Organon
Gedanken
uͤber die
Erforſchung und Bezeichnung
des
Wahren
und deſſen
Unterſcheidung
vom
Jrrthum und Schein.
bey Johann Wendler,1764.
[][]
Vorrede.
Gegenwaͤrtiges Werk, welches ich un-
mittelbar fuͤr mich ſelbſt geſchrieben,
und nun aus gleicher Abſicht dem
Druck uͤbergebe, enthaͤlt vier faſt
durchaus verſchiedene und dennoch nothwendig
zuſammengehoͤrende Theile, die ich nicht fuͤgli-
cher als mit dem aus der Griechiſchen Sprache
entlehnten Namen der Dianoiologie, Alethio-
logie, Semiotic und Phaͤnomenologie zu benen-
nen gefunden, und die zuſammengenommen
auf eine vollſtaͤndigere Art das ausmachen, was
Ariſtoteles und nach demſelben Baco ein Orga-
non genennt hat. Und dieſes iſt auch der ei-
gentliche Titel, den ich gegenwaͤrtigem Werke
geben konnte. Der Leſer erwartet die Gruͤnde
dieſes Vorgebens. Hier ſind ſie.
Es iſt unnoͤthig, lange zu beweiſen, daß
man die Wahrheit ſelbſt ſuchen, ſich ſelbſt da-
von verſichern, und ſich demnach die dazu die-
nenden Mittel bekannt und gelaͤufig machen
A 2muͤſſe.
[]Vorrede.
muͤſſe. Man hat es ſchon unzaͤhlige male ge-
ſagt. Jeder Menſch hat in einem groͤßern oder
kleinern Grade die dazu erforderlichen Kraͤfte
des Verſtandes. Es iſt natuͤrlich, daß ſie ihm
gegeben ſind, um ſie wirklich zu gebrauchen.
Der Verſtand ſelbſt beruhigt ſich bey Zweifeln
und Ungewißheit nicht. Es iſt natuͤrlich, daß
er ſuche, Gewißheit zu finden. Man weiß,
daß man ſich bey dem Jrrthum zuletzt nur be-
trogen findet. Es iſt natuͤrlich, daß man ſu-
che, ihn zu vermeyden.
Alles dieſes faͤllt von ſelbſt in die Augen.
Durchgeht man aber die menſchliche Erkennt-
nis, und beſonders die Lehrgebaͤude der Welt-
weiſen jeder Zeiten und jeder Laͤnder, ſo findet
man ſie in den meiſten Stuͤcken lange nicht ſo
uͤbereinſtimmend, als man es von ſo vielen Be-
weggruͤnden erwarten ſollte. Und da die
Wahrheit einfoͤrmig und unveraͤnderlich iſt, ſo
findet man dagegen, daß ſich die menſchlichen
Meynungen faſt der Wahrheit zum Trotz, wie
die Moden in der Kleidung aͤndern, und die Ge-
ſchichte der Weltweisheit belehrt uns, daß es
den Lehrgebaͤuden der Weltweiſen, welche doch
aus der Erforſchung der Wahrheit ihre Haupt-
beſchaͤftigung machen, eben nicht viel beſſer er-
gangen. Man kann den Ariſtoteles, Gaſſendi,
Carteſius, Newton, Leibniz, Wolf ꝛc. in vielen
Hauptſtuͤcken, die Jdealiſten, Materialiſten,
Zweifler, Fataliſten ꝛc. aber bald durchaus ein-
ander entgegen ſetzen.
Betrach-
[]Vorrede.
Betrachtungen von dieſer Art veranlaſſen
ſehr ungezwungen folgende vier Fragen:
- 1. Ob es dem menſchlichen Verſtande an
Kraͤften fehle, ohne ſo vieles Straucheln
auf dem Wege der Wahrheit ſicher und
gewiß zu gehen? - 2. Ob demſelben die Wahrheit ſelbſt nicht
kenntlich genug ſey, um ſie nicht ſo leicht
mit dem Jrrthum zu verwechſeln? - 3. Ob die Sprache, in die er die Wahrheit
einkleidet, durch Mißverſtand, Unbe-
ſtimmtheit und Vieldeutigkeit ſie unkennt-
licher und zweifelhafter mache, oder an-
dere Hinderniſſe in Weg lege? - 4. Ob ſich der Verſtand durch den Schein
blenden laſſe, ohne immer zu dem Wahren
durchdringen zu koͤnnen?
Nach dieſen vier Fragen entſtehen auch vier
Wiſſenſchaften, deren ſich der menſchliche Ver-
ſtand als eben ſo vieler Mittel und Werk-
zeuge bedienen muß, wenn er mit Bewußtſeyn
das Wahre als wahr erkennen, vortragen, und
von Jrrthum und Schein unterſcheiden will.
Die erſte iſt die Dianoiologie, oder die Leh-
re von den Geſetzen, nach welchen ſich der Ver-
ſtand im Denken richtet, und worinn die We-
ge beſtimmt werden, die er zu gehen hat, wenn
er von Wahrheit zu Wahrheit fortſchrei-
ten will.
Die andere iſt die Alethiologie, oder die
Lehre von der Wahrheit, ſofern ſie dem Jrr-
A 3thum
[]Vorrede.
thum entgegengeſetzt iſt. Die Wahrheit muß
dem Verſtande kenntlich ſeyn, ſowohl weil er
dabey anfangen muß, weiter fortzugehen, als
auch weil ihm dieſe Kenntniß ſelbſt im Fortgan-
ge zur Probe dient, ob er nicht geſtrauchelt
habe?
Dieſe beyden Wiſſenſchaften wuͤrden genug
ſeyn, wenn der menſchliche Verſtand ſeine Er-
kenntniß nicht an Woͤrter und Zeichen binden
muͤßte, und wenn die Wahrheit ſich ihm nicht
oͤfters unter einem ganz andern Schein zeigte,
von welchem er ſie, ſo wie von dem Jrrthum zu
unterſcheiden hat. Dieſes macht uns noch
zwo andere Wiſſenſchaften nothwendig.
Die Semiotic, oder die Lehre von der Be-
zeichnung der Gedanken und Dinge iſt dem-
nach die dritte, und ſoll angeben, was die
Sprache und andere Zeichen fuͤr einen Einfluß
in die Erkenntniß der Wahrheit haben, und
wie ſie dazu dienlich gemacht werden koͤn-
nen.
Endlich iſt die Phaͤnomenologie, oder die
Lehre von dem Schein die vierte, und dieſe ſoll
den Schein kenntlich machen, und die Mittel
angeben, denſelben zu vermeiden, und zu dem
Wahren durchzudringen. Es iſt fuͤr ſich offen-
bar, daß dieſe vier Wiſſenſchaften inſtrumental
oder eben ſo viele Werkzeuge ſind, deren ſich
der menſchliche Verſtand in Erforſchung der
Wahrheit bedienen muß. Das Wort Orga-
non bedeutet eben dieſes, und Ariſtoteles und
Baco
[]Vorrede.
Baco haben es in dieſem Verſtande genom-
men, ihre in gleicher Abſicht geſchriebene Wer-
ke damit zu benennen.
So gehoͤren auch dieſe vier Wiſſenſchaften
nothwendig zuſammen. Denn welche davon
man aus der Acht laͤßt, ſo bleibt eine Luͤcke in
der Verſicherung, ob man die Wahrheit ge-
funden. Daß ſie von einander faſt durchaus
verſchieden ſind, erhellet aus der erſtgegebenen
Erklaͤrung derſelben ohne Muͤhe. Jch werde
nun noch einige Anmerkungen uͤber dasjenige
beyfuͤgen, was ich hier zum Behufe dieſer Wiſ-
ſenſchaften liefere.
Man hat ſich in den Vernunftlehren bereits
viele Muͤhe gegeben, zu dieſen Wiſſenſchaften
beyzutragen. Es hat aber fuͤrnehmlich nur das
betroffen, was ich hier zur Dianoiologie rechne,
wenn man ausnimmt, was Locke in ſeinem
Werke von dem menſchlichen Verſtande,
wo er die Begriffe etwas ſorgfaͤltiger anato-
mirt, uͤber den Gebrauch und Mißbrauch der
Woͤrter ſagt. Wolf hingegen, dem wir die
genauere Analyſe der Begriffe und der Metho-
de zu verdanken haben, iſt in Abſicht auf den
Gebrauch der Woͤrter in ſeinen beyden Ver-
nunftlehren ſehr kurz, und folget uͤberhaupt ei-
nem ganz andern Leitfaden. Jch habe hierinn
nothwendig ein Mittel treffen muͤſſen. Jn der
Dianoiologie, wo es fuͤrnehmlich um die Me-
A 4thode
[]Vorrede.
thode zu thun iſt, komme ich Wolfen naͤher.
Hingegen in dem erſten Hauptſtuͤcke der Alethio-
logie, wo von den einfachen oder Grundbegrif-
fen unſerer Erkenntnis die Rede iſt, verfalle ich
auf die, ſo Locke als ſolche angegeben, und
zwar muß ich hier ſagen, daß ich Lockens
Werke erſt nachgeſehen, nachdem ich bereits die
erſte Helfte dieſes Hauptſtuͤckes geſchrieben,
und daß ich dadurch veranlaſſet wurde, es ab-
zukuͤrzen. Jn dem zweyten Hauptſtuͤcke der
Alethiologie verbinde ich Lockens einfache Be-
griffe mit Wolfens Methode, und bringe da-
durch die Grundlage zu verſchiedenen Wiſſen-
ſchaften heraus, die im ſtrengſten Verſtande
a priori ſind. Jm vierten Hauptſtuͤcke aber
wird dieſe Methode auf die Theorie der Wahr-
heit ſelbſt angewandt. Und dabey muß ich
hier anmerken, daß ich mich in dem §. 173. und
200. des in geometriſchen Demonſtrationen
uͤblichen Ausdruckes, per conſtructionem, be-
dient habe, um die Aehnlichkeit des Verfahrens
nachdruͤcklicher anzuzeigen.
Jn dieſem Hauptſtuͤcke war es nicht wohl
moͤglich, vom Zuſammenhange der Wahrheit
zu reden, ohne zugleich von Gruͤnden zu re-
den, wenigſtens ſo fern es Gruͤnde des Wah-
ren ſind, und demnach zur Alethiologie gehoͤ-
ren. Die in Deutſchland uͤber den zureichen-
den Grund gefuͤhrte Streitigkeiten ſind bekannt.
Jch kann es beyden Partheyen zu beurtheilen
uͤber-
[]Vorrede.
uͤberlaſſen, wie ferne ſie mit mir eins ſeyn wol-
len, wenn ſie das uͤber dieſe Materie geſagte
daſelbſt nachleſen.
Vorhin ſagte ich, daß ich in der Dianoio-
logie Wolfen und denen, die ihm gefolgt ſind,
naͤher komme. Die Theorie der Fragen, wel-
che ich fuͤr ſo erheblich anſehe, als die Theorie
der Saͤtze, veranlaßte mich, die Aufgaben
und Poſtulata nach den Muſtern zu definiren,
die uns Euclid gegeben, und ſie ſo gut in theo-
retiſche und practiſche einzutheilen, als die Saͤtze
in ſolche zwo Arten eingetheilet werden koͤnnen.
Hierinn gehe ich von Wolfen in Abſicht auf
die Sache ſelbſt ab. Jn Anſehung der vier
Schlußfiguren ſcheint dieſer Weltweiſe nur der
erſten das Wort zu reden, weil ſie allein unmit-
telbar aus dem Dicto de omni et nullo be-
ſtimmt wird. Dagegen fuͤge ich dieſem Dicto
noch ein dictum de diuerſo, dictum de exem-
plo, dictum de reciproco bey, welche dem er-
ſten nichts nachgeben, und zeige, daß jede Fi-
gur beſonders, die erſte bey Gruͤnden, die
zweyte bey Verſchiedenheiten, die dritte bey
Beyſpielen und die vierte beym reciprociren
ungezwungen, und auch ohne daß man daran
denkt, gebraucht wird. Die Beſtimmung
und Abzaͤhlung der naͤchſten Umwege im
Schließen und ihre Formeln und bedeutende
Namen; die Zeichnung der Saͤtze und Schluͤſ-
ſe, wodurch ihre Zulaͤßigkeit erwieſen, und jede
A 5Schluß-
[]Vorrede.
Schlußſaͤtze durch die bloße Zeichnung der Vor-
derſaͤtze beſtimmt werden; die Anmerkungen
uͤber die Art, jede Aufgabe aus den Wiſ-
ſenſchaften auf eine logiſche zu reduciren;
die Vergleichung der Saͤtze, Regeln, Be-
dingungen und Fragen mit den 4 modis
verborum der Grammatic; die Theorie der
Beweiſe und Erfahrung ꝛc. fuͤhre ich hier
nur im Vorbeygehen an. Man wird daraus
ſehen, daß ich eben nicht geſonnen war, abzu-
ſchreiben. Die Anweiſung, Buͤcher zu leſen
und zu ſchreiben, zu diſputiren, zu widerlegen ꝛc.
habe ich weggelaſſen, weil meine Abſicht mehr
auf das Nachdenken und Erfinden gienge.
Lockens und Wolfens Werke kann ich, ver-
moͤge des vorhin geſagten, immer zur Verglei-
chung anrathen.
Jn der Semiotic wird man ſehr viele und
verſchiedene Abſichten finden, und wo ich nicht
irre, alle, die man ſich in Anſehung der Sprache
und Zeichen vorſtellen kann. Jn dem erſten
Hauptſtuͤcke erweiſe ich die ganz natuͤrliche
Nothwendigkeit der Rede zur Bezeichnung der
Gedanken und Dinge, und nachdem ich darinn
das eigene Merkmal wiſſenſchaftlicher Zei-
chen angegeben, daß nemlich ihre Theorie ſtatt
der Theorie der Sache ſelbſt ſolle dienen koͤn-
nen, ſo durchgehe ich jede bisher bekannte Ar-
ten der Zeichen, wodurch wir etwas vorſtellen,
und beurtheile ſie nach dieſem Merkmale. Zu-
gleich
[]Vorrede.
gleich auch werden die Faͤlle auf eine naͤhere
Art kenntlich gemacht, wo man mehr oder min-
der wiſſenſchaftliche Zeichen anbringen kann.
Die uͤbrigen Hauptſtuͤcke gehen ſaͤmmtlich auf
die Sprache, und zwar auf moͤgliche und wirk-
liche Sprachen bald ohne Unterſchied. Es
wird dabey unterſucht, was in den Sprachen
willkuͤhrliches, natuͤrliches, nothwendiges
und zum theil auch wiſſenſchaftliches vor-
koͤmmt, und wie ſich das metaphyſiſche in den
Sprachen von dem characteriſtiſchen und bloß
grammatiſchen unterſcheide. Und dieſes
wird, je nachdem es die Sache mit ſich bringt,
ohne Unterſchied auf die Philologie, Critic,
Sprachlehre und Philoſophie bezogen. Be-
ſonders aber wird aller Orten angemerkt, wie-
ferne die Sprachen mehr metaphyſiſches und
characteriſtiſches haͤtten haben koͤnnen, wenn
ſie minder gelegentlich entſtanden waͤren. Die
Anmerkung, daß nicht alle Woͤrter gleich will-
kuͤhrlich ſind, wird von Wichtigkeit, wenn die
Sprachen wiſſenſchaftlicher ſollen gemacht, oder
auch nur das wiſſenſchaftliche darinn aufge-
ſucht werden. Nimmt man die Wurzelwoͤr-
ter willkuͤhrlich an, ſo ſind die abgeleiteten und
zuſammengeſetzten Woͤrter bereits ſchon auf eine
characteriſtiſche Art wiſſenſchaftlich, und je-
de metaphoriſche Bedeutungen ſind es auf eine
metaphyſiſche Art. Bey einer durchaus
wiſſenſchaftlichen Sprache aber wuͤrde ſelbſt
auch das willkuͤhrliche der Wurzelwoͤrter, ſo-
wohl
[]Vorrede.
wohl in Abſicht auf die Sachen, als in Abſicht
auf die Buchſtaben und ihre Ordnung, weg-
fallen. Da aber die wirklichen Sprachen ſo
philoſophiſch nicht ſind, ſo bliebe in dem letzten
Hauptſtuͤcke fuͤrnehmlich das hypothetiſche in
der Bedeutung der Woͤrter aufzuſuchen,
und zugleich darauf zuſehen, wie die Bedeu-
tung feſtgeſetzt werden koͤnne, weil dieſes bey
den ſogenannten Nominaldefinitionen noth-
wendig wird, als welche nicht ins unendliche
koͤnnen fortgeſetzt werden. Jn dieſer Abſicht
ließen ſich die ſaͤmmtlichen Woͤrter der Sprache
in drey Claſſen theilen, von welchen die erſte
gar keine Definitionen fordert, weil man die
Sache ſelbſt im Ganzen vorzeigen, und folglich
Wort, Begriff und Sache unmittelbar mit ein-
ander verbinden kann. Die andere Claſſe,
welche die Woͤrter der erſten metaphoriſch
macht, gebraucht ſtatt der Definition eine Be-
ſtimmung des tertii comparationis. Die dritte
begreift die Woͤrter, welche muͤſſen definirt wer-
den, und zwar ſo fern man die Woͤrter der bey-
den erſten Claſſen dazu gebrauchen kann, und
ſo dann die Woͤrter der dritten Claſſe, die auf
dieſe Art definirt ſind, ſelbſt wiederum zu Defi-
nitionen gebraucht. Es iſt fuͤr ſich klar, daß
auch die Woͤrter der dritten Claſſe wiederum
metaphoriſch werden koͤnnen, und es großen-
theils an ſich ſchon ſind. Dieſe Betrachtungen
werden nun in bemeldtem Hauptſtuͤcke auf die
Theorie der Wortſtreite angewandt. Man
weiß,
[]Vorrede.
weiß, daß beſonders in abſtracten Wiſſenſchaf-
ten ein großer Theil der Verſchiedenheit in den
Meynungen, wenn man ſie naͤher betrachtet, auf
bloße Wortſtreite hinauslaufen.
Da die Sprache nicht nur an ſich nothwen-
dig, und ungemein weitlaͤuftig iſt, ſondern bey
jeden andern Arten von Zeichen ebenfalls vor-
koͤmmt, ſo wird man ſich nicht wundern, daß
ich den uͤbrigen Zeichen das erſte Hauptſtuͤck der
Semiotic allein gewiedmet, hingegen die Be-
trachtung der Sprache durch die neun folgende
Hauptſtuͤcke ausgedehnt habe. Denn die
uͤbrigen Arten der Zeichen ſind viel zu ſpecial,
als daß ich von jeder eine beſondere Theorie
haͤtte geben ſollen, die aber, wie z. E. in der
Muſic, Choreographie, Arithmetic, Algeber ꝛc.
ſchon großentheils vorhanden iſt. Hingegen
bleibt die Sprache immer das allgemeine Ma
gazin unſerer ganzen Erkenntniß, und faßt wah-
res, irriges und ſcheinbares ohne Unterſchied.
Um deſto mehr mußte ſie beſonders und in jeden
Abſichten betrachtet werden.
Von der Phaͤnomenologie iſt bisher in
den Vernunftlehren noch wenig vorgekommen,
ſo nothwendig es auch iſt, das Wahre von
dem Schein zu unterſcheiden. Sie geht zwar auch
nicht durchaus unmittelbar auf die ſogenann-
te logiſche, ſondern mehr auf die metaphyſi-
ſche Wahrheit, weil der Schein mehrentheils
dem
[]Vorrede.
dem Realen entgegen geſetzt wird. Jndeſſen
iſt es immer auch ein Jrrthum, wenn man das,
was eine Sache zu ſeyn ſcheint, mit dem ver-
wechſelt, was ſie wirklich iſt: und hinwiederum
glaubt man Jrrthuͤmer, ſofern ſie wahr zu ſeyn
ſcheinen. Jch habe daher das Wort Schein
mit jeden Bedeutungen beybehalten, und eben
ſo viele beſondere Arten daraus gemacht, und
ſelbſt auch dem Wahrſcheinlichen ein Haupt-
ſtuͤck gewiedmet, und ſeine Arten und Quellen,
und die Gruͤnde zur Berechnung deſſelben ange-
geben. Die genauere Entwicklung der ver-
ſchiedenen Arten der voͤlligen Gewißheit, ihr
Unterſchied von derjenigen, die ich tumultua-
riſch nenne, und der Unterſchied von dem bloß
Wahrſcheinlichen, ſo bey allen Arten vorkom-
men kann; die Anzeige, woher es komme, daß
man leicht das Gewiſſe mit dem Wahrſcheinli-
chen vermengt, und beſtimmte Saͤtze in wahr-
ſcheinliche verwandelt, und dadurch ſich ſelbſt
den Weg zur Gewißheit verſperrt; die naͤhere
Anzeige, bey jeden Arten wahrſcheinlicher Be-
weiſe zu finden, wo es fehle, oder was man
noch hinzuſetzen oder worauf man ſehen muͤſſe,
um zum voͤlligen Gewiſſen zu gelangen; die
Beſtimmung der Vieldeutigkeit der Ausdruͤcke:
moraliſche Gewißheit und moraliſche
Beweiſe ꝛc. Alles dieſes kann ich denen zur
Beurtheilung und Unterſuchung uͤberlaſſen,
wie ferne ſie mit mir einig ſeyn werden, die
außer der Geometrie bald keine voͤllige Gewiß-
heit
[]Vorrede.
heit mehr zu finden glauben, oder durch Be-
trachtungen von der Art, wie ich ſie im Anfange
dieſer Vorrede kurz angefuͤhrt habe, zum Zwei-
feln verleitet werden.
Vergleicht man die Zeichnung, ſo ich fuͤr
wahrſcheinliche Saͤtze, und ſo auch fuͤr beſtimm-
te Saͤtze gegeben, aus welchen wahrſcheinliche
folgen, mit dem in der Semiotic §. 23. ange-
gebenen Merkmal wiſſenſchaftlicher Zeichen: ſo
wird man dieſe Zeichnung nach aller Strenge
wiſſenſchaftlich finden. Naͤmlich ein Satz, deſ-
ſen Bindwoͤrtgen mit einem Bruche multipli-
cirt iſt, iſt ein wahrſcheinlicher Satz, und der
Bruch druͤckt den Grad der Wahrſcheinlichkeit
aus, die ſich gleichfoͤrmig uͤber den ganzen Satz
ausbreitet. Und hinwiederum muͤſſen ſolche
Saͤtze auf dieſe Art gezeichnet werden, wenn man
das Willkuͤhrliche vermeiden will, und die
Theorie der Zeichnung ſtatt der Theorie der
Sache dienen ſoll. Die Frage, woher die
Wahrſcheinlichkeit eines Satzes entſtehe, wird
dadurch in die verwandelt, woher das Bind-
woͤrtgen mit einem Bruche behaftet werde.
Und da zeige ich, daß dieſer Bruch entſtehe,
wenn in den Vorderſaͤtzen der Schlußrede, wo-
durch man den Satz beweißt, das Mittelglied
mit Bruͤchen behaftet iſt, und daher der
Allgemeinheit des Subjects, oder der Vollſtaͤn-
digkeit des Praͤdieats etwas abgeht. Und die-
ſes iſt die Grundlage zur Berechnung jeder
Wahr-
[]Vorrede.
Wahrſcheinlichkeit. Sie kann in vorkommen-
den Faͤllen nicht vorgenommen werden, wenn
man ſie nicht ſo weit entwickelt, und thut man
dieſes, ſo ergiebt ſich auch genau, aus welchen
Unvollſtaͤndigkeiten das Wahrſcheinliche entſte-
he, und wo man ſuchen muͤſſe, wenn man ſtatt
des Wahrſcheinlichen Gewißheit finden will.
Die Natur eines Organons bringt es an
ſich mit, daß es in jeden Theilen der menſchli-
chen Erkenntniß, und daher in jeden Wiſſen-
ſchaften angewandt werden koͤnne, und daß man
in dem Gebrauche deſſelben eine Fertigkeit er-
langen muͤſſe, wenn man nicht zuruͤcke bleiben
will. Jch konnte daher nicht wohl umhin,
die Beyſpiele, ſo zur Erlaͤuterung dienten, aus
den Wiſſenſchaften zu nehmen, wo das Or-
ganon in einzeln Faͤllen und Theilen ange-
wandt wird Dieſes aber ſetzt bey dem Leſer
wenigſtens eine hiſtoriſche Kenntniß ſolcher
Wiſſenſchaften voraus, und ein Anfaͤnger wird
demnach den Mangel durch Nachfragen, Auf-
ſchlagen, muͤndlichen Unterricht ꝛc. erſetzen, oder
das ihm unverſtaͤndliche uͤbergehen muͤſſen. Die-
ſe Vorausſetzung iſt um deſto natuͤrlicher, weil
ein Organon, ſo weit man es auch in den Wiſ-
ſenſchaften bringt, immer aufs neue an-
wendbar iſt.
[]
Jnhalt des erſten Bandes.
Dianoiologie
oder
Lehre von den Geſetzen des Denkens.
- Erſtes Hauptſtuͤck.
Von den Begriffen und Erklaͤrungen. _ _ Seite 3 - Zweytes Hauptſtuͤck.
Von den Eintheilungen _ _ 50 - Drittes Hauptſtuͤck.
Von den Urtheilen und Fragen _ _ 76 - Viertes Hauptſtuͤck.
Von den einfachen Schluͤſſen _ _ 120 - Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
Von zuſammengeſetzten Schluͤſſen, und den naͤch-
ſten Umwegen im Schließen _ _ 164 - Sechſtes Hauptſtuͤck.
Von den Beweiſen _ _ 207 - Siebentes Hauptſtuͤck.
Von den Aufgaben _ _ 276 - Achtes Hauptſtuͤck.
Von der Erfahrung _ _ 348 - Neuntes Hauptſtuͤck.
Von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß _ _ 386 - Alethio-
[]Jnhalt des erſten Bandes.
Alethiologie
oder
Lehre von der Wahrheit.
Erſtes Hauptſtuͤck.
Von den einfachen oder fuͤr ſich gedenkbaren Be-
griffen _ _ Seite 453 - Zweytes Hauptſtuͤck.
Von den Grundſaͤtzen und Farderungen, ſo die
einfachen Begriffe angeben _ _ 497 - Drittes Hauptſtuͤck.
Von zuſammengeſetzten Begriffen _ _ 516 - Viertes Hauptſtuͤck.
Von dem Unterſchiede des Wahren und Jrrigen _ _ 537
Dianoio-[[1]]
Dianoiologie
oder
Lehre
von den
Geſetzen des Denkens.
Lamb. Org. I. Band. A
[[2]][[3]]
Dianoiologie
Erſtes Hauptſtuͤck.
Von den
Begriffen und Erklaͤrungen.
§. 1.
Eine Sache begreifen heißt ſich ſelbige
vorſtellen koͤnnen, und zwar ſo, daß
man die Sache fuͤr das anſieht, was
ſie iſt, daß man ſich darein finden, ſich
darnach richten, ſie jedesmal wieder erkennen kann ꝛc.
§. 2.
Um ſich von der Richtigkeit und dem Umfange
dieſer Erklaͤrung zu verſichern, darf man ſich nur auf
die Faͤlle beſinnen, wo man entweder ſelbſt einer
Sache nachgedacht, oder ſich ſelbige von jemand hat
erklaͤren laſſen, und beſonders auf das Acht haben,
wodurch man bewogen worden, zu ſagen, daß man
es nunmehr begreife. Man wird immer das Bewußt-
ſeyn dabey finden, daß man ſich die Sache, wie ſie
iſt und vorgeht, oder wie ſie moͤglich iſt, oder wie ſie
hat geſchehen koͤnnen, der Laͤnge nach vorſtellen kann.
A 2§. 3.
[4]I. Hauptſtuͤck,
§. 3.
So z. E. da nach dem Columbus ein jeder
glaubte, daß er auch Amerika haͤtte finden koͤnnen, ſo
gab Columbus einigen die Frage auf, ein Ey auf die
Spitze zu ſtellen? Sie begriffen nicht, wie es moͤglich
waͤre. Er brach die Spitze und ſtellte das Ey. Sie
begriffen nun auch, daß es auf dieſe Art angehe, und
jeder konnte es nun auch thun.
§. 4.
Ohne uns damit aufzuhalten, daß des Colum-
bus Gegner glauben konnten, es ſey mit ſeiner Frage
nicht ſo gemeynt geweſen, daß das Ey ſollte gebrochen
werden, ſo wollen wir anmerken, daß ſie nicht anders von
der Unmoͤglichkeit der Sache uͤberzeugt zu ſeyn glau-
ben konnten, als weil es die beſtaͤndige Erfahrung
giebt. Hingegen konnten ſie das Stehenbleiben des
Eyes auf der gebrochenen Seite mit aͤhnlichen Faͤllen
vergleichen, die ihnen aus Erfahrung bekannt waren.
Von dieſen Faͤllen hatten ſie Begriffe, und der mit
dem Eye ließ ſich damit richtig vergleichen. Bey-
des beruhete demnach auf der Erfahrung. Dieſe
aber hat auch ihre Gruͤnde, und die Geſetze der He-
bekunſt machen ſie begreiflich, wenn man aus der-
ſelben die Saͤtze nimmt, daß ein runder Koͤrper auf
einer ebenen Flaͤche nicht liegen bleibe, es ſey denn
der Mittelpunkt der Schwere am tiefſten Orte, und
das Perpendicul aus demſelben Falle auf den Punkt,
ſo die Flaͤche beruͤhrt.
§. 5.
So weis man ebenfalls aus der Erfahrung,
daß die Fernroͤhren die entlegenen Sachen groͤßer und
deutlicher vorſtellen. Will man aber begreifen, wie
es damit zugehe, ſo muß man ſich die Grundſaͤtze der
Dioptrik bekannt machen. Dieſe zeigen uns, daß
das Augenglas ſtatt eines Vergroͤßerungsglaſes diene,
wodurch
[5]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
wodurch man ein Bild ſieht, welches durch das Ob-
jectivglas vor demſelben formirt wird. Beydes wird
durch das Geſetz der Stralenbrechung und durch die
leiſtenfoͤrmige Figur der Glaͤſer begreiflich gemacht.
Die Stralenbrechung ſelbſt muß ſich durch die Theo-
rie des Lichtes und der durchſichtigen Koͤrper begreif-
lich machen laſſen.
§. 6.
Man ſieht aus dieſen Beyſpielen, was dazu ge-
hoͤrt, biß wir ſagen koͤnnen, daß wir etwas begreifen,
und daß es damit durch mehrere Stuffen geht, ſobald
wir nicht gleich bey der Erfahrung beruhen wollen.
Wer eine Sache begreift, kann ſich dieſelbe in Ge-
danken vorſtellen, und ſich immer wieder darein fin-
den. Die Vorſtellung ſelbſt nennen wir einen Be-
griff, und dieſer hat mit der Vorſtellung gleiche
Stuffen der Ausfuͤhrlichkeit. Keinen Begriff von
einer Sache haben, heißt ſich dieſelbe nicht vor-
ſtellen koͤnnen. Ein Blinder hat keine Begriffe von
Farben, weil er niemals eine Vorſtellung davon ge-
habt hat. Wer die Meßkunſt nicht erlernt hat, hat
keinen Begriff von der Schaͤrfe ihrer Beweiſe. Einen
netten Begriff haben, will ſagen, ſich die Sache
durchaus in natuͤrlicher Ordnung und ohne Einmen-
gung fremder und zur Sache nicht gehoͤriger Umſtaͤnde
vorſtellen koͤnnen. Eine Sache begreiflich ma-
chen, will ſagen, ihre Moͤglichkeit und die Art wie
ſie ſeyn kann, vorſtellig machen.
§. 7.
Die gemeine Art zu reden bringt es mit, daß die
Redensarten, eine Sache begreifen, und einen Be-
griff davon haben, nicht voͤllig gleichguͤltig ſind.
Wir nehmen den Begriff ſchlechthin als die Vorſtel-
lung der Sache in den Gedanken an, ohne zu beſtim-
men, wie weit dieſe Vorſtellung reichen ſolle. So
A 3z. E.
[6]I. Hauptſtuͤck,
z. E. ſind die Begriffe von den Farben bloße Vor-
ſtellungen, und die Redensart: die Farbe begreifen,
faͤllt ins Ungewoͤhnliche. Hingegen ſagen wir, daß
wir eine Sache begreifen, wenn wir uns dieſelbe
haben erklaͤren und angeben laſſen, was, wie und
warum ſie iſt, oder wenn wir ſelbſt durch Nachſinnen
darauf gekommen ſind. Wenn man etwas begreifen
will, ſo wird mehr dazu erfordert, als der bloße Be-
griff derſelben uͤberhaupt betrachtet. Eine Sache
iſt leichter oder ſchwerer zu begreifen, je nach-
dem mehr oder minder Aufmerkſamkeit und Anſtren-
gung der Kraͤfte des Verſtandes dazu erfordert wird.
§. 8.
Die erſten Wege, wodurch wir zu Begriffen ge-
langen, ſind die Empfindungen, und die Aufmerk-
ſamkeit, die wir gebrauchen, alles, was uns die Sin-
ne an einer Sache empfinden machen, uns vorzuſtel-
len, oder deſſen bewußt zu ſeyn. Reicht dieſes Be-
wußtſeyn ſo weit, daß wir die Sache jedesmal wie-
der erkennen koͤnnen, ſo iſt der Begriff klar, widri-
genfalls nur dunkel. So z. E. Carteſius vermu-
thete, daß, da ſo viele Bewegung und bewegende
Kraͤfte in der Welt ſind, etwas allgemeines dabey
ſeyn muͤſſe. Allein dieſes etwas konnte er ſich nicht
recht aufklaͤren, weil er es wirklich in etwas irrigem
ſuchte. Eben ſo hatte Kepler nur noch einen dunkeln
Begriff von dem Mechaniſmus bey der Bewegung
der Planeten. Newton klaͤrete ihn durch die Theorie
der Centralkraͤfte mehr auf. Dieſes ſind Faͤlle, wo
der Begriff vom Anfange dunkel iſt, und erſt noch
aufgeklaͤret werden muß. Hingegen giebt es viele,
wobey der Begriff, der anfangs klar war, wiederum
dunkel wird, und dieſes geſchieht, ſo oft man ſagen
muß, daß man ſich die Sache nicht mehr recht
vorſtellen koͤnne. Jm erſten Fall aber ſagt man,
daß
[7]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
daß man ſich dieſelbe noch nicht recht vorſtel-
len koͤnne. So z. E. muß ſich ein Redner die Seite
der Sache erſt recht aufklaͤren, die er vorzuſtellen hat,
damit ſie bey den Zuhoͤrern den rechten Eindruck ma-
che. So hat man auch von allen den Woͤrtern noch
dunkele Begriffe, von denen man noch nicht weis, wie
weit ſich ihre Bedeutung erſtrecket.
§. 9.
Wir haben einen klaren Begriff, wenn wir die
Sache wieder erkennen koͤnnen. Es giebt immer an
der Sache etwas, woran wir ſie erkennen, und von
jeden andern Sachen unterſcheiden. Und dieſes wird
das Merkmaal, oder wenn es mehrere Stuͤcke ſind,
die Merkmaale genannt; koͤnnen wir uns dieſe jedes
beſonders und in ihrer Verbindung vorſtellen, oder ſie
einem andern mit Worten herzaͤhlen, ſo iſt der Begriff
dieſer Merkmaale ebenfalls klar, und der Begriff von
der Sache ſelbſt wird in dieſem Fall deutlich genennt.
Die Deutlichkeit beruht demnach auf der Klarheit
der Merkmaale der Sache. Man kann ihre Theile
oder Merkmaale gleichſam ausleſen und herzaͤhlen.
Wir koͤnnen dieſe Redensarten durch ein Gleichniß
erlaͤutern, daher ſie genommen ſind. Wenn ein Fernrohr
recht ausgezogen iſt, das iſt, wenn die Glaͤſer deſſelben
ihren behoͤrigen Abſtand von einander haben, ſo ſtellt
es die Sache, ſo man dadurch betrachtet, deutlich
vor. Man kann naͤmlich jede Theile derſelben genau
ſehen und erkennen, und der Begriff davon, den
wir in dieſem Fall durch die Empfindung erlangen,
wird ebenfalls deutlich. Verruͤcket man aber die Lage
der Glaͤſer, ſo ſcheint die Sache undeutlich, weil ſich
ihre Theile in einander vermengen, und man keines
beſonders erkennen kann.
A 4§. 10.
[8]I. Hauptſtuͤck,
§. 10.
Wenn die Merkmaale, durch deren klare Vorſtel-
lung uns eine Sache deutlich wird, an ſich einfach
ſind, oder wenn wir es dabey bewenden laſſen, daß
wir ſie uns klar vorſtellen, ſo bleibt der Begriff
ſchlechthin deutlich. Sehen wir aber genauer nach,
wodurch ſich die Merkmaale zu erkennen geben, und
von einander unterſcheiden, ſo finden wir, daß ſie auch
wiederum ihre Merkmaale haben. Die klare Vorſtel-
lung von dieſen macht den Begriff von jenen deutlich,
und der Begriff der Sache ſelbſt wird dadurch aus-
fuͤhrlich. Demnach iſt ein ausfuͤhrlicher Begriff
eine deutliche Vorſtellung der Merkmaale einer Sache.
Das Verfahren, wodurch ein Begriff ausfuͤhrlich
gemacht wird, heißt die Entwickelung eines Be-
griffes, und es iſt klar, daß es dabey ſtuffenweiſe
weiter gehen kann, je nachdem man in den Merkmaalen,
die man in der Sache findet, neue Merkmaale zu ent-
decken ſucht. Das Gleichniß, ſo wir §. 5. von den
Fernroͤhren gegeben, mag auch hier zur Erlaͤuterung
dienen.
§. 11.
Wenn wir von den Merkmaalen einer Sache ſo
viel kennen, daß ſie zureichen, die Sache davon jedes-
mal wieder zu erkennen, ſo iſt der Begriff vollſtaͤn-
dig. Er iſt es im hoͤchſten Grade, wenn wir uns
alle und jede Merkmaale dabey vorſtellen koͤnnen.
Sind aber die Merkmaale nicht zureichend, ſo iſt der
Begriff mehr oder minder unvollſtaͤndig, und es
bleibt in der Erkenntniß der Sache eine Luͤcke.
§. 12.
Die Merkmaale, wodurch uns der Begriff einer
Sache deutlich wird, ſind entweder in der Sache ſelbſt,
oder wir finden ſie in der Vergleichung mit andern
Sachen.
[9]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Sachen. Erſtere heißen innere Merkmaale, letztere
aber aͤußere, oder Verhaͤltniſſe. Ein Verhaͤlt-
nißbegriff iſt demnach ein ſolcher, wodurch ein Begriff
mittelſt eines andern, oder eine Sache durch eine an-
dre kenntlich gemacht oder beſtimmt wird. Solche
Verhaͤltnißbegriffe ſind die Titel, weil man dadurch
die Verhaͤltniß eines Menſchen vorſtellet, indem man
ihn durch das was er zu thun hat, oder auch das, was er
gethan hat, caracteriſiret. So iſt z. E. Erfinder ein
Verhaͤltnißbegriff, und wenn man ſagt, der Erfinder
der Luftpumpe, ſo weis man, daß es Otto Guericke
iſt, weil dieſer die Luftpumpe erfunden hat.
§. 13.
Jede Sache wuͤrde ſich leicht von andern unter-
ſcheiden laſſen, wenn ſie nichts mit denſelben gemein
haͤtte, und davon durchaus verſchieden waͤre. So
bequem geht es aber damit nicht zu, und wir finden
bey Vergleichung zwoer Sachen immer mehr oder
minder Aehnlichkeit und Merkmaale, die beyden ge-
meinſam ſind. Jndeſſen da jede Sache auch etwas
hat, wodurch ſie ſich von allen uͤbrigen unterſcheidet,
ſo hat man ſich dieſes Umſtandes bedient, den Be-
griffen noch andre Eintheilungen zu geben.
§. 14.
Man nimmt naͤmlich die Merkmaale, ſo der Sa-
che allein zukommen, desgleichen auch die, ſo ſie mit an-
dern gemein hat, beſonders zuſammen, und theilt daher
den Begriff in ſeine eigene und in die gemeinſa-
men Merkmaale ein. Dadurch wird er in zween
beſondere Begriffe zergliedert, wovon der eine die ge-
meinſamen Merkmaale enthaͤlt, und den Namen von
Art oder Gattung bekoͤmmt. Der andre enthaͤlt die ei-
genen Merkmaale, und wird der Unterſchied der Art
genennt. Beyde zuſammen genommen erſchoͤpfen
A 5den
[10]I. Hauptſtuͤck,
den ganzen Begriff, und bezeichnen ſeinen Umfang.
Der Begriff der Gattung zeigt demnach, was die
Sache mit mehrern andern gemein hat, und man ſagt
dabey, daß dieſe alle unter die Gattung gehoͤ-
ren, und hinwiederum, daß der Begriff der Gat-
tung allen zukomme. Hingegen iſt der Begriff
des Unterſchieds der Art, der Sache eigen, und die
Merkmaale die er enthaͤlt, ſind fuͤr ſich zureichend, die
Sache von jeden andern zu unterſcheiden. Z. E.
Unter allen Figuren iſt der Triangel die einige, die
drey Seiten hat.
§. 15.
Dieſe Eintheilung der Sachen in Arten und
Gattungen faͤngt bey denen an, die unter allen am
meiſten beſtimmt ſind, und am meiſten Aehnlichkeit
haben. Jene ſind die wirklichen Dinge, weil bey
denſelben alles beſtimmt iſt. Man iſt daher ſchon
laͤngſtens gewohnt, die Thiere, Pflanzen, Steine ꝛc.
in Arten und Gattungen einzutheilen, und dieſe ſind
vermuthlich der erſte Anlaß zu dieſer Eintheilung ge-
weſen. Die Aehnlichkeit der einzeln Dinge macht
die Art, die Aehnlichkeit der Arten die Gattung, und
die Aehnlichkeit der Gattungen die hoͤhere Gattung
aus. Und ſo geht es ſtufenweiſe weiter, bis man zu
dem koͤmmt, was uͤberhaupt noch allen Dingen ge-
meinſam bleibt.
§. 16.
Wir ſind noch nicht ſo weit gekommen, daß wir
dieſe Geſchlechtstafel von Arten und Gattungen zu
einer gewiſſen Vollkommenheit haͤtten bringen koͤnnen,
und es werden nicht leicht in einem Stuͤcke unſrer
Erkenntniß mehrere Luͤcken ſeyn, als in dieſem. Jn-
deſſen war der Begriff dieſer Eintheilung hier anzu-
merken, weil ſie zu der allgemeinen Erkenntniß den
Weg
[11]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Weg bahnt, und in ſo ferne ſehr gute Dienſte thut.
Denn es iſt natuͤrlich, daß, was wir von dem Be-
griff einer Gattung uͤberhaupt einmal wiſſen, daſ-
ſelbe von jeder einzelnen Sache gelte, die unter der
Gattung enthalten iſt. Man erſpart ſich dadurch
die Muͤhe, es von jeder beſonders zu erweiſen, weil
ſich die allgemeine Erkenntniß davon bey jeder an-
wenden laͤßt.
§. 17.
Endlich laſſen ſich die Sachen, wovon wir Be-
griffe ſuchen, noch in einer andern Abſicht betrachten.
Da der Begriff der Arten und Gattungen nur die
Merkmaale in ſich faßt, die die Sache mit andern
gemein hat, ſo laͤßt man in dieſem Begriff alle eige-
ne Merkmaale weg, und ſtellt ſich die gemeinſamen
beſonders vor. Die Verrichtung des Verſtandes,
wodurch dies geſchieht, nennt man abſtrahiren, ab-
ſondern, abziehen. Man abſtrahirt die gemein-
ſamen Merkmaale von den eigenen, damit man jene
beſonders habe, welche ſodann einen abgezogenen,
allgemeinen, oder abſtracten Begriff ausmachen.
Nimmt man die weggelaſſenen Merkmaale wiederum
dazu, ſo heißt die Verrichtung, wodurch es geſchieht,
zuſammenſetzen oder verbinden.
§. 18.
Man ſieht hieraus offenbar, daß ein abſtra-
cter oder allgemeiner Begriff ſolche Zuſetzung leidet.
Denn wenigſtens laſſen ſich alle die Merkmaale wie-
derum mit demſelben verbinden, die man im abſtra-
hiren weggelaſſen hat. So viel man davon zuſetzt,
ſo viel wird auch der allgemeine Begriff naͤher be-
ſtimmt, und das Beſtimmen ſelbſt geſchieht durch
ſolche Zuſetzung mehrerer Merkmaale. Dieſes geht ſo
weit, bis man, ohne das bereits zugeſetzte wieder weg-
zuneh-
[12]I. Hauptſtuͤck,
zunehmen, ferner nichts mehr zuſetzen kann. Z E.
in einem Triangel kann man anfangen das Ver-
haͤltniß der Seiten zu beſtimmen, nachgehends ihre
wirkliche Groͤße. Jſt dieſes geſchehen, ſo bleibt nichts
mehr uͤbrig, als ihn in der That zu zeichnen, und
dadurch wird er vollkommen beſtimmt, oder in-
dividual, weil er nun an Zeit und Ort gebunden
iſt.
§. 19.
Die einzelnen Dinge aͤndern ſich nach und nach,
wie es die taͤgliche Erfahrung zeiget. Durch dieſe
Aenderung fallen einige Merkmaale weg, und an de-
ren Statt kommen andre. So lange dieſe Ver-
wechſelung der Merkmaale nur diejenigen betrifft, die
der Sache eigen ſind, ſo behaͤlt ſie noch immer ihren
Namen der Arten und Gattungen, unter welche ſie
gehoͤrt. Zum Exempel, ein Viereck bleibt ein Vier-
eck, ſo lange es 4 Seiten behaͤlt, man mag ihre
Laͤnge und Verhaͤltniß aͤndern, wie man will. Wird
aber eine Seite immer kleiner, und endlich = 0, ſo
verſchwindet auch der Begriff des Viereckes, weil
ſich die Figur dadurch in einen Triangel verwandelt.
Aber der Begriff, daß es noch eine Figur ſey, bleibt.
Macht man aber von dieſem Triangel eine Seite =0,
ſo verſchwindet auch der Begriff von der Figur, und
es bleibt nur der Begriff von zwoen Linien. Jn der
Natur finden ſich ſolche Verwandlungen haͤufig, wo-
durch der Begriff der Sache und damit zugleich ihr
Name ſich aͤndert. Man nehme die Verwandlung
der Raupen in Schmetterlinge zum Beyſpiel. Jn-
gleichen die Verwandlung der Nahrung in Fleiſch,
Blut, Gebeine ꝛc. und uͤberhaupt auch die meiſten
chymiſchen Verwandlungen.
§. 20.
[13]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
§. 20.
Bey einzelnen Dingen geht noch eine Art von
Veraͤnderung vor, ohne daß ſie ihren Namen aͤndern,
oder nicht mehr fuͤr eben dieſelben, uͤberhaupt betrach-
tet, angeſehen werden ſollten. Es iſt daher auch
hier etwas, welches ſo lange es bleibt, den Begriff
und Namen des einzelnen Dinges beybehaͤlt. Z. E. ein
Menſch waͤchſt von Kindheit auf, wird groͤßer,
aͤlter, verſtaͤndiger, krank, wieder geſund, ſo, daß
man anſtehen kann, wie viel von dem Stoff, dar-
aus ſein Leib beſteht, nach einigen Jahren noch uͤbrig
bleibt, der ſich nicht mit neuem verwechſelt haͤtte.
Es iſt klar, daß man hiebey dieſer Aenderungen un-
geachtet, den Cajus immer fuͤr den Cajus, und Titius
fuͤr den Titius halten wird, ſo lange die Maſſe des
Leibes in ihrem Leben und Verbindung bleibt. Es
kommt hier auf den Verluſt der Theile an, mit wel-
chen das Leben nothwendig aufhoͤrt; und auch hier
noch geht nur der Begriff des lebenden Cajus oder
Titius verlohren. Denn wenn man z. E. noch die
Mumie eines in der Geſchichte bekannten egyptiſchen
Koͤnigs erkennte, ſo wuͤrde man ſie immer noch von
demſelben hernennen. So viel gebraucht es den Be-
griff eines einzeln Dinges ganz wegzubringen, daß
man auch die Aſche in den Todtenurnen von dem her-
ſchreibt, deſſen Aſche iſt aufbehalten worden.
§. 21.
Jndeſſen bleibt hierbey immer ein Hauptbegriff,
auf welchen alle Veraͤnderungen bezogen werden, und
deſſen Umfang ſich nicht wohl beſtimmen laͤßt. Bey
den Menſchen geſchieht es ſelten, daß einer ſich ſo ver-
aͤnderte, daß er keinem mehr beweiſen koͤnnte, er ſey
eben der, den ſie vormals gekannt hatten, und ein
Menſch muͤßte alles Gedaͤchtniß verlieren, wenn er
ſich ſeiner ſelbſt nicht mehr bewußt waͤre.
§. 22.
[14]I. Hauptſtuͤck,
§. 22.
Es finden ſich aber ſolche Verwandlungen nicht
nur bey den Menſchen, ſondern uͤberhaupt bey allen
Dingen in der Natur. Eine Stadt leidet ſolche
durch tauſend Veraͤnderungen beſtaͤndig, und der
Hauptbegriff davon bleibt dennoch, ſo lange noch der
Ort bekannt bleibt, wo ſie geſtanden hat. Man
ſtellt ſich Troja immer als Troja vor, und ſchiebt alle
Veraͤnderungen, die dieſe Stadt erlitten, auf den
Hauptbegriff, den man ſich davon macht. Es iſt
demnach bey einzelnen Dingen etwas, das man ſich als
fortdauernd vorſtellt, und von ſeinen Abaͤnderungen
abſtrahirt. Dieſes etwas iſt der Begriff der Art
oder Gattung, worunter die Sache gehoͤrt, und ihr
Begriff bleibt, ſo lange die Sache noch die Merk-
maale der Gattung behaͤlt. Man ſtellt ſich Troja als
eine Stadt vor, und das, wodurch man ſie zu einem
einzelnen Dinge macht, ſind die Umſtaͤnde der Zeit und
des Ortes, und die Verhaͤltniſſe, in welchen ſie mit
andern einzelnen Dingen war. Virgil nennt dieſen
Hauptbegriff res ſumma, und die Verhaͤltniſſe res
Priami, Priami regna \&c.
§. 23.
Die veraͤnderlichen Beſtimmungen einer ein-
zelnen Sache werden Zufaͤlligkeiten, Modificatio-
nen genennt, weil ſie an dem Hauptbegriffe der Sa-
che nichts aͤndern. Die beſtaͤndigen Merkmaale aber
laſſen ſich in verſchiedene Klaſſen bringen, in ſo fern
eines das andre nothwendig an ſich zieht. Dieje-
nigen, welche fuͤr ſich zureichen, den Begriff der Sa-
che zu beſtimmen, werden die weſentlichen Merkmaa-
le, oder das Weſen der Sache genennt. Die uͤbri-
gen, die aus dieſen folgen, oder durch dieſe zugleich
mit beſtimmt werden, heißen Eigenſchaften. Z. E.
zu
[15]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
zu dem Begriff eines Triangels ſind drey Seiten, die
einen Raum einſchließen, zureichend. Der Begriff,
daß dieſe drey Seiten drey Winkel bilden, iſt nur
eine Folge davon, und eben ſo auch der Begriff, daß
die Summa dieſer drey Winkel zwey rechte Winkel
mache. Dieſes ſind bloße Eigenſchaften des Trian-
gels.
§. 24.
Ungeachtet wir auf dieſe Art die weſenlichen Merk-
maale von den uͤbrigen ſo unterſcheiden. daß jene fuͤr
ſich zureichen, den Begriff der Sache zu beſtimmen,
dieſe aber aus den erſtern folgen, ſo will dieſes eben
nicht ſagen, als wenn nicht hinwiederum jene durch
dieſe beſtimmt werden koͤnnten. Z. E. der ganze
Triangel wird beſtimmt, wenn man gleich nicht alle
drey Seiten, ſondern ſtatt einer oder zwo derſelben
einen oder zween Winkel weis. Es koͤmmt hiebey
auf Verhaͤltnißbegriffe an, und wie ferne mittelſt der-
ſelben aus einigen gegebenen Merkmaalen des Begrif-
fes der Begriff voͤllig beſtimmt wird. Wir merken
dieſes um deſto eher an, weil es eben nicht all-
zeit ſo leicht iſt, die weſentlichen Merkmaale von den
uͤbrigen zu unterſcheiden, und weil man in vielen Faͤl-
len, wo der Begriff vorkoͤmmt oder angebracht wer-
den ſolle, nicht immer die weſentlichen Merkmaale
gleich anfangs vor ſich hat, ſondern erſt noch aus
andern finden und beſtimmen muß.
§. 25.
Die Begriffe der Arten und Gattungen enthal-
ten nur die gemeinſamen Merkmaale der Sachen, die
unter dieſe Arten und Gattungen gehoͤren. Die ei-
genen Merkmaale, wie auch die Zufaͤlligkeiten ſind
daraus weggelaſſen. Jn den Sachen ſelbſt aber fin-
den ſich alle beyſammen, und eben dieſes iſt es, was
die
[16]I. Hauptſtuͤck,
die Entdeckungen derjenigen Merkmaale, die zu der Art
oder Gattung gehoͤren, ſchwerer macht, weil man
dieſelben bemerken, pruͤfen und ausleſen muß, um
ſie beſonders zu haben. Laßt uns dieſes mehr ins
Licht ſetzen.
§. 26.
Wenn man den Begriff einer Gattung deutlich
machen, oder ihre Merkmaale finden will, ſo nimmt
man einzelne Faͤlle oder Beyſpiele, worinn der Begriff
der Gattung vorkoͤmmt. Er muß ganz darinn vor-
kommen, und man muß davon verſichert ſeyn. Jch
werde hier noch nicht unterſuchen, was zu dieſer Ver-
ſicherung gehoͤrt, wo die Sache nicht vor Augen liegt
und fuͤr ſich klar iſt. Jch merke nur an, daß man
es gemeiniglich nur auf ein confuſes Bewußtſeyn an-
kommen laͤßt, und ſich vielmal damit ohne zureichen-
den Grund begnuͤgt. Vorausgeſetzt, daß die Bey-
ſpiele oder Faͤlle, die man gewaͤhlt hat, den Begriff
der Gattung enthalten, ſo muͤſſen ihre Merkmaale
darinn bemerkt und aufgeſucht werden. Dieſe kom-
men aber darinn nicht immer in ihrer wahren Allge-
meinheit und ganz entbloͤßt von allen Nebenumſtaͤn-
den und ſpecialeren Beſtimmungen vor, ſondern man
findet ſie etwann nur in einigen von ihren Arten verſte-
cket. Nimmt man ſie demnach heraus, ſo muͤſſen
ſie gepruͤft werden, ob ſie mit dem Begriff der Gat-
tung von gleicher Allgemeinheit ſind. Sind ſie es,
ſo muß man davon ſo viel und ſolche ausleſen, welche
zureichend ſeyn, den Begriff der Gattung und ſeinen
Umfang vollſtaͤndig zu bezeichnen. Sind ſie es aber nicht,
ſo muß man das, was ſie gemein haben, unter einem
allgemeinen Begriff zuſammen faſſen. Z. E. Man
wollte den Begriff des Lobes deutlich machen, und
wuͤrdige Beyſpiele von Lobſpruͤchen zuſammen nehmen.
Cajus
[17]Von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Cajus ſey gelehrt, Titius von anſehnlicher Leibesge-
ſtalt, Sempronius großmuͤthig, Maͤvius fleißig,
gruͤndlich, tugendſam, tapfer ꝛc. ſo ſind dieſes lauter
einzelne Arten des Merkmaals, wodurch ſich der Be-
griff des Lobes von jedem andern unterſcheidet. Man
faſſe ſie, ſo viel deren beyſammen ſeyn koͤnnen, zu-
ſammen, ſo wird man einen vollkommenen Men-
ſchen bekommen, und der Begriff der Vollkommen-
heit wird das geſuchte Merkmaal des Lobes ſeyn.
Man wird eben ſo finden, daß die Vollkommenheit
nicht das Lob ſelbſt iſt, ſondern daß die Erzaͤhlung der-
ſelben das Lob ausmacht.
§. 27.
Man verfaͤhrt hierbey richtiger und ſicherer, wenn
man die Auswahl der Beyſpiele oder einzelnen
Faͤlle, aus welchen ein allgemeiner Begriff
beſtimmt werden ſolle, zu beweiſen ſucht, und
das confuſe Bewußtſeyn davon in einen deut-
lichen Begriff verwandelt. Die Entwickelung
dieſes Beweiſes wird immer diejenigen Merkmaale
anzeigen, welche uns bewegen, den vorgenommenen
einzelnen Fall unter die Gattung zu rechnen, deren Be-
griff deutlich gemacht werden ſolle.
§. 28.
Es iſt ferner gut, wenn man viele und ſehr ver-
ſchiedene Faͤlle zuſammen nimmt, beſonders, wo der
Begriff, den man deutlich machen will, eine hoͤhere
Gattung iſt. Denn in dieſem Fall hat derſelbe viele
andre Gattungen und Arten unter ſich, und es koͤnn-
te leicht geſchehen, daß, wenn alle Faͤlle, ſo man
vornimmt, unter eine Art gehoͤren, man alsdenn
anſtatt des geſuchten hoͤhern Begriffes nur den Be-
griff dieſer Art finden wuͤrde. Man verfaͤllt faſt
nothwendig in dieſen Fehler, wenn man ſelbſt keine
Lamb. Org. I. Band. Bvon
[18]I. Hauptſtuͤck,
von denen Faͤllen weis, welche zeigen, daß der Be-
griff einen weitern Umfang hat. Es iſt mir ein Bey-
ſpiel bekannt, da ſich jemand verwunderte, als er
hoͤrte, daß es Kaufleute giebt, die keine Laͤden haben.
Er ſah die Krambuden fuͤr ein weſentliches Stuͤck
eines Kaufmanns an, weil ihm bis dahin kein ander
Beyſpiel bekannt war.
§. 29.
Die ſchwerſte Frage bey der Auswahl ſolcher Bey-
ſpiele und einzelnen Faͤlle iſt, woran man erkennen koͤn-
ne, daß ſie unter den Begriff der Gattung gehoͤren,
den man deutlich machen will? Der Umfang dieſes
Begriffes beruht auf der Aehnlichkeit der Arten, und
uͤberhaupt auf der Aehnlichkeit aller Faͤlle, die er
unter ſich begreift. Nimmt man den Begriff an, ſo
wie man ihn allmaͤhlich erlangt hat, ſo ſtellt man ſich
ſeine Merkmaale nur noch confus vor, und zwar noch
keine andren, als diejenigen, ſo man in denen Faͤllen
gefunden, die vorgekommen ſind. Finden ſich unter
dieſen ſolche, die ganz nichts gemeinſames haben, als
was unter den Begriff der Gattung gehoͤrt, ſo wird
man aus dieſen allerdings den wahren Umfang des
Begriffes finden. Allein hievon iſt man nicht verſi-
chert, weil man noch nicht alle Faͤlle vor ſich gehabt
hat. Man kann eben ſo auch nicht immer bey dieſen
anfangen, weil eben die Verſicherung, ob man alle
Faͤlle werde vorzaͤhlen koͤnnen, dabey fehlen kann.
Das erſt vorhin gegebene Beyſpiel von dem Begriff
eines Kaufmanns mag auch hier zur Erlaͤuterung die-
nen, oder man ſehe nur nach, ob nicht die neulich
entdeckten Polypen den Begriff eines Thiers uͤber-
haupt in vielen Stuͤcken erweitert haben? Und wie
lange gieng es, bis man den Mond und die Sonne
aus der Zahl der Planeten ausſchloße, und dieſe zum
Fir-
[19]Von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Fixſtern, jenen aber zum Satelliten, als einer ganz
neuen Art von Weltkoͤrpern machte?
§. 30.
Es iſt ſchwer zu beſtimmen, was man hiebey zu
thun hat, um ſicher zu gehen. Wir wollen damit anfan-
gen, daß wir anzeigen, was wirklich geſchieht, und
in dieſer Abſicht nicht die Begriffe dieſes oder jenes
Menſchen beſonders betrachten, ſondern ſie ſo neh-
men, wie ſie in den Wiſſenſchaften vorkommen.
§. 31.
Nachdem man naͤmlich eine gewiſſe Anzahl von
einzelnen Dingen gefunden, die viel aͤhnliches mit ein-
ander haben, und auf eine aͤhnliche Art verſchieden
ſind, ſo nimmt man dieſe Aehnlichkeiten zuſammen,
man macht einen oder mehrere ſtufenweiſe allgemeine-
re Begriffe daraus, und ſagt, daß dieſe einzelne Din-
ge unter dieſe allgemeinen Begriffe als eben ſo viele
Gattungen gehoͤren. Auf dieſe Art verfaͤhrt man, ſo
weit die jedesmalige Erkenntniß reicht. Die Be-
ſorgniß, daß kuͤnftig etwas darinn muͤſſe geaͤndert
werden, koͤmmt auf folgende Fragen an:
- 1. Ob dieſe einzelnen Dinge in der That die bemerk-
ten Aehnlichkeiten haben, welche man zu Be-
griffen der Gattungen gemacht hat? - 2. Ob die Aehnlichkeit wirklich darinn beſtehe, wie
man ſie ſich vorſtellt? - 3. Wenn eines oder das andre nicht iſt, wie
ferne an dem Begriffe der Gattungen muͤſſe
geaͤndert wrrden?
§. 32.
Die Aufloͤſung der erſten dieſer Fragen
koͤmmt auf eine genaue Unterſuchung der Sache
ſelbſt an. Dadurch muß man ſich verſichern, ob die
Merkmaale, die man zu dem Begriffe der Gattung
B 2nimmt,
[20]I. Hauptſtuͤck,
nimmt, wirklich in jeden Dingen, ſo man zu dieſer
Gattung rechnet, zu finden ſeyn? Jſt dieſes bey ei-
nigen derſelben nicht, ſo machen ſie eine oder mehrere
beſondre Arten oder Gattungen aus, und mit den
uͤbrigen moͤgen ſie zu einer hoͤhern Gattung gerechnet
werden. So z. E. hat man aus dieſem Grunde den
Mond zu den Satelliten, die Erde zu den Planeten,
und die Sonne zu den Fixſternen zu zaͤhlen angefan-
gen, ſo bald man gefunden, daß die Sonne im Mit-
telpunkt, die Erde nebſt den Planeten um die Son-
ne, der Mond nebſt denen uͤbrigen Trabanten um die
Hauptplaneten laufe, alle aber nebſt dem Cometen
hat man unter den allgemeinen Begriff des Sonnen-
Syſtems genommen. Vorhin, da man die Aehn-
lichkeit dieſer Weltkoͤrper nur noch in der ſcheinbaren
eigenen Bewegung ſetzte, und dieſe fuͤr die wahre an-
ſah, wurden ſie, die Erde und Cometen ausgenom-
men, alle in eine Klaſſe geſetzt. Man ſieht zugleich
aus dieſem Beyſpiel, daß die dabey zum Grund ge-
legte Aehnlichkeit nur ſcheinbar war, und bey genau-
erer Unterſuchung ganz anders befunden worden.
Desgleichen auch, daß man bey der Abaͤnderung den
Namen der Planeten denen gelaſſen, welche in Ab-
ſicht auf die wahre Aehnlichkeit die groͤßte Zahl aus-
machten, und daß man, weil dieſe Aehnlichkeit auch
die Erde betraf, dieſe ſogleich mit unter die Planeten
zaͤhlte. Da es hierinn ſo viel fehlte, ſo iſt auch das
ganze Syſtem der Begriffe, die man von dieſen Koͤr-
pern hatte, in eine neue Form gebracht worden. Es
wurde ganz umgekehrt.
§. 33.
Es giebt andre Faͤlle, wo die Sache ſelbſt ſich
nach und nach aͤndert, und zwar ohne Ruͤckſicht auf
die Richtigkeit des Begriffes, den man davon hat.
Man
[21]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Man kann die Eintheilung der Laͤnder und Voͤlker
auf der Erdflaͤche hieher rechnen, deren Aenderung
der hiſtoriſchen Geographie nach und nach eine andre
Geſtalt giebt. Jſt aber die Aenderung allgemeinen
und beſonders periodiſchen Geſetzen unterworfen, ſo
hat es in Abſicht auf den Begriff nichts zu ſagen,
weil der Begriff der Abaͤnderung mit demſelben ver-
bunden wird. Man kann die Bewegungen der himm-
liſchen Koͤrper als Beyſpiele hieher rechnen.
§. 34.
Endlich giebt es noch Faͤlle, wo nur die Bedeu-
tung des Worts ſich aͤndert, und entweder einen en-
gern oder weitern Umfang bekoͤmmt, oder gar viel-
deutig wird. Ein Wort gilt, was der gemeine Ge-
brauch zu reden mit ſich bringt, und dieſem laſſen ſich
wenig Schranken ſetzen, weil man nicht befehlen kann,
was ein Wort fuͤr eine Bedeutung haben ſolle. Man
muß und kann ſie gelten laſſen, ſo lange ſie einen
richtigen Begriff vorſtellen, und iſt nur dann zu der
Aenderung befugt, wenn der Begriff unrichtig iſt,
und da wird entweder Wort und Begriff der Ver-
geſſenheit uͤberlaſſen, wie es etwann den aſtrologiſchen
und vielen Woͤrtern der Schulphiloſophie ergeht,
oder man giebt ihm die Bedeutung des verbeſſerten
Begriffes, wie man z. E. in dem copernicaniſchen
Weltbau den Namen Planet und die meiſten Kunſt-
Woͤrter der ptolemaͤiſchen Theorie beybehalten.
§. 35.
Laßt uns nun ſehen was zu thun iſt, wenn man den
Umfang eines allgemeinen Begriffes beſtimmen will,
und was zu der Richtigkeit dieſer Beſtimmung erfor-
dert wird. Einmal muß man ſich die Faͤlle be-
kannt machen, in welchen er vorkoͤmmt, oder
wobey das Wort, ſo ihn ausdruͤckt, gebraucht
B 3wird.
[22]I. Hauptſtuͤck,
wird. Um die Beſorgniß, die eigene Erfahrung
moͤchte hierinn fehlerhafte Luͤcken laſſen, zu heben, iſt
es gut, ſo wohl in Buͤchern als auch durch Nachfra-
gen ſich Raths zu erholen. Um die verſchiedene und
etwann gar widerſprechenden Nachrichten hat man
ſich hiebey noch nicht zu bekuͤmmern, weil vor dieſer
Unterſuchung eine andre vorgehen muß. Und dieſe
beſteht darinn, daß alle dieſe geſammelten Nach-
richten ſolche Faͤlle vorſtellen, von denen mon
ſich verſichern koͤnne, daß ſie an ſich moͤglich
und real ſind. Dieſe Unterſuchung legt den Grund
zu der Gewißheit, daß der allgemeine Begriff, den
man aus dieſen Faͤllen abſtrahiren und deutlich ma-
chen will, ein realer Begriff ſeyn werde, und nichts
ertraͤumtes und widerſprechendes in ſich habe. Denn
es iſt klar, daß Merkmaale, die wirklich beyſammen
ſind, beyſammen ſeyn koͤnnen, und folglich nicht
etwann hoͤlzerne Eiſen, runde Vierecke, oder andre
dergleichen ungereimte Dinge vorſtellen. Sollten
aber ſolche unmoͤgliche Faͤlle vorkommen, ſo kann man
ſie ſich als ſolche anmerken, wo ein Mißbrauch des
Wortes ſtatt hat, deſſen Begriff man deutlich ma-
chen will. Jn Anſehung der uͤbrigen Faͤlle iſt fuͤr ſich
klar, daß es in allewege beſſer iſt, wenn man ſich
durch eigne Erfahrung von ihrer Beſchaffen-
heit und Wirklichkeit verſichern kann.
§. 36.
Hat man auf dieſe Art die Faͤlle geſammlet, und
ſich von ihrer Wirklichkeit verſichert, ſo muß man
ſie mit einander vergleichen, um zu finden, wel-
che gemeinſame Merkmaale ſie haben. Denn in
dieſen beſteht ihre Aehnlichkeit, und folglich der Be-
griff der Gattung, worunter ſie gehoͤren, und den
man deutlich machen will. Man kann alles, was
man
[23]Von den Begriffen und Erklaͤrungen.
man darinn bemerkt, durchgehen, und bey jedem ſe-
hen, ob es in allen vorkomme? Nimmt man nun
dieſe Merkmaale zuſammen, ſo werden ſie den Umfang
eines allgemeinen Begriffes angeben, der an ſich real
und moͤglich iſt, weil man nach der zweyten Regel
reale Faͤlle vorgenommen, und dieſe Merkmaale in
jedem wirklich beyſammen gefunden hat. Um nun
zu ſehen, ob dieſer allgemeine Begriff der verlangte
Begriff der Gattung ſey, den man deutlich machen
will, ſo koͤmmt die Frage darauf an: ob man alle
gemeinſame Merkmaale in den vorgenommenen
Faͤllen bemerket habe oder nicht? Jſt das erſte,
ſo hat man unter allen Gattungen, unter welche dieſe
ſaͤmtliche Faͤlle gehoͤren koͤnnen, die niedrigſte, weil
ſie die Aehnlichkeit, die ſie haben, ganz erſchoͤpft.
Hat man aber nicht alle gemeinſame Merkmaale ge-
funden, ſo iſt die Frage: ob die vergeſſene unter
den bemerkten bereits enthalten ſind, oder nicht?
Jm erſten Fall bleibt die Gattung die niedrigſte, im
andern aber iſt ſie eine hoͤhere Gattung, weil ſie noch
alle die Merkmaale zu ſpecialern Beſtimmungen haben
kann, die man vergeſſen oder nicht bemerket hat, und
die dennoch allen vorgenommenen Faͤllen gemeinſam
ſind. Ungeachtet aber dieſes ungewiß bleiben kann, ſo
iſt der herausgebrachte Begriff nichts deſto minder
real und moͤglich, und wenigſtens nicht zu ſpecial,
weil die vorgenommenen Faͤlle wirklich ſind, und
weil er ſich in allen befindet. Da er aber zu viel all-
gemein oder eine hoͤhere Gattung ſeyn kann, als die,
ſo man eigentlich verlangt, ſobald man einige gemein-
ſame Merkmaale vergeſſen, ſo entſteht wiederum die
Frage: wie man ſich davon verſichern koͤnne?
B 4§. 37.
[24]I. Hauptſtuͤck,
§. 37.
Zu dieſem Ende merken wir an, daß wenn ein
Begriff zu allgemein iſt, derſelbe in mehrern
Dingen vorkomme, als in denen, aus welchen
man ihn abſtrahirt hat. Denn er ſtellt eine hoͤ-
here Gattung vor, welche ſich in niedrigere einthei-
len laͤßt, und unter dieſen iſt nur eine, unter welche
dieſe Dinge gehoͤren. Findet man demnach den ab-
ſtrahirten Begriff oder ſeine ſaͤmtlichen Merkmaale in
ſolchen Dingen, die von den vorgenommenen ſehr
verſchieden ſind, ſo iſt kein Zweifel, daß er zu all-
gemein ſey, und die Vergleichung dieſer Dinge fuͤhrt
auf die Merkmaale, die man vergeſſen hatte, mit in
den Begriff zu nehmen, weil dieſe eben den Unter-
ſchied ausmachen. Jſt aber dieſer Unterſchied nicht
ſehr groß, ſo kann es auch geſchehen, daß der Be-
griff wirklich allgemeiner beybehalten werden kann.
Und auf dieſe Art ſind auch viele Begriffe in
der That allgemeiner worden, weil man in dem
gemeinen Gebrauch zu reden nicht ſo genau
auf alle Unterſchiede acht hat.
§. 38.
Hat man nun auf dieſe Art ſich verſichert, daß
man alle gemeinſamen Merkmaale habe, die zu dem
geſuchten allgemeinen Begriff der Gattung gehoͤren,
ſo iſt man nunmehr ſo weit gekommen, daß man
einen Begriff hat, der alle vorgenommene Faͤlle unter
ſich begreift, und ſich nicht weiter ausdehnet. Er
iſt demnach der verlangte Begriff, in ſo fern man
ſich vorgeſetzt hat, einen Begriff zu finden, der
von dieſem Umfange ſey. Wir werden demnach
wieder zu dem Anfange zuruͤck gehen, und bemerken,
daß die vorgenommenen Faͤlle alle die ſind, bey
welchen man das Wort oder den Namen der
Gat-
[25]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Gattung gebraucht, deren Begriff deutlich
gemacht werden ſolle. Je mehr nun dieſe Faͤlle
verſchieden ſind, deſto allgemeiner wird der herausge-
brachte Begriff, und oͤfters ſieht man ſich genoͤthigt,
denſelben in ſeine Arten einzutheilen, oder dem Wort
eine Vieldeutigkeit beyzufuͤgen. Letzteres geſchieht,
wenn die Eintheilung in Arten nicht angeht, das iſt,
wenn die, ſo man finden wuͤrde, auf eine unaͤhnliche
Art verſchieden ſind.
§. 39.
Die Eintheilung in Arten, wenn ſie angeht, hat
hiebey keine Schwierigkeit. Denn da man alle Faͤlle,
welche unter die Gattung gehoͤren, vor ſich hat, ſo
laſſen ſich bey ihrer Vergleichung leicht ſolche finden,
die groͤßere Aehnlichkeiten unter ſich haben, als die ſo
man zur Gattung genommen, und ſie werden ſich ſtu-
fenweiſe in Klaſſen eintheilen laſſen. Die Arten, ſo
man dadurch findet, muͤſſen auf eine aͤhnliche Art
verſchieden ſeyn, es ſey, daß man dem Begriff der
Gattung verſchiedene Beſtimmungen auf einerley Art,
oder einerley Beſtimmungen auf verſchiedene Arten
beylegt. Man kann noch beylaͤufig anmerken, daß
man zuweilen hiebey einige Luͤcken findet, indem man
naͤmlich ſieht, daß noch mehrere Arten ſeyn koͤnnen,
und dieſes iſt ſo dann eine Anzeige, daß die vorge-
nommenen Faͤlle, woraus man den Begriff der Gat-
tung abſtrahirt hat, noch nicht alle ſind, und folg-
lich noch mehrere dazu genommen werden koͤnnen und
muͤſſen.
§. 40.
Die bisher angefuͤhrte Art einen allgemeinen Be-
griff deutlich zu machen, hat ihre wahre Vollſtaͤn-
digkeit, weil man dabey nicht nur ſieht, wie weit man
zu gehen hat, ſondern auch deutlich begreift, wie weit
B 5man
[26]I. Hauptſtuͤck,
man in der Unterſuchung jedesmal gekommen, und
was noch zuruͤcke bleibt. Denn nach der erſten Re-
gel verſichert man ſich von allen Faͤllen, wobey
der Begriff vorkoͤmmt, und nach der zweyten pruͤft
man, ob alle wirklich ſind, um die unmoͤglichen
und widerſprechenden wegzuſchaffen. Nach
der dritten werden ihre gemeinſamen Merk-
maale geſammlet, und in einen allgemeinen
Begriff zuſammen genommen, weil man die
Verſicherung, daß ſie beyſammen ſeyn koͤnnen,
ſchon in der zweyten hat. Endlich nach der vierten
Regel pruͤft man, ob der gefundene Begriff
nicht zu allgemein ſey, oder auch, ob er in der
That allgemeiner ſeyn koͤnne? Und zwar wenn
er zu allgemein iſt, werden ihm noch die man-
gelnden Beſtimmungen zugeſetzt, oder wenn keine
mangeln, entweder die Vieldeutigkeit des Wor-
tes gefunden, oder der Begriff durch die Ein-
theilung in ſeine Arten naͤher beſtimmt.
§. 41.
Auf dieſe Art ſind gleichſam jede Schritte vorge-
zaͤhlt. Wir werden nun noch unterſuchen, wieferne die
Sache theils abgekuͤrzt werden koͤnne, theils
auch anzeigen, wieferne man zuruͤck bleibt,
wenn man ſich von der vollſtaͤndigen Anwen-
dung dieſer Regel nicht verſichern kann.
§. 42.
Einmal haben wir gefordert, daß man ſich alle
Faͤlle bekannt mache. Der Grund davon iſt die
Beſorgniß, es moͤchten einige wegbleiben, die nicht
alle Merkmaale der uͤbrigen an ſich haben. Dieſer
Grund bleibt richtig. Er reicht aber nur deswegen
ſo weit, damit man unter dieſen Faͤllen die ausleſen
koͤnne, die am meiſten von einander verſchieden ſind.
Denn
[27]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Denn es iſt klar, daß der Begriff der Gattung keine
andre Merkmaale haben koͤnne, als die, ſo noch in
dieſen verſchiedenſten Faͤllen gemeinſam bleiben. Es
iſt demnach vorzuͤglich darum zu thun, daß man ſich
verſichere, man habe dieſe Faͤlle. Und hat man ſie,
ſo iſt unſtreitig, daß ſie allein zureichen, den Begriff
der Gattung daraus zu abſtrahiren. Hingegen muß
man allerdings alle haben, wenn man dieſe Gattung
in ihre Arten eintheilen, oder falls das Wort vieldeutig
iſt, dieſe Vieldeutigkeit beſtimmen will.
§. 43.
Ferner iſt anzumerken, daß man unter den ge-
fundenen gemeinſamen Merkmaalen diejenigen,
ſo in andern bereits enthalten ſind, beſonders
nehmen muͤſſe, nicht nur, weil man ſie ſonſt doppelt
haͤtte, ſondern, weil jene nur die Entwicklung von dieſen
ſind. Man behaͤlt dieſe allein, und gebraucht jene nur,
wenn der Begriff, den man ſich vorgeſetzt hat, deutlich
zu machen, in einem hoͤhern Grade deutlich, das will
ſagen, ausfuͤhrlich gemacht werden ſolle (§. 10).
§. 44.
Man kann eben ſo die Merkmaale beſon-
ders nehmen, welche durch alle oder einige der
uͤbrigen ſich beſtimmen laſſen, oder aus denſel-
ben folgen. Der Begriff der Gattung wird da-
durch einfacher und auf ſeine weſentlichen Merkmaale
gebracht, und da mit dieſem jene zugleich geſetzt und
gehoben werden, ſo iſt es uͤberfluͤßig, wenn man ſie
beſonders anzeigen wollte, ſo bald man nicht beſon-
dere Gruͤnde dazu hat.
§ 45.
So weit laͤßt ſich die Arbeit, einen allgemeinen
Begriff deutlich zu machen, in die Kuͤrze ziehen. Wir
haben nun noch die Grade der Unvollſtaͤndigkeit zu
durch-
[28]I. Hauptſtuͤck,
durchgehen, die in beſondern Faͤllen vorkommen kann.
Die erſte Regel forderte: daß man ſich von allen
und beſonders von den verſchiedenſten Faͤllen
verſichere, die unter die Gattung gehoͤren.
Der Maaßſtab hiezu iſt der gemeine Gebrauch des
Wortes, und wir haben angegeben, daß man ſich hie-
bey des Nachfragens und Aufſchlagens der Buͤcher
bedienen muͤſſe, um die Ungewißheit ſo viel als moͤg-
lich oder ganz zu heben. Kann dieſes nun nicht zu-
reichend geſchehen, ſo bleibt eine Luͤcke, welche zwar
nicht nothwendig den Begriff fehlerhaft macht, aber
doch machen kann. Es bleibt naͤmlich ungewiß, ob
die Faͤlle, die man etwann nicht weis, ſolche Merk-
maale, die den uͤbrigen allen gemeinſam ſind, nicht
haben? Die Folge davon iſt, daß der Begriff der
Gattung nicht genug allgemein wird, weil man meh-
rere Merkmaale dazu nimmt, als ſeyn ſollten. Denn
alle die ſollten wegbleiben, die in den unbekannten
Faͤllen, ſo dennoch unter den Begriff gehoͤren, nicht
vorkommen.
§. 46.
Man kann hierbey verſuchen, den Begriff, ſo
wie man ihn hat, allgemeiner zu machen, und die
Frage koͤmmt hiebey auf die groͤßte Allgemeinheit
an, die man ihm geben koͤnne, und die er viel-
leicht mit der Zeit durch den gemeinen Ge-
brauch zu reden ſelbſt erhalten wuͤrde. Um
dieſe Frage genauer zu unterſuchen, merken wir an,
daß man den Begriff der Gattung dadurch allgemein
gemacht hat, weil man alle Merkmaale weggelaſſen,
die nicht in allen vorgenommenen Faͤllen vorkommen.
Solle er de[m] nach noch allgemeiner werden, ſo muͤſſen
noch mehrere Merkmaale weggelaſſen werden. Dieſes
kann allerdings geſchehen, ſo lange die uͤbrig bleiben-
den
[29]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
den mehr in ſich halten, als der naͤchſt hoͤhere Begriff,
der bereits unter einem gewiſſen Namen bekannt iſt.
Am fuͤglichſten aber verfaͤhrt man, wenn man darauf
Acht hat, wie die Merkmaale, wodurch ſich die vorge-
nommenen Faͤlle von einander unterſcheiden, verſchieden
ſind. Beſteht dieſer Unterſchied nur in Graden oder
Stuffen, ſo iſt klar, daß der Begriff am allgemein-
ſten wird, wenn man die Beſtimmung dieſes Unter-
ſchiedes ganz weglaͤßt, und folglich alle Faͤlle von dem
geringſten Grade an bis zum groͤßten unter den Be-
griff der Gattung nimmt. So ſind z. E. die Stuffen
der Klarheit und Deutlichkeit in den Gedanken, die
von einem voͤlligen Mangel bis zum Unendlichen ge-
hen. Man kann eben ſo in vielen Faͤllen den Begriff
der Wirklichkeit auf die bloße Moͤglichkeit ausdehnen,
wie man z. E. die Erkenntnißkraͤfte bis auf bloße
Faͤhigkeiten erſtreckt. Ueberhaupt aber hat man auf
den Grund zu ſehen, warum in den einzeln Faͤllen ge-
wiſſe Merkmaale mehr ſind, als in der Gattung, denn
ſo wird man aus gleichem oder wenigſtens aus einem
aͤhnlichen Grunde auch von dem herausgebrachten
Begriffe der Gattung noch mehrere Merkmaale weg-
laſſen, und folglich denſelben allgemeiner machen koͤn-
nen. Denn ſo weit dieſes moͤglich iſt, kann es ſelbſt
durch den gemeinen Gebrauch zu reden geſchehen, und
es iſt nuͤtzlich es zu thun, weil die allgemeine Erkennt-
niß vor der eingeſchraͤnktern vieles voraus hat (§. 16)
zumal wenn man zeigen kann, daß es in der That zur
Erweiterung der Erkenntniß dient, wenn man dieſen
oder jenen Begriff allgemeiner macht.
§. 47.
Die andre Regel forderte: daß man ſich von
der Wirklichkeit der vorgenommenen Faͤlle
verſichere, und der Grund davon iſt, weil die Ver-
ſiche-
[30]I. Hauptſtuͤck,
ſicherung, daß der daraus abſtrahirte Begriff ein realer
und moͤglicher Begriff ſey, darauf beruhet. Wir
haben zu dieſem Ende erinnert,| daß es gut ſey,
wenn man die Faͤlle durch eigene Erfahrung
bewaͤhren kann. Denn dadurch erhaͤlt man den
wichtigen Vortheil, daß man ſich ihre Merkmaale
durch unmittelbare Empfindung vorſtellen kann, und
ſie nicht auf die Richtigkeit der Bedeutung der Woͤr-
ter darf ankommen laſſen, wie es ſonſt geſchehen wuͤr-
de, wenn man ſich die Faͤlle durch Nachrichten oder
aus Buͤchern muͤßte bekannt machen. Man ſieht
und empfindet unſtreitig auf einmal mehr, als man
mit vielen Worten beſchreiben koͤnnte, und die Worte
geben nur das allgemeine der Empfindungen an. Dieſe
Vorzuͤge des unmittelbaren Empfindens tragen un-
ſtreitig vieles zu der ſo unbeſtrittenen Gewißheit der
Meßkunſt und Vernunftlehre bey, weil man in
jener die Figuren immer vor Augen haben, in dieſer aber
die Geſetze des Denkens unmittelbar empfinden kann.
§. 48.
Es hat aber nicht jede Unrichtigkeit der Faͤlle, die
man vornimmt, um den Begriff der Gattung daraus
zu abſtrahiren, gleiche Folgen. Man kann einem un-
moͤglichen und ganz entgegengeſetzten Fall einen rich-
tigen Begriff andichten, weil dieſer Begriff demſel-
ben beygelegt wird, weil wan ſich ihn anders vor-
ſtellt als er iſt. Z. E. Man kann aus einer uͤbel-
verſtandenen Jronie den Begriff des Lobes herleiten.
Eben ſo wenn Cajus den Titius deswegen loben wuͤr-
de, weil er ein großer Stern-und Zeichendeuter ſey,
oder die Cabaliſtik aus dem Grunde verſtuͤnde, ſo
ſieht man leicht, daß er ihn deswegen lobt, weil er
glaubt, daß dieſe Dinge große Vortrefflichkeiten ſeyn.
Und vorzeiten hatte man dieſes fuͤr ein wahres Lob
ange-
[31]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
angeſehen. Jrrige Faͤlle von dieſer Art benehmen
demnach der Richtigkeit des Begriffes nichts, obwohl
man dabey dennoch leichter fehlen kann, als wenn die
Faͤlle richtig, und der Begriff, den man deutlich
machen will, richtig angewandt waͤre. Denn ſo wuͤrde
man aus den angefuͤhrten Lobſpruͤchen des Cajus
folgern koͤnnen, loben heiße, ſo viel als erzaͤhlen, daß
jemand unnuͤtzes Zeug gelernt habe, wenn man von
keinen andern Beyſpielen nichts wuͤßte. Man kann
hiebey gelegentlich anmerken, daß der meiſte Mißver-
ſtand in den Worten und Verwirrung in den Begrif-
fen von denen Faͤllen herruͤhre, in welchen man den
Gebrauch der Worte gehoͤrt hat, und daß dieſes ein
Hauptgrund mit iſt, warum unzaͤhlige Jrrthuͤmer
ſich bey ganzen Voͤlkern und durch viele Jahrhunderte
erhalten haben. Man ſieht auch aus dem angefuͤhr-
ten Beyſpiel, daß man die Faͤlle nicht immer nehmen
kann, wie ſie an ſich ſind, ſondern auch, wie man ſie
ſich vorſtellt, und was man daran zu finden glaubt,
dadurch man bewogen wird, ſie unter dieſe oder jene
Gattung zu rechnen. Die Begriffe gut, recht,
billig, heilig ꝛc. die bey verſchiedenen Voͤlkern ſo
ſehr verſchiedenen Dingen beygelegt wurden, moͤgen
zur Erlaͤuterung dienen. Man wird ſie ſchwerlich
aus der Vergleichung aller dieſer Dinge abſtrahiren
koͤnnen, weil kaum noch der Begriff von Dingen, und
zwar ohne Unterſchied eines wirklichen oder ertraͤum-
ten Dinges uͤbrig bleiben wuͤrde. Hingegen kommt
man allerdings zurecht, wenn man dieſe Begriffe
aus den Gruͤnden herleitet, aus welchen ſie ſo ver-
ſchiedenen Dingen ſind beygelegt worden.
§. 49.
Wir ſehen aus dem bisher der Laͤnge nach ange-
fuͤhrten, was dazu erfordert wird, bis man ſich von
dem
[32]I. Hauptſtuͤck,
dem Umfange, Richtigkeit und genauen Beſtimmung
eines allgemeinen Begriffes verſichern, und denſelben
deutlich, zureichend und vollſtaͤndig machen kann. Wir
haben uns laͤnger dabey aufgehalten, weil die Sache
verdient mit allen ihren Schwierigkeiten und Huͤlfs-
mitteln deutlich ins Licht geſetzt zu werden, und uͤber-
haupt die ganze Richtigkeit der allgemeinen Erkennt-
niß davon abhaͤngt. Wir haben kein beſonder Bey-
ſpiel angefuͤhrt. Wer ſich aber darinn uͤben will,
kann es z. E. mit den Begriffen, Geſetz, Kraft,
Tranſcendent, Verhaͤltniß, Vermoͤgen ꝛc. verſu-
chen, um ihren allgemeinſten Umfang auf eine ſolche
Art zu beſtimmen, daß er den oben gegebenen Regeln
durchaus Genuͤgen leiſte. Er wird in Anſehung des
Begriffes Geſetz, die Civilrechte, die Staatsrechte,
das Recht der Natur ꝛc. desgleichen auch die Phyſik,
Matheſin, Pnevmatologie, Cosmologie ꝛc. zureichend
inne haben muͤſſen, um den Begriff nicht zu ſpecial
heraus zu bringen, ſondern ihn ſo allgemein zu haben,
daß er zum Grund der allgemeinſten oder metaphyſi-
ſchen Nomologie oder Geſetzlehre dienen koͤnne.
§. 50.
Wir koͤnnen noch anmerken, daß es eben nicht
allemal noͤthig iſt, den allgemeinſten Umfang eines
Begriffes oder Bedeutung eines Wortes zu beſtimmen.
Es giebt ſolche, die in ſehr verſchiedenen Wiſſenſchaf-
ten vorkommen, und da ſie in jeder eine beſondere
Bedeutung haben, ſo werden ſie in jeder nicht weiter
ausgedehnt, als es darinn noͤthig iſt So z E. hat
das Wort Geſetz,Lex in dem roͤmiſchen Rechte die
eingeſchraͤnkteſte Bedeutung, weil es den Senatuscon-
ſultis, Edictis, Plebiſcitis etc. entgegen geſetzt wird,
und das ganze Volk, Populum romanum zum Stifter
haben mußte. Man hat es aber auf jede Geſetzgeber
aus-
[33]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
ausgedehnt, und endlich in dem Begriff deſſelben nur
noch den Begriff der Verbindlichkeit (Obligatio) bey-
behalten, und da dieſe mit gewiſſen unveraͤnderli-
chen Verhaͤltniſſen eine Aehnlichkeit hatte, ſo
wuͤrde der Begriff eines Geſetzes auch auf dieſe und
endlich auf jede realen Verhaͤltniſſe ausgedehnt, und
das Geſetz durch eine Regel erklaͤrt, nach welcher ſich
eine Sache richtet. So z. E. ſind die Geſetze des
Denkens, der Embildungskraft, der Bewegung, der
natuͤrlichen Veraͤnderung, und bald alles deſſen, wozu
man ſich freywillig bequemt ꝛc. Man ſieht aber leicht,
daß es unnoͤthig waͤre, wenn man in den Anfangs-
gruͤnden des roͤmiſchen Rechtes, den Begriff, Geſetz,
(Lex,) ſo weit herholen wollte, weil daſelbſt nur von
den roͤmiſchen Geſetzen die Rede iſt. Eben ſo wuͤr-
de man in der Mechanik, wo von den Geſetzen
der Bewegung die Rede iſt, ohne Noth der roͤmiſchen
oder jeder civil- und politiſchen Geſetze Erwaͤhnung
thun, weil ſie viel zu viel von einander verſchieden
ſind. Hingegen ſchickt ſich der allgemeinſte Begriff
eines Geſetzes in die Metaphyſik, weil dieſe Wiſſen-
ſchaft das Allgemeine von jeden anderen Wiſſenſchaf-
ten zum Gegenſtande hat. Ueberhaupt iſt es auch
bey ſo vielfachen Bedeutungen eines Wortes gut und
oͤfters nothwendig, zu beſtimmen, worinn ſie alle
uͤbereinkommen, weil man ſonſt gar zu leicht die eine
mit der andern verwechſelt, und zu dem allgemeinen
Begriffe ſolche Merkmaale nimmt, die nur in der
einen oder andern Art vorkommen.
§. 51.
Wird ein Begriff auf die vorgeſchriebene Art
deutlich gemacht, ſo weis man ſeine Merkmaale, welche
zuſammen genommen den Umfang deſſelben be-
ſtimmen. Dieſer Ausdruck ſcheint dem lateiniſchen
Lamb. Org. I. Band. Cdefinire
[34]I. Hauptſtuͤck,
definire genau zu entſprechen, welches man gemeiniglich
fuͤr erklaͤren nimmt. Die Sache ſelbſt verhaͤlt ſich ſo.
Stellt man ſich die Merkmaale des Begriffes nur
in Gedanken vor, ſo iſt es ſchlechthin eine deutliche
Vorſtellung der Sache. Druͤckt man aber dieſe
Merkmaale mit Worten aus, ſo heißt dieſes eine
Beſtimmung oder Erklaͤrung, und zwar entweder
des Wortes, oder des Begriffes, oder der Sache, je
nachdem man dadurch entweder die Bedeutung des
Wortes beſtimmen oder feſtſetzen, oder den Begriff, den
man im Sinne hat, ausdruͤcken, oder die Sache vor-
ſtellig machen will. Man ſieht hieraus, daß, nach-
dem man ſich den Begriff von einer Sache deutlich
gemacht hat, zu der Erklaͤrung weiter nichts erfor-
dert wird, als daß man die gefundenen Merkmaale
mit ihren Namen benenne, und folglich durch Worte
ausdruͤcke. Wir wollen nun die Beſchaffenheit dieſer
Merkmaale theils an ſich, theils auch in Abſicht auf
die Worte genauer betrachten, um dadurch die ver-
ſchiedene Arten von Erklaͤrungen zu beſtimmen, die
man von einer Sache machen kann. Sie ſind wegen
dieſes Unterſchiedes nicht alle zu jedem Gebrauche
gleich dienlich, und daher iſt es nuͤtzlich ſie auch in
dieſer Abſicht zu betrachten.
§. 52.
Wir haben ſchon oben (§. 14) angemerkt, daß
ſich die Merkmaale einer Sache in die gemeinſa-
men und eigenen abtheilen laſſen, und daß beyde
zuſammen genommen, den Begriff erſchoͤpfen. Da
die gemeinſamen Merkmaale auch andern Dingen
zukommen, eben deswegen, weil ſie gemeinſam ſind, ſo
taugen ſie allein nicht, wenn die Erklaͤrung, ſo man
von der Sache machen will, die Abſicht hat, die
Sache kenntlich zu machen. Hiezu ſind die eigenen
Merk-
[35]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Merkmaale unſtreitig zureichend, weil ſie der Sache
allein zukommen, und folglich in keiner andern zu
finden ſind. Hingegen erſchoͤpfen ſie den Begriff
nicht, weil zu dem ganzen Umfange deſſelben die ge-
meinſamen Merkmaale mit gehoͤren. Wenn dem-
nach die Abſicht der Erklaͤrung iſt, von der Sache
einen vollſtaͤndigen Lehrbegriff zu geben, ſo iſt klar,
daß die gemeinſamen und eigenen Merkmaale muͤſſen
zuſammen genommen werden.
§. 53.
Die gemeinſamen Merkmaale geben den Begriff
einer Gattung. Denn da ſie noch mehrern Dingen
zukommen, ſo gehoͤren alle dieſe Dinge in eine Klaſſe,
welche wir uͤberhaupt Gattung nennen koͤnnen.
Hat dieſelbe bereits einen Namen, ſo iſt klar, daß
man alle gemeinſamen Merkmaale durch ein einiges
Wort ausdruͤcken kann, und dadurch wird die Erklaͤ-
rung merklich abgekuͤrzt. Es iſt fuͤr ſich klar, daß
ſie noch eine andre Abkuͤrzung leidet, wenn man auch
die eigenen Merkmaale der Sache in den Begriff ei-
nes einigen Wortes zuſammen faſſen kann.
§. 54.
Dieſe Art von Erklaͤrungen iſt unſtreitig die na-
tuͤrlichſte, die eigenen Merkmaale ſind darinn von
den gemeinſamen genau abgeſondert, und ſo beſchaffen,
daß ſie genau diejenigen zuſammen ausmachen, die
ſonſt keiner Sache zukommen. Die gemeinſamen
Merkmaale geben unter allen Gattungen, zu welchen
die Sache gehoͤren kann, die niedrigſte und naͤchſte
an, weil ſie keine andre Beſtimmung leidet, als ſol-
che, die die eigenen Merkmaale der Sache ausmachen.
§. 55.
So genau aber geht es mit unſern Erklaͤrungen
nicht zu, weil, wie wir ſchon oben (§. 16) ange-
C 2merkt
[36]I. Hauptſtuͤck,
merkt haben, die Geſchlechtstafel der Arten und Gat-
tungen noch lange nicht ſo vollſtaͤndig haben, daß jeder
Begriff darinn gleich ſeine Stelle finden koͤnnte. Das
allerkleinſte Merkmaal iſt zureichend eine Gattung um
eine Stuffe hoͤher oder niedriger zu machen, je nach-
dem es davon weggenommen oder dazu geſetzt wird.
Wenn wir daher eine Sache unter eine Gattung zaͤh-
len, ſo bleibt es unbeſtimmt, ob dieſe unter allen die
niedrigſte iſt, zu welchen die Sache kann gerechnet
werden. Sie iſt gemeiniglich hoͤher. Hieraus aber
entſtehen in Abſicht auf die Erklaͤrung gewiſſe Fol-
gen, die wir deutlich machen muͤſſen. Man ſetze
demnach, daß man ſtatt der niedrigſten Gattung eine
hoͤhere genommen, ſo hat dieſe weniger Merkmaale,
weil ſie ſich auf mehr und verſchiedenere Dinge aus-
dehnt, und folglich alle die Merkmaale wegbleiben, die
nicht in allen denſelben ſind. Nimmt man demnach
zu dem Begriff dieſer hoͤhern Gattung noch die eigene
Merkmaale der Sache, ſo wird zwar die herauskom-
mende Erklaͤrung die Sache kenntlich machen, und
zwar bloß deswegen, weil die eigenen Merkmaale an
ſich ſchon dazu genugſam ſind; allein die Erklaͤrung
erſchoͤpft den Begriff der Sache nicht, weil alle die
Merkmaale mangeln, welche die wahre niedrigſte Gat-
tung mehr hat, als die in die Erklaͤrung genommene
hoͤhere Gattung. Es wird demnach in allem, was
man aus dieſer Erklaͤrung zu folgern gedenkt, in
Abſicht auf die vergeſſene Merkmaale immer eine
Luͤcke bleiben. Und dieſes iſt ohne Zweifel ein Haupt-
grund, warum wir aus unſern Erklaͤrungen der Sa-
chen nicht allemal alles herleiten koͤnnen, was der Sa-
che zukoͤmmt. Man ſieht auch hieraus, daß zwiſchen
Erklaͤrungen, welche ſchlechthin nur die Sache kennt-
lich machen, und zwiſchen ſolchen, die den wahren
Um-
[37]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
Umfang des Begriffes beſtimmen, ein merklicher
Unterſchied iſt.
§. 56.
Will man dieſes letztere dennoch erhalten, ſo muß
die Luͤcke ausgefuͤllt werden, und dieſes geſchieht, wenn
man die Merkmaale, die weder der Sache allein eigen,
noch in dem angenommenen Begriff der hoͤhern
Gattung ſind, und dennoch der Sache zukommen,
noch mit in die Erklaͤrung nimmt, und ſie entweder
der Gattung als Beſtimmungen beyfuͤgt, oder mit den
eigenen Merkmaalen zuſammen nimmt, je nachdem
die Sprache Worte hat, den vollſtaͤndigen Umfang
des Begriffes am ſchicklichſten anzuzeigen. Auf dieſe
Art wird das, was ſonſt der eigentliche Unterſchied
der Art waͤre, ſchlechthin ein Zuſatz zu dem, was
dem Begriff der hoͤhern Gattung mangelt, um den
Umfang des Begriffes, den man erklaͤren will, zu
erſchoͤpfen.
§. 57.
Dieſer Zuſatz verwandelt ſich zuweilen in ein
Wegnehmen, und dieſes geſchieht, wenn man ſtatt
einer Gattung, worunter die Sache gehoͤrt, eine Art
nimmt, die mit der Sache unter einerley Gattung
gehoͤrt Z. E. wenn man ein einfaches Ding durch
das erklaͤrt, was keine Theile hat. Man nimmt
dabey gleichſam von dem zuſammengeſetzten die Theile
weg. Man verfaͤhrt eben ſo, wenn man einen Be-
griff durch Beyſpiele erklaͤren will. Denn in dieſen
muß man alles, was ſie beſonders haben, weglaſſen,
oder davon abſtrahiren. Es iſt fuͤr ſich klar, daß man
ſolche Erklaͤrungen, die nur anzeigen, was die Sache
nicht iſt, weglaͤßt, ſo bald man von der erſtern Art
(§. 55. 56.) finden kann.
C 3§. 58.
[38]I. Hauptſtuͤck,
§. 58.
Jn Anſehung dieſer haben wir noch anzumerken,
daß, da man zu jeden hoͤhern Gattungen, worunter die
Sache gehoͤrt, ſo viele Beſtimmungen hinzuſetzen
kann, bis ſie den Begriff erſchoͤpfen, den man erklaͤ-
ren will, daß man, ſage ich, auf dieſe Art allerdings
mehrere Erklaͤrungen von einer gleichen Sache machen
kann. Es ſind naͤmlich ſo viele moͤglich, auf ſo viele
Arten man alle Merkmaale der Sache, und zwar ohne
Ruͤckſicht auf die gemeinſamen und eigenen, in Theile
zerfallen, und die fuͤr jeden Theil zuſammengenom-
menen durch Worte ausdruͤcken kann. Denn man
ſieht leicht, daß es damit nur ſo weit reicht, als die
Sprache zureichend iſt, ſolche Worte herzugeben,
welche zuſammengenommen den Umfang des Be-
griffes beſtimmen. Wenn man demnach von einerley
Sache verſchiedene Erklaͤrungen in Buͤchern findet,
ſo ſind ſie nicht bloß deswegen zu verwerfen, weil ſie
verſchieden ſind; ſondern es koͤmmt darauf an, ob ſie
den wahren Umfang des Begriffes angeben oder nicht.
Jndeſſen wenn auch alle richtig ſind, ſo kann dennoch
eine der andern vorgezogen werden, wenn man ſie zu
beſondern Abſichten gebrauchen will Denn ſo kann
z. E. die eine viel unmittelbarer zu dem Beweiſe eines
Satzes, die andre unmittelbarer zur Ausuͤbung fuͤh-
ren, oder zum Beweiſe eines andern Satzes beſſere
Dienſte thun.
§. 59.
Die bisher betrachteten Erklaͤrungen enthalten
noch immer die innern Merkmaale der Sache, und
taugen folglich, in ſoferne wir im Stande ſind, die-
ſelben einzuſehen, und durch Worte auszudruͤcken. So
weit reicht aber unſre Einſicht nicht allezeit, und viel-
leicht in den wenigſten Faͤllen. Wir ſind daher laͤngſt
ſchon
[39]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
ſchon gewohnt, Verhaͤltnißbegriffe dazu zu gebrau-
chen, um eine Sache durch ihre Urſachen Wirkungen,
Abſichten, Mittel und durch jede Verbindung, ſo ſie
mit andern haben kann, kenntlich zu machen und
aufzuklaͤren. Es mag dieſes auch um deſto ehender
angehen, weil man ohne Verhaͤltnißbegriffe kaum von
einer Sache auf eine andre einen Schluß machen
kann.
§. 60.
Wir haben aber in Abſicht auf die Verhaͤltniß-
begriffe, wodurch eine Sache erklaͤrt werden ſoll,
zwiſchen den Erklaͤrungen eben den Unterſchied zu
machen, den wir oben (§. 52. 55.) in Abſicht auf die
Merkmaale gemacht haben. Wenn man naͤmlich nur
die Sache kenntlich zu machen ſucht, ſo iſt es genug,
ſie durch ſolche Verhaͤltniſſe zu beſtimmen, wodurch
jede andre Sachen ausgeſchloſſen werden. Jn einzelnen
Faͤllen, wo man nur dieſes oder jenes Indiuiduum
und zwar nur fuͤr eine gewiſſe Zeit kenntlich machen
will, ſind oͤfters die Umſtaͤnde des Ortes und der Zeit
hinreichend, weil man dadurch anzeigt, wenn und wo
die Sache zu finden iſt. So z. E. macht man am
Himmel alle Sterne durch ihren Ort kenntlich, und
zeigt im Fall der Veraͤnderung, auch die Veraͤnde-
rung des Ortes an. Eben ſo, wenn man eine Urſache
durch eine einzige von ihren Wirkungen, oder eine
Sache durch einen einigen Gebrauch derſelben
erklaͤrt.
§. 61.
Soll hingegen die Sache durch ihr Verhaͤltniß
zu einer andern vollſtaͤndig beſtimmt werden, ſo muß
dieſes Verhaͤltniß zureichen, jede gemeinſame und
eigene Merkmaale der Sache daraus zu beſtimmen.
Z. E. wenn man ſagt, Gott ſey der Schoͤpfer der
C 4Welt,
[40]I. Hauptſtuͤck,
Welt, ſo iſt dieſe Erklaͤrung ein Verhaͤltnißbegriff,
und man wird daraus unzaͤhlige Eigenſchaften und
Vollkommenheiten Gottes herleiten koͤnnen. Finden
ſich aber in dem goͤttlichen Weſen Merkmaale, die ſich
weder dem Grade noch der Art nach endlichen Din-
gen und Geſchoͤpfen mittheilen laſſen, ſo bleibt dieſe
Erklaͤrung in ſo ferne unvollſtaͤndig.
§. 62.
Da es eben nicht ſo leicht iſt, ſolche vollſtaͤndige
Verhaͤltniſſe zu finden, ſo iſt es ebenfalls bereits ge-
woͤhnlich, die Verhaͤltniſſe ſo wie man ſie findet, an-
zunehmen, und die Dinge, welchen ſie zukommen, in
den Begriff einer Art oder Gattung zuſammen zu
nehmen. Dadurch wird die Sache ſo umgekehrt,
daß man aus dem Verhaͤltniß den Hauptbegriff macht.
Z. E Man nennt ein Hygrometer ein Jnſtrument,
wodurch man die Feuchtigkeit der Luft und ihre Grade
erkennen kann. Dieſe Erklaͤrung iſt ein Verhaͤltniß-
begriff, aber die Beſchaffenheit der Hygrometer
bleibt dadurch in ſo ferne unbeſtimmt, als man ſie
auf mehrere Arten und aus ſehr verſchiedenen Ma-
terien haben kann. Weil uͤberhaupt jede Materien,
welche durch die Feuchtigkeit ihr Gewicht, Groͤße,
Figur, Lage, Zuſammenſetzung ꝛc. aͤndern, mehr
oder minder dazu dienen. Auf dieſe Art verfaͤhrt
man jedes mal, ſo oft die Mittel durch die Abſicht
earacteriſirt werden. Man nimmt alle Arten, ſo es
dabey giebt, unter einem allgemeinen Begriff zuſam-
men, welcher uͤberhaupt die Abſicht anzeigt, wozu die
Mittel dienen oder dienen ſollen.
§. 63.
Wenn in einer Erklaͤrung die Verhaͤltniſſe ſo an-
gegeben werden, daß die Entſtehungsart der Sache
dadurch beſtimmt wird, ſo heißt ſie eine Sacher-
klaͤ-
[41]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
klaͤrung. Es iſt fuͤr ſich klar, daß ſolche Erklaͤ-
rungen in der Ausuͤbung und daher in den praktiſchen
Theilen der Wiſſenſchaften vorzuͤgliche Dienſte thun,
wo es die Frage iſt, eine Sache zu machen. Es kann
aber eine Sache auf vielerley Arten gemacht werden,
daher ſind, uͤberhaupt betrachtet, auch vielerley Sach-
erklaͤrungen moͤglich, und es bleibt eine Auswahl da-
bey, die man nach den jedesmaligen Abſichten und
Umſtaͤnden einrichtet. Man kann die Erklaͤrungen,
ſo man von der Entſtehungsart der Kegelſchnitten in
der Meßkunſt giebt, als Beyſpiele hieher rechnen.
Bey Maſchinen, Jnſtrumenten und andern zuſam-
mengeſetzten Dingen, beſteht die Sacherklaͤrung in
der Beſchreibung und Anzeige der Theile und ihrer
Zuſammenſetzung und Verbindung. Bey bloß na-
tuͤrlichen Dingen beſteht ſie in der Anzeige der Urſa-
chen, Materien oder der Wirkungsart, wodurch die
Sache entſteht, wobey zuweilen noch die Anzeige der
Vorbereitung hinzukoͤmmt, welche man machen
und veranſtalten muß, damit die Wirkung erfol-
gen oder die Sache entſtehen koͤnnen. Wie z. E. in
der Chymie bey der Zeugung der Cryſtalle aus Sal-
zen, die Aufloͤſung der Salze, oder ihr Ausziehen
aus der Aſche ꝛc. und das Einſieden des Waſſers eine
Vorbereitung iſt, nach welcher die Cryſtalliſation
ſodann von ſelbſt geſchieht. Jn dieſen letztern Faͤllen
paaren ſich Natur und Kunſt, um zu der Entſte-
hung der Sache beyzutragen, da hingegen in den
zween erſten Faͤllen jede allein wirket. Man ſieht
hieraus, daß ſich die Sacherklaͤrungen in dieſe drey
Klaſſen, abtheilen laſſen.
§. 64.
Die bisher betrachteten deutlichen Begriffe, und
die daraus gezogenen Erklaͤrungen der Sachen haben
C 5noch
[42]I. Hauptſtuͤck,
noch alle das beſonders, daß man bey der Sache ſelbſt
anfaͤngt, und dieſelbe als bekannt und moͤglich oder
als exiſtirend vorausſetzt. Das neue darinn iſt dem-
nach nichts anders, als die Entwickelung der Merk-
maale oder Verhaͤltniſſe, wodurch der Begriff der
Sache und ſein Umfang beſtimmt wird. Wir ha-
ben geſehen, daß durch allmaͤhliches Weglaſſen einiger
Merkmaale, die uͤbrig bleibenden nach und nach all-
gemeinere Begriffe geben, und daß man dadurch zu
den hoͤhern Gattungen hinauf ſteigt. Der Begriff
einer Gattung beſteht in den gemeinſamen Merkmaa-
len ihrer Arten, und man findet ihn durch Abſtrahi-
ren, indem man die eigenen Merkmaale der Sache
weglaͤßt. Nimmt man hiebey den Ruͤckweg, und
ſetzt dieſe eigenen Merkmaale mit dem Begriffe der
Gattung wieder zuſammen, ſo iſt klar, daß hieraus
wiederum die Begriffe der Arten entſtehen. (§. 17. 18.)
Demnach iſt auch das Zuſammenſetzen der
Merkmaale ein Mittel, Begriffe zu finden, und
der herausgebrachte Begriff wird ebenfalls richtig
ſeyn, ſo oft man ſich verſichern kann, daß die zuſam-
mengeſetzten Merkmaale einander nicht widerſprechen.
§. 65.
Verfaͤhrt man dabey auf eine willkuͤhrliche
Art, indem man Merkmaale zuſammen nimmt, wie
man ſie findet, ſo wird zwar ein zuſammengeſetzter
Begriff entſtehen; allein es muß bewieſen werden, daß
er nichts widerſprechendes in ſich habe. Und hiezu
kann man verſchiedene Mittel vorſchlagen. Das er-
ſte iſt die Erfahrung, wodurch man die Sache auf
die Probe ſetzen kann, oder welche uns bereits ſolche
Beyſpiele aufweiſt, worinn die willkuͤhrlich zuſam-
mengeſetzten Merkmaale vorkommen. Dieſes letztere
iſt
[43]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
iſt eben ſo viel, als wenn man den Begriff aus die-
ſen Merkmaalen abſtrahirt haͤtte. Der Unterſchied
beſteht nur darinn, daß man hier den Begriff vor
der Erfahrung gehabt, und dieſe erſt nachher zur Be-
kraͤftigung ſeiner Moͤglichkeit aufgeſucht hat. Auf
dieſe Art iſt es auch hinwiederum ſehr gewoͤhnlich, daß
man Merkmaale, die man in der Erfahrung findet,
ſo zuſammenſetzt, als wenn man von der Erfahrung
nichts wuͤßte, um ſich dadurch das Anſehen eines Er-
finders zu geben, oder um den Begriff von der Er-
fahrung unabhaͤngig zu machen, wenn man naͤmlich
ſeine Moͤglichkeit ſonſt beweiſt, oder als eines Be-
weiſes unbeduͤrftig vorausſetzt. So z. E. laſſen ſich
die Regierungsformen in die Staatslehre beſtimmen,
wenn man die Anzahl der regierenden Perſonen auf
eine, oder etliche, oder alle, und den Umfang ihrer
Macht uͤber die Unterthanen auf Beſtimmungen ſetzt,
ungeachtet lange vor dieſer Theorie Regierungsformen
geweſen ſind.
§. 66.
Jſt aber die Erfahrung erſt noch anzuſtellen, ſo
iſt klar, daß man diejenigen Sachen, welche die
zuſammengeſetzten Merkmaale angeben, auf eben die
Art in der That zuſammen zu ſetzen ſuchen muͤſſe,
um zu ſehen, ob es angeht oder nicht. Geht es an,
ſo iſt der Begriff der Sache unſtreitig moͤglich. Wi-
drigenfalls iſt es immer ein Anlaß, durch behoͤrige
Veraͤnderungen einen neuen zuſammengeſetzten Be-
griff herauszubringen. Jn der Chymie, Mechanik,
und bey den meiſten Kuͤnſtlern kommen derglei-
chen Proben haͤufig vor. Die Alchymiſten ſuchen
noch immer durch ſolche willkuͤhrlichen Zuſammenſe-
tzungen der Begriffe, den Begriff des Goldes und
ſeiner
[44]I. Hauptſtuͤck,
ſeiner Entſtehungsart herauszubringen, und finden
mehrentheils nur Phosphoren, Medicinen und an-
dern dergleichen chymiſchen Stoff, deſſen Exiſtenz
die Natur moͤglich ſeyn laͤßt.
§. 67.
Das andre Mittel, die Moͤglichkeit willkuͤhr-
lich zuſammengeſetzter Begriffe zu pruͤfen, iſt, wenn
man den Beweis davon oder von deſſen Unmoͤglich-
keit ſucht. Hiezu dient die Entwickelung der
Merkmaale. Denn iſt in dem Begriffe etwas wi-
derſprechendes, ſo iſt klar, daß ſolche Merkmaale
darinn ſeyn muͤſſen, die beyſammen nicht beſtehen
koͤnnen, oder da folglich das eine verneint, was das
andre bejaht. Ein rundes Viereck iſt deswegen un-
moͤglich, weil in einem Cirkel alle Punkte des Um-
kraiſes von dem Mittelpunkt gleich abſtehen, in dem
Vierecke aber nicht.
§. 68.
Dieſer Beweis geht aber nur an, wenn der Be-
griff unmoͤglich iſt, und eben ſo wird man ſeine Un-
moͤglichkeit finden, wenn man ſolche Folgen daraus
zieht, die der Erfahrung oder andern bereits bekann-
ten Wahrheiten widerſprechen. Soll aber die Moͤg-
lichkeit directe erwieſen werden, ſo muß man ent-
weder zu beweiſen ſuchen, wie die Sache welche der
Begriff vorſtellt, entſtehen koͤnne, oder man muß
den Beweis dahin leiten, daß man zeigt, eine Er-
fahrung oder eine bereits bekannte Wahrheit wuͤrde
falſch ſeyn, wenn der willkuͤhrlich zuſammengeſetzte
Begriff nicht wahr waͤre. Wir koͤnnen hier gelegent-
lich und als eben ſo viele Beyſpiele anmerken, daß
alle Hypotheſen, und beſonders in der Naturlehre,
wo ſie haͤufiger vorkommen, ſolche willkuͤhrliche Be-
griffe
[45]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
griffe ſind, und demnach auf die eine oder andre von
dieſen Arten muͤſſen erwieſen werden. Denn wenn
ſich gleich aus einem ſolchen Begriffe viele wahre Saͤ-
tze herleiten laſſen, ſo iſt dieſes dennoch nur, in ſo
ferne in der Zuſammenſetzung deſſelben eine Moͤglich-
keit theilsweiſe ſtatt findet. Ob ſie ſich aber auf den
ganzen Begriff erſtrecke, wird dadurch nicht erwieſen.
§. 69.
Laͤßt ſich aber ein willkuͤhrlich zuſammengeſetzter
Begriff erweiſen, ſo koͤmmt auch hier wiederum eben
das vor was wir in Anſehung der Erfahrung (§. 65.)
erinnert haben. Man kann eben ſo wohl auch bey dem
Beweiſe anfangen, und dadurch auf den zuſammen-
geſetzten Begriff geleitet werden, ohne daß etwas
willkuͤhrliches damit unterlaufe Es koͤmmt hiebey
nur auf die Anlaͤſſe an, und es iſt allerdings natuͤr-
licher, wenn man durch den Beweis auf den Be-
griff geleitet wird, als wenn man dieſen willkuͤhrlich
erdichtete und erſt nachgehends ſuchte, ob er ſich be-
weiſen laſſe?
§. 70.
Es giebt verſchiedene Wege, wodurch man mit
einem male einen zuſammengeſetzten Begriff und ſeinen
Beweis findet, und dieſe Wege ſind deſto vortheil-
hafter, weil ſie auch da noch dienen, wo man ent-
weder nur den willkuͤhrlich zuſammengeſetzten Begriff,
oder nur noch den Beweis hat. Denn im erſten Fall
dienen ſie zu Erfindungen des Beweiſes, im andern
aber zeigen ſie, wie man ſich des Beweiſes bedienen
ſolle, um den Begriff, der daraus folgt oder darinn
noch verborgen liegt, heraus zu bringen.
§. 71.
[46]I. Hauptſtuͤck,
§. 71.
Der erſte dieſer Wege iſt demjenigen, wo man
durchs Abſtrahiren Begriffe findet, ganz aͤhnlich.
Denn bey dem Abſtrahiren bemerkt man ſchlechthin,
was allgemeines in der Sache iſt, und faßt es in ei-
nen Begriff zuſammen. Hier aber iſt ſtatt des Be-
merkens ein Beweis. Denn die Merkmaale, die
man in einer Sache findet, ſind immer darinn bey-
ſammen, es ſey, daß man ſie ſchlechthin darinn be-
merke, oder daß man ſie durch einen Beweis heraus-
bringen muͤſſe. Der Unterſchied beſteht nur darinn,
daß man durch Beweiſe auch ſolche Merkmaale her-
ausbringen kann, die ſich ſchwerlich oder gar nicht
wuͤrden bemerken laſſen, weil ſie nicht unter die Sin-
nen fallen. So z. E. hat man nicht geſehen oder
empfunden, daß die Luft durch ihre Schwere das
Queckſilber im Barometer in der Hoͤhe erhalte. Der
Begriff eines Barometers iſt demnach durch Schluͤſſe
herausgebracht worden, ungeachtet der erſte Anlaß ei-
ne Erfahrung war.
§. 72.
Das Verfahren bey Erfindung zuſammengeſetz-
ter Begriffe durch Schluͤße koͤmmt demnach darauf
an. Wenn man naͤmlich von einer Sache viele Ei-
genſchaften herausgebracht hat, ſo iſt unſtreitig, daß
ſie beyſammen ſeyn koͤnnen. Findet man nun, daß
ſie zuſammen genommen einen Begriff von gewiſſer
Erheblichkeit ausmachen, der naͤmlich verdient, be-
ſonders genommen zu werden, ſo thut man es, und
benennt ihn mit einem ſchicklichen Namen, der ge-
woͤhnlich von den Theilen der Sache, von ihrer Ab-
ſicht, Gebrauch ꝛc. hergenommen wird, wie bey dem
erſtangefuͤhrten Fall des Barometers. Zuweilen fin-
det
[47]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
det man, daß der Begriff bereits ſchon einen Namen
hat, oder daß eine hoͤhere Gattung von demſelben
bekannt iſt. Jm erſten Falle iſt nur die Bemerkung
neu, daß der Begriff auch der Sache zukomme,
aus welcher man ihn gefolgert hat, wie z. E. da man
gefunden, daß die Erde eine Kugel, oder genauer
betrachtet, eine Sphaͤroide ſey, oder daß ſie unter
die Planeten gehoͤre. Denn es iſt klar, daß dieſe
Begriffe endlich aus der Zuſammenfaſſung vieler ein-
zelnen Merkmaale erwachſen, die man von der Erde
durch Schluͤſſe herausgebracht hat; aber der Begriff
einer Kugel oder Sphaͤroide war an ſich betrachtet
ſchon bekannt, und eben ſo auch der Begriff eines
Planeten.
§. 73.
Die eigenen Merkmaale eines Begriffes thun hie-
bey ſehr gute Dienſte, weil man, ſo bald man ſie in
einer Sache findet, ſo gleich auf den ganzen Begriff
einen Schluß machen kann. So z. E. hatte man
vorzeiten aus dem runden Schatten der Erde her-
geleitet, daß ſie nothwendig eine Kugel ſeyn muͤſſe,
und damit war die ganze mathematiſche Geographie
ſo gut als erfunden.
§. 74.
Der andre Weg iſt dem erſten entgegengeſetzt.
Denn wenn man eine Eigenſchaft von ſehr vielen
Sachen erweiſen kann, ſo werden dieſe ſaͤmmtlich in
eine Klaſſe zuſammen genommen, und ihre Unter-
ſchiede geben Anlaß, ſie in Arten einzutheilen, wo-
durch Licht und Ordnung uͤber die Gemeinſchaft, die
ſie mit einander haben, ausgebreitet wird.
§. 75.
[48]I. Hauptſtuͤck,
§. 75.
Der dritte Weg beſteht ſchlechthin darinn, daß
wenn man eine Eigenſchaft findet, die einigen Indi-
viduis einer Gattung zukoͤmmt, dieſe Eigenſchaft dem
Begriff der Gattung als eine Beſtimmung beygelegt
werde. Man erlangt dadurch den Begriff einer be-
ſondern Art, ſo unter die Gattung gehoͤrt. Die
Eintheilung der Menſchen in unzaͤhligen Abſichten
ſind nichts anders als ſolche Beſtimmungen, und die
meiſten Eintheilungen in den Wiſſenſchaften ſind auf
dieſe Art herausgebracht worden. Bey allen unvoll-
ſtaͤndigen Abzaͤhlungen der Arten einer Gattung laͤßt
man es noch bey dieſem Mittel, neue Arten zu fin-
den, bewenden; ſo lange das Mittel noch fehlt, ſie
alle zu beſtimmen.
§. 76.
Es giebt ferner allgemeine Saͤtze, die uns anzei-
gen, daß noch in ſehr vielen Faͤllen Begriffe von Arten
und die Sachen ſelbſt koͤnnen gefunden werden. So hat
man z. E. den Begriff einer Maſchine ſo allgemein
gemacht, daß man dazu weiter nichts als eine beſtaͤn-
dig gleiche oder nach einerley Geſetzen wiederkehrende
Bewegung dazu erfordert. Und hieraus folgert man,
daß wo eine ſolche Bewegung vorkomme, auch eine
Maſchine angebracht werden koͤnne. Da nun noch
lange nicht alle Faͤlle vorgekommen, oder bemerkt
worden ſind, wo ſich dergleichen Bewegungen finden
oder finden koͤnnen, ſo giebt dieſer Satz Anlaß, bey
jedesmaliger Bemerkung dieſer Faͤlle auf den Begriff
zu fallen, daß eine Maſchine dabey moͤglich ſey. So
z. E. wuͤrde man mit einer vollſtaͤndigen Schreib-
Maſchine bald fertig ſeyn, ſo bald man eine Ma-
terie haͤtte, die ſich durch jeden verſchiedenen Schall
der
[49]von den Begriffen und Erklaͤrungen.
der Woͤrter und Buchſtaben auf eine verſchiedene Art
in Bewegung ſetzte, oder ſich zu dieſer Verſchieden-
heit zurichten ließe. Die bisherigen ſo man etwann
oͤffentlich zum Schauen herumtraͤgt, ſind an gewiſſe
Woͤrter gebunden. Der Begriff eines wahren Pho-
tometers oder Lichtmeſſers laͤßt ſich auf aͤhnliche
Bedingungen ſetzen, und zwar um deſto mehr, weil
wir an dem Augenſtern ein Vorbild deſſelben haben,
indem ſich ſeine Oeffnung nach der Staͤrke des Lich-
tes richtet. Die erſt in dieſem Jahrhundert erfun-
dene Dreſchmaſchine hat ihren Urſprung dem hier
angefuͤhrten Satze zu danken, und noch dermalen
beſchaͤfftigt man ſich mit Erfindung und Ausbeſſerung
einer Saͤmaſchine ꝛc.
§. 77.
Ein ander Beyſpiel zu der im vorigen Abſatze
gemachten Anmerkung giebt uns der allgemeine Be-
griff der Wiſſenſchaft, wovon noch lange nicht alle
Theile gefunden ſind. Es koͤmmt auch hier nur dar-
auf an, daß man bemerke, ein gewiſſes Syſtem von
Wahrheiten gehoͤre unter einen Hauptbegriff zuſam-
men, ſo macht man dieſen zum Lehrbegriff, und be-
reichert die Wiſſenſchaften um einen Theil. Auf dieſe
Art iſt die Aerometrie, Artillerie, Pyrotechnie, For-
tifikation in den neuern Zeiten zu den mathematiſchen
Wiſſenſchaften hinzugekommen, und die Metaphyſik
durch die Chronologie bereichert worden.
§. 78.
Das Allgemeine der hier durch Beyſpiele erlaͤu-
terten Regel beſteht darinn. Wenn der Begriff ei-
ner Gattung nach richtigen Gruͤnden allgemeiner ge-
macht worden, als die bisher bekannten Arten deſ-
ſelben, oder wenn man, ohne alle Arten bereits zu
Lamb. Org. I. Band. Dwiſſen,
[50]II. Hauptſtuͤck,
wiſſen, den Begriff der Gattung aus den verſchie-
denſten der bekannten Arten hergeleitet hat, ſo wer-
den die eigenen Merkmaale der Gattung zum Kenn-
zeichen gemacht, woran ſich in jeden Faͤllen erkennen
laͤßt, ob eine vorkommende Sache unter dieſe Gat-
tung gehoͤre? Dieſes Mittel geht unſtreitig immer
an, ſo lange noch nicht alle Arten oder Theile des
Begriffes der Gattung bekannt ſind. Wir merken
nur an, daß wenn die Arten fuͤr ſich ſchon exiſtiren,
es in dieſen Faͤllen faſt bey dem bloßen Bemerken
bleibt, es ſey denn, daß ſich die neuentdeckten Arten
gut gebrauchen laſſen, oder daß ihre eigenen Merk-
maale eine beſondere Unterſuchung fordern. Wenn
aber die Arten, ſo man findet, erſt noch muͤſſen zur
Exiſtenz gebracht werden, wie in den vorigen Bey-
ſpielen von den Maſchinen und Wiſſenſchaften, ſo
hat die Entdeckung der neuen Art mehr auf ſich, weil
die Frage dabey vorkoͤmmt, dieſelbe zu Stande zu
bringen. Man ſieht hieraus, daß man in den Wiſ-
ſenſchaften allerdings auf ſolche Kennzeichen zu ſehen
hat, ſo oft man noch nicht alle Arten weis.
Zweytes Hauptſtuͤck.
Von den Eintheilungen.
§. 79.
Wir haben im vorhergehenden Hauptſtuͤcke die
Begriffe betrachtet, in ſo ferne ihre innere
Merkmaale entwickelt, ihr Umfang beſtimmt, ihre Er-
klaͤrung ſowohl durch ihre Merkmaale, als auch durch ih-
re Verhaͤltniſſe gefunden, und aus ihrer Zuſammenſe-
tzung neue Begriffe gebildet werden koͤnnen. Bey dieſer
letzten Unterſuchung blieben wir noch ſo weit zuruͤck, daß
wir
[51]von den Eintheilungen.
wir theils nur angaben, wie man willkuͤhrlich zuſammen-
geſetzte Begriffe pruͤfen, oder durch einige beſondere We-
ge mit einem male ſowohl den zuſammengeſetzten Be-
griff als ſeinen Beweis finden koͤnne. Wir haben dem-
nach noch die allgemeine Betrachtung der zuſammen-
geſetzten Begriffe vorzunehmen, und da dieſe immer
als Arten eines allgemeinern Begriffes koͤnnen angeſe-
hen werden, ſo bleibt uns noch genauer zu unterſu-
chen, wie die Arten von der Gattung unterſchieden
ſind, und wie ferne aus dem Begriffe der Gattung
die Begriffe der Arten koͤnnen gefunden werden. Die-
ſes Verfahren iſt demjenigen, da man aus den Be-
griffen der Arten den Begriff der Gattung findet,
entgegengeſetzt, aber ungleich ſchwerer, weil man
bey dem letztern alle Data vor ſich hat, und daher
nur beſtimmen darf, welche Merkmaale der Arten
ſollen weggelaſſen werden. Da es diejenigen ſind,
die nicht allen Arten zukommen, ſo beruht die ganze
Sache nur auf einer genauen Vergleichung der Arten
unter ſich, und, wenn man es kuͤrzer machen will,
nur der zwoen verſchiedenſten. (§. 42) Hier aber,
wo man nichts als den Begriff der Gattung vor ſich
hat, muͤſſen die Beſtimmungen, die er leidet, gefun-
den und abgezaͤhlt werden, damit man alle Arten
bekomme.
§. 80.
Dieſe Beſtimmung der Arten einer Gattung nennt
man die Eintheilung einer Gattung in ihre
Arten. Man koͤnnte ſie ſchlechthin die Eintheilung
eines Begriffes nennen, wenn das Wort Eintheilung
nicht eine allgemeinere Bedeutung haͤtte. Es bezieht ſich
auf jedes Ganze, ſo mehrere Theile hat, dieſe Theile
moͤgen nun willkuͤhrlich, oder an ſich ſchon in dem
Ganzen ſeyn, und man moͤge die Theilung in der
D 2That
[52]II. Hauptſtuͤck,
That vornehmen, oder ſie ſich nur vorſtellen. Wir
werden aber hier anfangs nur die Gattungen und
Arten mit einander zu vergleichen vornehmen.
§. 81.
Der Begriff einer Gattung enthaͤlt ſolche Merk-
maale, die den ſaͤmmtlichen Arten gemeinſam ſind.
(§. 53.) Man hat ſie aus den Begriffen der Arten
abſtrahirt, und dabey alles weggelaſſen, was jede
Art beſonders hat. Dieſes beſondere in den Arten
beſteht nun allerdings in folgenden Stuͤcken: 1. Jn
den eigenen Merkmaalen, die man folglich ganz
weglaͤßt. 2. Jn den beſondern Beſtimmungen
der gemeinſamen Merkmaale, und dieſe kommen
vor, ſo oft man die gemeinſamen Merkmaale ebenfalls
aus vielen Nebenbeſtimmungen abſtrahiren muß. 3.
Jn den Verhaͤltniſſen, ſo die gemeinſamen Merk-
maale mit den eigenen in jeder Art haben. 4.
Jn den Verhaͤltniſſen, ſo die gemeinſamen Merk-
maale unter ſich in jeder Art beſonders haben.
5. Jn den Verhaͤltniſſen gegen andre Dinge, die
jede Art beſonders hat, ſie moͤgen nun die eigenen
oder die gemeinſamen Merkmaale, oder beyde, ganz
oder zum Theil betreffen.
§. 82.
Man ſieht hieraus, daß alle und jede Merkmaale
einer Gattung in den Arten lange nicht ſo abſtract exi-
ſtiren, als man ſie ſich in dem Begriff der Gattung
uͤberhaupt vorſtellt. Es kommen bey jedem neue
Beſtimmungen und Verhaͤltniſſe hinzu, welche auf ſehr
vielerley Arten combinirt werden koͤnnen, und nichts
zu beſtimmen uͤbrig laſſen muͤſſen, wenn ein Indiui-
duum heraus kommen ſoll.
§. 83.
[53]von den Eintheilungen.
§. 83.
Um dieſe oͤfters ſehr große Vielfaͤltigkeit ohne
Verwirrung zu betrachten, werden wir ein Merk-
maal der Gattung anfaͤnglich allein vornehmen. Al-
lein betrachtet kann es unſtreitig vielerley Beſtim-
mungen leiden, und dieſe ſind entweder ſchlechthin
Grade, oder es ſind Qualitaͤten. Jn beyden
Faͤllen aber iſt nothwendig, daß keine andre Be-
ſtimmungen zuſammen genommen werden, als ſolche,
die beyſammen ſeyn koͤnnen. Die Abwechslung, die
hierinn moͤglich bleibt, legt den Grund zur Einthei-
lung, weil man dadurch ſo viele Species dieſes Merk-
maals bekoͤmmt, als Abwechslungen moͤglich ſind.
§. 84.
Hieruͤber laͤßt ſich anmerken, daß man in Anſe-
hung der Grade vornehmlich ſolche zum Grunde der
Eintheilung legt, die vor andern etwas voraus ha-
ben. So machen unter den Triangeln die rechtwink-
lichten eine vorzuͤgliche Art aus, weil ſie bey allen
uͤbrigen gute Dienſte thun. So betrachtet man in
der Mechanik die einfoͤrmige Bewegung beſonders,
weil jede Veraͤnderung auf dieſe bezogen wird.
§. 85.
Ferner ſind die Grade an ſich ſchon einander ſo
entgegengeſetzt, daß nicht mehrere zugleich in einem
Indiuiduo exiſtiren koͤnnen, weil dadurch die Ver-
haͤltniß zur Einheit voͤllig beſtimmt iſt.
§. 86.
Eben ſo laͤßt ſich anmerken, daß man, wo Gra-
de zum Grunde der Eintheilung gelegt werden, ſo viele
Klaſſen machen koͤnne, als man zu andern Abſichten
noͤthig erachtet. Die Abtheilung der Geſchichte kann
z. E. in Abſicht auf die Zeit, nach den Jahren, nach
D 3Perio-
[54]II. Hauptſtuͤck,
Perioden, nach Regierungen, nach Revolutionen ꝛc.
gemacht werden.
§. 87.
Sind die Beſtimmungen, ſo man dem Merk-
maal einer Gattung beylegt, wirkliche Qualitaͤten,
die es haben ſolle, ſo muß man hiebey wiederum ſol-
che zuſammen nehmen, die beyſammen ſeyn koͤnnen.
Und hiebey koͤmmt die Anzahl ſeiner Arten auf die
Anzahl der Abwechslungen an. Die Moͤglichkeit
und Anzahl ſolcher Abwechslungen beruht auf der
Lehre der Combination und Permutation. Jene
koͤmmt vor, wenn man die Beſtimmungen entweder
einzeln, oder zu zwey und zwey, zu drey und drey ꝛc.
nimmt. Hat man aber eine gewiſſe Zahl zuſammen
genommen, und es koͤmmt noch in der Ordnung,
wie ſie mit einander verbunden werden koͤnnen, ein
Unterſchied heraus, welcher dem Begriff eine andre
Geſtalt giebt; ſo koͤmmt die Permutation vor, wo-
durch naͤmlich die Verbindung und Ordnung der
Merkmaale auf alle moͤgliche Arten abgewechſelt
wird, z. E. wenn man die zuerſt nimmt, die einen
groͤßern oder kleinern Grad haben. Man wird in
den ſo gar verſchiedenen Eintheilungen der Menſchen,
in Anſehung ihrer Faͤhigkeiten oder aͤuſſerlichen Um-
ſtaͤnde haͤufige Beyſpiele von ſolchen Combinatio-
nen finden, und die Verſchiedenheit der Ordnung,
nach welcher viele durch einerley Veraͤnderungen ge-
hen, wird Beyſpiele von Permutationen angeben.
§. 88.
Die Arten, welche man durch abgewechſelte Be-
ſtimmungen eines Merkmaals findet, muͤſſen einan-
der ſo entgegen geſetzt ſeyn, daß die eine Beſtimmung
die uͤbrigen ausſchließe. Z. E. Man habe zu dem
Merkmaale A die zwo Beſtimmungen B, C, ſo wird
man, uͤberhaupt betrachtet, vier Faͤlle haben. Denn
A iſt
[55]von den Eintheilungen.
A iſt entweder B, oder C, oder beydes, oder keines.
Letzteres hat ſtatt, wenn A nicht unter die gemeinſa-
men Merkmaale des B und C gehoͤrt. Denn da
koͤmmt die Frage, ob es B, oder C, oder beydes ſey,
gar nicht vor. Z. E. Ein Zirkel iſt entweder ein
gleichſeitiger oder ungleichſeitiger Triangel. Dies iſt
ungereimt, weil ein Zirkel weder ein Triangel iſt,
noch der Begriff von Seiten dabey vorkoͤmmt. Der
zweyte Fall, daß naͤmlich A zugleich B und C ſey,
faͤllt weg, wenn B und C einander ausſchließen, oder
folglich nicht beyſammen ſeyn koͤnnen. Demnach muͤſ-
ſen dieſe zween Faͤlle an ſich ſchon ausgeſchloſſen ſeyn,
wenn man ſolle ſagen koͤnnen: A iſt entweder B oder
C, Wo dieſes nicht iſt, ſo hat entweder der dritte,
oder der vierte, oder alle vier Faͤlle ſtatt. Wir muͤſ-
ſen noch anmerken, daß A hier als eine Gattung vor-
koͤmmt, und folglich ihre Arten ſich ſo theilen, daß
einige B, andre C, noch andre B und C, und die
uͤbrigen weder B noch C ſind, ſo bald alle vier Faͤlle
ſtatt finden. Wenn aber einer oder zween derſelben
nicht ſtatt finden, ſo vertheilen ſich die Arten in die
uͤbrigen. Z. E. Einige A ſind B, die uͤbrigen C.
§. 89.
Hat man zu dem Merkmaal A nur eine Beſtim-
mung B, und man weis, daß noch eine oder mehr
andre ſeyn koͤnnen, ſo laͤßt es ſich allerdings in die
Arten eintheilen, welche B ſind, und in die, welche
nicht B ſind. Hiebey bleibt nun unbeſtimmt, ob dieſe
letztere Klaſſe nur eine oder mehrere Arten vorſtellt,
und wie weit ſie reiche. Man hat daher eingefuͤhrt,
daß man ſolche Begriffe, die nur ausſchließungsweiſe
beſtimmt ſind, mit Worten ausgedruͤckt terminos
infinitos nennet. Jn Abſicht auf die Eintheilungen
muͤſſen wir noch erinnern, daß ſo wohl B als nicht—B
D 4wirkli-
[56]II. Hauptſtuͤck,
wirkliche Arten ſeyn muͤſſen. So wuͤrde man unge-
reimt die Triangel in ſolche eintheilen, die drey Sei-
ten haben, und in ſolche, die nicht drey Seiten
haben. Denn da jeder Triangel nothwendig drey
Seiten hat, und eben deswegen ein Triangel iſt, ſo
hat dieſe Eintheilung gar nicht ſtatt. Man kann da-
her nicht alle Saͤtze, da man ſagt, A iſt entweder B
oder nicht B, als Eintheilungen anſehen. Denn
eine Eintheilung fordert, daß beydes ſey, oder ſeyn
koͤnne. Naͤmlich einige A, und zwar nur einige muͤſ-
ſen wirklich B, die uͤbrigen nicht B ſeyn.
§. 90.
Laßt uns nun das auf eine von vorbemeldten Ar-
ten eingetheilte oder beſtimmte Merkmaal mit dem
Begriffe der Gattung vergleichen, um zu ſehen, wie
ferne ſich dieſe eben ſo eintheilen laſſe. Jn dieſer Ab-
ſicht iſt das Merkmaal entweder der Gattung eigen,
oder es gehoͤrt zu einer hoͤhern Gattung, und in bey-
den Faͤllen iſt es entweder ein inneres Merkmaal oder
ein Verhaͤltnißbegriff. Wenn es der Gattung eigen
iſt, ſo laͤßt ſich dieſe eben ſo eintheilen. Denn da es
nach dieſer Vorausſetzung ſonſt nirgends vorkoͤmmt,
ſo koͤmmt die Frage, was es in andern Faͤllen fuͤr
Beſtimmungen haben wuͤrde, gar nicht vor. Daher
iſt es auch keiner Beſtimmungen faͤhig, deren nicht
auch der Begriff der Gattung faͤhig waͤre. Jſt hin-
gegen das Merkmaal dem Begriffe der Gattung nicht
eigen, ſo gehoͤrt es zu einer hoͤhern Gattung, und
leidet daher auch mehrere Beſtimmungen, naͤmlich
alle die, ſo es in den andern Gattungen hat, welche
unter dieſe hoͤhere Gattung gehoͤren. Jn dieſen Faͤl-
len muß man daher aus andern Gruͤnden finden, wie
ferne die Beſtimmungen einer hoͤhern Gattung der
vorhabenden Gattung zukommen.
§. 91.
[57]von den Eintheilungen.
§. 91.
Ferner haben wir anzumerken, daß ſolche Be-
ſtimmungen eines Merkmaals zugleich auch die von
andern nach ſich ziehe, in ſo ferne naͤmlich dieſe durch
daſſelbe beſtimmt werden. Z. E. Ein Triangel wird
durch drey Seiten beſtimmt, und ſind dieſe gegeben,
ſo bleibt in Abſicht auf die Winkel keine Wahl mehr,
obgleich ſie an ſich eintheilbar ſind.
§. 92.
Ungeachtet ſich demnach jedes Merkmaal eines Be-
griffes allein betrachtet, auf viele Arten beſtimmen
laͤßt, ſo folgt noch nicht daraus, daß jede Beſtim-
mung des einen mit jeder Beſtimmung des andern
beyſammen ſtehen koͤnne. Man muß daher aus ih-
rer naͤhern Unterſuchung finden, wie ferne dieſe Zu-
ſammenſetzung moͤglich bleibt, und welche hingegen
wegfallen. Die moͤglichen geben ſodann die beſondern
Arten ab, welche man zu finden hatte.
§. 93.
Ferner koͤnnen wir anmerken, daß da in einem
jeden Merkmaale nur eine Beſtimmung auf einmal
ſeyn kann, (§. 85. 88.) ſo exiſtirt in jedem Indiuiduo
auch unter allen Combinationen der Beſtimmungen
jeder Merkmaale nur eine; und die vollſtaͤndige Be-
ſtimmung der Merkmaale und Verhaͤltniſſe iſt es
eben, was die Sache individual macht. (§. 82.)
§. 94.
Die naͤchſte Folge, die wir hieraus ziehen koͤn-
nen, iſt, daß, wenn man einen allgemeinen Begriff
in zwo oder mehrere Arten eintheilt, der Reichthum
ſeiner Arten dadurch noch lange nicht erſchoͤpft ſey.
Denn man wird immer finden, daß eine Eintheilung
nicht den ganzen Begriff, ſondern nur eines ſeiner
Merkmaale oder Verhaͤltniſſe betrifft, und folglich
D 5jede
[58]II. Hauptſtuͤck,
jede andre Merkmaale und Verhaͤltniſſe neue Ein-
theilungen zulaſſen, durch deren Combination man
endlich den einzelnen Arten und Indiuiduis naͤher
koͤmmt. Solche einzelne Eintheilungen nennt man
Eintheilungen in gewiſſen Abſichten, und die
Abſicht iſt jedesmal ein Merkmaal oder ein Verhaͤlt-
niß des Begriffes. Z. E. Wir werden im folgenden
ſehen, daß der Begriff eines Urtheilo in mehrere
Abſichten eingetheilt werde. Sie ſind allgemein
oder partikular, bejahend oder verneinend, bedingt
oder ausdruͤcklich, theoretiſch oder praktiſch, wahr oder
falſch, gewiß oder ungewiß, bekannt oder unbekannt
ꝛc. Von dieſen Eintheilungen gruͤnden ſich die bey-
den letztern auf Verhaͤltniſſe, die uͤbrigen gehen das
Urtheil und ſeine Beſchaffenheit an ſich betrachtet
und ſeine Verhaͤltniſſe gegen die Sache ſelbſt an.
§. 95.
Wir koͤnnen die Verhaͤltniſſe, in deren Abſicht
ein Begriff eingetheilt werden kann, uͤberhaupt in
ſolche eintheilen, durch deren Verwechslung an der
Sache ſelbſt etwas geaͤndert wird, und in ſolche, deren
Verwechslung die Sache an ſich ungeaͤndert laͤßt. Erſte-
re werden wir reale, letztere aber ideale Verhaͤltniſſe
nennen. Die idealen kommen auch bey Dingen vor, die
eine nothwendige Unveraͤnderlichkeit haben, und geben
daher Eintheilungen davon. Hieher gehoͤren die meiſten
logiſchen Begriffe. Z. E. Ob mir eine Sache bekannt
ſey oder unbekannt, ob ſie mit einer andern Sache
einerley, oder aͤhnlich, oder verſchieden ſey, ob
man ſie als eine Art oder Gattung anſehen ſolle ꝛc.
Dieſes ſind alles Vorſtellungen und Vergleichungen, die
die Sache ſeyn laſſen, wie ſie iſt, ungeachtet man aller-
dings ſolchen Vorſtellungen zu gefallen an der Sache aͤn-
dern kann, wie man z. E. in der Chymie, um ſich die Na-
tur der Metalle, Mineralien, Kraͤuter ꝛc. bekannter zu
machen,
[59]von den Eintheilungen.
machen, dieſelben auf tauſend Proben ſetzt, und ſie
durch tauſend Veraͤnderungen durchfuͤhrt. Die rea-
len Verhaͤltniſſe gruͤnden ſich auf Urſachen und
Wirkungen, und auf die Kraͤfte, womit die
Theile der Sache unter ſich und mit andern Sachen
verbunden ſind. Jhre Aenderung zieht daher
zugleich eine Aenderung in der Sache ſelbſt nach ſich.
§. 96.
Wir machen hier dieſen Unterſchied zwiſchen den
Verhaͤltniſſen, weil man bey Eintheilung der Gat-
tungen und Arten die idealen Verhaͤltniſſe weglaſſen
kann, um die Anzahl der Eintheilungen nicht ohne
Noth durch ſolche zu vermehren, die an der Sache
ſelbſt nichts aͤndern, und wo man ſie nicht zum Haupt-
Gegenſtande der Unterſuchung macht.
§. 97.
Wenn unter den vielen Abſichten, in welche der
Begriff einer Gattung eingetheilt werden kann, eine
vorkoͤmmt, die vor den uͤbrigen beſonders betrachtet
zu werden verdient, oder die man aus beſondern
Gruͤnden genauer unterſuchen will; ſo werden die
Eintheilungen in jeden andern Abſichten auf dieſe be-
zogen. Wir wollen den Erfolg davon aufzuklaͤren
ſuchen. Der Begriff der Gattung ſey A. Er wer-
de in einer vorgenommenen Abſicht in B und C einge-
theilt, ſo daß einige A, B, die uͤbrigen C ſeyn. Man
ſetzte ferner, der Begriff A werde in einer beliebigen
andern Abſicht in M und N eingetheilt, ſo, daß eini-
ge A, M, die uͤbrigen N ſeyn. Es ſind demnach ſo
wohl B, C, als M, N, Arten von A, aber in verſchie-
denen Abſichten betrachtet. Man ſetze ſich nun vor,
die Art B ſo zu unterſuchen, daß man jede von ihren
Eigenſchaften und Beſtimmungen finden wolle, ſo
laſſen ſich die Arten M, N mit B vergleichen, und da
giebt es folgende Faͤlle:
1. Ent-
[60]II. Hauptſtuͤck,
- 1. Entweder man findet, alle B ſeyn M, ſo iſt
nothwendig kein B, N. Denn durch die
Natur der Eintheilung koͤnnen M und N
nicht beyſammen ſeyn. - 2. Oder man findet, kein B iſt M, ſo ſind alle B,
N. Denn da durch die Natur der Einthei-
lung M und N zuſammen den ganzen Begriff
A erſchoͤpfen, in deſſen Umfang B gehoͤrt: B
aber nicht unter denen A iſt, die M ſind; ſo
muß es nothwendig unter denen ſeyn, die
N ſind. - 3. Oder man findet, daß nur etliche B, M ſind, ſo
ſind die uͤbrigen B, N, weil die B ſaͤmmtlich
unter M oder N ſeyn muͤſſen. Jn dieſem
Fall leidet B eben die Eintheilung in M und
N, die der Begriff der Gattung A leidet, wor-
unter B gehoͤrt.
§. 98.
Fuͤr die andre Art C laſſen ſich aͤhnliche Folgen
ziehen, wenn man ſie, eben ſo wie B, beſonders mit
M und N vergleicht. Wir merken nur an, daß dieſe
beſondere Vergleichung nothwendig iſt, weil ſich aus
dem, ſo man fuͤr B gefunden, kein Schluß auf C ma-
chen laͤßt. Denn
- 1. Findet man gleich, daß alle B, M ſind, und
folglich kein B unter N gehoͤre, ſo laͤßt ſich
daraus nicht folgern, daß alle C, N ſeyn
muͤſſen. Dieſes geht nur an, wenn man zeigt,
daß ſich M nicht weiter als auf die A aus-
dehne, die B ſind. Denn in dieſem Fall hat
auch C nothwendig gleichen Umfang mit N. - 2. Eben ſo, wenn man findet, daß kein B, M ſey,
ſo folgt nur daraus, daß alle B, N ſeyn. Man
kann aber gleichfalls daraus keinen Schluß
machen,
[61]von den Eintheilungen.
machen, daß alle C, M ſeyn muͤſſen, bis man
zeigt, daß B und N von gleichem Umfange
ſeyn. - 3. Findet man, daß nur etliche B, M ſeyn, ſo iſt
gleichfalls moͤglich, daß dieſe etliche B den
ganzen Umfang von M ausfuͤllen, und in
dieſem Falle wird es angehen, daß alle C, N
ſeyn. Aber erſteres muß zuvor bewieſen wer-
den, ſonſten bleibt es unbeſtimmt, wie ſich C
gegen M und N verhalte, und ob es ganz,
oder zum Theil oder gar nicht unter N oder
M gehoͤre.
§. 99.
Wir haben dieſe Betrachtung nur durch den Fall
erlaͤutert, wo A in beyden Abſichten in zwo Arten
eingetheilt wird. Sind aber mehrere Arten, ſo giebt
es in der Vergleichung auch mehr Faͤlle, und es koͤn-
nen mehr Vermiſchungen vorkommen. Uebrigens
laſſen ſie ſich eben ſo abzaͤhlen, und es iſt gleichfalls
dabey anzumerken, daß man von der einen Einthei-
lung jede Art beſonders mit den Arten der an-
dern Eintheilung vergleichen muͤſſe. §. (96.)
Durch dieſes Verfahren gelangt man zur Kennt-
niß ſehr vieler Eigenſchaften derjenigen Art, die man
beſonders mit den Arten der Eintheilungen in andern
Abſichten vergleicht, zumal, wenn man alle moͤgliche
Abſichten aufſucht, in welchen ſich der Begriff der
Gattung eintheilen laͤßt. Jnsbeſondere aber kann
man dieſes als ein Mittel anſehen, poſitive Eigen-
ſchaften einer Art zu finden, von welcher man nur
weis, was ſie nicht iſt, oder wovon man nur eine
verneinende Erklaͤrung hat (§. 57.) Hiervon findet ſich
ein Beyſpiel in dem zweyten Theile der deutſchen Wolfi-
ſchen
[62]II. Hauptſtuͤck,
ſchen Metaphyſik (§. 36. l. c.) wo zugleich auch die
Methode angezeigt wird, die wir hier allgemeiner und
aus ihren Gruͤnden ausgefuͤhrt haben.
§. 100.
Wir haben noch genauer zu unterſuchen, woher
die Eintheilungen eines Begriffes in Arten moͤglich
ſind, und wieferne ſie theils von der Sache ſelbſt,
theils von dem willkuͤhrlichen der Sprache abhaͤngen?
Zu dieſem Ende werden wir anfangs nur eine Ein-
theilung vort zweyen Gliedern oder Arten vornehmen.
Es ſeyn demnach B und C die zwo Arten von A, ſo
gelten folgende Saͤtze:
- 1. Etliche A ſind B, die uͤbrigen C.
- 2. Kein A iſt weder B noch C.
- 3. Kein A iſt B und C zugleich.
- 4. Kein B iſt C, und hinwiederum: Kein C iſt B.
- 5. Die A, welche B ſind, ſind nicht die, welche C
ſind, noch dieſe jene.
§. 101.
Dieſe Saͤtze gruͤnden ſich auf die Natur der Ein-
theilung, und laſſen ſich leicht daraus herleiten. Man
fuͤgt gemeiniglich noch bey, daß die Arten B und C von
nicht gar zu ungleichem Umfange ſeyn ſollen. Allein
dieſe Forderung ſetzt voraus, daß bey der Einthei-
lung etwas willkuͤhrliches ſey, und folglich eine Aus-
wahl bleibe. Wo dieſe aber nicht iſt, da kann eine
ſolche Forderung allerdings nicht angehen, weil man
die Arten nehmen muß, wie ſie ſind. So z. E. wird
bey der Eintheilung der Steine in verſchiedenen Ab-
ſichten, der Magnet, in ſo fern er in das Steinreich
gehoͤrt, eine ganz beſondre und nicht weiter ausdehn-
bare Art ausmachen. Eben dieſes koͤmmt auch noth-
wendig vor, wenn die Eintheilung den Graden nach
gemacht wird, weil jeder Grad, den man beſtimmt,
unzaͤh-
[63]von den Eintheilungen.
unzaͤhlige uͤber und unter ſich hat. So ſind bey den
Kegelſchnitten unzaͤhlig mal mehr Ellipſe und Hy-
perbeln als Parabeln und Zirkel moͤglich, weil letztere
nur von einer erſtern, aber von zwoen Beſtimmungen
abhaͤngen.
§. 102.
Wir bleiben demnach bey den angefuͤhrten Saͤtzen,
welche uns die Natur einer zweygliedrigen Einthei-
lung angeben, weil ſie nothwendig ſtatt finden, ſobald
die Eintheilung richtig iſt. Unter dieſen Saͤtzen wer-
den die drey letzten nothwendig erhalten, wenn ſo
wohl B als C eigene Merkmaale haben, oder wenn C
eine bloße Negation von B iſt. Denn auf dieſe Art
kann weder B dem C, noch C dem B zukommen. Die
beyden erſten Saͤtze werden erhalten, wenn B und C
alle Indiuidua begreifen, die unter A gehoͤren. Um
ſich hievon zu verſichern, muß man entweder die In-
diuidua, die unter A gehoͤren, abzaͤhlen, um zu
ſehen, ob ſie alle zu B oder C gerechnet werden koͤnnen,
oder man muß von B und C die gemeinſamen Merk-
maale abſtrahiren, und unterſuchen, ob ſie mit A
von gleichem Umfange und Ausdehnung ſind. Hat
man dieſes gefunden, ſo muß man ferner ſehen, ob
dieſe gemeinſamen Merkmaale keine andre Beſtim-
mungen leiden, als die, ſo ſie in B und in C haben. Denn
leiden ſie noch andre, ſo giebt es außer B und C
noch mehrere Arten, die zu A gehoͤren.
§. 103.
Hier faͤngt nun das willkuͤhrliche in den Worten,
und theils auch in dem Umfange unſrer Begriffe an,
von dem nothwendigen abzugehen, und es wird ſchwer
ſeyn, die Graͤnzlinie zwiſchen beyden genau zu be-
zeichnen. Unſre allgemeine Begriffe haben allerdings
einen gewiſſen Umfang, und bey einigen laͤßt ſichs deut-
lich
[64]II. Hauptſtuͤck,
lich erweiſen, daß dieſer Umfang ſeine wahre Ausdeh-
nung habe, und durch die Natur der Sache ſelbſten
beſtimmt ſey. Hingegen haben wir auch die Wahl,
eine beliebige Anzahl von Indiuiduis oder von Eigen-
ſchaften zuſammen zu nehmen, und aus dem was ſie
noch gemeinſam haben, einen allgemeinen Begriff zu
machen, oder, wenn wir verſchiedene Merkmaale in
einem Dinge beyſammen finden, ſo bleibt uns die
Wahl, ſie einzeln, oder zu zwey und zwey, zu drey und
drey ꝛc. combinirt, oder in Anſehung ihrer verſchie-
denen Ordnung und Verbindung permutirt, uns als
Begriffe vorzuſtellen. Da dieſe Verbindung und
Verwechslung ſolcher Merkmaale moͤglich iſt, und
auch wieferne ſie erwieſen werden kann, ſo iſt dieſes
allerdings ein Mittel, zu neuen zuſammengeſetzten
Begriffen zu gelangen. Jhr Umfang iſt auf dieſe
Art bedingt, weil er ſich auf die Natur und Verbin-
dung der Merkmaale gruͤndet, die wir zuſammen ge-
nommen haben. Allein da dieſes angeht, ſo geſchieht
es der Wahrheit ohne Nachtheil, und daher ſind
ſolche Begriffe, ſo weit ſie reichen, moͤglich und zulaͤßig,
ungeachtet die Bezeichnung ihres Umfanges willkuͤhr-
lich iſt. Dieſes willkuͤhrliche betrifft ebenfalls auch
das Wort, welches einen ſolchen Begriff anzeigt,
weil das Wort und der Begriff von gleichem Um-
fange ſeyn ſollen. Wir merken hier nur kuͤrzlich an,
daß da die Worte einer Sprache nicht zureichen, ſo
viele und auf ſo vielerley Arten combinirte und per-
mutirte Begriffe einzeln vorzuſtellen, hierinn aller-
dings Luͤcken bleiben. Man hat ſich daher weniger zu
verwundern, wenn es mit vollſtaͤndiger Ausfindung
jeder Arten einer Gattung nicht immer ſo leicht zu-
geht. Was in Anſehung der Sprache beſonders
hieruͤber anzumerken, werden wir in die Semiſtik
verſchieben.
§. 104.
[65]von den Eintheilungen.
§. 104.
Wir kehren daher wiederum zu den Sachen ſelbſt,
und den Begriffen zuruͤck, um die Faͤlle aufzuſuchen,
wo die Eintheilung in der Sache ſelbſt ſchon da iſt,
oder aus dem bezeichneten Umfange des Begriffes
gefunden werden kann. Der erſte dieſer Faͤlle iſt,
wo die Sachen, ſo unter eine Art oder Gattung ge-
hoͤren, nur den Graden nach verſchieden ſind. Denn
da waͤhlt man in der Eintheilung ſolche Faͤlle, die
etwas beſonderes, z. E. leichteres, kenntlicheres, ein-
facheres ꝛc. an ſich haben. Z. E Man will eine Ein-
theilung von Sonnenuhren machen, und zwar nur
von derjenigen Gattung, welche auf eine ebene Flaͤche
gezeichnet werden, und wo der Zeiger mit der Erdachſe
parallel iſt. Hier bleibt nichts mehr zu beſtimmen
uͤbrig, als die Lage der Flaͤche, und dieſe laͤßt ſich
mit der Vertikal- und Mittagslinie vergleichen. Die
Flaͤche iſt demnach entweder gegen die Verticallinie
perpendicular oder nicht. Jm erſtern Fall iſt ihre
Lage vollkommen beſtimmt, und die Uhr wird eine
Horizontaluhr. Jm andern Fall iſt die Flaͤche mit
der Vertikallinie entweder parallel, oder ſie neigt ſich
gegen dieſelbe. Die Parallelen ſind nun in ſo weit
beſtimmt, daß ſie alle aufrecht ſtehen. Da ſie aber
gegen alle Weltgegenden gewendet ſeyn koͤnnen, ſo
nimmt man hier die vier Hauptgegenden beſonders
heraus, und hat folglich mittaͤgliche, mitternaͤchtli-
che, Morgen- und Abend- vertikale Sonnenuhren.
Die uͤbrigen Stellungen werden auf dieſe bezogen, in-
dem man beſtimmt, ob ſie von Mittag gegen Morgen,
oder gegen Abend, oder von Mitternacht gegen Mor-
gen oder gegen Abend abweichen. Jſt aber die Flaͤche
gegen die Vertikallinie geneigt, ſo unterſcheidet man
hiebey nur zween ſpeciale Faͤlle, wenn naͤmlich die Flaͤ-
che auf die Erdachſe perpendieular iſt, und dieſes giebt
Lamb. Org. I. Band. EAequi-
[66]II. Hauptſtuͤck,
Aequinoctialuhren, oder wenn ſie mit der Erdachſe
paralleligt, und dieſes giebt uͤberhaupt Polaruhren,
aus welchen man wiederum diejenige beſonders her-
aus nimmt, die die Flaͤche des Mittagskraiſes recht-
winklicht durchſchneidet. Alle uͤbrigen werden durch
die Weltgegend, gegen welche ſie ſich neigen, und durch
den Grad ihrer Neigung beſtimmt. Man ſieht aus
dieſem Beyſpiele, daß ſo bald die Sache auf be-
ſtimmte Veraͤnderungen in Graden geſetzt iſt, dieſe
ſich gleichſam von ſelbſt ergeben, wenn man die Gruͤnde
zur Auswahl der vorzuͤglichſten Grade gefunden hat.
§. 105.
Auf eine aͤhnliche Art verhaͤlt es ſich, wenn der
Unterſchied der Sache auf lauter ganze Zahlen muß
geſetzt werden, und daher nur in der Combination
der Theile beſteht. So z. E. hat man in der Trigo-
nometrie bey jedem Triangel ſechs Stuͤcke. Man
weis, daß aus dreyen derſelben jedes der uͤbrigen
drey kann gefunden werden. Daher laſſen ſich
durch eine bloße Combination alle Faͤlle beſtimmen.
Wir werden unten in der Lehre der Schluͤße ſehen,
daß man ihre Anzahl auf eine aͤhnliche Art beſtimmt
hat, und darinn noch weiter gegangen iſt, indem man
jeder Art einen Namen gegeben, der durch bedeutende
Buchſtaben, die Merkmaale des Schlußes, ſeiner
Richtigkeit und Verwandlung vorſtellt. So hat
Herr Prof. Kraft in Anſehung der Saͤulenordnung,
durch Vorausſetzung, daß jede Saͤule aus drey
groͤßern, und jedes von dieſen aus drey kleinern
Haupttheilen beſtehe, alle dieſe Theile aber ein
harmoniſches Verhaͤltniß gegen einander haben ſollen,
herausgebracht, daß es in allem fuͤnf ſolcher Ord-
nungen gebe, wenn man die Regeln der Harmonie
und die von der Baukunſt nicht uͤberſchreiten wolle.
§. 106.
[67]von den Eintheilungen.
§. 106.
Der dritte Fall iſt, wo die Eintheilung in der
Natur ſelbſt da iſt. Denn da wird ihre Abzaͤhlung
durch ein ſorgfaͤltiges Beobachten endlich zu Stande
gebracht, und dieſes iſt um deſto leichter, weil die
Natur ihre Arten nach beſtaͤndigen Geſetzen erhaͤlt
und unterſcheidet. Uebrigens bleibt hiebey faſt immer
der Anſtand, ob man alle Arten gefunden. So hat
man in dem Thierreiche, in dem Pflanzen- und Stein-
reiche in den neuern Zeiten durch aͤmſigeres Aufſuchen
das Verzeichniß der Arten weit vollſtaͤndiger gemacht,
und mehrere gefunden, als man Vorzeiten haͤtte glau-
ben koͤnnen. Es bleiben aber allerdings noch einige
zuruͤck.
§. 107.
Der vierte Fall koͤmmt immer vor, wo man das
Ganze uͤberſehen, und ſeine Theile jedes beſonders
erkennen kann. Hieher gehoͤren die geographiſchen
Eintheilungen der Laͤnder in verſchiedenen Abſichten,
die anatomiſche Zergliederung des menſchlichen Leibes,
die Abzaͤhlung der Theile jeder Maſchine ꝛc. Man
ſieht aber leicht, daß die Art der Eintheilungen von den
bisher betrachteten verſchieden iſt, weil die Theile hier
bald nichts gemeinſames haben, als daß ſie zuſammen
genommen ein Ganzes ausmachen, und das Ganze
nur Verhaͤltnißweiſe in den Theilen iſt, und jeder
Theil ohne Ruͤckſicht auf das Ganze beſtehen kann.
§. 108.
Unter dieſen Faͤllen geben die beyden erſten noth-
wendig richtige und erwieſene Eintheilungen. Denn
bey den Graden iſt der Umfang des Begriffes be-
ſtimmt, und der Unterſchied der Arten beruht nur
auf den Graden, die man nach den vorgegebenen Ab-
ſichten auswaͤhlen kann, um die Arten von einander
E 2zu
[68]II. Hauptſtuͤck,
zu unterſcheiden. Jn dem andern Fall hat man gleich-
falls eine beſtimmte Anzahl von Theilen, Merkmaalen,
Begriffen, Sachen ꝛc. und man weis, wie viele, und
auf wie vielerley Arten man ſie abwechſeln kann, und
jede laͤßt ſich ſodann in andern vorgegebenen Abſich-
ten pruͤfen, ob ſie dazu genommen werden koͤnne. Die
Begriffe, die heraus kommen, ſind richtig, und man
wels, daß es alle ſind.
§. 109.
Hingegen, wo der Begriff einer Gattung nur
durch die Vergleichung einiger Arten gefunden wor-
den, da muß man es mehrentheils auf die Erfahrung
ankommen laſſen, die uͤbrigen alle zu finden. Dieſes
wird nothwendig, ſo oft man kein Mittel findet, den
vorgegebenen Fall, auf einen der beyden erſtern, oder
auf beyde zu reduciren, indem man naͤmlich bemerkt,
daß der Unterſchied der Arten nur auf Grade an-
koͤmmt, oder daß die Arten durch Combinationen
einiger Merkmaale beſtimmt werden, die man in be-
ſtimmter Anzahl findet. Uebrigens iſt unſtreitig, daß
auch die oben angegebene Art (§. 97) die Glieder der
Eintheilungen in allen moͤglichen Abſichten unter ein-
ander zu combiniren, auf die Beſtimmung aller moͤg-
lichen Arten einer Gattung fuͤhret, und zugleich auch
die ſaͤmmtlichen Merkmaale und Eigenſchaften einer
jeden angiebt.
§. 110.
Zu dieſem Ende koͤnnen wir noch anmerken, daß
es ſehr allgemeine Abſichten giebt, in welchen ſich
jede Dinge eintheilen laſſen, wohin wir die logiſchen
und ontologiſchen rechnen. Will man daher in der
Ontologie oder Lehre von den Dingen uͤberhaupt,
zum Behufe der Eintheilungen jeder niedrigern Arten
und Gattungen einen Vorrath vorbereiten, ſo muͤſſen
nicht
[69]von den Eintheilungen.
nicht nur ſolche allgemeinſten Eintheilungen eines
Dinges uͤberhaupt in allen Abſichten vorkommen,
ſondern die Glieder jeder Eintheilung mit den Glie-
dern der uͤbrigen ſo combinirt und verglichen werden,
daß man daraus uͤberhaupt, und ein fuͤr allemal be-
ſtimme, welche beyſammen ſeyn koͤnnen, oder einan-
der ausſchließen. Denn ſo weis man in jeden einzelnen
Faͤllen gleich, wiefern man aus einer einigen ſolcher
Beſtimmungen einen Schluß auf die uͤbrigen machen
koͤnne. Eine vollſtaͤndige Abzaͤhlung aller Abſichten,
in welchen eine Eintheilung vorgenommen werden
kann, wuͤrde auch dabey vorkommen muͤſſen. Denn
dieſe ſind eben das, was man bey dem Begriffe einer
Gattung unbeſtimmt laͤßt, und theils auch Kuͤrze hal-
ber davon abſtrahirt. Wir koͤnnen hiebey gelegentlich
anmerken, daß man in der Mathematik ganz anders
verfaͤhrt, weil darinn die allgemeinſten Begriffe und
Saͤtze am allerzuſammengeſetzteſten ſind. Man laͤßt
alle Umſtaͤnde und Groͤßen unbeſtimmt, aber man
abſtrahirt nicht davon, ſondern zieht ſie mit in die
Rechnung, und dadurch werden die allgemeinen For-
meln ſo weitlaͤuftig. Hingegen dient dieſes Verfah-
ren dazu, daß man nicht nur jede beſondere Faͤlle
und Arten leichter beſtimmen, ſondern ſich auch ver-
ſichern kann, daß man alle habe. Man kann die
allgemeinen Gleichungen der Linien vom dritten Grade
zum Beyſpiel nehmen, welche ſich fuͤr viele einzelne
Faͤlle ungemein abkuͤrzt. Dieſen Vortheil wuͤrde man
bey den Qualitaͤten gleichfalls erhalten, wenn man
ein Mittel haͤtte, in den allgemeinen Begriffen der
Gattungen die Begriffe der Abſichten, in welche ſie
ſich eintheilen laſſen, und gleichſam einen Schattenriß
der Glieder jeder Eintheilung beyzubehalten. Allein
bisher laſſen wir das unbeſtimmte in den Begriffen
E 3ganz
[70]II. Hauptſtuͤck,
ganz weg, dahingegen die Mathematiker es als unbe-
ſtimmt anzeigen, um es ſo zu reden nicht aus dem
Geſichte zu verlieren, ſondern es jedesmal nach Er-
forderniß oder auch nach Belieben beſtimmen zu
koͤnnen.
§. 111.
Ungeachtet wir alſo hierinne in Anſehung der Qua-
litaͤten noch merklich zuruͤck bleiben, ſo laſſen ſich
dennoch zum Behufe des hier verlangten Mittels ver-
ſchiedene Betrachtungen anſtellen. Einmal ſcheint
es, daß nicht alle unſre allgemeinen Begriffe von
dem Bilde deſſen, was in jeden Arten und Indiuiduis
beſondere Beſtimmungen hat, ſo ganz entbloͤßt ſeyn,
ungeachtet wir uns deſſen nur auf eine confuſe Art be-
wußt ſind. Dieſes geht um deſto mehr an, je beſſer
uns die Indiuidua und alle Arten einer Gattung be-
kannt ſind, und je mehr ſie einerley und aͤhnliche
Partes integrantes haben, die naͤmlich zuſammen ge-
nommen das ganze Indiuiduum ausmachen. So
z. E. iſt das Bild, ſo wir uns machen, wenn wir uns
den allgemeinen Begriff eines Menſchen, eines Bau-
mes, eines Hauſes, einer geometriſchen Figur ꝛc. vor-
ſtellen, ſo beſchaffen, daß wir uns auf eine confuſe
Art, wenigſtens der bekannteſten Theile bewußt ſind.
Man ſtelle ſich einen Baum uͤberhaupt vor, ſo iſt
unſtreitig, daß der Begriff der Blaͤtter, Aeſte, des
Stammes und der Wurzel, in dem Bilde deutlicher
vorkommen werden, als die kleinern Theile, woraus
dieſe beſtehen. Dieſes Bild wird noch ungleich be-
ſtimmter, wenn wir uns eine gewiſſe Art von Baͤu-
men vorſtellen, und Maler, die eine geuͤbtere Ein-
bildungskraft und Augenmaaß haben, ſind im Stande,
ſolche Arten, ohne das Urbild vor ſich zu haben, vor-
zuzeichnen. Will man hingegen ſich nur eine Pflanze
uͤber-
[71]von den Eintheilungen.
uͤberhaupt vorſtellen, ſo faͤllt hier das meiſte in dem
Bilde weg, worinn die Partes integrantes der Arten
voͤllig von einander verſchieden ſind, oder man ſtellt
ſich, ohne daran zu gedenken, ſtatt der Gattung, nur
eine, oder nach einander etliche Arten vor. Hierinn
hat aber die Mathematik nicht viel voraus, weil ihre
Begriffe und Formeln mehrentheils auch auf einzelnere
Faͤlle gehen.
§. 112.
Die erſtbetrachteten Bilder der Dinge, womit
die Einbildungskraft den Begriffen zu ſtatten koͤmmt,
ſind noch alles Bilder der Dinge ſelbſt, wie ſie in
die Sinne fallen. Sie erſchoͤpfen daher den Reich-
thum unſrer Begriffe noch lange nicht, und beſonders
bleiben ſie bey abſtracten Begriffen zuruͤck. Jn-
deſſen haben wir allerdings auch von dieſen Begriffen
eine confuſe Vorſtellung und innere Empfindung der
Merkmaale, die wir in jeden Jndividualfaͤllen gefun-
den, und die wir lange nicht alle deutlich aus einan-
derſetzen und mit Worten ausdruͤcken koͤnnen. Die
Begriffe, Beſcheidenheit, Mitleiden, Billigkeit,
Hoffnung, Urſach, Grund ꝛc. moͤgen zum Bey-
ſpiele dienen. Die Partes integrantes ſind in ſolchen
Begriffen von einer ganz andern Art, als bey koͤrper-
lichen Dingen, und laſſen ſich nicht ſo leicht her-
zaͤhlen, ungeachtet wir gewiſſer Maaßen eine innere
Empfindung davon haben, und zwar um deſto mehr
und vollſtaͤndiger, je bekannter und gelaͤufiger uns
der Begriff iſt. Es geſchieht daher, daß, wo in einem
vorgegebenen Fall ein ſolcher Begriff nicht vollſtaͤndig
vorkoͤmmt, wir etwann wohl bemerken koͤnnen, daß
etwas dabey fehle, ohne jedoch das Mangelnde im-
mer anzeigen zu koͤnnen. Man kann hieraus ſehen,
daß, wenn wir einen allgemeinen Begriff durch viele
E 4und
[72]II. Hauptſtuͤck,
und richtige Erfahrungen erlangt haben, in dem-
ſelben vielmehr ſich befinde, als wir mit Worten
ausdruͤcken, wenn wir ihn erklaͤren. Und vielleicht
iſt es eben dieſes, was die Beyſpiele bey vielen von
unſern Erklaͤrungen nothwendig macht. So ſcheint
es der Erklaͤrung der Vollkommenheit zu gehen,
wenn man ſagt, daß ſie die Uebereinſtimmung des
Mannigfaltigen ſey. Sie ſcheint nicht alles zu ent-
halten, was die Beyſpiele zeigen, wodurch man ſie
erlaͤutert. Wir folgern hieraus nur ſo viel, daß es
zwar ſchwer, an ſich aber doch moͤglich ſey, in dem
Begriff einer Gattung alles beyzubehalten, was die
Unterſchiede der Arten bis in ihre kleinſten Theile und
Beſtimmungen noch Allgemeines haben, und darinn
zugleich auch die Anzahl und Beſchaffenheit der Arten
noch mit anzuzeigen.
§. 113.
Jn verſchiedenen Faͤllen laͤßt ſich die Sache durch
Bilder zeichnen, oder durch eine Figur vorſtellen.
Erſteres kann man Hyeroglyphen heißen, weil es
ſcheint, daß die von den Aegyptiern eine aͤhnliche Ab-
ſicht hatten. Am vollſtaͤndigſten aber geben uns die
Stammtafeln oder vielmehr die allgemeinen For-
meln derſelben ein Beyſpiel von vollſtaͤndig entwickel-
ten Begriffen. Die Grade der Verwandſchaft haben
mit den Figuren, wodurch ſie vorgeſtellt werden, eine
ſolche Aehnlichkeit, daß die Namen von dieſen ſelbſt
in den Civilgeſetzen ſtatt jener gebraucht werden. Und
unter allen Metaphern, die man in der Sprache hat,
werden dieſe die genaueſten ſeyn. So hat auch in der
Tonkunſt der einige Einfall, daß ſich die verſchiedenen
Toͤne mit dem Begriffe der Hoͤhe und Tiefe ver-
gleichen laſſen, dazu Anlaß gegeben, die Toͤne und ihre
Unterſchiede zu malen, und ſie auf den Notenlinien
kenntlich
[73]von den Eintheilungen.
kenntlich vorzuſtellen. Daß ein Ton hoͤher ſey, als
ein andrer, iſt eine bloße Metapher. Jndeſſen macht
ſie die muſikaliſche Erkenntniß figuͤrlich, und dadurch
beurtheilt gleichſam das Auge, was ſchlechthin ein
Gegenſtand des Gehoͤrs war. Was die Noten in
Anſehung der Jntervallen, der Toͤne und ihrer Dauer
thun, das thun die Buchſtaben in Anſehung eines
andern Unterſchiedes, den zwar das Ohr bemerkt, der
aber noch durch keine Metapher auf em figuͤrliches
Bild gebracht worden iſt. Daher ſind die Buchſta-
ben noch in allen Sprachen ganz willkuͤhrliche Zeichen
der Toͤne, die ſie vorſtellen.
§. 114.
Es iſt nicht zu zweifeln, daß es nicht auch figuͤr-
liche Vorſtellungen von Begriffen geben ſollte, die
ganz abſtract ſind. So iſt man ſchon laͤngſt gewohnt
die Arten und Gattungen unter die hoͤhern Gattungen
zu ordnen, wenn ſie Tabellenmaͤßig vorgeſtellt werden,
daß man mit einem Anblicke uͤberſehen kann, wie ſie
von einander abſtammen, und ſolche Tabellen ſind den
vorhin angefuͤhrten Formeln von Stammtafeln voll-
kommen aͤhnlich. Man hat ſie aber noch zu keiner
merklichen Vollſtaͤndigkeit bringen koͤnnen, und wer
ſolche Tabellen genauer unterſucht, wird immer Luͤcken
darinn finden, weil die meiſten Eintheilungen, die man
fuͤr weſentlich ausgiebt, nur Eintheilungen in gewiſ-
ſen Abſichten ſind. Es fehlt demnach auch hiebey die
vorhin (§. 110) erwaͤhnte vollſtaͤndige Abzaͤhlung
aller Abſichten, in welche ſich ein Ding uͤberhaupt
eintheilen laͤßt. Wir haben daher noch nicht alle
partes integrantes, daß wir ſie auseinander ſetzen,
und figuͤrliche Combinationen und andre Beſtimmun-
gen damit vornehmen koͤnnten. Jn einfachern Faͤl-
len, wo das Ganze eine kleinere, aber dabey beſtimmte
E 5Anzahl
[74]II. Hauptſtuͤck,
Anzahl von Theilen hat, iſt eine figuͤrliche Vorſtellung
moͤglich, und wir werden im folgenden davon Bey-
ſpiele geben, die in der Vernunftlehre ſo gut als die
Noten in der Muſik bleiben koͤnnen. Uebrigens ſieht
man aus den angefuͤhrten Beyſpielen, daß das Figuͤr-
liche darinn eigentlich nur gewiſſe Verhaͤltniſſe aus-
druͤcket, welche man dabey zum Hauptgegenſtande
der Betrachtung macht. Denn ſo ſieht man bey den
Stammtafeln und ihren allgemeinen Formeln nur
auf die Grade der Verwandſchaft, und die Noten
ſtellen von den Toͤnen nichts anders als ihre Jnter-
vallen und Dauer vor. Auf eine aͤhnliche Art betrach-
tet man in den Tabellen von Gattungen und Arten
nur die Subordination und Coordination der Begriffe.
Hievon kann in der Semiotik ein mehrers geſagt
werden.
§. 115.
Wir haben bisher vornehmlich die Eintheilungen
der Gattungen in Arten betrachtet, und dabey gelegent-
lich (§. 107) diejenige beruͤhrt, wo das Ganze in ſeine
Partes integrantes, aus welchen es zuſammengeſetzt
iſt, zerfaͤllt wird. Außer dieſen Eintheilungen giebt
es noch andre, die man mit Namen von ſehr unbe-
ſtimmter Bedeutung belegt. Wir koͤnnen die Abthei-
lung eines Buches in Baͤnde, Theile, Abſchnitte,
Hauptſtuͤcke, Artikel, Abſaͤtze ꝛc. hieher rechnen. Vor-
nehmlich aber iſt der Begriff einer Klaſſe unbeſtimmt.
Man rechnet uͤberhaupt in eine Klaſſe, was gewiſſe
Stuͤcke gemein hat, wobey einerley Regeln, Theorien,
Lehre, Ausuͤbung ꝛc. vorkoͤmmt. Eine Klaſſe begreift
oͤfters viele ſehr allgemeine Gattungen, Arten, Faͤlle ꝛc.
Jn allen dieſen Bedeutungen iſt dieſes die Hauptre-
gel, daß die Klaſſe vollzaͤhlig ſeyn muͤſſe. Man
muß
[75]von den Eintheilungen.
muß ſich verſichern, daß man alle Theile, Glieder,
Faͤlle ꝛc. habe, die unter die Klaſſe gehoͤren.
§. 116.
Ferner giebt uns jeder einzelne Fall den Begriff
eines Gliedes bey einer Eintheilung, die einen allge-
meinen Namen hat. So Z. E. wenn eine Lehre
oder Regel nicht allgemein angewandt werden kann,
ſo muß man alle Faͤlle abzaͤhlen, die eine beſondere
Beſtimmung der Regel oder Lehre erfordern. Und
die Abzaͤhlung dieſer Faͤlle, die Beſtimmung ihrer
Kennzeichen, und zugleich auch die Angabe der Re-
gel, wie man ſie traktiren ſoll, iſt es, was die Leh-
re vollſtaͤndig macht. Die ganze Trigonometrie iſt
ein Beyſpiel hievon. Und in der ganzen Mathema-
tik giebt die Verwechslung der gegebenen und geſuch-
ten Stuͤcke, die beſondern Faͤlle, welche in Anſehung
einer Theorie vorkommen koͤnnen. Auf eine aͤhnliche
Art werden in den Rechten die ſogenannten Erb-
faͤlle betrachtet und in Klaſſen gebracht, um die
Geſetze uͤber die Erbſchaft beſtimmter zu machen. Die
Colliſion verſchiedener Geſetze giebt ebenfalls beſon-
dere Faͤlle an, die beſtimmt und in Klaſſen gebracht
werden muͤſſen. Ein Fall iſt in dieſer Abſicht be-
trachtet, ein Zuſammenlauf oder Verwechslung oder
Combination einzelner Umſtaͤnde oder Beſtimmungen,
die einen beſondern Erfolg haben. Solche Faͤlle laſ-
ſen ſich demnach durch die Regeln der Combination
und Permutation beſtimmen, ſo bald die Anzahl oder
Beſchaffenheit der Umſtaͤnde ꝛc. gegeben iſt. Auch
hievon haben wir in der Trigonometrie das vollſtaͤn-
digſte Beyſpiel, welches gleichſam zum Muſter die-
nen kann. Eine vollſtaͤndige Beſtimmung aller Um-
ſtaͤnde, die eine Erfindung aufhalten oder befoͤrdern
koͤnnen, wuͤrde in der Erfindungskunſt eine aͤhnliche
Zierde ſeyn.
§ 117.
[76]III. Hauptſtuͤck,
§. 117.
Die Eintheilungen dienen uͤberhaupt zur Voll-
ſtaͤndigkeit unſrer Erkenntniß, und in Anſehung der
Ausuͤbung verſichern ſie uns, daß alle Faͤlle, die bey
einer vorgegebenen Verrichtung vorkommen koͤnnen,
in unſrer Gewalt ſind. Daher dienen ſie auch, die
Moͤglichkeit der Ausuͤbung vollſtaͤndig zu machen.
Sie ſind folglich uͤberhaupt betrachtet nicht unerheb-
lich, und wenn es die Theorie oder Ausuͤbung for-
dert, jede Arten einer Gattung oder jede moͤgliche
Faͤlle zu kennen; ſo lohnt es ſich der Muͤhe, eine
vollſtaͤndige Eintheilung vorzunehmen. Hiezu ha-
ben wir die Mittel angegeben, die die Natur der
Eintheilung uͤberhaupt betrachtet darbeut. Man
hat naͤmlich auf den Unterſchied der Arten zu ſehen.
Beſteht dieſer nur in Graden, ſo hat ihre Beſtim-
mung keine Schwuͤrigkeit. Beſteht er aber in der
Combination einer gewiſſen Anzahl von Beſtimmun-
gen oder Merkmaalen, ſo muß man ſich dieſe alle be-
kannt machen, und die Combination erfolgt wiederum
ohne Muͤhe. Jn den uͤbrigen Faͤllen, wo man naͤm-
lich dieſe Merkmaale nicht alle aus der Theorie der
Gattung finden kann, koͤmmt es ſchlechthin auf die
Erfahrung an, und man muß alle Arten aufſuchen.
Drittes Hauptſtuͤck.
Von den Urtheilen und Fragen.
§. 118.
Die Begriffe ſind bloße Vorſtellungen (§. 7.) und
bey der klaren Vorſtellung der Sache findet ſich
das confuſe Bewußtſeyn ihrer Merkmaale, die deut-
liche
[77]von den Urtheilen und Fragen.
liche Vorſtellung aber fordert das klare Bewußtſeyn
derſelben. (§. 9.) Der Gedanke, daß die Merk-
maale der Sache zukommen, oder daß andre der-
ſelben nicht zukommen, enthaͤlt ſchon etwas mehr,
als die bloße Vorſtellung, und dieſes mehrere nennen
wir urtheilen. Wir urtheilen demnach, wenn wir
denken, A iſt B, oder A iſt nicht B. Wird dieſes
Urtheil mit Worten ausgedruckt, ſo nennen wir es
einen Satz. Da die Worte ſtatt der Begriffe ſind,
ſo gilt daher von den Saͤtzen, was von den Urthei-
len. Wir werden demnach unterſuchen, was von
beyden zu bemerken iſt.
§ 119.
Das Urtheil iſt die Verbindung oder Trennung
zweener Begriffe; demnach kommen bey jedem Ur-
theile nothwendig wenigſtens drey Stuͤcke vor Ein-
mal die zween Begriffe, welche mit einander vergli-
chen werden, ſodann das Bewußtſeyn oder die Vor-
ſtellung, daß der eine dem andern zukomme oder nicht.
Das Zukommen heißt man bejahen, das nicht
zukommen aber verneinen, und das Wort, welches
das Bejahen oder Verneinen ausdruͤcket, heißt das
Bindewoͤrtgen,Copula. Der Begriff, von wel-
chem bejaht oder verneint wird, heißt das Subject,
und der andre, der von ihm bejaht oder verneint
wird, das Praͤdicat. Das Praͤdicat, die Copula
und das Subject machen daher die drey Theile eines
Urtheils oder Satzes aus. Z. E. in dem Satz:
Ein Stein iſt ſchwer, iſt der Begriff Stein
das Subject, weil von ihm bejaht wird, ſchwer iſt
das Praͤdicat, weil es von ihm bejaht wird, und
das Wort iſt heißt das Bindewoͤrtgen, weil es die
Bejahung anzeigt. Hinwiederum in dem Satze:
Gold iſt nicht Eiſen, iſt Gold das Subject, Ei-
ſen
[78]III. Hauptſtuͤck,
ſen das Praͤdicat, und die beyden Woͤrter iſt nicht
ſind die Copula, die hier verneinet.
§. 120.
So ſieht ein Satz uͤberhaupt betrachtet aus, weil
jedes Urtheil in dieſe Form kann gebracht werden.
Wir merken nur an, daß das Bindewoͤrtgen nicht
immer ausdruͤcklich angezeigt wird, ſondern bald in
dem Praͤdicat bald in dem Subjecte, bald in einem
dazu genommenen Zeitworte liegt. Z E. das Waſ-
ſer fleußt, anſtatt: das Waſſer iſt flieſſend. Es
verſteht ſich anſtatt es iſt klar ꝛc.
§. 121.
Die beſondern Arten der Saͤtze werden ſich nun
durch ihre Eintheilung in verſchiedenen Abſichten fin-
den laſſen. Die Copula giebt an ſich ſchon zwo all-
gemeine Arten, weil ſie entweder bejahend oder ver-
neinend iſt. Dieſe Arten nennt man daher bejahen-
de und verneinende Urtheile oder Saͤtze.
§. 122.
Die andre Eintheilung iſt in Abſicht auf das
Subject. Denn wenn daſſelbe einen allgemeinen
Begriff vorſtellt, ſo begreift dieſer viele Arten und
Indiuidua unter ſich. Nun aber kann das Praͤdicat
entweder allen oder nur einigen zukommen, oder nicht
zukommen. Jm erſtern Fall heißt der Satz ein all-
gemeiner, im andern aber ein beſonderer Satz.
Z. E. Alle Koͤrper ſind zuſammengeſetzt, kein
Koͤrper iſt ausgedehnt. Dies ſind allgemeine
Saͤtze. Etliche Koͤrper ſind fluͤßig, etliche Koͤr-
per ſind nicht fluͤßig. Dieſes ſind beſondere oder
Partikularſaͤtze. Der Unterſchied koͤmmt hier auf
die Woͤrter, alle, keiner, etliche, etliche nicht, an,
weil ſich jede Saͤtze in ſolche verwandeln laſſen, die
eine von dieſen Formen haben.
§. 123.
[79]von den Urtheilen und Fragen.
§. 123.
Werden die Glieder dieſer zwoen Eintheilungen
der Saͤtze combinirt, ſo entſtehen vier ſpecialere Ar-
ten, naͤmlich:
- 1. Allgemein bejahende.
- 2. Allgemein verneinende.
- 3. Beſonders bejahende.
- 4. Beſonders verneinende.
Denn jedes Glied der erſten Eintheilung wird mit
jedem Gliede der andern verbunden. Nun haben
beyde Eintheilungen jede zwey Glieder, folglich giebt
es nothwendig vier combinirte Stuͤcke. Um nun zu
beweiſen, daß dieſe vier Arten von Saͤtzen moͤglich
ſind, und folglich von denen oben (§. 97.) angezoge-
nen Faͤllen der dritte ſtatt habe, wird es genug ſeyn,
zu zeigen, daß ſie wirklich vorkommen.
- 1. Es ſey das Subject A eine Art, B ihre Gat-
tung, ſo iſt A nothwendig unter B enthal-
ten, und B ein Merkmaal von A. Daher
kann man von allen Dingen, die A ſind,
ſagen, daß ſie B ſeyn. Da nun der Satz,
alle A ſind B in dieſem Fall ein wahrer
und richtiger Satz iſt, ſo ſind allgemein be-
jahende Saͤtze moͤglich, folglich der Begriff
eines allgemein bejahenden Satzes ein wah-
rer und richtiger Begriff. - 2. Wiederum hat B als eine Gattung mehr Ar-
ten unter ſich, folglich kann man nicht von
allen B ſagen, daß ſie A ſind. Da aber alle
A unter B gehoͤren, ſo giebt es einige B die
A ſind. Daher iſt der Satz, etliche B ſind
A, ein richtiger Satz, und folglich auch der
Begriff deſſelben ein wahrer und richtiger
Begriff. Es giebt demnach beſonders beja-
hende Saͤtze.
3. Da
[80]III. Hauptſtuͤck,
- 3. Da ferner nicht alle B, A ſind, ſo laͤßt ſich
auch ſagen: etlicheBſind nichtA. Folg-
lich da auch dieſer Satz wahr iſt, ſo iſt der
Begriff eines particular verneinenden Satzes
ein wahrer und richtiger Begriff. - 4. Endlich da B auſſer A noch andre Arten un-
ter ſich hat, welche von der Art A verſchie-
den und derſelben entgegen geſetzt ſind, ſo ſey
eine dieſer Arten C. Nun haben B und C
kein gleiches, ſondern lauter verſchiedene
Indiuidua unter ſich; folglich kann man ſa-
gen: KeinBiſtC, und hinwiederum:
KeinCiſtB. Demnach iſt auch der Be-
griff eines allgemein verneinenden Satzes
ein wahrer und richtiger Begriff.
§. 124
Aus dieſen Beweiſen erhellet nur die Richtigkeit
der Begriffe der vorhin durch Combination heraus-
gebrachten vier Arten von Saͤtzen. Wir haben noch
ihren Umfang zu beſtimmen. Jn den allgemein be-
jahenden Saͤtzen, alleAſindB, ſtellt B immer eine
Gattung oder Klaſſe von Dingen vor, und der Satz
zeigt an, daß alle A, oder alle Dinge, die A ſind, un-
ter dieſe Klaſſe oder Gattung gehoͤren. Nun aber
koͤnnen, uͤberhaupt betrachtet, noch mehrere Dinge
unter dieſe Gattung oder Klaſſe gehoͤren. Daher
laͤßt ſich B nicht von A allein bejahen, es ſey denn, daß
man beweiſen koͤnne, Aallein ſeyB. Jn dieſen Faͤl-
len bekoͤmmt der Satz den Namen eines identiſchen
Satzes, und B iſt ein eigenes Merkmaal von A, und
A und B heiſſen Wechſelbegriffe. Man kann da-
her auch ſagen, alleBſindA, weil in dieſem Fall
A und B von gleicher Ausdehnung ſind. Da aber
ein ſolcher Beweis nicht aus der allgemeinen Form
des
[81]von den Urtheilen und Fragen.
des Satzes: Alle A ſind B, folgt, ſo bleibt derſelbe
uͤberhaupt nur ſo weit beſtimmt, daß man ſagen kann:
Etliche, oder wenigſtens etlicheBſindA.
§. 125.
Bey den particularbejahenden Saͤtzen: Etliche
AſindB, bleibt es erſtlich unbeſtimmt, ob nicht alle
A, B ſeyn. Denn da wir gewoͤhnlich die Saͤtze nicht
weiter ausdehnen, als wir ſie wiſſen, ſo verſtehen wir
auch durch etlicheA nur ſo viel, als wenn wir ſagen
wollten, wenigſtens nicht keinA. Eben ſo unbe-
ſtimmt bleibt es, ob nicht alle B, A ſind? Denn
wenn wir ſagen: EtlicheAſindB ſo koͤnnte gar
leicht A eine Gattung und B eine von ihren Arten
ſeyn, und in dieſem Fall wuͤrden nothwendig alle B, A
ſeyn. (§. 123. No. 1.) Jndeſſen iſt nicht jedesmal
eines von beyden nothwendig; weil es geſchehen kann,
daß der Satz: EtlicheAſindB, auch umgekehrt
particular bleibt. Dieſer Fall koͤmmt allemal vor,
wenn A und B nur in einigen Indiuiduis beyſammen,
in andern aber A allein, und noch in andern B allein
iſt. Und dieſes hat ſtatt, wenn die Begriffe aus der
Combination einer gewiſſen Anzahl von Merkmaalen
entſtehen. Man combinire Z. E. a, b, c zu zwey und
zwey, ſo hat man die Begriffe ab, ac, bc; folglich
die Saͤtze: Nur etlicheaſindb,nur etlicheb
ſinda. ꝛc. Wie aber auch immer ein particularbe-
jahender Satz ausſieht, ſo laͤßt er ſich wenigſtens
particular umkehren. Denn wenn etliche A, B ſind,
ſo ſind auch nothwendig etliche B, A.
§. 126.
Bey particular verneinenden Saͤtzen geht dieſes
nicht an. Denn der Satz: EtlicheAſind nicht
B, beſtimmt weiter nichts, als, daß eben nicht
alleA, Bſind. Dieſes iſt aber wiederum nur, ſo weit
Lamb. Org. I. Band. Fwir
[82]III. Hauptſtuͤck,
wir es wiſſen. Daher kann erſtlich kein A, B ſeyn.
Denn wenn kein A, B iſt, ſo laͤßt ſich allerdings auch
ſagen, daß etliche A nicht B ſind. Ferner kann es
auch geſchehen, daß alleB, Aſind. Denn man ſetze
nur, A ſey eine Gattung, B eine von ihren Arten, ſo
werden die Saͤtze gelten: alle B ſind A, etliche A ſind
B, und etliche A ſind nicht B. Die particularver-
neinenden Saͤtze ſind demnach unter allen die unbe-
ſtimmteſten. Denn
§. 127.
Bey allgemein verneinenden Saͤtzen, keinAiſt
B, laͤßt ſich nothwendig folgern, daß auch kein B, A
ſey, weil A und B eigene Merkmaale haben, und
daher von einander nicht koͤnnen bejaht werden.
§. 128.
Dieſe vier Arten von Saͤtzen ſind von ſehr ver-
ſchiedener Erheblichkeit. Der allgemein beja-
hende iſt unter allen der beſtimmteſte, weil er nicht
nur Eigenſchaften angiebt, die dem Subjecte wirklich
zukommen, ſondern es auch allgemein bejaht, folglich
den Zweifel von Ausnahmen aufhebt. Jndeſſen
bleibt er in einer andern Abſicht unvollſtaͤndig, weil
er von allen Eigenſchaften des Subjectes nur eine an-
giebt. Man kann daher die allgemein bejahenden
Saͤtze als abgekuͤrzte Ausdruͤcke anſehen, und wir
thun es, theils aus Bequemlichkeit, theils muͤſſen wir
aus Mangel mehrerer Kenntniß dabey bleiben. Wir
zeigen naͤmlich nur eine Eigenſchaft des Subjectes an,
es ſey, daß wir die uͤbrigen nicht gebrauchen, oder
daß wir ſie nicht wiſſen. Dieſes laſſen wir unbeſtimmt.
Man kann hieraus den Unterſchied der allgemeinen
Saͤtze uͤberhaupt betrachtet, und der Erklaͤrungen
ſehen, weil die letztern nothwendig den ganzen Um-
fang des Begriffes bezeichnen muͤſſen.
§. 129.
[83]von den Urtheilen und Fragen.
§. 129.
Die particularbejahenden Saͤtze bleiben mehr zu-
ruͤck, weil in denſelben das Praͤdicat entweder in
der That nicht allen Indiuiduis des Subjectes zu-
koͤmmt, oder weil wir es wenigſtens nicht wiſſen.
Koͤmmt es in der That nicht allen zu, ſo laͤßt ſich
etwann noch aus der Verbindung des Praͤdicats mit
dem Subjecte ein zuſammengeſetzter Begriff heraus
bringen. (§. 75.) Und dieſes, nebſt dem, daß ſie
uns warnen, das Praͤdicat nicht von allen Subjecten
zu laͤugnen, iſt vielleicht der einige Vortheil, den ſie
gewaͤhren. Bey den particular verneinenden Saͤ-
tzen bleibt das letzte allein: Sie zeigen uns naͤmlich
an, das Praͤdicat koͤnne von dem Subject nicht all-
gemein bejaht werden. Wiſſen wir nun in beſondern
Faͤllen auch, daß es nicht allgemein gelaͤugnet werden
koͤnne; ſo laͤßt ſich aus dem Satze: EtlicheAſind
nichtB, ebenfalls der Begriff derjenigen A, die B
ſind, oder derjenigen B, die A ſind, daraus her-
leiten. Man ſieht aber leicht, daß dieſes nur des-
wegen angeht, weil man weis, daß nicht alle A nicht
B ſind.
§. 130.
Allgemein verneinende Saͤtze haben das beſtimmte,
daß ſie allgemein ſind. Sie dienen aber nur, ein-
mal uns vor Jrrthuͤmern zu huͤten, und ſodann laͤßt
ſich vermittelſt derſelben ausſchlieſſungsweiſe oͤfters
ein allgemein bejahender Satz herausbringen. Die-
ſes aber wird ſich unten erklaͤren laſſen.
§. 131.
Dieſes iſt, was hier uͤber die Natur, Unter-
ſchied, Wirklichkeit und Erheblichkeit der vier Arten
von Saͤtzen anzumerken war, welche man in der
Vernunftlehre vorzuͤglich betrachtet, weil ſie durch
F 2ihre
[84]III. Hauptſtuͤck,
ihre bloße aͤußerliche Form erkannt und von einan-
der unterſchieden werden koͤnnen. Sie ſind uͤberdies
die einfachſten, und werden daher beſonders betrach-
tet. Wir werden nun die zuſammengeſetztern auch in
etwas duͤrchgehen. Die erſte Art derſelben iſt, wenn
man den Satz nicht ſo ſchlechthin fuͤr wahr ausgiebt,
ſondern ihn an eine Bedingung bindet, von wel-
cher die Wahrheit der Ausſage abhaͤngt. Z. E.
Wenn ein Triangel gleichſeitig iſt, ſo ſind auch die
Winkel gleich. Hier iſt die Bedingung, daß der
Triangel gleichſeitig ſey. Denn ohne dieſelbe hat
die Gleichheit der Winkel nicht ſtatt. Solche Saͤtze
nennt man bedingt, oder hypothetiſch. Sie ſind
den unbedingten, ausdruͤcklichen oder cathego-
riſchen entgegengeſetzt, dergleichen die vorhin be-
trachteten waren. (§. 124. ſeqq.)
§. 132.
Die Bedingung ſetzt voraus, daß das Praͤdicat
von dem Subjecte nicht ſchlechthin bejaht oder ver-
neint werden koͤnne. Und iſt dieſes, ſo iſt die Be-
dingung nothwendig, widrigenfalls aber nur ſchein-
bar und an ſich uͤberfluͤßig. Letzteres geſchieht, ſo oft
ein Satz allgemeiner gemacht werden kann. Erſteres
aber ſetzt nothwendig einen Satz voraus, der nur
particular iſt, und hinwiederum laſſen ſich ſolche Par-
ticularſaͤtze in Bedingungen verwandeln. Wir mer-
ken hiebey an, daß die hypothetiſche Saͤtze, die wahr
ſind, nur deswegen dieſe Form haben, weil man ge-
woͤhnlich in der Sprache kein Wort hat, welches den
Begriff des Subjectes zugleich mit der Bedingung
ausdruͤckte. Denn ſo laͤßt ſich in vorhin angebrach-
tem Beyſpiele das Subject und die Bedingung zu-
ſammen faſſen, indem man ſagt: Jn jedem gleich-
ſeitigen Triangel ſind die drey Winkel einander
gleich.
[85]von den Urtheilen und Fragen.
gleich. Auf dieſe Art iſt der Vortrag des Satzes
cathegoriſch. Man ſieht auch zugleich hieraus, daß
hinwiederum jede Beſtimmung des Subjectes
in eine Bedingung verwandelt werden kann,
ſo oft naͤmlich die Ausſage des Satzes von dieſer Be-
ſtimmung abhaͤngt. Da uͤbrigens die Bedeutung
der Woͤrter uͤberhaupt, und uͤberdies noch der Umfang
vieler von unſern allgemeinen Begriffen willkuͤhrlich
iſt, (§. 103.) ſo giebt dieſes nothwendig eben ſo viele
Bedingungen von der Wahrheit unſrer Saͤtze.
§. 133.
Die andre Art zuſammengeſetzter Urtheile und
Saͤtze koͤmmt da vor, wo man fuͤr das Subject oder
fuͤr das Praͤdicat, oder fuͤr beyde zugleich, mehrere
Begriffe nimmt, von welchen keiner eine bloße Be-
ſtimmung des andern iſt. Der Satz gilt nun wie-
derum entweder von allen dieſen Begriffen, und da
wird er copulativ genennt, oder er gilt nicht von
allen, ohne jedoch die Auszuſchließenden anzuzeigen,
und da heißt er disjunctiv. Erſtere werden durch
die Woͤrter und, ſowohl, als, letztere durch ent-
weder, oder angezeigt. Combinirt man nun dieſe
Glieder beyder Eintheilungen, ſo hat man folgende
Formeln:
- 1. A iſt entweder B, oder C, oder ꝛc.
- 2. Entweder A oder B, oder C, oder ꝛc. iſt D.
- 3. A iſt B und C und ꝛc.
- 4. A und B und C und ꝛc. ſind D.
- 5. A und B ꝛc. ſind C und D. ꝛc.
Wobey anzumerken, daß der erſte dieſer Saͤtze das
Anſehen einer Eintheilung hat, und wirklich eine
Eintheilung iſt, ſo bald A ſo wohl B als C ꝛc. ſeyn
kann, oder es in den Indiuiduis wirklich iſt. Dieſer
Begriff faͤllt aber weg, ſobald A nicht unter B und
F 3C zu-
[86]III. Hauptſtuͤck,
C zugleich gehoͤren kann, und folglich ihm von dieſen
Praͤdicaten nur eines, aber dieſes nothwendig zu-
koͤmmt. Die Form des Satzes laͤßt es unbeſtimmt,
und daher muß es in beſondern Faͤllen entweder dire-
cte oder ausſchließungsweiſe (§. 130.) bewieſen wer-
den. Man kann dieſe Art von Saͤtzen auch in hypo-
thetiſche verwandeln. Z. E.
- 1. Wenn A nicht B iſt, ſo iſt es C, und umgekehrt.
- 2. Wenn A weder B noch C iſt, ſo iſt es D.
- 3. Wenn A nicht C iſt, ſo iſt B, C.
- 4. Wenn weder A noch B, D iſt, ſo iſt C, D. etc.
Dieſe hypothetiſchen Saͤtze aber laſſen ſich nicht
in cathegoriſche verwandeln, wie die Particularſaͤtze,
(§ 132.) weil ſie unausgemacht ſeyn laſſen, welche
Beſtimmung gelte, und wenn man dieſes weis, ſo
bleibt keine Hypotheſe mehr, ſondern der Satz wird
ohne Beſtimmung cathegoriſch.
§. 134.
Die disjunctiven und copulativen Saͤtze kommen
wirklich vor, und die Begriffe von denſelben ſind
reale Begriffe. Wir wollen dieſes zugleich mit ih-
rem Umfange ins Licht ſetzen.
- 1. Der Satz: Aiſt entwederBoderC, for-
dert, daß A weder B und C zugleich, noch
keines von beyden ſeyn koͤnne. Erſteres wird
erhalten, ſo bald man ſagen kann: Kein B
iſt C. Denn daraus folgt, daß wenn A, B
iſt, es nicht C ſey, und hinwiederum, wenn
es C iſt, es nicht B ſey. Dieſes geht nun
allemal an, wenn B und C Arten einer Gat-
tung ſind, und dieſe nicht mehrere Arten un-
ter ſich hat. Denn ſo ſchließen B und C
einander aus. Das andre wird erhalten,
wenn A unter dieſe Gattung gehoͤrt; denn
ſo
[87]von den Urtheilen und Fragen.
ſo muß es nothwendig unter die eine oder
die andre ihrer Arten gehoͤren. Beydes
geht ferner allemal an, wenn C ein Termi-
nus infinitus von B iſt. Denn ſo laͤßt ſich
immer ſagen: A iſt entdweder B, oder es iſt nicht
B, weil eines von beyden immer ſeyn muß,
ſo bald von einerley A die Rede iſt. Denn
ſonſten wird dieſer Satz in folgenden verwan-
delt: Entweder alle, oder etliche, oder kein
A iſt B. - 2. Der Satz: Entweder AoderBiſtC, koͤmmt
vor, wenn A und B Partes integrantes ei-
nes Begriffes, C aber eine Eigenſchaft deſ-
ſelben iſt. Denn ſo koͤmmt dieſe Eigen-
ſchaft entweder dem A oder dem B zu. Kaͤme
es beyden zugleich oder ihrer Verbindung zu,
ſo muͤßte der Satz drey Glieder haben, und
folglich ſo lauten: Entweder A oder B, oder
beydes zuſammen iſt C, und ſo waͤre der
Satz wiederum richtig. - 3. Der Satz, AiſtBundC, koͤmmt vor, ſo
oft A ein zuſammengeſetzter Begriff iſt. Denn
ſo ſtellen B, C ꝛc jede von ſeinen Merkmaa-
len, Beſtimmungen oder Verhaͤltniſſen vor. - 4. Der Satz: AundBſindC, koͤmmt vor, ſo
oft C ein gemeinſames Merkmaal, Beſtim-
mung oder Verhaͤltniß von A und B iſt,
folglich ſo oft A und B unter eine Gattung
oder Klaſſe gehoͤren, und C ein Merkmaal,
Beſtimmung oder Verhaͤltniß dieſer Klaſſe
iſt. Nimmt man zu C noch mehrere ſolche
dem A und B gemeinſame Merkmaale, ſo
koͤmmt endlich auch - 5. Der Satz: AundBſindCundD, vor.
F 4§. 135.
[88]III. Hauptſtuͤck,
§. 135.
Die copulativen Saͤtze ſind nichts anders, als
kurz zuſammengefaßte einfache Saͤtze. Denn ſie
laſſen ſich in eben ſo viele einfache aufloͤſen, als die
copulirten Glieder mit einander combinirt werden
koͤnnen. Oder um es auszurechnen, ſo muß die An-
zahl der Glieder des Subjectes mit der Anzahl der
Glieder des Praͤdicats multiplicirt werden. Z. E.
der letzte Satz: AundBſindCundD, hat im
Subject und Praͤdicat zwey Glieder, folglich iſt er aus
folgenden 4 einfachen Saͤtzen zuſammen gezogen:
- 1. A iſt C.
- 2. A iſt D.
- 3. B iſt C.
- 4. B iſt D.
Es ſind demnach die copulativen Saͤtze nur compen-
dioͤſe Vorſtellungen von mehrern einfachen Saͤtzen,
und man thut es theils Kuͤrze halber, theils um den
ganzen Zuſammenhang auf einmal vorzuſtellen. Jn
dem Beweiſe aber wird jeder beſonders vorgenommen.
§. 136.
Die disjunctiven Saͤtze hingegen laſſen ſich nicht
ſo aufloͤſen, denn einmal iſt nur ein Glied wahr, und
der Satz laͤßt es unbeſtimmt, welches es ſey. Wird
aber dieſes ausgemacht, ſo erhaͤlt man einfache Saͤ-
tze, ſo, daß einer derſelben bejahend, die uͤbrigen aber
verneinend ſind. Wenn die Abtheilung der Glieder
richtig getroffen iſt, ſo geht der Beweis entweder auf den
bejahenden allein, und die uͤbrigen ſind dadurch zu-
gleich erwieſen, oder man muß jeden verneinenden
beſonders beweiſen, und dadurch iſt auch der beja-
hende bewieſen. Z. E. Aiſt entwederB,oderC,
oderD. Beweiſet man nun, daß A, Bſey, ſo fol-
gen die Saͤtze: Aiſt nichtC, und: Aiſt nicht
D, von
[89]von den Urtheilen und Fragen.
D, von ſelbſt. Beweiſet man aber dieſe beyde, ſo
folgt der erſte: A iſt B, ohne fernern Beweis. Letz-
teres iſt ein Umweg, den man mehrentheils deswegen
nimmt, weil der Beweis eines verneinenden Satzes
uͤberhaupt leichter iſt, als der von einem bejahenden.
Denn man muß einen Begriff C von dem andern A
verneinen, ſo oft in dem einen ſich auch nur das ge-
ringſte befindet, was in dem andern nicht iſt. Auf
gleiche Art verfaͤhrt man, wenn das Subject Glieder
hat. Z. E. Entweder A oder B iſt C. Wird nun
bewieſen, A ſey C; ſo folgt ſogleich, daß B nicht C
ſey, und umgekehrt, B ſey C, wenn A nicht C iſt.
§. 137.
Man hat noch eine andre Eintheilung der Saͤ-
tze, die von gewiſſen ſehr allgemeinen Beſtimmun-
gen herruͤhrt, welche man dem Bindewoͤrtgen bey-
ſetzt. Dieſe Beſtimmungen beruhen uͤberhaupt auf
dem Unterſchiede des moͤglichen, wirklichen,
nothwendigen und ihres Gegenſatzes. Die For-
meln, am einfachſten vorgetragen, ſind folgende:
- 1. AkannBſeyn.
- 2. AiſtB.
- 3. AmußBſeyn, oder Aiſt nothwendigB.
- 4. Akann nichtBſeyn.
- 5. Aiſt nichtB.
- 6. Aiſt nicht nothwendigB.
Der Unterſchied dieſer Saͤtze macht den Unterſchied
der Vernunftlehre des moͤglichen, wirklichen
und nothwendigen aus. Da aber dieſe Begriffe
in die Ontologie gehoͤren, und nicht bloß von der aͤuſ-
ſerlichen Form der Erkenntniß abhangen, ſo werden
wir ſie auch nur in ſo weit hier mitnehmen, als die
Form der Erkenntniß ſelbſten Anlaß dazu geben wird.
Wir merken daher nur uͤberhaupt an, daß der Satz:
F 5Akann
[90]III. Hauptſtuͤck,
AkannBſeyn, zur Ausuͤbung, der Satz: Aiſt
B, zur Erfahrung, und der Satz: A iſt nothwen-
digB, theils zu den Wahrheiten, die eine geome-
triſche Nothwendigkeit haben, theils uͤberhaupt zu
denen Schlußfolgen, die eine merklichere Nothwen-
digkeit haben, gehoͤre.
§. 138.
Endlich leidet das Bindewoͤrtgen in dem Satze
noch unzaͤhlige Beſtimmungen, wodurch uͤberhaupt
die Art und Weiſe angezeigt wird, wie das Praͤdicat
dem Subjecte zukomme, oder nicht zukomme. Die
Anzeige der Zeit, des Ortes, andrer Umſtaͤnde und
Verhaͤltniſſe, die man in der Sprache durch Praͤpo-
ſitionen, Adverbia, Jnterjectionen, Conjunctionen
ꝛc. ausdruͤckt, gehoͤren mit hieher. Es ſind aber
ſolche Saͤtze mehrentheils auch zuſammengezogene
einfache Saͤtze, wie wir es vorhin (§. 135.) von den
Copulativen angemerkt haben. Es iſt unnoͤthig, be-
ſondere Beyſpiele anzubringen, weil die meiſten Pe-
rioden in der Rede ſolche Saͤtze ſind.
§. 139.
Wir haben bisher geſehen, wie die Saͤtze ihrer
Form nach unterſchieden ſind, und ſie in ſo ferne ein-
zeln, und jede Form fuͤr ſich betrachtet. Sie ſind
nicht bloß in Abſicht auf die Begriffe des Subjects
und Praͤdicats verſchieden, weil ſie mit Beybehal-
tung dieſer Begriffe ihre Form noch aͤndern koͤnnen.
Wir haben demnach zu ſehen, was aus dieſer Aende-
rung erfolgt. Die zween Begriffe ſeyn A und B.
So fern ſich dieſe durch andre oder gleichguͤltige
Worte ausdruͤcken laſſen, iſt der Unterſchied nur ſchein-
bar, und die Saͤtze werden gleichguͤltig genennet.
Dieſe Gleichguͤltigkeit hat ihre Stufen, wovon wir
folgende anmerken koͤnnen:
1. Ei-
[91]von den Urtheilen und Fragen.
- 1. Eine bloß grammatiſche Abaͤnderung gleicher
Woͤrter: Z. E.- Cajus liebt den Titium,
- Titius wird von Cajo geliebt.
Hier wird nur das Activum in das Paßivum
verwandelt, und die Begriffe verwechſelt. - 2. Die Synonymie. Z. E. melden, Nachricht
geben ꝛc. Dieſe geht ſo weit, bis an der
Hauptvorſtellung nichts geaͤndert wird, wenn
man naͤmlich die Nebenumſtaͤnde nicht zu
achten hat. - 3. Die eigenen Merkmaale der Sache, oder ihre
Definition fuͤr die Namen der Sache. Z.
E. Gott, das ſelbſtſtaͤndige Weſen, der
Schoͤpfer, ꝛc.
Die erſtern zwo Arten ſind den Worten, die letztere
der Sache nach gleichguͤltig. Letztere fordern zu-
weilen einen Beweis, erſtere aber gruͤnden ſich ſchlecht-
hin auf den Gebrauch zu reden, und auf die einmal
angenommene Bedeutung der Woͤrter.
§. 140.
Wenn aber in dem Satze Begriff und Worte
bleiben, ſo laſſen ſie ſich aͤndern. 1. Jn Anſehung
der Allgemeinheit. 2. Jn Anſehung des Bejahens
und Verneinens. 3. Jn Anſehung der Verwechs-
lung des Praͤdicats und Subjectes. Dieſe Abaͤn-
derung geht aber nicht allemal der Wahrheit ohne
Nachtheil an. Wir wollen ſie daher durch alle Com-
binationen nach den oben (§. 97. 98.) gegebenen Re-
geln durchfuͤhren.
§. 141.
Die Verwechslung der Begriffe oder des Praͤ-
dicats und Subjectes heißt die Umkehrung eines
Satzes. Hier kann nun der umzukehrende Satz in
Anſe-
[92]III. Hauptſtuͤck,
Anſehung der erſtern beyden Unterſchiede von 4 Ar-
ten ſeyn.
- 1. Allgemein bejahend. Dieſer wird umge-
kehrt particular bejahend. (§. 124.) - 2. Particular bejahend. Dieſer bleibt auch
umgekehrt particular bejahend. (§. 125.) - 3. Particular verneinend. Dieſer laͤßt ſich
nicht umkehren, (§. 126.) es ſey denn,
daß man ihm die Geſtalt eines particularbe-
jahenden Satzes gebe, indem man die Ver-
neinung dem Praͤdicat beylegt, und daher
aus dieſem einen Terminum infinitum macht.
Denn ſo wird aus dem Satze: Etliche A
ſind nichtB, der Satz: Etliche nicht
BſindA. - 3. Allgemein verneinend. Dieſer bleibt auch
umgekehrt allgemein verneinend. (§. 127.)
§. 142.
Wir koͤnnen noch anmerken, daß man ebenfalls
aus dem Praͤdicat eines allgemein bejahenden Satzes
einen Terminum infinitum machen, und das Sub-
ject allgemein von ihm verneinen kann. Denn ſo
folgt aus dem Satz: AlleAſindB, der Satz: Was
nichtBiſt, iſt auch nichtA, oder kein nichtB
iſtA. Dieſe Verwandlung eben ſo, wie die von
den particularverneinenden Saͤtzen laſſen aber im
ſtrengſten Verſtande die beyden Begriffe des Satzes
nicht wie ſie ſind, wie es bey der Umkehrung erfor-
dert wird. Man kann ſie demnach eigentlich nicht
umgekehrte Saͤtze nennen.
§. 143.
Nimmt man keine Verwechslung des Praͤdicats
und Subjectes vor, und aͤndert demnach nur die All-
gemeinheit, oder das Bejahen und Verneinen, ſo
werden
[93]von den Urtheilen und Fragen.
werden die Saͤtze einander mehr oder minder entge-
gengeſetzt. Jn Anſehung der Allgemeinheit haben
wir drey Faͤlle:
- 1. Alle A ſind B.
- 2. Nur etliche A ſind B.
- 3. Kein A iſt B.
Von dieſen dreyen Saͤtzen iſt allemal nothwendig nur
einer wahr. Und beſonders, wenn der zweyte
wahr iſt, daß naͤmlich nur etlicheA, Bſind, ſo iſt
es auch wahr, daß etlicheAnichtBſind. Denn
nur etliche will ſagen, weder alle noch keiner.
Demnach ſind einige A, B, andre A nicht. Man
ſieht zugleich hieraus, daß einer dieſer Saͤtze ſtatt
habe, welche Begriffe auch immer fuͤr A und B moͤ-
gen angenommen werden. Und da der zweyte: Nur
etlicheAſindB, auch den Satz: Nur etlicheA
ſind nichtB mit begreift; ſo folgt, daß die oben
beſtimmten 4 Arten von Saͤtzen (§. 123.) nicht nur
den Umfang der einfachen Saͤtze erſchoͤpfen, ſondern
daß bey Vergleichung jeder zween Begriffe einer von
denſelben nothwendig vorkommen und wahr ſeyn
muͤſſe. Demnach iſt die Anzahl wahrer Saͤtze mit
der Anzahl der Combination unſrer Begriffe zu zwey
und zwey, gleich groß, und hingegen die Anzahl der
ganz oder zum Theil falſchen doppelt groͤßer.
§. 144.
Jn Anſehung des Bejahens und Verneinens ha-
ben wir zu bemerken, daß beydes eigentlich das Praͤ-
dicat angeht, und dieſes durch das Verneinen in einen
Terminum infinitum (§. 89.) verwandelt wird. Da
nun folglich B und nichtB unmoͤglich in einem und
eben dem Subjecte beyſammen ſeyn koͤnnen, ſo ſind
- 1. Die Saͤtze: AlleAſindB und alle Aſind
nichtB, einander ſchlechthin widerſpre-
chend,
[94]III. Hauptſtuͤck,
chend, und einer derſelben iſt nothwendig
falſch, und der andre nothwendig allein
wahr. - 2. Die Saͤtze: EtlicheAſindB, und etlicheA
ſind nichtB, ſind ebenfalls widerſprechend,
ſo bald man in beyden eben dieſelben Indiui-
dua von A verſteht. Verſteht man aber nicht
eben dieſelben Indiuidua darunter, ſo koͤnnen
beyde Saͤtze wahr ſeyn, weil es uͤberhaupt
moͤglich iſt, daß einige A, B ſeyn, andre nicht.
Hingegen koͤnnen nicht beyde falſch ſeyn, es
ſey denn, daß man die Beſtimmung hinzu-
ſetze: Nur einigeAſindB; Oder: Nur
einigeAſind nichtB. Denn ſo ſind beyde
falſch, ſobald alle oder kein A, B iſt (§. 143.)
§. 145.
Dieſes iſt, was ſich in Anſehung der Verglei-
chung zweyer Saͤtze ſchließen laͤßt, in welchen einerley
Begriffe beybehalten werden. Man ſieht klar, daß
es eben nicht nothwendig iſt, entweder beyde beyzu-
behalten, oder beyde verſchieden zu ſetzen. Soll
dieſe Abzaͤhlung vollſtaͤndig werden, ſo gehoͤrt noch
der dritte Fall dazu, wenn naͤmlich in beyden Saͤtzen
nur ein Begriff, als eben derſelbe, beybehalten wird.
Hier haben wir demnach fuͤr zween Saͤtze drey Be-
griffe, und aus dieſen dreyen koͤmmt einer in beyden
Saͤtzen vor. Dieſer Fall verdient eine ganz beſon-
dere Betrachtung. Wir werden das folgende Haupt-
ſtuͤck dazu widmen, und dermalen noch einige andre
Unterſchiede von Saͤtzen und der Vergleichung zwee-
ner Begriffe anmerken, ehe wir fortſchreiten, drey
Begriffe mit einander zu vergleichen.
§. 146.
[95]von den Urtheilen und Fragen.
§. 146.
Der erſte dieſer Unterſchiede betrifft die Art, wie
wir von der Wahrheit eines Satzes gewiß werden.
Ein Satz zeigt uͤberhaupt an, daß das Praͤdicat dem
Subjecte zukomme, oder nicht zukomme Eines von
beyden iſt immer wahr. Nun liegt das Bewußtſeyn,
daß z. E. A, B ſey, entweder in der bloßen Vor-
ſtellung der Begriffe A, B; ſo, daß weiter nichts als
dieſe Vorſtellung dazu erfordert werde, oder man ſieht
es nicht ſo unmittelbar ein. Jſt das erſte, ſo wird
der Satz ein Grundſatz genennt. Und dieſe ſind
von zweyen Arten.
- 1. Wenn A und B einerley Begriffe, und daher
hoͤchſtens nur in den Worten verſchieden ſind.
Dieſes giebt gleich guͤltige oder leere Saͤtze.
Der allgemeine Grund, warum die Wahr-
heit ſolcher Saͤtze unmittelbar einleuchter, iſt,
daß wir nicht anders gedenken koͤnnen, als
jede Sache ſey, das was ſie iſt. Wir laſſen
demnach die Saͤtze A iſt A,jede Groͤße iſt
ſich ſelbſt gleich; ein Ding iſt ſich ſelbſt
aͤhnlich; ein Ding kann nicht ſeyn, und
nicht ſeyn zugleich ꝛc. ohne allen Anſtand
als wahr gelten, weil nichts dazu erfordert
wird, als die Worte verſtehen. - 2. Wenn wir in der Vorſtellung eines Begriffes
ſolche Merkmaale finden, ohne die ſich der
Begriff nicht gedenken laͤßt, ſo wird ein
Grundſatz entſtehen, wenn der Begriff zum
Subject, das Merkmaal zum Praͤdicat ge-
macht wird. Z. E. Ein Triangel laͤßt ſich
ohne drey Seiten nicht gedenken. Daher
iſt der Satz: Ein Criangel hat drey Sei-
ten, ein Grundſatz. Eben ſo folgern wir:
Wer
[96]III. Hauptſtuͤck,
Wer denkt, der iſt. Denn man kann nicht
denken, ohne zu ſeyn.
§. 147.
Beut ſich aber ein ſolches Merkmaal, oder Ei-
genſchaft, oder Verhaͤltniß bey der Vorſtellung des
Begriffes nicht unmittelbar an, ſo muß man es ent-
weder durch mehrere Aufmerkſamkeit auf die Sacht
ſelbſt empfinden, und da heißt der daraus gezogene
Satz ein Erfahrungsſatz. Z. E. Die weißen
Lichtſtralen ſind aus gefaͤrbten zuſammenge-
ſetzt. Dieſes erfaͤhrt man, indem man ſie durch das
Priſma von einander trennt. Denn dieſe Eigenſchaft
des Lichtes iſt verborgener, als daß wir ſie uns mit
dem bloßen Begriffe des Lichtes vorſtellen koͤnnten.
§. 148.
Der andre Fall iſt, wenn wir einſehen koͤnnen,
daß ein Satz deswegen wahr iſt, weil andre Saͤtze
wahr ſind Zeigen wir dieſe Verbindung der Saͤtze an,
wodurch die Wahrheit des vorgegebenen Satzes veſt-
geſetzt wird, ſo wird der Satz bewieſen, und der Satz
ſelbſt wird ein Lehrſatz genennt, weil ſeine Wahrheit
nicht unmittelbar ſich uns aufdringt. Z. E. Daß ein
dreyeckigtes Priſma ſich in drey gleichgroße Pyramiden
zerfaͤlle, daß das Quadrat der Hypothenuſe eines
rechtwinklichten Triangels ſo groß ſey, als die Qua-
drate der beyden Catheten zuſammen genommen ꝛc.
ſind Lehrſaͤtze, weil man ihre Wahrheit ohne Beweis
nicht einſieht. Erfahrungsſaͤtze und Lehrſaͤtze laſſen
ſich in einander verwandeln, wenn man zu den erſtern
den Beweis ſucht, und letztere durch Erfahrungen
gleichſam auf die Probe ſetzt.
§. 149.
Dieſer Unterſchied von Saͤtzen iſt lange Zeit in
der Mathematik allein angemerkt worden. Er geht
auf
[97]von den Urtheilen und Fragen.
auf die Gewißheit der Erkenntniß, und in dieſer
Abſicht hat man die Saͤtze allerdings in Grundſaͤtze, Er-
fahrungsſaͤtze und Lehrſaͤtze zu unterſcheiden. Der
Unterſchied liegt in der Sache ſelbſt. Die Mathe-
matiker pflegen dieſe Saͤtze mit ihrem Namen zu be-
nennen, damit ſich der Leſer gleich darein finden koͤnne.
So z. E. wenn ſie einen Satz ohne Beweis vortra-
gen, weil er an ſich von einleuchtender Wahrheit iſt,
ſo nennen ſie ihn einen Grundſatz. Dieſe Ueber-
ſchrift zeigt nicht nur an, fuͤr was man den Satz aus-
giebt, ſondern ſie erinnert auch den Leſer, zu ſehen, ob
er den Satz an ſich betrachtet, und ohne fernern Be-
weis einraͤumen koͤnne? Eben ſo, wenn der Satz eine
Erklaͤrung iſt, wodurch man weiter nichts, als die
Bedeutung eines Wortes anzeigt, ohne die Moͤglich-
keit der Sache damit zu vermengen, ſo wird das Wort
Erklaͤrung zur Ueberſchrift genommen, wiederum,
um dem Leſer anzuzeigen, was er in Anſehung des
Satzes zu bemerken habe. Auf gleiche Art werden
auch die Woͤrter Lehrſatz, Erfahrung, Verſuch,
als Ueberſchriften der Saͤtze gebraucht. Da ſie nur
anzeigen, was die Saͤtze ſeyn ſollen, ſo erinnern ſie
den Leſer, zu unterſuchen, ob ſie es wirklich ſind, weil
die bloße Ueberſchrift die Sache nicht ausmacht, und
ſich folglich niemand durch den Schein der Genauig-
keit darf blenden laſſen, die dieſe Ueberſchriften in den
mathematiſchen Schriften anzeigen. Man kann da-
her die Genauigkeit auch ohne dieſe Ueberſchriften
beobachten. Weil dieſe gar keinen Antheil daran
haben, und bloße Unterſcheidungszeichen der Saͤtze
ſind.
§. 150.
Die Mathematiker haben außer dieſen Namen
der Saͤtze noch einige andre. Denn da die Grund-
Lamb. Org. I. Band. Gſaͤtze
[98]III. Hauptſtuͤck,
ſaͤtze nicht die einigen ſind, die ſie ohne Beweis laſſen,
ſondern auch ſolche Saͤtze, die aus den vorhergehenden
unmittelbar folgen, in eben dieſe Klaſſe gehoͤren, ſo
wird wiederum einem ſolchen Satze, zum Unterſchiede
der andern, der Name eines Corollarii, Conſectarii,
Zuſatzes, Zugabe ꝛc. gegeben, um den Leſer zu er-
innern, daß er auf den vorhergehenden Satz zu ſehen
habe, um die Richtigkeit und Nothwendigkeit der
Folge zu pruͤfen. Denn auch hier macht die Ueber-
ſchrift die Sache nicht zu dem, was ſie ſeyn ſoll, oder
wofuͤr man ſie ausgiebt. Solche unmittelbare Fol-
gen gruͤnden ſich auf die Geſetze des Denkens, und
daher auf gewiſſe allgemeine Arten zu ſchließen, die wir
in Folgendem unterſuchen werden.
§. 151.
Ferner geſchieht es, daß uͤber den gemachten Vor-
trag eins und anders zu erinnern iſt. Alles dieſes
fuͤrgen die Mathematiker unter dem Titel von An-
merkungen, Scholien ꝛc. bey. Es begreifen
demnach die Anmerkungen alles, was nicht einen Theil
von dem Vortrage und ſeinem Zuſammenhange iſt.
§. 152.
Endlich werden in der Mathematik ſolche Saͤtze,
die nicht an ſich nothwendig ſind, aber der Wahrheit
ohne Nachtheil und zum Behufe und Erleichterung
des Vortrages angenommen werden koͤnnen, willkuͤhr-
liche Saͤtze oder Hypotheſen genennet. Solche
ſind in der Rechenkunſt die Zeichen der Zahlen, in
der Algebra alle Zeichen, in der Meßkunſt die Ein-
theilung des Zirkels in 360 Grade ꝛc. Dieſe Hypo-
theſen ſind von zwo andern Arten wohl zu unterſchei-
den, wovon die eine darinn beſteht, daß man das bey
nahe Genaue ſtatt des voͤllig Genauen annimmt, z. E.
das Verhaͤltniß des Diameters zum Umkraiſe, wie 7
zu
[99]von den Urtheilen und Fragen.
zu 22, den Sinus eines ſehr kleinen Bogens fuͤr den
Bogen ſelbſt, ein Stuͤck des Circuli oſculatoris fuͤr
ein Stuͤck der krummen Linie ꝛc. Dieſe Hypotheſen
laͤßt man gelten, wo der Fehler nichts auf ſich hat.
Die andre Art koͤmmt in der Phyſik mehr vor,
wo man, eine Sache zu erklaͤren, gewiſſe Eigenſchaf-
ten ohne Beweis annimmt, oder derſelben eine gewiſſe
Structur andichtet. Von dieſer Art ſind die Hypo-
theſen in der Sternkunde, wodurch man die Erſchei-
nungen in dem Laufe der Planeten zu erklaͤren ſucht.
Solche Hypotheſen gehoͤren mit den willkuͤhrlich
zuſammengeſetzten Begriffen (§. 65 ſeq.) in eine
Klaſſe, und es iſt eben das dabey zu bemerken.
§. 153.
Zu dieſen Arten von Saͤtzen fuͤgen die Mathe-
matiker noch die Lemmata oder Lehnſaͤtze. Dieſes
ſind ſolche, die an dem Orte, wo ſie ſie gebrauchen,
eigentlich nicht ſollten erwieſen, ſondern nur aus einer
vorgehenden Wiſſenſchaft, wo ſie eigentlich hinge-
hoͤren, entlehnt werden. Da ſie aber entweder in
dieſer Wiſſenſchaft noch nicht vorkommen, oder wenn
ſie auch vorkommen, nicht die bekannteſten ſind, ſo
nimmt man ſie an dem Orte, wo man ſie gebraucht,
ausdruͤcklich vor, und zeigt durch die Ueberſchrift,
und ſodann durch den Zuſammenhang ſelbſt, daß ihr
Vortrag an dem Orte keine Ausſchweifung iſt.
§. 154.
Ungeachtet alle dieſe in der Mathematik uͤbliche
Unterſchiede der Saͤtze bloße Namen und Ueberſchrif-
ten ſind, und die Sache ſelbſt nicht ausmachen, ſo
ſehen wir doch, daß der Unterſchied, den ſie anzeigen,
in den Sachen ſelbſt iſt, und daher jeder von dieſen
Saͤtzen ſeine eigene Merkmaale hat, die auch in An-
ſehung ihrer Erfindung, Beurtheilung und Vortra-
G 2ges
[100]III. Hauptſtuͤck,
ges einen Unterſchied ausmachen, und folglich jeder
in dieſer Abſicht beſonders betrachtet zu werden ver-
dient Wir werden dieſes im folgenden thun, wo
es umſtaͤndlicher wird geſchehen koͤnnen; hier aber
noch anmerken, daß nicht nur die Saͤtze, ſondern auch
ſelbſt die Begriffe aͤhnliche Unterſchiede haben, und
daher in Grundbegriffe, Lehrbegriffe, Lehnbe-
griffe, Erſahrungsbegriffe, willkuͤhrliche Be-
griffe eingetheilt werden koͤnnen, wozu noch nach
Aehnlichkeit der erſchlichenen und erbettelten
Saͤtze, die wir unten werden betrachten koͤnnen,
ebenfalls Begriffe von gleichem Namen koͤnnen ge-
rechnet werden. Die Erklaͤrungen dieſer Begriffe
ſind denen von den Saͤtzen ganz aͤhnlich. Die naͤhere
Betrachtung von beyden aber werden wir erſt im fol-
genden vornehmen koͤnnen.
§. 155.
Die bisherige Vergleichung zweener Begriffe
beruhte noch immer auf der Vorſtellung oder dem
Vewußtſeyn, oder Ausdrucke, daß einer dem andern zu-
komme oder nicht, und daher giengen wir noch nicht
weiter, als ſich die Urtheile und Saͤtze erſtrecken.
Es bleiben uns daher noch zwoganze Klaſſen zuruͤck,
und dieſes ſind die Fragen und Regeln, oder Vor-
ſchriften. Sie verdienen eben ſo gut als die Saͤtze
eine beſondere Betrachtung, und werden ohne allen
Grund mit denſelben vermengt. Wir wollen bey den
Fragen aufangen, und ſie auf ihre einfachſte Form
bringen, wie es bisher in der Vernunftlehre nur mit
den Saͤtzen geſchehen.
§. 156.
Eine Frage auf ihre einfachſte Form gebracht,
hat nur zween Begriffe, und von dieſen iſt der eine
nothwendig ein Verbum oder Zeitwort. Z. E.
Eine
[101]von den Urtheilen und Fragen.
- Eine Linie ziehen;
- Ein Verhaͤltniß finden;
- Eine Hoͤhe meſſen;
- Einen Satz beweiſen ꝛc.
Wir ſind dieſe einfache Form wiederum den Mathe-
matikern ſchuldig. Dieſe haben ſolche Fragen Auf-
gaben genannt, und die Antwort darauf, die Aufloͤ-
ſung, wozu noch der Beweis koͤmmt, daß durch die
Aufloͤſung der Frage ein Genuͤgen geſchehen ſey. Es
giebt hier, eben ſo wie bey den Saͤtzen, ſolche Faͤlle, wo
ſo wohl die Aufloͤſung als der Beweis von ſelbſt ein-
leuchtend iſt, und wo man daher durch die bloße Vor-
ſtellung der Frage die Moͤglichkeit derſelben einſiehr.
Solche Aufgaben heißen die Mathematiker Poſtulata
oder Forderungen. Euklid traͤgt ſeine Poſtulata
ſo vor:
- 1. Von jedem Punkt zu jedem andern eine gerade
Linie ziehen. - 2. Eine endliche gerade Linie gerade fortziehen.
- 3. Aus jedem Mittelpunkt und jedem Zwiſchen-
raume einen Zirkel ziehen.
Dieſe euklidiſchen Poſtulata haben offenbar die Form
von jeden ſeinen Aufgaben. Man hat ſie daher ſehr
unrichtig durch Heiſchſaͤtze, und die Aufgaben durch
practiſche beweisbare Saͤtze uͤberſetzt, und in den
neuern Vernunftlehren angenommen. Wir wollen
den Unterſchied deutlicher aufklaͤren.
§. 157.
Einmal mag es angehen, daß man die Saͤtze in
theoretiſche und practiſche eintheile. Erſtere
zeigen z. E. nur, was die Sache iſt, welche Eigen-
ſchaften und Verhaͤltniſſe ſie habe ꝛc. Letztere zeigen,
daß eine Sache moͤglich ſey, wie ſie entſtehe, welche
Veraͤnderungen ſie leide ꝛc. und zwar immer in Ver-
G 3haͤlt-
[102]III. Hauptſtuͤck,
haͤltniß auf uns, weil dieſes ſie eigentlich practiſch
macht. Dieſes macht aber die practiſchen Saͤtze noch
nicht zu Aufgaben, weil auf dieſe Art alle Aufgaben
practiſch ſeyn muͤßten. Man kann ſie aber ſo gut als
die Saͤtze in theoretiſche und practiſche eintheilen.
§. 158.
Die theoretiſchen naͤmlich werden ſolche ſeyn,
die, wenn ſie einmal aufgeloͤſet ſind, es ſchlechthin
dabey ſein Bewenden hat. So z. E. iſt. die Auf-
gabe:
Das Verhaͤltniß zwiſchen der Seite eines
Quadrats und ſeiner Diagonale zu
finden,
ſchlechthin theoretiſch. Denn die Aufloͤſung giebt
ein fuͤr allemal, dieſes Verhaͤltniß ſey, wie 1. zu der
Quadratwurzel von 2. Und dabey bleibt nun weiter
nichts mehr zu thun.
§. 159.
Hingegen bey den practiſchen Aufgaben zeigt die
Aufloͤſung nur an, was man zu thun habe, und thut
es ſelbſt nicht, ſondern uͤberlaͤßt, es in jedem vorkom-
menden Fall zu thun. Z. E. die Aufgabe:
Den Jnnhalt eines Triangels finden,
zeigt in der Aufloͤſung nur, daß man die Baſis mit der
Haͤlfte der Perpendicular multipliciren muͤſſe. Dieſes
bleibt daher in jedem vorkommenden Fall noch zu
thun. Und dadurch iſt die Aufgabe im eigentlichen
Verſtande practiſch.
§. 160.
Ueberdies giebt man an, wie eine Aufgabe in
einen Satz koͤnne verwandelt werden? Dieſes ge-
ſchieht, wenn man die Aufloͤſung zum Subject, die
Frage der Aufgabe aber zum Praͤdicat macht. Man
nehme
[103]von den Urtheilen und Fragen.
nehme nun dieſe Verwandlung mit den beyden vorigen
Aufgaben vor, ſo entſtehen folgende zween Saͤtze:
- 1. Das Verhaͤltniß zwiſchen der Seite und
Diagonaldes Quadrats iſt wie 1 zu der
Quadratwurzel von zwey. Oder um-
gekehrt, das letzte Verhaͤltniß iſt wie das erſte. - 2. Die Baſis eines Triangels mit der halben
Perpendicular multiplicirt, giebt den
Jnnhalt des Triangels.
Der erſte dieſer Saͤtze iſt offenbar bloß theore-
tiſch, weil darinnen von keinem Thun die Rede
iſt. Der andre hat im Subject den Begriff einer
Verrichtung, und iſt daher practiſch. Auf eben
die Art ſind die Aufgaben ſelbſt unterſchieden. Man
ſieht zugleich aus dieſer Verwandlung, daß die Frage
der Aufgabe hoͤchſtens nur das Praͤdicat eines Satzes
abgiebt. Um deſto weniger laſſen ſie ſich mit Saͤtzen
vermengen.
§. 161.
Die Aufgaben ſind darinn beſtimmter, als die
Saͤtze, daß einer, von den zweyen Hauptbegriffen
nothwendig ein Verbum ſeyn, oder eine Handlung
anzeigen muß. Hieraus laſſen ſich ſehr allge-
meine Formeln von Aufgaben herleiten, weil es
Handlungen giebt, die faſt bey jeden Dingen vorkom-
men koͤnnen, wie z. E. die meiſten Handlungen des
Verſtandes, als, erfinden, beurtheilen, unterſu-
chen, verbeſſern, vergieichen, abſtrahiren ꝛc.
Wenn daher unſre Handlungen in Arten eingetheilt,
und bey jeder Art diejenigen Dinge beſtimmt und
kenntlich gemacht werden, bey welchen die Handlung
vorgenommen werden kann, ſo wird ſich ein vollſtaͤn-
diges Verzeichniß ſolcher allgemeinen Formeln von Auf-
gaben ergeben, und die Theorie der practiſchen Theile
G 4der
[104]III. Hauptſtuͤck,
der Wiſſenſchaften dadurch merklichen Stoff zu ihrer
Vollſtaͤndigkeit erlangen.
§. 162.
Die theoretiſchen Aufgaben geben immer an, eine
Sache vollſtaͤndig zu eroͤrtern. Wird demnach in
der Aufloͤſung der Weg angezeigt, wie man dazu ge-
langt iſt, ſo iſt die Aufloͤſung und Beweis beyſammen:
widrigenfalls wird der Beweis beſonders beygefuͤgt.
Wir merken nur noch an, daß man in den letzten Faͤllen
die Aufgabe gemeiniglich in einen foͤrmlichen Lehr ſatz
verwandelt. Hingegen bey den practiſchen Aufgaben
beſteht die Aufloͤſung aus Regeln, welche naͤmlich anzei-
gen, was man zu thun habe. Der Beweis zeigt, daß,
wenn man daſſelbe thut, das Verlangte erhalten
werde. Da man nun in vorkommenden Faͤllen an-
ſtehen kann, ob man den Regeln der Aufloͤſung richtig
gefolgt ſey, ſo wird der Aufgabe oͤfters noch das Mit-
tel beygefuͤgt, wie man ſich hievon verſichern koͤnne.
Und dieſes heißt die Probe. Man findet Beyſpiele
ſolcher Proben in den Regeln der Rechenkunſt, und
ſie ſind da nothwendiger, weil man ſich leicht uͤberrech-
net. Wir haben oben (§. 35.) bey der Aufgabe,
den Umfang eines allgemeinen Begriffes zu beſtimmen,
in der Aufloͤſung ebenfalls ſolche Proben mit ange-
zeigt, weil das Ueberrechnen dabey auch ſehr leicht iſt.
§. 163.
Ungeachtet die Aufgaben, auf ihre einfachſte Form
gebracht, nur aus zween Begriffen beſtehen, ſo ſind
die Mathematiker darinn noch etwas liberaler, und
geben nicht nur an, was zu finden, oder zu thun
ſey; ſondern auch, woraus es koͤnne und ſolle koͤnnen
gemacht oder gefunden werden. Dieſes heißen ſie
Data, das erſtere Quaeſita. Hiebey aber ſind ſie ſo
genau, daß ſie weder mehr noch weniger Data ange-
ben,
[105]von den Urtheilen und Fragen.
ben, als zureichend und nothwendig ſind, die Aufgabe
aufzuloͤſen. Und wenn etwann weniger ſind, ſo geben
ſie gleich der Aufgabe wiederum einen beſondern Na-
men, indem ſie ſie Problema indeterminatum, oder
unbeſtimmte Aufgabe nennen, dergleichen die dio-
phantiſchen ſind, welche von ihrem Erfinder Dio-
phantus ſo genennt werden.
§. 164.
Dieſe ausnehmende Genauigkeit der Mathema-
tiker laͤßt ſich noch wenig in den uͤbrigen Wiſſenſchaf-
ten anbringen. Weil in dieſen die Verhaͤltniſſe der
Dinge, wodurch eines durch die uͤbrigen vollſtaͤndig
beſtimmt wird, vielfacher und verwickelter ſind. Die
Vernunftlehre, und in dieſer beſonders die Theorie
von Umkehrung der Saͤtze, und die von den Schluͤſ-
ſen, giebt noch die beſten Beyſpiele, weil man hier
alle zu der Beſtimmung der Sache noͤthige Stuͤcke
vorgezaͤhlt findet. Jn den uͤbrigen philoſophiſchen
Wiſſenſchaften ſind die Begriffe entweder zu abſtract,
oder die Sachen ſelbſt mit zu vielen Veraͤnderlichkei-
ten und Umſtaͤnden durchflochten, als daß man die
nothwendigen Beſtimmungsſtuͤcke ſogleich finden
koͤnnte. Man wird hiebey eben den Mangel finden,
den wir oben (§. 110.) in einer andern Abſicht an-
gezeigt haben.
§. 165.
Die Data und Quaeſita beſtimmen einander oͤf-
ters auf eine ſolche Art, daß man hinwiederum aus
dem Quaeſito und einigen Datis die uͤbrigen Data
finden kann. Thut man dieſes, ſo wird die Aufgabe
umgekehrt. Z. E. Man kann aus dem Diameter
eines Zirkels den Umkrais, und ſo hinwiederum aus
dieſem jenen finden.
G 5§. 166.
[106]III. Hauptſtuͤck,
§. 166.
Jſt aber das Quaeſitum von der Art, daß man
anſtehen kann, ob man daraus wiederum eben die Data
finden werde, ſo wird die Aufgabe nicht ſchlechthin,
ſondern dergeſtalt umgekehrt, daß man vorgiebt:
alle moͤglichenDatazu finden, die demQuaeſito
ein Genuͤgen thun? Dieſe umgekehrten Aufgaben
werden dadurch allgemeiner und ungleich ſchwerer.
Z. E. Man findet in einer Figur eine gewiſſe Eigen-
ſchaft. Koͤmmt dieſe der Figur allein zu, ſo laͤßt
ſie ſich immer daran erkennen, und gebrauchen.
Widrigenfalls entſteht die Aufgabe: Alle Figuren
zu finden, die dieſe Eigenſchaft haben. Solche um-
gekehrten Aufgaben kommen in der Vernunftlehre
ebenfalls vor, wie wenn man z. E. alle Arten einer
Gattung, alle Faͤlle einer Klaſſe ꝛc. zu finden hat.
Wir haben hievon in vorhergehenden Hauptſtuͤcke ge-
handelt.
§. 167.
Wie die Fragen angeben, was man zu thun
oder zu wiſſen verlangt, ſo geben die Regeln an, wie
man es machen oder finden koͤnne. Jſt hiebey nur
eine Art zu verfahren moͤglich, ſo wird die Regel
nothwendig, und gleichſam zum Geſetze. Auf dieſe
Art nennt man Geſetze der Natur ſolche Regeln,
nach welchen die Natur ſelbſten, und ohne unſer Zu-
thun ihre Wirkungen und Veraͤnderungen herfuͤr
bringt.
§. 168.
Die einfachſte Form der Regeln beſteht eben ſo,
wie die Fragen, aus zweyen Begriffen, wovon der
eine nothwendig eine Handlung vorſtellt. Wir
koͤnnen nach der Sprachlehre den Unterſchied darinn
ſetzen, daß es immer moͤglich iſt, die Fragen durch
den
[107]von den Urtheilen und Fragen.
den Infinitiuum, die Regeln aber durch den Impera-
tiuum des Zeitworts auszudruͤcken; So wie die
cathegoriſchen Saͤtze durch den Indicatiuum, die Be-
dingniſſe, Beſtimmungen, Erforderniſſe ꝛc. mehren-
theils durch den Coniunctiuum ausgedruͤckt werden.
Auf dieſe Art giebt die Sprache ſelbſt, ſo willkuͤhrlich
und unbeſtimmt ſie auch ſonſten iſt, den Unterſchied
der Form von den Saͤtzen, Fragen und Regeln an.
§. 169.
Die Handlung, welche die Aufloͤſung einer pra-
etiſchen Aufgabe vorſchreibt, iſt mehrentheils aus ein-
zelnen Handlungen zuſammengeſetzt, welche endlich das
Geſuchte zu Stande bringen. Dieſe einzelnen Hand-
lungen zuſammengenommen machen einen Begriff
aus, welcher mit dem Begriff der Handlung, ſo die
Aufgabe zu thun vorgiebt, einerley iſt, in ſo ferne
naͤmlich ſtatt dieſer jene vorgenommen werden koͤnnen.
Man kann demnach aus beyden einen identiſchen
Satz machen, welcher gerade und umgekehrt allge-
mein wahr bleibt. Dieſes iſt nothwendig, weil die
Aufloͤſung weder mehr noch minder vorſchreiben ſolle,
als zureichend und nothwendig iſt, der Aufgabe Ge-
nuͤgen zu leiſten. Der Vortrag der Regeln in der
Aufloͤſung richtet ſich ſchlechthin nach der Ordnung
in der Entſtehungsart der Sache, die man machen oder
finden will. Daher gehen immer die vorher, welche
die Ausuͤbung der folgenden moͤglich machen.
§. 170.
Wenn man in der Erfindung der Aufloͤſung eben
dieſer Ordnung folgt oder folgen kann, ſo geht man den
geraden Weg, und die Aufloͤſung wird ſynthetiſch ge-
nennt. Man kann daher dieſen Weg gehen, ohne ſich
eben eine Aufgabe vorzuſetzen, wenn man z. E. einige
Handlungen, oder die Verhaͤltniſſe der Dinge, die
dadurch
[108]III. Hauptſtuͤck,
dadurch entſtehen oder entſtehen koͤnnen, mit einan-
der combinirt, und den Erfolg, den ſie herfuͤrbringen,
beſtimmt. Jſt dieſer Erfolg erheblich, ſo laͤßt er
ſich ſodann in Form einer Frage vortragen, und dieſe
nebſt der Aufloͤſung und ihrem Beweiſe, wird ſodann
die voͤllige Form einer Aufgabe haben. Dieſe Art
Aufgaben ſynthetiſch zu finden, iſt in allen Theilen der
Mathematik ſehr uͤblich, und koͤmmt haͤufig vor.
§. 171.
Kehrt man hingegen dieſe Ordnung um, indem
man bey dem geſuchten anfaͤngt, und aus ſeiner Na-
tur herleitet, in welche einfachere Handlungen die, ſo
die Aufgabe vorgiebt, aufgeloͤſet werden kann, bis
man endlich auf ſolche koͤmmt, die entweder an ſich
moͤglich, und daher Poſtulata ſind, oder die durch
vorhergehende Aufgaben moͤglich gemacht worden; ſo
wird eine ſolche Aufloͤſung analytiſch genennt. Da
dieſe umgekehrte Ordnung das eigentliche Geſchaͤffte
der Algeber in ihrem ganzen Umfange iſt, ſo hat ſie
eben daher den Namen der Analytik bekommen. Die
analytiſchen Aufgaben ſind immer von der Art, daß,
wenn man das Geſuchte haͤtte, alles uͤbrige daraus
ſynthetiſch und leicht koͤnnte gefunden werden. Und
dieſes iſt auch der Grund, warum man bey dem Ge-
ſuchten anfaͤngt, und dabey ſieht, wie ſich das uͤbrige
daraus finden ließe. Hat man dieſes gethan, ſo
koͤmmt die ganze Sache auf den Ruͤckweg an. Und
wenn dieſer gefunden iſt, ſo iſt auch die analytiſche
Aufloͤſung gefunden.
§. 172.
Bey der analytiſchen Aufloͤſung der Aufgaben,
und vornehmlich bey ihrer Erfindung, kommen gewiſſe
Begriffe vor, die wir hier noch anzeigen wollen, weil
ſie in der Vernunftlehre betrachtet zu werden ver-
dienen.
[109]von den Urtheilen und Fragen.
dienen. Es ſind die Symptomata, Criteria, und Re-
quiſita. Die Symptomata ſind Eigenſchaften, Um-
ſtaͤnde, Verhaͤltniſſe ꝛc. die ſich bey Unterſuchung,
und allmaͤhlicher, theils auch angeſtellter Veraͤnderung
und Vergleichung der Sache hervorthun, und etwas
zu ihrer Kenntniß beytragen, dieſelbe aber nicht durch-
aus beſtimmen. Durch ſolche Veraͤnderungen und
Vergleichungen wird die Sache gleichſam auf die
Probe geſetzt, und ihre wahre Merkmaale klaͤren ſich
dadurch mehr auf. Die Criteria oder Kennzeichen
ſind Eigenſchaften oder Verhaͤltniſſe, woraus man
ſchließen kann, daß die Sache oder ihre Theile ſolche
ſind, die man ſchon unter einem andern Namen kennt.
Sie kommen z. E. vor, wenn man uͤberhaupt die
Gattung, aber noch nicht die beſondere Art weis, wor-
unter die Sache gehoͤrt, und ſind deſto dienlicher, je
einfacher und kenntlicher ſie ſind. Die Requiſita oder
Erforderniſſe, ſind Eigenſchaften, die die geſuchte Sa-
che haben ſoll. Man ſucht naͤmlich mehrentheils
bey der Aufloͤfung einer Aufgabe, was zu der Sache
erfordert wird, und welche Eigenſchaften und Verhaͤlt-
niſſe ſie haben ſoll, damit man nachgehends deſto ehender
ihre Moͤglichkeit und Entſtehungsart finden koͤnne.
Aus den Requiſitis werden die Criteria hergeleitet, weil
dieſe das Auffuchen der Regeln oder Handlungen er-
leichtern. Die Symptomata ergeben ſich, wenn man
die Sache ſchon gewiſſer Maaßen kennt und vor
ſich hat.
§. 173.
Wir werden nun wiederum zu den einfachen
Saͤtzen zuruͤck kehren, und zeigen, daß ſie auf eine
gewiſſe Art in Anſehung ihrer Form figuͤrlich vor-
geſtellt und gezeichnet werden koͤnnen. Da wir
dieſe Zeichnung aus der Natur der Sache herleiten
werden,
[110]III. Hauptſtuͤck,
werden, ſo werden wir ſie ſodann auch im folgenden
zu Abkuͤrzung vieler Beweiſe gebrauchen. Die Gruͤn-
de ſind folgende:
§. 174.
Jeder allgemeine Begriff erſtreckt ſich auf alle
Indiuidua, bey welcher er vorkoͤmmt. Er hat dem-
nach eine gewiſſe Ausdehnung. Man ſtelle ſich alle
dieſe Indiuidua in einer Reihe oder Linie vor, ſo
wird die Laͤnge dieſer Linie die Ausdehnung des all-
gmeinen Begriffes figuͤrlich vorſtellen.
§. 175.
Wird dieſe Linie gezogen, und alle Indiuidua durch
eine Reihe von Punkten, welche ſie vorſtellen, darun-
ter geſetzt, ſo thut man hiedurch nichts anders, als
was der Ausdruck: Alle dieſeIndiuiduagehoͤren
unter dieſen allgemeinen Begriff, von Wort zu
Wort anzeigt. Da nun dieſer Ausdruck genau richtig
iſt, ſo iſt auch die figuͤrliche Vorſtellung genau richtig.
Wir koͤnnen es noch auf folgende Art beweiſen.
§. 176.
Da wir dem allgemeinen Begriffe deswegen eine
Ausdehnung geben, weil er ſich auf mehrere Indiui-
duaerſtreckt, ſo hat ein Indiuiduum nothwendig
keine Ausdehnung, weil es in allewege determinirt iſt,
und folglich ſich nicht weiter erſtrecken kann. Daher
muß es nothwendig durch einen Punkt vorgeſtellt
werden, weil ein Punkt ebenfalls keine Ausdeh-
nung hat.
§. 177.
Ferner ſind die Indiuidua, ſo unter einen allge-
meinen Begriff gehoͤren, nicht nur in beſondern Eigen-
ſchaften, ſondern vornehmlich auch den Graden nach
verſchieden, folglich ſind ſie der Zahl nach eben ſo gut
unendlich als die Punkte, einer Linie. Demnach kann
der
[111]von den Urtheilen und Fragen.
der allgemeine Begriff, oder ſeine Ausdehnung,
nicht durch eine gewiſſe Anzahl von Punkten, ſondern
er muß durch eine Linie vorgeſtellt werden.
§. 178.
Die Laͤnge dieſer Linie bleibt in ſo ferne unbe-
ſtimmt, als die Einheit zum Maaßſtabe dabey will-
kuͤhrlich iſt. Man kann ſie daher, ſo lange der all-
gemeine Begriff nur allein und fuͤr ſich betrachtet
wird, von beliebiger Laͤnge annehmen. Da aber ein
Begriff allgemeiner ſeyn, und ſich folglich auf mehrere
Indiuidua erſtrecken kann, als ein andrer, ſo iſt klar,
daß auch die Linien, ſo beyde vorſtellen, von unglei-
cher Laͤnge ſeyn muͤſſen, wenn ſie nach einem glei-
chen Maaßſtabe mit einander verglichen werden ſollen.
§. 179.
Unſre Erkenntniß reicht noch nicht ſo weit, daß
wir die Verhaͤltniſſe der Ausdehnung jeder Begriffe,
und| folglich auch der Linien, ſo ſie vorſtellten, ſollten auf
Zahlen bringen koͤnnen. Jn ſo fern wir aber dennoch
wiſſen, daß ein Begriff allgemeiner iſt, als ein an-
drer, in ſo fern koͤnnen wir auch die Linie des er-
ſtern laͤnger annehmen, uͤbrigens aber dabey unbe-
ſtimmt laſſen, wieviel ſie noch muͤſſen verlaͤngert wer-
den, wenn die andre zum Maaßſtabe angenommen
wird. Die Laͤnge, die ſie gewiß haben ſolle, wer-
den wir durch eine wirkiche gezogene Linie, die unbe-
ſtimmte Verlaͤngerung aber durch ſogenannte blin-
de Linien vorſtellen, die Begriffe ſelbſt aber durch
Buchſtaben von einander unterſcheiden, die an die
Ende der gewiß beſtimmten Linie geſetzt werden. Z. E.
[112]III. Hauptſtuͤck,
§. 180.
Ungeachtet wir alſo die Verhaͤltniſſe der Linien ver-
ſchiedener Begriffe nicht auf Zahlen bringen koͤnnen,
ſo geben uns die Saͤtze dennoch etwas davon an, und
zwar ſo viel als zureichend iſt, jede Art von Saͤtzen
zu zeichnen. Zu dieſem Ende doͤrfen wir nur das,
was wir von denſelben wiſſen, in die hier angenom-
mene Sprache uͤberſetzen. Dieſes geſchieht nun fol-
gender maaßen, gleichſam von ſelbſten.
§. 181.
Ein allgemein bejahender Satz: AlleAſind
B, will ſagen, daß alle Indiuidua A unter den Be-
griff B gehoͤren. Dieſer Begriff dehnt ſich demnach
auf alle aus. Hingegegen laͤßt der Satz unbeſtimmt,
ob nicht noch andre Indiuidua unter B gehoͤren, es
ſey denn, daß man wiſſe, daß der Satz identiſch ſey.
(§. 124.) Wird demnach die Linie fuͤr den Begriff
A zum Maaßſtabe angenommen, ſo zeigt der Satz
an, daß die Linie fuͤr B nicht kuͤrzer, wohl aber laͤn-
ger ſeyn koͤnne. Ferner fordert der Ausdruck, daß
alleAunterBgehoͤren, von Wort zu Wort ge-
nommen, daß man die Linie A unter B ſetzen muͤſſe.
Demnach iſt die Zeichnung eines allgemein bejahenden
Satzes folgende:
oder wo es nichts auf ſich hat:
§. 182.
Die Umkehrung eines allgemein bejahenden Sa-
tzes ergiebt ſich nun von ſelbſten, weil man nur die
Obere Linie unter die andre ſetzen darf.
[113]von den Urtheilen und Fragen.
Dieſes zeigt, es ſey unbeſtimmt, ob alle B, A ſeyn,
aber nothwendig, daß es wenigſtens einige ſeyn. Da
man dieſes auch aus der directen Zeichnung von oben
herunter ſchließen kann, ſo ſieht man, daß das Ver-
ſetzen eben nicht noͤthig iſt.
§. 183.
Allgemein verneinende Saͤtze: KeinAiſtB,
zeigen an, daß kein A unter B gehoͤre. Hier bleibt
demnach das Verhaͤltniß der Ausdehnung beyder Be-
griffe unbeſtimmt, und der Satz fordert nur, daß
man die Linie des einen nicht unter die Linie des an-
dern ſetze. Sie werden demnach ſeitwaͤrts neben ein-
ander ſtehen muͤſſen. Z. E.
oder
Dieſe Zeichnung ſtellt demnach vor, daß kein A, B
ſey, und hinwiederum auch, daß kein B, A ſey. Wir
koͤnnen noch anmerken, daß, wenn man aus andern
Abſichten und Gruͤnden des einen oder beyder Be-
griffe unbeſtimmte Ausdehnung durch Punkte anzei-
gen muß, auch dieſe Punkte noch von einander ent-
fernt bleiben muͤſſen. Z. E.
weil der Satz alle A von allen B ausſchleußt.
§. 184.
Bejahende Particularſaͤtze: EtlicheA
ſindB, laſſen erſtlich unbeſtimmt, ob nicht alle A, B
ſeyn, und hinwiederum, ob nicht alle B, A ſeyn.
Demnach werden wir dieſe Saͤtze ſo zeichnen:
Denn da wir fuͤr den Begriff A nur einen Buchſta-
Lamb. Org. I. Band. Hben
[114]III. Hauptſtuͤck,
ben ohne Linie behalten, ſo wird dadurch angezeigt,
daß wir nur von einigen, und vielleicht nur von einem
Indiuiduo A wiſſen, daß es B ſey. Die Punkte zei-
gen das Unbeſtimmte an. Uebrigens kann es Faͤlle
geben, wo die Zeichnung von ſelbſt auch ſo ausfaͤllt,
(daß man naͤmlich keinen beſtimmten Maaßſtab
hat.)
Und zuweilen auch ſo,
welches aber einen umgekehrten allgemeinen Satz an-
zeigt.
§. 185.
Endlich zeigen particularverneinende Saͤtze:
EtlicheAſind nichtB, wiederum nur ſo viel an,
daß der Buchſtabe A muͤſſe ſeitwaͤrts dem B geſetzt,
und auf beyden Seiten punktirt werden:
woraus man gleich ſieht, daß, weil man von der
Ausdehnung des A gar nichts beſtimmtes weis, der
Satz auch umgekehrt voͤllig unbeſtimmt bleibe. Ue-
brigens koͤnnen auch Zeichnungen von folgender Form
vorkommen:
oder auch
Letzters, wenn man aus andern Gruͤnden weis, daß
B nur auf der einen Seite punktirt, das iſt, von un-
beſtimmter Ausdehnung gelaſſen werden muͤſſe. Denn
uͤber-
[115]von den Urtheilen und Fragen.
uͤberhaupt betrachtet kann beydes ſeyn, weil das Ver-
haͤltniß der Ausdehnung beyder Begriffe unbeſtimmt,
und noch durchaus unbekannt iſt.
§. 186.
Man ſieht aus dieſer Zeichnungsart, daß ſie die
Saͤtze nicht nur nothwendig von einander unterſchei-
det, ſondern ſelbſt das Unbeſtimmte in denſelben an-
giebt, und zugleich zeigt, ob und wiefern ein Satz
auch umgekehrt nothwendig wahr bleibt, und wiefern
er in beſondern Faͤllen noch allgemeiner wahr ſeyn
kann, ungeachtet uͤberhaupt betrachtet die Schranken
enger geſetzt werden.
§. 187.
Wird demnach ein Satz nach dieſen Regeln ge-
zeichnet, ſo iſt es nachgehends, uͤberhaupt betrachtet,
gleich viel, welchen von beyden Begriffen man zum
Subject oder zum Praͤdicat mache. Denn die Zeich-
nung giebt an, ob man ihn allgemein oder particular,
bejahend oder verneinend als wahr anſehen koͤnne, und
in dem Fall des (§. 185.) zeigt ſich auch, daß ein par-
ticular verneinender Satz umgekehrt voͤllig unbeſtimmt
bleibe.
§. 188.
Es wird ferner nicht ſchwer ſeyn, die Arten einer
Gattung zu zeichnen. Denn der Begriff der Gattung
dehnt ſich weder mehr noch minder als auf ſeine Ar-
ten aus. Dieſe ſind ſaͤmmtlich unter demſelben ent-
halten, und keine Art laͤßt ſich von der andern beja-
hen. Zu dieſen Saͤtzen fehlt demnach weiter nichts,
als die Anzahl der Arten, und das Verhaͤltniß ihrer
Ausdehnung. Letzteres iſt, wie uͤberhaupt alle ſol-
che Verhaͤltniſſe, unbekannt. Daher wird die Laͤnge
der Linien, ſo die Arten vorſtellen, zwar willkuͤhrlich,
jedoch mit dem Bedinge angenommen, daß man ſie
H 2nicht
[116]III. Hauptſtuͤck,
nicht fuͤr beſtimmt anſehe. Man ſetze z. E. eine Gat-
tung A habe drey Arten, B, C, D, ſo wird die Zeich-
nung nothwendig dieſe ſeyn:
Denn B+C+D machen nothwendig A aus.
§. 189.
Wird eine Gattung noch in einer oder mehrern
Abſichten eingetheilt, ſo laͤßt ſich jede Eintheilung
beſonders zeichnen. Allein nicht ſo, daß eine ſogleich
mit den andern koͤnne verglichen werden. Denn es
bleibt uͤberhaupt unbeſtimmt, nicht nur, wie groß
die Ausdehnung jeder Art ſey, ſondern auch, in wel-
cher Ordnung die Arten der einen Eintheilung unter
die Linie der Gattung ſollen geſetzt werden, nachdem
man die Ordnung der Arten der andern Eintheilung
willkuͤhrlich angenommen. Daher muͤſſen die Arten
der beyden Eintheilungen beſonders mit einander ver-
glichen werden, damit man aus der Natur der Sa-
che finde, welche einander zukommen oder nicht. So
wird man zuweilen finden, daß die Linien, ſo die Ar-
ten der einen Eintheilung vorſtellen, muͤſſen in Theile
getheilt und verſetzt werden, und dieſes geſchieht,
wenn ein Glied der einen Eintheilung mehrern Glie-
dern der andern zukoͤmmt. Man ſieht wiederum
hieraus, wie ſehr unſer Erkenntniß unbeſtimmt iſt,
da man in der allgemeinen Zeichnung der Saͤtze und
Arten ſo viel unbeſtimmtes laſſen muß, welches zu-
gleich mit dem Erkenntniß wuͤrde beſtimmt werden
koͤnnen, wenn wir nicht ſo weit zuruͤck blieben.
§. 190.
Die disjunctiven Saͤtze laſſen ſich gar nicht zeich-
nen, und zwar wiederum, weil ſie nichts poſitives
ſetzen. Es ſey z. E. AentwederBoderC, ſo giebt
dieſer
[117]von den Urtheilen und Fragen.
dieſer Satz ſo viel an, daß B und C einander vernei-
nen. Folglich wenn man gleich dieſe zween Begriffe
neben einander ſetzt. (§. 183.)
ſo weis man zwar, daß A unter einen oder den an-
dern, und folglich weder unter beyde, noch unter
keinen von beyden geſetzt werden muͤſſe. Erſteres
iſt fuͤr ſich richtig, weil B und C einander verneinen,
letzteres aber, wenn der Satz wahr iſt, daß naͤmlich
A nothwendig entweder B oder C ſey. Da aber noch
unbeſtimmt bleibt, ob es B oder C ſey, ſo kann die
Zeichnung nicht vorgenommen werden, es ſey denn,
daß man es hypothetiſch thue, und dann aus andern
Gruͤnden ausmache, ob es beſtehen koͤnne oder nicht.
§. 191.
Hingegen laſſen ſich copulative Saͤtze zeichnen.
Denn es ſey der Satz, A iſt B und C, ſo wird A
als ein Maaßſtab angenommen, und die Zeichnung
iſt folgende: (§. 181.)
Woraus man nicht nur ſieht, daß A, ſo wohl B als
C iſt, und hinwiederum ſo wohl einige B, als einige
C, A ſind; ſondern uͤberdies auch nothwendig einige
B, C und einige C, B ſeyn muͤſſen. Alle dieſe Saͤtze
ſind hier auf einmal vorgeſtellt, und zeigen zugleich in
einem vorlaͤufigen Beyſpiele, daß dieſe Zeichnungs-
art nicht bloß nur das vorſtelle, was wir zeichnen
wollten, ſondern noch uͤberdies alles, was daraus
kann gefolgert werden.
§. 192.
Hingegen kann die Zeichnung der copulativen
Saͤtze von der Form, ſowohlAalsBiſtC, uͤber-
H 3haupt
[118]III. Hauptſtuͤck,
haupt betrachtet, nur ſo vorgenommen werden, daß
man zween Saͤtze daraus macht, und jeden beſonders
zeichnet. Z. E.
Denn wenn man ſchon die Linie A unter die Linie C
nach Belieben ſetzt, ſo bleibt es unbeſtimmt, ob die
Linie B unter oder neben A ſolle geſetzt werden, un-
geachtet der Satz ſo viel angiebt, daß ſie nicht uͤber die
Linie C hinausreichen ſolle. Will man daher weiter
gehen, ſo muß man vorher aus andern Gruͤnden
ausmachen, ob alle, oder etliche, oder kein A, B ſey.
Denn fuͤr dieſe Faͤlle haben wir offenbar dreyerley Zeich-
nungen, als:
Wo bey der zweyten die Punkte ſich nicht weiter als
C ausdehnen koͤnnen, weil alle A unter C gehoͤren.
§. 193.
Wenn man aber dieſes unbeſtimmt laͤßt, wiefern
A dem B zukomme oder nicht, hingegen weis, daß
ſo wohl A als B mehr als die Haͤlfte von den Indiui-
duis von C ausmache, ſo iſt offenbar, daß eine
Zeichnung vorgenommen werden koͤnne, und zwar auf
beyde folgende Arten. Erſtlich
Denn weil B \> ½ C, und A \> ½ C, ſo iſt A \> C—B,
und in dieſem Fall ſind nothwendig einige A, B, und
einige B, C. Sodann kann man ſo zeichnen:
[119]von den Urtheilen und Fragen.
weil es hier gleich viel iſt, ob man mit A oder B an-
fange. Uebrigens koͤmmt der Fall, den wir hier be-
trachtet haben, nicht oft vor, weil uns das Verhaͤlt-
niß der Ausdehnung jeder Begriffe noch vollends un-
bekannt iſt. Wir fuͤhren dieſes demnach nur als ein
Beyſpiel an, daß man dieſe Verhaͤltniſſe allerdings
gebrauchen koͤnnte.
§. 194.
Man ſieht aus allem dieſem, daß die hier ange-
gebene Zeichnungsart eben ſo weit geht, als unſer
Erkenntniß beſtimmt iſt, und uns uͤberdies noch au-
genſcheinlich zeigt, wie und wo ſie anfaͤngt unbeſtimmt
zu werden, und wo wir die fernere Beſtimmung aus
der Natur der Sache ſelbſt noch erſt herleiten muͤſ-
ſen. Ferner ſehen wir gleichfalls daraus, daß, wenn
man dieſe Beſtimmungen vollſtaͤndig machen koͤnnte,
unſer Erkenntniß figuͤrlich und in eine Art von Geo-
metrie und Rechenkunſt verwandelt werden koͤnnte.
Denn die Linien, die wir hier unter und neben ein-
ander ſetzen, und noch großentheils unbeſtimmt laſſen,
ſind nur noch die erſten Anfaͤnge dazu. Wir merken
hier nur gelegentlich an, daß auch der Ausdruck:
ein Begriff ſey in dem andern enthalten, eben-
falls zu einer figuͤrlichen Vorſtellung der Begriffe den
Grund lege; dagegen aber ein viel beſtimmteres Er-
kenntniß fordere, wenn ſie wie die bisher angezeigte
gebraucht werden ſolle. Die Ausdruͤcke abſtrahiren,
entwickeln, aufloͤſen, zuſammenſetzen, verbin-
den ꝛc. gehoͤren ebenfalls dahin. Uebrigens iſt fuͤr
ſich klar, daß durch ſolche Zeichnungen weiter noch
nichts, als nur die allgemeinſten Verhaͤltniſſe der
Begriffe, ihre allgemeinen Verbindungen und Zu-
ſammenhang vor Augen gemalt wird. Es iſt aber
dieſes eben nicht ſo unerheblich, weil, wie wir bereits
H 4in
[120]IV. Hauptſtuͤck,
in einem Beyſpiele geſehen (§. 193.) ſolche Zeichnun-
gen uns nicht nur die Verhaͤltniſſe anzeigen, die wir
eigentlich, ohne an andre zu denken, zeichnen woll-
ten; ſondern ſie geben uns auch noch mit einem An-
blicke die uͤbrigen auch an, die zugleich mit in der be-
zeichneten Sache ſind. Ein Vorzug, den bisher die
Algeber allein hatte.
Viertes Hauptſtuͤck.
Von den einfachen Schluͤſſen.
§. 195.
Jm vorhergehenden Hauptſtuͤcke ſind wir mit der
Vergleichung zweener Saͤtze (§. 146.) da ſtehen
geblieben, daß wir die betrachtet haben, in welchen
einerley Begriffe beybehalten werden. Wir haben
zugleich angezeigt, daß zwiſchen dieſem Fall, und
demjenigen, wo jeder von beyden Saͤtzen verſchiedene
Begriffe hat, noch ein Mittel ſtatt finde, und die-
ſes darinn beſtehe, daß beyde Saͤtze weder keinen
noch zween, ſondern nur einen gemeinſamen Begriff
haben. Denn da jeder Satz auf ſeine einfachſte Form
gebracht, nebſt der Copula noch zween Begriffe hat,
ſo haben zween Saͤtze vier Begriffe, und unter die-
ſen ſind entweder zween, oder einer, oder keiner, in
beyden Saͤtzen gemeinſam. Den erſten Fall haben
wir bereits betrachtet, (§. 139.) und werden nun
den andern vornehmen, wo naͤmlich in zween Saͤtzen
nicht mehr als drey Begriffe vorkommen, weil einer
derſelben in beyden iſt.
§. 196.
[121]von den einfachen Schluͤſſen.
§. 196.
Man ſieht leicht, daß es hiebey auf die Stelle
ankoͤmmt, die der gemeinſame Begriff in beyden Saͤ-
tzen hat, wenn man die verſchiedenen Faͤlle, die hier
vorkommen, abzaͤhlen will. Jeder Satz hat nur
zwo Stellen, naͤmlich die von dem Subject, und
die von dem Praͤdicat. Daher koͤnnen bey beyden
Saͤtzen auch nur vier Verwechslungen vorgenommen
werden. Denn der gemeinſame Begriff wird ent-
weder 1) in beyden Saͤtzen das Subject, oder 2) in
beyden das Praͤdicat, oder 3) in dem erſten das Sub-
ject und in dem andern das Praͤdicat, oder endlich
4) in dem erſten das Praͤdicat und in dem andern das
Subject ſeyn. Von dieſen vier Faͤllen iſt der erſte
und zweyte nothwendig von einander und von den bey-
den uͤbrigen verſchieden; Hingegen ſcheint ſich der
dritte von dem vierten nur durch die Verwechslung der
Saͤtze zu unterſcheiden, weil in der That dadurch ei-
ner in den andern verwandelt wird, ſo fern wir naͤm-
lich nicht weiter, als auf dieſe Vergleichung ſehen.
Jſt aber dieſe Verwechslung in andern Abſichten
nicht gleichguͤltig, ſo ſcheint es wiederum, daß ſie es
auch in Anſehung der beyden erſten Saͤtze nicht ſeyn
ſollte, ungeachtet ſie ihre Form nicht aͤndert. Hier-
aus folgt, daß in Abſicht auf dieſe Verwechslung je-
der der beyden erſten Faͤlle ſich in zween einzelne Faͤl-
le zertheilen ſollte. Da aber die aͤußerliche Form
nichts anbeut, wodurch ſich dieſe von einander unter-
ſcheiden ließen, ſo iſt man auch bey den angezogenen
vier Faͤllen geblieben, und hat ihnen eine gewiſſe Ord-
nung und Namen gegeben.
H 5§. 197.
[122]IV. Hauptſtuͤck,
§. 197.
Die Ordnung ſtellt folgende Figur vor:
Jn dieſer Figur, von welcher die angezogenen vier
Faͤlle allem Anſehen nach auch den Namen von Figu-
ren erhalten haben, ſtellen die Zahlen, I, II, III, IV.
die Ordnung derſelben vor, und ſie werden auch da-
her die erſte, zweyte, dritte, vierte Figur genennet,
um ſie von einander zu unterſcheiden. Die Buch-
ſtaben M, S, P ſtellen die drey Begriffe beyder Saͤtze,
und M beſonders den gemeinſamen Begriff vor, der
in beyden Saͤtzen vorkoͤmmt. Dieſe drey Begriffe
hat man Glieder oder Terminos, den gemeinſamen
Begriff aber das Mittelglied genennet. Endlich
da in der Figur ein Satz unter den andern gezeichnet
wuͤrde, ſo hieß man den einen Oberſatz,Propoſi-
tio maior, den andern Unterſatz,Propoſitio minor,
beyde aber wegen den Schluͤſſen, die daraus gezo-
gen werden koͤnnen, Vorderſaͤtze oder Praͤmiſſen.
Da das Mittelglied in beyden Saͤtzen gemeinſam iſt,
ſo wuͤrde das eigne Glied des Oberſatzes Vorder-
Glied,Terminus maior, das eigene Glied des Un-
terſatzes Hinterglied,Terminus minor genennet.
Dieſe Namen, die wir hier auf einander gehaͤuft ha-
ben, muß man ſich, wie die von den Linien und Fi-
guren in der Geometrie, voraus bekannt machen.
Wir werden uns wieder zur Sache ſelbſt kehren.
§. 198.
Bisher haben wir zu dieſen Figuren noch nichts
anders, als uͤberhaupt Saͤtze genommen, die ein
gemeinſames Glied haben, und folglich ſo zu reden
an einander haͤngen. So abſtract aber ſind die Saͤ-
tze
[123]von den einfachen Schluͤſſen.
tze in einzelnen vorkommenden Faͤllen nicht, ſondern
entweder allgemein oder beſonders, bejahend oder ver-
neinend. Nun kann, uͤberhaupt betrachtet, in jeder
Figur ſowohl der Oberſatz als der Unterſatz eine von
dieſen vier Arten von Saͤtzen ſeyn. Jede Art, die
man fuͤr den Oberſatz nimmt, laͤßt jede von den vier
Arten fuͤr den Unterſatz zu. Daher haben wir fuͤr
jede Figur 16 Faͤlle.
§. 199.
Um dieſe Combination vorzuſtellen, und noch aus
andern Betrachtungen, hat man fuͤr jede Art Saͤtze
einen der vier Selbſtlauter, A, E, I, O, genommen,
und einen
- allgemein bejahenden A
- allgemein verneinenden E
- beſonders bejahenden I
- beſonders verneinenden O
genennet. Auf dieſe Art finden ſich, zween und zween
Saͤtze combinirt, folgende Faͤlle fuͤr jede der vier Fi-
guren.
Und auf dieſe Art ſind endlich alle moͤgliche Faͤlle fuͤr
zween Saͤtze, die ein gemeinſames Glied haben, in
Anſehung ihrer aͤußerlichen Form vollſtaͤndig beſtimmt
und vorgezaͤhlt. Wir werden nun ſehen, was man
daraus finden koͤnne.
§. 200.
Einmal, da beyde Saͤtze nur ein gemeinſames
Glied haben, ſo laͤßt ſich aus der Wahrheit und Form
des einen auf die Wahrheit und Form des andern
nicht ſchließen. Es koͤnnen beyde oder einer ganz
oder
[124]IV. Hauptſtuͤck,
oder zum Theil wahr oder falſch ſeyn, ſo oft man
nicht aus andern Gruͤnden weis, ob die beyden Glie-
der eines jeden Satzes von einander uͤberhaupt oder
beſonders bejaht oder verneint werden muͤſſen. Hier,
da wir nur ihre Form betrachten, werden ſie ſaͤmmt-
lich bedingnißweiſe als wahr angenommen, damit
man ſehen koͤnne, wiefern die Form ſelbſt zu fernern
Wahrheiten leiten koͤnne.
§. 201.
Um dieſes nun vorzunehmen, werden wir die
oben (§. 173. ſeqq.) angegebene Zeichnungsart dazu
gebrauchen, und zu mehrerer Erlaͤuterung mit einem
Beyſpiele anfangen. Man habe demnach folgende
zween Saͤtze:
- Alle M ſind P.
- Alle S ſind M.
Dieſe ſind aus der erſten Figur (§. 197.) und zwar
beyde allgemein bejahend. Demnach wird (§. 181.)
die Zeichnung folgende ſeyn:
Denn M hat eine groͤßere Ausdehnung als S; und P
eine groͤßere als M. Ferner gehoͤren alle S unter M,
und alle M unter [S.]
§. 202.
Dieſe Zeichnung giebt uns nun mit einem male
ſechs Saͤtze an, naͤmlich außer den zweyen gezeichne-
ten noch folgende vier:
- 1. Etliche M ſind S
- 2. Etliche P ſind M
- 3. Etliche P ſind S
- 4. Alle S ſind P.
Von dieſen ſind die beyden erſten nur die umgkehrten
von
[125]von den einfachen Schluͤſſen.
von den beyden gezeichneten, und jeder haͤtte fuͤr ſich
gefunden werden koͤnnen. Jn den beyden letzten wird
P mit S verglichen, und hiezu waren beyde gezeich-
neten Saͤtze noͤthig, weil dieſe Vergleichung aus ei-
nem allein nicht wuͤrde gefunden worden ſeyn. Bey-
de folgen aus den gezeichneten Saͤtzen, und wer-
den daher auch Schlußſaͤtze genennet. Jndeſſen,
da man angenommen, daß das eigne Glied des Un-
terſatzes, welches hier S iſt, zum Subject des Schluß-
ſatzes genommen werde, ſo gilt fuͤr die erſte Figur
nur der letzte von den angezogenen vier Saͤtzen, naͤm-
lich: AlleSſindP. Und ſo wird der voͤllige Schluß,
oder die voͤllige Schlußrede,Syllogiſmus, in die
gemeine Sprache uͤberſetzt, folgende ſeyn:
- Oberſatz ........ Alle M ſind P
- Unterſatz ...... Alle S ſind M
- Schlußſatz .... folglich Alle S ſind P.
§. 203.
Da man alſo aus zween Saͤtzen, die ein gemein-
ſames Glied haben, einen dritten folgern kann, der
das Verhaͤltniß der eignen Glieder jedes Satzes an-
zeigt, ſo entſteht die Frage, ob dieſes in jeder Figur,
bey allen vorhin (§. 199.) angefuͤhrten 16 Faͤllen an-
gehe? Dieſe Frage in die Sprache von unſrer Zeich-
nungsart uͤberſetzt, verwandelt ſich in folgende: Ob
die beyden Saͤtze, die man annimmt, beſtimmt
genug ſeyn, daß, wenn man den einen gezeich-
net hat, der Ort fuͤr den andern dadurch zu-
gleich auch determinirt ſey? Jſt dieſes, ſo wird
die Zeichnung nicht nur den verlangten Schlußſatz,
ſondern zu dieſem noch alle andre Saͤtze geben, die
aus den beyden gezeichneten koͤnnen gefolgert werden,
weil ſie alle Verhaͤltniſſe der drey Begriffe zugleich
vor Augen legt. Geht die Zeichnung aber nicht an,
ſo
[126]IV. Hauptſtuͤck,
ſo ſind auch die beyden Saͤtze nicht beſtimmt genug,
um etwas aus ihrer bloßen Form folgern zu koͤnnen.
§. 204.
Dieſes letztere nun koͤmmt in verſchiedenen Faͤllen
auf eine ſehr allgemeine Art vor. Und zwar erſtlich
laͤßt ſich nichts ſchließen, ſo oft beyde Praͤmiſ-
ſen verneinend ſind. Denn das Verneinen fordert,
daß man die Linien, ſo die Begriffe eines Satzes vor-
ſtellen, nicht unter einander ſetzen ſolle. (§. 183. 185.)
Setzt man demnach die Linien des einen Satzes neben
einander, ſo iſt eine Linie des andern Satzes ſchon
geſetzt. Da dieſer nun auch verneinend ſeyn ſoll, ſo
muß ſeine andre Linie nicht unter die bereits gezeich-
nete Linie des gemeinſamen Gliedes kommen. Der
Satz aber giebt nicht an, ob ſie ganz oder zum Theil
unter die andre ſchon gezeichnete Linie des andern
Begriffes kommen ſolle oder nicht. Z. E. die Saͤtze
ſeyn
- Kein M iſt P
- Kein S iſt M.
Man zeichne den erſten,
ſo iſt die Linie M fuͤr den zweyten ſchon gezeichnet.
Unter dieſe ſoll nun die Linie S nicht gezeichnet wer-
den. Dieſes fordert das Verneinen des zweyten Sa-
tzes. Ob ſie aber vor oder nach, zwiſchen M und P,
oder unter P ꝛc. geſetzt werden ſolle, dieſes giebt der
Satz nicht an. Da nun die Zeichnung unbeſtimmt
bleibt, ſo laͤßt ſich aus zweyen verneinenden Saͤtzen
kein Schluß ziehen.
§. 205.
Eben ſo folgt auch aus zweyen Particular-
ſaͤtzen kein Schluß? Denn, weil in beyden die
Linie, ſo das Subject vorſtellt, ganz unbeſtimmt bleibt,
und
[127]von den einfachen Schluͤſſen.
und weil man dabey gar keine Beſtimmung des Maaß-
ſtabes hat. (§. 184. 185.) ſo bleibt auch die Zeichnung
der Saͤtze unbeſtimmt.
§. 206.
Durch dieſe zwo Regeln, welche ſich auf alle vier
Figuren erſtrecken, fallen nun von den 16 Faͤllen fuͤr
jede Figur (§. 199.) 7 weg, und die uͤbrigen 9 ſind
folgende.
§. 207.
Unter dieſen Faͤllen faͤllt noch IE in ſo fern weg,
als man ſich die Regel vorſetzt, den eignen Begriff
des Unterſatzes zum Subject des Schlußſatzes zu ma-
chen. Macht man ihn aber zum Praͤdicat, ſo kann
dieſer Fall gezeichnet werden, wie ſich EI zeichnen
laͤßt.
§. 208.
Es ſey nun M das Mittelglied, C das eigne des
Oberſatzes, B das eigne des Unterſatzes; ſo muß
nach erſtbemeldter angenommenen Regel B das Sub-
ject, und C das Praͤdicat des Unterſatzes ſeyn, und
die angefuͤhrten 8 Faͤlle AA, AE, AI, AO, EA,
EI, IA, OA werden nun folgende ſpecialere ange-
ben.
§. 209.
AA ſind zwey allgemein bejahende Praͤmiſſen,
folglich
Wir zeichnen dieſe Linien gleich lang, weil jedesmal
das
[128]IV. Hauptſtuͤck,
das Praͤdicat muß punctirt werden, indem ſeine Laͤn-
ge unbeſtimmter iſt. (§. 181.) Nun aber iſt jedes-
mal das Mittelglied der gemeinſame Maaßſtab zu
beyden Saͤtzen, demnach kann es hier nicht beydemal
das Praͤdicat ſeyn. (§. 192. 193.) Daher ſchließen
zwey allgemein bejahende Saͤtze in der zweyten Figur
nichts, und noch weniger, wenn einer derſelben nur
particular bejaht. Fuͤr die uͤbrigen drey Figuren
geht der Schluß an, naͤmlich:
| I. Alle M ſind C | III. Alle M ſind C | IV. Alle C ſind M |
| alle B ſind M | alle M ſind B | alle M ſind B |
| alle B ſind C | etl. B ſind C | etl. B ſind C. |
Hier muͤßte in der erſten und dritten Figur C punktirt
werden, weil es in denſelben ein Praͤdicat waͤre. Da
es nun unbeſtimmt bleibt, ob die Punkte bis unter
B gehen ſollen oder nicht, ſo laͤßt ſich aus den Praͤ-
miſſen AE in dieſen beyden Figuren nichts ſchließen.
Fuͤr die beyden andern Figuren geht die Zeichnung an,
wie ſie iſt, und die Schluͤſſe ſind
| II. Alle C ſind M | IIII. Alle C ſind M |
| Kein B iſt M | Kein M iſt B |
| Kein B iſt C | Kein B iſt C. |
§. 211.
AI wird ſo gezeichnet:
[129]von den einfachen Schluͤſſen.
Hier kann C kein Subject ſeyn, weil ſeine Linie laͤn-
ger ſeyn muß, als M, damit B gewiß darunter ſey,
folglich koͤmmt nur die erſte und dritte Figur vor, und
die Schluͤſſe ſind
| I. Alle M ſind C | II. Alle M ſind C |
| Etliche B ſind M | Etliche M ſind B |
| Etliche B ſind C | Etliche B ſind C |
§. 212.
AO, wird ſo gezeichnet
Hier muß C kuͤrzer ſeyn als M, damit B gewiß nicht
darunter kommen koͤnne. Daher bleibt auch unbe-
ſtimmt, ob die Punkte von B bis unter M reichen
oder nicht, ſo haben wir hier einen einigen Schluß
in der zweyten Figur, naͤmlich:
- II. Alle C ſind M
- Etliche B ſind nicht M
- Etliche B ſind nicht C.
§. 213.
EA wird ſo gezeichnet:
Jſt hier B ein Praͤdicat, ſo wird es punktirt, und
da man nicht weis, ob die Punkte bis unter C rei-
chen, ſo wird der Schluß in dieſen Faͤllen particular,
welches in der dritten und vierten Figur geſchieht. Jn
beyden erſten bleibt der Schluß allgemein, weil darinn
B das Subject, und folglich ganz unter M iſt. Die
Schluͤſſe ſind
| I. Kein M iſt C | II. Kein C iſt M |
| Alle B ſind M | Alle B ſind M |
| Kein B iſt C | Kein B iſt C |
Lamb. Org. I. Band. JIII.
[130]IV. Hauptſtuͤck,
| III. Kein M iſt C | IV. Kein C iſt M |
| Alle M ſind B | Alle M ſind B |
| Etliche B ſind nicht C | Etliche B ſind nicht C. |
§. 214.
EI wird ſo gezeichnet:
Hier bleibt die Ausdehnung von B unbeſtimmt. Da
aber wenigſtens einige B unter M ſind, ſo koͤnnen dieſe
nicht unter C ſeyn. Folglich iſt der Schluß durch
alle vier Figuren particular verneinend. Naͤmlich:
| I. Kein M iſt C | II. Kein C iſt M |
| Etliche B ſind M | Etliche B ſind M |
| Etliche B ſind nicht C | Etliche B ſind nicht C. |
| III. Kein M iſt C | IV. Kein C iſt M |
| Etliche M ſind B | Etliche M ſind B |
| Etliche B ſind nicht C | Etliche B ſind nicht C. |
§. 215.
IA wird ſo gezeichnet:
Hier kann B kein Subject ſeyn, weil M laͤnger als B
punktirt werden muͤßte, und C unter dieſe Punkte
kommen koͤnnte. Folglich gelten nur die zwo letzten
Figuren, und die Schluͤſſe ſind
| III. Etliche M ſind C | IV. Etliche C ſind M |
| Alle M ſind B | Alle M ſind B |
| Etliche B ſind C | Etliche B ſind C. |
§. 216.
Endlich wird OA ſo gezeichnet:
[131]von den einfachen Schluͤſſen.
Hier kann wiederum B kein Praͤdicat ſeyn, weil es
kleiner als M wuͤrde, und daher ungewiß bliebe, ob
C unter B kommen wuͤrde oder nicht. Daher, weil
C bis außerhalb M punktirt werden muß, wenn etli-
che C nicht M ſind, ſo bleibt auch ungewiß, ob dieſe
Punkte nicht erſt außerhalb M anfangen. Hier bleibt
alſo nur ein Schluß fuͤr die dritte Figur, naͤmlich:
- Etliche M ſind nicht C
- Alle M ſind B
- Etliche B ſind nicht C.
§. 217.
Dies ſind nun alle Faͤlle, und in allem 19, wo-
von die erſte Figur 4, die zweyte ebenfalls 4, die
dritte 6, die vierte 5 hat; wobey man einen Schluß
ziehen kann, ohne weiter nichts als die Form der Vor-
derſaͤtze zu wiſſen.
§. 218.
Um ſich dieſe Faͤlle, oder wie man ſie nennt,
Schlußarten, (Modos,) leichter vorſtellen zu koͤn-
nen, hat man die Vocalen, A, E, I, O (§. 199.)
mit Einmengung gewiſſer Conſonanten zu Woͤrtern
gemacht, welche durch die Vocalen die Beſchaffenheit
der Vorderſaͤtze und des Schlußſatzes anzeigen, und
zugleich als Namen der Schluͤſſe angeſehen werden
koͤnnen, wie wir es oben (§. 105.) in einer andern
Abſicht ſchon angemerkt haben. Es ſind folgende:
- 1. Figur. Barbara, Celarent, Darii, Ferio.
- 2. Figur. Ceſare, Cameſtres, Feſtino, Barocco.
- 3. Figur. Darapti, Felapton, Diſamis, Datiſi,
Bocardo, Feriſon. - 4. Figur. Baralip, Calentes, Dibatis, Feſapo,
Freſiſon.
J 2§. 219.
[132]IV. Hauptſtuͤck,
§. 219.
Wir werden ſie nun mit der Zeichnung in dieſer
Ordnung vorſtellen:
I.Figur.
- Barbara: Alle M ſind C C————c
- Alle B ſind M M——m
- Alle B ſind C B—b
- Celarent: Kein M iſt C M———m C——c
- Alle B ſind M B——b
- Kein B iſt C
- Darii: Alle M ſind C C———c
- Etliche B ſind M M——m
- Etliche B ſind C ......B......
- Ferio: Kein M iſt C M———m C——c
- Etl. B ſind M .......B........
- Etl. B ſind nicht C
II.Figur.
- Ceſare: Kein C iſt M C———c M——m
- Alle B ſind M B—b
- Kein B iſt C
- Cameſtres: Alle C ſind M M———m B——b
- Kein B iſt M C——c
- Kein B iſt C
- Feſtino: Kein C iſt M C———c M——m
- Etliche B ſind M .......B......
- Etl. B ſind nicht C
- Barocco: Alle C ſind M M———m
- Etl. B ſind nicht M C——c
- Etl. B ſind nicht C ........B.....
III.Figur.
- Darapti: Alle M ſind C ....C———c....
- Alle M ſind B M——m
- Etliche B ſind C ....B———b....
Felapton:
[133]von den einfachen Schluͤſſen.
- Felapton: Kein M iſt C M——m C——c
- Alle M ſind B B———b......
- Etl. B ſind nicht C
- Diſamis: Etl. M ſind C B————b
- Alle M ſind B M———m
- Etliche B ſind C …C.........
- Datiſi: Alle M ſind C C————c
- Etliche M ſind B M———m
- Etliche B ſind C ..B........
- Bocardo: Etl. M ſind nicht C B—————b
- Alle M ſind B M———m
- Etl. B ſind nicht C C...........
- Feriſon: Kein M iſt C M——m C——c
- Etliche M ſind B …B..........
- Etl. B ſind nicht C
IV.Figur.
- Baralip: Alle C ſind M C———c
- Alle M ſind B M————m
- Etliche B ſind C B—————b
- Calentes: Alle C ſind M B——b M——m
- Kein M iſt B C—c
- Kein B iſt C
- Dibatis: Etliche C ſind M B———b
- Alle M ſind B M——m
- Etliche B ſind C .......C.......
- Feſapo: Kein C iſt M C——c M—m
- Alle M ſind B ........B—b…
- Etliche B ſind nicht C
- Freſiſon: Kein C iſt M C——c M—m
- Etliche M ſind B ...........B....
- Etliche B ſind nicht C
J 3§. 220.
[134]IV. Hauptſtuͤck,
§. 220.
Jn den Namen dieſer Schluͤße, Barbara, Cela-
rent etc. ſind außer den Vocalen noch die Anfangs-
buchſtaben B, C, D, F und ſodann auch die Conſonan-
ten S, P, C, M als bedeutend anzumerken. Erſtere
zeigen die Aehnlichkeit der Schlußarten in jeder Figur
an; Letztere aber zeigen, welche Verwandlung mit den
Schlußarten der drey letzten Figuren vorgenommen
werden muͤſſe, um ihnen die Form der erſten Figur
zu geben, woruͤber man folgende Verſe hat:
S vult ſimpliciter verti, P verte per accid.M vult tranſponi, C per impoſſibile duci.
Der Anlaß und Urſprung dieſer Bedeutung ſcheint
folgender geweſen zu ſeyn. Man hat zween Grund-
ſaͤtze angenommen, naͤmlich:
- 1. Was von einer ganzen Gattung oder Klaſſe be-
jaht wird, kann von jedem bejaht werden, ſo
unter dieſe Gattung oder Klaſſe gehoͤrt. - 2. Was von der ganzen Gattung verneint wird,
kann auch von jedem verneint werden, ſo
darunter gehoͤrt.
Dieſe beyden Saͤtze nennt man Dictum de omni und
dictum de nullo. Und dadurch wurden die Schlußar-
ten der erſten Figur beſtimmt und erwieſen. Man
fand naͤmlich, der Oberſatz muͤſſe allgemein, der Un-
terſatz aber bejahend ſeyn. Denn C muß von allen
M gelten, und B muß unter M gehoͤren, wenn C auch
von B gelten, oder aus der bloßen Form des Schlußes
gefolgert werden ſolle. Da aber dieſe beyden Dicta
bey den drey uͤbrigen Figuren nicht ſo unmittelbar
angebracht werden konnten, ſo ſuchte man die zulaͤßi-
gen Schlußarten derſelben durch ihre Verwandlung
in die erſte Figur zu beſtimmen. Und die Art die-
ſer Verwandlung wuͤrde durch die Buchſtaben
S, P,
[135]von den einfachen Schluͤſſen.
S, P, M, C, die Schlußart ſelbſten, in welche die Ver-
wandlung geſchah, durch die Anfangsbuchſtaben B,
C, D, F vorgeſtellt. Durch dieſe Art zu beweiſen, iſt
man verleitet worden, ſo weit zu gehen, daß man die
drey letzten Figuren, als indirect und nur eines mit-
telbaren Beweiſes faͤhig anſah, und dieſelben als ganz
widernatuͤrlich verwarf, ungeachtet man ihnen die
Richtigkeit der Schlußfolge zugeſtund. Ueber alles
dieſes merken wir folgendes an.
§. 221.
Einmal faͤllt bey unſrer Zeichnungsart, die Noth-
wendigkeit, die Vorderſaͤtze umzukehren, ganz weg,
weil ſie jedesmal ſo wie ſie ſind, gezeichnet werden,
und in dem Beweiſe derſelben haben wir auf den Un-
terſchied der Figuren weiter nicht geſehen, als daß wir
nach bereits geſchehener Zeichnung beſtimmten, welche
Figuren ausgeſchloſſen bleiben.
§. 222.
Sodann faͤllt bey unſrer Zeichnung die Aehnlich-
keit der Schlußarten, welche die Anfangsbuchſtaben
B, C, D, F anzeigen, ſo in die Augen, daß ſie bey jedem
Buchſtaben durch alle Figuren faſt einerley iſt. Man
kann die Schlußarten EA, EI (§. 213. 214.) zum
Beyſpiel nehmen. Dieſes iſt um deſto natuͤrlicher,
weil unſre Zeichnung nicht nur den Schlußſatz an-
giebt, den wir ſuchen wollten, ſondern noch alle die in
Anſehung der drey gezeichneten Begriffe B, C, M vor-
kommen koͤnnen.
§. 223.
Ferner hat unſtreitig die erſte Figur darinn einen
Vorzug, daß ihr Schlußſatz, A, E, I, und O, folglich
von allen Arten Saͤtze ſeyn kann, dahingegen die
zweyte Figur lauter verneinende, die dritte lauter par-
ticulare, und die vierte keinen allgemein bejahenden
J 4Schluß-
[136]IV. Hauptſtuͤck,
Schlußſatz hat. Und ſo koͤnnen die beſten Saͤtze,
naͤmlich die allgemein bejahenden (§. 128.) nur durch
die erſte Figur aus der bloßen Form der Vorderſaͤtze
gefolgert werden. Dieſes will aber nicht ſagen, daß
die uͤbrigen Saͤtze ganz unnuͤtz ſeyn, und folglich die
letzten Figuren nie gebraucht werden.
§. 224.
Hieruͤber koͤnnen wir uͤberhaupt anmerken, daß,
da jede Figur von der andern verſchieden iſt, jede aber
auch dennoch auf Schluͤße fuͤhrt, unſre Schluͤße
uͤberhaupt von vier Arten ſeyn, und jede Art ihre
Differentiam ſpecificam habe, die ſich allerdings noch
anders als durch die vier Figuren (§. 197.)
ſoll ausdruͤcken laſſen. Es koͤmmt demnach darauf
an, wie man den Unterſchied dieſer Figuren auf eine
an ſich verſtaͤndliche Art ins Deutſche uͤberſetzen
koͤnne?
225.
Zu dieſem Ende merken wir ferner an, daß dem
erſten Erfinder der Schlußreden und ihrer Figuren in
der Anordnung der Saͤtze etwas, das willkuͤhrlich
bliebe, nach Belieben oder wenigſtens nach einer be-
liebigen Abſicht und Auswahl beſtimmt hat. (§. 196.)
Er ſetzte naͤmlich den Satz unter den andern, deſſen
eigenes Glied zum Subjecte des Schlußſatzes werden
ſollte, vermuthlich, um in allen Figuren ein gleiches
Geſetz einzufuͤhren. Daran aber binden wir uns im
Reden und im ſchriftlichen Vortrage nicht. Die
Mathematiker, die vielleicht am meiſten foͤrmliche
Schluͤße, und am wenigſten Fehlſchluͤße machen,
fangen z. E. in der erſten Figur nicht bey dem Ober-
ſatze an, ſondern bey dem Unterſatze, weil nicht nur
dieſer
[137]von den einfachen Schluͤſſen.
dieſer immer in der Figur vor Augen liegt, ſondern
auch, weil von deſſen Subjecte eigentlich die Rede iſt.
Oefters wird der Oberſatz nur citirt, oder gar wegge-
laſſen, ſo oft er | dem Leſer von ſelbſt einfallen, oder
aus dem Unterſatze und dem Schlußſatze gleich gefun-
den werden kann. Der gezogene Schlußſatz wird
ſodann gleich wieder zum Unterſatze eines neuen Schluſ-
ſes, indem man einen neuen Oberſatz damit verbindet.
Dieſe natuͤrliche Ordnung der Schluͤße der erſten
Figur beruht demnach ganz darauf: Daß von dem
Subject eines bejahenden Satzes alles koͤnne
geſagt werden, was man von ſeinem Praͤdicat
weis; oder was ſich von der Eigenſchaft einer
Sache ſagen laͤßt, gilt von der Sache ſelbſten.
Und dieſes iſt das, was die Schluͤße in der erſten Figur
eigenes haben. Man druͤckt es auch ſo aus. Was
von der Gattung gilt, gilt auch von jeder Art
derſelben.
§. 226.
Hingegen iſt in der zweyten und dritten Figur
von Arten und Gattungen keine Rede. Die zweyte
Figur laͤugnet die Subjecte von einander,
weil ſie in den Eigenſchaften verſchieden ſind,
und jeder Unterſchied der Eigenſchaften iſt hiezu hin-
reichend. Man gebraucht dieſe Figur demnach vor-
nehmlich, wo zwo Sachen nicht ſollen verwech-
ſelt oder confundirt werden. Dieſes muß noth-
wendig nicht ſeyn, ſobald man in der Sache A etwas
findet, das in B nicht iſt. Man kann demnach ſagen,
daß die Schluͤße der zweyten Figur uns auf
den Unterſchied der Dinge fuͤhren, und die Con-
fuſion der Begriffe aufheben. Man wird auch
finden, daß wir ſie in dieſen Faͤllen immer gebrauchen.
J 5§. 227.
[138]IV. Hauptſtuͤck,
§. 227.
Die dritte Figur giebt Beyſpiele und Ausnah-
men: Und wir tragen alle Exempla in contrarium
in dieſer Figur vor. Die beyden Formeln ſind dieſe:
- 1. Es giebt B die C ſind. Denn M iſt B und C.
- 2. Es giebt B die nicht C ſind. Denn M iſt B
und nicht C.
Auf dieſe Art tragen wir die Schluͤße der dritten Figur
mehrentheils in Form copulativer Saͤtze vor (§. 135.)
weil wir das Subject eben nicht beydemale wieder-
holen, oder zween Saͤtze daraus machen. Zuweilen
wird der eine Satz ganz weggelaſſen, wenn er naͤmlich
an ſich offenbar iſt.
§. 228.
Jn der vierten Figur kommen, wie in der erſten,
die Arten und Gattungen vor, nur mit dem Unter-
ſchiede, daß man in den Schlußarten, Baralip, Diba-
tis, Feſapo, Freſiſon, von der Art den Schluß auf
die Gattung zieht, in Calentes aber die Art von dem
laͤugnet, was von der Gattung gelaͤugnet wird. Denn
wo die Gattung nicht iſt, da iſt auch keine von ihren
Arten. Dieſe letzte Schlußart gebrauchen wir dem-
nach, wenn wir verneinend a minori ad maius ſchlieſ-
ſen, weil die Gattung ehender und haͤufiger vorkoͤmmt,
als eine von ihren Arten.
§. 229.
Die Schlußarten der vier Figuren unterſcheiden
ſich demnach in Abſicht auf ihren Gebrauch folgender
maaßen:
- 1. Die erſte Figur eignet der Sache zu, was wir
von ihrer Eigenſchaft wiſſen. Sie ſchließt
von der Gattung auf die Art.
2. Die
[139]von den einfachen Schluͤſſen.
- 2. Die zweyte Figur fuͤhrt auf den Unterſchied
der Dinge, und hebt die Verwirrung in den
Vegriffen auf. - 3. Die dritte Figur giebt Beyſpiele und Aus-
nahmen an Saͤtzen, die allgemein ſcheinen. - 4. Die vierte Figur findet Arten zu der Gat-
tung in Baralip und Dibatis. Sie zeigt, daß
die Art die Gattung nicht erſchoͤpfe, in Feſapo
und Freſiſon; und laͤugnet die Art von dem,
was von der Gattung gelaͤugnet wird, in
Calentes.
§. 230.
Dieſe Beſtimmung des Unterſchiedes der vier
Figuren zeigt uͤberhaupt nur an, wo wir ſie natuͤrli-
cher Weiſe, und ohne auf eine Auswahl zu denken,
gebrauchen. Denn da ſich die Schluͤße jeder Fi-
gur in die von der erſten, und theils auch in die von
den andern verwandeln laſſen, wenn man die Vorder-
ſaͤtze behoͤrig umkehrt oder verwechſelt, oder in gleich-
guͤltige verwandelt; ſo iſt in dieſer Abſicht kein Unter-
ſchied zwiſchen denſelben. Ob wir aber in jeden vor-
kommenden Faͤllen immer erſt ſolche Verwandlungen
vornehmen, um einen Schluß in eine beliebte Figur
zu bringen, oder uns von ſeiner Richtigkeit zu verſi-
chern, iſt eine ganz andre Frage. Letzteres iſt offen-
bar nicht. Denn in der Verwandlung muͤſſen wir
eine Umkehrung der Vorderſaͤtze vornehmen, und ein
umgekehrter Satz iſt gar nicht allzeit von gleicher
Evidenz, wie der, welchen wir umgekehr hatten, und
wir ſind auch nicht ſo gut daran gewoͤhnt. Z. E.
Den Satz: Es giebt Steint die Eiſen anziehen, wird
jeder deswegen einraͤumen, weil der Magnet ein Stein
iſt, und Eiſen anzieht. Dieſer Schluß iſt in der
dritten Figur. Jn der erſten wuͤrde er mit Umkeh-
rung des einen Satzes ſo lauten:
Ober-
[140]IV. Hauptſtuͤck,
- Oberſatz. Alle Magneten ziehen Eiſen an.
- Unterſatz. Einige Steine ſind Magneten.
- Schluß. Einige Steine ziehen Eiſen an.
Wir ſind an den Unterſatz gar nicht gewoͤhnt, weil
es ſcheint, als muͤßten wir alle Steine durch die Mu-
ſterung gehen laſſen, um den Magneten darunter zu
finden. Hingegen, daß der Magnet ein Stein iſt,
iſt ein Satz, der uns ungleich natuͤrlicher einfaͤllt, und
kein Beſinnen erfordert. So auch: Ein Zirkel iſt
kein Viereck. Denn ein Zirkel iſt rund, das Viereck
nicht. Dieſer Beweis in der erſten Figur wuͤrde ſo
lauten:
- Was nicht rund iſt, iſt kein Zirkel;
- Ein Viereck iſt nicht rund;
- Folglich ꝛc.
Hier iſt der Oberſatz mittelſt eines Termini infiniti
umgekehrt, und ſeine Wahrheit wird uns nur durch
das Bewußtſeyn einleuchtender, daß alle Zirkel rund
ſind. Denn ohne dieſen Satz wuͤrden wir anſtehen,
ob, weil doch unzaͤhlig viele Sachen nicht rund
ſind, der Zirkel nicht etwann auch darunter gehoͤre?
Man denkt, nein, weil man weis, daß er rund iſt.
§. 231.
Man ſieht demnach hieraus, daß wir jede Schluß-
figur da gebrauchen, wo uns die Saͤtze, ſo wie ſie jede
Figur erfordert, bekannter und gelaͤufiger ſind. Dem-
nach beruht der Unterſchied der Figuren nicht nur
auf ihrer Form, ſondern er dehnt ſich in Abſicht auf
ihren Gebrauch auch auf die Sache ſelbſt aus, und
jede gebrauchen wir da, wo ſie natuͤrlicher iſt; Die
erſte zur Erfindung oder Beweis der Eigen-
ſchaften eines Dinges, die andre zur Erfin-
dung oder Beweis des Unterſchieds der Dinge,
die dritte zu Erfindung und Beweis der Bey-
ſpiele
[141]von den einfachen Schluͤſſen.
ſpiele und Ausnahmen, die vierte zu Erfin-
dung und Ausſchließung der Arten einer
Gattung.
§. 232.
Ob ferner die drey letzten Figuren weniger evi-
dent ſind, als die erſte, iſt eine Frage, die man deswe-
gen verneint hat, weil dieſe allein ſich unmittelbar
auf das Dictum de omni et nullo (§. 220.) gruͤndet,
und die uͤbrigen bisher durch Umwege daraus herge-
leitet worden. Wir haben ſchon angemerkt (§. 221),
daß dieſer Umweg durch unſre Zeichnungsart ganz
wegfaͤllt. Wir doͤrfen daher den Grund davon nur
ins Deutſche uͤberſetzen, und da werden wir finden,
daß das Dictum de omni et nullo, fuͤr die erſte
Figur deswegen dient, weil ſich ſeine Wahrheit
auf die Natur der Saͤtze gruͤndet. Aus dieſer
laͤßt ſich demnach die erſte Figur und ihre Schlußar-
ten unmittelbar herleiten. Es iſt alſo nur die Frage,
ob die uͤbrigen Figuren keiner ſo unmittelbaren Her-
leitung faͤhig ſeyn, oder ob ſie zuvor nothwendig
durch die erſte Figur muͤſſen durchgefuͤhrt werden?
Unſre Zeichnungsart zeigt, daß letzteres ein Umweg
ſey, weil ſich jede Schlußart jeder fuͤr ſich zeichnen
laͤßt, und weil man dabey die Vorderſaͤtze nimmt,
wie ſie ſind. Demnach kann auch jede Figur fuͤr ſich
und ſchlechthin aus der Natur der Saͤtze erwieſen
werden, wie die erſte. Die ganze Sache koͤmmt
darauf an, ob ein Begriff ganz oder zum Theil, oder
zum theil nicht, oder gar nicht unter dem andern, und
dieſer ganz oder zum Theil nicht, oder zum Theil nicht
oder gar nicht unter dem dritten iſt. Das uͤbrige beruht
nur auf der Verwechslung gleichguͤltiger Redensarten,
naͤmlich der figuͤrlichen undſolcher, die nicht figuͤrlich ſind.
Und dieſes verwechſeln koͤnnen wir hier uͤberſetzen
nennen,
[142]IV. Hauptſtuͤck,
nennen, weil die figuͤrlichen Redensarten als eine
beſondere und zur Zeichnung dienende Sprache an-
geſehen werden koͤnnen. Wir haben auch oben
(§. 220.) nachdem ſchon alle Schlußarten gefunden
und gezeichnet waren, das Dictum de omni et nullo
nur hiſtoriſch angefuͤhrt, weil unſre Art die Schluß-
arten zu beſtimmen, ſich unmittelbar auf die Natur
der Saͤtze gruͤndet, von welcher dieſes Dictum nur
eine Folge iſt. Dieſe Folge iſt uͤberdies ſpecial,
weil ſie auf den Begriffen von Arten und Gattun-
gen beruht. Daher gilt ſie nur, in ſo ferne die
Saͤtze auf dieſe Begriffe koͤnnen gezogen werden, wie
z. E. in der erſten Figur. Jn der zweyten koͤmmt
der Begriff der Verſchiedenheit vor, und in der
dritten der Begriff von Exempel, Beyſpiel. Wenn
wir daher fuͤr jede Figur beſondre Dicta haben wollen,
ſo werden es folgende ſeyn, und es wird zugleich dar-
aus erhellen, daß das Mittelglied des Schluſſes fuͤr
ſich betrachtet, in der erſten Figur ein Grund, in
der zweyten die Verſchiedenheit, in der dritten ein
Beyſpiel, und in der vierten der Grund des reci-
procirens iſt.
- 1. Fuͤr die erſte Figur.Dictum de omni et
nullo.Was von allenAgilt, gilt von
jedemA. - 2. Fuͤr die zweyte Figur.Dictum de diuerſo.
Dinge die verſchieden ſind, kommen ein-
ander nicht zu. - 3. Fuͤr die dritte Figur.Dictum de Exemplo.
Wenn man DingeAfindet, dieBſind,
ſo giebt esAdieBſind. - 4. Fuͤr die vierte Figur.Dictum de recipro-
co I.Wenn keinM, Biſt; ſo iſt auch
keinBdieſes oder jenesM. II.Wenn
Cdie-
[143]von den einfachen Schluͤſſen.
- Cdieſes oder jenesBiſt, oder nicht iſt;
ſo giebt esB,dieCſind, oder nicht
ſind.
§. 233.
Aus dieſen Saͤtzen, deren jeder fuͤr ſich offenbar
iſt, und deren Wahrheit bloß auf dem Verſtande der
Worte beruht, (§. 146.) laͤßt ſich die Zulaͤßigkeit
der Schlußarten jeder Figur beſonders beweiſen.
Denn in der zweyten Figur ſind die Praͤdicate M und
nichtM, folglich die Subjecte verſchieden. Jn
der dritten Figur iſt das Subject beyder Praͤmiſſen
ein Beyſpiel, welches die Eigenſchaften A und B,
oder A und nicht B, oder B und nicht A, oder nicht B
und nicht A aufweiſet, die wir in dem dritten Satz
Kuͤrze halber als bejahend angeſehen haben, eben ſo
wie in dem erſten Satze das Wort gelten ſowohl
bejahen als verneinen zuſammenfaßt. Jn der vier-
ten Figur reciprocirt man, weil das Pradicat des
Unterſatzes zum Subject, und das Subject des Ober-
ſatzes zum Praͤdicat des Schlußſatzes gemacht wird;
Und der vierte Satz giebt an, wie es geſchehen koͤnne.
§. 234.
Da aber alles dieſes durch unſre Zeichnungsart,
ohne Muͤhe geſchieht, und dieſe noch uͤberdies, alles
was aus den Praͤmiſſen gefolgert werden kann, auf
einmal vor Augen legt, ſo halten wir uns hiebey nicht
laͤnger auf. Sonſt waͤre es leicht, noch die Saͤtze
anzugeben, wodurch die unzulaͤßigen Schlußarten
weggeſchaft werden. Wir werden aber uͤber dieſe,
Betrachtungen von einer andern Art machen.
§. 235.
Zu dieſem Ende wiederholen wir aus dem vorher-
gehenden Hauptſtuͤcke (§. 125. 126.) daß die Parti-
cularſaͤtze:
Etliche
[144]IV. Hauptſtuͤck,
- Etliche A ſind B.
- Etliche A ſind nicht B.
Von den Saͤtzen:
- Nur etliche A ſind B.
- Nur etliche A ſind nicht B.
nach dem eingefuͤhrten Gebrauche zu reden verſchieden
ſind, da die erſtern weiter nichts anzeigen, als daß
das Gegentheil nicht allgemein wahr ſey; da-
hingegen letztere den Satz nothwendig particular
machen und laſſen. Dieſer Unterſchied dehnt ſich in
Anſehung der Schluͤſſe ſo weit aus, daß, weil die
letztern zween Saͤtze immer zugleich wahr ſind, der
eine da kann gebraucht werden, wo der andre nicht
angeht. Sodann geben ſie zwo Arten des Begriffes A,
naͤmlich die A, welche B ſind, und die, welche es nicht
ſind. Dieſe zwo Arten nenne man D und E, ſo hat
man allgemeine Saͤtze:
- Alle D ſind A.
- Alle D ſind B.
- Alle E ſind A.
- Kein E iſt B.
- Kein E iſt D.
Dieſe laſſen ſich nun zu ungleich mehrern Schluͤſſen
gebrauchen, als die beyden Partieularſaͤtze, aus wel-
chen ſie gezogen ſind.
§. 236.
Ferner, wenn zween Particularſaͤtze einerley Sub-
ject haben, z. E.
- Etliche A ſind B.
- Etliche A ſind C.
So kann man aus der bloßen Form nicht wiſſen, ob
in beyden Saͤtzen eben die A zu verſtehen ſind, das
iſt, ob eben die A, die B ſind, auch die ſeyn, die C ſind.
Weis man, daß es eben dieſelben ſind, ſo laſſen ſich
die
[145]von den einfachen Schluͤſſen.
die beyden Saͤtze ſo gut als allgemeine Saͤtze gebrau-
chen. Denn man nenne dieſe etliche A, denen naͤmlich
B und C zukoͤmmt, D; ſo gilt der Satz, daß alle D,
B und auch alle D, C ſeyn.
§. 237.
Auf dieſe Art werden Schluͤſſe von folgender
Form gelten:
- I. Etliche M ſind C oder ſind nicht C.
- Etliche B ſind eben dieſe etliche M.
- Folglich etliche B ſind C, oder ſind nicht C.
- II. Etliche C ſind nicht etliche M.
- Etliche B ſind dieſe etliche M.
- Folglich etliche B ſind nicht dieſe etliche C.
- III. Etliche M ſind C.
- Eben dieſe etliche M ſind D.
- Folglich ſind etliche D, C.
- IV. Etliche C ſind etliche M.
- Dieſe etliche M ſind B.
- Folglich etliche B ſind C.
§. 238.
Dieſen Schlußarten koͤnnten noch mehrere beyge-
fuͤgt werden. Man kann aber fragen, wie man ſich
von der Jdentitaͤt der etlichen M in beyden Vorder-
ſaͤtzen verſichern koͤnne? Nun dieſes findet ſich zwar
aus Betrachtung der Sache ſelbſt. Es kann aber
auch aus der Form geſchloſſen werden, wenn naͤmlich
der eine dieſer Particularſaͤtze ein Schlußſatz, der an-
dre ein Vorderſatz einer Schlußrede geweſen iſt, die
man ſchon gemacht hat. Folgende Beyſpiele moͤgen
die Sache aufklaͤren:
- I. Alle M ſind C.
- Etliche B ſind M.
- Folglich eben dieſe etliche B ſind C.
Lamb. Org. I. Band. KII. Kein
[146]IV. Hauptſtuͤck,
- II. Kein C iſt M.
- Etliche B ſind M.
- Folglich eben dieſe B ſind nicht C, und keines
von dieſen B iſt C.
- III. Etliche C ſind M.
- Kein B iſt M.
- Folglich kein B iſt eines von dieſen etlichen C.
- IV. Etliche C ſind M.
- Etliche B ſind nicht M.
- Folglich keines von dieſen B iſt eines von die-
ſen C ꝛc.
§. 239.
Man ſieht hieraus, daß man in Schluͤſſen, die
particular ſind, die Jdentitaͤt der etlichen M eben
nicht doͤrfe fahren laſſen, weil ſie die Erkenntniß, die
wir durch ſolche Schluͤſſe erlangen, beſtimmter macht.
Das ungewoͤhnliche darinn wird dadurch gehoben,
daß man ſolchen Particularbegriffen beſondre Namen
giebt, um ihnen den Schein der unbeſtimmten Aus-
dehnung zu benehmen. Sie werden dadurch zu Ar-
ten, und die Saͤtze erhalten die Form allgemeiner
Saͤtze. Z. E.
- Alle M ſind C.
- Alle mB ſind M anſtatt etliche B ſind M.
- Folglich alle mB ſind C, anſtatt dieſe etliche
B ſind C.
So wenn man unter etlichen Triangeln die recht-
winklichten verſteht, ſo bleibt man nicht bey dem
unbeſtimmten Begriffe etliche Triangel, ſondern bey
dem allgemeinen alle rechtwinklichten oder die
rechtwinklichten Triangel. Wir thun dieſes bey
dem wirklichen Gebrauche der Schluͤße faſt immer, und
ohne daran zu denken. Aber hier war der Ort, es
uͤberhaupt anzumerken. Man ſehe auch §. 75. 129 235.
§. 240.
[147]von den einfachen Schluͤſſen.
§. 240.
Man iſt aus gleichen Gruͤnden ſchon laͤngſt darauf
verfallen, ſolche Saͤtze, deren Subject ein Indiuiduum
iſt, den allgemeinen Saͤtzen gleich zu achten, weil
man ſie in Schluͤſſen eben ſo gut gebrauchen kann.
Solche Subjecte ſind in der dritten Figur im eigent-
lichſten Verſtande Beyſpiele, weil ſie ganz individual
ſind. Und wenn man Indiuidua von einander unter-
ſcheiden ſolle, ſo gebraucht man die zweyte Figur, weil
in dieſen beyden Faͤllen die erſte Figur ſehr unnatuͤr-
lich und ungewoͤhnlich iſt. (§. 230.) Die Jndivi-
dualſaͤtze ſind uͤberdies noch ungleich beſtimmter, als
allgemeine Saͤtze. Unſre Zeichnungsart fordert, daß
ein Indiuiduum durch einen Punkt vorgeſtellt werde.
(§. 176.) Daher faͤllt das Unbeſtimmte ganz weg,
welches wir bey der Zeichnung allgemeiner Saͤtze noch
laſſen muͤſſen. (§. 179 ſeqq.)
§. 241.
Es kann ferner, wenn in der dritten Figur beyde
Vorderſaͤtze individual ſind, der Schlußſatz beſtimm-
ter vorgetragen werden, und man muß es thun, wenn
man durch das Wort etliche mehr als einen verſteht,
oder wenn dieſes zweifelhaft bleibt. Z. E.
- Die Erde iſt bewohnt;
- Die Erde iſt ein Planet;
- Folglich iſt wenigſtens ein Planet bewohnt.
Denn hier iſt klar, daß der Schlußſatz: Etliche Pla-
neten ſind bewohnt, eine groͤßere Ausdehnung
des Praͤdicats wuͤrde anzuzeigen geſchienen haben, als
wirklich aus den beyden Praͤmiſſen folgt. Und der
Schlußſatz: Ein Planet iſt bewohnt, wuͤrde von
den Saͤtzen: Ein einiger Planet iſt bewohnt, oder
alle Planeten ſind bewohnt, nicht genug unter-
K 2ſchieden
[148]IV. Hauptſtuͤck,
ſchieden ſcheinen, und leicht mit einem derſelben
verwechſelt werden.
§. 242.
Wir haben noch einige Redensarten zu erklaͤren,
welche bey den Schluͤſſen und ihrem Gebrauche vor-
kommen. Einmal unterſcheidet man bey denſelben
die Form von der Materie, und man thut dieſes in
Abſicht auf den Schlußſatz. Wenn dieſer aus den
angenommenen Vorderſaͤtzen nach den bisher beſtimm-
ten Regeln folgt, ſo heißt die Form richtig, oder
man ſagt, die Folge ſey richtig, der Schluß ſey
der Form nach richtig ꝛc. Dieſes iſt aber ohne
Ruͤckſicht auf die Wahrheit des Schlußſatzes, weil
derſelbe deſſen unerachtet falſch ſeyn kann, in ſo fern
naͤmlich die Vorderſaͤtze falſch ſind, und in ſo fern
dieſes einen Einfluß auf den Schlußſatz hat.
§. 243.
Dieſer Einfluß falſcher Vorderſaͤtze iſt nicht allge-
mein, weil der eine Vorderſatz das falſche des andern,
durch ſeine Falſchheit wieder aufheben kann. So z. E.
Wenn der Schluß in der Form Darapti vorgetragen
wird, da er ſollte in Diſamis oder in Datiſi vorgetra-
gen werden, weil einer der Vorderſaͤtze nicht allgemein
wahr iſt; ſo aͤndert dieſes am Schlußſatze nichts. Auf
gleiche Art koͤmmt auch in Felapton, Bocardo und
Feriſon einerley Schlußſatz heraus. So geben auch
Baralip und Dibatis, ingleichem Feſapo und Freſiſon
einerley Schlußſaͤtze.
§. 244.
Jn allen dieſen Faͤllen iſt nur der eine Vorderſatz,
und auch dieſer nur halb falſch, weil man fuͤr A, E nur
I, O nimmt. Hingegen koͤnnen wohl beyde Voͤrder-
ſaͤtze ganz falſch, die Form richtig, und der Schlußſatz
ganz wahr ſey. Z. E. in Barbara.
Alle
[149]von den einfachen Schluͤſſen.
- Alle Triangel haben vier Seiten;
- Alle Vierecke ſind Triangel;
- Folglich alle Vierecke haben vier Seiten.
Oder es kann auch nur ein Satz ganz falſch, die
Form richtig, und der Schlußſatz wahr ſeyn. Z. E.
wiederum in Barbara
- Alle Vierecke ſind Figuren;
- Alle Triangel ſind Vierecke;
- Folglich alle Triangel ſind Figuren.
§. 245.
Man muß daher mit ſolchen Vorderſaͤtzen nicht
ſogleich den Schlußſatz verwerfen, es ſey denn, daß
dieſer nothwendig Theil daran nehme. Dieſes laͤßt
ſich nun in gewiſſen Faͤllen beſtimmen, ohne daß man
andre Gruͤnde zu Huͤlfe nehme, als bloß die Ver-
wandlung der Vorderſaͤtze in wahre, indem man nur
die Woͤrter, alle, etliche, keiner, behoͤrig verwan-
delt. Bleiben ſodann dieſe umgeaͤnderte Vorderſaͤ-
tze noch in einer richtigen Schlußform, ſo laͤßt ſich
der Schlußſatz ziehen, und es zeigt ſich, ob und wie
fern er anders ausſehe, als der, ſo aus den falſchen
Saͤtzen folgte. Laͤßt ſich aber aus den umgeaͤnderten
kein Schluß ziehen, ſo ſieht man auch, daß die Vor-
derſaͤtze nicht zureichen, etwas in Anſehung des
Schlußſatzes auszumachen. Wie denn dieſes uͤber-
haupt geſchieht, ſo oft beyde ungeaͤnderten Vorderſaͤ-
tze verneinend, oder beyde particular ſind. Beyde
erſtgegebene Beyſpiele (§. 244.) moͤgen auch hier
dienen. Werden die Vorderſaͤtze des erſten in wahre
verwandelt, ſo lauten ſie alſo:
- Kein Triangel hat vier Seiten;
- Kein Viereck iſt ein Triangel.
Woraus gar nichts folgt, das fuͤr oder wider den
K 3vorhin
[150]IV. Hauptſtuͤck,
vorhin gezogenen Schlußſatz diene. Die Vorderſaͤtze
des andern Beyſpiels in wahre verwandelt, ſind dieſe:
- Alle Vierecke ſind Figuren;
- Kein Triangel iſt ein Viereck.
Dieſe Saͤtze muͤßten verwechſelt, oder auch einer oder
beyde umgekehrt werden, um etwas nach den or-
dentlichen Formen, Ferio, Feſtino, Felapton, Fe-
ſapo, daraus zu ſchließen. Wenn wir ſie aber ſo,
wie ſie ſind, zeichnen, ſo ſtehen ſie alſo:
Woraus man ſieht, daß die Indiuidua F, die uͤber
V ſtehen, nicht uͤber T ſeyn koͤnnen, weil T neben V
faͤllt. Demnach iſt der Schlußſatz, der endlich aus
den beyden Saͤtzen gezogen werden kann, dieſer:
Etliche Figuren ſind nicht Triangel.
Er ſtoͤßt aber den Satz, daß alle Triangel Figuren
ſind, welcher vorhin der Schlußſatz war, nicht um,
weil die Zeichnung unbeſtimmt laͤßt, ob nicht die Li-
nie F ganz uͤber T verlaͤngert werden muͤſſe, wo die
Punkte ſind. Dieſes Unbeſtimmte iſt nicht in der
Zeichnung, ſondern in den gezeichneten Saͤtzen. Und
es leuchtet hier deſto mehr in die Augen, da wir in
der Zeichnung beyde Saͤtze allgemein beybehalten haben.
Denn wenn wir ſie erſt in eine ordentliche Schlußform
der erſten oder zweyten haͤtten bringen wollen, ſo waͤ-
re es z. E. in Feſtino ſo geweſen:
- Kein Triangel iſt ein Viereck;
- Etliche Figuren ſind Vierecke;
Folgl. Etliche Figuren ſind nicht Triangel.
Und die Zeichnung dieſe:
Woraus wiederum eben das folgt, was aus der vo-
rigen
[151]von den einfachen Schluͤſſen.
rigen Zeichnung, die wir mit den beyden Saͤtzen vor-
genommen haben.
§. 246.
Nimmt man nun mit den falſchen Vorderſaͤtzen
die angegebene Aenderung vor, und es laͤßt ſich mit
Beybehaltung dergleichen Figur ein Schluß ziehen,
ſo werden ſich die Faͤlle, die den Schlußſatz aͤndern,
oder auch ganz wahr ſeyn laſſen, leicht beſtimmen.
- I.Der Schlußſatz bleibt wie er war.
- α) Jn den §. 243. angezogenen Faͤllen.
- β) Wenn ſtatt Ceſare, Cameſtres oder ſtatt
Cameſtres, Ceſare, ingleichen ſtatt Fe-
ſtino, Barocco, oder ſtatt Barocco, Fe-
ſtino durch die Aenderung der Vorderſaͤ-
tze heraus koͤmmt.
- II.Der Schlußſatz bleibt nicht nur, ſondern
wird allgemein, wenn man in den beyden erſten
Figuren A fuͤr I, und E fuͤr O nehmen muß,
und der andre Satz bleibt. - III.Der Schlußſatz bleibt, aber er wird par-
ticular, wenn man in den beyden erſten Figu-
ren I fuͤr A, und O fuͤr E in den Unterſaͤtzen
nehmen muß, und der Oberſatz bleibt. - IV.Der Schlußſatz wird geaͤndert:
- α) Jn der erſten Figur, wenn ſtatt Barba-
ra, Celarent; oder ſtatt Celarent, Bar-
bara genommen werden muß. - β) Jn der vierten Figur, wenn man ſtatt
Calentes muß Baralip, oder Dibatis
nehmen; wiewohl hier der Schlußſatz
nur particular, und folglich unbeſtimmt
bleibt, ob er allgemein ſeyn koͤnnte. Jn-
deſſen weis man, daß er nicht allgemein
verneinend ſeyn kann.
- α) Jn der erſten Figur, wenn ſtatt Barba-
K 4V.Der
[152]IV. Hauptſtuͤck,
- V.Der Schlußſatz wird wenigſtens zum
Theil geaͤndert, ſo oft er aus I, O oder aus
O, I wird. Z. E. Wenn Darii in Ferio etc.
verwandelt werden muß.
Wir wollen ein einiges Beyſpiel anfuͤhren, wie naͤm-
lich aus Cameſtreſ, Ceſare wird.
| Cameſtres: | Ceſare: |
| Alle Vierecke ſind dreyſeitig. | Kein Viereck iſt dreyſeitig. |
| Kein Triangel iſt dreyſeitig. | Alle Triangel ſind dreyſeit. |
| Kein Triangel iſt ein Viereck. | Kein Triang iſt ein Viereck. |
Hier folgt aus zween ganz falſchen Vorderſaͤtzen, eben
ſo wie aus eben denſelben, wenn ſie in wahre verwan-
delt werden, der gleiche Schlußſatz allgemein. Und
dieſes iſt der einige Fall, wo der Schlußſatz aus ei-
nerley ganz wahren und ganz falſchen Vorderſaͤtzen
allgemein folgt.
§. 247.
Da man es den Vorderſaͤtzen nicht anſehen kann,
ob und wiefern ſie wahr oder falſch ſind, ſondern die-
ſes aus andern Gruͤnden finden muß, ſo iſt es oͤfters
leichter, die Wahrheit des Schlußſatzes, als die von
einem der Vorderſaͤtze zu pruͤfen. Jſt der Schluß-
ſatz ganz oder zum Theil falſch, und die Form rich-
tig, ſo fehlt es auch nothwendig an einem oder bey-
den Vorderſaͤtzen, weil, wenn dieſe durchaus wahr
waͤren, auch nothwendig der Schlußſatz wahr ſeyn
wuͤrde. Denn nach unſrer Zeichnungsart kann man
die nach Angebung der Vorderſaͤtze einmal gezeichne-
ten Begriffe nicht anders nehmen, als ſie durch die
Zeichnung bereits geſetzt ſind. Hat man daher den
Schlußſatz und einen Vorderſatz gepruͤft, ſo kann
man dieſe beyden als Vorderſaͤtze einer Schlußrede
anſehen, und der darausgezogene Schlußſatz wird,
wenigſtens einigermaaßen, angeben, wiefern der
zuruͤck-
[153]von den einfachen Schluͤſſen.
zuruͤckgelaſſene Vorderſatz der erſten Schlußrede wahr
oder falſch iſt. So z. E. wenn die erſte Schluß-
rede inBarbaraiſt, ſo kann der Schlußſatz nicht
allgemein wahr und der Oberſatz allgemein
falſch ſeyn, ohne daß auch nothwendig der
Unterſatz allgemein falſch ſey. Denn der geaͤn-
derte Oberſatz und der beybehaltene Schlußſatz geben
einen Schluß in Ceſare, welcher den Unterſatz ganz
umſtoͤßt. Z. E. Man habe den Schluß in Barbara.
- Jede gerade Linie iſt eine Figur;
- Jeder Triangel iſt eine gerade Linie;
- Folglich: Jeder Triangel iſt eine Figur.
Der Schlußſatz iſt wahr, der Oberſatz ganz falſch,
folglich:
- Keine gerade Linie iſt eine Figur;
- Jeder Triangel iſt eine Figur;
- Folglich: Kein Triangel iſt eine gerade Linie.
Dieſer Schlußſatz ſtoͤßt den Unterſatz der erſten Schluß-
rede auch ganz um. Haͤtte man hingegen mit dem
Schlußſatze den geaͤnderten Unterſatz beybehalten.
- Kein Triangel iſt eine gerade Linie;
- Alle Triangel ſind Figuren.
ſo wuͤrde daraus nichts gefolgt ſeyn, als der ſehr un-
beſtimmte Satz: daß etliche Figuren nicht gerade Li-
nien ſind, woraus man fuͤr den Oberſatz der erſten
Schlußrede nichts wuͤrde gefunden haben. Demnach,
wenn inBarbarader Schlußſatz ganz wahr,
der Unterſatz ganz falſch iſt, ſo laͤßt ſich dar-
aus fuͤr oder wider die Wahrheit des Oberſa-
tzes nichts ſchließen. Man wird fuͤr die Schluß-
art Celarent ganz aͤhnliche Regeln finden. Wir
halten uns aber hierbey nicht laͤnger auf, weil es un-
noͤthig iſt, eine Gedaͤchtnißſache daraus zu machen,
K 5indem
[154]IV. Hauptſtuͤck,
indem in jedem vorkommenden Fall die allgemeine Re-
gel zureichend und ihre Beobachtung leicht iſt.
§. 248.
Wir koͤnnen daher aus der bisher betrachteten Leh-
re der Schluͤſſe nur ſo viel veſtſetzen; daß, wenn
ein Schluß in behoͤriger Form, und beyde
Vorderſaͤtze wahr ſind, ſodann der Schlußſatz
auch nothwendig wahr ſeyn muͤſſe. Oder all-
gemeiner: Wenn die Vorderſaͤtze wahr ſind, und
ſie laſſen ſich nach unſrer Zeichnungsart zeich-
nen, ſo giebt dieſe, wenn die Zeichnung rich-
tig gemacht wird, jede Schluͤſſe an, die daraus
koͤnnen gezogen werden, und dieſe Schluͤſſe
ſind ebenfalls wahr. Dieſer letzte Satz iſt allge-
meiner, weil unſre Zeichnungsart ſich an die Form
und Ordnung der Vorderſaͤtze nicht bindet, ſondern
dieſelbe nimmt, wie ſie ſind.
§. 249.
Da unter dieſen Bedingungen der Schlußſatz
wahr iſt, ſo heißt es, derſelbe ſey durch eine
Schlußrede bewieſen, oder durch eine Schluß-
rede gefunden oder herausgebracht worden.
Beydes iſt zwar beyſammen, und der Unterſchied
dieſer Ausdruͤcke beruht nur darauf, ob man zu dem
Schlußſatze die Vorderſaͤtze geſucht habe, oder ob
man durch dieſe auf den Schlußſatz gefuͤhrt worden.
Da nun beydes moͤglich iſt, ſo dienen allerdings die
Schlußreden ſo wohl zum Beweiſen, als zum Er-
finden. Und man kann ſagen, daß letzteres ungleich
natuͤrlicher iſt; weil man bey dem Beweiſen bereits
wiſſen muß, ob der Schlußſatz wahr ſey; denn waͤre
er falſch, ſo wuͤrde man vergebens einen Beweis ſu-
chen, weil aus wahren Vorderſaͤtzen durch die behoͤri-
ge Form kein falſcher Satz herausgebracht werden
kann.
[155]von den einfachen Schluͤſſen.
kann. Haben wir aber zween wahre Vorderſaͤtze vor
uns, oder der eine koͤmmt uns bey Anlaß des andern
in Sinn, ſo folgt nichts natuͤrlicher, als der Schluß-
ſatz, und dieſer iſt zugleich an ſich ſchon bewieſen, weil
er aus den beyden Vorderſaͤtzen folgt. Wir merken
dieſes deswegen auch an, weil es Gelehrte gegeben,
die glaubten, daß die Schluͤſſe nur zum Beweiſen,
keinesweges aber zum Erfinden dienen. Es iſt ganz
umgekehrt, weil am allernatuͤrlichſten und ungezwungen-
ſten beydes beyſammen iſt, und das Erfinden viel-
mehr vorgeht. Denn man muß erſt finden, ob der
Satz, den man beweiſen will, wahr iſt; Und um
dieſes zu thun, haben wir außer der Erfahrung und
den Schluͤſſen kein Mittel mehr.
§. 250.
Wir haben bereits etlichemal angemerkt, daß
man im gemeinen Reden, und auch im ſchriftlichen
Vortrage zuweilen den einen Oberſatz des Schluſſes
weglaͤßt, weil er an ſich offenbar iſt. Z E. Die
Sonne iſt ein Licht, folglich macht ſie die Dinge ſicht-
bar. Hier iſt der Oberſatz ausgelaſſen; das Licht
mache die Dinge ſichtbar. Eben ſo: die Menſchen
ſind ſterblich, folglich Croͤſus auch. Hier iſt der
Unterſatz ausgelaſſen: Croͤfus iſt ein Menſch. Sol-
che Schluͤſſe, worinn ein Satz weggelaſſen, und
nicht einmal citirt wird, wie es die Mathematiker
mehrentheils thun, heiſſen Enthymemata,verſtuͤm-
melte Schluͤſſe. Zuweilen zieht man beyde Vor-
derſaͤtze zuſammen: Z. E. in der erſten Figur: Alle
A, und folglich auch die A, die B ſind, ſind C, oder
kein A, und folglich auch kein B A iſt C. Oder in
der dritten Figur: A iſt B und C, daher giebt es B,
die C ſind. (§. 227.) Dies ſind zuſammengezo-
gene Schluͤſſe. Zuweilen giebt man nur das Mit-
telglied
[156]IV. Hauptſtuͤck,
telglied an: Z E. in der erſten Figur: A iſt B, weil
es C iſt. Jn der zweyten Figur: B iſt nicht C,
denn ſie ſind in A verſchieden. Jn der dritten Fi-
gur: Es giebt A, die B ſind, denn C iſt ein ſolches;
oder kurz: zum Exempel C. Jn der vierten Figur:
Kein C iſt A, denn A iſt B. Oder: kein B iſt C;
oder B hindert es. Man ſieht auch hieraus wiederum,
daß das Mittelglied in jeder Figur von beſonderer
Art iſt, wenn man es in Verhaͤltniß auf die Vorder-
ſaͤtze betrachtet. Denn in der erſten Figur iſt das
Mittelglied eigentlich ein Grund. Und dieſes macht
auch, daß, wo von Gruͤnden die Rede iſt, im-
mer die erſte Figur vorkoͤmmt. Jn der zweyten Fi-
gur zeigt das Mittelglied den Unterſchied beyder
Subjecte an. Daher koͤmmt die zweyte Figur na-
tuͤrlicher Weiſe nur da vor, wo zwey Dinge von
einander zu unterſcheiden ſind. Jn der dritten Figur
iſt das Mittelglied ein einzelnes oder eine ganze Klaſſe
von Beyſpielen, und ſie wird auch da nur vorzuͤglich
gebraucht, wo Beyſpiele aufzuweiſen ſind, den Satz
zu beweiſen, weil man ſie zuweilen auch zum erlaͤu-
tern gebraucht. Jn der vierten Figur giebt das Mit-
telglied den Grund zum reciprociren, weil die
andern zwey Glieder der Vorderſaͤtze im Schlußſatze
verwechſelt werden. Dieſer vierfache Unterſchied des
Mittelgliedes macht es auch, daß wir nur in der er-
ſten Figur allgemein bejahend ſchließen koͤnnen, weil
das Unterſcyeiden nothwendig verneint, Beyſpiele
nur particular beweiſen, und das reciprociren nur
bey allgemein verneinenden Saͤtzen allgemein angeht,
hingegen der Grund dem Subject des Schlußſatzes
zukoͤmmt, und das Praͤdicat, als das gegruͤndete,
allgemein angeht; daher auch die Schluͤſſe in Barbara
moͤglich macht.
§. 251.
[157]von den einfachen Schluͤſſen.
§. 251.
Von dieſen Arten des Vortrags der Schluͤſſe; da
man naͤmlich entweder einen Oberſatz weglaͤßt, oder
beyde in einen zuſammenzieht, oder endlich nur das
Mittelglied anzeigt, ſind die ſogenannten verſteckten
Schluͤſſe verſchieden. Der Begriff eines verſteckten
Schluſſes hat einen ſehr unbeſtimmten Umfang. Man
kann bald jeden Schluß, der nicht in ſeiner einfachen
logiſchen Form und Ordnung vorgetragen wird, mehr
oder minder verſtecket nennen, und viele ſind auch ſo
weit gegangen, daß ſie alle Schluͤſſe der drey letzten
Figuren fuͤr nichts anders, als verſteckte Schluͤſſe der
erſten Figur angeſehen haben, weil ſie dieſe Schluß-
form allein fuͤr natuͤrlich hielten. (§. 220.) Da wir
aber den Unterſchied der Figuren klaͤrer aufgedeckt, und
gezeigt haben, daß jede ſich gleich unmittelbar auf die
Natur der Saͤtze gruͤndet, daß das Dictum de omni
et nullo noch andre Dicta von gleicher Evidenz neben
ſich leidet, daß endlich nicht alle Figuren in jedem
Fall gleich natuͤrlich und ungezwungen ſind, (§. 221—
234.) ſo faͤllt dieſe Beſchuldigung der drey letzten Fi-
guren ganz weg, und wir werden die verſteckten
Schluͤſſe in etwas anders ſuchen muͤſſen.
§. 252.
Einmal koͤnnen in einem Vortrage die Vorderſaͤ-
tze eines Schluſſes verborgen liegen, ohne daß ſie
noch bemerkt worden, und da koͤmmt es folglich nur
darauf an, daß man ſie herausnehme und den Schluß-
ſatz ziehe. Und in dieſer Abſicht kann man ſagen, daß
in allen Wiſſenſchaften noch unzaͤhlige dergleichen ver-
ſteckte Schluͤſſe ſind. Dieſer Fall wird der Bedeutung
des Wortes noch genauer entſprechen, wenn in dem
Vortrage nicht nur die Vorderſaͤtze, ſondern auch
ſelbſt noch die Schlußſaͤtze zerſtreut ſind, ohne noch
bemerkt
[158]IV. Hauptſtuͤck,
bemerkt worden zu ſeyn. Und dieſes wiederfaͤhrt be-
ſonders denen, die zum ſchließen eben kein Geſchicke
haben. Sie werfen Vorderſaͤtze und Schlußſaͤtze
nebſt noch vielen andern, die etwann auch gar nicht
dahin dienen, ſo durch einander, daß man Muͤhe hat,
es auseinander zu leſen, und das Schluͤßige beſonders
zu nehmen. Sodann wird ein Schluß verſteckter,
wenn man ſeine Vorderſaͤtze ganz umgekehrt, mit an-
dern Saͤtzen verwickelt vortraͤgt, und nicht einmal
durch behoͤrige Bindewoͤrter, weil, daher, folglich
ꝛc. anzeigt, daß man im Sinn hatte, einen Schluß
zu machen. Dieſes iſt dem Verfahren der Mathe-
matiker ganz entgegen geſetzt, die die aͤußerſte Sorg-
falt haben, uͤber den Zuſammenhang ihres Vor-
trags Licht auszubreiten, und noch uͤberdies den Leſer
davon zu erinnern, damit er darauf Acht habe, was
man ihm klar und in der netteſten Ordnung vor Au-
gen legt. (§. 149. ſeqq.)
§. 253.
Wie aber auch immer ein Schluß verſteckt ſeyn
kann, ſo haben wir dabey weiter nichts zu thun, als
zu ſehen, ob die Folge uns einleuchtet, oder was dar-
an noch fehlt, um ſie uns vorſtellig zu machen. Koͤn-
nen wir uns darinn zurecht finden, ſo wird es auch
ſo ſchwer nicht ſeyn, den Schluß aus dem Cahos
heraus zu ziehen, und ihn in ſeine behoͤrige Form zu
bringen, damit er koͤnne gepruͤft werden. Widrigen-
falls wird man das Cahos muͤſſen dahin geſtellt ſeyn
laſſen, bis man etwann Anlaͤſſe ſindet, die daſ-
ſelbe aufklaͤren helfen. Bis dahin bleibt es unaus-
gemacht, ob es wahr oder falſch iſt, und die Vermu-
thung faͤllt eher wenigſtens zum Theil auf das letztere,
weil die Deutlichkeit des Vortrags mit ſeiner Richtig-
keit faſt immer zu Paaren geht. Und wer ſeine Ge-
danken
[159]von den einfachen Schluͤſſen.
danken nicht ausleſen, entwickeln und in behoͤriger
Ordnung und Verbindung vortragen kann, der hat
mit der Verwirrung auch noch irriges darinn zu ver-
muthen. Die verſteckten Schluͤſſe ſind demnach keine
Vollkommenheit des Vortrages, zumal, wenn ſie ſo
verſteckt ſind, daß man die Richtigkeit der Folge gar
nicht dabey empfindet, und dieſe durch nichts ange-
deutet wird, dadurch man ohne viel Nachſinnen die
Schluͤſſe, allenfalls es noͤthig waͤre, in ihre Form
bringen koͤnnte. Dieſer Fehler wird deſto groͤßer, je
mehr die Schluͤſſe und Beweiſe das Hauptwerk des
Vortrags ausmachen.
§. 254.
Da demnach ſolche verſteckte Schluͤſſe, die viel-
mehr von einer Verwirrung im Vortrage herruͤhren,
zu vermeiden ſind, ſo will dieſes doch nicht ſagen, daß
eben nothwendig alle Schluͤſſe in logiſcher Form noth-
wendig vorgetragen werden muͤſſen. Wo in Anſe-
hung der Nichtigkeit nicht die aͤußerſte Sorgfalt noͤ-
thig iſt, da laͤßt es ſich ſchon thun, daß man das
Mittelglied eines Schluſſes in jedem Vorderſatz durch
andre, aber gleichguͤltige Worte, ausdruͤcke, und
ſo auch in dem Schlußſatz, ſtatt der Worte der Vor-
derſaͤtze gleichguͤltige Worte und Umſchreibungen ge-
brauche, in die Vorderſaͤtze die Anzeige ihrer Gruͤn-
de einmenge, oder ſie durch Anſpielungen auf aͤhnli-
che und bekanntere Dinge ꝛc. vorſtelle. Man ſieht
aber leicht, daß dieſes vielmehr in Werken des Wi-
tzes, als in ſolchen ſtatt findet, wo man die Wahr-
heit rein, beſtimmt, zuſammenhaͤngend und von al-
lem blendenden Schmucke, der endlich auch Jrrthuͤ-
mer ſcheinbar machen kann, entbloͤßt, vorzuſtellen
ſucht, und wo folglich die Richtigkeit und der Zu-
ſammenhang der Saͤtze die Hauptabſicht iſt.
§. 255.
[160]IV. Hauptſtuͤck,
§. 255.
Die bloße Verſetzung der drey Saͤtze eines Schluſ-
ſes macht denſelben noch nicht ſo verſteckt, daß man
Muͤhe haben ſollte, ihn gleich wiederum in ſeine ein-
fache Form zu bringen, oder ſeinen Zuſammenhang
einzuſehen, ſo wie er vorgetragen wird. Die Ma-
thematiker fangen gemeiniglich bey dem Unterſatze an,
und folgern den Schlußſatz, ſo oft der Oberſatz ent-
weder fuͤr ſich klar iſt, oder durch Citiren angezeigt
werden kann. Zuweilen werden beyde Vorderſaͤtze
noch erſt durch Schluͤſſe aus dem vorhergehenden her-
geleitet, und ſodann der Schlußſatz gezogen. Man
hat hierinn ohne Nachtheil der Richtigkeit des Zu-
ſammenhanges mehr als eine Auswahl, und die vor-
hin (§. 250.) angezeigten abgekuͤrzten Arten des Vor-
trags eines Satzes benehmen dieſer Richtigkeit eben-
falls nichts, ſo oft ſie im foͤrmlichen Schluſſe ſelbſt
da iſt.
§. 256.
Wir haben noch die ſogenannten unmittelbaren
Folgen zu betrachten. Jm eigentlichſten Verſtande
folgt zwar kein Satz unmittelbar aus dem andern,
weil man immer, um einen Schluß zu ziehen, noch
einen Oberſatz dazu nehmen muß. Jndeſſen aber,
wenn dieſer zweyte Oberſatz nichts anders enthaͤlt, als
was ſchlechthin nur deswegen wahr iſt, weil der
Unterſatz ein Satz iſt; ſo wird in dieſem Fall die
Schlußfolge unmittelbar genennt. Demnach gruͤn-
det ſich die unmittelbare Folge ſchlechthin auf die Na-
tur eines Satzes uͤberhaupt, und ſie iſt richtig und
wahr, weil der Satz, aus dem man ſie zieht, ein
Satz, oder eine der vier Arten von Saͤtzen iſt, und
in ſo fern derſelbe wahr iſt. Da man demnach, um
eine ſolche Folge zu ziehen, weiter nichts, als den
Satz
[161]von den einfachen Schluͤſſen.
Satz vor ſich haben, und ſich bewußt ſeyn darf, daß
es ein Satz iſt; ſo heißt die Folge unmittelbar. Wir
wollen ihre verſchiedene Arten durchgehen.
§. 257.
Der erſte Fall. Wenn man von allen auf et-
liche ſchließt. Das Dictum de omni et nullo macht
die Folge zulaͤßig. Z. E.
- Alle A ſind B.
- Folglich ſind auch etliche A, B.
- oder folglich iſt auch dieſes A, B.
Hier muß der Name des Subjectes beybehalten,
oder hoͤchſtens nur mit offenbar gleichguͤltigen ver-
wechſelt werden, weil ſonſt gleich noch ein Satz da-
zu kaͤme.
§. 258.
Der zweyte Fall. Wenn man den Satz, ſo
weit es ſeine Form erlaubt, umkehrt, nach dieſen
Formeln: (§. 141.)
- 1. Alle A ſind B; folglich: Etliche B ſind A.
- 2. Etliche A ſind B; folglich: Etliche B ſind A.
- 3. Kein A iſt B; folglich auch kein B iſt A.
§. 259.
Ferner laͤßt ſich nach folgenden Formeln ſchließen:
- 1. Alle A ſind B, daher iſt A alles, was von B
kann geſagt werden. - 2. Alle A ſind B; folglich: Was nicht B iſt, iſt
auch nicht A. - 3. Kein A iſt B; folglich: Was B iſt, iſt nicht A.
- 4. Etliche A ſind nicht B; daher iſt es falſch, daß
alle A, B ſeyn. - 5. Alle A ſind B; folglich: Wo A iſt, da findet
ſich auch B. - 6. Alle A ſind B; folglich giebt es B.
Lamb. Org. I. Band. L7. Etli-
[162]IV. Hauptſtuͤck,
- 7. Etliche A ſind B; folglich giebt es B.
- 8. A iſt B; folglich kann es nicht nichtB ſeyn.
§. 260.
Solche und mehrere dergleichen Schlußfolgen,
die die Natur der Saͤtze von ſelbſten anbeut, gebraucht
man mehrentheils zu gewiſſen Abſichten, z. E. die
fuͤnfte, wenn man die Dinge, die B ſind, aufzuſu-
chen hat, die ſechſte und ſiebende zur Verſicherung,
zur Widerlegung ꝛc. Mehrentheils giebt man auch
durch unmittelbare Folgen einem Satze diejenige Ge-
ſtalt, die ſich zu dem Vortrage beſſer ſchickt, es ſey,
daß man ihn durch gleichguͤltige Worte ausdruͤckt,
oder umſchreibt, oder in die Kuͤrze zieht ꝛc. Z. E.
Man ſagt etwann: WeilA, Biſt, ſo koͤmmtB
demAzu, undAgehoͤrt unter die Klaſſe der
Dinge, dieBſind. Daher haben wir nur zu
unterſuchen, was ſich von der KlaſſeBſagen
laͤßt, alles dieſes wird ſich ſodann aufAbezie-
hen und anwenden laſſen ꝛc. Dieſes ſind lauter
unmittelbare Folgen, und dergleichen giebt es in je-
dem Vortrage unzaͤhlige. Sie werden wegen des
Zuſammenhanges mehrentheils mit einander durch-
flochten, wie in dem erſt angefuͤhrten Beyſpiele,
welches wir, um den Unterſchied anzuzeigen, aufloͤ-
ſen wollen. Es begreift folgende Schlußfolgen:
- 1. AiſtB;folglich koͤmmtBdemAzu.
- 2. AiſtB;folglich gehoͤrtAunter die Din-
geB. - 3. AiſtB:Was ſich vonBſagen laͤßt, laͤßt
ſich vonAſagen.
Da aber dieſer Vortrag trocken und ohne allen Zu-
ſammenhang iſt; ſo ſieht man leicht, daß er nur dient,
ſich die Richtigkeit jeder einzelnen Folge vorzuſtellen.
§. 261.
[163]von den einfachen Schluͤſſen.
§. 261.
Es laſſen ſich ferner die Verrichtungen des Ver-
ſtandes (§. 161.) bey jeden Saͤtzen und Begriffen
anbringen, und die Anzeige, man koͤnne oder man muͤſ-
ſe, oder man wolle ſie dabey anwenden, hat keiner
Vorbereitung noͤthig, wenn man ſie beyfuͤgen will.
Sie iſt demnach ebenfalls eine unmittelbare Folge, die
man gleich mit dem Satze zuſammenhaͤngen kann.
Z. E.
Da nun ſo viel ausgemacht iſt, daß we-
nigſtens alleA, Bſind; ſo laſſen ſich al-
lerdings Dinge gedenken, dieBſind, und
dieſer Begriff har demnach nichts wider-
ſprechendes, weil er wirklich inAvor-
koͤmmt. Wir werden nun ſeinen Um-
fang beſtimmen und auszumachen ſu-
chen, wie weit er ſich ausdehnt. Da er
nun in den DingenAvorkoͤmmt, ſo wer-
den wir anfangen, ihn daraus zu abſtra-
hiren, und daher vornehmlich auf den
Grund ſehen, warum er den DingenA
zukoͤmmt ꝛc.
Dieſes Beyſpiel enthaͤlt, außer dem Satz, daß was
einem wirklichen Dinge zukoͤmmt, nichts wi-
derſprechendes habe, noch die Aufgaben (§. 161.)
den Umfang und die Ausdehnung eines Be-
griffes beſtimmen, den Begriff aus den Din-
gen, in welchen er vorkoͤmmt, abſtrahiren,
den Grund finden, warum er denen Dingen
zukoͤmmt ꝛc. Eben ſo ließe ſich in dieſem Beyſpiel
A als eine Art, B als ſeine Gattung anſehen, und
da waͤren die uͤbrigen Arten zu ſuchen ꝛc. Man ſieht
zugleich hieraus, daß die unmittelbaren Folgen ihre
logiſchen Gruͤnde, die Anwendung der Verrich-
L 2tungen
[164]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
tungen des Verſtandes, und ſo auch die allgemeinen
Grundſaͤtze vom moͤglichen, wirklichen und noth-
wendigen, (§. 137.) ingleichem die von Requiſitis,
Criteriis, Symptomatibus, (§. 172.) zur Fortſetzung
und Ordnung des Nachdenkens nicht geringe Dienſte
thun. Die beyden gegebenen Beyſpiele ſind gewiſſer
Maaßen allgemeine Formeln davon. Denn daß ſie
logiſch ausſehen, iſt ſchlechthin deswegen, weil die
unmittelbaren Folgen nichts anders, als Anwen-
dungen der logiſchen Grundſaͤtze ſind.
Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
Von zuſammengeſetzten Schluͤſſen,
und
den naͤchſten Umwegen im Schließen.
§. 262.
Wir haben im vorhergehenden Hauptſtuͤcke die ein-
fachen Schluͤſſe betrachtet, und daher uͤberhaupt
beſtimmt, wiefern zween Begriffe, wenn ſie mit ei-
nem dritten verglichen werden, einander zukommen
oder nicht. Die Saͤtze waren einfach und cathego-
riſch, und daher auch der Schlußſatz Die Ord-
nung fordert, daß wir nun auch zuſammengeſetztere
Saͤtze vornehmen, um die Schlußarten zu beſtimmen,
die ſie angeben. Und da haben wir drey Arten von
Saͤtzen, naͤmlich die bedingten, die copulativen
und die disjunctiven. (§. 131. ſeqq.) Wir werden
dieſe hier, wo es zugleich um die Schluͤſſe zu thun iſt,
etwas umſtaͤndlicher betrachten.
§. 263.
[165]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
§. 263.
Ein bedingter Satz beſteht immer wenigſtens aus
zween Saͤtzen, deren der eine die Bedingung, der
andre aber die Ausſage angiebt. Sind dieſe Saͤtze
einfach, ſo hat auch der bedingte Satz ſeine einfach-
ſte Form, in welche ſich daher die zuſammengeſetztere
gleichfalls aufloͤſen laſſen. Um die einzelnen Arten
einfacher bedingter Saͤtze zu finden, doͤrfen wir nur
die vier Begriffe, welche in beyden Saͤtzen vorkom-
men, auf alle moͤgliche Arten mit einander verglei-
chen. Unter dieſen muͤſſen wenigſtens drey, und es
koͤnnen auch alle vier verſchieden ſeyn. Denn die
uͤbrigen Faͤlle, wo nur ein einiger oder nur zween
Begriffe vorkommen, koͤnnen, wenn anders der Satz
wahr ſeyn ſoll, nur folgende ſeyn:
- 1. WennA, Aiſt, ſo iſtA, A. Dieſer Satz
iſt ganz leer. - 2. WennA, Biſt, ſo iſtA, B. Ebenfalls ein
leerer Satz. - 3. WennA, Biſt, ſo ſind etlicheB, A. Hier iſt die
Ausſage ſchlechthin der umgekehrte Satz der
Bedingung, (§. 141.) und ſollte ſie allgemein
ſeyn, ſo muß es erſt bewieſen werden. - 4. WennA, Aiſt, ſo iſtB, B. Dieſer Satz
will nichts anders ſagen, als ein jedes Ding
iſt, was es iſt Z. E. Wenn Wahrheit,
Wahrheit iſt, ſo iſt weiß, weiß; ſchwarz,
ſchwarz ꝛc.
Dieſe Saͤtze ſind demnach nichts anders, als logiſche
Grundſaͤtze und unmittelbare Folgen, und dabey
bleibt es ſchlechthin.
§. 264.
Wir muͤſſen demnach in den hypothetiſchen Saͤ-
tzen wenigſtens drey, oder auch alle vier Begriffe
L 3verſchie-
[166]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
verſchieden annehmen; und da haben wir folgende
Arten:
- 1. Wenn A, B iſt; ſo iſt A, C.
- 2. Wenn A, B iſt; ſo iſt B, C.
- 3. Wenn A, B iſt; ſo iſt C, A.
- 4. Wenn A, B iſt; ſo iſt auch C, B.
- 5. Wenn A, B iſt; ſo iſt C, D.
Jn die Bedingung muͤſſen naͤmlich zween verſchie-
dene Begriffe genommen werden, weil ſie ſonſt ein
leerer Satz waͤre, und folglich auch die Ausſage ein
leerer oder identiſcher Satz werden wuͤrde, falls an-
ders die Bedingung dieſen Namen haben, und nicht
bloß ein Ausdruck der Gewißheit der Ausſage ſeyn
ſolle; wie z E. wenn man ſagte: So lange Wahr-
heit Wahrheit iſt, wird auch zweymal zwey,
vier bleiben ꝛc. Da demnach die beyden Begriffe
der Bedingung verſchieden ſeyn muͤſſen, ſo koͤmmt in
den vier erſten Arten nur einer derſelben in der Ausſa-
ge vor; und zwar, entweder der Begriff des Sub-
jectes, oder der Begriff des Praͤdicats der Bedin-
gung: Und welcher von beyden es ſey, ſo kann er
auch in der Ausſage entweder das Subject, oder das
Praͤdicat ſeyn. Demnach giebt es nur vier Arten
hypothetiſcher Saͤtze, in welchen nur drey verſchiede-
ne Begriffe vorkommen. Sind aber alle vier Be-
griffe verſchieden, ſo laͤßt ſich in der bloßen Form des
hypothetiſchen Satzes keine Berwechslung der Be-
griffe vornehmen, weil die Form nichts anders, als
die Verſchiedenheit der vier Begriffe anzeigt. Dem-
nach iſt die fuͤnfte Art allein.
§. 265.
Dieſe fuͤnf Arten aber verwandeln ſich in zwanzig,
wenn wir auf den Unterſchied ſehen, ob die Bedin-
gung, oder die Ausſage, oder beyde bejahen oder ver-
neinen,
[167]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
neinen, und auch dieſe zwanzig werden in achtzig ver-
wandelt, wenn wir zugleich auf den Unterſchied der
Allgemeinheit ſehen, ob naͤmlich die Bedingung, oder
die Ausſage, oder beyde, allgemein oder particular
ſind. Setzt man dieſe beyden Unterſchiede zuſam-
men, ſo werden wir, wie bey den Schluͤſſen, die §.
199. angefuͤhrten 16 Faͤlle, fuͤr jede der fuͤnf Arten
hypothetiſcher Saͤtze haben. Demnach giebt es
in allem achtzig beſondere Arten einfacher be-
dingter Saͤtze, von welchen daher in jedem vor-
kommenden Fall eine ſtatt hat.
§. 266.
Die Ausſage iſt immer eine Folge der Bedin-
gung, man nennt ſie daher auch Conſequentiam. Sie
iſt es unmittelbar in den Faͤllen des §. 263. mittel-
bar in den Faͤllen des §. 264 265. Und zwar kann
ſie durch eine einige Schlußrede gezogen werden, wenn
der bedingte Satz nur drey Begriffe hat, und die Fol-
ge nicht allgemeiner iſt, als die Bedingung. Denn
wo dieſes iſt, und zugleich auch uͤberhaupt, wo der
bedingte Satz vier Begriffe hat, da gebraucht es
mehr, als nur eine Schlußrede. Das letztere iſt fuͤr
ſich klar, weil eine Schlußrede nur drey Begriffe
hat; das erſtere aber erhellet daraus, daß, wenn
man von einem oder von etlichen auf alle einen Schluß
machen will, vorerſt muͤſſe gezeigt werden, alle Glie-
der ſeyn ſo mit einander verbunden, daß von einem
oder von etlichen, die uͤbrigen alle abhaͤngen und be-
ſtimmt werden. Wir werden dieſe Faͤlle unten be-
trachten.
§. 267.
Jn den andern Faͤllen laͤßt ſich aus einem beding-
ten Satze die Schlußrede leicht machen, in die er ver-
wandelt werden kann. Man darf naͤmlich nur die
L 4Aus-
[168]V. Haupſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
Ausſage, als den Schlußſatz, und die Bedingung
als einen Vorderſatz annehmen, und der andre Vor-
derſatz muß ſo beſchaffen ſeyn, daß aus beyden der
Schlußſatz folge. Z. E. der Satz:
- Wenn A, B iſt: ſo iſt A, C,
hat das Mittelglied A in der Ausſage und in der
Bedingung zum Subjecte, und da es bejahend iſt, ſo
wird der Schluß in der erſten Figur folgender ſeyn:
- B iſt C
- A iſt B
- folglich: A iſt C.
Hier hat man demnach den Oberſatz: B iſt C, anneh-
men muͤſſen. Und iſt dieſer nebſt dem Unterſatze oder
der Bedingung wahr, ſo iſt der Schlußſatz oder die
Ausſage ebenfalls wahr. Der Satz, den man noch
zur Schlußrede annehmen muß, wird der Grund
der Ausſage oder der Folge genennt; und iſt derſel-
be falſch, ſo heißt es: Non valet conſequentia, die
Folge geht nicht an. Eben ſo ſagt man: Non liquet
conſequentia, die Folge ſey nicht an ſich klar oder noth-
wendig, wenn der Schluß ſich nicht anders ziehen
laͤßt, als daß man die Bedingung allgemein bejahend
umkehre. Z. E. in der zweyten und dritten Art,
(§. 264.) wenn ſie allgemein bejahend iſt. Denn
ſo wird aus dem Satze:
- Wenn A, B iſt: ſo iſt B, C.
mit Umkehrung der Bedingung, der Schluß:
- alle A ſind C
- alle B ſind A
- folglich: alle B ſind C.
Und eben ſo wird aus dem Satze:
- Wenn A, B iſt: ſo iſt C, A.
mit Umkehrung der Bedingung, der Schluß:
Alle
[169]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
- Alle B ſind A.
- alle C ſind B.
- folglich: alle C ſind A.
Jn dieſen Faͤllen muß nicht nur der angenommene
Vorderſatz, ſondern auch die Zulaͤßigkeit der umge-
kehrten Bedingung bewieſen werden, wenn die Fol-
ge angehen ſoll.
§. 268.
Die Bedingung: WennA, B iſt; laͤßt unbe-
ſtimmt, ob alle, oder etliche, oder keinA, B iſt.
Und dieſes giebt folgende Faͤlle:
- 1. Wenn in der That alle A, B ſind, ſo darf auch
nur der Grund der Folge richtig ſeyn, und
die Ausſage wird gelten. - 2. Wenn nur etliche A, oder wenn A nur in ge-
wiſſen Faͤllen B iſt; ſo geht uͤberhaupt die
Ausſage auch nicht weiter, als auf dieſe etli-
che A: und ſoll ſie weiter gehen, ſo muß es
bewieſen werden. (§. 266.) - 3. Wenn kein A; B iſt, und die Folge iſt richtig,
ſo bleibt die Wahrheit der Ausſage uneroͤr-
tert, weil ſie aus andern Gruͤnden dennoch
wahr ſeyn koͤnnte. Jſt ſie aber falſch, und
die Folge richtig; ſo iſt die Bedingung un-
moͤglich, ungereimt ꝛc. Man findet
drey aͤhnliche Faͤlle fuͤr verneinende Bedin-
gungen, weil dieſe ebenfalls ganz oder zum
Theil, oder gar nicht wahr ſeyn koͤnnen.
§. 269.
Gemeiniglich begnuͤgt man ſich in der Vernunft-
lehre bey einem hypothetiſchen Satze vorauszuſe-
tzen, daß die Ausſage aus der Bedingung richtig
folge, und ſodann koͤmmt die ganze Sache auf zween
L 5Faͤlle
[170]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
Faͤlle an, wenn aus dem bedingten Satz ein cathe-
goriſcher gemacht werden ſoll.
- I. Entweder man ſetzt die Bedingung ausdruͤcklich,
und da muß auch die Ausſage ausdruͤcklich
geſetzt werden. Die Form dieſer Schlußart
iſt folgende:- Wenn A, B iſt: ſo iſt C, D.
- Nun iſt A, B.
- Folglich iſt auch C, D.
- II. Oder man laͤugnet die Ausſage, und dadurch
wird auch die Bedingung umgeſtoßen. Die
Form iſt folgende:- Wenn A, B iſt: ſo iſt C, D.
- Nun iſt C nicht D.
- Folglich iſt auch A nicht B.
§. 270.
Nimmt man in dieſen Formeln fuͤr die Begriffe
B, D einzeln, oder fuͤr beyde zugleich, die vernei-
nenden nicht B, nicht D, ſo findet ſich leicht, wie
dieſe Schlußarten ausſehen, wenn die Bedingung oder
die Ausſage, oder beyde verneinend ſind. Z. E. fuͤr
den letzten Fall:
- I. Wenn A nicht B iſt; ſo iſt C nicht D.
- Nun iſt A nicht B.
- Folglich iſt auch C nicht D.
- II. Wenn A nicht B iſt; ſo iſt C nicht D.
- Nun aber iſt C, D.
- Folglich iſt auch A, B.
§. 271.
Denn bey vorausgeſetzter richtiger Folge iſt 1)
die Ausſage wahr, wenn die Bedingung wahr
iſt. 2) Jſt die Bedingung falſch, wenn die
Ausſage falſch iſt. Aber in beyden Faͤllen nicht
umge-
[171]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
umgekehrt, weil C, D von B abhaͤngen koͤnnen, ohne
daß B dem A zukomme, oder nicht zukomme.
§. 272.
Die beſondern Arten bedingter Saͤtze (§. 264. ſeq.)
ſind nicht nur der aͤußern Form nach verſchieden, ſon-
dern zeigen auch beſondere Arten des Zuſammenhan-
ges der darinne vorkommenden Begriffe an. Die-
ſes zu zeigen, werden wir ſie nur aus der Formularſpra-
che in eine andre uͤberſetzen.
- I.WennA, Biſt; ſo iſtA, C; will ſagen: B
zieht die BeſtimmungCentweder uͤber-
haupt, oder auch nur beſonders, inA
nach ſich. Z. E. Wenn ein Satz identiſch
iſt, ſo laͤßt er ſich allgemein umkehren. Wenn
ein Triangel gleichſeitig iſt, ſo iſt er gleich-
winklicht ꝛc. - II.WennA, Biſt: ſo iſtB, C: will ſagen: B
bekoͤmmt inAdie Beſtimmung oder
VerhaͤltnißC. Z. E. Wenn ein Satz ver-
neinend iſt, ſo iſt das Verneinen im Binde-
woͤrtgen. Wenn ein Triangel rechtwinklicht
iſt; ſo liegt der rechte Winkel der groͤßten
Seite gegen uͤber ꝛc. - III.WennA, Biſt: ſo iſtC, A: will ſagen: An
Bſolle ſich erkennen laſſen, obCunter
Agehoͤre oder nicht. Z. E. Wenn eine
Erklaͤrung dienen ſoll, die Sache von andern
zu unterſcheiden: ſo giebt jedes eigene Merk-
maal der Sache eine Erklaͤrung. Wenn
Parallellinien zwo andre unter gleichem Win-
kel durchſchneiden, ſo ſind auch dieſe zwo
Linien parallel ꝛc. - IV.WennA, Biſt: ſo iſt auchC, B; will ſa-
gen: Chaͤngt, wenigſtens in Anſehung
der
[172]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
der BeſtimmungBvonAab. Z. E.
Wenn ein Satz identiſch iſt, ſo iſt auch der
umgekehrte Satz itendiſch. Wenn die Sei-
ten eines Triangels gleich ſind, ſo ſind auch
die Winkel gleich ꝛc.
§. 273.
Man wird fuͤr die Faͤlle, wo entweder die Bedin-
gung, oder die Ausſage, oder beyde verneinen, eben
ſolche Auslegungen finden. Es mag aber an dieſen
Beyſpielen genug ſeyn, weil man in jedem beſondern
Fall, wo es noͤthig iſt, ſolche Verwandlung der Aus-
druͤcke leicht vornehmen kann. Eben ſo werden wir
nur kurz anmerken, daß man jeden Vorderſatz einer
Schlußrede zur Bedingung, und den Schlußſatz zur
Ausſage machen kann. Dieſes giebt, weil in allem
19 Schlußarten ſind (§. 217.) zweymal ſo viel oder
38 Faͤlle, welche ſich aber, weil einige mehrmalen vor-
kommen, auf 23 herunterſetzen laſſen. Von dieſen
ſind 6 von der erſten, 5 von der zweyten, 6 von der
dritten, und ſechs von der vierten Art des §. 264.
Und von den beyden erſten Arten iſt die Bedingung
der Unterſatz, in den beyden letzten aber der Oberſatz
der Schlußreden. Wir halten uns nicht auf, dieſes
auszufuͤhren, weil es an ſich leicht iſt: Sondern mer-
ken als eine Folge davon an, daß weil von 64 Faͤl-
len einfacher bedingter Saͤtze, die aus drey Begriffen
beſtehen, nur 23 ſind, die aus einfachen Schlußarten
koͤnnen hergeleitet werden, und wobey die Folge der Aus-
ſage aus der Bedingung durch die bloße Form des
Satzes kann geſchloſſen und ſodann gepruͤft werden,
bey den uͤbrigen 41 Arten dieſe Folge jedesmal aus
andern Gruͤnden bewieſen werden muͤſſe.
§. 274.
[173]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
§. 274.
Ein bedingter Satz laͤßt ſich auf mehrere Arten
umkehren, wenn man naͤmlich nur die Moͤglichkeit
uͤberhaupt betrachtet. Denn da die Bedingung ſo-
wohl als die Ausſage ein Satz iſt, ſo laͤßt ſich jede
fuͤr ſich umkehren, ohne daß ſie mit einander ver-
wechſelt werden: Sodann kann auch bey der Ver-
wechslung eine oder beyde der erſten Umkehrungen
ſtatt finden Dieſes giebt in allem acht Faͤlle in
zwoen Klaſſen:
- I. Ohne Verwechslung der Bedingung und Ausſage.
- 1. Der Satz, wie er iſt
- 2. Mit umgekehrter Bedingung.
- 3. Mit umgekehrter Ausſage.
- 4. Mit beydem zugleich
- II. Mit Verwechslung der Bedingung und Aus-
ſage.- 5. Ohne Umkehrung der Glieder.
- 6. Mit Umkehrung der Bedingung.
- 7. Mit Umkehrung der Ausſage.
- 8. Mit beydem zugleich
Macht man aus dieſen Faͤllen Formeln; ſo wird man
gleich finden, daß die vier Faͤlle einer jeden Klaſſe
nichts anders, als die vier verſchiedenen Arten ſind,
die wir §. 264. ang geben haben. Ferner da ſich nur
die identiſchen und die allgemein verneinenden Saͤtze
allgemein, und nur die particularbejahenden ſchlecht-
hin umkehren laſſen, ſo kommen dieſe acht Faͤlle auch
nur da beyſammen vor, wo Bedingung und Ausſage
zugleich entweder identiſch, oder allgemein verneinend,
oder particular bejahend ſind; naͤmlich mit der Vor-
ausſetzung, daß die Folge richtig, und Bedingung und
Ausſage in allen acht Faͤllen wahr bleibe. Denn
ſonſten geht alles an. Man kann
1. Fuͤr
[174]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
- 1. Fuͤr den Fall identiſcher Saͤtze, die drey Begriffe,
Viereck, vierſeitige Figur, vierwinklichte Figur. - 2. Fuͤr den Fall allgemein verneinender Saͤtze, die
drey Begriffe, Viereck, Triangel, vierſeitige
Figur, mit dem Bedinge, daß der Begriff
Triangel in beyden Saͤtzen vorkomme. - 3. Fuͤr den Fall particularbejahender Saͤtze, die
drey Begriffe, Triangel, rechtwinklichte Figur,
ungleichſeitige Figur, wiederum ſo, daß der
Begriff Triangel in beyden Saͤtzen vor-
komme,
zum Beyſpiele nehmen, und ſie durch acht Faͤlle durch-
fuͤhren. Denn wir bringen dieſe Betrachtungen nur
an, um die Mannichfaltigkeit, Aehnlichkeit und Ver-
haͤltniſſe der Saͤtze und Begriffe ausfuͤhrlich darzu-
legen.
§. 275.
Aus gleichem Grunde merken wir noch an, daß
zu dieſen acht Faͤllen noch ſechzehen andre kommen,
wenn man in einem hypothetiſchen Satze, der drey
Begriffe hat, den eigenen Begriff der Bedingung oder
den eigenen Begriff der Ausſage mit dem gemeinſa-
men ſo verwechſelt, daß dieſer nur einmal, einer von
jenen aber zweymal genommen wird. Denn ſo haben wir
drey Saͤtze:
- I. Wenn A, B iſt; ſo iſt A, C.
- II. Wenn A, C iſt; ſo iſt C, B.
- III. Wenn B, C iſt; ſo iſt C, A.
Und jeder derſelben laͤßt ſich durch die acht Faͤlle des
§. 275. durchfuͤhren. Es ſind daher 24 Faͤlle moͤg-
lich, wie drey vorgegebene Begriffe in einem hypothe-
tiſchen Satze ihre Stelle verwechſeln koͤnnen.
§. 276.
[175]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
§. 276.
Jn einem hypothetiſchen Satze werden die Be-
dingung und die Ausſage als zwey Glieder betrachtet.
Erſtere heißt das vorhergehende,Antecedens;
letztere aber das folgende,Conſequens. Nimmt
man daher zween hypothetiſche Saͤtze, die ein gemein-
ſames Glied haben ſo laſſen ſie ſich ebenfalls als
Vorderſaͤtze einer Schlußrede anſehen, und der Schluß-
ſatz wird gleichfalls bedingt ſeyn. Die Schlußreden
ſind von folgenden zwoen Arten:
- I. Wenn A, B iſt; ſo iſt C, D.
- Wenn C, D iſt; ſo iſt E, F.
- Folglich, wenn A, B iſt; ſo iſt E, F.
- II. Wenn A, B iſt; ſo iſt C, D.
- Wenn E, F iſt; ſo iſt C nicht D.
- Folglich, wenn E, F iſt; ſo iſt A nicht C.
- Oder auch, wenn A, B iſt; ſo iſt E nicht F.
Denn ſoll ein Schluß gezogen werden koͤnnen, ohne
nichts als die Form der Saͤtze vor ſich zu haben; ſo
muͤſſen die Vorderſaͤtze von der Art ſeyn, daß die Aus-
ſage des einen entweder die Bedingung des andern
ſetzt, oder des andern Ausſage aufhebt. (§. 270. 27 [...].)
So z. E. auch bey verneinenden Gliedern der Vor-
derſaͤtze:
- I. Wenn C nicht D iſt; ſo iſt E nicht F.
- Nun aber wenn A nicht B iſt; ſo iſt C nicht D.
- Folglich, wenn A nicht B iſt; ſo iſt E nicht F.
- II. Wenn A nicht B iſt; ſo iſt C nicht D (oder es iſt D.)
- Aber wenn E nicht F iſt; ſo iſt C, D. (oder es
iſt nicht D.) - Folglich wenn E nicht F iſt: ſo iſt A, B.
- Oder wenn A nicht B iſt; ſo iſt E, F.
- Aber wenn E nicht F iſt; ſo iſt C, D. (oder es
Denn wenn das Mittelglted in beyden Saͤtzen die
Ausſage iſt, ſo muß es in dem einen bejahend, in dem
andern
[176]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
andern verneinend ſeyn. Jſt hingegen das Mittel-
glied nur in dem einen Satze die Ausſage, in dem an-
dern aber die Bedingung: ſo muß es zugleich in beyden
bejahend, oder in beyden verneinend ſeyn. Die eigenen
Glieder beyder Vorderſaͤtze moͤgen bejahend oder ver-
neinend ſeyn.
§. 277.
Das bishergeſagte betrifft die einfachen bedingten
Saͤtze. Die zuſammengeſetzten ſind von verſchiede-
nen Arten. Denn 1) entweder iſt nur die Bedin-
gung, oder nur die Ausſage, oder es ſind beyde zu-
gleich zuſammengeſetzt. 2) Sodann kann auch noch
die Art der Zuſammenſetzung verſchieden ſeyn. Und
zwar wenn entweder ein Subject mehrere Praͤdicate,
oder ein Praͤdicat mehrere Subjecte hat, oder wenn
verſchiedne Subjecte verſchiedne Praͤdicate haben.
Soll nun die Bedingung nichts uͤberfluͤßiges ent-
halten, ſo ſind, wenn ſie zuſammengeſetzt iſt, die dazu
genommenen Saͤtze nothwendig: Und aus gleichem
Grunde muß auch die Ausſage oder ihre Theile nicht
aus einzelnen Theilen der Bedingung, ſondern aus allen
zuſammengenommen folgen. Die Bedingung laͤßt
ſich demnach nicht ſo aufloͤſen, daß der Satz in andre
Saͤtze von einfachern Bedingungen zerfaͤllt werden
koͤnnte. Denn ſo waͤre er nicht nothwendig zuſam-
mengeſetzt. Hingegen laͤßt ſich mit Beybehaltung
der ganzen Bedingung jeder Theil der Ausſage beſon-
ders folgern, und demnach kann der Satz in dieſer
Abſicht in einfachere zerfaͤllt werden, es ſey, daß ein
Theil der Ausſage zur Beſtimmung eines andern
diene, oder nicht; weil im erſten Fall nur auf die Ord-
nung des Vortrages zu ſehen iſt. Uebrigens merken
wir an, daß die Zergliederung der Ausſage wegen der
Deutlichkeit und Ausfuͤhrlichkeit der Erkenntniß nuͤtz-
lich
[177]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
lich iſt; Hingegen die Zergliederung der Bedingung
zur leichtern Entwicklung des Beweiſes dient, der
Vortrag dieſer Zergliederung aber mehrentheils aus
Mangel genugſamer und tuͤchtiger Worte und Na-
men, durch welche die ganze Bedingung angezeigt
werden koͤnnte, herruͤhret. Letzteres iſt vornehmlich
der Grund, warum man in der Mathematik, ſo bald
der vorkommende Fall erheblich genug iſt, auf eine
kurze und ſchickliche Benennung deſſelben denkt.
§. 278.
Bey den copulativen Saͤtzen, in ſo fern ſie in
Schlußreden vorkommen koͤnnen, werden wir weiter
nichts, als die bereits oben (§. 135.) gemachte An-
merkung anwenden, daß weil ſie in einfache zerfaͤllt
werden koͤnnen, dieſes am fuͤglichſten zuerſt vorge-
nommen werde, weil man, wenn ein ſolcher Satz
durch Schluͤße zu beweiſen iſt, jeder einfache beſonders
bewieſen werden kann: Gleichwie ſie auch einzeln er-
funden werden.
§. 279.
Die disjunctiven Saͤtze haben ebenfalls keine
weitere Schwuͤrigkeit. Wir haben oben ſchon ange-
merkt, (§. 133.) daß ſie ſich in hypothetiſche verwan-
deln laſſen, und ſo werden auch die vorhin (§. 270.
271. 276.) gegebenen Regeln dabey gelten. Eben
ſo haben wir (§. 138.) angezeigt, wie man das un-
beſtimmte, ſo in den disjunctiven Saͤtzen iſt, beſtim-
men, und daraus ſo viele categoriſche Saͤtze machen
koͤnne, als Glieder ſind.
§. 280.
Die copulativen und disjunctiven Saͤtze geben
zuſammengeſetzte Schlußreden von ungemein vieler-
ley Arten. Wir wollen die einfachſten davon abzaͤh-
len, und ſie ſo wohl in Formeln vorſtellen, als ſie aus
Lamb. Org. I. Band. Mder
[178]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
der Formularſprache in die gemeine uͤberſetzen. Zu
dieſem Ende nehmen wir an, der Schlußſatz ſoll ein-
fach ſeyn, naͤmlich A iſt B; oder A iſt nicht B. Ferner
ſoll die Schlußrede einfach ſeyn, und folglich nur
zween Vorderſaͤtze haben. Aus dieſen beyden Be-
dingungen, die die Form der zuſammengeſetzten
Schlußrede am einfachſten machen, folgt nun, daß die
Begriffe A, B in den Vorderſaͤtzen vorkommen, und
folglich nur das Mittelglied zuſammengeſetzt ſeyn,
oder aus mehrern Begriffen beſtehen muͤſſe. Von
ſolchen Mittelgliedern haben wir nun folgende Arten:
- I. An ſich bajahend. C und D, und E und ..........
- II. An ſich bejahend. C, D, E.... zuſammengenommen.
- III. An ſich bejahend. Sowohl C als D, als E, als........
- IV. Unbeſt. bejah. Entweder C, oder D, oder E, oder.....
- V. Durchaus vern. Weder C noch D noch E noch.....
§. 281.
Hier machen nun eigentlich die Begriffe C, D, E
das Mittelglied aus, das uͤbrige aber zeigt das Vejahen
oder Verneinen an. Daher kann die letzte Art, weil
ſie durchaus verneinend iſt, nicht in beyden Vorder-
ſaͤtzen zugleich vorkommen, es ſey denn, daß man den
Terminum infinitum:Alles was wederCnoch
D,nochEnoch..... iſt, in dem einen Satze daraus
mache. Ferner iſt die erſte Art von der zweyten nur
darinn verſchieden, daß erſtere ein Praͤdicat, letztere aber
ein Subject abgiebt. Die uͤbrigen drey Arten aber
koͤnnen ſo wohl Subject als Praͤdicat ſeyn, nur mit
dem Unterſchiede, daß die dritte ſich mit der erſten
verwechſeln laͤßt, wenn ſie ein Praͤdicat iſt; weil in
dieſem Fall die Begriffe C, D, E. … beyſammen beſte-
hen, welches nicht nothwendig ſeyn muß, wenn die
dritte Art ein Subject iſt. Dieſes vorausgeſetzt,
werden wir folgende Arten von Schluͤſſen erlangen.
I. A
[179]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
- I. Aiſt entwederC,oderDoderE......
- Nun aber ſo wohlC,alsD,alsE etc.iſtB.
FolglichAiſtB.- Das will ſagen: Das Praͤdicat B koͤmmt allen
Arten des Subjects A zu; oder unter welche
Art es immer gehoͤre, ſo gehoͤrt es unter B,
weil alle unter B gehoͤren.
- Das will ſagen: Das Praͤdicat B koͤmmt allen
- Nun aber ſo wohlC,alsD,alsE etc.iſtB.
- II. Aiſt entwederC,oderD,oderE.......
- Nun aber wederCnochDnochE..... ſindB.
FolglichAiſt nichtB.- Das iſt: Alle Arten des A ſind von B ausge-
ſchloſſen, folglich auch A.
- Das iſt: Alle Arten des A ſind von B ausge-
- Nun aber wederCnochDnochE..... ſindB.
- III. AiſtC, D, E, F.....
- C, D, E, F.... zuſammen genommen ſindB.
FolglichAiſtB.- Das iſt: Die Definition des B koͤmmt dem A
zu, folglich auch B.
- Das iſt: Die Definition des B koͤmmt dem A
- C, D, E, F.... zuſammen genommen ſindB.
- IV.EntwederCoderD,oderE..... iſtB.
- Nun aberAiſt ſowohlC,alsD,alsE.....
FolglichAiſtB.- Das iſt: A hat die Eigenſchaften, deren eine
nothwendig B ſeyn muß.
- Das iſt: A hat die Eigenſchaften, deren eine
- Nun aberAiſt ſowohlC,alsD,alsE.....
- V. Biſt entwederC,oderD,oderE.....
- Aiſt wederC,nochD,nochE....
FolglichAiſt nichtB.- Das iſt: A gehoͤrt unter keine der Arten oder
Klaſſen, unter deren ein B gehoͤrt.
- Das iſt: A gehoͤrt unter keine der Arten oder
- Aiſt wederC,nochD,nochE....
- VI. Biſt wederC,nochD,nochEnoch......
- Aiſt entwederC,oderD,oderEoder.....
FolglichAiſt nichtB.- Das iſt: A gehoͤrt unter eine der Klaſſen
oder Arten, von welchen B ganz ausgeſchloſ-
ſen iſt.
- Das iſt: A gehoͤrt unter eine der Klaſſen
- Aiſt entwederC,oderD,oderEoder.....
M 2VII.
[180]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
- VII. Biſt entwederC,oderD,oderE.....
- Aber wederC,nochD,nochE.... iſtA.
FolglichAiſt nichtB.- Das iſt: A hat keine der Arten unter ſich,
unter deren eine B gehoͤrt.
- Das iſt: A hat keine der Arten unter ſich,
- Aber wederC,nochD,nochE.... iſtA.
§. 282.
Zu dieſen Schlußarten koͤnnen wir noch folgende
zwo nehmen, welche nur eine Art einfacher disjuncti-
ver Schluͤſſe ſind, indem das Mittelglied getrennt
wird.
- VIII. Aiſt entwederB,oderC,oderD,oderetc.
Nun iſtAwederCnochD,nochetc.
FolglichAiſtB. - IX.EntwederAoderC,oderD etc.mußBſeyn.
Nun aber wederCnochDnochetc.iſtB.
FolglichAiſtB.
Man ſieht aber leicht, daß dieſe beyden Schluͤſſe, nach
aller Strenge genommen, nicht unter die Klaſſe der
ſieben erſtern Arten gehoͤren, und dieſe folglich immer
an ſich eine beſondre Klaſſe ausmachen, die wir dem-
nach auch fuͤr ſich betrachten wollen.
§. 283.
Man ſieht ebenfalls, daß die vier erſten Arten
Schluͤſſe der erſten Figur in Barbara und Celarent;
die fuͤnften und ſechſten Schluͤſſe der zweyten Figur
in Cameſtres und Ceſare, und endlich die ſiebende,
ein Schluß der vierten Figur in Calentes iſt. Wir
haben die, ſo gar nicht, oder nur particular ſchlieſ-
ſen wuͤrden, weggelaſſen, und eben ſo auch diejenigen,
wobey das Mittelglied nicht nothwendig zuſammen-
geſetzt iſt, dergleichen z. E. folgender ſeyn wuͤrde:
- B iſt D, E, F....
- A iſt weder D, noch E, noch F....
- Folglich A iſt nicht B.
Denn
[181]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
Denn dieſer Schluß iſt nicht nothwendig zuſammen-
geſetzt, weil ein einiges Praͤdicat ſchon zureichend iſt,
den Schlußſatz zu ziehen.
§. 284.
Dieſe ſieben Schlußarten ſind die naͤchſten Um-
wege, die man nehmen kann, einen Satz zu beweiſen,
wenn derſelbe durch ganz einfache Schlußreden nicht
ſo leicht kann bewieſen oder gefunden werden. Ver-
gleicht man dieſelben mit einander, ſo wird man fin-
den, daß das Mittelglied unter drey Klaſſen kann
gebracht werden, weil ſich aus den fuͤnf Arten (§. 280.)
die drey an ſich bejahenden in eine zuſammen ziehen
laſſen (§. 281.) Wir koͤnnen dieſe drey Klaſſen nach
der Natur der Begriffe die collectiue, disiunctiue
und remotiue nennen. Erſtere iſt ganz bejahend,
die zweyte unbeſtimmt bejahend, und die dritte
durchaus verneinend. Nennt man daher die
copulatiue C, und das ganz bejahende a,1 fer-
ner die disiunctiue D, und das unbeſtimmt beja-
hende i, endlich die remotiue R, und das durchaus ver-
neinende e, uͤberdies noch das Subject S, das Praͤdi-
cat P, ſo haben dieſe ſieben Arten Schluͤſſe die Na-
men Caſpida, Serpide, Saccapa, Diſpaca, Dipre-
pe, Perdipe, Dipreſe. Und in dieſen iſt nun alles
bedeutend. Naͤmlich:
- 1. Jeder hat drey Sylben, und die zwo erſten Syl-
ben drey Buchſtaben. - 2. Die erſte Sylbe ſtellt den Oberſatz, die zweyte
den Unterſatz der Schlußrede, der letzte Vo-
cal den Schlußſatz vor. - 3. Die Buchſtaben C. D, R zeigen in jedem Satz
die Art des Mittelgliedes an, ob es collectiv,
disjunctiv oder remotiv ſey? - 4. Die Buchſtaben S, P geben ihm ſeine Stelle, ob
es das Subject oder Praͤdicat des Satzes ſey.
M 35. Die
[182]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
- 5. Die Buchſtaben A, E, I zeigen, wie es bejahe oder
verneine, und wie der Schlußſatz ausſehe.
§. 285.
Laßt uns nun von jeder Art ein Beyſpiel an-
fuͤhren.
I. Caſpida.
- Sowohl die Schluͤſſe inCeſare,als inCa-
meſtres, FeſtinoundBaroccoſind alle ver-
neinend. - Nun iſt jeder Schluß der zweyten Figur
entweder inCeſare,oderCameſtres,oder
Feſtino,oderBarocco. - Folglich iſt jeder Schluß in der zweyten
Figur verneinend.
II. Serpide.
- WederCeſare,nochCameſtreſ,nochFeſtino,
nochBarocco,hat einen patticularen
Oberſatz. - Nun iſt jeder Schluß der zweyten Figur
entwederCeſare,oderCameſtreſ,oder
Feſtino,oderBarocco. - Folglich hat kein Schluß der zweyten Fi-
gur einen particularen Oberſatz.
III. Saccapa.
- Wahre Vorderſaͤtze und die richtige Form
geben einen wahren Schlußſatz. Gegen-
waͤrtiger Schluß hat wahre Vorder-
ſaͤtze und eine richtige Form. - Folglich gegenwaͤrtiger Schluß hat einen
wahren Schlußſatz.
IV. Diſpaca.
- Jedes Praͤdicat von ſeinem Subject, ent-
weder ganz oder nur zum Theil bejaht,
oder durchaus verneint, giebt im erſten
oder
[183]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
oder zweyten, oder dritten Fall noth-
wendig einen wahren Satz. - Nun jede zween Begriffe koͤnnen ganz
und zum Theil von einander bejahr,
und durchaus von einander verneint
werden. - Folglich jede zween Begriffe geben im er-
ſten oder zweyten, oder dritten Fall
nothwendig einen wahren Satz.
V. Diprepe.
- Jeder Satz iſt entweder bejahend oder ver-
neinend. - Nun iſt jede Frage weder bejahend noch
verneinend. - Folglich keine Frage iſt ein Satz.
VI. Perdipe.
- Eine Aufgabe iſt weder bejahend noch
verneinend. - Aber jeder Satz iſt entweder bejahend
oder verneinend. - Folglich: kein Satz iſt eine Aufgabe.
VII. Dipreſe.
- Jeder Schluß der erſten Figur iſt entwe-
der inBarbara,oderCelarent,oderDarii,
oderFerio. - Aber weder inBarbaranoch inCelarent,
noch inDarii,noch inFerio,iſt ein ver-
neinender Unterſatz. - Folglich: kein verneinender Unterſatz iſt in
einem Schluſſe der erſten Figur.
§. 286.
Von dieſen Schlußarten ſind einige bereits unter
gewiſſen Namen bekannt. Wir rechnen die Jndu-
ction, das Dilemma oder Syllogiſmum cornutum,
M 4oder
[184]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
oder crocodilinum hieher, und werden nur durch die
Erklaͤrung dieſer Woͤrter die Aehnlichkeit der dadurch
angezeigten Schluͤſſe mit einigen der hier betrachteten
aufklaͤren.
§. 287.
Wenn man dadurch, daß man in allen Dingen
oder Faͤllen, die unter eine Klaſſe oder Art gehoͤren,
eine gewiſſe Eigenſchaft findet, verleitet wird,
dieſe Eigenſchaft von dem Begriffe der Klaſſe
oder Gattung zu bejahen; ſo heißt dieſes, eine Ei-
genſchaft der Klaſſe oder Gattung durch Jn-
duction finden. Es iſt unſtreitig, daß dieſes an-
geht, ſobald die Jnduction complet iſt, oder ſobald man
ſich verſichert hat, daß die Klaſſe oder Gattung A
keine andre Faͤlle als C, D, E, F .... M, unter ſich
begreife, und die Eigenſchaft B in jedem der Faͤlle
C, D, E, F .... M angetroffen werde. Dieſes Verfah-
ren ſtellt nun einen foͤrmlichen Schluß in Caſpida vor.
Denn man ſchließt ſo:
- SowohlCalsD, E, F ...... Mſind alleB.
- Nun aberAiſt entwederCoderD,oderE,oder
F..... oderM. - Folglich alleAſindB.
Das vorhin vor die Schlußart Caſpida gegebene
Beyſpiel mag auch hier zur Erlaͤuterung dienen. Denn
um zu finden, ob jeder Schluß der zweyten Figur
verneinend ſey, ſo durchgeht man ihre Schlußarten.
Dieſe ſind Ceſare, Cameſtres, Feſtino, Barocco.
Nun beyde erſten ſchließen in E beyde letztern in O.
Aber E und O ſind verneinend. Folglich ſchließen
alle vier, und demnach die zweyte Figur durchaus ver-
neinend. Da der Unterſatz, der das deſiunctiue
Praͤdicat zum Mittelgliede hat, in den meiſten Faͤllen
ſehr ſchwer complet zu machen iſt, ſo giebt es auch ſehr
wenige
[185]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
wenige vollſtaͤndige Jnductionen. Die unvollſtaͤn-
digen taugen nicht, weil ſich nicht immer von einigen
auf alle ſchließen laͤßt. Und auch die vollſtaͤndigen
vermeidet man, ſo oft der Schlußſatz aus dem Be-
griffe der Gattung unmittelbar hergeleitet werden
kann, weil dieſes kuͤrzer und ſchoͤner iſt.
§. 288.
Ein Dilemma wird mehrentheils in Form eines
hypothetiſchen Schlußes vorgetragen, da die Ausſage
des bedingten Satzes disjunctiv iſt, und beyde Glie-
der verneint werden. Die Form iſt demnach eine von
folgenden:
- I. Wenn A, B iſt; ſo iſt A entweder C oder D.
- Nun A iſt weder C noch D.
- Folglich A iſt nicht B.
- II. Wenn A, B iſt; ſo ſind entweder die mA, oder
die nA, B.- Nun weder die mA noch die nA ſind B.
- Folglich A iſt nicht B.
Dieſe Schlußarten werden Trilemma, Tetralemma,
und uͤberhaupt Polylemma etc. genennt, wenn die
Ausſage des bedingten Satzes drey oder vier ꝛc. Glie-
der hat.
§. 289.
Werden dieſe Schlußarten in categoriſche ver-
wandelt, ſo ſind ſie:
- I. B iſt entweder C oder D.
- A iſt weder C noch D.
- Folglich A iſt nicht B.
- II. Weder mA noch nA iſt B.
- Alle A ſind entweder mA oder nA.
- Folglich kein A iſt B.
Wovon die erſte offenbar in Diprepe, die andre in
Serpide iſt.
M 5§. 290.
[186]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
§. 290.
Man ſieht demnach hieraus, daß ſowohl die Jn-
ductionen als die Dilemmata unter die naͤchſten Um-
wege gehoͤren, durch die man zur Erfindung oder zum
Beweiſe eines Satzes, oder zu beydem zugleich ge-
langen kann, wenn ein einfacher Schluß nicht zurei-
chend oder nicht vorraͤthig iſt. (§. 280. 284.) Man
ſieht aber auch zugleich hieraus, daß die Jnductionen
und Dilemmata nicht die einigen naͤchſten Umwege
ſind, ſondern daß die vollſtaͤndige Abzaͤhlung derſelben
noch fuͤnf andre angiebt, die eben ſo wie die einfachen
Schlußarten nicht bloß der aͤuſſerlichen Form nach,
ſondern auch vornehmlich in Abſicht auf ihren Ge-
brauch von einander verſchieden ſind.
§. 291.
Die Umwege, wenn ſie ſchicklich gewaͤhlt werden,
machen einen betraͤchtlichen Theil der Kunſtgriffe
im Erfinden aus. Um ſich dieſe bekannt zu machen,
giebt man den Lehrlingen der Erfindungskunſt den
Rath, auf die Veyſpiele, ſo in den Schriften ſcharf-
ſinniger Gelehrten vorkommen, genau acht zu haben,
um ſie in aͤhnlichen Faͤllen gebrauchen zu koͤnnen. Die
Abzaͤhlung der einfachſten ſolcher Umwege, die wir
hier vorgenommen, hat uns in Stand geſetzt, ſie in
allgemeinen Formeln vorzuſtellen, und ſie durch eigne
und bedeutende Namen gewiſſer Maaßen characteri-
ſtiſch zu machen. Die Verſicherung, daß man alle
habe, laͤßt nichts zuruͤck, und die Uebung, ſich an alle
zu gewoͤhnen, macht, daß man in jedem vorkommen-
den Fall den tuͤchtigſten Umweg leicht finden kann,
weil man alle kennt. Wir machen dieſe Anmerkung,
um dem Leſer die wahre Seite aufzudecken, von wel-
cher ſich die bisherigen Betrachtungen als gar nicht
unerheblich zeigen. Man wird es daher ebenfalls
nicht
[187]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
nicht als eine bloße Speculation anſehen, wenn wir
nach dieſen naͤchſten Umwegen auch die betrachten, und
vorzaͤhlen, die um einen oder mehrere Schritte laͤn-
ger ſind.
§. 292.
Zu dieſem Ende werden wir anfangen die Ver-
laͤngerung des geraden Weges zu betrachten, das iſt,
wir werden ſehen, wie fern durch mehrere einfache
Mittelglieder die beyden aͤußerſten zuſammengehaͤngt
werden koͤnnen. Da in einem einfachen Schluße nur
drey Begriffe vorkommen, ſo iſt klar, daß man hier ſo
viele einfache Schluͤſſe machen muͤſſe, als Mittelglieder
ſind. Ferner muß in jedem Schluß wenigſtens ein allge-
meiner und ein bejahender Satz ſeyn. (§. 204. 205.)
Dadurch wird die Art der Mittelglieder in ſo fern
beſtimmt, daß ſie zu einem Schluße weder zwey par-
ticulare noch zwey verneinende Saͤtze geben ſollen.
§. 293.
Es ſeyn nun die zween Begriffe A, B, die Mittel-
glieder M, N, P, Q etc. ſo laſſen ſich ſo viele Schluͤſſe
machen, als Mittelglieder ſind. Nun aber, wenn dieſe
Schluͤſſe zuſammenhaͤngend ſeyn ſollen, ſo koͤnnen die
beyden Begriffe A, B nicht in jedem Schluſſe, ſondern
nur in dem letzten vorkommen. Denn kaͤmen ſie bereits
ſchon in dem erſten vor, ſo wuͤrde der Schlußſatz,
daß A, B ſey oder nicht ſey, ſo gleich koͤnnen gezogen
werden, und die uͤbrigen Mittelglieder weiter zu nichts
als zur Bekraͤftigung dienen. Z. E.
Dieſe Schluͤſſe haͤtten demnach keinen weitern Zu-
ſammenhang, als daß der Satz, A iſt B, durch jeden
beſonders bewieſen wird.
§. 294.
[188]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
§. 294.
Jndeſſen weil der Schlußſatz: AiſtB, oder:
Aiſt nichtB, endlich dennoch herauskommen ſoll, ſo
muß der letzte Schlußſatz beyde in ſeinen Vorderſaͤtzen
enthalten. Hingegen muß in den vorhergehenden
Schluͤſſen nur einer nebſt zweyen Mittelgliedern
vorkommen, und wenn anders ein Zuſammenhang da
ſeyn ſoll, ſo muß der Schlußſatz eines jeden Schluſſes
ein Vorderglied des folgenden werden.
§. 295.
Dieſes geht nun in der erſten Figur folgender
Maaßen an:
Hier iſt das Subject A in allen Unterſaͤtzen oder
Schlußſaͤtzen, folglich da es nach den Regeln der
erſten Figur bejahend ſeyn ſoll, ſo muͤſſen nothwendig
bis auf den letzten Schluß alle Vorderſaͤtze bejahend
ſeyn. Hingegen kann der Oberſatz des letzten Schluſſes
verneinen, und da wird auch der letzte Schlußſatz
verneinend ſeyn. Wiederum da in der erſten Figur
der Oberſatz allgemein ſeyn muß, ſo muͤſſen auch die
Oberſaͤtze in dieſer Reihe von Schluͤſſen allgemein
ſeyn.
§. 296.
Ziehen wir nun die Saͤtze, ſo in dieſen Schluͤſſen
vorkommen, zuſammen, ſo haben wir folgende Reihe:
Alle A ſind M Etl. A ſind M Alle A ſind M Etl. A ſind M
Alle A ſind B. Etl. A ſind B. Kein A iſt B. Etl. Q ſind nicht B.
Und
[189]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
Und dieſe Reihen nennt man Schlußketten,Sorites.
Jhre Regeln ſind demnach:
- 1. Das Subject eines jeden Satzes iſt das Praͤdi-
cat des vorhergehenden. - 2. Der erſte Satz kann particular oder allgemein,
aber in beyden Faͤllen bejahend ſeyn. - 3. Der letzte Satz, der naͤmlich dem Schlußſatz
unmittelbar vorgeht, kann bejahend oder ver-
neinend, aber er muß allgemein ſeyn. - 4. Alle Mittelſaͤtze muͤſſen allgemein bejahend ſeyn,
es ſey denn, daß das Subject des folgenden
in einen Terminum infinitum verwandelt
werde. Z. E. A iſt M, M iſt nichtN,was
nichtNiſt, iſt P, P iſt Q, Q iſt B, folglich
A iſt B.
§. 297.
Jn dieſen Reihen behielten wir das Subject des
Schlußſatzes A in allen Schluͤſſen im Unterſatze. Be-
haͤlt man das Praͤdicat B, ſo muß es in allen Ober-
ſaͤtzen als Praͤdicat vorkommen, damit es nicht zum
Mittelglied noch zum Subject werde. Die Schluͤſſe
ſind demnach folgende:
[190]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
Man ſieht aber leicht, daß dieſe Reihe nur in umge-
kehrter Ordnung der vorhergehenden iſt. Denn nimmt
man die Saͤtze von unten herauf, ſo haben wir eben
die Schlußkette, A iſt Q, Q iſt P, P iſt N, N iſt M,
M iſt B, folglich A iſt B. Wobey alſo eben die Re-
geln vorkommen. Wir merken demnach nur an, daß
eine Schlußkette aus zuſammengezogenen Schluͤſ-
ſen beſteht: Und wenn man die Schlußkette ſelbſt noch
zuſammenziehen will; ſo ſagt man nur kurz: A iſt Q,
folglichP,folglichN,folglichM,folglichB
oder nichtB. Hier ſtellt das Wort folglich eine
ganze Schlußrede vor.
§. 298.
Die zweyte Figur beut uns nur verneinende
Schluͤſſe an. Z. E.
| I. N iſt M. | II. P iſt N. | III. Q iſt P. | IV. B iſt Q. |
| A iſt nicht M. | A iſt nicht N. | A iſt nicht P. | A iſt nicht Q |
| A iſt nicht N. | A iſt nicht P. | A iſt nicht Q. | A iſt nicht B. |
Woraus wiederum die Schlußkette, B iſt Q, Q iſt
P, P iſt N, N iſt M, aber A iſt nicht M, folglich
A iſt nicht B, entſteht, die hier nur in dem letzten
Satze durch Umkehrung verſetzt iſt.
§. 299.
Die dritte Figur ſchließt nur particular, und
taugt daher zu Schlußketten nicht. Die vierte iſt
hier wie die erſte, in ſo fern in den Schlußarten, Ba-
ralip, Calentes, die Vorderſaͤtze nur umgekehrt
ſind, in den uͤbrigen Schlußarten geht ſie nicht an,
weil ſie nur particular ſchließt, und durch die bloße
Verwechslung der Vorderſaͤtze nicht in die erſte Fi-
gur gebracht werden kann.
§. 300.
Wir haben demnach nur eine Art von Schluß-
ketten, die uns die erſte Figur anbeut, und da dieſe
von
[191]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
von Glied zu Glied unmittelbar fortgeht, ſo
iſt ſie auch der naͤchſte und gerade Weg, zween Be-
griffe durch mehrere Mittelglieder in Zuſammenhang
zu bringen. Jeder Satz, aus welchem ſie beſteht,
kann durch neue Schlußketten gefunden und erwie-
ſen werden. Den ganzen Zuſammenhang derſelben
aber ſtellt folgende Figur vor:
Wo unter jedem Satze die zween Vorderſaͤtze ſtehen,
aus welchen er folgt, und die ſtatt deſſelben in die
Schlußkette genommen werden koͤnnen.
§. 301.
Weil demnach die Schlußketten der naͤchſte und
eigentlich gerade Weg ſind, einen Satz durch mehrere
Mittelglieder aus einem andern herzuleiten; ſo wer-
den wir nun die Umwege dabey leicht finden koͤnnen.
Dieſe kommen vor, wenn ein oder mehrere Mit-
telglieder zuſammengeſetzte Begriffe, und folglich col-
lectiv, disjunctiv oder remotiv ſind. Um daher zu
ſehen, wie dieſes angehe, ſo werden wir drey Saͤtze
vornehmen, die in eine Schlußkette ſollen dienen koͤn-
nen. Dieſe drey Saͤtze ſind:
- 1. A iſt M.
- 2. M iſt N.
- 3. N iſt B.
ſo koͤmmt nun die Frage vor, wiefern die Begriffe
oder Glieder A, M, N, B copulativ, disjunctiv und
remotiv, das iſt C, D, R, (§. 284.) ſeyn koͤnnen?
§. 302.
[192]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
§. 302.
Ueber dieſe Frage kommen nun folgende Saͤtze
vor:
- I. Die beyden erſten Saͤtze ſind allgemein beja-
hend, ſo oft die Schlußkette nicht bey dem
erſten anfaͤngt. Und hoͤrt ſie nicht bey dem
dritten auf, ſo iſt auch dieſer allgemein beja-
hend. (§. 296.) Da wir nun von particu-
laren Saͤtzen hier abſtrahiren wollen, ſo ha-
ben wir auch nur zween Faͤlle. Denn wenn
die Schlußkette mit dem dritten Satze auf-
hoͤrt, das iſt, wenn dieſe drey Saͤtze die letz-
ten einer Schlußkette ſind, ſo kann der letzte
Satz verneinend ſeyn; Und dieſes iſt der cinige
Fall, wo eines ſeiner Glieder remotiv ſeyn
kann, weil R den Satz verneinend macht.
Jn allen andern Faͤllen kommen nur C und
D vor. - II. Ein Praͤdicat und das Subject des folgenden
Satzes koͤnnen nicht zugleich D ſeyn. Denn
man ſetze:- A iſt entweder F oder G.
- Entweder F oder G iſt N.
ſo kann man keinen Schluß ziehen, weil die
Form unbeſtimmt laͤßt, ob eines der beyden
Glieder F, G in beyden Saͤtzen gilt, oder ob
eines im erſten, das andre im zweyten Satze
gelte. - III. Wenn ein Praͤdicat D iſt; ſo kann im folgen-
den Satze ſowohl Subject als Praͤdicat zu-
gleich C ſeyn. Denn man ſetze:- A iſt entweder F oder G.
- So wohl F als G iſt H und I;
ſo wird A ſo wohl H als I ſeyn, es mag ihm
nun F oder G zukommen.
IV.
[193]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
- IV. Eben ſo, wenn ein Praͤdicat D iſt, ſo kann
das Subject des folgenden Satzes C, und
ſein Praͤdicat D oder R ſeyn. Denn man
aͤndre in dem letzten Schluß (No. III.) nur das
HundGentweder in HoderG; ſo wird
man finden, daß der Schluß: A iſt entwe-
der H oder G, ebenfalls angeht. Man fin-
det eben dieſes, wenn das Praͤdicat in: we-
derFnochG verwandelt wird. - V. Hingegen wenn ein Praͤdicat C, und das Sub-
ject des folgenden Satzes auch C iſt, ſo iſt
das Praͤdicat deſſelben ein einfacher Begriff.
Denn man ſetze:- A iſt F und G,
ſo ſind F und G Eigenſchaften oder Merk-
maale, die in A beyſammen ſind, und folg-
lich zuſammengenommen eine Definition ge-
ben. Wird demnach FundGzuſammen-
genommen zum Subject, ſo muß das Praͤ-
dicat das Definitum ſeyn, es ſey denn, daß
man in der Schlußkette zween Saͤtze in einen
zuſammenziehen wollte, welches wir aber
hier, wo wir auf die Abkuͤrzung der Umwe-
ge nicht ſehen, als unzulaͤßig oder uͤberhaupt
als etwas ungewoͤhnlicheres anſehen. Dem-
nach bringt der gegenwaͤrtige Fall die Fort-
ſetzung der Schlußkette wiederum auf einen
einfachen Begriff, es ſey, daß man ſie ſchlieſ-
ſen oder weiter fortſetzen wolle. - VI. Wenn ein Praͤdicat C und das Subject des
folgenden Satzes D iſt, ſo kann deſſen Praͤ-
dicat C, D, oder R ſeyn. Denn man ſetze:- A iſt F und G.
ſo wird, was von dem einen oder andern der
Lamb. Org. I. Band. NGlieder
[194]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
Glieder F, G geſagt werden kann, nothwendig
auch von A geſagt werden koͤnnen. Denn
von welchem es auch gelte, ſo gilt es von
A. Man merke hier nur an, daß R die
Schlußkette endige. (No. I.) - VII. Wenn ein Praͤdicat C iſt, ſo wuͤrde das
Subject des folgenden Satzes unſchicklich R
ſeyn. Denn man ſetze:- C iſt F und G.
- Weder F noch G iſt H.
- Folglich C iſt nicht H.
ſo ſieht man offenbar, daß der einfache Schluß- C iſt F
- F iſt nicht H
- C iſt nicht H
zureichend geweſen waͤre, und daß man folg-
lich beyde Saͤtze ohne Noth weitlaͤuftig ge-
macht haͤtte. - VIII. Wenn ein Praͤdicat D, das Subject des
folgenden Satzes R iſt, ſo kann das Praͤdi-
cat D oder C ſeyn, und die Schlußkette en-
digt ſich. Letzteres iſt durch No. I. klar. Er-
ſteres erhellet folgender maaßen. Man ſetze- A iſt entweder F oder G.
- Weder F noch G iſt .........
ſo iſt klar, daß, was der Unterſatz ſowohl
von F als von G laͤugnet, auch nothwendig
von A gelaͤugnet werde, weil es das A tref-
fen muß, dieſes mag nun F oder G ſeyn. - IX. Jn gleichem Satz kann Subject und Praͤdicat
nicht zugleich R ſeyn. Denn der Satz:- Weder G noch H iſt weder I noch K,
iſt ungewoͤhnlich, und kommt niemals vor.
Nach aller Strenge genommen iſt er nicht
vernei-
[195]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
verneinend, und wenn man ihn dafuͤr anſe-
hen wollte, ſo wuͤrde man ihn in Gedan-
ken in den Satz: So wohl G als H iſt we-
der I noch K, verwandeln. Und folglich aus
dem einen R ein C machen.
§. 303.
Dieſe Saͤtze beſtimmen die moͤglichen Umwege
in Schlußketten zureichend. Um nun die daraus entſte-
hende Mannichfaltigkeit zu beſtimmen, ſo merken wir
an, das wir fuͤr das Subject des erſten Satzes einen
einfachen Begriff A nehmen koͤnnen, weil ſeine Ver-
bindung mit Gliedern, die C, D oder R ſind, die
Subjecte der folgenden Saͤtze, oder wenigſtens das
Subject des naͤchſt folgenden, ſogleich in C, D oder
R verwandelt. Und wie man mit dieſem noch andre
zuſammenhaͤngt, ſo kann es auch mit dem erſten Satz
ergehen, falls ſein Subject C, D oder R waͤre. Dem-
nach koͤnnen wir mit A anfangen. Wird nun unter
den folgenden Saͤtzen ein Praͤdicat wiederum ein ein-
facher Begriff, ſo fangen einerley moͤgliche Abwechs-
lungen von neuem an. Hieraus folgt, daß wir ei-
gentlich nur auszumachen haben, durch wie vielerley
Abwechslungen von Gliedern, die C, D oder R ſind,
man eine Schlußkette, deren erſtes Subject ein ein-
facher Begriff iſt, durchfuͤhren koͤnne, bis man wie-
derum auf einen einfachen Begriff koͤmmt.
§. 304.
Um dieſes zu unterſuchen, ſo ſieht man leicht,
daß die ganze Sache auf das Praͤdicat des erſten Sa-
tzes ankoͤmmt, deſſen Subject A iſt. Wir haben
demnach folgende Faͤlle:
- 1. Jſt dieſes Praͤdicat R; ſo ſchließt ſich die Ket-
te, weil R verneinend iſt, und nur der letzte
Satz der Schlußkette verneinend ſeyn kann.
N 2(§. 296.)
[196]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
(§. 296.) Eben dieſes hat auch ſtatt, ſo oft
man auf R koͤmmt. - 2. Jſt das Praͤdicat C, und das naͤchſtfolgende
Subject auch C, ſo wird deſſen Praͤdicat ein
einfacher Begriff. (§. 302. No. V.) Und da
dieſer zugleich auch das Subject des folgenden
Satzes iſt; ſo fangen alle Moͤglichkeiten von
neuem an. - 3. Jſt das Praͤdicat C, und das Subject des
folgenden Satzes D, ſo iſt ſein Praͤdicat- α) entweder C, ſo faͤngt eben die Frage wie-
der an. - β) Oder D, ſo koͤmmt folgender Fall vor;
Naͤmlich:
- α) entweder C, ſo faͤngt eben die Frage wie-
- 4. Jſt das Praͤdicat D, ſo kann
- α) das Subject des folgenden Satzes nicht
D ſeyn (§. 302. No. II.) folglich iſt es - β) entweder R, und da endigt ſich die Schluß-
kette. - γ) Oder C, und wird ſein Praͤdicat wie-
derum entweder R oder D oder C ſeyn,
und hiemit einer der bereits betrachteten
Faͤllen wieder vorkommen.
- α) das Subject des folgenden Satzes nicht
§. 305.
Wir muͤſſen noch anmerken, daß jedes Praͤdicat
ein einfacher Begriff ſeyn kann, und folglich, wo
die Sache ſelbſt dieſes mit ſich bringt, alsdann die
Abwechslung und ihre Moͤglichkeit wiederum von
neuem anfange. Die Faͤlle ſind nun in folgender
Figur vorgeſtellt:
[197]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
Jn dieſer Figur ſind A und B einfache Begriffe, C
collective, D disjunctive Glieder der Saͤtze, und je-
de Columne ſtellt eine Schlußkette vor. Die zweyte,
dritte und fuͤnfte fuͤhrt ſogleich wiederum auf einen
einfachen Begriff. Die erſte und vierte koͤnnen auf
gleichen Schlag unendlich fortgeſetzt werden, wo nicht
die Sache ſelbſt auf R fuͤhrt, und dadurch die Kette
endigt, oder auf einen einfachen Begriff, und daher
alle Moͤglichkeiten wiederkehren macht, oder D in C
verwandelt, und dadurch die erſte Columne mit der
zweyten und die vierte mit der fuͤnften fortſetzt,
oder endlich in der vierten Columne ein C in D ver-
wandelt, und dadurch, wie die ſechſte, die Moͤglich-
keiten der beyden erſten Columnen wiederbringt.
§. 306.
Da es ſelten geſchieht, daß man eine Schluß-
kette von vielen Saͤtzen, deren Glieder C, D und
das letzte C, D oder R iſt, ſo leicht finden oder ge-
brauchen koͤnne, ſo wollen wir anfangs nur drey
Saͤtze und in dieſen nur ein Mittelglied C, D oder R
annehmen, dagegen aber alle dabey moͤglichen Faͤlle
der Ordnung nach herſetzten. Dieſes Abzaͤhlen aller
moͤglichen Faͤlle macht hier das Hauptwerk aus, (§.
291.) weil man ſich an alle gewoͤhnen kann. Denn
man wird dieſe Schlußarten eben nicht als gezwun-
gen und unnatuͤrlich anſehen koͤnnen. Es ſind nun
folgende:
- I. A iſt M
- M iſt entweder P oder Q ....
- So wohl P als Q .... iſt B
- A iſt B.
N 3II. A
[198]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
- II. A iſt M
- M iſt entweder P oder Q ....
- Weder P noch Q .... iſt B
- A iſt B.
- III. A iſt nicht M
- M iſt P und Q ....
- P und Q .... zuſammengenommen iſt B
- A iſt B.
- IV. A iſt M
- M iſt P und Q .....
- Entweder P oder Q ..... iſt B
- A iſt B
- V. A iſt entweder P oder Q .....
- So wohl P als Q ..... iſt M
- M iſt B
- A iſt B.
- VI. A iſt entweder P oder Q .....
- So wohl P als Q ..... iſt M
- M iſt nicht B
- A iſt nicht B
- VII. A iſt P und Q .....
- P Q .... zuſammengenommen iſt M
- M iſt B
- A iſt B
- VIII. A iſt P und Q .....
- P Q .... zuſammengenommen iſt M
- M iſt nicht B
- A iſt nicht B
- IX. A iſt P und Q .....
- Entweder P oder Q ..... iſt M
- M iſt B
- A iſt B
X. A
[199]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
- X. A iſt P und Q ......
- Entweder P oder Q ..... iſt M
- M iſt nicht B
- A iſt nicht B
§. 307.
Man ſieht leicht, daß dieſe Schlußketten aus
den Vorderſaͤtzen der Schlußarten, Caſpida, Ser-
pide, Saccapa, Diſpaca, Diprepe, Perdipe, Di-
preſe und noch einem einfachen Satze zuſammenge-
ſetzt ſind. Dieſe naͤchſten Umwege (§. 284) ſind
demnach hier nur um einen Schritt weiter herumge-
fuͤhrt, und dieſer Schritt wird ſich verdoppeln, ſo
bald das Mittelglied M ebenfalls C, D oder R iſt.
Wir finden hiebey auch wiederum zehen Faͤlle, aber
ſie ſind den erſt angefuͤhrten nicht durchaus aͤhnlich.
Um den Unterſchied und zugleich auch die groͤßere Ver-
wicklung anzuzeigen, werden wir ihre Formeln her-
ſetzen.
- I. A iſt entweder F oder G .....
- Sowohl F als G ... iſt entwed. P oder Q....
- So wohl P als Q .... iſt B
- A iſt B.
- II. A iſt entweder F oder G .....
- Sowohl F als G .... iſt entweder P oder Q ....
- Weder P noch Q .... iſt B
- A iſt nicht B.
- III. A iſt entweder F oder G .....
- So wohl F als G .... iſt P und Q ...
- P Q .... zuſammen genommen iſt B
- A iſt B.
N 4IV. A
[200]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
- IV. A iſt entweder F oder G .....
- So wohl F als G .... iſt P und Q ....
- Entweder P oder Q .... iſt B
- A iſt B.
- V. A iſt entweder F oder G ....
- So wohl F als G .... iſt P und Q ....
- Entweder P oder Q ..... iſt nicht B
- A iſt nicht B.
- VI. A iſt F und G ....
- Entweder F oder G ... iſt P und Q ....
- P Q .... zuſammen genommen iſt B
- A iſt B.
- VII. A iſt F und G ....
- Entweder F oder G ... iſt P und Q ....
- Entweder P oder Q .... iſt B
- A iſt B.
- VIII. A iſt F und G ....
- Entweder F oder G .... iſt P und Q ....
- Entweder P oder Q ... iſt nicht B
- A iſt nicht B.
- IX. A iſt F und G ....
- Entweder F oder G .... iſt entwed. P oder Q ....
- P Q .... zuſammen genommen iſt B
- A iſt B
- X. A iſt F und G .....
- Entweder F oder G .... iſt entweder P oder Q ....
- Weder P noch Q .... iſt B
- A iſt nicht B.
§. 308.
Wenn man aus den zwey erſten Saͤtzen jeder die-
ſer Schlußketten beſonders einen Schlußſatz zieht, ſo
wird
[201]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
wird dieſer mit dem dritten Satz der Schlußkette
zween Vorderſaͤtze einer Schlußrede geben, welche
von einer der Figuren Caſpida, Serpide ꝛc. ſeyn wird,
nur mit dem Bedinge, daß in der fuͤnften und achten
Schlußkette das Praͤdicat: nichtB, als ein Termi-
nus infinitus, und folglich der dritte Satz und der
Schlußſatz als bejahend angeſehen werden, weil wir
in Beſtimmung der Figuren Caſpida, Serpide ꝛc.
das D immer als unbeſtimmt bejahend angenommen
haben. (§. 280. 284.)
§. 309.
Die erſt gegebenen Formeln laſſen ſich nun leicht
um einen Satz und auf gleiche Art noch um mehrere
Saͤtze verlaͤngern. Es koͤmmt auf eine Subſtitution
an, die wir nur kurz anzeigen wollen. Jſt naͤmlich
der dritte Satz bejahend, ſo iſt ſein Subject entwe-
der C oder D, und ſein Praͤdicat wird demnach eben-
falls C oder D, oder ein cinfacher Begriff ſeyn. (§.
302. No. V.) Jm letzten Fall iſt es B, und der
Satz, den man noch ber fuͤgen will, wird ebenfalls B
zum Subject haben. Jn beyden erſten Faͤllen wird
der nunmehr veraͤnderte dritte Satz eine. Form haben
die in dem zweyten Satz einer oder mehrerer der zehen
angefuͤhrten Schlußketten bereits vorkoͤmmt, und wie
in dieſen der dritte Satz ausſieht, ſo laͤßt ſich in dem
vorgenommenen Fall auch der vierte bilden. Z. E.
die vierte Schlußkette:
- A iſt entweder F oder G ....
- So wohl F als G .... iſt P und Q
- Entweder P oder Q ..... iſt ——
Das Praͤdicat dieſes letzten Satzes kann nun copula-
tiv oder disjunctiv ſeyn. Jſt es copulativ, ſo dient
der zweyte Satz der VI. VII. VIII. Schlußkette zum
Muſter der Fortſetzung. Jſt es aber disjunctiv, ſo
N 5wird
[202]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
wird der zweyte Satz der IX. und X. Schlußkette da-
zu dienen. Es ſind demnach fuͤnf Arten moͤglich, dieſen
drey Saͤtzen noch den vierten beyzufuͤgen. Auf glei-
che Art wird man weiter fortruͤcken koͤnnen. Wir
halten uns aber dabey nicht laͤnger auf, weil man
vermittelſt der ſieben einfachen Umwege, Caſpida,
Serpide etc. die daraus zuſammengeſetzten in jedem
vorkommenden Fall leicht wird vornehmen koͤnnen,
wenn man ſich dieſe einfachen einmal recht bekannt
gemacht hat.
§. 310.
Wir haben aber (§. 282.) noch zwo einfachere
Schlußarten angezeigt, deren Verflechtung mit an-
dern wir noch in Formeln vorſtellen wollen. Und da
haben wir folgende, aus welchen ſich leicht weitlaͤuf-
tigere werden finden laſſen, wenn man ſie unter ſich
und mit den vorhergehenden in jedem Fall verbindet.
- I. A iſt G und H
- G iſt I und K .....
- H iſt M und N ....
- aber I K M N ... zuſammengenommen ſind B
- folglich A iſt B.
- II. A iſt G und H
- G iſt entweder I oder K
- H iſt entweder M oder N
- aber A iſt weder I noch M
- folglich A iſt K und N.
- Aber K N zuſammengenommen iſt B
- folglich A iſt B.
III. A
[203]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
- III. A iſt G und H
- G iſt entweder I oder K
- H iſt M und N
- aber A iſt nicht I
- folglich A iſt K und M und N
- K M N zuſammengenommen iſt B
- A iſt B.
- IV. A iſt entweder G oder H
- G iſt entweder I oder K
- A iſt weder I noch K
- folglich A iſt H
- H iſt B,
- folglich A iſt B.
- V. A iſt entweder G oder H.
- G iſt E
- A iſt nicht E
- folglich A iſt H
- H iſt entweder I oder K oder B.
- A iſt weder I noch K
- folglich A iſt B
- VI. A iſt entweder G oder H
- E iſt G
- A iſt E
- folglich A iſt G
- folglich A iſt nicht H
- Was nicht H iſt, iſt B
- A iſt B.
VII. A
[204]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
- VII. A iſt G, und entweder H oder I.
- H iſt entweder K oder L
- Aber G iſt weder K noch L, folglich nicht H.
- Folglich A iſt G und I
- G I zuſammengenommen ſind B
- A iſt B.
- VIII. A iſt G, und entweder H oder I.
- H iſt entweder K oder L
- Aber weder K noch L iſt G
- folglich H iſt nicht G
- Aber A iſt G
- folglich A iſt nicht H
- folglich A iſt G und I
- G I zuſammengenommen iſt B
- A iſt B
§. 311.
Man ſieht aus dieſen Formeln, durch wie ver-
ſchiedene Umwege man zu einem einfachen Satze ge-
langen koͤnne. Wir muͤſſen noch anmerken, daß die
ſiebende und achte einerley Umweg giebt, und daß wir
die achte nur beygefuͤgt haben, um den Zuſammen-
hang der Saͤtze in der ſiebenden umſtaͤndlicher zu zei-
gen. Es ſind aber alle dieſe Umwege noch ſehr kurz
und eigentlich nur einzelne Theile groͤßerer Umwege, die
ſich aus denſelben und den vorhin angefuͤhrten zuſam-
menſetzen laſſen. Z. E. aus der zweyten und achten
Formel laͤßt ſich unter mehrern andern auch folgende
zuſammenſetzen:
- A iſt G und H und entweder I oder K.
- G iſt entweder L oder M
- H iſt entweder N oder P
- I iſt entweder Q oder R
- Aber A iſt weder L noch N
Folg-
[205]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
- Folglich A iſt M und P.
- M iſt nicht Q
- P iſt nicht R
- Folglich A iſt weder Q noch R
- Folglich A iſt nicht I
- Demnach A iſt M und P und K
- M P K zuſammengenommen iſt B
- A iſt B.
§. 312.
Dieſes Beyſpiel zeigt zugleich auch, wie man zu-
weilen einen ganz einfachen Satz aus einem Cahos
von verwickelten Begriffen herausbringen koͤnne, und
wie genau alles ſtuͤckweiſe durchgangen und gleichſam
ausgeleſen und zuſammengerechnet werden muͤſſe.
So ſind die Faͤlle, die im Unterſuchen ſtaͤrkere Auf-
merkſamkeit, ausfuͤhrlichere Entwicklung und
mehrere Deutlichkeit erfordern, bis man das, was
zur Sache gehoͤrt, von dem uͤbrigen abſondern, und
zuſammen faſſen kann. Da ferner in einer Abhand-
lung die Saͤtze, ſo man zuſammen nehmen muß,
oͤfters zerſtreuet ſind, ſo iſt auch dieſes ein Umſtand,
welcher macht, daß man ſie nicht ſo gleich alle finden
und zuſammenhaͤngen kann. Denn wenn man die
Vorderſaͤtze beyſammen hat, ſo folgt der Schlußſatz
ganz ungeſucht und von ſelbſt. Hingegen geht es damit
nicht ſo geſchwinde, wo man die Vorderſaͤtze erſt ſu-
chen muß. Das erſt gegebene Beyſpiel hat noch die-
ſes beſonders, daß, da man die Mittelglieder der
Schlußreden ſonſten fahren laͤßt, ſobald der Schluß-
ſatz gezogen worden, hier einige derſelben nicht koͤn-
nen wegbleiben, ſondern als Hauptbegriffe nochmals
vorkommen. Denn ſo gebrauchte man M und P, um
Q, R und folglich I von A zu verneinen und auszu-
ſchließen, und aus den Schlußſaͤtzen blieb M und P
weg.
[206]V. Hauptſt. von zuſammengeſ. Schluͤſſen
weg. Aber zuletzt mußte M, P und K wiederum zu-
ſammen genommen werden, um den Begriff B zu
beſtimmen, und von A zu bejahen.
§. 313.
Das erſtgegebene Beyſpiel kann auch in einzelne
Schluͤſſe aufgeloͤſt werden, und in wirklichen Faͤllen
kommen ſolche Schluͤſſe auch mehrentheils einzeln vor.
Ueberdies behaͤlt man auch nicht immer die Formu-
larſprache, welche allemal ſehr trocken iſt, ſondern
giebt den Saͤtzen eine fließendere Ordnung und Ver-
bindung, wie wir es in Abſicht auf die Verflechtung
unmittelbarer Folgen bereits angemerkt, und den Un-
terſchied durch Beyſpiele erlaͤutert haben. (§. 259.
260.) Wir werden es nun in Anſehung der letztern
(§. 311.) auch thun. Sie wird am natuͤrlichſten ſo
vorgetragen:
Da wir nun gefunden, daß A ſo wohl G als
H ſey, und ferner A entweder I oder K ſeyn
muͤſſe, ſo wird ſich nun leicht weiter gehen und
daraus folgern laſſen, daß A auch B ſey. Denn
einmal, weil A, G iſt, ſo iſt es nothwendig
entweder L oder M, weil alle G ſich in dieſe
zwo Arten theilen. Erſteres geht nun nicht an;
folglich iſt A, M. Ferner findet ſich auf glei-
che Art, daß A, P ſey. Denn da A, H; H
aber entweder N oder P iſt; ſo muß auch A
entweder N oder P ſeyn. Nun koͤmmt N dem
A nicht zu, folglich bleibt nur P uͤbrig, oder
A muß P ſeyn. Endlich weil A entweder I
oder K; I aber entweder Q oder R iſt; ſo iſt A
entweder Q oder R oder K. Nun laſſen ſich
beyde erſtere, naͤmlich Q, R leicht ausſchließen.
Denn da A, M; M aber nicht Q iſt: ſo iſt auch
A nicht Q. Eben ſo weil A, P; P aber nicht R
iſt:
[207]und den naͤchſten Umwegen im Schließen.
iſt: ſo iſt auch A nicht R. Demnach bleibt
nichts uͤbrig, als daß A, K ſey. Faſſen wir
nun die drey Eigenſchaften M, P, K zuſammen,
ſo machen ſie den Begriff B aus; und daher, weil
A ſo wohl M als P und K iſt, folgt nun, daß A,
B ſey ꝛc.
Dieſer entwickeltere Vortrag laͤßt ſich gleichfalls wie-
derum in die Formularſprache uͤberſetzen. Wir geben
hier zu den bisher angefuͤhrten Formeln keine beſon-
dre Beyſpiele, weil ſolche in dieſer Abhandlung ſelbſt
haͤufig vorkommen. Man kann ſich mit Vortheil
darinn uͤben, ſie aufzuſuchen, und in die Formular-
ſprache zu bringen. Man uͤbt ſich dadurch, verwi-
ckeltere Umwege und Beweiſe ſich deutlich vorzu-
ſtellen.
Sechſtes Hauptſtuͤck.
Von den Beweiſen.
§. 314.
Wir koͤnnen nun, nachdem wir die einfachſten
Wege und Umwege bey der Erfindung und
Beweis der Saͤtze betrachtet haben, zu den vollſtaͤn-
digern Beweiſen fortſchreiten, und ihre verſchiedene
Arten zu beſtimmen ſuchen. Da ein Satz durch eine
Schlußrede bewieſen wird, wenn die Form richtig,
und die Vorderſaͤtze wahr ſind, (§. 248.) ſo giebt
dieſes eine Art von Beweiſen. Die Richtigkeit der
Form laͤßt ſich durch die Regeln der beyden vorher-
gehenden Hauptſtuͤcke pruͤfen, und zwar um deſto
leichter, weil ſie in die Augen faͤllt. Sind die Vor-
derſaͤtze Grundſaͤtze oder unmittelbare Erfahrungen,
ſo
[208]VI. Hauptſtuͤck,
ſo wird ihre Wahrheit fuͤr ſich zugegeben, und die
Schlußrede iſt zum Beweiſe hinreichend. Widrigen-
falls aber muͤſſen die Vorderſaͤtze durch neue Schluß-
reden bewieſen werden. Auch in dieſen muß demnach
die Form richtig, und die Vorderſaͤtze wahr ſeyn.
Die Wahrheit der Vorderſaͤtze erfordert zuweilen neue
Schlußreden, und dieſes geht ſo weit, bis man auf
Vorderſaͤtze koͤmmt, deren Wahrheit fuͤr ſich ein-
leuchtend iſt.
§. 315.
Dieſes Verfahren heißt die analytiſche Artzu
beweiſen, weil man bey dem Schlußſatz anfaͤngt,
und ihn durch eine Schlußrede in zween Vorderſaͤtze,
jeden von dieſen wiederum in zween andre aufloͤſt,
und damit ſo weit fortfaͤhrt, bis die Vorderſaͤtze kei-
ner fernern Aufloͤſung mehr beduͤrfen. Man hat
lange Zeit geglaubt, dieſe Art zu beweiſen ſey die
einige, und hat ſie daher auch faſt allein in den Ver-
nunftlehren betrachtet. Die ſcholaſtiſche Art zu
diſputiren beruht darauf, und dieſe Gewohnheit machte
ihre Kenntniß einigermaaßen nothwendig. Da man
aber bey dem Schlußſatze anfaͤngt, ſo iſt klar, daß
man voraus wiſſen muͤſſe, ob er wahr ſey oder nicht?
Denn waͤre er falſch, ſo wuͤrde er ſich gar nicht be-
weiſen laſſen, weil aus wahren Vorderſaͤtzen und
richtiger Form nothwendig auch ein wahrer Schluß-
ſatz folgt. Verſichert man ſich aber vorher, daß der
Satz, den man beweiſen will, wahr ſey, ſo geſchieht
dieſes entweder aus Gruͤnden, oder durch die Erfah-
rung. Jm erſten Fall ſtellt man ſich ſeinen Zuſam-
menhang mit den Gruͤnden bereits vor, und in ſo ferne
wird nicht nur der analytiſche Vortrag uͤberfluͤßig,
ſondern es zeigt ſich zugleich, daß es noch andre
Arten zu beweiſen geben muͤſſe. Gruͤndet ſich hinge-
gen
[209]von den Beweiſen.
gen der Satz auf die Erfahrung, ſo iſt man zwar von
ſeiner Wahrheit ohne fernern Beweis verſichert, un-
geachtet man, weil auch Erfahrungen mit andern zu-
ſammenhaͤngen koͤnnen, ebenfalls einen Beweis dazu
ſuchen kann. Sieht man aber dieſen Zuſammenhang
nicht ſonſt ein, ſo giebt ihn der analytiſche Beweis
nicht an, weil man zu demſelben die Mittelglieder der
Schlußreden bereits wiſſen muß.
§. 316.
Es iſt demnach ungleich natuͤrlicher, bey den Vor-
derſaͤtzen anzufangen, weil man verſichert iſt, daß ſich
ein Schlußſatz werde ziehen laſſen, ſo oft man zween
Vorderſaͤtze hat, die ſich zu einer Schlußrede ſchicken.
Wir haben bereits angemerkt, (§. 225.) daß die
Mathematiker gemeiniglich bey dem Unterſatze anfan-
gen, welcher in der erſten Figur allemal bejahend iſt.
Sie ſuchen auf, was ſie von deſſelben Praͤdicat wiſ-
ſen, und bejahen oder verneinen es ſogleich auch von
dem Subjecte. Dieſe Schlußſaͤtze ſehen ſie aufs
neue als Unterſaͤtze an, und finden auf gleiche Art
wiederum Oberſaͤtze dazu, um neue Schlußſaͤtze ziehen
zu koͤnnen. Es iſt klar, daß, was man auf dieſe Art
findet, auch zugleich bewieſen iſt. Und dieſe Art zu
beweiſen heißt die ſynthetiſche, weil man da bey den
erſten Gruͤnden anfaͤngt, und darauf weiter fortbaut.
Wir wollen nun dieſe beyden Arten zu beweiſen und ihre
Vergleichung etwas umſtaͤndlicher auf zuklaͤren ſuchen.
§. 317.
Der letzte Schlußſatz ſey:
- A iſt B
Dieſer werde durch die Schlußrede
- M iſt B
- A iſt M
- Folgl. A iſt B
Lamb. Org. I. Band. Obewie-
[210]VI. Hauptſtuͤck,
bewieſen. Man ſetze fuͤr jeden Vorderſatz eine neue
Schlußrede:
| P iſt B | N iſt M |
| M iſt P | A iſt N |
| folgl. M iſt B | folgl A iſt M. |
Endlich ſetze man auch fuͤr dieſe vier Vorderſaͤtze wie-
derum vier neue Schlußreden:
| T iſt B | S iſt P | R iſt M | Q iſt N. |
| P iſt T | M iſt S | N iſt R | A iſt Q. |
| P iſt B | M iſt P | N iſt M | Q iſt N. |
Auf gleiche Art laͤßt ſich weiter fortfahren. Wir
wollen aber Kuͤrze halber dabey bleiben, und die acht
Vorderſaͤtze dieſer vier letzten Schlußreden, als keines
fernern Beweiſes beduͤrftig anſehen. Setzen wir nun
jede Vorderſaͤtze unter ihren Schlußſatz, ſo entſteht
folgende Figur:
§. 318.
Dieſe Figur beut uns nun eine gewiſſe Anzahl
von Schlußketten an, wie wir es bereits oben (§. 300.)
angemerkt haben. Z. E.
| A iſt Q | A iſt N |
| Q iſt N | N iſt M |
| N iſt M | M iſt B |
| M iſt B | folgl. A iſt B etc. |
| folgl. A iſt B. |
Aber
[211]von den Beweiſen.
Aber unter dieſen Schlußketten giebt die unterſte
Reihe in der Figur:
- A iſt Q
- Q iſt N
- N iſt R
- R iſt M
- M iſt S
- S iſt P
- P iſt T
- T iſt B
- folgl. A iſt B
die abſoluteſte, weil wir angenommen haben, daß
dieſe Saͤtze keines fernern Beweiſes beduͤrfen. Und
da dieſe Schlußkette fuͤr ſich ſchon beweiſt, ſo iſt klar,
daß die Saͤtze
| A iſt M, | M iſt B |
| N iſt M, | M iſt P, P iſt B |
in der vorhergehenden Zergliederung des Beweiſes
haͤtten wegbleiben koͤnnen, weil ſich der Satz: A iſt B.
durch eine unmittelbare Reihe von Saͤtzen, die an ſich
klar ſind, beweiſen laͤßt. Waͤre dieſes geſchehen, ſo
waͤre der analytiſche Vortrag des Beweiſes einer von
folgenden geweſen:
| I. Q iſt B | I. T iſt B |
| A iſt Q | A iſt T |
| folgl. A iſt B | folgl A iſt B |
| II. N iſt B | II. P iſt T |
| Q iſt N | A iſt P |
| Q iſt B| | A iſt T |
| III. R iſt B | III. S iſt P |
| N iſt R | A iſt S |
| N iſt B | A iſt P |
| IV. M iſt B | IV. M iſt S |
| R iſt M | A iſt M |
| R iſt B | A iſt S |
| V. S iſt B | V. R iſt M |
| M iſt S | A iſt R |
| M iſt B | A iſt M |
| VI. P iſt B | VI. N iſt R |
| S iſt P | A iſt N |
| S iſt B | A iſt R |
| VII. T iſt B | VII. Q iſt N |
| P iſt T | A iſt Q |
| P iſt B | A iſt N |
Wo in der erſten Columne jedesmal der Oberſatz, in
der andern aber der Unterſatz durch die folgende
Schlußrede bewieſen wird, weil der andre Vorderſatz
als eines Beweiſes unbeduͤrftig angenommen worden.
Die Anzahl der Schlußreden wird dadurch nicht ver-
mindert, weil wir hier ebenfalls ſieben haben, wie in
dem erſten Veweiſe (§. 371.) Man ſieht aber daraus,
daß ein Beweis, in welchem jedesmal beyde
Vorderſaͤtze muͤſſen bewieſen werden, ſich in
einen ſolchen verwandeln laͤßt, wobey in je-
der Schlußrede nur ein Vorderſatz zu bewei-
ſen iſt.
§. 319.
Vergleicht man dieſen dreyfachen Vortrag eines
gleichen Beweiſes, ſo ſieht man, daß ihr Unter-
ſchied vornehmlich auf die Auswahl des Mit-
telgliedes ankoͤmmt. Nimmt man dieſes ſo an,
daß der eine Vorderſatz nicht ferner darf bewieſen
werden, ſo wird der Beweis des andern um deſto
laͤnger,
[213]von den Beweiſen.
laͤnger, wenn man zu dem ganzen Beweiſe einerley
Grundſaͤtze gebrauchen will. Man kann es aber im-
mer ſo annehmen.
§. 320.
Jn dem ſynthetiſchen Vortrage ſchickt man die
Oberſaͤtze nebſt ihrem Beweiſe allzeit voraus, und
haͤlt ſich daher an jedem Orte vornehmlich an den
Unterſatz. Jſt dieſer ausgemacht, ſo wird der Ober-
ſatz dazu genommen und citirt, und der Schlußſatz
gezogen. Auf dieſe Art darf man ſich mit dem Be-
weis des Oberſatzes nicht erſt noch aufhalten.
§. 321.
Man ſieht ferner hieraus, daß die meiſten
Oberſaͤtze nichts anders als zuſammen gezoge-
ne Grundſaͤtze ſind, und folglich der Beweis
eines Satzes deſto kuͤrzer wird, je mehr und je
ſchicklicher die Grundſaͤtze zuſammen gezogen
ſind. So z. E. wenn man die Schlußkette.
(§. 318.)
- A iſt Q
- Q iſt N
- N iſt R
- R iſt M
- M iſt S
- S iſt P
- P iſt T
- T iſt B
in folgende zween Saͤtze:
- A iſt M
- M iſt B
oder in folgende drey:
- A iſt R
- R iſt S
- S iſt B
O 3zuſam-
[214]VI. Hauptſtuͤck,
zuſammenzieht, und die letzten Saͤtze als bereits er-
wieſene Oberſaͤtze vorausſchickt, ſo folgt im erſten Fall
der Satz: A iſt B, durch eine einzige Schlußrede, im
andern Fall aber durch zwo, naͤmlich:
| R iſt S. | R iſt B. |
| S iſt B. | A iſt R. |
| folgl. R iſt B. | folgl A iſt B. |
Auf gleiche Art giebt es hierinn noch unzaͤhlige Ab-
wechslungen. Hat man aber noch keine Grundſaͤtze
zuſammengezogen, ſo bleibt die Schlußkette noch ganz,
und muß aus einer Reihe von Grundſaͤtzen gemacht
werden. Es folgt aus dieſen Betrachtungen, daß es
nothwendig angeht. (§. 318.) Denn man ſetze z. E.
daß es in der erſten Aufloͤſung. (§. 317.) die zween
Saͤtze: A iſt N, M iſt P, keines fernern Beweiſes
beduͤrfen ſo fallen zwo Schlußreden, und mit dieſen
zwey Mitte glieder weg, und die abſoluteſte Schluß-
kette wird folgende ſeyn:
- A iſt N
- N iſt R
- R iſt M
- M iſt P
- P iſt T
- T iſt B
- folgl A iſt B.
Welche nun um zween Saͤtze kuͤrzer iſt, als die erſtere
(§. 318.)
§. 322.
Man ſieht demnach hieraus, daß jeder Beweis,
der aus einfachen Schluͤſſen beſteht, ſich in eine
ganz einfache Schlußkette verwandeln laͤßt,
deren Vorderſaͤtze lauter Grundſaͤtze ſind; oder
daß, wenn man die Grundſaͤtze, auf welchen
ein Beweis beruht, zuſammen nimmt, die-
ſelben
[215]von den Beweiſen.
ſelben eine ordentliche Schlußkette ausmachen,
welche folglich der abſoluteſte und geradeſte
Weg iſt, einen Satz zu beweiſen. (§. 300.)
§. 323.
Auf ſo vielerley Arten die Saͤtze dieſer Schluß-
kette ſich einzeln in Vorderſaͤtze zuſammenziehen laſ-
ſen (§. 321.) ſo vielerley Abwechslungen eines glei-
chen Beweiſes giebt es auch, folglich ſo viele, als die
Mittelglieder N, R, M, P, T, einzeln, zu zwey und zwey,
zu drey und drey ꝛc. combinirt ausmachen. Daher
nach den Regeln der Combination ſo viel, als die Zahl
2 eben ſo viel mal mit ſich ſelbſt multiplicirt, als
Mittelglieder ſind, und um 1 vermindert ausmacht.
Z. E. Bey fuͤnf Mittelgliedern giebt es 2. 2. 2. 2.
2—1=31 Abwechslungen; bey ſechs 63, bey ſieben
127 ꝛc.
§. 324.
Wenn daher viele Grundſaͤtze zu einem Veweiſe
erfordert werden, ſo giebt es in dem Vortrage deſſel-
ben ſo vielerley Abwechslungen, daß es oͤfters ſchei-
nen kann, daß zween oder mehrere Beweiſe eines
gleichen Satzes aus ganz verſchiedenen Gruͤnden und
Quellen fließen, da ſie doch, wenn man ſie weiter ent-
wickelt, immer auf einerley Grundſaͤtze fuͤhren, in-
dem ſie nur eine andre Combination derſelben ſind.
§. 325.
Da ſich demnach jeder Beweis in eine einfache
Schlußkette verwandeln laͤßt, welche aus lauter
Grundſaͤtzen oder dieſen gleichgeltenden Saͤtzen beſteht,
(§. 322.) zu Schlußketten aber nur die erſte Figur
dient (§. 298 ſeqq) ſo ſieht man, daß vornehmlich
nur die erſte Figur bey langen Beweiſen vor-
komme. Und dadurch wird nochmals bekraͤftigt,
daß eigentlich nur die erſte Figur Gruͤnde angiebt,
O 4und
[216]VI. Hauptſtuͤck,
und ſie ſtuffenweiſe zuſammenhaͤngt. (§. 229, 231,
232, 250.) Wir werden daher hier auch nur vor-
nehmlich den Zuſammenhang der Schluͤſſe in der er-
ſten Figur betrachten, und nun die Beſchaffenheit
der ſynthetiſchen Beweiſe genauer unterſuchen.
§. 326.
Jn den ſynthetiſchen Beweiſen faͤngt man bey
den Vorderſatzen an, (§. 316.) und daher entweder
bey dem Oberſatze, oder bey dem Unterſatze. Hiebey
aͤußert ſich gleich anfangs in Abſicht auf den Schluß-
ſatz ein Unterſchied. Denn in der erſten Figur iſt das
Subject im Schlußſatz, und im Unterſatze, und hin-
gegen das Praͤdicat im Schlußſatze und im Oberſatze
einerley. Faͤngt man demnach bey dem Oberſatze an, ſo
verfaͤllt man im Schlußſatz auf ein andres Subject:
Und auf dieſe Art findet man der Ordnung nach
mehrere Subjecte, die ein gleiches Praͤdicat
haben. Z. E. (§. 317.)
| T iſt B | T iſt B | T iſt B | etc. |
| P iſt T | S iſt T | M iſt T | |
| P iſt B | S iſt B | M iſt B |
oder:
| T iſt B | P iſt B | S iſt |B | etc. |
| P iſt T | S iſt P | M iſt S | |
| P iſt B | S iſt B | M iſt B |
§. 327.
Faͤngt man hingegen bey dem Unterſatze an,
ſo bleibt man bey einerley Subject, und findet
zu demſelben mehrere Praͤdicate. Z. E.
| A iſt Q | A iſt Q | etc. |
| Q iſt N | Q iſt M | |
| A iſt N | A iſt M |
oder:
[217]von den Beweiſen.
oder:
| A iſt Q | A iſt N | etc. |
| Q iſt N | N iſt M | |
| A iſt N | A iſt M |
§. 328.
Man gebraucht demnach die erſte Art, wo es die
Frage iſt, mehrere Subjecte zu gleichem Praͤdi-
cat zu finden. Hingegen koͤmmt die zweyte vor,
wo man zu gleichem Subject mehrere Praͤdi-
cate finden will. Jm erſten Fall ſtellt das Praͤ-
dicat eine Klaſſe vor, und die Subjecte ſind die Din-
ge, ſo unter dieſe Klaſſe gehoͤren, und daher dient
dieſes Verfahren, Eintheilungen zu finden (§. 115.)
Jm andern Fall aber, da man bey gleichem Subjecte
bleibt, und immer mehrere Praͤdicate dazu findet,
macht man ſich deſſen Eigenſchaften vollſtaͤndiger be-
kannt, man durchforſcht es tiefer, und die Erkennt-
niß deſſelben wird ausfuͤhrlicher (§. 10.) dieſes Ver-
fahren iſt ungleich leichter, als das erſtere, welches
alle Hinderniſſe und Schwuͤrigkeiten hat, die wir in
dem zweyten Hauptſtuͤcke bey den Eintheilungen an-
gemerkt haben. Man findet uͤberhaupt leichter,
welche Eigenſchaften eine Sache hat, als aber die
Dinge denen eine fuͤrgegebene Eigenſchaft zukoͤmmt,
weil man im letzten Fall zuweilen das ganze Reich der
Moͤglichkeiten zu durchgehen hat; hingegen im erſten
Fall hat man die Sache vor ſich, und darf ihre Eigen-
ſchaften lange nicht ſo weit herholen.
§. 329.
Jn Anſehung beyder Faͤlle muͤſſen wir noch an-
merken, daß ſie uns an ſich betrachtet zu kei-
nem beſtimmten Ziele fuͤhren, weil man bey den
nach und nach angenommenen Vorderſaͤtzen nicht vor-
ausſehen kann, ob die daraus folgende Schlußſaͤtze
O 5etwas
[218]VI. Hauptſtuͤck,
etwas erhebliches an ſich haben, oder von der Art
ſeyn werden, wie man ſie zu gewiſſen vorgenomme-
nen Abſichten zu finden Vorhabens war. Wir haben
(§. 58.) in Anſehung der Erklaͤrungen eine aͤhnliche
Anmerkung gemacht, da die vielerley Erklaͤrungen, die
von einer Sache koͤnnen gemacht werden, nicht immer
gleich brauchbar ſind. Man geht daher auch bey
der ſynthetiſchen Methode aufs blinde hin,
wenn man nicht gewiſſer Maaſſen voraus
weis, von welcher Seite man anfangen ſoll, die
Sache zu betrachten. Denn ſo z. E. wenn man
endlich das Verhaͤltniß zwiſchen zwoen Sachen her-
ausbringen will, und man faͤngt an, die eine zum
Subject des Unterſatzes zu machen, ſo muß man
allerdings ſolche Eigenſchaften derſelben zum Praͤdi-
cat nehmen, die dem geſuchten Verhaͤltniß naͤher
kommen. Widrigenfalls wuͤrde man entweder ohne
Noth durch Umwege gehen, oder gar nicht zum Ziele
kommen.
§. 330.
Es giebt daher zwiſchen der analytiſchen Metho-
de, welche bey dem voͤllig beſtimmten Schlußſatz an-
faͤngt, (§. 315.) und der ſynthetiſchen, in ſo ferne
dieſe zu keinem beſtimmten Ziele fuͤhrt, (§. 329.)
ein Mittelweg, welcher den Schlußſatz, den
man eigentlich herausbringen will, gewiſſer
Maaſſen kenntlich macht, ohne ihn vollends
zu beſtimmen, und es ſodann der ſynthetiſchen
Methode uͤberlaͤßt, die dazu dienende Vor-
derſaͤtze aufzuſuchen. Das heißt kurz, den Leit-
faden angeben, der uns zum Ziele fuͤhren, oder we-
nigſtens die Abwege anzeigen ſollen.
§. 331.
[219]von den Beweiſen.
§. 331.
Damit geht es nun allemal leicht und ordentlich,
wenn man entweder den Schlußſatz und die weſent-
lichſten Mittelglieder, oder von dieſen wenigſtens ſo
viel ſich zwar nur confus vorſtellt und gleichſam em-
pfindet, als zu dem Bewußtſeyn, daß ſich etwas die-
nendes werde finden laſſen, genug iſt. Denn da
koͤmmt es ſodann nur darauf an, daß man dieſe Vor-
ſtellung, die etwann noch einem Cahos gleicht, ent-
wickele, und in behoͤriger Ordnung aus einander leſe.
Und damit geht es deſto leichter, je mehr man ſchon
an das Zuſammenhaͤngen und Auseinanderſetzen der
Schluͤſſe gewoͤhnt iſt, und alle Wege kennt. (§. 291.)
§. 332.
Da ſich aber dieſe Schicklichkeit nicht immer ein-
findet, ſo muͤſſen wir die verſchiedene Arten eines ſol-
chen Leitfadens naͤher betrachten, und ſehen, wiefern
der Schlußſatz uͤberhaupt ſchon kenntlich ſeyn kann,
ehe man ihn vollends beſtimmt hat. Der Schlußſatz
ſey:
- A iſt B.
ſo laͤßt ſich uͤberhaupt B als eine Gattung und A als
eine Art anſehen Nun kann ſo wohl A als B unter
einem allgemeinern, oder A beſonders unter einem
ſpecialern Begriff bekannt ſeyn. Dieſes giebt dem-
nach folgende drey Faͤlle:
- 1. Man weis etwann, daß A unter die Gattung
C gehoͤrt, und daß C eine hoͤhere Gattung
iſt. Und da koͤmmt die Frage vor, die Art
B zu beſtimmen, unter welcher ſich A befin-
det. - 2. Man weis etwann, daß unter den Arten der
Gattung D eine vorkomme, welche die Ei-
genſchaft B hat, und da iſt die Frage, dieſe
Art ausfuͤndig zu machen.
3. Oder
[220]VI. Hauptſtuͤck,
- 3. Oder man weis etwann, daß eine Art oder In-
diuiduum, oder etliche derſelben, die Ei-
genſchaft B haben, und da iſt die Frage, je-
de Arten oder die ganze Gattung kenntlich
zu machen, denen die Eigenſchaft B zukom-
me?
§. 333.
So z. E. wenn man uͤberhaupt weis, daß ein
Dilemma ein Umweg ſey, ſo wird man bey genaue-
rer Unterſuchung nicht nur finden, daß dieſer Umweg
unter die einfachſten gehoͤre, ſondern, da es ſieben
Arten derſelben giebt, ſo wird man finden, daß ein
Dilemma unter zwo derſelben, naͤmlich Diprepe und
Serpide gehoͤre. (§. 289.) Auf eine aͤhnliche Art
haben Newton und Bernoulli aus dem Satze, daß
die Planeten um die Sonne in krummen Linien lau-
fen, mit Zuziehung einiger Erfahrungen und mecha-
niſcher Gruͤnde herausgebracht, daß dieſe krummen
Linien Kegelſchnitte ſeyn, und folglich das Praͤdi-
cat naͤher beſtimmt. Dieſe beyden Beyſpiele erlaͤu-
tern den erſten Fall. (§. 332.) Der andre wird
eben ſo, und nur mit gewiſſer Umkehrung erlaͤutert.
Denn wenn man z. E. weis, daß es im Schließen
ſieben einfache Umwege giebt, und daß die Jndu-
ctionen und Dilemmata nicht weitlaͤuftiger ſind, folg-
lich unter dieſe ſieben Arten mit gehoͤren, ſo wird
man, wie wir es oben (§. 287. 288.) gethan haben,
finden, daß die Jnduction unter Caſpida, die Di-
lemmata aber unter Diprepe und Serpide gehoͤren.
Endlich wird der dritte Fall erlaͤutert, wenn man
z. E. bey Anlaß des Satzes, daß eine Jnduction
oder ein Dilemma ein Umweg iſt, ſich vornimmt,
jede Arten von Umwegen, oder beſonders jede einfa-
chen aufzuſuchen.
§ 334.
[221]von den Beweiſen.
§. 334.
Ferner laͤßt ſich, wenn das Subject eine Art iſt,
in welcher folglich der Begriff der Gattung beſondere
Beſtimmungen bekoͤmmt (§. 82.) ebenfalls die Frage
vorlegen, welche Beſtimmungen die Gattung und ihre
Merkmaale in den uͤbrigen Arten bekommen. So
z. E. da wir im dritten Hauptſtuͤck gefunden, daß es
einfache und zuſammengeſetzte Saͤtze giebt, und im
vierten Hauptſtuͤcke, daß die einfachen Saͤtze einfache
Schluͤſſe geben, ſo war es, wie wir im fuͤnften Haupt-
ſtuͤcke gethan haben, ſehr natuͤrlich, auch die zuſam-
mengeſetzten Saͤtze zu Vorderſaͤtzen zu machen, und ihre
Schlußarten zu beſtimmen. Wir werden nachgehends
ſehen, daß der §. 144. eben ſo gebraucht werden kann.
§. 335.
Ferner laͤßt ſich, wenn man uͤberhaupt weis, daß
zween Begriffe ein gewiſſes Verhaͤltniß unter einan-
der haben muͤſſen, die Frage vorlegen, dieſes Ver-
haͤltniß naͤher oder durchaus zu beſtimmen, z. E.
unter welchen Bedingungen des Subjects, oder mit
welchen Beſtimmungen deſſelben, oder auf was fuͤr
eine Art und Weiſe das Praͤdicat ihm zukomme? So
wenn man in Beyſpielen oder ſonſten gefunden, daß
zween Saͤtze einen Schlußſatz geben koͤnnen, ſo muß,
weil dieſes nicht bey jeden zween Saͤtzen angeht, naͤ-
her beſtimmt werden, wie ſo wohl die zween Saͤtze,
als ſodann auch der Schlußſatz ausſehen ſolle, damit
der Schluß angehen moͤge.
§. 336.
Endlich laͤßt ſich auch, wenn man zu einem Sub-
ject ein Praͤdicat gefunden, oder demſelben eine Be-
ſtimmung beygefuͤgt hat, noch die Frage vorlegen,
welche andre Praͤdicate oder Beſtimmungen noch bey
der bereits geſetzten beſtehen koͤnnen? So z. E. wenn
man
[222]VI. Hauptſtuͤck,
man ſucht, welche andre Vorderſaͤtze zu einem bereits an-
genommenen Vorderſatz in jeder Figur noch genommen
werden koͤnnen. Oder, wenn man zwo Seiten zu
einem Triangel angenommen, wiefern in Anſehung
der dritten noch eine Wahl bleibe.
§. 337.
Dieſe ſechſerley Faͤlle (§. 332, 334, 335, 336.)
zeigen demnach die verſchiedenen Arten an, wie ein
Schlußſatz, der durch einen ſynthetiſchen Beweis
herausgebracht werden ſolle, ſo weit kenntlich ſeyn
koͤnne, daß die Auswahl der Mittelglieder naͤher be-
ſtimmt werde, und die Art und Ordnung der Schluͤſſe
von dem Ziele abhaͤngig gemacht werde. Wir haben
ſie ſaͤmmtlich in Form von Fragen vorgetragen, weil
es in der That Aufgaben ſind, die man ſich in jedem
beſondern Fall aufzuloͤſen vorſetzen muß Wer ſich
darinn uͤben will, kann die dabey angefuͤhrten
Beyſpiele, welche wir faſt alle aus den vorhergehen-
den Hauptſtuͤcken genommen haben, in dieſer Abſicht
durchgehen, und die Aufloͤſung, der Aufgabe gemaͤß,
einrichten Dieſe ſechs Faͤlle laſſen ſich um deſto
mehr in Form von Aufgaben vortragen, weil dabey
nicht nur Data und Quaeſita vorkommen, (§. 163.)
ſondern weil beyde zugleich zur Aufloͤſung koͤnnen ge-
braucht werden.
§. 338.
Man wird ferner finden, daß die drey erſten
Faͤlle (§. 332.) viel aͤhnliches haben, und wir haben
aus dieſem Grunde einerley Beyſpiele dazu gewaͤhlt.
Beſonders iſt der dritte Fall, welcher nur angiebt,
jede Subjecte zu einem vorgegebenen Praͤdicat zu fin-
den, am unbeſtimmteſten. Hat man aber dieſe Sub-
jecte oder Arten zu der Gattung gefunden, ſo laͤßt
ſich alles, was unter die Gattung gehoͤrt, viel leich-
ter
[223]von den Beweiſen.
ter unter die Arten vertheilen, (§. 97.) und eben ſo
laſſen ſich auch die Arten leichter durchgehen, wenn
man ſehen will, ob ein vorgegebener Begriff darun-
ter, oder unter welche derſelbe gehoͤre, oder welchen
er zukomme? Dieſe zwo Unterſuchungen machen ſo-
dann den erſten und zweyten Fall des §. 332. aus.
Man ſieht demnach auch hieraus, wie dieſe drey Faͤlle
unter einander zuſammenhaͤngen.
§. 339.
Ferner laͤßt ſich anmerken, daß bey allen ſechs
Faͤllen die vorlaͤufige Kenntniß des Schlußſatzes ver-
anlaßt werde, und der Anlaß gruͤnder ſich theils auf
die Data, ſo man vor ſich hat, theils auf das Be-
wußtſeyn, daß bey denſelben das Quaeſitum vorkom-
me, und eine gewiſſe Beſchaffenheit habe. Z. E. in
dem erſten Fall, wenn man weis, daß das Subject
nicht unmittelbar unter die ſchon geſundene hoͤhere
Gattung gehoͤre, ſo koͤmmt allerdings die Frage vor,
die niedrigſte ſubordinirte Gattung oder Art zu fin-
den, unter welche das vorgegebene Subject gehoͤrt.
Dieſe Anlaͤſſe aber ſind nicht ſchwer, weil ſich uͤber-
haupt die hoͤhern Gattungen leichter finden laſſen, als
die niedrigern: und in jedem Schluß in Barbara wird
das Praͤdicat des Schlußſatzes eine hoͤhere Gattung
ſeyn, als das Praͤdicat im Unterſatze, es ſey denn,
daß der Oberſatz identiſch waͤre, welches aber ſelten
vorkoͤmmt, weil wir noch wenig identiſche Saͤtze ha-
ben.
§. 340.
Auf gleiche Art wird der zweyte Fall (§. 332.)
veranlaßt, weil man voraus wiſſen muß, daß einige
Arten oder Indiuidua der Gattung D die Eigen-
ſchaft B haben. Man ſieht zugleich, daß jeder Par-
ticularſatz
Etliche
[224]VI. Hauptſtuͤck,
- Etliche D ſind B
dazu dient, und folglich die Schluͤße in Darapti, Di-
ſamis und Datiſi auf ſolche Particularſaͤtze fuͤhren,
weil ſie, wie jede Schluͤſſe der dritten Figur Bey-
ſpiele geben. (§. 227. 232.) Weis man aber, daß
etliche D, B ſind; ſo koͤmmt die Frage, welche es
ſind, ſehr natuͤrlich vor.
§. 341.
Der dritte Fall hat noch allgemeinere Anlaͤſſe,
weil er weiter nichts fordert, als daß das Praͤdicat
B ein wirklicher Begriff ſey, und folglich im Reiche
der Moͤglichkeit vorkomme Hiezu dient aber jeder,
ſo wohl allgemein als particular bejahender Satz, deſ-
ſen Subject ein moͤgliches und reales Ding iſt. Fin-
det man demnach ſolche, ſo iſt wiederum die Frage
ſehr natuͤrlich, jede Subjecte zu finden, denen das
Praͤdicat B zukomme?
§. 342.
Bey dem vierten Fall (§. 334.) muß man ſo viel
wiſſen, daß der Begriff des Praͤdicats in den Neben-
arten des Subjects vorkomme, und darinn beſondere
Beſtimmungen habe, welches letztere an ſich ſchon na-
tuͤrlich iſt. (§. 8.) Da ferner jedes Subject, wenn
es nicht unmittelbar unter die hoͤchſte Gattung ge-
hoͤrt, noch Nebenarten hat, ſo darf man ſich nur
verſichern, daß das Praͤdicat nicht eines ſeiner eignen
Merkmaale ſey, folglich auch in den Nebenarten mit
vorkomme, ſo hat man den Anlaß zu der Frage, welche
Beſtimmungen das Praͤdicat in den Nebenarten ha-
be, vollſtaͤndig.
§. 343.
Der fuͤnfte Fall fordert gleichfalls, daß man uͤber-
haupt wiſſen muͤſſe, daß zween Begriffe einander
auf eine gewiſſe Art oder unter gewiſſen Bedingun-
gen,
[225]von den Beweiſen.
gen, oder unter gewiſſen Beſtimmungen des Subje-
ctes einander zukommen, ehe man ſich vorſetzt, dieſes
aufs blinde hin zu ſuchen. Die Anlaͤſſe dazu ſind nun
allerdings, wenn man vorhin beyde Begriffe mit ei-
nem dritten verglichen und gefunden hat, daß ſie zu
demſelben gewiſſe Verhaͤltniſſe haben. Denn ſo ha-
ben ſie, wenigſtens mittelbarer Weiſe auch ein Ver-
haͤltniß unter ſich, und man hat den Anlaß, es zu
ſuchen.
§. 344.
Endlich muß man bey dem ſechſten Fall auch wiſ-
ſen, ob die Beſtimmung, ſo man einem Begriffe
oder Subject beylegt, noch mehreres in demſelben zu
beſtimmen uͤbrig laſſe. Dieſes geht nun immer an,
ſo lange das Subject noch nicht individual wird. Jſt
dieſes noch nicht, ſo hat man allerdings Anlaß zu der
Frage, welche Beſtimmungen noch ferner koͤnnen bey-
gefuͤgt werden, und eben ſo auch, welche Beſtim-
mungen die jedesmal angenommenen und ihre Ver-
bindung bereits ſchon nach ſich ziehen. (§. 91.)
§. 345.
Dieſe Beobachtung, daß alle ſechs Faͤlle veran-
laßt werden, zieht noch die Anmerkung nach ſich,
daß man den Anlaß ſelbſten bey Aufloͤſung der Frage
mit Vortheil gebrauchen koͤnne, weil er außer dem
Weſentlichen der Frage noch beſondere Umſtaͤnde be-
greift, die die Aufloͤſung erleichtern koͤnnen. Wir
wollen dieſes durch die genauere Betrachtung des er-
ſten Falls erlaͤutern. Die Frage iſt hier, die nie-
drigſte Art B der Gattung M zu finden, unter welche
der Begriff A gehoͤrt. Dieſes giebt den foͤrmlichen
Schluß in Barbara
Lamb. Org. I. Band. PB iſt
[226]VI. Hauptſtuͤck,
- B iſt M.
- A iſt B.
- A iſt M.
Hier ſind demnach A und M gegeben, ſodann muß
A unter B, B aber unter M gehoͤren, und ſoll B die
niedrigſte Art ſeyn, ſo iſt der Unterſatz identiſch, und
folglich B ein eigenes Merkmaal von A, oder einige
derſelben zuſammengenommen. Nun kann man z. E.
M eintheilen, und unterſuchen, unter welches Glied
der Eintheilung A gehoͤrt. Dieſes Glied theilt man
wiederum ein, und ſtellt eben die Unterſuchung noch-
mals an, und ſo faͤhrt man fort, bis das Glied einer
Untereintheilung mit A identiſch wird. Es ſind aber
ſolche Eintheilungen nicht allemal ſo gar leicht, und
man koͤnnte ſie auch leicht in einer Abſicht vornehmen,
(§. 94.) welche ſich fuͤr A gar nicht ſchickt, weil A
ſich in eben dieſer Abſicht eintheilen ließe. (§. 97.)
Daher iſt es fuͤglicher umzukehren, und bey dem Be-
griffe A anzufangen. Denn weil M eines oder etli-
che zuſammengenommen von ſeinen eigenen Merkmaa-
len iſt, ſo hat man nur dieſe ſaͤmmtlich aufzuſuchen,
und aus ihrer Combination zu ſehen, ob eines oder
einige der Definition eines bereits bekannten Begrif-
fes angeben; und dieſer wird der geſuchte Begriff B
ſeyn, welcher folglich, weil er nur dem A allein zu-
koͤmmt, nothwendig auch unter die Gattung M ge-
hoͤrt. Allein, da man die eigenen Merkmaale eines
Begriffes nicht wohl anders finden kann, als wenn
man ihn mit ſeinen Nebenarten, ſo unter die Gat-
tung M gehoͤren, vergleicht; ſo muß man von die-
ſen wenigſtens die verſchiedenſten aufſuchen. (§. 42.)
Hiezu hilft aber der Anlaß, weil dieſer uns bereits
noch mehrere Dinge, die M ſind, angeben muß, um
uns zu verſichern, daß A nicht allein M, und M eine
hoͤhere
[227]von den Beweiſen.
hoͤhere Gattung von A ſey. Jn beſondern Faͤllen
giebt es hiebey Abkuͤrzungen, und das vorhin (§. 333.)
fuͤr den erſten Fall gegebene Beyſpiel mag auch hier
zur Erlaͤuterung dienen, wenn man es in dieſer Ab-
ſicht durchgehen will. (§. 337.)
§. 346.
Wenn der Schlußſatz, den man herausbringen
will, verneinend iſt, ſo wird der Beweis faſt immer
viel leichter. Man iſt dabey nicht ſo nothwendig an
die erſte Figur gebunden, ſondern kann auch die Schluß-
arten Ceſare, Cameſtres und Calentes dazu gebrau-
chen, je nachdem die Sache auf einen Unterſchied
oder aufs reciprociren ankoͤmmt. (§. 232. 250.)
Dieſe Schicklichkeit verdoppelt ſich, weil ein allge-
mein verneinender Satz auch umgekehrt allgemein
verneinend bleibt. (§. 141.) Man hat daher die
Auswahl, zu ſehen, welcher von beyden ſich am leich-
teſten beweiſen laſſe. Ein Vortheil, der bey allge-
mein bejahenden Saͤtzen uͤberhaupt nicht angeht.
§. 347.
Bisher haben wir den Fall betrachtet, wo der
Satz ſelbſten bewieſen oder herausgebracht wird.
Dieſe Art zu beweiſen nennt man die gerade oder
directe Art, Demonſtratio directa, oder oſtenſiua.
Es iſt dieſes aber gar nicht allemal nothwendig, ſon-
dern der Schlußſatz kann auf mehrerley Arten von
einem andern Satze ſo abhaͤngen, daß wenn man
ſich von des letztern Wahrheit oder Falſchheit verſi-
chert hat, der erſtere zugleich auch erwieſen iſt, wie
z. E. bey unmittelbaren Folgen.
§. 348.
Hieher gehoͤrt aber vornehmlich, daß, wenn
ein Satz wahr iſt, das Gegentheil deſſelben
nothwendig falſch ſeyn muͤſſe, Man hat dem-
P 2nach
[228]VI. Hauptſtuͤck,
nach gewiſſermaaßen die Wahl, ob man den Satz
beweiſen, oder das Gegentheil umſtoßen will. Wie-
wohl nicht in allen Faͤllen beydes gleich leicht oder
gleich natuͤrlich iſt, weil es darauf ankoͤmmt, ob
man zu einem Satze leichter ſeine Gruͤnde fin-
det, oder ob man aus ſeinem Gegentheil leich-
tere Folgen ziehen kann, die ins Ungereimte
fallen? Letzteres nennt man Deductio ad abſurdum,
Demonſtratio apogogica,die Umſtoßung des
Gegentheils. Z. E.
Ein falſcher Satz kann nicht bewieſen
werden. Denn man ſetze, er laſſe ſich bewei-
ſen, ſo wird er aus wahren Vorderſaͤtzen und
richtiger Form geſchloſſen werden. Aber was
man aus wahren Vorderſaͤtzen und richtiger
Form ſchließt, iſt gleichfalls wahr; Demnach
muͤßte der Schlußſatz wahr und falſch zugleich
ſeyn. Da nun dieſes ungereimt iſt, ſo folgt,
daß ein falſcher Satz ſich nicht beweiſen laſſe.
§. 349.
Wir haben hiebey vornehmlich die verſchiedenen Ar-
ten des Gegentheils zu unterſuchen. Jm eigentlich-
ſten Verſtande betrifft es das Praͤdicat eines Satzes.
Wird daſſelbe von eben dem Subject und in gleichem
Sinne zugleich bejaht und verneint, ſo heißt dieſes
ein Widerſpruch, und von beyden Saͤtzen iſt noth-
wendig nur einer wahr. (§. 144.) Z. E. es iſt un-
moͤglich, daß eine gerade Linie nicht gerade ſey. Da-
her iſt von den Saͤtzen: Dieſe Linie iſt durchaus gera-
de, und eben dieſe Linie iſt nicht gerade: nothwendig
nur einer wahr, und beyde werden zugleich eroͤrtert,
es ſey, daß man den wahren directe erweiſe, oder den
falſchen aufs Ungereimte bringe, indem man zeigt,
daß er mit der Wahrheit nicht beſtehen kann. Und
beſon-
[229]von den Beweiſen.
beſonders wird der erſte umgeſtoßen, wenn man zeigt,
daß auch nur ein Theil der Linie nicht gerade ſey.
Eben ſo: dieſe Nachricht iſt durchaus gegruͤndet, und:
Eben dieſe Nachricht iſt durchaus ungegruͤndet, oder
nicht durchaus gegruͤndet. Jeder der beyden letzten
Saͤtzen macht den erſten falſch, ſo weit er reicht, der
erſtere, naͤmlich durchaus, der andre wenigſtens
zum Theil.
§. 350.
Ferner ſind, wie wir oben geſehen haben, (§. 143.)
die drey Saͤtze:
- Alle A ſind B
- Nur etliche A ſind B
- Kein A iſt B
dergeſtalt einander entgegen geſetzt, daß nothwendig
nur einer derſelben wahr iſt. Wird demnach der eine
bewieſen, ſo fallen die beyden andern weg: Oder wer-
den zween umgeſtoßen, ſo iſt die Wahrheit des drit-
ten erwieſen. Beſonders aber, wenn der erſte oder
dritte, und folglich die Allgemeinheit eines bejahen-
den oder verneinenden Satzes zu beweiſen iſt, ſo
zeigt man nur, daß jede Ausnahme ins Ungereimte
falle.
§. 351.
Der dritte Fall koͤmmt uͤberhaupt bey Einthei-
lungen, und beſonders bey zweygliedrigern vor.
Denn da die Glieder einer Eintheilung einander ſo
entgegengeſetzt ſind, daß ſie einander ausſchließen, ſo
darf man nur wiſſen, daß z. E. A unter die Gattung
D gehoͤre, deren Arten C, E ſind, ſo wird von fol-
genden Saͤtzen:
- 1. Alle A ſind entweder C oder E
- 2. Etliche A ſind C, die uͤbrigen E
nothwendig einer wahr ſeyn. (§. 97.) Laͤßt ſich nun
P 3der
[230]VI. Hauptſtuͤck,
der wahre nicht wohl directe beweiſen, ſo ſucht man
den andern umzuſtoßen.
§. 352.
Die apogogiſchen Beweiſe haben immer etwas
viel nothwendigeres als die directen, weil ſie die Un-
moͤglichkeit oder Ungereimtheit des Gegentheils dar-
thun, und eben dadurch den Satz ſelbſt nothwen-
dig wahr machen, es ſey, daß das Gegentheil an
ſich, oder unter vorausgeſetzten Bedingungen un-
moͤglich oder ungereimt ſey. Man gebraucht ſie aber
gemeiniglich bey identiſchen Saͤtzen, die naͤmlich auch
umgekehrt allgemein wahr bleiben. Und hiebey giebt
es fuͤr verſchiedne Faͤlle allgemeine Formeln, die wir
hier voraus anzeigen wollen, um ſodann die uͤbrigen
Faͤlle, die nicht ſchlechthin von der Form unſrer Er-
kenntniß abhaͤngen, beſonders zu betrachten.
§. 353.
Die erſte Formel betrifft allgemein verneinende
Saͤtze. Denn hat man den Satz: KeinAiſtB,
bewieſen, ſo kann der umgekehrte Satz ſo bewieſen
werden:
KeinBiſtA. Man ſetze: Etliche B ſeyn A,
da nun kein A, B iſt (vermoͤge des directen Sa-
tzes) ſo ſind dieſe etliche B, die A ſind, nicht B.
Da nun dieſes ungereimt iſt, ſo iſt es falſch,
daß etliche A, B ſeyn: folglich iſt kein A, B.
§. 354.
Die andre Formel betrifft allgemein bejahende
Saͤtze, wenn man das Subject von dem Termino
infinito des Praͤdicats laͤugnet. Der Satz: Alle
AſindB: ſey erwieſen, ſo kann man ſo ſchließen:
Was nichtBiſt, iſt nichtA. Denn man
ſetze, es ſey A, folglich: Was nicht B iſt, iſt
A: Nun aber alle A ſind B (vermoͤge des dire-
cten
[231]von den Beweiſen.
cten Satzes) folglich: Was nicht B iſt, iſt B.
Da nun dieſes ungereimt iſt, ſo iſt es falſch, daß
was nicht B iſt, A ſey: Demnach, was nicht
B iſt, iſt nicht A.
§. 355.
Die dritte Formel betrifft wiederum allgemein
bejahende Saͤtze, wenn man ſie in particularbejahen-
de umgekehrt. Der Satz: AlleAſindB, ſey er-
wieſen, ſo laͤßt ſich nach folgender Formel ſchließen:
EtlicheBſindA: Denn laͤugnet man dieſes;
ſo ſey kein B, A. Da nun alle A, B ſind (ver-
moͤge des directen Satzes) ſo folgt, daß kein A,
A ſey. Da nun dieſes ungereimt iſt, ſo iſt falſch,
daß kein B, A ſey: Demnach ſind wenigſtens
etliche B, A.
§. 356.
Man wird fuͤr particularbejahende Saͤtze eine
aͤhnliche Formel finden, wodurch bewieſen wird, daß
ſie ſich particularbejahend umkehren laſſen. Wir hal-
ten uns aber damit nicht auf, weil wir dieſe drey
Formeln vielmehr als Beyſpiele apogogiſcher Beweiſe
angefuͤhrt haben; als aber, daß man ſie in vorkom-
den Faͤllen wirklich gebrauchen ſollte, weil die Zulaͤſ-
ſigkeit der Umkehrung der Saͤtze, und wie weit ſie
aus der bloßen Form erkannt und vorgenommen wer-
den kann, ſich unmittelbar auf die Natur der Saͤtze
gruͤndet, und ſo oft man ſie nicht weiter ausdehnt,
ohne fernern Beweis vorgenommen werden kann.
§. 357.
Eben ſo giebt es Faͤlle, wo ein Beweis nur den
Schein eines apogogiſchen Beweiſes hat. Z. E. um
zu beweiſen, daß A nicht B ſey, kann man ſo ſchließen:
A iſt nicht B. Denn wenn A, B waͤre, ſo muͤßte
P 4A, C
[232]VI. Hauptſtuͤck,
A, C ſeyn; Nun aber iſt A nicht C, folglich
kann es auch nicht B ſeyn.
Es iſt aber dieſer Beweis nur ein verſteckter
Schluß in Cameſtres. Denn man darf ſtatt des hy-
pothetiſchen Satzes nur den Grund ſeiner Ausſage
nehmen, ſo wird man den foͤrmlichen Schluß haben:
- B iſt C
- A iſt nicht C
- folglich: A iſt nicht B.
welcher gar nichts apogogiſches an ſich hat. Man
ſieht leicht, daß ſich alle Schluͤſſe in Ceſare und Ca-
meſtres auf die erſt angezeigte Art vortragen laſſen.
Will man ſie aber fuͤr apogogiſch gelten laſſen, ſo wird
man ſo viele apogogiſche Beweiſe machen koͤnnen, als
Schluͤſſe in Ceſare und Cameſtres moͤglich ſind.
§. 358.
Wir koͤnnen zum Behuf deſſen noch anmerken,
daß ſich mit Umkehrung eines Satzes die Schluͤſſe in
Ceſare und Cameſtres in der That in eine Form brin-
gen laſſen, die der apogogiſchen viel naͤher koͤmmt,
und um deſto eher dieſen Namen verdienen wird.
Dieſe Form, um bey erſtgegebenem Schluſſe zu blei-
ben, wird folgende ſeyn:
A iſt nicht B. Man ſetze, A ſey B. Nun iſt
B, C, folglich wird A, C ſeyn. Aber kein C iſt
A, folglich iſt A nicht A, welches offenbar un-
gereimt, und daher auch falſch iſt, daß A, B
ſey. Demnach iſt A nicht B.
§. 359.
Auf eine aͤhnliche Art giebt jeder Schluß in Ce-
ſare
- Kein B iſt C
- Alle A ſind C
- Kein A iſt B
einen
[233]von den Beweiſen.
einen apogogiſchen Beweis, wenn man die Schluß-
art Calentes dazu gebraucht. Die Formel iſt fol-
gende:
A iſt nicht B. Denn laͤugnet man es, ſo ſey
A, B. Da nun kein B, C iſt: ſo wird kein C,
A ſeyn. Aber A iſt C; folglich A iſt nicht A.
Da nun dieſes ungereimt iſt: ſo iſt die Voraus-
ſetzung falſch, folglich iſt A nicht B.
Dieſe Formel wird kuͤrzer und deutlicher ſo vorge-
tragen:
A iſt nicht B. Denn wenn A, B waͤre, ſo
koͤnnte es nicht C ſeyn, weil kein B, C iſt. Nun
aber A iſt C; folglich kann es nicht B ſeyn.
§. 360.
Laſſen wir demnach dieſe Formeln fuͤr apogogiſch
gelten, ſo erhellet auch hieraus wiederum, daß die
Schluͤſſe der zweyten Figur eben nicht ſo unbrauchbar
noch ungewoͤhnlich ſind, als man ſie ausgeben wollte,
(§. 220.) weil die erſte Formel des §. 357. und die
zweyte des §. 359. offenbar Schluͤſſe in Cameſtres
und Ceſare enthalten, und beſonders letztere in andre
Figuren ſehr unſchicklich iſt.
§. 361.
Nehmen wir hiebey wiederum die Anmerkung her-
fuͤr, daß die Schluͤſſe der zweyten Figur uns auf
den Unterſchied der Dinge fuͤhren, (§. 226.) ſo
folgt daraus, daß der Unterſchied der Dinge
apogogiſch koͤnne bewieſen werden. Und hie-
durch haben wir wenigſtens einen der Faͤlle characteri-
ſirt und kenntlich gemacht, wobey ſich apogogiſche
Beweiſe gebrauchen laſſen.
§. 362.
Die dritte Figur giebt an ſich betrachtet keinen
apogogiſchen Beweis. Jhre Schluͤſſe koͤnnen aber
P 5ver-
[234]VI. Hauptſtuͤck,
vermittelſt eines zuſammengeſetzten Schluſſes der
zweyten Figur, welcher in Diprepe oder Perdipe
ſeyn wird, (§. 283. 284.) in die Form apogogiſcher
Beweiſe gebracht werden. Z. E. der Schluß ſey:
- C iſt B.
- C iſt A.
- folgl. Etliche A ſind B.
Dieſer kann ſo vorgetragen werden:
Es giebtA,dieBſind. Denn wenn dieſes
falſch waͤre, ſo muͤßte C entweder nicht A oder
nicht B, oder weder A noch B ſeyn. Nun aber
iſt C ſo wohl A als B; daher iſt die Voraus-
ſetzung falſch, und einige A ſind B.
Hier iſt der Schluß, welcher die Ungereimtheit an-
zeigt, folgender:
- C iſt entweder nicht A oder nicht B, oder weder A
noch B. - aber C iſt ſowohl A als B.
- folgl. C iſt nicht C.
Das disjunctive Mittelglied in dem Oberſatz beſteht
aus Terminis infinitis, und daher iſt es in dem Un-
terſatze collectiv, da es ſonſt remotiv waͤre, wie es die
Schlußart Diprepe erfordert, die folglich hier etwas
verſteckter iſt.
§. 363.
Man kann auf eine aͤhnliche Art jedem Schluße
die Form eines apogogiſchen Beweiſes geben. Denn
wer den Schlußſatz laͤugnet, muß nothwendig einen
oder den andern Vorderſatz, oder beyde laͤugnen, ſo
oft die Form richtig iſt. Jſt nun aber die Form
richtig, und jeder Vorderſatz erwieſen, ſo faͤllt auch
das Laͤugnen des Schlußſatzes weg, und er bleibt wahr.
Man ſieht aber auch hieraus, daß die Ungereimtheit
ebenfalls durch einen zuſammengeſetzten Schluß der
zweyten
[235]von den Beweiſen.
zweyten Figur, und beſonders in Diprepe vorkoͤmmt,
und daß dieſe Art zu ſchließen von einem Dilemma
wenig verſchieden iſt. (§. 289.
§. 364.
Wenn wir den Begriff eines apogogiſchen Be-
weiſes in dem vorhin (§. 358. ſeqq.) angenommenen
weitern Umfang nehmen, ſo laͤßt er ſich in zwo Arten
theilen, die in der That ſchon ſeit dem Euclid an,
bey den Mathematikern unterſchieden worden ſind, als
welche auch hierinn die oben ſchon angeruͤhmte Ge-
nauigkeit (§. 149 ſeqq. 163 ſeqq.) beobachten. Um
dieſen Unterſchied deutlich aufzuklaͤren, wollen wir
anmerken, daß die Mathematiker ihre meiſten Lehr-
ſaͤtze in der Form von hypothetiſchen Saͤtzen vortra-
gen, wie wir dieſe oben (§. 132.) angegeben haben.
Naͤmlich ein ſolcher Satz ſey:
- Wenn A, B iſt: ſo iſt C, D.
ſo laͤßt ſich B nur particular von A bejahen, weil nicht
alle A die Beſtimmung B haben. Dieſes vorausge-
ſetzt, ſo giebt es nun zwo Arten, dieſen Satz apogo-
giſch zu beweiſen. Jn beyden nimmt man das Ge-
gentheil der Ausſage an, und ſetzt: C ſey nicht D.
Folgt nun hieraus ein Satz, der entweder einem
Grundſatz, oder einer Erfahrung, oder einem bereits
erwieſenen Satze widerſpricht, oder der ſich ſelbſten
widerſpricht, ſo hat man das angenommene Gegen-
theil der Ausſage im eigentlichen und engſten Verſtan-
de aufs ungereimte gebracht, und in dieſen Faͤllen
gebraucht Euclid und mit ihm die Mathematiker
das: Quod eſt abſurdum; und in practiſchen Faͤllen
das: Quod fieri nequit, oder auch: Quod eſt contra
propoſitionem iam demonſtratam.Euclid ſelbſt
leitet die meiſten Saͤtze, die er aufs Ungereimte bringt,
dahinaus, daß er zeigt, ein Theil muͤßte groͤßer als
das
[236]VI. Hauptſtuͤck,
das Ganze ſeyn, deſſen Theil er iſt. Jn dieſen Faͤllen
liegt demnach das Ungereimte oder Widerſprechende in
dem angenommenen Gegentheil der Ausſage. Es kann
bey der angenommenen Hypotheſe nicht ſtatt haben,
weil es bereits ausgemachten Wahrheiten wi-
derſprechen wuͤrde. So iſt das oben (§. 348.) gege-
bene Beyſpiel. Denn wenn ein falſcher Satz ſich
koͤnnte beweiſen laſſen, ſo wuͤrde daraus folgen, daß
man aus wahren Vorderſaͤtzen und richtiger Form
einen falſchen Schlußſatz herausbringen koͤnnte; wel-
ches aber gar nicht angeht.
§. 365.
Der andre Fall iſt, wenn man aus dem ange-
nommenen Gegentheil etwas folgert, das zwar an
ſich betrachtet ſeyn koͤnnte, aber der vorausgeſetzten
Bedingung widerſpricht. Und da ſagt man, quod
eſt contra hypotheſin,es laufe der vorausge-
ſetzten Bedingung zuwider, und folglich gehe in
dieſem Fall das Gegentheil der Ausſage nicht an. Und
dieſes iſt zu dem Beweis des bedingten Satzes genug,
wenn auch ſchon dieſes Gegentheil unter einer andern
Bedingung ſtatt findet. Z. E. Wenn der Oberſatz
in der erſten Figur verneinend iſt, ſo iſt auch der
Schlußſatz verneinend. Denn wenn dieſer bejahend
iſt, ſo muß ſein Praͤdicat auch von dem Mittelgliede,
folglich von dem Subjecte des Oberſatzes bejaht wer-
den. Demnach waͤre der Oberſatz bejahend. Da nun
dieſes die Bedingung, daß der Oberſatz verneinend iſt,
umſtoͤßt, ſo folgt, daß der Schlußſatz verneinend ſeyn
muͤſſe. Jn dieſem Beyſpiele laͤuft demnach das
Gegentheil der Ausſage nur wider die Bedingung,
ohne daß es an ſich unmoͤglich ſey.
§. 366.
[237]von den Beweiſen.
§. 366.
Ungeachtet man nun im letzten Fall nur die Bedin-
gung umſtoͤßt, wenn man das Gegentheil der Aus-
ſage annimmt, im erſtern aber eine bereits ausge-
machte Wahrheit; ſo wird doch auch im erſten Fall
die Bedingung mit umgeſtoßen. (§. 269 ſeqq.) Denn
es ſey der Satz:
- Wenn A, B iſt, ſo iſt C, D.
wahr, ſo iſt auch der Satz:
- Wenn C nicht D iſt: ſo iſt auch A nicht B.
nothwendig wahr. Sagt man nein, ſo wird ſich
folgender Schluß machen laſſen:
- Wenn C nicht D iſt: ſo iſt A, B.
- Aber wenn A, B iſt, ſo iſt C, D.
- Folglich wenn C nicht D iſt: ſo iſt C, D.
Nun iſt der Schlußſatz ungereimt, der Unterſatz zuge-
geben, folglich der Oberſatz falſch, und demnach laͤßt
ſich der Satz:
- Wenn C nicht D iſt: ſo iſt A nicht B.
nicht umſtoßen. Demnach, wenn die Ausſage eines
bedingten Satzes gelaͤugnet wird, ſo wird auch die
Bedingung gelaͤugnet.
§. 367.
Hieraus folgt, daß ſich der erſte Fall (§. 364.)
in den zweyten (§. 365.) uͤberhaupt betrachtet, ver-
wandeln laſſe, indem man naͤmlich den apogogiſchen
Beweis ſo einrichtet, daß die Folge, die man aus dem
Gegentheil der Ausſage zieht, und welche im erſten
Fall einer ausgemachten Wahrheit widerſpricht, ſo
gezogen werde, daß ſie der Bedingung widerſpreche.
Es hebt aber die Moͤglichkeit dieſer Verwandlung den
Unterſchied der beyden Faͤlle (§. 364. 365.) nicht auf,
weil jeder derſelben, eben ſo wie alle Schlußarten in
beſondern Umſtaͤnden natuͤrlicher und ungezwungener
gebraucht werden kann. Der Unterſchied zwiſchen
beyden
[238]VI. Hauptſtuͤck,
beyden Faͤllen wird ſich durch dieſe Formel zeigen. Der
Satz ſey:
- Wenn A, B iſt: ſo iſt C, D.
Soll dieſer apogogiſch bewieſen werden, ſo beweiſt
man entweder den Satz:
- Wenn C nicht D waͤre: ſo wuͤrde A nicht B
ſeyn,
und durch dieſen Beweis wird folglich die Bedingung
des erſten Satzes umgeſtoßen. Oder aber man
ſchließt ſo:
- Wenn C nicht D iſt; ſo iſt E nicht F.
- Wenn E nicht F iſt; ſo iſt G nicht G.
und damit verfaͤllt man auf offenbare Widerſpruͤche.
Man ſchließt demnach, daß C, D ſeyn muͤſſe, wenn
die Bedingung: AiſtB, ſtatt hat.
§. 368.
Wir haben bisher geſehen, daß die zweyte Figur
an ſich ſchon (§. 358 ſeqq.) die uͤbrigen Figuren ver-
mittelſt der zweyten (§. 362. 363.) apogogiſche Be-
weiſe geben koͤnnen, und folglich auch allgemein beja-
hende Saͤtze ſich apogogiſch beweiſen laſſen, wenn man
die Schluͤße in Barbara, Caſpida, Saccapa, Diſpaca,
nach der vorhin (§. 363.) gegebenen Anweiſung in
die Form apogogiſcher Beweiſe verwandelt. Es ver-
dienen aber unter den bejahenden Saͤtzen die identi-
ſchen eine beſondre Aufmerkſamkeit. Denn da dieſe
auch umgekehrt allgemein bleiben (§. 124.) ſo laſſen ſie
ſich, ſo oft es nicht Grundſaͤtze ſind (§. 146.) gerade
und umgekehrt beweiſen, und gemeiniglich iſt einer
dieſer Beweiſe apogogiſch, indem man aus dem Ge-
gentheil des umgekehrten Satzes etwas herleitet, wel-
ches dem directen widerſpricht: Z. E.
Der directe Satz ſey: alle A ſind B. Der um-
gekehrte alle B ſind A. Erſterer ſey bewieſen, ſo
kann
[239]von den Beweiſen.
kann letzterer ſo bewieſen werden. Wenn nicht
alle B, A ſind; ſo werden einige B nicht A ſeyn,
und dieſes waͤren die B, welche C ſind. Folglich
waͤre kein C, A. Aber alle B ſind C. Demnach
waͤre kein B, A, und folglich kein A, B. Dieſes
widerſpricht dem directen Satz, folglich muͤſſen
alle B, A ſeyn.
§. 369.
Um dieſes aber umſtaͤndlicher auseinander zu ſe-
tzen, ſo werden wir anfangen zu zeigen, daß wenn
ein identiſcher Satz durch eine Schlußrede be-
wieſen wird, auch die beyden Vorderſaͤtze iden-
tiſch ſeyn muͤſſen, und hinwiederum, wenn die
Vorderſaͤtze identiſch ſind, auch der Schlußſatz
identiſch ſey. Man ſieht leicht, daß dieſe beyden
Saͤtze, und ihre Beweiſe Beyſpiele zu unſrer derma-
ligen Betrachtung ſind, und daß man folglich aus
gedoppelten Gruͤnden darauf zu achten habe.
§. 370.
Unter dieſen zwey Saͤtzen laͤßt ſich der letzte leich-
ter und directe erweiſen. Naͤmlich: Wenn beyde
Vorderſaͤtze identiſch ſind, ſo iſt es auch der
Schlußſatz.
I.Beweis.
Die beyden Saͤtze ſeyn:
- A iſt B.
- A iſt C.
Da ſie nun identiſch ſind, ſo laſſen ſie ſich allgemein
umkehren, daher haben wir folgende zwo Schluß-
reden:
[240]VI. Hauptſtuͤck,
Da nun der Schlußſatz gerade und umgekehrt allge-
mein bleibt, ſo iſt derſelbe identiſch. Und dieſes war
zu beweiſen.
II.Beweis.
Jdentiſche Saͤtze haben Subject
und Praͤdicat von gleicher Ausdehnung: Demnach
(§. 181.)
Da nun B und C ebenfalls gleiche Ausdehnung ha-
ben, ſo iſt der Schlußſatz: B iſt C, oder C iſt B,
identiſch.
§. 371.
Der umgekehrte Satz iſt: Wenn der Schluß-
ſatz identiſch iſt, ſo ſind es auch die beyden Vor-
derſaͤtze.
I.Beweis:
Der Schluß ſey.
- M iſt B.
- B iſt M.
- A iſt B.
Waͤre nun der Oberſatz nicht identiſch, ſo waͤre B ein
allgemeiner Begriff als M (§. 124.) Da nun der
Unterſatz allgemein bejahend iſt, ſo kann A nicht allge-
meiner als M ſeyn; folglich iſt auch B allgemeiner als
A: welches der Bedingung, daß der Schlußſatz iden-
tiſch ſey, zuwiderlauft. Ferner, wenn der Unterſatz
nicht identiſch waͤre, ſo waͤre M ein allgemeinerer Be-
griff, denn A, und folglich, da der Oberſatz allgemein
bejahend iſt, wuͤrde auch B ein allgemeinerer Begriff als
A ſeyn: Welches ebenfalls der vorausgeſetzten Bedin-
gung zuwider liefe. Demnach muͤſſen beyde Vorder-
ſaͤtze identiſch ſeyn.
II.Be-
[241]von den Beweiſen.
II.Beweis.
Der Schluß wird uͤberhaupt ſo ge-
zeichnet (§. 209.)
Man ſetze nun, die Oberſaͤtze ſeyn nicht identiſch, ſo
iſt die Zeichnung nothwendig dieſe:
Daraus folgt nun, daß zwar alle A, B; aber nicht
alle B, A ſind: Folglich waͤre der Schlußſatz nicht
identiſch, welches der Bedingung zuwiderlaͤuft.
§. 372.
Wir haben die Beweiſe des zweyten oder umge-
kehrten Satzes apogogiſch vorgetragen. Er laͤßt
ſich aber auch directe beweiſen, welches wir, um den
Unterſchied anzuzeigen, noch thun wollen. Der
Schluß ſey:
- M iſt B
- A iſt M
- A iſt B.
Da nun der Schlußſatz, vermoͤge der Bedingung iden-
tiſch iſt, ſo gehen folgende zween Schluͤſſe an:
Jn dieſen ſind nun beyde Vorderſaͤtze des erſten
Schluſſes gerade und umgekehrt: Gerade in den
Vorderſaͤtzen, und umgekehrt in der Folge. Demnach
ſind ſie identiſch.
§. 373.
Wir haben die Schluͤſſe in Barbara vorgetragen,
weil allgemein bejahende Schlußſaͤtze dieſe Form
Lamb. Org. I. Band. Qerfor-
[242]VI. Hauptſtuͤck,
erfordern. (§. 219.) Die Folge, die wir nun aus
allem dieſem ziehen, iſt, daß identiſche Saͤtze in
jeden Wiſſenſchaften eine beſondre Klaſſe aus-
machen, und unter ſich auf eine unmittelbare,
und von den uͤbrigen Saͤtzen unabhaͤngende
Art, verflochten ſind. Denn ſind die Vorderſaͤtze
identiſch, ſo iſt es der Schlußſatz auch, und ein iden-
tiſcher Schlußſatz kann hinwiederum nur aus identi-
ſchen Vorderſaͤtzen fließen, oder man muß wenigſtens
von nicht identiſchen Saͤtzen ſo viele zuſammenneh-
men, daß der Begriff, den man dadurch beſtimmt,
mit einem andern vorgegebenen Begriffe identiſch
werde, und der daraus entſtehende Satz als Vor-
derſatz dienen koͤnne, wenn der Schlußſatz identiſch
ſeyn ſoll. Es iſt demnach offenbar, daß wenn in
einer Wiſſenſchaft identiſche Saͤtze vorkommen ſollen,
ſchon unter den erſten Grundſaͤtzen ſich ſolche finden
muͤſſen.
§. 374.
Hieraus folgt ferner, daß, wenn ein identi-
ſcher Satz directe bewieſen iſt, derſelbe umge-
kehrt, ohne viele Muͤhe, bewieſen werden koͤnne.
Denn da die Vorderſaͤtze in dem Beweis identiſch
ſind, ſo duͤrfen ſie nur umgekehrt werden. Z. E.
Der letzte Schluß im directen Beweiſe ſey:
- M iſt B
- A iſt M
- A iſt B.
ſo ſind die Vorderſaͤtze identiſch, folglich laͤßt ſich
ohne weiteres der Schluß machen:
- M iſt A
- B iſt M
- B iſt A
und
[243]von den Beweiſen.
und ſo iſt der umgekehrte Satz erwieſen. Es iſt aber
fuͤr ſich klar, daß die Jdentitaͤt der Vorderſaͤtze vor-
aus muͤſſe bewieſen ſeyn. Denn ſonſt wuͤrde dieſer
zweyte Schluß nicht ſo unmittelbar gezogen werden
koͤnnen.
§. 375.
Man kann aber hinwiederum, wenn man, ohne
es voraus zu ſehen, auf einen Schlußſatz verfaͤllt,
von welchem man einſieht, daß er auch umgekehrt
wahr ſey, veranlaßt werden, das identiſche in den
Vorderſaͤtzen aufzuſuchen. Und dieſes iſt um deſto
mehr anzurathen, weil identiſche Saͤtze in ihrem Ge-
brauche doppelt weiter reichen, als ſolche, die ſich nicht
umkehren laſſen. (§. 128.) Oefters ſind auch die
umgekehrten Saͤtze ungleich wichtiger, als die directen.
Wir koͤnnen an den beyden erſt erwieſenen (§. 369
ſeqq.) eine Probe davon ſehen. Der directe iſt:
Daß identiſche Vorderſaͤtze einen identiſchen
Schlußſatz geben. Aus dieſem folgt weiter nichts,
als, daß der Schlußſatz umgekehrt allgemein bleibe.
Hingegen der andre oder umgekehrte Satz: Daß
naͤmlich ein identiſcher Satz nur aus identi-
ſchen Vorderſaͤtzen bewieſen werden koͤnne,
dehnt ſich ſchon weiter aus, weil er, ſo bald er directe
durch eine Schlußrede bewieſen wird, nothwendig
folgern laͤßt, daß beyde Vorderſaͤtze der Schlußrede
auch umgekehrt allgemein bejahend bleiben.
§. 376.
Die Jdentitaͤt eines Satzes laͤßt ſich auf verſchied-
ne Arten ausdruͤcken, und in ſo fern auch auf ver-
ſchiedne Arten beweiſen. Die Formeln des Aus-
drucks ſind folgende:
- I. A iſt B, und hinwiederum B iſt A.
- II. A allein iſt B.
Q 2III.
[244]VI. Hauptſtuͤck,
- III. A iſt B, und was nicht A iſt, iſt nicht B.
- IV. A laͤßt ſich an B erkennen.
- V. A iſt B, und B iſt ein Indiuiduum.
- VI. A iſt B, und B iſt ein niedrigerer Begriff, als A.
Unter dieſen Formeln ſind die vier erſten vor ſich klar,
die fuͤnfte und ſechſte aber erhellet daraus, daß das
Praͤdicat eines allgemein bejahenden Satzes nicht ein
niedrigerer Begriff ſeyn oder mehrere Merkmaale ent-
halten kann, als das Subject, es ſeyn denn Subject
und Praͤdicat Wechſelbegriffe, oder das Subject ein
eigenes Merkmaal von dem Praͤdicat.
§. 377.
Ferner fordert unter dieſen Formeln die zweyte,
welche die Jdentitaͤt des Satzes zugleich mit ſeiner
Allgemeinheit anzeigt, faſt nothwendig einen apogogi-
ſchen Beweis. Denn wenn man ſagt: Aallein iſt
B, ſo muß man zeigen, daß B keinem andern Subjecte
zukomme, folglich muß man damit anfangen, zu un-
terſuchen, welchen andern Subjecten es etwann noch
zukommen koͤnnte; und von dieſen muß man es aus-
ſchlieſſen. Man nimmt daher eine hoͤhere Gattung
von A, ſo, daß man gewiß wiſſe, oder zeigen koͤnne,
daß B außer dieſer Gattung nirgends zu finden ſey.
Dieſe Gattung ſey C, und die Nebenarten des A ſeyn
E, F; ſo koͤmmt der Beweis auf folgende Saͤtze an:
- I. Was nicht C iſt, iſt nicht B.
- II. Folglich iſt entweder C oder eine ſeiner Ar-
ten allein B. - III. Nun iſt C entweder A oder E oder F.
- IV. Aber weder E noch F iſt B.
- V. Demnach iſt A allein B.
Geht dieſer letzte Satz noch nicht an, ſo muß A wie-
derum in niedrigere Arten eingetheilt werden. Auf
dieſe Weiſe wird man z. E. finden, daß die Schlußart
in
[245]von den Beweiſen.
in Barbara allein allgemein bejahend ſchließe. Denn
erſtlich fallen die drey letzten Figuren, und ſodann in
der erſten Figur die drey letzten Schlußarten weg,
und ſo bleibt nur die in Barbara. Wir merken noch
an, daß in erſtgegebener Formel der letzte Satz richtig
ſeyn wird, ſo oft man beweiſet, daß alle A, B ſeyn.
Denn ſo ſind ſie es nothwendig allein, weil nach dem
erſten Satz B außer C gar nicht, und nach dem vier-
ten in keiner andern Art deſſelben, als in A zu finden.
Man hat demnach nur noch zu beweiſen, daß B von
allen A gelte. Ueberhaupt hat der hier betrachtete
Fall mit dem zweyten des §. 332. viel aͤhnliches, und
iſt nur darinn beſtimmter, daß hier ein identiſcher Satz
heraus gebracht wird.
§. 378.
Tragen wir nun den hier angezeigten Beweis in
ſeiner behoͤrigen Form vor, ſo wird er folgender ſeyn:
- Alle B ſind C
- C iſt entweder A oder E oder F.
- Nun weder E noch F iſt B.
- Folglich B iſt A.
- Demnach wenn alle A, B ſind, ſo iſt A allein B;
oder B und C ſind Wechſelbegriffe.
§. 379.
Man kann ferner apogogiſche Beweiſe gebrau-
chen, ohne ſich um die Wahrheit der Saͤtze, die man
dazu gebraucht, vorlaͤufig zu bekuͤmmern, weil der
Widerſpruch, den man dadurch heraus bringt, immer
ein Widerſpruch iſt. Dieſes iſt auch der gewoͤhnliche
Weg, durch welchen wir bey der Vergleichung unſrer
Gedanken anfangen zu merken, daß in ein und andern
Stuͤcken etwas irriges mit unterlaufe, oder noch zu-
ruͤck bleibe. Um dieſes durch ein an ſich offenbares
Beyſpiel zu erlaͤutern, wollen wir ſetzen, jemand habe
folgende drey Saͤtze:
Q 31. Ein
[246]IV. Hauptſtuͤck,
- 1. Ein Viereck iſt eine Figur.
- 2. Ein Triangel iſt ein Viereck.
- 3. Ein Triangel iſt keine Figur.
bisher fuͤr wahr gehalten, und da ſie ihm ſaͤmmtlich
beyfallen, ſo fange er an, ſie unter einander zu ver-
gleichen:
- 1. Aus den beyden erſten folgt durch einen
Schluß in Barbara, daß ein Triangel eine
Figur ſey, und dieſes ſtoͤßt den dritten
Satz um. - 2. Hingegen aus dem erſten und dritten folgt,
durch einen Schluß in Cameſtres, daß ein
Triangel kein Viereck ſey: Und dieſes ſtoͤßt
den zweyten Satz um. - 3. Endlich aus dem dritten und zweyten Satze
folgt durch einen Schluß in Felapton, daß
etliche Vierecke keine Figuren ſind; und dieſes
ſtoͤßt den erſten Satz zum Theil um.
Dieſe Widerſpruͤche gruͤnden ſich ſchlechthin auf die
Form der Saͤtze, und zeigen demnach ſo viel an, daß
etwas irriges darinn ſeyn muͤſſe, aber nicht, worinn
es beſtehe? Die Redensart, ſo man in dergleichen
Faͤllen gebraucht, iſt, daß man ſagt: Man koͤnne
dieſe Saͤtze nicht zuſammen reimen. Und in
der That muß man aus andern Gruͤnden ausmachen,
welche darunter wahr oder falſch ſind? Denn aus
der bloßen Form laͤßt ſich nur ſchließen, daß we-
nigſtens nicht alle wahr ſeyn koͤnnen, weil ſie auf Wi-
derſpruͤche fuͤhren. Man muß daher, wenn man in
ſeinen eignen Vorſtellungen, oder in denen von an-
dern mit ſeinen eignen verglichen, Widerſpruͤche findet,
behutſam verfahren, wenn man entſcheiden will, wel-
che unter dieſen Vorſtellungen den Widerſpruch ver-
anlaſſen, und folglich geaͤndert werden muͤſſen. Eben
ſo
[247]von den Beweiſen.
ſo kann man andern, wenn ſie einander zuwiderlau-
fende Meynungen behaupten, zeigen, daß ſie ſich ſelbſt
widerſprechen, aber aus dem bloßen Widerſpruch
laſſen ſich die wahren Saͤtze von den falſchen nicht
unterſcheiden. Man muß wenigſtens von den wahren
ſo viele wiſſen, als zureicht, die irrigen dadurch zu
erkennen.
§. 380.
Vergleichen wir nun die directen Beweiſe mit den
apogogiſchen, ſo findet ſich, daß in den erſtern von
dem Gegentheil des Satzes, der bewieſen werden ſoll,
keine Rede iſt; und daß hingegen im andern das Ge-
gentheil ſchlechthin widerlegt wird, indem man zeigt,
daß es die Bedingung, oder eine bereits ausgemachte
Wahrheit umſtoße. Man ſieht leicht, daß es eben
nicht noͤthig iſt, einen Satz, der falſch iſt, als ein
Gegentheil zu betrachten. Denn da man zuweilen
noch nicht weis, ob er wahr oder falſch ſey, ſo kann
man ihn bedingungsweiſe annehmen, und Schluͤſſe
daraus ziehen, indem man ihn mit wahren Saͤtzen
zuſammenhaͤngt. Folgt nun etwas Widerſprechendes
daraus, ſo ſtoͤßt dieſes den angenommenen Satz um,
und man macht den Schluß, daß ſein Gegentheil wahr
ſey. Es iſt zwar nicht an ſich nothwendig, daß im-
mer etwas falſches daraus folge, wenn der angenom-
mene Satz falſch iſt. Aber es iſt dennoch an ſich
moͤglich, ſolche Saͤtze damit zu verbinden, die auf einen
falſchen Schlußſatz fuͤhren. So z. E. die beyden
erſten Saͤtze. (§. 379.)
- Ein Viereck iſt eine Figur,
- Ein Triangel iſt ein Viereck,
geben einen wahren Schlußſatz, naͤmlich, daß ein
Triangel eine Figur ſey, ungeachtet der Unterſatz falſch
iſt. Es trifft aber nur deswegen ſo zu, weil das
Q 4Praͤdi-
[248]VI. Hauptſtuͤck,
Praͤdicat des Oberſatzes von dem Subject des Unter-
ſatzes aus andern Gruͤnden bejaht werden kann.
Denn ein Triangel iſt allerdings eine Figur, aber
nicht deswegen, weil er ein Viereck iſt. Denn dieſes
iſt ungereimt. Man ſieht demnach, daß man im
Oberſatz nur haͤtte ein Praͤdicat waͤhlen duͤrfen, das
dem Viereck eigen iſt, ſo wuͤrde der Schlußſatz noth-
wendig falſch geworden ſeyn. Z. E.
- Ein Viereck hat vier Seiten.
- Ein Triangel iſt ein Viereck.
Hier waͤre der Schlußſatz; daß ein Triangel vier
Seiten haben ſoll, zugleich mit dem Unterſatz falſch
geweſen. Man ſehe §. 243 ſeqq.
§. 381.
Da nun in directen Beweiſen nur von dem
Satze ſelbſten, in apogogiſchen nur von ſeinem Ge-
gentheile die Rede iſt, und man im erſtern das Gegen-
theil verwirft, nachdem der Satz ſelbſt bewieſen iſt:
Jm andern aber den Satz annimmt, nachdem das
Gegentheil umgeſtoßen iſt; ſo fragt es ſich, ob es
nicht zwiſchen dieſen beyden Beweiſen ein Mittel
gebe, wobey der Satz und ſein Gegentheil zugleich
vorkomme? Wir reden hier nicht von denen Faͤllen,
da man z. E. anfaͤngt, aus dem Satze Folgen herzu-
leiten, und ſodann das Gegentheil von einer dieſer
Folge umſtoͤßt. Denn man ſieht leicht, daß hiedurch
eigentlich nur die Folge erwieſen wird, und daß man
ſodann dieſe muß zum Grunde legen, um mit Zuzie-
hung identiſcher Saͤtze, den erſten Satz daraus herzu-
leiten, weil ſichs nur vermittelſt identiſcher Saͤtze
ruͤckwaͤrts ſchließen laͤßt. Hier aber iſt eigentlich die
Frage, wiefern man aus einem Satze ſein Gegentheil
directe herleiten koͤnne, und ob ſodann der Satz oder
ſein Gegentheil wahr ſey?
§. 382.
[249]von den Beweiſen.
§. 382.
Geht das erſtere an, ſo iſt letzteres bald eroͤrtert.
Man leite mit Zuziehung richtiger Saͤtze und in rich-
tiger Form aus einem Satze A ſein Gegentheil
nicht—A her. Waͤre nun A wahr, ſo muͤßte noth-
wendig auch nicht—A wahr ſeyn, (§. 248.) folglich
waͤren widerſprechende Saͤtze zugleich wahr. Da nun
dieſes ungereimt iſt; ſo folgt, daß der Satz A nicht
wahr ſeyn koͤnne. Da nun von zween widerſprechen-
den Saͤtzen nothwendig der eine wahr der andre falſch
iſt, (§. 144.) ſo folgt, daß der Satz nicht—A wahr
ſeyn muͤſſe. Wenn man demnach aus einem Satze
mit Zuziehung wahrer Saͤtze und in richtiger Form
ſein Gegentheil herleiten kann, ſo iſt der Satz ſelbſten
falſch, das Gegentheil aber wahr.
§. 383.
Die Frage koͤmmt demnach nur auf die Moͤglich-
keit der Bedingung an, ob man naͤmlich aus ei-
nem Satze mit Zuziehung wahrer Saͤtze und in
richtiger Form ſein Gegentheil herleiten koͤnne.
Soll dieſe Frage koͤnnen bejaht werden, ſo muß man
es durch Schluͤße der erſten oder dritten Figur, das
will ſagen, aus Gruͤnden oder aus Beyſpielen be-
weiſen. (§. 232.) Wir wollen beydes verſuchen.
§. 384.
Man ſetze die Schlußkette (§. 322.)
- A iſt B.
- B iſt C.
- C iſt D.
- D iſt nicht B.
ſo wird nach richtiger Form daraus folgen, daß A
nicht B ſey, und dieſes wird den erſten Satz der
Schlußkette: A iſt B, umſtoßen. Demnach laſſen
ſich allerdings Formen gedenken, die der Bedingung
Q 5unſrer
[250]VI. Hauptſtuͤck,
unſrer Frage (§. 383.) genuͤgen leiſten, und die Form
muß nothwendig ſo eingerichtet werden, weil die Be-
dingung fordert, daß der Schlußſatz, Aiſt nichtB,
herauskommen ſoll, welches den letzten Satz: D iſt
nichtB, verneinend macht (§. 296.) und ihm das
Praͤdicat B giebt. Allein dieſe Bedingung fordert
nicht nur eine richtige Form; ſondern noch uͤberdies,
daß die Mittelſaͤtze der Schlußkette wahr ſeyn; da-
her fragt ſichs, ob die in erſt angegebener Schlußkette
der Form zu gefallen angenommene Saͤtze:
- B iſt C
- C iſt D
- D iſt nicht B
wirklich wahre Saͤtze ſeyn koͤnnen? Denn die Bedin-
gung fordert, daß dieſe wahr ſeyn. Man ſetze, es
ſey moͤglich, ſo wird aus den drey Saͤtzen:
- B iſt C
- C iſt D
- D iſt nicht B
der Schlußſatz folgen, daß B nicht B ſey. Da nun
B nothwendig B iſt, weil jede Sache iſt, was ſie iſt:
ſo iſt dieſer Schlußſatz falſch. Aber aus wahren Saͤ-
tzen und richtiger Form kann kein falſcher Schlußſatz
folgen. Da nun dieſes hier bey richtiger Form ge-
ſchehen wuͤrde, wenn die drey Vorderſaͤtze durch-
aus wahr waͤren; ſo iſt offenbar, daß dieſe
Vorderſaͤtze nicht durchaus wahr ſeyn koͤnnen. Dem-
nach faͤllt die der Form zu gefallen angenommene
Schlußkette ins unmoͤgliche, und man wird keine
Schlußkette aufbringen koͤnnen, wodurch aus einem
Satze mit Zuziehung lauter wahrer Saͤtze das Ge-
gentheil des erſten Satzes hergeleitet werden koͤnnte.
Fuͤgt man dieſem Beweiſe noch den Satz aus dem
bereits
[251]von den Beweiſen.
bereits angezogenen 322ſten Abſatze bey, daß jeder
Beweis, der aus einfachen Schluͤſſen beſteht, ſich in
eine Schlußkette verwandeln laſſe, ſo wird das, was
wir hier von Schlußketten erwieſen haben, auf alle
dieſe Beweiſe ausgedehnt. Denn wenn es einen ſol-
chen Beweis geben ſollte, wodurch aus einem Satze
mit Zuziehung richtiger Saͤtze das Gegentheil des
erſten Satzes gefolgert werden koͤnnte, ſo wuͤrde es,
vermoͤge des angezogenen §. 322. auch eine Schluß-
kette geben, wodurch dieſes geſchehen koͤnnte. Nun
iſt, vermoͤge des erwieſenen, letzteres falſch, folglich
auch das erſte.
§. 385.
Jndeſſen iſt es gar wohl moͤglich, daß jemand
ſich eine ſolche Schlußkette, oder wenigſtens die Saͤ-
tze dazu, als wahr vorſtelle, weil es ſehr moͤglich
iſt und oft geſchieht, daß man Saͤtze fuͤr wahr haͤlt,
die, wenn man ſie genauer mit einander vergleicht,
einander umſtoßen. Dieſer Fall gehoͤrt aber zu de-
nen, die wir vorhin (§. 379.) angefuͤhrt haben, und
iſt nur eine beſondere Art davon. Denn nimmt man
zu einer Schlußkette wahre und falſche Saͤtze ohne
Unterſchied, ſo kann man allerdings heraus bringen,
was man will. Aber mit Zuziehung lauter wahrer
Saͤtze und in richtiger Form, wird man vermoͤge des
erſt erwieſenen niemals aus einem Satze ſein Gegen-
theil herausbringen. Denn das Gegentheil wuͤrde
mit dem Satze in einem nothwendigen und ſchluͤßigen
Zuſammenhange, und folglich beyde wahr ſeyn, wel-
ches ungereimt iſt.
§. 386.
Jndeſſen bringt man des hier gegebenen Bewei-
ſes ungeachtet Beyſpiele an, welche denſelben umzu-
ſtoßen ſcheinen. Da aber dieſer Beweis nothwendig
ſchluͤßig
[252]VI. Hauptſtuͤck,
ſchluͤßig iſt, ſo iſt klar, daß man dieſe Beyſpiele,
wenn ſie anders aͤcht ſind, aus einem andern Geſichts-
punkt betrachten muͤſſe. Man wird immer finden,
daß ſie entweder zu dem vorhin (§. 379.) betrachteten
Fall gehoͤren, oder daß ſie nur den Schein haben, als
wenn aus dem Satze das Gegentheil folgte, da dieſes
in der That aus den mit dem Satze zugleich ange-
nommenen Bedingungen folgt.
§. 387.
Zu der erſten Klaſſe z. E. gehoͤrt folgender Schluß,
welcher unter allen Beyſpielen noch das ſcheinbarſte
iſt.
- Kein Satz iſt allgemein wahr;
- Dieſer Oberſatz iſt auch ein Satz;
Folglich iſt auch dieſer Oberſatz nicht allgemein wahr.
Dieſer Schluß zeigt nur dem, der beyde Vorderſaͤ-
tze glaubt, oder den erſten behauptet, und den andern
zugiebt, daß dieſe beyden Saͤtze nicht beyſammen be-
ſtehen koͤnnen, folglich etwas daran geaͤndert werden
muͤſſe. (§. 379.) Nimmt man dieſe Aenderung vor,
ſo wird der Schluß, nach §. 236. vorgetragen, ſo aus-
ſehen:
- Etliche Saͤtze ſind nicht allgemein wahr;
- Dieſer Oberſatz gehoͤrt auch unter dieſe etliche
Saͤtze; - Folglich iſt dieſer Oberſatz nicht allgemein wahr.
Hier iſt der Unterſatz richtig, weil der Oberſatz par-
ticular iſt; allein es muß bewieſen werden, daß der
Oberſatz nur particular wahr ſey. Wird aber die-
ſes bewieſen, ſo iſt der Schlußſatz nichts anders, als
eine Wiederholung davon.
§. 388.
Wir wollen ein ander Beyſpiel aus dem Euclid
nehmen. Es iſt der zwoͤlfte Satz des neunten Bu-
ches,
[253]von den Beweiſen.
ches, welchen wir hier algebraiſch vortragen wollen:
Es ſey die geometriſche Progreßion
I, a, a^2, a^3 ......... a^n
deren erſtes Glied von 1 anfange. Nun ſage
ich, wenn ein Glied derſelben, ſo nach dem zwey-
ten iſt, z. E. an ſich durch eine erſte Zahl (nu-
merus primus) e theilen laͤßt, ſo laͤßt ſich auch
das zweyte Glied a durch dieſe erſte Zahl e thei-
len.
Der Beweis, den Euclid giebt, iſt folgender:
Es ſey
a^n : e = f.
Da nun
a^n = a^n^-^1. a
ſo iſt auch
(a^n^-^1. a): e = f.
Da nun f eine ganze Zahl iſt, ſo laͤßt ſich (an—1. a)
durch e theilen. Solite ſich nun a durch e nicht thei-
len laſſen, ſo muß nothwendig an—1 durch e getheilt
werden koͤnnen. Demnach iſt jedes vorhergehende
Glied der Progreßion und folglich auch das zweyte a,
durch e theilbar.
§. 389.
Dieſes Beyſpiel gehoͤrt aber wiederum zu den
Faͤllen des (§. 379.) weil man, wenn man zugiebt
an ſey, a aber ſey nicht durch die Primzahl e theilbar,
zween widerſprechende Saͤtze zugiebt. Denn an laͤßt
ſich aus keinem andern Grunde durch e theilen, oder
als durch e theilbar vorausſetzen, als weil ſchon a
ſelbſt durch die Primzahl e getheilt werden kann. Da-
her bleibt die Bedingung, ob ſich an durch eine Prim-
zahl theilen laſſe, in dem Euclidiſchen Lehrſatze ganz
unausgemacht, und ſie koͤnnte ohne Zuziehung ande-
rer Gruͤnde, folglich an ſich betrachtet, ſo wohl moͤg-
lich
[254]VI. Hauptſtuͤck,
lich als unmoͤglich ſeyn. Euclids Schluß geht
demnach uͤberhaupt deswegen an, weil in der Formel
(a^n^-^1. a): e = f
entweder ſo wohl an als a, oder keines von beyden
ſich durch e theilen laͤßt. Die Bedingung ſetzt, an. a
laſſe ſich theilen, folglich laͤßt ſich ſo wohl an—1 als
a theilen, demnach nicht keines von beyden. Und
aus dieſem Grunde kann Euclid allerdings eine Weile
einraͤumen, als ob ſich a nicht theilen ließe, und be-
gnuͤgt ſich, daß an—1 ſich theilen laſſe, um daraus
zu folgern, daß die Theilung auch mit a angehe.
§. 390.
Dieſes Beyſpiel, allgemeiner vorgetragen, koͤmmt
demnach darauf an, daß, wenn man eine Sache aus
zwey oder mehrerley Gruͤnden beweiſen oder noth-
wendig machen kann, der eine dieſer Gruͤnde fuͤr ei-
ne Zeitlang als falſch koͤnne angeſehen werden, wenn
ihn der Gegner nicht will einraͤumen. Denn da man
mit dem andern Grunde, oder mit den andern aus-
reicht, ihn zu uͤberzeugen, ſo kann man ſodann den
erſten oder gelaͤugneten nachholen. Dieſes Verfah-
ren hat eine voͤllige Aehnlichkeit mit den Schluͤſſen in
Caſpida. Denn giebt man in dem Schluſſe:
- Alle A ſind entweder M oder N
- aber Sowohl M als N iſt B
- folglich: Alle A ſind B
das disjunctive Mittelglied in dem Unterſatze nebſt
dem Oberſatze zu, ſo hat es in Abſicht auf den Schluß-
ſatz nichts zu ſagen, ob A, M oder N ſey. Man
kann demnach das eine oder das andre laͤugnen laſ-
ſen, ohne dem Schlußſatz Abbruch zu thun. Eben
ſo geht es auch bey einer ſpecialern Anwendung die-
ſes Schluſſes. Z. E.
C iſt
[255]von den Beweiſen.
- C iſt M.
- M iſt B.
- C iſt B.
Laͤugnet man hier den Oberſatz, ſo ſchließt man:
- C iſt A
- A iſt entweder M oder N
- aber ſo wohl M als N iſt B
- folglich: C iſt B.
Beweiſe von dieſer Art kommen nicht ſelten vor.
Denn hier laͤugnet man den erſten Satz: C iſt M,
nur deswegen, weil man es unausgemacht glaubt, ob
C unter die Art M oder N gehoͤre. Der zweyte Be-
weis zeigt daher nur, daß dieſes in Abſicht auf den
Schlußſatz nichts zu ſagen habe. Und ſo koͤnnte es,
dem Schlußſatz ohne Nachtheil, ebenfalls ſeyn, daß
C ſo wohl unter M als unter N gehoͤrte, wenn
naͤmlich etliche C, M; die uͤbrigen N waͤren. (§. 97.)
Das Euclidiſche Beyſpiel hat vor dieſem nichts vor-
aus, weil ſich in demſelben ſo wohl an—1 als a durch
e theilen laͤßt. Wer dadurch, daß man ihm einen
wahren Satz laͤugnet, genoͤthigt wird, einen andern
gleichfalls wahren Satz anzunehmen, der kann aus
dieſem etwann den gelaͤugneten beweiſen. Aber er
beweiſt ihn nicht aus dem Gegentheil des gelaͤugne-
ten, ſondern aus dem andern wahren Satze, der
ihm noch uͤbrig bliebe. Demnach machen dieſe Bey-
ſpiele an unſerm Beweiſe (§. 384.) keine Ausnahme.
§. 391.
Um aber noch deutlicher zu zeigen, daß Euclids
Beweis nur den Schein hat, als wenn aus einem
falſchen Satze ein wahrer geſchloſſen wuͤrde, ſo wol-
len wir den oben (§. 372.) gegebenen Beweis wiederum
vornehmen, und ihn nebſt dem dadurch erwieſenen
Lehrſatz etwas unvollſtaͤndiger vortragen, damit er
dem
[256]VI. Hauptſtuͤck,
dem Euclidiſchen aͤhnlicher werde. Es iſt folgender:
Wenn der Schlußſatz eines Schluſſes in Barbara
- M iſt B
- A iſt M
- A iſt B
identiſch iſt: ſo iſt auch der Unterſatz identiſch.
Beweis: Man ſetze, er ſey nicht identiſch, ſo
laͤßt er ſich nicht umkehren. Da aber dieſes
mit dem Schlußſatze angeht (vermoͤge der Be-
dingung) ſo gilt folgender Schluß:
- A iſt M
- B iſt A
- B iſt M.
Demnach laͤßt ſich der Oberſatz umkehren. Folg-
lich da in dem Schlußſatze A und B, in dem
Oberſatze M und B Wechſe lbegriffe ſind, ſo
ſind auch A und M Wechſelbegriffe. Nun iſt
A das Subject, B das Praͤdicat des Unterſa-
tzes: A iſt M, folglich laͤßt ſich dieſer Satz um-
kehren, und iſt demnach identiſch.
§. 392.
Jn dieſem Beweiſe ſcheint nun, wie in dem Eu-
clidiſchen, aus einem falſchen Satze ein wahrer zu
folgen. Allein dieſe Folge iſt auch nur ſcheinbar,
weil man den umgekehrten Satz, den der Gegner
nicht einraͤumt, und ſo auch deſſen Gegentheil, wel-
ches der Satz:
- Etliche M ſind nicht A
geweſen waͤre, zu dem Beweiſe gar nicht gebraucht,
ſondern nur den directen Satz:
- Alle A ſind B
dazu annimmt, den der Gegner noch gelten laͤßt.
Man wird auch aus dem oben (§. 372.) gegebenen
directen Beweiſe ſehen, daß ſich die Jdentitaͤt eines
jeden
[257]von den Beweiſen.
jeden Vorderſatzes beſonders, und geraden Weges be-
weiſen laͤßt, wenn man ſchlechthin jeden Vorderſatz
mit dem umgekehrten Schlußſatze vergleicht.
§. 393.
Wir machen demnach den Schluß, daß man
entweder einen Satz directe beweiſen, oder ſein Ge-
gentheil widerlegen muͤſſe, wenn man nicht bloß
die Abſicht hat, in einem Vorgeben Widerſpruͤche
zu zeigen, (§. 379. 385.) ſondern wirklich eine Wahr-
heit feſtſetzen will. Wir werden nun die directen Be-
weiſe wiederum vornehmen, und dabey anmerken,
daß jeder allgemein bejahende Schlußſatz, den man
in einem directen Beweiſe herausbringt, wo nicht ein
allgemeineres, doch wenigſtens nicht ein ſpecialeres
Praͤdicat habe, als die Saͤtze, auf welche er ſich
gruͤndet. Um dieſes zu zeigen, werden wir vermoͤge
des §. 322. ſtatt des Beweiſes die Schlußkette an-
nehmen, in welche er ſich verwandeln laͤßt. Dieſe
ſey:
- Alles A iſt M
- Alle M ſind N
- Alle N ſind P
- Alle P ſind Q
- ꝛc.
Nun kann M nicht ſpecialer als A, N nicht ſpecialer,
als M, P nicht ſpecialer als N ꝛc. ſeyn. So weit
man demnach die Schlußkette fortſetzt, wird das er-
ſte Subject immer, wo nicht weniger, doch nicht
mehr allgemein ſeyn, als die Mittelglieder M, N,
P, Q ꝛc. (§. 124.) Dieſes geht durchaus an, ſo oft
alle Saͤtze allgemein bejahend ſind, wie es die Mit-
telſaͤtze ſaͤmmtlich ſeyn muͤſſen. (§. 296.) Jſt aber
der erſte Satz particular bejahend, oder, der letzte
allgemein verneinend, (§. cit.) ſo kann das Subject
Lamb. Org. I. Band. Rdes
[258]VI. Hauptſtuͤck,
des erſten Satzes, wie auch das Praͤdicat des letzten
eine Ausnahme machen, und es bleibt in dem Schluß-
ſatze unbeſtimmt, ob das Subject oder das Praͤdicat
ein allgemeinerer Begriff ſey.
§. 394.
Da demnach bey allgemein bejahenden Schluß-
ſaͤtzen und Beweiſen das Subject in Abſicht auf die
Praͤdicate, oder die Subjecte in Abſicht auf das Praͤ-
dicat, (§. 326. 327.) entweder immer ſpecialer oder
doch wenigſtens nicht allgemeiner werden: und da
man uͤberhaupt von etlichen oder von einem
auf alle nicht ſchließen kann; ſo fragt ſichs,
ob dieſes, oder in wie fern es in beſondern
Faͤllen angehe?
§. 395.
Wir haben bereits oben (§. 266.) angemerkt, daß
hiezu beſondere Umſtaͤnde und Gruͤnde erfordert wer-
den, welche angeben muͤſſen, daß man von einem
oder von etlichen auf alle den Schluß machen, oder
von allen uͤberhaupt das ſagen koͤnne, was man von
etlichen weis. Solche Gruͤnde ſind deſto mehr kennt-
lich zu machen, und die Faͤlle deſto mehr anzuzeigen,
weil man dadurch eine Jnduction und die Schwuͤ-
rigkeit, dieſe complet zu machen, (§. 287.) erſparen
kann.
§. 396.
Es ſeyn demnach die Glieder der ganzen Klaſſe:
A, B, C, D, E, F etc.
ſo iſt klar, daß, wenn man von einem auf alle ſollte
ſchließen koͤnnen, dieſelben ſaͤmmtlich unter ſich eine
gewiſſe Verbindung haben muͤſſen, welche dieſen
Schluß zulaͤßig macht. Dieſe Verbindung dehnt
ſich nun entweder mit einem male auf alle aus, oder
ſie geht von einem zu dem andern fort. Jn dem er-
ſten
[259]von den Beweiſen.
ſten Fall muß ſie demnach ein allgemeines Geſetz auf
alle verbreiten. Und iſt man hievon verſichert: ſo iſt
klar, daß man die Folgen dieſes Geſetzes in jedem
finden kann. Solche allgemeine Geſetze ſind z. E. in
der Natur. Und daher koͤmmt es, daß man aus
einzelnen Erfahrungen und Verſuchen Schluͤſſe
machen kann, die ſich allgemeiner ausdehnen. So
hat man lange nicht alle Luft abgewogen, und den-
noch den Schluß gemacht, daß alle Luft ſchwer ſey.
So iſt man noch lange nicht auf allen Orten der Erd-
flaͤche geweſen, und man kann doch den Jahrwechſel
und die Lage des Himmels fuͤr jeden beſtimmen ꝛc.
Ueberhaupt haben wir ſchon oben (§. 42) angemerkt,
daß man ſich, um das Allgemeine einer Klaſſe zu be-
ſtimmen, nur die Faͤlle, die am meiſten verſchieden
ſind, bekannt machen darf, um das, was allen zu-
koͤmmt, heraus zu bringen, und eben ſo, daß man
aus dem Begriffe der ganzen Klaſſe oder Gattung
weglaſſen muͤſſe, was ſich auch nur in einem darunter
gehoͤrenden Theile oder Art nicht befindet ꝛc.
§. 397.
Der andre Fall iſt, wenn die Verbindung von
Glied zu Glied geht. So ſind die Raͤder an einer
Uhr mit einander verbunden, daß jedes das folgende
treibt, und von dem naͤchſt vorhergehenden getrieben
wird. Wenn demnach ein Rad ſich bewegt, ſo be-
wegen ſich alle. Jn dieſen Faͤllen machen die Glie-
der der Klaſſe eine Reihe aus, weil jedes von dem
vorhergehenden abhaͤngt, oder mit demſelben eine un-
mittelbare Verbindung hat. Das Allgemeine in die-
ſer Verbindung macht wiederum ein Geſetz aus, und
die Beſtimmungen dieſes Geſetzes laſſen ſich wie in
dem vorhergehenden Fall finden, ſo oft man verſichert
iſt, daß ein ſolches Geſetz da ſey; wie z. E. in der
R 2Natur
[260]VI. Hauptſtuͤck,
Natur ſolche vorkommen. Dieſes macht es z. E.
moͤglich, daß man die Finſterniſſe und andre Him-
melsbegebenheiten vorherſagen, daß man aus wenigen
Obſervationen eines Cometen ſeinen Lauf beſtimmen,
und oͤfters auch kuͤnftige Veraͤnderungen auf Erden
vorherſehen kann. Die ganze Jntegralrechnung iſt
nichts anders, als eine Methode, von einem ſelbſt
unendlich kleinen Theil auf das Ganze zu ſchließen.
§. 398.
Hieher gehoͤrt nun eigentlich der vorhin (§. 388.)
aus dem Euclid angefuͤhrte Lehrſatz, wenn man ihn
folgender maaßen vortraͤgt:
Wenn in einer geometriſchen Progreßion, die
von 1 anfaͤngt,
1, a, a^2, a^3, a^4.......... a^n
eines der Glieder z. E. an durch eine Primzahl
e getheilt werden kann, ſo laͤßt ſich jedes Glied
durch dieſe Primzahl e theilen.
Der Beweis koͤmmt nun ſo. Erſtlich von denen
Gliedern, die auf an folgen, hat der Satz keine
Schwuͤrigkeit, weil a^n^+^1=a^n.\ a, und uͤberhaupt
a^n^+^P=a^n.\ a^P iſt. Hingegen von den vorherge-
henden Gliedern wird es ſo bewieſen, daß man uͤber-
haupt zeigt, wenn ein Glied am ſich durch die Prim-
zahl e theilen laſſe, auch das naͤchſt vorhergehende
dadurch getheilt werden koͤnne. Nun iſt
a^m=a^m^-^1.\ a.
Laͤßt ſich derowegen am durch e theilen, ſo kann auch
am—1 oder a, oder beyde durch e getheilt werden,
weil e eine Primzahl iſt, und folglich ganz bleibt.
Jſt das erſte, ſo iſt der Satz erwieſen. Jſt das
zweyte, ſo iſt er gleichfalls erwieſen, weil am—1 =
am—2. a iſt. Jſt das dritte, ſo treffen beyde Gruͤn-
de zuſammen. Folglich wenn ein Glied der Reihe
ſich
[261]von den Beweiſen.
ſich durch die Primzahl e theilen laͤßt, ſo kann auch
das naͤchſt vorhergehende dadurch getheilt werden.
Nun aber vermoͤge der Bedingung des Lehrſatzes
laͤßt ſich an durch e theilen, folglich auch an—1, folg-
lich auch an—2 ꝛc. und aus gleichem Grunde alle Glie-
der bis an das zweyte, a mit eingeſchloſſen.
§. 399.
Man ſieht aus dieſem nur kurz angefuͤhrten Bey-
ſpiele, daß der Beweis, welcher nur von einem Glie-
de auf das naͤchſt vorhergehende ſich erſtreckt, des-
wegen auf alle ausgedehnt werden kann, weil jede
Glieder mit dem naͤchſt vorhergehenden durch ein all-
gemeines Geſetz verbunden ſind, und weil der Be-
weis ſich auf dieſes Geſetz und auf die Natur der
Primzahlen gruͤndet. Auf eine aͤhnliche Art beweiſt
man in der Analytik die allgemeinen Geſetze von un-
endlichen Reihen.
§. 400.
Wir wollen dieſem Beyſpiele ein andres beyfuͤ-
gen, ſo wir aus dem §. 318. nehmen koͤnnen. Man
habe eine Reihe von Schluͤſſen in Barbara, derge-
ſtalt, daß der Schlußſatz eines jeden Schluſſes der
Oberſatz im naͤchſtfolgenden ſey. Als z. E.
| T iſt B | P iſt B | S iſt B | M iſt B | R iſt B | etc. |
| P iſt T | S iſt P | M iſt S | R iſt M | N iſt R | |
| P iſt B | S iſt B | M iſt B | R iſt B | N iſt B |
Man ſetze, die Unterſaͤtze in dieſen Schluͤſſen ſeyn
alle wahr, ſo werden alle Oberſaͤtze und Schlußſaͤtze
falſch ſeyn, wenn der erſte Oberſatz: T iſt B, falſch
iſt.
§. 401.
Der Beweis dieſer Ausſage kann nun wiederum
ſo gefuͤhrt werden, daß man zeigt, daß, wenn in
einem beliebigen von dieſen Schluͤſſen der Oberſatz
R 3falſch
[262]VI. Hauptſtuͤck,
falſch iſt, auch ſein Schlußſatz, und der Oberſatz des
naͤchſt folgenden falſch ſeyn werde. Jſt z. E. in dem
dritten Schluſſe der Oberſatz falſch, ſo wird er ſo ge-
aͤndert:
- S iſt nicht B
- M iſt S
- M iſt nicht B.
Und dieſer Schlußſatz, der nunmehr wahr iſt (ver-
moͤge der Bedingung) zeigt, daß der Schlußſatz im
dritten Schluſſe, und folglich (vermoͤge des Geſetzes
der Reihe) auch der Oberſatz des vierten Schluſſes
falſch ſey. Da demnach dieſes von jedem Schluſſe
gilt, ſo folgt, daß, wenn der erſte Oberſatz: T iſt
B, falſch iſt, auch der erſte Schlußſatz, folglich der
zweyte Oberſatz, folglich auch der zweyte Schlußſatz,
folglich der dritte Oberſatz ꝛc. und demnach alle Ober-
ſaͤtze und Schlußſaͤtze falſch ſeyn werden. Und dieſes
war zu beweiſen.
§. 402.
Jn dieſer Reihe von Schluͤſſen hatten wir zwey-
erley Geſetze. Das erſtere dehnt ſich mit einemmal auf
alle Glieder aus, weil es fordert, daß alle Schluͤſſe
in Barbara, und alle Unterſaͤtze wahr ſeyn Dieſes
Geſetz iſt demnach von der Art, die wir im §. 396.
betrachtet haben, und es giebt den Gliedern der Reihe
noch keine Verbindung. Hingegen das zweyte Ge-
ſetz haͤngt ſie zuſammen, weil es forderte, der Schluß-
ſatz jedes Schluſſes ſolle der Oberſatz des folgenden
ſeyn. Das erſte Geſetz machte, daß man von dem
falſchen Oberſatz auf den falſchen Schlußſatz eine
Folge ziehen konnte. Hingegen dehnte das zweyte
Geſetz dieſe Folge von dem erſten Glied auf alle nach-
folgenden aus. Man ſieht demnach zugleich aus die-
ſem Beyſpiele, worinn beyde Arten von Geſetzen (§.
396.
[263]von den Beweiſen.
396. 397.) von einander verſchieden ſind, und wie
hier beyde zuſammentreffen, um den Lehrſatz wahr zu
machen; und wie ſie gebraucht werden koͤnnen, von
einem auf alle zu ſchlieſſen.
§. 403.
Jn allen dieſen Faͤllen, wo man vom Specialern
auf das Allgemeinere, von jeden Dingen auf ihre
Gruͤnde ꝛc. einen Schluß machen muß, dienen vor-
nehmlich identiſche Saͤtze. Wir haben ſie demnach
noch in dieſer Abſicht zu betrachten, zumal, da in der
Naturlehre die Faͤlle ſehr haͤufig vorkommen, wo uns
die Erfahrungen Schlußſaͤtze angeben, zu welchen die
allgemeinern Gruͤnde zu ſuchen ſind, wodurch ſie be-
wieſen werden koͤnnen. (§. 249. 315.) Gemeiniglich
haben wir ſolche Gruͤnde noch nicht vorraͤthig, und
bisher hat man ſie mehrentheils willkuͤhrlich ange-
nommen. Wir haben bereits oben (§. 65. ſeqq.) an-
gemerkt, was man mit ſolchen willkuͤhrlichen Saͤtzen
oder Hypotheſen vorzunehmen hat, und die Mittel
angezeigt, ſie zu pruͤfen, ob und wiefern ſie wahr
ſind, oder nicht. Hier iſt nun der Ort, genauer zu
unterſuchen, wie man das Mißliche darinn vermeiden
koͤnne.
§. 404.
Der Fall, den wir hier zu betrachten haben, iſt
demnach folgender. Man habe ſich von der Wahr-
heit eines Satzes durch die Erfahrung verſichert, und
die Gruͤnde, woraus man denſelben erweiſen koͤnnte,
fehlen noch. Hier iſt nun ſo viel klar, daß der Satz
ſich beweiſen laſſe, weil man weis, daß er wahr iſt.
(§. 249. 315.) Da aber die Gruͤnde dazu mangeln,
ſo wuͤrde es vergebens ſeyn, die analytiſche Methode
dabey anzuwenden, wie wir ſie oben (§. 315.) vor-
geſtellt haben. Demnach muß man dieſer Methode
R 4eine
[264]VI. Hauptſtuͤck,
eine andre Geſtalt geben, und ſie in einem ungleich
engern und genauern Verſtande analytiſch machen.
Jch will ſagen: Man muß die Erfahrung, an-
ſtatt ſie beweiſen zu wollen, zum Grunde le-
gen, und ihre erſten Gruͤnde directe daraus her-
leiten; Und zwar dieſes wiederum nicht in der
Abſicht, dieſe Erfahrung nachgehends daraus
zu beweiſen, ſondern ſchlechthin, damit man
die Gruͤnde wiſſe, und zu andern Schluͤſſen
gebrauchen koͤnne.
§. 405.
Damit geht es nun ſo leichte nicht, und wir ha-
ben in der Naturlehre noch wenige Beyſpiele davon,
ſo erwuͤnſcht ſie auch waͤren. Wir muͤſſen demnach
zu beſtimmen ſuchen, was eigentlich dazu erfordert
wird Einmal, da es um Gruͤnde zu thun iſt, ſo
gebrauchen wir die erſte Figur, (§. 232. 250. 300.
322.) und daraus beſonders Schluͤſſe in Barbara,
weil wir den Erfahrungsſatz, und um deſtomehr
noch die Gruͤnde als allgemein betrachten werden.
Sodann, da die Gruͤnde, die wir ſuchen ſollen, zu
dem Beweiſe des Erfahrungsſatzes muͤſſen dienen
koͤnnen, ſo muß dieſer Satz zum Schlußſatze, die
Gruͤnde aber zu Vorderſaͤtzen koͤnnen gemacht werden.
Demnach, wenn wir anfangs nur auf den naͤchſten
Grund bedacht ſind, ſo werden wir die einfache
Schlußrede:
- M iſt B
- A iſt M
- A iſt B
zur Formel nehmen koͤnnen. Und vermoͤge der erſt
angezeigten Bedingung iſt der Schlußſatz die Erfah-
rung, das Mittelglied M aber der naͤchſte Grund.
(§. 250.) Sind nun die Vorderſaͤtze wahr, ſo iſt
unſtrei-
[265]von den Beweiſen.
unſtreitig, daß der Schlußſatz folgt: Und bis dahin
geht nun alles leicht und richtig. Aber die ſchwerſte
Bedmgung haben wir noch nicht mitgenommen, und
dieſe beſteht darinn, daß wir von dem ganzen
Schluſſe noch nichts als den Schlußſatz wiſ-
ſen, und zwar aus dieſem das MittelgliedM,
und damit beyde Vorderſaͤtze finden muͤſſen.
§. 406.
Dieſe Bedingung kann nun durch einen
einfachen Schluß nicht erfuͤllt werden, es ſey
denn wenigſtens einer von den Vorderſaͤtzen
identiſch. Denn da ſich vermoͤge der Bedingung
das Mittelglied M aus dem Schlußſatze ſoll herleiten
laſſen: ſo wird der Schlußſatz nothwendig zu einem
Vorderſatz einer neuen Schlußrede, in welcher einer
der Vorderſaͤtze der erſten Schlußrede zum Schluß-
ſatze werden muß, weil es eigentlich darauf ankoͤmmt,
daß er bewieſen und hergeleitet werde. Nun iſt dieſe
Herleitung nicht moͤglich, wenn nicht der andre Vor-
derſatz, der auch in der neuen Schlußrede als ein
Vorderſatz bleiben muß, identiſch iſt. Denn man
ſetze:
- I. Der Unterſatz ſoll aus beyden andern hergelei-
tet werden, ſo wuͤrden die Saͤtze:- M iſt B
- A iſt B
keinen Schluß geben, weil in der zweyten
Figur einer der Vorderſaͤtze verneinend ſeyn
muß. Man mache nun den Satz: A iſt M,
zum Schlußſatz, A iſt B, zum Unterſatz,
ſo geht der Schluß in Barbara an, wenn
der dritte Satz, M iſt B, umgekehrt wird.
Denn
R 5B iſt
[266]VI. Hauptſtuͤck,- B iſt M
- A iſt B
- A iſt M
Soll demnach in der Schlußrede des §. 405.
der Unterſatz aus dem Schlußſatze hergeleitet
werden koͤnnen, ſo muß der Oberſatz identiſch
ſeyn. - II. Hingegen muß der Unterſatz identiſch ſeyn,
wenn man den Oberſatz aus dem Schlußſatze
herleiten will. Denn die beyden Saͤtze- A iſt M
- A iſt B
geben nur einen particularen Schlußſatz,
woraus ſich fuͤr den Oberſatz, welcher allge-
mein ſeyn muß, nichts ſchließen laͤßt. Kehrt
man hingegen den dritten Satz um, ſo folgt
nothwendig:- A iſt B
- M iſt A
- M iſt B.
Demnach wenn in der Schlußrede des §. 405.
einer der Oberſaͤtze aus dem Schlußſatz her-
geleitet werden ſoll, ſo muß der andre iden-
tiſch ſeyn. - III. Jſt endlich der Schlußſatz: A iſt B, (§. 405.)
ſelbſt identiſch, ſo muͤſſen beyde Vorderſaͤtze
es nothwendig auch ſeyn. (§. 369.) Jn
dieſem Fall iſt es demnach an einem nicht
genug.
§. 407.
Hieraus folgt nun, daß man die vorhin (§. 404.)
erwaͤhnte analytiſche Methode ohne Zuziehung iden-
tiſcher Saͤtze nicht gebrauchen koͤnne. Und da dieſe
Art von Saͤtzen noch nicht ſo haͤufig ſind, ſo iſt es
auch
[267]von den Beweiſen.
auch kein Wunder, warum wir in der Naturlehre,
in Abſicht auf die Gruͤnde der Erfahrungen noch ziem-
lich weit zuruͤck bleiben. Wir haben auch bereits
(§. 373.) angemerkt, daß identiſche Saͤtze in jeden
Wiſſenſchaften eine beſondere Klaſſe ausmachen, und
einen von allen andern Saͤtzen unabhaͤngigen Zuſam-
menhang unter ſich ſelbſt haben. Der erſt erwieſene
Satz zeigt, daß ſie im Erfinden einen beſondern und
ſehr allgemeinen Weg angeben, und zu dem Beweiſe
des groͤßten Theils unſerer allgemeinen Erkenntniß
unentbehrlich ſind.
§. 408.
Wir wollen nun den erſten Schluß (§. 405.)
- M iſt B
- A iſt M
- A iſt B
wieder vornehmen, und die Anwendung des erſt er-
wieſenen Satzes (§. 406.) auf die analytiſche Me-
thode (§. 404.) anzeigen. Man habe demnach den
Erfahrungsſatz: A iſt B, und es ſey der Grund deſ-
ſelben aus demſelben herzuleiten. Wir wollen ihn
anfangs nicht identiſch ſetzen, um nicht zween identi-
ſche Saͤtze auf einmal nothwendig zu machen.
§. 409.
Dieſes vorausgeſetzt, ſo kann man bey naͤherer
Betrachtung des Satzes: A iſt B, entweder bey A
oder bey B anfangen, ohne deswegen den andern die-
ſer Begriffe ganz beyſeite zu ſetzen, weil man ihn
nachgehends zur Pruͤfung gebraucht. Die beyden
Faͤlle ſind nun folgende:
- I. Faͤngt man bey dem Praͤdicat B an, ſo kann
man erſtlich uͤberhaupt nachforſchen, welchen
andern Subjecten M es zukomme, ſo hat
man Saͤtze von der Form: M iſt B. Jſt
nun
[268]VI. Hauptſtuͤck,
nun unter dieſen Subjecten eines oder meh-
rere eine Eigenſchaft von A; ſo iſt die Be-
dingung erfuͤllt. Zweytens: Finden ſich
unter dieſen Begriffen M ſolche, denen nicht
nur B zukoͤmmt, ſondern wovon B ein eige-
nes Merkmaal iſt, oder auch, die ein eigenes
Merkmaal von B ſind: ſo werden dieſe M
dem A an ſich ſchon zukommen, weil A, B
iſt: Demnach wird die Bedingung auch hie-
durch erfuͤllt, weil M, B; und A, M iſt. - II. Faͤngt man bey dem Subject A an, ſo ſucht
man ſeine Merkmaale oder Eigenſchaften M
auf. Finden ſich unter dieſen ſolche, die
eigene Merkmaale des A ſind, ſo iſt der Un-
terſatz identiſch, und von dieſen M wird ſich
B an ſich ſchon bejahen laſſen. Denn in die-
ſem Fall ſind alle M, A; und alle A, B, folg-
lich auch alle M, B. Hingegen in Anſehung
der uͤbrigen Merkmaale oder Eigenſchaften M
muß man nachſehen, ob eines oder mehrere
darunter ſind, die dem B eigen zukommen.
Denn ſo wird der Oberſatz: M iſt B, daraus
gefunden, und folglich die Bedingung eben-
falls erfuͤllt.
§. 410.
Da es uns ungleich leichter faͤllt, zu einem Sub-
ject Praͤdicate, als zu einem Praͤdicat Subjecte zu
finden, (§. 328.) ſo iſt es auch hier vortheilhafter, bey-
de Begriffe A, B zu Subjecten zu machen, und Praͤ-
dicate dazu zu ſuchen. Nun aber, wenn man dieſes
thut, ſo fordert die Bedingung:
- 1. Daß man nur die Praͤdicate beybehalten koͤn-
ne, die ſo wohl dem A als dem B zukom-
men, weil ſie das Mittelglied M in der
Schlußrede abgeben ſollen.
2. Daß
[269]von den Beweiſen.
- 2. Daß man auch unter dieſen diejenigen weglaſ-
ſen muͤſſe, die nicht eigene Merkmaale von
B ſind.
Denn macht man nicht nur A, ſondern auch B zum
Subjecte, ſo muß der Oberſatz identiſch ſeyn,
weil in demſelben B eigentlich ein Praͤdicat iſt.
§. 411.
Hieraus folgt, daß man am leichteſten damit an-
faͤngt, die eigenen Merkmaale des B aufzuſuchen, das
will ſagen, identiſche Saͤtze zu finden, deren Sub-
ject B iſt. Denn hat man ſolche, ſo iſt der Unter-
ſatz: A iſt M, unmittelbar und an ſich ſchon gefun-
den.
§. 412.
Hiebey ſind nun nicht alle Arten identiſcher Saͤ-
tze von gleichem Nutzen und Gebrauche.
- 1. Die bloße Synonymie und grammatiſche Ab-
aͤnderung gleichguͤltiger Woͤrter (§. 139.) macht in
der Sache keinen Unterſchied. So z. E. wenn man
den Satz: Der Magnet zieht Eiſen an, durch
die Schlußrede:- Was eine Kraft hat Eiſen anzuziehen, kann
Eiſen anziehen; - Der Magnet hat eine Kraft Eiſen anzuziehen;
- Folglich der Magnet kann Eiſen anziehen.
auf ſeine Gruͤnde bringen wollte; ſo waͤre der
Oberſatz zwar identiſch und richtig, aber weiter
nichts als eine Synonymie, weil die Redensar-
ten koͤnnen, und eine Kraft haben, ſchon
in der Sprache ſo viel als gleichguͤltig ſind. - Was eine Kraft hat Eiſen anzuziehen, kann
- 2. Ungeachtet man aber durch ſolche Abaͤnderungen
der Ausdruͤcke in der Kenntniß der Sache ſelbſt
nicht unmittelbar weiter koͤmmt; ſo ſind ſie
dennoch nicht immer ganz zu verwerfen, weil
oͤfters
[270]VI. Hauptſtuͤck,
oͤfters der eine ſchicklicher iſt, und leichter auf
Schluͤſſe fuͤhrt, als der andre. (§. 259.) - 3. Hingegen ſind diejenigen identiſchen Saͤtze beſſer,
wobey das Praͤdicat ein reicherer Begriff als
das Subject iſt. Die oben (§. 71. 72. 73.)
gegebenen Beyſpiele moͤgen auch hier dienen,
weil daſelbſt eigentlich die Frage war, Begriffe
zu finden, dergleichen in dem Schluſſe (§. 408.)
der Begriff M iſt. Denn man ſucht den Be-
griff M nicht bloß, um B, ſondern um noch
viel mehrere Eigenſchaften daraus herleiten zu
koͤnnen.
§. 413.
Von ſolchen identiſchen Saͤtzen, die in der Na-
turlehre gute Dienſte thun, finden ſich einige ſchon
unter den erſten Grundgeſetzen der Bewegung der
Natur der Koͤrper ꝛc. die folglich um deſto weiter rei-
chen, je allgemeiner ſie ſind. Z. E. aus dem Geſetze,
daß ein Koͤrper, der in Bewegung geſetzt worden,
gleiche Direction und Geſchwindigkeit behalte, ſchließt
man umgekehrt, daß, wenn ſich ſeine Direction,
oder ſeine Geſchwindigkeit, oder beyde aͤndern, eine
neue Kraft in denſelben wirken muͤſſe, oder daß der
Koͤrper durch mehrere Kraͤfte getrieben werde. So
giebt auch die Theorie der Zuſammenſetzung der
Kraͤfte mehrere Saͤtze, die ſich umkehren laſſen. Bey
der Theorie der Centralkraͤfte, des Widerſtandes ꝛc.
kommen ebenfalls identiſche Saͤtze vor Es iſt aus obigem
(§. 369 — 373.) klar, daß ſich dieſe Saͤtze und meh-
rere dergleichen haben finden laſſen, weil ſolche ſchon
unter den erſten Grundſaͤtzen vorkommen: Und hin-
wiederum erhellet beſonders aus dem §. 373. und §.
375. daß ohne identiſche Grundſaͤtze, identiſche Lehr-
ſaͤtze nicht vorkommen koͤnnen, oder daß, wenn man
auf
[271]von den Beweiſen.
auf ſolche verfaͤllt, es nur deswegen geſchieht, weil
man ſie unter den Grundſaͤtzen noch nicht bemerkt hat.
§. 414.
Ferner giebt ſchon auch die Meßkunſt zu der
Mechanik identiſche Saͤtze, und die Verbindung der-
ſelben mit denen, die unmittelbar Mechaniſch ſind,
macht die Erfindung identiſcher Lehrſaͤtze in der Mecha-
nik deſto leichter, und dieſe Lehrſaͤtze ſelbſt zahlreicher.
Die Begriffe des Gleichgewichtes, des Beharrungs-
ſtandes, des Ruheſtandes, der Undurchdringbarkeit
der Materie ꝛc. geben uns ebenfalls ſolche an. Ueber-
haupt kommen ſie auch vor, wo eine Aufgabe directe
und umgekehrt, (§. 165.) aufgeloͤſet werden kann,
und ſelbſt jede practiſche Aufgabe giebt uns einen
identiſchen Satz. (§. 169.)
§. 415.
Um aber einige einzelne Beyſpiele anzubringen,
und das bisherige dadurch zu erlaͤutern, ſo werden wir
als eines der kuͤrzeſten, das oben (§. 73.) gegebene vor-
nehmen. Dieſes wird folgender Geſtalt in den Schluß
des §. 405. gebracht:
- Eine Kugel wirft einen runden Schatten;
- Die Erde iſt eine Kugel;
- Folglich die Erde wirft einen runden Schatten.
Jn dieſem Schluße war der Schlußſatz eine Erfah-
rung, der Oberſatz iſt identiſch, und daher wurde eigent-
lich der Unterſatz aus beyden gefolgert. Naͤmlich
man ſchloß:
- Was einen runden Schatten wirft, iſt eine Kugel;
- Die Erde wirft einen runden Schatten;
- Folglich iſt die Erde eine Kugel.
Dieſe letzte Schlußrede gebrauchte man ehedem, ſo
lange man noch nicht aus andern Gruͤnden wußte,
daß die Erde eine Kugel ſey. Nunmehr, da man
dieſes
[272]VI. Hauptſtuͤck,
dieſes aus andern Erfahrungen genauer eroͤrtern
kann, ſo gebraucht man in der Theorie der Finſter-
niſſe die erſte Schlußrede, und zwar um deſto mehr,
weil man nunmehr weis, daß eigentlich nicht die Erde
ſelbſt, ſondern ihr Luftkrais den Schatten in den
Mond wirft. Daß aber auch der Luftkrais ſphaͤriſch
ſey, wird aus der Theorie des Gleichgewichtes fluͤßi-
ger Koͤrper, und daher wiederum durch identiſche
Saͤtze erwieſen ꝛc.
§. 416.
So auch, wenn man annimmt, daß die Waͤrme
eine beſondre Materie ſey, und nicht bloß in der Be-
wegung der Theilchen der Koͤrper ſelbſt beſtehe; ſo
wird man aus dem Satz, daß die Waͤrme durch die
Koͤrper dringe, folgern koͤnnen, daß die Materie der
Waͤrme fluͤßig ſey. Dieſes folgt aus der Undurch-
dringbarkeit der Materie und unfluͤßiger oder feſter
Koͤrper. Wiederum wird man daraus, daß die Waͤr-
me die Koͤrper ausdehnt, der Waͤrme eine Kraft bey-
legen, und ſie elaſtiſch machen, weil man weis, daß
die Koͤrper ſich ohne Kraft nicht trennen laſſen. Eben
ſo wird man die Theilchen der Materie der Waͤrme
ſo klein annehmen muͤſſen, als immer die Zwiſchen-
raͤumchen der Koͤrper ſind, durch welche ſie dringen
kann, weil nur das kleinere im groͤßern ſeyn kann,
folglich der identiſche Satz von dem Raum und
Materie:
- Wenn A in B iſt, ſo iſt A kleiner als B.
- Wenn A kleiner als B iſt, ſo kann A in B ſeyn.
dabey angewandt werden kann, in welchem A eine
Materie, B einen Raum vorſtellt ꝛc.
§. 417.
Die bisher erklaͤrte analytiſche Methode (§. 404
ſeqq.) koͤmmt nicht nur vor, wo der Schlußſatz in
der
[273]von den Beweiſen.
der Schlußrede (§. 405.) eine Erfahrung iſt; ſondern
uͤberhaupt auch in den Faͤllen, wo man zwiſchen dem
Subject A und Praͤdicat B eines allgemein bejahen-
den Satzes ein Mittelglied M zu ſuchen habe. Selbſt
die Schluͤße, durch die wir die Beſchaffenheit dieſer
analytiſchen Methode herausgebracht haben, geben
Beyſpiele davon. So z. E. haben wir (§. 405.)
geſchloſſen, dieſe Methode erfordre die erſte Figur,
weil dieſe eigentlich Gruͤnde giebt, und dieſe Methode
Gruͤnde ausfuͤndig machen ſollen. Eben ſo koͤmmt
daſelbſt der identiſche Satz vor, daß ein Satz, der
bewieſen werden ſoll, zum Schlußſatz gemacht werden
muͤſſe, weil eigentlich Schlußſaͤtze bewieſen werden.
Endlich forderte der Beweis (§. 406.) ebenfalls den
identiſchen Satz, daß, wenn in einer Schlußrede in
Barbara einer der Vorderſaͤtze identiſch iſt, der andre
Vorderſatz durch den erſten und durch den Schlußſatz
gefunden werden koͤnne; und hinwiederum, daß wenn
letzteres gethan werden ſoll, auch das erſtere ſeyn
muͤſſe. Und dieſes wird in dem angefuͤhrten § eigent-
lich erwieſen.
§. 418.
Man ſieht ferner hieraus, daß in den Schluͤſſen,
ſo dieſe Methode erfordert, etwas viel nothwendi-
gers vorkomme, als wo ein Satz nur directe zu be-
weiſen iſt, weil hier die Vorderſaͤtze von einer beſon-
dern Art ſeyn muͤſſen. Die dreyerley Arten von
Saͤtzen, die den Unterſchied der Vernunftlehre des
moͤglichen, wirklichen und nothwendigen aus-
machen, (§. 137.) laufen hiebey gewiſſer Maaßen
durch einander, weil man, wo man Gruͤnde ſucht,
unter denen, die etwann ſeyn koͤnnten, die auszuſu-
chen hat, die entweder in dieſer Welt wirklich ſind,
Lamb. Org. I. Band. Soder
[274]VI. Hauptſtuͤck,
oder die aus der Natur der Sache nothwendig ſeyn
muͤſſen.
§. 419.
Die Nothwendigkeit beruht auf der Ausſchlieſ-
ſung des Gegentheils, oder uͤberhaupt jeder andrer
Moͤglichkeiten. Z. E. Die Erde wirft einen runden
Schatten. Hieraus folgert man richtig, ſie muͤſſe
eine Kugel ſeyn, weil kein andrer Koͤrper einen runden
Schatten wirft. Eben ſo: die Waͤrme hat eine Kraft,
weil ſie, ohne eine Kraft zu haben, die Koͤrper nicht
ausdehnen koͤnnte. Die Materie der Waͤrme iſt
fluͤßig, weil ſie ſonſt, wenn ſie nicht fluͤßig, folglich feſt
waͤre, nicht in die Zwiſchenraͤumchen der Koͤrper drin-
gen koͤnnte ꝛc.
§. 420.
Die Form dieſer Arten zu ſchließen iſt demnach
dieſe:
- I. Weil A, B iſt: ſo muß A, C ſeyn, weil | C allein
B iſt. - II. Weil A, B iſt: ſo muß B, C ſeyn, weil A ſonſt
keinen Dingen, als dem C zukoͤmmt, und A, B
Wechſelbegriffe ſind. - III. Weil A, B iſt: ſo muß C, A ſeyn. Denn A
und B ſind Wechſelbegriffe, und B koͤmmt dem
C zu. - IV. Weil A, B iſt: ſo muß auch C, B ſeyn, denn
A koͤmmt dem C nothwendig zu. - V. Weil A, B iſt: ſo muß C, D ſeyn. Denn die
Beſtimmung B in A zieht die Beſtimmung
D in C nach ſich.
Wir haben (§. 264.) bey den bedingten Saͤtzen aͤhn-
liche Formeln gehabt, und die gegenwaͤrtigen ſind nur
darinn verſchieden, daß hier die Bedingung cathe-
goriſch, die Folge aber in das ſeyn muͤſſen ver-
wandelt
[275]von den Beweiſen.
wandelt iſt. Dieſes aber muß jedesmal aus der
Sache ſelbſt und ihren Umſtaͤnden und Beſtimmun-
gen gefunden werden, wie aus den vorhin angefuͤhrten
Beyſpielen zu ſehen.
§. 421.
Da die identiſchen Saͤtze, die man in dieſer Me-
thode gebraucht, Praͤdicate haben muͤſſen, die ſehr reiche
Begriffe ſind: ſo hat man in den Wiſſenſchaften vor-
nehmlich auf ſolche zu ſehen, um ſie im Vorrath zu
haben. So viel man naͤmlich von dem Begriffe B
eigene Merkmaale oder eigene Verhaͤltnißbegriffe A
findet; ſo viel Saͤtze von der Form: A iſt B, wird
man auch bekommen. Das vorzuͤgliche ſolcher Saͤtze
koͤmmt auf folgende Stuͤcke an:
- 1. Je reicher der Begriff B iſt, der zum Praͤdicat
des umgekehrten Satzes werden ſoll, deſto
brauchbarer wird er, weil, ſo bald man findet,
daß er einer Sache C zukoͤmmt, dadurch mit
einem male eine Menge von Eigenſchaften
gefunden werden. - 2. Je kenntlicher der Begriff A iſt, der zum Sub-
ject des umgekehrten Satzes werden ſoll, je
weniger Merkmaale er enthaͤlt, und je leichter
er ſich in den Dingen C finden laͤßt, deſto
tauglicher iſt er. Denn dadurch erhaͤlt man,
daß der Schlußſatz: C iſt B, bald kann ge-
zogen werden, weil A das Criterium von B
iſt. (§. 172.)
§. 422.
Das ſchon etliche mal aus dem §. 73. angefuͤhrte
Beyſpiel mag dieſen beyden Saͤtzen zur Erlaͤuterung
dienen. Denn um zu finden, daß die Erde eine Kugel
ſey, und folglich die ganze mathematiſche Geographie
heraus zu bringen, waͤre es kaum moͤglich, einen ein-
S 2fachern
[276]VII. Hauptſtuͤck,
fachern Satz zu finden, als der, daß der Schatten
der Erde rund ſey. Jndeſſen characteriſirt er die Figur
der Erde vollſtaͤndig, und wuͤrde in Ermangelung
jeder andrer Gruͤnde zureichen. Es iſt allerdings
vortheilhaft, wenn man aus ſo einfachen und trocknen
Saͤtzen andre herausbringen kann, die den ganzen Be-
griff einer Sache mit einem male aufklaͤren.
Siebentes Hauptſtuͤck.
Von den Aufgaben.
§. 423.
Nach den bisherigen Betrachtungen uͤber den Zuſam-
menhang der Saͤtze werden wir nun zu den Fragen
fortſchreiten, und ſehen, wiefern auch dieſe eine Ver-
bindung unter einander haben. Da eine Frage weder
bejahend noch verneinend iſt, ſo ſetzt ſie auch nichts feſt,
und daher laſſen ſich, an ſich betrachtet, alle moͤgliche
Fragen machen. Man kann was man will, und wo-
von man will, fragen, und die Schwuͤrigkeiten, die von
der Frage wegbleiben, fallen auf die Antwort.
§. 424.
Die Fragen ſind, wie wir oben (§. 156 ſeqq.)
geſehen haben, entweder theoretiſch oder practiſch.
Die theoretiſchen laſſen ſich wiederum in zwo Arten
eintheilen. Es ſeyn zween Begriffe A, B, ſo kann
man entweder nur von A fragen, was es ſey, warum
es ſey ꝛc. oder man nimmt den Begriff B mit, und
fragt, z. E. ob A, B ſey, wie B dem A zukomme, ob
A von B abhaͤnge ꝛc.
§. 425.
[277]von den Aufgaben.
§. 425.
Sind nun die Begriffe A, B an ſich moͤgliche
Begriffe, ſo hat die Frage, die man daruͤber anſtellt,
immer einen Schein der Zulaͤßigkeit. So z. E.
kann man fragen, ob Beyſpiele und Gleichniſſe nur
erlaͤutern, oder ob ſie auch beweiſen, ob die Analogie
ſtatt eines Beweiſes dienen koͤnne ꝛc. Dieſe Zulaͤßig-
keit wird noch groͤßer, wenn es nicht gar zu offenbar
iſt, daß die Frage bejaht oder verneint werden muͤſſe.
Und ſolcher Fragen giebt es noch eine gute Menge,
weil wir noch lange nicht alles wiſſen, was wir wiſſen
koͤnnten. Hingegen verraͤth man eine Einfalt oder
Unwiſſenheit, wenn man Fragen macht, die laͤngſt
ſchon beantwortet ſind, oder deren Beantwortung an
ſich offenbar iſt. So z. E. daß die Erde rund iſt,
weis nun jeder von Kindheit auf, daß der Mond und
die Sonne rund ſind, faͤllt jedem in die Augen. Wer
demnach fragen wollte, ob die Erde, oder die Sonne,
oder der Mond viereckicht ſey, muͤßte im erſten Fall
unter den Chineſern erzogen ſeyn, weil dieſe im Spruͤch-
wort haben, die Erde ſey viereckicht, in beyden andern
Faͤllen aber blind ſeyn, oder nicht wiſſen, was rund oder
viereckicht iſt.
§. 426.
Sind hingegen die Begriffe A, B oder wenigſtens
einer davon an ſich unmoͤglich, ſo faͤllt die Frage
ins ungereimte, weil ſie gar nicht vorkoͤmmt.
So z. E. wenn man fragte, ob die Schlußſaͤtze in
der fuͤnften Figur bejahend oder verneinend ſeyn, ob
ein Zirkel rechtwinklichte Ecken habe, ob die Sonnen-
finſterniſſen im erſten Viertel total ſeyn ꝛc. ſo ſind
dieſes Fragen, die gar nicht vorkommen, weil es keine
fuͤnfte Figur von Schluͤßen giebt, weil ein Zirkel gar
S 3keine
[278]VII. Hauptſtuͤck,
keine Ecken hat, und weil in den Vierteln des Mondes
gar keine Finſterniſſe geſchehen ꝛc.
§. 427.
Auf dieſen Unterſchied der Fragen hat man bey
der Beantwortung derſelben allerdings zu ſehen.
Denn ehe man auf die Beantwortung denkt, muß
man vorerſt ſehen, ob ſich die Frage machen laſſe,
und ob ſie richtig abgefaßt ſey? Denn waͤre das eine
oder das andre, oder beydes nicht, ſo iſt die Anzeige,
und wo es noͤthig iſt, der Beweis, daß die Frage gar
nicht angehe, alle Antwort, die man geben kann.
§. 428.
Es koͤmmt demnach auf die Bedingung an, die
eine Frage vorausſetzt. Dieſe Bedingung muß moͤg-
lich und richtig ſeyn, wenn die Frage ſoll koͤnnen
beantwortet werden. Sie liegt aber entweder in den
Begriffen, oder in der Form der Frage, oder in bey-
den zugleich. Die Begriffe muͤſſen an ſich moͤglich
ſeyn. Ferner muͤſſen die Dinge exiſtiren, ſo bald die
Frage ſie als exiſtirend vorausſetzt, und uͤberhaupt
muͤſſen alle Umſtaͤnde und Beſtimmungen dabey ſeyn,
die die Frage fordert, wenn ſie ſolle koͤnnen gemacht
werden. Z. E. Wenn man fragte, ob Ariſtoteles
ſeine Saͤtze aus Carteſii Schriften genommen, ſo
wuͤrde dieſe Frage gleich eine Ungereimtheit in der
Zeitrechnung anzeigen, und folglich die Frage, deren
Beantwortung aus der Bergleichung beyder Schrif-
ten genommen werden muͤßte, ganz wegfallen.
§. 429.
Die Form der Fragen koͤmmt beſonders bey ſolchen
zu unterſuchen, die aus disjunctiven Gliedern beſtehen,
weil dieſe Glieder nicht nur einander behoͤrig entgegen
geſetzt, ſondern auch alle mitgenommen werden muͤſſen.
Z. E. Wenn man fragt: ob ein Schluß in der zwey-
ten
[279]von den Aufgaben.
ten Figur oder in Barbara ſey, ſo iſt hier die Dis-
junction in allewege uͤbel getroffen, weil ſie alle vier
Figuren anzeigen ſollte. Wuͤrde ſie aber nur die
Schlußarten der erſten Figur angeben, ſo koͤnnte es
wiederum ſeyn, daß die Frage gar nicht vorkaͤme,
oder durchaus geaͤndert werden muͤßte, ſo oft naͤmlich
der Schluß in einer der drey andern Figuren waͤre.
§. 430.
Man ſieht demnach hieraus, daß bey jeder Frage
gleich anfangs einige Fragen vorkommen und eroͤrtert
ſeyn muͤſſen, ehe man die Beantwortung derſelben
vornehmen kann. Nun iſt zwar in vielen Faͤllen dieſe
Weitlaͤuftigkeit nicht nothwendig; ſo oft naͤmlich
das, was eine Frage voraus ſetzt, vor ſich klar iſt,
und keiner fernern Unterſuchung bedarf. Hingegen
koͤmmt es eben auch nicht ſelten vor, daß man die Be-
dingungen der Moͤglichkeit einer Frage zu geſchwinde
als richtig und vollſtaͤndig annimmt, da man in der
That noch keinen Beweis davon hat, und mit gutem
Fuge zweifeln kann, ob die Frage nicht ganz wegfalle,
wie es den meiſten aſtrologiſchen ergangen, und wie
auch dermalen noch in der Naturlehre mit den Hy-
potheſen, auch alle Fragen, ſo man uͤber dieſelben ma-
chen kann, wegfallen, ſo bald die Hypotheſen umge-
ſtoßen werden. Auf eine aͤhnliche Art ſieht man oͤfters
ohne Beweis eine Frage fuͤr richtig und vollſtaͤndig
an, darinn noch eine Luͤcke bleibt. Z. E. Wenn man
fragt, ob ſich die Erde oder die Sonne bewege, ſo
mangelt dieſer Frage allerdings noch der Zuſatz, ob
ſich nicht beyde bewegen, und Zeno, der alle Bewe-
gung laͤugnete, wuͤrde noch beyfuͤgen, ob nicht keines
von dieſen dreyen ſey?
S 4§. 431.
[280]VII. Hauptſtuͤck,
§. 431.
Die Unterſuchung der Zulaͤßigkeit einer Frage
kann directe angeſtellt werden. Und dabey unter-
ſucht man, was fuͤr Bedingungen eine Frage voraus-
ſetze, und pruͤft jede Bedingung fuͤr ſich. Auf dieſe
Art wird die Frage in mehrere einfachere aufgeloͤſet.
Und dieſe Aufloͤſung dient nur, ihre Moͤglichkeit zu
unterſuchen, welches wir hier anmerken, weil auch
bey moͤglichen Fragen eine Aufloͤſung in einfachere
vorkoͤmmt, die wir aber nachher betrachten werden.
§. 432.
Man kann aber auch mit der Unterſuchung der
Zulaͤßigkeit der Frage apogogiſch verfahren. Denn
wenn eine Frage nicht gemacht werden kann, ſo mag
man ſie bejahen oder verneinen, und es wird in beyden
Faͤllen eine Ungereimtheit herausgebracht werden
koͤnnen. Aber es muß beydes vorgenommen werden,
weil eins das andre, an ſich betrachtet, nicht umſtoͤßt.
Denn das Bejahen und Verneinen geht nur nicht
zugleich, und in gleicher Abſicht an, es kann aber
beydes wegfallen, und faͤllt weg, ſo oft die Frage gar
nicht vorkoͤmmt. Z. E. Ob die Erde oder die Sonne
ruhe, oder im Mittelpunkt der Welt ſey? Dieſe
Frage faͤllt weg. Denn man mag erſteres oder letz-
teres bejahen oder verneinen, ſo widerſpricht man
dem Satze, daß beyde um den Mittelpunkt der
Schwere des Weltſyſtems, oder auch nur des Son-
nenſyſtems laufen.
§. 433.
Eine Frage giebt uͤberhaupt etwas zu eroͤrtern,
zu erfinden oder zu thun vor, oder ſie iſt ſelbſt ſchon
ſo eingerichtet, daß ſie an ſich betrachtet zu eroͤrtern
iſt. Wir zeigen dieſen Unterſchied an, weil wir oben
angemerkt haben, daß eine Frage auf ihre einfachſte
Form
[281]von den Aufgaben.
Form gebracht, nur aus zween Hauptbegriffen beſtehe,
und daß der eine dieſer Begriffe nothwendig eine
Handlung vorſtelle. (§. 156.) Die vielerley Ab-
wechslungen, die die Sprache in den Ausdruͤcken zu-
laͤßt, und hinwiederum zuweilen auch der Mangel
an Ausdruͤcken, machen, daß man ſich im Vortrage
nicht immer an dieſe einfache Form bindet, und man
hat ſie bisher mehrentheils nur den Fragen der Auf-
gaben gegeben. Da ſich aber jede andre Ausdruͤcke
in dieſe Form bringen laſſen, (§. 168.) ſo werden wir
dieſes hier etwas umſtaͤndlicher anzeigen.
§ 434. a)
Man fragt naͤmlich entweder ſchlechthin: Was
iſt; wer hat; wem gehoͤrt; warum iſt ꝛc. oder man
haͤngt die Frage mit einem vorhergehenden oder nach-
folgenden Satze zuſammen, und dieſer zeigt entweder
einen Theil der Frage, oder der Beantwortung an,
oder er wird nur zur Abaͤnderung der Ausdruͤcke
gebraucht. Z. E.
- Es iſt die Frage: Es bleibt noch unbeſtimmt,
es wird ſich leicht finden laſſen, man weis
nicht ꝛc. ob, warum, wie, wer ꝛc.
oder umgekehrt:
- Ob, warum, wie, wer ꝛc. erhellet, bleibt un-
beſtimmt, wird ſich finden laſſen ꝛc.
§. 434. b)
Man ſieht aber leicht, daß dieſe Ausdruͤcke nur
dienen, um etwann den Vortrag abzuwechſeln und
fließender zu machen, und weil man den Vortrag in
Fragen und Antworten nur zu gewiſſen Abſichten
gebraucht, wo man etwann Anfaͤnger zu unterrichten
hat, oder in Proceßſachen ſie ſo ſchreibt, wie man ſie
vorgenommen, oder endlich ſchwere Unterſuchungen
S 5auf
[282]VII. Hauptſtuͤck,
auf einfachere Fragen bringt, weil man ſich dabey noch
ſelbſt erſt zu unterrichten hat ꝛc.
§. 435.
Jndeſſen iſt es immer moͤglich, dieſen Fragen die
vorhin gemeldte einfache Form zu geben, und man wird
dabey finden, daß oͤfters einige Stuͤcke der Frage, als
Data (§. 163.) vorgetragen werden koͤnnen und
muͤſſen, welches die einfache Form noch vorzuͤglicher
macht, weil ſie Data und Quaeſita ſorgfaͤltig unter-
ſcheidet. Z E. Man fragt, was ein gewiſſes
Wort bedeute, ſo iſt das Wort gegeben, und die
Bedeutung wird geſucht. Demnach iſt die Form
der Frage:
- Die Bedeutung eines vorgegebnen Worts
zu finden?
Wiederum, man fragt, was ſich aus zween Vorder-
ſaͤtzen fuͤr ein Schluß ziehen laſſe: ſo iſt die Form der
Frage dieſe:
- Wenn zween Vorderſaͤtze gegeben, den
Schlußſatz zu beſtimmen, der daraus ge-
zogen werden kann?
§. 436. a)
Dieſe einfachere Form kann auch bey unmoͤglichen
Fragen dienen, ihre Ungereimtheit leichter einzuſehen.
Z. E. Die vorhin (§. 426.) gegebenen Beyſpiele
werden ſo ausfallen:
- Wenn ein Schluß der fuͤnften Figur gegeben,
den Schlußſatz oder die Beſchaffenheit
des Schlußſatzes zu finden? - Wenn ein eckichter Zirkel gegeben, die Groͤße
ſeiner Winkel zu finden? - Wenn zur Zeit des erſten Viertels eine Son-
nenfinſterniß iſt, ihre Groͤße zu finden?
Hier
[283]von den Aufgaben.
Hier ſind die Data unmoͤglich, und daher koͤmmt die
Frage gar nicht vor, weil ein Unding weder Eigen-
ſchaften, noch Groͤßen, noch Modificationen hat.
§. 436. b).
Hat man ſich von der Zulaͤßigkeit einer Frage
verſichert, ſo iſt auch die Eroͤrterung moͤglich, dieſe
mag nun die Frage ganz oder zum Theil bejahen oder
verneinen. Wir merken zu dieſem Ende ferner an,
daß die Eroͤrterung der Frage, in Abſicht auf die
Leichtigkeit oder Schwuͤrigkeit, ſehr oft ſelbſt von dem
Vortrage der Frage abhaͤngt. Dieſes geſchieht, wenn
in der Frage mehrere Data und das Geſuchte ſelbſt
von der Seite vorgeſtellt wird, wo es mit den Datis
einen naͤhern Zuſammenhang hat.
§. 437.
Dieſer Unterſchied des Vortrages, der bey einer
Frage moͤglich iſt, giebt daher oͤfters Anlaß, eine
Frage in eine andre zu verwandeln, die uns naͤher
zu der Eroͤrterung derſelben leitet. So z. E. da
wir oben (§. 322.) geſehen, daß jeder Beweis, der
aus einfachen Schlußreden beſteht, ſich in eine Schluß-
kette verwandeln laſſe; ſo iſt klar, daß jede Frage, die
uͤber ſolche Beweiſe kann gemacht werden, auch bey
den Schlußketten vorkomme. Nun iſt aber eine
Schlußkette ungleich einfacher, daher wird auch die
Frage durch dieſe Verwandlung leichter. Man wird
in dem §. 383. und folgenden ein Beyſpiel davon
ſinden. Jn der Mathematik kommen ſolche Ver-
wandlungen oder Reductionen einer Aufgabe auf
eine andre ſehr ofte vor, und man gebraucht ſie auch
da, wo die Aufloͤſung noch nicht angehen will, folglich
nur, um den Zuſammenhang oder die Abhaͤnglich-
keit der Aufgaben von einander zu zeigen.
§. 438.
[284]VII. Hauptſtuͤck,
§. 438.
Geht eine ſolche Verwandlung der Frage nicht
an, oder findet man keine, ſo ſucht man ſie in mehrere
einfachere aufzuloͤſen, von deren Eroͤrterung die
Eroͤrterung der vorgelegten Frage abhaͤngt. Hiezu
dienen nun die Requiſita, Criteria und Symptomata,
die wir ſchon oben (§. 172.) bey der Betrachtung
der Aufgaben angezeigt haben. Denn die Requiſita
zeigen, was zu der Eroͤrterung der Frage erfordert
werde, und folglich geben ſie die einfachen Fragen an.
Die Criteria, die man ebenfalls aufzuſuchen hat,
helfen die Dinge, Begriffe, Saͤtze ꝛc. kenntlich zu
machen, damit man dieſe deſto leichter aufſuchen koͤn-
ne. Und die Symptomata aͤußern ſich wenn man die
Sache, wovon die Frage iſt, durch verſchiedne Pro-
ben, Vergleichungen, Veraͤnderungen ꝛc. durchfuͤhrt,
und klaͤren dadurch ihre verdecktere Eigenſchaften
nach und nach mehr auf, daß man ſodann ſehen kann,
wiefern dieſe zu der Eroͤrterung der Frage dienen.
§. 439.
So z. E. wenn die Frage iſt, die Richtigkeit
eines Schlußes zu unterſuchen, ſo loͤſet ſich dieſe
in zwo andre auf, ob naͤmlich die Form des Schlußes
richtig, und ob die Vorderſaͤtze wahr ſeyn? Denn
dieſes ſind zwey Requiſita eines richtigen Schlußes.
Die Criteria von der Richtigkeit der Form finden ſich
in den Namen der Schluͤße Barbara, Celarent etc.
Und ſollte die Form nicht richtig ſeyn, ſo laͤßt ſich
verſuchen, wiefern mit Verwechslung, Umkehrung
und Aenderung der Vorderſaͤtze noch ein Schlußſatz
herausgebracht werden koͤnne Man wird eben ſo
im erſten Hauptſtuͤcke (§. 35 ſeqq.) finden, wie wir die
Frage, den Umfang ines Begriffes zu beſtim-
men, in einige andre Fragen aufgeloͤſet haben, die da-
bey
[285]von den Aufgaben.
bey der Ordnung nach vorkommen, bis man ſich von der
Richtigkeit des Verfahrens vollſtaͤndig verſichert hat.
§. 440.
Die Fragen begreifen zuweilen ſelbſt ſchon die
Antwort, ſo man vermuthet, aber noch im Zweifel
laͤßt. Z. E. Ob die Sonne ein Fixſtern ſey, ob die
Metaphyſik ſich mit geometriſcher Schaͤrfe beweiſen
laſſe, ob nicht mehr als fuͤnf Sinne moͤglich ſind,
ob ſich der Zirkel quadriren laſſe ꝛc. und uͤberhaupt
nach der Formel, obA, Bſey ꝛc. Solche Fragen
werden demnach nur mit ja oder mit nein beantwor-
tet, oder man unterſcheidet dabey, und bejaht ſie nur
zum Theil, oder unter gewiſſen Bedingungen, oder man
laͤßt ſie noch dahingeſtellt. Da dieſelben auf einen
Satz koͤnnen gebracht werden, deſſen Wahrheit und
Richtigkeit zu unterſuchen iſt, ſo iſt klar, daß man
ſie auf alle die Arten unterſuchen kann, nach welchen
ein Satz ſich beweiſen oder umſtoßen laͤßt. Daher
kann man den Satz entweder directe beweiſen, oder
ſein Gegentheil aufs Ungereimte bringen, oder ihn
durch Erfahrungen auf die Probe ſetzen, oder ſuchen,
was er fuͤr Gruͤnde haben muͤßte, und ob dieſe
Gruͤnde wahr ſeyn, oder man findet das Gegentheil
deſſelben wahr, es ſey, daß man es directe, oder apo-
gogiſch, oder durch die Erfahrung, oder durch die
Pruͤfung der Gruͤnde, die es vorausſetzt und erfor-
dert ꝛc. beweiſen koͤnne. Wenn aber der Satz weder
ganz wahr, noch ganz falſch iſt, ſo koͤmmt es auf die
Ausfindung der Bedingungen und Umſtaͤnde an,
unter welchen er wahr iſt, und dadurch wird die Frage
in eine andre verwandelt.
§. 441.
Hingegen giebt es unzaͤhlige Fragen, deren Ant-
wort nicht blos in Ja oder Nein, oder im Unter-
ſcheiden
[286]VII. Hauptſtuͤck,
ſcheiden beſteht, ſondern das, was man zu wiſſen ver-
langt, ganz angeben muß. Z. E. Man fragt nach
Urſachen, Gruͤnden, Beweiſen, nach der Be-
ſchaffenheit einer Sache, nach den Praͤdicaten
eines Subjectes, und umgekehrt, nach den Sub-
jecten eines Praͤdicats, nach dem Verhaͤltniß
zweyer oder mehrerer Dinge, nach den Mitteln einer
Bedingung Genuͤge zu leiſten, oder eine Abſicht
zu erreichen, nach den Abſichten, zu welchen ge-
gebene oder vorhandene Sachen als Mittel dienen,
nach den Wirkungen einer Urſache, nach Regeln
und Vorſchriften bey Handlungen ꝛc. Solche
Fragen ſind nun in aller Form Aufgaben, weil man
dabey Data und Quaeſita hat.
§. 442.
Es laſſen ſich aber auch die erſtere Art von Fra-
gen in dieſe Form bringen, wenn man in dem Satze,
nach deſſen Richtigkeit gefragt wird, das Subject
oder Praͤdicat unbeſtimmt laͤßt, oder es nur durch
den Begriff einer hoͤhern Gattung ausdruͤckt. Z. E.
Unter welche Art von Weltkoͤrpern die Sonne gehoͤre,
welches die Beſchaffenheit der metaphyſiſchen Beweiſe
ſey ꝛc. Hier iſt nun nicht mehr mit ja oder nein zu
antworten, ſondern die Antwort beſteht in einer
vollſtaͤndigen Aufloͤſung der Frage. Sie wird daher
ſchwerer, aber dagegen laͤßt ſie kem leeres, wie wenn
die Frage nur haͤtte muͤſſen verneint werden.
§. 443.
Man kann die ſechs Faͤlle, die wir in vorherge-
hendem Hauptſtuͤcke fuͤr den Mittelweg zwiſchen der
ſynthetiſchen und analytiſchen Methode zu beweiſen
gefunden haben, (§. 330—346.) ingleichem auch,
was wir von der ſpecialern analytiſchen Methode
(§. 404—422) geſagt haben, hieher rechnen, weil
alles
[287]von den Aufgaben.
alles dieſes ſich auch auf den Zuſammenhang theore-
tiſcher Fragen erſtreckt, deren Beantwortung und
Aufloͤſung in einer ſchicklichen und richtigen Verbin-
dung von Lehrſaͤtzen beſteht, die ſchlechthin theoretiſch
ſind, (§. 158, 161.) ferner kann man alles hieher
rechnen, was wir im erſten Hauptſtuͤcke (§. 26—78)
von Erfindung und Beſtimmung der Begriffe geſagt
haben, weil bey der Aufloͤſung theoretiſcher Fragen
faſt immer Begriffe zu beſtimmen, zuſammen zu ſetzen,
und in andre zu verwandeln vorkommen, zumal wenn
die Frage ſelbſt ſchon dieſes fordert oder vorgiebt.
§. 444.
Die hier angezognen §. §. enthalten demnach
ſchon eine gute Menge von Faͤllen, bey welchen man
ſich Fragen vorlegen kann, und zwar beſonders dieje-
nigen, wobey die Frage durch logiſche Woͤrter
ausgedruͤckt wird, und der Weg, den man in
Aufloͤſung der Frage zu nehmen hat, ſich durch
die bloße Form unſrer Erkenntniß, wo nicht
durchaus beſtimmen, doch wenigſtens uͤber-
haupt anzeigen laͤßt. Die Wiſſenſchaften uͤber-
haupt ſind eigentlich nur eine angewandte Ver-
nunftlehre, eben ſo, wie es eine angewandte Ma-
thematik giebt. Man ſollte daher allerdings jede
Aufgabe in den Wiſſenſchaften auf bloß logi-
ſche Aufgaben reduciren koͤnnen. Wir haben
aber noch wenige Beyſpiele davon. Jndeſſen zeigt
doch das oben, (§. 100.) aus der Wolfiſchen Meta-
phyſik angefuͤhrte, daß die Sache angeht, wenn man
ſich die vorgeſetzte Aufgabe, und darinn ſowohl die
Data als das Quaeſitum auf logiſche Begriffe zu
bringen bemuͤht. Dieſes muß aber immer aus der
Sache ſelbſt gefunden werden, wie man ebenfalls nicht
jeden geometriſchen Satz in der angewandten Mathe-
matik
[288]VII. Hauptſtuͤck,
matik aller Orten gebrauchen kann, ſondern aus der
Natur der Sache beſtimmen muß, welcher ſich ge-
brauchen laſſe. Zuweilen muß dieſer noch erſt gefun-
den werden, und ſodann wird er in Form eines Lehn-
ſatzes vorgetragen. (§. 153.)
§. 445.
Unterſucht man aber genauer, wo es denn fehle,
daß in den Wiſſenſchaften nicht auch logiſche Lehr-
ſaͤtze vorkommen, ſo wird man den Grund allerdings
darinn finden, daß die Vernunftlehre bisher noch
weit zuruͤck bleibt, weil man lange Zeit kaum die Leh-
re der einfachen Schluͤſſe und einige Canones, nebſt
den Locis logicis, darinn vorgetragen. Dadurch
blieben die zuſammengeſetzteren Lehrſaͤtze und die Be-
trachtung ſpecialerer Faͤlle weg, und dieſes machte,
daß man auch an keine Anwendung derſelben den-
ken konnte. Da indeſſen die Sache moͤglich iſt, ſo
iſt es anzurathen, bey Unterſuchungen in philoſophi-
ſchen Wiſſenſchaften auf die Faͤlle acht zu haben, wo
die Form der Erkenntniß zum Leitfaden der Unterſu-
chung dienen kann. Man wird dabey leicht finden,
daß die vorhin (§. 443.) angezogenen Faͤlle haͤufig
vorkommen, weil bey Unterſuchungen weder die ſyn-
thetiſche noch die analytiſche Methode unmittelbare
und ſichere Dienſte thun. (§. 329. ſeqq.) Wir ha-
ben aus dieſem Grunde bemeldte Faͤlle in groͤßerer
Anzahl angefuͤhrt und ſpecialer characteriſirt, um ſie
da, wo ſie vorkommen, leichter finden zu koͤnnen.
§. 446.
Um aber genauer zu unterſuchen, worauf es ei-
gentlich ankomme, ſo muͤſſen wir auch hier die Data
und Quaeſita deutlicher auseinanderſetzen und ihren
Zuſammenhang anzeigen. Die Data ſind eine Frage
uͤber ein vorgegebenes Object, und zwar mit eigenen
Woͤrtern
[289]von den Aufgaben.
Woͤrtern ausgedruͤckt. Das Quaeſitum iſt, eben
dieſe Frage mit logiſchen Woͤrtern oder durch logiſche
Begriffe dergeſtalt vorzuſtellen, daß man vermittelſt
derſelben die Methode zur Aufloͤſung der Frage fin-
den, und folglich dieſelbe wirklich aufloͤſen koͤnne.
§. 447.
Es geſchieht demnach hier eine doppelte Ueber-
ſetzung, naͤmlich erſtlich die Ueberſetzung der Fra-
ge aus der gemeinen Sprache in die logiſche, und
ſodann die Ueberſetzung und Anwendung der logiſchen
Aufloͤſung in die gemeine Sprache. Letzteres iſt die
Abſicht, warum man erſteres thut, und dieſe Redu-
ction iſt eben ſo wenig ein Umweg, als wenn man eine
Aufgabe der angewandten Mathematik auf eine bloß
geometriſche oder algebraiſche reducirt, und zwar ſo,
daß mit dieſer zugleich jene aufgeloͤſt wird.
§. 448.
Soll nun dieſer Vortheil hier auch erhalten wer-
den, ſo iſt klar, daß man bey der Verwandlung
der vorgegebenen Frage oder Aufgabe in eine
bloß logiſche, ſo vieleDataund Umſtaͤnde
mitnehmen muͤſſe, daß die nunmehr logiſche
Aufgabe zur Aufloͤſung zureichend determinirt
ſey. (§. 163.) Man muß folglich nicht nur darinn
ausdruͤcken, was man ſucht, ſondern auch, woraus
es koͤnne gefunden werden.
§. 449.
Dieſe Bedingung beſtimmt nun naͤher, wie die
Vernunftlehre ausſehen ſolle. Denn hat man
die Frage auf erſtbemeldte Art logiſch ausgedruͤckt;
ſo iſt ſie entweder ganz einfach, und da ſoll ſie nebſt
der Aufloͤſung in der Vernunftlehre bereits vorkom-
men; oder wenn ſie zuſammengeſetzter iſt, ſo ſollen
dennoch die einfachen, worein ſie ſich aufloͤſen laͤßt,
Lamb. Org. I. Band. Tin
[290]VII. Hauptſtuͤck,
in der Vernunftlehre nicht nur vorhanden, ſondern
ſo gelaͤufig ſeyn, daß die Aufloͤſung in die einfachere
Fragen dadurch ganz leicht werde.
§. 450.
Die Trigonometrie, welche uns die einfach-
ſten und naͤchſten Umwege, eine Groͤße zu fin-
den, angiebt, giebt uns ein Beyſpiel, wodurch
das hier fuͤr die Vernunftlehre verlangte erlaͤutert
wird. Wenn wir die einfachen Schlußreden und
nach dieſen die einfachſten der zuſammengeſetzten, (§.
284) als ſolche naͤchſten Umwege, Eigenſchaften
zu finden, anſehen koͤnnen, ſo hat die Vernunftlehre
hierinn mit der Trigonometrie eine voͤllige Aehnlichkeit,
die wir bereits oben (§. 291. ſeqq.) noch weiter ge-
trieben haben. Und da es in der Vernunftlehre eben
ſo viel auf Begriffe als auf Schluͤſſe ankoͤmmt,
weil dieſe mehr die Form, jene aber mehr die Ma-
terie angeben, ſo haben wir auch bereits im erſten
Hauptſtuͤcke die verſchiedenen und einfachern Wege zu
Begriffen zu gelangen, vorgezaͤhlt, und dieſe im
zweyten Hauptſtuͤcke noch durch die Theorie der Ein-
theilungen vermehrt. Die Vernunftlehre muß
immer angeben, was man finden koͤnne, und
die Anlaͤſſe dazu characteriſiren und kenntlich
machen. Man kann als ein Beyſpiel den §. 78.
mit dem §. 375. vergleichen, ſo wird man im letztern
einen voͤllig haracteriſirten Anlaß zur Anwendung der
Regel des erſtern finden.
§. 451.
Die logiſchen Begriffe, durch welche die Data
und Quaeſi[e]a der Frage ſollen vorgeſtellt werden, ſind
allgemeinere Begriffe, als die, ſo in der Frage ſelbſt
vorkommen, weil ſie ſich unmittelbar auf die Form
und Beſchaffenheit unſrer Erkenntniß uͤberhaupt
gruͤn-
[291]von den Aufgaben.
gruͤnden. Hat man demnach von denſelben zurei-
chend klare Begriffe, ſo laſſen ſie ſich in jedem
vorkommenden Fall durchs Abſtrahiren finden.
So z. E. iſt bald eroͤrtert, ob das Datum oder auch
das Quaeſitum ein Begriff, ein Merkmaal, ein Satz,
Subject, Praͤdicat, Bedingung ꝛc. ſey. Denn die
bloße Form der Erkenntniß giebt dieſes an.
§. 452.
So abſtract aber exiſtiren dieſe allgemeinen Be-
griffe in beſondern Faͤllen, als in ihren Arten, noch
lange nicht, ſondern ſie haben in denſelben eine Men-
ge Beſtimmungen und Verhaͤltniſſe, die ſie dem in-
dividualen naͤher bringen. (§. 82.) Und eben dieſe
ſind es, die man in der logiſchen Aufgabe,
worein ſich die vorgegebene verwandeln ſoll,
großentheils beybehalten muß, wenn die Aufloͤ-
ſung erleichtert werden ſoll. Wir haben bereits oben
angemerkt, wie hierinn die Allgemeinheit in der Ma-
thematik von derjenigen, die in Anſehung der Qua-
litaͤten ſtatt hat, verſchieden und ungleich vortheil-
hafter iſt. (§. 110.) Jndeſſen ſollte es doch thunlich
gemacht werden koͤnnen, das allgemeine von jeden
ſpecialen Beſtimmungen und Verhaͤltniſſen in den
Datis und Quaeſitis einer Aufgabe ſo beyzubehalten,
daß es durch logiſche Begriffe vorgeſtellt, und mit in
die logiſche Aufgabe genommen werden koͤnnte. Die-
ſes fordert eine genauere Zergliederung der Frage
ſelbſt, und man muß keinen Umſtand zuruͤck laſſen,
der die logiſche Aufgabe indeterminirt laſſen wuͤrde.
So z. E. da wir oben (§. 404. ſeqq.) die Frage vor-
legten, aus einer Erfahrung ihre Gruͤnde her-
zuleiten, welches eine beſondere analytiſche Methode
iſt, die ſich in der Naturlehre ſehr weit erſtreckt, ſo
haben wir das, was dieſe Frage fordert und voraus-
T 2ſetzt,
[292]VII. Hauptſtuͤck,
ſetzt, gleich anfangs bey ihrer Aufloͤſung ausgemacht,
und ſodann die Beſchaffenheit der Methode daraus
hergeleitet.
§. 453.
Die Aufloͤſung der logiſchen Aufgabe ſoll
eigentlich die Methode angeben, die vorgege-
bene Aufgabe aufzuloͤſen, welche in dieſelbe
verwandelt worden. Dies iſt die Abſicht der Ver-
wandlung, und zugleich der Nutzen davon. Denn
es iſt klar, daß man ſich mit Aufloͤſung einer Frage
oder Aufgabe umſonſt Muͤhe giebt, ſo lange man
noch nicht weis, wie man es anzugreifen habe, das
will ſagen, ſo lange man die Methode nicht hat, nach
welcher die Aufloͤſung von ſtatten geht. Dieſe muß
uns gleichſam die Schritte vorzaͤhlen, die wir zu
thun haben, und uns anzeigen, wie weit wir jedes-
mal gekommen. Man wird hievon in dem §. 40.
ein ausfuͤhrliches Beyſpiel finden. Und eben ſo ha-
ben wir §. 68. angezeigt, wie weit man mit der im
§. 67. gegebenen Regel reicht, und wie man ihre
Luͤcke ausfuͤllen koͤnne.
§. 454.
Es giebt uns aber dieſe Anmerkung uͤberhaupt
die Anlaͤſſe zu erkennen, wo man Aufgaben in logi-
ſche zu verwandeln hat. Denn es ſind diejenigen,
wo ſich die Aufloͤſung nicht von ſelbſt anbeut,
und wo man folglich erſt noch den Weg zu fin-
den hat, den man dabey nehmen ſoll. Hievon
finden ſich wiederum Beyſpiele in verſchiedenen mathe-
matiſchen Schriften, und beſonders in ſolchen, wo
der Verfaſſer erſt noch hat das Eis brechen muͤſ-
ſen, das will ſagen, wo die ganze Sache, und ſelbſt
die Methode, noch erſt zu erfinden war, und nicht
jede Anlaͤſſe dazu dienten, oder wo er beſondere Vor-
theile
[293]von den Aufgaben.
theile und Kunſtgriffe dazu gebrauchte. Dabey wer-
den gemeiniglich die Abſichten, die verſuchten und ge-
waͤhlten Mittel, die Schwuͤrigkeiten, die ſich dabey
gefunden, die Anzeige, wo man vorhin noch zuruͤck
geblieben, wo man angefangen, wo noch mehr zu-
ruͤck geblieben ꝛc. theils dem Werke ſelbſt, beſonders
aber auch der Vorrede einverleibt. So z. E. be-
ſchreibt Otto de Guerike in der Abhandlung ſelbſt,
wie er auf die Erfindung der Luftpumpe und der Fe-
derkraft der Luft gekommen, und es findet ſich viel
Methodiſches darinn. Man findet in der Vorrede
des Herrn HalesVegetable Statiks aͤhnliche An-
merkungen, daß naͤmlich ſeine Verſuche uͤber die
Kraft des Bluts in den Schlagadern ihn veranlaßt
haben, dieſelben auch mit dem Safte der Pflanzen
anzuſtellen, folglich kam dabey der oben (§. 334. 342.)
betrachtete Fall vor, welcher uͤberhaupt ſehr haͤufig
vorkoͤmmt, und auch bey der Erfindung der Luft-
pumpe ſtatt fand, indem Otto de Guerike ſich
anfangs vorſetzte, die Luft aus einem Faſſe ungefehr
eben ſo abzulaſſen, wie man den Wein ablaͤßt. Denn
er mußte ſich die Sache ſo vorſtellen, weil die Schnell-
kraft der Luft noch erſt zu erfinden war, und er ent-
deckte ſie, weil die Verſuche ſeine Meynung aufs un-
gereimte brachten, folglich im eigentlichſten Verſtan-
de einen apogogiſchen Beweis angaben.
§. 455.
Da in der Vernunftlehre wenigſtens die einfa-
chen Wege und Methoden vorkommen ſollen, auf
welche ſich jede Aufgabe in den Wiſſenſchaften redu-
ciren, oder in welche ſie ſich als in einfachere aufloͤ-
ſen laſſen ſollen; (§. 449.) ſo wird noch uͤberdies er-
fordert, aus der Beſchaffenheit jeder Methode
zu beſtimmen, wo ſie eigentlich gebraucht wer-
T 3den
[294]VII. Hauptſtuͤck,
den kann. Hiebey koͤmmt es demnach auf Criteria
an, (§. 172.) und es iſt klar, daß dieſe nicht ſchlecht-
hin von dem Begriffe der Methode, ſondern beſon-
ders von den Sachen ſelbſt muͤſſen hergenommen
werden, bey welchen ſie ſie anwenden laͤßt. So ha-
ben wir z. E. (§. 232.) bey den vier Figuren der ein-
fachen Schluͤſſe, ingleichen (§. 246.) bey der Aende-
rung irriger Vorderſaͤtze gethan, und eben ſo (§. 63.)
angezeigt, wo die verſchiedenen Arten von Sacher-
klaͤrungen vorkommen, und was in jedem Fall be-
ſonders dazu erfordert werde. Letzteres dient zur
Aufloͤſung der Frage in einfachere; erſteres aber zeigt
die Anlaͤſſe an, wo jede Art vornehmlich vorkoͤmmt.
§. 456.
Da ferner jede Methode von beſondern Datis
auf beſondere Quaeſita fuͤhrt, ſo iſt klar, daß beyde
zureichend muͤſſen characteriſirt werden. Denn
erſteres dient, die anwendbare Methode leichter zu
finden, letzteres aber zeigt ſogleich an, wo ſie hin-
fuͤhrt, und folglich, ob man dadurch dem vorgeſetzten
Ziele naͤher koͤmmt. So z. E. fuͤhrt die willkuͤhrliche
Zuſammenſetzung der Begriffe, (§. 65.) ingleichen
die ſynthetiſche Art zu beweiſen, (§. 329.) zu keinem
beſtimmten Ziele, hingegen iſt beydes ein Mittel,
auf nicht vorhergeſehene neue Begriffe und
Saͤtze zu kommen, beſonders, wenn man zu gluͤck-
lichen Einfaͤllen ein Geſchicke hat. Denn dadurch
fallen uns die Begriffe und Saͤtze mit einem male
bey, deren Verbindung auf neue und unvermuthete
Wahrheiten fuͤhrt. Die Zuſammenfaſſung der
Merkmaale, die man durch bloßes Bemerken oder
durch Beweiſe in einer Sache beyſammen findet, (§.
71. ſeqq.) fordert weiter nichts, als daß man darauf
acht habe, wo ſie vorkommen, und auch da noch ſu-
chet,
[295]von den Aufgaben.
chet, wo ſie ſich eben nicht gleich von ſelbſten anbie-
ten, weil wir es oft nur der Unachtſamkeit zuzuſchrei-
ben haben, wenn erſt andre nach uns darauf kommen.
§. 457.
Dieſe Characteriſirung der gegebenen und geſuch-
ten Stuͤcke bey jeder einfachen Methode, dient auch,
das eine durch das andre zu beſtimmen. Man
kann bald alles, was man vor ſich findet, als ein
Datum oder Quaeſitum anſehen. Jm erſten Fall
zeigt ſichs, was man daraus folgern koͤnne, und wo-
hin es fuͤhre, und dieſes auf eben ſo vielerley Arten,
als es, als ein Datum betrachtet, werden kann, und
die dabey vorkommenden Methoden es zu verſchiede-
nen Zielen hinaus lenken. Jm andern Fall nimmt
man den Ruͤckweg, und da man aus dem Quaeſito
die Methoden beſtimmt, ſo zeigen dieſe hinwiederum
die Data an, aus welchen es kann gefunden werden.
So z. E. fanden wir, (§. 64.) daß der Ruͤckweg des
Abſtrahirens das Zuſammenſetzen der Begriffe iſt,
ferner (§. 69.) daß man, ſtatt einen willkuͤhrlich zuſam-
mengeſetzten Begriff zu beweiſen zu ſuchen, den gera-
dern Weg geht, wenn man gleich anfangs den Be-
weis vornimmt, oder durch denſelben auf einen neuen
Begriff geleitet wird. So ſind auch die Wege, wo
man aus mehrern Praͤdicaten eines Subjectes (§.
71. ſeqq.) und hinwiederum aus mehrern Subjecten
eines Praͤdicats (§. 74. 75.) einen neuen Begriff her-
ausbringt, einander gewiſſermaaſſen entgegengeſetzt,
weil dieſer Begriff im erſten Fall beſtimmter, im an-
dern aber ausgedehnter iſt. Wiefern zu beydem die
Schluͤſſe der erſten Figur, folglich die ſynthetiſche
Methode, und daher, nach voriger Anmerkung,
auch gluͤckliche Einfaͤlle dienen koͤnnen, (§. 456.) ha-
ben wir §. 328. angezeigt.
T 4§. 458.
[296]VII. Hauptſtuͤck,
§. 458.
Endlich thut die Characteriſirung der gegebenen
und geſuchten Stuͤcke auch noch den Dienſt, daß ſie
uns Anleitung giebt, aus den einfachen Metho-
den zuſammengeſetzte zu machen. Denn die
Data ſtehen mit den Quaeſitis in einer ſolchen Ver-
bindung, daß eines durch das andre beſtimmt wird,
und die Methode eines durch das andre kenntlich
macht. Das Quaeſitum laͤßt ſich durch das Datum
als gefunden anſehen, und folglich kann es ſogleich
wiederum als ein Datum angeſehen werden, um neue
Quaeſita dadurch zu beſtimmen. Dieſes heißt nun,
verſchiedene einfache Methoden zuſammenhaͤngen,
und zuſammengeſetzte daraus machen. Wir haben
dieſes in dem fuͤnften Hauptſtuͤcke in Abſicht auf die
naͤchſten Umwege im Schließen vorgenommen, und
ſowohl die einfachen, als die naͤchſt daraus zuſam-
mengeſetzten (§. 284, 305, 306, 307.) vorgezaͤhlt, und
von noch zuſammengeſetztern (§ 310. ſeqq.) Beyſpiele
und Formeln gegeben, und dagegen (§. 317. ſeqq.
322.) gezeigt, daß ein Beweis, der aus einfachen
Schluͤſſen zuſammengeſetzt iſt, eigentlich nichts anders
als eine nicht in ihrer natuͤrlichen und einfachſten
Ordnung vorgetragene Schlußkette ſey, folglich in
ſo fern auch nur fuͤr einfach, oder fuͤr den eigentlich
geraden Weg (§. 301.) angeſehen werden koͤnne.
Eben ſo haben wir (§. 97. angezeigt, wie die Glieder
der Eintheilungen einer Sache in mehrern Abſichten
mit einander verglichen werden koͤnnen, um alles,
was den einzelnen Arten zukoͤmmt, vollſtaͤndiger her-
auszubringen. Man wird ferner finden, wie ſich
die copulativen und disjunctiven Begriffe, folglich
die, ſo wir im erſten und zweyten Hauptſtuͤcke, und
zwar erſtere als Merkmaale, die beyſammen ſind,
letztere
[297]von den Aufgaben.
letztere als Glieder von Eintheilungen betrachtet ha-
ben, in copulative, disjunctive und remotive Saͤtze
verwandeln, und zu den erſt angefuͤhrten naͤchſten
und weitern Umwegen im Schließen gebraucht wer-
den. Jm erſten und zweyten Hauptſtuͤcke ſind dieſe
Begriffe Quaeſita, im fuͤnften aber werden ſie zu
Datis, in ſo fern wir die Natur und moͤgliche Man-
nichfaltigkeit ihrer Verbindung im Schluͤſſen als ein
Quaeſitum betrachtet und beſtimmt haben.
§. 459.
Die Characteriſirung der gegebenen und geſuch-
ten Stuͤcke der einfachen Methoden thut aber nicht
nur directe den Dienſt, daß man die zuſammengeſetz-
tern Methoden dadurch beſtimmen und zu jedem Ge-
brauche voraus anzeigen kann: ſondern es iſt dabey
ein Weg moͤglich, welchen man bey Erfindungen ſehr
oft nehmen muß. Denn dieſe directe Zuſammenſe-
tzung der einfachen Methode, die aus jedem Quaeſi-
to ein neues Datum macht, um auf neue Quaeſita
zu leiten, oder dieſelben anzuzeigen, iſt ſynthetiſch,
und fuͤhrt daher, wie bey den einfachen Schluͤſ-
ſen, (§. 329.) zu keinem beſtimmten Ziele, weil je-
des Datum auf mehrere und ſehr verſchiedene Quaeſita
fuͤhren kann, je nachdem man es in einer andern
Abſicht betrachtet. Sie dient demnach hoͤchſtens
nur bey gluͤcklichen Einfaͤllen. (§. 456.) Eben ſo
kann auch ein gleiches Quaeſitum aus mehrerley Da-
tis gefunden werden. Demnach iſt die analytiſche
Methode, eben ſo, wie bey den einfachen Schluͤſſen,
zwar ein Ruͤckweg, aber ſie hat auch die (§. 315.)
bereits angezeigte Unbequemlichkeit, daß man von
der Moͤglichkeit des Quaeſiti voraus verſichert
ſeyn muß. Um demnach beyden Unbequemlich-
keiten vorzubeugen, muͤſſen wir hier einen dem
T 5(§. 330.)
[298]VII. Hauptſtuͤck,
(§. 330.) angegebenen aͤhnlichen Leitfaden, oder
Mittelweg gebrauchen, und ausfinden. Man
hat naͤmlich nicht immer zu jedem Quaeſito jede Data
gleich vorraͤthig, und erſteres laͤßt ſich auch nicht im-
mer unmittelbar, oder durch eine ganz einfache Me-
thode aus den vorraͤthigen Datis finden. Um dieſen
Fall, der ſehr haͤufig vorkoͤmmt, naͤher zu characte-
riſiren, ſo merken wir an, daß es derjenige iſt, wo
man aus bloßer Betrachtung oder Gegenein-
anderhaltung des geſuchten und des gegebenen,
noch nicht einſehen kann, wie ſich jenes aus
dieſem folgern laſſe, ungeachtet man dennoch ſo
viel einſieht, daß dieDatazureichen, und folg-
lich die Aufgabe determinirt iſt.
§. 460.
Jn dieſen Faͤllen iſt der Weg, den man zu neh-
men hat, oder die Methode, das Geſuchte aus dem
Gegebenen zu finden, viel beſtimmter. Und wenn die
Methode aus einfachern zuſammengeſetzt iſt, ſo wird
es ungleich ſchwerer, wenn man, ohne vergebliche
Verſuche vorzunehmen, gleich anfangs die ganze Me-
thode und die Ordnung ihrer Theile finden will. Man
muß ſowohl das Datum als das Quaeſitum genauer
und ausfuͤhrlicher entwickeln, wenn man ſehen will,
wo ſie am wenigſten von einander entfernt ſind.
§. 461.
Jndeſſen, da dieſes nicht nur unmoͤglich iſt, ſon-
dern aller Schwuͤrigkeiten ungeachtet angeht; ſo muß
es auch in der Vernunftlehre vorkommen. Wir mer-
ken zu dieſem Ende an, daß, wenn die Aufgabe ganz
determinirt iſt, das Quaeſitum das fordert, was
die Dataangeben, oder aus dieſen, als zugleich mit
gegeben, gefolgert werden kann. Man ſieht leicht
hieraus, daß dieſer Umſtand die Methode naͤher be-
ſtimmt,
[299]von den Aufgaben.
ſtimmt, weil es da nicht die Frage iſt, alles aufzu-
ſuchen, woraus das Quaeſitumkoͤnnte gefunden
werden, oder aus dem Dato alles, was daraus ge-
folgert werden koͤnnte, herzuleiten; ſondern daß
man aus beydem juſt das waͤhle und gleich beſtimme,
wodurch beydes am unmittelbarſten kann zuſammen-
gehaͤngt werden. Die Frage, wie nun dieſes geſche-
hen koͤnne, iſt eine der vollſtaͤndigſten und ſchwerſten
Aufgaben der Vernunftlehre. Wir wollen ſie indeſ-
ſen auf ihre Requiſita bringen.
§. 462.
Einmal, wenn wir ſetzen, daß in der Vernunft-
lehre die einfachen Methoden, oder die naͤchſten und
unmittelbaren Wege, von einer Wahrheit zu jeder
andern vorkommen, ſo haben dieſe ein dreyfaches
Criterium, wodurch ſie ſich von einander unterſchei-
den. Das erſte beruht auf der Verſchiedenheit des
gegebenen, das andre auf der Verſchiedenheit des
geſuchten, ſo aus dem gegebenen kann gefunden
werden, und das dritte auf der Verſchiedenheit der
einfachen Methode, durch welche das Geſuchte aus
dem Gegebenen gefunden werden kann, und welche
demnach das unmittelbarſte Verhaͤltniß zwiſchen dem
gegebenen und geſuchten angiebt, und ſich darauf
gruͤndet.
§. 463.
Dieſe drey Stuͤcke ſind nun in einer ſolchen Ab-
haͤnglichkeit von einander, daß nicht jede Art des ei-
nen mit jeder Art des andern combinirt werden kann.
Denn
- 1. Soll die Methode oder das Verhaͤltniß einfach
und unmittelbar ſeyn, ſo laͤßt ſich nicht jedes
Quaeſitum mit jedem Dato combiniren, ſon-
dern man kann nur ſolche zuſammen nehmen,
die
[300]VII. Hauptſtuͤck,
die wirklich ein einfaches Verhaͤltniß unter
ſich haben. - 2. Demnach beſtimmen die Data und Quaeſita
einander ſo, daß man bey jedem Dato erſt
ſehen muß, welche Quaeſita ein unmittel-
bares Verhaͤltniß zu demſelben haben, oder
auch, welchen Verhaͤltniſſes das Datum faͤhig
iſt. - 3. Auf eine aͤhnliche Art kann nicht jedes Quaeſi-
tum aus jedem Dato unmittelbar gefunden
werden. Daher werden die Data ſchon durch
das Quaeſitum eingeſchraͤnkt, wenn die Me-
thode einfach bleiben ſoll. - 4. Endlich beſtimmt zwar ein einfaches Verhaͤltniß
das Datum und Quaeſitum noch nicht voll-
ſtaͤndig, indeſſen ſchleußt ſie alle, bey wel-
chen ſie nicht vorkommen kann, nothwendig
aus, und wird das Datum angenommen, ſo
iſt das Quaeſitum ganz beſtimmt.
§. 464.
Hieraus folgt nun, daß jedes dieſer drey Stuͤcke
ſeine eigene Merkmaale habe, die ſich auf einander
beziehen, und einander, wo nicht durchaus, doch im-
mer zum Theil beſtimmen. Dieſes muß nun bey der
Theorie der einfachen Methoden allerdings angezeigt
werden, damit man es bey den zuſammengeſetztern
gebrauchen koͤnne, weil auch ſolche Data und Quaeſita,
die von einander entfernter ſind, ihre Merkmaale
haben, woraus die zuſammengeſetzte Methode deſto
leichter geſchloſſen wird, je beſſer man die einfachen
kennt.
§. 465.
Ferner hat jede analytiſche Methode, die bey dem
Quaeſito anfaͤngt, etwas viel nothwendigers, als
die
[301]von den Aufgaben.
die ſynthetiſchen. Denn eine analytiſche Methode
muß immer dabey anfangen, zu beſtimmen, welche
Data das Quaeſitum nothwendig vorausſetzt, ohne
die es naͤmlich nicht gefunden werden kann. Da
man nun dadurch auf eine viel beſtimmtere Art den
Weg findet, den man zu nehmen hat, ſo iſt klar,
daß dieſe Bedingungen, ohne welche ein Quaeſitum
nicht gefunden werden koͤnnte, bey dem Quaeſito je-
der einfachen Methode in der Vernunftlehre angezeigt
werden muͤſſe: Auf dieſe Art laͤßt ſich ein vorge-
gebenesQuaeſitumauf ein oder mehrere andre,
und dieſe wiederum auf andre reduciren, bis
man endlich auf ſolche kommt, die ſich in den
vorgegebenenDatisfinden, und folglich weiter
nicht duͤrfen geſucht werden.
§. 465.
Dieſe Regel macht nun den Schattenriß einer
analytiſchen Aufloͤſung aus. Wir wollen noch den
Beweis und die Probe (§. 162.) dazu geben. Fin-
det man alles, was das Quaeſitum voraus ſetzt, ſo
koͤmmt dieſes an ſich in den Datis vor, weil wir an-
nehmen, daß die Aufgabe determinirt ſey, folglich
die Data juſt das angeben, was das Quaeſitum for-
dert. (§. 256.) Demnach muͤſſen die Requiſita, ſo
das Quaeſitum vorausſetzt, ſo weit getrieben und
aufgeloͤſt werden, bis ſie Criteria angeben, woran
ſie ſich in den Datis erkennen, oder durch Schluͤſſe
daraus herleiten laſſen.
§. 466.
Da demnach nur die Frage vorkoͤmmt, wie man
ſich verſichern koͤnne, ob man alle Requiſita aus dem
Quaeſito beſtimmt habe, ſo koͤmmt es auf eine P. o-
be an, die man jedesmal vornehmen kann. Denn
da die Requiſita ſolche Bedingungen ſind, ohne wel-
che
[302]VII. Hauptſtuͤck,
che ſich das Quaeſitum nicht finden laͤßt, ſo darf
man nur, nachdem man einige Requiſita herausge-
bracht hat, die Frage umkehren, und ſehen, ob, wenn
man dieſelben zuſammen nimmt, und mit einander
verbindet, das Quaeſitum daraus ganz beſtimmt wer-
de, und zwar ſo, daß man den Weg ſieht, den man
dabey zu nehmen hat. Findet ſich dieſes, ſo iſt die
Probe gemacht, und man kann fortfahren, dieſe
Requiſita weiter aufzuloͤſen, indem man jedes beſon-
ders nimmt, bis man zu den Datis koͤmmt. Und ſo
laͤßt ſich dieſe Probe bey jedem Schritte wiederum
anſtellen. Findet man aber nicht, daß die Requiſita
noch zureichen, das Quaeſitum zu beſtimmen, ſo iſt
der Grund entweder, weil man noch nicht alle hat,
oder nicht einſieht, wie man das Quaeſitum daraus
herleiten koͤnne. Letzteres koͤmmt gewoͤhnlich daher,
daß man nicht Schritt fuͤr Schritt geht, und for-
dert demnach, die Unterſuchung ordentlicher anzu-
ſtellen. Erſteres aber fordert, daß man ſehe, warum
und in welchem Stuͤcke die Requiſita, ſo man ge-
funden, noch zuruͤck bleiben, und was erfordert
werde, ſie vollſtaͤndig zu machen.
§. 467.
So weit haben wir nun die Frage, (§. 444.) ei-
ne Aufgabe aus andern Wiſſenſchaften auf ei-
ne pur logiſche zu bringen, entwickelt, und dar-
aus die Requiſita hergeleitet, welche die Vernunft-
lehre haben ſoll, um hiezu zu dienen. Wir haben
bey jedem Stuͤcke zur Erlaͤuterung Beyſpiele aus
den vorhergehenden Hauptſtuͤcken angefuͤhrt, und
dadurch die Moͤglichkeit einer ſolchen Vernunftlehre
augenſcheinlicher gemacht. Es ſind aber die ange-
fuͤhrten Beyſpiele lange nicht alle, die die Vernunft-
lehre aufweiſen ſollte, und wir haben ſie großentheils
auch
[303]von den Aufgaben.
auch nur in ſo fern angefuͤhrt, als wir ihnen in den
vorhergehenden Hauptſtuͤcken die hier angemerkten
Requiſita bereits gegeben haben. Wir merken dieſes
hier an, weil man bey genauerer Unterſuchung leicht
finden wird, daß wenigſtens einige bey mehrern Re-
quiſitis als Beyſpiele vorkommen ſollten. Wir ha-
ben es aber theils Kuͤrze halber unterlaſſen, theils
auch, weil wir ſie verſchieben koͤnnen, bis ſie in fol-
genden vorkommen werden, wo die Anlaͤſſe ſie for-
dern.
§. 468.
Die Data der Aufgaben verdienen in der Ver-
nunftlehre eine beſondere Betrachtung; ſo, wie Eu-
clid die geometriſchen beſonders vorgenommen.
Es koͤmmt aber dabey auf folgende Stuͤcke an:
- 1. Die Criteria, woran man erkennen kann, daß
die Data zur Aufloͤſung der Aufgabe zurei-
chen. - 2. Die Beſtimmung deſſen, was mit den Datis
zugleich gegeben iſt. - 3. Die Abhaͤnglichkeit der gegebenen Stuͤcke von
den geſuchten. - 4. Die Auswahl und Erfindung der gegebenen
Stuͤcke, wenn man das geſuchte allein vor
ſich hat.
§. 469.
Von dieſen Stuͤcken hat Euclid vornehmlich das
zweyte betrachtet, und es iſt klar, daß, wenn man
zeigt, was mit den Datis zugleich gegeben iſt, dieſes
in jedem einzelnen Fall zum Quaeſito koͤnne gemacht
oder gebraucht werden, dem Quaeſito naͤher zu kom-
men. Sodann wird auch dadurch verhuͤtet, daß
man nicht etwas ohne Noth unter die Data rechne,
und als von dem uͤbrigen unabhaͤngend anſehe, und
beſon-
[304]VII. Hauptſtuͤck,
beſonders auch, daß man dadurch nicht etwann ver-
leitet werde, zu glauben, daß man genug Data ha-
be, da man doch ſtatt des geſuchten nur das Datum
findet, welches man als von den uͤbrigen unabhaͤngig
angenommen hatte. So z. E. wenn man einen par-
ticularbejahenden Satz: EtlicheAſindC. durch
einen Schluß in Darii erweiſen wollte, und zu dem
Unterſatze: EtlicheAſindB, den Oberſatz: Alle
BſindA, aus welchem man den Unterſatz durch Um-
kehrung gefolgert (§. 124 nehmen wollte, ſo wuͤrde
aus dieſen beyden Vorderſaͤtzen:
- Alle B ſind A
- Etliche A ſind B;
nichts anders folgen, als daß etlicheA, Aſind,
welches an ſich klar iſt, aber fuͤr den Satz: Etliche
AſindC, nichts beweiſt. Man waͤre in gleichen
Fehler gefallen, wenn man geglaubt haͤtte, aus die-
ſen beyden Vorderſaͤtzen einen ganz neuen Satz zu
finden. Man ſieht demnach aus dieſem ſehr einfa-
chen Beyſpiele, daß man allerdings wiſſen muͤſſe was
was man mit den angenommenen Datis zugleich mit
annimmt. Man kann die ſchon oben (§ 91.) ge-
machte Anmerkung mit hieher rechnen, wo wir auch
erinnert haben, daß man nicht widerſprechende Be-
ſtimmungen zuſammen nehmen muͤſſe, (§ 92.) wel-
ches die Aufgabe nicht etwann nur unbeſtimmt, ſon-
dern vollends ungereimt machen wuͤrde. (§. 426,
436.)
§. 470.
Die Data muͤſſen demnach ſo beſchaffen ſeyn, daß
nicht eines durch die uͤbrigen an ſich ſchon
gefunden werden koͤnne, und hingegen alle zu-
ſammengenommen dasQuaeſitumdurchaus be-
ſtimmen. Die erſtere dieſer Bedingungen macht die
Data,
[305]von den Aufgaben.
Data, wenn naͤmlich mehrere ſeyn muͤſſen, von ein-
ander unabhaͤngig, und folglich ſo verſchieden, daß
jedes fuͤr ſich beſtimmt iſt, oder beſtimmt werden
kann. Das andre fordert, daß es ſo viele ſeyn, als
zureicht, das Quaeſitum zu beſtimmen, und zugleich
auch, daß die Data ſich mit einander verbinden laſſen,
und folglich beyſammen beſtehen koͤnnen.
§. 471.
Die Data legen uns demnach die ganze Sache,
oder wenigſtens ſo viel davon vor, daß das Quaeſi-
tum nothwendig mit inbegriffen iſt, und wenn ſie die-
ſes thun, ſo ſind ſie zureichend. Wir werden nun
die verſchiedenen Wege anzeigen, durch die man ſich
davon verſichern kann.
§. 472.
Erſtlich ſtellt man ſich bey der Aufgabe das Quae-
ſitum unter einem allgemeinern Begriffe vor, welcher
aber naͤher muß beſtimmt werden. Die Data geben
die Umſtaͤnde an, in welchen dieſer allgemeinere Be-
griff beſtimmtere Merkmaale, Groͤße, Grade ꝛc. hat,
und man muß folglich aus Betrachtung dieſer Um-
ſtaͤnde ſehen koͤnnen, daß nicht jede Art der Gat-
tung, unter welcher man ſich dasQuaeſitum
vorſtellt, dabey ſtatt haben kann, ſondern die,
ſo wirklich vorkoͤmmt, dadurch voͤllig beſtimmt
iſt. Sind z. E. die Data individual, ſo iſt auch al-
les, was dabey vorkoͤmmt und gefragt werden kann,
individual, und hinwiederum muß auch erſteres ſeyn,
wenn letzteres ſtatt findet. Die Data koͤnnen niemals
unbeſtimmter ſeyn, als das Quaeſitum, es ſey denn,
daß man etwas verneinendes heraus bringe, wobey
man beſonders die Schlußart Calentes gebraucht, weil,
was der Gattung widerſpricht, auch mit keiner Art
Lamb. Org. I. Band. Uund
[306]VII. Hauptſtuͤck,
und mit keinem Indiuiduo der Gattung beſtehen kann.
(§. 228.)
§. 473.
Die Data haben ferner zu dem Quaeſito ein ge-
wiſſes Verhaͤltniß, ſo, daß es ſich durch dieſelbe
aus den Datis muß finden laſſen. Dieſes Verhaͤltniß
wird in der Aufloͤſung ausfuͤhrlich entwickelt. Hin-
gegen muß man, ehe man die Aufloͤſung vornimmt,
uͤberhaupt wiſſen koͤnnen, daß ein ſolches Berhaͤltniß
da iſt. Jn der Meßkunſt, wo die Aufgaben noch
bisher am genaueſten vorgetragen werden, hat man
verſchiedene Mittel, ſich hievon zu verſichern. Z. E.
wenn man von einer Figur etwas zu wiſſen verlangt,
und aus den Datis die ganze Figur conſtruirt werden
kann, ſo iſt unſtreitig, daß das Quaeſitum zugleich
mit beſtimmt iſt. Faͤllt dieſes nicht ſo gleich in die
Augen, ſo wird es vorher durch Lehrſaͤtze erwieſen.
Auf dieſe Art haben wir oben (§. 243. ſeqq.) den Ein-
fluß falſcher Vorderſaͤtze auf den Schlußſatz beſtimmt,
weil derſelbe nicht allgemein iſt, und da wir die Pro-
be von der Zulaͤßigkeit der Schlußarten auf eine Con-
ſtruction gebracht haben, (§. 201.) ſo hat dieſe Theo-
rie mit der Meßkunſt hierinn eine voͤllige Aehlichkeit.
§. 474.
Kann man es aber den Datis nicht voraus anſe-
hen, ob ſie zureichend ſeyn, ſo koͤmmt es auf einen
Verſuch an, die Aufloͤſung vorzunehmen. Geht ſie
an, ſo wird ſie ſodann ſchicklicher in einen Lehrſatz
verwandelt, weil die Aufgaben keinen Schein der
Unmoͤglichkeit haben ſollen. So z. E. ehe man in
der Meßkunſt beweiſt, daß die Summe der drey
Winkel eines geradlinichten Triangels 180 Gr. ma-
che, laͤßt ſich die Aufgabe, aus zween Winkeln
eines Triangels den dritten zu finden, nicht
wohl
[307]von den Aufgaben.
wohl vortragen, weil man noch anſtehen koͤnnte, ob
zween Winkel, ohne Zuziehung einer Seite, den dritten
beſtimmen, zumal, da dieſes bey den Seiten nicht an-
geht, daß man ohne Zuziehung eines Winkels, oder
der Perpendicular ꝛc. die dritte Seite finden koͤnnte.
§. 475.
Will man folglich in einer Theorie nach aller
Strenge verfahren, ſo muß der Beweis daß die
Data zureichen, immer vorgehen. Hiebey kommen
nun zween Faͤlle vor. Denn entweder man beweiſt,
daß dieDatadie Sache, worinn dasQuaeſitum
liegt, ganz beſtimmen, oder, daß, ohne Ruͤck-
ſicht auf die ganze Sache, dasQuaeſitumfuͤr
ſich dadurch beſtummt werde. So z. E. ſind
die drey Seiten eines Triangels gegeben, ſo iſt der
Triangel voͤllig beſtimmt, folglich auch ſeine Winkel,
Perpendieularen, Raum ꝛc. Hingegen laͤßt ſich aus
zween Winkeln der dritte beſtimmen, ohne daß der
Triangel dadurch ganz beſtimmt ſey, weil er deſſen
unerachtet noch groͤßer oder kleiner ſeyn kann. Man
kann leicht ſehen, daß dieſer Unterſchied allgemeinere
Gruͤnde hat, von welchen wir einige anbringen wol-
len, ſofern dieſe naͤmlich hier vorkommen koͤnnen.
§. 476.
Es koͤmmt auf den Unterſchied der Sachen ſelbſt
und ihrer Verhaͤltniſſe an. Ein Verhaͤltniß iſt
dasjenige, wodurch eine Sache durch eine andre, oder
ein Begriff durch einen andern beſtimmt wird. Wenn
demnach von beyden Sachen oder Begriffen
einer, und zugleich das Verhaͤltniß gegeben, ſo
kann der andre dadurch beſtimmt oder gefun-
den werden.
U 2§. 477.
[308]VII. Hauptſtuͤck,
§. 477.
Wiederum, da ſich nicht zwo Sachen gedenken
laſſen, zwiſchen welchen nicht reale oder wenigſtens
ideale Verhaͤltniſſe waren, (§. 95.) ſo iſt klar, daß
mit den Sachen zugleich auch ihre Verhaͤlt-
niſſe beſtimmt und gegeben ſind. Wir nehmen
hier das Wort: gegeben, nicht als wenn man dieſe
Berhaͤltniſſe ſogleich auch wuͤßte, wenn die Sachen
gegeben ſind: ſondern nur, um anzuzeigen, daß, wenn
man auch dieſe Verhaͤltniſſe wirklich weis, man ſie
nicht als verſchiedene und unabhaͤngige Data anſehen
muͤſſe. (§. 469.)
§. 478.
Hingegen kann man aus einer Sache allein,
und ohne ihr Verhaͤltniß zu der geſuchten,
dieſe nicht finden. Denn eine Sache fuͤr ſich be-
trachtet, kann uns zwar viele Verhaͤltniſſe zu jeden
andern darbieten, allein, welche unter denſelben das
Quaeſitum betreffe, bleibt dabey unbeſtimmt, folg-
lich muß dieſes Verhaͤltniß entweder mit angegeben,
oder durch andre Gruͤnde gefunden werden. (§. 474.)
§. 479.
Aus bloßen Verhaͤltniſſen wird keine Sa-
che beſtimmt. Denn es koͤnnen einerley Verhaͤlt-
niſſe bey mehrern und ſehr verſchiedenen Sachen vor-
kommen. Kaͤme aber ein Verhaͤlniß nur bey einer
Sache vor, ſo ließe ſich dieſe zwar dadurch kenntlich
machen; allein es muß jedesmal aus beſondern Gruͤn-
den gefunden werden, ob es angehe. Folglich be-
ſtimmen die Verhaͤltniſſe, uͤberhaupt betrachtet,
nichts.
§. 480.
Hingegen laſſen ſich Verhaͤltniſſe, ohne Ruͤck-
ſicht auf die Sachen, in welchen ſie vorkom-
men,
[309]von den Aufgaben.
men, durch Verhaͤltniſſe beſtimmen. Denn
zwiſchen Verhaͤltnißbegriffen kann ein Verhaͤltniß
gedacht werden, welches den einen durch den andern
beſtimmt, und beyde zuſammenhaͤngt. Oder man ſetze,
A ſey in Verhaͤltniß mit B, B mit C; ſo iſt auch A
mit C in Verhaͤltniß, und dieſes letztere Verhaͤltniß iſt
gleichſam nur das Product der beyden erſtern, und
laͤßt ſich in dieſelben aufloͤſen.
§. 481.
Wiederum, wenn zwo Sachen mit einer
dritten im Verhaͤltniß ſtehen, ſo ſtehen ſie auch
unter ſich im Verhaͤltniß Einmal mittelbarer
Weiſe wegen der dritten, und ſodann, in ſo ferne dieſe
die beyden andern naͤher verbindet. Die Verhaͤltniſſe
beſtimmen auch hier einander ohne Ruͤckſicht auf die
Sachen ſelbſt, es ſey denn, daß ſie einer gewiſſen
Sache allein zukaͤmen, weil in ſolchem Fall die Sache
zugleich auch dadurch beſtimmt waͤre. (§. 479.) Und
da bey den Figuren die Winkel die Lage angeben,
welche ein bloßer Verhaͤltnißbegriff iſt, ſo laͤßt ſich dar-
aus uͤberhaupt einſehen, warum die Winkel, allein ge-
nommen, die Groͤße der Figur unbeſtimmt laſſen. Die
ganze Vernunftlehre beruht ebenfalls nur auf den
Verhaͤltniſſen der Form unſrer Erkenntniß, und be-
ſtimmt daher auch von den Sachen ſelbſt nichts.
§. 482.
Einerley Verhaͤltniſſe bey verſchiedenen Sachen,
machen dieſelben aͤhnlich. Daher ſind z. E. in der
Meßkunſt aͤhnliche Triangel, wobey einerley Winkel
vorkommen, aͤhnliche Figuren, welche ſich in ſolche
Triangel theilen laſſen, die einerley Lage und Winkel
haben. Ueberhaupt ſind aͤhnliche Arten, die zu der
Gattung, oder zu aͤhnlichen Gattungen einerley Ver-
haͤltniſſe haben.
U 3§. 483.
[310]VII. Hauptſtuͤck,
§. 483.
Wenn A ſich zu B verhaͤlt, wie C zu D: ſo heißt
man dieſes eine Proportion, Analogie. Demnach
hat eine Proportion oder Analogie ſtatt, wenn zwiſchen
A, B und zwiſchen C, D einerley Verhaͤltniß iſt. Z. E.
Die Schoͤnheit iſt in Abſicht auf die Sinnen und un-
tere Erkenntnißkraͤfte, was die Vollkommenheit in
Abſicht auf den Verſtand iſt. Jn einer Schlußkette
hat jeder Satz zum folgenden einerley Verhaͤltniß
der Form nach. Ein Poſtulatum verhaͤlt ſich zu einem
Grundſatze, wie eine Aufgabe zu einem Lehrſatz.
§. 484.
Der Name Proportion koͤmmt eigentlich nur bey
den Graden und Groͤßen vor, hingegen iſt der Begriff
Analogie allgemeiner. Man gebraucht aber ſolche
Analogien, theils, um das Verhaͤltniß zwiſchen A und B
durch das Verhaͤltniß zwiſchen C und D aufzuklaͤren,
theils, um ſie wirklich dadurch vorzuſtellen, wenn man
naͤmlich fuͤr das Verhaͤltniß keinen eignen Namen hat,
theils endlich auch, um beyden Verhaͤltniſſen einerley
Ausdehnung zu geben, wenn man bewieſen hat, daß
dieſes geſchehen muͤſſe ꝛc. So ſagt man z. E. A
verhalte ſich zuB,wie ein Theil zum Ganzen,
anſtatt zu ſagen, Aſey ein Theil vonB. Hier
zeigt der Begriff Theil das Verhaͤltniß zwiſchen A
und B an, und daher laͤßt ſich die Analogie kuͤrzer
faſſen. Jndeſſen iſt ſie doch vollſtaͤndiger vorgetragen,
wenn man den Begriff des Ganzen mit dazu nimmt,
und man thut es auch vornehmlich da, wo man A
und B leicht confundiren koͤnnte, oder wo man den
Unterſchied deutlicher ausdruͤcken will, ſo ſagt man:
A unterſcheidet ſich von B, wie das Theil vom
Ganzen.
§. 485.
[311]von den Aufgaben.
§. 485.
Man kann von ſolchen Analogien allerdings das
eine Glied zum Dato, das andre zum Quaeſito ma-
chen, ſobald man uͤberhaupt einſieht oder vermuthet,
daß zwiſchen A, B und zwiſchen C, D einerley, oder we-
nigſtens aͤhnliche Verhaͤltniſſe ſtatt haben. Der Umlauf
des Gebluͤts in Thieren und der Saͤfte in Pflanzen,
hat eine gewiſſe Aehnlichkeit, und die Analogie zwi-
ſchen beyden gab Anlaß, letztere bekannter zu machen,
und ſie durch aͤhnliche Verſuche zu entdecken. So
hat auch die Analogie zwiſchen Luft und Waſſer dem
Guerike Anlaß gegeben, aus Waſſerpumpen, Luft-
pumpen zu machen. (§. 454.) Man ſieht leicht, daß
der oben (§. 334. 342.) betrachtete Fall auch hier als
ein Beyſpiel vorkoͤmmt, weil der Begriff einer Gattung
in jeder Art derſelben viele aͤhnliche und dennoch ge-
wiſſer Maaſſen verſchiedne Beſtimmungen hat.
§. 486.
Wenn dieDataeiner Aufgabe das Weſen,
oder die weſentlichen Stuͤcke desQuaeſitibeſtim-
men, oder ſolche Stuͤcke angeben, wodurch das
Weſen, oder die weſentlichen Stuͤcke deſſelben
beſtimmt werden, ſo ſind dieDatazureichend,
weil ſie dasQuaeſitumganz beſtimmen. (§. 23.)
So z. E. braucht man zu einem Zirkel nichts als den
Halbmeſſer, und die Lage des Mittelpunkts, ſo wird
er der Groͤße und Lage nach unmittelbar beſtimmt.
Hinwiederum ſind jede Data, wodurch dieſe zwey
Stuͤcke gefunden werden koͤnnen, zur Veſtimmung
des ganzen Zirkels zureichend. Z. E. Drey Punkte
des Umkraiſes, drey Tangenten von gegebener Lage ꝛc.
§. 487.
Außer dieſen Faͤllen giebt es aber ſehr viele, wo
man aus den Datis nicht unmittelbar finden kann, ob
U 4ſie
[312]VII. Hauptſtuͤck,
ſie zureichend ſind oder nicht, und wo es folglich durch
Proben oder Lehrſaͤtze muß vorerſt ausgemacht wer-
den. Jedes Datum traͤgt etwas zur Beſtimmung
des geſuchten bey, und da hat man folglich zu ſehen,
ob es juſt das beytrage, was die uͤbrigen noch unbe-
ſtimmt laſſen? Jſt dieſes, ſo hat auch die Aufgabe ihre
voͤllige Beſtimmung, und ſie kann aufgeloͤſet werden. Es
iſt klar, daß man hiebey eben ſo wohl auf das zu ſehen
hat, was zur Beſtimmung des geſuchten erfordert
wird, als auf das, was die Data dazu angeben. Dem-
nach koͤmmt es hier auf die vorhin (§. 466.) ange-
zeigte Probe an.
§. 488.
Vermuthet man aber, daß die Data nicht zurei-
chen, und man nimmt noch mehrere an; ſo kann es
auch geſchehen, daß man wirklich uͤberfluͤßige annimmt.
Dieſes geſchieht, wo man nur Verhaͤltniſſe ſucht, oder
gebraucht, weil die Verhaͤltniſſe, ohne Ruͤckſicht auf
die Sachen, in denen ſie ſonſt vorkommen, zureichen
koͤnnen. (§. 480.) Eben dieſes geſchieht auch, wenn
man mit den Sachen auch ihre Verhaͤltniſſe unter die
Data| nimmt, und noch nicht einſieht, daß das Verhaͤlt-
niß mit den Sachen bereits ſchon gegeben iſt. (§. 477.)
Und noch mehr geſchieht es, wenn man zu zweyen
Datis A, B das dritte C nur deswegen mitnimmt, um
das Verhaͤltniß zwiſchen A und B zu haben, weil hie-
bey ſo wohl C, als die gebrauchten Verhaͤltniſſe deſ-
ſelben zu A und B, wiederum wegfallen. Und eben
ſo iſt es auch, wenn man Verhaͤltniſſe gebraucht, die
einander aufheben, deren naͤmlich das eine von A auf
B, das andre aber von B auf A wiederum |zuruͤck
fuͤhrt.
§. 489.
[313]von den Aufgaben.
§. 489.
Von dieſen Faͤllen laſſen ſich aus der Meßkunſt
deutliche und haͤufige Beyſpiele geben: Weil man in
dieſer Wiſſenſchaft alle uͤberfluͤßige Data wegſchafft,
und ſie durch ſchickliche Lehrſaͤtze ins kurze zieht. So weis
man, daß bey einem geradlinichten Triangel der dritte
Winkel durch die zween andern an ſich ſchon beſtimmt
iſt, daß man, um ſeinen Jnnhalt zu finden, weiter nichts
als die Baſin, und die darauf fallende Perpendicular
zu wiſſen braucht, daß eine Kugel ſich ohne das Ver-
haͤltniß des Diameters zum Umkraiſe mit einem Cylin-
der vergleichen laͤßt ꝛc.
§. 490.
Es koͤnnen aber ſolche Faͤlle auch in den uͤbrigen
Wiſſenſchaften vorkommen, wo man ohne Noth zu
viele Data annimmt, und dabey durch Umwege geht,
und wo oͤfters die ganze Sache auf einen einigen Satz
oder Umſtand reducirt werden kann. Es iſt dieſes
uͤberhaupt ein Vorzug und Requiſitum der wiſſen-
ſchaftlichen Erkenntniß, daß in den Wiſſenſchaften,
alles was ſich uͤberhaupt ins kurze ziehen laͤßt, wirklich
ins kurze gezogen werde, wie dieſes in der ganzen Meß-
kunſt durchaus vorkoͤmmt. Sie giebt nicht nur all-
gemeine Saͤtze und Verhaͤltniſſe, ſondern bringt auch
jede Quaeſita auf die einfachſten Data, und zeigt, wo
die Verhaͤltniſſe einander aufheben, und folglich un-
noͤthig werden, weil die Sache kuͤrzer gefaßt werden
kann ꝛc.
§. 491.
Wenn man bey jedem Dato ausmacht, was es
zur Beſtimmung des Quaeſiti beytraͤgt, ſo hat man
nicht nur den Vortheil davon, daß man ſieht, ob die
Data zureichen, ſondern es fallen auch die Data in
einzelnen Faͤllen weg, ſo bald man das, was in dem
U 5Quaeſito
[314]VII. Hauptſtuͤck,
Quaeſito dadurch beſtimmt wird, entweder an ſich
ſchon, oder aus andern Gruͤnden weis. Jm letzten
Fall koͤnnen dieſe Gruͤnde als Data angeſehen wer-
den, und dieſes veraͤndert die Frage der Aufgabe,
weil nunmehr andre Data darinn vorkommen. Da
eine Aufgabe fuͤr alle Faͤlle aufloͤsbar ſeyn ſoll, ſo iſt
klar, daß dieſes dazu beytrage.
§. 492.
Will man aber hierinn ordentlich verfahren, ſo
iſt klar, daß die analytiſche Methode des §. 465. da-
bey vorkoͤmmt. Man ſucht naͤmlich zu dem Quaeſito
ſeine einfachſten und unumgaͤnglichſten Requiſita, oder
wenn es unter eine gewiſſe Gattung gehoͤrt, ſo redu-
cirt man es auf diejenige Art der Gattung, welche
am leichteſten gefunden werden kann. Hat man nun
die einfachſten Requiſita, ſo kann es allerdings ge-
ſchehen, daß man dieſe in beſondern Faͤllen nicht un-
mittelbar weis. Demnach muß man wiederum ſehen,
wie ſie aus andern gefunden werden koͤnnen, und wie-
fern, wenn man mehrere zuſammennimmt, eine Ab-
kuͤrzung dabey vorkommen kann. (§. 488.)
§. 493.
Um dieſes Verfahren durch ein Beyſpiel aus den
erſten Anfangsgruͤnden der Meßkunſt zu erlaͤutern,
wollen wir die Aufgabe: Den Jnnhalt eines Trian-
gels zu finden, betrachten. Ein Triangel iſt nur
eine Art von Figur, und ungeachtet ſie in vielen Abſich-
ten die einfachſte iſt, ſo iſt doch die Ausmeſſung
eines Quadrats, und ſodann eines Rectangels noch
einfacher. Da ſich nun ein Rectangel in Triangel
theilen laͤßt, und hinwiederum um einen Triangel
Rectangel gezeichnet werden koͤnnen; ſo ſieht man
uͤberhaupt, daß ſich die Ausmeſſung eines Triangels
und eines Rectangels auf einander reduciren laſſen,
und
[315]von den Aufgaben.
und bey genauerer Unterſuchung findet ſich, daß wenn
das Rectangel mit dem Triangel gleiche Baſin und
gleiche Hoͤhe hat, dieſer gerade halb ſo groß ſey, als
jenes, und daß man folglich, um den Jnnhalt eines
Triangels zu finden, nur die Haͤlfte von dem Pro-
duct aus der Baſi in die Perpendicular nehmen duͤrfe.
Da man aber nicht in allen Faͤllen dieſe zwey Stuͤcke
unmittelbar hat, ſo ſucht man, was erfordert wird,
um dieſelben zu finden, und zuweilen findet ſich der
geſuchte Jnnhalt unmittelbarer. So z. E. wenn
man die drey Seiten hat, ſo findet man durch Rech-
nung den Jnnhalt des Triangels eben ſo leicht, als die
Perpendicular, folglich waͤre es ein Umweg, dieſe erſt
zu ſuchen, ſo oft man nur den Jnnhalt zu wiſſen ver-
langt. Solche Abkuͤrzungen machen nun wiederum
einen Vorzug der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß aus.
§. 494.
Auf dieſe Art haben wir auch im vierten Haupt-
ſtuͤcke gezeigt, daß man durch Umwege gehe, wenn
man die Richtigkeit der Schlußarten in den drey letz-
ten Figuren durch ihre Reduction auf die erſte be-
weiſt, weil jede ſich unmittelbar auf die Natur und
Form der Saͤtze gruͤndet, und ihre eigne Grundſaͤtze
daher nimmt, und ihr Beweis folglich kuͤrzer gemacht
werden kann. Man findet aͤhnliche Abkuͤrzungen,
§. 41 ſeqq. §. 60. 322. 384 395 ſeqq. und nach
§. 128. ſind die allgemein bejahenden Saͤtze nichts
anders, als abgekuͤrzte Ausdruͤcke, ſo oft wir naͤm-
lich nicht alle Praͤdicate des Subjectes zuſammen
nehmen ꝛc.
§. 495.
Wenn man bey einer Aufgabe das Geſuchte allein
vor ſich hat, und demnach noch nicht weis, woraus es
ſoll gefunden werden, ſo bleibt nichts uͤbrig, als daß
man
[316]VII. Hauptſtuͤck,
man aus dem Geſuchten herleite, was zu deſſen Be-
ſtimmung nothwendig erfordert wird, bis man auf
ſolche Stuͤcke koͤmmt, die man als bekannt oder
gegeben voraus ſetzen kann. Es iſt klar, daß man in
ſolchen Faͤllen genau und ausfuͤhrlich ausmachen
muͤſſe, was man eigentlich ſucht, und wozu man es
haben will. Denn dieſe Bedingungen machen, daß
ſich die Requiſita und Criteria des geſuchten leichter
finden laſſen. Jn dieſen Faͤllen hat man ſelbſt in der
Mathematik mehr Nachſicht, weil man in Ermang-
lung der gegebnen Stuͤcke ſich begnuͤgt, wenn das
Quaeſitum wenigſtens auch nur auf eine Art gefunden
werden kann. So z. E. bleibt es noch dermalen da-
hin geſtellt, ob unter allen Ausſchnitten oder Abſchnit-
ten eines Zirkels auch nur ein einiger ſich quadriren
laſſe, ohne unendliche Reihen oder Quantitates ima-
ginarias dazu zu gebrauchen. Waͤre aber einer gefun-
den, ſo wuͤrde man auch bald darauf bedacht ſeyn, die
Data naͤher zu beſtimmen, die Aufgabe allgemeiner
zu machen, die Methode abzuaͤndern, in die Kuͤrze zu
ziehen ꝛc. Denn dieſes alles haͤngt von der Moͤglich-
keit und Erfindung der gegebenen Stuͤcke zu den ge-
ſuchten ab.
§. 496.
Wenn man nach einer langen Reihe von Schluͤſ-
ſen endlich auf einen ſehr einfachen Satz koͤmmt, wo-
durch die Aufgabe aufgeloͤſet wird, ſo kann man aller-
dings vermuthen, daß man durch Umwege gegangen, und
daß dabey Abkuͤrzungen moͤglich ſind. (§. 488. 490.)
Dieſes geſchieht, wenn man die Sache zu weit
herholet, das will ſagen, wenn man bey einer hoͤhern
Gattung anfaͤngt als noͤthig waͤre, um die Eigenſchaf-
ten einer vorgegebenen Art zu finden, (§. 50.) oder
wenn man die Sache theilsweiſe durchgeht, da man
ſie
[317]von den Aufgaben.
ſie mit einem male haͤtte vornehmen koͤnnen, oder
anſtatt bereits zuſammengezogner Lehrſaͤtze, diejenigen
gebraucht, aus welchen ſie zuſammengezogen worden.
So z. E. hat man in der Meßkunſt aus dem pytha-
goriſchen Satze ſchon unzaͤhlige andre gefunden, die
in beſondern Faͤllen Abkuͤrzungen geben. Wenn
man demnach bey jeder vorkommenden Aufgabe im-
mer wiederum bey demſelben anfaͤngt, ſo kann man
gar leicht ohne Nothwendigkeit auf Weitlaͤuftigkei-
ten verfallen.
§. 497.
Da die Verhaͤltniſſe eigentlich Abkuͤrzungen an-
geben, (§. 480. 481. 488.) ſo werden wir verſchiedne
allgemeinere Arten derſelben hier uͤberhaupt anzeigen.
Die erſte koͤmmt offenbar in allen Schlußreden vor,
weil man das Mittelglied darinn weiter nicht ge-
braucht, als um die beyden andern zuſammen zu haͤn-
gen, und dieſes geſchieht durch das Verhaͤltniß, ſo das
Mittelglied zu beyden andern hat. Demnach giebt
die Lehre der Schluͤße eine ſehr allgemeine Abkuͤrzung
der Verhaͤltniſſe an, und was dabey uͤberhaupt ausge-
macht wird, darf nicht erſt in beſondern Faͤllen aufs
neue vorgenommen werden.
§. 498.
Wir dehnen dieſe Anmerkung auf die Theorie der
Wahrheit und Erkenntniß uͤberhaupt aus. Denn
alle Saͤtze, Mittel, Kunſtgriffe ꝛc. die dabey uͤber-
haupt vorkommen, laſſen ſich in einzelnen Faͤllen ohne
weiters Anwenden, ohne daß man ſie aufs neue zu
ſuchen habe.
§. 499.
Beſonders aber haben wir zu unterſuchen, wie-
fern die Beſtimmungen, die in dem Subject und
Praͤdicat eines Satzes zugleich vorkommen, aus
beyden
[318]VII. Hauptſtuͤck,
beyden wegfallen koͤnnen, weil der Satz dadurch of-
fenbar allgemeiner wird, und folglich, wo dieſe Be-
ſtimmungen Data ſind, dieſelben uͤberfluͤßig macht.
Die Sache geht bey Begriffen und Qualitaͤten nicht
allgemein an, wie bey Groͤßen, und beſonders macht
der Gebrauch zu reden, verſchiedne Anomalien dabey.
Wir werden daher anfangen zu ſehen, wie ſich Be-
ſtimmungen ſetzen laſſen, um ſodann zu finden, welche
davon wiederum wegfallen koͤnnen. Zu dieſem Ende
merken wir an, daß jede Beſtimmung, die zu
dem Subject eines allgemein bejahen den Satzes
geſetzt werden kann, ſich auch zu ſeinem Praͤ-
dicat ſetzen laſſe. Denn wenn alle A, B ſind: ſo
ſind auch die mA, B, und alle mA werden auch mB
ſeyn. Sollte nun der Begriff mB nicht angehen, ſo
koͤnnte auch B nicht m ſeyn; da nun vermoͤge des ein-
fachen Satzes alle A, B ſind, ſo waͤre auch kein A,
m; dieſes iſt der angenommenen Bedingung, daß es
mA gebe, zuwider; folglich geht der Begriff mB noth-
wendig auch an. So z. E. kann man aus dem Satze:
Alle Triangel ſind Figuren, allerdings den Satz
machen: alle gleichſeitige Triangel ſind gleich-
ſeitige Figuren.
§. 500.
Da man alſo aus dem Satze: A iſt B, den Satz:
mA iſt mB, machen kann, und mit den Begriffen
A, B gleichſam eine Verwandlung vornimmt, die mit
dem multipliciren in der Rechenkunſt und Algeber
eine Aehnlichkeit hat; ſo fragt ſichs, ob man auch hin-
wiederum aus dem Satze: mA iſt mB, den Satz A
iſt B. herausbringen koͤnne, da es doch nur auf die
Weglaſſung der Beſtimmung m ankoͤmmt?
§. 501.
[319]von den Aufgaben.
§. 501.
Hiebey merken wir an, daßmaus dem Praͤ-
dicatmBuͤberhaupt weggelaſſen werden kann.
Denn wenn mB einem Subjecte zukoͤmmt, ſo koͤmmt
ihm B nothwendig und an ſich ſchon zu, weil alle mB
an ſich B ſind. Folglich geht der Schluß:
- Alle mA ſind mB
- Alle mB ſind B
- Foglich Alle mA ſind B
durchaus an.
§. 502.
Ob nun aber in dieſem letzten Satze die Beſtim-
mung m von dem Subjecte wegbleiben koͤnne, iſt eine
andre Frage. Dieſe wuͤrde nun nothwendig bejaht
werden koͤnnen, wenn der Gebrauch zu reden immer
logiſch richtig waͤre. So aber haben wir ſehr oft in
unſern Begriffen und Ausdruͤcken einerley Beſtim-
mungen doppelt, und dieſes macht, daß wenn wir
ſchon eine weglaſſen, die andre dennoch noch bleibt.
Und dieſes laͤßt ſich nun aus der bloßen Form der
Saͤtze nicht finden. So z. E. wenn wir nicht wuͤß-
ten, daß alle Vierecke vier Seiten haben, ſo wuͤrden
wir uns viereckichte Vierecke gedenken, und daher
einerley Beſtimmung doppelt nehmen.
§. 503.
Sodann laſſen wir auch oft bey dem Praͤdicat
eines allgemein bejahenden Satzes den Hauptbegriff
weg, und ſchließen ſo:
- Alle mA ſind mB
- Alle mB ſind m
- Folglich Alle mA ſind m.
Wobey dann, wenn man m wegnehmen wollte, ent-
weder nichts im Praͤdicat bliebe, als der Begriff eines
Dinges, welcher die metaphyſiſche Einheit iſt,
womit
[320]VII. Hauptſtuͤck,
womit ſich alles multipliciren laͤßt, (§. 500.) oder,
wenn man m nur von dem Subject wegnimmt, ſo
wuͤrde der Satz:
- Alle A ſind m
nur alsdenn wahr ſeyn, wenn der Begriff mA die
Beſtimmung m doppelt haͤtte, und z. E. ein
viereckichtes Viereck vorſtellte. (§. 502.)
§. 504.
Endlich wenn der gemeinſame Begriff im Subject
und im Praͤdicat der Hauptbegriff iſt, z. E.
- Alle mA ſind nA;
ſo kann man zwar folgern:
- Alle mA ſind n.
Aber hier bleibt unentſchieden, ob n dem m, oder dem
A, oder dem ſpecialern Begriffe mA zukomme. Man
gebraucht daher auch immer nur den letztern Satz,
weil es fuͤr ſich klar iſt, daß alle mA, A ſind. Z. E.
Anſtatt zu ſagen: Alle gleichſeitige Triangel ſind
gleichwinklichte Triangel, ſagt man nur: alle
gleichſeitige Triangel ſind gleichwinklicht,
weil das Praͤdicat Triangel fuͤr ſich klar iſt; und
weil der Begriff Triangel hier nicht als eine Beſtim-
mung vorkoͤmmt, und aus dem Subject ebenfalls
nicht wegbleiben kann, es ſey denn, daß man die Be-
ſtimmung gleich auch weglaſſe; denn ſo wird man
den Satz bekommen: was Seiten hat, hat Winkel,
welcher in der Geometrie allerdings angeht.
§. 505.
Wir haben es denmach theils den Anomalien, im
gemeinen Gebrauche zu reden, theils auch in der That
dem Mangel der beſtimmtern Ausdruͤcke und Erkennt-
niß zuzuſchreiben, wenn wir die Beſtimmungen nicht
immer
[321]von den Aufgaben.
immer von dem Praͤdicat und Subjecte zugleich weg-
laſſen oder aus dem Satze:
- Alle mA ſind mB
den allgemeinern Satz:
- Alle A ſind B
herausziehen koͤnnen, ohne die Zulaͤßigkeit vorher aus
andern Gruͤnden erwieſen zu haben.
§. 506.
Es haben ferner auch nicht alle Saͤtze, wobey
dieſe Abſtraction angeht, eine ſo entwickelte Form,
daß die Beſtimmung m im Subject und im Praͤdicat
mit einem und eben dem Worte wirklich angezeigt
waͤre, ſondern ſie liegt zuweilen in dem Begriffe A,
oder B oder in beyden, ſo daß man ſie durch eine Defi-
nition oder durch Zuziehung andrer Saͤtze erſt heraus-
bringen muß. Hierauf beruht der Kunſtgriff: all-
gemeine Saͤtze aus ſpecialern oder auch nur aus
einzelnen Beyſpielen zu abſtrahiren. So z. E.
wird der Lehrſatz des §. 481. aus dem dabey angefuͤhr-
ten Beyſpiele folgender Maaßen abſtrahirt.
Wenn zween Winkel eines geradlinichten
Triangels beſtimmt ſind, ſo iſt auch der
dritte beſtimmt.
Nimmt man nun, daß die Winkel die Lage der gera-
den Linien gegen einander beſtimmen; ſo verwandelt
ſich dieſer Satz in folgenden:
Wenn die Lage zwoer geraden Linien ge-
gen eine dritte beſtimmt iſt: ſo iſt auch
die Lage der beyden erſtern gegen ein-
ander beſtimmt.
Nimmt man ferner, daß der Begriff der Lage ein
bloßer Verhaͤltnißbegriff iſt; ſo wird der Satz noch
allgemeiner folgender Maaßen vorgeſtellt werden
koͤnnen:
Lamb. Org. I. Band. XWenn
[322]VII. Hauptſtuͤck,
Wenn das Verhaͤltniß zwoer Sachen zu
einer dritten beſtimmt iſt: ſo iſt auch
das Verhaͤltniß zwiſchen den beyden er-
ſtern beſtimmt.
§. 507.
Wir koͤnnen noch anmerken, daß, da man hiebey
vom Specialern aufs Allgemeinere ſchließt, die Zulaͤſ-
ſigkeit ſolcher Schluͤße durch identiſche Saͤtze bewieſen
werden muͤſſe, dafern man den abſtrahirten Satz
ſchlechthin dadurch, daß man ihn abſtrahirt hat, als
erwieſen anſehen will. Denn wenn man den Satz:
- Alle A ſind B
aus dem ſpecialern:
- Alle mA ſind mB
ſolle abſtrahiren koͤnnen, ſo muß man ſich verſichern,
daß die Beſtimmung m zur Wahrheit des letztern
nichts beytrage, und der Grund davon in den Begrif-
fen A, B liege, folglich m nur eine accidentale Be-
ſtimmung ſey, die man nach Belieben mitnehmen oder
weglaſſen kann. Dieſes erhaͤlt man nun dadurch,
wenn man weis, daß A ein weſentliches oder eigenes
Merkmaal von mA, und B vom mB ſey. Auf dieſe
Art gebrauchten wir in vorigem Beyſpiele den Satz,
daß die Winkel die Lage gerader Linien gegen
einander beſtimmen, welcher allerdings identiſch
iſt, weil mit den Winkeln die Lage, und mit der Lage
die Winkel gegeben ſind. Dadurch ließ ſich nun die
erſte Abſtraction vornehmen. Die andre gruͤndete
ſich auf den Satz: Daß die Lage ein bloßer Ver-
haͤltnißbegriff iſt. Da nun in dem zweyten Satze
(§. 506.) nichts vorkomme, was dem Begriff der
Lage eigen waͤre, ſo ließe ſich aus dieſem Grunde die
zweyte Abſtraction, und zwar auch ohne Beybehal-
tung des Begriffes der Linien vornehmen. Man
ſieht
[323]von den Aufgaben.
ſieht demnach, daß man im Abſtrahiren allgemeiner
Saͤtze aus ſpecialern, deſto leichter fortkoͤmmt, je beſſer
man die eigenen Merkmaale der Begriffe des ſpecia-
lern Satzes kennt. Man kann naͤmlich dadurch
den ſpecialen Satz von allen Nebenumſtaͤnden frey
machen, und ihn auf das Weſentliche bringen, und
ſodann laͤßt ſich ſehen, ob die Ausſage des Satzes
unter die eigenen Merkmaale ſeiner Begriffe gehoͤre,
oder ſich auf ihre hoͤhere Gattung erſtrecke? Jm
erſten Fall laͤßt ſich von dem Subject keine Beſtim-
mung mehr wegnehmen, daher iſt der Satz identiſch.
Jm andern Fall aber kann er allgemeiner gemacht
werden, weil der Grund ſeiner Wahrheit nicht in den
eigenen Merkmaalen des Subjectes, ſondern in dem
Begriffe ſeiner Gattung liegt. Man kann hiebey
noch anmerken, daß in der Matheſi adplicata die
algebraiſchen Formeln ſolche abſtrahirte Saͤtze ſind,
oder daß die Reduction jeder Aufgaben auf pur logi-
ſche (§. 444 ſeqq.) ebenfalls durch eine ſolche Ab-
ſtraction geſchehe.
§. 508.
Das Abſtrahiren allgemeiner Saͤtze iſt von dem
Abſtrahiren einzelener Begriffe, (18.) in mehrern Ab-
ſichten verſchieden. Letzteres beſteht nur darinn, daß
man aus einem Begriff eines oder mehrere ſeiner
Merkmaale herausnehme, und ſie beſonders als Be-
griffe anſehe. Dieſes kann nun nach allen moͤgli-
chen Combinationen ſeiner Merkmaale geſchehen, ſo
fern dieſe nicht ſchon in einander enthalten ſind. (§. 43,
44.) Bey dem Abſtrahiren der Saͤtze koͤmmt dieſes
zwar auch vor, und man thut es ſo wohl bey dem
Subject als bey dem Praͤdicat, hingegen muß man
uͤberdies noch ausmachen, ob, wiefern, oder unter
welchen Bedingungen die abſtrahirten Merkmaale
X 2des
[324]VII. Hauptſtuͤck,
des Praͤdicats, denen, ſo man aus dem Subjecte
abſtrahirt, noch zukommen? Denn dieſes wird erfor-
dert, wenn man aus denſelben einen Satz machen will,
der allgemeiner ſey, als der, aus welchem er abſtra-
hirt worden, und ebenfalls noch bejahend bleibe, weil
man ſonſt mit allen moͤglichen Combinationen der
Merkmaale Saͤtze herausbringen kann. (§. 143.)
Man kann noch anmerken, daß wenn man, ſtatt zu
abſtrahiren, den Ruͤckweg nimmt, und zu einem all-
gemeinen Satz oder Begriff ſpeciale ſucht, in welchen
derſelbe vorkoͤmmt, dieſe ſpecialen Saͤtze oder Be-
griffe Beyſpiele zu dem allgemeinen ſind, welche
denſelben theils erlaͤutern, theils auch die Moͤglichkeit
beweiſen. Und wo das Subject des allgemeinen
Satzes ſich findet, da findet ſich auch ſein Praͤdicat,
beydes mit ſpecialern Beſtimmungen.
§. 509.
Wir machen dieſe Vergleichung des Abſtrahirens
von Saͤtzen und Begriffen hier, weil wir nur noch das
Abſtrahiren von Fragen, oder die Art, wie eine Frage
oder eine Aufgabe allgemeiner gemacht werden koͤnne,
zu unterſuchen haben, weil ſich ebenfalls allgemeinere
Aufgaben aus ſpecialern abſtrahiren laſſen.
§. 510.
Die theoretiſchen Aufgaben geben etwas zu er-
finden vor, und wenn ſie einfacher ſind, ſo bringt
man durch ihre Aufloͤſung einen Satz heraus, welcher
die Beantwortung der Frage der Aufgabe iſt. (§. 158.)
Und in dieſem Satze kann nun entweder das Sub-
ject oder das Praͤdicat ganz, oder eine Beſtimmung
deſſelben eigentlich geſucht worden ſeyn. Die For-
meln ſind demnach folgende:
1. Zu
[325]von den Aufgaben.
- 1. Zu einem vorgegebenen Praͤdicat jede
Subjecte zu finden. Das iſt: wenn eine
Eigenſchaft gegeben, die Dinge zu finden, in
welchen ſie vorkoͤmmt. (§. 326.) - 2. Zu einem vorgegebenen Subject jede
Praͤdicate zu finden. Das iſt: wenn eine
Sache gegeben, die Eigenſchaften derſelben zu
finden. (§ 327.) - 3. Zu einem vorgegebenen Subjecte die be-
ſondern Beſtimmungen eines ſeiner Praͤ-
dicate zu finden. Das iſt: Wenn eine Sache
eine Eigenſchaft ꝛc. hat, die noch mehr andern
zukoͤmmt, ihre beſondern Beſtimmungen in der
vorgegebenen Sache zu finden. (§. 82.)
§. 511.
Von dieſen Formeln gebrauchen wir die erſte vor-
nehmlich, wenn wir ſehen wollen, ob ein Satz auch
umgekehrt allgemein bleibe, eder in wie fern er all-
gemeiner werde, wie wir dieſes bereits oben (§. 166.)
angemerkt haben, wo von umgekehrten Aufgaben
die Rede war.
§. 512.
Die andre Formel gebrauchen wir zu Erfindung
der Theorie einer Sache, und ſie wird ſpecialer, ſo
oft das Praͤdicat, ſo man zu einem Subjecte ſucht,
von einer gewiſſen Art oder Beſchaffenheit ſeyn ſoll.
Jn dieſen Faͤllen koͤmmt die dritte Formel vor, wo
man naͤmlich die naͤhern Beſtimmungen des Praͤdi-
cats zu finden vorgiebt, welches man ſchon unter
einem allgemeinern Begriff kennt. Da folglich hie-
bey die Data und Quaeſita angegeben ſind, ſo ſind
auch dieſes im eigentlichſten Verſtande directe Auf-
gaben, und die in vorhergehendem Hauptſtuͤcke be-
X 3trach-
[326]VII. Hauptſtuͤck,
trachtete 6 Faͤlle, (§. 332—345.) geben Beyſpiele
dazu.
§. 513.
Die Aufgaben der erſten Formel, (§. 510.)
zu einem Praͤdicat jede Subjecte zu finden,
wird allgemeiner gemacht, wenn man das vorgegebe-
ne Praͤdicat unbeſtimmt laͤßt, folglich ſtatt deſſelben
eine hoͤhere Gattung annimmt. Denn es iſt fuͤr ſich
klar, daß die geſuchten Subjecte ſodann ebenfalls
allgemeiner ſeyn koͤnnen, weil in einem allgemein beja-
henden Satze das Praͤdicat niemals ein niedrigerer
Begriff als das Subject ſeyn kann.
§. 514.
Auf eine gleiche Art werden auch die Aufgaben
der zweyten Formel:
zu einem Subject jede Praͤdicate finden,
allgemeiner gemacht, wenn man ſtatt des vorgegebe-
nen Subjectes eine ſeiner hoͤhern Gattungen nimmt.
Die Theorie, ſo man durch dieſe Aufgaben heraus-
bringt, dehnt ſich dadurch weiter aus. Man kann
das oben (§. 50.) gegebene Beyſpiel von dem Begriff
eines Geſetzes auch hier zur Erlaͤuterung gebrauchen.
§. 515.
Die Aufgaben der dritten Formel. (§. 510.)
die beſondern Beſtimmungen des Praͤ-
dicats eines vorgegebenen Subjectes zu
finden,
laſſen ſich faſt allgemeiner machen, weil der allge-
meine Begriff des Praͤdicats noch mehrern Subje-
cten zukoͤmmt. Man kann demnach die Aufgabe auf
alle die hoͤhern Gattungen des Subjectes ausdehnen,
von welchen ſich das Praͤdicat noch bejahen laͤßt.
Macht man das Praͤdicat ſelbſt noch allgemeiner, ſo
werden
[327]von den Aufgaben.
werden es auch die Beſtimmungen und die Subjecte,
und folglich die Aufgabe aus beyden Gruͤnden.
§. 516.
Ferner wird in jeder Aufgabe das Quaeſitum
durch die Data beſtimmt. Dieſe Betrachtung ſelbſt,
daß naͤmlich dieDatadasQuaeſitumbeſtimmen,
giebt einen Satz, aus welchem ſich zuweilen nach
der vorhin angezeigten Art (§. 506. ſeq.) allgemeinere
Saͤtze, mit Beybehaltung des Begriffes: beſtimmen,
abſtrahiren laſſen. Dieſe abſtrahirten Saͤtze geben
demnach zugleich allgemeinere Data und Quaeſita,
und folglich eine allgemeinere Aufgabe. Um bey
dem (§. 506.) gegebenen Beyſpiele zu bleiben, ſo iſt
klar, daß ſich die Aufgabe:
aus zween Winkeln eines geradlinichten
Triangels den dritten zu finden,
ſchlechthin nur deswegen vortragen laͤßt, weil die
gegebenen zween Winkel den dritten beſtim-
men. Aus dieſem Satze haben wir (§. cit.) den
weit allgemeinern abſtrahirt:
Wenn das Verhaͤltniß zwoer Sachen zu
einer dritten beſtimmt iſt, ſo iſt auch das
Verhaͤltniß zwiſchen den beyden erſtern
beſtimmt.
Dieſer Satz giebt nun unmittelbar die Moͤglichkeit
der Aufgabe:
Wenn das Verhaͤltniß zwoer Sachen zu
einer dritten gegeben, das Verhaͤltniß
zwiſchen den beyden erſtern zu finden.
Wobey naͤmlich nur der Begriff: beſtimmen, in
die beyden Begriffe: gegeben, und: finden, ver-
wandelt worden, welches deswegen angeht, weil die
Moͤglichkeit jeder Aufgabe die Moͤglichkeit der Be-
ſtimmung des Geſuchten durch die gegebenen Stuͤ-
X 4cke,
[328]VII. Hauptſtuͤck,
cke, als eine Bedingung vorausſetzt, (§. 470.) und
hinwiederum, wo dieſe ſtatt hat, auch die Aufgabe
vorkommen und angebracht werden kann. (§. 471.)
Die Reduction einer mathematiſchen Aufgabe auf
eine algebraiſche, und uͤberhaupt die Reduction jeder
Aufgabe auf eine pur logiſche, iſt nichts anders, als
eine Anwendung der hier gemachten Anmerkung. Jn
dem erſten Fall ſucht man nur Groͤßen und ihre Ver-
haͤltniſſe, und dieſes macht, daß man von allem uͤbrigen
abſtrahiren kann. Jm andern Fall ſucht man Begriffe,
Saͤtze, und ihre Beſtimmungen und logiſchen Verhaͤlt-
niſſe ꝛc. und abſtrahirt in ſofern von den Sachen ſelbſt, um
ſich uͤberhaupt die Methode, die man in dem vorge-
gebenen Fall anzuwenden hat, bekannt zu machen.
(§. 444. 453.)
§. 517.
Man ſieht demnach hieraus, daß uͤberhaupt
eine Aufgabe allgemeiner gemacht werden kann,
wenn ſich der Satz oder die Bedingung, auf
welche ſich die Moͤglichkeit der Aufgabe gruͤn-
det, allgemeiner machen laͤßt. Und hinwiede-
rum wird letzteres auch nothwendig ſtatt haben, wenn
man, auch ohne es voraus zu wiſſen, aus andern
Anlaͤſſen, Gruͤnden ꝛc. findet, daß erſteres angeht.
Denn daß es ſolche Faͤlle gebe, haben wir bereits
(§. 474.) angemerkt, und findet man, ohne es eben
vorher zu ſehen, daß eine Aufgabe ſich allgemeiner
aufloͤſen laͤßt, ſo iſt fuͤr ſich klar, daß auch die Be-
dingung ihrer Moͤglichkeit allgemeiner ſeyn muͤſſe.
§. 518.
Dieſe letzte Art, Aufgaben allgemeiner zu ma-
chen, iſt von den drey erſten (§. 513, 514, 515.)
darinn verſchieden, daß wir in dieſen dreyen Faͤllen
nur einen Begriff, in dem Fall des (§. 516.) aber
einen
[329]von den Aufgaben.
einen Satz abſtrahirten, folglich jenes immer, die-
ſes aber nicht immer angeht. (§. 510.) Da nun, ſo
oft etwas nicht immer angeht, die Frage oder Auf-
gabe vorkoͤmmt, zu beſtimmen, wenn es angeht: ſo
wollen wir dieſes noch unterſuchen, und zu dieſem
Ende anmerken, daß die Aufgabe, deren Moͤglich-
keit §. 516. iſt gezeigt worden, ſich in die Aufgabe
verwandle:
Wenn einDatumundQuaeſitumgegeben,
zu finden, wiefern ſich aus beyden allge-
meinere Begriffe abſtrahiren laſſen, die
ebenfalls alsDataundQuaeſitain einer
Aufgabe beyſammen ſeyn koͤnnen.
Denn dieſe Verwandlung geht deswegen an, weil
ſich die Bedingung der Moͤglichkeit einer Aufgabe in
die Aufgabe ſelbſt, und hinwiederum dieſe in jene,
durch die bloße Verwechslung der Woͤrter: beſtim-
men, gegeben, finden, verwandeln laͤßt. (§. 516.)
Wenn man daher ſagt: A ſey das Datum, B das
Quaeſitum einer Aufgabe, ſo ſetzt man voraus, daß
B durch A beſtimmt werde. Da wir nun hier vor-
geben, zu finden, ob ſich aus A und B allgemeinere
Begriffe C, D abſtrahiren laſſen, ſo, daß ebenfalls
D aus C gefunden werden koͤnne, ſo geben wir nichts
anders fuͤr, als zu finden, ob D durch C beſtimmt
ſey. Und dieſes iſt nun eben, was wir in dem §. 516.
als in vielen Faͤllen moͤglich erwieſen hatten.
§. 519.
Um nun zu ſehen, welches dieſe Faͤlle ſind, und
zu welchen andern Anfgaben die hier betrachtete lei-
tet; ſo merken wir an, daß, wennBdurchAbe-
ſtimmt wird, nothwendig auch die Merkmaale
desBdadurch beſtimmt ſeyn, weil die Beſtim-
mung eines Begriffes ſeinen Umfang anzeigt, und
X 5dieſer
[330]VII. Hauptſtuͤck,
dieſer jede ſeine Merkmaale zuſammen faßt. Dem-
nach iſt unſtreitig, daß, ſo lange man das Datum
A beybehaͤlt, jede hoͤhere Gattung von B als ein
Quaeſitum angeſehen werden kann, weil ſie zugleich
mit B durch das Datum A beſtimmt iſt. Man muß
nur anmerken, daß dieſes nicht ſagen will, als wenn
man mit der hoͤhern Gattung auch jede andre Arten
derſelben aus dem Dato A finden koͤnnte. Denn man
findet dieſe Gattung nur, ſofern ſie in B iſt, und da-
her mit den Beſtimmungen, die ſie in B hat.
§. 520.
Es iſt aber hier die Frage nicht, das Datum A
ganz beyzubehalten. Denn abſtrahirt man aus B
einen allgemeinern Begriff D, ſo iſt es allerdings zu
vermuthen, daß, um denſelben zu finden, das Datum
A nicht allzeit ganz beybehalten werden duͤrfe. Dem-
nach koͤmmt die Frage vor: ob und was man
davon weglaſſen oder in demſelben unbeſtimmt
laſſen koͤnne? Dieſe Frage loͤſet ſich leicht in folgen-
de auf, ob der allgemeinere BegriffDdurch
die eigene Merkmaale desA,oder durch ſeine
gemeinſame Merkmaale, oder durch beyder-
ley zugleich beſtimmt werde, oder ob man deſ-
ſen unerachtet, daßDallgemeiner alsBiſt,
dasDatum Adennoch ganz beybehalten muͤſſe?
Jm letzten Fall, wenn anders derſelbe angeht, wird
D durch B, B aber durch A, folglich D nur mittel-
bar durch A beſtimmt. So z. E. wird die erſte Fi-
gur der Schlußarten unmittelbar durch das Dictum
de omni et nullo beſtimmt. Glaubt man nun, dieſes
Dictum ſey der einige und abſolute Grund aller
Schlußarten, ſo wird man allerdings leicht verleitet,
die drey uͤbrigen Figuren durch die erſte zu beweiſen.
Jn dieſem Beyſpiel iſt das Dictum de omni et nullo
das
[331]von den Aufgaben.
das Datum A,die erſte Figur und ihre Schluß-
arten das Quaeſitum B,eine Schlußart uͤber-
haupt das allgemeinere Quaeſitum D. Wir haben
aber oben geſehen, daß man fuͤr das Quaeſitum D,
das iſt, fuͤr die Schlußarten jeder Figuren uͤber-
haupt, von dem Dato A, das iſt, von dem Dicto
de omni et nullo ſo viel weglaſſen koͤnne, daß man
weiter nichts, als den Begriff eines Satzes uͤber-
haupt beybehalte, und aus dieſem fuͤr jede Figur
ein beſonderes Dictum herleiten koͤnne, wenn man ſich
ja nicht an die Zeichnung, oder an die Sprache der-
ſelben binden will, welche ohne Ruͤckſicht auf den
Unterſchied der Figuren jeden Schluß, der aus zweyen
Vorderſaͤtzen gezogen werden kann, unmittelbar an-
giebt.
§. 521.
Wir koͤnnen aber hier zeigen, daß der letzte Fall
gar nicht nothwendig ſey. Man ſetzt in demſelben,
D ſey eine Gattung, deren eine Art B iſt, die durch
das Datum A beſtimmt wird, und zugleich ſetzt man,
daß man, um D zu beſtimmen, das Datum A ganz
beybehalten muͤſſe. Dieſes aber iſt nun gar nicht
nothwendig. Denn da B eine Art von D iſt; ſo
hat B eigene Merkmaale, welche in dem Begriffe der
Gattung D nothwendig nicht ſind, weil dieſe nur
die gemeinſamen Merkmaale enthaͤlt. Da nun B ſich
durch A ſoll beſtimmen laſſen, ſo iſt klar, daß A ſpe-
cial genug ſeyn muͤſſe, um auch die eigenen Merk-
maale des B zu beſtimmen. Denn das Quaeſitum
kann nicht ſpecialer ſeyn, als das Datum, wodurch
es beſtimmt wird. Sollte nun A ganz erfordert wer-
den, um D zu beſtimmen, ſo wuͤrde C an ſich ſchon
allen Bedingungen des A Genuͤgen thun, und ſo
bliebe keine, welche noch uͤberdies die eigenen Merk-
maale
[332]VII. Hauptſtuͤck,
maale des B erforderte, folglich muͤßte B die einige
Art ſeyn, die unter die Gattung D gehoͤrte, weil
nur auf dieſe Art B zugleich mit D beſtimmt iſt. Die-
ſes aber widerſpricht der Vorausſetzung, daß D nicht
ein eigenes Merkmaal von B, ſondern eine hoͤhere
Gattung iſt. Demnach wird A nicht ganz erfor-
dert, um D zu beſtimmen. Z. E. zu einem gleichwink-
lichten Triangel werden drey gleiche Seiten erfordert.
Wollte man nun ſetzen, daß uͤberhaupt zu jedem
Triangel drey gleiche Seiten erfordert werden, ſo iſt
klar, daß die bloße Gleichheit der Seiten nicht zu-
reichen wuͤrde, die gleichwinklichten Triangel von
den ungleichwinklichten zu unterſcheiden, weil jene
ſowohl als dieſe drey gleiche Seiten haͤtten, folglich
muͤßte es entweder keine ungleichwinklichte Triangel
geben, oder, wenn es ſolche giebt, ſo muͤßte ihr Un-
terſchied durch etwas anders, z. E. durch die Groͤße
der Seiten, beſtimmt werden, und daher immer noch
eine neue Beſtimmung hinzukommen.
§. 522.
Es findet ſich demnach zwiſchen den Datis und
dem Quaeſito ein gewiſſes Ebenmaaß, welches, wie
wir bereits oben angemerkt haben, (§. 163.) die
Mathematiker in ihren Aufgaben ſorgfaͤltig beobach-
ten, und bey jeder determinirten Aufgabe weder
mehr noch minder Data angeben, als nothwendig
und zureichend ſind, das Quaeſitum zu beſtimmen.
Denn weniger Data als zureichend ſind, wuͤrden das
Quaeſitum wenigſtens zum Theil unbeſtimmt laſſen;
Und mehr Data als nothwendig ſind, wuͤrden etwas
uͤberfluͤßiges angeben, es ſey, daß die uͤberfluͤßi-
gen zur Beſtimmung des Geſuchten an ſich nichts
beytragen, oder auch, daß ſie durch die andern gefun-
den werden koͤnnen.
§. 523.
[333]von den Aufgaben.
§. 523.
Dieſes zureichende und nothwendige in den Da-
tis waͤchſt mit der Anzahl der geſuchten Stuͤcke
und ihrer Bedingungen, wodurch ſie ſpecialer oder
determinirter gemacht werden, weil die Data nicht
allgemeiner ſeyn koͤnnen, als das Quaeſitum. Die
Data in einer Sache beſtimmen dasjenige, was da-
von abhaͤngt, und folglich mit denſelben zugleich ge-
ſetzt wird. So lange nun noch etwas zu beſtimmen
bleibt, ſo lange muͤſſen auch zu den Datis noch meh-
rere genommen werden, wenn es beſtimmt werden
ſoll.
§. 524.
Da nun D, als eine Gattung von B, nothwen-
dig weniger Merkmaale und Beſtimmungen hat, ſo
wird auch mehr erfordert, wenn B beſtimmt werden
ſoll, als wenn nur D zu beſtimmen iſt. Folglich
wenn A ganz erfordert wird, um B zu beſtimmen, ſo
koͤnnen von A nothwendig einige Merkmaale wegge-
laſſen werden, wenn nur D beſtimmt werden ſoll, und
dieſes ſind diejenigen, wodurch die eigenen Merkmaa-
le des B beſtimmt werden. Demnach laͤßt ſich aus
einer Aufgabe, worinn Data und Quaelita ſpecial
ſind, eine allgemeinere abſtrahiren, und hinwiederum
iſt klar, daß auch allgemeine auf ſpeciale applicirt
werden koͤnnen. Kommen demnach ſolche vor, ſo
iſt es gut, wenn man Criteria findet, von der ſpe-
cialen auf die allgemeine, oder, ſo auch von dieſer
auf jene zu ſchließen.
§. 525.
Wenn dasQuaeſitumveraͤnderlich bleiben
ſoll, ſo muͤſſen auch dieDatawenigſtens zum
Theil veraͤnderlich bleiben. Denn waͤren ſie
alle unveraͤnderlich, ſo waͤre auch das Quaeſitum
ganz
[334]VII. Hauptſtuͤck,
ganz beſtimmt, weil es von den Datis ganz abhaͤngt.
Dieſes zieht oͤfters die Folge nach ſich, daß man zu
einemQuaeſito,ſo unbeſtimmt bleiben ſoll, nicht
nur einigeDataunbeſtimmt laͤßt, ſondern die-
ſen zu gefallen auch die uͤbrigen auf eine be-
ſondere Art beſtimmen muß. Jn der Analytik
bedienen ſich die Mathematiker dieſes Umſtandes auf
verſchiedene Art, und beſonders zur Beſtimmung
der Coͤfficienten der Gleichungen und unendlichen
Reihen, und wo die Bedingungen allgemeiner Ver-
haͤltniſſe zu finden, welche in einer fuͤr einen ſpecialen
Fall herausgebrachten Gleichung verborgen liegen.
Denn wenn in einer Gleichung nur eine Groͤße ver-
aͤnderlich iſt, ſo werden die Coͤfficienten der Glieder
derſelben =0 geſetzt, und dadurch wird der Fall
beſtimmt, wo zwiſchen den Datis und Quaeſitis ein
allgemeines Verhaͤltniß ſtatt findet.
§. 526.
Es kommen aber auch im gemeinen Leben Faͤlle
vor, wobey der erſtgegebene Satz gebraucht wird.
Beſonders ſind die meiſten kuͤnftigen Umſtaͤnde und
Vorfallenheiten von der Art, daß, weil wir nicht
immer vorherſehen koͤnnen, wie ſie ausfallen werden,
wir ſie eben ſo anſehen muͤſſen, als wenn ſie unbe-
ſtimmt waͤren. Die Redensart, ſich auf alle Faͤl-
le gefaßt machen, heißt demnach eben ſo viel, als
ſeine Entſchließungen nur in ſofern beſtimmen, daß,
was auch daraus wirklich erfolge, man zu fernern
Beſtimmungen die Freyheit behalte. Dieſes geht
nun deſto eher an, je leichter ſich die moͤglichen Faͤlle
durch eine richtige Combination beſtimmen und ab-
zaͤhlen laſſen, weil eine geringere Anzahl derſelben das
Unbeſtimmte naͤher einſchraͤnkt. Was hiebey auf die
Hauptſache, deren moͤgliche Veraͤnderungen man
durch-
[335]von den Aufgaben.
durchgehen will, keinen Einfluß hat, das ſetzt man
in dieſer Rechnung =0, das iſt, man abſtrahirt
davon, man laͤßt es aus der Rechnung weg; und
wenn es einen Einfluß haben koͤnnte, der die Sache
nicht mehr unbeſtimmt ließe, ſo iſt klar, daß, wenn
dieſes dennoch ſeyn ſoll, dieſer Einfluß durch ander-
weitige Mittel = 0 gemacht werden muͤſſe.
§. 527.
Endlich, wenn auch die Data und Quaeſita in
einer Aufgabe beſtimmt ſind, folglich nichts veraͤn-
derliches oder willkuͤhrliches mehr darinn iſt, ſo kann
man dennoch etwas veraͤnderliches oder willkuͤhrliches
darinn einfuͤhren, um dadurch etwas zu erhalten, das
ſich willkuͤhrlicher beſtimmen laͤßt. Dieſe Moͤglich-
keit gruͤndet ſich darauf, daß jede Sache durch
ihre Verhaͤltniſſe zu mehrern andern be-
ſtimmt wird, und daß man fuͤr ein Ganzes
ſeine Theile ſetzen kann. Jm letzten Fall bleibt
bey der Zerfaͤllung des Ganzen in ſeine Theile eine
Auswahl, weil die Bedingung nur fordert, daß
man ſie alle nehmen muͤſſe. Jm erſten Fall aber
kann man fuͤr die Sache A ſelbſt jede andre B nebſt
ihrem Verhaͤltniß nehmen, und die Auswahl hat eben-
falls ſtatt, weil mit B das Verhaͤltniß, und hin-
wiederum B mit dem Verhaͤltniß ſodann zugleich be-
ſtimmt wird. So iſt in der Algeber nichts gewoͤhn-
licher, als daß man x=y+z, oder x=y:z ſetzt,
um dadurch ſo| viel erhaͤlt, daß man y oder z nach
Belieben beſtimmen kann. Die Redensart, ſich
eine freye Diſpoſition uͤber etwas menagiren,
zeigt, daß man auch im gemeinen Leben Geſchaͤffte,
die dennoch geſchehen ſollen, ſo anordnet, daß man
Auswahl und Bequemlichkeit dabey erhaͤlt. Eine
zuammengeſetzte Wahrheit, Geſchichte ꝛc. ſtuͤckweiſe
erfah-
[336]VII. Hauptſtuͤck,
erfahren, und ſie durch die Verbindung der einzelnen
Theile ganz zuſammen bringen, die innere Beſchaf-
fenheit einer Sache durch ihre Verhaͤltniſſe mit an-
dern, durch ihre Symptomata in verſchiedenen Pruͤ-
fungen (§. 172.) herausbringen, ſind ebenfalls ſol-
che Aufgaben, deren Aufloͤſung eine Auswahl zulaͤßt,
die man in einzelnen Faͤllen nach den beſondern Um-
ſtaͤnden richtet, die ſich anbieten.
§. 528.
Was wir bisher von den Fragen und Aufgaben
geſagt haben, betrifft vornehmlich die theoretiſchen,
und geht demnach die practiſchen Aufgaben nur in ſo
fern an, als ihre Aufloͤſung ſich auf die Theorie der
Moͤglichkeit gruͤndet, und zu erfinden iſt. Hinge-
gen haben die practiſchen Aufgaben verſchiedenes,
welches beſonders betrachtet zu werden verdient. Und
wie man in der Theorie der Saͤtze die Lehrſaͤtze mit
Grundſaͤtzen zuſammenhaͤngt, ſo haben wir noch zu
zeigen, wie die practiſchen Aufgaben mit Poſtulatis
oder Forderungen (§. 156.) in Zuſammenhang ſtehen
oder gebracht werden.
§. 529.
Eine practiſche Aufgabe giebt etwas zu thun
vor, und ihre Aufloͤſung ſoll zeigen, wie es geſche-
hen koͤnne. Da nun jede Frage oder Aufgabe gewiſſe
Bedingungen vorausſetzt (§. 427, 428.) ſo laͤßt ſich
leicht finden, daß eine practiſche Aufgabe die Moͤg-
lichkeit der Sache vorausſetze, welche ſie zu thun
vorgiebt, und zwar muß die Sache nicht bloß an ſich
betrachtet moͤglich ſeyn, ſondern von menſchlichen
Kraͤften abhaͤngen, und durch dieſelben geſche[h]en
koͤnnen. Denn wo dieſes nicht iſt, da faͤllt das Pra-
ctiſche der Aufgabe ganz weg, und ſie verwandelt
ſich hoͤchſtens nur in die Theorie der Moͤglichkeit einer
Sache an ſich betrachtet.
§. 530.
[337]von den Aufgaben.
§. 530.
Demnach ſetzen die practiſchen Aufgaben die
Theorie deſſen voraus, was durch unſre Kraͤfte moͤg-
lich iſt, und je weiter dieſe Theorie getrieben wird,
deſto mehrere Aufgaben laſſen ſich vortragen und auf-
loͤſen. Die Ordnung dieſer Theorie iſt nun offenbar
folgende. Erſtlich koͤnnen wir als eine Erfahrung
zum Grunde legen, daß wir Kraͤfte haben, und
zwar, ſo wohl Kraͤfte des Verſtandes, als Kraͤfte
des Leibes. Was nun durch dieſe, an ſich be-
trachtet, moͤglich iſt, das kann bey practiſchen
Aufgaben als einPoſtulatumvorausgeſetzt wer-
den. Z. E. eine Sache anſchauen, einen Schall hoͤ-
ren, auf etwas ſtehen, treten, an etwas ziehen, et-
was tragen ꝛc.
§. 531.
Hiebey ſind aber zwey Stuͤcke zu bemerken. Das
erſte iſt, daß unſre Kraͤfte ſaͤmmtlich einen ge-
wiſſen Grad haben, der bey jedem Menſchen
mehr oder minder verſchieden iſt, und zuwei-
len ganz mangelt. Die verſchiedenen Moͤglichkei-
ten in die Ferne oder in die Naͤhe, bey hellerm und
ſchwaͤcherm Lichte, mehr oder minder kleine Sachen
deutlich zu ſehen, ſind Beyſpiele davon, und ma-
chen, daß das Poſtulatum vom Sehen nicht auf alle
Grade ausgedehnt werden kann, und bey Blinden
ganz wegfaͤllt. Man wird bey jeden andern Kraͤften
und Faͤhigkeiten der Menſchen aͤhnliche Stufen fin-
den. Sie fangen bey 0 an, und gehen bis auf einen
gewiſſen Grad.
§. 532.
Das andre, ſo wir anzumerken haben, iſt, daß
unſre Kraͤfte und Faͤhigkeiten ſich durch Ue-
bung in Fertigkeiten verwandeln, wodurch
Lamb. Org. I. Band. Ywir
[338]VII. Hauptſtuͤck,
wir ſchwerere und zuſammengeſetztere Sachen
leichter, geſchwinder und ſicherer thun koͤn-
nen, und dazu aufgelegter werden. Dieſes
heißen wir lernen, wenn die Sache noch ganz anzu-
fangen iſt, und bis wir es auf einen gewiſſen Grad
gebracht haben, daß wir naͤmlich wenigſtens die Feh-
ler vermeiden koͤnnen. Wer darinn weiter geht und
es andern zuvor thut, der excellirt, oder uͤber-
trifft, iſt vortreflich ꝛc. Da es hiezu Zeit erfor-
dert, ſo hat man auch bald aus jeden Verrichtungen,
wobey Uebung und Fertigkeit erfordert wird, Lebens-
arten gemacht, und die, wobey mehr die Kraͤfte
des Leibes als des Verſtandes erfordert werden, Hand-
werker, die, wo Kraͤfte des Leibes und des Ver-
ſtandes immer zugleich erfordert werden, Kuͤnſtler,
und wo der Verſtand das Hauptwerk macht, Ge-
lehrte genennt. So giebt es auch, wo Kunſt und
Wiſſenſchaft ſich paaren, und mit einander durch-
flochten ſind, wie z. E. im Kriegsweſen und Regen-
tenſtande ꝛc. Uebrigens macht theils der Gebrauch
zu reden, theils die Schwuͤrigkeit, den Einfluß jeder
Kraͤfte in die Verrichtungen genau zu beſtimmen, in
dieſer Eintheilung viele Anomalien und Unbeſtimmt-
heiten.
§. 533.
Ungeachtet nun die Uebung Fertigkeiten hervor-
bringt, wodurch man ſchwerere und zuſammengeſetztere
Handlungen thun kann, ſo ſind dieſe dennoch immer
aus einfachern zuſammengeſetzt, und daher nicht
unmittelbar Poſtulata. Da ſie ſich aber zuſammen-
ſetzen laſſen, ſo macht die Art der Zuſammenſetzung
die Aufloͤſung einer practiſchen Aufgabe aus, und
der Beweis, daß die Sache dadurch geſchehe, macht
ſie durchaus vollſtaͤndig. (§. 162.) Eine Sammlung
ſolcher
[339]von den Aufgaben.
ſolcher einfachen Moͤglichkeiten wuͤrde jede Poſtulata
zu den practiſchen Wiſſenſchaften angeben.
§. 534.
Wir haben ferner als eine Erfahrung zum Grun-
de zu legen, daß es auch Kraͤfte in der Natur
giebt, durch welche ſich Veraͤnderungen er-
aͤugnen und hervorbringen laſſen. So weit
demnach unſre Kraͤfte reichen, dieſe ebenfalls zu ge-
brauchen, ſo weit laͤßt ſich auch das practiſche in den
Wiſſenſchaften ausdehnen. Man darf, um die vielen
Moͤglichkeiten hierinn mit einem Anblicke zu uͤberſe-
hen, nur die Verrichtungen der Handwerker und
Kuͤnſtler durchgehen, und Acht haben, wie jeder die
Dinge in der Natur zu ſeinen Arbeiten gebraucht.
Man wird dabey leicht den Schluß machen koͤnnen,
daß noch lange nicht alle moͤgliche Combinationen der
menſchlichen Kraͤfte und der Kraͤfte der Natur erfun-
den ſind.
§. 535.
Man kann die Kraͤfte der Natur und die Ver-
aͤnderungen, ſo wir in den Dingen hervorbringen koͤn-
nen, gewiſſer maaßen in mechaniſche und chymi-
ſche eintheilen; in ſo fern wir naͤmlich bey den er-
ſteren die Sachen laſſen, wie ſie ſind, oder ihnen
nur eine gewiſſe Form und Geſtalt geben, bey den
letztern aber dieſelben in ihren innern Theilen aͤndern,
aufloͤſen und anders zuſammenſetzen. Dieſer Unter-
ſchied will nicht ſagen, als wenn in dem letzten Fall
kein Mechaniſmus ſtatt haͤtte, weil ſich derſelbe durch
alle Theile der Koͤrperwelt ausbreitet, ſondern der
Unterſchied beſteht nur darinn, daß wir im letzten
Fall den Mechaniſmus nicht kennen, und folglich
die Moͤglichkeit der Sache ſchlechthin durch die Er-
fahrung finden muͤſſen.
Y 2§. 536.
[340]VII. Hauptſtuͤck,
§. 536.
Weis man nun durch die Erfahrung, daß
eine Veraͤnderung in der Natur moͤglich iſt,
ſo kann man allerdings dieſe Veraͤnderung, ſo
fern wir etwas dazu beytragen muͤſſen, als
eine Aufgabe vortragen, und die Anzeige, wie
dieſe Veraͤnderung erhalten werde, wird die
Aufloͤſung der Aufgabe ſeyn. Z. E. man hat et-
wann gefunden, daß, wenn man Gallaͤpfel und Vi-
triol in Waſſer aufloͤſt, das Waſſer dadurch ſchwarz
gefaͤrbt werde. Hieraus entſtund leicht die Aufga-
be: Dinte zu machen, deren Aufloͤſung man durch
die genauere Beſtimmung des Verhaͤltniſſes der Jngre-
dientien, durch einen Zuſatz von Gummi, Wein,
Eßig ꝛc. zu verbeſſern und ſicher zu machen ſuchte.
Hier iſt nun weiter nichts, als die Vorbereitung
(§. 63.) mechaniſch, daß ſie naͤmlich in unſrer Ge-
walt ſteht, und daß wir wiſſen, wie ſie vorgenom-
men werde. Hingegen iſt uns der Mechaniſmus, durch
welchen die Schwaͤrze aus der Vermiſchung entſteht,
verborgen, und daher wird es ſchlechthin durch die
innern Kraͤfte der Natur gewirkt, daß die Dinte
nunmehr das Licht gleichſam abſorbirt.
§. 537.
Solche Erfahrungen dienen nun bey practiſchen
Aufgaben anſtatt der Poſtulaten, wie die Erfah-
rungen bey theoretiſchen Unterſuchungen ſtatt der
Grundſaͤtze dienen. Unſre Einſicht iſt nicht hin-
reichend, die Einrichtung der Dinge in der Natur
aus allgemeinen Gruͤnden einzuſehen, und bisher ha-
ben wir hoͤchſtens nur die mechaniſchen Grundſaͤtze,
wodurch wir uͤberhaupt Kraft, Bewegung, Dire-
ction, Geſchwindigkeit, Maaße und Zeit mit einan-
der vergleichen koͤnnen, anbey aber den determinirten
Grad
[341]von den Aufgaben.
Grad eines jeden dieſer Stuͤcke ſo nehmen muͤſſen, wie
ihn die Erfahrung giebt, und da bleiben wir bey den
Veraͤnderungen, ſo in den innern Theilen der Koͤrper
moͤglich ſind, mit der Theorie noch ganz zuruͤck, weil
wir keine Erfahrung davon haben koͤnnen, die ihre
Einrichtung anzeigte. Demnach muͤſſen wir unter
unſre Poſtulata einen guten Theil mitnehmen, die
ſchlechthin Erfahrungen ſind.
§. 538.
Die practiſchen Aufgaben fordern aber
nicht nur Kraͤfte, wodurch wir wirken koͤn-
nen, ſondern auch den Stoff, in welchem dieſe
Wirkung geſchehen ſoll. Da ſich aus nichts
nichts machen laͤßt, ſo muͤſſen wir etwas haben, wor-
aus es gemacht werden koͤnne. Dieſes ſind in
practiſchen Aufgaben die Data, und ſie haben, wie
bey den theoretiſchen, die Bedingung, daß ſie zurei-
chend ſeyn muͤſſen, und will man noch genauer ge-
hen, ſo muͤſſen auch nicht mehr ſeyn, als nothwen-
dig iſt, die Sache zu Stande zu bringen, weil es
nicht nur ein Geſetz der Sparſamkeit, ſondern noch
uͤberdies eine Vollkommenheit der Aufgabe iſt, wenn
ſie auf die geringſte moͤgliche Data gebracht wird; das
will ſagen, wenn man mit wenigem viel ausrichtet.
§. 539.
Hat man nun den Stoff nicht unmittelbar,
ſo koͤmmt die Frage vor, denſelben aufzubrin-
gen, oder deſſen Mangel durch andern zu er-
ſetzen. Jm erſten Fall loͤſet ſich die Aufgabe in ein-
fachere auf, im letzten Fall aber verwandelt ſie ſich
in eine andre, ſo wie beydes auch bey theoretiſchen
Aufgaben vorkoͤmmt. (§. 437. 438.)
§. 540.
Eine Aufgabe, worinn dieDataangege-
ben werden, ſetzt nicht nur voraus, daß die
Y 3Sache,
[342]VII. Hauptſtuͤck,
Sache, ſo zu thun iſt, an ſich moͤglich ſey,
ſondern, daß dieſeDatawirklich dazu gebraucht
werden koͤnnen, und daß es in unſern Kraͤften
ſtehe, ſie dazu zu gebrauchen, und die Sache
zu Stande zu bringen. Denn es iſt klar, daß,
was von dieſen Bedingungen wegbleibt, die Aufloͤ-
ſung der Aufgabe und ihre Bewerkſtelligung zureichend
mache. Man muß ſich demnach voraus verſi-
chern, daß dieſe Bedingungen wirklich ſtatt
finden.
§. 541.
Dieſes kann nun erſtlich ſynthetiſch geſche-
hen, wenn man naͤmlich dieDatamit den Kraͤf-
ten, ſo dabey angewandt werden koͤnnen, ſo
vergleicht, daß man den Erfolg durch Schluͤſſe
voraus beſtimmen kann. Auf dieſe Art iſt ſchon
manche Maſchine erfunden worden, weil die Geſetze
der Mechanik beſtimmt, die Kraͤfte in der Natur
vorraͤthig und die Anordnung der Theile der Maſchine
in die Augen fallend iſt. Die Combination mehrerer
Wirkungen, wobey jede die folgende moͤglich macht,
giebt ebenfalls ſolche Schluͤſſe, wodurch man auf eine
neue Moͤglichkeit verfaͤllt. Es iſt aber bey der ſyn-
thetiſchen Methode uͤberhaupt mehr den gluͤcklichen
Einfaͤllen als einer vorbedachten Auswahl zuzuſchrei-
ben, wie wir dieſes bereits oben angemerkt haben.
(§. 456.)
§. 542.
Man geht demnach auch hier ſicherer, wenn man
bey demQuaeſitoanfaͤngt, und dieDatazuRe-
quiſitismacht, das will ſagen, wenn man aus der
Natur der Sache, die man zu Stande bringen will,
herleitet, was dazu nothwendig erfordert wird.
Dieſe Methode, eine practiſche Aufgabe aufzuloͤſen,
iſt analytiſch, und hat, wie bey den theoretiſchen
Aufga-
[343]von den Aufgaben.
Aufgaben, etwas viel nothwendigeres, als die ſyn-
thetiſche, weil man dadurch die einfachſten und unmit-
telbaren Data findet, aus welchen die Sache zu Stande
gebracht werden kann. Muͤſſen dieſe Data ſodann
erſt ſelbſt noch vorraͤthig gemacht werden, ſo loͤſt ſich
die Aufgabe in andre und einfachere auf, und man
hat neue Data zu ſuchen, wodurch man die erſtern
erhaͤlt, die unmittelbar zu der vorgegebenen Haupt-
ſache dienen. Wir koͤnnen auch hiebey wiederum an-
merken, was bey den theoretiſchen Aufgaben, daß,
ungeachtet man hier die naͤchſten Data jedes fuͤr ſich
durch anderweitige zu erhalten ſucht, man es eben
nicht dabey muͤſſe bewenden laſſen, weil letztere, wenn
ſie behoͤrig verbunden werden, ſehr oft eben ſo leicht
zu der Hauptſache und ihrer Bewerkſtelligung fuͤh-
ren, als wenn man aus denſelben erſt die unmittel-
baren Data, und ſodann aus dieſen die Hauptſache
zu Stande bringen wollte. Auf dieſe Art iſt oͤfters
ein Umweg, der ſich ſelbſt anbeut und zum Ziele fuͤhrt,
kuͤrzer, als der gerade, wenn man dieſen ohne viele
Vorbereitungen nicht gebrauchen kann.
§. 543.
Es geht aber nicht immer ſo leicht an, daß man
finden koͤnnte, was zur Bewerkſtelligung eines Quae-
ſiti erfordert wird, und welche Data dazu gehoͤren.
Beſonders wird dieſes ſchwer, wo man die innere
Beſchaffenheit der Materie kennen muͤßte, um es aus
Gruͤnden herauszubringen, und wobey folglich der
Proceß chymiſch iſt. (§. 535. 537.) Hier muß man
ſich großentheils mit Analogien begnuͤgen, und durch
Verſuche finden, ob ſie angehen. Z. E. Man will
ſehen, ob ſich Gold auſloͤſen laſſe. Man findet, daß
die uͤbrigen Metallen im Scheidwaſſer aufloͤsbar ſind,
und ſo iſt natuͤrlich, daß man es mit dem Golde auch
Y 4verſucht,
[344]VII. Hauptſtuͤck,
verſucht, und da es nicht angeht, ſo forſcht man aus,
wodurch das Scheidewaſſer koͤnne verſtaͤrkt und zur
Aufloͤſung des Goldes faͤhig gemacht werden. Eben
ſo, da man gefunden, daß einige fluͤßige Materien
bey groͤßern Graden der Kaͤlte gefrieren, als andre,
ſo konnte man anſtehen, ob nicht auch bey einem noch
groͤßern Grade der Kaͤlte das Queckſilber gefrieren
wuͤrde, und die Erfahrung hat es nun bekraͤftigt, da
man Mittel gefunden, die Kaͤlte ſo weit zu verſtaͤr-
ken. Man kann eben ſo fragen, ob nicht auch die
Luft zum gefrieren gebracht werden koͤnne? Wiederum,
man findet eine neue Art von Erden. Man weis,
daß aus andern Erden Farben, Glas, Pocellan ꝛc.
herausgebracht werden kann. Man verſucht es dem-
nach auch, und laͤßt die neue Erde durch ſolche Pro-
ben gehen, um zu ſehen, ob ſich aͤhnliche Symptomata
aͤußern. Ein Stuͤck Eiſen wurde durch die Laͤnge
der Zeit magnetiſch, und gab dadurch den Begriff
der Moͤglichkeit, Eiſen magnetiſch zu machen Man
hatte demnach nur zu ſehen, ob es nicht in kuͤrzerer
Zeit geſchehen koͤnne. Die oben (§. 454.) gegebene
Beyſpiele gehoͤren mit hieher, beſonders das von der
Luftpumpe, weil Guerikens Aufgabe eigentlich
practiſch war.
§. 544.
Bey Aufgaben, die bloß mechaniſch ſind, hat
die Erfindung der gegebenen Stuͤcke weniger Schwuͤ-
rigkeit, wenn man ſich die Grundſaͤtze der Mechanik
zureichend bekannt gemacht hat. Die Frage koͤmmt
dabey mehr auf die Moͤglichkeit der Sache ſelbſt an,
wie z E. bey einer immerwaͤhrenden Bewegung. Jſt
aber die Sache moͤglich, ſo muß man ſich, was man
eigentlich zu erhalten ſucht, auf eine entwickeltere Art
vorſtellen, und die Mechanik beut Stoff und Kraͤfte
an,
[345]von den Aufgaben.
an, durch deren Anwendung es geſchehen kann. Kom-
men aber Wirkungen dabey vor, die durch den Me-
chaniſmum der innern Theile der Koͤrper gewirkt
werden muͤſſen, ſo laͤßt ſich das Quaeſitum nicht
auf Requiſita bringen, und man muß Erfahrungen
aufſuchen, die uns ihre naͤhere Moͤglichkeit darbleten.
Man kann hieruͤber des §. 76. und die daſelbſt ange-
fuͤhrten Beyſpiele nachſehen.
§. 545.
Die Geiſterwelt hat ebenfalls ihre Geſetze, und
die Aufgaben der Sitten und Staatslehre, werden
theils durch die Analogie der Faͤlle veranlaßt, theils
aus den Geſetzen der Erkenntnißkraͤfte der Triebe und
Begierden hergeleitet, worauf uͤberhaupt die Aufga-
be, die menſchlichen Gemuͤther zu kennen und zu len-
ken ankoͤmmt. Die Befoͤrderung der Gluͤckſeligkeit
des geſellſchaftlichen Lebens bezieht ſich auf die Aufga-
be, die Zufriedenheit allgemein zu machen und zu
vergroͤßern.
§. 546.
Die Vernunftlehre und Erfindungskunſt gruͤnden
ſich ebenfalls auf die Geſetze der Erkenntnißkraͤfte,
und muͤſſen ihre Poſtulata daher nehmen. Dieſe
ſind von zweyerley Arten, weil einige auf die Form,
andre aber auf die Materie unſrer Erkenntniß ge-
hen. §. 242. 245.) Letztere aber ſind ungleich ſchwe-
rer, als die erſtern, und lange nicht ſo viel in unſrer
Gewalt. Denn man ſehe z. E. nur, ob es eine Schwuͤ-
rigkeit ſey, einen Satz umzukehren, (§. 141.) aus
zween gegebenen Vorderſaͤtzen den Schlußſatz ziehen,
(§. 218, 2 9, 276, 281.) zu einem Satze nach den
oben gegebenen Formeln, (§. 256. ſeqq.) unmittelbare
Folgen zu ziehen ꝛc. Unſre Erkenntnißkraͤfte ſind
an ſich ſchon dazu eingerichtet, daß wir dieſes faſt,
Y 5ohne
[346]VII. Hauptſtuͤck,
ohne es zu lernen, thun, und hoͤchſtens durch die Ue-
bung eine groͤßere Fertigkeit darinn erhalten. (§. 532.)
§. 547.
Hingegen iſt die Erfindung der Materie nicht ſo
viel in unſrer Gewalt, ungeachtet die erſten Anfaͤnge
ſich auf Poſtulata gruͤnden, die an ſich betrachtet, eben
nicht ſo ſchwer ſind. Man kann leicht zeigen, daß
es auf zureichend klare Begriffe ankomme, ſo,
daß wir die Sache, wo ſie vorkoͤmmt, und auch noch
da, wo ſie mit Nebenumſtaͤnden verwickelt und um-
huͤllt iſt, bemerken und erkennen koͤnnen. Hiezu die-
nen bey koͤrperlichen Dingen die Sinnen, und die
Mittel, wodurch wir ihren Gebrauch weiter ausdeh-
nen, dergleichen die optiſchen und acuſtiſchen Jnſtru-
mente ſind. Dahin gehoͤren ferner die Veraͤnderun-
gen, die wir mit den Dingen koͤnnen vornehmen, um
ſie von allen Seiten zu betrachten, ſie zerlegen, zer-
gliedern, ihre Symptomata durch verſchiedene Verſu-
che entdecken, und zum Vorſchein bringen, ihre Ver-
haͤltniſſe gegen andre finden ꝛc. Es iſt unſtreitig, daß
eine Sache, ihre Theile, Eigenſchaften, Verbindun-
gen, Verhaͤltniſſe ꝛc. deſto vollſtaͤndiger bekannt wer-
den, je mehrere von dieſen Mitteln ſich gebrauchen
laſſen.
§. 548.
Bey abſtracten Begriffen, die nicht fuͤr ſich, ſon-
dern in Indiuiduis, und zwar in jedem mit beſondern
Beſtimmungen exiſtiren, (§. 82.) koͤmmt es ebenfalls
auf zureichend klare Begriffe an, weil man ſolche
Abſtracta in jedem Indiuiduo erkennen, und aus ihrer
Vergleichung das Allgemeine in denſelben abſtrahiren
muß. (§. 35. ſeqq.) Da unſre Erkenntniß immer
bey den Sinnen und Empfindungen anfaͤngt, und
wir die Grundlage zu unſern abſtracten Begriffen
aus
[347]von den Aufgaben.
aus einzelnen Faͤllen, die uns die eigene Erfahrung
nebſt der Geſchichte und Erzaͤhlung andrer darbeut,
abſtrahiren muͤſſen, ſo iſt klar, daß wir von Jugend
auf deſto richtiger darinn gehen, je ſchicklicher die Um-
ſtaͤnde geweſen ſind, dadurch wir zu ſolchen abſtra-
cten Begriffen und ihrer wahren Ausdehnung gelangt
ſind. (§. 27. ſeqq.) Man ſollte ſolche Faͤlle auswaͤh-
len koͤnnen; allein die Umſtaͤnde der Menſchen laſſen
eine ſolche Auswahl gar nicht durchaus zu, und vie-
les haͤngt von der Anweiſung und dem Unterrichte
ab, und ſoll eine Abſicht bey der Einrichtung der
Schulen und der Auferziehung ſeyn. Was von
Kindheit auf in den Begriffen richtig iſt, daran hat
man nicht erſt nachher ſein lebenlang zu beſſern.
§. 549.
Die Empfindlichkeit der Sinnen, wodurch
man jede Eindruͤcke leicht bemerkt und in das
Gemuͤth faſſet, die beſondre Geſchicklichkeit bey
ſchon oft geſchehenen Sachen, auch das ge-
ringſte Neue, ſo darinn iſt, zu bemerken, und
dadurch die Begriffe der Aehulichkeit und
Verſchiedenheit der Dinge zu bereichern, die
Zufaͤlligkeiten vom Hauptwerke zu unterſchei-
den, ſind Gaben der Natur, und koͤnnen mit vor-
bedachter und dazu eingerichteter Uebung zu noch groͤſ-
ſern Fertigkeiten werden, und ſolche Fertigkeiten ſind
Bedingungen, ohne welche man in der Erfindungskunſt
nicht weit koͤmmt.
§. 550.
Da uns ferner Begriffe und Saͤtze, die bey ei-
ner Erfindung zuſammen gehoͤren, zuſammen in
Sinn kommen muͤſſen, ſo wird allerdings auch eine
ſolche Fertigkeit des Gedaͤchtniſſes dazu erfor-
dert, daß uns jeder Begriff und Satz da in
Sinn
[348]VIII. Hauptſtuͤck,
Sinn komme, wo wir ihn zur Fortſetzung der
Schluͤſſe und des Nachdenkens gebrauchen.
Wozu beſonders behuͤlflich iſt, daß man aufgeraͤumt
und nicht mit andern Gedanken uͤberhaͤuft ſey, weil
die ſtaͤrkern Empfindungen die ſchwaͤchern unterdruͤ-
cken und verdunkeln, und daher verurſachen, daß Saͤtze,
die uns ſonſt leicht wiederum einfallen, und zur Fort-
ſetzung der Schluͤſſe dienen koͤnnten, uns nicht zu
Sinne kommen, und folglich dieſe Fortſetzung auf
ruhigere und aufgeraͤumtere Stunden muß verſchoben
bleiben.
Achtes Hauptſtuͤck.
Von der Erfahrung.
§. 551.
Wir haben vorhin geſehen, daß ſich die Erfahrung
zu der Grundlage und Erweiterung unſrer
Erkenntniß in vielen Stuͤcken ſchlechthin nothwendig
macht. (§. 535. 537. 543. 544. 547. 548.) Es
bleibt demnach noch umſtaͤndlicher zu ſehen, wie ſie
dazu diene und gebraucht werden koͤnne, und hier beut
ſich gleich ein vielfacher Unterſchied unter den Erfah-
rungen an, den wir auseinander ſetzen muͤſſen, um die
Sache von der Verwirrung frey zu machen.
§. 552.
Erfahren, heißt eine Sache mit Bewußtſeyn
empfinden, und zwar gehoͤrt zu dieſem Bewußtſeyn
nicht nur die Vorſtellung der empfundenen Sache,
ſondern auch die Vorſtellung, daß es eine Empfin-
dung ſey. Das bekannte: Experto crede Roberto,
oder:
[349]von der Erfahrung.
oder: Glaube mir, ich hab es erfahren, begreift
dieſes gedoppelte Bewußtſeyn. Man ſetzt darinn die
Anzeige der empfundenen Sache voraus, und fordert
den Beyfall oder raͤth ihn an, weil man ſich der Em-
pfindung bewußt iſt, die man als eine Erfahrung
angiebt.
§. 553.
Erfahren heißt ferner auch ſchlechthin eine Sa-
che inne werden, Nachricht davon einziehen, ſie aus-
ſpaͤhen, erforſchen, vernehmen ꝛc. Jn dieſem Ver-
ſtande gebraucht man das Wort, wenn man ſagt:
Das will ich bald erfahren, man kann nichts
davon erfahren, man erfaͤhrt es bald ꝛc. Man
ſieht aber leicht, daß dieſe Bedeutungen des Worts
Erfahren, theils metaphoriſch ſind, theils ſeine Viel-
deutigkeit anzeigen. Wir werden hier ſchlechthin
bey der erſten bleiben, und zwar nicht dem Worte, ſon-
dern der Sache zu gefallen, weil wir hier von dem
Gebrauche der Empfindungen zur Bereicherung der
Erkenntniß zu handeln haben.
§. 554.
Zu dieſem Ende merken wir ferner an, daß man
ſo wohl die Empfindung als die empfundne Sache
Erfahrung nennt, und daher wird, wenn eine Er-
fahrung vollſtaͤndig vorgetragen werden ſoll, fuͤglich
beydes zuſammen gefaßt, daß man ſo wohl anzeige,
wie man empfunden, als was man empfunden habe.
Erſteres iſt beſonders nothwendig, wenn nur gewiſſe
Umſtaͤnde die Empfindung moͤglich machen. Letzteres
muß die Empfindung benennen, und nicht etwann
Saͤtze, die man aus derſelben durch Schluͤße herlei-
tet, weil dieſe nicht die Erfahrung ſelbſt, ſondern
Folgen daraus ſind. Z. E. Daß es zuweilen unter
Tagen und bey hellem Wetter einige Minuten lang
ganz
[350]VIII. Hauptſtuͤck,
ganz finſter wird, iſt eine Erfahrung; daß aber
der Mond vor die Sonne trete, und dadurch dieſe
Verfinſterung verurſache, iſt ein Schluß, der aus
andern Erfahrungen hergeleitet wird. Man hat
ſolche Schluͤſſe von den Erfahrungen ſelbſten wohl zu
unterſcheiden, theils weil es eben nicht ſo ſelten iſt,
irrige Schluͤße zu machen, theils auch, weil die Erfah-
rungen ſelbſten uns ſtatt des Wahren nur den
Schein angeben. So z. E. ſieht ein Object in der
Entfernung klein aus, man kann aber nicht ſogleich
den Schluß daraus ziehen, daß es wirklich ſo klein
ſey. Man ſieht eine Sache in einem Spiegel, als
wenn ſie hinter demſelben waͤre. Es waͤre aber un-
gereimt, daraus zu ſchließen, daß ſie wirklich hinter
demſelben ſey. Da demnach bey Erfahrungen vorerſt
verſchiedene Fragen auszumachen ſind, ehe man
Schluͤße daraus zicht, ſo iſt klar, daß, wenn man die
Ordnung umkehrt, und dieſe Schluͤße zuerſt macht,
man ſich dabey leicht irren koͤnne. Noch aͤrger iſt es,
wenn man ſolche Schluͤße mit der Erfahrung ver-
mengt, und als empfunden ausgiebt, was man nur
geſchloſſen hatte. Dieſen Fehler nennt man den
Fehler des Erſchleichens,Vitium ſubreptionis, und
es gebraucht viele Behutſamkeit, ihn durchaus zu
vermeiden.
§. 555.
Jndeſſen muͤſſen wir doch anmerken, daß es nicht
immer an ſich ein Fehler iſt, weil der Schluß, den
man fuͤr eine Erfahrung ausgiebt, deſſen unerachtet
wahr ſeyn kann. Jſt dieſes, ſo fehlt man eigentlich
nur in der Benennung, und man iſt nicht genau
genug, weil es in der That nuͤtzlich iſt, Schluͤße und
Erfahrungen zu unterſcheiden, und anzuzeigen, wie
man erſtere aus den letztern folgert.
§. 556.
[351]von der Erfahrung.
§. 556.
Es laͤßt ſich oͤfters leicht beurtheilen, ob ein Vor-
geben eine Erfahrung iſt oder nicht. Denn ſoll es
eine Erfahrung ſeyn, ſo muß ſich die Sache empfin-
den laſſen, und zwar mit demjenigen Sinn, welchen
das Vorgeben angiebt. So z. E. wird wohl nie-
mand ſagen, man habe einen Schall geſehen, weil der
Schall eigentlich das Object des Gehoͤrs iſt. Wenn
man ſagt, man habe geſehen, wie unter der Luftpumpe
Luftblaͤschen aus dem Waſſer ſteigen. Daß es Luft-
blaͤschen ſeyn, iſt nur ein Schluß, und nicht eine un-
mittelbare Erfahrung. Auf dieſe Art empfinden wir
unzaͤhlige Wirkungen von Urſachen, die theils
unſichtbar, theils auch und vermuthlich aus Ermange-
lung mehrerer Sinnen, unempfindbar ſind. Man
kann den Begriff des Aether zum Beyſpiel nehmen,
den die Naturlehrer aus haͤufigen Gruͤnden in
der Natur nothwendig glauben, und den man immer
deswegen, weil er ſich nicht unmittelbar empfinden
laͤßt, wiederum in Zweifel zieht, und ſtrengere Be-
weiſe fordert.
§. 557.
Zu den Erfahrungen gebraucht man entweder Vor-
bereitungen oder nicht. Jm letzten Fall laͤßt man die Sa-
chen wie ſie an ſich ſind, und ſie werden entweder ſchlecht-
hin nur empfunden, oder aber mit Aufmerkſamkeit
beobachtet. Die bloße Empfindung deſſen, was ohne
weiteres Zuthun in die Sinnen faͤllt, macht eine ge-
meine Erfahrung aus, und durch ſolche gelangen
wir zu unfern meiſten Begriffen von Kindheit auf. Und
wenn wir uns auf die gemeine Erfahrung berufen, ſo
ſind es ſolche Sachen, die jedermann und faſt noth-
wendig in die Sinne fallen, und auch, ohne es eben
zu wollen, das Bewußtſeyn, daß man ſie erfahre,
(§. 552.)
[352]VIII. Hauptſtuͤck,
(§. 552.) hervorbringen. Demnach was nicht jedem
ſogleich in die Sinne faͤllt, was mit mehrerer Aufmerk-
ſamkeit und mit einem gewiſſen Vorſatze empfunden
werden muß, wird nicht zu der gemeinen Erfahrung
gerechnet. Z. E. Daß die Sonne auf und untergehe,
Tag und Nacht abwechſele, daß der Mond ſein Licht
veraͤndre ꝛc. ſind gemeine Erfahrungen, auf die man
ſich als auf ſolche allerdings berufen kann. Daß
aber der Mond immer die gleiche Seite gegen uns
kehre, daß die Zeit von einem Neumond zum andern
nicht gleich ſey, ſondern ordentliche Abwechslungen
habe, daß die Planeten ihren Ort unter den Ster-
nen aͤndern ꝛc. ſind Erfahrungen, die mehrere Auf-
merkſamkeit und laͤngere Zeit fordern, und gar nicht
unter die gemeinen Erfahrungen gerechnet werden
koͤnnen, weil man den, der ſie machen ſoll, erinnern
muß, darauf Acht zu haben, wenn er nicht ſelbſten ſo
aufmerkſam iſt. Solche Erfahrungen werden in der
Aſtronomie Beobachtungen,Obſeruationes ge-
nennt, und koͤnnen dieſen Namen uͤberhaupt behalten.
Die vorhin (§. 549. 550.) angezeigten Requiſita
zeigen, wer zu neuen Beobachtungen von Natur auf-
gelegt iſt, und durch Uebung zu groͤßerer Fertigkeit
kommen kann. Wir merken daher hier nur an, daß
eine Beobachtung mehrere nach ſich ziehe,
und die erſte gleichſam das Eis breche, weil ſie
auf die Sache aufmerkſam macht, beſonders, wenn
das Mittel zur Beobachtung neu iſt, dergleichen z. E.
die Fernroͤhren und Vergroͤßerungsglaͤſer waren.
§. 558.
Gebraucht es aber eine Vorbereitung, um die
Sache empfinden zu koͤnnen, ſo wird die Erfahrung
ein Verſuch,Experimentum genennt. Dieſe Vor-
bereitung beſteht darinn, daß man Dinge anordnet
und
[353]von der Erfahrung.
und zuſammenbringt, die von ſich ſelbſt nicht wuͤrden
zuſammengekommen ſeyn, oder hinwiederum, daß man,
was an ſich beyſammen iſt, von einander trennt ꝛc.
Ob die Sache ſelbſt auch in der Natur geſchehe, hat
dabey nichts zu ſagen, genug, daß wir ſie in dieſem
oder jenem Fall veranſtalten muͤſſen, und beſonders,
daß wir es in der Abſicht thun, um dem Erfolge zuzu-
ſehen. So z. E. ſtellt man Verſuche mit der Luft-
pumpe an, ſo ſind die chymiſchen Verſuche, die Ver-
ſuche, das Licht durch das Priſma zu theilen, und die
farbichten Stralen beſonders zu betrachten, die Ver-
ſuche, Baͤume aus Blaͤttern zu ziehen, das Meer-
waſſer ſuͤße zu machen ꝛc. Hingegen war bey der
Erfindung des Pulvers, wo zufaͤlliger Weiſe ein Fun-
ken Feuer in geſtoßnen Schwefel und Salpeter fiel,
eigentlich kein Verſuch, weil der Vorſatz, dieſe Ver-
miſchung anzuzuͤnden, nicht dabey war. Dieſe Er-
findung wurde aber bald zum Verſuch gemacht, weil
man ſie wiederholte, und nachforſchte, was man noch
beytragen koͤnne, um die Wirkung ſicherer und ſtaͤrker
zu machen.
§. 559.
Zu den Verſuchen wird demnach erfordert, daß
die ganze Vorbereitung gewaͤhlt werde, es ſey nun,
daß man die Wirkung vorher ſehe oder nicht. Jm
erſten Fall iſt der Verſuch beſtimmter, weil man ihn
ſo einzurichten ſucht, daß der Effect erfolge. Jm
andern Fall aber laͤßt man es darauf ankommen, was
erfolgen werde. Jn beyden Faͤllen aber beobachtet
man alles was vorgeht, mit vorbedachter Aufmerkſam-
keit. Wir werden beyde nachgehends umſtaͤndli-
cher betrachten, und nur noch einige Unterſchiede
anzeigen.
Lamb. Org. I. Band. Z§ 560.
[354]VIII. Hauptſtuͤck,
§. 560.
Erfahrungen, Beobachtungen und Verſuche
machen wir entweder ſelbſt, oder wir haben ſie von
andern. Erſtere find eigen, letztere fremd. Zwiſchen
beyden Arten findet ſich ein vielfacher Unterſchied, den
wir anzeigen wollen. Einmal ſind fremde Erfah-
rungen in Abſicht auf uns allzeit hypothetiſch,
weil wir als Bedingungen dabey vorausſetzen muͤſſen,
1) ſie ſeyn wirklich angeſtellt worden, 2) nicht er-
ſchlichen, (§. 554 ſeqq.) 3) richtig und umſtaͤndlich
erzaͤhlt. Alle dieſe Stuͤcke fallen weg, wenn die Er-
fahrung, ſo man angiebt, an ſich unmoͤglich und wi-
derſprechend iſt. Das erſte beſonders gruͤndet ſich auf
die Glaubwuͤrdigkeit des Angebers, des Autors,
und des Nachſagers ꝛc. Das zweyte, ob naͤmlich
die Erfahrung erſchlichen ſey, laͤßt ſich zuweilen nach
den vorhin gegebnen Regeln pruͤfen, (§. 556.) z. E.
in den aͤltern Zeiten habe man einen Kometen huͤpfen
geſehen. Dieſes geht nicht an, weil die Kometen
nichts huͤpfendes haben. Die Richtigkeit und Voll-
ſtaͤndigkeit einer Erfahrung, ſo man von andern hoͤrt,
laͤßt ſich durch das ſelbſt erfahren am beſten pruͤfen,
uͤbrigens findet es ſich zuweilen auch aus der Ver-
gleichung der Umſtaͤnde mit dem Erfolge.
§. 561.
Beſonders aber iſt anzumerken, daß wenn die
Erfahrung, ſo man von andern hat, einen
neuen Begriff in ſich ſchließt, aus dieſem Be-
griffe alle Jndividualien nothwendig wegblei-
ben, und daher die Erzaͤhlung unvollſtaͤndig
wird. Man laſſe ſich ein fremdes noch nie geſehe-
nes Thier beſchreiben. Die Beſchreibung, wenn kein
Gemaͤlde dazu koͤmmt, wird faſt nothwendig ſo un-
vollſtaͤndig ſeyn, daß man das Thier daraus ſchwer-
lich
[355]von der Erfahrung.
lich erkennen wird. Wo hingegen die Sache einfa-
cher iſt, da geht es ehender an, ſich aus der Beſchrei-
bung einen Begriff zu machen. Allein, da auch hier
die Jndividualien wegbleiben, ſo erhaͤlt man hoͤchſtens
nur den Begriff der Art, und das Bild, ſo man ſich
davon macht, wird ehender ein ander Indiuiduum
vorſtellen, als das, von welchem die Erzaͤhlung her-
genommen iſt. Z E. Man hoͤrt etwann von einer
neuen Maſchine, ſo iſt es moͤglich, aus der Beſchrei-
bung ihres Effectes oder ihrer Theile, eine aͤhnliche
zu erfinden, die eben den Effect thut. Faͤlle von die-
ſer Art ſind bey den Mathematikern nicht ſelten.
§. 562.
Jſt hingegen die fremde Erfahrung nur ein Satz,
deſſen Subject und Praͤdicat bekannte Begriffe ſind;
ſo laͤßt ſich dieſer Satz allerdings gedenken, und die
Frage koͤmmt darauf an, ob er wahr und richtig ſey?
Z. E. Richer fand, daß bey dem Aequator ſeine
Penduluhr langſam gehe, und brachte dieſe Nach-
richt zuruͤck. Man wußte, was Penduluhren ſind,
und was langſamer gehen dabey ſagen will, dem-
nach war der Satz verſtaͤndlich, aber ſeine Wahrheit
beruhete auf Richers Glaubwuͤrdigkeit, die man aber
in Zweifel zu ziehen, keinen Grund hatte. Newton,
dem dieſe Beobachtung berichtet wurde, fand gleich,
daß ſie nicht nur gegruͤndet ſey, ſondern nothwendig
ſeyn muͤſſe, weil die Umdrehung der Erde um ihre Axe
das Gewicht des Penduls vermindert, und dadurch
den Gang deſſelben langſamer macht. Da er folg-
lich dieſe Beobachtung aus andern Gruͤnden und
Erfahrungen herleiten konnte, ſo machte er ſie zum
Lehrſatze, und folgerte ſogleich noch mehr andre
daraus.
Z 2§. 563.
[356]VIII. Hauptſtuͤck,
§. 563.
Wir merken hiebey noch an, daß wenn auch eine
fremde Erfahrung, an ſich betrachtet, unrichtig oder
unzuverlaͤßig iſt, dieſelbe dennoch oͤfters Anlaß geben
kann, der Sache ſelbſt nachzudenken, und die Ver-
beſſerung aufzuſuchen. So z. E. konnte man bey
Richers Beobachtung anſtehen, ob nicht etwann ſeine
Penduluhr aus andern Gruͤnden waͤre verſtellt wor-
den, ob nicht die Waͤrme das Pendul verlaͤngert haben
moͤchte ꝛc. Allein dieſes alles haͤtte Newton und
Huygens nicht verhindert, ihren Satz feſtzuſetzen,
weil Richers Beobachtung weiter nichts als ein Anlaß
war, der ſie an die wahren Gruͤnde und ihre Combi-
nation denken machte. Auf dieſe Art bleiben in jeden
Wiſſenſchaften noch manche und auch an ſich ſehr
leichte Combinationen von Vorderſaͤtzen zuruͤck, die
gleichſam auf Anlaͤſſe oder auf gluͤckliche Einfaͤlle
warten, um wirklich combinirt zu werden. Man ſehe
hieruͤber, was wir bereits oben (§. 76, 77, 456, 459)
angemerkt haben.
§. 564.
Bey unſern eignen Erfahrungen findet ſich das
Jndividuale immer ganz, und wir empfinden es auch
individual, ſo, daß wir folglich allerdings mehr in
dem Begriffe davon haben, als wenn wir uns fremde
Erfahrungen erzaͤhlen laſſen, wo es immer ſchwerer
iſt, unſern Begriff mit dem Begriffe des erzaͤhlenden
genau paſſen zu machen, weil jeder den ſeinigen aus
beſondern Jndividualbegriffen zuſammenſetzt. Hin-
gegen iſt auch bey unſern eignen Erfahrungen nicht ſo
gleich alles vollſtaͤndig und richtig, zumal wenn ſie
ſehr zuſammengeſetzt ſind. Denn bey zuſammen-
geſetzten Empfindungen hat immer die ſtaͤrkere
die Oberhand, und wir ſind uns derſelben mehr
bewußt.
[357]von der Erfahrung.
bewußt. Folglich, wenn wir zu der Erfah-
rung nicht vorbereitet ſind, und daher nicht
voraus wiſſen, worauf wir vorzuͤglich acht
haben ſollen, ſo bemerken wir faſt immer nur
das, was die Sinnen ſtaͤrker ruͤhrt, und dieſes
iſt nicht immer das wichtigſte. Es gehoͤrt daher
eine gewiſſe Uebung dazu, wenn man ſich nicht will
von der Empfindung, die an ſich ſtaͤrker iſt, hinreißen
laſſen, ſondern auf das Acht haben, was bey der
Empfindung neu und in Abſicht auf die Folgen wich-
tiger iſt. So ſind uns immer noch unbemerkte Sa-
chen vor Augen, und, die oben (§. 549.) angezeigte
Geſchicklichkeit iſt ein Requiſitum, wenn ſie ſollen be-
merkt werden. Pythagoras gieng vor einer Schmiede
vorbey, und hoͤrte die Schmiede auf den Amboß
ſchlagen. Dieſes hatte nichts beſonders. Er be-
merkte aber, daß der Schall ungleich war, und die
Frage, wie ein Amboß ungleich toͤnen koͤnne, brachte
ihn auf die Erfindung der Tonkunſt. Galilaͤus ſah
Leuchter an ungleich langen Seilen vom Winde
ſchwanken. Vielleicht hatten ſie tauſend andre auch
geſehen. Er bemerkte, daß die Schwankungen bey
den kuͤrzern geſchwinder waren, und dieſes verleitete
ihn auf die Theorie der Pendul, welche nachgehends
Huygens zu den Penduluhren gebrauchte, die eine der
ſchoͤnſten Erfindungen des vorigen Jahrhunderts ſind.
Die Hydroſtatik wurde von dem Archimedes dadurch
erfunden, daß er bemerkte, daß er im Waſſer juſt
um ſo viel leichter ſey, als das Waſſer wiegt, deſſen
Raum er einnahm. Daß man im Waſſer leichter
ſey, wußte man vor ihm laͤngſt ſchon.
§. 565.
Das andre, ſo bey unſern eignen Erfahrungen
ſtatt findet, iſt, daß ſich mit den Empfindun-
Z 3gen
[358]VIII. Hauptſtuͤck,
gen der Sache zugleich andre ſchon vorhin
gehabte Vorſtellungen einmengen, beſonders,
wenn man die Sache mit vorgefaßten Mey-
nungen, Leidenſchaften oder Vorurtheilen an-
ſchaut. Die Vorurtheile, Leidenſchaften und vor-
gefaßten Meynungen ſind in Abſicht auf die Einbil-
dungskraft und den Verſtand, was ein Nebel, ein
Dunſt, ein blendend Licht, ein gefaͤrbtes Glas ꝛc. fuͤr
die Augen ſind. Man ſieht bald zu viel, bald zu
wenig, bald anders, als was da iſt, und ſubſtituirt
den Begriff eines bekannten Dinges fuͤr den Begriff
eines Unbekannten. Und auf dieſe Art erſchleicht
man ganz unvermerkt Begriffe und Saͤtze, die man
getroſt fuͤr lautere Erfahrungen ausgiebt. (§. 555.)
Die Bilder, die man in den vorigen Zeiten in den
Kometen und Nordlichtern gefunden, da man feurige
Schwerter, Todtenkoͤpfe, Ruthen, Kriegsheere ꝛc.
daraus machte, moͤgen zum Beyſpiele dienen, und
man findet Geſchichtſchreiber, die nicht ruheten, bis ſie
zu einer Begebenheit vorbedeutende Zeichen fanden.
Was in politiſchen, moraliſchen, und uͤberhaupt
in Jntereßſachen die Vorurtheile und Leiden-
ſchaften thun koͤnnen, iſt unnoͤthig hier anzufuͤhren,
weil jeder ſich ſelbſt wahrer oder falſcher Beyſpiele
bewußt ſeyn kann, und weil man in ſolchen Faͤllen
andre verblendet ſieht, oder ſelbſt verblendet iſt, ſo
oft man ſieht, was andre nicht ſehen, oder nicht ſieht,
was andre ſehen.
§. 566.
Ein Hauptumſtand hiebey iſt, daß die
meiſten Leute daran gewoͤhnt ſind, und
gewoͤhnt bleiben, ſich alles individual
vorzuſtellen, und daher, wenn ſie nur Frag-
mente oder einzelne Stuͤcke vor ſich haben,
das
[359]von der Erfahrung.
das uͤbrige aus ihrem eignen Vorrath von
Einfaͤllen hinzuſetzen, um es zu completiren.
Es iſt dieſes eine reiche Quelle von Fehlern des Er-
ſchleichens, (§. 555 ſeqq.) weil man ſolche Zuſaͤtze un-
vermerkt fuͤr wahre Erfahrungen und wirkliche Facta
anſteht und ausgiebt. Das bekannte Fama vires
acquirit eundo, erlaͤutert die Sache fuͤr hiſtoriſche
Nachrichten, und ein Geruͤchte breitet ſich nicht nur
dem Raume nach auf der Erdflaͤche aus, ſondern auch
in Abſicht auf die Umſtaͤnde ſelbſt, die oͤfters anfangs
unerheblich ſind, bis noch mehrere hinzukommen, und
die Sache ſo verſtellen, daß man Muͤhe hat, das
Weſentliche daraus zu erleſen.| Jn der Naturlehre
macht man Hypotheſen, und will ſich die Sache ſo
vorſtellen, daß man die Fragmente daraus erklaͤren
koͤnne. Sie kommen aber je laͤnger je mehr in Ab-
gang, weil man nach und nach muͤde wird, eine nach
der andern wiederum zu verwerfen, und weil in der
That wenig Vergnuͤgen dabey iſt, eine Meynung auf
die Bahn zu bringen, deren Umſtur; man in wenigen
Jahren zu erleben hat. Man kann hieruͤber nach-
ſehen, was wir oben (§. 65 ſeqq. 152.) davon ge-
ſagt haben. So dient auch die §. 379. angezeigte
Methode, irrige Hypotheſen umzuſtoßen, und §. 404
ſeqq. zeigten wir an, wie man ſie entbehrlich machen
koͤnne. Das uͤbrige, ſo ſich daruͤber anmerken laͤßt,
wollen wir hier anzeigen, weil hier von dem Gebrauch
und Mißbrauch der Erfahrungen eigentlich die
Rede iſt.
§. 567.
Eine Hypotheſe iſt ein willkuͤhrlich angenomme-
ner Begriff von einer Sache, aus welchem man die-
ſelbe erklaͤren will. Man giebt der Sache eine ge-
wiſſe Structur, Eigenſchaften, Mechaniſmus ꝛc.
Z 4um
[360]VIII. Hauptſtuͤck,
um das, was die Erfahrung davon lehrt, begreiflich
zu machen und herzuleiten. Die carteſiſche Philo-
ſophie iſt voller Beyſpiele hievon. Jſt nun ein ſol-
cher Begriff richtig, ſo iſt auch unſtreitig, daß alles,
was daraus mit Zuziehung wahrer Saͤtze gefolgert
werden kann, durch die Erfahrung nothwendig wird
bekraͤftigt werden. Folgt hingegen etwas falſches
daraus, ſo faͤllt die Hypotheſe auch mehr oder minder
weg, und es bleibt zu unterſuchen, wiefern und was
daraus wegfalle. Denn es geſchieht ſelten, oder
niemals, daß eine Hypotheſe, beſonders wenn ſie weit-
laͤuftig iſt, ganz falſch ſeyn ſollte. Man wuͤrde dem-
nach ungereimt verfahren, wenn man mit derſelben
die darinn verflochtenen wahren Saͤtze zugleich ver-
werfen wollte, ſo wenig man ſie ganz wiederum anzu-
nehmen hat, wenn man etwas wahres darinn findet.
Wir merken dieſes hier uͤberhaupt an, weil die Ge-
ſchichte der Gelehrſamkeit haͤufige Beyſpiele giebt,
wie man bald zu jeden Zeiten die Meynungen unge-
fehr wie die Moden abgeaͤndert, und wechſelsweiſe
angenommen und wieder verworfen hat.
§. 568.
Die Regel Falſi in der Rechenkunſt giebt uns ein
Beyſpiel von Hypotheſen, und von der Art ſie zu
gebrauchen. Sie ſchreibt vor, man ſoll ſtatt der
geſuchten Zahl jede beliebige annehmen, und damit
ſo verfahren, als wenn es die wahre waͤre. Erfuͤllt
ſie die Bedingung der Aufgabe, ſo iſt es wenigſtens
eine von den wahren, weil zuweilen mehrere, und
wo die Aufgabe indeterminirt iſt, unendlich viele
moͤglich ſind. Thut aber die willkuͤhrlich angenom-
mene Zahl der Bedingung der Aufgabe nicht genuͤgen,
ſo ſieht man, wie ſie davon abweicht, und aus der
Abweichung beſtimmt ſich ſodann die Zahl, die gar
nicht
[361]von der Erfahrung.
nicht abweicht, und folglich die wahre oder eine der
wahren iſt, die der Aufgabe Genuͤgen thun. Eben ſo,
wenn man eine mit Ziffern geſchriebene Schrift
zu dechiffriren hat, ſo nimmt man einige Buchſtaben
willkuͤhrlich an, und ſieht, ob man Woͤrter heraus-
bringe. Jſt dieſes, ſo geht man weiter; wo| nicht,
ſo muß die Hypotheſe geaͤndert werden. Jn der
Algeber ſetzt man fuͤr beſtimmte Groͤßen Buchſtaben
oder andre Zeichen, und verfaͤhrt damit ungefehr,
wie bey der Regel Falſi, um endlich zu einer oder
mehrern Gleichungen zu gelangen. Wir wollen nun
ſehen, wie dieſe Faͤlle von den phyſiſchen und philoſo-
phiſchen Hypotheſen verſchieden ſind.
§. 569.
Einmal bey der Regel Falſi, bey algebraiſchen
Aufgaben und bey dem Dechiffriren hat man nur
wenige Bedingungen |zu erfuͤllen. Hingegen iſt
es bey den phyſiſchen Hypotheſen nicht genug,
daß ſie nur einigen Erfahrungen Genuͤgen
leiſten, ſie muͤſſen allen Genuͤgen thun. Dieſe
Abzaͤhlung aber iſt nicht ſo leicht. Jndeſſen giebt
es Faͤlle, wo es angeht. Sie ſind aber wie-
derum mehr mathematiſch als phyſiſch. Z. E. Um
das Geſetz der Stralenbrechung zu finden, laͤßt man
einen Lichtſtral unter allen Winkeln durch eine bre-
chende Materie fallen, und mißt beydes den Einfalls-
winkel und den Refractionswinkel ab. Man findet
ein beſtaͤndiges Verhaͤltniß zwiſchen ihren Sinus, und
ſo iſt nicht zu zweifeln, daß dieſes nicht ſollte das geſuchte
Geſetz ſeyn. Denn Zahlen ſind individual, und
wenn ſie in der Natur auf eine Art beſtimmt
ſind, ſo iſt es mit Ausſchluß aller uͤbrigen Ar-
ten. Snellius, der dieſes Geſetz der Stralenbrechung
aus Verſuchen gefunden, hat allerdings verſchiedene
Z 5Hypo-
[362]VIII. Hauptſtuͤck,
Hypotheſen verſuchen muͤſſen, um ſo mehr, da Repler
ſchon vor ihm ſtatt der Sinus die Winkel ſelbſt ange-
nommen, welches aber Snellius nicht durchaus richtig
fand. Uebrigens iſt hiebey anzumerken, daß, da ſich
wirkliche Ausmeſſungen nicht nach geometriſcher
Schaͤrfe machen laſſen, auch ſolche Geſetze nicht weiter
fuͤr richtig koͤnnen angeſehen werden, als die Ausmeſ-
ſung genau iſt, und folglich, wenn das Geſetz nicht
aus allgemeinen Gruͤnden erwieſen wird, kleine Ano-
malien dabey ſtatt haben koͤnnen. So z. E. machen die
Haarroͤhrchen an den allgemeinen hydroſtatiſchen
Saͤtzen und Erfahrungen gewiſſer Maaßen eine Aus-
nahme, und die Geſetze der Percuſſion leiden bey gar
zu geſchwinden Bewegungen ebenfalls eine, weil z. E.
eine Flintenkugel leichter die Cohaͤſionskraͤfte der
Theile eines Koͤrpers trennt, als denſelben ganz in
Bewegung ſetzt.
§. 570.
Ferner ſind bey dem Dechiffriren wenig moͤgliche
Faͤlle, beſonders, wenn nicht mehr Ziffern vorkom-
men, als Buchſtaben im Alphabet ſind, und jeder
Buchſtabe ſeine Ziffer hat. Denn da hat man, um
einen Buchſtaben fuͤr eine Ziffer anzunehmen, nicht
mehr moͤgliche Faͤlle, als Buchſtaben im Alphabet ſind,
und die Probe mit jedem iſt bald angeſtellt, wenn die
Natur der Sprachen auch keine naͤhere Vortheile an
die Hand gaͤbe, wodurch von den unmoͤglichen Faͤllen
viele ausgeſchloſſen werden. Hier hat man demnach
eine gewiſſe Anzahl von Hypotheſen, und die Bedin-
gung iſt ebenfalls ſehr einfach, weil Woͤrter, Redens-
arten und Zuſammenhang heraus kommen ſoll. Dieſe
Schicklichkeit aber findet ſich bey phyſiſchen Hypo-
theſen nicht immer, ſondern nur da, wo ſich die moͤg-
lichen Faͤlle| abzaͤhlen laſſen. Denn da laͤßt ſich ein
dis-
[363]von der Erfahrung.
disjunctiver Schluß machen. (§. 138. 282.) Der
endlich die Sache herausbringt. Es finden ſich aber
bey ſolcher Abzaͤhlung der moͤglichen Faͤlle alle die
Schwuͤrigkeiten, die wir im zweyten Hauptſtuͤcke
bey den Eintheilungen angemerkt haben. Das leich-
teſte Beyſpiel giebt die Aſtronoͤmie, wenn man den
Satz nimmt, daß ſich entweder die Erde, oder die
Sonne, oder beyde bewegen. Denn da von dieſen
dreyen eines ſeyn muß, ſo hat man drey Hypotheſen,
von welchen zwo durch die Obſervationen muͤſſen
umgeſtoßen, oder die dritte directe daraus erwieſen
werden.
§. 571.
Da man endlich in der Algeber das Geſuchte durch
Buchſtaben ausdruͤckt, und dieſe durch eine Gleichung
beſtimmt, ſo bleibt das Geſuchte unbeſtimmt, bis man
die Gleichung gefunden. Man hat aber fuͤr die uͤbri-
gen Wiſſenſchaften noch keine ſolche Rechenkunſt, und
die Forderung, daß man das Unbekannte oder das
Geſuchte unbeſtimmt laſſen ſoll, bis man durch
Schluͤße darauf koͤmmt, iſt eben das, was die vorhin
gemachten Anmerkungen (§ 565. 566.) ſagen woll-
ten. Will man aber, ſo wie in der Regel Falſi, et-
was willkuͤhrlich oder eine Hypotheſe annehmen, ſo
muß man ein Mittel haben, aus dem, was etwann
der Wahrheit zuwider daraus folgt, das irrige in der
angenommenen Hypotheſe zu verbeſſern, und zwar
ſo vollſtaͤndig, daß ſie dadurch ganz richtig wird. Auf
dieſe Art hat Repler die Planetenbahnen, die Co-
pernicus circulaͤr ſetzte, in Ellipſen verwandelt, die
mit den Erfahrungen beſſer und genauer uͤbereinſtim-
men. Das vorhin von Snellio angefuͤhrte Beyſpiel
gehoͤrt ebenfalls hieher. (§. 569.) Und auf gleiche
Art hat Guericke den Satz, daß die Luft fluͤßig ſey,
wie
[364]VIII. Hauptſtuͤck,
wie das Waſſer, welcher ihn auf den Einfall gebracht
hatte, ſie auf eine aͤhnliche Art aus einem Faſſe ab-
zuziehen, in den Satz verwandelt, daß die Luft ela-
ſtiſch ſey, weil er gefunden, daß ſie ſich bey dem Aus-
pumpen nicht herunter ſetze, ſondern immer durch den
ganzen Raum ausgedehnt bleibe. Es ſind aber ſolche
Faͤlle in der Naturlehre nicht ſehr haͤufig, und meh-
rentheils ſind es nicht Ausbeſſerungen der Hypotheſen,
ſondern die oben (§. 404 ſeqq.) angegebene analytiſche
Methode, die auf das Wahre fuͤhrt, wozu eine irrige
Hypotheſe in ſo fern Anlaß geben kann, als uns
etwann bey Widerlegung derſelben die wahren Gruͤn-
de zu Sinne kommen. (§. 663.)
§. 572.
Ferner iſt das Jndividuale, ſo ſich bey einer
Empfindung in die Vorſtellung derſelben mit einmengt,
(§. 566.) mehrentheils etwas von dem, was wir ſchon
vorhin bey aͤhnlichen Empfindungen uns vorgeſtellt
haben, und ſelbſt in Anſehung der Empfindung be-
merken wir die Theile der Sache leichter und mit
mehrerm Bewußtſeyn, wozu wir eine natuͤrliche oder
angewoͤhnte Diſpoſition haben. Dieſe macht einen
Geſichtspunkt aus, aus welchem wir die Sache
von einer Seite betrachten, und dabey von den uͤbrigen
Seiten mehr oder minder abſtrahiren. Von dieſen
Seiten iſt die mathematiſche wiederum diejenige,
die ſich noch am ſicherſten allein betrachten laͤßt, und
daher koͤmmt es auch, daß man in dieſer Wiſſenſchaft
große Schritte thun kann, und weit koͤmmt; da ſich
hingegen die Qualitaͤten der Sachen von ſehr vie-
lerley Seiten betrachten laſſen, aber immer unvoll-
ſtaͤndig betrachtet werden, wenn man nur eine der-
ſelben vornimmt, und ſein Augenmerk darauf richtet.
§. 573.
[365]von der Erfahrung.
§. 573.
Wir ſind oben (§. 559.) dabey ſtehen geblieben,
daß wir anmerkten, die Verſuche laſſen ſich in ſolche
eintheilen, bey welchen man den Erfolg voraus ſieht,
und in ſolche, wo man ihn nicht voraus ſieht. Sieht
man denſelben ganz voraus, ſo iſt offenbar, daß der
Verſuch, den man anſtellt, eigentlich nur eine Probe
der Theorie der Schluͤße iſt, durch welche man auch,
ohne Verſuch anzuſtellen, den Erfolg herausgebracht
hat. Durch dieſe Probe verſichert man ſich von der
Richtigkeit dieſer Schluͤße in ſo fern, daß man ſieht,
man habe ſich den Fall richtig vorgeſtellt, und die
Umſtaͤnde mitgenommen, die an dem Erfolg etwas
aͤndern koͤnnten, wenn man ſie wegließe. Jndeſſen
muͤſſen wir doch anmerken, daß dieſe Verſicherung
eigentlich nicht weiter geht, als man aus der Rich-
tigkeit des Schlußſatzes etwas von der Richtigkeit
der Vorderſaͤtze beſtimmen kann, welches, wie wir es
oben (§. 247.) angezeigt haben, nicht allgemein an-
geht. Jndeſſen, wenn man aus andern Gruͤnden
weis, daß die Vorderſaͤtze wahr ſind, ſo kann der an-
geſtellte Verſuch dennoch Jndividualien angeben, auf
welche man durch die Theorie nicht ſo leicht gekommen
waͤre, und bey Schluͤßen, wo man leicht einige Um-
ſtaͤnde aus der Acht laſſen und uͤberſehen koͤnnte, und
beſonders, wenn ſie etwas weitlaͤuftig ſind, iſt es gut,
von Schluß zu Schluß, oder wenigſtens bey dem letz-
ten, die Erfahrung zur Probe zu machen. Das
beruͤhmteſte Beyſpiel, und ſeit der Erneuerung der
Wiſſenſchaften, das erſte von dieſer Art, gaben Paſcal
und Perrier, welche aus hydroſtatiſchen Gruͤnden den
Schluß heraus brachten, das Barometer muͤſſe auf
den Bergen niedriger ſtehen, als in der Tiefe. Um dieſes
durch die Erfahrung zu bekraͤftigen, und um zugleich
zu
[366]VIII. Hauptſtuͤck,
zu finden, wie viel es betrage, reiſete Perrier auf
den Puy de Dôme in Auvergne, und ſtellte darauf
die erſte Erfahrung von dieſer Art an. Dieſe be-
kraͤftigte den Satz, doch nur in ſo fern, als man
damals von der Elaſticitaͤt der Luft nichts wußte,
wiewohl man ſie aus dieſer Erfahrung haͤtte, finden
koͤnnen, wenn Perrier dieſelbe ſtufenweiſe, und bis
auf groͤßere Hoͤhen, z. E. auf den pyrenaͤiſchen
Gebirgen fortgeſetzt haͤtte. Das andre gleichfalls
ſehr beruͤhmte Beyſpiel betrifft die Figur der Erde,
die Newton und Huygens durch Schluͤße heraus-
brachten, zu deren Pruͤfung ganze Grade der Mittags-
und Parallelzirkel der Erde von der pariſiſchen Aka-
demie der Wiſſenſchaften gemeſſen worden.
§. 574.
Jn vielen Faͤllen ſieht man den Erfolg eines
Verſuchs nur uͤberhaupt voraus, und da wird der-
ſelbe angeſtellt, um den Erfolg vollſtaͤndig und genau
zu beſtimmen. Die erſt angefuͤhrten Beyſpiele, und
uͤberhaupt die, wo man Groͤßen und Grade zu be-
ſtimmen ſucht, dienen zur Erlaͤuterung. Bey chy-
miſchen Verſuchen giebt es dieſer Faͤlle eine große
Menge, weil man darinn die beſondern Arten, ſo zu
einer Klaſſe gehoͤren, jede fuͤr ſich analyſirt, und
ihre Symptomata kenntlich zu machen ſucht.
§. 575.
Weis man den Erfolg noch gar nicht, ſo geht
man auf ein Gerathewohl, ungefehr wie Columbus
nach Amerika ſchiffte, oder wie man nach der Erfin-
dung der Fernroͤhren und Vergroͤßerungsglaͤſer alles
durch die Muſterung gehen ließ, um zu ſehen, was
ſich neues entdecken werde.
§. |576.
[367]von der Erfahrung.
§. 576.
Da uͤberhaupt die ſynthetiſchen |Methoden
zu keinem beſtimmten Ziele fuͤhren, (§. 329. 541.) ſo
koͤnnen wir auch dieſe Art von Verſuchen ſynthetiſch
nennen. Denn hier faͤngt man, bey den Datis oder
Vorderſaͤtzen an, und laͤßt die Natur den Schlußſatz
angeben, der daraus folgt, und den man ſelbſt nicht
vorausſehen kann, weil die Kraͤfte und Wirkungen der
Natur, ſo bey dem Verſuche vorkommen, noch un-
bekannt ſind. Es iſt unſtreitig, daß man auf dieſe
Art|Vorrath zu fernerer Erkenntniß ſammlet. Es
ſind Fragen, die man der Natur zu beantworten
vorlegt, und wobey man von der Antwort nichts vor-
aus ſieht.
§. 577.
Dieſe ſynthetiſche Methode erſtreckt ſich aber
uͤberhaupt auf Erfahrungen, Beobachtungen und
Verſuche. Der Unterſchied beſteht nur darinn,
daß die Natur bey den Erfahrungen ſelbſt, und vor-
nehmlich redt, daß man ſie nicht wohl uͤberhoͤren kann,
bey den Beobachtungen redt ſie zwar auch, aber man
muß mit Bewußtſeyn zuhoͤren; Und bey den Ver-
ſuchen muß man ſie fragen, und auf die Antwort mer-
ken. (§. 557, 558.) Auf alle drey Arten gelangen
wir zu einem Vorrath von Begriffen und Saͤtzen,
der ſich zur Erweiterung der Erkenntniß und zur
Ausuͤbung gebrauchen laͤßt. (§. 536, 537.)
§. 578.
Wir haben hiebey dreyerley Faͤlle. Der erſte
iſt, daß wir ſchlechthin die Dinge der Natur
anſchauen, oder uͤberhaupt empfinden, und
zwar beſonders diejenigen, deren Erkenntniß wir
kuͤnftig vor andern uns zu gebrauchen haben. Wie-
| fern
[368]VIII. Hauptſtuͤck,
fern fremde Erfahrung etwas dazu beytragen kann,
haben wir bereits (§. 560 ſeqq.) angemerkt. Wo
dieſe aber nicht zureicht, muͤſſen wir ſelbſt beobachten,
und nicht nur die Sache obenhin, ſondern von allen
Seiten, in ihren Theilen und Verhaͤltniſſen, und
wenn es eine Veraͤnderung oder eine Folge dabey
iſt, auf das vor- und nachgehende das Augenmerk
richten. Die uͤbrigen Cautelen haben wir bereits
(§. 564 ſeqq.) angezeigt, und in dem erſten
Hauptſtuͤcke, (§. 25 ſeqq. §. 35. ſeqq.) ausfuͤhr-
lich gewieſen, was zu thun iſt, wenn |der Begriff
allgemein, und ſein Umfang beſtimmt wer-
den ſoll.
§. 579.
Der andre Fall iſt, wenn man eine neue Ma-
terie durch alle Proben durchfuͤhrt. Wir ha-
ben bereits (§. 543. 574.) angemerkt, daß man dieſes
in der Chymie thut, wie z. E. wenn man ein neues
Mineral, eine neue Pflanze, eine neue Mineralquelle
ꝛc. findet. Die Platina, eine Art von weißem Golde,
iſt neulich gefunden, und auf ſolche Proben geſetzt
worden. Eben dieſes geht an, wenn man es auch
nur bey dem Beobachten muß bewenden laſ-
ſen, wie z. E. in der Aſtronomie, wenn ſich ein Co-
met oder andre neue Phaenomena am Firmamente
zeigen, dergleichen in dem vorigen Jahrhundert die
Satelliten, das Zodiacallicht, der Ring des Saturns
ꝛc. waren. Jn dieſen Faͤllen ſammelt man ſo viele
Beobachtungen, bis man ſich im Stande ſieht, eine
Theorie daraus herzuleiten, und beſtimmt aus dem,
was dazu noch mangelt, das, ſo man noch zu beob-
achten hat.
§. 580.
[369]von der Erfahrung.
§. 580. a)
Der dritte Fall iſt: wenn man eine neue
Probe mit allen Materien vornimmt. So ma-
then alle Verſuche mit der Luftpumpe, mit der Ele-
ctricitaͤt ꝛc. ſolche Proben aus. Jm erſtern Fall wollte
man ſehen, was aus jeder Materie in dem luftleeren
Raume wuͤrde, welche Symptomata ſich darinn aͤuſ-
ſern. Jm zweyten Fall, da ſowohl die Materie der
Electricitaͤt, als alles, was man damit anfangen
konnte, neu war, ſo wurden alle Koͤrper und mit
allen Abaͤnderungen auf dieſe Proben geſetzt, und man
faͤhrt noch dermalen damit fort, weil ſich noch immer
neue Symptomata aͤußern. Die Thermometer, Brenn-
glaͤſer, Brennſpiegel und die meiſten Jnſtrumente der
Experimentalphyſik geben eben ſo viel Beyſpiele, und
zugleich Anlaß, auf mehrere zu denken, es ſey, daß
dieſe Jnſtrumente nur dienen, die Sinnen zu ſtaͤr-
ken, wie z E. die Fernroͤhren ꝛc oder daß man da-
durch Umſtaͤnde herausbringt, in welchen ſich die Na-
tur nicht befindet, wie z. E. bey der Luftpumpe ꝛc.
oder daß man die Kraͤfte der Natur verſtaͤrkt, wie
durch die Brennglaͤſer ꝛc oder endlich ihre Eigen-
ſchaften und Groͤßen genauer beſtimmt, und zum
Vorſchein bringt.
§. 580. b)
Jn allen dieſen Faͤllen verfaͤhrt man ſynthetiſch,
und gelangt zu Saͤtzen und Begriffen, die man ent-
weder gar nicht, oder nicht beſtimmt genug voraus-
ſehen konnte. Man hat daher auch mehr Muͤhe, zu
beſtimmen, was jedes Stuͤck der Erfahrung zu dem
Erfolg beytrage. Denn es iſt klar, daß, wenn ſich
dieſes ſogleich beſtimmen ließe, man den Erfolg eben-
falls voraus ſehen koͤnnte. Jndeſſen giebt es doch
Faͤlle, wo man es nachher thun kann, w[eil] ſolche Er-
Lamb. Org. I. Band. A afah-
[370]VIII. Hauptſtuͤck,
fahrungen oͤfters nur Anlaͤſſe ſind, die uns die Vor-
derſaͤtze zu den Schluͤſſen zu Sinne bringen. Man
ſehe, was wir oben (§. 65. 563.) hieruͤber angemerkt
haben.
§. 581.
Hingegen bey der analytiſchen Methode der
Verſuche iſt die Sache umgekehrt. Man faͤngt
bey dem Erfolg der Erfahrung an, und ſucht
die Umſtaͤnde, worinn ſie gemacht werden
muß, die Vorbereitung dazu, oder den Ver-
ſuch ſo zu beſtimmen, daß der verlangte Be-
griff oder Satz auf eine beſtimmte und ſichere
Art herausgebracht wird. Dieſes iſt nun wie-
derum, wie uͤberhaupt die analytiſchen Methoden,
(§. 404. ſeqq. 492. ſeqq. 542.) ungleich ſchwerer, und
hat etwas viel nothwendigers, weil die Auswahl des
Verſuches ſehr eingeſchraͤnkt iſt, und alle fremden
Umſtaͤnde, die ſich in den Erfolg einmengen koͤnnen,
wegbleiben muͤſſen.
§. 582.
Hiezu gehoͤrt nun allerdings ſchon eine gewiſſe
Theorie, weil man das, ſo man durch einen Verſuch
beſtimmen und feſtſetzen will, voraus wiſſen, und
die dazu gehoͤrende Umſtaͤnde auswaͤhlen muß, damit
weder mehr noch minder in dem Verſuche ſtatt finde,
als dazu gehoͤrt, und daß man allenfalls uͤber das,
ſo etwann zu viel oder zu wenig dabey iſt, Rechnung
tragen koͤnne. Alle Verſuche ſind durchaus individual,
und um deſto mehr hat man darauf zu ſehen, daß
bey dieſen Jndividualien nichts ſey, das dem Erfolge
Eintrag thun koͤnne. Wir wollen aber die beſondern
Arten von Experimenten durchgehen.
§. 583.
[371]von der Erfahrung.
§. 583.
Die erſte Art iſt, wodurch man eine Wir-
kung erfahren und beſtimmen will. Hier wird
erfordert, daß die Urſache, deren Wirkung man er-
forſchen will, nicht nur in dem Experiment ihre Wir-
kung aͤußere, ſondern daß ſie allein wirke, und zwar
auf die Art und mit denen Beſtimmungen, die die
Empfindung der Wirkung erfordert, daß man ſie er-
kennen koͤnne. Die Auswahl der Materie, worinn
ſich die Wirkung zeigen ſoll, die Art, wie die Wir-
kung geſchehen und ſich aͤußern koͤnne, gehoͤrt auch
mit unter die Bedingung. Man muß demnach alle
dieſe Stuͤcke voraus wiſſen, damit man den Verſuch
darnach einrichten koͤnne.
§. 584.
Es geſchieht aber nicht immer, daß eine
Urſache allein ſey, und alle fremde Umſtaͤnde
wegbleiben. Jn dieſen Faͤllen werden mit Wie-
derholung des Verſuches die fremden Umſtaͤnde abge-
wechſelt, die Urſachen ſelbſt entweder einzeln wegge-
laſſen, oder dem Grade nach abgeaͤndert, um aus der
Verſchiedenheit des Erfolges zu beſtimmen, was jede
Urſache beytrage, und was die fremden Umſtaͤnde
Veraͤnderliches hervorbringen. So z. E. zeigen die
Verſuche in dem luftleeren Raume, was man be-
ſonders der Luft zuzuſchreiben hat. Man bringt eine
Penduluhr in andre Erdſtriche, und findet, daß ſie
unter dem Aequator langſamer gehe, als naͤher bey den
Polen. Man ſtellt die hydroſtatiſchen Verſuche, vom
waagrechten Stande fluͤßiger Koͤrper mit Haarroͤhrchen
an, und findet, daß in denſelben das Waſſer hoͤher,
das Queckſilber tiefer ſtehe, als wenn die Roͤhre wei-
ter iſt. Man bringt die Magnetnadel in alle Welt-
theile, und obſervirt ſie an gleichem Ort viele Jahre,
A a 2und
[372]VIII. Hauptſtuͤck,
und findet ihre Abweichung dem Ort und der Zeit
nach veraͤnderlich. Man ſieht aus dieſen Beyſpielen,
daß die Abaͤnderung der Umſtaͤnde viel zu ſagen hat,
wenn man die Allgemeinheit eines Verſuches erfor-
ſchen will, weil nicht ſelten ein kleiner Umſtand alles
aͤndert.
§. 585.
Wenn die Urſachen an ſich veraͤnderlich
ſind, aber nicht, oder nicht alle in unſrer Ge-
walt ſtehen, ſo iſt es auch ſchwerer, zu beſtimmen,
was jede zu dem Erfolg beytraͤgt. Von dieſer Art
iſt die Witterung und ihre Wirkung bey dem Feldbau.
Man verſucht etwann eine neue Art, ein Feld anzu-
bauen. Sie ſchlaͤgt wohl an. Geſchieht dieſes nur
das erſte Jahr, ſo laͤßt ſich nicht ſogleich auf alle
Jahre der Schluß machen, weil die Witterung das
meiſte dabey koͤnnte dazu beygetragen haben. Hingegen
nimmt man aus mehrern Jahren das Mittel, ſo zeigt
dieſes, ſo zu reden, das Product aus jeden moͤglichen
Witterungen deſto genauer an, je mehrere Jahre man
zuſammennimmt; und dieſes Product richtet ſich ſo-
dann ſchlechthin nach den beſtaͤndigen Umſtaͤnden, z. E.
nach der Expoſition des Erdreichs, nach ſeiner innern
Guͤte, nach der Art, das Feld anzubauen, wenn
dieſe einerley geblieben iſt. Wollte man aber den Un-
terſchied der feuchten und trockenen, warmen und
kalten Jahre beſtimmen, ſo iſt klar, daß man den
Erfolg ſolcher Jahre beſonders nehmen, und aus ei-
ner großen Anzahl das Mittel aller Producten fin-
den muͤßte. Die Menge des in einem jeder dieſer
Jahre gefallenen Regens, und der mittlere Grad der
Waͤrme aus den taͤglichen Beobachtungen des Ther-
mometers muͤßte dienen, die Jahrgaͤnge und ihre Be-
ſchaffenheit in die erforderlichen und vorhin erwaͤhn-
ten
[373]von der Erfahrung.
ten Klaſſen zu bringen, um ſie mit den Producten
der Feldfruͤchte zu vergleichen. Nach eben dieſer
Methode laͤßt ſich unterſuchen, ob der Mond einen
Einfluß in die Witterrung, in den Feldbau, in die
Geſundheit ꝛc. habe? Denn man muß dabey aus
meteorologiſchen Tagregiſtern von vielen Jahren, die
Tage des Neumondes, Vollmondes ꝛc. beſonders neh-
men, und ſehen, ob mehrere Tage von der einen oder
von der andern Klaſſe, ſchoͤn, hell, truͤb, oder Re-
gentage waren. Wuͤrde ſich ein erheblicher Unterſchied
finden, ſo waͤre er eben ſo wie die Ebbe und Fluth
des Meeres der Einwirkung des Mondes oder andern
davon abhaͤngenden oder wenigſtens gleichperiodiſchen
Urſachen zuzuſchreiben, und der Schluß waͤre deſto
genauer und zuverlaͤßiger, je mehr Obſervationen
dazu gebraucht worden. Denn es iſt klar, daß zwo
oder drey Obſervationen die Sache nicht ausmachen,
weil die Witterung gar zu viel Urſachen hat.
§. 586.
Wenn das Verhaͤltniß einer Urſache zu ih-
rer Wirkung durch Verſuche ſoll beſtimmt
werden, ſo gehoͤren mehrere Verſuche dazu, und
bey jedem muß ein andrer Grad der Urſach, es ſey in
Abſicht auf ihre Staͤrke, oder in Abſicht auf die Art
wie ſie wirkt, genommen, und die Wirkung eben-
falls ausgemeſſen werden. Laͤßt ſich die Wirkung
ausmeſſen, wie z. E. die Waͤrme durch Thermometer,
das Gewicht durch das Abwaͤgen, eine Kraft durch
den Widerſtand, der ſie im Gleichgewicht haͤlt ꝛc. ſo
hat die Sache weiter keine Schwuͤrigkeit. Hinge-
gen, wo man ſolche Jnſtrumente nicht hat, ſon-
dern die Wirkung nur nach dem Augenmaaß
oder nach der Empfindung ſchaͤtzen muß, da
iſt es gut, wenn man Mittel findet, den Grad der
A a 3Urſache
[374]VIII. Hauptſtuͤck,
Urſache oder der Wirkung in einer beliebigen Propor-
tion zu veraͤndern, bis er einem vorgegebenen Grade
gleich wird. Denn ſo giebt die Proportion an, wie
viel die Urſache oder Wirkung an ſich ſtaͤrker oder
ſchwaͤcher war. Der Grund, warum dieſes anzura-
then iſt, leitet ſich daher, weil wir die Gleichheit
zweyer Grade genauer und leichter erkennen, als das
Verhaͤltniß zwiſchen beyden, wenn ſie ungleich ſind,
und wird die Sache ins Kleine gezogen, ſo laͤßt ſie ſich
auch leichter uͤberſehen. Auf dieſe Art haben wir
Mittel, die Staͤrke ſehr verſchiedener Lichter, z. E.
des Sonnen- und Mondenlichtes mit einander zu ver-
gleichen. Dahin dienen auch die Schnellwaagen, wenn
wir zwey ſehr verſchiedene Gewichter mit einander
vergleichen wollen, und in vielen Faͤllen die Proben,
ſo man, mit Beybehaltung aller Verhaͤltniſſe, in
Kleinem anſtellt, in ſofern naͤmlich alle Verhaͤltniſſe
koͤnnen beybehalten werden, und im Kleinen nicht be-
ſondere Umſtaͤnde dazu kommen oder wegbleiben, die
im Großen anders ſind. So z. E. hat man gefun-
den, daß kleine Stichheber auch in luftleerem Raume
fortfahren zu laufen, welches bey groͤßern nicht an-
gehen wuͤrde, weil bey dieſen der Druck der Luft das
Waſſer laufen macht, dahingegen bey kleinern die
Kraͤfte, womit Glas und Waſſer in einander wirken,
zureich nd ſind, zu machen, daß ſich das Waſſer in
dem Stichheber nicht trennt, ſondern auch ohne den
Druck der Luft zu laufen fortfaͤhrt.
§. 587.
Die chymiſchen Verſuche haben das beſonders, daß
weil die Urſachen in den innern Theilen der
Materien wirken, die Urſache, und beſonders
die Art, wie ſie wirkt, verborgener iſt, und
daher der Erfolg des Verſuches nur durch
Ana-
[375]von der Erfahrung.
Analogien vermuthet werden kann. Wir nen-
nen hier, eben ſo wie oben (§. 535.) im allgemeinſten
Verſtande alle die Veraͤnderungen chymiſch, wobey
die innern Theile der Materie ihre Zuſammenſetzung
aͤndern, und der Materie eine andre Natur und
Geſtalt geben. Die Verwandlung der Speiſe in Fleiſch,
Blut, Gebeine ꝛc. wird durch die Chymie der Natur
verrichtet, weil die Natur auf unzaͤhlige Arten ihren
Materien andre Formen giebt, und bey den Kraͤften
in den kleinſten Theilchen der Materie einen Mecha-
niſmus gebraucht, den wir, weil mehrere moͤglich
ſind, ſchwerlich oder gar nicht durch Schluͤſſe errei-
chen. Daher koͤnnen die Muthmaßungen daruͤber,
eben ſo wie alle Hypotheſen, hoͤchſtens nur zu An-
laͤſſen dienen, durch neue Vermiſchungen, Schei-
dungen, durch das Feuer verurſachte gewaltſame
Trennungen der Materien, neue Indiuidua und Arten
derſelben hervorzubringen. Auf dieſe Art haben die
Hypotheſen der Alchymiſten, woraus ſie die Moͤg-
lichkeit des Goldmachens herzuleiten ſuchen, zu Phos-
phoren und unzaͤhligen chymiſchen Producten Anlaß
gegeben. Hat man aber einen chymiſchen Proceß mit
einer Materie gefunden, ſo iſt es ſehr natuͤrlich, den-
ſelben mit mehrern Materien zu verſuchen, von wel-
chen man den Erfolg durch andre Analogien vermu-
then kann. Aber ohne ſolche Analogien wird es
ſchwerlich angehen, einen Erfolg voraus zu beſtim-
men, und aus dem Begriffe deſſelben die Einrichtung
des ganzen Verſuches herzuleiten. Die Aufgabe-
Bley in Gold zu verwandeln, iſt von dieſer Art, und
die Alchymiſten ſuchen den dazu gehoͤrenden Proceß
noch immer. Man hat keine Analogie dazu, und
kennt die Materie zu wenig, um den Regeln des §.
542. folgen zu koͤnnen.
A a 4§. 588.
[376]VIII. Hauptſtuͤck,
§. 588.
Wir werden nun noch in Abſicht auf das, was
man erfahren oder beobachten kann, einige Unterſu-
chungen anſtellen. Jn der Natur und folglich bey
Erfahrungen, Beobachtungen und Verſuchen iſt
alles individual, und der Zeit und dem Orte nach be-
ſtimmt. Jndeſſen laͤßt ſich dennoch die Frage machen,
ob man nichts unbeſtimmtes beobachten koͤnne?
Dieſe Frage will nun nicht ſagen, ob wir etwas
nur deswegen muͤſſen dahin geſtellt ſeyn laſſen, weil
wir es in dem Verſuche nicht bemerken, oder nicht
genug Data finden koͤnnen, um zu ſehen, wie es be-
ſtimmt ſey. So z. E. muß man einen Cometen we-
nigſtens zu drey verſchiedenen Zeiten beobachten, ehe
man ſeine Laufbahn beſtimmen kann; dieſe aber iſt an
ſich betrachtet, allerdings beſtimmt. Die Frage iſt,
wiefern etwas an ſich betrachtet unbeſtimmt ſeyn koͤn-
ne? Der Anlaß zu dieſer Frage liegt in dem §. 576.
Denn da jeder Verſuch eine Frage iſt, die die Natur
beantworten ſoll, ſo laͤßt ſie ſich mit den Fragen, die
die Algeber beantwortet, vergleichen. Denn man ſe-
tze, es ſoll durch den Verſuch eine gewiſſe Groͤße ge-
funden werden. Wuͤßte man nun die Data, ſo im
Verſuche liegen, und das Geſetz, nach welchem die
Natur in demſelben wirkt, vollſtaͤndig; ſo iſt unſtrei-
tig, daß ſich die Frage in eine algebraiſche verwandeln
ließe, durch deren Aufloͤſung eben das herausgebracht
wuͤrde, was man durch den Verſuch beſtimmt finden
will. Nun aber giebt es algebraiſche Fragen, welche
mehr als eine, und in gewiſſen Faͤllen unzaͤhlige Auf-
loͤſungen zulaſſen, die folglich alle gleich moͤglich ſind.
Demnach wuͤrde in dieſen Faͤllen, und beſonders in
dem letztern, die Antwort der Algeber ganz unbeſtimmt
ſeyn; Man kann demnach fragen, ob oder wiefern
die
[377]von der Erfahrung.
die Antwort der Natur bey dem Verſuche beſtimm-
ter iſt? Wir wollen nun ein Beyſpiel geben. Man
weis, daß die Magnetnadel bald an jedem Orte der
Erdflaͤche eine verſchiedene Abweichung hat. Ver-
moͤge der mechaniſchen Grundſaͤtze ruͤhrt dieſes von
der Richtungslinie des Stroms der magnetiſchen Ma-
terie her, und dieſe iſt nicht aller Orten horizontal.
Nun iſt unſtreitig, daß wenn man dieſe Richtung
fuͤr jeden Ort der Erde durch eine algebraiſche Glei-
chung ausdruͤcken koͤnnte, die Abweichung der Mag-
netnadel ebenfalls fuͤr jeden Ort dadurch beſtimmt
waͤre. Dieſe Gleichung mag aber nun ausfallen wie
ſie wolle, ſo wollen wir den Fall ſetzen, daß die Rich-
tung des Stroms der magnetiſchen Materie auf der
Erde irgendwo vertical ſey, ſo wird die Gleichung
fuͤr dieſen Fall nothwendig einen durchaus unbeſtimm-
ten Werth geben, weil die verticale Richtung gar
nicht ſeitwaͤrts druͤckt, oder den Druck auf beyden
Seiten gleich macht, oder wenn in der Materie, auf
welche ſie druͤckt, eine ſchiefliegende Flaͤche iſt, ſo wird
ſie gegen dieſe ſtaͤrkern Druck aͤußern, wie etwann bey
Windmuͤhlen ein gegen die Axe wehender Wind, die Fluͤ-
gel umtreibt. Demnach wird die Magnetnadel, an dem
Orte, wo die Richtung der magnetiſchen Materie ver-
tical iſt, in Abſicht auf alle Lagen indifferent ſeyn,
oder gar im Kraiſe herum getrieben werden, daß ſie
folglich gar keine beſtimmte Abweichung haben wird.
Die Nachrichten der Schiffer bringen mit, daß es
einen ſolchen Ort auf dem Meere gebe, wo ſie die
Magnetnadel nicht gebrauchen koͤnnen, weil ſie ent-
weder liegen bleibt, wie man ſie legt, oder ſich, ohne
zu ruhen, hin und her bewegt, je nachdem das Schiff
bewegt wird. Jn dieſen Faͤllen ſagen ſie, die Nadel
ſey naͤrriſch, ſie wiſſe nicht, was ſie thue ꝛc. Hier
A a 5iſt
[378]VIII. Hauptſtuͤck,
iſt nun fuͤr ſich klar, daß wenn man ſagen will, die
Lage der Magnetnadel ſey unbeſtimmt, dieſes al-
lerdings nicht metaphyſiſch zu verſtehen ſey, weil ſie
nicht alle Lagen auf einmal haben kann, folglich im-
mer die hat, die ſie hat, man mag ſie nun darein ſe-
tzen, oder ſie mag von der Bewegung herkommen.
Jndeſſen aber iſt mit der metaphyſiſchen Richtigkeit,
daß die Nadel ihre beſtimmte Lage habe, den Schif-
fern nicht gedient, welche dieſe metaphyſiſche Beſtim-
mung naͤrriſch nennen, und die Lage der Magnet-
nadel nur da fuͤr determinirt anſehen, wo ſie ſich nach
einer decidirten Weltgegend richtet, und ein fuͤr alle-
mal dabey bleibt, und wo folglich die Urſach ihrer
Richtung dieſelbe nicht unbeſtimmt oder ſich ſelbſt
uͤberlaͤßt. Bey Entſchließungen der Menſchen giebt
es aͤhnliche Unbeſtimmtheiten, und die Redensart:
uͤber eine Sache verlegen ſeyn, zeigt einen der
Magnetnadel aͤhnlichen Zuſtand an. Wir haben
demnach die Frage, ob in Verſuchen etwas un-
beſtimmtes beobachtet werden koͤnne, in ſofern ent-
wickelt, daß es auf eine gewiſſe Art moͤglich iſt, und
die Umſtaͤnde, in welchen es geſchieht, haben in der
Koͤrper- und Geiſterwelt etwas beſonders, woran
nicht nur das Unbeſtimmte, ſondern auch der Grund
davon und noch andre Umſtaͤnde ſich erkennen laſſen.
So z. E. aus dem, daß die Magnetnadel an einem
Ort ſich nach keiner beſondern Weltgegend richtet,
ſondern gegen alle indifferent iſt, kann man ſchließen,
daß entweder die magnetiſchen Kraͤfte ſich daſelbſt gar
nicht aͤußern, oder nicht daſelbſt ſind, oder daß ihre
Direction vertical ſey. Auf eine aͤhnliche Art kann
zwar die Magnetnadel unter dem Pole eine determi-
nirte Richtung haben. Da aber alle Mittagszirkel
daſelbſt zuſammentreffen, ſo hat der Pol keinen ihm
eigenen Mittagszirkel, von welchem man die Ab-
wei-
[379]von der Erfahrung.
weichung der Nadel rechnen koͤnnte. Hier bleibt dem-
nach die Abweichung an ſich uneroͤrtert und willkuͤhr-
lich, da ſie hingegen im erſten Fall unbeſtimmt war,
weil die Nadel keine decidirte Lage hat. Man ſieht
leicht, daß beyde Gruͤnde zuſammentreffen koͤnnen,
wenn naͤmlich die Richtung der magnetiſchen Kraft
unter dem Pole vertical iſt. Was die Kraͤfte und
Lage in der Koͤrperwelt ſind, das ſind Beweggruͤnde
und Verhaͤltnißbegriffe in der Geiſterwelt Die Aus-
wahl von mehrern Entſchluͤſſen oder Handlungen wird
durch die Gleichheit der Beweggruͤnde zuruͤckgehalten
oder aufgeſchoben, und eine Handlung, die man aus
mehrerley Beweggruͤnden herleiten kann, laͤßt in ſo
fern willkuͤhrliche Auslegungen zu.
§. 589.
Das andre, was wir bey Erfahrungen uͤberhaupt
anzumerken haben, iſt, daß in den Empfindun-
gen immer etwas poſitives iſt. Es entſteht da-
her wiederum die Frage, wiefern wir etwas ver-
neinendes aus Erfahrungen herausbringen
koͤnnen? Hiebey giebt es verſchiedene Stufen. Einmal
das Bewußtleyn einer Empfindung und das nicht
Bewußtſeyn derſelben laſſen ſich noch am leichteſten
von einander unterſcheiden. Denn die Probe, ob
wir uns einer Sache bewußt ſind oder nicht, iſt un-
ter allen Proben, die wir anſtellen koͤnnen, die un-
mittelbarſte, und wir koͤnnen eben ſo auch die verſchie-
denen Stufen der Klarheit des Bewußtſeyns empfinden.
§. 590.
Sind wir uns nun einer Empfindung nicht be-
wußt, ſo laͤßt ſich zwar noch nicht ſchließen, daß wir
ſie nicht gehabt haben, denn ſie koͤnnte von einer ſtaͤr-
kern unterdruͤckt worden ſeyn, oder man koͤnnte ſie
vergeſſen, oder nicht darauf Achtung gehabt haben.
Noch
[380]VIII. Hauptſtuͤck,
Noch weniger laͤßt ſich aus dem bloßen nicht Be-
wußtſeyn ſchließen, die Sache ſelbſt ſey nicht, weil
es gar nicht nothwendig iſt, daß wir alle Sachen ſe-
hen oder empfinden, oder uns der empfundenen im-
mer bewußt ſeyn. Man muß demnach beweiſen koͤn-
nen, daß man die Sache nothwendig empfinden und
ſich der Empfindung bewußt ſeyn muͤßte, wenn ſie
da waͤre. Oder wenn man ſtatt der Sache eine an-
dre empfindet, welche mit derſelben zugleich nicht ſeyn
kann; ſo muß man ſich nur verſichern, daß man bey der
Empfindung nicht einen Fehler des Erſchleichens be-
gehe. (§. 554, 565, 566.) Zu ſolchen Beweiſen ge-
brauchen wir verſchiedene allgemeine Saͤtze. Z. E.
ein Theil ſey nicht groͤßer als das Ganze; ein Koͤrper
koͤnne nicht in einem kleinern Raum ſeyn, als er ſelbſt
iſt, ein gleicher Koͤrper ſey nicht an entlegenen Orten
zugleich; ein Zirkel ſey nicht eckigt; eine Zahl ſey
nicht eine groͤßere oder kleinere; weiß ſey nicht ſchwarz
ꝛc. Vermittelſt ſolcher Saͤtze bringen wir vornehm-
lich durch Schluͤſſe der zweyten Figur, (§. 232.) wo
der Unterſatz eine poſitive Empfindung iſt, verneinende
Saͤtze heraus. Am unmittelbarſten bringen wir
ſolche Schluͤſſe heraus, wenn wir die verſchiedenen
Dinge zugleich und unter einerley Umſtaͤnden empfin-
den, und ſo zu reden weiß auf ſchwarz ſetzen. Uebri-
gens ſind gar wohl Faͤlle moͤglich, wo wir zu ſolchen
Schluͤſſen nicht genug Data haben, oder wo ſie uns
mehr oder minder aus dem Gedaͤchtniß ſind. Man
ſehe auch, was wir im erſten Hauptſtuͤcke (§. 19-23.)
von den veraͤnderlichen Merkmaalen einzelner Dinge
angemerkt haben, weil dieſes beſonders dient, wenn
wir die Empfindungen, ſo wir zu verſchiedenen Zei-
ten hatten, mit einander vergleichen wollen.
§. 591.
[381]von der Erfahrung.
§. 591.
Endlich drittens da unſre Empfindungen indivi-
dual ſind, ſo entſteht die Frage: wiefern ſich et-
was Allgemeines daraus herleiten laſſe? Hieruͤ-
ber kann man nachſehen, was wir in dem erſten Haupt-
ſtuͤcke (§. 19—59.) uͤber die Allgemeinheit der Be-
griffe, uͤber die Beſtimmung ihres Umfanges, und
uͤber die Erklaͤrungen derſelben angemerkt haben.
Sodann haben wir in dem ſechſten Hauptſtuͤcke (§.
394—403) die Methode angegeben, wie man ſtatt
der Jnduction, Schluͤſſe von etlichen oder auch von
einem auf alle machen koͤnne, und in dem ſiebenden
Hauptſtuͤcke zeigten wir, wie ſich aus ſpecialen Saͤ-
tzen und Aufgaben (§. 499—524.) allgemeinere ab-
ſtrahiren laſſen, welches alles wir hier nicht wieder-
holen, ſondern andre Betrachtungen noch beyfuͤgen
werden, welche die Erfahrungen beſonders angehen.
§ 592.
Bey den Erfahrungen koͤmmt es vornehmlich auf
die Umſtaͤnde der Zeit und des Ortes an, weil dieſe
beyden Umſtaͤnde ſehr merkliche Veraͤnderungen in ei-
nem Verſuche nach ſich ziehen koͤnnen, und es giebt
Abwechslungen in der Natur, die erſt in Jahrhun-
derten merklich werden. So z. E. faͤngt man in der
Aſtronomie erſt itzt an, zu bemerken, daß die Fix-
ſterne eine eigene Bewegung haben, die ſich von ei-
nem Tage zum andern nicht bemerken laͤßt. Die Be-
voͤlkerung neuentdeckter Laͤnder, die Abaͤnderungen
in der Lebensart, die durch Jahrhunderte durchlaͤuft,
bringen in Abſicht auf die Geſundheitsumſtaͤnde lang-
ſame Veraͤnderungen hervor, die ſich ebenfalls nicht
von einem Tage zum andern bemerken laſſen. Es iſt
nicht zu zweifeln, daß die meiſten Gewaͤchſe, Thiere,
Luft, Waſſer, Feuer ꝛc. vor der Suͤndfluth in einem
viel
[382]VIII. Hauptſtuͤck,
viel andern Zuſtande waren, als nachher. Beyſpiele
von dieſer Art zeigen genugſam, daß die Zeit einen
merklichen Einfluß in die Beſchaffenheit natuͤrlicher
Dinge haben kann. Jndeſſen iſt es beſonders in der
Mathematik laͤngſt ſchon eingefuͤhrt, daß man Ver-
aͤnderungen, ſo lange dieſelben unmerklich ſind, aus
der Rechnung weglaͤßt, und dieſe nur mitnimmt, wo
es etwas auf ſich hat. Und zu dem jedesmaligen
Gebrauche nimmt man die Dinge, wie ſie ſind, und
nicht, wie ſie vorzeiten geweſen. Hingegen wird bey-
des genommen, wo man aufs kuͤnftige den Schluß
machen will.
§. 593.
Eben ſo verfaͤhrt man in Abſicht auf die Umſtaͤn-
de des Ortes, wenn man die Dinge nimmt, wie man
ſie an dem Orte findet, ohne deswegen ſogleich einen
Schluß auf andre Oerter zu machen. Hingegen muß
man allerdings mehrere Oerter zuſammennehmen, wenn
man das Allgemeine in den Verſuchen finden will.
Man kann hieruͤber nachſehen, was wir bereits vor-
hin (§. 584. ſeqq.) angemerkt haben.
§. 594.
Wenn der Unterſchied der Zeit oder des Ortes,
oder auch die allmaͤhlige Abwechslung der uͤbrigen
Umſtaͤnde, den Erfolg eines gleichen Verſuches ver-
ſchieden macht; ſo iſt nicht immer nothwendig, den-
ſelben durch jede unendlich kleine Stufen dadurch an-
zuſtellen, weil dabey mehrentheils eine Jnterpola-
tion oder Einſchaltung vorgenommen werden kann,
wodurch ſich aus einigen ſtufenweiſe verſchiedenen Ver-
ſuchen die dazwiſchen fallenden beſtimmen laſſen.
Dieſe Jnterpolation gruͤndet ſich darauf, daß die
Natur keinen Sprung thut, daß man fuͤr kleine
Stuͤcke einer Linie, die ſich einfoͤrmig kruͤmmt, eine
gerade
[383]von der Erfahrung.
gerade Linie, oder den Bogen ihres Kruͤmmungs-
kraiſes ſetzen kann, daß ſich durch mehrere Punkte,
von gegebener Lage eine Linie von paraboliſcher Art
ziehen laſſe, die der wahren deſto naͤher kommt, je
mehr man Punkte gegeben hat ꝛc. Solche Jnterpo-
lationen kommen bey mathematiſchen Verſuchen, wo
naͤmlich Groͤßen zu beſtimmen ſind, ſehr oft vor,
und man gebraucht ſie beſonders, wo ſich die Ver-
aͤnderung nach einem noch unbekannten und zuſam-
mengeſetztern Geſetze richtet. Z. E. man obſervirt
einen Cometen viele Naͤchte, ſo laͤßt ſich durch ſolche
Jnterpolationen der ſcheinbare Ort deſſelben fuͤr jede
Zwiſchenzeit finden. Halleys Landcharte von der
Abweichung der Magnetnadel fuͤr jede Oerter auf dem
Meere, ingleichen die neulich von Mountaine
und Dodſon herausgebene, ſind durch ſolche Jnter-
polationen zu Stande gebracht worden, weil man ſi-
cher glauben kann, daß die Schiffer eben nicht juſt da
obſervirt haben, wo die Abweichung der Nadel ge-
nau 5, 10, 15, 20 ꝛc. Grade betraͤgt, oder daß ſie
den Halleyiſchen Linien nachgeſchifft waͤren, welches
einen Vorſatz anzeigen wuͤrde, den die Schiffer den
Verfertigern dieſer Charten wuͤrden angezeigt haben.
§. 595.
Ferner giebt es Faͤlle, wo die Stufen in einem
Verſuche nothwendig zwiſchen gewiſſen Schranken
enthalten ſind, und wobey folglich Jnduction und
Jnterpolation complet gemacht werden kann. So
z. E. Snellius machte Verſuche uͤber das Geſetz der
Stralenbrechung. Da nun dabey die Einfalls-
winkel nur von 0 bis 90 Gr. gehen, ſo iſt klar, daß
ſich jede obſerviren, oder nachdem einige obſervirt wa-
ren, die uͤbrigen durch Jnterpolation ſich finden ließen,
wozu ihm das Mittel verhalf, daß die Secanten der
Winkel
[384]VIII. Hauptſtuͤck,
Winkel ein beſtaͤndiges Verhaͤltniß anzeigten. Auf
gleiche Art kann man mittelſt der Luftpumpe nicht
mehr Luft aus einem wohl verſchloſſenen Gefaͤße von
Glas, Metall ꝛc. ziehen, als darinn iſt Was folg-
lich durch jede Stufen der verduͤnnten Luft verſucht
werden muß, kann durch eine complete Jnduction
gefunden werden. Wiederum da das Waſſer bey
einem gewiſſen Grad der Waͤrme nicht uͤber eine ge-
wiſſe Menge Salz aufloͤſt, ſo wird ſeine allmaͤhlich
zunehmende Schwere ſtufenweiſe und bis auf den
letzten Grad gefunden, wenn man ſie nach den Regeln
der Hydroſtatik ſucht. Die Miſchung der Farben
bey den Malern hat aͤhnliche Stufen, weil, wenn
man z. E. zwo Farben miſcht, die Miſchung von 0
bis auf 1 gehen kann. Kepler fand ſeine beyden
Geſetze der Bewegung der Planeten ebenfalls durch
ſolche Jnduction, weil ihre Anzahl und ihre Bahnen
dieſelbe complet machen ließ. Es giebt demnach al-
lerdings auch Faͤlle, wo die Jnduction fuͤr ſich oder
vermittelſt des Jnterpolirens vollſtaͤndig gemacht
werden kann, erſteres, wenn die Sache durch ganze
Zahlen und ihre Combination geht, letzteres, wo
Quantitates continuae vorkommen.
§. 596.
Da ferner die Verſuche Fragen ſind, die man
der Natur zu beantworten vorlegt, oder da man ihre
Veranſtaltung als Vorderſaͤtze anſehen kann, aus
welchen die Natur, mit Zuziehung ihrer Oberſaͤtze,
Schlußſaͤtze ziehen und angeben ſoll; ſo iſt klar, daß
wir dieſes nicht noͤthig haͤtten, wenn uns alle Um-
ſtaͤnde des Verſuches und die Art, wie die Natur in
demſelben wirkt, bekannt waͤren. (§. 588.) Denn
ſo wuͤrden wir ſelbſt eben die Schlußſaͤtze herausbrin-
gen. Wir haben ſchon angemerkt, daß wir vornehm-
lich
[385]von der Erfahrung.
lich in den chymiſchen Verſuchen (§. 587.) zuruͤck blei-
ben, und daß hingegen diejenigen, wo der Mecha-
niſmus der Natur ganz in die Sinnen faͤllt, und
einfacher iſt, leichter ſind. Die Natur nimmt den
Verſuch, wie ſie ihn findet, und ihre Wirkung iſt
allen Jndividualien deſſelben genau angemeſſen und
beſtimmt. Soll demnach bey Wiederholung des Ver-
ſuches alles in dem Erfolge durchaus einerley ſeyn, ſo
muͤſſen auch durchaus einerley Data und auf einerley
Art vorgelegt werden.
§. 597.
So individual aber gehen wir nicht, ſondern be-
gnuͤgen uns, wenn das Allgemeine in dem Erfolg des
Verſuches bleibt, und auch von dieſem nehmen wir
nur einige Stuͤcke heraus, denen zu Gefallen der Ver-
ſuch eigentlich angeſtellt wird. Da nun das Allge-
meine in vielen Arten und Indiuiduis ſich befindet, ſo
iſt es allerdings auch moͤglich, durch Abaͤnderung meh-
rerer Umſtaͤnde in dem Verſuche, uͤberhaupt einerley
Erfolg zu erhalten. Aendert man demnach die Um-
ſtaͤnde ſtufenweiſe, oder man laͤßt einige ganz weg,
ſo iſt entweder der Erfolg einerley; oder es laͤßt ſich
die vorhin angefuͤhrte Jnterpolation gebrauchen.
Bleibt aber der Erfolg ganz aus, ſo findet ſich auch,
welche Umſtaͤnde noͤthig ſind. Bey einem ſolchen
Anlaß ſind bekannter maaßen die Barometer erfun-
den worden.
§. 598.
Da man endlich deswegen Erfahrungsſaͤtze all-
gemein zu machen ſucht, damit man ſie als Vorder-
ſaͤtze in Schlußreden gebrauchen koͤnne, ſo iſt klar,
daß, wenn bey denſelben eine noch unbekannte Aus-
nahme zuruͤck bleibt, dieſe zuweilen einen Einfluß
auf die Schlußſaͤtze haben kann. Dieſen Einfluß
Lamb. Org. I. Band. B bhaben
[386]IX. Hauptſtuͤck,
haben wir oben (§. 243—248.) ſchon umſtaͤndlich
unterſucht, und es iſt klar, daß, ſo lange man von
der Allgemeinheit eines Erfahrungsſatzes nicht durch-
aus verſichert iſt, es immer rathſam iſt, die daraus
gezogene Folgen durch beſonders dazu gewaͤhlte Ver-
ſuche zu pruͤfen. (§. 573.) Und in ſofern ſind ſolche
Erfahrungsſaͤtze, ungefehr wie die Hypotheſen, (§.
567. ſeqq.) eigentlich nur Anlaͤſſe, auf neue Erfin-
dungen zu kommen. Denn wird der herausgebrachte
Schlußſatz durch den Verſuch nicht beſtaͤtigt, ſo giebt
die Natur ſtatt deſſen eine andre Antwort, die nicht
immer zu verwerfen, und oͤfters beſſer iſt, als was
wir ſuchen wollten. Die Erfindung der Luftpumpe
(§. 454.) mag auch hier zum Beyſpiel dienen.
Neuntes Hauptſtuͤck.
Von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
§. 599.
Wir haben im vorhergehenden Hauptſtuͤcke geſe-
hen, wiefern wir durch die Erfahrung zu Be-
griffen und Saͤtzen gelangen koͤnnen, es ſey, daß
uns die Natur ſo laut rede, daß wir ſie nicht uͤber-
hoͤren koͤnnen, oder daß wir auf das, was ſie ſpricht,
genaner Acht haben muͤſſen, wenn wir ſie hoͤren wol-
len, oder endlich, daß wir ſie befragen muͤſſen, um
ihre Antwort zu erhalten. Erſteres ſind gemei-
ne Erfahrungen, das andre ſind Beobachtun-
gen, und das dritte ſind angeſtellte Verſuche:
und alle dreyerley Arten machen wir entweder ſelbſt,
oder wir bekommen ſie von andern, die ſie gemacht
haben. Auf beyde Arten gelangen wir zur Erkennt-
niß
[387]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
niß deſſen, was die Natur uns anbeut, wir lernen
ihre Gewohnheit, die Regeln, nach welchen ſie
handelt, und bereichern uns mit Bildern und Begrif-
fen der Dinge, die ſie unſern Sinnen darlegt, oder
die wir durch Veranſtaltungen zum Vorſchein brin-
gen. Wir lernen dadurch, daß etwas ſey, daß
es ſo und nicht anders ſey, und etwann auch, was
es ſey.
§. 600.
Wenn wir hierinn nicht weiter gehen, ſo iſt alle
Erkenntniß, die wir auf dieſe Art erlangen, ſchlech-
terdings hiſtoriſch, und die Beſchreibung alles deſ-
ſen, was wir auf dieſe Art erkennen, iſt eine bloße
Erzaͤhlung deſſen, was in der Natur iſt, und was
mit den Dingen, ſo uns die Natur vorlegt, geſchieht
und vorgeht. Bleiben wir dabey nur bey dem, was
uns die gemeine Erfahrung lehrt, ſo erſchoͤpfen wir
den Umfang der hiſtoriſchen Erkenntniß nicht, ſon-
dern unſre Erkenntniß wird ſchlechthin das ſeyn, was
wir die gemeine Erkenntniß nennen, die jeder
Menſch, ſofern er ſeiner Sinnen nicht beraubt iſt, eben-
falls erlangt, weil die Natur in ſehr vielen Faͤllen
ſo vernehmlich redet, daß man ſie nicht wohl uͤber-
hoͤren kann.
§. 601.
Auf dieſe Art gelangen wir zu einer gewiſſen An-
zahl von Begriffen und Saͤtzen, deren jeder gleichſam
fuͤr ſich allein ſubſiſtirt, und wir nehmen ihn an, weil
wir es ſo geſehen oder empfunden, oder von andern
gehoͤrt haben. Und dieſes geht ſo weit, daß es bey
Leuten, die weiter nichts als die gemeine, oder uͤber-
dies auch noch etwas von der ausgeſuchtern hiſtori-
ſchen Erkenntniß haben, zu einem eingewurzelten
Vorurtheil wird, man koͤnne nicht weiter hin-
B b 2aus
[388]IX. Hauptſtuͤck,
aus denken, als die Sinnen reichen, und was
man nicht unmittelbar erfahren, folglich ohne
Ruͤckſicht auf andre Erkenntniß ſehen oder em-
pfinden koͤnne, das ſey uͤber den Geſichtskrais
der menſchlichen Erkenntniß hinausgeruͤckt,
und uns zu wiſſen unmoͤglich ꝛc.
§. 602.
Dieſe Vorurtheile fuͤhren uns auf den Unterſchied
der hiſtoriſchen und wiſſenſchaftlichen Erkennt-
niß, und zugleich auch auf das, was letztere vor-
aus hat, und wozu ſie uns eigentlich dienen
ſoll. Wir wollen damit anfangen, daß wir den Un-
terſchied in augenſcheinlichen Beyſpielen zeigen, die
wir aus den mathematiſchen Wiſſenſchaften nehmen
wollen, weil dieſe auch dermalen noch Muſter von
Wiſſenſchaften bleiben, und in Erfindung und Be-
ſtimmung deſſen, was man nicht erfahren kann, am
weiteſten und zugleich am ſicherſten gehen.
§. 603.
Die Groͤße einer Sache finden, heißt nach
der gemeinen Erkenntniß nicht mehr, als dieſelbe
wirklich ausmeſſen, und daher urtheilen die meiſten
Menſchen, daß, was man nicht wirklich ausmeſſen
kann, deſſen Groͤße koͤnne auch nicht gefunden wer-
den, und ſie bleiben unglaͤubig, wenn man von der
Entfernung des Mondes, der Planeten, von der
Groͤße der Erde ꝛc. ſpricht. Letzteres faͤngt nach und
nach an, ein Stuͤck der gemeinen oder hiſtoriſchen Er-
kenntniß zu werden, weil man Nachrichten hat,
daß man die Erde umſchiffen kann. Denn nach der
gemeinen Erkenntniß raͤumt man endlich ein, daß
man meſſen koͤnne, ſo weit man kommen kann, und
daher ſey es eben kein Wunder, wenn man wiſſe, wie
lang der Weg um die Erde iſt. Hingegen aber iſt
man
[389]von der wiſſentſchaftlichen Erkenntniß.
man dreiſte genug, zu fragen, wer denn den Weg
nach dem Monde zuruͤck gelegt habe, um uns das
Maaß ſeiner Entfernung und ſeiner Groͤße zuruͤck zu
bringen, und man verlacht einen Geometer, wenn
man ihn im Begriffe ſieht, die Hoͤhe eines Thurms
zu meſſen, ohne darauf zu gehen und eine Senkſchnur
herunter zu laſſen.
§. 604.
Solche Schluͤſſe wuͤrden nun allerdings angehen,
wenn wir keine andre Mittel haͤtten, als die wirkliche
Ausmeſſung. Man ſieht aber auch, daß dieſe Mit-
tel uͤber die gemeine Erkenntniß hinaus ſind, und
daß etwas mehr dazu erfordert werde. Dieſes meh-
rere iſt nun eben das, was die Geometrie wiſſen-
ſchaftlich macht, und welches wir hier genauer be-
ſtimmen wollen. Es iſt klar, daß es, wenigſtens
zum Theil, darauf ankomme: daß man aus anderm
finde, was an ſich nicht kann gefunden wer-
den, und daß man ſich allenfalls, wenn letzte-
res zu muͤhſam, aber doch an ſich moͤglich
waͤre, die Muͤhe ſparen koͤnne. Beydes wird
durch einerley Mittel erhalten. Denn laͤßt ſich A
aus B finden, ſo iſt es gleich viel, ob man A, fuͤr
ſich, muͤhſam oder gar nicht finden koͤnne.
§. 605.
Die wiſſenſchaftliche Erkenntniß gruͤndet ſich dem-
nach auf die Abhaͤnglichkeit einer Erkenntniß von
der andern, und unterſucht, wie ſich eine durch die
andre beſtimmen laſſe. Darinn iſt ſie demnach der
gemeinen Erkenntniß entgegen geſetzt, weil dieſe jeden
Satz, jeden Begriff als fuͤr ſich ſubſiſtirend und oh-
ne allen Zuſammenhang anſieht, oder hoͤchſtens nur
durch einzelne Schluͤſſe und Vergleichungen der ge-
meinen Erfahrungen dieſelben harmonirend findet,
B b 3hingegen
[390]IX. Hauptſtuͤck,
hingegen ſich bey widerſinniſchen Dingen nicht aus-
helfen, und Einwuͤrfe nicht anders als durch ein bloſ-
ſes und oͤfters trotziges Behaupten von ſich ſtoßen
kann. So pochen Empirici, das iſt, Leute, die alle
ihre Erkenntniß den Sinnen zu danken und hoͤchſtens
andern etwas abgelernt haben, auf die Erfahrung
und auf die Satzungen ihrer Lehrmeiſter.
§. 606.
Hingegen in der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß
macht man aus dieſem Stuͤckwerk ein Ganzes, die
Wahrheiten werden in derſelben von einander abhaͤn-
gig, man reicht dadurch uͤber den Geſichtskrais der
Sinnen hinaus, und erhaͤlt, was Cicero von der
Meßkunſt ſagt: In geometria ſi dederis, omnia
danda ſunt, und man kann beyfuͤgen, et vltra quam
quod credideris. Es iſt dieſes kein uͤbertriebener
Lobſpruch der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß. Denn
z. E. daß uns die Meßkunſt finden lehre, was durch
keine Erfahrung oder wirkliche Ausmeſſung gefunden
werden kann, daß ſie uns unzaͤhlige Ausmeſſungen
und unter dieſen die unmoͤglichen und die muͤhſamſten
erſpare, und uns mehr entdecke, als wir finden zu
koͤnnen glauben konnten, erhellet aus unzaͤhligen Bey-
ſpielen. Der einige Satz, daß man aus zween Win-
keln eines geradlinichten Triangels den dritten finde,
und daß, wenn noch eine Seite dazu gegeben, die bey-
den andern Seiten ſo gut bekannt ſeyn, als wenn
ſie waͤren ausgemeſſen worden, erſpart uns von ſechs
Ausmeſſungen die Haͤlfte. Nach der gemeinen Er-
kenntniß aber wuͤrden alle ſechs gleich nothwendig und
jede fuͤr ſich vorgenommen werden muͤſſen. Hiebey
iſt klar, daß, wenn die wirkliche Ausmeſſung aller
ſechs Stuͤcke an ſich auch thunlich iſt, die Geometrie
uns dennoch die Haͤlfte der Muͤhe erſpare, wo aber
die
[391]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
die Ausmeſſung der zwo andern Linien und des dritten
Winkels gar nicht wirklich vorgenommen werden kann,
da zeigt ſie uns, wie man es aus den ausmeßbaren Stuͤ-
cken finden koͤnne. Und auf dieſe Art laͤßt ſich etwas
am Himmel ausmeſſen, weil ſich etwas auf Erden
ausmeſſen laͤßt. Denn die Geometrie zeigt uns den
Zuſammenhang und das Verhaͤltniß zwiſchen beyden
an.
§. 607.
Die wiſſenſchaftliche Erkenntniß deckt uns dem-
nach den Reichthum unſres Wiſſens auf, indem ſie
uns zeigt, wie eines von dem andern abhaͤngt, wie
es dadurch gefunden werden koͤnne, und was mit dem
Gegebenen zugleich gegeben iſt, und folglich nicht erſt
fuͤr ſich gefunden werden muͤſſe. Auf dieſe Art blieb
Newton in ſeinem Zimmer, und beſtimmte aus eini-
gen ihm bekannten Wahrheiten die Figur der Erde,
die mechaniſchen Geſetze der himmliſchen Bewegun-
gen ꝛc. Entdeckungen, die man fuͤr Offenbarungen
halten wuͤrde, wenn Newtons Geiſt und die Wege
der Meßkunſt unbekannt waͤren.
§. 608.
Es zeigt uns aber die wiſſenſchaftliche Erkenntniß
nicht nur an, daß ſich einige Wahrheiten aus andern
finden laſſen, ſondern ſie beſtimmt auch bey jedem
Quaeſito die geringſte Anzahl gegebener Stuͤcke, und
zeigt, welche und wie vielerley Abwechslungen dabey
moͤglich ſind. Dieſes iſt nicht nur ein bloßer Vor-
zug der Meßkunſt, ſondern dieſe Wiſſenſchaft macht
es ſich zu einem Geſetze, die geringſte Anzahl von
Datis zu beſtimmen, und zeigt, wie man, wenn meh-
rere Data da ſind, dieſelben beſſer anwenden und noch
mehr finden koͤnne.
B b 4§. 609.
[392]IX. Hauptſtuͤck,
§. 609.
Dieſe Betrachtungen zeigen nun den Unterſchied
der gemeinen und wiſſentſchaftlichen Erkenntniß au-
genſcheinlich, und die dabey angefuͤhrten Beyſpiele
erweiſen, daß der Begriff der wiſſenſchaftlichen Er-
kenntniß allerdings ein realer und gar nicht unmoͤgli-
cher Begriff iſt. Sie zeigen auch, daß die angeruͤhm-
ten Vorzuͤge derſelben beyſammen ſeyn koͤnnen, und
folglich, wenn man ſie zuſammennimmt, nichts wider-
ſprechendes haben. Den wahren Umfang des Be-
griffes der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß werden
wir noch nicht beſtimmen, ſondern die bisher ange-
merkten Eigenſchaften derſelben, ſo wie wir ſie gefun-
den haben, vornehmen, und theils ſehen, was ſie auf
ſich haben, theils auch, was wir mit denſelben, ohne es
itzt noch deutlich einzuſehen, zugleich wiſſen.
§. 610.
Die wiſſenſchaftliche Erkenntniß iſt erſtlich von der
gemeinen Erkenntniß darinn verſchieden, daß, da
dieſe jeden Begriff oder jeden Satz als fuͤr ſich
ſubſiſtirend betrachtet, jene hingegen beſtimmt,
wie ſie von einander abhaͤngen. (§. 605.) Da
die gemeine Erkenntniß ihre Begriffe und Saͤtze nur
den Sinnen zu verdanken hat, und folglich beyde aus
der gemeinen Erfahrung ſind; ſo wollen wir auch
anfangs nicht weiter gehen, und folglich der wiſſen-
ſchaftlichen Erkenntniß noch dermalen nur ſo viel
einraͤumen, daß ſie ſich beſchaͤfftige, Erfahrungsbe-
griffe und Erfahrungsſaͤtze mit einander zu
vergleichen, und ſich etwann umzuſehen, wie
ſie von einander abhaͤngen, das will ſagen, wie,
wenn man einige weis oder als bekannt annimmt, die
uͤbrigen daraus koͤnnten gefunden werden. Z. E.
Der erſte Erfinder der Geometrie nahm etwann drey
Linien,
[393]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
Linien, und ſuchte ſie in Form eines Triangels zuſam-
men zu legen. Der Verſuch gelingt, die Linien ſchlieſ-
ſen ſich, und er bemerkt, daß nun die Winkel ſchon
da ſind, und daß, wenn er einen derſelben, oder zween
oder alle drey aͤndern will, ſo gleich auch an der Laͤnge
der Seiten etwas geaͤndert werden muͤſſe. Die Sache
macht ihn aufmerkſam. Er nimmt andre Linien, und
findet, daß es Faͤlle giebt, wo ſie ſich nicht ſchließen
wollen, und daß er eine der kuͤrzern verlaͤngern muͤſſe
ꝛc. Man ſieht leicht, daß ein kleiner Verſuch von die-
ſer Art zu fernern Betrachtungen fuͤhrt, und daß
man unvermerkt verleitet wird, Gruͤnde zu ſuchen.
§. 611.
So weit wollen wir aber hier noch nicht gehen,
ſondern nur unſern eingeraͤumten Satz etwas naͤher
betrachten. Er beſtund darinn, daß die wiſſenſchaft-
liche Erkenntniß ſich beſchaͤfftige, Erfahrungen mit Er-
fahrungen zu vergleichen. Schon dieſer erſte Schritt
entfernt ſie von der gemeinen Erfahrung, weil das
bloße Bewußtſeyn dieſer Erfahrungen in ein genaue-
res Beobachten, und oͤfters in wirkliche Verſuche,
(§. 557.) verwandelt wird. Denn da die gemeine
Erkenntniß ſolche Erfahrungen nur als abgebrochene
Stuͤcke oder einzelne Fragmente dargiebt, ſo iſt klar,
daß man ſie mit mehrerem Bewußtſeyn anſehen muͤſſe,
wenn man finden will, was ſie in ſich halten, wodurch
etwann die eine ſich mit der andern vergleichen, oder
ſich durch dieſelbe beſtimmen laſſe. Man unterſucht
naͤmlich, wiefern ſie einander aͤhnlich, oder von
einander verſchieden ſind, oder in welchen Verhaͤlt-
niſſen ſie gegen einander ſtehen. Um aber dieſes zu
finden, muß man ſich allerdings den Begriff einer
jeden fuͤr ſich netter aufzuklaͤren ſuchen. So
z. E. vergliech Archimedes die Schwere der Koͤr-
B b 5per
[394]IX. Hauptſtuͤck,
per im Waſſer, als er die erſten Grundſaͤtze der Hy-
droſtatik fand, Kepler den gemefſenen Abſtand der
Planeten von der Sonne, und die beſondern Ano-
malien in der Bewegung des Mars, als er ſeine zwey
Geſetze der himmliſchen Bewegung fand, Newton
die Schwere des Monds gegen die Erde, und die
Schwere der Koͤrper auf Erden, um zu finden, ob
Attraction und Schwere einerley ſey, Galilaͤus
den Schwung der Pendul von verſchiedener Laͤnge,
um die Geſetze der Oſcillation zu finden, Huygens
und Wrenn den Stoß verſchiedener und ungleich
großer Koͤrper, um die Geſetze der Percuſſion zu fin-
den ꝛc. So vergleicht man noch dermalen die magne-
tiſchen und electriſchen Verſuche und Wirkungen
mit den Wirkungen des Blitzes und Donners. Alle
dieſe Vergleichungen waren Anfaͤnge, die gemeine
oder bloß hiſtoriſche Erkenntniß in eine wiſſentſchaft-
liche zu verwandeln, und die Naturlehre wird mit
Beyſpielen von dieſer Art je laͤnger je vollſtaͤndiger
gemacht.
§. 612.
Da man ferner ſolche einzelne Fragmente der hiſto-
riſchen Erkenntniß deswegen naͤher betrachtet, und
unter ſich vergleicht, damit man ſehen koͤnne, wie-
fern eines aus dem andern koͤnnte gefunden
werden, ohne daß man es vor ſich aus Er-
fahrungen hernehmen muͤſſe: ſo macht man da-
durch die einen dieſer Stuͤcke zu Vorderſaͤtzen, die
andern zu Schlußſaͤtzen, die aus jenen ſollen koͤnnen
gezogen werden. Und da iſt klar, daß man ſehen
muͤſſe, wie die Vorderſaͤtze koͤnnen angeordnet wer-
den, und was fuͤr welche man noch dazu nehmen
muͤſſe, um dieſe Schlußſaͤtze ziehen zu koͤnnen.
§. 613.
[395]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
§. 613.
Hieruͤber laͤßt ſich nun leicht anmerken, daß zwar
in einem Schluße einer der Vorderſaͤtze particular
ſeyn koͤnne, und dieſes findet ſich gemeiniglich bey ſol-
chen Fragmenten. Da aber hingegen der andre
Vorderſatz allgemein ſeyn muß, (§. 205.) ſo iſt klar,
daß man ſich um ſolche umſehen muͤſſe, die in die
Schlußrede paſſen, das will ſagen, die endlich den
verlangten Schlußſatz herausbringen. Was nun
hiebey zu thun iſt, dazu haben wir in den vorherge-
henden Hauptſtuͤcken großentheils ſchon Stoff bereitet,
den wir hier, ſo weit er reicht, anzeigen, und das uͤbrige
ſodann nachholen wollen.
§. 614.
Einmal, wenn der Schluß nur einfach iſt, ſo iſt
klar, daß, wenn von beyden Fragmenten in der That
eines der Schlußſatz, das andre ein Vorderſatz ſoll
werden koͤnnen, der andre Vorderſatz ſich dadurch
leicht finden laſſe, weil in dem gegebenen Vorderſatz
das Mittelglied bereits gegeben iſt. Da man aber
vor der vorausgeſetzten Bedingung noch nicht verſi-
chert iſt, ob naͤmlich die beyden Fragmente in eine
ſolche Schlußrede dienen, ſo iſt klar, daß man ſich
von der Wahrheit des angenommenen Vorderſatzes
verſichern muͤſſe. Waͤre es nun ein Grundſatz, ſo
haͤtte die Sache ſogleich ihre Richtigkeit, und das
eine Fragment wuͤrde durch das andre beſtimmt.
Widrigenfalls muͤßte man ihn durch die Erfahrung,
oder aus andern Gruͤnden zu pruͤfen ſuchen. Wir
merken hiebey an, daß es auch in der gemeinen Er-
kenntniß allgemeine und handgreifliche Saͤtze giebt,
und Enclid hat ſolche, aber nicht unuͤberlegt, ſon-
dern nach genauerer Pruͤfung und Auswahl zu ſeinem
geome-
[396]IX. Hauptſtuͤck,
geometriſchen Lehrgebaͤude als Grundſaͤtze ange-
nommen.
§. 615.
Kann man ſich aber von der Wahrheit des ange-
nommenen Vorderſatzes nicht verſichern, ſo geht auch
dieſe Art zu verfahren nicht an, und die Sache bleibt
dahin geſtellt. Man kehrt ſie daher um, und an-
ſtatt die beyden Fragmente oder Erfahrungen
aus einander herzuleiten, oder von einander
abhaͤngig finden zu wollen, ſucht man, wie-
fern ſie ſelbſt allgemein gemacht werden koͤn-
nen. Denn bisher haben wir dieſes unbeſtimmt ge-
laſſen. Was nun hiebey zu thun iſt, haben wir be-
relts im vorhergehenden Hauptſtuͤcke (§. 591 ſeqq.)
angezeigt. Gelingt es damit, ſo erlangt man aller-
dings Erfahrungsſaͤtze, die allgemein ſind, und die
ſich folglich ſodann in unzaͤhlig vielen Schlußreden
als Vorderſaͤtze gebrauchen, und bey jedem vorkom-
menden Fall anwenden laſſen. Die vorhin (§. 611.)
haͤufig angefuͤhrten Beyſpiele moͤgen auch hier zur
Erlaͤuterung dienen. Wir merken nur noch an, daß,
wenn ſolche allgemeine Erfahrungsſaͤtze Geſetze der
Natur ſind, nach welchen ſie ſich in ihren Wirkun-
gen richtet, ihr Gebrauch ungleich wichtiger iſt, weil
dadurch ein Zuſtand durch den vorhergehenden be-
ſtimmt wird. (§. 95.) Auf dieſe Art iſt das von
Locke angegebene Geſetz der Einbildungskraft in der
Pſychologie von ausgedehntem Gebrauche; und ſeit
dem Torricelli, Guericke und Mariotte, das
Maaß und die Geſetze der Schwere und der Feder-
kraft der Luft entdeckt haben, laſſen ſich ungemein
viele Wirkungen und Veraͤnderungen in der Natur
ohne weitere Erfahrung voraus beſtimmen.
§. 616.
[397]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
§. 616.
Hat man aber einen Erfahrungsſatz allgemein
gemacht, ſo iſt es nicht nur, daß man ihn etwann als
einen Vorderſatz in Schlußreden gebrauchen, und
vermittelſt deſſelben andre Erfahrungen vorausbe-
ſtimmen koͤnne; ſondern es iſt an ſich auch moͤglich,
daß er ſich ſelbſt haͤtte vorausbeſtimmen laſſen. Die
beſondre analytiſche Methode hiezu haben wir bereits
oben (§. 404—422.) angezeigt, und ihre Bedin-
gungen angegeben. So weit man damit reichen mag,
ſo weit gelangt man auch zu einer allgemeinern und
ausgebreitetern Theorie, und ruͤckt dadurch die wiſſen-
ſchaftliche Erkenntniß hoͤher hinauf. Auf dieſe Art
hat Newton die beyden Keplerſchen Geſetze, (§. 611.)
ingleichem Richers Erfahrung von dem Pendul bey
dem Aequator (§. 562.) mit den allgemeinen mecha-
niſchen Grundſaͤtzen und allgemeinern Erfahrungsſaͤ-
tzen in Zuſammenhang gebracht.
§. 617.
Die genauere Betrachtung der Fragmente, ſo
uns die hiſtoriſche Erkenntniß darbeut, und welche
wir in eine wiſſenſchaftliche Erkenntniß verwandeln
wollen, (§. 611.) zieht als eine an ſich auch noth-
wendige Folge nach ſich, daß wir das, ſo in die-
ſen Fragmenten noch etwann verwirrt iſt,
ſorgfaͤltig auseinander leſen, und dieſe Sorgfalt
wird in den meiſten Faͤllen nothwendig. Denn da
die gemeine Erkenntniß die Dinge nimmt, wie ſie in
die Sinne fallen, (§. 600.) ſo iſt vor ſich klar, daß
ſie dunkle, klare, confuſe, verwirrte und deutliche Be-
griffe ohne weitern Unterſchied annimmt, (§. 8. 9.)
folglich die Theile der Sache, ihre verſchiedene Arten
und die Vieldeutigkeit der Woͤrter nicht weiter unter-
ſcheidet, als in ſo fern die Theile faſt nothwendig in
die
[398]IX. Hauptſtuͤck,
die Sinne fallen, die Arten augenſcheinlich verſchieden
ſind, (§. 599.) und die verſchiedenen Bedeutungen
des Wortes etwann in den Woͤrterbuͤchern einer Spra-
che angemerkt werden. Auf dieſe Art iſt die gemeine
Erkenntniß eine truͤbe Quelle, die vorerſt muß klar
gemacht werden, ehe ſich der Grund ſehen laͤßt. Und
die ſogenannten Wortſtreite oder Logomachien
wuͤrden ganz wegfallen, wenn man ſich dieſe Muͤhe
nicht verdrießen ließe. Denn man mag ein Wort
fuͤr ein andres nehmen, oder die Arten einer Gat-
tung, oder gar die von verſchiednen Gattungen con-
fundiren, oder einen Theil der Sache fuͤr die ganze
Sache oder fuͤr einen andern Theil, oder die ganze Sache
fuͤr einen Theil anſehen; ſo iſt die Verwirrung in der
Erkenntniß da, ſo wiſſenſchaftlich ſie auch ſcheinen
mag, und wenn wir es dabey bewenden laſſen, ſo
kommt bey dem Gebrauch unſrer Saͤtze ſehr oft, und
oͤfters wider Vermuthen, der oben (§. 379.) betrach-
tete Fall vor.
§. 619.
Dieſes allerdings gegruͤndete Mißtrauen auf die
gemeine Erkenntniß fordert demnach, daß wir bey der
genauern Betrachtung der vorgenommenen Frag-
mente das Verwirrte darinn zu entdecken und aus-
einander zu leſen ſuchen. Dazu gehoͤrt nun, daß
man alles, was man in der Sache verſchiede-
nes bemerkt, von einander abſondere, daß man
beurtheile, wiefern eines ohne das andre vor
ſich betrachtet werden kann, daß man ſehe,
ob einige Stuͤcke ganz wegbleiben koͤnnen, ob
die uͤbrigen ein Ganzes ausmachen, oder ob
man damit noch nicht ausreiche, und folglich
noch mehrere aufſuchen muͤſſe, wo man fuͤg-
lich anfangen und fortfahren koͤnne, und wie
dem-
[399]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
demnach eines auf das andre folge, wiefern
jedes fuͤr ſich moͤglich ſey, ob Mißverſtand
und Vieldeutigkeit in den Worten liege, ob
noch unbemerkte Arten, Faͤlle, Rlaſſen ꝛc. zu
unterſcheiden ſind, deren Vermengung, Unbe-
ſtimmtheit und theilsweiſe irriges in den Aus-
druͤcken, Saͤtzen oder Begriffen verurſache, ob
die Stuͤcke zuſammen gehoͤren ꝛc.
§. 620.
Hiezu wird unſtreitig erfordert, daß man von
den Cheilen einer noch verwirrten Vorſtellung
in ſo fern zureichend klare Begriffe habe, daß
man ſie bey behoͤriger Aufmerkſamkeit etken-
nen und finden moͤge. (§. 547 ſeqq.) Beſon-
ders wird auch eine Uebung dazu erfordert, die ſich
durch aufmerkſamere Betrachtung guter Beyſpiele
und Muſter erlangen laͤßt, und die wir durch zwey
aͤhnliche Faͤlle, die das Auge und das Ohr betreffen,
erlaͤutern koͤnnen. Die Harmonie in einem Concert
wird von einem geuͤbten Tonkuͤnſtler viel vollſtaͤndi-
ger empfunden, als von ungeuͤbten, und wenn ein
Mißton mit unterlaͤuft, ſo wird er die Perſon, die
Note, die Dauer, die Art, wie ſie geſpielt worden,
und wie ſie haͤtte ſollen geſpielt werden, umſtaͤndlich
angeben koͤnnen. Und dieſes wird ihm moͤglich und
leicht, weil er das Ohr zu jeden Harmonien, zu ihren
Theilen, Abwechslungen ꝛc. gewoͤhnt hat, weil er
jeden Theil mit ſeinem Namen benennen, und dadurch,
was er auf einmal hoͤrt, ſich entwickelt und deutlich
vorſtellen oder empfinden kann. Die Harmonie in
einem Concerte iſt ein ſehr ſchwacher Schattenriß von
der Harmonie in den Wahrheiten, die nicht das Ohr,
ſondern der Senſus internus, oder die Seele in ihrem
innern Bewußtſeyn empfindet. Gute Muſter,
und
[400]IX. Hauptſtuͤck,
und dieſe ſind noch immer in der Meßkunſt am feinſten
und richtigſten, geben der Seele die Grundlage
zur Empfindung dieſer Harinonie. Die Ver-
nunftlehre entwickelt und benennt ihre Cheile,
und je netter man ſich dieſe vorſtellen lernt,
deſto fertiger wird man auch in der hier ange-
zeigten Uebung. Was nach der oben (§. 379.) ange-
zeigten Methode nur durch eine langſamere Vergleichung
in Abſicht auf die Diſſonanzen unſrer oder andrer Ge-
danken entdeckt wird, das verwandelt ſich durch eine
ſolche Uebung in ein unmittelbares Empfinden, und
zugleich in eine entwickeltere Aufklaͤrung dieſer Em-
pfindung. Zu der wirklichen Harmonie aber gehoͤrt
ein Vorrath von netten Begriffen, deren Umfang
und Ausdehnung, und Verhaͤltniſſe zu andern, wir
genau empfinden. So gewoͤhnt und uͤbt ſich ein Ton-
kuͤnſtler, ſein Jnſtrument zu ſtimmen, ſeine Noten
nett, von behoͤriger Dauer und in voͤlliger Harmonie
mit den andern fertig zu ſpielen. Man ſehe uͤbrigens
§. 531 ſeqq.
§. 621.
Die Maler gebrauchen aͤhnliche Uebungen und
Fertigkeiten fuͤr das Augenmaaß, fuͤr die Auswahl
und Miſchung der Farben, fuͤr die Proportion der
Theile, fuͤr das Leben in dem Gemaͤlde ꝛc. Was
gute Muſter beytragen koͤnnen, die Harmonie in
allem dieſem voͤllſtaͤndiger zu empfinden, und ſich nach
und nach anzugewoͤhnen, die noch ruͤckſtaͤndigen Luͤcken
und Diſſonanzen zu verbeſſern, und original zu
werden, empfinden die am beſten, die wenigſtens in
der Betrachtung und Beurtheilung der Gemaͤlde
durch dieſe Stuffen gegangen. Die Empfindung des
Unterſchiedes zwiſchen Originalſtuͤcken und Copeyen,
zwiſchen Portraits und Stuͤcken, die bloße Erfin-
dungen
[401]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
dungen ſind, fordert, daß man Muſter von allen
Arten geſehen, und ſich die Kunſtwoͤrter der Maler
wohl bekannt gemacht habe, deren Vorrath auch der-
malen noch vermehrt werden koͤnnte. Die Nettig-
keit der Bilder der Dinge, |die wir uns in Gedanken vor-
ſtellen, die Empfindung, ob und wiefern ſie noch
nicht complet ſind, den Dingen ſelbſt genau zu ent-
ſprechen, beſonders auch, die Empfindung, wiefern
wir ſie nett und complet mit Worten ausdruͤcken,
fordert aͤhnliche Uebungen, und die Auswahl und
Kenntniß der Geſichtspunkte, (§. 572.) aus welchen
die Dinge am deutlichſten in die Sinne fallen, wird
kuͤrzer durch Beyſpiele erlernt, weil uns vielleicht
lebenlaͤnglich nicht einfallen wuͤrde, daß eine Sache
oder eine ganze Klaſſe von Sachen ſich auch von dieſer
oder jener Seite betrachten laſſe, und weil die
Worte zu abſtract ſind, um jede Jndividualien aus-
zudruͤcken.
§. 622.
Dieſe Betrachtungen dienen eigentlich nur, um
gewiſſer Maaßen anzuzeigen, welche Geſchicklichkeiten
und Fertigkeiten man erlangen koͤnne, den Vorſchrif-
ten des §. 619. leichter und gluͤcklicher Genuͤgen zu
leiſten. Wir werden nun zu dieſen Vorſchriften zu-
ruͤck kehren, und uns erinnern, daß die Abſicht dabey
iſt, aus dem verwirrten Cahos eines Stuͤckes der
gemeinen oder hiſtoriſchen Erkenntniß, eine wiſſen-
ſchaftliche Erkenntniß herauszubringen, das will ſa-
gen, zu ſehen, wiefern die entwickelte oder ausein-
ander geleſene Theile dieſes Cahos uns beſtimmte
Begriffe und allgemeine Saͤtze angeben, und wie-
fern ſie von einander abhaͤngig ſind, und dieſe Ab-
haͤnglichkeit gefunden werden koͤnne. Jn dieſer Ab-
ſicht laſſen ſich nun die gegebenen Regeln (§. 619.)
Lamb. Org. I. Band. C cein-
[402]IX. Hauptſtuͤck,
einzeln betrachten. So z. E. Die Bemerkung
des Unterſchiedes in den Cheilen und ihren
Verhaͤltniſſen koͤmmt auf Vergleichungen und
Schluͤße der zweyten Figur, und bey zuſammenge-
ſetztern Vergleichungen auf Schluͤße in Diprepe
und Perdipe an. (§. 226. 232. 284. 289.) Und
das Mittelglied zeigt zugleich, worinn der Unterſchied
beſtehe, ob er erheblich genug ſey, beyde Sachen jede
beſonders zu betrachten, oder ob deſſen unerachtet die
mit der einen vorgenommene Veraͤnderung, auch
eine Veraͤnderung in der andern nach ſich ziehe,
oder ob des Unterſchieds unerachtet beyde auf
einerley tractirt werden koͤnnen. So z. E. um
den Widerſtand zu finden, den ein im Waſſer be-
wegter Koͤrper leidet, laͤßt ſich unterſcheiden, ob das
Waſſer ſich ſelbſt auch bewege oder nicht. Dieſer
Umſtand aber hat hiebey nichts zu ſagen, weil einer-
ley Stoß erfolgt, ſo bald die relative Geſchwindig-
keit bleibt, es mag ſich nun das Waſſer oder der
Koͤrper, oder beyde bewegen. Eben ſo, wo es nur
um die ganze Summe zu thun iſt, da hat die Groͤße
eines jeden Theils derſelben an ſich betrachtet nichts
zu ſagen, genug, daß man ſie alle habe. Auf eine
aͤhnliche Art, da in dem luftleeren Raum Flaumfedern
und Gold gleichgeſchwind faͤllt, findet ſich, daß der
Unterſchied in freyer Luft nur von derſelben Wider-
ſtand herruͤhre, folglich nicht der Schwere an ſich zu-
geſchrieben werden koͤnne.
§. 623.
Hat man jede Theile, Arten, Klaſſen, Faͤlle, ſo
viel man deren hat finden koͤnnen, auseinander gele-
ſen, ſo ſieht man nach, bey welchen man anfan-
gen koͤnne? Und dieſes ſind ordentlich diejenigen,
von
[403]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
von welchen die uͤbrigen abhaͤngen, deren Ver-
aͤnderung eine Veraͤnderung in den andern
nach ſich zieht, die als einfachere Cheile bey
den andern, oder bey dem Ganzen vorkommen,
die ſichceteris paribus,das iſt mit Beybehaltung
aller uͤbrigens gleicher Umſtaͤnde, fuͤr ſich als
gewiſſer Veraͤnderungen und Beſtimmungen
faͤhig betrachten laſſen ꝛc. Z. E. Bey Verſuchen
uͤber den Stoß der Koͤrper nimmt man gleiche Dire-
ction, gleiche Geſchwindigkeit, und ungleiche Maaßen,
oder gleiche Direction, gleiche Maaße, aber ungleiche
Geſchwindigkeit ꝛc. und auf dieſe Art findet man,
was jedem Umſtande beſonders zuzuſchreiben, und
nach welchen Geſetzen er ſich richte. Alle chymiſche
Verſuche, wo man durch Vermiſchung mehrerer
Materien einen gewiſſen Effect hervorbringen will,
koͤnnen durch die Abaͤnderung in der Quantitaͤt einer
jeden auf dieſe Art unterſucht werden. Jn der Geo-
metrie faͤngt man bey den Linien oder Winkeln und
Triangeln an, und ſucht ihre einfachſten Verhaͤltniſſe,
um ſie ſodann bey einer zuſammengeſetztern Figur an-
wenden zu koͤnnen. Jn der Aſtronomie verfaͤhrt man
nicht anders, weil man bey den einfachſten Beobach-
tungen anfaͤngt, und uͤberdies noch, da wo in den
Bewegungen, Ungleichheiten vorkommen, anfaͤngt,
die mittlere Bewegung veſt zu ſetzen, und ſodann
die Anomalien zu beſtimmen. Man ſehe auch
§. 584. 585.
§. 624.
Nach ſolchen erſten Anfaͤngen, wodurch man die
Theile vor ſich betrachtet hat, laͤßt ſich ſodann ſehen,
wiefern ſie zuſammengenommen werden koͤn-
nen, und wie weit man damit ausreiche. Wir
C c 2koͤnnen
[404]IX. Hauptſtuͤck,
koͤnnen hiebey anmerken, daß man ſich leicht einbilden
koͤnnte eine Sache durchaus erſchoͤpft zu haben, da
man doch bey genauerer Unterſuchung findet, daß
man ſie nur in einer gewiſſen Abſicht, und unter ſol-
chen Beſtimmungen betrachtet hatte, die entweder
ganz wegbleiben, oder mit andern eben ſo guͤltigen
verwechſelt werden koͤnnen. Man kann im erſten
Hauptſtuͤcke, (§. 59-64.) ein Beyſpiel hievon fin-
den. Es iſt oͤfters vortheilhaft, bey einem beſon-
dern Fall anzufangen, aber man muß wiſſen, und es
anmerken, daß es nur ein beſondrer Fall iſt, und da-
her noch mehrere zuruͤckbleiben. Wir haben in dem
zweyten Hauptſtuͤcke angezeigt, wiefern ſich eine voll-
ſtaͤndige Abzaͤhlung und Eintheilung der Gattungen
in Arten, und der Klaſſen in beſondre Faͤlle vorneh-
men laſſe, und was fuͤr Umſtaͤnde und Schwuͤrigkeiten
ſich dabey finden. Wir merken hier nur an, daß die
Beſtimmungen, die man oͤfters weglaſſen kann, nicht
immer ſogleich in die Augen fallen, und daß ſie zuwei-
len auch da vorkommen, wo man anſtehen koͤnnte, ob
es nicht die einigen moͤglichen ſind. Auf dieſe Art
finden ſich oͤfters ganze Theile von Wiſſenſchaften,
daran bis dahin noch niemand gedacht hatte. Z. E.
Die Vernunftlehre des Wahrſcheinlichen, oder
wenigſtens der Begriff davon, wurde dadurch heraus-
gebracht, daß man bemerkte, es ſeyn bis dahin nur die
Gruͤnde des wahren und gewiſſen in der Ver-
nunftlehre abgehandelt worden, und die Bemerkung,
daß unſre Woͤrter nur willkuͤhrliche Zeichen der
Gedanken ſind, hat den Begriff veranlaßt, es moͤchten
vielleicht ſtatt derſelben ſchicklichere, weſentlichere und
zum Erfinden dienlichere gefunden werden koͤnnen, die
unſrer ganzen Erkenntniß eine andre Geſtalt geben
wuͤrden.
§. 625.
[405]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
§. 625.
Die einzelne auseinander geleſene Stuͤcke ſind nun
entweder Begriffe, oder Saͤtze, und daher loͤſet ſich
die Frage, ſie zuſammen zu faſſen, in zwo beſondre
auf. Wiefern aus den Begriffen andre zuſammen-
geſetzt werden koͤnnen, und wie ſie bewieſen werden
muͤſſen, haben wir bereits in dem erſten Hauptſtuͤcke
(§. 65 ſeqq) angezeigt. Die Saͤtze aber werden als
Vorderſaͤtze von Schlußreden betrachtet, es ſey, daß
ſie an ſich ſchon dazu hinreichend ſind, oder daß man
noch andre Saͤtze dazu nehmen muͤſſe, um Schluß-
ſaͤtze heraus zu bringen, und beſonders, um zu ſehen, ob
nicht die einen durch die andern herausgebracht wer-
den koͤnnen, weil ſie dadurch von einander abhaͤngig
werden, oder, beſſer zu ſagen, weil man dadurch findet,
daß und wiefern ſie es ſind. Die Art hiebey zu ver-
fahren haben wir bereits vorhin (§. 612 ſeqq.) an-
gezeigt.
§. 626.
Endlich koͤmmt die Frage: wie weit man mit
ſolchem Zuſammenhaͤngen ausreiche, darauf
an, wiefern die herausgebrachten Begriffe und Saͤtze
allgemein und anwendbar ſind. Ueber das erſtere
haben wir bereits die benoͤthigten Vorſichtigkeiten
angegeben, (§. 624.) und in Anſehung des letztern
oben (§. 615.) kurz angemerkt, daß allgemeine Ge-
ſetze, oder reale Verhaͤltniſſe, (§. 95.) etwas vor-
zuͤgliches haben, weil man dadurch in Stand geſetzt
wird, Veraͤnderungen und Wirkungen voraus
zu ſehen. Ueberhaupt aber fordert das Anwendbare
in Saͤtzen, daß ſie ſich haͤufig als Vorderſaͤtze
gebrauchen laſſen, und daher ein kenntlich
Subject und ein reiches und erhebliches Praͤ-
dicat haben.
C c 3§. 627.
[406]IX. Hauptſtuͤck,
§. 627.
Jnsbeſondre iſt hiebey zu bemerken, daß, wenn das
Subject gewiſſe Umſtaͤnde und Bedingungen voraus-
ſetzt, es gemeiniglich zu noch mehrern gehoͤre, die
zuſammengenommen eine Klaſſe ausmachen. Und
da iſt fuͤr ſich klar, daß man dieſe Klaſſe complet zu
machen ſuchen muͤſſe, damit man alle Faͤlle habe.
Die Trigonometrie giebt hievon ein Beyſpiel, weil
alle Faͤlle in derſelben abgezaͤhlt ſind, wie man aus
drey Stuͤcken eines Triangels die drey uͤbrigen finden
koͤnne. Man ſehe auch §. 450.
§. 628.
Hinwiederum, da das Praͤdicat dem Subject
oͤfters nur wegen gewiſſen Beſtimmungen, und zwar
nur wegen einigen von denen, die es hat, zukoͤmmt;
ſo iſt klar, daß man ebenfalls ſuchen muͤſſe, was das
Subject wegen andern Beſtimmungen fuͤr Praͤdicate
habe, und werden die Beſtimmungen abgezaͤhlt und
combinirt, ſo wird die wiſſenſchaftliche Erkenntniß
des Subjectes auch in dieſer Abſicht vollſtaͤndiger.
Dieſes reicht beſonders weit, wenn man Praͤdicate zu
einem Subject ſucht, die ihm wegen Verhaͤltniſſen
zukommen, in denen es mit andern Dingen ſteht.
Man hat dabey ein weites Feld, alle dieſe Dinge und
Verhaͤltniſſe aufzuſuchen, und die daher ruͤhrende
Praͤdicate und Saͤtze auszufinden. Wir koͤnnen
noch anmerken, daß, weil wir das innere Weſen der
Dinge in der Natur wenig oder gar nicht kennen,
unſre meiſten Begriffe und Saͤtze, die wir davon
wiſſen und finden, ſich auf ſolche Verhaͤltniſſe gruͤn-
den. Z. E. Wir kennen die Materie und innere
Natur der Sonne nicht, aber ſie leuchtet, ſie waͤrmt,
ſie lenkt die Planeten im Kraiſe, ſie iſt eine Rugel,
ſie hat eine determinirte Groͤße und Abſtand von
der
[407]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
der Erde und den andern Weltkoͤrpern, ſie iſt ein
Fixſtern ꝛc. Alle dieſe Saͤtze ſind theils Empfin-
dungen, theils durch Schluͤße herausgebrachte Wir-
kungen und Verhaͤltniſſe, und erſchoͤpfen das, was
wir von der Sonne wiſſen koͤnnen, noch lange nicht.
§. 629.
Die in beyden letzten §.§. gemachten Anmerkun-
gen zeigen zugleich an, wo man bey der Verwand-
lung eines Stuͤckes der gemeinen Erkenntniß
in eine wiſſenſchaftliche, noch zuruͤck bleibe,
und was noch ferner dazu genommen wer-
den muͤſſe. Wir haben ein ſolches Stuͤck der ge-
meinen Erkenntniß ein Cahos genennt, und muͤſſen
es als ein ſolches anſehen, weil man von der genauern Un-
terſuchung und Beobachtung deſſelben, (§. 611.) nicht
verſichert iſt, ob nicht viel verwirrtes Zeug darinn ſey, und
weil ſich ehender ja als nein vermuthen laͤßt. (§. 618.)
Wenn wir nun ein ſolches Cahos genauer zu durchgehen,
und es auseinander zu leſen vornehmen, ſo ſtellen wir
es uns, ſo undeutlich wir es noch empfinden, an ſich
ſchon als ein Ganzes vor, das einer Entwicklung,
Zerlegung, und nettern Anordnung ſeiner Theile
faͤhig iſt. Ob wir aber gleich anfangs alles, was zu
dieſem Ganzen gehoͤrt, mitnehmen, dieſes giebt die
gemeine Erkenntniß nicht an, weil ſie die Sache nicht
ſo genau nimmt. (§. 618.) Dieſes muß demnach erſt
bey der genauern Unterſuchung erwogen und ausge-
macht werden, und man erſpart ſich dabey eine Muͤhe,
wenn man ungefehr uͤberhaupt beſtimmen kann, wel-
che Stuͤcke der gemeinen Erkenntniß zuſammenge-
nommen werden muͤſſen, daß man entweder das
Vorgeſetzte, oder auch das darinn liegende Ganze,
zwar noch in rohen und unausgearbeiteten Materia-
lien, beyſammen habe. Dieſes iſt beſonders noth-
C c 4wen-
[408]IX. Hauptſtuͤck,
wendig und nuͤtzlich, wo ſolche Materialien erſt noch
durch Beobachtungen und Verſuche muͤſſen geſamm-
let werden, wie man etwann dergleichen noch derma-
len zu der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß der
Witterung zu ſammeln beſchaͤfftigt iſt. Die Aus-
wahl der Beobachtungen und die Einrichtung der
Verſuche haͤngt davon ab, und werden einige vergeſ-
ſen, ſo iſt es zwar moͤglich, aus den uͤbrigen einige
Regeln, Saͤtze, Verhaͤltniſſe ꝛc. herauszubringen,
ſie machen aber kein Ganzes aus, und in dieſem blei-
ben Luͤcken, deren Groͤße und Erheblichkeit noch un-
beſtimmt iſt. So z. E. bleibt die wiſſenſchaftliche
Meteorologie nothwendig zuruͤck, wenn man ſich
nicht Muͤhe giebt, die Abwechslungen aller Umſtaͤnde
und Urſachen, die in die Witterung einen Einfluß
haben koͤnnen, zu beobachten, und ſich etwann be-
gnuͤgt, die Schwere, Waͤrme oder Feuchtigkeit der
Luft in dem Obſervirzimmer aufzuzeichnen. Aus ſol-
chen Differentialgroͤßen das Jntegrale zu finden, dazu
haben wir die Kunſtgriffe noch nicht.
§. 630.
Nimmt man aber nicht ſo weitlaͤuftige Ganze
vor ſich, ſo gebraucht es auch nicht ſo viele Materia-
lien, und man kann ſich begnuͤgen, die zuſammen zu
nehmen, die eine naͤhere Aehnlichkeit und Verwand-
ſchaft mit einander haben. Die naͤhere Betrachtung
eines jeden (§. 611.) und ihre Vergleichung giebt
ſodann eine gewiſſe Anzahl von Combinationen an,
wodurch ihre Aehnlichkeiten, Unterſchiede und
Verhaͤltniſſe beſtimmt, und die etwann zuruͤckblei-
benden Luͤcken entdeckt werden koͤnnen. Eine ſolche
Unterſuchung der Aehnlichkeiten, Unterſchiede und
Verhaͤltniſſe zwiſchen verwandten Begriffen iſt
uͤberdies auf eine vorzuͤgliche Art dienlich, Licht und
Ord-
[409]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
Ordnung in die erſte Grundlage der vorgenommenen
Theorie zu bringen, und theils die Vieldeutigkeit der
Woͤrter, theils die Vermengung der Sachen und Be-
griffe, und uͤberhaupt die Verwirrung in denſelben,
(§. 618.) und ihre Diſſonanzen, (§. 620.) zu ver-
meiden.
§. 631.
Die hier angegebene Zuſammennehmung ver-
wandter Begriffe hat mit dem oben (§. 617 ſeqq.)
erforderten Ausleſen deſſen, was ſich in einer Vor-
ſtellung oder Stuͤck der gemeinen Erkenntniß befindet,
eine große Aehnlichkeit, und iſt gewiſſer Maaßen nur
verhaͤltnißweiſe davon verſchieden. Denn finden
ſich in einer noch confuſen Vorſtellung wirklich ver-
wandte Begriffe, ſo iſt moͤglich, daß andre ſie ſich auf
eine ganz verſchiedne Art vermengt vorſtellen, und
daß noch andre mehr oder minder den Unterſchied da-
von einſehen. Jn ſofern es demnach fuͤr uns beſon-
ders nuͤtzlich und zur wiſſenſchaftlichen Erkenntniß
nothwendig iſt, das vermengte in ſolchen Vorſtellun-
gen auseinander zu leſen, in ſo fern wird es fuͤr an-
dre nuͤtzlich und nothwendig, die ſaͤmmtlichen ver-
wandten Begriffe gegen einander zu halten, die leicht
confundirt werden koͤnnten, es ſey, daß die Sachen
ſelbſt einen nicht ſogleich in die Sinnen fallenden Un-
terſchied haben, oder daß in den Woͤrtern eine nur
ſcheinbare Synonymie ſtatt finde.
§. 632.
Durch eine ſolche Gegeneinanderhaltung der
Woͤrter und ihrer aͤhnlichen und verſchiednen Be-
deutungen erhaͤlt man auch in dem Vortrage einer
Theorie den Vortheil, daß man mehrern Leſern ver-
ſtaͤndlich wird, weil jeder finden kann, wo er nach
ſeinen Begriffen ſolche Bedeutungen vermengt
C c 5haͤtte.
[410]IX. Hauptſtuͤck,
haͤtte. Man vermeidet demnach unnoͤthige Wort-
ſtreitc, die ohne dieſe Sorgfalt leicht wuͤrden veran-
laßt werden, weil nicht jeder jedes Wort in
gleicher Bedeutung, noch jeden Begriff in glei-
chem Umfange nimmt, ſondern beyde nach ſeiner
bis dahin gehabten Erfahrung richtet. (§. 28. 48.)
Bilfinger, der eine beſondre Geſchicklichkeit hatte,
Licht und Ordnung und Genauigkeit in ſeine Be-
griffe zu bringen, hat dieſen Weg in ſeinen Diluci-
dationen genommen, und dadurch der damals noch
neuen und heftig beſtrittenen Wolfiſchen Weltweis-
heit in vielen Stuͤcken beſſere Dienſte gethan, als
Wolf ſelbſten. Denn in der That iſt es fuͤr uns
und andre nuͤtzlicher, wenn wir, anſtatt ſo-
gleich zu Definitionen zu eilen, und dieſe nach
unſern oͤfters noch vermengten Begriffen ein-
zurichten, vorerſt etwas genauer nachſehen,
woher wir dieſe Begriffe haben, ob nichts
darinn ſorgfaͤltiger auseinander zu leſen ſey,
und ob andre in dem Begriffe, den ſie ſich
von der Sache und von den Worten machen,
nichts auszuleſen haben, ehe ſie mit uns eins
werden koͤnnen? Verſaͤumt man dieſes, ſo iſt es
gar leicht moͤglich, daß man entweder ſelbſt mehr
oder minder in einer Verwirrung der Begriffe bleibt,
oder daß man andre darinn laͤßt, oder daß beydes zu-
gleich geſchieht. Zum Beyſpiel des letztern moͤgen
diejenigen Streitigkeiten dienen, wo keine Partey
weis, wovon die Rede iſt, oder woruͤber ſie eigentlich
ſtreitet. (§. 426 ſeqq.)
§. 633.
Wir haben bisher die (§. 619.) angegebenen Re-
quiſita des Auseinanderleſens der Stuͤcke einer hiſto-
riſchen Erkenntniß ausfuͤhrlicher betrachtet, und zu-
gleich
[411]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
gleich die Ordnung angezeigt, nach welcher man ſol-
che Stuͤcke in Zuſammenhang bringen kann, damit
eines aus dem andern folge, und ſich dadurch beſtim-
men laſſe. Auf dieſe Art wird die Erkenntniß eines
ſolchen Fragmentes wiſſenſchaftlich, weil man nun
jeden Theil genauer kennt, und ſeine Verhaͤltniſſe zu
den uͤbrigen deutlicher einſieht. Da ferner eine Haupt-
abſicht der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß dieſe ſeyn
ſoll, daß man dadurch in Stand geſetzt werde, Er-
fahrungen uͤberfluͤßig zu machen, oder gar auch ſolche
Saͤtze und Begriffe daraus herzuleiten, die man ſonſt
durch Verſuche finden muͤßte, oder nicht einmal
gefunden werden koͤnnten, (§. 604.) ſo haben wir
auch bereits ſchon angezeigt, was dieſes auf ſich hat,
und was dazu erfordert wird, (§. 612. ſeqq.) und
man kann ebenfalls hieher rechnen, was wir im erſten
Hauptſtuͤcke (§. 64 — 78.) von Zuſammenſetzung und
Erfindung neuer Begriffe geſagt haben, wo wir ins
beſondre die Abſicht hatten, zu zeigen, wie ſich ſol-
che Begriffe finden laſſen, ohne daß man bey den Sa-
chen ſelbſt anfange, (§. 64.) und daher ohne darauf
zu ſehen, ob dieſe Sachen ſchon exiſtiren, oder erſt
noch gemacht werden muͤßten. Dieſes heißt nun im
eigentlichſten Verſtande die Erfahrung in ſofern uͤber-
fluͤßig machen, daß, wenn man ſie dennoch anſtellen
will, ſie nur zuv Probe dienen, (573.) oder wenn
es eine Sache iſt, die man gebrauchen kann, dieſes
Gebrauches halber vorgenommen werden. Wiefern
dieſes auch in Abſicht auf fremde Erfahrungen angeht,
haben wir im vorhergehenden Hauptſtuͤcke (§. 561.
ſeqq.) angezeigt.
§. 634.
Sofern ſich nun aus dem, was man bereits weis,
Saͤtze, Eigenſchaften, Verhaͤltniſſe, Begriffe ꝛc.
finden
[412]IX. Hauptſtuͤck,
finden laſſen, ohne daß man erſt noͤthig habe, dieſe
unmittelbar aus der Erfahrung zu nehmen; ſofern
ſagen wir, daß wir ſolche Saͤtze, Eigenſchaften ꝛc.
a priori, oder von fornen her, finden. Muͤſſen
wir aber die unmittelbare Erfahrung gebrauchen, um
einen Satz, Eigenſchaft ꝛc. zu wiſſen, ſo finden wir
es a poſteriori, oder von hinten her. Was dieſer
Unterſchied, deſſen bey unſrer Erkenntniß ſehr oft
erwaͤhnt wird, ſagen will, muͤſſen wir etwas genauer
entwickeln, und hiezu theils die Woͤrter, theils die
Sache ſelbſt zu Huͤlfe nehmen.
§. 635.
Einmal zeigen die Woͤrter: a priori; a poſte-
riori, uͤberhaupt eine gewiſſe Ordnung an, nach wel-
cher in einer Reihe ein Ding vor oder nach dem an-
dern iſt: Und hier beſonders beziehen ſie ſich auf den
Unterſchied, bey welchem wir anfangen, und ob wir
von den letzten gegen die erſten, oder umgekehrt, von
dieſen zu jenen fortſchreiten. Solche Ordnungen
ſind nun in den Dingen der Welt, in ſofern ſie auf einan-
der folgen, und wenn wir wiſſen, daß etwas geſchehen
wird, ſo ſagen wir allerdings, daß wir es voraus wiſ-
ſen, zumal wenn wir es aus dem vorhergehenden ſchlieſ-
ſen koͤnnen. Hingegen erfahren wir erſt nachher, was
geſchehen iſt, ſo faͤllt das Vorauswiſſen weg, und
man ſagt etwann hoͤchſtens nur, daß man es haͤtte
voraus wiſſen koͤnnen. Dieſes erſt nachher oder
poſt factum erfahren, iſt daher dem Vorauswiſſen
oder Vorherſehen entgegen geſetzt, und zwar ſo,
daß die Zeit, wenn die Sache geſchieht, das eine
von dem andern trennt. Wenn man erſt nachgehends
ſieht, daß man die Sache haͤtte voraus wiſſen koͤn-
nen, ſo zeigt dieſes nur an, daß man nicht darauf
gedacht, oder ſich nicht alles deſſen gleich erinnert ha-
be,
[413]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
be, woraus man es haͤtte finden koͤnnen. Da nun
dieſes nicht geſchehen, ſo hat man es muͤſſen auf die
Erfahrung ankommen laſſen. Und dieſes wird
nothwendig, ſo oft man die Sache wirklich oder ipſo
facto nicht voraus weis, man haͤtte ſie nun moͤgen koͤnnen
voraus wiſſen oder nicht. Denn auf dieſe Art wird erſt
nachher entſchieden, ob es uns moͤglich geweſen
waͤre. Man ſehe das Beyſpiel §. 3. welches in dieſer
Abſicht bald zum Spruͤchwort geworden.
§. 636.
Jn ſolchen beſondern Faͤllen gebrauchen wir eben
die Redensarten a priori, a poſteriori nicht, theils,
weil ſie in dem gemeinen Leben unbekannter ſind, theils
auch, weil ſie ſich uͤberhaupt auf die Ordnung in dem
Zuſammenhang unſrer Erkenntniß beziehen. Denn
da wir die Vorderſaͤtze haben muͤſſen, ehe wir den
Schlußſatz ziehen koͤnnen, ſo gehen die Vorderſaͤtze
dem Schlußſatz vor, und dieſes heißt demnach aller-
dings a priorigehen. Hingegen, wenn wir die Vor-
derſaͤtze nicht haben, oder uns derſelben nicht zugleich
bewußt ſind, um den Schlußſatz ziehen zu koͤnnen,
ſo haben wir kein ander Mittel, als die Erfahrung,
welche uns jeden Satz gleichſam als fuͤr ſich ſubſiſti-
rend vorſtellt, (§. 605.) und wir muͤſſen es, um den
Satz zu wiſſen, auf die Erfahrung ankommen laſſen.
Da nun dieſes nicht a priori iſt, ſo hat man es a po-
ſteriori genennt, und dadurch aus dieſem letztern Be-
griffe einen Terminum infinitum (§. 89.) gemacht.
§. 637.
Man ſieht aber leicht, daß dieſe beyden Begriffe
muͤſſen verhaͤltnißweiſe genommen werden. Denn
wollte man ſchließen, daß nicht nur die unmittelbaren
Erfahrungen, ſondern auch alles, was wir daraus
finden koͤnnen, a poſteriori ſeyn: ſo wuͤrde ſich der Be-
griff
[414]IX. Hauptſtuͤck,
griff a priori bey wenigen von denen Faͤllen ge-
brauchen laſſen, wo wir etwas durch Schluͤſſe voraus
beſtimmen koͤnnen, weil wir in ſolchem Fall keine von
den Vorderſaͤtzen der Erfahrung muͤßten zu danken
haben. Und ſo waͤre in unſrer ganzen Erkenntniß ſo
viel als gar nichts a priori.
§. 638.
Nun mag man es endlich gar wohl angehen laſ-
ſen, dieſe Woͤrter in einer ſo ſtrengen und abſoluten
Bedeutung zu nehmen. Denn da ſie nur Titel und
Ueberſchriften unſrer Erkenntniß ſind, ſo aͤndern ſie
an der Sache nichts, weil dieſe an ſich das iſt, was
ſie iſt. Die Hauptſache koͤmmt hiebey nur darauf
an, daß Wort und Begriffe durchgehends mit einan-
der uͤbereinkommen, und daß man nicht in beſondern
Faͤllen a priori nenne, was nach der angenommenen
Bedeutung des Worts a poſteriori genennt werden
muͤßte.
§. 639.
Wir wollen es demnach gelten laſſen, daß man
abſolute und im ſtrengſten Verſtande nur das a
priori heißen koͤnne, wobey wir der Erfahrung vol-
lends nichts zu danken haben. Ob ſodann in unſrer
Erkenntniß etwas dergleichen ſich finde, das iſt eine
ganz andre, und zum Theil wirklich unnoͤthige Fra-
ge. Hingegen werden wir ohne Schwuͤrigkeit im
weitlaͤuftigſten Verſtande alles das a priori nen-
nen koͤnnen, was wir koͤnnen voraus wiſſen, ohne
es erſt auf die Erfahrung ankommen zu laſſen.
§. 640.
Nach dieſer Beſtimmung der beyden aͤußerſten
Bedeutungen laͤßt ſich nun leicht ausmachen, daß
etwas mehr oder minder a priori ſey, je nachdem wir
es aus entferntern Erfahrungen herleiten koͤnnen, und
daß
[415]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
daß hingegen etwas vollends nichta priori, und
folglich unmittelbara poſteriori ſey, wenn wir es,
um es zu wiſſen, unmittelbar erfahren muͤſſen.
§. 641.
Jndeſſen laͤßt ſich hiebey ein gewiſſes Mittel fin-
den, welches beyde Extrema naͤher zuſammenruͤckt.
Denn man kann zwiſchen dem, ſo wir der Erfahrung
zu danken haben, den Unterſchied machen, ob es nur
Begriffe, oder ob es Saͤtze ſind. Auf dieſe Art nennt
man a priori, was aus dem Begriff der Sache kann
hergeleitet werden, und hingegen a poſteriori, wo
man den Begriff der Sache entweder nicht dazu ge-
brauchen kann, oder wo man zu dem, was er uns
angiebt, noch einige Saͤtze aus der Erfahrung mit-
nehmen muß, um den Schluß machen zu koͤnnen,
oder endlich, wo man damit gar nicht fortkoͤmmt, ſon-
dern den Satz ſelbſt unmittelbar aus der Erfahrung
nehmen muß.
§. 642.
Aus dieſem folgt nun ſelbſt, daß unſre gemeine
und hiſtoriſche Erkennntniß in Abſicht auf uns, a po-
ſteriori iſt, in ſofern wir dieſelbe durch den Gebrauch
der Sinnen erlangen. Feruer, daß die wiſſenſchaft-
liche Erkenntniß | a poſteriori iſt, in ſofern wir Er-
fahrungsſaͤtze dazu gebrauchen, und hingegen kann
man ſie a priori nennen, in ſofern wir ſie aus den
Begriffen der Sachen und ohne Zuziehung einiger Er-
fahrungsſaͤtze herleiten.
§. 643.
Wir fuͤhren dieſen Unterſchied deswegen an, weil
eine Erkenntniß a priori vorzuͤglicher iſt, als die a
poſteriori. Denn je weniger man darf auf die Er-
fahrung ankommen laſſen, deſto weiter reicht man
mit der Erkenntniß, weil das, woraus etwas anders
herge-
[416]IX. Hauptſtuͤck,
hergeleitet wird, immer hoͤher und allgemeiner iſt,
oder wenigſtens nicht niedriger noch eingeſchraͤnkter
ſeyn kann.
§. 644.
Hier koͤmmt uns nun vornehmlich zu unterſuchen
vor, ob und wiefern ſich eine Erkenntniß, bloß aus dem
Begriff der Sache, und daher a priori wiſſenſchaft-
lich machen laſſe? Findet ſich dieſes, ſo erweitern wir
dadurch den Begriff der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß,
den wir oben (§. 610.) nur noch in ſofern angenom-
men haben, als ſie ſich beſchaͤfftigt, Erfahrungen in
Zuſammenhang zu bringen, und eine aus der andern
herzuleiten.
§. 645.
Um demnach die hier vorkommende Unterſuchung
vorzunehmen, werden wir dabey anfangen muͤſſen,
die Begriffe in dieſer Abſicht auseinander zu lefen,
und in behoͤrige Klaſſen zu bringen. Und dieſer Un-
terſchied derſelben koͤmmt vornehmlich auf die Art an,
wie wir zu den Begriffen gelangen oder gelan-
gen koͤnnen. Denn es iſt klar, daß je mehr wir
felbſt Begriffe ohne Ruͤckſicht auf die Erfahrung ha-
ben koͤnnen, um deſto mehr unſre Erkenntniß a priori
werde. Hiedurch verfallen wir auf den oben (§. 185.)
angezeigten Unterſchied der Begriffe, den wir nun
genauer entwickeln wollen.
§. 646.
Einmal, daß wir die Begriffe aus der Erfahrung
haben und haben koͤnnen, bedarf keines fernern Be-
weiſes, weil die gemeine Erkenntniß, in ſofern ſie nur
auf Empfindungen beruht, keine andre hat. Es
ſind demnach Erfahrungsbegriffe an ſich moͤgliche
Begriffe, und zwar ſolche, die wir der unmittelbaren
Empfindung zu danken haben. Das Bewußtſeyn
dieſer
[417]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
dieſer Empfindung, die Aufmerkſamkeit auf die Theile,
die ſich in der Sache empfinden laſſen, das Bewußt-
ſeyn des Unterſchieds in der Empfindung dieſer Theile
ꝛc. alles dieſes traͤgt dazu bey, den Erfahrungsbegriff
klarer, deutlicher, und vollſtaͤndiger, und das Bild
der empfundenen Sache und ihrer Theile netter zu
machen. Wenn man eine Sache das erſtemal ſieht,
und Zeit dazu nimmt oder hat, ſie recht zu betrach-
ten, ſo ſind die Eindruͤcke lebhafter, und man kann
leichter darauf Acht haben, und was man thut, um
ſich bey ſolcher Gelegenheit einen Begriff von der Sa-
che zu machen, wie der Begriff durch die Empfin-
dung entſtehe, und was wir thun, um zu ſehen, ob
einige Luͤcken darinn zuruͤck bleiben. Dieſe Sorg-
falt haben wir bey den Dingen nicht, die uns taͤglich
vor Augen ſind. Sie waͤre aber in vielen Faͤllen
nuͤtzlich, (§. 564. ſeqq,) und die Maͤngel der gemeinen
Erkenntniß (§. 617.) wuͤrden dadurch bey uns ver-
mindert. (§. 549.)
§. 647.
Unmittelbare Erfahrungsbegriffe ſind individual,
ſowohl in Abſicht auf die Sache, die wir empfinden,
als in Abſicht auf das Bewußtſeyn jeder einzelnen
Eindruͤcke, die die Sache in den Sinnen macht. Un-
geachtet wir uns nun dieſes Jndividuale nicht ausfuͤhr-
lich mit Worten ausdruͤcken koͤnnen, zumal wo die
Sache gar zu ſehr zuſammengeſetzt; ſo bleibt immer
in dem Bilde davon ſo viel zuruͤck, daß wir meh-
rentheils die Sache ſelbſt wieder erkennen, wenn ſie
nochmals vorkommt, und zwar deſto leichter, je oͤf-
ter und je genauer wir ſie emfunden haben, und daß
wir ſie mit ſolchen, die mehr oder minder aͤhnliche
Empfindungen in uns erwecken, vergleichen koͤnnen.
Dieſes macht, daß wir in vielen Stuͤcken mit der ge-
Lamb. Org. I. Band. D dmei-
[418]IX. Hauptſtuͤck,
meinen Erkenntniß ausreichen, die Dinge, ſo uns
in die Sinnen fallen, in Arten und Gattungen ein-
zutheilen, und jedes Indiuiduum in ſeine Klaſſe zu
ſetzen. Auf dieſe Art giebt uns auch die gemeine Er-
kenntniß allgemeine und abſtracte Begriffe, theils
von den Dingen, die die Natur ſelbſt in Arten und
Gattungen unterſchieden hat, dergleichen die Thiere,
Pflanzen, Metalle, Steine ꝛc. ſind, theils von all-
gemeinern Verhaͤltnißbegriffen, z. E. Urſache, Wir-
kung, Veraͤnderung, Groͤße ꝛc. ſind.
§. 648.
Hingegen aber laͤßt die gemeine Erkenntniß den
Umfang der Begriffe, und beſonders der abſtractern,
mehrentheils unbeſtimmt, weil hiezu ein genaueres
Beobachten und Auseinanderſetzen (§. 611. 617.) er-
fordert wird. Und man wird bey naͤherer Unterſu-
chung leicht finden, daß, wenn man die Begriffe,
Worte und Sachen mit einander zuſammenreimen
will, dieſer Umfang durch den Gebrauch zu reden
oͤfters ſehr willkuͤhrlich angenommen worden. Man
kann hieruͤber nachſehen, was wir bereits in dem zwey-
ten Hauptſtuͤcke von der Zulaͤßigkeit und den Folgen
des willkuͤhrlich beſtimmten Umfanges eines Begriffes
(§. 103) und im erſten Hauptſtuͤcke (§ 34.) von der
Beybehaltung, Abſchaffung und Aenderung in der
Bedeutung der Woͤrter angemerkt haben.
§. 649.
Die Beſtimmung des Umfanges eines Begriffes,
wobey Sach und Wort gegeben ſind, und wo folg-
lich der Begriff ſelbſt ein Erfahrungsbegriff iſt,
haben wir bereits oben (§. 35 — 64.) ausfuͤhrlich an-
gezeigt, und werden uns daher nicht laͤnger damit
aufhalten, ſondern die uͤbrigen Arten von Begriffen
aufſuchen.
§. 650.
[419]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
§. 650.
Zu dieſem Ende haben wir ebenfalls (§. 64.) an-
gemerkt, daß auch die Zuſammenſetzung einzelner
Merkmaale ein Mittel ſey, zu Begriffen zu gelangen,
und daß man dabey in ſofern willkuͤhrlich verfahren
koͤnne, als nachgehends die Moͤglichkeit eines ſolchen
Begriffes ſich beweiſen laſſe. (§. 65. feqq.) So lan-
ge nun die Moͤglichkeit noch nicht bewieſen iſt, bleibt
der Begriff hypothetiſch, und wir haben zugleich
(§. 68.) angemerkt, daß die phyſiſchen Hypo-
theſen ſolche Begriffe ſind. Uebrigens iſt das will-
kuͤhrliche in dieſer Art von Begriffen von dem vorhin
(§. 648.) erwaͤhnten zu unterſcheiden.
§. 651.
Da die hypothetiſchen Begriffe muͤſſen erwieſen
werden, ſo geſchieht dieſes entweder aus der Erfah-
rung, (§. 65. 66.) und da verwandelt ſich derſelbe in
einen Erfahrungsbegriff, weil es hiebey in der
That nichts zu ſagen hat, ob wir bey dem willkuͤhr-
lichen Zuſammenſetzen, oder bey der Erfahrung an-
fangen, ohne welche der Begriff noch nicht als moͤg-
lich angeſehen werden kann. (§. 645.)
§. 652.
Wird aber die Moͤglichkeit eines hypothetiſchen
Begriffes aus Gruͤnden erwieſen, ohne daß man es
muͤſſe auf die Erfahrung ankommen laſſen, ſo kann
man ihn einen Lehrbegriff nennen, eben ſo wie man
Saͤtze, die bewieſen werden, Lehrſaͤtze nennt. (§.
148. 154.) Und hiebey hat es wiederum nichts zu
ſagen, ob man bey dem Zuſammenſetzen oder bey
dem Beweiſe anfange, weil dennoch der Beweis erſt
den Begriff zum Lehrbegriffe machen muß. Die
verſchiedenen Arten zu Lehrbegriffen zu gelangen, ha-
ben wir im erſten Hauptſtuͤcke (§. 67—78.) ange-
D d 2zeigt,
[420]IX. Hauptſtuͤck,
zeigt, und werden ſie daher hier nicht wiederholen,
ſondern nur anmerken, daß Lehrbegriffe und Erfah-
rungsbegriffe in einander verwandelt werden koͤnnen,
wenn man naͤmlich zu den letzten den Beweis findet,
erſtere aber durch die Erfahrung gleichſam auf die
Probe ſetzt.
§. 653.
Da ſich zuſammengeſetzte Begriffe in einfachere
als in ihre Merkmaale aufloͤſen laſſen, ſo laſſen ſich
ganz einfache Begriffe gedenken, die nicht weiter auf-
geloͤſt, wohl aber durch Verhaͤltniſſe zu andern Be-
griffen beſtimmt oder angezeigt werden koͤnnen. Sol-
che einfache Begriffe machen die Grundlage der gan-
zen Erkenntniß aus, und man kann ſie fuͤglich und
im eigentlichſten Berſtande Grundbegriffe nennen,
um ſie den Lehrbegriffen entgegen zu ſetzen. Da ſie
keine Theile haben, ſo laͤßt ſich in denſelben nichts
unterſcheiden, und daher bleibt thre Vorſtellung und
Empfindurg ſchlechterdings klar. Ob die Begriffe
der Farben, der Toͤne, des Raums, der Zeit,
der Exiſtenz ꝛc. ſolche einfache Begriffe ſeyn, wer-
den wir hier nicht entſcheiden. So viel iſt gewiß,
daß wir ſie hoͤchſtens nur durch Verhaͤltniſſe definiren
koͤnnen, weil die Vorſtellung oder Empfindung der-
ſelben durchaus einfoͤrmig iſt. Da wir alſo, ihren
Unterſchied zu empfinden, nicht noͤthig haben, viele
Vergleichungen ihrer Merkmaale anzuſtellen, weil
ſie ſelbſt ihr Merkmaal ſind; ſo dienen ſie hingegen,
uns den Unterſchied zuſammengeſetzter Begriffe an-
zuzeigen, weil dieſe ſich in jene aufloͤſen laſſen, und
aus einer gewiſſen Anzahl und Modification derſelben
beſtehen.
§. 654.
[421]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
§. 654.
Da zum Widerſprechen wenigſtens zwey Stuͤck
erfordert werden, weil eines das andre umſtoßen
muß, ſo haben Grundbegriffe nothwendig nichts wi-
derſprechendes. Denn da ſie nicht zuſammengeſetzt
ſind, ſo iſt nichts in denſelben, das einander umſtoſ-
ſen koͤnnte. Demnach macht die bloße Vorſtellung
eines einfachen Begriffes ſeine Moͤglichkeit aus, und
dieſe dringt ſich uns mit der Vorſtellung zugleich mit
auf.
§. 655.
Hieraus folgt, daß ein unmoͤglicher Begriff nicht
ſeyn koͤnne. Denn er iſt deswegen unmoͤglich, weil
er A und nichtA in ſich enthaͤlt, und daher aus
Vorſtellungen zuſammengeſetzt iſt, die nicht bey
einander ſeyn koͤnnen, weil eine die andre aufhebt.
Z. E. hoͤlzernes Eiſen, rundes Viereck ꝛc.
§. 656.
Da wir in der Zergliederung zuſammengeſetzter
Begriffe den einfachen oder Grundbegriffen naͤher
kommen, wenn wir ſie in ihre innere Merkmaale
aufloͤſen: ſo iſt klar, daß wir in der wiſſenſchaftlichen
Erkenntniß deſto mehr a priori gehen koͤnnen, je
weiter wir in dieſer Aufloͤſung kommen, und daß un-
ſre wiſſenſchaftliche Erkenntniß ganz und im ſtreng-
ſten Verſtande (§. 639.) a priori ſeyn wuͤrde, wenn
wir die Grundbegriffe ſaͤmmtlich kenneten und mit
Worten ausgedruͤckt haͤtten, und die erſte Grundlage
zu der Moͤglichkeit ihrer Zuſammenſetzung wuͤßten.
Denn da ſich die Moͤglichkeit eines Grundbegriffes
zugleich mit der Vorſtellung aufdringt, (§. 654.) ſo
wird er von der Erfahrung dadurch ganz unabhaͤngig,
ſo, daß, wenn wir ihn auch ſchon der Erfahrung zu
danken haben, dieſe uns gleichſam nur den Anlaß zu
D d 3dem
[422]IX. Hauptſtuͤck,
dem Bewußtſeyn deſſelben giebt. Sind wir uns
aber einmal deſſelben bewußt, ſo haben wir nicht noͤ-
thig, den Grund ſeiner Moͤglichkeit von der Erfah-
rung herzuholen, weil die Moͤglichkeit mit der bloßen
Vorſtellung ſchon da iſt. Demnach wird ſie von der
Erfahrung unabhaͤngig. Und dieſes iſt ein Requiſi-
tum der Erkenntniß a priori im ſtrengſten Verſtande.
(§. 639.) Sind wir uns nun eines jeden einfachen
Begriffes fuͤr ſich bewußt, ſo ſind die Worte nur
Benennungen deſſelben, wodurch wir jeden von den
uͤbrigen unterſcheiden, und die anſchauende Er-
kenntniß mit der figuͤrlichen verbinden. Endlich,
wenn uns die Grundlage der Moͤglichkeit ihrer Zu-
ſammenſetzung bekannt iſt, ſo ſind wir auch im Stan-
de, aus dieſen einfachen Begriffen zuſammengeſetzte
zu bilden, ohne ſie von der Erfahrung herzuholen.
Demnach wird unſre Erkenntniß auch hierinn im ſtreng-
ſten Verſtande a priori. (§. 639.)
§. 657.
Wir koͤnnen Umſtaͤnde anfuͤhren, welche zeigen,
daß wir uns von der Wahrheit und Wirklichkeit deſ-
ſen, ſo wir erſt unter vorausgeſetzten Bedingungen
erwieſen haben, wenigſtens auf eine noch confuſe Art
bewußt ſind, weil wir oͤfters und unvermerkt ſehr viele
allgemeine Saͤtze und Begriffe als von der gegenwaͤr-
tigen Welt ganz unabhaͤngig anſehen. Dahin gehoͤ-
ren alle Saͤtze, die an ſich nothwendig wahr ſind,
und die wir unter die ewigen und unveraͤnderli-
chen Wahrheiten rechnen, die niemals anders ſeyn
koͤnnen. Z. E. daß zweymal zwey vier ſey; daß, wer
denkt, iſt; daß ein Schlußſatz in Barbara nothwen-
dig folge; daß ein Zirkel rund ſey; daß vor nicht
nach ſey ꝛc. ſind alles Saͤtze, zu deren Wahrheit keine
Exiſtenz der Welt noͤthig iſt. Wir moͤgen die Be-
griffe
[423]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
griffe dazu der Erfahrung zu danken haben, ſo iſt es
nur als ein Anlaß, weil wir nachgehends davon ganz
abſtrahiren.
§. 658.
Wenn wir den Begriff der Ausdehnung ſo wohl
dem Raum als der Zeit nach, oder unmittelbar die
Begriffe des Raums und der Zeit als ganz einfache
Begriffe anſehen: ſo haben wir drey Wiſſenſchaften,
die im ſtrengſten Verſtande a priori ſind: Naͤmlich
die Geometrie, die Chronometrie und die Pho-
ronomie. Und hinwiederum wenn man zugiebt,
daß dieſe drey Wiſſenſchaften im ſtrengſten Verſtande
a priori ſind, ſo ſind die Begriffe von Raum und
Zeit einfache Begriffe. Denn die Geometrie fordert
keine andre Moͤglichkeit, als die von einer geraden Linie
und ihrer Lage um einen Punkt herum, ſo conſtruirt
ſie ſogleich Winkel, Zirkel, Sphaͤren, und mit dieſen
alle Figuren und Koͤrper. Die Chronometrie for-
dert nichts als den einfoͤrmigen Lauf der Zeit, und
damit errichtet ſie Cycloſ, Periodoſ etc. Die Pho-
ronomie nimmt Zeit und Raum zuſammen, und er-
richtet dadurch die Theorie der Bewegung, Geſchwin-
digkeit und Translation bewegter Punkte ꝛc. Dem-
nach, wenn man annimmt, daß die Begriffe von Zeit
und Raum einfach ſind, ſo ſind ſie von der Erfah-
rung unabhaͤngig (§. 656.) und folglich, da dieſe
drey Wiſſenſchaften weiter nichts als dieſe Begriffe
gebrauchen: ſo ſind ſie im ſtrengſten Berſtande a priori.
Nimmt man aber hinwiederum an, daß dieſe Wiſ-
ſenſchaften durchaus a priori ſind, ſo folgt ebenfalls,
daß die Begriffe von Raum und Zeit einfache Be-
griffe ſeyn muͤſſen, weil ſie in dieſen Wiſſenſchaften
ohne weitere Entwickelung zum Grunde gelegt wer-
den. Uebrigens iſt wohl anzumerken, daß wir die
D d 4Dyna-
[424]IX. Hauptſtuͤck,
Dynamik hier nicht unter die Phoronomie, und ſo
auch die Chronologie der gegenwaͤrtigen Welt, oder
die hiſtoriſche Chronologie nicht zu der hier genannten
Chronometrie rechnen, weil wir dieſe drey Wiſſen-
ſchaften hier nicht weiter ausdehnen, als in ſofern ſie
nothwendig und ohne alle Widerrede unter die ewigen
und unveraͤnderlichen Wahrheiten (§. 657.) gehoͤ-
ren.
§. 659.
Die einfachen Begriffe laſſen ſich weiter nicht
anders als zur Vergleichung und Zuſammenſetzung
gebrauchen. Erſteres giebt Verhaͤltnißbegriffe, letz-
teres aber Lehrbegriffe. Denn da die einfachen Be-
griffe keine innere Merkmaale haben, ſondern ſich
ſelbſt ihr eigenes Merkmaal ſind, (§. 653.) ſo haben
ſie kein ander inneres Praͤdicat, als ſich ſelbſt, z. E.
was iſt, das iſt; Eriſtiren iſt exiſtiren ꝛc. Hin-
gegen koͤnnen ſie allerdings zu Praͤdicaten werden,
weil ſie in jedem andern Begriffe entweder vorkom-
men oder nicht. Ferner macht ihre Vergleichung ei-
nen gewiſſen Eindruck in die Seele, und dieſer Ein-
druck giebt einen Verhaͤltnißbegriff an, (§. 59.) der
gleichſam als eine Bruͤcke dient, von dem einen auf
den andern zu kommen. So ſind die Verhaͤltniſſe
in der Geometrie, und ſo werden auch in der Phoro-
nomie die Verhaͤltniſſe zwiſchen Zeit und Raum
durch die Begriffe der Bewegung und Geſchwin-
digkeit beſtimmt.
§. 660.
Da die Erfahrung uns Anlaͤſſe zu Begriffen giebt,
ſo iſt klar, daß wenn wir nur bey der bloßen Moͤg-
ligkeit dieſer Begriffe bleiben, die Beſtimmung der
Exiſtenz, welche der Erfahrung eigen iſt, daraus
wegbleibt. Und in ſofern nehmen wir den Begriff
als
[425]von der wiſſentſchaftlichen Erkenntniß.
als fuͤr ſich ſubſiſtirend, und er wird als a priori koͤn-
nen angeſehen werden, ſo bald wir von ſeiner Moͤg-
lichkeit, ohne die Erfahrung, die Verſicherung haben
koͤnnen. (§. 656.)
§. 661.
Ungeachtet nun dieſe Verſicherung noch dermalen
ſo allgemein nicht angeht, und beſonders bey zuſammen-
geſetztern Lehrbegriffen noch zuruͤck bleibt: ſo koͤnnen
wir uns doch der a pofteriori gefundenen Moͤglich-
keit auf eine andre Art bedienen. Denn einmal koͤn-
nen wir von ſeinen Merkmaalen nach Belieben weg-
laſſen, doch ſo, daß wir unterſuchen, ob mit den
weggelaſſenen nicht noch andre mit wegbleiben muͤſſen?
Und hinwiederum, wenn wir auch alle beybehalten, ſo
bleibt zu unterſuchen, ob dieſe nicht noch einige andre,
deren wir uns eben nicht bewußt ſind, erfordern.
Auf dieſe Art gelangen wir endlich dazu, daß wir
beſtimmen koͤnnen, wie weit der Begriff reiche, was
er auf ſich habe, was mit demſelben zugleich geſetzt
werde ꝛc. So z. E. haben wir zu Anfange des ge-
genwaͤrtigen Hauptſtuͤckes verſchiedene Vorzuͤge der
Meßkunſt in Beyſpielen angezeigt. Es war die Fra-
ge, wiefern ſie der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß uͤber-
haupt zukommen koͤnnen, und wie weit ſie auch außer der
Meßkunſt reiche? Dieſe Unterſuchung zog viele Re-
quifita nach ſich, die in Criteria zu verwandeln ſind,
und die Arbeit iſt hier noch nicht zu Ende, weil ſie
durch das gegenwaͤrtige Hauptſtuͤck ganz durchgehen,
und uͤberdies noch allerdings mehrere Specialien for-
dern wird. Denn man ſieht leicht, daß hier die
Frage iſt, den Begriff und die Mittel zur wiſſen-
ſchaftlichen Erkenntniß weiter zu treiben, als noch
dermalen unſre Erfahrung reicht, um demſelben ſeine
wahre Allgemeinheit zu geben.
D d 5§. 662.
[426]IX. Hauptſtuͤck,
§. 662.
Wir koͤnnen ferner noch anmerken, daß es Be-
griffe giebt, deren Vorſtellung immer mit der Er-
fahrung zu Paaren geht, und dieſes ſind die, ſo von
dem Senfu interno herruͤhren, wenn wir naͤmlich an
unſre Gedanken denken. So z. E. wenn wir einen
Schluß machen, mit dem Bewußtſeyn, daß es ein
Schluß iſt, ſo iſt auch die Empfindung der Folge
des Schlußſatzes aus den Praͤmiſſen zugleich mit da.
Man kann hierinn den Grund finden, warum unter
den philoſophiſchen Wiſſenſchaften die Vernunftlehre,
welche uns dieſes Zuruͤckdenken auf unſre Begriffe,
Saͤtze, Schluͤſſe ꝛc. angiebt, der geometriſchen Ge-
wißheit nichts nachgiebt. Denn wenn ja zu beyden
ſollten Erfahrungen erfordert werden, ſo wuͤrden die
fuͤr die Vernunftlehre noch viel unmittelbarer ſeyn,
als die fuͤr die Geometrie. Nun kann bey den Be-
griffen und Saͤtzen der Vernunftlehre, ſofern darinn
nur die Geſetze des Denkens betrachtet werden, die
innere Empfindung allezeit mit dabey ſeyn, wenn wir
behoͤrig darauf Achtung haben wollen. Da aber dieſe
Empfindung nur ein denkendes Weſen vorausſetzt, ſo
hindert dieſes nicht, daß wir nicht auch die Vernunft-
lehre in ſo fern ſollten unter die Wiſſenſchaften rech-
nen, die im engſten Verſtande a priori ſind.
§. 663.
Der Begriff der logiſchen Wahrheit, welche in
Abſicht auf uns in der Uebereinſtimmung unſrer Vor-
ſtellung mit den Sachen, in Abſicht auf die Sache
ſelbſt aber darinn beſteht, daß ſich das Praͤdicat durch
den Begriff des Subjectes beſtimmen laſſe, iſt eben-
falls ein Begriff, den wir als a priori anſehen koͤn-
nen, (§. 662.) da er weiter nichts als ein denkendes
Weſen vorausſetzt, und die Vorſtellung mit der
Empfin-
[427]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
Empfindung zu Paaren geht. Demnach kann auch
die Aletheiologie unter die Wiſſenſchaften gerechnet
werden, die im ſtrengſten Verſtande a priori ſind.
Sie geht nothwendig allen andern Wiſſenſchaften
vor. Denn dieſe ſind gleichſam nur beſondre An-
wendungen derſelben.
§. 664.
Sodann laͤßt ſich auch die Theorie des Moͤgli-
chen und Nothwendigen unter die Wiſſenſchaften
a priori rechnen, jedoch in ſofern wir in dieſen Be-
griffen das, was das Eriſtirende oder Wirkliche
beſonders angehen kann, nicht mitnehmen. Denn
es iſt an ſich klar, daß wir hier die Wiſſenſchaften in
Abſicht auf uns betrachten, und daher die Unterſu-
chung dahin richten, daß wir ſehen, wiefern wir zu
einer Erkenntniß a priori gelangen koͤnnen. Und in
ſo fern iſt dieſe Unterſuchung fuͤr uns erheblich, weil
es ein Vorzug der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß iſt,
wenn ſie von der Erfahrung immer mehr unabhaͤn-
gig gemacht werden kann. (§. 604.)
§. 665.
Wir werden nun dieſe Unterſuchung hier nicht
weiter fortſetzen. Denn wenn man wenigſtens einige
Wiſſenſchaften a priori hat, ſo geben dieſe ſchon eine
gute Menge Begriffe und Saͤtze, beſonders aber viel
allgemeine Verhaͤltnißbegriffe an, wodurch zu Ent-
wicklung und Aufdeckung mehrerer einfacher Be-
griffe der Weg gebahnt wird. Mit mehrern einfa-
chen Begriffen aber laͤßt ſich auch noch weiter a priori
gehen.
§. 666.
Dieſes iſt nun eben, was wir noch genauer zu
betrachten haben. Wir werden daher nun einen Be-
griff vornehmen, deſſen Umfang beſtimmt worden.
Es
[428]IX. Hauptſtuͤck,
Es ſey derſelbe nun ein Lehrbegriff (§. 652.) oder ein
Erfahrungsbegriff, (§. 649.) ſo haben wir zu ſehen,
was aus demſelben gefolgert werden koͤnne.
§. 667.
Das erſte, ſo ſich hiebey anbeut, ſind die un-
mittelbaren Folgen, (§. 255. feqq.) die ſich aus
Definitionen ſo gut als aus andern Saͤtzen ziehen laſ-
ſen, und bey den Definitionen noch verſchiedenes
voraus haben. Denn ſie ſind von den Saͤtzen darinn
verſchieden und beſtimmter, daß das Subject und
das Praͤdicat von gleichem Umfange iſt, weil die
Definition den Umfang des Definiti entweder durch
ſeine innere gemeinſame und eigene Merkmaale, oder
wenigſtens durch Verhaͤltnißbegriffe beſtimmt. (§. 51—
64.) Hieraus folgt nun, daß eine Deſinition ein iden-
tiſcher Satz ſey, und ſich demnach allgemein umkeh-
ren laſſe. (§. 124.) Was dieſes auf ſich hat, haben
wir im ſechſten Hauptſtuͤcke in mehrern Abſichten an-
gezeigt.
§. 668.
Wenn in der Definition ein oder mehrere eigene
Merkmaale ausdruͤcklich angezeigt vorkommen, ſo
kann man die gemeinſamen weglaſſen, und der Satz
wird immer noch identiſch bleiben. (§. 124.) Kehrt
man ihn demnach um, ſo hat das Subject weniger
Beſtimmungen, und das Praͤdicat, als das Defini-
tum bleibt dennoch Der umgekehrte Satz wird auf
dieſe Art noch vorzuͤglicher. (§. 421. 626.)
§. 669.
Die weggelaſſenen gemeinſamen Merkmaale wer-
den aber deswegen nicht weggeworfen, ſondern man
kann ſie, wenn mehrere ſind, zuſammen oder jedes
einzeln von dem Definito allgemein bejahen. Letzteres
geſchieht vornehmlich, wenn man die Theorie des De-
finiti
[429]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
finiti noch mehr entwickeln will. Denn es iſt klar,
daß man dadurch mehrere Vorderſaͤtze zu Schlußreden
erhaͤlt. Da aber dieſe Merkmaale gemeinſum ſind,
folglich außer dem Definito noch mehrern Dingen zu-
kommen, ſo iſt klar, daß dieſe Saͤtze nicht identiſch
ſind, und ſich folglich auch nicht allgemein umkehren
laſſen. Hingegen ſind die Begriffe dieſer andern Din-
ge mit dem Begriff des Definiti mehr oder minder
verwandt. Daher laͤßt ſich hiebey das anwenden,
was wir vorhin (§. 630. feqq.) angemerkt haben.
Daß man ferner aus allen dieſen Saͤtzen unmittelba-
re Folgen (§. 255. feqq.) ziehen koͤnne, iſt unnoͤthig
hier nochmals anzuzeigen.
§. 670.
Jſt der vorgenommene Begriff an ſich ſchon ein
Lehrbegriff, ſo hat man nicht nur ſeine Merkmaale,
ſondern auch bereits ſchon den Beweis ſeiner Moͤg-
lichkeit. (§. 652.) Und daher auch von den bisher
angezeigten Saͤtzen (§. 667. feqq.) ſchon bereits meh-
rere voraus. Denn um zu beweiſen, daß ſich ſeine
Merkmaale zuſammenſetzen laſſen, muß man dieſel-
ben allerdings ſchon voraus wiſſen und in der Theorie
vorgenommen haben. Jndeſſen iſt dieſes doch nicht
immer nothwendig, weil ein ſolcher Beweis oͤfters
weiter nichts als die bloße Moͤglichkeit des Begriffes
oder der Sache angiebt, wie dieſes nach der (§. 78.) an-
gezeigten Methode geſchieht, und wie es auch ſtatt findet,
wenn man die Moͤglichkeit oder den Begriff einer
Aufgabe nur durch die Anwendung der allgemeinen
Formeln von Aufgaben (§. 161.) herausbringt. Jn
dieſen Faͤllen muß allerdings der Begriff beſſer entwi-
ckelt, und die etwann noch confuſe Vorſtellung deſſel-
ben auseinandergeleſen werden. (§. 617—632. 649.
652.) Es kommen aber dabey gewoͤhnlich ebenfalls
ſolche
[430]IX. Hauptſtuͤck,
ſolche Saͤtze vor, die den Grund des Umfanges des
Begriffes angeben, und die folglich der Definition
vorgehen, und nicht erſt nachher daraus hergelei-
tet werden muͤſſen, wenn anders die Definition nicht
als ganz willkuͤhrlich ausſehen ſoll.
§. 671.
Jn dieſen Faͤllen und uͤberhaupt, wenn der Be-
griff ein Erfahrungsbegriff iſt, kann man in der
Entwicklung ſeiner Merkmaale weiter fortgehen, und
die Saͤtze, die man herausbringt, werden gleichſam
als Materialien geſammlet, weil ſie als Vorderſaͤtze
zu Schlußreden dienen koͤnnen. Wir nehmen hiebey
wiederum nur die Schlußart in Barbara (§. 325. 405)
und aus aͤhnlichen Gruͤnden bey zuſammengeſetzten
Schluͤſſen die in Cafpida, Saccapa und Difpaca (§. 284)
an, und da haben wir folgende vier Faͤlle.
§. 672.
Die nicht identiſchen Saͤtze (§. 669.) behalten
das Definitum zum Subject. Werden ſie demnach
als Unterſaͤtze gebraucht, ſo bleibt im Schlußſatz
eben das Subject, und man findet demnach zu dem
Definito mehrere Eigenſchaften. (§. 327.) Hinge-
gen, wenn man ſie als Oberſaͤtze gebraucht, ſo faͤllt
das Definitum aus dem Schlußſatze weg, man ver-
faͤllt auf andre Subjecte, (§. 326.) und dieſes ſind
mit dem Definito verwandte Begriffe, die bey der
Theorie deſſelben ihren Nutzen haben. (§. 630. feqq.)
§. 673.
Die identiſchen Saͤtze (667. 668.) haben eben
dieſe zween Faͤlle, ſo lange man das Definitum zum
Subject laͤßt. Kehrt man ſie hingegen um, ſo wird das
Definitum zum Praͤdicat. Und dieſes bleibt daher
in dem Schlußſatz als Praͤdicat, wenn der umge-
kehrte Satz zum Oberſatz gemacht wird. Was dieſes
aber
[431]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
aber auf ſich hat, kann man aus §. 404—422, in-
gleichen, wenn das Subject des umgekehrten Satzes
copulativ iſt, aus den Schlußarten Cafpida und
Saccapa, und aus mehrern der Formeln §. 306. 307.
310. 311. 313. erſehen. Wird aber der umgekehrte
Satz zum Unterſatz gemacht, ſo faͤllt das Definitum
aus dem Schlußſatze weg, und der Schlußſatz ſelbſt
bejaht oder verneint nur von dem eigenen Merkmaale
oder von der ganzen Definition des Definiti, was man
in den dazu genommenen Oberſaͤtzen von dem Definito
ſelbſt bejaht oder verneint hatte. Da nun dieſes eben
nicht viel auf ſich hat, ſo iſt klar, daß ſolche umge-
kehrte Saͤtze beſſere Dienſte thun, wenn man ſie als
Oberſaͤtze gebraucht.
§. 674.
Die Saͤtze, ſo man auf dieſe Art herausbringt,
ſind von verſchiedner Form und Gebrauch, und ſie
laſſen ſich in Abſicht auf das Definitum in drey Klaſ-
ſen theilen:
- 1. Aus einigen faͤllt das Definitum weg, (§. 672.)
und dieſe enthalten Begriffe, die mit dem
Definito einige Verwandſchaft haben, und
folglich Verhaͤltniſſe angeben, die man auf-
ſuchen, und dadurch die Theorie ausgebreite-
ter machen kann. - 2. Jm andern wird das Definitum zum Praͤdicat,
(§. 673.) und dieſe haben den Nutzen, daß
man ſie in Vorrath ſammlet, um bey vor-
kommenden Faͤllen das Definitum zu erken-
nen. Sie dienen demnach zu der analyti-
ſchen Methode, (§. 404 ſeqq.) weil ſie ſich
vornehmlich als Oberſaͤtze gebrauchen laſſen. - 3. Endlich giebt es auch, in welchen das Definitum
als Subject bleibt, (§. 672. 673.) und
dieſe
[432]IX. Hauptſtuͤck,
dieſe dienen directe zur Theorie deſſelben, weil
ſie als Unterſaͤtze gebraucht, und mit Zuzie-
hung mehrerer Oberſaͤtze, neue Praͤdicate des
Definiti gefunden werden koͤnnen.
§. 675.
Auf dieſe Art erhellet nun deutlich, wohin jeder
Weg fuͤhrt, und wenn man ihn gebrauchen ſoll. Wie
weit man aber mit allen oder mit der ganzen Theorie
reiche, das haben wir bereits (§. 626—632.) auf
umſtaͤndlichere Fragen reducirt, die man ſich verlegen,
und leichter eroͤrtern kann, und ſofern man in einer
Theorie ſynthetiſch geht, laͤßt ſich anmerken, was wir
oben (§. 329—346.) ingleichen (§. 456. 541.) ge-
ſagt haben, wenn man dabey Umwege vermeiden, und
gerader zum vorgeſetzten Ziele kommen will.
§. 676.
Wenn man in einer Theorie Saͤtze herausbringen
will, die nicht trockene noch unerhebliche Praͤdicate
haben, ſo hilft bey der Entwicklung der Eigenſchaf-
ten und Merkmaale der Sache ſehr viel dazu, wenn
man bey jeden ſich umſieht, ob ſie nicht einzeln oder
etliche zuſammengenommen, eigne Merkmaale von
reichern Begriffen oder bereits bekannten Dingen ſind.
Wir haben dieſes bereits ſchon oben (§. 421.) erin-
nert, und koͤnnen noch anmerken, daß, da wir in den
Wiſſenſchaften noch nicht ſo viele umgekehrte Saͤtze
haben, als zu wuͤnſchen waͤren, es bey dem Erfinder
viel darauf ankomme, wiefern er nette Begriffe hat,
und wiefern ihm bey Erblickung eines eignen Merk-
maals ſogleich der ganze Begriff zu Sinne komme.
Wir haben ſolche Begriffe zureichend klar genennt,
und ſie bey Erfindungen, wenn dieſe anders ſollen
leichter und moͤglicher gemacht werden, unter die
naͤch-
[433]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
naͤchſten Folgen der logiſchen Poſtulaten gerechnet.
(§. 547 ſeqq.)
§. 677.
Wir koͤnnen noch beyfuͤgen, daß, wenn man auch
nicht ſogleich weis, ob ein Merkmaal einer Sache
ein eignes Merkmaal einer andern Sache iſt, ſondern
nur, daß es dieſer letztern zukomme, man dadurch
veranlaßt werden koͤnne, beyde etwas naͤher zu be-
trachten, und mit einander zu vergleichen, zumal,
wenn das Merkmaal etwas ſpeciales anzuzeigen ſcheint,
und folglich vermuthen macht, daß es nicht ſo haͤufig
vorkomme. Jn ſolchen Vermuthungen iſt man oͤf-
ters gluͤcklicher, als man es vorherſehen kann, weil
nicht ſelten Dinge einander naͤher angehen, als man
es voraus wiſſen koͤnnte. Man iſt daher in der Na-
turlehre ſchon auf die Behutſamkeit gefallen, eben
nicht ſogleich zu jeder neuen Wirkung eine neue Ma-
terie anzunehmen, weil man aus Beyſpielen weis,
daß einerley Materie unzaͤhlige Modificationen ha-
ben, und ſich in unzaͤhligen Geſtalten zeigen kann.
Jn vielen Faͤllen iſt es uns vollends unmoͤglich, die
Sache voraus zu wiſſen, und da kommt es ſchlech-
terdings auf das Verſuchen an. Scaliger befand
ſich in dem Fall. Er konnte leicht finden, daß die
Zuſammenſetzung des Sonnen- und Mondzirkels, und
der Roͤmer Zinszahl eine Periode von 7980 Jahren
geben wuͤrde. Daß aber der Anfang dieſer Periode
in eine ſo entfernte Zeit fiele, die allen Anfaͤngen der
nuͤtzlichſten Epochen vorgienge, und die Periode ſelbſt
noch ſobald nicht zum Schluß bringen wuͤrde, dieſes
hat gluͤcklich zugetroffen; allein es ließ ſich nicht
voraus ſehen, weil die Erfinder der Cyclen, die
Scaliger gebrauchte, und juſt die bekannteſten und
Lamb. Org. I. Band. E ege-
[434]IX. Hauptſtuͤck,
gebraͤuchlichſten ſind, an nichts wenigers, als an die
Julianiſche Periode gedacht hatten.
§. 678.
Die wiſſenſchaftliche Erkenntniß ſoll dienen, Er-
fahrungen uͤberfluͤßig zu machen, und folglich das,
was man noch erſt erfahren muͤßte, voraus zu be-
ſtimmen. (§. 604.) Dieſes muß demnach aus dem,
was man weis, und vorausſetzt, folgen, das vor-
ausgeſetzte mag nun entweder im ſtrengern Verſtande
a priori, oder aber mehr oder minder aus der Er-
fahrung ſeyn. Hier kommen wir nun zu der genauern
Unterſuchung des Unterſchieds der Titel, welche die
Mathematiker ſchon von laͤngſten Zeiten her uͤber
ihre Saͤtze zu ſchreiben gewohnt ſind, (§. 149 ſeqq.)
und zugleich zu der Theorie des Vortrags der wiſ-
ſenſchaftlichen Erkenntniß. Denn da in dem-
ſelben ein Begriff aus dem andern, ein Satz aus dem
andern, eine Aufgabe aus der andern folgen ſoll, ſo
iſt offenbar, daß dabey nicht jede Ordnung gleich-
guͤltig iſt, und daß, wenn man am ſtrengſten gehen
will, der Leſer durch die erſtgemeldten Titel immer er-
innert werde, woher man die Begriffe, Saͤtze,
und uͤberhaupt die Wahrheiten, die man ihm
vorſtellt, nimmt, und worauf er, um ſich da-
von zu verſichern, daß es Wahrheiten ſind, zu
achten habe. (§. 149—154. 156. 163. 164.)
§. 679.
Dieſe Ordnung beſteht demnach darinn:
- 1. Daß die Begriffe, die zur Erklaͤrung und
Beſtimmung der andern gebraucht werden
muͤſſen, vorhergehen, folglich die Grund-
begriffe, und unmittelbare Erfahrungs-
begriffe von den Lehrbegriffen, die daraus
zuſammengeſetzt und beſtimmt werden.
2. Sol-
[435]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
- 2. Sollen die Saͤtze, wodurch man andre be-
weiſt, beſtimmt, allgemein, oder auch
categoriſch macht, denſelben vorgehen.
Folglich die Grundſaͤtze und unmittelbare
Erfahrungsſaͤtze, den Lehrſaͤtzen, die dar-
aus folgen, oder dadurch feſtgeſetzt werden. - 3. Sollen eben ſo die Aufgaben, welche die Auf-
loͤſung und Ausuͤbung der andern moͤg-
lich und thunlich machen, dieſen vorgehen.
Demnach die Grundſaͤtze, Erfahrungs-
ſaͤtze ꝛc. den theoretiſchen, die Poftulata
oder Forderungen, den practiſchen Aufga-
ben, die davon abhaͤngen. - 4. Demnach ſoll uͤberhaupt das vorgehen, wo-
durch das Folgende beſtimmt, erweisbar
und thunlich gemacht wird.
Man kann hiebey die euclidiſchen Elemente, und uͤber-
haupt die meiſten Schriften der Mathematiker zu
Beyſpielen und Muſtern nehmen.
§. 680.
Wiefern nun dieſen Bedingungen immer Genuͤ-
gen geſchehen kann, iſt eine andre Frage. Sie for-
dern allerdings, daß die Wahrheiten in einer Reihe
an einandergehaͤngt werden, die gleichſam in gerader
Linie fortgehe, und man muß dabey vorausſehen koͤñen,
daß dieſe Linie, ſo weit ſie gezogen und verlaͤngert wird,
immer gerade fortgehe, damit man nicht unvermerkt
im Zirkel herum, und folglich wieder eben dahin kom-
me, wo man angefangen hat. Was dieſes ſagen will, und
was es auf ſich hat, werden wir nur noch unterſuchen.
§. 681.
Einmal in Anſehung der Begriffe und ihrer Er-
klaͤrung koͤmmt man im Zirkel herum, wenn man
A durch B, B durch C, C durch D etc. erklaͤrt, und
E e 2endlich
[436]IX. Hauptſtuͤck,
endlich in dieſer fortgeſetzten Erklaͤrung auf einen
Begriff M koͤmmt, den man wiederum durch A er-
klaͤrt. Ein ſolcher Zirkel iſt demnach deſto laͤnger, je
laͤnger die Reihe von Definitionen iſt, die uns endlich
wiederum auf das erſte Definitum A zuruͤckfuͤhrt,
und der unmittelbarſte oder kuͤrzeſte iſt, wenn ſchlecht-
hin A durch B, und B hinwiederum durch A erklaͤrt
wird.
§. 682.
Dieſes kann nun durch Verhaͤltnißbegriffe ge-
ſchehen, aber ohne dieſelben laͤßt es ſich nicht thun,
ohne daß in dem Zirkel offenbare Fehler ſeyn. Denn
wenn ein Begriff vermittelſt eines Verhaͤltniſſes durch
einen andern beſtimmt wird; ſo laͤßt ſich das Ver-
haͤltniß mehrentheils umkehren, und ſo kann hinwie-
derum der zweyte Begriff, durch den erſten beſtimmt
werden. Z. E. Ein Tag iſt eine Zeit von 24 Stun-
den. Dadurch iſt nun der Begriff eines Tages in ſo
fern beſtimmt, als der Begriff einer Stunde beſtimmt
iſt. Wollte man aber den Begriff einer Stunde
dadurch erklaͤren, daß ſie der 24ſte Theil eines Tages
ſey, ſo wuͤrde dieſe Erklaͤrung die erſtere im geringſten
nicht deutlicher machen, noch naͤher beſtimmen, weil
ſie nur umgekehrt eben das ſagt, was die erſtere.
§. 683.
Hingegen, wenn man bey der erſten Erklaͤrung
nicht Verhaͤltniſſe, ſondern die innern Merkmaale
gebraucht, und dieſe ferner durch ihre einfacheren Merk-
maale beſtimmt, ſo laͤßt ſich eines dieſer Merkmaale
nicht durch den ganzen Begriff definiren, weil derſelbe
noch mehr andre Merkmaale enthaͤlt, die folglich
davon abgezogen werden muͤßten. Da wir aber an
ſolche Subtractionen gar nicht gewoͤhnt ſind, ſo wuͤrde
eine ſolche Definition immer unnatuͤrlich ſcheinen, und
meh-
[437]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
mehrentheils darinn fehlen, daß ſie mehr enthaͤlt oder
enger iſt, als das Definitum. Z. E. Ein Triangel
iſt eine dreyſeitige Figur. Wollte man nun umge-
kehrt ſagen: eine Figur ſey ein undreyſeitiger Trian-
gel, ſo wuͤrde man kaum verſtehen, was man damit
ſagen will.
§. 684.
Man verfaͤllt leicht in einen Zirkel, wenn man
Begriffe, die an ſich einfach ſind, definiren will, weil
man ſolche Begriffe natuͤrlicher Weiſe gebraucht, um
zuſammengeſetzter zu definiren. Z. E. Der Raum
iſt die Ordnung der Dinge, die zugleich eriſtiren, und
außereinander ſind. Hier ſchließt der Begriff außer-
einander den Begriff des Raums bereits in ſich, und
wuͤrde ſich ohne Zirkel nicht wohl definiren laſſen.
§. 685.
Diejenigen Zirkel, ſo durch Verhaͤltnißbegriffe
entſtehen, haben auf die Wahrheit der Erklaͤrung
keinen nothwendigen Einfluß. Sie geben Saͤtze,
die identiſch ſind, aber nicht beyde zugleich als Defi-
nitionen angeſehen werden koͤnnen. Man muß dem-
nach unterſuchen, welcher von beyden als Definition
beybehalten werden kann, und ſo wird ſich der andre
als eine Folge daraus herleiten laſſen. So z. E.
wenn man ſagt: eine Stunde ſey der vier und zwan-
zigſte Theil eines Tages; ſo kann man allerdings
ſchließen, ein Tag muͤſſe folglich 24 Stunden haben,
oder er werde in 24 Stunden eingetheilt. Hingegen
wenn man definiren will, was ein Tag ſey, ſo muß es
durch die Zeit geſchehen, innert welcher die Sonne
einmal um den Himmel herum koͤmmt.
§. 686.
Da die Sprache nur eine gewiſſe Anzahl von
Woͤrtern hat, und die einfachen Begriffe ſich eben
E e 3des-
[438]IX. Hauptſtuͤck,
deswegen nicht weiter aufloͤſen laſſen, weil ſie einfach
ſind, ſo macht das erſtere die Anzahl der Definitio-
nen an ſich geringer, wenn man nicht endlich im Zirkel
herum kommen will, und das andre giebt gewiſſer
Maaßen an, wo man aufhoͤren ſoll zu definiren.
Hieruͤber iſt aber verſchiednes anzumerken. Denn
erſtlich iſt leicht zu begreifen, daß hier zwo Bedin-
gungen vorausgeſetzt werden, davon zu wuͤnſchen
waͤre, daß ſie durchaus und offenbar ſtatt haͤtten.
Naͤmlich die einfachen Begriffe ſollten uns ſaͤmmtlich
bekannt ſeyn, und jeder von allen Menſchen mit
einerley Namen benennt werden. Erſteres wuͤrde
die Definition des Begriffes, und letzteres die Anzeige,
was man durch jeden dieſer Namen verſteht, ent-
behrlich machen, und beydes wuͤrde bey der Zuſam-
menſetzung der Lehrbegriffe gute Dienſte thun. So
weit aber ſind wir noch nicht in allen Wiſſenſchaften
gekommen, und bis dermalen iſt nur noch z. E. die
Arithmetik, Geometrie, Phoronomie und Vernunft-
lehre der Aenderung der Zeit und des Orts, und der
Sprache wenig oder gar nicht unterworfen, und von
den einzeln Fehltritten, die etwann einer oder der
andre darinne aus Ueberſehen macht, unabhaͤngig.
Jn dieſen Wiſſenſchaften definiren ſich die
einfachern Begriffe dadurch, daß man die
Sache ſelbſt vorlegt, und da jeder ſie auf
dieſe Art kennen lehrt, ſo bleibt es nicht ſo
moͤglich, eines fuͤr das andre zu nehmen, als
in Dingen, wo man viel muß auf das Hoͤren-
ſagen ankommen laſſen, und wo die Begriffe
mit Nebenumſtaͤnden verflochten ſind.
§. 687.
Kann man aber das, was ein einfacher Begriff
vorſtellt, nicht anders als in Dingen vorlegen, oder
durch
[439]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
durch Dinge anzeigen, die zuſammengeſetzt ſind, ſo
kann auch leicht, wenigſtens dem Schein nach, ein
Zirkel im Definiren vorgehen, und dieſes iſt deſto
moͤglicher, wenn man nur einzelne Stuͤcke der Erkennt-
niß in eine Theorie zu bringen vornimmt. Denn da
laſſen ſich allerdings Erklaͤrungen machen, die ganz
anders angeordnet werden muͤßten, wenn man ein
ſolches Stuͤck der Erkenntniß mit einem ganzen Lehr-
gebaͤude in Zuſammenhang bringen wollte. Jn ein-
zeln Stuͤcken der Erkenntniß nimmt man Erfah-
rungsbegriffe an, welche in dem ganzen Lehrge-
baͤude als Lehrbegriffe muͤßten aus einfachern zu-
ſammengeſetzt und erwieſen werden. Man geht daher
nicht ſo ſtrenge a priori, und die Hauptſache koͤmmt
darauf an, daß die angenommenen Erfahrungs-
begriffe wirklich als ſolche angenommen wer-
den, das iſt, daß man die Erfahrungen auf-
weiſen koͤnne, aus welchen man ſolche Begriffe
hat, und bey welchen ſie ſich durch die un-
mittelbare Empfindung und das Bewußtſeyn
derſelben erlangen laſſen. Thut man dieſes, ſo
mag es in ſolchen einzeln Stuͤcken oder Fragmenten
der Erkenntniß angehen, daß man einfachere Begriffe
durch ihr Verhaͤltniß zu den zuſammengeſetztern be-
ſtimme, und folglich dieſe jenen vorgehen laſſe, unge-
achtet die ſtrengere Ordnung das Gegentheil erforderte.
Da man demnach hiebey eine groͤßere Auswahl be-
haͤlt, ſo iſt auch leicht zu begreifen, warum ſolche
Fragmente leichter in einen ihnen eignen Zuſammen-
hang, als aber in den Zuſammenhang eines ganzen
Lehrgebaͤudes gebracht werden koͤnnen. Da aber die
erſte Anlage dazu Erfahrungsbegriffe ſind, und meh-
rere darinn vorkommen, ſo fordern ſie deſto mehrere
Beweiſe a poſteriori. Man ſieht hieraus, wohin
E e 4das
[440]IX. Hauptſtuͤck,
das Auseinanderleſen, das wir oben (§. 617—632.)
angegeben haben, bey ſolchen Fragmenten dient, und
daß es deſtoweniger uͤberfluͤßig iſt, da wir in vielen
Wiſſenſchaften noch bey ſolchen Fragmenten zuruͤck-
bleiben, und an ein durchgaͤngiges Zuſammenhaͤngen
derſelben noch nicht denken koͤnnen. Ueberhaupt
ſind auch ſolche einzelne Fragmente, aber wo-
bey alles wohl auseinander geleſen, und auf
Erfahrungen geſetzt iſt, die man jedesmal vor
ſich erneuern kann, ungleich beſſer, als ganze
Theorien, die endlich bey naͤherer Betrachtung
nur im Zirkel herumfuͤhren, weil ſie die Erfah-
rung mehr als noch thunlich iſt, entbehrlich
machen wollen, oder die ſtatt richtig erwieſ-
ner und beſtimmter Lehrbegriffe, nur will-
kuͤhrlich zuſammengeſetzte oder Hypotheſen
angeben.
§. 688.
Was wir bisher von den Zirkeln im Erklaͤren
geſagt haben, gilt mit behoͤriger Aenderung auch von
den Zirkeln im Beweiſen. Dieſe kommen vor,
wenn A durch B, B durch C, C durch D etc. bewieſen
wird, und wobey man endlich auf einen Grund M
koͤmmt, den man wiederum durch A beweiſt. Sol-
che Zirkel ſind ebenfalls deſto laͤnger, durch je mehrere
Saͤtze man durchgeht, bis man wieder auf A zuruͤck
kommt. Und der kuͤrzeſte Zirkel iſt, wenn A durch
B, und B hinwiederum durch A erwieſen wird. Z. E.
Ein Triangel iſt gleichwinklicht, weil er gleichſeitig
iſt: Und er iſt gleichſeitig, weil er gleichwinklicht iſt.
§. 689.
Solche Zirkel kommen nun vor; und koͤnnen aus
lauter wahren Saͤtzen beſtehen, und in richtiger Form
ſeyn, wenn man identiſche Saͤtze dazu gebraucht.
Denn
[441]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
Denn ſo haben wir oben (§. 405. 406.) geſehen,
daß, wenn einer der Vorderſaͤtze in Barbara identiſch
iſt, der andre Vorderſatz vermittelſt deſſelben wie-
derum aus dem Schlußſatze hergeleitet werden koͤnne.
Wir haben aber zugleich auch (§. 404.) angemerkt,
daß man ſolche Saͤtze nicht dazu gebrauchen muͤſſe,
was wir nun hier einen Zirkel nennen, ſondern, daß
ſie einen ganz andern Gebrauch haben, auf den man
in der Naturlehre ſorgfaͤltiger zu ſehen hat, weil es
darinn ſehr leicht iſt, das, ſo man aus einer Erfahrung
erſt herleitet, ſodann zu gebrauchen, die Erfahrung
wiederum daraus zu beweiſen, zumal wenn der Satz
ſo bekannt wird, daß man unvermerkt vergißt, man
habe ihn der Erfahrung zu danken, die man dadurch
beweiſen will. Wie man aber mit Vermeidung der
Zirkel ſolche identiſche Saͤtze nuͤtzlich anwenden koͤnne,
davon iſt an angezognem Orte, (§. 404—422.) aus-
fuͤhrlich gehandelt worden.
§. 690.
Bey den Aufgaben kommen Zirkel vor: theils,
wenn man das Quaeſitum ſchon haben muͤßte, um
das Datum zu finden, theils, wenn man anſtatt zu-
reichender und unabhaͤngiger Datorum (§. 470.)
ſolche nimmt, die von einander abhaͤngen, (§. 669.)
theils auch, wenn man Aufgaben auf andre reducirt,
und bey der Aufloͤſung der letztern die erſte als auf-
geloͤſt annimmt. Jſt nun hiebey wiederum die Form
richtig, und die Saͤtze wahr, ſo findet man nur ſo
viel, daß ſolche Aufgaben in einer reciprocirlichen
Abhaͤnglichkeit ſind, und umgekehrt werden koͤnnen.
(§. 165.) Endlich, da ſich jede Aufgabe in einen
Satz verwandeln laͤßt, (§. 161.) ſo laͤßt ſich von
E e 5den
[442]IX. Hauptſtuͤck,
den Zirkeln bey denſelben eben das anmerken, was
wir vorhin von den Zirkeln im Beweiſen angemerkt
haben. Wir koͤnnen noch beyfuͤgen, daß man in der
Mathematik, beſonders bey Aufgaben, die ſich noch
nicht vollſtaͤndig aufloͤſen laſſen, die Abhaͤnglichkeit
der einen von der andern, und wenn es angeht, auch
dieſer von jener zu zeigen ſucht, ohne deswegen dieſe
Reduction (§. 437.) als eine vollſtaͤndige Aufloͤ-
ſung anzuſehen, welches eigentlich ein Zirkel waͤre.
§. 691.
Wir werden nun wiederum zu den Grundregeln
der Ordnung des wiſſenſchaftlichen Vortrages
(§. 379.) zuruͤckkehren, und bemerken, daß dieſelben
zwar uͤberhaupt dieſe Ordnung angeben, dabey aber
noch verſchiednes unbeſtimmt und unentwickelt laſſen.
Einmal iſt die Frage, wiefern man bey einer
Theorie vorauswiſſen koͤnne, wo man anzu-
fangen habe, damit ſodann das uͤbrige in die-
ſer Ordnung daraus folge? Dieſe Frage, die wir
zum Theil ſchon | oben (§. 623.) betrachtet haben,
wird ſich nach dem dermaligen Zuſtande der Wiſſen-
ſchaften fuͤglicher theilsweiſe beantworten laſſen, und
wir werden demnach mit Beyſpielen den Anfang
machen.
§. 692.
Jn der Geometrie hatte man die Lage und Laͤnge
der Linien in einer Figur, und konnte durch leichte
Proben (§. 610.) finden, daß nicht jede Lage
mit jeder Laͤnge zugleich beſtehen konnte. Man
ſuchte demnach den einfachſten Fall auf,
wobey die Moͤglichkeit nicht eingeſchraͤnkt
war.
[443]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
war. Und dieſes war derjenige, daß eine Linie
von jedem Punkt zu jedem andern gezogen und ver-
laͤngert werden koͤnne, und daß man um jeden Punkt
einen Zirkel von jeder Groͤße beſchreiben, oder wenig-
ſtens als gezogen ſich vorſtellen koͤnne. Giebt man
Eucliden dieſe beyde Poſtulata zu, ſo widerlegt er
jeden, der ihm die allgemeine Moͤglichkeit eines gleich-
ſeitigen Triangels in Zweifel ziehen wollte, dadurch,
daß er zeigt, wie man denſelben machen koͤnne. Da-
durch erhaͤlt er die Moͤglichkeit, jede Linie von ge-
gebener Laͤnge dahin zu ſetzen, wo man ſie gebraucht,
und dadurch die allgemeinen Symptomata der Trian-
gel und ihrer Moͤglichkeit zu beſtimmen. Auf eine
aͤhnliche Art faͤngt man in der Phoronomie bey der
einfoͤrmigen und geradlinichten Bewegung an, um
ihre Symptomata zu finden, und ſo dann geht man
zu denen Faͤllen, wo die Geſchwindigkeit einfoͤrmig
zunimmt, um auch hiebey Zeit und Raum mit ein-
ander zu vergleichen ꝛc.
§. 693.
Jn der Vernunftlehre nimmt man ebenfalls an-
fangs nur einzelne Begriffe und Merkmaale vor, um
ſie theils an ſich zu betrachten, theils mit einander zu
vergleichen, und nach dieſen wendet man ſich zu der
Betrachtung der Saͤtze, um ihre Arten zu finden, und
ſodann auszumachen, wiefern ſie als Vorderſaͤtze in
Schlußreden zuſammengenommen werden koͤnnen, und
wie ſelbſt die Schluͤße ſich zuſammenſetzen, und mit
einander verbinden laſſen.
§. 694.
Man wird aus dieſen Beyſpielen leicht den Schluß
machen, daß man bey dem einfachern, und bey dem,
was
[444]IX. Hauptſtuͤck,
was alle moͤglichen Beſtimmungen zulaͤßt, anfangen
muͤſſe. Denn es iſt fuͤr ſich klar, daß, wo das ein-
fach ere an ſich ſchon beſtimmt iſt, dieſe Beſtimmung
in dem zuſammengeſetzten nicht mehr willkuͤhrlich
bleiben, und eben ſo das, was in dem einfachen an
ſich ſchon unmoͤglich iſt, in dem Zuſammengeſetzten
nicht mehr moͤglich werden koͤnne. So z. E. wer-
den die drey Winkel eines geradlinichten Triangels
180 Gr. machen, und zwo ſeiner Seiten groͤßer
ſeyn als die dritte, man mag den Triangel allein,
oder als einen Theil einer groͤßern Figur betrachten.
Die Graͤnzen der Beſtimmungen und der Moͤglich-
keit werden in dem zuſammengeſetzten immer enger,
als ſie in dem einfachen ſind, aber wie weit ſie in
dem einfachen an ſich betrachtet gehen, das laͤßt ſich
allerdings fuͤglicher finden, wenn man alles Fremde,
ſo in der Zuſammenſetzung erſt hinzukoͤmmt, weg-
laͤßt, und daher das einfache fuͤr ſich vornimmt.
§. 695.
So haben wir auch (§. 661.) bereits ſchon an-
gemerkt, daß man ſich oͤfters begnuͤgen kann, bey
der bloßen Moͤglichkeit eines Begriffes anzufangen,
ohne noch vorauszuwiſſen, wie weit ſie ſich erſtrecke,
und wiefern die Merkmaale, die ihm in einem ge-
wiſſen Fall zukommen, in jeden Faͤllen, und mit
welchen andern Beſtimmungen ſie demſelben zu-
kommen koͤnnen. Z. E. Ein einiger Triangel iſt
genug, uns den Begriff zu geben, daß Triangel
moͤglich ſind, wiefern ſie aber moͤglich ſind, das laͤßt
ſich aus der naͤhern Betrachtung ausmachen, da
man ſucht, wiefern ſeine Seiten und Winkel eine
Abwechslung zulaſſen. Jn den Euelidiſchen Ele-
menten
[445]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
menten der Geometrie findet ſich eine gute Menge
von Saͤtzen, die eigentlich nur da ſind, um die
Graͤnzen der Moͤglichkeit der Figuren veſtzuſetzen,
die in den Definitionen noch ganz unbeſtimmt
blieb.
§. 696.
Das bishergeſagte (§. 692 ſeqq.) betrifft Bey-
ſpiele, die an ſich ſchon auf ihre einfachen Grund-
begriffe gebracht ſind, (§. 658. 662.) Was aber in
den meiſten Faͤllen die Schwierigkeit groͤßer macht,
ſind die vorhin (§. 686.) angefuͤhrten zwo Bedin-
gungen. Denn die einfachen Begriffe, die die
Grundlage zu Lehrbegriffen ſeyn ſollen, ſind uns
noch nicht ſo durchaus bekannt, und in Anſehung
ihrer Benennung muͤſſen wir uns faſt durchaus nach
dem eingefuͤhrten Gebrauch zu reden richten, und
die gewoͤhnliche Bedeutung der Woͤrter annehmen.
(§. 648. 103. 34.) Jndeſſen iſt letzteres nur in
ſo fern nothwendig, als wir andern verſtaͤndlich
werden, und ſie nicht in die Nothwendigkeit ſetzen
wollen, fuͤr unſre Ausdruͤcke ein beſondres Woͤr-
terbuch zu machen. Und auch dieſes wird nicht
immer ganz vermieden. Die Markſcheider haben
bey ihrer Geometrie andre Namen, als die eigent-
lich geometriſchen. Euclid, die Coſſiſten, und
die heutigen Analyſten ſind gleichfalls in den
Worten unterſchieden, und wenn man die Regel
von der Aufloͤſung einer Gleichung vom dritten
Grad bey dem Cardan lieſt, der ſie zuerſt bekannt
gemacht hat, ſo muß man entweder die Sprache
der damaligen Coßiſten ſonſt verſtehen, oder aus
Betrachtung der Sache ſelbſt ausmachen, was
Car-
[446]IX. Hauptſtuͤck,
Cardan eigentlich ſagen will. Auf gleiche Art fand
ſichs, daß Newtons Fluxionen und Leibnitzens
Jntegralien einerley Sache anzeigten. Und es traͤgt
ſich bey Streitigkeiten nicht ſelten zu, daß man
mehr in den Worten als in der Sache von einander
abgeht, und erſt findet, daß man beyderſeits einer-
ley behauptet, nachdem man ſich in Anſehung der
Worte erklaͤrt hat. Die Streitigkeiten vor und
wider die Vernunft, da man ſie bald als ein Er-
kenntnißvermoͤgen, bald als den Jnnbegriff zuſam-
menhaͤngender Wahrheiten genommen, bald auch
den wahren Zuſammenhang mit dem bloß ſcheinbaren
vermengt hat, moͤgen zum Beyſpiel dienen.
§. 697.
Da man demnach in den Woͤrtern eins ſeyn muß,
um andern verſtaͤndlich zu bleiben, ſo mag es hin-
gegen angehen, daß, wo man ſich mit der bloßen
Vorſtellung der Sache begnuͤgen will, dieſe Schwuͤ-
rigkeit in ſofern wegfalle. Es giebt auch in der
That ſolche Faͤlle, wo man der Sache zu Gefallen
den oͤfters ſehr willkuͤhrlichen Umfang der Bedeu-
tung eines Wortes (§. 103.) aͤndern kann.
(§. 34. 38.) Dieſes geht beſonders an, wo eine
genauere Eintheilung den Begriffen der Arten einen
andern Umfang giebt, als die bisher dabey ge-
brauchten Woͤrter hatten. Auf dieſe Art hat
Leibnitz die Carteſiſche Eintheilung der krummen
Linien geaͤndert, da er geſehen, daß ſie ſich fuͤgli-
cher und brauchbarer in algebraiſche und tranſcen-
dente, als aber in geometriſche und mechaniſche un-
terſcheiden laſſen.
§. 698.
[447]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
§. 698.
Wir haben auch bereits ſchon (§. 631. 632.)
angezeigt, wie man durch ein vollſtaͤndiges Ausein-
anderſetzen verwandter Begriffe und ihrer Benen-
nungen, dem Mißverſtande in den Worten zuvor-
kommen koͤnne, welches allerdings nothwendig iſt,
wenn man ſeine Entdeckungen andern mittheilen
und gemeinnuͤtzig machen will. Dahin dient auch,
wenn man die Sache ſelbſt vorzeigen, oder einen
Grundriß, Profil, Zeichnung, Proſpect, perſpecti-
viſche Vorſtellung davon machen kann, wie dieſes
in der Naturlehre, Mechanik, Anatomie, Natur-
hiſtorie ꝛc. bereits ſchon eingefuͤhrt iſt, und Comenius
es in ſeinem Orbe picto, zum Behufe der Lehrlinge,
laͤngſt ſchon gethan. Eine zuſammengeſetzte Farbe
durch die Vermiſchung der priſmatiſchen, oder
auch bekannter natuͤrlicher Farben, deren Ver-
haͤltniß angezeigt wird, einen gewiſſen Thon durch
die Ausmeſſung einer Orgelpfeife oder Saite, die
Laͤnge eines Maaßes durch die Laͤnge des Secun-
denpenduls und Polhoͤhe, ein Gewicht durch die
ſpecifiſche Schwere des Waſſers und deſſen Waͤrme,
die Waͤrme ſelbſt durch den Grad des Thermome-
ters, die Geſchwindigkeit durch die Hoͤhe des Falles,
eine Kraft durch den Druck eines Gewichtes ꝛc.
beſtimmen, ſind Mittel, wodurch man andre in
Stand ſetzt, eine Erkenntniß ſo determinirt zu er-
langen, als wir ſie ſelbſt haben, und die man in
der Naturlehre ſucht immer noch weiter zu treiben,
und ſie gewiſſer, vollſtaͤndiger, zahlreicher und be-
quemer zu machen, weil es viel auf ſich hat, wenn
man etwas auf abſolute Zahlen bringen, und andern
an-
[448]IX. Hauptſtuͤck,
anzeigen kann, wie ſie zu den Begriffen gelangen
koͤnnen, die man ihnen durch bloße Benennungen
weder klar noch beſtimmt genug angeben koͤnnte.
Aus gleichem Grunde giebt man die Beobachtungen
und Verſuche mit den dazu noͤthigen Cautelen um-
ſtaͤndlich an, damit die Leſer nicht nur das Verfah-
ren dabey beurtheilen, ſondern da, wo es um
Begriffe zu thun iſt, die Beobachtung, oder den
Verſuch ſelbſt anſtellen und wiederholen koͤnnen.
§. 699.
Solche Mittel dienen nun allerdings, wo man
zu zeigen hat, daß die Begriffe, worauf man eine
Theorie gruͤndet, Erfahrungsbegriffe ſind, weil der
Leſer dadurch in Stand geſetzt wird, ſie ſelbſt zu
erlangen. Man verhuͤtet dadurch, daß ſolche Be-
griffe nicht als willkuͤhrliche oder erbettelte,
ideae precariae, angeſehen werden, die man etwann
dem Leſer ohne fernern Beweis aufdringt, oder hoffet,
er werde ſie ohne Beweis gelten laſſen.
§. 700.
Es iſt ſchwer zu beſtimmen, wie weit man hier-
inn gehen ſoll, oder auch gehen koͤnne? Die Spra-
chen ſind bereits eingefuͤhrt, und die Woͤrter an
Begriffe gebunden, die mehr oder minder richtig
oder unrichtig ſind. Und da man, um ein Wort
zu erklaͤren, zehen und mehr andre gebraucht, ſo
ſcheint es, als wenn bey unſern Erklaͤrungen ein
logiſcher Zirkel ſtatt habe, der ſich nicht wohl ver-
meiden laſſe, wenn man in der Anforderung, jede
Woͤrter und Begriffe zu erklaͤren, ſtrenge geht.
(§. 686.) Allein dieſe Schwuͤrigkeit will nicht mehr
ſagen,
[449]von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
ſagen, als daß wir die Worte nicht allein nehmen,
ſondern ſie mit den Sachen und Begriffen verbin-
den ſollen, und daß wir die Woͤrter, die eine fixe
Bedeutung haben, von denen, wo die Bedeutung
unbeſtimmt und veraͤnderlich iſt, unterſcheiden, und
erſtere zum Grunde legen muͤſſen Daß es aber
Woͤrter von fixer Bedeutung gebe, erhellet theils aus
der Geometrie, Phoronomie, Vernunftlehre ꝛc.
theils auch ſelbſt aus dem gemeinen Leben, und man
kann alle die nehmen, deren Aenderung die Aende-
rung der Sprache nach ſich zieht. Ueberdies macht
die Vergleichung der Woͤrter mit der Sache, daß,
wenn auch ein Zirkel im Erklaͤren mit unterlaufen
wuͤrde, dieſes der Wahrheit ohne Nachtheil geſche-
hen koͤnne, wenn nur die Verhaͤltniſſe, die bey ſol-
chen Zirkeln vorkommen, wenigſtens als Erfahrungs-
begriffe dargelegt werden, wie wir dieſes bereits
ſchon (§. 687.) erinnert haben. Man kann noch aus
dem erſten Hauptſtuͤcke (§. 51. 60.) hier mit anmerken,
daß man bey Theorien nicht bloß die Abſicht hat, einen
Begriff oder eine Sache nur kenntlich zu ma-
chen, welches man, wo ein klarer, aber dabey noch
confuſer Begriff zureicht, oͤfters vorausſetzen kann,
ſondern, daß dabey die Frage iſt, den wahren Um-
fang des Begriffes zu beſtimmen, welches zwar
an ſich mehr Genauigkeit und Vollſtaͤndigkeit erfor-
dert, aber dagegen einen ſcheinbaren oder auch wirk-
lichen Zirkel im Definiren in ſofern zulaͤßt, daß
jede Definition fuͤr ſich ein Erfahrungsbegriff ſey.
Jn ſofern iſt es auch zulaͤßig, ein Wort, das eine
fixe Bedeutung hat, und dem ein bereits bekannter
klarer Begriff entſpricht, zu gebrauchen, ehe man
daſſelbe definirt, und ſelbſt die Definition ganz weg-
Lamb. Org. I. Band. F fzu-
[450]IX. Hauptſt. von der wiſſenſch. Erkenntniß.
zulaſſen, wo man den Begriff nicht zum Hauptge-
genſtande der Betrachtung macht, und wo man folg-
lich ſeinen Umfang genau, und durch die Verglei-
chung mit ſeinen verwandten Begriffen, (§. 631.
634.) zu beſtimmen, nicht noͤthig hat. Dieſes
Verfahren iſt zwar nicht geometriſch, wir haben
aber in den meiſten andern Wiſſenſchaften die ein-
fachern Begriffe noch nicht ſo nett ausgeleſen, daß
man bey dieſen anfangen, und aus denſelben einen
Lehrbegriff nach dem andern zuſammenſetzen und
erweiſen koͤnnte. Denn waͤre dieſes, ſo waͤren wir
auch nicht mehr ſo an die Woͤrter gebunden, und
koͤnnten, wie in der Algeber, ſtatt derſelben, wiſſen-
ſchaftliche Zeichen annehmen, und die ganze Er-
kenntniß auf eine demonſtrative Art figuͤrlich ma-
chen. (§. 114. 173.)
Ale-
[[451]]
Alethiologie
oder
Lehre
von
der Wahrheit.
Ff 2
[[452]][[453]]
Alethiologie.
Erſtes Hauptſtuͤck.
Von
den einfachen oder fuͤr ſich gedenkbaren
Begriffen.
§. 1.
Nach der Betrachtung der Geſetze des Denkens,
und der einfachern Wege, durch die man von
einer Wahrheit zur andern kommen kann, wer-
den wir nun die Wahrheit ſelbſt oder an ſich betrach-
ten, um zu ſehen, welche Merkmaale und uͤberhaupt
welchen Stoff ſie uns zur Beurtheilung und Erwei-
terung unſrer Erkenntniß angiebt. Die Geſetze des
Denkens ſind von der Art, daß ſie uns durch einerley
Wege von Wahrheit zu Wahrheit, und von Jrrthum
zu Jrrthum leiten. Sie zeigen, wie man gehen ſoll,
und laſſen hingegen unbeſtimmt, wo man anzufangen
hat, weil ſie nur die Form angeben, die Materie aber
als eine Bedingung vorausſetzen. Um ſich hievon zu
verſichern, darf man nur fuͤr die Begriffe, ſo man
Ff 3in
[454]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
in einfachen und zuſammengeſetzten Schluͤſſen ge-
braucht, Buchſtaben oder andre ganz willkuͤhrliche
Zeichen annehmen, und dadurch alles, was bey Schluͤſ-
ſen Materie heißt, unbeſtimmt laſſen; ſo wird man
leicht finden, daß man vorausſetzt, dieſe Zeichen muͤſ-
ſen ſolche Begriffe vorſtellen, bey welchen die Form
ſtatt haben koͤnne. Wir haben in dem vierten und
beſonders in dem fuͤnften Hauptſtuͤck der Dianoiologie
ſolche Formeln gegeben, und wenn man z. E. die, ſo
wir (§. 313.) aus der Formularſprache in eine fließen-
dere Ordnung gebracht haben, betrachtet, ſo wird
man leicht finden, daß ſie der Form nach allerdings
ſchluͤßig iſt, hingegen aber fuͤr die Buchſtaben A, G,
H, I, K, L, M, N, P, Q, R, B, welche Begriffe vor-
ſtellen, nicht jede Begriffe geſetzt werden koͤnnen, wenn
anders Wahrheit herauskommen ſoll. Die Be-
dingungen, welche die Theorie der Form vorausſetzt,
muͤſſen folglich einmal categoriſch werden, das will
ſagen: Man muß ſich verſichern, daß das, wobey
man anfaͤngt, wahr ſey, damit die Wege, die uns
ſonſt auch von Jrrthum zu Jrrthum fuͤhren koͤnnen,
wie dieſes bey der Deductione ad abſurdum geſchieht,
(Dianoiol §. 348 — 371.) uns von Wahrheit zu
Wahrheit fuͤhren.
§. 2.
Hiezu wird nun vor allem erfordert, daß in den
Begriffen an ſich betrachtet, nichts widerſprechendes
ſey, damit man nicht etwann runde Vierecke, krumm-
gerade Linien, Dinge, die geſtern geſchehen werden,
und dergleichen Ungereimtheiten gleich anfangs in die
Begriffe menge. Wir haben ſchon (Dianoiol. §. 66.
67.) angemerkt, daß wenn in einem Begriffe etwas
Widerſprechendes iſt, es durch die genauere Entwi-
ckelung deſſelben koͤnne gefunden werden, und eben
ſo
[455]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
ſo haben wir auch (§. 620. l. c.) angezeigt, wie ſich
ſolche Diſſonanzen durch eine dazu dienende Uebung
leichter und geſchwinder bemerken laſſen. Und da
wir in der Alethiologie die Harmonie der Wahrheiten
deutlicher zu entwickeln ſuchen werden, ſo wird auch
dieſes dazu nuͤtzliche Dienſte thun. (§. cit.)
§. 3.
Jndeſſen ſind dieſe Mittel eben noch nicht die, ſo
wir eigentlich zu ſuchen haben. Denn einmal, wenn
man auch findet, daß in einem Begriffe etwas Wi-
derſprechendes war; ſo findet man zwar, daß er nicht
angehe. Damit haben wir aber die, ſo wirklich an-
gehen, noch nicht, und dieſe ſind dadurch auch noch
nicht kenntlich gemacht. Sodann, wenn auch durch
eine ſchickliche Aenderung in der Zuſammenſetzung
des Begriffes der bemerkte Widerſpruch kann gehoben
werden, ſo wird dadurch noch nicht ausgemacht, ob
keine mehr zuruͤck bleiben, oder ob wir durch die Aen-
derung ſtatt des erſten Widerſpruches nicht einen
neuen einfuͤhren? Die Hypotheſen, wodurch man
in der Naturlehre geſucht hat, den Urſprung der
Quellen und Fluͤſſe zu erklaͤren, ingleichen die vielen
Theorien der Carteſiſchen Wirbel, moͤgen als Beyſpiele
dienen, daß man oͤfters, um eine Schwuͤrigkeit zu he-
ben, eine oder mehr neue annimmt, ohne es gleich
einzuſehen.
§. 4.
Da ſich die Moͤglichkeit der Widerſpruͤche mit der
Anzahl von Beſtimmungen vermehrt, die in einem
Begriffe beyſammen ſind, ſo iſt unſtreitig, daß ſie
deſto geringer wird, je weniger ein Begriff zuſam-
mengeſetzt iſt, und daß ſie bey ganz einfachen Begrif-
fen vollends aufhoͤre. Wir haben bereits ſchon (Dia-
noiol. §. 654. ſeq.) angemerkt, daß zum Widerſpre-
F f 4chen
[456]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
chen wenigſtens zwey Merkmaale oder Beſtimmun-
gen erfordert werden, und folglich in einem ganz ein-
fachen Begriffe kein Widerſpruch ſeyn koͤnne, weil er
einfach iſt.
§. 5.
Die naͤchſte Folge, die ſich daraus ziehen laͤßt,
iſt, daß wenn man ſich a priori verſichern will, daß
ein Begriff nichts Widerſprechendes habe, und daher
ein realer und moͤglicher Begriff ſey, man muͤſſe zei-
gen koͤnnen, daß er auf eine zulaͤßige Art aus einfa-
chen Begriffen zuſammengeſetzt ſey. Dieſe Forderung
macht die genauere Unterſuchung der einfachen Be-
griffe nothwendig. Wir haben in der Dianoiologie
die Moͤglichkeit dieſer Begriffe nur noch in ſofern be-
trachtet, als wir annehmen konnten, es muͤſſe einfa-
che Begriffe geben, weil es zuſammengeſetzte giebt,
weil dieſe eben deswegen zuſammengeſetzt heißen.
§. 6.
Dieſer Satz will aber, nach aller Strenge ge-
nommen, noch nicht mehr ſagen, als daß ein Be-
griff vergleichungsweiſe einfacher ſeyn koͤnne, als ein
andrer. Ob aber ein Begriff, ſo einfach er auch
ſeyn mag, ſich nicht immer in noch einfachere aufloͤ-
ſen laſſe, iſt eine ganz andre Frage, die mit der Fra-
ge von der Theilbarkeit der Materie eine gewiſſe Aehn-
lichkeit hat, aber auch mehr oder minder davon ver-
ſchieden iſt.
§. 7.
Wenn wir aber indeſſen annehmen, daß es ſolche
einfache Begriffe gebe, ſo werden ſich verſchiedene
Requiſita derſelben daraus herleiten laſſen, die uns
der Eroͤrterung dieſer Frage naͤher bringen. Wir
haben deren einige bereits ſchon in der Dianoiologie
ange-
[457]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
angezeigt. (§. 653. ſeqq.) Hier aber iſt der Ort, ſie
zum Hauptgegenſtande der Betrachtung zu machen.
§. 8.
Wir nehmen daher anfangs weiter nichts an, als
daß ſolche einfache Begriffe nicht aus Merkmaalen
oder Beſtimmungen zuſammengeſetzt ſind. Da ſie
nun eben deswegen nichts Widerſprechendes in ſich
haben koͤnnen, ſo ſind ſie fuͤr ſich moͤglich, (§. 4.) und
die bloße Vorſtellung derſelben verſichert uns davon.
(Dianoiol. §. 654.)
§. 9.
Da ſie ferner nicht aus innern Merkmaalen zu-
ſammengeſetzt ſind, ſo ſind ſie nothwendig ſich ſelbſt
ihr Merkmaal, und ihre Vorſtellung, in ſofern wir
von allen Verhaͤltniſſen abſtrahiren, dringt uns eine
unumgaͤngliche Einfoͤrmigkeit auf, ſo, daß wir nicht
nur nichts darinn finden, das ſich unterſcheiden ließe,
ſondern daß es an ſich unmoͤglich iſt, etwas verſchie-
denes darinn zu finden.
§. 10.
Da demnach die Moͤglichkeit einfacher Begriffe
ſchlechthin auf ihrer Gedenkbarkeit beruht, (§. 8.)
ſo gilt von denſelben im ſtrengſten Verſtande, was
man in der Metaphyſik von den Begriffen und Moͤg-
lichkeiten uͤberhaupt angenommen, daß naͤmlich alles
an ſich Gedenkbare moͤglich ſey, und hinwiederum.
Denn bey zuſammengeſetzten Begriffen muß man ſich
bewußt ſeyn, daß ſie nichts Widerſprechendes haben,
bey einfachen aber faͤllt dieſe Beſorgniß fuͤr ſich weg.
Uebrigens iſt klar, daß die Gedenkbarkeit hier eigent-
lich ein idealer Verhaͤltnißbegriff (§. 95. Dianoiol.)
iſt. Wir muͤſſen aber ſolche Verhaͤltnißbegriffe auf-
ſuchen, weil wir in den einfachen Begriffen ſelbſt
Ff 5nichts
[458]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
nichts mannichfaltiges oder verſchiedenes finden koͤn-
nen, eben deswegen, weil ſie einfach ſind.
§. 11.
Wir merken ferner an, daß das, ſo ein einfacher Be-
griff vorſtellt, ebenfalls nichts mannichfaltiges zeigt, da-
gegen aber dem einfachen in dem Begriffe ohne Nach-
theil an Groͤße und Graden verſchieden ſeyn kann.
Man wird hierinn den Begriff der Homogeneitaͤt
oder Gleichartigkeit, oder Einartigkeit in ſeiner
aͤußerſten Schaͤrfe finden. Denn zuſammengeſetzte
Dinge werden homogen oder gleichartig genennt,
wenn ein jeder Theil deſſelben fuͤr jeden andern von
gleicher Figur und Groͤße geſetzt werden kann, ohne
daß das Ganze dadurch veraͤndert werde, indem
naͤmlich alles uͤbrige, wodurch ſich die Theile
koͤnnten unterſcheiden laſſen, durchaus einerley iſt.
Um deſto mehr wird dieſe Homogeneitaͤt ſtatt haben,
wo die Sache das iſt, was ein einfacher Begriff
vorſtellt.
§. 12.
Da demnach der Unterſchied der Groͤße und der
Grade dem einfachen eines Begriffes keinen Eintrag
thut, ſo iſt klar, daß ſolche Begriffe eben nicht noth-
wendig etwas unendlich Kleines vorſtellen muͤſſen,
welches folglich eben deswegen von uns nicht koͤnnte em-
pfunden werden, weil es unendlich klein iſt. Will man
die Begriffe der Ausdehnung und der Exiſtenz
als ſolche einfache Begriffe anſehen, ſo wird das, was
der erſtere vorſtellt, der Groͤße nach unendlich viele
Stufen haben, und der andre wird Stufen leiden,
in ſofern mehr oder minder Dinge als exiſtirend be-
trachtet werden, und in ſofern die Exiſtenz groͤßere
oder kleinere Dauer hat; hingegen hat die Exiſtenz
keine Gradus intenſitatis, weil etwas nicht mehr oder
minder
[459]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
minder eriſtent iſt. Jn dieſer letzten Abſicht iſt dem-
nach die Exiſtenz eine abſolute Einheit, die aber nicht
hindert, daß eine exiſtirende Sache nicht in andern
Abſichten Grade haben koͤnne, z. E. in Abſicht auf
die Groͤße, Kraͤfte, Zahl der Theile, Dauer ꝛc.
§. 13.
Da ferner einfache Begriffe nicht zuſammenge-
ſetzt ſind, und daher nicht aus mehrern innern Merk-
maalen beſtehen, ſo haben ſie auch keine gemeinſame
innere Merkmaale. Denn jeder iſt ſich ſelbſt ſein
inneres Merkmaal. (§. 9.) Wenn demnach zween
oder mchrere einfache Begriffe gemeinſame innere
Merkmaale haͤtten, ſo waͤren ſie entweder nicht ein-
fach oder nicht von einander verſchieden. Beydes
ſtoͤßt die Vorausſetzung um, folglich koͤnnen einfache
Begriffe kein gemeinſames inneres Merkmaal haben.
Hiebey iſt wohl zu merken, daß man innere Merk-
maale von bloßen Verhaͤltniſſen zu unterſcheiden
hat. Denn ſo kommen alle einfache Begriffe darinn
uͤberein, daß ſie einfach ſind, daß ſie Begriffe ſind,
daß ſie ſich gedenken laſſen, daß ſie fuͤr ſich nichts Wi-
derſprechendes in ſich haben ꝛc. Aber dieſes alles ſind
ſchlechthin nur ideale Verhaͤltniſſe, die aus der Be-
trachtung und Vergleichung dieſer Begriffe herruͤh-
ren, und dergleichen wir hier eigentlich aufſuchen.
(§. 10.)
§. 14.
Da die einfachen Begriffe nicht aus innern Merk-
maalen zuſammengeſetzt ſind, ſo laſſen ſie ſich auch
nicht durch ſolche anzeigen. Demnach bleiben ſie
ſchlechterdings klar. (§. 653. Dianoiol.) Dieſe Klar-
heit in ihrer Vorſtellung kann nun allerdings viel
Stufen haben, je nachdem ſie ſtaͤrkern Eindruck
macht, und wir uns derſelben mehr bewußt ſind.
Man-
[460]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
Mangelt ſie aber vollkommen, ſo fehlt uns nicht nur
der einfache Begriff an ſich betrachtet: ſondern es
bleibt auch in allen denen zuſammengeſetzten, in wel-
chen er mit vorkoͤmmt, nothwendig eine Luͤcke. Auf
dieſe Art haben Blinde gar keinen Begriff von den
Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall ꝛc.
Und wenn man annimmt, daß es innere Empfin-
dungen giebt, wie z. E. Dichter gewiſſe feinere Em-
pfindungen von der Schoͤnheit, dem ruͤhrenden in den
Gedanken, von gewiſſen Grazien ꝛc. haben, ſo iſt
es auch moͤglich, daß ſolche Empfindungen und was
daher ruͤhrt, bey einigen ganz mangeln. Man iſt
geneigt zu glauben, daß viele von dieſen Feinheiten
und Grazien ſich eben ſo wenig als die Farben durch
innere Merkmaale erklaͤren laſſen, und daß man
ſchlechthin durch die Empfindung einen Begriff da-
von haben koͤnne.
§. 15.
Ohne uns aber dabey aufzuhalten, ob es ſolche
innere Sinnen gebe, ſo merken wir in Anſehung der
aͤußern an, daß die klaren Begriffe, die wir dadurch
erlangen, von der Art ſind, daß ſie, wenigſtens ſo
lange wir wachen, nicht anders als durch die Erneue-
rung der Empfindung ſelbſt wieder erregt werden,
und in dieſer Abſicht iſt uns im Traume moͤglich, was
wir wachend nicht thun koͤnnen. So wiſſen wir z.
E. daß eine Roſe roth iſt, daß dieſe rothe Farbe ge-
wiſſe Nuances und Stufen hat, daß ſie von der ro-
then Farbe andrer Blumen und Dinge mehr oder
minder verſchieden iſt, wir koͤnnen auch noch ziemlich
beurtheilen, ob ſie in Gemaͤlden getroffen iſt, oder
nicht ꝛc. aber das Bild oder den eigentlich klaren Be-
griff der Farbe erreichen wir wachend mit aller An-
ſtrengung der Einbildungskraft nicht, ungeachtet es
im
[461]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
im Traume, weil die Sinnen ruhen, moͤglich iſt. Es
bekraͤftigt dieſes den Satz, daß die ſtaͤrkern Empfin-
dungen und daher ruͤhrenden Vorſtellungen die ſchwaͤ-
chern unterdruͤcken, und daß demnach die wirklichen
Empfindungen zu der Vorſtellung eines ſolchen Be-
griffes an ſich nicht nothwendig ſind.
§. 16.
Wir betrachten ferner hier die klaren Begriffe, ſo
wir durch die Sinnen erlangen, nicht in Abſicht auf
die Werkzeuge der Sinnen, in welchen allerdings
zuſammengeſetzte Bewegungen und Veraͤnderungen
vorgehen, ſondern in ſofern ſolche Begriffe in der
Seele ſind, folglich ſofern es Begriffe ſind. Jn die-
ſer Abſicht findet ſich etwas einfaches darinn, und ih-
re Gedenkbarkeit gehoͤrt mit zu der Natur eines den-
kenden Weſens. Es iſt daher an ſich moͤglich, daß
ein denkendes Weſen ſich ſolche Begriffe ohne die
Veranlaſſung der Sinnen vorſtellen koͤnne. Warum
es aber bey uns nicht angeht, laͤßt ſich allerdings dar-
aus erklaͤren, daß wir Empfindungen haben, die
nicht zulaſſen, daß wir uns ſchwaͤcherer Vorſtellun-
gen bewußt ſeyn koͤnnen, wenn dieſe nicht bereits ein-
mal durch Empfindungen lebhaft worden ſind. Un-
geachtet wir demnach ſolche Begriffe durchaus a po-
ſteriori haben, ſo iſt es doch eigentlich nur das Be-
wußtſeyn derſelben, und es laͤßt ſich nicht daraus
ſchließen, daß die Begriffe ſelbſt nicht an ſich ſchon
in der Seele ſollten ſeyn koͤnnen, ehe bey uns das
Bewußtſeyn derſelben durch die Empfindung veran-
laßt wird.
§. 17.
Es ſcheint, daß die Begriffe der Figuren weniger
von den Empfindungen abhaͤngen, als die Begriffe
der Farben, des Schalls, der Haͤrtigkeit der Waͤr-
me ꝛc. Es iſt aber der Unterſchied nicht ſo groß,
als
[462]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
als es uns vorkoͤmmt. Man wird bey genauerer
Aufmerkſamkeit finden, daß wir uns wachend keine
Figur mit einem male deutlich vorſtellen, ſondern
ſogleich wir dieſes thun wollen, dem Umriß der Figur
in Gedanken nachfahren, bis wir ganz herum ſind.
Demnach wird uns die Vorſtellung der Figur dadurch
leichter, weil dazu nichts als eine Bewegung, oder
wenigſtens die Vorſtellung derſelben erfordert wird,
und auf dieſe Art ſtellen wir uns die Figur vor, un-
gefehr als wenn wir ſie zeichnen wollten. Der Un-
terſchied zwiſchen Figuren und Farben beſteht dem-
nach darinn, daß die Bewegung oder die Vorſtellung
derſelben in unſrer Gewalt iſt, und gemeiniglich bey-
des zuſammen trifft, es ſey, daß wir nur die Augen
wenden, oder mit der Hand uns das Bild der Figur
gleichſam vorzeichnen ꝛc. Hingegen in Anſehung der
Farben muͤſſen wir wirklich Farben gebrauchen, um
ſodann zu beurtheilen, ob wir dieſe ſo miſchen koͤnnen,
daß ſie die verlangte Aehnlichkeit mit der Farbe der
Sache haben. Beydes fordert eine Uebung, und
beydes, naͤmlich ſowohl den Umriß als die Farbe, muͤſ-
ſen Maler treffen koͤnnen. Demnach fordern ſowohl
die netten Begriffe der Figuren als der Farben bey
uns ein Huͤlfsmittel, nur daß wir dieſes bey den
Figuren unmittelbarer bey Handen haben, als bey
den Farben. Jm Traume aber ſtellen wir uns Figur
und Farbe, und uͤberhaupt alles empfundene ohne ſol-
che Huͤlfsmittel klar und individual vor, welches noch-
mals eine Anzeige iſt, daß uns im Wachen andere
ſtaͤrkere Empfindungen an ſolchen Vorſtellungen hin-
dern.
§. 18.
Den Begriff des Druckes, des Widerſtandes,
und daher auch den Begriff der bewegenden Kraft
haben
[463]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
haben wir durch das Gefuͤhl unmittelbar, und unge-
achtet dieſe Empfindung einen gewiſſen Grad haben
muß, wenn wir uns derſelben ſollen bewußt ſeyn,
ſo liegt doch in dieſen Begriffen etwas einfaches, wel-
ches wir durch Schluͤſſe auch da finden, wo wir dieſe
Begriffe nicht durch eine unmittelbare Empfindung
haben koͤnnen. Auf dieſe Art eignen wir uͤberhaupt
der Materie die Undurchdringbarkeit, die Vim iner-
tiae, die natuͤrliche Ruhe, die Nothwendigkeit, daß
ſie muͤſſe in Bewegung geſetzt werden, wenn ſie ſich
bewegen ſolle, die Mittheilung der Bewegung ꝛc. zu,
und errichten dadurch die erſten Grundſaͤtze der Dy-
namik oder Kraͤftenlehre, ſofern dieſe naͤmlich nur
die bewegenden Kraͤfte zum Gegenſtande hat. Wie-
fern aber dieſe Grundſaͤtze a priori ſind, laͤßt ſich ſo
leicht nicht ausmachen. Es koͤmmt aber vornehm-
lich auf die Frage an, ob der Begriff der Materie
a priori betrachtet, nicht mehrere Moͤglichkeiten zu-
laſſe, als die, welche in der Welt wirklich ſtatt haben,
und die wir a poſteriori finden? Wir haben daher die
Dynamik von der Phoronomie bereits in der Dia-
noiologie (§. 659.) unterſchieden, weil die Phorono-
mie ſchlechthin auf den Begriffen der Zeit und des
Raumes beruht, und daher mit der Geometrie und
Chronometrie viel unmittelbarer a priori iſt.
§. 19.
Der Begriff der Materie, den wir unmittelbar
durch das Gefuͤhl haben, macht, daß wir der Ma-
terie eine Soliditaͤt und Feſtigkeit oder Undurch-
dringbarkeit beylegen. Bey Koͤrpern, die wir im
eigentlichſten Verſtande feſt oder hart nennen, und
ſie dadurch von weichen und fluͤßigen unterſcheiden,
ſind dieſe Eigenſchaften fuͤr ſich klar, weil bey den-
ſelben die ganze Maſſe ſolid oder feſt iſt. Ungeachtet
nun
[464]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
nun die Erfahrung zeigt, daß ſie Grade hat, und
daher auch nur ſtufenweiſe von dem Fluͤßigen und Wei-
chen verſchieden iſt, ſo benimmt dieſes der Soliditaͤt
der Materie, an ſich betrachtet, nichts, weil wir dieſe
bey fluͤßigen Koͤrpern in ihren kleinſten Theilen ſu-
chen, und ſie durch den Widerſtand finden, der der
Maſſe und Dichtigkeit der fluͤßigen Materie propor-
tional iſt. Uebrigens, wenn wir uns einen mit etwas
ausgefuͤllten Raum gedenken, ſo iſt dieſes etwas
das, was wir unter dem Begriff der Materie uns
vorſtellen. Dadurch ſtellen wir uns den Raum nicht
mehr als leer, ſondern als mit etwas ſolidem, feſtem und
undurchdringbarem ausgefuͤllt vor, und laſſen hoͤch-
ſtens noch den Begriff der Theilbarkeit dabey gelten.
Es laͤßt ſich auch dieſe Vorſtellungsart aus dem Be-
griff, den wir durch das Gefuͤhl von der Materie
haben, ordentlich herleiten, welches aber hier nicht
noͤthig iſt, weil wir hier bey den unmittelbaren Em-
pfindungen ſtehen bleiben.
§. 20.
Wenn wir aber ſetzen, daß die Materie eine So-
liditaͤt und Kraft zu widerſtehen habe, ſo gilt dieſer
Satz auch nicht weiter, als wir ihn aus der Erfah-
rung haben, und es bleibt in ſofern unausgemacht,
ob nicht noch andre Arten von Materien moͤglich ſind.
Wer z. E. keinen leeren Raum in der Welt zugiebt,
ſondern alles mit Materie will ausgefuͤllt wiſſen, wird
eben nicht abgeneigt ſeyn, zu glauben, daß Materien
moͤglich ſeyn, die abſolut fluͤßig ſind, und ſich durch
keinen bemerkbaren Widerſtand entdecken oder beobach-
ten laſſen. Demnach aber muͤßte die Moͤglichkeit,
beſonders aber die Wirklichkeit ſolcher Materien durch
Schluͤſſe herausgebracht werden.
§. 21.
[465]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
§. 21.
Die Moͤglichkeit der Bewegung iſt mit den
Begriffen von Raum und Zeit in unmittelbarer
Verbindung. Hingegen laͤßt ſich die Mittheilung
derſelben nicht ſo allgemein auf einfache Begriffe brin-
gen. Was uns die Erfahrung daruͤber lehrt, iſt,
daß, wenn ein Koͤrper, der in Ruhe iſt, in Bewe-
gung kommen ſoll, dieſe durch einen Stoß ihm muͤſſe
mitgetheilt werden, und daß jede neue Bewegung
ſolches fordere. Auf dieſe Art machen wir die Be-
wegung von der Materie ſo fern unabhaͤngig, daß
wir einem Koͤrper keine Bewegung zugeſtehen, als
in ſofern er ſie bekommen hat, und der Satz, daß ein
Koͤrper ſich nicht ſelbſt bewegen koͤnne, wird gleichſam
unter die mechaniſchen Grundſaͤtze oben an geſetzt.
Carteſius fieng daher an, zu behaupten, es muͤſſe
eine gewiſſe Summe von Bewegung in der Welt
ſeyn, die ſich von Koͤrper zu Koͤrper fortpflanze, und
durch unzaͤhlig abgewechſelte Vertheilungen gleichſam
immer im Zirkel herumkomme. Dieſer Satz wird
allerdings richtig ſeyn, ſobald man ſetzen kann, daß
die Bewegung von der Materie in ſofern unabhaͤngig
ſey, daß ſie vermittelſt derſelben nur fortgeſetzt wer-
de. Nimmt man hingegen an, die Materie habe
fuͤr ſich ein Beſtreben zur Bewegung, welches ſich
aͤußere, ſobald das Gleichgewicht gehoben wird, ſo
iſt klar, daß wenn auch nur eine Aufhebung des
Gleichgewichtes da iſt, dieſes nothwendig mehrere
nach ſich ziehen und daher eine durchgaͤngige Bewe-
gung hervorbringen werde, weil dieſes Beſtreben zur
Bewegung die Mittheilung der Bewegung nicht auf-
hebt. Was aber dieſes der Materie eigene Beſtre-
ben zur Bewegung ſagen will, davon haben wir kei-
nen unmittelbaren Erfahrungsbegriff, folglich muͤßte
Lamb. Org. I. Band. G gdeſſen
[466]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
deſſen Moͤglichkeit aus andern Gruͤnden erwieſen oder
widerlegt werden. Hier aber iſt der Ort nicht, dieſes
vorzunehmen, weil wir hier eigentlich nur unterſu-
chen, woher wir die erſte Grundlage zu unſern Be-
griffen haben, und wiefern etwas einfaches darinn
iſt, welches ſich ſodann als a priori anſehen laſſe.
Dieſes macht, daß wir bey den ſchlechthin klaren Be-
griffen, die wir durch unmittelbare Empfindungen
erlangen, ſtehen bleiben, und ſie theils durch ihre
Namen, theils durch ihre naͤchſten Verhaͤltniſſe und
verwandte Begriffe ſuchen, kenntlich und im folgen-
den brauchbar zu machen. Denn da unſre Begriffe
oder wenigſtens das Bewußtſeyn derſelben, durch
Empfindungen veranlaßt werden, ſo muͤſſen wir, wenn
wir unſre Erkenntniß wiſſenſchaftlich machen wollen,
anfangs immer wenigſtens ſo weit a poſteriori gehen,
bis wir die Begriffe ausgeleſen haben, die einfach
ſind, und die ſich folglich, nachdem wir ſie einmal
haben, ſodann als fuͤr ſich ſubſiſtirend anſehen laſſen.
(Dianoiol. §. 656.) Hiezu aber ſind unſtreitig die
Begriffe, ſo uns die unmittelbare Empfindung giebt,
die dienlichſten, weil wir ſie am wenigſten weit her-
zuholen haben.
§. 22.
Wir haben dem Gefuͤhl Begriffe von Eigenſchaf-
ten der Materie unmittelbar zu danken, die wir in
Anſehung der uͤbrigen Sinnen nur durch Schluͤſſe
herausbringen. So z. E. giebt es allerdings ſichtbare
Bewegungen, und wir ſehen die Wirkungen derſel-
ben in vielen Faͤllen, aber den Begriff der Kraͤfte
erlangen wir durch das Auge nicht, ſondern wir ha-
ben ihn unmittelbar dadurch, wenn wir ſelbſt einen
Koͤrper ziehen, ſtoßen, oder uͤberhaupt in Bewegung
ſetzen wollen, und fuͤhlen zugleich auch die groͤßere
oder
[467]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
oder kleinere Kraft, und folglich die Grade der Kraft,
die wir anwenden muͤſſen. Daß bey dem Licht, bey
dem Schall, bey der Waͤrme, bey dem Schmerzen
ꝛc. Bewegung ſey, bringen wir durch Schluͤſſe her-
aus, und wir haben demnach den Begriff dieſer Be-
wegungen mittelbarer Weiſe dem Gefuͤhl zu danken,
welches uns die erſten Grundbegriffe der Dynamik
giebt, und damit durch alle Veraͤnderungen der Koͤr-
perwelt reicht.
§. 23.
Den Begriff der Zeit haben wir unmittelbar in
der Succeßion unſrer Empfindungen, Vorſtellungen
und Gedanken, und daher auf eine ſehr vielfache Art,
mittelbar aber aus verſchiedenen Bewegungen, daher
wir uns auch die Zeit als etwas in einem fort und
mit gleicher Geſchwindigkeit fließendes vorſtellen, wo-
von uns der Umlauf der Geſtirne einen natuͤrlichen
Maaßſtab giebt, deſſen kleinere Anomalien wir durch
Schluͤſſe beſtimmen, und uns z. E. dadurch verſi-
chern, daß die 24 Stunden eines Tages nicht
das ganze Jahr durch von gleicher Laͤnge ſind. Wir
haben bereits ſchon angemerkt, (§. 658. Dianoiol.)
daß Zeit, Raum, Bewegung und Geſchwindigkeit
mit einander in unmittelbarer Verbindung ſtehen, und
uns drey Wiſſenſchaften angeben, die im ſtrengern
Verſtande a priori ſind.
§. 24.
Den Begriff der Exiſtenz haben wir noch unmit-
telbarer aus dem Bewußtſeyn, daß wir ſind, weil
wir ohne zu ſeyn kein Bewußtſeyn haben koͤnnen.
Carteſius hatte daher ſein: Cogito, ergo fum, zum
erſten Grundſatze angenommen, und eben dieſes hat
auch Wolf in ſeiner deutſchen Metaphyſik gethan.
Dieſer Begriff der Exiſtenz ſcheint unter allen ſchlech-
G g 2terdings
[468]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
terdings klaren Begriffen der einfachſte zu ſeyn, weil er
nicht nur nicht aus mehrern innern Merkmaalen beſteht,
ſondern auch nicht einmal Grade hat, wodurch etwas
exiſtirender ſeyn koͤnnte, als ein andres, wie wir die-
ſes bereits ſchon oben (§. 12.) angemerkt haben. Der
Begriff der Exiſtenz hat auch nicht viele verwandte
Begriffe, daß er ſich durch Verhaͤltniſſe zu denſelben
koͤnnte beſtimmen laſſen. Das moͤgliche, wirkli-
che, nothwendige ſind Begriffe, die einigermaaßen
zuſammengehoͤren, und verglichen werden koͤnnen.
Man hat daher die Exiſtenz durch das Complemen-
tum poſſibilitatis zu beſtimmen oder wenigſtens anzu-
zeigen geſucht. Nun iſt zwar unſtreitig, daß zum
exiſtiren außer der bloßen Moͤglichkeit noch etwas
mehr erfordert wird; allein, eben dieſes etwas macht
das einfache in dem Begriffe der Exiſtenz aus, wel-
ches wir allerdings klar empfinden, aber nicht anders
als durch ſolche Worte anzeigen koͤnnen, die weiter
nichts als Synonyma von dem Wort Exiſtenz ſind,
oder dieſen Begriff ſchon voraus ſetzen. Bey ſo gar
einfachen Begriffen ſind die Zirkel im Definiren nicht
wohl zu vermeiden. Weil ſie aber ihre Klarheit und
Moͤglichkeit fuͤr ſich haben, (Dianoiol §. 656.) ſo
werden ſie fuͤglicher als Praͤdicate und Beſtimmun-
gen zuſammengeſetzter Begriffe gebraucht. (Dianoiol.
§. 659. 686.) Auf dieſe Art haben exiſtirende Dinge
unzaͤhlige Praͤdicate, die mit der Exiſtenz wegfallen,
und die folglich als Subjecte genommen werden koͤn-
nen, denen der Begriff exiſtiren als Praͤdicat zukoͤmmt.
Von dieſer Art iſt z. E. der Oberſatz zu dem vorhin
angezogenen Carteſiſchen Enthymema: Wer denkt,
der iſt. Saͤtze von dieſer Art giebt es eine große
Menge.
§. 25.
[469]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
§. 25.
Wie wir von den bewegenden Kraͤften durch das
Gefuͤhl einen Begriff erlangen, (§. 22.) ſo haben
wir zu dem Begriffe der Erkenntniß- und Begeh-
rungskraͤfte einen noch unmittelbarern Anlaß, weil
gleichſam nichts als das Bewußtſeyn dazu erfordert
wird. Wir eignen demnach dieſe Kraͤfte uͤberhaupt
den denkenden Weſen zu, und nehmen dabey die
Moͤglichkeit der Grade in dieſen Kraͤften ohne Schwuͤ-
rigkeit an, weil wir uns dieſer Grade in uns ſelbſt
bewußt ſind. Ob bey den denkenden Weſen zu dieſen
zwoen Arten von Kraͤften auch noch die Kraft, ſich
ſelbſt zu bewegen, und Bewegungen hervorzubringen,
komme, folglich in denſelben das vorhin (§. 21.) er-
waͤhnte Beſtreben zur Bewegung ſey, laͤßt ſich hier
weder beweiſen noch widerlegen, weil die Erfahrung,
daß wir uns bewegen und auch Bewegungen verurſa-
chen koͤnnen, kein einfacher Begriff iſt, und auch die
Natur eines denkenden Weſens nicht ſo unmittelbar
empfunden werden kann, folglich dieſe Frage durch
Schluͤſſe eroͤrtert werden muß, zu denen wir hier
kaum noch den erſten Stoff aufſuchen.
§. 26.
Der Begriff der Einheit iſt ebenfalls einfach,
und wir haben ihn unmittelbar in dem Wort Jch,
und ſo auch in der Vorſtellung eines jeden Begriffes,
in ſofern es ein Begriff iſt. Die Wiederholung der
Einheit giebt uns den Begriff der Zahl, welcher der
Gegenſtand der Arithmetik, und daher eine Wiſſen-
ſchaft a priori iſt, weil ſie außer dem Begriff der
Moͤglichkeit dieſer Wiederholung weiter kein andres
Poſtulatum noͤthig hat.
G g 3§. 27.
[470]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
§. 27.
Wir haben bisher einige einfache Begriffe aufge-
ſucht, und allerdings noch lange nicht alle mitgenom-
men, weil derſelben ſehr viele ſind, weil wir nicht fuͤr
alle beſondre Namen haben, und weil unſre gegen-
waͤrtige Abſicht auch nicht alle vorzuzaͤhlen erfordert.
Folgende Anmerkungen werden dieſes klar machen.
§. 28.
Wir rechnen z. E. den klaren Begriff der Farben
unter die einfachen Begriffe. Von dieſen laſſen ſich
einige uͤberhaupt betrachtet mit Namen benennen, die
theils der Farbe eigen ſind, wie z. E. roth, gelb, gruͤn,
blau, weiß, ſchwarz, grau ꝛc. theils von Dingen in
der Natur hergenommen werden, die dieſe Farbe
haben, wie z. E. Meergruͤn, Olivenfarb, Orangen-
gelb, Himmelblau, theils auch von Dingen, die zum
Malen der Farben gebraucht werden, wie z. E. Jn-
digo, Ocker, Berggelb, Saftgruͤn ꝛc. allein zu den
unzaͤhligen Stufen und Vermiſchungen der Farben
haben wir nicht Namen genug, und ein Maler, der
eine Sache genau nach dem Leben malen will, muß
ſie vor ſich haben, bis er ſich etwann an die Miſchung
der Farben und ihren Anſtrich gewoͤhnt hat. Unge-
achtet wir nun uͤberhaupt wiſſen, daß das Rothe ſich
ins Gelbe, das Gelbe ins Gruͤne, das Gruͤne ins Blaue,
das Blaue ins Schwarze und auch ins Rothe, desglei-
chen das Rothe ins Schwarze, das Gelbe ins Braune ꝛc.
gleichſam verlieret, und daher Stufen in den Farben
vorkommen, ſo ſind die Begriffe dieſer Stufen an ſich
dennoch einfach, weil eine ſo wenig als die andre meh-
rere innere Merkmaale hat, und ſich hoͤchſtens nur
durch Verhaͤltnißbegriffe beſtimmen laͤßt, wo wir es
bey den Worten wollen bewenden laſſen. Wir muͤſ-
ſen indeſſen den Unterſchied machen, wo wir zwo oder
mehrere
[471]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
mehrere Farben zugleich empfinden, wie z. E. in dem
blaurothen oder rothblauen. Denn da in der
vorhin erwaͤhnten Gradation das Rothe vom Blauen
zu weit entfernt iſt, ſo empfinden wir das Heterogene
in den Vermiſchungen. Hingegen zeigt uns die Er-
fahrung, daß ſich aus blau und gelb ein ſolches
Gruͤn zuſammenſetzen laſſe, welches uns weder vom
Blauen noch vom Gelben eine Spur zeigt. Und daß
aus der Vermiſchung aller Farben weiß entſtehe,
haͤtten wir ohne die priſmatiſchen Verſuche kaum wiſ-
ſen koͤnnen, ungeachtet wir es nach dieſer erſten Ver-
anlaſſung nun auch aus der taͤglichen Erfahrung her-
leiten koͤnnen. Sofern demnach aus der vermiſchten
Empfindung zwoer oder mehrer Farben jede beſonders
erkannt werden kann, ſofern haben wir auch eine Ver-
miſchung in dem Begriffe, doch ſo, daß wir die ein-
fachen daraus erkennen koͤnnen. Jndeſſen, wenn man
behaupten will, daß dieſes einfache in dem vermiſchten
nicht immer genug bemerkbar ſey, ſo werde ich nicht
widerſprechen, weil dieſe Frage in unſre folgende
Betrachtungen keinen Einfluß hat. Wir merken
daher nur an, daß nicht nur das Auge, ſondern auch
die uͤbrigen Sinnen uns eine ſolche Menge und Stu-
fen in den einfachen Begriffen geben, die wir nicht
alle mit Worten ausdruͤcken koͤnnen, und uns daher
mit ſolchen Worten, die uͤberhaupt ganze Klaſſen von
ſolchen Begriffen anzeigen, begnuͤgen; wie z. E. die
Worte bitter, ſuͤß, ſauer, ſcharf, ſalzigt, her-
be ꝛc. die verſchiedenen Arten des Geſchmackes anzei-
gen, deren wir etwann noch, wo es um Vergleichun-
gen zu thun iſt, die Bitterkeit der Galle, des Wer-
muths ꝛc. die Suͤßigkeit des Zuckers, des Honigs ꝛc.
beyfuͤgen. Auf eine aͤhnliche Art druͤcken wir die Un-
terſchiede und Stufen des Schmerzens, durch druͤ-
G g 4cken,
[472]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
cken, reißen, brennen, ſtechen, wehe thun ꝛc.
aus, und in Anſehung der Waͤrme und Kaͤlte begnuͤ-
gen wir uns mit den Worten, temperirt, warm,
ſchwuͤl, kalt, froſtig, ſchauernd ꝛc.
§. 29.
Locke hat in ſeinem Werke von dem menſchli-
chen Verſtande die Anatomie unſrer Begriffe zum
Hauptwerke gemacht, und darinn ſowohl die einfa-
chen Begriffe, als ihre Modificationen und Zuſam-
menſetzung, ſo weit es ihm moͤglich war, deutlich
auseinander zu ſetzen geſucht. Wir haͤtten daher hier
ſein Werk großentheils auszuſchreiben, wenn wir
gleiche Abſicht haͤtten. Locke begnuͤgte ſich naͤmlich,
ſein ganzes Werk auf Erfahrungsſaͤtze zu bauen, und
geht demnach durchaus a poſteriori, weil er ſchlecht-
hin die Sachen nimmt, wie ſie ſind. Wir nennen
daher ſein Syſtem eine Anatomie unſrer Begriffe und
Erkenntniß, weil er ungefehr eben ſo verfaͤhrt, wie
die Anatomici ſich einen Begriff der innern und ein-
fachern Theile des Leibes und ihrer Verbindung zu
machen ſuchen. Dieſes iſt nun hier unſre Abſicht
nicht. Wir haben in der Dianoiologie geſehen, was
die wiſſenſchaftliche Erkenntniß, und ſo weit ſie a priori
gehen kann, vor der gemeinen und bloß hiſtoriſchen
Erkenntniß voraus habe. Dieſen Vortheilen wuͤr-
den wir nicht naͤher kommen, wenn wir uns ſchlecht-
hin bey der Anatomie unſrer Begriffe aufhalten wuͤr-
den. Es iſt nicht genug, einfache Begriffe ausge-
leſen zu haben, ſondern wir muͤſſen auch ſehen, woher
wir in Anſehung ihrer Zuſammenſetzung allgemeine
Moͤglichkeiten (Dianoiol. §. 692. ſeqq.) aufbringen
koͤnnen.
§. 30.
[473]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
§. 30.
Wir werden damit anfangen, daß wir ſehen,
was wir mit den verſchiedenen Arten einfacher Be-
griffe eigentlich gefunden haben, und da bieten ſich
gleich mehrere Saͤtze an. Einmal, wenn ein einfa-
cher Begriff durch ein Wort in der Sprache
ausgedruͤcket iſt, ſo behaͤlt dieſes Wort ein fuͤr
allemal ſeine Bedeutung, ſo lange die Sprache
ſich nicht aͤndert, und dieſe Worte ſind gleich-
ſam der Maaßſtab von der Aenderung der
Sprache. Denn die einfachen Begriffe ſind ſich
ſelbſt ihr eigenes Merkmaal, und haben nichts gemein-
ſames, welches veranlaſſen koͤnnte, daß einer mit dem
andern verwechſelt werde. (§. 13.) Demnach un-
terſcheidet ſich jeder von dem andern durch die unmit-
telbare Empfindung und an ſich durchaus einfoͤrmige
Vorſtellung. (§. 11. 14.) Da wir nun das Wort
oder den Namen mit dieſer Empfindung zugleich ler-
nen, ſo geht Empfindung und Wort zu Paaren, und
das Wort behaͤlt ſeine Bedeutung. Dafern man
aber Synonyma gebraucht, ſo iſt es auch moͤglich,
daß eines derſelben in Abgang komme; und ſo auch,
dafern der einfache Begriff von der Sache her benennt
wird, in welcher er vorkoͤmmt, ſo iſt es auch moͤglich,
daß man nach und nach andre Aehnlichkeiten findet,
und daher andre Worte einfuͤhrt, und dadurch aͤndert
ſich die Sprache, weil man weis, daß die einfache
Empfindung immer eben die bleibt, folglich die Aen-
derung nicht die Begriffe betrifft. So z. E. wenn in
dem deutſchen die Woͤrter roth, gelb, weiß, hart,
weich, eins, zwey ꝛc. in Abgang kommen, ſo iſt es,
weil man andre dafuͤr einfuͤhrt, und dadurch die
Sprache abaͤndert.
G g 5§. 31.
[474]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
§. 31.
Die einfachen Begriffe haben daher am wenigſten
noͤthig definirt zu werden. Denn da ſie keine innere
Merkmaale haben, ſo koͤnnen auch in der Definition
keine angegeben werden. Folglich kann auch die De-
finition nicht zur Entwicklung deſſen, was ſie in ſich
ſchließen, dienen. Sie taugt ferner auch nicht, um
den Begriff kenntlich zu machen, weil derſelbe ſchlech-
terdings klar iſt, und keine gemeinſame Merkmaale
hat, und ſchlechthin durch die Empfindung erlangt
werden muß. Daher kann das Wort hoͤchſtens nur
durch Synonyma andern kenntlich gemacht werden,
oder in Ermanglung derſelben muß man anzeigen, wie
man zur Empfindung der Sache gelangen koͤnne.
(Dianoiol. §. 698.) Will man aber durch Verhaͤlt-
niſſe definiren, ſo mag es bey einzelnen Stuͤcken der
wiſſenſchaftlichen Erkenntniß angehen, aber im Gan-
zen entſtehen Zirkel im Definiren daraus, die ſich ſo-
dann nicht wohl vermeiden laſſen. (Dianoiol. §. 682.
ſeqq.)
§. 32.
Wenn wir nun die vorhin gefundenen einfachen
Begriffe naͤher betrachten wollen, wiefern ſie zur
wiſſenſchaftlichen Erkenntniß dienen, ſo entſteht erſt-
lich die Frage, wiefern ſie als Subject oder als Praͤ-
dicat vorkommen koͤnnen? Es verſteht ſich fuͤr ſich,
daß hier von bejahenden und vornehmlich von allge-
mein bejahenden Saͤtzen die Rede iſt. Denn da
einfache Begriffe nichts gemeinſames in ſich haben,
(§. 13.) ſo iſt fuͤr ſich klar, daß ſich jeder von jeden
andern verneinen laſſen, und der Satz: Weiß iſt
nicht ſchwarz, iſt gleichſam zum Spruͤchwort und
Maaßſtab verneinender Saͤtze geworden. Und uͤber-
haupt giebt es nur dadurch verneinende Saͤtze, weil
man
[475]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
man Subjecte und Praͤdicate gegen einander haͤlt, die
nicht einerley einfache Begriffe enthalten. (Dianoiol.
§. 232.)
§. 33.
Machen wir demnach einen einfachen Begriff
zum Praͤdicat eines bejahenden Satzes, ſo kann das
Subject kein andrer Begriff ſeyn, als ein ſolcher,
dem der einfache zukomme, und folglich, wo nicht
durchaus, doch wenigſtens mehrentheils Erfahrungs-
begriffe. Um dieſes zu beweiſen, ſo nehme man den
Begriff der Materie, man theile ſie in kleine Theile,
man ſetze dieſe zuſammen, um einen Koͤrper daraus
zu machen, man nehme noch Kraͤfte und Bewegung
dazu. Alles dieſes ſind Moͤglichkeiten, und es laͤßt
ſich begreifen, daß ein Koͤrper herauskommen werde,
und daß man dabey unzaͤhlige Abwechslungen zur
Auswahl habe. Bis dahin geht alles a priori.
Man beſtimme nun bey einer beliebten Zuſammen-
ſetzung, ob der Koͤrper roth, gruͤn, ſchwarz, bitter,
geſalzen ꝛc. ſeyn werde. Wenn wir bis dahin ge-
langen koͤnnen, ſo wird dieſer Koͤrper ein Subject
eines Satzes ſeyn, deſſen Praͤdicate einfache Begriffe
ſind, und welches wir nicht als einen bloßen Erfah-
rungsbegriff anzunehmen noͤthig haben. So weit
aber reicht unſre Erkenntniß noch dermalen nicht.
Demnach muͤſſen wir bey ſolchen Saͤtzen, wo das
Praͤdicat ein einfacher Begriff iſt, Erfahrungsbe-
griffe zu Subjecten nehmen, wenn ſie anders bejahend
und wahr ſeyn ſollen.
§. 34.
Nehmen wir aber ſolche Begriffe als Subjecte an,
ſo ſind ſie nicht alle gleich vieler bejahender Praͤdicate
faͤhig, und bey den meiſten ſind es nur ſolche Praͤdi-
cate, die wir den einfachen Begriffen beylegen, in
ſo
[476]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
ſo fern ihre Vorſtellung oder ihr Bewußtſeyn einen
Eindruck auf uns macht, oder in ſo fern wir ſie mit
einander vergleichen koͤnnen. So z. E. ſtellen wir
uns die Stuffen in den Farben vor, wie ſich eine in
die andre verliert, und wie ſie gleichſam aneinander
graͤnzen. (§. 28) Dieſe Vergleichung fordert wei-
ter nichts, als den klaren Begriff jeder Farbe, der
zwar bey uns durch die Empfindung veranlaßt und
aufgelebt wird, den wir aber nachgehends als fuͤr
ſich betrachten koͤnnen. Jn Anſehung des Schalles
und der Toͤne koͤnnen wir aͤhnliche Vergleichungen
anſtellen, zumal da hier noch gewiſſe Harmonien dazu
kommen. Jn Anſehung der Waͤrme giebt uns der
Begriff derſelben bloße Stuffen ꝛc. Jndeſſen blei-
ben alle dieſe Verhaͤltniſſe noch merklich unbeſtimmt,
wenn keine Ausmeſſung dazukoͤmmt. Und unter den
Empfindungen der aͤußern Sinnen iſt der Schall der
einige, der ſchlechthin durch die Empfindung auf Re-
geln gebracht worden, und wobey die Jntervallen der
Toͤne ihren Namen und Zeichen bekommen haben.
Denn die mathematiſche Erkenntniß der Tonkunſt iſt
aus tiefern Gruͤnden und mit Zuziehung beſondrer
Erfahrungen gefunden worden, nachdem man laͤngſt
ſchon die Toͤne wußte und benennt hatte.
§. 35.
Der Eindruck der Harmonie und Diſſonanz bey
den Toͤnen, das angenehme und widrige in den Far-
ben, das ſchmerzhafte in den meiſten ſtaͤrkern Em-
pfindungen, z. E. des zu ſtarken Lichtes, der zu großen
Hitze, eines zu ſtarken Druckes ꝛc. ſind ebenfalls
ſolche Empfindungen, wodurch wir Grade und Ver-
haͤltniſſe einfacher Begriffe uns vorſtellen, die aber
ebenfalls etwas viel zu ſpeciales haben, als daß wir
ſie weit ausdehnen koͤnnten.
§. 36.
[477]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
§. 36.
Es bleibt daher allerdings, was Locke bereits
angemerkt hat, eine kleine Zahl einfacher Begriffe,
die allgemeine Verhaͤltniſſe und Modificationen zu-
laſſen, und dieſe ſind:
- 1. Die Ausdehnung.
- 2. Die Soliditaͤt.
- 3. Die Bewegung.
- 4. Die Exiſtenz.
- 5. Die Dauer und Succeſſion.
- 6. Die Einheit.
- 7. Das Bewußtſeyn.
- 8. Die Kraft zu bewegen.
- 9. Das Wollen ꝛc.
§. 37.
Es iſt unnoͤthig, hier beſonders anzumerken, wel-
cher Modificationen, Verhaͤltniſſe und Verbindungen
dieſe einfache Begriffe faͤhig ſind, und wie weit ſie
reichen. Wir haben bereits vorhin, da wir jeden
beſonders betrachtet, angezeigt, wie ſie uns einige
Wiſſenſchaften angeben, die im ſtrengſten Verſtande
a priori ſind, dahin naͤmlich die Arithmetik, Geome-
trie, Chronometrie, Phoronomie, und Logik gehoͤrt,
und dahin wir auch die Alethiologie, die Lehre des
Moͤglichen und Nothwendigen ꝛc. rechnen koͤnnen. Die
Dynamik laſſen wir dermalen noch unbeſtimmt, und
ſo auch verſchiedne ſpecialere Theile, die ſich aus die-
ſen ergeben, und wobey man etwann nur einige Er-
fahrungsſaͤtze zu Huͤlfe nehmen muß.
§. 38.
Wir muͤſſen aber daruͤber, daß wir die bisher
ausgeſuchten Begriffe einfach genennt haben, einige
Anmerkungen machen. Locke nennt ſie eben ſo.
Hingegen ſcheint Leibnitz und Wolf davon abzuge-
hen,
[478]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
hen, und beſonders verſteht Wolf in ſeiner lateini-
ſchen Logik durch einfache Begriffe nur ſolche, denen
keine fremde und veraͤnderlichen Merkmaale einge-
miſcht ſind, die folglich bloß aus dem weſentlichen
beſtehen. So z. E. nennt er den Begriff eines
gleichſeitigen Triangels einfach, wenn man ſich in
demſelben ſchlechthin nur die drey gleiche und aneinander
ſchließende Seiten vorſtellt, folglich von den Perpen-
dicularen und andern Linien, ſo darinn gezogen wer-
den koͤnnten ꝛc. abſtrahirt. Vermuthlich hat er die-
ſem reinen und von allen Nebenumſtaͤnden entbloͤßten
Begriffe, der allerdings einen Namen verdient, keinen
ſchicklichen Namen gefunden, ungeachtet es eben nicht
ſchwer geweſen waͤre, denſelben ideam incomplexam
zu nennen, weil er ihn den ideis complexis entgegen
ſetzt, ſofern dieſe nicht ſchlechthin zuſammengeſetzt,
ſondern mit Nebenumſtaͤnden, Zufaͤlligkeiten ꝛc. ver-
mengt ſind. Denn daß der Begriff eines gleichſei-
tigen Triangels im eigentlichſten Verſtande einfach
ſey, wuͤrde Wolf um deſtoweniger behauptet haben,
weil er wider die Lockiſchen einfachen Begriffe noch
zu erinnern fand, oder wenigſtens Saͤtze gebrauchte,
die ſolche Begriffe nicht einfach ſeyn laſſen.
§. 39.
Dahin gehoͤrt der Satz, daß die Deutlichkeit in
den Begriffen, wenn wir ſie vollkommen haben koͤnn-
ten, alle unſre klaren Begriffe gleichſam ganz aus-
loͤſche, daß wir uns z. E. ſtatt des Lichtes nur eine
Bewegung, Reflexion, Erſchuͤtterung der Geſichts-
nerven, folglich ungefehr wie Blinde, vorſtellen wuͤr-
den, daß uns einerley Sache mit bloßem Auge
und durch das Vergroͤßerungsglas betrachtet, im
letzten Fall auch in ihren kleinſten Theilen deutlich,
aber oͤfters ganz unkenntlich vorkomme ꝛc.
§. 40.
[479]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
§. 40.
Meines Erachtens aber werden hier klare Be-
griffe mit confuſen Begriffen vermengt, und der
Anlaß dazu ſcheint der zu ſeyn, daß man in der Ver-
nunftlehre die Begriffe ſtuffenweiſe in dunkle und
klare, die klaren in deutliche und undeutliche ꝛc. unter-
ſcheidet. Nun ſind dieſe Namen hier metaphoriſch,
weil ſie von dem Auge hergenommen ſind. Wir duͤr-
fen ſie daher anfangs nur an ſich betrachten, weil die
Begriffe, die wir durchs Auge erlangen, ebenfalls
Begriffe ſind. Ohne Licht ſehen wir vollends nichts,
und dieſes macht die abſolute Dunkelheit oder Finſter-
niß. Zu Nacht bey dem ſchwachen Lichte der Sterne,
laͤßt ſich etwann noch das Weiße vom Schwarzen,
wenn es eine hinreichende Groͤße hat, unterſcheiden,
man ſieht auch etwann Geſtalten, doch ſo, daß man
zuweilen weder die Gattung, noch die Art, und noch
weniger das Indiuiduum erkennt, und einen Men-
ſchen und einen Strauch, oder einen Pfoſten confun-
dirt, oder nicht unterſcheiden kann, ob Cajus oder
Titius oder ein andrer Menſch da ſey ꝛc. Unter
Tagen ſieht man klar, weil es hell iſt; und dieſe Hel-
ligkeit iſt es eigentlich, was uns klar ſehen macht.
Dies will aber noch nicht ſagen, daß wir ſogleich alles
deutlich ſehen. Das Object muß hiezu nicht nur
behoͤrig erleuchtet, ſondern auch in der erforderlichen
Entfernung vom Auge ſeyn. Die Deutlichkeit be-
nimmt daher der Klarheit nichts, und kann ohne dieſe
nicht ſtatt haben. Hingegen kann bey der Klarheit
Undeutlichkeit ſeyn, weil zu der Deutlichkeit noch et-
was mehr als die Klarheit erfordert wird. Man
halte eine Schrift bey Tage zu weit von dem Auge,
ſo wird man weiß und ſchwarz ſehen. Haͤlt man ſie
aber in der behoͤrigen Entfernung, ſo wird man die
Schrift
[480]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
Schrift deutlich ſehen und leſen koͤnnen; allein ſie bleibt
ſchwarz, und das Papier weiß, wie vorhin, da man
nichts darauf unterſcheiden konnte, weil ſie zu weit
von dem Auge weg war.
§. 41.
Sollte dieſes, was von den ſichtbaren Dingen,
und den daherruͤhrenden Begriffen gilt, uͤberhaupt
von den Begriffen gelten, ſo iſt zwar unſtreitig, daß
deutliche Begriffe nicht undeutlich ſind, aber daß
ſie deſſen unerachtet nicht anfhoͤren klar zu ſeyn, wenn
gleich auch undeutliche Begriffe klar ſeyn koͤnnen.
Dieſes iſt nun eben, was man in der Vernunftlehre
ſagen will, wenn man die Deutlichkeit in der Klarheit
der Merkmaale beſtehen macht. Die Frage koͤmmt
demnach darauf an, ob nicht immer noch in der Klar-
heit der Merkmaale etwas undeutliches zuruͤck bleibe?
Die Vergroͤßerungsglaͤſer, welche uns kleine Theile
deutlich machen, die das Auge nicht mehr unterſcheidet,
ſcheinen zu zeigen, daß man dieſe Frage bejahen muͤſſe.
Da aber auch dieſe kleinern Theile Licht fordern, ſo
wird auch durch dieſe Deutlichkeit nur die Confu-
ſion, nicht aber die Klarheit aufgehoben. Sodann
haben wir ſchon oben (§. 11. 12.) angemerkt, daß die
Begriffe nicht mit den Theilen der Sache unendlich
klein werden, und die einfachen Lichtſtralen aͤndern
ihre Art nicht, ſie moͤgen einzeln oder von groͤßern
Flaͤchen homogen in das Auge fallen. Will man aber
nur auf den Mechaniſmum ſehen, wodurch die Licht-
ſtralen in das Auge fallen, und die Geſichtsnerven
in Bewegung ſetzen, ſo wird zwar auch San-
derſon dieſen Mechaniſmum, ſo gut wir ihn
noch wiſſen, begreifen und beſchreiben koͤnnen, aber
ohne von den Farben dadurch einen Begriff zu erlan-
gen. Denn dieſes hieße das, was ſchlechthin das Auge
angeht,
[481]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
angeht, auf das Gefuͤhl reduciren. Hiezu aber wer-
den denkende Weſen erfordert, denen das Sehen und
Fuͤhlen gleich klare Begriffe von den Farben giebt,
ungefehr wie wir durch Sehen und Fuͤhlen klare Be-
griffe von Figuren und Bewegung haben, und das,
was uns einer dieſer zween Sinnen davon vorſtellt,
auf den andern reduciren koͤnnen. Uns aber giebt
das Gefuͤhl keinen Begriff von Farben, und dieſes
macht, daß wir den Begriff der Farben, in ſo fern es
Farben ſind, fuͤr ſich a poſteriori nehmen, und ihn
a poſteriori mit dem Begriffe des Mechaniſmi des
Sehens verbinden muͤſſen.
§. 42.
Die Begriffe von Raum, Zeit, Dauer, Aus-
dehnung, Ort ꝛc. in ſo fern es ſchlechthin klare
Begriffe ſind, werden als eingebildete Begriffe,
ideae imaginariae angeſehen, und es iſt allerdings
ſchwer, nichts fremdes mit einzumengen, welches auf
wirkliche Ungereimtheiten fuͤhrt. Denn in dieſer Ab-
ſicht moͤgen ſie allerdings eingebildet oder unmoͤg-
lich heißen, wie man z. E. in der Algeber die Qua-
dratwurzeln negativer Groͤßen Quantitates imagina-
rias oder impoſſibiles heißt. Wir koͤnnen aber das
eingebildete, in dieſem Verſtande genommen, von
dem idealen unterſcheiden, weil es unzaͤhlige ideale
Verhaͤltniſſe giebt, die nicht in den Sachen ſelbſt ſind,
und in ſo fern iſt die ganze Geometrie ideal, in ſo
fern wir darinn die Figuren fuͤr ſich betrachten.
§. 43.
Auf dieſe Art ſagt man in der Metaphyſik, daß
die Eſſentiae rerum oder die Weſen der Dinge ewig
ſeyn, daß es ewige Wahrheiten gebe, daß die geo-
metriſchen Wahrheiten ſolche ſind ꝛc. Geht dieſes
an ſo wird es auch angehen, daß die Moͤglichkeit der
Lamb. Org. I. Band. H hDin-
[482]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
Dinge eine Dauer habe, die von Ewigkeit her bis
in Ewigkeit fortgeht, und deren endliche Theile Zeit-
raͤume ausmachen. Auf dieſe Art macht man die Zeit
zu keinem beſondern Dinge, die ganze Vorſtellung
iſt ideal, ohne in dem vorhin erwaͤhnten Verſtande
imaginaͤr oder unmoͤglich zu ſeyn, und die Moͤglichkeit,
daß die Welt haͤtte aͤlter ſeyn koͤnnen, bleibt. Auf
gleiche Art bindet ſich die Moͤglichkeit der Ausdeh-
nung und des Raumes an keine Zeit, weil dieſe Be-
griffe von den geometriſchen Begriffen unzertrennlich,
und daher, wie die Weſen der Dinge, ewig ſind.
Dieſes iſt alles, was wir eigentlich hier gebrauchen,
wo wir nur einfache Begriffe aufſuchen, weil man
von Begriffen weiter nichts als die Moͤglichkeit ver-
langt. Wiefern ſodann die Sache ſelbſt exiſtire,
iſt eine ganz andre Frage, die wir, wegen der engern
Schranken unſrer Erkenntniß, faſt immer mehr oder
minder a poſteriori eroͤrtern muͤſſen.
§. 44.
Unter den einfachen Begriffen ſind wenige, die
wir durch mehrere Sinnen erlangen koͤnnen, und auch
dieſe wenige ſind von der Art, daß der eine Sinn
uns unmittelbarer dazu verhilft, als der andre. So
haben wir den Begriff der Bewegung unmittelbarer
durch das Fuͤhlen, als durch das Sehen, den Begriff
der Dauer und Zeit unmittelbarer durch das Bewußt-
ſeyn und Succeſſion der Gedanken, als durch die
ſichtbare oder empfindbare Bewegung ꝛc. Wir hal-
ten uns aber bey den einzeln Faͤllen nicht auf, ſon-
dern werden aus dieſer Anmerkung einige Folgen
ziehen.
§. 45.
Die erſte iſt, daß wir die Begriffe, die den ver-
ſchiednen Sinnen eigen ſind, unter allen am wenig-
ſten
[483]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
ſten confundiren oder verwechſeln. Denn ſo wird
wohl niemand ſich traͤumen laſſen, daß er eine Farbe
hoͤre, die Zeit ſehe ꝛc. Jndeſſen geht dieſes vornehm-
lich nur die aͤußern Sinnen an. Hingegen iſt es
ſchon laͤngſt eingefuͤhrt, daß wir das ſichtbare mit
dem unſichtbaren, die Koͤrperwelt mit der Jntel-
lectualwelt, die Empfindungen mit den Gedanken
vergleichen, und vor beyde einerley Woͤrter und Aus-
druͤcke gebrauchen. Die Worte erhalten dadurch
nothwendig eine doppelte und zuweilen auch vielfache
Bedeutung. Ein Licht im Zimmer haben, und Licht
in den Gedanken haben, ſind ſolche Redensarten.
Und wenn wir ſagen, es iſt moͤglich, daß ein gewiſſes
Vorgeben wahr ſey; oder es iſt moͤglich, eine gewiſſe Laſt
zu heben; ſo heißt das Wort moͤglich im erſten Fall:
man wiſſe es noch nicht, man laſſe es noch unausge-
macht ꝛc. im andern Fall aber hat das Wort moͤg-
lich die Bedeutung: daß es geſchehen koͤnne.
§. 46.
Der eigentliche Grund dieſer Vergleichung liegt
in der Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Em-
pfindungen aͤußerlicher Dinge und die Vorſtellung ab-
ſtracter und unſichtbarer Dinge in uns machen. So
z. E. ſtellt man ſich eine Sache vor Augen,
wenn man ſie in der That vor ſich ſtellt, und
ſie anſchaut. Dies heißt von Wort zu Wort,
oder im eigentlichen Verſtande. Stellt man ſie
ſich aber in Gedanken ſo lebhaft vor, als wenn ſie
vor Augen waͤre, ſo iſt dieſes im figuͤrlichen Ver-
ſtande. So auch, wer Schriften, Geldſorten ꝛc.
auseinanderlieſt, und jede beſonders zuſammen-
nimmt, theilt gleichſam dadurch den Begriff des ver-
wirrten Haufens, in einzelne kenntliche, und transferirt
unvermerkt den Begriff des Auseinanderleſens von
den Sachen auf die Begriffe.
H h 2§. 47.
[484]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
§. 47.
Zu ſolchen Vergleichungen iſt die ganze Sprache
eingerichtet, und die meiſten Woͤrter, die abſtracte
Begriffe und Dinge der Jntellectualwelt vorſtellen,
gehen in ihrer eigentlichen und urſpruͤnglichen Bedeu-
tung auf aͤußerliche und koͤrperliche Dinge. Wir
ſehen den Verſtand als ein Behaͤltniß von Begriffen
an, wir behalten etwas im Sinn, wir faſſen Be-
griffe, wir gehen von Wahrheit zu Wahrheit, wir
fallen auf Gedanken, wir ſetzen etwas zum Grunde
ꝛc. Das Aehnliche, ſo dieſe Verrichtungen des Ver-
ſtandes mit den Verrichtungen des Leibes haben, be-
ſteht darinn. Wenn wir mit dem Leibe etwas thun,
ſo thun wir zugleich auch etwas mit den Gedanken,
in ſofern wir uns naͤmlich deſſen bewußt ſind, und
dieſes letztere giebt uns ſodann die Aehnlichkeit an,
nach welcher wir das, was in den Gedanken allein
vorgeht, benennen. Auf dieſe Art koͤmmt uns vor,
daß wir Begriffe zuſammenſetzen, wie die Theile einer
Maſchine eines Gebaͤudes ꝛc. zuſammengeſetzt ſind,
daß wir Begriffe auseinander legen, wie ein Kraͤmer
ſeine Waaren ꝛc. weil ſolche Verrichtungen auch in
dem Bilde, ſo wir uns vorſtellen, vorgehen.
§. 48.
Da nun hiedurch die meiſten Woͤrter der Spra-
che eine gedoppelte und zuweilen vielfache Bedeu-
tung erhalten, und in dieſen Bedeutungen dennoch
etwas aͤhnliches und gemeinſames bleibt, ſo kann die-
ſes aͤhnliche in vielen Faͤllen beſonders genommen
werden, weil es ein allgemeinerer Begriff iſt, den
wir tranſcendent nennen koͤnnen, in ſo fern er in
der Koͤrperwelt und Jntellectualwelt aͤhnliche Dinge
vorſtellt. So z. E. iſt der Begriff der Kraft ꝛc.
tran-
[485]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
tranſcendent, weil wir uns Erkenntnißkraͤfte, Be-
gehrungskraͤfte, und bewegende Kraͤfte vorſtellen.
Wenn man demnach ſolche tranſcendente Begriffe deſi-
nirt; ſo muß man allerdings dabey nicht vergeſſen,
daß ſie noch beſondre Beſtimmungen erhalten, ſo oft
ſie in der Koͤrperwelt oder auch in der Jntellectual-
welt angewandt werden. Die Definition wird da-
durch ſpecialer, und das Definitum, welches nun-
mehr auch zu einer beſondern Art wird, kommt nicht
ſo haͤufig vor.
§. 49.
So z. E. ſetzen wir Gedanken und koͤrperliche
Dinge auseinander. Der Begriff auseinander iſt
demnach tranſcendent, und in dieſer Abſicht bedeutet
er nun nicht mehr, als verſchieden. Man wuͤrde
aber irren, wenn man glauben wollte, daß die Ver-
ſchiedenheit den Begriff, daß ein Koͤrper auſ-
ſer dem andern ſey, erſchoͤpfe, weil hier nothwendig
noch der klare und einfache Begriff des Raums
dazu koͤmmt, der ſich nicht dabey befindet, wenn wir
z. E. die Erkenntnißkraͤfte der Seele auseinander
ſetzen, das iſt, ſchlechthin nur von einander unter-
ſcheiden.
§. 50.
Wir fuͤhren dieſes Beyſpiel aus Wolfens On-
tologie an. Denn um ſich zu der Definition der
Ausdehnung und des Raums den Weg zu baͤhnen,
faͤngt er an, den Begriff außer einander durch den
Begriff der Verſchiedenheit zu definiren, (Ontol.
lat. §. 544.) und (§. 548.) ſagt er ſodann: Siplura
diuerſa, adeoque extra ſe inuicem exiſtentia tam-
quam in vno nobis repraeſentamus, notio exten-
ſionis oritur: vt adeo Extenſio ſit multorum diuer-
ſorum, aut, ſi mauis, extra ſe inuicem exiſtentium,
H h 3coëxi-
[486]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
coëxiſtentia in vno etc. Hier wollen nun die Worte:
diuerſa, adeoque extra ſe exiſtentia, ſo viel ſagen: Was
von einander verſchieden iſt, iſt außer einander.
Daß aber dieſer Satz allgemein wahr ſey, wird
ſchwerlich zugegeben werden, es ſey denn, daß man
den Begriff außer emander tranſcendent nehme.
Dadurch aber laͤßt er ſich mit dem Begriffe, dem
Ort nach außer einander, noch nicht verwechſeln.
Wolf ſcheint dieſes ſelbſt auch zu empfinden, wenn
er ſagt: diuerſorum, aut, ſi mauis, extra ſe inuicem
etc. Denn allerdings wird man es lieber wollen, wo
von der koͤrperlichen Ausdehnung die Rede iſt, und
in der dem §. 548. beygefuͤgten Anmerkung ſagt er
ſelbſt, man koͤnne den Begriff der Ausdehnung
leicht mißbrauchen, wenn man ſogleich koͤrperlich
ausgedehnt nennen wollte, was von einander unter-
ſchieden werden kann, denn allerdings iſt die bloße
Verſchiedenheit dazu nicht hinreichend, weil der
Begriff des Raums noch hinzukommen muß, den
Wolf erſt daraus herleiten wollte. Wir koͤnnen
eben ſo hier noch gelegentlich anmerken, daß die
Wolfiſchen Definitionen des Raums oder der Zeit
einander viel zu aͤhnlich ſind, als daß ſich daraus ſollte
herleiten laſſen, daß die Zeit nur eine, der Raum
aber drey Dimenſionen habe ꝛc.
§. 51.
Die Vergleichung der Empfindungen mit den
Gedanken, und auch der Empfindungen unter ſich,
giebt uns eine gute Menge von Verhaͤltnißbegriffen
und Analogien, und macht, daß wir die Objecte ver-
ſchiedner Sinnen mit einander vergleichen, und auch
hinwiederum das abſtracte in den Gedanken auf das
figuͤrliche reduciren koͤnnen. So z. E. iſt es eine
figuͤrliche Vorſtellung, daß ein Ton hoͤher ſey, als
der
[487]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
der andre, und wenn wir ſagen, hochroth, ſo wird
dem Begriff des rothen auf eine bloß figuͤrliche Art,
die Beſtimmung hoch beygelegt. Auf eine aͤhnliche
Art machen wir die Unſchuld weiß, die Treuloſigkeit
und andre Laſter ſchwarz. Die Pythagoraͤer haben
in den Zahlen Aehnlichkeiten mit abſtracten Begrif-
fen gefunden, die ihren ordentlichen Grund haben
konnten, ungeachtet eine gewiſſe Vorſtellungsart dazu
erfordert wird, die nicht jedermann gleich einleuch-
tend iſt. Daher koͤmmt es auch, daß man dieſe py-
thagoraͤiſche Einfaͤlle fuͤr bloße Traͤume anſieht. Und
es ſcheint allerdings, daß ſich abſtracte Begriffe ehen-
der mit Figuren, als mit bloßen Zahlen vergleichen
laſſen, weil mehr Mannigfaltigkeit in den Figu-
ren iſt.
§. 52.
Wir koͤnnen uͤbrigens hier anmerken, daß dieſe
Moͤglichkeit, abſtracte Begriffe mit Empfindungen,
und dadurch auch mit ihren Objecten zu vergleichen,
uns auf eine naͤhere Art anzeigt, daß es moͤglich iſt,
unſre Erkenntniß, und beſonders die abſtracte, figuͤr-
lich zu machen, und ſie durch Zeichen vorzuſtellen,
die wenigſtens in dieſer Abſicht weſentlich und wiſſent-
ſchaftlich ſind. Wir haben in der Dianoiologie bloß
aus dem Grunde, daß wir den Begriffen eine Aus-
dehnung beylegen, und einen unter oder nicht
unter den andern ſetzen, gewieſen, daß die Lehre von
den Schluͤßen figuͤrlich gemacht, und die Schluͤße
gezeichnet werden koͤnnen, und daß dieſe Zeichnung
allgemeine und ſtrengere Regeln habe, als die von
den Toͤnen in der Muſik.
§. 53.
Die einfachen Begriffe, die wir durch die Sin-
nen und das Bewußtſeyn erlangen, machen die
H h 4Grund-
[488]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
Grundlage unſrer Erkenntniß aus. Wir koͤnnen
auch daraus, daß nicht jede Sinnen uns einerley
Begriffe aufklaͤren, daß wir dennoch einige Begriffe
durch mehr als einen Sinn erlangen koͤnnen, und daß
denen, welche des Geſichts oder eines andern
Sinnes beraubt ſind, die demſelben eigene Be-
griffe gar nicht haben, aus allem dieſem, ſage ich,
koͤnnen wir verſchiedne Betrachtungen uͤber die Graͤn-
zen unſrer Erkenntniß herleiten, und dieſe gewiſſer-
maaßen mit dem Reiche der Wahrheiten an ſich
betrachtet vergleichen.
§. 54.
Einmal aus dem, daß auch die Werkzeuge der
Sinnen, wenn ſie zu heftige Empfindungen haben,
uns den Begriff des Schmerzens verurſachen, weil
ſolche Empfindungen Schmerzen erregen, laſſen ſich
in ſo fern jede Sinnen mit dem Gefuͤhl vergleichen,
und die genauere Betrachtung jeder Empfindungen
und jeder Sinnen lehrt uns, daß etwas mechaniſches
dabey vorgehe, und daher vergleichen wir auch den
in jeden Sinnen empfindbaren Schmerz mit dem
Stechen, Druͤcken, Reißen, Brennen, Beißen ꝛc.
Jn ſo fern demnach ein Mechaniſmus bey jeden
Sinnen und Empfindungen iſt, in ſo fern laͤßt ſich
derſelbe fuͤr ſich betrachten, wie etwann Sanderſon
vieles von der Newtoniſchen Farbentheorie begriffe,
ungeachtet er blind war.
§. 55.
Hingegen haͤtten wir von dem Licht und den
Farben gar keinen Begriff, wenn uns das Sehen
mangelte. Es wuͤrde nicht nur dieſe Eigenſchaft der
Materie des Lichts in dem Syſtem unſrer Erkenntniß
fehlen, ſondern es iſt ſehr zu zweifeln, ob wir wiſſen
koͤnnten, daß eine ſolche Materie exiſtirt. Und wenn
es
[489]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
es moͤglich bliebe, ihre Exiſtenz durch die uͤbrigen
Sinnen zu empfinden, ſo wuͤrden wir ſie doch nicht
als die Materie des Lichtes erkennen. So z. E.
koͤnnen wir dermalen noch nicht ſagen, ob oder wiefern
dieſe Materie mit der magnetiſchen Materie, mit der
Schwere, der Electricitaͤt einerley oder verwandt iſt,
und beſonders giebt ſich die magnetiſche Materie
nur durch eine mechaniſche Wirkung zu erkennen, die
ſie in dem Magnet, Eiſen und Stahl zeigt, ſo daß wir
wenn kein Magnet, kein Eiſen, kein Stahl in der Welt,
oder wenigſtens uns unbekannt waͤre, dieſe mechani-
ſche Wirkung uns ebenfalls unbekannt ſeyn wuͤrde.
§. 56.
Da man nicht beweiſen kann, daß wir alle moͤg-
liche Sinnen haben, und es ſehr vermuthlich iſt, daß
noch mehrere ſeyn koͤnnen, ſo iſt auch vermuthlich,
daß uns eine Menge ſpecialer klarer Begriffe fehlt.
Wir koͤnnen dieſe nun ſo wenig, als Blinde die Be-
griffe der Farben erlangen. Und was uns hierinn
mangelt, das zieht zugleich einen Mangel von em-
pfindbaren Merkmaalen vieler Materien, und allem
Anſehen nach oͤfters auch den Mangel des Begriffes
der Exiſtenz dieſer Materien nach ſich. Es entſteht
daher ſehr natuͤrlich die Frage, wiefern ſich ſolche
Luͤcken bemerken laſſen?
§. 57.
Hieruͤber haben wir bereits oben (§. 18 ſeqq.)
angemerkt, was in Anſehung des Begriffes der Ma-
terie uͤberhaupt noch zu beweiſen bleibt, und wie viel
noch unempfundne und vielleicht uns unempfindbare
Materie in der Welt ſeyn muͤſſe, wenn wir jeden
Raum, darinn ſich kein Widerſtand bemerken laͤßt,
wollen ausgefuͤllt wiſſen. So lange aber eine Ma-
terie eine Wirkung aͤußert, die uns empfindbar iſt,
H h 5ſo
[490]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
ſo lange koͤnnen wir auch auf ihr Daſeyn einen
Schluß machen. Die magnetiſche Materie iſt uns
noch weiter nicht, als auf dieſe Art bekannt, weil
ſie, ſo viel wir noch wiſſen, keine empfindbare Wir-
kung unmittelbar auf die Sinnen macht, wiewohl
man dermalen ſich bemuͤht, ſie mit der electriſchen
Materie und beyde mit der Materie, ſo ſich im Unge-
witter entzuͤndet, zu vergleichen. Allein in dieſer
Abſicht ſind wir ungefehr wie der Blinde, der aus
dem Schatten an die Sonne tritt, und ihre Waͤrme,
aber nicht ihr Licht empfindet, oder wie ein Tauber,
der an den Redenden die Bewegung der Lippen, Zaͤhne
und Zunge ſieht, ohne von dem Schall und den arti-
culirten Toͤnen der Worte einen Begriff zu haben.
§. 58.
Um dieſe Vergleichung, die uns in Beſtimmung
der Graͤnzen unſrer Erkenntniß einiges Licht geben
kann, etwas weiter fortzuſetzen, wollen wir die Er-
kenntniß eines Blinden, der die uͤbrigen Sinnen
hat, mit der Erkenntniß eines Sehenden ſo gegen-
einander halten, daß wir finden moͤgen, ob die
Luͤcken, die der Blinde in ſeiner Erkenntniß mit der
Erkenntniß des Sehenden verglichen hat, nicht von
ſolcher Art ſeyn, daß ſie uns auch noch in des ſehen-
den Erkenntniß ganz aͤhnliche Luͤcken koͤnnen vermu-
then machen. Wir wollen Sanderſon, den Ge-
lehrteſten unter allen Blinden auffuͤhren, und ihm,
wo es noͤthig iſt, Newton zum Lehrer geben, um
das, was vielleicht in 1000 und mehr Jahren unter
einer ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Nation von lauter Blinden
kaum moͤglich waͤre, nach und nach durch Verſuche
und Schluͤße herauszubringen, dem Sanderſon
durch ſchickliche Anleitung in kurzer Zeit finden zu
machen. Dieſer Gelehrte, der es weit genug brachte,
die
[491]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
die Stelle eines oͤffentlichen Lehrers der Mathematik,
zur Verwunderung der Welt, zu verſehen, zeigt
uns durch ſein Beyſpiel, daß auch Blinde der Meß-
kunſt faͤhig ſind. Es iſt unnoͤthig anzumerken, daß
dieſe Wiſſenſchaft vielen Sehenden zu ſchwer iſt, und
ſo iſt auch leicht zu erachten, daß das Sehen aller-
dings die Erlernung derſelben merklich erleichtere.
Man kann aber billig fragen, ob nicht ein Sinn
moͤglich ſey, der dieſes Erlernen noch in ungleich
groͤßerer Verhaͤltniß leichter machen wuͤrde? Dieſe
Frage will aber noch nicht viel ſagen, weil ſie nur auf
das leichtere und ſchwerere geht, und weil wir ſie noch
nicht weiter als auf die Matheſin puram ausdehnen.
Wir muͤſſen aber auf die Matheſin adplicatam kom-
men, und wollen daher einige Stuͤcke daraus nehmen.
§. 59.
Dem Blinden iſt die Luft, was dem Sehenden
die Himmelsluft iſt. Denn erſtere macht durch ihre
Undulationen das Hoͤren, letztere das Sehen moͤg-
lich. Sanderſon konnte fuͤr ſich nicht wiſſen, was
am Firmamente iſt, ausgenommen, daß er nicht das
Licht ſondern die Waͤrme der Sonnenſtralen em-
pfinden konnte. Jn einem Lande der Blinden wuͤrde
vielleicht in tauſend Jahren keiner von ihren Meß-
kuͤnſtlern darauf verfallen, aus dem, daß die eine
Hand an der Sonne keine Waͤrme empfindet, wenn
ſie von der andern Hand bedeckt oder beſchattet wird,
zu ſchließen, oder durch Verſuche endlich heraus zu
bringen, daß dieſe Waͤrme von einer gewiſſen Gegend
herkomme, und mit Huͤlfe der Meßkunſt endlich dar-
aus den taͤglichen Umlauf der Sonne zu beſtimmen,
und noch vielweniger aus dem Mangel der Parallaxe
auf eine ſehr große Entfernung derſelben zu ſchließen.
Jndeſſen, da wir Newton dem Sanderſon zum
Lehrer
[492]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
Lehrer geben, ſo koͤnnen wir annehmen, Sanderſon
gelange endlich durch ſolche Verſuche, und ohne von
Sehenden Lehrſaͤtze zu borgen, zu dem Begriffe
des taͤglichen und jaͤhrlichen Umlaufs der Sonne.
Dieſes iſt nun ſeine ganze Aſtronomie. Jn einem
Lande der Blinden wuͤrden die Meßkuͤnſtler vielleicht
nach vielen Jahrhunderten eben ſo weit gelangen.
Sie wuͤrden endlich finden, daß ein Koͤrper in der
Natur ſey, der eine ſehr regelmaͤßige und ordentliche
Abwechslung der Waͤrme verurſache, daß ſeine Waͤr-
me eine geradlinichte Bewegung habe, daß man dar-
aus ſchließen koͤnne, der Koͤrper ſey ziemlich weit
entfernt, und habe eine abwechſelnde Stelle, ſo daß
er wechſelsweiſe waͤrme und nicht waͤrme, daß dieſe
Abwechslung doppelt ſey, und nach einer gewiſſen
Anzahl der Kleinern die Groͤßern wiederkommen ꝛc.
§. 60.
Dieſe Aſtronomie iſt in Abſicht auf Blinde in ſo
weit nicht unmoͤglich, allein wie ſehr bleibt ſie nicht
zuruͤck, und wie viele Schwuͤrigkeit, ſie auch nur ſo
weit zu bringen. Wie klein bleibt dabey der Welt-
bau, und wie oͤde das Firmament! Die Luft iſt ihr
Himmel, und der Schall ihr Licht. Das Geraͤuſch
des Waſſers, oder der Geſang der Voͤgel, iſt ihnen ſtatt
des Schimmers der Sterne, und das Rauſchen des
Windes ſtatt des Sonnen- und Mondlichtes. Sie
zweifeln, ob ſich die Sonne auf eine andre Art als
durch ihre Waͤrme empfinden laſſe, ob die Dinge, die
ſie beruͤhren und hoͤren, noch eine andre als eine fuͤhl-
bare Geſtalt haben, ob man durch einen neuen Sinn
nicht mehr auf einmal empfinden koͤnnte?
§. 61.
Vielleicht, damit wir auch zweifeln, vielleicht
ſind wir nur um einen Schritt weiter als Blin-
de;
[493]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
de; vielleicht giebt es Weſen, die uns um mehrere
Schritte noch zuruͤck laſſen. Und recht betrachtet, ſehen
wir denn am Himmel vergleichungsweiſe mehr, als
Blinde in der Luft hoͤren? Jſt das uns ſichtbare
Firmament die ganze Welt? Wie oͤde ſcheinen nicht
die großen Striche deſſelben, und wie leer ſcheint es
außer der Milchſtraße! Hat die Sonne nur Licht und
Waͤrme? Laͤßt ſie ſich nicht noch auf andre Arten
empfinden? Jſt nur das, was wir ſehen, am Him-
mel? Hat nur die Luft und die Materie des Lichtes
Undulationen?
§. 62.
Sanderſon konnte ſich die Theorie der Stralen-
brechung, die Figur des Auges, die Brechung der
Stralen auf deſſen Flaͤchen, und endlich auch die Fi-
gur des Bildes auf dem Augennetze, alles dieſes, ohne
den Begriff der Farben zu haben, vorſtellen, weil
er die Meßkunſt verſtund, und weil er in dieſer
Theorie des Auges und des Mechaniſmus bey dem
Sehen unterrichtet wurde. Wir koͤnnen ſetzen, daß
er auf dieſe Theorie von ſich ſelbſt haͤtte kommen koͤn-
nen. Allein, ohne daß ihn Sehende verſicherten, daß
dieſer Mechaniſmus in der Natur wirklich vorkom-
me, wuͤrde er ihn als eine bloße mechaniſche Hypo-
theſe, oder auch nur als eine Uebung in der Geome-
trie angeſehen haben, die er gleichſam fuͤr die lange
Weile vornaͤhme. Die Folge, die wir hieraus zie-
hen, iſt, daß es nicht unmoͤglich iſt, einen Mecha-
niſmum zu gedenken, der bey einem Sinn vorkom-
men kann, welchen wir nicht haben, und von deſſen
klaren Empfindungen wir uns unmoͤglich einen Be-
griff machen koͤnnen. Zum Behuf dieſer Folge koͤn-
nen wir noch anmerken, daß uns der Mechaniſmus
des Sehens ungleich bekannter und einfacher iſt, als
der
[494]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
der vom Gehoͤr, und daß folglich Sanderſon viel
leichter in mechaniſchen und geometriſchen Uebungen
darauf haͤtte verfallen koͤnnen. Es iſt daher an ſich
moͤglich, daß der Mechaniſmus eines uns vollends
unbekannten und mangelnden Sinnes, noch einfacher
als die Stralenbrechung ſeyn koͤnnte.
§. 63.
Die Sinnen ſind nur Werkzeuge, wodurch wir
die Wirkungen empfinden, die in der Natur bereits
da ſind. Demnach aͤndern die Sinnen an dieſen
Urſachen und Wirkungen nichts, und ſelbſt ein Sinn
hindert den andern hoͤchſtens nur in ſo weit, als wir
nicht immer uns aller Empfindungen zugleich bewußt
ſind, und die ſchwaͤchere von der ſtaͤrkern verdunkelt
wird. Wir koͤnnen zugleich das Licht der Sonne ſe-
hen und ihre Waͤrme empfinden, und das Anſchauen
eines toͤnenden Jnſtrumentes hindert uns nicht, zugleich
dieſen Klang zu hoͤren. Demnach wuͤrde uns auch
mit mehrern Sinnen dennoch das Sichtbare ſichtbar,
das Hoͤrbare hoͤrbar ꝛc. verbleiben.
§. 64.
Das Licht hat ohne allen Zweifel eine Wirkung
auf jede Gliedmaßen, allein zu ſchwach, als daß wir
ſie empfinden koͤnnten. Jn dem Auge wird es durch
die Brechung verſtaͤrkt, und die Geſichtsnerven ſind
fein genug, dadurch erſchuͤttert zu werden, und uns
ein uͤberwiegendes Bewußtſeyn zu veranlaſſen, und
bey allzuſtarkem Lichte die Empfindung des Schmer-
zens zu erregen. Wenn wir ſetzen, der Raum der
Welt ſey dichte ausgefuͤllt, und aus der Erfahrung
nehmen, daß das Gold den Fluß der magnetiſchen
Materie ſo viel als gar nicht hindere; ſo koͤnnen wir
kaum zweifeln, daß nicht noch mehrere Empfindun-
gen moͤglich ſeyn ſollten, und daß wir, wiewohl viel
zu
[495]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
zu ſchwache, Empfindungen davon haben, wie wir z.
E. die electriſchen, um ſie zu empfinden, verſtaͤrken
muͤſſen. Wollte man mit den heutigen Weltweiſen
ſetzen, alle moͤgliche einfache Begriffe liegen ſchon in
der Seele, und bleiben nur deswegen dunkel, weil
ſie durch keine ſtaͤrkere oder uͤberwiegende Empfindung
veranlaßt werden, ſo entſteht die Frage, ob nicht alle
noch dunkle Begriffe, denen zum klar werden nur der
Anlaß fehlt, ungefehr ſo auf den Willen wirken, wie
das Waſſer, auch wenn es in Ruhe iſt, auf die Sei-
ten oder den Boden des Gefaͤßes druͤckt, und dieſer
Druck, auch wenn es durch einige Oeffnungen aus-
laufen kann, dadurch nicht unmittelbar und mit einem
male vernichtet wird. Die Begierde der Seele, aus
dem Stuͤckwerk ihres Wiſſens einmal ein Ganzes zu
machen, ließe ſich daraus am vollſtaͤndigſten erklaͤren.
Es iſt moͤglich, daß wir noch auf eine andre Art Luͤ-
cken in unſrer Erkenntniß empfinden, als durch die
bloße Vorſtellung einzelner Fragen, die wir noch nicht
beantworten koͤnnen.
§. 65.
Wir haben uns laͤnger bey der Betrachtung auf-
gehalten, was ein Sehender vor dem Blinden vor-
aus habe, und ob das Geſicht nicht noch von andern
moͤglichen Sinnen uͤbertroffen werden koͤnne? Unge-
achtet wir nun durch eine ſolche Unterſuchung im ge-
ringſten nicht zu mehrern Begriffen gelangen koͤnnen,
als die wir durch unſre dermalige Sinnen haben, ſo
ſcheint doch eine ſolche Unterſuchung weder unnuͤtz noch
unangenehm zu ſeyn, und in beyden Abſichten verdiente
die Frage von der Rangordnung der Sinnen in Ab-
ſicht auf die Ausdehnung der Erkenntniß, die ſie uns
moͤglich machen, und wie weit man mit jedem reichen
wuͤrde, eine ausfuͤhrlichere Unterſuchung. Die erſt
ange-
[496]I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
angeſtellte Vergleichung der Blinden und Sehenden
mag gewißermaaßen zum Leitfaden dienen, und kann
unſtreitig noch weiter getrieben werden, weil wir nur
einige einzelne Stuͤcke daraus angefuͤhrt haben. Es
iſt nicht zu zweifeln, daß Mathematiker etwann auf
Figuren und Mechaniſmos fallen koͤnnten, welche
bey einem Sinne ſtatt haben, der uns mangelt, oder
der von dem Auge ſo viel und mehr noch, als das
Auge von dem Ohr verſchieden und deſſen unerachtet
ſehr einfach waͤre. Z. E. ein Blinder empfindet die
Waͤrme der Sonne, Sehende aber noch uͤberdies ihr
Licht und ihre ſcheinbare Figur. Man koͤnnte
vermuthen, daß es an ſich auch moͤglich waͤre, ihre
Groͤße, ihren Abſtand, ihre Attractionskraft, ihre
innere Structur ꝛc. zu empfinden. Durch welche
klare Begriffe dieſes moͤglich ſey, wird uns verborgen
bleiben, weil wir einen ſolchen Sinn nicht haben, aber
das Geometriſche darinn iſt uns nicht an ſich noth-
wendig unmoͤglich.
§. 66.
Betrachtungen von dieſer Art moͤgen angenehm
ſeyn, in ſofern man ſie etwann als Vorempfindungen
der Zukunft anſehen kann, und in ſofern fordern ſie
nebſt der geometriſchen Richtigkeit in den Schluͤſſen
noch alle Lebhaftigkeit eines dichtriſchen Ausdruckes,
Sie geben uns aber auch zugleich an, was eine wiſſen-
ſchaftliche Erkenntniß, die durchaus a priori und voll-
ſtaͤndig ſeyn ſoll, ſagen will. Man ſetze, daß man
das Geometriſche und den Mechaniſmum noch meh-
rerer Sinnen finden, und auch beweiſen koͤnne, daß
ein ſolcher Mechaniſmus, wenn er mit dazu gehoͤren-
den Empfindungsnerven verbunden iſt, Begriffe und
Bewußtſeyn in der Seele erregen koͤnne, ſo iſt dieſes
auch alles, was uns hiebey zu thun moͤglich iſt. Al-
lein
[497]oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
lein die klaren Begriffe, die durch ſolche Sinnen koͤn-
nen veranlaßt werden, die Koͤrper und Materien,
die ſie uns in der Welt zeigen wuͤrden ꝛc. bleiben bey
uns nothwendig zuruͤck. So leer und oͤde aber iſt die
Welt nicht, als ſie unſre wenige Sinnen vorſtellen,
und als ſie noch vielmehr den Blinden vorkommen
muß. Wir muͤſſen demnach die Lehre daraus ziehen,
daß wir mehrern Moͤglichkeiten Raum laſſen koͤnnen,
als uns unſre Erkenntniß a priori und die a poſteriori
angeben, und daß zwiſchen beyden Arten unſrer Er-
kenntniß in mehrern Abſichten ein Abſtand iſt, den
wir durch kein bekanntes Maaß ausdruͤcken oder uns
vorſtellen koͤnnen, ungeachtet es uns in vielen Faͤllen
moͤglich bleibt, beyde durch ſchluͤßige Ketten von mehr
oder minder Gliedern zuſammen zu haͤngen.
Zweytes Hauptſtuͤck.
Von
den Grundſaͤtzen und Forderungen,
ſo die einfachen Begriffe angeben.
§. 67.
Wir haben im vorhergehenden Hauptſtuͤcke einige
einfache Begriffe aufgeſucht, und die Beſchaf-
ſenheit der einfachen Begriffe uͤberhaupt betrachtet.
Wir werden nun beydes nochmals und zwar in der
Abſicht vornehmen, daß wir ſehen, welche Grund-
ſaͤtze und Poſtulata dieſe einfache Begriffe uns ange-
ben, und beſonders auch, wiefern die andern Be-
griffe und Worte, die wir zu ſolcher Betrachtung ge-
brauchen, und die erſt nachgehends aus dieſen einfa-
Lamb. Org. I. Band. J ichen
[498]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
chen Begriffen hergeleitet werden muͤßten, der Ord-
nung in dem Vortrage keinen Abbruch thun, und die
logiſchen Zirkel darinn dennoch vermieden werden.
§. 68.
Dieſe einfachen Begriffe ſind, wie wir (§. 36.)
geſehen haben, folgende:
- 1. Das Bewußtſeyn;
- 2. Die Exiſtenz;
- 3. Die Einheit;
- 4. Die Dauer;
- 5. Die Succeßion;
- 6. Das Wollen;
- 7. Die Soliditaͤt;
- 8. Die Ausdehnung;
- 9. Die Bewegung;
- 10. Die Kraft.
§. 69.
Man ſieht theils aus dem vorhin geſagten, theils
auch aus der Betrachtung dieſer Begriffe ſelbſt, daß
ſie ſowohl Beſtimmungen und Modificationen zulaſ-
ſen, als auch unter ſich vielerley Verbindungen und
Verhaͤltniſſe haben, wodurch der Weg zu ihrer Zu-
ſammenſetzung gebaͤhnt wird, dieſes werden wir nun
ſtuͤckweiſe zu unterſuchen vornehmen.
§. 70.
Das Bewußtſeyn oder das Denken koͤnnen wir
unter die Poſtulata ſetzen, weil bey denkenden Weſen
ohne daſſelbe keine klare Empfindung, Vorſtellung,
Begriff ꝛc. moͤglich iſt.
§. 71.
Der Begriff der Exiſtenz iſt mit dem Bewußt-
ſeyn oder Denken nothwendig verbunden, weil wir
den Satz: Wer denkt, der iſt, unter die Grund-
ſaͤtze rechnen koͤnnen. Vermittelſt dieſes Satzes ent-
ſteht
[499]ſo die einfachen Begriffe angeben.
ſteht bey einem denkenden Weſen nothwendig der ein-
fache und klare Begriff der Exiſtenz, durch das Be-
wußtſeyn, daß es exiſtire |oder ſey. Wenn wir
demnach das Bewußtſeyn unter die Poſtulata rech-
nen, ſo iſt das Bewußtſeyn, und folglich der klare
Begriff der Exiſtenz eine unmittelbare Folge. Es
wird naͤmlich moͤglich, dieſen Begriff zu erlangen,
weil uns das Bewußtſeyn moͤglich iſt.
§. 72.
Dieſes Bewußtſeyn unſrer Exiſtenz giebt uns den
Begriff und zugleich den Maaßſtab der Gewißheit.
Die Redensart: So gewiß ich bin, oder beſtimm-
ter: So gewiß ich da bin, die wir bey jeder wah-
ren oder vermeynten voͤlligen Gewißheit gebrauchen,
erlaͤutert beydes. Denn mehr koͤnnen wir zur Gewiß-
heit einer Sache nicht fordern, als daß ſie ſo gewiß
ſey, oder wahr ſey, ſo gewiß wir ſind.
§. 73.
Es iſt nicht zu zweifeln, daß der Begriff der
Gewißheit eben ſo wie der Begriff der Exiſtenz un-
ter die einfachen Begriffe gehoͤre, die nicht mehrere
innere Merkmaale haben, und folglich auch nicht durch
ſolche definirt werden koͤnnen. Daher dienen beyde
viel oͤfters zu Praͤdicaten, als zu Subjecten. Von
der Exiſtenz haben wir dieſes bereits (§. 24.) ange-
merkt. Wenn wir denken, daß es entweder ſey oder
nicht ſey, daß etwas wahr ſey oder nicht wahr ſey;
ſo denken wir leicht dazu, dieſes ſey gewiß. Z. E.
wenn wir denken, ſo iſt es wahr und gewiß, daß wir
denken. Es iſt gewiß, daß wir ſind, daß wir uns
etwas vorſtellen, wenn wir es uns vorſtellen ꝛc. Man
hat daher den Satz: Was iſt, das iſt, den Grund
der Gewißheit Principium certitudinis genennt.
J i 2§. 74.
[500]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
§. 74.
Den Begriff der Einheit haben wir in dem Worte
ich, und mittelbarer in dem, was wir in unſern Vor-
ſtellungen zuſammennehmen. Die Wiederholung
der Einheit giebt den Begriff der Zahl, und iſt an
ſich ein Poſtulatum, worauf die ganze Rechenkunſt
beruht. Alles dieſes haben wir bereits (§. 26.) an-
gemerkt. Wir fuͤgen demnach nur bey, daß dieſes
Zuſammennehmen mehrerer Einheiten eine Zahl aus-
mache, die wir ebenfalls wiederum als eine Einheit
anſehen koͤnnen. Daß es damit ſo weit gehen koͤnne,
als man will, wird unter die Poſtulate gerechnet.
§. 75.
Dieſes alles iſt an ſich betrachtet, und in ſofern
wir die Arithmetik als eine bloß ideale Wiſſenſchaft
anſehen. Sofern wir aber den Begriff der Einheit
und Zahlen auf Dinge anwenden, aͤußern ſich dabey
Unterſchiede, die wir an jedem Orte als ſpeciale Axio-
mata und Poſtulata anfuͤhren muͤſſen. Jn dieſer Ab-
ſicht haben wir bereits (§. 12.) angemerkt, wie die
Exiſtenz eine Einheit iſt, die weder vermehrt noch ver-
mindert werden kann, weil eine Sache nicht exiſtiren-
der iſt, als die andre.
§. 76.
So iſt auch die Gewißheit eine Einheit, die
nur Bruͤche admittirt, und dieſe Bruͤche machen die
Grade der Wahrſcheinlichkeit aus. Oder dieſe
Einheit, verneinend betrachtet, erwaͤchſt aus der
Aufhebung aller Zweifel, die ſich wider ein Vorgeben
machen laſſen.
§. 77.
Auf eine aͤhnliche Art hat auch die Wahrheit
keine Gradus intenſitatis. Denn wenn man ſagt:
Zweymal zwey iſt vier, ſo wird dieſer Satz durch
unzaͤhlige
[501]ſo die einfachen Begriffe angeben.
unzaͤhlige Beweiſe nicht mehr wahr, als durch einen
einigen, weil zwiſchen wahr ſeyn und nicht wahr
ſeyn, weder Mittel noch Stufen ſind. Dieſes will
nun nicht ſagen, daß in unſern Begriffen und Vor-
ſtellungen nicht mehr oder minder Wahres ſeyn koͤn-
ne, weil wir die Wahrheit hier an ſich betrachten, ſo
wie wir (§. 12.) die Exiſtenz an ſich betrachtet haben.
§. 78.
Den Begriff der Suceeßion und Dauer haben
wir ebenfalls in unſerm Bewußtſeyn. Wir denken
einen Gedanken nach dem andern, und ſo lange wir
denken, fahren wir fort zu exiſtiren. Demnach le-
gen wir unſrer Exiſtenz eine Dauer bey. Das An-
fangen, Fortdauern und Aufhoͤren einzelner Vor-
ſtellungen giebt uns den Begriff der Zeit, und ihrer
einzelnen Theile. Und wir haben daher den Grund-
ſatz: daß die Zeit in einem fortgehe, und daß
keiner von ihren Theilen mit den andern zugleich
ſey, und keiner von dem andern ſich anders
als durch das vor und nach unterſcheiden laſſe.
§. 79.
Die Dauer hat keine an ſich beſtimmte Einheit,
und jede Dauer laͤßt ſich als eine Einheit annehmen,
und wiederholen: Jndeſſen laͤßt ſich die Ewigkeit als
eine abſolute Einheit anſehen, zu welcher aber die
einzelnen Theile der Dauer oder Zeit kein Verhaͤltniß
haben, und in ſofern iſt dieſe Einheit fuͤr uns ohne
Gebrauch.
§. 80.
Die Poſtulata in Anſehung der Dauer ſind: daß
wir nach Belieben darinn einen Anfang ſetzen,
jede Theile als Einheiten anſehen, und ſie vor-
waͤrts und ruͤckwaͤrts wiederholen koͤnnen.
Dieſe Poſtulata ſind fuͤr die Chronometrie eine Wiſ-
J i 3ſenſchaft,
[502]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
ſenſchaft, die weiter nichts gebraucht, und die Lehr-
ſaͤtze der Arithmetik auf die Zeit anwendet, dagegen
nachher ſelbſt wiederum auf die Exiſtenz und Bewe-
gung angewandt wird.
§. 81.
Da die Theile der Dauer nicht zugleich ſind, (§.
78.) ſo machen ſie eine gewiſſe Beſtimmung aus, die
von jeden Moͤglichkeiten nur eine Reihe wirklich ſeyn
laͤßt. Und es giebt daher Wahrheiten, die an die
Zeit dergeſtalt gebunden ſind, daß etwas weder
fruͤher noch ſpaͤter iſt, als es iſt. Auf dieſe Art
ſagen wir: Was erſt kuͤnftig ſeyn wird, iſt itzt
noch nicht, ungeachtet es ſeyn koͤnnte.
§. 82.
Den Begriff der Ausdehnung haben wir un-
mittelbar durchs Gefuͤhl, mittelbar auch durch das
Sehen. Die einfache Ausdehnung iſt eine Linie,
die wir ſodann nach dreyen Dimenſionen, naͤmlich
nach der Laͤnge, Breite und Dicke legen, und uns
dadurch Flaͤchen und koͤrperliche Raͤume vorſtellen,
und Figuren und Koͤrper bilden. Die Wiſſenſchaft
der Groͤße der Ausdehnung iſt die Geometrie.
§. 83.
Die Grundſaͤtze dabey ſind: Daß die Theile
der Ausdehnung zugleich exiſtiren, oder als
exiſtirend gedacht werden, daß ſie nach allen
drey Dimenſionen in einem fortgehen, daß kein
Theil vom andern ſich anders als durch das
vor, nach, oben, unten ꝛc. unterſcheide, daß
kein Theil derſelben da ſey, wo der andre iſt,
folglich jeder außer dem andern ꝛc.
§. 84.
Die Poſtulata aber ſind: Daß man in der Aus-
dehnung oder dem Raume, wo man will, ei-
nen
[503]ſo die einfachen Begriffe angeben.
nen Punkt annehmen, und eine Linie von
beliebiger Laͤnge von denſelben ausziehen
koͤnne, wohin man will.
§. 85.
Die Ausdehnung, ſofern man ſie ſich als unend-
lich vorſtellt, mag als eine abſolute Einheit angeſe-
hen werden, ſie iſt aber fuͤr uns ohne vielen Gebrauch.
Hingegen in den endlichen Theilen der Ausdeh-
nung haben wir keine beſtimmte Einheit, und
koͤnnen jeden Theil als eine ſolche anſehen.
§. 86.
Da die Ausdehnung drey Dimenſionen hat, und
folglich auf Linien, Flaͤchen und koͤrperliche Raͤume
geht, ſind auch ihre Einheiten von drey Arten, weil
wir Linien, Flaͤchen und koͤrperliche Raͤume von be-
liebiger Groͤße als Einheiten annehmen koͤnnen. Dem-
nach iſt die Arithmetik bey der Geometrie in jeder
dieſer drey Abſichten anwendbar.
§. 87.
Da die Theile der Ausdehnung außereinander
ſind, ſo machen ſie eine gewiſſe Beſtimmung aus, die
von jeden Moͤglichkeiten nur eine Klaſſe zugleich
wirklich ſeyn laͤßt. Es giebt daher Wahrheiten, die
an den Ort dergeſtalt gebunden ſind, daß, was in
einem Raum oder Ort iſt, nicht zugleich außer
demſelben iſt, ungeachtet es gar wohl außer dem-
ſelben, oder an einem andern Ort ſeyn koͤnnte. Die
Beſtimmungen des Orts und der Zeit (§. 81.) ſind
es, welche die Dinge individual machen, und es iſt
klar, daß ſie beyſammen ſeyn, folglich die Begriffe
der Zeit und des Raums mit einander verbunden
werden koͤnnen. Denn was fortfaͤhrt in einem Raum
oder an einem Orte zu bleiben, das dauert.
J i 4§. 88.
[504]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
§. 88.
Da wir uns die Aenderung des Ortes dadurch
vorſtellen koͤnnen, daß wir in Gedanken einer Linie
nachfahren, ſo weit wir wollen, und dieſe Moͤglich-
keit unter die Poſtulata gerechnet wird, (§. 84.) ſo
entſteht daraus von ſelbſt der Begriff der Bewegung.
§. 89.
Die Bewegung iſt linear, und hat daher nur
eine Dimenſion. Da ein Ort den andern ausſchleußt,
(§. 87.) ſo kann ein beweglicher Punkt nicht zugleich
an mehrern Orten ſeyn. Demnach wird eine Zeit
erfordert, von einem an den andern zu kommen.
Und ſo ſind Zeit und Raum auch vermittelſt der Be-
wegung in Verbindung, und jede Aenderung des Or-
tes hat eine Dauer.
§. 90.
Die Poſtulata bey der Bewegung ſind, daß wir
zu jeder Aenderung des Ortes jede beliebige
Dauer gedenken, folglich ſie nach Belieben ge-
ſchwinder oder langſamer ſetzen koͤnnen, daß
ſich auch die Geſchwindigkeit nach Belieben
geaͤndert vorſtellen laſſe, und daß auch die Di-
rection in der Bewegung jede moͤgliche ſeyn
koͤnne. Dieſe Poſtulata ſind ſchlechterdings ideal,
und die Phoronomie, welche Zeit, Raum und Ge-
ſchwindigkeit mit einander vergleicht, beruht ganz
darauf.
§. 91.
Die Geſchwindigkeit hat demnach keine determi-
nirte Einheit, weil ſich jeder Raum, mit jeder Zeit,
darinn er durchlaufen werden ſolle, vergleichen und
verbinden laͤßt. Demnach kann jede beliebige Ge-
ſchwindigkeit als eine Einheit angeſehen werden.
§. 92.
[505]ſo die einfachen Begriffe angeben.
§. 92.
Da bey gleicher Geſchwindigkeit gleiche Raͤume
in gleicher Zeit durchlaufen werden, und folglich da-
bey eine einfoͤrmige Succeßion ſtatt hat: ſo laͤßt ſich
die Bewegung zur Ausmeſſung der Zeit gebrauchen.
Und dieſes Mittel gebrauchen wir um deſto eher, weil
wir ſonſt keinen Maaßſtab der Zeit als das Gedaͤcht-
niß haben, welches uns der Succeßion unſrer Ge-
danken erinnert, und uns die Zeit bald langwierig bald
kuͤrzer vorſtellt, je nachdem andre Gedanken das Be-
wußtſeyn dieſer Succeßion laſſen klarer werden, oder
es mehr verdunkeln.
§. 93.
Den Begriff der Soliditaͤt haben wir von dem
Gefuͤhl, und dehnen ihn durch Schluͤſſe und Ver-
gleichung unſrer Empfindungen auch auf die uͤbrigen
Sinnen aus. Durch das, was wir ſolid nennen,
ſtellen wir uns den Raum ausgefuͤllt vor, weil wir
dem leeren Raum die Soliditaͤt, die Undurchdring-
barkeit und jeden Widerſtand abſprechen, und zwar
eben deswegen, weil nichts darinn iſt. Das etwas,
wodurch wir den Raum als ausgefuͤllt gedenken, nen-
nen wir die Maſſe der Materie, und etwann auch nur
die Materie.
§. 94.
Die Grundſaͤtze hiebey ſind: Jedes Solide
ſchließt jedes andre von dem Ort aus, in wel-
chem es iſt. Ein Raum kann daher nicht mehr
als bis zur voͤlligen Continuitaͤt ausgefuͤllt
werden. Das Solide hat die drey Dimenſio-
nen des Raumes. (§. 82.) Die Poſtulata hinge-
gen ſind: Jeder Theil des Raumes laͤßt ſich als
ausgefuͤllt gedenken. Jeder Raum laͤßt ſich
mehr oder minder ausgefuͤllt gedenken, bis er
J i 5ganz
[506]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
ganz ausgefuͤllt iſt. Man ſieht leicht, daß dieſe
Poſtulata nur ideal ſind, und folglich unbeſtimmt
laſſen, ob jeder Raum nothwendig ausgefuͤllt ſey
oder ſeyn muͤſſe?
§. 95.
Wir haben daher in Anſehung der Soliditaͤt ver-
ſchiedene Einheiten, die wir noch anzeigen wollen.
Die erſte betrifft die Dichtigkeit der Materie in
einem beſtimmten Raume. Dieſe iſt am groͤßten,
wenn der Raum bis zur Continuitaͤt ausgefuͤllt iſt.
Demnach laͤßt ſich die abſolute Dichtigkeit durch die
Einheit ausdruͤcken, und dieſe admittirt Bruͤche,
die kleiner als die Einheit ſind, in ſo fern naͤmlich
der Raum nicht ganz ausgefuͤllt iſt, ſondern leere
Zwiſchenraͤumchen hat.
§. 96.
Jſt hingegen der Raum ganz ausgefuͤllt, ſo iſt
die Dichtigkeit abſolut, und die Einheit, die ſie vor-
ſtellt, iſt keiner fernern Abwechslung faͤhig. Dieſes
folgt aus dem Begriff, daß das Solide jedes andre
von dem Ort, den es einnimmt, ausſchleußt, und daß
ein Raum, der voͤllig ausgefuͤllt iſt, nicht noch ein-
mal ausgefuͤllt werden koͤnne. Jn dieſer Abſicht iſt
demnach die Soliditaͤt eine abſolute Einheit, wie die
Exiſtenz. (§. 12.) Ob aber in der Materie ſelbſt ein
ſolcher innerer Unterſchied ſeyn koͤnne, daß z. E. eine
Materie, wenn jede einen Raum bis zur Continui-
taͤt ausfuͤllt, dennoch dabey weniger oder mehr Maſſe
haben koͤnnte, iſt eine ganz andre Frage. Auf dieſe
Art waͤre eine Materie dichter oder rarer, als die an-
dre, ohne Zwiſchenraͤumchen zu haben. Man ſieht
leicht, daß, wenn dieſes moͤglich iſt, die Dichtigkeit
in dieſer Abſicht keine beſtimmte Einheit haben koͤnne,
weil ſie von 0 bis ins Unendliche gehen wuͤrde, und
daß
[507]ſo die einfachen Begriffe angeben.
daß allem Anſehen nach dieſe Dichtigkeit bey den Ma-
terien veraͤnderlich ſeyn koͤnnte. Naͤmlich die Ma-
terie koͤnnte einen groͤßern oder kleinern Raum aus-
fuͤllen, ohne von ihrer Continuitaͤt im geringſten
nichts zu verlieren. Es ſcheint aber, die innere Na-
tur der Materie ſey nicht genug bekannt, dieſe Fra-
gen ſo unmittelbar zu eroͤrtern.
§. 97.
Den Begriff der bewegenden Kraft haben wir
ebenfalls durch das Gefuͤhl, und damit zugleich auch
den Begriff des Widerſtandes, den wir fuͤhlen,
wenn wir einen Koͤrper ziehen, ſtoßen oder uͤberhaupt
in Bewegung ſetzen wollen.
§. 98.
Die Geſetze, die wir fuͤr die Bewegung anneh-
men, ſind: Ein Koͤrper iſt natuͤrlicher Weiſe
in Ruhe, und ſetzt ſich nicht ſelbſt in Bewe-
gung. Wird er aber im freyen Raume in
Bewegung geſetzt, ſo laͤuft er mit gleicher Ge-
ſchwindigkeit und in gleicher Direction fort.
Das will nun uͤberhaupt ſagen: Was an der Ru-
he, Bewegung, Direction und Geſchwindig-
keit eines Koͤrpers geaͤndert wird, kommt nicht
von dem Koͤrper ſelbſt, ſondern muß ihm durch
eine aͤußere Kraft mitgetheilt werden. Dem-
nach hat Ruhe, Bewegung, Direction und Ge-
ſchwindigkeit fuͤr ſich eine Dauer. Dieſe Nothwen-
digkeit der Mittheilung der Bewegung macht, daß man
dem Koͤrper eine natuͤrliche Traͤgheit oder Vim
inertiae beylegt.
§. 99.
Wir koͤnnen dieſen Geſetzen noch beyfuͤgen,
daß man bey der Bewegung nicht den Koͤr-
per uͤberhaupt, ſondern eigentlich das, was
an
[508]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
an demſelben ſolid iſt, betrachten muͤſſe. So
fern naͤmlich das Solide in dem Koͤrper, durch wel-
che Kraͤfte es auch ſeyn mag, zuſammenhaͤngt, ſofern
reißt ein Theil deſſelben, der in Bewegung geſetzt
wird, die uͤbrigen Theile mit, und die Geſchwindig-
keit theilt ſich durch den ganzen Koͤrper aus, und
wird demnach in Verhaͤltniß der Maſſe vermindert.
Haͤngen aber die Theile nicht ſo veſte zuſammen, ſo
wird auch der in Bewegung geſetzte Theil nicht den
ganzen Koͤrper mit ſich fortreißen, ſondern die naͤchſt
anliegenden mehr als die entferntern. Dadurch ent-
ſteht eine Aenderung der Figur. Und die Kraft, die
auf dieſe Aenderung verwendet wird, geht in Abſicht
auf den ganzen Koͤrper gleichſam verlohren. Haͤngen
aber die Theile des Koͤrpers ſo zuſammen, daß durch
die Kraͤfte, die ſeine Theile zuſammenhaͤngen, die
geaͤnderte Figur wieder hergeſtellt wird, ſo wird auch
die Kraft, ſo auf die Aenderung der Figur verwen-
det worden, wieder hergeſtellt, nur daß der Koͤrper
dadurch zuruͤck wirket. Der Unterſchied der fluͤßigen,
weichen, harten, elaſtiſchen Koͤrper, die wir in der
Natur finden, und deren unzaͤhlige Stufen man ſich
gar wohl vorſtellen kann, macht dieſe Anmerkung
nothwendig. Man wird auch dadurch, daß eine
Flintenkugel, ſo man gegen eine offenſtehende Thuͤr
ſchießt, dieſelbe eher durchbohrt als zuſchlaͤgt, finden,
daß man ſich nicht ſo veſt die Bewegung ganzer Koͤr-
per, als aber die Bewegung ihrer einzelnen ſoliden
Theile und deren Cohaͤſionskraͤfte vorzuſtellen hat,
und daß in dieſer Abſicht bald jede Koͤrper mehr
oder minder als fluͤßig und weich muͤſſen betrachtet
werden, ſofern naͤmlich die Cohaͤſionskraͤfte in ſeine
Bewegung einen Einfluß haben.
§. 100.
[509]ſo die einfachen Begriffe angeben.
§. 100.
Wir koͤnnen als eine Folge dieſes Satzes noch
dieſe ſpeciale Anmerkung machen, daß es, um die
ſphaͤroidiſche Figur der Erde zu beweiſen, nicht un-
umgaͤnglich nothwendig ſcheint, anzunehmen, die
Erde habe einmal muͤſſen fluͤßig geweſen ſeyn, damit
ſie durch die Umdrehung um ihre Axe habe ſphaͤroi-
diſch werden koͤnnen, wie Newton und nach ihm
andre dieſes angenommen haben. Denn da die Erde
keine unendliche Veſtigkeit hat, ſo laͤßt ſich gar wohl
vorſtellen, daß die Cohaͤſionskraͤfte der centerfliehen-
den Kraft nachgeben koͤnnen, ungefehr wie die Schnur
einer Schleuder durch den Schwung derſelben aus-
geſpannt wird, und ſich bis zum Zerreißen verlaͤngern
kann.
§. 101.
Den vorhin angefuͤhrten Geſetzen der Bewegung
fuͤgen wir noch bey, daß eine Kraft nicht dop-
pelt oder mehrfach angewandt werden kann.
So viel demnach dem einen Koͤrper von dem andern
Bewegung mitgetheilt wird, ſo viel geht dem letztern
ab, und die daher ruͤhrende Kraft geht in den andern
Koͤrper uͤber. Wenn demnach die Kraft durch die
Maſſe vertheilt wird, ſo wird ſie in jedem Theile
nach Verhaͤltniß der Maſſe vermindert. Daß die
Geſchwindigkeit ſich eben ſo vermindere, haben wir
bereits vorhin angemerkt.
§. 102.
Die Kraft hat keine beſtimmte Einheit, weil Maſſe
und Geſchwindigkeit, von 0 bis ins Unendliche gehen.
Demnach kann jede Kraft als eine Einheit angeſehen
werden, die nach Belieben vielfach oder Theile davon
genommen werden koͤnnen. Demnach laſſen ſich die
Kraͤfte durch Zahlen und Linien vorſtellen. Wir
merken
[510]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
merken nur an, daß die Maſſe die Kraft vergroͤſſert,
die Geſchwindigkeit aber verſtaͤrkt. Und in ſofern
hat die Kraft zwo Dimenſionen.
§. 103.
Da wir hier weiter nichts als die erſten Grund-
ſaͤtze anfuͤhren, ſo uns die einfachen Begriffe ange-
ben: ſo werden wir auch dieſe Betrachtung der Kraͤf-
te hier nicht weiter verfolgen. Man kann aus den
vorhin (§. 21. 96.) gemachten Anmerkungen ſehen,
daß wenn dieſe Lehre a priori ſolle hergeleitet werden,
verſchiedene Fragen noch zu eroͤrtern bleiben. Jn-
deſſen, wenn wir nicht weiter gehen wollen, als die
wirklich in der Natur vorhandene Kraͤfte reichen, ſo
ſind wir allerdings an die vorhin angefuͤhrten Grund-
ſaͤtze (§. 98. ſeqq.) ſo gewoͤhnt, daß es uns ſchwer
faͤllt, andre Moͤglichkeiten zu gedenken, und noch
ſchwerer ſie zu beweiſen. Jn ſofern bleibt es demnach
noch dahin geſtellt, was uns andre Sinnen ferner
zeigen wuͤrden, und was in andern Welten wuͤrde
moͤglich ſeyn. Da wir aber die gegenwaͤrtige zu ge-
brauchen haben, ſo ſind ſolche Moͤglichkeiten gewiſſer-
maſſen fuͤr uns gleichguͤltig.
§. 104.
Die Theorie der Kraͤfte heißt die Dynamik, und
dieſe Wiſſenſchaft ift tranſcendent, ſofern ſie das All-
gemeine der Kraͤfte des Verſtandes, des Willens und
der Bewegung uͤberhaupt betrachtet. (§. 48.) Den
Grund der Vergleichung dieſer dreyerley Kraͤfte, und
uͤberhaupt der Koͤrperwelt und Jntellectualwelt ha-
ben wir bereits (§. 45 — 53.) angegeben. Wir wol-
len zum Behufe dieſer tranſcendenten Dynamik ein
einiges Beyſpiel anfuͤhren, daraus erhellen wird, daß
wir auch dem Verſtande eine Vim inertiae beylegen
koͤnnen. Denn wir finden, daß wir keinen Satz fuͤr
wahr
[511]ſo die einfachen Begriffe angeben.
wahr halten, es ſey denn, daß er entweder aus Gruͤn-
den oder durch die Erfahrung bewieſen werde, oder
uns wenigſtens als bewieſen vorkomme. So lange
dieſes nicht iſt, giebt der Verſtand keinen Beyfall,
und in ſo ferne verhaͤlt er ſich, wie Koͤrper, die wegen
ihrer vis inertiae ſich nicht von ſelbſt bewegen,
ſondern in Bewegung geſetzt werden muͤſſen. Wer
dieſe vim inertiae des Verſtandes in Zweifel zieht,
empfindet ſie eben dadurch, daß er anſteht, ſie zuzuge-
ben, und durch das Bewußtſeyn dieſer Empfindung
giebt er ſie zu. Daß wir ohne Beweggruͤnde, die
wir uns entweder klar vorſtellen, oder dunkel empfin-
den, nichts wollen, iſt ebenfalls eine Erfahrung,
die uns zeigt, daß wir auch dem Willen gewiſſer-
maaßen eine vim inertiae beylegen koͤnnen. Dem-
nach iſt die vis inertiae, ſo wie die Kraft uͤberhaupt,
ein tranſcendenter Begriff, der in der tranſcendenten
Dynamik vorkommt, und in ihren ſpecialern Theilen
mit Zuziehung neuer Beſtimmungen auf den Ver-
ſtand, den Willen und die Koͤrper angewandt wer-
den kann.
§. 105.
Was das Wahre in Abſicht auf den Verſtand iſt,
das iſt das Gute in Abſicht auf den Willen. Wir
haben daher noch zwo Wiſſenſchaften, welche fuͤr den
Willen eben das ſind, was die Dianoiologie und die
Alethiologie fuͤr den Verſtand. Die erſte naͤmlich
enthaͤlt die Geſetze des Wollens, nach denen ſich der
Wille und uͤberhaupt die Begehrungskraͤfte richten,
und einander ſubordinirt ſind. Die andre aber be-
trachtet das Object des Willens, oder das Gute, ſo
wohl an ſich, in ſo fern es naͤmlich eine Schoͤnheit
und Vollkommenheit hat, als in Abſicht auf den
Willen, in ſo fern es Luſt und Begierden erregt.
§. 106.
[512]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
§. 106.
Jn der letzten Abſicht iſt das Gute ein Verhaͤlt-
nißbegriff, weil wir die Dinge gut oder nicht gut
nennen, ſofern ihre Vorſtellung oder Empfindung
Luſt oder Unluſt in uns erweckt.
§. 107.
Hier haben wir nun keine beſtimmte Einheit.
Denn die Vorſtellung oder Empfindung der Sache
kann klarer oder dunkler, die Luſt und Unluſt, und
das Wollen oder nicht Wollen, kann ſtaͤrker oder
ſchwaͤcher ſeyn, und die verſchiedne Stuffen des Gu-
ten koͤnnen von 0 bis zum Unendlichen gehen. Jn
ſofern iſt demnach das Gute vom Wahren, und da-
her auch die Agathologie von der Alethiologie ver-
ſchieden, weil das Wahre eine abſolute Einheit iſt.
(§. 77.)
§. 108.
Die naͤchſte Folge, die wir hieraus ziehen, iſt,
daß die Agathologie ihre groͤßte und abſolute Voll-
kommenheit nicht erreicht, es ſey denn, daß ſie die Mit-
tel angebe, die Groͤße eines jeden Guten, mit der
Groͤße eines jeden andern zu vergleichen, und ſie aus-
zumeſſen. Wolf hat dieſes fuͤr die Grade der Voll-
kommenheit gewuͤnſcht, und es iſt unſtreitig, daß die
Subordination der Pflichten in der Sittenlehre und
Staatskunſt davon abhaͤngt.
§. 109.
Das Gute hat mehrere Dimenſionen. Es kann
der Summe nach groͤßer oder ausgebreiteter ſeyn.
Es kann der Dauer nach groͤßer oder anhaltender ſeyn,
und kann auch intenſive oder der Staͤrke nach groͤſ-
ſer, das will ſagen, an ſich wichtiger ſeyn. Der
Wille richtet ſich nach dieſen Stuffen, und begehrt
das, was ihm der Verſtand nach allen Dimenſionen
als
[513]ſo die einfachen Begriffe angeben.
als beſſer vorſtellt, die Vorſtellung ſelbſt mag richtig
oder unrichtig ſeyn.
§. 110.
Wir halten uns aber hiebey nicht laͤnger auf, weil
wir hier uͤberhaupt nur die Abſicht hatten, die ein-
fachen Begriffe, die wir im vorhergehenden Haupt-
ſtuͤcke ausgeleſen haben, in ihren unmittelbarſten Mo-
dificationen und Verbindungen zu betrachten. Wir
werden nun noch einige Verhaͤltnißbegriffe vorneh-
men, die einfacher und allgemeiner ſind, weil dieſe ei-
gentlich dienen, uns von einem Begriff auf den an-
dern zu fuͤhren.
§. 111.
Der erſte dieſer Begriffe iſt die Jdentitaͤt oder
Einerleyheit, und dieſe wird der Verſchiedenheit
und Veraͤnderung entgegengeſetzt. So fern dem-
nach eine Sache unveraͤndert iſt, ſo fern iſt ſie ſich
ſelbſt einerley, und ſofern ſie unveraͤnderlich iſt, ſo
fern iſt ſie mehr oder minder nothwendig ſich ſelbſt
einerley, oder eben dieſelbe. Auf dieſe Art ſagen
wir, daß Gott immer eben daſſelbe Weſen ſey.
§. 112.
Der Begriff der Jdentitaͤt giebt uns verſchiedne
Grundſaͤtze von ausgedehntem Gebrauche. Sie
kommen vornehmlich darauf an, daß, wenn alles,
was an einer Sache verſchieden ſeyn kann,
einerley iſt, auch die Sache einerley ſey. Z. E.
Wenn einerley Urſache auf einerley Art und in einer-
ley Stoff und mit einerley Kraft wirkt, ſo iſt auch
die Wirkung einerley. So auch: wenn einerley Sa-
che auf einerley Art veraͤndert wird, ſo iſt auch die
veraͤnderte Sache einerley.
Lamb. Org. I. Band. K k§. 113.
[514]II. Hauptſt. von den Grundſaͤtzen u. Forder.
§. 113.
Wir gebrauchen ferner die Jdentitaͤt auch bey
Vergleichungen, und dabey den Grundſatz: Daß
zwo Sachen in ſo fern einerley ſind, ſofern
jede in einerley Stuͤcken mit einer dritten Sa-
che einerley iſt. Und dieſer Grundſatz reicht um
deſto weiter, weil wir nicht immer zwo Sachen un-
mittelbar unter ſich vergleichen koͤnnen, und weil es
nicht ſelten vorkoͤmmt, daß man mehr in den Wor-
ten als in der Sache ſelbſt von einander abgeht.
Denn in dem letzten Fall muß man die Worte ſo zu
reden auf einen gleichen Maaßſtab bringen, um zu
ſehen, ob ſie von einander in der Bedeutung und ih-
rem Umfange verſchieden ſind.
§. 114.
Die Jdentitaͤt des Orts und der Zeit ſchließen
einander in ſo fern aus, daß beydes nicht zugleich
bey Dingen ſeyn kann, deren jedes einen beſondern
Raum erfordert, oder das andre ausſchleußt. Denn
ſind dieſe Dinge zugleich, ſo ſind ſie nicht an
einerley Ort; Sind ſie aber an einerley Ort, ſo
ſind ſie es nicht zugleich. Dieſe beyden Saͤtze
haben auch im gemeinen Leben einen haͤufigen Ge-
brauch.
§. 115.
Die Jdentitaͤt der Groͤße heißt insbeſondre die
Gleichheit, und Dinge ſind gleich, aequales, ſo-
fern ſie einerley Groͤße haben. Die vorhin ange-
brachten Saͤtze von der Jdentitaͤt werden daher leicht
auf die Gleichheit angewandt. Naͤmlich: Wenn
zwo Groͤßen einer dritten gleich ſind, ſo ſind
ſie unter ſich gleich. Wenn gleiche Groͤßen
auf einerley Art veraͤndert, oder um gleich viel
ver-
[515]ſo die einfachen Begriffe angeben.
vermehrt oder vermindert werden, ſo ſind die
herauskommenden Groͤßen ebenfalls gleich.
§. 116.
Dieſe Grundſaͤtze, aus denen ſich leicht ſpecialere
herleiten laſſen, ſind in der ganzen Mathematik von
ſehr ausgedehntem Gebrauche, und es iſt nicht zu
zweifeln, daß nicht auch die weit allgemeinere Grund-
ſaͤtze von der Jdentitaͤt, aus welchen ſie hergeleitet
ſind, (§. 112. 113.) eben ſo brauchbar gemacht wer-
den koͤnnen.
§. 117.
Da ſich bey den Zahlen, bey den Dimenſionen der
Ausdehnung, bey der Dauer, Bewegung, Geſchwin-
digkeit, Kraft, Guten, (§ 74. 79. 86. 91. 102. 107.)
und uͤberhaupt, wo Groͤßen oder Grade von 0 bis ins
Unendliche oder wenigſtens bis auf eine determinirte
Einheit gehen, jeder Theil der Groͤße oder jeder Grad
wiederholen laͤßt: ſo macht die Anzahl der Wieder-
holungen ein Verhaͤltniß aus, wodurch beſtimmt
wird: wie vielmal eine Sache groͤßer ſey, als eine
andre. Und dieſes Verhaͤltniß,Ratio dient dem-
nach, eine Groͤße durch eine andre, und zwar ohne
Zuziehung einiger andern Groͤßen zu beſtimmen. Von
dieſem Begriffe haben wir in der Dianoiologie, (§. 12.)
die Definition eines Verhaͤltnißbegriffes uͤberhaupt
abſtrahirt. Denn da die Dinge oder Begriffe, die
wir mit einander zu vergleichen haben, nicht immer
ganz oder in allen Abſichten einerley ſind, ſo wird die
Aehnlichkeit und Verſchiedenheit durch ſolche Verhaͤlt-
nißbegriffe angezeigt, und dieſe ſind ſehr oft von dem
Eindrucke hergenommen, den die Verſchiedenheit oder
auch die Aehnlichkeit der Dinge auf uns macht. Die
Praͤpoſitionen zu, bey, vor, nach, neben, durch,
fuͤr ꝛc. und eine Menge von den Aduerbiis oder
K k 2Bey-
[516]III. Hauptſtuͤck,
Beywoͤrtern der Sprache druͤcken ſolche, und meh-
rentheils einfache, Verhaͤltnißbegriffe aus. Die
Begriffe Herr, Diener, Vater, Koͤnig, Ein-
wohner, Behaͤltniß, ſtark, ſchwach, Ganz,
Theil, Urſach, Wirkung, Mittel, Abſicht ꝛc.
Die meiſten Verba in der Sprache ſind ebenfalls
nichts anders, als Verhaͤltnißbegriffe, welche aber
nicht immer einen ſpecialen Begriff durch einen an-
dern vollſtaͤndig beſtimmen, ſondern nur gewiſſe allge-
meinere Begriffe zuſammenhaͤngen. Hingegen ſtellen
die Geſetze auf eine beſtimmtere Art Verhaͤltniſſe vor.
(Dianoiol. §. 50.)
Drittes Hauptſtuͤck.
Von zuſammengeſetzten Begriffen.
§. 118.
Wir ſind nun mit der erſten Grundlage unſrer Er-
kenntniß ſo weit geruͤckt, daß wir einfache Be-
griffe ausgeleſen, und die erſten Grundſaͤtze und Po-
ſtulata, ſo ſie uns anbieten, auseinander geſetzt haben.
So haben wir auch die Wiſſenſchaften angezeigt, die
jeden einfachen Begriff beſonders zum Gegenſtande
haben. Es wird nun nicht undienlich ſeyn, daruͤber
einige allgemeinere Anmerkungen zu machen, ehe wir
zu den zuſammengeſetzten Begriffen fortgehen.
§. 119.
Wir haben in beyden vorhergehenden Hauptſtuͤ-
cken wenige Definitionen gegeben, und achten die ge-
meine Bedeutung der gebrauchten Woͤrter hinreichend,
die einfachen Begriffe und Grundſaͤtze beſtimmt ge-
nug auszudruͤcken, die wir angebracht haben. Dieſes
Ver-
[517]von zuſammengeſetzten Begriffen.
Verfahren laͤßt ſich aus mehrern Gruͤnden rechtfer-
tigen. Denn einmal haben wir bereits oben (§ 30.)
angemerkt, daß eben die Woͤrter, welche unſre ein-
fache Begriffe ausdruͤcken, am wenigſten vieldeutig
oder in ihrer Bedeutung veraͤnderlich ſind. Sollten
ſie demnach definirt werden, ſo wuͤrde es durch Woͤr-
ter geſchehen muͤſſen, deren Bedeutung unbeſtimmter
und veraͤnderlich iſt. Damit waͤre nun der Richtig-
keit unſrer Erkenntniß wenig geholfen, weil dieſe ganz
im Gegentheil fordert, daß das unbeſtimmtere durch
das, ſo beſtimmter iſt, veſtgeſetzt werde.
§. 120.
Sodann wuͤrden die Definitionen einfacher Be-
griffe, wenn ſie auch an ſich gemacht werden koͤnnen,
weder dieſe Begriffe kenntlicher machen, noch zur
Beſtimmung ihres Umfanges etwas beytragen. Denn
einfache Begriffe ſind fuͤr ſich gedenkbar und haben
auch keine gemeinſame innere Merkmaale, wodurch
ſie etwann leicht koͤnnten verwechſelt werden. Aus
gleichem Grunde, da ſie ſich ſelbſt ihr eigenes Merk-
maal ſind, ſo haben ſie auch keinen Umfang, der meh-
rere Merkmaale in ſich ſchloß, und deſſen Groͤße oder
Ausdehnung beſtimmt werden muͤßte, wie dieſes bey
zuſammengeſetzten Begriffen nothwendig iſt.
§. 121.
Ferner laſſen ſich einfache Begriffe ohne einen
logiſchen Zirkel nicht definiren. Denn man muͤßte
zuſammengeſetzte Begriffe dazu gebrauchen, von de-
nen man noch nicht bewieſen haͤtte, ob ſie auf eine
guͤltige Art zuſammengeſetzt ſind, oder ob ſie nicht
etwas Widerſprechendes haben.
§. 122.
Endlich da man in dem Vortrage der Erkenntniß
das Poſtulatum annehmen muß, daß man den Woͤr-
K k 3tern
[518]III. Hauptſtuͤck,
tern nicht ohne tuͤchtigen Grund eine andre Bedeu-
tung gebe, als ſie an ſich ſchon haben, ſo iſt unſtreitig,
daß die Bedeutung der Woͤrter, die einfache Begriffe
vorſtellen, am leichteſten beybehalten werden kann,
weil ſie nicht erſt durch eine weitlaͤuftige Entwicke-
lung der Begriffe darf entſchieden und veſtgeſetzt
werden.
§. 123.
Dieſe Anmerkungen dehnen wir hier nicht weiter
aus, als auf die in vorhergehenden beyden Haupt-
ſtuͤcken betrachteten einfachen Begriffe. Dieſe haͤtten
mit Zuziehung jeder Woͤrter, wodurch man ihre Mo-
deficationen und einfachſten Verhaltniße vorſtellt,
allerdings ausfuͤhrlicher betrachtet werden koͤnnen, wie
es Locke in ſeinem Buche von dem menſchlichen Ver-
ſtande thut. Wir haben aber hier die Abſicht nicht,
unſre Begriffe nur zu anatomiren, und ſo fern dieſes
noͤthig iſt, mag es in den angezeigten Wiſſenſchaften
geſchehen, die jeden einfachen Begriff beſonders zu
ihrem Gegenſtande haben. Da wir die Woͤrter in
ihrer gemeinen und eigentlichen Bedeutung genom-
men haben, ſo koͤnnen wir allerdings als ein Poſtula-
tum ſetzen, daß man von dem Bewußtſeyn, der
Exiſtenz, Einheit, Dauer, Succeßion, Zeit,
Ausdehnung, Ort, Raum, Bewegung, Wil-
len, Kraft ꝛc. einen klaren Begriff habe.
§. 124.
Ferner haben wir die Grundſaͤtze und Poſtulata
ebenfalls ſchlechthin als ſolche angegeben, und hierinn
ſind wir dem Euclid gefolgt. Dieſe Grundſaͤtze und
Poſtulata ſind nicht erſt aus Definitionen hergeleitet,
und ſo viel ich begreife, ſollen ſie es auch nicht ſeyn.
Denn die Definitionen dienen entweder den Begriff
deutlich zu machen, oder ſeinen Umfang zu beſtim-
men.
[519]von zuſammengeſetzten Begriffen.
men. Beydes faͤllt bey einfachen Begriffen weg, weil
dieſe ſich ſelbſt ihr eigenes und einiges inneres Merk-
maal ſind, und folglich nicht mehr als klar ſeyn koͤn-
nen, eben deswegen, weil ſie einfach ſind. Da nun
die Grundſaͤtze gewiſſe Modificationen, die Poſtulata
aber gewiſſe Moͤglichkeiten bey den einfachen Begrif-
fen anzeigen, ſo iſt offenbar, daß dieſe Modiſicatio-
nen und Moͤglichkeiten an ſich auch einfach ſind, und
zugleich auch mit dem einfachen Begriffe klar und zu-
gegeben werden.
§. 125.
Zu dem koͤmmt noch, daß, wenn man ſolche De-
finitionen machen, und die Grundſaͤtze daraus herlei-
ten will, die Definitionen entweder nichts als Syno-
nyma angeben, oder den einfachen und an ſich klaren
Begriff mehr verdunkeln als aufklaͤren, und meh-
rentheils ſo eingerichtet werden, daß ſich der vorha-
bende Grundſatz daraus herleiten laſſe. Richtet
man aber eine Definition gewiſſen Saͤtzen zu liebe viel-
mehr ſo als anders ein, ſo kann der Leſer allerdings
ein Mißtrauen darauf ſetzen, und Definition und
Saͤtze wegen des Zirkels, der in ſolchem Vortrage
verſteckt liegt, mit einem male verwerfen. Es iſt
immer mißlich, wenn man ſieht, daß ein Satz bloß
dadurch bewieſen wird, weil man die Definition dazu
eingerichtet hat. Man verfaͤllt dadurch in einen
leeren Wortkram, der eben ſo ſchlecht iſt, als der,
den man ſo oft ſchon den Schullehrern vorgeworfen
hat. Und in der That iſt er auch nicht viel davon
verſchieden.
§. 126.
Uebrigens iſt es unſtreitig, daß die angezeigten
Grundſaͤtze und Forderungen, in den Wiſſenſchaf-
ten, dahin ſie gehoͤren, zugleich mit den einfachen
K k 4Be-
[520]III. Hauptſtuͤck,
Begriffen ausfuͤhrlicher vorgetragen werden, damit,
wenn auch noch irgend ein Mißverſtand in den Wor-
ten mit unterlaufen koͤnnte, demſelben vorgebogen
werde. Dieſes war aber hier unſre Abſicht nicht.
Denn da wir ſie hier nur anzeigen wollten, um ſie
gleichſam im Ganzen zu betrachten, ſo haben wir
ſie ſo viel noͤthig war, zuſammen aufgehaͤuft. Jn-
deſſen aber fordern ſie, um einleuchtend zu werden,
weiter nichts, als die klare Vorſtellung der Begriffe,
und die benoͤthigte Aufmerkſamkeit. Wir wollen ſie
nun untereinander vergleichen.
§. 127.
Unter den Wiſſenſchaften, ſo die einfachen Be-
griffe zum Gegenſtande haben, iſt bisher vornehmlich
nur noch die Arithmetik und Geometrie (§. 74. 82.)
in eine ſtrengere wiſſenſchaftliche Form gebracht.
Wir wollen die Geometrie zum Muſter nehmen, und
da iſt offenbar, daß die dafuͤr angegebenen Grundſaͤtze
und Poſtulata (§. 83. 84. 115.) diejenigen ſind,
wodurch die tiefſinnigſten geometriſchen Lehrſaͤtze und
Aufgaben moͤglich gemacht, erwieſen und aufgeloͤſt
werden koͤnnen. Euclid hat ſie etwas ſpecialer vor-
getragen, und mehrere einzelne daraus gemacht, um
ſie ſo zu reden naͤher bey der Hand zu haben.
§. 128.
Ob nun die Chronometrie und Phoronomie einen
aͤhnlichen und gleich ſtrengen Vortrag leide, laͤßt ſich
aus der Aehnlichkeit der Grundſaͤtze und Forderungen
(§. 78 ſeqq 89 ſeqq.) leicht abnehmen, wenn man
ſie mit den geometriſchen vergleicht. Die Poſtulata
geben allgemeine Moͤglichkeiten an, und dieſe muß
man nothwendig haben, wenn man die beſtimmtern
Moͤglichkeiten daraus herleiten will.
§. 129.
[521]von zuſammengeſetzten Begriffen.
§. 129.
So ſind auch die (§. 98 ſeqq.) angegebene Ge-
ſetze der Bewegung in der Mechanik bereits ſchon
gebraucht, und auf die in der Natur vorkommenden
Faͤlle haͤufig angewandt, und von dem, was wir
(§. 93 ſeqq.) in Anſehung der Dichtigkeit der Ma-
terie kurz angefuͤhrt haben, iſt das, ſo in der Hydro-
ſtatik davon vorkoͤmmt, nur eine ſpeciale An-
wendung.
§. 130.
Alle dieſe Grundſaͤtze gehen nun vornehmlich auf
das Mathematiſche in unſrer Erkenntniß, und in der
That fließen ſie auch nur daraus, daß wir geſehen
haben, wiefern die (§. 68.) angezeigten einfachen
Begriffe, Einheiten admittiren. So haben wir
auch (§. 108.) angemerkt, daß die Wiſſenſchaft des
Guten oder die Agathologie keine abſolute Vollkom-
menheit haben wird, ſo lange nicht die Grade des Gu-
ten nach allen Dimenſionen beſtimmt werden koͤnnen.
§. 131.
Man kann auch leicht zeigen, daß wir in der Na-
turlehre nur in ſo fern eine wiſſenſchaftliche Er-
kenntniß haben, in ſo fern wir nicht nur den Mecha-
niſmum wiſſen, nach welchem die Veraͤnderungen
geſchehen, ſondern auch aus der Groͤße der Urſachen
die Groͤße der Wirkungen beſtimmen koͤnnen. Die
uͤbrigen Verſuche und Wirkungen der Natur haben
wir in der Dianoiologie (§. 535 587.) chymiſch
genennt, und zugleich auch angezeigt, wie ſie durch-
aus a poſteriori und daher unter allen am wenigſten
wiſſenſchaftlich ſind.
§. 132.
Sodann, da die einfachen Begriffe nicht mehrere
innere Merkmaale haben, ſo iſt klar, daß, wenn ſie
K k 5nicht
[522]III. Hauptſtuͤck,
nicht Grade admittiren, ihre Theorie an ſich faſt noth-
wendig ſehr kurz ſey. Man betrachte z. E. den
Raum an ſich, ſo ſtellt uns der Begriff davon Theile
vor, die ſchlechthin nur der Lage und Groͤße nach
verſchieden ſind, folglich dabey keine fernere Theorie,
als die Meßkunſt moͤglich bleibt. Eben dieſes findet
ſich, wenn man die Zeit an ſich betrachtet. Da der
Begriff der Exiſtenz eine abſolute Einheit iſt, ſo
koͤmmt bey demſelben auch nicht einmal eine mathe-
matiſche Theorie vor, und dieſer Begriff iſt gleichſam
ſich ſelbſt uͤberlaſſen, dafern man ihn nicht mit an-
dern Begriffen in Verhaͤltniß bringt.
§. 133.
Uebrigens ſind wir im vorhergehenden Haupt-
ſtuͤcke nicht ſo ſchlechthin bey dem mathematiſchen
ſtehen geblieben, ſondern wir haben die einfachen
Begriffe auf verſchiedne andre Arten unter
ſich verglichen. Die Reduction der Gewißheit auf
das Bewußtſeyn unſrer Exiſtenz, (§. 72.) die Ab-
haͤnglichkeit einiger Wahrheiten von Zeit und Ort;
(§. 81. 87.) die Verhaͤltniſſe zwiſchen der Bewe-
gung, Dauer und Zeit, (89. 92) ꝛc. moͤgen zum
Beyſpiele dienen, und wir haben ſie auch nur als
Beyſpiele angefuͤhrt, weil wir uns nicht vorgenom-
men hatten, die einfachen Begriffe weitlaͤuftiger zu
betrachten, als in ſo fern wir ſie als die Grundlage
unſrer Erkenntniß anſehen, und den Leitfaden anzei-
gen wollten, die daraus entſpringende Erkenntniß
wiſſenſchaftlich zu machen.
§. 134.
Wir koͤnnen noch, theils um zu zeigen, daß das
Mathematiſche bey dieſen einfachen Begriffen lange
nicht das geringſte dabey ſey, theils auch wegen des
folgenden, hier anmerken, daß eben die unendlich
vielen
[523]von zuſammengeſetzten Begriffen.
vielen Abwechslungen, welche die einfachen Begriffe
in Anſehung ihrer Grade zulaſſen, bey den zuſam-
mengeſetzten Begriffen eine unendliche Mannigfaltig-
keit giebt, und zwar dergeſtalt, daß man dieſe oͤfters
fuͤr weſentlich, und der Art nach verſchieden anſieht,
da ſie doch nur in den Graden verſchieden ſind.
Jn der Naturlehre iſt dieſes offenbar. Man darf
ſich nur vorſtellen, wie viele Mannigfaltigkeiten in
den Koͤrpern ſchlechthin dadurch moͤglich ſind, daß die
Figur, die Lage und Kraͤfte der kleinſten Theile ſtuf-
ſenweiſe veraͤndert genommen werden. Eine kleine
Aenderung in der Lage der Theilchen kann einem
Koͤrper eine andre Farbe geben, und der Unterſchied
in der Waͤrme macht bald alle Koͤrper hart und fluͤßig.
Man kann mit gutem Grunde anſtehen, ob die Nahrung
der Pflanzen und Thiere ſich anders als durch ſolche klei-
ne Aenderungen in ſo unzaͤhlig vielerley Saͤfte und
veſte Theile verwandle, und ob nicht uͤberhaupt alle
Koͤrper aus einerley Grundſtoff beſtehen?
§. 135.
Die Moͤglichkeit zuſammengeſetzter Begriffe liegt
bereits in den einfachen, und ſo fern dieſe an ſich ſchon
ſich ausſchließen, ſo fern ſind auch die daraus zuſam-
mengeſetzten nicht moͤglich, ſondern bloße Hirngeſpinn-
ſte. Man ſieht auch hieraus, was die allgemeinen
Moͤglichkeiten, die die im vorhergehenden Hauptſtuͤcke
angezeigten Poſtulata angeben, ingleichen verſchiedne
verneinende Saͤtze, die ſich ſchon bey den einfachen
Begriffen einfinden, in Abſicht auf die Moͤglichkeit
und Unmoͤglichkeit zuſammengeſetzter Begriffe zu
ſagen haben. So z. E. zeigt man in der Geometrie
die Graͤnzen der Moͤglichkeit jeder Figuren, und was
jede Beſtimmung nothwendig nach ſich ziehe, damit
man ſich nicht etwann traͤumen laſſe, es gebe z. E.
Trian-
[524]III. Hauptſtuͤck,
Triangel, die gleiche Seiten und ungleiche Winkel
haben, oder Figuren, deren eine Seite laͤnger ſey,
als die uͤbrigen zuſammengenommen ꝛc. Es iſt un-
ſtreitig, daß man ſolche einfachern Moͤglichkeiten
und Unmoͤglichkeiten genau wiſſen muͤſſe, wenn man
ſich von den zuſammengeſetztern verſichern will. Und
oͤfters ſind ſie auch zureichend, um bey vielen vorgeb-
lichen Erfahrungen die ſo genannten Vitia ſubreptio-
nis zu entdecken.
§. 136.
Die zuſammengeſetzten Begriffe ſind von ver-
ſchiednen Arten. Einmal ſind unſtreitig die von zu-
ſammengeſetzten Dingen ebenfalls zuſammengeſetzt.
So fern ſich daher Dinge zuſammenſetzen laſſen, ſo-
fern koͤnnen auch die Begriffe zuſammengeſetzt wer-
den. Und die meiſten Begriffe, ſo wir aus der Er-
fahrung haben, ſind es, wie z. E. die Begriffe jeder
Koͤrper, und unſrer Handlungen.
§. 137.
Sodann, ſofern wir von den Verhaͤltniſſen, die
bey zuſammengeſetzten Dingen vorkommen, mehrere
zuſammennehmen, ſo fern ſind auch dieſe Verhaͤlniß-
begriffe zuſammengeſetzt. Die Auswahl, die hiebey
bleibt, daß wir naͤmlich mehr oder minder in einen
Begriff zuſammennehmen koͤnnen, traͤgt ungemein
viel dazu bey, daß die Woͤrter, wodurch man ſolche
zuſammengeſetzte Verhaͤltnißbegriffe ausdruͤckt, von
ſehr veraͤnderlicher Bedeutung ſind, und theils viel-
deutig werden, theils auch mit der Zeit ihre Bedeu-
tung ganz aͤndern, und zu Wortſtreitigkeiten haͤuſi-
gen Anlaß geben. Da nun dieſes in Anſehung der
Richtigkeit und Unrichtigkeit unſrer Erkenntniß viel
auf ſich hat, ſo wollen wir die Sache genauer un-
terſuchen.
§. 138.
[525]von zuſammengeſetzten Begriffen.
§. 138.
Wir haben bereits ſchon einigemal angemerkt,
daß die Woͤrter, welche einfache Begriffe vorſtellen,
ihre Bedeutung wenig aͤndern, und allerdings wird
man, ſo lange die Sprache bleibt, durch die Namen
der Farben, des Schalls, der Zeit, des Raumes ꝛc.
immer eben die Sachen verſtehen. Auf eine aͤhnliche
Art aͤndern auch die Woͤrter ihre Bedeutung nicht
leicht, welche eine Sache vorſtellen, die an ſich ein
Ganzes iſt, und nicht erſt nach unſrer Willkuͤhr dazu
gemacht werden darf, dergleichen z. E. die Woͤrter:
Sonne, Mond, Stern, Waſſer, Erde, Menſch,
Haus, Kirche, Thurm, Luft ꝛc. ingleichen die Na-
men der Thiere, Pflanzen, Metalle ꝛc. ſo die Natur
ſelbſt in bleibende Arten eingetheilt hat, ſind. Bey
dieſen Dingen haben wir nicht die Wahl, wie viel
oder wenig Begriffe wir zuſammennehmen wollen,
um den Begriff der ganzen Sache zu bilden, und
wenn wir uns auch etwann uͤberſehen, ſo muͤſſen wir
immer wiederum den Begriff nach der Sache
richten, die das Wort vorſtellt.
§. 139.
Hingegen, wo wir eine gewiſſe Anzahl von Merkmaa-
len oder Verhaͤltnißbegriffen zuſammennehmen, und
durch ein Wort ausdruͤcken, da iſt es nicht ſo leicht einzu-
ſehen, wie viele oder wie wenig wir in der That zu-
ſammennehmen, und ob allemal alle wiederum da vor-
kommen, wo wir ſie zu finden vermeynen.
§. 140.
Noch mißlicher aber ſieht es aus, wo das Wort
bereits eingefuͤhrt iſt. Denn da fangen wir von Ju-
gend auf an, die Woͤrter mehrentheils ohne die
Sachen zu lernen, und anſtatt daß wir Definitio-
nen haben ſollen, die den Umfang ſolcher Begriffe
genau
[526]III. Hauptſtuͤck,
genau angeben, ſo muͤſſen wir dieſen faſt immer nur
aus denen Faͤllen nach und nach kennen lernen, wobey
wir das Wort von andern richtig oder unrichtig ge-
brauchen hoͤren, und ſeine Bedeutung erſt aus einer
unbeſtimmten Menge, und oͤfters ſehr gelegentlich uns
bekannt machen.
§. 141.
Die Folgen, die hieraus entſtehen, ſind nicht im-
mer Kleinigkeiten. Die meiſten Secten in der Welt-
weisheit und Religion haben ihren Urſprung daher.
Sadocs und Epikurs Schuͤler haben ihre Lehrer
auf dieſe Art uͤbel verſtanden. Die platoniſchen Leh-
ren wurden auf eine aͤhnliche Art mit den Lehren der
chriſtlichen Religion vermengt. Spinoza baute ſein
Syſtem, welches Religion und Sitten den Umſturz
drohete, auf den uͤbel verſtandnen Begriff der Sub-
ſtanz. Die meiſten Voͤlker ſind in dem, was gut,
recht, heilig, billig ꝛc. iſt, verſchiedner und oͤftersganz
entgegengeſetzter Meynung. Die Schriften der
Weltweiſen verſchiedner Laͤnder und Zeiten ſind aus
eben dem Grunde oͤfters mehr in den Worten als in
der Sache verſchieden, weil ſie mehr oder minder
und zuweilen ganz andre Begriffe in einen Begriff
zuſammennehmen, und dieſes macht, daß wer an ein
gewiſſes Syſtem von ſolchen Worten und Begriffen
gewoͤhnt iſt, ſich nicht leicht in ein andres, und wenn
es auch richtiger waͤre, finden kann, und daß hingegen
auch, wer ſich mehrere zugleich bekannt macht, unver-
merkt alle verwirrt, und ſich zu keinem entſchließen
kann.
§. 142.
Solche Begriffe ſind gleichſam willkuͤhrliche Ein-
heiten, und gleichen in dieſer Abſicht den Maaßſtaͤben,
die in jeden Laͤndern, und zu verſchiednen Zeiten ver-
ſchie-
[527]von zuſammengeſetzten Begriffen.
ſchieden ſind, oder der Eintheilung der Erdflaͤche in
beſondre Laͤnder, die in Abſicht auf ihre Regierung
und Graͤnzen immer abwechfeln, und die man nicht
immer ſo genau kennt. Das Reich der Wahrheit, ſo
unveraͤnderlich es an ſich iſt, leidet in Abſicht auf
das, was wir davon wiſſen, aͤhnliche Abaͤnderungen,
ſo fern ſich jeder anmaßt einzelne Stuͤcke daraus nach
Willkuͤhr zuſammenzunehmen.
§. 143.
So lange nun in ſolchen willkuͤhrlich zuſammen-
genommenen Begriffen nichts widerſprechendes iſt,
ſo moͤgen ſie immer angehen. Allein ſofern man da-
bey willkuͤhrlich verfaͤhrt, kann man auch nicht for-
dern, daß andre juſt eben die Begriffe, und auf eben
die Art zuſammennehmen. Man ſieht leicht, daß hie-
bey eine Combination moͤglich iſt, wodurch alle Ab-
wechslungen, die man mit einer gewiſſen Anzahl Be-
griffe vornehmen kann, beſtimmt werden. Und thut
man dieſes, ſo iſt unſtreitig, daß man nicht nur jedem
Genuͤgen leiſten, ſondern auch noch alle Luͤcken, die
zuruͤck bleiben, ausfuͤllen kann. Dieſes iſt nun aber
nicht immer ſo leicht, als man es wuͤnſchen koͤnnte,
und man mag leicht viele Begriffe zu combiniren vor-
nehmen, ſo verfaͤllt man in Weitlaͤuftigkeiten, die
nicht allemal zu uͤberſteigen, und wobey nicht alle
durch die Combination herausgebrachte Begriffe gleich
brauchbar ſind. Von ſolchen Combinationen, die
richtig ſind, giebt noch immer die Trigonometrie und
die Vernunftlehre die beſten Beyſpiele. Wir haben
letztere in dem dritten, vierten und fuͤnften Haupt-
ſtuͤcke der Dianoiologie betrachtet, in dem zweyten
Hauptſtuͤcke aber uͤberhaupt die Regeln ſolcher Com-
binationen angegeben.
§. 144.
[528]III. Hauptſtuͤck,
§. 144.
Bey allen ſolchen Begriffen, deren Umfang will-
kuͤhrlich iſt, wird es nothwendig, denſelben durch ge-
naue Definitionen zu beſtimmen, wozu wir im erſten
Hauptſtuͤcke der Dianoiologie ausfuͤhrliche Anweiſung
gegeben haben. Da ſie zuſammengeſetzt ſind, ſo muß
nicht nur die Moͤglichkeit eines jeden Merkmaals
fuͤr ſich, ſondern auch die Moͤglichkeit der Zuſam-
menſetzung erwieſen werden, es ſey, daß man durch
die Erfahrung zeige, daß ſolche Merkmaale irgend
beyſammen ſind; oder daß man es aus Gruͤnden aus-
mache. Jm erſten Fall werden ſie zu richtigen und
erwieſenen Erfahrungsbegriffen, im andern Fall
aber zu eigentlich ſogenannten Lehrbegriffen ge-
macht. Wir koͤnnen noch anmerken, daß ſich ſolche
Begriffe unter allen am leichteſten definiren laſſen.
Denn da ſie aus einer gewiſſen Anzahl von Merkmaa-
len beſtehen, die man zuſammennimmt, ſo gebraucht
es nichts weiters, als daß man dieſe Merkmaale
aufſuche, und ſehe, wie ſie mit einander verbunden
ſind. Die meiſten metaphyſiſchen und moraliſchen
Begriffe gehoͤren in dieſe Klaſſe. Man muß ſich aber
vor dem vorhin (§. 125.) angezeigten Fehler dabey
huͤten, weil ſonſt ſolche Definitionen zu einem leeren
Wortkram werden.
§. 145.
Man thut hiebey auch wohl, wenn man ſolche
Faͤlle anfuͤhren kann, wobey das Wort, oder beſſer zu
ſagen, der Begriff, den es vorſtellt, am wenigſten
mit fremden Umſtaͤnden vermengt vorkoͤmmt, aber
ganz dabey vorkoͤmmt. Solche Faͤlle duͤrfen eben
nicht immer ſpecial ſeyn, ſondern oͤfters giebt es ganze
Klaſſen. Z. E. Um ſich vorzuſtellen, daß das will-
kuͤhrliche in dem Umfange der zuſammengeſetzten
Be-
[529]von zuſammengeſetzten Begriffen.
Begriffe, nicht immer den, der ſie anders nimmt,
als wir ſie nehmen, unverſtaͤndlich mache, darf man
ſich nur der Faͤlle erinnern, wobey man ſagt:
jemand druͤcke ſich unſchicklich aus, man ver-
ſtehe aber doch, was er ſagen will. Dieſes
geſchieht mehrentheils, wo der genaue Verſtand der
Worte eine Ungereimtheit mit ſich bringen wuͤrde,
von welcher man verſichert iſt, daß ſie der Redende
nicht hat ſagen wollen. Bey Leuten, die der Spra-
che nicht maͤchtig ſind, oder die die Kunſtwoͤrter in
den Wiſſenſchaften nicht genau wiſſen, kommen ſol-
che unſchickliche Ausdruͤcke oft vor.
§. 146.
Das vornehmſte aber iſt, daß man das Willkuͤhr-
liche in den zuſammengeſetzten Begriffen ſo viel moͤg-
lich ſuche abzuſchaffen. Dieſes geſchieht nun nicht
nur, wenn man den Begriff und ſeinen Umfang
durch eine richtige Definition genau beſtimmt, ſon-
dern vornehmlich auch dadurch, wenn man zeigen
kann, daß man zureichende Gruͤnde habe, dieſen
Umfang weder weiter noch enger zu machen, folglich,
daß die zuſammengenommenen Merkmaale einen rea-
len, netten und brauchbaren Begriff geben, der be-
ſonders genommen und betrachtet zu werden verdiene.
§. 147.
Ferner iſt hiezu dienlich, daß man die Begriffe
nach den Sachen und die Worte nach beydem richte,
und folglich anfange zu ſehen, ob die Sache wirklich
ſey, welche Unterſchiede ſich darinn finden, und war-
um ſie beſonders betrachtet werden muͤſſe. Denn iſt
die Sache wirklich, und der Begriff ein realer Be-
griff, ſo ſind unſtreitig die Worte nur Zeichen da-
von, und ſo bald man genugſam anzeigt, was ſie
vorſtellen, und daß die Vorſtellung nichts erdichtetes
Lamb. Org. I. Band. L loder
[530]III. Hauptſtuͤck,
oder ertraͤumtes iſt, ſo haͤlt man ſich auch an der Ety-
mologie ſo ſtrenge nicht auf, und da gilt das: In
verbis ſimus faciles, allerdings. Redensarten, in
welchen das Wort in dem Verſtande, den man ihm
giebt, genau vorkommt, dienen oͤfters ſo gut und
beſſer, als Definitionen.
§. 148.
Da die verwandten Begriffe am leichteſten con-
fundirt werden, ſo iſt es bey denſelben vorzuͤglich
nothwendig, nicht bloß ihre Worte, ſondern die Sa-
che ſelbſt genau auseinander zu leſen, ihre Unterſchiede
zu beſtimmen, und die Abzaͤhlung derſelben vollſtaͤndig
zu machen. Auf dieſe Art iſt z. E. die Abtheilung
der Begriffe in dunkle, klare, deutliche ꝛc. real,
und auf beſtimmte Unterſchiede gebracht.
§. 149.
Da ferner das Willkuͤhrliche in den zuſammenge-
ſetzten Begriffen bloß darinn beſteht, daß man mehr
oder minder einfachere Merkmaale in einen Begriff
zuſammennimmt, ſo wuͤrde es allerdings gut ſeyn,
wenn man theils fuͤr die einfachen Merkmaale, theils
auch fuͤr die Arten ihrer Zuſammenſetzung mehr Woͤr-
ter haͤtte, als fuͤr wirklich zuſammengeſetzte Begriffe.
Was dieſes ſagen will, wollen wir durch einige be-
reits vorhandene Beyſpiele erklaͤren. Man weis,
daß die Chineſer in ihren Schriften fuͤr jedes Wort
ein beſondres Zeichen haben, und daß dieſes die Er-
lernung ihrer Sprache und Schriften ungemein muͤh-
ſam macht. Man ruͤhmt daher den Erfinder der
Buchſtaben, wodurch wir nun nicht unmittelbar die
Sachen, ſondern den Klang der Woͤrter vorſtellen,
und folglich auch die Sprache derer Voͤlker, die keine
Schriften haben, ſchreiben koͤnnen, ſo bald wir ſie
reden hoͤren. Wie ſehr dieſes die Erlernung einer
Spra-
[531]von zuſammengeſetzten Begriffen.
Sprache erleichtere, faͤllt jedem in die Augen. Die
Chineſer machen hingegen aus einer Sprache zwo, und
die geſchriebene hat ungleich weniger einfache Elemente,
als die geredte, weil man mit einer geringen Anzahl
einfacher Laute alle Woͤrter in allen Sprachen ausſpre-
chen kann. Das heutige Zahlengebaͤude giebt uns
ein andres Beyſpiel, weil wir durch zehen einfache
Ziffern jede Zahlen zeichnen, und deutlich vor Augen
malen koͤnnen, welches mit den Buchſtaben, welche
die Roͤmer ſtatt der Zahlen gebrauchten, nicht ſo
leicht, noch ſo wiſſenſchaftlich iſt. Die Vernunft-
lehre giebt uns ebenfalls ein Beyſpiel in der Theorie
der Saͤtze und Schluͤſſe, und ſetzt uns dadurch in den
Stand, den verwickelteſten Vortrag in ſeine einfa-
chere Elemente aufzuloͤſen, und ſeinen Zuſammenhang
zu pruͤfen. Das vollſtaͤndigſte und wiſſenſchaftlichſte
Beyſpiel aber giebt uns die Algeber, die uns in ein-
zelnen Linien vorſtellt, was mit Worten ausgedruͤckt
ganze Buͤcher ausfuͤllen wuͤrde, weil die Gleichungen
aller Faͤlle, die man, jeden beſonders, vorſtellen
muͤßte, auf einmal vorſtellen.
§. 150.
Um dieſe Beyſpiele mit dem vorhingeſagten zu
vergleichen, ſo iſt unſtreitig, daß wenn wir ſtatt der
zuſammengeſetzten Begriffe die einfachern beſonders
vornehmen, und uns ihre Symptomata, Modifica-
tionen und Moͤglichkeiten, die ſie nach ſich ziehen und
zulaſſen, beſonders vorſtellen, wir alle dieſe, wo ſie
vorkommen, leicht wieder finden, und mit einander
zuſammenhaͤngen koͤnnen, ungefehr wie wir jedes ge-
hoͤrte Wort oder jede gehoͤrte Zahl mit Buchſtaben
und Ziffern ſchreiben koͤnnen, weil uns die einfachen
Elemente dazu voͤllig bekannt ſind.
L l 2§. 151.
[532]III. Hauptſtuͤck,
§. 151.
Die Woͤrter, wodurch man zuſammengeſetzte Be-
griffe vorſtellt, ſind bey ſolchen, die von willkuͤhrli-
chem Umfange ſind, eigentlich nur Abkuͤrzungen, und
in ſofern um deſto nuͤtzlicher, je haͤufiger der Begriff
vorkoͤmmt, weil man dadurch uͤberhoben wird, ganze
Redensarten oder jede Namen der einzelnen Merk-
maale zu gebrauchen. Da dieſes beſonders in den
Wiſſenſchaften ſehr bequem iſt, ſo mag es angehen,
daß man ſolche Abkuͤrzungen gebrauche, und eigent-
lich ſollen die Namen zuſammengeſetzter Begriffe auch
nicht anders als Abkuͤrzungen darinn vorkommen.
Demnach muͤſſen die einzelnen Merkmaale voraus
angezeigt, zuſammengeſetzt und erwieſen werden, da-
mit daraus erhelle, daß die Woͤrter, ſo man dafuͤr
gebraucht, reale Dinge und Begriffe vorſtellen.
§. 152.
Man benennt aber beſonders diejenigen Begriffe,
die vor den uͤbrigen etwas voraus haben. So z. E.
giebt es unzuͤhlige vierſeitige Figuren, man nimmt
aber die Quadrate, Rectangel, Rhombos und Rhom-
boides beſonders, weil ſie einfachere Eigenſchaften
haben. So iſt unter den krummen Linien der Zirkel
viel zu brauchbar, als daß er nicht beſonders ſollte
benennt werden. Auf eine aͤhnliche Art werden in
der Logik die allgemeinen Saͤtze beſonders genommen,
weil ſie vor den Particularſaͤtzen vieles voraus haben,
und aus gleichem Grunde werden aus den allgemei-
nen Saͤtzen die identiſchen beſonders benennt, weil
ſie doppelt weiter reichen, als die, ſo nicht identiſch
ſind.
§. 153.
Sofern man nun in Auffuͤhrung eines Lehrge-
baͤudes, worinn Begriffe von willkuͤhrlichem Umfan-
ge
[533]von zuſammengeſetzten Begriffen.
ge vorkommen, nach den bisher gegebenen Regeln
verfaͤhrt, und Worte und Begriffe nach den Sachen
richtet, ſofern erhaͤlt man dadurch verſchiedene Vor-
theile. Die Worte, ſo man dabey gebraucht, be-
halten die ihnen einmal gegebene Bedeutung vornehm-
lich dadurch, weil ſie einen realen Begriff von behoͤ-
rigem und genau beſtimmtem Umfange ausdruͤcken.
Leſer, die bis dahin noch viel Unbeſtimmtes in ihren
Begriffen hatten, tragen am wenigſten Bedenken,
dieſelben auf eben die Art zu beſtimmen, wenn ſie
ſehen, daß die Begriffe und Dinge real ſind. Aus
gleichem Grunde werden ſie auch von andern hypo-
thetiſch angenommen, weil, wenn ein Schriftſteller
ſeine Woͤrter definirt, und zeigt, daß ſie reale Dinge
vorſtellen, es gar nicht ſchwer iſt, ihm hierinn zu fol-
gen. Man ſieht naͤmlich mehr darauf, wiefern er
in der Sache ſelbſt, als aber nur in den Worten rich-
tig geht.
§. 154.
Jndeſſen wird man ſo genau beſtimmte Begriffe
ſchwerlich im gemeinen Leben einfuͤhren koͤnnen, weil
da hoͤchſtens nur die oben (§. 138.) angefuͤhrten zwo
Arten beſtimmt bleiben. Hingegen bey abſtracten
Begriffen, deren Umfang durch Definitionen beſtimmt
werden muß, geht es nicht ſo leicht an, daß jeder
einerley und gleich viele Merkmaale in einen Begriff
zuſammennehme, und folglich alle ſolche Begriffe bey
allen Menſchen weder weiter noch enger genommen
werden. Der eigentliche Grund von ſolcher Unbe-
ſtimmtheit iſt folgender:
§. 155.
Wir gelangen auf eben die Art zu abſtracten Be-
griffen, wie wir zu den tranſcendenten gelangen. (§.
46. ſeqq.) Denn die tranſcendenten ſind unter allen
L l 3abſtra-
[534]III. Hauptſtuͤck,
abſtracten Begriffen die abſtracteſten, weil ſie das
Allgemeine der Koͤrper- und Geiſterwelt zuſammen
nehmen. Sofern naͤmlich ganz verſchiedene Dinge
einerley Eindruck bey uns machen, ſofern nehmen
wir ſie in eine Klaſſe zuſammen. Solche Eindruͤcke
ſind nicht bey allen Menſchen gleich. Der eine hat
empfindlichere Sinnen, die ihm mehr Verſchiedenes
in den Dingen vorſtellen, und das Bewußtſeyn da-
von erwecken, und er behaͤlt es auch leichter im Sin-
ne. Bey andern machen nicht alle Eigenſchaften
und einzelnen Empfindungen gleich ſtarken Eindruck.
Dadurch werden nun die Begriffe, ſo einerley Worte
haben, bey dem einen reicher an Merkmaalen und
vollſtaͤndiger, als bey dem andern, und ſelbſt der Um-
fang des Begriffes mehr oder minder verſchieden.
Man kann dieſes bey verſchiedenen und oͤfters ganz
entgegengeſetzten Benennungen einer gleichen Sache,
und bey ganz verſchiedenen Definitionen einerley Woͤr-
ter ſehen. Z. E. wenn man eine und eben dieſelbe
Handlung in einerley Abſicht lobt und tadelt, tugend-
haft und laſterhaft ꝛc. nennt. Der Begriff eines
Zeugen wird gemeiniglich ſo definirt: Ein Zeuge ſey
eine Perſon, die erzaͤhlt, was ſie geſehen oder gehoͤrt
hat. Chladenius in ſeiner Geſchichtswiſſenſchaft
behauptet, dieſe Definition ſey zu allgemein, und
vermenge die Zeugen mit den Urhebern, Ausſa-
gern und Nachſagern einer Nachricht. Ein Zeuge
ſey eine Perſon, die eben das ſagt oder ausſagt, was
ein andrer ſchon geſagt hat. Dieſe Definition ſcheint
noch darinn mangelhaft zu ſeyn, daß der eine von des
andern Ausſage wiſſen, und ſie als eine Beſtaͤtigung
ſeiner Ausſage nehmen muß. Denn das Zeugniß
iſt ein Verhaͤltnißbegriff, welcher nicht nur einerley
Ausſage fordert, ſondern der eine Ausſager muß dieſe
Ueber-
[535]von zuſammengeſetzten Begriffen.
Uebereinſtimmung der Ausſage als eine Bekraͤftigung
der ſeinigen nehmen. Ein Zeugniß iſt daher auch nur
in ſofern guͤltig, ſofern es bekraͤftigt, und auch in ſo
fern nur iſt es ein Zeugniß, weil es die Vergleichung
zwoer Ausſagen vorausſetzt. Wenn der eine Ausſa-
ger von dem andern nichts weis, ſo hat man nur zwo
gleichlautende Ausſagen. Weis nur der eine vom
andern, ſo iſt das Zeugniß gleichſam nur paßiv, hin-
gegen iſt es activ, wenn der Zeuge weis, daß ſeine
Ausſage als ein Zeugniß, folglich als eine Bekraͤfti-
gung der Ausſage genommen wird, wie dieſes bey
gerichtlichen Zeugen vorkoͤmmt. Wir haben dieſes
Beyſpiel umſtaͤndlicher angefuͤhrt. Man ſieht dar-
aus, daß Chladenius nicht nur auf den Begriff des
Zeugen allein, ſondern auch auf die damit verwandten
Begriffe geſehen, und dadurch die Definition ungleich
enger eingeſchraͤnkt hat, als ſie in einigen Vernunft-
lehren vorkoͤmmt. Da man hier fuͤr die verwandten
Begriffe Woͤrter hat, ſo iſt es unnoͤthig alle unter
dem Begriffe eines Zeugen zuſammen zu nehmen, und
dieſen Begriff allgemeiner zu machen, als er in den
Gerichtsſtuben und im gemeinen Leben vorkoͤmmt.
Hingegen muͤſſen die Begriffe eines Zeugen, Au-
tors, Auſſagers, Nachſagers, und ſo auch die
Begriffe, zeugen, bezeugen, beſtaͤtigen, ausſa-
gen, ausbringen, nachſagen ꝛc. mit einander
verglichen, und ihre Verhaͤltniſſe und Unterſchiede
veſtgeſetzt werden Eine Regel, die uͤbrigens Chla-
denius in ſeinen Schriften ſorgfaͤltig beobachtet, und
die wir in der Dianoiologie, (§. 617. ſeqq.) als zur
wiſſenſchaftlichen Erkenntniß nothwendig angegeben
haben.
L l 4§. 156.
[536]III. Hauptſtuͤck,
§. 156.
Da die Sprache nur eine gewiſſe Anzahl von
Woͤrtern hat, die lange nicht zur Bezeichnung aller
Begriffe und ihrer Modificationen zureicht, ſo kann
man auch nicht durchgehends fordern, daß jedes
Wort einen genau beſtimmten Umfang in der Bedeu-
tung haben ſoll. Wir wuͤrden dadurch nothwendig
nicht mehrere Begriffe bezeichnen koͤnnen, als Woͤr-
ter in der Sprache ſind. Daher koͤmmt es, daß wir
nicht nur vieldeutige Woͤrter haben, ſondern daß auch
die Bedeutung von ſehr vielen Woͤrtern bald enger
bald weiter genommen wird, und daher mehrentheils
aus dem Zuſammenhang einer ganzen Rede muß aus-
gemacht werden, in welchem Verſtande der Autor
jedes Wort genommen, und welchen individualen
Umfang es in jeder individualen Rede habe, oder
haben koͤnne. Auf dieſe Art laͤßt ſich in den meiſten
Faͤllen erkennen, wiefern Begriffe und Worte mit
einander und zugleich mit der Sache uͤbereinkom-
men.
§. 157.
Hiezu koͤmmt noch, daß, wenn auch ein Wort ei-
ne beſtimmte und eigene Bedeutung hat, man den-
noch das Wort nach und nach, und auf mehrer-
ley Arten zur Metapher macht, und zuweilen daruͤ-
ber die urſpruͤngliche Bedeutung in Abgang kommen
laͤßt. Bey Begriffen, deren Umfang willkuͤhrlich
iſt, vermiſcht ſich die metaphoriſche Bedeutung mit
der eigentlichen, und damit kann es ſo weit gehen,
daß die Graͤnzen des Umfangs auf der einen Seite
eingezogen, auf der andern aber erweitert werden, bis
das Wort von der erſten Bedeutung wenig oder nichts
mehr behaͤlt, und daher den Liebhabern der Sprach-
kunde und Wortforſchung die Beſchaͤfftigung giebt, ſie
aufzuſuchen.
§. 158.
[537]von zuſammengeſetzten Begriffen.
§. 158.
Endlich iſt auch die Bequemlichkeit, Woͤrter von
mehr oder minder unbeſtimmter Bedeutung durch
den Zuſammenhang der Rede jedesmal ſo zu beſtim-
men, wie man ſie, ſeine Gedanken auszudruͤcken, noͤ-
thig hat, viel zu groß, als daß man ſich den Zwang
anthun, und ehe man das Wort gebraucht, jedesmal
erſt ſehen muͤßte, ob die einmal angenommene und zu-
ſammengefaßte Merkmaale ſaͤmmtlich da ſind. Hiezu
gebraucht es eine Uebung, durch die man ſich an Woͤr-
ter von beſtimmter Bedeutung erſt gewoͤhnen muß,
und um deſto weniger iſt ſich zu verwundern, wenn
in dem gemeinen Leben eine ſolche Genauigkeit ſelten
iſt, oder gar nicht vorkoͤmmt. Hingegen lohnt es ſich
allerdings der Muͤhe, ſich an Woͤrter von beſtimm-
ter und richtiger Bedeutung zu gewoͤhnen, weil man
die Erkenntniß dadurch wiſſenſchaftlicher macht, und
ſie zuverlaͤßiger gebrauchen kann. Man gelangt da-
durch muͤhſamer zu vielen Saͤtzen, aber die, ſo man
dabey hat, ſind beſtimmt und anwendbar.
Viertes Hauptſtuͤck.
Von dem Unterſchiede des Wahren
und Jrrigen.
§. 159.
Bisher haben wir unſre einfachen Begriffe, die
bey denſelben vorkommenden Grundſaͤtze und
Forderungen, und uͤberhaupt auch die Beſchaffenheit
zuſammengeſetzter Begriffe betrachtet, in ſofern wir
dadurch den erſten Grund zu einer wiſſenſchaftlichen
Erkenntniß legen koͤnnen. Wir werden nun das, was
L l 5im
[538]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
im eigentlichen Verſtande die Alethiologie ausmacht,
beſonders vornehmen, und die Wahrheit ſchlechthin
als Wahrheit betrachten, um uns durch die ausfuͤhr-
lichere Entwickelung der Harmonie der Wahrheiten
zu dem oben ſchon (§. 2.) erwaͤhnten Vortheile den
Weg zu baͤhnen. Es iſt unſtreitig, daß man, je
beſſer man ſich dieſe Harmonie bekannt macht, deſto
leichter auch in beſondern Faͤllen beurtheilen kann,
wiefern ein Satz ſich in das Syſtem der Wahrheiten
ſchickt, oder daraus wegbleiben muß.
§. 160.
Dieſes Syſtem oder das Reich der Wahrheit
nehmen wir hier ſo, daß, wenn wir alle Wahrheiten
nach unſrer Art ſie vorzuſtellen wuͤßten, ſie dieſes
Reich der Wahrheiten ausmachen wuͤrden. Wir be-
trachten demnach hier das ganze Syſtem aller Be-
griffe, Saͤtze und Verhaͤltniſſe, die nur immer
moͤglich ſind, als bereits in ſeiner Verbindung und
Zuſammenhange, und ſehen das, ſo wir etwann be-
reits davon wiſſen, als Theile und einzelne Stuͤcke
dieſes Syſtems an, weil wir auf dieſe Art, ſo oft
wir neue Stuͤcke finden und mit den bereits gefunde-
denen zuſammenhaͤngen wollen, den Grundriß des
ganzen Gebaͤudes vor Augen haben, und jede einzelne
Stuͤcke darnach pruͤfen koͤnnen?
§. 161.
Wir fordern demnach fuͤr die einfachen Begriffe
die Gedenkbarkeit, (§. 10. Dianoiol. §. 654.) fuͤr
die zuſammengeſetzten Begriffe die Moͤglichkeit der
Zuſammenſetzung, (§. 2 3.) und fuͤr die Saͤtze
die Moͤglichkeit, das Praͤdicat durch das
Subject zu beſtimmen, (Dianoiol §. 663.) und
die Nothwendigkeit der Folge eines Schluß-
ſatzes aus den Vorderſaͤtzen bey richtiger Form.
(§. 242.
[539]des Wahren und Jrrigen.
(§. 242. Dianoiol.) Und die Wahrheit des
Schlußſatzes aus wahren Vorderſaͤtzen, und
richtiger Form. (§. 248. Dianoiol.)
§. 162.
Dieſe Forderungen gruͤnden ſich faſt unmittelbar
auf den Satz des Widerſpruches, den wir eben-
falls zum erſten Grunde alles deſſen legen koͤnnen, was
wir von der Wahrheit ſagen werden. Naͤmlich un-
ſer Verſtand empfindet ein Widerſtreben, wel-
ches ihm die Unmoͤglichkeit aufdringt, bey ei-
nem Dinge, dasAiſt, zu denken, es ſey nicht
A. Dieſes Widerſtreben des Verſtandes, welches
er empfindet, von A zu denken, es ſey nicht A, giebt
uns den urſpruͤnglichen und ſtrengſten Begriff der
Unmoͤglichkeit. Denn wir finden es ſo unmoͤglich,
daß wir nicht nur denken, es koͤnne nicht ſeyn, ſon-
dern daß, wenn wir es auch verſuchen wollten, es an-
zunehmen, wir gleichſam davon zuruͤck gehalten wer-
den. Dieſe Unmoͤglichkeit dringt ſich uns auf.
§. 163.
Man kann demnach den Satz des Widerſpruches
unter die Poſtulata ſetzen, weil man jedesmal dieſe
Probe in ſich erneuern, und ſich von dieſer Unmoͤg-
lichkeit verſichern kann. Man fordere demnach, daß
man die Unmoͤglichkeit, vonAzu glauben,
daß es nichtAſey, empfinden koͤnne.
§. 164.
Bey dieſer Empfindung haben wir die einfachen
Begriffe ſeyn, nicht, nicht ſeyn, und die Ver-
gleichung von ſeyn und nicht ſeyn, giebt uns den
Begriff des Widerſpruches, naͤmlich ſeyn und
nicht ſeyn widerſpricht einander, und beydes zu-
gleich iſt unmoͤglich.
§. 165.
[540]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
§. 165.
Ferner nimmt der Verſtand den Satz: daß A
nicht nicht ‒ A ſey, als wahr, und das Gegentheil,
daß A nicht A ſey, als nicht wahr, oder falſch.
Da es unmoͤglich iſt, daßAnichtAſey, ſo muß
nothwendigA nicht nicht — A ſeyn. Man nennt
daher nothwendig, deſſen Gegentheil unmoͤglich iſt.
§. 166.
Dadurch werden die Begriffe des Wahren und
Falſchen einander ſo entgegengeſetzt, daß nichts
Wahres falſch, und hinwiederum nichts Falſches
wahr ſey. Da nun das Falſche A und nicht A iſt,
ſo iſt nichts WahresAund nichtA. Demnach
ſtoͤßt keine Wahrheit die andre um. Denn waͤre
dieſes, ſo muͤßte die eine A, die andre nicht A ſeyn,
folglich waͤre A und nicht A zugleich. Da nun dieſes
unmoͤglich oder ungereimt iſt, ſo kann auch keine
Wahrheit die andre umſtoßen. Oder, da umſtoßen
hier ſo viel ſagen will als falſch machen, ſo muͤßte
eine Wahrheit die andre falſch machen. Demnach
waͤre dieſe wahr und falſch zugleich. Welches unge-
reimt iſt.
§. 167.
WennA, Biſt, ſo kann aus keiner Wahr-
heit hergeleitet werden, daßAnichtBſey.
Man ſetze, es koͤnne angehen, ſo wird der Satz: Aiſt
nichtB, ebenfalls wahr ſeyn. (§. 161.) Demnach
muͤßte A zugleich B und nicht B ſeyn. Welches un-
gereimt iſt.
§. 168.
WennA, Biſt, ſo kann aus dem Satz:A
iſt nichtB,keine Wahrheit erwieſen werden.
Denn da der Satz: Aiſt nichtB, verneinend iſt,
ſo kann er nur der letzte Satz in der Schlußkette ſeyn,
(§. 296.
[541]des Wahren und Jrrigen.
(§. 296. Dianoiol.) und macht eben den Schlußſatz
verneinend, den der Satz: AiſtB, bejahend macht.
(§. cit.) Da nun in beyden Faͤllen die Form richtig,
und die uͤbrigen Vorderſaͤtze wahr geſetzt werden, ſo
wird auch der bejahende Schlußſatz wahr ſeyn, und
daher den verneinenden nothwendig falſch machen.
Demnach kann aus dem Satze: Aiſt nichtB, keine
Wahrheit erwieſen oder hergeleitet werden, ſo oft der
Satz: AiſtB, wahr iſt. Uebrigens, da wir den
Beweis dieſes Satzes auf einige Bedingungen ſetzen, ſo
wollen wir auch den Satz ſelbſt noch nicht weiter aus-
dehnen. Man ſehe die Anmerkung in dem folgenden
(§. 174.) und (§. 405. Dianoiol.)
§. 169.
Jeder falſche Satz widerſpricht einer Wahr-
heit. Es ſey der falſche Satz: AiſtB. Demnach
iſt der Satz: Aiſt nichtB, wahr. Nun ſind B
und nichtB widerſprechend, folglich iſt der falſche
Satz: AiſtB, dem wahren: Aiſt nichtB, wider-
ſprechend.
§. 170.
Was keiner Wahrheit widerſpricht, iſt
gleichfalls wahr. Man ſetze, es ſey nicht wahr,
ſo wird es, vermoͤge des vorhergehenden § einer Wahr-
heit widerſprechen. Dieſes iſt aber der Bedingung
des Satzes zuwider: folglich iſt das, was keiner
Wahrheit widerſpricht, ebenfalls wahr.
§. 171.
Aus einem falſchen Satze koͤnnen immer
Saͤtze hergeleitet werden, die einem wahren
Satze widerſprechen. Da der Satz falſch iſt, ſo
iſt das Gegentheil wahr. (§. 166.) Man mache nun
aus dem Gegentheil einen Satz von gleicher Form, in-
dem man den Satz: AiſtB, oder nichtB, in den
Satz:
[542]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
Satz: Aiſt nichtB oder iſtB verwandelt. Da
nun beyde, naͤmlich der falſche und wahre zum letzten
Satze einer gleichen Schlußkette gemacht werden koͤn-
nen, (§. 296. Dianoiol.) ſo erhaͤlt man zween einan-
der widerſprechende Schlußſaͤtze. Nun aber iſt der,
ſo aus dem wahren Satze folgt, wahr, (§. 161.)
folglich der, ſo aus dem falſchen folgt, einem wah-
ren Satze widerſprechend.
§. 172.
Jſt der falſche Satz bejahend: z. E. AiſtB, ſo
kann er zu einem Mittelgliede der Schlußkette, das
will ſagen, zu Unterſaͤtzen der erſten Figur gemacht
werden, (§. 300. Dianoiol.) und der Oberſatz wird
die Form haben: BiſtC, oder Biſt nichtC. Jm
erſten Fall nehme man fuͤr C ein eigenes Merkmaal
von B, welches nothwendig angeht, weil jeder Be-
griff ſich von jedem andern unterſcheidet. So wird im
Schlußſatze: AiſtC, dem Begriff A ein Merkmaal
beygelegt, welches ihm nicht zukoͤmmt. Denn da
der Satz: AiſtB, falſch iſt, ſo iſt A nicht B; folg-
lich da C ein eigenes Merkmaal von B iſt, ſo faͤllt es
auch zugleich mit B von A weg. Demnach wird A
auch nicht C ſeyn. Da nun der gezogene Schlußſatz:
AiſtC, dieſem wahren: Aiſt nichtC, widerſpricht;
ſo iſt klar, daß aus dem falſchen Satze: AiſtB,
auch wenn er zum Unterſatze gemacht wird, Saͤtze
gezogen werden koͤnnen, welche wahren Saͤtzen wi-
derſprechen.
§. 173.
Gebraucht man aber Oberſaͤtze von der Form:
Biſt nichtC, ſo darf man nur fuͤr C diejenigen
Merkmaale des A nehmen, die nicht in B ſind. Und
dieſes geht nun allemal an. Denn da vermoͤge der Bedin-
gung der Satz: AiſtB, falſch iſt, ſo iſt A nicht B. Dem-
nach
[543]des Wahren und Jrrigen.
nach muͤſſen die Begriffe A, B Merkmaale haben, die
einander ausſchließen, und folglich laſſen ſich in A
Merkmaale C finden, die nicht in B ſind. Auf dieſe
Art aber macht man den Schluß:
- B iſt nicht C,
- A iſt B,
- folglich: A iſt nicht C.
Deſſen Schlußſatz dem Satze: AiſtC, widerſpricht.
Da nun C ein eigenes Merkmaal von A iſt (per
conſtructionem, das will ſagen, weil wir C aus-
druͤcklich als ein ſolches angenommen haben) ſo iſt der
Satz: AiſtC, allerdings wahr, daher laͤßt ſich
auch in dieſem Fall aus dem falſchen Satze: AiſtB,
ein Schlußſatz herleiten, der einem wahren Satze
widerſpricht.
§. 174.
Man ſieht leicht, daß dieſe zween letzten Faͤlle
(§. 172. 173.) nur unter gewiſſen Bedingungen an-
gehen, da hingegen der erſte Fall (§. 171.) allgemein
angeht. Da aber die Bedingung, daß naͤmlich in
dem zweyten Fall (§. 172.) C ein eigenes Merkmaal
von B, im dritten Fall aber ein eigenes Merkmaal
von A ſeyn ſoll, immer moͤglich iſt, ſo wird dem Lehr-
ſatze, den wir beweiſen wollten, auf alle drey Arten
Genuͤgen geleiſtet, weil darinn die bloße Moͤglichkeit
gefordert wird, aus einem falſchen Satze etwas Wi-
derſprechendes herzuleiten. Uebrigens haben wir in
den bisherigen Beweiſen zwiſchen allgemeinen und
particularen Saͤtzen keinen Unterſchied gemacht, weil
es nur ein Mangel unſrer Erkenntniß iſt, daß wir
den Particularſaͤtzen die Beſtimmungen nicht beyfuͤ-
gen, wodurch ſie allgemein gemacht werden. Hier
aber iſt genug, daß wir in beyden Saͤtzen:
- A iſt B,
- A iſt nicht B,
eben
[544]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
eben dieſelben A verſtehen, weil dieſes eigentlich dieſe
Saͤtze widerſprechend macht. Jn der Anwendung
der bisher erwieſenen Saͤtze muß dieſes allerdings je-
desmal ausgemacht ſeyn, wie wir es hier nehmen,
wo wir das Reich der Wahrheiten, und was dahin
gehoͤrt, oder nicht dahin gehoͤrt, an ſich betrachten.
§. 175.
Wenn aus einem Satze nichts hergeleitet
werden kann, welches einer Wahrheit wider-
ſprechen wuͤrde, ſo iſt derſelbe wahr. Man ſe-
tze, er ſey falſch, ſo iſt es moͤglich, etwas Wider-
ſprechendes daraus herzuleiten. (§. 171. ſeqq.) Da
nun dieſes die Vorausſetzung umſtoßen wuͤrde, ſo
kann der Satz nicht falſch ſeyn. Demnach iſt er
wahr. (§. 166.) Dieſer Satz iſt gewiſſermaßen zum
Behufe der Hypotheſen, beſonders in der Natur-
lehre. Denn nimmt man ſolche an, ſo iſt nothwen-
dig, daß ſich nichts muͤſſe koͤnnen daraus herleiten
laſſen, was Erfahrungen oder andern bereits ausge-
machten Wahrheiten widerſprechen wuͤrde. Geht
dieſes an, ſo iſt, vermoͤge des erſt erwieſenen Satzes,
die Hypotheſe wahr. Man ſieht aber leicht, daß
ſich dieſe Methode nur da gebrauchen laſſe, wo man
die Erfahrungen oder Wahrheiten abzaͤhlen kann,
denen die Hypotheſe ganz oder wenigſtens zum Theil
widerſprechen muͤßte, wenn ſie nicht wahr waͤre. Der-
gleichen Faͤlle haben wir in der Dianoiologie (§. 595.)
angefuͤhrt. Und es iſt auch fuͤr ſich klar, daß eine
Hypotheſe als erwieſen angeſehen werden kann, wenn
die Einwuͤrfe, ſo ſich dawider machen laſſen, koͤnnen
abgezaͤhlt, und jeder beſonders gehoben werden Kann
man aber eine ſolche Abzaͤhlung nicht vornehmen, ſo
bleibt immer noch unausgemacht, ob nicht aus der
Hypotheſe etwas Widerſprechendes koͤnne gefolgert
werden.
§. 176.
[545]des Wahren und Jrrigen.
§. 176.
Jeder Begriff hat eigene Merkmaale. Man
ſetze, der Begriff A habe keine eigene Merkmaale, ſo
giebt es irgend einen Begriff B, der mit dem Begriffe
A durchaus einerley Merkmaale hat. Da nun A ſich
von B durchaus nicht unterſcheidet, ſo iſt A und B
ein und eben derſelbe Begriff. Anf gleiche Art wird
erwieſen, daß alle und jede Begriffe ein und eben
derſelbe Begriff ſeyn muͤßten. Da nun dieſes unge-
reimt iſt, ſo iſt falſch, daß A keine eigene Merk-
maale habe. Demnach hat A nothwendig eigene
Merkmaale.
§. 177.
Demnach laſſen ſich bey jedem Begriffe ei-
gene Merkmaale gedenken. Wir fuͤhren dieſe
Moͤglichkeit hier an, weil wir ſie in dem §. 172. ge-
braucht, und ihren Beweis nur kurz angezeigt ha-
ben. Uebrigens iſt ſie offenbar genug, um unter die
Poſtulata geſetzt zu werden. Sie laͤßt ſich auch auf
gleiche Art, auf jede Wahrheiten ausdehnen, daß
naͤmlich jede Wahrheit etwas eigenes hat, da-
durch ſie ſich von jeden andern unterſcheidet.
§. 178.
Alle Wahrheiten beſtehen beyſammen. Man
ſetze, ſie beſtehen nicht beyſammen, ſo ſtoͤßt eine die
andre um. Da nun dieſes ungereimt iſt, (§ 166.)
ſo iſt falſch, daß die Wahrheiten nicht beyſammen
beſtehen, demnach beſtehen ſie nothwendig beyſammen.
§. 179.
Dieſes Beyſammenbeſtehen der Wahrheiten
macht einen Theil ihrer Harmonie oder Ueberein-
ſtimmung aus, in ſofern zwiſchen dem Wahren
und Falſchen eine abſolute Diſſonanz iſt, weil das
Wahre das Falſche umſtoͤßt. Sofern wir demnach
Lamb. Org. I. Band. M mbey
[546]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
bey der Vorſtellung eines Satzes aus dem nicht
bewußtſeyn oder nicht empfinden einiger Diſſo-
nanz auf die Harmonie ſchließen, ſofern haben wir
auch weniger Anſtand, den Satz anzunehmen, oder
ihn wenigſtens nicht zu verwerfen. Und in ſo fern
richten wir unſern Beyfall nach folgenden zwey Re-
geln: Was mit unſern richtigſten Saͤtzen nicht
uͤbereinſtimmt, dem verſagen wir den Beyfall,
und hinwiederum: Was mit unſern richtigſten
Saͤtzen harmonirt, oder wenigſtens denſelben
nicht als zuwiderlaufend empfunden wird, dem
fallen wir ehender als deſſen Gegentheil bey.
Was dieſes Empfinden der Harmonie und das nicht
empfinden der Diſſonanz auf ſich habe, wenn man
theils von Natur dazu aufgelegt iſt, theils ſich durch
Uebung dazu geſchickter macht, haben wir bereits in
der Dianoiologie (§. 619.) angezeigt. Wir reichen
zwar damit nicht bis an die Wahrheit ſelbſt, indeſſen
wird dadurch der Weg zu derſelben gebaͤhnt und ab-
gekuͤrzt.
§. 180.
Jemehr aus einem Satze, mit Zuziehung
wahrer Saͤtze, wahre Schlußſaͤtze koͤnnen her-
geleitet werden, deſtomehr Harmonie hat der-
ſelbe mit den Wahrheiten. Denn da dieſe Schluß-
ſaͤtze Folgen des Satzes ſind, ſo ſtimmt er in dieſen
Folgen mit eben ſo vielen Wahrheiten uͤberein. Da
nun jede Wahrheit etwas eignes hat, (.177.) ſo nimmt
die Anzahl der einzelnen Uebereinſtimmungen mit der
Anzahl der Folgen zu. Da wir nun dieſe Ueberein-
ſtimmung, gleichſam durch eine bloße Ueberſetzung,
Harmonie nennen, ſo iſt klar, daß dieſe Harmonie
vielfacher ſeyn wird, je mehr wahre Folgen aus dem
Satze gezogen werden koͤnnen.
§. 181.
[547]des Wahren und Jrrigen.
§. 181.
Dieſe Art von Harmonie iſt nun etwas poſitiver,
als die vorhin (§. 178.) erwaͤhnte, weil wir hier von
wirklicher Uebereinſtimmung, im angefuͤhrten §.
aber nur vom nicht widerſprechen geredt haben.
Dieſe wirkliche Uebereinſtimmung aber beſteht darinn,
daß jede Folge, die man aus dem Satze zieht, mit
irgend einer aus andern Gruͤnden bereits bekannten
oder hergeleiteten Wahrheit einerley ſey. Nun laͤßt
ſich unſtreitig die Uebereinſtimmung nicht weiter als
bis zur Jdentitaͤt treiben, demnach iſt ſie hier in ihrem
hoͤchſten Grade; ſo fern naͤmlich jede Folge fuͤr ſich
betrachtet wird.
§. 182.
Hingegen hat dieſe Harmonie der Zahl nach Ab-
wechslungen, weil ſie bey mehr oder minder Folgen
ſeyn kann. Und in ſo fern reicht ſie auch noch
nicht nothwendig bis an die Wahrheit, ſon-
dern nur unter gewiſſen Bedingungen. Denn
wenn der Satz bejahend iſt, z. E. AiſtB, und man
macht ihn zum Unterſatz von Schlußreden der erſten
Figur, ſo wird der Oberſatz die Form haben: Biſt
C, oder: B iſt nichtC. Nun aber, da es fuͤr den
erſten Fall gar wohl moͤglich iſt, daß A nicht B ſey,
und deſſen unerachtet A und B einige gemeinſame Merk-
maale oder Praͤdicate haben, z. E. wenn A und B
unter verſchiedne Arten einer Gattung gehoͤren, (Dia-
noiol. §. 124. no. 4.) ſo ſey ein ſolches gemeinſames
Merkmaal C; demnach wird der Schluß gemacht
werden.
- B iſt C.
- A iſt B.
- A iſt C.
in welchem der Schlußſatz wahr iſt, weil C ein gemein-
ſames Merkmaal von A und B, und daher allerdings
M m 2ein
[548]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
ein Praͤdicat von A iſt. So viel man demnach ge-
meinſame Merkmaale C findet, ſo viele einzelne Har-
monien wird auch der Satz: AiſtB, in ſolchen Schluß-
ſaͤtzen haben, obwohl er deſſen unerachtet falſch ſeyn
kann, (vermoͤge des erwieſenen.) Auf eine aͤhnliche
Art laſſen ſich fuͤr den Fall verneinender Oberſaͤtze gar
wohl Merkmaale oder Begriffe C finden, die weder
dem A noch dem B zukommen, wenn auch A nicht B iſt,
z. E. die eigenen Merkmaale der Arten und Gattun-
gen, unter welche A und B nicht gehoͤren. Demnach
wird der Schluß:
- B iſt nicht C
- A iſt B
- A iſt nicht C.
eben ſo viele an ſich wahre Schlußſaͤtze geben, ſo viele
Merkmaale C man von beſagter Bedingung findet.
Und auf eben ſo viele Arten wird der Satz: AiſtB,
in ſolchen Schlußſaͤtzen mit Wahrheiten harmoniren,
obwohl er deſſen unerachtet falſch ſeyn kann.
§. 183.
Man ſieht demnach hieraus, daß eine gewiſſe
Anzahl ſolcher Harmonien den Satz: AiſtB, noch
nicht beweiſet, es ſey denn, daß ſie complet gemacht
werde, das will ſagen, daß man alle Saͤtze abzaͤhlen
koͤnne, die ſich aus demſelben muͤſſen koͤnnen herleiten
laſſen. Denn wenn A nicht B iſt, ſo werden unter
dieſen Saͤtzen nothwendig einige ſeyn, von welchen das
Gegentheil aus dem Satze: AiſtB, folgen wuͤrde.
(§. 172. 173.) und dadurch wuͤrde die Harmonie
durch Diſſonanzen unterbrochen, und der Satz: Aiſt
B, umgeſtoßen. Es erhellet demnach hieraus, daß
die Harmonie vollzaͤhlig ſeyn muͤſſe, wenn ſie
bis an die Wahrheit reichen, oder den Satz
beweiſen ſoll. Und in ſo fern iſt dieſe Harmonie
eine abſolute Einheit, deren Theile Bruͤche ſind, wel-
che
[549]des Wahren und Jrrigen.
che den Satz nur mehr oder minder wahrſcheinlich,
aber nicht ehender wahr machen, bis ihre Summe=1
wird. Daß es Faͤlle gebe, wo dieſe Einheit be-
ſtimmt, oder die einzelnen Harmonien abgezaͤhlt werden
koͤnnen, oder innert geſetzten Graͤnzen enthalten ſind,
haben wir bereits (§. 176.) angemerkt.
§. 184.
Dieſe Harmonie iſt bey jeden wahren Saͤ-
tzen complet, das will ſagen: es kann nichts
daraus hergeleitet werden, das einer Wahr-
heit widerſprechen wuͤrde. Denn was mit Zu-
ziehung wahrer Saͤtze, und in richtiger Form aus
einem wahren Satze hergeleitet wird, iſt gleichfalls
wahr. (§. 161.) Sollte es demnach einer aus an-
dern Gruͤnden hergeleiteten Wahrheit widerſprechen,
ſo wuͤrde eine Wahrheit die andre umſtoßen, welches
aber nicht angeht. (§. 166.) Demnach kann aus
wahren Saͤtzen nichts widerſprechendes hergeleitet
werden. Da alſo in allen ihren Folgen keine Diſſo-
nanz vorkommt, ſo iſt die Harmonie bey wahren Saͤ-
tzen complet.
§. 185.
Dieſes complete der Harmonie iſt der Wahr-
heit eigen. Denn waͤre es der Wahrheit nicht eigen,
ſo wuͤrde die Harmonie in den Folgen auch bey irri-
gen Saͤtzen complet ſeyn. Demnach koͤnnte aus irri-
gen Saͤtzen nichts hergeleitet werden, das nicht mit
irgend einer Wahrheit uͤbereinſtimmte. Dieſes iſt
aber dem §. 171. zuwider, folglich iſt auch die Har-
monie in den Folgen irriger Saͤtze nicht complet.
Demnach bleibt dieſes complete der Wahrheit eigen.
(§. 184.)
§. 186.
Wenn wir demnach in Vergleichungunſrer
Begriffe u. Saͤtze Diſſonanzen finden, ſo iſt noth-
M m 3wen-
[550]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
wendig etwas irriges darinn. Denn dieſes iſt
der Wahrheit eigen, daß ſie durchaus harmonirt,
folglich alle Diſſonanzen ausſchleußt. (§. 184. 185.)
Wo demnach Diſſonanzen vorkommen, da iſt mehr
oder minder irriges.
§. 187.
Die Diſſonanzen ſind dem Jrrthum eigen,
doch ſo, daß auch ſcheinbare Harmonien mit
unterlaufen, die uns, ſo lange wir nur dieſe
wiſſen, das irrige als wahr vorſtellen, oder
wahrſcheinlich machen. Denn da es nothwendig
moͤglich bleibt, aus irrigen oder falſchen Saͤtzen
Widerſpruͤche und folglich Diſſonanzen herzuleiten,
(§. 171. 172. 173.) ſo ſind in jedem Jrrthum noth-
wendig Diſſonanzen. Ferner da bey jeder Wahrheit
die Harmonie complet, und folglich jede Diſſonanz
ausgeſchloſſen iſt, ſo bleibt die Diſſonanz dem Jrrthum
eigen. Denn waͤre dieſes nicht, ſo muͤßte ſie dem
Wahren und Falſchen gemein ſeyn, welches nicht an-
geht. (§. 184.) Endlich da es moͤglich bleibt, aus
einem irrigen Satze Schlußſaͤtze zu ziehen, die wahr ſind,
(§. 182.) ſo haben ſie in ihren Folgen eine Harmonie,
die aber nothwendig incomplet bleibt, weil die com-
plete der Wahrheit eigen iſt. (§. 185.) So lange
wir demnach nur dieſe harmonirende Seite des Jrri-
gen wiſſen, ſo lange ſcheint es uns von dem Wahren
nicht verſchieden, und iſt demnach wahrſcheinlich, und
zwar ſo, daß wir es leicht mit dem Wahren vermen-
gen, bis ſich uns etwann die Diſſonanzen aufdecken.
Man ſehe, was wir in der Dianoiologie, (§. 379.)
bey Gelegenheit der apogogiſchen Beweiſe hieruͤber
angemerkt, desgleichen was wir oben (§. 179.) von
den Geſetzen unſres Beyfalls erinnert haben.
§. 188.
[551]des Wahren und Jrrigen.
§. 188.
Da die complete Harmonie eine abſolute Einheit,
und folglich das Maaß der Wahrheit iſt, wenn dieſe
aus ihren Folgen beſtimmt werden ſoll, (§. 183.) ſo
iſt klar, daß uns ein Satz deſto richtiger vor-
kommen muß, je mehr Harmonie mit Wahr-
heiten wir in demſelben finden, und daß hinge-
gen dieſe Richtigkeit wegfaͤllt, ſo bald ſich eine
ſolche Diſſonanz aͤuſſert, die eine wirkliche
Wahrheit umſtoßen wuͤrde. (§. 166.)
§. 189.
Da wir aber dieſe Diſſonanzen nicht immer ſo-
bald finden, und wenn wir ſolche antreffen, auch nicht
immer finden koͤnnen, welcher Satz dadurch wegfallen
muß, ſo nennen wir die Saͤtze, naͤmlich Vergleichungs-
weiſe, die richtigſten, die uns noch immer auf Har-
monien, und hingegen noch nie auf Diſſonanzen gefuͤhrt
haben. Jch ſage Vergleichungsweiſe, in ſo fern
wir naͤmlich noch nicht entſcheiden koͤnnen, ob die ge-
fundenen Harmonien zuſammen genommen vollzaͤhlig
ſind, oder nicht, (§ 183. wie dieſes in vielen Faͤllen
kann gefunden werden. (§. 176.)
§. 190.
Wiſſen wir aber, daß dieſe Harmonie com-
plet iſt, ſo hat auch der Satz ſeine abſolute Rich-
tigkeit, weil die complete Harmonie der Wahrheit
eigen iſt, (§. 185.) und aus gleichem Grunde, wenn
wir von der Wahrheit des Satzes nicht aus
ſeinen Folgen, ſondern aus Gruͤnden verſichert
ſind, ſo ſind wir eben dadurch auch verſichert,
daß ſeine Harmonie complet ſeyn muͤſſe, ohne
daß wir noͤthig haben, ſie abzuzaͤhlen, oder uns
durch eine vollſtaͤndige Jnduction davon zu
verſichern. (§. 395 Dianoiol.)
M m 4§. 191.
[552]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
§. 191.
Jede einfache Begriffe ſind an ſich wahre
und richtige Begriffe. Denn ſie ſind an ſich und
ſchlechthin gedenkbar. (§. 161.) Wir merken nur an,
daß man Begriff und Sache hier nicht verwechſeln
muͤſſe, weil bey einem Begriff die bloße Moͤglichkeit
oder Gedenkbarkeit erfordert wird, um ihn als einen
wirklichen und realen Begriff anzuſehen. Dar-
aus aber folgt die Wirklichkeit oder Eriſtenz der Sache
noch nicht, und ſie koͤmmt auch hier nicht vor, wo wir
das Reich der Wahrheiten, welches durchaus ideal iſt,
an ſich betrachten, und unterſuchen, wie ſich beſonders
unſre jedesmalige Erkenntniß gegen daſſelbe verhalte.
§. 192.
Demnach liegt das Jrrige nicht in den ein-
fachen Begriffen, ſondern in ihrer Verbindung
und Zuſammenſetzung. Man ſetze, daß in einem
einfachen Begriffe etwas irriges oder falſches ſey, ſo
muͤßte etwas darinn ſeyn, das mit dem uͤbrigen nicht
beſtehen koͤnnte. Demnach ließe ſich in dem einfachen
Begriff etwas unterſcheiden, und ſo waͤre er nicht ein-
fach. Da nun dieſes wider die Bedingung des Satzes
laͤuft, ſo kann in einem einfachen Begriffe nichts irriges
ſeyn. Wo demnach etwas irriges vorkoͤmmt, da muß
es in der Verbindung oder Zuſammenſetzung der ein-
fachen Begriffe ſeyn.
§. 193.
Jn jedem Jrrthum iſt Wahrheit, ſo fern er
gedenkbar iſt. Das Jrrige liegt in der Zuſammenſe-
tzung oder Verbindung einfacher Begriffe, ſo fern dieſe
nicht beyſammen beſtehen, oder nach der angenommenen
Art der Zuſammenſetzung nicht mit einander beſtehen
koͤnnen. Nun aber iſt jeder einfache Begriff fuͤr ſich
betrachtet, ein wahrer und richtiger Begriff (§. 192.)
Demnach iſt auch in ſo fern in der irrigen Vorſtellung
Wahr-
[553]des Wahren und Jrrigen.
Wahrheit, und zwar nothwendig. Ferner kann Wahr-
heit darinn ſeyn, in ſo fern die Zuſammenſetzung zum
Theil zulaͤßig iſt. Nun ſind einfache Begriffe fuͤr ſich
gedenkbar, und ſo fern die Zuſammenſetzung zulaͤßig iſt,
ſo fern iſt ſie ebenfalls gedenkbar. Hingegen wo ſie
anfaͤngt unzulaͤßig zu werden, da faͤngt zugleich auch
das Jrrige an. Sollte nun dieſes gedenkbar ſeyn, ſo
muͤßte man ſich A und nicht A zugleich, folglich runde
Vierecke, das will ſagen, widerſprechende Dinge vor-
ſtellen koͤnnen, welches nicht angeht. (§. 162.)
§. 194.
Es iſt demnach kein Jrrthum ohne einge-
mengtes Wahres. Dieſer Satz iſt eine bloße An-
wendung des vorhergehenden. Er laͤßt ſich aber auch
unmittelbar ſelbſt beweiſen. Man ſetze einen Jrrthum
ohne eingemengtes Wahres, ſo muͤſſen nothwendig
weder einfache und fuͤr ſich gedenkbare Begriffe, noch
eine zum Theil gedenkbare Zuſammenſetzung oder Ver-
bindung darinn vorkommen. Demnach iſt an demſel-
ben vollends nichts gedenkbar. Folglich einen ſolchen
Jrrthum gedenken, heißt nichts gedenken. Dieſes iſt
aber die Art der Jrrthuͤmer nicht, weil ein irrender ſich
immer wenigſtens die im Jrrthum verwickelten einfa-
chen Begriffe, wiewohl mehr oder minder confus, vor-
ſtellt, und weil nichts gedenken, und irriges ge-
denken nicht einerley iſt.
§. 195.
Damit aber hier nicht eine Vieldeutigkeit der
Worte zu Verwirrung der Begriffe Anlaß gebe, ſo mer-
ken wir an, daß wir hier den Begriff: nichts gedenken,
als ein ſolches Mittel zwiſchen den Begriffen: etwas
Wahres gedenken, u. etwas irriges gedenken, neh-
men, daß wer nichts gedenkt, weder Wahres noch Jrri-
ges, das will ſagen, gar nichts gedenkt. Daß dieſes gar
nichts aber mit einem Jrrthum ohne eingemeng-
M m 5tes
[554]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
tes wahres einerley ſey, erhellet allerdings daraus,
daß auch ſelbſt die einfachen Begriffe aus einem ſolchen
Jrrthume wegbleiben muͤßten, folglich mit denſelben
auch alle daraus richtig oder unrichtig zuſammenge-
ſetzte Begriffe. Denn ohne die einfachen Begriffe
ſind wir, was Blinde in Abſicht auf die Farben.
§. 196.
Die Sache kommt demnach darauf an, daß ſo-
fern jemand etwas irriges denkt, ſofern denkt
er in der That nichts, oder ſoviel als nichts.
Denn wo das Jrrige anfaͤngt, da faͤngt auch das
Gedenkbare an zu fehlen, man mag ſich deſſen be-
wußt ſeyn oder nicht. Hingegen, wenn man gar
nichts denkt, ſo folgt allerdings noch nicht,
daß man etwas irriges gedenke. Dieſer Satz
will nun eben das ſagen, als: es ſey in jedem irri-
gen etwas gedenkbares, oder etwas mit einge-
mengtes wahres.
§. 197.
Das Nichtsgedenken, oder das Wegſeyn al-
ler Vorſtellungen, iſt demnach das 0 oder der ge-
meinſame Anfang des Wahren und des Jrrigen. Naͤm-
lich ſobald man anfaͤngt zu denken, faͤngt auch das
Wahre oder das Jrrige an. Hingegen ſind Ver-
ſchiedenheiten dabey, die wir noch anzeigen wollen.
§. 198.
Einmal das Wahre faͤngt vor dem Jrrigen an,
in ſofern ein einzelner einfacher Begriff naͤher an dieſes
0 graͤnzt, als ein zuſammengeſetzter, ungefehr wie in
dem Zahlengebaͤude 1 naͤher an 0 graͤnzt, als 2, 3, 4
ꝛc. Jn dieſem Verſtande nehmen wir hier das Wort
anfangen. Denn da das Jrrige nur in der Verbindung
oder Zuſammenſetzung einfacher Begriffe vorkommt,
in ſo fern dieſe nicht angeht, ſo werden zum Jrrigen
wenigſtens zwey einfache Begriffe erfordert. Hin-
gegen,
[555]des Wahren und Jrrigen.
gegen, da jeder einfache Begriff an ſich Wahrheit
hat, ſo laͤßt er ſich auch fuͤr ſich gedenken, und in ſo-
fern faͤngt das Wahre vor dem Jrrigen an, weil es
bey einem einzelnen einfachen Begriffe anfangen kann.
§. 199.
Sofern man eine Wahrheit fuͤr falſch an-
ſehen kann, ſo fern dehnt ſich das Jrren eben
ſo weit als die Wahrheit aus, und es iſt deſto
leichter und vielfacher, je mehr eine Wahrheit
zuſammengeſetzt iſt, und je weiter ſie ſich aus-
breitet. Denn auf ſo viel mehrerley Arten laͤßt ſich dariñ
Theilsweiſe irren, es ſey, daß man ihre Theile unter ſich
oder mit andern verwechſelt, oder die Graͤnzen ihres Um-
fangs aͤndert, oder widerſprechendes mit einmenget ꝛc.
§. 200.
Will man hingegen Jrrthuͤmer in Zuſam-
menhang bringen, ſo iſt es zwar moͤglich, ei-
nige Harmonien darinn zu finden, hingegen
reicht man damit nicht ganz aus, ſondern es
bleibt immer moͤglich, die Jrrthuͤmer ſo wohl
unter ſich, als mit der Wahrheit auf Wider-
ſpruͤche zu bringen. Den erſten Theil dieſes Sa-
tzes koͤnnen wir durch Beyſpiele erweiſen, weil er keine
allgemeine oder durchgaͤngige Harmonie, ſondern nur
uͤberhaupt einige Moͤglichkeit derſelben fordert. Man
nehme demnach drey Begriffe A, B, C, deren jeder
eigene Merkmaale hat, dergleichen z. E. die verſchiedne
Arten einer oder auch verſchiedner Gattungen ſind Dem-
nach wird jeder von dem andern verneint. (§. 124. N. 4.
Dianoiol.) Macht man nun den Schluß in Barbara:
- Alle A ſind B.
- Alle C ſind A.
- Folgl alle C ſind B.
ſo hat man drey Saͤtze, wovon der dritte mit den bey-
den erſten dergeſtalt harmonirt, daß er in richtiger
Form
[556]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
Form aus demſelben geſchloſſen wird. Jndeſſen ſind
alle drey durchaus irrig, weil ſie ſaͤmmtlich allgemein
verneinend ſeyn ſollten, (per conſtructionem) auf
eine aͤhnliche Art laſſen ſich ganze durchaus irrige
Schlußketten gedenken. Man ſieht aber leicht, daß,
wenn alle Saͤtze durchaus irrig ſeyn ſollen, man dabey
alle richtige Verbindung der Begriffe weglaſſen muͤſſe,
und damit bleibt man merklich zuruͤck. Man nehme
nun uͤberhaupt fuͤr jeden wahren Satz den entgegen-
geſetzten falſchen, indem man die bejahenden in ver-
neinende, und die verneinenden in bejahende verwan-
delt, ſo hat man ein Syſtem oder vielmehr ein Cahos
von Jrrthuͤmern, welches mit dem Syſtem von Wahr-
heiten von gleichem Umfange iſt. Auf ſo viele Arten
nun ein wahrer Satz mit Zuziehung durchaus nicht
dazu gehoͤrender Mittelglieder zum Schlußſatze einer
foͤrmlichen Schlußrede kann gemacht werden, auf ſo
viele Arten laſſen ſich aus zween irrigen Saͤtzen ſolche
Saͤtze herleiten, die an ſich wahr ſind, und eben deswe-
gen einem Satze aus dem angenommenen Cahos wi-
derſprechen. Denn ſo oft das Mittelglied durchaus
nicht zu dem Schlußſatze gehoͤrt, ſo oft ſind auch
beyde Vorderſaͤtze durchaus irrig. Daß es aber ſol-
che Mittelglieder gebe, wird, weil das Jrren ſo leicht
iſt, vermuthlich keinem Zweifel unterworfen ſeyn.
Man ſetze aber dennoch, daß es keine gebe, ſo wird
man, um einen wahren Satz zu beweiſen, ohne Un-
terſchied jeden Begriff zum Mittelglied der Vorder-
ſaͤtze machen koͤnnen, und dieſe Vorderſaͤtze werden je-
desmal wahr ſeyn. Demnach wird ſich jeder Begriff
von jedem andern bejahen und verneinen laſſen, weil
jede bejahende und verneinende wahre Saͤtze, als
Schlußſaͤtze koͤnnen angeſehen werden. Die Unge-
reimtheit dieſer Folge iſt nicht nur offenbar genug,
ſondern, da man unzaͤhligemal mehr nicht dienende,
als
[557]des Wahren und Jrrigen.
als aber dienende Mittelglieder zu einem wahren
Schlußſatze findet, ſo erhellet auch daraus zugleich,
daß in dem ganzen Cahos von Jrrthuͤmern unzaͤhlige-
mal mehr Widerſpruͤche und Diſſonanzen als Har-
monien ſind, weil jeder wahre Satz, der folglich einen
irrigen umſtoͤßt, auf unzaͤhlig vielerley Arten aus zwey
irrigen Saͤtzen kann hergeleitet werden.
§. 201.
Es erhellet demnach hieraus, daß das Cahos
von Jrrthuͤmern nicht erſt mit dem Syſtem
der Wahrheiten darf verglichen werden, da-
mit man es umſtoßen koͤnne, ſondern, daß
es ſich ſelbſt ſchon durch ſeine eigene Wider-
ſpruͤche umſtoße. Denn ungeachtet wir in dem vor-
hergehenden Beweiſe wahre Schlußſaͤtze angenom-
men haben, ſo ſieht man doch leicht, daß dieſes nur
geſchehen iſt, um die falſchen Vorderſaͤtze, aus denen
ſie koͤnnen gezogen werden, deſto leichter zu beſtimmen,
und zu zeigen, daß es immer ſolche giebt. Da es
aber fuͤr ſich moͤglich iſt, ſolche falſche Vorderſaͤtze
zu nehmen, ſo iſt es auch fuͤr ſich moͤglich, den an ſich
wahren Schlußſatz A daraus zu ziehen. Nun aber
iſt der falſche Satz: nicht—A, in dem Cahos der
Jrrthuͤmer ſchon inbegriffen, weil er falſch iſt. Dem-
nach findet der irrende in der Vergleichung deſſelben
mit dem gezogenen Schlußſatze einen Widerſpruch,
ohne daraus noch ſchließen zu koͤnnen, welcher oder
wie viele von ſolchen Saͤtzen muͤſſen verworfen oder
geaͤndert werden. Man ſehe auch Dianoiol. §. 379.
§. 202.
Rein Jrrthum iſt ganz zu verwerfen. Denn
da kein Jrrthum ohne eingemengtes wahres iſt,
(§ 194.) ſo iſt klar, daß, wenn man denſelben ganz
verwerfen wollte, man zugleich auch das mit einge-
mengte wahre verwerfen wuͤrde. Nun kann man
aller-
[558]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
allerdings die Liebe zur Wahrheit unter die Poſtulata
ſetzen. Demnach iſt der Satz erwieſen. Wuͤrde man
aber nicht nur den Jrrthum ganz verwerfen, ſondern
fuͤr das damit zugleich verworfene Wahre deſſen Ge-
gentheil annehmen, ſo wuͤrde man nur irriges mit
irrigem vertauſchen, und damit waͤre der Richtigkeit
der Erkenntniß wenig geholfen.
§. 203.
Da das Wahre, welches in dem Jrrthum mit
eingemengt iſt, theils nothwendig in den einfachen
Begriffen liegt, theils auch mehr oder minder in ihrer
Zuſammenſetzung ſeyn kann, (§. 193.) ſo erhellet
hieraus, wo man es aufzuſuchen habe. Wird naͤm-
lich eine irrige Vorſtellung in die einfachen Begriffe
aufgeloͤſt, ſo haben dieſe ihre Wahrheit und Richtigkeit
fuͤr ſich. (§. 191.) Und da die Poſtulata allgemeine
Moͤglichkeiten angeben muͤſſen, (§. 692 ſeqq. Dia-
noiol.) ſo iſt klar, daß ſo bald man ſolche hat, die
Moͤglichkeit der Zuſammenſetzung der einfachen Be-
griffe in der irrigen Vorſtellung dadurch koͤnne ge-
pruͤft werden.
§. 204.
Da ferner in jedem Jrrthum das Wahre
ſo weit reicht, als der Jrrthum gedenkbar iſt,
(§. 193.) ſo iſt klar, daß, wenn in einer Vorſtellung
nichts irriges vorkoͤmmt, dieſelbe ſich durchaus geden-
ken laſſe. Dieſe complete Gedenkbarkeit macht
demnach eine abſolute Einheit aus, und ſie hat
ſtatt, ſo oft eine Vorſtellung durchaus wahr
und richtig iſt.
§. 205.
Hingegen in jeder irrigen Vorſtellung geht
dieſer Einheit etwas ab. Denn in jeder irrigen
Vorſtellung iſt etwas, das ſich nicht gedenken laͤßt.
Da ſie ſich nun durchaus ſollte gedenken laſſen, ſo iſt
klar,
[559]der Wahren und Jrrigen.
klar, daß man ſie ſich als eine Einheit vorſtellen kann,
(§. 26.) das nicht gedenkbare darinn eine Luͤcke laſſe,
welche macht, daß die Vorſtellung nicht voͤllig = 1
iſt. Jndeſſen, ſo fern man ſich das nicht Gedenkbare
oder das eigentlich Jrrige unter dem Bilde des Gedenk-
baren vorſtellt, ſo macht dieſer eingebildete (§. 42.)
Theil mit dem realen Theile der Vorſtellung
eine Einheit aus, die ebenfalls nur eingebildet
iſt. Weil ſie ſonſt durchaus real und folglich die
Vorſtellung durchaus wahr und richtig waͤre. Auf
dieſe Art ſagt man z. E. es ſeyn in einer Vorſtellung
drey Theile wahr, und ein Theil irrig. Das heißt nun
auf Algebraiſch, die Einheit der Vorſtellung ſey=
¾+¼. √—1.
§. 206.
Wenn aber eine Vorſtellung an ſich durchaus
wahr iſt, ſo kann es dennoch geſchehen, daß wir uns
des Wahren nicht durchaus bewußt ſind. Da wir
aber fuͤr den Theil, deſſen wir uns nicht bewußt ſind,
nicht gut ſtehen koͤnnen, ob er auch wahr oder nur
eingebildet ſey, ſo bleibt uns in ſo fern noch die Un-
gewißheit, ob in der Vorſtellung noch etwas irriges
verſteckt liege oder nicht. Und in ſo fern unterſchei-
det ſich der zuruͤckbleibende Theil, in Abſicht auf das
Wahre und Jrrige, nur dadurch, daß wir ihn, wenn
er wahr iſt, ſchlechthin nur nicht gedenken, wenn er
aber irrig iſt, nicht nur nicht gedenken, ſondern ſo fern
er irrig iſt, gar nicht gedenken koͤnnen. (§. 195.)
§. 207.
Soll demnach jede Ungewißheit bey einer
Vorſtellung gehoben werden, ſo muß die Ein-
heit darinn nicht nur durchaus real und com-
plet ſeyn, ſondern wir muͤſſen uns bewußt ſeyn,
daß ſie es iſt. Denn iſt ſie complet, ſo iſt auch die
Vorſtellung durchaus richtig und wahr. (§. 204.)
Dieſes
[560]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſcheide
Dieſes aber macht ſie uns noch nicht gewiß, weil zur
Gewißheit das Bewußtſeyn erfordert wird, daß ſie
durchaus complet und real iſt.
§. 208.
Eine Vorſtellung iſt demnach in ſo fern
ungewiß, in ſo fern entweder wirklich eine
Luͤcke darinn iſt, oder in ſo fern wir ſie nicht
durchaus gedenken. Denn iſt in der Vorſtellung
etwas irriges, ſo iſt auch nothwendig eine Luͤcke darinn,
(§. 205.) und dieſe laͤßt ſich nicht gedenken, weil ſie
hoͤchſtens nur mit etwas eingebildetem ausgefuͤllt wer-
den kann. (§. cit.) Demnach kann eine ſolche Vor-
ſtellung an ſich nie voͤllig gewiß werden. Jſt aber
die Vorſtellung an ſich durchaus wahr und richtig,
aber wir ſind uns derſelben nicht ganz bewußt, ſo
bleibt uns auch ungewiß, ob noch das mangelnde rich-
tig oder irrig iſt.
§. 209.
Hinwiederum, ſo fern uns eine Vorſtellung
ungewiß vorkoͤmmt, ſo fern ſind wir uns auch
nicht bewußt, ob dieſe Einheit complet iſt
oder nicht. Denn ſind wir uns bewußt, daß ſie
complet iſt, ſo iſt die Vorſtellung nicht nur durchaus
gedenkbar, ſondern wir ſtellen ſie uns auch durchaus
vor. Dadurch faͤllt nun jedes ungewiſſe weg. Dieſes
iſt nun wider die Bedingung des Satzes. Dem-
nach ſind wir uns bey einer noch ungewiſſen Vorſtel-
lung nicht bewußt, daß die Einheit complet ſey.
Sind wir uns aber bewußt, daß ſie nicht complet iſt,
ſo faͤllt die Ungewißheit nicht mehr auf die ganze
Vorſtellung, ſondern hoͤchſtens nur auf den noch man-
gelnden Theil. Demnach iſt die Sache ſo weit ent-
ſchieden, daß wir wiſſen, was darinn kann veſtgeſetzt
werden, und was noch zuruͤck bleibt.
§. 210.
[561]des Wahren und Jrrigen.
§. 210.
Wir muͤſſen hiebey anmerken, daß wir in dem erſt
gegebenen Beweiſe das Bewußtſeyn in einem ſehr
engen und genauen Verſtande nehmen, weil wir von
einem ſolchen Bewußtſeyn auf die Wahrheit der Vor-
ſtellung einen Schluß machen. Wir haben hier nicht
noͤthig zu unterſuchen, wiefern das Bewußtſeyn in
einem weitern oder engern Verſtande genommen wer-
den kann, ſondern werden nur anzeigen, daß wir es
hier in einem ſehr engen und genau beſtimmten Ver-
ſtande nehmen koͤnnen und muͤſſen. Denn da wir
hier von der Gewißheit reden, ſo duͤrfen wir nur aus
dem §. 72. wiederholen, daß das Bewußtſeyn unſ-
rer Exiſtenz der eigentliche und wahre Maaßſtab
der Gewißheit ſey, und eine abſolute Einheit aus-
mache. (§. 76.) Haben wir nun dieſes Bewußtſeyn
von der durchgaͤngigen Gedenkbarkeit einer Vorſtel-
lung, ſo iſt ſie unſtreitig ſo gewiß wahr und richtig,
ſo gewiß wir ſind. (§. 72.) Und haben wir eben
dieſes Bewußtſeyn, daß eine Vorſtellung, ſo weit wir
ſie haben, noch nicht complet iſt, ſo faͤllt auch die
Ungewißheit von allem, was wir uns davon mit einem
ſolchen Bewußtſeyn als gedenkbar vorſtellen, ganz
weg. Und dieſes iſt alles, was wir uͤber den gegebe-
nen Beweis anzumerken noͤthig haben. Denn daß es
ein ſolches Bewußtſeyn gebe, haben wir dadurch auf
ein unmittelbares Poſtulatum (§. 71.) reducirt. Ob
aber ein ſolches Bewußtſeyn bey jedem Gedenkbaren
ſeyn koͤnne, das iſt hier die Frage noch nicht. Aber
ſo ſtrenge muͤſſen wir es nehmen, wo von der Gewiß-
heit an ſich, folglich von der abſoluten Gewißheit
die Rede iſt. Will man aber bey unſerm Satze die
wahre Gewißheit von der bloß vermeynten noch un-
getrennt laſſen, ſo wird von der bloßen Einbildung
eben das gelten, was wir von dem Wahren geſagt
Lamb. Org. I. Band. N nhaben.
[562]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
haben. Denn ſo weit wir uns eine Vorſtellung als
richtig einbilden, ſo weit bilden wir uns auch ein,
daß ſie gewiß ſey.
§. 211.
Da uns aber allerdings mit der bloß eingebildeten
Gewißheit nicht gedient iſt, weil man ſie ſich bey jedem
Wahren und Jrrigen einbilden kann, ſo hatten wir
allerdings Grund, in den vorhergehenden Saͤtzen
(§. 206 ſeqq.) unſer Augenmerk auf die wahre und
abſolute Gewißheit zu richten, und den oben (§. 72.)
ſchon angezeigten Maaßſtab derſelben wieder anzufuͤh-
ren. (§. 210.) Weil wir jede Gewißheit mit dieſem
Maaßſtabe vergleichen muͤſſen, wenn ſie eben ſo abſo-
lut ſeyn ſoll.
§. 212.
Um demnach hierinn weiter zu gehen, werden wir
nach der oben (§. 46 ſeqq.) gegebenen Anleitung
zween Begriffe aus der Koͤrperwelt auf die Jntelle-
ctualwelt anwenden, die bereits ſchon darinn vorkom-
men. Es ſind die Begriffe einer Luͤcke und eines
Sprunges. Erſtern haben wir ſchon gebraucht, und
dadurch das mangelnde in einer Vorſtellung benennt,
wenn ſie entweder nicht durchaus gedenkbar iſt, oder
wenn wir ſie wenigſtens nicht durchaus gedenken.
Die Redensarten: eine Luͤcke uͤberſpringen, oder
etwas uͤberſpringen zeigen ungefehr an, was wir
hier durch einen logiſchen Sprung verſtehen. Wir
werden es nun genauer aufklaͤren.
§. 213.
Die Verbindung und der Zuſammenhang in einer
Vorſtellung ſoll real und durchgaͤngig ſeyn. Denn
dieſes macht die Einheit derſelben complet. (§. 205.)
Weil man die ganze Vorſtellung von Anfang bis zu
Ende und Schritt fuͤr Schritt durchgehen kann.
Jſt nun in der Vorſtellung etwas irriges, ſo geht der
Ein-
[563]des Wahren und Jrrigen.
Einheit mehr oder minder ab, und die Luͤcke iſt an ſich
fehlerhaft, weil ſie nur mit eingebildetem ausgefuͤllt
werden kann. (§. 205.) Jſt aber die Vorſtellung
an ſich richtig, aber wir ſind uns ihrer Theile, Verbin-
dung, Zuſammenhang ꝛc. nicht durchaus bewußt, ſo
iſt die Luͤcke eigentlich nur in unſerm Bewußtſeyn, und
ſie kann ausgefuͤllt werden, wenn wir die Vorſtellung
ausfuͤhrlicher entwickeln, und uns der Entwicklung
gleichſam Schritt fuͤr Schritt bewußt ſind.
§. 214.
Man ſieht nun leicht, daß dieſes Schritt fuͤr
Schritt gehen eigentlich dient, die Luͤcken in einer
Vorſtellung und in ihrem Bewußtſeyn auszufinden,
weil man, wo Luͤcken vorkommen, die ſich nicht aus-
fuͤllen laſſen, uͤber dieſelben ſpringen, oder ſie
uͤberſpringen, oder neben umgehen muͤßte, um
ganz auszukommen. Dieſe Luͤcken ſind in der Vor-
ſtellung ſelbſt, ſo fern ſie irrig iſt, und der Sprung
dabey, oder das Ueberſpringen oder das Neben-
umgehen iſt ebenfalls fehlerhaft, weil es das Jrrige
in der Vorſtellung nicht aufhebt, und die Luͤcke nicht
ausgefuͤllt werden kann, als in der bloßen Einbil-
dung. (§. 205.)
§. 215.
Jſt hingegen die Luͤcke nur in dem Bewußtſeyn,
ſo kann ſie ausgefuͤllt werden, und man muß es thun,
wenn man Schritt fuͤr Schritt gehen will. Denn
eben dieſes macht, daß man ſie entdeckt, oder, daß
man ſich bewußt iſt, daß eine Luͤcke da ſey. Zuweilen
kann man aus der Beſchaffenheit der Vorſtellung
wiſſen, daß die Luͤcke ſich mit realem ausfuͤllen laſſe,
und folglich die Einheit complet ſey. Jn dieſen Faͤl-
len laͤßt ſich ein Sprung thun, in ſo fern man den
Weg abkuͤrzen, oder geſchwinder durchkommen will.
N n 2§. 216.
[564]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
§. 216.
Dieſe Redensarten ſind noch immer figuͤrlich, und
folglich haben wir ſie noch genauer auf die Jntellectu-
alwelt anzuwenden. Daß ſie, uͤberhaupt betrachtet,
auch hier vorkommen, darf man ſich nur der Faͤlle
erinnern, wo man ſich von jemand hat etwas erklaͤ-
ren oder beweiſen laſſen, und wo man gleich anfangs
den Zuſammenhang ſich nicht hat vorſtellen koͤnnen.
Die Redensarten: ich ſehe noch nicht, wie die-
ſes aus jenem folge, wie dieſe Stuͤcke beyſam-
men beſtehen koͤnnen, woher dieſes oder jenes
dazu koͤmmt, dabey iſt ꝛc. ſind theils in ſolchen
Faͤllen, theils auch bey eigenem Nachdenken ſehr ge-
woͤhnlich, und man zeigt dadurch zugleich die Luͤcken
in dem Bewußtſeyn an, theils auch, daß man nicht
geſonnen ſey, von einem auf das andre zu kommen,
ohne zu wiſſen, ob allenfalls der Sprung nicht feh-
lerhaft waͤre, wenn man ihn gleich thun wollte. Man
will daher die Luͤcke erſt ausgefuͤllt wiſſen, um ſich zu
verſichern, daß nichts eingebildetes, (§. 205.) darinn
ſey.
§. 217.
Das Schritt fuͤr Schritt gehen, welches uns die
Luͤcken anzeigt, will demnach hier ſagen: ſich bey
einer Vorſtellung bewußt ſeyn, wie von Anfang
bis zum Ende eines mit dem andern beyſam-
men beſteht, oder eines mit dem andern ver-
bunden iſt, und zuſammenhaͤngt. Demnach koͤmmt
es auf die bereits zu Anfange dieſes Hauptſtuͤckes
(§. 161.) angefuͤhrten Forderungen an, welche man
bey jedem einzelnen Stuͤcke der Vorſtellung will genau
beobachtet wiſſen, und allerdings beobachtet werden
muͤſſen, wenn man Schritt fuͤr Schritt gehen, und
Luͤcken und Jrrthum vermeiden will. So iſt auch
fuͤr ſich klar, daß die abſolute Gewißheit for-
dert,
[565]des Wahren und Jrrigen.
dert, man muͤſſe ſich bewußt ſeyn, daß man
Schritt fuͤr Schritt gehe. Denn iſt man ſich
deſſen nicht bewußt, ſo verfaͤllt man von ſelbſt auf die
Anmerkung, man ſehe nicht, wie man weiter fort-
kommen koͤnne, wie das Folgende angehenkt, oder
mit dem vorhergehenden verbunden oder in Zuſam-
menhang gebracht werde, und in ſo fern ſind wir
noch nicht gewiß, ob es angehe oder nicht. Macht
man aber auch nicht einmal dieſe Anmerkung, ſo geht
man vollends aufs blinde hin, und die Verſicherung,
daß man richtig gehe, bleibt entweder ganz weg, oder
ſie iſt nur eingebildet. (§. 205.)
§. 218.
Wenn man bey einfachen Begriffen an-
faͤngt, ſo macht die Vermeidung eines Sprun-
ges in ihrer Verbindung oder Zuſammenſe-
tzung, ſo weit man fortgeht, die Gewißheit
abſolut. Denn einfache Begriffe ſind an ſich ge-
denkbar, (§. 161.) und das Jrrige kann nur in ihrer
Verbindung oder Zuſammenſetzung vorkommen.
(§. 192.) Verſichert man ſich demnach bey jedem
einzelnen Theile dieſer Zuſammenſetzung oder Ver-
bindung von ihrer Moͤglichkeit, ſo geht man Schritt
fuͤr Schritt, und da demnach jeder Sprung dadurch
vermieden wird, ſo iſt man, ſo weit man darinn geht,
von der Moͤglichkeit der Vorſtellung verſichert, und
das Bewußtſeyn jeder dieſer Schritte macht die Ge-
wißheit abſolut. (§. 217.) Man ſehe auch §. 203.
§. 219.
Die Verbindung oder Zuſammenſetzung der Be-
griffe, wovon erſt geredt worden, beruht uͤberhaupt
auf folgenden drey Formeln:
- 1. AkannBſeyn.
- 2. AiſtB.
- 3. AmußBſeyn.
N n 3Jn
[566]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
Jn der erſten dieſer Formeln iſt B eine Beſtimmung,
die der Begriff A leidet, und die Verſicherung, daß
A koͤnne B ſeyn, gruͤndet ſich immer auf Poſtulata.
Z. E. Ein einfacher Begriff kann gedacht werden,
ein Triangel kann gleichſeitig ſeyn ꝛc. Jn der zwey-
ten Formel iſt B eine Eigenſchaft oder Beſtimmung,
die der Begriff A bereits ſchon hat. Z. E. Das
ſolide fuͤllt einen Raum aus, die Bewegung hat eine
Dauer, der Raum hat eine Ausdehnung ꝛc. Jn der
dritten Formel erfuͤllt B eine Bedingung, die in dem
Begriffe A liegt. Z. E. Ein Triangel muß einen
Raum ſchließen, zwo ſeiner Seiten zuſammengenom-
men muͤſſen laͤnger als die dritte ſeyn ꝛc. Die erſte
Formel giebt zuſammengeſetzte Begriffe. Denn
wenn A kann B ſeyn, ſo laſſen ſich A gedenken, die B
ſind, und AB iſt demnach ein zuſammengeſetzter Be-
griff. Die zweyte Formel giebt Saͤtze, welche ſo-
dann durch Schluͤße mit andern verbunden werden
koͤnnen. Die dritte Formel giebt Requiſita, und
bezeichnet gewiſſermaaßen die Graͤnzen der Moͤg-
lichkeit, indem ſie ihre Bedingungen anzeigt ꝛc. Sol-
che Saͤtze werden entweder aus andern von gleicher
Form hergeleitet, oder ihr Gegentheil als unmoͤglich,
ungereimt, widerſprechend ꝛc. erwieſen. (§. |165.)
§. 220.
Wir fuͤhren dieſes hier an, um die verſchiednen
Arten von Schritten anzuzeigen, die uns von Wahr-
heit zu Wahrheit fuͤhren koͤnnen. Denn man ſieht
hieraus, daß ein zuſammengeſetzter Begriff AB moͤg-
lich iſt, wenn A kann B ſeyn, und daß der Satz: A
kannBſeyn, ſich auf Poſtulata gruͤnden muß, wenn
er nicht ſelbſt ein Poſtulatum iſt. Auf eine aͤhnliche
Art verhaͤlt ſich der Satz: A iſt B, zu den Grund-
ſaͤtzen. Denn er iſt ſelbſt ein Grundſatz, wenn ſich
A nicht gedenken laͤßt, ohne ſich ſogleich des B bewußt
zu
[567]des Wahren und Jrrigen.
zu ſeyn. (Dianoiol. §. 146.) Z. E. Der Raum
hat eine Ausdehnung, wer denkt, der exiſtirt ꝛc. oder
er wird aus Grundſaͤtzen hergeleitet, wie z. E. der
pythagoriſche Lehrſatz. Jn der Formel oder Satz:
AmußBſeyn, hat der Begriff A Bedingungen,
welche B erfordern, und dieſes wird gemeiniglich durch
die Unmoͤglichkeit des Gegentheils erwieſen.
§. 221.
So weit man Schritt fuͤr Schritt geht,
muß auch der Grund in einem fort gehen. Dieſer
Satz iſt wiederum aus der Koͤrperwelt. Er laͤßt ſich
aber auf die Jntellectualwelt anwenden. So haben
wir in der Dianoiologie (§. 232.) angemerkt, daß
eigentlich das Mittelglied in der erſten Figur der
Schluͤße den Grund angebe, warum der Schluß-
ſatz wahr iſt. Die Woͤrter: warum, weil, des-
wegen ꝛc. ſchließen den Begriff des Grundes in ſich.
Und wenn A wahr iſt, weilB wahr iſt, ſo ſagt man,
daß B den Grund von Aenthalte, |daß ſich A auf
Bgruͤnde, daß die Wahrheit des A von der Wahr-
heit des Babhaͤnge ꝛc.
§. 222.
Das Wort Grund hat etwas vieldeutiges. Wir
nehmen es hier ſchlechthin in einem logiſchen Ver-
ſtande, weil wir bloß die Gruͤnde des Wahren hier
betrachten, und in ſofern verſtehen wir durch einen
Grund diejenigen Saͤtze oder Begriffe, wodurch ſich
die Wahrheit eines Satzes, oder die Moͤglichkeit und
Richtigkeit eines Begriffes erkennen laͤßt.
§. 223.
Da ſich ferner ſowohl a priori als a poſteriori
etwas erkennen laͤßt, ſo theilt ſich auch der Begriff
des logiſchen Grundes in dieſe zwo Arten, und dieſe
muͤſſen nicht verwechſelt werden, weil man ſonſt in
Beantwortung der Frage: ob etwas ohne zureichen-
N n 4den
[568]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
den Grund ſey, ſich gar leicht einbilden kann, man
ſtelle ſich eine Reihe von Wahrheiten vor, deren jede
in der vorhergehenden unmittelbar gegruͤndet iſt, und
dieſe Reihe ſey vorwaͤrts und hinterwaͤrts unendlich,
da ſie doch, gleich einem Zirkel, in ſich ſelbſt geht, in
welchem man, wo man will, anfangen, und ſo lange
man will, herum laufen kann. Dieſes Blendwerk
iſt moͤglich, weil ſich nicht nur aus dem Grunde das
Gegruͤndete, ſondern auch hinwiederum aus dem
Gegruͤndeten der Grund erkennen laͤßt.
§. 224.
Wir werden hier die Gruͤnde a priori ſchlechthin
Gruͤnde nennen, und wo es vorkommen ſollte, die
Gruͤnde a poſteriori mit dieſer beygefuͤgten Beſtim-
mung von den erſten unterſcheiden.
§. 225.
WennAeinen Grund hat, ſo laͤßt ſich
daraus erkennen, daßAwahr ſey, und warum.
Denn der Grund iſt eben das, woraus es ſich erken-
nen laͤßt.
§. 226.
WennAkeinen Grund hat, ſo laͤßt ſich
auch daraus nicht erkennen, obAwahr ſey
oder nicht. Denn vermoͤge der Bedingung hat es
keinen. Wir haben in der Ausſage dieſes Satzes mit
Vorbedacht das Wort, daraus, beygefuͤgt, weil
ohne dieſe Beſtimmung wuͤrde gefolgt ſeyn, als wenn
ſich die Wahrheit des A gar nicht erkennen ließe.
Naͤmlich der Satz wuͤrde ſo gelautet haben: Wenn
Akeinen Grund hat, ſo laͤßt ſich nicht erken-
nen, obAwahr ſey oder nicht. Dieſes aber
wuͤrde voraus ſetzen: einen Grund haben, und
ſich als wahr erkennen laſſen, ſeyn identiſche
Ausdruͤcke, welches aber noch nicht bewieſen iſt.
(§. 223. 224.)
§. 227.
[569]des Wahren und Jrrigen.
§. 227.
Wenn nichts moͤgliches fuͤr ſich erkennbar
iſt, ſo hat alles moͤgliche nothwendig einen
Grund. Man ſetze, es habe keinen. Da es nun
weder aus irgend einem Grunde, noch fuͤr ſich erkenn-
bar iſt, ſo iſt es gar nicht erkennbar, folglich auch
nicht moͤglich. Da nun dieſes die Bedingung, daß
es moͤglich ſey, umſtoßen wuͤrde, ſo iſt es falſch, daß
das nicht fuͤr ſich erkennbare moͤgliche keinen Grund
habe. Demnach hat es nothwendig einen Grund.
§. 228.
Wir haben in dieſem Beweiſe angenommen,
das gedenkbare und das moͤgliche ſey von
gleichem Umfange. Man kann dieſes als einen
Grundſatz gelten laſſen. Jndeſſen laͤßt es ſich noch
mehr entwickeln. Es koͤmmt auf folgende zween
Saͤtze an:
- I.Alles Gedenkbare iſt moͤglich. Man ſetze,
es ſey unmoͤglich, ſo iſt es A und nicht—A
zugleich, folglich nicht gedenkbar. (§. 163.)
Dieſes aber iſt der Bedingung des Satzes
zuwider. Demnach iſt es falſch, daß das
Gedenkbare unmoͤglich ſeyn ſollte, folglich iſt
es moͤglich. - II.Alles moͤgliche iſt gedenkbar. Denn
waͤre etwas moͤgliches nicht gedenkbar, ſo
wuͤrde ihm kein Begriff entſprechen. Dem-
nach waͤre es aus dem Reich der Wahrheiten
ausgeſchloſſen, und folglich falſch. Welches
ungereimt iſt.
§. 229.
Von jeder Wahrheit, die wir nicht fuͤr
ſich als wahr erkennen, ſind wir befugt einen
Grund zu fordern, und dieſe Forderung ſelbſt
iſt gegruͤndet. Denn iſt die Wahrheit A in der
N n 5That
[570]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
That nicht fuͤr ſich erkennbar, ſo hat ſie nothwendig
einen Grund, aus dem ſie ſich als wahr erkennen laͤßt.
(§. 227.) Demnach, wenn wir den Grund fordern,
ſo fordern wir nichts, als was in der That und an
ſich betrachtet gegeben werden kann, und ſo iſt die
Forderung allerdings gegruͤndet, und wir ſind befugt ſie
zu machen, weil wir die fuͤr ſich nicht erkennbare Wahr-
heit, ohne den Grund zu wiſſen, nicht als wahr erkennen
koͤnnen. Waͤre aber eine Wahrheit fuͤr ſich erkennbar,
aber wir koͤnnten ſie nicht fuͤr ſich als wahr erkennen,
ſo wuͤrde uns wiederum der Grund zum Beyfall feh-
len. Demnach ſind wir auch in dieſem Fall befugt,
den Grund zu fordern, dafern dieſe Wahrheit nicht
aus unſrer Erkenntniß ganz wegbleiben ſoll.
§. 230.
Wir unterſuchen hiebey nicht, wie fern eine Wahr-
heit fuͤr ſich erkennbar, und dennoch uns nicht fuͤr
ſich erkennbar ſey. Unſer Verſtand iſt allerdings
nicht der Maaßſtab fuͤr das ganze Reich der Wahr-
heit, weil wir die Wahrheiten nur nach und nach er-
lernen. Wir haben in dem erſten Hauptſtuͤcke
(§. 53 ſeqq.) angemerkt, wie wir etwann hiebey zu-
ruͤck bleiben. Jndeſſen dient der erſt erwieſene Satz
dazu, daß wir ohne Bedenken von jedem Vorgeben,
deſſen Wahrheit uns nicht einleuchtet, einen Grund
fordern, und erwarten koͤnnen, und daß dieſe Forde-
rung nichts ungereimtes noch an ſich unmoͤgliches hat,
ſo ſehr die Erfindung der aͤchten Gruͤnde zuweilen
Hinderniſſen unterworfen iſt, daß wir nicht ſogleich
damit zu Ende kommen. Wir haben demnach hier
das Recht oder das Geſetz des Beyfalls, den der
Verſtand giebt, verſagt, oder aufſchiebt, je nach-
dem ſich eine Vorſtellung entweder fuͤr ſich oder aus
Gruͤnden als wahr anpreiſt, oder mehr oder minder
noch dabey fehlt. Was wir demnach oben (§. 104.)
zum
[571]des Wahren und Jrrigen.
zum Behuf der tranſcendenten Dynamik die Vim
inertiae des Verſtandes genennt haben, findet ſich
durch den erſt erwieſenen Satz (§. 229.) allgemein
bekraͤftigt, weil es daraus erhellet, daß dieſe Vis
inertiae eine durchgaͤngige Befugniß ſey. Wir muͤſſen
nur anmerken, daß uns in den meiſten Faͤllen, ſtatt
der Gruͤnde a priori die Gruͤnde a poſteriori dienen,
und dieſes macht den Zuſammenhang der Wahrheiten
unter ſich, von demjenigen, den ſie in unſrer Er-
kenntniß haben, mehr oder minder verſchieden, weil
wir dadurch den erſtern nicht erſchoͤpfen.
§. 231.
Was fuͤr ſich erkennbar iſt, bedarf keines
Grundes, und wenn es auch einen hat, ſo iſt
er dazu nicht abſolut nothwendig. Denn waͤ-
re er abſolut dazu nothwendig, ſo ließe es ſich ohne
denſelben nicht erkennen, folglich waͤre es nicht fuͤr
ſich erkennbar. Dieſes ſtoͤßt aber die Bedingung des
Satzes um. Demnach iſt der Grund nicht abſolut
nothwendig. Auf gleiche Art wird erwieſen, daß
das fuͤr ſich Erkennbare keines Grundes bedarf. Denn
da es fuͤr ſich erkennbar iſt, ſo iſt es unnoͤthig, es
erſt aus dem Grunde erkennen zu lernen.
§. 232.
Was fuͤr ſich gedenkbar iſt, laͤßt ſich auch
fuͤr ſich als wahr erkennen. Denn etwas iſt wahr,
ſofern es gedenkbar iſt. (§. 228.) Was demnach
fuͤr ſich gedenkbar iſt, iſt auch fuͤr ſich wahr. Denn
waͤre es nicht fuͤr ſich wahr, ſo muͤſſe ſeine Wahrheit
aus etwas anderm erwieſen werden, und demnach
waͤre auch ſeine Gedenkbarkeit davon abhaͤngig. (§.
217.) Dieſes ſtoͤßt aber die Bedingung um, daß
es fuͤr ſich gedenkbar ſey. Demnach iſt es fuͤr ſich
wahr, und folglich laͤßt es ſich auch fuͤr ſich als wahr
erkennen. (§. 231. 227.)
§. 233.
[572]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
§. 233.
Dieſer Satz will nun allerdings nicht ſagen, daß
eben auch wir alles fuͤr ſich Gedenkbare fuͤr ſich als
wahr erkennen, weil wir noch lange nicht allwiſſend
ſind, und weil unſre Begriffe durch die Sinnen ver-
anlaßt werden. Man ſehe auch §. 16. und Dia-
noiol. §. 656.
§. 234. a)
Da die einfachen Begriffe fuͤr ſich gedenkbar
ſind, (§. 161.) ſo ſind ſie auch fuͤr ſich erkennbar,
(§. 232) und beduͤrfen daher keines fernern Grun-
des, (§. 231.) oder wenn ſie einen haben, ſo iſt er
zu ihrer Erkennbarkeit nicht unumgaͤnglich nothwen-
dig. (§. cit.) So z. E. werden unſre einfachen Be-
griffe durch die Sinnen veranlaßt, und erkennbar.
Wir finden aber auch, daß dieſes eine bloße Veran-
laſſung, und folglich kein abſolut nothwendiger Grund
iſt. (§. 16. und Dianoiol. §. 656.) Jn der Theo-
logie wird erwieſen, daß der goͤttliche Verſtand die
Quelle aller einfachen Begriffe oder aller daraus zu-
ſammengeſetzten Wahrheiten ſey. Das will nun ſa-
gen: Es ſind Wahrheiten, weil ein Gott iſt, und
hinwiederum: es iſt ein Gott, weil Wahrheiten ſind.
Oder metaphyſiſch zu reden. Gott iſt das Principium
eſſendi der Wahrheiten, und die Wahrheiten ſind
das Principium cognoſcendi der Exiſtenz Gottes.
Deſſen unerachtet ſind aber die einfachen Begriffe
dennoch fuͤr ſich erkennbar, weil ſie weiter nichts als
die Gedenkbarkeit fordern. Daß ſie aber in der That
erkannt und gedacht werden, dazu gehoͤrt allerdings
ein Suppoſitum intelligens, oder ein denkendes Weſen.
§. 234. b)
Da das fuͤr ſich Erkennbare keines fernern Grun-
des, um erkannt zu werden, bedarf, (§. 231.) ſo
kann man allerdings ſetzen, daß es den Grund ſeiner
Erkenn-
[573]des Wahren und Jrrigen.
Erkennbarkeit in ſich habe, weil es fuͤr ſich erkennbar
iſt. Und in ſofern laͤßt ſich allerdings ſagen: Alles
Erkennbare, und daher auch alles Moͤgliche
habe einen Grund. Denn iſt es fuͤr ſich erkennbar,
ſo hat es den Grund ſeiner Erkennbarkeit in ſich, und
wenn es auch einen anderweitigen Grund haͤtte, ſo
waͤre dieſer zu ſeiner Erkennbarkeit nicht abſolut noth-
wendig. (§. 231.) Jſt es aber nicht fuͤr ſich erkenn-
bar, aber dennoch erkennbar, und folglich moͤglich,
ſo hat es ebenfalls einen Grund. (§. 227. 228.) Da
es demnach einen Grund hat, es mag fuͤr ſich, oder
nicht fuͤr ſich erkennbar ſeyn, ſo iſt klar, daß uͤber-
haupt alles Erkennbare und daher alles Moͤgliche ei-
nen Grund habe, aus dem es ſich als moͤglich erken-
nen laͤßt.
§. 235.
Wir koͤnnen zum Behuf dieſes Satzes noch an-
merken, daß man laͤngſt ſchon gewohnt iſt, die Gruͤn-
de in naͤhere und entferntere einzutheilen. Jn ſo
fern man demnach ſagen kann, das fuͤr ſich Erkenn-
bare habe den Grund ſeiner Erkennbarkeit in ſich, ſo
iſt dieſer Grund unſtreitig abſolut unmittelbar,
weil er fuͤr ſich ſubſiſtirt, und in ſo fern von jeden ent-
ferntern Gruͤnden nicht ſo abhaͤngt, daß er ohne die-
ſelben nicht zureichend waͤre. Hingegen, was nicht
fuͤr ſich erkennbar iſt, das muß aus anderm erkenn-
bar werden, und da giebt es allerdings deſto entfern-
tere Gruͤnde, je mehr einzelne Schritte man zu ge-
hen hat, um von dem fuͤr ſich Erkennbaren auf das,
ſo man aus demſelben erkennen kann, zu kommen.
(§. 217. ſeqq.)
§. 236. a)
Jn ſofern ſich ein Grund aus dem, ſo darauf
gegruͤndet iſt, erkennen laͤßt, in ſofern geht man a
poſteriori, weil man das, was aus dem Grund erſt
ſollte
[574]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
ſollte bewieſen werden, zum Grunde legt, um den
Grund daraus zu finden. Wir ſind in unzaͤhligen
Faͤllen genoͤthigt, dieſen Weg zu nehmen, ſo oft wir
naͤmlich Begriffe und Saͤtze aus der Erfahrung ent-
lehnen muͤſſen. Und dieſes erfordert eine beſondre
analytiſche Methode, die wir in der Dianoiologie (§.
404. ſeqq.) angegeben haben. Hingegen in dem Rei-
che der Wahrheit, an ſich betrachtet, muͤſſen Gruͤnde
a priori gedacht werden, weil dieſe den eigentlichen
und natuͤrlichen oder directen Zuſammenhang der
Wahrheiten angeben, und die Gruͤnde a poſteriori
ſind darinn nur reciprocirlich, in ſofern man naͤmlich
von dem Gegruͤndeten zu den Gruͤnden ruͤckwaͤrts ge-
hen kann, das Gegruͤndete aber als bereits aus den
Gruͤnden erwieſen annimmt.
§. 236. b)
Wir haben nun die Frage: ob etwas ohne
zureichenden Grund ſey, ſo weit entwickelt, daß
man nur die Frage zu eroͤrtern hat: ob etwas Moͤg-
liches fuͤr ſich gedenkbar ſey? Wer dieſes laͤugnet,
dem dient der Lehrſatz des (§. 227.) und er wird nicht
nur behaupten muͤſſen, alles Moͤgliche habe einen
Grund, ſondern auch, daß dieſer Grund außer dem
Moͤglichen ſey, naͤmlich, ſofern es nicht fuͤr ſich erkenn-
bar iſt. Man muß ſich aber erinnern, daß hier von
Gruͤnden a priori die Rede iſt. Auf dieſe Art aber
verfaͤllt man auf eine Reihe von Gruͤnden, die in
gerader Linie (§. 223.) ins Unendliche fortgeht. A
wird ſich auf B, B auf C, C auf D etc. gruͤnden, und
keines von dieſen Moͤglichen fuͤr ſich erkennbar ſeyn.
Ob aber, wenn dieſes nothwendig unendlich fortge-
hen ſoll, auch nur ein Glied dieſer Reihe erkennbar
werde, iſt eine ganz andre Frage, weil das, woraus
die ganze Reihe erkennbar werden ſoll, nirgends
darinn vorkoͤmmt. Denn kaͤme es vor, ſo muͤßte es
fuͤr
[575]des Wahren und Jrrigen.
fuͤr ſich erkennbar ſeyn. Damit ſtoͤßt man aber die
Bedingung des Vorgebens um. Es iſt demnach
nothwendig etwas fuͤr ſich Erkennbares zu
admittiren, das keinen fernern Grunda priorihat.
§. 237.
Man wird aus den bisherigen Betrachtungen
(§. 234. ſeqq.) ſehen, daß, wenn wir dem fuͤr ſich Er-
kennbaren einen Grund zugeben, der Begriff eines
Grundes dadurch allgemeiner genommen werde, als
man ihn insgemein nimmt, weil man den Grund als
etwas von dem Gegruͤndeten verſchiedenes anſieht, und
in ſofern die Gruͤnde in ſolche, die a priori, und in
ſolche, die a poſteriori ſind, eintheilt. Zwiſchen
dieſen zwoen Arten haben wir bey dem fuͤr ſich Erkenn-
baren das Mitel, welches gleichſam die gemeinſame
Graͤnzlinie zwiſchen beyden iſt. Hat der Verſtand
Schritte zu thun, wenn er a priori oder a poſteriori
geht, ſo findet er bey dem fuͤr ſich Erkennbaren einen
Ruheplatz, weil dieſes in der That keiner fernern Gruͤn-
de bedarf, weil es der Anfang der Gruͤnde a priori iſt,
und weil man auch a poſteriori endlich zu | dieſem
Anfange koͤmmt. Das fuͤr ſich Erkennbare iſt dem-
nach gleichſam ſich ſelbſt ſein Grund, denn es iſt aller-
dings erkennbar, weil es fuͤr ſich erkennbar iſt. Jndeſ-
ſen, wenn wir im folgenden von Gruͤnden reden wer-
den, ſo werden wir Gruͤnde a priori dadurch verſtehen,
und ſie ſo wohl den Gruͤnden a poſteriori, als auch
dem fuͤr ſich erkennbaren dadurch entgegen ſetzen, daß
wir, wo es vorkoͤmmt, beyde letztern mit ihren eigenen
Namen, erſtere aber ſchlechthin Gruͤnde neñen werden.
§. 238.
Was nicht unbedingt noch allgemein moͤg-
lich iſt, hat einen Grund ſeiner Moͤglichkeit
und deren Graͤnzen. Denn was nicht unbedingt
oder allgemein moͤglich iſt, das laͤßt ſich nicht ſchlecht-
hin
[576]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
hin fuͤr ſich alles moͤglich erkennen. Da nun das
Moͤgliche, ſo nicht fuͤr ſich erkennbar iſt, einen Grund
hat, (§. 227.) ſo iſt klar, daß auch, was nicht unbedingt
noch allgemein moͤglich iſt, einen Grund ſeiner Moͤg-
lichkeit und deren Graͤnzen haben muͤſſe.
§. 239. a)
Dieſer Lehrſatz iſt auch in der Ausuͤbung und in
der Erkenntniß a poſteriori von vielfachem Gebrauche.
Er diente dem Torricelli, den Abſcheu vor dem Leeren
aus der Naturlehre zu verbannen, und die Schwere
der Luft, als den wahren Grund einer Erfahrung zu
finden, die man bis dahin allgemeiner glaubte, als ſie
wirklich war. Uebrigens gebrauchte er dieſen Satz nicht
in ſeiner voͤlligen Allgemeinheit, weil er nur fuͤr einen
erdichteten Grund, der die Erfahrung unbedingt mach-
te, den wahren aus der Bedingung fand, die die Er-
fahrung ſelbſt angab.
§. 239. b)
Die willkuͤhrliche Zuſammenſetzung einfacher
Begriffe iſt nicht allgemein moͤglich. Dieſer Satz
wird ſchlechthin durch Exempla in contrarium erwie-
ſen. (§. 227. Dianoiol.) Man wird aber leicht ſolche
finden, wenn man den im zweyten Hauptſtuͤck gegebe-
nen Grundſaͤtzen zuwider, Begriffe zuſammenſetzen will.
Z. E. man gebe dem Soliden nur eine Dimenſion. (§.
94.) Man ſetze, daß itzt ſey, was erſt kuͤnftig ſeyn wird,
(§. 81.) daß, was in einem Raume iſt, zugleich außer
demſelben ſey (§. 87.) ꝛc. ſo wird man unmoͤgliche
Dinge ſetzen. Demnach iſt die willkuͤhrliche Zuſammen-
ſetzung einfacher Begriffe nicht allgemein moͤglich. Es
iſt fuͤr ſich klar, daß dieſe Moͤglichkeit der Zuſammen-
ſetzung bereits ſchon zuſammengeſetzter Begriffe noch
eingeſchraͤnkter iſt.
§. 240.
[577]des Wahren und Jrrigen.
§. 240.
Zuſammengeſetzte Begriffe haben einen
Grund ihrer Zuſammenſetzung. Denn dieſe Zu-
ſammenſetzung iſt nicht allgemein moͤglich. (§. 239.)
Da nun, was nicht allgemein moͤglich iſt, einen Grund
ſeiner Moͤglichkeit und deren Graͤnzen hat, (§. 238.) ſo
muͤſſen auch zuſammengeſetzte Begriffe einen Grund
ihrer Zuſammenſetzung haben. Es iſt fuͤr ſich klar,
daß dieſer Grund angeben muß, daß und wiefern
die Zuſammenſetzung moͤglich iſt, und wo ſie an-
faͤngt unmoͤglich zu werden. Man ſehe, was wir
bereits oben (§. 135.) hieruͤber angemerkt haben.
§. 241.
Zuſammengeſetzte Begriffe kommen in dem
Reiche der Wahrheit als Praͤdicate vor, ehe ſie
als Subjecte vorkommen. Denn ſollen ſie als Sub-
jecte vorkommen, ſo muß ihre Moͤglichkeit entweder
bereits erwieſen ſeyn, oder hypothetiſch angenommen
werden, weil die Moͤglichkeit ihrer Zuſammenſetzung
nicht allgemein iſt. (§. 239.) Da nun das hypotheti-
ſche hiebey darinn beſtehen wuͤrde, daß dieſe Moͤglich-
keit noch dahin geſtellt bliebe, ſo faͤllt es aus dem Rei-
che der Wahrheiten weg, weil wir daſſelbe als bereits in
ſeiner Verbindung und Zuſam̃enhang anſehen. (§. 160.)
Demnach muß die Moͤglichkeit der Zuſammenſetzung
eines Begriffes, ehe derſelbe als Subject vorkoͤmmt,
bereits ſchon erwieſen ſeyn. Bis dahin koͤmmt er dem-
nach nothwendig nur als Praͤdicat vor, weil der Be-
weis ſeiner Moͤglichkeit denſelben allerdings enthalten
muß.
§. 242.
Um dieſes deutlicher einzuſehen, duͤrfen wir nur
anzeigen, wie ein zuſammengeſetzer Begriff in
dem Beweiſe ſeiner Moͤglichkeit als Praͤdicat
vorkomme. Da derſelbe aus einfachen Begriffen
Lamb. Org. I. Band. O obeſteht,
[578]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
beſteht, ſo muͤſſen allerdings Poſtulata vorhergehen, wel-
che die Moͤglichkeit ihrer Zuſammenſetzung angeben.
Da nun durch dieſe Poſtulata die Moͤglichkeit bereits
als abſolut und categoriſch vorausgeſetzt wird, ſo wird
dadurch die Entſtehungsart des Begriffes oder auch der
Sache ſelbſt erwieſen. Dadurch aber wird die Art der
Zuſammenſetzung zum Subjecte, und der zuſammen-
geſetzte Begriff zum Praͤdicate.
§. 243.
Uebrigens, da hiebey von Moͤglichkeiten die Re-
de iſt, ſo iſt klar, daß man im Vortrage die Wahl hat,
die Entſtehensart des Begriffes oder der Sache ſelbſt,
in Form eines Satzes, oder aber in Form einer Auf-
gabe vorzutragen. So z. E. traͤgt Euclid in ſeiner
erſten Propoſition die Moͤglichkeit eines gleichſeitigen
Triangels in Form einer Aufgabe vor, die ſich aber leicht
in einen Satz verwandeln laͤßt, wenn man die Aufloͤſung
zum Subject, die Frage der Aufgabe aber zum Praͤdi-
cat macht. (§. 161. Dianoiol.)
§. 244.
Auf gleiche Art iſt es vermoͤge des §. 175. ſeq. gar
wohl moͤglich, einen zuſammengeſetzten Begriff gleich
anfangs zum Subjecte anzunehmen, dafern man be-
weiſen kann, daß ſich nichts daraus herleiten laſſe, was
irgend einer Wahrheit widerſprechen wuͤrde. Wir ha-
ben aber am angezogenen Orte auch ſchon angemerkt,
daß wir uns dieſes Mittels in der Naturlehre nur we-
gen Mangels mehrerer Erkenntniß a priori bedienen,
und daß eine ſolche Jnduction, ſobald die Moͤglichkeit
des Begriffes a priori erwieſen iſt, vollends uͤberfluͤßig
werde. (§. 190.) Man ſehe auch §. 235.
§. 245.
Hat man aber einen zuſammengeſetzten Begriff durch
den Beweis ſeiner Moͤglichkeit herausgebracht, ſo laͤßt
er ſich allerdings nachgehends zum Subjecte machen,
um
[579]des Wahren und Jrrigen.
um jede ſeine Merkmaale von ihm zu bejahen, ſeine
Verhaͤltniſſe mit den verwandten Begriffen, und die
Verhaͤltniſſe ſeiner Merkmaale unter ſich zu beſtimmen
ꝛc. Auch hierinn koͤnnen Euclids Elemente zum Bey-
ſpiele und Muſter dienen.
§. 246.
DiePoſtulataim Reiche der Wahrheit enthal-
ten allgemeine und unbedingte Moͤglichkeiten.
Denn die Poſtulata geben Moͤglichkeiten an, die fuͤr ſich
erkennbar ſind. (§. 156. Dianoiol.) Man ſetze nun,
dieſe ſeyn nicht allgemein noch unbedingt, ſo haben ſie
einen Grund ihrer Moͤglichkeit und deren Graͤnzen, oh-
ne welchen ſie ſich nicht als wahr und richtig erkennen
laſſen. (§. 238. 237.) Demnach waͤren ſie nicht fuͤr ſich
erkennbar. Dieſes aber ſtoͤßt die Bedingung des Sa-
tzes um, folglich enthalten die Poſtulata im Reiche der
Wahrheit allgemeine und unbedingte Moͤglichkeiten.
§. 247.
Man ſieht leicht, daß wir hier den Begriff eines
Poſtulati ſehr genau beſtimmt nehmen. Man wird
auch die meiſten Poſtulata, die wir im zweyten Haupt-
ſtuͤck angegeben haben, von dieſer Art finden. Das einige,
wobey wir Graͤnzen ſetzen mußten, betrifft die Soliditaͤt,
(§. 94.) daß ſich naͤmlich jeder Raum bis zur Conti-
nuitaͤt ausgefuͤllt gedenken laſſe. Wir haben aber in
dem §. 96. angemerkt, daß es noch dahin geſtellt bleibe,
ob dieſe Einheit nicht noch veraͤnderlich ſey? Denn haͤt-
te die Continuitaͤt Gradus intenſitatis, die von o bis
ins Unendliche gehen, ſo wuͤrde das Leere von dem Vol-
len nur wie der Anfang einer Linie von der Linie ſelbſt
unterſchieden ſeyn, und die Ausfuͤllung eines Raumes
wuͤrde in Anſehung der Dichtigkeit nicht nothwendig,
ſondern nur, mit Beybehaltung gleich dichter Mate-
rie, Graͤnzen haben.
O o 2§. 248.
[580]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
§. 248.
Was nicht allgemein noch unbedingt moͤg-
lich iſt, wird durch zween oder mehrere verſchie-
dene Gruͤnde unter gewiſſe Schranken der
Moͤglichkeit geſetzt. Denn da es bis dahin moͤg-
lich iſt, ſo hat es auch in ſofern allerdings einen Grund
der Moͤglichkeit. Da aber dieſer Grund nicht ausreicht,
ſo weit man will, ſo iſt er ſelbſt entweder auf Bedin-
gungen geſetzt, oder es kommen in ſeiner Anwendung
auf den vorgegebenen Fall Bedingungen hinzu, die ihm
Schranken ſetzen. Da nun aus dieſen Bedingungen
erkennbar wird, warum die Moͤglichkeit nicht weiter
reicht, ſo geben ſie allerdings noch einen oder mehrere
verſchiedene Gruͤnde an. Demnach wird, was nicht
allgemein oder unbedingt moͤglich iſt, durch zween oder
mehrere verſchiedene Gruͤnde innert gewiſſe Schranken
der Moͤglichkeit geſetzt.
§. 249.
Man ſieht leicht, daß dieſer Lehrſatz den bereits oben
(§. 238.) erwieſenen umſtaͤndlicher aufklaͤrt, indem hier-
aus erhellt, daß der Grund der Moͤglichkeit und de-
ren Graͤnzen nicht einfach, ſondern aus zween oder meh-
rern zuſammengeſetzt iſt. Man hat demnach allerdings
mehr als einen Grund zu ſuchen, ſo oft man Moͤglich-
keiten findet, die nicht allgemein noch unbedingt ſind.
§. 250.
Es erhellet zugleich hieraus, daß die bedingten
und nicht allgemeinen Moͤglichkeiten nur bey
zuſammengeſetzten Begriffen vorkommen. Denn
der Begriff der Bedingung, welche die Moͤglichkeit ein-
ſchraͤnkt, koͤmmt entweder noch zu dem Begriffe der Sa-
che, an ſich betrachtet, hinzu, oder man nimmt einzelne
Moͤglichkeiten, die einander einſchraͤnken, zuſammen.
Jn beyden Faͤllen entſteht ein ſpecialer und zuſam-
mengeſetzter Begriff.
§. 251.
[581]des Wahren und Jrrigen.
§. 251.
Wahrheiten, die ſich auf einander gruͤnden,
haͤngen zuſammen, oder von einander ab, und hin-
wiederum: Wahrheiten, die zuſammenhaͤngen
oder von einander abhaͤngen, gruͤnden ſich auf
einander. Denn wenn ſich A auf B gruͤndet, ſo laͤßt
ſich aus B erkennen, daß A wahr iſt: Naͤmlich A iſt
wahr, weil B wahr iſt, und wenn A nicht wahr waͤre,
ſo wuͤrde auch B nicht wahr ſeyn. Dieſes Verhaͤltniß
zwiſchen A und B wird nun Zuſammenhang oder
Abhaͤnglichkeit genennt. Demnach, wo jene vor-
koͤmmt, da iſt auch dieſe, und hinwiederum.
§. 252.
Wir nehmen hier die Ausdruͤcke: ſich auf einan-
der gruͤnden, zuſammenhaͤngen, von einander
abhaͤngen, als gleichguͤltige Ausdruͤcke, ungeachtet ſie
es in der Koͤrperwelt, woraus ſie entliehen ſind, (§. 46.
ſeqq.) und folglich dem Buchſtaben nach, oder im
eigentlichen Verſtande nicht ſind. Denn man ſieht leicht,
daß der Unterſchied nur auf die Art ankoͤmmt, wie man
ſich das erſtbemeldte Verhaͤltniß zwiſchen den Wahr-
heiten vorſtellt. Sagt man: Agruͤnde ſich aufB, ſo
ſetzt man gleichſam B voraus veſte. Sagt man: Ahaͤn-
ge vonBab, ſo zeigt man, daß A zugleich mit B geſetzt,
gehoben und uͤberhaupt veraͤndert werde. Sagt man:
Ahaͤnge mitBzuſammen, ſo zeigt man an, daß A
und B nicht einzelne, oder nicht zuſammengehoͤrende
Stuͤcke ſeyn. Der Zuſammenhang iſt immer reci-
procirlich, die Abhaͤnglichkeit iſt es nicht allezeit, der
Grund aber niemals, wenn man im eigentlichſten Ver-
ſtande Gruͤnde a priori nimmt. Denn wenn A mit B
zuſammenhaͤngt, ſo haͤngt auch B mit A zuſammen.
Hingegen haͤngt entweder A von B, oder B von A, und
zuweilen eines von dem andern ab. Endlich iſt A auf B
oder B auf A, aber niemals beydes auf einander a priori
O o 3gegruͤn-
[582]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
gegruͤndet. Wenn aber A und B einen gemeinſamen
Grund C haben, ſo haͤngen ſie ebenfalls, naͤmlich vermit-
telſt dieſes Grundes zuſammen. Dieſes ſind ungefehr
die genauer bezeichneten Unterſchiede der vorhin gemeld-
ten drey Ausdruͤcke, auf die wir aber hier nicht ſehen,
zumal da mehrentheils aus dem ganzen Zuſammenhange
der Rede beſtimmt wird, wie weit man ihre Bedeutung
auszudehnen habe. (§. 156.)
§. 253.
Alle Wahrheiten haben etwas gemein. Man
ſetze, zwo Wahrheiten, die nichts gemein haben, ſo ſind
ſie durchaus A und nichtA. Welches ungereimt iſt.
Uebrigens, da dieſer Satz noch unbeſtimmt laͤßt, wie viel
oder wie wenig alle Wahrheiten gemein haben, ſo wird
er in ſofern auch ſchlechthin nur dadurch bewieſen, daß,
wenn zwo Wahrheiten nichts gemein haͤtten, die eine
derſelben nicht moͤglich, nicht gedenkbar, nicht
wahr ꝛc. ſeyn muͤßte. Denn dieſe und noch mehrere
Praͤdicate ſind unter dem A und nichtA enthalten.
§. 254.
Das Gemeinſame aller Wahrheiten macht gewiſ-
ſermaßen das Band derſelben aus, und erweiſt uͤber-
haupt die Einheit des Reichs der Wahrheiten. So
viel man ſich demnach einzelne und beſondre Klaſſen
von Wahrheit vorſtellen kann, wenn man ſie in be-
ſondern Abſichten betrachtet, ſo wird man dennoch
keine finden, die von den uͤbrigen durchaus abgeſon-
dert, und alles Zuſammenhanges mit denſelben
beraubt waͤre. Jede Klaſſe iſt mit jeder andern, und
jede einzelne Wahrheit mit jeder andern, uͤberhaupt
betrachtet, wenigſtens dadurch verbunden, und im
Zuſammenhange, daß ſie ſaͤmmtlich etwas Gemein-
ſames haben, oder daß das Reich der Wahrheit ein
Ganzes ausmacht. Das Beyſammenbeſtehen, (§.
178.) die complete Harmonie, (§. 184. 185.) die
com-
[583]des Wahren und Jrrigen.
complete Gedenkbarkeit, (§. 204.) das durchgaͤngig
Gegruͤndete (§. 234.) ꝛc. geben uns an ſich ſchon das
Reich der Wahrheiten als ein ſolches Ganzes zu er-
kennen, deſſen Theile nicht nur genau und vielfach
verbunden ſind, ſondern gar keine Luͤcke zulaſſen.
(§. 205.) Wir werden es aber in dieſer Abſicht noch
ausfuͤhrlicher betrachten.
§. 255.
Wenn eine Wahrheit gelaͤugnet wird, ſo
werden nothwendig noch mehrere zugleich mit
derſelben gelaͤugnet. Denn durch das Laͤugnen
macht man aus dem Satze: A iſt B, den Satz: A
iſt nichtB. Demnach ſetzt man fuͤr den wahren V
einen falſchen F. Nun aber koͤnnen aus einem fal-
ſchen Satze F immer andre Saͤtze D hergeleitet wer-
den, die irgend einem wahren Satze E widerſprechen.
(§. 171 — 173.) Da nun, wer einen wahren Satz
V laͤugnet, den falſchen F als wahr annimmt, ſo
nimmt er auch die Saͤtze D, die daraus gefolgert
werden koͤnnen, fuͤr wahr an. (§. 161.) Demnach
muß er auch diejenigen wahren Saͤtze E fuͤr falſch
anſehen, denen ſeine Schlußſaͤtze D widerſprechen, ſo
lange er bey dem angenommenen falſchen Satze F bleibt.
Wird folglich eine Wahrheit gelaͤugnet, ſo werden
nothwendig noch mehrere zugleich mit derſelben ge-
laͤugnet.
§. 256.
Keine Wahrheit iſt von den uͤbrigen durch-
aus unabhaͤngig. Man ſetze, eine Wahrheit V
haͤnge von keiner andern Wahrheit ab, ſo wird die
Wahrheit V gelaͤugnet werden koͤnnen, ohne daß da-
durch zugleich andre Wahrheiten gelaͤugnet werden
muͤßten. Dieſes geht aber nicht an, (§. 255.) folg-
lich iſt es falſch, daß die Wahrheit V von jeden an-
dern Wahrheiten unabhaͤngig ſey.
O o 4§. 257.
[584]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
§. 257.
Dieſer Lehrſatz laͤßt zwar an ſich ſchon unbeſtimmt,
ob die Abhaͤnglichkeit, und daher auch der Zuſam-
menhang der Wahrheiten durchgaͤngig ſey. Er iſt
aber auf eine andre Art noch eingeſchraͤnkt, welches
deutlicher erhellen wird, wenn wir genauer anzeigen,
wie weit der Beweis reicht. Denn da wird ſich leicht
finden, daß wir nur noch einen Theil der Abhaͤnglich-
keit der Wahrheiten erwieſen haben. Es iſt naͤmlich
die Frage: wenn man eine WahrheitVlaͤugnet,
welche andre Wahrheiten dadurch zugleich ge-
laͤugnet werden? Der Beweis giebt nun eigentlich nur
noch ſolche wahre Saͤtze E an, welche durch die Folgen D
des fuͤr den wahren Satz V angenommenen Gegentheils
oder falſchen Satzes F wuͤrden umgeſtoßen werden.
Demnach werden mit dem Satze V zugleich die Saͤtze
E umgeſtoßen oder gelaͤugnet, und man wird aus den
angezogenen Beweiſen (§. 171 — 173.) ſehen, daß
auch hinwiederum die Saͤtze E zugleich mit dem Sa-
tze V geſetzt oder behauptet werden. Daher kann
man im eigentlichſten Verſtande ſagen, die Saͤtze E
haͤngen von dem Satz V ab. (§. 252.) Folglich
giebt es keine Wahrheit, von welcher nicht
nothwendig mehrere andre Wahrheiten abhaͤn-
gen. Sofern wir aber von dem Satze des §. 256.
durch das Wort unabhaͤngig nur uͤberhaupt einen
voͤlligen Mangel des Zuſammenhanges verſtehen, ſo
fern koͤnnen wir auch ſagen, daß ein Grund von dem
darauf Gegruͤndeten, oder ein Satz von ſeinen Folgen
nicht durchaus unabhaͤngig ſey, und in ſofern iſt auch
die Wahrheit V von den Wahrheiten E nicht durchaus
unabhaͤngig. Kann man aber von den Wahrheiten
E wiederum zu der Wahrheit V ruͤckwaͤrts gehen, ſo
iſt allerdings die Abhaͤnglichkeit reeiprocirlich, (§. 252.)
und in dieſen Faͤllen iſt der Satz des §. 256. in einem
ungleich
[585]des Wahren und Jrrigen.
ungleich ſtrengern Verſtande wahr. Wie dieſes durch
identiſche Saͤtze geſchehe, haben wir in der Dianoio-
logie (§. 406.) angezeigt. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar,
daß auf ſo vielerley Arten der Satz V durch eine
Schlußrede von wahren Vorderſaͤtzen und richtiger
Form kann erwieſen werden, auf ſo vielerley Arten
auch das Laͤugnen deſſelben das Laͤugnen der Vorder-
ſaͤtze, oder wenigſtens eines derſelben nach ſich ziehe,
und in ſofern auch eine Abhaͤnglichkeit zwiſchen den-
ſelben ſtatt habe.
§. 258.
Es iſt an ſich unmoͤglich, alle Wahrheiten
zugleich zu laͤugnen. Man ſetze, es koͤnne ange-
hen, ſo macht man aus jedem wahren Satze: Aiſt
B, einen falſchen: Aiſt nichtB, und hinwiederum
aus jedem wahren Satze: Aiſt nichtB, einen fal-
ſchen:AiſtB. Demnach erhaͤlt man eben ſo viele
irrige Saͤtze, als im Reiche der Wahrheiten wahre
ſind. Sollte nun in dieſem Cahos von Jrrthuͤmern
durchaus nichts Wahres zuruͤck bleiben, ſo muͤßte
der Laͤugnende durchaus nichts gedenken, (§. 195.)
folglich auch nichts laͤugnen. Welches ungereimt iſt.
Daher geht es auch nicht an, daß man alle Wahr-
heiten zugleich ſollte laͤugnen koͤnnen.
§. 259.
Das Wahre iſt demnach bey jedem denkenden We-
ſen ſo eingewurzelt, daß man, ohne etwas Wahres
zu denken, gar nichts denken kann, und daß ſelbſt
der Jrrthum von dem Wahren borgen muß, weil
man, ohne Wahres mit einzumengen, nicht irren
kann. (§. 194.) Der Jrrthum beſteht naͤmlich bloß
in der Meynung, daß man mehr denke, als man
wirklich denkt. (§. 193. 205.)
O o 5§. 260.
[586]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
§. 260.
Der Gegner eines wahren Satzes kann ſein
Laͤugnen immer ſo einrichten, daß er Gruͤnde
laͤugnet, und dadurch bleiben die Folgen da-
hin geſtellt. Denn 1) will man ihm den Satz durch
Schlußreden beweiſen, ſo iſt es fuͤr ſich klar, daß er
die Vorderſaͤtze und demnach die Gruͤnde laͤugnen
wird, dafern er auf dem Laͤugnen beharret. 2) Will
man aber aus dem Gegentheil des gelaͤugneten Satzes
herleiten, daß dadurch andre wahre Saͤtze muͤßten
umgeſtoßen werden, (§. 171.) ſo gebraucht man eben-
falls Gruͤnde dazu. Werden demnach dieſe von dem
Gegner gelaͤugnet, ſo bleibt die Folge, daß naͤmlich
wahre Saͤtze umgeſtoßen wuͤrden, dahin geſtellt, weil
er die Gruͤnde, woraus ſie fließen wuͤrden, nicht
einraͤumt.
§. 261.
Giebt aber der Gegner im letzten Fall die Gruͤn-
de zu, und beharret dennoch auf dem Laͤugnen des
erſten Satzes, ſo iſt fuͤr ſich klar, daß er auch zuge-
ben muß, die Saͤtze, die man durch die Folgen um-
ſtoͤßt, werden dadurch umgeſtoßen, und laͤugnet ſie
folglich ebenfalls. Man ſieht demnach hieraus, daß
der Gegner eines wahren Satzes in allen drey Faͤllen
noch andre wahre Saͤtze laͤugnen muͤſſe, wenn er bey
dem Laͤugnen des erſten beharren will.
§. 262.
Wer einen ſolchen Geiſt des Widerſpre-
chens hat, daß er keinen wahren Satz will
wahr ſeyn laſſen, kann immer dahin gebracht
werden, daß er ſich ſelbſt widerlegt. Man brin-
ge einen wahren Satz vor, z. E. AiſtB, ſo wird
er zufolge der Bedingung behaupten, A ſey nicht B.
Man nehme ferner ein Mittelglied C, welches weder
dem A noch dem B zukomme, (§. 200.) ſo wird C
nicht
[587]des Wahren und Jrrigen.
nicht B, und A nicht C ſeyn: der vorgegebene So-
phiſt aber wird beydes bejahen. Laͤßt man ihm dem-
nach den Schluß machen:
- C iſt B
- A iſt C,
- folglich: A iſt B,
ſo ſtoͤßt der Schlußſatz ſein erſteres Behaupten, daß
A nicht B ſey, um. Demnach widerlegt er ſich ſelb-
ſten.
§. 263.
Dieſer Beweis, den wir nicht durch mehrere
Schluͤſſe durchgefuͤhrt haben, um ihn am einfachſten
vorzutragen, zeigt ungefehr an, wie Socrates mit
den Sophiſten ſeiner Zeit verfahren. Es iſt dabey
nicht immer noͤthig, lauter falſche Praͤmiſſen anzu-
nehmen. Genug, wenn ſie der Gegner entweder
ſelbſt ſchon behauptet oder zugiebt, und wenn der
Schlußſatz, der daraus folgt, ſein erſtes Vorgeben
umſtoͤßt. Socrates fuͤhrte ſeine Gegner oder die
er widerlegen wollte, mehrentheils durch Jnductio-
nen aus Beyſpielen ſo weit, daß ſie ihm die Vorder-
ſaͤtze einraͤumten.
§. 264.
Wer alles laͤugnet oder in Zweifel zieht,
dem muß man nicht beweiſen, ſondern ſeine
Saͤtze und Beweiſe anhoͤren, weil es nothwen-
dig moͤglich iſt, Widerſpruͤche dabey heraus
zu bringen. (§. 201.) Denn was man immer be-
weiſen wollte, duͤrfte er nur die Gruͤnde laͤugnen, und
dadurch wuͤrde alles, was aus denſelben geſchloſſen
werden kann, dahin geſtellt bleiben. (§. 260.) Dem-
nach wuͤrde man mit allen Beweiſen nichts ausrich-
ten. Hoͤrt man hingegen ſeine Saͤtze oder Beweiſe
an, ſo iſt es immer moͤglich, ihn dahin zu bringen,
daß er ſich ſelbſt widerlegt. (§. 262. 263.) Uebrigens
iſt
[588]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
iſt fuͤr ſich klar, daß wir hier das alles laͤugnen
nicht in dem ſtrengſten Verſtande nehmen, weil durch-
aus alles laͤugnen ſo viel ſagen will, als durchaus
nichts denken. (§. 258.)
§. 265.
Wer einen Satz laͤugnet, dem bleibt im
laͤugnen der Beweiſe allezeit eine Auswahl.
Denn 1) will man ihm den Satz directe durch Schluͤſ-
ſe erweiſen, ſo gebraucht man wenigſtens zween Vor-
derſaͤtze. Da nun, wenn auch nur einer derſelben
nicht zugegeben wird, der Schlußſatz dahin geſtellt
bleibt, ſo hat der Laͤugnende die Wahl, welchen von
den Vorderſaͤtzen, oder ob er beyde laͤugnen wolle.
2. Will man ihm aber beweiſen, daß aus dem ange-
nommenen Gegentheile des Satzes andre Wahrheiten
umgeſtoßen wuͤrden, ſo muß man immer noch we-
nigſtens einen wahren Satz zu Huͤlfe nehmen, um
den Schluß machen zu koͤnnen. Nun aber kann der
Gegner entweder dieſen Satz laͤugnen, und ſo bleibt
der Schluß dahingeſtellt, oder wenn er ihn zugiebt,
ſo kann er laͤugnen, daß die durch den Schluß umge-
ſtoßene Saͤtze wahr ſeyn. Demnach bleibt ihm auch
bey dem indirecten oder apogogiſchen Beweiſe eine
Auswahl. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar, daß dieſe
Auswahl bey Gegnern, die die Wahrheit ſuchen, und
nicht fuͤr die lange Weile, oder unſinnig zanken, ſich
gleichſam von ſelbſt einſchraͤnkt, weil ſolche eben nicht
ſo weit gehen, daß ſie dem Licht die Klarheit abſpre-
chen ꝛc.
§. 266.
Ein irriger Satz wird mißlicher zum Ober-
ſatze, als aber zum Unterſatze von Schluͤſſen
der erſten Figur gebraucht. Denn gebraucht
man ihn zum Oberſatze, ſo verwechſelt man Barbara
mit Celarent, oder Darii mit Ferio, und dadurch
zieht
[589]des Wahren und Jrrigen.
zieht ſich der Jrrthum auch in den Schlußſatz, ſo oft
der Unterſatz wahr iſt. Hingegen, wenn man den
irrigen Satz zum Unterſatze macht, ſo iſt es moͤglich,
daß dennoch ein wahrer Schlußſatz folge, ſo oft naͤm-
lich das Praͤdicat des Oberſatzes ohnehin ſchon von
dem Subject des Unterſatzes bejaht oder verneint wer-
den muß. Jm erſten Fall iſt demnach das Jrren
viel unvermeidlicher als im andern.
§. 267.
Das Laͤugnen eines Satzes zieht das Laͤug-
nen deſto mehrerer andern nach ſich, je meh-
rern Dingen ſein Subject zukoͤmmt. Der Satz
ſey: AiſtB, und ſein Subject A komme jeden Dingen
M zu, ſo wird allen dieſen Dingen das Praͤdicat B
zukommen. Laͤugnet man nun den Satz: AiſtB, ſo
wird er in den Satz: Aiſt nichtB, verwandelt. Dem-
nach macht man eben ſo viele Schluͤſſe von der Form:
- A iſt nicht B,
- M iſt A,
- folglich: M iſt nicht B,
durch welche das Praͤdicat B den Dingen M abgeſpro-
chen wird, denen es doch zukoͤmmt. Da man nun
deſto mehrere Schlußſaͤtze: Miſt nichtB, erhaͤlt, je
mehr man Unterſaͤtze: MiſtA, findet, folglich je mehrern
Dingen M das Subject A des gelaͤugneten Satzes
zukoͤmmt, ſo iſt klar, daß das Laͤugnen dieſes Satzes
das Laͤugnen deſto mehrerer andrer nach ſich ziehe, je
mehrern Dingen ſein Subject zukoͤmmt. Auf eine
aͤhnliche Art zeigt ſich dieſes auch, wenn ein vernei-
nender Satz gelaͤugnet wird.
§. 268.
Man ſieht hieraus, wie die Saͤtze beſchaffen ſind,
durch deren Laͤugnen man mehrere andre umſtoͤßt, und
daß, wenn man ſehr allgemeine Gruͤnde laͤugnet, um
deſto mehrere Wahrheiten theils zugleich mit gelaͤug-
net
[590]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede
net werden, theils ohne Beweis oder dahin geſtellt
bleiben, (§. 260.) je allgemeiner ſie ſind, oder je haͤu-
figer ſie als Oberſaͤtze vorkommen.
§. 269.
Uebrigens muͤſſen wir hiebey allerdings den Un-
terſchied machen, ob man einen Gegner vor ſich hat
oder nicht, weil ein Gegner die Auswahl behaͤlt, ob
er in den erſt angegebenen Schluͤſſen den Unterſatz, oder
die durch den falſchen Schlußſatz umgeſtoßene Wahr-
heit laͤugnen, oder ob er durch ſolche apogogiſche Be-
weiſe von ſeinem Laͤugnen abſtehen will, nachdem man
ſie ihm vorzeigt. Dieſe dreyfache Auswahl macht,
daß man ihm nicht jede Folgen, die ſich aus dem Laͤug-
nen des Satzes ziehen laſſen, ſchlechthin aufbuͤrden
oder zur Laſt legen kann, weil es gar wohl moͤglich
iſt, daß er weder alle weis, noch auf dem Laͤugnen
beharret, wenn er ſie anfaͤngt einzuſehen.
§. 270.
Die Wahrheiten haͤngen nicht ſo zuſammen,
daß, wenn man eine laͤugnet, dadurch alle
uͤbrigen zugleich mit gelaͤugnet werden muͤßten.
Man laͤugne eine Wahrheit A. Soll man nun zei-
gen koͤnnen, daß dadurch jede Wahrheit B zugleich
auch gelaͤugnet werde, ſo muß man zu dieſem Beweiſe
andre Wahrheiten C gebrauchen, welche angeben, daß
B nothwendig von A abhaͤnge, und zugleich mit A
geſetzt und gehoben werde. Nun geht dieſer Schluß
nicht an, wenn man nicht C als wahr gelten laͤßt.
Demnach muß man bey dem Laͤugnen einer Wahrheit
andre Wahrheiten gelten laſſen, wenn man zeigen
will, daß dieſes Laͤugnen das Laͤugnen einer andern
Wahrheit nach ſich ziehe. Will man aber C auch
laͤugnen, ſo laͤugnet man nicht eine Wahrheit, ſondern
zwo, und der Schluß, den man fuͤr das Laͤugnen
der Wahrheit B machen wollte, wird dadurch ent-
kraͤftet,
[591]des Wahren und Jrrigen.
kraͤftet, und ſo bleibt die Wahrheit B noch unumge-
ſtoßen. Folglich gehet es nicht an, daß das Laͤugnen
einer Wahrheit das Laͤugnen jeder andern nach ſich zie-
he. Demnach haͤngen auch die Wahrheiten nicht auf
dieſe Art zuſammen, daß es ſollte angehen koͤnnen.
§. 271.
Man kann dieſem Beweiſe noch beyfuͤgen, daß
es an ſich unmoͤglich iſt, alle Wahrheiten zugleich zu
laͤugnen, (§. 258. 259.) und daß es folglich auch aus
dieſem Grunde nicht angeht, daß das Laͤugnen einer
Wahrheit das Laͤugnen jeder andern nach ſich ziehen
ſollte. Uebrigens muͤſſen wir anmerken, daß der erſt
erwieſene Satz keinen Mangel, ſondern einen Vor-
zug der Wahrheiten und ihres Zuſammenhanges an-
zeigt, wenn man ihn von ſeiner wahren Seite betrach-
tet. Es bleiben naͤmlich bey dem Laͤugnen ei-
ner Wahrheit nothwendig noch immer ſo viel
andre aufrecht, daß der Laͤugnende ſich ſeines
Jrrthums verſichern kann; oder: Jede Wahr-
heit wird von den uͤbrigen gerettet. Denn will
der Laͤugnende nicht ganz dem Denken abſagen, ſo muß
er immer die einfachen Begriffe in der gelaͤugneten
Wahrheit, und mit denſelben zugleich die Poſtulata
von der Moͤglichkeit ihrer Zuſammenſetzung einraͤu-
men. (§. 259. 203.)
§. 272.
Wenn die Moͤglichkeit eines Begriffes ge-
laͤugnet wird, ſo fallen dadurch alle Saͤtze und
Begriffe weg, in welchen er vorkommt. Denn
laͤugnet man die Moͤglichkeit eines Begriffes, ſo ſetzt
man, er ſey A und nichtA. (§. 162.) Demnach
muß man nothwendig auch ſetzen, dieſes A und nicht
A ziehe ſich mit dem Begriffe in alle andre Begriffe
und Saͤtze, in welchen er vorkoͤmmt. Da ſich nun
A und
[592]IV. Hauptſtuͤck, von dem Unterſchiede ꝛc.
A und nichtA nirgends gedenken laͤßt, ſo fallen auch
alle dieſe Begriffe und Saͤtze nothwendig weg.
§. 273.
Wir haben in dieſem Satze die Verhaͤltniſſe mit
unter die Saͤtze und Begriffe gerechnet, die mit dem
Begriffe wegfallen, deſſen Moͤglichkeit gelaͤugnet wird.
Man wird fuͤr die Exiſtenz leicht einen aͤhnlichen Satz
finden. Denn laͤugnet man, daß ein Ding A exiſti-
re, ſo fallen auch die Verhaͤltniſſe weg, die es zu
andern exiſtirenden Dingen hat, oder haben wuͤrde,
wenn es exiſtirte. Man ſehe auch hieruͤber die Er-
innerung §. 269.
§. 274.
Wer eine Wahrheit laͤugnet, denkt ſie nicht
complet. Denn er ſtellt ſie ſich unter dem Bilde
von etwas Widerſprechenden vor. Nun aber iſt in keiner
Wahrheit etwas Widerſprechendes. Demnach iſt auch
die Vorſtellung des Laͤugnenden mit der Wahrheit nicht
durchgehends einſtimmig, und es geht ihrer Einheit
mehr oder minder etwas ab. (§. 205.) Die Redens-
art: Eines fuͤr das andre anſehen, iſt gemeinig-
lich diejenige, welche ein Jrrender gebraucht, wenn
er anfaͤngt einzuſehen, daß, und worinn er ſich ge-
irret habe. Zuweilen findet ſich auch, daß ein Um-
ſtand aus der Acht gelaſſen worden, welcher die Vor-
ſtellung ganz aͤndert, oder die darinn gebliebene Luͤcke
beſſert und ausfuͤllt. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar, daß
in dieſem Satze das Wort laͤugnen in dem engern
Verſtande genommen wird, in dem es vorkoͤmmt,
wenn jemand deswegen laͤugnet, weil er in der That
andrer Meynung iſt, oder die Wahrheit, die
er laͤugnet, wirklich nicht fuͤr wahr
anſieht.
Ende des erſten Bandes.
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- TextGrid Repository (2025). Lambert, Johann Heinrich. Neues Organon. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnfr.0