt, kennen den Geiſt unſerer Geſchaͤfte
und Pflichten, und haben in unſern Unternehmungen ei-
nerley Vorſicht und einerley Regeln.
Dieſes wuͤrde aber wahrlich der Erfolg nie geweſen
ſeyn, wenn wir im Ehehande ſo wie vorhin, die Rolle
der zaͤrtlich Liebenden geſpielt, und unſre Thaͤtigkeit mit
Verſicherung unſer gegenſeitigen Liebe erſchoͤpft haͤtten.
Wir wuͤrden dann vielleicht jetzt einander mit Langeweile
anſchauen, die Grotte zu feucht, die Abendluft zu kuͤhl,
den Mittag zu heiß, und den Morgen unluſtig finden.
Wir wuͤrden uns nach Geſellſchaften ſehnen, die, wenn ſie
kaͤmen, ſich bey uns nicht gefielen, und mit Schmerzen
die Stunde zum Aufbruche erwarteten, oder wenn wir
ſie ſuchten, uns wieder fortwuͤnſchten. Wir wuͤrden zu
Taͤndeleyen verwehnt, noch immer mittaͤndeln, und Freu-
den beywohnen wollen, die wir nicht genießen koͤnnten;
oder unſre Zuflucht zum Spieltiſche, als dem letzten Orte,
wo die Alten mit den Jungen figuriren koͤnnen, neh-
men muͤſſen.
Wollen Sie ſich nicht einſt in dieſen Fall verſetzen,
liebes Kind! ſo folgen Sie meinem Beyſpiele, und quaͤ-
len ſich und ihren rechtſchaffenen Mann nicht mit uͤber-
D 3trie-
[54]Schreiben einer alten Ehefrau ꝛc.
triebenen Forderungen. Glauben Sie aber auch indeſſen
nicht, daß ich mich ſo ganz dem Vergnuͤgen, den Meini-
gen zu meinen Fuͤßen zu ſehen, entzogen hatte. O hiezu
findet ſich weit eher Gelegenheit, wenn man ſie nicht
ſucht, und ſich zu entfernen ſcheinet, als wenn man ſich
allemal, und ſo oft es dem Herrn beliebt, auf der Ra-
ſenbank finden laͤßt. Noch jetzt ſinge ich unterweilen mei-
nen kleinen Enkeln, wenn ſie bey mir ſind, ein Liedgen
vor, was ihn zur Zeit, als ſeine Liebe noch mit allen
Hinderniſſen zu kaͤmpfen hatte, in Entzuͤckung ſetzte; und
wenn dann die Kleinen rufen: Ancora! Ancora! Groß-
mama, er aber die Augen voll Freudenthraͤnen hat: ſo
frage ich ihn wohl noch einmal, ob es ihm jetzt nicht zu
gefaͤhrlich ſchiene, mich auf der Strickleiter vom Kirch-
thurme zu holen? Aber dann ruft er eben ſo heftig wie
die Kleinen: O! Ancora Großmama Ancora.
XIII.
Nachſchrift.
Noch eins, mein Kind! habe ich vergeſſen. Wie es
mir vorkoͤmmt: ſo verlaſſen Sie ſich lediglich auf
ihre gute Sache und ihr gutes Herz, vielleicht auch wohl
ein bisgen auf ihre ſchoͤnen blauen Augen, und ſpintiſiren
gar nicht darauf, ihren Mann von neuem an ſich zu zie-
hen. Mich deucht, Sie ſind zu Hauſe gerade ſo wie vor
acht Tagen in der Geſellſchaft bey unſerm ehrbaren
G ...., wo ich euch ſo ſtille und ſteif antraf, als wenn
ihr nur zuſammen gekommen waͤret, um euch Lange-
weile zu machen. Merkten Sie aber nicht, wie bald ich
die ganze Geſellſchaft in Bewegung brachte. Dem alten
muͤrri-
[55]Nachſchrift.
muͤrriſchen Cammerrath ſagte ich, er haͤtte doch letzthin
Recht gehabt, daß man den Abfall der Steinkohlen nicht
wie es im Dictionaire encyclopedique ſtuͤnde, zum Duͤn-
ger nutzen koͤnnte, ich haͤtte es auf allerley Weiſe damit
verſuchen laſſen — und fluchs ward er ſo heiter und be-
redt, wie ein Gelehrter der Recht behalten hat. Zu dem
in ſich ſelbſt vertieften Kriegesrath .... ſprach ich, ſeine
Prophezeyung, daß Clinton Charlestown erobern wuͤrde,
waͤre eingetroffen. Und nun kam einmal nach dem an-
dern, das haͤtte er ſo gewiß gewußt, daß er ſeinen Kopf
darauf verwetten wollen; worauf ſich alles, was Odem
hatte, gegen ihn ruͤhrte. Jndem jeder hiebey ſeine poli-
tiſchen Einſichten auskramte, ſagte ich meinem Nachba-
ren, dem jungen M .... einen Vers ins Ohr, wel-
chen er ehedem gemacht hat:
Und ihre Fluͤgel wurden groß,Fiengen Wind, und machtenEin Geſchwirre durch das Land,Daß man kaum ſein eignes Wort verſtand.
Und zugleich langte ich vor ihm vorbey, um die neue
Uhr mit Brillanten zu beſehen, welche ſeine Nachbarinn
auf der andern Seite, zum erſtenmale angelegt hatte.
Die Kriegesraͤthinn fragte ich, wo ſie ihren allerliebſten
neuen Wagen haͤtte machen laſſen, und um der Cam-
merraͤthinn zugleich ein Compliment zu machen, kuͤßte ich
ihren niedlichen kleinen Jungen. Damit fieng auch der
uͤbrige Theil der Geſellſchaft an, ſich etwas froher zu fuͤh-
len, und unſre Fluͤgel wurden auch groß, ſo daß wir
ſcherzend und tanzend zu Tiſche und wieder davon giengen.
Wie ich es hier in der Geſellſchaft machte: ſo ma-
che ich es auch taͤglich zu Hauſe. So wie ich des Mor-
gens aufſtehe, ſchaffe ich mir ein heiteres Auge, welches
ich mir immer verſchaffen kann, wenn ich nur friſches
D 4und
[56]Nachſchrift.
und reines Zeug uͤberwerfe; und habe allemal einen
Scherz oder eine kleine Schmeicheley fuͤr meinen Mann
in Bereitſchaft, ſollte ſie auch nur darinn beſtehen, daß
er geſtern Abend recht prophezeyhet habe, wie es dieſen
Morgen regnen wuͤrde. Er muß es immer vorher ge-
wußt haben, was in der Haushaltungsbeſtellung gera-
then wuͤrde oder nicht; er iſt es immer, den der Erfolg
rechtfertiget, wenn wir neues Geſinde bekommen haben,
das nach ſeinen phyſiognomiſchen Einſichten gut oder
ſchlecht einſchlagen ſollte; waͤre ich ihm gefolgt, ſo waͤ-
ren wir unſer Korn zu einem beſſern Preiſe los geworden,
und wir waͤren beſſer mit dem Klaver als mit der Eſpar-
cette gefahren — das weiß ich ihm alles ſo gut einzubroͤ-
keln, daß er die Kunſt nicht merkt, und wenn er ſie auch
durchſchimmern ſieht, mir den Dank fuͤr meine Muͤhe,
ein zufriedenes Wort, nicht verſagt.
Damit iſt der Tag angefangen; wir ſcheiden denn
gemeiniglich aus einander, und des Mittags habe ich
was neues. Wir haben uns froh verlaſſen und ſehen
uns froh wieder. Einen kleinen Enkel von drey Jahren,
den wir bey uns haben, ſetze ich ihm an die Seite, das
iſt dann ſeine Puppe, damit muß er ſpielen. Macht das
Kind etwas das ihm gefaͤllt: ſo ſage ich ihm, es ſey der
leibliche Großpapa. Jſt der Wein nicht gut: ſo bewun-
dre ich ſeinen feinen Geſchmack, und laſſe ihn glauben,
er ſey aus einem neuen Faſſe; findet er die Felderdbeern
wohlſchmeckender, als diejenigen, ſo ich ihm aus dem
Garten vorgeſetzt habe: ſo habe ich auf einem Nebenti-
ſche auch von jenen fuͤr ihn in Bereitſchaft. Schmeckt
ihm das Waſſer vortreflich: ſo iſt es aus der Quelle am
Berge, die er ſelbſt hat oͤffnen laſſen; und ſo mag er lo-
ben oder tadeln, ich mache ihm gleich ein Ragout daraus
nach ſeinem Geſchmacke.
Das
[57]Nachſchrift.
Das geht nun freylich ſo nicht, wenn man immer
den Mann gehen laͤßt, bis er von ſelbſt kommt, ihn nie
anhaͤkelt, oder wohl gar vor ihm mit einem langen Zuge
von Verdruß im Geſicht erſcheinet. Aber es iſt doch auch
ſo ſchwer nicht, mein liebes Kind! wie Sie glauben, einen
Mann auf jene Art ſo zu regieren, daß er noch immer
einigermaaßen Liebhaber bleibt. Jch bin nur eine alte
Frau; aber Sie koͤnnen noch was ſie wollen, ein Wort
von Jhnen zur rechten Zeit, thut gewiß ſeine Wuͤrkung.
Was brauchen Sie eben die leidende Tugend zu ſpielen?
Die Seufzer einer Frau ſind gut zum verſcheuchen, aber
nicht zum anholen; die Thraͤne des liebenden Maͤdgens,
ſagt ein altes Buch, ſteht wie der Thau auf der Roſe;
aber die auf den Wangen einer Frau, iſt fuͤr den Mann
ein Tropfen Gift, den er um alles in der Welt nicht ver-
ſchlucken moͤchte. Stellen Sie ſich nur immer freudig
und hehr, ſo wird es der Mann auch werden, und wenn
er es geworden iſt, werden Sie es auch von Herzen
werden.
Die Kunſt ſo dazu gehoͤrt, iſt ſo groß nicht. Nichts
ſchmeichelt einem Manne mehr als die Freude ſeiner
Frau, er ſieht ſich immer ſtolz als den Urheber derſelben
an. So bald Sie aber recht freudig ſind: ſo werden Sie
auch lebhaft und aufmerkſam werden; jeder Augenblick
wird Jhnen eine Gelegenheit geben, ein gefaͤlliges Wort
anzubringen, und Sie werden bald darin ſo gelaͤufig
werden, daß Sie nicht noͤthig haben Jhren Verſtand
in große Unkoſten zu ſetzen. Zuerſt erfordert es freylich
ein kleines Studium, und ich erinnere mich noch, wenn
ich vordem in Geſellſchaft gieng, daß ich vorher die Cha-
rakter aller Perſonen, welche darinn erſcheinen wuͤrden,
muͤhſam uͤberdachte, um dasjenige ausfindig zu machen,
was ich einer jeden paſſendes und angenehmes ſagen
D 5wollte,
[58]Schreiben einer Dame
wollte. Aber es giebt ſich doch bald, und zuletzt wird
es einem ſo mechaniſch, wie den großen Herrn bey der
Cour. Jhnen wird dabey Jhre gute Erziehung, die in
dieſem Stuͤcke auſſerordentlich viel vermag, ſehr zu ſtat-
ten kommen, und ihre Empfindſamkeit wird dann die edel-
ſte Gabe werden, die Jhnen die Natur geſchenkt hat,
wenn ſie zur freudigſten Thaͤtigkeit uͤbergeht, und jeder
Handlung das ſanfte, gefaͤllige und zaͤrtliche eindruͤckt,
was jetzt nur im ſtillen ſchmachtet, oder wie eine Blume
im Keller bluͤhet. Jhr lieber Mann wird ſich auf den
Lorbeerreiſern ſonnen, die Sie ihm unterlegen, und Sie
zaͤrtlich einladen das Vergnuͤgen, was Sie ihm verſchaft
haben, mit ihm zu theilen.
XIV.
Schreiben einer Dame an ihren hitzigen
Freund.
Verzeihen will ich Jhnen gern, mein lieber Freund,
und zwar von Grund meines Herzens, aber ihre
Entſchuldigung, daß ihre polternde Hitze ein Naturfeh-
ler ſey, den man uͤberſehen muͤſſe, laſſe ich durchaus nicht
gelten. Denn eines Theils iſt es noch gar nicht ausge-
macht, daß es eben ſo wohl gebrechliche Seelen als ge-
brechliche Koͤrper gebe; und andern Theils, wenn es auch
einige Seelen geben ſollte, die von Natur Kruͤppel waͤ-
ren: ſo glaube ich doch nicht, daß man ſolche Geiſtes-
kruͤppel mit eben dem chriſtlichen Mitleiden ertragen muͤſſe,
womit man einen von Natur ſchielenden Menſchen zu
ertragen verbunden iſt. Endlich ſetzt man auch den koͤr-
perlichen Fehlern noch wohl etwas entgegen, und ſchie-
net
[59]an ihren hitzigen Freund.
net ein ſchwaches Bein, was zu hinken drohet; daher
es dritten Theils hoͤchſt ſchaͤdlich ſeyn wuͤrde, dergleichen
von Natur mangelhafte Seelen ohne Huͤlfe oder ohne
Schienen, wenn ich es ſo ausdruͤcken mag, zu laſſen;
und woher wollen Sie Schienen fuͤr die Seele ſuchen,
wenn ſie ſolche nicht aus dem Zorn, dem Unwillen, und
der Verachtung nehmen, womit man dergleichen natuͤr-
liche Fehler der Seelen beſtraft? Wie ſehr wuͤrden dieſe
immer mehr und mehr ihrem uͤblen Hange folgen, wenn
man die Narren bedauerte, daß ſie von Natur nicht recht
geſcheit waͤren, oder mit den Hitzigen Mitleid haͤtte. Hier
muß man nicht ablaſſen mit wohlthaͤtigen Strafen und
Ermahnen, und ſo wie man der Kinder Seelen mit Flu-
chen und Segnen, mit Strafen und Belohnungen und
mit allen Spann- und Sperrhoͤlzern, die nur moͤglich
ſind, umgiebt, um ſie gerade zu ziehen, und vor dem Ue-
berſchlagen zu bewahren: ſo muß man auch des Mannes
Seele, wenn ſie eine Unart angenommen hat, ſo lange
haͤmmern, bis ſie einen reinen Schlacken giebt.
Wenn es jemals einen Naturfehler an der menſch-
lichen Seele gegeben hat: ſo iſt es gewiß die gar zu große
Begierde, welche wir haben, unſern Gegnern eine ab-
ſurde Folge ihrer Behauptungen zu zeigen. Auch ich fuͤhle
dieſe Schwaͤche ſo ſtark wie ein andrer, und habe ihr
vielleicht ſchon zu viel nachgegeben, da ich Jhnen jetzt
auf gewiſſe Weiſe das Abſurde ihrer Entſchuldigung ge-
zeigt habe. Aber was wuͤrde daraus werden, wenn man
gegen dieſen Fehler gar nicht auf ſeiner Hut waͤre, wenn
man immer ſo gleich nach einer Jnſtanz haſchte, womit
man ſeinen Gegner ſo recht bey der Naſe ins Narren-
ſpital fuͤhrte, und dieſer einen mit noch groͤßerer Erbit-
terung ins Tollhaus ſchickte? Wuͤrde es nicht eine Mar-
ter ſeyn in Geſellſchaft zu gehen, und wuͤrde man nicht
in
[60]Schreiben einer Dame
in beſtaͤndiger Angſt zittern muͤſſen, daß ſich die lieben
Maͤnner und Herrn Collegen beym Kragen faſſen wuͤrden?
Jch will indeſſen damit nicht ſagen, daß man dieſe
Manier der Widerlegung ganz verlaſſen ſolle; nein, ſie
iſt die kuͤrzeſte und treffendſte unter allen, wenn ſie gluͤck-
lich gebraucht wird, und eigentlich bey Hofe zu Hauſe,
wo man die Syllogismen in forma haßt. Jch wollte Jh-
nen nur damit zu erkennen geben, daß man ſeinen Geg-
ner nicht ſo gleich im Triumph und mit aller Bitterkeit
einer Rechthaberey ins Tollhaus ſchicken muͤſſe, theils
weil es beleidigend iſt, theils weil man ſich auch ſelbſt in
der Geſchwindigkeit verſehen, und eine bittere Jnſtanz
machen kann, die durch eine noch bitterere gehoben wird.
Der berichtigte Lord Rocheſter fuhr einmal in einer Mieth-
kutſche aus der Comoͤdie, und wie der Kutſcher beym Em-
pfang ſeines Fuhrlohns ſahe, daß er den Lord gefahren
hatte, ſagte dieſer zu ihm: wenn ich das gewußt haͤtte,
in die Hoͤlle haͤtte ich ſie fahren wollen. O! antwortete
der Lord: ſo haͤtteſt du Narr ja mit deinen Pferden zu-
erſt hinein muͤſſen. Phau! ſchrie der witzigere Kutſcher,
ich wuͤrde Eure Herrlichkeit ruͤckwaͤrts hinein geſchoben
haben (J Should have backed in your Lordſchip) … So
uͤbel kann man oft mit einer dem Anſcheine nach ganz gu-
ten Jnſtanz anlaufen.
Jhr erſter hitziger Ausdruck war: dasjenige was
Sie anfuͤhrten, ſey ſo klar wie die Sonne; und der Schluß
den die ganze Geſellſchaft daraus machen ſollte, war na-
tuͤrlicher Weiſe dieſer: daß ihr Gegner ſtockblind ſeyn
muͤßte. Ob ſie Recht oder Unrecht hatten, bedarf kei-
ner Unterſuchung, denn uͤber die Sache ſtreiten wir nicht,
ſondern nur uͤber die Manier des Vortrags. Aber fra-
gen Sie ſich ſelbſt, ob es ihr Wille war der Geſellſchaft
einen ſo uͤblen Begrif von ihrem Gegner zu geben? War
ers
[61]an ihren hitzigen Freund
ers nicht, wie ich verſichert bin, wozu denn dieſe Heftig-
keit? und wenn nun die Geſellſchaft gedacht haͤtte, es
fehle Jhnen an dem Gefuͤhl des Anſtaͤndigen, was zu
einem freundſchaftlichen Streite erfordert wird, oder
wohl gar an einer guten Erziehung, wuͤrde ihnen dieſes
angenehm geweſen ſeyn? Gewiß auch nicht; und ſo ha-
ben Sie Jhren Gegner wider ihren Willen und wider
Jhren eignen Vortheil mißhandelt.
Jhr zweyter hitziger Ausdruck war: ſie wollten es
der ganzen Welt zur Beurtheilung uͤberlaſſen. Hier kam
ihr Gegner auf einen noch ſchlimmern Poſten zu ſtehen.
Denn ein Mann, der einzeln in ſeiner Art zu denken iſt,
und die ganze Welt gegen ſich hat, iſt gewiß der groͤßte
Sonderling, wo nicht ein ſonderbarer Narr; und im
Grunde iſt denn doch eine Berufung auf das Urtheil der
ganzen Welt, eine bloße Fanfaronade: man weiß wohl,
daß ſolches nicht zu erhalten ſteht. Meine kleine Nach-
barin à la Circaſſienne ſagte mir ins Ohr: in einer ſo groſ-
ſen Verſammlung wuͤrde gewiß ein Schißma entſtehen,
und der Himmel moͤchte ſich der jetzigen Kopfzeuger er-
barmen, wenn die große Welt ſo hitzig wuͤrde, wie die
kleine jetzt in meinem Zimmer … Den Spott zogen
ſie ſich zu, ohne es zu wiſſen und wollen.
Jmmer ſprachen ſie von geſunder Vernunft, und
dem ſchlichten Menſchenverſtande, womit man ihr Recht
einſehen koͤnne; ſie ſagten, es koͤnne nicht anders ſeyn,
und, ſie wollten kein Wort mehr darum verlieren, und
ſchwiegen dann zu Zeiten mit Verachtung. O! wenn Sie
geſehen haͤtten, wie wir armen Weiber, die wir mit dem
froheſten Herzen uns mit unſern lieben Maͤnnern zu er-
goͤtzen, zuſammengekommen waren, bey dergleichen Sce-
nen zitterten; wenn ſie geſehen haͤtten, wie oft der Frau
ihres
[62]Schreiben einer Dame
ihres Gegners das Blut ins Geſichte ſtieg, wenn ſie auf
jene Art ihren Mann fuͤr ſtockblind oder fuͤr unverſtaͤn-
dig erklaͤrten! Wenn Sie geſehen haͤtten, wie Jhre eigne
liebe Frau eine heimliche Thraͤne nach der andern ver-
goß! Wenn Sie die bedeutenden Seitenblicke unſrer jun-
gen Fraͤulein, das unvermerkte Achſelzucken der jungen
Herrn, das raͤuſpernde Jtem, das Beſtreben etwas vor-
zubringen, wobey man das Gezaͤnk nicht hoͤren ſollte,
und alle die verungluͤckten Mittel ihnen den Streitpunkt
zu verſchieben, bemerkt haͤtten, wahrlich Sie wuͤrden
eine ſolche Schiene um ihre Seele empfangen haben, die
auch der groͤßte Naturfehler derſelben nicht haͤtte zerbre-
chen ſollen.
Und was ward nun am Ende aus dem allen? ich ließ
die Charten eine halbe Stunde fruͤher geben, um den
ungeſchickten Streiter mit einer Puppe zu beſchaͤftigen,
und Sie verſpielten mit gluͤenden Wangen und zanken-
den Augen eine Zeit, die wir des Tages vorher zu einer
weit edlern Ergoͤtzung ausgeſucht hatten. Die Wahr-
heit aber gewann nichts dabey, und vielleicht ſchmollen
Sie heute und Morgen noch im Kauf gegen ihren Freund,
der doch weiter nichts that, als daß er gelaſſen ſagte:
ihm kaͤme die Sache, welche Sie blau faͤnden, etwas
gruͤnlich vor, oder ſchiene ihm ins gruͤne zu fallen; und
ihn deuchte, man koͤnne ſie auch zur Noth fuͤr gruͤn an-
ſehen. So beſcheiden war er in dem Vortrage der Zwei-
fel, die Sie ſo hitzig zu widerlegen ſuchten.
O! mein lieber wuͤrdiger Freund, Sie ſind gewiß
ein Mann, dem Niemand ſeine großen Verdienſte ab-
ſpricht; man laͤßt Jhren Einſichten, Jhrem Eyfer und
Jhrer Redlichkeit die vollkommenſte Gerechtigkeit wieder-
fahren; man widerſpricht Jhnen oft nur, um ſich von
Jhnen belehren zu laſſen, und die ſtarken Gruͤnde zu hoͤ-
ren,
[63]an ihren hitzigen Freund.
ren, womit Sie jede Wahrheit in ein neues Licht zu ſe-
tzen wiſſen; warum wollen Sie alle dieſe großen und ed-
len Vorzuͤge, durch ihre aufbrauſende Hitze verderben?
warum wollen Sie dieſem Naturfehler Entſchuldigungen
bereiten, und ſich dadurch des einzigen Mittels berauben,
womit er noch einigermaaßen gemaͤßiget werden kann?
Von mir muͤſſen Sie wenigſtens nicht fordern, daß ich
Entſchuldigungen annehmen ſoll. Nein das muͤſſen Sie
nicht, ich will Jhnen vielmehr jedesmal, ſo wie ich heute
gethan habe, meinen ganzen Unwillen zeigen, damit Sie
davon den lebhafteſten Eindruck nehmen, und zur Zeit
der Gefahr einen Erretter haben moͤgen. Jch will, wenn
wir in Geſellſchaften zuſammen ſind, und ich ſehe, daß
Sie ſich von Jhrer Hitze uͤbermeiſtern laſſen, meinen Cra-
paud*) ſchnurren laſſen, und dann ſchlage dieſes Ge-
raͤuſch wie ein Donner in die Bratpfanne, die den beſten
Braten immer verbrennen laͤßt. Jch wuͤnſche indeſſen
doch, daß er Jhnen mit dieſer ereme à la Sultane wohl
ſchmecken moͤge, und wenn Sie heute kommen, um die
Ruthe zu kuͤſſen, womit Sie geſtaͤupt ſind: ſo ſollen Sie
an mir eine eben ſo warme Freundinn finden, als Sie
ein hitziger Fechter … geweſen ſind.
Amalia.
XV.
[64]Alſo ſollte man die Einimpfung
XV.
Alſo ſollte man die Einimpfung der
Blattern ganz verbieten.
Schreiben einer jungen Matrone.
Nun, mein liebes Kind! ich will nichts mehr dagegen
ſagen, laß deinem Dutzend Kindergen je eher je
lieber die Blattern geben, alle meine Wuͤnſche ſtehen dir
dabey zu Dienſte, und zwar von ganzem Herzen. Aber
ſiehe auch hernach zu, wie du deine acht Maͤdgen an den
Mann bringeſt. Denn das will ich dir wohl im voraus
ſagen, daß kein einziges davon ſterben werde: unſre Aerzte
verſtehen das Ding zu gut, und ſind viel zu gluͤcklich um
dir auch nur eine einzige Ausſteuer zu erſparen.
Wo will es aber endlich hinaus wenn das ſo fort
geht; wenn die Brut, die jetzt erhalten iſt, ſich mit glei-
chem Eifer vermehrt, und nichts davon abgeſchlachtet
wird? Vordem dankte eine gute Mutter dem lieben Gott,
wenn er redlich mit ihr theilte, und auch noch wohl ein
Schaͤfgen mehr nahm; man erkannte es als ein ſicheres
Naturgeſetz, daß die Haͤlfte der Kinder unter dem zehn-
ten Jahre dahin ſterben muͤßte, und richtete ſich darnach
mit den Wochenbetten. Aber kuͤnftig wird man ſeine
Kinder ſelbſt ſaͤugen, und alſo alle zwey Jahr nur ein
Wochenbette halten duͤrfen, oder mit dem zwanzigſten
Jahre aufhoͤren muͤſſen Kinder zu holen, wo die Welt
den Menſchenkindern nicht zu enge werden ſoll. Und doch
hat die weiſe Vorſehung die Blattern gewiß nicht umſonſt
in
[65]der Blattern ganz verbieten.
in die Welt geſchickt. Sie haben ſich, nebſt der mit ihr
verwandten Seuche, gerade zu der Zeit eingefunden, da
die Voͤlkerwanderungen, weil alles beſetzt war, aufhoͤ-
ren mußten; ſie ſollen alſo wahrſcheinlich dazu dienen,
einer Ueberladung der ſublunariſchen Welt vorzubeugen,
und dieſem großen Winke ſollte man folgen, und den
Aerzten ein Handwerk verbieten, was am Ende zu nichts
dienen wird als Mann und Frau von Tiſch und Bette
zu ſcheiden.
Denn geſchieht dieſes nicht: ſo beklage ich die armen
Erbherrn des kuͤnftigen Jahrhunderts! Jeder von ihnen
wird zum wenigſten ein Dutzend Schweſtern und Bruͤ-
der abzufinden haben! Und wehe dem Lande, wo dieſe
alle von Stande ſind, und Wapen und Namen fortfuͤh-
ren wollen! Was fuͤr Stifter werden da auf Koſten des
gemeinen Fleißes errichtet werden muͤſſen, um alle die
Fraͤulein zu verſorgen? Was fuͤr Armeen werden gehal-
ten und wie ſehr wird der Hofſtaat, und die Dienerſchaft
rermehret werden muͤſſen, um jedem Sohne wenigſtens
eine Compagnie oder einen andern Dienſt zu verſchaffen?
Und was wird bey dem allen aus den Erbherrn werden,
die jedesmal ein Dutzend Schweſtern und Bruͤder abzu-
ſteuren und zu verſorgen haben?
Ein anders waͤre noch, wenn die Vorſorge blos auf
den Bauerſtand gienge! denn wenn dieſer ſich zu ſehr
vermehrt: ſo kann man ihn noch aufs Schlachtfeld fuͤh-
ren, und mit Cartaͤtſchen darunter ſchießen laſſen. Aber
ſo wird dieſer gar nicht einmal genoͤthiget ſich der Jnocu-
lation zu unterwerfen, ohnerachtet unlaͤngſt die natuͤrli-
chen Blattern in einem Kirchſpiele 73 Kinder Gott gefaͤl-
lig weggeraft haben; man uͤberlaͤßt ihn ſeinem Vorur-
theile oder der Natur, und was dieſe nicht muͤtterlich
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Eweg-
[66]Alſo ſollte man die Einimpfung
wegnimmt, wird durch jene aufgerieben, gerade als wenn
er allein das Recht haͤtte nach ſeinem Kopfe zu handeln.
Zwar giebt es auch Mittel die Vornehmern auf dem
Bette der Ehre ſterben zu laſſen; und die großen Herrn
werden ſchon dafuͤr ſorgen, daß es hiezu nicht an Gele-
genheit mangle. Allein dadurch wird den Maͤdgen nicht
geholfen, ſondern nur die Ungleichheit beyder Geſchlech-
ter wider die goͤttliche Ordnung vermehrt Fuͤr dieſe
waͤre es alſo beſſer, wenn ſie ſo wie bisher zur Haͤlfte in
ihren unſchuldigen Kinderjahren, ehe ſie wiſſen was es
in der Welt giebt, von den Blattern weggeraft, und
nicht durch jene grauſame Vorſorge aufgeſparet wuͤrden,
achzigjaͤhrige Maͤrterinnen zu werden. Aber keine Zeit
iſt ſo ſehr in Widerſpruch mit ſich ſelbſt geweſen als die
jetzige. Sie arbeitet beſtaͤndig an Stamm und Namen,
und doch ſoll jeder Stamm von unendlichen Sproͤßlingen
erſchoͤpft werden. Sie treibt die Ueppigkeit bis zum
hoͤchſten Grad, verzehrt was ſie einnimmt, macht auch
wohl Schulden dazu, und doch denkt ſie an nichts als
recht viele Erben zu erwecken. Sie klagt daß ihr die Kin-
der taͤglich mehr koſten, und tadelt gleichwohl ihre Vor-
fahren, welche in gluͤcklichen Zeiten die Haͤlfte davon an
den Blattern ſterben ließen; ſie murret gegen die Fuͤrſten
und will doch durch die Jnoculation eine Menge von Fuͤrſt-
gen erhalten … doch wer kann alle die Widerſpruͤche
zaͤhlen, worinn ſich der Menſch verwickelt? ich habe ihn
geſehen, wie er einen Dieb, der Morgen gehangen wer-
den ſollte, ſich aber heute ſelbſt erhenkt hatte, mit aller
nur erdenklichen Muͤhe wieder zum Leben zu bringen
ſuchte, um ihn des andern Tages in forma aufknuͤpfen
zu ſehen. Und ſo verfahren auch unſre Aerzte, ſie erhal-
ten eine Menge von Leuten, die natuͤrlicher Weiſe, weil
die Welt zu voll werden wird, verhungern muͤſſen. Kom-
men
[67]der Blattern ganz verbieten.
men folgends die Medicinalanſtalten zu Stande, womit un-
ſer wohlthaͤtiges Jahrhundert ſchwanger geht, ſo wird
man uͤberall Eltern mit ihren Kindern, Kindeskindern,
Enkelkindern und Urenkelkindern herum wandern ſehen,
und zuletzt Mord und Todtſchlag begehen muͤſſen, um ſich
mit Ehren einen Platz in der Weit zu verſchaffen.
Jm Anfang wie Gott die Welt erſchuf, wurden die
Menſchen tauſend Jahr alt, weil Garten und Feldland
im Ueberfluß da war; nachher wie die Bevoͤlkerung im
juͤdiſchen Lande zunahm, erreichten viele kaum ein mitt-
lers Alter von fuͤnf hundert Jahren; endlich ward das
hoͤchſte Alter hundert Jahr, und man ſieht offenbar, daß
das menſchliche Alter gerade in dem Verhaͤltniß abge-
nommen hat, wie ſich die Menſchen vermehret haben.
Liegt hierin aber nicht deutlich die Regel unſers Verhaͤlt-
niß, daß wir der Kinder nicht gar zu viel werden laſſen
ſollen? Wahrlich es wird, wenn die Einimpfung nicht
noch in Zeiten verboten wird, uͤber funfzig Jahr wun-
derlich in der Welt hergehen; das hoͤchſte Alter der Men-
ſchen wird dann ungefaͤhr dreyßig Jahr ſeyn, und die
Welt noch von zwanzigjaͤhrigen Greiſen regieret werden.
Sonſt hieß es je dicker die Saat je duͤnner die Halme, aber
unſre Herrn Aerzte kehren ſich an dieſe in der Erfahrung
gegruͤndete Regel nicht; auch das ſchwaͤchſte und kuͤm-
merlichſte Haͤlmgen ſoll nicht ausgejaͤtet werden. Nun
ſie moͤgen ſehen wie es ihnen die Nachwelt danken wird;
ich halte es mit den natuͤrlichen Blattern die ſo fein auf-
raͤumen, und auf jedem Hofe gerade ein Paͤrgen uͤbrig
laſſen, was ſich fein ſatt eſſen und dem lieben Gott recht
viele Engeln liefern kann. Jch breche hier ab um keine
Thorheit zu ſagen. Lebe wohl!
E 2XVI.
[68]Ein kleiner Umſtand thut oft vieles.
Ein kleiner Umſtand thut oft vieles.
Aus dem Leben eines Frauenzimmers von ihr
ſelbſt beſchrieben.
..... O mein armer Mann! rief ich, aber es war
vorbey, und in dem Augenblick hielt der
Wagen vor meiner Thuͤr: es war ſchon nach Mitternacht,
der Herr Graf empfohl ſich kurz, und ich flog in mein
Schlafzimmer, wo ich ein Glas friſches kuͤhles Waſſer
herunterſchluckte, und aus allen Kraͤften laut ſeufzete.
Meine Cammerjungfer merkte gleich daß mir etwas be-
gegnet ſey, womit ich nicht voͤllig zufrieden waͤre, und
fieng an die Vergnuͤgungen des Tages durchzugehen, ver-
muthlich um zu ſehen, zu welcher ich die verdrießlichſte
Mine machen wuͤrde. Dejeune’ und Soupe’, rief ſie,
Comedie und Aſſamblee, Morgen- und Abendball, Me-
dianotte, und andre Jntermezzos, wenn das nicht ver-
gnuͤgte Leute macht, ſo weiß ich nicht woher ſie kommen
ſollen. Das Wort Jntermezzo fiel mir auf, ich weiß
wohl warum, und wie ich muͤrriſch fragte, was denn
noch fuͤr Jntermezzos? fieng die Hexe laut an zu lachen.
So gleich ſagte mir mein Gewiſſen, daß ich mich verra-
then haͤtte, und weg war der Stolz, womit ich vorhin
allen Verſuchungen und Gefahren zu trotzen geglaubet
hatte. Dummes lachen! und mache ſie fort, es iſt ſpaͤt!
war meine ganze Antwort, und hiemit ward alles ſtille.
Meine Einbildung gluͤete die ganze Nacht, und ich
ſchwaͤrmte von einer Vorſtellung zur andern, und wenn
ich auf das letzte Jntermezzo kam, wie es mein Maͤdgen
zu
[69]Ein kleiner Umſtand thut oft vieles
zu nennen beliebt hatte: ſo verlohr ich mich, und glaubte
zu traͤumen. Meine ganze Eigenliebe empoͤrte ſich gegen
meine Leichtſinnigkeit, und ich konnte nicht begreifen, wie
ich bey dem großen Verſtande, womit ich mir vorhin ge-
ſchmeichelt hatte, ſo tief haͤtte fallen koͤnnen. Jch fand
auch nicht ein bißgen Großes in meinem ganzen Verhal-
ten gegen den Angrif des Grafen, — nichts womit ich
mich in meinem Gewiſſen haͤtte zieren koͤnnen. Dieſe
grauſame Erniedrigung, die ich ſo ganz fuͤhlte, preßte
mir die bitterſten Zaͤhren aus; ich konnte mich in meinen
eignen Gedanken nicht wieder zu meiner vorigen Groͤße
erheben, und ſchaͤmte mich vor meinem Anblick. Hun-
dert Einfaͤlle liefen mir durch den Kopf, ich verknuͤpfte
meine ehmaligen hohen Grundſaͤtze von der Tugend mit
denjenigen, ſo ich kuͤnftig ausuͤben wollte, um das Ge-
genwaͤrtige zu vergeſſen, aber vergebens. Mit einer
herzlichen Reue und mit dem feſten Vorſatze mich zu beſ-
ſern, konnte ich mein Gewiſſen, aber nicht meine Eigen-
liebe beruhigen.
Sie koͤnnen leicht denken, daß ich des andern Mor-
gens nicht recht wohl war; ich hatte Befehl gegeben kei-
nen auſſer dem Grafen, wenn er kommen wuͤrde, vor-
zulaſſen, und wie er erſchien; ſo vermochte ich auch nicht
einen Blick auf ihn zu werfen. Er mochte dieſes zu ſei-
nem Vortheil auslegen; denn er ſetzte ſich neben mir,
ergriff meine Hand, und druͤckte ſie mit aller Glut eines
Liebhabers an ſeine Lippen. Aber hier erwachte ich
und .... O! ich kann Jhnen, liebſte Freundinn! nicht
alles ſagen, was mein Herz vorbrachte. Es waren keine
Vorwuͤrfe, denn dieſe verdiente ich allein, es war das
ganze Gefuͤhl meiner Schmach, welches ich ihm ſchil-
derte, und ſo lebhaft, ſo aufrichtig ſchilderte, daß er meine
Hand fallen ließ, und zuletzt den Augenblick verwuͤnſchte,
E 3wel-
[70]Ein kleiner Umſtand thut oft vieles.
welcher mein ganzes Leben verbittern wuͤrde. Hievon
hatte ich ihn uͤberzeugt, und in dieſer Ueberzeugung ſuchte
ich meine Ruhe wieder zu finden.
Wir ſchieden endlich mit der heiligſten Verſicherung
aus einander, uns nie wieder allein zu ſehen, und hier-
auf kuͤßte ich ihn noch einmal zur Dankbarkeit wie ich
glaubte, fuͤr die Gerechtigkeit, welche er mir in dieſem
Augenblicke erzeigt hatte. Jetzt befand ich mich etwas
ruhiger, und wie nicht lange darauf mein Mann zu mir
kam, um ſich nach meinem Befinden zu erkundigen, konnte
ich ihm ſagen, wie ich glaubte, daß die rauſchenden Ver-
gnuͤgungen der Stadt meiner Geſundheit nicht zutraͤglich
waͤren, und ſo zogen wir nach wenigen Wochen auf un-
ſer Gut, und verließen den Hof, wo ich vorhin den Him-
mel auf Erden gefunden zu haben glaubte.
So wie ich die Sachen jetzt, aber vielleicht aus ei-
nem unrichtigen Geſichtspunkte, anſehe, glaube ich faſt,
daß ich nie zu der ruhigen und ſtillen Lebensart gekom-
men ſeyn wuͤrde, worinn ich mir nun ſo ſehr gefalle,
wenn ich jene Erniedrigung nicht erlitten haͤtte. Jch ha-
be ſeit der Zeit hundertmal mehr Gefaͤlligkeit fuͤr meinen
Mann gehabt als vorhin, und er iſt gluͤcklicher dadurch
geworden. Jch habe mich ganz meinen muͤtterlichen Pflich-
ten gewidmet, und kenne nichts unertraͤglichers als den
beſtaͤndigen Genuß ſolcher Luſtbarkeiten, die andre bis
zum Eckel verfolgen. Jch bin gegen alle arme Suͤnder
und Suͤnderinnen tauſendmal billiger als vorhin, ertrage
etwas Unrecht wegen meiner heimlichen Schuld, kehre
alles zum Beſten, beneide keinen Glanz, und richte keine
menſchlichen Fehler. Jeder gefaͤllt ſich bey uns, man lo-
bet mich wegen der großen Vernunft, womit ich den koſt-
baren Eitelkeiten der Welt entſage, man ruͤhmt mich als
die wuͤrdigſte Frau, als die gewiſſenhafteſte Mutter, und
als
[71]Ein kleiner Umſtand thut oft vieles.
als die zaͤrtlichſte Freundinn. Jch werde der ganzen Pro-
vinz zum Muſter vorgeſtellet, und das alles warum? …
darf ich es wohl denken? Nie wuͤrde ich ſo duͤnkt mich,
mit meiner unbefleckten Tugend zu dieſem Gluͤcke gelan-
get ſeyn; ich wuͤrde wie es mir ſcheinet, der ganzen Welt
damit Trotz geboten, und ſicher keinem gefallen haben.
Denn ich hatte ein ſtolzes Herz, und Tugend auf Stolz
geimpfet, giebt zwar ſchoͤne Fruͤchte, aber andre genieſ-
ſen ſie nicht gern.
Oft und ſehr oft denke ich an das ungluͤckliche Me-
dianotte, bald mit Lachen bald mit Weinen, nachdem es
meine Laune mit ſich bringt, und mein Mann hat mehr
als einmal eine Thraͤne der Reue fuͤr eine zaͤrtliche Em-
pfindung gegen ihn aufgenommen; auch dieſes Gluͤck
wuͤrde ihm wahrſcheinlich unter andern Umſtaͤnden nie
begegnet ſeyn. Nicht ſelten ſetzt mich aber auch jene Er-
innerung und eine mit ihr insgemein ſich verbindende
Muſterung der menſchlichen Tugenden ins Lachen, und
wenn ich an den Kuß gedenke, welchen ich dem Grafen
noch des andern Morgens gab: ſo kuͤſſe ich meinem Mann
die Hand um es wieder gut zu machen. Jenes that ich
doch nur aus Eigenliebe, welche ſich durch die Ueberzeu-
gung des Grafen von meinem Unwillen einigermaßen be-
ruhiget fand, und dieſes, ich will es nur geſtehn, ge-
ſchieht auch nicht blos aus Liebe.
O wie viele Schelmerey wohnet in dem menſchlichen
Herzen! und wie viele angenehme Stunden koͤnnten wir
uns verſchaffen, wenn wir uns ſolche einander mit aller
Aufrichtigkeit eroͤfneten, und die Naturgeſchichte unſrer
Tugenden nicht haͤmiſch aber fromm und wahr beſchrie-
ben. Wenn ich meiner Einbildung recht was zu gute
thun will: ſo mahle ich ihr das Gluͤck ſolcher Freunde,
E 4die
[72]Ein kleiner Umſtand thut oft vieles.
die ſcharfſichtig genug ſind, um alle Bewegungen ihres
Herzens zu beobachten, und ſich dann einander die Ent-
ſtehungsart derſelben recht herzlich mittheilen. Dieſe
Vorſtellung reißt mich oft aus dem gewoͤhnlichen Kreiſe
unſrer Denkungsart, und es iſt mir ſchon wiederfahren,
daß ich zu meinem Mann gehn, und ihn durch die Schil-
derung der ganzen Folge meiner veraͤnderten Empfindun-
gen ſeit dem Vorfall mit dem Grafen, zu einer edlern
Liebe gegen mich ruͤhren wollte. Aber ich unterließ es
weislich, und die Wolluſt das beſte Herz gezeigt zu ha-
ben, wuͤrde viel zu theuer erkauft worden ſeyn, wenn es
ihm auch nur die kleinſte Unruhe verurſacht haͤtte. Denn
es giebt ſchwerlich Ehemaͤnner, welche ihren Weibern der-
gleichen Suͤnden ſo herzlich vergeben wuͤrden, als ſie ſol-
che beichteten.
Nun haben Sie liebſte Freundinn die ganze Aufloͤ-
ſung des Raͤthſels, warum ich ſo gluͤcklich und zufrieden
auf dem Lande lebe. Sind gleich alle Tage nicht voͤllig
heiter: ſo weiß ich doch auch die dunkeln zu meinem Vor-
theile anzuwenden, und dieſe kommen den laͤndlichen Luſt-
barkeiten oft beſſer zu ſtatten, als ein heller und heißer
Tag. Jch habe Jhnen von allem was in meinem Herzen
vorgegangen iſt, nichts verſchwiegen, und ehe Sie mich
darum verachten: ſo kommen Sie zu mir und theilen auch
ein Stuͤndgen der heimlichen Wehmuth mit mir, die mich
bey dem allen nicht ſo ganz verlaſſen hat, wie es wohl
ſcheinen moͤchte. Aber heute bin ich ſo aufgeraͤumt gewe-
ſen, als wenn ich den Stein der Weiſen und mit dieſem
den Schatz gefunden haͤtte, mein ganzes Doͤrfgen in ein
Elyſium zu verwandeln. So miſche ich mir oft zu dem
kleinen Genuß des Gegenwaͤrtigen, die Hofnung einer
kuͤnftigen Freude, oder die Erinnerung einer vergange-
nen, um die Luͤcke auszufuͤllen, welche ſich zwiſchen dem
Genuß
[73]Ein kleiner Umſtand thut oft vieles
Genuß von einer Luſt zur andern befindet; und gebe mei-
ner Einbildung ein Feſt, welches dann am praͤchtigſten
iſt, wenn ich die Groͤße und Schwaͤche der Menſchen ne-
ben einander ſtelle, und ſehe wie die eine durch die an-
dre gehoben wird.
Hier muß ich ſchließen. Der Hofemeiſter, welcher
meinen Kindern in einem Nebenzimmer erklaͤret, was es
fuͤr ein großes Gluͤck ſey, ſich keiner Schuld bewuſt zu
ſeyn, ſtoͤret mich in meiner Schwaͤrmerey. Sonſt wuͤrde
ich Jhnen noch ſagen, wie ſehr Licht und Schatten ſich
einander zu ſtatten kommen.
A.
XVI.
Der Werth der Complimente.
Schreiben einer Wittwe.
O meine Liebe! naͤrriſch ſollte man uͤber die halbwitzi-
gen Mannskoͤpfe werden. Geſtern, wie wir uns
zu einer Promenade fertig machten, ſagte ich zu dem
Herrn — ſeinen Namen errathen Sie leicht: Geben Sie
mir ihren Arm, ich habe doch keine beſſere Stuͤtze.
Hierauf machte er mir ein langes und breites Compli-
ment, ich mußte ihm Ehren halber antworten, und wir
geriethen daruͤber zu aller Welt Wunder in einen hoͤfli-
chen Galimathias, wobey ich ſo roth ward wie Schar-
lach, er aber ſich die ſtolze Mine eines triumphirenden
Complimentirers gab. Die ganze Geſellſchaft hatte, ehe
E 5ich
[74]Der Werth der Complimente.
ich es mir verſehen, Theil an unſerer Unterredung genom-
men, und was nach meiner Abſicht blos ein vertrauli-
ches Wort zur Aufmunterung eines Mannes von gewiſ-
ſen Verdienſten ſeyn ſollte, erhielt durch das Gepraͤnge,
womit er ſolches aufhob, eine Art von Gewicht, was
mich ordentlich kraͤnkte, und in Beziehung auf verſchie-
dene andre von der Geſellſchaft, in eine wahre Verle-
genheit ſetzte. Wie iſt es aber moͤglich, daß ein Menſch
ſo wenig geſundes Gefuͤhl haben, und jede ſanfte Ma-
nier des Ausdrucks, wodurch man Gefaͤlligkeit, Aufmerk-
ſamkeit und Empfindung in einer Geſellſchaft von Freun-
den zu erwecken ſucht, auf eine ſo rauhe Art behan-
deln koͤnne?
Es iſt, wie Sie wiſſen, meine Gewohnheit, daß
ich in Geſellſchaften entweder den geringſten oder denje-
nigen, worauf die andern am wenigſten achten, gern zu
meiner Unterhaltung erwaͤhle, und ihm oft zu ſeiner eig-
nen Verwunderung zum allerliebſten Manne mache. Dazu
gehoͤrt nun mancher Blick der feinſten Aufmerkſamkeit,
manches verbindliche Wort, und auch wohl ein unfrey-
williger Druck der Hand, der ſo weggleitet, ohne daß
er foͤrmlich erwiedert werden ſoll. Wenn man aber alles
dieſes, was das feinere geſellſchaftliche Leben erfordert,
in ein großes Licht ſetzen, mich wegen jeder Bewegung
gleichſam zur Rechenſchaft fordern, und alle Schatti-
rungen zu beſondern Farben heraus heben wollte, ſo
wuͤrde man ich weiß nicht was aus mir machen koͤnnen.
Bey dem Herrn .. iſt es jedoch nicht Mangel von
Gefuͤhl ſondern blos die Begierde in fertigen und witzi-
gen Antworten zu glaͤnzen, die ihn zu einer ſolchen Un-
beſonnenheit verfuͤhrt. Er weiß wohl, daß ich eine ent-
ſchloſſene Witwe bin, die keinen Menſchen und am aller-
wenigſten ihn an ſich zu ziehen gedenket; er war uͤber-
zeugt,
[75]Der Werth der Complimente.
zeugt, daß dasjenige, was ich ihm ſagte, blos Gutheit
und keine aufs Fangen ausgelegte Lockung war; aber
dem ungeachtet fuͤhrte ihn das Gluͤck, meine beſte Stuͤtze
zu ſeyn, zu einer ſolchen Schilderung ſeiner Schwachheit,
daß ich um dem Gezier ein Ende zu machen, in die naͤch-
ſie Hecke grif, und anſtatt ſeines Arms den erſten Kruͤp-
pelſtock in die Hand nahm.
Sie meine Beſte haben mir oft geklagt, daß es ein
wahres Ungluͤck fuͤr die Geſellſchaften ſey, auch ſelbſt ei-
nem Freunde nicht alles ſagen zu duͤrfen was man fuͤr
ihn fuͤhlt. Jch habe aber die Wahrheit dieſer Klage nie-
mals ſo lebhaft empfunden als damals. Wenn ein Freund
nicht einmal die aufrichtigen Ergießungen der Freund-
ſchaft von der Liebe unterſcheiden kann; wenn man auch
gegen dieſen noch etwas von dem, was man ihm gern
ſagte, zuruͤckhalten muß, um ſeine ruhende Eigenliebe
nicht aufzuwecken: wie ſehr wird man denn nicht gegen
einen Gleichguͤltigen mit jeder Gefaͤlligkeit auf ſeiner Hut
ſeyn muͤſſen! Das maͤnnliche Geſchlecht muß einen eignen
Grad von Selbſtgefaͤlligkeit beſitzen, um ſo gleich jeden
beyfaͤlligen Blick fuͤr einen verbuhlten Wink aufnehmen
zu koͤnnen.
Jedoch Jhren lieben Freund nehme ich davon aus,
das verſteht ſich. Dieſen kann man ſo gar mit der Wahr-
heit ſchmeicheln, ohne daß er ſich feyerlich dagegen ver-
wahrt. Er fuͤhlt, was man ihm angenehmes ſagt, mit
Beſcheidenheit und Zaͤrtlichkeit, und erwartet ſeine Ge-
legenheit, um uns eine eben ſo warme Empfindung ab-
zulocken; oder er ſchmeichelt in Thaten, und laͤßt von ſei-
ner Erkenntlichkeit noch immer mehr errathen als man
davon ſieht. Von der Nothwendigkeit des gegenſeitigen
Gefallens in der menſchlichen Geſellſchaft uͤberzeugt,
legt er einem vertraulichen Drucke nicht mehr bey, als
darin
[76]Der Werth der Complimente.
darin liegt; und weiß wohl, daß auch die ſanft getrof-
fene Eigenliebe ſich unterweilen durch einen Blick ver-
raͤth, den man der Liebe zuſchreiben koͤnnte. Nie belaͤ-
ſtigt er dieſe ſuͤßen Ausbruͤche der menſchlichen Natur,
dieſe fuͤr die Freundſchaft ſo wichtigen Schwaͤchen, mit
widrigen Vermuthungen; nie ſchreckt er unſer Herz durch
eine witzige Antwort zuruͤck, und wenn auch ein Zug von
Liebe ſich mit einmiſcht: ſo iſt man doch bey ihm wegen
einer augenblicklichen Empfindung uͤber alle Auslegung
ruhig.
Jedoch ich merke zu ſpaͤt, daß ich uͤber einen Text
predige anſtatt Jhnen einen Brief zu ſchreiben. Verzei-
hung! Mein Unwille uͤber einen Mann, der ein Com-
pliment hoͤher aufnimmt als es gemeint iſt, und wohl
gar einen ſogenannten galanten Wettſtreit ſucht, war zu
groß; er muſte Luſt haben. Jch ſchließe Sie und ihren
lieben Freund zugleich in meine Arme, und bin alles was
Sie wollen, nur nicht Jhre
Ganz gehorſamſte Dienerinn,
Amalia.
XVIII.
Verdienten ſie die Krone oder nicht?
Ein moraliſches Problem.
Jch befand mich vor einiger Zeit in einer Geſellſchaft
von Boͤſewichtern, wovon der eine ein Geitzhals, als
ein kluger und ordentlicher Mann, der andre ein Ver-
ſchwen-
[77]Verdienten ſie die Krone oder nicht?
ſchwender, als ein zaͤrtlicher und liebenswuͤrdiger Freund,
und der dritte ein ehrſuͤchtiger Diener als ein großmuͤ-
thiger und gnaͤdiger Goͤnner geruͤhmt wurde; ohnerach-
tet ſich jeder von ihnen in dem Wege ſeiner Leidenſchaft
alles heimlich erlaubte, was ſich der gottloſeſte Mann,
der nicht eben an den lichten Galgen rennen will, nur
immer erlauben konnte. Erbittert uͤber die ſchielenden
Urtheile der Menſchen, und uͤber die große Falſchheit,
ihrer Tugenden, begegnete ich einem Landmanne, und
fragte ihn nach einer kurzen Unterredung, welches ſo die
beſten Leute in ſeinem Dorfe waͤren, und wodurch ſie ſich
ſo eigentlich auszeichneten. Seine Antworten ſagten je-
doch nur ſo viel, der und der waͤre ein guter Kerl, und
noch ein ander waͤre ein verwegen tuͤchtiger Kerl, aber
immer folgte ein Aber hinten nach, und dieſes Aber gieng
dahin, daß jeder ein Held in derjenigen Tugend waͤre,
die ſeiner Neigung und Sinnesart am beſten zu ſtatten
kaͤme, und ſich um die uͤbrigen zu wenig bekuͤmmerte.
Endlich kam der Mann auf eine Geſchichte, die ſich vor
vielen Jahren in ſeinem Dorfe zugetragen hatte, und
glaubte mir damit einen Verweis zu geben, daß ich gar
zu viel von dem beſten Menſchen forderte. Denn ich
hatte ihn mehrmals gefragt, wie er diejenigen als gute
Leute preiſen koͤnnte, die doch ſeiner eignen Beſchreibung
nach ſo große Fehler an ſich haͤtten?
Jn unſerm Dorfe, hob er an, iſt die alte gute Ge-
wohnheit, daß jaͤhrlich am Neujahrstage die Gemeine
ſich in der Kirche verſammlet, und nach geendigtem Got-
tesdienſt auf das Schloß begiebt, wo die Herrſchaft ei-
nem Ehepaar, welches wenigſtens fuͤnf und zwanzig Jahr
friedlich mit einander gelebt haben muß, und nach dem
Urtheil aller Hausgeſeſſenen Einwohner des Dorfs die
beſte Wirthſchaft gefuͤhret hat, einen Kranz von Eichen
Laube
[78]Verdienten ſie die Krone oder nicht?
Laube aufſetzt, der mit einer Steuerfreyheit fuͤr das Jahr,
und einem Ehrenpfennig von funfzig Thalern, wozu ein
alter Canonicus aus der Familie das Capital vermacht
hat, verknuͤpft iſt. Dabey werden dann alle wuͤrkliche
Eheleute an einer guten Tafel bewirthet, und des Abends
kommt das junge Volk zum Tanze. Nun geſchahe es in
meiner Jugend, daß unſer Gerichtsherr eben an einem
ſolchen Tage ein Schreiben aus Amſterdam erhielt, worin
ihm gemeldet wurde, daß vor vierzig Jahren ein gewiſ-
ſer Mann aus ſeinem Dorfe nach Oſtindien gegangen,
und mit Hinterlaſſung eines Vermoͤgens von vielen Ton-
nen Goldes geſtorben waͤre; dieſer haͤtte das Teſtament,
was ihm hiebey in Abſchrift zukaͤme, gemacht, und darin
eine Perſon zur Erbin eingeſetzt, welche damals in ſei-
nem Gerichtsdorfe geweſen waͤre; er moͤchte ſich alſo er-
kundigen, ob dieſelbe jetzt noch lebte, und ſodann jemand
mit ihrer Vollmacht uͤberſchicken, welcher die Erbſchaft,
worin außer dem baaren Gelde, viele koſtbare Diaman-
ten und insbeſondre eine Schnur orientaliſcher Perlen
von ſolcher Schoͤnheit waͤren, daß eine Kayſerin ſich nicht
ſchaͤmen duͤrfte ſie zu tragen, in Empfang naͤhme. Sie
koͤnnen ſich vorſtellen wie begierig jedermann ward, das
Teſtament zu hoͤren, und die Perſon zu kennen, die ſo
viele Tonnen Goldes, ſo koſtbare Diamanten, und ſo
ſchoͤne Perlen haben ſollte. Der Gerichtsherr uͤbergieng
demnach alles was der Verſtorbene von dem großen Se-
gen Gottes, und von dem einzigen Erloͤſer und Seligma-
cher, welchem er ſeine Seele empfohl, geſagt hatte, und
ſuchte nur gleich die Stelle auf, wo nach dieſem gewoͤhn-
lichen Eingange, die gluͤckliche Erbin benannt wurde.
Hierauf fieng er mit lauter Stimme an zu leſen.
‘Zur Erbin aller meiner zeitlichen Guͤter ſetze ich
ein, meines ehemaligen guten Wirths Tochter, An-
na,
[79]Verdienten ſie die Krone oder nicht?
na Catharine Unruhe, welche ich bey meiner Ab-
reiſe ſchwanger hinterlaſſen, und das Kind von
ihrem Leibe gebohren, wenn es der liebe Gott …’ ()
weiter konnte er vor dem Laͤrm der Leute nicht leſen; je-
dermann erkannte in der Anna Catharine Unruhe die
Frau, welche ihrer aller Vermuthung nach als die beſte
Ehefrau an dem Tage die Krone erhalten wuͤrde, und
alle waren ganz ausſchweifend froh, daß eine ſo große
Erbſchaft ins Dorf kommen ſollte. Die gnaͤdige Frau
vom Schloſſe, welche ſich ſo gleich auf die erſte Nachricht
von dieſer Neuigkeit in der Verſammlung eingefunden
hatte, erſuchte die Anna Catharine aufs inſtaͤndigſte,
doch ja die Perlen nicht in Amſterdam loszuſchlagen, weil
ſie ihr ſolche ſo gut als ein andrer bezahlen wollte. Der
gnaͤdige Herr begehrte ein gleiches wegen der großen Dia-
manten; der Gerichtsverwalter erbot ſich zur Reiſe um
die Erbſchaft in Empfang zu nehmen; der Pfarrer, wel-
cher des Morgens, wie es an dieſem Tage gewoͤhnlich
war, eine ſchoͤne Predigt uͤber die haͤuslichen Tugenden
gehalten hatte, und der Ceremonie der Kroͤnung des be-
ſten Ehepaars mit beywohnte, erinnerte ſie an ſeine
ſchlechte Pfruͤnde, und den baufaͤlligen Thurm der Kir-
che; und alle Einwohner des Dorfs hatten ihre beſon-
dere Anliegen, deren Erzaͤhlung aber viel zu weitlaͤuftig
ſeyn wuͤrde.
Endlich und nachdem der erſte Laͤrm zu einer maͤßi-
gern Luſt hinabgeſunken war, fieng der gluͤckliche Mann
dieſer reichen Erbin an ſie zu fragen: ob ſie denn vorher,
ehe ſie ihn geheyrathet haͤtte, ein Kind gehabt, und warum
ſie ihm denn niemals davon etwas geſagt haͤtte? Hier
gieng der Laͤrm von neuem an, und ich ſchaͤme mich faſt
es zu ſagen, mit welchen Gruͤnden alle mit einander,
Hohe und Niedrige, den Mann zu bereden ſuchten, daß
er
[80]Verdienten ſie die Krone oder nicht?
er doch ſeiner Frauen uͤber eine ſolche Kleinigkeit, die
ihm jetzt einen ſo reichen Segen zugebracht haͤtte, keinen
Vorwurf machen moͤchte. O! antwortete dieſer, das iſt
auch meine Meinung nicht; ich war nur neugierig zu
wiſſen und wollte weiter fragen: ob das Kind noch lebte,
und ſeinen Theil von der Erbſchaft haben wuͤrde, oder ob
meine mit meiner Frauen erzeugten Kinder ſolche allein
zu erwarten haͤtten? Nun das ließ man gelten; und die
Frau ſtotterte mit vieler Beſcheidenheit etwas heraus,
daraus man ſich uͤberzeugte, es haͤtte einmal in ihrer
Jugend ein Knecht bey ihren Eltern gedienet, der nach
Oſtindien gegangen waͤre, und ſie haͤtte damals einmal
geglaubt ſchwanger zu ſeyn, es waͤre aber noch gluͤcklich
wieder uͤbergegangen.
Man kann ſich leicht vorſtellen, daß man bey dieſem
wichtigen Vorfalle die Ceremonie des Tages ganz auſſer
Acht gelaſſen hatte. Wie es aber doch allmaͤhlig Eſſens-
zeit wurde: ſo erinnerte man ſich derſelben, weil man ſich
nicht an den Tiſch ſetzen konnte, ohne das Paar zu waͤh-
len, was als das Beſte den oberſten Platz einnehmen
muͤßte. Alle Stimmen waren einmuͤthig fuͤr die Erbin
und ihren Mann. Jn dem Augenblick aber, da man
denſelben die Krone von Eichen Laube aufſetzen wollte,
trat der Bruder der Gerichtsfrau mit einem lauten Gelaͤch-
ter in die Verſammlung, und erzaͤhlte ihnen zu ihrem
groͤßten Erſtaunen, daß er ihnen heute einen Poſſen ge-
ſpielt, und das ſchoͤne Teſtament erdichtet haͤtte.
Von dem Entſetzen, welches die ganze Geſellſchaft
befiel, will ich nichts erwehnen; es kann auch nicht be-
ſchrieben ſondern blos empfunden werden. Jetzt entſtand
aber die Frage: ob der Mann, der ſeine Ehre ſo leicht
aufgegeben, und die Frau, die ſich ſo beſcheiden zur Hure
er-
[81]Verdienten ſie die Krone oder nicht?
erklaͤret hatte, als die beſten Eheleute im Dorfe gekroͤ-
net werden koͤnnten? Der Gerichtsherr ſagte kaltſinnig:
er wolle es lediglich auf den Ausſpruch der Menge an-
kommen laſſen; die gnaͤdige Frau meinte, ſie muͤßten doch
etwas fuͤr den Schrecken haben; der Pfarrer verſicherte,
es waͤren doch immer gute Leute geweſen; und die Ge-
meinheit rief einhellig: O, wenn man alle ſo auf die Pro-
be ſetzen wollte, ſo moͤchte der Henker ein ehrlicher Mann
ſeyn. Der einzige Gerichtshalter wollte behaupten, die
Sache muͤßte erſt naͤher unterſuchet werden, aber ihm
ward befohlen, anſtatt der Erbſchaft, den Ausſpruch zum
Protocoll zu nehmen, und die Gerichtsfrau ſetzte darauf
der beſte Frau die Krone auf, ſo wie es der Gerichtsherr
dem beſten Manne that … …
Das haͤtte ich nicht gethan antwortete ich, und wenn
auch … O erwiederte der Mann, wenn ſie in der Ver-
ſammlung geweſen waͤren, und die Anna Catharine Un-
ruhe in ihrem ehrwuͤrdigen Alter, und ihren Mann in
ſeinen grauen Haaren geſehen; wenn ſie auf den Phy-
ſionomien aller Anweſenden nur eine Stimme fuͤr ſie ge-
leſen haͤtten; wenn ihnen der Pfarrer ſelbſt geſagt haͤtte,
ſie moͤchten ſich kein Bedenken machen; und wenn das
Eſſen immittelſt aufgetragen geweſen waͤre: O ſie haͤtten
es wahrlich nicht kalt werden laſſen. Jch gieng fort, ohne
weiter zu antworten. Aber was das fuͤr eine Philoſophie
iſt, einen gutwillig Hahnrey und eine Hure als die beſten
Eheleute zu kroͤnen! und doch mag ſich der Fall oft ge-
nug zutragen; die Menſchen im gemeinen Leben haben
eine ganz andre Praktik, als wir Phyſiologen. Sie laſ-
ſen dem lieben Gott das Herz richten, und geben demje-
nigen die Krone, von dem ſie das mehrſte Gute empfan-
gen. Sie ſind minder ekel wie wir feinen Moraliſten, ob
ſie aber dabey gewinnen oder verlieren, und ob dieſer
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. FGe-
[82]Was iſt die Liebe zum Vaterlande?
Gewinnſt oder Verluſt ſich in das Urtheil miſchen duͤrfe,
das iſt eine andre Frage. Jch denke wenn wir wie ſie
und ſie wie wir handelten: ſo haͤtten wir beyde Unrecht;
und ſo moͤgen wir umgekehrt auch wohl beyde Recht ha-
ben. Aber es mag ein Problem bleiben.
XIX.
Was iſt die Liebe zum Vaterlande?
Ein armer Weſtfaͤlinger gieng vor einigen Jahren nach
Holland, und erwarb ſich dort in kurzer Zeit ſo
viel, daß er wie andre ſeines gleichen, aus einem mit
Silber beſchlagenen Pfeiffenkopfe rauchen konnte, und
nicht allein ein ſeidenes Halstuch, ſondern auch ein Paar
große ſilberne Schuhſchnallen und ein Dutzend ſilberner
Knoͤpfe in ſeinem Wamſe trug. Die Leute, bey denen
er arbeitete, liebten ihn, und vermehrten ihm ſeinen
Lohn in der Maaße, daß er, wie ſeine andern Landes-
leute ihrer Gewohnheit nach heimgiengen, den Winter
uͤber zu bleiben verſprach. Kaum aber waren acht Tage
verfloſſen, ſo uͤberfiel ihn eine ſolche Sehnſucht nach ſei-
nem Dorfe, daß er ganz unmuthig und zuletzt gar krank
daruͤber wurde. Er ſprach von nichts als ſeinen lieben
Eltern und Freunden; die Heiden worauf er gebohren
war, kamen ihm ſo reitzend und der Nebel in Holland ſo
ſtinkend vor, daß er durchaus ſeinen Dienſt verlaſſen,
und in die elterliche Huͤtte zuruͤckkehren wollte. Wie ihm
aber ſein Herr hierinn nicht zu Willen ſeyn konnte: ſo fiel
er zuletzt in eine auszehrende Krankheit, und der Arzt,
welcher immittelſt dazu berufen war, erklaͤrte, daß ihn
nichts
[83]Was iſt die Liebe zum Vaterlande?
nichts als die Ruͤckreiſe in ſeine Heimath herſtellen wuͤrde.
Nun blieb dem Herrn, wenn er ſich nicht mit den Be-
graͤbnißkoſten beladen wollte, kein anderer Weg uͤbrig
als ihn heimzuſchicken, und von dem Augenblick an, da
dem Kranken dieſe frohe Nachricht verkuͤndiget wurde,
erholte er ſich dergeſtalt, daß er in wenig Tagen ſeine
Reiſe antreten wollte. Gott ſey ewig Lob und Dank,
Morgen reiſe ich in mein geliebtes Vaterland, ſagte er
eben mit der reinſten Andacht zu ſich ſelbſt, als ſein Herr
herein kam, und ihm die Rechnung von den Unkoſten
ſeiner Krankheit, und was er bey ihm, ohne zu arbeiten,
verzehret haͤtte, vorſagte. Hier, fuͤgte er hinzu, dieſen
Pfeiffenkopf, dieſe Schnallen und dieſe Knoͤpfe, will ich
dafuͤr zum Unterpfande behalten, und nun koͤnnt ihr in
Gottes Namen reiſen wenn es euch gefaͤllt.
Jn Ewigkeit nicht, erwiderte der junge Mann, nach-
dem er ſich aus ſeiner erſten Beſtuͤrzung erholet hatte;
ich befinde mich jetzt ſo gut, daß ich euch gar nicht zu ver-
laſſen, und Morgen anſtatt die Reiſe anzutreten, eure
Arbeit wieder anzufangen gedenke. Er that es auch wirk-
lich und blieb ſo lange geſund, bis er nicht allein ſeine
Rechnung getilget, und ſeine Schnallen, ſeinen Pfeiffen-
kopf und ſeine Knoͤpfe zuruͤck erhalten, ſondern ſich noch
ein ſpaniſches mit Silber beſchlagenes Rohr, und eine
große ſilberne Schnupftobacksdoſe erworben hatte. Nun
hielt ihn aber auch nichts ab, in ſein Dorf zuruͤck zu keh-
ren, und dort mit ſeinen herrlichen Sachen zu glaͤnzen.
Ach! ſagte der Pfarrer, als ihm dieſes Geſchichtgen
erzaͤhlet wurde, was iſt die Vaterlandsliebe, wenn man
ihr das eitle Gluͤck daheim mit den auswaͤrts erworbe-
nen Schnallen und Knoͤpfen prahlen zu koͤnnen entzieht?
Der eine wuͤnſcht ſeinem alten Rector zu zeigen, was aus
F 2dem
[84]Was iſt die Liebe zum Vaterlande?
dem Schuͤler geworden; der andre will mit ſeinem Gluͤcke
einer Geliebten die ihn ehmals verachtet hat, noch eine
Thraͤne der Reue abzwingen; der dritte will ſeinen Eltern
eine unvermuthete Freude machen, und alle hoffen auf
Bewunderung, oder rechnen auf die Erneuerung einer
alten Erinnerung; hier lebt noch ein Neider, woruͤber
man triumphiren kann, dort ſperret die Nachbarſchaft
erſtaunte Augen auf; man iſt dem einen als ein neues
Phenomen, und dem andern als ein alter Bekannter
willkommen; hoͤchſtens eilet man in ſein Baterland um
noch ein Unrecht, was ihm wiederfaͤhrt, aus Rechtha-
berey abwehren zu helfen, oder in demſelben ein erlern-
tes Geſchaͤfte mit mehrerem Vortheil zu treiben. Aber
keiner denkt auch nur von weitem an die Verbindlichkei-
ten ſo er ſeinem Vaterlande ſchuldig iſt; keiner kehrt aus
Liebe zum Lande oder zu ſeiner Verfaſſung zuruͤck, und
keiner mahlt ſich daſſelbe reitzender, als ein fremdes
Land, wenn es ihn verhindert, ſeine Knoͤpfe und Schnal-
len zu zeigen, die in einem armen Lande immer beſſer
glaͤnzen, als in einem reichen, wo tauſende ſie beſſer
haben.
XX.
Der Herr Sohn iſt ſchlau.
Schreiben an die gnaͤdige Frau Mutter.
Nein! Nein! Gnaͤdige Frau, Jhr Herr Sohn wird
ſein Gluͤck in unſerm Dienſte nicht machen, wenn
er uͤberall Verſtand zeigen will. Jch bin ein alter Mann
und
[85]Der Herr Sohn iſt ſchlau.
und habe manches Geſchaͤfte unter Haͤnden gehabt, aber
immer die Leute gefuͤrchtet, die keine Sache gut aus-
fuͤhren koͤnnen, ohne auch die Ehre davon zu ſuchen und
ſich dieſelbe in reicher Maaße geben zu laſſen. Bey mir
finden dergleichen Leute nie Vertrauen, und der Mann,
der ſeinem Freund nicht dienen kann, ohne mit einem
glaͤnzenden Blicke um ſeinen Dank zu buhlen, iſt doch
immer ein eitler Mann, der ſich von andern ſelbſtſuͤchti-
gen Menſchen nur in der ſanftern Manier und in einer
gluͤcklichern Wahl unterſcheidet. Zwar glaͤnzt auch die
Freudenthraͤne in unſerm Auge, und fließet der Erkennt-
lichkeit eines Freundes entgegen, den wir gluͤcklich ge-
macht haben; dieſes wiſſen Sie, gnaͤdige Frau am be-
ſten! … Aber dieſer, o dieſer Glanz, wie ſehr unter-
ſcheidet er ſich von dem Ausdruck der gierigen Selbſtge-
faͤlligkeit, die uns mit einem halb verſchobenen Auge im
Vertrauen ſagt: Gelt das habe ich recht klug gemacht!
hier habe ich ihnen recht gedienet!
Jedoch ich will hier der Natur etwas Spielraum
laſſen, und wo dieſe endlich die verſchiedenen Schatti-
rungen in einander fließen laͤßt, keine Graͤnzpfaͤle ſchla-
gen; ich moͤchte ſonſt, wenn ich einmal ein bisgen Ver-
dienſt bey Jhnen noͤthig haͤtte, und Jhnen eine recht gute
Handlung von mir erzaͤhlen koͤnnte, vor lauter Philoſo-
phie davon gar ſchweigen, und der Freundſchaft die ſuͤße-
ſte Nahrung entziehen. Nur das wollte ich eigentlich ſa-
gen: Jhr Herr Sohn muß ſich abgewoͤhnen fuͤr ſchlau
gelten zu wollen.
Unmoͤglich kann ich den Mann fuͤr wuͤrklich ſchlau
halten, der ſchlau ſcheinen will. So verfuͤhreriſch der
Ruhm eines uͤberlegnen Verſtandes iſt, und ſo gern wir
dieſem lieben Goͤtzen opfern: ſo gewiß handeln wir ge-
gen unſere eigne Abſicht, und gegen unſer wahres Jn-
F 3tereſſe,
[86]Der Herr Sohn iſt ſchlau.
tereſſe, wenn wir uns dieſen Ruhm wuͤrklich erwerben,
oder ihn wohl gar ſuchen. Der gewoͤhnlichſte Vortheil
davon iſt, daß andre auf ſich Acht haben, ihr Herz vor
uns verbergen, und uns als gefaͤhrliche Leute fliehen.
Wer Schlauigkeit zeigt, will immer dafuͤr gehalten ſeyn,
daß er einen andern uͤberliſtiget habe, und derjenige, der
uns dieſes, es ſey nun mit einem Worte oder mit einem
Augenwinke zu verſtehen giebt, warnet uns vor ſich ſelbſt.
Wir muͤſſen immer fuͤrchten, daß er uns auch einmal
uͤberliſtigen werde. Man liebt aber den Mann nicht,
wovon man dieſes fuͤrchtet. Die einzige Ruhmſucht die
ich einem jungen Manne verzeihe, iſt dieſe, wenn er wahr
und vorſichtig iſt, und auch dafuͤr angeſehen ſeyn will.
Alle uͤbrige gute Eigenſchaften muß er blos handeln
und nicht zu ſehr glaͤnzen laſſen. Es iſt ein durchtrieb-
ner Gaſt, ſagte unlaͤngſt der Herr Obermarſchall von ihm
zu dem gnaͤdigſten Herrn, er weiß alles was vorgeht,
erraͤth jeden Blick, und ſieht mit Falken Augen; Sie
koͤnnen denken, wie mir dieſes durchs Herz gieng, da der
Herr Sohn zu dieſem anſcheinenden Lobe nicht gelangt
ſeyn kann, ohne ſich ſehr verrathen zu haben. Es iſt
mir lieb, daß er alles ſieht und weiß; aber es iſt mir
nicht lieb, daß er ſich damit ein ſo fruͤhzeitiges Lob er-
worben hat. Glauben Sie mir gewiß, der Fuͤrſt wird
ihm desfalls nie trauen, und er wird kuͤnftig weit weni-
ger ſehen und erfahren, als wenn er nichts zu ſehen ſchie-
ne; wenn ſein gutes Herz nicht noch etwas wieder gut
machte, ſo wuͤrde man ihn wohl gar fliehen. Aber wie
lange haͤlt ein gutes Herz gegen die Verſuchung Verſtand
zu zeigen? Wie kann man ſeinen Verſtand beſſer zeigen,
als durch Scharſſichtigkeit? Und was theilet man groß-
muͤthiger mit, als das Vergnuͤgen, was uns dieſe ver-
ſchaft?
O
[87]Der Herr Sohn iſt ſchlau.
O meine theureſte Freundin! ſorgen Sie fuͤr den
jungen liebenswuͤrdigen Mann, der Jhnen und uns allen
die vollkommenſte Freude machen wird, wenn er ſich ein
redliches Ziel ſteckt, mit unwankelbarem Schritt auf daſ-
ſelbe zugeht, und alles was er mit ſeinen Falkenaugen
ſucht, ſich im ſtillen zu Nutze macht. Stellen Sie ihm
die Gefahr vor, worin er ſich dadurch ſetzt, daß er der
ſcharfſichtigſte und ſchlaueſte Mann ſcheinen will; und
rathen ihm redlich und vorſichtig zu ſeyn. Von Jhnen
wird er dieſen muͤtterlichen Rath wohl nehmen, und wenn
er es mit der Ehrlichkeit nur einige Jahre verſucht hat,
vollkommen uͤberzeugt werden, daß keine groͤßere Politik
ſey. Jch habe in meinem Leben keine andre Maxime be-
folgt, als zuerſt zu unterſuchen, ob dasjenige was andre
fuͤr mich thun ſollten, auch ihr wahrer Vortheil ſey, und
wenn ich ſie davon uͤberzeugen konnte: ſo hatte ich auch
zugleich den meinigen. Dieſes iſt der natuͤrliche Gang
der Redlichkeit, und wer ſeinen Vortheil mit andern
Schaden ſucht, wird fruͤh oder ſpaͤt dafuͤr beſtraft, er
mag auch noch ſo viel Klugheit dabey gebraucht und den
vollkommenſten Sieg davon getragen haben. Jch bin
wie Sie wiſſen ꝛc.
F 4XXI.
[88]Was iſt nicht alles
XXI.
Was iſt nicht alles wofuͤr Dauk gefor-
dert wud?
Eine Anecdote von Abdera.
Zu Abdera, einer jetzt nicht unbekannten Stadt, be-
fand ſich ein Glockenſpiel, und zugleich ein Muſi-
cus, der nicht vertragen konnte, daß es im geringſten
falſchſchlug. Er hatte es ſich daher ſeit langer Zeit zu einem
Geſchaͤft gemacht, ſo oft das Glockenſpiel verſtimmt war,
auf den Thurm zu ſteigen und die Harmonie wieder her-
zuſtellen. Und jeder Einwohner machte ſich ein Vergnuͤ-
gen daraus ihm ſofort Nachricht zu bringen, wenn ein
Ton anfieng nachzugeben, da er denn niemals ermangelte,
dem Ueberbringer fuͤr dieſe Nachricht ſeinen waͤrmſten
Dank zu erſtatten. Jndeſſen genoß er doch von dem
Klange des Glockenſpiels nichts mehr als jeder andrer
Buͤrger, und er hatte auch weiter keinen Beruf ſich
der Harmonie anzunehmen, als ſeine eigne Liebe zu
derſelben.
Nun begab es ſich daß das Gewitter in den Kirch-
thurm ſchlug, und der Schwefeldampf unter den Schin-
deln hervor brach. Sogleich lief jedermann zu dem Mu-
ſicus, und ſagte ihm, ſein liebes Glockenſpiel ſtuͤnde in
der groͤßten Gefahr zu verbrennen. Er ohne ſich lange
zu beſinnen, lief ſtracks die Stiegen hinauf, und fand
zum Gluͤck, daß der Blitz nicht gezuͤndet und ſein Glocken-
ſpiel gar nicht beſchaͤdiget habe. So bald aber vernah-
men die unten verſammleten Abderiten dieſes nicht: ſo re-
deten
[89]wofuͤr Dank gefordert wird?
deten ſie ihn mit dankbegierigen Augen an. Nun haben
wirs nicht recht gut gemacht, daß wir ihnen gleich Nach-
richt gegeben haben? — Allerdings, ich danke euch tau-
ſendmal — ich hielt ihnen meinen Eymer ſchon bereit,
ſetzte die Frau Oberkirchenvorſteherinn mit einer zaͤrtli-
chen Mine hinzu, — ich danke auch unterthaͤnig —
Und mein Brunn war zu ihren Dienſten, bewillkommete
ihn der Herr Oberkirchenvorſteher — Gott Lohn es,
Gott Lohn es tauſendmal, rief der arme Muſicus, und
biß die Zaͤhne zuſammen, uͤber die wunderbare Dankſucht
der Leute, welche anſtatt ihm fuͤr ſeine Entſchloſſenheit,
womit er Stadt und Kirche zu retten geſucht hatte, zu
danken, noch Dank dafuͤr einſammlen wollten, daß
ſie ihm von ihrer eignen Gefahr Nachricht gegeben, und
zu ihrer Rettung das Waſſer angeboten hatten.
XXII.
An einen jungen Dichter.
O! Jhre Lieder ſind ſchoͤn, mein Freund, und be-
zaubernd, wenn Sie wollen. Aber darf ich nun
auch wohl fragen, wozu es eigentlich dienen ſollte die
Reitzungen der Liebe noch reitzender zu mahlen, und den
Geſchmack fuͤr den Wein noch mehr zu ſchaͤrfen? Haben
Liebe und Wein nicht ſchon ihre natuͤrlichen Reitzungen
fuͤr unſre Beduͤrfniſſe, und iſt es rathſam das Gewicht,
was ſchon auf dieſer Seite den Ausſchlag giebt, noch zu
vermehren?
Ja wenn die Andacht jeden Kuß zur Todſuͤnde ge-
macht haͤtte, wenn das ſchoͤne Geſchlecht ſich weigerte die
Muͤhſeligkeiten und Gefahren des Eheſtandes zu tragen,
F 5oder
[90]An einen jungen Dichter.
oder wenn die Maͤnner ſich in die Einſamkeit begaͤben,
Wein und Liebe floͤhen, oder wenn gar der Staat Ge-
fahr liefe auszuſterben, dann waͤre es freylich Zeit jenen
Gegenſtaͤnden alle nur moͤgliche Reitzungen zu leihen und
in jeden Buſen eine neue Flamme zu ſingen. Aber ſo
geht nur alles darauf hinaus, einem dasjenige was man
ohnehin nur gar zu ſehr ſucht, noch ſuͤßer zu machen, und
den Menſchen immer mehr und mehr von andern Beſchaͤf-
tigungen abzuziehen. Man ſtoͤrt die Oekonomie der Na-
tur, welche die Arbeit ſauer, und das Vergnuͤgen ſuͤß
gemacht hat, um die erſten durch das andere zu befoͤr-
dern, nicht aber um ſich dem letztern zu ſehr zu uͤberlaſſen.
Was wuͤrde man ſagen, wenn jemand die Ehre auf
dieſe Art behandelte? wenn man von nichts als von dem
hohen Vergnuͤgen zu gebieten und der Beherrſcher vieler
Tauſenden zu ſeyn, ſaͤnge, und damit den Stolzen nur
noch ſtolzer machte? Und doch iſt die Ehre in unſern
heutigen Verfaſſungen noch faſt das kraͤftigſte Mittel den
Menſchen zu edlen Thaten und kuͤhnen Aufopferungen zu
bringen. Die Ehre hat dabey uͤber die Liebe noch den
Vorzug, daß ſie blos durch edle Handlungen erworben
und erhalten werden kann; man hat einmal die Anlage
ſo gemacht, daß keiner ſich ſolche erwerben kann, ohne
ſich ihrer wuͤrdig zu machen; und der Adel ſelbſt fuͤhlt
die Pflicht, ſeine angebohrnen Rechte durch neue Ver-
dienſte aufrecht zu erhalten. Gleichwohl wird von den
Suͤſſigkeiten derſelben nur wenig geſungen, und unſre
mehrſten Dichter ſcheinen ſich eine Freude daraus zu
machen, den Genuß der Ehre ſo viel ſie koͤnnen herab
zu ſetzen.
Keiner ſchildert mehr das Vergnuͤgen viele Reich-
thuͤmer zu beſitzen und ſeine Schaͤtze zu uͤberrechnen. Und
doch ſollte dieſes zu unſern Zeiten, worin man die Ver-
ſchwen-
[91]An einen jungen Dichter.
ſchwendung ſo ſehr liebt, vorzuͤglich reitzend gemahlet
werden. Die Dichter ſollten es ſich zur Hauptpflicht ma-
chen von nichts als dem Gluͤcke zu ſingen, ein großes un-
verſchuldetes Eigenthum zu beſitzen. Aber ſo denken ſie,
zu dieſer unedlen Empfindung ſinkt der Menſch von ſelbſt
herab, und es iſt nicht noͤthig ihm eine edle Huͤlfe zu ge-
ben; gleich als wenn Liebe und Wein minder lockten.
Nur ſelten preiſen ſie noch das Gluͤck eines freyen Man-
nes, der von ſeinem Stammgute weder Zinſen zu zah-
len noch Ritterdienſte zu leiſten hat, was uns Horaz ſo
ſchoͤn beſingt.
Freylich kann es auch die Politik erfordern die Liebe
als das groͤßte Gluͤck zu ſchildern, und der Ehre oder den
Reichthuͤmern nur den unterſten Platz anzuweiſen. Die-
ſes war der Fall der Griechen, welche die Gleichheit un-
ter ihren Buͤrgern erhalten, und ſo wenig die Ehrbe-
gierde als die Sucht nach Reichthuͤmern vermehren, ſon-
dern Helden durch Kraͤnze, von ſchoͤnen Haͤnden gewun-
den, ziehen wollten. Aber was hier der Patriotiſmus
erforderte, das fordert er in unſern Verfaſſungen nicht;
und der Dichter der bey uns von Liebe und Wein ſingt,
arbeitet nicht nach einem ſo großen Ziele. Wenn aber
die Groͤße der Wuͤrkung den Werth der Handlung ent-
ſcheidet: ſo hat die ſeinige bey weitem den Werth nicht,
den ſie bey den Griechen hatte.
Sehen ſie nur einmal ſelbſt den Werth an, welchen
unſre Nation zu ihrer Ehre auf die Gedichte legt, die
Tugend und Religion befoͤrdern. Die Kritik hat es ei-
nigemal gewagt, darin Fehler aufzuſuchen und ſie hat
vielleicht in manchen Stuͤcken Recht gehabt. Allein es
hat ihnen nichts geſchadet; man hat ihren großen Nuz-
zen erkannt, und diejenigen verachtet, welche ſich Muͤhe
gaben, Fehler in den Verzierungen zu finden. Der Nuz-
zen
[92]An einen jungen Dichter.
zen den die Dichtkunſt bringt, und der Vortheil, wel-
chen die menſchliche Gluͤckſeligkeit davon zieht, iſt alſo zu
jederzeit das Maaß geweſen, wonach man ihren Werth
beſtimmet hat, und das Kriegeslied hat bey einer krie-
geriſchen Nation ſo viel gegolten als ein Liebeslied, wie
das letztere noch dazu diente, Helden zu erwecken.
Jch erinnere mich hier eines jungen Neubauers, der
ein Mohr abtrocknete, und eine Menge von alten Wur-
zeln im Schweiße ſeines Angeſichts ausrodete. Schon
oft war er in der Verſuchung geweſen, dem Heer ſeines
Koͤnigs zu folgen, und dieſe ſeine Unternehmung zu ver-
laſſen. Ermuͤdet von der Arbeit ſaß er manchen Abend
auf der ausgerodeten Wurzel eines alten Eichenſtammes,
auf ſeinen Spaden gelehnt, und dachte uͤber ſein Schick-
ſal. Aber wenn er nun zu Hauſe kam: ſo fand er ſein
gutes Weib, welche ihn mit offenen Armen, und an ei-
nem wohlbereiteten Tiſche erwartete. Sie brachte ihm
friſches Waſſer zum waſchen, ſetzte ihm den Stuhl,
reichte ihm ſeinen Becher, und legte ihm den beſten Biſ-
ſen vor. Dann laͤchelte ihm ſein Erſtgebohrner Wonne
in die Seele, und er ſegnete ihn und ſein Weib, die ihn
ſo gluͤcklich machten. Jede Muͤhſeligkeit des Tages ver-
lohr ſich bey dieſem ſuͤßen Genuß, und er eilte des an-
dern Morgens mit neuem Muthe zur Arbeit, um ſich
wiederum einen ſolchen Abend zu verſchaffen. Mit Ent-
zuͤcken uͤberſahe er dann, ſo oft er ausruhete den Platz,
welchen er bereits gewonnen und urbar gemacht hatte,
uͤberſchlug die Frucht, die er darauf ziehen wuͤrde, waͤhlte
den Platz wo ſeines Weibes Leibzucht ſtehen ſollte, maß
mit ſeinen Augen den Garten den er dazu nach der Mit-
tagsſeite beſtimmete, grub den Graben um ihre Wieſe
tiefer aus, und hofte er wuͤrde auch Fiſche halten koͤn-
nen. Und das immer mit Erinnerung der Freude, die
er
[93]An einen jungen Dichter.
er ſeinem guten Weibe, und ihren Kindern verſchaffen
wuͤrde.
Wenn ich mir eine ganze Colonie von Neubauern auf
dieſe Art gedenke: ſo wuͤrde ich ihr einen Dichter wuͤn-
ſchen, der das Gluͤck von einem ſolchen Weibe empfan-
gen, geliebt und erquickt zu werden, mit allen Reitzun-
gen mahlte, und dadurch nicht allein die Maͤnner zum
fernern Ausroden ermunterte, ſondern ihnen auch ihre
Belohnung fuͤhlbarer machte. Allein die Reitzungen der
Liebe und des Weins fuͤr ein verwoͤhntes Volk zu ſingen,
iſt ganz etwas anders. Der ſanfteſte Trieb, den Gott dem
Menſchen gab, wird dadurch abgewuͤrdiget, daß man
ihn zu mindern und unedlen Zwecken braucht; und der
Dichter der dieſes thut, kann das Lob uud den Beyfall
nicht fordern, den er ſich auf die Rechnung ſeiner gluͤck-
lichen Erfindungen und Wendungen ver pricht. Jch ziehe
ihn warlich die alten Reim-Chronicken vor, die zu mei-
ner Zeit, wo man nicht gewohnt war alles zu Buche zu
ſetzen, edle Thaten im Gedaͤchtniß zu erhalten ſuchten.
Jhr Zweck war wenigſtens groͤßer. Man lernt aus ih-
nen, und vergißt daruͤber den Mangel des dichteriſchen
Schmucks.
XXIII.
Der Autor am Hofe.
Schreiben einer Hofdame.
Heute koͤnnte ich Jhnen einmal recht viel ſchreiben,
Obrera iſt bey Capitain Cook, und wir Hofdamen
ſind in Gnaden zu Hauſe gelaſſen. Allein zur Aſſenblee-
zeit
[94]Der Autor am Hofe.
zeit zu ſchreiben, das iſt doch ſo wunderlich; ich habe
noch einen Beſuch abzuſtatten, den ich ſeit Jahr und Tag
ſchuldig bin; vielleicht gehe ich — Wie manche gute
Handlung geſchieht nicht aus Langerweile! o wenn es doch
die Leute nur wuͤßten!
Aber wo war ich? ich glaube, meine Liebe, ich wollte
Jhnen ſagen, daß ich recht viel Zeit zum ſchreiben haͤtte,
und doch wohl nichts mehr ſchreiben wuͤrde, als daß Jhr
lieber Carl wohl ſey, dieſes iſt Jhnen doch lieber als ein
Anecdote à la Otaheiti, und allmaͤhlich den Gelehrten
vergeſſe. Aber ich habe ihn auch was Rechts damit ge-
hudelt, daß er ein Buch geſchrieben, und ſich eingebil-
det hat, wir wuͤrden ihm dafuͤr einen Knicks mehr als
andern machen. Anfangs ſchien er es ſehr uͤbel zu neh-
men, und glaubte, wir waͤren am Hofe noch funfzig
Jahr zuruͤck, weil wir keine gelehrte Zeitungen laͤſen,
und nicht wuͤßten, was die Herrn Gelehrten ſich einan-
der fuͤr ſchoͤne Complimente machten; allein ſeit dem ich
ihm durch meine Cammerjungfer den neuen Orden pour
le merite litteraire, eine Minerve am rothen Baͤndgen
geſchickt habe, hat er nicht das Herz mehr, einen Autor
in meiner Gegenwart zu nennen. Er wird ihn auch nicht
ſo keck aushaͤngen als die Damen den Orden pour la vertu.
Zu Jhrem Troſte kann ich Jhnen auch noch ſagen, daß
der Miniſter ſehr mit ihm zufrieden ſey, ob er gleich zu
Zeiten uͤber die Einbildung des jungen Autors laͤchelt, und
ihn, wenn dieſe zu ſehr bey der allgemeinen Gleichguͤltig-
keit des Hofes gegen die Werke ſeiner Helden leidet,
ſcherzweiſe damit troͤſtet, daß keiner mehr Verdienſte um
das menſchliche Geſchlecht habe, als der Erfinder der
Spielkarten, und keiner auch undankbarer vergeſſen wer-
de als er.
Der
[95]Der Autor am Hofe.
Der Oberſthofemeiſter nimmt ſich ſehr ſeiner an.
Sie kennen den rechtſchaffenen Mann, der alles mit ei-
nem Blick uͤberſieht, gleich den Ton des Tages ſtimmt,
und ſo wie er nur der Fuͤrſtinn ihren kleinen Finger ge-
ſehen hat, den Augenblick weiß, was und wie ſie es ha-
ben will. Carl bewunderte ihn ſchoͤn, und dieſes iſt der
erſte Schritt zur Nachahmung. Nur glaube ich nicht,
daß die Leute, welche Buͤcher geſchrieben haben, es je-
mals in der Kunſt der Aufmerkſamkeit denjenigen gleich
thun werden, die ſich gewoͤhnt haben alles mit einem
natuͤrlichen Auge zu betrachten, und dem erſten Urtheil
ihrer Sinne zu folgen. Der Fuͤrſt ſagte einmal bey der
Tafel, ein General koͤnne wohl ein vortrefliches Buch
ſchreiben, aber ein Buͤcherſchreiber kein General werden,
und das glaube ich uͤberhaupt wahr zu ſeyn; unſer Hof-
jude ſoll in Geſchaͤften zehnmal brauchbarer ſeyn als die
Profeſſoren zu .... die jedoch auch in ihrer Stelle tau-
ſendmal beſſer ſeyn moͤgen als der Jude; jedes Ding an
ſeinem Orte ....
Jch hatte geſtern hier abgebrochen, weil mir bey
dem langen Schreiben der Kopf kraus geworden war.
Heute hat mich Carl mit einem Buͤchlein beſchenkt, was
der Muſen-Almanach heißt und mir bey der Toilette
daraus vorgeleſen. Die Wiſſenſchaften als Spielwerk be-
trachtet mag er am Hofe immer lieben. Verſchiedene
Dinge aus dem Almanach haben mich wuͤrklich amuſirt;
und Carl war außer ſich, als ich eins lobte, was er, wie
er mir hernach ſagte, ſelbſt gemacht hatte. Nun, ſagte
er, iſt es nicht ſchoͤn, etwas zu ſchreiben, wenn man ſo
viel damit gewinnen kann? Sie ſehen hieraus, liebſte
Freundinn! daß Jhr guter Carl ſich nicht ganz verſtudirt
hat. Magſt immer ſchreiben, Vetter, war meine Ant-
wort, es wird dich vielleicht ans Toilet aber nicht ins
Cabi-
[96]Der Autor am Hofe.
Cabinet bringen. Er kuͤßte mir die Hand und lief fort,
aber auch aus dem Ausdrucke ſeines Kuſſes konnte ich
ſchließen, daß er ein Buch geſchrieben hatte, ſo ſehr ver-
tiefte er ſich darinn.
Nun muß ich ſchließen; doch noch eins, ich habe
vor einigen Tagen mit dem Canzler geſprochen, und ihn
gefragt, wie ihm Carl gefiele. Recht gut, antwortete
er mir, aber es geht ihm wie dem Schreibmeiſter, der
insgemein kein guter Copiſt iſt. Die jungen Genies wiſ-
ſen die gemeinſten Sachen nicht anzugreifen, ſie ſind all-
umfaſſend und allzugewaltig, beſitzen Horn und Stoß-
kraft, wollen die Natur gebaͤhren helfen, und koͤnnen
kein Protocoll faſſen. — Aber ſtoͤren Sie ſich daran
nicht, der alte Canzler iſt bisweilen graͤmlich, und Carl
noch jung genug, um ſeine Horn und Stoßkraft brauch-
bar zu machen; ſeine gute Mine wird ihm ſo lange Cre-
dit verſchaffen, bis er bezahlen kann, und wer weiß ob
er dann nicht auch noch einmal Canzler wird? Es iſt doch
immer gut, wenn man das Tanzen gelernt hat, aber
traurig Zeit Lebens Tanzmeiſter zu bleiben. An meinen
Ermahnungen ſoll es nicht fehlen, und wenn er mir noch
einmal die Hand ſo zaͤrtlich kuͤßt, werde ich ihn auf den
Backen klopfen. Leben Sie wohl und umarmen meinen
kleinen Pagen, der vielleicht ein beſſerer Hofmann wer-
den wird als ſein Bruder. ꝛc.
XXIV.
[97]
XXIV.
Eine Scene aus dem Luſtſpiele der
Sollicitant.
Ha! guten Morgen mein wuͤrdiger lieber Ariſt!
Guten Morgen.
Wie die heilig-
ſten Ausdruͤcke gemißbraucht werden!
Da ich eben ſo vorbey gieng, wollt ich doch
einmal ſehen wie ſie ſich und ihre liebe Frau befaͤnden.
Nun das machen Sie ja gut.
Mein
guter Kerl das iſt ſicher die Urſache deines Beſuchs nicht.
Sie ſind doch geſtern in der Comoͤdie gewe-
ſen? es war ein ſchoͤn Stuͤck.
Ja! Ja!
Armer Tropf, was du
vor Umwege nimmſt!
Auch war das Nachſtuͤck allerliebſt.
So?
Mich ſoll doch verlangen
wenn du zur Sache kommen willſt?
Was werden Sie denn heute bey dem ſchoͤ-
nen Wetter anfangen? fahren Sie mit ihrer Frau nicht
ein bisgen ſpatzieren zu ihren geliebten Freunden nach
Holzhauſen oder Burghauſen, die ſo ſehnlich nach ihnen
verlangen?
Vielleicht; ich erwarte noch erſt die Poſt.
ſich)
Er lenkt ein.
Sind ſie auch kuͤrzlich zu Freyenwald geweſen?
So ganz kuͤrzlich nicht.
Er koͤmmt
etwas naͤher.
Apropos! ich haͤtte wohl eine recht große Bitte
an Sie, aber Sie muͤſſen mir erſt ſagen, daß ſie mir die-
ſelbe nicht abſchlagen wollen.
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. GAriſt.
[98]Eine Scene aus dem Luſtſpiele
Jch daͤchte es waͤre beſſer, Sie ließen mir erſt
die Bitte wiſſen.
Der Kutſcher faͤhrt zu.
Wenn Sie einmal nach Brieſenitz fahren: ſo
laſſen Sie mich mit von der Geſellſchaft ſeyn, ich moͤchte
gern dort Bekanntſchaft haben.
Ganz gern.
Nun wirds kommen.
Es ſoll dort ſehr angenehm, und der Herr
des Hauſes ein uͤberaus gefaͤlliger Wirth ſeyn.
So daß ihn keiner hier im Lande uͤbergeht.
Wie der Kerl mich blind fuͤhren will!
Wie waͤre es, wenn wir heute hinaus fuͤh-
ren, das Wetter iſt ſo ſchoͤn und moͤchte ſich aͤndern?
Jch will Jhnen ſo bald die Poſt gekommen
ſeyn wird, Antwort ſagen laſſen.
Nun fliegt
die Kugel bald zum Ziel.
Der Miniſter von … iſt vielleicht auch da.
So?
Endlich kommt der Fuchs zum
Loche heraus. Das war alſo das ungefehre Vorbeyge-
hen, die Comoͤdie, das Nachſpiel, das ſchoͤne Wetter, die
Luſtfahrt ....
Ja! er hat die Pferde ſchon beſtellen laſſen.
Dann gehe ich heute gewiß nicht hin.
Eben war es noch ein vielleicht; nun ſind die Pferde ſchon
beſtellt. Dumme Liſten!
Aber warum nicht?
Weil ich auf dem Lande nicht gern in Staats-
geſellſchaften bin.
O! einem Freunde zu gefallen koͤnnen Sie
wohl einmal etwas von ihrer Bequemlichkeit ablaſſen;
ich habe den Miniſter nothwendig zu ſprechen.
Wenn das iſt.
Sieh doch; der Geck
bezieht ſich auf meine Freundſchaft in dem Augenblick da
er mich zum Beſten hat.
Eraſt.
[99]der Sollicitant.
Der Cammerrath Patz iſt dieſe Nacht von
einer ſchweren Krankheit befallen.
Der Cammerrath Patz?
Nun ſehe
mir einer die Winkelzuͤge an! der Cammerrath iſt dieſe
Nacht krank geworden, und der Mann, der ſeine Stelle
wieder haben will, koͤmmt dieſen Morgen von ungefehr
zu mir, um einmal zu ſehen wie ich mich befinde!
Ja und der Arzt hat mir im Vertrauen ge-
ſagt, daß er bey ſeinem hohen Alter nicht wieder auf-
kommen werde.
Es war ein wuͤrdiger braver Mann und mein
Freund, den der Fuͤrſt ſehr ungern verlieren und lange
miſſen wird.
Und ſeine Stelle iſt es, wozu ich mich dem
Miniſter gern empfehlen und von ihnen empfohlen ſehen
moͤchte.
Von mir? wahrhaftig nicht. Sie kennen
meine Art zu denken, und wiſſen, wie ſehr ich die Offen-
herzigkeit liebe. Haͤtten ſie mir gleich geſagt, daß dieſes
die Abſicht ihres heutigen Beſuchs waͤre: ſo wuͤrde ich
ſie ſo fort heraus begleitet, und mein Beſtes fuͤr ſie ge-
than haben, aber ſo nicht.
Aber ſo nicht? Das iſt freylich ſehr offenher-
zig aber auch nicht ein bisgen freundſchaftlich.
Wer mein Freund ſeyn will, muß wahr ſeyn,
und Wahrheit vertragen koͤnnen.
Gut, mein Freund! ſie ſind offenherzig, ich
auch. Jch wollte ſie mit meinem Anliegen nicht uͤberra-
ſchen, ich ließ ihnen Zeit einige Vermuthungen uͤber mei-
nen unvermutheten Beſuch anzuſtellen, ſie konnten ſich
auf etwas gefaßt machen, und wenn es noͤthig war, ſich
erſt in Laune ſetzen; iſt dieſes denn ſo ganz uͤberfluͤßig?
und wuͤrde es ihnen nicht vielleicht einiges Schrecken ver-
G 2urſachet
[100]Eine Scene aus dem Luſtſpiele ꝛc.
urſachet haben, wenn ich ihnen mit der Krankheit des
Cammerraths und meinem Anliegen ſo gerade auf den
Leib gerennet waͤre? und ſind nicht gewiſſe Eingaͤnge von
Wind und Wetter, ſo abgedroſchen ſie auch immer ſeyn
moͤgen, immer noch die ſchicklichſten? Empfehlen ſie ſich
nicht eben dadurch, daß ſie nichts bedeuten? Und zeigt
nicht ihr oͤfterer Gebrauch von einer allgemein erkannten
Nothwendigkeit? Mir kommen ſie gerade ſo vor, wie
alle andere Eingaͤnge, womit der Redner die Zeit ver-
weilet, bis die Zuhoͤrer ſich geraͤuſpert oder verpauſtet
und die Ohren geſpitzt haben.
Was es doch nicht fuͤr Entſchuldigungen in
der Welt giebt? Aber womit beweiſen ſie, lieber Eraſt!
daß ſie bey dieſen ihren Entſchuldigungen aufrichtiger
ſind, wie bey ihren vorigen Complimenten? Sie haben
mir ſelbſt den Beweis in die Haͤnde geliefert, daß ſie mit
Umſchweifen umgehen; koͤnnte dieſe ihre Entſchuldigung
nicht eine neue Wendung ſeyn mich herumzufuͤhren?
Ganz richtig, die Vermuthung iſt wider mich,
Worte ſind keine Beweiſe, und Thaten habe ich nicht zu
geben. Aber beurtheilen ſie mich nach meinem Jntereſſe,
und halten mich fuͤr ſo aufrichtig, wie es dieſes geſtattet.
Nun das heiße ich, rein von der Leber ge-
ſprochen; ſo kenne ich die Menſchen, und wenn Sie wol-
len: ſo fahre ich gleich mit Jhnen zu dem Miniſter.
XXV.
[101]
XXV.
Jch an meinen Freund.
Ey ſo laſſen Sie ſich doch nicht irre machen, Edler
Mann! der General fragte den Hauptmann ganz
freundlich, was ſoll ich thun? dieſer erwiederte ohne
langes Bedenken: ich wuͤrde das thun; und hierauf er-
folgte von jenem die unerwartete Antwort: ich frage nicht
was ſie thun wuͤrden, ſondern was ich thun ſoll? So
liegt die Sache, und das Unrecht iſt auf der Seite des
Generals ſo klar, daß Sie darum nicht noͤthig haben,
ihre Ausdruͤcke kuͤnftig noch mehr auf die Wage zu legen.
Es giebt hundert Menſchen gegen einen, denen es ge-
woͤhnlich iſt mit einem: ich wuͤrde das thun oder das ge-
than haben, zu antworten, ohne daß von dieſen hunder-
ten auch nur fuͤnf daran denken ſollten, ſich andern zum
Muſter zu ſetzen.
Zwar giebt es auch Menſchen die mit ihrem Jch bis
zum Eckel hervortreten, aber mehr aus einer uͤblen Ge-
wohnheit als einer zu großen Eigenliebe. Denn oft heißt
es: ich hatte auch einmal Krehenaugen, ich hatte auch
einmal einen hohlen Zahn, und neulich hoͤrte ich ſo gar
ein junges Maͤdgen von zehn Jahren ſagen: wir hatten
auch einmal Gaͤnſe. Hier muͤßte aber die Eigenliebe ſehr
entfernt wuͤrken, wenn ſie und nicht die Gewohnheit,
oder die Kuͤrze des Ausdrucks ihr Jch zum Helden in der
Geſchichte vom hohlen Zahn machte.
Und doch iſt mir dieſes Jch, wenn es aus Unſchuld
oder Unachtſamkeit gebraucht wird, weit ertraͤglicher,
als die Kunſt, womit man es zu verbergen pflegt. Aber
leider uͤbertreiben wir alles und unſre heutige Zaͤrtlichkeit
G 3geht
[102]Jch an meinen Freund.
geht ſo weit, daß keiner es faſt wagt von ſich zu ſprechen.
Jch habe einen Freund der viel gereiſet iſt, und vieles
erzaͤhlen koͤnnte; ich habe einen andern, der lange im
Kriege gedient und manche gute Bemerkung gemacht hat,
aber beyde ſprechen tauſendmal lieber von Dingen die ſie
nicht verſtehen, als von den Begebenheiten die ſie mit
angeſehn, und woran ſie Antheil genommen haben, um
den Vorwurf zu vermeiden, daß ſie gern von ſich ſelbſt
redeten.
Dieſe uͤbertriebene Vorſicht bringt aber die mehrſten
Geſellſchaften um ihre beſte Nahrung, und da es ebenfalls
aus einer zu großen Delicateſſe, ſo fort Mediſance heißt,
wenn man uͤber ſeines Naͤchſten Fehler urtheilet, ſo bleibt
zuletzt gar nichts uͤbrig, als das Spiel, um das große
Leere auszufuͤllen. Anfangs hat man freylich um den
Prahlern, Windmachern und Verlaͤumdern das Feld en-
ger zu machen, ſich auf die ſtrengſte Seite wenden muͤſ-
ſen. Aber endlich ſollte man doch auf den guͤldnen Mit-
telweg zuruͤcktreten, und dem Deutſchen zutrauen, daß
er nicht gleich prahlen oder mediſiren wolle, wenn er von
ſich und andern ſpricht. Wir werden ſonſt leicht alle Auf-
richtigkeit verbannen, und die Thorheiten der Menſchen
auf gefaͤhrliche Schleichwege fuͤhren. So geht zum Bey-
ſpiele jetzt jede uͤble Nachrede von Hand zu Hand und thut
tauſendmal mehr Schaden, als wenn man ſich oͤffentlich
von einem Fehler ſeines Naͤchſten unterhielte. Hier tritt,
wann es noͤthig iſt, noch mancher Vertheidiger der Un-
ſchuld auf, und jeder huͤte ſich etwas gegen die Wahr-
heit hinzuzuſetzen, anſtatt daß die Blindſchleichen ſich los-
ſagen, wenn es zur Unterſuchung kommt, und denjeni-
gen darauf ſitzen laſſen, der es einmal gewagt hat, ihre
Boßheit zu offenbaren.
Jch
[103]Der Wirth muß vorauf.
Jch werde mich wenigſtens an dieſe Mode nicht keh-
ren, und noch weniger meine Eigenliebe aus Eigenliebe
zu verbergen ſuchen. Vernunft gehoͤrt freylich mit da-
zu, aber wem dieſe fehlt, der thut am beſten ganz zu
ſchweigen. ꝛc.
XXVI.
Der Wirth muß vorauf.
Von einer Landwirthinn.
Sie wundern ſich, daß meine Leute noch keinen Coffee
trinken und uͤberhaupt ſo ordentlich ſind? O! mein
liebes Kind, ich kann was ich will, und der Henker ſollte
mir den Dienſtboten holen, der mir ein einziges Mal uͤber
die Schnur hiebe. Ordnung im Haushalt iſt keine Hexe-
rey, und ich habe ein ſo ſicheres Mittel meine Leute vom
Coffee abzuhalten, daß ich alles in der Welt darauf wet-
ten will, ſie trinken ihn nicht. Das ſchnackigtſte aber
iſt, daß ich dieſes Mittel von meiner Viehmagd gelernt
habe. Dieſe wollte, wie ich meinen Mann geheyrathet
hatte, und wir unſre Pachtung antraten, nicht fruͤh ge-
nug aufſtehen, und wie ich ſie daruͤber zur Rede ſtellete,
gab ſie mir zur Antwort: By Us moet der Werth vorup.
Dies ſchallere mir durch die Ohren, und auf einmal er-
leuchtet fuͤhlte ich die ganze Wahrheit, daß alles in der
Haushaltung durch einen guten Vorgang gezwungen
werden muͤſſe, und daß es eine Thorheit ſey, ſich um
acht Uhr aus dem Bette zum Coffee wecken zu laſſen, und
von dem Geſinde zu fordern, daß es um drey Uhr an der
G 4Arbeit
[104]Der Wirth muß vorauf.
Arbeit ſeyn, und ſich nicht auch eine verſtohlne Freude
machen ſollte. Wie es des andern Morgens drey ſchlug,
ſagte ich daher zu meinem Mann: Der Wirth muß vor-
auf, und ſo wie er dieſes einigemal gethan hatte, war
alles Gefinde ſo geſchwind bey der Hand, daß ich ſeit der
Zeit nicht noͤthig gehabt habe, ein einziges Mal mit der
Viehmagd uͤber ihren langen Schlaf zu ſchmaͤhlen. An-
fangs fiel es uns etwas hart, ſo fruͤh die warmen Fe-
dern zu verlaſſen. Wie wir es aber erſt eine Zeit lang
gethan hatten, war es uns nicht moͤglich lange uͤber die
gewohnte Zeit darinn zu verweilen, und wenn ein Feyer-
tag uns eine Stunde ſpaͤter aufforderte: ſo waren wir
doch zu rechter Zeit munter und feyerten nicht in ſuͤßen
Umarmungen. Jeder Feyertag war uns dann doppelt
willkommen, und wir freueten uns oft ſeines Anbruchs.
Nun mein Schatz, weißt du mein ganzes Geheim-
niß, und wenn du daßelbe wohl anwendeſt: ſo wirſt du
nicht noͤthig haben dich uͤber Unordnung im Haushalt zu
beſchweren. Andern zu befehlen und Vorſchriften zu
geben iſt keine Kunſt; man muß vorauf gehn, wenn man
gefolgt ſeyn will, auf die Breſche wie auf die Droͤſche,
und der Soldat lacht uͤber den Hauptmann, der ihm
hinterm Eichbaume befehlen will, als ein braver Kerl
die Sturmleiter hinauf zu klettern. So handeln aber
unſre mehrſten Haushalter; ſie ſelbſt wollen ſchlafen, Cof-
fee trinken, und hinterm Ofen ſitzen; das Geſinde aber
ſoll ſich quaͤlen und ſchlecht behelfen. Das geht nicht,
und wird in Ewigkeit nicht gehen, der Wirth muß vor-
auf. Naͤchſtens ein mehrers und damit Gott befohlen.
XXVII.
[105]
XXVII.
Klage uͤber den Buchſtaben R. von
meinem himmelblauen Maͤdgen.
Onennen Sie mich nie wieder Jhre zaͤrtliche Freun-
dinn. Die beyden R in dieſen Woͤrtern kratzen mir
durch die Seele, und es iſt ſicher ein Barbar geweſen,
der die ſanften Jdeen von Zaͤrtlichkeit und Freundſchaft
mit einem Buchſtaben zerſtoͤret hat, der einzig und allein
fuͤr das rauhe, harſche, harte und grauſame gemacht iſt.
Wie ſanft klingt dagegen das mio Bene! mio unico Bene!
wie lieblich iſt ſein Ton und wie fein geht er durch die
Seele! O mon doux ami, wenn ich Sie lieben ſoll, ſo
muͤſſen ſie meine liebesſieche Empfindung nie mit ſolchen
rauhen Toͤnen erſchrecken; ſie ſind mir in dem Augen-
blicke, da ſo alles ganz an mir ſchmelzt, unausſtehlich,
und ich wuͤrde nie einen Deutſchen geliebt haben, wenn
er nicht in dem Worte lieben alles was ein Ton weiches
und ſanftes haben kann, vereiniget haͤtte. Jn demſel-
ben glaͤnzt Jhre liebevolle Seele durch ein feuchtes Auge,
und gleitet mit Sehnen in die meinige.
Jch habe mich ſchon bey vielen Gelehrten erkundiget,
wer zuerſt die beyden Woͤrter zaͤrtliche Freundinn aufge-
bracht haͤtte. Aber Niemand hat mir dieſen Barbarn
nennen koͤnnen; das weibliche Weib *) die Winsbeckin
brauchte das letztere ſchon. Wahrſcheinlich ruͤhrt es von
G 5den
[106]Klage uͤber den Buchſtaben R.
den Slavaken in Oberſachſen her, die a Sigh ein Suͤch-
ten, wie die guten Weſtfaͤlinger ſagen, in einen Seuf-
zer verwandeln, und entweder in Doppellauten krei-
ſchen, oder jedes ſanfte Gefuͤhl durch ziſchen und hau-
chen verſcheuchen. Jhre Worte ſtrudeln wo ſie nur flieſ-
ſen ſollten, und die ſanftern Gefuͤhle erſterben unter dem
eckigten Ausdrucke.
Jn ſtillen Empfindungen dahin fließend, gleite ich
oft uͤber ein Veilgen und benetze es mit einer ungeſehe-
nen Thraͤne, daß unſre Woͤrter ſo wenig zur Sache ge-
ſtimmt ſind. Wenn der Jtaliaͤner ſagt
Qui ci vivea di ſpemeQui ci languiva inſieme.
ſo fuͤhlt man gleich aus dem Mangel des R, daß hier
eine weiche Empfindung ausgedruckt ſey; aber bey den
Deutſchen iſt ein feines Ohr zu ſelten, und die Phyſio-
nomie ihrer Woͤrter ſo dunkel, daß Lavater Muͤhe ha-
ben wird, die Regeln davon anzugeben. Ein Jtaliaͤner
empfaͤngt von einem Worte ſeiner Geliebten mehr Wonne,
als der Deutſche von ihrem ganzen Herzen. Jenes ath-
met ihm ſchon den ſuͤßeſten Genuß zu, wann dieſes un-
ter dem dickborkigten Ausdrucke unerkannt zerſpringt.
Ueberlegen Sie es doch lieber Meiner, ob Sie nicht
unſre Sprache auch ein wenig dahin ſtimmen koͤnnen.
Fuͤr empfindſame Herzen gehoͤrt auch empfindſame Spra-
che, und ich will lieber vor ihrem Bilde knien und aus
deſſen Zuͤgen Leben ſchoͤpfen, als Sie vor mir knien ſe-
hen, wenn Sie mich nicht anders als Jhre zaͤrtliche
Freundinn nennen koͤnnen. Jndeſſen bin ich allezeit gern
ihre gute liebe
Minna
XXVIII.
[107]
XXVIII.
La Prude \& la Coquette zu deutſch.
Es ſind viele der Meinung, daß man den Sinn dieſer
beyden Woͤrter im Deutſchen nicht ausdruͤcken koͤnne.
Mir ſcheint abrr doch Tugendſtolz den Begrif der Prude-
rie voͤllig zu erſchoͤpfen.
Der Ahnenſtolz bezeichnet einmal den Mann ohne
Verdienſte, der ſich lediglich auf ſeine hohe Geburt etwas
zu gute thut; er kann aber auch von einem Manne ge-
braucht werden, der alle Verdienſte hat, jedoch dieſe als
ausſchliesliche Eigenſchaften ſeines Standes anſieht, und
darauf ſtolz iſt. Eben dieſes trift auch bey dem Tugend-
ſtolze zu, den eine wuͤrklich tugendhafte Perſon, und auch
eine von ſchlechterm innern Werthe haben kann; und
dieſe Doppelſinnigkeit entſpricht der franzoͤſiſchen Bedeu-
tung voͤllig.
Mit der Coquetterie ſcheinet es etwas ſchwerer zu
fallen. Dieſes Wort bedeutete zuerſt nach dem Mena-
ge*) die Handlung des verliebten Hahnen, wenn er um
das Huhn hoch einher geht, und ihm ſeine Neigung zu
erkennen giebt; hernach ward es auch von dem Huhne
gebraucht, was ſeinen guten Willen gegen den Hahnen
zu zeigen bemuͤhet iſt; (des Poules qui ſe panardent de-
vant le coq) und erſt ſehr ſpaͤt haben es die Franzoſen
in der figuͤrlichen Bedeutung von den Menſchen gebraucht,
die auf aͤhnliche Art entweder das Huhn oder den Hah-
nen ſpielen. Die Mademoiſelle Scudery*) bezeugt, daß
es
[108]La Prude \& la Coquette zu deutſch.
es ein neues Wort ſey, was zur Zeit der Catherine von
Medicis zuerſt gebraucht worden. Vorher gehoͤrte jene
Art zu handlen, die einige boͤſe Leute ſchon an der Eve
im Paradieſe in ihrem Betragen gegen die Schlange be-
merkt haben wollen, unter die namenloſen Arten von
Thorheiten, deren es viele im menſchlichen Leben giebet,
ohne daß ſie noch ein Moraliſt mit einem eigentlichen Na-
men bezeichnet hat.
Wenn man nun dieſes Wort nach ſeinem Urſprunge
ins Deutſche uͤberſetzen wollte: ſo wuͤrde man dazu einen
ganz eigentlichen Ausdruck waͤhlen, und etwa Haͤhnern
ſagen muͤſſen; ſo wie man von dem Moſelweine ſagt, er
moſelt, oder vom Knaſter, er knaſtert. Allein dieſes
Wort hat nicht die Mine, daß es ſein Gluͤck machen
werde; ich will alſo eins den Weſtfaͤlingern abborgen,
das uns die Sache wohl auszudrucken ſcheint. Dieſe
ſprechen: es iſt ein faͤngres Maͤdgen, das Maͤdgen hat
faͤngere Augen, oder auch wohl, das Maͤdgen hat ein
Paar Faͤnger im Kopfe die ſich gewaſchen haben. Wie
waͤre es alſo, wenn wir eine Coquette eine Faͤngerin, und
die Coquetterie Faͤngerey nenneten. Der wahre Begrif
einer Coquette iſt doch dieſer, daß ſie immer auf den Fang
ausgeht. Ob im Ernſt oder Scherz das muß zweydeutig
bleiben.
XXIX.
[109]
XXIX.
Alſo ſollte man die Teſtamente auf dem
Siechbette ganz verbieten.
Unſre Vorfahren die alten Deutſchen wußten von kei-
nen Teſtamenten, oder ſolchen Verordnungen, die
erſt durch den Tod bekraͤftiget werden mußten; deſtomehr
aber von Uebergaben bey lebendigem Leibe. Wenn einer
der Wirthſchaft muͤde war, und die damit verknuͤpften
Muͤhſeligkeiten nicht mehr ertragen konnte: ſo uͤbergab
er bey lebendigem Leibe ſein Gut dem Erben, welchen
ihm ſeines Landes Gewohnheit beſtimmte. Wollte er es
einem andern geben: ſo that er es mit Einſtimmung der
Erben, und man findet kein Beyſpiel, daß einer von die-
ſer Regel abgegangen ſey. Auch die Roͤmer wußten zu-
erſt nur von Uebergaben vor dem engern Ausſchuſſe des
Volks oder den fuͤnf Schoͤpfen, und ſie fielen erſt ſpaͤter
darauf, dem Vater die Macht zu geben, den durch die
Gewohnheit beſtimmten Erben zu uͤbergehen.
Jn den Lehn- und Hofrechten waren die Uebergaben
ebenfalls gewoͤhnlich, in jenen ſo lange der Lehnmann
ſich in voller Ruͤſtung von einer ellenhohen Stuffe auf das
Roß ſchwingen, und ſolches vor dem Lehnherrn tummeln
konnte *); in dieſen, vor gehegten Hofe, und ſo lange
der Hofesmann im Stande war, einen Daumendicken
Spahn aus einer Eiche zu hauen. Der Buͤrger mußte
vor dem Rathe erſcheinen **), und dieſer kam ihm nicht
vor
[110]Alſo ſollte man die Teſtamente
vor das Bette, wenn er ſein Gut uͤbergeben oder ein Te-
ſtament machen wollte; der Geiſtliche aber, welcher ſeine
Pfeuͤnde uͤbergeben kann und will, muß noch jetzt ſeine
Uebergabe zwanzig Tage uͤberleben; man konnte von die-
ſem weder Proberitt noch Probehieb fordern. Alle ſchei-
nen darinn uͤbereingeſtimmt zu haben, daß die Verord-
nungen auf dem Siechbette vieler Gefaͤhrde unterworfen
ſeyn, und daß der Augenblick, da einer ſich zum Ueber-
gang in die Ewigkeit bereitet, eben ſo wenig eine ruhige
und bequeme Zeit ſey, ſein Haus zu beſtellen, als der
Augenblick, worinn ein General ſeine Schlachtordnung
macht, die Zeit iſt, den Kuͤchenzettel zu verfertigen. Und
wie oft lernen wir aus den traurigſten Erfahrungen, daß
die Menſchen auf dem Siechbette, im hoͤchſten Grade
ſchwach und ungerecht handeln, und die Entſchließungen
ploͤtzlich verleugnen, die ſie in geſunden Tagen gefaſſet
hatten?
Emilie hatte von einer alten Tante, ihrer Gevat-
terinn, ein ziemliches Vermoͤgen geerbt, und damit fruͤh
einen Mann angelockt, der ihrer gar nicht werth war.
Jhre Mutter und Schweſtern hatten ſie mehrmals vor
ihm gewarnet, und ihn ihr als einen heimlich boͤſen Men-
ſchen beſchrieben, aber ihr gutes Herz, was einmal Ver-
bindungen angenommen hatte, hielt ſich auf ewig und
auch zum Ungluͤck verbunden. Das erſte Jahr ihrer Ehe
gieng ſo hin ohne daß ihr einiges Leid wiederfuhr; ſie
ward ſchwanger und froh ſich ihren Mann durch ein neues
Band zu verbinden. Kaum aber hatte ſie ihren erſten
Sohn gluͤcklich gebohren, und ihren Eheherrn damit ge-
gen den Ruͤckfall ihres Vermoͤgens geſichert: ſo legte die-
ſer die Maske ab, und uͤberließ ſich einer Perſon, die
ihn lange vorher gefeſſelt gehabt hatte. Umſonſt ſuchte
ſie ihn durch alle Arten von Gefaͤlligkeiten wieder an ſich
zu
[111]auf dem Siechbette ganz verbieten.
zu ziehen; es halfen weder haͤusliche Freuden, noch ruͤh-
rende Thraͤnen. Der Undankbare flohe dieſe, und ach-
tete jene nicht. Oft mußte ſie bey ihren großen Einkuͤnf-
ten darben, oder ſich doch das noͤthigſte entziehen, waͤh-
rend der Zeit er mit ſeiner erſten Buhlſchaft davon in
Ueberfluß lebte, oder ihr Geld verſpielte. Er kam bald
in Monaten nicht zu Hauſe, des Sommers war er in
Baͤdern, und des Winters in der Hauptſtadt, wo ſeine
erſte Geliebte wohnte; ſo daß es nicht ſchien, als wenn
er auch nur die geringſte Pflicht gegen die gutherzigſte Frau
zu erfuͤllen haͤtte. Jn dieſen traurigen Umſtaͤnden hatte
ſie ihre juͤngere Schweſter zu ſich genommen, die jede ih-
rer Thraͤnen mit empfand, und jede unangenehme Nach-
richt von dem Undankbaren mit aller Vorſicht zu mildern
ſuchte. Das wenige was ſie hatte, gab ſie mit Freuden
zur Haushaltung her, um ihrer Schweſter Ungemach zu
erleichtern, und ihr die unangenehme Erinnerung zu er-
ſparen, daß ſie bey allem ihrem Vermoͤgen Mangel leiden
mußte. Beyde Schweſtern liebten einander ſo herzlich,
wie Zaͤrtliche und Ungluͤckliche zu thun pflegen; Emilie
welche der Gram ſichtbar verzehrte, wuͤnſchte hundert-
mal ihren Sohn und ihr Vermoͤgen ihrer Schweſter ver-
laſſen, und beydes damit dem kuͤnftigen Untergange ent-
ziehen zu koͤnnen. Aber es war ein eitler Entwurf, der
jedoch bald zum Theil haͤtte erfuͤllet werden koͤnnen, in-
dem ihr der Himmel ihr Kind raubte, und der Schrecken
ſie dem Grabe naͤher brachte. Die Nachricht von die-
ſem Tode und der damit verknuͤpfte Verluſt der Erbſchaft
ruͤhrten aber nicht ſo bald den Vater, als er mit allen
Zeichen einer wahren Betruͤbniß und Reue zu Emilien
kam, ſie mit tauſend verſtelleten Thraͤnen um Vergebung
bat, und um ihre Geſundheit vom Himmel zu erflehen,
vor ihrem Bette kniete. Der Geiſtliche, welcher ſie be-
ſucht
[112]Alſo ſollte man die Teſtamente ꝛc.
ſucht hatte, glaubte ſeine Pflicht zu thun, da er eine
Verſoͤhnung zwiſchen beyden ſtiftete, und die Schweſter,
dieſes großmuͤthige Maͤdgen, nahm ihre Hand, die ſie
nicht zuruͤck zu ziehen vermochte, und legte ſie in die ſei-
nige; der Richter des Orts, welchen der Mann gleich
bey ſeiner Ankunft beſtellet hatte, kam als Nachbar un-
ter dem Schein des Beſuchs, und es fuͤgte ſich alles ſo,
wie es ſich in ſolchen Faͤllen zu fuͤgen pflegt, daß von
Teſtamenten geredet, und ein Teſtament verfertiget wur-
de, worin ſie den Mann zum einzigen Erben einſetzte,
und ihrer Schweſter — einiges Geraͤthe vermachte.
Unſtreitig war die Kranke noch bey gutem Verſtande;
ſie betete jedes Gebet nach was man ihr vorſagte, und
erinnerte ſich aller Perſonen die um ſie waren. Der Rich-
ter ſetzte alſo nicht ganz unrecht in das Teſtament, daß
er ſie bey geſunder Vernunft, obgleich ſchwach am Koͤr-
per vorgefunden haͤtte. Allein wer kann denken daß es
Emiliens freyer und wahrer Entſchluß war, ihre liebſte
Schweſter, die ihr ſo ausnehmende Huͤlfe geleiſtet hatte,
dergeſtalt zu vergeſſen, und einen Mann, der ihr gan-
zes Leben verbittert hatte, zu ihrem gluͤcklichen Erben zu
machen? Jſt da freyer Entſchluß, wo die herannahende
Ewigkeit, die verſoͤhnende Stimme des Geiſtlichen, das
edle Zureden einer Freundinn, ein empfindliches Herz zu-
gleich beſtuͤrmen, wo man von allen abhaͤngt, und von
keinen unterſtuͤtzet wird, wo Wehmuth und unzeitiges
Mitleid allein wuͤrken, wo man keine Reue pruͤfen, und
nichts uͤberdenken kann, wo ein augenblicklicher Eindruck
mehr entſcheidet, als die ernſthafteſte Ueberlegung der
vorigen Zeiten, wo die Sehnſucht nach Ruhe und der
Ueberdruß des Lebens den Werth der Sachen beſtimmt,
und alles uͤbereilet, wo man oft nur mit dem Kopfe ein
Ja
[113]Alſo ſollte man die Teſtamente ꝛc.
Ja nickt, weil der Hals zu ſchwach iſt, das Nein heraus-
zuſchuͤtteln, und wo endlich jeder Blick gebietet, jede
Thraͤne fordert, und jede Bitte mit Macht eindringt? Ein
geſunder Menſch kann irren, und ſeinen Jrrthum des
andern Tages verbeſſern; aber dem Kranken koͤmmt auch
dieſe Rechtswohlthat nicht zu ſtatten; der Tod hindert
ihn am Wiederrufe, und der offenbareſte Jrrthum wird
als ein heiliges Geſetz angenommen.
XXX.
Von dem wichtigen Unterſchied des wuͤrk-
lichen und foͤrmlichen Rechts.
Man findet jetzt ſo wenig Leute, die das foͤrmliche
Recht von dem wuͤrklichen zu unterſcheiden wiſ-
ſen, und die Gefahr, womit in unſern philoſophiſchen
Zeiten die Verwechſelung von beyden das menſchliche
Geſchlecht bedrohet, iſt ſo groß, daß es mir Pflicht zu
ſeyn ſcheinet, dieſen ſonſt wohl bekannten Unterſchied eini-
germaaßen wiederum in Erinnerung zu bringen. Selbſt
die foͤrmliche Wahrheit wird nicht gehoͤrig mehr von der
wuͤrklichen unterſchieden, und es erwachſen unzaͤhlbare
Zaͤnkereyen daraus, die vermieden werden koͤnnten, wenn
man darauf gehoͤrig achtete.
Was uͤberhaupt wuͤrkliches Recht und wuͤrkliche
Wahrheit ſey, iſt einem jeden bekannt, ſo ſchwer es auch
iſt, das eine oder die andre in einem gegebenen Falle zu
entdecken; aber von der foͤrmlichen hat nicht jeder einen
deutlichen Begriff; ich will ihn alſo, und zu mehrerer
Deutlichkeit in einem Beyſpiele geben. Was die Kirche
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Hoder
[114]Von dem wichtigen Unterſchiede
oder eine Verſammlung erwaͤhlter und berufener Biſchoͤfe
zuletzt fuͤr Wahrheit erklaͤret hat, das iſt foͤrmliche Wahr-
heit fuͤr alle diejenigen, ſo zu dieſer Kirche gehoͤren, und
foͤrmliches Recht iſt fuͤr ſtreitende Partheyen, was ein
erwaͤhlter oder verordneter Richter zuletzt dafuͤr erkannt
hat. Jn beyden kann die wuͤrkliche Wahrheit, oder das
wuͤrkliche Recht zum Grunde liegen, und es iſt die hoͤch-
ſte menſchliche Wahrſcheinlichkeit vorhanden, daß es ſo
ſey. Jn der That aber kommt es hierauf nicht an; es
thut im eigentlichen Verſtande nichts zur Sache, ob die
Biſchoͤfe oder die Richter geirret haben oder nicht; Jhr
letzter Ausſpruch verwandelt wuͤrkliches weiß in foͤrmli-
ches ſchwarz, und umgekehrt. Beyde koͤnnen, was foͤrm-
liche Wahrheit betrift, nicht irren, wenn alles ordentlich
zugeht. Denn es iſt hier ein Nothrecht fuͤr die menſch-
liche Ruhe, nach welchem nun einmal dasjenige foͤrmli-
che Wahrheit und foͤrmliches Recht ſeyn ſoll, was alſo
dafuͤr erklaͤrt oder ausgeſprochen worden. Der Menſch
wuͤrde nimmer aufhoͤren zu zanken; jeder wuͤrde nach
ſeinem eignen Begriffe handeln wollen, und es wuͤrde
daraus die groͤßte Verwirrung entſtehn, wenn man ſich
nicht endlich weißlich daruͤber verſtanden haͤtte, daß man
dasjenige, was alſo ausgeſprochen iſt, fuͤr foͤrmliches
Recht halten und befolgen wollte. Einem jeden bleibt
dabey ſeine freye Meynung von dem wuͤrklichen Rechte,
wenn er ſich von dem foͤrmlichen nicht uͤberzeugen kann,
aber man achtet darauf nicht.
So bald man aber dieſe beyden Begriffe verwech-
ſelt; ſo erlaubt man einem jeden dasjenige was er fuͤr
wuͤrkliches Recht erkennet, auch in Ausuͤbung zu brin-
gen. Der Fuͤrſt kann jeden Rath, der nach ſeiner Ue-
berzeugung ein unredlicher Mann iſt, ſeines Dienſtes ent-
ſetzen, und nach Gefallen beſtrafen. Der Richter kann
jeden
[115]des wuͤrklichen und foͤrmlichen Rechts.
jeden erſten Spruch, wenn er ſeiner Meynung nach wuͤrk-
lich recht iſt, ſo fort zur Vollſtreckung bringen, ohne ab-
zuwarten, daß er die Kraft foͤrmlichen Rechtens erreiche;
und um auch etwas von der Wahrheit zu ſagen: ſo muͤßte
jeder Pfarrer ſich ein Bedenken daraus machen, das
Glaubensbekenntniß ſeiner Kirche zu unterſchreiben, ſo
bald es ſeiner Ueberzeugung nach nicht wuͤrklich wahr
waͤre, da er es doch unterſchreiben kann, ſo bald er nur
gewiß iſt, daß es eine foͤrmliche Wahrheit ſey.
Alle Menſchen koͤnnen irren, der Koͤnig wie der Phi-
loſoph, und letztere vielleicht am erſten, da ſie beyde zu
hoch ſtehen, und vor der Menge der Sachen, die vor
ihren Augen ſchweben, keine einzige vollkommen ruhig
und genau betrachten koͤnnen. Dieſerwegen haben es
ſich alle Nationen zur Grundfeſte ihrer Freyheit und ih-
res Eigenthums gemacht, daß dasjenige, was ein Menſch
fuͤr Recht oder Wahrheit erkennet, nie eher als Recht
gelten ſolle, bevor es nicht das Siegel der Form erhalten.
Zur Form Rechtens gehoͤrt, daß es von einem be-
fugten Richter ausgeſprochen, und in die Kraft Rechtens
getreten ſey. Dies iſt ein Grundgeſetz worinn ebenfalls
alle Europaͤiſche Nationen uͤberein kommen, und der Mo-
narch der eine wuͤrkliche Wahrheit, gleich einer foͤrmli-
chen zur Erfuͤllung bringen laͤßt, wirft dieſes erſte, und
jedem Staate heilige Grundgeſetz, ohne welchem es gar
keine Sicherheit mehr giebt, uͤber einen Haufen. Ein
Unternehmen das die Weisheit Salomons nicht entſchul-
digen kann, da alle Weisheit in der Welt nur zur wuͤrk-
lichen nicht aber zur foͤrmlichen Wahrheit fuͤhret.
Das wuͤrkliche Recht koͤnnte zur Noth in der Welt
ganz entbehret werden; es giebt Nationen die gar keine
Geſetzbuͤcher haben; und unſre deutſchen Vorfahren die
H 2von
[116]Von dem wichtigen Unterſchiede
von einem wuͤrklichen Rechte nichts wußten, und wohl
gar zweifelten ob es dergleichen in der Welt gebe, hat-
ten ſich vereiniget, dasjenige fuͤr foͤrmliches Recht in je-
der Streitſache gelten zu laſſen, was die von den Par-
theyen erwaͤhlten Maͤnner, nach ihren großen oder ge-
ringen Einſichten, fuͤr gut und billig erkennen wuͤrden.
Eben das kann man auch von der wuͤrklichen Wahrheit
ſagen, worinn ſo wenige Koͤpfe miteinander uͤberein kom-
men. Aber foͤrmliches Recht und foͤrmliche Wahrheit
laſſen ſich durchaus nicht entbehren, und es iſt eine ver-
gebliche Frage, oder vielmehr eine Verwechſelung dieſer
beyden ganz unterſchiedenen Arten von Wahrheiten, ob
man wuͤrkliche Jrrthuͤmer hegen und naͤhren duͤrfe? Nur
foͤrmliche Jrrthuͤmer koͤnnen nicht gehegt und ernaͤhrt
werden, oder es liegt ein Fehler in der Grundverfaſſung
des Staats.
Alle Nationen haben dieſes erkannt, die eher an
Proceßordnungen als an Geſetzbuͤcher gedacht haben.
Jene zeigen den Weg zum foͤrmlichen Rechte, und die
beſte Proceßordnung iſt die, welche den Weg in ein Mi-
nimum verwandelt. Dieſe aber enthalten nur das wuͤrk-
liche Recht, welches wie geſagt, zur Noth entbehret wer-
den kann; wie denn auch der Großcanzler von Cocceji
die Proceßordnung dem Geſetzbuche vorgehen ließ.
Der traurigſte Fall worinn ein Richter ſich oft be-
findet, iſt dieſer, wenn er das wuͤrkliche Recht augen-
ſcheinlich erkennet, und es doch nicht zum foͤrmlichen ma-
chen kann. Aber dem ungeachtet iſt es beſſer, daß ein
einzelner Mann traure, als daß man alles in Gefahr
ſetze; und dies wuͤrde geſchehen, wenn jeder Richter das-
jenige, was er fuͤr wuͤrklich Recht erkennet, ſogleich als
rechtskraͤftig annehmen koͤnnte. Jeder Menſch hat es
mit dankbarem Herzen zu erkennen, daß man das foͤrm-
liche
[117]des wuͤrklichen und foͤrmlichen Rechts.
liche dem wuͤrklichen vorziehe, wenn beydes ſich nicht zu-
ſammen findet; und diejenigen verſuͤndigen ſich an der
Menſchheit, welche entweder dieſe Form ganz ausſchlieſ-
ſen, oder unnatuͤrlich verkuͤrzen und erſchweren wollen.
Uebrigens iſt es, was die Mittel zur Erhaltung foͤrm-
lichen Rechtens, oder die Proceſſe betrift, eine edle Lei-
denſchaft des Menſchen, daß er fuͤr dasjenige, was ihm
ſeiner Meynung nach zukoͤmmt, Gut und Blut aufſetzet,
und ſich gegen alles, was ihn ſeiner Einſicht nach, un-
terdruͤcken will, aus allen Kraͤften wehret. Dieſe Leiden-
ſchaft muß nicht unterdruͤcket ſondern aufgemuntert wer-
den, beſonders bey geringern, deren Menge den Staat
unterhaͤlt, und die gar bald zu Grunde gehen wuͤrden,
wenn ſie ſich heute ein Stuͤck und Morgen ein anders,
ohne daruͤber zu klagen, nehmen ließen. Der Fuͤrſt ſelbſt
iſt von dieſer Leidenſchaft beſeelt; er laͤßt ſich nichts neh-
men, und fordert was ihm zukommt. Das iſt er dem
Staate, und jeder Bauer dem ihm anvertraueten ge-
meinen Gute ſchuldig. Sein Hof iſt ſein Gewehr, und
er muß auch nicht einen Flintenſtein davon verlohren ge-
hen laſſen, ohne zu klagen.
Zu dieſem Ende muß ihm der Weg des foͤrmlichen
Rechtens gerade, leicht und kurz gemacht; aber nicht
verſperret oder verengert werden.
H 5XXIV.
[118]Ueber den Unterſchied
XXXI.
Ueber den Unterſchied einer chriſtlichen und
buͤrgerlichen Ehe.
Vor Zeiten gab es nur eine Art von Ehen*) und man
verſtund darunter eine ſolche Verbindung, die ei-
ner nach den Geſetzen der Kirche und des Staats, deſſen
Mitglied er war, vollzogen hatte. Nachher aber hat
man dem Vortrage zu gefallen, oder aus Mangel eines
andern Ausdrucks, dieſes Wort weitlaͤuftiger gemacht,
und nicht allein diejenige Verbindung, welche blos nach
den Geſetzen der Kirche und nicht nach den Geſetzen des
Staats vollzogen war, eine Ehe genannt, ſondern auch
in dem Rechte der Natur von Ehen geſprochen, und die
beſondere Verbindung worin die Kinder blos der Mutter
Namen und Vermoͤgen erben, oder wie unſre Vorfah-
ren ſprachen, na der Mor gan, (nach der Mutter gehen)
woraus die Lateiner das Matrimonium ad Morganaticam
gemacht haben, eine Ehe zur linken Hand genannt. Dieſe
Vermiſchung ruͤhrt vornemlich daher, daß der Staat alle
diejenigen Ehen, welche unter gewiſſen Vorſchriften in
der chriſtlichen Kirche vollzogen werden, entweder aus-
druͤcklich oder ſtillſchweigend fuͤr buͤrgerlich guͤltig erken-
net, und der Kuͤrze halber dem dazu beſtelleten ordentli-
chen Pfarrer die Macht uͤberlaſſen hat, zwo Perſonen
nicht allein kirchlich oder chriſtlich ſondern auch mit buͤr-
gerlicher Wuͤrkung zu verbinden.
Hier-
[119]einer chriſtlichen und buͤrgerlichen Ehe.
Hieraus ſind aber verſchiedene Verwirrungen ent-
ſtanden, die wohl verdienen aus einander geſetzt zu wer-
den. Die kirchliche Ehe iſt immer noch von der buͤrger-
lichen unterſchieden, und jene fuͤhrt bey weitem nicht in
allen Faͤllen alle die Folgen mit ſich, welche beyde zu-
ſammen wuͤrken. Man wird ſolches am beſten aus fol-
genden Beyſpielen beurtheilen.
Wenn zwo Perſonen ſich, wie es oft geſchieht, als
Vagabunden oder pro vagis copuliren laſſen: ſo ſind ſie
unſtreitig chriſtlich verbunden, und leben in einer kirch-
lich rechtmaͤßigen Ehe. Allein ſie koͤnnen nun nicht aus
dem Stande der Vagabunden, welchen ſie erwaͤhlet ha-
ben, zuruͤcktreten, ohne von irgend einer Landes-Obrigkeit
als Unterthanen aufgenommen zu werden. Geſchieht die-
ſes, ſo erhaͤlt dadurch die kirchliche Ehe das Siegel der
buͤrgerlichen Guͤltigkeit. Geſchieht es nicht: ſo bleiben
ſie Wildfaͤnge, der uͤberlebende Theil kann ſich ſo wenig
auf ein kayſerliches Recht als auf ein Landrecht bezie-
hen; und die Kinder koͤnnen ihre Eltern nicht beerben.
Die kirchliche Ehe iſt folglich hier ohne alle buͤrgerliche
Wuͤrkung.
Eben ſo verhaͤlt es ſich mit denen, die ſich zwar nicht
als Vagabunden, aber doch auch nicht von dem von der
Obrigkeit dazu geſetzten Pfarrer, oder mit deſſen oder
der Obrigkeit Erlaubnis von einem andern copuliren laſſen.
Dem fremden Pfarrer hat die Obrigkeit nie das Recht
uͤbergeben, zween Eheleuten alle buͤrgerliche Rechte mit-
zutheilen, und ſo kann dieſer ihnen nur die kirchlichen
geben. Jhre Beywohnung iſt Pflicht und ohne Suͤnde;
ihre Kinder ſind kirchlich echt, aber in Anſehung des Wit-
thums und der Erbfolge kommt ihnen weder Land- noch
Stadtrecht zu ſtatten, und wo ſie nicht irgendwo als Un-
terthanen aufgenommen werden, leben ſie im Stande
H 4der
[120]Ueber den Unterſchied
der Verbieſterung *). Die Obrigkeit worunter ſie leben,
kann ſie als Wildfaͤnge beerbtheilen.
Unſre Eigenbehoͤrigen leben bis auf dieſe Stunde
blos in der kirchlichen und nicht in einer buͤrgerlichen Ehe.
Jhre Kinder erben von ihnen nichts, und die Leibzucht **)
des Mannes oder der Frau iſt keine buͤrgerliche Wuͤrkung
der Ehe, ſondern der dem Gutsherrn bezahlten Auf-
fahrt ***). Die Freyen, welche in einer Hode†) ſte-
hen, ſind in gleichen Umſtaͤnden; ihr Recht haͤngt von
dem durch die Schutzurkunde ††) abgeloͤſeten Sterbfall ab,
und man kann es nicht als eine buͤrgerliche Wuͤrkung ih-
rer Ehe anſehen, daß ihre Kinder von ihnen erben, und
ihre Witwen ein gewiſſes in jeder Hode beſtimmtes Recht
haben.
[121]einer chriſtlichen und buͤrgerlichen Ehe.
haben. So bald ſie die Schutzurkunde verſaͤumen, wuͤrkt
die kirchliche Ehe jenes nicht. Alle dergleichen blos kirch-
lich oder chriſtlich verbundene Leute hinterlaſſen keine Wit-
wen ſondern nur Relicten. Denn um Witwe zu werden,
mußte man bey den Roͤmern und bey den Deutſchen in
einer nach kirchlichem und buͤrgerlichem Rechte vollkom-
menen Ehe gelebt haben. Wie aber das Wort Ehe all-
gemeiner wurde, hieß man ihre Relicten auch Witwen.
Aber nun nahm auch der Adel den Titel von Douarieren
an, und die Notarien erfanden chriſt-adliche Ehen, um
damit das Wort Ehe, welches zu weitlaͤuftig geworden
war, zu einer neuen Beſtimmung zu ſtempeln. Eben ſo
hatte er ſich lange vorher echte Hausfrauen zugelegt, weil
es auch Hausfrauen gab, die nicht echt waren, das heißt,
die blos in einer kirchlichen Ehe ohne buͤrgerliche Wuͤr-
kung lebten.
So deutlich hieraus hervorgeht, daß der Unterſchied
zwiſchen einer kirchlichen und buͤrgerlichen Ehe ſehr ge-
gruͤndet ſey: ſo ſehr iſt es zu verwundern, daß man in
den Lehrbuͤchern hierauf faſt gar nicht mehr fußet, und
immer die chriſtliche Ehe mit der buͤrgerlichen vermengt,
da es doch klar vor Augen liegt, daß der Geſetzgeber ſich
jenes Unterſchiedes nuͤtzlich bedienen, und damit den un-
erlaubten Copulationen ein ewiges Ziel ſetzen konnte.
Denn die Kirche mag dann immerhin ihr Recht, daß das-
jenige, was ſie einmal verbunden habe, auf ewig ver-
bunden ſey, behaupten. Der Staat darf den kirchlich
verbundenen nur die buͤrgerliche Wuͤrkung der Ehe we-
gern: ſo muͤſſen dieſe entweder das Land raͤumen und ſich
anderwaͤrts als Unterthanen aufnehmen laſſen, um die
buͤrgerliche Wuͤrkung ihrer Ehen zu erhalten, oder wo
ſie geduldet werden, als Wildfaͤnge, die von ihm beerbet
werden, ihr Vergehen buͤßen.
H 5Un-
[122]Ueber den Unterſchied
Unſtreitig hat es auch in der Verfaſſung unſrer Leib-
eigenſchaft manchen Fehlſchluß veranlaſſet, daß wir die
chriſtliche Ehen der Leibeignen als vollkommene Ehen an-
geſehen haben. Unter leibeignen Eltern und Kindern iſt
zwar eine chriſtliche Verwandſchaft aber keine buͤrgerliche,
wenigſtens hatten ſie vordem nicht den geringſten Vortheil
von der letzten; Eltern und Kinder, Schweſter und Bruͤ-
der beerbten ſich im eigentlichen Verſtande nicht. Sie
zeugen keine Genoſſen des Staats, und ihre Kinder ſind
Wildfaͤnge, ſo bald ſie freygelaſſen ſind, und keinen neuen
Schutz nehmen. Sie haben keine Pflichttheile von ihren
Eltern zu fordern, und der Vater hat ſie nicht als echter
Hausvater in ſeiner Gewalt. Wenn auch der alte Leib-
eigne Leibzuͤchter eine freye Perſon heyrathet: ſo hat dieſe,
was die buͤrgerliche Wuͤrkung betrift, nichts mehr als eine
Concubine zu fordern, und die aus dieſer Ehe erzeugten
Kinder ſind den uͤbrigen von ihrem Vater buͤrgerlich un-
verwandt. Gleichwohl ſchließen wir bey ihnen oft aus
den Rechten, welche nur fuͤr chriſt-buͤrgerliche Ehen ein-
gefuͤhret ſind; und verwechſeln aus Menſchenliebe den
Menſchen mit dem Buͤrger; woraus denn nichts wie Un-
gewißheit der Rechte entſteht.
Legten wir aber bey einer neuen Geſetzgebung wegen
der Ehen, jenen Unterſchied zum Grunde: ſo glaube ich,
daß wir vielen Schwuͤrigkeiten, welche bisher die Sache
verwickelt haben, ausweichen koͤnnten. Traurig iſt es zu
hoͤren, daß es noch Eheproceſſe in der Welt giebt. Man
ſollte denken, dieſen einzelnen Zweig haͤtten die vielen
Bemuͤhungen der philoſophiſchen Geſetzgeber doch endlich
ſo weit bringen muͤſſen, daß gar kein zweifelhafter Fall
darinn mehr vorkommen koͤnnte. Allein die Verlaſſung
jenes Unterſchiedes, wodurch die Kirche unnoͤthiger Weiſe
mit dem Staate in Colliſion gebracht wird, und die we-
nige
[123]einer kirchlichen und buͤrgerlichen Ehe.
nige Hoffnung, welche die weltliche Obrigkeit gehabt hat,
hier eine Vereinigung zu treffen, hat es in den mehrſten
Staaten immer verhindert, die Ehegeſetze vollſtaͤndig zu
machen. Laͤßt ſie aber der Kirche, was der Kirche iſt,
und geht blos auf die buͤrgerliche Wuͤrkung der Ehe: ſo
iſt es allemal in ihrer Macht durch eine Nichtduldung oder
Landesverweiſung diejenige Ordnung zu erhalten, welche
das gemeine Beſte erfordert.
XXXII.
Von den Militair-Ehen der Englaͤnder.
Die Englaͤnder dulden in ihren Armeen keine ledige
Weibsperſonen; dagegen koͤnnen ſich ihre Solda-
ten ein Weib vor der Trommel geben laſſen; und ſich
auch ſo wieder von ihr ſcheiden. Dieſe beſondre Art der
Ehen hat unſtreitig ſehr viel gutes in Vergleichung mit
dem ſonſt gewoͤhnlichen Uebel. Der Soldat ſchuͤtzt ſein
Weib, womit ihn der Tambour kopulirt hat, gegen je-
den andern, und man hat weniger Beyſpiele von ſolchen,
als von andern gebrochenen Ehen. Ja es haben mich
mehrmals die engliſchen Officiere verſichert, daß es hier
mehr Eiferſucht gebe, als in einer chriſtlichen Ehe; viel-
leicht aus eben dem Grunde, warum mancher die Un-
treue ſeiner Maitreſſe hoͤher empfindet, als die von ſei-
ner echten Frau. Das engliſche Soldatenweib kann
mit ihres Mannes Kammeraden in einem Zelte liegen,
und keiner wagt es, ihr etwas ungebuͤhrliches anzumu-
then. Der Mann macht ſich ein eignes Point d’ honneur
daraus, dieſes durchaus nicht zu geſtatten, und wer es
ver-
[124]Von den Militair-Ehen der Englaͤnder.
verſuchen wollte, wuͤrde dafuͤr ſeinen, oder wenn er klag-
te, ſeines Hauptmanns Zorn empfinden.
Wenn er ihrer muͤde iſt, ſo verkauft er ſie, jedoch
mit ihrem guten Willen, einem andern; und dieſer ſchaͤtzt
ſie eben ſo wie der vorige; ſo daß ſie niemals verwildern
kann, und immer ihren Beſchuͤtzer hat. So bald ſie Nie-
mand will, muß ſie die Armee verlaſſen. Uebrigens iſt
der Englaͤnder gern Vater, und liebt ſein Kind; daher
es nicht leicht geſchieht, daß er ein ſchwangeres Weib von
ſich laͤßt, oder fuͤr ſein Kind nicht ſorgt.
Ledige Weibsperſonen, die ſich einem jeden ohne
Unterſchied uͤberlaſſen, ſind vielfaͤltig von der boͤſen Seu-
che angeſteckt, die manchen guten Kerl ins Hoſpital bringt.
Dieſes hat man aber von jenen Weibern, die aus einer
guten Hand in die andre gehen, nicht leicht zu beſorgen;
und dieſes iſt wahrſcheinlich der Grund, welcher die Eng-
laͤnder genoͤthiget hat, dieſe Art von Ehen jedem andern
Nothmittel vorzuziehen.
Vermuthlich ſind ſie bey ihren weiten Seereiſen dar-
auf verfallen, die echten Weiber der Soldaten moͤchten
ihren Maͤnnern darauf nicht folgen, und dieſe auch die-
ſelben allen Gefahren und allen Verſuchungen nicht blos
ſtellen wollen. Andre Nationen hingegen haben mehr in
ihrem Lande, oder auf deſſen Graͤnze gefochten, und ſie
konnten ihre Weiber eher mitnehmen, daher ſie nicht wie
die Englaͤnder aus zweyen Uebeln zu waͤhlen haͤtten. Mir
iſt es wenigſtens nicht bekannt, daß irgend eine andre
Nation dergleichen Militairehen oͤffentlich dulde, und
wenn es erfordert wird, ſchuͤtze. Sie ſind aber allemal
eine feinere Erfindung, als die oͤffentlichen Haͤuſer, die
in andern Laͤndern, unter einer beſonderen Aufſicht der
buͤrgerlichen und mediciniſchen Policey geduldet und ge-
ſchuͤtzet
[125]die Artikel und die Punkte.
ſchuͤtzet werden; oder als das Geſetz: beym Gunthero in
Ligur. L. VII. v. 282.
‘Naſo mutilabitur illa reſecto.’ ()
XXXIII.
Die Artikel und Punkte.
Herr! ſind ſie nicht ein Schelm? — Die Antwort
war ein Schlag — und nun haͤtte einer das Leben
ſehen ſollen! der erſte behauptete als Richter, es waͤre
nur ein Punkt, und kein Artikel*), woruͤber er ihn ge-
fragt haͤtte; und der andre ein angeſehener Mann, ver-
ſetzte, die Namen thaͤten nichts zur Sache, es moͤchte
ein Punkt oder ein Artikel heißen, wer ihn auf einen
Diebſtahl anſpraͤche, dem ſchlage er aufs Maul.
Ey! hub der erſte an, haben es die Leipziger Juri-
ſten doch ausdruͤcklich geſagt, daß man jemanden unbe-
denklich
[126]Die Artikel und die Punkte.
denklich wegen eines Verbrechens vernehmen koͤnne, wenn
es nur heiße, daß er uͤber Punkte, und nicht uͤber Artikel
vernommen werde *). — Und was ſagen die Witten-
berger**) zu dieſer Hofſprache, ſchrie der andre? Was
denkt Leyſer***) dabey, wenn er ſich auf den Amour
Medecin†) von Moliere beruft? und wie entſcheidet von
Boͤhmer die Sache? Nicht wahr, er ſagt ††), man
muͤßte es den Narren goͤnnen, die es nicht beſſer haben
wollten? Jm Vertrauen geſagt, Herr Richter, die groſ-
ſen Herrn und kleinen Diener, die ſich ſo einander den
Ball zuwerfen, machen bisweilen naͤrriſch Zeug, ſonſt
wuͤrden ſie wiſſen, daß Schlagen allemal wehe thue,
man moͤge es Wickſen oder Pruͤgeln nennen. Jch denke
es unter keinen von beyden Benennungen zu dulden, wenn
ich es nicht verdient habe; und ob ich es verdient habe,
daruͤber laſſe ich mich erſt ſprechen; verſteht er mich?
Der Richter wollte noch viel ſprechen, und behaup-
ten, die Praxis braͤchte es doch hie und da ſo mit ſich,
und es diene gar ſehr zur Abkuͤrzung des Proceſſes, ſo
wie zur Aufklaͤrung der Wahrheit, wenn man einen be-
ſchuldigten Mann ſelbſt vorfordern, ihn ſo gleich uͤber
alle
39
[127]Die Artikel und die Punkte.
alle Umſtaͤnde zur Rede ſtellen, mit ſchlauen Fragen, wor-
auf er ſich nicht vorbereitet haͤtte, fangen, und wo er ge-
ſtottert, wo er die Farbe veraͤndert, oder an ſeinem gan-
zen Koͤrper gezittert haͤtte, nach dem Begriffe den man
ſich hievon machte, zum Protokoll bemerken koͤnnte.
Allein der andre lies ihm keine Zeit. Herr Richter,
ſagte er ihm, ich weiß das alles; ſie wiſſen aber auch,
daß eine Special Jnquiſition, worin jemand ſo fort vor-
gefordert, uͤber Punkte oder Artikel vernommen, und
entweder durch Fragen gefangen, oder nach ſeiner Farbe
beurtheilet werden ſoll, zu allen Zeiten fuͤr ehrenruͤhrig
gehalten worden. Der Richter ſetzt dabey ſchon voraus,
daß man der Mann ſey, der durch Fragen gefangen und
nach ſeinem Verhalten beurtheilet werden muͤßte, oder
um in dem Stile der peinlichen Halsgerichtsordnung zu
bleiben, daß man ein Kerl ſey, zu dem man ſich eines
Verbrechens wohl verſehen koͤnne; er ſetzet voraus, daß
man ſich mit Unwahrheiten oder ſchlechten Ausfluͤchten be-
helfen werde, — dieſes will er durch ploͤtzliche Fragen,
worauf man nicht vorbereitet iſt, verhindern; er ſetzt
endlich voraus, daß man wuͤrklich, wo nicht des Ver-
brechens ſchuldig, doch wenigſtens ſchon ſtrafbar ſey.
Denn da ein ehrlicher Mann waͤhrend der Jnquiſition
ſein Ehrenwort nicht geben, kein Zeugniß ablegen, ſei-
nen Dienſt nicht verrichten, und ſein Gehalt nicht verdie-
nen kann, wie faſt alle Juriſten ohne Unterſchied behaup-
ten: ſo wird er offenbar ehender geſtraft, als er verur-
theilet iſt. Und wenn man gleich durch den Unterſcheid
zwiſchen Punkte und Artikel, dieſen Folgen vorzubeugen
geſucht hat: ſo wird doch das Publikum, was einestheils
von dieſem feinen Unterſcheide noch nicht unterrichtet, und
andern theils durch das auſſerordentliche Verfahren des
Richters berechtiget iſt, uͤbel zu urtheilen, gegen den Jn-
quiſi-
[128]Die Artikel und die Punkte.
quiſiten leicht einen Abſcheu faſſen, oder wenigſtens im-
mer einen Gedanken von ihm behalten, der ſeiner Ehre
und ſeinem Credit nachtheilig iſt. Des Richters Abſicht
muß ſeyn, ſo wohl die Unſchuld zu retten als den Ver-
brecher zu ſtrafen, und keine Praxis in der Welt iſt zu-
reichend dasjenige was dieſen beyden großen Abſichten
entgegen laͤuft, zu rechtfertigen. Die ganze Praxis be-
ſteht ohnehin aus experimentis in anima vili*), wo-
von ſich gegen einen unbeſcholtenen Mann keine An-
wendung machen laͤßt; und das Verfahren kann im
Criminalproceß eben ſo gut wie im Civilproceß ab-
gekuͤrzet werden, ohne daß es noͤthig iſt, ſich dazu
der Ueberſchnellung zu bedienen. Was aber ihre
gerichtliche Phyſiognomick anlangt: ſo glaube ich, daß
der ploͤtzliche Ueberfall, womit der Richter den Jn-
quiſiten zu uͤberraſchen und zu fangen ſich bemuͤhet, eben
ſo fruͤh eine unſchuldige als verdaͤchtige Beſtuͤrzung her-
vorbringen koͤnne. Vernuͤnftige Richter haben daher von
je her in zweydeutigen Faͤllen die Wendung gebraucht,
daß ſie diejenigen, worauf ſie einen Verdacht hatten,
als Zeugen vorfordern, und ſie dasjenige erzaͤhlen ließen,
was ſie von der Geſchichte wuͤßten, ohne ſich weiter blos
zu geben; und erſt, nachdem ſie die Erzaͤhlung mit den
Anzeigen zuſammen gehalten, ſich einige naͤhere Fragen
erlaubt. Mit einem Worte, man kann eher, wenn es
die Noth erfordert, zur Haft als zur Special Jnquiſi-
tion ſchreiten. Denn ſo bald man jemanden, es ſey nun
uͤber Punkte oder uͤber Artikel, fraͤgt: ſo verlangt man
von ihm, was die Juriſten die Kriegesbefeſtigung nen-
nen.
[129]Die Artikel und die Punkte.
nen. Dieſe ſetzt voraus, daß eine Klage vorhanden ſey,
worauf man ſich einlaſſen ſolle. Es iſt alſo offenbar,
daß derjenige der einen uͤber Punkte fraͤgt, ihn wuͤrklich
anklage.
Jſt es aber nicht erſtaunend viel gewagt, jemanden
wegen eines Verbrechens anzuklagen, ehe man von dem
Beweiſe deſſelben ſicher iſt? Beladet ſich der Klaͤger nicht
mit der ſchwerſten Genugthuung, wenn er ſolchergeſtalt
jemanden in offnem Gerichte verklagt und den Beweis
nicht fuͤhren kann? Oder hat ein Richter mehr Recht als
ein andrer einen ehrlichen Mann ſolchergeſtalt oͤffentlich
ungeſtraft zu verlaͤumden?
Freylich kann der Unſchuldige hernach immer noch in
dieſem Falle auch von dem Richter Genugthuung for-
dern. Aber wie ſchwer wird ihm dieſe nicht fallen? wie
leicht wird ſich der Richter entſchuldigen? und iſt es billig
auch nur den geringſten Menſchen unter der Verſicherung,
daß man ihn ſchadlos halten wolle, in Schaden zu ſtuͤr-
zen? Kann der Schade an der Ehre, ſo leicht wie der
am Gute erſetzet werden? Jſt Verdruß, Gram und Kraͤn-
kung, wodurch einer um ſeine Ruhe, und Geſundheit
gebracht wird, wuͤrklich zu erſetzen? und iſt es daher
nicht natuͤrlich, in ſolchen wichtigen Faͤllen diejenige Vor-
ſicht zu gebrauchen, welche der ſchlichte Menſchenverſtand
an Hand giebt?
Auſſerdem kommen doch auch manchen Beklagten
leicht einige verzoͤgerliche Einreden zu ſtatten, warum er
auf die Klage zu antworten nicht noͤthig hat. Warum
will man einem nun dieſe in der wichtigſten Begebenheit
abſchneiden, worin ein ehrlicher Mann gelangen kann?
und das mit offenbarer Gewalt? — Denn der Richter
wird ſich leicht ermaͤchtigen den Mann einzuſperren, der
einmal erſchienen iſt, — und ſich zu antworten wegert —
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. JEs
[130]Ueber die Todesſtrafen.
Es iſt gut, rief der Richter, daß alle Leute nicht ſo
klug ſind, wie Sie; ſonſt wuͤrde es mit den Punkten und
Artikeln ſchlecht ausſehen; und damit gieng er zu ſeiner
Pfeiffe ohne weiter zu fragen; und der andre der den
Schlag ausgetheilt hatte, hielt ſich auch nicht verbunden,
mit ihm laͤnger zu zanken.
XXXIV.
Ueber die Todesſtrafen.
Es iſt zu unſern Zeiten ſehr oft die Frage aufgeworfen
worden: woher die Obrigkeit das Recht erhalten
habe, dieſen oder jenen Verbrecher mit dem Tode zu be-
ſtrafen; und die hieruͤber gewechſelten Schriften haben
nicht allein manchen fluͤchtigen Kopf, der einen Dieb mit
eben der Gleichguͤltigkeit zum Galgen gehen ſahe, womit
er ſein Hochzeitsfeſt angeſehen haben wuͤrde, zum Nach-
denken gebracht, ſondern auch unſre ganze Lehre von Ver-
brechen und Strafen aufgeklaͤrt. Mich duͤnkt aber im-
mer, daß wir mit dieſen philoſophiſchen Unterſuchungen
noch weiter gekommen ſeyn wuͤrden, wenn wir die Frage
alſo geſtellet haͤtten: woher die Obrigkeit das Recht er-
halten habe, dieſen oder jenen Verbrecher beym Leben
zu erhalten?
Denn unſtreitig lag die Sache im Stande der rohen
Natur, und, wie uns die Geſchichte zeigt, ſo gar in dem
Stande der erſten Vereinigungen alſo, daß jeder Menſch
denjenigen, der ihn beleidiget hatte, ſo weit und ſo lange
verfolgen mochte, als ſeine Staͤrke reichte; daß jeder
ſeinen Feind erſchlagen oder begnadigen konnte wie es
ihm
[131]Ueber die Todesſtrafen.
ihm gutduͤnkte, und daß einer uͤberhaupt ſeine Rache ſo
weit treiben durfte wie er wollte.
Hier nun trat die Obrigkeit, oder vielleicht die Ge-
ſellſchaft ins Mittel und ſprach:
Lieben Freunde! Eure Rache hat kein Ziel, es treten
erſt Maͤnner gegen Maͤnner, dann Familien gegen
Familien, und zuletzt Bundesgenoſſen gegen Bun-
desgenoſſen auf, und jedes Blut was vergoſſen wird,
vermerht eure Wuth, die zuletzt nicht anders als
durch den voͤlligen Untergang der einen oder andern
Parthey geſtillet werden kann. Dieſes Ungluͤck wird
unſern Staat zu Grunde richten, oder wir muͤſſen
der Privatrache Ziel ſetzen, und dieſes kann nicht
beſſer geſchehn, als wenn wir ein Geſetz machen:
daß alle Rache der Obrigkeit oder der Geſellſchaft
uͤberlaſſen, und wer ſich hieran nicht halten will,
von uns mit geſammter Hand als ein wilder Menſch
verbannet und verfolget werden ſoll.
Und wie ihr hierauf die laͤrmende Menge antwortete:
Was? wir ſollten das edelſte Kleinod unſerer Frey-
heit, das Recht uns ſelbſt Recht zu verſchaffen, auf-
geben? wir ſollten den Dieb, der uns unſer ſauer
erworbnes Gut raubt, nicht wuͤrgen? wir ſollten
dem Boͤſewicht, der unſre Ehre angreift, nicht den
Dolch in die falſche Bruſt ſtoßen, wir ſollten den
Moͤrder unſrer Kinder, Freunde und Verwandte
nicht bis zum Grabe verfolgen duͤrfen? ja ſo gar
gezwungen werden, dieſes unſer Recht einer ruhigen
kalten Hand zu uͤberlaſſen, die ſich vielleicht nicht ruͤhrte,
wenn wir von Eifer brennen, oder wohl gar nur ſuchte
unſern Zorn mit Huͤlfe der Zeit zu ſchwaͤchen, um her-
nach den Verbrecher in der Stille begnadigen zu koͤn-
nen? Nimmermehr kann und darf dieſes geſchehn,
J 2ſo
[132]Ueber die Todesſtrafen.
ſo war natuͤrlicher Weiſe ihre Antwort, oder doch ihre
Meinung dieſe.
Was das letzte betrift, lieben Freunde! ſo verſichern
wir euch hiemit feyerlichſt: Wer Menſchen Blut
vergießt, deſſen Blut ſoll wieder vergoſſen werden.
Es ſoll Aug um Auge, Hand um Hand, Zahn um
Zahn gegeben werden. Dieſes ſoll unter uns ein
ewiges Grundgeſetz ſeyn; hingegen ſoll wider Wil-
len der Beleidigten kein Mitleid ſtatt finden.
Und nun die obige Frage alſo gefaßt:
Wie koͤmmt es, daß die Obrigkeit von dieſem Origi-
nalcontrakt abgeht, und Verbrecher erhaͤlt, die der
Privatraͤcher zu toͤdten befugt war, oder doch be-
fugt zu ſeyn glaubte:
ſo koͤmmt es zuletzt darauf an,
in welchen Faͤllen der Privatraͤcher ſich befugt erachten
konnte, denjenigen, der ihn an ſeiner Ehre, ſeinem
Leibe oder ſeinem Gute verkuͤrzet hatte, ſelbſt ums
Leben zu bringen?
Denn die Obrigkeit liehe nicht ſo oft dem Raͤcher ihr
Schwerdt, als ſie den Verbrecher in Schutz nahm. Es
war mehr Wohlthat fuͤr dieſen als fuͤr jenen, daß ſie der
Privatrache Ziel ſetzte; und ſo waͤre es ein offenbarer
Mißbrauch ihres Amts geweſen, wenn ſie dem Verbre-
cher zu viel nachgegeben, und ihn in den Faͤllen verſcho-
net haͤtte, worinn ihn der Beleidigte umbringen konnte.
Alles was ſie thun konnte mußte darauf hinausgehn, den
unwilligen oder ungluͤcklichen Todtſchlaͤger von dem vor-
ſetzlichen und ſchuldigen Moͤrder zu unterſcheiden.
Schwerlich wird ſich aber jenes ſo genau angeben
laſſen. Das Recht der Privatrache geht im Stande der
Natur ſo weit, als die Macht, und man weiß von keinen
andern
[133]Ueber die Todesſtrafen.
andern Graͤnzen *); und wie ſchwer es gehalten habe,
die Menſchen von dieſem Grundſatze abzubringen, legt
ſich am mehrſten daraus zu Tage, daß faſt kein einziger Ge-
ſetzgeber es gewagt, denſelben gerade zu und auf einmal
umzuſtoßen, ſondern uͤberall zuerſt geſucht, demſelben
durch Anordnung gewiſſer Freyoͤrter, wo der Verbre-
cher gegen ſeinen Verfolger ſicher war, allmaͤhlig zu
ſchwaͤchen.
Dieſemnach ſcheint es, daß man die Vermuthung
fuͤr die Privatrache, welche noch jetzt in gewiſſen Faͤllen,
wo die Ehre eines Mannes beleidiget iſt, aller Geſetzge-
bung und allen Strafen trotzt, faſſen, und von der Obrig-
keit den Beweis fordern koͤnne; wodurch ſie ſich berech-
tiget halte, gewiſſe Verbrecher beym Leben zu erhalten?
Dieſen kann ſie rechtlicher Art nach nicht anders
fuͤhren, als durch die daruͤber vorhandenen Geſetze, und
wo dieſe mit Bewilligung des Volks zur Erhaltung eines
Verbrechers gemacht ſind, da iſt daſſelbe von dem erſten
Contrakt der Geſellſchaft in ſo fern abgegangen, und die
Erhaltung beruhet auf einem richtigen Grunde. Wo
aber dieſes nicht geſchehen, wo nach den Geſetzen oder
dem zweyten Contrakt des Volks mit der Obrigkeit, jeder
Dieb gehangen werden muß; da kann man gar nicht fra-
gen, woher dieſe das Recht habe einen Dieb am Leben
J 3zu
[134]Ueber die Todesſtrafen.
zu ſtrafen? oder man muß ſich die Antwort geben, die
Mitglieder des Staats haben ihrer urſpruͤnglichen Be-
fugniß, jeden ihrer Feinde ſo weit ſie konnten, zu ver-
folgen, nicht weiter entſagt, und die Obrigkeit iſt nicht
befugt, ihr Mitleid weiter zu erſtrecken.
Mitleidige koͤnnen hier einwenden, daß nicht leicht
ein guter Mann, dem ein Schaaf geſtohlen wird, den
Dieb ſo gleich ums Leben bringen wuͤrde. Aber jeder
wird ſich noch eines Falles erinnern, wo jemand einem
naͤchtlichen Diebe, der ihm verſchiedentlich in den Schaaf-
ſtall geſtiegen war, auflauerte, demſelben, wie er ihn
endlich ertappete, beyde Beine und beyde Arme zerſchlug,
und ihn ſo auf dem Miſthaufen ſterben ließ. That dieſes
ein Chriſt, was mochten denn nicht die rohen Menſchen
thun? dieſe machten keinen Unterſcheid unter dem Wolfe
und unter dem Menſchen der ihnen ein Schaaf nahm;
ſie ſchlugen den einen wie den andern todt, und gegen
ſolche Menſchen hat die Obrigkeit die Verbrecher in Schutz
genommen, aber damit nicht ſo gleich und uͤberall die
Befugniß erhalten, ihren Schutz gegen den Originalcon-
trakt auszudehnen, und wohl gar ohne eine allgemeine
Einwilligung aller Privatraͤcher, und zu ihrer groͤßten
Unſicherheit, da zu erhalten, wo jene getoͤdtet haben
wuͤrden.
Zwar laſſen ſich dagegen auch noch andre Erinne-
rungen machen; und es koͤnnen deren verſchiedene ſehr
wichtig ſeyn. Allein ich glaube immer, daß man auf
dem angelegten Wege am erſten das wahre Ziel erreichen,
und ſolchen in der Maaße fuͤhren koͤnne, daß man zu ei-
ner ſichern Theorie gelange.
XXXV.
[135]
XXXV.
Alſo ſollte man den Zweykaͤmpfen nur eine
beſſere Form geben.
Ob unſre Moraliſten wohl thun, wenn ſie der ge-
kraͤnkten Ehre, das Recht, ihre Genugthuung durch
einen Zweykampf zu fordern, ganz abſprechen, ob die Fuͤr-
ſten durch ihre Geſetze es jemals voͤllig aufheben werden,
und ob es nicht weit beſſer ſeyn wuͤrde, dem unaufhalt-
baren Strome ſichere Ufer zu geben; dieſes ſind Fragen
worauf ich mich nicht einlaſſen mag, weil meine Antwort
vielleicht manchem zu ſonderbar ſcheinen moͤchte. Jndeſ-
ſen habe ich doch immer folgende Geſchichte gern gehoͤrt.
Zwey Officier von einem Regimente geriethen im
vorigen Kriege mit einander in Wortwechſel, und die
Folge davon war eine Ausforderung auf den andern
Morgen. Allein des Nachts brach die Armee auf, und
es kam bey Anbruch des Tages mit dem Feinde zum Tref-
fen, worin der Beleidigte, indem er ſeinem Beleidiger
das Leben rettete, ſchwer verwundet wurde. Das Gluͤck
wollte, daß er auf ein Gut gebracht wurde, was dem
Vater des andern gehoͤrte, der ihn, wie leicht zu denken,
auf die liebreichſte Art empfieng, und ihm alle diejenige
Huͤlfe erzeigte, die er ſich nur wuͤnſchen konnte. Da
das Treffen den Feldzug fuͤr das Jahr geendigt hatte, ſo
kam auch der Beleidiger zu Hauſe, und der Dank, wel-
chen er ſeinem Gegner ſchuldig war, erzeugte bald unter
beyden die innige Freundſchaft wieder, worinn ſie vor-
her beſtaͤndig gelebt hatten. Die ganze Familie nahm
den aufrichtigſten Theil daran, und beyde philoſophirten
mehrmals uͤber den Zweykampf, welchen ſie nach ihrer
J 4Wie-
[136]Alſo ſollte man den Zweykaͤmpfen
Wiederkunft beym Regimente Ehrenhalber wuͤrden hal-
ten muͤſſen, weil ihr Wortwechſel in Gegenwart mehre-
rer Officiere vom Regimente entſtanden war. Beyde er-
kannten die Nothwendigkeit deſſelben, und ſelbſt der Va-
ter des Einen, der ſie beyde als ſeine Soͤhne liebte, war
der Meinung, daß der eine Genugthuung haben, und
der andre ſie geben muͤßte, weil ſonſt keiner mit dem Be-
leidigten dienen wuͤrde. Aber verſetzte ſeine liebenswuͤr-
dige Tochter, die bisher fuͤr den Erretter ihres Bruders
die zaͤrtlichſte Sorgfalt gehabt hatte, und noch immer
glaubte, daß alles Scherz waͤre: koͤnnen ſie denn nicht
gegen einander ein Paar Kugeln vorbeyſchießen, oder
mit ſtumpfen Degen fechten? Man ſchwieg um ſie nicht
zu beunruhigen, jedoch ein jeder dachte bey ſich, daß der-
gleichen Kinderſpiele keinem rechtſchaffenen Mann geziem-
ten, und daß ein jeder von ihnen um ſo viel ernſthafter
zu Werke gehen muͤßte, je groͤßer der Verdacht waͤre,
daß ſie ſich als Freunde einander ſchonen wuͤrden.
Jn dieſen Geſinnungen reiſeten ſie mit einander ab,
und ſchwerlich iſt ein Abſchied zaͤrtlicher und trauriger
geweſen. Die Schweſter wollte ihren Bruder nicht aus
den Armen laſſen, oder er ſollte ſchwoͤren .... aber
dieſer riß ſich fort; und nun wagte ſie es in dieſem groſ-
ſen Augenblicke, auch den Eerretter deſſelben zum er-
ſtenmal zu umarmen, und ihn zu beſchwoͤren — aber
auch er entwandte ſich ihren maͤchtigen Thraͤnen. Der
Vater ſahe ihnen mit ſegnenden Augen nach, und hoffte
ſie wuͤrden als Maͤnner von Ehre handeln.
Jndeſſen hatte er doch die Vorſicht gehabt, und den
ganzen Vorfall ihrem General gemeldet; weil es ihm
wirklich zweifelhaft geſchienen, ob die Sache einen Zwey-
kampf erforderte, und er denſelben nur aus dem Grunde
gebilliget haͤtte, daß ein Mann von Ehre auch in einem
zwei-
[137]nur eine beſſere Form geben.
zweifelhaften Falle, ſeine Genugthuung mit dem Degen
ſuchen muͤßte. Der General gab beyden, ſo wie ſie an-
kamen, Arreſt, verſammlete ſaͤmmtliche Officier vom Re-
gimente, und trug ihnen den Fall vor, ſo wie ihn dieje-
nigen, die bey dem Streite gegenwaͤrtig geweſen waren,
beſtaͤtigten. Alle erkannten einmuͤthig, daß die Sache
durch eine Erklaͤrung des Beleidigers gehoben werden
koͤnnte, und wie dieſer ſich dazu auf das freymuͤthigſte
erklaͤrte, umarmeten ſie ſich beyde, und die ſaͤmmtlichen
Officiere vom General an bis auf den juͤngſten Faͤhndrich,
umarmten jeden von ihnen, zum Beweiſel, daß ſie die-
ſelben fuͤr Maͤnner von Ehre erkenneten.
So endigte ſich dieſe Sache, und ich bin gewis, daß
die Haͤlfte von allen ſo geendigt werden koͤnnte, wenn der
Zweykampf wieder erlaubt, nnd es nur unter der ſtreng-
ſten Strafe verboten wuͤrde, daß keiner dergleichen ein-
gehen ſollte, ohne Vorerkenntnis des Regiments. Hie-
durch wuͤrden alle zweifelhafte Faͤlle, welche gewis die
Haͤlfte wo nicht zwey Drittel ausmachen, ſo fort weg-
fallen, und wie leicht koͤnnen vernuͤnftige Officiere, wenn
ſie wollen, eine Sache ſo ſtellen, daß ſie zweifelhaft
ſcheine.
Dagegen aber wuͤrde ich auch ein Geſetz fordern,
daß ſo bald das Regiment auf den Zweykampf erkennete,
beyde Theile ſo lange kaͤmpfen ſollten, bis einer auf dem
Platze bliebe; um der Leichtfertigkeit, womit manche zum
Degen greifen, und ſich wieder ihre Abſicht ungluͤcklich
machen, einigen Einhalt zu thun.
Uebrigens glaube ich nicht, daß man jemals bey
den nordlichen Voͤlkern, die von je her den Zweykampf
geliebet, und auch eben ſo lange den Meuchelmord ver-
abſcheuet haben, auf andre Weiſe etwas ausrichten werde.
J 5Mir
[138]Alſo ſollte man den Zweykaͤmpfen ꝛc.
Mir ſcheint der Zweykampf in obiger Form die letzte
moͤgliche Einſchraͤnkung der Selbſtrache zu ſeyn. Moſes
wagte es nicht, dieſe ganz aufzuheben, vielmehr lies er
ihr ihren Lauf, und ſetzte derſelben die Freyſtaͤtte entge-
gen. Die ſpaͤtern Juden mochten ſich bis zu Sonnenun-
tergang ſelbſt raͤchen duͤrfen. Denn Ehriſtus ſagt, ſie
ſollten ihren Zorn auch nicht einmal bis dahin waͤhren
laſſen. Die Deutſchen konnten ſich bis zur dritten Sonne
ſelbſt Recht ſchaffen, ohne dadurch den Landfrieden zu
brechen. Aber bey allen dieſen Einſchraͤnkungen behielt
der Beleidigte doch mehrentheils das Recht, binnen der
ihm zur Selbſtrache erlaubten Friſt, ſeinen Feind mit
ungleicher Gewalt, und mit ungleichen Waffen zu uͤber-
fallen, und wenn er ſeiner maͤchtig wurde, nach Willkuͤhr
zu behandeln. Um dieſen und andern wilden Ausbruͤchen
der Selbſtrache vorzubeugen, glaube ich, ſchraͤnkte man
ſie auf einen foͤrmlichen und feyerlichen Zweykampf ein.
Hiedurch behielt die Natur ihr Recht; und der Geſetz-
geber muß zufrieden ſeyn, wenn er das Moͤgliche ſicher
erreicht hat.
Die Franzoſen erlauben einem Manne, der ſeinen
Proces verlieret, in der Publications-Audienz, die groͤb-
ſten Jnjurien gegen ſeine Richter weil ſie glauben, die
Natur laſſe ſich ſo weit nicht unterdruͤcken, Aber ſo bald
er das Audienz-Zimmer verlaſſen hat, darf er ſeine Em-
pfindungen nicht mehr frey reden laſſen.
XXXVI.
[139]
XXXVI.
Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks
auf das Oſterfeſt, die Loslaſſung eines
Gefangenen zu fordern.
Es heißt bey den beyden Evangeliſten Mathaͤus und
Marcus, der Landpfleger habe die Gewohnheit
gehabt, dem Volke auf das Oſterfeſt einen Gefan-
genen loszugeben; Lucas aber ſagt ſchon, der Land-
pfleger habe ihm einen nach Gewohnheit des Feſtes los-
geben muͤſſen, und der Evangeliſt Johannes beſtimmt es
deutlicher, daß es nicht ſo wohl eine Gewohnheit des
Landpflegers als vielmehr ein Herkommen des juͤdiſchen
Volks geweſen ſey, auf das Oſterfeſt die Loslaſſung eines
Gefangenen zu fordern. Die Rede iſt alſo von einem
Rechte des Volks, welches auch der roͤmiſche Statthal-
ter verehren mußte, und nicht von einer Gnade oder Ge-
faͤlligkeit, wodurch derſelbe ſich etwa bey dem Volke be-
liebter zu machen ſuchte. Es iſt auch hier nicht von dem
Volke, was wir uns unter dem Namen Poͤbel gedenken,
ſondern von einer gleichſam zum Reichstage verſammle-
ten Nation die Rede, weil dieſes Recht nur auf Oſtern
wo die Nation zu Jeruſalem verſammlet war, ausgeuͤ-
bet werden konnte; und ſo trage ich kein Bedenken die-
ſes Recht fuͤr das Begnadigungsrecht zu erkennen, was
in andern bekannten Staaten ein Recht des Throns oder
der hoͤchſten Obrigkeit, hier aber auf eine eingeſchraͤnkte
Weiſe dem ganzen Volke uͤberlaſſen iſt. Alsdenn aber
zeugt es von einem ſehr großen politiſchen Plan, den die
Juden in ihrer juͤngſten Verfaſſung zum Grunde gelegt
hatten.
Ueber-
[140]Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks
Ueberhaupt ſcheint dieſe Nation es mit allen Re-
gierungsformen verſucht zu haben. Bald hatten ſie eine
prieſterliche Gewalt von der Feldherrlichen getrennt, bald
waren ſie unter Richtern, bald unter Prieſtern, bald
unter Koͤnigen; dann fielen ſie wieder auf Prieſter, denen
die koͤnigliche Gewalt anvertrauet war, und ſie kannten
auch Koͤnige, die zugleich Prieſter des Herrn waren. Sie
ſcheinen alſo uͤber die Regierungsformen viel philoſophirt
zu haben, wie ſie denn auch dieſe Philoſophie zu vielen
großen Staatsrevolutionen verfuͤhret hatte, und man
kann wohl annehmen, daß jene Gewohnheit des Volks,
auf das Feſt die Loslaſſung eines Gefangenen zu fordern,
das Reſultat eines uͤberaus feinen Nachdenkens geweſen
ſey. Denn man ſieht leicht, wie gefaͤhrlich es ſeyn wuͤr-
de, in einer Democratie das Recht der Begnadigung in
den Haͤnden des Volks zu laſſen. Jedes Urtheil was wi-
der einen ſeiner Lieblinge ausgeſprochen werden wuͤrde,
wuͤrde unvollſtreckt bleiben, und insgemein ſind die Lieb-
linge des Volks in der Democratie unruhige und ſchwaͤr-
meriſche Koͤpfe. Aber auch eben ſo gefaͤhrlich wuͤrde es
in einer Ariſtocratie ſeyn, den Obrigkeiten das Recht der
Begnadigung zu laſſen; alle maͤchtige Unterdruͤcker des
Volks wuͤrden leicht Gnade finden, und der geringſte
Widerwillige unter dem Volke nach aller Strenge der
Geſetze gerichtet werden. Wollte man alſo das Begna-
digungsrecht nicht ganz ausſchließen: ſo mußte auf einen
Mittelweg gedacht werden, und dieſer mochte darinn ge-
funden werden, daß man dem Volke am Oſterfeſte, oder
der verſammleten Nation erlaubte jaͤhrlich einen loszu-
bitten. Dieſes Temperament war um ſo viel feiner, je
gewiſſer es iſt, daß das Begnadigungsrecht nur ſelten
ausgeuͤbt werden duͤrfe. Denn es iſt eine der groͤßten
politiſchen Wahrheiten, daß die Geſetze milde und die
Rich-
[141]auf d. Oſterf., einen Gefangenen zu fordern.
Richter ſtrenge ſeyn muͤſſen, und daß man durch die Hof-
nungen auf Gnade niemanden reizen ſolle die Geſetze zu
brechen.
Zur Zeit wie Chriſtus zum Tode verurtheilet wurde,
hatten die Hohenprieſter und Oberſten des Volks die Ur-
theilweiſung, Pilatus als des Kayſers Richter die Beſtaͤti-
gung und Vollſtreckung des von ihnen gewieſenen Urtheils,
und das verſammlete Volk das Recht der Begnadigung.
Dieſes liegt klar vor Augen. Die Urtheilsweiſer ſagten,
wir haben ein Geſetz und nach dem Geſetze haben wir
Chriſtum verdammt, dieſes iſt die Sprache der Schoͤpfen.
Pilatus wollte Chriſtum retten und verſuchte es auf aller-
ley Weiſe, indem er ihn einmal an den Richter ſeiner
Heymath (ad forum originis vel domicilii) wo vermuth-
lich andre Urtheilsweiſer waren, zuruͤckſchickte, ein ander-
mahl aber, nachdem ihn Herodes dem Gerichtsſtande der
Ergreiffung (foro apprehenſionis) uͤberließ, ihn mit dem
aͤrgſten Moͤrder dem Volke vorſtellete, in Hofnung, die-
ſes wuͤrde doch nicht raſend ſeyn, und eher einen Moͤr-
der als einen Unſchuldigen losbitten. Aber der Poͤbel in
der Hauptſtadt, der von den Hohenprieſtern und Ober-
ſten ſeinen meiſten Vortheil hatte, uͤberſchrie das ver-
ſammlete Landvolk, was ſonſt uͤberall fuͤr Chriſtum war,
und forderte Barrabam, wogegen Pilatus nichts weiter
ſagen konnte. Jhm ſtand alſo das Begnadigungsrecht
ſo wenig als dem Kayſer zu, weil er ſonſt nach ſeinen Ge-
ſinnungen daruͤber an letztern berichtet haben wuͤrde.
Und ſo bleibt nichts uͤbrig, als dem verſammleten Volke
dieſen Theil des Majeſtaͤtsrechts zuzulegen.
Jndeſſen leugne ich nicht, daß der roͤmiſche Statt-
halter mehrmals einen Verurtheilten losgegeben haben
moͤge; wer die Macht hat, geht leicht uͤber die Form weg.
Vielleicht hatte er auch ein votum negativum. Und ſo
mochte
[142]Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks
mochte auch Pilatus jetzt etwas zum Vortheil Chriſti wa-
gen wollen; weil die Juden Chriſtum zuletzt eines Staats-
verbrechens beſchuldigten, und zu jenen ſagten: laͤßt du
dieſen los: ſo biſt du des Kayſers Freund nicht. Aber
darum bleibt es doch ein richtiger Satz, daß das Volk
am Oſterfeſte das Recht hatte die Loslaſſung eines Ge-
fangenen zu fordern; und hiezu weiß ich keinen beſſern
Grund als obiges Temperament unterzulegen.
Zwar koͤnnte man annehmen, daß dieſe Loslaſſung
zum Andenken ſeiner Loslaſſung aus der Egyptiſchen Scla-
verey, welche auch um Oſtern erfolgte, eingefuͤhrt ſey.
Man koͤnnte weiter annehmen, daß auch das Oſterfeſt
die Epoque ſeiner Befreyung aus der Babiloniſchen Ge-
fangenſchaft geweſen ſey. Allein da man es nicht ſo leicht
annehmen kann, daß das Volk unter ſeinen Richtern,
Prieſtern und Koͤnigen ein gleiches Recht gehabt habe:
ſo ſcheinet dieſes nicht wahrſcheinlich zu ſeyn; obgleich
die Roͤmer, welche den uͤberwundenen Voͤlkern ihren
Gottesdienſt, ihre Geſetze und ihre Gewohnheiten gern
goͤnneten, auch in dieſem Fall jenes Recht der Oſterbitte
verehret haben wuͤrden. Denn waͤre es zum Andenken
der Erloͤſung aus Egypten eingefuͤhrt: ſo wuͤrden ſich da-
von aͤltere Spuren und wahrſcheinlich auch eine Moſal-
ſche Verordnung finden.
Es iſt uͤbrigens kein Volk bekannt, was auf dieſe
Art das Begnadigungsrecht ausgeuͤbt hatte. Burnaby
erzaͤhlt von Rhode Jßland, daß das dortige Volk ſolches
an ſich genommen haͤtte, und von andern Staaten weiß
man, daß das Volk ſich jedes Urtheil uͤber Leib und Le-
ben vorbehalten und ſolchergeſtalt was dieſe beyde Punkte
anlangt, die richtende und geſetzgebende Gewalt wider-
natuͤrlich vereinigt habe; ſo war es bey den alten Deut-
ſchen.
[143]auf d. Oſterf., einen Gefangnen zu fordern.
ſchen. Allein das letztere iſt auf die Dauer mit gar zu
vielen Umſtaͤnden verknuͤpft, und die Juſtitzpflege auf
Rhode Jßland iſt im ſchlechten Rufe. Blos ein ſolcher
Plan, wie der juͤdiſche war, konnte ſich erhalten. Denn
das Recht alle Jahr einen Gefangenen los zu machen iſt
ein uͤberaus feiner und gluͤcklicher Mittelweg, faſt wie
derjenige, welchen die alten Sachſen erwaͤhlet hatten, die
das Recht der Begnadigung dem Kayſer einraͤumten,
aber dem Begnadigten keinen Aufenthalt im Lande ver-
ſtatteten.
XXXVII.
Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.
Es iſt eine bekannte Wahrheit, daß in dem hieſigen
Zuchthauſe immerfort zehn wo nicht zwanzigmal
mehr Maͤnner als Weiber geſeſſen haben; und ich hoffe
nicht, daß mir das ſchoͤne Geſchlecht daruͤber boͤſe wer-
den wird, wenn ich hiemit oͤffentlich ſage, daß es die bel
etage, welche fuͤr daſſelbe darinn zurecht gemacht iſt, gar-
aus nicht verdiene, und zugleich meine Gedanken daruͤ-
ber vorlege, wie dieſes Stockwerk beſſer genutzt werden
koͤnne?
Dieſe gehn kuͤrzlich darauf hinaus, daß man daſſelbe
blos mit ſichern Leuten beſetzen, und durch dieſelben zu-
gleich die unſichern im oberſten Stockwerk, bewahren
und bewachen laſſen ſolle, wodurch allein in der Bewa-
chung jaͤhrlich mehr erſparet werden wird, als der Unter-
halt aller unſichern Zuͤchtlinge koſtet.
Un-
[144]Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.
Unſtreitig fallen hier im Lande, ſo gut wie in an-
dern, viele Verbrechen einheimiſcher Leute vor, welche
mit einigen Monaten oder Jahren im Werkhauſe gebuͤſſet
werden koͤnnen und muͤſſen. Dergleichen Verbrecher wer-
den um dieſer Strafe zu entgehen gewiß das Land nicht
verlaufen, oder wo ſie es anfangs thun, nur in keinem
Falle begnadiget werden duͤrfen, um die kuͤnftigen ohne
alle auſſerordentliche Bewachung im Werkhauſe zu erhal-
ten. Man hat an vielen Orten Werkhaͤuſer, woraus
die Eingeſperreten in die Stadt zur Arbeit vermiethet
werden, und zu der ihnen geſetzten Stunde frey aus- und
eingehen koͤnnen, bey dem allen aber in guter Zucht und
Ordnung bleiben. Die Sache iſt alſo ſo wenig ohne Ex-
empel als ohne Hofnung eines guten Erfolgs: und wenn
einmal das unterſte Stockwerk auf dieſe Art zum bloßen
Werkhauſe beſtimmt, mithin von dem eigentlichen Zucht-
hauſe, welches ſo dann auch fuͤr die darinn ſitzende,
ſchimpflicher und empfindlicher werden wird, abgeſondert
iſt: ſo leidet es auch wohl keinen Zweifel, daß darauf
nicht in mehrern Faͤllen als jetzt erkannt, und mancher
ungerathener Menſch, mancher ſchlechter Wirth, und
mancher andrer Frevler, den man eben nicht zum Zucht-
hauſe verdammen mag, darinn gebeſſert werden koͤnne.
Aus dergleichen Leuten, welche wie geſagt, das Land
nicht verlaufen koͤnnten und wuͤrden, waͤren nun leicht
alle Naͤchte, unter gehoͤriger Abwechſelung, einige zu
Waͤchtern zu gebrauchen; man koͤnnte ſie die Stelle der
Zuchtknechte vertreten laſſen, und zu allerhand Arten von
Arbeiten, welche jetzt fuͤr Geld verrichtet werden muͤſſen,
nuͤtzen, ohne daß es noͤthig waͤre, ihnen eine Begleitung,
als welche man doch immer gern erſparen will, mitzuge-
ben. Eine Verlaͤngerung ihrer Strafe, und eine gute
Zuͤch-
[145]Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.
Zuͤchtigung wuͤrden allenfalls hinreichen, ſie in gehoͤriger
Ordnung zu erhalten.
Ueberhaupt dienen meiner Meinung nach die Werk-
haͤuſer einem Staate mehr als die Zuchthaͤuſer. Denn
außer dem, daß dieſe nicht immer fuͤr uns und unſre Kin-
der ſind, gleichwohl aber dem Staate, der ehedem die
fremden Diebe mit einem eben nicht viel koſtenden Brand-
marke, abfertigen konnte, ſehr zur Laſt fallen, und oft
die guten Einwohner mehr druͤcken, als die boͤſen beſſern:
ſo werden mehrentheils nur ſolche darin gezuͤchtiget, an
denen alle Hofnung zur Beſſerung verlohren iſt, und die-
ſes iſt doch der wenigſte Nutze fuͤr den Staat, dem es
unſtreitig mehrern Vortheil bringt, wenn er viele ſchlechte
Leute darin beſſern, und aus ihnen gehorſame und fleiſ-
ſige Unterthanen machen kann, als wenn er das Zucht-
haus blos zum Bauer fuͤr ſolche Voͤgel gebraucht, die
nicht frey herum fliegen ſollen.
Die letztere Abſicht iſt zu klein fuͤr die Anlage und
nicht wuͤrdig genug. Zwar thun einige ſehr aͤngſtlich hie-
bey, und glauben nicht ſicher ſchlafen zu koͤnnen, ſo lange
noch ein ſolcher Raubvogel frey herumfliegt. Allein ich
finde doch nicht daß die Zeiten und Laͤnder, worin man
keine Zuchthaͤuſer hatte, ungluͤcklicher als diejenigen ge-
weſen ſind, worin man dergleichen koſtbarlich unterhaͤlt;
ich finde nicht daß unſre Vorfahren unruhiger geſchlafen
haben, da man ſich blos mit der Landesverweiſung be-
helfen mußte; und man wird bey einem leicht zu ma-
chenden Ueberſchlage finden, daß die Uebelthaten ſich in
beyden Zeiten und Laͤndern gleich verhalten haben. Unſer
Hauptuͤbel iſt nur, daß unſre Staaten jetzt zu klein ſind,
und ein Dieb, der des Landes verwieſen wird, nicht weit
zu gehen braucht, um ſich eine gute Wohnung und Ge-
legenheit wieder zu miethen. Daher hat die Landesver-
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Kwei-
[146]Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.
weiſung befonders in ſolchen Staaten, wo es eben nicht
angenehm zu wohnen iſt, ſehr vieles von ihrem Werthe
wie von ihrem Nutzen verlohren; in den alten Zeiten
wie die Kreisſtaͤnde ſich hieruͤber verſtanden, und diejeni-
gen die aus einem Lande verwieſen waren, in einem an-
dern deßelbigen Kreiſes nicht aufgenommen wurden,
mochte man mehr damit ausrichten. Unſre Vorfahren,
die allemal reich an praktiſchen Erfindungen waren, hat-
ten ein vortrefliches Mittel hieruͤber ohne viele Umſchwei-
fe, eine nachbarliche Correſpondenz zu unterhalten. Sie
ſtempelten den Verbrecher mit einem gluͤenden Eiſen auf
den Ruͤcken, und nirgends ward ein Neuwohner aufge-
nommen ohne zufoͤrderſt der Obrigkeit, unter welcher er
aufgenommen ſeyn wollte, einen reinen Ruͤcken zu zeigen.
Wenn wir dieſe Erfindung, welche zum Theil durch un-
ſre neumodiſche Menſchenliebe verſcheucht iſt, wieder auf-
naͤhmen: ſo wuͤrden wir vielleicht damit eben ſo gut aus-
langen, als man damit in den Zeiten, wie noch gar kei-
ne Zuchthaͤuſer und mehr reiche Leute als jetzt in der
Welt waren, ausgelangt iſt.
Eben dieſe allmaͤhlig eingeſchlichene Empfindſamkeit
hat, indem ſie einige Strafen gemildert, ſolche nur haͤu-
figer noͤthig gemacht. Man hat in verſchiedenen deut-
ſchen Stadtrechten viele ſonderbar ſchimpfliche und kraͤn-
kende Strafen gegen allerhand Garten- und Felddiebe-
reyen gehabt; und es iſt glaublich, daß das Exempel,
was damit an Einem gegeben worden, zehn andre be-
kehrt habe. Jetzt ſind wir gelinder, und die Folge da-
von iſt, daß wir zehn Leute ſtatt einen ſtrafen muͤſſen.
Jn den aͤlteſten Zeiten und bey allen Voͤlkern iſt das Blen-
den eine ſehr gewoͤhnliche Strafe geweſen, ſie vertrat die
Stelle der Lebensſtrafe, und ich glaube, daß ſie die fuͤrch-
terlichſte
[147]Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.
terlichſte unter allen ſey. Jetzt haben wir ſolche verlaſſen,
weil wir glauben, man koͤnne das Ebenbild Gottes wohl
an den Galgen hangen, aber nicht ſeiner Augen berau-
ben. Allein ob wir wohl daran gethan haben, und ob
es nicht den groͤßten Eindruck machen wuͤrde, wenn noch
jetzt Uebelthaͤter geblendet, und zum Radlauſen verkau-
fet wuͤrden, iſt eine andre Frage. Zum Radlaufen fin-
det ſich uͤberall Gelegenheit, und unſre Glandern, welche
jetzt ein Pferd koſtbarlich zieht, koͤnnten weit wohlfeiler
mit einem Rade, worin ein ſolcher Geblendeter laufen
muͤßte, getrieben werden. Er kann ſeinem Herrn nicht
entlaufen, und allemal leicht von ihm gezuͤchtiget werden.
Das Verkaufen der Uebelthaͤter die es verdient hat-
ten, war auch gar keine uͤble Strafe, und man thut es
noch in verſchiedenen Seehaͤfen, wo man Gelegenheit
hat, ſolche weit fortſchicken zu koͤnnen. Ein Menſch der
mit oder ohne Brandmark des Landes verwieſen wird,
kann ſich noch in alle vier Theile der Welt wenden, und
ſein Gluͤck von neuem verſuchen. Dieſes kann der Ver-
kaufte ſo gleich nicht, und es iſt immer ein Grad der
Sicherheit mehr dabey, als bey der bloßen Landesver-
weiſung, womit man doch ehe und bevor Zuchthaͤuſer
Mode waren, vieles bezwingen mußte. Was kann uns
alſo hindern den Verkauf wieder einzufuͤhren? die Reichs-
geſetze nicht, dieſe verbieten nur das Verkaufen eines
Chriſten an die Unglaͤubigen; die Unſicherheit auch nicht,
da ſie nicht ſo groß iſt, als bey der ſonſt uͤblichen Lan-
desverweiſung; und Wiederkehren darf der Verkaufte
nicht, weil der Verkauf die Landesverweiſung in ſich be-
greift. Geſchaͤhe der Verkauf ſolcher Uebelthaͤter endlich
an einen Nachbaren: ſo wuͤrde auch dieſer ihnen auf den
Fall, da dergleichen Sclaven die Flucht ergriffen, keine
K 2Woh-
[148]Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.
Wohnung auf der Graͤnze geben. Der Verkaufte wuͤrde
aber immer mit dem gluͤenden Eiſen geſtempelt, und eine
Konfoͤderation mit den Nachbaren, daß man keine alſo ge-
ſtempelte Neuwohner aufnehmen wolle, errichtet werden
muͤſſen, um den Verkauften, wenn er ſich auf freye Fuͤße
ſetzen ſollte, zuverhindern, ſich an unſern Graͤnzen haͤuslich
niederlaſſen zu koͤnnen.
Auf dieſe Weiſe, wird man ſagen, wuͤrden derglei-
chen Verkaufte und Verbannte, aus Mangel einer Woh-
nung, nothwendig Straſſenraͤuber und alſo auch gefaͤhr-
licher werden muͤſſen. Allein einmal iſt der Staat, der
den Verbrecher verkauft, hieran unſchuldig; dieſer hat
ihm damit einen Aufenthalt verſchaft, der ihn von der
Nothwendigkeit ein Raͤuber zu werden befreyt. Wird er
es aber doch: ſo iſt er weniger zu fuͤrchten, als ein Haus-
ſitzender Dieb, denn ein Straſſenraͤuber laͤuft bald an
den Galgen.
Ferner, kann der Kaͤufer ſeinen Sclaven ſo ſicher
bewahren als der Zuchtmeiſter, und man hat Exempel
daß letzterem auch Leute entlaufen ſind; und letztlich hat
man zur Zeit, wie man die Verbrecher mit dem Stem-
pel in die Welt ſchickte, nicht mehrere Straſſenraͤuber ge-
habt als jetzt. Die ganze philoſophiſche Welt klagt dar-
uͤber, daß bey allen Arten von Strafen die Summe der
Verbrecher in der Welt, immer gleich groß bliebe; und
die Wahrheit iſt, daß Armuth und Roth die mehrſten
Verbrecher zeugen, welche als Diebe und Raͤuber gehan-
gen werden; und daß alle Strafen nur dem Scharfrich-
ter und ſeinen Knechten, aber keinen andern den Lebens-
unterhalt verſchaffen.
Aber wo werden ſich die Liebhaber finden, welche
bey einer ſolchen Menſchenverſteigerung mit bieten wer-
den? Je nun das ſtuͤnde zu erwarten; .... man koͤnnte
es
[149]Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.
es ja durch die Jntelligenzblaͤtter bekannt machen laſſen;
eine genaue Beſchreibung der Waare lockte vielleicht noch
Liebhaber herbey, die uns jetzt unbekannt ſind; und wer
weiß ob nicht mancher Verkaufter eher als ein Zuͤchtling
gebeſſert wuͤrde? So viel iſt wenigſtens gewiß, daß je-
mand, der ſich die Beſſerung eines einzelnen Menſchen
angelegen ſeyn laͤßt, damit eher als der Zuchtmeiſter,
der mit vielen zu thun hat, zu Stande kommen werde.
Man weiß die Geſchichte des Maͤdgens, das des Mor-
gens den Staupbeſen mit dem Brandmarke empfangen
hatte, und des Abends hundert tauſend Gulden in der
Lotterie gewann; ſie ward unter der Zucht eines einzigen
guten Mannes einne beſſere Frau, als ſie jemals im
Zuchthauſe geworden ſeyn wuͤrde.
XXXVIII.
Rede eines Baͤckers uͤber die Backproben.
Der Becker muͤßte ſein Handwerk ſchlecht verſtehen,
der euch Schriftgelehrten nicht allemal die Probe
ſo machen koͤnnte, daß er Recht behielte. Verſtehet er
die Kunſt aus vierzig Pfund Roggen nur dreißig Pfund
Mehl und aus zwey Pfund Mehl nur zwey Pfund Brod
zu liefern: ſo verſteht er wahrlich auch die Kunſt das
Mehl ſo zu ſieben, den Teig ſo zu kneten, und den Ofen
ſo zu hitzen, daß ihr durch eure ſpaniſchen Brillen nichts
ſehen werdet, als was er euch ſehen laſſen will. Da wo
ich zu Hauſe gehoͤre, und nur Weitzenbrod gegeſſen ward,
lieferte der Baͤcker zuerſt von drey Pfund Mehl vier Pfund
Brod, und als er ſich hiedurch zu ſehr beſchwert glaubte,
fuͤnf Pfund Brod von vier Pfund Mehl; und ein glei-
K 3ches
[150]Rede eines Baͤckers
ches denke ich muͤßte auch von Roggen geſchehen koͤnnen,
beſonders wo das Roggenbrod in Leiben von zwey Pfund
gebacken wird, weil das groͤbſte Mehl das mehrſte Waſ-
ſer zieht, und das große Brod im Ofen am wenigſten
ausduͤnſtet. Jedoch ich will mich hiebey nicht aufhalten,
ſondern euch nur im Vertrauen fragen: wie ihr die Pro-
be anſtellen wollet?
Zufoͤrderſt wiſſet ihr noch gar nicht genau, wie viel
Pfund Mehl und Kleyen von einem Scheffel Roggen aus
der Muͤhle kommen. Etwas nimmt der Muͤller zum Lohn
und das wird ſich beſtimmen und berechnen laſſen. Et-
was koſtet die Muͤhlenfuhr, und etwas verfliegt; auch
das laͤßt ſich beſtimmen. Aber nun mahlt der eine Muͤl-
ler und die eine Muͤhle weit ergiebiger als die andre; es
mahlt ſich bey trockner Witterung beſſer als bey feuchter:
und ein Muͤller iſt ehrlicher als der andre. Sodann
giebt Roggen von Sande, von einer trocknen Erndte, ſo
wie gedoͤrreter und alter Roggen weit mehr Mehl als der
leichte hohle und dickhaͤutige von ſchlechterm Gewaͤchſe. Und
wenn ihr auch ein Gemiſche von allerhand Arten Korn
nehmet, wie es die Muͤhle liefert; wenn ihr auch im
Durchſchnitte berechnet, was in hundert Proben ſo an
hundert Tagen, mit der naͤmlichen Art Korn, und von
dem naͤmlichen Gewichte, aus den verſchiedenen Muͤhlen
zuruͤckgekommen: ſo habt ihr noch nichts weiter, als eine
gewiſſe Summe von Pfunden an Mehl und Kleyen durch-
einander, und wißt ungefehr was ihr an dem Gewichte
des Roggens verlohren habet. Jhr wißt aber nicht, ob
die Kleyen rein ausgemahlen, und ob folglich ſo viel
Mehl aus dem Siebe kommen werde, als ihr daraus zu
erwarten berechtiget ſeyd. Dies kann nach der Art des
Korns, des Mahlens und der Witterung, immer um 10
und 20 vom Hundert fehlen. Und der Baͤcker, der es
ein
[151]uͤber die Backproben.
ein oder zweymal ſiebt, oder beutelt, muͤßte ein ſehr un-
erfahrner Mann ſeyn, der auch nicht bey der Probe fuͤnf
Pfund vom Hundert mehr oder weniger in die Luft ſchik-
ken oder in den Kleyen zuruͤcklaſſen koͤnnte.
Wenn ihr aber auch wißt was an Mehl aus dem
erſten und andern Siebe, oder aus der Beutelkiſte
koͤmmt; ſo tritt ſchon wieder eine andre Ungewisheit ein,
indem das geruhete und getrocknete Mehl ſchon weit er-
giebiger als das friſche, ſo wie das eine Gewaͤchs gedey-
licher als das andre iſt. Es tritt eine neue Ungewisheit
beym Kneten ein, weil euch eure eigne Erfahrung uͤber-
zeugen kann, daß der Baͤcker immer fuͤnf Pfund Brod
mehr aus hundert Pfund Mehl backen kann, als ihr
daraus zu backen im Stande ſeyn werdet. Jeder hat
hierin ſeine eigne Kunſt; hundert Pfund von eurem eig-
nen Brode ſind immer ſo nahrhaft als hundert fuͤnfe vom
Baͤcker. Aber dieſer verſteht ſich beſſer aufs Gewicht zu
backen als ihr; und wenn er nun dieſe Wiſſenſchaft bey
der Probe nicht zeigt: ſo ſeyd ihr doch wieder hintergan-
gen: das rechte Maaß des Waſſers, was zum Teige ge-
hoͤrt, kann nur ein erfahrner Baͤcker wiſſen; und ein bis-
gen mehr oder weniger bey der Probe macht wieder ei-
nen wichtigen Unterſchied. So dunſtet auch grobes Mehl
im Backen mehr aus als feines, und der Geſt ....
doch was hilft es daß ich euch Gelehrten alle meine Ge-
heimniſſe entdecke? Jhr prahlt nur damit und nuͤtzet ſie
doch nicht. Wer mir funfzig Ducaten giebt, dem will
ich es entdecken wie alle Baͤcker reich werden. Aber um-
ſonſt bin ich nichts weiter als
Dero gehorſamer Diener.
K 4XXXIX.
[152]Gewiſſensfrage eines Advokaten.
XXXIX.
Gewiſſensfrage eines Advokaten.
Jch bin ein Advocat, und habe ſchon manche. Sache
vor Gerichte vertheidigt, aber unter allen noch keine
ſo ungerecht gefunden, daß ich ſolche abzuweiſen noͤthig
erachtet haͤtte. Gleichwohl iſt meine Parthey mehr als
einmal in alle Koſten verdammt worden, und ich habe
daraus ſchließen muͤſſen, daß ich mich mit Vertheidigung
einer ungerechten Sache abgegeben habe. Dieſes beun-
ruhiget mich, und ich moͤchte daher gern wiſſen, wie weit
die Graͤnzen meiner Pflicht gehen?
Ein alter guter Freund ſagte mir, der Advocat ver-
hielte ſich wie ein Soldat, der die Sache ſeines Herrn
aufs beſte vertheidigen muͤßte, ohne ſich um die Gerech-
tigkeit derſelben zu bekuͤmmern; ſo wie die raiſon de guerre
es mit ſich braͤchte, daß man gegen ſeinen Feind kein Gift
gebrauchen, und keine Patroullen ermorden duͤrfte: ſo
braͤchte es auch die raiſon du barreau mit ſich, daß man
nur keine falſche Urkunden und falſche Zeugniſſe gebrau-
chen, und wenn die Parthey des Krieges muͤde waͤre, die-
ſelbe nicht vom Frieden abrathen muͤßte, weiter gienge
die Pflicht des Advocaten nicht.
Allein dieſe Vergleichung iſt meines Ermeſſens nicht
voͤllig genau. Es ſind hoͤhere Urſachen, warum der Sol-
dat ſich nicht um die Gerechtigkeit der Sache, wofuͤr er
ſein Leben wagt, bekuͤmmern darf; und daß einer ſich
keiner Betruͤgerey ſchuldig machen, und keine Partheyen
die den Frieden ſuchen, gegen einander verhetzen duͤrfe,
iſt eine gemeine Pflicht, die allen Menſchen obliegt. Je-
ne
[153]Gewiſſensfrage eines Advokaten.
ne Frage iſt alſo dadurch nicht eroͤrtert; und ob mir gleich
andre ſagen, der ſicherſte Weg ſich in ſolchen Faͤllen zu
rathen, ſey dieſer, daß man nicht gegen ſein eignes Ge-
wiſſen handle, und die Vertheidigung keiner Sache uͤber-
nehme, die man ſelbſt ungerecht findet: ſo iſt mir doch
auch damit nicht ſattſam geholfen, weil ich mehrmals
bemerket, daß eine Sache die mir anfangs ungerecht ge-
ſchienen hat, in der Folge, wenn ich erſt von allen Gruͤn-
den und Umſtaͤnden erwaͤrmet worden bin, eine ganz an-
dre Geſtalt gewonnen habe. Und ſo habe ich immer alle
Sachen, die mir beym erſten Anblick ungerecht ſchienen,
aus einem billigen Mißtrauen in meine erſten Einſichten
annehmen muͤſſen. Daher mag es auch gekommen ſeyn,
daß ich noch niemals in dem Falle geweſen bin eine mir
aufgetragene Vertheidigung abzulehnen.
Es muß alſo entweder einem Advocaten erlaubt ſeyn,
alle Sachen ohne Unterſchied anzunehmen, und zu ver-
theidigen; oder man muß ihm einen Probierſtein anwei-
ſen, woran er ſo fort die falſchen von den echten unter-
ſcheiden koͤnne; und um die Mittheilung dieſes Probier-
ſteins bittet inſtaͤndigſt
N. N.
Adv. immat.
XL.
Vorſchlag zu einem neuen Plan der deut-
ſchen Reichsgeſchichte.
Jn der Geſchichte des deutſchen Reichs ſetzt man ins-
gemein mit Carl dem Großen oder Ludewig dem
Deutſchen ein, und holet dabey die vorhergegangene
K 5Ver-
[154]Vorſchlag zu einem neuen Plan
Verfaſſung ſummariſch auf; oder man faͤngt mit dem Ur-
ſprung der Nation an, und indem man deren ihre Schick-
ſale erzaͤhlt, webet man die Geſchichte des von ihr geſtif-
teten Reichs mit in. Beyde Methoden haben unſtreitig
ihren Werth, und faſt moͤchte ich ſagen, daß ſie fuͤr den
Anfaͤnger, der durchaus ein richtiges und lebhaftes Ge-
fuͤhl der Zeitordnung haben muß, worin die Begebenhei-
ten vorgefallen ſind, die beſten ſind. Allein der Kenner,
der nun einmal Zeichnung und Ordnung verſteht, und
endlich ein wohl ausgefuͤhrtes Ganze zu ſehen wuͤnſchet,
findet dabey ſein Vergnuͤgen nicht; und der Hofmann,
der immer erſt einen langen gothiſchen Kloſtergang durch-
wandern ſoll, ehe er in das Cabinet des Praͤlaten koͤmmt,
verliert oft unterwegens ſeine beſte Laune; dabey wird
ſich der arme Geſchichtſchreiber, wenn er anders ein
Mann von Geſchmack und Gefuͤhl iſt, nie genug thun
koͤnnen; die Gallerie iſt zu lang, und wenn er auch die
beſte Wahl unter den Begebenheiten trift, die er darin
ſchildert: ſo wird ſie ihm doch nie als ein großes Ganze
gerathen. Jn der Epopee hat man daher laͤngſt einen
andern Weg genommen, und der Einheit oder einem voll-
ſtaͤndigen Ganzen zu gefallen, mit dem Helden deſſelben
angefangen, ſodann aber das vorhergegangene auf eine
geſchickte Art eingeflochten.
Den Vortheil dieſer Methode brauche ich Kennern
nicht zu ſagen; jeder von ihnen hat ihn laͤngſt gekannt
und gefuͤhlt, und Robertſon hat ihn in allen Geſchichten
die er uns geliefert hat, gebraucht. So gar Mallet fieng
die Braunſchweigſche Geſchichte mit Henrich dem Loͤwen
an, und holte den Urſprung der Guelfen nach. Allein
in der allgemeinen deutſchen Geſchichte hat noch keiner,
ſo viel ich weiß, eine ſo gluͤckliche Epoche zu waͤhlen und
zu nutzen geſucht.
Gleich-
[155]der deutſchen Reichsgeſchichte.
Gleichwohl liegt es einem jeden klar vor Augen, daß
ſich mit dem Landfrieden von 1495 ein ganz neues Reich
angefangen, und das alte, man mag es nun mit Carl
dem Großen oder Ludewig dem Deutſchen oder auch noch
ſpaͤter anfangen laſſen, voͤllig aufgeloͤſet habe. Der wahre
Publiciſt, wenn er die Rechte des Kayſers und der Reichs-
ſtaͤnde beſtimmen will, geht nicht uͤber jenen Landfrieden
hinaus, und der Staatsmann benutzt die voraufgehen-
den Begebenheiten hoͤchſtens in der Maaße, wie Mon-
tesquieu die alten Geſetze, und Winkelmann die halb-
verwitterten Bruchſtuͤcke der Kunſt benutzet haben; meh-
rentheils nur zur Philoſophie der Geſchichte.
Meiner Meinung nach muͤßte eine Geſchichte unſers
heutigen deutſchen Reichs mit dieſer großen und gluͤckli-
chen Confoͤderation, welche unter dem Namen des Maxi-
milianiſchen Landfriedens bekannt iſt, anfangen, und
dabey der Anfang und der Fortgang, ſo wie die gaͤnzli-
che Zertruͤmmerung des aͤltern Reichs, in eine einzige
Handlung, in eine einzige Darſtellung verwandelt wer-
den. Aus der letztern ließe der Geſchichtſchreiber erſt die
Nothwendigkeit dieſer neuen Vereinigung hervorgehen,
zeigte dann ihre Formel, und braͤchte nun alles uͤbrige,
was ſeit dem vorgefallen iſt, als Verbeſſerungen und
Verſchlimmerungen des neuen Syſtems bey.
Das alte Reich endigte ſich mit Provincial-Landfrie-
den und Verbindungen, welche zuletzt ſo viel kleine von
einander unabhaͤngige Staaten hervorgebracht haben
wuͤrden, als dergleichen Buͤndniſſe vorhanden waren;
oder dieſe haͤtten mit offenbarer Gewalt der Waffen zer-
trennet und uͤberwunden werden muͤſſen. Zu dem neuen
hingegen confoͤderiren ſich erſt einige Fuͤrſten und Staͤnde,
dieſe laden andre zu ſich, bis ſie zuletzt ſich alle zu einem
gemein-
[156]Vorſchlag zu einem neuen Plan
gemeinſamen Zwecke verbinden, ein gemeinſchaftliches
Reichsgerichte zur Handhabung der Bundesrechte errich-
ten, demſelben eine Gerichtsordnung vorſchreiben, die
Mittel zur Execution gegen die Friedebrecher anweiſen,
und den Kayſer als ihren Hauptherrn verbinden, dafuͤr
zu ſorgen, daß alles, woruͤber die Confoͤderirten ſich ſol-
chergeſtalt mit ſeiner Bewilligung verſtanden und vereini-
get haben, auf das genaueſte ins Werk geſetzt, und darin
erhalten werde. So wie dieſes mit vieler Muͤhe befeſti-
get und die Confoͤderationsformel zur neuen Reichsfor-
mel gemacht iſt, verbeſſert ſich auch der innere Zuſtand
des Reichs, beſonders in ſeinen Policey- und Vertheidi-
gungsanſtalten augenſcheinlich; jede Landesobrigkeit hat
unter dem Schutz der Landfriedensgerichte Ruhe und Zeit,
auch gute Einrichtungen in ihrem Theile zu machen; alle
nun vorfallende Reichshandlungen gehn immer auf den
Zweck der Confoͤderation, ſich mit vereinten Kraͤften je-
dem auswaͤrtigen Angriffe und jeder innerlichen Zerruͤt-
tung zu widerſetzen. Man ſchreibt den Kayſern durch
Capitulation vor, was ſie als oberſte Landfriederichter
zu thun und nicht zu thun haben; wie dieſes noch alles
nicht vollkommen zum Zwecke der Confoͤderation wuͤrken
will, entſteht zur beſſern Correſpondenz und Controle un-
ter den Verbundenen, ein beſtaͤndiger Reichstag — Mit
einem Worte, die ganze deutſche Geſchichte von der Zeit
des Maximilianiſchen Landfriedens an bis auf die gegen-
waͤrtige Stunde, verwandelt ſich in eine einzige Darſtel-
lung, in die Vervollkommerung der damit zum Grund-
geſetze des neuen Reichs gemeinſchaftlich angenommenen
Formel; und der Geſchichtſchreiber der von hier aus-
gienge, wuͤrde dadurch alle Vortheile gewinnen, die der
Epopeendichter ſo fruͤh genutzt hat; der Leſer aber, der
ſein jetziges deutſches Vaterland kennen will, ſo gleich
auf
[157]der deutſchen Reichsgeſchichte.
auf die rechte Bahn gerathen und darauf mit Vergnuͤ-
gen wandeln.
So lange wir aber den Plan unſrer Geſchichte auf
dieſe oder eine andre Art nicht zur Einheit erheben, wird
dieſelbe immer einer Schlange gleichen, die in hundert
Stuͤcke zerpeitſcht, jeden Theil ihres Koͤrpers der durch
ein bisgen Haut mit dem andern zuſammen haͤngt, mit
ſich fortſchleppt; und der Hauptfaden eines Puͤtters, ſo
feſt und ſchoͤn wie er auch gedreht iſt, wird dem Geſchicht-
ſchreiber nicht zum Seile dienen koͤnnen, um ſich in der
Hoͤhe zu halten. Er wird immer wechſelweiſe ſteigen und
fallen, und oft ſeine Verbindungen und Uebergaͤnge ſo
kuͤmmerlich ſuchen muͤſſen, daß auch das Colorit eines
Schmids in ſeiner Geſchichte der Deutſchen nicht hin-
reicht, um dieſe Flickerey dem Auge zu entziehen; oder
wir muͤſſen, wie unſer Landesmann Hegewiſch in ſeiner
Geſchichte Carl des Großen und Ludewig des Frommen
gethan hat, aus der Lebensgeſchichte eines jeden Kayſers
eine beſondre Epopee machen, welches aber nie zu einer
vollſtaͤndigen Reichshiſtorie, die einzig und allein in der
Naturgeſchichte ſeiner Vereinigung beſtehn kann, fuͤhren
wird. Wir werden dann nur einzelne ſchoͤne Gemaͤhlde
aber keine in Eins zuſammenſtimmende Gallerie erhal-
ten; und der groͤßte Mahler kann mit den alſo geſtelle-
ten Gegenſtaͤnden, ſo viel ich von der hiſtoriſchen Kunſt
verſtehe, niemals Ehre einlegen.
XLI.
[158]Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe.
XLI.
Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe.
Unter Otto dem Großen wurde in einem Proceſſe uͤber
die Frage geſtritten: Wenn ein Erblaſſer Soͤhne
und Enkel hinterließe, ob die letztern in ihres verſtorbe-
nen Vaters Stelle treten und durch denſelben mit den
Soͤhnen erben koͤnnten oder nicht? Und der Koͤnig fand
es noͤthig, die Reichsfuͤrſten daruͤber zu vernehmen, was
in dieſem Falle zu thun ſey, worin es noch an einem
allgemeinen deutſchen Geſetze ermangelte, indem das roͤ-
miſche Recht damals noch nicht bey uns angenommen
war. Dieſe riethen zu Schiedsrichtern, aber der Koͤnig
fand es unanſtaͤndig und ſchimpflich *) die Edlen und Fuͤr-
ſten des Volks [folgergeſtalt] der Weisheit, oder welches
einerley iſt, der Willkuͤhr andrer zu unterwerfen, und
befahl dafuͤr, das Recht durch den Kampf ſuchen zu laſ-
ſen; worin auch nachwaͤrts derjenige ſiegte, welcher fuͤr
das Recht der Enkel geſtritten hatte.
Hier ſieht man recht die Barbarey unſrer Vorfah-
ren, ſagen unſre neuern Weiſen; die Wahrheit mit dem
Degen zu ſuchen, kann nur Menſchen einfallen, die ge-
wohnt ſind alles auf die Fauſt ankommen zu laſſen. Aber
ſo ſonderbar uns auch gegenwaͤrtig der Ausſpruch des
Koͤnigs vorkoͤmmt: ſo liegt doch in der That ein ſo fei-
nes Gefuͤhl von Ehre darin, daß wir alle Urſache ha-
[159]Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe.
ben zu glauben, er ſey mehr aus einer hohen als rohen
Denkungsart gefloſſen.
Der Koͤnig ſagt, es ſey ſchimpflich und unanſtaͤndig
die Edlen ſeines Reichs Schiedsrichtern zu unterwerfen,
und unſtreitig verſtand er den Fall, wider ihren Willen;
denn ſo bald ſie es ſelbſt darauf ankommen ließen, und
ſich dergleichen erwaͤhlten, konnte es unmoͤglich unanſtaͤn-
dig ſeyn. Schiedsrichter die nicht erwaͤhlt ſind, und den
Partheyen wider ihren Willen aufgedrungen werden, ha-
ben in Ermangelung eines ausdruͤcklichen Geſetzes, nichts
als ihr eignes Recht und Gutduͤnken zu befolgen, und
dieſes kann fuͤr andre nie verbindlich werden. Kaum er-
laubt man es einem ordentlichen Richter den Partheyen
in geringen und zweifelhaften Sachen einen Vergleich nach
ſeinem Recht- und Gutduͤnken aufzulegen, und ſie damit
zur Ruhe zu weiſen.
Aber wird man ſagen, warum machte der Koͤnig
nicht ſo gleich mit ſeinen Reichsſtaͤnden ein Geſetz, daß
die Enkel in des Vaters Stelle treten ſollten? Hierauf
antworte ich, das konnte er nicht. Denn erſtlich hatte
jeder Gow und jeder Hof (curia), man mag ſich einen
Oberhof von Lehns- und Dienſtmaͤnnern, oder einen Unter-
hof von gemeinen Hofesgenoſſen darunter denken, in der-
gleichen Faͤllen ſeine eigne Autonomie; und warum ſoll-
ten die Edlen des Reichs dieſer ihrer Autonomie mehr
beraubt werden als jene? Laͤßt man doch jeden Vater das
Recht unter ſeinen Kindern zu verordnen, und verſagt es
einem Staͤdtgen nicht die Gemeinſchaft der Guͤter durch
eine Willkuͤhr einzufuͤhren oder auszuſchließen? Zwertens
konnte der Koͤnig zwar ebenfalls mit den Reichsſtanden,
in ſo weit dieſe ihm mit Lehns- oder Dienſtpflicht verwandt
waren, ein Hofrecht weiſen laſſen. Aber was gieng die-
ſes die Edlen des Reichs an, die ihm mit keiner Lehns-
und
[160]Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe.
und Dienſtpflicht verwandt waren, und unter ſolchen, nicht
aber unter Lehn- und Dienſtleuten war der Proceß. Drit-
tens war das Recht, wie es ein jeder von den Edlen in
dergleichen Faͤllen, worin er ſeine Autonomie hatte, ge-
halten wiſſen wollte, ſo wenig ein Gegenſtand der Reichs-
ſtaͤndiſchen Verſammlung, als die Autonomie eines jetzi-
gen Souverains, der Gegenſtand einer Verſammlung
aller Souverainen ſeyn wuͤrde; es konnte daher ſo we-
nig durch die Mehrheit als die Uebereinſtimmung aller
uͤbrigen feſtgeſetzet werden, oder die Uebrigen haͤtten ſich
mit einander wie in Pohlen wider den Einen vereinigen
und ihn mit den Waffen noͤthigen muͤſſen, ſich ihren Aus-
ſpruͤchen zu unterwerfen. Dann aber waͤre dasjenige,
was Otto durch einen Zweykampf entſcheiden laſſen
wollte, durch einen Krieg entſchieden worden; oder der
Schwaͤchere haͤtte aus Furcht die Macht fuͤr Recht erken-
nen muͤſſen. Viertens waren ſchon eine Menge von Hof-
rechten oder Particulairgeſetzen vorhanden *), in deren
einem der Fall von den Hofesgenoſſen ſo, und in dem
andern anders entſchieden war; der Koͤnig mochte aber
dieſe Verſchiedenheit nicht nach Willkuͤhr abaͤndern, ohne
der Autonomie eines jeden Hofes vorzugreifen; und dann
wuͤrde es Fuͤnftens noch immer eine Frage geblieben ſeyn,
ob ein ſolches Geſetz auf einen vergangenen Fall gezogen
werden konnte?
Dieſe Schwierigkeiten, welche aus der Sache ſelbſt
hervor gehen, und aus der damaligen Sitte jedem ver-
nuͤnftigen Manne bekannt waren, hielten ſo wohl den
Koͤnig als die Reichsſtaͤnde ab, die Streitfrage durch ein
allgemei-
[161]Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe.
allgemeines Reichsgeſetz zu entſcheiden. Und ſo frag ich
was blieb nun noch uͤbrig?
Ein heutiger Juriſt wuͤrde ohne Zweifel antworten,
man haͤtte die Buͤcher nachſchlagen, und wie es in dieſem
Falle anderwaͤrts gehalten worden, aufſuchen, oder wohl
gar die Juriſten um ihre Meinung fragen ſollen. Aber
geſetzt es waͤren daruͤber hundert Goͤdingsſpruͤche oder
Rechtsweiſungen vorgebracht worden, worin der Fall fuͤr
den einen Theil waͤre entſchieden geweſen, und der an-
dre haͤtte deren gar keinen einzigen fuͤr ſich gehabt, haͤtte
dann das Urtheil des einen Gows oder des einen Hofes,
in einem andern Gowe oder Hofe, der ſeine eigne Auto-
nomie hat, als guͤltig und verbindlich angeſehen werden
koͤnnen? Waͤren die Edlen des Reichs ſchuldig geweſen
jene gemoinen Rechtsweiſungen gegen ſich als praejudicia
gelten zu laſſen? Und wann auch die Edlen in Schwaben
ſich laͤngſt vorher verſammlet gehabt, und wie ſie es in
ſolchen Faͤllen gehalten haben wollten, ausgemacht haͤt-
ten, wuͤrde ein Sachſe oder Franke darnach haben ver-
urtheilet werden koͤnnen? Die heutige Manier, in zwei-
felhaften Faͤllen auf benachbarte Rechte, oder eine ſo-
genannte gemeine Meinunge der Juriſten zu ſehen, ward
damals verabſcheut, weil kein freyer Deutſcher außer dem
Fall, da er aus freyen Stuͤcken Schiedsrichter waͤhlte,
die Meinung oder die Weisheit eines andern fuͤr ſein
Recht zu erkennen ſich ſchuldig erachtete, und noch jetzt
iſt die gerichtliche Entſcheidung nach Meinungen der
Rechtsgelehrten, immer ein ungluͤcklicher Nothbehelf,
wenn ſich ihm gleich auch Fuͤrſten unterwerfen muͤſſen.
Jch frage alſo nochmals was man thun ſollte?
Moͤglich waͤre es geweſen, die Frage durch ein paar
Wuͤrfel entſcheiden zu laſſen; auch das Loos iſt Gottes
Urtheil, dem ſich ein freyer Mann, ohne Gefahr will-
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Lkuͤhr-
[162]Große Herrn duͤrfen keine Freunde haben
kuͤhrlich zu recht gewieſen zu werden, unterwerfen kann.
Aber dieſes mochte dem Koͤnig auch nicht anſtaͤndig und
offenbar genug ſcheinen; darum zog er den Kampf, wozu
jede Parthey ihren Mann ſelbſt waͤhlte, und worinn nicht
allein beyde Theile, ſondern auch alle Reichsſtaͤnde wil-
ligten *), als das ſicherſte Gottes Urtheil, was durch
dieſe Wahl von aller Gefaͤhrde frey war, allen uͤbrigen
vor; und man muß es billig als ein Denkmal der deut-
ſchen Freyheitsliebe und des großen Gefuͤhls von Ehre
bewundern, daß ers that.
XLII.
Große Herrn duͤrfen keine Freunde haben
wie andre Menſchen.
Schreiben des Koͤnigs von — an — —
Jch danke ihnen fuͤr ihren wohlgemeinten Wunſch, ob
ich gleich keine Hofnung habe ihn jemals erfuͤllt zu
ſehn; auf Freunde und Freundſchaft muͤſſen wir Großen,
wie man uns nennt, Verzicht thun. Alles was Stren-
ges und Unangenehmes im Staate geſagt oder verfuͤgt
werden muß, koͤmmt auf Unſre Rechnung, die Herrn
Miniſter von dem groͤßten bis zum kleinſten ſchleichen ſich
hinter Jhro Majeſtaͤt, und ſo muͤſſen wir die Schuld von
allem
[163]wie andre Menſchen.
allem Boͤſen tragen, wozu wir aber ſchwerlich im Stande
ſeyn wuͤrden, wenn wir uns nicht ſo hoch hielten, oder
ſo hoch halten ließen, daß uns nicht ein jeder ins Herz
ſehen kann. Es iſt kein Suͤndenbock worauf ſo viel fremde
Schuld gelegt wird, als auf uns; dies iſt unſer Loos,
und zwar unſer von Gott gezogenes Loos, welches einer
fuͤr alle tragen muß, und was uns immer noͤthigen wird
auf einer gewiſſen Hoͤhe zu bleiben, die ſich mit der Freund-
ſchaft nicht zu wohl vertraͤgt. So gar wird es uns von
Jugend auf zum Geſetz gemacht, gar keine vertrauete
Freunde zu haben oder zu hoͤren. Wie leicht zoͤgen wir
ſonſt einen Mann, der weniger Verdienſt und mehr an-
genehmes haͤtte als ein andrer, im Umgange hervor, und
das waͤre an Uns Ungerechtigkeit; bey uns muß die Vor-
ſtellung des Miniſters immer mehr gelten als die Vor-
bitte eines Freundes, oder jener wuͤrde uns nicht dienen,
und der Menſch durchſcheinen wo allein der Fuͤrſt han-
deln darf. Es iſt eine große Frage, ob Koͤnige und Fuͤr-
ſten ein eignes Herz haben duͤrfen? Das Meinige iſt mir
nur bekannt, weil es oft leidet. Wie mancher edler,
verdienſtvoller und liebenswuͤrdiger Mann hat nicht ſchon
fuͤr mich geblutet! aber ich darf bey ſeinem Falle nicht
lange weinen, ich muß, ja ich muß noch mehrere auf-
opfern, und zu dem Gipfel des Berges fluͤchten, um das
Wehklagen im Thale nicht zu hoͤren. O es iſt eine grau-
ſame Sache Koͤnig zu ſeyn; ich muß der Unterdruͤckten
Unſchuld gegen die Maͤchtigen, welche meinen Thron um-
geben, Recht ſchaffen; und was wuͤrden jene zu hoffen
oder dieſe zu fuͤrchten haben, wenn ich mich ganz zu mir
ſelbſt herab ließe, und mit ihnen ganz Freund, ganz Menſch
waͤre. Dieſes darf keiner wuͤnſchen, der in den Fall
kommen kann, worin er meiner Huͤlfe bedarf. Nun
mein lieber N… wiſſen ſie, was ich bey ihrem Wunſche,
L 2daß
[164]Von dem echten Eigenthum.
daß ich ſo gluͤcklich werden moͤchte, den Dunſtkreis der
mich umgiebt, verlaſſen, und mich meinen Freunden,
in meiner natuͤrlichen Geſtalt zeigen zu koͤnnen, gedacht
habe. Seyn ſie indes verſichert, daß ich auch wahre
Verdienſte von weitem kenne, und die ihrigen vorzuͤg-
lich ſchaͤtze.
XLIII.
Von dem echten Eigenthum.
Unter allen maͤchtigen Begriffen und Ausdruͤcken, die
ſich aus der deutſchen Denkungsart und Sprache
verlohren haben, iſt keiner ſo vollkommen ausgewiſchet
worden, als der von Eigen oder Eigenthum; kaum rei-
chen noch einige entlehnte Zuͤge hin, ihn nur einiger-
maaßen zum Anſchauen zu bringen. Und doch iſt er fuͤr
die Philoſophie der Sprache ſowohl als der Geſchichte
von einem ſehr erheblichen Werthe; man fuͤhlt, daß ſo
wie der Begriff ſank und fortgieng, ſich auch das wahre
Eigenthum verlohr. Jn der erſten Periode ſeines Ver-
falls nennte man das wahre Eigenthum noch Erbecht,
oder wie wir es verdorben haben, Erbexenſchaft, andre
Orfacht, woraus einige Torfacht gemacht haben; und in
der letzten fiel auch dieſes Wort ziemlich weg, wie man
daraus leicht erkennet, daß wir fuͤr die Gutsherrlichkeit
welche ein Eigenbehoͤriger erlangt, der ſich heute frey
kauft, und morgen ſeinen Hof mit einem von ihm abhaͤn-
genden Eigenbehoͤrigen beſetzt, und fuͤr diejenige, welche
ein echter Gutsherr hat, nur einerley Ausdruck und Be-
grif haben, ohnerachtet jeder noch dunkel fuͤhlt, daß die-
ſes
[165]Von dem echten Eigenthum.
ſes zwey maͤchtig unterſchiedene Gutsherrlichkeiten ſind,
und ſeyn ſollten.
Der einzige deutliche Charakter des echten Eigen-
thums, den man jetzt noch angeben kann, iſt die Jagd;
wir ſehen in dem Jagdprotokoll von 1651, daß eine
Menge von Adlichen ihre Jagdgerechtigkeit in den Kirch-
ſpielen, worin ſie keinen eignen Sitz haben, in der Guts-
herrlichkeit gruͤnden; jetzt aber bemerken wir, daß dieſer
Schluß gar nicht mehr gemacht werden koͤnne; und wo-
her dieſes? Der alte echte Eigenthuͤmer hat, wie er ſein
Erbe zuerſt einem Eigenbehoͤrigen oder Meyer untergab,
die Jagd zuruͤck behalten. Nachdem nun dieſer Eigen-
behoͤriger ſich frey gekauft, und wie wir aus Mangel des
Ausdrucks ſagen muͤſſen, auch Eigenthuͤmer oder Guts-
herr ſeines Erbes geworden, oder nachdem dieſes Erbe
in andre freye Haͤnde gerathen: ſo iſt offenbar das Ei-
genthum was dieſer hat, von dem Eigenthum was jener
hatte, merklich unterſchieden; aber in der Sprache nicht
mehr, auch oft nicht mehr deutlich genug in den Begriffen.
Ein andrer minder deutlicher Charakter deſſelben iſt
die Stimmbarkeit im Staate, welche, wie wir allmaͤlig
auch in Deutſchland, wiewohl noch ziemlich obenhin, ein-
zuſehen anfangen, durch die ganze Welt mit dem Eigen-
thum verknuͤpft iſt. Dieſe erlangt kein Gutsherr von der
letztern Art; der folglich auch nicht dasjenige Eigenthum
hat, wovon die Stimme in der Nationalverſammlung
unzertrennlich iſt. Jetzt nennen wir dieſe Stimmbarkeit
Landtagsfaͤhigkeit; vor dem hieß ſie Echtwort, ein Be-
grif der ſich zur Zeit, wie man noch Nationalverſamm-
lung hatte, in der Schoͤpfenbarkeit, ſpaͤter aber, da jene
Verſammlungen aufhoͤrten, und der große Zwiſchenraum
zwiſchen Nationalverſammlung und Landtag einfiel, nur
bey Mark- und Waldverſammlungen zeigte.
L 3Die
[166]Von dem echten Eigenthum.
Die Lateiner des mittlern Alters nannten das echte
Eigenthum, was mit der Jagd, Stimmbarkeit und
Schoͤpfenbarkeit verknuͤpft war, advocatiam. Man fin-
det dieſes Wort faſt beſtaͤndig bey allen Verkaͤufen von
Guͤtern, bis ins vierzehnte Jahrhundert, haͤufiger im
dreyzehnten, und am mehrſten im zwoͤlften, zum wahr-
ſcheinlichen Beweiſe, wie wahres Eigenthum ſich gegen
die neuern Zeiten immer mehr und mehr vermindert ha-
be. Jetzt iſt es ganz aus der Sprache weggefallen. Eben
ſo gieng es den Roͤmern zuerſt mit dem dominio quirita-
rio, hernach auch ſelbſt mit dem dominio was blos ein
civis Romanus haben konnte; bis man zuletzt dominium
und proprietatem fuͤr eins gebrauchte.
Dieſe allgemeine Vermiſchung des alten und neuen
Eigenthums, welche zum Theil durch die Vermiſchung
der alten und neuen perſoͤnlichen Ehre veranlaſſet wor-
den, hat in der That einen groͤßern Einfluß auf den Staat,
und auf eine reine gute Theorie der Geſetze gehabt, als
man glaubt. Man iſt dadurch nicht allein von den ſchoͤ-
nen großen Schluͤſſen, die aus dem alten echten Eigen-
thum, wie wir oben bey der Jagd geſehen haben, gemacht
wurden, zuruͤckgekommen, ſondern hat auch die Guts-
herrlichen Rechte, welche wie man leicht ſieht, ſehr rich-
tig aus dem alten echten Eigenthum fließen, in ganz an-
dre Falten legen muͤſſen, wie ein ſcharfſichtiger Kenner,
der die Eigenthumsordnung durchgeht, leicht bemerken
wird.
Jn der urſpruͤnglichen Verfaſſung mußte jedes Mit-
glied der Nation einen Hof, den er kaufte, als echter Ei-
genthuͤmer beſitzen, und dieſem ſeine Landſtandſchaft mit-
theilen koͤnnen; das Gut veredelte ſich gleichſam unter
ſeiner proprietate, und er erhielt damit dominium. Allein
wie erſt ein Eigenthuͤmer ſein Gut einem Meyer uͤber-
gab,
[167]Von dem echten Eigenthum.
gab, und dieſer auf die eine oder andre Art proprietarius
davon wurde, konnte dieſes nicht weiter geſchehen. Denn
wenn der Meyer auch gleich ſeine Proprietaͤt einem Man-
ne von alter Ehre verkaufte: ſo konnte dieſer doch das
wahre Eigenthum damit nicht erlangen, oder dem Hofe
ſolches ferner durch ſeine Perſon mittheilen, nachdem,
um bey dem vorigen Beyſpiele zu bleiben, der erſte Gutsherr
Jagd- und Echtwort zuruͤckbehalten hatte. Es haͤtten
ſonſt von eben demſelben Hofe zwey, naͤmlich ein dominus
und ein proprietarius jagen und ſtimmen muͤſſen; wer jetzt
eine Gutsherrlichkeit kauft, erhaͤlt damit nicht ſo gleich
Jagd und Erbexenſchaft.
Jch koͤnnte hievon noch viel mehrers anfuͤhren, wenn
ich nicht befuͤrchten muͤßte, dem groͤßten Theile der Leſer
unverſtaͤndlich zu werden. Auch in dem Staͤdtiſchen Bann-
kreiſe giebt es ein beſonders Erbecht, was Stadtſchoͤpfen-
barkeit giebt, und nun auch allmaͤlig verſchwindet. Auch
hier hat der groͤßte proprietarius, wenn er nicht zugleich
Buͤrger iſt, kein wahres Eigen. Es ſtammet dieſes Wort
von E. oder Ehe ab, welches bey den Sachſen ſo viel als
Geſetz hieß; und ein geſetzliches Eigenthum kann in den
Staͤdten nur der Buͤrger, nicht aber der Einwohner ha-
ben. Wie mangelhaft muß aber nicht Sprache und Phi-
loſophie werden, wo man dieſe weſentlichen Unterſchiede
nicht mehr auf eine beſtimmte Art bezeichnet? Wie ſehr
muß der Staat geſunken ſeyn, wo man ſie entbehren kann?
Und wie Ehrenvoll die Nation, in welcher ſich eine große
Summe von wahren Eigenthuͤmern befindet?
L 4XLIV.
[168]Schreiben eines Edelm. ohne Gerichtsbark.
XLIV.
Schreiben eines Edelmanns ohne Gerichts-
barkeit an ſeinen Nachbar mit der
Gerichtsbarkeit.
Die ganze Nacht habe ich von dem edlen Kleinode ge-
traumt; aber dieſen Morgen beym Thee, wie ge-
ſtern Abend bey der Bouteille bleibe ich dabey, daß die
hohe Gerichtsbarkeit uͤber ein Doͤrfgen in meinen Augen
etwas ſehr laͤcherliches, und bey weitem der Koſten nicht
werth ſey, die man darauf verwenden muß; ich bleibe
dabey, daß uͤberhaupt mit dem praͤchtigen Worte Ge-
richtsbarkeit vieler Unſinn verknuͤpfet werde, und man-
cher von uns ſich beſſer ſtehen wuͤrde, wenn er auf alles
was dahin gerechnet werden kann oder mag, den feyer-
lichſten Verzicht thaͤte, und weiter nichts als die Rechte
des echten Eigenthuͤmers auf ſeinem Grunde und Boden
verlangte. Denn es geht uͤber dieſes Wort den Herrn
des Landes oft eben ſo wie uns; wir glauben beyde ein-
ander zu nahe zu kommen, und im Grunde ſpielen wir
die Comoͤdie vom eyferſuͤchtigen Manne, der die Hirſch-
paſtete in den Hausgraben werfen ließ, weil er glaubte,
das Geweihe, was darauf ſaß, ziele auf ihn. Jn der
That, mein Freund! es fehlt an beſtimmten Erklaͤrun-
gen in der Sache, an einer reinen Sprache und an ei-
nem aufrichtigen Verfahren von beyden Seiten. Wir
Edelleute ſuchen in mancher Handlung etwas beſonders
und wollten ſie gern zu einem Hoheitsrechte ſtempeln;
und die Herrn des Landes legen in manche von unſren
Handlungen eine Abſicht und eine Gefaͤhrde, die ſich nur
in
[169]an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit.
in den Koͤpfen ihrer Rathgeber befindet; aber indem ſie
ſo vermuthen und wir uns ſo ſtellen: ſo haben die ſchlauen
Boͤgel in der Stadt ihren Spuck mit uns, und anſtatt
die Gaͤrſte ins Brauhaus zu fahren, faͤhrt der Knecht
ſie zum Advocaten.
Jn Anſehung der hohen Gerichtsbarkeit gaben Sie
ſelbſt geſtern Abend ziemlich nach, wie ich Jhnen vorrech-
nete was eine Jnquiſition und Execution koſtete, wenn
Jhnen auch der Landesherr ſein ganzes Jnventarium,
welches Sie doch eigentlich ſelbſt halten muͤßten, dazu
liehe; Sie fanden etwas widerliches darin, keine halbe
Stunde weit jagen zu duͤrfen, ohne in eine neue Herrlich-
keit zu kommen, und auf dem Boden derſelben ſofort ih-
ren Halsherrn anzutreffen; und es ſchien Jhnen weit be-
quemer, daß man fuͤr hundert Herrlichkeiten nur ein
wohlbeſetztes Obergericht, nur einen Land-Phyſicus, nur
einen Land-Chirurgus, nur einen Scharfrichter, nur ein
Gefaͤngniß, und nur eine Marterkammer haͤtte, als daß
jede Herrlichkeit alle dieſe Stuͤcke, und wahrſcheinlich von
mindrer Guͤte, beſonders unterhalten muͤßte. Sie lieb-
ten es nicht auf jedem Kreuzwege einen Galgen zu finden,
und glaubten die Fremden wuͤrden ein Land barbariſch
nennen, worin es ſo fuͤrchterlich ausſaͤhe. Sie fuͤhlten
endlich, daß das einzige Obergericht auf demſelben Grun-
de beſtehe, worauf unſer Stadt-Brauhaus ſteht, naͤm-
lich, daß es mehrere Herrlichkeiten zuſammen halten, da-
mit nicht jeder noͤthig habe dergleichen fuͤr ſich allein zu
unterhalten; daß die Wahl ſo wie die Beeydigung des
Braumeiſters um deswillen der hoͤchſten Obrigkeit uͤber-
laſſen ſey, damit nicht hundert Koͤpfe mit ihren hundert
Sinnen das Ding alle Augenblick verwirren moͤchten;
und daß die Brau-Ordnung, oder wenn Sie wollen,
L 5die
[170]Schreiben eines Edelm. ohne Gerichtsbark.
die Gerichts-Ordnung das Hauptwerk ſey, wovon man
ſich nur nicht ausſchließen laſſen duͤrfe.
Aber die Untergeichte ſagten Sie, o dieſes Kleinod
geht uͤber alles. Dieſe bezahlen noch zu Zeiten ihren Mann,
und die Herrn des Landes moͤgen immer den Galgen be-
halten, wenn wir nur die Sporteln uud Strafen genieſ-
ſen, welche mir jenen verknuͤpft ſind, oder wo wir auch
den Vortheil nicht achten wollten, nur in dem Beſitze
bleiben unſre Hinterſaſſen gegen die Pluͤnderungen und
Plackereyen andrer Untergerichte zu ſchuͤtzen.
Allein auch hierin kann ich Jhnen mein lieber Herr
Nachbar ſo ſchlechterdings nicht beypflichten. Die Spor-
teln und Strafen wollen wir nur gleich wegwerfen, ſie
bringen ohne Pluͤnderung in einem kleinen Diſtricte ſelten
ſo viel, als das Gehalt des Gerichtshalters ausmacht,
und ich erinnere mich eines ſaͤchſiſchen Dorfs, worin alle
14 Tage Gericht gehalten, und des Mittages bey der
Tafel geklaget wurde, daß heute nicht ſo viel eingekom-
men waͤre, als der Brate betrug, welchen der Herr Ge-
richtshalter mit verzehrte. Der Schutz Jhrer Hinterſaſ-
ſen wuͤrde wichtiger ſeyn, wenn die gemeinſchaftlichen Un-
tergerichte, welche wir im Lande mit Sporteln erhalten
und natuͤrlicher Weiſe beſſer von vielen als von wenigen
uͤbertragen laſſen koͤnnen, nothwendig pluͤndern muͤßten
Dieſes iſt aber offenbar irrig, und wenn es geſchieht: ſo
iſt dieſes ein Fehler, den wir dadurch nicht abwenden
koͤnnen, und nicht abwenden ſollten, daß wir anſtatt Ei-
nes gemeinſchaftlichen Unterrichters deren Zehn unterhal-
ten, die weit eher in die Verſuchung, wo nicht in die Noth-
wendigkeit geſetzt werden, ſo viel herauszupreſſen als ſie
koſten und verzehren. Je angeſehener dergleichen Maͤn-
ner ſind, und ſchlechte wird man doch in der guten Ab-
ſicht ſeine Hinteraſſſen zu erhalten, nicht nehmen, deſto
mehr
[171]an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit.
mehr muß man ihnen geben, und ohne einen ſolchen beey-
deten Mann laͤßt ſich im H. R. Reich keine Juſtitz pfle-
gen. Nach dem Geiſte der deutſchen Vrrfaſſung hat man
dem Landesherrn gewiſſe beſtimmte Sporteln und Stra-
fen zugeſtanden, um davon das hohe und niedrige Ju-
ſtitz-Jnventarium zu unterhalten; und es iſt eigentlich
wider dieſen urſpruͤnglichen Contract, wenn man dem
Landesherrn die Beſchwerden laſſen, und die Vortheile
entziehen will.
Wenn wir alle ſo verfahren, und alle Bruchfaͤlle in
unſern Doͤrfern an uns ziehen wollen, ſo wird im Grunde
nichts weiter dabey herauskommen, als daß unſre Hin-
terſaſſen und Leibeigne dasjenige auf eine andre Art er-
ſetzen muͤſſen, was ſolchergeſtalt dem gemeinen Ober-
haupte entzogen wird. Denn dieſes will doch eben ſo
gut wie unſer Pfarrer unterhalten ſeyn, der, wenn jeder
von uns ſeinen Capellan haͤlt, von unſern Leuten ſo viel
mehr nehmen muß.
Jch erinnere mich hiebey eines alten Staͤdtgens,
worin die Buͤrgerſchaft, oder Namens ihrer der Kayſer,
dem Magiſtrate den Weinkeller und die Apotheke ange-
wieſen hatte, um aus dem Gewinnſte von beyden, alles
was zu ſeiner und der Stadt Nothdurft erfordert werden
wuͤrde, zu beſtreiten. Eine Zeitlang gieng dieſes vortref-
lich, und der Vortheil von Aquavit und Rhabarber reichte
allein hin, den Buͤrgemeiſter und ſechzehn Rathsherrn zu
unterhalten. Allein nach und nach erlaubten dieſe Herrn
einigen Vettern und Freunden auch Aquavit zu ſchenken,
und ein Laxiertraͤnkgen zu verkaufen, und nun mußten
die armen Buͤrger Schoß und Steuer geben, um die
Luͤcke zu fuͤllen, welche durch dieſe Verguͤnſtigung in der
Stadtkaſſe entſtand. Die Buͤrger wollten ſich zwar an-
fangs widerſetzen, und behaupten, die Weinſchenke und
die
[172]Schreiben eines Edelm. ohne Gerichtsbark.
die Apotheke waͤre nach dem urſpruͤnglichen Contrakte
ein Heiligthum des gemeinen Weſens, welches der Ma-
giſtrat nicht haͤtte ſchmaͤhlern koͤnnen. Allein ſo fort tra-
ten einige Rechtsgelehrte auf, und riefen mit lauter Stim-
me, der urſpruͤngliche Contrakt waͤre laͤngſt durch die
Verjaͤhrung abgeaͤndert; und die Vettern und Freunde
des ehmaligen Buͤrgemeiſters, denen die Buͤrgerſchaft
nichts ſchuldig war, duͤrſten in dem ruhigen Beſitze des
Erſchlichenen nicht geſtoͤret werden. Die Gelehrten auf
den Univerſitaͤten pflichteten den Gelehrten in dem Staͤdt-
gen bey, und bis auf den heutigen Tag muͤſſen alle deſ-
ſen Buͤrger Schoß und Steuer bezahlen, weil die Laͤnge
der Zeit die Untreue des erſten Buͤrgemeiſters verwiſcht
hat. Ja was noch mehr iſt, die Buͤrger, welche den
Weinkeller und die Apotheke fuͤr ihre Obrigkeit erhalten
wollten, wurden ſchimpfsweiſe Regaliſten genannt, waͤh-
rend der Zeit, daß die Vettern und Freunde des Buͤrge-
meiſters, die den Handel mit Wein und Arzneyen fuͤr ein
freyes Gewerbe erklaͤrten, ſich Patrioten nennten, ohn-
erachtet es handgreiflich war, daß dieſe die gemeine Stadt-
kaſſe gepluͤndert hatten, und jene fuͤr die Steuerfreyheit
der Buͤrger ſtritten.
Doch, mein wertheſter Herr Nachbar, die Geſchichte
dieſes kleinen Staͤdtgens ſollte mich bald zu weit, und
wohl gar zu der Behauptung fuͤhren, daß alles was ein
einzelner Mann nicht ſonderlich nuͤtzen oder doch nicht ge-
hoͤrig beſtreiten kann, Einem aber ſehr viel werth iſt,
dem Fuͤrſten als dem Einen, nicht aber andern, denen
der Staat nichts ſchuldig iſt, zuerkannt und fuͤr ein ſo
genanntes Regal gehalten werden muͤßte. Jch will alſo
nur geſchwind wieder einlenken, und Jhnen ſagen wie ich
glaube, daß ein Edelmann als Herr auf ſeinem echten
Eigen-
[173]an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit.
Eigenthume, und in Kraft der hausherrlichen Gewalt
alles das haben koͤnnte und haben ſollte, was zu ſeinem
wahren Vortheile gehoͤrt; wenn wir nur eine reine Spra-
che und beſtimmte Begriffe haͤtten.
Der Vater hat keine Gerichtsbarkeit uͤber ſeine Kin-
der, der Mann nicht uͤber ſeine Frau, der Herr nicht
uͤber ſein Geſinde, der Abt nicht uͤber ſeine Moͤnche, der
Gutsherr nicht uͤber ſeine Leibeigne, weil es ſo wenig
eine Gerichtsbarkeit uͤber die Seinigen, als eine Dienſt-
barkeit auf eignem Boden giebt. Aber es giebt eine vaͤ-
terliche, maͤnnliche, hausherrliche, aͤbtliche und gutsherr-
liche Macht, vermoͤge welcher ein Vater, Mann, Haus-
herr Abt, und Gutsherr alles dasjenige haben kann, oder
doch haben ſollte, was zu ſeinem Zwecke dient, und es
koͤmmt nur darauf an, die Graͤnzen zwiſchen dieſer Macht
und der Gerichtsbarkeit gehoͤrig und deutlich zu be-
ſtimmen.
Jn dem erſten Menſchenalter gieng jene Macht ſehr
weit, und Niemand bekuͤmmerte ſich darum, wie jeder
Hausvater mit den Seinigen handelte, wenn er nur nicht
uͤber eine gewiſſe Graͤnze hinausgieng; in dem heutigen
Menſchenalter hingegen, miſcht ſich die Gerichtsbarkeit
in alles; und wenn ein Vater das Ungluͤck hat, daß ihm
ſeine Tochter geſchwaͤngert wird: ſo muß er noch wohl
gar fuͤr ſie eine Geldſtrafe bezahlen. So wenig jene aͤlte-
ſte Verfaſſung ſich zu unſerm Jahrhundert ſchicket: ſo
ſehr ſcheint mir hingegen die letzte von aller Politik abzu-
weichen; und ich ſollte glauben, die Beſtrafung der Un-
zucht, der Untreue und andrer Verbrechen von Kindern
und Geſinde, koͤnnte der vaͤterlichen und hausherrlichen
Gewalt ſo lange uͤberlaſſen werden, bis der eine oder der
andre den Beyſtand der Gerichtsbarkeit ſuchte. Wenig-
ſtens ſcheinet mir eine gar zu fruͤhe Einmiſchung der letz-
ten,
[174]Schreiben eines Edelm. ohne Gerichtsb. ꝛc.
ten, in haͤusliche Verbrechen ſehr bedenklich zu ſeyn, da
dieſe in der Stille eher als durch oͤffentliche Veſchimpfun-
gen gebeſſert werden koͤnnen.
Eben ſo koͤnnte einem echten Eigenthuͤmer auf ſeinem
Boden die Macht zugeſtanden werden, ſeine Zeitpfaͤchter
die darauf wohnen, durch Pfaͤndungen zu Bezahlung ih-
rer Pacht anzuhalten, die aufgezogenen Pfande, wenn
der Zeitpfaͤchter ſich ſolches gefallen laͤßt, ſelbſt ohne Zu-
ziehung des Gerichts zu verkaufen; Entſchaͤdigungen fuͤr
Feld- und Waldſchaden von ihnen zu nehmen, und uͤber-
haupt mit ihnen, wie mit ſeinem Geſinde zu verfahren,
ohne daß der Gerichtsherr ſich daruͤber beſchweren duͤrfte.
Die Rede iſt hier blos von der Beſtrafung ſolcher Leute,
die ab- und zuziehen koͤnnen; nicht aber von Erbpaͤchtern
oder andern, die ein Recht an den Boden haben. So
wenig dem Erbverpachter uͤber dieſe auch nur die mindeſte
Macht zugeſtanden werden kann: ſo unbedenklich ſcheint
es mir zu ſeyn, ihm uͤber jenen etwas mehrers einzuraͤu-
men, da es ſein eignes Jntereſſe erfordert, ſein Geſinde
und ſeine Zeitpfaͤchter auf eine gute Art zu behandeln,
weil ſie ſonſt von ihm wegziehen werden. Aus einem
aͤhnlichen Grunde muß die Macht eines Abtes uͤber ſeine
Moͤnche und des Gutsherrn uͤber ſeine Leibeigne weit ein-
geſchraͤnkter, als die herrliche uͤber Geſinde und Zeit-
pfaͤchter ſeyn, weil jene das Kloſter, und ihre Gruͤnde,
nicht ſo wie dieſe Dienſt und Pacht verlaſſen koͤnnen.
Jedoch es wuͤrde zu weitlaͤuftig ſeyn alle die Faͤlle,
welche der Macht ohne Gerichtsbarkeit uͤberlaſſen werden
koͤnnen, anzufuͤhren. Genug, daß der Geſetzgeber ſie
beſtimmen, und damit die unendlichen Streitigkeiten,
uͤber die Frage, was zur Gerichtsbarkeit gehoͤre, vermin-
dern kann. Jch bin u. ſ. w.
XLV.
[175]
XLV.
Vorſchlag wie die Kirchhoͤfe aus der
Stadt zu bringen.
Die Verlegung der Gottesaͤcker oder Kirchhoͤfe auſ-
ſerhalb der Stadt, iſt lange der allgemeine Wunſch
geweſen; man wird aber auf deſſen Erfuͤllung nicht rech-
nen duͤrfen, bevor man nicht die Schwierigkeiten aus
dem Wege raͤumt, welche ſich gegen eine ſolche Veraͤnde-
rung ſtraͤuben. Dieſe ſind von mancherley Art, und ich
will verſuchen ob ich ſie nicht mit guter Manier auf die
Seite ſchieben kann. Denn heroiſche Mittel wuͤrken in
dergleichen Faͤllen, wo es auf die Einbildung der Men-
ſchen ankommt, oft den unrechten Weg, und was ein
Menſch von dem andern in der Guͤte erhalten kann, muß
er ihm nicht abzuzwingen ſuchen.
Unſre Vorfahren haben viele beſondre Feyerlichkei-
ten mit der Begrabung ihrer Leichen verknuͤpft, die eines
Theils auf die allgemeine Sicherheit der Menſchen, an-
dern Theils auf die Ehre und Belohnung der Verdienſte,
und dritten Theils auch auf einen Vortheil der Kirchen
und Kirchenbediente abzielen.
Zur erſten Art gehoͤrt, daß die Leichen nicht zu fruͤh
begraben, ſondern einige Tage in ihren Saͤrgen zur Schau
geſtellt, und hernach unter einer oͤffentlichen Begleitung
an einen gemeinſchaftlichen Ort abgefuͤhret werden. Haͤtte
ein jeder dafuͤr das Recht erhalten, ſeine Todten in der
Stille und bey ſeinem Hauſe verſcharren zu moͤgen; ſo
wuͤrde vielleicht mancher lebendig ins Grab gekommen,
mancher erſchlagen oder vergiftet und mancher als todt be-
graben
[176]Vorſchlag wie die Kirchhoͤfe
graben ſeyn, der ſich der Nachforſchung andrer haͤtte
entziehen wollen. Dieſes wollten unſre Vorfahren ver-
hindern, und nach ihrer Abſicht ſollte der Sarg ſo lange
offen ſtehen, bis die ganze Leichenbegleitung ſich von dem
wahren und natuͤrlichen Tode des Verſtorbenen durch ihre
eigne Augen uͤberzeugt haͤtte, und desfalls zu jederzeit
ein Zeugniß ablegen koͤnnte.
Zur zweyten gehoͤrt die ſogenannte letzte Ehre, wel-
che Verwandte, Freunde, Verehrer, Amtsgenoſſen, und
andre Freywillige dem Verſtorbenen erzeigen, und wo-
mit ſie des rechtſchaffenen Mannes Lob, und das allge-
meine Leid des Staats oͤffentlich verkuͤndigen, auch andre
zur Nachahmung aufmuntern wollten. Dieſes ſollte gleich-
ſam die Ehrenſaͤule des guten Buͤrgers, und der Triumph
des Patrioten ſeyn. Mit einer Begrabung ohne Geſang
und ohne Klang wollten ſie ungefaͤhr ſo viel ausrichten
als wir mit dem Zuchthauſe.
Eine vernuͤnftige Politik ſchuf die dritte Art. Man
ſahe, daß die Menſchen in jeder Ehrenſache großmuͤthi-
ger und freygebiger waren, als in einer andern; und wie
man zum Unterhalt der Armen, der Kirchen und Kirchen-
bediente nicht gleich foͤrmliche Steuren ausſchreiben woll-
te, damit auch vielleicht nicht das wahre Verhaͤltnis ge-
troffen haben wuͤrde, ſo ſuchte man die Ehre zu reitzen,
und dieſer eine milde Beyſteuer abzugewinnen. Auf eine
gleiche Art hofte man bey den Leichen einen Beytrag zum
Unterhalt der Armen und Schulen zu erhalten, und die
Erfahrung hat gezeigt, daß dieſe Politik ihres Zwecks
nicht verfehlet habe. Die Steuer iſt um ſo viel ergie-
biger geweſen, je mehr ſie dem freyen Willen uͤberlaſſen
iſt; und da der Menſch nur einmal ſterben kann: ſo hat
man auch nicht befuͤrchtet, daß dem Staate eine gar zu
be-
[177]aus der Stadt zu bringen.
beſchwerliche Laſt daraus zuwachſen wuͤrde. Mehrere
Vortheile, welche jedem bekannt ſind, uͤbergehe ich, ſo
wie alles was die Religion angeht, weil wir hier die Sa-
che nur von ihrer politiſchen Seite betrachten koͤnnen.
Alle dieſe wichtigen Vortheile fuͤrchtet man zu ver-
lieren, wenn die Grabſtaͤtten auſſerhalb den Kirchen und
der Stadt angewieſen wuͤrden. Man fuͤrchtet die Leichen-
begleitungen wuͤrden bey dem weiten Wege und bey ſchlim-
mem Wetter beſchwerlich werden, und ſich natuͤrlicher-
Weiſe vermindern. Man fuͤrchtet die Ehre wuͤrde ihre
Reitzung verlieren, und jeder ſich zuletzt mit einem ſchwar-
zen Leichenwagen, in der fruͤheſten Morgenzeit, und mit
einem Worte, ohne alle opfernde Ceremonie, zur Ruhe
bringen laſſen, ſo wie ſolches in großen Hauptſtaͤdten, wo
der Ceremonien leicht zu viel werden, wo keiner ſich dar-
inn mehr unterſcheiden kann, und wo folglich ihre ganze
Wuͤrkung aufhoͤret, laͤngſt geſchehen iſt.
Unſre heroiſchen Cameraliſten wuͤrden ſich vielleicht
daruͤber wegſetzen, und ſich wohl gar freuen, daß alle
dieſe eitlen Ausgaben vermieden, die Heyrathen, wenn
die Haushaltungen ſolchergeſtalt erleichtert wuͤrden, ver-
mehret, und alle Kraͤfte blos zu ihrem Vortheil geſpan-
net wuͤrden; ſie die hier gleich Aberglauben und Thor-
heit in ihrem feyerlichſten Gewande entdecken, die Kir-
che und ihre Bedienten eines frommen Eigennutzes be-
ſchuldigen, und die Leidenſchaften der Menſchen mit Aus-
ſchluß aller andern beſteuren wollen; ſie die noch neulich
in einem Lande aus oͤkonomiſchen Gruͤnden die Kreutze
und Kronen, womit die Graͤber und Saͤrge daſelbſt be-
ſetzet wurden, verboten, und damit einen allgemeinen
Aufſtand unter dem Volke erwecket haben. Allein der-
gleichen großen Maͤnnern iſt nicht immer ſicher zu folgen,
und es war fuͤr die Kirche, welche daſelbſt die Kronen
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Mvon
[178]Vorſchlag wie die Kirchhoͤfe
von allerley Art zu vermiethen und auch fuͤr ein Kreutz
auf das Grab etwas zu genießen hatte, ein jaͤhrlicher
Schade von hundert Thalern, der dort nun auf eine fuͤr
die Eingepfarreten laͤſtigere Art erſetzt werden mußte.
Unſers Orts wollen wir wenigſtens erſt verſuchen, ob
wir nicht das Alte und Neue verbinden, und ſolcherge-
ſtalt durch einen Mittelweg das Ziel erreichen koͤnnen.
Alle drey Abſichten koͤnnen unſer Meinung nach fuͤg-
lich erhalten werden, wenn die Leiche vor wie nach aus
dem Sterbehauſe abgeholet, ſo dann nach einem kurzen
oder langen Umgange in die Kirche gebracht, hier ent-
weder mit oder ohne Muſik empfangen, und nachdem
alles was man dabey in der Kirche vornehmen will, voll-
bracht iſt, oder auch noch waͤhrend der Zeit von den Traͤ-
gern zur Kirche heraus, und entweder auf Schultern
oder zu Wagen ohne andre Begleitung auf den Kirchhof
außer der Stadt gebracht wird. Hiedurch wird nicht
allein in der ganzen Oekonomie unſrer Vorfahren nichts
zerſtoͤrt, ſondern auch noch den Begleitern wenigſtens die
Haͤlfte des Ungemachs, was mit der Abfuͤhrung nach den
Kirchhof, beſonders bey ſchlimmem Wetter verknuͤpft iſt,
erſparet. Ja die Leichenabfuͤhrungen koͤnnen auf dieſe
Art noch feyerlicher gemacht, die Perſonalien, welche ſeit
der Zeit daß die buͤrgerlichen Tugenden ihren Werth ver-
lohren haben, aus der Mode gekommen ſind, wieder
eingefuͤhret, noch mehrere Geſaͤnge als oft im Regen
geſchehen kann, geſungen, die Gemuͤther der Trauren-
den zum Opfer fuͤr die Armen geruͤhrt, und die Thraͤnen
der Leidtragenden deutlicher als bey ungeſtuͤmem Wetter
unter freyem Himmel bemerkt werden.
Alles dieſes erfordert keine mehrere Zeit als die vo-
rige Weiſe, und der Weg aus der Kirche nach dem Trauer-
hauſe, um dort entweder noch einmal zu weinen oder noch
etwas
[179]aus der Stadt zu bringen.
etwas Troſt zu holen, bleibt der naͤmliche. Fallen Seu-
chen und Krankheiten ein, welche eine minder feyerliche
Abfuͤhrung erfordert: ſo wird ein ſogenannter Luͤgenſarg
zur Abfuͤhrung in die Kirche, und fuͤr die Begleiter eben
die Erinnerungen erwecken koͤnnen, welche er in andern
Faͤllen erweckt, und ſo wird auch darinn keinem etwas
abgehn.
Uebrigens kann, um der guten Meinung der Men-
ſchen in billigen Dingen nichts zu entziehen, dem Got-
tesacker auſſer der Stadt eben die Heiligkeit und Sicher-
heit mitgetheilet werden, welche derſelbe in der Stadt
hat, und gewiß laͤßt ſich ſolche an einem voͤllig umſchloſ-
ſenen Orte beſſer als hier erhalten, wo ein gemeiner Weg
daruͤber geht. Hier wird mancher, wenn entweder der
Raum zu enge, oder das Gras zu gut iſt, bald auf dieſe
bald auf jene Art in ſeiner Ruhe geſtoͤrt, und keiner wuͤr-
de auf ſein Grab eine Roſe ohne Gefahr bluͤhen laſſen
koͤnnen *). Die Ruhe iſt hier nicht ſo ſtille und ſo ſicher,
wie es die weiche Wehmuth ihrem Geliebten wuͤnſchet,
und keiner kann hier die Einſamkeit finden, welche der
Schmerz ſuchet. Hier kann keiner mit Recht auf ſein
Grab ſetzen laſſen, daß er in ſeinem Leben keinem beſchwer-
lich geweſen **), und es auch nach dem Tode nicht ſeyn
wolle. Hier faͤllt bey einem taͤglichen Anblicke, der hei-
lige Schauer weg, welcher Roungs Phantaſie ſo ſehr er-
hoͤhete, und die trauerklagende Muſe kraͤchzet blos ein
M 2Leichen-
[180]Vorſchlag wie die Kirchhoͤfe ꝛc.
Leichencarmen herauf. Hier findet ſich ſelten der Raum
dem zwar unerklaͤrbaren aber immer doch natuͤrlichen und
nuͤtzlichen Triebe der Menſchen, ſich ein Andenken nach
dem Tode zu ſtiften, mehr als einen glatten Stein zu
opfern, und hier wird man nicht leicht, das alte: Sibi
vivus poſuit, antreffen.
Aber ein wohlverwahrter Kirchhof vor der Stadt
kann alle dieſe Vortheile und noch mehrere vereinigen; er
kann naͤmlich auch ſeine Abſonderung fuͤr diejenigen, die
nicht mit andern in Gemeinſchaft ruhen ſollen, haben;
er kann wie bey den Herrnhutherrn, zur heilſamen Er-
bauung fuͤr die Lebenden eingerichtet werden; er kann,
da niemand gewoͤhnlich daruͤber geht, auch niemanden
durch ein eingeſunkenes Grab, wie es auf den Stadt-
kirchhofe oft geſchieht, gefaͤhrlich werden, und man hat
bey Seuchen nicht zu fuͤrchten, daß die Todten die Leben-
den anſtecken. So viele weſentliche Vortheile muͤſſen
und koͤnnen alle Religionsverwandte dahin vereinigen,
ihre kuͤnftigen Ruheſtaͤtten an einem gemeinſchaftlichen
Orte vor der Stadt, wofuͤr die Landesobrigkeit hoffent-
lich gern ſorgen wird *), zu nehmen, und Gott mit dem
Pfarrer zu Fontenay zu bitten, daß er diejenigen im Him-
mel beyſammen laſſen wolle, die dort nach der Schlacht,
in
[181]aus der Stadt zu bringen.
in ſeinem Pfarrſprengel, eine gemeinſchaftliche Grube
verſchloß, und hier ſodann von einerley Wuͤrmer bruͤder-
lich werden verzehret werden.
XLVI.
Was will aus unſern Garn- und
Linnenhandel werden?
Unſer Garn- und Linnenhandel in Weſtphalen iſt durch
den Ausbruch des Krieges zwiſchen England und
Holland auf einmal ſehr gefallen, und man hat Urſache
zu fuͤrchten, daß er nicht ſo bald wieder ſteigen werde.
Da ſehr viele Leute, beſonders auf dem Lande, wo man
nur nach den hollaͤndiſchen oder deutſchen Seeſtaͤdten han-
delt, und ſich um die weitern Schickſale des Linnens nicht
bekuͤmmert, der Meinung ſind, daß von Regierungswe-
gen etwas zum Beſten dieſer Handlung geſchehen koͤnne:
ſo will ich hier kuͤrzlich die Urſachen des ploͤtzlichen Fal-
lens anzeigen, und dann jeden auffordern die Moͤglichkeit
zu zeigen wie und wo ihm geholfen werden koͤnne?
Zu dem bisherigen hohen Preiß des Linnens haben
mehrere Urſachen gewuͤrket. Es kann nichts in die por-
tugieſiſchen Jndien kommen, als auf den eignen Schif-
fen dieſer Nation, und durch portugieſiſche Unterthanen;
das Linnen was ſolchergeſtalt dahin geht, wird mit einer
Auflage von 10 p. C. beſchwert. Ehen ſo geht nichts in
die ſpaniſchen Jndien, als auf ſpaniſchen Schiffen und
von ſpaniſchen Unterthanen; und was dahin geht, be-
zahlt eine Auflage von 40 p. C. Die Verfaſſung in den
M 3fran-
[182]Was will aus unſerm Garn-
franzoͤſiſcheu Colonien iſt nichts freyer, und was die eng-
liſchen Colonien an Linnen und Garn aus Europa ge-
brauchten, mußten ſie aus einem engliſchen Hafen ziehen,
und 5 p. C. davon bezahlen.
Nun hielten die Hollaͤnder fuͤr alle dieſe vier Natio-
nen ſchon ſeit langer Zeit einen Markt zu St. Euſtachius,
worauf nicht allein der portugieſiſche Amerikaner ſeine
zehn, der ſpaniſche ſeine vierzig, und der engliſche ſeine
fuͤnf p. C. erſparen, ſondern auch, was er dahin zum
Verkauf brachte, und was ſonſt abermals nicht anders
als unter einer neuen Auflage, und auf portugieſiſchen,
ſpaniſchen und engliſchen Schiffen nach den europaͤiſchen
Hafen jeder Nation gebracht werden durfte, frey ver-
kaufte, wenn er die Gefahr der Strafe, die jede Nation
auf dieſe Defraudation geſetzt hatte, ſtehen wollte.
So lange die Englaͤnder mit ihren Coloniſten einig
waren, kamen dieſe ſelten dahin; es verlohnte ſich um 5
p. C. zu erſparen, fuͤr einen Englaͤnder nicht die Muͤhe,
ein Betruͤger zu werden; man paſſete auch in den ameri-
kaniſchen Hafen ſehr ſcharf auf. Auch kamen ſelten die
Portugieſen und Franzoſen dahin, weil die Auflage von
10 p. C. noch zu ertragen war. Jmmer aber und ſeit
mehr als funfzig Jahren hat der ſchwere Jmpoſt von 40
p. C. die ſpaniſchen Jndianer in die Verſuchung geſetzt,
ſich auf St. Euſtachius mit europaͤiſchen Waaren zu ver-
ſorgen, und ſolche dort gegen ihre Producte frey einzu-
tauſchen.
So bald die Unruhen in Amerika ausbrachen, gien-
gen die engliſchen Coloniſten, welche entweder zu ſchwach
waren gerade zu nach Europa zu handeln, oder den Weg
dahin zu unſicher hielten, nach Euſtachius, wo ihnen die
Hollaͤnder alles was ihr Herz begehrte, entgegen brach-
ten,
[183]und Linnenhandel werden?
ten, und alles was ſie jetzt nicht los werden konnten, mit
begieriger Hand abnahmen. Je mehr die Englaͤnder
Meiſter zur See wurden, deſto weniger konnten die Ame-
rikaner mit ihrem Toback und andern Produkten einen
europaͤiſchen Hafen erreichen, und deſto mehr fielen ſie
den Hollaͤndern auf Euſtachius in die Haͤnde, die mehr-
mals zwey, drey bis vierhundert p. C. daran verdient
haben. Die franzoͤſiſchen Colonien, welche von Haus aus
nicht verſorget werden konnten, mußten ſich nach eben
dieſem Markt wenden, und der franzoͤſiſche Hof, was er
ſeinen Flotten mit Sicherheit nicht nachſchicken konnte,
durch Hollaͤnder dahin beſorgen laſſen, wo es die Kriegs-
ſchiffe in Empfang nahmen. Wie die Spanier mit in
den Krieg verwickelt wurden, zogen ſie viele von ihren
kleinen Kuͤſtenbewahrern ein, um Matroſen zu bekom-
men, und ſahen mit ihren Coloniſten, die nach Euſta-
chius giengen, durch die Finger, weil dieſe von Haus
aus nicht verſorget werden konnten; und wahrſcheinlich
zogen auch die Portugieſen manches daher. Solcherge-
ſtalt ward Euſtachius der allgemeine Markt fuͤr alle Na-
tionen, und je groͤßer die Concurrenz der Kaͤufer, je un-
ſicherer die See wurde, deſto hoͤher lief der Preiß der
von den Hollaͤndern dort verſammleten Waaren. Das
weſtphaͤliſche Linnen, und die ſogenannten bunten, wel-
che von weſtphaͤliſchem Garn gemacht werden, waren fuͤr
alle von gleicher Beduͤrfniß, und der Preiß des Garns
und Linnens ſtieg in Verhaͤltniß.
Nun brach der Krieg zwiſchen England und Holland
aus, und der beſtuͤrzte hollaͤndiſche Kaufmann will es
- a) noch nicht wagen, die europaͤiſchen Guͤter der
See zu vertrauen und die Guͤter der franzoͤſiſchen und ſpa-
niſchen Colonien von Euſtachius nach Europa zu fuͤhren.
Es geht
M 4b) die
[184]Was will aus unſerm Garn-
- b) die Nachricht ein, daß der Orcan vom letzten
October die Packhaͤuſer auf Euſtachius und alle dortige
Commiſſionairs zu Grunde gerichtet habe. Hieraus ent-
ſteht ein allgemeiner Mißcredit. Die Hollaͤnder muͤſſen - c) taͤglich einen Anfall der Englaͤnder auf Euſta-
chius *) befuͤrchten, und dieſes iſt ein neuer Grund, war-
um keiner ſein Gut dahin ſchicken will. Hiedurch geraͤth
auf einmal der Handel mit Linnen, ins Stecken, und nun
fraͤgt es ſich: ob die jetzt angefuͤhrten drey Urſachen von
Weſtphalen ausgehoben werden koͤnnen?
Mit der erſten ſcheinet es ſo, wenn England bewo-
gen werden koͤnnte, Freypaͤſſe auf das Linnen, was aus
Weſtphalen nach Euſtachius geht, zu ertheilen. Allein
England hat ſchon lange den Handel auf Euſtachius, wo-
her ſeine Colonien unterſtuͤtzet werden, ungern geſehn;
es will ſeine 5 p. C. von demjenigen was dieſe gebrau-
chen, ziehen; es will ſein ſchottiſches und irlaͤndiſches
Linnen dort abſetzen, es will den Schleichhandel in die
ſpaniſchen Colonien, den die Hollaͤnder bisher gehabt ha-
ben, auf Charlestown oder einen andern Hafen ziehen;
und ſo iſt nicht zu erwarten, daß es gegen ſein eignes
Jntereſſe Freypaͤſſe geben ſolle.
Die zweyte Urſache wird gehoben ſeyn, wenn die
Nachrichten von dem Orcan guͤnſtiger werden. Aber der
Credit wird ſich immer langſam herſtellen, und immittelſt
mancher zu Grunde gehn.
Die dritte kann nicht gehoben werden, oder die Hol-
laͤnder muͤßten eine ſolche Macht zur See haben, daß ſie
Euſtachius, und die Fahrt dahin decken koͤnnen; und
dazu koͤnnen wir unſers Orts nichts beytragen.
Das
[185]und Linnenhandel werden?
Das einzige Mittel was ſich außerdem zeigt, iſt, daß
die Daͤniſche Jnſel St. Croix, welche faſt eben ſo gele-
gen liegt als Euſtachius, zum Marktplatze erwaͤhlet werde,
und wuͤrklich hat Daͤnemark, oder vielmehr der wach-
ſame Baron v. S. …, in deſſen Haͤnden die Handlung
auf St. Croix iſt, im vorigen Monate bekannt machen
laſſen, daß auch mit auswaͤrts gebaueten Schiffen dahin
ſollte gehandelt werden moͤgen. Dieſer Erlaubniß koͤnn-
ten wir uns bedienen, und unſre Linnen unter daͤniſchen
Paſſeports dahin verſenden. Allein ehe man eine Corre-
ſpondenz dahin eroͤfnet, und einen ſichern Commiſſionair
dort ausmacht; ehe die Fahrt dahin ſtark und der dor-
tige Markt beruͤhmt genug wird; ehe man dort die ſpa-
niſchen Retourwaaren findet, und ſolche in einem deut-
ſchen Hafen zu verſilbern weiß, duͤrfte mancher ausge-
handelt haben.
Es bleibt alſo faſt nichts uͤbrig als den Himmel zu
bitten, daß der Bruch zwiſchen England und Holland bald
geheilet werden moͤge. Der Krieg zwiſchen den uͤbrigen
Theilen, wird uns dagegen vortheilhafter als ein allge-
meiner Friede werden. Denn wenn durch denſelben die
Amerikaner genoͤthiget werden, ihr Linnen wie vorhin
aus England zu ziehen, wenn die Spanier ihre Schif-
fahrt und ihre Kuͤſtenbewahrer wieder in Ordnung ha-
ben, wenn die Franzoſen ihre Colonien von Haus aus
verſehen koͤnnen: ſo wird ſo wohl das deutſche Linnen als
Garn fallen.
Zwar wird alsdenn unſer Linnen wiederum von Ham-
burg auf Portugall und Spanien, von Bremen auf Eng-
land und Holland, und von Holland auf Frankreich und
Euſtachius gehn. Allein das franzoͤſiſche, ſchottiſche und
irlaͤndiſche Linnen wird auch uͤberall mit dem unſrigen
concurriren, und den Preiß herunter halten. Und viel-
M 5leicht
[186]Von dem Naturgange der Gaͤnſe.
leicht hat uns immittelſt Rußland, deſſen Linnen bey den
jetzigen Conjuncturen uͤberall frey verfuͤhret wird, den
Vorſprung abgewonnen. Es iſt wenigſtens jedem Kauf-
mann zu rathen, nicht zu viel auf den kuͤnftigen Frieden
zu rechnen. Deſto mehr aber wird die Handlung mit
Linnen bluͤhen, wenn Holland und England allein aus-
geſoͤhnt werden, und damit Euſtachius wieder der einzige
Ort wird, wo ſich Portugieſen, Spanier, Franzoſen und
Amerikaner, zu jedem Preiſe verſorgen muͤſſen. Dieſer
Preiß wird ſo lange dauren, als die Spanier, Franzo-
ſen und Amerikaner nicht Meiſter zur See werden, oder
durch den Frieden zu einer ſichern Schiffahrt gelangen.
XLVII.
Von dem Naturgange der Gaͤnſe.
Die Gaͤnſe haben Fittiche und ſcheinen zum fliegen von
Natur berechtiget zu ſeyn; dennoch haben ſie kei-
nen Naturflug, ſondern wo ſie uͤber die Hecke kommen,
da ſtraft man ſie, weil ihnen das Fliegen gehemmet wer-
den kann.
Dagegen haben ſie, ſo ſchlecht ſie auch zu Fuße ſind,
einen freyen Naturgang, und wenn ſie da, wo ſie zu
gehn berechtiget ſind, auf ein Stuͤck Buchweitzen im
Mohr kommen: ſo muß der Eigenthuͤmer des Buchwei-
tzens ſie ſatt freſſen laſſen, oder ſein Feld verzaͤunen.
Unlaͤngſt war ein Streit zwiſchen zweyen benachbar-
ten Bauerſchaften, wovon die eine an dieſem und die an-
dre an jenem Ende einer Gemeinheit lag, daruͤber, ob
die Gaͤnſe der einen Bauerſchaft zu der andern kommen
duͤrf-
[187]Toleranz und Jntoleranz.
duͤrften? die eine, welche das Waſſer und Gras vor der
Thuͤr hatte, beſchwerte ſich daruͤber, daß die Gaͤnſe der
andern immer zu ihr kaͤmen, wogegen die ihrigen nie
wiederum zu der andern, welche auf ihrer Seite bare
Heide haͤtte, giengen; dieſes ſey unbillig, weil der Na-
turgang eine wechſelſeitige Nutzung zum Grunde haͤtte,
die hier ganz wegfiele. Allein der Richter bemerkete,
daß die Bienen der Bauerſchaft, welche am Waſſer lag,
fleißig auf die Heide flogen, und befahl beyden die ver-
ſchiedenen Vortheile der Natur mit Dank zu erkennen,
und da man ſo wenig die Bienen als die Gaͤnſe an der
Schnur halten koͤnnte, ſich einander das Leben nicht ſauer
zu machen. Der Advocat des einen Theils war hiemit
nicht zufrieden, und fuͤhrte die Unbilligkeit des Spruchs
in einer ſtandhaften Behauptung ꝛc. nach allen Kuͤnſten
aus. Aber der Richter ließ gleich ein Bauerrecht von
ſechs benachbarten Maͤnnern halten, und wie dieſe mit
ihm einſtimmeten, verſtattete er keinen Proceß; und der
Oberrichter, wohin ſich der vermeintlich beſchwerte Theil
wandte, beſtaͤtigte ſein Verfahren.
XLVIII.
Toleranz und Jntoleranz.
Ein Philoſoph, als er unlaͤngſt die Ausſchweifungen
des engliſchen Poͤbels las, ſagte er vor ſich: der
Poͤbel iſt doch uͤberall Ochs, er hat zwey Hoͤrner, den
Aberglauben und die Jntoleranz. Nimmt man ſie ihm:
ſo kann man ihn weder faſſen noch anſpannen; und laͤßt
man ſie ihm: ſo richtet er oft Ungluͤck an. Jndeſſen glaube
ich
[188]Die Bekehrung im Alter.
ich doch, daß es beſſer ſey, ſie ihm zu laſſen als zu neh-
men; nur muß man dafuͤr ſorgen, daß die Ochſentreiber
ihre Hoͤrner ablegen.
Seine Frau, welche dieſes hoͤrte, und nie ſchweigt,
wenn von Hoͤrnern die Rede iſt, machte hiebey die An-
merkung: Nun weiß ich doch, warum den Maͤnnern Hoͤr-
ner zugeſchrieben werden, uns Weibern aber nicht. Die
Regenten muͤſſen ſie ablegen und tolerant ſeyn, aber die
Unterthanen koͤnnen die ihrigen ohne Nachtheil nicht
miſſen.
Wenn die Aufklaͤrung unſrer Zeiten es auch nur ſo
weit bringt, daß die Regenten tolerant werden: ſo mag
der Poͤbel und was dazu gehoͤrt, immer ſtoͤßig bleiben.
XLIX.
Die Bekehrung im Alter.
Petron hat ſich ganz bekehret ſagt Valer. Mit eurer
Erlaubnis verſetzt Ariſt, es iſt nicht andem; Pe-
tron hat einen feinen Geſchmack und iſt dabey ſehr ver-
aͤnderlich; Er hat die Laſter ſo lange verſucht, bis ſie
ihm nunmehro unſchmackhaft geworden ſind. Sie ha-
ben keine Reizungen mehr fuͤr ihn, und weil er ſich doch
veraͤndern muß: ſo hat er wohl aus Noth fromm werden
muͤſſen. Jhr meint gewis die Thorheit koͤnne ewig ge-
fallen? o nein! dieſe iſt auch eitel; große Herren, wenn
ſie die Wolluſt aller Leckerbiſſen erſchoͤpfet haben, eſſen
oft auf einem Meyerhofe, um ihre ſtumpf gewordenen Zun-
gen ein wenig zu ſchaͤrfen. Er verſaͤumet doch gleichwohl
keine Predigt, wieder redete Valer, er iſt uͤberaus an-
daͤch-
[189]Die Bekehrung im Alter.
daͤchtig, fliehet die Suͤnde aufs aͤußerſte, und giebet den
Armen nach ſeinem Vermoͤgen; er dient jedermann gern,
iſt gelaſſen, barmherzig, liebreich und freundlich; er
glaubet alles was ihm die Lehrer unſer Kirche ſagen, und
ſeine Werke ſtimmen mit ſeinem Glauben uͤberein; was
wollt ihr denn mehr von einen Chriſten verlangen? Es
kann dieſes alles ſeyn, ſchloß Ariſt; allein glaubt mir,
nach funfzig Jahren kann ſich kein Menſch bekehren.
Wenn Petron vor zwanzig Jahren ſo geweſen waͤre, wie
er jetzt iſt, da er auf ſechzig hinan gehet: ſo wollte ich
ihn fuͤr einen Heiligen gehalten haben. Denket einmal
nach, der weiſeſte Koͤnig auf Erden hatte in ſeinem Alter
nicht einmal ſo viel Kraft, daß er der groͤdſten Abgoͤtte-
rey widerſtehen konnte; wie unſchuldig hat alſo Petron
zur Froͤmmigkeit kommen koͤnnen, da er, nachdem ſeine
boͤſen Neigungen erſtorben, und ſeine Leidenſchaften in
einen tiefen Schlaf verfallen ſind, derſelben gar nicht wi-
derſtehen koͤnnen? Wo der Widerſtand ſchwach iſt, da
iſt der Sieg geringe, und da ein alter Mann oftmals
nicht einmal ſo viel Kraft hat, daß er dem Reize einer
Klapperbuͤchſe widerſtehen kann, wie will er denn dem be-
ſtaͤndig anziehenden Reize der Tugend widerſtehen koͤn-
nen? Glaubet mir die beſte Bekehrerin in der Welt, iſt
die Faulheit; dieſe iſt die wahre Zerſtoͤrerin aller Laſter,
und wenn der Menſch nur erſt ſo weit iſt, daß ſeine Lei-
denſchaften traͤge werden: ſo iſt er gar bald fromm.
Stellet euch vor, Petron hoͤre eine nicht gar zu allge-
meine Predigt, er wuͤrde dadurch geruͤhrt, weil ſein Herz
nicht widerſtehet; dieſer Mangel des Widerſtandes aber
ſey nicht die Frucht einer Ueberwindung, ſondern eines
erſchlaften Herzens, wuͤrdet ihr wohl ſagen, Petron ha-
be ſich bekehret? Jch habe noch keinen geſehen, der ſich
in der Staͤrke ſeiner Leidenſchaften ernſthaft gebeſſert hat.
Das
[190]Die Bekehrung im Alter.
Das Herz hat allemal den Verſtand betrogen, und wo
es hoch gekommen, die Froͤmmigkeit zum Vorwurf ſei-
ner Leidenſchaften gemacht.
Jch beſinne mich, fuhr er fort, daß ich in meiner
erſten Kindheit einen großen Theil an den geringſten Klei-
nigkeiten nahm; mein Herz war ein leerer Raum, der
von dem erſten Vorwurfe ganz erfuͤllet wurde. Meine
Mutter erfuͤllete mich anfangs ganz; nachher wurde ihr
Bild bey mir kleiner, weil mein ſilbernes Pfeifgen auch
einen kleinen Platz haben wollte. Jch gieng in die Schu-
le, und nahm ſo viel Woͤrtergens in dieſen Raum, daß
mein ſilbernes Pfeifgen, nur den tauſendſten Theil ſeines
vorigen Platzes mehr behaupten konnte. Eine gewiſſe
Ruͤhrung, welche ich mit der bewegenden Materie eini-
ger Weltweiſen vergleiche, erhielt alle dieſe Bilderchens
in ihrem Schwunge. Jch nannte dieſe bewegende Ma-
terie einen natuͤrlichen Trieb zum Vergnuͤgen. — Alle
Bilder woraus dieſer Trieb ſeinen Vortheil nicht ziehen
konnte, blieben liegen und wurden nicht geruͤhret. Jch
erblickte einsmals eine Schoͤne, welche meinen ganzen
Seelenraum durchaus erfuͤllte. Meine Woͤrtergens,
waren ſo ſchwach, daß ſie dieſen eindringenden Reizun-
gen nicht den geringſten Widerſtand thaten. Es waͤh-
rete beynahe ein Jahr, daß meine vernunftloſe Einoͤde
ſich dergeſtalt von dieſer Schoͤne erfuͤllen ließ. Endlich
aber kam das Spiel, welches anfangs einen unmerkli-
chen Theil in meinem Raum eroberte, aber nach und
nach ſo ſehr ſich ausdehnte, daß das Bild meiner Gat-
tin, nur einen geringen Theil behauptete, und zuletzt
alles Verhaͤltnis verlor. Jetzt merkte ich, daß der Schwamm
meiner Leidenſchaften ſeine ganze Ausdehnung verlieret.
Jch ſahe, daß ich taͤglich frommer wurde, ſo wie dieſe
abnahmen — — Eine ſolche negative Froͤmmigkeit nahm
ein
[191]Die Bekehrung im Alter.
ein ander das Wort, iſt nur eine Abweſenheit der vori-
gen Bilder, welche ſich von ſelbſt verloren haben; die
geiſtloſe Leere ſchnappet nur aus Noth, und damit das
Kinderbuͤchſgen, welches ſich bey den Menſchen im Alter
wenn er von ſeiner Einbildungskraft verlaſſen wird, jedes
mal hervorthut, nicht wieder ausdehnen moͤge, nach
frommen Bildern, ſo wie die Adern ſich mit Winde er-
fuͤllen, wenn ſich das Blut verlieret. Daher koͤmmt es,
daß alte Leute gar oft leichtglaͤubig und aberglaͤubiſch wer-
den, und in fromme Ausſchweifungen verfallen. Denn
ein jedes fuͤrchterliche Bild erfuͤllet ſie, weil in ihrem See-
lenraum nichts iſt, was noch einigen Widerſtand thun
koͤnnte. Bey einem Menſchen fuͤgte Ariſt hinzu, der die
große Kraft ſeiner Leidenſchaften in der Wolluſt abgenutzt
hat, hat endlich die Froͤmmigkeit außer dem Mangel des
Widerſtandes, noch den Werth der Neuigkeit. Eine neue
Vergnuͤgungsart, ſie ſey gut oder ſchlimm, hat allemal
ihre Reizungen, und das allermatteſte Herz empfindet
dabey noch etliche angenehme Aufwallungen oder zaͤrtliche
Blaͤhungen, die ein Zeichen der Froͤmmigkeit ſind, und
dieſe frommen Aufwallungen werden oft noch von dem
Vergnuͤgen der Reue unterhalten. Auch werden viele
Suͤnden durch Verdruß und Langeweile geſchwaͤchet, und
durch die Veraͤnderungsbegierde erzeuget; dahero iſt ihr
Andenken noch immer und wenigſtens wider Willen an-
genehm, weil unſer Herz mehr ſeine Fehler bereuen will,
als wuͤrklich bereuet. Solche Perſonen opfern Gott nur
denjenigen Eckel auf, welchen ſie verbannen wollen, es
koſte was es wolle. Aus dieſer Urſache verachtet Evre-
mont einen gottloſen Alten, als einen ungeſchickten Mann,
der ſein Handwerk nicht verſtehet, indem er ſeinem Ver-
gnuͤgen nachhaͤngt, ſo lange es laſterhaft iſt, und es ver-
nachlaͤßiget da es von ſelbſt anſaͤngt tugendhaft zu wer-
den.
[192]Die Bekehrung im Alter.
den. Die angenehme Verfluchung ihrer vorigen Aus-
ſchweifungen, ſchmeichelt noch immer der ſterbenden Nei-
gung, und die Thraͤnen uͤber die Suͤnden, ſind faſt im-
mer mit ſolchen Tropfen vermiſcht, welche aus einer
zweydeutigen Zaͤrtlichkeit entſpringen. Aus dieſem Grun-
de kann ein alter Mann allemal bey ſeiner Froͤmmigkeit
des Vergnuͤgens der Reue genieſen; aus eben dieſem
Grunde fließet die gemeine kloͤſterliche Andacht, wie der
Abbe’ St. Pierre ſchon angemerket hat, indem er keinem
rathen will, ins Kloſter zu gehen, der nicht einen ſolchen
Vorrath an Suͤnden gemacht, daß es ihm niemals an dem
Vergnuͤgen der Reue fehlen koͤnne.
Jetzt erkenne ich die Auffuͤhrung des Petrons, ſagt
Valer. Allein wenn er nun zu ſeinem Ungluͤck ſo lange
lebte, daß die Froͤmmigkeit ihre Neuigkeit verloͤre, oder
eine neue Sache kaͤme, die mit mehrerer Gewalt in ſeinen
leeren Seelenraum draͤnge wie denn?
Sorget nicht, verſetzte Ariſt, weil alle Dinge in der
Welt ihre Liebenswuͤrdigkeit, und die Macht des Ein-
drucks von unſer Einbildung erhalten: ſo hat Petron nichts
zu beſorgen, weil ſeine Einbildung ſchon ſo unachtſam und
traͤge geworden iſt, daß ſie keine ſchoͤne Bilder mehr ent-
wickeln, und ſolche den Vorwuͤrfen leihen kann. Er
koͤnnte vielleicht uͤber einige Zeit noch geitzig werden,
wenn die Verſuchung ſtark genug wuͤrde; denn die Alten
ſind ohnedem, aus Mangel hinlaͤnglicher Eitelkeit immer
geneigt, dem ſcheinbar nuͤtzlichen den Vorzug vor allen
andern Vergnuͤgungen zu geben, weil ſie außer Stande
ſind, daran Theil zu nehmen. Jch will alſo nicht gaͤnz-
lich in Abrede ſeyn, daß Petron nicht noch geizig werden
koͤnne. Er wird aber nach ſeiner Art fromm dabey blei-
ben. Er wird glauben Gott einen Dienſt zu thun, daß
er
[193]Die Bekehrung im Alter.
er ſeine Zeit nicht verliert, und ſie nicht in vergaͤnglichen
Luſtbarkeiten verſchwendet. Allein wenn er geitzig wer-
den ſoll, ſo muß er erſt reich werden; es muß ſich aͤußern
wenn er die große Erbſchaft an ſeinen Bruder thut.
Die Prophezeyung iſt eingetroffen, Petron hat die
Erbſchaft von ſeinen Bruder gethan, und iſt auf einmal
ſo geitzig geworden, als er in ſeiner Jugend verſchwen-
driſch geweſen iſt. Waͤre ſeine Froͤmmigkeit rechtſchaffen
geweſen, ſo muͤßte ſie alle Proben ausgehalten haben.
So aber hat ſie nicht einmal dem allerſchwaͤchſten Angrif
widerſtehen koͤnnen; denn wenn ein verſchwendriſches
Naturell nicht einmal den Leckereyen des Reichthums in
ſeinem Alter begegnen kann, ſo muß die Ohnmacht ganz
erſtaunend ſeyn; iſt aber die Ohnmacht ſo groß, ſo iſt es
gewiß keine Kraft, ſondern eine Faulheit geweſen, die
ihn bekehret hat.
L.
Eine kurze Nachricht von den Weſtphaͤli-
ſchen Freygerichten.
Die Freygrafen und Freyſchoͤpfen in Weſtphalen, wel-
che ſich zu Anfange des funfzehnten Jahrhunderts
ſo beruͤhmt und fuͤrchterlich machten, daß es wenig fehlte,
oder man haͤtte gegen ſie wie gegen die Tempelherrn ver-
fahren muͤſſen, ſind zwar in der Geſchichte noch unver-
geſſen, aber doch vielleicht manchem unter uns nicht ſo
bekannt, wie es eine ſolche Nationalſache verdient. Jch
will alſo denen zu gefallen, die ſich lieber aus einem Ta-
ſchencalender, als aus großen gelehrten Werken unter-
richten, eine kurze Nachricht von ihnen geben.
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. NJhren
[194]Eine kurze Nachricht
Jhren Urſprung leiteten ſie ſelbſt von Carl dem Groſ-
ſen her, und die Gelehrten, welche dieſe ihre Meinung
unterſtuͤtzen, haben es hoͤchſtwahrſcheinlich gemacht, daß
ſie ihr Daſeyn den Carolingiſchen Commiſſarien (miſſis
per tempora diſcurrentibus) zu danken haͤtten. Dieſe ver-
hielten ſich eben ſo wie die jetzigen archidiaconaliſchen
Commiſſarien, reiſeten des Jahrs ein oder mehrmal in
die ihnen angewieſenen Diſtricte, und hielten in denfelden
ihre Sitzungen, Namens des Kayſers, oder unter Koͤ-
nigs Bann; wobey ein jeder der entweder etwas gegen
die ordentlichen Beamten anzubringen, oder doch ſonſt
eine Beſchwerde hatte, welche nicht anders als durch den
Kayſer ſelbſt gehoben werden mochte, ſich angeben konnte.
Jnsbeſondre aber unterſuchten und beſtrafeten dieſe Com-
miſſarien diejenigen Verbrechen, deren Beſtrafung der
Kayſer ſich ſelbſt vorbehalten hatte; und wie es uͤber-
haupt ſcheinet, daß der ordentliche Richter nicht anders
als zur Erhaltung, das iſt zur Genugthuung mit Gelde
richten konnte: alſo mochten jene Commiſſarien uͤber alle
Verbrechen richten, welche entweder der Kayſer fuͤr un-
abloͤslich erklaͤrt, oder der Verbrecher ſelbſt dadurch, daß
er ſich zur Genugthuung vor ſeinem ordentlichen Richter
nicht bequemen wollte, unabloͤslich gemacht hatte.
Die Natur dieſer Anſtalt erforderte zweyerley, als
erſtlich eine oͤffentliche und geheime Sitzung. Denn da
unter den unabloͤslichen Verbrechen, Ketzerey, Zaube-
rey und Kirchenraub mit begriffen waren: ſo ließ ſich dar-
uͤber nicht vor dem ganzen Volke inquiriren; und ſo ward
die Commiſſion wahrſcheinlich eben wie unſre Sende, erſt
mit dem verſammleten Volke eroͤffnet, und hernach mit
einem Stillgerichte beſchloſſen. Zweytens erforderte ſie,
weil die Commiſſarien ſich nicht lange aufhalten konnten,
einen
[195]von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten.
einen geſchwinden Proceß, und dieſer beſtand darinn, daß
in jedem Diſtricte, wie es von den archidiaconaliſchen
Commiſſarien noch geſchieht, zwey oder mehrere der be-
ſten und redlichſten Maͤnner zu Eydgeſchwornen angeſetzt
und alle Verbrechen, die zu ihrer Beſtrafung gehoͤrten,
auf deren Zeugniß gerichtet wurden. Hiemit ſtimmt auch
die Geſchichte, wann man alle kleine Umſtaͤnde zuſam-
men nimmt, uͤberein, und die ſpaͤtern Geſchichtſchreiber
ſetzen dieſem noch den beſondern aber ſehr wahrſcheinli-
chen Umſtand hinzu, daß die Eydgeſchwornen dem Volke
nicht waͤren bekannt gemacht worden, damit ſich keiner
vor ihnen haͤtte in Acht nehmen koͤnnen; ſo daß ein Bru-
der ſich vor dem andern habe fuͤrchten muͤſſen.
Vergleicht man dieſe Beſchreibung der Carolingiſchen
außerordentlichen Commiſſion mit den ſpaͤter alſo genann-
ten Freygrafſchaften: ſo findet man unter beyden die groͤßte
Aehnlichkeit. Jhre Sitzungen hießen Freydinge, der Ort
wo die Sitzung gehalten ward, der freye Stuhl, der
Commiſſarius Freygraf, und die Eydgeſchwornen Frey-
ſchoͤpfen; der Herzog von Sachſen, welcher auch noth-
wendig als oberſter miſſus jene miſſos per tempora diſcur-
rentes abſchickte, war ihr oberſter Stuhlherr; derſelbe
hatte in dieſer Eigenſchaft das Patronatrecht uͤber jeden
Stuhl, oder die Ernennung des Freygrafen, und dieſer
ließ ſich dann nachdem er ernannt war, von dem Kayſer
wiewohl es auch zu Zeiten Commißionsweiſe vom Her-
zoge geſchahe, mit des Koͤnigs Bann belehnen.
Vor ihren Richterſtuhl gehoͤrten ebenfalls jene Ver-
brechen und alle Klagen gegen Leute, die vor ihrem or-
dentlichen Richter kein Recht geben wollten. Sie hatten
auch wie jene ihr Stillgericht, oder ihre ſogenannte heim-
liche Acht, nachdem ſie zuvor den freyen Stuhl bekleidet
N 2und
[196]Eine kurze Nachricht
und ihre oͤffentliche Sitzung unter dem blauen Himmel
eroͤffnet hatten. Es ward dem Volke nicht bekannt ge-
macht wer Freyſchoͤpfe war; und dieſe waren durch einen
fuͤrchterlichen Eyd verbunden, Vater und Bruder, Mut-
ter und Schweſter, Freunde und Verwandte anzugeben,
wenn ſie etwas begangen hatten, was vor dem freyen
Stuhl zu ruͤgen war. Jhnen lag es zugleich ob, alle Er-
kenntniſſe des freyen Stuhls zu vollſtrecken, die Ladun-
gen an die Straffaͤlligen zu uͤberbringen, und wenn es
das Urtheil mit ſich brachte, den Verurtheilten wo ſie ihn
fanden, zu haͤngen. Jm Grunde aber hielten ſie dem Kay-
ſer alle Laͤnder offen, handelten ohne ſich an Territorial-
graͤnzen zu kehren, noch immer als auſſerordentliche, die
kayſerliche Majeſtaͤt repraͤſentirende Commiſſarien, und
wuͤrden, wenn ſie beſtehen geblieben waͤren, alle Terri-
torialhoheit verhindert haben.
Des erſten Freygerichts wird ums Jahr 1211. mit-
hin nicht lange nach dem geſprengten Großherzogthum in
Sachſen, als einer ſchon bekannten Sache gedacht. Ver-
muthlich hatten die vorhingedachten Commiſſarien ihr
Amt unter den Herzogen fortgeſetzt, und ſich von dieſen
als den oberſten miſſis beſtellen laſſen. Denn da alle Blut-
gerichte von dem Herzogthum ausgiengen: ſo mußten
auch dieſe Commiſſarien davon angeordnet ſeyn. Jn die-
ſer Zeit muͤſſen ſie ſich aber auf einem gewoͤhnlichen und
bekannten Fuß gehalten haben, weil die Schriftſteller ih-
rer gar nicht gedenken; und dieſes iſt insgemein der Fall
mit gewoͤhnlichen Begebenheiten; man bemerkt in der
Geſchichte die Cometen und Finſterniſſen, aber nicht den
taͤglichen Aufgang der Sonne. Erſt nach geſprengtem Her-
zogthume fielen die Freygerichte in die Augen. Kein
Reichsfuͤrſt wollte gern einen ſolchen unmittelbaren kay-
ſerli-
[197]von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten.
ſerlichen Comiſſair zulaſſen. Jeder Biſchof und Fuͤrſt
war darauf bedacht die Commiſſion auf ſich zu bekom-
men, ſelbſt Oberlehnsherr der Stuͤhle in ſeinem Lande zu
werden, und damit eine fremde Gerichtsbarkeit auszu-
ſchließen. Der Erzhiſchof von Coͤlln allein, welcher das
Herzogthum in Engern und Weſtphalen erhalten hatte,
widerſetzte ſich dieſen Unternehmungen, und brachte es
auch wuͤrklich dahin, daß er faſt uͤberall in Weſtphalen
und Engern als oberſter Stuhlherr erkannt wurde. Von
ihm hieng alſo eine Zeitlang die Ernennung aller Frey-
grafen in dieſen Laͤndern ab, und vermuthlich auch die
Belehnung derſelben mit des Koͤnigs Banne.
Jn dieſer Lage blieben die Freygrafſchaften eine gute
Weile, außer daß ſich viele Biſchoͤfe, Fuͤrſten und Staͤd-
te, welche das ordentliche Richteramt zur Erhaltung,
oder die Gowgrafſchaften an ſich gebracht hatten, ſich
dieſem auſſerordentlichen Beamten zu entziehen, und ent-
weder dieſes ihr Richteramt auch auf die Faͤlle zu Haut
und Haar zu erſtrecken ſuchten, oder ſich auf andre Art
den Freygrafen widerſetzten, wozu die allmaͤhlige Abnah-
me des Rechts die Verbrechen mit Gelde zu loͤſen, der
Landfrieden, und andre Arten von Selbſthuͤlfen, haupt-
ſaͤchlich aber die von dem Kayſer gegen ſein eignes Jnte-
reſſe ertheilten Privilegien nicht wenig beytragen mochten.
Gegen das Ende des vierzehnten und zu Anfang des funf-
zehnten Jahrhunderts erſchienen ſie aber auf einmal mit
einer ſolchen Macht, daß ganz Deutſchland davor zittern
mußte; und ich glaube nicht zu viel zu ſagen, wenn ich
annehme, daß mehr als hundert tauſend Freyſchoͤpfen in
Deutſchland waren, die wie die Freymaͤurer vereint und
unerkannt, jeden der von der heimlichen Acht verdammt
war, unverwarnt hinrichteten, und was die Ausrichtung
N 3be-
[198]Eine kurze Nachricht
betrift, den Banditen und Aſſaſſinen gleich verfuhren.
Bayern und Oeſterreicher, Franken und Schwaben,
wenn ſie etwas an jemanden zu fordern hatten, der ih-
nen vor ſeinem ordentlichen Richter nicht zu Recht ſtehen
wollte, wandten ſich an ein weſtphaͤliſches Freygericht,
und brachten von demſelben Ladungen und Urtheile aus,
die ſo gleich dem ganzen Orden der Freyſchoͤpfen bekannt
gemacht wurden, und ſo mit jene hundert tauſend Hen-
ker in Bewegung ſetzten, die durch den fuͤrchterlichſten
Eyd verbunden waren, weder ihrer Eltern noch ihrer
beſten Freunde und Verwandten zu ſchonen. Wenn ein
Freyſchoͤpfe, der mit ſeinem in der heimlichen Acht verur-
theilten Freunde uͤber Weg gieng, demſelben nur den ge-
ringſten Wink gab, und z. E. nur zu ihm ſagte: Ander-
waͤrts iſt ſo gut Brod zu eſſen als hier, um ihm damit
zu verſtehen zu geben, er moͤge ſich aus dem Staube ma-
chen: ſo waren alle Freyſchoͤpfen durch ihren Eyd ver-
bunden, dieſen Verraͤther ſieben Fuß hoͤher zu haͤngen
als einen jeden andern Verurtheilten. Jhnen gebuͤhrte,
nachdem einmal das Urtheil in der heimlichen Acht aus-
geſprochen war, nicht die geringſte weitere Erkenntniß,
ſondern der ſtrengſte Gehorſam, deſſen irgend ein Or-
densmann nur faͤhig iſt; und wenn der Verbrecher auch
von ihnen fuͤr den redlichſten und beſten Mann gehalten
wurde: ſo mußten ſie ihn haͤngen.
Dieſes bewog faſt jeden Mann von Geburt und An-
ſehen ſich als Freyſchoͤpfe aufnehmen zu laſſen, um ſich
ſolchergeſtalt deſtomehr in Acht nehmen zu koͤnnen. Jeder
Fuͤrſt hatte einige Freyſchoͤpfen unter ſeinen Raͤthen, je-
der Magiſtrat unter ſeinen Gliedern *) und der Adel war
haͤu-
[199]von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten.
haͤufiger Freyſchoͤpfe als jetzt Freymaͤurer. Jn Sachen
der Stadt Oſnabruͤck gegen Conrad von Langen waren
uͤber dreyhundert Freyſchoͤpfen, theils von der Ritter-
ſchaft, theils erbarn Standes *), in der heimlichen Acht,
worin der von Langen verdammt wurde. Auch Fuͤrſten,
als der Herzog von Bayern und der Markgraf von Bran-
denburg, ließen ſich zu Freyſchoͤpfen aufnehmen, und
man erzaͤhlt von dem Herzog Wilhelm von Braunſchweig,
einem Freyſchoͤpfen, daß er geſagt habe, ich muß Herzo-
gen Adolf von Schleßwig haͤngen, wenn er zu mir koͤmmt,
oder die Schoͤpfen wuͤrden mich haͤngen **). Man konn-
te dem Verfahren der Freygerichte nur ſelten ausweichen,
da die Freyſchoͤpfen, wenn ſie einen Fuͤrſten aus ſeinem
Palaſte, oder einen edlen Herrn aus ſeiner Burg, oder
einen Buͤrger aus der Stadt zu verabladen hatten, ſich
des Nachts ungeſehn und unerkannt an die Mauren der
Burg oder der Stadt heranſchlichen, und die bey ſich ha-
benden Ladungen an die Pforten hefteten. War dieſes
dreymal geſchehen, und der Beklagte erſchien nicht: ſo
ward er in der heimlichen Acht verdammt, und um der
Vollſtreckung des Urtheils vorzubeugen noch einmal vor-
N 4be-
*)
[200]Eine kurze Nachricht
beſchieden, ſodann aber wenn er nochmals ausblieb,
verfehmt, oder vor jeden Freyſchoͤpfen gleichſam Vogel-
frey erklaͤrt, und das unſichtbare Heer der Schoͤpfen ver-
folgte ihn bis zum Tode. Wenn ein Schoͤpfe ſich zu ſchwach
fuͤhlte den Verurtheilten zu greifen und zu haͤngen, ſo
mußte er ihn ſo lange verfolgen, bis er mehrere Frey-
ſchoͤpfen antraf, die ihm die huͤlfliche Hand leiſteten; und
dieſe waren auf das ihnen gemachte heimliche Zeichen
ohne Widerrede dazu verbunden. Sie hiengen dann den
Ungluͤcklichen mit der Weide an einen Baum auf der Land-
ſtraße, nicht aber an einen Galgen, um damit anzuzei-
gen, daß ſie ein freyes Kayſerl. Richteramt durch das
ganze Reich haͤtten, welches an keine Herrſchaftl. Ge-
richtſtaͤtte gebunden waͤre. Widerſetzte er ſich ſo, daß ſie
ihn nieder ſtoßen mußten: ſo bunden ſie den Koͤrper an
den Baum, und ſteckten ihr Meſſer dabey, zum Zeichen,
daß er nicht ermordet, ſondern von einem Freyſchoͤpfen
gerichtet waͤre.
Das tiefſte Geheimniß deckte alle ihre Handlungen;
und man weiß bis dieſe Stunde noch nicht *), was ſie
fuͤr eine Loſung gehabt, woran ſich die Wiſſenden, ſo
nannten ſich die Freyſchoͤpfen, einander erkannt haben;
und noch weniger ihre ganze Einrichtung. Selbſt dem
Kayſer, ohnerachtet er der oberſte Stuhlherr war, durf-
ten ſie dasjenige nicht entdecken, was in der heimlichen
Acht vorgegangen war. Nur dann wenn er fragte:
Jſt N. N. verurtheilt[?] ſo konnten ſie ihm mit Ja
oder Nein antworten, wenn er aber fragte: wer iſt in
der
[201]von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten.
der heimlichen Acht verurtheilt[?] durften ſie ihm keinen
mit Namen nennen, wie man ſolches aus den Antworten
ſieht, welche die Freygrafen dem Kayſer Ruprecht im
Jahr 1404 ertheilten *).
Der Kayſer oder ſein Bevollmaͤchtigter der Herzog
konnte nirgends Freyſchoͤpfen machen als auf der rothen
Erden, das iſt in Weſtphalen, an einem freyen Stuhle,
unter dem Beyſtande von drey oder vier andern Frey-
ſchoͤpfen als Zeugen. Auch hierinn waren ſie den Frey-
maͤurern aͤhnlich, und wenn man ſich jeden Stuhl als
eine Loge, und den oberſten Stuhlherrn als Großmei-
ſtern aller Weſtphaͤliſchen Logen denkt: ſo wird die Aehn-
lichkeit noch ſcheinbarer. Was aber fuͤr ein myſtiſcher
Sinn unter der rothen Erde verborgen liege, und warum
Weſtphalen die rothe Erde genannt werde, iſt noch zu
unterſuchen; vielleicht zielte man auf die Farbe des Fel-
des im Herzoglich Saͤchſiſchen Schilde. Der Koͤnig Wen-
zel hatte Freyſchoͤpfen außerhalb Weſtphalen gemacht,
und als der Kayſer Ruprecht fragte, wie ſich echte Frey-
ſchoͤpfen gegen dieſelben verhielten: ſo war die Antwort:
man haͤngt ſie von Stund an ohne Gnade.
Der Kayſer allein und kein ander Fuͤrſt konnte einem
der in der heimlichen Acht verurtheilet war, ein frey Ge-
leit ertheilen; eben dieſes hatte auch Carl der Große ſich
in den ſaͤchſiſchen Capitularien vorbehalten. Doch, ant-
worteten die Schoͤpfen, ziemte es den Kayſer beſſer der-
gleichen Geleit nicht zu ertheilen, weil ihm mehr daran
gelegen ſeyn muͤßte, die heimlichen Gerichte zu ſtaͤrken
als zu ſchwaͤchen; und hierinn hatten ſie Recht, weil die
Freygrafen den unmittelbaren Einfluß der kayſerlichen
N 5Ge-
[202]Eine kurze Nachricht
Gewalt gegen die anwachſenden Territorialhoheiten be-
haupteten. Obgedachten Conrad von Langen, der ſein
Gut zwiſchen der Stadt Oſnabruͤck und dem Dorfe Oeſede
hatte, nahm der Kayſer Sigismund in ſeine Dienſte, um
ihn zu retten. Aber die Freygrafen verfolgten ihn mit
ihren Erkenntniſſen, wovon er endlich an das Concilium
zu Baſel appellirte *).
Die wahre Urſache ihres Untergangs iſt auch ganz
ſichtbar die Territorialhoheit, welche ſich gegen dieſe auſ-
ſerordentlichen und unmittelbaren kayſerlichen Commiſſa-
rien ſo lange ſperrete, bis ſie ſolche voͤllig erſtickt hatte.
Doch ſind ſie durch die Reichsgeſetze nie voͤllig aufgeho-
ben, ſondern nur auf ihre urſpruͤngliche Einrichtung, und
auf ihre Diſtricte eingeſchraͤnkt worden. Noch jetzt giebt
der Kayſer freye Stuͤhle zu Lehen, und man findet auch
noch verſchiedene Freygerichte in der Grafſchaft Mark
und dem Herzogthum Weſtphalen, die aber doch nicht
mehr unmittelbar unter dem Kayſer, ſondern unter ih-
rem Landesherrn ſtehn. Den letztern Schaden haben ih-
nen uͤberall die Archidiaconen gethan, welche als biſchoͤf-
liche Commiſſarien eine beſſere und naͤhere Unterſtuͤtzung
an ihrem Herrn, als die Freygrafen an dem entfernten
Kayſer hatten, und beſonders den Theil der freygraͤſli-
chen Gerichtsbarkeit, welcher in dem Kayſerlichen Kir-
chen und Kirchhofesſchutz beſtand, an ſich zogen, auch den
Freygrafen nicht weiter das Urtheil uͤber Zauberey und
Ketzerey geſtatten wollten, wie ſolches aus verſchiedenen
Beſchwerden der Freygrafen uͤber jene biſchoͤflichen Com-
miſſarien zu erſehen iſt.
Was
[203]von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten.
Was aber die wahre Urſache ihres großen Anſchens
zu Ende des vierzehnten und zu Anfang des funfzehnten
Jahrhunderts geweſen, daruͤber ſind die Gelehrten nicht
eins. Jnsgemein glaubt man, ſie haͤtten ſich durch die
weſtphaͤliſchen Landfrieden gehoben. Allein dieſes kann
unmoͤglich die Urſache ſeyn, weil nach dem Sinn des weſt-
phaͤliſchen Landfriedens von 1325 *)a) die eilende Huͤlfe
der Verbundenen, b) das Landrecht worunter ein jeder
ſteht, und c) die Landfriedens- oder Confoͤderationsgerichte,
alle diejenigen Mittel ausmachen, wodurch einer zu ſei-
nem Rechte gelangen kann. Haͤtte man hier zur Hand-
habung des Landfriedens gegen deſſen Uebertreter die
Freygrafen und Freyſchoͤpfen noͤthig gehabt; ſo wuͤrde
man ihrer gewiß gedacht, und ſich ihrer anſtatt beſonde-
rer Confoͤderationsgerichte bedient haben; davon findet
ſich aber keine Spur.
Wahrſcheinlicher iſt es, daß ſie bey eben der großen
Anarchie im Reiche, welche die partikulairen Landfrieden
noͤthig machte, ihr Haupt empor gehoben und ſtatt der
Reichsgerichte gedient haben. Dieſe waren damals noch
nicht eingerichtet, und ihre allgemeine Befugniß iſt erſt
aus dem allgemeinen Landfrieden entſtanden. Sie ſind
im Grunde Confoͤderationsgerichte, die in Reichsgerichte
uͤbergegangen ſind, nachdem die deutſche Confoͤderation,
oder der allgemeine Landfriede, zu einem Reichstags-
ſchluß erhoben worden. Vorher alſo war in Weſtphalen
und vielen andern Provinzen des Reichs nach abgegange-
ner zerruͤtteter oder geſchwaͤchter Herzogl. Gewalt, (facto)
kein Reichsgericht, vor welchem man eines jeden Reichs-
ſtandes zu Ehren oder zu Rechte maͤchtig werden konnte,
und dieſe Luͤcke fuͤlleten die Freygerichte aus.
Man
[204]Eine kurze Nachricht
Man ſieht dieſes nicht deutlicher als aus den Ge-
genmitteln, deren ſich die Fuͤrſten gegen die Freygrafen
bedienten. Einige ſagten, der Kayſer waͤre ihrer zu Eh-
ren und zu Rechte maͤchtig, und ſo brauchten ſie vor kei-
nem freyen Stuhle zu erſcheinen; dieſes wollten aber die
Freygrafen nicht gelten laſſen, weil ſie eben diejenigen zu
ſeyn behaupteten, die unmittelbar unter des Kayſers
Banne richteten. Hierin irreten ſie ſich jedoch, denn der
miſſus mußte, wenn es hohe Standesperſonen betraf,
an den Kayſer berichten, der dann deren ihre Sache vor
die Reichsverſammlung brachte. Andre Fuͤrſten und
Staͤnde nahmen ihre Zuflucht zu Austraͤgen, und ſchuͤtz-
ten vor, weil ſie Austraͤge haͤtten, vor welchen ſie beſpro-
chen werden koͤnnten: ſo waͤren ſie nicht ſchuldig den Frey-
grafen in der erſten Jnſtanz zu antworten. Dieſes ließ
man gelten, und jedermann, auch ſogar Staͤdte waͤhlten
ſich andre Staͤdte zu Austraͤgen, um den Freygrafen zu
entgehen. Noch andre beriefen ſich in dieſer Abſicht auf
ihre Provincial-Reichsgerichte, wie auf das Kayſerl.
Gericht zu Rottweil, und befoͤrderten deren Aufnahme.
Viele Fuͤrſten errichteten, um ihre Edelleute gegen die
Freygrafen zu ſchuͤtzen, Fuͤrſtl. Landgerichte, und der Adel
wie auch die Staͤdte flogen mit Freuden darunter, alles
in der Abſicht um den hundert tauſend Henkern zu ent-
gehn, die unerkannt in Deutſchland lebten, und jeden
Verfehmten vom Leben zum Tode richteten.
Man kann alſo wohl ſagen, daß die Weſtphaͤliſchen
Freygrafen die jetzige Reichsverfaſſung in vielen Stuͤcken
befoͤrdert, und das in die Anarchie verfallene Volk noch
am mehrſten unter die Fuͤrſten Huͤte und Biſchofsmuͤtzen
gejagt, dieſe aber genoͤthiget haben ſich einem allgemei-
nen Reichsgerichte zu unterwerfen, und ſowohl fuͤr ſich
als fuͤr ihre Unterthanen einen Oberrichter zu erkennen,
vor
[205]von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten.
vor welchem man wo nicht in der That, doch wenigſtens
in der Theorie aller Hohen und Niedrigen in Deutſchland
zu Rechte maͤchtig werden kann. So bald aber die Frey-
grafen dieſes wichtige Werk, obgleich wider ihre Abſicht,
zu Stande gebracht hatten, bedurfte man ihrer grauſa-
men Huͤlfe nicht weiter.
Uebrigens war das Verfahren der Freygrafen an
ſich gar nicht unfoͤrmlich. Jeder Beklagter ward drey-
mal, um auf die Klage zu antworten, und wenn er nicht
erſchien, mithin in contumaciam gegen ſich ſprechen ließ,
zum viertenmal vorgeladen, um der Execution vorzubeu-
gen. Das Urtheil ward, ſo lange es ordentlich zugieng,
von redlichen und ausgeſuchten Maͤnnern gefaͤllet, und
ſolchergeſtalt keiner ungehoͤrt verdammt. Was ihnen da-
gegen aus Haß von den Territorialherrſchaften, welche
die Kayſerl. Commiſſarien nicht leiden konnten, aufge-
buͤrdet iſt, iſt wahrſcheinlich großentheils uͤbertrieben;
und außer den vorgedachten Schoͤpfen des Koͤnigs Wen-
zels, und denen welche von den Freyſchoͤpfen auf friſcher
That ertappt wurden, ein Fall, der vielleicht nie einge-
troffen iſt, iſt von ihnen vielleicht keiner von Stund an
gehangen worden.
Den Namen Verbotener Gerichte fuͤhrten die Frey-
gerichte ohnſtreitig daher, weil das Gericht der miſſorum
unter dem blauen Himmel ein ungeboten, das Stillge-
richt aber ein geboten Ding war, wovor keiner, als wer
dazu verbotet war (ein weſtphaͤliſcher Ausdruck fuͤr citi-
ren) erſchien. Da auch noch jetzt in einigen Laͤndern, als
z. E. im Oeſterreichſchen, der RahmcremorFahm ge-
nannt wird, mithin Fahmen eben ſo gut als Rahmen
oder berahmen fuͤr citiren gebraucht ſeyn kann: ſo wird
Fehmding ein Name der den Stillgerichten der Freygra-
fen
[206]Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde
fen gegeben wurde, ebenfalls nur ein geboten Ding an-
zeigen. Verfehmen iſt dann eben ſo viel als verbannen,
weil auch bannen fuͤr citiren gebraucht wird.
LI.
Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde und
des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.
Der Ausdruck Land, Landes-herr, Land-ſtaͤnde und
Landes-kaſſen iſt nicht ſo alt wie man insgemein
glaubt. Man hatte lange Stift, Biſchoͤfe, Capittel,
Stiftsmannſchaft und Staͤdte, ehe man den Zuſatz von
Land gebrauchte, und es liegt allerdings daran die eine
Periode von der andern zu unterſcheiden.
Ohne mich jetzt darauf einzulaſſen, zu welcher Zeit
Biſchoͤfe, Capittel, Stiftsmannſchaft und Staͤdte in ih-
rem allmaͤhligen Fortgange entſtanden ſind, will ich nur
die Zeit des Uebergangs von dem einen Begriff und von
dem einen Ausdruck zum andern anzugeben ſuchen, und
dann etwas von der wahrſcheinlichen Entſtehung des Land-
raths ſagen.
Wann in den aͤltern Zeiten eine gemeine Ausgabe
vorfiel, welche Biſchof, Capittel, Stiftsmannſchaft und
Staͤdte, gemeinſchaftlich tragen wollten oder mußten: ſo
bewilligten ſie, wie alle andre Geſellſchaften, welche ſich
zu einer gemeinſchaftlichen Abſicht vereiniget haben, ſolche
lediglich aus ihrem Eigenthum, und es wurden dadurch
keine andre Stifts- oder Landeseinwohner, welche den
Mitgliedern jener Vereinigung mit Leib oder Gut nicht
angehoͤrten, zum Beytrage verbunden.
Jn
[207]und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.
Jn dem Eide, welchen Biſchof Henrich von Holſtein
beym Antritt ſeiner Regieruug (1403) dem Domcapit-
tel ablegte, verſpricht er nur noch blos, daß er vom
Domcapittel, den Kloͤſtern und Kirchen des Stifts und
der Stadt, wie auch von ihren Perſonen und Guͤtern
ohne Rath und Bewilligung des Domcapittels keine Bey-
huͤlfe fordern wolle, die Worte lauten alſo:
‘Item quod nec per nos nec per advocatos noſtros aliquas
exactiones Capitulo Monaſteriis vel eccleſiis civitatis
\& dioeceſeos Oſnabrugenſis earumque perſonis in bo-
nis eorum faciemus vel fieri permittemus, ſine conſi-
lio \& conſenſu Capituli Oſnabr.’ ()
Wenn alſo damals der Biſchof die Einwilligung des
Domcapittels, zu einer Beyſteuer von den Capitular-
Kloͤſter- und Kirchen-Eigenbehoͤrigen, hatte, ſo mußte
er, in ſo fern die Stiftsmannſchaft und die Staͤdte auch
dazu deytragen ſollten, deren ihren Rath und Einwilli-
gung beſonders ſuchen.
Bey der unruhigen Wahl des Biſchofes Johann von
Diepholz (1424) ſuchten die Stiftsmannſchaft und Staͤdte
ſich mit dem Domcapitel naͤher zu vereinigen, mithin die-
ſen Punkt alſo zu faſſen:
‘Ok en ſolle Wy noch en willen ninerleye Schattinge,
Bede eder Denſt van en eeſchen eder eeſchen laten,
noch unſe Amtlude, wy ne doen dat na Rade un
Willen Capittols Stichtesmanne un Stades to Oſſenbr.’ ()
und obgleich dieſe Wahl fuͤr nichtig erklaͤret wurde:
ſo blieb doch dieſer Punkt in der Folge beſtehn, und es
ward in der Capitulation Biſchofes Henrichs (1437)
geſetzt:
Dat Wy noch vermydſt uns noch unſsen Vogden eder
Amtlüden, nynen Denſt, Bede noch Schattinge Ca-
pitteln Mönſtern offte Kerken Stichtesmannen eder
Stades
[208]Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde
Stades to Oſſenbrugge unde eren Perſonen ofte eren
Luden doen ſcheenlaten willen, ſunder Raet unde
Vulbort Capittels Stichtesmannen unde Stades te Oſ-
ſenbrugge.
Auf gleiche Weiſe mußten ſich (1442) Biſchof Henrich
(1450) Biſchof Albrecht und (1455) Biſchof Conrad von
Diepholz verbinden.
Jn dem Eyde des Biſchofes Conrad von Rettberg ward
eine kleine Erweiterung hinzugeſetzt, indem es darin
heißt:
‘Vortmer willen Wy noch vermitts uns noch unſern
Vogden noch Amtlüden nyne Schattinge, Denſt noch
Bede Capitteln Kerken Stichtsmannen ofte Stades to
Oſſenbrugge in eren Perſonen, noch eren Guden noch
Lüden noch Vryen de up eren Güdern ſitten, doen
willen noch ſcheen laten, ſunder Vulbort Capittel,
Stichtesmanne unde Stades to Oſenbr. ſunder de
Vryen de up malkes Güdern ſitten, dat ſe de mögen
hebben beſchermen unde verdedigen gelik eren eg-
nen Lüden.’ ()
Hiebey blieb es in dem Eyde des Biſchofes Franz (1500)
des Biſchofes Erichs (1508) des Biſchofes Franz von
Waldeck (1532) und des Biſchofes Johannes von der
Hoya (1554) aber in der Capitulation des Biſchofes
Philipp Sigismunds ward zum erſtenmal von Stiftsun-
terthanen geſprochen, und §. 27. folgendes geſetzt:
Als auch dieſes Stift in merkliche und große Beſchwe-
rung durch Krieg und Ueberzuͤge gerathen, da denn
auch die Unterthanen ihrer Unvermoͤgenheit halber
in dieſe ſchwere theure Jahr keine Schatzung ertra-
gen koͤnnen: ſo wollen wir dies Stift vor unſer ſelbſt
Perſon mit keiner Schatzung beſchweren.
So
[209]und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.
Sodann in der immerwaͤhrenden Capitulation §. 36.
auch der Staͤnde gedacht, und dieſer Punkt alſo gefaßt:
Als auch dieſes Stift in große Beſchwerung durch Krieg
und Ueberzuͤge gerathen: ſo ſoll und will der Bi-
ſchof dies Stift fuͤr ſich ſelbſt ohne Bewilligung der
Staͤnde mit keiner neuen Schatzung belegen.
Folget man nun dieſem Gange des Ausdrucks mit Auf-
merkſamkeit nach: ſo erkennt man,
- 1) Daß jeder Bewilligender, wie es auch die Natur
der Repraͤſentation mit ſich bringt, nicht fuͤr andre, ſon-
dern blos fuͤr ſeine Perſon und ſeine Leute bewilliget habe. - 2) Daß man in dem Eyde des Biſchofes Conrad von
Rittberg zum erſtenmal darauf gedacht, wie ein jeder
Bewilligender auch fuͤr die Freyen, ſo er auf ſeinen Gruͤn-
den in Schutz und Schirm haͤtte, ſprechen koͤnnte. Vor-
hin alſo galt dieſe Bewilligung nur fuͤr eines jeden eigne
Leute, und - 3) Daß in dieſer ganzen alten Verfaſſung noch keine
Landſtaͤnde, Landeskaſſen und Landesunterthanen vor-
kommen konnten.
Denn der Begriff des Landſtandes entſteht nur als-
denn, wenn die Repraͤſentanten nicht mehr fuͤr ſich und
die ihrige, ſondern fuͤr alles was auf dem Landesboden
ſitzt, und von ihnen nicht verſchonet ward, bewilligen.
Die gemeinſchaftliche Kaſſe des Capitels der Stiftsmann-
ſchaft und der Stadt, bleibt ſo lange eine Bundeskaſſe,
woraus blos die Nothdurft der Verbuͤndeten und ihrer
Zugehoͤrigen beſtritten ward, bis ihre Bewilligung fuͤr
das ganze Land gilt. Dann iſt auch ihre Kaſſe Landes-
kaſſe; und Landesunterthanen erſcheinen, wenn man nicht
mehr darauf ſieht, ob die Steurenden genau den Be-
willigenden an- oder zugehoͤren, ſondern dieſer ihre Be-
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Owilli-
[210]Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde
willigung fuͤr alle, welche auf dem Landesboden ſitzen,
gelten laͤßt.
Um dieſes mit einem Beyſpiel zu erlaͤutern: ſo darf
man ſich nur erinnern, daß in den alten Zeiten, Capi-
tel, Stiftsmannſchaft und Stadt, ſo lange ſie nur blos
fuͤr ſich ihre eigenen und Schutzverwandten Freyen bewil-
ligen konnten, nicht im Stande waren, einen einzigen
Ravenſpergſchen, Tecklenburgſchen und Lingiſchen, auf
hieſigem Landesboden geſeſſenen Freyen, oder auch nur
einen jeden Grafen angehoͤrigen eignen Mann, der hier
im Lande wohnte, zu beſteuren. Die Urſache davon iſt
klar, weil dieſe auswaͤrtigen Herrn angehoͤrige Leute hier
nicht repraͤſentirt waren, und nur erſt repraͤſentirt zu
werden anfiengen, wie man die Verbindlichkeit zum Bey-
trage aus dem Landesboden hervorgehn lies, die Bun-
deskaſſe in Landkaſſe umſchuf, und die in dem Beſitze ei-
ner Repraͤſentation fuͤr die ihrigen befindlichen Verbuͤn-
deten in Landrepraͤſentanten oder Staͤnde verwandelte.
Der Anfang dieſer Verwandlung in Begrif und Aus-
druck laͤßt ſich nicht genau beſtimmen, und ſie iſt vermuth-
lich im allgeniaͤhligen unbemerkten Fortgange zu Stande
gekommen. Dem Kayſer allein haftete zuerſt der Reichs-
boden, oder das Land, ohne Unterſchied der Amtsab-
theilungen; dies geht klar aus Carls des Großen Thei-
lung unter ſeinen Soͤhnen hervor. Dem Biſchofe hafte-
ten ſaͤmmtliche Eingepfarrte zu ſeinen Biſchoͤflichen Ge-
buͤhren; den Herzogen und Grafen die Herzogthums-
und Grafſchaftseingeſeſſene, zur Folge in der Reichs-
und Landesvertheidigung. Mit dem Lande hatten Biſchof
Herzog und Graf nichts zu thun. Sie fiengen aber doch
bald an Leute zu beſitzen, das iſt, ſie noͤthigten ihre Ein-
gepfarrten und Amtseingeſeſſene in ihre Privatdienſte,
zwangen ſie ihnen ihre Gruͤnde unter mancherley Bedin-
gungen
[211]und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.
gungen zu uͤbergeben, und von ihnen zur Precarey, oder
zu Lehn, oder zum Bau wieder zu nehmen; und ſo wie
jeder auf dieſe Art alle ſeinem geiſtlichen oder weltlichen
Reichsamte anvertraute Reichsmaͤnner, und ihre Gruͤn-
de verſchlungen hatte, verwandelten ſich ihre Aemter in
Landeshoheit, und ihre gemeinen Untergebne in Landesun-
terthanen, und die vornehmen in Landſtaͤnde.
Jedoch waren lange vorher Landſchatzungen be-
kannt. Dieſes waren aber Reichsſteuren, welche der
Biſchof, der Herzog oder der Graf zwar auch in Kraft
eines gemeinen Reichsſchluſſes, oder von Amts wegen,
weil es die gemeine Nothdurft erforderte, erhob; die
aber doch immer den Charakter der Reichsſteuren behiel-
ten. Weil dieſe zu oft gefordert werden mochten: ſo con-
foͤderirten ſich im Jahr 1471 das Oſnabruͤckiſche Domca-
pitel, die Ritterſchaft, und die Stadt Oſnabruͤck, in wel-
chen Faͤllen eine Landſchatzung Platz greifen ſollte. Dieſe
Confoͤderation ermaͤchtigte ſich alſo zum erſtenmal einer
Landesrepreſentation, anſtatt daß Domcapitel, Ritter-
ſchaft und Staͤdte vorhin nur die ihrigen repreſentirt
hatten.
Die aͤlteſte und merkwuͤrdigſte Confoͤderation dieſer
Art ſcheint mir die Luͤneburgiſche *) von 1392. zu ſeyn,
worin es heißt:
Hirumbe hebben we (Berend und v. Henrich G. G. Her-
zoge zu Br. u. L.) na langem Berade mit guden Wil-
len und wolbedachten Mode menliken mit allen Pre-
laten Manſchop, Radlüden und Börgheren der Stede
und Wikbelde unſer Herſchop Lüneburg, we mit
en und ze mit uns, umme unſer Land und Lüde mene
O 2Beſte
[212]Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde
Beſte willen, vor uns unſe Erven und Nakommelin-
ge in unſer Herſchop Lüneburg, enen erſliken ewigen
Wrede und ene enynge und zate up alle nabeſcrevene
Stücke ſamend und up ieweliken beſundern eendrächt-
licken gewillkoored gemaket unde geendet trüweli-
ken to holdene ſunder yenegerleye Wedderſprake \&c.
Dieſem Beyſpiele ſind mehrere gefolget, und man
kann es als eine aus der Natur der Sache fließende, und
auch aus der Geſchichte zu erweiſende Wahrheit anneh-
men, daß alle heutige Landſchaften*) ſich auf eine aͤhn-
liche Art in dem funfzehnten Jahrhundert gebildet haben.
Vorher, wenn man von dem Verfall der Carolingiſchen
Reichsverfaſſung anrechnet, war alles blos Particulair
Confoͤderation, und die Confoͤderirten handelten und ſchloſ-
ſen nur fuͤr die ihrigen; aber von dieſer Zeit an erfolgten
General-Confoͤderationen, welche fuͤr alle und jede Lan-
deseingeſeſſene handelten und ſchloſſen, und dieſe haben
in der Folge den Namen von Landſchaften erhalten.
Die Entſtehungsart dieſer Confoͤderation war die
naͤmliche mit dem Landfrieden. Zu dieſem confoͤderirten
ſich erſt einige der maͤchtigſten Reichsſtaͤnde, und die an-
dern traten nach und nach hinzu, bis ſie ſich alle verei-
niget hatten, wie man davon ein Muſter an dem weſt-
phaͤliſchen Landfrieden **) von 1385. hat. Was hier die
großen Reichsſtaͤnde thaten, dem ahmten die Capitel,
Mannſchaften und Staͤdte eines jeden Stifts oder einer
jeden Graf- und Herrſchaft nach. Jene betrafen die oͤf-
fentliche Ruhe zwiſchen den Staͤnden des Reichs, und
dieſe
[212[213]]und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.
dieſe die Ruhe zwiſchen den Eingeſeſſenen eines be-
ſondern Landes, mithin auch deſſen ganze gemeinſchaft-
liche Vertheidigung.
Auch darin kamen die Landfrieden mit den Landſchaf-
ten uͤberein, daß jeder verbuͤndete Theil insgemein zwey
Satesleute (Bevollmaͤchtigte oder Deputirte) ernannte,
welchen die Ausrichtung der Schluͤſſe anvertrauet wurde.
Dieſes erforderte wiederum die Natur der Sache, indem
keine Confoͤderation ohne einen Bevollmaͤchtigten, der
die Correſpondenz fuͤhrt, das Ausſchreiben verrichtet, und
die beſchloſſenen Sachen weiter zur Erfuͤllung bringt, be-
ſtehen kann. Und aus dieſen Satesleuten, wovon nach
einer eben ſo natuͤrlichen Folge, das Capitel zwey, die
Stiftsmannſchaft zwey, und die Stadt Oſnabruͤck zwey
zu ernennen hatte, ſind endlich, wie man offenbar ſieht,
und billig annehmen muß, die ſpaͤtern Landraͤthe erwach-
ſen, nachdem der Biſchof den von der Confoͤderation er-
nannten Bevollmaͤchtigten dieſen Ehrentittel beygelegt hat.
Jn der Luͤneburgiſchen Confoͤderation iſt die Anzahl der
ausgeſprochenen Satesleute groͤßer, vermuthlich weil ſich
mehrere Quartiere dazu einließen, wovon jedes ſeinen
beſondern Satesmann haben wollte; auch waͤhlten die
Ravenſpergiſchen Confoͤderirten vielleicht aus einer glei-
chen Urſache, ſechs Satesleute, wovon vier aus der Lan-
des Ritterſchaft, und zwey aus der Ritterſchaft und dem
Rath zu Bilefeld waren. Allein der Landfriede und die
Sache ſelbſt erforderte ſo viele nicht, und ich glaube nach
dieſem die Zahl zwey als die gewoͤhnlichſte fuͤr jeden
Haupttheil der Confoͤderation annehmen zu muͤſſen. Von
der Wahl beſonderer Satesleute unter den Geiſtlichen,
findet man in den aͤlteſten Zeiten nichts, weil die Praͤla-
ten der Kirche gebohrne Satesleute waren, und es alſo
unnoͤthig war annoch beſondre zu erwaͤhlen. Eine gleiche
O 3An-
[214]Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde
Anmerkung kann man bey den Staͤdten machen, als wor-
in die Burgermeiſter ebenfalls gebohrne Satesleute vor-
ftelleten.
Den Zeitpunkt, worinn dieſe alſo ernannten Sates-
leute den Titel von Landraͤthen erhalten, kann ich nun
zwar nicht ganz genau beſtimmen. Er muß aber nach
dem Gange des Ausdrucks, welchen ich zuerſt erzaͤhlt
habe, und nach der Geſchichte jener Confoͤderationen zu ur-
theilen, gegen das Ende des funfzehnten Jahrhunderts
eingefallen ſeyn.
Jn dem Eyde des Biſchofes Alberts von der Hoya
(1450.) wird zum erſtenmal der Ritterſchaft des Landes
gedacht, da es vorhin blos die Stiftsmannſchaft hies.
Jener Ausdruck kann ſchon mehrere als dieſer begriffen
haben; und ſcheinet eine ſolche allgemeine Confoͤderation
vorauszuſetzen, die auch wie ich zuvor erwehnt habe,
etwa um dieſe Zeit hier im Stifte geſchloſſen iſt. Jn dem
aͤlteſten mir bekannten Landtagsabſchiede vom 29. Aug.
1555. heißt es:
Zu wiſſen: als auf naͤchſtgehaltenem Landtage an der
hohen Linden, Dienſtag den 23. Jul. der Hochwuͤr-
dige in Gott Fuͤrſt Herr Johann — die Beſchwe-
rungen und Schulden, dahin S. Fuͤrſtl. Gnaden
von wegen des Stifts gerathen, und damit die Land-
ſchaft ſonſt beladen geweſen, eintraͤchtlich in eine
Schuld gezogen und fuͤr gut angeſehen und verab-
ſchiedet iſt, daß S. Fuͤrſtl. Gnaden forderlichſt den
dazu verordneten Ausſchuß und Landraͤthe bey ſich
gnaͤdiglich beſchreiben, und mit denſelben auf Wege
und Mittel, wie ſolchen ſaͤmtlichen Beſchwerungen
und Schulden traͤglichſt und leiderlichſt abzuhelfen,
gedenken, nothduͤrftiglich erwegen und ſich davon
miteinander vergleichen, und was alſo fuͤr gut an-
ge-
[215]und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.
geſehen, daſſelbige folgends auf einem andern Land-
tage der ſaͤmtlichen Landſchaft vermelden, darin als-
denn mit gemeinen Rathen ferner zu handeln, zu
rathſchlagen und endlich zu ſchließen ꝛc.
Hier erſcheint ſchon, wie man ſieht, eine foͤrmliche
Landſchaft und ein Landrath; es wird von Landtagen
und Landtagsabſchieden geſprochen; und alles dieſes auf
eine Art, daß man wohl ſieht, es ſind damals bekannte
Dinge geweſen. Jndeſſen ſcheinet doch die Sache in ſo
fern einen Schein der Neuheit zu haben, daß man zum
erſtenmal die Vorſchuͤſſe, welche theils der Biſchof, theils
jeder Stand, zum gemeinen Beſten gethan hatte, zuſam-
men gerechnet, und gemeinſchaftlich auf Mittel gedacht
habe, ſolche von gemeiner Landſchaft wegen zu tilgen.
Es war zwar, wie man leicht denken wird, oft und
mehrmals geſchehn, und man hat Beyſpiele genug, daß
der Biſchof, das Domcapitel, die Stiftsmannſchaft und
die Stadt, Schadens- und Vorſchußrechnungen gegen
einander eingebracht, und ſich uͤber deren Berechnung
und Bezahlung vereiniget haben. Aber es geſchahe die-
ſes zuerſt nur nach der Anleitung eines Bundes, ſo daß
die Verbuͤndeten fuͤr ſich und die ihrigen bewilligten und
zuſammen ſteuerten; und die Frage iſt jetzt, wann dieſes
zuerſt fuͤr das ganze Land geſchehen. Dieſen Zeitpunkt
ſetze ich ſo lange in die Zeit des vorangezogenen Landtags-
Abſchiedes, bis ein andrer durch einen fruͤhern Abſchied
das Gegentheil zeigt. So viel bleibt allemal gewis, daß
vor 1424. kein Landrath und auch keine eigentliche Land-
ſchaft geweſen ſeyn kann.
O 4LII.
[216]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
LII.
Ueber die Abſteuer der Toͤchter der
Landbeſitzer.
Es war eine Zeit, worin der Sachſe auf ſeinem Hoſe
ſaß, und weder Staͤdte noch Doͤrfer um ſich duldete,
worin er außer der Salſtaͤtte und der Leibzucht keine
Wohnung auf ſeinen Gruͤnden haben durfte, und worin
er von keinem Geldreichthum etwas wußte. Zu dieſer
Zeit konnte nur ein Kind, es mochte nun das aͤlteste oder
das juͤngſte, ein Knabe oder ein Maͤdgen ſeyn, den Hof
erben; denn theilen konnte man ihn nicht, ohne eine dop-
pelte Wohnung darauf zu errichten, und dieſer eine Erbe
konnte auch ohne Geld ſeinen Miterben nicht wie man
jetzt zu ſagen pflegt, heraus geben. Ueberhaupt findet
die Theilung der Hoͤfe nur da Statt, wo man ſich in
Doͤrfern anbauet, und die in der gemeinſchaftlichen Flur
liegende Aecker von dem einen Hauſe an das andre, wie
man zu reden pflegt, fliegen koͤnnen. Dies war aber der
Fall der Sachſen ſo wenig als er jetzt der unſrige iſt; und
die Urſache warum nicht mehrere Wohnungen auf einem
Hofe ſeyn mochten, war zu ſehr mit ihrer Staatsverfaſ-
ſung verflochten, um ſich ſo leicht heben zu laſſen. Noch
jetzt erlauben wir keinem Hofe, mehrere Jagd-Holz- und
Weidegerechtigkeiten; und ohne dieſe zu vermehren, laſ-
ſen ſich auch die Wohnungen auf demſelben nicht ſehr
vervielfaͤltigen Allenfalls aber konnte der Hof doch nur
ein oder zweymal geheilet werden, und dann waren ſie
wieder wo ſie geweſen waren. Der Kinder waren in je-
der Familie immer mehr als Hoͤfe und Witwenſitze, und
wenn
[217]der Landbeſitzer.
wenn gleich alle bis zu ihrer Großjaͤhrigkeit in dem elter-
lichen Hauſe Brod haben mochten: ſo konnte doch dieſes
nicht laͤnger waͤhren, als bis die junge Frau auf den Hof
kam, und ihre Kinder deu Platz am Heerde forderten,
welchen die Oheims und Tanten bis dahin eingenom-
men hatten.
Hier fragt man nun billig, was aus den letztern, da
ſie weder Erbtheil noch Brautſchatz erhalten, und auch
alle nicht wiederum auf Hoͤfe heyrathen konnten, gewor-
den ſey? Praͤbenden, Stifter und Kloͤſter waren nicht
vorhanden, und ich moͤchte auch nicht gern behaupten,
daß alle ſaͤchſiſchen Maͤdgen, die ſo geſund von Kern und
blau von Auge waren, ſich zum eheloſen Stande ent-
ſchloſſen haͤtten. Anderwaͤrts habe ich ſchon geſagt, daß
die junge Brut alle fuͤnf oder zehn Jahr geſchwaͤrmt und
ſich auf Ebentheuer in fremde Laͤnder begeben haͤtte. Ta-
citus ſcheint dieſes zu beſtaͤtigen, wenn er ſagt: bey den
Deutſchen bringt die Frau ihrem Manne keinen Braut-
ſchatz zu; und dieſer heyrathet auf Roß und Ruͤſtung.
Denn dieſes gilt offenbar nicht von dem Hofes Erben,
ſondern von den juͤngern Soͤhnen, die auf Ebentheuer
ziehen, oder von den Sueven, welche kein Grundeigen-
thum hatten, und die mehrſte Zeit im Lager ſtanden.
Der Hofes Erbe heyrathet nicht auf Roß und Ruͤſtung,
ſondern auf ſeinen Hof; und ſeine Witwe hat eine Leib-
zucht, anſtatt daß die Frau, welche auf Roß und Ruͤ-
ſtung geheyrathet wird, keinen andern Witwenſitz als
hinter dem Sattel hat.
Allein die Zeit zur Voͤlkerwandelungen, worin jene
junge Brut ſchwaͤrmte, war nicht immer guͤnſtig; die Roͤ-
mer waͤhreten ſolches unſern Vorfahren oft, die Franken
noch mehr, und die chriſtliche Religion hemmete ſolche zu-
O 5letzt
[218]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
letzt ganz. Man langt alſo damit zu alten Zeiten nicht
aus; und ſo muß man auf ein anders Mittel denken, um
die armen Maͤdgen zu verſorgen, und die jungen Bur-
ſchen nicht in die Sclaverey ihrer Bruͤder und Verwand-
ten zu jagen. Aber woher nimmt man dieſes, in einer
Verfaſſung, worin wie geſagt, keine Staͤdte und Doͤr-
fer geduldet, keine neue Wohnungen erbauet, und keine
Geluͤbde angenommen wurden? wo alle Bedienungen
Reihelaſten waren, die von den Hofgeſeſſenen ſelbſt ge-
tragen wurden, wo man keine ſtehenden Armeen hatte,
wo man von Kraͤmern und Handwerkern nichts mehr
wußte, als wir jetzt von Tyrolern und Jtalienern wiſſen,
die mit Wetterglaͤſern und Mauſefallen zu uns kommen;
und wo endlich niem and von ſeinen Jntereſſen leben konn-
te, weil man kein Geld zu Zinſen hatte?
Jch geſtehe gern, daß ich ſolches in dieſer Verfaſ-
ſung nicht zu finden, und außer der von der Vorſehung
ſo weislich beguͤnſtigten Voͤlkerwandlung kein Mittel an-
zugeben weiß. Es bleibt mir daher nichts uͤbrig als die
Verfaſſung ſelbſt ſich ſo nach und nach abaͤndern zu laſ-
ſen, als es die Beduͤrfniſſe ſo vieler jungen Leute, die
doch auch heyrathen, und ihr Geſchlecht in Ehren fort-
pflanzen wollten, erfordert. Hiezu zeigen ſich nun fol-
gende Umſtaͤnde in der Geſchichte.
Der Kayſer vermehrte immer mehr und mehr ſeine
Dienſtfolge; die Herzoge, Biſchoͤfe, Grafen und Herrn
thaten nach und nach ein gleiches, und hierin begab ſich
der vornehmſte Ueberſchuß. Es entſtanden Schutzgerech-
tigkeiten unter Kayſern, Herzogen, Biſchoͤfen, Grafen
und Herrn, und in dieſelben zog ſich eine Menge von
Leuten, welche ſich mit Kraͤmerey und Handwerk zu er-
naͤhren ſuchte; aus denſelben erwuchſen mit der Zeit
Staͤdte,
[219]der Landbeſitzer.
Staͤdte, Weichbilde und Doͤrfer. Neben her entſtanden
noch allerhand Hoden und Echten unter dem Namen ei-
nes Heiligen, welche nach und nach auch ſolche Leute auf-
nahmen, die ſich mit Erlaubniß der Hofgeſeſſenen, ein-
zeln einen Kotten oder eine Huͤtte erbaueten, und entwe-
der ein Pfund Wachs zum Licht der Pfarrkirche, eine
Brieftracht, oder andre kleine gemeine Laſt uͤbernahmen,
um ihre Huͤtte zu verdienen. Das Geld kam mittler-
weile aus den reichen Laͤndern der Roͤmer und Franken
zu uns heruͤber, und folgte dem Kriege oder der aufkei-
menden Handlung. Die Kirche drang in ihren fruͤheſten
Verordnungen fuͤr die nordlichen Gegenden, auf eine zu-
laͤngliche Ausſteuer fuͤr Maͤdgen, die ſich ihrem Stande
gemaͤs verheyratheten, und der roͤmiſche Brautſchatz, wel-
cher in einer Verfaſſung entſtanden war, worin lange ein
ſtarker Geldreichthum, viel buͤrgerliches Vermoͤgen, ſehr
viel fliegend Land, und eine beſoldete Kriegesmacht ge-
weſen war, empfohl ſich unſern Vorfahren, nach dem
Maaße wie ſie in gleiche Umſtaͤnde und Beduͤrfniſſe ka-
men. Beſonders aber vermehrte ſich die Zahl von aller-
hand Leibeignen, welche zu nichts greifen konnten, und
das Brod von der Hand ihres Herrn, dem Vergnuͤgen
in Freyheit zu hungern vorzogen.
Alle dieſe Erſcheinungen zeigen ſich in der Geſchichte
nach dem Verhaͤltniß wie die Beduͤrfniß des Staats zu-
nimmt, ſeiner jungen Brut, die nun nicht mehr auswan-
dern konnte, Unterhalt oder Untergang zu verſchaffen;
und fuͤr einen gewiſſen Theil ſorgen die Kloͤſter, die in
gleichem Verhaͤltniß ſteigen; und auch wiederum abneh-
men, je nachdem die ſtehenden Heere von Kriegern und
Bedienten andre Auswege eroͤffnen; oder die See-
handlung und neue Welt den Ueberſchuß verſchlingt
wel-
[220]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
welchen neue Krankheiten und Uebel nicht aufreiben
koͤnnen.
Sie fuͤhren aber mit einander nur auf eine billige
Abfindung der juͤngern Kinder, und nicht auf Gleichthei-
lungen oder Pflichttheile, dergleichen die Roͤmer in ihrer
buͤrgerlichen Verfaſſung, nachdem der Geldreichthum zu
ſehr uͤberhand genommen hatte, und der Kriegesdienſt
ſich nicht mehr auf Haus und Hof, ſondern auf eine Loͤh-
nung an Gelde gruͤndete, mit Recht eingefuͤhret hatten.
Und wenn man die Geſetze und Urkunden der Deutſchen
aufs genaueſte pruͤfet: ſo findet ſich keine Spur, daß die-
ſelben jemals an die Moͤglichkeit einer Gleichtheilung,
oder ein ſicheres Verhaͤltniß zur Ausſteuer gedacht haͤtten.
Der einzige Wiſigothe dachte anders, aber auch nur erſt
in dem reichen Spanien, wo er feſt ſetzte, daß man ſei-
ner kuͤnftigen Frau nicht mehr als den zehnten Theil ſei-
ner Guͤter, oder doch nicht mehr verſchreiben ſollte, als
dieſe einbringen werde. Und dieſes Geſetz galt doch nur
fuͤr die großen Hofbediente des Koͤniges, die uͤberall zu-
erſt fremde Rechte angenommen haben, nicht aber fuͤr
die Nation, welche in ihren Dinghoͤfen allemal nach al-
ten Gewohnheiten richtet.
Dem Staate, der aus Hofbeſitzern entſteht, iſt zu
allen Zeiten an der Erhaltung des Hofes gelegen; zwar
jetzt nicht mehr ſo ſehr als vor dem, da der Eigner deſ-
ſelben noch im Heerbann zu Felde ziehen mußte; aber
doch immer noch genug, um deſſen Verſplitterung und
Verſchuldung zu verhindern. Die Natur fordert dieſes
Geſetze; ſie hat es in dem Augenblick der erſten Verbin-
dung gegeben, und kann es nicht untergehen laſſen, ohne
dieſem Staate ſeine ganze Einrichtung zu nehmen. Es
giebt ſogar Faͤlle, wo ſie die Vertheilung mehrer zuſam-
men-
[221]der Landbeſitzer.
mengebrachten Hoͤfe verbietet. So erſchien z. B. unter
den Carolingern der Eigner von zwoͤlf Hoͤfen mit dem
Harniſch im Heerbanne. Erlaubte ſie hier dem Vater
eine Theilung dieſer Hoͤfe: ſo konnte keines von ſeinen
Kindern im Harniſch erſcheinen; dieſe mußten zur gemei-
nen Reihe zuruͤckkehren, welches gewiß nicht geſchehen
konnte, ſo lange die Vertheidigung Geharniſchte erfor-
derte. Und ein ſolches Geſetze widerſteht ewig allen
Gleichtheilungen, ſo wie allen Abſteuern und Abfindun-
gen, die den Hof oder deſſen Eigner in der Maaße er-
ſchoͤpfen, daß er ſich nicht als ein gemeiner Reihemann,
oder als ein Geharniſchter zulaͤnglich vertheidigen kann.
Eine billige Abfindung war alſo das Mittel was un-
ſre Vorfahren waͤhlten, um ihre Soͤhne und Toͤchter,
welche das vaͤterliche Erbe verlaſſen mußten, und nun
nicht mehr mit dem Knapſack in die weite Welt gehen
konnten, einigermaßen zu verſorgen. Denen, ſo an ei-
nen Hof in Dienſte giengen, war mit einer guten Ruͤ-
ſtung, mit einem Ehrenkleide, und mit einem Noth- und
Ehrenpfennige gedient. Diejenigen, welche ein Gewerbe
anfiengen, brauchten etwas zur Anlage. Wer eine Praͤ-
bende oder einen Kloſterplatz ſuchte, konnte auch mit lee-
rer Hand nicht weit kommen, und eine Tochter die ein
huͤbſches Brautpferd und ein paar Brautrinder mitbrin-
gen konnte, war auf einem Hofe ohne Zweifel willkom-
mener, als eine andre, die ſich blos mit ihrem Buͤndel
hinter ihrem Liebhaber aufs Pferd ſchwingen wollte.
Was Nothdurft und nothwendiger Wohlſtand in der-
gleichen Faͤllen erforderten, kam zuerſt in Betracht, man
richtete die Ausſteuer oder die Abſteuer, Abguͤtung, Ab-
findung, Berathung, Beſtattung, Verſorgung, Abſon-
derung ꝛc. darnach ein, und es wird ſich vor dem funf-
zehn-
[222]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
zehnten Jahrhundert *) kein Beyſpiel finden, daß ein
Sohn, der mit einer Praͤbende verforgt worden, oder
eine ausbeſtattete und berathene Tochter, wenn ſie auch
gleich keinen Verzicht gethan hatte, auf die nachherigen
Erbſchaften der Eltern einigen Anſpruch gemacht, oder
von dem Erben ein Pflichttheil gefordert haͤtte. Die Aus-
ſteuer oder Beſtattung begriff in der erſten Zeit alles was
wir heutiges Tages Brautſchatz und Brautwagen nennen,
und zugleich die voͤllige Abfindung von den elterlichen Guͤ-
tern; und man beſtimmte ſolche anfangs nicht ſowohl
nach ſeinem Vermoͤgen, als nach den Beduͤrfniſſen derje-
nigen, die entweder in den geiſtlichen Stand, oder an
einen Hof giengen, oder ſich zu einem Gewerbe bequem-
ten. Es wuͤrde ein entſetzlicher Sprung geweſen ſeyn,
wenn man von der Gewohnheit **) den abgehenden Kin-
dern weder Brautſchatz noch Erbtheil zu geben, auf em-
mal zu dem Gedanken uͤbergegangen waͤre, die Ausſteu-
ren mit dem Vermoͤgen des Gebers in Verhaͤltnis zu ſe-
tzen. Dieſes iſt wider die natuͤrliche und politiſche Ge-
ſchichte dieſer Art menſchlicher Handlungen. Die nach
entſtandenem fraͤnkiſchen Reiche, und eingefuͤhrter chriſt-
lichen Religion in der Kirche und im Staate vorgefalle-
nen Veraͤnderungen forderten nur eine beſſere und billige
Verſorgung der vorhin ausgewanderten Kinder; das an-
kommende Geld erleichterte ſie, und die mit jeder Perio-
de ſteigende Verſchwendung brachte eine mit ihr im Ver-
haͤltnis ſtehende Verbeſſerung hervor. Vermuthlich ward
zu-
[223]der Landbeſitzer.
zuerſt die Kiſte der Tochter eines Hofesgenoſſen, von allen
zu dieſem Hofe gehoͤrigen Leuten gefuͤllet, und ſolcherge-
ſtalt eine Sammlung angeſtellt, welche wir noch jetzt die
Kiſtenfuͤllung, und wenn es die Tochter des oberſten Ho-
fes- oder Landesherrn iſt, die Prinzeſſinſteuer nennen.
Denn der Sachſe, ſo lange er nur ehrbare Hofgeſeſſene
um ſich hatte, und keine fluͤchtige Nebenwohner kannte,
ſteuerte in allen Faͤllen gern zuſammen, und vermied da-
durch eine auf einmal zu ſtark fallende Ausgabe. Natuͤr-
licher Weiſe aber gab er ſelbſt ſeinen vom Hofe gehenden
Kindern etwas mehrers, als die uͤbrigen zuſteurenden
Nachbaren und Hofesgenoſſen mit, und daraus ward
endlich der Brautwagen, welcher mit der Zeit auch etwas
Kiſtengeld, was in der Folge den Namen von Braut-
ſchatz erhalten mochte, unter ſich begriff.
Dieſe auf die erſte Beduͤrfniſſe des vom Hofe zie-
henden Sohns, oder der Tochter ſich beziehende Abſteuer
konnte aber nicht lange beſtehen, weil Eitelkeit und Stolz
ſich in alle menſchliche Handlung miſchen, und ſich auch
bey einer ſo feyerlichen Gelegenheit nicht ungezeigt laſſen
konnten. Der eine wollte es beſſer machen als der an-
dre und nun mußten Mittel gefunden werden, dieſem
freudigen Triebe zum allgemeinen Verderben Ziel zu ſez-
zen. Solon und Lycurg*), um dieſem Uebel zu begeg-
nen, verboten ſchlechterdings die Maͤdgen auszuſteuren.
Jhre Tugend mag ihnen Maͤnner finden, ſagten ſie, und
wenn jeder Freyer nur hierauf zu ſehen hat: ſo wird die
Arme wie die Reiche geſucht werden. Unſre Vorfahren,
welche zuerſt nach einem gleichen Grundſatze gehandelt
hat-
[224]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
hatten, konnten aber, nachdem einmal eine Ausſteuer
eingefuͤhrt war, ſich daran nicht halten; und ſo blieb
ihnen nichts uͤbrig, als ein Standesgebrauch., der jedoch
ebenfalls den Geiſt des Lycurgiſchen Geſetzes zum Grunde
hatte. Denn Burchard von Aßwede *) ruͤhmt es Alber-
ten von dem Buſſche nach, daß er geſagt: er wolle ſei-
nen Toͤchtern einen Brautſchatz geben, und denſelben
niemanden verſteigern, denn es moͤchte ein ander ſeyn,
der nicht ſo wohl koͤnnte als er. Dieſes iſt offenbar nach
dem Sinn des Lycurgiſchen Geſetzes, welches durchaus
verhindern wollte, daß die Reichen den Armen den Markt
nicht verderben ſollten; die Verſicherung keinem den
Brautſchatz zu verſteigern, ſetzt eine Standesgewohnheit
voraus. Und dieſer Standesgebrauch hat bey zunehmen-
dem Geldreichthum und der dadurch entſtandenen Ver-
miſchung der im Landbeſitz vorhin unterſchiedenen Staͤnde,
zuerſt auf Verhaͤltniſſe und zuletzt auf roͤmiſche Pflicht-
theile und roͤmiſche Erbtheilungen gefuͤhrt.
Wenn man ſich in der Geſchichte das Schauſpiel ge-
ben will, wie fremde Rechte uͤber die einheimiſchen ge-
ſiegt haben: ſo muß man immer von den hoͤchſten zu den
geringſten heruntergehen, und wenn man im Gegentheil
alte deutſche Gewohnheiten aufſpuͤren will, von unten in
die Hoͤhe ſteigen. So hat zum Beyſpiel das roͤmiſche
Recht erſt im Jahr 1768 die deutſche Auslobung der Ei-
genbehoͤrigen hier im Lande beſieget, indem es darin ein
Verhaͤltnis eingefuͤhret hat, was nicht lange vorher ein
junger Rechtsgelehrter ausgeheckt hatte; und wovon daß
es
[225]der Landbeſitzer.
es jemals einem Menſchen eingefallen war nach demſel-
ben die Abfindungen zu beſtimmen, kein Beyſpiel vor dem
Jahr 1730 zu finden ſeyn wird. Der Adel hat von dem
roͤmiſchen Rechte fruͤhere Anfaͤlle erlitten, aber unter allen
zuerſt die Fuͤrſten. Der aͤlteſte Verzicht einer Tochter auf
ihre elterliche Verlaſſenſchaft, iſt vom Jahr 1214, und
von einer Prinzeſſin aus dem Hauſe Lothringen, der aͤlte-
ſte Verzicht einer graͤflichen Tochter vom Jahr 1236,
der aͤlteſte einer Fraͤulein vom Jahr 1313, und
der aͤlteſte Verzicht einer Tochter eines gemeinen hofge-
ſeſſenen Mannes, iſt aller Wahrſcheinlichkeit nach aus
dem gegenwaͤrtigen Jahrhundert. Hier zeigt ſich offen-
bar der Gang, welchen das roͤmiſche Recht von oben nach
unten zu genommen, indem die Verzichte in dem Ver-
haͤltniſſe aufgekommen ſind, wie die Toͤchter roͤmiſche
Erbtheile forderten, oder fordern zu wollen, in Verdacht
kamen, und wer die Probe hierauf machen will, der ſu-
che nur den Gang der Autonomie auf, mit welcher ſich
die Familien gegen die Folgen dieſes Uebels gewehret ha-
ben. Die aͤlteſten Familienvertraͤge und Geſetze zu Er-
haltung der zuſammengebrachten Laͤnder ſind aus fuͤrſtlichen
und graͤflichen Haͤuſern. Jhnen folgen die Majorate, Fidei-
commiſſe und teſtamentariſchen Verordnungen des Adels,
nach einem ziemlichen Zwiſchenraume, und das aͤlteſte Fidei-
commis eines gemeinen Landmannes hier im Stifte, der ſich
aus dem Leibeigenthum frey kaufte, iſt vom Jahr 1756.
Man denke aber nicht, daß dieſes blos die Wuͤrkung
einer Mode geweſen, welche die Vornehmen zuerſt und
die Geringen zuletzt annahmen. Nein, es iſt das Werk
der Noth, welche alles nach den Beduͤrfniſſen jedes Stan-
des ſo geordnet hat. Der gemeinen Hofgeſeſſenen waren
viele; ſie hatten von den aͤlteſten Zeiten ihre Hofver-
ſammlungen, und konnten ſich unter einander gemeines
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. PRecht
[226]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
Recht ſetzen, welches durch keine Teſtamente, die auch
um deswegen in dieſer Klaſſe von Leuten gar nicht ge-
braͤuchlich waren, abgeaͤndert werden konnte. Der Adel
wohnte weiter aus einander und kam bey weitem nicht ſo
fruͤh dahin, um allgemeine Verſammlungen zu halten,
und collegialiſche Rechte zu ſetzen; der Fuͤrſten waren
noch weniger, und ihre Rechtsweiſungen vor dem Kay-
ſer ſeltener. Alſo mußten dieſe zuerſt zu einer Autono-
mie greifen, und ſich durch eigne Geſetze und Vertraͤge
helfen. Die fremden Rechte thaten auf ſie als einzelne
einer collegialiſchen Rechtsweiſung beraubte, und ſol-
chergeſtalt ohne Landrecht beſtehende Menſchen den erſten
Angriff; der zweyte gieng auf den Adel; und der dritte
erſt auf die mindern Landbeſitzer, welche entweder von
einer Hofrolle abgeriſſen, oder aus dem Leibeigenthum
freygelaſſen, und ſo ebenfalls als Einzelne, die kein ge-
meinſames Hofrecht hatten, uͤberwunden wurden. Der
Geiſtlichen, welche anfangs auch einzeln waren, und eben-
falls noch kein gemeines Recht hatten, erwehne ich nicht,
auch keiner Buͤrger. Denn die erſtern bedienten ſich, ſo
bald ſie teſtiren durften, des roͤmiſchen Rechts noch fruͤ-
her und natuͤrlicher als die Fuͤrſten; die Rechte der letz-
tern aber ſind mehr das Werk der Kunſt als der Natur,
und dahier iſt nur die Rede von der Zeitordnung, nach
welcher die fremden Rechte durch natuͤrliche und noth-
wendige Beduͤrfniſſe zugelaſſen oder abgewehret worden.
Nach dieſer kurzen Ausſchweifung uͤber den Gang,
welchen die roͤmiſchen Rechte in ihren Angriffen und Vor-
dringen genommen, will ich nun zu den Ausſteuren zu-
ruͤck kehren, wie ſie zuerſt nach einer Standesgewohn-
heit abgemeſſen wurden. Sieht man die aͤlteſten Ehe-
ſtiftungen und Verzichte fuͤrſtlicher Haͤuſer nach: ſo ge-
ſchieht
[227]der Landbeſitzer.
ſchieht die Abſteuer immer, wie es unter fuͤrſtlichen Per-
ſonen hergebracht iſt, oder wie es in dem Hauſe Sachſen,
wie es in dem Hauſe Wuͤrtenburg gebraͤuchlich iſt. Der-
gleichen Formeln, worin entweder auf einen Standes-
oder Hauſesgebrauch zuruͤckgewieſen wird, findet man un-
zaͤhlige; und wer ſich die Muͤhe geben will, kann es von
allen koͤniglichen, fuͤrſtlichen und graͤflichen Haͤuſern ſamm-
len, was jede Tochter am Brautſchatz empfangen oder
kuͤnftig zu erwarten hat. Sie richten ſich nunmehr ledig-
lich nach einem Hausgebrauch, und das Haus mag in
Schulden oder in Vorrath ſeyn, es moͤgen der Soͤhne
und Toͤchter viele oder wenig ſeyn, die Beſtimmung der
Abſteuer, wenn ſie auch oft nicht baar erfolgt, bleibt
immer einerley, und man wagt es nicht leicht daruͤber
herauszugehen, weil eine gebuͤhrende Mitgift beyde
Theile von vielen ſonſt unvermeidlichen Verlegenheiten,
Verbindlichkeiten, Empfindlichkeiten und Nachreden
befreyet.
Bey dem Adel iſt eben ſo zuerſt ein Standesge-
brauch, wie es adlich und ſittlich, eingefuͤhret worden, bis
die neuen Fideicommiſſe und Majorate nebſt dem Her-
kommen auch einen Hausgebrauch guͤltig gemacht haben;
und ob gleich auch eine Ausſteuer nach Stande und Ver-
moͤgen Platz gefunden: ſo gieng dieſe doch nicht weiter,
als daß der Beſte es dem Beſten und der Mittlere dem
Mittlern gleich that, nicht aber dahin, daß man das
Vermoͤgen zum Anſchlag brachte, auf Gleichtheilungen
oder gewiſſe Pflichttheile und auf ausgerechnete Verhaͤlt-
niſſe zuruͤck ſahe.
Die gemeinen Landbeſitzer hielten ſich an die Kirch-
ſpielsgewohnheit, oder an ihre Hofweiſungen; und der
Gutsherr befolgte ein gleiches in Anſehung ſeiner Leibeig-
nen. Selbſt die hieſige im Jahr 1722 gemachte Eigen-
P 2thums-
[228]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
thumsordnung *) billiget dem abſtehenden Anerben, von
einem im guten Stande befindlichen Meyerhofe 30 Tha-
ler zu, welche ihm in drey Jahren, mithin jaͤhrlich mit
10 Thalern ohne Zinſen ausbezahlet werden ſollen. Sie
fraͤgt hier nicht lange, wie viel Kinder vorhanden, ſie
fordert keine genaue Ausrechnung, ſondern nimmt einen
guten Meyerhof an, und billiget dann dem Anerben 30
Thaler oder mehr zu. Der Zuſatz oder mehr, laͤßt dem
Gutsherrn zwar einige Ermaͤßigung der Umſtaͤnde, aber
doch mit ſolcher Beſcheidenheit, daß man daraus keine
beſchwerlichen Folgen ziehen wird. Man wird auch vor
errichteter Eigenthumsordnung ſchwerlich eine einzige ſol-
che gerichtliche Unterſuchung und Beſtimmung finden, wie
wir ſeit der Verordnung vom 5 Decemb. 1768 viele er-
lebet, und die ihren Urſprung, lediglich den roͤmiſchen
Begriffen zu danken haben. Fuͤrſten, Grafen und Edel-
leute haben ſich dagegen durch Hausvertraͤge, Haus- und
Standesgebrauch, Teſtamente, Verzichte und Vereini-
gungen geſchuͤtzt: aber die armen und geringen Landmaͤn-
ner, die in dieſem Jahrhundert zuerſt in dieſen Stuͤcken
einer fremden Geſetzgebung unterworfen worden, anſtatt
daß ſie vorhin uͤberall und zu allen Zeiten, ſo viel ihrer
Hofesgenoſſen waren, ihre eigne Autonomie unter Hofes-
richterlicher Beſtaͤtigung, und ſo viel ihre Rittereigne wa-
ren, die Gutsherrliche Vorſorge fuͤr ſich hatten, ſind in
den Strudel der roͤmiſchen Rechte fortgeriſſen worden,
ohne daß es ihnen dabey einmal recht erlaubt oder moͤg-
lich iſt, ſich ſelbſt Huͤlfe zu verſchaffen, auſſer daß ſie ſich
nun allmaͤhlig durch Teſtamente, einer neuen Art von
Autonomie, die ebenfalls im vorigen Jahrhundert kei-
nem gemeinen Landbeſitzer eingefallen iſt, zu helfen
ſuchen,
[229]der Landbeſitzer.
ſuchen, aber insgemein nur ihre Erben in Proceſſe ver-
wickeln.
Blos die Buͤrger, deren unſichtbarer und taͤglich
veraͤnderlicher Geldreichthum keinen dauerhaften Haus-
und Standesgebrauch zulaͤßt; und keinen aͤußerlichen
Verhaͤltniſſen Raum giebet, indem man ſie nach ihrem
unſichtbaren und verborgnen Vermoͤgen, nicht in halbe,
ganze und viertel Meyer eintheilen kann, haben ſich die
roͤmiſche Art zu erben und gleich zu theilen zuerſt gefallen
laſſen; und da die Stadtſteuren in einem kleinen Bezirk
fruͤher nach eines jeden Aufwand und Vermoͤgen ausge-
glichen werden konnten: ſo war auch hiebey nicht ſo viel
zu erinnern, als bey Fuͤrſten, Grafen, Adlichen und
Landbeſitzern, die mit dem Staate und der allgemeinen
Reichs und Landeswohlfahrt in einer ganz andern Be-
ziehung ſtehen.
Man wird einwenden, daß gleichwohl uͤberall ein
fruͤher Landesgebrauch alle Soͤhne zur Gleichtheilung des
vaͤterlichen Erhes und Lehns gerufen habe. Allein woher
ruͤhrte dieſes? Man wollte, als der Heerbann nicht mehr
auszog, und gegen Loͤhnung gedient wurde, viele Ge-
meine und wenige Officier, und noch weniger Generale
haben. Daher fuͤhrte man erſt die Gleichtheilung bey
gemeinen Lehnen ein, und hielt dagegen blos die Gene-
rals- und Hauptmannslehne zuſammen *). Das Longo-
P 3bar-
[230]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
bardiſche Recht hatte nichts dagegen, daß ſechs Bruͤder
ein Commisbrod unter ſich theilten, und dafuͤr dienten,
und die Lehnsherrn ſahen es natuͤrlicher Weiſe auch nicht
ungern, wenn ſich ihre Vaſallen vermehrten. Sonach
war das Staatsintereſſe fuͤr die Theilbarkeit der gemei-
nen Lehne, und da das Heerbannsgut der Gemeinen keine
Maͤnner mehr zum Kriege ſteuerte: ſo wuͤrde es eine ſehr
einfaͤltige Politik geweſen ſeyn, deſſen alte Untheilbarkeit
zu behaupten. Vielmehr ſahen es alle Lehnsherrn gern,
daß die ihnen dienende Soͤhne unter dem Schutze der ſich
hier ſehr empfehlenden roͤmiſchen Geſetze, jeden Lumpen
des vaͤterlichen Erbguts unter ſich theilten, um ſich im
Dienſte ſo viel beſſer erhalten zu koͤnnen. Dieſe Raſerey
hat ſo lange gewaͤhrt als der Lehndienſt, und ſo wie die-
ſer aufhoͤrte, ſuchte der Adel ſich durch Fideicommiſſe ge-
gen die Folgen jener Zeiten wieder in den Stand zu ſe-
tzen, worin er war, als er noch ohne Lehnspflicht und
von ſeinem Erbgute im Harniſch diente. Denn die oͤffent-
liche Geſetze, die zur Heerbannszeit gegeben waren, und
die man erſt in den neuern Zeiten als alte Ueberbleibſel
wieder geſammlet hat, waren lange verdunkelt; und der
Geiſt des Lehnweſens mußte erſt wieder erſtickt, die Koͤ-
pfe der roͤmiſchen Rechtsgelehrten mußten erſt wieder um-
geſchaffen, und die Vortheile, welche jeder Staat an der
Erhaltung ſeiner großen und kleinen Landbeſitzer hat,
mußten in ein ganz neues Licht geſetzet werden, ehe eine
allgemeine Aufmerkſamkeit zu erwarten war. Was aber
jeder-
*)
[231]der Landbeſitzer.
jedermann durch Majorate und Fideicommiſſe verordnen
kann, warum ſollte dieſes nicht durch allgemeine Geſetze
verordnet werden koͤnnen? Es iſt eine armſelige Politik
Familien Fideicommiſſe zu Erhaltung der Stammguͤter
zu beguͤnſtigen, einem Vater zu erlauben ſeinen Nach-
kommen, die er wohl ſegnen aber nicht zaͤhlen kann, bis
ins tauſendſte Glied Geſetze zu geben, und doch nicht
das Herz zu haben, allgemeine Wahrheiten hieraus zu
ziehen. Unſere Vorfahren, welche blos von der Natur
geleitet wurden, hielten jeden Hof fuͤr Stammgut; und
Stammgut waren auch die zwoͤlf Hoͤfe, wovon zu Carls
des Großen Zeiten, einer im Harniſche diente. Man
kann alſo immer wieder die juͤngern Soͤhne von der Gleich-
theilung ausſchließen, und dieſelbe dahin bringen, daß
ſie ſich wie die Toͤchter mit einer billigen Verſorgung, und
einer ſtandesmaͤßigen Abfindung begnuͤgen muͤſſen.
Aber wie, wenn man ſich nicht daruͤber vereinigen
kann, was eine billige Verſorgung, eine ſtandesmaͤßige
Abfindung, und ein ziemliches Ehegeld ſey? Wenn der
Landesgebrauch auf die einzelnen Faͤlle nicht recht paßt?
wenn der Hausgebrauch nicht immer befolget werden
kann, indem das Haus bald tief verſchuldet, bald mit
auſſerordentlichen Reichthuͤmern verbeſſert iſt? wenn bald
nur ein einziges Kind, bald ihrer zehn abzufinden ſind?
wenn der Erbe ein Geitzhals iſt, der den Wohlſtand un-
ter die Fuͤſſe tritt, oder doch ſo beſtimmt, daß ihm kein
ander ehrlicher Mann darin beypflichten kann? oder wenn
die jungen Kinder den Mund ſo weit aufthun, daß er
mit einem ziemlichen Biſſen nicht geſtopfet werden kann,
und ſolchemnach der Richter herbeygerufen werden muß,
der dasjenige, was in dem einzelnen Falle, adlich und
ſittlich iſt, auf ein Haar beſtimmen ſoll? Muß hier nicht
P 4alles
[232]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
alles aufgeſchrieben, angeſchlagen und zur genaueſten
Rechnung gebracht werden? Muͤſſen hier nicht die Ziegel
auf den Daͤchern und die Baͤume im Walde gezaͤhlt, alle
Grundſtuͤcke angeſchlagen, alle Regiſter ausgezogen, alle
Siegel geoͤffnet, alle Kleinodien geſchaͤtzt, alle Loͤffel und
Kannen gewogen und wohl gar alle Glaͤubiger durch oͤf-
fentliche Ladungen herbey gerufen werden? Muß man
hier nicht die Forderungen der Glaͤubiger, ob ſie wahr
oder falſch aufgeſtellet worden, rechtlich pruͤfen, die Ge-
rechtigkeiten der Guͤter alle in Richtigkeit bringen, und
die Guͤter, wenn man ſich uͤber ihren Werth nicht verei-
nigen kann, ein, zwey und dreymal in eines, zweyen
oder dreyen Herrn Landen feil bieten?
Wenn man ſich nicht in der Guͤte vertragen kann:
ſo muß freylich ein Dritter erwaͤhlet werden, der beyde
Theile auseinander ſetze, aber dieſes braucht kein Rich-
ter zu ſeyn, der durch die ganze Ceremonie des Jnventa-
riums geht, die Glaͤubiger in dreyen Herrn Laͤndern auf-
rufen, und die Erbguͤter in eben ſo vielen Jntelligenz-
blaͤttern ausbieten laͤßt, vielmehr muͤſſen einige Schieds-
freunde von beyden Theilen erwaͤhlet, und mit der Voll-
macht verſehen werden, dasjenige zu beſtimmen, was in
dem vorkommenden Falle adlich, ſittlich und billig iſt.
Dies kann der ordentliche Richter nicht, ohne ſich in ei-
nen Deſpoten zu verwandeln. Aber wo den Partheyen
die Wahl der Perſonen bleibt, ſollten ſie auch den Ob-
mann durch die Wuͤrfel waͤhlen, da kann ihre Vollmacht
immer durch die Geſetze unbedenklich groß gemacht
werden.
Man erwaͤhle alſo Schiedsfreunde und zwar ſolche
die mit den Partheyen von gleichem Stande ſind; Schieds-
freunde die auch Kinder und Guͤter haben, die auch wiſ-
ſen und fuͤhlen, was ein Stammherr fuͤr Laſt habe, wenn
er
[233]der Landbeſitzer.
er die Ehre ſeines Namens und Standes behaupten, ſei-
nen Standespflichten ein Genuͤgen thun, die Ungluͤcks-
faͤlle, denen die Guͤter unterworfen ſind, tragen, und
ſeinen Geſchwiſtern, wenn ſie ungluͤcklich werden, Ehren-
halben zu ſtatten kommen ſoll; Schiedsfreunde die ſich
ſelbſt in den Fall hineindenken, worin ſich der Vater be-
finden wuͤrde, wenn er jetzt die Abſteuer ſeiner Kinder be-
ſtimmen ſollte. Und wenn dieſe dann ſchwoͤren:
daß ſie ſprechen wollen, wie ſie ſprechen wuͤrden, wenn
ſie ſich in dem naͤmlichen Falle befaͤnden, und als
Vaͤter zu thun und zu laſſen haͤtten,
ſo bin ich verſichert, daß dasjenige, was adlich, ſittlich
und ziemlich iſt, zulaͤnglich ans Licht kommen werde, ohne
daß es noͤthig iſt jene koſtbaren und weitlaͤuftigen gericht-
lichen Unterſuchungen anzuſtellen. So bald dieſe nur
einen ſolchen Satz haben, wie z. E. der vorangefuͤhrte iſt,
von einem Meyerhofe in gutem Stande ſollen 30 Tha-
ler gegeben werden,
ſo werden ſie alle uͤbrigen leicht finden, und einen ſolchen
Satz kann man bey dem Adel haben, wenn man ſich des-
jenigen, was das groͤßte und beſte Haus in einem aͤhn-
lichen Falle gethan hat, erinnert, und davon auf andre
herunter geht. Es ſind auch unzaͤhlige Faͤlle, wo der
Richter mit Zahlen und Maaßen nichts ausrichten kann,
wo es unmoͤglich iſt, im eigentlichen Verſtande zu ent-
ſcheiden, und wo man doch ohne Verletzung ſeines Ge-
wiſſens, ſeiner Ehre und ſeines Eigenthums, den richti-
gen Mittelweg zu finden weis, ſo bald man nur die Voll-
macht hat ihn aufzuſuchen. Jn allen Oberlaͤndern des
deutſchen Reichs hat man einen ſolchen Satz, man hat
ihn auch hier gehabt, und kann ihn uͤberall finden, wenn
man nur darauf ſieht, was nach dem Hausgebrauch bey
P 5dieſer
[234]Ueber die Abſteuer der Toͤchter
dieſer oder jener Familie geſchehen iſt. Dieſen Hausge-
brauch hat hier ein Vater und dort ein ander Vater, der
ſeine Kinder alle geliebt hat, beſtimmt; der Geiſt deſſel-
ben iſt auch der Geiſt des Standes, und was mehrere
Vaͤter von demſelben Stande gethan haben, das kann
man fuͤr Perſonen dieſes Standes, als ein ziemlich ſicheres
Ziel betrachten, nicht als Richter aber wohl als erwaͤhl-
ter Schiedsfreund. Hiebey kommt es gar nicht auf eine
gemeine Schaͤtzung der Guͤter an, und einige tauſend
Thaler mehr oder weniger thun ſo wenig zur Sache als
ſie es in fuͤrſtlichen oder graͤflichen Haͤnſern, oder bey den
adlichen Familien in Oberdeutſchland und am Rhein
thun.
Die einzige Bremiſche Ritterſchaft *) iſt ſo viel mir
bekannt, diejenige, welche ſich in neuern Zeiten an ein
ſicheres ordentlich beſtimmtes Verhaͤltnis, nach welchem
die juͤngern Kinder das Jhrige erhalten koͤnnen, gebun-
den hat. Aber die Bremiſche Ritterſchaft iſt auch gerade
diejenige, welche ſich durch ihre Theilungen am mehrſten
geſchwaͤchet hat, und ein zahlreicher und ſchwacher Adel,
iſt gegen alle geſunde Politik. Die Ritterſchaft der Graf-
ſchaft Mark hat hingegen eine Vereinigung, und dieſe
iſt
[235]der Landbeſitzer.
iſt von ihrem Koͤnige beſtaͤtiget *), daß alle Proceſſe
dieſer Art bey funfzig Thaler Strafe an kein ordentliches
Gerichte gebracht werden duͤrfen. Hier ſind alſo Schieds-
richter von der Art, wie ſie Deutſchland ehedem hatte;
Schiedsrichter die an kein corpus juris gebunden ſind,
ſondern die Vollmacht haben, nach ihrem Gewiſſen, das-
jenige Recht zu ſprechen, was nach dem uralten roͤmi-
ſchen Begriffe, das bonum \& aequum ausmacht, oder
was das allgemeine Beſte des Standes erfordert. Das
koͤnnen und duͤrfen ordentliche Richter nicht, ſie moͤgen
fuͤrſtlichen, graͤflichen, adlichen oder buͤrgerlichen Stan-
des ſeyn. Denn ſo bald einer nicht zum Richter erwaͤh-
let ſondern geſetzt iſt: ſo kann er nicht ſcharf genug an
die gemeine Rechte und Formalien gebunden werden; und
es ſind ſehr auſſerordentliche und geringe Faͤlle, wo man
einem ſolchen Richter erlaubt, den Partheyen einen Ver-
gleich vorzuſchreiben. Aber ein erwaͤhlter Richter von
welchem Stande er auch ſeyn mag, erſetzt durch die Voll-
macht oder das Vertrauen der Partheyen alles uͤbrige,
und man erwaͤhlt ihn nur um deswillen gern von gleichem
Stande, weil ein andrer nicht leicht das Gefuͤhl des An-
ſtaͤndigen, Sittlichen und Billigen hat, was jeder insge-
mein nur fuͤr ſeinen eignen Stand hat.
Ueberhaupt aber bin ich verſichert, daß, wenn der
Satz nur erſt feſtſteht, daß die Toͤchter kein roͤmiſches oder
irgend ein anders, nach genauen Verhaͤltniſſen zu beſtim-
mendes Pflichttheil, ſondern ein anſtaͤndiges und ziemli-
ches Ehegeld fordern moͤgen, ſehr viele Streitigkeiten von
ſelbſt wegfallen werden, die mit jeder auf ein richtiges
Jnventarium ſich gruͤndenden Abfindung verknuͤpft ſind.
Alle
[236]Ueber die Abſteuer der Toͤchter ꝛc.
Alle Theile wiſſen denn ſo viele Faͤlle anzufuͤhren, von
demjenigen was dieſe oder jene bekommen hat; der Bru-
der weiß denn ſo gewiß, daß die Abſteuer ſeiner Geſchwi-
ſter eine Ehrenſache ſey, und er, ohne ſich veraͤchtlich zu
machen, die oͤffentliche Erwartung ſeines Standes nicht
unbefriediget laſſen duͤrfe, daß die Schiedsfreunde wenig
Muͤhe haben koͤnnen, den wahren Mittelweg zu treffen.
Und faſt moͤchte ich ſagen, daß es allemal gemeinſchaͤd-
lich ſey eine eigentliche Ehrenſache in eine geſetzlich zu
entſcheidende Sache zu verwandeln. Mancher wuͤrde nach
den Empfindungen ſeiner Ehre und ſeines Gewiſſens, oder
nach den Verbindlichkeiten der natuͤrlichen Geſetze vieles
gethan haben, was er gewiß nicht thut, nachdem einmal
der Streit dem Richter uͤbergeben, und er nach den ſtren-
gern Civilrechten frey geſprochen iſt. Man ſieht dieſes
taͤglich bey Teſtamenten, welche nicht alle Formalitaͤten
haben. Die Canoniſten glaubten, und wahrlich nicht
ohne Grund, daß die Teſtamentſachen fuͤr den geiſtlichen
Richter gehoͤrten, der den Partheyen das Gewiſſen ruͤgen
koͤnnte. Aber ſeit dem man ſolche fuͤr jeden Richter zie-
hen kann, haͤlt ſich niemand zu etwas mehrern im Ge-
wiſſen verbunden, als ihm dieſer von Rechtswegen auf-
legt. Der ganze Unterſchied zwiſchen vollkommenen und
unvollkommenen Verbindlichkeiten iſt auſſer alle Anwen-
dung getreten; und man behauptet mit theoretiſcher Keck-
heit, daß jeder Rechtsſpruch auch das Gewiſſen beruhige.
Dadurch aber wird die wahre edle Empfindung des Men-
ſchen ungemein verenget; und die geitzige Schuldigkeit
tritt in die Stelle der großmuͤthigen Ehre. Eben ſo wird
es auch mit den Abſteuren gehen, wenn der eine auf ei-
nen Heller das Seinige zu fordern weiß, und der andre
ihn als einen gemeinen uͤberlaͤſtigen Glaͤubiger nach der
Strenge Rechtens befriedigen muß.
LIII.
[237]
LIII.
Das Herkommen in Anſehung der Ab-
ſteuer und des Verzichts adlicher Toͤchter
im Stifte Oſnabruͤck *).
Das hiebey gefuͤgte Zeugenverhoͤr **), wovon die Ur-
kunde bey der H. Ritterſchaft hieſelbſt niederge-
legt iſt, liefert den Beweis, daß die adlichen Toͤchter,
wenn ſie nicht Erbtoͤchter geweſen ſind, ſich hier im Stifte
eben ſo wie in den benachbarten und andern deutſchen
Laͤndern, mit einem Landſittlichen Brautſchatze begnuͤget,
und gegen deſſen Empfang oder Sicherſtellung aller wei-
tern elterlichen Erbſchaft entſaget haben.
Die Behandlung dieſes Brautſchatzes geſchahe, wie
man hieraus erſieht, zwiſchen den naͤchſten Verwandten
und Freunden beyder Theile, und was dieſe beſchloſſen
oder feſtſetzten, damit waren Braut und Braͤutigam,
fuͤr welche ſich dieſe Behandlung ohnehin nicht wohl
ſchickte, zufrieden ***).
Man ſahe bey derſelben nicht ſchlechterdings auf das
Vermoͤgen, oder die kuͤnftige Erbſchaft der Braut Eltern,
ſondern
[238]Das Herkommen in Anſehung der Abſteuer
ſondern auf einen unter dem Adel landſittlichen Gebrauch,
nach welchem es der Beſte dem Beſten, und der Mittlere
dem Mittlern in dieſem Ehrenfalle gleich thun mußte.
Jedoch hielt es auch der Beſte fuͤr unanſtaͤndig hierin zu
viel zu thun, und andern guten Familien gleichſam einen
Vorwurf zuzuziehen, wie ſolches von dem reichſten Edel-
manne der damaligen Zeit *) bemerkt iſt.
So war auch der Gebrauch bey allen hofgeſeſſenen
Landleuten **), als welche ihre Taͤchter nach Kirchſpiels-
ſitte und nicht nach ihrem Vermoͤgen ausſteureten, ein
Gebrauch, der noch beſtehen wuͤrde, wenn ihn die roͤmi-
ſchen Begriffe, und die daraus gefloſſenen Verordnungen
nicht zum Nachtheil des gemeinen Weſens unterbrochen,
und die falſchen Grundſaͤtze beguͤnſtiget haͤtten, nach wel-
chen die Abſteuren ſich nach dem Vermoͤgen der Eltern
richten ſollen.
Von Teſtamenten wußte man, wie die Zeugen viel-
faͤltig beurkunden ***), in den aͤltern Zeiten ſo wenig
als bey den alten Deutſchen; blos die Geiſtlichen †), wel-
chen die Natur keine Erben erweckte, fiengen zuerſt an
dergleichen zu machen. Und ſo waren die Eltern auch
nicht einmal in der Verſuchung ihren Toͤchtern, welche
einmal Verzicht gethan hatten, ein mehrers zuzuwenden.
Dieſe hatten alſo auſſer ihrer Abſteuer nichts weiter zu
hoffen, als was ihnen Gott und die Kirche noch zuwand-
te ††). Von Gott kamen die Ruͤckfaͤlle der Guͤter, wenn
die Bruͤder, welchen zum Beſten die Toͤchter ihren Ver-
zicht
[239]und des Verzichts adlicher Toͤchter ꝛc.
zicht geleiſtet hatten, ohne Kinder verſturben; und von
der Kirche, was die Bruͤder, welche in den geiſtlichen
Stand getreten waren, ihren Geſchwiſtern vermachten.
Die Verzichte wurden unverbruͤchlich gehalten, wenn ſol-
che mit Zuziehung der naͤchſten Verwandten von beyden
Theilen geſchehen waren, ſie mochten von Groß- oder
Minderjaͤhrigen mit oder ohne Eyd geſchehen ſeyn *),
und man lernte erſt aus den ſpaͤter eingefuͤhrten canoni-
ſchen Rechten, daß der beſchworne Verzicht eines Min-
derjaͤhrigen mehrere Kraft haͤtte.
Jn dem Falle, wo die verheyratheten Toͤchter kei-
nen Verzicht gethan hatten, blieb ihnen zwar ihr Erb-
recht offen; wie ſolches auch die hieſigen Landſtaͤnde mit-
telſt ihres Zeugniſſes vom 9. Jul. 1712. bekannt haben,
und immer noch werden bekennen muͤſſen, weil der Grund
warum die abgehenden Toͤchter nicht weiter erbten, in
der Behandlung beruht. Aber dieſes ihr Erbrecht fuͤhrte
ſo wenig zur Gleichtheilung als zum Pflichttheile, ſon-
dern zu einer Behandlung unter beyderſeitigen Freunden
und Verwandten; und dieſe hatten bey der Beſtimmung
des Brautſchatzes nicht ſo ſchlechterdings auf die Groͤße
des Vermoͤgens oder der Erbſchaft, ſondern lediglich auf
den landuͤblichen adlichen Gebrauch zu ſehen, mithin
denſelben blos hiernach und nach Gelegenheit der Guͤter,
nicht aber mit dem roͤmiſchen Maaßſtabe in der Hand zu
beſtimmen. Unſern Vorfahren fehlte nichts als eine Land-
tafel, worin alle adliche Guͤter waͤren aufgefuͤhrt, und
die Brautſchaͤtze unter allen zufaͤlligen Umſtaͤnden beſtim-
met geweſen. Haͤtten ſie dieſe gehabt ſo wuͤrden ſie auch
ſofort damit dem Erbrechte der Toͤchter ſichtbare Graͤn-
zen geſetzet und daſſelbe auch dem Namen nach aufgeho-
ben
[240]Das Herkommen in Anſehung der Abſteuer
ben haben. Da aber eine ſolche Landtafel, weil ſich die
Umſtaͤnde taͤglich veraͤndern, und die Anzahl der Kinder
ein immerwaͤhrender Grund der Veraͤnderung bleibt,
faſt unmoͤglich iſt, und ihnen das Verhaͤltnis, wozu die
Roͤmer in einer gleichen Verlegenheit ihre Zuflucht ge-
nommen haben, den Stammhaͤuſern gar zu nachtheilig
ſchien: ſo konnten ſie nicht weiter kommen, als daß ſie
einer jeden Tochter Erbrecht bis zur Behandlung goͤnne-
ten, und die letztere zur Nothwendigkeit machten.
Alle dieſe vortreflichen mit der wahren deutſchen
Denkungsart und dem gemeinen Beſten ſowohl uͤberein-
ſtimmenden Einrichtungen, hat die roͤmiſche Lehre von
der Gleichtheilung unter gleichen Erben, und vom Pflicht-
theile zuerſt untergraben: ohnerachtet beyde ſowohl die
Gleichtheilung als der Pflichttheil zwiſchen buͤrgerlichen
Mauern, wo der Geldreichthum das Landeigenthum uͤber-
wogen hatte, gebohren ſind, und den ehmaligen Quiri-
ten, oder den urſpruͤnglichen, durch den Beſitz eines ge-
wiſſen Landeigenthums qualificirten Buͤrgern voͤllig un-
bekannt waren, auch nie aus der Stadt auf das Land,
wo das Grundeigenthum ſowohl die Repraͤſentanten als
auch den groͤßten Theil der Repraͤſentirten ausmacht, haͤtte
erſtrecket werden ſollen.
Die Familien ſelbſt ſind dadurch nicht gebeſſert. Denn
wo die Braut Pflichttheile einbringt, da muß auch der
Braͤutigam dergleichen ſeinen Geſchwiſtern ausgeben.
Deſtomehr aber iſt dem Staate daran gelegen, daß die
Beſitzer der Guͤter, dieſe moͤgen nun adlich oder unadlich
ſeyn, nicht erſchoͤpft werden. Der Abel dient zwar jetzt
von dem Seinigen nicht mehr wie ehedem zur ritterlichen
Landesvertheidigung; er iſt aber dagegen mit der ganzen
Laſt der Repraͤſentation beladen, und erſchoͤpfte Repraͤ-
ſentanten koͤnnen Verraͤther des Vaterlandes werden;
das
[241]und des Verzichts adlicher Toͤchter.
das gemeine Wohl iſt in ihren Haͤnden nicht ſicher; und
der Adel, wenn er zwiſchen Herrn und Unterthanen eine
gluͤckliche Mittelſtuffe abgeben ſoll, muß ſich nicht in der
Nothwendigkeit befinden, ſich entweder ſchlechterdings
abhaͤngig zu machen, oder ſich auf andre Art zum Nach-
theil des gemeinen Weſens zu erhalten; dieſes iſt was
man ſich unter Erhaltung Stamm und Namens, gedenkt.
Die Beſitzer unadlicher Guͤter aber tragen die ganze
Buͤrgſchaft fuͤr die ordentlichen Laſten, und ihre Entkraͤf-
tung durch Gleichtheilungen und Pflichttheile iſt fuͤr den
Staat unter gewiſſen Umſtaͤnden noch verderblicher, weil
Heuerleute, Kraͤmer und dergleichen zufaͤllige Contribuen-
ten, welche aus den abgefundenen juͤngern Kindern meh-
rentheils entſtehen, keine annehmliche Buͤrgen ſind;
ſie entweichen wenn die Noth eintritt, und vertheidigen
den Boden nicht, der ihnen einen billigen Erbtheil ver-
ſagt hat. Sie ſind auch erſt ſpaͤt, nachdem man Geld-
und Perſonalſteuren eingefuͤhret hat, in der Landesver-
ſammlung repraͤſentirt worden.
Dieſe Betrachtungen haben die hochadliche Ritter-
ſchaft bewogen, S. Koͤnigl. Majeſtaͤt von Großbritannien
als Vatern des Herrn Biſchofes Koͤnigl. Hoheit um die
ausdruͤckliche Beſtaͤtigung einer Gewohnheit zu bitten,
welche zwar jederzeit beſtanden, aber in juͤngern Jahren
von den roͤmiſchen Rechtsgelehrten manchen Angrif er-
litten hat.
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. QLIV.
[242]Beſtaͤtigung der Abſteuer u. des Verzichts
LIV.
Vereinigung der H. Ritterſchaft des Hoch-
ſtifts Oſnabruͤck uͤber die Abſteuer und den Ver-
zicht adlicher Toͤchter, wie ſolche von Sr. Koͤ-
nigl. Maj. von Großbritannien als Vater des
Herrn Biſchofes Friederichs Koͤnigl. Hoheit
ſub dato St. James den 15 May 1778
beſtaͤtiget worden *).
Wir Georg der dritte, von Gottes Gnaden, Koͤnig
von Großbritannien, Frankreich und Jrland, Be-
ſchuͤtzer des Glaubens, Herzog zu Braunſchweig und Luͤ-
neburg, des Heiligen Roͤmiſchen Reichs Erzſchatzmeiſter
und Churfuͤrſt ꝛc. ꝛc.
Thun kund und fuͤgen als Vater und Namens des
poſtulirten Biſchofs des Hochſtifts Oſnabruͤck, Unſers
Prinzen Friederichs Liebden, hiemit zu wiſſen.
Demnach die loͤbliche Ritterſchaft des Hochſtifts Oſ-
nabruͤck Uns unterthaͤnigſt zu vernehmen gegeben, was
maßen, obgleich die durch ein vormals zu Oſnabruͤck im
Jahr 1589 vor eigends dazu angeſetzten fuͤrſtlichen Com-
miſſarien abgehaltenes Zeugenverhoͤr in Sachen von dem
Buſſche wider von Rottorf beurkundete Gewohnheit des
Adels im Hochſtifte Oſnabruͤck, ſo wie in mehrern andern
deut-
[243]adlicher Toͤchter im Stifte Oſnabruͤck.
deutſchen Laͤndern, es mit ſich bringe, daß die Toͤchter
ſich mit einer billigen Abſteuer begnuͤgen, und ſowohl ihre
Forderungen darnach einrichten, als ihre dagegen mit
Zuziehung der naͤchſten Verwandten gethane Verzichte
halten muͤſſen, dennoch mehrmals vorgekommen ſey, daß
ihre adlichen Toͤchter, wenn ſie ihre Ausſteuer ſo, wie ſol-
che entweder von den Eltern beſtimmet, oder auch bey ih-
rer Verheyrathung zwiſchen beyderſeitigen Verwandten
der Braut und des Braͤutigams behandelt worden, erhal-
ten, und ſich darauf der weiteren elterlichen Erbſchaft
verziehen haben, dieſe ihre Verzichte nachwaͤrts, unter
dem Vorwande, daß ſie an ihrem Kindestheile, oder an
dem ihnen nach Roͤmiſchen Rechten gebuͤhrenden Pflicht-
theile verkuͤrzet worden, anfoͤchten, oder, wenn ſie noch
nicht abgeſteuret worden, und den ihnen ſonſt aus den
Guͤtern billig zukommenden Unterhalt, entweder durch
Heyrath oder ſonſt, zu verlaſſen willens waͤren, ihre Ab-
findungen wenigſtens nach dem Verhaͤltniſſe eines ſolchen
Pflichttheils forderten, mithin daruͤber weitlaͤuftige Pro-
ceſſe veranlaſſeten;
Und ſolchemnach beſagte Ritterſchaft geziemend
gebeten hat, daß Wir als Vater Unſers Prinzen Bi-
ſchofs Liebden, zu beſſerer Erhaltung des Adels und
zu Abwendung unnoͤthiger Proceſſe, auf vorangefuͤhrte
Gewohnheit gnaͤdigſt halten laſſen, und ſaͤmmtliche Ge-
richte des Hochſtifts darnach anweiſen moͤchten:
Als haben wir, in gnaͤdigſter Ruͤckſicht auf vorbe-
regte Gruͤnde und Umſtaͤnde, nach daruͤber eingezogenem
Berichte und Gutachten der Land- und Juſtiz-Canzley,
folgendes zu verordnen gut gefunden.
Erſtlich ſollen ſaͤmmtliche Gerichte des Hochſtifts
Oſnabruͤck ſo wenig in dem Falle,
Q 2da
[244]Beſtaͤtigung der Abſteuer u. des Verzichts
da eine abgeſteuerte Tochter ſich unter dem Bey-
ſtande ihrer naͤchſten Anverwandten der weiteren el-
terlichen Erbſchaft eydlich verziehen,
als in dem Falle,
da die Abſteuer einer Tochter von beyden Eltern,
oder auch von dem Vater, ehe derſelbe zur zwoten
Ehe geſchritten, allein beſtimmet, und die Tochter
hierauf einen foͤrmlichen obgleich nicht beſchwornen
Verzicht geleiſtet hat,
einige Klagen, welche eine Verletzung zum Grunde ha-
ben, annehmen.
Zweytens, in dem Falle aber,
da die Abſteuer nicht von den Eltern, oder von dem
Vater obgedachter maßen allein, ſondern von an-
dern geſchehen iſt, und die Tochter dagegen einen
unbeſchwornen Verzicht gethan hat, gleichwohl aber
verkuͤrzet zu ſeyn vermeynet,
ſo wie endlich auch in dem Falle,
da die Tochter noch erſt ihre Abfindung fordert, und
eine elterliche oder vaͤterliche Beſtimmung, ſo wie
oben geſetzt, nicht vorhanden iſt,
ſollen die Gerichte die Klagen der Toͤchter an drey aus
der Ritterſchaft zu erwaͤhlende Schiedsleute, wovon die
Klaͤgerinn den einen, der Beklagte den andern, und den
dritten wiederum die Klaͤgerinn aus dreyen ihr von dem
Beklagten vorzuſchlagenden mit Landtagsfaͤhigen Guͤtern
angeſeſſenen adlichen Perſonen erwaͤhlen mag verweiſen
und damit dieſe ſoviel geſchwinder ausgeſprochen, auch
demnaͤchſt ſoviel beſſer im Stand geſetzt werden moͤgen,
eine guͤtliche Behandlung vornehmen, oder ihren Schieds-
richterlichen Ausſpruch thun zu koͤnnen: ſo ſollen
Drittens, die Gerichte den Beklagten ſofort, mit-
telſt eines Decreti communicatorii, zur gerichtlichen Ein-
liefe-
[245]adlicher Toͤchter im Stifte Oſnabruͤck.
lieferung eines auf Verlangen eydlich zu beſtaͤrkenden
Status bonorum oder Inventarii, und zur Venennung ei-
nes Schiedsmannes, nachdem die Klaͤgerinn den ihrigen
in der Klage benannt haben wird, ſo wie zum Vorſchlag
der drey von ihm zu benenenden Perſonen, woraus die
Klaͤgerinn einen zum dritten Schiedsmann zu erwaͤhlen
hat, binnen einer ihm zu ſetzenden Friſt anhalten. So-
dann aber ſollen die Gerichte.
Viertens, die alſo gerichtlich benannten Schiedsmaͤn-
ner dahin,
daß ſie den ihnen zugeſtellten Statum bonorum wohl
erwaͤgen, und die Abſteuer darnach alſo beſtimmen
wollen, wie ſie ſolche, wenn ſie ſelbſt Vaͤter waͤren,
und dieſe Guͤter wie auch dieſe Kinder haͤtten, fuͤr
die ihrigen beſtimmen wuͤrden,
beeydigen, mithin ihnen den Statum bonorum zuſtellen,
und eine gewiſſe Friſt, binnen welcher ſie ihr Gutachten
jeder beſonders einbringen ſollen, ſetzen, alsdenn aber
Fuͤnftens, die verſchiedenen Beſtimmungen zuſam-
men rechnen, und mit der Zahl drey theilen, mithin das
dadurch herauskommende Quantum fuͤr eine billige Abfin-
dung von den elterlichen Guͤtern beſtaͤtigen, und die Par-
theyen um ſich damit zu begnuͤgen verweiſen.
Wie nun ſaͤmmtliche Gerichte des Hochſtifts Oſna-
bruͤck in vorkommenden Faͤllen ſich darnach zu achten, und
dieſe Verordnung pflichtmaͤßig zu befolgen haben: alſo
ſoll ſelbige zu ſolchem Ende durch den Druck publieirt
werden, ſo geſchehen und gegeben auf unſerm Palais zu St.
James den 15ten May des 1778ſten Jahres Unſers Reichs
im achtzehnten.
GeorgeR.
v. Alvensleben.
Q 3LV.
[246]Warum bildet ſich der deutſche Adel
LVI.
Warum bildet ſich der deutſche Adel nicht
nach dem engliſchen.
Jn dem Streite, welchen der Markis de Laſſay*)
uͤber die Frage erregte:
ob dem Franzoͤſiſchen Adel erlaubt werden koͤnne,
ſich mit der Handlung abzugeben?
und worin nachwaͤrts verſchiedene große Maͤnner fuͤr und
wider auftraten **), wird es immer als ein uͤberaus
wichtiger Umſtand angefuͤhrt, daß in England der Bru-
der
[247]nicht nach dem engliſchen?
der des Lords ſich ohne alle uͤble Folgen der Handlung
oder einem jeden andern Geſchaͤfte widmen koͤnnte, und
Mylord Oxford, Mylord Townsſend ſich ihrer Bruͤder,
wovon der eine als Factor in Aleppo ſtand, und der an-
dre in London lebte, nie geſchaͤmet hatten. So wenig
nun auch dieſer Umſtand zur Entſcheidung jener Frage
etwas beytrug, indem die Bruͤder eines Lords in England
nicht zum Adel gehoͤren, ſo iſt er doch allemal ſehr merk-
wuͤrdig und man fraͤgt billig: warum wir Deutſchen die
juͤngern aus einem adlichen Ehebette erzeugten Kinder
mehr zum Adel rechnen als die Englaͤnder?
Man kann antworten: in England ſey der Adel eine
Kronehre oder ein Kronlehn, welches wie jede andere
erblich gewordene Wuͤrde nur Einem aus der Familie,
und nachdem die Einrichtung iſt, nur dem aͤlteſten zu
Theil werden kann; das Haupt, welches dieſe Ehre ſeinem
Geſchlechte erwirbt, ſey dadurch alſo ganz allein gewuͤr-
diget und auſſer dem Sohne, der ihm in dieſer Erbwuͤrde
folgt, behalte ſein ganzes uͤbriges Geſchlecht, diejenige
gemeine Wehrung, die es vorher hatte, die Wehrung
freygebohrner Leute. Hingegen zeuge ein Herzog, wenn
der liebe Gott ſein Ehebette ſegnet, zwoͤlf Herzoge, ein
Graf zwoͤlf Grafen und ein Freyherr zwoͤlf Freyherrn,
ohnerachtet das Herzogthum, die Grafſchaft und die Frey-
herrlichkeit ebenfalls alte Kronwuͤrden ſind, und lange
auch in Deutſchland nur einem zu Theil wurden.
Allein damit bleibt immer noch die Frage uͤbrig:
warum wir dieſen Weg eingeſchlagen? warum wir nicht
eben wie in den mehrſten koͤniglichen Haͤuſern, den juͤn-
gern Sohn immer eine Stuffe niedriger ſtehen laſſen, als
den aͤltern, und das Herzogthum, die Grofſchaft und
die Freyherrlichkeit einmal fuͤr alle fuͤr untheilbare Reichs-
Q 4wuͤr-
[248]Warum bildet ſich der deutſche Adel
wuͤrden erklaͤren, mithin ſolche nur auf den aͤlteſten fallen
laſſen, und den nachgebohrnen Kindern etwas mehrers
als den Vorzug von vornehmen Eltern gebohren zu ſeyn
und die damit natuͤrlich verknuͤpfte Achtung einraͤumen?
Aber, koͤnnte man erſt fragen, haben wir denn wuͤrk-
lich einen andern Weg als die Englaͤnder genommen?
ſind bey uns die juͤngern Kinder des Adels etwas mehr
als freygebohrne Leute? Jſt der Beweis, welcher in Dom-
capiteln, Ritterſchaften und andern geſchloſſenen Orden,
von einem der darin aufgenommen werden will, erfor-
dert wird, etwas mehr als der Beweis einer freyen Ge-
burt? Und ſteckt nicht der ganze Knoten darin, daß das
Wort freygebohren bey uns einen ausgedehntern Begriff *)
hat, als bey den Englaͤndern, und daß wir, blos nur um
die daraus entſtehende Zweydeutigkeit zu vermeiden, und
um eine beſtimmte Art von freyer Geburt auszudruͤcken,
die juͤngern Soͤhne adelich nennen?
So ſcheinet es, und wenn wir genau auf den Gang
unſrer Sprache, die hier vielen Einfluß auf die Begriffe
gehabt hat, Acht geben: ſo findet ſich auch wuͤrklich, daß
wir das Wort freygebohrn, weil es zweydeutig war, und
die alſo beſtimmte Art von freyer Geburt nicht ausdruͤck-
te, zuerſt gegen Edelgebohrn, und wie auch dieſes im
ſtarken Umlauf zu leicht wurde, gegen Wohlgebohrn,
Hochwohlgebohrn, Keichs-frey Hochwohlgebohrn und
zuletzt gegen Hochgebohrn vertauſchet haben, alles in der
Abſicht um den juͤngern Kindern blos die Rechte ihrer
Geburt zu erhalten, nicht aber um ihnen den Adel zu ge-
ben,
[249]nicht nach dem engliſchen.
ben, der als eine Kronwuͤrde betrachtet, eben wie in
England, blos auf den Haupterben faͤllt. Jedoch ſind
unſre Begriffe hievon nicht beſtimmt und aufgeklaͤrt ge-
nug. Wir machen keinen deutlichen Unterſchied zwiſchen
Adel und Edelgebohrn, und ſo hilft es uns nichts, daß
wir auf den erſten Urſprung, oder auf den boͤſen Einfluß
der Sprache zuruͤckgehen, und daraus die Geſchichte der
Verwirrung wiſſen; es hilft uns nichts, daß der Gelehrte
in ſeiner Stube den Unterſchied zwiſchen Adel (Kronehre)
und Edelbuͤrtigkeit (Faͤhigkeit zu Kronehren) deutlich
denket: ſo lange wir im gemeinen Leben den Briefadel
als eine Wuͤrde, und nicht als eine Faͤhigkeit anſehen,
und die juͤngern Soͤhne eines Freyherrn ohne Unterſchied
Freyherrn nennen.
Jn dieſer unſrer praktiſchen Denkungsart gehen wir
von den Englaͤndern ab, bey denen die juͤngern Soͤhne
des *) Adels, er mag ſo hoch ſeyn wie er will, blos Gen-
tlemens im eigentlichen Verſtande, das iſt Kron-Lehnfaͤ-
higgebohrne, und bis dahin, daß ſie zu einem wuͤrklichen
Kronlehn gelangen, von allen Vorrechten des Adels aus-
geſchloſſen ſind. Dieſe Denkungsart muß alſo erſt geaͤn-
dert, und der Unterſchied zwiſchen dem Adel und den
Edelgebohrnen, oder wenn man dieſes Wort nach dem
jetzigen Curs deſſelben, fuͤr ungeſchickt haͤlt, den adlich
gebohrnen, deutlich feſtgeſetzt, und gegen alle Misdeu-
Q 5tung
[250]Warum bildet ſich der deutſche Adel
tung geſichert werden, ehe man die vorgelegte Frage
beantworten kann?
Allein was hindert uns dieſes zu thun? Was hin-
dert uns mittelſt eines allgemeinen Reichsſchluſſes feſtzu-
ſetzen, daß blos diejenigen adlich gebohrnen oder adlich
gemachten zum Adel gehoͤren ſollen, welche ein Herzog-
thum, eine Grafſchaft, eine Freyherrlichkeit oder eine
andre Reichswuͤrde bekleiden? Der jetzige Landſaͤßige Adel
iſt durch die aͤlteſten Reichsſchluͤſſe, worin die Dienſtleute
der Fuͤrſten den Reichsdienſtleuten gleich geſetzet ſind,
vollkommen gedeckt; jedes Landtagsfaͤhige Gut iſt in
dieſem Betracht Reichsherrlichkeit, und giebt damit ſei-
nem Edelgebohrnen Herrn die Reichswuͤrde. Eben das
gilt von allen mit adlichen Freyheiten verknuͤpften Bedie-
nungen im Reiche und im Lande; wer ſolche beſitzt, ſteht
in einer wuͤrklichen Reichswuͤrde; und der aͤltere Haupt-
mann eines Fuͤrſten geht dem juͤngern Hauptmann des
Kayſers vor. Wo ein adlich gebohrner in einer beſtimm-
ten geiſtlichen Wuͤrde ſteht, da wird er zum wuͤrklichen
Adel gerechnet; und wenn einer ein Majorat oder Fidei-
commis ſtiftet, was vom Kayſer oder dem Landesherrn
zu einem Reichs- oder Landtagsfaͤhigen Herrlichkeit er-
hoben wird, da entſteht ein neues Reichsamt, was ſei-
nem adlich gebohrnen oder adlich gemachten Beſitzer, den
wuͤrklichen Adel giebt; den edelgebohrnen Toͤchtern geben
ſowohl die Wuͤrden ihrer Maͤnner, als die Praͤbenden in
adlichen Stiftern den Adel. Und ſonach koͤnnen die
Schwuͤrigkeiten ſo groß nicht ſeyn, um in Deutſchland
wie in England, jenen Unterſchied deutlich feſtzuſetzen,
und die adlich gebohrnen Soͤhne und Toͤchter nur in ſo
fern zum Adel zu rechnen, als ſie auf vorbeſchriebene Art
gewuͤrdiget ſind, den uͤbrigen aber bis dahin ſie auch
durch
[251]nicht nach dem engliſchen?
durch gleiche Wuͤrden und Guͤter erhoben ſind, blos die
Adelsfaͤhigkeit beyzulegen.
Daß der Adel, der ſeine Vorrechte gebraucht, keine
Handlung und kein Gewerbe treiben koͤnne, davon wird
ſich ein jeder leicht uͤberzeugen, der ſich nur ſelbſt die
Frage vorlegt: ob der Soldat, der ſeinen Tornuͤſter kei-
nem Beſucher eroͤffnet, ſondern damit uͤberall frey durch-
geht, auch wohl Waaren zur Handlung darin bey ſich
fuͤhren duͤrfe! Seine Antwort wird ohne Zweifel dieſe
ſeyn, daß ſich kein rechtſchaffener Soldat mit dergleichen
Betruͤgereyen abgeben wuͤrde, und das war der Ton des
Adels und der ritterlichen Kriegesleute zur Zeit, wie die-
ſelben nicht allein im Reiche ſondern in der ganzen Chri-
ſtenheit unbeſucht und ungehindert jedes Zollhaus vor-
beyreiſen konnten; ſie machten eine Ehrenſache daraus,
und verabſcheueten diejenigen aus ihrem Mittel, die ſich
durch die Handlung zu Defraudanten machten, mithin
die Freyheit ihres ganzen Ordens in Gefahr ſetzten, ſonſt
hatte der ſchlichte Menſchenverſtand einem jeden laͤngſt
geſagt, daß Freyheit und Handlung nicht mit einander
beſtehen koͤnnen.
Thaͤten wir dieſes, wie wir es thun koͤnnen, wenn
wir auch die Graͤnzlinie zwiſchen den verſchiedenen Wuͤr-
den und Dienſten, in etwa ſchwanken ließen, indem doch
ein jeder, der in einer geiſtlichen oder weltlichen Bedie-
nung ſteht, in Anſehung aller Steuren und perſoͤnlichen
Leiſtungen gleicher Freyheit mit dem Adel genießt: ſo
wuͤrden wir wenigſtens auf die Frage:
Kann der Adel ſich unbeſchadet ſeines Standes mit
der Handlung und mit gewiſſen Gewerben abgeben?
mit Zuverſicht antworten koͤnnen:
- a) Der Adel und uͤberhaupt jeder Kronbedienter darf
in keinem Falle Handlung oder Gewerbe treiben.
b) Die
[252]Warum bildet ſich der deutſche Adel
- b) Die Edelgebohrnen aber moͤgen es unbeſchadet ih-
rer Adelsfaͤhigkeit thun.
Und ſo waͤren wir gerade auf dem Wege, welchen die
Englaͤnder zur Heerſtraße gemacht haben.
Die Adelsfaͤhigkeit verliert man dort dadurch nicht,
daß man ſein Brod auf jede einem ehrlichen Manne an-
ſtaͤndige Art zu erwerben ſucht; der eine ſchlaͤgt dieſen,
der andre jenen Weg ein, und es iſt gar nichts auſſer-
ordentliches, daß der aͤlteſte Bruder im Oberhauſe, der
andre im Unterhauſe und der dritte auf der Boͤrſe ſitzt.
Wer in keiner wuͤrklichen Kronwuͤrde ſtehet, iſt aller Vor-
rechte des Adels beraubt, er gilt nicht mehr als ein an-
drer, und man ehret ihn blos als einen Mann, der ent-
weder nach Erbgangsrecht oder durch Koͤnigl. Ernennung
zu einer Kronwuͤrde gelangen kann.
Wie wollen aber die Edelgebohrnen, wenn ſie Hand-
lung und Gewerbe treiben, und ſich ſolchemnach mit aller-
hand Arten von Menſchen vermiſchen, die Rechte ihrer
Geburt erhalten? Woran will man nach langen Jahren,
wenn ſich keiner mehr ihrer Vorfahren erinnert, und je-
der an ihren Vaͤtern und Großvaͤtern nichts mehr als an
andern gemeinen Leuten erblickt hat, ihre Adelsfaͤhigkeit
erkennen. Und wo ſoll endlich die Graͤnze ſeyn, welche
ein Edelgebohrner ohne Nachtheil ſeiner Ehre nicht uͤber-
ſchreiten darf, oder ſoll er ſich ohne Unterſchied mit allen
Klaſſen der Menſchen vermiſchen duͤrfen? Geſetzt die
Stuffen der Menſchheit ſtuͤnden alſo:
- a) Rittereigen,
- b) Hoͤrige nach Hausgenoſſenrechte,
- c) Freye Hausgenoſſen,
- d) Freye unter Amtsſchutze,
- e) Freye unter Buͤrgerſchutze,
- f) Freye Canzleyſaͤßige.
Kann
[253]nicht nach dem engliſchen?
Kann er ſich ohne die Rechte ſeiner Geburt zu ver-
lieren, in alle dieſe Klaſſen begeben? oder iſt eine darun-
ter, deren Erwaͤhlung zugleich den Verzicht auf eine freye
Geburt enthaͤlt, und welche iſt die? Und wozu nuͤtzt es
endlich dem Staate, allen und jeden Edelgebohrnen, die
ſich ſolchergeſtalt in das Meer der Menſchheit herabſtuͤr-
zen, die Vorrechte ihrer Geburt mit Huͤlfe einer muͤh-
ſamen Controle zu erhalten? Jſt es dafuͤr nicht beſſer ſie
ganz darinn untergehen zu laſſen, um deſto eher Gelegen-
heit zu haben, andern verdienſtvollen Maͤnnern die Adels-
faͤhigkeit zu ertheilen?
Dieſe Gruͤnde ſind wichtig, und wahrſcheinlich auch
die Haupturſachen, warum man in Deutſchland ſtrenger
wie in England geweſen iſt, und auf den, eben durch
jene große Vermiſchung in ein leeres Wort verwandel-
ten Titel von Gentlemen, wenig oder nichts giebt. Jn-
deſſen ſcheint es mir doch, daß hier noch eine Huͤlfe moͤg-
lich ſey.
Jn England wird noch immer ſtrenge auf die Wapen
geſehen, und es iſt dort ein beſonderes oͤffentliches von
der Krone abhangendes Amt, wovor jeder Gentlemen ſein
Wapen eintragen laͤßt, um das Recht ſeiner Wapenbuͤr-
tigkeit zu erhalten. Niemand darf dergleichen fuͤhren,
ohne ſein Recht dazu auf das genaueſte erweiſen zu koͤn-
nen, ſo auch in Braband; und unter dieſem gleichſam
oͤffentlich ausgehangenen Schilde, iſt jeder Gentlemen
ſicher, die Rechte ſeiner Geburt nicht zu verlieren. Der
Adel fuͤhrt das Familienwapen mit den Wapen und Zier-
rathen ſeiner Wuͤrde und Kronehre; der Gentlemen oder
Adelsfaͤhige fuͤhrt es ohne dieſelben. Jener ſchreibt ſich
von, weil er ſich von einem Kronamte, oder Krongute
ſchreiben kann, dieſer nicht, da er nur aus, und nicht
Herr von einem Reichs- oder Landtagsfaͤhigen Hauſe iſt.
Dieſem
[254]Warum bildet ſich der deutſche Adel
Dieſem Vorgange muͤßten wir nothwendig folgen; wir
muͤßten ein Landes-Heroldsamt, unter der Aufſicht des
Adels errichten, dieſes muͤßte mit einem allgemeinen
Reichs-Heroldsamte correſpondiren, vor demſelben muͤßte
jedes Kind des Adels, ſo bald es das vaͤterliche Haus ver-
laͤßt und einen andern Stand erwaͤhlt, ſeinen Namen und
ſein Wapen eintragen laſſen; es moͤchte allenfalls ſich aus
aber nicht von ſchreiben duͤrfen, und auf ſolche Art glaube
ich, daß es moͤglich waͤre, jedem die Rechte ſeiner Ge-
burt unter allen Vermiſchungen zu erhalten.
Hiernaͤchſt muͤßte freylich um die Adelsfaͤhigkeit im
Werthe zu erhalten, eine gewiſſe Linie gezogen werden,
woruͤber ſich keiner wagen duͤrfte, ohne damit auf ſein
Geburtsrecht Verzicht zu thun. Dieſe wuͤrde nun zwar
in Deutſchland, wo die Reichsdienſtleute und andre vor-
nehme Standesbediente, die ehmalige allgemeine Kette
der Hoͤrigkeit, womit Herrn und Leute verbunden waren,
zerbrochen, und den geringern Theil der Menſchheit dar-
unter verlaſſen haben, ſchwerer zu ziehen ſeyn als in Eng-
land, wo alle Hoͤrigkeit aufgehoben, und Freyheit und
Eigenthum allen Einwohnern ohne Unterſchied zu Theil
geworden iſt. Jndeſſen ſehe ich doch nicht ein, warum ſie
nicht endlich gezogen werden koͤnnte; warum wir nicht
eben wie in Rußland, mehrere Klaſſen von Menſchen ha-
ben, und dabey feſtſetzen koͤnnten, wie weit ſich einer
aus den Hoͤhern in die Niedrigen vertiefen koͤnnte, ohne
den Ruͤckweg zu verlieren, wenn er nach Erbgangsrechte
zu einer Kronwuͤrde in ſeine urſpruͤngliche Klaſſe gerufen
wuͤrde? Hat man doch in Frankreich dem Adel die See-
handlung eroͤffnet?
Wenn man auf die Zeiten zuruͤckgeht, worinn noch
keine beſtaͤndige und regulaire Miliz gehalten wurde: ſo
wird
[255]nicht nach dem engliſchen?
wird man faſt alle Bedienungen, die jetzt buͤrgerlich heiſ-
ſen, mit Soͤhnen des Adels beſetzt finden. Mir ſind viele
Faͤlle vorgekommen, daß der juͤngere Bruder des aͤltern
Hauscapellan geworden, und es iſt im funfzehnten Jahr-
hundert nichts gewoͤhnlicher als edelgebohrne Paſtoren
und Vicarien, Gowgrafen und Gerichtsſchreiber Jede
Familie wird davon mehr als eine Collation und Beſtal-
lung aufzuweiſen haben. Hieraus ſieht man ſchon, daß
man nicht zu allen Zeiten gleich gedacht, und nicht im-
mer die Ehre eine Fahne zu tragen, der Ehre aufs Filial
zu reiten vorgezogen habe.
Man wird weiter aus den vielen Reichsſchluͤſſen,
die gegen die Pfalbuͤrger gemacht ſind, ſchließen, daß zu
der Zeit, als die Buͤrgerſchaft einem noch etwas von der
Freyheit raubte, viele Edelgebohrne Leute ſich, ohne
Vuͤrgerſchaft zu nehmen, zwiſchen den Pfaͤlen einer Stadt
aufgehalten, und wenn ſie gleich kein buͤrgerliches Ge-
werbe getrieben, dennoch die Macht der Staͤdte auf an-
dre Art vermehret, und dieſe zu einer ſolchen Hoͤhe ge-
bracht haben, daß man, um die Pfalbuͤrger wieder aus
den Mauren zu ziehen, von Reichswegen hat verordnen
muͤſſen, keinen binnen den Pfaͤlen wohnen zu laſſen, der
ſich nicht zur Buͤrgerſchaft bequemte. Auch hier muͤſſen
dergleichen Gentlemens in Staͤdten oder Pfalbuͤrger Gele-
genheit gefunden haben, ſich ohne Kronbedienungen und
Kronwuͤrden oder ohne Landbedienungen und Landwuͤr-
den zu erhalten. Einige traten vielleicht ohne Buͤrger-
ſchaft zu nehmen, in Stadtdienſte, andre aber mochten
doch ihre Speculation machen, wie unſre Kaufleute zu
reden pflegen; genug ſie wohnten ihrer Geburt unbe-
ſchadet zwiſchen den Mauren, und durften nur nicht Buͤr-
ger werden, weil dieſe noch mehrentheils unter ihren
Voͤgten
[256]Warum bildet ſich der deutſche Adel
Voͤgten ſtanden, und denſelben eine Sterbfallsurkunde
zukommen laſſen mußten.
Man wird endlich aus der alten Reichsgeſchichte
wiſſen, daß es eine Zeit gegeben habe, worinn ein ed-
ler Herr nicht einmal kayſerlicher Dienſtmann werden
konnte, ohne ſeiner Freyheit zu entſagen, und folglich
die Rechte ſeiner Geburt aufzugeben.
Hat es ſich nun aber mit der Dienſtmannſchaft alſo
gewandt, daß jeder von Adel ſich ohne ſein Geburtsrecht
zu verlieren darinn begeben, und ſich dem Heergewedde
unterwerfen kann, ohne ſeine Ehre aufzuopfern; hat es
ſich mit der Buͤrgerſchaft alſo geaͤndert, daß ſie faſt uͤber-
all das vogteyliche Joch abgeſchuͤttelt, und ſich vom Sterb-
fall befreyet hat; hat man Beyſpiele, daß ſich Edelge-
bohrne auf amtsſaͤßigen ja wohl gar auf ſchatzpflichtigen
Guͤtern erhalten haben, ohne darum ganz abgewuͤrdiget
zu werden, kann man endlich eine Muskete auf die Schul-
ter nehmen, und doch dabey ſein Wapen behalten: ſo
ſehe ich nicht ab, warum ſich die Adelsfaͤhigkeit in einer
andern Vermiſchung weniger als in jener erhalten laſſen
ſollte? Die Furcht der Franzoſen, daß der ſo noͤthige
Militairſtand und der kriegeriſche Geiſt der Nation dabey
verlieren wuͤrde, kommt bey mir gar nicht zum Anſchlage.
Tapferkeit iſt eine moraliſche Eigenſchaft die mit jener
politiſchen nichts zu thun hat; es giebt moraliſch gute
Leute in allen Staͤnden; der Englaͤnder iſt durch die Ver-
miſchung nicht feiger geworden, und was der Militair-
ſtand gebraucht, wird er um ſo viel reichlicher erhalten,
je mehr die Officiere und andre Edelgebohrne heyrathen,
koͤnnen, ſo bald ihren Kindern alle Wege ſich zu erhalten
welche ihnen durch unſre jetzige Denkungsart verſchloſſen
ſind, eroͤffnet werden.
Auch
[257]nicht nach dem engliſchen?
Auch iſt die Gefahr fuͤr vermiſchte Heyrathen ſo groß
nicht als man ſich ſolche vorſtellet. Denn ſo bald jene
Wege geoͤffnet ſind: ſo wird man auch eben wie in Eng-
land, edelgebohrne Kaufleute, und edelgebohrne Paͤch-
ter finden, die ihren Soͤhnen und Toͤchtern die Wapen-
buͤrtigkeit durch das Heroldsamt erhalten haben.
Das einzige was allenfalls zu befuͤrchten waͤre, moͤchte
darin beſtehen, daß die Adelsfaͤhigkeit zu gemein, und
die Zahl derjenigen, welche auf eine Kronwuͤrde, oder
welches nach dem Vorausgeſetzten einerley iſt, auf eine
Praͤbende und andre dem Adel gleichgeltende Bedienun-
gen Anſpruch machen koͤnnten, zu groß werden wuͤrde.
Allein ſo wichtig dieſer Einwurf von einer Seite ſcheinet:
ſo hart iſt es doch auch auf der andern, daß die juͤngern
Soͤhne des Adels, wenn ſie keine Reichs- oder Landwuͤr-
den erhalten, ſich des Eigenthums begeben und manche
gute edelgebohrne Maͤdgen ledig bleiben muͤſſen; und
faſt moͤchte ich ſagen, daß es blos der Eigennutz des Adels
ſey, der die Zahl der Adelsfaͤhigen zu vermindern ſucht,
um die Praͤbenden jedesmal zur Verſorgung oder Aufo-
pferung ſeiner jungen Kinder gebrauchen zu koͤnnen. Am
Ende aber duͤrfte es doch noch wohl eine große Frage
ſeyn, ob der Adel ſich nicht beſſer dabey ſtehen und we-
nigſtens wohlthaͤtiger gegen ſein Geſchlecht handeln wuͤr-
de, wenn ſeine juͤngern Kinder ſich wie in England durch
die Handlung oder jede andre Art eines anſtaͤndigen Ge-
werbes bereicherten, und ſich auf dieſe Weiſe die Mittel
erwuͤrben, kuͤnftig in einer Kronwuͤrde deſto beſſer glaͤn-
zen zu koͤnnen, als daß ſie auf einer Praͤbende zu Tode
gefuttert werden.
Dem Adel allein ſchadet die Vermehrung; er kann
leicht zu zahlreich und zu gemein werden; aber den Edel-
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Rge-
[258]Von dem Concursproceſſe
gebohrnen, die ſich des Adels enthalten muͤſſen, nicht.
Jenes iſt eine Vermehrung der Wuͤrden, dieſes aber eine
Vermehrung der Wuͤrdefaͤhiger, und keiner hat es noch
behauptet, daß es Schade fuͤr den Staat ſey, viele ſolche
wuͤrdige Leute zu haben.
LVI.
Von dem Concursproceſſe uͤber das
Landeigenthum.
Unſre Vorfahren hatten die Vertheidigung des Staats
auf das Landeigenthum gegruͤndet, und ſahen die-
ſes gewiſſermaßen, als den einzigen oͤffentlichen Fond der
buͤrgerlichen Geſellſchaft an, wovon jeder Unterthan ſei-
nen Antheil zu getreuen Haͤnden hielte. Keinem war es
erlaubt ſolchen nach Willkuͤhr mit Schulden, Dienſten
oder Paͤchten zu erſchoͤpfen, ſondern wo die Noth den
einen oder andern hiezu noͤthigte, mußte ſolches mit Vor-
wiſſen und Einwilligung desjenigen geſchehen, der die
Oberaufſicht uͤber jenen oͤffentlichen Fond hatte. Dieſes
war damals der Graf oder Richter, (ſolus comes de pro-
prietate judicat.) und ſo galt keine Hypothek oder andre
Beſchwerde, welche auf dem Boden haften ſollte, als
wenn ſie vom Richter beſtaͤtiget war. Die Gerichtsbar-
keit uͤber den Boden war nur eine, und der Stand ſei-
nes Beſitzers veraͤnderte die Natur deſſelben ſo wenig als
er die Lage veraͤndern konnte. Man wußte vor dem 14
Jahrhundert von keinen unterſchiedenen Gerichtszwaͤngen
der Guͤter, ſo mannichfaltig und verſchieden auch die Ge
richtsbarkeiten fuͤr die Perſonen waren. Nur dasjenige
Stuͤck
[259]uͤber das Landeigenthum.
Stuͤck Grund was mit allgemeiner Einwilligung amor-
tiſiret, und folglich von der Vertheidigungslaſt ganz be-
freyet war, machte eine Ausnahme, und konnte eine
machen. Jm uͤbrigen war nur ein Richter, oder ein
Generalcontrolleur. Dieſer Plan iſt ſo gewiß, und ſo
deutlich aus den Capitularien der fraͤnkiſchen Kayſer zu
erweiſen, als gewiß es iſt, daß die Protocolle dieſer Con-
trolle, oder dieſe alten Hypotheken-Grund- oder Flurbuͤ-
cher nach und nach in Unordnung gerathen, und an man-
chen Orten vielleicht nie angefangen ſind. Jnzwiſchen
ſieht man in allen Laͤndern Spuren davon. Man findet
lange vor den neuern Einrichtungen, Landes- und Stadt-
geſetze, welche dahin gehen, daß aller Verkauf liegender
Gruͤnde vor der Obrigkeit geſchehen, alle Hypotheken von
dem Richter, worunter die Guͤter liegen, beſtaͤtiget wer-
den, und keine neue Pflichten darauf haften ſollen, als
welche dieſer bewilliget habe. Jn den aͤlteſten Kaufbrie-
fen und Schenkungen, laͤßt der Verkaͤufer oder Verſchen-
ker ſein Gut dem Richter auf, und dieſer uͤbergiebt es
demjenigen der es haben ſoll, oder ſetzt ihn herein. Hie-
von zeugen unzaͤhlige Geſetze und Urkunden, und alles
weiſet auf obigen Plan zuruͤck, den die geſunde Vernunft
in neuern Zeiten unter dem Schutt der Verwuͤſtung wie-
der hervorſucht, indem ſie neue Hypothekenbuͤcher ein-
fuͤhret, und immer weiter einfuͤhren wird, je nachdem
die Vertheidigung des Staats eine ſorgfaͤltigere Bewah-
rung ſeines Fonds erfordert.
Wenn ein Schuldner in dieſer Verfaſſung bewogen
wurde, etwas zu borgen: ſo verkaufte er vor Gerichte
ſeinem Glaͤubiger, eine gewiſſe Rente, die zuerſt in Fruͤch-
ten und ſpaͤter in Gelde beſtand, aus ſeinem unterha-
benden Gute, und dieſer bezahlte ihm dagegen das Ca-
pital oder die Kaufſumme. Dieſes ſcheinet uͤberall die
R 2erſte
[260]Von dem Concursproceſſe
erſte Art geweſen zu ſeyn um Geld zu borgen, ſo wie
Kauf oder Tauſch der aͤlteſte menſchliche Contract gewe-
ſen ſeyn mag. Der Verkaͤufer behielt ſich den Wieder-
kauf bevor, damit er ſich doch endlich von ſeiner Schuld
wieder befreyen konnte. Der Kaͤufer hingegen konnte
nicht loͤſen, und man ſahe uͤberhaupt die jetzige Loͤſe,
welche ſich erſt gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts
in den Contracten der Landbeſitzer gemein gemacht hat,
als etwas gefaͤhrliches oder verwegenes an, indem kein
Landbeſitzer mit Gewißheit verſprechen kann, das ihm ge-
liehene Capital nach einer dem Glaͤubiger bevorbleibenden
Loͤſe bezahlen zu wollen. Dem Kaͤufer einer Rente oder
eines Grundzinſes blieb alſo nichts uͤbrig, als ſich in die
Selbſthebung dieſer ihm gebuͤhrenden Renten ſetzen zu
laſſen, wenn ihn ſein Schuldner nicht richtig bezahlte.
Dazu gab ihm der Richter die Huͤlfe, oder die Jmmiſ-
ſion, und wenn er dieſe hatte, ſo hatte er alles, was er
aus ſeinem Kaufcontracte zu fordern hatte. Wollte er
gern ſein Capital wieder haben: ſo mußte er dieſes, wie
es in England und Frankreich noch uͤblich iſt, einem an-
dern uͤbertragen oder verkaufen, von dem Schuldner
mochte er es nicht fordern.
Die natuͤrliche Folge hievon iſt, daß er auch nie die
Subhaſtation des Gutes fordern konnte. Verkaufte der
Schuldner ſein Gut; ſo blieb jener mit ſeiner Rente dar-
auf haften, aber der neue Kaͤufer konnte gegen ihn das
Wiederkaufsrecht ausuͤben.
Auf eben die Art als der erſte Glaͤubiger ſich eine
Rente aus dem Gute gekauft hatte, konnten hundert
andre es auch thun, wenn der Schuldner mehr Geld
noͤthig hatte, und der Richter ſeine Einwilligung dazu
ertheilte. Aber alle, ſo viel ihrer auch waren, konnten
nicht
[261]uͤber das Landeigenthum.
nicht weiter kommen als der erſte. Wenn der Richter ſie
in die Selbſthebung ſetzte: ſo hatte jeder was er gekauft
hatte, naͤmlich ſeine Rente; und keiner hatte auch nur
den allermindeſten Grund einen Verkauf des ganzen Guts
zu verlangen. Es war auch dieſes ihr Vortheil nicht.
Denn wenn das Gut nicht ſo theuer bezahlet wurde, daß
alle ihre Capitalien daraus bezahlet werden konnten: ſo
haͤtten ſie ihre Renten, die ſie ruhig genoſſen, eingebuͤßt.
Dieſes Verfahren gieng ſo lange ganz gut, als der
Richter ſein Buch ordentlich hielt, jeder, der eine Rente
kaufte, ſolche ordentlich eintragen ließ, und wann ihm
dieſe nicht bezahlt wurde, zu rechter Zeit die Jmmiſſion
ſuchte. Es konnte dann niemand gefaͤhrdet werden; und
wer zuletzt Renten kaufte, hatte es ſich ſelbſt beyzumeſ-
ſen, wenn er etwas kaufte was nicht vorhanden war.
Der Richter war auch, ſo bald er ſein Buch nachſahe,
im Stande zu ſagen, daß der Schuldner bereits alles
was er beſaͤſſe verkauft und keine Renten mehr uͤbrig haͤtte.
So wie es aber zu allen Zeiten gegangen iſt, daß
mancher Kaͤufer auf Treu und Glauben handelt, oder ſich
um die Umſtaͤnde ſeines Schuldners nicht genug bekuͤm-
mert, oder auch zu ſpaͤt aufwacht, und die Zeit verſchla-
fen hat, worin ein juͤngerer Glaͤubiger vor ihm die Jm-
miſſion erlangt hat; und ſo wie es weiter zu allen Zeiten
mir den Gerichtsprotocollen nicht in der beſten Ordnung
geweſen iſt: ſo geſchahe es auch vermuthlich damals, daß
ein Theil der Rentenkaͤufer das ganze Gut allein genoſ-
ſen, und ſich ganz wohl dabey befunden; andre hinge-
gen gar keine Renten erhielten, und doch gern welche
haben, oder auch wenn ſie eine Schuldforderung ausge-
klagt, und eine idealiſch Jmmiſſion, oder eine ſogenannte
Hypothek erhalten hatten, ihre Bezahlung ſuchen wollten.
R 3Hier
[262]Von dem Concursproceſſe
Hier blieben dieſen nur zwey moͤgliche Wege offen.
Entweder hatten ſie ein aͤlters und beſſers Recht, als die-
jenigen, welche geeilet waren, um in den Beſitz der Ren-
ten zu kommen; oder ſie hatten ein juͤngers. Jm erſtern
Fall hatten die alten den Weg einer gemeinen Klage ge-
gen die juͤngern, um ſolche mit Huͤlfe eines ordentlichen
richterlichen Erkenntniß aus dem Beſitze zu treiben, worin
ſie blos mit dem gewoͤhnlichen Vorbehalt eines jeden Rech-
tens, auf gerathewohl geſetzet waren. Jn dem letztern
hingegen, mußten ſie ſich mit den Gedanken ſchmeicheln,
daß das Gut, wenn es verkauft wuͤrde, mehr gelten
koͤnnte, als die Glaͤubiger, die es nutzten, zu fordern
hatten.
Aber dieſer ſchmeichelhafte Gedanke, konnte eine
Chimere ſeyn, und auf Chimeren konnte der Richter nicht
zur Subhaſtation des Gutes ſchreiten. Dieſer gab ihnen
alſo den rechtlichen Beſcheid, daß, wenn ſie fuͤr die Reali-
ſirung dieſer Chimere, und fuͤr die mit der Subhaſtation
verknuͤpften Koſten hinlaͤngliche Sicherheit beſtellen wuͤr-
den, alsdenn nach ihrem Wunſche verfahren werden
ſollte. Anders konnte er nicht erkennen: denn die juͤn-
gern Glaͤubiger hatten nicht das mindeſte Recht, die aͤl-
tern Rentekaͤufer in Unſicherheit zu ſetzen; auch ſelbſt die
Einwilligung des Schuldners, oder eine ſogenannte ceſſio
bonorum reichte dahin nicht: denn wie konnte der Schuld-
ner ſeine vorigen Verkaufcontracte aufheben, oder die
Rentekaͤufer einſeitig in Gefahr ſetzen, dasjenige was ſie
von ihm gekauft hatten wieder zu verlieren?
Es verſteht ſich aber von ſelbſt, daß das letztere,
naͤmlich die Sicherheit fuͤr ein ſolches Gebot, wodurch alle
aͤltere Glaͤubiger mit zweyjaͤhriger Zinſe und das Gericht
wegen der Koſten gedecket werden, nur alsdenn Statt
fand, wenn der Glaͤubiger das Recht zu loͤſen hatte; und
wie
[263]uͤber das Landeigenthum.
wie uͤberhaupt die eingefuͤhrte Loͤſe eine ganze Veraͤnde-
rung in der ehmaligen Art des Verfahrens gemacht hat,
als wird es noͤthig ſeyn auch hievon etwas anzufuͤhren.
Hier muß man ſich, um die Sache deutlich vor Au-
gen zu haben, ſogleich eine Ordnung der Glaͤubiger z. E.
von folgender Art vorſtellen:
- A hat auf ein Gut 1000 Rthlr.
- B — 1000 -
- C hat auf ein Gut 1000 Rthlr.
- D — 1000 -
- E — 1000 -
Geſetzt nun A hatte ſein Capital dem Schuldner ge-
loͤſet, und dieſer bezahlte ihn nicht: ſo ſprach er erſt zu E;
oder wann der nicht wollte, zu D, und wann auch dieſer
nicht wollte, zu C, und zuletzt zu B: ob er ihn ausloͤſen
wollte? So wie ſich nun einer nach dem andern von un-
ten auf, wegerte ihn zu loͤſen, das heißt ihm ſein Capi-
tal mit einer alten und neuen Rente, zu bezahlen, mußte
er von dem Gute abtreten, oder wie es auch wohl heißt,
das Gut verlaſſen; und wegerten ſie ſich alle mit einan-
der: ſo ließ A das Gut ſchaͤtzen, und ſich daſſelbe vom
Richter uͤbergeben, welches die Immiſſion ex ſecundo de-
creto ausmachte. Die Schaͤtzer ſagten denn insgemein
weiter nichts, als: das Gut iſt ſo viel werth als A an
Capital, Zinſen und Koſten mit Recht darin zu fordern
hat: denn ſie mußten fuͤr ihre Schaͤtzung haften.
Nun behielt A das Gut nach Oſnabruͤckiſchem Rechte
ſo lange bis ihm der Schuldner alles was er mit Recht
daran zu fordern hatte, bezahlete, ohne daß ihn die ab-
getretenen Glaͤubiger weiter beunruhigen konnten. Allein
nach dem Hamburgiſchen Entſetzungsrechte, welches in
dieſem Stuͤcke weit feiner iſt, konnten die abgetretenen
R 4Glaͤu-
[264]Von dem Concursproceſſe
Glaͤubiger zu dem Annehmer des Guts annoch ſagen: ſie
haͤtten ihm durch ihren Abtritt oder durch ihre Verlaſ-
ſung alle Koſten zum voraus verſichert; unter dieſe Ko-
ſten gehoͤrten auch diejenigen, welche zur Subhaſtation
erfordert wuͤrden; er ſollte alſo in Zeit ven 6 Wochen das
Gut an die Kerze bringen, damit ſie ſehen koͤnnten, ob
nicht mehr dafuͤr kaͤme.
Deſſen konnte ſich A nicht wegern, oder der Richter
hielt ihn dazu an. Was nun mehr dafuͤr geboten wurde,
als A darinn zu fordern hatte, das wurde den folgenden
Glaͤubigern in ihrer Ordnung zu Theile. A allein er hielt
alle ſeine Zinſen und Koſten zur Belohnung der uͤbernom-
menen Gefahr; jeder von den uͤbrigen aber nur eine alte
und neue Rente.
Eben ſo gieng es, wenn E loͤſete, nur mit dem Un-
terſchiede, daß dieſer ſeine Vorgaͤnger ſicher ſtellen, und
als der letzte blos den Schuldner fragen konnte, ob er
ihn loͤſen wollte. Sagte derſelbe nein: ſo ließ E das Gut
ſchaͤtzen und ſich zuſchlagen; mithin nach Hamburgiſchem
Rechte zur Kerze bringen.
Waren noch andre Glaͤubiger vorhanden, die nicht
in dem Gerichte beſtaͤtiget waren, worin das Gut bele-
gen war, und die folglich dem A. B. C. D. und E. das
Vorzugsrecht nicht ſtreitig machen konnten: ſo konnten
dieſe, nachdem ſie zufoͤrderſt die Immiſſion ex primo de-
creto genommen, oder ein dingliches Recht an dem Gute
erhalten hatten, eben das thun, was A. B. C. D. und E.
zu thun berechtiget waren.
Wo aber der Glaͤubiger, welcher ſeinem Schuldner
die Loͤſe gethan hatte, nicht wußte, ob mehrere und wie
viel Schulden auf dem Gute was ihm verſchrieben war,
hafteten: ſo ließ er ſaͤmtliche Glaͤubiger vorerſt auf ſeine
Gefahr
[265]uͤber das Landeigenthum.
Gefahr und Koſten oͤffentlich vorladen, und fragte denn
die erſchienenen, vom juͤngſten bis zum aͤlteſten, oder von
unten auf; ob ihn jemand loͤſen wollte, und wann ſich
keiner fand: ſo verfuhr er wie zuvor. Jn keinem Falle
verlohren aber die abtretenden oder verlaſſenden Glaͤu-
biger ihr Recht an den Schuldner oder deſſen uͤbriges
Vermoͤgen, ſondern blos an dem Gute, was jetzt geauſ-
ſert oder entſetzet wurde.
Dieſe Art des Verfahrens ſcheint uͤberaus ſimpel zu
ſeyn, und wenn ſolche in einem Lande, worin ordentli-
che Hypothekenbuͤcher eingefuͤhret ſind, befolget wuͤrde:
ſo ſollte man nicht glauben, daß ein Concurs entſtehen
koͤnnte, beſonders wenn keinem Glaͤubiger, der nicht in-
groſſirt iſt, ein Recht an dem Gute geſtanden wuͤrde.
Wer aus einem Wechſel klagt, muß ſich an die Perſon
des Schuldners, an deſſen bewegliches Vermoͤgen, als
welches im Hypothekenbuche nicht repraͤſentirt iſt, oder
endlich an den Ueberſchuß desjenigen halten, was das
Gut mehr werth iſt, als darauf ingroſſirt iſt, und um das
letztere thun zu koͤnnen, muß er ſich noch erſt ingroſſiren
laſſen, denn die Jngroſſation vertritt mit Recht die Stelle
der Immiſſion ex primo decreto. So dann aber kann er
die Subhaſtation fordern, ſo bald er alle ſeine Vorgaͤn-
ger ſicher geſtellet hat.
Denn wozu ſollte hier ein Concurs dienen? die Glaͤu-
biger ſo Recht an dem Gute haben, ſind aus dem Hypo-
thekenbuche bekannt, und auf die uͤbrigen koͤmmt es nicht
an. Wozu eine Claſſiſication? da das Hypothekenbuch
die Ordnung anzeigt, und der aͤuſſernde Glaͤubiger, wenn
er einen, der ihm ſeiner Meynung nach mit Unrecht vor-
ſteht, aus dem Wege haben will, ſolches durch den Weg
der Klage erhalten kann? Wozu ein Curator, da der
aͤuſſernde Glaͤubiger alle ſeine Vorgaͤnger ſicher geſtellet
R 5hat,
[266]Von dem Concursproceſſe
hat, und diejenigen ſo ihm folgen, von dem Gute abge-
treten ſind? Ja es iſt keine Moͤglichkeit zum Concurs;
der Schuldner kann nicht bonis cediren, und auf die Ge-
fahr ſeiner Glaͤubiger eine Subhaſtation ſeines Guts for-
dern; und die Jngroſſirten Glaͤubiger haben keinen an-
dern Weg, um zu ihren Capital zu gelangen, als hier
oben vorgeſchrieben iſt; und ſie concurriren allenfalls nur
in ſolchen Laͤndern, wo keine Hypothekenbuͤcher ſind, blos
zu dem Ende, um einen Annehmer auf obige Art unter
ſich auszumachen. Wer ſie zu dem Ende beyſammen for-
dert, muß den Rufer bezahlen; und dieſes vorher erwe-
gen. Andre Koſten fallen jetzt noch nicht vor; ſondern
dieſe wendet erſt der Annehmer an; der ſeinen Anſchlag
darauf machen kann. Die abtretenden Glaͤubiger aber
haben ſich nicht zu beſchweren; denn indem ſie abtreten,
geſtehen ſie, daß ſie mehr auf das Gut geliehen haben,
als es ihnen werth iſt, welches ſie haͤtten unterlaſſen ſollen.
Wir hatten vor einiger Zeit in den Zeitungen eine
oͤffentliche Ladung, worin eine gewiſſe fuͤrſtliche Regie-
rung erklaͤrte, wie ſie Amtshalber den Concurs uͤber ver-
ſchiedene adliche Guͤter eroͤffnen muͤßte, indem ſie es nicht
laͤnger mit Gedult anſehn koͤnnte, daß dieſelben ſo wie
bisher von einer Menge immittirter Glaͤubiger genoſſen
und verwuͤſtet wurden. Nun iſt es freylich eine unan-
genehme Sache mit den Jmmiſſionen; und in Laͤndern,
worin ordentliche Hypothekenbuͤcher ſind, duldet man die-
ſen verderblichen Weg, den die Zeiten, worin noch
Renten ohne Loͤſe uͤblich waren, eroͤffnet hatten, billig
nicht. Allein die Eroͤffnung eines Concurſes von Amts-
wegen bleibt dennoch das letzte Mittel, was man dieſem
Uebel entgegen ſetzen ſollte; es waͤre denn, daß ſich ein
Aeuſſerer faͤnde, der ſich zum Entſatz des Gutes, und
nicht
[267]uͤber das Landeigenthum.
nicht allein alle Glaͤubiger mit zweyjaͤhrigen Zinſen zu be-
friedigen, ſondern auch die Gerichtskoſten zu bezahlen ſich
erboͤte. Sonſt beladet man unſchuldige und ruhig ſitzende
Glaͤubiger von Amtswegen mit Koſten, und ſetzt einen
Theil derſelben offenbar der Gefahr aus, ihre Forde-
rungen zu verlieren, wenn das Gut nicht hoch genung
erkauft wird.
Ueberhaupt iſt der ſogenannte Aeuſſerproceß, wel-
cher in Hamburg, die Entſetzung oder Rettung *), im
Oldenburgiſchen die Loͤſung, in Pommern der Oblations-
proceß, und in jedem Lande anders genannt wird, weil
ihn die Natur uͤberall zuerſt hervorgebracht hat, ein Werk
der Kunſt, das noch mehr als die griechiſchen und roͤmi-
ſchen Kunſtwerke, ſtudirt zu werden verdient. Die ſchoͤne
Wendung des Hamburgiſchen, da der Annehmer verbun-
den iſt, das Gut, nachdem es ihm ex ſecundo decreto zu-
geſchlagen worden, an die Kerze zu bringen, damit er
von der Noth ſeines Schuldners, und von der Verlaſſung
zu ſchwacher Glaͤubiger keinen unbilligen Vortheil ziehe,
verdient Bewunderung, und ich zweifle nicht, daß der
Aeuſſerproceß, wenn er gehoͤrig eingerichtet wird, da wo
die Hypothekenbuͤcher in der moͤglichſten Ordnung ſind,
die beſten Dienſte leiſten werde. Blos die Perſon des
Schuldners und deſſen bewegliches Vermoͤgen liegt hier
nicht in der Gerichtsbanco, und wird folglich auch durch
kein ſolio, was ein Glaͤubiger in dem Bancobuche hat,
behaf-
[268]Von dem Concursproceſſe ꝛc.
behaftet *). Hieruͤber bleibt allemal ein Concurs offen.
Bey dem allen aber haben der alte Rentekauf, oder die
in England uͤblichen Annuitaͤten, welche aus unabloͤsli-
chen aber nicht unwiederkaͤuflichen Zinſen beſtehen, den
großen Vorzug, daß klein Glaͤubiger, der mehrere For-
derung zuſammenkaͤuft einen ſchwachen Schuldner uͤber
den Haufen werfen kann.
LVII.
Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
Es iſt nicht blos dem alten, ſondern auch dem neuen
Adel, und ſelbſt denen, welche zu dieſer Ehre ge-
langen wollen, daran gelegen, daß der alte deutſche Adel,
es ſey nun der hohe oder der niedrige, diejenige Wuͤrde
und Wehrung behalte, welche er von den fruͤheſten Zei-
ten her gehabt hat. Denn ſo bald er ſolche verliert; ſo
bald nur der alte und neue Adel vermiſcht wird, und alle
Menſchen im Staate durch einen kurzen oder geſchwinden
Weg zu einerley Hoͤhe gelangen koͤnnen: ſo verliert ſich
auch eine der wichtigſten Quellen zur Belohnung großer
und edler Thaten; der Staat muß dasjenige mit ſchwe-
rem Gelde bezahlen, was er ſonſt mit der Ehre beſtrei-
ten kann; und die gluͤckliche Abſtufung der Monarchie,
die auf der einen Seite ſo vieles zur Groͤße des Monar-
chen beytraͤgt, und auf der andern den von dem Throne
entfernten Unterthanen ſo weſentliche Vortheile verſchaft,
ver-
[269]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
verſchwindet endlich ganz. Es geht dann mit dem Adel,
wie mit andern perſoͤnlichen Wuͤrden, die in einem gluͤck-
lichen Augenblicke erſchlichen, erkauft, und verdienet
werden koͤnnen, aber auch eben durch dieſe Zufaͤlligkeit
ſo ſehr ihren Werth verlohren haben, daß kein Landgraf
von Heſſen den Doctorhut, und kein Dallberg den Rit-
terſporn, noch wie ehedem verlangt. So wenig der Kay-
ſer jetzo hiemit jemanden eine große Gnade erzeigen kann;
eben ſo wenig wird er es alsdann auch mit einem Adels-
briefe thun koͤnnen. Blos der Umſtand, daß der Adel
einige Jahrhunderte gebraucht, um zu ſeiner Vollkom-
menheit zu reifen, und daß der junge Edelmann dieſer
Zukunft fuͤr ſeine Nachkommen mit Verlangen entgegen
ſieht, macht ihm und allen buͤrgerlichen Standesperſo-
nen den Adel wuͤnſchenswerth, und zum Bewegungs-
grunde, ſich denſelben durch Verdienſte um den Staat
zu erwerben. Nur der Monarch, der ſich zum Deſpo-
ten erheben, und alles unter ſich in Sclaven von gleicher
Art verwandeln will, kann wuͤnſchen, daß er mit Titeln
und Adelsbriefen, nach ſeinem Gefallen ſchaffen und ver-
nichtigen koͤnne, und daß alles vor ihm in gleicher Entfer-
nung kriechen und zittern, oder haſſen und fluchen ſolle;
nicht der Unterthan. Dieſer freuet ſich, wenn er ſiehet,
daß der regierende Adel ſich von dem dienenden trennt;
Koͤnige und Fuͤrſten ihre Gemalinnen außer Landes, und
ihre Miniſter unter dem Adel, ſuchen; Edelleute, wenn
ſie Fuͤrſten werden, auf Stand und Namen Verzicht thun,
und ſolchergeſtalt, die regierende, dienende, und ge-
meine Klaſſe der Menſchen, auf eine Art geſchieden wer-
den, daß die eine in der andern keine Vettern und Schwaͤ-
ger hat, und der Nepotism nicht alles verſchlingen kann.
Dem ganz großen Mann, einem Necker zum Beyſpiele ꝛc.,
bleibt dabey uͤberall ſein Recht, ſo wie dem ganz ver-
dienſt-
[270]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
dienſtloſen Edelmanne die verdiente Verachtung; und
alle Klaſſen verehren die Virtù, wo ſie ſolche finden, Fuͤr-
ſten und Edle am erſten.
Alle dieſe großen Vortheile, welche nichts weniger
auf ſich haben, als dem groͤßten und wichtigſten Theile
der Nation die hoͤchſte Gnade und Gerechtigkeit in einem
billigen Verhaͤltniſſe zufließen zu laſſen, fallen aber auf
einmal weg, ſo bald man den politiſchen Stand mit dem
moraliſchen verwechſelt, oder uͤberall und allein auf per-
ſoͤnliche Verdienſte ſieht *).
Das
[271]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
Das erhabene Verdienſt der Herablaſſung und Po-
pularitaͤt, welches aller Satyren ungeachtet, von dem
groͤßten und gluͤcklichſten Einfluſſe iſt, verſchwindet zum
Nachtheil vieler guten Menſchen, deren einzige Beloh-
nung in dem Beyfalle der Großen beſtehet, und die oft
einzig und allein dadurch bewogen werden, ſich dem ge-
meinen Weſen aufzuopfern.
Wenn man dieſe einem jeden auffallende Wahrhei-
ten in reifliche Erwegung zieht: ſo muͤſſen nothwendig alte
und junge von Adel, ſo wie diejenigen, welche den Adel
als eine Belohnung ihrer Verdienſte erwarten, einmuͤ-
thig darin uͤbereinſtimmen, daß man nicht eifrig genug
ſeyn koͤnne, die verſchiedenen Stufen deſſelben in ihrem
gehoͤrigen Abſtande zu erhalten, und allen Unternehmun-
gen vorzubeugen, welche auf derſelben Vermiſchung
abzielen.
Jnsbeſondere aber iſt zu wuͤnſchen, daß das hoͤchſte
Reichsoberhaupt, als die jetzige Grundquelle des Adels,
dieſe Ehrenkrone, welche zu deſſen und des Reiches An-
ſehen ſo manchen tapfern und bidern Mann erweckt hat,
in dieſer ihrer maͤchtigen Wirkung erhalten, und ſie nicht
allein fuͤr das wahre Verdienſt um das deutſche Vater-
land aufſparen, ſondern auch in dem Glanze, welchen
das Alterthum giebt, beſtehen laſſen moͤge. Denn die
Mittel, deren ſich Griechen und Roͤmer zur Belohnung
tapferer Krieger bedient haben, finden nur da ſtatt, wo
der Held den Lorbeerkranz durch einen allgemeinen Volks-
ſchluß, und nicht durch den Willen eines einzelnen Rich-
ters, erhaͤlt; und die Laͤnge der Zeit, welche der Adel
zum Reifen braucht, erſetzt gleichſam den Mangel der
vielen Stimmen, die jene erkannten.
Damit aber jedoch auch diejenigen, welche den Adel
von ihren Vorfahren wohl erhalten haben, nicht unge-
rechter
[272]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
rechter Weiſe durch unmoͤgliche Beweiſe um ihr Recht ge-
bracht, und Maͤnner, welche endlich die Frucht der ihren
Voreltern von dem hoͤchſten Reichsoberhaupte zuerkann-
ten Belohnung, genießen wollen, nicht ins Unendliche
aufgehalten werden, iſt es noͤthig, genau zu beſtim-
men: — 1. Was denn nun einer, der ſich als ein alter
Edelmann darſtellen will, beweiſen, und — 2. Wie die-
ſer Beweis gefuͤhrt werden ſolle? — Beydes wird ſich
aber nicht mit hinlaͤnglicher Deutlichkeit bewirken laſſen,
ohne vorher etwas von dem Urſprunge des Adels zu ſa-
gen; jedoch wird hier blos das Reſultat der daruͤber bis-
her angeſtellten Unterſuchungen vorgeleget werden duͤr-
fen, weil der Zweck, wozu dieſes beſtimmt iſt, ein meh-
rers nicht erfodert, und eine Anfuͤhrung aller Gruͤnde,
worauf daſſelbe gebauet iſt, viel zu weitlaͤuftig ſeyn wuͤrde.
Man kann uͤberhaupt bey einer landbauenden Na-
tion, dergleichen die Deutſche iſt, 3 Quellen des Adels
annehmen: als
Erſtens diejenige, welche in allen angehenden und
aufbluͤhenden Staaten ſolcher Nationen das aͤchte Eigen-
thum einer in der Nationalverſammlung ſtimmbaren Hufe
oder Landactie giebt. Hier geht dieſer Eigenthuͤmer un-
ter einem erwaͤhlten Heerfuͤhrer zu Felde, verſchaft ſich
ſelbſt Waffen und Unterhalt, und vertheidiget die Rechte
der aus Landeigenthuͤmern errichteten Geſellſchaft. Die-
ſes waren die Ingenui der Deutſchen, und die ſpaͤter ſo
genannten ſchoͤpfenbaren Leute, oder der erſte und aͤlteſte
deutſche Adel; und unter dieſen entſtand noch ein beſon-
derer hoher Adel aus den zuerſt erwaͤhlten Oberſten oder
Hauptleuten, nachdem dieſe Wahlwuͤrden, wie bey Land-
eigenthuͤmern mit der Zeit faſt allemal geſchehen wird,
bey einer Hufe und deren Eigenthuͤmer lange Zeit gelaſ-
ſen, und endlich erblich wurden. Blos die oberſte Heer-
fuͤhrer-
[273]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
fuͤhrerſtelle vererbte ſo leicht nicht, weil ſie mit jedem Kriege
ein Ende nahm; wohingegen Oberſten und Hauptleute,
zu Erhaltung der Rolle, der Uebung, und der Zucht,
auch im Frieden bleiben mußten.
Zweytens diejenige, welche insgemein der Herren-
dienſt giebt, wenn anſtatt des, immer nicht ohne Be-
ſchwerde aufzubietenden, zu verſammlenden, und zu uͤben-
den Landeigenthuͤmers, von dem Vorſteher der Geſell-
ſchaft, oder ihrem Oberhaupte, eine ausgeſonderte be-
ſtaͤndige Militz unterhalten werden muß. Zu der Zeit,
wie dieſes bey den Deutſchen geſchah, gedachte man viel-
leicht noch an kein beſtaͤndiges Fußvolk: entweder weil
man ſolches zur Zeit der Noth aus den Landeigenthuͤ-
mern leicht zuſammen zog, oder bey der damaligen Art
Krieg zu fuͤhren, nicht ſonderlich gebrauchte; und ſo ent-
ſtand zuerſt eine beſtaͤndige Reuterey, unter dem Namen
von Comitibus, Miniſlerialibus, oder Dienſtleuten, die
nicht von ihrem Eigenthume, ſondern fuͤr Loͤhnung (bene-
ficia), diente, und nun, da ſie ſich beſtaͤndig uͤbte, und
unter ſich die Ritterſpiele einfuͤhrte, gar bald zu demje-
nigen Anſehen gelangte, welches die jetzige beſtaͤndige und
regulaͤre Militz erlangt hat. Sie hatte in ihrer Verfaſ-
ſung 3 Stufen, indem naͤmlich einer zuerſt gewiſſe Jahre
als ſimplex oder Waffenjunge, und wiederum gewiſſe
Jahre als famulus oder Knape, dienen mußte, ehe er
von der ritterlichen Zunft zur Meiſterſchaft gelaſſen, oder
als miles (ſpaͤter Ritter) aufgenommen wurde *).
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. SUnter
[274]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
Unter denſelben entſtand wiederum, nach dem naͤm-
lichen Gange ein hoher und niederer Adel, indem die ho-
hen Dienſtwuͤrden, welche von einem Oberhaupte ab-
hiengen, noch geſchwinder als die Wahlwuͤrden, in ge-
wiſſen Geſchlechtern vererbten. Der hohe beſtand aus
Dienſtherzogen, Dienſtgrafen, und Dienſthauptleuten,
wie in der erſten Zeit aus Wahlherzogen, Wahlgrafen,
und Wahlhaͤuptlingen, oder Dynaſten.
Zuerſt mochte dieſe hohe und niedere Dienſtmann-
ſchaft, aus dem vorhandenen hohen und niedern Adel der
erſten Zeit, genommen werden. Jn der Folge aber nahm
die Dienſtmannſchaft (nach dem gewoͤhnlichen Hange aller
Gilden, die gern alle blos Meiſtersſoͤhne aufnehmen
moͤchten) nur Dienſtmannskinder zu Waffenjungen an:
und ſo konnte ſo leicht keiner aus den uͤbrigen Staͤnden,
hie und da einen außerordentlichen Fall ausgenommen,
zur Ehre eines Knapen oder Ritters gelangen. Es fuͤgte
ſich aber bald, daß die beſtaͤndigen Heere verſtaͤrket wer-
den mußten, und der Kayſer ſo viel Ritter machte, als
er gebrauchte, ohne ſich an die Ordnung und Stufen der
eigentlichen Ritterſchaft zu binden.
Nun zeigten ſich Ritter edlen Buͤrger- und Bauer-
ſtandes in ſolcher Menge, daß Henrich Geßler, der im
Jahr 1493 Syndicus des großen Raths zu Straßburg war,
dieſe drey Arten ſo gar in ſeinem Titularbuche unterſchei-
det, und den erſten: Edelſtrenge! den andern: Strenge
feſte! und den letzten Strenge! zu ſchreiben lehret. Je-
doch trift dieſes keinen Ritter einer geſchloſſenen Geſell-
ſchaft oder andern adlichen Jnnung, die ſich, wie jede
fuͤrſtliche Dienſtmannſchaft, durch Verbindungen und
Vereine dagegen deckte, oder auf andere Art verbuͤndete,
und jene Ritter à la ſuite du St. Empire von ihren Ver-
ſamm-
[275]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
ſammlungen ausſchloß. Dem Beyſpiele dieſer geſchloſſe-
nen Geſellſchaften folgten die hoͤhern Capitel und Stifter,
und achteten von nun an auf keine Ritter- oder Doctor-
wuͤrden; ſondern auf ritterliche Geſchlechter in dem Ver-
ſtande der vorhergegangenen Periode, worin die Dienſt-
mannſchaft nur Dienſtmannskinder zu Waffenjungen an-
genommen hatte, und ſo nach die ritterliche Wuͤrde nicht
durch die kayſerl. Gnade, ſondern nach zuruͤckgelegter
Knapſchaft, wie jede andere Meiſterſchaft, von der rit-
terlichen Jnnung erlangt wurde, und der Geburtsbrief
vorgelegt werden mußte.
Drittens die Briefe, wodurch der Kayſer und dieje-
nigen, welche ſonſt deſſen Vollmacht dazu haben, einem
verdienten Manne den deutſchen Adel ertheilet haben.
Dieſes iſt der ſo genannte Briefadel, welcher, da die
nunmehr geſchloſſenen Geſellſchaften keine neue Geſchlech-
ter annehmen wollten, ſich im 15ten Jahrhundert zuerſt
von ſelbſt empfohl, und nothwendig machte, wofern nicht
der Staat das große Mittel, edle Thaten durch den Adel
zu belohnen, ganz verlieren ſollte. Die Zeiten, worin
jeder Herzog, Biſchof, oder Graf, ſeine Dienſtleute aus
den tapferſten erwaͤhlt, und ſolchergeſtalt manchen neu
geadelt hatte *), waren voruͤber; keiner wagte es mehr,
S 2andre
[276]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
andre als Dienſtmannskinder an ſeinen Hof und in ſeine
Dienſte zu nehmen, weil, wie leicht zu erachten, die nun
einmal vorhandene mit ſchlechten nicht dienen wollten.
Die erſte Quelle des Adels, ſo aus dem Eigenthum einer
Landactie beſtand, war guten Theils verſiegen; beſonders
nachdem die ritterliche Militz den Heerbann der Landei-
genthuͤmer ſo ziemlich verdunkelt hatte, und bey dem ver-
mehrten Gelde, die Landactie ein Gegenſtand des Han-
dels geworden war, ſo daß ſie auch ein Freygelaſſener,
wenn er Geld hatte, erſtehen konnte. Und ſo war es
billig, eine dritte Quelle zu eroͤffnen, die nun freylich im
Anfange nicht ſehr beſuchet wurde, jedoch bald, als neben
der Dienſtmannſchaft eine neue Art von beſtaͤndiger Mi-
litz errichtet wurde, und die Fuͤrſten gelehrte Raͤthe an-
nahmen, welche in Behandlung gewiſſer Sachen mehrere
Geſchicklichkeit als die gebohrnen Dienſtleute hatten, von
dem Glanze der neuen Civil- und Militairwuͤrden erho-
ben
*)
[277]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
ben, ſich dergeſtalt empfahl, daß nun ein jeder daraus
ſchoͤpfen wollte.
Dieſes zu mehrerer Deutlichkeit, und zu beſſerer
Entwickelung der Begriffe, vorausgeſetzt, wird es leicht
zu beſtimmen ſeyn.
I.Was derjenige, welcher ſich als ein alter Edelmann
darſtellen will, zu erweiſen habe?
Derjenige welcher ſeinen Adel aus der erſten Quelle
herzuleiten gedenket, muß darthun, daß die Ahnen, wo-
von er abſtammet, echte Eigenthuͤmer ſtimmbarer Land-
Actien, oder wie man jetzt ſpricht, Reichs- oder Landta-
gesfaͤhiger Guͤter, geweſen, und in ſolcher Eigenſchaft
zu den oͤffentlichen Reichs- oder Landesverſammlungen
berufen worden. Er muß beydes zuſammen, oder doch
wenigſtens, wenn er mit dem Beweiſe des erſten allein
auslangen will, dieſes erweiſen, daß in dem Lande, worin
ſeine Ahnen geſeſſen geweſen, kein Unadelicher zum Ei-
genthume eines Reichs- oder Landtagsfaͤhigen Gutes
habe gelangen koͤnnen. Ein anderer Beweis iſt die Schoͤ-
pfenbarkeit, wenn einer naͤmlich zeigen kann, daß ſeine
Ahnen in kayſerl. und Reichs-Landgerichten, welche un-
ter dem perſoͤnlichen Vorſitze eines Biſchofes, Herzoges,
oder Grafen, gehalten worden, die Stelle eines Schoͤ-
pfen bekleidet haben. — Die vom Adel aus der zwoten
Quelle haben zu erweiſen, daß ihre Ahnen wahre kayſer-
liche, fuͤrſtliche, oder graͤfliche Dienſtleute geweſen. Auch
haben einige edle Herren und Aebte, als die zu Wildes-
hauſen, von welchen der Kayſer Lothar ſagte: ‘ejus mini-
ſteriales cum ſiliis et poſteris ſuis parem conditionem et
legem cum ſuis et ducis Henrici miniſterialibus habere,
Origg. Guelf. T. II. p. 52,’ () gute Dienſtleute gehabt: und
wo dieſes außer Zweifel iſt, mag auch der Dienſtmann
eines ſolchen Abten, Probſten, oder edeln Herrn, wel-
S 3cher
[278]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
cher einen Lehnshof hat, ſich wohl auf ſeine Dienſtmann-
ſchaft beziehen, und durch den Beweis, daß ſeine Ahnen
in dergleichen Dienſtmannſchaft geſtanden haben, ſeinen
alten Adel erweiſen. Jndem es aber auch mittelbare oder
Unterdienſtmannſchaften, worunter die ſogenannten Ho-
fes oder Hausgenoſſenſchaften, und andere gemeine
Ganerbſchaften gehoͤren, gegeben hat: ſo mag der Be-
weis, daß jemand unter ſeinen Vorfahren miniſteriales
gehabt habe, nicht hinreichen, ſondern es muß erwieſen
werden, daß ſie miniſteriales curiae ſuperioris geweſen;
mithin entweder bey oͤffentlichen Belehnungen, unter dem
perſoͤnlichen Vorſitze ihres Herrn (den perſonalis praeſen-
tiae locum tenentem nicht ausgeſchloſſen), Lehnsrichter,
Lehnsſchoͤpfen, oder Pares curiae abgegeben, oder doch
ſolche Dienſtſtellen bekleidet haben, welche nicht anders
als mit Reichs- oder Landes unmittelbaren Dienſtleuten
beſetzt waren. Jn den Landen, worin der Adel allein
Lehnsfaͤhig iſt, wird dieſer Beweis leicht zu fuͤhren ſeyn.
Doch mag hierauf nur da mit Grunde gebauet werden,
wo die Lehne mit Herrlichkeiten oder doch mit Gerichts-
barkeiten verknuͤpft ſind, als welche letztere nur guten
Dienſtleuten verliehen zu werden pflegten.
Was die vom Adel aus der dritten Quelle zu erwei-
ſen haben ſollen, wenn ſie als alte Edelleute in geſchloſ-
ſene adeliche Geſellſchaften aufgenommen werden wollen,
iſt uͤberall nicht gleich beſtimmt. Jm Grunde aber haͤngt
die Beſtimmung in dieſem Falle uͤberall, wo noch kein zu
Rechte beſtaͤndiges Herkommen auf andre Schluͤſſe fuͤh-
ret, von einer politiſchen Betrachtung ab. Vorher iſt
feſtgeſetzet worden, daß der Adel fuͤr alle und jede um ſo
viel angenehmer ſey, je groͤßer der Zeitraum iſt, worin
er zu ſeiner Vollkommenheit reifet. Nach dieſem Grund-
ſatze ſollte der Reugeadelte unter den Ahnen, deren Adel
nach
[279]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
nach jedes Orts Gewohnheit zu erweiſen iſt, gar nicht
erſcheinen duͤrfen. Es ſcheinet auch dieſes der Analogie,
nach welcher die unadeliche Frau eines Edelmanns, ohn-
erachtet ſie durch die Ehe zur Edelfrau erhoben iſt, nicht
mit unter die Ahnen gezaͤhlt werden darf, obgleich ihre
Tochter unter dem vaͤterlichen Wapen zugelaſſen wird,
am gemaͤſſeſten zu ſeyn. Jndeſſen koͤmmt doch alles zu-
letzt darauf an, was ſaͤmmtliche geſchloſſene adliche Ge-
ſellſchaften, denn einzelne koͤnnen hierunter nicht gut et-
was beſtimmen, dem hoͤchſten Reichsoberhaupte zu Eh-
ren, oder der deutſchen Nation zum Beſten, thun wol-
len oder ſollen.
Denn nachdem ſie einmal den Briefadel uͤberhaupt
unter gewiſſen Bedingungen in ihren geſchloſſenen Geſell-
ſchaften zugelaſſen haben, um nicht dem Reiche zum Nach-
theil dieſe große Quelle zu Belohnungen ganz aufhoͤren,
und ſich eines nicht zu billigenden Eigennutzes beſchuldi-
gen zu laſſen: ſo will endlich der Umſtand, ob der Reu-
geadelte in der oberſten Reihe zugelaſſen werde oder nicht,
ſo gar vieles nicht erheben, ſo bald er nur von allen ge-
ſchloſſenen adlichen Geſellſchaften allgemein angenommen
und von der einen nicht gegen die andere zum Vorwurf
gebrauchet wird. Unter einem neuen, und einem erneuer-
ten Adel, mag aber kein großer Unterſchied ſeyn, weil
die Erneuerung vorausſetzt, daß der vormalige Adel durch
Buͤrgerſchaft, Leibeigenthum, Herren- oder Heiligen-
ſchutz (Hyen, Hoden, Pflegen, Echten), erloſchen ſey:
es waͤre denn, daß das Gegentheil vollkommen erwie-
ſen wuͤrde.
Dieſes waͤre alſo ein Gegenſtand, woruͤber ſaͤmmt-
liche geſchloſſene Capitel, Orden, und Ritterſchaften, ſich
zu vereinigen, und dieſe Vereinigung dem hoͤchſten Reichs-
oberhaupte zur gnaͤdigſten Pruͤfung und Beſtaͤtigung vor-
S 4zule-
[280]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
zulegen haͤtten, damit die Reichsgerichte darauf zu ſpre-
chen einmal fuͤr alle angewieſen wuͤrden.
Ein Gegenſtand gleicher Art iſt die Anzahl der Ahnen,
welche einer, der ſeinen alten Adel darzulegen hat, auf-
zuſtellen und zu beweiſen haben ſoll. Zuerſt hat man
ohne Zweifel weiter nichts erfodert, als daß derjenige,
welcher irgendwo als altadlich aufgenommen werden woll-
te, zeigen ſollte, wie er von Eltern abſtammte, die an-
dern altadelichen ebengenos oder ebenbuͤrtig geweſen waͤ-
ren: wie denn dieſes noch jetzt im Grunde den eigentli-
chen Gegenſtand des Beweiſes ausmacht, und in den
paͤpſtlichen Beſtaͤtigungen, welche verſchiedene Domcapi-
tel daruͤber erhalten haben, mit den Worten, ex utroque
parente de Principum, Comitum, Baronum, et Militarium
genere natus, ausgedruͤcket iſt. Als aber ein ſolcher Be-
weis beſonders von Fremden, die in dem Lande, wo ſie
aufgenommen werden wollten, unbekannt waren, nicht
gefuͤhret werden konnte, ohne nun auch den alten Adel
der Eltern zu erweiſen: ſo fuͤhrte dieſes nothwendig wei-
ter, und nach einer ganz richtigen Folge ins Unendliche;
bis man endlich eine gewiſſe Anzahl von Ahnen feſtſetzte,
woruͤber nicht hinaus gegangen werden ſollte. Dieſe An-
zahl iſt in den mehrſten Orden, Capiteln, und Ritter-
ſchaften, theils durch ein beſtaͤndiges Herkommen, theils
auch durch ausdruͤckliche Statute, bald mit, bald ohne
hoͤhere Beſtaͤtigung, auf 16 eingeſchraͤnkt; und diejeni-
gen, welche mehr oder weniger erfodern, ſind im Grunde
ſo ſehr nicht von jenen unterſchieden, als es anfangs
ſcheinen will. Denn einige, die ſich mit 4 Ahnen begnuͤ-
gen, erfodern zugleich dabey, daß jeder dieſer viere, wie-
derum 4 Ahnen nachweiſen ſolle, mithin in der That 16.
Andere hingegen, welche 32 oder mehrere verlangen, thun
dieſes nur in der Abſicht, um die Neugeadelten um ſo
viel
[281]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
viel ſpaͤter zuzulaſſen. Alle aber kommen im Grunde darin
uͤberein, daß die 16 Ahnen von Ritters Art ſeyn ſollen.
Die Abſicht dieſer Beſtimmung war blos eine Erleichte-
rung des ehemaligen Beweiſes, und ein gluͤcklicher Mit-
telweg, beſonders fuͤr Fremde, keinesweges aber eine be-
ſchwerliche Neuerung fuͤr andere Staͤnde. Denn wenn
man dieſe Beſtimmung ganz unterlaſſen, und ſich damit
begnuͤgt haͤtte, keinen in ſeine geſchloſſene Geſellſchaft
aufzunehmen, der nicht von gutem alten Adel waͤre: ſo
wuͤrden die Nachkommen eines neugeadelten in dem Laufe
unendlicher Jahre niemals haben aufgenommen werden
koͤnnen. Wahrſcheinlich iſt man auf die Zahl Sechszehn
durch einen uralten Gebrauch, wo nicht durch das goͤtt-
liche Gebot, daß die Suͤnden der Vaͤter bis ins 4te Glied
beſtrafet werden ſollen, gefuͤhret worden. Denn in der
Boͤhmiſchen Landesordnung vom Jahr 1480, heißt es
ſchon, man ſolle den Kindern der neugeſchoͤpften Ritter,
bis in das dritte Glied, nicht Edel- und Ehrenveſt, ſon-
dern blos Ehrbarveſt geben, weil ſie den alten Geſchlech-
tern aus der Ritterſchaft nicht gleich waͤren. Hier wer-
den alſo ſchon 16 Ahnen erfodert, indem die Abſtammung
eines neuen Ritters erſt im 4ten oder 5ten Gliede, das
Ehrenwort Edelfeſt erhalten ſoll.
Dieſe naͤhere Beſtimmung war uͤberfluͤßig, ſo lange
die Ritterwuͤrde nicht vom Kayſer, ſondern von der Rit-
terlichen Jnnung als ein Meiſterrecht ertheilt, und keiner
von dieſen zum Waffenjungen und Knapen angenommen
wurde, der nicht von guter ritterlicher Art war. Wenn
man alſo hoͤher hinauf nicht ſo viel von der Zahl der Ah-
nen findet: ſo iſt dieſes keinesweges ein Veweis, daß ſol-
che vorher nicht erfodert wurde. Die Turnierordnungen,
ſo weit man ſolche als richtig annehmen kann, werden
S 5unge-
[282]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
ungefaͤhr mit jener Boͤhmiſchen Landesordnung von einem
Alter ſeyn: und wenn darin 4 edle Ahnen erfordert wer-
den; ſo ſind dieſes nach demjenigen, was hier oben be-
reits angefuͤhret iſt, in der That 16, weil dieſe 4 Ahnen
nicht edel ſeyn konnten, ohne ebenfalls ihre 4 Ahnen
zu haben.
Die Zahl 16 iſt alſo die gewoͤhnlichſte geweſen; und
diejenigen Capitel, Orden und Ritterſchaften, welche
ſolche ſpaͤter namentlich erfodert, und daruͤber zu mehre-
rer Vorſicht, in Abſicht auf Fremde beſondere Vereini-
gungen gemacht haben, haben weiter nichts gethan, als
daß ſie eine lange Gewohnheit, oder ein ſtillſchweigendes
von Kayſern, Koͤnigen, Fuͤrſten und Herren, uͤberall ge-
billigtes Geſetz, zu einem ausdruͤcklichen und geſchriebe-
nen erhoben haben. Man wird auch, ohne den Adel gar
zu leicht, und nach einer natuͤrlichen Folge, veraͤchtlich
zu machen, nicht leicht weniger zulaſſen koͤnnen. Jn dem
Zeitraum von 4 Abſtammungen, verjaͤhret und verſchwin-
det das Andenken der perſoͤnlichen Fehler des erſten Er-
werbers; die Nachwelt erhaͤlt den Helden und ſeine Tha-
ten, und vergißt den Menſchen; das mit ihm in der Welt
geweſene Menſchengeſchlecht iſt zugleich mit abgeſtorben;
und es faͤllet ſeinen Nachkommen minder beſchwerlich,
dem Urenkel die voͤllige Ehre zu bezeigen, als dem erſten
Erwerber, der ihnen gleich, wo nicht minder, geweſen
iſt. Man erinnert ſich eines Liberti, eines Libertini, und
eines Libertini Filii, aber nicht leicht eines Libertini Ne-
potis. Der Gang der menſchlichen Denkungsart erfor-
dert mithin dieſe Schonung; und es iſt aus mehr als
einem Grunde zu hoffen, daß das hoͤchſte Reichsober-
haupt ſich fuͤr die Zahl 16 gern erklaͤren werde, wenn
die Capitel, Orden, und Ritterſchaften, welche in den
Beſitz ſind, keine andre als Altadliche in ihre geſchloſſene
Geſell-
[283]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
Geſellſchaften anzunehmen, dieſes von dem Throne be-
gehren werden.
Die groͤßte Bedenklichkeit, welche dagegen eintreten
koͤnnte, beſteht darin, daß nicht alle Ritterſchaften das
Repraͤſentationsrecht auf Landtagen allein, und in Ca-
piteln die Altadelichen nicht uͤberall das ausſchließliche
Recht zu den Pfruͤnden, haben: daher das Reichsober-
haupt ſeinen gemeinen Reichsunterthanen, denen es nicht
minder ſeinen maͤchtigen Schutz angedeihen laſſen muß,
gar ſehr zu nahe treten wuͤrde, wenn daſſelbe dieſen auf
einmal den Zugang zu allen hohen Pfruͤnden verſperren,
und den unadlichen Eigenthuͤmern ſtimmbarer Guͤter ihre
Befugniß entziehen wollte; eine Bedenklichkeit, die um
ſo viel wichtiger iſt, da man es als einen Zufall betrach-
ten muß, daß in einigen Stiftern der hohe Adel den nie-
drigen, in andern der Reichsunmittelbare den Landſaͤſ-
ſigen, und wiederum in andern der Landſaͤßige, andre von
ihren Guͤtern qualificirte, und zum Theil von den Ingenuis
der erſten Klaſſe abſtammende Eigenthuͤmer, von dem
Repraͤſentationsrecht auf Landtagenausgeſchloſſen, und
die adlichen Capitularen ſich aller, kenntlich nicht fuͤr ſie
allein geſtifteten Pfruͤnden, bemaͤchtiget haben.
Allein dieſe Bedenklichkeit liegt außerhalb der jetzi-
gen Sphaͤre, als worin es lediglich auf die Beſtimmung,
was einer, der in ein geſchloſſenes adliches Stift, Capi-
tel, oder Ritterbuͤndnis aufgenommen werden will, zu
erweiſen haben ſoll, nicht aber darauf ankoͤmmt, ob die-
ſes oder jenes Capitel, oder dieſe und jene Ritterſchaft,
ein Recht habe, die unadelichen Beſitzer ſtimmbarer Guͤ-
ter von der Landesrepraͤſentation auszuſchließen, als wel-
ches zu einer beſondern Entſcheidung zwiſchen auftreten-
den Parteyen gehoͤret. Und uͤberhaupt iſt zu wuͤnſchen,
daß eine Sache wie dieſe, deren Wirkung und Wehrung
durch
[284]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
durch das ganze Reich gehen, und welche dieſes gegen be-
nachbarte Reiche ſo wohl, als gegen Rom, aufrecht er-
halten ſoll, vorhero zu einem Reichsgutachten eingeleitet,
und ſo wie mit den Zuͤnften und Handwerkern geſchehen
iſt, durch allgemeine Entſchließungen berichtiget werden
moͤge. Da denn auch jene Bedenklichkeit erwogen, und
allenfalls eine ſichere Anzahl Pfruͤnden fuͤr den auf den
Adel folgenden, und billig auch feſtzuſetzenden Stand aus-
geſetzt, ſo wie die Dienſtmannſchaft von der Landesre-
praͤſentation getrennet, jene in eine geſchloſſene Ritterſchaft,
und dieſe in eine, jedem aͤchten Eigenthuͤmer einer Land-
actie offne Verſammlung, verwandelt werden koͤnnte.
Denn was letztere betrift: ſo iſt es allemal die Wirkung
einer deſpotiſchen Politik, daß man den Adel aus der er-
ſten Quelle nicht noch jetzt, wie vordem, entſtehen, und
den echten Eigenthuͤmer einer Landactie, ſo bald er zei-
gen kann, daß er ſo wenig von vaͤterlicher als muͤtterli-
cher Seite, Libertus, Libertinus, und Libertini ſilius ſey,
mithin 16 frey gebohrne Ahnen habe, nicht als einen Ehren-
faͤhigen Mann zulaͤßt; ſondern blos den Adel aus der zwo-
ten und dritten Klaſſe, worin er auf Dienſt- und Gna-
denbriefen beſteht, erkennen will: welches vielleicht ein-
zig und allein einem Mangel der Sprache zuzuſchreiben
iſt, wodurch die Freyen unter Herrn- oder Buͤrgerſchutz,
mit dem ſelbſtſtaͤndigen Freyen, dem Piaſten, oder eigent-
lichen Hidalgo, welchen ich zum Unterſchiede von ſchlech-
ten Freyen, gern den Wehren (Quiritem) nennen moͤchte
vermiſchet und beyde verwechſelt ſind.
Unter Buͤrgerſchaft und Herrenſchutz (Advocatia
inferior) iſt keine ſelbſtaͤndige Freyheit, und noch weni-
ger Adel, wenn gleich die darunter ſtehenden Menſchen
in einer gewiſſen Beziehung frey genannt werden. Denn
Schutzgenoſſen und Buͤrger ſind zuerſt durch ihren Schutz-
herrn
[285]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
herrn in der Nationalverſammlung vertreten worden;
und haben darin eben ſo wenig fuͤr eine eigne Landactie
ſtimmen koͤnnen, als mittelbare Edelleute auf dem Reichs-
tage, fuͤr eine ehemalige jetzt aber unter der Landesho-
heit beſchloſſene Reichsactie, wenn ſie auch gleich Reichs-
Freyherren heißen.
Daß aber endlich, in einigen Capiteln und Ritter-
ſchaften, auch dieſes erfodert werden will, daß einer aus
der Reichsritterſchaft ſeyn ſolle, der darin aufgenommen
werden wolle: iſt nicht allein an ſich ungegruͤndet, ſon-
dern auch allen Reichsfuͤrſten ſchimpflich. Man erinnert
ſich noch, was es fuͤr Bewegungen ſetzte, als im Jahr
1737, die Kayſerlichen Officiere den Reichsfuͤrſtlichen von
gleichem Range, ohne Unterſchied des Dienſtalters, vor-
gehen wollten; und wie geſchwind der Prinz Eugen von
dieſer Foderung abſtand, als ein gewiſſer großer Reichs-
fuͤrſt ſeine Truppen daruͤber von der Reichsarmee am
Rheine zuruͤckziehen wollte.
Jene Foderung der Reichsdienſtleute iſt nun gerade
eben dieſelbe, welche die kayſerlichen Officiere machten;
und erhielt auch ihre baldige Erledigung aus dem hier-
oben ſchon angefuͤhrten Grunde, wo der Kayſ. Lothar
erklaͤrt, daß die Dienſtleute des Abts zu Wildeshauſen
einerley Rang mit den ſeinigen und des Herzogs Ma-
gnus Dienſtleuten haͤtten. Zwiſchen kayſerl. und fuͤrſtl.
Dienſtleuten, oder welches einerley iſt, zwiſchen der mit-
telbaren und unmittelbaren Reichsritterſchaft, iſt alſo
von den aͤlteſten Zeiten her kein Unterſchied geweſen;
und er laͤßt ſich auch nicht denken, ohne den fuͤrſtlichen
Heerſchild um einen Grad zu erniedrigen.
Uebrigens verſteht es ſich von ſelbſt, daß einer, der
ſich als ein deutſcher Edelmann darſtellen, und zu den
damit
[286]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
damit insgemein verknuͤpften Vortheilen gelangen will,
auch dieſes beweiſen muͤſſe, daß ſeine Ahnen entweder
als Jngenui in des Roͤm. Reichs Heerbann, oder als
Dienſtmaͤnner in der Folge des h. Roͤm. Reichs, geſtan-
den, oder ihren Briefadel von dem hoͤchſten Reichsober-
haupte, oder denjenigen, welche deſſen Vollmacht haben,
erlanget habe. Das heilige Roͤm. Reich beſteht aber nicht
blos aus Deutſchland; ſondern aus allen den Reichen zu-
ſammen, welche jemals mit ihm, zur Vertheidigung der
Kirche, und eines gemeinſchaftlichen Reichs, geſtanden
haben: wie denn ſelbſt Karl der Große, in der Thei-
lung unter ſeine 3 Soͤhnen, dieſes ausdruͤcklich verord-
net, daß ſeiner Theilung ungeachtet, alle von ihm beſeſ-
ſene Laͤnder, zur Vertheidigung einer allgemeinen Kirche,
und eines allgemeinen Reichs, in einem gemeinſchaftli-
chen Heerbann bleiben ſollten *). Daher auch, ſo lange
es nicht aus hoͤhern Gruͤnden verboten wird, viele fran-
zoͤſiſche, ſpaniſche, niederlaͤndiſche, und italieniſche, aber
keine engliſche, daͤniſche, ſchwediſche, polniſche, ruſſiſche,
und andre Familien, als Eingebohrne jenes zu unſern
Zeiten verdunkelten heiligen Reichs angeſehen, und zu
deutſchen Stiften und Reichswuͤrden zugelaſſen werden.
So wie nun hieraus im allgemeinen hervorgehen
wird, was einer zu erweiſen habe, welcher ſich als ein
Stifts- und Turnierfaͤhiger Edelmann darſtellen will; alſo
wird es nun noch darauf ankommen: II.Wie dieſer Be-
weis zu fuͤhren ſey: Die Rede iſt nicht hier von dem er-
foderlichen Beweiſe der Abſtammung; denn dieſer iſt ein
gemeiner Beweis, der wie alle andere, wodurch Recht
und
[287]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
und Wahrheit gerichtlich und außergerichtlich geſucht
werden, gefuͤhret werden muß: ſondern von dem Bewei-
ſe des Adelſtandes, der entweder eine kenntliche Thatſa-
che zum Grunde hat, wovon unmittelbar auf den Adel
geſchloſſen werden kann, oder aber auf giltige Zeugniſſe
und Zeugenauſſagen angenommen werden ſoll. — Hier
kann die Thatſache, als z. B. daß die 16 Vorfahren, wor-
auf einer ſeinen alten Adel gruͤndet, Schoͤpfen in hohen
Land- und Lehngerichten geweſen, als Marſchaͤlle, Truch-
ſeſſe, Caͤmmerer, oder Jaͤgermeiſter, bey einem Reichs-
hauptherrn, welcher keine andere als gute Dienſtleute
gehalten, gedienet, oder auch ſchon die ritterliche Wuͤrde
bekleidet, in der echten Knapſchaft geſtanden, Turniere
beſucht, oder Lehne und Aemter beſeſſen haben, welche
keinem andern als Adlichen verliehen werden, ebenfalls
durch ſolche Urkunden und Zeugniſſe, die in allen Gerich-
ten angenommen und fuͤr hinlaͤnglich angeſchen werden
muͤſſen, gefuͤhret werden; und iſt es daher unnoͤthig, ſich
dabey aufzuhalten. Wo ſich hingegen jemand darauf
gruͤnden will, daß er von undenklichen Jahren fuͤr einen
alten Edelmann erkannt, zugelaſſen, und geehret wor-
den: da wird etwas mehrers, als ſolche Urkunden, worin
dieſes beilaͤufig geſchrieben worden, erfordert; indem
Richter und Notarien, welche dergleichen Urkunden fer-
tigen, uͤber dergleichen Dinge nicht mit hinlaͤnglicher
Kenntniß urtheilen koͤnnen, und jedem eher zu viel als
zu wenig geben. Es wird auch dieſer Beweis nicht aus
zweyer oder dreyer gemeiner Zeugen Munde genommen
werden koͤnnen: in ſo fern dieſe nicht eine redende That-
ſache zum Grunde ihrer Wiſſenſchaft angeben koͤnnen, oder
aber die Zeugen ſelbſt adlich ſind, mithin den Begriff
von der Sache haben, welchen ſie durch ihr Urtheil oder
Zeugnis bekraͤftigen ſollen. Und denn wird es noch eine
beſon-
[288]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
beſondere Erwegung verdienen, wie dieſe Zeugniſſe ein-
und aufgenommen ſeyn muͤſſen, und wie viel Zeugen er-
fordert werden, um eine oͤffentliche Meinung, welche
der Notorietaͤt gleicht, zu begruͤnden. Denn wer ſeinen
Adelſtand durch Zeugen erweiſen will, ohne daß dieſe
wahre Thatſachen zum Grunde ihrer Wiſſenſchaft ange-
ben koͤnnen: der gruͤndet ſich in exiſtimatione publica,
und 2 oder 3 Zeugen machen mit ihrer Meinung kein
Publicum aus.
Ehe man aber hierunter etwas gewiſſes beſtimmen
kann, wird es noͤthig ſeyn, wiederum einiges aus der
Geſchichte voranzuſchicken.
Bey den Turnieren erſchien der Adel aus den 4 Laͤn-
dern, und keiner wurde in die Schranken gelaſſen, oder
er mußte ſich zu einem der 4 Laͤnder geſellen. Wenn ſich
hiernaͤchſt bey der Helmſchau, welche vor jedem Tur-
niere hergieng, ein Wappen fand, was vorhin noch nicht
zugelaſſen geweſen war: ſo traten aus der Landmann-
ſchaft, welche ihn fuͤr ihren Ebengenoſſen erkannt hatten,
2 oder 4 Maͤnner auf, und behaupteten mittelſt ihres
Eydes, in Gegenwart aller Turniersgenoſſen, deſſen
rechtmaͤßige Abſtammung von 4 edlen Vorfahren. Hier
wurde alſo der Beweis des Adels, 1. durch Zeugen, 2.
die Turniersgenoſſen, 3. und mit dem Neuangekomme-
nen aus einem Lande waren, gefuͤhrt; und dieſe mußten
4. in Gegenwart ihrer eigenen Landmannſchaft, und 5.
der uͤbrigen Landmannſchaften, einen koͤrperlichen Eyd
uͤber die Sache ablegen. Lange bediente man ſich dieſer
Beweisart bey den einheimiſchen Ritterſchaften nicht, wo
die Familien einander kannten, und Fremde nur ſelten
aufgenommen wurden. Deſto fruͤher aber wurde er bey
Orden und Capiteln eingefuͤhret, worin ebenfalls, wie
bey
[289]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
bey Turnieren, der Adel aus allen deutſchen Laͤndern auf-
genommen wird, und ſonach der Fall, daß ein Fremder
den Beweis antreten muß, faſt beſtaͤndig vorkoͤmmt. Der
Neuankommende mußte, ſo wie es bey einigen Domca-
piteln noch uͤblich iſt, ſeine ebenbuͤrtigen Zeugen aus ſei-
ner Heymat mitbringen, und dieſe mußten ihren Eyd in
Gegenwart des Capitels ablegen. So vernuͤnftig dieſe
Art des Beweiſes iſt, indem von gegenwaͤrtigen Zeugen
Erlaͤuterungen und Antworten auf Zweifel und Beweiſe
ertheilet werden koͤnnen: ſo beſchwerlich war ſie aber auch,
und ſo wurde der Beweis durch Proben, worauf auch
andre ebengenoſſe Zeugen ſchwoͤren konnten, der ge-
woͤhnlichſte.
Hier aber machten eigentlich die Proben den Beweis
aus; und die ſo genannten Aufſchwoͤrer ſagten nur un-
ter ihrem Eyde aus, daß ſie nicht anders wuͤßten, und
auch glaubhaft nicht anders gehoͤret haͤtten, als daß die
vorgelegten 16 Ahnen Rittermaͤßigen Geſchlechts waͤren.
Dieſe Beweisart nahmen nun endlich auch, nachdem
das Geld, und mit dieſem die Gelegenheiten, zu einer
Landactie in fremden Provinzen zu gelangen, ſich ver-
mehret hatte, die mehrſten Ritterſchaften an, welche um
deswillen, daß ſie ſich derſelben ſpaͤter bedienet haben,
den Capiteln und Orden keinesweges nachzuſetzen ſind. —
Vorher aber hatten dieſelben faſt uͤberall Landesvereini-
gungen errichtet, oder Landtafeln ausgehangen, um ſich
gegen die vorerwaͤhnte neue Art von Rittern, und den
Briefadel, zu ſchließen, und ihre alten bekannten Ge-
ſchlechter von dieſem abzuſondern. Bey dieſen Vereini-
gungen wurde aber, wie bey den Turnieren, zuerſt der
Beſitzſtand angenommen, und derjenige zugelaſſen, wel-
cher entweder als echter Eigenthuͤmer einer Landactie,
oder auch als Dienſtmann, zu Hof- und zu Landverſamm-
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Tlun-
[290]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
lungen zugelaſſen war. Wer alſo ſeine Ahnen damit recht-
fertigen konnte, daß ſie zur Zeit jener Vereinigungen alſo
zugelaſſen waren, oder ſolche mit geſchloſſen und unter-
ſchrieben hatten, brauchte ſich mit einem hoͤher hinauf-
gehenden Beweiſe nicht zu beladen.
Nach dieſer kurzen Geſchichte der Beweisart, wird
man leicht einſehen, wohin man ſich allenfalls zu verei-
nigen habe, wenn, wie es vernuͤnftig, und aus mehrern
Urſachen noͤthig iſt, uͤberall ein gleichfoͤrmiger Beweis des
Adels eingefuͤhret werden ſoll.
Der Beweis durch Zeugniſſe von geſchloſſenen Stifts-
oder Ordenscapiteln und Ritterſchaften, iſt natuͤrlicher
Weiſe der ſicherſte und beſte, wenn ſolche bey gemeiner
Verſammlung erkannt, und hinlaͤnglich glaubhaft aus-
gefertiget ſind. Denn was ein zahlreiches adliches Col-
legium, in einer einheimiſchen, ihrer Wiſſenſchaft nicht
leicht entgehenden Sache, als wahr und offenkundig, oder
als eigne Geſchichte, beglaubiget: dem muß billig ſo lange
Glaube beygelegt werden, bis jemand den von ihm be-
gangenen Jrrthum voͤllig beweiſet.
Ob aber dergleichen Zeugniße blos unter dem Sie-
gel, oder nebſt dieſem unter der Hand des geſchwornen
Syndici und Secretarii allein, ausgefertiget, und nicht
auch von zween Mitgliedern des Collegii mit unterſchrie-
ben, und beſiegelt werden muͤſſen: ſteht billig zur allge-
meinen Beſtimmung. Zur Guͤltigkeit verſchiedener ge-
richtlichen Handlungen wird, außer des Richters oder
des Gerichtſchreibers Unterſchrift, die Mitunterſchrift
zweyer Schoͤpfen erfodert; und es hindert nicht, dieſe
Foͤrmlichkeit auch bey den Zeugniſſen der Capitel und Rit-
terſchaften zu verlangen, da man vorausgeſetzter maßen,
den Beweis ſo wenig zu erleichtern, als zu erſchweren,
noͤthig hat.
Wo
[291]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
Wo aber jemand aus einer Provinz iſt, worin keine
ſolche Capitel und Ritterſchaften vorhanden ſind: da muß
billig und in ſubſidium ein anderer Beweis ſtatt finden.
Jnsgemein hat man in dieſem Falle das an Eydes ſtatt
gegebene Zeugnis von 2, 3, oder 4 bekannten Stifts- oder
Turniersgenoſſen Edelleuten, zugelaſſen. Jedoch ſind
auch Capitel und Ritterſchaften vorhanden, welche ſich
wegern, dergleichen Privatzeugniſſe fuͤr zulaͤnglich zu er-
kennen. Der Grund hievon mag darin liegen, daß Per-
ſonen, welche einzeln und außergerichtlich um ihr Zeug-
niß angeſprochen werden, ſich ungern entſchließen, ſolche
einem ungeſtuͤmen, oder angeſehenen Manne, zu ver-
ſagen; oder ſich doch leicht durch Freundſchaft und andere
Bewegungsgruͤnde verleiten laſſen, ſich mehr nach der
oͤffentlichen Meinung, als nach einer genauen Unterſu-
chung, zu entſchließen. — Ein andrer Grund mag ſeyn,
daß oft jemand ſich in einer von ſeiner Heymat entfernten
Provinz niedergelaſſen, und von Vater auf Sohn den
Ruhm eines alten Edelmanns erhalten hat, der in ſeiner
Heymat nie dafuͤr erkannt iſt.
Beyde Gruͤnde ſind wichtig, und fuͤhren natuͤrlicher
Weiſe dahin, daß man dergleichen Zeugniſſe nicht anders
anzunehmen habe, als wenn ſie vor dem Obergerichte,
und eydlich, abgelegt ſind: nicht ſo wohl, um ihnen meh-
rere Gewißheit, als den Zeugen ſelbſt Gelegenheit zu ge-
ben, ſich, wenn ſie ihrer Sache nicht genugſam ſicher
ſind, mit deſto mehrerem Anſtande entſchuldigen zu koͤn-
nen. Und auch bey einem alſo ertheilten Zeugniſſe, muͤßte
wenigſtens dieſes, daß die Familie in dem Lande, wor-
aus ſie das Zeugnis verlangt, uͤber aller Menſchen Ge-
denken, oder doch uͤber 100 Jahr, einſaͤßig, und als
eine altadliche Familie bekannt geweſen, von den Zeugen
T 2eydlich
[292]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
eydlich erhaͤrtet werden. Dieſe muͤßten auch ſelbſt das
Wappen nicht fuͤhren, woruͤber ihr Zeugnis erfodert wird.
Wie es aber in dem Falle zu halten, da diejenigen
vom Adel, welche das Zeugnis ablegen, an dem Orte,
wo ſolches gebraucht werden ſoll, nicht genugſam bekannt
ſind, und ob in dieſem Falle, das Zeugnis einer Lan-
desregierung uͤber die Ritterbuͤrtigkeit der Zeugen, zu-
gelaſſen werden ſolle: iſt ebenfalls eine wichtige Frage.
Legt die Landesregierung hiebey eine Thatſache, woraus
unmittelbar auf den Adel des Zeugens geſchloſſen werden
kann, zum Grunde: ſo kann ſolches billiger Weiſe nicht
wohl bezweifelt werden. Wo es aber hieran fehlt, muͤßte
der Landesfuͤrſt um ein beſonders adliches Mannsgericht,
worin nicht minder als 4 Beyſitzer waͤren, angegangen,
und von dieſen die Ritterbuͤrtigkeit der Zeugen erkannt
werden; da dann diejenigen, welche der Fuͤrſt als adliche
Maͤnner zu einem ſolchen Manngericht berufen haͤtte,
auch dafuͤr, ohne weitere Probe, anzunehmen ſeyn
wuͤrden.
Ueberhaupt moͤchte es zu Erleichterung des Bewei-
ſes nicht wenig beytragen, wenn in den Laͤndern, worin
es keine geſchloſſene adliche Capitel und Ritterſchaften
giebt, die Landesfuͤrſten einen Tag, an welchem alle und
jede Erbgeſeſſene, welche ihr altadliches Geſchlecht erwei-
ſen wollten, ihre Proben vorzulegen haͤtten, beſtimmten,
ſodann aus den benachbarten Capiteln und Ritterſchaften
etwa 12 untadelhafte Mitglieder zu ſich begehrten, und
vor denſelben die Unterſuchung der eingekommenen Wap-
pen und Beweiſe vornaͤhmen, und von denſelben daruͤber
erkennen ließen; da denn daruͤber eine Ritterrolle ver-
fertiget werden koͤnnte, woraus hiernaͤchſt jedem, der es
verlangte, ein Auszug mitgetheilet werden koͤnnte. Die
auf dieſe Art fuͤr gut erklaͤrten Geſchlechter wuͤrden als-
dann
[293]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
dann gewiß ein mehrers, als bey den Turnieren und an-
dern adlichen Feyerlichkeiten uͤblich geweſen, erwieſen,
mithin nicht zu fuͤrchten haben, daß ein einziges geſchloſ-
ſenes Capitel, beſonders, wenn man ſich allenfalls daruͤ-
ber auch vorher vereiniget haͤtte, dieſen Beweis fuͤr un-
guͤltig erklaͤren wuͤrde; nachdem ſo gar die Rollen einiger
Turniere neuerer Zeiten, oder fuͤrſtlicher Leichenbeglei-
tungen, fuͤr gute Beweiſe angenommen ſind, wobey ge-
wiß die Proben nicht ſo foͤrmlich unterſuchet ſeyn moͤgen,
als in jenem Falle geſchehen kann. Ein beſtaͤndiges He-
roldsamt iſt fuͤr kleine Provinzen zu beſchwerlich, und
wenn es nicht vollſtaͤndig und gehoͤrig beſetzet iſt, unzu-
verlaͤßig: ſonſt wuͤrde dieſes den deutſchen Provinzen,
worin keine geſchloſſene Stifter und Ritterſchaften ſind,
zu empfehlen ſeyn. Jenes Mittel, daß ſie einmal fuͤr
alle, die vorgeſchlagene Unterſuchung vornehmen ſollen,
iſt aber auch um deswillen angenehmer, weil es nur ein-
mal mit Ausſchluß aller Stillſchweigenden gehalten wer-
den ſoll, und ſolchergeſtalt nicht zu einer Quelle von kuͤnf-
tigen Erſchleichungen mißbrauchet werden kann.
Wenn nun einmal die Adelsprobe auf dieſe oder eine
andere Art, worin man, unter der hoͤchſten Genehmi-
gung des Reichsoberhauptes, gemeinſchaftlich uͤberein
gekommen iſt, gleichfoͤrmig gemacht ſeyn wird: ſo wird
auch damit der Vorwurf, welchen von Zeit zu Zeit, eine
geſchloſſene adeliche Ritterſchaft der andern gemacht hat,
und wodurch es dahin gekommen iſt, daß oft die eine das
Zeugnis der andern nicht hat gelten laſſen wollen, von
ſelbſt verſchwinden. Denn wenn alle nach gleichfoͤrmigen,
von dem hoͤchſten Reichsoberhaupte beſtaͤtigten Beweis-
arten verfahren, und daß dieſes geſchehen ſey, kuͤnftig
in ihren Zeugniſſen ausdruͤcken, auch allenfalls noch die-
T 3ſes,
[294]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
ſes, daß ſie eine geſchloſſene adliche Ritterſchaft ſey, wel-
che keine andere als ſolche, die ſich nach obigen Grund-
ſaͤtzen als altadliche Geſchlechter darſtellen koͤnnen, in ihre
Verſammlungen als Mitglieder zulaſſe, gehoͤrig beſchei-
nigen: ſo muͤſſen ihre Zeugniſſe insgemein guͤltig ſeyn, und
die Reichsgerichte darauf erkennen. Es koͤmmt ſodann
nicht darauf an, ob eine oder andere Ritterſchaft vorhin
minder ſtrenge zu Werke gegangen ſey; indem, ſobald
jene Vereinigung zu Stande gekommen iſt, fuͤr die Zu-
kunft nichts weiter zu befuͤrchten iſt, und das Vergan-
gene den Beſitzſtand, welcher ſo wohl bey den erſten Tur-
niergeſetzen, als bey den erſten Ritterſchaftlichen Verei-
nigungen, fuͤr zulaͤnglich gehalten wurde, zum Grunde
hat; einen Grund, den auch alle Capitel haben gelten
laſſen, als ſie ſich zuerſt gegen die kuͤnftigen Zeiten ſchloſ-
ſen, und nicht allein alle diejenigen, welche in dem Be-
ſitze der Pfruͤnden waren, ſondern auch deren ihre Waf-
fengenoſſen, fuͤr Stiftsfaͤhig erkannten.
Ohne Zweifel ſind in Anſehung der Beweisart noch
mehrere Punkte zu berichtigen, ehe man ſich uͤber ihre
voͤllige Gleichfoͤrmigkeit wird vereinigen koͤnnen. Gleich-
wie aber dieſe von jedem Stifte, oder jeder Ritterſchaft,
am beſten werden angegeben, und zu einer gemeinſchaft-
lichen Beſtimmung befoͤrdert werden koͤnnen: alſo wird
es unnoͤthig ſeyn, ſich dermalen darauf umſtaͤndlich ein-
zulaſſen. Die Hauptangelegenheit muß jetzt ſeyn, das
hoͤchſte Reichsoberhaupt zu bewegen, die beyden Punkte,
was einer, der ſich als ein alter Edelmann darſtellen will,
beweiſen, und wie dieſer Beweis gefuͤhret werden ſolle,
einmal fuͤr alle zu beſtimmen, und daruͤber allenfalls das
Gutachten des geſammten Reichs zu erfordern, um den
Adel bey ſeinem alten Glanze zu erhalten, und allen fer-
nern
[295]Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.
nern Erſchleichungen vorzubeugen. Denn geſchiehet die-
ſes nicht: ſo wird ſelbſt der neue Militairſtand, welcher
wohl am meiſten den alten Militairſtand druͤckt, und mit
ihm eben ſo verfaͤhrt, wie dieſer mit dem Adel der erſten
Klaſſe, oder der Militz aus Landeigenthuͤmern, verfah-
ren iſt, kuͤnftig den Adel nicht als eine hinlaͤngliche Be-
lohnung ſeiner Verdienſte anſehen koͤnnen, und ſo nach
in der Folge den Vortheil verlieren, welchen er in dem
erſten Augenblicke erhalten zu koͤnnen vermeinet.
LVIII.
Der Capitularſoldat.
Auszug eines Schreibens.
.... Jn der That die Sache verdient, daß ſie von
der ganzen deutſchen Nation beherziget, und
dem Kayſer zur ſchleunigſten Verbeſſerung empfohlen
werde. Denn nicht allein verliert der Capitular von ſei-
ner Wuͤrde und Wehrung, wenn er ſolchergeſtalt den
Kriegsſtand ganz vermeiden muß; ſondern der ganze
Stand der Weltgeiſtlichen geraͤth immer mehr und mehr
mit dem Jntereſſe des Staats in Colliſion, und wird von
dieſem natuͤrlicher Weiſe immer mehr und mehr verach-
tet und verfolgt, wenn er die bravſten jungen Edelleute
auf die Baͤrenhaut lockt, und dem Fuͤrſten nicht erlaubt,
einen wohlverdienten Officier mit einer Pfruͤnde zu be-
lohnen, ohne ihn zugleich aus ſeinem Dienſte zu verlie-
ren. Es fehlt auch nicht, da der Militairſtand taͤglich
gewinnt, und in der Spannung, worin Europa ſchwitzt
T 4immer,
[296]Der Capitularſoldat.
immer mehr und mehr gewinnen muß; oder die Capitu-
laren, beſonders die Domcapitularen, wenn ſie von allen
Kriegsdienſten ausgeſchloſſen bleiben, werden zuletzt an
den großen weltlichen Hoͤfen zu niedlichen Abbe’s herab-
ſinken, und ihre bisher gehabte Wuͤrde nicht behaupten
koͤnnen. Ob die Kirche hiebey gewinnen, und ob nicht
mit der Zeit ein ſo weſentlicher Fehler in ihrer Verfaſ-
ſung, das ganze Syſtem untergraben, mithin in der
Folge den Weltgeiſtlichen eben den Haß zuziehen werde,
welchen ſich die Moͤnche durch ihre politiſche Unthaͤtig-
keit zugezogen haben: uͤberlaſſe ich andern zu beurthei-
len. Aber offenbar erfodert es das allgemeine Wohl des
Staats, und das eigene Jntereſſe der Kirche, daß hierinn
eine Reformation vorgenommen werde: und ich ſehe nicht
ab, was unſern Kayſer abhalten ſolle, ſolche von dem
Oberhaupte der Kirche zu verlangen, oder was den Papſt
bewegen koͤnnte, dieſe zu verweigern, da die Nothdurft
der Kirche und die Beduͤrfnis der Zeit, ſie gleich laut
fodern. Die Kirche darf nicht nach Blut duͤrſten: das
weiß ich, und das verehre ich als eine weſentliche Chri-
ſtenpflicht. Aber daß ſie nicht Blut vergießen duͤrfe, wenn
eigene Rettung, die Rettung des Staats und der Heerde,
ſolches von ihr erfodert: das iſt die Lehre des Miethlings,
der anſtatt den Wolf zu toͤdten, ihm die Heerde preis
giebt. Daher auch ſchon ClemensV. jeden Geiſtlichen
von aller Jrregularitaͤt frey ſprach, wenn er Blut zu
ſeiner Rettung vergoſſen hatte.
Wenn ich alle die Bruchſtuͤcke, welche in den Conci-
lien und Decretalen daruͤber vorhanden ſind, daß die
Geiſtlichen ſich nicht in Kriegsdienſte einlaſſen ſollen, zu-
ſammen und in Ordnung ſtelle: ſo koͤmmt am Ende nichts
weiter als dieſer Sinn heraus, daß diejenigen, ſo der
Kirche
[297]Der Capitularſoldat.
Kirche am Altar dienen, nicht gezwungen werden ſollen,
fuͤr ſie ins Heer zu ziehen; und daß kein Geiſtlicher ſich
von freyen Stuͤcken in den Krieg begeben ſolle. Das er-
ſte bezieht ſich auf die Zeiten des Heerbanns, worinn
der Krieg eine Reihepflicht war, und nachdem es der
Kayſer verlangte, jeder Manſus ſeinen Mann ſtellen mußte.
Hier war es ganz natuͤrlich, den Manſus der Kirchen, deſ-
ſen Beſitzer davon am Altar diente, nicht mit doppelter
Pflicht zu beſchweren. Das andre hingegen geht auf die
Zeiten, wo man anfieng, außer dem Heerbann, und auſ-
ſer der Lehn- und Dienſtmannſchaft, eine neue Art von
Geworbenen anzunehmen, welche auf Contracte und auf
eine gewiſſe Zeit dienten, und vornehmlich der Beute und
Pluͤnderung wegen dem Kriege nachzogen. Dieſe hießen
Teufelskinder*) und Bluthunde und unter dieſen ſollte
von Rechtswegen kein Geiſtlicher ſich finden laſſen. Da-
her ſagten die zu Arles verſammleten Vaͤter: ut nullus
Clericus ruptuariis vel boleſtariis, aut hujusmodi viris ſan-
guinis, praeponatur. Und ſpaͤtere Verordnungen der Kir-
che eifern nur dawider, daß Geiſtliche ſich nicht ſollten
anwerben laſſen; zu verſtehen von dieſen Teufelskindern,
als der damaligen einzigen Art von Geworbenen, keines-
wegs aber, daß ſie nicht ſollten, wenn ſie anders woll-
ten, im Heerbann mit ausziehen, und fuͤr ein Lehn die-
nen koͤnnen. Wie es denn gewiß in der Geſchichte tau-
ſend und mehr Faͤlle giebt **), wo Paͤpſte, Biſchoͤfe und
T 5andre
[298]Der Capitularſoldat.
andre Geiſtliche, an der Spitze ihres Heerbanns oder ih-
rer Lehnmannſchaft gefochten haben, ohne daß ſie ſich
dadurch eine Jrregularitaͤt zugezogen haͤtten.
Gehe ich nun von dieſem Sinne der Kirche aus: ſo
handelt ein jeder Geiſtlicher, und vielleicht ein jeder
Menſch, gegen ſeine Pflicht, der ſein Leben einem andern
verkauft, und ſich zu mehrerem Blutvergießen verbindet,
als die Vertheidigung des Reichs oder des Landes, deſſen
Unterthan er iſt, von ihm erfodert. Es mag auch wohl
fuͤr unanſtaͤndig gehalten werden, wenn ein Geiſtlicher
unter den leichten Truppen dienet; obſchon dieſe jetzt in
eben ſo großer Achtung ſtehen, als die ſchweren, und
mit der Zeit noch groͤßere Achtung verdienen werden.
Allein daß ein Geiſtlicher ſofort ſeine Pfruͤnde verliehren
ſolle, wenn er ſich unter die Zahl der heutigen beſtaͤndi-
gen Landesvertheidiger, die nun anſtatt des alten Heer-
banns, und der Lehn und Dienſtmannſchaft, gehalten
werden, aufnehmen laͤßt, nicht nach bloßer Willkuͤhr ſein
Leben verkauft, ſondern nur das Gottgefaͤllige Geluͤbde
thut, zur Zeit der Roth, Kirche, Reich und Land mit ſei-
nem Blut vertheidigen zu wollen, nicht den geiſtlichen
Wohlſtand verletzt, und nun eben den Partiſan ſpielt:
das duͤnkt mir um ſo viel unbilliger, je mehr die neue-
ren Zeiten von dem Soldaten Menſchenliebe und Tugen-
den erfodern, und je gewiſſer man dieſe eher bey wuͤrdi-
gen Geiſtlichen, als bey andern, zu ſuchen berechtiget iſt.
Freylich haben feige Ausleger ihre Rechnung dabey
gefunden, daß ſie das Duͤrſten nach Blute, welches die
Kirche
**)
[299]Der Capitularſoldat.
Kirche verbietet, mit dem Vergießen deſſelben zu ihrer
Vertheidigung, verwechſelt, und den Bannaliſten wie
den Lehnmann, mit jenen Blutduͤrſtigen Soͤldnern in Eine
Klaſſe geſetzt haben. Denn ſie konnten unter dieſem Schil-
de einen Baͤrenhaͤuter unbeſchimpft in die Taſche ſtecken,
und jeden ehrlichen Kerl beleidigen, ohne daß ſie noͤthig
hatten, ihm zu Kampfe zu ſtehen. Auch mochten die Wer-
bungen uͤberhaupt, wodurch ein Herr, wenn er nur Geld
hat, ſich auf eine kurze Zeit dem maͤchtigſten gleich ſtellen
und alles, was mit Geſchwindigkeit zu erobern ſteht, eben
ſo gut, wie jener, erobern kann, der Kirche und dem
Papſte nicht ſonderlich gefallen. Vielleicht ſchwebte den
Kirchenvaͤtern auch der entſetzliche Unfug vor Augen,
welchen die Lanzknechte, die Reiſtres, und andre auf Con-
tracte dienende Truppen, im 14ten, 15ten und 16ten
Jahrhunderte, uͤberall anrichteten. Allein ich getraue
es mir gegen jeden Kanoniſten zu behaupten, daß der
echte Sinn der Kirchengeſetze es keinem Weltgeiſtlichen
verboten habe, im Heerbann mit auszuziehen, oder ſein
Lehn in Perſon zu verdienen: nichts hinderend, daß nach
dem Lehnrechte die Pfaffen Lehnrechtes darben ſollten.
Denn durch dieſe Regel ſuchte ſich blos der weltliche Staat
gegen den geiſtlichen zu decken, der nicht gezwungen wer-
den konnte, ſein Lehn in Perſon zu verdienen. Konnte
aber ein Weltgeiſtlicher, wenn er wollte, im Heerbann
mit ausziehen, und ſein Lehn in Perſon verdienen: ſo
kann er auch Dienſte unter der jetzigen beſtaͤndigen Mi-
litz nehmen, die nach der heutigen Lage unſrer Verfaſ-
ſung, und aller Umſtaͤnde, zur Vertheidigung der Kirche,
des Reichs, und des Landes, unterhalten werden muß.
Wir ſind nicht mehr in den Zeiten, worin jeder
Chriſt Buße thun muß, wenn er auch in dem gerechteſten
Kriege ſeinen Feind erſchlagen haͤtte. Wir fragen auch
nicht
[300]Der Capitularſoldat.
nicht mehr, ob ein Geiſtlicher wohl die Chirurgie treiben,
und jemanden die Ader oͤffnen duͤrfe, um nicht fuͤr einen
Blutvergießer gehalten zu werden. Aber eben deswegen
ſollte man auch die aus jenen Zeiten ſich herſchreibende,
und auf zufaͤllige Zeitumſtaͤnde ſich gruͤndende Kirchen-
zucht, nach den ſpaͤtern Beduͤrfniſſen der Zeit ermaͤßigen,
und den Weltgeiſtlichen dasjenige nicht verſagen, was
den geiſtlichen Rittern zur Pflicht gemacht iſt; oder wenn
das durchaus nicht geſchehen kann, Capitularpfruͤnden,
wovon die darauf haftende Pflicht durch einen beſtaͤn-
digen Vicar verrichtet wird, in Commenden verwandeln,
und ihre Beſitzer von der Nothwendigkeit befreyen, ſich
des Kriegsſtandes unfaͤhig zu machen, um ſolchergeſtalt
Staat und Kirche zu vereinigen, und die wuͤrdigen Maͤn-
ner mit zur Vertheidigung der Kirche und des Staats
zu gebrauchen, welche jetzt wider ihren Willen die Haͤnde
in den Schoos legen muͤſſen.
Jn den alten Zeiten ließ die Kirche das Blutgericht,
weil die Ausuͤbung deſſelben immer Geld koſtete, dem
Kayſer, und begnuͤgte ſich mit den Strafen, welche Geld
einbrachten. Aber in den neuern Zeiten iſt die Politik
der guten Mutter etwas naͤher beleuchtet worden, und
man denkt: wer den Blutbann ausuͤben ſoll, muͤſſe auch
zu deſſen und der Criminalraͤthe Unterhalt, die Geldbuſ-
ſen einziehen. Der Laye wird immer kluͤger; und es
fehlt nicht, oder er entdeckt auch noch einmal einen zwey-
ten Weg zum Himmel, wo er ohne Maut und Zoll da-
hin kommen kann, wenn die Kirche den andern gar zu
enge macht, und nicht in Zeiten auf die Abſtellung ſolcher
Dinge denkt, welche den Staat an ſeiner wahren Groͤße
hindern. Der heil. Bernhard warb die Rekruten zum
Kreuzzuge mit der Maͤrtyrerkrone; und ich ſollte denken,
daß
[301]Der Capitularſoldat.
daß es weit ruͤhmlicher ſey, ſein Leben fuͤr das Vater-
land, als fuͤr das heil. Grab, zu wagen. — Die Geiſt-
lichen Fuͤrſten haͤtten um ſo mehr Urſache, eine baldige
Reformation in dieſem Stuͤcke zu befoͤrdern, und jedem
Domcapitularen eine Compagnie zu geben, da in dem
Falle, daß die jetzige Spannung von Deutſchland einmal
zum Bruch kommen ſollte, niemand vorhanden ſeyn wird,
der dem Sieger Einhalt thun kann; und unſre maͤchtige
Nachbarn, wenn man bey ihnen Huͤlfe ſuchen wird, ſich
mit Leuten nicht verbinden werden, die nur ihr Brevia-
rium zu behandeln wiſſen. — Man ſpottet zwar uͤber
die Biſchoͤfe und andere kleine Herrn, welche nur eine
kleine Kriegsmacht halten. Aber die Zeit kann kommen,
und ſie koͤmmt einmal gewiß, wo dergleichen einzelne Re-
gimenter, unter der Anfuͤhrung eines Kreisherzogs, eben
dasjenige leiſten werden, was der Niederſaͤchſiſche Kreis
unter dem Herzoge Ferdinand geleiſtet hat ....
LIX.
Alſo ſollten geringe Nebenwohner, wenn ſie
wollten, wegen ihrer Schulden nicht gerichtlich
belangt, ſondern mit kurzer Hand zur
Zahlung angehalten werden.
Ruͤhmen Sie mir doch nur nichts mehr von ihrer
ſchoͤnen Juſtitz. So lange Sie keine Anſtalt ma-
chen, daß die armen und geringen Leute auf dem Lande,
unter einen ſichern nahen Schirm und Schutz gebracht
werden, der ſie nach Beſchaffenheit ihrer Umſtaͤnde be-
han-
[302]Sollten nicht Nebenwohner
handelt: ſo lange bleibt ihre geruͤhmte Juſtitz nur eine
Ruthe, womit der Allmaͤchtige dieſes Land zuͤchtiget. Sie
koͤnnen dieſes in der Stadt, wo der Buͤrger den Schutz
ſeiner Obrigkeit, der er nach allen Umſtaͤnden bekannt
iſt, muͤndlich anrufen und immer auf dem kuͤrzeſten Wege
auch mehrentheils ohne alle Unkoſten Huͤlfe haben kann,
ſo nicht einſehen, wie wir es auf dem Lande thun, wo
ein jeder ſo bald er etwas zu klagen hat, oder verklagt
wird, ſo gleich einige Meilen reiſen muß, und keine Huͤlfe
erlangen kann, ohne einen Advocaten und Procurator
anzunehmen. Hier hat man immer nur die Wahl, ob
man ſich dem einen Ungluͤck uͤberlaſſen, oder dem andern
entgegen gehen wolle. Jch kann Jhnen davon eine ſehr
traurige Geſchichte erzaͤhlen die ſich hier in vorigem Jahre
zugetragen hat, und leider oft zutraͤgt.
Ein gewiſſer Kaufmann, dem alle Eingeſeſſene ſei-
nes Kirchſpiels viel oder wenig ſchuldig ſind, ward auf
einen Heuermann boͤſe, der ihm ſein Linnen nicht wie ge-
woͤhnlich zum Verkauf gebracht, und die Kleidungsſtuͤcke
ſo er gebrauchte, von einem andern genommen hatte. —
Dieſes muͤſſen, im Vorbeygehen geſagt, alle die ihm ein-
mal ſchuldig ſind, und weil ſich das ganze Kirchſpiel in
dieſem Falle befindet, alle ohne Ausnahme thun; den
Preis ſetzt er in beyden Faͤllen wie er will, und was er
zu Buche ſchreibt das gilt von Rechtswegen. — So
bald ward der Kaufmann die Abtruͤnnigkeit ſeines bishe-
rigen Sclaven nicht gewahr: ſo ließ er ihn auch wegen
funfzig Thaler, die er ihm laut ſeines Buches und der
darin enthaltenen wucherlichen Abrechnung ſchuldig ſeyn
ſollte, an das entfernteſte Gericht fordern, noͤthigte den
Mann, welcher die Schuld, die von ſeiner Frauen erſtem
Mann herruͤhren ſollte, nicht wahr glaubte, zu einem
be-
[303]in Schuldſachen muͤndlich verklagt werden.
beſchwerlichen Proceſſe, der ihn zuletzt um alles das
Seinige brachte.
Seine Frau, die er ungefehr vor einem Jahre als
Witwe mit drey Kindern geheyrathet hatte, war eine
von den geſunden und freudigen Weibern, die immer
fleißig arbeiten, und Gott danken, wenn ſie Arbeit ha-
ben. Sie wußte von keinem Ungluͤck, außer daß ſie ih-
ren Mann verlohren hatte, und dieſer Verluſt war ihr
durch einen eben ſo guten erſetzt, der ſie ohne weitere
Unterſuchung ihres Vermoͤgens ſo freudig genommen,
wie er ſie gefunden hatte. Beyde waren ſo vergnuͤgt,
wie immer Leute ſeyn koͤnnen, die bey redlicher Ar-
beit ihr nothduͤrftiges Auskommen haben, als ſie von ih-
rem Procurator die Nachricht erhielten, daß ſie zu Be-
zahlung der funfzig Thaler und doppelt ſo vieler Koſten
verdammt waͤren. Wenige traurige Abende, die ſie mit
hin und herdenken, wie ſie ſich in dieſem ſchrecklichen Falle
retten wollten, zubrachten, waren verfloſſen, als auch
ſchon die Pfandung einlangte; und nun ward ihnen ihr
Bett, was ſich die Frau in den ſechs Jahren, die ſie als
Magd gedienet, ſauer erworben hatte, eine Kuh die eben
melk geworden, und ein Schwein deſſen vortrefliches Ge-
deyen bisher der Stof ihrer taͤglichen Unterredung gewe-
ſen war, aus dem Hauſe genommen; ein Stuͤck Loͤwend,
womit ſie ihre verſchiedene Oſterheuer bezahlen wollten,
und worauf ſie den ganzen Winter geſponnen und gear-
beitet hatten, mußte mit fort; aus dem Hauſe gieng es
aufs Feld, wo zwey Morgen mit dem ſchoͤnſten Roggen,
und ein andrer mit Lein ſo ſchoͤn wie ein geſchorner gruͤ-
ner Samet, in die Pfandung genommen wurden. Um-
ſonſt widerſetzte ſich hier der Frauen ihre Schweſter, die
eben das Lein jaͤtete, und durch ihr weißes Hemd die Auf-
merkſamkeit der voruͤbergehenden an ſich zu ziehen be-
muͤhet
[304]Sollten nicht Nebenwohner
muͤhet war, mit der Behauptung, daß das Lein bis da-
hin wo die Bohnen auf der gruͤnen Flur hervorragten,
ihr allein zugehoͤrte; umſonſt rief ſie, daß ſie daruͤber
hundert Zeugen bringen wollte. Die Pfaͤnder kehrten
ſich ſo wenig an ihr Geſchrey als an ihr ſchoͤnes Hemde,
und das arme blauaͤugigte Maͤdgen mußte mit Schrecken
hoͤren, daß ſie ihre Zeugen dem Richter vorbringen ſollte,
dem Richter, den ſie nicht anders als abermal durch ei-
nen Advocaten und Procurator ſprechen konnte.
Nun ſitzt das arme gute Weib da mit drey Kindern
von ihrem erſten Mann, ohne Bette, ohne Kuh, ohne
Schwein, ohne Flachs, ohne Korn, und was noch das
betruͤbteſte iſt ohne Mann. Denn dieſer der keine Kin-
der mit ihr hatte, ſagte ihr gleich des andern Tages:
Gott erhalte dich gutes Weib, im ewigen Leben ſehen wir
uns wieder, und gieng damit nach Holland, und wollte,
wie er ſagte, in einem Lande nicht bleiben, welches Gott
bald ſtrafen muͤßte, weil darin die geringen Leute keinen
beſſern Schutz haͤtten. Und woher ruͤhrt dieſes Ungluͤck?
Gewiß blos daher, daß der Mann nicht vor einem na-
hen Schutzherrn belangt werden konnte, der beyde Theile
muͤndlich hoͤrte, und allenfalls dem Schuldner ſagte, daß
er bezahlen muͤſſe, dem Glaͤubiger aber die Huͤlfe ſo gabe
wie ſie jener ohne auf einmal zu Grunde gerichtet zu wer-
den, erleiden konnte. Sagen Sie mir nicht, daß der
Richter dieſes eben ſo gut thun koͤnnte. Dieſer kann die
aus der Ferne zu ihm kommenden Leute, nicht unter-
ſcheiden. Redliche und unredliche, gute und ſchlechte
haben vor ihm einerley Phyſionomien, und er iſt nicht
angewieſen nach dem Lavater zu urtheilen. Bey der
Menge der Sachen ſo ihm vorkommen, kann er keine
beſondre Aufmerkſamket auf eine wenden; er darf nur
auf Beweiſe ſprechen, und was wuͤrde aus dem Leine des
blau-
[305]in Schuldſachen muͤndlich verklagt werden?
blauaͤugigten Maͤdgens geworden ſeyn, wenn dieſes nur
eine Ladung gegen zwey Zeugen haͤtte ausbringen, und
dieſe ſchwoͤren laſſen ſollen?
Aber werden Sie ſagen, was iſt hier fuͤr eine An-
ſtalt zu treffen? Sollen wir die Zahl der Richter vermeh-
ren? und wird man nicht die geringen Leute um allen
Credit bringen, wenn man die Forderungen ihrer Glaͤubi-
ger, und die ihnen darauf gebuͤhrende rechtliche Huͤlfe
der beliebigen Ermaͤßigung eines Schutzherrn uͤberlaͤßt?
dieſes iſt freylich zu fuͤrchten und auch nicht auſſer Augen
zu ſetzen. Aber doch wuͤnſchte ich, daß es moͤglich ſeyn
moͤchte, ihnen auf eine oder andre Art zu helfen; es bleibt
doch immer eine auſſerordentliche Beſchwerde fuͤr dieſel-
ben, daß ſie nicht die geringſte Friſt erhalten koͤnnen,
ohne wenigſtens einen Procurator anzunehmen, und
wenn ich es gering ſetzen will, ohne zwey Thaler anzu-
wenden, die mit der Beſcheinigung ihrer Umſtaͤnde, mit
deren gerichtlichen Einbringung, dem communicetur, und
dem Beſcheide darauf gehen; eine Beſchwerde die um ſo
viel groͤßer iſt, je geringer ihre Schulden ſind. Jch habe
Leute geſehen, die nur zehn Thaler ſchuldig waren, und
ſolche nach Verlauf eines Monats bezahlen konuten und
wollten, aber um dieſe Friſt zu gewinnen, zwey Thaler
anwenden mußten; iſt das nicht entſetzlich?
Mein Vorſchlag um dem Uebel abzuhelfen wuͤrde
dieſer ſeyn, daß alle Voll- und Halberben, und alle Erb-
koͤtter, wenn man nicht anders wollte, unter dem ordent-
lichen Richter bleiben, ihre Heuerleute aber, und die
geringern Koͤtter in Schuldſachen, wenn ſie es ſelbſt ver-
langten, unter dem Vogte *), als ihren beſondern Schutz-
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Uherrn
[306]Sollten nicht Nebenwohner ꝛc.
herrn ſtehen ſollten. Dieſer ſollte ſie auf Verlangen ih-
rer Glaͤubiger zur Zahlung nach Beſchaffenheit ihrer Um-
ſtaͤnde anſtrengen, und damit in billiger Maaße ſo lange
fortfahren, bis der Schuldner ſich ſelbſt ans Gerichte
wendete, und den Glaͤubiger zum gerichtlichen Beweis
ſeiner Forderung aufforderte. Dann wuͤrden ſich gewiß
hundert bedenken, ehe ſie dieſen koſtbaren Schritt wag-
ten, und der Glaͤubiger haͤtte auch die Freude ſeinen
Schuldner nicht durch Gerichtskoſten erſchoͤpft zu ſehen.
Wie oft wuͤrde dieſer nicht noch Geduld haben, wenn er
nur noch keine Gerichtskoſten angewandt haͤtte? wenn
er vorausſaͤhe, daß alles mit Koſten aufgehen wuͤrde?
und wenn ihm die Muͤhe nicht verdroͤſſe, ſeinen eignen
Procurator zu ſchreiben und ſich von ihm die Koſtenrech-
nung einſchicken zu laſſen?
Wie gluͤcklich wuͤrde ich mich ſchaͤtzen, wenn dieſer
Vorſchlag Beyfall faͤnde, und deſſen Ausfuͤhrung das
neue Jahr, was wir jetzt antreten, bezeichnete! Bey der
letzten Theurung gab die Regierung denjenigen, welche
Korn ausborgten, die vogteyliche Huͤlfe. Warum ſollte
dieſelbe nicht auch in andern Faͤllen unter obiger Ein-
ſchraͤnkung ſtatt finden koͤnnen?
LX.
Beherzigung des vorigen Vorſchlags.
Wahr iſt es, die armen und geringen Leute ſind zu
beklagen, wenn ſie vors Gericht gezogen werden.
Aber ſollte man nicht noch eine naͤhere Huͤlfe als die vor-
geſchlagene haben koͤnnen? Man erlaube jedem Kauf-
manne
[307]Beherzigung des vorigen Vorſchlags.
manne, oder einem jeden der mit dem Landmanne in
Verkehr ſtehet, gedruckte Citirzettel unter ſeiner eignen
Unterſchrift zu gebrauchen, ſolche ſeinem Schuldner durch
den Pfarrer zuſtellen zu laſſen, und nach Ablauf der dar-
inn zum erſten und andern Mal geſetzten Friſten, die Pfan-
dung von dem Vogte zu nehmen: ſo wird ſich alles eben
ſo gut geben und ſchicken, als wenn der Citirzettel von
einem Gerichte ausgefertiget iſt. Dieſen natuͤrlichen Weg
hatte der geſunde Menſchenverſtand den Glaͤubigern laͤngſt
gewieſen, als ſie gerichtlich ausgefertigte Citirzettel in
blanco nahmen, und ihren Schuldnern damit ſo lange
zu Leibe giengen bis ſie bezahlten. Jn der Stadt ſieht
man ihn taͤglich, indem ein Glaͤubiger den Rathsdiener
bittet, ſeinem Schuldner zu ſagen, daß er ihn binnen 14
Tagen bezahlen muͤſſe; der Diener thut dieſes hundert
Male ohne den Richter zu fragen und das mit Recht. Hier
iſt eine muͤndliche Ladung in blanco.
Der Bauer iſt ein wunderliches Geſchoͤpf; er laͤßt
die Citirzettel ſo lange laufen, bis er gepfandet wird;
dann laͤuft er als wenn ihm der Kopf brennet, und ſucht
Huͤlfe zu jedem Preiſe. Dieſe haͤtte er aber in jenem Falle
wohlfeiler; er brauchte denn keine contumaciam zu pur-
giren, keine vergeblich erkannte executoriales zu bezahlen,
und keinen Advocaten und Procurator anzunehmen, und
keine Reiſe in die Stadt zu thun. Er duͤrfte ſich ſodenn
nur an ſeinen Glaͤubiger und Vogt wenden; dieſe wuͤß-
ten wie er ſteht, und wie er ſein Verſprechen erfuͤllen
wuͤrde; es waͤren wenige oder gar keine Koſten aufge-
gangen; und die Sache ſchickte ſich, ohne daß die ge-
ringſten falſchen Unkoſten aufgegangen waͤren.
Wozu bedarf es hier eines Gerichts oder eines ge-
richtlichen Erkenntniſſes? Die Schuld leugnet der Mann
U 2ſelten,
[308]Beherzigung des vorigen Vorſchlags.
ſelten, er kann nur nicht ſo geſchwind bezahlen als der Glaͤu-
biger wuͤnſcht; und dieſes ob er bezahlen will und kann,
iſt dem Vogte zehnmal beſſer als dem Richter bekannt.
Jn dem ſeltnen Falle, da er die Schuld nicht geſtaͤndig
iſt, kann er allemal zum Richter gehn; dieſer Weg bleibt
ihm offen, und der Richter kann angewieſen werden, ihm
einen gedruckten Zettel zu geben, worauf der Vogt ein-
halten muß. Wozu iſt es alſo noͤthig, ſogleich den Rich-
ter, Gerichtsſchreiber, Pedellen, Advocaten und Procu-
ratorn zu gebrauchen? hat doch jeder Gutsherr die
Selbſtmahnung und Selbſtpfandung? hat ſie doch der
Vogt auf die Schatzung, der Kirchenproviſor auf die Kir-
chenrenten, der Verpachter in manchen Faͤllen auf ſeine
Heuerleute? Warum ſollte man ſie alſo nicht in obiger
Maaße jedem Kaufmanne wenigſtens in der Vogtey ge-
ben, worin er und ſein Schuldner wohnen und bekannt
ſind? Was bedarf es hier jenes koſtbaren Ceremoniels?
Vormals ehe die letztere Verordnung wegen der Ci-
tirzettel ergieng, wußten die Pedellen und Boten ſich
dieſes kurzen Mittels ganz gut zu bedienen. Sie ſtellten
das ganze Gericht allein vor, und handelten gerade ſo,
wie ich wuͤnſchte, daß alle Glaͤubiger handeln moͤchten.
Der Misbrauch, welcher jene Verordnung veranlaßt hat,
iſt in dem Falle, wo der Glaͤubiger ſelbſt alſo handelt,
gar nicht zu befuͤrchten; und die Natur dringt immer
mit Macht auf dieſen Weg, wir moͤgen auch dagegen
anfangen was wir wollen. Die geſunde Vernunft pre-
digt ihn beſtaͤndig, und es iſt Eigenſinn, daß wir ihr
nicht endlich folgen. Alſo, mein Herr, jedem Kaufmann
oder Glaͤubiger nur gerade zu das Recht eingeraͤumt, ſei-
nem Schuldner einen Citirzettel zuzuſchicken; ihm erlaubt
fuͤr jeden drey Pfennig in Rechnung zu bringen, und
dann
[309]Beherzigung des vorigen Vorſchlags.
dann die Gebuͤhr des Pfarrers und Vogten beſtimmt: ſo
haben wir alles was wir noͤthig haben, und brauchen
nichts weiter. Jch erinnere mich eines Procurators, der
alle ſeine Deſervitrechnungen noch kuͤrzer beyforderte.
Er hielt ſich einen eignen Boten, ſchickte ihn aufs Land,
ließ ſeine Schuldner einmal und zweymal fordern, und
zuletzt fragen: ob ſie dem Boten ein Pfand geben woll-
ten oder nicht? Kein einziger wegerte ſich deſſen, ſie be-
zahlten, ſo oft ſie gemahnt wurden, dem Boten ſeinen
Schilling, und gaben ihm zuletzt, wenn ſie nicht bezah-
len konnten, ein Pfand, was er nach einer beſtimmten
Zeit verkaufte, ohne dem Richter einen Pfennig davon
zu goͤnnen, und der Schuldner war am Ende froh, ſo
wohlfeil davon gekommen zu ſeyn. Ein andrer hingegen
mahnte ſeine Schuldner in einem verſiegelten Briefe,
ſetzte jedesmal 7 ß. pro litteris zur Rechnung, brachte
dann ein Mandatum ſolvendi in aller Form aus, und er-
hielt endlich die Pfandung mit allen Ceremonien; wer
war hier der Patriot, der Mann der ſeinen Schuldner
auf eine legale Art um Kuh und Schwein brachte, oder
der andre, der auf dem Wege der Natur mit dem Schweine
allein davon gieng? ich denke der letzte, und ſo mag uns
auch ſein Beyſpiel zur Richtſchnur dienen, es koͤmmt nur
darauf an, daß man Herz genug habe ſich von den juri-
ſtiſchen Schnoͤrkeln zu befreyen, und den Bonſens einer
ſteifen Methode vorzuziehen.
Alſo ich werde kuͤnftig meinem Schuldner ſagen laſ-
ſen: Lieber Freund, du biſt mir zwey Thaler ſchuldig,
die mußt du mir binnen 14 Tagen bezahlen, oder ich
laſſe dir durch durch den Vogt ein Pfand nehmen. Ein
andrer, der ſich in demſelben Falle befindet, mag dage-
gen an ſeinen Procurator ſchreiben, daß er zum Richter
gehe, damit dieſer dem Gerichtsſchreiber ſage dem Boten
U 3zu
[210[310]]Beherzigung des vorigen Vorſchlags.
zu befehlen zum Paſtor zu gehen, daß dieſer dem Schuld-
ner bedeute, er muͤſſe binnen 14 Tagen bezahlen, oder
wenn er nicht koͤnne, einen andern Procurator anneh-
men, der dem Gerichtſchreiber ſage, den Richter davon
zu benachrichtigen, damit dieſer es des Klaͤgers Procu-
rator kund thue, von welchem es dann deſſen Principal
wohl erfahren wuͤrde, daß er eine Friſt von 14 Tage
geſucht habe.
Solche ſchnakiſche Umzuͤge die alle mein armer
Schuldner bezahlen muß, nennt man die liebe Juſtitz;
und wenn der arme Hund ſo viel Geld nicht hat, die
Friſt mit ſo viel Ceremoniel zu bitten: ſo heißt das Con-
tumacia, dafuͤr wird er geſtraft als wenn der Geldman-
gel eine Suͤnde waͤre.
Neulich kam ein Kaufmann vom Lande zu mir und
klagte, daß man ihn beſtrafen wollte, weil er ſich von
dem Richter einen Citirzettel in blanco geben ließe, und
davon fuͤnfhundert Abdruͤcke aus der Druckerey nehme;
Jenes als das Original ließe er jedem Schuldner vorzei-
gen, und ihm dann von dieſem einen Abdruck, den er
ſelbſt ausgefuͤllet haͤtte, zuruͤck; dieſes waͤre der wohl-
feilſte Weg, den er einſchlagen koͤnnte, und derſelbe ge-
reiche ſo offenbar zum Beſten der Unterthanen, daß er
in der Welt nicht ſaͤhe, wie man ihn daruͤber beſtrafen
koͤnnte, vielmehr glaubte er fuͤr die Erfindung dieſes
kurzen Mittels eine Belohnung zu verdienen. Da ſeine
Schuldner, denen er die fuͤnfhundert Abdruͤcke zugeſchickt
haͤtte ihn ſaͤmtlich bezahlt: ſo haͤtte er die eine Citation,
die ihm das Gericht in blanco gegeben, niemals gericht-
lich reproducirt, und er bewahre ſolche bis zum Jahre
1780, da er eine neue nehmen wuͤrde, denn die Jahr-
zahl des Blanketts waͤre: 177.
Nie-
[311]Beherzigung des vorigen Vorſchlags.
Niemand, ſagte ich ihm, kann euch beſtrafen; wenn
hier eine Suͤnde iſt: ſo hat ſie der Richter begangen,
welcher auch gegen die Verordnung das Blanquet, und
mit dieſem die Macht ſolches gegen alle eure Schuldner
zu gebrauchen, anvertrauet hat. Jhr ſeyd den wahren
Weg der Natur eingeſchlagen, da ihr euch mittelſt eines
Schillings, und des dafuͤr erhaltenen Citirzettels in blanco,
das große Recht erkauft habt, fuͤnfhundert Schuldner ſo
zu aͤngſtigen daß ſie euch bezahlen muͤſſen; und das iſt
alles was ihr verlangt und vom Richter verlangen koͤnn-
tet. Jch hoffe aber auch ihr werdet euren Schuldnern
nichts fuͤr die Ladung anrechnen!
Wahrhaftig keinen Pfennig, verſetzte der Kaufmann,
ſo bald ſie mich bezahlen; und wenn ſie mich nicht be-
zahlen: ſo warte ich wieder ein paar Monat, bis ſie
Geld haben, laſſe ihnen dann abermals durch den Pa-
ſtor meinen Citirzettel vorweiſen, und einen Abdruck, den
ſie ohnehin nicht leſen koͤnnen, davon zuruͤck. —
LXI.
Etwas zur Naturgeſchichte des Leib-
eigenthums.
Es moͤgen ungefehr achtzig Jahr ſeyn, daß ein gewiſ-
ſer Mann, er mag Robinſon heißen, ſich mit eini-
gen zuſammengebrachten Familien auf die See begab,
und auf einer von ihm zuerſt entdeckten Jnſel eine Colo-
nie errichtete. Fuͤr ihn war dieſes ein ſehr wichtiges Un-
ternehmen, indem die Leute, welche er mitnahm, nichts
in der Welt hatten, und von ihm ſo lange unterhalten
U 4wer-
[312]Etwas zur Naturgeſchichte
werden mußten, bis ſie ſich ſelbſt ernaͤhren konnten. Auch
ſetzte er ſein ganzes anſehnliches Vermoͤgen dabey zu, und
was ihm in der erſten Zeit ſeine Coloniſten an Zinsfruͤch-
ten entrichteten, ward guten Theils zu ihrem eignen Be-
ſten wieder verwandt, indem er ihnen nicht allein eine
Muͤhle, ſondern auch eine Schule und Kirche bauen ließ,
und einen Paſtor und Richter hielt. Sein Sohn und
Erbe trat nach ſeinem Tode in des Vaters Fußſtapfen
und Rechte, und wandte ebenfalls alles an, um ſeine
Jnſel mit ihren Einwohnern gluͤcklich zu machen. Dieſe
verhielten ſich dagegen ruhig und fromm, und waren
froh einen Herrn zu haben, der zu rechter Zeit ſparete,
und ihnen zur Zeit der Noth ſeinen Vorrath eroͤfnete.
Keiner dachte ans wegziehen, auch war dazu kein Schiff
vorhanden, und vielleicht haͤtten ſie auch nie daran ge-
dacht, wenn nicht waͤhrend den jetzigen Amerikaniſchen
Unruhen ein Kaper dahin verſchlagen waͤre, der ihnen
von dem gluͤcklichen Zuſtande andrer Colonien, und be-
ſonders von der darinn herrſchenden Freyheit ein ſo rei-
zendes Bild gemacht haͤtte, daß alles was ſich auf der
Jnſel befand, und beſonders die Jugend beyderley Ge-
ſchlechts ſich auf einmal vorſetzte mit ihm davon zu ge-
hen, um dieſe goldne Freyheit zu kuͤſſen. Die Colonie
hatte ſich damals noch nicht ſo ſtark vermehret, daß ſie
eine ſolche Auswanderung vertragen konnte. Der junge
Robinſon widerſetzte ſich alſo derſelben; und verlangte
daß ſie da bleiben ſollten. Allein die aufgebrachte Ju-
gend, von dem Kaper angeflammt und unterſtuͤtzt, fragte
ihn ſtuͤrmiſch: ob er ſie dann als Leibeigne behandeln
wollte? ob nicht ihre Vaͤter als freye Englaͤnder mit ihm
zur See gegangen waͤren? und wo der Contrakt waͤre,
wodurch ſie ſich und ihre Nachkommen ewig dem Joche
untergeben haͤtten, was man ihnen jetzt auflegen wollte?
Mein
[313]des Leibeigenthums.
Mein Vater, antwortete Robinſon, hat ſein ganzes
Vermoͤgen daran gewandt, um euch ein Schiff zur Ue-
berfahrt, Unterhalt, Aecker, Haͤuſer, Muͤhle und Kirche
zu verſchaffen; Noch haben, er ſo wenig als ich, jaͤhr-
lich ſo viel von euch erhalten, daß wir auch nur einmal
fuͤr die Zinſen des eurentwegen aufgewandten Capitals
entſchaͤdiget ſind; und wenn ihr mich jetzt verlaſſet: ſo bin
ich ein armer ungluͤcklicher Mann, dem Aecker, Haͤuſer,
Muͤhle und Kirche zu nichts dienen. Was ſoll ich mit
dem Paſtor ohne Gemeine, und mit dem Richter, wel-
chen ich euch geſetzt habe, ohne Gerichtsſaſſen anfangen?
Mein ganzes Capital geht nicht allein verlohren, ſondern
ich bleibe auch in einer Laſt ſitzen, die mich voͤllig zu Grun-
de druͤckt. Eure Vaͤter moͤgen alſo ſich und ihre Nach-
kommen meinem Vater und ſeinen Nachkommen uͤberge-
ben haben oder nicht; ihr moͤgt euch Leibeigen oder
Freye nennen; genug ich habe ein Recht auf euch, das
euch zwingt hier zu bleiben; der Vorſchuß meiner Fami-
lie iſt eine Schuld die auf euren Leibern haftet, Eure
Vaͤter hatten nichts als dieſe, wie ſie der Meinige auf
ſeine Koſten uͤberfuͤhren ließ; und nie wuͤrde er ſich zu
dieſer mißlichen Unternehmung entſchloſſen haben, wenn
es nicht unter der ſelbſt redenden Bedingung geſchehen
waͤre, daß ſie und ihre Nachkommen, ihm wenigſtens ſo
lange haften ſollten, bis er ſeines ganzen Vorſchuſſes we-
gen entſchaͤdiget ſeyn wuͤrde. Eure Aecker und Haͤuſer
moͤgen euch oder unſrer Familie gehoͤren, es liegt nichts
daran, aber ohne eure Haͤnde iſt mir alles nichts werth,
und ich muß euch hier behalten, oder ihr raubt mir mein
ganzes Vermoͤgen.
Die Leute ſtutzten, und vermochten nicht zu antwor-
ten. Allein hier nahm der Kaper fuͤr ſie das Wort, und
behauptete mit der ihm eignen Keckheit: Freyheit und
U 5Eigen-
[314]Etwas zur Naturgeſchichte
Eigenthum waͤren unveraͤuſſerliche Rechte der Menſchheit,
die niemand mit gutem Willen fahren ließe. Wer ſich
alſo auſſer dem Stande der Freyheit befinde, der habe
allemal Zwang erlitten, und Zwang binde Niemanden
zu Rechte, ſo bald man nur maͤchtig genug ſey, ſich dem-
ſelben zu entziehen. Geſetzt aber auch die Vaͤter dieſer
Colonie haͤtten ſich fuͤr ihre Perſonen verbinden koͤnnen:
ſo waͤre es doch nicht in ihrer Macht geweſen, ihre Kin-
der und Nachkommen ins unendliche zu verbinden. So
bald dieſe dem Herrn der Jnſel den vaͤterlichen Acker, und
allenfalls alles, was ſie von ihren Vaͤtern ererbt haͤtten,
zuruͤckließen: ſo koͤnnten ſie mit ihrem Leibe gehen, wohin
ſie wollten. Dieſes Geſetz habe die Natur, wie Locke
der Geſetzgeber von Amerika geſagt, ſelbſt gegeben, und
es ſey vielleicht die grauſamſte Conſtitution auf dieſem
Erdboden, welche in dieſer Colonie herrſchte, und nach
welcher einer nicht einmal ſeinen nackten Leib ſollte da-
von tragen duͤrfen.
Das beſte hiebey war, daß es dem Kaper kein Ernſt
war die jungen Jnſulaner mitzunehmen, und daß dieſe
alſo bleiben mußten, wo ſie bisher, ohne daran zu den-
ken, ob ſie dazu verbunden waͤren oder nicht, ſich gluͤck-
lich geſchaͤtzet hatten. Jnzwiſchen gab doch dieſer Vor-
fall nachher oft zur Unterſuchung der Frage Anlaß: Ob
das Recht des Herrn ſolchergeſtalt ins unendliche gehen,
und ihm, wenn die Umſtaͤnde darnach waͤren, die ganze
Nachkommenſchaft zu eigen machen koͤnnte? Der Paſtor
behauptete, es ſey dieſes die wahre patriarchaliſche Ver-
faſſung. Kinder und Knechte waͤren ſo lange in der Hoͤ-
rigkeit der Altvaͤter geblieben, bis ſie daraus mit ſeinem
guten Willen waͤren erlaſſen worden, und dieſes ſey ſel-
ten geſchehen, weil nicht leicht ein Freygelaſſener das
Ver-
[315]des Leibeigenthums.
Vermoͤgen gehabt eine beſondere Colonie anzulegen, und
dieſelbe zu der Zeit da Niemand das Land, ſondern jeder
Altvater nur die Seinigen geſchuͤtzet haͤtte, gegen andre
zu ſchuͤtzen. Alles habe ſich daher zum Stamme ge-
halten, und das Haupt deſſelben ſey dagegen verbunden
geweſen, ſie zu ernaͤhren, zu ſchuͤtzen und wohl zu halten.
Man habe das Band der heutigen Unterthaͤnigkeit, nach
welchem einer frey zu- und abziehen konnte, und einem
Fuͤrſten nur ſo lange unterworfen waͤre, als man ſich in
deſſen Lande befinde, gar nicht gekannt; daher auch Jo-
ſeph von den Egyptern die Eigengebung erfordert haͤtte,
wenn ſie von dem Koͤnige ernaͤhret ſeyn wollten. Jn der
heutigen Verfaſſung wuͤrde er blos geſagt haben: Kinder
bleibt im Lande, damit euch der Koͤnig Brod gebe; in
der damaligen Verfaſſung aber, worinn die Pharaonen
keine Koͤnige von Egypten, ſondern patriarchaliſche Koͤ-
nige in Egypten geweſen waͤren, und uͤber die ihnen un-
angehoͤrigen Einwohner des Landes nicht zu gebieten ge-
habt hatten, haͤtte er nothwendig von einer Uebergabe
ihres Leibes ſprechen muͤſſen; die Uebergebung des Lei-
bes und Vermoͤgens ſey blos Huldigungsformel in der
auf Hoͤrigkeit gegruͤndeten Monarchie der Vorwelt.
Der Richter ſetzte hinzu: Die Natur gebe jedem,
der eine Eolonie anlegte, und den Verlag davon thaͤte
dieſes Recht; es ſey eine ſtillſchweigende Bedingung des
erſten Originalcontrakts, daß die Coloniſten nicht wieder
davon laufen ſollten, und blos in dem Falle, da die zu-
genommene Bevoͤlkerung den Verleger gegen die Gefahr
des Verluſtes ſicher ſtellete, werde jenes Recht unnoͤthig;
alsdann aber ſey der Menſch ſo geartet, daß er ein Recht
was er nicht gebrauchte, von ſelbſt fahren ließe. Daher wuͤr-
de man bey zunehmender Bevoͤlkerung die Leibeshaft mit
allen
[316]Etwas zur Naturgeſchichte ꝛc.
allen ihren Folgen immer mehr und mehr verſchwinden,
und nur dasjenige davon beybehalten ſehen, was wah-
ren Nutzen braͤchte.
Die Jnſulaner wollten ſich aber doch mit dieſen
Gruͤnden nicht beruhigen, und verglichen ſich endlich mit
dem Robinſon dahin, daß nach funfzig Jahren ein Ju-
beljahr verkuͤndiget, und jedem freygelaſſen werden ſollte,
zu ziehen wohin er koͤnnte und wollte. Robinſon willigte
hierinn um ſo viel lieber, weil er eines Theils hofte, daß
die Jnſel in dieſer Zeit hinlaͤnglich bevoͤlkert ſeyn wuͤrde,
und es andern Theils ſelbſt hart fand, die Nachkommen
ſeiner Coloniſten in alle Ewigkeit haften zu laſſen.
Jndeſſen erhellet hieraus, daß es nicht ſo wohl
Krieg und Tyranney, als natuͤrliche Beduͤrfniß und Ver-
bindlichkeit in der Jugend eines Staats geweſen, welche
den Leibeigenthum oder die Leibeshaft ſo fruͤh und ſo all-
gemein eingefuͤhret hat. Denn Leute, welche nichts hat-
ten, mußten froh ſeyn, daß man ihnen Credit auf ihren
Leib gab.
LXII.
Der Freykauf.
Boiko war der leibeigne Knecht eines ſehr guͤtigen
Gutsherrn, und doch hatte er lange gewuͤnſcht den
Hof, welchen er von ihm zum Bau unterhatte, als ſein
freyes Eigenthum zu beſitzen, aus Beſorgniß, der Nach-
folger ſeines Herrn moͤchte einſt minder edel denken, oder
durch die immer geſchwindere Zeiten genoͤthiget werden,
ihn an einen Tyrannen zu verkaufen. Die Freyheit war
ihm
[317]Der Freykauf.
ihm oft mit allen ihren hohen Reizungen erſchienen, und
mehr als einmal hatte er die Eiche mit den Augen gemeſ-
ſen, wovon er ſodann voͤlliger Herr ſeyn wuͤrde. Eilike
Eilike, ſagte er oft zu ſeiner Frau, wenn wir frey ſind,
ſo ſind unſre Kinder auch frey, und was wir mit unſerm
ſauern Schweiße erwerben, bleibet ihnen.
Endlich kam die gluͤckliche Stunde, worin ſein Guts-
herr ſich bewogen ſahe, einige ſeiner entfernten Eigenbe-
hoͤrigen, worunter Boiko mit gehoͤrte, abzuſtehen, und
wie er dieſen immer fuͤr einen guten Mann gehalten
hatte: ſo bot er ihm ſeine Freyheit und ſeinen Hof fuͤr
ein ziemliches Kaufgeld an, Euch, Boiko, ſprach er zu
ihm, moͤchte ich ungern an einen andern verkaufen: ihr
habt mir allemal ehrlich gedient, und es geht mir durchs
Herz, wenn ich daran denke, daß ihr vielleicht einem
Manne zu Theil werdet, der, wenn er zu viel verſpielet
hat, ſich an eurer Armuth erholet; koͤnnt ihr zum Gelde
rathen: ſo verſaͤumt die Gelegenheit nicht, euch frey zu
kaufen. Zwey tauſend Thaler ſind mir fuͤr euch geboten,
und ihr ſollt der naͤchſte zum Kaufe ſeyn, wenn ihr in
Zeit von acht Tagen eben ſo viel geben wollt.
Halb traurig und halb froh hoͤrte Boiko dieſen un-
vermutheten Vortrag an. Ungern, erwiederte er, ver-
laſſe ich das Eigenthum meines gnaͤdigen Gutsherrn, der
bisher mein Herr und mein Schutz geweſen, und Geduld
mit mir gehabt hat, ſo oft mich Ungluͤcksfaͤlle auſſer
Stand geſetzt haben ihm meine Pacht zu entrichten. Allein
wenn ich ihn durchaus verlaſſen ſoll, o ſo bitte ich mir
das Vorrecht vor andern zu goͤnnen, ich will ſehen, wie
ich in der geſetzten Zeit, ſo blutſauer es mir auch werden
wird, zum Gelde gelange, und die uͤbrige Zeit meines
Lebens gern Waſſer trinken, um mit meinen Nachkom-
men zu ewigen Tagen in Freyheit zu leben und zu ſterben.
So
[318]Der Freykauf.
So wie er dies geſagt hatte, gieng er in hohem
Muthe nach Hauſe. Fuͤnf hundert Thaler hatte er baar;
zweyhundert gedachte er aus ſeinem uͤberfluͤßigen Holze
zu machen, und das uͤbrige hofte er gegen Verpfaͤndung
eines Theils ſeiner Laͤndereyen zu bekommen Dieſes
waren ſeine Ueberlegungen unter Weges, und kaum
hatte er ſeiner Frauen und ſeinen Kindern ihr gemein-
ſchaftliches Gluͤck, und den Plan eroͤffnet, wie er zum
Gelde gelangen koͤnnte: ſo wurde ein Nachbar nach dem
andern herbeygeholet, um zu uͤberrechnen, was fuͤr Leute
in der Bauerſchaft waͤren, die Geld haͤtten, und ſolches
vorſchießen koͤnnten. Der eine hatte ihrer Vermuthung
nach hundert, der andre hatte funfzig Thaler, und ſo
oft etwas zu fehlen ſchien, ſagte die Frau, daß ſie in
Zeit von vierzehn Tagen noch ein Stuͤck Loͤwend Linnen
fertig haben wuͤrde, womit auch noch ein gutes Loch ge-
ſtopfet werden koͤnnte. Alle aber ſtimmten froh darin
uͤberein, daß das Geld noch wohl zu kriegen ſeyn wuͤrde,
und Thraͤnen der Freude traten dem guten Boiko ins Au-
ge, ſo oft der Krug herumgieng, und ihm ſchon mit ei-
nem. . es gilt euch Herr Boyemann zugebracht wurde.
Erſt ſpaͤt in der Nacht verließ die bidere Geſellſchaft den
warmen Heerd, und jeder legte ſich mit der hohen Erin-
nerung eines wichtigen Entſchluſſes, vielleicht auch etwas
berauſchet zur Ruhe.
Allein indem alle im tiefen Schlafe begraben lagen,
ohne daß auch nur ein Traum ihre Ruhe ſtoͤrte, machte
ſich Hazeke, ihre aͤlteſte Tochter, welche alles beym Heerde
mit angehoͤrt hatte, auf zu ihrem Braͤutigam, um dem-
ſelben ihr Ungluͤck zu eroͤffnen. Die fuͤnfhundert Thaler,
womit mich mein Vater ausgeboten hat; und worauf du
dich mit mir verſprochen haſt, ſollen jetzt zum Freykaufe
ange-
[319]Der Freykauf.
angewandt werden, war ihre erſte Anrede gegen ihn ſo
bald ſie ihn auf der gewohnten Stelle fand, und wann
dann noch ſo viel Holz gehauen, ſo viel Laͤnderey von
unſerm Hofe verſetzt, und alles was im Hauſe uͤberſluͤßig
iſt, losgeſchlagen werden ſoll, ſo bekommſt du gerade
nichts mit mir, und ich kann in die Welt gehen, um mein
Brod zu betteln. O Henrich Henrich, wir muͤſſen dieſen
Freykauf hintertreiben, oder du und ich ſind ungluͤcklich,
unwiederbringlich ungluͤcklich, mit ledigen Haͤnden laͤßt
ſich nichts anfangen.
Das laͤßt ſich freylich nicht, erwiederte Henrich ganz
ernſthaft, und aus unſer Heyrath kann nichts werden,
wenn du kein Geld haſt; Mein Gutsherr wird dich nicht
annehmen, und ich muß Geld freyen, wenn ich meinen
Hof erhalten ſoll. Aber iſt es denn ſchon ſo ganz richtig
mit dem Freykauf? und iſt das Geld, was angeliehen
werden ſoll, ſchon gezaͤhlet? keines von beyden verſetzte
ſie eiligſt. Mein Vater hat acht Tage Zeit genommen,
um das Geld zu ſchaffen und Morgen will er zu den Leu-
ten in der Bauerſchaft gehen, die es haben und leihen
ſollen. Es iſt alſo noch moͤglich, daß wir alles ruͤckgaͤn-
gig machen, wenn wir entweder einen andern aufbrin-
gen, der fuͤr uns und unſern Hof dem Gutsherrn mehr
bietet, oder aber die Leute bereden koͤnnen, unſerm Va-
ter kein Geld zu leihen. Gehe du Morgen zu dieſen, und
mache ſie bange, ich will indeſſen ſehen, ob ich den Wa-
ſenmeiſter in unſerm Dorfe der Geld wie Heu hat, bewe-
gen kann, daß er unſerm Gutsherrn einhundert Thaler
fuͤr meinen Vater mehr biete. Jſt es doch heut zu Tage
ſo, daß ein Bauer den andern kaufen kann, und der
Waſenmeiſter, der ſein Camiſol mit Golde beſetzt hat, iſt
doch auch ein ehrlicher Mann.
Beyde
[320]Der Freykauf.
Beyde flogen nun eiligſt aus einander, und das Ge-
ruͤchte ſagt gar, daß ſie ſich nicht einmal eine gute Nacht
zugerufen haͤtten, ſo ſehr hatte ihre Liebe gegen einan-
der ihre Aufmerkſamkeit auf die Mittel geheftet, die zu
ihrer Vereinigung fuͤhren ſollten. Henrich gieng ſofort
wie der Tag anbrach zu den Leuten, bey welchen er eini-
ges Geld vermuthete, und entdeckte ihnen im Vertrauen,
daß Boiko zu ihnen kommen, und ihnen weis machen
werde, daß er ſich fuͤr zweytauſend Thaler frey gekauft
haͤtte, da er doch das doppelte geboten haͤtte, welches
ſein Hof nie gelten koͤnnte; und hiemit richtete er ſo viel
aus, daß Boiko der ſpaͤter aufgeſtanden war, anſtatt
Geldes nichts wie leere Entſchuldigungen fand. Das
Maͤdgen aber wußte es mit dem Waſenmeiſter ſo gut ein-
zuleiten, daß dieſer den Gutsherrn, wie er nach verlau-
fenen acht Tagen kein Geld von ſeinen Eigenbehoͤrigen
ſahe, uͤberfuͤhrte, wie ein und zwanzig hundert Thaler
beſſer waͤren als zweytauſend die noch erſt aufgeliehen
werden ſollten.
Hazeke ſahe nachher zwar oft ihren Vater dem Wa-
ſenmeiſter dienen; aber die Freude ſich mit den nun von
ihrem Vater erhaltenen fuͤnfhundert Thalern gluͤcklich
zu ſehen, machte ihr ſein Ungluͤck leicht ertragen. Sie
liebte ihren Henrich zwar nicht im hohen Stil, und nach
dem Maaße unſrer Empfindungen, aber doch auf ihre
Weiſe ſtark genung, um Vater und Mutter fuͤr ihn zum
Henker zu ſchicken.
LXIII.
[321]
LXIII.
Was iſt bey Verwandelung der bisherigen
Erbesbeſetzung mit Leibeignen in eine freye
Erbpacht, zu beachten?
Jn gegenwaͤrtigen der Freyheit guͤnſtigen Zeiten mel-
den ſich verſchiedene Leibeigne um ihre Freyheit,
und wuͤnſchen ihre unterhabenden Hoͤfe gegen gewiſſe zu
beſtimmende Pflichten und Dienſte zu bauen; einige Guts-
herrn ſind auch dazu gar nicht abgeneigt; aber beyde wiſ-
ſen die Schwierigkeiten nicht alle zu uͤberwinden, welche
ihnen bey dieſer neuen Einrichtung vorkommen. Es feh-
let hier im Lande an einem allgemeinen Rechte freyer
Perſonen an gutsherrlichen Staͤdten; die alten Hofrechte,
worin die hiezu erforderlichen Beſtimmungen liegen, ſtu-
diret faſt niemand, und alles auf einen ſchriftlichen Con-
trakt ankommen zu laſſen, iſt bedenklich, weil man nicht
alle Faͤlle vorher ſehen kann, und mehr Proceſſe entſte-
hen ſieht, ſeitdem jeder ſein eignes Teſtament gemacht
hat, als zu der Zeit, wo die Erbfolge durch gemeine Ge-
wohnheiten und Rechte feſtgeſetzt war.
Die Frage: ob es uͤberhaupt gut ſey, ſeinen Leib-
eignen die Freyheit zu ertheilen, und ihnen den unterha-
benden Hof gegen beſtimmte Pflichten und Dienſte in
Erbpacht zu geben, iſt in dieſen Blaͤttern mehrmals auf-
geworfen, und von Verſchiedenen beantwortet worden.
Lange habe ich denjenigen beygepflichtet, welche ſolche
verneinet haben, und dieſes zwar aus dem Grunde, weil
natuͤrlicher Weiſe jeder Gutsherr ſich hieruͤber mit ſeinen
Leibeignen beſonders vergleichen, und mancher dieſen Ver-
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Xgleich
[322]Von Verwandlung der Erbesbeſetzung
gleich leicht zu hart machen wuͤrde, da denn, wenn alles
und jedes, woruͤber ſie Beyde ſolchergeſtalt einverſtanden
ſind, gleich den alten gutsherrlichen Paͤchten bey dem
Steuer-Anſchlage vorabgezogen werden ſollte, andere
mit ihnen in gleicher Reihe und Pflicht ſtehende Hoͤfe
darunter leiden wuͤrden; ich konnte mir die Schwierig-
keit nicht heben, wie es in dem Falle, wo ein Hof in
Verfall geriethe, und den oͤffentlichen und gutsherrlichen
Laſten nicht zugleich gewachſen bliebe, gehalten werden
ſollte? ob naͤmlich, ſo denn die Einkuͤnfte wie jetzt, zwi-
ſchen beyden getheilet, und dasjenige, was dem Hofe
fuͤr die dem Beſitzer ertheilte Freyheit neuerlich aufgelegt
wuͤrde, mit zu dieſer Rechnung kommen ſollte, oder nicht?
Eine Schwierigkeit die mir um ſo viel groͤßer ſchien, da
man kein oͤffentliches Kataſter hat, worin die alten Paͤchte
und Dienſte mit einander verzeichnet ſind, und ſolcher-
geſtalt hierunter dem Beweiſe wuͤrde trauen muͤſſen, wel-
chen beyde Theile fuͤr richtig erkennen. Mit einem Worte,
ich fuͤrchtete, dasjenige was fuͤr auſſerordentliche Ge-
faͤlle zwiſchen dem Gutsherrn und Leibeignen verglichen,
und auf ein jaͤhrliches gewiſſes Geld geſetzet werden wuͤr-
de, moͤchte eine Real-Erbeslaſt, und aus obigen Gruͤn-
den dem gemeinen Weſen, was doch zu dieſem Contrakt
nicht gezogen werden ſoll, und in Anſehung deſſen folg-
lich auch dieſer ſo wenig als jener Beweis einige Guͤltig-
keit haben kann, nachtheilig werden.
Allein nachdem ich in den alten Hofrechten die Ver-
ordnung fand,
daß ein Freyer, der ſeine freye Urkunde jaͤhrlich
nicht bezahlte, als ein Leibeigner beerbtheilet und
behandelt werden ſollte;
ſo ſahe ich auf einmal, daß es nicht noͤthig ſey, aus dem-
jenigen, was zwiſchen dem Gutsherrn und Leibeignen fuͤr
die
[323]mit Leibeignen in freye Erbpacht.
die auſſerordentlichen Gefaͤlle verglichen werden wuͤrde,
zum Nachtheil des gemeinen Weſens eine Erbeslaſt zu
machen; ich dachte, der Gutsherr koͤnne zufrieden ſeyn,
wenn derjenige, der ihm das Verglichene nicht bezahlt,
zur Strafe wieder Leibeigen werden muͤſſe, und wie ſol-
chemnach der Staat nicht mehr verliert, als er jetzt wuͤrk-
lich entbehren muß: ſo pflichtete ich denjenigen bey, welche
fuͤr die Freyheit redeten.
Aber nun entſtand die Frage, was man allenfalls
fuͤr allgemeine Grundſaͤtze annehmen koͤnnte, um alle
Jrrungen zwiſchen dem Gutsherrn und dem freyen Erb-
pachter zu verhuͤten, und die Graͤnzen ihrer beyderſeiti-
gen Rechte zu beſtimmen? Es lag gleich vor Augen, daß
von dem Augenblick der ertheilten Freyheit an ein ganz
neues Jntereſſe zwiſchen beyden Theilen entſtuͤnde. Vor-
her lag dem Gutsherrn alles an der Erhaltung ſeines
Leibeignen; er mußte ihn ſchonen, ſchuͤtzen und vertreten,
um gute Auffahrten, Sterbfaͤlle und Freybriefe zu erhal-
ten; jede Schuld die der Bauer auf ſein bewegliches Gut
machte, jeder Proceß den er anfieng, jeder Bruͤchte den
er bezahlte, jedes Kind das er ausſteuerte, jede Schaz-
zung die er bezahlen ſollte, alles intereſſirte den Guts-
herrn, alles bewog ihn zu ihrem beyderſeitigen gemein-
ſchaftlichen Beſten zu handeln. So bald iſt aber der Mann
nicht frey: ſo fallen alle dieſe Betrachtungen rein weg;
der Gutsherr nimmt was ihm zukoͤmmt, und bekuͤmmert
ſich nicht weiter um ſeinen Paͤchter, er ſieht ihn wie ei-
nen freyen Handwerker an, den er ſo genau als moͤglich
bedingt, ohne darnach zu fragen, ob er auch Salz und
Brod behalte: wird er in Streitigkeiten verwickelt, deſto
ſchlimmer fuͤr ihn; ſind Steuern zu bewilligen: ſo ſorgt
der Gutsherr nur fuͤr die Sicherheit ſeiner Erbzinsfruͤchte,
und das uͤbrige iſt ihm gleichguͤltig, der freye Erbpaͤchter
X 2hat
[324]Von Verwandlung der Erbesbeſetzung
hat kein Wort dabey zu ſprechen und keinen Vertreter.
Kurz der Mann, der als Leibeigner einem Kutſchpferde
gleich gehalten wurde, was man zu ſeinem eignen Ver-
gnuͤgen und Vortheile in dem beſten Stande zu erhalten
ſucht, wird jetzt einem Miethpferde *) gleich, was man
heute ſo gut und ſo viel braucht als man kann, und ſich
nicht darum bekuͤmmert, wie es Morgen zittern werde.
Dieſes ſo ploͤtzlich erſcheinende neue Jntereſſe, ſage ich,
lag vor Augen, und aus demfelben gieng der Schluß her-
vor, daß die Graͤnzen zwiſchen einem Gutsherrn und ei-
nem freyen Erbpaͤchter weit genauer beſtimmt werden
muͤſſen, als zwiſchen jenen und ſeine leibeignen Paͤchter,
wo ihr beyderſeitiger Vortheil in der Schonung und Bil-
ligkeit beruhet.
Zuerſt kam der Hof in Betrachtung. Hier redete
die Sache von ſelbſt, daß die Freyheit dem Erbpaͤchter in
Anſehung deſſen nicht mehr Rechte geben koͤnnte, als er
vorhin wie Leibeigner gehabt hatte. Beyde ſind in glei-
cher Maaße ſchuldig die Gebaͤude zu errichten und zu er-
halten, und ſolche ſo wenig als Zaͤune und Frechten ver-
fallen zu laſſen; beyde muͤſſen in Bau und Spannung
gleich gut beſtehen; beyde koͤnnen den Hof nicht mit neuen
Dienſtbarkeiten, Schulden, oder Auslobungen beſchwe-
ren; beyde koͤnnen ihm durch Proceſſe oder Contrakte
nichts vergeben; beyde duͤrfen das Holz nicht ungebuͤhr-
lich
[325]mit Leibeignen in freye Erbpacht.
lich angreifen; beyde haben den Hof nur, wie es in der
alten Formel heißt to tellen unde to bowen, oder zum
pflanzen und bauen unter, nicht aber um weiter unter,
oder uͤber die Erde zu gehen, und Veraͤnderungen vorzu-
nehmen, wodurch der Hof in ſeinem Weſen veraͤndert
wird; beyde bleiben, wenn ſie dieſen Grundgeſetzen zu-
wider handeln der Abaͤuſſerung, oder wenn man in An-
ſehung der Freyen einen andern Namen gebrauchen will,
der Abmeierung unterworfen. Es hinderte alſo nichts
ſich hierunter in allgemeinen Ausdruͤcken an die Eigen-
thumsordnung zu halten, und den Grundſatz anzunehmen.
daß der freye Erbpaͤchter ſich in Anſehung des Ho-
fes ein mehrers, als den Leibeignen in der Eigen-
thumsordnung erlaubt iſt, nicht herausnehmen,
oder widrigenfalls, wo dieſer desfalls der Abaͤuſſe-
rung unterworfen iſt, die Abmeyerung leiden ſolle.
Eben ſo deutlich redete auch die Sache in Anſehung der
Dienſtleiſtungen und Paͤchte, und zwar dergeſtalt, daß der
Gutsherr ſolche von dem freyen Erbpaͤchter nach eben
dem Maaße und eben dem Ziele fordern konnte, nach wel-
chem er ſolche von ſeinem Eigenbehoͤrigen hatte, die Selbſt-
pfandung nicht ausgeſchloſſen. Es konnte alſo auch hier
die Eigenthumsordnung die bekannte Richtſchnur bleiben.
Die einzige Ausnahme, welche ſich hier aufſtellete,
betraf das Holz, warum ſich mancher Gutsherr, nach
vermindertem Jntereſſe, zum Nachtheil des gemeinen We-
ſens, jetzt weniger, oder auch wohl, um den freyen Erb-
paͤchter durch einen Nebenweg wieder unter ſeine Will-
kuͤhr zu bringen, zu ſehr bekuͤmmern wuͤrde. Die erſte
von dieſen beyden Folgen ſchien mir hier im Lande, wo
man den voͤllig freyen Bauern, wiewohl mit Unrecht, die
willkuͤhrliche Nutzung ihres Holzes geſtattet, und ſolcher-
geſtalt das Publikum in Gefahr ſetzt, durch den uͤblen
X 3Haus-
[326]Von Verwandlung der Erbesbeſetzung
Haushalt eines einzigen ſchlechten Wirths einen Erbſcha-
den an einem Reihepflichtigen Gute zu erleiden, nicht
gefaͤhrlich, und allenfalls zur kuͤnftigen Vorſorge des Ge-
ſetzgebers zu gehoͤren. Die andre aber fand ich um ſo
viel bedenklicher, je mehr das neue Jntereſſe, und der
daraus gezogene Schluß eine ſcharfe Beſtimmung noth-
wendig machte. Die Verweigerung der Anweiſung, oder
willkuͤhrliche Gebuͤhren fuͤr jeden Stamm, ſind immer ge-
faͤhrliche Mittel fuͤr einen uͤbelwollenden Herrn, und
wenn man einmal die Abſicht hat, Freyheit und Leben
einzufuͤhren, muß man alles was dieſe verhindern kann,
auf die Seite ſchaffen. Hiezu aber liegt, ſo viel ich ur-
theilen kann, das Mittel nicht in der Eigenthumsord-
nung; und gerade hier wird es noͤthig ſeyn, den ſchrift-
lichen Contrakt zu gebrauchen, mithin darinn zu beſtim-
men, ob der Erbpaͤchter unter gehoͤriger Verpflichtung
zur Wiederanpflanzung die Nothdurft an Brand- und
Bauholze ohne Anweiſung nehmen, oder ob er ſolche zu
dem letztern ſowohl was das Zaun- Wagen- Riegel- und
Speer- als Hausbalkenholz betrift, nachſuchen, und wie
weit er nach Beſchaffenheit der Localumſtaͤnde zum Ver-
kauf oder zu einer Forſtmaͤßigen Nutzung, denn das Ver-
hauen und Verſchwenden iſt immer verboten, berechtiget
ſeyn ſolle?
Meine zweyte Betrachtung fiel auf Bau und Beſſe-
rung. Hievon weiß man bey der Erbesbeſetzung mit
Leibeignen nichts; alles was dieſelben in den Hof ver-
wenden, koͤmmt dem Hofe, oder dem Hofeserben, und
wenn dieſer fehlt, dem Gutsherrn ohne alle Erſtattung
zu gute. Aber auch dieſes iſt der wahre deutſche Meyer-
contrakt, und es hindert nichts den Erbpachtscontrakt
dahin zu richten.
daß
[327]mit Leibeignen in freye Erbpacht.
daß alles was der Erbpaͤchter an dem Hofe bauen
und beſſern oder aus der offnen Mark, worin der
Hof berechtiget iſt, es ſey unter welchem Titel es
wolle, ankaufen wuͤrde, dem Hofe und Hofeserben,
nach deſſen Abgang aber dem Erbverpaͤchter ohne
alle Erſtattung zu gute kommen ſolle.
Der Fall, wo das angekaufte noch unbezahlt, und ſol-
chergeſtalt noch nicht rein mit dem Hofe verknuͤpft iſt,
nimmt ſich von ſelbſt aus; und das Recht was die Ei-
genbehoͤrigen haben, Gruͤnde, welche ſie auſſer aller Be-
ziehung auf den Hof gekauſet haben, bey Lebzeiten wie-
der verkaufen zu moͤgen, bleibt dem Erbpaͤchter und ſei-
nen Nachkommen ewig. Aber in der Mark, worin der
Hof liegt, bezieht ſich alles auf denſelben. Hier muß der
Erbpaͤchter nichts zum freyen Verkauf fuͤr ſich und die
ſeinige, ſondern alles dem Hofe und Hofeserben er-
werben; oder er iſt in beſtaͤndiger Verſuchung ein Ver-
raͤther an dem ihm anvertraueten Meyergute zu werden,
und ſein Erbgut zum Nachtheil des Pachtguts zu beſſern.
Alſo kein Erbgut in derſelben Mark, worin der Hof liegt.
Die Beſitzer aller Pfruͤnden befinden ſich in gleichem
Falle. Was ſie an ihren Curien und Obedienzien ver-
beſſern, bleibt nach ihrem Tode ohne alle Erſtattung da-
bey, in ſo fern ſie ſich nicht durch eine Bewilligung ihrer
Obern vorgeſehen haben, welche insgemein auf eine jaͤhr-
liche Abtoͤdtung gerichtet iſt, und auch in dieſer Maaße
dem Erbpaͤchter ohne ſonderlichen Nachtheil des Guts-
herrn, entweder von dieſem oder wenn derſelbe unbillig
ſeyn ſollte, von der Obrigkeit ertheilet werden kann; auf
zwanzig Jahr, wenn er bereits einen Hofeserben im Le-
ben hat, und auf zehn wenn er dergleichen nicht ha-
ben ſollte.
X 4Nichts
[328]Von Verwandlung der Erbesbeſetzung
Nichts hat den Leibeigenthum mehr beguͤnſtiget, als
der billige Vortheil welchen der Gutsherr hat, daß er
wegen Bau und Beſſerung, Gail und Gare, oder wie
ſonſt die Zankaͤpfel zwiſchen Paͤchtern und Verpaͤchtern
mehr heiſſen, mit keinen Glaͤubigern oder Allodialerben
zu liquidiren und zu ſtreiten hat. Dieſer Vortheil muß
alſo auch mit der Erbpacht, wenn man dieſelbe befoͤrdern
will, verknuͤpfet bleiben. Die abgehenden Kinder erhal-
ten ihre Auslobung, womit ſie von aller Beſſerung ab-
gefunden werden, und es giebt hier keine Regredi-
enterben.
Auch hat man bey den Pfruͤnden das gluͤckliche Recht,
daß ſich keine Glaͤubiger und Erben ohne Mittel in die
Erbſchaft des Verſtorbenen miſchen koͤnnen, ſondern was
ſie zu fordern haben, aus der Hand der ernannten Exe-
cutoren nehmen muͤſſen ſo die Erbſchaft zu verwahren
haben. Eine ſolche Verwahrung war auch ehedem bey
den Lehnen, unter dem Namen von Cuſtodia, und der
Lehnsherr uͤbte ſie aus. Eben dieſelbe iſt wiederum der
große Vortheil des Leibeigenthums, wo der Gutsherr
voͤlliger und einziger Executor oder Cuſtos auf dem Hofe
iſt, ſo bald der Fall eintritt. Ein gleicher Vortheil kann
dem Erbverpaͤchter unter dem Namen einer Erbesver-
wahrung zugeſtanden werden, um alles Beſitzergreifen
Vorenthalten (jus retentionis) und unmittelbare Einmiſchen
fremder Praͤtendenten und Glaͤubiger von ſeinem Hofe
abzuhalten, und wuͤrde ſolcherhalb in dem Erbpachtcon-
trakt zu bedingen oder vielmehr in einem gemeinen Mey-
errechte zu verodnen ſeyn,
daß der Hof in beſtaͤndiger Verwahrung ſeines Guts-
herrn bleiben, mithin keiner daran oder darauf ei-
nen feſten Beſitz haben ſolle als derjenige, der ſol-
chen
[329]mit Leibeignen in freye Erbpacht.
chen fuͤr ſeines Leibesleben aus den Haͤnden den
Gutsherrn empfangen haͤtte.
Damit waͤre denn alles Recht der Vorenthaltung und
Beſitzergreifung fuͤr ſolche Perſonen, die nicht ſelbſt die
Hand am Gute erhalten, voͤllig ausgeſchloſſen, und die
richterliche Handhabung gehoͤrig eingeſchraͤnkt; ſo dann
muͤßten die Erben zu dem beweglichen Gute, was ihnen
gebuͤhrte, aus der Verwahrung des Executoren nicht
aber ohne Mittel nehmen. Das iſt auch der deutſche
Unterſcheid zwiſchen Erben und Erbgenahmen.
Wollte man dieſes zum Beſten der Erbgenahmen und
Glaͤubiger mildern: ſo wuͤrde ſolches alſo geſchehen koͤn-
nen, daß der Gutsherr ihnen in dem Falle, wo ihm das
Erbe eroͤfnet wuͤrde, die ganze Erndte des Jahrs, worin
der letzte Erbpachter ſtirbt, und allenfalls noch ein Jahr
aus ſeiner Verwahrung zu gute kommen lieſſe, woraus
dann diejenigen, mit deren Gelde oder Fleiſſe eine oder
andre unbezahlte Beſſerung ausgerichtet worden, ihre
Befriedigung erhalten koͤnnten.
So viel von dem Hofe; jetzt will ich auf die Perſon
des Erbpaͤchters kommen. Hier zeigt ſich die groͤßte Schwie-
rigkeit, wie man eine genaue Scheidungslinie zwiſchen
Hofeserben und andern Erben ziehen wolle. Dem Guts-
herrn iſt es nicht zuzumuthen, daß er allen und jeden,
die dem Berſtorbenen nahe oder fern verwandt ſind, in
ihrer Ordnung den Hof uͤbergeben ſolle. Wollte man die-
ſes fordern: ſo koͤnnte ich keinem rathen, ſich auf eine
Erbpacht einzulaſſen. Nie wuͤrde ihm ſein Hof eroͤfnet
werden, und oft wuͤrde er mit allerhand Erben ſich herum
zu zanken haben. Es iſt alſo durchaus noͤthig hier eine
Graͤnzlinie zu ziehen. Die Frage iſt aber wie? und wo?
man ſolche ziehen wolle.
X 5Die
[330]Von Verwandlung der Erbesbeſetzung
Die Roͤmer hatten hier zuerſt, wie ſie ihre laͤndli-
chen Begriffe mit in die Stadt brachten, ihre Suitet,
und Emancipation. So bald ein Kind aus der Suitet
trat, verlohr er ſein Erbrecht. — Gleiche Begriffe hat-
ten die Deutſchen, der Erbe mußte ſeyn hoͤrig, huldig
und ledig, und dieſes gieng ſo weit, daß ein Bruder in
einer Hode oder Hulde ſeinen Bruder in einer andern
nicht erben konnte. Keine Erbſchaft folgte aus der Stadt
oder der Buͤrgerhulde aufs Land, aus einer Hode in die
andre, aus einer Hoͤrigkeit in die andre. So wenig jetzt
ein freyer Sohn ſeinen leibeignen Vater beerbt, eben ſo
wenig erbten emancipirte, aus der Suitet, dem Gehoͤr
oder der Hulde entlaſſene Kinder ihre Eltern. Hier im
Stifte ward dieſes Recht zuerſt durch die mit dem Bi-
ſchofe Conrad von Diebholz im Jahr 1482 geſchloſſene
Capitulation §. 12. aufgehoben; und auf demſelben be-
ruhet noch der Abſchoß.
Auf dieſe Begriffe leitete die Natur Menſchen, wel-
che die Schwierigkeit fuͤhlten, die ich vorhin angefuͤhrt
habe, und die ſie gern vermeiden wollten. Begriffe die
das große Gebaͤude der Hoͤrigkeit getragen haben, was
ehedem uͤber den Boden von ganz Europa hervorragte,
und die in manchen Koͤpfen jetzt fuͤr redende Urkunden der
Leibeigenſchaft gelten. Allein eben dieſe Begriffe ſind jetzt,
da ſie der Praͤtor zu Rom, und der Geldreichthum, wel-
cher bald den groͤßten Theil der Erbſchaften ausmachte,
uͤberall verbannt hat, ſo wohl ihrer großen Feinheit we-
gen, als weil ſich alles in Territorialunterthanen verwan-
delt hat, ziemlich unbrauchbar. Sie ſind das feinſte
Kunſtgewebe des menſchlichen Verſtandes, der nur das
Band der Hulde zwiſchen Haupt und Gliedern kannte,
und man muͤßte ſie, wie ehedem taͤglich behandeln, um
ſie in Uebung und Anſchauung zu unterhalten.
Jn
[331]mit Leibeignen in freye Erbpacht.
Jn dieſer Verlegenheit muͤſſen wir wieder unſre Zu-
flucht zur Eigenthumsordnung nehmen; dieſe ſagt:
Diejenigen welche vom Erbe mit Ausſteuer abgeguͤ-
tet, darauf Verzicht gethan oder andre Erben und
Guͤter angenommen haben, ſollen keinen Regres
zur Erbfolge im Hofe haben, es ſey dann daß der
Gutsherr ſie mittelſt gebuͤhrender Qualification hin-
wieder dazu laſſen wolle.
Und dieſes muß auch der Grund der Erbfolge im Hofe
bey freyen Perſonen bleiben. Jedes Kind, was aus dem
Hofe freyet, ein Ausdruck der ſich auch auf die alte Hoͤ-
rigkeit bezieht, muß, ſo bald der Prieſter den Eheſegen
geſprochen hat, nichts weiter als ſeine Auslobung for-
dern koͤnnen, und damit von aller Erbfolge im Hofe ab-
geſchnitten ſeyn. Das Erbrecht faͤllt von einem Kinde
aufs andre, ſo lange ſie noch ungefreyet ſind; unter die-
ſen kann eins zum Vortheil des andern darauf Verzicht
thun, aber es kann ohne gutsherrliche Bewilligung kein
Verzicht oder Abſtand zum Vortheil ſolcher Kinder gelten,
welche das vaͤterliche Gehoͤr, oder den Hof mit Heyra-
then verlaſſen haben. Und dieſen Grundſatz zu verſtaͤr-
ken, kann man im uͤbrigen die voͤllige Analogie der Ei-
genthumsordnung gelten laſſen.
Bey dem Leibeignen ſtreitet man daruͤber, ob dieje-
nigen Kinder, welche auf eine andre Stelle in dem naͤm-
lichen Eigenthum heyrathen, ihr Erbrecht verlieren? Ein
gleicher Streit erhob ſich auch ehedem im Hofrechte uͤber
die Veranderſettung (etabliſſement ailleurs) und man be-
hauptete, daß die Kinder, welche in derſelben Hulde blie-
ben, ſich nicht verander ſetteten. Eben ſo konnte es auch
geſchehen, daß bey dem Ausdruck aus dem Hofe heyra-
then, die Frage entſtuͤnde, ob Kinder die im Hofe heyra-
theten und auf demſelben entweder als Vormuͤnder des
Aner-
[332]Von Verwandlung der Erbesbeſetzung
Anerben, oder zur Heuer blieben, ihr Erbrecht damit ver-
wirken, beſonders wenn ſie mit dem Hofeserben in einer-
ley Hude bleiben? Dieſem Streite wird man aber in An-
ſchung der Erbpacht damit vorbeugen koͤnnen, wenn man
in den Meyercontrakt ſetzt,
daß alle Kinder, welche heyrathen, wenn ein An-
erbe im Leben iſt, damit voͤllig abgehen, und weiter
nichts als ihre Auslobung fordern ſollen.
Ueberhaupt aber wird es noͤthig ſeyn hier die Behandung
einzufuͤhren. Die Behandungsguͤter ſind bekannt, be-
ſonders in dem Fuͤrſtlich Werdenſchen Lehnhofe, und ſie
werden auch adlichen (wie wohl nicht zu Meyer- ſondern
zu Ritterdienſten) mithin gewiß aller perſoͤnlichen Frey-
heit unbeſchadet, verliehen. Dieſe Behandung giebt der
ganzen Sache eine ordentliche Richtung, als:
- 1) behandet der Gutsherr dem freyen Erbpaͤchter oder
deſſen Anerben und ſeiner Frauen das Gut; daher
faͤllt es von dem Manne auf die Frau, und von der
Frau auf den Mann fuͤr ihrer beyder Leibesleben. - 2) Behandet er es einem Stiefvater oder einer Stief-
mutter, wenn der Fall einer zweyten Ehe eintritt,
und erhaͤlt damit das Recht die Behandung auf
eben die Jahre einzuſchraͤnken, auf welche ſie der
Gutsherr in Anſehung der Leibeignen einſchraͤnkt,
da denn auch wiederum die Analogie der Eigen-
thumsordnung hier zu gebrauchen iſt. - 3) Behandet er nach dieſer Analogie den Eltern, wenn
ſie abziehn auch die Leibzucht, und behaͤlt dadurch
deren Beſtimmung nach uͤblichem Rechte in ſeiner
billigen Vorſorge. - 4) Steht die Behandung mit der vorgedachten Bewah-
rung in einem ſyſtematiſchen Zuſammenhange.
5) Kann-
[333]mit Leibeignen in freye Erbpacht.
- 5) Kann der Gutsherr kraft der Bewahrung, wenn er
es noͤthig findet, den Zuſtand ſeines Hofes unter-
ſuchen, und nachſehen, ob derſelbe auch verſchul-
det ſey. - 6) Erhaͤlt auch mittelſt der Behandung der Zuſtand des
Erbens ſeine eigentliche Beſtimmung. Man ſieht
alle noch unverheyrathete Kinder ſind hoͤrige und
nothwendige Erben, heredes ſui \& neceſſarii, alle
andre aber nicht. Dennoch geht der Beſitz auf dieſe
nicht von ſelbſt (ipſo jure) ſondern durch die Behan-
dung uͤber. Und da. - 7) eine Beſtimmung noͤthig iſt, was bey dem Abzug der
Eltern auf die Leibzucht im Hofe gelaſſen werden
muß und nicht mitgenommen werden kann, oder
was von der Erbtheilung ausgeſchloſſen iſt: ſo kann
der Gutsherr dafuͤr ſorgen, daß diejenigen Sachen,
welche unter die Behandung gehoͤren (res Manipi
auf weſtphaͤliſch Redegut) zuſammen im Hofe blei-
ben und dem Hofeserben nicht entzogen werden.
Eine ganz andre Frage aber iſt es, ob den alſo abge-
gangenen Kindern auf den Fall, da der Hofeserbe und
ſeine Frau abgehen, nicht das Naͤherrecht vor einem
Fremden, wenn jener die naͤmlichen Bedingungen einge-
hen will als dieſer, zuzubilligen ſey? und ob ſodann die
naͤchſten Verwandten des Letztlebenden, ohne Unterſchied,
ob der Hof ihm urſpruͤnglich gehoͤrt habe oder nicht, den
Vorzug haben ſollen? Allein da ſolche nur zu Proceſſen
fuͤhren wuͤrden: ſo ſcheinet es mir am beſten zu ſeyn, die-
ſes Naͤherrecht auszuſchlieſſen, wie es denn auch bey
Eigenbehoͤrigen nicht ſtatt findet. Doch moͤgen andre,
die mildere Meinung, ohne daß ich ihnen darin wider-
ſprechen will, behaupten.
Auch
[334]Von Verwandlung der Erbesbeſetzung ꝛc.
Auch koͤnnte man noch fragen: ob es nicht rathſam
ſeyn wuͤrde das Hageſtolzenrecht, nach welchem der Ho-
feserbe, wenn er unverheyrathet verſtirbt, als Leibeig-
ner beerbtheilet werden kann, zu bedingen. Denn der
Gutsherr kann einen freyen Mann nicht wie einen Leib-
eignen noͤthigen, ſich bey Verluſt ſeines Erbrechts zu ver-
heyrathen; und jenes Hageſtolzenrecht kann nur bey
freyen Perſonen ausgeuͤbet werden, weil Leibeigne ohne-
hin von ihren Gutsherrn beerbtheilet werden. Allein dieſe
Bedingung ſcheint mir uͤberfluͤßig, weil der Meyercon-
trakt dahin geſchloſſen werden kann, daß der Hofeserbe,
wenn er bis uͤber dreyßig Jahr mit der Heyrath wartet,
dem Weinkauf ſo als wenn er wuͤrklich heyrathet, bezah-
len ſolle. Und wenn man auch dieſes nicht will: ſo muͤß-
ten zugleich mehrere unverheyrathete Geſchwiſter im Hofe
geblieben ſeyn, wenn derſelbe dem Gutsherrn nicht eroͤf-
net werden ſollte. Und dieſes wird ſelten der Fall ſeyn.
LXIV.
Formular eines neuen Colonatcontrakts,
nach welchem einem vormaligen Cammereigen-
behoͤrigen, nach vorgaͤngiger Freylaſſung
der Hof uͤbergeben worden.
Des Allerdurchlauchtigſten, Großmaͤchtigſten Fuͤrſten
und Herrn, Herrn GEORG des III. Koͤnigs von
Großbritannien, Frankreich und Jrland, Beſchuͤtzer des
Glaubens, Herzogs zu Braunſchweig und Luͤneburg ꝛc.
als Vaters des Durchlauchtigſten Fuͤrſten und Herrn,
Herrn
[335]Formular eines neuen Colonatkontrakts.
Herrn Friederichs poſtulirten Biſchofs zu Oſnabruͤck ꝛc.
zum Amte .... beſtellete Droſt und Rentmeiſter urkun-
den und bekennen hiedurch, daß Wir dem N. N. und
ſeiner ehelichen Hausfrauen N. N. beyderſeits freyen
Standesperſonen *), auf ihr geziemendes Anſuchen bey
Hochpreißl. Regierung zu Oſnabruͤck, und darauf von
derſelben an uns ergangenen beſondern Befehl, mittelſt
Darreichung unſrer rechten Hand behaͤndigt und uͤberge-
ben haben, ein dem H. Peter **) und zeitigen Biſchofe
zu Oſnabruͤck gehoͤriges Erbe, in dieſem Amte und der
Vogtey Berge belegen, der Meyerhof zu N. N. genannt,
mit allen dazu gehoͤrigen Gebaͤuden, Gaͤrten, Kaͤmpfen,
Aeckern Wieſen, Weiden, Holzungen, Heiden, Moͤhren,
Bruͤchen und Gewaͤſſern, derenſelben jetzigen und kuͤnf-
tigen Verbeſſerungen, auch Muͤhlen- Jagd- ***) und
Markgerechtigkeiten, wie dieſelben bisher aus dieſem Hofe
geuͤbet worden oder beſſer geuͤbet werden moͤgen, jedoch
alles in der Maaße, um denſelben mit dieſen darinn und
darausgehenden Gerechtſamen, auf ihrer beyder Lebens-
zeit, oder ſo lange bis ſie die Leibzucht waͤhlen, zu bauen
zu beſſern und zu nutzen, insbeſondre aber, das darauf
ſtehende Erbwohnhaus nebſt den dazu gehoͤrigen Neben-
gebaͤuden, wie auch die Muͤhle in redlicher Beſſerung zu
erhal-
[336]Formular eines neuen Colonatkontrakts.
erhalten, ſolche, wenn ſie fallen, ohne unſere Koſten und
Schaden wieder aufzubauen, ſich jederzeit bey guter
Spannung und Viehzucht zu halten, den Acker gehoͤrig
zu beſtellen, die Frechten, Ufer und Wallungen wohl zu
vertheidigen, das Gehoͤlze mit Zupflanzen und Zuſaͤen
beſtens zu pflegen, und ſich in allen alſo zu verhalten, wie
es einem guten treflichen Wirthe wohl anſtehet und ge-
buͤhret.
Davor ſollen ſie einem zeitigen Biſchofe zu Oſnabruͤck
und an deſſen Statt uns nicht allein treu, hold und ge-
waͤrtig ſeyn, ſofort des Stifts, Amts und Hofes Beſte
nach Moͤglichkeit befoͤrdern und deſſen Schaden warnen
und wehren, ſondern auch uns die aus beſagtem Hofe
bisher gegangene Paͤchte, als:
- 1) — Rocken
- 2) — Hafer
alle Jahr unverhoͤhet und unverjaͤhrt und zwar vor Mar-
tini gebuͤhrend und untadelhaft, ſo gut es naͤmlich auf
dem Hofe waͤchſt, an das Amthaus auf ihre Koſten lie-
fern, daneben … … und jaͤhrlich zur freyen Urkunde
einen harten Thaler von 2 Loth Silber in hieſiges Amts-
regiſter bezahlen, oder wenn ſie daran ſaͤumig ſeyn ſoll-
ten, erleiden, daß Wir ſie dazu mit eigner Huͤlfe, als
der Selbſtpfandung und Abdreſchung der Fruͤchte auf dem
Boden, oder auch dem Befinden nach gerichtlicher Huͤlfe
anſtrengen laſſen, und wenn ſolche, wegen ermangeln-
der Pfande ihre Wuͤrkung nicht haben koͤnnte und ſie auch
nicht in Zeit von drey Monaten den voͤlligen Ruͤckſtand
zu berichtigen vermoͤchten, dieſelbe des Hofes, jedoch auf
vorhergehendes rechtliches Erkenntniß, entſetzen.
Dagegen wollen Wir dann als Hofes Herrn dieſel-
ben bey der ihnen ertheilten Freyheit ſchirmen und ſchuͤz-
zen, ihnen ſo lange ſie leben oder auf dem Hofe bleiben
wollen,
[337]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
wollen, deſſen und aller ſeiner Zubehoͤrungen nutzbaren
Gebrauch verſtatten, mithin dieſelben dabey handhaben,
nach ihrem beyderſeitigen Ableben oder Abzuge auf die
Leibzucht, den Hof auf gleiche Maaße und Weiſe ohne
etwas davon zuruͤck zu behalten, einem von ihren eheli-
chen oder durch Vollziehung der Ehe legitimirten Kindern,
als welche letztere eben ſo angeſehen werden ſollen, als
wenn ſie waͤhrend der Ehe gezeuget und gebohren worden,
wiederum goͤnnen, und wenn daſſelbe zur Ehe ſchreitet,
gleich nach ausgeſprochenem prieſterlichen Segen, gegen
Erlegung eines auf eines Jahrs Pacht- und Dienſtgeld
hiemit beſtimmten unveraͤnderlichen Weinkaufs wuͤrklich
uͤbergeben, oder wo daſſelbe Verhinderung halber von
uns oder unſern Bevollmaͤchtigten, welchen ſie zur Ge-
buͤhr fuͤr dieſe Uebergabe und die daruͤber zu ertheilende
Urkunde zwanzig Thaler bezahlen ſollen, nicht geſchehen
ſollte, den Ausſpruch des prieſterlichen Segens fuͤr die
wuͤrkliche Uebergabe gelten laſſen, jedoch alſo, daß ſie
auch in dieſem Falle die vorgedachte Urkunde fuͤr die be-
ſtimmte Gebuͤhr nehmen und loͤſen und vor wuͤrklicher
Bezahlung des Weinkaufs und dieſer Gebuͤhr keinen hand-
hablichen Beſitz erlangen ſollen.
Und damit ſowohl wegen der Leibzucht, als der Art
und Weiſe, wie die Kinder in den Hof zugelaſſen werden
ſollen, allen kuͤnftigen Jrrungen vorgebauet werden moͤ-
ge: ſo wird denſelben hiemit nachgelaſſen, ſich der er-
ſtern halber mit dem Hofes Erben, jedoch mit unſerm
Vorwiſſen und unſerer Genehmhaltung ſelbſt zu verglei-
chen, und wollen Wir in dem Falle, da ſie hieruͤber nicht
einig werden koͤnnten, die Leibzucht nach dem Landrechte,
was bey andern gutsherrlichen Hoͤfen in Gebrauch, oder
vorher bey dem Meyerhofe uͤblich geweſen iſt, ganz oder
zur Haͤlfte, nachdem es der Fall erfordert, beſtimmen.
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. YWegen
[338]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
Wegen der letztern ſoll es alſo gehalten werden, daß
wenn Soͤhne vorhanden, unter denſelben der juͤngſte, in
ſo fern er nicht gebrechlich oder ſonſt unvermoͤgend iſt,
dem Hofe vorzuſtehen, und ſo auch die juͤngſte Tochter,
wenn ſie dazu tuͤchtig iſt, vor den aͤltern den Vorzug ha-
ben ſollen, damit die Eltern ihre aͤltern Kinder deſto beſ-
ſer berathen koͤnnen, und dem Hofes Erben nicht zu fruͤh
im Wege ſeyn moͤgen.
Daneben ſollen die Kinder erſter Ehe, ohne Unter-
ſcheid, ob es Soͤhne oder Toͤchter ſind, den Kindern ſpaͤ-
terer Ehe vorgezogen werden. Und dieſe Succeßions-
ordnung ſoll dergeſtalt beſtehen, daß ſo wenig beyde El-
tern als Vater und Mutter allein dagegen etwas vorneh-
men moͤgen, es waͤre denn, daß ſolche Urſachen eintreten,
welche eine Enterbung rechtfertigen koͤnnten, und Wir
ihnen hierauf geſtatteten, aus den von dem Hofe noch
nicht geſchiedenen Kindern einen andern Hofes Erben
zu erwaͤhlen.
Jedoch wollen Wir geſtatten, daß das juͤngere Kind
zum Vortheil eines andern, welches in dem Falle, da
dieſes nicht vorhanden waͤre, der naͤchſte Erbe geweſen
ſeyn wuͤrde, auf ſein Erbrecht Verzicht thun moͤge. Auch
ſoll der Hofes Erbe, wenn er auſſerhalb Landes waͤre,
und ſich vor Ablauf eines Jahres und eines Tages nicht
von ſelbſt meldete, damit ſeines Erbrechts an dem Hofe
verluſtig und dieſes auf denjenigen verfallen ſeyn, wel-
cher, wenn jener nicht vorhanden waͤre, der naͤchſte dazu
geweſen ſeyn wuͤrde. Waͤre aber dergleichen nicht vor-
handen, ſollen der oder die Abweſenden nach Ablauf ei-
nes Jahres und eines Tages unter Beſtimmung einer
fernern Friſt von drey Monaten, oͤffentlich vorgeladen,
und nur alsdenn der Behandung verluſtig ſeyn, wenn ſie
ſich in der ihnen alſo geſetzten Friſt nicht melden.
Sind
[339]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
Sind aber Kinder aus mehrern Ehen vorhanden,
und es gehen ſowohl die Soͤhne als die Toͤchter aus der
erſten Ehe ab: ſo haben die aus der zweyten das Recht
der erſtern, und tritt bey ihnen eben das ein was in An-
ſehung dieſer hier oben feſtgeſetzet iſt.
So lange dasjenige Kind, was ſolchergeſtalt von
Natur oder auch durch Verzicht eines andern, zum Hofe
gerufen iſt, unverheyrathet bleibt, als welches ihm, wenn
es bereits dreyßig Jahr und einen Tag erlebt hat, im-
mer fuͤnf Jahr nach dem Tage, daß ihm der Hof ange-
fallen iſt, vorher aber bis dahin, daß es dreyßig Jahr
und einen Tag erreicht hat, und fuͤnf Jahr daruͤber, ſei-
nem Erbrechte unbeſchadet erlaubt iſt, bleibt deſſen gan-
zen und halben Geſchwiſtern, wenn ſie nicht bereits ver-
heyrathet oder abgelobet ſind, der Hof in ihrer Ordnung
vom juͤngſten bis zum aͤlteſten offen, ſo, daß wenn jenes
darauf verſtirbt, dieſe ihm nach jener Ordnung fol-
gen moͤgen. Nach Verlauf der alſo beſtimmten Jahre
aber wird ein ſolches Kind fuͤr den Annehmer des Hofes
gehalten, derſelbe mag ihm dann uͤbergeben ſeyn oder
nicht, und mit ſeiner Annahme verlieren deſſen Geſchwi-
ſter allen kuͤnftigen Ruͤckgang in den Hof, ſo wie denn
auch ein ſolcher Annehmer ſodann den voͤlligen Weinkauf
und die Gebuͤhr fuͤr die Behandung erlegen muß.
Heyrathet aber ein ſolches Kind vor Ablauf dieſer
Zeit: ſo wird jener Ruͤckgang mit dem Augenblicke aus-
geſchloſſen, da der prieſterl. Segen uͤber ihn geſprochen
iſt, wie denn auch allemal der Hof von dem Manne auf
die Frau, denen er uͤbergeben iſt, ſolchergeſtalt uͤbergeht,
daß der uͤberlebende Ehegatte, wenn keine Kinder vor-
handen ſind, die voͤllige Hand daran behaͤlt, ohne Unter-
ſcheid ob er der angeheyrathete oder im Hofe gebohrne
Y 2Theil
[340]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
Theil iſt, und wird demſelben der Hof auf Lebenszeit oder
ſo lange er die Leibzucht bezieht, in aller Maaße gelaſſen,
auch wo er zur andern Ehe ſchreitet, in dem Falle wo
keine Kinder vorhanden ſind, gegen Erlegung des vori-
gen Weinkaufs, den beyden Eheleuten wie vorhin uͤber-
geben und behaͤndigt.
Sind aber Kinder erſter Ehe vorhanden, und ein
ſolcher uͤberlebender Ehegatte gedenkt ſich zum andern-
male zu verheyrathen: ſo muß derſelbe ſich vorher bey
uns melden und gegen den einmal feſtgeſetzten Weinkauf
eine neue Behandung nehmen.
Jſt es der Vater, von dem zugleich der Hof her-
kommt, welcher eine neue Uebergabe oder Behandung
ſuchet: ſo werden demſelben fuͤr ſeine Lebenszeit keine,
wohl aber der Frauen auf den Fall ſeines Ablebens ſichere
beſtimmte Jahre geſetzt. Jſt es aber die Mutter, ſo muß
ſich dieſelbe eine ſolche Beſtimmung gefallen laſſen, und
wird den neuen Eheleuten der Hof ſo lange uͤbergeben,
bis der Hofes Erbe erſterer Ehe dreyßig Jahr und einen
Tag zuruͤckgeleget hat, und ſoll jene Beſtimmung alſo
geſchehen, daß wenn der Hofes Erbe vor dem erſten May
ſein dreyßigſtes Jahr und einen Tag zuruͤckgelegt, die
naͤchſte Erndte annoch von dem auf beſtimmte Jahre woh-
nenden Eltern, und wenn er dieſe ſeine Jahre und Tage
nach dem erſten May vollendet, ſolches von dem Hofes
Erben geſchehen ſolle.
Ehe und bevor aber der Vater zur andern Ehe ſchrei-
tet, muß er dasjenige, was ihm eigenthuͤmlich gehoͤrt,
mit ſeinen Kindern auf die Haͤlfte getreulich theilen, zu
ſolchem Ende zwey von ihren naͤchſten Anverwandten,
welche von dem Richter als Vormuͤnder zu beeyden ſind,
erſuchen, um der Theilung mit beyzuwohnen. Dasjenige
was
[341]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
was zum Hofgewehr und nach der hierin enthaltenen Be-
ſtimmung den Hofes Erben vorab gebuͤhrt, behaͤlt er nach
vorgaͤngiger Schaͤtzung in Haͤnden und liefert es auch
zu ſeiner Zeit wiederum darnach ab. Von allen aber be-
haͤlt er den Nießbrauch ſo lange, bis die Kinder aus dem
Hofe, erhaͤlt ſie dagegen in Koſt und Kleidung, und ſor-
get fuͤr ihren Unterricht, es ſey zu Hauſe oder in einer
Werkſtatt, wenn ſie ein Handwerk erlernen.
Eben ſo verfaͤhrt die Mutter in dem Falle, da die-
ſelbe zur andern Ehe ſchreitet, jedoch mit dem Unter-
ſcheide, daß dieſe, wenn ein Kind vorhanden, die Haͤlfte,
wenn aber deren mehrere ſind, nur den dritten Theil
erhaͤlt.
Stuͤrben der Vater oder die Mutter, ehe und bevor
die Kinder den Hof verlaſſen, oder ihre Großjaͤhrigkeit
erreichet haben, ſo hoͤrt der Nießbrauch auf, und tritt
die Vorſorge der Vormuͤnder ein, welche ſich ſodann wei-
ter mit den Stiefeltern zu vergleichen wiſſen werden, ob
ſie der Kinder Vermoͤgen in deren getreuer Verwaltung
laſſen oder zu ſich nehmen wollen, den Kindern ſelbſt aber
gebuͤhrt auch in dieſem Falle freye Koſt und Kleidung vom
Hofe, bis die Toͤchter ihr ſechszehntes und die Soͤhne ihr
achtzehntes Jahr vollendet haben; jedoch alſo, daß dem
Hofes Beſitzer dagegen der Nießbrauch des ihrigen ſo lan-
ge gegoͤnnet, oder, wofern dieſer ein mehrers betragen
ſollte, ein billiges Koſt- und Kleidungsgeld von Vormuͤn-
dern zugeſtanden werde.
Stirbt eins von den Kindern: ſo wird es mit deſſen
Beerbung nach den gemeinen Rechten gehalten. Beyder
Ehe Kinder aber haben ihre Auslobung aus dem Hofe
nach einerley Grundſaͤtzen zu erwarten, und ſoll darun-
ter nicht leicht ein Unterſchied gemacht werden, indem
wenn Schulden in der andern Ehe gemacht ſind, dieſe
Y 3blos
[342]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
blos auf das Erbvermoͤgen der Kinder zweyter Ehe fal-
len koͤnnen.
Was der eine oder der andere Ehegatte in den Hof
bringt, es ſey in der erſten oder andern Ehe, faͤllt in dem
Falle, da keine Kinder vorhanden ſind, nach ihrer Seite
nicht wieder zuruͤck; ſondern dem uͤberlebenden Theile zu,
indem alles Einbringen mit der Leibzucht, welche der ver-
ſtorbene Theil dagegen zu erwarten gehabt, fuͤr bezahlt
und erſtattet gehalten wird, und mag auch daruͤber zum
Vortheil einiger Seitenverwandte wider den Willen des
uͤberlebenden Theils nichts verordnet werden. Ziehen die
Eltern auf die Leibzucht: ſo moͤgen dieſelbe zwar ihre er-
erworbene Mittel und was ſonſt nicht zum Hofgewehr
gehoͤrt, dahin mitnehmen, mithin auch damit wie an-
dere freye Leute ſchalten und walten, jedoch ſind dieſel-
ben ſchuldig, alles was auf dem Hofe Erd- Wand- Nied-
und Nagelfeſt iſt, worunter namentlich Duͤngung und
Einſaat, und alle Verbeſſerungen begriffen, ſo wie alles,
was zum Hofgewehr gehoͤrt, als Pferde, Kuͤhe, Schwei-
ne, Schaafe und ander Vieh, Ackerwagen, Pfluͤge und
Eggen, alles auf dem Felde oder noch im Hauſe vorhan-
dene Korn, auf dem Hofe zu laſſen, und ſich mit demje-
nigen zu begnuͤgen, was ihnen davon durch einen guͤtli-
chen Vergleich oder von uns zugebilliget werden wird, da
Wir denn letzternfalls, nachdem der Haushalt gut oder
ſchlecht beſteht, von obigen Stuͤcken ſo vieles zuerken-
nen werden, als ſie zu ihrem Auskommen bis zur naͤch-
ſten Erndte und zur guten Beſtellung der Leibzucht noth-
duͤrftig gebrauchen, wogegen ſie aber auch von dem uͤbri-
gen Hausgeraͤthe, was ſie nach unſerm Ermeſſen entbeh-
ren koͤnnen, und wenigſtens den dritten Theil im Hauſe
laſſen muͤſſen; darunter iſt aber kein baar oder ausſte-
hend Geld, auch kein Silber oder Gold, oder was zu
Klei-
[343]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
Kleidung und Schmuck gehoͤrt, imgleichen kein unange-
ſchnittenes Linnen begriffen, als welches den Eltern in
allen Faͤllen zur freyen Verfuͤgung bevorbleibt.
Wenn ſich die abgezogenen Eltern auf der Leibzucht
anderweitig verheyrathen, moͤgen der- oder dieſelbe dem
angeheyratheten Theile, ohne unſere und des Hofes Er-
ben Bewilligung keine weitere Leibzucht darauf verſchrei-
ben, auch haben die aus ſolcher Ehe erfolgende Kinder
keine Auslobung aus dem Hofe zu fordern.
Damit aber auch die Leibzucht ſowohl als der Hof
und was darauf iſt, von keinem Glaͤubiger oder Erben
ohne Mittel angegriffen werden moͤge: ſo bleiben beyde
in unſer beſtaͤndigen Bewahrung, und muͤſſen diejenigen
welche aus der Leibzucht, wenn ſolche dem Hofe eroͤfnet
wird, etwas zu fordern haben, ſolches von dem Hofes
Erben, der alles, was darauf iſt, zu guter Rechenſchaft
beſchreiben und zu ſich nehmen mag, und diejenigen ſo
aus dem Hofe etwas zu fordern haben, wenn derſelbe
uns heimfaͤllt, ſolches von uns ſuchen, nicht aber mit un-
mittelbaren Eingriffen oder Arreſten verfahren.
Eben dasjenige, was dem Hofes Erben zur Verthei-
digung des Hofes an Hofgewehr und ſonſt gelaſſen wer-
den muß, verbleibt auch demſelben vorab, wenn die El-
tern auf dem Hofe und nicht auf der Leibzucht ſterben,
mithin deren bewegliches Vermoͤgen unter mehrern dazu
berechtigten Kindern zur Erbſchaftstheilung gezogen wird;
wogegen er aber auch, was zu ihrer Ausſteuer an der-
gleichen Stuͤcken uͤblich iſt, zu ſeiner Zeit in allen Faͤllen
ſtehen muß.
Den vom Hofe abgehenden Kindern ſoll davon eben
ſo wie bey andern Gutsherrl. Staͤtten, nach der ſolcher-
halb vorhandenen oder kuͤnftig gemacht werdenden Ver-
Y 4ord-
[344]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
ordnungen ein ſicheres zur Abſteuer und Abfindung von
uns ausgelobet werden, welches auch die auf Mahljah-
ren ſitzenden Eltern in billiger Maaße mit abfuͤhren muͤſſen.
Weil aber bey den mit Leibeignen beſetzten Staͤtten
das vorhandene Geld und uͤbriges Vermoͤgen zum Sterb-
fall gehoͤret, wohingegen daſſelbe hier den Eltern zu ih-
rer freyen Verwendung bleibt, ſo daß ſie dasjenige, was
nach bezahlten Schulden uͤbrig iſt, ſo weit ihnen die ge-
meine Rechte hierin nicht entgegen ſtehen, eben den Kin-
dern die ihre Auslobung aus dem Hofe erhalten, zuwen-
den, und dem Hofes Erben der jene gleichwohl aus dem
Seinigen abgeſteuret, entziehen koͤnnen: ſo ſollen dieſel-
ben in dem Falle, da ſie die Ausſteuer ihrer abgehenden
Kinder ohne Beſchwerde des Hofes ausgerichtet haben,
daruͤber nach ihrem Gefallen, ſo weit es ihnen die ge-
meinen Rechte geſtatten, in ihrem letzten Willen und ſonſt
verordnen moͤgen, ſonſt aber und wenn die Auslobung
dem Hofe zur Laſt bleibt oder geblieben iſt, dem Hofes
Erben die Haͤlfte dieſes ihres Vermoͤgens als Pflichttheil
zu laſſen ſchuldig ſeyn.
Die Wahl eines Ehegatten oder einer Ehegattinn
bleibt dem Hofes Erben, ſo wie jedem freyen Manne frey,
doch ſollen dieſelben uns ſolches bey einer Strafe von
zehen Thalern acht Tage vor der Hochzeit anmelden, da-
mit Wir uns zur Uebergabe oder Behandung am Hoch-
zeittage einfinden, oder unſern Bevollmaͤchtigten dazu
ſchicken koͤnnen; auch ſollen dieſelben keine fremde Eigen-
behoͤrige oder Hofhoͤrige Perſon, die nicht frey gelaſſen
iſt, auf den Hof bringen, oder wo ſie ſolches thun ſoll-
ten, die aus ſolcher Ehe erzielten Kinder zu dem Hofe
nicht gelangen, und eine ſolche Perſon auch der Leibzucht,
welche ohnehin, weil ihr der Hof nicht behandet iſt, weg-
faͤllt,
[345]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
faͤllt, nicht genießen, gleich wie denn auch in einem ſol-
chen Falle der prieſterliche Eheſegen die Stelle der ver-
hinderten Behandung nicht erſetzen ſoll.
Wenn Vormuͤnder erfordert werden, moͤgen dieſel-
ben von dem ordentlichen Richter geſucht, geſetzt und in
einem anzuſetzenden Termino, wovon uns der Richter
Nachricht geben wird, beſtaͤtiget werden; doch ſollen die-
ſelben ſich des unter unſer Verwahrung ſtehenden Hofes
und Gutes nicht annehmen, ohne ſich vorher bey uns zu
melden, und ſoll es uns frey ſtehen, ob Wir denſelben
die Verwaltung des Hofes uͤberlaſſen oder ſolche einem
andern, jedoch zum Beſten der Kinder und zu guter Re-
chenſchaft, vertrauen wollen.
Uebrigens verſtehet es ſich von ſelbſt, daß die Be-
ſitzer des Hofes den ihnen behandeten Hof mit ſeinem Zu-
behoͤr getreulich zuſammen halten, davon bey Strafe
der Nichtigkeit nichts verkaufen, vertauſchen, verſetzen,
oder auf Erbpacht austhun, ſolchen mit keinen Schul-
den, neuen Dienſtbarkeiten und Auslobungen vor ſich be-
ſchweren, in Anſehung der Gebaͤude und des Weſens des
Hofes ohne Einwilligung keine erhebliche Veraͤnderung
machen, oder ſonſt es ſey gerichtlich oder auſſergerichtlich
etwas vornehmen, ſchließen und handeln moͤgen, wor-
aus dem Hofe ein beſtaͤndiger Nachtheil oder Schade zu-
wachſen koͤnne, vielmehr ſind dieſelben ſchuldig, ſolchen
ſo viel ſie koͤnnen, zu beſſern, was ſie aus der Mark,
worinn derſelbe belegen iſt, an ſich bringen, dabey zu
laſſen, und da ſie jetzt in dieſer Mark keine Gruͤnde erb-
eigen beſitzen, ſich zu mehrerer Sicherheit des Hofes aller
Erwerbung einiger Gruͤnde fuͤr erbeigen zu enthalten,
oder wo ſie ſolches dem ohngeachtet thun wollten, zu er-
leiden, daß der Hofes Erbe, und wenn ein ſolcher gaͤnz-
Y 5lich
[346]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
lich abgehen ſollte, der Hofes Herr ſich alles dasjenige
zueigne, was von den Beſitzern des Hofes in beſagter
Mark fuͤr erbeigen angekaufet worden, ohne dafuͤr ein
mehrers zu verguͤten, als was etwa von dem Kaufgelde
noch unbezahlt zuruͤckſtehen moͤchte.
Es verſteht ſich ferner von ſelbſt, daß dieſelben und
ihre Nachkommen am Hofe alle oͤffentliche und gemeine
Laſten, welche dem Hofe jetzt obliegen oder von Rechts-
wegen auferlegt werden koͤnnen, wie auch die zu deſſen
und ſeiner Gerechtſame gerichtlichen Vertheidigung etwa
erforderliche Koſten vor ſich ohne unſer Zuthun tragen
muͤſſen, auch in dem Falle, da ſie durch Krieg, Brand,
Mißwachs, Hagelſchlag, Ueberſchwemmung, Viehſter-
ben und andere auſſerordentliche Ungluͤcksfaͤlle leiden ſoll-
ten, ſolcherhalb keinen Nachlaß an den ihnen obliegenden
Paͤchten und Dienſten fordern koͤnnen, immaßen das eine
Jahr das andere uͤbertragen muß, und die Paͤchte, ſo
dem Hofe obliegen, in Anſehung deſſen Ertrages Ver-
haͤltnißmaͤßig ſehr geringe ſind.
Es verſtehet ſich endlich von ſelbſt, daß dieſelben das
auf dem Hofe vorhandene Brand- und Schlagholz als
gute Wirthe zu ihrer Nothdurft gebrauchen, ſolches nicht
verhauen und beſonders kein Bauholz ohne unſer Vor-
wiſſen und Anweiſung faͤllen muͤſſen; ſollten dieſelben aber
dieſem alſo nicht nachkommen, ſondern das Holz ver-
hauen und Bauholz ohne Anweiſung faͤllen: ſo ſoll nicht
allein das alſo gehauene Holz, in ſo weit es irgendwo,
es ſey auf dem Hofe oder auſſerhalb demſelben, noch
vorhanden, ſofort an Uns verfallen ſeyn, oder dafern
es nicht mehr vorhanden, nach der Schaͤtzung bezahlt
werden; ſondern es ſollen dieſelben auch fuͤr jeden alſo
gehauenen Baumſtamm eine Strafe von zehn Thalern
erlegen,
[347]Formular eines neuen Colonatcontrakts.
erlegen, und wenn das Gehoͤlze verhauen iſt, ihrer Be-
handung verluſtig ſeyn; dagegen aber wollen Wir ihnen
auch das noͤthige Bauholz, ſo viel davon auf der Wehr
vorhanden, wenn ſie ſich darum gehoͤrig melden, ohne
Aufenthalt gegen eine billige Gebuͤhr fuͤr die Bemuͤhung
des Anweiſers auszeichnen und anweiſen laſſen, und wenn
durch einen Windſturm auf einmal ſo viel Holz umge-
ſtuͤrzet wuͤrde, daß es in der Haushaltung nicht nothwen-
dig gebraucht, ſondern mehrſtbietend verkauft werden
koͤnnte, das daraus geloͤſete Geld mit ihnen theilen.
Schließlich verwuͤrken dieſelben den Hof und ihr
daran habendes Behandungsrecht, jedoch nicht anders
als auf gerichtliches Erkenntniß, wenn ſie etwas davon
verkaufen, vertauſchen, verſetzen, oder auf andere Art
veraͤuſſern und verbringen, denſelben nicht in redlicher
Beſſerung erhalten, das Holz verhauen und ſich durch
eine ſchlechte Wirthſchaft oder viele perſoͤnliche Schulden,
auſſer Stand ſetzen, demſelben gehoͤrig vorzuſtehen, und
was dem Hofe obliegt, auszurichten.
LXV.
Formular des hiebey ertheilten Freybriefes.
GEORG der dritte, von Gottes Gnaden, Koͤnig
von Großbritannien, Frankreich und Jrrland, Be-
ſchuͤtzer des Glaubens, Herzog zu Braunſchweig und Luͤ-
neburg, des Heil. Roͤm. Reichs Erz-Schatzmeiſter und
Churfuͤrſt ꝛc. ꝛc.
Urkun-
[348]Formular des hiebey ertheilten Freybriefes.
Urkunden und bekennen hiemit als Vater und Na-
mens des poſtulirten Biſchofs des Hochſtifts Oſnabruͤck,
Unſers Prinzen FRIEDERICHS Liebden, fuͤr Uns und un-
ſre Nachfolger an dem Stifte Oſnabruͤck, wie auch ſonſt
jedermaͤnniglich, wasmaßen Wir den Martin Schulten
zu Aſelage, und ſeine Hausfrau Maria Gertrud Nehem,
mit allem was von ihrem Leibe gebohren iſt, oder kuͤnf-
tig noch gebohren werden wird, auf ihr allerunterthaͤ-
nigſtes Anſuchen, wie auch aus beſonders bewegenden
Urſachen, und um der Dienſte willen die ſie dem Stifte
Oſnabruͤck geleiſtet haben oder leiſten werden, von aller
Leibeigenſchaft, womit ſie bisher Uns und einem zeitigen
Biſchofe verwandt geweſen ſind, voͤllig frey gelaſſen, und
in den Stand andrer freyen Amtsunterthanen des Hoch-
ſtifts verſetzet haben; thun das auch hiemit und alſo, daß
dieſelben alle Rechte freyer Amtsſaſſen genießen, uͤberall
von uns unverfolgt Ehre und Gluͤck ſuchen, geiſtliche oder
weltliche Wuͤrden beſitzen, aͤchte Handlung ſchließen, und
wo ihnen das zu thun iſt, Recht geben oder nehmen moͤ-
gen; denen welche wir zu befehlen haben, befehlend, an-
dre aber erſuchend, gedachte Eheleute und ihre Kinder
fuͤr freye Amtsſaͤßige Leute zu erkennen, und ihnen in
ſolcher Maaße alle Gebuͤhr und allen guten Willen zu
bezeugen, immaßen Wir denn auch dieſelben bey dieſer
ihrer Freyheit, ſo lange ſie ſich als getreue Unterthanen
betragen, und in dem Hochſtifte verbleiben, kuͤnftig
ſchuͤtzen, und ihnen alle diejenigen Wohlthaten angedeyen
laſſen werden, deren ſich andre freye Unterthanen zu er-
freuen haben; jedoch alles mit Vorbehalt deſſen was ſie
Uns und unſern Nachfolgern am Stifte, von dem ihnen
nunmehro als freyen Leuten behaͤndigten Schuldenhofe
zu Aſelage kraft des daruͤber aufgerichteten und von uns
geneh-
[349]Alſo ſollten Gutsh. ihre Leibeignen vertreten.
genehmigten Contrakts zu thun und zu leiſten ſchuldig
ſind.
(L. S.) Ad Mandatum Regis \& Electoris pro-
prium.
v. Ende.
LXVI.
Alſo ſollte jeder Gutsherr ſeine Leibeignen
vor Gerichte vertreten, und den Zwang-
dienſt mildern.
Ewr. Hochwohlgebohren haben Recht zu ſagen: die
erſte Pflicht der Gutsherrn ſey die Vertheidigung
ihrer Eigenbehoͤrigen vor Gerichte und zu Felde. Hat
gleich die letzte aufgehoͤrt, nachdem man eine neue Art
der Vertheidigung zu Felde eingefuͤhrer hat, und leidet
auch gleich die jetzige gerichtliche Verfaſſung nicht mehr,
daß der Gutsherr ſelbſt ins Gerichte gehe, um ſeinen
leibeignen Mann zu vertreten: ſo bleibt doch fuͤr ihn im-
mer eine gewiſſenhafte Verbindlichkeit zuruͤck, und jeder
ehrliche Mann muß fuͤr ſein Eigenthum ſtehen. Der
Herr der ſeine Unterthanen nicht mehr ſchuͤtzen kann, ver-
liert ſein Recht.
Mit Betruͤbnis ſehe ich es an, wie die armen Leute,
wenn ſie in einen Rechtshandel verwickelt werden, in
der Stadt herumirren, und einen guten Rath ſuchen.
Aus dem naͤmlichen Grundſatze, woraus ſie den Quack-
ſalber dem geſchickten Arzte vorziehen, nehmen ſie ihre
Zuflucht zuerſt zu demjenigen, der ihn ihrer Vermuthung
nach
[350]Alſo ſollten Gutsh. ihre Leibeignen vertreten.
nach am wohlfeilſten geben wird. Jener bringt ſie auf
ein langwieriges Lager, und der rechtſchaffene Arzt kann
ihnen hernach weiter nichts ſagen, als: ſie haͤtten eher
kommen ſollen. Die juriſtiſchen Quackſalber ſind nicht
ſo beſchrien wie die mediciniſchen; aber ſie ſind eben ſo
dreiſt, und oft eben ſo gefaͤhrlich. Ein ungluͤcklicher Pro-
ces iſt der Geſundheit oft nachtheiliger, als ein hitzi-
ges Fieber.
Groß und Nachahmungswuͤrdig iſt demnach der Ent-
ſchluß, daß Ewr. Hochwohlgebohren ſich einen rechtſchaf-
fenen Advocaten erwaͤhlt, und alle ihre Eigenbehoͤrige
angewieſen haben, ſich einzig und alleine ſeiner Huͤlfe zu
bedienen. Die jaͤhrliche Beſoldung, welche Hochdieſel-
ben dem Manne dafuͤr reichen, wird Jhnen durch den
kuͤnftigen Wohlſtand der Eigenbehoͤrigen gewis reichlich
verguͤtet werden; und dieſer ihre Rechtsſachen, werden
unendlich beſſer eingeleitet werden, wenn der Gelehrte in
der Stadt von einem der Baurenſtreitigkeiten kundigen
Gutsherrn unterrichtet wird.
Es iſt ein Hauptfehler vieler heutigen Verfaſſungen,
daß der arme und geringe Mann, wie der Bauer in dem
Style der Reichsgeſetze heiſet, keinen ihn vertretenden
Hauptmann hat; und ſich entweder durch koſtbare Mieth-
linge vertheidigen, oder einem uͤbelgeſinnten Beamten
blos ſtellen muͤſſe. Wenigſtens ſollten die geringern Klaſ-
ſen der Menſchen auf dem Lande, eben wie Buͤrger in
Staͤdten und Flecken, einem gemeinſchaftlichen Vorſprecher
haben, und in Ordnungen abgetheilet ſeyn. Dies war der
Geiſt der ehmaligen Heiligenſchuͤtzungen anſtatt daß die
mehrſten von unſern Neubauern mit der dritten Genera-
tion wieder zu Grunde gehn; wenn ihre Nachkommen
durch Erbabſindungen, Ausſteuern von Kindern, und
Ruͤck-
[351]Alſo ſollten Gntsh. ihre Leibeignen vertreten
Ruͤckfaͤlle verzehrter Mitgiften geſchwaͤcht ſeyn werden.
Man bauet ihnen Haͤuſer, giebt ihnen Gaͤrten, und ver-
ſorgt ſie mit Vieh. Allein keiner denkt daran, ihnen eine
angemeſſene Verfaſſung und Autonomie zu geben.
Wenn Ewr. Hochwohlgebohren zu obiger Wohlthat
noch dieſe hinzuthun, daß dieſelben Jhrem Eigenbehoͤ-
rigen die Wahl laſſen, ob ſie den Zwangdienſt in Perſon
verrichten, oder das Lindlohn, was ein Knecht oder eine
Magd verdient, bezahlen wollen: ſo werden Sie gewis
ein gutes Beyſpiel geben, und Nachfolger erwecken. Wo
die Einwohner verſchiedener Religion ſind, hat der per-
ſoͤnliche Zwangdienſt immer einiges Bedenken; und grau-
ſam iſt es, daß ein guter Vater ſein ſechzehnjaͤhriges
Maͤdgen dem Muthwillen der Koͤche und Bediente blos
ſtellen muß, ich bin ꝛc.
LXVII.
Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
Wenn mein Gutachten, uͤber die Frage:
„Ob Sie einen Zehnten wofuͤr Jhnen jaͤhrlich von
„undenklichen Jahren her, ein gewiſſes Korn im
„Sacke oder ein ſichers Pachtgeld gegeben worden,
„und welchen Jhre Zehnt-pflichtigen alle acht oder
„zwoͤlf Jahr von neuem haben pachten muͤſſen, mit
„Ablauf der Pachtjahre vom Felde ziehen moͤgen‟
nicht ſo ausfaͤllt, wie Sie es vielleicht wuͤnſchen: ſo moͤ-
gen Sie dreiſt glauben, daß mich wichtige, ſehr wichtige
Urſachen abhalten, mir Jhren guͤtigen Beyfall zu erwer-
ben. Wenige Sachen ſind ſo rauh und unpolitiſch be-
handelt
[352]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
handelt worden, als die Zehntſachen, ohnerachtet ſie von
dem groͤßten Einfluß auf das Wohl eines Staats ſind,
und es geſchieht nie ohne die aͤußerſte Wehmuth, daß ich
in der Geſchichte des Landeigenthums der Schickſale ge-
denke, welche die Zehnten, und mit dieſen den Stand der
Landbauer betroffen haben.
So lange dieſelben die Stelle einer Steuer vertra-
ten, und zu den oͤffentlichen Beduͤrfniſſen ihrer Zeit, der
Vertheidigung und dem Unterhalte des Biſchofes, der
Pfarrer, der Armen, und der Kirchen verwendet wur-
den, wie es die desfalls vorhandenen Reichs- und Kir-
chengeſetze mit ſich brachten, habe ich dieſelben jederzeit
als eine vortrefliche, angemeſſene und ſichere Auflage ver-
ehret; ohnerachtet es mir oft geſchienen hat, daß es da-
mit weiter gienge, als es die Nothdurft erforderte.
Allein ſeitdem die Zehnten verſchenkt, verſetzt, verkauft,
verliehen, und auf andre Art, ihrer erſten Beſtimmung,
entzogen ſind; und ſeitdem der Landeigenthuͤmer durch
neue Steuern dieſer Ausfall bey der oͤffentlichen Caſſe hat
erſetzen muͤſſen, habe ich es unzaͤhlige mal bedauert, daß
nicht gleich vom erſten Anfang an, eine Controle von
Landſtaͤnden, oder andern Repreſentanten vorhanden ge-
weſen, welche ſich den hoͤchſt ungerechten, und unguͤlti-
gen Veraͤuſſerungen des gemeinen Guts, wogegen die
Paͤbſte ſo oft, aber immer vergeblich geeifert haben, wie-
derſetzet haͤtte; und daß man nicht in jedem Staate ein
Grundgeſetz gehabt, wodurch alle Contrakte, aller Be-
ſitz, und alle Verjaͤhrung zum Nachtheil der oͤffentlichen
Steuer fuͤr nichtig erklaͤrt werden. Denn im Grunde iſt
und bleibt doch jede Veraͤuſſerung einer Kron- oder Lan-
desſteuer, wenn ſie ohne die hoͤchſte Noth und ohne die
Einwilligung des Staats geſchieht, eine offenbare Ver-
un-
[353]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
untreuung anvertrauter Guͤter; und der arme Landei-
genthuͤmer iſt um ſo mehr zu beklagen, je groͤßer das
Vertrauen war, was er zu ſeinen Obern ſezte, und je
weniger es in ſeiner Macht war, auf andre Art die Hand-
lungen ſeiner Vorgeſezten zu controliren. Dem Satze,
daß die Zehnten oͤffentliche Steuren geweſen, kann mit
Grunde nie widerſprochen werden; und die Folge, daß
dieſelben ſolchergeſtalt unveraͤuſſerlich waren, iſt vernuͤnf-
tigerweiſe eine der erſten Bedingungen des geſellſchaft-
lichen Contrakts.
Traurig iſt es, aus der Geſchichte zu lernen, wie ſehr
der Landeigenthuͤmer uͤberall, und zu allen Zeiten unter-
druͤckt worden. Natuͤrlich iſt es anzunehmen, daß bey
uns, wo alle Hoͤfe einzeln liegen, ut fons ut ſylva ut ne-
mus placuit, jeder Hof, der jezt mit einem Leibeigenen,
oder einer andern Art von Bauern beſezt iſt, ehedem ſei-
nen beſondern Eigenthuͤmer gehabt habe. Es konnte bey
dem erſten Anbau dieſer Art, und bey der erſten Genuͤg-
ſamkeit, keinem Menſchen einfallen, zwey oder mehrere
Hoͤfe anzunehmen; und welche er nicht ſelbſt bauete, mit
Leibeigenen zu beſetzen. Der Staat welcher viele Haͤnde
zu ſeiner Vertheidigung gebrauchte, und von einem
Miethlinge nicht erwarten konnte, daß er ſein Leben gleich
dem Eigenthuͤmer wagen wuͤrde, verhinderte jene Art der
Hofesbeſetzung, und eben der Grund, welcher Moſen
bewog alle Zinſen zu verbieten, bewog jeden Staat, die
Zinsfruͤchte zu verbieten, oder welches in beyden Faͤllen
einerley iſt, zu verbieten, daß keiner ſeines Nachbaren
Hof in ein Aftergut verwandeln, und mit einem Zins-
Dienſt- oder Pachtpflichtigen Manne beſetzen ſolle, der
entweder dadurch zu ſchwach wird, um zur Zeit der Noth
ſich andern gleich auszuruͤſten, oder doch mit ihnen nicht
gleich viel zu verlieren hat. Dieſes brachte die gegen-
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. Zſeitige
[354]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
ſeitige Aſſecuranz unter Verbundenen mit ſich, die einan-
der mit gleichem Gute, und Blute vertheidigen wollten.
Wie ſehr hat ſich aber nicht alles zum Nachtheil des
Landeigenthums veraͤndert?
Zuerſt brachten die Eigenthuͤmer freywillig Korn
und Fruͤchte, fuͤr diejenigen zuſammen, welche beſtaͤndige
Gefolge, (comitatus) die erſte Art einer ſtehenden Militz,
unterhielten, und damit fuͤr ſie auszogen. Dieſes war
das erſteSubſidium gratuitum, womit das Landeigenthum
belaſtet wurde.
Zu dieſem kamen in der Folge die Zehnten, welche
mit der chriſtlichen Religion eingefuͤhret wurden. Dieſes
war die zweyte Steuer. Wie die Biſchoͤfe, oder diejeni-
gen, welche die Zehnten zu erheben und zu berechnen
hatten, eine neue Art von beſtaͤndiger Militz, unter dem
Namen von Lehn- und Dienſtmaͤnnern errichteten, mit-
hin dieſen den Zehnten zur Loͤhnung verliehen, fieng man
an von den Landeigenthuͤmern zur Beyhuͤlfe Beeden zu
fordern, das war die dritte Steuer; und wie man end-
lich auch hiermit nicht auslangte: ſo wurden die Gruͤnde
der Landeigenthuͤmer gemeſſen und kataſtrirt, und man
beſteurete dieſelben zum Behuf einer neuen Militz, wel-
ches die heutigen Soͤldner, oder Soldati ſind; und auch
hie und da zum Unterhalte der Landesherrn, welche die
ihnen anvertrauten Zehnten, und andere Kroneinkuͤnfte
verſchenket und verſchwendet hatten, und nun ihre Hof-
haltungen guten Theils auf gemeine Koſten zu fuͤhren ge-
zwungen waren, dieſes war die vierte und letzte Steuer,
worauf nunmehr aller Augen und Haͤnde gerichtet ſind,
waͤhrender Zeit die andern, theils unter ihren vorigen
Namen als die Zehnten, wie auch die Herbſt- und May-
beeden, theils unter dem Namen von Gutsherrlichen Ge-
faͤllen
[355]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
faͤllen in Privathaͤnde gerathen ſind, nachdem ſie theils
zu Lehn gemacht, theils auch denen verblieben ſind, die
in der Allodial- oder Heerbannsfolge zur Reichs- und Lan-
desvertheidigung in Harniſch auszogen und denen immer
zwoͤlf Manſi eine Beyſteuer geben mußten.
Gleichwohl ſoll dieſer ſo oft und vielfaͤltig gedruͤckte
Landeigenthuͤmer, der den unverantwortlichen Haushalt
mit der Zehntkaſſe, bereits auf ſo mancherley Art gebuͤſ-
ſet hat, ſo oft die Frage entſtehet: ob ein ehmals ver-
dungener oder verpachteter Zehnte, nach Belieben des
Zehntherrn vom Felde gezogen werden koͤnne? alle Rechts-
vermuthungen wider ſich haben, und noch immer nach
eben den Grundſaͤtzen behandelt werden, welche zu den
Zeiten golten, wie die Zehnten noch wuͤrklich die Stelle
der Steuren vertraten. Nicht zufrieden damit, daß das
Landeigenthum von den Pflichten und Paͤchten gedruckt
werde, welche demſelben zum Unterhalt der Geharniſch-
ten in Heerbann, oder einer ſpaͤtern Lehn- und Dienſt-
mannſchaft aufgebuͤrdet ſind; will man daſſelbe auch noch
einer Zehntſteuer in der weiteſten Ausdehnung unterwer-
fen, und die Steuren, welche er zum Unterhalt der heu-
tigen Reichs- und Landesvertheidigung aufbringen muß,
und welche die einzigen ſind, die ihm von Rechtswegen
obliegen, den Zehnten und Paͤchten nachſetzen, die laͤngſt
den Charakter einer Steuer verlohren haben; nachdem
die erſtern in allerhand Haͤnde gerathen, und die letztere
einer laͤngſt außer Dienſt getretenen Allodial- und Lehn-
militz verabreichet werden.
Man glaubt, weil diejenigen, welche jetzt das ſteuer-
bare Landeigenthum bauen, jene aͤltern Steuern mit
Laͤnge der Zeit durch Contrakte uͤbernommen haben: ſo
muͤßte auch der Staat, deſſen einzige wahre Sicherheit
Z 2in
[256[356]]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
in dem Landeigenthume beruhet, zu dieſem ſeinen Ver-
luſte ſchweigen, und blos im hoͤchſten Falle der Noth
ſeine Rechte gegen die Zehntherrn guͤltig machen, ohne
zu bedenken, daß das Land, was von ſchwachen und elen-
den Leuten gebauet wird, in großen Nothfaͤllen von die-
ſen fruͤher als von guten Eigenthuͤmern verlaſſen werde,
und ein verlaſſener Acker ſeine Steuer nicht bezahle.
Jedoch ich will die hoͤhern Gruͤnde bey Seite ſetzen,
und Jhnen lediglich aus demjenigen was hier im Stifte
vorgegangen iſt, zeigen, daß ein Zehnte, welcher bis-
her mit Korn oder Gelde bezahlt worden, um deswillen,
daß von ſeiner Verpachtung noch offenbare Urkunden
vorhanden ſind, noch nicht ſo gleich mit Unterlaſſung der
fernern Verpachtung vom Felde gezogen werden koͤnne,
wofern er nicht noch jetzt die Natur der Steuer hat.
Mein erſter Grund iſt:
Die hieſigen Zehnten ſind von Anfang an nicht vom
Felde gezogen, ſondern ſo fort mit Korn oder Gelde ge-
loͤſet worden.
Dieſe Wahrheit kann ich Jhnen ſo gleich mit hun-
dert Urkunden belegen, und damit Sie nicht glauben,
daß ich zuviel ſage; ſo will ich Jhnen ſo viel davon aus-
ziehen, als hoffentlich zu Jhrer und aller Menſchen Ue-
berzeugung hinreichen wird. Zuerſt mag das Nicrolo-
gium der hieſigen Domkirche, worin die derſelben ver-
machten Zehnten, von den aͤlteſten Zeiten her aufgefuͤh-
ret ſind, das Wort nehmen: hierin kommen folgende
Stellen vor.
- 1) Ob. Gerardus de foro, Canonicus noſter, qui nobis
contulit decimam V. domorum in parochia Anchem,
unde fratribus dabuntur V. Solidi et in aſcenſione
Domini XXX den.
ad.
[357]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
ad. d. XIII. Jan.
- 2) Ob. Adolphus Sacerdos qui nobis contulit II. Sol. de
decima unius manſi noſtri in Hagen.
ad. d. XX. Jan.
- 3) Ob. Wernerus Laicus et Helena qui X. Sol. Decimae
in Hunelern contulerunt.
ad d. XXV. Jan.
- 4) Ob. Henricus de Kappele, qui nobis contulit redditus
VIII. Sol. VII. denar. de domo Wolde in parochia
Sögeln III. Sol. decimales.
ad. d. XII. Febr.
- 5) Ob. Arnoldus Nobilis, qui nobis V. Solidos decimae
Bacheim contulit.
ad. d. I. Mart.
- 6) Memoria Godefridi Quintini dabit fratribus XXX den,
de decima in Malbergen.
ad. d. V. Apr.
- 7) Ob. Hermannus de Rusvorde miles, qui nobis Deci-
mam curiae ſuae in Wilſeten XXX denar. perſolven-
tem, contulit.
ad. d. XIII. Apr.
- 8) Ob. Henricus de Rulle, qui contulit nobis LXV. Mar-
cas, locatas in decima Malbergen Laebergen et Se-
geſt, pro quo dantur ſingulis menſibus XXX den, de
Decima Middendorf.
Z 3ad.
[358]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
ad. d. 16. Apr.
- 9) Ob. Segenondus Plebanus, qui contulit fratribus triginta
Marcas, unde hodie dantur V. Sol. et II. den. Cam-
panariis de decima in Heimbergen.
ad. d. 17. ej.
- 10) Ob. Godeſcalcus, qui nobis contulit XI. Sol. redditus
de decima.
ad. d. 19. ej.
- 11) Dantur etiam V. Sol. perſolvendi de XX. Marcis,
quas Henricus locavit in Decimam de Lacbergen.
ad. d. 26. Apr.
- 12) Ob. Albertus Rogge qui contulit fratribus Decimam
in Cronloge, ſolventem duo Moltia Siliginis, et tres
nummos pro minori decima, unde fratribus dantur V.
Sol. Ob. Alebrandus, pro quo fratribus dabuntur
XXX. den. de decima curtis Berge.
ad. d. 9. May.
- 13) Ob. Hermannus Hake famulus-pro quo-contulit IV.
Sol. decimalium redditus in duabus domibus in Wel-
lingen.
ad. d. 25. May.
- 14) Ob. Godefredus Quintin qui contulit eccleſiae noſtrae
LVI. marcas, pro quibus dabuntur fratribus quolibet
menſe XXX. den. de decima in Malbergen.
ad. d. 3. Jun.
- 15) Ob. Hathebrandus Sacerdos qui nobis XXX. den. de
cedima in Droph contulit.
ad.
[359]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
ad. d. 23. ej.
- 16) Ob Helenbertus de Horſt miles, qui pro ſe et uxo-
re ſua Margaretha contulit III. Sol. decimales in cu-
ria Holſeter.
ad. d. 1. Jul.
- 17) Ob. Thetmarus cuſtos, qui nobis contulit XII. mar-
cas, unde fratribus dantur XXX. den. de decima in
Mintenlage et Batershem.
ad. d. 2. Jul.
- 18) Ob. Franco Praepoſitus qui VII. Marcas in ſui me-
moriam contulit, unde item de Decima in Mintelage
et Baterſen fratribus denarii XXX exhibentur.
ad. d. 15. Jul.
- 19) Ob. Philippus Ep. in cuius memoriam Decanus Jo-
ſeph decimam II. domorum contulit Werſtorpe et
Scirenbecke V. Sol. ſolventem.
ad. d. 14. Aug.
- 20) Pro memoria Gerardi de Arencampe dabuntur fra-
tribus XXX. den. quos dedit Gyſo Decanus de Decima
Bertelevit ſolvendos.
ad. d. 15. Aug.
- 21) De feſto hodierno dabuntur fratribus V. Sol. de deci-
ma Lothorpe, quam nobis contulit Lentfridus eccle-
ſiae noſtrae Praep. Dabuntur etiam nobis V. Sol. de
eadem Decima, et X. Sol. de advocatia curiae in Eſſen.
ad. d. 17. ej.
- 22) Campanariis dantur II. denarii de decima Ahuſen.
ad.
[360]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
ad. d. 19. ej.
- 23) recepimus decimam curiae in Cappeln III. Solidos ſol-
ventem.
ad. d. 21. ej.
- 24) Jutta contulit fratribus XXX denariorum redditus
dandos de decima in Segeſt.
ad. d. 26. ej.
- 25) Ludolfus de Tranthem contulit fratribus III. Solidos
dandos de decima in Segeſt.
ad. d. 29. ej.
- 26) Ob. Theodoricus Decanus, qui nobis decimam unam
magnam oblationem ſolventem contulit.
ad. d. 15. Sept.
- 27) In Solenni Octavae B. M. dantur de Decima Him-
berghe in parochia Holte X Solidi ad d. 30 Sept.
ad. d. 30. Sept.
- 28) Ob. Olrich et Alheit in quorum obitu Decanus ma-
jor de decima Buren dabit V. Sol.
ad. d. 3. Oct.
- 29) Ob. Wulfarius, qui in memoriam ſui dimidium ta-
lentum decimationis in Hukelen nobis contulit.
ad. d. 8. Oct.
- 30) Centum Marcae in domum et decimam Himbergh
commutatae de quibus dantur ſingulis menſibus
XXX. den.
ad.
[361]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
ad. d. 12. Oct.
- 31) Johannes contulit III. Marcas in decima Suaſlorpe.
ad. d. 17. Oct.
- 32) Huno dedit fratribus VI. Sol. decimationis in Haren.
ad. d. 24. Oct.
- 33) Hic dantur III. Sol. decimales de domo Erneſti in Ho-
lenbecke, attinente.
ad. d. 27. Oct.
- 34) Ob. Praepoſitus Giſelbertus qui nobis contulit Deci-
mam duarum domorum in Granthorpe et duarum do-
morum in Harpentorpe VII. Sol. et VI. den. ſolven-
tem; et decimam minutam unde hodie dantur VI. Sol.
ad. d. 11. Nov.
- 35) Ob. Wido Epiſcopus, qui nobis duas domos XI. So-
lidos ſolventes et decimationis duo talenta contulit.
ad. d. 13. Nov.
- 36) Fratribus dabuntur XXX denarii de Decima in Bor-
thuſen.
ad. d. 18. Nov.
- 37) Ob. Wedikindus Epiſcopus, qui nobis decimam no-
vorum agrorum. Hic dabuntur cuilibet fratrum XL.
denarii, quibus datur annona ſcilicet I. molt. Silig. I.
molt. ordei I. molt. avenae.
ad. d. 20. Nov.
- 38) Ob. Conradus miles dictus de Brogtesbecke dabuntur
XXX. denarii de decima quam comparavit Conradus
Uncus, in parochia Weſtercappeln.
Moͤſers patr. Phantaſ.IV.Th. A aad.
[362]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
ad. d. 24. Nov.
- 39) Habebunt fratres XXX. denarii qui dabuntur de deci-
ma in Olentorpe.
ad. d. 21. Dec.
- 40) Ob. Joh. Coline pro cuius memoria XXX. denarii de
decima Granthorpe.
ad. d. 22. Dec.
- 41) Ob. Riczo qui contulit eccleſiae noſtrae III. Sol. de-
cimae Weſterrothe in parochia Merſnen.
Folgende Auszuͤge aus Urkunden, wovon ein guter
Theil meiner Oſnabruͤckiſchen Geſchichte beygefuͤget iſt,
bewaͤhren eben dieſes.
- 42) ex precaria Alberici Epiſcopi de 1049:
eaque cum quinque libris et IV. Solidis decimatio-
nis in precariam recepit. - 43) Aus einer andern von eben dieſem Jahre.
cum duabus libris decimationis. - 44) Aus einer Beſtaͤtigung Bennonis II. Epiſcopi von
1070.
tres libras decimationis in precariam recipiens. - 45) Aus einer Uebergabe de 1074.
et cum ſeptem libris decimationis in precariam re-
cipiens. - 46) Aus einer andern von 1086.
IV. libras decimationis et IV. feras quotannis in be-
neſicium recipiunt. - 47) Ex traditione Nobilis Volckeri von 1086.
II.
[363]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
II. libras decimationis in Harpenſted et Halthuſen in
beneſicium recipiunt. - 48) Ex traditione Hildebergae von 1087 cum IV. libris
decimationis in precariam recipit. - 49) Ex reſignatione Everhardi eccleſiae Oſnab. advocati
von 1090.
ac cum X libris decimationis in beneficium recipiunt. - 50) Ex traditione Viduae Suanenburg von 1096.
cum XXIV. libris decimationis in precariam recipit. - 51) Ex traditione Demod von 1096.
duas libras in decimatione recepit. - 52) Ex traditione Henrici Comitis de 1150.
CCXXX. Marcas et XX libras decimationis in bene-
ficium recipiens. - 53) Aus einer Schenkung des Biſchofes Philip von 1163.
decimas duarum domorum IV. Sol. ſolventes, et de-
cimam in Andervenne Marcam et duas amphoras bu-
tyri ſolventem. - 54) Ex privilegio Arnonis Ep. Mindenſis v. 1183.
Decano et Capitulo Oſnab. decimam curtis in Peding-
torpe pro XII. Sol. annuis concedentis. - 55) Aus einem Zeugniſſe vom Biſchofe Engelbert.
IV. Solidorum decimalium et duorum arietum re-
ditibus. - 56) Aus einer Beſtaͤtigung des Biſchofes Gerhard
von 1195.
pro tota decimatione tam in Altilibus quam Semini-
bus tres ſolidos annuatim perſolvat. - 57) Aus einer gleichen, des Mindiſchen Biſchofes Con-
rad v. 1224.
ne domus jam dicta impoſterum a decimatore injurioſo et
oneroſo gravaretur, ſub hac forma perpetua ſtabili-
A a 2tate
[364]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
tate firmanda, ut Canonici pro tali decima percipiant
annuatim II. Sol. mindenſis monetae. - 58) Aus einer andern Erklaͤrung des Biſchofes En-
gelbert:
Quod nos redemtionem decimae domus in Weſtern-
ſtuke, quae eccleſiae Wildeshuſanae pertinet, ratam
et firmam volumus in perpetuum permanere. Ne igi-
tur aliquis dictam redemtionem ſicut ab antiquo ſol-
vit, praeſumat infringere. - 59) Aus einer Verſchreibung Henrici de Bramſche
von 1312.
Recognoſco quod redemtionem noſtram decimalem in
Entzter, videlicet duo moltia ſiliginis et unum moltium
ordei obligavi. - 60) Aus einer Beſtaͤtigung des Biſchofes Conrad von
1283.
Johannes dictus de Suthuſen vendidit conventui in
Berſſenbrügge pro XV. Marcis et dimidia decimam
novem Solidorum, videlicet quatuor Sol. in villa Ol-
thentorpe et V. Sol. in villa Weſterbecke. - 61) Aus einer andern von eben demſelben.
vendidit Capitulo noſtro duorum Solidorum reditus,
pro redemtione integralis decimae in feſto S. Criſpini
et Criſpiniani ſingulis annis perſolvendos. - 62) Noch aus einer dergleichen von 1276.
trium Sol. reditus, de curia Lodoweſten, et domo
quae adjacet in parochia Anchem pro redemtione in-
tegralis decimae annis ſingulis perſolvendos. - 63) Ferner aus einer andern von dieſem Jahre.
IV. Sol. reditus quos curia Weſtorpe pro redemtione
integralis decimae annis ſingulis dare conſueverit. - 6)4 Wiederum aus einer von 1272.
com-
[365]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
comparavit quasdam penſiones decimales in villa dicta
Lothe, tria videlicet Moltia Siliginis tribus modiis
minus, et IX. Sol. uſualis monetae tribus denariis
minus. - 65) Aus einer Verſchreibung des Domprobſtes Lent-
fried.
decimam unam in Ulenberge XXX. ſolventem nummos. - 66) Ex confirmatione Adolphi Ep. Oſn. de 1217.
decimam curiae ſuae in Wilſeten et cujusdam domun-
culae prope curiam ſitae, XXX. denarios annuatim
in feſto Criſp. et Criſp. ſolventem. - 67) Ex confirmatione Conradi Ep.
Decimam unius domus in Anchem pro redemtione
Decimae ſolventem IX modios ſiliginis et IX. denarios. - 68) Ex confirmatione Engelberti Ep.
decimam quandam duarum domorum prope clauſtrum
Harſt ſitam, IV. moltia et V. modios et IV. Sol. et
V. denarios annuatim ſolventem. - 69) Ex confirm. Brunonis Ep. von 1242.
Engelbertus Camerarius Moltium Siliginis per dimi-
diam menſuram, quod ab anteceſſoribus noſtris prae-
poſitis de domo Hermanni in Wulflen pro redemtio-
ne decimae domus praedictae. - 70) Ex confirm. ej. von 1251.
decima domus Sywardi in Heke in parochia Alf hu-
ſen ſitae, pro qua ſolebat XXVIII denarios recipere
annuatim. - 71) ex obligatione v. 1256.
obligaverunt conventui ſolutionem decimalem curtis
in Berſſenbrügge IV. ſcilicet ſolidorum et Allodii in
Boelo III. Sol. et Allodii in Weſtorpe II. Sol.
A a 372) ex
[366]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
- 72) ex conſirmatione Widekindi Ep.
Decimam unam in Berneſtorpe XI. moltia ſingulis
annis ſolventem. - 73) ex conſirmatione ejusdem de 1265.
decimam IV. domorum in parochia Damme, de do-
mo Johannis, III. ſol. et minutam decimam de domo
Odeconis ibidem XVIII. den. cum minuta decima.
Item in parochia Steinvelden de domo Alberti XVIII
den. cum minuta decima, de domo Hermanni XVIII
den. cum minuta decima. - 74) Ex confirm. ej. v. 1266.
redemtionem cujusdam decimae in domo Hamme XVI.
den. et minutam decimam ſolventem. - 75) Aus einer Urkunde von 1324.
minutam decimam valentem annuatim duos ſolidos. - 76) Ex aſſignatione Capituli von 1327.
Decimam in Lacbergen cum omnibus juribus et perti-
nentiis ad decanatum eccleſiae aſſignamus tali con-
ditione quod Decanus XX. moltia Siliginis et omnes
denarios qui de eadem decima dar i debent ſingulis
annis Capitulo miniſtrabit. - 77) Ex documento decani de 1343.
reditus annuos duorum moltium bonae ſiliginis hie-
malis et unius aucae et unius pulli ipſi, nomine re-
demtionis decimae praeſtandos. - 78) ex documento ej. de 1364.
medietatem decimae villarum in Tittingdorf ſingulis
annis duarum Marcarum reditus. - 79) Ex concambio de 1353.
proprietatem decimae redemtionalis dictae vulgariter
Tentloſe.
Und mehr als einmal haben unſre Biſchoͤfe, die hier
oben alſo benannte decimatores injurioſos et oneroſos,
welche
[367]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
welche den Naturalzehnten fordern wollten, zu Rechte
gewieſen, wie aus folgenden Clauſeln abzunehmen iſt.
- 80) Ex ſententia Engelberti Epiſcopi. Quod cum Weſcelus
dictus Clericus, eccleſiae noſtrae miniſterialis, man-
ſum ſitum in parochia Rulle ſuper manipulorum deci-
ma impeteret; et Arnoldus et Henricus fratres dicti
de Steinfard, ſe opponerent, ab utraque parte co-
ram nobis in eo conſenſerunt quod e praedicto manſo ſin-
gulis annis XII. denarii uſualis monetae, pro totali
decima minori ſcilicet et majori perſolvantur. - 81) Ex ſententia Conradi Ep.
Cum praeſtationes decimorum et eorundem proventus
in ordinatione et poteſtate ſint Epiſcopi, notum eſſe
volumus, quod Joh. de Northorpe de domo, quae
vocatur Boninchus, ſingulis annis pro ſolutione deci-
mae, videlicet majori infeſto Criſp. et Criſp. I. mol-
tium Siliginis et I. braciiet I. avenae perſolvat. - 82) Ex Sent. ejusdem.
Quod cum Dominus Eylhardus miles von der Horſt
domum in Oſteringhe comparaſſet, et Weſcelo Ca-
merario pro decima inde tres modii ſiliginis, et tres
denarii ſolverentur, et hanc penſionem decimalem
dictus Weſcelus infringere niteretur, prudentum viro-
rum conſilio, hane pactionem inter eos, interceſſiſſe,
ut. pro totali decima dictae domus majori videlicet et
minori, nec non omnibus his, quae ad legem Dei jure
decimali poterant vindicari ſingulis annis, in fe-
ſto Dominorum, penſio V. mod. Siliginis et V. den.
perſolveretur. - 83) Ex ſententia Philippi Ep. in plena Synodo lata de
1160.
Cum quaedam fratrum curia Burclo ſita, ſecundum
antiquam inſtitutionem pro decima ſua IV. Sol. dena-
A a 4riorum
[368]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
riorum LX. annis et amplius perſolviſſet, et prolixi-
tas temporis attuliſſet firmum titulum poſſeſſionis, qui-
dam Menwardus in Synodum noſtram veniens, jure
beneficiali praedictae curiae decimam in manipulis
exegit. Sed ille tandem juſtitiae regulis coarctatus, in
Synodo plena profeſſus eſt, quod pro decima ejusdem
curiae, et cujusdam domus, quae de agris ejusdem
curiae collecta eſt, quae teutonice Plochus vocatur, non
niſi IV. Sol. denariorum, in feſto beatorum C. et C.
praeſentandos, de jure eſſet accepturus. Nos igitur
eandem inſtitutionem veris fidelium noſtrorum atteſta-
tionibus approbatam, temporis etiam contractu robo-
ratam, et coram nobis fideliter retractatam utriusque
partis conſenſu ſub teſtimonio magnae Synodus confir-
mavimus.
Wie denn auch der Domprobſt Lentfried, welcher
1190 lebte, ſich ſelbſt
‘in regiſtro redituum eccleſiae cathedralis’ ()
wohl nicht das Compliment gemacht haben wuͤrde,
‘Ego Lentfridus Praepoſitus magno labore pro decem
Solidis quondam Deeimae, elaboravi V. moltia Sili-
ginis V. ordei et ſemis, et VI. modios tritici; et I.
molt. ſiliginis, I. molt. ordei et moltium avenae in
Elſteden.’ ()
falls es nicht eine von den Biſchoͤfen anerkannte allge-
meine Regel geweſen, daß die Zehnten von den aͤlteſten
Zeiten her, mit einer beſtimmten Summe Geldes oder
Korns geloͤſet worden. Man kannte den Zehnten faſt nicht
anders als geloͤſet, ſo daß ſo gar der Biſchof Bruno, als
er im Jahr 1251 einen Zehnten einloͤſete, ſich der Worte
bediente: ſe redemtionem redemiſſe, oder wie die Worte
lauten.
Nos
[369]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
‘Nos conſiderantes, pium et juſtum eſſe, redimi deci-
mas de manu laicorum redemtionem totalis decimae
curtis in Honen, a nobili viro de Stenvordia, noſtro
conſanguineo, redemerunt.’ ()
Wenn nun aber ſolchergeſtalt von den aͤlteſten Zeiten
her die Zehnten geloͤſet worden; wenn dadurch das Wort
Zehntloſe, wie aus obigen Urkunden erhellet, in die
Volksſprache aufgenommen worden. Wenn in alten Rach-
richten von libris, talentis, folidis et denariis decimalibus,
als von einer Bankomuͤnze geſprochen, und dagegen gar
keines einzigen Naturalzehnten vom Felde gedacht wird.
Wenn diejenigen, welche den Zehnten vom Felde ziehen
wollten, von den Biſchoͤfen ſelbſt injurioſi et oneroſi de-
cimatores genannt werden; und wenn endlich dieſe in
plena ſynodo erkennen, daß die Zehnten uͤber aller Men-
ſchen Gedenken geloͤſet geweſen: ſo glaube ich, daß man
wenigſtens in unſerm Stifte (von andern ſaͤchſiſchen Stif-
tern wird ſich aber der Beweis auch fuͤhren laſſen) die
Vermuthung gegen den Naturalzehnten, und fuͤr eine
urſpruͤngliche Verpachtung faſſen koͤnne.
Die Urſachen dieſer großen und wichtigen Veraͤnde-
rung mag ich nicht darin ſuchen, daß die Sachſen ſich
wegerten den Zehnten zu geben, und daß vielleicht die
erſten Biſchoͤfe, wie auch ſchon von Eſgen
in jure eccl. p. II. lit. 23. c. 2.
bemerkt, um das Volk zu gewinnen, ſich ihres Rechts
nicht nach aller Strenge bedient, ſondern den Zehnten
zu einem leidlichen Pachtgelde erlaſſen haben. Nein!
ich bedarf dieſer Vermuthung nicht; ſo ſehr ihr auch die
Geſchichte dieſer Zeit, das Capitular von 829, de deci-
mis, quas populus dare non vult, niſi quolibet modo ab
eo redimantur, und der bekannte Brief Alcuins, Carls
A a 5des
[370]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehuten.
des großen Lehrmeiſters, zu ſtatten koͤmmt. Vielmehr
gebe ich zu, daß es immer noch von dem Biſchofe ab-
hieng, ob er den Zehnten, ſo lange er die Eigenſchaft
einer Steuer behielt, vom Felde ziehen, oder zu Gelde
laſſen wollte. Dieſes ſagen nicht allein die Geſetze de de.
eimis non redimendis niſi Epiſcopo placuerit,
‘Bey Georgiſch. in Corp. J. G. S. 1842,’ ()
ſondern es iſt auch der wahre Sinn des oft gebrauchten
Ausdrucks, quod decimae ſint in poteſtate Epiſcoporum;
als wodurch angezeigt wird, daß der Kayſer es zwar in
die Macht der Biſchoͤfe geſtellet, in den Steueranlagen
bis auf den zehnten Pfennig zu gehen, aber darum noch
nicht gewollt habe, daß ſie nun dieſe Zehntſteuer jedes
Jahr, ohne Unterſchied ob es noͤthig ſey oder nicht, ein-
fordern ſollten. Da zu dieſer Zeit noch keine Landſtaͤnde
vorhanden waren, mit denen der Biſchof die gemeinen
Stiftsanlagen uͤberlegen konnte, und es zu weitlaͤuftig
geweſen ſeyn wuͤrde, zu jeder Anlage die kayſerliche Be-
willigung einzuholen, und eines von beyden mußte doch
geſchehn, ſo war der Zehnte nur als ein non plus ultra
erwaͤhlt, woruͤber die Biſchoͤfe, ohne weitere Vorfrage
nicht hinausgehen ſollten.
Dieſes vorausgeſetzt, werden ſie mir hoffentlich
Zweytens darunter gern beypflichten, daß alle Steuren
ihr natuͤrliches Maaß an der Beduͤrfnis haben, wozu ſie
gefordert werden. Was daruͤber iſt geht auf Willkuͤhr
hinaus, und dieſer darf ſich ein Biſchof noch weniger als
ein ander Regent ſchuldig machen. Um den Biſchof von
der Verſuchung abzuhalten, etwas mehrers an Zehnten
zu fordern, als er zu ſeiner, der Kirchen und der Armen
Nothdurft gebrauchte, war verordnet, daß der jaͤhrliche
Ueberſchuß allemal den Armen gegeben, nicht aber ver-
kauft
[371]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
kanft und das daraus erloͤſete Geld in den Schatzkaſten
gelegt werden ſollte.
‘v. add. IV. ad Capit. §. 89. beym Georgiſch. in Corp.
J. G. p. 1821.’ ()
Dieſes hatte natuͤrlicher Weiſe die Folge, daß er nicht
mehr Zehnten vom Felde zog, als er zu obigem Ende noͤ-
thig hatte; und ſich das uͤbrige gern mit Gelde abloͤ-
ſen ließ.
Wollte nun aber jetzt ein Biſchof oder Regent ſeine
Beduͤrfniſſe zum Grunde nehmen, warum er den Zehnten
vom Felde ziehen muͤßte: ſo konnte er doch einzelnen
Zehntpflichtigen ein mehrers nicht abfordern, als ſie in
ihrem Verhaͤltniſſe dazu beytragen muͤßten; und nur als
denn den voͤlligen Zehnten nehmen, wenn die Noth ſo
groß waͤre, daß ſie nicht anders als mit dem Zehnten des
ganzen Sprengels beſtritten werden koͤnnte. Die Cano-
niſten haben die Biſchoͤflichen und Parochialzehnten beguͤn-
ſtiget, weil dieſe, da ſie einen Theil der oͤffentlichen Be-
ſoldung ausmachen, noch wuͤrklich die Eigenſchaft einer
Steuer haͤtten. Allein es bleibt immer die Frage: warum
ſollen einzelne Zehntpflichtige fuͤr das Ganze leiden; und
wie wenige urſpruͤngliche Parochialzehnten moͤgen annoch
vorhanden ſeyn, da zuerſt alle abgeloͤſet, und die heuti-
gen Zehnten faſt alle durch Kauf und Vermaͤchtniſſe an
die Kirche zuruͤckgekehrt ſind!
Drittens verliert jede Steuer, ſo bald ſie in die
Haͤnde eines Privatmannes koͤmmt, ihre Natur, und ih-
ren Wachsthum; ſie verwandelt ſich von dem Augenblick
an, da ſie verkauft oder verſchenkt wird, in einen trock-
nen Zinß, weil das Beduͤrfniß des Privatmanns nicht
mehr das Beduͤrfniß des Staats iſt; und es wuͤrde
Viertens der aͤrgſte Wucher ſeyn, wenn jemand, der
denarios et ſolidos decimales fuͤr ein benanntes Capital
ge-
[372]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
gekauft hat, nun dem Zehntpflichtigen aufs Feld fallen,
und den Naturalzehnten davon ziehen wollte. Alles was
er fordern kann, iſt dieſes, daß ihm fuͤr jeden Solidum,
deren zur Zeit Carls des großen zwanzig aus der feinen
Mark geſchlagen wurden, ein heutiger Gulden nach dem
zwanzig Gulden Fuße, oder, wenn man den Fall des Sil-
bers mitrechnen will, zwoͤlf Himten Roggen verguͤtet wuͤr-
den, als ſo viel man in jener Zeit dafuͤr kaufen konnte.
Einen aͤhnlichen aber mildern Fuß hat die Praxis in ſpaͤ-
tern Zeiten befolgt.
Dagegen erhebt es
Fuͤnftens nichts, daß die Zehntpflichtigen gleichwohl alle
acht oder zwoͤlf Jahr den Zehnten von neuem pachten,
und dabey einen beſondern Weinkauf geben muͤſſen; ſo
lange der Zehntherr nicht erweiſen kann, daß er den Zehn-
ten jemals vom Felde gezogen habe. Denn jenes iſt
- a) wahrſcheinlich nur aus Vorſorge zur Erhaltung
Rechtens geſchehn. Es gab auſſer den Solidis decimali-
bus auch Solidi areales, und andre Arten von Grundgel-
dern, die theils redimibiles theils irredimibiles, und bey
entſtehenden Concurſen mehr oder weniger privilegirt wa-
ren; und um jenen ihren urſpruͤnglichen Charakter zu
erhalten; wie auch um ſie bey dem geiſtlichen Gerichte
einklagen zu koͤnnen, wurde jene Form beybehalten. - b) Erlaubte das Canoniſche Recht den Geiſtlichen
nicht, ihre Einkuͤnfte in Erbpacht zu geben; und um die-
ſer Verordnung, die in unſern Gegenden gar nicht an-
wendbar iſt, auszuweichen, behielt man auch in der Erb-
pacht der Emphyteuſi und andern auf die Erben gehen-
den Contrakten den Schein der Zeitpacht bey, und lies
den Erbpaͤchter dieſer Form wegen, alle acht oder zwoͤlf
Jahr von neuem pachten; wie dieſes die vielen Colonate,
welche
[373]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
welche alle zwoͤlf Jahr von neuem gewonnen werden muͤſ-
ſen, und gleichwohl ihrer Natur nach, weil der Colon
die Gebaͤude absque aeſtimatione empfaͤngt, und wenn
ſie abfallen, ohne Verguͤtung wieder bauen muß, erb-
lich ſind, beweiſen. - c) ſteht in dergleichen Pachtpriefen uͤber den Zehn-
ten, daß die Pflichtigen alle acht oder zwoͤlf Jahr, neues
gewinnen muͤſſen. Dieſes waͤre eine ſehr uͤberfluͤßige Be-
dingung, wenn der Zehntherr nach Verlauf der Jahre
den Zehnten vom Felde ziehen koͤnnte. Nie hat man
dergleichen Bedingungen einer wahren Zeitpacht ange-
haͤngt. Denn wenn dieſe zu Ende iſt, ſo verſteht es ſich
von ſelbſt, daß der Verpaͤchter mit dem ſeinigen machen
koͤnne, was er will. - d) Heißt es oft in dergleichen Pachtbriefen:
‘Litones ac ſervi glebae - proxima dominica poſt fe-
ſtum patrocinii penſionem eccleſiae debitam in fru-
mento ſeu Blado (Blé) ſuper granario ibidem ſito,
et ad antiquo ad hoc deputato pagtare tenentur fina-
liter et expedite, et qui in illa ſolutione et feſto ne-
gligens fuerit, tribus ſolidis mulctabitur
Boehmer in praefat. ad Strodtmanni jus curiale.’ ()
- Hier muͤſſen die Zehntpflichtigen, oder wie ſie in der
Urkunde genannt werden, die Zehntſcheurigen Leute jaͤhr-
lich pachten; und die Zehntſcheuer oder das granarium
ſteht als eine redende Urkunde da; dennoch verwirken
dieſe Leute nicht den Zehnten vom Felde, wie man ſchlieſ-
ſen ſollte, ſondern nur eine Strafe von drey Schillingen,
wenn ſie die Pacht verſaͤumen; zum Zeichen, daß die
Pacht weiter nichts als eine ſymboliſche Handlung ſey. - e) uͤberſende ich ihnen hiebey zwey Winnbriefe, die
von einerley Verpaͤchter uͤber einerley Gut und eben
dem-
[374]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
demſelben Paͤchter ertheilet ſind, in deren einem von 24
Oct. 1742 ausdruͤcklich ſteht, daß der Paͤchter das Gut
fuͤr ſich und ſeine Nachkommen erblich beſitzen ſolle; und
in dem andern vom 1. Oct. 1751, daß das Gut nach Ab-
lauf der 12 Jahre dem poſſeſſori Vicariaewinnlos ver-
fallen ſeyn ſolle. Den erſten erhaͤlt der Paͤchter, wann
er den Hof antritt, und den andern alle zwoͤlf Jahr; und
wie oft ſteht nicht in dergleichen Briefen noch deutlicher,
der Colonus ſoll ein jus irrevocabile Coloniae perpe-
tuae habe, gleichwohl aber bey jeder Wechſelung
der Colonorum den Hauptgewinn mit .. Thaler
und uͤberdem noch alle 12 Jahr pro renovatione in-
veſtiturae .. Thaler bezahlen!
- zum deutlichſten Beweiſe, daß man bey den Erbpachten
nur den Charakter des erſten Contrakts zu erhalten ge-
ſucht habe. - f) zeigen die alten Regiſter von einer einfoͤrmigen
Pacht, die in ſpaͤtern Zeiten nach dem Verhaͤltnis, wie
die Muͤnze gefallen, in billiger Maaße erhoͤhet worden;
und faſt alle Pachtbriefe ſind aus der letzten Zeit. Jn
einigen Kirchenregiſtern ſteht ſogar folgende oder eine
aͤhnliche Anmerkung:
‘utut ſit, e re eccleſiae fuit, pro informatione ac poſ-
ſeſſione et continuatione, ad longum hic inſerere
copiam ac formam documenti elocationis, quod con-
ductoribus hujus decimae per triginta et plures annos
a poſſeſſoribus datum fuit.’ ()
- waraus deutlich abzunehmen, daß der geiſtliche Zehnten,
als er den zehntpflichtigen Bauren, die nicht leſen konn-
ten, einen neuen Pachtbrief in die Hand geſteckt, ſich
mit einem utut ſit, pro bono eccleſiae beruhiget habe.
Endlich nahmen
g) die
[375]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
- g) die Deutſchen bey allen Vorfaͤllen gern Wein-
kaͤufe, oder wie es in den Regiſtern heißt, etwas ad vi-
nalia wie ſolches aus den alten Reichs- und Landespoli-
cey-Ordnungen, die dagegen eyfern, genugſam hervor
geht; und es laͤßt ſich daraus, daß die Zehntpflichtigen
alle acht oder zwoͤlf Jahr einen Weinkauf bezahlen muͤſ-
ſen, um ſo viel weniger auf eine Zeitpacht ſchlieſſen, je
offenbarer es iſt, daß ſolcher bey mehrern Erbpachten
bezahlet werden muß. Nicht zu gedenken, daß der Wein-
kauf auch nur ein Symbol des erſten Contrakts ſey, und
als eine Aſſecuranz-Praͤmie fuͤr auſſerordentliche Ausfaͤlle
nicht unbillig bedungen werde.
Dieſes ſind die Gruͤnde, liebſter Freund, welche
mich bewegen, von ihrer Meinung abzugehen. Andre
und beſſere werden Sie bey den angeſehenſten Rechtsge-
lehrten finden, indem ich nur diejenigen angefuͤhret habe,
welche von ihnen insgemein uͤbergangen werden. Waͤre
die Regel pro decima naturali: ſo wuͤrde man im Auf-
ſteigen von juͤngern Pachtbriefen zu den aͤltern, immer
deutlichere Spuren von Zugzehnten finden. Da ſie aber
erwieſener maaßen, pro redemtione univerſali ſteht: ſo
verhaͤlt es ſich gerade umgekehrt; und das gemeine Be-
ſte leidet es nicht, daß zu einer Zeit, wo das Landeigen-
thum zu allen oͤffentlichen Beduͤrfniſſen auf andre Weiſe
ſteuren muß, dieſes unter dem Vorwand einer alten
Steuer, beſonders wenn dieſe ſich in Privathaͤnden fin-
det, noch mehr erſchoͤpfet werde. Es verhaͤlt ſich damit
wie mit alten Dienſtgeldern, Herbſt- und Maybeeden,
und andern gutsherrlichen Gefaͤllen, die ſo lange ſie ei-
nen Theil der oͤffentlichen Beſoldung, der fuͤr das Va-
terland oder fuͤr deſſen Herrn ſtreitenden Lehn- und Dienſt-
leute ausmachten, wachſen und ſteigen konnten, nun-
mehro
[376]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
mehro aber, da die oͤffentliche Vertheidigung mittelſt einer
Landſteuer dem Bauer auferlegt worden, die Eigenſchaft
eines trocknen Zinſes erhalten haben, und zum Nachtheil
des ſteuerbaren Bodens, nicht mehr veraͤndert werden
koͤnnen. Mit den Neubruchszehnten verhaͤlt es ſich eben
ſo. Der Zehntere hat ſolchen mit Recht verlohren, als
ſein Zehnte die Eigenſchaft einer Steuer und mit dieſer
ihren moͤglichen Wachsthum verlohr; und nur da, wo
derſelbe in den Haͤnden des Landesherrn, oder eines Man-
nes iſt, der ihn zur oͤffentlichen Beſoldung vom Staate
genieſſet, findet man ihn noch zu Zeiten; obgleich nicht
mit dem beſten Grunde, da er auch hier, wenn man
genau gehen will, nicht mehr die Eigenſchaft einer
Steuer hat.
Appendix A
Leipzig,
gedruckt mit Solbrigſchen Schriften.
[[377]][[378]][[379]][]
da Germanicus ein Treffen mit ihnen in der Ebne vermied;
und das andremal, da die Deutſchen ſo in die Enge getrieben
waren, daß ſie aſſultu \& velocitate corporum nichts ausrich-
ten konnten. Annal. L. II. c. 21.
Nudi juvenes, quibus id ludicrum eſt, inter gladios ſe atque
infeſtas frameas ſaltu jactant. Tacit. G. 24. Hiedurch er-
reichten ſie jene Springkraft. Ignavos \& imbelles \& corpote
infames coeno ac palude mergunt. G. c. 12. Wann man die-
ſes nicht von der augenblicklichen Sittuation des Anlaufs ver-
ſteht: ſo iſt es nichts.
mixti præliantur, apta \& congruente ad equeſtrem pugnam
velocitate peditum quos ex omni juventute delectos ante aciem
ponunt. Tac. G. c. 6.
id genti, velut vinculum geſtat, donec ſ caede hoſtis abſol-
vit. TACIT. G. c. 31.
runt. FLOR. III. 3.
biere. Das iſt, Eheleute die keine Kinder haben, koͤnnen
einmal in ihrem Leben auch ein Kindelbier halten, damit ſie
ſich wegen deſſen, was ſie andern geopfert haben, erholen
koͤnnen. Wahrlich eine gutherzige Erfindung. Guͤſt wird
von Kuͤhen gebraucht, die nicht kalben.
worauf jede Sayte zu einer gewiſſen Leidenſchaft geſtimmet
war. Wenn er nun z. E. die Sayte des Ehrgeitzes oder des
Liebe ſtrich: ſo fiengen die Koͤrngen, welche zu kuͤnftigen Fuͤr-
ſten beſtimmt waren, gleich an zu huͤpfen, und bisweilen be-
wegte ſich auch nach dieſem Tone die Seele eines Pedanten.
Die Sayte der Eitelkeit ſetzte faſt alles in mindre oder meh-
rere Bewegung.
res habillées en é ffes de Soye verwechſeln muß.
willen bemerke, weil ſeitdem Modejournale, und Modeintel-
ligenzblaͤtter in Deutſchland erſchienen ſind.
Faͤchels eingenommen hat. Eine Schnurrkatze aber iſt ſo ein
Ding, ja es iſt ſo ein Ding, womit die Kinder ſpielen.
Ein wiblich VVib mit Zñhten ſprach
Zir Tochter der ſi ſchone pflac.
tions de morale p. 735.
eingefuͤhrten Rechte der Vorritt genannt. Leipzig 1777
und Grupens teutſche Alterthuͤmer c. VII.
1779.
oder Ewa Geſetz, und faßt den Begrif der Geſetzmaͤßigkeit
in ſich.
als ein bonum vacans dem Landesherrn heimfallen. Der Ur-
ſprung dieſes Rechts faͤllt in die Zeiten, da der Boden noch
keinen zum Unterthanen machte, ſondern der nexus ſubditius
auf Hoͤrigkeit beruhete. Wer damals keinem Hoͤrig war,
wurde herrenlos geachtet. Man braucht das Wort verbieſtern
von Menſchen und Vieh, von Haͤuſern und Deichen, die der
Eigenthuͤmer verlaſſen hat. Ein verbieſterter Menſch iſt da-
her zugleich ein Wildfang, albanus oder aubain. Der Alba-
nus unterſcheidet ſich von dem Forbanno darin, daß jener we-
der in hundredo noch in plegio mithin extra bannum iſt, ob er
ſich gleich in banno aufhaͤlt; dieſer hingegen deſſelben verwie-
ſen iſt. Jener genießt des Landesfuͤrſtlichen Schutzes zu dem
Preiſe, daß ihn der Landesherr beerbt. Dieſer hingegen hat
gar keinen Schutz, und iſt vogelfrey.
ſpecialis, plegium Echte.
der Verfaſſer ſagen will: ſo will ich dieſen zu gefallen bemer-
ken, daß die Criminalrechte es nicht geſtatten, jemanden
ohne die hoͤchſte Urſache uͤber Artikel zu vernehmen, und daß
man in neuern Zeiten, um dieſer Vorſchrift auszuweichen,
auf den ſonderbaren Einfall gerathen ſey, die Artikel in Punkte
zu verwandeln: Recentioribus temporibus novum invaluit re-
fugium, nomine articulorum mutato, reſponſionem ad certa
puncta decernendi, quaſi mitiori hoc vocabulo famae parcatur,
reoque contra ſiniſtrum judicium, quod appellatione articulo-
rum connexum eſſe ſolet, ſubveniatur, DE BOEHMER ad Conſt.
crim. p. 113. Dieſer Aufſatz erſchien, als man zu ....
den Herrn von … wegen gewiſſen, gegen den Landesherrn
gefuͤhrten freyen Reden, ad puncta vernehmen wollte.
alſo: Quicquid huic obverti poteſt, huc redit, non rationem
ſed meram opinionem hororem articulis aſſuere, punctis vero
detrahere, ſolum verborum ſonum differentiam conſtituere,
ubique reum de crimine quod famam ſugillat, interrogari —
und endlich ſchließt er: quae ſola hujus examinis peculiaris
conditio conceptum mere emaginari commedi excedit, ut nil
obſtet cur ſtare prohibeatur.
obſcures; AMMIAN. MARG. L. XXIII.
occupantis gehe, und ob dieſer nicht ein Recht habe, alle Thiere,
den Menſchen mit eingeſchloſſen, welche ihn darin ſtoͤren wol-
len uͤber den Haufen zu ſchießen? Die Regel: Was du nicht
willſt, das dir die Leute thun ſollen, das thue ihnen auch
nicht, ſpricht hier fuͤr den occupantem; denn dieſer kann ſa-
gen, ich verlange nicht, daß man mir beſſer begegne, wenn
ich andre in ihrem Rechte kraͤnke.
nes populi inhoneſte tractari, ſed magis rem inter gladiatores
diſcerni juſſic, VVITICH ann. L. II. p. 644.
VVITICH l. c.
beym SALLENGRE in praef. ad T. I. Cont. Ant.
Hac functo acternum ſit mihi terra levis.
beym MURAT. T. I. theſ. novi. p. 540.
Buchſtaben S. A. D. oder die Worte: ſub aſcia dedicavit;
und die Gelehrten ſtreiten uͤber deren Bedeutung. Wahr-
ſcheinlich gab es aber zu Rom ein Zimmer-amt, oder wie
wir ſprechen, ein officium ſtructurae, und wer etwas daran
bezahlte, konnte es erhalten, daß ſein Grabmal auf ewige
Zeiten rein und ſchoͤn bewahret wurde. Eine ſolche dedica-
tio ſub aſcia koͤnnte auch bey den Kirchhoͤfen vor der Stadt
eingefuͤhret werden.
p. II. c. 9. daß 36 Buͤrger zu Augſpurg, darunter auch
viel
die Weſtph. Gerichter ꝛc. dieſe Erzaͤhlung Johannes von
Buſchede reform. monaſt. III. 42. p. 942. weil der Herzog
ſich ſo weit nicht herauslaſſen duͤrfen.
phaͤliſchen Proceſſes bewußt, ja auch wohl gar heimliche
und verborgene Henker geweſen. Wenn ſolchergeſtalt 36
Weſtphaͤliſche Freyſchoͤpfen in einer einzigen entfernten Stadt
waren, wie viele mochten denn nicht in ganz Deutſchland
geweſen ſeyn?
auslegt: Stock Stein Graß Grein, ſtanden in einem Proto-
koll, was man zu Herſord gefunden hat. S. PFEFFINGER
l. c. p. 490.
beym Kuhlmann in den Ravenſpergiſchen Merkwuͤrd. T. II.
p. 25. Des Oſnabr. habe ich zuvor gedacht.
Fraͤulein iſt der von Roſinen von Werdemann vom Jahr 1498
beym Luͤnig in R. A. T. XII. p. 456.
germ. c. 18.
gines ſine dote nubere juſſit ur uxores ducerentur non pecuniae.
JUSTIN. III. 3.
tenen Oſnabr. Zeugenverhoͤr v. 26. Sept. 1598.
auch die Generalslehne gegen das ausdruͤckliche Verbot Frie-
derichs des 1. 2. f. 55. §., theilbar wurden; wovon die Urſa-
che dieſe war, daß die ducatus marehiae \& comitatus Heer-
banns Generalate waren woraus die Gemeinen deſertirt wa-
ren, und ſich entweder in die Dienſte des Heerbannsgenerals
oder andre begeben hatten. Des Heerbanns Herzogthum war
alſo
abgeſunken. Dagegen ſtieg das neue Dienſtherzogthum in die
Hoͤhe, nach dem Maaße als jenes durch die Deſertion ab-
nahm. Und das letztere wurde durch die daruͤber errichteten
Familienvertraͤge und Gewohnheiten, wieder untheilbar.
in T. IV. obſ. app. p. 12. Jn dem Ritterrecht ſelbſt wird
noch alles nach landſaͤßiger Uebung und Gebrauch be-
ſtimmt, und blos eines ziemlichen Ehegeldes gedacht; aber
in den Noten, welche das Werk dieſes theoretiſchen Jahrhun-
derts ſind, werden die Guͤter auf der Maſch zu 6 p. C. und
die auf der Geeſt zu 5 p. C. angeſchlagen, wenn die Abſteu-
ren der Toͤchter beſtimmt werden ſollen. Jm uͤbrigen ver-
faͤhrt man faſt ſo wie hier im Stifte mit Auslobung der Ei-
genbehoͤrigen.
ſteht bey dem von Steinen in der Weſtf. Geſchichte im VII.
St. p. 1931.
es iſt die Vorrede zu dem darin angefuͤhrten Zeugenverhoͤr,
welches mein Vater zur beſſern Begruͤndung der Vereinigung
abdrucken lies.
Hauptinhalt aus den daraus angefuͤhrten Stellen, leicht er-
rathen wird.
zur Vorbereitung der Vereinigung dienen, welche das Jahr
darauf erfolgte, und ich hier mit einruͤcke, ob ich gleich an-
dre Landesordnungen, wozu manches Stuͤck der Phantaſien
eine Vorbereitung enthalten hat, zuruͤckgelaſſen hat.
den ſollte, daß der Handel dem Adel unſchaͤdlich ſeyn koͤnne.
Dieſem widerſetzte ſich ein ander unter dem Titel: La No-
bleſſe militaire ou le Patriote François, und darauf erſchien:
Le Conciliateur ou la Nobleſſe militaire \& commerçante. Aber
alle drey verfielen in Declamation, weil ſie die Begriffe vom
Adel nicht genug beſtimmen, und immer die moraliſche Ehre
mit der politiſchen vermiſchen? La Nobleſſe veritable conſiſte
dans lo courage \& la vertu, deux qualités de l’ ame qui ne de-
pendent pas de l’ avarice de l’ homme, ſagt der Conciliateur,
und faͤhrt dann fort: je ſuis né de famille noble ſi mon pere
cut eté roturier, n’aurois je pas les memes ſentimens; \& celui
qui nait dans la plus baſſe roture ne peut il pas pretendre à
penſer \& á agir ausſi noblement que vous \& moi? Ein ſolches
elendes Gewaͤſche entſteht aus jener Verwechſelung; und man
koͤnnte eben ſo gut fragen: ob ein Bauer nicht eben ſo gut ein
Chriſt ſeyn koͤnne als ein Edelmann? Lauter Folgen der neu-
modiſchen Menſchenphiloſophie, die immer mit dem Menſchen
zu thun hat, ohne den Actionair zu kennen.
civili ſo viele Arten von Churfreyen, Nothfreyen und Frey-
gebohrnen, daß es wegen ſeiner wenigen Beſtimmung ganz
unbrauchbar iſt.
juͤngere Soͤhne eigne Wuͤrden, damit ſie nicht unmittelbar
zu Gentlemens herabſinken — Un Comte de Provence, un
Comte d’ Artois iſt durch ſeine Grafſchaft gleich vor dieſen tie-
fen Fall bewahrt. Eben ſo machen es auch adliche Familien,
die ihren juͤngeren Kindern beſondere Herrlichkeiten, Stifts-
praͤbenden ꝛc. ꝛc. verſchaffen.
Tractat von dem Entſetzungsproceß, wie ſolcher bey der Acht-
erfolgung eines oͤffentlich verpfaͤndeten Erbes in Hamburg ge-
fuͤhrt wird. Hamburg 4. 1699.
obſ. 180.
ſchloſſen. Sie laſſen aber doch Erb-Recht gelten; und wie
in einem auf Landeigenthum gegruͤndeten Staate, die Stimm-
barkeit in der Nationalverſammlung, welche in einer ſolchen
Nation alle Ehrenfaͤhigkeit mit ſich fuͤhret, und den Adel im
eigentlichen Verſtande ausmacht, die Stimme mit der Land-
actie nothwendig vererbt, oder auch verkaufet werden kann:
ſo moͤchte man wohl fragen, ob die guten perſoͤnlichen Ver-
dienſte hier mehr in Betracht kommen werden, und ob das
Erbrecht, oder ein Kaufcontract, eine beſſere Vermutung fuͤr
ſich habe, als der Erbadel? Freylich, ſo bald man eine hand-
lende Nation vorausſetzt, und das Geld als das hoͤchſte Gut
anſieht, muß es den Handlungsgeiſt befoͤrdern, wenn jeder
durch Geld zur Stimmbarkeit gelangen kann. Allein die groͤßte
Summe von Tugend und Menſchenkraft findet ſich in hand-
lenden Staaten nicht; und die Satyriker koͤnnen denen, die
nicht durch eigenen Fleiß reich geworden ſind, eben die Vor-
wuͤrfe machen, welche der Geburtsadel erdulten muß. Der
alte Text, woruͤber ſchon John Bull unter Richard II. den
Bauren predigte:
‘When Adam dalf and Eve ſpann
Who was than a Gentleman?
WALSIN. Riechard II.’ ()
laͤßt ſich auf dieſe, wie auf jene, anwenden.
(comitatu) der Deutſchen, indem Tacitus ſagt: quin etiam
gradus Comitatus habet.
Wirceburgenſis Epiſcopus ‒ Unum nomine Richboldum, prae
caeteris nobis familiarem transtulimus in conſortium et jus mi-
niſterialium eccleſiae noſtrae; cui cum foemina quaedam libera
et liberis orta parentibus, nomine Richere, legitime nupſis-
ſet ap. Falken in erad. Corb. p. 662. oder Nos Mechtildis dei
gratia Abbatiſſa Herfordenſis ‒ Nos vero occaſione huiusmodi
cenſus nobis dati, et de conſilio et conſenſu Capituli et mini-
ſterialium eccleſiae noſtrae, praedictum Gerardum et omnes pue-
ros
pimus, dantes eis omne jus quod miniſteriales noſtrae eccleſiae
antiquitus habuerunt — ib. p. 750. Die Aebtiſſin giebt ihm
omne jus: das iſt, alles was ihm 16 Ahnen verſchaffen konn-
te, und mehr als der Kayſer geben kann. Aber es geſchahe
auch cum conſenſu caeterorum miniſterialium; und der gea-
delte hatte ihr eine jaͤhrliche Einnahme von einer Mark Herfor-
derſcher Pfenning verſchaffet. Andre treugeleiſtete Dienſte
werden nicht angefuͤhrt. Der Erzoͤiſchof Adelbert zu Mainz
erlaubte dem Probſte zu Aſchaffenburg, duos viros, ejusdem
praepoſiturae aliquando quidem cenſuales, cum conſenſu advo-
cati, zu ſeinen Miniſterialen anzunehmen, und den einen zu
ſeinem Erbmarſchall, und den andern zu ſeinem Erbſchenken
zu machen; v. diploma 1227 beym Guden T. I. p. 394. Dieſe
Standeserhoͤhung zweyer Cenſualium ſub advocatia inferiori
conſtitutorum, zeigt, wie man ohne einen kayſerlichen Brief
ein Edelmann werden koͤnne.
Corps dipl. Th. I. S. 5.
Lübec. c. 26. Vermuthlich wurden die Geworbenen in Rot-
ten abgetheilt, und hieſſen daher Ruptuarii, Roturiers, im
Gegenſatz von der noblen Dienſtmannſchaft.
jeder reiche Edelmann in Weſtphalen, Entrepreneur eines
Corps
mit dergleichen Entrepreneurs dem Kriege nach. Jn ihren
Contracten ſteht, daß ſie alle Staͤdte, welche ſie erobern wuͤr-
den, 3 Tage zu pluͤndern die Erlaubnis haben ſollten.
einnehmen, aber nicht als Richter erkennen kann.
Leibeigenthums: Sie gelten aber nur da, wo ein Staat we-
nig Steuern zu zahlen, und wenig Recruten zu ſtellen hat.
Dieſes iſt aber jetzt in wenigen Laͤndern der Fall. Jn den mehr-
ſten iſt ihm mehr an der Erhaltung und dem Wohlſtande vie-
ler geringer Unterthanen, als an dem Vortheile großer Guts-
herrn gelegen.
beſondern Briefe ertheilt, damit ſie guͤltig contrahiren konn-
ten. Sie bezahlten dafuͤr vierhundert Piſtolen, welche die
Cammer zum Ankauf eines andern Hofes verwendete.
ſie ſo bedeutend iſt, wie dieſe, bey.
hoͤrigen bereits beſeſſen worden.
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- TextGrid Repository (2025). Mommsen, Theodor. Patriotische Phantasien. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bng8.0