[][][][][]
Anlage
zur
Architectonic,
oder
Theorie

des
Erſten und des Einfachen
in der
philoſophiſchen und mathematiſchen
Erkenntniß,



Zweyter Band.


Riga,:
bey Johann Friedrich Hartknoch. 1771.

[][]

Jnhalt
des zweyten Bandes.



  • Dritter Theil.
    Das Reale der Grundlehre.

    • Dreyzehntes Hauptſtuͤck.
      Die Kraft. §. 372.
    • Vierzehntes Hauptſtuͤck.
      Verhaͤltniſſe. §. 411.
    • Funfzehntes Hauptſtuͤck.
      Der Zuſammenhang. §. 463.
    • Sechzehntes Hauptſtuͤck.
      Das Beſtimmen. §. 505.
    • Siebenzehntes Hauptſtuͤck.
      Das Zuſammenſetzen. §. 531.
    • Achtzehntes Hauptſtuͤck.
      Dinge und Verhaͤltniſſe. §. 564.
    • Neunzehntes Hauptſtuͤck.
      Arſachen und Wirkungen. §. 584.
    • Zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Subſtanzen und Accidenzen. §. 613.
    • Ein und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Zeichen und Bedeutung. §. 649.
  • Vierter Theil.
    Die Groͤße.

    • Zwey und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Das Allgemeine der Groͤße. §. 679.
    • Drey und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Die Einheit. §. 699.
    • Vier und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Die Dimenſion. §. 725.
    • Fuͤnf und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Die einfache Geſtalt der Groͤße. §. 740.
    • Sechs und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Der Maaßſtab. §. 759.
    • Sieben und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Das Ausmeßbare. §. 784.
    • Acht und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Die Gleichartigkeit. §. 810.
    • Neun und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
      Das Einfoͤrmige. §. 835.
    • Dreyßigſtes Hauptſtuͤck.
      Die Schranken. §. 850.
    • Ein und dreyßigſtes Hauptſtuͤck.
      Das Zahlengebaͤude. §. 871.
    • Zwey und dreyßigſtes Hauptſtuͤck.
      Vorſtellung der Groͤßen durch Figuren. §. 885.
    • Drey und dreyßigſtes Hauptſtuͤck.
      Das Endliche und das Unendliche. §. 903.


Dritter[[1]]

Dritter Theil.
Das Reale der Grundlehre.



Dreyzehentes Hauptſtuͤck.
Die Kraft.


§. 372.


Unſere Erkenntniß der Dinge iſt uͤberhaupt
ſo eingerichtet, daß wir ohne Verhaͤlt-
niſſe dabey faſt ganz zuruͤcke bleiben, weil
ſie ohne dieſelbe in einer Reihe oder Haufen von ein-
zelnen Vorſtellungen beſtehen wuͤrde, darinn alle Ord-
nung, Zuſammenhang, Verbindung ꝛc. wegbliebe.
Von ſolchen Verhaͤltniſſen haben wir nun bisher vor-
nehmlich den idealen Theil abgehandelt. Wir be-
trachteten die Dinge in Abſicht auf ihre Aehnlichkeit
und Verſchiedenheit, und daraus ließe ſich die Theo-
rie von ihren Arten und Gattungen herleiten. Die
Theorie des Veraͤnderlichen nahmen wir nur in ſo
ferne mit, als noͤthig war, zu beſtimmen, wie ferne
die Dinge ihrer Veraͤnderungen ungeachtet, als eben
dieſelbe angeſehen werden koͤnnen? Da ferner in je-
den Saͤtzen ein Ding mit ſeinen Eigenſchaften oder
Lamb. Archit.II.B. Amit
[2]XIII. Hauptſtuͤck.
mit andern verglichen wird, ſo iſt das meiſte, was
wir von den Beſtimmungen des Bindewoͤrtchens ge-
ſaget haben, von dieſer an ſich idealen Vergleichung
hergenommen, und wir nahmen dabey die Betrach-
tung des Soliden und der Kraͤfte nur in ſo ferne
mit, als noͤthig war, anzuzeigen, daß ſolche ideale
Vorſtellungen nicht eben ein bloßer Traum waͤren, ſon-
dern daß die Anlage dazu in den Dingen ſelbſt vor-
komme. Dieſe Anlage werden wir nun an ſich be-
trachten, und daher bey den Kraͤften anfangen, weil
auf dieſen ohnehin jede in den Dingen ſelbſt vorkom-
mende Verbindungen, reale Verhaͤltniſſe, Zu-
ſammenſetzungen, poſitive Moͤglichkeiten ꝛc.

beruhen, deren deutlichere und ausfuͤhrlichere Ent-
wickelung den Erfolg hat, daß ſich dadurch ſehr vie-
les allgemein in die Kuͤrze ziehen laͤßt, weil mit den
Dingen die Verhaͤltniſſe, mit Verhaͤltniſſen noch
mehrere, und mit Dingen und Verhaͤltniſſen zugleich
noch mehrere Dinge und Verhaͤltniſſe beſtimmet ſind,
(Dianoiol. §. 476-484. 497.).


§. 373.


Wir haben im vorhergehenden ſchon oͤfters ange-
merket, daß wir die Kraͤfte des Verſtandes und
des Willens von den bewegenden oder koͤrperli-
chen Kraͤften
unterſcheiden muͤſſen, weil unſere Er-
kenntniß und die Sprache bey dieſen anfangen, und
weil wir beyde erſtere Arten nur nach der Aehnlich-
keit, die ſie mit der letztern haben, benennen. Dieſe
Aehnlichkeit geht nun allerdings ſehr weit (§. 110. 68.
221. 301.), und die Sprache ſelbſt ſcheint ſchon ganz da-
zu eingerichtet. So weit ſie aber geht, iſt ſie dennoch
weiter nichts, als eine Aehnlichkeit, und das tertium
comparationis
muß immer erwieſen und angezeiget
werden.
[3]Die Kraft.
werden. Wir werden demnach nicht eine Theorie
davon angeben, die ſich auf alle drey Arten der Kraͤfte
erſtrecke, ſondern aus den anfangs (§. 29. 39.) an-
gezeigten Gruͤnden eben der Ordnung folgen, nach
welcher wir zu ſolchen Begriffen, Vergleichungen und
ihren Benennungen gelangen, weil auf dieſe Art die
Unbeſtimmtheit und Vieldeutigkeit in der Sprache
am ſicherſten vermieden wird. Dieſe Ordnung wird
zugleich die Folge nach ſich ziehen, daß wir die von
jedem dieſer Arten der Kraͤfte herruͤhrende Verhaͤlt-
niſſe, Verbindungen und Zuſammenhang der Dinge
beſonders werden anzeigen, und die Theorie davon,
eben dadurch, daß ſie ſpecialer und umſtaͤndlicher
wird, brauchbarer machen koͤnnen.


§. 374.


Den Urſprung des Begriffes der Kraft, welcher
an ſich einfach iſt, haben wir bereits oben (§. 97.)
angezeiget. Wir empfinden naͤmlich, daß wir eine
Kraft anwenden muͤſſen, um eine Laſt zu heben,
um einen Koͤrper in Bewegung zu ſetzen, um einen
bewegten Koͤrper aufzuhalten, und bey allem dieſem
empfinden wir auch die verſchiedenen Stufen oder
Grade der Kraft. Wir empfinden ferner, daß wir
bey lange anhaltendem Gebrauche unſerer Kraͤfte
muͤde werden, daß wir ausruhen und neue Kraͤfte
ſammlen
muͤſſen. Ferner bemerken wir, daß wir
einen Koͤrper vermittelſt eines andern aufhalten, oder
auch in Bewegung ſetzen koͤnnen, und daß ein Koͤr-
per, den wir in Bewegung geſetzt haben, einen an-
dern Koͤrper ebenfalls in Bewegung ſetzen kann. Auf
dieſe Art werden wir unvermerkt verleitet, zu ſchlieſ-
ſen, daß wir durch den Gebrauch unſerer Kraͤfte die-
ſelbe verlieren, daß ſie in die Koͤrper, und aus einem
A 2Koͤrper
[4]XIII. Hauptſtuͤck.
Koͤrper in den andern uͤbergehe, wenn dieſer von je-
nem geſtoßen wird, daß die Kraft in einem Koͤrper,
dem ſie mitgetheilet worden, bleibe, ſo lange derſel-
be nicht andere Koͤrper beruͤhret, daß ſie aber unter
dieſer Bedingung nicht anders weder in dem Koͤrper
ſey, noch in denſelben gebracht werden koͤnne, es
ſey denn, daß der Koͤrper ſich bewege, und in der
Bewegung gerade hin und mit gleicher Geſchwindig-
keit fortfahre, daß die Geſchwindigkeit ſich nach der
Kraft und der Maſſe richte, daß weil eben nicht wir
alle Koͤrper in Bewegung ſetzen, eine Quantitaͤt von
Kraft in der Welt ſeyn muͤſſe ꝛc.


§. 375.


So lange wir nun hiebey nur a poſteriori gehen,
und die hier angefuͤhrten Ausdruͤcke nur gebrauchen,
um das, was uns die Erfahrung zeiget, zu benen-
nen, geht alles ordentlich, und es liegt an ſich nichts
daran, ob dieſe Ausdruͤcke metaphoriſch, oder ihrer
eigentlichen Bedeutung nach dabey vorkommen. Denn
die Erfahrung leget das, was wir dadurch anzeigen
wollen, vor Augen. Allein, in ſo ferne dienen ſol-
che Erfahrungen auch nur vornehmlich zu demjenigen
Theile der Dynamic, welche unmittelbar in Abſicht
auf die wirkliche Welt ſtatt hat, und es faͤllt ſchwe-
rer, daraus zu entſcheiden, ob nicht auch das Gegen-
theil davon moͤglich bleibe, und in einer andern Welt,
die ebenfalls exiſtiren koͤnnte, vorkommen wuͤrde?
Man hat die Frage, ob die Geſetze der Bewegung,
die wir in der gegenwaͤrtigen Welt finden, eine geo-
metriſche Nothwendigkeit haben, laͤngſt ſchon auf-
geworfen, und in Aufſuchung ihrer Beantwortung
die Schwierigkeiten ehender vermehret als vermin-
dert. Huygens und Wrenn haben durch viele
Ver-
[5]Die Kraft.
Verſuche die Geſetze der Bewegung bey dem Stoße
der Koͤrper heraus gebracht, und aus denſelben er-
hellet, beſonders fuͤr die ſogenannten elaſtiſchen Koͤr-
per, daß wenn jede Maſſe mit dem Quadrate ihrer
Geſchwindigkeit multiplicirt wird, die Summe der
Producte vor und nach dem Stoße gleich groß ſey.
Bey weichen Koͤrpern hat dieſes Geſetz nicht ſtatt,
weil ſie ihre Figur aͤndern, und wir haben bereits
oben (§. 96.) angemerket, daß in Abſicht auf die
Grade der Geſchwindigkeit jede Koͤrper als weich an-
geſehen werden koͤnnen, und daß man daher immer
mehr oder minder die Bewegung in den kleinſten
Theilen mit in die Rechn[u]ng zu ziehen habe. Wo
aber keine Aenderung der Figur vorgeht, oder wo
ſie wieder hergeſtellet wird, da nimmt man erſt an-
gefuͤhrtes Geſetz an, und ſetzet, das Quadrat der
Geſchwindigkeit mit der Maſſe multiplicirt, ſey das
Maaß der Kraft, oder ihrer Staͤrke (§. 95.), und
da die Summe fuͤr beyde Koͤrper vor und nach dem
Stoße einerley bleibt, ſo ſchließt man daraus, daß
immer einerley Quantitaͤt der Kraͤfte in der Welt
ſey. Man ſehe, was wir bereits oben (§. cit. ſeqq.)
hieruͤber angemerket haben.


§. 376.


Hier koͤmmt aber vornehmlich die Frage vor, was
wir von allem dieſem a priori, oder ohne Ruͤckſicht
auf die ſpecialern Erfahrungen wiſſen koͤnnen? Dieſe
Frage loͤſet ſich von ſelbſt in verſchiedene andere auf.
Einmal fragt es ſich, ob der klare und an ſich ganz
einfache Begriff der Kraft, den wir durch das Ge-
fuͤhl erlangen, nicht etwann bloß ein ſinnliches Bild
von etwas ſey, das zwar in der Koͤrperwelt vorkom-
me, aber an ſich betrachtet, ganz anders beſchaffen
A 3ſey,
[6]XIII. Hauptſtuͤck.
ſey, ungefaͤhr, wie die Begriffe der Farben ſolche
bloße Bilder ſind, die von den auf das Augennetz
fallenden Lichtſtralen erreget oder veranlaßt werden?
Dabey iſt nun offenbar genug, daß wenn wir z. E.
ſagen, die Kraft gehe aus einem Koͤrper in den an-
dern, nicht dieſer klare Begriff dadurch verſtanden
werde, ſondern das, was dieſer Begriff vorſtellet.
Sollen wir nun hier nach unſerer Empfindung ur-
theilen, ſo empfinden wir, wenn wir eine Kraft an-
wenden oder gebrauchen, eigentlich das, was wir
einen Druck nennen, und demnach muͤßten wir ſa-
gen, daß ein ſolcher Druck aus einem Koͤrper in den
andern uͤbergehe, und dieſe Redensart gebrauchen
wir auch wirklich bey Koͤrpern, die einander be-
ruͤhren, wenn wir ſagen, daß einer den andern fort-
druͤcket, wie z. E. die Raͤder an einer Uhr, die Theile
einer Maſchine ꝛc.


§. 377.


Dieſes Fortdruͤcken laͤßt ſich nun, uͤberhaupt be-
trachtet, aus der bloßen Undurchdringbarkeit des So-
liden begreifen, weil dieſes jedes andere nothwendig
von ſeinem Orte ausſchleußt. Das eine kann nicht
an die Stelle des andern kommen, es ſey denn, daß
dieſes weiche, und daher von dem andern fortgedruͤ-
cket werde. Dieſes kann man nun allerdings ohne
Ruͤckſicht auf ſpeciale Erfahrungen ſagen, weil wir
das Solide ohne die Undurchdringbarkeit nicht ge-
denken koͤnnen. Hingegen iſt die Frage von dem er-
ſten Drucke ſchwerer. Denn nehmen wir nur an,
daß eine gewiſſe Quantitaͤt von Kraͤften in der Welt
ſey, ſo gehen wir a poſteriori. Es ſollte aber die
metaphyſiſche Wahrheit derſelben, oder ihre noth-
wendige Moͤglichkeit zu exiſtiren, a priori erwieſen
werden.
[7]Die Kraft.
werden. Dieſes wird nun wohl nicht anders, als
aus dem §. 297. geſchehen koͤnnen, weil wir dabey
weiter nichts, als die bloße Gedenkbarkeit der Be-
wegung zu fordern haben. Denn mit der Bewegung
iſt die Faͤhigkeit, einen Druck zu aͤußern, und die
wirkliche Aeußerung des Druckes, ſobald das be-
wegte Solide an ein anderes ſtoͤßt, unaufloͤslich ver-
bunden. Demnach wird es an der Moͤglichkeit, durch
den Druck die Bewegung fortzuſetzen, nicht fehlen,
ſobald einmal Bewegung da iſt. Jſt aber die Be-
wegung an ſich gedenkbar, ſo ſind auch die dazu er-
forderlichen Kraͤfte derſelben vorexiſtirend, (§. 297.)


§. 378.


Wir koͤnnen ferner anmerken, daß die Empfindung
der Kraft, die wir anwenden, eben ſo, wie jede an-
dere Empfindungen, ihre Stufen oder Grade hat.
Wenn demnach von dem Maaße der Kraͤfte die Rede
iſt, ſo wird man bey den Verſuchen, die man dar-
uͤber anſtellet, der Quelle am naͤchſten kommen, wenn
man dieſe Empfindung mit zu Rathe zieht. Hiebey
iſt nun aber die Frage nicht, ob wir vermittelſt der
Empfindung die verſchiedenen Grade der Kraft genau
ſchaͤtzen koͤnnen? Wir koͤnnen nicht wohl zuverlaͤßig
urtheilen, als wenn wir z. E. mit beyden Haͤnden
gleiche Kraft anwenden, um zu druͤcken, zu ſtoßen ꝛc.
und auch hier muͤſſen wir aus vielen wiederholten
Schaͤtzungen das Mittel nehmen, um dem wahren
naͤher zu kommen. Wir haben daher oben (§. 97.)
ſchon angemerket, wie die Geſchwindigkeit, den Ab-
gang der Maſſe erſetzen, und die Verhaͤltniß zwiſchen
beyden mit der Empfindung der Kraft verglichen
werden koͤnne?


A 4§. 379.
[8]XIII. Hauptſtuͤck.

§. 379.


Die Gedenkbarkeit der Bewegung ſollte natuͤrlicher
Weiſe keinen Schwierigkeiten unterworfen ſeyn. Jn-
deſſen hat Zeno, der alle Bewegung in Zweifel zog,
ſolche Schwierigkeiten aufgeſucht. Sie ſind aber,
wie uͤberhaupt alles, was man wider Wahrheiten
ſaget, theils aus Unwiſſenheit theils aus Sophiſte-
reyen zuſammengeſetzet, und wer die Mechanic ver-
ſteht, wird ſich dadurch, ſo ſcheinbar ſie auch Bayle
vorzutragen geſucht hat, nicht irre machen laſſen.
Ueberhaupt wer die Bewegung laͤugnet, wird die
Frage, ob einerley Solides nach und nach an ver-
ſchiedenen Orten exiſtiren koͤnne, nicht anders koͤnnen
zugeben, als wenn er zugiebt, daß es an jedem
Orte vernichtet und am andern neu geſchaffen werden
muͤſſe, wenn es nach und nach an allen ſeyn ſoll. Jn
einer ſolchen Succeſſion waͤre aber hoͤchſtens nur eine
locale Ordnung (§. 327.), welche, wenn die Bewe-
gung gelaͤugnet oder dabey nicht gebraucht wird, auf
eine ſchlechthin willkuͤhrliche Art zu Stande gebracht
werden muß, (§. 330.). Ob ferner die Kraft zu ſchaf-
fen verſtaͤndlicher ſey, als die Kraft zu bewegen, be-
darf keiner langen Unterſuchung. Laͤugnet man aber
beyde, ſo iſt die Gedenkbarkeit, daß einerley Solides
nach und nach an verſchiedenen Orten ſeyn koͤnne, und
zugleich auch der an ſich einfache und daher fuͤr ſich
gedenkbare Begriff der Continuitaͤt, ungeachtet in
dieſer Vorſtellung ſchlechthin kein Widerſpruch iſt,
ein leerer Traum, und ohne metaphyſiſche Wahrheit.
Dieſes geht aber nicht an, (§. 297. 298.).


§. 380.


Die Lehre von der Mittheilung der Bewegung hat
aͤhnliche Schwierigkeiten gefunden, allem Anſehen
nach
[9]Die Kraft.
nach aber, weil man etwas, das an ſich ganz einfach iſt,
noch ferner hat entwickeln, und das, was die Grund-
lage zur Erkenntniß a priori iſt (§. 237. Alethiol.),
noch ferner hat a priori erweiſen wollen. Daß das
Solide ſich nicht ſelbſt in Bewegung ſetze, ſondern
fuͤr ſich in Ruhe ſey, und daß es folglich erſt in Be-
wegung geſetzet werden muͤſſe, kann man ohne Be-
denken unter die Grundſaͤtze rechnen. Soll es dem-
nach in Bewegung geſetzet werden, ſo muß dieſes
durch Kraͤfte, und zwar durch einen Druck geſchehen,
(§. 376.). Dieſer Druck geht nun vor, es ſey, daß
ein Solides an das andere ſtoße, oder, wenn man
auch ſetzen will, daß die Kraft etwas reales und von
dem Soliden verſchiedenes ſey (§. 298.), die Kraft
unmittelbar angebracht werde. Hingegen hat es mit
den Geſetzen, nach welchen die Bewegung mitgetheilet
wird, eine andere Bewandniß. Denn ſetzt man,
daß die Kraft etwas reales und von dem Soliden
verſchiedenes ſey, ſo kann die verſchiedene Modifica-
tion der Kraft bey dem Anſtoßen eines Soliden an
ein anderes, allerdings eine andere Wirkung herfuͤr-
bringen, und daher ſelbſt andere Geſetze vorausſetzen.
Nimmt man aber an, daß das Solide an ſich ſchon
durch die bloße Bewegung, ein anderes in Bewe-
gung ſetzen koͤnne, und keine andere Kraft als das
Andruͤcken dabey vorkomme, ſo bleibt in den Geſetzen,
wie die Bewegung mitgetheilet werde, nichts Will-
kuͤhrliches, das will ſagen, ſie koͤnne nicht auf meh-
rerley Arten durch die Maſſe und Geſchwindigkeit be-
ſtimmet werden. Jm letzten Falle waͤren die Geſetze
der Mittheilung der Bewegung in allen Welten einer-
ley, im erſtern Falle aber koͤnnen ſie in andern Wel-
ten anders ſeyn.


A 5§. 381.
[10]XIII. Hauptſtuͤck.

§. 381.


Ein allgemeiner Satz, den wir hiebey vortragen
koͤnnen, iſt folgender. Man ſetze zwo ſolide Maſſen
oder Theilchen A, B, die ihre Figur im Anſtoßen nicht
aͤndern, oder, wenn ſie geaͤndert wird, dieſelbe durch
Kraͤfte wieder erlangen. Man laſſe ſie mit beliebi-
gen Geſchwindigkeiten an einander ſtoßen. Mit den
Geſchwindigkeiten, die ſie nach dem Stoße erhalten,
laſſe man ſie wiederum an einander ſtoßen, ſo werden
ſie nach dieſem zweyten Stoße die anfaͤnglichen Ge-
ſchwindigkeiten wiederum erlangen, und folglich alles
ſo ſeyn, als wenn beyde Stoͤße nicht vorgegangen
waͤren. Dieſes muß nun nothwendig ſtatt haben,
wie auch immer die Geſetze des Stoßes beſchaffen
ſeyn moͤgen. Denn was man dabey anders gedenken
will, ſo wird entweder mehr oder minder Bewegung
herauskommen, als anfangs war. Und dieſes geht
nicht an.


§. 382.


Jn der wirklichen Welt haben wir fuͤr den Stoß
der Koͤrper, die ihre Figur nicht aͤndern, oder bey
welchen ſie durch Kraͤfte wiederhergeſtellet wird, zwey
Geſetze. Einmal bleibt die Geſchwindigkeit, mit
welcher ſie ſich nach dem Stoße von einander entfer-
nen, derjenigen gleich, mit welcher ſie ſich vor dem
Stoße einander naͤherten. Sodann iſt die Summe
jeder mit dem Quadrate ihrer Geſchwindigkeit mul-
tiplicirten Maſſe vor und nach dem Stoße einerley.
Wenn man nun hiebey annehmen kann, daß die
Maſſe mit dem Quadrate der Geſchwindigkeit mul-
tiplicirt dem Drucke oder der Kraft proportional ſey,
ſo wird letzteres von dieſen beyden Geſetzen nothwen-
dig ſtatt haben, weil man annehmen kann, daß bey
dem
[11]Die Kraft.
dem Stoße weder Kraft verloren gehe, noch neue
zum Vorſcheine komme. Uebrigens ſind dieſe beyde
Geſetze ſo beſchaffen, daß, wenn man beyde annimmt,
das vorhin angefuͤhrte allgemeinere (§. 381.) dabey
ſtatt hat. Ob man aber vermittelſt dieſes allgemei-
nern eines aus dem andern herleiten koͤnne, iſt eine
andere Frage, deren Aufloͤſung in die mathematiſche
Analyſin gehoͤret.


§. 383.


Liegen viele ſolide gleiche Theile in einer Reihe
an einander, ſo geht der Druck, ſo dem erſten mit-
getheilet wird, durch alle durch, bis in den letzten,
welcher, weil er keinen folgenden mehr zu druͤcken hat,
in Bewegung koͤmmt. Denn von allen zwiſchen lie-
genden kann keiner in Bewegung kommen, ſo lange
die folgenden noch in Ruhe ſind. Demnach koͤnnen
ſie nur den dem erſten mitgetheilten Druck fortpflan-
zen. Da aber dieſer Druck eine Sollicitation, oder
wenn man es ſo nennen darf, eine Anreizung zur
Bewegung iſt, ſo wird der letzte Theil in Bewegung
geſetzet, und die uͤbrigen bleiben liegen, weil der
Druck aus denſelben weg iſt.


§. 384.


Man ſetze ferner, viele gleich große ſolide Theile
ſeyn feſte mit einander verbunden, und nach der Di-
rection der Laͤnge in Bewegung, ſo wird die Faͤhigkeit
bey dem Stoße zu druͤcken in jedem ſeyn, und zwar
eben ſo groß, als wenn jeder fuͤr ſich mit gleicher Ge-
ſchwindigkeit bewegt wuͤrde. Hingegen aͤußert ſich
der wirkliche Druck in jedem Theile nicht, weil jedes
mit gleicher Geſchwindigkeit fortgeht. Stoͤßt aber
das erſte irgend an etwas Solides, ſo hoͤret ſeine
Bewe-
[12]XIII. Hauptſtuͤck.
Bewegung auf, und der in den folgenden liegende
Druck aͤußert ſich, und pflanzt ſich in die vorhergehen-
den fort. Man ſetze, daß eine beliebige Anzahl
D E F | A B C
mit einander verbundener ſoliden Theile A B C an eine
gleich große Anzahl D E F ſtoße, ſo wird der Druck,
der in A, B, C war, zugleich in D, E, F kommen.
Da nun ſowohl D als E, als F mit einem male glei-
che Bemuͤhung zur Bewegung erhaͤlt, und nichts
voran iſt, welches noch fortzudruͤcken waͤre, ſo gehen
die mit einander verbundene Theile D E F mit eben
der Geſchwindigkeit fort, mit welcher A B C ange-
ſtoßen hatte, und da aller Druck aus A B C in D E F
uͤbergegangen iſt, ſo bleibt A B C liegen. Das will
nun ſagen, wenn eine ſolide ihre Figur nicht aͤn-
dernde Maſſe an eine andere von gleicher Groͤße ſtoͤßt,
ſo theilt ſie derſelben ihren Druck, und mit dem
Drucke ihre Bewegung ganz mit.


§. 385.


Setze man nun, die Anzahl der ſoliden Theile
D E F | G H A B C
ſey ungleich, ſo daß zu dem anſtoßenden noch einige
Theile G H hinzukommen, ſo iſt aus der Fortpflan-
zung des Druckes leicht zu begreifen, wie der Druck,
der in jedem der Theile G H A B C war, bey dem
Anſtoßen an D E F, in die Theile D E F G H komme.
Ungeachtet nun auf dieſe Art die Theile D E F eben
die Geſchwindigkeit haͤtten, welche vor dem Anſtoße
die Theile G H A B C hatten; ſo bleibt doch noch der
Druck in den Theilen G H, und dieſer muß ſowohl noch
D E F vor ſich ſtoßen, als A B C nach ſich ziehen, und
die Theile G H ſelbſt noch vorwaͤrts druͤcken. Dadurch
aber wird derſelbe auf alle Theile D E F G H A B C
vertheilt.
[13]Die Kraft.
vertheilt. Der Antheil, den jedes bekoͤmmt, findet
ſich, wenn man die Anzahl der Theile G H durch die
Anzahl von allen D E F G H A B C dividirt. Man
ſetze, die Anzahl der Theile D E F ſey = m, die An-
zahl der anſtoßenden G H A B C = M, ſo iſt M + m
die Summe von allen, und M - m die Anzahl der-
jenigen, deren Druck auf alle zu vertheilen iſt, dem-
nach wenn der anfaͤngliche Druck eines jeden = C ge-
ſetzet wird, ſo iſt \frac {M - m} {M + m} \cdot C der Druck, den jedes
erhaͤlt. Nun aber haben die Theile D E F oder m
ſchon den Druck C, weil dieſer aus den Theilen A B C
in dieſelbe uͤbergegangen. Demnach iſt der Druck,
den jede Theile m erhalten = C (1 + \frac {M - m} {M + m})
= C (\frac {2 M} {M + m}), und der Druck, der jeden Theilen
GHABC uͤbrig bleibt, iſt ſchlechthin nur = C (\frac {M - m} {M + m}).
Da nun jede Theile gleich groß ſind, ſo verhaͤlt ſich
der Druck wie die Geſchwindigkeit, die ſie dadurch
erhalten. Demnach iſt C die anfaͤngliche Geſchwin-
digkeit der Maſſe M, und eben dieſelbe nach dem
Stoße iſt V = C (\frac {M - m} {M + m}), und die Geſchwindig-
keit der Maſſe m nach dem Stoße iſt v = C (\frac {2 M} {M + m})
= C + C (\frac {M - m} {M + m}) = C + V, folglich C = v - V.


§. 386.


Setze man aber, G H A B C ſey in Ruhe, und
werde von D E F angeſtoßen, ſo kann man ſich wie-
derum leicht vorſtellen, daß der Druck, der in den
Theilen D E F iſt, bis in die Theile A B C fortge-
pflanzt
[14]XIII. Hauptſtuͤck.
pflanzt werde. Da aber auf dieſe Art in den Thei-
len G H kein Druck iſt, ſo kann ſich das Ganze nicht
bewegen, es ſey denn, daß ein Theil des Druckes
in G H komme, und dieſer Theil geht demnach dem
Drucke, der in A B C war, ab. Dieſer Druck kann
nun nicht in G H ruͤckwaͤrts kommen, um ſich ſodann
vorwaͤrts zu aͤußern, es ſey denn, daß er auch die
Theile D E F ruͤckwaͤrts ſtoße, weil dieſe noch an G
liegen. Demnach geht den Theilen A B C ſo viel von
ihrem Drucke ab, als erfordert wird, um D E F ruͤck-
waͤrts zu treiben, und zugleich auch G H mit eben dem
Drucke, der noch in A B C bleibt, vorwaͤrts zu ſtoßen.
Demnach, wenn man die Maſſe D E F = M, die
Maſſe G H A B C = m ſetzet, ſo geht D E F mit dem
Drucke C \cdot \frac {m - M} {m + M} ruͤckwaͤrts, und hingegen G H A B C
mit dem Drucke C - C \frac {m - M} {m + M} vorwaͤrts.


§. 387.


Bey dieſer Art zu ſchließen, die eben noch nicht
alle erforderliche Evidenz hat, ſetzet man in beyden
Faͤllen (§. 395. 396.), daß der Druck, der in G H
entweder zu viel iſt, oder ganz mangelt, auf beyde
Maſſen zugleich vertheilt werden muͤſſe, und der An-
theil, den jeder Theil bekoͤmmt, die anſtoßende Maſſe
im erſten Falle vorwaͤrts, im andern ruͤckwaͤrts treibe,
hingegen bey der Maſſe, welche geſtoßen wird, den
anfaͤnglichen Druck, welcher derſelben als ganz com-
municirt angeſehen wird, im erſten Falle vermehre,
im andern aber vermindere. Denn ſo geht in dem
Falle des §. 385. der Druck, der in den Theilen A B C
war, in die Theile D E F ganz uͤber, und es koͤmmt
noch der Antheil hinzu, welcher gefunden wird, wenn
man
[15]Die Kraft.
man den in den Theilen G H noch ganz bleibenden
Druck auf alle vertheilt. Hingegen in dem Falle
des §. 386. geht der ganze Druck der anſtoßenden
Theile in die Theile A B C, und der Theil, welcher
in G H ebenfalls kommen ſollte, wird den Theilen
A B C entzogen, und auf alle dergeſtalt vertheilt, daß
der Druck in der ganzen Maſſe G H A B C dadurch
vermindert, und hingegen D E F dadurch ruͤckwaͤrts
gedruͤckt wird. Uebrigens wird der Fall des §. 386.
unmittelbar aus dem Falle des §. 385. hergeleitet,
wenn man in den daſelbſt gegebenen Formeln m groͤßer
als M ſetzet.


§. 388.


Wir haben in beyden Faͤllen geſetzt, daß die eine
Maſſe vor dem Anſtoßen der andern in Ruhe ſey.
Setzet man aber, daß ſie ſich auch bewegen, ſo geben
die angefuͤhrten Formeln (§. 385.) nur die reſpective
Geſchwindigkeit. C iſt diejenige, mit welcher beyde
Maſſen ſich vor dem Stoße einander naͤhern, und
v - V iſt diejenige, mit welcher ſie ſich nach dem
Stoße von einander entfernen. Man ſetze im §. 385.
die wahre Geſchwindigkeit der Maſſe m vor dem Stoße
ſey = g, die Geſchwindigkeit der Maſſe M aber = G,
ſo iſt G - g = C. Und eben ſo, wenn die wahren
Geſchwindigkeiten nach dem Stoße = k, und K ſind,
ſo hat man k - g = v, und K - g = V. Werden
dieſe Werthe in den angegebenen Formeln geſetzt, ſo
erhaͤlt man

Und
[16]XIII. Hauptſtuͤck.
Und folglich

§. 389.


Eben dieſe Formel giebt die Erfahrung fuͤr den
Stoß elaſtiſcher Koͤrper, und daraus wuͤrde folgen,
daß, wenn auch die (§. 385.) vorgebrachte Art zu
ſchließen alle Evidenz haͤtte, bey ganz harten ſoliden
Theilchen und bey vollkommen elaſtiſchen Theilchen
einerley Geſetze ſtatt haben wuͤrden. Jch weiß ſehr
wohl, daß man dieſes eben nicht ſo unbedingt zugiebt,
und erſtbemeldete Art zu ſchließen laͤßt ſich auch ſo
veraͤndern, daß fuͤr ganz harte ſolide Theilchen andere
Regeln des Stoßes herauskommen. So z. E. kann
man in dem §. 385. fragen, warum ſich der in den Thei-
len G H A B C vorhandene Druck nicht ganz, ſondern
nur ein Theil davon, auf alle Theile D E F G H A B C
vertheile; oder wenn auch dieſer Druck als ſich fort-
pflanzend angeſehen werden muͤßte, warum die Theile
D E F, nachdem der Druck bis in D gekommen, ſich
nicht weg bewegen, und der in den Theilen G H zu-
ruͤck bleibende ſich folglich nur auf die Maſſe GHABC
vertheile? Von dieſen beyden Fragen kann die erſtere
a poſteriori dergeſtalt verneint werden, daß, wenn
man ſie annimmt, die Elaſticitaͤt nicht moͤglich ſey.
Denn die Elaſticitaͤt kann bey zuſammengeſetzten Koͤr-
pern nicht ſtatt finden, es ſey denn, daß ſchon die
kleinſten ſoliden Theilchen dergeſtalt koͤnnen an ein-
ander ſtoßen, daß ſie nicht nach dem Stoße ſaͤmmtlich
mit
[17]Die Kraft.
mit gleicher Geſchwindigkeit fortgehen, ſondern eines
von dem andern weggeſtoßen werde. Man ſetze nun,
der in den Theilen G H A B C (§. 385.) vor dem An-
ſtoße befindliche Druck vertheile ſich bey dem Anſtoße
auf die beyde Maſſen D E F G H A B C gleichfoͤrmig,
ſo werden jede Theile D, E, F ꝛc. mit gleicher Ge-
ſchwindigkeit fortgehen, und demnach beyde Maſſen
an einander bleiben. Auf dieſe Art aber, ſo viel
man auch den Raum mit Materie und Bewegung
ausgefuͤllt gedenken will, erhaͤlt man nichts anders,
als daß zuletzt alles klumpenweiſe zuſammenfalle oder
ſich klumpenweiſe in das Unendliche zerſtreue. Wir
ſchließen hieraus a poſteriori, daß, weil die Welt
nicht ſo beſchaffen iſt, die kleinſten ſoliden Theilchen
entweder elaſtiſch ſeyn, oder wenn ſie nicht elaſtiſch,
ſondern nur hart ſind, dennoch ſolche Geſetze des
Stoßes haben muͤſſen, daß ſie nach dem Stoße ſich
von einander entfernen koͤnnen.


§. 390.


Dieſes hat nun gewiſſermaßen ſtatt, wenn man
ſetzet, die zweyte von der erſt vorgelegten Frage
muͤſſe bejaht werden. Denn man ſetze (§. 385.),
der Druck, der vor dem Stoße in jeden der Theile
G H A B C iſt, komme bey dem Stoße der Ordnung
nach in D E F G H, ſo haben nun die Theile D E F
ſaͤmmtlich eine Geſchwindigkeit, und zwar diejenige,
welche die Theile G H A B C vor dem Anſtoßen hat-
ten, und mit dieſer koͤnnen ſie ſich entfernen. Da
wird nun der Druck, der in den Theilen G H bleibt,
ſchlechthin nur auf die Maſſe G H A B C muͤſſen ver-
theilt werden, und folglich derſelben Geſchwindigkeit
in eben der Verhaͤltniß kleiner machen, in welcher M
Lamb. Archit.II.B. Bzu
[18]XIII. Hauptſtuͤck.
zu M - m iſt. Demnach waͤre die Geſchwindig-
keit V = \frac {M - m} {M} \cdot C, und die Geſchwindigkeit
v = C, folglich dieſe groͤßer als jene. Letztere wuͤrde
ſich demnach gar nicht nach der Maſſe richten, und
wenn auch die kleinere m an M ſtoͤße, ſo wuͤrde ſie die-
ſer ihre Geſchwindigkeit nicht nur ganz mittheilen, ſon-
dern ſelbſt noch mit der Geſchwindigkeit \frac {M - m} {M} \cdot C
ruͤckwaͤrts gehen. Erſteres geht nun ſchlechthin nicht
an, weil aus m mehr Druck in M kaͤme, als in m
ſelbſt iſt. Ueberdieß pflanzt ſich der Druck bey ganz
harten ſoliden Theilen nicht nach und nach fort, und
wir haben aus dieſem Grunde in dem §. 385. ange-
nommen, daß ungeachtet der Druck aus G H A B C
ſchon als bis in D E F G H fortgepflanzt angeſehen
wird, und folglich in D E F eine Bewegung erfolge,
man dennoch nicht annehmen muͤſſe, daß dieſe Bewe-
gung vor ſich gehe, weil die Vertheilung des in den
Theilen G H zuruͤck gebliebenen Druckes auf beyde
Maſſen noch erſt vorgenommen werden muͤſſe, um
die Geſchwindigkeiten V, v ganz zu haben, mit wel-
chen ſich beyde Maſſen nach dem Stoße von einander
entfernen.


§. 391.


Wir ſehen hieraus, daß die in dem §. 289. vor-
gelegte Fragen ſo beſchaffen ſind, daß letztere unge-
reimt iſt (§. 390.), erſtere aber wenigſtens der Er-
fahrung zuwiderlaͤuft, (§. 389.). Sie laͤuft aber auch
wider den oben (§. 381.) angefuͤhrten Grundſatz, weil
man denſelben dabey ſchlechthin nicht anbringen kann.
Denn da nach dem Stoße beyde Maſſen bey einander
bleiben, und mit gleicher Geſchwindigkeit fortgehen,
ſo
[19]Die Kraft.
ſo bleiben ſie ſo, wenn man auch beyde Geſchwindig-
keiten ruͤckwaͤrts annimmt, und daher koͤmmt die erſte
Geſchwindigkeit nicht wiederum heraus. Dieſes ge-
ſchieht aber bey den (§. 388.) herausgebrachten For-
meln. Wir machen dieſe Anmerkungen hier, um
zu zeigen, daß, wenn auch in der (§. 385.) gebrauch-
ten Art zu ſchließen, nicht alle Evidenz iſt, man doch
den Druck, der in den anſtoßenden Theilen iſt, nicht
wohl anders vertheilen koͤnne, als wir es daſelbſt
gethan haben.


§. 392.


Da wir ferner (§. 389.) a poſteriori gefunden ha-
ben, daß, weil wirklich elaſtiſche Koͤrper ſind, ſchon
die kleinſten ſoliden Theile entweder elaſtiſch ſeyn, oder
wenn ſie hart ſind, dennoch mit den elaſtiſchen einer-
ley Geſetze des Stoßes haben muͤſſen; ſo koͤnnen wir
hier ferner anmerken, daß, wenn man die Frage, ob
ſie elaſtiſch ſind, a priori entſcheiden will, es ſchlecht-
hin auf den Beweis der Moͤglichkeit ankomme. Dieſe
Frage laͤßt ſich nun auf diejenige reduciren, welcher
wir in dem §. 91. und §. 143. und ſo auch in der Ale-
thiologie (§. 96.) gemacht haben, ob ſich naͤmlich bey
dem Soliden innere Unterſchiede der Dichtigkeit ge-
denken laſſen, ſo daß ein gleicher Raum mit mehr
oder minder Solidem ausgefuͤllt ſeyn koͤnne, ohne
daß der Continuitaͤt etwas abgehe oder leere Zwiſchen-
raͤumchen bleiben? Hievon kann man nun die Moͤg-
lichkeit nicht widerlegen. Ob aber die wirklich exiſti-
renden Theilchen ſo verſchieden ſind, iſt eine andere
Frage, die meines Wiſſens, außer von Herrn Euler,
noch nicht unterſucht worden iſt. Dieſer große Meß-
kuͤnſtler hat in ſeinen Opuſculis daraus, daß die
Schwere der Koͤrper auf der Erdflaͤche, ſo weit man
B 2die
[20]XIII. Hauptſtuͤck.
die Verſuche mit Penduln angeſtellet hat, ihrer Maſſe
oder Jnertie proportional ſey, hergeleitet, ihre in-
nere Dichtigkeit muͤſſe gleich, und hingegen von der
innern Dichtigkeit derjenigen Materie, welche die
Schwere verurſacht, ganz verſchieden ſeyn, und die
Gruͤnde, die zu dieſem Beweiſe gebraucht werden,
laſſen ſich eben nicht ſo leicht wankend machen.


§. 393.


Kann aber bey verſchiedenem Solidem die innere
Dichtigkeit von 0 bis in das Unendliche gehen, ſo
haben wir nur einen Schritt mehr zu thun, um zu
ſetzen, daß die innere Dichtigkeit bey einerley Soli-
dem ſowohl beſtaͤndig als veraͤnderlich, und zwar der-
geſtalt veraͤnderlich ſeyn koͤnne, daß ſie entweder jedem
aͤußerm Drucke nachgiebt, oder wenn derſelbe auf-
hoͤrt, ſich wiederum herſtellet. Jm erſten Falle ſind
die ſoliden Theilchen ihrer Natur nach hart, im an-
dern Falle ſchlechthin weich, im dritten aber elaſtiſch.
Den elaſtiſchen wird man auf dieſes hin, eine innere
Kraft ſich auszudehnen, nicht abſprechen koͤnnen, und
ſollte man auch dieſe Kraft nicht in etwas Materiel-
lem, ſondern in etwas Geiſtigem beſtehen machen.
Wir betrachten hier bloß die Gedenkbarkeit und Moͤg-
lichkeit, ohne zu ſehen, ob ſolche ſolide Theilchen
in der wirklichen Welt vorkommen. So viel iſt
gewiß, daß, wenn die Luft, z. E. aus Theilchen be-
ſtuͤnde, die eine innere veraͤnderliche Dichtigkeit und
Elaſticitaͤt haͤtten, die Elaſticitaͤt der Luft keiner fer-
nern Erklaͤrung beduͤrfte. Und eben ſo wuͤrde auch
die Elaſticitaͤt der Materie der Waͤrme, des Lichtes ꝛc.
ohne andern Mechaniſmum begreiflich ſeyn, und ſelbſt
der Begriff der bewegenden und druͤckenden Kraͤfte
dadurch faßlicher werden. Jſt aber die Elaſticitaͤt
eines
[21]Die Kraft.
eines Koͤrpers auch bey harten ſoliden Theilen durch
irgend einen Mechaniſmum moͤglich, ſo muß aller-
dings aus andern Gruͤnden ausgemacht werden, ob
derſelbe vorkomme, oder ob die ſoliden Theilchen
ſelbſt elaſtiſch ſind?


§. 394.


Man hat, um das Maaß der Kraͤfte durch Erfah-
rungen zu beſtimmen, beſonders elaſtiſche Koͤrper da-
zu gebraucht, und dieſe laſſen ſich allerdings am fuͤg-
lichſten dazu gebrauchen, wenn wir den Begriff der
Kraft ſo nehmen, wie wir ihn unmittelbar durch das
Gefuͤhl haben (§. 97. 374.), und genau dabey bleiben
wollen. Wir wollen die Sache in folgender Ord-
nung vortragen. Einmal ſetzen wir, daß, wenn wir
ein Gewicht mit der Hand heben oder in der Hoͤhe
halten, wir doppelt, drey und mehrfach ſo viel Kraft
anwenden muͤſſen, wenn das Gewicht doppelt, drey
und mehrfach ſchwerer iſt, und daß folglich, bey glei-
cher Art, das Gewicht zu halten, die Kraft, die
wir anwenden, in gleicher Verhaͤltniß, wie
das Gewicht groͤßer ſey.
Jch ſage: bey gleicher
Art, das Gewicht zu halten. Denn es iſt unſtreitig,
daß wir z. E. mehr Kraft anwenden, wenn wir es
mit ausgerecktem Arme halten wollen. Zweytens iſt
ebenfalls unſtreitig, daß wir eben die Kraft laͤn-
ger anwenden muͤßten, wenn wir eben das
Gewicht laͤnger in die Hoͤhe halten wollen,
und daß folglich dabey in der Anwendung der
Kraft etwas in einem fortdauerndes ſey.
Auf
dieſe Art koͤnnen wir das Gewicht zum Maaße der
Kraͤfte machen, und die Groͤße und Dauer jeder
Kraͤfte muß ſich darauf reduciren laſſen. So z. E.
wenn in beyden Wagſchalen gleiche Gewichte liegen,
B 3ſo
[22]XIII. Hauptſtuͤck.
ſo haͤlt nicht nur das eine das andere auf, ſondern es
faͤhrt auch fort es aufzuhalten, und dabey iſt etwas
fortdauerndes. Dieſes vorausgeſetzt, ſo werden wir
es nun folgendermaßen anwenden.


§. 395.


Man nehme einen ſtaͤhlernen Reifen oder Ring,
der nach jedem Zuſammendruͤcken ſeine erſte Rundung
genau wieder erhalte, und daher vollkommen elaſtiſch
ſey. Dieſen befeſtige man aufrecht ſtehend auf eine
feſte ſtehende Tafel. Oben an denſelben haͤnge man
eine Wagſchale an, die auf dieſe Art in dem Ringe
oder Reifen nach dem verticalen Diameter deſſelben
herunter haͤnge. Man beſchwere dieſe Wagſchale
mit beliebigen Gewichten, ſo wird jedes den Ring
mehr oder minder in eine ovale Rundung zuſammen
druͤcken, und, ſo lange man will, in dieſer Rundung
erhalten. Hiebey hat nun unſtreitig ein Gleichge-
wicht ſtatt, und die Kraft, die der Ring anwendet,
aufwaͤrts zu druͤcken, iſt dem angehaͤnkten Gewichte
gleich. Eben ſo koͤnnen wir auch den Fall ſetzen, daß
der Ring bey einer noch groͤßern Zuſammendruͤckung
breche, und da wird die Kraft, die dazu erforderlich
iſt, ebenfalls dem Gewichte gleich zu ſchaͤtzen ſeyn,
welches, wenn es auf den Ring geleget wird, den-
ſelben bis dahin zuſammen druͤcket.


§. 396.


Nun koͤnnen dieſe Zuſammendruͤckungen noch auf
eine andere Art erhalten werden, und dieß geſchieht,
wenn ein Gewicht gegen den Ring geworfen wird, oder
wenn man es auf denſelben fallen laͤßt. Jn dieſem
Falle muß das Gewicht, an ſich kleiner ſeyn, weil
ſeine Kraft durch die Geſchwindigkeit verſtaͤrket wird.
Hiebey
[23]Die Kraft.
Hiebey aber aͤußert ſich nun die Frage, was man in
dieſen Faͤllen Kraft zu nennen habe, und wie
das, was man dabey Kraft zu nennen hat, durch
die Maſſe und Geſchwindigkeit beſtimmet wer-
den ſoll:
Denn in denen Faͤllen, wo ein Gleichge-
wicht ſtatt hat, gedenkt man ſich ohne allen Wort-
ſtreit, Kraft und Laſt. Die Aeußerung der Kraft
iſt dabey ein bloßer Druck, welcher, ſo lange man
will, gleichfoͤrmig fortdauert. Man gedenkt ſich auch
ohne Anſtand dabey, daß dieſer Druck durch das
Fortdauern weder groͤßer noch ſtaͤrker werde, das will
ſagen, daß die Dauer des Druckes keine Dimenſion
deſſelben ſey, ungeachtet ſie ſich allemal dabey einfin-
det, und wo es, wie z. E. bey Maſchinen, darauf
ankoͤmmt, fuͤr ſich gemeſſen und mit Geſchwindigkeit
und Raume verglichen wird.


§. 397.


So fern nun der Ring durch ein angehenktes Ge-
wicht zuſammen gedruͤcket und im Gleichgewichte er-
halten wird, ſieht man das Gewicht als eine Laſt an,
und eignet dem Ringe eine Kraft zu, dieſe Laſt zu
halten, und da ein Gleichgewicht da iſt, ſo wird die
Kraft des Ringes, und damit auch der Druck, den
er aufwaͤrts aͤußert, dem Gewichte gleich geſchaͤtzet,
und die Dauer dieſes Gleichgewichtes machet eben-
falls keine Dimenſion der Kraft des Ringes aus.
Da zu einem groͤßern Zuſammendruͤcken ein groͤßeres
Gewicht erfordert wird, ſo laͤßt ſich fuͤr jedes Gewicht
der verkuͤrzte Diameter ausmeſſen, und mit dem Ge-
wichte vergleichen. Wenn demnach der anfaͤngliche
Diameter = a, der verkuͤrzte = x, das Gewicht = P
iſt, ſo laͤßt ſich P als eine Function von x anſehen.


B 4§. 398.
[24]XIII. Hauptſtuͤck.

§. 398.


Man ſetze nun, der Ring ſey bis auf den verkuͤrz-
ten Diameter b zuſammen gedruͤcket, und das dazu
erforderliche Gewicht ſey = Q. Der Ring werde in
dieſer Zuſammendruͤckung durch einen geſpannten Fa-
den erhalten, und in eine horizontale Lage gebracht,
und in derſelben befeſtiget. Man lege eine elaſtiſche
Kugel vor, deren Gewicht p kleiner ſey als Q, und
brenne den Faden ab, ſo wird der Ring loßſchnellen,
und die Kugel von ſich treiben, ſo daß ſie mit einer
gewiſſen Geſchwindigkeit wegfaͤhrt. Dieſe Geſchwin-
digkeit waͤchſt, ſo lange der Ring die Kugel beruͤhret,
und demnach bis der Ring ſich ſo weit ausbreitet,
daß er ſeinen natuͤrlichen Diameter a hat. Denn von
da an breitet er ſich immer langſamer aus, ſo daß er
die Kugel nicht mehr erreichet, weil dieſe mit der
einmal erlangten Geſchwindigkeit fortgeht. Dieſes
iſt nun der Verlauf der Sache, ſo weit man ſie ſich
ohne Muͤhe vorſtellen kann. Da wir uns nur vor-
ſetzen, das, was man hiebey Kraft zu nennen hat,
aufzuſuchen, ſo werden wir ſetzen, die Geſchwindig-
keit des Ringes, mit deren er ſich allein ausbreiten
wuͤrde, ſey unzaͤhlige mal groͤßer, als diejenige, ſo
die Kugel erhaͤlt, ſo daß der Ring immer den
ganzen Druck P bey jeder Ausbreitung x gegen die
Kugel aͤußert.


§. 399.


Die Aeußerung dieſes Druckes hat nun den Erfolg,
daß die Kugel dadurch eine Zunahme von Geſchwin-
digkeit erhaͤlt, welche ſowohl nach der Kraft als nach
der Zeit proportionirt wird. Dieſe Zunahme der Ge-
ſchwindigkeit beſteht nun darinn, daß, da die Kugel
ohne dieſe Aeußerung des Druckes, durch die bereits
erlangte
[25]Die Kraft.
erlangte Geſchwindigkeit c in der Zeit dt einen
Raum dx wuͤrde durchlaufen haben, ſie nunmehr ei-
nen Raum dx + ddx durchlaͤuft. Nun laͤßt ſich
waͤhrend der unendlich kleinen Zeit der Druck P als
gleichfoͤrmig anſehen. Demnach iſt ddx groͤßer, je
groͤßer der Druck P iſt, und je laͤnger derſelbe ge-
dauert hat. Folglich haben wir ddx ~ Pdt, und
weil dt als beſtaͤndig angenommen wird, ſo koͤnnen
wir um alles auf gleiche Dimenſionen zu bringen
nddx = Pdt^2 : p ſetzen, weil ddx kleiner wird, je groͤ-
ßer das Gewicht der Kugel iſt. Da nun uͤberhaupt
cdt = dx und dcdt = ddx iſt, ſo haben wir
npdc = Pdt
npc = ſPdt

Ferner, wenn man mit c multiplicirt
npcdc = Pcdt = Pdx
½npcc = ſPdx


§. 400.


Um nun hiebey den Coefficienten n ſo zu beſtim-
men, daß alles zum Gebrauche auf bekannte Maaße
gebracht wird, ſo wendet man die Formel auf den
Fall der Koͤrper an. Denn da iſt die druͤckende
Kraft P dem Gewichte p gleich, und wenn g den
Raum bedeutet, durch welchen ein Koͤrper in der
Zeit = 1 faͤllt, ſo iſt 4gx = cc. Da nun hier P = p
beſtaͤndig iſt, ſo haben wir ſPdx = Px. Und daher

2ng = 1
n = \nicefrac {1}{2}g

B 5Wird
[26]XIII. Hauptſtuͤck.
Wird nun dieſer Werth von n in den beyden For-
meln geſetzet, ſo haben wir

Und da iſt cc : 4g der Hoͤhe gleich, durch welche ein
Koͤrper fallen muß, um die Geſchwindigkeit zu er-
reichen, c : 2g aber iſt der Zeit gleich, die er dazu
anwendet. Wird demnach die Hoͤhe = v, die Zeit = τ
geſetzet ſo iſt

Und damit ſind beyde Formeln auf bekannte Maaße
gebracht.


§. 401.


Wir werden aber die beyden Formeln

wieder vornehmen, um ſie in Abſicht auf das zu be-
trachten, was man dabey Kraft nennen koͤnne.


§. 402.


Dabey iſt nun ohne alle Widerrede, und nach der
urſpruͤnglichen Bedeutung des Wortes, P eine Kraft,
weil P einen Druck vorſtellet (§. 376.), und mit dem
Gewichte verglichen wird, welches den Ring in der
Zuſam-
[27]Die Kraft.
Zuſammendruͤckung x erhalten kann. Man hat dieſe
Kraft auch, weil ſie den Lauf der Kugel beſchleuniget
oder geſchwinder machet, die Accelerationskraft (Be-
ſchleunigungs- oder Vergeſchwinderungskraft) genen-
net, und daruͤber war meines Wiſſens kein Anſtand.


§. 403.


Ob aber auch die Jntegralien ſPdt, ſPdx koͤnnen
Kraͤfte genennet werden, oder ob ſie Ganze nach Zeit
und Raum aufgehaͤufte Summen von Kraͤften vor-
ſtellen, oder uͤberhaupt, was man aus denſelben ma-
chen ſoll, das iſt eine ganz andere Frage, woruͤber
ſich indeſſen folgendes anmerken laͤßt.


  • 1°. Der Ausdruck: der Zeit und dem Raume
    nach aufgehaͤufte Kraͤfte:
    hat hier keinen
    Verſtand. Er wuͤrde angehen, wenn man z. E.
    in eine Wagſchale Waſſer gießt. Denn da haͤufet
    ſich mit dem Waſſer die druͤckende Kraft der
    Zeit nach auf. Hier aber iſt nichts dergleichen.
    Wir haben bereits (§. 396.) angemerket, daß
    der Druck P durch die Dauer dt nicht vergroͤ-
    ßert wird. Und ſo ſtellet Pdt nicht einen groͤßern,
    ſondern nur einen dauernden Druck vor.
  • 2°. Hingegen ſtellet Pdx in dieſer Abſicht betrachtet
    gar nichts vor, weil die Redensart, daß der
    Druck P ſich durch den Raum dx ausbreite oder
    aͤußere, weder etwas ſagen will noch etwas auf
    ſich hat.
  • 3°. Will man deſſen unerachtet, daß ſPdt und ſPdx
    Kraͤfte vorſtellen, ſo mag es angehen, wenn
    man ſPdt durch die Zeit = 1, und ſPdx durch
    den Raum = 1 dividirt. Und eben ſo kann man,
    wo es vorkoͤmmt ſPdc durch die Geſchwindig-
    keit
    [28]XIII. Hauptſtuͤck.
    keit = 1 dividiren. Dadurch wird die Dimen-
    ſion wiederum linear, ſPdt, ſPdx, ſPdc wer-
    den mit P gleichartig, ſo daß ſie ſich addiren
    und ſubtrahiren laſſen.
  • 4°. Fragt man nun, was denn z. E. die Kraft
    ſPdx : 1 vorſtelle, oder in der Sache ſelbſt be-
    deute, ſo iſt die Antwort, etwas ganz will-
    kuͤhrliches,
    weil die Einheit, womit man den
    Raum ausmißt, und wodurch hier ſPdx divi-
    dirt wird, ſchlechthin willkuͤhrlich iſt.
  • 5°. Will man deſſen unerachtet noch eine Bedeu-
    tung finden, die in der Sache ſelbſt etwas vor-
    ſtelle, ſo kann man die ganze Zuſammendruͤ-
    ckung des Ringes (a - b), als die Einheit an-
    nehmen, womit a, b, x, g, c ausgemeſſen wer-
    den muͤſſen, und da wird das ganze Jntegrale
    ſQdx : (a - b) = ſQdx das Mittel aus al-
    len Preſſionen
    vorſtellen, womit der Ring
    die Kugel durch den ganzen Raum a - b fort-
    gedruͤcket hat.
  • 6°. Dieſes Mittel iſt nun von der Art, daß wenn
    die Kugel durch den ganzen Raum a - b mit
    der beſtaͤndig gleichen Kraft ſQdx : (a - b) =
    ſQdx
    waͤre fortgedruͤcket worden, dieſelbe eben
    die Geſchwindigkeit C wuͤrde erhalten haben,
    welche ſie von dem Ringe erhaͤlt, deſſen druͤ-
    ckende Kraft P von veraͤnderlicher Groͤße iſt.
  • 7°. Hieraus erhellet nun ganz augenſcheinlich,
    daß weil
    iſt, dasjenige, was von Leibnitz und ſeit dem-
    ſelben die lebende Kraft iſt genennet, und
    dem
    [29]Die Kraft.
    dem Producte pCC gleich oder wenigſtens pro-
    portional geſetzt worden, in ſo fern einen Ver-
    ſtand hat, daß man ſagen kann, dieſe ſo ge-
    nannte lebende Kraft, ſey das Mittel aus den
    von dem Ringe zum Fortdruͤcken der Kugel ge-
    aͤußerten druͤckenden Kraͤften, und zwar unter
    der Vorausſetzung, daß a - b zur Einheit an-
    genommen werde, oder wenigſtens, daß man
    die ganze Formel durch a - b dividire, und ſie
    folglich
    ſetze. Jch glaube aber nicht, daß Leibnitz
    dieſes weder gedacht noch verſtanden habe.
  • 8°. Man ſieht ferner hieraus, daß die mittlere,
    oder, wenn man ſo will, die lebende Kraft K
    dem Producte pCC proportional bleibt, ſo lan-
    ge (a - b) beſtaͤndig iſt. Das will nun ſagen,
    daß wenn man Kugeln von verſchiedener Maſſe
    gegen den Ring wirft, ſo daß die Quadrate der
    Geſchwindigkeiten umgekehret, wie die Maſſen
    ſind, der Ring allemal gleich viel zuſammen
    gedruͤcket werde. Und dieſes iſt die erſte Haͤlfte
    des Leibnitziſchen Satzes von der Erhaltung
    der lebenden Kraͤfte.
  • 9°. Soll aber der Ring mehr oder minder zuſam-
    men gedruͤcket werden, ſo faͤllt dieſer Satz ganz
    anders aus, weil ſodann a - b groͤßer oder klei-
    ner wird, und damit die Proportionalitaͤt
    pCC ~ K
    wegfaͤllt, worauf doch Leibnitz das Maaß der
    lebenden Kraͤfte gruͤndete. Demnach geht die
    andere
    [30]XIII. Hauptſtuͤck.
    andere Haͤlfte des Leibnitziſchen Satzes von
    der Erhaltung der lebenden Kraͤfte nicht an.
  • 10°. Da ferner die druͤckende Kraft des Ringes in
    die Kugel uͤbergeht, ſo kann man ſich aller-
    dings gedenken, daß auch die Kugel eine Kraft
    erhalte, und mit dieſer ſieht es noch wunderli-
    cher aus. Man kann erſtlich fragen, wie groß ſie
    ſey? Und da laͤßt ſich antworten, ſie iſt ſo groß,
    daß wenn die Kugel mit der zuletzt erhaltenen
    Geſchwindigkeit C wiederum gegen den Ring
    geworfen wird, ſie den Ring bis auf den ver-
    kuͤrzten Diameter b zuſammen druͤcken koͤnne.
    Da nun die Kraft des Ringes in dieſem Zu-
    ſtande = Q iſt, und die Kugel ihre ganze Kraft
    hat verwenden muͤſſen, um endlich dieſer Kraft
    das zwar nur einen Augenblick dt dauernde
    Gleichgewicht zu halten, ſo koͤnnte man die
    Kraft der Kugel dem Gewichte Q gleich ſetzen,
    und zwar deswegen, weil jeder kleinerer Wider-
    ſtand noch von der Kugel uͤberwaͤltiget wird,
    ein jeder groͤßerer aber nicht mehr uͤberwaͤltiget
    werden kann. Jn der That auch, wenn man
    ſich vorſetzte den Ring bis dahin zuſammen zu
    druͤcken, und pCC waͤre kleiner, als es hiezu
    erfordert wird, ſo wuͤrde man immer ſagen, daß
    die Kugel nicht Kraft genug habe, und entwe-
    der die Maſſe oder die Geſchwindigkeit, oder
    beydes muͤſſe vermehret werden.
  • 11°. Wollte man demnach die Kraft der Kugel
    nach dem letzten Effecte Q ſchaͤtzen, ſo iſt Q
    nicht immer dem ſQdx, und ſo auch nicht im-
    mer dem pCC proportional. Denn ſonſt wuͤr-
    de dQ ~ Qdx, folglich x ~ log Q ſeyn, wel-
    ches
    [31]Die Kraft.
    ches aber, außer in ganz beſondern Faͤllen, nicht
    ſtatt hat.
  • 12°. Man darf ferner auch nur die Figur und
    Staͤrke des Ringes aͤndern, ſo daß P eine an-
    dere Function von x werde, und ſo wird man
    mit eben der Kugel p und eben der Geſchwin-
    digkeit C nicht mehr eben den letzten Effect Q
    erhalten, wie wohl es in einigen ganz beſondern
    Faͤllen, und gleichſam per accidens, wenn naͤm-
    lich die Umſtaͤnde dazu gewaͤhlet werden, oder
    ſich zufaͤlliger Weiſe einfinden, ſtatt haben kann.
  • 13°. Es iſt demnach pCC weder das Maaß
    der mittlern Kraft \frac {\longs Qdx} {a - b} noch das Maaß Q der
    letzten oder groͤßten angewandten Kraft des
    Ringes, ungeachtet es zufaͤlliger Weiſe der
    einen oder der andern den Zahlen nach gleich
    werden kann. Ueberhaupt auch auf welche Art
    man immer pCC, als eine mit p, P, Q gleich-
    artige Kraft anſehen will, kann man zwar For-
    meln erhalten, die aber, weil ſie mit veraͤnder-
    lichen Coefficienten multiplicirt werden, keine
    Proportionalitaͤt von der Allgemeinheit geben,
    wie Leibnitz ſie gefunden zu haben geglaubet
    hatte, und wovon, wie wir N°. 8. geſehen ha-
    ben, nur die Haͤlfte allgemein wahr iſt. Ueber
    das Carteſiſche Maaß pC laſſen ſich ganz aͤhn-
    liche Betrachtungen machen.

§. 404.


Man befeſtige nun eine beliebige Anzahl von gleich
elaſtiſchen Ringen in gerader Linie an einander. Die
Anzahl ſey = n, ſo iſt unſtreitig, daß wenn einer der-
ſelben
[32]XIII. Hauptſtuͤck.
ſelben mit einem Gewichte P, z. E. bis auf die Haͤlfte
zuſammengedruckt erhalten werden konnte, nunmehr
ein n mal groͤßeres Gewicht nP erfordert werde, um
ſie ſaͤmmtlich bis auf die Haͤlfte zuſammen zu druͤ-
cken, und ſo zu erhalten. Die Kraft eines Ringes
iſt demnach = P und die Kraft von allen = nP
(§. 395. 394.). Nun kann man leicht zeigen, daß
wenn eine Kugel, deren Maſſe = 1 iſt, mit einer Ge-
ſchwindigkeit, die wir ebenfalls = 1 ſetzen, gegen alle
dieſe Ringe laͤuft, und ſie bis auf die Haͤlfte zuſam-
men druͤcket, ſodann eine andere Kugel, deren Maſſe
= n iſt, nur den \frac {1} {n} Theil der Geſchwindigkeit der
erſtern gebrauche, um einen von dieſen Ringen bis
auf die Haͤlfte zuſammen zu druͤcken, folglich eine n
mal kleinere Kraft zu uͤberwaͤltigen. Man ſetze
p. abcdef | ghi. P.
a b c d e f g h i ſeyn die Ringe, und zwar bis auf die
Haͤlfte zuſammen gedruͤcket, p, P ſeyn die zwo Ku-
geln, welche, wenn die Ringe loßſchnellen, von den-
ſelben weggetrieben und in Bewegung geſetzet wer-
den. Nun ſchnellen die Ringe ſaͤmmtlich gleich loß,
und treiben die Kugeln nach Verhaͤltniß ihrer Maſ-
ſen, von ſich, ſo daß P um deſto langſamer fortruͤ-
cket, als p, je groͤßer die Maſſe P als p iſt. Man
vertheile die Ringe dergeſtalt in zwo Claſſen a b c d e f,
und g h i, daß ſich die Anzahl der erſtern zu der letz-
tern verhalte, wie die Maſſe P zu p, folglich, wie
die Geſchwindigkeiten, mit welchen P und p fortge-
trieben werden, ſo wird der Punct der zwiſchen f und g
faͤllt in Ruhe ſeyn, und es iſt eben ſo viel, als wenn
die Ringe daſelbſt befeſtiget, geweſen waͤren, und
folglich P nur von den Ringen g h i, und p nur von
den
[33]Die Kraft.
den Ringen a b c d e f waͤre getrieben worden. Man
ſetze, die erſtere Anzahl verhalte ſich zur letztern, wie
1 zu n, in eben dieſer Verhaͤltniß iſt folglich die
Maſſe p zu P, und die Geſchwindigkeit des P zu der
Geſchwindigkeit des p; und in eben dieſer Verhaͤlt-
niß iſt auch die Summe der Kraͤfte, welche dem P
ſind mitgetheilet worden, zu der Summe der Kraͤfte,
welche dem p ſind mitgetheilet worden. Wenn wir
demnach die Geſchwindigkeit ſowohl, als die Maſſe
des p, = 1 ſetzen, ſo iſt des P Maſſe = n, und ſeine
Geſchwindigkeit = \frac {1} {n}. Nun ſage ich, wenn zu-
gleicher Zeit die Maſſe n mit der Geſchwindigkeit \frac {1} {n},
und die Maſſe 1 mit der Geſchwindigkeit 1 auf die
nicht zuſammengedruͤckte Ringe zugefahren waͤre, ſo
wuͤrden ſie dieſelben ebenfalls bis auf die Haͤlfte zu-
ſammen gedruͤcket haben, und zwar erſtere die Rin-
ge g h i, letztere aber die Ringe a b c d e f g. Denn
beyde Maſſen haͤtten ihre Geſchwindigkeiten auf eben
die Art verloren, wie ſie dieſelben im erſten Falle
erhielten. Da nun die Kraͤfte, die die Maſſen
n und 1 zu dieſem Zuſammenpreſſen anwenden, ſich
wie die Anzahl der Ringe verhalten, ſo ſind ſie wie
n zu 1. Demnach


  • 1°. Die Maſſe 1 mit der Geſchwindigkeit 1 hat die
    Kraft n.
  • 2°. Die Maſſe n mit der Geſchwindigkeit \frac {1} {n} hat
    die Kraft 1.

Um nun in dieſen beyden Saͤtzen die Maſſen gleich
zu machen, ſo merken wir an, daß ſich bey gleicher
Geſchwindigkeit die Kraͤfte, wie die Maſſen ver-
Lamb. Archit.II.B. Chalten.
[34]XIII. Hauptſtuͤck.
halten. Dieſes verwandelt den zweyten Satz in
folgenden:


  • 3°. Die Maſſe 1 mit der Geſchwindigkeit \frac {1} {n} hat
    die Kraft \frac {1} {n}.

Aus dieſem Satze und dem erſten folget nun dieſes
Geſetz:


  • 4°. Wenn ſich bey gleichen Maſſen die Geſchwin-
    digkeiten, wie \frac {1} {n} zu 1, oder wie 1 zu n ver-
    halten, ſo verhalten ſich die Kraͤfte, wie \frac {1} {n}
    zu n, oder wie 1 zu nn, folglich, wie die Qua-
    drate der Geſchwindigkeiten.

§. 405.


Dieſer Beweis findet ſich in den Operibus Ioh.
Bernoulli,
wie wohl etwas anders vorgetragen. Da
hiebey ebenfalls die Zuſammendruͤckung von elaſti-
ſchen Ringen oder Federn vorkoͤmmt, ſo ſieht man
aus dem vorhin angefuͤhrten, daß die Kraͤfte der
Kugeln, die hier den Quadraten der Geſchwindigkeit
proportional gefunden werden, diejenigen ſind, wel-
che bey dem Zuſammendruͤcken zugleich mit der Ge-
ſchwindigkeit aufhoͤren, folglich auf das Zuſammen-
druͤcken ganz verwendet werden, und eine ſchlechthin
nur augenblickliche Wirkung hervor bringen, unge-
achtet ſie dieſelbe ſtufenweiſe erhalten, ſich nach und
nach verlieren, und, um die Wirkung voͤllig zu ma-
chen, eine gewiſſe Zeit gebrauchen. Wir merken
noch an, daß wenn man die Ringe a b c d e f an die
Maſſe P, und die Ringe g h i an die Maſſe P befe-
ſtiget,
[35]Die Kraft.
ſtiget, und ſie mit Geſchwindigkeiten, welche der An-
zahl der Ringe proportional, oder in umgekehrter Ver-
haͤltniß der Maſſen ſind, gegen einander beweget,
die Ringe ebenfalls gleich werden zuſammen gedruͤckt
werden. Der Ruhepunct wird gleichfalls zwiſchen
f und g ſeyn, und nach der groͤßten Zuſammendruͤ-
ckung werden die Maſſen mit eben den Geſchwindig-
keiten von einander geſtoßen werden, mit welchen ſie
gegen einander beweget worden. Eben dieſes hat
auch ſtatt, wenn gleich die Anzahl der Ringe nach
Belieben vertheilet wird. Denn ſo bald bey dem
Anſtoßen die Ringe einander beruͤhren, ſo iſt es eben
ſo viel, und das Zuſammendruͤcken erfolget, als wenn
ſie an einander befeſtiget waͤren. Der Ruhepunct
wird immer zwiſchen f und g fallen. Man ſieht hier-
aus leicht, daß man ſtatt der elaſtiſchen Ringe die
Koͤrper ſelbſt elaſtiſch ſetzen, und ſie unmittelbar an
einander ſtoßen laſſen kann. Jſt die Geſchwindigkeit
umgekehret, wie die Maſſen, ſo gehen ſie nach dem
Stoße jeder mit ſeiner Geſchwindigkeit von einander
weg. Nun laͤßt ſich jeder andere Fall auf dieſen re-
duciren, weil man bey dem Stoße eigentlich nur auf
die relative Geſchwindigkeit zu ſehen hat, mit wel-
cher ſich beyde Koͤrper einander naͤhern. Dieſe muß
nach dem Verhaͤltniſſe der Maſſen vertheilet werden,
und ſie wird vor und nach dem Stoße eben ſo ver-
theilet bleiben. Man kann beyden Maſſen vor und
nach dem Stoße eine gemeinſame Geſchwindigkeit
zugeben oder benehmen, ohne daß dadurch der Wir-
kung des Stoßes etwas benommen werde. Es iſt
uͤbrigens fuͤr ſich klar, daß hiebey die Elaſticitaͤt
abſolute und vollkommen angenommen wird. Denn
widrigenfalls koͤmmt dabey, die bereits oben (§. 96.)
gemachte Anmerkung vor, welche den Beweis ent-
C 2kraͤften
[36]XIII. Hauptſtuͤck.
kraͤften wuͤrde. Wir werden aber im Folgenden An-
laß haben, dieſes naͤher zu betrachten.


§. 406.


Bey fluͤßigen Koͤrpern koͤmmt das Quadrat der
Geſchwindigkeit ebenfalls in die Rechnung. Der
Unterſchied beſteht aber erſtlich darinn, daß da die
voͤllige Wirkung bey feſten Koͤrpern nur einen Augen-
blick dτ dauert, dieſelbe hingegen bey den fluͤßigen
Koͤrpern, ſo lange man will, fortdauernd erhalten
werden kann, wie wir es bey Muͤhlen, Windmuͤh-
len ꝛc. ſehen. Der andere Unterſchied befindet ſich
darinn, daß die Maſſe bey feſten Koͤrpern anders in
Betrachtung gezogen werden muß, als bey fluͤßigen,
wenn bey dieſen der Zufluß in einem fort erhalten
wird. Denn bey den feſten Koͤrpern iſt ſie allemal
beſtimmt, und kann als ein Ganzes angeſehen wer-
den. Bey den Fluͤßigen aber, wenn ſie in einem
fort zu- und abfließen, geht dieſes nicht an. Man
zieht daher nicht die Maſſe, ſondern die Dichtigkeit
derſelben in die Rechnung, und ſetzet, die Kraft, die
ſie aͤußern, wenn ſie in einem fort und gleichfoͤrmig
zufließen, verhalte ſich, wie das Quadrat der Ge-
ſchwindigkeit mit der Dichtigkeit und der Breite des
Fluſſes oder der Flaͤche multipliciret, auf welche ſie
ſtoßen. Dieſes giebt nun Einheiten von einer andern
Art, die ebenfalls nur unter ſich verglichen werden
koͤnnen. Jndeſſen laſſen ſie ſich dennoch auch und
um deſto ehender mit dem Drucke eines bloßen Ge-
wichtes vergleichen, weil die Wirkung ebenfalls in
einem fortdauert. Dieſes kann a poſteriori auf
vielerley Arten geſchehen. Will man es aber
a priori thun, ſo wird man nicht wohl anders zu
rechte kommen, als wenn man die Bewegung jeder
Theil-
[37]Die Kraft.
Theilchen und die Cohaͤſionskraͤfte mit in die Rech-
nung bringt.


§. 407.


Wir werden nun, ohne uns hiebey laͤnger aufzu-
halten, zu dem §. 374. zuruͤcke kehren, und die bey-
den andern Arten von Kraͤften, naͤmlich die Kraft
zu denken,
und die Kraft zu wollen mit in Be-
trachtung ziehen, um zu ſehen, wie weit ſich das
tertium comparationis ausdehne, oder wie ferne ſich
das bisher geſagte auf dieſe beyde Arten von Kraͤf-
ten ausdehnen laſſen. Dabey findet ſich nun, wenn
wir auf uns ſelbſt Acht haben, daß das in angefuͤhr-
tem §. 374. erwaͤhnte Anſtrengen der Kraͤfte, das
Muͤde werden, und das neue Kraͤfte ſammeln,
und das Ausruhen ebenfalls dabey vorkoͤmmt. Das
Bewußtſeyn und die mit demſelben verbundene Auf-
merkſamkeit, iſt es eigentlich, was wir hier als die
Kraft des Verſtandes anſehen koͤnnen. Wir koͤnnen
die Aufmerkſamkeit auf mehreres zugleich richten,
und dabey laͤnger anhalten, und das Bewußtſeyn
ſelbſt auch der Staͤrke nach veraͤndern. Und von die-
ſen dreyen Dimenſionen (§. 108.) nimmt bey uns or-
dentlich die eine zum Nachtheile der andern zu, und
wir ermuͤden auch mehr, wenn wir in kuͤrzerer Zeit
zugleich auf mehrerley und ſtaͤrker nachdenken, und
folglich die Aufmerkſamkeit zugleich weiter ausdeh-
nen und mehr verſtaͤrken wollen. Es iſt gar nicht
daran zu zweifeln, daß bey allem dieſem, die mit den
Gedanken und Vorſtellungen zugleich ſich bewegenden
Fibern des Gehirnes hiezu viel beytragen, und das
Vermoͤgen der Seele zu denken, auch wenn es an
ſich anhaltender, ausgedehnter und ſtaͤrker ſeyn koͤnn-
te, dennoch ſo einſchraͤnken, daß das Product aus
C 3dieſen
[38]XIII. Hauptſtuͤck.
dieſen dreyen Dimenſionen der Aufmerkſamkeit eine
gewiſſe und ziemlich beſtimmte Groͤße nicht uͤberſchrei-
tet, und bald bey jedem Menſchen auf einen beſon-
dern Grad geſetzet iſt.


§. 408.


Wir finden ferner, daß wir beſonders bey fort-
dauernden Empfindungen, wenn die aͤußere Urſache
in gleichem Grade bleibt, das Bewußtſeyn derſelben
verlieren, theils, weil die Empfindlichkeit der Sin-
nen abnimmt, theils, weil wir uns daran gewoͤhnen.
So z. E. verlieren wir das Bewußtſeyn des Unter-
ſchiedes der Waͤrme und Kaͤlte der aͤußern Luft, wenn
wir uns eine Zeitlang darinn aufhalten, und aus
dieſem Grunde iſt der Grad der Waͤrme, welche wir
temperirt nennen, an ſich betrachtet, oder nach dem
Thermometer gemeſſen, des Sommers groͤßer, als
des Winters. Unſer Urtheil von der Helligkeit aͤn-
dert ſich ebenfalls vom fruͤhen Aufwachen an bis zum
Abend, weil die Empfindlichkeit des Auges unter
Tagen abnimmt, und auf dieſe Art kommen uns glei-
che Stufen der Morgen- und Abenddaͤmmerung un-
gleich helle vor. Das Gehoͤr und die uͤbrigen Sin-
nen haben aͤhnliche Abwechslungen, und wir haben
Muͤhe, ſelbſt die Gedanken lange auf eben dieſelbe
Sache zu richten, ohne Abwechslungen mit einzu-
nehmen.


§. 409.


So fern nun bey allem dieſem das Bewußtſeyn,
deſſen Staͤrke, Ausdehnung und Dauer, theils von
den Fibern des Gehirnes, theils von den Empfin-
dungsnerven abhaͤngt, oder damit in einer beſtaͤn-
digen
[39]Die Kraft.
digen Harmonie und Verbindung iſt, laſſen ſich bey
uns die Kraͤfte des Bewußtſeyns nach den Kraͤften
ſchaͤtzen, die in dieſen Fibern und Nerven ſind, und
bey dem Anſtrengen derſelben nach und nach verloren
gehen, und die Berechnung von jenen ließe ſich auf
die Berechnung von dieſen reduciren, wenn uns der
bey dieſen Fibern und Nerven vorkommende Mecha-
nismus,
wovon wir in dem dritten und vierten Haupt-
ſtuͤcke der Phaͤnomenologie einen kurzen Entwurf ge-
geben (Phaͤnom. §. 98. ſeqq. §. 132. ſeqq.), bekann-
ter waͤre, als er noch dermalen iſt. Wir begnuͤgen
uns hier anzumerken, daß wenn wir dem Verſtande
eine Kraft beylegen, das tertium comparationis
ſich ſo weit ausdehnen laſſe. Daß dem Verſtande
ebenfalls eine Vis inertiae beygeleget werden koͤnne,
haben wir bereits in der Alethiologie (§. 230.) an-
gezeiget, und ſo auch oben (§. 93.) angemerket,
daß den Begriffen Ausdehnung, Ort, Abſtand,
Soliditaͤt
und Dichtigkeit zugeeignet werden, und
folglich das tertium comparationis bis dahin aus-
gedehnet werden koͤnne. Man ſehe auch, was wir
oben (§. 252.) in Abſicht auf das beyſammen und in
einander ſeyn
der Begriffe, und (§. 87.) von der
in dem Gedankenreiche vorkommenden Geſchwindig-
keit geſaget haben.


§. 410.


Daß ſich das tertium comparationis bey den Be-
gehrungskraͤften ebenfalls ſehr weit ausdehne, haben
wir bereits in dem §. 110. angezeiget. Der Wille
hat an ſich eine Vis inertiae, und wird durch die
Vorſtellungen des Guten, als durch Kraͤfte in Be-
wegung geſetzet, welche ihm gleichſam die Richtung
C 4und
[40]XIII. Hauptſtuͤck. Die Kraft.
und Geſchwindigkeit geben. Es hat Boͤhme in
ſeiner Abhandlung de Quantitate Motiuorum das
Gute mit der Maſſe, die Deutlichkeit oder Lebhaf-
tigkeit der Vorſtellung des Guten mit der Geſchwin-
digkeit, den daraus entſtehenden Trieb mit der Groͤ-
ße der Bewegung (quantitas motus) verglichen. Jn
der That richtet ſich auch der Trieb des Wollens,
theils nach dem, ob man ſich das Gute, als ein groͤ-
ßeres Gut vorſtellet, theils auch nach dem, ob die
Vorſtellung ſelbſt lebhafter iſt, und daher einen ſtaͤr-
kern Eindruck machet. Die Unentſchloſſenheit
und das Verlegen ſeyn aͤußert ſich gemeiniglich bey
Vorſtellungen, die einander entgegen ſind, und eben
dadurch, daß jede den Willen auf beſondere Seiten
lenket, denſelben im Gleichgewichte und gleichſam in
Oſcillationen halten. Wird aber die eine dieſer
Vorſtellungen durch das laͤngere anhalten fruͤher
ſchwaͤcher, oder kommen zu den andern noch neue
hinzu, ſo wird auch der Wille auf eine Seite gelen-
ket. Und auf dieſe Art kommt das, was man in
der Mechanic die Zuſammenſetzung der Kraͤfte nen-
net, bey den Kraͤften, die den Willen in Bewe-
gung ſetzen, ebenfalls vor, und man kann dieſe,
ſo gut, wie die von den Koͤrpern, in lebendige
und todte unterſcheiden, wozu ſich das tertium
comparationis,
und zugleich der Unterſchied, der
ſich in dem Gebrauche von beyden Arten aͤußert,
in dem §. 403. findet.



Vierzehn-
[41]

Vierzehnte[s] Hauptſtuͤck.
Verh[aͤ]ltniſſe.


§. 411.


Wir werden nun die Kraͤfte beſonders mit den
Verhaͤltniſſen vergleichen, und dabey etwas
umſtaͤndlicher ſehen, in welcher Verbindung jene mit
dieſen ſtehen. Es faͤllt uͤberhaupt ſchwer, den Be-
griff eines Verhaͤltniſſes genau zu beſtimmen, weil
wir dieſes Wort bey gar zu vielen und verſchiedenen
Faͤllen gebrauchen, und weil die Sprache hiebey eben
nicht einen Vorrath von Woͤrtern hat, die von gleich
tranſcendentem und genau beſtimmtem Umfange waͤ-
ren. Ueberhaupt bezieht ſich der Begriff des Ver-
haͤltniſſes auf ein denkendes Weſen, und ſetzet immer
wenigſtens zwey Dinge voraus, die mit einander ver-
glichen werden. Dieſe Dinge ſelbſt ſind nicht das
Verhaͤltniß, und das Verhaͤltniß iſt auch nicht in
dem einen oder andern dieſer Dinge, ſondern es iſt
gleichſam zwiſchen denſelben, und an ſich nur etwas
Jdeales, ungeachtet dennoch das, was dabey in den
Dingen ſelbſt zum Grunde liegt, real ſeyn kann.
Jch habe daher in der Dianoiologie (§. 12. 476.) ein
Verhaͤltniß dasjenige, oder einen Verhaͤltnißbegriff
denjenigen Begriff genennet, wodurch eine Sache ver-
mittelſt einer andern, oder ein Begriff vermittelſt
eines andern kenntlich gemacht oder beſtimmet wird.
Dieſe Erklaͤrung, welche vornehmlich von dem Ge-
brauche der Verhaͤltniſſe hergenommen iſt, iſt noch
die beſte, die ich nach vieler darauf verwandten Muͤhe
habe finden koͤnnen. Jch werde ſie nun durch die
C 5Anzeige
[42]XIV. Hauptſtuͤck.
Anzeige der verſchiedenen Arten der Verhaͤltniſſe um-
ſtaͤndlicher aufzuklaͤren ſuchen.


§. 412.


Da ſich die Verhaͤltniſſe, wie wir erſt bemerket
haben, immer auf ein denkendes Weſen beziehen,
welches die Dinge, zwiſchen welchen ein Verhaͤltniß
vorkoͤmmt, mit einander vergleicht und gegen einan-
der haͤlt, ſo iſt unſtreitig die erſte und unmittelbarſte
Claſſe von Verhaͤltniſſen diejenige, welche zwiſchen
den Dingen und dem denkenden Weſen ſelbſt vor-
kommen, und zwar ſchlechthin nur ſo fern es ein den-
kendes Weſen iſt, folglich ſo fern es ſich die Dinge
vorſtellet, und ſo fern dieſe einen Eindruck auf daſ-
ſelbe machen. Dieſes ſind demnach die Verhaͤltniſſe
zwiſchen den Begriffen und den Sachen, und damit
zugleich auch die Verhaͤltniſſe zwiſchen den Begriffen
unter ſich betrachtet. Wir koͤnnen dieſe Claſſe von
Verhaͤltniſſen uͤberhaupt logiſch nennen, weil ſie vor-
nehmlich in der Vernunftlehre betrachtet werden. Die
erſte Anlage dazu iſt die Aehnlichkeit und Verſchie-
denheit
der Begriffe, und ſo auch der Dinge ſelbſt,
weil die Begriffe nichts widerſprechendes, ſondern
Dinge vorſtellen ſollen, in welchen metaphyſiſche
Wahrheit iſt. Da wir die meiſten Dinge nach dem
Eindrucke, und ſo auch nach der Aehnlichkeit des Ein-
druckes benennen, den ſie in uns machen (§. 81. und
Alethiol. §. 46.) ſo mengt ſich hier das Symboliſche
in unſerer Erkenntniß mit ein, und es kann daher
kommen, daß wir durch die Benennungen verleitet
werden, etwas als eine in den Dingen ſelbſt vorkom-
mende Eigenſchaft anzuſehen, ungeachtet es eigent-
lich nur der Eindruck iſt, den ſie in uns macht.
Dieſes Blendwerk des Scheins haben wir in der
Phaͤno-
[43]Verhaͤltniſſe.
Phaͤnomenologie ausfuͤhrlicher unterſucht, und das,
was die Benennungen dazu beytragen koͤnnen, in der
Semiotic angezeiget.


§. 413.


Die zweyte Claſſe von Verhaͤltniſſen betrifft die-
jenigen, ſo von dem Orte, dem Raume und der
Lage hergenommen ſind, und die wir uͤberhaupt die
geometriſche nennen koͤnnen, weil eigentlich die
Geometrie ſich damit beſchaͤfftiget, dieſe Verhaͤltniſſe
zu betrachten, ſo fern ſie, und vermittelſt derſelben die
Lage, die Groͤße und der Abſtand der Dinge aus-
gemeſſen werden. Jnsbeſondere kommen ſolche Ver-
haͤltniſſe auch bey der localen Ordnung und ihren
Geſetzen vor, ſo fern naͤmlich nach jeder der drey
Dimenſionen des Raumes eines vor oder nach dem
andern iſt.


§. 414.


Die dritte Claſſe der Verhaͤltniſſe geht auf die Zeit
und Dauer, und koͤnnen demnach, ſo fern ſie aus-
gemeſſen werden, die chronometriſchen heißen.
Jnsbeſondere aber kommen ſie ebenfalls bey der loca-
len Ordnung vor, ſo fern naͤmlich ein Ding der Zeit
nach vor oder nach dem andern iſt.


§. 415.


Die vierte Claſſe machen die phoronomiſchen
aus, welche naͤmlich bey der Bewegung vorkom-
men, ſo fern bey dieſer weiter nichts als Raum,
Zeit
und Geſchwindigkeit mit einander verglichen
wird. Auch bey dieſen koͤmmt eine bloß locale Ord-
nung zu betrachten vor, (§. 344.).


§. 416.


Ueberhaupt betrachtet ſind dieſe drey Arten der
Verhaͤltniſſe (§. 413-415.) ideal, aber anders ideal,
als
[44]XIV. Hauptſtuͤck.
als es die logiſchen (§. 412.) ſind. Die logiſchen
gehen unmittelbar auf das denkende Weſen, und
was dabey zum Grunde liegt, beſteht theils in den
Kraͤften des Verſtandes theils in der Gedenk-
barkeit der Dinge.
Sie kommen demnach außer
dem denkenden Weſen nicht vor, (§. 299.). Hin-
gegen kommen Raum und Zeit außer dem denkenden
Weſen vor, ungeachtet beydes nicht in den Dingen,
ſondern die Dinge in denſelben ſind. Dieſes macht
erſtlich, daß Raum und Zeit ohne Ruͤckſicht auf die
Dinge betrachtet, und die in den Theilen vorkommen-
den Verhaͤltniſſe fuͤr ſich koͤnnen beſtimmet werden.
Zweytens aͤndert der Raum und die Zeit in den Din-
gen ſelbſt nichts, ungeachtet die Aenderungen in den
zuſammengeſetzten Dingen, dem Raume nach, und
in jeden Dingen der Zeit nach, vorgehen. Endlich
ſind drittens die Dinge nicht nothwendig an dieſen
oder jenen Raum und Zeit gebunden, ungeachtet ſie,
ſo bald ſie exiſtiren, in Ort und Zeit ſind. Ein Ding
kann demnach, der Veraͤnderung der Zeit und des
Ortes unerachtet, an ſich durchaus eben daſſelbe blei-
ben. Hingegen wird in der wirklichen Welt, wo
alles mit einander verbunden iſt, keine Aenderung
der Zeit und dem Orte nach vorgehen, ohne daß ſo-
wohl in dem Dinge ſelbſt, als in ſeinen Verhaͤltniſſen
zu andern Dingen etwas veraͤndert werde, wie wohl
nicht jede Veraͤnderung hinreichend iſt, zu machen, daß
es nicht eben daſſelbe koͤnnte genennet werden, (§. 220.).


§. 417.


Man hat aus dieſen Betrachtungen in der Me-
chanic als einen Grundſatz angenommen, daß die
allen Theilen eines Syſtems von Koͤrpern ge-
meinſame geradlinichte Bewegung, in der re-

lativen
[45]Verhaͤltniſſe.
lativen Bewegung unter ſich keine Aenderung
hervorbringe, und folglich, wo man nur letz-
tere zu betrachten hat, aus der Betrachtung
weggelaſſen werden koͤnne.
Ein ſolches Syſtem
iſt in der Newtonſchen Theorie der Schwere das
Sonnenſyſtem. Man ſetzet bey demſelben den ge-
meinſamen Mittelpunct der Schwere in Ruhe, wenn
man nur die Lage der Planeten und Cometen unter
ſich betrachtet. Man kann auch zeigen, daß dieſes
ſtatt habe, wenn die zu dieſem Syſteme gehoͤrenden
Weltkoͤrper von der Ruhe an angefangen haben, durch
ihre bloße Schwere ſich in Bewegung zu ſetzen, und
wenn ihre Schwere gegen andere außer dieſem Sy-
ſteme befindliche Koͤrper = 0 geſetzet werden kann.
Haben ſie aber nicht von der Ruhe angefangen, ſon-
dern jeder iſt nach einer beſtimmten Richtung und
Geſchwindigkeit in Bewegung geſetzet worden, ſo kann
man aus der Theorie der Schwere leicht zeigen, daß
der gemeinſame Mittelpunct der Schwere nicht an-
ders in Ruhe ſeyn kann, als wenn wenigſtens einem
dieſer Koͤrper eine ſolche Richtung und Geſchwindig-
keit gegeben worden, die bis auf unendlich kleine Zah-
len zu der Richtung, Geſchwindigkeit, Lage und Groͤße
der ſaͤmmtlichen uͤbrigen Koͤrper des Syſtems ſo pro-
portionirt iſt, daß der gemeinſame Mittelpunct der
Schwere in Ruhe bleibe. Wo dieſes nicht geſchehen,
da geht dieſer Mittelpunct in gerader Linie fort, und
wird von derſelben nur dann abgelenkt, wenn das
Sonnenſyſtem gegen andere Weltkoͤrper eine Schwere
hat. Da uͤberhaupt das Solide natuͤrlicher Weiſe
oder fuͤr ſich in Ruhe iſt, ſo kann auch ohne aͤußere
Kraft, und bloß aus der Wirkung der Kraͤfte, die
in den Theilen des Syſtems ſind, keine gemeinſame
geradelinichte Bewegung des ganzen Syſtems ent-
ſtehen,
[46]XIV. Hauptſtuͤck.
ſtehen, und dieſer Umſtand macht, daß unter den in
dem Syſteme wirkenden Kraͤften eine aus den uͤbri-
gen kann gefunden werden. Denn ſie kann weder
groͤßer, noch kleiner, noch anders angebracht ſeyn, als
erfordert wird, das Syſtem oder ſeinen gemeinſamen
Mittelpunct der Schwere in Ruhe zu laſſen.


§. 418.


Dieſer Umſtand giebt demnach in der Be-
rechnung der Kraͤfte immer eine Gleichung an.

Man gebrauche denſelben auch bey dem Stoße be-
wegter Koͤrper. Denn laufen ſie mit Geſchwindig-
keiten gegen einander, die umgekehrt wie ihre Maſſen
ſind, ſo iſt der Mittelpunct der Schwere vor dem
Stoße in Ruhe, und bleibt es auch nach dem Stoße,
die Koͤrper moͤgen nun viel oder wenig oder gar nicht
elaſtiſch ſeyn. Sind ſie vollkommen elaſtiſch, ſo ge-
hen ſie nach dem Stoße mit eben den Geſchwindig-
keiten wiederum von einander, mit welchen ſie gegen
einander liefen. Haben ſie aber einen geringern Grad
der Elaſticitaͤt, ſo wird ihre Geſchwindigkeit, mit
welcher ſie nach dem Stoße von einander gehen, zwar
beyderſeits geringer, dabey aber den Geſchwindigkei-
ten vor dem Stoße proportional ſeyn. Bey ganz wei-
chen Koͤrpern wird alle Kraft auf die Veraͤnderung
der Figur verwendet. Da bey den Koͤrpern in der
Natur die Elaſticitaͤt ſelten vollkommen iſt, ſo koͤmmt
bey denſelben der zweyte Fall vor. Ungeachtet nun
aber in den wenigſten Faͤllen, in welchen zween Koͤr-
per an einander ſtoßen, der gemeinſame Mittelpunct
der Schwere in Ruhe iſt, ſo kann man jeden Fall
dennoch auf dieſen reduciren, weil man die Bewe-
gung des Mittelpuncts der Schwere als beyden Koͤr-
pern gemeinſam anſehen, und ſie daher aus der Rech-
nung weglaſſen kann, (§. 405.).


§. 419.
[47]Verhaͤltniſſe.

§. 419.


Man wird ohne Muͤhe hieraus ſehen, was von
den beyden oben (§. 382.) angefuͤhrten Geſetzen abgeht,
wenn die Koͤrper nicht vollkommen elaſtiſch ſind. Die
Geſchwindigkeit, mit welcher ſie ſich nach dem Stoße
von einander entfernen, iſt geringer, als die, mit
welcher ſie ſich vor dem Stoße einander naͤherten,
und zwar in eben der Verhaͤltniß, in welcher ſie ſich
vor dem Stoße dem gemeinſamen Mittelpuncte der
Schwere naͤherten, und ſich nach dem Stoße von ein-
ander entfernten. Setzet man demnach die Maſſe
A, a, ihre Geſchwindigkeiten vor dem Stoße nach
einer gleichen Gegend C, c, ſo iſt die relative Ge-
ſchwindigkeit C - c. Dieſe iſt nach dem Stoße ge-
ringer, wenn die Koͤrper nicht vollkommen elaſtiſch
ſind. Man ſetze dieſelbe = m (C - c). Die Geſchwin-
digkeit, mit welcher der gemeinſame Mittelpunct der
Schwere fortruͤckt, ſey = x, ſo iſt A. (C - x) = a
(x - c),
folglich x = (AC + ac) : (A + a). Der
Koͤrper A naͤhert ſich dem Mittelpuncte der Schwere
mit der Geſchwindigkeit C - x = a (C - c) : (A + a),
hingegen a naͤhert ſich mit der Geſchwindigkeit
x - c = A (C - c) : (A + a). Nach dem Stoße
aber werden beyde dieſe Geſchwindigkeiten in der Ver-
haͤltniß 1 : m vermindert. Demnach ſind die wahren
Geſchwindigkeiten nach dem Stoße

§. 420.
[48]XIV. Hauptſtuͤck.

§. 420.


Jn dieſen beyden Formeln druͤckt nun m den Grad
der Elaſticitaͤt aus. Jſt dieſer vollkommen, ſo iſt
m = 1, und folglich

Sind hingegen die Koͤrper ganz weich, ſo iſt m = 0,
und folglich
Man wird aus der oben (§. 96. 375.) gemachten An-
merkung leicht ſehen, daß ſich m nicht nur nach der
Natur der beyden an einander ſtoßenden Koͤrper, ſon-
dern auch noch nach der relativen Geſchwindigkeit C - c
richte, und daß, wenn dieſe Geſchwindigkeit ſehr groß
wird, m ſehr geringe oder gar = 0 werde. Die Figur
bey elaſtiſchen Koͤrpern laͤßt ſich nur bis auf einen ge-
wiſſen Grad aͤndern, wenn ſie ſich entweder ganz oder
beynahe ganz wiederherſtellen ſoll. Jſt demnach die
Geſchwindigkeit groͤßer, ſo bleibt die geaͤnderte Fi-
gur, weil die elaſtiſche Kraft ganz uͤberwogen worden.
Hingegen ſind bey geringern Graden der Geſchwindig-
keit bald jede Koͤrper mehr oder minder elaſtiſch.


§. 421.


Man hat ferner aus eben dem Grunde (§. 417.)
die Zuſammenſetzung der Bewegung auf Grundſaͤtze
gebracht, und dadurch der Linie, in welcher ſich ein
Koͤrper bewegt, eine Bewegung angedichtet. Der
Umſtand
[49]Verhaͤltniſſe.
Umſtand ſelbſt koͤmmt zuweilen vor, und beſonders
bieten uns die Schiffe Beyſpiele an. Man ſetze, daß
auf einem Schiffe, waͤhrend dem es fortſegelt, eine
Flintenkugel abgeſchoſſen werde, ſo hat die Kugel, ſo
lange ſie noch in dem Flintenlaufe von dem Pulver
fortgetrieben wird, eine ſolche gedoppelte Bewegung,
wovon die eine nach der Laͤnge des Laufes, die andere
nach der Linie geht, in welcher ſich die Flinte zugleich
mit dem Schiffe bewegt. Stellet man ſich nun die
Geſchwindigkeit einer jeden von dieſen beyden Bewe-
gungen als Seiten eines Parallelogrammes von glei-
cher Lage vor, ſo wird die Kugel, ſowohl waͤhrend
dem ſie noch in dem Laufe iſt, als nach dem ſie heraus
iſt, ſich nach der Diagonal dieſes Parallelogrammes
bewegen, und in der Luft folglich ſchlechthin nur die
Bewegung fortſetzen, die ſie bereits in dem Flinten-
laufe hatte. Hinwiederum kann man jede Linie als
eine Diagonal von unzaͤhlig vielerley Parallelogram-
men, und die Bewegung nach der Diagonal als aus
zwoen Bewegungen nach den Seiten des Parallelo-
grammes zuſammengeſetzt anſehen. Und dieſe Auf-
loͤſung einer Bewegung in zwo andere gebraucht man,
wenn der Stoß zweener in ſchiefer Richtung gegen
einander laufender Koͤrper zu beſtimmen iſt. Wir
halten uns aber hier damit nicht auf, weil wir das
bisher Geſagte nur als Beyſpiele anfuͤhren, welche
den Satz: daß Zeit und Raum in den Dingen nichts
aͤndert, ungeachtet die Aenderung in den Dingen
ſelbſt dem Raume und der Zeit nach vorgeht, einiger-
maßen erlaͤutern, und deſſen Brauchbarkeit zeigen.


§. 422.


Die Verhaͤltnißbegriffe, welche in Abſicht auf Zeit
und Raum ſtatt haben, kommen auf eine tranſcen-
Lamb. Archit.II.B. Ddente
[50]XIV. Hauptſtuͤck.
dente Art auch in dem Gedankenreiche und in der
Jntellectualwelt vor. Wir haben in dem vorher-
gehenden, wo erſtere betrachtet wurden, allemal an-
gezeiget, welche Vergleichungsſtuͤcke ſie angeben, wie
es z. E. aus den in dem §. 407. und §. 409. angefuͤhr-
ten Stellen zu ſehen iſt. Da wir uͤberhaupt die Dinge
der Jntellectualwelt nach den Dingen der Koͤrperwelt
benennen; ſo iſt gar nicht zu zweifeln, daß die Theorie
in beyden nach einerley Ordnung in das Reine ge-
bracht werden koͤnne. Wir haben demnach den Grund
zu der Aehnlichkeit des Eindruckes in dem §. 409.
und §. 252. angezeiget. Uebrigens iſt es, wenn dieſe
Theorie vollſtaͤndig werden ſoll, vornehmlich um die
Vergleichungsſtuͤcke zu thun, welche die Grund-
ſaͤtze
und Maaßſtaͤbe zu dem Abſtande und Lage
der Wahrheiten im Reiche der Wahrheit,
zu
der Richtung des Weges, oder der Methode,
und zu der Geſchwindigkeit und Zeit, in welcher
der Weg zuruͤck gelegt wird (§. 87.), genau angeben.
Aus dieſen laͤßt ſich ſodann die Groͤße und Staͤrke der
Kraͤfte des Verſtandes, der Aufmerkſamkeit und des
Bewußtſeyns (§. 407.) leicht finden.


§. 423.


Die Statiſchen Verhaͤltniſſe, welche bey dem
Gleichgewichte und Ruheſtande, und die Dynami-
ſchen,
welche bey der Ueberwucht der Kraͤfte vor-
kommen, machen die fuͤnfte und ſechſte Claſſe aus
(§. 64. 66. 68.), und werden aus aͤhnlichen Gruͤn-
den auch auf die Jntellectualwelt ausgedehnt. Da
ſich bey denſelben ohne die Ausmeſſung nicht viel Be-
ſtimmtes ſagen laͤßt, ſo begnuͤgen wir uns, ſie hier
nur uͤberhaupt anzuzeigen, um die Abzaͤhlung voll-
ſtaͤndig zu machen. Man wird in den §. 67. 68. 221.
noch
[51]Verhaͤltniſſe.
noch Anlaͤſſe zu einigen ſpecialern Unterſchieden und
Arten von Verhaͤltniſſen finden, die von der Art der
wirkenden Kraͤfte hergenommen ſind.


§. 424.


Wir koͤnnen in die ſiebente Claſſe uͤberhaupt die
von den Kraͤften des Willens hergenommene Ver-
haͤltniſſe rechnen, und ſie eben ſo, wie bereits §. 221.
das gemeinſame Band zuſammengeſetzter moraliſcher
Dinge, moraliſch nennen. Die daſelbſt beyſpiels-
weiſe angefuͤhrten moraliſchen Ganzen, naͤmlich Staa-
ten, Provinzen, Staͤdte, Geſellſchaften, Familien ꝛc.
jede auf den Willen und die freyen Handlungen ge-
hende Geſetze und Verbindungen, zeigen, daß uͤber-
haupt dieſe Claſſe von Verhaͤltniſſen ſehr weitlaͤuftig
und ausgedehnt iſt. Wir werden nun uͤber dieſe
ſieben Claſſen der Verhaͤltniſſe einige allgemeinere
Anmerkungen machen.


§. 425.


Einmal beziehen ſich, wie wir bereits (§. 411.) er-
innert haben, die Verhaͤltniſſe ſaͤmmtlich auf ein den-
kendes Weſen, und ſind in ſo ferne Mittel von einem
der in Verhaͤltniß ſtehenden Dinge auf das andere
zu ſchließen. Jn dieſer Abſicht ſind ſie uns zur Er-
weiterung und beſonders zur Allgemeinheit der wiſſen-
ſchaftlichen Erkenntniß unentbehrlich, und zwar ſo,
daß wir auch da, wo in der Sache ſelbſt wenig oder
nichts zum Grunde liegt, dennoch Verhaͤltniſſe zwi-
ſchen denſelben erdichten. Dahin gehoͤren nun die
meiſten von denen, die wir in die erſte Claſſe genom-
men haben, oder die ſchlechthin nur ideal ſind. So
z. E. ob eine Sache der andern aͤhnlich oder un-
aͤhnlich
ſey, das aͤndert an der Sache nichts, und
D 2ſie
[52]XIV. Hauptſtuͤck.
ſie bleibt, was ſie an ſich iſt. Jndeſſen giebt uns
dennoch die Theorie ihrer Aehnlichkeit und Verſchie-
denheit (§. 124-160.) und die darauf gebaute Einthei-
lung der Dinge in Arten und Gattungen (§. 160-200.),
ingleichen die ebenfalls darauf beruhende Theorie des
Beſtaͤndigen und Veraͤnderlichen (§. 201-230.) die
erſte Anlage zu der Allgemeinheit der wiſſenſchaftli-
chen Erkenntniß, (§. 165. 201.). Auf eine aͤhnliche
Art iſt viel von den Verhaͤltniſſen der Zeit und des
Ortes ſchlechthin nur ideal (§. 416.), beſonders wenn
wir, um es fuͤr ſich zu betrachten, wie es in der
Geometrie, Chronometrie und Phoronomie geſchieht
(§. 63. 64. 68. 80. 86.), von dem dabey zum Grunde
liegenden Realen abſtrahiren. Wir haben daher
(§. 416. ſeqq.) etwas umſtaͤndlicher angezeiget, daß
Zeit und Raum in den Dingen ſelbſt nichts aͤndert,
daß man aber dennoch nicht davon abſtrahiren koͤnne,
weil die Dinge, ſo bald ſie exiſtiren, nothwendig in
Zeit und Ort ſind, und wenn ſie veraͤndert werden,
der Zeit und dem Orte nach veraͤndert werden. Auf
dieſe Art, da ſich die Wirkung eines Koͤrpers in den
andern ſchlechthin nur nach der relativen Direction
und Geſchwindigkeit richtet, muß man, um die Wir-
kung zu beſtimmen, dieſelben aus der abſoluten Di-
rection und Geſchwindigkeit herleiten, und wenn die
Wirkung und die dadurch geaͤnderte relative Geſchwin-
digkeit und Direction gefunden worden, ſo muß man
aus dieſer die Aenderung der abſoluten Geſchwindig-
keit und Direction finden. Man nimmt dabey gleich-
ſam eine gedoppelte Ueberſetzung vor, und kann da-
mit am kuͤrzeſten fortkommen, wenn man den Mit-
telpunct der Schwere des Syſtems dazu gebraucht
(§. 417. ſeqq.), welcher uͤberhaupt derjenige Punct
iſt, den man findet, wenn der Abſtand beyder Koͤrper
in
[53]Verhaͤltniſſe.
in Verhaͤltniß der Maſſen ſo vertheilt wird, daß jeder
Koͤrper in umgekehrter Verhaͤltniß ſeiner Maſſe da-
von entfernt bleibt, oder deſto naͤher bey demſelben iſt,
je groͤßer ſeine Maſſe iſt. Die abſolute Richtung
und Geſchwindigkeit dieſes Puncts bleibt vor und
nach der Wirkung einerley, und die Wirkung der
Koͤrper iſt einerley, wie auch immer dieſe Richtung
und Geſchwindigkeit ſeyn mag. Man hat demnach
nur ſo ferne darauf zu achten, als das Syſtem vor
und nach der Wirkung mit andern zu vergleichen iſt.
Und auch in dieſer Abſicht bleiben die Wirkungen,
welche das Syſtem und ſeine Theile betreffen, nach
der unter ſich vorgegangenen Veraͤnderung, eben ſo,
als wenn die Veraͤnderung nicht vorgegangen waͤre.
Wir muͤſſen nur anmerken, daß dieſe Saͤtze in der
Natur nicht wohl anders, als bey vollkommen elaſti-
ſchen Koͤrpern durch Verſuche wahr gefunden werden
koͤnnen. Denn bey den weichen und nicht vollkom-
men elaſtiſchen Koͤrpern gehen die Kraͤfte, welche auf
die Veraͤnderung der Figur verwendet werden, in
die anliegenden Materien uͤber, und daher kann das
Syſtem nicht fuͤr ſich oder ohne die Verbindung mit
dieſen Materien betrachtet werden.


§. 426.


Wir merken ferner an, daß bey den ſtatiſchen,
dynamiſchen und moraliſchen Verhaͤltniſſen (§. 423.
424.) in der That etwas in der Sache ſelbſt zum
Grunde liegt, weil ſie auf den dabey wirkenden Kraͤf-
ten beruhen. Da ſich aber die Verhaͤltniſſe eigent-
lich auf ein denkendes Weſen beziehen (§. 411.), ſo
giebt uns auch die Sprache Ausdruͤcke an, um das,
was in der Sache ſelbſt vorkoͤmmt, und worauf ſich
das Verhaͤltniß gruͤndet, zu benennen. Von dieſen
D 3Benen-
[54]XIV. Hauptſtuͤck.
Benennungen ſind die allgemeinſten folgende: 1°. Die
Verbindung, und dieſer Ausdruck bezieht ſich auf
das, was in dem Syſteme fortdauernd und gleichſam
im Ruhe- oder Beharrungsſtande iſt. Die Theile
ſind uͤberhaupt durch Kraͤfte verbunden, und deſto
feſter, je ſtaͤrker die Kraͤfte ſind. 2°. Was das ge-
meinſame Band
bey Ganzen zu ſagen habe, haben
wir bereits oben (§. 213. 220. 350.) umſtaͤndlicher aus
einander geſetzet. 3°. Der Zuſammenhang und das
Von einander abhaͤngen ſetzet ebenfalls eine Ver-
bindung
voraus, und iſt davon nur in der Art, wie
man ſich die Sache vorſtellet, verſchieden. Denn
Verbindung geht mehr auf die wirkenden Kraͤfte
und auf die Theile zugleich betrachtet, Zuſammen-
hang
aber mehr auf den Erfolg dieſer Kraͤfte, und
Abhaͤngen mehr auf die Ordnung, in welcher die
Theile verbunden ſind und zuſammenhaͤngen.
Man bindet ſich aber im gemeinen Gebrauche zu re-
den, an ſolche feinere Unterſchiede nicht ſo genau.
Man ſehe auch (Alethiol. §. 252.), wo wir dieſe Aus-
druͤcke, in Abſicht auf die logiſche Wahrheit der Be-
griffe, betrachtet haben. 4°. Der Einfluß bezieht
ſich mehr auf die Zeit und Veraͤnderung, ſo wie
die Verbindung mehr auf das geht, was zugleich
und fortdauernd iſt. Ahat einen Einfluß inB,
will ſagen, daß die Veraͤnderungen in A ebenfalls
Veraͤnderungen in Bnach ſich ziehen. Dabey kom-
men nun allerdings wirkende Kraͤfte vor, und A und B
ſind in Verbindung.


§. 427.


Solche Ausdruͤcke gebrauchen wir, um das, wor-
auf ſich die realen Verhaͤltniſſe der Dinge gruͤnden,
beſonders zu benennen. Es kommen aber auch immer
die
[55]Verhaͤltniſſe.
die idealen Verhaͤltnißbegriffe mit vor, um ſo mehr,
da wir beyde Arten in der Sprache nicht ſo genau
unterſcheiden. Wir bemerken ferner, daß wo Kraͤfte
wirken, von Urſachen und Wirkungen die Rede
vorkomme, und dabey iſt 1°. die wirkende Urſache,
2°. ihre Kraft, 3°. wenn ſie nicht unmittelbar wirket,
die Mittelurſachen, 4°. die Art, wie die Kraft an-
gewandt wird, und 5°. die Sache, in welcher die Wir-
kung vorgeht, von einander zu unterſcheiden. Der
Unterſchied, welcher ſich in dem ganzen Syſteme vor
und nach der Wirkung befindet, macht zuſammenge-
nommen die ganze Wirkung aus, welche auf die
wirkende Urſache, auf die Sache, in welche ſie wirkte,
und in die Verhaͤltniſſe von beyden gegen einander
und gegen andere Dinge vertheilt wird, oder aus allen
in dieſen Stuͤcken vorgegangenen Veraͤnderungen zu-
ſammengenommen beſteht.


§. 428.


Endlich merken wir an, daß auch die realen Ver-
haͤltniſſe ſich auf ein denkendes aber zugleich mitwir-
kendes Weſen beziehen koͤnnen, ſo fern naͤmlich dieſes
ſich die Wirkung, als eine Abſicht, vorſetzt, und
die Urſachen als Mittel gebraucht, anordnet und
anwendet. Dabey koͤmmt nun die Wirkung oder Ab-
ſicht als ein Beweggrund des Willens, und folg-
lich der Begriff des Guten vor, welches uͤberhaupt
theils in idealen, theils in realen Verhaͤltniſſen der
Sache zu dem denkenden Weſen (§. 110.) beſteht.


§. 429.


Außer dieſen Ausdruͤcken haben wir noch einige, die
ſich vornehmlich auf die Art beziehen, wie die Kraͤfte
angewandt werden. Dahin rechnen wir 1°. das Be-
D 4ſtimmen,
[56]XIV. Hauptſtuͤck.
ſtimmen, und dieſes koͤmmt beſonders bey allgemei-
nen und unbedingten Moͤglichkeiten vor, welche in
vorgegebenen Faͤllen nach Belieben oder zu vorgeſetz-
ten Abſichten gewaͤhlt werden koͤnnen, gemeiniglich
aber, wo mehrere vorkommen, einander theils ein-
ſchraͤnken, theils nach ſich ziehen, (§. 15. 16. 139. 176.
197. 209. 222. 229.). Uebrigens hat das Wort be-
ſtimmen
einige Vieldeutigkeit. Wir beſtimmen zu-
weilen unſere Begriffe der Sache nach, zuweilen die
Begriffe, um die Sache nach denſelben einzurichten,
zuweilen den Umfang der Begriffe und die Bedeutung
der Woͤrter ꝛc. 2°. Das Zuſammenſetzen, Tren-
nen, Theilen
und Aufloͤſen. Dieſe Ausdruͤcke,
welche uͤberhaupt Handlungen anzeigen, gehen mehr
auf die Sache ſelbſt, bey welchen die Kraft ange-
wandt wird, weil ſie die Art der Veraͤnderung anzei-
gen, die dadurch in der Sache hervorgebracht wird.
3°. Ueberdieß geben die meiſten Zeitwoͤrter in der
Sprache ſpecialere Begriffe von Handlungen und
Wirkungen an, die daher auch mehr in den beſon-
dern Theilen der Erkenntniß, als in der Grundlehre
vorkommen.


§. 430.


Die bisher angefuͤhrten Begriffe (§. 426. ſeqq.)
zeigen nun uͤberhaupt das an, was bey den realen
Verhaͤltniſſen in der Sache ſelbſt zum Grunde liegt.
Es iſt aber die Sprache reich genug an Woͤrtern,
daß wir nicht nur Verhaͤltniſſe benennen koͤnnen, die
unmittelbar zwiſchen den Sachen ſelbſt ſind, ſondern,
da wir durch eine Art von Erdichtung (§. 164.) die
Verhaͤltniſſe, und ſo auch die Verbindungen, Zuſam-
menhang, Einfluß ꝛc. als Dinge anſehen, ſo dichten
wir auch Verhaͤltniſſe zwiſchen dieſen an ſich abſtracten
Begrif-
[57]Verhaͤltniſſe.
Begriffen, und ohne einen ſolchen Vorrath wuͤrden
wir in unſerer Erkenntniß, und beſonders in Abſicht
auf die Allgemeinheit und den Zuſammenhang derſel-
ben merklich zuruͤck bleiben, (§. 372.).


§. 431.


Die Verhaͤltniſſe ſind uͤberhaupt Mittelbegriffe,
wodurch wir von einer Sache auf eine andere ſchließen,
(§. 411.). Und ſollen wir denſelben eine locale Stelle
anweiſen, ſo werden wir ſie, wie wir bereits erwaͤhnt
haben (§. cit.), nicht in den Begriffen der Sachen
ſelbſt, ſondern zwiſchen denſelben ſetzen muͤſſen. Neh-
men wir naͤmlich nach der vorhin (§. 409. 252.) an-
gefuͤhrten Theorie des Mechaniſmus der Fibern des
Gehirns an, daß jeder Empfindung und Vorſtellung
einer Sache die Bewegung einiger Fibern von be-
ſtimmter Lage entſpreche, ſo koͤnnen wir, wo zwo oder
mehrere Sachen zugleich empfunden werden, theils
das Bewußtſeyn, daß es andere Fibern ſind, theils
die Empfindung, daß die Bewegung dieſer Fibern
ſich von einer der andern mittheilt, als die erſte An-
lage anſehen, wie wir zu Verhaͤltnißbegriffen gelan-
gen. Denn die Verhaͤltniſſe koͤnnen nicht fuͤr ſich als
ein Ganzes und ohne die Dinge, zwiſchen welchen
ſie vorkommen, vor Augen gelegt, oder uͤberhaupt
empfunden werden. Werden aber die Dinge zugleich
empfunden, ſo ſind auch viele von den zwiſchen den-
ſelben vorkommenden Verhaͤltniſſen mit empfindbar,
(Dianoiol. §. 659.).


§. 432.


Da bey zweyen Dingen, die man zugleich empfin-
det, mehrere Verhaͤltniſſe vorkommen, ſo faͤllt es auch
ſchwerer, genau anzugeben, was man zu jedem be-
D 5ſonders
[58]XIV. Hauptſtuͤck.
ſonders rechnet. Dieſe Schwierigkeit fand ſich bey
den erſten Urhebern einer Sprache, in Abſicht auf
jede Verhaͤltniſſe, die ſie zu benennen hatten, und
zwar nicht um ſie nur zu benennen, ſondern um an-
zuzeigen, wie viel oder wie wenig ſie unter dem Na-
men verſtehen. Die Dinge mußten nicht nur von
beyden zugleich und auf einerley Art empfunden wer-
den, ſondern der, ſo das Verhaͤltniß, das er bemerkte,
anzeigen wollte, mußte ſo lange Proben machen, bis
er merken konnte, der andere ſtelle ſich nun daſſelbe
auch vor. Ungeachtet aber nun die Sprachen bereits
eingefuͤhret ſind, ſo kommt dieſe Schwierigkeit den-
noch noch ganz vor, und ſie iſt der Hauptgrund,
warum die Woͤrter, welche Verhaͤltniſſe anzeigen,
in ihrer Bedeutung unbeſtimmter und veraͤnderlicher
ſind, weil man leicht die Jndividualien von den Em-
pfindungen mit einmengt, und weil nicht jeder das
Wort in allen Faͤllen, wo es vorkoͤmmt, gehoͤrt, noch
auf die Umſtaͤnde genau Achtung gegeben hat. Man
ſehe auch §. 153. 154.


§. 433.


Die Meßkunſt giebt uns die Verhaͤltniſſe, ſo dar-
inn vorkommen, noch am deutlichſten und beſtimm-
teſten an, weil ſie zugleich die Operationen angiebt,
wodurch aus den Groͤßen ihr Verhaͤltniß, und hin-
wiederum eine Groͤße aus der andern und dem Ver-
haͤltniſſe gefunden werden kann. Sie hat nach Anlei-
tung dieſer Operationen nur zwo Arten von einfachen
Verhaͤltniſſen. Die eine zeiget an, um wie viel,
die andere wie vielmal eine Groͤße groͤßer oder klei-
ner iſt, als die andere. Z. E. 6 iſt um 4 groͤßer
als 2. Und 6 iſt 3mal groͤßer als 2. Aus dieſen zwo
Arten einfacher Verhaͤltniſſe werden unzaͤhlige andere
zuſammen-
[59]Verhaͤltniſſe.
zuſammengeſetzet, wovon jede algebraiſche Gleichung
ein Beyſpiel iſt. So z. E. druͤckt die Gleichung
xx = aa - yy die Verhaͤltniß zwiſchen den Abſciſſen
und Ordinaten eines Cirkels aus. Solche zuſam-
mengeſetzte Verhaͤltniſſe werden Relationes, die ein-
fachen aber Rationes genennet. Reihen von Zahlen,
worinn einerley einfache Verhaͤltniſſe zwiſchen jeden
zwo auf einander folgenden vorkommen, heißen Pro-
greſſionen,
und zwar arithmetiſche, wenn jede fol-
gende Zahl um gleich viel groͤßer iſt, als die vor-
hergehende; geometriſche aber, wo jede folgende
gleich vielmal groͤßer iſt, als die vorhergehende.
Hingegen nennet man ſolche Reihen, worinn einerley
zuſammengeſetzte Verhaͤltniſſe oder Relationen unter
den auf einander folgenden Gliedern vorkommen, Se-
ries recurrentes.
Jn dieſen wird jedes Glied auf
einerley Art durch eine beſtimmte Zahl der vorher-
gehenden beſtimmet. So z. E. iſt in der Reihe
1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55 ꝛc. jedes Glied die Sum-
me der beyden naͤchſt vorhergehenden, hingegen iſt in
der Reihe 2, 3, 6, 18, 108, 1944 ꝛc. jedes Glied das
Product der beyden naͤchſt vorhergehenden. Man
ſieht leicht, daß in ſolchen Reihen eine locale Ordnung
vorkoͤmmt, und folglich jedes Glied auch ſchlechthin
durch ſeine Stelle gefunden werden kann, (§. 327.).


§. 434.


Außer der Meßkunſt, wo naͤmlich nicht von Groͤßen,
ſondern von Ganzen, Theilen und Eigenſchaften die
Rede iſt, haben wir ebenfalls einige Operationen oder
Verrichtungen, wodurch Verhaͤltniſſe zu Stande ge-
bracht werden, und die mit den erſt angefuͤhrten ma-
thematiſchen eine merkliche Aehnlichkeit haben, und
dieſe ſind das Zuſammennehmen, das Zuſammen-
ſetzen,
[60]XIV. Hauptſtuͤck.
ſetzen, das Trennen, das Aufloͤſen, das Beſtim-
men
und das Abſtrahiren. Um die Bedeutung
dieſer Woͤrter, wie wir ſie hier gebrauchen, und die
Aehnlichkeit der dadurch vorgeſtellten Operationen mit
den arithmetiſchen umſtaͤndlicher aufzuklaͤren, werden
wir anmerken, daß die arithmetiſchen eigentlich nur
auf gleichartige Dinge gehen. Man addirt z. E.
Linien und Linien, Flaͤchen und Flaͤchen, Gewichte
und Gewichte ꝛc. Hingegen wuͤrde die Frage in das
Ungereimte fallen, wie groß z. E. die Summe von
einem Cubicſchuhe Raum und einem Jahre Zeit ſey?
Man kann auf Fragen von dieſer Art nicht anders,
als nach der oben (§. 149.) erwaͤhnten Rechenkunſt
antworten, dieſe Summe ſey ein Cubicfuß Raum
und ein Jahr Zeit. Es beſteht naͤmlich dieſe Rechen-
kunſt bloß im Numeriren. Ein Rodel oder Inuen-
tarium
von Hausgeraͤthe, liegenden Guͤtern, Capita-
lien, Pfaͤndern ꝛc. giebt ein Beyſpiel davon. Man
rechnet darinn nur die gleichartigen Stuͤcke wirklich
arithmetiſch zuſammen, indeſſen fordert die Vollſtaͤn-
digkeit des Inuentarii dennoch ein Abzaͤhlen aller Ti-
tel und aller zu jedem Titel gehoͤrenden vorraͤthigen
Stuͤcke. Die Stuͤcke ſeyn a, b, c, d ꝛc. ſo wird die
Summe dennoch = a + b + c + d + ꝛc. koͤnnen ge-
ſetzet werden, und der Unterſchied dieſer Zeichnung
von der algebraiſchen (Semiot. §. 234.) beſteht nur
darinn, daß a, b, c, d ꝛc. nicht einerley Maaßſtab
haben, und ungleichartig ſind. Sie werden ſchlecht-
hin nur vorgezaͤhlt oder zuſammengenommen.
So fern man bey ſolchen Faͤllen die Ausdruͤcke, zaͤh-
len, rechnen
ꝛc. gebraucht, ſtellet man ſich die un-
gleichartigen Dinge als Ganze, und in ſo fern als
Einheiten vor. Sie laſſen ſich nicht durchaus, ſon-
dern nur in gewiſſen Abſichten, auf einerley Maaßſtab
bringen,
[61]Verhaͤltniſſe.
bringen, wie z. E. bey den Jnventarien in Abſicht
auf den Werth der darinn verzeichneten Stuͤcke.
Und auch nur in ſo ferne koͤmmt die mathematiſche
Rechenkunſt dabey vor. Hier ſehen wir aber darauf
nicht, ſondern verſtehen durch das metaphyſiſche Zu-
ſammenrechnen, nur das Zuſammennehmen mehrerer
ungleichartiger Dinge. Das Wegnehmen iſt die
entgegengeſetzte Operation. Beyde ſind an ſich nur
ideal oder Verrichtungen des Verſtandes, ungeachtet
dabey allerdings die Frage vom Zuſammengehoͤren
und Nicht zuſammengehoͤren mit vorkommen,
und daher das Zuſammennehmen und das Wegneh-
men beſtimmen kann.


§. 435.


Bey dieſem Zuſammennehmen koͤmmt gleichſam
ein bloßes Aufhaͤufen der Dinge vor, weil dabey we-
der auf die Ordnung noch auf die Verbindung geſe-
hen wird, und gleichſam nur die ganze Summe oder
der ganze Haufen in Betrachtung koͤmmt. Das
Zuſammenſetzen begreift ſchon mehr, weil es noch
die Ordnung und Verbindung der Theile in ſich
ſchließt. Wenn wir demnach durch a + b oder
b + a ein bloßes Zuſammennehmen der Dinge a, b,
verſtehen, ſo muß die Ordnung und Art der Ver-
bindung
bey dem Zuſammenſetzen auf eine an-
dere Art bey dieſer Zeichnung angezeiget werden.
Und auf eine aͤhnliche Art muß man bey a - b, noch
beſonders anzeigen, wie der Theil b von a getrennet
werde. Denn hiebey wird a als ein Ganzes, oder als
eine Summe, oder als ein Haufen angeſehen, in
welchem b wirklich vorkoͤmmt. Kaͤme aber b nicht
in a vor, ſo wuͤrde - b nur anzeigen, daß es von
irgend Etwas muͤſſe weggenommen werden, und dieſes
Etwas
[62]XIV. Hauptſtuͤck.
Etwas muß in der Rechnung vorkommen. Dieſe
metaphyſiſche Rechnungsart iſt demnach von der ma-
thematiſchen darinn verſchieden, daß es in der letztern
gleichguͤltig iſt, von welcher poſitiven Groͤße die Ne-
gative abgezogen werde, weil z. E. a + c - b = a +
(c - b) = (a - b) + c
iſt. Jn der erſtern aber
geht dieſes ſo ſchlechthin nicht an, weil ungleichartige
Dinge eigentlich nicht koͤnnen verwechſelt werden.
Wenn man demnach durch die Rechnung endlich
x = a + c - b findet, ſo kann man, auch wenn
man es ſonſt nicht weiß, daraus ſchließen, daß die
durch b ausgedruͤckte Dinge unter denen durch a + b
ausgedruͤckten wirklich vorkommen, weil ſonſt x der
Vorausſetzung zuwider etwas unmoͤgliches waͤre.


§. 436.


Bey dieſem metaphyſiſchen Calcul, welcher ſich
nicht uͤber das Numeriren oder Vorzaͤhlen der zu-
ſammen genommenen ungleichartigen Dinge erſtre-
cket, ſind die Operationen + und - einander ent-
gegengeſetzt, und ſie leiden einerley Verwechslungen,
wie in der Algeber. Denn ſo ſind die Ausdruͤcke
a - b = c
a - c = b
a = b + c

einander gleichguͤltig. b + c und a ſtellen einerley
Haufen von einerley Dingen vor, und die Jdentitaͤt
bleibt, wenn man zu beyden einerley Dinge zuſetzet,
oder davon wegnimmt. Man ſieht auch leicht, daß c
eine Art von Verhaͤltniß von a und b, ingleichen b
eine Art von Verhaͤltniß von a und c vorſtellet.
Denn der Haufen Dinge a enthaͤlt außer den Din-
gen b noch die Dinge c, oder außer den Dingen c
noch
[63]Verhaͤltniſſe.
noch die Dinge b. Dieſe Art von Verhaͤltniß iſt
derjenigen aͤhnlich, die man in der Mathematic die
arithmetiſche nennet, (§. 432.).


§. 437.


Das Beſtimmen (§. 429.) giebt uns die andere
Art von Verhaͤltniſſen an, welche den Geometri-
ſchen (§. 432.) aͤhnlich ſind. Wir beſtimmen aber
erſtlich bey ausgedehnten Dingen oder Koͤrpern ihre
Figur und Groͤße, und in dieſer Bedeutung thun
wir eigentlich noch nicht mehr, als das Zuſammen-
ſetzen und Trennen an ſich ſchon begreift, weil wir
mehr oder weniger Theile an dem Koͤrper laſſen.
Ferner beſtimmen wir allgemeinere Begriffe durch
Zuſetzung von Merkmalen. Dieſe werden nun nicht
bloß zuſammengeſetzt oder nur aufgehaͤuft, ſondern
gleichſam damit multiplicirt, weil das, was der ab-
ſtracte Begriff vorſtellete, noch neue Eigenſchaften
bekoͤmmt. Die Sprache hat hievon gewiſſe Spuren.
Denn ſo ſind die Beywoͤrter, welche man den Haupt-
woͤrtern zuſetzet, ungefaͤhr, was in der Algeber die
Coefficienten ſind (Semiot. §. 176.), und dieſes um
deſto mehr, weil ſie im Comparatiuo und Superlatiuo,
die Gradus intenſitatis vorſtellen, (Semiot. §. 186.
ſeqq.). Auf eine aͤhnliche Art verhalten ſich die Zu-
woͤrter zu den Zeitwoͤrtern, (Semiot. §. 223. ſeqq.).
Endlich beſtimmen wir auch ein Ding durch ein an-
deres, vermittelſt Verhaͤltnißbegriffe, welche nicht
Dinge, ſondern ſchlechthin nur Verhaͤltniſſe vorſtellen
(§. 411. 431.), und dieſe werden daher nicht addirt,
ſondern gleichſam multiplicirt. Um nun auch hiebey
eine der algebraiſchen aͤhnliche Zeichnung anzugeben,
ſo koͤnnen wir durch A : B uͤberhaupt die Verhaͤltniß,
oder beſſer zu ſagen, die Summe der Verhaͤltniſſe
ausdruͤ-
[64]XIV. Hauptſtuͤck.
ausdruͤcken, die zwiſchen A und B ſind, und B : A
wird die umgekehrte Verhaͤltniß oder die Summe
derſelben vorſtellen. Setzet man demnach A : B = m,
ſo iſt A = mB, und B = A : m = nA, und B : A =
1 : m = n,
daher m . n = 1. Sind nun zwiſchen
A und B einerley Verhaͤltniſſe, wie zwiſchen C und D;
ſo haben wir B : A = D : C, und A : B = C : D.
Hieruͤber laſſen ſich nun folgende Anmerkungen
machen.


§. 438.


Einmal wird der Ausdruck A : B = C : D, ſo ge-
leſen: Averhalte ſich zuB,wie ſichCzuD
verhaͤlt: oder Aunterſcheide ſich vonBeben
ſo, wie
CvonD. Z. E. Das Vermuthen ver-
haͤlt ſich zum Kuͤnftigen, wie das Erinnern zum Ver-
gangenen. Ein Poſtulatum zum Grundſatze, wie eine
Aufgabe zum Lehrſatze. Man ſieht leicht, daß die
Gleichniſſe, Allegorien, Anſpielungen, Meta-
phern ꝛc.
Stoff zu ſolchen metaphyſiſchen Propor-
tionen angeben, und daß man die Verhaͤltniſſe, ſo
zwiſchen zwoen vorgegebenen Sachen ſind, durch die
Verhaͤltniſſe anzeiget, die zwiſchen zwo andern z. E.
bekanntern Sachen vorkommen, und man iſt dazu
genoͤthiget, ſo oft die Sprache nicht bereits Woͤrter
hat, wodurch die Verhaͤltniſſe fuͤr ſich benennet wer-
den koͤnnen. Denn da gebraucht man entweder Bey-
ſpiele
oder aͤhnliche Faͤlle, (§. 431. 432. 144. Dianoiol.
§. 483. ſeq.).


§. 439.


Bey ſolchen Proportionen koͤmmt nun eine Ver-
mengung des Aehnlichen und Verſchiedenen vor, die
ſich nach Geſetzen richtet, wenn die Proportion ge-
nau ſeyn ſoll. Es ſey die Proportion
A : B = C : D
ſo
[65]Verhaͤltniſſe.
ſo muͤſſen 1°. die GliederA, Bin eben den Stuͤ-
cken und auf eben die Art verſchieden ſeyn, wie
die Glieder
C, Dverſchieden ſind, und hin-
wiederum dieſe, wie jene. 2°. Hingegen muͤſ-
ſen die Glieder
A, Cin eben den Stuͤcken und
auf eben die Art aͤhnlich ſeyn, wie die Glie-
der
B, D,und hinwiederum dieſe, wie jene.
3°. Eben dieſes muß ſich finden, wenn die bey-
den aͤußerſten, oder die beyden mittlern Glieder
verwechſelt werden,
und folglich die Proportion in
A : C = B : D
oder
D : B = C : A
verwandelt wird. Denn abſtrahirt man in den
Ausdruͤcken
A : B,undC : D,von dem, was
in beyden aͤhnlich iſt, ſo verhalten ſie ſich, wie
die Verſchiedenheiten.
Dieſe Verſchiedenheiten
ſind daher eben das, was bey mathematiſchen Pro-
portionen die Numeri inter ſe primi ſind. Z. E.
21 : 35 = 12 : 20 giebt = 3 : 5.
21 : 12 = 35 : 20 giebt = 7 : 4.

Auf eine aͤhnliche Art
Forderung : Grundſatz = Aufgabe : Lehr-
ſatz,
giebt = Frage : Satz
Forderung : Aufgabe = Grundſatz : Lehr-
ſatz,
giebt = unbeweisbar : beweisbar

Denn


  • 1°. Forderungen und Aufgaben ſind Fragen,
    Grundſaͤtze und Lehrſaͤtze aber ſind Saͤtze.
    Hingegen
  • 2°. Forderungen und Grundſaͤtze ſind unbe-
    weisbar;
    Aufgaben und Lehrſaͤtze aber muͤſſen
    bewieſen werden, (Dianoiol. §. 146. ſeqq.

Lamb. Archit.II.B. E§. 440.
[66]XIV. Hauptſtuͤck.

§. 440.


Benennet man in der Proportion
A : B = C : D
die gemeinſamen Merkmale der Dinge A, B mit m,
die engern mit a, b, ſo daß A = ma und B = mb ſey,
ſo wird nothwendig C = na und D = nb muͤſſen ge-
ſetzet werden. Und dadurch wird die vorgegebene
Proportion in folgende
ma : mb = na : nb
verwandelt. Denn a, b ſind die Verſchiedenheiten,
und dieſe muͤſſen zwiſchen A, B und C, D einerley ſeyn,
wenn anders die Proportion ſtatt haben ſoll.


§. 441.


Man ſieht hieraus uͤberhaupt, wie man zu drey
Gliedern einer Proportion das vierte finden
koͤnne.
Die drey vorgegebene Glieder A, B, C ſind
ma, mb, na. Demnach wird das erſte A dergeſtalt
in m und a zerfaͤllt, daß m in B, und a in C vor-
komme. Sodann abſtrahirt man in B von den Merk-
malen m, und in C von den Merkmalen a, ſo blei-
ben in B noch die Merkmale b und in C noch die Merk-
male n. Wird nun n und b mit einander verbun-
den, ſo hat man das vierte Glied D = nb.


§. 442.


Man kann dieſes Verfahren, welches der arith-
metiſchen Regel Detri ganz aͤhnlich iſt, auch ſo aus-
druͤcken. Man verbinde das zweyte GliedB
mit dem drittenC,und vonBCabſtrahire man
das erſte
A,ſo wirdBC : A = Dſeyn. Denn
BC iſt = mnab und A = ma; folglich BC : A = mnba :
ma = nb = D.
Man ſetze z. E. m = unbeweisbar,
n =
[67]Verhaͤltniſſe.
n = beweisbar, a = Frage, b = Satz; ſo iſt A = ma =
Poſtulatum, B = mb
= Grundſatz, C = na = Auf-
gabe, und D = (mnab : ma) = nb = Lehrſatz.


§. 443.


Wenn die drey Glieder A, B, C einige gemeinſa-
me Merkmale p haben, ſo werden ſie mpa, mpb, npa,
und folglich D = npb, und die Proportion
A : B = C : D
mpa : mpb = npa : npb

ſeyn. Man abſtrahirt demnach erſtlich von den Merk-
malen p, welche allen drey Gliedern gemeinſam ſind,
ſo dann von den Merkmalen m, welche A und B ge-
meinſam haben, damit von A nur a, und von B nur b
bleibe. Endlich wird a von C abſtrahirt, damit man
noch n habe, und ſo erhaͤlt man npb = D das ge-
ſuchte vierte Glied.


§. 444.


Hiebey iſt es nun gar wohl moͤglich, daß B nur
= mp, oder C nur = pa ſey, und ſo wird im erſten
Falle D = np, im andern aber D = ap ſeyn. So
kann auch ſchlechthin nur C = a ſeyn, und da iſt D = b.
A : B = C : D = a : b
Denn man ſieht leicht, daß a, b hier ungefaͤhr eben
das ſind, was bey arithmetiſchen Proportionen die
Numeri inter ſe primi, (§. 439.).


§. 445.


Dieſe letzte Analogie
A : B = a : b
iſt nun an ſich betrachtet immer moͤglich, weil die
Dinge in Verhaͤltniß ihrer Unterſchiede oder eigenen
E 2Merk-
[68]XIV. Hauptſtuͤck.
Merkmale ſind, welche a, b vorſtellen. So viel ſich
nun mit a, b andere gemeinſame Merkmale n ver-
binden laſſen, ſo viel Proportionen
A : B = na = nb = C : D
wird man auch finden. Da wir nun die Wahl ha-
ben, von den gemeinſamen Merkmalen des A und B
wegzulaſſen oder beſonders zu nehmen, ſo viel wir
wollen (§. 162. N°. 4.), ſo kann man auf ſehr vie-
lerley Arten von mp Merkmale weglaſſen, daß die
uͤbrigen = n ſeyn, und ſo vielerley Proportionen
A : B = na : nb
wird man auch finden. Jn dieſen ſtellet nun na ſo
wohl, als nb eine Definition vor, wovon das Defi-
nitum
zuweilen in der Sprache ſchon durch ein Wort
benennet iſt, welches man aber, weil die Sprache
nicht wiſſenſchaftlich genug iſt, nicht immer ſo leicht
findet, (Semiot. §. 40. 346. ſeqq.).


§. 446.


Hiedurch wird aber nur die Aufgabe aufgeloͤſet,
wie man, wenn zween Begriffe vorgegeben,
auf vielerley Arten zween andere finden koͤnne,
welche zu den zween vorgegebenen einerley
Verhaͤltniß haben.
Man findet auch in der That
vielerley Paare der geſuchten Begriffe. Denn ſind
A, B Indiuidua, ſo kann man von ihren gemeinſa-
men Merkmalen ſtufenweiſe weglaſſen, und andere
dafuͤr ſetzen, und die Verhaͤltniß wird immer einer-
ley bleiben, (§. 137. Axiom. 5.). Sind aber A, B
abſtracte Begriffe, ſo kann man ebenfalls von ihren
gemeinſamen Merkmalen weglaſſen, und andere dafuͤr
ſetzen, ohne die Verhaͤltniß zwiſchen beyden zu aͤndern.
Oeſters kann man denſelben auch ſo, wie ſie ſind,
noch
[69]Verhaͤltniſſe.
noch gemeinſame Beſtimmungen zu ſetzen, und da-
durch ſpecialere Begriffe herausbringen, die zu A, B
einerley Verhaͤltniß haben. Man ſehe ſpecialere Faͤlle
hievon in der Dianoiologie (§. 499-524.).


§. 447.


So weit nun dieſes angeht, hat die Aufgabe mit
der Arithmetiſchen eine Aehnlichkeit, wie man zu
zwoen vorgegebenen ganzen Zahlen A, B jede andere
ganze Zahlen finden koͤnne, die zu denſelben einerley
Verhaͤltniß haben. Denn laſſen ſich A, B verklei-
nern, ſo ſuchet man den groͤßten gemeinſamen Thei-
ler m, und bringt dadurch a = A : m und b = B : m
heraus, ſo daß a, b Numeri inter ſe primi ſind.
Sellet nun n jede beliebige ganze Zahl vor, ſo
werden na, nb die geſuchten ganzen Zahlen, und
A : B = na : nb ſeyn. Jſt nun in vorgegebenen Faͤl-
len C nicht eine von den Zahlen na, ſo wird auch D
nicht eine ganze Zahl nb, ſondern eine gebrochene
Zahl ſeyn.


§. 448.


Man wird aus dem (§. 443.) leicht ſehen, daß
dieſer Fall bey unſerer metaphyſiſchen Regel de tri
ebenfalls vorkommen koͤnne. Die drey vorgegebenen
Dinge ſeyn A, B, C, und das vierte D ſoll ſo be-
ſchaffen ſeyn, daß A : B = C : D ſey. Nun laͤßt ſich
immer, nach der daſelbſt gegebenen Vorſchrift, A in
map, und B in mbp aufloͤſen, und p iſt vermoͤge der
Vorausſetzung in C enthalten. Da aber C = npa
ſeyn ſoll, ſo muß auch a ganz und poſitiv in C ent-
halten ſeyn. Findet ſich dieſes, ſo findet man auch n,
weil npa zuſammen C ausmachen. Und in dieſem
Falle wird man D = npb haben. Findet ſich aber
E 3a nicht
[70]XIV. Hauptſtuͤck.
a nicht ganz in C, ſondern nur etwann α, ſo daß
αμ = a ſey, und folglich μ in C gar nicht vorkomme,
ſo ſieht man leicht, daß n = ν:μ ſeyn muͤſſe, ſo
daß ν die eigenen poſitiven Merkmale des C andeute,
μ aber ſolche, die es noch haben muͤßte, oder die da-
mit noch verbunden werden muͤßten, wenn auch D
aus lauter poſitiven Merkmalen beſtehen ſollte. So
aber findet man D = γpb : μ und die Proportion
A : B = C : (γpb : μ)
Nun koͤmmt μ unter den Merkmalen ν, p, b nicht
vor. Demnach kann es auch nicht wirklich davon
abſtrahirt werden. Will man daher fuͤr das vierte
Glied durchaus poſitive Merkmale haben, ſo muß
μ mit C verbunden werden, und ſo findet ſich
A : B = μC : νpb.
Dieſe Proportion laͤßt ſich aber auch in folgende
A/μ : B = C : νpb
verwandeln, und μ kann von A wirklich abſtrahirt
werden, weil A = map = μαmp iſt. Dadurch aber
wird das Verhaͤltniß vergroͤßert. Ungeachtet nun
aber in dem Ausdrucke (νpb : μ) die Merkmale μ
von den Merkmalen νpb nicht koͤnnen abſtrahirt wer-
den, ſo kann dieſer Ausdruck dennoch von Gebrauche
ſeyn, weil man in den Calculn, wo ſolche Proportio-
nen vorkommen, allemal wiederum Ausdruͤcke findet,
welche die Moͤglichkeit eines ſolchen Abſtrahirens wie-
der herſtellen.


§. 449.


Wir haben vorhin (§. 436.) geſaget, daß wenn
die Verhaͤltniß zwiſchen B und A durch A : B ausge-
druͤcket, und A : B = m geſetzt wird, alsdenn auch
A : m = B,
[71]Verhaͤltniſſe.
A : m = B, und A = mB geſetzet werden koͤnne.
Denn m iſt hier ſtatt des Wortes, wodurch die Ver-
haͤltniß ausgedruͤcket wird, und zeiget uͤberhaupt an,
worinn B von A verſchieden iſt, folglich, welche
Beſtimmungen dem B muͤſſen zugeſetzet oder auch da-
von weggenommen werden, damit es ſich in A ver-
wandele. Nun werden die Beſtimmungen den Din-
gen nicht bloß zuſammenſetzungsweiſe zugeſetzet, ſon-
dern damit gleichſam multipliciret, und zwar des-
wegen, weil, wo es auf Grade ankoͤmmt, jede Be-
ſtimmung, die man zuſetzet, eine Dimenſion mehr
giebt, und jede, die man weglaͤßt, eine Dimenſion
wegnimmt. Demnach konnten wir, wie in der Al-
geber, A = mB, und A : m = B ſetzen. Man ſetze
z. E. nur, A bedeute eine Flaͤche, B eine Laͤnge,
m eine Breite, ſo ſind m, B die zwo Dimenſionen
von A. Und der Ausdruck 3m . 4B = 12A, will ſa-
gen, daß bey der Flaͤche zwoͤlf Einheiten heraus kom-
men, wenn vier nach der Laͤnge, und drey nach der
Breite gerechnet werden muͤſſen.


§. 450.


Man habe nun A : B = m, und B : C = n, ſo
wird A : C = mn ſeyn. Denn A = mB, und B = nC
folglich A = mnC, und daher A : C = mn. Dem-
nach, wie auch immer die Verhaͤltniſſe m, n beſchaf-
fen ſeyn moͤgen, ſo machen ſie mit einander verbun-
den einen Verhaͤltnißbegriff mn aus. Denn weil B
ſowohl mit A als mit C in Verhaͤltniß ſteht, ſo ſteht
auch A mit C in Verhaͤltniß. Setzet man demnach
A : C = p, ſo iſt p = mn. Und dieſes muß ſich aus
der Verbindung der Verhaͤltniſſe m und n unmittel-
bar finden laſſen. (Dianoiol. §. 480. 516.).


E 4§. 451.
[72]XIV. Hauptſtuͤck.

§. 451.


Wir haben bisher vorausgeſetzt, die Verhaͤltniſſe
A : B ſeyn einfach, und dieſes fordert auch die Art
der Zeichnung, wenn ſie der algebraiſchen aͤhnlich
bleiben ſoll. Die Bedingung, daß, was ſowohl
der Art als den Graden nach beſtimmt iſt, nicht noch
einmal beſtimmet werden koͤnne, zeiget, daß jede
Beſtimmung, die man noch hinzuſetzet, von anderer
Art, oder nach einer andern Dimenſion ſeyn muͤſſe.
Jede Beſtimmung, wenn ſie anders Grade haben
kann, muß auch den Graden nach durchaus gleich-
foͤrmig ſeyn. Man hat nach dieſen Regein bereits
in der Metaphyſic zu verfahren geſuchet, um die
Grade der Ordnung, Vollkommenheit ꝛc. zu ſchaͤtzen.
Z. E. wenn man ſaget, die Vollkommenheit ſey die
Uebereinſtimmung des Mannichfaltigen in einer oder
mehrern Abſichten, ſo hat man die Groͤße der Voll-
kommenheit nach der Groͤße der Uebereinſtimmung
und der Mannichfaltigkeit, und nach der Anzahl und
Erheblichkeit der Abſichten geſchaͤtzet, und aus dieſen
vier Beſtimmungen eben ſo viele Dimenſionen ge-
macht. Jch fuͤhre dieſes Beyſpiel nur an, um zu
zeigen, daß man dabey ſich wirklich die Regel vor-
geſetzet hat, die Dimenſionen nach den einfachen Be-
ſtimmungen zu ſchaͤtzen. Hingegen kann man aller-
dings ſagen, daß ſolche einfache Beſtimmungen
nicht immer genau getroffen worden, und die
Faͤlle, wo es bisher gelungen iſt, die Ausmeſ-
ſung vorzunehmen, haben immer auf eine an-
dere Art zergliedert werden muͤſſen, als es in
der Metaphyſic geſchehen war.


§. 452.


Wir werden den Grund hievon im folgenden deut-
licher anzeigen koͤnnen, und dermalen noch aus der
Jdentitaͤt
[73]Verhaͤltniſſe.
Jdentitaͤt der Dimenſionen und einfachen Beſtimmun-
gen, den Satz herleiten, daß in den algebraiſchen
Gleichungen die Zeichen und Buchſtaben nicht
nur Groͤßen und deren Verhaͤltniſſe, ſondern
zugleich auch Dinge und deren Beſtimmungen
und Verhaͤltniſſe vorſtellen.
Denn einmal bleibt
man mit der Anwendung der Algeber bey einer Sa-
che, die der Ausmeſſung nach, einer oder mehrern Di-
menſionen faͤhig iſt, nothwendig zuruͤcke, wenn man
die einfachen Beſtimmungen noch nicht weiß, welche
dieſe Dimenſionen angeben. Weiß man aber dieſe
Beſtimmungen, ſo druͤcken die algebraiſchen Buch-
ſtaben nicht nur ihre Grade aus, ſondern ſie dienen
auch, ſie der Art nach von einander zu unterſcheiden,
und ſo wie die Gleichung nach den Regeln des Cal-
culs veraͤndert wird, und die Buchſtaben in derſel-
ben anders mit einander verbunden werden, aͤndert
ſich auch die Verbindung der dadurch vorgeſtellten
Beſtimmungen. Es ſind aus dieſem Grunde die
algebraiſchen Formeln, die man bey der Aufloͤſung
einer Aufgabe herausbringt, einer Ueberſetzung faͤ-
hig, welche nicht etwann nur anzeiget, was man
addiren, ſubtrahiren, multipliciren, dividiren ꝛc.
muͤſſe, ſondern vornehmlich, was jede von dieſen
einfachen Operationen (§. 364.), oder mehrere zu-
ſammen genommen in der Sache ſelbſt vorſtellet.
Auf dieſe Art kommen z. E. in den algebraiſchen For-
meln, welche man bey mechaniſchen Aufgaben her-
ausbringt, ſehr oft ſolche Ausdruͤcke vor, welche eine
Eigenſchaft oder Modification des Mittelpunctes der
Schwere vorſtellen, und zugleich verurſachen, daß
nicht nur die Formel kuͤrzer vorgeſtellet, ſondern et-
wann auch kuͤrzer gefunden werden kann. Da fer-
ner einerley und ſehr zuſammengeſetzte Verhaͤltniſſe
E 5in
[74]XIV. Hauptſtuͤck.
in mehrern Dingen vorkommen koͤnnen, ſo kann man
von dieſen das bekanntere zur Erklaͤrung und kuͤrzern
Vorſtellung der uͤbrigen gebrauchen. Das oben
(§. 364.) uͤber den Ausdruck \sqrt {(aa - ab + bb)} an-
gemerkte mag auch hier als Beyſpiel dienen.


§. 453.


Man ſetze nun zwey Dinge A, B, die aus un-
gleichartigen Theilen beſtehen. A ſey = a + α, und
B = b + β, ſo daß die Verhaͤltniſſe (a : b) und
(α : β) wirklich einfach, aber nicht von gleicher Art
ſeyn. Macht man nun a = mb, und α = nβ, ſo hat
man A : B = (mb + nβ) : (b + β). Dieſe Ana-
logie giebt nun allerdings an, wie man A durch B
finden koͤnne. Denn B wird in die zween Theile b, β
zerfaͤllt, und durch die Zuſetzung der Beſtimmungen
m, n, erhaͤlt man A = mb + nβ. Da aber die
ſymboliſche Moͤglichkeit ſich viel weiter als die wahre
erſtrecket (§. 288. 295.), ſo bindet man ſich in
der Sprache auch nicht genau an eine ſo ſorg-
faͤltige Zergliederung, ſondern druͤcket die Ver-
haͤltniß
A : Bdurch ein einiges WortMaus,
und dieſes geſchieht faſt nothwendig, wenn man die
Vermiſchung der einfachen Verhaͤltniſſe m, n und
Theile b, β nicht unterſcheiden kann, und noch leich-
ter geſchieht es, wenn nur m und b in die Augen
faͤllt, oder der aͤußerliche Schein die Theile confun-
dirt, ſo daß man ſie, wie bey den weißen Lichtſtralen,
die Farbichten, daraus ſie zuſammengeſetzt ſind, ohne
beſondere Aufmerkſamkeit und Kunſtgriffe nicht un-
terſcheiden kann.


§. 454.


Soll nun in dem erſt angefuͤhrten Falle, das
Wort
M,welches die VerhaͤltnißA : Bvor-
ſtellet,
[75]Verhaͤltniſſe.
ſtellet, definirt werden, ſo kommen dabey leicht
einige Verwirrungen vor.
Z. E. Man ſieht et-
wann, daß in der Definition die einfachen Verhaͤlt-
niſſe m, n vorkommen muͤſſen, weil man ſie uͤber-
haupt in A : B bemerket. Sieht man aber die Un-
gleichartigkeit der Theile b, β nicht ein, oder man
bemerket nicht, daß m nur mit b, und n nur mit β
verbunden werden muͤſſe, ſo wird man leicht verlei-
tet, M = mn zu ſetzen, und dadurch ſtatt einer Di-
menſion zwo heraus zu bringen. Die Difinition
muͤßte aber mb + nβ ſeyn, und kann daher ohne
die beſondere Vorzaͤhlung der ungleichartigen Theile
b, β nicht richtig gemacht werden. Da man aber
das Wort M allerdings als einen abgekuͤrzten Aus-
druck gebrauchen kann, ſo laͤßt ſich uͤberhaupt die Ver-
haͤltniß A : B dadurch vorſtellen. Es zeiget im Gan-
zen die Summe der Veraͤnderungen an, die mit B
muͤſſen entweder in der That oder in Gedanken vor-
genommen werden, wenn A heraus kommen ſoll, und
mb + nβ iſt die Sacherklaͤrung von M, weil da-
durch die Entſtehensart von A vollſtaͤndig und theils-
weiſe angezeiget wird. Man ſieht auch leicht, daß
man, dem Worte nach,A durch MB erklaͤren
kann. Wollte man aber hieraus ſchließen, daß A
deſto groͤßer ſey, je groͤßer M und je groͤßer B iſt, ſo
waͤre dieſes gar nicht mathematiſch, ſondern in der
That unrichtig. Und eben ſo unrichtig wuͤrde man
die Groͤße von M nach der Groͤße von mn ſchaͤtzen,
weil M nicht = mn iſt. Hingegen iſt die wahre
Groͤße von A = mb + nβ, und zwar der Jntenſitaͤt
und der Ausdehnung nach zugleich. Der Ausdeh-
nung nach wuͤrde A = a + b und folglich = B ſeyn.
Hieraus kann ſich nun die Groͤße von M ergeben, ſo
fern man M = A : B auch der Groͤße nach ſchaͤtzet.
Denn
[76]XIV. Hauptſtuͤck.
Denn ſo wird man M = (mb + nβ) : (b + β)
finden. Es geht aber auch dieſes nur an, ſo fern
b und β der Ungleichartigkeit ungeachtet auf einerley
Maaßſtab gebracht werden kann. Denn wo dieſes
nicht iſt, da iſt der Ausdruck M ſchlechthin ſymboliſch.


§. 455.


Von ſolchen Ausdruͤcken kommen in der Sprache
eine Menge vor, und es laͤßt ſich auch aus der Ent-
ſtehensart der Sprachen leicht begreifen, weil die er-
ſten Urheber der Sprache anfangen mußten, ſolche
Ganze zu benennen, die vorgezeiget werden konnten.
Auf dieſe Art wurden nicht einfache, ſondern ganze
Summen von Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten,
und ſo auch ganze Summen von Veraͤnderungen mit
einem Worte benennet. Und nachdem einmal die
erſte Anlage von ſolchen unmittelbaren Benennungen
da war, ſo fieng man an, dieſelbe metaphoriſch und
tranſcendent zu machen, ohne ſo genau beſtimmen zu
koͤnnen, wie weit ſich das tertium comparationis er-
ſtrecket. Die Regel, a potiori fit denominatio, iſt
in der Sprache bald durchgaͤngig, weil auch die ab-
geleiteten und zuſammengeſetzten Woͤrter die Sache
mehrentheils nur von einer gewiſſen Seite betrachtet,
benennen, (Semiot. §. 264.). Dazu koͤmmt noch,
daß wenn mehrere einfachere Empfindungen zuſam-
menfließen, das Bild der ganzen Empfindung oͤfters
ganz einfach ſcheint. Denn ſo ſcheint die weiße Farbe
ſo einfach zu ſeyn, als jede andere, ungeachtet ſie
aus denſelben zuſammengeſetzt iſt. Dieſes alles aber
vergroͤßert die Schwierigkeit, in ſolchen vermiſchten
Vorſtellungen die einfachen Beſtimmungen, und die
Theile, worinn ſie vorkommen, aus einander zu leſen.
Bis dahin bleibt allemal die Moͤglichkeit der Aus-
meſſung
[77]Verhaͤltniſſe.
meſſung zuruͤcke, und man kann daher richtig den
Schluß machen, daß ſo ſchoͤn ein Syſtem von me-
taphyſiſchen Definitionen zu ſeyn ſcheint, noch
nothwendig Vermiſchung und Verwirrung
darinn ſeyn muͤſſe, wenn die einfachen Beſtim-
mungen, und wie weit jede ſich erſtrecket, nicht
ſo angegeben ſind, daß die Ausmeſſung nach
jeden Dimenſionen und Theilen vorgenommen
werden koͤnne.
Denn bis dahin hat man anſtatt
mb + nβ nur noch M, oder mn, oder m + n ꝛc.
(§. 454.). Es iſt demnach in einem viel nachdruͤck-
lichern Verſtande wahr, wenn Wolf die mathema-
tiſche Erkenntniß uͤber die hiſtoriſche und philoſophi-
ſche hinaus ſetzet. Denn die Philoſophiſche hat noth-
wendig noch Verwirrung, wenn ſie nicht jede Be-
ſtimmungen, die ein Mathematiker, als Dimenſio-
nen zu gebrauchen hat, entwickelt, und ausfuͤhrlich
aus einander ſetzet. Die philoſophiſche Erkennt-
niß wird demnach bey der mathematiſchen
nicht nur vorausgeſetzt, ſondern dieſe dienet
gleichſam zur Pruͤfung, wie fern jene richtig
und vollſtaͤndig iſt, und in der Naturlehre
dienet ſie nicht ſelten, dem Philoſophen anzu-
zeigen, welche einfache Beſtimmungen er auf-
zuſuchen habe, weil man dieſe, als Dimenſio-
nen betrachtet, leichter finden kann.
Die Lehre
von der Schwere der Koͤrper mag zum Beyſpiele die-
nen. Der Philoſoph weiß kaum, was er zum Be-
hufe ihrer Theorie zu ſuchen hat. Der Mathemati-
ker hingegen vergleichet den im Fallen durchlaufenen
Raum mit der Zeit und Geſchwindigkeit, und findet
die Verhaͤltniſſe zwiſchen dieſen drey Dimenſionen
einerley und in freyem Raume von der Groͤße und
dem Gewichte der Koͤrper unabhaͤngig, und dadurch
zeiget
[78]XIV. Hauptſtuͤck.
zeiget er dem Philoſophen naͤher an, wie ſeine Theorie
von der Urſache der Schwere ausſehen ſoll, weil er
ihm Saͤtze angiebt, die daraus folgen muͤſſen, wenn
ſie richtig ſeyn ſoll. Die Keplerſchen Geſetze von
der Bewegung der Planeten ſind auf eben die Art
der Probierſtein der Theorien geweſen, die man bisher
ausgedacht hat, den Mechaniſmus dabey zu erklaͤren.


§. 456.


Die erſt betrachtete Moͤglichkeit, Begriffe
zu benennen, in welchen die Theile und ihre
Beſtimmungen vermengt ſind, dehnt die darinn
liegende Verwirrung ebenfalls auf die Saͤtze
aus.
Denn ſo wird man in dem vorhin (§. 453. ſeqq.)
angefuͤhrten Falle, aus A : B = M, leicht A = MB
machen, und daher die beyden Saͤtze folgern: AiſtB,
und AiſtM. Jn dem erſten dieſer Saͤtze wird das
Praͤdicat B, in dem andern aber das Praͤdicat M,
gleichfoͤrmig auf das ganze Subject A ausgedehnt
(§. 242.), da doch eigentlich nur a = mb, und α = nβ
iſt, und weder von a, noch nb von α bejaht wer-
den kann. Es gebraucht auch oͤfters ein feineres Ge-
fuͤhl (Dianoiol. §. 620. ſeqq.), um ſolche Diſſonanzen
genau zu empfinden, und von dem Richtigen und mit
der Wahrheit Harmonirenden (Alethiol. §. 179. ſeqq.)
zu trennen. Denn wenn man ſolche Saͤtze in das
Reine bringen will, ſo kann man ſie nicht, ſo wie ſie
ſind, beybehalten, ſondern man muß mehrere ein-
zelne daraus machen, und ſie ſtuͤckweiſe vortragen,
(§. 242. N°. 4.).


§. 457.


Es zieht aber die Bedingung, daß das Praͤdicat
ſich gleichfoͤrmig auf das ganze Subject ausbreiten
muͤſſe,
[79]Verhaͤltniſſe.
muͤſſe, wenn anders der Satz genau, richtig und
ohne Verwirrung ſeyn ſoll, verſchiedene Erforderniſſe
ſowohl des Subjectes als des Praͤdicates nach ſich.
1°. Stellet das Subject ein zuſammengeſetztes Ding
vor, ſo muͤſſen jede ſeiner Theile, wenigſtens in Ab-
ſicht auf das Praͤdicat, eine durchgaͤngige Gleichar-
tigkeit haben, (§. 141. N°. 5.). 2°. Kann das Praͤdicat
aus dieſem Grunde nicht M oder = (mb + nβ) : (b + β)
ſeyn, weil dieſer Ausdruck ſchlechthin nur ſymboliſch
iſt, (§. 453.). 3°. Demnach iſt das Praͤdicat ent-
weder ein einfacher Beſtimmungsbegriff m, oder aus
ſolchen zuſammengeſetzet, deren jeder ſich gleichfoͤrmig
auf das ganze Subject ausbreitet.


§. 458.


Man kann hieraus ohne Muͤhe ſehen, warum
man in der Mathematic ſo ſehr auf die Homo-
geneitaͤt oder Gleichartigkeit ſieht, und wo
etwas Ungleichartiges vorkoͤmmt, dieſes durch
ſchickliche Verhaͤltniſſe ſo gleich auf die Gleich-
artigkeit zu reduciren ſucht.
Man ſieht aber auch
zugleich hieraus, daß nicht nur die mathemati-
ſche, ſondern auch die logiſche und metaphy-
ſiſche Genauigkeit dieſes Verfahren erfordert.

Und in der That kann man keinen Grund angeben,
warum ein Metaphyſiker bey der Verwirrung ſoll
ſtehen bleiben, die ein Mathematiker zu heben ſuchen
muß, wenn er die ſo ſehr geruͤhmte Genauigkeit und
Schaͤrfe ſeiner Wiſſenſchaft erreichen will. So z. E.
wenn derſelbe einen Satz von der Art: AiſtM, vor
ſich hat (§. 456.), und er ſetzet ſich vor, zu beſtimmen,
wie ſich die Groͤße und Grade von A nach der Groͤße
und den Graden von M richten: ſo iſt ſeine erſte Be-
muͤhung, die Gleichartigkeit von A und M aufzuſu-
chen.
[80]XIV. Hauptſtuͤck.
chen. Bey genauerer Betrachtung findet es ſich,
daß nicht alles, was ihm der Begriff M vorſtellet,
durchaus in A vorkomme, ſondern, daß man ſtatt A
die Theile b, β, und ſtatt M, die Beſtimmungen m, n
nehmen, und A = mb + nβ = a + α ſetzen muͤſſe.
Bey allem dieſem thut er nichts anders, als daß er
nach der Regel verfaͤhrt, das Praͤdicat muͤſſe
ſich gleichfoͤrmig uͤber das Subject ausbreiten

(§. 242.), und wo dieſes ſich nicht findet, muͤſſe die
Sache genauer aus einander geleſen, und ſtatt des
Praͤdicats M, welches etwas Verwirrtes enthalte,
die einfachen Beſtimmungen und Theile mb + nβ
genommen werden.


§. 459.


Breitet ſich aber das Praͤdicat wirklich ganz uͤber
das Subject aus, ſo iſt es, wie wir erſt angemerket
haben (§. 457.), entweder an ſich ein einfacher Be-
ſtimmungsbegriff, welcher demnach nur eine Dimen-
ſion hat, oder es iſt aus mehreren einfachen Beſtim-
mungsbegriffen, als aus eben ſo vielen Dimenſio-
nen, verbunden. Nach der Anzahl dieſer ein-
fachen Beſtimmungsbegriffe wird uͤberhaupt
die Groͤße des Praͤdicates geſchaͤtzet, wenn ſie
nur extenſive genommen wird. Denn die wahre
Groͤße iſt in jedem Falle das Product aus den
Graden, die jede dieſer einfachen Beſtimmun-
gen hat.
Wir machen hier dieſe Anmerkung zum
Behufe der Berechnung der Wahrſcheinlichkeit, (Phaͤ-
nomenol. §. 162. 191.). Man ſetze, das Praͤdicat D
ſey = NP, und N = mn, P = qpr, ſo daß mnpqr = D
und wirklich einfache Beſtimmungen ſeyn, ſo iſt
N = ⅖D, und P = ⅗D. Weiß man nun von dem
Subjecte A nur noch, daß es N ſey, ohne weder fuͤr
noch
[81]Verhaͤltniſſe.
noch wider P etwas zu wiſſen, ſo wird man ſagen
koͤnnen, A ſey ⅖ D. Und auf dieſe Art werden die
von dem Praͤdicate herruͤhrende Grade der Wahr-
ſcheinlichkeit berechnet, welche wir in angezogenem
§. 191. der Phaͤnomenologie als bekannt vorausgeſetzet
haben. Man ſieht zugleich hieraus, daß auch bey
der Berechnung des Grades der Wahrſcheinlichkeit
die Bedingung von der Gleichartigkeit des Subjectes
vorausgeſetzet wird, wenn dieſe Berechnung genau
und ohne Verwirrung ſeyn ſoll. Man wird dieſes
ebenfalls fuͤr den §. 162. und §. 167. der Phaͤnomeno-
logie finden. Denn ſoll, um bey dem hier gegebenen
Beyſpiele zu bleiben, der Satz: AiſtD, aus ſeinen
Folgen bewieſen werden, ſo ſieht man leicht, daß es
genug iſt, wenn man findet, daß A ſowohl N als M
ſey, weil D = NM iſt, und folglich N und M das
Praͤdicat D ganz erſchoͤpfen.


§. 460.


Die Gleichartigkeit eines zuſammengeſetzten Din-
ges bezieht ſich ſowohl auf die einzelnen Theile, als
auf die Art ihrer Zuſammenſetzung. Es muͤſſen einer-
ley Theile und auf einerley Art zuſammengeſetzte ſeyn.
Demnach iſt bey gleichartigen zuſammengeſetzten Din-
gen, das gemeinſame Band (§. 220.), welches die-
ſelben in Verbindung erhaͤlt, durchgaͤngig einerley.
Jn der Natur koͤmmt eine ſolche abſolute Gleichartig-
keit ſelten oder gar nicht vor, und daher finden wir
nach aller Schaͤrfe genommen, wenige Praͤdicate,
die ſich gleichfoͤrmig auf das ganze Subject ausbrei-
ten, und diejenigen, die es etwann ſind, ſind es nur
in einer gewiſſen Abſicht, weil ſie ſich entweder mehr
auf die Theile ſelbſt, oder mehr auf ihre Zuſammen-
ſetzungsart beziehen. Z. E. die Theile ſind ſolid,
Lamb. Archit.II.B. Fſchwer,
[82]XIV. Hauptſtuͤck.
ſchwer, durch Kraͤfte verbunden ꝛc. Da aber die
Sprache, nach ihrer natuͤrlichen Entſtehensart, bey den
empfindbaren Dingen anfaͤngt (§. 117-125. Semiot.),
ſo iſt es ſich nicht zu verwundern, daß ihre meiſten
Woͤrter Begriffe vorſtellen, die man vorerſt ausein-
ander leſen muß, wenn die Erkenntniß wiſſenſchaftlich
werden ſoll, (§. 455. und Dianoiol. §. 617.).


§. 461.


Man ſieht aus dem bisher Geſagten, daß das
Hauptwerk, bey der Art, unſere Erkenntniß, Saͤtze
und Verhaͤltniſſe, genau, richtig und wiſſenſchaftlich
zu machen, auf die einfachen Beſtimmungen ankom-
me, weil die Gleichartigkeit der Subjecte dadurch
eroͤrtert wird, und weil man ſie eben dadurch, wenn
ſie ungleichartig ſind, in Theile zerfaͤllen, und der
Ungleichartigkeit ſowohl metaphyſiſch als mathema-
tiſch Rechnung tragen kann, und daß, wenn man es
ſo weit bringt, ſelbſt die Zeichnung ſowohl fuͤr die
philoſophiſche als fuͤr die mathematiſche Erkenntniß
der Sache einerley bleiben kann (§. 452. ſeqq.), und
letztere der erſtern zum Leitfaden und Probe diene,
(§. 455.).


§. 462.


Unter den Begriffen M = A : B kommen einige
vor, die ſehr allgemein ſind. Dahin rechnen wir die
Begriffe: Urſach, Wirkung, Mittel, Abſicht,
Grund, Art
und Gattung. Dabey laſſen ſich nun
nicht nur einzelne Proportionen, ſondern ganze Rei-
hen derſelben, oder Progreſſionen und Series re-
currentes
(§. 433. 332.) gedenken. Denn ſo kann A
die Urſache von B, B die Urſache von C, C die Urſache
von D ꝛc. ſeyn. Wenn man demnach die Urſache,
als
[83]Verhaͤltniſſe.
als einen Beſtimmungsbegriff betrachtet, u, die Wir-
kung w nennet, ſo hat man A = uB, B = uC, C = uD ꝛc.
folglich A = uB = u^2C = u^3D = ꝛc. B = uC = u^2D ꝛc.
C = uD ꝛc. und auf eine aͤhnliche Art D = wC = w^2B
= w^3A ꝛc. Auf eine aͤhnliche Art kann man durch u
den Begriff Mittel, durch wAbſicht, oder durch u
Grund, und durch w das Gegruͤndete verſtehen, und
man erlangt eben ſolche Progreſſionen. Eigentlich
aber druͤckt hiebey u die Verhaͤltniß u : w, und w die
Verhaͤltniß w : u aus, weil man ſagen kann, daß
ſich A zu B, wie u zu w verhalte. Sodann iſt auch
hiebey alles wiederum einfach. Denn ſonſten kann
Urſach und Wirkung, Mittel und Abſicht, Grund
und das Gegruͤndete vielfach und zuſammengeſetzt
ſeyn. Man wird auf eine aͤhnliche Art, wenn γ den
Begriff einer Gattung vorſtellet, durch , A\zeta2,
A\zeta^3 ꝛc. jede hoͤhere Gattung von A ausdruͤcken koͤn-
nen, und dieſes iſt mehrentheils determinirt. Hin-
gegen wenn man die niedrigern Arten von A auf dieſe
Art zeichnen will, ſo kann man ſie zwar durch A\gamma^-1,
A\gamma^-2, A\gamma^-3 ꝛc. ausdruͤcken, allein dadurch wird
nicht dieſe oder jene der niedrigern Arten, ſondern nur
die Stufe derſelben angezeiget, weil jede Gattung
mehrere Arten unter ſich hat. Haͤtten aber die Arten
einer Gattung unter ſich eine Rangordnung, ſo wuͤrde
man jede Art in jeder Ableitungslinie ebenfalls an-
zeigen koͤnnen, und die Zeichnung wuͤrde der Art, wie
wir die Zahlen zeichnen, aͤhnlich ſeyn koͤnnen. Denn
ſo waͤre z. E. 2, 1, A die zweyte Art der erſten Gat-
tung, die unter A gehoͤret ꝛc. Es iſt uͤberhaupt leicht
moͤglich, aus dieſer Vorſtellungsart allgemeine und
logiſche Regeln von den Verhaͤltniſſen der Begriffe
herzuleiten, dergleichen wir oben (§. 235.) vorgetra-
gen haben. Uebrigens, da die Arten durch Zuſetzun-
F 2gen
[84]XV. Hauptſtuͤck.
gen von Beſtimmungen entſtehen, ſo gilt auch davon,
was wir bisher von dieſen Beſtimmungen geſagt ha-
ben (§. 451. ſeqq.), und dieſes laͤßt ſich mit dem oben
ſchon (§. 197. 198.) Geſagten beſſer verbinden, weil
beydes auf die genaue und wiſſenſchaftliche Geſtalt
unſerer Erkenntniß geht.



Funfzehentes Hauptſtuͤck.
Der Zuſammenhang.


§. 463.


Wir koͤnnen nun nach der allgemeinen Betrach-
tung der Verhaͤltniſſe das beſonders vorneh-
men, was bey den realen Verhaͤltniſſen zum Grunde
liegt, und da bieten ſich die vorhin (§. 426.) ange-
zeigten Begriffe, der Verbindung, des Einfluſſes
und des Zuſammenhanges nebſt verſchiedenen mit
denſelben verwandten Begriffen an. Die Verbin-
dung
bezieht ſich mehr auf Dinge, die zugleich
ſind,
der Einfluß aber auf Dinge, die der Zeit
nach auf einander folgen,
der Zuſammenhang
aber ohne Unterſchied auf beydes, und nach jeden
Dimenſionen. Man hat daher das Allgemeine oder
das Gemeinſame der beyden erſtern dieſer Begriffe
in den letztern zuſammengenommen, und der Theorie
des Zuſammenhanges gleich im Anfange der Grund-
lehre und Metaphyſik eine Stelle gegeben, ſo daß ſie,
weil der Satz des zureichenden Grundes dabey vor-
kam, unmittelbar nach der Theorie des Moͤglichen
und des Widerſpruches folgte, (§. 75. 123.). Wir
haben bereits (§. 426.) angemerket, daß man die
Bedeu-
[85]Der Zuſammenhang.
Bedeutung dieſer Woͤrter nicht ſo genau nimmt.
Daher werden wir, wo Dauer und Ausdehnung zu
unterſcheiden iſt, den Unterſchied anzeigen.


§. 464.


Der Zuſammenhang ſetzet uͤberhaupt Kraͤfte
voraus, wodurch die Dinge verbunden ſind, und einen
Einfluß in einander haben. Wir koͤnnen daher nach
den drey verſchiedenen Arten der Kraͤfte auch den Zu-
ſammenhang in beſondere Arten eintheilen. 1°. Der
logiſche Zuſammenhang koͤmmt in dem Reiche der
Wahrheit vor, und die Merkmale und Beſchaffenheit
deſſelben haben wir in der Alethiologie, beſonders in
dem vierten Hauptſtuͤcke, entwickelt und kenntlich ge-
macht. Daß er ſich auf die Kraͤfte des Verſtandes
gruͤnde, erhellet aus dem §. 297. 229. wo wir die
Verhaͤltniſſe der logiſchen und metaphyſiſchen Wahr-
heit angezeiget haben. 2°. Der moraliſche Zuſam-
menhang
geht auf die Kraͤfte des Willens, auf wel-
chen die Vorſtellung des Guten einen Einfluß hat,
und welcher ſich zu Abſichten und Mitteln und deren
Gebrauch determinirt, beſonders aber ſo fern dadurch
das oben (§. 221. 424.) erwaͤhnte gemeinſame Band
bey mehrern denkenden und wallenden Weſen gewirkt
und bey Kraͤften erhalten wird. 3°. Der phyſiſche
Zuſammenhang
ruͤhrt von den bewegenden Kraͤften
her, ſo fern dadurch die Theile der Koͤrperwelt ver-
bunden werden, und einen Einfluß in einander haben.


§. 465.


So weit nun in den Dingen Zuſammenhang
iſt, gehoͤren ſie in dieſer Abſicht zuſammen,
und machen ein Ganzes aus,
welches nicht bloß
als eine arithmetiſche Summe von mehrern Einheiten,
F 3ſondern
[86]XV. Hauptſtuͤck.
ſondern als eine Summe von Theilen angeſehen wer-
den muß, die wegen des durchgaͤngigen und gemein-
ſamen Zuſammenhanges nicht getrennet werden koͤn-
nen, ohne daß ſie theils ſelbſt, theils in ihren Ver-
haͤltniſſen Veraͤnderungen litten. So weit demnach
der Zuſammenhang geht, muß man ſie zuſammen-
nehmen, und folglich als ein Ganzes anſehen, wel-
ches, ſo fern es nicht noch mit anderm in Zuſammen-
hange iſt, ſo ferne als fuͤr ſich beſtehend angeſehen
werden kann.


§. 466.


Wir koͤnnen nun auch umgekehrt ſagen, daß in
jedem realen Ganzen,
ſo fern wir dieſe naͤmlich
von einer bloß arithmetiſchen Summe von Theilen
oder Einheiten unterſcheiden, ein ſolcher durch-
gaͤngiger Zuſammenhang ſey.
Denn eben da-
durch wird ein Ganzes von Stuͤckwerken und von
einem Cahos unterſchieden. Was dabey der durch-
gaͤngige Zuſammenhang und das gemeinſame Band
ſagen will, wie fern dieſes einiger Veraͤnderungen
ungeachtet bleibe, wie es durch groͤßere Kraͤfte ge-
trennet werde, und dadurch das Ganze aufhoͤre, ein
Ganzes zu ſeyn ꝛc. haben wir oben (§. 220. 221.) be-
trachtet, und auf brauchbare Saͤtze gebracht.


§. 467.


Eben ſo koͤnnen wir aus dem §. 350. anmerken,
daß jedes Ding, ſo fern es ſoll koͤnnen exiſtiren,
und folglich fortdauern, und im Beharrungs-
ſtande bleiben, eine Anordnung der Theile, ein
gemeinſames Band und Zuſammenhang erfor-
dere, und daß dabey ein
Maximumvorkommen
muͤſſe.
Da auf dieſen Bedingungen die meta-
phyſiſche
[87]Der Zuſammenhang.
phyſiſche Wahrheit, Einheit und Guͤte beruht,
die wir in angezogenem §. 350. deutlicher beſtimmet
haben, ſo koͤnnen wir auch dieſen Zuſammenhang,
der bey einem Dinge nothwendig ſtatt haben muß,
wenn anders ſeine Exiſtenz ſoll moͤglich ſeyn koͤnnen,
einen metaphyſiſchen Zuſammenhang nennen.
Dieſer erſtreckt ſich demnach auf jedes, was, wenn
es exiſtirt, fuͤr ſich beſtehen kann. Da demnach die
Moͤglichkeit, exiſtiren zu koͤnnen, bey jedem Dinge,
dafern es ein reales Ding heißen ſoll, ſchlechthin er-
forderlich iſt (§. 297.), ſo koͤmmt dieſer metaphyſiſche
Zuſammenhang und das gemeinſame Band ebenfalls
ſchlechthin nothwendig dabey vor, und dieſes ſcheint
auch der Grund zu ſeyn, warum man in der Meta-
phyſic, wo man das allen Dingen Gemeinſame vor-
tragen wollte (§. 2. 3.), die Theorie dieſes Zuſam-
menhangs gleich anfangs vornahm, und die Defini-
tionen dazu einrichtete, (§. 42.).


§. 468.


Jn einem Ganzen, oder ſo weit in den Din-
gen der Zuſammenhang geht, gruͤndet ſich eines
auf das andere.
Dieſes will ſchlechthin nichts an-
ders ſagen, als daß eines das andere erfordere, vor-
ausſetze oder nach ſich ziehe, (§. 211. ſeqq. 229.). Die-
ſes hat nun nothwendig ſtatt, weil der Beharrungs-
ſtand ein genaues Ebenmaaß zwiſchen den Kraͤften
und den Theilen erfordert, (§. 350.). Wiefern nun
das, was man in einem Dinge das Weſen oder die
weſentlichen Stuͤcke nennet, der Anfang ſey, worauf
ſich das uͤbrige gruͤndet, oder wovon es abhaͤngt, ha-
ben wir bereits in angezogenem §. 229. angezeiget,
wo wir zugleich auch anmerkten, wie das, was nach
unſerer Art, ſolche Ganze auszuſinnen, willkuͤhrlich
F 4zu
[88]XV. Hauptſtuͤck.
zu ſeyn ſcheint, im Reiche der Wahrheit, wo alles,
als bereits auseinander geleſen und in Ordnung ge-
legt, betrachtet werden muß, aufhoͤret, willkuͤhrlich
zu ſcheinen.


§. 469.


Man hat aus dieſem, aber nicht genug entwickel-
ten Grunde, in der Metaphyſic mit der Theorie des
Zuſammenhanges auch die Theorie des Grundes und
des Gegruͤndeten gleich nach der Theorie des Moͤgli-
chen angefangen, und beſonders den Satz des zurei-
chenden Grundes dem Satze des Widerſpruches an
die Seite geſetzet, ſeit dem Leibnitz denſelben auf-
gebracht und gleichſam Mode gemacht hat. Den
Satz ſelbſt druͤckt man gemeiniglich ſo aus, daß
alles ſeinen zureichenden Grund habe,
oder daß
nichts ohne zureichenden Grund ſey.
Wir ha-
ben in der Alethiologie (§. 222. ſeqq.) angemerket,
daß das Wort Grund etwas Vieldeutiges habe,
daß, wenn man, in Abſicht auf die Kraͤfte des Ver-
ſtandes, Gruͤnde des Wahren dadurch verſteht,
die Gruͤndea priori von den Gruͤndena poſteriori
muͤſſen unterſchieden werden; daß was fuͤr ſich als
wahr erkennbar iſt, keines Grundes beduͤrfe; daß,
wenn nichts moͤgliches fuͤr ſich als wahr erkennbar
iſt, alles Moͤgliche nothwendig einen Grund haben
muͤſſe; daß wir von allem, was wir nicht fuͤr ſich als
wahr erkennen, befugt ſind, einen Grund zu fordern;
daß nothwendig etwas fuͤr ſich erkennbares zugegeben
werden muͤſſe, das keinen fernern Grund a priori
habe; daß aber, wenn man den Unterſchied der Gruͤn-
de a priori und a poſteriori weglaͤßt, man von allem
Moͤglichen vorwaͤrts oder ruͤckwaͤrts Gruͤnde finden
koͤnne ꝛc.


§. 470.
[89]Der Zuſammenhang.

§. 470.


Alles dieſes geht nun auf die ſogenannten Principia
cognoſcendi,
und in ſo ferne konnten wir es in der
Alethiologie aus einander ſetzen, weil die Art, wie
das Wahre zuſammenhaͤngt, in der Vernunftlehre
ſchon von des Ariſtoteles Zeiten an, deutlich ent-
wickelt iſt. Das metaphyſiſch Wahre geht nun
mit dem logiſch Wahren durchaus zu gleichen
Schritten, (§. 299. 302. 303.). Demnach werden
die aus der Alethiologie hier angefuͤhrten Saͤtze in Ab-
ſicht auf das metaphyſiſch Wahre oder Principia eſ-
ſendi
nicht verſchieden ſeyn koͤnnen. Wir haben in
dem Vorhergehenden Stoff dazu, daß wir dieſe Saͤtze
hier nur aus der logiſchen Sprache in die metaphy-
ſiſche uͤberſetzen duͤrfen. Es ſind folgende.


§. 471.


Wenn nichts Moͤgliches ſchlechthin durch
ſich exiſtiren kann, ſo kann jedes Moͤgliche des-
wegen exiſtiren, weil ein anderes vorexiſtirt, in
welchem es den Grund des Daſeynkoͤnnens
hat.
Man ſetze, es habe keinen ſolchen Grund. Da
es nun weder durch ſich noch durch etwas anders exi-
ſtiren kann, ſo kann es vollends gar nicht exiſtiren.
Demnach iſt es ſchlechthin nicht moͤglich, (§. 297.).
Da nun dieſes der Vorausſetzung zuwider, ſo muß
das Moͤgliche, das nicht durch ſich exiſtiren kann,
durch ein anderes exiſtiren koͤnnen.


§. 472.


Unter den Dingen, die zugleich exiſtiren,
exiſtirt wenigſtens eines ſchlechthin durch ſich
ſelbſt.
Man ſetze keines, ſo wird A durch B, B
durch C, C durch D ꝛc. exiſtiren, das will ſagen, ſein
F 5Prin-
[90]XV. Hauptſtuͤck.
Principium eſſendi und exiſtendi haben, welches noth-
wendig a priori iſt. Auf dieſe Art verfaͤllt man auf
eine dem Raume nach ausgedehnte Reihe von Din-
gen, ſo daß A ohne B, B ohne C, C ohne D ꝛc. nicht
exiſtiren kann. Soll nun dieſes unendlich fortgehen,
ſo koͤmmt dasjenige, ohne welches alles Glieder der
Reihe nicht exiſtiren koͤnnen, nirgends vor. Dem-
nach exiſtirt mit demſelben die ganze Reihe nicht. Da
nun dieſes der Vorausſetzung zuwider, ſo kann die
Reihe a priori nicht unendlich ſeyn. Demnach muß
das erſte, ohne welches A, B, C, D ꝛc. oder die uͤbri-
gen Glieder der Reihe nicht exiſtiren koͤnnen, noth-
wendig durch ſich exiſtiren.


§. 473.


Man traͤgt dieſen Satz ſonſt gemeiniglich ſo vor,
daß man die Dinge nicht zugleich, ſondern der Zeit
nach auf einander folgend betrachtet. Jch habe aber
von der Zeit abſtrahirt, um den Satz dem in der
Alethiologie (§. 236. b.) vorgetragenen durchaus aͤhn-
lich zu machen, und daher nicht die Prioritatem tem-
poris,
ſondern die Prioritatem rationis, wie ſie auch
bey den Wahrheiten vorkoͤmmt, zu gebrauchen. Man
koͤmmt aber ſowohl der Zeit als dem Raume nach im-
mer auf einen Anfang, und dadurch wird der zurei-
chende Grund ſowohl in Abſicht auf das Wahre, als
in Abſicht auf das Exiſtirende, ſo eingeſchraͤnkt, daß
man irgend aufhoͤren muß, nach fernern Gruͤnden
a priori zu fragen, und der Verſtand muß ſich bey
dem, was durch ſich ſelbſt oder ſchlechthin fuͤr ſich
exiſtirt, eben ſo wie bey dem beruhigen, was fuͤr ſich
gedenkbar iſt, (Alethiol. §. 237.). Man kann uͤbri-
gens den hier vorgetragenen Satz mit dem verglei-
chen, was wir oben (§. 299.), in Abſicht auf die
Noth-
[91]Der Zuſammenhang.
Nothwendigkeit eines durch ſich exiſtirenden denken-
den Weſens geſaget haben: ſo wird man finden, daß
ein Weſen exiſtire, ohne welches logiſche und meta-
phyſiſche Wahrheit ſchlechthin nichts waͤre.


§. 474.


Wir merken nun ferner an, daß die Art, wie wir
vorhin (§. 468.) herausgebracht haben, daß in einem
Ganzen ſich ein Theil auf den andern gruͤnden
muͤſſe,
zugleich anzeiget, wie es ſich darauf gruͤnde,
weil naͤmlich eines das andere erfordert, vorausſetzet,
oder nach ſich zieht, und weil dieſes nothwendig iſt,
ſo bald die Sache ein Ganzes ſeyn, und mit der Moͤg-
lichkeit zu exiſtiren die Moͤglichkeit zu dauern und im
Beharrungsſtande zu ſeyn, haben ſoll. Nun hat das,
was das uͤbrige erfordert und nach ſich zieht, oder
die weſentliche Stuͤcke, den Grund von dem uͤbrigen
in ſich, und dieſes ſetzet jenes voraus. Demnach
haben wir hier in Abſicht auf die Prioritaͤt der Gruͤn-
de allemal einen Anfang, und die Art, wie alles,
was dabey willkuͤhrlich ſcheinen kann, wegfalle, ha-
ben wir in dem §. 229. gewieſen.


§. 475.


Es iſt ferner der Satz des zureichenden Grundes,
auch wenn er uneingeſchraͤnkt waͤre, von keinem gro-
ßen und ſichern Gebrauche, zumal wenn man aus
dem Mangel des Grundes auf das Nicht - ſeyn
oder Unmoͤglich - ſeyn der Sache ſchließen will, weil
man dabey gar leicht verleitet wird, das Nicht -
finden
mit dem Nicht - daſeyn des Grundes zu
verwechſeln. Wo aber wirklich kein Grund iſt, da
faͤllt allerdings das Gegruͤndete, als ein correlatum,
weg.
[92]XV. Hauptſtuͤck.
weg. Man kann aber in dieſen Faͤllen allemal eine
andere Art zu ſchließen gebrauchen, welche ſich
ſchlechthin auf den Satz des Widerſpruches bezieht.
Um das Beyſpiel zu gebrauchen, von welchem Leib-
nitz
ſeinen Satz des zureichenden Grundes abſtrahirt
hat, ſo ſchließt Archimedes, daß eine Wage inn-
ſtehen muͤſſe, wenn ſie in beyden Wagſchalen mit
gleichen Gewichten beladen iſt, und zwar, weil kein
Grund da ſey, warum das eine Gewicht uͤberwiegen
ſollte. Dieſes will nun eigentlich ſo viel ſagen, daß
aus einerley Voͤrderſaͤtzen einerley Schlußſatz folge,
und daß, wenn in dem einen Schlußſatze mehr ſeyn
muͤßte, als in dem andern, nothwendig auch mehr
in ſeinen Vorderſaͤtzen ſeyn muͤßte. Denn die Kraft,
die jedes Gewicht gebraucht, ſeine Wagſchale her-
unter, und dadurch die andere herauf zu druͤcken,
eben dieſe Kraft gebraucht auch das andere Gewicht
gegen das erſte. Man gedenket demnach fuͤr jedes
Gewicht und fuͤr jede Wagſchale einerley, und was
auch immer daraus kann gefolgert werden, kann fuͤr
das eine weder mehr noch minder enthalten, als fuͤr
das andere, weil ſonſt aus einerley Vorderſaͤtzen A
und nicht - A folgen wuͤrde. Da nun hier der
Erfolg dieſer iſt, daß jedes Gewicht durch ſeinen
Druck den Druck des andern deſtruirt, oder zu
allem andern unwirkſam machet, weil eine Kraft
nicht doppelt angewandt werden kann, ſo erfolget kei-
ne Bewegung, und die Wage ſteht inne. Archime-
des
verſtund allem Anſehen nach ſo viel durch ſei-
nen Grund, daß wenn die eine Wagſchale herunter
gedruckt werden ſollte, noch ein Gewicht darinn ſeyn
muͤßte. Da aber kein ſolches darinn iſt, ſo erfolge
auch die Wirkung nicht, die es haben wuͤrde.


§. 476.
[93]Der Zuſammenhang.

§. 476.


Man kann dieſe Art zu ſchließen uͤberhaupt ſo vor-
ſtellen. Der Satz: Aiſt nichtB, ſey wahr, weil
in der That kein Grund da iſt, warum es B ſeyn
ſollte. Nun ſage ich, man koͤnne in dieſen Faͤllen
immer etwas in A finden, aus dem ſich ſchließen laͤßt,
daß A nicht B ſey, oder auch nicht B ſeyn koͤnne.
Erſteres geht an, wenn man findet, daß A, um B
zu ſeyn, C ſeyn muͤßte, und man weiß, daß es
nicht C iſt. Das andere, wenn man in A etwas
findet, welches das B ausſchleußt, oder mit B nicht
zugleich in A ſeyn kann. Jn dieſem Falle findet man,
daß A Nicht - B ſey, und dieſes kann immer ge-
funden werden, ſo oft A ein Indiuiduum iſt, (§. 261.
N°. 6. §. 262. N°. 1.).


§. 477.


Hinwiederum ſey der Satz: AiſtB, wahr, weil
in der That kein Grund da iſt, warum A nicht ſollte B
ſeyn: ſo werden wir leicht finden, daß, wenn hier
vom wirklichen oder poſitiven Seyn die Rede iſt,
A ein Indiuiduum ſeyn muͤſſe. Denn ein Indiuiduum,
welches nicht Nicht - B iſt, iſt eben dadurch an ſich
ſchon B, (§. 261. N°. 5.). Wenn aber vom Seyn
koͤnnen
die Rede iſt, ſo mag A ein allgemeiner Be-
griff ſeyn, denn ſo laͤßt ſich demſelben die Beſtim-
mung B zuſetzen, ſo bald in A nichts vorkoͤmmt, wel-
ches Nicht - B iſt, das will ſagen, dem B wider-
ſpricht, oder mit B nicht zugleich in A ſeyn kann.


§. 478.


Man ſieht nun leicht, daß in dieſen beyden Faͤllen
die Redensart, daß kein Grund da ſey, war-
um
ꝛc. eigentlich nur als ein abgekuͤrzter Ausdruck
ange-
[94]XV. Hauptſtuͤck.
angeſehen werden koͤnne, daß aber, was man da-
durch verſteht, immer muͤſſe bewieſen werden, und
daß der Unterſchied, den wir oben (§. 254-267.)
zwiſchen Indiuiduis und allgemeinen Begriffen ge-
macht haben, ſich hier nothwendig aͤußere und vor-
komme. Denn iſt A ein Indiuiduum, ſo iſt es durch-
aus beſtimmet, und es laſſen ſich demſelben keine
Beſtimmungen mehr zuſetzen, dafern nicht einige von
denen, die es hat, weggenommen werden, (§. 259.).
Wenn es demnach nicht B iſt, ſo hat es nothwendig ſol-
che Beſtimmungen, die mit B nicht zugleich ſeyn koͤn-
nen, und die demnach Nicht - B ſind. Jn dieſem
Falle kann man demnach nicht nur ſagen, es iſt kein
Grund da, warum A ſollte B ſeyn, ſondern viel po-
ſitiver, es ſind Gruͤnde da, warum es nicht B iſt,
und ſo lange es unveraͤndert bleiben ſoll, nicht B ſeyn
kann. Jm andern Falle, wenn ein Indiuiduum
wirklich B iſt, koͤmmt die Redensart, es iſt kein
Grund da, warum es nicht ſollte B ſeyn, nur als-
dann vor, wenn man nicht weiß, daß es B ſey.
Denn da muß man ſeine uͤbrigen Merkmale ſaͤmmt-
lich vor ſich haben, und B mit jedem derſelben und
mit allen zuſammen genommen vergleichen. Kann
man dieſe Abzaͤhlung und Vergleichung vollſtaͤndig
machen, ſo wird man nicht nur finden, daß B den
uͤbrigen Beſtimmungen nicht widerſpricht, und folg-
lich in der That kein Grund da ſey, warum es nicht
in dem Indiuiduo ſeyn ſollte, weil ein Indiuiduum
alle Beſtimmungen hat, die es zugleich haben kann:
ſondern man kann hiebey viel kuͤrzer gehen, weil in
dem Indiuiduo, wegen des durchgaͤngigen Zuſam-
menhanges und gemeinſamen Bandes, die Beſtim-
mung B nothwendig von den uͤbrigen Beſtimmungen
erfordert, vorausgeſetzt oder nach ſich gezogen wird,
(§. 468.).
[95]Der Zuſammenhang.
(§. 468.). Es ſind demnach auch in dieſem Falle
Gruͤnde da, warum A, B iſt. Jſt hingegen A ein
allgemeiner Begriff, ſo leidet derſelbe Beſtimmungen,
die er noch nicht hat, und hier iſt demnach nicht vom
Seyn und Nicht ſeyn, ſondern vom Seyn koͤn-
nen
und Nicht ſeyn koͤnnen die Rede, wenn man
von Gruͤnden reden will. Akann nichtBſeyn,
will in dieſem Falle ſagen, A hat bereits ſolche Merk-
male, die Nicht - B ſind, oder die B ſchlechthin
ausſchließen. Hinwiederum: AkannBſeyn, will
ſagen: Unter den Merkmalen, welche A bereits hat,
findet ſich keines, welches Nicht - B waͤre, oder
mit B nicht zugleich in A ſeyn koͤnnte. Demnach laͤßt
ſich die Beſtimmung B noch zuſetzen, und ſo wird
der Begriff A ſpecialer. Dieſes will nun uͤberhaupt
ſo viel ſagen: Was mit einander verbunden werden
kann, laͤßt ſich mit einander verbinden, und daran
hat noch niemand gezweifelt. Man ſieht demnach
hieraus, daß, wenn man finden will, ob wirklich
kein Grund da ſey, welcher B ausſchließe, die Sa-
che darauf ankomme, daß man die Merkmale des A,
die es bereits hat, abzaͤhle, und ſodann ſehe, ob
eines oder mehrere weggenommen werden muͤßten,
wenn man dem A die Beſtimmung B noch zuſetzet.
Findet ſich dieſes nicht, ſo kann B zugeſetzet werden.


§. 479.


Eben dieſes geht auch an, wenn man mehrere
Merkmale und Beſtimmungen willkuͤhrlich zuſam-
men nimmt, um zuſammengeſetzte zu bilden. Da
wir dieſes bereits oben (§. 229.) umſtaͤndlich ausge-
fuͤhret haben, ſo halten wir uns hier damit nicht auf.
Jndeſſen koͤnnen wir noch anmerken, daß die in vor-
hergehendem Hauptſtuͤcke vorgetragene Lehren von den
Propor-
[96]XV. Hauptſtuͤck.
Proportionen Anleitung zu ſolchen Zuſammenſetzun-
gen geben koͤnne. Denn ſo hatten wir (§. 443.)


A : B = C : D
mpa : mpb = npa : npb.


Weiß man hier, daß die drey erſten Glieder mpa,
mpb, npa
moͤgliche Begriffe ſind, ſo ſieht man, daß
in dem zweyten p mit b, in dem dritten p mit n ver-
bunden iſt, und man kann daraus folgern, daß die
Verbindung der drey Beſtimmungen npb, die wir
hier einfach und poſitiv ſetzen, im vierten Gliede
ebenfalls angehe.


§. 480.


Die Gruͤnde des Wahren beziehen ſich auf die
Kraͤfte des Verſtandes, die Gruͤnde des Seyns und
der Veraͤnderung auf die Kraͤfte, wodurch die Din-
ge zur Exiſtenz gebracht, exiſtirend erhalten, und
veraͤndert werden. Wir haben daher noch die mo-
raliſchen Gruͤnde,
welche ſich auf den Willen be-
ziehen, und beſonders Beweggruͤnde genennet wer-
den, zu betrachten. Dieſe machen ebenfalls eine
beſondere Claſſe aus, und beſtehen in dem Guten,
deſſen verſchiedene Arten wir oben (§. 110.) angezei-
get haben. Die Mittel und Abſichten, die ſich
hiebey gedenken laſſen, haben nun ebenfalls eine ge-
wiſſe Ordnung unter ſich, weil jede Abſicht als ein
Mittel, eine entferntere zu erhalten, angeſehen wer-
den kann. Man kann hiebey leicht eine gedoppelte
und einander ganz entgegengeſetzte Ordnung gedenken.
Denn in Anſehung des Vorſatzes gehen die Abſichten
den Mitteln vor, hingegen gehen dieſe vor, wenn ſie
zur Erreichung der Abſicht angewandt werden ſollen.
Dieſes Vorgehen bezieht ſich ſowohl auf die Mittel
und
[97]Der Zuſammenhang.
und Abſichten, die zugleich ſind, als auf die, welche
der Zeit nach auf einander folgen, (§. 345. ſeqq. 355.
363. 366.).


§. 481.


Ueberhaupt ſtehen die Kraͤfte zu denken, zu wir-
ken und zu wollen in genauer Verbindung, und eben
daher ſind auch die dabey vorkommenden drey Arten
der Gruͤnde mit einander verflochten. Die Vorſtel-
lung des Guten treibt den Willen an, und deſſen
Wirkung aͤußert ſich durch die Anwendung der Kraͤfte,
das vorgeſtellte Gute zu erhalten. Verſtand und
Willen tragen dazu bey, die Urſachen zu Mitteln,
und die Wirkungen zu Abſichten zu machen, und da-
durch das, was ſonſt ſchlechthin nur phyſiſch und me-
taphyſiſch waͤre, ins Moraliſche zu verwandeln. Hier
biethet ſich nun vielerley zu eroͤrtern an, welches wir
aus einander ſetzen wollen.


§. 482.


Einmal, ſo fern Mittel Urſachen ſind, enthalten
ſie den Grund zum Daſeyn deſſen, was die Abſicht
iſt, wenn ſie angewandt werden. Daher giebt es,
wie bey den Gruͤnden des Wahren und des Daſeyns,
bey den Mitteln ein Erſtes, oder ein Anfang, ſo viel
man auch der Zeit und der Ausdehnung nach zuſam-
mengeordnete gedenken will. Setzet man nun, daß
Mittel, das will ſagen, Dinge und Kraͤfte ſo zu-
ſammen geordnet werden, daß immer eines aus dem
andern folget, ſo entſteht eine Reihe von Mitteln
und Abſichten, die ins Unendliche fortgehen kann,
und da giebt es kein wirklich exiſtirendes Letztes. Jn-
deſſen, da die Reihe nach Geſetzen fortgeht, und jedes
Glied durch die vorhergehenden beſtimmet iſt, ſo iſt
Lamb. Archit.II.B. Ges
[98]XV. Hauptſtuͤck.
es an ſich moͤglich die Beſchaffenheit, und die Guͤte
eines jeden Gliedes, und die Summe von jeder be-
liebigen Anzahl zu beſtimmen. Hierinn giebt uns
nun die Algeber Beyſpiele, welche zeigen, daß un-
geachtet in unendlichen Reihen kein letztes Glied iſt,
dennoch dasjenige, welches das letzte ſeyn muͤßte,
gefunden, und zugleich die Summe der Reihe, auch
wenn ſie unendlich groß iſt, mit andern verglichen
werden kann, die von gleicher Dimenſion ſind. Hie-
bey kann man ſich nun die letzte Abſicht nicht anders,
als auf eine bloß ideale, oder nur auf eine ſymboli-
ſche Art vorſtellen, und man ſieht leicht, daß, wenn
derſelben allein zu Gefallen, die ganze Reihe ange-
ordnet waͤre, ſo daß jedes Glied nur als Mittel, nicht
aber fuͤr ſich ſchon als eine Abſicht angeſehen werden
muͤßte, die ganze Reihe fruchtlos ſeyn wuͤrde, weil
das letzte Glied niemals exiſtiren kann. Jſt aber
hingegen jedes Glied an ſich ſchon eine Abſicht, und
zugleich ein Mittel die folgenden Glieder zur Wirk-
lichkeit zu bringen, ſo iſt hier von einer letzten Ab-
ſicht nicht die Rede, ſondern es koͤmmt auf die Sum-
me aller einzeln Abſichten an, und dieſe beſteht in
der Summe des Guten, das in jedem Gliede der
Reihe iſt. Dieſe kann nun vermittelſt der Geſetze,
nach welchen jedes Glied durch die vorhergehenden
beſtimmet wird, auch bey Vorausſetzung der Unend-
lichkeit der Reihe und der Summe gefunden, und mit
jeden andern Arten von Reihen verglichen werden.


§. 483.


Es wird nun nicht ſchwer ſeyn, dieſes auf die
wirkliche Welt anzuwenden, wenn wir dieſelbe als
eine fortdauernde Wirkung aller goͤttlichen Vollkom-
menheiten zuſammen genommen betrachten. Der
Welt-
[99]Der Zuſammenhang.
Weltbau, als ein Ganzes betrachtet, muß an ſich
ſchon, wenn er ſoll exiſtiren und im Beharrungs-
ſtande bleiben koͤnnen, in ſeiner innern metaphyſi-
ſchen Guͤte, Ordnung, Zuſammenhang und Voll-
kommenheit ein Maximum haben, (350. 358. 368.
427.). Und eben ſo wird er auch dem goͤttlichen
Willen, der auf das Beſte geht, gemaͤß angenom-
men. Die Guͤte und Vollkommenheit in dem Ein-
fachen iſt die Realitaͤt, und dieſe iſt zugleich die erſte
Anlage zu jeden Vollkommenheiten im Zuſammen-
geſetzten, (§. 358.). So weit nun in dem Weltbaue
die goͤttlichen Vollkommenheiten thaͤtig wirken, iſt
die Wirkung Realitaͤt und Vollkommenheit. Dem-
nach iſt das metaphyſiſche Uebel, welches bey endli-
chen Dingen ſchlechthin in dem Mangel fernerer Rea-
litaͤt und Vollkommenheit beſteht, nur da, wo die
goͤttlichen Vollkommenheiten nicht wirken, und ſie
wirken da nicht, weil die Summe ihrer Wirkungen
jedesmal complet, und allem Anſehen nach, wegen
der Unveraͤnderlichkeit Gottes, beſtaͤndig gleich iſt.
Dieſes iſt auf die Frage zu antworten, warum in
jeden endlichen Dingen Unvollkommenheiten oder ein
Mangel mehrerer Vollkommenheiten zuruͤcke bleibt
und nicht gehoben wird. Jn die Berechnung der
Summe dieſer Wirkungen, und ob ſie jedesmal rich-
tig angebracht iſt, wird ſich wohl kein Sterblicher
einlaſſen. Man kann aber uͤberhaupt einſehen, daß
die Erforderniß des Beharrungsſtandes in den Thei-
len und im Ganzen, Maxima erfordert, daß dieſe
Summe fuͤr jedes Moment eine Abſicht, und die
Summe jeder Momente zugleich die Summe jeder
dieſer Abſichten ſey, und daß ſie, ungeachtet ſie
niemal complet wird, ſondern immer anwaͤchſt,
deſſen unerachtet mit aͤhnlichen Summen von je-
G 2den
[100]XV. Hauptſtuͤck.
den moͤglichen Welten verglichen werden koͤnne ꝛc.
(§. 482.).


§. 484.


Das Gute hat irgend einen Anfang, das
will ſagen, es giebt etwas, welches ſchlechthin
fuͤr ſich zu begehren iſt.
Hierinn iſt naͤmlich das
Gute dem Wahren aͤhnlich, als welches ebenfalls bey
dem fuͤr ſich gedenkbaren anfaͤngt, (§. 409.). Bey-
des wird auch auf eine aͤhnliche Art erwieſen. Denn
wenn A wegen B, B wegen C, C wegen D ꝛc. zu be-
gehren waͤre, und dieſes unendlich fortgehen ſollte,
ſo kaͤme das, was man eigentlich zu begehren haͤtte,
nirgends vor. Demnach muß irgend etwas fuͤr ſich
zu begehren ſeyn. Und dieſes iſt nun genau betrach-
tet die Realitaͤt, als die innere Guͤte des Einfachen,
und die erſte Anlage jeder zuſammengeſetzten realen
Ordnung und Vollkommenheit (§. 358.), auf welche
der Wille, wenn er von dem Verſtande geleitet wird,
eigentlich geht, (§. 110.). Bey uns finden ſich, wie
wir in erſt angefuͤhrtem §. 110. angemerket haben, noch
zween andere Triebe, und dieſe ſind in Abſicht auf
die Empfindungen das Angenehme und Schoͤne,
in Abſicht auf die Kraͤfte uͤberhaupt aber das
Leichte oder minder Muͤhſame. Doch ſind dieſe
Triebe allem Anſehen nach nur auf eine ſcheinbare
Art von dem erſtern verſchieden. Jn dem Angeneh-
men und Schoͤnen muß ſelbſt Realitaͤt und Dauer
ſeyn, wenn der ſinnliche Schein nicht taͤuſchen ſoll,
und das wahre Schoͤne iſt an ſich ſchon nur der
ſinnliche Abdruck der Vollkommenheit, die dabey
zum Grunde liegen muß. Das Leichte oder das
weniger Muͤhſame geht auf die Erſparung der
Kraͤfte und des Soliden, und dieſes beydes iſt es
eigentlich, was die Realitaͤt ausmachet, (§. 358.).
Jn
[101]Der Zuſammenhang.
Jn dieſer Abſicht betrachtet, haben wir demnach das
Muͤde werden, und die damit verbundene widri-
ge Empfindung,
als eine Anzeige anzuſehen, wo-
durch wir gleichſam erinnert werden, zwiſchen der
Realitaͤt, welche wir durch die Anwendung
der Kraͤfte zu erhalten ſuchen, und derjenigen,
die wir durch dieſe Anwendung verlieren, ein
ſolches Ebenmaaß zu beobachten, daß ein

Maximumheraus komme, und nur bey dieſem
hat der Beharrungsſtand ſtatt.
Unſere Kraͤfte
ſind ohnehin dazu eingerichtet, daß ſie um ſtaͤrker zu
werden und ſich in Fertigkeiten zu verwandeln, geuͤbet
werden muͤſſen, und daß ſie folglich ſowohl bey zu
wenigem, als bey zu vielem Gebrauche geringer ſind,
folglich auch in dieſer Abſicht ein Maximum dabey
vorkoͤmmt. (§. 110. Alethiol. §. 108. 109. Phaͤnome-
nolog. §. 131.).


§. 485.


Aus dem, daß das Gute einen Anfang hat, fol-
nun, daß man in Abſicht auf die Beweggruͤnde, eben
ſo, wie in Abſicht auf die beyden andern Arten von
Gruͤnden, keine Reihe gedenken koͤnne, da des Fra-
gens nach Gruͤnden kein Ende waͤre. Die Beurthei-
lung, ob in vorkommenden Faͤllen kein Beweggrund
da ſey, der den Willen lenke, und die Vorſichtigkeit,
das bloße Nicht finden mit dem Nicht da ſeyn
nicht zu verwechſeln (§. 475.), koͤmmt hier ebenfalls
vor, und zwar um deſto mehr, weil das Gute,
nicht wie das Wahre und die Exiſtenz, eine ab-
ſolute Einheit iſt, ſondern von 0 bis ins Unendliche
fortgehen kann, weil der Wille auf das beſſere geht,
und weil bey uns die dunkeln Empfindungen und
Triebe eben ſo, und oͤfters noch ſtaͤrker, als die
G 3deut-
[102]XV. Hauptſtuͤck.
deutlichen auf den Willen wirken. Der Beweis,
ob ein Beweggrund da ſey, etwas zu begehren,
koͤmmt demnach nicht bloß darauf an, daß man zei-
ge, daß es Gut ſey, ſondern man muß auch ſehen,
ob nicht ſtatt deſſen ein anderes, das beſſer iſt, ge-
waͤhlet werden koͤnne. Sodann koͤmmt es wegen der
Schranken unſerer Kraͤfte hiebey nicht immer auf das
Begehren und Waͤhlen, ſondern auch auf die Moͤg-
lichkeit des Erreichens an, die man, um nicht, nach
der in ſolchen Faͤllen uͤblichen Redensart, Schloͤſſer
in die Luft zu bauen, allerdings mit in die Rechnung
ziehen muß. Dieſe Moͤglichkeit vorausgeſetzt, ſo
koͤmmt es auf das Uebergewicht der Beweggruͤnde
an, wo man ſich mehrere Gute von verſchiedenem
Grade vorſtellet. Die Zeit und Kraͤfte und uͤber-
haupt das Gute ſo man auf die Erreichung eines
andern Guten verwenden muß, und anderes, das
man dabey verſaͤumet, alles dieſes mit der ganzen
Summe des Guten ſo man hat, und zu erreichen
gedenket, und oͤfters ſelbſt auch mit der Lebenszeit
verglichen, machet die Rechnung, die hiebey vorzu-
nehmen waͤre, weitlaͤuftig und um deſto ſchwerer,
weil die Agathometrie noch faſt ganz aus unſerer Er-
kenntniß zuruͤck bleibt, und weil uͤberdieß die Unge-
wißheit des Zukuͤnftigen ſich noch mit einmenget, und
ſtatt genau erweisbarer Saͤtze nur wahrſcheinliche
giebt. Oefters auch, wo die Beweggruͤnde fuͤr und
wider einen Entſchluß des Willens, gleich ſtark ſind,
erfolget der Entſchluß gar nicht, oder, wenn er den-
noch erfolgen ſoll, ſo muß man auf Gerathewohl hin
waͤhlen, und den Erfolg erwarten. Aus eben die-
ſem Grunde iſt die Art, wie ein Richter das Wahre
zu ſuchen hat, von der Art, wie ein Weltweiſer daſ-
ſelbe ſuchen ſoll, merklich verſchieden. Dieſer kann
ſein
[103]Der Zuſammenhang.
ſein Urtheil aufſchieben, bis er es nach den ſtreng-
ſten Regeln findet. Jener hingegen muß kuͤrzer ver-
fahren, damit die Rechtsſtreitigkeiten zu Ende kom-
men, und jeder wiſſe, was er habe. Daher glaubet
er den Zeugen, wenn die Gegenpart nichts erhebli-
ches wider deren Aechtheit einzuwenden hat, und
laͤßt, was etwann dabey zuruͤcke bleibt, durch den
Eid ergaͤnzen. So kurz kann ein Weltweiſer nicht
verfahren.


§. 486.


Wenn die Mittel, die man, um ein Gutes zu er-
reichen, waͤhlet und anwendet, ganz unterlaſſen wuͤr-
den, wenn dieſe Abſicht wegfiele, ſo ſind es auch
ſchlechthin nur Mittel, und die ganze Anordnung
derſelben, ſo ſchicklich ſie an ſich auch ſeyn mag,
bringt nur eine einfache Vollkommenheit in dieſes
Syſtem. Dieſe wird demnach allerdings zuſammen-
geſetzt, wenn die Mittel ſelbſt auch Abſichten ſind,
ſo daß, wenn man damit auch nicht ganz ausreichen
kann, ſie dennoch fuͤr ſich ſchon ein Gegenſtand des
Willens ſeyn konnte, und eben ſo auch, wenn dieſe
Mittel zugleich zu Erreichung mehrerer Abſichten
dienen, die man ſodann gleichfalls wiederum als
Mittel gebrauchen kann. Da wir dieſes oben ſchon
bey der Lehre von der Ordnung und Vollkommenheit
betrachtet haben (§. 346. 363. 365. 366. 371.), ſo hal-
ten wir uns hier nicht laͤnger damit auf.


§. 487.


Die bisher (§. 469. ſeqq.) angebrachte Unterſchei-
dung und Eintheilung der Gruͤnde in Gruͤnde des
Wiſſens, des Wollens und des Koͤnnens er-
ſchoͤpfet die Vieldeutigkeit des Wortes noch nicht,
G 4weil
[104]XV. Hauptſtuͤck.
weil dieſe drey Arten von Gruͤnden immer beyſam-
men ſeyn koͤnnen, und eben dadurch leicht mit ein-
ander verwechſelt und vermenget werden. Die
Gruͤnde des Wollens und des Koͤnnens koͤnnen an
ſich als Gegenſtaͤnde des Verſtandes angeſehen wer-
den, und in ſo ferne verwandeln ſie ſich in Gruͤnde
des Wiſſens. Jch ſage: ſie verwandeln ſich,
weil wir ſtatt der Objecte die Begriffe, und ſtatt der
Wirkſamkeit, die in den Gruͤnden ſelbſt iſt, die Saͤ-
tze nehmen, die ſie uns anbiethen. Hinwiederum
koͤnnen die Gruͤnde des Wiſſens ſich in Gruͤnde des
Wollens und Koͤnnens verwandeln, ungefaͤhr ſo, wie
uͤberhaupt aus der Theorie die Praxis hergeleitet wer-
den kann. Die Verwandlung geht auch hiebey ſo
vor, daß wir uns von den Begriffen zu den Objecten
wenden. Dieſe Verwandlungen und die dabey leicht
entſtehenden Vermengungen der drey Arten von Gruͤn-
den ſind nun um deſto haͤufiger moͤglich, weil die dreyer-
ley Kraͤfte, worauf ſich dieſe Gruͤnde beziehen, an
ſich und uͤberhaupt betrachtet, von gleichem Umfange
ſind, (§. 243. 297. 303. 304. 358. 484.). Wir ſtellen
uns daher zuweilen die ganze Sache, zuweilen den
Theil der Sache, in welcher der Grund iſt, als den
Grund vor, es mag nun daraus erhellen, daß das
darauf gegruͤndete ſey, oder warum es ſey, oder
wie es darauf gegruͤndet ſey, davon herruͤhre, da-
durch veranlaſſet oder verurſachet, oder gewirket oder
auch gehindert, entkraͤftet, ꝛc. werde. Da wir uͤbri-
gens, ſo oft wir nach Gruͤnden fragen, wenn es
theoretiſch geſchieht, nach der Erkenntniß der Gruͤn-
de fragen, ſo laͤßt ſich der Grund in dieſer Abſicht
immer in Form eines oder mehrerer Saͤtze angeben,
welche den Grund, oder wenn mehrere ſind, die
Gruͤnde anzeigen, und von dem Beweiſe, den man
daruͤber
[105]Der Zuſammenhang.
daruͤber geben kann, unterſchieden werden muͤſſen.
Denn die Saͤtze geben den objectiven Grund in An-
ſehung der erſt angefuͤhrten Fragen an. Der Be-
weis aber geht darauf, daß es wirklich der Grund
ſey. Daher ſind die Gruͤnde, die in dem Beweiſe
vorkommen, immer Gruͤnde des Wiſſens, ſo wie
es auch das bekannte: Stat pro ratione voluntas, zu
verſtehen giebt. Dahingegen der Grund, den der
zu beweiſende Satz
anzeiget, ſowohl ein Grund
des Wiſſens
als des Wollens und des Koͤnnens
ſeyn kann. Jn der wirklichen Ausuͤbung hingegen
fragen wir nicht nach Gruͤnden, ſondern wir fragen
den Dingen nach, von welchen wir wiſſen, daß ſie
die Gruͤnde enthalten,
damit wir ſie gebrauchen
und anwenden koͤnnen. Man ſollte auch hieraus
ſchließen, daß das Wort Grund, wenn es nicht nach
ſeiner urſpruͤnglichen Bedeutung, wie z. E. in den
Ausdruͤcken der Grund des Meeres, Grund und Bo-
den ꝛc. ſondern abſtract genommen wird, immer theo-
retiſch vorkoͤmmt, und ſo wie das Wort ratio, raiſon,
wenn es ſo viel als Grund bedeutet, auf die Er-
kenntniß geht.


§. 488.


Wir wollen nun das vorhin (§. 475.) aus dem
Archimedes angefuͤhrte Beyſpiel mit dem erſtge-
ſagten vergleichen. Wenn beyde Wagſchalen mit
gleichen Gewichten beladen ſind, ſo ſteht die Wage
inne. Fragt man nun warum? ſo antwortet Archi-
medes,
es ſey kein Grund da, warum die eine Wag-
ſchale mehr als die andere niedergedruͤckt werden ſoll.
Hiebey iſt nun gar kein Zweifel, daß kein Grund
des Koͤnnens
da iſt, denn ſonſt muͤßten die Gewich-
ter ungleich ſeyn, welches der Vorausſetzung zuwider
G 5iſt,
[106]XV. Hauptſtuͤck.
iſt, oder gleiche Gewichter muͤßten ungleich ſeyn, wel-
ches an ſich ungereimt iſt. Demnach folgert Archi-
medes
mit Rechte, daß keine Bewegung erfolge,
weil keine erfolgen kann. Daß auch kein Grund
des Wiſſens
da ſey, haben wir oben (§. 475.) der-
geſtalt gezeiget, daß einerley Vorderſaͤtze einerley
Schlußſatz geben, und ſo wurde die Frage auf eine
ſchlechthin logiſche reducirt.


§. 489.


Nach den erſt angefuͤhrten Vieldeutigkeiten haben
wir noch eine andere, welche in der Vermengung der
Woͤrter Grund, Quelle, Urſache, Anfang, Ur-
ſprung,
Principium, primordium, Caput rei ꝛc. be-
ſtehen. Dieſe Woͤrter koͤnnen in der That zuweilen
fuͤr einander genommen werden, wo man naͤmlich
die Sache nur uͤberhaupt anzeiget, wo ſie Praͤdicate
ſind (§. 267.), und wo der Zuſammenhang der Rede
die Bedeutung vollends beſtimmet, (Alethiol. §. 156.
Semiot. §. 349. ſeqq.). So z. E. will Principium
contradictionis
ſo viel als der Grund oder der Grund-
ſatz des Widerſpruches ſagen. Jn dem Horaziſchen
Verſe
Scribendi recte ſapere eſt et principium et fons ()
kann durch Principium et fons, der Anfang und die
Quelle, die Grundlage, die erſte Anlage ꝛc. verſtan-
den werden. Um aber dieſe Verwirrung zu entwickeln,
merken wir an, daß dieſe Woͤrter hier ſaͤmmtlich in
diejenige Claſſe gehoͤren, die wir in dem §. 338. 343. u. f.
der Semiotic betrachtet haben. Sie ſind von der
Koͤrperwelt hergenommen und metaphoriſch gemacht.
Demnach wird ihre Bedeutung der Natur der Sache
und der Sprache am gemaͤßeſten beſtimmet, wenn
man
[107]Der Zuſammenhang.
man das tertium comparationis zum Grunde legt,
(§. 343. Semiot.). Der Anfang hat etwas Abſo-
lutes, er kann aber auch relativ genommen werden.
Die Quelle iſt der Anfang des Fluſſes, aber nicht
des Waſſers, welches aus derſelben fleußt, und ſich
in dem Fluſſe ſammelt. Die Quelle iſt eben ſo der
Urſprung des Fluſſes, und ſo bedeutet das Ablei-
tungstheilchen Ur immer etwas erſtes, wie das Prim
in primordium, principium ꝛc. Die Urſache wird
daher als die erſte, oder relativ, als die der Sache
vorgehende Sache genommen, welche nicht nach einer
bloß localen, ſondern nach einer geſetzlichen Ord-
nung auf dieſelbe folget (§. 327.), z. E. von derſelben
entſpringt, herruͤhrt, hervorgebracht, gewirket, ver-
aͤndert wird ꝛc. Die Quelle wird ferner nicht nur
ſchlechthin als der Anfang des Fluſſes betrachtet,
ſondern auch ſo fern ſie demſelben immer Waſſer giebt.
Dieſen Unterſchied ſcheint auch das erſt angefuͤhrte
Horaziſche Principium et fons anzuzeigen. Denn
ohne etwas zu verſtehen, koͤmmt man in der guten
Schreibart nicht einmal zum Anfange, und man
hat bald ausgeſchrieben, wenn man nichts mehr weiß,
wenn das Wiſſen, als die Quelle, aufhoͤret. Vom
Anfange, vom Principio, Primordio an kann etwas
fortgehen. Daß aber immer neues nachkomme,
muß eine Quelle,fons, ſeyn. Das Caput rei iſt
zuweilen das Weſentliche, die Hauptſache, zu-
weilen auch der Anfang,Principium, Summum ꝛc.
Wir werden nun dieſe Anmerkungen folgendermaßen
gebrauchen.


§. 490.


Man definirt das Principium in der Metaphyſic
durch dasjenige, was den Grund einer Sache enthaͤlt.
Nun
[108]XV. Hauptſtuͤck.
Nun haben wir vorhin (§. 487.) geſehen, daß man
bald die ganze Sache, bald den Theil, worinn uͤber-
haupt der Grund liegt, den Grund nenne, und da-
durch die Sache mit dem Grunde verwechſele. Die
Redensart: immer naͤher auf den eigentlichen
Grund kommen,
zeiget, daß man zuweilen an-
fangs nur uͤberhaupt ſuchet, wo der Grund iſt, und
ſodann ausſchließungsweiſe, das Bezirk, innert wel-
chem derſelbe zu finden iſt, immer naͤher einſchraͤnkt,
bis man endlich nichts mehr wegzulaſſen oder auszu-
ſchließen findet. So fern nun der Grund in ſeinen
Folgen ſich ausbreitet, kommt man auf dieſe Art
allerdings zu dem Anfange,Principium, und man
koͤmmt zur Quelle,fons, wenn immer neue Folgen
daraus entſpringen, oder wenn ſie fortdauernd ſind, oder
wenn ihre Moͤglichkeiten in das Unendliche gehen ꝛc.


§. 491.


Wir haben nun im Vorhergehenden (§. 469. 473.
484.) geſehen, daß die drey Arten von Gruͤnden des
Wiſſens, des Koͤnnens und des Wollens einen An-
fang
haben, und dieſen Anfang koͤnnen wir demnach
Principium nennen, ſo wie man in der Metaphyſic
bereits das Principium cognoſcendi und das Princi-
pium eſſendi
und fiendi ſo benennet hat. Das er-
ſtere koͤnnen wir den Anfang des Wiſſens nennen.
Das andere iſt der Anfang des Moͤglich ſeyns,
oder des metaphyſiſch Wahren, (§. 297.). Und
das dritte der Anfang des Wirklich ſeyns,
(§. 472. 473.). Dieſe beyden letztern koͤnnen gewiſſer-
maßen unterſchieden werden. Sie treffen aber ge-
nau zuſammen, (§. 299. 304.). Das Principium
volendi
oder den Anfang des Guten hat man allem
Anſehen nach aus der Metaphyſic in die Moral ver-
wieſen,
[109]Der Zuſammenhang.
wieſen, und folglich von den drey Arten von Kraͤften
nur zwo in der Grundlehre beybehalten, ungeachtet
ſie ſaͤmmtlich zu Paaren gehen (§. 487.), und folg-
lich, ſo fern man das Gemeinſame davon betrachtet,
ſaͤmmtlich mitgenommen werden ſollen.


§. 492.


Wie wir vorhin (§. 489.) angemerket haben, ſo
hat der Anfang etwas Abſolutes, er kann aber auch
relativ genommen werden. Der relative iſt nur in
Abſicht auf dasjenige ein Anfang, was auf denſelben
folgt, ungefaͤhr wie wir vorhin (§. cit.) ſagten, daß
die Quelle nur in Abſicht auf den Fluß, nicht aber
in Abſicht auf das Waſſer ſelbſt ein Anfang ſey. Die
Geſchichte beut uns, in Anſehung ihrer Epochen, aͤhn-
liche relative Anfaͤnge an, und wenn man eine Reihe
von Veraͤnderungen zuſammengenommen als ein Gan-
zes anſieht, das irgend ſeinen Anfang genommen, ſo
iſt der Anfang in dieſem Verſtande ebenfalls relativ.
So z. E. forſchet man dem Anfange einer Republik,
Monarchie, Empoͤrung, Aufruhr, Staatsveraͤnde-
rung ꝛc. nach. Man ſieht leicht, daß, wenn man
ſich hiebey nicht einen Grund vorſetzet, nach welchem
die Epoche beſtimmet werden ſoll, man immer bis
zum Anfange der Welt kommen kann, und daß man
den erſten oͤffentlichen Ausbruch, den erſten Vortrag,
den erſten Einfall, die erſte Veranlaſſung von den
Umſtaͤnden unterſcheiden muͤſſe, die unvermerkt dazu
den Weg bahnen, die Sache moͤglich machen, ſich
dazu anſchicken ꝛc. und die oͤfters nur von ſcharfſinni-
gern bemerket werden. Der Geſchichtſchreiber an ſich
betrachtet, geht nicht ſo weit hinauf. Sein Thun
iſt, zu erzaͤhlen, und nicht Schluͤſſe zu machen. Hin-
gegen macht der Staatsmann dieſe Schluͤſſe ſich zum
Haupt-
[110]XV. Hauptſtuͤck.
Hauptwerke, damit er ſo wenig, als moͤglich iſt, auf
den Erfolg muͤſſe ankommen laſſen, und in Zeiten
beytragen oder vorbeugen koͤnne. Seine Erkenntniß
ſoll nicht bloß hiſtoriſch, ſondern mehr wiſſenſchaftlich
ſeyn, (§. 610. Dianoiol.).


§. 493.


Dieſes Relative in den Anfaͤngen finden wir in
allen drey Arten von Zuſammenhange. Bey der An-
ordnung der Mittel und Abſichten iſt gewoͤhnlich eine,
die wir als die letzte anſehen, und deren zu Gefallen
die uͤbrigen gewaͤhlt und angeordnet werden. Bey
dieſer faͤngt der Entwurf an. Jn den Wiſſenſchaf-
ten ſuchen wir ebenfalls fuͤr jede, und oͤfters auch fuͤr
jeden Theil derſelben, einen Anfang feſt zu ſetzen,
und ſie daher auf ein Principium zu bringen, und
man ſieht es fuͤr einen Fehler und Mangel der Er-
kenntniß an, wenn ein Lehrgebaͤud nicht auf ein, ſon-
dern auf mehrere Principia gebauet iſt, die wir als
von einander unabhaͤngig annehmen, und jedes fuͤr
ſich zugeben muͤſſen. Denn haͤngen ſie von einander
ab, ſo iſt es ein Fehler, daß man dieſe Abhaͤnglichkeit
nicht zeiget, oder ein Mangel der Erkenntniß, wenn
man ſie nicht zeigen kann. Sind ſie aber in der That
von einander unabhaͤngig, ſo ſchließen wir dennoch,
daß man ein allgemeinerPrincipium muͤſſe finden
koͤnnen, von welchem ſie ſich, und vielleicht noch meh-
rere andere koͤnnten herleiten laſſen. Und dieſes hat
auch allen Anſchein der Richtigkeit. Denn da dieſe
mehrern Principia zu einem Lehrgebaͤude dienen, und
eben dieſe Einheit es zu einem Ganzen macht, das
ſich fuͤr ſich ſoll koͤnnen betrachten laſſen, ſo werden
ſie in demſelben mit einander combinirt und verfloch-
ten. Dieſes wuͤrde nun nicht angehen, wenn ſie nicht
bey-
[111]Der Zuſammenhang.
beyſammen ſeyn koͤnnten, und demnach etwas Ge-
meinſames
haͤtten, welches den Stoff zu dem er-
waͤhnten allgemeinern Principio hergaͤbe. So hat
ein Fluß mehrere und oͤfters in entlegenen Laͤndern
zerſtreuete Quellen, von welchen nicht eine der an-
dern Waſſer geben kann. Dagegen aber haben ſie
in der Art, wie ſie das Waſſer bekommen, und es
dem Fluſſe geben, etwas Allgemeines.


§. 494.


Man ſieht aber ſowohl aus dieſem tertio compara-
tionis,
als aus der Art, wie man ſich die Nothwen-
digkeit eines einigen Principii vorſtellet, daß man
bey zuſammengeſetzten Ganzen oder bey Syſtemen ſo-
wohl ein als mehrerePrincipia, Anfaͤnge und Quel-
len gedenken kann, je nachdem man die Sache ent-
weder in Abſicht auf ihre Theile oder in Abſicht auf
deren Verbindung betrachtet. Denn es koͤmmt
dabey die oben (§. 353. ſeq. 361. ſeqq.) angefuͤhrte
Verflechtung des Aehnlichen und Verſchiede-
nen vor,
wozu die erſte Anlage, wie wir ſie oben
(§. 155-160.) angegeben und in Tabellen vorgeſtellet
haben, und mit dieſer zugleich die erſte Anlage der
categoriſchen Nothwendigkeiten, poſitiven Moͤglich-
keiten, abſoluten und categoriſchen Widerſpruͤchen
(§. 275. N°. 8. §. 243. 250. ſeqq.) bereits in den ein-
fachen Begriffen vorkoͤmmt. Man ſtelle ſich das
ganze Reich der Wahrheiten, und dieſes iſt bey den
logiſchen, metaphyſiſchen und moraliſchen, ſo wie die
dazu gehoͤrenden Kraͤfte von gleichem Umfange, als
ein durch alle Theile verbundenes und zuſammenhaͤn-
gendes Ganzes vor, welches eben dadurch ein Maxi-
mum
hat, weil es muß ſeyn koͤnnen: ſo wird man
bey dem, was darinn verſchieden iſt, mehrere
Anfaͤnge
[112]XV. Hauptſtuͤck.
Anfaͤnge finden, hingegen wird man bey den Aehn-
lichkeiten,
die darinn ſind, und die das Verſchie-
dene in Verbindung bringen, immer auf einfachere
und allgemeinere, und eben daher endlich auf eins
kommen, welches man als das gemeinſame Band
des Ganzen anſehen kann. Man ſehe auch (§. 253.)
und (Alethiol. §. 176. 179. 181. 184. 185. 270. 267.).
Auf dieſe Art nun ſagt man, daß man eine Wiſſen-
ſchaft auf einen Grundſatz oder Principium bringe,
wenn man einen Satz findet, welcher zeiget, wie
die zu der Wiſſenſchaft gehoͤrenden und zu-
ſammengenommenen Grundbegriffe uͤberhaupt
und dergeſtalt mit einander verbunden ſind,
daß in jedem vorkommenden beſondern Falle
die ſpecialern Beſtimmungen, welche der eine
darinn hat oder erhaͤlt, durch die ſpecialern
Beſtimmungen, welche die uͤbrigen darinn ha-
ben (§. 194. Dianoiol. §. 81.), gefunden werden
koͤnnen.
Bey der Aufloͤſung dieſer an ſich logiſchen
Aufgabe wird vorausgeſetzet, die Grundbegriffe ſeyn
von einander verſchieden, und von ihren beſondern
Beſtimmungen abgeloͤſt; ſodann wird dabey erfor-
dert, daß ſie koͤnnen zuſammengenommen werden,
und daß man ſie alle, ſo viel ihrer zuſammengehoͤren,
habe, (§. 176. ſeqq. 184. ſeqq. 211. ſeqq. 229.). Jſt
dieſes, ſo koͤmmt ſodann die Frage darauf an, daß
man die Verhaͤltniß und Verbindung, die ſie ſo in
Abſtracto unter ſich haben, dergeſtalt ausdruͤcke, daß
ſie, wenn den zuſammengenommenen Grundbegriffen
ihre ſpecialeren Beſtimmungen wiederum zugeſetzet
werden, ebenfalls die ſpecialere Beſtimmung in den
Verhaͤltniſſen angebe, und zugleich diene, die Schran-
ken des Willkuͤhrlichen in der Zuſetzung der ſpecialen
Beſtimmungen zu zeigen, das will ſagen, wie ferne,
wenn
[113]Der Zuſammenhang.
wenn man eine oder einige derſelben willkuͤhrlich an-
nimmt, in Anſehung der uͤbrigen eine Auswahl bleibt,
(§. 13. 20.). Bey dieſen Erforderniſſen bleibt man
nun ſehr leicht zuruͤck, und dieſes macht, daß die
Principia, ſo man fuͤr dieſe oder jene Wiſſenſchaft
findet, mehrentheils nicht allgemein genug ſind, ſo
daß man entweder mehrere zuſammennehmen muß,
oder wenn man einige vergißt, Luͤcken zuruͤck bleiben,
wenn man die Sache nicht von allen Seiten betrachtet,
und die dazu gehoͤrenden Stuͤcke und Grundbegriffe
nicht alle aufſucht. Da indeſſen jedes Principium
reicht, ſo weit es reichen kann, das will ſagen, ſo
weit es Grundbegriffe verbindet, ſo dienet es wenig-
ſtens allemal zu einzelnen Theilen von Wiſſenſchaften,
(Dianoiol. §. 687.). Wir haben daher, was die
beſondern Theile der Grundlehre betrifft, gleich
anfangs dafuͤr geſorgt, (§. 70-75. §. 113-125. 161.).
Die Art, wie wir zu unſerer Erkenntniß und zu der
Sprache gelangen, machte, daß wir anfiengen, den
eigentlichen Stoff zur Grundlehre zu ſammeln, weil
dieſer immer zur Probe dienet, ob die Principia,
die man dabey fuͤr allgemein und durchgaͤngig ange-
ben will, eine ſolche Allgemeinheit wirklich haben?
(Dianoiol. §. 40. 619-633.).


§. 495.


Wir koͤnnen dieſen Betrachtungen noch folgende
beyfuͤgen. Man giebt in der Vernunftlehre an, daß
man einen Satz durch eine Schlußrede beweiſe, daß
die beyden Vorderſaͤtze dieſer Schlußreden wiederum
durch andere neue Schlußreden bewieſen werden muͤſ-
ſen, und daß man damit fortzufahren habe, bis man
auf erſte Grundſaͤtze koͤmmt, die keines fernern Be-
weiſes beduͤrfen. Hiebey nimmt nun die Anzahl der
Lamb. Archit.II.B. HGrund-
[114]XV. Hauptſtuͤck.
Grundſaͤtze, die man zu dem Beweiſe eines Satzes
gebraucht, mit der Anzahl der Schlußreden zu, ſo
daß z. E. zu ſieben Schlußreden acht Grundſaͤtze, zu
zwoͤlf Schlußreden dreyzehen Grundſaͤtze erfordert wer-
den, (Dianoiol. §. 317.). Und auf dieſe Art ſollte
man wohl nicht gedenken, daß eine Wiſſenſchaft, wor-
inn zuweilen lange Reihen von Schlußreden an ein-
ander gehaͤngt werden, ſich auf ein einiges Principium
gruͤnden ſollte. Und in der That kann dieſes Princi-
pium
nur einen Vorderſatz abgeben, und es laͤßt ſich
daher allerdings fragen, woher dann die uͤbrigen Vor-
derſaͤtze genommen, und wie ſie benennet werden muͤſ-
ſen? Hierauf kann man nun nicht anders antworten,
als das Principium betreffe nur die allgemeine Ver-
bindung der Grundbegriffe, und die uͤbrigen Vorder-
ſaͤtze kommen von der allgemeinen Moͤglichkeit her,
die Beſtimmungen, ſo die Grundbegriffe in jedem
Falle leiden, hinzuzuſetzen. Und dieſes iſt es eben,
was wir in vorhergehendem §. angefuͤhret haben.
Soll ein Principium allgemein ſeyn, und durch alle
Theile einer Wiſſenſchaft durchlaufen, ſo kann es
auch nur das betreffen, was allen zu der Wiſſenſchaft
gehoͤrenden Stuͤcken gemeinſam iſt. Das eigene von
jedem ruͤhrt daher nothwendig aus andern und zu-
gleich aus mehrern Quellen her, und beſteht in jeden
einzelnen Beſtimmungen, die dieſe Stuͤcke haben koͤn-
nen, und die in dem Principio noch unbeſtimmt ge-
laſſen, aber doch uͤberhaupt angegeben werden, da-
mit man in jedem beſondern Falle wiſſe, worauf man
zu ſehen habe.


§. 496.


Auf dieſe Art betrachtet geht demnach das Princi-
pium
auf das Allgemeine und Durchgaͤngige im
Zuſammenhange oder in der Verbindung der

Theile,
[115]Der Zuſammenhang.
Theile, und in ſo fern wird es oͤfters auch das erſte
Grundgeſetz
genennet, nach welchem ſich jede Theile
richten und beſtimmen, und aus welchem die ſpecia-
lern hergeleitet werden, wenn man die beſondern Be-
ſtimmungen mitnimmt, und das Principium darauf
anwendet. Die ganze Theorie faͤngt dabey an, wenn
ſie durchaus a priori ſeyn ſoll, ungeachtet wir, nach
unſerer Art zur Erkenntniß gelangen, anfangs immer
ſo weit a poſteriori gehen, bis wir das Principium
nicht nur gefunden, ſondern vornehmlich uns von deſ-
ſelben Allgemeinheit und durchgaͤngigen Anwendbar-
keit verſichert haben, (§. 494.). Uebrigens koͤnnen
wir noch folgende Anmerkung beyfuͤgen, welche von
dem Gebrauche zu reden hergenommen iſt. Jn der
Geometrie ſpricht man nicht von Principiis, ſondern
man nennet die Grundſaͤtze dieſer Wiſſenſchaft Axio-
mata.
Hingegen hat man bisher in der Metaphyſic
nur Principia, die Axiomata aber faſt gar nicht auf-
geſucht oder vorgenommen. Der Grund hievon iſt,
weil man ſich mehr an die Form als an die Materie
der metaphyſiſchen Erkenntniß hielte. Denn in der
That ſind die Axiomata von den Principiis, wie die
Materie von der Form oder die Theile des Ob-
jectes
von ihrer Verbindung und Zuſammenrich-
tung
verſchieden.


§. 497.


Wir werden nun zu den oben (§. 491.) angefuͤhrten
dreyen Anfaͤngen der Gruͤnde des Wiſſens, des Wol-
lens und des Koͤnnens zuruͤck kehren. Der Anfang
des Wiſſens iſt das fuͤr ſich Gedenkbare, und dem-
nach die einfachen Begriffe und ihre Beſtimmungen,
(§. 469.). Dieſe haben wir in den beyden Tabellen
(§. 157. 158.) dergeſtalt unter einander verglichen, daß
H 2wir
[116]XV. Hauptſtuͤck.
wir die Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten, die ſie
uns anbieten, ausfuͤhrlich anzeigten, und beſonders
haben wir das Solide dabey zum Grunde gelegt, weil
ſich die uͤbrigen einfachen Begriffe allemal auf dieſes
beziehen, und Beſtimmungen deſſelben ſind. Die
Gruͤnde des Koͤnnens ſetzen die Kraft und das Solide
voraus, (§. 298.). Und der Anfang des Guten und
folglich der Gruͤnde des Wollens iſt die Realitaͤt, und
daher, nur von einer andern Seite betrachtet, eben-
falls wiederum das Solide und die Kraͤfte, (§. 484.).
Demnach hat das Wiſſen, das Wollen und das Koͤn-
nen, im Grunde betrachtet, einerley erſten Anfang,
und laͤßt ſich in ſo fern auf ein gemeinſames Princi-
pium
reduciren, welches ſodann nach den verſchie-
denen Modificationen, Beſtimmungen und Verhaͤlt-
niſſen ſpecialer wird.


§. 498.


Wir koͤnnen uns dieſes ſo vorſtellen, daß erſtlich
ohne das Solide dieſe drey Arten von Kraͤften, da-
fern ſie nicht beſondere Subſtanzen ſind, nicht exiſtiren
noch exiſtiren koͤnnen, und folglich das Solide das
Subject derſelben iſt, in welchem ſie exiſtiren, oder
mit welchem ſie wenigſtens verbunden ſind. Sodann
haben dieſe drey Arten von Kraͤften ohne das Solide
ebenfalls kein Subject, in dem ſie ſich aͤußern koͤnnten.
Demnach iſt das Solide in dieſen beyden Abſichten
betrachtet, Subject und Object zugleich. Man ſetze
eine Subſtanz, die denke, wolle und koͤnne. So
fern dieſe ſich ſelbſt denkt, ſo fern ſie ſich als eine
Realitaͤt, und folglich als die Anlage des metaphyſi-
ſchen Guten und Vollkommenen (§. 484.) vorſtellet,
und durch ihre Kraft ſubſiſtirt; ſo fern iſt ſie ſich ſelbſt
ihr Object. So fern aber dieſes Denken, Wollen
und
[117]Der Zuſammenhang.
und Koͤnnen ſich außer ihr aͤußert, ſo fern ſind immer
andere Subſtanzen das Object. Dieſes nun mit
demjenigen verglichen, was wir in dem §. 472. und
§. 299. geſagt haben, und die Betrachtung von der
Einheit des erſten Principii noch mitgenommen, wird,
wo ich nicht ganz und gar irre, der aͤchte und wahre
Weg ſeyn, die einige und erſte Quelle, Grundlage
und Anfang aller drey Reiche der logiſchen, meta-
phyſiſchen und moraliſchen Wahrheiten, des Moͤgli-
chen, des Realen und des Wirklichen zu beſtimmen.


§. 499.


Soll man nun nach dieſer Anleitung ein wiſſen-
ſchaftliches Principium finden, welches in der abſolu-
teſten Allgemeinheit auf die drey Reiche der Wahr-
heiten gehe, und in denſelben durchgaͤngig und durch-
aus anwendbar ſey (§. 494.), ſo wird allem Anſehen
nach eine betraͤchtliche Erweiterung der Sprache dazu
erfordert, da wir ohnehin ſchon daran gewoͤhnt ſind,
die Woͤrter, welche auf dieſe drey Reiche zugleich
gehen, tranſcendent zu nennen. Es liegt nicht daran,
daß wir nicht ſchon mehrere Woͤrter haben, welche,
wenn man ſie in ihrem abſtracteſten und tranſcenden-
ten Verſtande nimmt, oder das tertium compara-
tionis
rein und genau beſtimmt beybehaͤlt, ſich auf
dieſe Art gebrauchen laſſen. Wir haben ſolche Aehn-
lichkeiten in dem Vorhergehenden ſchon haͤufig und
bey jedem Anlaſſe angezeiget. Es liegt auch nicht
daran, daß dieſe drey Reiche der Wahrheiten von un-
gleichem Umfange ſeyn ſollten. Sie treffen durch
alle Theile zuſammen. Daran aber fehlt es, daß
wir die Vergleichungsſtuͤcke weder alle, noch in be-
hoͤriger Ordnung haben, und ohne dieſes kann man
fuͤr die wahre und richtige Allgemeinheit eben nicht
H 3gut
[118]XV. Hauptſtuͤck.
gut ſtehen, (§. 494.). Sodann iſt es, wie wir ſchon
oͤfters erinnert haben, der Art der Sprache und un-
ſerer Erkenntniß angemeſſener, wenn wir bey der
Koͤrperwelt anfangen, und die tertia comparationis
darinn aufſuchen und feſt ſetzen. Dieſes iſt auch
groͤßtentheils der Weg, den wir hiebey genommen,
um wenigſtens die beſondern Stuͤcke zu ſammeln.
Und dabey haben wir die Aehnlichkeit der Koͤrperwelt
und der Jntellectualwelt, nicht nur in ſo fern ange-
zeiget, als wir ſie uns in Gedanken und Worten vor-
ſtelleten, ſondern die Aehnlichkeit des Eindruckes,
den ſie in uns machen, ſelbſt auch in dem Mecha-
niſmo des Gehirnes aufgeſucht, um auch von dieſer
Seite her noch anzuzeigen, wie fern wir etwann durch
naͤhere Anleitung zu der fernern Aufklaͤrung der Ver-
gleichungsſtuͤcke koͤnnten gefuͤhret werden. Die Sache
ſelbſt koͤmmt uͤberhaupt betrachtet nun darauf an.


§. 500.


Einmal wird, um ein ſo abſolut allgemeines Prin-
cipium
aufzuſuchen, das Solide, und zwar wie wir
vorhin (§. 497.) geſehen haben, in allen drey Reichen
der Wahrheiten, zum Grunde gelegt. Das erſte,
was wir nun demſelben entweder als eine Beſtim-
mung oder als eine beſondere Art von Subſtanz zu-
ſetzen koͤnnen, iſt die Kraft, im tranſcendenten Ver-
ſtande genommen, es moͤgen nun das Denken,
Wollen
und Koͤnnen wirklich verſchiedene Arten
oder nur beſondere Beſtimmungen oder auch nur Mo-
dificationen derſelben ſeyn, oder auch uns nur als drey
verſchiedene Geſtalten oder ſinnliche Bilder einer und
eben derſelben Kraft vorkommen. Wie nun das So-
lide das Subject dieſer Kraͤfte iſt, ſo iſt es auch
hinwiederum das Object derſelben. Sodann wird
das
[119]Der Zuſammenhang.
das Solide mit den uͤbrigen einfachen Begriffen ver-
glichen, als welche ſaͤmmtlich ſich auf daſſelbe bezie-
hen und Beſtimmungen davon ſind, (§. 157.). Die-
ſes geſchieht nun, um die tertia comparationis zu fin-
den, beſonders in Abſicht auf die Koͤrperwelt. Wel-
che Moͤglichkeiten nun dieſe Beſtimmungen nach den
oben (§. 77-103.) angegebenen Poſtulatis zulaſſen, die
werden auf das Solide bezogen. Hiebey koͤmmt nun
aber die Schwierigkeit vor, das tertium compara-
tionis
nicht nur zu finden, ſondern daſſelbe auch ſo
auszudruͤcken, daß es abſtract genug und verſtaͤndlich
ſey, und daß die beſondern Beſtimmungen, die es
in jedem der drey Reiche der Wahrheiten hat, leicht
beygefuͤget werden koͤnnen. Denn bey dem Abſtra-
hiren laͤßt man alles dieſes gewoͤhnlich ſo weg, daß
man es bald nicht mehr wiederfinden kann, (§. 194.).
Die Poſtulata ſind nun an ſich von der Art, daß ſie
allgemeine und unbedingte Moͤglichkeiten zu naͤhern
Beſtimmungen angeben, und dieſes iſt es eben, was
bey einem allgemeinen und durchgaͤngigen Principio
erfordert wird, (§. 494.). Da aber bey der Zuſam-
menſetzung von ſolchen Moͤglichkeiten Einſchraͤnkun-
gen vorkommen, ſo haben wir dieſelben bereits auch
bey den Grundſaͤtzen, ſo die einfachen Begriffe geben,
angezeiget, (§. 114.). Die einſchraͤnkende Grundſaͤtze
muͤſſen nun ebenfalls tranſcendent gemacht, und in
dem Principio mitgenommen werden, und dieſes ge-
ſchieht in Form von Bedingungen, die es in den Faͤl-
len, wo es angewandt wird, das will ſagen, in allen,
weil außer dieſen keine moͤglich bleiben, vorausſetzet.


§. 501.


Man wird aus dieſen Erforderniſſen leicht ſehen,
daß es mehrere Umſtaͤnde erfordert, wenn man ein
H 4ſo
[120]XV. Hauptſtuͤck.
ſo allgemeines Principium finden will, und warum
man ehender dergleichen fuͤr einzelne Theile der Er-
kenntniß findet. So z. E. hat man in der Mechanic
nur die Maſſe, Geſchwindigkeit, Zeit, Direction
und Kraft des Soliden in Vergleichung zu bringen,
und daher mag es leichter angehen, daß man ein
allgemeines Geſetz finde, vermittelſt deſſen man von
dieſen Stuͤcken eines durch die uͤbrigen in jedem Falle
und nach allen beſondern Beſtimmungen, die dieſe
haben koͤnnen, finden kann. Dieſes geht aber nur
noch auf die bewegende Kraft. Es ſoll aber auch
auf die Kraft zu denken und zu wollen (§. 409. 410.)
ausgedehnt werden. Hierinn aber bleiben wir theils
in Anſehung der Erkenntniß, theils auch vornehmlich
in Anſehung der Sprache zuruͤck. Man ſehe hier-
uͤber, was wir §. 454-461. in beyden Abſichten und
auch zum Behufe beſſerer Zeichen angemerket haben.


§. 502.


Jndeſſen hat man, wie wir oben (§. 239.) erwaͤhnt
haben, aller dieſer Schwierigkeiten ungeachtet, einen
erſten oberſten Grundſatz, ein allgemeines und durch-
gaͤngiges Principium der Erkenntniß in der Meta-
phyſic eingefuͤhret, und dieſes iſt der Satz des Wi-
derſpruches.
Nun iſt dieſer Satz die Graͤnzlinie,
wodurch das Wahre von dem bloß Symboliſchen ge-
trennet wird (§. 288. 297.), und in ſo fern allerdings
durchgaͤngig, weil jedes, was nicht in das Reich der
Wahrheit gehoͤret, daran erkennet und gepruͤfet wer-
den kann. Er ſchleußt aber auch nur aus, und die
poſitiven Moͤglichkeiten und Wahrheiten laſſen ſich
daran weder directe erkennen, noch vielweniger fuͤr jede
beſondere Faͤlle beſtimmen. Man ſehe (§. 19. 243.).
Wenn man daher den Satz des Widerſpruches den-
noch
[121]Der Zuſammenhang.
noch als ein Principium ausgeben will, ſo geſchieht
es in einer andern Bedeutung. Denn diejenige Be-
ſchaffenheit, die wir (§. 494-496.) zu einem wiſſen-
ſchaftlichen Principio erfordert, und (§. 501.) durch das
Beyſpiel der Mechanic erlaͤutert haben, ſieht ganz
anders aus. EinPrincipiumſoll die allgemeine
Art der Verbindung der Grundbegriffe der
Erkenntniß, oder auch einer beſondern Wiſ-
ſenſchaft ſo angeben, daß man ſie in jeden be-
ſondern Faͤllen leichte und ohne weiters finden
koͤnne,
und hiebey iſt alles poſitiv. Hingegen giebt
der Satz des Widerſpruches weder Grundbegriffe
noch Verbindung an, ſondern zeiget nur, daß wo
keine Verbindung ſeyn kann, das will ſagen, wo
ein Widerſpruch iſt, das, worinn der Widerſpruch
vorkoͤmmt, aus unſerer Erkenntniß wegbleibe. Die-
ſes iſt nun ohnehin ſchon nicht gedenkbar, ſondern
ſchlechthin nur ſymboliſch. Der Satz des Wider-
ſpruches iſt demnach nicht ſo faſt ein Principium der
Erkenntniß ſelbſt, ſondern vielmehr das Principium
der Probierkunſt der Erkenntniß, und zwar nur
des theoretiſchen Theils, der a priori geht. Denn
der andere Theil dieſer Probierkunſt beruhet auf der
Erfahrung. Er dienet auch aus eben dem Grunde
nicht bey directen, ſondern nur bey apogogiſchen Be-
weiſen, wenn man vermittelſt deſſelben nicht bloß
Jrrthuͤmer und Ungereimtheiten entdecken, ſondern
poſitive Wahrheiten herausbringen will. Man ſehe
auch §. 273.


§. 503.


Die ſpecialen Principia oder Geſetze (§. 496.) ge-
hen auf beſondere Syſtemen, ſo fern man ſie ohne
Ruͤckſicht auf ihre Verbindung mit andern, als fuͤr
H 5ſich
[122]XV. Hauptſtuͤck.
ſich beſtehend anſehen kann (§. 465.), und in dieſen
geben ſie die Art an, wie der Zuſammenhang in den
Theilen durchgaͤngig iſt, welche Veraͤnderungen in
den uͤbrigen Theilen, die, ſo in einem oder einigen
vorgeht, nach ſich ziehe, und hinwiederum, wie die
Beſtimmungen eines jeden Theiles ſich nach den Be-
ſtimmungen der uͤbrigen richten. Solche Principia
fuͤr beſondere Syſtemen laſſen ſich nun ſowohl a priori
aus ihrer Zuſammenſetzungsart, als a poſteriori
durch ſorgfaͤltigere Beobachtung ihrer Veraͤnderun-
gen finden. A priori betrachtet man jede einzele Ver-
bindung fuͤr ſich, um ſodann, nach dem man ihre Ge-
ſetze und Moͤglichkeiten beſtimmet hat, ſehen zu koͤn-
nen, wie fern bey der Zuſammenſetzung dieſer Ver-
bindungen, die Moͤglichkeiten eingeſchraͤnkt, und die
einfachen Geſetze ſelbſt, theils etwas veraͤndert, theils
zuſammengeſetzter werden. Auf dieſe Art unterſuchet
man in der Mechanic anfangs nur die einfoͤrmige
geradlinichte Bewegung, um Zeit, Raum und Ge-
ſchwindigkeit mit einander zu vergleichen, und die
Geſetze davon zu beſtimmen, auf welche man ſodann
die allerzuſammengeſetzteſten Bewegungen zu redu-
ciren ſuchet.


§. 504.


Hingegen, wenn die Anordnung der Theile des
Syſtems und die Art der Theile nicht bekannt iſt, ſo
faͤngt man bey der Beobachtung der Veraͤnderungen
an, und ſuchet ihre Aehnlichkeiten und Mannichfal-
tigkeiten zu entdecken, damit man aus jenen das All-
gemein in den Geſetzen der Verbindung, aus dieſen
aber die Anzahl und Verſchiedenheit dieſer Geſetze
finden koͤnne. Auf dieſe Art leget man der Natur
Fragen vor, wenn man Verſuche anſtellet. Da-
fern
[123]Der Zuſammenhang.
fern aber die Natur nur die Summe oder das Pro-
duct von mehrern einfachern Antworten angiebt, ſo
muß die Frage immer ſo eingerichtet und abgeaͤndert
werden, daß man nach und nach finde, wie ſich die
abgeaͤnderte Summe der einfachen Antworten nach
denen richte, die ſie ſtufenweiſe anders beantworten
muß. Auf dieſe Art ſind die Geſetze des Stoßes
und des Falles der Koͤrper gefunden worden. Und
die Aſtronomie giebt das vollſtaͤndigſte Beyſpiel, wie
man zu verfahren hat, wenn man jede einfache Ge-
ſetze eines Syſtems finden will, wo man die Veraͤn-
derungen, die in der Natur ſelbſt geſchehen, ſchlecht-
hin nur beobachten muß.



Sechzehentes Hauptſtuͤck.
Das Beſtimmen.


§. 505.


Was wir in dem vorhergehenden Hauptſtuͤcke be-
trachtet haben, betrifft diejenigen Begriffe,
welche das vorſtellen, was bey den realen Verhaͤlt-
niſſen in der Sache ſelbſt zum Grunde liegt, ſo fern
dieſe Verhaͤltniſſe auf den dabey wirkenden Kraͤften
beruhen, (§. 426.). Wir koͤnnen nun zu der Be-
trachtung derjenigen Begriffe fortſchreiten, welche
ſich auf die Art beziehen, wie die Kraͤfte angewandt
werden (§. 429.), und die wir bereits (§. 434. ſeqq.)
in ſo fern betrachtet haben, als die Verhaͤltniſſe die
dabey vorkommen, in Abſicht auf dieſelben von ver-
ſchiedener Art ſind. Der erſte dieſer Begriffe, der
ſich hier anbeut, iſt das Beſtimmen, welcher, un-
geachtet
[124]XVI. Hauptſtuͤck.
geachtet wir ihn in dem vorhergehenden fuͤr beſondere
Faͤlle ſchon haͤufig gebraucht haben, aus vielen Gruͤn-
den fuͤr ſich betrachtet werden ſoll, weil er ſowohl
in dem wiſſenſchaftlichen, als in dem characteriſtiſchen
Theile der Erkenntniß, einer der durchgaͤngigſten und
brauchbarſten Hauptbegriffe iſt.


§. 506.


Das Wort Beſtimmen beut uns, wie wir oben
(§. 429. 434.) angemerket haben, einige Vieldeutig-
keiten an, welche vornehmlich von der Vermengung
des Beſtimmens, des Beſtimmten und der Erkennt-
niß von beyden herruͤhren. Dieſe Stuͤcke ſind zwar
mehrentheils beyſammen, indeſſen ſollen ſie dennoch
von einander unterſchieden bleiben, weil auch bey uns
oͤfters eines ohne das andere iſt, oͤfters auch eines dem
andern vor- oder nachgeht. Wir werden demnach an-
fangen, die verſchiedenen Faͤlle, die hiebey vorkommen,
herzuſetzen.


  • 1°. Jn ſeiner urſpruͤnglichen Bedeutung ſcheint
    das Beſtimmen eine Handlung des Willens
    zu ſeyn, und ſo viel als beſchließen oder als
    ein Entſchluß zu bedeuten. Und da heißt es
    ſo viel als feſtſetzen, und in Abſicht auf die
    Sache, die man zu etwas beſtimmt, will
    es eben ſo viel als zu etwas widmen ſagen.
  • 2°. Das Determinare, welches durch beſtimmen
    uͤberſetzet wird, iſt von den Schranken herge-
    nommen, und will ſo viel ſagen, als Ziel und
    Schranken ſetzen, damit es dabey blei-
    be
    ꝛc.
  • 3°. Jn dieſer Bedeutung nehmen wir das Beſtim-
    men, wenn wir den Umfang eines Begriffes,
    die Bedeutung eines Wortes feſteſetzen.

4°. So
[125]Das Beſtimmen.
  • 4°. So fern wir die Begriffe nach den Sa-
    chen beſtimmen,
    thun wir eigentlich nichts
    anders, als daß wir die Beſtimmungen, die
    die Sache hat, finden, und den Begriff mit
    Bewußtſeyn nach denſelben richten.
  • 5°. So fern die Eigenſchaften und Grade, die eine
    Sache hat, anders ſeyn koͤnnen, und in andern
    Dingen anders ſind, ſo ferne ſehen wir ſie als
    Beſtimmungen an.
  • 6°. So fern wir das, was mehrere Dinge gemein
    haben zuſammen in einen allgemeinen Begriff
    nehmen, dem ſich folglich noch das in jedem
    dieſer Dinge eigenes beyſetzen laͤßt, ſo ferne
    nennen wir dieſes eigene Beſtimmungen, den
    allgemeinen Begriff aber ſehen wir als be-
    ſtimmbar,
    oder als noch mehrerer Beſtim-
    mungen faͤhig an.
  • 7°. So fern endlich bey mehrern Beſtimmungen
    eine die andere nach ſich zieht, erfordert, oder
    vorausſetzet: ſo ferne wird die Moͤglichkeit da-
    bey eingeſchraͤnket, und das Beſtimmen kann
    auch nicht weiter eine Handlung des Willens
    ſeyn, als dieſe Moͤglichkeit reichet.

§. 507.


Wir ſehen uͤberhaupt hieraus, daß bey dem Be-
ſtimmen die drey Gattungen von Kraͤften durch ein-
ander laufen, und folglich genauer unterſuchet wer-
den muͤſſe, wie ferne jede dabey vorkoͤmmt. Dahin
dienen nun folgende Saͤtze.


  • 1°. Das Beſtimmen ſetzet uͤberhaupt zweyerley
    Moͤglichkeiten voraus. Denn einmal muß die
    Sache, ſo wie man ſie beſtimmen will, ange-
    hen
    [126]XVI. Hauptſtuͤck.
    hen koͤnnen: ſodann muß ſie zugleich auch noch
    auf andere Arten koͤnnen beſtimmet werden.
    Das will nun ſagen: So, wie man die Sache
    beſtimmt haben will, muß ſie weder unmoͤglich
    noch an ſich nothwendig ſeyn.
  • 2°. Demnach muß ſowohl die Sache ſelbſt, als das
    Gegentheil moͤglich ſeyn, weil man ohne dieſes
    nichts zu beſtimmen hat.
  • 3°. Dem Beſtimmten wird ſowohl das Unbe-
    ſtimmte,
    als das auf eine andere Art Be-
    ſtimmte
    entgegengeſetzt, jedoch beydes in be-
    ſondern Abſichten.
  • 4°. Das Unbeſtimmte, es mag nun viel oder we-
    nig unbeſtimmt ſeyn, exiſtirt nicht, es mag
    nun nur noch die Beſtimmung der Exiſtenz, oder
    mit dieſer noch mehrere fehlen. Fehlet nur
    noch die Beſtimmung der Exiſtenz, ſo iſt das
    Beſtimmte ein Indiuiduum, welches noch im
    Reiche der metaphyſiſchen Wahrheit zuruͤcke
    bleibt, und dieſes kann mit dem Plane der
    wirklichen Welt ſo verflochten ſeyn, daß ehe es
    mit jeden ſeinen Beſtimmungen exiſtirt, noch
    andere Veraͤnderungen vorgehen muͤſſen, oder
    auch, daß es durch eine unmittelbare Schoͤ-
    pfung wirklich gemacht werde.
  • 5°. Fehlen aber außer der Exiſtenz noch mehrere Be-
    ſtimmungen, ſo ſind es wiederum entweder ſolche,
    die das Indiuiduum noch nicht hat, ſondern ſtatt
    derſelben andere hat, wenn es exiſtirt; oder es
    ſind ſolche, die das Unbeſtimmte im Reiche der
    logiſchen Wahrheit nicht hat, das will ſagen,
    es iſt nur ein allgemeiner Begriff, welchem
    ohne die uͤbrigen Beſtimmungen, die noch, um
    ihn
    [127]Das Beſtimmen.
    ihn individual zu machen, hinzu kommen muͤſ-
    ſen, die Moͤglichkeit zu exiſtiren fehlet.
  • 6°. Dieſe letzte Art von dem, was wir unbeſtimmt
    nennen, iſt daher (§. 164. 163.) ſchlechthin ideal
    und ſymboliſch, und in ſo fern bezieht ſich das
    Beſtimmen dabey allein auf die Kraͤfte des
    Verſtandes. Die Bedingungen dabey ſind die
    Gedenkbarkeit und das Nicht widerſprechen,
    (§. 288. 297.).
  • 7°. Dabey aber thut der Verſtand an ſich betrach-
    tet weiter nichts, als daß er die Beſtimmungen
    aufſuchet, die ſich zuſetzen laſſen, folglich nicht
    widerſprechend, ſondern gedenkbar ſind.
  • 8°. Wo aber von mehrern moͤglichen Beſtimmun-
    gen eine oder einige gewaͤhlet werden, da kom-
    men Abſichten und mit dieſen die Kraͤfte des
    Willens vor.
  • 9°. Wir haben eben dieſes von dem Beſtimmen
    im Reiche der Wirklichkeit anzumerken. Denn
    was man zu einer Abſicht beſtimmt oder widmet
    (§. 506. N°. 1.), das muß dazu tauglich ſeyn,
    und oͤfters noch tauglich gemacht werden. Hie-
    bey thut nun ebenfalls der Verſtand nichts an-
    ders, als daß er dieſe Moͤglichkeiten unterſu-
    chet, und falls ſie gefunden worden, angiebt.
    Zur wirklichen Ausfuͤhrung gehoͤrt ſodann Wol-
    len und Koͤnnen.
  • 10°. So fern das Beſtimmen, actiue genommen,
    von dem Willen abhaͤnget, ſcheint es etwas
    Willkuͤhrliches zu haben. Wie aber dieſes Will-
    kuͤhrliche in Abſicht auf das Reich der Wahr-
    heiten, wo alles nach allen Combinationen ſchon
    beſtimmt und in Ordnung gebracht iſt, weg-
    falle,
    [128]XVI. Hauptſtuͤck.
    falle, haben wir oben (§. 229.) umſtaͤndlich an-
    gezeiget, und zugleich gewieſen, wie fern es
    in Abſicht auf uns wegfalle.

§. 508.


Ungeachtet nun alſo der Verſtand, das, was,
wie
und wozu es beſtimmt werden kann, ſchlecht-
hin nur findet, ſo legen wir demſelben dennoch durch
eine Art von Namenwechſel, das wirkliche und thaͤ-
tige Beſtimmen bey, und ſo mag auch das Wort,
als ein abgekuͤrzter Ausdruck gebraucht werden.
Durch einen aͤhnlichen Namenwechſel, nennen wir
diejenigen Merkmale, die den abſtracten Begriffen
zugeſetzet werden, und ſo auch die Veraͤnderungen,
die ein zu etwas beſtimmtes Indiuiduum leiden muß,
um dazu tauglich zu ſeyn, ſchlechthin Beſtimmun-
gen,
da ſonſt dem buchſtaͤblichen Verſtande nach Be-
ſtimmung
active ſo viel als widmen, poſitive aber
ſo viel als gewidmet ſeyn, ſagen will, wenn man
anders ſolche Subſtantiua abſtracta durch Woͤrter von
einer andern Claſſe genau angeben oder definiren
kann, (Semiot. §. 138. 140.). Nach dieſer Erinne-
rung, welche hier nur dahin geht, daß wir bey dem
Beſtimmen die Mittel und Abſichten, und ſo auch
das Wiſſen, Wollen und Koͤnnen unterſcheiden muß-
ten, werden wir nun bey der verwechſelten Bedeu-
tung bleiben, weil ſie in der Vernunftlehre und Me-
taphyſic laͤngſt ſchon eingefuͤhret iſt, wo man ohnehin
das meiſte von dem, was den Willen angeht, in die
Moral und Teleologie verweiſet, (§. 491.). Wir
ſetzen demnach, daß der Verſtand etwas beſtimme,
wenn er die Merkmale, ſo in einem Begriffe ſeyn
oder dazu kommen muͤſſen, feſte ſetzet oder hinzuſetzet,
und dieſe Merkmale ſelbſt werden wir Beſtimmun-
gen
[129]Das Beſtimmen.
gen nennen. Jn Abſicht auf den Willen koͤnnen wir,
wo es vorkoͤmmt, das Wort widmen gebrauchen.


§. 509.


Hiebey laͤßt ſich nun das a priori von dem a po-
ſteriori
unterſcheiden. Da wir ſehr viele Begriffe
nur vermittelſt der Worte, und auch ſehr oft die
Woͤrter ohne die Begriffe lernen, ſo iſt dieſes ein
Hauptgrund mit, warum wir in unſern Begriffen
faſt immer noch mehr zu beſtimmen und feſte zu ſe-
tzen finden, zumal, wo die Bedeutung des Wortes
ſelbſt noch nicht feſt geſetzt, oder gar nothwendig von
veraͤnderlichem Umfange iſt, (§. 31. 33. Semiot.
§. 349. ſeqq. Alethiol. 140-157.). Daß ein Begriff,
den man von einem andern abſtrahirt, indem man
des letzern eigene Merkmale, und mit dieſen etwann
noch mehrere weg laͤßt, allgemeiner werde, iſt oͤfters
bald eroͤrtert und leicht gefunden. Wie weit ſich aber
die Allgemeinheit deſſelben erſtrecke, in wie vielen
andern ſpecialern Begriffen er vorkomme, und wie
groß folglich deſſen Ausdehnung und Umfang ſey,
das ſind Fragen von ganz anderer Art, welche be-
ſonders die Erfindung eines wiſſenſchaftlichen Sy-
ſtems der Metaphyſic ſchwer machen, weil dieſe lau-
ter ſolche allgemeine Begriffe, und zwar die abſtra-
cteſten zum Gegenſtande hat. (§. 499-502. und Dia-
noiol. §. 40. 619-633.). Jndeſſen iſt es in der wiſ-
ſenſchaftlichen Erkenntniß eigentlich um die Allge-
meinheit und um den genau bezeichneten Umfang der
Begriffe zu thun, wenn man anders einen richtigen
Zuſammenhang und ſolche Saͤtze herausbringen will,
von deren allgemeinen und beſtimmten Anwendbar-
keit man verſichert ſeyn koͤnne, (§. 38. 39.). Man
hat es aber in Anſehung der meiſten bey dem Ab-
Lamb. Archit.II.B. Jſtrahiren
[130]XVI. Hauptſtuͤck.
ſtrahiren bewenden laſſen, und es iſt eben nicht ſo
leicht, den wahren Umfang und Ausdehnung ſolcher
durch das Abſtrahiren gefundenen Begriffe zu be-
ſtimmen, daferne man es nicht will auf ein dunkles
Gefuͤhl und confuſes Bewußtſeyn ankommen laſſen,
welches aber ſtatt richtiger Sacherklaͤrungen mehren-
theils Worterklaͤrungen von der in dem §. 454. an-
gefuͤhrten Art giebt.


§. 510.


Wenn wir a poſteriori unſere Begriffe beſtimmen,
oder ſie naͤher und genauer beſtimmen, ſo haben wir
theils das Wort, theils die Sache, und zwar vor-
nehmlich dieſe vor uns, damit wir durch eine ſorg-
faͤltigere Betrachtung derſelben, ihrer Theile,
Eigenſchaften und Verhaͤltniſſe vollſtaͤndiger
und genauer nachſehen, wie die Theile be-
ſchaffen ſind, welche und wie viel deren ſind,
auf welche ſich jede Eigenſchaft erſtrecket, und
welche Verhaͤltniſſe ſie unter ſich und zum
Ganzen, und ſo auch dieſes zu andern Din-
gen habe?
Auf dieſe Art verwandeln wir den Be-
griff der Sache A, welcher den Worten nach etwann
aus MB beſtunde, in mb + nβ (§. 454. 456.), der
Begriff wird zugleich umſtaͤndlicher und genauer, und
eigentlicher beſtimmt. Wir kommen auch durch die-
ſes Verfahren den wahren einfachen Beſtimmungen
und mit dieſen der mathematiſchen Kenntniß der Sa-
che naͤher (§. 455.), und erreichen ſie vollſtaͤndig, wenn
wir die Theile nach ihren abſoluten Gleichartigkeiten
in Claſſen bringen und die Dimenſionen einer jeden
finden koͤnnen, (§. 458. 461.). Da hiebey der Be-
griff ſchlechthin nach der Sache eingerichtet werden
muß, ſo ſehen wir denſelben, ehe dieſes geſchehen,
nur
[131]Das Beſtimmen.
nur deswegen als unbeſtimmt an, weil wir noch
nicht wiſſen, wie wir ihn eigentlich beſtimmen ſollen,
oder wie er ausſieht, wenn er nach der Sache einge-
richtet iſt. Dabey iſt demnach die Moͤglichkeit, den
Begriff ſo oder anders zu beſtimmen (§. 507. N°. 1.),
nur eingebildet, weil er, um die Sache genau vor-
zuſtellen, nicht anders, als der Sache gemaͤß be-
ſtimmet werden kann. Und hierinn geht das, was
nach logiſchen Gruͤnden beſtimmet wird, von dem,
was nach Beweggruͤnden beſtimmet wird, ab, weil
letzteres, wenn anders Beweggruͤnde auf freye Hand-
lungen gehen ſollen, mehrere Moͤglichkeiten voraus-
ſetzet.


§. 511.


Hingegen, wo wir Begriffe bilden wollen, die
eben nicht dieſe oder jene Sache vorſtellen, ſondern
uͤberhaupt nur in das Reich der Wahrheiten gehoͤren
ſollen, da ſehen wir nur auf die Moͤglichkeit und Ge-
denkbarkeit. Hiebey giebt es nun mehrere, und
wenn man ſo will, unzaͤhlige Arten und Abwechslun-
gen, ſo daß wir dabey allerdings eine Auswahl ha-
ben, die Begriffe ſo oder anders zu bilden. Die
einige Einſchraͤnkung, die dabey vorkoͤmmt, iſt, daß
wir nicht widerſprechende Begriffe in einen zuſam-
men ſetzen, ſondern die bloß ſymboliſchen Moͤglich-
keiten von den wahren Moͤglichkeiten genau unter-
ſcheiden, (§. 288. 297. 502.).


§. 512.


Hiezu haben wir nun zweyerley Mittel. Das erſte
iſt gleichſam nur eine Probe, ob die ſymboliſche Zu-
ſammenſetzung angeht, wenn wir naͤmlich die Sache
auf die Erfahrung ankommen laſſen, und da koͤmmt
viel darauf an, daß man in den Vermuthungen
J 2gluͤcklich
[132]XVI. Hauptſtuͤck.
gluͤcklich ſey. (Dianoiol. §. 579. ſeqq. 677. Phaͤno-
menol. §. 164.). Trifft nun die Erfahrung zu, ſo
ſind wir von der Moͤglichkeit der Zuſammenſetzung
a poſteriori verſichert.


§. 513.


Das andere Mittel iſt das Abſtrahiren. Denn
wenn wir in mehrern und verſchiedenen Dingen ge-
meinſame Merkmale finden, und dieſe beſonders her-
ausnehmen, um einen allgemeinen Begriff zu bil-
den: ſo ſind wir verſichert, daß dieſem Begriffe noch
mehrere Beſtimmungen koͤnnen zugeſetzet werden,
wenn es auch keine andere waͤren, als die, in denen
Dingen, wovon man derſelben abſtrahirt hat, wirk-
lich dabey ſind. Bey dieſem Abſtrahiren gehen wir
ebenfalls a poſteriori, und ſind daher nicht unmittel-
bar verſichert, ob außer dieſen beobachteten Moͤglich-
keiten noch mehrere ſind. So fern wir aber die
Dinge, von welchen wir den Begriff abſtrahirt ha-
ben, in eine gewiſſe Ordnung bringen koͤnnen, und
in dieſer Ordnung Luͤcken bemerken, ſo koͤnnen wir
oͤfters dieſe Luͤcken durch eine Art von Jnterpolation
ausfuͤllen (Dianoiol. §. 594. ſeqq.), welches beſon-
ders angeht, wo die Unterſchiede nur in Graden be-
ſtehen. Jndeſſen ſtellet man ſich die Dinge der wirk-
lichen Welt in einer ſolchen Reihe oder Kette vor,
die ſtufenweiſe vom Staube bis zum erſten der Erz-
engel geht, und ſetzet, daß in dieſer Reihe die Glie-
der vollzaͤhlig, und die Rangordnung nach jeden
Stufen da ſey.


§. 514.


Da man aber bey dem Abſtrahiren ſelten weiter
reichet, als die Erfahrung geht, und daher, was
man
[133]Das Beſtimmen.
man den abſtracten Begriffen willkuͤhrlich zuſetzen
will, wiederum durch die Erfahrung auf die Probe
ſetzen muß, ob es angehe oder nicht: ſo wuͤrden wir
dabey niemals ohne die Beſorgniß des Fehlſchlagens
ſeyn. Die Frage koͤmmt demnach eigentlich auf all-
gemeine und unbedingte Moͤglichkeiten
an, und
man muß aus den ſymboliſchen Moͤglichkeiten dieje-
nigen ausſuchen, welche auch in der Sache ſelbſt
durchaus moͤglich ſind, und ſich gleichfoͤrmig uͤber
dieſelbe, als uͤber ihr Subject ausbreiten, (Semiot.
§. 41. 23.). Dieſes geht nun nur bey den einfachen
Begriffen und bey den Poſtulatis an, die ſie angeben,
(Alethiol. §. 246. 11. und oben §. 458.). Dabey hat
man demnach anzufangen, wenn man a priori Be-
ſtimmungen zuſetzen und ſie mit einander verbinden
will, ſo daß, was man mit den Worten oder Zei-
chen thut, ſo gut auch in der Sache moͤglich ſey, als
wenn die Probe waͤre angeſtellet worden.


§. 515.


Dieſes Einfache hat man in der Metaphyſic durch
das Abſtrahiren zu finden, oder wenigſtens demſelben
naͤher kommen zu koͤnnen geglaubet. Es iſt auch
allerdings ein Begriff, von welchem man viele Be-
ſtimmungen weggelaſſen, eben dadurch nicht mehr ſo
viel zuſammen geſetzet, ſondern ungleich einfacher,
als er vor dem Abſtrahiren war. Hingegen iſt bey
dieſem Abſtrahiren einige Verwirrung, welche daher
koͤmmt, wenn man die verſchiedenen Abſichten, in
welchen es geſchehen kann, nicht genau unterſcheidet,
und wie es gewoͤhnlich geſchieht (§. 194.) mit den
ſpecialen Beſtimmungen auch wirklich viel allgemei-
nes weglaͤßt. Jm eigentlichſten Verſtande abſtra-
hirt man, um aus den ſpecialen Begriffen das All-
J 3gemeine
[134]XVI. Hauptſtuͤck.
gemeine heraus zu gen, und dieſes ſoll vollſtaͤn-
dig geſchehen, um ch die Begriffe in Arten und
Gattungen zu vertheilen, damit in unſere Erkenntniß
eine wiſſenſchaftliche Allgemeinheit gebracht werde.
Wir haben dieſes Verfahren bereits oben (§. 161-201.)
ausfuͤhrlich zergliedert, und beſonders auch dasjenige
angegeben, was man hiebey eigentlich zu ſuchen habe,
wenn die Eintheilungen weſentlich ſeyn, und das
willkuͤhrliche daraus wegbleiben ſoll.


§. 516.


Wird hingegen ein Begriff in jede ſeine einfachen
Merkmale und Theile aufgeloͤſet, damit man den
wahren Umfang deſſelben beſtimmen oder finden koͤn-
ne, was er alles in ſich enthaͤlt, ſo iſt dieſes Verfah-
ren von dem erſt gemeldeten Abſtrahiren verſchie-
den, weil man hier den Begriff an ſich betrachtet,
und denſelben laͤßt, wie er iſt, bey dem Abſtrahi-
ren aber das allgemeinere beſonders nimmt, und
den Begriff eben dadurch mit andern vergleicht,
(§. 178.). Man ſieht leicht, daß wenn ein allge-
meiner Begriff auf dieſe Art in ſeine einfachen Merk-
male aufgeloͤſet wird, das Abſtrahiren bereits ſchon
vorgegangen ſey, und daß man folglich nimmer alle
Merkmale darinn ſo beſtimmt finde, wie ſie in den
unter denſelben, als unter ihre Art oder Gattung ge-
hoͤrenden Indiuiduis waren.


§. 517.


Es iſt aber auch jede dieſer beyden Arten zu ver-
fahren in Abſicht auf den Erfolg von einander ver-
ſchieden. Denn bey dem Abſtrahiren ſuchet man
das Allgemeine nach den Aehnlichkeiten (§. 178.)
bey dem Aufloͤſen aber das Einfache. Und da
trifft
[135]Das Beſtimmen.
trifft es nicht ſo zuſammen, daß das Allgemeinſte zu-
gleich auch das Einfachſte waͤre, wenn man anders
das Allgemeine vollſtaͤndig beybehalten will. Und
uͤberdieß iſt das Einfache auf eine ganz andere Art
allgemein. So z. E. iſt man in der Metaphyſic
durchgehends darinn einig, daß die hoͤchſte Gattung,
und folglich der allgemeinſte Begriff das Etwas
und das Nichts, das Ding und das Unding ſey,
und daß eben daher die Metaphyſic, und beſonders
die Ontologie dasjenige, was noch allen Dingen ge-
mein bleibt, angeben, und in ein wiſſenſchaftliches
Lehrgebaͤude bringen muͤſſe. Da nun das Einfache
dem Zuſammengeſetzten entgegen geſetzt wird, bey-
des aber in Dingen vorkoͤmmt, ſo ruͤcket man da-
durch den allgemeinen Begriff eines Dinges hoͤher
hinauf, und ſtellet ſich demnach denſelben ſo vor, daß
weder das Einfache noch das Zuſammengeſetzte,
ſondern nur die Moͤglichkeit das eine oder das
andere
zu ſeyn, gleichſam als ein Fundamentum di-
viſionis
darinn bleibt. Demnach abſtrahirt man hie-
bey von dem, was man bey dem vollſtaͤndigen Auf-
loͤſen eines Begriffes in ſeine einfache Merkmale
eigentlich ſuchet. Daß man von dieſen oder jenen
einfachen Merkmalen und ihren ſpecialen Combina-
tionen, Stufen und Verbindungen noch mehr Ab-
ſtrahiren muͤſſe, iſt fuͤr ſich klar. Denn man laͤßt
ſie ganz weg, und behaͤlt gewoͤhnlich auch das Allge-
meine nicht, welches noch darinn iſt, (§. 515.). Hin-
gegen werden dieſe bey dem Aufloͤſen eines Begriffes
beybehalten, wenn man ſeinen Umfang genau beſtimmt
haben will.


§. 518.


Setzen wir nun voraus, der Begriff eines Dinges
ſoll ſo abſtract bleiben, und die Metaphyſic ſoll an-
J 4geben,
[136]XVI. Hauptſtuͤck.
geben, was demſelben in dieſer ſo abſoluten Allge-
meinheit betrachtet, noch zukomme (§. 2.), ſo wird
nun an ſich ſchon wenig uͤbrig bleiben, um ſo mehr,
da man bey dem Abſtrahiren ohnehin alles ſpeciale
ſo weglaͤßt, daß man es nachgehends kaum mehr
finden kann, (§. 194. 500.). Dieſes ſollte aber nicht
ſeyn. Wir koͤnnen nunmehr erzaͤhlungsweiſe anfuͤh-
ren, wie man hiebey verfahren, und dieſes wird zu-
gleich dienen, den Unterſchied der bisherigen On-
tologien und ihrer Ordnung von der gegenwaͤrtigen
kenntlich zu machen, und gleichſam mit einem An-
blicke vor Augen zu legen.


§. 519.


Man faͤngt bey dem Unterſchiede des Etwas und
Nichts, das will ſagen, des Gedenkbaren und
des bloß ſymboliſchen (§. 288.) an, und machet
den Satz des Widerſpruches zu der Graͤnzlinie zwi-
ſchen beyden (§. 502.). Gleich darauf ließ man in
den neuern Grundlehren die Theorie des zureichenden
Grundes folgen, (§. 469. ſeqq.). Und nach dieſem
betrachtete man den Begriff eines Dinges (Ens),
weil man dieſen Begriff ſo beſtimmte, daß das exi-
ſtiren koͤnnen
mit dazu genommen wurde, ſo daß
jedes Ding metaphyſiſche Wahrheit haben muß-
te (§. 288. 297.), welche man aber aus einer ange-
nommenen Definition (§. 304.), als einem jeden Din-
ge zukommend zu beweiſen ſuchte. Nunmehr war es
um die Eigenſchaften, Affectiones, Praͤdicata eines
ſo abſtracten Dinges zu thun, welche man bey dem
Abſtrahiren weggelaſſen hatte. Da nun auf dieſe
Art in dem abſtracten Begriffe faſt nichts benennba-
res mehr zuruͤckbliebe, ſo kehrte man zu den Indiui-
duis
zuruͤcke, und zwar um deſto natuͤrlicher, weil
bey
[137]Das Beſtimmen.
bey dem Abſtrahiren bald alles weggelaſſen worden,
und weil die Bedingung, daß ein Ding muͤſſe exi-
ſtiren koͤnnen, gewiſſermaßen als eine Folge nach ſich
zog, ein Ding muͤſſe ein Indiuiduum ſeyn. Jn der
That war auch dieſes Verfahren eben nicht ſo weit
vom Ziele weg. Man haͤtte nur das, was man ein
allgemeines Ding,Ens vniuerſale, nennete (§. 178.
N°. 8.), zu den idealen Erdichtungen und zu dem
ſymboliſchen (§. 163. ſeqq.) rechnen doͤrfen, ſo wuͤrde
der Begriff eines Dinges und eines Indiuidui von
gleicher Allgemeinheit geweſen ſeyn. Jch ſage, man
kehrte zu den Indiuiduis zuruͤcke, um von dieſen die
Begriffe: Beſtimmung, Realitaͤt, Aehnlich,
Einerley, Weſen, Affectiones, Eigenſchaften,
Modificationen
ꝛc. zu abſtrahiren, und daraus
endlich herzuleiten, daß ein jedes Ding eine innere
metaphyſiſche Einheit, Wahrheit und Guͤte habe.
Man ſehe das in dem §. 304. und 350. hieruͤber an-
gemerkte. Dieſes waren nun die drey innern allge-
meinen Eigenſchaften oder Praͤdicate eines Dinges
uͤberhaupt betrachtet, denen noch das quale, quan-
tum, numerabile, poſſibile, cogitabile, ordinatum,
relationis capax, exiſtentiae capax, reale,
ꝛc. bey-
gefuͤget werden kann, und zwar 1°. das Quale, ſo fern
ein Ding innere Eigenſchaften hat, und wenn es in
ſeine Arten getheilet wird, haben kann, und in den
Indiuiduis wirklich hat. 2°. Das Quantum, ſo fern
jedes Ding eine abſolute Groͤße hat, dieſe mag nun
mit andern verglichen werden koͤnnen oder nicht.
3°. Das Numerabile, ſo fern es eine Einheit iſt, und
auch ſo fern ſich mehreres in demſelben gedenken laͤßt.
4°. Poſſibile, ſo fern es keinen Widerſpruch hat.
5°. Cogitabile in Verhaͤltniß oder in Abſicht auf ein
denkendes Weſen. 6°. Ordinatum, ſo fern das meh-
J 5rere
[138]XVI. Hauptſtuͤck.
rere in demſelben (N°. 3.) zum exiſtiren koͤnnen und
folglich zum Beharrungsſtande eingerichtet ſeyn muß,
(§. 350.). 7°. Relationis capax, ſo fern es mit andern
Dingen verglichen und in Verbindung gebracht wer-
den kann, (§. 411. ſeqq. 426. 463. ſeqq.). 8°. Exi-
ſtentiae capax
,
ſo fern metaphyſiſche Wahrheit in dem-
ſelben ſeyn muß, (§. 297.). 9°. Reale, ſo fern das
Solide und die Kraft die Grundlage eines Dinges
iſt, welches ſoll exiſtiren koͤnnen, (§. 358.).


§. 520.


Hiebey koͤnnen wir noch anmerken, daß es ſolcher
Affectionen oder Praͤdicate eines Dinges noch mehrere
gebe, wenn die Sprache Woͤrter haͤtte, ſie auszu-
druͤcken. Man ſchreitet daher zu den Praedicatis entis
disjunctiuis
(§. 267. N°. 6.), und dadurch wird der
allgemeine Begriff eines Dinges in ſehr vielerley
Abſichten
(§. 181. 199.) in beſondere Arten oder Gat-
tungen eingetheilt. Nun hat jede dieſer Eintheilun-
gen ihr Fundamentum diuiſionis, und dieſes ſollte
mit Worten benennet, und dem Begriffe eines Din-
ges uͤberhaupt als ein Praͤdicat koͤnnen beygefuͤget
werden. Statt aller dieſer beſondern, genau be-
ſtimmten und vorgezaͤhlten Benennungen haben wir
das quale und das relationis capax. Es laſſen ſich
die Arten der Verhaͤltniſſe noch ziemlich angeben, und
wir haben ſie in den naͤchſt vorhergehenden Haupt-
ſtuͤcken, und die ſchlechthin idealen oben mit der
Theorie der Jdentitaͤt und des Allgemeinen und Be-
ſondern (§. 124-231.) vorgetragen. So fern das
Nothwendige aus der Unmoͤglichkeit des Gegentheils
geſchloſſen wird, iſt die Theorie davon ſchlechthin
ideal und ſymboliſch, (§. 273.). Auf eine realere
Art aber wird die Theorie des Nothwendigen und
des
[139]Das Beſtimmen.
des Zufaͤlligen auf die Theorie der Kraͤfte reducirt,
als welcher der Maaßſtab zu den Graden der Zufaͤl-
ligkeit ſind, (§. 283.). Demnach iſt die Kraft das
eigentliche Fundamentum diuiſionis bey dem Noth-
wendigen und Zufaͤlligen, ſo wie man ebenfalls die
Eintheilung in Subſtanzen und Accidenzen darauf
gruͤndet. Man ſehe aber §. 247. und §. 178. N°. 9.


§. 521.


Aus allem dieſem erhellet nun, daß der Begriff
eines Dinges uͤberhaupt, oder in der Allgemeinheit,
wie derſelbe in der Metaphyſic genommen wird, im
geringſten nicht einfach iſt, zumal, wenn man alle
Fundamenta diuiſionis, und mit dieſen auch die Fun-
damenta ſubdiuiſionum
mit in ſeinen Umfang nehmen
ſoll, wie es die vollſtaͤndige Sacherklaͤrung erfordert.
Denn um dieſe iſt es in der Ontologie eigentlich zu
thun, weil das Wort Ding ſo haͤufig vorkoͤmmt, daß
man der Worterklaͤrung entbehren kann, und ſtatt der-
ſelben beſſer die Vieldeutigkeiten deſſelben anmerket.
Will man aber die Worterklaͤrung dazu gebrauchen,
damit man die Sacherklaͤrung daraus herleiten koͤnne,
ſo will dieſes im Grunde betrachtet nichts anders ſa-
gen, als man wolle von den verſchiedenen Bedeu-
tungen des Wortes eine herausnehmen, die etwas
Brauchbares und Reales habe, und das, was man
ſich auf eine noch confuſe Art darunter vorſtellet, in
den Indiuiduis aufſuchen, um zu finden, was man
alles in den Begriff mitnehmen muͤſſe. So verfuh-
ren Ariſtoteles und ſeine Nachfolger. Man hat
aber in den neuern Zeiten geglaubt, daß man aus
der Worterklaͤrung eines Dinges, poſſibile, qua exi-
ſtentiam determinabile,
alle Praͤdicate deſſelben und
zwar a priori herleiten koͤnne, und dazu gebrauchte
man
[140]XVI. Hauptſtuͤck.
man eine gute Menge von Worterklaͤrungen. Um
dieſe aber zu finden gab man den Rath, den Begriff,
den das Wort vorſtellet, aus einzelnen und mehrern
Beyſpielen zu abſtrahiren, (§. 250.). Das heißt nun
ungefaͤhr eben ſo viel, als man wolle aus den wirk-
lichen Dingen alles das, was ſie gemeinſam haben,
jedes beſonders, und ſo fern man es mit Worten be-
nennen kann (§. 520.), abſtrahiren. Ariſtoteles
verfuhr in dieſer Abſicht kuͤrzer und unmittelbarer.
Jndeſſen, wenn man als ein Poſtulatum vorausſetzet,
daß es unendlich vielerley von einander ver-
ſchiedene Dinge gebe,
ſo laͤßt ſich daraus mit
Zuziehung des Satzes des Widerſpruches alles
Jdeale herleiten, was man zum Behufe der wiſſen-
ſchaftlichen Erkenntniß von einem Dinge uͤberhaupt
wiſſen kann, dergleichen die Theorie der Jdentitaͤt,
des Allgemeinen und Beſondern, der ideale Theil der
Theorie vom Veraͤnderlichen, vom Seyn und Nicht
ſeyn, vom Nothwendigen, von der Ordnung, Voll-
kommenheit, von Verhaͤltniſſen ꝛc. ſind. Allein,
man wird auch nicht wohl uͤber das bloß
Jdeale hinausreichen, da fern man nicht die
einfachen Begriffe des Soliden, der Exiſtenz,
der Kraft ꝛc. gleich anfangs mitnimmt.
Und aus
dieſen haben wir auch, was hier als ein Poſtulatum
nur vorausgeſetzet werden muͤßte, oben (§. 118-123.)
hergeleitet.


§. 522.


So wie nun aber der allgemeine Begriff eines
Dinges nicht einfach, ſondern gleichſam ein Scele-
ton, allgemeines Bild, Abdruck, Schattenriß ꝛc. von
den Indiuiduis iſt (§. 193-196. 154. und Dianoiol.
§. 111. 112.) ſo ſind ebenfalls die meiſten Praͤdicate,
die
[141]Das Beſtimmen.
die man dazu gefunden (§. 519. 520.), nicht einfach,
wenn man nicht bloß bey der Worterklaͤrung bleiben,
ſondern die Sache ſelbſt entwickeln will. Denn jedes
von dieſen Praͤdicaten hat, weil es gedenkbar iſt, die
Praͤdicate der Gedenkbarkeit, weil es Etwas iſt, die
Praͤdicate des Etwas, und daher die meiſten Praͤ-
dicate eines Dinges uͤberhaupt, und uͤberdieß hat es
noch ſeine beſondere Fundamenta diuiſionis und ſub-
diuiſionum,
weil es in den Indiuiduis eigene Beſtim-
mungen erhaͤlt. Jn dieſer Abſicht betrachtet koͤnnte
man demnach allerdings fragen, ob denn des Ana-
lyſirens und Definirens (§. 7. 27.) kein Ende ſey,
und dieſe Frage ſelbſt zeiget an, wie ſehr zuſammen-
geſetzt das Sceleton, das uns der Begriff eines Din-
ges uͤberhaupt von den Indiuiduis vorſtellet, und mit
dieſem die Sacherklaͤrung deſſelben ſeyn muͤſſe.


§. 523.


Jndeſſen findet ſich allerdings hiebey ein Anfang,
wenn man die Sache anders angreift, als man es
gethan hat, das will ſagen, wenn man anſtatt des
Abſtrahirens das Aufloͤſen (§. 516.) vornimmt.
Man muß naͤmlich ſtatt allgemeiner Aehnlichkei-
ten
(§. 178.), wodurch die Dinge ſtufenweiſe in Ar-
ten und hoͤhere Gattungen unterſchieden und einge-
theilet werden, allgemeine und unbedingte Moͤg-
lichkeiten
und deren eigentliche Subjecte (§. 13. 14.
514.) aufſuchen. Dieſe letztere Allgemeinheit iſt nun
von der erſtern merklich verſchieden, weil man erſtere
ſo nimmt, daß ſie auf alle Dinge gehe, hingegen
hat letztere ihr eigen Subject, und bey dieſem iſt ſie
uneingeſchraͤnkt. Z. E. daß ein in Bewegung geſetz-
ter Koͤrper eine Direction und Geſchwindigkeit habe,
iſt ein Satz, welcher in der erſtern Abſicht allgemein
iſt,
[142]XVI. Hauptſtuͤck.
iſt, weil darinn alle bewegte Koͤrper einander aͤhn-
lich
ſind. Hingegen daß ein Koͤrper nach jeder Rich-
tung und mit jeder Geſchwindigkeit in Bewegung
geſetzet werden koͤnne, iſt eine Allgemeinheit von der
andern Art, oder eine uneingeſchraͤnkte Moͤglich-
keit.
Die erſtere Art von Allgemeinheit geht auf
das Subject, ſo daß man ſaget: AlleAſindB.
Die andere aber auf das Praͤdicat, ſo daß man ſaget:
Akann, nach jeden Modificationen desB, B
ſeyn. Die Aehnlichkeit der Dinge iſt an ſich ſchlecht-
hin ideal (§. 372. 164. 425.), und in ſo fern iſt ſie
nicht der Grund von der Moͤglichkeit der Dinge, ſon-
dern dieſe hat ihre eigene Gruͤnde, und faͤngt, wo
ſie uneingeſchraͤnkt ſeyn ſoll, bey dem einfachen an,
(Alethiol. §. 239. 246. 250.). Thut man dieſes in
dem wiſſenſchaftlichen Vortrage, ſo wird man einen
Anfang haben, und die zuſammengeſetzten Be-
griffe werden darinn,
wie in dem Reiche der
Wahrheit (Alethiol. §. 241.), als Praͤdicate vor-
kommen, ehe ſie als Subjecte vorkommen.

So aber verfuhr man in der Metaphyſic nicht, ſon-
dern man nahm den Begriff eines Dinges gleich an-
fangs als Subject vor, welcher, wie wir vorhin ge-
ſehen haben (§. 521. 522.), ſo ſehr zuſammengeſetzet
iſt, daß man des Analyſirens kaum ein Ende findet.
Und allem Anſehen nach findet man gar keines, wenn
man alle Fundamenta diuiſionis aufſuchen ſoll, (§. 520.
184. 247.). Die Eintheilungen der Dinge in Arten
und Gattungen iſt gleichſam eine bloß locale Ord-
nung (§. 338.), dahingegen die geſetzliche bey den ein-
fachen und unbedingten Moͤglichkeiten anfaͤngt, und
eben dadurch einen ganz andern Weg geht. Es iſt
daher gar wohl moͤglich, daß, da man bey der letztern
anfangen und Schritt fuͤr Schritt fortgehen kann,
bey
[143]Das Beſtimmen.
bey der erſtern hingegen die Ordnung nur ſtuͤckweiſe,
im Ganzen aber ſchlechthin eine abſolute Unordnung
vorkomme, (§. 181.). Denn ſo waͤre es eben ſo viel,
als wenn man in der Quadratwurzel von 2, den Num-
mern ihre Stelle nach ihrer Aehnlichkeit beſtimmen
wollte, (§. 323.). Jede Stelle haͤtte etwas beſon-
deres, welches keine allgemeine Regel zulaſſen wuͤrde,
ungeachtet die ganze Decimalreihe 1, 41421356237309
5048 ꝛc. nach einem und zwar ſehr einfachen Geſetze
gebildet und gefunden wird.


§. 524.


Dieſes will nun nicht ſagen, man ſoll auf hoͤren,
den Begriff eines Dinges uͤberhaupt oder andere der-
gleichen allgemeine metaphyſiſche Begriffe zu analy-
ſiren, weil man doch dabey nie fertig wird. Die
ganze Sprache iſt nach Aehnlichkeiten der Dinge ein-
gerichtet, weil die Aehnlichkeit am kenntlichſten iſt,
und weil die Sprache zu weitlaͤuftig wuͤrde, wenn
man jedes Ding beſonders benennen wollte. Dem-
nach iſt es auch aus dieſem Grunde vortheilhaft,
Saͤtze zu haben, die nach der Aehnlichkeit allgemein
ſind. Ueberdieß fuͤhret die wahre ſynthetiſche Theorie
der Dinge ſelbſt auf Aehnlichkeiten, und zwar auf
die genaueſten und brauchbarſten. Man kann die
ganze Geometrie zum Beyſpiele nehmen. Sie hat
nicht nur allgemeine Saͤtze, weil die Allgemeinheit
in der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß das Hauptwerk
iſt, ſondern dieſe Allgemeinheit iſt noch uͤberdieß von
der eigentlich recht brauchbaren Art, und von der
metaphyſiſchen ſehr verſchieden (§. 193-196.), weil
ſie das Subject nach der Moͤglichkeit der Praͤdicate
beſtimmet, und in dem Satze: Akann, nach je-
den Modificationen des
B, Bſeyn, (§. 523.).
Die
[144]XVI. Hauptſtuͤck.
Die Allgemeinheit des Subjectes A nach der Anzahl
und Moͤglichkeit der Modificationen des B ſchaͤtzet.
Nach der localen metaphyſiſchen Ordnung wuͤrde man
in der Geometrie anfangen muͤſſen, das aufzuſuchen,
was alle Figuren gemein haben, z. E. jede Figur iſt
ausgedehnt, hat eine Groͤße, Schranken ꝛc. Dieſes
laͤßt man ſich aber in der Geometrie nicht in Sinn
kommen, ſondern man faͤngt bey Puncten, Linien
und Winkeln, als bey den einfachſten Elementen an,
ſetzet ihre Grundſaͤtze und Poſtulata feſt, und ſieht
ſich ſodann um, welche Figuren daraus entſtehen koͤn-
nen, wie weit ihre Moͤglichkeit reiche ꝛc. Nach die-
ſer Art zu verfahren haben wir oben (§. 118-123.) das
vorhin angefuͤhrte Poſtulatum von der unendlichen
Mannichfaltigkeit der Begriffe und Dinge heraus-
gebracht, und eben ſo (§. 197. 198.) gezeiget, daß
man nach eben dieſer Art zu verfahren zu einem wiſſen-
ſchaftlichen Syſteme von weſentlichen Eintheilungen
gelange, wobey alles genau abgezaͤhlt werden koͤnne.


§. 525.


Es iſt ferner das Abſtrahiren von dem Aufloͤſen
(§. 516. 523.) darinn verſchieden, daß man bey dem
Abſtrahiren die Merkmale herausnimmt, die in meh-
rern Dingen gemeinſam ſind, und in ſo fern ſieht
man auf die Gleichartigkeit mehrerer Dinge, und
ſetzet ſich dabey auf eine ſehr mißliche Art (§. 183.)
vor, ſtufenweiſe zu gehen, und bey der groͤßten
Gleichartigkeit
oder kleinſten Unterſchiede anzu-
fangen. Hingegen bey dem Aufloͤſen eines Begrif-
fes in ſeine Merkmale bleibt man bey dem Begriffe
ſelbſt, und ſucht darinn, nicht das Gleichartige oder
Aehnliche mit andern Begriffen, ſondern das Un-
gleichartige
in dem Begriffe ſelbſt und die Moͤg-
lichkeit
[145]Das Beſtimmen.
lichkeit auf, wie daſſelbe beyſammen ſeyn kann, und
damit geht man ſchlechthin nur ſo weit, bis man auf
einfache Ungleichartigkeiten koͤmmt. Dieſes ſind
ſodann die eigentlich einfachen Beſtimmungen und
Begriffe (§. 134.), die wir oben, weil ſie die Grund-
lage zu jeden Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten
ſind, in Tabellen vorgeſtellet und auf eine abgezaͤhlte
Art gegen einander gehalten haben, (§. 155-158.).
Alle andere Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten,
auch bey den zuſammengeſetzteſten Dingen ſind, wie
wir (§. 118-123. 197. 198.) geſehen haben, nur Mo-
dificationen von dieſen einfachen Ungleichartigkeiten,
und ſolche Modificationen waren eigentlich aufzuſu-
chen, wenn man zu recht brauchbaren und beſtimmten
allgemeinen Saͤtzen gelangen will, (§. 524.).


§. 526.


Man hat in der Vernunftlehre und Metaphyſic
diejenigen Merkmale, die man einem allgemeinen
Begriffe zuſetzet, um ihn ſpecialer zu machen, Be-
ſtimmungen
genennet. Es macht dieſes aber nur
eine beſondere Art von Beſtimmungen aus, weil
man uͤberhaupt etwas beſtimmet, wo man aus meh-
rern Moͤglichkeiten eine nimmt oder ſetzet, (§. 507.).
Es lohnt ſich aber zum Behufe der abſtracten Erkennt-
niß immer der Muͤhe, dieſe Art von Beſtimmungen
beſonders zu betrachten. Und da koͤmmt vornehm-
lich die Frage vor, was die Merkmale, die man
einem abſtracten Begriffe zuſetzet, um ihn ſpecialer
zu machen, eigentlich ſind? Denn wir nehmen hier
den abſtracten Begriff nicht ſo von allem entbloͤſt,
wie ihn etwann die Worterklaͤrung angiebt, ſondern
als ein Sceleton von den darunter gehoͤrenden
Indiuiduis, mit allen Anlagen zu den Eintheilungen
Lamb. Archit.II.B. Kund
[146]XVI. Hauptſtuͤck.
und Untereintheilungen, die damit vorgenommen
werden muͤſſen, wenn man jede darunter gehoͤrenden
Indiuidua herausbringen will. Denn alles dieſes iſt
ſchon in dem Begriffe, und darf folglich demſelben
nicht erſt zugeſetzet werden, und wenn wir es thun,
ſo richten wir eigentlich nur unſern Begriff oder die
Vorſtellung, die wir von der Sache haben, der Sache
gemaͤß ein (§. 509. 510.), und machen dadurch die
Sacherklaͤrung, die wir davon haben, vollſtaͤndiger.
Hier ſetzen wir voraus, dieſes alles ſey ſchon geſchehen,
und da koͤmmt die Frage vor, was man einem ſolchen
Begriffe noch zuſetzen muͤſſe, um ihn ſpecialer zu ma-
chen, oder wie dieſe Beſtimmungen beſchaffen ſeyn?


§. 527.


Um dieſe Frage behoͤrig zu unterſuchen, werden
wir den abſtracten Begriff mit den Indiuiduis verglei-
chen, in welchen er vorkoͤmmt. Der Begriff ſey B,
eines von dieſen Indiuiduis, welches man wolle, ſey C,
ſo haben wir immer den individualen Satz: CiſtB.
Soll nun dieſer genau beſtimmt und richtig ſeyn,
ſo muß ſich das Praͤdicat B gleichfoͤrmig uͤber das
ganze Subject C ausbreiten, (§. 242.). Was nun
hiebey fehlen kann, iſt, daß B nicht in allen Theilen
des C vorkomme, und folglich dem C nur deswegen
zugeeignet werde, weil C in einigen ſeiner Theile B
iſt. Jn ſo fern iſt demnach C ungleichartig, und
man muß eigentlich nur die Theile nehmen, in wel-
chen B vorkoͤmmt. Dieſes vorausgeſetzt, ſo iſt C
von jeden andern Indiuiduis C nur der Zahl und den
Graden nach verſchieden, und widrigenfalls hat man
ſtatt eines abſtracten Begriffes B, mehrere und von
einander verſchiedene, (§. 458.). Es koͤmmt hiebey
auf den Begriff B an, ob in demſelben der Begriff
des
[147]Das Beſtimmen.
des Soliden vorkomme, oder nicht? Denn im erſten
Falle iſt B ein Abſtractum von Indiuiduis, im andern
Falle aber nur eine Beſtimmung oder Verhaͤltniß.
Daher enthaͤlt der Begriff B an ſich ſchon den Begriff
von ſoliden Theilen und deren Zuſammenſetzung und
Verbindung, und iſt daher gleichſam ein allgemei-
nes Bild oder Modell
von den Indiuiduis, welche
unter denſelben gehoͤren. Auf dieſe Art ſtellen wir
uns z. E. den allgemeinen Begriff eines Baumes
vor, und gedenken dabey ſo gleich Holz, Blaͤtter,
Aeſte, Wurzeln ꝛc. und uͤberdieß noch verſchiedenes
von der Structur derſelben, der Fibern, Faſern ꝛc.
ſo fern wir dieſe kennen. Und ſoll der allgemeine
Begriff vollſtaͤndig ſeyn, ſo wird darinn weiter nichts
als die Anzahl und Grade unbeſtimmt bleiben, ſo
ſehr auch die verſchiedene Arten von Baͤumen von
einander verſchieden ſind. Jn dieſem Verſtande ſagte
Carteſius, daß, um eine ganze Welt herauszubrin-
gen, weiter nichts als Materie und Bewegung erfor-
dert werde. Erſtere giebt den Grundſtoff, letztere
aber die Geſetze der Ausbildung und Structur deſſel-
ben, (§. 197.). Es giebt aber auch nur die Koͤrper-
welt, wenn man nicht noch das Bewußtſeyn und
die Empfindbarkeit mitnimmt. Man ſieht zugleich
hieraus, daß wenn B nur eine Beſtimmung oder
Verhaͤltniß iſt, das Solide dabey vorausgeſetzet wer-
de, und B entweder die Geſetze der innern Structur
oder die Verhaͤltniſſe betreffe, und daher in dem
allgemeinen Begriffe B ſchon durchaus ſo weit be-
ſtimmet ſey, daß in den Indiuiduis nur die Grade
und Anzahl der Theile, auf welche ſich B bezieht,
und welche eben dadurch gleichartig ſind, beſtimmet
werden muͤſſen.


K 2§. 528.
[148]XVI. Hauptſtuͤck.

§. 528.


Die eigentlichen und individualen Beſtimmungen
ſind demnach ſchlechthin nur Zahl und Grade, alles
uͤbrige muß das Sceleton des allgemeinen Begriffes
an ſich ſchon enthalten, und bey dem Analyſiren deſ-
ſelben thun wir auch weiter nichts, als daß wir es
ſchlechthin nur finden, um unſere Vorſtellung und
die Sacherklaͤrung davon vollſtaͤndiger zu machen,
(§. 526.). Die Anomalien, ſo die Sprache hiebey
veranlaßt, haben wir bereits oben (§. 453-461.) aus-
fuͤhrlich angezeiget.


§. 529.


So ſehr nun aber das Sceleton, ſo ein abſtracter
Begriff von den Indiuiduis vorſtellet, zuſammenge-
ſetzet iſt, ſo laͤßt es ſich, an ſich betrachtet, auf eine
ideale Art in Theile zerfaͤllen, und ſo fern jeder Theil
in der Sprache einen Namen hat, kann auch das
Ganze durch die Zuſammenſetzung dieſer Namen,
nach ſeinen Haupttheilen und vollſtaͤndig vorgeſtellet
werden, und dieſe Vorſtellung iſt ſodann ein abge-
kuͤrzter, dabey aber dennoch vollſtaͤndiger Ausdruck,
welchen man ſtatt des Namens des ganzen Begriffes
gebrauchen kann, weil er die Anlage zu der vollſtaͤn-
digen und ausfuͤhrlichen Sacherklaͤrung iſt. Bey
dieſem Verfahren muß die Moͤglichkeit, das Sceleton
auf mehrerley Arten in Theile zu zerfaͤllen, mit der
Moͤglichkeit, jeden Theil und deſſen Verbindung mit
den uͤbrigen, durch ſchickliche Woͤrter zu benennen,
verglichen werden. Denn dabey bleibt man zuweilen
zuruͤck, zuweilen aber findet man mehrere ſolcher ab-
gekuͤrzten Erklaͤrungen, welche demnach, wenn ſie
ſaͤmmtlich richtig ſind, einen und eben denſelben Be-
griff aber nach verſchiedenen Arten der Zergliederung
vor-
[149]Das Beſtimmen.
vorſtellen. So fern man nun ſolche Theile als zu-
ſammengenommen
anſieht, ſaget man, daß ſie
ſaͤmmtlich dazu beytragen, den Umfang des Begriffes
zu beſtimmen, und aus dieſem Grunde werden ſie
ebenfalls Beſtimmungen genennet, (§. 508. und
Dianoiol. §. 55-58.).


§. 530.


Auf dieſe Art koͤnnen wir nun ſagen: Ein (zu-
ſammengeſetztes) Ding ſey ein aus einer Anzahl
ſolider und durch Kraͤfte dergeſtalt mit einan-
der verbundener Theile, beſtehendes Ganzes,
welches fuͤr ſich betrachtet, in ſolcher Verbin-
dung exiſtiren oder fortdauern koͤnne,
(§. 500.
197. 118-123.). Es iſt aber hiebey, wie man leicht
ſieht, der Begriff eines Dinges, oder, beſſer zu ſa-
gen, die Vieldeutigkeit des Wortes (§. 178. N°. 8.)
ſo eingeſchraͤnkt, daß nicht bloße Merkmale, Beſtim-
mungen und Verhaͤltniſſe, ſondern mit dieſen das da-
bey zum Grunde liegende Solide und die Kraͤfte dar-
inn begriffen werden.



Siebenzehentes Hauptſtuͤck.
Das Zuſammenſetzen.


§. 531.


Das Zuſammenſetzen iſt der andere Hauptbe-
griff, welcher ſich auf die Art bezieht, wie die
Kraͤfte angewandt werden (§. 505. 429. 434.), und
welcher eben ſo, wie der Begriff des Beſtimmens,
eine beſondere Theorie verdient. Dieſe beyden Be-
griffe ſind uͤberhaupt und in einem weit allgemeinern
K 3Ver-
[150]XVII. Hauptſtuͤck.
Verſtande ſo von einander verſchieden, wie in der
Arithmetic das Addiren und das Multipliciren. Wir
haben daher oben (§. 434.), wo wir ſie in Abſicht auf
die daher entſtehenden Verhaͤltniſſe betrachteten, einer-
ley Zeichnungsart dabey gebraucht, und in ſo fern
das Zuſammenſetzen eine Handlung, Operation und
Wirkung der Kraͤfte iſt, demſelben das Theilen und
Trennen entgegengeſetzet, (§. 429. 434.). Jn Ab-
ſicht auf die Sache ſelbſt, ſetzet man dem Zuſam-
mengeſetzten
das Einfache entgegen. Bey deſſen
Betrachtung werden wir nun anfangen.


§. 532.


Daß bey dem Zuſammengeſetzten, welches uͤber-
haupt aus mehrern mit einander verbundenen Theilen
beſteht, und ſich eben dadurch von einem bloßen Hau-
fen
und bloß arithmetiſchen Summe unterſcheidet,
eines einfacher oder minder zuſammengeſetzt ſey,
und folglich aus wenigern, mit geringern Kraͤften
und nach weniger Dimenſionen verbundenen Theilen
beſtehen koͤnne, als ein anderes, iſt fuͤr ſich klar,
(§. 119-122.). Hier iſt aber nicht von dieſem rela-
tiven Einfachen,
ſondern von dem, was abſolut
oder ſchlechthin einfach iſt, die Rede. Dieſes
werden wir im Folgenden ſchlechthin einfach nennen,
und das Relative durch Umſchreibungen oder aus-
druͤckliche Benennungen anzeigen, wo von demſelben
die Rede iſt. Dieſes vorausgeſetzt, ſo merken wir
an, daß das Einfache auf dreyerley Arten ſo genennet
werden koͤnne:


  • 1°. Das einfache Solide, ſo fern dieſes entweder
    nicht mehr getheilt iſt, oder nicht mehr in klei-
    nere Theile wirklich getheilet werden kann.

2°. Jſt
[151]Das Zuſammenſetzen.
  • 2°. Jſt dasjenige einfach, was nicht mehrere der
    Art nach von einander verſchiedene innere Merk-
    male oder Beſtimmungen hat. Dergleichen
    z. E. die einfachen Begriffe des Raums, der
    Dauer, der Exiſtenz ꝛc. ſind.
  • 3°. Koͤnnen wir auch einfach nennen, was eine ab-
    ſolute Einheit iſt, z. E. die Exiſtenz, das Seyn,
    das Wahre ꝛc.

§. 533.


Die erſte dieſer Benennungen bezieht ſich auf die
Theilbarkeit des Soliden, oder Materie, und dabey
hat man laͤngſt ſchon die Frage aufgeworfen, ob die
Materie unendlich getheilt oder wenigſtens un-
endlich theilbar ſey?
Dieſe Frage, auf die wir im
Vorhergehenden ſchon einige andere reducirt haben,
werden wir nun hier etwas umſtaͤndlicher unterſuchen,
um zu ſehen, wie ferne ſie in ihr gehoͤriges Licht ge-
ſetzet werden koͤnne. Dem Unendlichen wird das
Endliche, und beyden das Nichts entgegengeſetzet.
Ferner iſt das Unendliche entweder ein Terminus
infinitus
vom Endlichen, das will ſagen, Nicht -
endlich,
ſo daß es etwas in ſich enthaͤlt, welchem
das endlich ſeyn ſchlechthin widerſpricht (§. 257.),
oder es iſt eine bloße Privation, ſo daß es ſchlechthin
nur nicht endlich iſt, (§. 254. ſeqq.). Nun trifft
beydes zuſammen, ſo oft von einem unendlichen
Indiuiduo die Rede iſt, (§. 259. 261. N°. 6. 8.). Eben
dieſer Unterſchied findet ſich auch bey dem Nichts.
Das Nicht - Etwas iſt ſchlechthin ſymboliſch, und
als ein Indiuiduum betrachtet, das eigentlich cate-
goriſche Nichts (§. 262. N°. 12.), A und Nicht - A
zugleich, und wederAnoch Nicht - A, (§. 262.
N°. 13.). Hingegen privative bedeutet das Nichts
K 4ſchlecht-
[152]XVII. Hauptſtuͤck.
ſchlechthin Nicht etwas ſeyn, oder man kann arith-
metiſch ſagen, das, was uͤbrig bleibt, wenn das Et-
was weggenommen wird, das heißt 0 = 1 - 1 = 2 - 2
= a - a = b - b, ꝛc. Denn das, was man weg-
nimmt, mag groß oder klein ſeyn, ſo bleibt nichts,
wenn man es ganz wegnimmt.


§. 534.


Auf dieſe Art bringt man durch das Subtrahiren
ein eigentlich Nichts heraus. Man fragt aber, ob
es auch durch das Dividiren geſchehen koͤnne? Hie-
bey muͤſſen wir nun das Symboliſche von dem Wirk-
lichen unterſcheiden. Wir ſetzen demnach als einen
Grundſatz feſt: Was in einem, immer oder ohne
Aufhoͤren fortgeht, da koͤmmt von einem letz-
ten die Rede ſchlechthin nicht vor.
Denn dieſes
wuͤrde dem Fortgehen ein Ende machen, und folg-
lich die Vorausſetzung umſtoßen. Stellet man ſich
demnach die Theilung ſo vor, daß man z. E. in
einem fort halbirt, ſo werden die Theile nach der
Reihe 1,\frac {1} {2}, \frac {1} {4}, \frac {1} {8}, \frac {1} {16}, \frac {1} {32}, \frac {1} {64}, \frac {1} {128} ꝛc. immer kleiner,
und in dieſer Reihe faͤllt der Begriff eines letzten
Gliedes
ſchlechthin weg. Jn dieſer Abſicht kann
man in der Theilung immer weiter gehen, und
zwar ſchlechthin, weil die Moͤglichkeit ferner zu thei-
len, immer bleibt, ſo weit man auch darinn gekom-
men. Jndeſſen kann man zeigen, daß die Theile nicht
nur kleiner, ſondern dergeſtalt kleiner werden, daß ſo
klein man einen gedenken will, durch die Fortſetzung
dieſer Theilung ein noch kleinerer herausgebracht wer-
den koͤnne. Aus dieſem Grunde aber ſtellet man ſich,
auf eine bloß ſymboliſche Art, ein letztes Glied der
Reihe vor, und ſetzet daſſelbe = 0, und zwar des-
wegen, weil die Glieder der Reihe dergeſtalt kleiner
werden,
[153]Das Zuſammenſetzen.
werden, daß ſie von 0 ſo wenig man will unterſchie-
den bleiben. Setzet man nun, man wolle, daß die-
ſer Unterſchied = 0 ſey, ſo hat man fuͤr das Glied,
welches dieſen Unterſchied giebt 0 - 0 = 0. Und
dieſes ſieht man fuͤr das letzte an. Fragt man nun,
wie groß der Theiler ſeyn muͤſſe, der dieſes Glied
herausbringt, ſo findet ſichs ebenfalls auf eine bloß
ſymboliſche Art, er muͤſſe =\frac {1}{0}, das will ſagen,
groͤßer ſeyn, als jeder, den man ſich gedenken kann.
Dieſes nennet man nun unendlich groß. Man
ſtellet ſich daher vor, daß, wenn dieſes Unendliche
durch \infty ausgedruͤckt wird \frac {1} {\infty} = 0 ſeyn muͤſſe.
Dieſes alles iſt nun ſchlechthin nur ſymboliſch.
Denn die Zahl \infty muͤßte die letzte ſeyn. So groß
man ſie aber gedenken will, laſſen ſich noch Einhei-
ten zuſetzen, und folglich noch groͤßere gedenken.
Der Ausdruck \frac {1} {\infty} = 0, will auch nicht mehr ſa-
gen, als daß ſich zwiſchen 1 und \infty keine determi-
nirte
Verhaͤltniß gedenken laſſe, und dieſes iſt noth-
wendig, weil \infty dabey nicht determinirt ſeyn kann,
ſondern ſo groß es auch genommen wird, die Moͤg-
lichkeit des noch groͤßern
mit in ſich begreift.


§. 535.


Was keine abſolute Einheit hat, wie z. E. der
Raum, die Zeit, die Kraft ꝛc. kann ſo groß und
ſo klein man will, gedacht und angenommen werden,
und die Theilbarkeit iſt dabey unendlich, das will
ſagen, die Moͤglichkeit, noch ferner zu theilen, hoͤret
niemals auf, oder ſo klein man einen Theil annimmt,
K 5laſſen
[154]XVII. Hauptſtuͤck.
laſſen ſich noch kleinere gedenken. Hingegen, was
eine abſolute Einheit hat, wie z. E. die Exiſtenz,
das Seyn, das Wahre ꝛc. dabey faͤllt die Frage
vom Groͤßern und Kleinern, vom Theilen ꝛc. ganz
weg, und ſo fern man dabey rechnen will, wird die
Bedeutung geaͤndert, (§. 104. 106.).


§. 536.


Nun kann man jeden Raum als mit Solidem aus-
gefuͤllet gedenken. Der Raum laͤßt ſich, ſo klein
man will, theilen. Dieſe Theilung aber iſt ſchlecht-
hin nur ideal, weil die Theile des Raumes weder
von einander abgeſondert, noch verſetzt werden koͤn-
nen, (§. 80.). Da hingegen dieſes Abſondern und
Verſetzen bey dem Soliden angeht; ſo fragt es ſich,
wie weit die Theilung und Theilbarkeit des Soliden
gehe? Hieruͤber koͤnnen wir nun anmerken, daß das
Solide, wo es exiſtirt, nicht a - a = 0, ſondern
etwas ſey, und daher eine Groͤße habe, ſo klein
man dieſe auch gedenken will. So klein naͤmlich der
Theil des Raumes iſt, den das ſolide Dichte oder
mit einer abſoluten Continuitaͤt ausfuͤllt, ſo laͤßt ſich
noch ein kleinerer Theil des Raumes gedenken. Oder
in dem exiſtirenden Soliden, ſo weit es eine abſolute
Continuitaͤt hat, laſſen ſich auf eine ideale Art klei-
nere Theile gedenken, die weder davon wirklich ab-
geſondert, noch = a - a = 0 ſind. Ob ſich aber ſol-
che Theile davon abſondern laſſen, iſt eine andere
Frage. So fern ſich dieſes thun laͤßt, iſt das Soli-
de nicht einfach, ſondern zuſammengeſetzt, und die
abſolute Continuitaͤt beſteht nur darinn, daß die
Theile ſo an einander ſchließen, daß alle leere Zwi-
ſchenraͤumchen ganz wegbleiben oder = a - a = 0 ſind.
Sollte aber die fernere Theilung nicht mehr angehen
koͤnnen,
[155]Das Zuſammenſetzen.
koͤnnen, ſo giebt es letzte oder kleinſte Theile, und
dieſe haben, wie die epicuriſchen Atomen (§. 207.)
eine Haͤrtigkeit, die durch keine Kraft, ſo groß man
ſich auch gedenken will, uͤberwunden werden kann,
und ſie laſſen ſich weder ganz noch theilsweiſe vernich-
ten. Wir haben daher ſchon oben (§. 90.) ange-
merket, daß wer die Moͤglichkeit der Vernichtung
und der Schoͤpfung aus Nichts zugiebt, an der
unendlichen Theilbarkeit der Materie keine große
Schwierigkeit finden werde, und daß man hiebey
nur die Zeit nicht mit einmengen muͤſſe. Das will
nun ſo viel ſagen.


§. 537.


Wenn das Solide vernichtet, und ſo auch aus
Nichts erſchaffen
werden kann, ſo laſſen ſich ab-
geſonderte Theile des Soliden von jeder Groͤße ge-
denken, die in ſich eine abſolute Continuitaͤt haben,
die ſich mit eben der Continuitaͤt an anderes anſetzen
laſſen, und mit demſelben, ſo lange ſie nicht wieder
getrennet werden, ein Ganzes ausmachen koͤnnen,
welches ebenfalls eine durchgaͤngige und abſolute Con-
tinuitaͤt hat. Die Moͤglichkeit, die Theilung dieſes
Ganzen, ſo weit man will, fortzuſetzen, und damit
immer kleinere Theile abzuſondern, iſt dabey poſitiv
und uneingeſchraͤnkt. Sie geht aber nicht anders bis
zur Vernichtung, als wenn ein Theil, der eine wirk-
liche Groͤße hat, ſo klein dieſe auch ſeyn mag, mit
einem Male vernichtet, folglich, nicht \frac {1} {\infty} = 0,
ſondern 1 - 1 = 0 wird. Denn bey \frac {1} {\infty} bleibt im-
mer noch etwas, welches aber zu 1 keine beſtimmte
Verhaͤltniß hat, weil \infty die Moͤglichkeit weiter zu
theilen
[156]XVII. Hauptſtuͤck.
theilen in ſich begreift, (§. 534.). Hingegen bey
1 - 1 = 0 bleibt ſchlechthin nichts mehr uͤbrig,
(§. 533.). Wir haben daher dieſes Nichts privativ
genennet, und es dem categoriſchen Nichts, wel-
ches Aund nicht - Azugleich, und daher
ſchlechthin ſymboliſch iſt, entgegen zu ſetzen, (§. cit.).
Ein ſolches Nichts iſt nun \frac {1} {\infty}, wenn man durch ∞
die groͤßte Zahl verſteht, weil dieſe groͤßte Zahl,
eben dadurch, daß es noch groͤßere giebt, zugleich
auch Nicht die groͤßte waͤre.


§. 538.


Bey dem exiſtirenden Soliden koͤmmt man dem-
nach immer auf Theile, die nicht ferner mehr getheilet
ſind, ungeachtet ſie ſich noch ferner theilen laſſen, die
aber, wenn ſie vernichtet werden ſollen, nicht durch
die immer fortgeſetzte Theilung vernichtet werden
koͤnnen, ſondern in ganzen Theilen und mit einem
Male vernichtet werden muͤſſen. Nun iſt die Ver-
wandlung des Etwas, das will ſagen, des Wirk-
lichen und Gedenkbaren in das categoriſche Nichts,
oder in Aund nicht - Azugleich, ſchlechthin un-
moͤglich, ſo wie hingegen dieſes nicht in Etwas ver-
wandelt werden kann. Dieſes iſt demnach nicht der
Begriff des Vernichtens und des Erſchaffens.
Hingegen, daß a von a weggenommen, folglich, wo a
war, a - a = 0 ſeyn koͤnne, iſt allerdings gedenk-
bar, und welche Kraͤfte auch immer dazu erfordert
werden, ſo ſind ſie dem Gedenkbaren vorexiſtirend,
(§. 297. ſeqq.).


§. 539.


So fern wir bey dem exiſtirenden Soliden immer
auf Theile kommen, die, ungeachtet ſie noch ferner
getheilet
[157]Das Zuſammenſetzen.
getheilet werden koͤnnen, dennoch in der That nicht
ferner getheilet oder getrennet ſind; ſo ferne koͤnnen
wir ſie nur noch als einen Haufen von kleinern Theil-
chen anſehen, in welchem keine andere Verbindung
iſt, als daß ſie dichte aneinander liegen, und folg-
lich den Raum ganz ausfuͤllen, daferne wir nicht
Kraͤfte mit annehmen, durch welche ſie verbunden
ſind, und durch dieſe Verbindung ein ganzes ausma-
chen. Dieſe Kraͤfte ſind nun Nicht das Solide ſelbſt,
ſondern das Solide hat ſie, oder ſie ſind in demſel-
ben. Wir haben dieſes bereits oben a poſteriori
daraus hergeleitet, daß es elaſtiſche Koͤrper giebt,
(§. 389. 392. 393.). Denn die erſte Anlage zur Ela-
ſticitaͤt kann man, ohne den Begriff der Kraft mit-
zunehmen, in dem Soliden ſelbſt nicht finden, weil
z. E. ohne dieſelbe, die Luft ſo wenig elaſtiſch ſeyn
wuͤrde, als ein Haufen Staubes. Ferner haben
wir oben (§. 96.) bereits angemerket, daß die Ela-
ſticitaͤt nur relativ iſt, und ihre Grade von der Ge-
ſchwindigkeit abhaͤngen, mit welcher die Figur des
Koͤrpers bey dem Stoße veraͤndert wird, (§. 420.).
Das will nun ſagen, die Kraͤfte, womit die Theile des
elaſtiſchen Koͤrpers verbunden ſind, und zur Wieder-
herſtellung der Figur bey dem Stoße ſich aͤußern, ha-
ben eine beſtimmte Staͤrke und Groͤße, welche, wenn
ſie uͤberwaͤltiget wird, ſich nicht mehr wieder herſtellet.


§. 540.


Man hat in der Metaphyſic die Dinge in einfa-
che
und zuſammengeſetzte eingetheilet, und den
Beweis, daß es einfache Dinge gebe, darauf ge-
gruͤndet, daß die Theilung des Zuſammengeſetzten
nicht ins Unendliche fortgehen koͤnne, folglich irgend-
wo aufhoͤren muͤſſe. Meines Erachtens iſt alles,
was
[158]XVII. Hauptſtuͤck.
was man hiebey heraus bringt, dieſes, daß ſolche Thei-
le nicht mehr aus kleinern, wirklich von einander
getrennten und nur durch Kraͤfte verbundenen,

oder in ein Syſtem gebrachten Theilchen beſtehen;
ſondern ſo wie ſie ſind, eine abſolute Continuitaͤt ha-
ben, und folglich nur auf eine ideale Art, als in
kleinere Theile getheilet; aber nicht getrennet, an-
geſehen werden koͤnnen, ungeachtet die fernere Tren-
nung noch immer moͤglich bleibt. Dieſe koͤnnen wir
nun in verſchiedenen Abſichten einfach nennen. Ein-
mal wegen der abſoluten und durchgaͤngigen Conti-
nuitaͤt, iſt der Begriff von ihrem innern Weſen in
eben dem Verſtande einfach, wie der Begriff des
Raumes, der Dauer, (§. 533.). Sodann iſt auch die
Kraft, ſo die Theile, die ſich noch in denſelben geden-
ken laſſen, in ſolche Verbindung bringt, daß ſie nicht
bloß an einander liegen, an ſich einfach, und machet
dieſe Theile zu einem realen Ganzen, und erhaͤlt ſie
auch, mit einer wenigſtens hypothetiſchen Nothwen-
digkeit (§. 287. N°. 2. §. 284.), als ein Ganzes.
Sie bleibt ganz in demſelben, und ſoll ſie weggenom-
men werden, ſo wird ſie ganz weggenommen. Sol-
che Theilchen der Materie haben nun dadurch mit den
Atomen einige Aehnlichkeit, und ſind gleichſam die
Elemente oder der Urſtoff der Koͤrperwelt.


§. 541.


Man hat ferner daraus, daß ein einfaches Ding
keine Theile hat, und aus gemachten Worterklaͤrun-
gen der Groͤße, der Ausdehnung, des Raumes ꝛc.
geſchloſſen, daß den einfachen Dingen ſchlechthin alle
Groͤße und Ausdehnung abgeſprochen werden muͤſſe.
Meines Erachtens aber ſind hiebey einige Begriffe
vermenget worden. Das Zuſammengeſetzte hat un-
ſtreitig
[159]Das Zuſammenſetzen.
ſtreitig Theile, und das Einfache, im abſoluten Ver-
ſtande genommen, hat unſtreitig nicht mehrere
Theile. Hieraus folget nun noch nicht, daß jedes
Zuſammengeſetzte nothwendig aus abſolute einfachen
Theilen beſtehen muͤſſe. Es kann dergeſtalt zuſam-
mengeſetzt ſeyn, daß immer noch eine fernere Thei-
lung moͤglich bleibt, und auf dieſe Art iſt Zeit und
Raum, und alles das zuſammengeſetzt, was eine ab-
ſolute Continuitaͤt hat. Ohne eine ſolche innere abſolute
Continuitaͤt laͤßt ſich das eigentlich Solide nicht ge-
denken. Demnach behaͤlt es eben ſo, wie der Raum,
noch immer eine Ausdehnung und Groͤße, ſo klein
man es auch gedenken will, und ſo muß es auch
mit einem Male vernichtet werden, wenn es ver-
nichtet werden ſoll, weil es durch die Theilung zwar
in kleinere Theile abgeſondert, aber nicht vernichtet
wird. Wo nun aber immer die wirkliche Theilung
nicht mehr fortgeſetzt iſt, da hat das Solide nicht in
der That keine Theile, ſondern keine getrennete
oder von einander abgeſonderte Theile mehr, un-
geachtet es noch gar wohl in kleinere Theile getrennet
werden koͤnnte, wenn die Kraft, ſo ſie in Verbin-
dung erhaͤlt, daraus weggenommen wuͤrde. Die
Groͤße der Ausdehnung iſt, wie die Ausdehnung
ſelbſt, ein einfacher Begriff, worinn ſich nichts als
Grade unterſcheiden und beſtimmen laͤßt. Die Ein-
heit iſt dabey willkuͤhrlich, und demnach kann die
Groͤße nicht durch die Vielheit der Theile definirt wer-
den, weil dieſe Theile ebenfalls, entweder als eine will-
kuͤhrliche Einheit angenommen, oder nach einer will-
kuͤhrlich angenommenen Einheit muͤſſen gemeſſen wer-
den. Bey der Ausdehnung iſt alles, was man groß
oder klein nennet, nur verhaͤltnißweiſe groß oder klein.
Und wenn man je von abſoluten Groͤßen ſprechen will,
ſo
[160]XVII. Hauptſtuͤck.
ſo muß es da geſchehen, wo ſchlechthin nur eine ab-
ſolute Einheit iſt, welche weder Bruͤche admittirt,
noch vielfach genommen werden kann, dergleichen
z. E. die Exiſtenz, das Seyn, das Wahre ꝛc. in
Abſicht auf die Gradus intenſitatis iſt. Die Defini-
tionen, ſo man von Raum und Zeit gegeben, daß
naͤmlich der Raum in der Ordnung der Dinge, die
außer einander ſind, die Zeit aber in der Ordnung
auf einander folgender Dinge beſtehe, zeigen keine
innere Merkmale, ſondern nur Verhaͤltniſſe an, das
außer, neben, nach ꝛc. enthaͤlt dieſe Begriffe ſchon
ganz, und dieſe beyden Definitionen ſind einander
viel zu aͤhnlich, als daß man daraus herleiten koͤnnte,
die Zeit habe nur eine, der Raum aber drey, und
weder mehr noch minder als drey Dimenſionen.
Daß man endlich durch dieſe Theorie der einfachen
Dinge, die Geiſterwelt hat heraus bringen wollen,
da geſtehe ich gerne, daß es mir erweisbarer vor-
koͤmmt, wenn man die Kraͤfte als Subſtanzen an-
ſieht, die von dem Soliden verſchieden ſind, und denken,
wollen und wirken koͤnnen, und in ſolchen Subſtan-
zen die Geiſterwelt aufſuchet. Denn die Kraͤfte be-
leben ohnehin das an ſich todte Solide, welchem man
laͤngſt ſchon nur eine Vim inertiae zugeſchrieben, und
ſind von dem Soliden verſchieden ꝛc. (§. 539.).


§. 542.


Wir muͤſſen hiebey noch anmerken, daß man in
der Metaphyſic eigentlich nicht das Solide, welches
man darinn ſo viel als Materie nennet, ſondern die
Dinge uͤberhaupt in Zuſammengeſetzte und Ein-
fache eingetheilet hat, und da mag es bey der Viel-
deutigkeit, die das Wort Ding hat, wohl angehen.
Das Solide wird demnach unter die Claſſe der Dinge
gehoͤren,
[161]Das Zuſammenſetzen.
gehoͤren, die ſchlechthin zuſammengeſetzt ſind, und
wobey ſich nur verhaͤltnißweiſe einfacheres gedenken
laͤßt, weil es an ſich immer noch theilbar bleibt.
Zu dem ſchlechthin einfachen hingegen wird man
das nehmen muͤſſen, was eine abſolute Einheit iſt,
(§. 535.). Und da iſt es gar wohl moͤglich, daß die
Dinge oder Subſtanzen der Geiſterwelt ſolche abſo-
lute Einheiten ſind, die nur in gewiſſen Abſichten,
z. E. der Jntenſitaͤt der Kraͤfte nach, Grade haben,
und die folglich, ſo fern ſie in dem Soliden ſich aͤu-
ßern, das an ſich noch theilbare dabey zuſammen-
halten, und machen, daß das Solide in ſeinen klei-
nern Theilen, als ein beyſammen beſtehendes Ganzes
angeſehen werden kann, welches ſo lange bleibt, bis
es durch ſtaͤrkere Kraͤfte getrennet wird.


§. 543.


Wir halten uns aber hiebey nicht laͤnger auf, ſon-
dern merken nur an, daß wir im obigen, wie wir
bereits (§. 90.) vorerinnert haben, unter dem Worte
Solides zuweilen die bloße Materie, zuweilen auch
die Kraͤfte und Subſtanzen der Geiſterwelt mit
inbegriffen haben. Wie weit ſich nun dieſe Bedeu-
tung ausdehnet, dieſes muß ſich an jedem Orte aus
dem Zuſammenhange der Rede, und aus der Ab-
ſicht ergeben, in welcher das Wort gebraucht wird.
Ohne dieſe Betrachtung laſſen ſich die verſchiedenen
Stellen nicht ſo unbedingt mit einander vergleichen,
wenn man Schluͤſſe von vier Gliedern vermeiden
will, (§. 350. Semiot.). So z. E. ſo theilbar
auch das Solide iſt, bleibt es an ſich undurch-
dringbar,
und ſchleußt dadurch anderes Solides
von ſeiner Stelle aus. Daher leitet ſich nun ein
Theil des Druckes, den das Solide aͤußert, wenn
Lamb. Archit.II.B. Les
[162]XVII. Hauptſtuͤck.
es an ein anderes ſtoͤßt. Zu dieſem Drucke und zu
der erſten Verurſachung deſſelben werden aber noch
Kraͤfte erfordert, und von dieſen, auch wenn man
ſie als immaterielle Subſtanzen anſieht, muß das
Solide durchdrungen werden koͤnnen, weil der Druck
ſich durch das Solide fortſetzt, und eben dieſe Kraͤfte
ſind es, die die Theilchen des Soliden zuſammen-
halten, und aus demſelben ein Ganzes machen, und
es mit anderm Solidem verbinden, die demſelben
mehr oder minder Feſtigkeit geben, ſeine Figur wie-
der herſtellen ꝛc. (§. 393. 380. 298.).


§. 544.


Jndeſſen erhellet aus allen Erfahrungen, daß in
der wirklichen Welt das Solide mit den Kraͤften auf
eine ſehr enge Art verbunden iſt. Die Kraͤfte, wo-
mit die Theilchen feſter Koͤrper zuſammen haͤngen,
ſind ſehr betraͤchtlich, und man findet ſie in den klein-
ſten Theilchen vergleichungsweiſe am groͤßten. Nach
den Musſchenbroekiſchen Verſuchen muß man ein
Gewicht von dreyhundert bis fuͤnfhundert Pfund an-
haͤngen, ehe ein metallener Drat von Kupfer, Sil-
ber, Eiſen, Gold zerreißen wird, deſſen Diamter
nur \frac {1} {10} eines rheinlaͤndiſchen Zolles iſt. Hingegen
ſcheint es, die eigentliche Erde haͤnge in ihren Theil-
chen weiter nicht zuſammen, als in ſo fern ſie mit
andern Materien, z. E. mit Waſſer, Oel, Sal-
zen ꝛc. vermiſcht iſt, weil ſie ſich bis in die kleinſten
Theilchen zerreiben laͤßt. Sie ſtellet demnach gewiſ-
ſermaßen vor, was das Solide fuͤr ſich betrachtet iſt,
wenn die Kraͤfte, ſo die Theilchen verbinden koͤnnen,
daraus weg, oder nicht damit verbunden ſind. Ohne
ſolche Kraͤfte wuͤrden wir von harten, elaſtiſchen
und fluͤßigen Materien in der Welt nichts finden,
deren
[163]Das Zuſammenſetzen.
deren verſchiedene Arten und Stufen ſchlechthin von
den beſondern Modificationen der Kraͤfte abhaͤngt,
womit die Theilchen verbunden ſind. Die meiſten
Verſuche zeigen, daß jede Kraft einen Wirkungs-
kreis hat, in welchem ſie gleichſam im Ruheſtande
iſt, und daß die Vergroͤßerung und die Verkleine-
rung dieſes Wirkungskreiſes das Gleichgewicht auf-
hebt, und die Kraft zur Wiederherſtellung deſſelben
ihre Wirkung aͤußert.


§. 545.


Da wir den Begriff der Kraͤfte, ſowohl des Den-
kens als des Wollens und des Wirkens, nur aus den
Wirkungen derſelben haben, ſo faͤllt es auch ſchwe-
rer, die Art, wie ſie wirken, ſich vorzuſtellen, wenn
man es nicht bey dem bloß ſymboliſchen, welches al-
lerdings uͤber unſere Sinnen und Einbildungskraft
hinaus reichen kann, will bewenden laſſen. Man
iſt, vermuthlich wegen dieſer Schwierigkeit, auf den
Einfall gekommen, die Wirkung der Kraͤfte bloß
ideal zu machen, und den phyſiſchen Einfluß derſel-
ben in eine bloße Harmonie zu verwandeln. Die
Kraft wurde durch den zureichenden Grund definirt,
warum die Accidenzen in den Subſtanzen ſind, un-
gefaͤhr eben ſo, wie man die Exiſtenz durch das Com-
plementum poſſibilitatis,
oder durch das Comple-
mentum complexus determinationum
definirte. Das
will nun ſagen: die Kraft iſt die Urſache, warum
das Solide mit anderm Solidem verbunden, und
dadurch etwas mehr als ein bloßer Haufen iſt, und
die Exiſtenz machet; daß das, was wirklich iſt, et-
was mehr als ſchlechthin nur moͤglich iſt. Dieſes
ſind aber Saͤtze, und keine vollſtaͤndige und reale
Erklaͤrungen. Denn da die Begriffe der Kraft und
L 2der
[164]XVII. Hauptſtuͤck.
der Exiſtenz ſchlechthin einfach, und eben dadurch
ſich ſelbſt ihr eigenes und einiges inneres Merkmal
ſind, ſo koͤnnen wir um dieſe Begriffe fuͤr ſich klar
zu erlangen, weiter nichts thun, als daß wir an-
geben, durch welche Empfindungen wir dazu gelan-
gen koͤnnen, ungefaͤhr, wie wir die Farbe ſelbſt vor-
legen, wenn wir einem andern begreiflich machen
wollen, welche wir eigentlich verſtehen oder zu haben
verlangen ꝛc. Jndem man aber die Kraft in dem
zureichenden Grunde beſtehen machte, und durch die-
ſen dasjenige verſtunde, woraus das Warum von
Etwas erkennbar wird, ſo war es ſehr natuͤrlich,
alles aufs Jdeale hinaus zu leiten. Wir haben die
Erzaͤhlung der dabey gebrauchten Art zu verfahren,
bereits in dem §. 521. vorgetragen. Die einfachen
Begriffe ſind ſchlechthin ungleichartig, und jeder fuͤr
ſich gedenkbar. Auf dieſe Art aber laͤßt ſich das,
was der eine vorſtellet, aus dem, was der andere
vorſtellet, nicht herleiten. Man verſuche es, z. E.
ob ſich aus dem Begriffe der Zeit der Begriff des
Raumes herleiten laſſe, oder ob aus dieſem jener ge-
funden werden koͤnne? Man muß es naͤmlich auf die
Art verſuchen, wie, wenn ein Blinder aus dem Be-
griffe des Schalles den Begriff des Lichtes herleiten
wollte. Die Hauptſchwierigkeit hiebey iſt, daß man
ſich, aus Erfahrungen zu ſchließen, gleichſam genoͤ-
thiget ſieht, den Wirkungskreis einer Kraft auch
außerhalb das Solide, in welchem ſie iſt, zu erſtre-
cken, und dadurch ohne zwiſchenliegendes Solides,
eine actionem in diſtans anzunehmen, die ſchlechthin
durch die Wirkung der Kraft hervor gebracht wird.
Denn mit Solidem kann man die Welt nicht wohl
dichte und bis zur abſoluten Continuitaͤt ausfuͤllen,
weil man ſtatt localer Bewegungen nur Erſchuͤtte-
rungen
[165]Das Zuſammenſetzen.
rungen haben wuͤrde, wie etwann in einem Sacke
voll Mehls, oder in einem Haufen Staubes. So-
dann faͤllt es uns ſchwer, Subſtanzen anzunehmen,
die nicht ſolid ſind, und dennoch in dem Soliden Ver-
bindungen verurſachen, Bewegungen und Veraͤnde-
rungen hervor bringen, und man wird dadurch leichte
verleitet, das Solide, die Dauer, den Raum und
die Bewegung fuͤr bloßen ſinnlichen Schein und Bil-
der der Einbildungskraft anzugeben, welche uns das,
was eine bloße Art der Vorſtellung des Verſchiede-
nen und des Veraͤnderlichen und der Harmonie zwi-
ſchen denſelben iſt, als etwas reales vorſtellen. Man
gienge hierinn anfangs ſtufenweiſe. Die Farben
z. E. und das Licht wurde dem Auge zugeſchrieben,
und man glaubte, daß die Stralen aus dem Auge
ausfloſſen, bis ſie die Objecte beruͤhrten, ungefaͤhr,
wie man mit der Hand etwas betaſten muß, um zu
finden, ob es hart oder weich ſey. Man hatte aber
nur einen Schritt zu thun, um dieſe Vorſtellung zu
aͤndern, weil man bey geringer Ueberlegung finden
konnte, daß das Auge im Dunkeln vergebens ſeine
Blicke gegen die Objecte richtet. Dadurch kehrte
man um, und eignete die Farben den Koͤrpern zu.
Genauere Verſuche aber zeigten, daß nicht die Koͤr-
per, ſondern die Lichtſtralen der eigentliche Grund
ſind, warum die Koͤrper mehrerley Farben haben
koͤnnen, und daß das Bild auf dem Augennetze eben
ſo gefaͤrbt ausſehe. Aus dieſem konnte man nun
ſchließen, daß die Begriffe der Farben eigentlich in
der Seele, die Veranlaſſung dazu aber in den Licht-
ſtralen, in den Koͤrpern und in der Structur des Au-
ges, der Geſichtsnerven und der Fibern des Gehir-
nes iſt. Zu allen dieſen Schluͤſſen verhalf die Er-
fahrung; und die Natur, ſo bald ſie richtiger befragt
L 3wurde,
[166]XVII. Hauptſtuͤck.
wurde, antwortete richtig und zuverlaͤßig, (§. 6.).
Man fand aͤhnliche Antworten, in Abſicht auf die Be-
griffe des Schalles, des Geſchmackes ꝛc. Darauf hin
aber gieng man weiter, und in dem man vermuthete,
es moͤchte des Betrugs der Sinne mehr ſeyn, ſo zoge
man Solides, Raum, Dauer, Bewegung ꝛc.
das will ſagen, ſo viel in Zweifel, daß die Natur,
welche man dadurch faſt ganz laͤugnete, weder befragt
werden, noch mehr antworten konnte, (Phaͤnomenol.
§. 9. 35.). Dieſes heißt nun, meines Erachtens, ſo
viel, als die Sache durchaus auf das Ungereimte
bringen, weil man die Erfahrung, die doch in den
erſten Faͤllen der Probierſtein bliebe, bey dieſem durch-
gaͤngigen Laͤugnen unbrauchbar machte.


§. 546.


Um nun wiederum zu dem §. 532. zuruͤck zu kehren,
ſo ſehen wir aus dem bisher Geſagten, daß das So-
lide eben dadurch, daß es immer noch getheilt werden
kann, an ſich betrachtet, nur verhaͤltnißweiſe einfach,
dagegen aber auch nicht bis in das unendlich Kleine
getrennet ſeyn kann, und daß man folglich diejenigen
Theilchen einfach nennen koͤnne, die von den uͤbrigen
getrennet ſind, in ſich aber eine abſolute Continuitaͤt
haben, und durch Kraͤfte ein Ganzes ausmachen,
welches in ſeinen kleinern Theilen durchaus verbun-
den iſt. Dieſe Kraͤfte ſind demnach das gemeinſame
Band des ganzen Stoffes, und erhalten daſſelbe in
ſeiner Jndividualitaͤt, ſo lange es nicht durch die Ein-
wirkung ſtaͤrkerer Kraͤfte getrennet wird, (§. 220.).
Da die Kraͤfte in der wirklichen Welt beſtimmet ſind,
ſo iſt es gar wohl moͤglich, daß es ſolche einzelne ſo-
lide Theilchen gebe, die ſchlechthin bleiben, wie ſie
ſind, und eben dadurch, wie auch durch den Unter-
ſchied
[167]Das Zuſammenſetzen.
ſchied ihrer Figur und Groͤße, die Grundlage zu dem
Unterſchiede der Koͤrper und Materien ausmachen.


§. 547.


Wir koͤnnen ferner nach (§. 532. N°. 2.) dasjenige
Solide einfach nennen, welches in ſeinen Theilen
durchaus gleichartig iſt, und daher aus einerley und
auf einerley Art zuſammengeſetztem und verbundenem
Grundſtoffe beſteht. Da in der wirklichen Welt die
verſchiedenen Arten des Grundſtoffes oder der einfa-
chen ſoliden Theilchen (§. 555.) und die Kraͤfte gar zu
ſehr mit einander durchflochten ſind, ſo koͤmmt eine
ſolche abſolute Gleichartigkeit allem Anſehen nach nir-
gends vor, und man ſieht daher mehr auf die durch-
gaͤngig gleiche Vermiſchung und auf das Wegſeyn
aller zu derſelben nicht gehoͤrenden Theile, wenn man
z. E. von vollkommen reinem Waſſer, feinem Golde,
Silber ꝛc. ſpricht. Wenn man demnach von ſolchen
Koͤrpern ſaget, daß ſie in ihren Theilen durchaus
gleichartig ſind, ſo ſaget man es eigentlich nur in einer
oder mehrern beſtimmten Abſichten, z. E. ſo fern ſie
durchgaͤngig einerley Schwere, Dichtigkeit, Cohaͤ-
ſionskraͤfte, Erwaͤrmbarkeit ꝛc. haben.


§. 548.


Da die Verſchiedenheit der Koͤrper von der ver-
ſchiedenen Groͤße und Figur der einfachſten oder nicht
ferner getrennten Theilchen, von den Kraͤften, die in
denſelben ſind, und von denen herruͤhrt, durch welche
ſie mit einander verbunden werden: ſo hat man nur
die Modificationen dieſer einfachen Beſtimmungen
mit einander zu combiniren, um mehrere Hauptclaſ-
ſen der Koͤrper herauszubringen. Es laſſen ſich aber
a priori uͤberhaupt nur Moͤglichkeiten finden, die folg-
L 4lich
[168]XVII. Hauptſtuͤck.
lich auf die wirkliche Welt nicht ſo unbedingt anwend-
bar ſind, wenn man ſo gleich ſchließen wollte, daß
eine derſelben in einem vorkommenden Falle ſtatt finde.
Man muß dieſe Theorie ſo weit treiben, daß man auf
Saͤtze komme, welche ſich allgemein umkehren laſſen,
(Dianoiol. §. 404. ſeqq.). Von ſolchen Saͤtzen giebt
naͤmlich das Subject die mechaniſche Structur des
zuſammengeſetzten Soliden an, ſo wie man dieſelbe
willkuͤhrlich, oder um alle zu haben, nach vorgegan-
gener Combination angenommen. Das Praͤdicat
hingegen muß eine Eigenſchaft angeben, die in die
Sinne falle, oder ſonſt in den Koͤrpern leicht gefun-
den werden koͤnne, und der Satz muß auch umgekehrt
allgemein wahr bleiben. Naͤmlich
Was die StructurShat, hat die Eigen-
ſchaft
A.

und hinwiederum
Was die EigenſchaftAhat, hat die
Structur
S.


§. 549.


Man ſetze ſich z. E. vor, die Structur der Koͤr-
per aufzuſuchen, welche hart, weich, zaͤhe, ſproͤde,
fluͤßig, elaſtiſch
ꝛc. ſind, ſo wird man ſich leicht
vorſtellen, daß die Figur der Theilchen und die ver-
bindenden Kraͤfte bey jeder dieſer Arten ganz verſchie-
dene Modificationen und Beſtimmungen haben, und
eben ſo wird man ſich auch leicht folgende Moͤglich-
keiten vorſtellen koͤnnen.


  • 1°. Die Theilchen ſeyn nicht rund, ſondern ſie ha-
    ben ebene Flaͤchen, und liegen dieſen Flaͤchen
    nach dergeſtalt an einander, daß ſie dichte an-
    ſchließen und den Raum ausfuͤllen, und in die-
    ſer
    [169]Das Zuſammenſetzen.
    ſer Lage ſeyn ſie durch Kraͤfte verbunden, die
    ſie ſchlechthin zuſammendruͤcken. Soll nun ein
    ſolcher Koͤrper getrennet werden, ſo ſieht man
    leicht, daß alle die Kraͤfte, welche nach einer
    durch den Koͤrper gehenden Flaͤche die Theilchen
    zuſammendruͤcken, mit einem male uͤberwaͤltigt
    werden muͤſſen, und daher lange nicht jedem
    Eindrucke nachgeben.
  • 2°. Liegen die Theilchen nach ihren Flaͤchen an ein-
    ander, ohne daß ſie eben den Raum ganz aus-
    fuͤllen, ſo hat zwar eben dieſes ſtatt, doch wird
    der Koͤrper gebruͤchlicher ſeyn, oder leichter ge-
    trennet werden koͤnnen. Dieſer Koͤrper wird
    demnach hart ſeyn.
  • 3°. Haben die Theilchen ſehr viele Flaͤchen oder ſie
    ſind ganz abgeruͤndet, ſo liegen ſie auch nicht
    nach allen Flaͤchen an einander, oder falls ſie
    rund ſind, ſo beruͤhren ſie ſich nur in Puncten.
    Daher ungeachtet ſie durch Kraͤfte verbunden
    ſind oder zuſammengedruͤckt werden, ſo geben ſie
    jedem Eindrucke leichter nach, und aͤndern auch
    ihre Lage, und mit dieſer die Figur des Koͤrpers
    leichter. Demnach iſt derſelbe weich.
  • 4°. Sind aber die verbindenden Kraͤfte ſehr ſtark,
    ſo werden die Theilchen dennoch muͤhſamer ganz
    getrennet, und da ſie immer zuſammengedruͤckt
    werden, ſo folgen ſie zwar der Direction, nach
    welcher man ſie zieht, hingegen weichen ſie da-
    von ſeitwaͤrts ab, um ſich an die nebenliegenden
    Theilchen anzulegen. Der Koͤrper wird dem-
    nach zaͤhe und ziehbar ſeyn, oder eine Zieh-
    barkeit
    (Ductilitas) haben.

L 55°. Setzet
[170]XVII. Hauptſtuͤck.
  • 5°. Setzet man die Kraͤfte von der Art, daß ſie
    die Theilchen ſchlechthin in einer gewiſſen Ent-
    fernung von einander halten, ſo wird jedes, ſo
    lange es in dieſer Entfernung bleibt, (und es
    muß bleiben, wenn die Kraft unveraͤnderlich
    iſt), ſich frey um die andern bewegen koͤnnen,
    und der Koͤrper wird im eigentlichſten Verſtande
    fluͤßig, aber nicht elaſtiſch ſeyn.
  • 6°. Jſt hingegen dieſe Entfernung der Theilchen
    nur da, ſo lange das Gleichgewicht der Kraͤfte
    jeder Theilchen ſtatt hat, ſo iſt es auch moͤglich,
    durch aͤußere Kraft den Raum kleiner, oder
    durch das Vermindern der aͤußern Kraft den-
    ſelben wiederum groͤßer zu machen, und der
    fluͤßige Koͤrper wird elaſtiſch ſeyn.
  • 7°. Erſtrecket ſich die Kraft eines jeden Theilchens
    nicht nur auf die naͤchſt anliegenden, ſondern
    auch auf die entferntern, ſo daß auch dieſe da-
    durch in der Verbindung erhalten werden, ſo
    iſt es bey zaͤhen Koͤrpern moͤglich, daß ſie ihre
    Figur, wenn ſie bis auf einen gewiſſen Grad
    geaͤndert wird, wiederherſtellen, und dadurch
    elaſtiſch werden.

§. 550.


Da das Solide unendlich theilbar iſt, ſo kann man
ſich alles dieſes im Großen vorſtellen, weil doch der
Maaßſtab oder die Einheit dabey willkuͤhrlich iſt, und
hiezu beut die Mechanic Saͤtze an. Die Modification
der Kraͤfte kann man ſchlechthin auf eine aͤhnliche Art
annehmen, wie ſie, fuͤr einen an ſich noch ſehr ſpecia-
len Fall, bey der Newtonſchen Attraction angenom-
men wird. Das Solide iſt zu der Erklaͤrung eines
Mecha-
[171]Das Zuſammenſetzen.
Mechaniſmus nicht hinreichend, (§. 539. 545.). Es
iſt daher an ſich moͤglich und ſehr wahrſcheinlich, daß
außer den Kraͤften, die die kleinſten und nicht ferner
getheilten Theilchen der Materie in ihrer Continuitaͤt
erhalten, noch ſolche ſind, die ſich nicht nur auf die
Verbindung dieſer kleinſten Theilchen, ſondern auf
die Verbindung ganzer Syſtemen groͤßerer Koͤrper,
und ſo auch des ganzen Weltbaues erſtrecken, ſo un-
begreiflich uns, nicht die Wirkung, ſondern ihre Art
zu wirken (§. 545.) ſeyn mag. Jn der That zeigen
die chymiſchen Proceſſe des Aufloͤſens, des Praͤci-
pitirens
ꝛc. und die Arten der Affinitaͤten, daß ſich
in den Koͤrpern mehrerley ſtufenweiſe ſtaͤrkere, feinere
und groͤßere Kraͤfte gedenken laſſen, und die einen
gehoben, getrennet, veraͤndert, umgewechſelt werden
koͤnnen, ohne daß die andern immer nothwendig da-
durch eine weſentliche Veraͤnderung leiden, (§. 207.).


§. 551.


Setzet man nun die vorhin (§. 549.) angefuͤhrten
Saͤtze durch eine umſtaͤndlichere Theorie aus einander,
ſo iſt es gar wohl moͤglich, es ſo weit zu bringen,
daß man findet, ob ſie auch umgekehrt allgemein blei-
ben; und dieſes kann auf eine gedoppelte Art geſche-
hen. Einmal ſieht man, daß die bey jedem dieſer
Saͤtze angenommene Structur verſchieden iſt; und
eben wegen dieſer Verſchiedenheit kommen die Praͤ-
dicate ſo heraus, daß ſie nicht durchaus bey einerley
Structur ſtatt haben koͤnnen, ſie moͤgen nun der Art
oder nur den Graden nach verſchieden ſeyn. Denn
ſo iſt z. E. das Sproͤde nicht zaͤhe, das Harte nicht
weich, nicht fluͤßig ꝛc. Man kann ſich demnach ſchon
dadurch verſichern, daß das Fluͤßige die Structur
des Harten, das Zaͤhe und Weiche die Structur
des
[172]XVII. Hauptſtuͤck.
des Sproͤden ꝛc. nicht haben koͤnne. Werden dem-
nach bey der ausfuͤhrlichen Theorie die verſchiedenen
Arten der Structur vollſtaͤndig abgezaͤhlt, ſo laͤßt
ſich aus der Verſchiedenheit und aus dem Nicht bey
einander ſeyn koͤnnen der Praͤdicate ſchließen, wie
fern ſich die Saͤtze umkehren laſſen. Denn wenn zu
einem Praͤdicate keine von den uͤbrigen Zuſammen-
ſetzungsarten paſſet, ſo kann man dadurch ausſchlieſ-
ſungsweiſe finden, daß es derjenigen, bey welcher
man es gefunden, allein zukomme, und dadurch laͤßt
ſich der Satz umkehren, (§. 277. ſeqq.).


§. 552.


Sodann kann man ſich in Form einer umgekehr-
ten Aufgabe, uͤberhaupt die Frage vorlegen, welche
Structur und Zuſammenſetzung der Theile erfordert
werde, damit ein Koͤrper z. E. hart ſey? (Dianoiol.
§. 166. 511.). Man wird dabey finden, daß ſchon
die kleinſten Theilchen deſſelben hart ſeyn, das will
ſagen, eine durch ſtaͤrkere Kraͤfte verbundene Conti-
nuitaͤt haben muͤſſen, und daß, wenn dieſe Continui-
taͤt nicht in dem ganzen Koͤrper durchgaͤngig iſt, die
Beſtandtheilchen deſſelben nicht rund ſeyn, ſondern
nach ihren Flaͤchen an einander liegen, und durch
Kraͤfte zuſammengedruͤckt werden muͤſſen. Man wird
in der Art, wie ſich die Cryſtallen erzeugen, deren
kleinſte Theilchen ſich den Flaͤchen nach an einander
anlegen, und durch Kraͤfte verbunden werden, Bey-
ſpiele hiezu finden, und allem Anſehen nach muß die-
ſes bey den Diamanten am vollkommenſten und mit
den ſtaͤrkſten Kraͤften geſchehen. Jhre Durchſichtig-
keit, Glanz und Haͤrtigkeit ſind Proben davon. Man
ſieht leicht, daß man ſich, in Abſicht auf die Structur
der weichen, zaͤhen, fluͤßigen und elaſtiſchen Koͤrper,
aͤhnliche
[173]Das Zuſammenſetzen.
aͤhnliche Aufgaben gedenken kann, deren vollſtaͤndige
Aufloͤſung vornehmlich dahin gehen ſoll, daß man
die beſondern Arten und die Ausmeſſung der Grade
dieſer Eigenſchaften genau und auf eine brauchbare
Art beſtimme. Wir haben, in Abſicht auf die Grade
der Elaſticitaͤt, oben (§. 419. 420.) eine Formel an-
gegeben, und dieſelbe uͤberhaupt aus allgemeinen me-
chaniſchen Gruͤnden, und beſonders auch daraus her-
geleitet, daß Zeit und Ort, an ſich betrachtet, in den
Dingen nichts aͤndert, und daher bey der Bewegung
nur die relative Geſchwindigkeit in Betrachtung zu
ziehen iſt, wenn die Wirkung derſelben beſtimmet
werden ſoll. Da aber die ausfuͤhrliche Theorie der
erſterwaͤhnten Aufgabe und Saͤtze viel zu weitlaͤuftig
iſt, ſo koͤnnen wir uns hier nicht dabey aufhalten.
Das bisher Geſagte mag demnach als eine Anleitung
dazu genug ſeyn. Denn uͤberhaupt, wenn man nicht
bey dem gar zu Allgemeinen will ſtehen bleiben, ſon-
dern die Theorie ſo einrichten, daß ſie in der gegen-
waͤrtigen Welt und ihren Koͤrpern anwendbar ſey, ſo
muß man theils auch auf dieſe zugleich ſein Augen-
merk richten, und zu der Auswahl des Stoffes die
Erfahrung mit zu Rathe ziehen. Bey der Anwen-
dung einer ſolchen Theorie auf die Eigenſchaften der
Koͤrper, welche uns die chymiſchen Verſuche zeigen,
machet ſich die Erfahrung noch ungleich nothwendiger.


§. 553.


Wir koͤnnen hiebey noch anmerken, daß die Woͤr-
ter hart, weich, zaͤhe, fluͤßig, ſproͤde ꝛc. meta-
phoriſch und tranſcendent gemacht, und auf die Kraͤfte
der Jntellectualwelt bezogen werden, beſonders aber
werden ſie gebraucht, um die Gemuͤthsbeſchaffenheit
und das daher ruͤhrende Verfahren, Thun und Laſſen
zu
[174]XVII. Hauptſtuͤck.
zu characteriſiren. Es iſt daher gar nicht zu zweifeln,
daß eine genaue und vollſtaͤndige Theorie dieſer Eigen-
ſchaften der Koͤrper nicht mehrere und brauchbare
tertia comparationis angeben ſollten, dergleichen wir
in dem Vorhergehenden bereits ſchon haͤufig ange-
zeiget haben, um Stoff zu einer ſyſtematiſchen und
wiſſenſchaftlichen Vergleichung der Koͤrperwelt und
der Jntellectualwelt zu ſammeln, zu welcher die erſte
Anlage bereits ſchon in der Sprache liegt. Der
Mechaniſmus in den Fibern des Gehirnes, welcher
bey jedem Menſchen ſeine individualen Modificatio-
nen hat, mag ebenfalls zu dieſen Benennungen Anlaß
gegeben haben, und zu der Theorie derſelben dienen.


§. 554.


Die Kraͤfte des Willens geben uns noch eine andere
Art von Verbindung an, wodurch die Subſtanzen
der Jntellectualwelt verbunden, und auf eine tran-
ſcendente Art zuſammengeſetzet werden. Das Band
der Freundſchaft
iſt ein daher genommener Aus-
druck. Es gruͤndet ſich nicht, wie die Societaͤten,
auf einen vorſetzlichen und wegen des gemeinen Nu-
tzens geſchloſſenen Vertrag, ſondern auf die Gleich-
heit der Geſinnung und auf die Harmonie der Gemuͤ-
ther, und iſt daher, wo dieſe vorkoͤmmt, an ſich na-
tuͤrlich. Die Societaͤten, welche ſich auf Verpflich-
tungen und Vertraͤge gruͤnden, haͤngen mehr von
einem vorbedachten Vorſatze ab, ſo fern man ſich frey
dazu entſchließt. Die Ueberlegung, die dabey vor-
hergeht, iſt ein Werk der Erkenntnißkraͤfte, und dieſe
muͤſſen das Gute in der Sache uͤberwiegend zeigen,
ehe ſich der Wille dazu determinirt. Geſchieht aber
dieſes, ſo macht der Vorſatz, bey dem Vertrage zu
bleiben, und demſelben gemaͤß zu verfahren, das
gemein-
[175]Das Zuſammenſetzen.
gemeinſame Band der Societaͤt aus, welche in dieſer
Abſicht als ein zuſammengeſetztes, oder aus mehrern
mit einander in Verbindung ſtehenden Indiuiduis be-
ſtehendes Ganzes iſt. Auf dieſe Art ſind groͤßere
Societaͤten aus ſtufenweiſe kleinern zuſammengeſetzet.
Jede neue Zuſammenſetzung hat darinn ihr beſon-
deres gemeinſames Band, und jedes Band, wenn
es anders nicht von den uͤbrigen oder einigen derſelben
abhaͤngt, das will ſagen, deswegen verknuͤpft wor-
den iſt, weil die uͤbrigen oder einige derſelben da wa-
ren, kann fuͤr ſich beſtehen, und eben ſo kann es fuͤr
ſich wegfallen oder geaͤndert werden, dafern dieſe
Aenderung nicht eine Aenderung in dem Ganzen oder
in einigen der uͤbrigen nach ſich zieht. Denn widri-
genfalls muß es entweder bleiben, oder die Vertraͤge,
worauf ſich das Band des Ganzen oder die uͤbrigen
gruͤnden, muͤſſen geaͤndert werden. Alles dieſes hat
mit der Art, wie die kleinern und groͤßern Theilchen
der Koͤrper, und mehrere Koͤrper unter ſich ꝛc. ver-
bunden ſind, eine durchgaͤngige Aehnlichkeit. Wir
haben daher die Regeln, nach welchen ſolche Veraͤn-
derungen mehr oder minder Folgen nach ſich ziehen,
in dem §. 220. uͤberhaupt, und ohne Ruͤckſicht auf die
drey Arten der Kraͤfte, vorgetragen, und dieſe, um
die allgemeine Anwendbarkeit und den weitlaͤuftigen
Umfang derſelben zu zeigen, in dem §. 221. angegeben.


§. 555.


Bey ſolchen durch die Kraͤfte des Willens verbun-
denen Ganzen, kommen, wenn ſie anders ſollen wirk-
lich ſeyn und fuͤr ſich oder ohne aͤußere Gewalt fort-
dauern koͤnnen, die Erforderniſſe und Bedingungen
des Beharrungsſtandes vor. Hievon haben wir die
einfachern Gruͤnde bereits in dem §. 484. und 485.
vor-
[176]XVII. Hauptſtuͤck.
vorgetragen. Die Abſicht einer Societaͤt geht auf
die Erreichung des allgemeinen oder gemeinſamen
Beſten, als welches ohnehin der Gegenſtand des
Willens iſt. Um dieſes zu erreichen, muͤſſen Kraͤfte
und wirklich ſchon vorhandenes Gutes angewandt wer-
den. Die Frage iſt demnach, zu beſtimmen, was
jedes Mitglied in Anſehung deſſen zu thun hat, und
auch hiebey muß ſchon das gedoppelte Maximum in
die Rechnung gezogen werden, das wir oben (§. 484.)
angefuͤhret haben, wenn man das Maximum heraus-
bringen will, welches der Beharrungsſtand des Gan-
zen erfordert. Das Ebenmaaß, ſo hiebey heraus-
koͤmmt, iſt nun ordentlich ſo beſchaffen, daß bald
jedes einzelne Gute, fuͤr ſich betrachtet, groͤßer ſeyn
koͤnnte, und daß, wer etwann nur darauf ſein Au-
genmerk richtet, ohne das Ganze zu uͤberſehen, leicht
verleitet wird, dieſes zu tadeln, und etwann auch die
einzelnen Stuͤcke zum Nachtheile des Ganzen beſſer
machen zu wollen. Jn der That kann man auch
aus dieſem Grunde auf die natuͤrlichſte und ſchluͤßigſte
Art herleiten, warum mehrentheils ſolche Verordnun-
gen, die wegen ihrer Abſicht, unverbeſſerlich ſcheinen,
nicht nur nicht lange ſo dauern, ſondern am ſchlechte-
ſten gemißbraucht werden. Sie fordern gewoͤhnlich
eine ſtaͤrkere Verwendung der vorhandenen Kraͤfte,
als Mittel da ſind, ſie wiederum zu erſetzen, und
oͤfters ſetzen ſie auch Kraͤfte voraus, die noch nicht
vorhanden ſind, oder wenn ſie vorhanden ſind, bald
verbraucht werden, und eine Ermuͤdung nach ſich laſ-
ſen, die, wenn man auch wieder ausruht und die
Kraͤfte erholt, die Luſt, ſie noch einmal ſo anzuwen-
den, verſchwinden macht, und ſie nicht ſelten auf das
Gegentheil, oder von einem Exceſſe auf den andern
lenkt, bis man endlich, gleichſam wie durch Oſcilla-
tionen,
[177]Das Zuſammenſetzen.
tionen, wiederum zum Beharrungsſtande koͤmmt.
Durch eine ſolche an ſich ganz natuͤrliche und noth-
wendige Ermuͤdung wird oͤfters das, was ſich von
einer ſehr begehrenswuͤrdigen Seite zeigte, und wor-
auf man anfangs mit feurigem und heftigem Triebe
alle Kraͤfte verwendete, halb angefangen, und ſodann
ganz im Stecken liegen gelaſſen, bis etwann wiederum
neue Vorſtellungen einen neuen Anfall veranlaſſen.


§. 556.


Das gemeine und das eigene Beſte ſchraͤnken ein-
ander aber nicht nur dadurch ein, daß man der Kraͤfte
Rechnung tragen muß, um die Maxima dabey in
Verbindung zu bringen, ſondern der Mangel des
Wiſſens und des Wollens verurſachen, daß man das
eine zum Nachtheile des andern ſuchet, und oͤfters
auch beyde verderbt. Dieſes macht Geſetze und eine
Subordination nothwendig, und in Abſicht auf
beyde entſcheidet der Unterſchied der Talente und
beſonders der dazu erforderlichen Klugheit und Ein-
ſicht
die Rangordnung dergeſtalt, daß das ſo ge-
nannte Fac totum nicht immer derjenige iſt, der den
Namen davon hat, ſondern den Natur und Geſchicke
zum erſten Triebrade der Maſchine gewidmet hat,
und mit deſſen Tode oͤfters die Seele des ganzen Sy-
ſtems weggenommen iſt, und alles ruͤckwaͤrts geht.


§. 557.


Da die Kraͤfte des Willens, worauf ſolche Sy-
ſtemen beruhen, und mit denſelben das meiſte von
dem Weſentlichen ihrer Zuſammenſetzung nicht in die
Augen faͤllt, ſo hat man, um denſelben eine aͤußer-
liche Geſtalt zu geben, vornehmlich die Formalitaͤten
eingefuͤhret, und auch fuͤr die Rangordnung aͤußerliche
Lamb. Archit.II.B. MUnter-
[178]XVII. Hauptſtuͤck.
Unterſcheidungszeichen ausgedacht, um einer Sache,
deren Weſen in der Jntellectualwelt gleichſam ver-
borgen iſt, einen Koͤrper zu geben. Die Weitlaͤuf-
tigkeit verſchiedener Verrichtungen, welche macht,
daß man dazu von Kindheit auf gewoͤhnt und erzogen
werden muß, beſonders wo die Natur die Talente zu
anderm gegeben hatte; die natuͤrlichen Triebe der
Aeltern, fuͤr ihre Kinder zu verdienen; der daher
genommene Anlaß, ſie dazu noch mehr anzutreiben;
die Nachtheile der ohne wichtigere Gruͤnde vorgenom-
menen Neuerungen, welche den Beharrungsſtand aͤn-
dern, ohne ihn zu beſſern oder dauerhafter zu machen;
die Nothwendigkeit, weniger auf das Neue, als auf
das Gute und Dauerhafte zu ſehen ꝛc. alles dieſes hat
bey der aͤußerlichen Geſtalt von nothwendigen und
an ſich fortdauern ſollenden Societaͤten verſchiedenes
erblich gemacht, zugleich aber auch verurſacht, daß
das Weſentliche oder die Seele derſelben nicht nach
der Geſtalt des Koͤrpers beurtheilet werden kann.


§. 558.


So fern die geſetzliche Einrichtung einer Societaͤt
nicht nach dem Beharrungsſtande getroffen iſt, richtet
ſich dieſe, wenn ſie dennoch ſeyn muß, von ſelbſt in
eine Art von Beharrungsſtand, welcher aber aller-
dings nicht immer der beſte moͤgliche iſt, und gewoͤhn-
lich geht es dabey wie bey den lebenden Kraͤften der
Koͤrperwelt und ihrer Syſtemen, oſcillationsweiſe
vom zu vielen zum zu wenigen, beſonders, wo die
wirkenden Kraͤfte lebendig oder von dem wahren
Gleichgewichte weit entfernt ſind. Hingegen giebt
es auch Faͤlle, wo ſich die Sache ohne Oſcillationen
und gleichſam auf eine aſymtotiſche Art, dem Behar-
rungsſtande naͤhert, und dieſes geſchieht, wo die Vor-
ſtellungen,
[179]Das Zuſammenſetzen.
ſtellungen minder lebhaft ſind, wo man nur ſtufen-
weiſe zur Kenntniß der noͤthigen Aenderung und der
Mittel koͤmmt, und wo die Beweggruͤnde ſich nur
nach und nach zeigen, und ſo wie ſie ſich zeigen, oder
ohne ſich vorerſt aufzuhaͤufen, den Willen lenken ꝛc.


§. 559.


Die Subordination verurſacht eigentlich zwiſchen
der Ausdehnung und Staͤrke der Kraͤfte, wodurch
eine Societaͤt in ihrer Wirkſamkeit und in dem Be-
harrungsſtande erhalten wird, ein gewiſſes Eben-
maaß, weil eine Kraft, die ſich auf mehrere Objecte
zugleich erſtrecken ſoll, auf jedes ſchwaͤcher wirkt, und
daher auch langſamer ihre Wirkung ganz hervorbringt.
Wo demnach etwas, wozu mehrere einzelne Kraͤfte
erfordert werden, mit einem Male und ohne Zeitver-
luſt geſchehen ſoll, da wird die Subordination unent-
behrlicher und ſtrenger erfordert, beſonders wo alle
die einzelnen Kraͤfte ſich lebendig (§. 410.) aͤußern
muͤſſen, und wo die Art, wie ſie muͤſſen angewandt
werden, ſehr zuſammengeſetzet iſt, und nach der Be-
ſchaffenheit der ſich aͤußernden Umſtaͤnde ſo gleich ge-
aͤndert werden muͤſſen.


§. 560.


Die Kraͤfte des Willens ſind gewiſſermaßen eine
Mittelſtufe zwiſchen den Kraͤften des Verſtandes und
den Kraͤften zu wirken, und mit dieſen beyden genau
verbunden. Jn Abſicht auf den Verſtand, deſſen
Object an ſich das Wahre iſt, erfordern ſie die Vor-
ſtellung des Guten, und durch dieſes in Bewegung
geſetzet, ergießen ſie ſich gleichſam in die Kraͤfte zu
wirken, um dieſe in Activitaͤt zu bringen. Es iſt
aber nicht zu vermuthen, daß man dieſe drey Arten
M 2von
[180]XVII. Hauptſtuͤck.
von Kraͤften als drey von einander verſchiedene Sub-
ſtanzen anſehen muͤſſe, ſondern vielmehr, daß ſie
eine und eben dieſelbe Subſtanz, und folglich nur
Modificationen davon ſind, ſo wie ſie, nur unter
drey verſchiedenen Geſtalten, einerley Object haben,
weil das Solide und die Kraͤfte ſelbſt, das gemein-
ſame Object und die erſte Anlage zu dem Reiche der
logiſchen, moraliſchen und metaphyſiſchen Wahrheit
ſind, (§. 497. 500.). Jndeſſen iſt dieſe dreyfache
Geſtalt des Objectes ſo verſchieden, daß jede beſon-
ders betrachtet werden muß, wenn man ſie mit den
uͤbrigen vollſtaͤndig will vergleichen koͤnnen.


§. 561.


Wir haben nun noch das zu durchgehen, was durch
die Kraͤfte des Verſtandes zuſammengeſetzt, oder als
ſolches angeſehen wird. Das ſind nun uͤberhaupt
Wahrheiten, weil dieſe der unmittelbare Gegen-
ſtand der Erkenntnißkraͤfte ſind. Hier iſt nun eigent-
lich nicht von dem ganzen Reiche der Wahrheiten die
Rede, wo alles ſchon als zuſammengeſetzt, in Ord-
nung gebracht und mit einander verbunden angeſehen
werden muß, und wo jede Zuſammenſetzung, die in
den Dingen ſelbſt iſt, bereits ſchon in den Begriffen
und Saͤtzen, als in den Bildern und Abdruͤcken der
Sachen vorkoͤmmt. Wir werden hier die Kraͤfte des
Verſtandes und den Jnbegriff der Wahrheiten ſo
nehmen, wie ſie in einzelnen denkenden Weſen in ge-
wiſſem Grade vorkommen, und daher dieſen Jnbe-
griff als ein individuales Ganzes betrachten, wie wir
bereits oben (§. 221.) einzelne Gedenkensarten, Glau-
bensbekenntniſſe, Hypotheſen, Lehrgebaͤude, Lebens-
arten ꝛc. als ſolche Ganze, beyſpielsweiſe angefuͤhret
haben. So fern nun ſolche Ganze ſollen exiſtiren,
und eben dadurch fortdauern koͤnnen, wird ebenfalls
eine
[181]Das Zuſammenſetzen.
eine Art von Beharrungsſtand dazu erfordert, dem
ſich das Syſtem, wenn es denſelben nicht ganz hat,
oſcillations- oder auch aſymtotenweiſe naͤhert. Denn
darinn kommen alle drey Arten von Kraͤften uͤberein,
wenn ſie ſich dem Gleichgewichte und Beharrungs-
ſtande, aus dem ſie verruͤckt ſind, wiederum naͤhern
ſollen (§. 555. 558.). Das erſtere geſchieht nun hier
gewoͤhnlich, wenn das Syſtem ſich mit einem Male,
und demjenigen, der es betrachtet, gleich anfangs
von ſeiner fehlerhaften oder wenigſtens fehlerhaft ſchei-
nenden Seite ſo aufdeckt, daß man des Wahren, das
noch etwann darinn iſt, nicht wahrnimmt, oder die
Geduld nicht hat, es aus einander zu leſen. So
z. E. iſt ein Satz allerdings irrig, wenn etwas wi-
derſprechendes daraus gefolgert werden kann. Da-
durch aber wird derſelbe gewoͤhnlich ganz verworfen.
Es iſt aber der Begriff irrig ein ſolches Praͤdicat,
welches ſich ſelten ganz, und niemals gleichfoͤrmig
uͤber das Subject, welches hier einen Satz oder auch
auch ein ganzes Syſtem vorſtellet, ausbreitet. (Ale-
thiol. §. 194. 202. 259. und oben §. 242.). Man ver-
faͤhrt noch aͤrger, wenn man einen Satz nur wegen
des Beweiſes verwirft, den man unſchluͤßig und
mangelhaft findet. (§. 200. Alethiol. §. 243. Dia-
noiol.). Dieſes geht nur an, wenn die Gruͤnde, aus
welchen man einen Beweis verwerfen muß, zugleich
auch zeigen, daß und ſo auch wie der Satz muͤſſe
geaͤndert werden. Jch uͤbergehe uͤbrigens hier, was
die Ungeduld, der Geiſt der Neuerung und andere
Leidenſchaften zu ſolchen Oſcillationen beytragen koͤn-
nen, (Phaͤnomenol. §. 148.). Beut ſich hingegen
bey der Betrachtung ſolcher Syſtemen das Wahre
und das Jrrige durch einander gemenget, und gleich
an, ſo verurſachet die Muͤhe des Auseinanderleſens,
M 3und
[182]XVII. Hauptſtuͤck.
und das Bewußtſeyn, man wuͤrde mit dem Wahren
auch Jrriges annehmen, oder mit dem Jrrigen auch
Wahres verwerfen, daß man ſich dabey mehr Zeit
und Geduld laͤßt, und die Sache wird nicht oſcilla-
tions- ſondern aſymtotenweiſe nach und nach ins Rei-
ne gebracht.


§. 562.


So fern die Kraͤfte des Verſtandes bey dem ſtaͤr-
kern Anſtrengen, ebenfalls wie die andern zwo Ar-
ten von Kraͤften, ermuͤden, und ſich wiederum erho-
len muͤſſen, ſo ferne haben auch hierinn die oben
(§. 484.) angefuͤhrten zwey Maxima ſtatt; und be-
ſonders iſt hiebey auch darauf zu ſehen, daß die
Kraͤfte ſo wenig als moͤglich iſt, vergebens ange-
wandt werden, welches dadurch erhalten wird, wenn
man die Erkenntniß, die man zu erlangen ſuchet,
vorerſt von der Seite betrachtet, ob ſie ſich erlangen
und finden laſſe, und ob, wenn es auch angeht, nicht
ſo viel Zeit darauf gehe, daß man ſtatt deren eine
Summe von andern haͤtte erlangen koͤnnen, welche
vorzuziehen waͤre? Dieſes will nun allerdings nicht
ſagen, daß man das Wahre nur nach der Zeit, Muͤ-
he und Vortheil ſchaͤtzen muͤſſe. Man wuͤrde viel
nuͤtzliches nicht wiſſen, wenn weder jemand curios
geweſen waͤre, noch die bloße Neugierde einen Trieb
zum Erfinden abgegeben haͤtte, und wenn ſich die
Erfinder von jeder Schwierigkeit haͤtten abſchrecken
laſſen. Dieſe ziehen die Muͤhe gar nicht, oder erſt
zuletzt in die Rechnung, (Phaͤnomenol. §. 136.). Jn-
deſſen ſuchen ſie auch nicht mit Gewalt, was von der
Art iſt, daß es von gluͤcklichen Einfaͤllen und Anlaͤſ-
ſen abhaͤngt, denen man nicht gebiethen kann, und
was daher bey aufgeraͤumtem Kopfe ſich eher als bey
ermuͤdendem Nachſinnen anbiethet.


§. 563.
[183]Das Zuſammenſetzen.

§. 563.


Die Kraͤfte des Verſtandes bleiben nicht bloß bey
dem Wahren ſtehen, ſondern haben auf die andern
Arten von Kraͤften einen ſtarken Einfluß. Sie ha-
ben ſaͤmmtlich einerley Gegenſtand (§. 560.), und es
iſt daher ſehr natuͤrlich, daß das Wahre, in ſei-
nem Objecte betrachtet, unter dem Bilde des Gu-
ten
vorkomme, und daher den Willen in Bewegung
ſetze. Man findet ſich daher bey dem Jrrthume nicht
nur dadurch betrogen, daß es ein Jrrthum iſt, ſon-
dern auch dadurch, daß er den Willen und die Kraft
zu wirken auf die Seite lenket, wo nichts Gutes
und nichts Moͤgliches iſt, das will ſagen, wo in
bey den Abſichten weder Realitaͤt iſt noch ſeyn kann.
Dadurch beſtimmt ſichs nun wiederum, wie fern ein
individuales Syſtem fortdauern koͤnne, worinn Wah-
res und Jrriges durchflochten iſt, wenn es weiter
nicht unterſuchet, ſondern nur aus den Folgen beur-
theilet wird, die auf das Wohlſeyn deſſen, der das
Syſtem hat, einen Einfluß haben, wohin folglich
beſonders die Lehrgebaͤude der Religion, der Moral
und der Staatslehre gehoͤren, in ſo fern man denſel-
ben wirklich folget. Diejenigen Syſtemen werden
immer die dauerhafteſten ſeyn, die weder vorausſe-
tzen, daß der Menſch ein Engel ſey oder ſeyn muͤſſe,
noch daß er ein Thier ſey, ſondern daß in dem Men-
ſchen eine Anlage zum Guten vorkomme, welche ih-
rer Natur gemaͤß und ſtufenweiſe vergroͤßert werden
koͤnne, und daß dieſes Anwachſen nicht dem Unend-
lichen, ſondern den Maximis immer naͤher kommen
muͤſſe, die wir oben (§. 484.) angefuͤhret haben.
Man ſehe auch §. 555.


M 4Achtzehn-
[184]XVIII. Hauptſtuͤck.

Achtzehntes Hauptſtuͤck.
Dinge und Verhaͤltniſſe.


§. 564.


Nach der bisherigen Betrachtung der Kraͤfte
und ihrer Vergleichung mit den Dingen und
Verhaͤltniſſen haben wir nun die beyden letztern ſelbſt
mit einander zu vergleichen, um etwas umſtaͤndlicher
zu ſehen, welche Verbindung zwiſchen Dingen und
Verhaͤltniſſen ſtatt finde. Wir werden uns dabey
das oben (§. 15.) angefuͤhrte Requiſitum der Grund-
lehre und uͤberhaupt jeder wiſſenſchaftlichen Erkennt-
niß zum Augenmerke ſetzen, wie man darinn
naͤmlich aus der geringſten Anzahl gegebener
Stuͤcke, die uͤbrigen finden koͤnne, die dadurch
beſtimmt oder damit in Verhaͤltniß ſind.
Denn
dazu ſind die Verhaͤltnißbegriffe eigentlich geſchaffen,
weil wir ohne dieſelben kaum von einem Dinge auf
das andere einen Schluß machen koͤnnten, (§. 372.).
Dieſe Nothwendigkeit zeiget ſich nun wiederum in
der Geometrie am augenſcheinlichſten, und es iſt ſich
daher nicht zu verwundern, wenn auch hierinn Eu-
clid
den Philoſophen mit ſeinem Beyſpiele vorgegan-
gen iſt, und mehr Nachfolge verdienet haͤtte, als
ſich wirklich gefunden. Die Sache ſelbſt hat folgen-
de Bewandtniß. Man weiſet in der Geometrie, daß
man aus Nichts nichts finden kann, und daß man
folglich, um etwas zu finden, wiſſen muͤſſe, wo man
es zu ſuchen habe, und woraus es koͤnne gefunden
werden. Und dieſes unterſcheidet man von jenem
dadurch, daß man letzteres die Data oder gegebe-
nen
[185]Dinge und Verhaͤltniſſe.
nen Stuͤcke, erſteres aber das Quaeſitum oder die
geſuchten Stuͤcke der Aufgabe nennet. Dabey
weiß man nun ferner, daß die Datazureichend
ſeyn muͤſſen, um das Quaeſitum daraus zu finden,
und man iſt uͤberdieß ſo genau, daß man alles Ueber-
fluͤßige aus den Datis weglaͤßt, das will ſagen, man
fordert und giebt auch nicht mehr als die gering-
ſte
Anzahl gegebener Stuͤcke, und ſieht es fuͤr eine
Art von Fehler an, wo irgend mehr, als zureichend
waren, vorkommen. Ferner weiß man, daß jedes
der gegebenen Stuͤcke von den uͤbrigen unabhaͤngig
ſeyn muͤſſe, und nicht aus den uͤbrigen muͤſſe koͤnnen
gefunden werden, und zwar aus einem gedoppelten
Grunde. Denn entweder iſt daſſelbe ſchlechthin als
ein Datum uͤberfluͤßig, wie, z. E. wenn man um
einen rechtwinklichten Triangel zu conſtruiren, alle drey
Seiten angeben wollte, denn da ſind zwo ſchon genug,
weil der Triangel rechtwinklicht ſeyn ſoll. Oder das
Datum, welches aus den uͤbrigen an ſich ſchon kann
gefunden werden, machet, daß man ſtatt deſſen noch
ein anderes haben muß, und daß die Aufgabe bis
dahin unaufgeloͤſet bleibt, wie z. E. wenn man einen
Triangel aus den drey Winkeln conſtruiren wollte.
Denn da wuͤrde man keine Seiten, ſondern hoͤchſtens
nur die Verhaͤltniſſe zwiſchen den Seiten finden koͤn-
nen. Die Hauptfrage, die demnach hiebey vor-
koͤmmt, iſt dieſe, wie fern man es den Datis anſe-
hen koͤnne, ob ſie von einander unabhaͤngig und
zureichend ſind, das Quaeſitum heraus zu bringen.
Dieſes veranlaßte Eucliden, ſeine Data zu ſchreiben,
in welchen er auf eine ſynthetiſche Art von den erſten
Gruͤnden an feſtſetzet, was mit jeden Arten ge-
gebener Stuͤcke zugleich gegeben iſt,
damit man
es weder erſt fuͤr ſich ſuchen muͤſſe, noch als von dem
M 5uͤbrigen
[186]XVIII. Hauptſtuͤck.
uͤbrigen unabhaͤng anſehe, oder ſich dadurch blenden
laſſe, die Aufgabe fuͤr determinirt anzuſehen, wenn
in der That noch nicht genug Data da ſind.


§. 565.


Sollen wir nun dieſes Verfahren mit dem philoſo-
phiſchen vergleichen, ſo weiß man zwar in der Me-
taphyſic mit ziemlicher Gewißheit, daß aus Nichts
nichts gefunden werden kann, hingegen weiß man
nicht immer, was man eigentlich ſuchen will, und
noch ſeltener, woraus man es finden koͤnne, oder wo
man es ſuchen muͤſſe. Wir haben daher ſchon an-
fangs (§. 14.) angemerket, daß in der Wolfiſchen
Metaphyſic, die doch noch am meiſten geometriſche
Methode hatte, von Datis und Quaeſitis die Rede
nicht vorkoͤmmt. Es haben zwar ſchon die alten
Metaphyſiker einige ſogenannte Canones vorgetragen,
welche mit den Euclidiſchen Lehrſaͤtzen einige Aehn-
lichkeit haben, nur daß ſie ſtatt des Wortes geben
das Wort ſetzen gebrauchen, vermuthlich, weil man
in der Methaphyſic nicht ſo leicht geben kann, als
in der Geometrie, oder wenigſtens nicht ſo leicht
fand, wo man es hernehmen ſoll. Denn ſonſt koͤmmt
es hiebey auf den Unterſchied der Worte nicht an,
ungeachtet Wolf das geben der Mathematic ſo ganz
zueignet, daß er es als ein weſentliches Unterſchei-
dungsſtuͤck der Groͤßen anſieht, daß ſie nur gege-
ben,
fuͤr ſich aber nicht gedacht, oder durch Worte
verſtaͤndlich gemacht werden koͤnnen. Dieſes gilt
aber nur von denen Groͤßen, die keine beſtimmte Ein-
heit haben, oder bey welchen alles ſchlechthin nur
relativ iſt, wie z. E. bey dem Raume, der Dauer,
der Kraft ꝛc.


§. 566.
[187]Dinge und Verhaͤltniſſe

§. 566.


Solche Canones ſind nun ungefaͤhr folgende:

  • 1°. Wenn man einen Widerſpruch ſetzt, ſo
    ſetzt man auch die einander widerſpre-
    chenden Stuͤcke.
    Eine beſondere Anwendung
    von dieſem Satze findet ſich in dem §. 19. an-
    gefuͤhret.
  • 2°. Wenn man die widerſprechenden Stuͤcke
    wegnimmt, ſo wird auch der Wider-
    ſpruch gehoben.
    Hiebey koͤmmt es auf die
    geringſte Anzahl der wegzunehmenden Stuͤcke
    und auf die moͤglichen Abwechslungen deſſen an,
    mit deſſen Wegnehmen auch der Widerſpruch
    wegfaͤllt, und oͤfters muß fuͤr das weggenom-
    mene anderes geſetzt werden, damit ein durch-
    aus gedenkbares Ganzes bleibe.
  • 3°. Mit dem Gegruͤndeten wird auch der
    Grund, und hinwiederum mit dem Grun-
    de das Gegruͤndete geſetzt und gehoben.

    Man ſehe hieruͤber den §. 469. ſeqq. 484. 485.
  • 4°. Wenn dasjenige geſetzt wird, wodurch
    ein anderes beſtimmt wird, ſo wird auch
    dieſes geſetzt.
    Oder: Wenn das GeſetzteA
    dasBerfordert, oder nach ſich zieht, oder
    vo
    rausſetzt, ſo wirdBzugleich geſetzt.
    Man will uͤberhaupt ſagen: Akann nicht
    geſetzt werden, es ſey denn, daß man auch

    Bſetze. Man ſehe auch §. 229. 429.
  • 5°. Mit dem Weſen werden die Eigeſchaf-
    ten geſetzt, und mit dieſen jenes gehoben.

    Man ſehe hieruͤber §. 222. ſeqq.


6°. Mit
[188]XVIII. Hauptſtuͤck.

  • 6°. Mit dem Ganzen werden die Theile ge-
    ſetzt, und mit den Theilen das Ganze ge-
    hoben.
    Man ſehe hierber §. 220. 215.
  • 7°. Mit dem Anfange (Principium, Aζχη)
    wird auch das geſetzt und gehoben, was
    einen Anfang hat.
    (Man ſehe §. 488. ſeqq.)
    Mit der Urſache die Wirkung. (Man ſehe
    §. 287. 427.).


Man wird in Anſehung der Begriffe Gattung, Art,
Indiuiduum;Subject, Praͤdicat; Praͤmiſſen,
Schlußſatz; Definition,
Definitum;Abſicht,
Mittel; Thun, Leiden
ꝛc. leicht aͤhnliche Saͤtze
finden, und ſelbſt die Sprache giebt uns in den Mit-
telwoͤrtern der thaͤtigen und leidenden Gattung gleich-
ſam auf eine bloß characteriſtiſche Art Anlaß zu ſpe-
cialern Saͤtzen von dieſer Art; z. E. das Geliebte
ſetzet das Liebende, das Geleſene den Leſenden ꝛc.
voraus. Die angefuͤhrten Saͤtze laſſen ſich durch ſol-
che Mittelwoͤrter ebenfalls ausdruͤcken, und der Un-
terſchied beſteht nur darinn, daß ſie allgemeinere zu-
ſammengehoͤrende Stuͤcke angeben.


§. 567.


Dieſes ſind nun aber die Saͤtze nicht, die wir ei-
gentlich zu ſuchen haben. Sie ſind zwar gewiſſer-
maßen ein Anlaß zu ſchließen, daß, wo man das
eine von den zuſammengehoͤrenden Stuͤcken findet
oder vermißt, auch das andere da ſey oder vermißt
werde. Hingegen muß man die Sache aus dieſem
Geſichtspuncte anſehen, und man muß wiſſen, daß
ſie ſich aus demſelben anſehen laſſe, z. E. ſie ſey eine
Urſache, eine Wirkung, ein Theil von einem
Ganzen,
welches bereits unter einem Namen be-
kannt
[189]Dinge und Verhaͤltniſſe.
kannt iſt ꝛc. Wenn man aber auch dieſes thut, und
ſich durch Uebung gleichſam eine Fertigkeit erlanget
hat, darauf Acht zu haben, ſo findet man vermittelſt
ſolcher Saͤtze nur, daß die uͤbrigen der zuſammenge-
hoͤrenden Stuͤcke da ſeyn muͤſſen, oder auch hinwie-
derum, daß ſie nicht da ſind. Jndeſſen, wenn man
erſteres auch weiß, ſo faͤngt die rechte Aufgabe erſt
an, wenn man ſich vorſetzt, aus der gegebenen
Beſchaffenheit deſſen, aus dem man auf das
Daſeyn des Uebrigen geſchloſſen hat, die Be-
ſchaffenheit dieſes Uebrigen zu finden.
(Dia-
noiol. §. 330. ſeqq. 510. N°. 3.). Und da kann man
nun bey ſo allgemeinen Saͤtzen nicht ſtehen bleiben,
weil die Data und Quaeſita ſpecialer werden. So
z. B. kann man in der Natur jede Veraͤnderung als
eine Wirkung anſehen. Der Schluß, daß ihre Ur-
ſache vorhanden ſeyn muͤſſe, iſt dabey bald gemacht.
Welches aber die Urſache ſey, wie ſie wirke ꝛc., das
ſind hingegen Fragen von ganz anderer Art. Wie-
derum iſt in der Natur alles in ſo gar enger und
vielfacher Verbindung, daß man jedes einzelne
Ding, und ſo auch mehrere zuſammengenom-
men, als Theile von mehrerley und ſtufenweiſe
Groͤßern, ſowohl realen als idealen Ganzen
anſehen kann,
die folglich auch mitgenommen wer-
den koͤnnen. Fraget man aber, welches die uͤbrigen
Theile ſind, wie ſie im Ganzen verbunden ſind, wie
viel ihrer dazu gehoͤren ꝛc. ſo muß man ſich ſogleich
um ſpecialere Data und Verhaͤltniſſe derſelben zu den
Quaeſitis umſehen. (§. 411. und Dianoiolog. §. 163.
465. 461.).


§. 568.


Euclid hatte nun dieſes fuͤr die Geometrie ge-
than, wiewohl er eigentlich nur das, was mit den
Datis
[190]XVIII. Hauptſtuͤck.
Datis zugleich gegeben iſt, oder davon abhaͤngt, zu
beſtimmen geſuchet, und folglich von vier Fragen, die
hiebey vorkommen, und die wir in der Dianoiologie
(§. 468.) angegeben haben, nur eine mitgenommen
hat. Es haͤngen aber auch hinwiederum die
Datavon denQuaeſitisab, weil man eben nicht
ſo unbedingt zu jedem
QuaeſitojedeDataanneh-
men kann, und uͤber dieß muͤſſen die
Datazu-
reichend ſeyn.
Wir werden nun hier nicht wider-
holen, was wir in dem VIIten Hauptſtuͤcke der Dia-
noiologie ausfuͤhrlich hieruͤber geſaget haben. Da
aber daſelbſt eigentlich nur die Theorie von der Form
der Aufgaben und der Methoden vorkam, ſo haben
wir das, was die Verhaͤltniſſe dazu beytragen, da-
ſelbſt auch nur in ſo ferne betrachtet, und es auch in
dem §. 475. angemerkt. Die daſelbſt in dieſer Ab-
ſicht vorgetragenen Saͤtze ſind folgende.


  • 1°. Wenn von zwoen Sachen oder zweenen
    Begriffen einer, und das Verhaͤltniß zwi-
    ſchen beyden gegeben, ſo kann der andere
    Begriff oder die andere Sache dadurch
    gefunden oder beſtimmt werden.
    (§. 476.
    l. cit.).
  • 2°. Wenn zwo Sachen gegeben oder be-
    ſtimmt ſind, ſo iſt auch das Verhaͤltniß
    zwiſchen beyden beſtimmt.
    (§. 477. l. cit.).
  • 3°. Ohne das Verhaͤltniß zwiſchen beyden zu
    wiſſen, kann die eine Sache bloß aus der
    vorgegebenen andern nicht gefunden wer-
    den.
    (§. 478. l. cit.).
  • 4°. Aus bloßen Verhaͤltniſſen wird keine Sa-
    che beſtimmt.
    (§. 479. l. cit.).

5°. Hin-
[191]Dinge und Verhaͤltniſſe.
  • 5°. Hingegen laſſen ſich ohne die Sachen,
    Verhaͤltniſſe durch Verhaͤltniſſe beſtim-
    men.
    (§. 480. l. cit.).
  • 6°. Wenn zwo Sachen mit einer dritten in
    Verhaͤltniß ſtehen, ſo ſtehen ſie auch un-
    ter ſich in Verhaͤltniß.
    (§. 481. l. cit.).

§. 569.


Dieſe Saͤtze betreffen nun eigentlich die Verhaͤlt-
niſſe (Rationes), die wir oben (§. 433.) einfach ge-
nennet haben, um ſie von den zuſammengeſetzten zu
unterſcheiden, welche Relationes oder Rationes com-
plexae,
genennet werden. Der Unterſchied, der ſich
ſowohl in Abſicht auf die Groͤßen, als in Abſicht auf
die Dinge ſelbſt, zwiſchen beyden befindet, iſt, daß
die Relationen, ohne die Sachen ſelbſt mit einzu-
mengen, nicht anders, als auf eine ſymboliſche Art
vorgeſtellet werden koͤnnen (§. 453. ſeqq.), und daß
man dieſe, wenn man damit zurechte kommen will,
immer in ihre Theile und einfachen Verhaͤltniſſe auf-
loͤſen muß. Man habe nun zwo Sachen A=mb+nζ,
und B=b+ζ (§. cit.), ſo druͤcket zwar oͤfters die
Sprache die Verhaͤltniß A : B durch ein Wort M
aus. Dieſes iſt aber ſodann immer von der Art,
daß man ſowohl A als B kennen muß, um ſich ei-
gentlich vorzuſtellen, was M ſagen will, und daß
man dadurch (mb + nζ) : (b + ζ) verſtehe. Denn
da ſind vermoͤg der Vorausſetzung m, b, n, ζ un-
gleichartig, und zwar m, n, weil es einfache Be-
ſtimmungen ſind; b, ζ aber, weil es andere und an-
derſt beſtimmte Theile der Sachen A, B ſind. Nun
ſind die Verhaͤltniſſe zwiſchen ungleichartigen Dingen
ſchlechthin ſymboliſch, weil man ſtatt deren, wenn
man ſie wirklich gebrauchen will, die ganze Sache
ausein-
[192]XVIII. Hauptſtuͤck.
auseinanderleſen, und die einzelnen Theile b, ζ und
ihre Beſtimmungen beſonders nehmen muß. Denn
ſo, z. E. wenn man, nach dem erſten Satze (§. 568.)
vermittelſt der Sache B und ihrer Verhaͤltniß zu A,
dieſe finden will, muß man B in zween Theile b +
zerfaͤllen, und durch Zuſetzung der Verhaͤltniſſe oder
Beſtimmungen m, n das Ganze mb + nζ = A
daraus machen.


§. 570.


Wenn wir demnach hier bey den einfachen oder
nicht complexen Verhaͤltniſſen bleiben, ſo ſehen wir,
daß von den vorhin (§. 568.) angefuͤhrten Saͤtzen, die
beyden erſten und die beyden letzten anzeigen, was
mit den gegebenen Stuͤcken zugleich gegeben iſt. Hin-
gegen zeiget der vierte und fuͤnfte an, was nicht da-
mit gegeben, folglich davon unabhaͤngig iſt. Man
habe nun drey Begriffe A, B, C, und ihre Verhaͤlt-
niſſe m, n, p, die wir ſo vorſtellen wollen
m
A B
n C P

ſo daß A = mB, C = nA, B = pC ſey. Nun iſt
die Frage, wie fern aus drey von dieſen ſechs Stuͤ-
cken, die uͤbrigen drey koͤnnen gefunden werden? Und
da haben wir, vermoͤg der vorhin (§. 568.) angefuͤhr-
ten Saͤtze, folgende Faͤlle.


  • 1°. Aus A, B wird m, aus C, A wird n, und
    aus B, C wird p gefunden. Demnach, wenn
    A, B, C gegeben, koͤnnen m, n, p gefunden
    werden.
  • 2°. Wenn A, B und n gegeben, kann p, B, m ge-
    funden werden. Denn C iſt = nA, und
    p = B : C und m = A : B.

3°. Wenn
[193]Dinge und Verhaͤltniſſe.
  • 3°. Wenn A, n, m gegeben, kann B, p, C gefun-
    den werden. Denn es iſt B = A : m, C = nA
    und p = B : C.
  • 4°. Wenn A, n, p gegeben, kann C, B, m ge-
    funden werden. Denn es iſt C = nA, B = pC
    = npA, m = A : B = 1 : np.
  • 5°. Aus A, B, m laͤßt ſich nichts finden. Denn m
    wird an ſich ſchon durch A, B gefunden.
  • 6°. Aus m, n, p laͤßt ſich nichts finden, weil es
    bloße Verhaͤltniſſe ſind, und daher hoͤchſtens
    nur die Art der Dinge vorſtellen, wobey ſie
    vorkommen. Aus m, n kann p an ſich ſchon
    gefunden werden, ſo oft man weiß, daß m, n, p
    Verhaͤltniſſe zwiſchen den drey Dingen A, B, C
    ſind, ſo daß A = mB, C = nA und B = pC iſt.
    Denn daraus hat man B = pC = pnA = pnmB,
    folglich pnm = 1, welches anzeiget, daß von
    den drey Verhaͤltniſſen p, n, m eines ein um-
    gekehrtes Verhaͤltniß der beyden andern iſt.
    Z. E. wenn n = Urſache, m = Mittel, ſo iſt A
    das Mittel um B zu erhalten, C die Urſache,
    ſo A hervorbringt. Demnach iſt C die Urſache
    des Mittels, um B zu erhalten, und C = mnB;
    und hinwiederum B = pC = \frac {1} {mn} C. Demnach
    B die Abſicht der Wirkung von A. Dabey
    kann nun aber A jedes Mittel, C jede Urſache
    deſſelben vorſtellen, und B wird die dazu gehoͤ-
    rende Abſicht ſeyn. Demnach laſſen die Ver-
    haͤltnißbegriffe m, n, p, wenn man nichts wei-
    ters als bekannt annimmt, alles dieſes noch un-
    beſtimmt. Wird aber A individual angegeben,
    ſo iſt auch B und C individual beſtimmt.

Lamb. Archit.II.B. N§. 571.
[194]XVIII. Hauptſtuͤck.

§. 571.


Dieſes ſind aber nur die einfachen Faͤlle. Denn
wenn die Dinge A, B, C aus verſchiedenen und un-
gleichartigen Theilen zuſammengeſetzt ſind, ſo muͤſſen
jede davon und ihre Beſtimmungen und Verhaͤltniſſe
beſonders betrachtet, gegeben oder geſuchet werden;
und da kann man uͤberhaupt leicht einſehen, daß un-
zaͤhlige und ſehr mannichfaltige Combinationen dabey
vorkommen koͤnnen, und daß man alles genau aus
einander leſen muͤſſe, bis man ſieht, wie fern die
Data zureichend und genug beſtimmt ſind. So z. E.
wenn A ganz gegeben, und ein Theil von deſſen Ver-
haͤltniſſen zu B: ſo kann B zum Theil, oder ſo weit
dieſe Verhaͤltniſſe reichen, beſtimmt werden. Weiß
man nun das uͤbrige von B an ſich ſchon, oder aus
den Verhaͤltniſſen des B zu C, oder aus irgend an-
dern Gruͤnden, ſo iſt B ganz beſtimmt. Dieſer Fall
koͤmmt nun ſehr oft und beſonders in hiſtoriſchen
Sachen vor, wie z. E. wenn man den Thaͤter einer
Sache aufſuchen, oder auch nur ein Indiuiduum, deſ-
ſen Namen man nicht weiß oder vergeſſen hat, durch
aͤußerliche Umſtaͤnde und Verhaͤltniſſe kenntlich ma-
chen will. Man kann, an ſich betrachtet, dabey im-
mer ſolche und ſo viele aufbringen, daß ſie bey kei-
nem andern Indiuiduo zugleich vorkommen.


§. 572.


Man kann ſich eben ſo drey Dinge A, B, C der-
geſtalt vorſtellen, daß man einige Verhaͤltniſſe des B
und des C zu A weiß. Dadurch wird nun B und C
zum Theil bekannt. Ferner kann man ſich gedenken,
daß das Verhaͤltniß des bekannten Theils von B zu
dem durch A noch nicht beſtimmten Theile in C, und
hinwiederum das Verhaͤtniß des durch A beſtimmten
Theils
[195]Dinge und Verhaͤltniſſe.
Theils in C, zu dem noch unbeſtimmten Theil in B
gefunden werde, oder gegeben ſey. Dadurch aber
werden B und C vollſtaͤndig beſtimmt ſeyn, und ſo
auch die Verhaͤltniſſe zwiſchen B, C und A ganz ge-
funden werden koͤnnen. Auch dieſer Fall koͤmmt im
gemeinen Leben haͤufig vor. Man hoͤret z. E. etwann
drey Perſonen mit einander reden. Man kennet die
eine von Perſon, und aus dem, was ſie mit einan-
der ſprechen, ſchließt man, und zwar oͤfters ganz
ſtuͤckweiſe, daß die andern beyden Perſonen diejeni-
gen ſind, die man bereits dem Namen nach, oder
aus andern Erzaͤhlungen der erſten Perſon gekannt
hatte.


§. 573.


Es kann ferner eine Sache, ſowohl ihren Theilen,
als ihren Eigenſchaften nach, beſonders genommen,
und durch deren Verhaͤltniſſe zu mehrern andern
Dingen dergeſtalt beſtimmt ſeyn, daß jeder Theil
mit einer andern Sache verglichen wird. Sollte nun
die Sache aus dieſen angegebenen Verhaͤltniſſen ge-
funden werden, ſo ſieht die Frage eigentlich proble-
matiſch und oͤfters raͤthſelhaft aus. Jn der That
ſind auch die wirklichen Raͤthſel, die man zu errathen
aufgiebt, nicht anders davon verſchieden, als daß
man ſich vorſetzt, die Sache zu verſtecken, und folg-
lich alle die Verhaͤltniſſe weglaͤßt, welche ſie gar zu
leicht und unmittelbar entdecken wuͤrden, und aus
dieſem Grunde druͤcket man ſie auch lieber durch Me-
taphern, als durch eigene Worte aus. Man hat
dabey ebenfalls darauf zu ſehen, daß man genug
Data angebe, damit nicht mehrere Aufloͤſungen moͤg-
lich bleiben. Die Regel Falſi, welche zur Erfindung
der Algeber Anlaß gegeben zu haben ſcheint, mußte
anfangs faſt nothwendig als eine Regel angeſehen
N 2werden,
[196]XVIII. Hauptſtuͤck.
werden, arithmetiſche Raͤthſel aufzuloͤſen, weil man
aus der Zahl, die gefunden werden ſoll, alles andere
leicht herleiten koͤnnte, wenn man ſie wuͤßte, und
folglich die Kunſt juſt darinn beſtuͤnde, wie man erſt
dieſe aus jenem finden ſoll. Jn der That haben auch
die meiſten Beyſpiele, die man den Lehrlingen zu
berechnen vorgab, auf eben die Art muͤſſen verſtecket
werden, wie man es bey den Raͤthſeln thut. Man
nahm eine Zahl, und verwandelte ſie durch Addiren,
Multipliciren ꝛc. dergeſtalt, daß man nur angab,
wie man damit gerechnet hatte, und was herausge-
kommen iſt. Und aus dieſem ſollte man die Zahl
wiederum finden. Man verfiel erſt nachher darauf,
daß ſolche und noch viel zuſammengeſetztere Faͤlle
wirklich vorkommen, wo man an nichts wenigers ge-
denket, als nur ein arithmetiſches Raͤthſel daraus zu
machen, ſondern, wo es aus andern Gruͤnden der
Muͤhe lohnt, die Aufloͤſung zu ſuchen. Und ſo ent-
ſtand aus dem, was anfangs nur ein Spiel des Wi-
tzes zu ſeyn ſchien, die Algeber. Hingegen iſt es
bey den andern Raͤthſeln bisher geblieben, und zwar
ſo, daß man noch wenig daran gedacht hat, die
Kunſt zu ihrer Aufloͤſung wiſſenſchaftlich zu machen,
und mit gutem Vorbedachte Raͤthſel auszuſinnen,
um ſich in den Regeln dieſer Kunſt zu uͤben, unge-
faͤhr, wie man es in Anſehung der Regel Falſi ge-
than hatte. Daß es aber auch Faͤlle gebe, wo man
dieſe Kunſt oder Wiſſenſchaft nicht bloß als ein Spiel
des Witzes, ſondern aus ernſtern Gruͤnden und mit
Vortheil gebrauchen koͤnnte, daran iſt gar nicht zu
zweifeln. Man ſehe hieruͤber Dianoiol. §. 567. ſeqq.
404. Semiot. §. 56. Alethiol. §. 176. Phaͤnomenol.
§. 162. ſeqq. 167. ſeqq. 170. 173. 176. ſeqq. 240. ſeqq.
Die Erfindung eines Mittels, wodurch mehrere Ab-
ſichten
[197]Dinge und Verhaͤltniſſe.
ſichten zugleich erreichet, mehrere Schwierigkeiten,
Hinderniſſe, Unſchicklichkeiten, Jnconvenienzen ꝛc.
zugleich gehoben, eines Syſtems von individualen
Saͤtzen, das genau in eine Luͤcke paſſe ꝛc. wird im-
mer erleichert und methodiſch gemacht werden koͤnnen,
wenn die erſterwaͤhnte Wiſſenſchaft auf Regeln ge-
bracht ſeyn wird.


§. 574.


Wir haben die beſondern Arten von Verhaͤltniſſen
bereits oben (§. 411. ſeqq.) betrachtet und ſie in Claſ-
ſen eingetheilet, deren wir ſieben heraus gebracht ha-
ben, und dieſe ſind

  • 1°. Die Logiſchen (§. 412.), welche auf der Aehn-
    lichkeit und Verſchiedenheit der Dinge beruhen.
  • 2°. Die Geometriſchen (§. 413.), die bey dem
    Raume vorkommen.
  • 3°. Die Chronometriſchen (§. 414.), die bey
    der Zeit vorkommen.
  • 4°. Die Phoronomiſchen (§. 415.), welche bey
    der Bewegung oder Veraͤnderung des Ortes
    vorkommen.
  • 5°. Die Statiſchen, die bey dem Gleichgewichte,
    und
  • 6°. Die Dynamiſchen, die bey der Ueberwucht
    vorkommen, (§. 423.).
  • 7°. Die Moraliſchen, die auf das Gute und die
    Kraͤfte des Willens gehen, (§. 424.).


Dieſe Claſſen von Verhaͤltniſſen ſind nun, jede an ſich,
von beſonderer Art, und in ſo fern ſcheinen ſie von
einander unabhaͤngig. Jndeſſen ſind ſie es weder in
allen Abſichten, noch durchaus. Wir haben daher
N 3zu
[198]XVIII. Hauptſtuͤck.
zu unterſuchen, wie fern ſie von einander abhaͤngen,
ſo daß, wenn einige gegeben ſind, die Beſtimmung
von andern nicht mehr willkuͤhrlich bleibe.


§. 575.


Dahin dienen nun folgende Saͤtze:


  • 1°. Die logiſchen Verhaͤltniſſe laſſen ſich uͤber-
    haupt an ſich betrachten, ſo wie wir es oben
    bey der Theorie der Jdentitaͤt und in den dar-
    auf folgenden Hauptſtuͤcken gethan, (§. 372.).
  • 2°. Hingegen haͤngen ſie in vorkommenden Faͤllen
    von den uͤbrigen Claſſen in ſo fern durchaus ab,
    daß was in dieſen veraͤndert wird, auch eine
    Veraͤnderung in den logiſchen nach ſich zieht,
    weil unſere Vorſtellung immer den Sachen ſelbſt
    angemeſſen ſeyn muß.
  • 3°. Die geometriſchen, und ſo auch die chrono-
    metriſchen,
    laſſen ſich ebenfalls durchaus an
    ſich betrachten; hingegen werden ſie durch
  • 4°. Die phoronomiſchen, ſtatiſchen und dy-
    namiſchen
    in beſondern Faͤllen beſtimmt, ſo
    wie hingegen auch dieſe durch jene beſtimmt
    werden koͤnnen. Demnach iſt in dieſer Abſicht
    die Abhaͤnglichkeit reciprocirlich.
  • 5°. Beſonders aber koͤmmt dabey die Einſchraͤn-
    kung vor, daß weder verſchiedenes Solides zu-
    gleich an einem Orte, noch einerley Solides
    zugleich an verſchiedenem Orte ſeyn, und eine
    Kraft nicht zugleich doppelt oder mehrfach an-
    gewandt werden koͤnne.
  • 6°. Die moraliſchen Verhaͤltniſſe, die das Gute,
    folglich die Realitaͤt und Vollkommenheit zum
    Gegenſtande haben, haͤngen davon ab, ſo fern
    darinn
    [199]Dinge und Verhaͤltniſſe.
    darinn Aenderungen vorgehen, und ſo fern der
    Grad der Erheblichkeit ſich aͤndert.
  • 7°. Ferner haben wir ſchon oben (§. 415. ſeqq.)
    umſtaͤndlicher angemerket, wie fern man ſagen
    koͤnne, daß Zeit und Raum in den Dingen ſelbſt
    nichts aͤndere, ungeachtet die Veraͤnderungen
    ſelbſt der Zeit und dem Raume nach vorgehen,
    und wie man dabey das Abſolute mit dem Re-
    lativen vergleichen koͤnne, um eines aus dem
    andern zu finden.

§. 576.


Sollten wir nun nach Anleitung des §. 573. dieſe
Arten von Verhaͤltniſſen zuſammennehmen, ſo wuͤr-
den wir ein DingAzu finden angeben, welches
z. E. dem
Baͤhnlich, in der Naͤhe vonCbe-
findlich, dem
Dvorgehend, aufEfolgend,
eine Urſache von
F,eine Wirkung vonG,eine
Abſicht bey
H,und ein Mittel zuIſey. Jn
dieſer Formel koͤnnen nun B, C, D, E .... I faſt im-
mer leicht gefunden werden, wenn man A weiß, und
oͤfters findet man mehrere Dinge, die fuͤr B, C, D ꝛc.
koͤnnen geſetzet werden. Demnach leidet dieſe Formel
in dieſer Abſicht noch gar vielerley Abwechſelungen.
Soll hingegen A gefunden werden, ſo muß von B, C,
D, E.... I
ſo viel gegeben ſeyn, daß man es dar-
aus finden koͤnne, naͤmlich B, C, D, E .... I muͤſſen
außer A bey keinem andern Dinge zugleich vorkommen.
Man ſieht auch leicht, daß je ſpecialer B, C, D ꝛc. an-
gegeben werden, und je naͤher alles dieſes dem Jn-
dividualen iſt, deſto weniger Data der Zahl nach erfor-
dert werden, hingegen gebraucht es auch eine ſpecialere
Erkenntniß, um von B, C, D ꝛc. ruͤckwaͤrts auf A zu
ſchließen. Man ſetze z. E. F habe nur einerley Art
N 4von
[200]XVIII. Hauptſtuͤck.
von Urſachen, ſo iſt die Art bald gefunden, und unter
dieſer muß das Indiuiduum oder die ſpecialere Art A
ſeyn. Dieſes fordert nun, daß B nicht uͤberhaupt der
ganzen Art, ſondern dem Indiuiduo oder der ſpecia-
lern Art A aͤhnlich ſey, weil man ſonſt aus B nicht
mehr finden wuͤrde, als aus F. Waͤre nun B dem A
allein aͤhnlich, ſo waͤren auch die beyden Data F, B an
ſich ſchon hinreichend, und ſie ſind es, man mag die
Jndividualitaͤt dieſer Aehnlichkeit angeben oder nicht.
Waͤre aber B dem A nur in einigen Stuͤcken aͤhnlich,
ſo muͤßte man noch ein oder einige Data mehr haben,
bis A dadurch dergeſtalt beſtimmt iſt, daß keine an-
dere Sache den angegebenen Bedingungen ſaͤmmtlich
Genuͤgen thut.


§. 577.


Auf dieſe Art kann man Raͤthſel erfinden, wenn
man es auch nur als eine Uebung und Spiel des
Witzes vornehmen will. Es legt uns aber die Na-
tur, die Geſchichte und ſelbſt das gemeine Leben ſolche
Raͤthſel oder Problemata in Menge vor, die ſchon
gemacht und aufgegeben, und folglich nur noch auf-
zuloͤſen ſind. Jn der Kraͤuterkunde ſtellet A ein Ge-
waͤchs vor, und der Lehrling, der es nicht vor ſich
ſieht, muß es aus Merkmalen kennen lernen, die
den Verhaͤltniſſen B, C, D .... I ſehr aͤhnlich ſind.
Wiederum ſtellet A etwann eine Materie vor, von
welcher die Theorie geſucht wird. Z. E. die magneti-
ſche, electriſche ꝛc. Die electriſche iſt der magneti-
ſchen, in Abſicht auf das Anziehen, dem Blitze, in
Abſicht auf das Licht und den Knall, aͤhnlich, ſie be-
findet ſich im
Glaſe, Harze ꝛc. Jhre Wirkung
erfolgt auf das Reiben ꝛc. Man ſucht naͤmlich da-
bey alle Verhaͤltniſſe und Umſtaͤnde, als eben ſo viele
einzelne
[201]Dinge und Verhaͤltniſſe.
einzelne Data und Fragmente zur Theorie auf, und
dieſe muͤſſen eben ſo unter einander verglichen werden,
wenn man die geringſte und dennoch zureichende An-
zahl finden will, wie wir es vorhin (§. 576.) bey der
allgemeinen Formel gethan haben. Denn welches
von dieſen Fragmenten aus den andern an ſich ſchon
hergeleitet werden kann, das wird nicht unter die Data
gerechnet, ſondern unter das, was aus dieſen Datis
nothwendig folgt, und es traͤgt auch zur Erfindung
des A nichts mehr bey, als die uͤbrigen Data ſchon
beytragen. Behaͤlt man auf dieſe Art die von ein-
ander unabhaͤngigen Data allein, ſo muß man von
denſelben ruͤckwaͤrts auf A ſchließen koͤnnen, das will
ſagen, man muß finden koͤnnen, was jedes derſel-
ben im A nothwendig vorausſetzet, ſo daß ohne dieſe
Vorausſetzung das Datum nicht ſtatt haben koͤnnte,
(Dianoiol. §. 404.).


§. 578.


Wir muͤſſen ferner bey der Betrachtung der Ver-
haͤltniſſe und ihrer Verbindung mit den Dingen ſelbſt,
den Begriff des Ganzen und der Theile gleichſam
oben an rechnen, weil die Theorie davon ſehr aus-
gebreitet iſt. Denn


  • 1°. iſt jedes Ding, an ſich betrachtet, ein Ganzes,
    und hinwiederum kann man jede zuſammenge-
    hoͤrende Stuͤcke in einen Begriff bringen, und
    ſie als ein Ganzes, und ſo auch als ein Ding
    anſehen.
  • 2°. Die Verhaͤltniſſe ſelbſt, ſo zwiſchen den Thei-
    len eines Ganzen ſind, machen an ſich auch, und
    in dieſer Abſicht betrachtet, ein zuſammengehoͤ-
    rendes Ganzes aus.

N 53°. Sofern
[202]XVIII. Hauptſtuͤck.
  • 3°. Sofern ein Ding mit andern in Verbindung
    ſteht, kann es mit denſelben zuſammengenom-
    men, als ein Ganzes angeſehen werden. Und
    da machen
  • 4°. die Verhaͤltniſſe, die ſich dabey mit einfinden,
    wiederum an ſich, und in dieſer Abſicht betrach-
    tet, ein Ganzes aus.
  • 5°. Alles dieſes laͤuft durch die vorhin (§. 574.) an-
    gefuͤhrten ſieben Claſſen von Verhaͤltniſſen, nnd
    wird daher allerdings ausgebreitet und weit-
    laͤuftig genug.

§. 579.


Nun giebt der vollſtaͤndige Begriff eines Ganzen
allemal die Abzaͤhlung der dazu gehoͤrenden Theile.
Sofern demnach dieſe nicht getrennet werden
koͤnnen, laͤßt ſich von denen, die man findet,
ſchließen, daß die uͤbrigen auch da ſeyn muͤſ-
ſen,
(Dianoiol. §. 394. ſeqq.). Jn andern Faͤllen,
wo gewiſſe Theile nicht ſind, iſt die Luͤcke
oͤfters mit etwas anderm ausgefuͤllt
(§. 264.),
und dieß giebt Anlaß, die innern Gruͤnde dieſes
Andersſeyn aufzuſuchen, oder zu finden, was ſtatt
des Theiles, der da ſeyn ſollte, da iſt. Da man
den Dingen der Jntellectualwelt auf mehrere Arten
eine aͤußerliche Geſtalt oder einen Koͤrper gegeben
(§. 557.), und auch die Formalien in Ganze ver-
wandelt hat, ſo dehnen ſich dieſe beyden Faͤlle auch
darauf aus, und oͤfters laͤßt ſich aus der beſondern,
gekuͤnſtelten, uͤbel zuſammenhaͤngenden aͤußern Form
der Dinge auf die innern Umſtaͤnde ſchließen, welche
dieſelben mit ſich bringen. Ueberhaupt aber muß
man ſich die Ganzen, ihre Theile und Modificationen
wohl
[203]Dinge und Verhaͤltniſſe.
wohl bekannt gemacht haben, um in Schluͤßen von
dieſer Art eine Richtigkeit und Fertigkeit zu erlangen,
welche ſie nicht mehr bloß wahrſcheinlich, ſondern ge-
wiß und beſtimmt mache (Phaͤnomenol. §. 174. 176.).


§. 580.


Es laſſen ſich ferner die Ganzen faſt eben ſo, wie
die Verhaͤltniſſe, in Claſſen bringen. Wir koͤnnen
ſie fuͤglich nach den drey Arten von Kraͤften einthei-
len, wodurch ihre Theile verbunden ſind. Und da
haben wir


  • 1°. in Abſicht auf den Verſtand, logiſche Ganze.
    • α) Die Gattungen und ihre Arten, (§. 178-200.).
    • β) Einfache Beſtimmungen, die beyſammen,
      oder Dimenſionen des Ganzen ſind, (§. 449.
      452. 458.)
    • γ) Principia oder erſte Gruͤnde, und das dar-
      auf gebaute Syſtem, mit allen ſeinen Thei-
      len, (§. 503. 198.).
  • 2°. Jn Abſicht auf die Kraͤfte zu wirken, phyſi-
    ſche Ganze.

    • α) Einzelne Koͤrper, (§. 549. ſeqq.).
    • β) Syſtemen von Koͤrpern, Urſachen und Wir-
      kungen, (§. 550. 567. 427. 197.).
  • 3°. Jn Abſicht auf die Kraͤfte des Willens, mo-
    raliſche Ganze.

    • α) Societaͤten, (§. 555. ſeqq.).
    • β) Freundſchaften, (§. 554.).
    • γ) Syſtemen von Mitteln und Abſichten,
      (§. 345. ſeqq. 355. 365. 480. ſeqq. 555.).

§. 581.
[204]XVIII. Hauptſtuͤck.

§. 581.


Von dieſen drey Claſſen hat nun die erſte entweder
ſich ſelbſt oder ein Ganzes aus den zwo andern Claſſen
zum Objecte. Jm erſten Falle gehoͤret die Theorie
davon in die Pſychologie und Vernunftlehre, und
zwar ſo fern dieſe die Logica pura genennet werden
kann, um ſie von der adplicata zu unterſcheiden, wel-
che da vorkoͤmmt, wo das Object aus den beyden an-
dern Claſſen genommen iſt. Sodann kann die zweyte
Claſſe mit der dritten ſo verbunden ſeyn, daß einerley
Ganzes fuͤr beyde zum Grunde liegt, weil uͤberhaupt
das Solide und die Kraͤfte die erſte Grundlage zu
den drey Reichen der Wahrheiten ſind. Die Unter-
ſuchung und Theorie eines vorgegebenen Ganzen wird
daher immer am vollſtaͤndigſten, wenn man es nach
allen drey Claſſen betrachtet.


§. 582.


Dabey wird es nun an Anlaͤſſen zu Combinationen
nicht fehlen. Denn welches Ganze man nach dieſen
drey Claſſen zu durchgehen vornimmt, ſo kommen ſo-
gleich die vorhin angefuͤhrten Faͤlle (§. 578.), und mit
denſelben die (§. 574.) angegebenen ſieben Claſſen von
Verhaͤltniſſen vor, und zeigen gleichſam an, wo
man zu ſuchen habe, um ſich das vorgegebene Ganze
durchaus und in jeden Abſichten bekannt zu machen.
Und dieſe Unterſuchung muß dahin gehen, daß man
beſtimmet:


  • 1°. Welche Theile nothwendig beyſammen ſind, ſo
    daß man von einem auf das andere ſchließen
    koͤnne, (§. 579.).
  • 2°. Welche von einander abhaͤngen, ſo daß eines
    das andere vorausſetzet, erfordert, oder nach ſich
    zieht, (§. 575.).

3°. Welche
[205]Dinge und Verhaͤltniſſe.
  • 3°. Welche hingegen nicht von einander abhaͤngen,
    doch aber beyſammen ſeyn koͤnnen. Und endlich
  • 4°. welche nicht beyſammen ſeyn koͤnnen, folglich
    zu andern Anlagen und Combinationen gehoͤren.

§. 583.


Wenn man nun in Anſehung dieſer Fragen nicht
will bey dem Allgemeinen ſtehen bleiben, ſo gehoͤ-
ret allerdings eine vorlaͤufige Kenntniß der Sache
dazu. Denn die Ganzen ſind uͤberhaupt von der Art,
daß die Kenntniß und Abzaͤhlung ihrer Theile eher
eine Gedaͤchtnißſache iſt, beſonders da wir dieſelben
mehrentheils a poſteriori finden muͤſſen. Die Be-
ſorgniß der Widerſpruͤche macht, daß wir ſie nicht
ſo ſchlechthin auf eine willkuͤhrliche und bloß ſymbo-
liſche Art zuſammenſetzen koͤnnen, und daß wir folg-
lich bey den Poſtulatis und bey den Grundſaͤtzen an-
fangen muͤſſen, wodurch die Combination der Moͤg-
lichkeiten eingeſchraͤnkt wird (§. 13.). Was wir in
Anſehung deſſen im Vorhergehenden gethan haben,
erhellet aus den vorhin (§. 580.) bey der Vorzaͤhlung
der Claſſen von ſolchen Ganzen angezogenen §. §.
Die folgenden Hauptſtuͤcke werden ebenfalls noch da-
hin dienen. Die ausfuͤhrlichere Betrachtung davon
gehoͤret in die Syſtematologie, weil jedes Ganzes als
ein Syſtem angeſehen werden kann.



Neun-
[206]XIX. Hauptſtuͤck.

Neunzehentes Hauptſtuͤck.
Urſachen und Wirkungen.


§. 584.


Die Theorie der Urſachen und Wirkungen, und
die damit in enger Verbindung ſtehende Theo-
rie der Mittel und Abſichten (§. 427. 428.) macht einen
der vornehmſten Theile von der allgemeinen Theorie
der Kraͤfte aus, weil die Kraͤfte, ſo fern ſie ſich aͤuſ-
ſern, als Urſachen oder als wirkende Urſachen
angeſehen werden muͤſſen, und weil ſie die eigentliche
Quelle jeder Wirkungen ſind. Das Wort Urſache
hat uͤberhaupt und dem Sprachgebrauche nach, etwas
Vieldeutiges, und wird ſehr oft mit dem Worte
Grund, nach allen ſeinen Bedeutungen (§. 487. 489.)
verwechſelt. Der Ableitung nach, bedeutet Urſache
ſo viel, als die erſte Sache, oder diejenige Sache,
die den erſten Anfang macht, und ſo wird das Ab-
leitungstheilchen Ur auch in den Woͤrten Urſprung,
Urſtoff, Urbild, Urheber
ꝛc. gebraucht, da es
ungefaͤhr ſo viel, als das griechiſche Αζχη bedeutet,
welches Ariſtoteles in die Metaphyſic eingefuͤhret
hat, und durch Principium uͤberſetzet worden iſt.


§ 585.


Wir werden hier bey dieſer Bedeutung bleiben,
und durch Urſache nicht etwann nur das Principium
cognoſcendi,
ſondern die Sache ſelbſt verſtehen, die
das Principium eſſendi iſt oder in ſich enthaͤlt, ſo fern
naͤmlich Kraͤfte in derſelben ſind, die ihre Wirkung
aͤußern. Hiebey muͤſſen wir ferner den bloßen Stand
des
[207]Urſachen und Wirkungen.
des Gleichgewichtes der Kraͤfte, wobey gleichſam
alles in Ruhe bleibt, von der Ueberwucht unter-
ſcheiden, welche eine Veraͤnderung nach ſich zieht.
Man iſt gewoͤhnt, mehrentheils nur da von Urſachen
zu reden, wo die Wirkung in die Sinne faͤllt, und
demnach vornehmlich nur, wo Veraͤnderungen vor-
gehen. Hingegen, wo ein bloßes Gleichgewicht ſtatt
hat, wo folglich die Sachen bleiben, wie ſie waren,
da bringt man den Begriff der dennoch dabey befind-
lichen Kraͤfte und des Gleichgewichtes, das dabey
ſtatt hat, faſt immer nur durch Schluͤſſe heraus,
und ſpricht daher eher von Gruͤnden als von wir-
kenden Urſachen,
ungeachtet dieſe allerdings mit
dabey ſind. Nach dieſen vorlaͤufigen Anmerkungen
werden wir anfangen, die Urſachen der Veraͤnde-
rungen
zu betrachten.


§. 586.


Die Urſachen und Wirkungen ſetzen immer
wenigſtens zwo Subſtanzen voraus. Jn der einen
ſoll eine Veraͤnderung vorgehen. Sie kann daher
auf zweyerley Arten betrachtet werden. 1°. Ehe die
Veraͤnderung vorgegangen. 2°. Nachdem ſie vorge-
gangen. Die Veraͤnderung ſelbſt macht, daß ſie nicht
mehr durchaus und in allen Abſichten eben dieſelbe
Subſtanz iſt, die ſie vor der Veraͤnderung war; und
alle Verſchiedenheit, die ſich bey der Vergleichung
des erſten und andern Zuſtandes befindet, ruͤhrt von
der geſchehenen Veraͤnderung her; und wenn man den
letztern Zuſtand mit dem erſtern identificiren will, ſo
muß man, was zu der Subſtanz bey der Veraͤnde-
rung hinzugekommen, in Gedanken wegnehmen,
und im Gegentheile wiederum hinzuſetzen, was weg-
gekommen war, es mag nun dieſes durch die Zei-
chen
[208]XIX. Hauptſtuͤck.
chen +, - (§. 435.) oder durch die Zeichen. : (§. 437.)
geſchehen, je nach dem es wirkliche Theile oder Be-
ſtimmungen
betrifft. Denn daß hiebey eine Art
von Calcul vorkomme, das zeiget nicht nur die Spra-
che ſchon an, welche das Wort Calcul bereits bis
dahin metaphoriſch gemacht hat, ſondern die Aehn-
lichkeit der Sache mit arithmetiſchen Rechnungen be-
rechtiget dieſe Benennung, und zeiget, daß man
ſich Rechnung mache,
wo von Zahlen kaum die
Rede iſt. Denn dieſer Calcul koͤmmt vornehmlich
vor, wo man die Veraͤnderungen in Ueberſchlag
bringt,
welche die Ausfuͤhrung eines Vorhabens nach
ſich zieht, und man thut es, um zu ſehen, ob eine
Jdentitaͤt (um nicht zu ſagen, eine Gleichung)
herauskomme? Die Abſicht, die man ſich vorſetzet,
zeiget, wie die Sache ausfallen ſolle. Man nimmt
ſodann Urſachen und Triebfedern an, und calculirt
oder macht die Rechnung, oder den Ueberſchlag, ob
die Veraͤnderungen, die dieſe Urſachen und Triebfe-
dern in den vorgegebenen Umſtaͤnden nach ſich ziehen,
endlich und zu vorgeſetzter Zeit, der vorhabenden Ab-
ſicht gemaͤß ausfallen? Damit geht es nun am rich-
tigſten, wenn man von der Abſicht ruͤckwaͤrts auf die
Mittel ſchließen kann. Widrigenfalls muß man, wie
bey der Regel Falſi, verfahren (§. 573.), und nach
willkuͤhrlich angenommenen Urſachen und Mitteln,
aus der Verſchiedenheit der Wirkung auf die Aende-
rung der Urſachen, und beſonders auf die Art, wie
ſie geaͤndert werden muͤſſen, den Schluß machen,
(§. 571-577.).


§. 587.


Die ganze Veraͤnderung, die in der einen Sub-
ſtanz vorgegangen, werden wir nun die Wirkung
nennen,
[209]Urſachen und Wirkungen.
nennen, welche demnach in der Summe jeder einzeln
Veraͤnderungen beſteht, die ſie nach jeden Theilen,
Beſtimmungen und Verhaͤltniſſen erlitten hat. Die
andere Subſtanz nennen wir die Urſache, und wo
von Abſichten die Rede iſt, das Mittel. Sie iſt
die Urſache, in ſo fern durch ſie die Veraͤnderungen
geſchehen, und in ſo fern ſchreibt man derſelben eine
Kraft zu, die Veraͤnderung hervorzubringen, dieſe
Kraft mag nun die Subſtanz ſelbſt, oder in derſelben
ſeyn. Sie iſt ein Mittel, in ſo fern man ſie wirk-
ſam gemacht hat, um die Wirkung hervorzubringen,
es ſey, daß man derſelben die Wirkung gegeben,
oder die, ſo ſie ſchon hatte, in dem gehoͤrigen Grade
auf die Sache gerichtet hat.


§. 588.


So fern in der andern Subſtanz, in welcher die
Wirkung vorgeht, ſelbſt auch Kraͤfte ſind, welche bis
dahin im Gleichgewichte waren, ſo fern wird auch
durch die Action der erſtern Subſtanz dieſes Gleich-
gewicht gehoben, und es aͤußert ſich eine Reaction
oder Gegenwirkung, welche ſelbſt die wirkende Sub-
ſtanz zu aͤndern vermag; und in dieſer Abſicht be-
trachtet, iſt die Wirkung die Summe von allen ein-
zelnen Veraͤnderungen, welche durch die Action und
Reaction in beyden Subſtanzen vorgegangen ſind.
Man kann aber, deſſen unerachtet, jede Subſtanz vor
und nach der Aenderung mit ſich ſelbſt vergleichen,
und die Aenderung, die ſie erlitten, als die in der-
ſelben geſchehene Wirkung anſehen. Denn uͤberhaupt
ſind hiebey die Woͤrter, Urſache, Wirkung, Action,
Reaction
ꝛc. nur relativ, und man nimmt ſie unge-
faͤhr folgendermaßen.


Lamb. Archit.II.B. O§. 589.
[210]XIX. Hauptſtuͤck.

§. 589.


Wenn naͤmlich eine Veraͤnderung geſchehen ſoll,
und die eine Subſtanz iſt in Ruhe, ſo muß in der
andern vorerſt eine Aenderung vorgehen, ehe ſie in
dieſe wirkt. Der Grund iſt offenbar, weil ſonſt die
Wirkung bereits vorgegangen waͤre. Damit ſie dem-
nach anfangen koͤnne, zu wirken, muß ſie gleichſam
zu dieſem Anfange vorbereitet werden, oder wenn ſie
eine Kraft iſt, das will ſagen, den Grund ihrer Wirk-
ſamkeit in ſich, oder eine eigene Activitaͤt hat, ſich
ſelbſt dazu anſchicken. Dieſes Anfangen macht,
daß man ſie Urſache nennet, (§. 584. 585.). Es iſt
aber gar nicht nothwendig, daß nur eine anfange, weil
es bey beyden zugleich eben ſo gut moͤglich iſt. Jn
dieſem Falle werden demnach beyde zugleich Urſa-
chen
genennet werden muͤſſen, weil bey der Veraͤn-
derung, die ſie, eine in der andern, verurſachen, jede
ihre Wirkſamkeit und Gegenwirkung aͤußert. Da
es nun hiebey nicht darauf ankoͤmmt, wie viel oder
wenig jede der beyden Subſtanzen ſich zu der Veraͤn-
derung angeſchickt hat, und man nur auf die Summe
der Veraͤnderungen ſelbſt ſieht, ſo kann die Summe
der Veraͤnderungen, die jede Subſtanz beſonders er-
litten, fuͤr ſich eine Wirkung genennet werden.


§. 590.


Wir benennen nun mehrentheils ſehr zuſammen-
geſetzte Veraͤnderungen, und ſo auch die Urſachen,
die ſie hervorbringen, mit einem einzigen Worte, wel-
ches gewoͤhnlich ein Zeitwort oder davon abgeleitet iſt.
Dieſes zeiget folglich die Sache uͤberhaupt an, ohne
jede einzelne Theile zu benennen, und in ſo fern iſt
es nur ein abgekuͤrzter Ausdruck, welcher ſtatt einer
Sacherklaͤrung gebraucht wird, es ſey, daß wir
dieſe
[211]Urſachen und Wirkungen.
dieſe a priori herausbringen, oder daß wir ſie a po-
ſteriori
erſt noch finden muͤſſen. Und dazu iſt auf
eine ſehr natuͤrliche Art die ganze Sprache eingerich-
tet, (Semiot. §. 122. ſeqq.). Traͤgt es ſich nun ſchick-
lich zu, daß die Sprache Woͤrter angiebt, auch die
einzelnen Theile der Veraͤnderung ſo zu benennen, daß
man nicht ganz bis zu dem Einfachſten alles zerglie-
dern muͤſſe, ſo laſſen ſich auf dieſe Art die Haupt-
theile derſelben durch wenige Woͤrter, oder in das
Kurze gezogen, anzeigen, und dieſe Anzeige iſt eine
Anlage zu der vollſtaͤndigen und ausfuͤhrlichen Sach-
erklaͤrung, die aber, wenn ſie ausfuͤhrlich ſeyn ſoll,
noch mehr entwickelt werden muß.


§. 591.


Man ſetze nun z. E. A werde in B verwandelt, und
die Sprache gebe die Verhaͤltniß A : B durch das
Wort q an, ſo daß A : B = q, oder A = qB ſey. Nun
kann es gar wohl ſeyn, daß q ein complexer Ver-
haͤltnißbegriff iſt (§. 569.), und daß man bey ge-
nauerer Unterſuchung z. E. B = \frac {Am} {p} + \frac {Cn} {r} findet;
das will ſagen; die Beſtimmung p ſey, bey der Ver-
wandlung, von A weggenommen, und ſtatt derſel-
ben m geſetzet, oder p ſey in m verwandelt worden, und
uͤberdieß ſey noch ein neuer Theil \frac {Cn} {p} hinzugekommen
und mit \frac {Am} {p} zuſammengeſetzt worden. Setzet man
nun, A ſey durchaus gleichartig, ſo kann es auch
ſeyn, daß m und p dabey durchgaͤngige Beſtimmun-
gen ſind, und in ſo fern mag der Ausdruck \frac {Am} {p} blei-
ben. Wenn demnach dieſer Theil allein waͤre, ſo
O 2wuͤrde
[212]XIX. Hauptſtuͤck.
wuͤrde B = \frac {Am} {p} folglich A : B = \frac {m} {p} = q ſey. Dem-
nach waͤre q nicht ein complexes Verhaͤltniß. Da
aber \frac {Cn} {r} noch dabey iſt, ſo iſt eigentlich B = \frac {Am} {p} + \frac {Cn} {r}
folglich
q = B : A = \frac {m} {p} + \frac {Cn} {Ar}.


Nun kann es auf eben die Art ſeyn, daß n und r
complexe Verhaͤltniſſe ſind, und keines dem C ganz
zukommt. Man ſetze z. E.
\frac {Cn} {r} = nD + \frac {E} {r} + \frac {nF} {r}
ſo iſt
B = \frac {Am} {p} + nD + \frac {E} {r} + \frac {nF} {r}
und folglich
q = \frac {B} {A} = \frac {m} {p} + \frac {nD} {A} + \frac {E} {rA} + \frac {nF} {rA}
welches uͤberhaupt anzeiget, das Wort q druͤcke ein
ſolches Verhaͤltniß aus, welches ſich auf vielerley
Theile erſtrecke, und bey jedem beſonders genommen
werden muͤſſe. Bey dem erſten ſey es = \frac {m} {p} und
folglich einfoͤrmig, bey dem andern ſtelle es das Ver-
haͤltniß zwiſchen nD und A, bey dem dritten E : r A,
bey dem vierten nF : r A vor. Wenn nun dieſe Zer-
gliederung nichts Complexes mehr hat, ſo ſind auch
die Verhaͤltniſſe bey jedem dieſer vier Theile einfoͤrmig
und die Sacherklaͤrung B = \frac {Am} {p} + nD + \frac {E} {r} + \frac {nF} {r}
hat ihre erforderliche Ausfuͤhrlichkeit. Sie zeiget
zugleich
[213]Urſachen und Wirkungen.
zugleich an, wie die Veraͤnderung des A in B vorge-
gangen, und wie die Urſachen muͤſſen gewirkt haben,
um dieſe Veraͤnderung hervorzubringen. Zu ſolchen
entwickelten Sacherklaͤrungen gelangen wir immer,
ſo fern die Theile und Beſtimmungen groͤßer und in
die Sinne fallend ſind. Wir muͤſſen aber noch der-
malen Worte dazu gebrauchen, und die hier angege-
bene Zeichnungsart dienet uns nur noch, wo wir die
Bedeutung der Buchſtaben A, B, q, m ꝛc. wiſſen,
und ſie nach den Groͤßen und Graden mit einander
vergleichen, (§. 452. ſeqq.).


§. 592.


Wir begnuͤgen uns ferner mehrentheils, die Urſa-
chen und Wirkungen nur in gewiſſen Abſichten zu be-
trachten und zu benennen; und in Anſehung der Wir-
kung iſt es auch oͤfters nur um die ganze Summe der
Veraͤnderungen, oder um das letzte Product zu thun,
ohne daß wir ſo genau auf die Ordnung ſehen, in
welcher die Veraͤnderung vorgegangen, noch auf die
Urſachen und Mittel, die dazu gebraucht worden ſind,
wenn nur das herausgekommen, was wir, uͤberhaupt
betrachtet, herausgebracht haben wollten, und die da-
bey noch etwann mit unterlaufenden Veraͤnderungen,
die zugleich mit vorgegangen, und die die Sache nach
ſich zieht, nichts geachtet werden, oder nichts auf
ſich haben ꝛc. Dabey iſt nun allerdings weder geo-
metriſche noch metaphyſiſche Schaͤrfe, und es koͤmmt
auch daher, daß die Saͤtze, welche die metaphyſiſche
Theorie der Urſachen und Wirkungen angiebt, bey
allen ſolchen Faͤllen von geringer Anwendbarkeit ſind,
und daß man ſie eigentlich nur da zu gebrauchen hat,
wo die Sache nicht ſo obenhin, ſondern nach aller
Schaͤrfe genommen werden ſoll. Wir werden einige
von ſolchen Saͤtzen in dieſer Abſicht naͤher betrachten.


O 3§. 593.
[214]XIX. Hauptſtuͤck.

§. 593.


Die Wirkung iſt der Urſache aͤhnlich, oder:
Wie die Urſache, ſo die Wirkung. Dieſe Aehn-
lichkeit hat man nun oͤfters Muͤhe zu finden, beſon-
ders, wenn man ſie in den entferntern Urſachen oder
nur in einigen Theilen aufſucht, oder auch, wenn man
Theile zu der Urſache mitrechnet, die es nicht ſind.
Denn ſie koͤmmt eigentlich nur bey der unmittelbaren
oder naͤchſten Urſache vor, und da muß man nicht
nur die Urſache, ſondern auch die Art, wie ſie wirkt,
die Gegenwirkung der Sache, und etwann auch noch
Nebenumſtaͤnde mit in Betrachtung ziehen, welches
alles machen kann, daß, da die naͤchſte oder unmittel-
bare Urſache der Wirkung aͤhnlich iſt, ſchon die nur um
einen Grad entferntere mit der Wirkung wenig Aehn-
lichkeit mehr hat. Jn dieſer Abſicht kann man den
angefuͤhrten Satz als ein Criterium anſehen, wenn
man die Art, wie eine Wirkung vorgegangen,
ausfuͤhrlich aufklaͤren will. Man muß die Unterſu-
chung ſo weit treiben, bis man dieſe Aehnlichkeit
durch alle Theile zeigen kann. Denn wo man hierinn
zuruͤck bleibt, da zeiget man hoͤchſtens nur, daß die
einzelnen Theile der Wirkung erfolgt ſind; und mit
Zuziehung aͤhnlicher Faͤlle kann man etwann auch die
Moͤglichkeit zeigen, daß ſie haben erfolgen koͤnnen,
oder auch, daß ſie haben erfolgen muͤſſen. Denn
uͤberhaupt iſt in ſolchen Faͤllen das daß eher und
leichter zu beweiſen, als das wie? Man kann die
erſten Saͤtze der Mechanic und Hydroſtatic zum Bey-
ſpiele nehmen, wenn man nicht nur den Satz, daß
ſie wahr ſind, ſondern wie ſie wahr ſind, beweiſen
und zeigen will. Die algebraiſchen Rechnungen ge-
ben uns ebenfalls mehrentheils nur das daß, ſelten
aber das wie an, weil dieſes faſt nothwendig die
ſynthe-
[215]Urſachen und Wirkungen.
ſynthetiſche Methode erfordert, und wenn es durch-
aus erhalten wird, eine aͤchte und vollſtaͤndige Klar-
heit und Deutlichkeit giebt.


§. 594.


Jn der Wirkung iſt nicht mehr, als in der
Urſache.
Dieſer Satz will nur ſagen, daß nichts
von ſich ſelbſt entſtehe, und daß folglich jede einzelne
Veraͤnderung, die in der Wirkung mit inbegriffen
iſt, von irgend einer Urſache herkommen, und folglich
jede Urſachen und Theile derſelben zuſammengerechnet
werden muͤſſen. Wenn man demnach die Wirkung
ſich vollſtaͤndig bekannt gemacht hat, ſo dient dieſer
Satz wiederum als ein Criterium, ob man jede ein-
zelne Urſachen und jede Theile derſelben habe, und
ob folglich die Kenntniß der Urſache vollſtaͤndig ſey?
Hiebey muß nun allerdings die Zeit mit in die Rech-
nung gezogen werden. Denn nimmt man von der
Wirkung ſolche Theile zuſammen, die nicht zu gleicher
Zeit erfolgt ſind, ſo kann auch eine ſchlechthin nur
eine Folge der andern ſeyn, und man wuͤrde demnach
ohne Grund fuͤr jede eine beſondere Urſache ſuchen
oder unmittelbar von einer und eben der Urſache her-
leiten wollen. Daß z. E. ein ganzes Magazin von
Pulver durch einen einigen Funken Feuer entzuͤndet
und dadurch ſo große Kraͤfte rege gemacht werden
koͤnnen, wuͤrde man aus dem Satze, die Wirkung
muͤſſe ganz in der Urſache ſeyn, nicht finden koͤnnen,
wenn man dabey den Funken Feuers als die einige
Urſache anſehen wollte. Denn dieſer Funken dienet
nur, um anzufangen, ein Gleichgewicht zu heben,
welches ſodann die Aufhebung des Gleichgewichtes
in jeden Koͤrnern durch aͤußere wirkende Kraͤfte nach
ſich zieht.


O 4§. 595.
[216]XIX. Hauptſtuͤck.

§. 595.


Die Reaction iſt mit der Action einerley,
außer daß jene dieſer entgegengeſetzt iſt.
Dieſer
Satz will nicht mehr ſagen, als daß eine angewandte
Kraft angewandt ſey, und nicht doppelt oder mehr-
fach angewandt werden koͤnne, und daß ſie, ſo wie
ſie ganz angewandt iſt, nicht zugleich noch anders
angewandt ſey. Die Wirkung iſt gleichſam immer
der Abdruck der unmittelbar wirkenden Urſache, und
wird von dieſer gebildet. Denn darinn beſteht auch
die Aehnlichkeit zwiſchen beyden, (§. 593.). Der
Unterſchied liegt nur darinn, daß der Abdruck eine
gleichſam umgekehrte Form oder Geſtalt hat, und
daß die Sache, in welcher die Kraft der Urſache ſich
aͤußert, derſelben entgegen wirke, und ſie dadurch
derſtalt aufhalte, daß man ſagen kann, ſie ſey an-
gewandt,
und ſo viel davon angewandt iſt, laſſe
ſich nicht als nochmals anwendbar gedenken.


§. 596.


Die voͤllige Wirkung iſt den geſammten wir-
kenden oder angewandten Kraͤften der Urſa-
che gleich, und von einerley Form.
Dieſer
Satz will ungefaͤhr ſagen, die Wirkung erſtrecke ſich
nicht weiter als die angewandte Kraft der Urſache;
und da auch kein Theil von dieſer Kraft mehrfach an-
gewandt ſeyn koͤnne, ſo finde ſich zwiſchen der Wir-
kung und der Kraft ein ſolches Ebenmaaß, daß je-
dem Theil der Wirkung ein Theil der angewandten
Kraft, und hinwiederum jedem Theil der angewand-
ten Kraft ein Theil der Wirkung entſpreche, und von
allem dieſem nichts doppelt oder mehrfach in die
Rechnung komme; daß endlich jeder Theil der Wir-
kung ſich genau nach der Art richte, wie die Kraft,
um
[217]Urſachen und Wirkungen.
um ihn hervor zu bringen, angewandt worden, und
die Urſache die Wirkung gleichſam bilde, oder der-
ſelben ihre Geſtalt gebe, (§. 593.). Dieſer Satz die-
net ebenfalls, wie die vorhergehenden, als ein Cri-
terium,
wenn man bey Unterſuchung einer Urſache
dieſelbe aus der Wirkung vollſtaͤndig und ausfuͤhrlich
entwickeln, und die Art, wie die Urſache gewirket hat,
durch alle Theile deutlich aus einander ſetzen will.
Man nehme aus dem §. 586. ſeqq. mit hinzu, daß
man um erſtlich die Wirkung an ſich vollſtaͤndig zu
kennen, genau wiſſen muͤſſe, wie die Sache vor der-
ſelben beſchaffen war, welche Theile und Kraͤfte, und
welche Verbindungen und Beſtimmungen von bey-
den da waren; daß eben dieſe Kenntniß der Sache
nach geſchehener Wirkung erfordert werde, damit
man den letzten Zuſtand mit dem erſten vergleichen
und identificiren koͤnne, (§. 586.). Wo es um die
Groͤße zu thun iſt, da iſt man hiebey in der Mathe-
matik ſo genau, daß man die Wirkung nach den
Differentialtheilen der Zeit, des Raumes ꝛc. betrach-
tet, und aus den Verhaͤltoiſſen der unendlich kleinen
Theile der Wirkung auf die Summe ſchließt, wel-
ches man vor der Erfindung des Jntegralcalculs ſel-
ten, und nur in den einfachſten Faͤllen thun konnte.
So beut uns auch die Naturlehre Beyſpiele an, daß,
ſo weit wir in dieſer Kenntniß kommen koͤnnen, die
Urſachen ſich eben ſo weit kenntlich machen, und daß
wir hingegen zuruͤck bleiben, ſo bald die Theilchen,
in welchen die Veraͤnderung geſchieht, unempfindbar
ſind, und wo wir folglich nur die Summe der gan-
zen Wirkung, oder oͤfters auch nur die Summe oder
das Product von einigen Theilen, ſehen oder empfin-
den, wie z. E. bey der Schwere, Cohaͤſion, Electri-
citaͤt, magnetiſchen Materie ꝛc. Jn allen ſolchen
O 5Faͤllen
[218]XIX. Hauptſtuͤck.
Faͤllen muͤſſen wir faſt immer bey Ausmeſſungen
anfangen, um zu ſehen, wie fern ſich gleichartige
Beſtimmungen und Dimenſionen
dabey finden
laſſen. Man ſehe das oben (§. 455.) hieruͤber ange-
merkte, ingleichem was wir (§. 548-552.) zum Be-
hufe der allgemeinen Theorie der Hauptarten der Koͤr-
per in Abſicht auf die Kraͤfte und Structur ihrer Theil-
chen angemerket haben.


§. 597.


Die Wirkung iſt nicht beſſer als die Urſa-
che.
Dieſer Satz iſt eine beſondere Anwendung des
§. 594. Man druͤcket ihn auch ſo aus, daß man ſa-
get, die Wirkung ſey nicht edler,nobilior, als die
Urſache. Dieſes verſteht man nun von der innern
Guͤte, Wuͤrde, Vortrefflichkeit, Vollkommen-
heit
der Sache, und zwar, ſo fern dieſe weſentlich und
fortdauernd iſt. Denn einmal iſt die relative Guͤte
davon ſo verſchieden, daß eine an ſich ſchlechtere,
gemeinere, geringere Sache zuweilen nuͤtzlicher ſeyn
kann, als eine an ſich viel beſſere; und ſo kann uns
auch an der Wirkung mehr gelegen ſeyn, als an der
Urſache, ſo daß wir dieſe jener zu gefallen etwann
aufopfern. Sodann kann auch die Wirkung zufaͤlli-
ger Weiſe beſſer ausfallen, als es die Urſache mit ſich
bringt. Das lateiniſche Spruͤchwort: Quandoque
et olitor vera locutus,
oder das deutſche, daß auch
zuweilen ein Blinder ein Hufeiſen finde, giebt dieſen
Unterſchied an, und zeiget zugleich, man muͤſſe aus
ſolchen Zufaͤlligkeiten keine Regel machen, weil ſolche
Wirkungen nicht der Urſache, die ſie ſonſt etwann
hervorbringt, ſondern den Nebenumſtaͤnden, die ſich
in einem gewiſſen Falle mit einfinden, zuzuſchreiben
ſind. Und von eben ſolchen Umſtaͤnden ruͤhret es hin-
wiederum
[219]Urſachen und Wirkungen.
wiederum auch her, wenn man in Betrachtung der
Urſache zuweilen weniger in der Wirkung findet, als
man von derſelben erwartet haͤtte. Man ſaget da-
her, daß zuweilen auch Homer ſchlafe, und in den
Rechten wird die Culpa leuiſſima als ein von ſolchen
Umſtaͤnden herruͤhrendes geringes Verſehen geachtet.
Alles dieſes zeiget, daß man die wirkende Urſache
mit den dazukommenden Umſtaͤnden genau verglei-
chen muͤſſe, um das, was gewoͤhnlich und ihrer
Natur nach
geſchehen ſoll, von dem zu unterſchei-
den, was die Umſtaͤnde daran beſſer oder ſchlechter
machen koͤnnen, und daß eben ſo das Gewoͤhnliche
von dem Seltenern dadurch unterſchieden werden
muͤſſe.


§. 598.


Zeit und Ort aͤndern das Jnnere einer Wir-
kung nicht, ſondern nur das Aeußere und Re-
lative.
Dieſer Satz iſt ebenfalls ſo zu verſtehen,
daß der Erfolg einer Wirkung einerley iſt, ob ſie heut
oder morgen, hier oder da geſchehe, ſo fern man die-
ſelbe an und fuͤr ſich betrachten kann, und ſo fern die
Sache nicht mit ſolchen Dingen in realer Verbindung
ſteht, die zu andern Zeiten und an andern Orten an-
ders ſind. Und dieſes muß man genau wiſſen. Daß
z. E. ein Pfund Bley unter dem Aequator leichter iſt,
als unter den Polen, haͤtte man anfangs nicht ver-
muthet. Man kann aber, ſo oft man mit der Aende-
rung der Zeit und des Ortes in der Sache eine Aen-
derung findet, aus dem Grunde, daß ſie nicht von
der Zeit noch von dem Orte, an ſich betrachtet, her-
ruͤhret, den Schluß machen, daß mit der Aenderung
der Zeit und des Ortes reale Verhaͤltniſſe und Ver-
bindungen der Sache muͤſſen geaͤndert worden ſeyn,
und dieſes giebt Anlaß dieſelben aufzuſuchen. Auf
dieſe
[220]XIX. Hauptſtuͤck.
dieſe Art findet man, was auch in dem unſicht-
barn Theile der Natur und Koͤrperwelt an
verſchiedenen Oertern und zu verſchiedenen Zei-
ten anders iſt,
wenn man an einerley Sachen bloß
durch die Aenderung des Ortes und der Zeit und mit
Beybehaltung von einerley bekannten und ſichtbaren
Umſtaͤnden, Aenderungen bemerket. Man ſehe auch
§. 416-421. Da in der Welt alle Dinge und ihre
Veraͤnderungen an Zeit und Ort gebunden ſind, ſo
geſchieht es auch oͤfters, daß eine Wirkung nicht zu
jeder Zeit und an jedem Orte, wo die Urſache iſt,
ſo erfolget, wie man ſie verlanget, weil ſie von dem
Zuſammenlaufe und Eraͤugung der Umſtaͤnde
und mitwirkenden Urſachen abhaͤnget, welche,
wenn ſie zuſammentreffen und ſich anbiethen, die
Gelegenheit und den Anlaß, die Wirkung zu er-
halten, ausmachen. Solche Gelegenheiten und
Anlaͤſſe koͤnnen nun oͤfters durch behoͤrige Vermit-
telung, Anſtalten
und Vorbereitungen befoͤrdert
und verſchaffet oder gegeben werden. Uebrigens
haben wir bereits oben (§. 415.) angemerket, daß un-
geachtet Zeit und Raum in den Dingen ſelbſt nichts
aͤndern, die Aenderungen ſelbſt dennoch der Zeit und
dem Orte nach vorgehen. Und in ſo fern geht
auch allemal die Urſache der Wirkung vorher,

oder ſie iſt fruͤher, als die Wirkung.


§. 599.


Wenn einerley Urſache mit einerley Kraͤften
und auf einerley Art in einerley Sache und
Umſtaͤnden wirket, ſo iſt die Wirkung einer-
ley.
Dieſer Satz giebt uͤberhaupt nur an, daß
wenn alles, wodurch eine Wirkung durchaus be-
ſtimmt wird, einerley iſt, die Wirkung ebenfalls
einerley
[221]Urſachen und Wirkungen.
einerley ſeyn muͤſſe. Die Bedingung des Satzes
zaͤhlet die dabey zuſammengehoͤrenden und vorkom-
menden Stuͤcke vor. Man gedenke ſich die wirkende
Urſache, ihre Kraͤfte, die Lage und Direction derſel-
ben, die Umſtaͤnde und die Sache, in welcher die
Wirkung erfolget, zuſammengenommen, als ein
Syſtem, ſo laͤuft der erſt angefuͤhrte Satz mit dem
bereits oben (§. 139. 140.) noch allgemeiner vorgetra-
genen auf eines hinaus, und iſt nur eine beſondere
Anwendung davon. Man ſieht leicht, daß man in
dieſes Syſtem alles mitnehmen muͤſſe, was in die
Wirkung einen Einfluß hat, und was folglich, wenn
es veraͤndert wird, die Wirkung ebenfalls verſchieden
ausfallen machet. Das Syſtem muß daher von al-
lem uͤbrigen unabhaͤngig und als ein Ganzes betrach-
tet werden koͤnnen, welches als fuͤr ſich ſubſiſtirend
angeſehen werden kann. Was Zeit und Ort dabey
zu ſagen haben, haben wir im vorhergehenden §. 598.
erinnert.


§. 600.


Die Frage iſt nun, wie fern ſich dieſer Satz um-
kehren laſſe, oder, wie fern man von der Jden-
titaͤt der Wirkung auf die Jdentitaͤt der Urſa-
chen, Kraͤfte, Umſtaͤnde, Art zu wirken ꝛc.
einen Schluß machen koͤnne?
Dieſer Schluß
geht nun an, wenn die Wirkung individual und ein
Stuͤck der wirklichen Welt iſt, und wenn man alle
Jndividualien bis auf die kleinſten Theilchen, und
was die Ausmeſſung betrifft, nach geometriſcher
Schaͤrfe nimmt. Auf dieſe Art aber wird man nicht
zwo oder mehrere, ſondern ſchlechthin nur eine und
eben dieſelbe Wirkung, Urſache, Umſtaͤnde ꝛc. mit
ſich ſelbſt vergleichen, weil in der wirklichen Welt
eine ſolche vollſtaͤndige Jdentitaͤt zwiſchen zweyen oder
mehrern
[222]XIX. Hauptſtuͤck.
mehrern Dingen nicht ſtatt findet, (§. 130. 131.). Jm
Reiche der Moͤglichkeit mag es angehen, daß die
Wirkung, in zwey oder mehrern Faͤllen, nur den
Unterſchied der Zahl nach ausgenommen, einerley ſey.
(§. 129. 132.). Aber aus eben dem Grunde kann
auch der Unterſchied der Zahl nach bey der Urſache
ſtatt finden, und man wird daher in Abſicht auf die-
ſelbe nicht nothwendig ein und eben das Indiuiduum
herausbringen, weil ſtatt deſſen ein anderes demſel-
ben durchaus aͤhnliches (§. 129.) geſetzt werden kann.
Man kann daher nur von der Aehnlichkeit der Wir-
kung auf die Aehnlichkeit der Urſachen einen Schluß
machen.


§. 601.


Da ferner bey der Urſache die Theile, Kraͤfte, Art
zu wirken, die Ordnung, in welcher die Wirkung
der Zeit und der Ausdehnung nach vorgeht, und die
Umſtaͤnde, mit einander in Betrachtung gezogen
werden muͤſſen; ſo iſt es auch moͤglich, daß, was in
dem einen dieſer Stuͤcke anders iſt, in dem andern
dergeſtalt anders ſeyn kann, daß beyde Unterſchiede,
in Abſicht auf die Wirkung, ſich aufheben oder com-
penſiren. Und dieſes machet, daß man aus der
Aehnlichkeit der Wirkung auf die Jdentitaͤt
der Urſache gar nicht nothwendig, auf die
Aehnlichkeit der Urſache aber, nur in ſo fern
ſchließen kann, als eine ſolche Compenſation
der Verſchiedenheiten nicht angeht.


§. 602.


Die Wirkungen in einerley Sache ſind in
Verhaͤltniß des Unterſchiedes der wirkenden
Urſachen, ihrer Kraͤfte, und Art zu wirken, und
der Umſtaͤnde, in welchen Sache und Urſa-

che
[223]Urſachen und Wirkungen.
che ſind. Denn jede Wirkung iſt uͤberhaupt ihrer
Urſache aͤhnlich (§. 593.), und aͤhnliche Dinge ſind
in Verhaͤltniß ihres Unterſchiedes, (§. 439.). Die
Wirkungen in einer Sache ſind demnach in ſo fern
verſchieden, in ſo fern ſich in den Urſachen, ihren
Kraͤften und Umſtaͤnden, Unterſcheide finden. Eben
dieſe Unterſcheide finden ſich nur einzeln in den Wir-
kungen auch. Demnach ſind dieſe in Verhaͤltniß von
jenen. So viel nun von dieſen Verhaͤltniſſen ſich ge-
gen einander aufheben, ſo viel wird auch die Aehn-
lichkeit der Wirkungen wieder hergeſtellet, (§. 601.).
Uebrigens iſt fuͤr ſich klar, daß hiebey einfache und
complexe Verhaͤlniſſe unterſchieden werden muͤſſen
(§. 591.), weil die Vergleichung dabey ganz anders
ausfaͤllt, (§. 451.).


§. 603.


Dafern wir nun, wie es gewoͤhnlich geſchieht, die
Urſachen und Wirkungen nicht durchaus, ſondern
nur in gewiſſen vorgegebenen oder vorhabenden Ab-
ſichten betrachten (§. 592.), ſo begnuͤgen wir uns
auch mit derjenigen Jdentitaͤt und Aehnlichkeit, die
in der vorgegebenen Abſicht vorkoͤmmt; und in ſo
fern kehren wir uns an den Unterſchied der Urſachen
nicht. Dieſes machet aber, daß wir die erſt ange-
fuͤhrte Analogie (§. 602.) ſehr haͤufig gebrauchen, wo
wir uns Wirkungen als Abſichten, und Urſachen als
Mittel vorſtellen, und zu den Abſichten die Mittel
finden wollen. Die Art dabey zu verfahren iſt, daß
wir die Abſicht als eine Wirkung betrachten, und ſie
mit andern Wirkungen, wovon uns die Urſachen aus
der Erfahrung oder ſonſt bekannt ſind, vergleichen.
Die Hauptfaͤlle, die dabey vorkommen, ſind nun
folgende.


1°. Wenn
[224]XIX. Hauptſtuͤck.
  • 1°. Wenn die vorhabende Abſicht oder Wirkung A
    mit der aus der Erfahrung oder ſonſt bekannten
    Wirkung E einerley, oder von eben der Art und
    Beſchaffenheit iſt: ſo iſt es ganz natuͤrlich, das
    Mittel oder die Urſache M fuͤr den erſten Fall,
    mit der Urſache C fuͤr den andern Fall einerley,
    oder von eben der Beſchaffenheit, zu ſetzen: und
    dafern es die uͤbrigen und vorgegebenen Um-
    ſtaͤnde leiden, das der Urſache C aͤhnliche Mit-
    tel M zu waͤhlen, (§. 599.).
  • 2°. Wenn in E mehr iſt, als in A, ſo hat man
    darauf zu ſehen, von welchem Theile der Urſa-
    che C, und in welchem Theile der Sache E es
    vorkoͤmmt. Kann nun dieſes in dem der Ur-
    ſache C aͤhnlichen Mittel M abgeſondert, oder
    der Effect davon durch eine Gegenwirkung, Hin-
    derniß ꝛc. fruchtlos gemacht werden, ſo laͤßt
    ſich M wiederum waͤhlen; widrigenfalls iſt ein
    Mittel N zu ſuchen, welches an ſich ſchon we-
    niger enthalte.
  • 3°. Wenn hingegen in A mehr iſt als in E, ſo mag
    zwar M der Urſache C aͤhnlich angenommen
    werden; allein, da man dadurch in A nicht mehr
    als in E erhaͤlt; ſo bleibt der uͤbrige Theil noch
    nachzuholen, indem man noch ein beſonderes
    Mittel m dazu ſuchet. Und da iſt allerdings
    das ſchicklichſte, wo man M und m irgend bey-
    ſammen findet.
  • 4°. Der vierte Fall iſt aus dem zweyten und drit-
    ten zuſammengeſetzt, und koͤmmt vor, wo naͤm-
    lich in A zugleich etwas mehr und etwas weni-
    ger iſt, als in E. Da muß auch, wenn M
    dem C aͤhnlich iſt, von M weggenommen und
    hinzu
    [225]Urſachen und Wirkungen.
    hinzu geſetzt werden, bis man die Analogie
    E : A = C : M vollzaͤhlig hat.
  • 5°. Aus dieſen an ſich einfachern Faͤllen laſſen ſich
    nun leicht zuſammengeſetztere gedenken, wo man
    naͤmlich die Wirkung A in ihre Theile zerglie-
    dern, und ſowohl fuͤr jeden Theil, als fuͤr ihre
    Zuſammenſetzung und Verbindung, und oͤfters
    auch zu der Vorbereitung, Veranſtaltung, Ver-
    anlaſſung und zur Vereitelung der Hinderniſſe,
    Mittel ſuchen muß. Denn fuͤr ſo verwickelte
    Faͤlle laſſen ſich nicht ſo leicht einfache Analo-
    gien finden.

§. 604.


Da die genaue Kenntniß einer jeden Wirkung, fuͤr
ſich betrachtet, eine ausfuͤhrliche Vergleichung der
Sache vor und nach der Veraͤnderung vorausſetzt
(§. 586. ſeqq.), ſo ſetzet die Vergleichung zwoer Wir-
kungen zwo ſolche Vergleichungen voraus. Dem-
nach muͤſſen die Sachen und Umſtaͤnde, in welchen
die Wirkungen A und E vorgehen ſollen, vor und
nach der Veraͤnderung mit einander verglichen wer-
den. Thut man dieſes ſtuͤckweiſe durch alle Theile,
ſo laͤßt ſich, oͤfters die Urſache von A, welche man
vermittelſt der Vergleichung mit E ſuchet, unmit-
telbar ſelbſt finden, weil man die vorhin (§. 593.
ſeqq.) angegebenen Criteria dazu gebrauchen kann.
Jndeſſen kann dennoch die Vergleichung mit E dabey
leichter auf die Spur fuͤhren, weil man die Urſache C
kennet, und folglich durch alle Theile ſehen kann, wie
fern ſie dieſe Criteria an ſich hat, und folglich zu A
brauchbar iſt.


§. 605.


Gebraucht man aber zur Entdeckung des Mittels
oder der Urſache M die vorhin (§. 603.) angegebene
Lamb. Archit.II.B. PAna-
[226]XIX. Hauptſtuͤck.
Analogie, ſo hat das Verfahren dabey mit demjeni-
gen, welches wir oben (§. 586. 573.) mit der Regel
Falſi verglichen haben, eine voͤllige Aehnlichkeit, und
es wird dadurch erleichert, weil man ſtatt einer ganz
willkuͤhrlich angenommenen Urſache, vermittelſt die-
ſer Analogie eine ſolche annimmt, welche die geſuchte
Wirkung A wenigſtens zum Theil hervorbringt, und
woran folglich, um ſie ganz genau zu beſtimmen, nur
noch einige Theile muͤſſen geaͤndert werden.


§. 606.


Es machet ſich aber dieſe Analogie theils nothwen-
diger, theils wird ſie auch in der Anwendung miß-
licher, wo A und E nur die Summe oder das Pro-
duct von einzelnen Wirkungen, die in jedem Theil-
chen der Sache vorgehen, vorſtellet, und wo man
nur dieſe Summe oder das Product im Ganzen
kennet. Denn da kann man nur dieſe Summen mit
einander vergleichen, und machet aus ihrer Aehnlich-
keit auf die Aehnlichkeit der innern Structur der
Theile, und ſo auch auf die Aehnlichkeit der Urſachen
den Schluß. Jndeſſen zeigen ſich uns die Dinge in
der Natur noch lange nicht mit allen ihren Beſtim-
mungen, Materien und Kraͤften, und das, was uns
in die Sinne faͤllt, kann aͤhnlich ſeyn, obgleich das
uͤbrige ganz verſchieden iſt. Damit geht nun die
Analogie nur da an, wo die Urſache und Wirkungen
in beyden mit einander verglichenen Faͤllen, nur das
Aehnliche in beyden betrifft, und das verſchiedene
keinen ſolchen Einfluß dabey hat, der den Erfolg aͤn-
dern koͤnnte. Hievon muß man ſich aus Gruͤnden
oder durch angeſtellte Proben verſichern, ſonſten fin-
det ſich gar zu leicht das duo cum faciunt idem,
non eſt idem
des Phaͤdrus bekraͤftiget.


§. 607.
[227]Urſachen und Wirkungen.

§. 607.


Wir koͤnnen die Erklaͤrung des Blitzes zum Bey-
ſpiele nehmen, wie leicht ſolche Analogien fehlſchla-
gen koͤnnen. Anfangs wußte man keine andere Aehn-
lichkeit, wie der Blitz einſchlagen koͤnnte, als daß
man ſich den Jupiter vorſtellte, welcher die Donner-
keule werfen
mußte, und hoͤchſtens konnte man ur-
theilen, daß ſie ſchweflicht ſeyn. Nach der Erfin-
dung des Pulvers hatte man fuͤr Blitz und Knall
eine neue Art von Aehnlichkeit; und verſchiedene chy-
miſche Materien, die ſich theils bey der Vermi-
ſchung, theils auch in freyer Luft, von ſelbſt entzuͤn-
deten,
gaben ebenfalls Anlaß, ſolche Vermiſchun-
gen
in der Luft ſelbſt zu ſetzen. Die Electricitaͤt gab
endlich neue Analogien an, da man durch bloßes Rei-
ben Licht und Knall hervorbringen, und bey dem
Ungewitter die Koͤrper ohne das Reiben electriſch ma-
chen konnte. Bey allem dieſem wurde die Aehnlich-
keit ſtufenweiſe groͤßer, doch nicht ſo, daß ſie nicht
groͤßer werden koͤnnte. Denn wenn auch ſchweflichte
und andere chymiſche Materien in der Luft ſind, und
etwas electriſches ſich gleichfalls mit einfindet, ſo
kann es dennoch ſeyn, daß erſteres nur Materialen,
letzteres aber nur Wirkungen ſind, die ſich mit ein-
finden, und ſaͤmmtlich durch eine noch unbekannte
Urſache nur rege gemacht werden. Die Natur hat
ohnehin Mechanismos und chymiſche Proceſſe, die die
Kunſt nicht erreichet, weil man weder alle feinere
Materien und Kraͤfte der Natur kennet, noch ſie zu
ſeiner Diſpoſition hat, (§. 214.).


§. 608.


Jn allen ſolchen Faͤllen muß man genau unterſu-
chen, wie weit man mit ſolchen Analogien reichet.
P 2So
[228]XIX. Hauptſtuͤck.
So z. E. kann man in Anſehung des Blitzes zuge-
ben, daß ſich dabey wirklich etwas ſchweflichtes ent-
zuͤnde. Ob aber nichts mehr ſey, und ob die Ent-
zuͤndung bey den ſchweflichten Theilchen anfange, das
bleibt noch uneroͤrtert. Man kann zugeben, daß bey
der Entzuͤndung wirklich electriſche Erſchuͤtterungen
vorkommen; ob dieſe aber vorgehen oder folgen, oder
zugleich mit dabey ſind, und von einer gemeinſamen
Urſache herruͤhren, iſt wiederum eine andere Frage,
und eben ſo auch, ob zu der Entzuͤndung eine chymi-
ſche Fermentation und Aufhaͤufung des dazu gehoͤri-
gen Stoffes vorgehen muͤſſe. Die Erfahrungen von
den Ausduͤnſtungen lehren uns zwar, daß die Luft
voller Theilchen von allen Arten Materien iſt, und
daß dabey vielerley Vermiſchungen vorgehen koͤnnen.
Von dem Mechanismo aber, der dabey ſtatt hat,
und von den erforderlichen Jngredientien lehren ſie
uns nichts. Und daher koͤnnen wir hiebey auch nur
die Analogien gebrauchen, ſo weit ſie reichen, das
will ſagen: was wir bey dem Blitze beobachten, und
was wir demſelben aͤhnlich finden, koͤnnen wir dabey
nur als Praͤdicat, nicht aber als Subject gebrau-
chen, weil wir ſicher ſchließen koͤnnen, der Blitz habe
noch mehrere Beſtimmungen, und laſſe ſich folglich
mit den bisher bekannten noch nicht identificiren.
Denn dieſe Jdentification muß bewieſen werden, und
ein ſolcher Beweis fordert, daß man zeige, es kom-
me bey dem Blitze weiter nichts unbekanntes vor,
welches aber allerdings ſo leicht nicht angeht.


§. 609.


Man iſt, wie wir bereits (§. 596.) angemerket
haben, mit der Kenntniß der Urſache mehrentheils
bald fertig, wenn man die Wirkung ſelbſt vollſtaͤndig
kennet,
[229]Urſachen und Wirkungen.
kennet, und beſonders, wo der Mechanismus und die
Structur der Theile ganz in die Sinne faͤllt. Man
kann eine Uhr, eine Muͤhle und die meiſten Maſchi-
nen, die wir ſelbſt erfinden und verfertigen, als eben
ſo viele Beyſpiele anſehen. Die Beſchreibung, wie
dabey ein Theil den andern in Bewegung ſetzet, und
wie die Kraft ſich nach der Zeit und Geſchwindigkeit
richtet, kann ſo ausfuͤhrlich vorgelegt werden, als
man will. Hingegen ſuchet man in der Phyſic meh-
rentheils Urſachen zu Wirkungen, die man noch lan-
ge nicht genug kennet, und wo weder die Theilchen
noch ihre Structur in die Sinnen fallen. Gemeinig-
lich aber nimmt man die Urſache gleich anfangs und
mit zu vielen Beſtimmungen willkuͤhrlich an, anſtatt,
daß man ſie anfangs, ſo viel moͤglich iſt, unbe-
ſtimmt laſſen, und nur das beybehalten ſollte,
von dem man ſicher ſchließen kann, daß es in
der Urſache, oder eine Eigenſchaft, ſeyn muͤſſe.

So z. E. fieng Kepler an zu vermuthen, die Pla-
neten muͤßten durch eine Kraft von der geraden Linie
abgelenket werden, weil ſie nicht in gerader Linie
fortgehen, und dieſe allgemeine Benennung waͤre an-
fangs genug geweſen. Er machte aber, auf eine
faſt individuale Art, dieſe Kraft magnetiſch, und
ſetzte ſtatt des Ablenkens den viel beſtimmtern Aus-
druck des Anziehens. Newton behielt das Wort
anziehen, wenigſtens als eine Metapher, und ver-
ſchiedene von ſeinen Nachfolgern, ſo, daß ſie es dem
Druͤcken entgegen ſetzten. Carteſius und ſeine
Nachfolger verfuhren noch viel beſtimmter, indem
ſie den ganzen Himmel mit Materie anfuͤlleten, und
dieſer eine ſolche Structur und ſo mannichfaltige Be-
wegungen gaben, bis ſie glaubten, die Kepleriſchen
Geſetze
daraus herleiten zu koͤnnen, welches aber nie
P 3recht
[230]XIX. Hauptſtuͤck.
recht gelingen wollte, und ihre erbauten Wirbel lieſ-
ſen ſich bald wieder umſtoßen. Dafern aber die Kraͤfte
immaterielle Subſtanzen ſind, die ſich uns nur durch
ihre Wirkungen zu erkennen geben (§. 539. 541. 543.),
ſo iſt es auch gar wohl moͤglich, daß ſie das Sonnen-
ſyſtem ohne ſo viele materielle Wirbel in Verbindung
erhalten (§. 550.), und daß man ſich folglich damit
begnuͤgen kann, wenn man ſaget, ſie aͤußern ihre
Wirkung in demſelben in umgekehrter Verhaͤltniß
des Quadrates der Diſtanz. Und da faͤngt das Me-
chaniſche erſt nach dieſer Vorausſetzung an.


§. 610.


Will man nun in ſolchen Faͤllen, wo die Structur
und der Mechanismus der Theile nicht in die Sinne
faͤllt, ordentlich verfahren, und in Anſehung der
Entdeckung der Urſache und ihrer Art zu wirken,
Schritt vor Schritt gehen, ſo kann man ſich anfangs
begnuͤgen, aus der Wirkung zu ſchließen, daß eine
Kraft da ſey, und dieſe Kraft muͤſſe ſo wirken, wie
es der Erfolg angiebt. Und dabey iſt es eben nicht
nothwendig, der Kraft von freyen Stuͤcken und nach
irgend einer Analogie einen ſpecialen Namen zu ge-
ben, oder dieſelbe ſogleich dieſer oder jener Materie
zuzuſchreiben, wenn man nicht offenbar ſieht, daß
ſie davon herruͤhret. So z. E. da man findet, daß
ein Koͤrper bey dem Erwaͤrmen ausgedehnter wird,
ſo iſt es unnoͤthig, und daraus noch unerweisbar, daß,
der Aether dieſe Ausdehnung verurſache. Man kann
aber immer ſchließen, daß, weil ohne Kraft und ohne
Aufhebung des Gleichgewichtes der Kraͤfte keine Ver-
aͤnderung vorgeht, bey der Ausdehnung durch die
Waͤrme, eine ſolche Kraft und eine ſolche Aufhebung
des Gleichgewichtes da ſeyn muͤſſe. Dabey bleibt
nun
[231]Urſachen und Wirkungen.
nun noch unbeſtimmt, ob das Feuer eine Kraft habe,
welche in die Koͤrper hinein dringt und ſie ausdehnet,
oder ob das Feuer nur das Gleichgewicht zwiſchen den
Kraͤften hebe, welche in und außer dem erwaͤrmten
Koͤrper ſind, und welche bis dahin ſeine Theilchen in
einer gewiſſen Entfernung erhalten hatten, welche nun
durch die Aufhebung des Gleichgewichtes vergroͤßert
wird.


§. 611.


Nach dieſem erſten Schritte, wodurch man ſich
ſchlechthin von dem Daſeyn der Kraͤfte und ihrer Art
zu wirken verſichert, koͤmmt es darauf an, daß man
ſehe, ob ſich die Wirkung, der Ausdehnung und der
Dauer nach, und wenn man beydes zuſammen nimmt,
auch der Geſchwindigkeit nach, ausmeſſen laſſe. Der
Grund davon iſt, daß man ſich von den verſchiedenen
einfachen Beſtimmungen und Dimenſionen ver-
ſichere, welche ſowohl in Anſehung der Wirkung, als
in Anſehung der Kraft und ihrer Art zu wirken vor-
kommen. (§. 449-458.). Denn da wir vorausſetzen,
daß nicht die einzelnen Theile der Sache und der Wir-
kung, ſondern nur die Summe von allen in die Sin-
ne falle, ſo geht es nicht wohl an, die einfachen Be-
ſtimmungen jede fuͤr ſich zu finden. Hingegen kann
jede ohne Ruͤckſicht auf die andern groͤßer oder kleiner,
oder dem Grade nach ſtaͤrker oder ſchwaͤcher werden
(§. cit.); und da dieſes einen Einfluß auf die Sum-
me hat, ſo iſt es auch bald das einige Mittel, jede
einfache Beſtimmung dadurch zu finden, daß man
die Wirkung nach jeden Dimenſionen aufſuchet und
ausmißt. Hiebey giebt nun die Analogie Anlaß zu
Vermuthungen, welche ſodann die Art beſtimmen,
wie das Experiment vorgenommen werden ſoll, um
ſich zu verſichern, ob ſie wirklich ſtatt habe? Man
P 4unterſuchet
[232]XIX. Hauptſtuͤck.
unterſuchet, zum Beyſpiele, die magnetiſchen Wirkun-
kungen, und will ſehen, ob die Kraͤfte dabey ſich, wie
die meiſten andern Kraͤfte, nach dem Sinu incidentiae
richten, und dieſes laͤßt ſich durch Verſuche auf meh-
rerley Arten bekraͤftigen. Man beſtimmt eben ſo,
wie ſie ſich nach der Entfernung richten ꝛc. Es iſt
unſtreitig, daß ſo bald man genug Mittel findet, in
Anſehung der Electricitaͤt ſolche Ausmeſſungen anzu-
ſtellen, man ebenfalls Beſtimmungen und Geſetze
finden werde, die immer zum Grunde gelegt werden
muͤſſen, wenn man eine phyſiſche Theorie davon aus-
ſinnen will. Wir haben oben (§. 455.) in Anſehung
der Kepleriſchen Geſetze eben dieſes angemerket.
Solche Ausmeſſungen ſind aber, auch wenn dieſe
Theorie dabey noch zuruͤck bleibt, an ſich brauchbar.
Denn ſo z. E. weiß man noch kaum, was das Licht iſt.
Da es ſich aber in allen Abſichten ausmeſſen laͤßt, ſo
hat man, ohne die phyſiſche Theorie, die Optic,
Dioptric, Catoptric ꝛc. ungemein brauchbar gemacht.


§. 612.


Da ferner einerley Kraft in verſchiedenen Materien
und Umſtaͤnden verſchiedene Summen von einzelnen
Wirkungen hervorbringen kann, ſo kann man ſich, ſo-
bald man bey deren Vergleichung etwas aͤhnliches fin-
det, der Analogie bedienen, um zu ſehen, ob nicht die
Kraft dabey eine und eben dieſelbe ſey, wenn die Ver-
ſuche gehoͤrig dazu angewandt werden. So z. E.
kann man vermuthen, es moͤchte wohl einerley Kraft
die Theilchen der Koͤrper zuſammenhalten, und das
Licht brechen. Man loͤſe ſtuffenweiſe mehr Zucker
oder Salze in Waſſer auf, und beſtimme bey der
Aufloͤſung die ſpecifiſche Schwere oder vergroͤßerte
Dichtigkeit, die Hoͤhe, zu welcher das Waſſer nach
jeder
[233]Urſachen und Wirkungen.
jeder Verdickung in den Haarroͤhrchen ſteigt, und die
Verhaͤltniß des Sinus des Einfalls und Brechungs-
winkels, ſo wird man Anlaͤſſe haben, zwiſchen dieſen
Kraͤften Vergleichungen anzuſtellen. Man wird auf
eine aͤhnliche Art, wenn man Weingeiſt ſtufenweiſe
waͤrmer macht, beobachten koͤnnen, wie ſich bey die-
ſer Verduͤnnerung ſowohl die Stralenbrechung als
ſeine Hoͤhe in den Haarroͤhrchen und ſeine Schwere
veraͤndert. Das uͤbrige, was zum Behufe der Er-
forſchung der Urſachen a poſteriori anzumerken iſt,
findet ſich (Dianoiol. §. 583. ſeqq.).



Zuſatz
zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.


I.


Es wird nicht undienlich ſeyn, wenn ich hier noch
einige die Theorie der Urſachen betreffende An-
merkungen einſchalte. Ariſtoteles hat vermuthlich
wegen der Vieldeutigkeit des Wortes viererley Urſa-
chen angegeben, und ſeine griechiſchen Benennungen
ſind, von ſeinen Anhaͤngern und Nachfolgern mit latei-
niſchen Woͤrtern ausgedruͤckt, bisher immer in der
Metaphyſic geblieben, wiewohl von Zeit zu Zeit
einige Aenderungen und Neuerungen verſucht worden.
Die Namen ſind: Cauſſa efficiens, materialis, for-
malis, finalis
oder auch efficiens, materia, forma,
finis,
und auf Deutſch moͤgen ſie die wirkende Ur-
ſache,
der Stoff, die Geſtalt, der Endzweck,
genennet werden.


P 5II. Dieſe
[234]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.

II.


Dieſe deutſchen Benennungen reimen ſich mit dem
Worte Urſache nicht wohl ſo zuſammen, daß ſie
vier Arten von Urſachen bezeichnen ſollten. Sie
laſſen ſich aber, von einer andern Seite betrachtet, den-
noch zuſammenreimen. Als Arten einer Gattung
betrachtet, ſind ſie zu viel ungleichartig. Beſſer
aber moͤgen ſie als Theile eines Ganzen angeſehen
werden.


III.


Denn man ſtelle ſich vor, daß eine Wirkung
geſchehe, ſo wird unſtreitig 1°. eine wirkende Urſa-
che
dazu erfordert, und dieſe verdient den Namen
von Urſache im eigentlichſten Verſtande. Damit
aber die Wirkung nicht ein leerer Luftſtreich ſey,
ſo muß allerdings etwas da ſeyn, worinn die Wir-
kung ſich aͤußert; und dieſes mag der Stoff heißen.
Dieſer erhaͤlt durch die Einwirkung der Urſache eine
Veraͤnderung. Und wenn der Stoff ſelbſt in ſeinen
Theilen, ihrer Lage, ihrer Verbindung, Zuſammen-
hang ꝛc. veraͤndert wird, ſo erhaͤlt derſelbe eine andere
Geſtalt. Endlich, wenn alles dieſes nicht bloß fuͤr
die lange Weile
geſchehen ſeyn ſoll, ſo muß auch
darauf geſehen werden, wohin die nunmehr geaͤnderte
Geſtalt, oder uͤberhaupt die geſchehene Veraͤnderung,
abzwecken kann, wohin es damit gezielt iſt, wozu
nun der umgeaͤnderte Stoff dienet ꝛc. Und dieſes
mag der Zweck oder Endzweck ꝛc. heißen.


IV.


Daß nun hiebey zuweilen der wirkenden Urſa-
chen
mehrere ſeyn koͤnnen; daß nebſt denſelben noch
Mittel und Werkzeuge koͤnnen gebraucht werden;
daß unter dem Namen von Veraͤnderungen auch
Tren-
[235]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
Trennungen, Zuſammenſetzungen, Vermiſchun-
gen, Ausbildungen, Anordnungen
ꝛc. koͤnnen
verſtanden werden; daß der Zweck ein wirklicher
Vorſatz eines denkenden Weſens ſeyn, und die
Wirkung uͤberhaupt mit unter die Zwecke der
Schoͤpfung
gerechnet werden koͤnne ꝛc. das alles
iſt fuͤr ſich klar. Man ſieht auch ohne Muͤhe, daß
die Form mit dem Zwecke in ſehr unmittelbarer
Verbindung ſtehe, und beſonders der Zweck ſich
immer mehr oder minder auf ein denkendes Weſen
beziehe.


V.


Unter den vier Begriffen, die Ariſtoteles hiebey
hervorgezogen, hat der dritte, naͤmlich die Form,
immer, in Abſicht auf die Aufklaͤrung deſſelben, die
meiſten Schwierigkeiten angebothen. Man nahm
dieſe vier Begriffe nicht immer zugleich und in ihrer
ganzen Verbindung vor, ſondern man abſtrahirte ſehr
oft ſowohl von der wirkenden Urſache, als von dem
Endzwecke, und betrachtete die Materie und die
Form beſonders, und ſetzte dieſe zween Begriffe ein-
ander ſo entgegen, daß was an einer Sache nicht
Materie war, Form ſeyn mußte. Und ſo wurde
die Form gewiſſermaßen ein Terminus infinitus.
Das Chaos allein ſah man als eine materiam infor-
mem
an, bis nach Ovids Erzaͤhlung
Hanc litem Deus et melior natura diremit. ()
Bey allen andern Dingen war immer Form und
Materie unzertrennt.


VI.


Jndeſſen blieb man bey dieſen Beſtimmungen, die
Ariſtoteles vielleicht mehr empfinden als ausdruͤcken
und deutlich machen konnnte, nicht, ſondern wich auf
verſchie-
[236]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
verſchiedene Arten davon ab. Einmal gab der aus
der Vieldeutigkeit des Wortes ωτια herruͤhrende Be-
griff, daß die Form eine Urſache ſeyn, und daher
doch auch etwas zur ganzen Wirkung beytragen
mußte, Anlaß, daß man ſehr geneigt wurde, beſon-
ders in koͤrperlichen Dingen, das, was nicht im phy-
ſiſchen Verſtande
Materie, das will ſagen, koͤr-
perliche
Materie war, mit zu der Form zu rechnen.
Jn dieſer Abſicht aber mußten die Kraͤfte, ſo fern
ſie nicht auf eine koͤrperliche Art materiell ſind, mit
zur Form genommen werden. Und ſo laͤßt ſichs be-
greifen, wie es zugieng, daß die menſchliche Seele
als die Form des Menſchen angeſehen wurde.
Eben ſo wurden nach und nach bald jede einzelne Be-
ſtimmungen Form genennet. Endlich ſah man,
wenigſtens in gewiſſen Faͤllen, Form und Figur ſo
ziemlich als eins an.


VII.


Hiebey wurde nun außer der Zweydeutigkeit, die
in dem Worte Materie vorkam, durch ein unver-
merktes Clinamen principiorum, der Begriff Form
mit fremden Beſtimmungen theils verwechſelt theils
vermengt, ſo daß man bey Durchleſung der ſchola-
ſtiſchen und auch neuerer metaphyſiſchen Schriften,
Muͤhe hat, genau zu finden, in welchem Verſtande
das Wort Form jedesmal muͤſſe genommen werden.
Jch erinnere mich nicht, eine nette und der Sache
ſelbſt angemeſſene Beſtimmung, und noch viel weni-
ger eine eigentliche Abzaͤhlung alles deſſen, was zur
Form gerechnet werden muß, irgend gefunden zu
haben, ungeachtet ich nicht leicht ein metaphyſiſches
oder dialectiſches Werk weglegte, ohne mich umzu-
ſehen, was darinn von der Form geſagt wird. Der
Begriff ſchien von Wichtigkeit zu ſeyn, und ſo ſah ich,
ſelbſt
[237]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
ſelbſt auch in Woͤrterbruͤchern, beſonders in Geſners
Theſauro, die Redensarten nach, in welchen das
Wort Form vorkam; auch war uͤbrigens das Wort
Form nebſt mehrern damit verwandten Woͤrtern,
ſelbſt im Deutſchen und uͤberhaupt in den jetzt leben-
drn Sprachen ſo ſelten nicht, daß ich mich nicht ohne
Muͤhe ſehr vieler Redensarten ſollte erinnern koͤnnen,
worinn das Wort Form von Erheblichkeit war. Sol-
che Redensarten und Ausdruͤcke zeichnete ich mir, ſo
wie ſie mir beyfielen, auf, um wenigſtens meine Un-
terſuchungen, beſonders dem dermaligen Sprachge-
brauche nicht zuwider anzuſtellen.


VIII.


Jndeſſen fand ich dennoch, daß ſchlechthin auch
die Sache ſelbſt mit zu Huͤlfe genommen, und darinn,
ſo zu reden, die Luͤcke aufgeſucht werden mußte, wel-
che das Wegbleiben des Begriffes Form laſſen wuͤr-
de, wenn man nur die drey uͤbrigen Begriffe (§. I.)
beybehalten wollte. Die Frage war ſodann, zu ſehen,
ob dieſer Begriff, dem Sprachgebrauche gemaͤß,
dieſe Luͤcke nett ausfuͤllt? Auf dieſe Art brachte ich
die Sache auf ein logiſches Problem, wobey die
gegebenen und geſuchten Stuͤcke und zugleich die
Bedingniſſe zu ihrer Vergleichung und zu Be-
ſtimmung der letztern angezeiget waren. Die Be-
merkung, daß auch in abſtracten Dingen von Urſa-
chen, Wirkungen, Materien, Formen
und End-
zwecken
die Rede vorkoͤmmt, gab endlich auch die
Methode vollends an, weil die aͤchte Vernunftlehre
will, daß man in ſolchen Faͤllen bey der Koͤrperwelt
anfangen, und ſodann, um zum Metaphoriſchen und
zur Jntellectualwelt hinuͤber zu gehen, die tertia com-
parationis
finden muͤſſe.


IX. Auf
[238]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.

IX.


Auf dieſe Art zeigte ſich nun bey dem vorhin (III.)
Geſagten weiter keine andere Schwierigkeit, als die
genauere Beſtimmung deſſen, was zur Form ge-
rechnet werden mußte. Denn in phyſiſchen Dingen
verſtund man urſpruͤnglich durch Materie die mate-
riellen Subſtanzen, woraus die Koͤrper zuſammen-
geſetzt ſind, und zwar ohne Ruͤckſicht auf die Form.
Sodann ſind die wirkenden Urſachen im engſten
Verſtande die Kraͤfte; und wenn man auch ſetzet,
daß dieſe vermittelſt der Materie wirken, ſo kann
die Materie hiebey nicht wohl fuͤr etwas mehrers als
fuͤr Mittel und Werkzeuge angeſehen werden, ſo
fern naͤmlich die Wirkung vermittelſt der Materie
geſchieht. Dabey geht es nun noch immer an, daß,
ſo fern die Kraͤfte unmittelbar in die Materie wir-
ken, z. E. ihre Theilchen in Verbindung erhalten ꝛc.
die Materie hier als Materie, das will ſagen, als
der Gegenſtand der Wirkung, betrachtet werde. Uebri-
gens bindet man ſich im gemeinen Leben an ſo genaue
Unterſchiede nicht, ſondern man ſieht die Kraͤfte und
die Materie, vermittelſt welcher ſie wirken, zuſam-
mengenommen, als die wirkenden Urſachen an.


X.


Die Form iſt nun beſonders in ſolchen Faͤllen am
kenntlichſten, wo die Materie dabey ziemlich gleich-
guͤltig, und die Benennung von der Form und der
Abſicht hergenommen iſt. So z. E. iſt ein Becher
ein Becher, er mag von Golde oder Silber, oder irgend
einer andern Materie ſeyn: das iſt dabey, uͤber-
haupt betrachtet, einerley. Alſo ſagt man, daß nicht
dieſe oder jene Materie, ſondern die Form einen
Becher zum Becher mache; und in dieſem Verſtande
wird
[239]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
wird wohl das: Forma dat eſſe rei, muͤſſen genom-
men werden. Man ſieht, daß die Form eigentlich
die zweckmaͤßige Ausbildung, ſo wie auch die
Nachbildung der Dinge betrifft, ſo fern dieſe, wie
z. E. die Becher aus einer Maſſe gebildet, oder einem
vorgegebenen Modelle nachgebildet werden. Denn
wenn Theile von verſchiedenem Stoffe hinzukommen,
ſo moͤgen zwar die einzelnen Theile gebildet werden,
im Ganzen aber koͤmmt noch uͤberdieß die Anord-
nung,
die Zuſammenſetzung, die Einrichtung ꝛc.
hinzu, welches alles auch mit zur Form gerechnet wird.


XI.


Bey materiellen und ſichtbaren Dingen werden
oͤfters die Woͤrter, Form, Figur, Geſtalt, Bildung ꝛc.
verwechſelt, und ohne Unterſchied gebraucht. Jn-
deſſen ſagen die lateiniſchen Denkverſe
Formam viuentis, picti dic eſſe figuram. ()
Und dieſes will vermuthlich uͤberhaupt ſagen, daß das
Wort Form beſſer auf koͤrperliche Dinge, das Wort
Figur aber beſſer auf Flaͤchenraͤume paſſe. Der
Unterſchied ſcheint im Deutſchen nicht wohl anzugeben
zu ſeyn. Denn wenn man Form durch Geſtalt,
Bildung, aͤußerliches Anſehen
ꝛc. uͤberſetzet, ſo be-
haͤlt man das Wort Figur gewoͤhnlich ſelbſt. Es faͤllt
mir auch kein gleichbedeutendes deutſches Wort bey.


XII.


So fern nun aber die Form die zweckmaͤßige Aus-
bildung, Einrichtung, Stellung, Zuſammenſetzung,
Verbindung, Anordnung, und die dabey zum Grunde
liegenden, oder daher ruͤhrenden Verhaͤltniſſe ꝛc. der
Dinge und ihrer Theile betrifft, ſo fern ſcheint das
Wort
[240]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
Wort Form vornehmlich auf das zu gehen, was von
Menſchen gemacht wird. Jndeſſen haben die Scho-
laſtiker, vom Ariſtoteles an, den Begriff der Form
auch bey den Dingen der Natur angewandt, und da-
bey die Form von der Materie unterſchieden. Sie
geſtunden aber, daß ihnen die Form natuͤrlicher Din-
ge ſchlechthin unbekannt ſey, und daß ſie hoͤchſtens nur
vom Menſchen wiſſen, daß ſeine vernunftfaͤhige Seele
die Form des Menſchen ausmache. Dieſe Ausſage
bezieht ſich aber offenbar auf einen ganz beſondern
Begriff, den ſie ſich von der Form machten, und
der dem eigentlichen Begriffe weder ganz angemeſſen
war noch denſelben erſchoͤpfte. Der menſchliche Koͤr-
per, ſo wie jede einzelne Theile deſſelben, und jede
andere Koͤrper und Materien, haben allerdings ihre
Form; und eben dieß kann man ſelbſt auch von jeden
einzelnen Beſtandtheilchen ſagen. Jhre Bildung,
Zuſammenſetzung, Stellung, Anordnung, Verbin-
dung ꝛc. und jede daher ruͤhrende Eigenſchaften und
Unterſcheidungsſtuͤcke koͤnnen zuſammengenommen zur
Form gerechnet werden. Und auf dieſe Art betrach-
tet, kann man wenigſtens uͤberhaupt angeben, worinn
dieſe Form zu ſuchen ſey, ſo ſehr man auch zugiebt,
daß das Jnnere, der Natur nach, vielen ſeit der Scho-
laſtiker Zeiten angeſtellten mechaniſchen, dynamiſchen
phyſiſchen und chymiſchen Unterſuchungen, noch merk-
lich verborgen bleibe, wenn es gleich lange nicht mehr
ſo viel verborgen iſt, als es bey den Scholaſtikern
war, die es freylich aus bloßen Worten und Termi-
nologien nicht herausbringen konnten.


XIII.


Es wird aber der Begriff Form ungleich erheb-
licher, wenn wir uns zur Jntellectualwelt wenden.
Hier
[241]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
Hier faͤllt der Begriff Figur theils weg, theils wird
er auf eine etwas gezwungene Art metaphoriſch. Hin-
gegen wird das, was in der Koͤrperwelt Figur und
Form iſt, in der Jntellectualwelt uͤberhaupt Form
genennet.


XIV.


Auf dieſe Art wird nun, in Abſicht auf den Ver-
ſtand und das Gedankenreich, die Form der Er-
kenntniß
in der Vernunftlehre betrachtet, und beſon-
ders in der Theorie der Saͤtze und Schluͤſſe ſehr genau
von der Materie unterſchieden. Die Form bezieht
ſich dabey auf das Bejahen und Verneinen, auf die
arithmetiſchen Woͤrter, alle, etliche, ein, kein ꝛc.
ingleichen auf die Beſtimmungen, wenn, entweder,
oder; ſowohl, als; weder, noch
ꝛc. und auf alle
dahin gehoͤrenden logiſchen Kunſtwoͤrter, Verhaͤltniß-
begriffe ꝛc. Die Materie hingegen bezieht ſich auf
die Begriffe ſelbſt, die im Subjecte und Praͤdicate
vorkommen. Wenn man demnach ſtatt ſolcher Be-
griffe allgemeine Zeichen, z. E. Buchſtaben ſetzet,
und damit die Materie nur uͤberhaupt mitnimmt, ſo
betreffen z. E. die Ausdruͤcke
Alle A ſind B,
Kein C iſt D,
Wenn A, B iſt, ſo iſt C, D.
ꝛc.

ſchlechthin nur die Form, und in ſo fern laſſen ſie
ſich auch als allgemeine Formeln anſehen.


XV.


Jn Anſehung der Begriffe giebt die Vernunftlehre
groͤßtentheils nur das Allgemeine ihrer Form an.
So z. E. laͤßt ſich die Form eines einfachen Begriffes
Lamb. Archit.II.B. Qeinzeln
[242]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
einzeln betrachtet mehr empfinden, als mit Wor-
ten ausdruͤcken, hingegen laͤßt ſich von der Form ein-
facher Begriffe uͤberhaupt betrachtet mehr ſagen.
Bey zuſammengeſetzten Begriffen ſind die einfachen
ihre Beſtandtheilchen, und dieſe werden dabey als
Materie betrachtet, aus deren Anordnung, Zuſam-
menſetzung und Verbindung die Form des zuſammen-
geſetzten Begriffes beſtimmet wird. Hiezu koͤmmt
noch die Benennung, und die Vergleichung des Be-
griffes mit der Sache ſelbſt, die er uns vorſtellet.
Der Unterſchied, ob der Begriff die Sache an ſich
oder nur unter einem Bilde vorſtelle, und ob im letz-
ten Falle das Bild vom Worte hergenommen iſt,
oder durch eine Metapher vorgeſtellet wird, iſt hiebey
ebenfalls von Erheblichkeit, weil die Sprache und
der Schein, unter dem ſich die Dinge uns vorſtel-
len, unſerer Erkenntniß eine beſondere Geſtalt giebt.
Eine Theorie der Formalurſachen der menſchli-
chen Erkenntniß,
ſchien mir immer von aͤußerſter
Wichtigkeit zu ſeyn, und war ein Hauptgrund mit,
warum ich mich um den aͤchten Begriff der Form
umzuſehen bemuͤht war.


XVI.


Die von dem Willen abhaͤngende Dinge und Hand-
lungen bieten uns in der Jntellectualwelt noch eine
Menge von Anlaͤſſen dar, wo die Theorie der Form
von Wichtigkeit wird. Hier graͤnzt die Form mit
der Abſicht am unmittelbarſten und kenntlichſten an
einander. Die Form der Geſellſchaften und ganzer
Staaten betrifft, wie man leicht ſieht, die ihrer Ab-
ſicht
gemaͤße Einrichtung, Anordnung, Zuſammen-
ſetzung und Verbindung derſelben, ſo fern hierinn
etwas Fortdauerndes iſt. Hiezu koͤmmt noch die
Regie-
[243]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
Regierungsform, ſo fern dieſe durch die Abſicht
und durch das derſelben angemeſſene Syſtem der
Handlungen
beſtimmt wird. Bey dieſen Hand-
lungen muͤſſen ferner beſonders diejenigen, die die
ganze Einrichtung, ganze Theile derſelben, und die
Anordnung der uͤbrigen Handlungen betreffen, eine
dazu eingerichtete Form haben. Dieſe Form iſt
immer ſo einzurichten, daß dadurch Unordnung ver-
mieden, Zeit und Ort beobachtet, und die uͤbrigen
Handlungen zu ihrem Ziele gelenket werden. Oefters
erhalten ſie auch wegen ihrer Wichtigkeit und um
deſto authentiſcher zu ſeyn, durch Cerimonien und aͤu-
ßerliches Gepraͤnge ein deſto feyerlicheres Anſehen.
Aehnliche Gruͤnde finden ſich auch in Proceßſachen,
wo die Anordnung des ganzen Verfahrens, das will
ſagen, die Form ſo vorgeſchrieben und beſtimmet
wird, daß, wenn man dieſelbe behoͤrig beobachtet,
der Proceß am zuverlaͤßigſten zu Ende gebracht, und
Unrecht vermieden wird.


XVII.


Hiebey wird nun die aͤchte und zweckmaͤßigſte Form,
ſo viel moͤglich, auf das Allgemeinſte beſtimmet, da-
mit ſie auch in ſchwerern und verwickeltern Faͤllen
noch anwendbar bleibe. Dieſes macht ſie aber weit-
laͤuftig, und fuͤr gewiſſe Faͤlle, die viel einfacher ſind
und weniger Bedenken verurſachen, langwierig. Es
koͤmmt daher bey contrahirenden Parteyen oft ſchlecht-
hin nur auf den Grad der Redlichkeit und des Zu-
trauens an, um einen Contract eher zu Ende zu brin-
gen, als er mit Beybehaltung aller Formalien wuͤrde
geſchloſſen werden. Dafern aber nicht alles liquid iſt,
und die Sache ſich in die Laͤnge ziehen kann, ſo iſt
es unſtreitig das Rathſamſte, wenn man ſich nur
Q 2Schritt
[244]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
Schritt fuͤr Schritt einlaͤßt, und die Form ganz
beybehaͤlt. Dieſes muß oͤfters und ſelbſt in einfachen
und leichten Dingen bloß deswegen geſchehen, damit,
wenn man gegen den einen von der ſtrengen Form
nachlaͤßt, weil man weiß, daß er keinen Misbrauch
davon machen werde, nicht ein anderer eben das
Nachlaſſen fordere, dem man in Anſehung des Mis-
brauches nicht ſo viel trauen kann. Jn Geſellſchaf-
ten wird beſonders das Weſentliche der Form ſelten
uͤbergangen, ohne daß ſich eines oder das andere der
Mitglieder dabey beleidigt oder vernachtheiligt finde,
es mag nun dieſes unmittelbar oder erſt in den Fol-
gen geſchehen.


XVIII.


Die Abſicht einer Geſellſchaft ſteht mit der Dauer
und der Groͤße derſelben in einem ſehr beſtimmten
Ebenmaaße. Denn daß eine groͤßere Geſellſchaft
und in laͤngerer Zeit und ſo auch mit mehrern Huͤlfs-
mitteln groͤßere und weiter ausſehende Abſichten vor-
nehmen koͤnne, iſt fuͤr ſich klar. Die Anordnung
und beſonders die Subordination wird durch alles die-
ſes beſtimmt, und macht ſodann einen betraͤchtlichen
Theil der Form aus. Was aber zu der Form noch
hinzukoͤmmt, betrifft das Syſtem derjenigen Hand-
lungen, die vorgenommen werden muͤſſen, damit die
zweckmaͤßigen Verhaͤltniſſe erhalten werden, und da-
mit jeder ſich in die nach und nach abgeaͤnderte oder
abzuaͤndernde Verhaͤltniſſe finden koͤnne. So z. E.
muß, was jeder zu wiſſen noͤthig hat, in behoͤriger
Form, und nach Maaßgabe der Wichtigkeit mit
behoͤrigen Feyerlichkeiten kund gemacht werden.
Selbſt auch die Art, es jedem bekannt zu machen,
muß ſo zu reden das Gepraͤge der Verhaͤltniſſe, in
welchen
[245]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
welchen er ſteht, an ſich haben. Und eben ſo fordert
die Form, daß alle Handlungen, die geſellſchaftlich
ſind, und zum Syſteme der Geſellſchaft gehoͤren, ſo
vorgenommen und angeordnet werden, daß man da-
bey ſehe, daß, warum und wie ſie dazu gehoͤren.
Dieſes iſt es, was ihnen die geſellſchaftliche Form
oder ſo zu ſagen das Gepraͤge geſellſchaftlicher
Handlungen
giebt. So lange alle Glieder der Ge-
ſellſchaft ein Herz und eine Seele haben, und den
gemeinſamen Zweck ſich in Ernſte vorſetzen, ſo kann
eine ſolche Form nach aller Strenge ſtatt haben, und
ſo lange geht es auch gut. Die Erfahrung zeiget
aber, daß ſolche Geſellſchaften ſelten ſehr groß ſind,
und ſelten lange bey ſolcher Jntegritaͤt dauern. Jn-
deſſen weiſt doch die Geſchichte der Entſtehensart eini-
ger Republiken ſolche Muſter auf, die aber ſelten zum
Muſter dienen, weil ſich ſelten alle Umſtaͤnde bey-
ſammen einfinden. Jn ſolchen Staaten, wo ſchon
alle Verhaͤltniſſe auf unzaͤhlige Arten mit einander
durchflochten ſind, iſt es ſchlechterdings nicht moͤglich,
daß jeder das Ganze nach allen einzelnen Theilen und
Verhaͤltniſſen und damit die ganze Form uͤberſehe.
Die Subordination wird dabey nothwendiger, und
jeder hat genug zu thun, wenn er ſich in ſeine Stelle
finden, ſeine beſondere Verhaͤltniſſe kennen, und allen
genug thun will.


XIX.


Wir koͤnnen nun zu einigen allgemeinern Betrach-
tungen zuruͤck kehren, um zu ſehen, wie fern die wir-
kenden Urſachen,
die Materie, die Form und die
Abſicht einander beſtimmen, von einander abhaͤn-
gen,
einander vorausſetzen und nach ſich ziehen.
Dahin gehoͤren nun folgende Saͤtze.


Q 3XX. Die
[246]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.

XX.


Die Materie hat immer an ſich ſchon eine Form,
und ſollte es auch nur die Form eines Klumpens,
eines Haufens oder einer Menge ſeyn. Wenn es
aber die Frage iſt eine Materie zu gebrauchen, ſo
muß derſelben gewoͤhnlich eine andere Form gegeben
werden. Der Klumpen Goldes ſoll zu Gefaͤßen, der
Haufen Korns zu Brodt, die Menge Menſchen zur
Republik gemacht werden. Eben ſo ſucht man auch
verworrenen Kenntniſſen eine wiſſenſchaftliche Form
zu geben, indem man ſie aus einander lieſt, und ſie
nach und nach in Zuſammenhang bringt.


XXI.


Die jeder Materie eigene oder ihre urſpruͤngliche,
weſentliche Form, beſtimmet diejenigen Formen, de-
ren ſie bey Veraͤnderungen faͤhig iſt, ſo daß nicht
jeder Materie jede Form gegeben werden kann. Das
non ex quouis ligno fit mercurius will eben dieſes
ſagen. So fern aber eine Materie mehrerer Formen
faͤhig iſt, kann man allerdings ſagen, daß die Ma-
terie die Form wenigſtens nicht durchaus be-
ſtimme, dagegen aber vielerley Formen ſchlecht-
hin ausſchließe.
Dieſes iſt uͤberhaupt ganz richtig.
Jn beſondern Faͤllen aber wird es ſehr ſchwer zu ent-
ſcheiden, ob eine vorgegebene Materie einer vorgege-
benen Form faͤhig ſey oder nicht. So z. E. glauben
die Alchymiſten noch immer, daß das Bley allenfalls
mit gewiſſen Zuſaͤtzen und Veraͤnderungen die Form
des Goldes annehmen koͤnne. Denn darauf koͤmmt
die Frage an, weil alle Veraͤnderungen in der Welt
nur Veraͤnderungen der Form, nicht aber der Ma-
terie ſelbſt
ſind. Es ſind dem buchſtaͤblichen Ver-
ſtande
[247]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
ſtande nach Metamorphoſes, ſo fern μοζφή ſo viel
als Form bedeutet. Oft muß auch eine Materie
durch mehrere Formen gehen, ehe ſie die verlangte
Form erhaͤlt. Es laſſen ſich daher bey den Formen
Stufen gedenken, und zwar um deſto nothwendiger,
weil die Verwandlungen nicht ſprungsweiſe geſchehen.


XXII.


Hinwiederum laͤßt auch die Form die Materie
mehr oder minder unbeſtimmt.
Dieſer Satz
muß naͤher beleuchtet werden. Jch habe bereits oben
ſchon angemerket, daß wir gewoͤhnlich nur das All-
gemeine der Form kennen. Es koͤmmt demnach auf
den Grad der Allgemeinheit an. Der Begriff der
Form kann in beſondern Faͤllen ſo ſehr beſtimmt ſeyn,
daß er eine ganz beſondere Materie vorausſetzet, ſo
daß in Anſehung der Materie wenig oder keine Aus-
wahl bleibt. Jn den meiſten Faͤllen aber fordert
die Form nur, daß die Materie gewiſſe zu der Form
nothwendige Eigenſchaften habe, das will ſagen, der
Form faͤhig ſey. Die Form ſchleußt aber allemal
auch viele Materien aus, ſo wie hinwiederum jede
Materie viele Formen ausſchleußt. Man ſieht leicht,
daß hiebey eine wechſelſeitige Vergleichung der Ma-
terien und der Formen ankoͤmmt, die, wenn ſie in
Ordnung gebracht und vollſtaͤndig gemacht werden
koͤnnte, in allen Kuͤnſten und Wiſſenſchaften von
großer Wichtigkeit ſeyn wuͤrde. Seit der Erneue-
rung der Wiſſenſchaften und beſonders ſeit der Ein-
fuͤhrung der Experimentalphyſic, wohin auch die Ver-
ſuche der Kuͤnſtler und der noch immer mehr zu laͤu-
ternden Chymie gerechnet werden koͤnnen, iſt hiezu
bereits ſchon viel Stoff geſammelt worden.


Q 4XXIII. Jn-
[248]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.

XXIII.


Jndeſſen wird es immer ſchwer ſeyn, aus der Form
die Materie durchaus und bis auf das Jndivi-
duelle
zu beſtimmen. So z. E. laſſen ſich von den
einfachen Begriffen viele die Form der Erkenntniß
betreffenden Saͤtze logiſch erweiſen, woraus ihre Be-
ſchaffenheit, die Art ihrer Verbindbarkeit, die dar-
aus fließende Vortheile zur Errichtung eines wiſſen-
ſchaftlichen Syſtems, und die Art, wie ſie die Quelle
vieler metaphyſiſchen Begriffe ſind ꝛc. ſehr umſtaͤnd-
lich eroͤrtert wird. Dadurch aber wird noch keiner
der einfachen Begriffe an ſich kenntlich gemacht. Wir
muͤſſen ſie als ſchon vorhanden anſehen, und ſie aus
dem Haufen der gleichſam vor uns liegenden Begriffe
herfuͤrſuchen.


XXIV.


Was nun in vorkommenden Faͤllen theils die Ma-
terie
theils die Form noch unbeſtimmtes hat, das
wird gewoͤhnlich durch die Abſicht naͤher beſtimmt.
Jedoch giebt es auch hiebey Einſchraͤnkungen in An-
ſehung der Umſtaͤnde. Die Materien muͤßten zur
Auswahl vorraͤthig ſeyn. Sie ſind es aber aller-
dings nicht immer, und ſo begnuͤgt ſich mit Kupfer,
Meßing, Zinn ꝛc. wer weder Silber noch Gold zu
ſelnem Geraͤthe haben kann. Eben ſo ſind auch die
auszuwaͤhlenden Formen nicht immer alle bekannt,
und viele ſetzen Geſchicklichkeiten voraus, die man
nicht bey jedem, der der Materie die Form geben
ſollte, findet. Die Wirkende Urſache bringt in-
deſſen immer eine Form herfuͤr. Sie mengt aber
auch oͤfters ihre Jndividualien ſo mit ein, daß die
verlaͤngte Form verfehlt wird.

— Amphora coepit
Inſtitui currente rota cur vrceus exit?


Es
[249]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
Es wird eben ſo auch kein, ſelbſt auch kein geuͤbter
Schriftſteller ſeyn, der immer ſagen koͤnne, daß er
gerade das geſchrieben, was er anfangs zu ſchreiben
vorgenommen, weil die Reihe der Gedanken, ſo
durch das Schreiben veranlaſſet wird, ſich ſehr leicht
mit in den vorgefaßten Plan einmenget, und denſel-
ben mehr oder minder vom erſten Ziele ablenket.


XXV.


Das will nun freylich nicht ſagen, daß man das
Ziel ſoll fahren laſſen, weil die Jndividualien der
Ausfuͤhrung davon ablenken koͤnnen, oder nicht im-
mer alles bereits vorraͤthig iſt. Beſonders iſt bey
ganzen Syſtemen ſehr anzurathen, daß ehe man ſich
zur Materie wendet, man ſich die Form umſtaͤnd-
lich bekannt mache, und beſonders ſehe, ob es die
der Sache und der Abſicht angemeſſenſte Form
iſt. So z. E. wenn Tournefort, Linnaͤus und
andere ſich vorſetzen, die Kraͤuterkunde in ein Sy-
ſtem zu bringen, und ihre Abſicht iſt nur die Pflan-
zen kenntlich zu machen; ſo kann man immer ſagen,
daß ihre Syſtemen eine dazu mehr oder minder gut
eingerichtete Form haben. Die von ihnen gewaͤhlte
Form geht nach Aehnlichkeiten, und die daherruͤh-
rende Anordnung des Syſtems iſt local aber nicht
geſetzlich. Wenn man daher fraget, ob das Lin-
naͤiſche
Syſtem das Syſtem der Natur ſey, ſo
laͤßt ſich dieſe Frage ſo ziemlich verneinen. Einmal
aus eben dem Grunde, warum bey Eucliden, deſ-
ſen Syſtem nicht nach der localen, ſondern nach der
geſetzlichen Ordnung eingerichtet iſt, von Gattun-
gen
und Arten nichts vorkoͤmmt. Sodann machen
die Pflanzen eben ſo wenig ein beſonder und fuͤr ſich
zu betrachtendes Syſtem aus, als die Raͤder an einer
Q 5Uhr,
[250]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
Uhr, wenn man ſie auf dem Tiſche aus einander leget
und nach Aehnlichkeiten ordnet, ein Syſtem aus-
machen. Man kann ſie freylich auch in Steigraͤder,
Sternraͤder, Kronraͤder, Schneckenraͤder, Sperraͤ-
der, Trillinge ꝛc. eintheilen. Sie gehoͤren aber ei-
gentlich zum Syſteme der ganzen Uhr, und da muͤſ-
ſen ſie ihren Abſichten und der Hauptabſicht zu Folge,
das iſt, in Verbindung mit dem ganzen Uhr-
werke
betrachtet werden. Eben ſo gehoͤret das
Pflanzenreich zum Syſteme des ganzen Erdballs, als
zum eigentlichen Syſteme der Natur. Die Be-
ſtimmung der Abſichten, wohin jedes Geſchoͤpfe ſo
zum Erdkreiſe gehoͤret, dienet, welcher Grad der
Fruchtbarkeit jede Pflanzen und Thiere haben muͤſſen,
wie lange ihre Dauer ſeyn ſoll, damit keine Art weder
zu haͤufig werde, noch ganz ausſterbe, ſondern ſich inner
geſetzten Schranken erhalte, die Eroͤrterung, was,
wenn eine Art wegfiele, noch zugleich mit weg-
fallen wuͤrde,
die daher zu beſtimmende Frage, wie
jede Art Geſchoͤpfe die uͤbrigen Arten vorausſetze,
erfordere
oder nach ſich ziehe ꝛc. damit das Syſtem
des Erdballes ein Ganzes ſey und fortdauern koͤnne,
dieſes iſt es, was man zu finden hat, wenn man das
Syſtem der Natur kennen lernen will. Man muß
anfangen ſich die eigentliche Form dieſes Syſtems
umſtaͤndlich bekannt zu machen, um genauer zu ſe-
hen, wie die Natur den Stoff dazu gebildet hat.
Freylich werden dadurch die einzeln Pflanzen, Thiere,
Stein und Erdarten ꝛc. nicht kenntlich gemacht.
Man muß dieſe auf andere Arten, durch Beobach-
tungen ꝛc. kennen lernen, und dazu mag immer die
Eintheilung nach Claſſen, Arten, Gattungen ꝛc.
und aͤußerliche Kennzeichen dienlich ſeyn. Nur wird
durch ſolche Eintheilungen das Syſtem der Na-
tur
[251]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
tur nicht zum Vorſcheine gebracht. Dieſes gehoͤret
mehr zur Teleologie, als zur dermalen ſogenannten
Naturgeſchichte.


XXVI.


Die wechſelſeitige Abhaͤnglichkeit der Materie, der
Form und der Abſicht machet, daß man in practi-
ſchen Faͤllen dieſe drey Stuͤcke immer zugleich vor Au-
gen haben muß, ſo fern man nur ſehen will, was an
ſich und ohne Ruͤckſicht auf die Vorraͤthigkeit der er-
forderlichen wirkenden Urſachen und die uͤbrigen Um-
ſtaͤnde geſchehen kann. Jſt die Materie vorhanden ſo
fragt ſichs, wozu man ſie brauchen koͤnne oder wolle, was
man damit anzuſtellen habe, damit ſie zu etwas brauch-
barem diene ꝛc. Dieß beſtimmt die Abſicht und
die Form ſo, daß die Materie die Form zulaſſe,
die Abſicht aber ſie erfordere. Denn dieſe beyden
Bedingungen ſind dabey ſchlechthin nothwendig.


XXVII.


Jſt hingegen die Abſicht vorgegeben, ſo muß
man vorerſt uͤberhaupt wiſſen, daß es dazu dienen-
de Materien und Formen giebt. Denn ſonſt ſetzt
man ſich vor Schloͤſſer in die Luft zu bauen,
oder Gold zu machen ohne zu wiſſen aus was noch
wie? Wenn man aber uͤberhaupt weiß, daß die
Abſicht erhalten werden kann, ſo kann es doch Faͤlle
geben, wo die Materie erſt nach und nach aufgeſuchet
werden muß, und die Form ſich nur alsdann zurei-
chend beſtimmen laͤßt, wenn man die Materie vor
ſich hat, und ſie naͤher kennen lernet. Das vorhin
(XXV.) angefuͤhrte Beyſpiel von dem Syſteme der
Natur
kann auch hier zur Erlaͤuterung dienen.
Das Horaziſche:
Verbaque prouiſam rem non inuita ſequentur ()
gehoͤret
[252]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
gehoͤret ebenfalls hieher. Denn die Anordnung und
uͤberhaupt die ganze Form des Vortrages ergiebt ſich
erſt dann beſſer und leichter, wenn man das, ſo man
vortragen will, bereits geſammlet und vor Augen hat,
zumal, wo die ganze Sache noch erſt aus einander
geleſen, berichtiget und in Zuſammenhang gebracht
werden muß. Dann erſt zeiget es ſich genauer und
umſtaͤndlicher, welcher Formen die Sache faͤhig iſt,
und zu welchen ſpeciellern Abſichten ſie theils unmit-
telbar, theils in andern Verbindungen dienen kann.
Wenn man z. E. die Ontologie hoͤchſtens nur als
ein philoſophiſches Woͤrterbuch wollte gelten
laſſen, ſo glaubte man, daß ſie noch zu keiner andern
Abſicht eingerichtet ſey, als daß man die Bedeu-
tung
einer gewiſſen Anzahl abſtracter und theils bar-
bariſcher Woͤrter daraus lernen koͤnne. Von den
dadurch angezeigten Begriffen und Dingen ſelbſt,
von den Abſichten, wohin ſie dienen koͤnnen ꝛc. muß
alſo in einigen ſolcher Ontologien wenig oder gar
nichts zu finden geweſen ſeyn.


XXVIII.


Das, was man die rechte Form heißt, kann in
beſondern Faͤllen die Uebereinſtimmung mit der uͤber-
haupt vorgeſchriebenen Form
bedeuten. Man
muß aber auch bey dieſer voraus ſetzen, daß ſie recht
oder richtig vorgeſchrieben, und demnach der Sa-
che
und der Abſicht gemaͤß ſey. Soll aber etwas
in der rechten Form geſchehen, ſo bezieht ſich
dieſes auf die Anordnung des Verfahrens. Die
Form, ſo die Sache erhalten ſoll, entſteht nicht
ſprungsweiſe, ſondern gewoͤhnlich muß die Sache
durch mehrere Formen durchgefuͤhret und ſtufenweiſe
mehr ausgebildet, zuſammengeordnet, in Verbin-
dung
[253]Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
dung oder in Gang gebracht werden, bis ſie ihre
Finalform erhaͤlt. Oft muß die Form ſich nach der
Ordnung, ſo die Theile haben ſollen, uͤber die Sache
verbreiten. Ueberhaupt aber geht das Vorauszuſe-
tzende und von dem uͤbrigen Unabhaͤngige voran, nebſt
dem, was es an ſich ſchon mit ſich bringt. Die dar-
auf folgende Verbindung zieht ſodann noch verſchie-
denes und beſonders das davon abhaͤngende nach
ſich, und auch dieſes zuweilen noch mehr anders, bis
endlich die Sache dahin gebracht wird, daß es dabey
ſein Bewenden haben kann, und der Beharrungs-
ſtand erfolget. Geſchieht alles dieſes der Abſicht ge-
maͤß, ſo wird auch die Sache ihre rechte Form haben.
Jndeſſen iſt allerdings darauf mit zu ſehen, wie fern
die Form alle erforderliche Schicklichkeit, Geſchmei-
digkeit, Zierlichkeit ꝛc. hat, und wie fern ſie auf die
einfachſte, bequemſte, ſchicklichſte, geſchmeidigſte Art,
oder auch hinwiederum mit behoͤriger Feyerlichkeit
und Anſtand erhalten werden kann.



Zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Subſtanzen und Accidenzen.


§. 613.


Die Lehre von den Subſtanzen und den denſelben
entgegengeſetzten Accidenzen oder Zufaͤlligkei-
ten (§. 279. 247. 520. 178. N°. 9.) mag uͤberhaupt
betrachtet, als eine der ſchwerſten in der Metaphyſic
angeſehen werden. Die meiſten Definitionen, die
man davon gegeben, haben theils an ſich, theils in
der Anwendung ihre Schwierigkeiten gefunden, ſo
daß
[254]XX. Hauptſtuͤck.
daß man bald Gott, bald den Weltbau, als eine,
und zwar als die einige Subſtanz angeſehen, bald
aber auch die Subſtanzen nur in den einfachen Din-
gen aufgeſuchet, die Koͤrper aber, als bloße Phaeno-
mena ſubſtantiata
betrachtet hat, die gleichſam nur
dem Scheine nach Subſtanzen ſind; und dabey ver-
fiel man auf Schwierigkeiten, ob man den Raum,
die Zeit, die Kraͤfte ꝛc. als beſondere Subſtanzen,
oder als Accidenzen anſehen ſoll ꝛc. Die Sache laͤßt
ſich uͤberhaupt ſo vorſtellen.


§. 614.


Man hat bey der Betrachtung der Dinge ange-
merket, daß ihrer Veraͤnderungen unerachtet, etwas
fortdauerndes dabey ſey und zum Grunde liege, in
welchem eigentlich die Veraͤnderungen vorgehen. So-
dann bemerkte man auch, daß es Eigenſchaften und
Modificationen giebt, die, wo ſie vorkommen, im-
mer in etwas anderm ſind. So z. E. die Groͤße an
ſich betrachtet, exiſtirt nirgends, hingegen exiſtiren
unzaͤhlige Dinge, die eine Groͤße haben. Dadurch
verfiel man allerdings und ſehr leicht auf den Unter-
ſchied, den man zwiſchen Dingen, die fuͤr ſich exi-
ſtiren, und zwiſchen dem, was nur in anderm exi-
ſtirt, zu machen hatte. Erſtere nennete man Sub-
ſtanzen, letztere aber Accidenzen.


§. 615.


Dieſe Woͤrter koͤnnen nun in Abſicht auf verſchie-
denen Gebrauch verhaͤltnißweiſe genommen werden,
weil es gar wohl moͤglich iſt, daß ein Accidenz a
nicht unmittelbar in der Subſtanz S, ſondern ver-
mittelſt eines andern Accidens A in derſelben iſt,
welches derſelben unmittelbarer anhaͤngt. Denn ſo
iſt
[255]Subſtanzen und Accidenzen.
iſt A in S, a aber in A, und zwar ſo, daß a mit A
zugleich geſetzt und gehoben wird. So z. E. ſind die
Kreaturen eben nicht bloße Accidenzen; hingegen
ſind ſie auch nicht ſo abſolute Subſtanzen, die von
Gott ganz unabhaͤngig waͤren, oder ohne ſeine Kraft
ſubſiſtirten. Da ſie aber in ſo fern etwas fortdauern-
des haben, ſo werden ſie verhaͤltnißweiſe, und in Ab-
ſicht auf die denſelben anhaͤngende Beſtimmungen und
Modificationen, als Subſtanzen, oder als fuͤr ſich
beſtehend angeſehen.


§. 616.


Die Hauptfrage aber, die hiebey zu machen iſt,
koͤmmt auf die Allgemeinheit und Nothwendigkeit
der Disjunction an, daß ein Ding entweder fuͤr ſich
oder in einem andern, oder durch ein anderes exi-
ſtire, oder einem andern anhaͤngig ſey? ꝛc. Denn
dieſe Ausdruͤcke haben etwas Vieldeutiges und Unbe-
ſtimmtes in ihrer Bedeutung. Das fuͤr ſich und
das in einem andern exiſtiren, ſcheint einander
nicht ſo entgegengeſetzt, daß nicht beydes zugleich an-
gehen ſollte, oder, daß ein Ding, welches fuͤr ſich
exiſtirt, nicht eben ſo gut zugleich auch in einem an-
dern ſollte exiſtiren koͤnnen, wenn man das in als eine
Beſtimmung des Ortes anſieht, oder auch, wenn
man mit dem Apoſtel ſaget: Jn ihm leben, we-
ben und ſind wir.


§. 617.


Hingegen ſcheint der Gegenſatz: entweder fuͤr
ſich, oder durch ein anderes
etwas genauer, er
ſcheint ſich aber nicht ſo ganz auf den Unterſchied zu
beziehen, den man zwiſchen Subſtanzen und Acci-
denzen geſuchet hat. Denn nach dieſer Disjunction
wuͤrde
[256]XX. Hauptſtuͤck.
wuͤrde Gott die einige Subſtanz ſeyn, weil alle an-
dere durch Gott exiſtiren.


§. 618.


Der dritte Ausdruck: Ein Ding exiſtirt entwe-
der fuͤr ſich, oder es iſt einem andern ſo anhaͤn-
gig, daß es ohne daſſelbe nicht exiſtirt,
ſcheint
demnach dem Unterſchied zwiſchen Subſtanzen und
Accidenzen naͤher zu kommen, ungeachtet man, wenn
man dieſe Worte in einem gewiſſen Verſtande nimmt,
ebenfalls ſagen kann, daß die Kreaturen ohne Gott
nicht exiſtiren, und folglich in dieſem Verſtande eben-
falls nicht Subſtanzen waͤren.


§. 619.


Es iſt aber nicht zu vermuthen, daß man bey dem
erſten Gebrauche des Wortes Subſtanz (ὑποϛασις),
die Bedeutung deſſelben ſo enge habe einſchraͤnken
wollen, daß es außer Gott von keinem andern Dinge
ſollte gebraucht werden koͤnnen. Der Wortforſchung
nach bezieht es ſich auf dasjenige, was zum Grunde
liegt, daß bloße Eigenſchaften und Modificationen
ſeyn oder exiſtiren koͤnnen. Man begriff auch wohl,
daß ungeachtet ſich eine Eigenſchaft auf die andere,
dieſe auf die dritte, dieſe auf die vierte ꝛc. gruͤnden
kann, man dennoch nicht dieſe Reihe unendlich fort-
ſetzen muͤſſe, ſondern, daß es dabey ein Erſtes gebe,
und das dieſes Erſte unmittelbar einem Etwas an-
haͤngig ſeyn muͤſſe, welches nicht bloß eine Eigen-
ſchaft, ſondern etwas mehr iſt, und dieſes hat man
Subſtanz genennet. Dieſer Begriff iſt nun aller-
dings beſtimmter, als der Begriff von Subject und
Praͤdicat. Eine Eigenſchaft iſt ein Praͤdicat, ſie
kann aber auch ein Subject ſeyn, und wenn ſie ein
Subject
[257]Subſtanzen und Accidenzen.
Subject iſt, ſo kann die Subſtanz nicht anders ein
Praͤdicat ſeyn, als wenn der Satz ſich allgemein um-
kehren laͤßt, oder wenn die Eigenſchaft der Subſtanz,
mit Ausſchließung jeder andern, eigen iſt.


§. 620.


Nach dieſem anfaͤnglichen Begriffe haͤtte man nun
meines Erachtens ohne Bedenken das Solide unter
die Subſtanzen rechnen koͤnnen. Denn dieſes liegt
dabey zum Grunde, daß wir Eigenſchaften exiſtiren
ſehen, (§. 103.). Die andere Hauptclaſſe von Sub-
ſtanzen geben uns die Kraͤfte an, weil dieſe das So-
lide in Verbindung erhalten, und eben dadurch von
demſelben verſchieden ſind. Will man hiebey, wie
es einige Englaͤnder gethan, den Raum, als eine
dritte und von dem Soliden und den Kraͤften ver-
ſchiedene Art von Subſtanz anſehen, oder beſſer zu
ſagen, den Raum mit einer von Materie und Kraͤf-
ten verſchiedenen Subſtanz, gleichfoͤrmig ausgefuͤllet
gedenken, ſo mag es meines Erachtens ohne Aerger-
niß angehen, nur daß man nicht etwann eine Defi-
nition der Subſtanz willkuͤhrlich annimmt, und nach
derſelben ſodann blindhin urtheilet. Wir wollen aber
die beyden erſten Arten von Subſtanzen, naͤmlich
das Solide und die Kraft hier etwas umſtaͤndli-
cher mit einander vergleichen.


§. 621.


Dem Soliden eignen wir, als eine weſentliche
Eigenſchaft, die Undurchdringbarkeit zu, ſo naͤmlich,
daß es jedes andere Solide von dem Orte aus-
ſchleußt, da es iſt. Jn ſo ferne ſetzen wir demnach,
es koͤnne, wenigſtens von anderm Solidem nicht
durchdrungen werden. Und dieſes iſt es auch alles,
Lamb. Archit.II.B. Rwas
[258]XX. Hauptſtuͤck.
was uns der an ſich einfache Begriff des Soliden an-
giebt. Ferner ſetzen wir daſſelbe dergeſtalt theilbar,
daß ſo weit man es getheilet oder wirklich getrennet
anſehen will, es noch ferner in kleinere Theile getheilet
oder getrennet werden koͤnne. Und aus dieſer unend-
lichen Theilbarkeit, haben wir oben hergeleitet, daß
das Solide, ungeachtet es in ſeinen kleinſten Theil-
chen eine abſolute Continuitaͤt hat, an ſich weder hart
noch elaſtiſch ſeyn koͤnne, weil beydes der Theilbar-
keit im Wege ſtehen wuͤrde. Die Haͤrtigkeit, die
die kleinſten Theilchen haben muͤßten, waͤre ſo, daß
ſie auch durch eine unendliche Kraft nicht ferner ge-
trennet, und weder ganz noch theilsweiſe vernichtet
werden koͤnnten, (§. 207. 536.). Die Elaſticitaͤt
wuͤrde, wenn ſie in dem Soliden ſelbſt waͤre, von
dieſer Haͤrtigkeit herruͤhren. Da aber dieſes nicht
iſt, ſo laͤßt ſie ſich ohne Kraͤfte, die zuruͤck wirken, und
die geaͤnderte Figur wider herſtellen, nicht gedenken,
(§. 393. 539.). Dadurch aber laͤßt ſich die Kraft
nicht als eine bloße Eigenſchaft des Soliden anſehen,
ſondern ſie muß eine von dem Soliden verſchiedene
Subſtanz ſeyn.


§. 622.


Wir haben nun ſchon oben (§. 545.) angemerket,
daß es uns, uͤberhaupt betrachtet, ſchwer falle, Sub-
ſtanzen anzunehmen, die nicht ſolid ſind, und den-
noch in dem Soliden Veraͤnderungen verurſachen, daſ-
ſelbe in Bewegung ſetzen, ſeine Theile in Verbin-
dung erhalten, die das Solide durchdringen, und
hinwiederum von dem Soliden durchdrungen werden,
die folglich mit dem Soliden, ſeiner abſoluten Con-
tinuitaͤt unerachtet in gleichem Raume oder an glei-
chem Orte ſind ꝛc. Jndeſſen da man bey genauerer
Betrach-
[259]Subſtanzen und Accidenzen.
Betrachtung deſſen, was bey der Bewegung vor-
geht, findet, daß ſich aus der bloßen Undurchdring-
barkeit des Soliden, eben deswegen, weil es unend-
lich theilbar iſt, nicht alles herleiten laͤßt, ſo wird
man genoͤthiget, dieſe Paradoxa einzuraͤumen. Was
man in der Chymie Materia friabilis und Puluis im-
palpabilis
nennet, wo man naͤmlich eine Materie ſo
fein zerreiben kann, daß die Theilchen unempfindbar
werden, oder keine empfindbare Groͤße mehr haben,
das wuͤrde bey dem Soliden bis in das unendlich Klei-
ne wahr ſeyn, oder ſo fein man es zerrieben gedenket,
wuͤrde es noch immer feiner zerrieben werden koͤnnen,
und um es zu theilen, wuͤrde es auch nichts weiter,
als ein bloßes Zerreiben erfordern, wenn nicht Kraͤfte
da waͤren, die ſeine kleinſten Theilchen dergeſtalt in
einer abſoluten Continuitaͤt erhielten, daß es ohne fei-
nere und ſtaͤrkere Kraͤfte nicht getrennet werden kann.
Dieſe Kraͤfte laſſen ſich aus der bloßen Undurchdring-
barkeit des Soliden nicht herleiten, weil dieſe nichts
anders in ſich begreift, als daß das Solide jedes
andere Solide von dem Orte ausſchleußt, da es iſt.
Das Zerreiben aber fordert nichts anders, als die
Veraͤnderung des Ortes, und dieſe kann vorgehen,
wenn Kraͤfte da ſind, die es verurſachen, und hin-
gegen keine da ſind, die es hindern, oder wenn we-
nigſtens dieſe ſchwaͤcher ſind. Ohne ſolche Kraͤfte
aber iſt das Solide an ſich eine todte und zu eigener
Bewegung untaugliche Maſſe.


§. 623.


So fern nun die Undurchdringbarkeit des Soli-
den
ſich nur auf ein anderes Solides bezieht, ſo
mag es allerdings Subſtanzen geben, welche weder
das Solide ausſchließen noch von demſelben ausge-
R 2ſchloſſen
[260]XX. Hauptſtuͤck.
ſchloſſen werden. Da bey dem Anſtoßen des Soli-
den an ein anderes, der Druck aus jenem in dieſes
uͤbergeht, und ſich durch das Solide fortpflanzet,
dieſer Druck aber von den Kraͤften herruͤhret, welche
die Theile des Soliden in Verbindung erhalten, ſo
iſt kein Zweifel, daß nicht die Kraͤfte ſollten Sub-
ſtanzen von der Art ſeyn, welche ſich in dem Soliden
befinden koͤnnen, und in welchen hinwiederum das
Solide iſt, ohne daß eines das andere von dem Orte
ausſchließe. Dazu wird nun eine voͤllige Ungleich-
artigkeit erfordert, und wenn das Solide materiell
genennet wird, ſo werden die Kraͤfte nothwendig im-
materielle Subſtanzen ſeyn. Wir haben von den
Kraͤften, welche das Solide in Bewegung ſetzen,
keinen andern Begriff, als daß wir ſagen, wir em-
pfinden,
daß wir eine Kraft anwenden muͤſſen,
um eine Laſt zu heben, zu ſtoßen, zu bewegen ꝛc.
(§. 97. 374. 378.), und dieſe Kraft beſteht allerdings
aus der Summe der Kraͤfte, die in den einzeln Thei-
len des Leibes, und beſonders der Gliedmaßen, Mus-
keln ꝛc. ſind, die wir zu dem Heben, Stoßen, Be-
wegen ꝛc. der Laſt gebrauchen. Ob in dieſer Em-
pfindung etwas vorkomme, welches uns die Kraft
von dem Soliden dergeſtalt unterſcheiden machen koͤn-
ne, daß wir die Kraft nicht als etwas Solides oder
Materielles anſehen, laſſe ich dahin geſtellet. Die
Empfindung giebt uns die Kraft, als etwas von dem
Soliden verſchiedenes an, weil wir dieſes immer
außer uns, die Kraft aber in uns empfinden.


§. 624.


Giebt es aber außer dem Soliden noch andere Ar-
ten von Subſtanzen, welche ſchlechthin nicht ſolid
noch materiell ſind, ſo faͤllt es uns ſchwer, die Ab-
zaͤhlung
[261]Subſtanzen und Accidenzen.
zaͤhlung derſelben vorzunehmen, oder zu beſtimmen,
welche und wie vielerley es deren giebt, die ohne
einander zu hindern, in einander ſeyn koͤnnen. Jn
dieſer Abſicht iſt das Leere, woruͤber man ſo viel ge-
ſtritten, nur relativ, und es folget nicht, daß gar
keine Subſtanz da ſey, wo nichts Solides oder nichts
Materielles iſt. Die Kraͤfte, die in dem Soliden
ſind, muͤſſen ihre Wirkung nothwendig auch außer
daſſelbe erſtrecken, weil ſie deſſen Theile und ein So-
lides mit dem andern verbinden. Und da finde ich
noch keine Moͤglichkeit, zu beweiſen, daß der Raum
nicht ebenfalls eine Subſtanz ſeyn koͤnne. Man muß
nur nicht eine materielle Subſtanz aus demſelben ma-
chen wollen. So viel iſt gewiß, daß man die Lehre
von der Mittheilung und Fortſetzung der Bewegung,
welche immer ſo viele Schwierigkeiten gefunden, da-
durch am leichteſten vortragen koͤnnte, wenn man den
Raum als eine Subſtanz anſieht, in welcher das
Solide und die Kraͤfte ſo gut, als dieſe beyde in ein-
ander ſeyn koͤnnen, welche aber nicht, wie das So-
lide und die Kraͤfte beweglich iſt, ſondern durch ihre
Unbeweglichkeit die Mittheilung und Fortſetzung der
Bewegung des Soliden und der darinn liegenden
Kraͤfte moͤglich machet ꝛc. Denn wenn auch etwas
in Bewegung kommen ſoll, ohne von etwas anderm
geſtoßen zu werden, ſo ſcheint es ſehr klar zu ſeyn,
daß es ſich irgend anſperren muͤſſe, um die Kraft
gegen die entgegengeſetzte Seite zu aͤußern. So
ſtoͤßt z. E. ein Schiffer das Schiff, in welchem er
ſich befindet, vom Ufer weg, und ſetzet ſich dadurch
mit dem Schiffe in Bewegung. Es gehoͤret ein
Grund des Koͤnnens dazu, (§. 488.). Wir ſind
aber an den Begriff des ganz leeren Raumes, den
wir als ein Receptackel der Dinge anſehen, ſo ſehr
R 3gewoͤhnet,
[262]XX. Hauptſtuͤck.
gewoͤhnet, daß es ſchwer faͤllt, zu dem Raume, als
eine Subſtanz betrachtet, nicht noch einen Raum
anzunehmen, in welchem dieſe Subſtanz befindlich
iſt, und welchen wir als deren Receptackel anſehen.


§. 625.


Ohne uns aber bey ſolchen Unterſuchungen laͤnger
aufzuhalten, werden wir vielmehr auf den Gebrauch
ſehen, den man von der Eintheilung der Dinge in
Subſtanzen und Accidenzen machen koͤnnte, wenn
ſie richtig getroffen und durchaus beſtimmt waͤre.
Dieſer koͤmmt nun vornehmlich darauf an, daß, da
die Accidenzen ohne die Subſtanz, deren ſie
anhaͤngig ſind, nirgends vorkommen, man
von dem Daſeyn eines Accidens auf das Da-
ſeyn der Subſtanz den Schluß ſoll machen
koͤnnen.
Und dieſes iſt nun der oben (§. 15.) an-
gegebenen Erforderniß einer wiſſenſchaftlichen Grund-
lehre allerdings gemaͤß. Denn da Subſtanzen und
Accidenzen in einer gewiſſen Abhaͤnglichkeit von ein-
ander ſind, ſo giebt die umſtaͤndlichere Entwickelung
dieſer Abhaͤnglichkeit Saͤtze an, welche zeigen, was
mit einigen gegebenen Stuͤcken noch mehr gegeben iſt.


§. 626.


Zu dem erſtgedachten Schluſſe, den man von dem
Accidens auf das Daſeyn der Subſtanz machen kann,
wird nun allerdings erfordert, daß man das Acci-
dens auf eine dreyfache Art kenne. Einmal muß
man wiſſen, daß es ein Accidens ſey, und folglich
irgend eine Subſtanz voraus ſetze. Weiß man nur
dieſes, ſo giebt es Anlaß, die Subſtanz aufzuſuchen.
Kennet man aber zweytens dieſe Subſtanz ſelbſt,
wenigſtens unter einem allgemeinen Namen, ſo iſt
es
[263]Subſtanzen und Accidenzen.
es noch drittens um die Erfindung der beſondern Be-
ſtimmungen und der Art zu thun, wie das Accidens
der Subſtanz anhaͤngig iſt.


§. 627.


Waͤren uns nun in Abſicht auf die erſten von dieſen
drey Erforderniſſen, die verſchiedenen Arten von Sub-
ſtanzen bekannt, oder wir wuͤßten, daß es außer dem
Soliden und den Kraͤften keine mehr gebe, ſo wuͤrde
ſich die Frage, ob etwas ein Accidens oder eine Sub-
ſtanz ſey, leichter entſcheiden laſſen, weil man nur
unterſuchen doͤrfte, ob es unter eine von dieſen Arten
Subſtanzen gehoͤre, oder nicht? Jndeſſen koͤnnen wir
auf eine andere Art dabey verfahren. Denn das Solide
hat ſeine ihm eigene Accidenzen und die Kraft hat
ebenfalls ſolche, die derſelben eigen ſind. Sodann
entſtehen aus der Combination und Verbindung des
Soliden und der Kraͤfte ebenfalls Accidenzen, die
nicht von dem Soliden oder den Kraͤften beſonders,
ſondern von beyden zugleich herruͤhren, und folglich
wo ſie gefunden werden, beyde voraus ſetzen. Dieſes
giebt demnach an ſich ſchon drey Hauptclaſſen von Ac-
cidenzen. Sollten demnach nun noch Accidenzen vor-
kommen, die von dieſen Claſſen verſchieden und da-
von ausgeſchloſſen waͤren, ſo wuͤrde man allerdings
noch mehrere Arten von Subſtanzen aufſuchen muͤſſen,
ungefaͤhr, wie wir im vorhergehenden gefunden, das
Solide allein ſey nicht hinreichend, die Haͤrtigkeit
und Elaſticitaͤt der Koͤrper moͤglich zu machen, ſon-
dern es muͤſſen noch Kraͤfte dazu kommen, welche
von dem Soliden verſchiedene Subſtanzen, oder
ſolchen Subſtanzen anhaͤngig ſind. Es iſt ſehr
vermuthlich, daß der Anfang, die Mittheilung
und Fortſetzung der Bewegung außer dem Soliden
R 4und
[264]XX. Hauptſtuͤck.
und den Kraͤften noch andere Subſtanzen erfordert.
(§. 624.).


§. 628.


Wir koͤnnen ferner den Unterſchied anmerken, daß
man die Subſtanz von dem Subſtantialen in derſel-
ben ſo unterſcheidet, daß man das Subſtantiale den
Accidenzen ſchlechthin entgegen ſetzet, unter dem
Worte Subſtanz aber das Subſtantiale zugleich mit
den demſelben wirklich anhaͤngigen Accidenzen zu-
ſammenfaßt, und gleichſam ein Ganzes daraus ma-
chet. Man kann nun oͤfters aus einem einigen Acci-
dens auf das dabey zum Grunde liegende Subſtan-
tiale, ob es naͤmlich ein Solides, oder eine Kraft
oder beydes ſey, den Schluß machen. Hingegen
finden ſich in beſondern Faͤllen außer dem vorgegebe-
nen Accidens noch mehrere, und mit ſpecialern Be-
ſtimmungen, und dieſe laſſen ſich in ſo fern finden,
als mit dem vorgegebenen Accidens, auch die beſon-
dere Beſtimmungen deſſelben gegeben ſind, und ſo
fern dieſe noch andere Accidenzen und ihre Beſtim-
mungen voraus ſetzen, erfordern oder nach ſich ziehen.


§. 629.


Das Subſtantiale, und ſo auch der Begriff deſ-
ſelben, iſt demnach etwas an ſich ganz einfaches, und
daher laͤßt ſich ſtatt einer Definition nur angeben,
wie wir zu dieſem Begriffe gelangen, als welcher an
ſich ſchlechthin klar bleibt, und da er nicht mehrere
innere Merkmale hat, durch dieſelbe auch nicht ent-
wickelt oder deutlich gemacht werden kann. Die Ent-
ſtehensart des Begriffes der Subſtanz, haben wir
nun theils in dem (§. 614.), theils in dem (§. 619.)
angezeiget. Man darf daher nur von allem, was
einer
[265]Subſtanzen und Accidenzen.
einer Subſtanz ſchlechthin nur anhaͤngig iſt, abſtra-
hiren, ſo bleibt das Subſtantiale allein, und dieſes
wird bey dem Abſtrahiren eigentlich mehr empfun-
den,
als daß es ſich mit mehrern Worten ſollte be-
ſchreiben
laſſen, weil man es eben ſo, wie die uͤbri-
gen einfachen Begriffe, oder das, was ſie vorſtellen,
nur benennen, oder etwann auch nur durch Ver-
haͤltniſſe anzeigen kann.


§. 630.


Die Folge, die wir hieraus ziehen, iſt, daß ſo
lange der Begriff, den wir uns von dieſer oder jener
Subſtanz machen, zuſammengeſetzt iſt, wir dabey
noch nicht das Subſtantiale allein, ſondern noch mehr
oder minder demſelben anhaͤngige Accidenzen, geden-
ken, und daß folglich in dieſer Abſicht betrachtet, von
allem, was wir von einer Subſtanz gedenken koͤnnen,
ein einiges Stuͤcke, naͤmlich das Subſtantiale aus-
genommen, alle uͤbrigen, Accidenzen genennet wer-
den muͤſſen.


§. 631.


Hieraus ergiebt ſich nun der Unterſchied, den wir
zwiſchen ſolchen Accidenzen machen muͤſſen, die dem
Subſtantialen nothwendig, ſchlechthin oder weſentlich
anhangen, und zwiſchen ſolchen, die davon weg oder
anders ſeyn koͤnnen. Erſtere koͤnnten wir Eigenſchaf-
ten (Attributa), letztere aber Zufaͤlligkeiten, zufaͤllige
Beſtimmungen (Modificationes) nennen, wenn dieſe
Woͤrter nicht eine allgemeinere Bedeutung haͤtten. Da
ſie aber nicht nur bey den Begriffen der Subſtanzen,
ſondern bey jeden andern vorkommen: ſo koͤnnen wir
auch nicht Erklaͤrungsweiſe, ſondern nur in Form
von allgemein bejahenden aber nicht identiſchen Saͤ-
R 5tzen
[266]XX. Hauptſtuͤck.
tzen ſagen, daß die weſentlichen Accidenzen Eigen-
ſchaften, die veraͤnderlichen aber Modificationen ſind.
Fuͤgen wir aber dieſen Praͤdicaten die Beſtimmung
einer Subſtanz oder des Subſtantialen bey, ſo
werden dieſe Saͤtze dadurch identificirt, und wir koͤn-
nen ſagen: die weſentlichen Accidenzen ſind Ei-
genſchaften, die veraͤnderlichen aber Modifica-
tionen des Subſtantialen.


§. 632.


Dieſer Satz iſt nun dadurch wahr, und die Ein-
theilung, darauf er ſich gruͤndet richtig, daß wir das
Subſtantiale ſchlechthin, als einen einfachen Begriff
anſehen, und bey dieſem Begriffe von allem abſtra-
hiren, was dem Subſtantialen, auf welche Art es
immer ſey, anhaͤngig iſt. Denn da in der That et-
was einfaches dabey zum Grunde liegt, ſo ſind wir
befugt, dieſes beſonders heraus zu nehmen, und es
zu benennen, und zu dieſer Benennung iſt der Aus-
druck: das Subſtantiale, nicht unſchicklich. Nimmt
man nun die weſentlichen Accidenzen mit dem Sub-
ſtantialen in einen Begriff zuſammen, ſo machen ſie
zuſammen genommen das Weſen der Subſtanz aus.
Die veraͤnderlichen Accidenzen aber ſind die in der
Subſtanz vorkommenden oder dabey moͤglichen Zu-
faͤlligkeiten oder Modificationen.


§. 633.


Wir werden nun in einigen Saͤtzen angeben, wo-
hin alles dieſes dienen kann. Der erſte iſt folgender:
Wenn das Praͤdicat eines bejahenden und wah-
ren Satzes eine Subſtanz iſt, ſo iſt das Sub-
ject deſſelben nothwendig auch eine Subſtanz,
oder ein Begriff, in welchem der Begriff einer

oder
[267]Subſtanzen und Accidenzen.
oder mehrerer Subſtanzen mit vorkoͤmmt.
Denn wo dieſes nicht waͤre, ſo wuͤrde in dem Be-
griffe des Praͤdicates etwas vorkommen, welches in
dem Begriffe des Subjectes nicht waͤre, und folglich
auch nicht von demſelben bejaht werden koͤnnte. Die-
ſes ſtoͤßt aber die Vorausſetzung um, folglich muß
das Subject eine Subſtanz oder wenigſtens ein Be-
griff ſeyn, in welchem der Begriff einer oder mehrerer
Subſtanzen vorkoͤmmt.


§. 634.


Wenn die Art eine Subſtanz iſt, ſo iſt auch
die Gattung eine Subſtanz.
Denn, um aus den
Arten die Gattung zu finden, laͤßt man die eigenen
Merkmale der Arten allein weg, und behaͤlt die ge-
meinſamen. Da nun vermoͤge der Vorausſetzung
die vorgegebene Art eine Subſtanz iſt, ſo ſind auch
ihre Nebenarten Subſtanzen, weil Accidenzen und
Subſtanz gar nicht oder hoͤchſtens nur auf eine ideale
und bloß ſymboliſche Art in eine Claſſe gehoͤren. Dem-
nach iſt der Begriff Subſtanz den Arten gemeinſam,
und gehoͤret folglich mit in den Begriff der Gattung.


§. 635.


Auf dieſe Art geht es ſtufenweiſe hoͤher, bis man
auf den Begriff der Subſtanz uͤberhaupt koͤmmt,
welcher gleichſam eine Einheit iſt, womit ſich alle
Accidenzen multipliciren laſſen. Wir merken dieſes
deswegen an, weil etwann auch Saͤtze vorkommen,
in welchen das Praͤdicat ausdruͤcklich eine Subſtanz
iſt, das Subject aber dem Namen nach ein Acci-
denz zu ſeyn ſcheint, folglich dieſe Einheit darunter
verſtanden werden muß. Denn es laſſen ſich immer
die einer Subſtanz eigenen Accidenzen zu ſolchen Sub-
jecten machen.


§. 636.
[268]XX. Hauptſtuͤck.

§. 636.


Die Accidenzen, die dem Subſtantialen we-
ſentlich anhaͤngig ſind, ſind eben ſo viel beſon-
dere Beſtimmungen und Dimenſionen deſſelben.

Denn da das Subſtantiale an ſich ein einfacher Be-
griff iſt, ſo koͤnnen auch die demſelben anhaͤngenden
Accidenzien nicht ſo wie etwann in zuſammengeſetzten
Subſtanzen zuſammengeſetzt ſeyn, ſondern ſie ſind
an ſich einfach, und demnach nicht durch die Zei-
chen (+ -), ſondern durch die Zeichen (. :) unter
einander und mit dem Subſtantialen verbunden,
(§. 434. ſeqq.).


§. 637.


Eben dieſes gilt auch, wenn ungleichartiges
Subſtantiales mit einander verbunden wird.

Von ſolchen ungleichartigen Subſtantialen ſind uns
vornehmlich nur die Kraͤfte und das Solide bekannt.
Und dieſe koͤnnen allerdings mit einander verbunden
ſeyn. Es laſſen ſich aber bey der Verbindung derſel-
ben ihre Dimenſionen nicht addiren oder ſubtrahiren,
ſondern ſie multipliciren und dividiren einander, z. E.
die Maſſe des Soliden wird mit dem Quadrate der
Geſchwindigkeit, die es durch die Aeußerung der
Kraft erhaͤlt, multiplicirt ꝛc.


§. 638.


Hingegen wird gleichartiges Subſtantiales
durch die Zeichen + - verbunden, das will ſa-
gen, es haͤuft ſich ſchlechthin nur auf, und
wird der Zahl nach groͤßer.
Auf dieſe Art erhaͤlt
man die Summe von einzelnen Kraͤften, die Summe
von einzelnen Maſſen des Soliden ꝛc. Die Aufhaͤu-
fung der Kraͤfte giebt etwas Jntenſives, die Auf haͤu-
fung des Soliden aber etwas Extenſives ꝛc.


§. 639.
[269]Subſtanzen und Accidenzen.

§. 639.


Wir koͤnnen nun ferner erzaͤhlungsweiſe anmerken,
daß man in den aͤltern Metaphyſiken eine Liſte von
Accidenzen angegeben, und ſie uͤberhaupt in zwo Claſ-
ſen, naͤmlich in die phyſiſchen und logiſchen getheilt
hat. Die phyſiſchen waren 1°. Quantitas. 2°. Qualitas.
3°. Relatio. 4°. Actio. 5°. Paſſio. 6°. Quando. 7°. Vbi.
8°. Situs. 9°. Habitus,
und dieſe machen nebſt dem
Begriff der Subſtanz die bekannten zehen Categorien
des Ariſtoteles aus Die logiſchen hingegen,
1°. Genus. 2°. Species. 3°. Differentia. 4°. Proprium.
5°. Accidens in ſpecie (Modus).
Es iſt unnoͤthig,
hier zu unterſuchen, wiefern dieſe Eintheilung richtig
getroffen, oder die Abzaͤhlung vollſtaͤndig ſey. Man
ſieht uͤberhaupt daraus ſo viel, daß, wenn man bey
den Subſtanzen von allen dieſen Accidenzen abſtrahirt,
eben nicht viel mehr als der einfache Begriff des
Subſtantialen uͤbrig bleibt, und daß die Metaphyſi-
ker die Abſicht hatten, eigentlich nur dieſen uͤbrig zu
laſſen. Sodann ſieht man, daß ſie zwiſchen den
realen Accidenzen, die etwas in der Sache
ſelbſt ſind,
und zwiſchen den bloß idealen die
ſich auf ein denkendes Weſen und deſſen Er-
kenntniß beziehen,
einen Unterſchied machen woll-
ten, und in ſo fern erſtere phyſiſch letztere aber logiſch
nenneten. Hingegen geben ſie in dieſer Abzaͤhlung
ſo eigentlich nicht an, welche von dieſen Accidenzen
dem materiellen Soliden, welche andere der Kraft
eigen ſind, und welche endlich beyden zugleich anhaͤn-
gen, (§. 627.). Und ſo finden ſich auch einige dar-
unter, die nicht bloß unmittelbare Accidenzen von
Subſtanzen, ſondern zugleich auch Accidenzen von
Accidenzen ſind, (§. 619.). Dieſes aber machet,
daß ſie in der Metaphyſic nicht nur in Abſicht auf
die
[270]XX. Hauptſtuͤck.
die Subſtanzen, ſondern allgemeiner und ohne Ruͤck-
ſicht auf den Unterſchied zwiſchen Subſtanzen und
Accidenzen abgehandelt werden muͤſſen, wie wir es
auch im vorhergehenden gethan haben.


§. 640.


Man wird ferner ohne Muͤhe den Schluß machen
koͤnnen, daß jede wirkende Urſachen Subſtanzen,
und zwar ins beſondere und unmittelbar Kraͤfte ſind,
und daß hingegen das Solide nur mittelbar wirket,
und daher ehender, ſo fern es wirket, als ein Mittel
angeſehen werden muͤſſe, weil es an ſich keine andere
Kraft, als die ſogenannte vim inertiae hat, wodurch
es, ohne aͤußerliche Urſache der Veraͤnderung, in ſei-
nem Zuſtande beharret. Es kann aber dieſes Be-
harren eben ſo gut von dem Gleichgewichte der wirk-
lichen Kraͤfte hergeleitet werden, die die Theilchen
des Soliden unter ſich, und das Ganze mit anderm
Solidem in Verbindung erhalten, wie denn ein ſol-
ches Gleichgewicht bey dem Beharrungsſtande uͤber-
haupt nothwendig iſt.


§. 641.


Da ſich endlich das Gleichartige ſubſtantiale zu-
ſammenſetzen, das Ungleichartige aber verbinden laͤßt
(§. 638. 637.), ſo entſtehen daraus ungleichartige
zuſammengeſetzte Subſtanzen, welche ſo lange in ih-
rer Zuſammenſetzung und Verbindung verbleiben,
bis die Kraͤfte, die ſie verbinden, durch die Einwir-
kung ſtaͤrkerer Kraͤfte getrennet werden, und das ge-
meinſame Band, welches ſie zum Ganzen machet,
wegfaͤllt, (§. 220.). Beſonders iſt bey Subſtanzen,
wo das Solide mit unter dem Subſtantialen iſt, die
Zuſammenſetzung wegen der unendlichen Theilbarkeit
weſentlich, (§. 542. 546.).


§. 642.
[271]Subſtanzen und Accidenzen.

§. 642.


Wir uͤbergehen uͤbrigens hier einige Schwierig-
keiten, die man in Anſehung der Subſtanzen gefun-
den. Sie ruͤhren groͤßtentheils von den Definitionen
her, die man von dieſem Worte gegeben. Spi-
noza
gieng in Aufſuchung der Subſtanz ſo weit,
daß er glaubte, der Begriff einer Subſtanz bedoͤrfe
keines Begriffes einer andern Sache, von welchem er
formirt werden muͤſſe. Carteſius machte jede Sub-
ſtanz dergeſtalt fuͤr ſich exiſtirend, daß ſie keiner andern
Subſtanz beduͤrfe, und daher von jeder andern un-
abhaͤngig exiſtire. Wolf hingegen, nennet die Sub-
ſtanz ein Ding, welches fortdauern koͤnne und Modi-
ficationen faͤhig ſey, (Ens perdurabile et modificabile).
Nun koͤmmt man bey dem Aufſuchen des Subſtantia-
len, welches eigentlich die Subſtanz zur Subſtanz ma-
chet, allerdings zu etwas Erſtem. Man muß aber
bey dieſem Aufſuchen einerley Leitfaden folgen,
und nicht, wenn man bey dieſem Erſten iſt, den
Leitfaden aͤndern, um noch etwas Erſteres aufzu-
ſuchen. Der Leitfaden bey Aufſuchung des Subſtan-
tialen war eigentlich, wie wir es oben (§. 614. 619.)
angemerket haben, man wolle erſtlich von den Mo-
dificationen, und ſodann von den Eigenſchaften ab-
ſtrahiren, bis man auf das komme, was nicht eine
bloße Modification oder Eigenſchaft, ſondern etwas
mehr (id quod his ſubſtat) iſt. Dieſes iſt nun an
ſich einfach (§. 629.), und daher haͤtte man es nicht
definiren und noch vielweniger analyſiren (§. 7.),
ſondern nach der Lockiſchen Anatomie der Begriffe
(§. 9.) es nur benennen ſollen, und ſo waͤre man auf
das Solide und die Kraͤfte verfallen, welches an
ſich klare und einfache Begriffe ſind, die gleichſam
unmittelbar ihr Subſtantiales anzeigen. Man ließ
es
[272]XX. Hauptſtuͤck.
es aber dabey nicht bewenden, ſondern aͤnderte den
Leitfaden, und da die Accidenzen dem Subſtantialen
anhaͤngen, und als Beſtimmungen und Dimenſio-
nen in demſelben ſind (§. 636.), und außer demſel-
ben nirgends vorkommen, ſo ſuchte man nunmehr
die Abhaͤnglichkeit auf, und da ein Subſtantiales
in und außer dem andern ſeyn kann (§. 623. 621.), ſo
ſuchte man, wie fern eines ohne das andere ſeyn
kann? Dieſe Frage laͤßt ſich nun allerdings machen,
aber ſie geht dem Unterſchied zwiſchen Subſtanzen
und Accidenzen nichts mehr an, ſondern bezieht ſich
vielmehr auf den Unterſchied, der zwiſchen den Sub-
ſtanzen ſelbſt iſt. Etwas finden, welches nicht mehr
bloß Eigenſchaft iſt, ſondern Eigenſchaften anhaͤngig
hat, und etwas finden, welches von jedem exiſtiren-
den unabhaͤngig exiſtirt, von dem hingegen das uͤbri-
ge exiſtirende abhaͤngt, ſind zwo ganz verſchiedene
Fragen. Erſtere betrifft das Aufſuchen der Sub-
ſtanzen, letztere aber das Aufſuchen des erſten Princi-
pii exiſtendi,
welches wir oben (§. 470. ſeqq.) betrach-
tet haben. Auf dieſe Art kann man nun allerdings ſa-
gen, Gott ſey die erſte Subſtanz, von welcher jede
uͤbrigen abhaͤngen, ohne welche dieſe nicht exiſti-
ren ꝛc. Ferner kann man ſagen, daß ſo fern die
uͤbrigen Subſtanzen in gemeinſamer Verbindung exi-
ſtiren, und ein Ganzes ausmachen, ſie Modificatio-
nen haben, die von dieſer Verbindung herruͤhren, und
ohne dieſelbe nicht oder anders ſeyn wuͤrden ꝛc. End-
lich kann man auch ſagen, daß in jeder Subſtanz das
Subſtantiale dasjenige ſey, ohne welches jede Eigen-
ſchaften, Modificationen, Beſtimmungen ꝛc. die die
Subſtanz hat, nicht exiſtiren wuͤrden, und daß dieſe
außer derſelben nur ideale Abſtracta ſind, und ohne ihr
Subſtantiales nirgends vorkommen ꝛc.


§. 643.
[273]Subſtanzen und Accidenzen.

§. 643.


Bey allem dieſem bleiben die hier gebrauchten
oder durch die Woͤrter Eigenſchaften, Modificatio-
nen, Beſtimmungen, anhaͤngen, anhaͤngig, abhaͤn-
gen ꝛc. angezeigten Begriffe ſchlechthin klar, und
die Woͤrter ſelbſt ſind, der Art der Sprache gemaͤß,
metaphoriſch. Man muß dabey gleichſam als ein
Poſtulatum voraus ſetzen, daß zum Beyſpiel der Aus-
druck: eine Eigenſchaft, Modification ꝛc. ſey in
der Subſtanz dem Subſtantialen anhaͤngig,

richtig verſtanden werden koͤnne, und daß man dieſes
anhaͤngen (ankleben, inhaerere, ineſſe, ꝛc.) nicht
ſo verſtehe, wie etwann ein Koͤrper an dem andern
haͤngt, an demſelben anklebet, in demſelben iſt ꝛc.
Man muͤßte ſagen: die Eigenſchaft, ſo weit ſie ſich
in der Subſtanz erſtrecket, klebe durch und durch
in derſelben an,
und dennoch wuͤrde auch dieſes den
an ſich klaren und einfachen Begriff nicht genug aus-
druͤcken, wie die Eigenſchaft in der Subſtanz iſt.
Da aber dieſer Begriff an ſich klar, und zwar ſchlecht-
hin klar iſt, ſo kann der Satz: daß die Eigen-
ſchaften, Modificationen ꝛc. irgend einem Sub-
ſtantialen ankleben, oder anhaͤngig ſind,
unter
die Grundſaͤtze gerechnet werden.


§. 644.


Man ſieht aus dem bisher geſagten, daß, wenn
je die Eintheilung der Dinge in Subſtanzen und Ac-
cidenzen von einiger Erheblichkeit iſt, dieſe eben nicht
darinn beſteht, worinn man wegen unſchicklicher De-
finitionen geglaubet hat, daß ſie beſtehe. Man kann
vielmehr fragen, wozu dieſer Unterſchied dienen ſoll,
nachdem man ihn gefunden. Hiebey ſcheint es uͤber-
Lamb. Archit.II.B. Shaupt,
[274]XX. Hauptſtuͤck.
haupt, daß der, ſo ihn zuerſt aufgeſuchet und gefun-
den hat, einen richtigern Begriff davon gehabt habe,
als ſeine Nachfolger, die von ihm das Wort ohne
den Begriff abgelernet zu haben ſcheinen, und ſich
an Definitionen hielten, die dabey gar nicht haͤtten
vorkommen ſollen, (§. 629.). Dem ſey aber, wie
ihm wolle, ſo hat der Gebrauch, den man in der
Metaphyſic von dieſem Unterſchiede gemacht hat, faſt
ſchlechthin nur darinn beſtanden, daß man nach der
vorlaͤufigen Erklaͤrung eines Dinges uͤberhaupt, ſo
gleich zu der Eintheilung der Dinge in Subſtanzen
und Accidenzen fortgeſchritten, und ſodann die vor-
hin (§. 639.) angefuͤhrten Claſſen der Accidenzen der
Laͤnge nach abgehandelt, mehrentheils aber nur ſub-
dividirt hat. Es liegt aber dabey ein Fundamentum
diuiſionis
zum Grunde, welches machet, daß ſich
außer den Subſtanzen und Accidenzen noch andere
Begriffe gedenken laſſen, die zu andern Fundamentis
diuiſionum
gehoͤren, dergleichen z. E. die Begriffe
der Zeit, des Raumes, der Verhaͤltniſſe ꝛc. zu ſeyn
ſcheinen. Man ſehe hieruͤber oben (§. 247. 520. 521.).
Der Hauptgebrauch aber, den man am unmittelbar-
ſten von der Eintheilung in Subſtanzen und Acciden-
zen machen kann, wird allem Anſehen nach der oben
(§. 625. ſeqq. 633. ſeqq.) angefuͤhrte ſeyn, weil er ſich
ſchlechthin nur auf den Unterſchied der Subſtanzen
und Accidenzen gruͤndet. Wir koͤnnen noch beyfuͤ-
gen, daß der Begriff eines Accidens ſich immer auf
eine Subſtanz bezieht, und daß man folglich, wo von
dieſer Beziehung nicht die Rede iſt, ſtatt dieſer Worte
beſſer und allgemeiner, die Worte Ding, Eigen-
ſchaft, Beſtimmung, Modification
ꝛc. und
die Namen von ihren beſondern Arten gebrauchen
koͤnne.


§. 645.
[275]Subſtanzen und Accidenzen.

§. 645.


Endlich wollen wir noch anmerken, daß man auf ver-
ſchiedene Arten Accidenzen erdichtungsweiſe als Sub-
ſtanzen betrachtet. So z. E. ſieht man in der Geometrie
die Theile des Raumes, Linien, Figuren, Flaͤchen ꝛc.
als Subſtanzen, hingegen Winkel, Groͤße, Lage ꝛc.
als Accidenzen an. Und in der Sprache hat man
eine ganze Claſſe von Subſtantiuis abſtractis, z. E.
Tugend, Laſter, Freyheit, Weisheit, Klugheit ꝛc.
die man gleichſam als Subſtanzen anſieht, unge-
achtet ſie eigentlich nur den Subſtanzen als Acciden-
zen anhaͤngen. Da es Accidenzen giebt, die nicht
unmittelbar der Subſtanz, ſondern andern Acciden-
zen anhangen, ſo ſieht man dieſe erdichtungsweiſe
als Subſtanzen an, damit man ſie, ohne immer
auf die Subſtanz, deren ſie anhaͤngen, zuruͤck zu
ſehen, fuͤr ſich betrachten, und alles, was denſelben
beſonders anhaͤngig iſt, durchgehen koͤnne. Dieſes
ſcheint auch der eigentliche Grund zu ſeyn, warum
man ſie durch Subſtantiua abſtracta ausdruͤcket. Man
ſehe Semiot. §. 138. ſeqq. 201. 202.



Ein und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Zeichen und Bedeutungen.


§. 646.


Nachdem wir nun die verſchiedenen Hauptarten
der Verhaͤltniſſe durchgangen, ſo koͤnnen wir
das, was man in der Ontologie zuletzt noch mit-
nimmt, ebenfalls noch beruͤhren, und die Verbin-
dungen unterſuchen, welche zwiſchen Zeichen und
S 2den
[276]XXI. Hauptſtuͤck.
den dadurch bedeuteten Sachen vorkommen. Jn
dieſer Unterſuchung koͤnnen wir hier das weglaſſen,
was die willkuͤhrlichen und die wiſſenſchaftlichen
Zeichen
betrifft, weil wir dieſe in der Semiotic be-
ſonders betrachtet haben. Es bleiben demnach hier
eigentlich nur die ſogenannten natuͤrlichen Zeichen
vorzunehmen, wovon wir in dem §. 47. Semiot. Er-
waͤhnung gethan haben, und welche von den beyden
erſtern Arten und ſo auch von der Zeichnung des
Scheines,
(Phaͤnomenol. §. 266-288.) ganz ver-
ſchieden ſind.


§. 647.


Das erſte, was wir in Anſehung der natuͤrlichen
Zeichen anzumerken haben, iſt, daß ſie mehren-
theils nicht nur Zeichen von einer Sache, ſon-
dern zugleich auch Zeichen von unſerer Unwiſ-
ſenheit, und zuweilen letzteres ohne das erſtere
ſind.
Es iſt naͤmlich zwiſchen dem natuͤrlichen Zei-
chen, und der Sache, die es bedeutet, eine ſolche
Verbindung, daß ſie entweder zugleich ſind, oder
das Zeichen der Sache vorgeht oder darauf folget.
Dafern uns nun dieſe Verbindung bekannt iſt, ſo
daß wir ſie beſchreiben und mit ihrem eigenen Na-
men
benennen koͤnnen, ſo gebrauchen wir das Wort
Zeichen hoͤchſtens nur als einen abgekuͤrzten Aus-
druck.
Jſt uns aber dieſe Verbindung nicht be-
kannt, ſo muͤſſen wir bey dem Worte Zeichen, oder
andern demſelben gleich geltenden Ausdruͤcken bleiben,
und in ſo ferne zeiget es an, daß wir die Verbin-
dung nicht wiſſen.
Zu dieſen beyden Faͤllen koͤmmt
oͤfters noch der dritte, da wir uns naͤmlich nur ein-
bilden, daß eine Sache ein Zeichen von einer andern
ſey, wenn ſie es in der That nicht iſt, oder etwas
anders
[277]Zeichen und Bedeutungen.
anders oder gar nichts bedeutet. Jn dieſem Falle
findet ſich demnach Unwiſſenheit und Jrrthum bey
dem vorgeblichen Zeichen beyſammen. Man wird
aus dieſer Zergliederung der drey Faͤlle ohne Muͤhe
den Schluß machen koͤnnen, daß je duͤmmer und
unwiſſender die Zeiten ſind, deſto mehr von
Zeichen und Bedeutungen, und beſonders von
irrigen, geſprochen werde.
Noch kaum vor hun-
dert Jahren war Europa damit gleichſam noch ganz
uͤberſchwemmet.


§. 648.


Dieſes Phaͤnomenon hat ſehr natuͤrliche Urſachen.
Die Menſchen ſind uͤberhaupt begierig, das Kuͤnf-
tige zu wiſſen, und in Ermanglung einer genauen
Theorie, die Wirkungen aus den Urſachen zu ſchlieſ-
ſen, ſetzet man blindhin einen Einfluß voraus, und
begnuͤget ſich, etwann aus einer einigen Erfahrung
zu ſchließen, was auf eine vorgegangene Sache er-
folget. Dieſes muß ſodann die Sache, ſo oft ſie
wieder koͤmmt, bedeuten. Nach dieſer Regel ver-
fuhr man bey jeder neuen Erſcheinung, die ſich am
Himmel zeigete. Ein Comet mag etwann fuͤrchter-
lich ausgeſehen haben, oder es mag ſich kurz oder
ſpaͤth nach ſeiner Erſcheinung Krieg eraͤugnet haben,
ſo war dieſes genug, um alle Cometen, als Un-
gluͤcksbothen anzuſehen. Und in der theologiſchen
Sprache ſchickte ſie Gott zur Drohung und Warnung,
ſo ſehr auch die Schrift ſagete, daß man ſich vor den
Zeichen des Himmels nicht fuͤrchten ſolle.


§. 649.


Man kann nicht ſagen, daß bey allem dieſem
nicht etwas richtiges ſeyn ſollte. Eine Urſache hat
S 3aller-
[278]XXI. Hauptſtuͤck.
allerdings ihre Wirkungen, und dieſe folgen auf die-
ſelbe. Man kann daher, auch wenn man die Art
ihres Wirkens nicht kennet, aus ſorgfaͤltiger Beob-
achtung der Folgen, und beſonders, wenn dieſe im-
mer wieder eintreffen, den Schluß machen, daß es
auch ins Kuͤnftige ſo geſchehen werde. So geduldig
war man aber in Anſehung der Zeichen der kuͤnftigen
Witterung und anderer Vorfaͤlle nicht, ſondern man
ließ es bey der erſten Beobachtung bewenden, und
war darum, ob eine nothwendige Verbindung zwi-
ſchen dem Zeichen und der Sache ſey, unbeſorgt, wel-
ches doch immer das Hauptwerk, und zuerſt zu un-
terſuchen geweſen waͤre.


§. 650.


Wir wollen aber, um die Beſchaffenheit natuͤr-
licher Zeichen
genauer zu unterſuchen, vorlaͤufig an-
merken, daß das Wort Zeichen etwas Vieldeutiges
habe. Jm weitlaͤuftigſten Verſtande kann man
jedes Mittelglied einer Schlußrede als ein Zei-
chen anſehen, daß die beyden aͤußerſten Glie-
der derſelben einander zukommen oder nicht
zukommen.
Wir gebrauchen auch jedes Zeichen
auf dieſe Art, weil wir ſchließen, daß, wo das
Zeichen iſt, auch die dadurch bedeutete oder
angezeigte Sache ſey.
Man ſieht leicht, daß die-
ſer Oberſatz in jedem beſondern Falle allgemein ſeyn
muß, und daß, wenn er nicht allgemein iſt, der
Schlußſatz nur einen gewiſſen Grad von Wahrſchein-
lichkeit haben koͤnne. (Phaͤnomenol. §. 189. ſeqq.)


§. 651.


So allgemein aber werden wir hier das Wort Zei-
chen
nicht nehmen, ſondern es durch einige Bedin-
gungen
[279]Zeichen und Bedeutungen.
gungen naͤher einſchraͤnken. Ein Zeichen muß
naͤmlich in die Sinnen fallen, hingegen muß
die Sache, die es anzeiget, nicht zugleich mit
in die Sinnen fallen, und uns ſchlechthin nur
durch das Zeichen bekannt werden.
Denn fiele
das Zeichen nicht in die Sinnen, ſo muͤßte es aus
etwas anderm geſchloſſen werden, und dieſes wuͤrde
ſodann eigentlich das Zeichen ſeyn, (Semiot. §. 10.).
Fiele aber die Sache zugleich mit in die Sinnen,
oder waͤre ſie uns an ſich ſchon bekannt, ſo wuͤrde das
Zeichen uͤberfluͤßig ſeyn, weil wir ſeiner Bedeutung
nicht beduͤrften.


§. 652.


Hiebey wird nun der Ausdruck, die Sache muͤſſe
nicht zugleich mit in die Sinnen fallen,
ſo ge-
nommen, daß ſie entweder bereits vorgegangen, oder
erſt noch folge, oder dergeſtalt zugleich mit ſey, daß
die unmittelbare Empfindung derſelben durch ande-
res verhindert werde, oder auf irgend eine andere
Art, z. E. wegen der Kleinheit der Theile ꝛc. nicht
geſehen oder empfunden werden koͤnne. Dadurch un-
terſcheiden ſich auch die Zeichen von den eigentlich
ſogenannten Kennzeichen und Merkmalen. Denn
bey dieſen kann die Sache ſelbſt zugleich mit in die
Sinnen fallen, und das Kennzeichen, welches ſich
auch gemeiniglich an derſelben befindet, dienet nur,
um uns anzuzeigen, daß es diejenige Sache ſey, die
wir bereits dem Namen nach kennen, oder aus an-
dern Umſtaͤnden einigen Begriff davon haben. Auf
ſolche Kennzeichen oder Merkmale, die an der Sache
ſelbſt ſind, ſieht man, wenn man durch Definitio-
nen, oder auch nur durch Beſchreibungen eine Sache
kenntlich machen will, ſo daß man, wenn und wo
S 4ſie
[280]XXI. Hauptſtuͤck.
ſie vorkoͤmmt, dieſelbe erkennen, oder fuͤr das anſe-
hen koͤnne, was ſie iſt. Die Zeichen aber ſind mei-
ſtens außer der Sache, die ſie anzeigen oder bedeu-
ten, oder in anderen Sachen, die mit derſelben in
Verbindung ſind.


§. 653.


Wenn wir nun zu den zween erſten in dem §. 647.
betrachteten Faͤllen zuruͤcke kehren, und dieſe Verbin-
dung naͤher betrachten, ſo findet in Abſicht auf die
Zeichen mehrentheils der zweyte ſtatt, indem wir
naͤmlich aus der Erfahrung lernen, daß eine Sache
als ein Zeichen einer andern angeſehen werden koͤnne.
Denn in Anſehung des erſten Falles, wo wir naͤm-
lich die Verbindung genau kennen, da gebrauchen
wir gewoͤhnlich den eigenen Namen derſelben, und
ſolcher Namen giebt es nothwendig deſto mehrere,
je umſtaͤndlicher uns jede Arten von Verbindungen,
Verhaͤltniſſen, Zuſammenhang ꝛc. bekannt ſind, und
je wiſſenſchaftlicher unſere Erkenntniß davon iſt. Da
die menſchliche Erkenntniß uͤberhaupt, und ſo auch
die von jedem Menſchen beſonders, bey den Sinnen
und der Erfahrung anfaͤngt; ſo iſt es auch aus die-
ſem Grunde ſehr natuͤrlich, daß wir auch von Zei-
chen
und Bedeutungen reden, und dabey anfangen,
ehe uns die Begriffe von den beſondern Arten der
Verbindungen, Verhaͤltniſſe ꝛc. bekannt werden.
Denn dieſe Begriffe ſind in Laͤndern und Zeiten, wo
keine wiſſenſchaftliche Erkenntniß iſt, und auch da,
wo ſie iſt, dennoch dem groͤßten Haufen unbekannt,
und man hat ſich nicht zu verwundern, wenn in Er-
mangelung derſelben auch die Kennzeichen fehlen,
woran aͤchte natuͤrliche Zeichen von ſolchen, die nichts
bedeuten, unterſchieden werden muͤſſen, und wenn
bey
[281]Zeichen und Bedeutungen.
bey dieſer Verwirrung Aberglaube vorkoͤmmt, deſ-
ſen weſentlichſter Theil auf Zeichen und Bedeutun-
gen beruht.


§. 654.


Da die Haupterforderniß der Zeichen darauf an-
koͤmmt, daß ihre Bedeutung richtig und allgemein
ſey, oder daß, wo das Zeichen vorkoͤmmt, auch die
bedeutete Sache ebenfalls vorgekommen ſey, oder mit
vorkomme oder vorkommen werde (§. 650.), ſo iſt
es, an ſich betrachtet, gleich viel, ob man ſich hievon
durch die Erfahrung, oder mit Zuziehung einer Theo-
rie verſichere, und wenn letztere mit unbewieſenen
Hypotheſen vermenget iſt, ſo iſt die Erfahrung un-
ſtreitig beſſer. Die Arzneygelehrtheit befindet ſich in
Abſicht auf die meiſten Symptomata der Krankheiten
in dieſem Falle. Die Symptomata ſollen die innere
Natur der Krankheit, dieſe, die innere Natur der
Mittel, und dieſe, die Namen der Medicinen an-
geben. Und ſo waͤre es allerdings der wiſſenſchaftli-
chen Methode gemaͤß. Die Erfahrung aber giebt
nur an, welche Mittel bey jeden Arten von Sympto-
men gute Dienſte gethan haben. Und dieſes erklaͤret
gewiſſermaßen, warum Arzneygelehrte, die verſchie-
dene und oͤfters ganz entgegengeſetzte Theorien haben,
deſſen unerachtet bey einerley Symptomen einerley
Arzneyen vorſchreiben.


§. 655.


Der Weg, den die Erfahrung angiebt, zu ſchlieſ-
ſen, daß eine Sache als ein Zeichen einer andern
angeſehen werden koͤnne, iſt etwas weitlaͤuftig. Denn
um ſich dadurch zu verſichern, daß das Zeichen nie
triege, muß die Erfahrung ſehr ofte wiederholet wer-
S 5den,
[282]XXI. Hauptſtuͤck.
den, und das Zeichen muß immer eintreffen. Die-
ſes geht nun bey Dingen, die gar keine naͤhere Ver-
bindung mit einander haben, und nach ganz ungleich-
artigen Geſetzen und Perioden in den Lauf der Dinge
verflochten ſind, nicht an. Jndeſſen iſt es gar wohl
moͤglich, daß zwo Sachen eine Verbindung mit ein-
ander haben, die aber durch andere dazwiſchen kom-
mende Urſachen ſo veraͤndert wird, daß nicht immer
beyde beyſammen ſind, oder daß die eine, die ein
Zeichen ſeyn ſollte, nicht immer bemerkbar iſt, und
die andere durch Einmengung anderer Umſtaͤnde un-
kenntlich wird. Dieſes thut aber der Allgemeinheit
des Zeichens in Abſicht auf den Gebrauch Abbruch,
und man erhaͤlt hoͤchſtens nur einen gewiſſen Grad
von Wahrſcheinlichkeit, (§. 650.). Soll dieſer nun
von einigem Gebrauche ſeyn, ſo muß das Zeichen
mehrmalen zutreffen als fehlen. So ſind z. E. die
Abendroͤthe in Abſicht auf das folgende ſchoͤne Wetter,
und die barometriſchen Veraͤnderungen in Abſicht auf
die Witterung uͤberhaupt.


§. 656.


Es hat aber der Umſtand, daß ſich fremde Urſa-
chen, die ihre beſondere Perioden und Geſetze haben,
in die Verbindungen zwoer Sachen mit einmengen,
die Folge, daß man aus dem nicht immer zuſammen-
treffen auf den Mangel der Verbindung nicht ſchließen
kann, ſondern dieſe Urſachen machen nur das Zei-
chen unzuverlaͤßig, und man muß ſich aus andern
Gruͤnden verſichern, daß eine ſolche Verbindung da
iſt. Sie iſt nun aber wirklich da, ſo oft das Zeichen
mehrmal zutrifft als fehlet, und wenn es weit die
meiſten male zutrifft, ſo kann man auch richtig den
Schluß machen, daß die hindernde Urſachen weder
ſtark
[283]Zeichen und Bedeutungen.
ſtark noch haͤufig ſeyn muͤſſen, und daß die Verbin-
dung zwiſchen dem Zeichen und der Sache ſehr merk-
lich und unmittelbar ſey.


§. 657.


Dieſe Unterſuchung des Zutreffens und Fehlens,
iſt aber auch das einige Mittel, wenn man ſich ohne
Zuziehung einer Theorie verſichern will, ob zwiſchen
zwoen Sachen eine Verbindung ſey, und eine als
ein Zeichen der andern dienen koͤnne? Man wird
uͤberhaupt verleitet, eine ſolche Verbindung zu ver-
muthen, wenn man mehrmalen bemerket hat, daß
entweder zwo Sachen beyſammen ſind, oder eine auf
die andere folget. Und lohnet es ſich der Muͤhe, ſich
umzuſehen, ob man daraus ganz oder groͤßtentheils
allgemeine Regeln (§. 655.) machen koͤnne, ſo muß
man auch die Beobachtung oͤfters anſtellen und auf-
zeichnen, um zu ſehen, ob alle Faͤlle, oder wie viele
zutreffen, und wie viele hingegen fehlen, (Dianoiol.
§. 585.).


§. 658.


Will man nun, wenn man ſolche Verbindungen
gefunden, nachſuchen, worinn ſie eigentlich beſtehe,
ſo gehoͤret uͤberhaupt ſchon einige Theorie dazu. Sind
die zwo Sachen jedesmal wirklich zugleich, ſo kann
man den Schluß machen, daß ſie eine gemeinſame
Urſache haben, weil in der wirklichen Welt alles viel
zu ſehr durch einander laͤuft, als daß zwo von einan-
der ganz unabhaͤngige Urſachen immer zuſammen-
treffen, und folglich entweder gleiche Perioden oder
gleiche Abaͤnderungen von Perioden haben ſollten,
(§. 131.). Geht aber die eine der andern vor, ſo
kann erſtere die Urſache der andern ſeyn, ſie koͤnnen
aber auch beyde von einer gemeinſamen Urſache her-
ruͤhren.
[284]XXI. Hauptſtuͤck.
ruͤhren. So z. E. wird wohl niemand ſagen, die
Abendroͤthe ſey die Urſache des darauf folgenden hel-
len Wetters. Sie iſt nur eine Anzeige deſſelben,
und man wird bey naͤherer Betrachtung der Umſtaͤn-
de, die eine Abendroͤthe moͤglich machen, ohne Muͤhe
finden, daß ſie nicht ſtatt haben kann, dafern nicht
die Luft abendwaͤrts funfzig, hundert und mehr Mei-
len in die Laͤnge hin bereits helle iſt. Man kann die-
ſes aus dem Wege ſchließen, den das Sonnenlicht
des Abends durch die Luft nehmen muß, um eine
Wolke, die am weſtlichen Horizonte iſt, beleuchten
zu koͤnnen. Nimmt man nun noch den Umſtand mit
hinzu, daß die Wolken uns mehrentheils von Weſten
her kommen, ſo kann man allerdings den Schluß
machen, daß wenn auch uͤber dem weſtlichen Meere
Wolken ſind, dieſe noch immer einen Weg von funf-
zig, hundert und mehr Meilen zuruͤck zu legen haben,
ehe ſie zu uns kommen, daß dieſes durch einen Weſt-
wind geſchehen muͤſſe, welcher ſich aber bey der Abend-
roͤthe gewoͤhnlich nicht einfindet ꝛc.


§. 659.


Wir haben das allgemeine der Theorie, durch wel-
che die Verbindung zwiſchen dem Zeichen und der
Sache, die es bedeutet, gefunden, und oͤfters vor-
aus beſtimmt werden kann, in den vorhergehenden
Hauptſtuͤcken, worinn wir die verſchiedenen Arten
der realen Verhaͤltniſſe durchgangen haben, umſtaͤnd-
lich angegeben, und koͤnnen daher hier deſto kuͤrzer
davon handeln. Um bey dem naͤchſt vorhergehenden
Hauptſtuͤcke anzufangen, ſo erhellet aus dem daſelbſt
geſagten, daß uͤberhaupt jedes empfindbare Ac-
cidens ein Zeichen eines dabey zum Grunde lie-
genden Subſtantialen ſeyn koͤnne,
(§. 625. 650.
651.).
[285]Zeichen und Bedeutungen.
651.). Es iſt demnach unnoͤthig hier zu wiederholen,
was wir daſelbſt (§. 626. ſeqq.). Ueber die Art,
von dem Accidens auf das Subſtantiale zu ſchließen,
geſaget haben. Hingegen iſt weder ein Accidens
noch eine Subſtanz ſchlechthin ein Zeichen eines
Accidens,
wenn naͤmlich dieſes auf eine determinirte
Art genommen wird. Denn da die Accidenzen nicht
alle weſentlich ſind (§. 631.), ſo kann man auch nicht
ſo unbedingt von dem Daſeyn des einen auf das
Daſeyn des andern, und ſo auch nicht von dem Da-
ſeyn der Subſtanz auf das Daſeyn des Accidens ei-
nen Schluß machen, und folglich auch nicht noth-
wendig erſtere als ein Zeichen des letztern anſehen,
(§. 650.). Soll aber dieſer Schluß ganz oder doch
zuweilen angehen, ſo muß man ſich voraus verſichern:

  • 1°. Ob das vorgegebene Accidens der vorgegebe-
    nen Subſtanz beſtaͤndig, oder
  • 2°. Wenigſtens zuweilen anhaͤngig ſey?
  • 3°. Ob die beyden vorgegebenen Accidenzen, deren
    eines das Zeichen des andern ſeyn ſolle, in einer-
    ley Subſtanz weſentlich ſey? oder
  • 4°. Wenn nur eines weſentlich iſt, ob das andere
    in eben der Subſtanz vorkomme?


Koͤmmt von dieſen vier Faͤllen einer vor, ſo laͤßt ſich
von Zeichen und Bedeutungen reden, und zwar im
erſten und dritten Falle nothwendig, im zweyten und
vierten Falle mit einem beſtimmten Grade von Wahr-
ſcheinlichkeit. Sind hingegen beyde Accidenzen an
ſich mit einander verbunden, ſo daß eines dem an-
dern weſentlich anhaͤngig iſt (§. 645. 619.), ſo iſt
eines ein Zeichen des andern, ohne Ruͤckſicht auf die
Subſtanz, in welcher ſie vorkommen. Sind ſie aber
nicht nothwendig weder unter ſich noch mit einer Sub-
ſtanz
[286]XXI. Hauptſtuͤck.
ſtanz verbunden, ſie kommen aber doch zuweilen in
einerley Subſtanz vor, ſo ſind die Accidenzen, und
ſo auch die Subſtanz, nur ſolche Zeichen von einander,
die einen beſtimmten und oͤfters ſehr geringen Grad
von Wahrſcheinlichkeit haben. Dieſes alles geht
nun auf das zugleich da ſeyn. Denn ſind die Ac-
cidenzen entweder an ſich einander widerſprechend,
oder ſie koͤnnen in einer vorgegebenen Subſtanz nicht
zugleich beyſammen ſeyn, ſo iſt immer das Daſeyn
des einen ein Zeichen von dem Wegſeyn des andern.
Man kann ſich hiebey leicht noch den Fall gedenken,
wo man von dem Wegſeyn des einen auf das Daſeyn
des andern einen Schluß machen kann. Dieſer wird
nothwendig ſeyn, wenn außer den beyden Accidenzen
kein drittes iſt. Hingegen iſt er nur wahrſcheinlich,
wo ſtatt beyder noch andere ſeyn koͤnnen. Endlich
laͤßt ſich auch der Fall gedenken, wo eines das an-
dere nach ſich zieht, weil auch in dieſem Falle nicht
beyde zugleich ſind. Da aber dieſes wirkende Urſa-
chen vorausſetzet, ſo gehoͤret das, was hieruͤber ge-
ſaget werden kann, in die andere Claſſe von Zeichen.


§. 660.


Man kann naͤmlich jede Wirkung als ein Zeichen
der Urſache anſehen, (§. 584. 650.). Und da hin-
gegen jede uͤberwiegende Kraft, und ſo auch jede nicht
verhinderte Urſache ihre Wirkung aͤußert und hervor-
bringt, ſo kann man auch unter dieſer vorausgeſetz-
ten Bedingung, die Urſache als ein Zeichen der er-
folgenden Wirkung anſehen. Die Kraft naͤmlich,
muß uͤberwiegend ſeyn, oder nicht verhindert werden.
Solche Kraͤfte kommen nun in der Natur allerdings
vor, und groͤßere Wirkungen bereiten ſich mehren-
theils eine Zeit lang vor, und ihre Folgen dauern
auch
[287]Zeichen und Bedeutungen.
auch laͤnger, und vermengen ſich in den allgemeinen
Lauf der Dinge. Hingegen iſt dieſe Vorbereitung
nicht immer ſichtbar. Denn ſo hat man, meines
Wiſſens, noch kein Zeichen oder Spur der Vorbe-
reitung zu einem bevorſtehenden Erdbeben ausfuͤndig
gemacht, ungeachtet kaum zu zweifeln iſt, daß die
wirkenden Urſachen dabey ſich nicht nach und nach
aufhaͤufen ſollten, bis endlich die Sache zum Aus-
bruche koͤmmt, (§. 285. N°. 8. §. 220. N°. 4.).


§. 661.


Findet man nun aus der Erfahrung, daß eine Sa-
che oder Veraͤnderung immer oder wenigſtens die mei-
ſten male auf eine andere folge (§. 655.), ſo kann die
eine als ein Zeichen von der andern angeſehen wer-
den, und welche davon man in jedem Falle vor ſich
findet, ſo laͤßt ſich mit voͤlliger oder wenigſtens mit
einem beſtimmten Grade der Gewißheit auf die an-
dere ſchließen. Wie fern hingegen eine die Urſache
der andern ſey, oder ob ſie eine gemeinſame Urſache
haben (§. 658.), das iſt eine andere Frage. So fern
man aber wirklich beyde etwas umſtaͤndlicher kennet,
kann man ſie nach den oben (§. 593. ſeqq.) angege-
benen Erforderniſſen und Kennzeichen der Urſachen
mit einander vergleichen. Die Bedingungen, daß
die Wirkung der Urſache aͤhnlich ſey (§. 593.), daß
in der Wirkung nicht mehr ſeyn koͤnne, als in der
Urſache (§. 594.), daß die voͤllige Wirkung den ge-
ſammten wirkenden Kraͤften gleich, und von einerley
Form ſey (§. 596.), daß die Wirkung nicht beſſer ſey,
als die Urſache (§. 597.), daß die Urſache der Wir-
kung vorgehe (§. 598.) ꝛc., koͤnnen hiebey allerdings
dienen, um zu ſehen, ob von den zwo vorgegebenen
Sachen eine die Urſache der andern ſey, ob ſie die
voͤllige
[288]XXI. Hauptſtuͤck.
voͤllige Urſache, oder nur zum Theil oder gar nicht
ſey? ꝛc. Man verfaͤhrt hiebey eben ſo, als wenn
man vermittelſt einer Analogie die Urſache ſuchet
(§. 599. ſeqq.), und das in dem §. 608. von den Ur-
ſachen des Blitzes gegebene Beyſpiel mag auch hier
zur Erlaͤuterung dienen. Denn die Analogie ge-
braucht man mehrentheils nur, um auf eine wahr-
ſcheinlichere Art die Urſache zu vermuthen, (§. 605.).
Eine ſolche Vermuthung aber hat hier ebenfalls ſtatt,
und in beyden Faͤllen kann die (§. cit.) erwaͤhnte Re-
gel Falſi gebraucht werden.


§. 662.


Wir koͤnnen die Begriffe der Theile und des Gan-
zen (§. 578. ſeqq.), als die dritte Claſſe von Zeichen
und bedeuteten Sachen anſehen. Der Begriff eines
Ganzen gehoͤret nun uͤberhaupt mit zum exiſtiren
koͤnnen
einer Sache, (§. 467. 465. 530.) Wenn
man demnach einzelne Theile findet, von denen man
weiß, daß ſie irgend zu einem Ganzen gehoͤren, und
ohne daſſelbe nicht vorkommen, ſo kann man erſtere
als ein Zeichen deſſelben anſehen, (§. 579. 650.).
Man ſieht aber leicht, wie wir es oben (§. 583.) an-
gemerket haben, daß hiezu eine vorlaͤufige Kenntniß
der Sache erfordert werde.


§. 663.


Es laſſen ſich aber außer den oben (§. 580.) ange-
gebene Arten von Ganzen, die wir im vorhergehen-
den bereits unſtaͤndlicher betrachtet haben, noch die
Eintheilungen derſelben in Abſicht auf die Zeit an-
geben, wodurch ebenfalls ſpecialere Beſtimmungen,
Merkmale und Zeichen erhalten werden. Und da
haben wir
1°. Ganze,
[289]Zeichen und Bedeutungen.

  • 1°. Ganze, deren Theile zugleich ſind, und fort-
    dauern.
  • 2°. Ganze, deren Theile auf einander folgen.
  • 3°. Ganze, wobey beydes zuſammen vorkoͤmmt.


Von dieſen Claſſen geht die erſte auf den Behar-
rungsſtand, und folglich auf das fortdauernde Gleich-
gewicht der Kraͤfte, womit die Theile verbunden ſind.
Die andere Claſſe aber ſetzet ein Uebergewicht von
Kraͤften, die von außen her dazu kommen, und folg-
lich Urſachen und Wirkungen voraus. Bey der
dritten aber ſind beyde Umſtaͤnde vermenget.


§. 664.


Da nun in der wirklichen Welt keine Wirkung
ganz aufhoͤret, ſondern ſogleich wiederum zur wir-
kenden Urſache wird, und ſich mehrentheils auf die
angraͤnzenden Dinge verbreitet; ſo hat man hiebey
eigentlich Reihen von Urſachen und Wirkungen, die
nicht aufhoͤren, und daher, an ſich betrachtet, nie zu
einem Ganzen werden. So ſtrenge aber nehmen
wir hier die Sache nicht, ſondern merken nur an,
daß wir gewoͤhnlich als ein Ganzes anſehen, was
nur in einer gewiſſen Abſicht oder verhaͤltnißweiſe ein
ſolches iſt. Und in dieſem Verſtande laͤßt ſich dabey
Anfang und Ende gedenken, wenn man dieſes nicht
ſo abſolut, ſondern verhaͤltnißweiſe nimmt, wie wir
es oben (§. 492.) angemerket haben. Die naͤhere
Moͤglichkeit dieſes Verfahrens gruͤndet ſich auf die
erſt erwaͤhnte Verbreitung der Wirkung, oder auf
ihr Uebergehen in die naͤchſt angraͤnzende Dinge.
So z. E. hat ein Ungewitter allerdings ſeine Urſachen
in den vorhergehenden Umſtaͤnden der Witterung,
und einen Einfluß in die folgenden. Deſſen uner-
Lamb. Archit.II.B. Tachtet
[290]XXI. Hauptſtuͤck.
achtet aber ſetzen wir demſelben einen Anfang und
Ende. Wir bemerken, wie es ſich zuſammenzieht, ob
es ſich vertheilet oder wegzieht, und wenn dieſes nicht
iſt, ſo ſehen wir den erſten Donnerſchlag, als den An-
fang, und den letzten, als das Ende an. Ueber-
haupt rechnen wir zu ſolchen Ganzen die Vorberei-
tung,
den wirklichen Erfolg und die Vollendung
der Sache. Sofern nun dieſes nach ordentlichen Ge-
ſetzen der Natur, und ohne viele ſich mit einmengende
fremde Umſtaͤnde vor ſich geht, da laͤßt ſich durch forg-
faͤltiges beobachten der Verlauf der Sache ſtuͤck-
weiſe erkennen, und man lernet dadurch die Ordnung,
wie eines auf das andere folget, und daher eines ein
Zeichen des andern iſt. Auf dieſe Art ſuchet der
Arzt ſich den Verlauf jeder Krankheit, und die Aen-
derungen und Symptomata, die auf jede Arzney fol-
gen, ſich umſtaͤndlich bekannt zu machen, und dieſes
giebt ihm ein ſolches Anſehen, daß wenn der Kranke
nach ſeinem Vorausſagen ſtirbt, man mehr auf ihn
haͤlt, als wenn er ſeiner Ausſage zuwider aufgekom-
men waͤre.


§. 665.


Eine Wirkung wird fuͤr vollendet angeſehen,
wenn die Sache in dem Zuſtande beharret, in wel-
chen ſie durch die wirkende Kraͤfte der Urſache geſetzet
worden iſt. Denn ſoll ſie weiter gebracht werden,
oder iſt es dadurch zu weit damit gekommen, ſo muͤſ-
ſen neue Kraͤfte darauf verwendet werden, im erſten
Falle, um das, was man ſuchet, noch voͤlliger zu
erhalten, im andern aber um das, was zu viel war,
wiederum gut zu machen, beydes, wenn und ſo fern
es angeht. Hat man aber dabey keine Abſicht, oder
die Wirkung geht ohne unſer Zuthun in der Natur
vor,
[291]Zeichen und Bedeutungen.
vor, ſo nehmen wir die Sache ſo weit ſie reichet, und
die Wirkung iſt, wenigſtens bis auf neue ſich aͤu-
ßernde Umſtaͤnde zu Ende, wenn die dadurch geaͤn-
derte Sache ſo bleibt und zu bleiben fortfaͤhrt. So
endet ſich etwann ein Ungewitter auf die Art, daß
noch Stoff da iſt, daß es den folgenden Tag wieder
komme. Und ſo bleibt man auch nach einigen Er-
ſchuͤtterungen eines Erdbebens ungewiß, ob nicht
noch einige Stoͤße kommen werden. So hoͤret auch
etwann eine Krankheit mit der Beſorgniß der Wie-
derkehr auf. Man ſieht leicht, daß bey allem die-
ſem beſondere Zeichen oder Kennzeichen erfordert
werden, wenn man von der gaͤnzlichen Endigung
ſich voraus und voͤllig verſichern will. Man hat ſich
daher auch in vielen Faͤllen bemuͤhet, Proben aus-
fuͤndig zu machen, wodurch man ſich davon verſichern
kann, und ſolche Proben ſind immer gewiſſermaßen
Zeichen, und wenn man den Grund davon nicht weiß,
ſchlechthin nur Zeichen von der Sache.


§. 666.


Da der Anfang und das Ende in ſolchen Ganzen,
deren Theile auf einander folgen, relativ iſt; ſo kann
zwar ein ſolches Ganzes fuͤr ſich betrachtet werden,
es iſt aber dennoch nicht immer ſo ſehr von allem
Vor- und Nachgehenden, und ſo auch nicht von allem,
was zugleich mit vorgeht, unabhaͤngig, daß nicht
auch dabey Zeichen ſollten koͤnnen gedacht werden,
wodurch von dem einen auf das andere der Schluß
gemacht werden kann. Und da giebt es ſehr viele
Wirkungen in dem Laufe der Natur, die nicht an-
ders, als nach bereits vorgegangenen andern Wir-
kungen erfolgen, und die hinwiederum, nach dem ſie
in einer Sache oder an einem Orte vorbey ſind, ſich
T 2in
[292]XXI. Hauptſtuͤck.
in andern Sachen oder an andern Orten auf eine
merkliche Art aͤußern. So zieht ſich bey einem Kran-
ken ein Uebel oͤfters in dem Leibe herum, wenn es
durch die Arzeneyen weder ganz vertheilet noch weg-
geſchafft, ſondern nur von dem Orte, da es war,
vertrieben wird. Jn der Natur geſchieht dieſes be-
ſonders in Abſicht auf diejenigen Kraͤfte, die, wenn
ſie ſchon angewandt ſind, und ihre Wirkung in einer
Sache gethan haben, theils ſich aufs neue wiederum
aufhaͤufen, theils auch in ſolche Materien uͤbergehen,
wo ſie zu neuen Wirkungen bereits zubereiteten Stoff
finden.


§. 667.


Jns beſondere aber, da man die Endigung einer
Wirkung aus dem Beharrungsſtande der Sache
ſchließt (§. 665.), hat man darauf zu ſehen, wie ſich
dieſelbe dem Beharrungsſtande naͤhert. Wir haben
bereits oben (§. 558. 561.) in Abſicht auf alle drey
Arten von Kraͤften angemerket, daß dieſes entweder
oſcillationsweiſe oder aſymtotenweiſe geſchieht. Jm
erſten Falle naͤhert ſie ſich gewoͤhnlich anfangs lang-
ſamer und nachgehends dergeſtalt geſchwinder, daß
ſie gleichſam von einem Exceſſe zu dem andern uͤber-
geht, und ſodann von dieſem wiederum zu jenem zu-
ruͤcke kehret, bis ſie ſich nach und nach, und wenn
nicht neue Urſachen inzwiſchen hinzukommen, ergiebt.
Auf dieſe Art wechſeln oͤfters ſtarke Sturmwinde aus
entgegengeſetzten Gegenden mit einander ab, und auf
ein ſtarkes und ſchnelles Steigen des Barometers
erfolget, beſonders zu Winterszeit bald ein ſtarkes
und ſchnelles Fallen, und hinwiederum auf dieſes jenes.
So mag es auch nach lange anhaltendem Regen-
wetter einige helle Tage geben. Wenn aber dadurch
noch
[293]Zeichen und Bedeutungen.
noch zu viel Feuchtigkeit auf dem Lande iſt, ſo dienen
ſie gleichſam nur zur Erzeugung neuer Wolken, und
dieſes wechſelt ſo ab, bis ſich die zu viele Feuchtig-
keit durch den ordentlichen Lauf der Fluͤſſe in das
Meer gezogen. Naͤhert ſich aber die Sache dem
Beharrungsſtande immer langſamer und gleichſam
aſymtotenweiſe, ſo hat es auch ordentlich dabey ſein
Bewenden, daferne nicht neue Urſachen hinzukom-
men, und den Gang der Sache aͤndern. Auf dieſe
Art z. E. koͤmmt man nach ausgeſtandenen langen
Krankheiten am dauerhafteſten wiederum zu Kraͤften.
Wer hingegen, und auch bey geſunden Tagen, mit
einem Male, oder gleichſam zuſehens fett und ſtark
wird, hat ſich gewoͤhnlich darauf nicht viel zu gute
zu halten, weil es aus Urſachen geſchieht, die dem
ordentlichen Laufe der Natur nicht gemaͤß ſind, und
die etwas aufhaͤufen, das zur Krankheit bald reif
wird. So wird ein Funke vor dem Erloͤſchen glaͤn-
zender, und ſo koͤmmt auch im Moraliſchen, Hoch-
muth vor dem Falle, und Sorgloſigkeit vor dem
Fehler.


§. 668.


Bey denen Ganzen, deren Theile zugleich ſind
(§. 663.), kann ebenfalls ein Theil ein Zeichen eines
andern, oder auch ein Zeichen des Ganzen ſeyn, wenn
dieſes nicht an ſich ſchon in die Sinnen faͤllt. Wir
muͤſſen aber hieruͤber die Anmerkung machen, daß
es ſo zu reden, Ganze in Ganzen giebt, und daß
folglich ein Ganzes, in welchem ein anderes iſt, gar
wohl in die Sinnen fallen kann, ohne daß deswegen
dieſes letztere Ganze zugleich mit und durchaus in die
Sinnen falle. So z. E. machet in dem Menſchen
eine innerliche Krankheit an ſich ein Ganzes aus,
T 3welche
[294]XXI. Hauptſtuͤck.
welche von dem Menſchen an ſich oder uͤberhaupt be-
trachtet verſchieden iſt, und wovon ſich aͤußerlich kaum
einige Symptomata zeigen. Die Gaben des Verſtan-
des und des Gemuͤthes werden ebenfalls als ſolche
Ganze betrachtet, die eben nicht nothwendig die Bil-
dung des Leibes und Geſichtszuͤge zum Maaßſtabe
haben, ungeachtet ſich zuweilen eine merklichere
Verhaͤltniß dazwiſchen findet, und oͤfters hat das
aͤußere Anſehen und Lineamente etwas durchaus
einfaches, wo die Natur alle Erkenntniß und Ge-
muͤthskraͤfte in dem ſchicklichſten Ebenmaaße ausge-
bildet hat.


§. 669.


Es haben aber ſolche Ganzen, die in andern ſind,
ungeachtet ſie fuͤr ſich betrachtet werden koͤnnen, im-
mer etwas relatives, und ſie ſind mit dem uͤbrigen
in einer Verbindung, die eben nicht durchaus die
Wahl laͤßt, wie viel oder wie wenig man dazu rech-
nen wolle. Oefters weiß man dieſes auch nicht ſo
genau, und daher nimmt man wenigſtens einige
Haupttheile zum Kennzeichen, und ſuchet ſodann in
jedem Falle, die beſonders hinzukommende Beſtim-
mungen beſonders auf, um zu ſehen, wie viel, und
wie ſie der Art und dem Grade nach beſchaffen
ſind. So verfaͤhrt man bey den erſt angefuͤhrten
Beyſpielen der Krankheiten, der Talente und Ge-
muͤthsart eines Menſchen. Auf eine aͤhnliche Art
dehnet ſich auch der Gebrauch der Zeichen, daß
in einem Berge Metalle und Mineralien ſeyn muͤſ-
ſen, nicht weiter als auf dieſes Allgemeine aus,
und man ſuchet die naͤhern Umſtaͤnde durch das
Nachgraben zu entdecken.


§. 670.
[295]Zeichen und Bedeutungen.

§. 670.


Beſonders aber hat man bey ſolchen Ganzen, die
in andern gleichſam verſtecket ſind, und aͤußerlich
kaum einige Spuren zeigen, darauf zu ſehen, ob dieſe
aͤußerlichen Anzeichen etwas fortdauerndes, weſent-
liches, natuͤrliches, nothwendiges haben, oder ob ſie
nur gelegentlich, zufaͤlliger Weiſe aus Urſachen her-
ruͤhren, die in der Sache ſelbſt ganz fremd ſind, und
daher auch nicht laͤnger dauern. Wir haben dieſen
Fall bereits oben (§. 597.), bey Anlaß des Satzes,
daß die Wirkung nicht beſſer ſey, als die Urſache,
betrachtet, und die daſelbſt angefuͤhrten Beyſpiele
moͤgen auch hier zur Erlaͤuterung dienen. Wir mer-
ken noch mit an, daß dieſe Anmerkung deſto noth-
wendiger iſt, je oͤfters man wider dieſelbe verſtoͤßt,
und gar zu leicht von Umſtaͤnden und Zufaͤlligkeiten,
die man ein einiges mal an einer Sache wahrgenom-
men, auf ihre weſentliche Art und Natur ſchließt.
Daß man ex vngue leonem, an der Klaue den Loͤ-
wen erkennen koͤnne, iſt an ſich richtig. Man muß
ſich aber in beſondern Faͤllen verſichern, daß es wirk-
lich eine Klaue, das will ſagen, ein dem Loͤwen we-
ſentlich anhangender Theil ſey. Denn ſonſt laͤßt ſich
auch aus dem Schafspelze, der darunter verſteckte
Wolf erkennen, weil ihn nicht die Natur damit be-
kleidet hat.


§. 671.


Zu dieſem erſt betrachteten Beſtaͤndigen koͤnnen
wir noch das Haͤufige rechnen, welches ebenfalls ein
ſichereres Zeichen von Ganzen iſt. So z. E. machet
man aus einem irgend gefundenen Stuͤckchen Erzte
oder Muͤnze nicht ſogleich den Schluß, daß daſelbſt
T 4in
[296]XXI. Hauptſtuͤck.
in der Erde Metalle oder Schaͤtze ſeyn muͤſſen. Es
kann aus tauſend guten Gruͤnden allein da geweſen
ſeyn. Das deutſche Spruͤchwort, daß eine Schwal-
be noch keinen Sommer machet, zielet ebenfalls da-
hin, daß man von einem nicht auf das ſchließen ſoll,
was, wenn es da iſt, etwas Haͤufiges mit ſich bringt.
Das oben (§. 597.) angefuͤhrte quandoque et olitor
vera locutus
zeiget ungefaͤhr eben das an.


§. 672.


Trifft man aber ſolche Zeichen, die in mehrern
Theilen eines Ganzen vorkommen, haͤufiger an, ſo
faͤngt man natuͤrlicher Weiſe an, etwas Allgemeine-
res zu vermuthen, und wird dadurch zum Nachſuchen
veranlaſſet, beſonders, wo es von Folgen ſeyn kann.
So z. E. laſſen ſich etwann die erſten Spuren einer
einreißenden allgemeinen Krankheit, der Contagion
und Peſt, die im Finſtern ſchleicht, der Verderbniß
der Sitten ꝛc. bemerken. So vermißt man etwann,
bey genauerm beobachten, haͤufiger ſolche Stuͤcke,
die zu einem phyſiſchen oder moraliſchen realen, po-
ſitiven Ganzen nothwendig gehoͤren ſollten, und ſieht
die Luͤcken mit anderm ausgefuͤllet (§. 579.), welches
dem Fortdauern ein Ende machen kann.


§. 673.


Wenn man das Ganze, zu welchem ein gefunde-
ner Theil gehoͤret oder gehoͤren kann (§. 670.), nur
uͤberhaupt kennet (§. 669.), und daher ſehen will,
ob die uͤbrigen dazu gehoͤrenden Theile mit da ſind,
ſo kann man dabey auf verſchiedene Art verfahren.
Denn einmal laſſen ſich von dieſen geſuchten Theilen
etwann
[297]Zeichen und Bedeutungen.
etwann Spuren, Anzeichen, Folgen, Wirkungen ꝛc.
finden, oder man ſtellet daruͤber Proben an, oder
ſieht ſich um die Stelle um, wo ſie ſeyn ſollten, und
ſuchet, ob ſie da ſind, oder ob die Luͤcke mit etwas
anderm ausgefuͤllet ſey ꝛc. Man ſieht leicht, daß
alles dieſes vorausſetzet, man habe ſich das Ganze
und ſeine Theile uͤberhaupt genau bekannt gemacht.
Da dieſes nun in jedem Falle ſpecialere Kenntniſſe
erfordert, welche oͤfters einen großen Theil der ge-
waͤhlten Lebensart eines Menſchen ausmachen, ſo
geben auch die bisher gemachte Anmerkungen nur
die allgemeineren Arten der Moͤglichkeiten und
Leitfaͤden an, denen man in beſondern Faͤllen zu
folgen hat.


§. 674.


Wir koͤnnen diejenigen Zeichen, wodurch uͤber-
haupt nur Grade angezeiget werden, als die vierte
Claſſe anſehen. Dieſe finden ſich demnach da, wo die
Dinge entweder den Graden nach verſchieden ſind,
und ſo bleiben, oder wo ſie ſich den Graden nach ver-
aͤndern. Hiebey iſt nun oͤfters etwas abſolutes, wie
z. E. bey der Laͤuterung des Silbers auf der Capelle,
wo der ſogenannte Blick das Zeichen der voͤlligen
Laͤuterung und Scheidung des Silbers vom Bley und
Kupfer iſt. Zuweilen verlanget man auch nur den
Grad ſo, wie er iſt, zu wiſſen, oder die Sache bis
dahin zu bringen, und da werden in Ermangelung
von Maaßſtaͤben und Jnſtrumenten, ebenfalls ge-
wiſſe zuverlaͤßige Zeichen aufgeſuchet, die man in be-
ſondern Faͤllen mehrentheils nur durch Verſuche und
wiederholte Beobachtungen findet.


T 5§. 675.
[298]XXI. Hauptſtuͤck.

§. 675.


Sofern nun dasjenige, deſſen Grade man durch
Zeichen kenntlich machen will, eine wirkende Urſache
iſt, ſo ſind jede Dinge, worinn ſie ihre Wirkung
nach ihren Stufen ſichtbar oder empfindbar aͤußert,
dazu dienlich, die Unterſchiede dieſer Grade anzuzei-
gen. Man nimmt aber gewoͤhnlich ſolche dazu, die
bey dem gewaͤhlten oder vorgegebenen Grad eine be-
merkbare Veraͤnderung leiden. Z. E. man laͤßt et-
was auf dem Feuer bis es nicht mehr rauchet, bis
es eingeſotten, geſchmolzen, ſo lang es gebraucht,
ein Ey hart zu ſieden ꝛc. Jm Winter ſchließt man
von den Graden der Kaͤlte aus dem Zufrieren der ſte-
henden und fließenden Waſſer, aus dem Berſten der
Baͤume ꝛc. die dauerhafte Waͤrme des Fruͤhlings
aus dem Ausſchlagen des Maulbeerbaumes, welcher
von der Art zu ſeyn ſcheint, daß die Waͤrme ſich bis
ganz unter ſeine Wurzel in die Erde dringen, und ſo
tief einen gewiſſen Grad haben muß, ehe der Saft
in denſelben eindringen und ſteigen kann. Wenn
aber das Erdreich einmal ſo tief erwaͤrmt iſt, ſo
moͤgen ein paar Regentage zwar die oberſte Flaͤche
des Bodens erkaͤlten, aber ohne, daß es von
Dauer waͤre ꝛc. Uebrigens ſind die meiſten von
dieſen Zeichen der Waͤrme und Kaͤlte von der Art,
daß ſie mit andern Umſtaͤnden in Verbindung ſte-
hen, und daher von dem, was das Thermometer
zeiget, verſchieden ſind.


§. 676.


Da ferner die Urſache der Wirkung immer vor-
geht, ſo zeigen ſolche Zeichen nicht genau den Grad,
den die Urſache in dem Augenblicke hat, ſondern einen
andern,
[299]Zeichen und Bedeutungen.
andern, den ſie fruͤher gehabt hat, es mag nun viel
oder wenig fruͤher geweſen ſeyn. Dieſes hat beſon-
ders ſtatt, wo ſich die Wirkung etwas langſamer
fortpflanzet, und ſich nur nach und nach aufhaͤufet.
So z. E. wird ein Thermometer, welches eine klei-
nere Kugel hat, von Morgen bis Nachmittag hoͤher,
und nachgehends tiefer ſtehen, als ein anderes, deſ-
ſen Kugel groͤßer iſt, und dieſes letztere wird den
hoͤchſten Grad, zu welchem jenes geſtiegen, nicht
ganz erreichen, und aus gleichem Grunde bis auf
den folgenden Morgen nicht ſo tief fallen, als das
erſtere, wenn auch beyde uͤbrigens durchaus in einer-
ley Luft, Ort und Umſtaͤnden ſind. Auf eine aͤhn-
liche Art hat das Waſſer den Grad der Kaͤlte zum
Frieren eine Zeitlang ehe es gefriert, ſo wie es
auch hinwiederum, ehe es ſchmelzt, den Grad der
Waͤrme dazu fruͤher und ſtaͤrker, als beym Ein-
frieren haben muß.


§. 677.


Endlich laͤßt ſich uͤberhaupt der Schein als ein Zei-
chen von etwas darunter liegendem Realen anſehen,
es mag nun dieſes Reale das ſeyn, was der Schein
an ſich betrachtet anzeiget, oder ſtatt deſſen etwas an-
deres, dem der Schein nur zum Blendwerke dienet.
Da ich dieſe Materie in der Phaͤnomenologie beſon-
ders abgehandelt, ſo werde ich ſie hier ganz uͤberge-
hen, und nur anmerken, daß, da die natuͤrlichen
Zeichen in die Sinne fallen ſollen (§. 651.),
eigentlich auch nur der ſinnliche Schein (Phaͤno-
menolog. Cap. 3.) vornehmlich Stoff giebt, wel-
cher auf eine naͤhere Art mit den Zeichen verglichen
werden kann.


§. 678.
[300]XXI. Hauptſt. Zeichen u. Bedeutungen.

§. 678.


Ein Zeichen iſt uͤberhaupt ein Principium cogno-
ſcendi,
und bezieht ſich auf ein denkendes Weſen,
welches ſich die Verbindung zwiſchen dem Zeichen
und der dadurch bedeuteten Sache wenigſtens uͤber-
haupt vorſtellet, um aus jenem auf dieſe zu ſchließen.
Es dienet demnach in ſo fern zur wiſſenſchaftlichen Er-
kenntniß, als das Bewußtſeyn dieſer Verbindung
jedesmal ein Datum erſparet (§. 15.), und nach dem
ordentlichen Lauf der Dinge gehen die Zeichen der
wiſſenſchaftlichen Erkenntniß unmittelbar vor. Ein
Volk, welches nach ſeiner erſten Dummheit anfaͤngt,
auf Zeichen zu merken, und ſie aufzuſuchen, hat nur
noch einen Schritt mehr zu thun, um auf ihre Ver-
bindung zu merken, und durch dieſe Kenntniß die
truͤglichen Zeichen von den zuverlaͤßigen unterſcheiden
zu lernen. Es koͤmmt auf den Einfall an, daß bey
zuverlaͤßigen natuͤrlichen Zeichen in der Sache ſelbſt
etwas zum Grunde liege, welches man aufſuchen
muͤſſe, und dazu haben in den neuern Zeiten Baco
und Carteſius den Weg gebaͤhnet, und man kann
ſagen, erſterer auf eine poſitive, letzterer auf eine
negative Art, (§. 6.).



Vierter
[301]

Vierter Theil.
Die Groͤße.


Zwey und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Das Allgemeine der Groͤße.


§. 679.


Das Bishergeſagte betrifft uͤberhaupt das, was
wir die Beſchaffenheit nennen koͤnnen, ſo
fern wir dieſe der Groͤße entgegen ſetzen.
Wir werden demnach nun die Einheit, die
damit verwandten Begriffe, und was davon abhaͤngt,
beſonders vornehmen, und die Dinge, oder uͤberhaupt
das Gedenkbare in Abſicht auf die Groͤße betrachten.
Man wird aus dem §. 56. ſehen, daß dieſe Betrach-
tung die zweyte Columne der in dem §. 53. vorgeleg-
ten Tabelle, und demnach uͤberhaupt das betrifft,
was wir daſelbſt (§. 56.) die allgemeineMatheſis
und das Organon quantorum genennet haben. Damit
werden wir uns nun in dieſem und folgenden Haupt-
ſtuͤcken beſchaͤfftigen, und hier damit anfangen, dieſe
beyden Begriffe ausfuͤhrlicher zu entwickeln, wohin
folgende Anmerkungen dienen, die wir voraus ſchicken.


§. 680.


Es iſt in der gelehrten Welt laͤngſt ſchon uͤblich,
die ſogenannte angewandte Matheſin je laͤnger je
mehr mit neuen Theilen zu bereichern, und die
Schwie-
[302]XXII. Hauptſtuͤck.
Schwierigkeiten, die man dabey findet, in Anſehung
jeder Dinge zu beſtimmen, wie ſie ihrer Groͤße nach
ausgemeſſen und mit einander verglichen werden koͤn-
nen, machet, daß es damit eben nicht ſo geſchwinde
zugeht, als man es wuͤnſchen koͤnnte. Es iſt bisher
auch groͤßtentheils nur in einigen Theilen der Phyſic
gelungen, und dieſe Beyſpiele haben gelehret, daß
die Kenntniß der Sache viel genauer und umſtaͤnd-
licher ſeyn muͤſſe, wenn man dadurch in Stand ge-
ſetzt ſeyn ſolle, Ausmeſſungen dabey vorzunehmen.
Man hat auf der andern Seite auch betraͤchtliche
Vortheile dabey gefunden, weil man durch die Kennt-
niß der Groͤße das zu viel und zu wenig, welches
gemeiniglich alles verderbt, vermeiden, und das, was
man hat, ſuchet, brauchet ꝛc. nach geometriſcher
Schaͤrfe genau beſtimmen kann.


§. 681.


Aus dieſen und andern ſolchen Betrachtungen hat
man angefangen, in der menſchlichen Erkenntniß
einige Stufen zu unterſcheiden, und zwiſchen der
hiſtoriſchen, philoſophiſchen und mathemati-
ſchen
Erkenntniß eine Rangordnung feſte zu ſetzen,
(§. 455.). Man kann hieruͤber nachſehen, was Wolf
in ſeinen beyden Vernunftlehren, und beſonders auch
Bilfinger in einer Diſſertation, die eigentlich dieſe
Unterſuchung zum Gegenſtande hat, hieruͤber ſaget.
An den Namen dieſer drey Stufen hat man ſich nicht
aufzuhalten. Sie ſind in Ermangelung anderer, die
genauer paſſen koͤnnten, gewaͤhlet worden. Die hi-
ſtoriſche Erkenntniß nimmt die Dinge, wie ſie die
Sinnen und Erfahrungen angeben. Die Philoſophi-
ſche ſuchet ihren Zuſammenhang, Verbindung, Urſa-
chen und Gruͤnde dazu auf. Die Mathematiſche
aber
[303]Das Allgemeine der Groͤße.
aber beſtimmt bey allem dieſem das genaue Maaß
von ihrer Groͤße, und daher beſonders auch das zu-
reichende dabey. Wir koͤnnten die beyden letztern
Erkenntniſſe zuſammengenommen, wiſſenſchaftlich
nennen, und ſo haben wir ſie auch in dem letzten
Hauptſtuͤcke der Dianoiologie betrachtet, und theils
ihren Unterſchied und Vorzug vor der gemeinen oder
bloß hiſtoriſchen Erkenntniß gezeiget, theils auch
angegeben, was zu thun ſey, wenn man Stuͤcke der
gemeinen Erkenntniß in eine wiſſenſchaftliche ver-
wandeln will. Sofern man aber die philoſophiſche
Erkenntniß der mathematiſchen entgegen ſetzet, da
abſtrahirt man bey der erſtern von allem, was Groͤße
und Ausmeſſung heißt, und machet gleichſam aus
dem Philoſophen das, was man purus putus Philo-
ſophus
nennet, und eben ſo wird auch der Mathema-
tiker eingeſchraͤnket, wenn man demſelben nichts als
die bloße Groͤße zu betrachten uͤberlaͤßt, und ihm
außer der Rechenkunſt und Analyſe nichts zur An-
wendung ſeiner Erkenntniß uͤberlaͤßt.


§. 682.


Dieſer Unterſchied findet ſich zuweilen bey den Ge-
lehrten ziemlich wirklich. Man findet etwann Phi-
loſophen ohne alle Kenntniß der Mathematik, und
hinwiederum Mathematiker ohne philoſophiſche Er-
kenntniß. Das Phaͤnomenon, das ſich dabey ge-
woͤhnlich eraͤugnet, iſt nicht nur, daß es keinem recht
gelingt, wenn er ſich in das Gebieth des andern hin-
ein waget, ſondern, daß einer den andern zuruͤcke
weiſet, und daß die Luͤcken, die der eine in der Er-
kenntniß des andern ausfuͤllen ſollte, unausgefuͤllet
bleiben, und damit iſt weder der Philoſophie noch
der Mathematik, der Wahrheit aber durchaus nicht
gedienet.
[304]XXII. Hauptſtuͤck.
gedienet. Es koͤmmt dabey oͤfters ſo heraus, daß
man glauben ſollte, das philoſophiſch Wahre, ſey
mathematiſch falſch, und hinwiederum das mathe-
matiſch Wahre philoſophiſch falſch, ungefaͤhr, wie
wenn eine Wahrheit die andere umſtoßen muͤßte.


§. 683.


Bey dieſen Ungereimtheiten liegt es nun aller-
dings nicht daran, daß die philoſophiſche und ma-
thematiſche Erkenntniß weder mit einander verglichen
noch verbunden werden ſollten. Denn ſie ſollen es
ſeyn, und man wird der philoſophiſchen Erkenntniß
nicht den Namen einer voͤllig wiſſenſchaftlichen
Erkenntniß
beylegen koͤnnen, wenn ſie nicht durch-
aus zugleich mathematiſch iſt. Man kann außer
dem, was wir in dem dritten Hauptſtuͤcke der Ale-
thiologie (§. 130-134.) hieruͤber geſaget haben, be-
ſonders das oben (§. 452-462.) hieruͤber angemerkte
nachſehen, und man wird die mathematiſche Erkennt-
niß bey der philoſophiſchen unentbehrlich, und durch-
aus und leicht anwendbar finden, ſo ofte aus der letz-
tern alle Verwirrung weggebracht iſt. Denn die
einfachen Beſtimmungen, die der Philoſoph
aufzuſuchen hat, wenn er zur netten und voͤlli-
gen Deutlichkeit gelangen will, ſind eben die-
jenigen, welche der Mathematiker als Dimen-
ſionen gebraucht, und gebrauchen kann, ſo bald
ſie erſterer gefunden,
(§. 455.). Man ſehe auch
(§. 569. 591.).


§. 684.


Sodann liegt es auch nicht daran, daß der Phi-
loſoph nicht auch ſeine Betrachtung auf das erſtrecken
koͤnne, was eigentlich in das Gehieth der Mathe-
matik
[305]Das Allgemeine der Groͤße.
matic gehoͤret. Denn die Meßkunſt hat bis derma-
len noch immer dem Philoſophen Stoff gegeben, ſeine
Theorie von allem, was Methode heißt, zu berei-
chern und auszubeſſern. Wir haben bisher den
Euclid ſehr oft und nicht anders, als in dieſer Ab-
ſicht angefuͤhret. Man wird auch zu dem in dem
(§. 455.) angefuͤhrten Beyſpiel der Schwere, in der
Phyſic und Matheſi adplicata noch leicht mehrere fin-
den, welche zeigen, daß der Mathematiker dem
Philoſophen nicht ſelten Stoff angiebt, ohne welchen
dieſer kaum wuͤßte, was er zu ſuchen hat, und daß
ſich letzterer des erſtern Verfahren zur Regel machen
kann, (§. 611.).


§. 685.


Hingegen iſt man in der Philoſophie anders ver-
fahren. Wolf machte ſich eine Ehre daraus, daß
er die Euclidiſchen Grundſaͤtze erweiſen koͤnnen. Es
hat aber einmal nur die betroffen, an deren Deut-
lichkeit, Evidenz und Wahrheit noch kein Menſch
den geringſten Zweifel und Anſtand gefunden. Hin-
gegen von dem eilften Euclidiſchen Grundſatze,
den man ſich mit mehrerer Muͤhe und weniger Evi-
denz als wahr vorſtellet, war bey dieſem Ruͤhmen
nicht die Rede. Und die Art, wie Wolf mit Zu-
ziehung des philoſophiſchen Begriffes der Aehnlich-
keit dieſe Schwierigkeit vermeiden, und die Geome-
trie anders vortragen wollen, hat wenig Beyfall ge-
funden. Von den uͤbrigen Grundſaͤtzen aber kam
der ganze Beweis darauf an, daß Wolf die Defi-
nitionen ſo einrichtete, daß ſie ſich daraus beweiſen
ließen, (§. 11. 21. ſeqq.). Es war dabey vergeſſen,
daß man keiner Worterklaͤrung bedarf, wo man die
Sache unmittelbar ſelbſt vorzeigen kann, (§. 26.).
Lamb. Archit.II.B. USo-
[306]XXII. Hauptſtuͤck.
Sodann fielen dieſe Worterklaͤrungen auch nicht im-
mer ſo genau und richtig aus. Man ſehe, was wir
(§. 541. 565.) uͤber die Definition des Raumes und
der Groͤße angemerket haben. Doch kann man ſa-
gen, daß Wolf noch einiger Maaßen in Schranken
geblieben, darinn ihn die Kenntniß, die er von der
Mathematic hatte, zuruͤcke hielt. Man nehme hin-
gegen Definitionen und Saͤtze von folgender Art,
Minimum eſt ſolo nihilo maius; maximum eſt ſolo
nihilo minus; vnitas minima eſt, ſi pauciſſimae mi-
nimae determinationes vnici minimi ſint inſepara-
biles \&c.
und uͤberhaupt den ganzen ſechſten Abſchnitt
der Baumgartiſchen Ontologie (Metaph. §. 165-190.)
zum Beyſpiele, ſo wird man beynahe glauben muͤſ-
ſen, das philoſophiſch richtige ſey mathematiſch un-
richtig und hinwiederum. Denn in der That lehret
man in der Metaphyſic, daß ſich das Etwas mit
dem Nichts nicht vergleichen laſſe,
weil nichts
gemeinſames darinn iſt. Hingegen in der Defini-
tion: Minimum eſt ſolo nihilo maius, zeiget das
Wort maius eine Vergleichung an, die man vorneh-
men ſoll, um ſich von dem Kleinſten einen Begriff
zu machen. Hingegen in der Mathematic ſaget man,
daß bey ſolchen Groͤßen, die keine beſtimmte Einheit
haben, weder kleinſtes noch groͤßtes, abſolute betrach-
tet vorkomme, daß man aber Maxima und Minima
findet, wo eine Groͤße ſich innert beſtimmten Schran-
ken veraͤndert, wie z. E. die Diameter einer Ellipſe,
die Mittagshoͤhen der Sonne ꝛc. Und dabey gebraucht
man den Begriff des Nichts und die Vergleichung
des Etwas mit demſelben gar nicht. So hat auch
der Ausdruck pauciſſimae in vorangezogenen Saͤtzen
keinen Verſtand. Denn die an ſich geringſte Anzahl
untrennbarer Beſtimmungen iſt weder groͤßer noch
kleiner
[307]Das Allgemeine der Groͤße.
kleiner als zwo, verhaͤltnißweiſe aber kann man da-
durch verſtehen, weder mehr noch minder als noͤthig
iſt, dieſes oder jenes Ganze, ſo man als eine Ein-
heit betrachtet, auszumachen. Ueberdieß iſt die
kleinſte Einheit wiederum entweder an ſich unmoͤg-
lich, oder nur vergleichungsweiſe zu nehmen, wenn
die Dinge, die man als Einheiten anſieht, innert
beſtimmten Schranken ſind ꝛc. Vieldeutigkeiten von
dieſer Art muͤſſen aus Saͤtzen und Definitionen
ſchlechthin wegbleiben, welche eine mathematiſche
Schaͤrfe haben, oder als Principia matheſeos inten-
ſorum
angeſehen werden ſollen. Solche ſo gar un-
mathematiſche Saͤtze werden gar leicht auf die Philo-
ſophie den Verdacht, daß, da die Philoſophen in
Dingen, die in der Mathematic ſonnenklar und
evident ſind, ſo blind urtheilen, das uͤbrige,
was bis jetzt noch nicht hat koͤnnen bis zur ma-
thematiſchen Erkenntniß deutlich aus einander
geſetzet werden, eben nicht viel beſſer ausſehen
werde, wenn man es etwann mit der Zeit am
Lichte werde betrachten koͤnnen.
Man wird
auch aus den oben (§. 452-462.) gemachten Anmer-
kungen ohne Muͤhe einſehen koͤnnen, daß dieſer Ver-
dacht gar nicht ungegruͤndet iſt, und die Baumgar-
tiſchen
ſogenannten Prima matheſeos intenſorum
principia,
daraus wir den vor angefuͤhrten Satz von
der kleinſten Einheit genommen, ſind eben ſo viele
Beyſpiele, davon wir ein einiges oben (§. 451.) in die-
ſer Abſicht angefuͤhret haben, welches vielleicht noch
das ertraͤglichſte iſt. Man nehme das erſte von die-
ſen Principien: Poſſibilitas minima eſt non repu-
gnantia minimorum pauciſſimorum,
ſo iſt dabey or-
dentlich alles verkehrt. Fuͤr pauciſſimorum wuͤrde
man zwey ſetzen muͤſſen. Denn in einem, das iſt
U 2im
[308]XXII. Hauptſtuͤck.
im Einfachen koͤmmt von Widerſpruͤchen die Rede
gar nicht vor (§. 243.), und die Moͤglichkeit darinn
iſt nicht die kleinſte, ſondern ſchlechthin abſolut. Der
Widerſpruch mißt die Moͤglichkeit nicht aus, weil er
aus allem Moͤglichen ſchlechthin wegbleiben muß.
Will man aber, wie es bey der Berechnung des
Wahrſcheinlichen geſchieht, von Graden der Moͤg-
lichkeit reden, ob naͤmlich etwas moͤglicher ſey, als
das andere, ſo verſteht man dadurch nicht die Gradus
intenſitatis,
ſondern ob es auf mehrere Arten moͤg-
lich ſey, das iſt, geſchehen koͤnne, ob mehrerley
Mittel da ſind, ob es haͤufiger und oͤfters vorkom-
me ꝛc. und ſo wird die Berechnung des leichter und
oͤfter Moͤglichen auf das gleich Moͤgliche reducirt,
(Phaͤnomenol. §. 153. ſeqq.). Auf dieſe Art aber
ſieht man deutlich, was man eigentlich will, und zu-
gleich auch, wie man es finden koͤnne. Und dadurch
wird, als durch ein Beyſpiel erlaͤutert, was wir oben
(§. 451.) angemerket haben, daß, wo der Philo-
ſoph etwas auszumeſſen vorgiebt, der Mathe-
matiker gemeiniglich vorerſt dabey etwas aus
einander zu leſen, das Unmoͤgliche und Abſur-
de wegzulaſſen, und das uͤbrige in eine ver-
ſtaͤndlichere und deutlichere Sprache zu uͤber-
ſetzen habe, wenn er der in der Mathematic ſo
ſehr geruͤhmten Evidenz nichts vergeben will.

Es iſt fuͤr den Philoſophen ein Ungluͤck hiebey, daß
man ohne die Matheſin auf eine durchaus und im
ſtrengſten Verſtande wiſſenſchaftliche Art erlernet zu
haben, von allem dieſem keine deutliche Begriffe ha-
ben kann, und daß er ohne dieſe deutliche Begriffe
zu haben, von ſeinen an ſich klar ſcheinenden Begrif-
fen nicht abgeht, ſondern den Mathematiker vielmehr
beſchuldiget, daß dieſer der Einbildungskraft zu viel
einraͤume,
[309]Das Allgemeine der Groͤße.
einraͤume, und von ſeinem Vorgeben abſtehen wuͤrde,
wenn er den reinen Verſtand (Intellectus purus)
mehr walten ließe. Man ſehe aber, was wir in dem
dritten Hauptſtuͤcke der Phaͤnomenologie (§. 119-125.)
uͤber den reinen Verſtand angemerket haben. Wolf
hat die Beyſpiele, wo der Verſtand rein vorkoͤmmt,
aus der Mathematic, und beſonders aus der Rechen-
kunſt und Algeber genommen, und ohne dieſe Wiſ-
ſenſchaften erlernet zu haben, kann man nicht aus
eigener Empfindung und Bewußtſeyn urtheilen, ob
dieſes richtig iſt oder nicht. Baumgarten ſieht die
Reinheit des Verſtandes (Puritas intellectus), als
einen groͤßern Grad von Tiefſinnigkeit an, und ſetzet
ſie demnach nur relativ, da doch die Reinheit (Pu-
ritas
) eine Einheit iſt, die ſchlechthin nur Bruͤche
admittirt, wie z. E. Waſſer, Silber, Gold ꝛc.
nicht mehr als rein, hingegen durch unzaͤhlige Stu-
fen mit fremdem Zeuge vermenget ſeyn kann. Das
Wegſeyn fremder Bilder und des ſinnlichen Scheines
machet den reinen Verſtand aus. Baumgarten aber
ſuchte denſelben durch das Analyſiren der Begriffe zu
erhalten. Man ſehe hieruͤber den §. 523. wo die Mit-
tel, zur netten Deutlichkeit und Vollſtaͤndigkeit der
Begriffe zu gelangen, ganz anders angegeben ſind.


§. 686.


Wir uͤbergehen hiebey mehrere Faͤlle, wo man
theils wider mathematiſche Wahrheiten metaphyſiſche
Einwuͤrfe gemacht, theils erſtere aus metaphyſiſchen
Definitionen und Gruͤnden erweiſen, theils auch z. E.
aus metaphyſiſchen Gruͤnden Quadraturen des Cirkels
hat erfinden wollen, und etwann dabey geſetzt hat,
eine Linie beſtehe aus einer Anzahl Puncte, eine Flaͤ-
che aus einer Anzahl Linien ꝛc. Oefters auch, nach-
U 3dem
[310]XXII. Hauptſtuͤck.
dem man in der mathematiſchen Erkenntniß mit Muͤ-
he und Sorgfalt ein Cahos aus einander geleſen, blie-
be man in der Metaphyſic dabey, und beurtheilete
nach demſelben das Mathematiſche. Wir koͤnnen
aus allem dieſem den Schluß machen, daß man es
anders angreifen muͤſſe, wenn die wiſſenſchaftliche
Erkenntniß zugleich und durchaus mathematiſch und
philoſophiſch werden ſolle, (§. 683.). Die Meßkunſt
laͤßt ſich allerdings philoſophiſch betrachten, und zwar
erſtlich in Abſicht auf die Methode, und ſodann in
Abſicht auf die Sache ſelbſt. Jn Abſicht auf die
Methode hat es Wolf ſchon ziemlicher Maaßen ge-
than, und wir haben oben (§. 11. ſeqq.) angemerket,
wo er zuruͤcke geblieben. Wir werden hier noch bey-
fuͤgen, daß es beſonders auch noch da geſchehen, wo
die Methode am naͤchſten an die Sache graͤnzet. Die
Sache koͤmmt uͤberhaupt auf die Frage an, wie es
die Mathematiker angegriffen haben, um nach
und nach ihre Begriffe von der Groͤße bey
Dingen anzuwenden, die ſich ohne dieſe Kunſt-
griffe nicht auf Zahl und Maaß bringen ließen?

Die vollſtaͤndige und ausfuͤhrliche Eroͤrterung dieſer
Frage, machet nun eine Wiſſenſchaft aus, die wir
im eigentlichſten Verſtande das Organon quantorum
nennen koͤnnen. Sie iſt das Werkzeug und Mittel,
das man gebrauchen muß, um die Matheſin adpli-
catam
mit neuen Theilen zu bereichern. Dieſe Wiſ-
ſenſchaft laͤßt ſich nun ohne eine ſehr deutliche und
ausfuͤhrliche Kenntniß der Mathematic nicht erfinden,
und es gebraucht ebenfalls eine philoſophiſche Kennt-
niß dazu, wenn man aus dem Specialen, ſo die
Mathematic hiezu anbeut, brauchbare Regeln ab-
ſtrahiren, und ſie durch ſchickliche Worte ausdruͤcken
will. So viel kann man uͤberhaupt leicht einſehen,
daß
[311]Das Allgemeine der Groͤße.
daß in dieſer Wiſſenſchaft die Theorie von der Ein-
heit und ihren verſchiedenen Arten,
die Theorie
der Dimenſionen, die Theorie von den Kennzei-
chen, wo man addiren, ſubtrahiren, multipli-
ciren, dividiren ꝛc. ſoll,
die Theorie von den ein-
fachen Arten und Geſtalten der Groͤßen
und
Verhaͤltniſſe, die Theorie von den Maaßſtaͤben
und ihren Arten,
die Theorie der Geſetze des
Gleichartigen,
und der Vergleichung des Un-
gleichartigen
ꝛc. vorkommen muͤſſe.


§. 687.


Man ſieht aus dieſer kurzen Vorzaͤhlung der ein-
zeln Theile, daß dabey allerdings eine Art von
Metaphyſic vorkoͤmmt, weil man dabey das
Gemeinſame und Eigene von allem ausmeßba-
ren in Abſicht auf die Ausmeßbarkeit und deren
verſchiedene Arten aufzuſuchen hat.
Es finden
ſich auch in den aͤltern Metaphyſikern Spuren davon.
Allein, da die vorhin angezeigte Abſicht dabey fehlte,
ſo ſind die Begriffe und ihr Umfang nicht ſo genau
abſtrahirt und beſtimmt worden. Wir wollen, aber
ohne dieſes umſtaͤndlicher zu unterſuchen, vielmehr
anmerken, daß die erſt angegebenen Theorien eigent-
lich da vorkommen und gebraucht werden koͤnnen, wo
die Gruͤnde zur Ausmeſſung der Groͤße und Grade
erſt noch muͤßten von den erſten Anfaͤngen an gefun-
den werden. Dabey aber giebt es oͤfters, wenn
man auch die Theorie im Ganzen ſchon weiß, beſon-
dere Faͤlle, wo man die Data, die man gebrauchte,
um die Aufgaben durchaus zu beſtimmen, oder die all-
gemeine Formeln auf ſolche Faͤlle anzuwenden, nicht ſo-
gleich alle, und oͤfters auch weder genau noch vollſtaͤn-
dig finden kann, und wo man folglich aus andern Be-
U 4trach-
[312]XXII. Hauptſtuͤck.
trachtungen, z. E. vermittelſt der Theorie der Schran-
ken,
der Naͤherung, der Geſetze der Einfoͤrmig-
keit,
des Mittels aus mehrern Faͤllen ꝛc. ſich
aushelfen, und die allgemeinenSymptomata mit zu
Rathe ziehen muß ꝛc. Die hieher dienende Kunſt-
griffe ſind nun von den vorhin (§. 686.) angezeigten,
ſowohl der Abſicht, als dem Gebrauche und der Art
nach verſchieden, und machen fuͤr ſich ein beſonderes
Ganzes aus, welches wir als den zweyten Theil zu
demſelben anſehen koͤnnen.


§. 688.


Sodann koͤmmt hin und wieder der Begriff einer
allgemeinen Mathematic vor, ohne daß eben die
Bedeutungen, die dieſer Ausdruck haben kann, ge-
nau angegeben waͤren. Jm allgemeinſten Verſtande
ſoll ſie die Groͤße an ſich betrachtet, zum Gegenſtan-
de haben, und in ſo ferne wird ſie die Algeber und
Analyſe des Unendlichen, den Calcul der Fun-
ctionen,
und wenn noch allgemeinere Bezeichnungen
moͤglich ſind, auch dieſe begreifen, beſonders aber
ſollen darinn die allgemeinenSymptomatader Groͤ-
ße,
ihre Maxima und Minima, ihre Zunahme und
Abnahme ꝛc. angegeben, kenntlich und anwendbar
gemacht werden. Hievon iſt nun eigentlich die Geo-
metrie ausgenommen, und zwar aus gleichem Grun-
de, wie die Chronometrie und Phoronomie, weil die
allgemeine Matheſis bey dieſen Wiſſenſchaften zwar
am leichteſten und unmittelbarſten angewandt, aber
indeſſen angewandt und dadurch ſpecial wird. Da
wir aber die meiſten Groͤßen von Dingen, die nicht
in die Augen fallen, durch Linien und Flaͤchen, und
uͤberhaupt durch die Dimenſionen des Raumes vor-
zuſtellen, und gleichſam vor Augen zu malen gewoͤhnet
ſind,
[313]Das Allgemeine der Groͤße.
ſind, ſo kann dieſe geometriſche Vorſtellung bey der
allgemeinen Matheſi, als ein Huͤlfsmittel mitgenom-
men werden, ſo weit ſie reichet. Und in dieſer Ab-
ſicht werden auch darinn die Symptomatader krum-
men Linien
betrachtet, weil ſie eben ſo viele Sym-
ptomata
von Gleichungen und Functionen gleichſam
vor Augen legen. Alles dieſes muß auch beſonders
in der Abſicht geſchehen, daß dadurch die Anwendung
auf jede vorkommende Faͤlle erleichtert werde. Wir
werden nun dabey anfangen, die erſte Anlage zu al-
lem dieſem aufzuſuchen.


§. 689.


Dieſe erſte Anlage faͤngt, wie unſere uͤbrige Er-
kenntniß bey den Sinnen und Empfindungen an, und
ſo, wie wir nach und nach zu den Begriffen der Din-
ge und ihrer Eigenſchaften gelangen, gelangen wir
zugleich mit zu den Begriffen ihrer Groͤße und Grade.
Hiebey beut ſich aber gleich anfangs ein Hauptunter-
ſchied an, welcher darinn beſteht, ob wir jeden
Theil von dem, was wir empfinden, beſon-
ders empfinden, oder, ob wir nur immer die
Empfindung von ihrer Auf haͤufung oder gan-
zen Summe haben?
Und ſodann, ob im erſtern
Falle die Empfindung uns die Theile gleich-
artig und in einer Continuitaͤt vorſtelle, oder
ob die Theile ungleichartig und einzeln, oder
jeder als ein von dem andern abgeſondertes
Ganzes empfunden werden?
Denn in dieſen Un-
terſchieden findet ſich uͤberhaupt betrachtet, derjenige,
den wir zwiſchen der Ausdehnung und Staͤrke ma-
chen, ob naͤmlich etwas der Ausdehnung nach
(extenſiue), oder der Staͤrke nach (intenſiue)
groͤßer oder kleiner ſey, und eben ſo auch der Unter-
U 5ſchied
[314]XXII. Hauptſtuͤck.
ſchied zwiſchen den Groͤßen die eine Continuitaͤt ha-
ben, und zwiſchen ſolchen, die als Ganze muͤſſen
betrachtet werden?


§. 690.


Es faͤllt nicht ſchwer, dieſe Unterſchiede durch viele
Beyſpiele zu erlaͤutern, wodurch zugleich erhellet, daß
die Ausdehnung und Staͤrke zuweilen beyſammen
ſind, zuweilen aber auch eine ohne die andere vor-
koͤmmt. So z. E. ſtellet uns die Empfindung die
Theile des Raumes gleichartig und außer einander
und in einer durchgaͤngigen Continuitaͤt vor. Wir
gebrauchen auch das Wort Ausdehnung im eigent-
lichſten Verſtande bey dem Raume und dem darinn
befindlichen materiellen Soliden. Auf eine aͤhnliche
Art ſtellen wir uns die Theile der Zeit vor und nach
einander, und folglich, weil ſie nicht in einander ſind,
außer einander vor, und dieſes machet, daß wir auch
der Dauer eine Art von Ausdehnung zugeben. Hin-
gegen urtheilen wir, daß ſich in dem Raume und der
Zeit keine Gradus intenſitatis unterſcheiden laſſen.
Naͤmlich ein Theil des Raumes oder der Zeit, iſt
nicht intenſiuemehr Raum oder Zeit, als ein jeder
anderer. Hingegen unterſcheiden wir allerdings ein
groͤßeres Licht (Lumen maius), und ein ſtaͤrkeres
oder helleres Licht (Lumen intenſius), einen groͤ-
ßern
Koͤrper und einen ſchwerern Koͤrper ꝛc. Auf
eine aͤhnliche Art finden wir in dem Raume und der
Zeit eine abſolute Continuitaͤt, hingegen ſo untrenn-
bar die Theile des Raumes und der Zeit ſind, ſo
finden wir in beyden Dinge, die ſich von einander
trennen laſſen, oder getrennet ſind, und deren jedes
als ein Ganzes oder als eine Einheit fuͤr ſich genom-
men, und folglich eine Abzaͤhlung derſelben gedacht
werden
[315]Das Allgemeine der Groͤße.
werden kann, die nach lauter ganzen Zahlen fort-
geht. Und ſo nehmen wir durch eine Art von Nach-
ahmung, auch gleiche Theile des Raumes und der
Zeit willkuͤhrlich als Einheiten an, um ſie auf dieſe
Art abzaͤhlen zu koͤnnen.


§. 691.


Es iſt ferner ebenfalls nicht ſchwer, Beyſpiele auf-
zuweiſen, welche zeigen, daß in einer und eben der
Sache auf mehrerley Arten oder in mehrerley Abſichten
Grade der Jntenſitaͤt vorkommen koͤnnen. So z. E.
giebt eine gleiche Saite, wenn ſie mehr geſpannt iſt,
einen hoͤhern Ton, und wenn ſie bey gleicher Span-
nung groͤßere Vibrationen machet, einen ſtaͤrkern
Ton. Denn bey einer gleichen Saite laͤßt ſich das,
was den Ton verurſachet auf dieſe zweyerley Arten
modificiren, auch wenn man von der Beſchaffenheit
der Luft, von der Lage des Ohres ꝛc. abſtrahirt.


§. 692.


Hinwiederum koͤnnen in die Grade der Jntenſitaͤt,
auch wenn man dieſe in einer und eben derſelben Ab-
ſicht betrachtet, mehrere und von einander verſchie-
dene Umſtaͤnde einen Einfluß haben. Denn ſo z. E.
richtet ſich die Erleuchtung eines Objectes und ſeine
Helligkeit nach der Groͤße, Staͤrke und Abſtand des
Lichtes, nach dem Ausflußwinkel und Einfallswinkel
der Stralen und nach der dem Objecte eigenen Weiße,
da es, wenn es an ſich weißer iſt, von den auffallenden
Stralen mehr zuruͤcke wirft. Die Staͤrke des Stoſ-
ſes haͤngt eben ſo von der Maſſe, Geſchwindigkeit
und dem Einfallswinkel des Koͤrpers ab, der an
einen andern geſtoßen wird, oder ſich gegen denſelben
beweget. Da in ſolchen Faͤllen die Wirkung nur die
Summe
[316]XXII. Hauptſtuͤck.
Summe oder das Product von allen ſolchen Urſachen
anzeiget, ſo hat man dabey auch oͤfters Muͤhe, bis
man alles, was dazu beytraͤgt, findet. Und uͤber-
haupt erhellet aus den angefuͤhrten Beyſpielen, auf
wie vielerley man zu ſehen habe, wenn man die
Gruͤnde zu der Ausmeſſung der Groͤßen und Grade
finden will.


§. 693.


Bey allem dieſem aber koͤmmt die ſchwerere Frage
auf den Unterſchied und die Kennzeichen des
extenſiven und des intenſiven
an, oder woran man
erkennen koͤnne, was an dem Ausmeßbaren der
Groͤße, und was hingegen der Staͤrke nach muͤſſe
genommen werden? Dieſe Frage hat nun in Abſicht
auf den Raum und die Zeit, und ſo auch in Abſicht
auf das, was dem Raume und der Zeit nach aus-
gedehnet iſt, keine Schwierigkeit. Denn ſo weit
dieſes geht, wird alles der Ausdehnung nach genom-
men, die Theile exiſtiren gleichſam außer einander,
und man denket ihre Summe, ohne daß die Theile
ſich darinn vermengen, oder aufhoͤren, außer ein-
ander zu ſeyn. Hingegen, wo die Sache inten-
ſiue
genommen werden muß, da ſtellen wir uns nur
die Summe vor, und dieſe beſteht dergeſtalt in
der Aufhaͤufung der Theile, daß wir keines davon
beſonders empfinden. Der Unterſchied zwiſchen dieſen
beyden Faͤllen hat ſeine Folgen, weil bey dem erſtern
allemal Entwickelung, Deutlichkeit und Klarheit,
bey dem letztern aber ſchlechthin nur Klarheit in der
Empfindung und Vorſtellung deſſelben iſt. Daher
iſt auch im erſtern Falle das Zaͤhlen leichter als im
letztern, und um deſto mehr hat man darauf zu ſehen,
wo der erſtere vorkoͤmmt, und wie fern der letztere
auf denſelben reducirt werden kann.


§. 694.
[317]Das Allgemeine der Groͤße.

§. 694.


Nun haben wir das Außereinander ſeyn der Theile
als ein Kennzeichen angegeben, welches aber mit
dem Außereinanderſeyn der Begriffe nicht ſo ſchlecht-
hin kann verwechſelt werden. Letzteres naͤmlich fin-
det immer ſtatt, wo das erſtere iſt (§. 252.), aber
nicht umgekehrt. Denn ſo ſind die Eigenſchaften und
Qualitaͤten in der Sache, ungeachtet wir uns jede
beſonders vorſtellen, und indem wir ſie mit Worten
aus einander ſetzen, ſo ſetzen wir ſie gleichſam auch in
Gedanken aus einander, wenn ſie es gleich in der
Sache ſelbſt nicht ſind. Jndeſſen giebt es auch al-
lerdings Abſichten, in welchen ſie als außer einander
betrachtet, und gezaͤhlet werden koͤnnen. Dieſes ge-
ſchieht z. E. bey Jnductionen, wenn man naͤmlich,
um zu zeigen, daß eine vorkommende Sache dieſe
oder jene ſey, die Eigenſchaften, die dazu erfordert
werden, vorzaͤhlet, und zeiget, daß ſie dieſelbe ſaͤmmt-
lich, und weder mehr noch minder habe. Sind die
Eigenſchaften einfache Beſtimmungen (§. 525.), ſo
muͤſſen die Begriffe derſelben ſchlechthin als außer
einander angeſehen werden, (§. 252.). Und wo die
Jnduction nicht vollſtaͤndig gemacht, aber auch nichts
darwider bewieſen werden kann, da ſtellet jede dieſer
Beſtimmungen in der Berechnung der Wahrſchein-
lichkeit eine Einheit vor, und die Wahrſcheinlichkeit
verhaͤlt ſich zu der voͤlligen Gewißheit, wie die An-
zahl der erwieſenen Eigenſchaften oder Merkmale, zu
der ganzen Anzahl von allen, die die Sache haben
ſoll, um die zu ſeyn, fuͤr die man ſie ausgeben will.
(§. 459.).


§. 695.


Was keine abſolute Einheit iſt, ſondern der Jn-
tenſitaͤt nach Grade haben kann, verſtaͤrket dieſe Grade
nicht
[318]XXII. Hauptſtuͤck.
nicht ſchlechthin von ſich ſelbſt, ſondern ſie werden
entweder von außenher aufgehaͤufet und dadurch ver-
ſtaͤrket, wiewohl die Moͤglichkeit dazu immer auch
mit in der Sache ſelbſt iſt, oder wenigſtens iſt die
Urſache und Veranlaſſung zu der Verſtaͤrkung und
Aufhaͤufung der Grade außer dem Intenſo. Unge-
achtet es demnach bey den Intenſis immer nur um die
ganze Summe zu thun iſt, ſo laͤßt ſich bey ihrer Ver-
groͤßerung eine Aufhaͤufung von neuen Theilen ge-
denken, und dieſe werden vor der Vergroͤßerung der
Summe allerdings, als noch nicht dabey und folglich
als außer derſelben angeſehen. Wir machen hier
dieſe Anmerkung in einer gedoppelten Abſicht. Denn
einmal ſind wir gewoͤhnet, das Maaß der Staͤrke
oder Jntenſitaͤt eben ſo, wie das Maaß der Aus-
dehnung
durch Zahlen und Linien vorzuſtellen, weil
darinn Klarheit und Deutlichkeit iſt. Sodann zei-
get dieſe Anmerkung, daß eine ſolche Vorſtellungs-
Art ihren Grund habe, und bey der Jntenſitaͤt immer
etwas mit vorkomme, welches entweder wirklich aus-
gedehnet oder dem ausgedehnten aͤhnlich iſt, und auf
eben die Art tractirt werden kann. Man hat daher,
wo die Grade der Jntenſitaͤt zu beſtimmen ſind, dar-
auf zu ſehen. 1°. Was ſich aufhaͤufet und gleichſam
in dem Intenſo dichter wird? 2°. Wie es ſich aufhaͤu-
fet und dadurch den Grad der Summe groͤßer ma-
chet? 3°. Woher die Aufhaͤufung moͤglich iſt, das
will ſagen, was außer dem Intenſo iſt, das die Auf-
haͤufung veranlaßt und verurſachet?


§. 696.


Sollen wir nun die eigentliche Quelle der Jnten-
ſitaͤt in irgend einer Subſtanz finden, ſo wird dieſe
nicht das Solide, als welches ſchlechthin nur aus-
gedehnet
[319]Das Allgemeine der Groͤße.
gedehnet iſt, ſondern die Kraft ſeyn, welche an ſich
Grade haben, und ſtaͤrker und ſchwaͤcher ſeyn kann.
Auf dieſe koͤnnen wir auch die Empfindung der Jn-
tenſitaͤt reduciren, welche ſich uns nach der Verſchie-
denheit der Sinnen und Empfindungsnerven unter
mannichfaltigen Bildern zeiget, in Anſehung aller
aber, wenn ſie uͤber einen gewiſſen Grad geht, die
Empfindung des Schmerzens erwecket. Auch in dem
Gedankenreiche hat z. E. die Staͤrke der Aufmerk-
ſamkeit mit den Fibern des Gehirnes eine genaue
Verbindung, und iſt mit dieſen ſtaͤrker und ſchwaͤcher.


§. 697.


Wir koͤnnen ferner anmerken, daß man oͤfters Jn-
tenſitaͤten ſuchet, wo eigentlich entweder gar keine,
oder wo ſie nicht durchgaͤngig ſind, oder wo ſie nur in
einer gewiſſen Abſicht vorkommen. Jn dieſen Faͤllen
befinden ſich die meiſten BaumgartiſchenPrincipia
intenſorum,
die wir bereits vorhin (§. 685.) ange-
fuͤhret haben. So z. E. heißt es: Minime contin-
gens eſt, cuius oppoſitum minime poſſibile.
Daß
das Minime in dieſem Satze nichts bedeute, haben
wir bereits (§. 685.) gezeiget. Ferner hat die Con-
tingentia
an ſich betrachtet etwas abſolutes, und von
allem, was nicht ſchlechthin nothwendig iſt, iſt eines
ſo contingent, als das andere. Will man aber z. E.
ſagen, das Zuſammengeſetzte ſey zufaͤlliger als das
Einfache, weil bey erſterm jede Theile und ihre Zu-
ſammenſetzung zufaͤllig ſind, ſo iſt dieſes nicht inten-
ſiue,
ſondern extenſiue. Eben ſo, wenn man das
zufaͤlliger nennen will, was auf mehrerley Arten ge-
aͤndert werden kann, ſo zaͤhlet man auch hier die Ar-
ten ab, und bey dieſer Abzaͤhlung muß man immer
die Sache bis auf jede einfache Zufaͤlligkeiten zerglie-
dern,
[320]XXII. Hauptſtuͤck.
dern, weil dieſe abſolut, folglich einander gleich ſind,
und bey der Berechnung der Zufaͤlligkeit Einheiten
abgeben. Eben ſo (Metaphyſ. Baumgarten. §. 265.)
Aequalitas minima eſt in duobus, in quibus vnica
minima quantitas eſt communis.
Die Gleichheit der
Groͤßen hat ſchlechthin keine Gradus intenſitatis, weil
ſie eine abſolute Einheit iſt. Hingegen kann die Un-
gleichheit groͤßer oder kleiner ſeyn. Ferner kann man
nicht ſagen, daß die Gleichheit 1 = 1, eine intenſiue
kleinere Gleichheit ſey, als 5 = 5 oder 100 = 100 ꝛc.
weil zwo gleiche Zahlen oder Groͤßen einander gleich
ſind, ſie moͤgen groß oder klein ſeyn. Dieſes thut
zur Gleichheit nichts. Saget man endlich in zwey
Dingen ſeyn mehrere einzele Theile, wenn man ſie
je zween und zween vergleichet, von gleicher Groͤße,
A = A, B = B, C = C ꝛc. ſo findet man darinn
Gleichheiten in mehrern Stuͤcken, die Gleichheit
der Ganzen iſt extenſiue groͤßer, das will ſagen, es
bleiben weniger ungleiche Stuͤcke darinn ꝛc. Auf
eine aͤhnliche Art (l. cit. §. 283.): Motus minimus
eſſet, ſi vnici minimi vnicus tantum poſitus erga vni-
cum minimum extra ipſum actuale mutaretur.
Hier
ſcheint das eſſet anzuzeigen, daß man zugebe, es gebe
keine kleinſte Bewegung, (§. 685.). Dagegen aber
ſind dabey ordentlich alle Bewegungen vermenget,
und ſtatt des Wortes Bewegung muͤßte der Aus-
druck: die Summe der geſammten localen Ver-
aͤnderung
geſetzet werden. Denn dieſe iſt unſtreitig
groͤßer, wenn alles durch einander laͤuft, und gleich-
ſam wimmelt, als wenn nur die Bewegung eines eini-
gen Punctes gegen oder von einem unbewegten Pun-
cte betrachtet wird. Sodann wird hier die ſogenannte
Quantitas motus, welche aus dem Producte der Maſſe
in die Geſchwindigkeit beſteht, und wobey die Di-
rection
[321]Das Allgemeine der Groͤße.
rection ſchlechthin einfach genommen wird, mit dem
Begriffe des bloßen Fortruͤckens vermenget ꝛc. Es
iſt unnoͤthig anzumerken, daß, wenn man die Grund-
ſaͤtze von der Bewegung feſtſetzen will, man bey der
geradlinichten und gleichfoͤrmigen Bewegung an-
faͤngt, und daraus zu beſtimmen, wie vielerley Ein-
heiten und Maaßſtaͤbe bey der Bewegung, das iſt
bey der bloßen Veraͤnderung des Ortes vorkommen.
Wiederum (l. cit. §. 190.), mutatio minima eſt
vnici minimi in vnico minimo ſucceſſio.
Die klein-
ſte
Veraͤnderung iſt nichts (§. 685.), das unicum
minimum ſuccedens
ebenfalls nichts. Und wenn die
Veraͤnderung in mehrerm vorgeht, ſo iſt ſie nicht
intenſiue, ſondern extenſiue groͤßer. Hingegen wuͤr-
de die Geſchwindigkeit der Veraͤnderung ehender
eine Art von Jntenſitaͤt abgegeben haben, weil die
Kraͤfte, die ſie hervorbringen, kraͤftiger, impetuoſer,
ſtaͤrker wirken ꝛc. Doch wir wollen keine weitlaͤuf-
tigere Beyſpiele anfuͤhren. Es waͤren dieſe ſchon ge-
nug, daß man denken ſollte, das metaphyſiſch rich-
tige ſey mathematiſch unrichtig, und hinwiederum
(§. 682. 685.). Der Unterſchied koͤmmt faſt immer
darauf an, daß die Philoſophen abſtrahiren, und
bloß nach den Aehnlichkeiten analyſiren, die Ma-
thematiker aber aufloͤſen und zergliedern, (§. 525.
683.). Man wird in den §. 452-462. noch mehrere
hieher dienende Anmerkungen finden. Und daraus,
eben ſo, wie aus dem 189. und folgenden §§, wo
von weſentlichen Eintheilungen die Rede war, leicht
ſehen, daß das Aufloͤſen und Zergliedern dem Ma-
thematiker nicht eigen iſt, ſondern aus guten Gruͤn-
den auch von dem Philoſophen vorgenommen wer-
Lamb. Archit.II.B. Xden
[322]XXII. Hauptſtuͤck. Das Allgemeine ꝛc.
den ſolle, und daß dadurch, wo es gelingt, viele
Verwirrungen, Unvollſtaͤndigkeiten und Weitlaͤuf-
tigkeiten vermieden und erſpahret werden.


§. 698.


Es iſt unnoͤthig uns bey allgemeinen Betrachtun-
gen uͤber die Groͤße uͤberhaupt hier laͤnger aufzuhal-
ten, ſondern die oben (§. 686. ſeqq.) angegebenen
Abſichten erfordern, daß wir die daſelbſt angezeigten
Haupttheile und Grundbegriffe, ſowohl des Organi
quantorum,
als der Matheſis vniuerſalis der Ord-
nung nach durchgehen. Dieſes kann nun ohne eine
ziemliche Kenntniß der Arithmetic, Algeber, Analyſe
und Geometrie voraus zu ſetzen, nicht wohl geſche-
hen. Wir ſetzen demnach dieſe Kenntniß um deſto
mehr voraus, weil ſie ſchon haͤufig abgehandelt ſind,
und weil wir daher ihren Vortrag hier nicht beſon-
ders vornehmen, ſondern auf das bedacht ſeyn wer-
den, was zu ihrer Erweiterung dienet, und was ein
Philoſoph daruͤber anzumerken, und daraus auf all-
gemeine und brauchbare Begriffe zu bringen, finden
kann. Man wird aus den angefuͤhrten §. 686. ſeqq.
leicht voraus ſehen, daß philoſophiſche Betrachtun-
gen von der Art, wie wir ſie hier anzuſtellen haben,
ganz anders beſchaffen ſind, als die, ſo man gemei-
niglich in den Metaphyſiken uͤber die Groͤße und ihre
Beſchaffenheit angeſtellet findet.



Drey
[323]

Drey und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Die Einheit.


§. 699.


Wir haben nach dem erſt gemeldeten Entwurf bey
der Einheit anzufangen, und da werden wir
anſtatt eine Definition von dieſem Worte zu geben,
vielmehr die verſchiedene Bedeutungen davon auf-
ſuchen. Wir gebrauchen daſſelbe uͤberhaupt, wo
von einem Ganzen die Rede iſt, es mag dieſes nun
an ſich ein Ganzes, oder nur willkuͤhrlich als ein ſol-
ches angenommen ſeyn, oder auch nur als ein Gan-
zes angeſehen werden koͤnnen. So z. E. ſagen wir
ein Haufen, und dadurch verſtehen wir etwas, das
entweder ohne wirkliche Verbindung beyſammen iſt,
oder, wo die Verbindung dabey nicht weſentlich noch
nothwendig iſt, oder wo wir derſelben nicht Rechnung
tragen. Eben ſo ſagen wir z. E. ein Haus, ein Gar-
ten, eine Uhr, ein Menſch ꝛc. und dieſes ſind Ganze,
deren Theile Natur und Kunſt in Verbindung ge-
bracht hat. Ferner, wenn wir das Wort ein mit
Nachdruck ausſprechen, ſo verſtehen wir dadurch ſo
viel als ein einiges, oder nur eines, und zuweilen
ſo viel, als einerley, eben daſſelbe, z. E. es iſt
ein Haus, ungeachtet es den Schein von zweyen hat.
Das iſt mir ein Ding, will ſagen, es gilt mir gleich
viel. Es iſt einer da, will ſagen, nicht mehrere.


§. 700.


Jnsbeſondere aber iſt ein der Anfang, den wir
bey dem machen, was ſich zaͤhlen laͤßt, und die Wie-
derholung dieſes eins, oder die Aufhaͤufung ſolcher
X 2Ein-
[324]XXIII. Hauptſtuͤck.
Einheiten machet der Ordnung nach, die Zahlen
2, 3, 4, 5, 6, 7, ꝛc. aus, welche, weil ſie aus lau-
ter ganzen Einheiten beſtehen, ganze Zahlen genen-
net werden. Die Einheiten oder Ganzen, die wir
auf dieſe Art zuſammen zaͤhlen, ſind nun gewoͤhnlich
ſolche, die wir wenigſtens in gewiſſen Abſichten in
eine Claſſe rechnen, ſie moͤgen nun an ſich von einer-
ley Art und Groͤße ſeyn oder nicht. Der Unterſchied
iſt nur, wie wir es bereits oben (§. 149. 434.) ange-
merket haben, daß es in dem letztern Falle gemeini-
glich bey dem Zaͤhlen ſein Bewenden hat, da hinge-
gen, wenn die Einheiten von gleicher Art und Groͤße
ſind, mehrere Rechnungen damit vorgenommen wer-
den koͤnnen.


§. 701.


Wir werden nun hier beſonders den letztern von
dieſen beyden Faͤllen betrachten, wo naͤmlich die Din-
ge, die man als Einheiten zu der Rechnung nimmt,
von einerley Art und Groͤße ſind. Dabey koͤmmt es
nun viel auf eine ſchickliche Auswahl an, und wir
haben uͤberhaupt zu ſehen, wie fern etwas Willkuͤhr-
liches dabey iſt. Zu dieſem Ende merken wir an,
daß die Einheiten, die man zu einer Rechnung
annimmt, dasjenige ſind, welches uͤberhaupt
die ganze Rechnung und die Bedeutung jeder
darinn vorkommenden Groͤßen und Zahlen ver-
ſtaͤndlich und begreiflich machen ſolle, und
demnach das, was die Einheiten vorſtellen, ſo
viel moͤglich iſt, fuͤr ſich das verſtaͤndlichſte
und begreiflichſte ſeyn muͤſſe.
Dieſes wuͤrde nun
wohl nicht ſo unbedingt angehen, wenn alle Groͤßen
von derjenigen Art waͤren, daß ſie, ohne unmittel-
bar vorgezeiget und empfunden zu werden, nicht be-
griffen
[325]Die Einheit.
griffen werden koͤnnten, wie es die Wolfianiſche
Weltweisheit angiebt, welche von jeder Groͤße den
Satz behauptet: Quantitas dari ſed non per ſe intel-
ligi poteſt.
Dieſer Satz iſt aber nur in denen Faͤllen
wahr, aus welchen man ihn abſtrahirt hatte. Denn
ſo koͤnnen allerdings die Theile des Raumes, der Zeit,
der Kraͤfte ꝛc. von 0 an bis ſo weit man will groͤßer
oder kleiner angenommen werden, und welchen man
immer annimmt, ſo iſt er nicht verſtaͤndlicher, als
jeder andere, wenn man ihn fuͤr ſich und ohne einige
Verhaͤltniß zu andern Dingen betrachtet, die in der
Welt eine determinirte Groͤße haben. Jn Anſehung
ſolcher Faͤlle haben wir im vorhergehenden den Aus-
druck gebraucht, daß ſie keine beſtimmte Einheit
haben, und dieſes will nun vermoͤge der erſt gemach-
ten Anmerkung ſo viel ſagen, daß, welche Theile
man immer annimmt, nach demſelben zwar die uͤbri-
gen proportionirt werden koͤnnen, daß aber keiner vor
dem andern voraus etwas kenntlicheres an ſich habe.


§. 702.


Dieſes ſind aber noch lange nicht alle Faͤlle, wo
von Groͤßen und Einheiten die Rede vorkommen
kann, ſondern es giebt deren eine Menge, wo es
Theile giebt, die eine fuͤr ſich kenntliche Groͤße haben,
und die eben dadurch am ſchicklichſten durch Einheiten
vorgeſtellet werden koͤnnen. So z. E. wenn man
eine Linie von beliebiger Laͤnge auf einer Flaͤche um
einen Punct herum drehet, ſo wird ſich allerdings
ohne Muͤhe zaͤhlen laſſen, wie vielmal man ſie herum-
drehet, und jedesmal, wenn ſie wiederum zu der Lage
koͤmmt, bey welcher man angefangen, wird man eine
Einheit mehr haben, die von gleicher Art und Groͤße,
und ohne alle Widerrede fuͤr ſich verſtaͤndlich iſt.
X 3Man
[326]XXIII. Hauptſtuͤck.
Man weiß, daß hierauf das Maaß der Winkel be-
ruht, denen man wenigſtens deswegen, weil ſie groͤ-
ßer oder kleiner ſeyn koͤnnen, eine Groͤße zueignen
kann. Ob ſich nun dieſe Groͤße in jedem Falle ver-
ſtaͤndlich angeben laſſe, ohne daß man eben den Win-
kel gezeichnet vorlegen muͤſſe, daran hat noch niemand
gezweifelt. Man iſt gewoͤhnt, die erſt bemeldete Ein-
heit, oder die Summe aller Winkel, die um einen
Punct herum liegen, und mit dieſen den Umkreis
des Cirkels, deſſen Bogen man zum Maaße der
Winkel machet, in 360 Theile oder Grade zu theilen,
und auf dieſe Art kleinere Einheiten anzunehmen,
damit man nicht immer mit Bruͤchen zu rechnen
habe. Dieſe kleinere Einheiten werden aber immer
auf die erſtere bezogen, weil dieſe am leichteſten und
ſchlechthin verſtaͤndlich iſt. Dieſe Einheit iſt nun
ferner von der Art, daß ſie nicht nur ſo vielmal ge-
nommen werden kann, als man will, ſondern ſie laͤßt
ſich auch in jede beliebige Anzahl von kleinern Thei-
len eintheilen, und dienet demnach als ein fuͤr ſich
verſtaͤndliches Maaß von einer Groͤße, die von 0 bis
ins Unendliche geht.


§. 703.


Wir machen dieſe letztere Anmerkung deswegen,
weil es noch andere Arten von Einheiten giebt, die
entweder das Kleinſte oder das Groͤßte von derjenigen
Groͤße ſind, bey welchen ſie vorkommen. Von der
letztern Art iſt alles oder das meiſte von dem, was
wir rein nennen. Denn ſo z. E. gedenken wir rei-
nes Waſſer
zum Unterſchied deſſen, was mit irdi-
ſchen, ſalzichten und andern Theilchen vermiſchet iſt.
Wir ſehen dabey den Grad der abſoluten Reinheit,
als eine abſolute Einheit an, welche nicht groͤßer
werden,
[327]Die Einheit.
werden, dagegen aber Bruͤche haben kann. Auf eine
aͤhnliche Art nennen wir in der Photometrie einen
Koͤrper abſolute weis, wenn derſelbe alles Licht zu-
ruͤcke wirft, welches auf ſeine Flaͤche auffaͤllt, und
die geringere Grade ſind Bruͤche, welche ſich auf dieſe
an ſich abſolute Einheit beziehen. Eben ſo nennen
wir einen Koͤrper abſolute durchſichtig, wenn von
allen durch denſelben gehenden Lichtſtralen keiner auf-
gefangen noch zerſtreuet wird. Die geringere Grade
der Durchſichtigkeit ſind ebenfalls Bruͤche von dieſer
an ſich abſoluten Einheit. Auf eine aͤhnliche Art
wird das Wahre und die voͤllige Gewißheit als
eine Einheit angeſehen, wovon die Grade der Wahr-
ſcheinlichkeit Bruͤche ſind. Man wird oben in dem
§. 419. ſeqq. ebenfalls finden, daß die geringere Gra-
de der Elaſticitaͤt Bruͤche ſind, die ſich auf die voͤl-
lige Elaſticitaͤt
beziehen, welche dabey ſchlechthin
als eine Einheit vorkoͤmmt, die nur Bruͤche admit-
tirt, und fuͤr ſich verſtaͤndlich erklaͤret werden kann.
Man wird aus dieſen Beyſpielen leicht abnehmen koͤn-
nen, daß es ſolcher Einheiten eine Menge giebt.


§. 704.


Hingegen laſſen ſich auch Einheiten gedenken, die
keine Bruͤche admittiren, dagegen aber groͤßer werden.
So z. E. iſt die Schwere des reinen Waſſers am
geringſten, und nimmt zu, wenn man Salze in dem-
ſelben aufloͤſet. Auf eine aͤhnliche Art faͤngt die Di-
latation der Koͤrper durch die Waͤrme bey dem Grade
der abſoluten Kaͤlte an, und das Volumen derſelben
waͤchſt mit der Erwaͤrmung. Es findet ſich aber in
ſolchen Faͤllen bey dem kleineſten Grade immer auch
ein groͤßter. Denn ſo z. E. kann das Waſſer nur
bis zur Saturation mit aufgeloͤſtem Salze angefuͤllet
X 4ſeyn,
[328]XXIII. Hauptſtuͤck.
ſeyn, und die Ausdehnung der Koͤrper durch die Waͤr-
me geht ebenfalls nur bis die Kraͤfte, welche ihre
Theilchen beyſammen hielten uͤberwogen werden, wo-
bey dann der Koͤrper in Duͤnſte aufgeloͤſet, oder cal-
cinirt wird ꝛc.


§. 705.


Außer dieſen Arten von Einheiten giebt es noch
eine gute Menge von ſolchen, die ſchlechthin abſolut
ſind, und weder Bruͤche admittiren noch intenſiue
groͤßer werden koͤnnen. So z. E. iſt nicht eines exi-
ſtirender als das andere, und eine Wahrheit iſt we-
der mehr noch minder als wahr. Was gleich iſt,
iſt ebenfalls weder mehr noch minder als gleich, und
die Moͤglichkeit hat ebenfalls etwas abſolutes. Die
Schullehrer haben ſolche abſolute Einheiten in ihren
Metaphyſiken bereits ſchon angemerket, und bey den
Begriffen, die ſie betrachtet haben, angezeiget, ob
ſie das magis und minus zulaſſen oder nicht? Es iſt
aber dabey nicht immer alles weder deutlich noch rich-
tig aus einander geleſen.


§. 706.


Fraget man nun, wo dieſe verſchiedene Arten von
Einheiten vorkommen, und woran ſie ſich in jeden
beſondern Faͤllen erkennen laſſen, ſo muß mehrentheils
eine genauere Betrachtung der Sache ſelbſt, und zu-
weilen auch wirkliche Verſuche die Sache entſcheiden.
Wir koͤnnen hieruͤber ſo viel anmerken, daß an ſich
betrachtet eine Groͤße entweder ſchlechthin eine abſo-
lute und unveraͤnderliche Einheit ſeyn ſoll, oder wenn
ſie veraͤnderlich iſt, ſo koͤnnen ihre Veraͤnderungen
von 0 bis ins Unendliche gehen, dafern nicht noch ein
oder mehrere Gruͤnde hinzukommen, welche dieſen
Veraͤnderungen Schranken ſetzen, die ſie nicht uͤber-
ſchreiten
[329]Die Einheit.
ſchreiten kann. Denn die einfachen Moͤglichkeiten
ſind an ſich unbedingt. Man kann hieraus auch um-
gekehrt den Schluß machen, daß, wo eine Groͤße
nur zwiſchen beſtimmten Schranken veraͤnderlich iſt,
dabey allemal mehrere einander einſchraͤnkende Moͤg-
lichkeiten und Bedingungen zuſammen treffen. Zu-
weilen beziehen ſich ſolche Groͤßen auf eine willkuͤhr-
lich angenommene Einheit. Denn ſo z. E. wird ein
Koͤrper abſolute weiß genennet, wenn derſelbe alles
auffallende Licht zuruͤck wirft, und er iſt in einem ge-
ringern Grade weiß, wenn er nicht alles zuruͤcke wirft.
Da er nun nicht mehr alles, was auffaͤllt, zuruͤcke
werfen, hingegen mehr oder minder davon abſorbiren
kann, ſo druͤckt die Verhaͤltniß zwiſchen dem auffal-
lenden und zuruͤck geworfenen Lichte den Grad der
Weiße des Koͤrpers aus. Und dabey bleibt die ab-
ſolute Quantitaͤt des auffallenden Lichtes unbeſtimmt.


§. 707.


Solche Einſchraͤnkungen und Bedingungen finden
ſich mehrentheils ſchon in der Sache und in dem Be-
griffe den man ſich davon machet, und da muͤſſen ſie
auch eigentlich aufgeſuchet werden, wenn ſie nicht aus-
druͤcklich angegeben ſind. So z. E. kann eine Linie
an ſich betrachtet von jeder beliebigen Laͤnge ſeyn.
Da man ſich aber z. E. jeden Cirkel von einer be-
ſtimmten Groͤße vorſtellet, ſo dehnet ſich dieſe Be-
ſtimmung an ſich ſchon auf die Chorden aus, die man
in demſelben ziehen kann, und iſt der Cirkel gezeich-
net, ſo hat man nicht mehr die Wahl, in demſelben
Chorden von jeder beliebigen Laͤnge anzunehmen.
Dieſe Einſchraͤnkung liegt nun an ſich ſchon in dem
Begriffe einer Chorde, weil man dieſen Namen den-
jenigen Linien giebt, die von einem Puncte des Um-
X 5kreiſes
[330]XXIII. Hauptſtuͤck.
kreiſes zum andern gehen, und daher ſich weder außer
den Cirkel ausdehnen, noch innert demſelben zuruͤcke
bleiben. Da in der wirklichen Welt ohnehin alles
beſtimmt iſt, ſo kann man leicht gedenken, daß
darinn ſowohl beſtaͤndige, als zwiſchen beſtimmten
Schranken veraͤnderliche Groͤßen in Menge vorkom-
men. Der Beharrungsſtand erfordert ſolche ſchlecht-
hin, und machet es gewiſſermaßen zum allgemein-
ſten Geſetze der Natur, daß jede Urſache, die an-
faͤngt ſich aufzuhaͤufen, in ſolchen Umſtaͤnden wir-
ke, die ſie nicht zu groß werden laſſen, und daß ſie
gleichſam den Saamen zu ihrer Deſtruction ſchon in
ſich habe. Und dieſes giebt oͤfters bey der Theorie
und Berechnung der veraͤnderlichen Groͤßen in der
Natur an ſich ſchon eine Gleichung an, wodurch folg-
lich andere Data erſpahret, oder vermittelſt dieſer Glei-
chung gefunden werden koͤnnen.


§. 708.


Bey dem Aufſuchen der Einheiten koͤmmt die Fra-
ge uͤberhaupt darauf an, daß man ſehe, 1°. was in
der Sache, und in welchen Abſichten daſſelbe
groͤßer und kleiner werden kann; 2°. was es
ohne Ruͤckſicht auf das andere werden kann;
3°. welche Stufe der Groͤße dabey etwas vor
den andern aus kenntliches hat?
Denn die Fra-
ge: wie man die Groͤße einer Sache finden,
berechnen, und ihre Ausmeſſung auf Regeln
bringen ſoll,
hat oͤfters viel verwirrtes, und das
ſchlechthin Symboliſche iſt mit dem Gedenkbaren dar-
inn durchmenget. Wir werden dieſes ſtuͤckweiſe aus
einander zu ſetzen ſuchen, um zu finden, was man
eigentlich ſuchet, wenn man Groͤßen zu beſtimmen
und auszumeſſen ſuchet oder vorgiebt.


§. 709.
[331]Die Einheit.

§. 709.


Der erſte Fehler, den man dabey begehen kann,
iſt, wenn man die Beſtimmungen verwechſelt, nach
welchen eine Sache groͤßer oder kleiner ſeyn kann.
Der Begriff der Exiſtenz mag uns hier zum Bey-
ſpiele dienen. Man fraget, ob ſie Grade habe?
Hiebey iſt nun unſtreitig, daß man ſagen kann, eine
Sache koͤnne laͤnger oder kuͤrzer exiſtiren, und die-
ſes iſt in Abſicht auf die Dauer; ſie koͤnne mit groͤ-
ßern
oder kleinern Kraͤften zu denken, zu wollen,
zu wirken, exiſtiren, und dieſes iſt in Abſicht auf
die Kraft; ſie koͤnne mit mehrern Theilen, Ver-
bindungen
und Verhaͤltniſſen exiſtiren, und dieſes
geht darauf, ob ſie mehrere Theile habe, zuſam-
mengeſetzter, feſter verbunden, in mehrern Verhaͤlt-
niſſen ſey ꝛc. Dieſes alles aber will nur ſagen, daß
an und mit der Sache mehr oder minder zugleich mit
exiſtirt, aber weder die Sache, noch was aus derſel-
ben iſt ꝛc. von allem dieſem iſt keines exiſtirender als
das andere, oder eines exiſtirt weder mehr noch min-
der als das andere, ſo lange es exiſtirt. Die in dem
§. 685. und 697. angefuͤhrten Beyſpiele von der Moͤg-
lichkeit, Zufaͤlligkeit, Gleichheit
und Bewegung
gehoͤren ebenfalls mit hieher. Die Redensarten:
es iſt mehr Bewegung da, und: es iſt eine groͤ-
ßere Bewegung da,
oder, die Bewegung iſt
groͤßer,
ſind allerdings von einander verſchieden,
wenn man durch die beyden letztere Ausdruͤcke nicht
eine Art von Tumult, ſondern die in der Mechanic
vorkommende Quantitas motus verſtehen will, wel-
che aus dem Producte der Maſſe in die Geſchwin-
digkeit erwaͤchſt, und bey jeder einzeln Bewegung
fuͤr ſich betrachtet wird.


§. 710.
[332]XXIII. Hauptſtuͤck.

§. 710.


Der andere Fehler, wenn man auf das Ganze aus-
dehnet, was nur in einzeln Theilen iſt, haben wir
bereits oben (§. 458.) betrachtet, wo wir zeigten, wie
der Philoſoph ſich, eben ſo, wie der Mathematiker,
um die Gleichartigkeit umſehen muͤſſe, wenn er Ver-
wirrung vermeiden und ſich verſichern will, daß das
Praͤdicat ſich gleichfoͤrmig uͤber das ganze Subject
ausbreite. So z. E. iſt es ſehr gewoͤhnlich, daß
man eine Sache ganz vollkommen nennet, ungeachtet
ſie naͤher betrachtet nur in einzeln Theilen eine Art
von Vollkommenheit hat, und wenn in mehrern Thei-
len, in jedem beſonders, einige Vollkommenheit iſt,
ſo verlanget man etwann auch die Summe zu wiſſen,
welche aber, wenn die Theile und Vollkommenheiten
ungleichartig ſind, ſchlechthin nur durch das Vorzaͤh-
len angegeben werden kann, weil ſie ſich nicht immer
auf einen gleichen Maaßſtab bringen laſſen, (§. 434.).


§. 711.


Der dritte Fehler koͤmmt vor, wenn man zuſam-
menrechnen will, was an ſich kein Ganzes machet,
oder wenn es auch als ein ſolches angeſehen werden
koͤnnte, zu nichts dienet. Man muß naͤmlich ver-
nuͤnftiger Weiſe eine Abſicht haben, wozu das Zu-
ſammenrechnen dienen ſoll, und das, was man Zu-
ſammenrechnen will, muß entweder gleichartig ſeyn,
oder wenigſtens in eine Claſſe genommen werden koͤn-
nen. So z. E. addirt man nicht Linien und Flaͤchen,
Raum und Zeit. So wuͤrde es ebenfalls eine leere
Curioſitaͤt ſeyn, wenn man z. E. finden wollte, wie
viel Raum alle Planeten zuſammengenommen in ei-
ner Stunde durchlaufen, weil dieſe Summe zu nichts
weiter dienet, und hoͤchſtens nur alsdenn dienen kann,
wenn
[333]Die Einheit.
wenn man noch andere Data mitnimmt, welche das
Planetenſyſtem und ſeine Verbindung naͤher angehen.
Das erſt vorhin (§. 710.) von der Vollkommenheit
angemerkte, gehoͤret ebenfalls mit hieher. Man
ſetze z. E. ein Menſch ſey ſcharfſinnig und maͤßig.
Dieſes ſind zwo einzelne Vollkommenheiten, die aber
weder ein Ganzes ausmachen, noch in eine Summe
gebracht werden koͤnnen, wenn man ſie nicht in ge-
wiſſen beyden gemeinſamen Abſichten betrachtet, um
einen gleichen Maaßſtab zu haben.


§. 712.


Der vierte Fehler, wenn man die Extenſa mit den
Intenſis vermenget und verwechſelt. Wir koͤnnen zu
den oben (§. 697.) angefuͤhrten Beyſpielen, noch
einige herſetzen. Ordo minimus eſt minima in con-
iunctione identitas,
und: Identitas minima eſt, ſi
unica minima determinatio ſit pauciſſimis minimis
communis.
Hier muß anſtatt pauciſſimis das Wort
duobus geſetzt werden. Und deſſen unerachtet wird
die Jdentitaͤt dadurch nicht intenſiue, ſondern exten-
ſiue
kleiner, weil ſie ſchlechthin keine Grade der Jn-
tenſitaͤt hat. Bey der Ordnung laſſen ſich mehrere
Dimenſionen gedenken. Sie kann aus mehrern
Reihen, jede Reihe aus mehrern Gliedern beſtehen,
und beydes machet ſie extenſiue groͤßer. Ferner koͤn-
nen die Glieder der einen Reihe mit den Gliedern der
andern der Ordnung nach verbunden ſeyn, dieſes
machet aus einer bloßen Summe von einfachen Ord-
nungen eine zuſammengeſetzte, und ein Product aus
denſelben. Sodann kann in jeder Reihe die Verbin-
dung, die von Glied zu Glied geht, nach mehrern
Beſtimmungen fortgehen, oder eine mannichfaltigere
Verbindung ſeyn, und dieſes machet die Ordnung in
jeder
[334]XXIII. Hauptſtuͤck.
jeder Reihe zuſammengeſetzter. So lange nun hie-
bey die Verbindung bey jeden Gliedern eben dieſelbe
iſt, ſo ſaget man, ſie ſey bey jedem Gliede vielfa-
cher,
und dehne ſich auf mehrere Glieder aus.
Beydes iſt extenſiue. Sodann iſt der Ausdruck,
daß die Anzahl der Glieder die Ordnung groͤ-
ßer mache,
etwas uneigentlich, weil die Groͤße der
Ordnung vielmehr nach der Anzahl der Regeln ge-
ſchaͤtzt wird, nach welchen eine und eben dieſelbe Sa-
che geordnet iſt, und dieſe Groͤße nennet man die
Mannichfaltigkeit, (§. 341.). Was man anordnet,
iſt außer einander, ungeachtet die angeordneten Theile
in dem Ganzen ſind, welches in Ordnung gebracht
wird. Dieſes außer einander ſeyn machet aber, daß
dabey in Abſicht auf die Ordnung nichts intenſives
vorkoͤmmt, ungeachtet es in andern Abſichten dabey
vorkommen kann. Z. E. die Ordnung kann unzer-
trennlicher, die Theile feſter verbunden ꝛc. ſeyn.


§. 713.


Durch die Anzeige der erſt beruͤhrten Fehler, wel-
che ſich oͤfters beyſammen finden, ſieht man, was
man zu vermeiden hat, wenn man eine mathemati-
ſche Theorie einer Sache ausfuͤndig machen will.
Wir gaben dadurch auf eine verneinende Art zu er-
kennen, was man dabey zu thun habe. Ungeachtet
dieſes nun auch directe angezeiget werden kann, ſo
konnten wir deſto ehender bey der Betrachtung der
Fehler anfangen, weil man bey Aufſuchung ſolcher
Theorien gemeiniglich zuerſt fehlet. Die mathema-
tiſche Erkenntniß fordert eine ſolche deutliche und ge-
naue Entwickelung der Sache, daß man ſelten alles
gleich anfangs trifft, und ihre Redensarten und Be-
griffe ſind ſo beſtimmt in ihrer Bedeutung, daß man
ſie
[335]Die Einheit.
ſie nicht mit den gemeinen zu verwechſeln hat, ſon-
dern ſich dieſelben genau bekannt machen muß, um
ſie, beſonders bey Erfindung neuer Theorien, richtig
anwenden zu koͤnnen. Wir wollen, um dieſes noch
mehr aufzuklaͤren, noch einige Betrachtungen beyfuͤ-
gen, um die Quellen ſolcher Fehltritte kenntlicher zu
machen.


§. 714.


Einmal druͤcket die Sprache bald alles, was auch
im weitlaͤuftigſten Verſtande mehr oder minder ſeyn,
oder genennet werden kann, durch ihre Comparatiuos
aus, und nimmt das Wort groͤßer und kleiner in
einem eben ſo ausgedehnten Verſtande. Dadurch
wird man nun ohnehin ſchon leicht verleitet, in dem,
was ſolche Comparatiui anzeigen, ganz einfache Di-
menſionen aufzuſuchen, und die Grade gleichfoͤrmig
uͤber die ganze Sache auszudehnen. Sieht man aber
genauer nach, ſo werden dadurch nicht ſelten Dinge
zuſammen addirt und ſubtrahirt, die nicht mehr
Gleichartigkeit unter ſich haben, als z. E. ein Cubic-
fuß Raum und ein Jahr Zeit. Wir haben dieſes
Beyſpiel in dem §. 434. angefuͤhret, um daſelbſt den
Begriff einer Art von Rechenkunſt zu erlaͤutern, wel-
che ſchlechthin ſich nicht weiter als auf das bloße Nu-
meriren auszudehnen ſcheint, wie z. E. wenn man
jemand der Laͤnge nach vorzaͤhlet, was man unter
einem Haufen Hausgeraͤthes gefunden. Jndeſſen
kann man auf gut metaphyſiſch ſagen, dieſer Haufe
Hausgeraͤthes ſey deſto groͤßer, je mehr und je groͤ-
ßere
Stuͤcke denſelben ausmachen, und dabey bliebe
nun unbeſtimmt, in welcher Abſicht das Wort Groͤße
genommen wird. Ein Mathematiker aber iſt dar-
auf bedacht, daß er bey ſeinen Groͤßen koͤnne Sum-
men, Differenzen, Producte ꝛc. finden. Und ſo
wuͤrde
[336]XXIII. Hauptſtuͤck.
wuͤrde man hiebey darauf ſehen muͤſſen, ob man die
Groͤße des Raumes, oder die Groͤße des Werthes ꝛc.
verſtehe. Dadurch aber kaͤme anſtatt zwoer Dimenſio-
nen, die der Metaphyſiker angiebt, nur eine heraus,
welche naͤmlich die bloße Summe aller einzeln Raͤume
oder Preiße anzeiget. Es iſt gar nicht zu zweifeln, daß
man in der Metaphyſic die Groͤße der Vollkom-
menheit
auf eine ſolche Art zu berechnen vorgiebt,
wenn man ſaget, ſie ſey deſto groͤßer, je mehrere
und je groͤßere Dinge, in je groͤßeren Stuͤcken,
je mehrfach und je mehr ſie uͤbereinſtimmen.

(Baumgarten Metaph. §. 185.). Dieß ſind fuͤnf
Dimenſionen, ſtatt deren man oͤfters kaum eine her-
ausbringt. Denn bey dem, was man vollkommen
nennet, muͤſſen die Theile ſchlechthin ſo zuſammen
gerichtet ſeyn, daß ein Maximum in einer oder auch
in mehrern Abſichten herauskomme. Z. E. bey dem
Menſchen muͤſſen die Kraͤfte des Verſtandes, des
Willens und des Leibes ſo in Fertigkeiten verwandelt,
zuſammen gerichtet, und mit ſeinen aͤußern Umſtaͤn-
den proportionirt werden, daß die Summe des Gu-
ten, was er Zeit Lebens thun kann, die groͤßte ſey,
und bey dieſer Berechnung koͤmmt es darauf an,
daß man das Gute auf einerley Maaßſtab bringe,
welches allerdings nicht ſo leicht iſt. Die Summe
des Guten, ſo von ganzen Societaͤten kann gewirket
werden, iſt allerdings noch ungleich zuſammen-
geſetzter.


§. 715.


Sodann giebt die Sprache in Menge Woͤrter M
von der Art an (§. 453.), daß M = A : B =
(mb + nβ) : (b + β)
ſeyn muͤßte, und da wird
man wiederum leichte verleitet, die Groͤße von M
gerade hin nach der Groͤße von A, und umgekehrt
nach
[337]Die Einheit.
nach der Groͤße von B zu ſchaͤtzen, ungeachtet meh-
rentheils die Theile b, β und Beſtimmungen m, n
ſo ungleichartig ſind, daß ſie entweder gar nicht oder
nur in gewiſſen Abſichten auf einerley Maaßſtab ge-
bracht werden koͤnnen. Man ſehe, was wir in dem
§. 454. hieruͤber angemerket haben. Wir haben die
beyden erſt gemachten Betrachtungen vornehmlich
deswegen angefuͤhret, um zu zeigen, daß die Spra-
che uns, wie in vielen andern Stuͤcken, ſo auch hier-
inn, ſolche Moͤglichkeiten anbeut, die anfangs einen
Schein der Realitaͤt haben, genauer betrachtet, aber
ſchlechthin ſymboliſch ſind. So wird man nach dem
§. 369. die Bedingungen, die man vorausſetzet, um
das Geſetz der Reflexion aus dem kuͤrzeſten Wege
oder aus der kuͤrzeſten Zeit zu finden, fuͤr nicht viel
beſſer anſehen koͤnnen, bis ſie vorerſt erwieſen ſind.


§. 716.


Wir werden nun zu den in dem §. 708. angegebe-
nen Fragen zuruͤcke kehren, um ſie auch directe zu
betrachten. Sie ſetzen ſaͤmmtlich voraus, daß man
alles, was in der Sache, davon man die Groͤße und
Grade auszumeſſen ſuchet, verſchiedenes ſeyn kann,
genau aus einander leſe. Dieſes ſind nun entweder
Theile oder Beſtimmungen, die den Theilen anhaͤn-
gig ſind. Jn Anſehung der Theile hat man nun be-
ſonders auf ihre Gleichartigkeit, und in Anſehung
der Beſtimmungen darauf zu ſehen, ob ſie allen oder
nur einigen Theilen anhaͤngig ſind. Denn das letz-
tere wuͤrde an ſich ſchon die Theile ungleichartig ma-
chen, und dadurch verurſachen, daß ſie entweder gar
nicht, oder nur in gewiſſen Abſichten auf einerley
Maaßſtab gebracht werden koͤnnten.


Lamb. Archit.II.B. Y§. 717.
[338]XXIII. Hauptſtuͤck.

§. 717.


Sodann haben wir anzumerken, daß man ſelten
oder gar nicht eine Sache fuͤr ſich, ſondern in
gewiſſen und einzeln Abſichten auszumeſſen ſuchet,
weil bald jede Sache, außert mehren abſoluten
Einheiten, die ſie hat, und die weiter kein mehr
und minder zulaſſen, auf ſehr vielerley und durch
aus verſchiedene Arten etwas auszumeſſen darbeut,
wie z. E. ein Koͤrper in Abſicht auf den koͤrperli-
chen Raum, in Abſicht auf die Schwere, Gewicht,
Dichtigkeit, Haͤrtigkeit, Elaſticitaͤt, Klang, Farbe,
Helligkeit, Erwaͤrmbarkeit, Dilatation, Cohaͤſion
der Theile, Maſſe ꝛc. Dieſes nimmt man nun
nicht gleich alles zuſammen, ſondern entweder jedes
einzeln, oder wenigſtens nur ſo viel, als zuſammen
genommen fuͤr ſich betrachtet werden kann. Und
erſt, nach dem man die Art, in ſolchen einzeln
Abſichten Ausmeſſungen vorzunehmen, beſtimmet
hat, ſieht man ſich etwann um, wie fern, was
nach der einen Abſicht veraͤndert wird, Veraͤnderun-
gen nach den andern Abſichten nach ſich ziehe, und
dieſes geht ſodann um deſto ehender und leichter
an, weil man jede Veraͤnderung fuͤr ſich durch
Zahl und Maaß beſtimmen, und ſie folglich deſto
leichter und genauer mit einander vergleichen kann.
Da die wiſſenſchaftliche Erkenntniß groͤßtentheils
auf der Theorie von ſolchen Abhaͤnglichkeiten beru-
het (Dianoiolog. §. 605. ſeqq.), und ſelbſt auch
der aͤchte Weg zur Entdeckung der Urſachen dahin
geht (§. 611.), ſo ſieht man uͤberhaupt, daß dieſes
Vornehmen von nicht geringer Erheblichkeit iſt.
Man wird eben dieſes auch aus den in den
§. 452-462. gemachten Anmerkungen erſehen.


§. 718.
[339]Die Einheit.

§. 718.


So viel oder wenig man nun von ſolchen einzeln
Abſichten zuſammen nehmen muß, um die Ausmeſ-
ſungsart zu finden, ſo wird erfordert, daß ſie bey
jeden Theilen der Sache vorkommen, und wo dieſes
nicht iſt, da muͤſſen die Theile, wobey ſie vorkom-
men, beſonders genommen werden, damit man nicht
das Gleichartige mit dem Ungleichartigen vermenge,
(§. 458.). So z. E. haben wir oben (§. 283.) geſe-
hen, daß ſich die Grade der hypothetiſchen Noth-
wendigkeit nach den Kraͤften proportioniren, womit
das gemeinſame Band des Ganzen getrennet oder
uͤberwaͤltiget werden muß, wenn es ſolle anfangen
koͤnnen, anders zu ſeyn, als es iſt. Dabey wird
nun an ſich vorausgeſetzt, das gemeinſame Band er-
ſtrecke ſich gleichfoͤrmig auf jede Theile des Ganzen,
und habe durchaus gleiche Staͤrke. Denn iſt dieſe
in verſchiedenen Theilen verſchieden, ſo koͤmmt eine
ganz andere Berechnung der hypothetiſchen Noth-
wendigkeit des Beharrens heraus, und es laͤßt ſich
dabey ein Groͤßtes, ein Kleinſtes, das Mittel zwi-
ſchen beyden, das Mittel aus allen ꝛc. gedenken.


§. 719.


Es giebt uͤberhaupt verſchiedene Wege, wodurch
wir uns verſichern, daß eine Sache in einer oder
mehrern Abſichten groͤßer oder kleiner ſeyn koͤnne.
Denn 1°. entweder ſehen wir aus der Erfah-
rung, daß es Veraͤnderungen in ihrer Groͤße
giebt; oder 2°. wir koͤnnen uns die Art, wie
die Groͤße veraͤndert, oder die Sache groͤßer
oder kleiner ſeyn kann, klar vorſtellen.
Sollten wir
hiebey die ſchon oͤfters angefuͤhrte Theorie von dem Me-
chanismus
der Fibern des Gehirnes zu Huͤlfe nehmen,
Y 2ſo
[340]XXIII. Hauptſtuͤck.
ſo wuͤrden wir ſagen, daß die Empfindung der ex-
tenſiven Groͤße der Sache, in mehrern Fibern, die
Empfindung der intenſiven Groͤße aber in jeder Fi-
ber einen ſtaͤrkern Eindruck mache, (§. 252. 689. 694.).
Bey wirklichen Empfindungen verhalten ſich die Fi-
bern paſſiue, weil ſie den Eindruck annehmen, und
wir haben ſchlechthin das Bewußtſeyn davon. Hin-
gegen iſt es auch moͤglich, daß wir actiue bey der
Vorſtellung der Sache gleichſam eine Probe machen,
ob die Fibern uns ein Bewußtſeyn von der veraͤnder-
lichen Ausdehnung und Jntenſitaͤt einer Groͤße geben
koͤnnen, oder nicht, das will ſagen, ob dieſe Veraͤnde-
rung und Veraͤnderlichkeit gedenkbar ſey oder nicht?


§. 720.


Hiebey haben wir nun allerdings die Moͤglichkeit
an ſich betrachtet, von der Moͤglichkeit in einem vor-
gegebenen Falle, und beydes von der Wirklichkeit zu
unterſcheiden; und dieſes machet, daß wir die Frage,
ob eine Groͤße in der wirklichen Welt beſtaͤndig oder
veraͤnderlich ſey, nicht ſo unbedingt entſcheiden koͤn-
nen. Jſt die Veraͤnderung an ſich unmoͤglich, wie
bey allen abſoluten Einheiten, ſo iſt die Frage bald
entſchieden. Jſt aber die Veraͤnderung moͤglich, ſo
hat man in Abſicht auf die wirkliche Welt mehr
Gruͤnde zu vermuthen, daß ſie vorgehe, weil die
wirkenden Kraͤfte gar zu ſehr durch einander laufen.
Man ſieht aber leicht ein, daß man nicht wirkliche
Veraͤnderungen ſetzen kann, die einander widerſpre-
chen, und daß folglich hiebey die Frage nicht von
dieſer oder jener Veraͤnderung, ſondern von einer
Veraͤnderung uͤberhaupt betrachtet, ſey, weil jede
Veraͤnderung dem Beſtaͤndigen entgegen geſetzt wer-
den kann. Auf dieſe Art hat man in den neuern
Zeiten
[341]Die Einheit.
Zeiten bey ſorgfaͤltigerer Betrachtung der Dinge in
der Natur Veraͤnderungen wahrgenommen, die man
ſich vorhin nur nicht haͤtte in Sinn kommen laſſen.
Daß ein Pfund Bley unter dem Aequator leichter
ſey, als bey den Polen, und auf den Bergen leichter,
als bey dem Meere, gehoͤret unter die neuern Para-
doxa.
So iſt auch die Veraͤnderung in der Lage der
Fixſterne zu langſam, als daß man ſie viel fruͤher
haͤtte bemerken koͤnnen.


§. 721.


Man hat aber in phyſiſchen Sachen nicht nur
uͤberhaupt aus der Erfahrung zu lernen, daß die
Dinge, die ſich ihrer Groͤße nach veraͤndern und ver-
ſchieden ſeyn koͤnnen, wirklich ſich veraͤndern und ver-
ſchieden ſind, ſondern man muß beſonders auch die
Art und Mannichfaltigkeit, und die Geſetze, die da-
bey vorkommen, unmittelbar aus der Erfahrung ler-
nen, und dieſes wird nothwendig, ſo oft mehr als
eine Art moͤglich iſt. Man ſieht leicht, daß hiebey
eigentlich zween Faͤlle zu unterſcheiden ſind. Denn
es kann ein Indiuiduum fuͤr ſich betrachtet, in ver-
ſchiedenen Abſichten dem Grade nach Veraͤnderungen
leiden. Sodann koͤnnen auch mehrere Indiuidua von
gleicher Art, den Stufen nach, von einander verſchie-
den ſeyn. Man gebraucht nun vornehmlich den er-
ſten Fall, wo man die Geſetze, nach welchen die
Grade zu- und abnehmen, in jeder einzeln Abſicht
fuͤr ſich betrachtet, finden will. Denn da erhaͤlt man
das ceteris paribus (§. 151.) am zuverlaͤßigſten, und
wird dadurch in Stand geſetzet, das, was in jedem
Indiuiduo beſonders iſt, deſto leichter und genauer
zu finden.


Y 3§. 722.
[342]XXIII. Hauptſtuͤck.

§. 722.


Wo es aber nicht um die Jndividualitaͤten der wirk-
lichen Welt, ſondern nur um allgemeine Moͤglich-
keiten zu thun, da reichet man mit der Gedenkbar-
keit
der Groͤßen und ihrer Veraͤnderlichkeiten noch
ziemlicher Maaßen aus. Man muß aber dieſe von
bloß ſymboliſchen Moͤglichkeiten, als welche ſich auf
das Gedenkbare und Widerſprechende faſt ohne Un-
terſchied erſtrecken, genau unterſcheiden. Wir koͤn-
nen ebenfalls hiebey anmerken, daß diejenigen me-
taphyſiſchen Begriffe, welche man durch das Abſtra-
hiren der Aehnlichkeiten mehrerer ſpecialern Begriffe
findet, hiebey nicht viel taugen, und auch nicht die-
jenigen ſind, bey welchen man anfangen muß. Denn
ſo einfach ſie ihren Worterklaͤrungen nach zu ſeyn
ſcheinen, ſo ſind ſie im Grunde betrachtet, und wenn
man alles, was dazu gehoͤret mitnimmt, das Scele-
ton von den darunter gehoͤrenden Indiuiduis, und nicht
minder als dieſe zuſammengeſetzt (§. 517-529.), und
aus dieſem Grunde in unſerer Erkenntniß ſelten voll-
ſtaͤndig, zu geſchweigen, daß ſie oͤfters mit Begrif-
fen durchmenget ſind, dergleichen wir vorhin (§. 715.)
aus dem §. 453. angefuͤhret haben. Man muß bey
dem Einfachſten anfangen, und dieſes giebt ſodann
der Ordnung nach die Arithmetic, Geometrie, Ana-
lyſe, Chronometrie, Phoronomie, Dynamic ꝛc. aus
welchen Wiſſenſchaften ſodann theils beſondere An-
wendungen gemacht, theils das Allgemeine und Me-
taphyſiſche genauer und richtiger abſtrahirt werden
kann.


§. 723.


Das Einfache hat an ſich ſchon das voraus, daß
es fuͤr ſich gedenkbar iſt, und die Moͤglichkeit, groͤ-
ßer oder kleiner zu ſeyn, geht dabey entweder von 0
bis
[343]Die Einheit.
bis ins Unendliche, wie bey der Ausdehnung, der
Dauer, der Kraft, der Bewegung ꝛc. oder es iſt
eine abſolute Einheit, die keine Gradus Intenſitatis
zulaͤßt, ſondern nur extenſiue bey mehrern oder weni-
gern Dingen vorkommen kann, wie z. E. die Exi-
ſtenz, die Wahrheit ꝛc. Den Grund, warum bey
dem Einfachen von dieſen Extremis eines vorkomme,
haben wir bereits (§. 706.) angezeiget, weil naͤmlich,
wenn die Groͤße nur innert gewiſſen Schranken ver-
aͤndert werden kann, allemal etwas zuſammengeſetz-
tes in dem Begriffe iſt, oder einſchraͤnkende Bedin-
gungen dabey vorkommen, (Alethiol. §. 248.). Und
dieſe geben gemeiniglich eine beſtimmte und fuͤr ſich
erkennbare Einheit an, auf welche die uͤbrigen Grade
bezogen werden koͤnnen.


§. 724.


Hingegen, wo jede Stufen der Groͤße an ſich
gleich und uneingeſchraͤnkt moͤglich ſind, da iſt die
Einheit nothwendig unbeſtimmt, und daher kann ſie
von jeder beliebigen Groͤße angenommen werden.
Es iſt dabey alles nur verhaͤltnißweiſe groß oder klein.
Wir haben daher bereits angemerket, daß, wenn
man fuͤr ſolche Faͤlle kenntliche Einheiten haben will,
man ſie in der wirklichen Welt aufſuchen muͤſſe. Die-
ſes ſind aber ſodann nicht ſo feſt Einheiten in der
Sache ſelbſt, als vielmehr Maaßſtaͤbe dazu, der-
gleichen man fuͤr die Zeit, den Raum, die Geſchwin-
digkeit, das Gewicht ꝛc. einige ziemlich genau ge-
funden. Sie haͤngen ſaͤmmtlich von der in dem
702ten §. betrachteten, an ſich kenntlichen Einheit ab.
Denn die gleichfoͤrmige Umwaͤlzung der Erdkugel
giebt uns das Maaß der Zeit, und dieſes vermit-
telſt der Pendul das Maaß der Laͤnge, und dieſe
Y 4vermit-
[344]XXIV. Hauptſtuͤck.
vermittelſt der ſpecifiſchen Schwere der Koͤrper das
Maaß des Gewichtes ꝛc. wiewohl auch hiebey aller-
dings kleine Unrichtigkeiten und Veraͤnderungen vor-
kommen, welche eine geometriſche Schaͤrfe nicht zu-
laſſen, die ohnehin bey phyſiſchen Ausmeſſungen nie-
mals erhalten werden kann.



Vier und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Die Dimenſion.


§. 725.


Nach der Einheit haben wir die Dimenſionen zu
betrachten, als welche in der naͤchſten Verbin-
dung mit derſelben ſtehen, weil jede Dimenſion fuͤr
ſich, und ſo auch mehrere zuſammengenommen, ihre
beſondere Einheiten und Arten derſelben haben. Wir
haben das, was bey den Dimenſionen zum Grunde
liegt, bereits oben (§. 449. ſeqq.) angezeiget, und
dabey angemerket, daß es die einfachen Beſtimmun-
gen ſind, die eine und eben dieſelbe Sache zugleich
hat, und daß, wenn die Sache ein Subſtantiales iſt,
die weſentlichen Accidenzen deſſelben Dimenſionen
abgeben, (§. 636. 637. 642.). Dieſe werden wir
nun hier nicht metaphyſiſch, ſondern von der ma-
thematiſchen Seite betrachten, und auch dadurch
die Verhaͤltniſſe, ſo zwiſchen dieſen Begriffen ſind,
aufzuklaͤren ſuchen.


§. 726.


Das Wort Dimenſion giebt ſeiner buchſtaͤblichen
Bedeutung nach etwas an, nach welchem eine Aus-
meſſung
[345]Die Dimenſion.
meſſung vorgenommen werden, und wobey folglich
die Einheit Bruͤche haben und wiederholet werden
kann. Hiebey haben wir nun den erſten Begriff von
den drey Dimenſionen des Raumes, die in der Geo-
metrie betrachtet werden. Von dieſen gebraucht man
bey der Ausmeſſung der Laͤngen nur eine, bey den
Flaͤchen aber zwo, und bey den koͤrperlichen Raͤumen
alle drey. Man findet naͤmlich, daß ſich eine Linie
nur der Laͤnge nach gerade hin an eine andere anlegen
laͤßt, daß hingegen ein Quadrat, ſowohl der Laͤnge
als der Breite nach an ein anderes gelegt werden
kann, und daß bey dem Cubo nicht nur die Laͤnge
und Breite, ſondern auch die Hoͤhe oder Tiefe vor-
koͤmmt, und daß man auf dieſe Art anlegen muß,
wenn man mit gleichen Quadraten eine Flaͤche bede-
cken, oder mit gleichen Cubis einen Raum dichte ge-
ſchloſſen ausfuͤllen will. Dieſes haͤtte nun, an ſich
betrachtet, nichts zu ſagen, wenn ſich nicht eine leichte
und betraͤchtliche Abkuͤrzung daher leiten ließe, die
Anzahl aller Quadrate oder aller Wuͤrfel zu beſtim-
men, wenn man weiter nichts weiß, als wie viele
der Laͤnge, Breite und Tiefe nach an einander liegen,
wenn mit Quadraten ein viereckichter und mit Cubis
ein wuͤrflichter Raum ganz ausgefuͤllet iſt. Denn ſo
laſſen ſich bey den Cubis Reihen, Schichten und An-
zahl von Schichten gedenken, ſo daß die in einer
Linie liegen, eine Reihe ausmachen, die Reihen, die
in einer Flaͤche neben einander liegen, eine Schichte
abgeben, und die Schichten, die uͤber einander lie-
gen, das ganze Gelage oder den koͤrperlichen Raum
ausmachen. Um nun die Summe von allen zu fin-
den, ſieht man nur, wie viele Cubi der Laͤnge, Breite
und Tiefe nach an einander liegen, und dieſe drey
Zahlen werden mit einander multiplicirt. Dieſes iſt
Y 5nun
[346]XXIV. Hauptſtuͤck.
nun eigentlich die Abkuͤrzung. Denn ohne dieſe
muͤßte man die gelegten Cubos Stuͤck fuͤr Stuͤck ab-
zaͤhlen, und dadurch wuͤrde man ihre Summe oder
Anzahl finden, ohne zu wiſſen, wie dieſelbe entſteht
und anwaͤchſt.


§. 727.


Der Begriff der Dimenſionen gruͤndet ſich dem-
nach hiebey darauf, daß eine Linie nur der Laͤnge nach,
eine Flaͤche der Laͤnge und Breite nach, und ein koͤr-
perlicher Raum der Laͤnge, Breite und Dicke nach
groͤßer wird. Die Einheiten, die man dabey ge-
braucht, ſind von gleicher Art, weil ſich Linien mit
Linien, Flaͤchen mit Flaͤchen, Koͤrper mit Koͤrpern
ausmeſſen laſſen, und daher kommen an dem Cubo,
den man zur Einheit annimmt, die drey Dimenſio-
nen des koͤrperlichen Raumes an ſich ſchon vor.
Wenn man daher ſaget, daß man die Laͤnge mit der
Breite, und das Product mit der Dicke multiplici-
ren muͤſſe, um den Raum eines viereckichten Koͤrpers
zu finden, ſo iſt dieſes nur ein abgekuͤrzter Ausdruck,
weil ſich Linien mit Linien nicht multipliciren laſſen.
Man ſetze z. E. die Laͤnge, Breite, Dicke, ſey 5, 4, 3.
Faͤngt man nun bey der Laͤnge an, ſo verſteht man
es liegen fuͤnf einzelne Cubi nach der Laͤnge, und dieſes
vorausgeſetzt, ſo bedeutet nun das vierte, welches die
Breite vorſtellet, nicht mehr einzelne Cubos, ſon-
dern Reihen von Cubis, ſo daß in jeder Reihe fuͤnf
Cubi ſind. Dieſes giebt demnach eine Schichte von
zwanzig einzeln Cubis, und das dritte, welches die
Dicke ausdruͤcket, bedeutet nunmehr weder einzelne
Cubos, noch einzelne Reihen, ſondern drey ſolcher
Schichten, deren jede zwanzig einzelne Cubos hat.
Man druͤcket demnach ſolche Zahlen fuͤglicher ſo aus:
Es
[347]Die Dimenſion.
Es ſeyn drey Schichten, jede beſtehe aus vier
Reihen, und jede Reihe aus fuͤnf
Cubis. Und
daraus erhellet ſodann ohne Muͤhe, daß man 3, 4, 5
mit einander multipliciren muͤſſe, um die Anzahl von
allen Cubis heraus zu bringen. Bey den Flaͤchen
giebt die Laͤnge einzele Reihen von ſolchen Quadraten,
die zur Einheit angenommen werden, die Breite aber
giebt an, wie viel ſolcher Reihen der Breite nach an
einander liegen. Bey den bloßen Linien oder Laͤngen
hingegen koͤmmt nur eine einfache Reihe von ſolchen
Linien vor, die zur Einheit angenommen werden.


§. 728.


Wir koͤnnen hieraus die Folge ziehen, daß von
Dimenſionen die Rede vorkoͤmmt, wo dasjenige,
was wir uns unter einem Begriffe vorſtellen, in meh-
rern Abſichten oder aus mehrern Gruͤnden, und nach
jedem ohne Ruͤckſicht auf den andern, groͤßer oder
kleiner werden kann. Jndeſſen ſcheint dieſer Begriff
einer Dimenſion darinn zu allgemein zu ſeyn, daß in
der Geometrie jede Dimenſion des Raumes, naͤmlich
die Laͤnge, Breite und Dicke linear, und eben dadurch
gleichartig ſind, ſo daß es einerley iſt, welche man
lang, breit oder dick nennet. Sollen wir dieſe Ein-
ſchraͤnkung beybehalten, ſo wird der Begriff einer
Dimenſion viel beſtimmter. Denn ſo z. E. wenn
man ſaget, die Kraft eines bewegten Koͤrpers ver-
groͤßere ſich nach ſeiner Maſſe und nach dem Quadrate
der Geſchwindigkeit; ſo wird hiebey die Geſchwindig-
keit nach zwoen Dimenſionen, die Maſſe aber nach
einer Dimenſion genommen, und ungeachtet, die
Maſſe mit dem Quadrate der Geſchwindigkeit multi-
plicirt werden muß, und dadurch, den Zahlen nach,
drey Dimenſionen herauskommen, ſo koͤnnte man
doch wegen der Ungleichartigkeit der Sache nicht von
drey
[348]XXIV. Hauptſtuͤck.
drey Dimenſionen reden, wenn das Wort in dem erſt
gemeldeten engern Verſtande genommen werden ſollte.
Man ſieht aber leicht, daß es hiebey auf das Wort nicht
ankoͤmmt, weil die Sache ſelbſt deutlich angegeben
werden kann. Denn wollte man das Wort Dimenſion
nach ſeiner buchſtaͤblichen Bedeutung nehmen, ſo wuͤrde
es nur anzeigen, welche Ausmeſſungen vorgenommen
werden muͤſſen, und ſo haͤtten wir hier nur zwo, naͤm-
lich die Maſſe und die Geſchwindigkeit, und bey die-
ſer wird die Ausmeſſung nur einmal vorgenommen,
weil das Quadrat derſelben, welches man hier ge-
braucht, ohne neue Ausmeſſung daraus gefunden
werden kann. Wir koͤnnen aber uͤberhaupt dabey
bleiben, daß eine Groͤße deſto mehrere Dimenſionen
habe, je mehr einzele Groͤßen, deren jede fuͤr ſich
veraͤnderlich iſt, mit einander multiplicirt werden
muͤſſen. Und dieſes wird die allgemeinſte Bedeu-
tung des Wortes ſeyn. Denn in einem engern Ver-
ſtande werden die Dignitaͤten von ein und eben derſel-
ben Groͤße dadurch verſtanden, und in ſo ferne ſaget
man, daß ſich Groͤßen nicht addiren laſſen, es ſey denn,
daß ſie ſowohl in Abſicht auf die Sache gleichartig,
als in Abſicht auf die Anzahl der Factoren von gleich
vielen Dimenſionen ſeyn. Dieſe letztere Bedingung
machet die Homogeneitaͤt oder Gleichartigkeit abſolut.
Dieſe Vieldeutigkeit des Wortes, die bereits einge-
fuͤhret iſt, kann man nicht wohl aͤndern, und die Be-
deutung, die es jedesmal hat, muß demnach entwe-
der angezeiget, oder aus dem Zuſammenhange der
Rede geſchloſſen werden, welches letztere faſt immer
leicht iſt, wo das Wort als Praͤdicat vorkoͤmmt.


§. 729.


Hier werden wir nun anfangs das Wort Dimen-
ſion in der erſt erwaͤhnten allgemeinern Bedeutung
nehmen,
[349]Die Dimenſion.
nehmen, weil wir die Frage zu unterſuchen haben,
woher eine Groͤße nach mehrern Dimenſionen
zu- und abnehmen kann, und wie ſie nach jeder
derſelben zu- und abnimmt?
Hieruͤber merken
wir an, daß in den meiſten ausmeßbaren Dingen,
und beſonders, wo Kraͤfte mit vorkommen, zwo
Hauptdimenſionen ſind, nach denen die Sache ex-
tenſiue
und intenſiue groͤßer und kleiner werden kann.
Jn phyſiſchen Dingen, wo der Raum mehrentheils
mit in Betrachtung koͤmmt, wird das extenſiue faſt
immer von demſelben hergenommen. So z. E. rich-
tet ſich, bey gleicher Dichtigkeit, die Maſſe nach dem
Raum, und auf eine aͤhnliche Art ſehen wir das Licht
fuͤr groͤßer an, welches einen groͤßern Raum ein-
nimmt, und eben ſo laͤßt ſich auch die Summe der
Waͤrme extenſiue nach dem Raume ſchaͤtzen, durch
welchen ſie verbreitet iſt. Hingegen wird die Jn-
tenſitaͤt nach der Menge der Lichtſtralen, der Waͤrme,
der Materie ꝛc. geſchaͤtzet, die in einem gleichen Rau-
me iſt. Man ſieht hiebey, ohne mein Erinnern, daß
bey ſolchen Berechnungen eine oder zwo, oder alle
drey Dimenſionen des Raumes in Betrachtung kom-
men. So z. E. bey der Dichtigkeit und Waͤrme
nimmt man gewoͤhnlich den koͤrperlichen Raum, hin-
gegen bey Beſtimmung der Jntenſitaͤt des Lichtes,
wird gewoͤhnlich nur der Flaͤchenraum genommen.
Jch ſage gewoͤhnlich. Denn es koͤnnen gar wohl
Faͤlle vorkommen, wo man dieſe Anzahl der Dimen-
ſionen aͤndert.


§. 730.


Wo aber der Raum die Groͤße extenſiue beſtimmt,
da wird die Jntenſitaͤt gewoͤhnlich ſo berechnet, wie
ſie bey gleichem Raume ſtatt findet, und ſie ruͤhret
mehren-
[350]XXIV. Hauptſtuͤck.
mehrentheils von der Aufhaͤufung der Subſtanz, Ma-
terie, Kraft ꝛc. in gleichem Raume her. Dieſes fin-
det in erſt angefuͤhrten Beyſpielen ſtatt. Die Kraͤfte
der Schwere, welche, in dem ſie durch groͤßere Sphaͤ-
ren verbreitet ſind, ſchwaͤcher werden, werden ihrer
Groͤße und Staͤrke nach, ebenfalls ſo beſtimmt.
Denn ſo iſt die Summe von allen Kraͤften der
Schwere auf jeder ſphaͤriſchen Flaͤche, die um die
Sonne beſchrieben werden kann, und mit derſelben
concentriſch iſt, von gleicher Groͤße, demnach in je-
dem Puncte in umgekehrter Verhaͤltniß der Flaͤche
kleiner, wenn die Sphaͤre groͤßer iſt. Bey der Luft,
welche durch das Zuſammendruͤcken elaſtiſcher wird,
bringt man eine gleiche Quantitaͤt von Kraͤften in
einen kleinern Raum, und daher ſind nunmehr in
gleichem Raume mehr Kraͤfte. Dieſes machet ſie
gleichſam dichter, und dadurch die Summe von al-
len ſtaͤrker. Man findet auch, daß die Elaſticitaͤt,
welche allemal dem zuſammendruͤckenden oder auflie-
genden Gewichte gleich iſt, ſich in umgekehrter Ver-
haͤltniß des Raumes verhaͤlt, in welchen eine gleiche
Menge von Luft zuſammengedruͤcket worden. Uebri-
gens wird dadurch die Elaſticitaͤt nicht intenſiue groͤ-
ßer, weil nur eine gleiche Menge von Kraͤften in
einem kleinern Raume iſt. Hingegen iſt es eigent-
lich die Waͤrme, welche die Elaſticitaͤt intenſiue groͤ-
ßer machet, oder dieſe Kraͤfte, jede fuͤr ſich ver-
ſtaͤrket. Und auf dieſen Unterſchied hat man genau
Achtung zu geben, wenn man das Mariottiſche
Geſetz von der Art, wie die Luft in groͤßern Hoͤhen
duͤnner wird, beſtimmen will. Mariotte hatte bey
Vorausſetzung, daß die Waͤrme durch die ganze Hoͤ-
he der Luft gleich ſey, gefunden, daß die Hoͤhe eines
jeden Ortes in Verhaͤltniß des Logarithmus der Ba-
rometer-
[351]Die Dimenſion.
rometerhoͤhe ſey. Die Subtangente dieſer logarith-
miſchen Linie druͤcket den Grad der Elaſticitaͤt der
Luft aus, und iſt beſtaͤndig, wenn die Waͤrme be-
ſtaͤndig iſt. Wird aber die Waͤrme groͤßer, ſo wird
die Elaſticitaͤt ſtaͤrker, und die Subtangente in glei-
cher Verhaͤltniß verlaͤngert. Jſt die Waͤrme in ver-
ſchiedenen Hoͤhen ungleich, ſo iſt auch dieſe Subtan-
gente ungleich, und die krumme Linie mehr oder min-
der von der logarithmiſchen verſchieden ꝛc.


§. 731.


Die Jntenſitaͤt nimmt aber nicht nur mit der Auf-
haͤufung der Subſtanzen, Materien, Kraͤften ꝛc. zu,
ſondern ſie veraͤndert ſich auch nach der Art, wie die
Kraͤfte wirken, und in ſolchen Faͤllen richtet ſie ſich
gewoͤhnlich nach dem Sinu incidentiae, wie wohl ſich
auch in vielen Faͤllen nur die Groͤße darnach richtet.
So z. E. kann man leicht zeigen, daß die Anzahl
oder Menge der Sonnenſtralen, die ſchief auf eine
Flaͤche fallen, in Verhaͤltniß dieſes Sinus zu- und ab-
nimmt, und daher aus dieſem Grunde die Erwaͤr-
mung der Flaͤche geringer wird. Man hat aber auch
ſchließen wollen, die Staͤrke der erwaͤrmenden Kraft
der Sonnenſtralen werde in eben dieſer Verhaͤltniß,
und folglich die ganze Wirkung nach dem Quadrate
dieſes Sinus geringer. Letzteres aber, welches bey
der Theorie des Stoßes groͤßerer Koͤrper ſtatt findet,
geht hier nicht an, weil die Flaͤche in Vergleichung
gegen der Feinheit der Lichtſtrahlen, als ſehr hoͤcke-
richt angeſehen werden muß, und weil auf der Flaͤche
eines Koͤrpers Kraͤfte ſich aͤußern, die das Licht von
ſeinem Wege ableiten, und ganz andere Einfalls-
winkel hervorbringen, und uͤberdieß vielmehr darauf
zu ſehen iſt, wie viel von dem auffallenden Lichte
wirklich
[352]XXIV. Hauptſtuͤck.
wirklich in den Koͤrper hineindringt, ohne, wie es
bey durchſichtigen Koͤrpern geſchieht, gerade durch
zu gehen ꝛc.


§. 732.


Die Jntenſitaͤt vergroͤßert ſich durch eine Aufhaͤu-
fung. Werden nun dadurch die Kraͤfte verſtaͤrket,
ſo kann es gar wohl geſchehen, daß mehr erfordert
wird, noch groͤßere Grade hinzuzuhaͤufen, als davon
wegzunehmen. Wir finden etwas von dieſer Art bey
den lebenden Kraͤften, wenn ſie durch die Geſchwin-
digkeit ſollen verſtaͤrket werden. Denn da muß die
Geſchwindigkeit, wie die Quadrate zunehmen, wenn
die Kraft nur wie die Zahlen oder Wurzeln der Qua-
drate zunehmen ſoll, ſo daß eine 4, 9, 16. ꝛc. mal
groͤßere Geſchwindigkeit nur eine 2, 3, 4, ꝛc. mal groͤ-
ßere Kraft hervorbringt.


§. 733.


Ueberhaupt kommen bey dem Aufſuchen der Di-
menſionen einer Groͤße folgende Faͤlle vor. Einmal,
wenn die Groͤße einer Beſtimmung, Eigenſchaft, Ac-
cidens ꝛc. zu finden, ſo hat man, wenn dieſe Be-
ſtimmung mehrern Theilen gemeinſam iſt, eine ex-
tenſiue
Dimenſion, welche nach der Anzahl der Theile
geht. Sodann kann es auch geſchehen, daß dieſe Be-
ſtimmung, Eigenſchaft, Accidens ꝛc. ſich uns unter
einem einfachen Bilde, als ein ganzes zeiget, unge-
achtet ſie genauer betrachtet aus einfachern zuſammen-
geſetzt gefunden wird, deren jedes fuͤr ſich groͤßer oder
kleiner ſeyn kann, ſo daß wir eigentlich nur die Sum-
me oder das Product von allen empfinden, wie z. E.
bey den Farben, als welche ſelten ſo einfach ſind, wie
die prismatiſchen. Jn ſolchen Faͤllen laͤßt ſich die
zuſammengeſetzte Beſtimmung, Eigenſchaft ꝛc. nicht
immer
[353]Die Dimenſion.
immer durch das Product der Einfachern vorſtellen,
beſonders, wenn dieſes in jeden Theilen verſchieden
iſt. Wir haben bereits oben (§. 96. 375. 419. ſeqq.)
angemerket, daß die Berechnung des Stoßes elaſti-
ſcher Koͤrper, und ſo auch die Berechnung der Ela-
ſticitaͤt ſelbſt auf ſolche Bedingungen geſetzet iſt.
Endlich kann auch die Beſtimmung, Eigenſchaft, Ac-
cidens ꝛc. durch aͤußere und zuſammenwirkende Ur-
ſachen groͤßer oder kleiner werden, und da hat man
ebenfalls darauf zu ſehen, was jede fuͤr ſich, nach
ihren beſondern Modificationen, und in Abſicht auf
die Verbindung mit den uͤbrigen dazu beytraͤgt.


§. 734.


Was man in dieſer letztern Abſicht in der Natur-
lehre gewoͤhnlich thut, koͤmmt darauf an, daß wenn
man findet, eine Beſtimmung, Eigenſchaft ꝛc. ver-
mehre und vermindere ſich immer zugleich mit einer
andern, man nicht nur den Schluß machet, daß ſie
in gemeinſamer Verbindung ſind, ſo daß ſie entwe-
der von einer gemeinſamen Urſache herruͤhren, oder
daß die eine von der andern verurſachet werde; ſon-
dern man ſieht zugleich auch die eine als eine Fun-
ction der andern an, und ſuchet, wie, wenn die Groͤ-
ße der einen gegeben, die Groͤße der andern daraus
koͤnne gefunden werden. Dieſes alles iſt ganz na-
tuͤrlich und ungezwungen. Hingegen biethen ſich uͤber
die Art, wie man es angreift, um ſolche Relationen
zu finden, verſchiedene Anmerkungen an, davon wir
wenigſtens einige hier anfuͤhren, die uͤbrigen aber bis
in die folgenden Hauptſtuͤcke verſchieben muͤſſen.


§. 735.


Man ſuchet naͤmlich dabey ſogleich einfache Ver-
haͤltniſſe, oder man nimmt ſie mehrentheils ohne ge-
Lamb. Archit.II.B. Znauere
[354]XXIV. Hauptſtuͤck.
nauere Unterſuchung gleich anfangs an. Die eine
Groͤße ſey A, die andere B. Nimmt nun A und B
zugleich zu, ſo ſetzet man, daß A in Verhaͤltniß und
zwar in gerader Verhaͤltniß von B ſey. Bemerket
man aber, daß B ſtaͤrker zunimmt als A, ſo ſetzet
man B ſey in Verhaͤltniß von A2, A3, A2:3, An, ꝛc.
Nimmt hingegen B ab, wenn A zunimmt, ſo ver-
faͤllt man ſogleich auf umgekehrte Verhaͤltniſſe, und
ſetzet A ſey umgekehrt, wie B, B2, B3, Bn, ꝛc. oder B
umgekehrt, wie A, A2, A3, An, ꝛc. Solche willkuͤhr-
liche Vorausſetzungen haben nun in einigen Faͤllen
zugetroffen. So z. E. ſind bey der Stralenbrechung
die Sinus der Neigungswinkel in Verhaͤltniß der Sinus
der Refractionswinkel. So iſt bey den im luftleeren
Raume fallenden Koͤrpern der durchlaufene Raum,
wie das Quadrat der Zeit, und in dem Sonnenſy-
ſtem die Attraction oder Schwere umgekehrt, wie
das Quadrat des Abſtandes ꝛc. Es hat aber auch
Faͤlle gegeben, wo ſolche einfache Verhaͤltniſſe nicht
haben angehen wollen. So z. E. fand man bey der
anziehenden Kraft des Magneten, der Electricitaͤt ꝛc.
ſchon mehr Verwirrung, wenn man ſie mit der Di-
ſtanz vergleichen wollte. Bey groͤßern Geſchwindig-
keiten ſteht man noch dermalen an, ob der Widerſtand
der Luft ſich nach dem Quadrate derſelben richte, und
die oben (§. 419. ſeqq.) gemachte Anmerkungen zei-
gen ebenfalls, daß bey dem Stoße elaſtiſcher Koͤrper
mehrere Dimenſionen und Umſtaͤnde mit in die Rech-
nung gezogen werden muͤſſen, wenn man die Formeln
fuͤr jede Koͤrper und Geſchwindigkeiten allgemein ha-
ben will. Jn der Aſtronomie iſt die mittlere Bewe-
gung bald nichts anders, als daß man anfangs alle
Veraͤnderungen am Firmamente den Zeiten propor-
tional ſetzte, und man hat ſie in den aſtronomiſchen
Tafeln
[355]Die Dimenſion.
Tafeln nur deswegen beybehalten, weil man der Ano-
malien auf eine bequeme Art Rechnung tragen konnte.
Daß man aber die Veraͤnderung in der Schiefe der
Eccliptic ebenfalls der Zeit proportional machen, und
dadurch ihre Periode voraus beſtimmen wollte, dazu
hatte man weniger Gruͤnde. Es iſt mit der Veraͤn-
derung der Abweichung der Magnetnadel auf eine
aͤhnliche Art ergangen. Man ſetzte ſie gehe gleich-
foͤrmig von Oſten gegen Weſten, und man wollte
daraus die Zeit beſtimmen, in welcher ſie in dem
ganzen Cirkel herum koͤmmt, ungeachtet die genauere
Vergleichung aller Pariſiſchen Obſervationen angiebt,
daß ſie erſt ſeit ungefaͤhr 1580 anfienge, wiederum
nach Weſten ruͤckwaͤrts zu kehren, und nun dermalen
allem Anſehen nach in wenigen Jahren ihr weſtliches
Maximum erreichen, und ſodann wiederum oſtwaͤrts
zuruͤcke kehren wird. Jch ſage, allem Anſehen
nach,
wenn naͤmlich nicht Urſachen hinzukommen,
die ſich ſeit A°. 1550, das iſt ſeit dem man Obſerva-
tionen hat, nicht geaͤußert haben. Eine Veraͤnde-
rung, die der Zeit nach ein Maximum hat, iſt der
Zeit ſchlechthin nicht proportional, ſondern hat meh-
rere einander einſchraͤnkende Urſachen, die ſie nicht
laſſen groͤßer werden, wenn ſie auch der einen Urſache
nach groͤßer werden koͤnnte.


§. 736.


Jn Abſicht auf ein ſolches Verfahren, iſt nun fuͤr
ſich klar, daß man es eigentlich vornimmt, wo die
wahren Verhaͤltniſſe nicht aus Gruͤnden beſtimmt
werden koͤnnen, und in ſolchen Faͤllen iſt es unter
gewiſſen Bedingungen allerdings zulaͤßig. Es muß
naͤmlich die angenommene Verhaͤltniß von der Er-
fahrung wenigſtens nicht merklich abweichen, und
Z 2man
[356]XXIV. Hauptſtuͤck.
man muß ſie auch ſo unbedingt nicht weiter ausdeh-
nen, als die Erfahrung angeſtellet worden. Denn
da in der Natur der Mannichfaltigkeiten und Abaͤn-
derungen ſo gar viele ſind, ſo kann auch leicht ein
kleiner Umſtand alles aͤndern. Endlich, wenn in der
Sache, wobey man die Verhaͤltniß annimmt, noch
mehr veraͤnderliche Groͤßen mit vorkommen, ſo muß
die angenommene Verhaͤltniß den Geſetzen, nach wel-
chen dieſe ſich veraͤndern, nicht zuwider ſeyn, und be-
ſonders hat man zu ſehen, ob und wie fern dieſe muͤſ-
ſen mit in die Rechnung gezogen werden? Bey allem
dieſem wird ſchlechthin vorausgeſetzt, daß die Erfah-
rungen, nach welchen man eine Formel accommodiren
will, richtig und zuverlaͤßig ſeyn muͤſſen, und hieran
fehlet es oͤfters nicht wenig, beſonders, wo man vor
der genauern Kenntniß der Sache nicht alle Umſtaͤnde
weiß, in welchen die Erfahrungen gemacht werden
muͤſſen, und welche man mit in Betrachtung zu zie-
hen hat, wenn man aus denſelben etwas ſchließen
will. So z. E. wurde die Hoͤhe mehrerer pyrenai-
ſchen Gebirge ausgemeſſen, und die Hoͤhe des Baro-
meters auf denſelben beobachtet. Es verurſachte aber
der Mangel der Kenntniß von der Stralenbrechung,
deren Wirkung ſich in vielen Faͤllen bis auf 50, 80,
und in einem Falle bis auf 160 Toiſen belaͤuft, daß
die gemeſſene Hoͤhen von der wahren um eben ſo viel
abwichen. Und dieſes machte, daß ſich dieſe Hoͤhen
mit den Barometerhoͤhen nie wollten recht zuſammen
reimen, da hingegen die vermittelſt der Stralenbre-
chung genauer beſtimmten Hoͤhen klar anzeigten, daß
man das Mariottiſche Geſetz zu fruͤh verworfen, und
daß es hoͤchſtens nur in der untern Luftgegend einer
ſehr kleinen Verbeſſerung bedarf. Jn Anſehung der
Stralenbrechung der Athmoſphaͤre, iſt ſowohl die
Theorie,
[357]Die Dimenſion.
Theorie, als die Beobachtung aͤhnlichen Schwierig-
keiten unterworfen. Die Hawksbeiſche Regel von
der Verminderung der Stralenbrechung in verduͤnnter
Luft mag in Abſicht auf die Luft ſtatt finden, die man
in einem Gefaͤße verduͤnnert, hingegen in der freyen
Luft, wo man ſie eigentlich zur Beſtimmung der Stra-
lenbrechung gebrauchte, geht ſie nicht an, weil die
Stralenbrechung viel ſchneller abnimmt, als die
Dichtigkeit der Luft, wenn dieſe nach dem Falle des
Barometers geſchaͤtzt wird.


§. 737.


Uebrigens haben wir hiebey beſonders anzumerken,
daß man auch da, wo einfache Verhaͤltniſſe wirklich
ſtatt haben, gar leicht ſtatt derſelben auf zuſammen-
geſetztere verfaͤllt, und dieſes geſchieht vornehmlich,
wenn man den Anfang der Groͤßen, deren Verhaͤlt-
niſſe man finden will, anders nimmt, als er genom-
men werden ſollte. So z. E. hat die Parabel und
die Hyperbola aequilatera zwiſchen den Aſymtoten eine
ſehr einfache Gleichung, die erſtere iſt ax = yy, die
andere aber aa = xy. Man darf aber nur den Ab-
ſciſſen und Ordinaten eine andere Lage und Anfang
geben, um ſehr verwickelte Formeln heraus zu brin-
gen. Nimmt man nun noch die Betrachtung hinzu,
daß ſich uns die Erfahrung oͤfters nur von dieſer ver-
wickeltern Seite her zeiget, und daß wir lange nicht
immer in dem wahren Geſichtspuncte ſind, um ſie
am einfachſten zu finden, ſo laͤßt ſich wohl begreifen,
daß man alsdenn erſt nach langem ſuchen auf die ein-
fache Seite verfaͤllt, und dadurch den Calcul leichter
machen, und die Verwirrungen und Anomalien weg-
ſchaffen kann. Das ganze Sonnenſyſtem mag uns
hier zum Beyſpiele dienen. Es gebrauchte viel dazu,
Z 3bis
[358]XXIV. Hauptſtuͤck.
bis Kepler uns die wahre und einfache Seite auf-
deckte, von welcher man die Theorie anfangen muß.
Nach dem ſie aber gefunden war, ſo konnte man mit
großen Schritten weiter gehen, als man es vorhin
haͤtte denken doͤrfen. So viel iſt daran gelegen, daß
man die Natur richtig und nach der einfachſten Ord-
nung befrage. Man kann uͤberhaupt den Schluß ma-
chen, daß, wenn die angeſtellten Erfahrungen For-
meln von der Art angeben: x = aym + bym+n +
cym+2n + dym+3n
+ ꝛc. man entweder nicht den einfach-
ſten Fall vor ſich habe, oder daß, wenn man ihn vor
ſich hat, andere Abſciſſen und Ordinaten geſuchet wer-
den muͤſſen, und daß die beobachteten Groͤßen nur Fol-
gen von andern viel einfachern ſind, ſo daß ungeachtet
man eigentlich jene gebraucht, die Theorie, wenn ſie
anders in ihrer wahren Ordnung zu Stande kommen
ſolle, bey dieſen anfangen muß. Um dieſe aber zu
finden, muß man, beſonders wo die Erfahrung nur
Summen und Producte angiebt, ſich zu den Differen-
tialgroͤßen wenden, um das Einfache da aufzuſuchen,
(§. 596.).


§. 738.


Fragt man nun, wo die einfachen Functionen x2, x3,
und ſo auch die umgekehrten, \frac {1} {x}, \frac {1} {x^2} ꝛc. vorkom-
men, ſo laſſen ſich aus der Natur derſelben einige
Criteria herleiten. Einmal kommen x2, x3 vor, wo
von Flaͤchen und koͤrperlichen Raͤumen die Rede iſt,
weil jene zwo, dieſe aber drey Dimenſionen haben.
Denn ſo geſchieht es ſehr oft, daß man aͤhnliche Figu-
ren und Koͤrper vergleicht, und z. E. den Jnhalt der
Cirkel, Cylinder, Kugeln ꝛc. durch die Functionen des
Diameters ausdruͤcket. Sodann kann etwann xy der-
geſtalt
[359]Die Dimenſion.
geſtalt vorkommen, daß man x = y ſetzen muß, wie
z. E. bey dem Falle der Koͤrper, wo die Geſchwindig-
keit zugleich mit der Zeit anwaͤchſt, oder wie bey dem
Stoße fluͤßiger Materien auf ſchiefe Flaͤchen, wo we-
gen der Menge und Staͤrke, der Sinus des Einfalls-
winkels doppelt vorkoͤmmt, und die Kraft ſich nach dem
Quadrate deſſelben richtet. Hingegen koͤmmt \frac {1} {x} vor,
wo eine Groͤße auf eine andere muß vertheilet werden,
weil ſie dadurch in jedem Theile geringer wird. Auf
dieſe Art z. E. verhaͤlt ſich die Dichtigkeit umgekehret,
wie der Raum, und die Staͤrke einer Kraft in jeden
Theilen nimmt mit der Verbreitung derſelben auf
mehrere Theile in umgekehrter Verhaͤltniß ab. So
giebt auch die Sprache eine Menge von Woͤrtern an,
welche ſolche umgekehrte Verhaͤltniſſe in ſich ſchließen.
Z. E. die Geſchwindigkeit und Langſamkeit, die Dichtig-
keit und Duͤnnigkeit, die Schwere und die Leichtigkeit,
die Durchſichtigkeit und Undurchſichtigkeit ꝛc. Das,
was dieſe Woͤrter vorſtellen, muß eben nicht jedes be-
ſonders ausgemeſſen werden, weil die Ausmeſſung des
einen, die Ausmeſſung des andern fuͤr ſich angiebt.
Jndeſſen iſt das, was ſie vorſtellen nicht immer in
umgekehrter Verhaͤltniß, und beſonders, wo ſie auf
beſtimmte Einheiten bezogen werden muͤſſen, iſt eines
nur der Zuſatz des andern. So z. E. wenn die Wahr-
ſcheinlichkeit
= ¾ iſt, ſo iſt die Unwahrſcheinlich-
keit
= ¼, wenn man durch dieſe die Wahrſcheinlich-
keit des Gegentheils oder des Verneinens verſteht.
Denn beydes druͤcket die Verhaͤltniß zur voͤlligen Ge-
wißheit aus. Hingegen kann man ſagen, die Wahr-
ſcheinlichkeit verhalte ſich zur Unwahrſcheinlichkeit in
dieſem Falle, wie 3 zu 1, jene ſey demnach dreymal
groͤßer als dieſe, oder dieſe nur ⅓ von jener. Mit der
Z 4Durch-
[360]XXIV. Hauptſtuͤck.
Durchſichtigkeit hat es eine aͤhnliche Bewandtniß.
Sie iſt abſolut, wenn alles Licht durchgeht, und die
Grade richten ſich nach der Menge der durchgehenden
Stralen, die Grade der Undurchſichtigkeit aber nach
der Menge derer, die zuruͤck geworfen oder zerſtreuet
werden. Beyde Mengen aber machen immer die
ganze Summe der auffallenden Stralen aus, welche
in dieſer Abſicht als eine Einheit genommen wird.
Die Kuͤrze wird der Laͤnge ſo entgegengeſetzt, daß
letztere zuweilen und mehrmalen abſolute, erſtere aber
nur vergleichungsweiſe genommen wird, und da be-
zieht ſie ſich entweder auf etwas laͤngeres, oder auf
diejenige abſolute Laͤnge, welche zu einer Abſicht er-
fordert wuͤrde, wie z. E. wenn man ſaget, die Kuͤrze
der Zeit erlaube nicht, mehr zu thun, oder ſie laſſe
etwas nicht zu ꝛc. Dabey koͤmmt ſchlechthin nur eine
Verhaͤltniß vor.


§. 739.


Um nun wiederum zu dem §. 742. zuruͤcke zu keh-
ren, ſo koͤmmt da, wo man die Dimenſionen einer
Groͤße durch die Erfahrung aufſuchet, die Frage vor,
ob man ſie alle habe? Das will nun ſagen, ob man
alle diejenigen Beſtimmungen und Umſtaͤnde, mit
deren Veraͤnderung ſich auch die vorgegebene Groͤße
veraͤndert, gefunden habe? Dieſe Frage laͤßt ſich oͤf-
ters nicht ſo leicht eroͤrtern, weil ſich, wie wir bereits
vorhin (§. 720.) erwaͤhnet haben, oͤfters erſt mit der
Veraͤnderung des Ortes und der Zeit, neue Veraͤn-
derungen hervor thun, an die man nicht gedacht hat-
te, (§. 598.). Jndeſſen kann man es bey dieſem
Nicht - wiſſen unter der Bedingung bewenden laſſen,
daß man die gefundene Formel nicht weiter aus-
dehnet, als die Erfahrung geht, und indem man
dieſe
[361]Die Dimenſion.
dieſe angiebt, zu noch fernern Beſtimmungen und
Veraͤnderlichkeiten Raum laͤßt. Man kann aber
auch Proben anſtellen, und die Umſtaͤnde abwechſeln,
oder dieſelben aufſuchen, um zu ſehen, ob ſich mit
dieſer Abaͤnderung neue Symptomata aͤußern, die die
Formel angeben ſollte, aber nicht angiebt. Denn iſt
dieſes, ſo machet man ohne Bedenken den Schluß,
man muͤſſe die Formel noch vollſtaͤndiger und allge-
meiner machen. Die Aſtronomie befindet ſich noch
faſt durchaus in dem Fall, weil der kleinern Anoma-
lien von den Berechnungen faſt kein Ende iſt, und
ſich noch immer mehr wirkende Kraͤfte und Umſtaͤnde
am Firmamente aͤußern, je ſchaͤrfer und genauer man
die Beobachtungen anſtellet, und es giebt deren viele,
die erſt durch eine langſame Aufhaͤufung bemerkbar
werden. Es koͤmmt bey allen ſolchen Verſuchen ſehr
viel auf die geſchickteſte Abwechslung des Ceteris pa-
ribus
(§. 721.) an, weil man die Umſtaͤnde aufzuſu-
chen hat, bey welchen jede Dimenſion fuͤr ſich am
kenntlichſten wird. Uebrigens kann man bey ſolchen
Groͤßen, die ſich zwar veraͤndern, aber wobey die
Veraͤnderung nicht einfoͤrmig iſt, immer den Schluß
machen, daß etwas Zuſammengeſetztes dabey ſey,
oder Urſachen und Umſtaͤnde vorkommen, die ihre
beſondere Geſetze haben, und die Veraͤnderung un-
gleichfoͤrmig machen. Man ſehe aber auch §. 737.



Z 5Fuͤnf
[362]XXV. Hauptſtuͤck.

Fuͤnf und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Die einfache Geſtalt der Groͤße.


§. 740.


Außer den Einheiten und Dimenſionen haben wir
noch zween andere Begriffe zu betrachten, wel-
che bey der allgemeinen Theorie der Groͤße vorkom-
men muͤſſen, und in der Anwendung ihren Nutzen
haben, und dieſe ſind wir ebenfalls, wo nicht ganz,
doch wenigſtens die deutlichſten Beyſpiele davon der
Geometrie ſchuldig. Sie beziehen ſich beyde auf die
Ausmeſſung der Groͤße, und haben daher theils mit
der Einheit, theils mit den Dimenſionen eine genaue
Verbindung, ungeachtet ſie auch weſentlich davon ver-
ſchieden ſind. Um dieſes in ſein behoͤriges Licht zu
ſetzen, wollen wir die Beyſpiele, ſo uns die Geome-
trie giebt, gleich anfangs vornehmen, und dieſe bey-
den Begriffe aus denſelben zu bilden ſuchen. Wir
bemerken demnach, daß, da der Raum uns Linien,
Winkel, Flaͤchen, koͤrperliche Raͤume zu meſſen, an-
beut, jedes von dieſen Stuͤcken Einheiten von der
ihm eigenen Art, und eine ihm eigene Anzahl von
Dimenſionen angebe. Naͤmlich die Einheiten ſind
ebenfalls Linien, Winkel, Flaͤchen und koͤrperliche
Raͤume, und haben daher an ſich auch eben die An-
zahl von Dimenſionen. Man nimmt daher, um Li-
nien, Winkel, Flaͤchen und koͤrperliche Raͤume aus-
zumeſſen, eine Einheit von gleicher Art an, und be-
ſtimmt, wie vielmal ſie genommen wird. Dieſes
geht nun bey den Linien und Winkeln fuͤr ſich an, weil
ſie nur eine Dimenſion haben, und die Einheit iſt
eben-
[363]Die einfache Geſtalt der Groͤße.
ebenfalls nur eine Linie oder Winkel. Nun kann
man zwar ſagen, daß bey den Flaͤchen und Koͤrpern
die Einheit, die man zur Ausmeſſung derſelben an-
nimmt, nothwendig auch eine Flaͤche oder koͤrperli-
cher Raum ſeyn muͤſſe. Allein damit iſt noch nicht
alles ausgerichtet. Denn die Einheit, die man da-
bey gebraucht, kann unzaͤhlig vielerley Geſtalten ha-
ben, und es iſt dabey gar nicht gleichguͤltig, welche
man annimmt. So z. E. ſollte natuͤrlicher Weiſe
bey der Ausmeſſung der Cirkel ein Cirkel, bey der Aus-
meſſung einer Kugel eine Kugel, und uͤberhaupt bey der
Ausmeſſung jeder Figur eine aͤhnliche Figur zur Ein-
heit angenommen werden, und ſo waͤre man mit der
Ausmeſſung bald fertig. Es giebt auch wirklich
Faͤlle, wo man dieſes thut. Denn ſo z. E. beſtimmt
man in der Artillerie den Diameter einer pfuͤndigen
Kugel, und daraus ſind ſodann die Diameter von
Kugeln von jedem andern Gewichte bald gefunden,
weil ſich die Cubi der Diameter, gerade wie die An-
zahl der Pfunde, und umgekehrt, wie die ſpecifiſche
Schwere der Materie verhalten, aus welcher die
Kugel beſteht. Allein, damit reichet man in der Geo-
metrie nicht aus, weil man dadurch zwar jede Figur
mit ihrer Einheit, aber weder die Figuren noch die
Einheiten unter einander vergleichen kann. Man
hat daher auf allgemeinere Mittel denken muͤſſen, ſol-
che Vergleichungen anzuſtellen, und dadurch wuͤrde
die Geſtalt der Einheiten, die man durchaus zum
Grunde legen konnte, naͤher beſtimmt.


§. 741.


Dieſes iſt nun auf eine gedoppelte Art geſchehen.
Einmal, da man bey Flaͤchen, deren Seiten gerade
ſind, und bey Koͤrpern, deren Flaͤche aus ſolchen
Flaͤchen
[364]XXV. Hauptſtuͤck.
Flaͤchen beſtuͤnde anfieng, ſo kam erſtlich die Frage
von derjenigen Geſtalt der Flaͤchen und Koͤrper vor,
die unter allen am einfachſten waͤre, und in welche ſich
jede Zuſammengeſetztere zertheilen ließe. Dieſes fand
man nun in Abſicht auf die Flaͤchen bey den gerade-
linichten Triangeln, in Abſicht auf die Koͤrper aber
bey triangulaͤren Pyramiden, die naͤmlich aus vier
von ſolchen triangulaͤren Flaͤchen zuſammengeſetzt ſind,
weil man ſah, daß jede Flaͤche ſich in ſolche Triangel,
und jeder Koͤrper ſich in ſolche Pyramiden vertheilen
ließe. Jn dieſer Abſicht konnte man ſie als einfache
Groͤßen, und gleichſam als die Elemente jeder Flaͤ-
chen und koͤrperlichen Raͤume anſehen.


§. 742.


Damit war aber noch nicht alles ausgerichtet.
Denn ſolche Triangel und Pyramiden waren mehren-
theils ungleich an Groͤße, und unaͤhnlich an Geſtalt,
und ſo konnte man aus ihrer Anzahl auf die Groͤße
des Raumes keinen Schluß machen. Man fienge
daher an, Flaͤchen und Koͤrper aufzuſuchen, die gleich
und aͤhnlich waͤren, und ſich an einander anlegen,
und einen Raum dichte und genau ausfuͤllen konnten,
und dazu waren in Abſicht auf die Flaͤchen die Qua-
drate, in Abſicht auf die Koͤrper aber die Cubi oder
wuͤrfliche Raͤume in allwegen die tauglichſten, weil
ſie auf das genaueſte nach der Laͤnge, Breite und Hoͤhe
an einander gelegt werden konnten. Damit war es
nun nur darum zu thun, wie man die Triangel und
Pyramiden mit dieſen Quadraten und Cubis verglei-
chen konnte. Und nach dem man dieſes gefunden,
ſo gebrauchte man die Triangel und Pyramiden, als
die einfachſten Theile der Figuren und Koͤrper, die
Quadrate und Cubi aber, als die bequemſten Ein-
heiten,
[365]Die einfache Geſtalt der Groͤße.
heiten, nach welchen die Groͤße jeder Flaͤchen und
koͤrperlichen Raͤume beſtimmt und kenntlich gemacht
werden konnte.


§. 743.


Man ſieht uͤberhaupt hieraus, daß es in Anſehung
des erſten Verfahrens (§. 741.), auf eine ſchickliche
Vertheilung der Groͤßen ankoͤmmt, die nicht
unmittelbar im Ganzen, ſondern nur ſtuͤckweiſe
koͤnnen ausgemeſſen werden,
und daß hingegen
das zweyte Verfahren (§. 742.) vornehmlich die Art
betrifft, wie man die Ausmeſſung unaͤhnlicher
Groͤßen ſowohl vornehmen als erweiſen koͤnne,
und wie beſonders die Einheiten zu dieſem
Endzwecke gewaͤhlet und angenommen werden
muͤſſen.
Ungeachtet nun dieſe zwo Fragen auch au-
ßer der Geometrie haͤufig vorkommen, und beſonders
die ſchickliche Auswahl der Einheiten viel auf ſich hat;
ſo ſcheinen doch dieſe von dem Raume hergenommene
Beyſpiele etwas voraus zu haben. Einmal iſt es
dabey merkwuͤrdig, daß obgleich die Triangel und
Pyramiden die einfachſten Theile von Flaͤchen und
koͤrperlichen Raͤumen ſind, man dennoch nicht dieſel-
ben, ſondern die Quadrate und wuͤrflichte Raͤume
zum Grunde legen muß, wenn man Flaͤchen und
Raͤume ausmeſſen, und die Art der Ausmeſſung be-
weiſen will. Sodann ſind Flaͤchen und koͤrperliche
Raͤume ſolche extenſiue Groͤßen, wobey die Einthei-
lung derſelben in Triangel und Pyramiden am offen-
barſten in die Augen faͤllt, und ſolche Triangel und
Pyramiden nur der Groͤße und Lage nach ſo verſchie-
den ſind, daß man, um ſie auszumeſſen, weiter nichts
als die Baſin und Hoͤhe gebraucht.


§. 744.
[366]XXV. Hauptſtuͤck.

§. 744.


So entwickelt und in die Augen fallend finden wir
aber die erſt betrachtete Begriffe von der einfachſten
Geſtalt der Groͤßen und Maaßſtaͤbe von mehr als ei-
ner Dimenſion in andern Faͤllen ſelten oder gar nicht.
Jndeſſen wollen wir doch einige von dieſen Faͤllen
durchgehen, um die Unterſchiede anzumerken. Der
erſte, welcher noch am meiſten Aehnlichkeit damit
hat, findet ſich in der Mechanic bey der Lehre von
der Zuſammenſetzung und Aufloͤſung der Kraͤfte.
Denn da gedenket man ſich drey ebene Flaͤchen, die
einander rechtwinklicht durchſchneiden, und wenn man
will, ſaͤmmtlich durch den Koͤrper gehen, welcher von
mehrern Kraͤften nach mehrerley Directionen getrie-
ben wird. Jede Kraft, wird nach ihrer Direction
durch eine derſelben proportionale Linie vorgeſtellet,
und in drey andere Kraͤfte aufgeloͤſet, welche nach Di-
rectionen wirken, die auf erſt gedachte drey Flaͤchen
perpendicular ſind. Dadurch iſt man ſodann in
Stand geſetzt, daß man die gegen jede dieſer Flaͤchen
wirkende Kraͤfte beſonders zuſammen addiren, und
die Summen von ihren Wirkungen bloß durch dieſes
addiren beſtimmen kann. Dieſe Summen laſſen ſich
ſodann wiederum zuſammen ſetzen, um die mittlere
Direction und die nach derſelben erfolgende Bewe-
gung des Koͤrpers und ſeine Geſchwindigkeit zu fin-
den. Dieſes Beyſpiel hat mit dem aus der Geome-
trie hergenommenen, noch die groͤßte Aehnlichkeit, zu-
mal da hier die drey Dimenſionen des Raumes eben-
falls vorkommen, und die Abſicht dabey iſt, die Wir-
kung der Summe von Kraͤften zu finden, welche ſich
wegen der Verſchiedenheit der Directionen nicht ſo
unbedingt, oder ohne vorhergehende Decompoſition
zuſammen addiren laſſen.


§. 745.
[367]Die einfache Geſtalt der Groͤße.

§. 745.


Durch ſolche Reductionen, die man theils mit den
Groͤßen, theils mit den Einheiten vornimmt, laſſen
ſich nun oͤfters Ausmeſſungen allgemein machen, die
den Anſchein haben, als wenn jede beſonders vorge-
nommen werden muͤßten. Wir wollen die Spuren,
denen man hiebey zu folgen hat, durch einige Bey-
ſpiele anzeigen. Man weiß, daß jede Biquadrat-
gleichung auf eine Cubiſche herunter geſetzt werden
kann, und daß, wenn jene vier reale Wurzeln hat,
dieſe ebenfalls drey reale Wurzeln habe. Schaffet
man nun aus einer ſolchen cubiſchen Gleichung das
zweyte Glied weg, ſo hat ſie folgende Form:
x^3 - ax^2 = b, und da iſt a nothwendig negativ.
Aendert man nun hierinn die Einheit dergeſtalt, daß
man x = y \sqrt a ſetzet, ſo erhaͤlt man y3 - y = b : a3:2
oder y3 - y = c. Und da iſt c nothwendig kleiner
als \sqrt \frac {4} {27}, oder kleiner als 0, 38523....., und y klei-
ner als \sqrt {\frac {4} {3}}, oder kleiner als 1, 1547006 ....... Da
alſo ſowohl c als y zwiſchen beſtimmten Schranken
iſt, ſo laͤßt ſichs ohne viele Muͤhe eine Tabelle be-
rechnen, worinn fuͤr jeden Werth von c jede Werthe
von y ſogleich koͤnnen aufgeſchlagen, und durch Jn-
terpolationen, wo es noͤthig iſt, genauer beſtimmt
werden. Jn Ermangelung ſolcher Tabellen kann
man c \sqrt \frac {27} {4} = \cos w ſetzen, und ſo wird y = \sqrt {\frac {4} {3}} \cdot
\cos \frac {1}{3} w ſeyn. Bemerket man nun hiebey, daß
\sqrt {\frac {4} {27}} und \sqrt {\frac {4} {3}} die groͤßten Werthe von c und y ſind,
ſo wird man dabey ebenfalls wiederum Anlaͤße finden,
die Einheiten darnach zu aͤndern. Wir koͤnnen uns
aber hier, wo wir dieſes nur beyſpielsweiſe anfuͤhren,
nicht laͤnger aufhalten.


§. 746.
[368]XXV. Hauptſtuͤck.

§. 746.


Das andere Beyſpiel, welches noch ungleich all-
gemeiner iſt, werden wir von den elliptiſchen Lauf-
bahnen der Planeten und Cometen nehmen. Setzet
man naͤmlich eine Ellipſe, deren laͤngere Axe = 1 iſt,
werde in der Zeit = 1 durchlaufen, ſo laſſen ſich die
Zeiten, in welchen jede Bogen von jeden Ellipſen
durchlaufen werden auf einen, und noch uͤberdieß ganz
einfachen und geradlinichten Maaßſtab bringen. Da
ich die Art, wie dieſe betraͤchtliche Abkuͤrzung erhal-
ten wird, in den Proprietatibus inſignioribus orbitae
cometarum
angegeben, ſo werde ich mich hier eben-
falls nur mit der bloßen Anzeige begnuͤgen. Man
wird daraus ſehen, wie viel es darauf ankomme, die
Einheiten und Groͤßen, die zur Ausmeſſung die ge-
ſchmeidigſten ſind, und dieſelbe allgemein machen,
aufzuſuchen und auszuleſen.


§. 747.


Man kann aus dieſen Beyſpielen, eben ſo, wie
aus dem erſten (§. 740. ſeqq.), uͤberhaupt abnehmen,
daß die zween Begriffe, davon in angezogenem 740 §.
die Rede iſt, eigentlich die Mittel betreffen, unaͤhn-
liche Groͤßen, ihrer Unaͤhnlichkeit unerachtet,
zu vergleichen, und in eine Summe zu brin-
gen.
Der erſte Erfinder der Geometrie mußte ſich
durch die Betrachtung der unendlichen Mannichfal-
tigkeit der Figuren, faſt nothwendig abſchrecken laſ-
ſen, und ſo einfach das Mittel ſcheint, das er ge-
brauchte, um ſie ſaͤmmtlich nach einer allgemeinen
Regel auszumeſſen, ſo war doch die Erfindung deſſel-
ben ehender ein gluͤcklicher Einfall, als ein aus Ueber-
legung gefundener Satz. Metaphyſiſche Betrach-
tungen
[369]Die einfache Geſtalt der Groͤße.
tungen von der Art, wie wir ſie in dem 524ſten §. an-
gefuͤhret haben, haͤtten dazu wenig getaugt. Wir
haben auch daſelbſt erinnert, daß man es in der Geo-
metrie ganz anders angegriffen habe, um ſie zu erfin-
den und in eine wiſſenſchaftliche Form zu bringen.
Die Figuren, ſo verſchieden ſie auch in ihrer Geſtalt
ſind, haben allerdings viel gemeinſames. Es ſind
Figuren, und ſie haben einen Raum, und dieſem
Raume nach laſſen ſie ſich mit einander vergleichen,
und ſelbſt die Gruͤnde und Mittel zur Vergleichung
muͤſſen etwas gemeinſames haben. Durch ſolche ab-
ſtracte Betrachtungen aber wuͤrden ſich dieſe Mittel
ſchwerlich finden laſſen, weil hiebey noch gar zu viele
Unaͤhnlichkeiten zuruͤcke bleiben. Man hat daher an-
gefangen auf Mittel zu denken, dieſe Unaͤhnlichkeit
zu vermindern, und dieſe fand man darinn, daß ſich
die Flaͤchen, ſo vieleckicht ſie auch ſeyn moͤgen, in
Triangel und die koͤrperliche Raͤume, ſo viele Flaͤ-
chen ſie auch haben moͤgen, in triangulaͤre Pyrami-
den zertheilen ließen. Und dadurch wurde die Aus-
meſſung jeder Flaͤchen und koͤrperlichen Raͤume auf
die Ausmeſſung der einfachſten Figuren reducirt.


§. 748.


Dieſer Einfall war eben nicht ſo leicht, ſo einfaͤltig
er auch nunmehr ſcheinen mag. Jndeſſen mag er al-
lerdings in Abſicht auf die Geometrie noch am leichte-
ſten geweſen ſeyn. Hingegen giebt es unzaͤhlige andere
Faͤlle, wobey Ausmeſſungen und allgemeine Regeln da-
zu moͤglich ſind, die aber, wenn man ſie ſaͤmmtlich uͤber-
denket, nicht weniger Mannichfaltigkeit und Verwir-
rung anbiethen, als die unendlich viele Arten von Flaͤ-
chen und Raͤumen in der Geometrie, und da man mehr
Muͤhe findet, nur die Moͤglichkeit einzuſehen, wie
Lamb. Archit.II.B. A aman
[370]XXV. Hauptſtuͤck.
man dasjenige einfache, welches in denſelben durch-
gaͤngig iſt, und in jeden Faͤllen vorkoͤmmt, aufſuchen,
und daſſelbe ſo anwendbar machen koͤnne, wie die Tri-
angel, Pyramiden, Quadrate und Cubi in der Geome-
trie ſind angewandt worden. Man nehme z. E. unter
wie vielen und mannichfaltigen Geſtalten ſich uns die
Bewegung zeiget, ſo wird man leicht finden, daß es
eben nicht ſo geſchwinde damit hergehen konnte, das
vorhin erwaͤhnte allgemeine und durchaus anwend-
bare Geſetz zu finden (§. 744.), welches wir in dieſer
Allgemeinheit Hr. Eulern zu verdanken haben.


§. 749.


Jn noch zuſammengeſetztern Faͤllen, die, wenn
man ſie uͤberhaupt und mit einem Anblicke uͤberſieht,
einem wahren Cahos gleichen, koͤmmt es beſonders
darauf an, wie viele einfache Geſetze gefunden
werden muͤſſen, ſo daß man mit deren Combi-
nation durch jede beſondere Faͤlle durchkomme,
und die Ausmeſſung durchaus vornehmen koͤn-
ne?
Man nehme das Licht zum Beyſpiele. Man kann
leicht zeigen, daß von jedem ſowohl ſelbſt leuchtenden
als erleuchteten Puncte nach jeden Directionen Licht-
ſtralen ausgehen, und wiederum andere Puncte beleuch-
ten, ſo daß des Durchkreuzens der Lichtſtralen kein En-
de iſt. Wo ſoll man hiebey anfangen, etwas auszumeſ-
ſen? Man ſieht leicht, daß man bey ſolchen Allgemein-
heiten, die lauter Verwirrung anbiethen, nicht anfan-
gen kann, ſondern, daß man die einfachern Geſetze
aufſuchen, und das reflectirte, das durchfallende, das
zerſtreute und das abſorbirte, oder zu fernerer Be-
leuchtung unbrauchbar gemachte Licht, beſonders un-
terſuchen, und eben ſo weder jede Dichtigkeit der
Stralen noch jede Ausfluß und Einfallswinkel zu-
gleich
[371]Die einfache Geſtalt der Groͤße.
gleich in Betrachtungen ziehen, dagegen aber beſtim-
men muß, wie das Licht nach denſelben vertheilet und
modificirt werde. Alle ſolche einfachen Faͤlle werden
anfangs beſonders betrachtet, damit man ſie da, wo ſie
zuſammengeſetzt ſind, ohne Muͤhe zuſammen nehmen,
und das Product aus denſelben beſtimmen koͤnne.


§. 750.


Da dieſes in der Photometrie bereits geſchehen, ſo
nehme man die magnetiſche Materie zum Beyſpiele.
Von dieſer weiß man noch kaum das Geſetz, daß ſich
ihre Kraft nach dem Sinu des Jncidenzwinkels richtet.
Wie ſie ſich aber in Abſicht auf die Maſſe, Figur und
intenſiue Kraft des Magneten, in Abſicht auf ſeine
Lage und Diſtanz verhalte, wie ſie in der Erde ſich
allmaͤhlig der Staͤrke und der Lage nach aͤndere, da-
von hat man, außer den Beobachtungen, welche
dieſes uͤberhaupt anzeigen, noch kaum Muthmaſſun-
gen. Und von richtigen, einfachen und anwendbaren
Geſetzen, meines Wiſſens, noch gar nichts, und die
Hauptfrage koͤmmt dabey darauf an, wie man die
Experimente anſtellen ſolle, ſo daß man nicht nur
wiſſe, was die Natur, die man dadurch befraget,
antwortet, ſondern, daß man auch genau wiſſe, was
man ſie eigentlich befraget habe, und ob die Frage
weder mehr noch minder als das Einfache enthalte,
das man haͤtte wiſſen wollen.


§. 751.


Da wir das Allgemeine, welches nach Aehn-
lichkeiten
geht, dem Einfachen, welches durch-
gaͤngig vorkoͤmmt,
in dem vorhergehenden ſchon
oft entgegengeſetzt haben, ſo iſt hier der Ort beydes
genauer gegen einander zu halten. Wenn man naͤm-
lich erſteres aufſuchet, ſo nimmt man mehrere Dinge
A a 2zuſam-
[372]XXV. Hauptſtuͤck.
zuſammen, und man ſuchet, ohne jedes beſonders
und fuͤr ſich zu betrachten, nur das auf, worinn ſie
ſaͤmmtlich uͤbereinkommen, und daher einander aͤhn-
lich ſind. Hingegen, wo man das Einfache ſuchet,
ſo betrachtet man ein Ding fuͤr ſich, und ſuchet die
Verſchiedenheiten, die in demſelben ſind, ohne dar-
auf zu ſehen, ob ſie in andern Dingen auch vorkom-
men oder nicht. Dadurch kommt man nun dem Ein-
fachen naͤher, und man erreichet es ganz, wenn man
auf ſolche Beſtimmungen koͤmmt, die nichts mehr
in ſich haben, das der Art nach von einander zu un-
terſcheiden waͤre. Dieſe beyde Arten zu verfahren
ſind nun allerdings einander entgegengeſetzt, unge-
achtet ſie im Grunde betrachtet auf eines hinaus lau-
fen ſollten, weil das einfache, ſo man nach der letz-
tern Art findet, ebenfalls, wie wohl mit andern Com-
binationen, in mehrern Dingen vorkoͤmmt, weil dieſe
ſonſt ſchlechthin nicht aͤhnlich ſeyn koͤnnten. Jndeſ-
ſen, wo man nur die Aehnlichkeiten aufſuchet, da
machet man ſich eine Regel daraus, dieſelben in ei-
nen Begriff zuſammen zu nehmen, und dieſen, als
die Art oder Gattung anzuſehen. Und hiebey muß
man ſich gewoͤhnlich nach der Sprache richten, als
welche noch lange nicht zu jeden Stufen von Aehn-
lichkeiten Woͤrter angiebt. Hingegen, wo man das
Einfache aufſuchet, da kann man ſich nicht darnach
richten, ob von den Beſtimmungen, die man findet,
mehrere oder weniger auch in andern Dingen vor-
kommen, und ob ſie demnach muͤſſen beyſammen ge-
laſſen werden oder nicht; ſondern ſie werden, auch
wo man ſie beyſammen findet, getrennet, damit man
jedes fuͤr ſich betrachten, und ſowohl ſeine Grade als
ſeine Combinabilitaͤt mit andern beſtimmen koͤnne.
Der Vortheil, den man davon hat, iſt, daß wenn
man
[373]Die einfache Geſtalt der Groͤße.
man dieſes gefunden, man nicht noͤthig habe, aͤhn-
liche Dinge erſt aufzuſuchen, weil man aus dieſen
Einfachen und nach den gefundenen Geſetzen und
Moͤglichkeiten ihrer Combination ſo viele, ſtufenweiſe
aͤhnliche und verſchiedene zuſammen ſetzen kann, als
man will. So bringt man in der Geometrie ver-
mittelſt der Linien und Winkel Figuren von jeder Groͤ-
ße, Art und Geſtalt hervor, und verſichert ſich von
ihrer Moͤglichkeit, ohne Ruͤckſicht auf die Frage, ob
ſie irgend vorkommen oder nicht. Hingegen bey dem
bloßen Aufſuchen der Aehnlichkeiten muͤßte man alle
ſchon vor ſich haben, um ſie vergleichen zu koͤnnen.


§. 752.


Jndeſſen da der Grund der Aehnlichkeit mehrerer
Dinge, eben darauf beruhet, daß ſie mehrere ein-
fache Beſtimmungen gemeinſam haben, ſo iſt es auch
moͤglich, in Anſehung der Ausmeſſung eine ſolche
Aehnlichkeit und in gleicher Allgemeinheit beyzube-
halten, oder ſie, wenn man bey dem Einfachen an-
faͤngt, bis dahin auszudehnen, wenigſtens ſo weit
die einfachen Beſtimmungen gemeinſam ſind, und
gleich viele Dimenſionen angeben. Denn ſo z. E.
nimmt man in der Geometrie die Raͤume von Flaͤ-
chen und Koͤrpern nicht in eine Claſſe, weil letztere
eine Dimenſion mehr haben. Hingegen, da ſich Flaͤ-
chen mit Flaͤchen, und Koͤrper mit Koͤrpern in Ab-
ſicht auf den Raum vergleichen laſſen, ſo war es ſehr
natuͤrlich, daß man der Mannichfaltigkeiten und Un-
aͤhnlichkeiten ungeachtet, auf allgemeine Mittel, ſie
zu vergleichen und auszumeſſen bedacht war, und dieſe
hat man in Abſicht auf die Flaͤchen bey den Triangeln
und Quadraten, in Abſicht auf die Koͤrper aber bey
den Pyramiden und Cubis gefunden.


A a 3§. 753.
[374]XXV. Hauptſtuͤck.

§. 753.


Die Aehnlichkeiten geben uns demnach uͤberhaupt
Anlaß zu vermuthen, daß die Dinge auch in Abſicht
auf die Mittel zur Ausmeſſung in eine Claſſe genom-
men, und dieſe Mittel in Abſicht auf die ganze Claſſe
allgemein koͤnnen gemacht werden. Dieſes iſt aber
nicht der Anfang, ſondern man muß anfangen, das
zuſammengeſetzte, ſo darinn liegt, zu decomponiren,
um die einfachſten Verſchiedenheiten zu finden,
um dieſe nach jeden Modificationen, die ſie haben
koͤnnen, ausmeſſen zu lernen. Denn ſo fande man
unter den vieleckichten Figuren und vielflaͤchichten
koͤrperlichen Raͤumen, die Triangel und triangulaͤre
Pyramiden, deren Verſchiedenheiten nicht mehr ein-
facher gemacht werden konnten. So kommen bey
der Ausmeſſung des Lichtes die leuchtende Flaͤche, die
Dichtigkeit der Stralen, der Abſtand, der Ausfluß-
winkel, der Einfallswinkel, der Grad der Weiße (Gra-
dus albedinis
), der Grad der Durchſichtigkeit ꝛc. in Be-
trachtung, und von dieſen laſſen ſich nur die erſte und
die beyden letztern noch ferner decomponiren. Wie aber
hiebey die abſolute Erleuchtung, wo naͤmlich die Ent-
fernung des leuchtenden Koͤrpers von dem erleuchte-
ten = 0 iſt, die abſolute Weiße und die abſolute
Durchſichtigkeit ungefaͤhr den Dienſt thun, den die
Quadrate und Cubi in der Geometrie thun, das koͤn-
nen wir hier aus der Photometrie nicht ausfuͤhrlich
herſetzen, ſondern bemerken nur, um die Aehnlich-
keit anzudeuten, daß man dadurch in Stand geſetzt
iſt, die Klarheit, ſowohl der leuchtenden, als der be-
leuchteten Koͤrper nach jeden Modificationen mit ein-
ander zu vergleichen. Denn auf eben dieſe Art mißt
man mit Quadraten und Cubis auch die unaͤhnlichſten
und ungleichſten Raͤume aus.


§. 754.
[375]Die einfache Geſtalt der Groͤße.

§. 754.


Die Hauptbedingungen, die bey dem Aufſuchen
ſolcher einfachen Verſchiedenheiten, und zugleich bey
der Frage, wie fern ſie ſich auf das Allgemeine be-
ziehen laſſen, wenn dieſes nur nach den Aehnlichkei-
ten genommen wird, ſind die Gleichartigkeit und
Unabhaͤngigkeit. Letztere fordert, daß wenn zwo
oder mehrere Dimenſionen in Betrachtung kommen,
die Sache nach jeder fuͤr ſich groͤßer oder kleiner wer-
den koͤnne, ohne daß dieſes einen Einfluß auf die
uͤbrigen habe. So z. E. wird in der Photometrie
geſetzt, die Verhaͤltniß des auffallenden und zuruͤck-
geworfenen Lichtes bleibe unter einerley Einfallswinkel
beſtaͤndig, das Licht mag ſtaͤrker oder ſchwaͤcher ſeyn.
Dieſes wird nun allerdings nur ſo weit gelten, als
ein gar zu ſtarkes Licht, wie z. E. die Sonnenſtralen
im Brennpuncte eines Brennglaſes, die Flaͤche des
Koͤrpers nicht ganz zerſtoͤret, und denſelben entweder
ſchmelzt oder verbrennt, oder ſeine Farbe aͤndert.
Denn dieſes ſind nicht Wirkungen des Lichtes, ſon-
dern der Waͤrme. Man findet bey dem Stoße ela-
ſtiſcher Koͤrper aͤhnliche Graͤnzen von den Geſetzen,
nach welchen man denſelben berechnet, weil, wenn
die Geſchwindigkeit betraͤchtlich genug iſt, die Elaſti-
citaͤt zerſtoͤret werden kann. Auf ſolche Umſtaͤnde hat
man allerdings zu merken, damit man die Formeln,
ſo man findet, nicht weiter ausdehne, als ſie wirklich
gehen.


§. 755.


Hingegen bezieht ſich die Bedingung von der
Gleichartigkeit auf die mehrern Faͤlle, auf welche
man gleiche Formeln und Regeln der Berechnung an-
bringen will. Und da iſt die Entſcheidung, wie weit
A a 4dieſe
[376]XXV. Hauptſtuͤck.
dieſe gehen koͤnnen, nicht immer leichte, und beſon-
ders kann die Sprache durch ihre Vieldeutigkeiten
Anlaß zur Verwirrung geben. Denn ſo z. E. kann
man leicht die Frage von der Ausmeſſung eines jeden
Raumes aufgeben, und eine allgemeine Regel for-
dern. Hingegen weiſet die Geometrie, daß man den
linearen Raum, den Flaͤchenraum und den koͤrper-
lichen Raum nicht in eine Claſſe ſetzen koͤnne, ſondern
fuͤr jede dieſer drey Arten beſondere Regeln finden, und
dieſe nicht mit einander verwechſeln muͤſſe. Es iſt
gar kein Zweifel, daß nicht auch bey der in den neuern
Zeiten, und beſonders von Wolfen aufgeworfenen
Frage von der Ausmeſſung der Grade der Vollkom-
menheit ſolche Heterogeneitaͤten vorkommen, die noth-
wendig eine Vertheilung der Vollkommenheiten in
beſondere Arten erfordern, deren jede ihre beſondere
Regeln hat. Man wird die Hauptarten, die hiebey
unterſchieden werden muͤſſen, in dem §. 367. und
§. 371. angezeigt finden, und daraus zugleich ſehen,
daß ſie auf ganz verſchiedene Art berechnet werden
muͤſſen.


§. 756.


Jndeſſen muß man ſich von dem Anſchein der gar
zu vielen Unaͤhnlichkeiten und Variationen auch nicht
ſogleich abſchrecken laſſen, weil oͤfters die Regeln,
die man fuͤr einige einfachere Faͤlle findet, weiter aus-
gedehnet werden koͤnnen, als es anfangs den Anſchein
hatte. Denn ſo werden z. E. viele Lehrſaͤtze, die man
in der Geometrie fuͤr ebene Flaͤchen findet, auch bey
ſphaͤriſchen Flaͤchen entweder von Wort zu Wort oder
mit geringer Aenderung anwendbar. So laſſen ſich
viele von den Saͤtzen, die man fuͤr die Parabel fin-
det auf jede Kegelſchnitte, und zuweilen auf jede
krumme Linien ausdehnen. Beſonders aber beut
etwann
[377]Die einfache Geſtalt der Groͤße.
etwann auch die Sprache durch ihre Metaphern und
Vieldeutigkeiten Mittel an, die Regeln in groͤßerer
Allgemeinheit beyzubehalten. So z. E. iſt das Wort
Baſis von der Art, daß es ſowohl Grundlinie als
Grundflaͤche bedeuten kann, und dadurch erhaͤlt man
ſo viel, daß ſowohl bey den Triangeln als bey den
Pyramiden, die Regel vorkoͤmmt, daß ſie deſto
groͤßer ſind, je groͤßer die Baſis und die Hoͤhe derſel-
ben iſt. Man ſieht leicht, daß in ſolchen Dingen,
die erſt noch benennet werden muͤſſen, ein Mittel zur
Allgemeinheit hergenommen werden kann, wenn man
die Benennungen nach ſolchen Aehnlichkeiten einrich-
tet, die zugleich die Regeln zur Berechnung allge-
meiner machen. Es iſt aber eine ſolche Allgemein-
heit groͤßtentheils nur ſymboliſch, weil man dadurch
Regeln, die in jeden Faͤllen etwas beſonders haben,
mit einerley Worten ausdruͤcket, und dadurch das
Anſehen zuwege bringt, als wenn es durchaus nur
eine Regel waͤre. Denn, um bey dem erſt gege-
benen Beyſpiele zu bleiben, ſo wird zwar bey den
Triangeln, wie bey den Pyramiden die Hoͤhe mit
der Baſis multiplicirt, hingegen muß man erſtlich
bey den Triangeln die Haͤlfte, bey den Pyramiden
aber den ⅓ des Productes nehmen, um den Jnhalt
des Raumes zu finden. Sodann wird bey den
Triangeln die Baſis ganz anders ausgemeſſen, als
bey den Pyramiden, weil jene eine Linie, dieſe aber
eine Flaͤche iſt. Dieſe gedoppelte Verſchiedenheit
machet demnach, daß die Regel von der Multipli-
cation der Baſis in die Hoͤhe nicht auf eine durchaus
gleichfoͤrmige Art allgemein iſt, ungeachtet ſie es den
Worten nach zu ſeyn ſcheint. Es geht ungefaͤhr eben
ſo, wenn man aus der Aehnlichkeit der Geſetze auf
die Aehnlichkeit der Sache ſchließt. Denn ſo z. E.
A a 5wird
[378]XXV. Hauptſtuͤck.
wird das Licht ebenfalls, wie die Schwere nach dem
Quadrate der Diſtanz ſchwaͤcher. Man kann aber
noch daraus weiter nichts ſchließen, als daß ſich in
Abſicht auf das Licht die Dichtigkeit der Stralen,
und in Abſicht auf die Schwere der Druck, oder die
Kraͤfte der Schwere in umgekehrter Verhaͤltniß der
Flaͤchen vermindern, durch welche ſie ſich ausbreiten,
in dem jene aus einem Puncte ausgehen, dieſe aber
gegen einen Punct gerichtet ſind. Hingegen kann
deſſen unerachtet der Mechanismus bey beyden ſehr
verſchieden ſeyn.


§. 757.


Von ſolchen Aehnlichkeiten, wie auch von den erſt
erwaͤhnten ſymboliſchen, muͤſſen die vollſtaͤndigen,
die man bey den Ausmeſſungen ſuchet, welche man
allgemein machen will, unterſchieden werden. Dieſe
beſtehen in der Combination und Verbindung von
ſolchen verſchiedenen Beſtimmungen, welche der Zahl,
der Eigenſchaft und den Dimenſionen nach einer-
ley bleiben. So weit nun ſolche vorkommen, ſo weit
iſt auch die Formel oder das Geſetz, nach welcher das
Product aus denſelben beſtimmt wird, dergeſtalt all-
gemein, daß man die Formel weder einfacher noch
zuſammengeſetzter machen darf, und daß man, wo
das Ganze in Theile zerfaͤllt, und die Formel bey
jedem beſonders anwenden muß, die Summe aus
allen Producten durch bloßes addiren finden kann.
Denn ſo z. E. wenn man eine Flaͤche in Triangel
theilet, hat man ſchlechthin nur ſo viele Baſes und
Perpendicularen auszumeſſen, als Triangel ſind, die
Ausmeſſung geſchieht nach einerley Einheit und
Maaßſtab, und die Producte aus jeder Grundlinie
in die Haͤlfte von ihren Hoͤhen, geben ſaͤmmtlich Flaͤ-
chen,
[379]Die einfache Geſtalt der Groͤße.
chen, und zwar ſolche, die dem Jnhalte der Trian-
gel gleich ſind, die folglich zuſammen addirt werden
koͤnnen, und deren Summe dem Jnhalte der gan-
zen Flaͤche gleich iſt. Wir fuͤhren dieſes mit Vor-
bedachte umſtaͤndlicher an, weil daraus erhellet, was
die mathematiſche Gleichartigkeit zu ſagen habe, von
welcher wir oben (§. 458.) anmerkten, daß ſie eben-
falls dem Philoſophen zum Muſter und zur Probe
diene. Das vorhin (§. 746.) angefuͤhrte Beyſpiel
von der Summe der Kraͤfte, zeiget, daß man dieſe,
ſo bald ihre Direction verſchieden iſt, decomponiren
muͤſſe, um ſie zu derjenigen Gleichartigkeit zu brin-
gen, welche erfordert wird, damit ſie ſchlechthin ad-
dirt werden koͤnnen. Und bey der Beſtimmung der
Klarheit einer von mehrern Seiten her und von un-
gleich großen, und ungleich entfernten leuchtenden
Puncten beleuchteten Flaͤche, kommen noch mehrere
Verwandlungen vor, ehe man jede einzelne Be-
leuchtungen finden, und zuſammen addiren kann,
(§. 753.).


§. 758.


Es giebt uͤberdieß auch Faͤlle, wo Groͤßen von
verſchiedenen Dimenſionen zuſammen treffen, und wo
es folglich mehrere Deutlichkeit erfordert, wenn man
ſie nicht mit einander vermengen will. Das ein-
fachſte Beyſpiel von dieſer Art giebt uns ein fallen-
der Koͤrper. Dieſer erhaͤlt durch das Fallen eine
Geſchwindigkeit, und mit der Geſchwindigkeit eine
Kraft, die dem Quadrate der Geſchwindigkeit und
der Maſſe proportional iſt, und welche, wenn der
Koͤrper eben ſo geſchwinde horizontal geworfen wuͤr-
de, ohne Ruͤckſicht auf das Gewicht des Koͤrpers,
ihre Wirkung hervor bringen wuͤrde. Faͤllt er hin-
gegen gerade herunter, ſo koͤmmt zu dieſer Kraft noch
das
[380]XXVI. Hauptſtuͤck.
das Gewicht der Koͤrper hinzu, als vermittelſt deſſen
er, ohne eben eine Geſchwindigkeit zu haben, durch
den bloßen Druck, eine Wirkung hervor bringen kann.
Bey dem Fallen kommen nun beyde Wirkungen zu
gleich vor, und die Summe iſt aus beyden zuſam-
mengeſetzt. Jndeſſen ſind ſie von ungleichen Dimen-
ſionen. Zwar wird die Maſſe nach dem Gewichte
geſchaͤtzt, hingegen muß ſie in Abſicht auf die lebende
Kraft mit dem Quadrate der Geſchwindigkeit multi-
plicirt werden, und da iſt der Stoß ſo viel als au-
genblicklich, weil die Geſchwindigkeit gleich aufhoͤret.
Hingegen in Abſicht auf den von dem bloßen Ge-
wichte abhaͤngenden Druck koͤmmt die Geſchwindig-
keit nicht vor, aber die Wirkung dauert fort. Wenn
es abſolute weiße Koͤrper gaͤbe, die naͤmlich alles auf-
fallende Licht zuruͤcke wuͤrfen, ſo wuͤrde in vielen Faͤl-
len die Erleuchtung auf eine bemerkbare Art ſucceſ-
ſiv
ſeyn, und da haͤtten wir in Abſicht auf die Ver-
gleichung der Klarheiten aͤhnliche Schwierigkeiten,
weil in einigen Faͤllen die Zeit muͤßte mit in die
Rechnung gezogen werden.



Sechs und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Der Maaßſtab.


§. 759.


Da wir hier uͤberhaupt die zu der Groͤße und der
Ausmeſſung gehoͤrenden Grundbegriffe unter-
ſuchen, ſo haben wir zu den erſt betrachteten noch den
Begriff des Maaßſtabes, Meßleiter oder Scale be-
ſonders vorzunehmen, weil derſelbe von den vorher-
gehenden
[381]Der Maaßſtab.
gehenden verſchieden, zugleich aber auch mit denſel-
ben in genauer Verbindung iſt. Wir werden damit
anfangen, daß wir ſie in dieſer Abſicht mit einander
vergleichen. Einmal iſt die Einheit von dem Maaß-
ſtabe darinn verſchieden, daß jene in der Groͤße ſelbſt
ein oder mehrmal vorkoͤmmt, oder dieſe wenigſtens
ein Theil davon iſt. Sodann iſt die Einheit mit der
Groͤße von gleicher Art und von gleich vielen Di-
menſionen. Alles dieſes kann man von dem Maaß-
ſtabe nicht ſo unbedingt ſagen, weil dieſer außer der
Sache iſt, und weil man denſelben ſo einrichtet, daß
man ihn am bequemſten zu der Ausmeſſung gebrau-
chen kann. Denn ſo z. E. wird in der Geometrie der
Maaßſtab, wo er im eigentlichſten Verſtande dieſen
Namen hat, zur Ausmeſſung der Linien, Flaͤchen und
koͤrperlichen Raͤume nur linear angenommen, und
dieſes kann deswegen geſchehen, weil die Dimenſionen
des Raumes ſaͤmmtlich linear ſind, und weil man in
der Geometrie Mittel gefunden, die Ausmeſſung der
Raͤume auf die Ausmeſſung von Linien zu reduciren.
So eingeſchraͤnkt iſt aber die Bedeutung des Wortes
Maaßſtab nicht, weil man uͤberhaupt dasjenige einen
Maaßſtab nennet, wodurch eine Groͤße ausgemeſſen,
und jeder Grad der Veraͤnderung in derſelben ange-
zeiget werden kann, er mag nun von gleich vielen
oder von wenigern Dimenſionen ſeyn.


§. 760.


Bey dieſer Allgemeinheit aber vermenget ſich die
Bedeutung des Wortes Maaßſtab, mit der Bedeu-
tung der Woͤrter Meßleiter, Scala,μετρον, wie es
uͤberhaupt mit Woͤrtern geht, die ſtufenweiſe meta-
phoriſch werden. Da es aber hier mehr um die Sa-
che als um die Woͤrter zu thun iſt, ſo werden wir uns
auch
[382]XXVI. Hauptſtuͤck.
auch daran nicht halten, und indem wir die Sache
ſelbſt vorſtellen, wird ſich deren Bedeutung in jedem
Falle ohne Muͤhe ergeben. Wir merken demnach
an, daß ungeachtet auf dem Maaßſtabe ebenfalls
Einheiten vorkommen, dieſelben doch weder die ſind,
welche in der Sache vorkommen, noch auch nicht
nothwendig von gleicher Groͤße ſind, und daß es in
Anſehung der Dimenſionen eben die Bewandniß ha-
be, weil es zu einem Maaßſtabe, uͤberhaupt betrach-
tet, genug iſt, daß die Groͤße vermittelſt deſſelben
ausgemeſſen werden koͤnne. Jndeſſen erhaͤlt derſelbe
in beſondern Faͤllen beſondere Namen, zumal, wenn
die Eintheilung zu beſtimmten Abſichten gemacht iſt,
wie z. E. der Viſirſtab zur Ausmeſſung der Faͤſſer,
der Caliberſtab zur Ausmeſſung der Stuͤckkugeln
und Bomben, und ihres Spielraumes ꝛc. Zuweilen
wird anſtatt des Wortes Maaßſtab lieber der Aus-
druck, daß etwas zum Maaße des andern diene,
oder andere demſelben gleichgeltende Ausdruͤcke ge-
braucht, und man ſieht dabey, wenn ſie etwann auch
metaphoriſch ſind, auf die groͤßere Grade der Aehn-
lichkeit, und folglich auf das Natuͤrlichere der Me-
tapher. Wir fuͤhren dieſe Betrachtungen nur an,
um anzuzeigen, daß in allen dieſen Benennungen ein
allgemeiner Begriff ſey, und daß die Benennungen
nach den beſondern Modificationen deſſelben abgeaͤn-
dert werden. Dieſes leitet uns nun zu der Betrach-
tung der einzeln Arten, die wir aufſuchen werden,
um die Mannichfaltigkeiten, die hiebey vorkommen,
anzumerken. Denn mit allgemeinen Betrachtungen
richtet man da, wo neue Ausmeſſungsarten gefunden,
oder eine der bereits bekannten angewandt werden
ſollen, nicht viel aus.


§. 761.
[383]Der Maaßſtab.

§. 761.


Der erſte und einfachſte Fall koͤmmt nun da vor,
wo die Groͤße, welche ausgemeſſen werden ſoll, und
der Maaßſtab von gleicher Art iſt, und zwar ſowohl
der Qualitaͤt als den Dimenſionen nach. Denn
die mathematiſche Gleichartigkeit erfordert beydes,
(§. 757. 485.). Dieſes kann nun bey Groͤßen, die
ausgedehnet ſind, faſt immer geſchehen, weil ſie mit
gleich ausgedehnten Groͤßen am natuͤrlichſten und ein-
fachſten gemeſſen werden koͤnnen, es mag nun dieſes
der Zahl nach, wo man nur die Theile als einzelne
Ganze vorzaͤhlet, oder den Graden nach geſchehen,
wie es bey Groͤßen geſchieht, die der Ausdehnung
nach eine Continuitaͤt haben. Beyſpiele von dieſer
Art giebt uns die Geometrie, als in welcher Win-
kel, Linien, Quadrate und Cubi zur Ausmeſſung von
Winkeln, Linien, Flaͤchen und koͤrperlichen Raͤumen
als Maaßſtaͤbe gebraucht werden koͤnnen. Da man
aber dabey auf Erleichterungen und Abkuͤrzungen
denket, ſo werden auch zu den Flaͤchen und Raͤumen
nur lineare Maaßſtaͤbe gebraucht, und entweder
gleich, oder zu gewiſſen Abſichten, wie z. E. bey den
Caliberſtaͤben, nach beſondern Geſetzen ungleich ein-
getheilet. Aus eben dem Grunde werden nicht die
Winkel ſelbſt, ſondern Cirkelboͤgen zum Maaße der
Winkel gebraucht, und bey den geradelinichten
Transporteurs werden ſtatt der Winkel die Tangen-
ten genommen, und die Grade dahin gezeichnet, wo
die Tangenten derſelben hinfallen. Da ſolche geo-
metriſche und lineare Maaßſtaͤbe an ſich die einfach-
ſten ſind, ſo ſuchet man auch jede uͤbrigen, ſo viel moͤg-
lich iſt, auf dieſelben zu reduciren, und erhaͤlt dieſe
Abſicht in allen denen Faͤllen, wo andere Groͤßen durch
Linien und Flaͤchen vorgeſtellet werden koͤnnen.


§. 762.
[384]XXVI. Hauptſtuͤck.

§. 762.


Dabey giebt es aber eine Menge von Faͤllen, wo
eine ſolche Vorſtellung nur ſymboliſch und ein ſinn-
liches Bild von den Groͤßen iſt, und der Vortheil,
den man davon hat, iſt daß, wenn ſie richtig getrof-
fen wird, die Lehrſaͤtze der Geometrie dabey anwend-
bar ſind, und nach dem man die Hauptlinien gezo-
gen, ſodann auch andere, ſo man in der Figur zie-
hen kann, eine Bedeutung erhalten. Man ſtelle
z. E. die Hoͤhen der Luft als Abſciſſen, die Barome-
terhoͤhen aber als Ordinaten vor, ſo werden die Sub-
tangenten der dadurch conſtruirten krummen Linie das
Maaß der Elaſticitaͤt der Luft und zugleich auch der
Waͤrme in jeder Hoͤhe ſeyn, wenn man von den in
der Luft ſchwebenden Duͤnſten abſtrahirt, oder ſetzet,
ſie ſeyn nach der Dichtigkeit der Luft vertheilet ꝛc.
(§. 730.).


§. 763.


Hingegen giebt es auch Groͤßen, die ſich ſelbſt der-
geſtalt ihr eigener Maaßſtab ſind, daß man ſie nur
unter ſich vergleichen kann, und die eine oder die an-
dere nach beſtimmten Geſetzen vermindern muß, um
ſie zur Gleichheit zu bringen. Denn ſo haben wir
z. E. noch dermalen kein anderes Mittel, die ver-
ſchiedenen Grade der Klarheit unter einander ſo zu
vergleichen, daß man finden koͤnne, wie viel die eine
heller ſey als die andere. Jn Anſehung der Gewichte
finden wir uns in einem aͤhnlichen Falle, ausgenom-
men, daß uns die Wage und Schnellwage dienet,
die Vergleichung anzuſtellen, welche in dieſer Abſicht
betrachtet, ſchlechthin ein Mittel iſt, ein Gleichge-
wicht zu erhalten. Auf eine aͤhnliche Art vergleichen
wir die lebenden Kraͤfte unter ſich dadurch, daß wir
ſie
[385]Der Maaßſtab.
ſie den Maſſen und Geſchwindigkeiten proportional
ſetzen, und man hat lange daruͤber geſtritten, wodurch
ſie ſich ſonſten koͤnnten ausmeſſen laſſen, zumal da
dieſer Satz anfaͤnglich nur da gefunden wurde, wo
elaſtiſche Koͤrper an einander ſtoßen, und einer den
andern in Bewegung ſetzet, und wo man ſich, ohne
das Wort Kraft zu gebrauchen, mit dem Quadrate
der Geſchwindigkeit und der Maſſe aushelfen konnte.


§. 764.


Außer dieſen Faͤllen giebt es noch eine große An-
zahl ſolcher, wo wir nicht die Groͤße ſelbſt, ſondern
nur eine damit verbundene und zugleich mit derſelben
zu- oder abnehmende Groͤße ausmeſſen koͤnnen, es ſey,
daß dieſe eine Wirkung oder eine Urſache von jener
ſey, oder daß beyde eine gemeinſame Urſache haben.
Und da iſt die Sache noch mißlicher und unvollſtaͤn-
diger, wenn letztere nur angiebt, daß erſtere groͤßer
oder kleiner ſey, ohne daß wir daraus folgern koͤnn-
ten, wie viel es betrage? Von ſolcher Art ſind die
Thermometer, und mehr noch die Hygrometer, weil
dieſe eine ſehr unvollkommene Anzeige der Veraͤnde-
rung in der Feuchtigkeit der Luft ſind. Hingegen ha-
ben die Thermometer doch das zum Beſten, daß ſie
correſpondirend gemacht werden koͤnnen, und bey glei-
cher Waͤrme wiederum eben den Grad zeigen, unge-
achtet man aus dieſem noch nicht auf den abſoluten
Grad der Waͤrme ſchließen kann. Man kann aber
auch noch nicht ſo eigentlich beſtimmen, was derſelbe
ſagen will.


§. 765.


Es geht aber auch nicht bey allen Faͤllen, wo wir
zur Ausmeſſung einer Groͤße ungleichartige Maaß-
ſtaͤbe gebrauchen, ſo unvollſtaͤndig zu. Senn ſo z. E.
Lamb. Archit.II.B. B bgiebt
[386]XXVI. Hauptſtuͤck.
giebt uns die Hoͤhe des Barometers ein noch ziemlich
zuverlaͤßiges Maaß von der Schwere der Luft an die
Hand, und noch viel genauer koͤnnen wir die gleich-
foͤrmige circulare Bewegung der Sterne und die
Schwankungen der Pendul zum Maaße der Zeit ge-
brauchen. So hat auch der Satz, daß die Laͤngen
der Cirkelboͤgen das Maaß der Winkel ſind, eine
voͤllig und im eigentlichſten Verſtande geometriſche
Schaͤrfe; und das Maaß der Geſchwindigkeiten wird
in der Mechanic durch die Quadratwurzel der Hoͤhe
des Falles im luftleeren Raume, als verſtaͤndlich und
genau angegeben und gebraucht. Auf eine aͤhnliche
Art hat man in Abſicht auf die Tonkunſt ſchon viel
dazu beygetragen, das Maaß der Toͤne und ihrer Jn-
tervallen durch die Laͤnge, Dicke und Spannung der
Saiten verſtaͤndlich zu machen, und zwar nicht nur,
daß man ihre Verhaͤltniſſe in Zahlen, und ihre In-
terualla
durch die Logarithmen dieſer Verhaͤltniſſe vor-
ſtellen, ſondern auch den Ton ſelbſt angeben kann.


§. 766.


Außer dieſen Faͤllen giebt es noch andere, wo man
es ſchlechthin auf das Zaͤhlen muß ankommen laſſen,
wo naͤmlich alles nach ganzen Zahlen geht. Dabey
aͤußert ſich wiederum der Unterſchied, ob man es
ſchlechthin bey dem Zaͤhlen muͤſſe bewenden laſſen, oder
ob man die Summe und ihre Theile zu andern Rech-
nungen gebrauchen koͤnnen. Dieſer Unterſchied ruͤhret
daher, ob die Theile oder einzelne Ganze gleichartig
oder ungleichartig ſind, und in dieſer Abſicht haben wir
denſelben im vorhergehenden (§. 149. 434. 700. 710. 711.
714.) bereits betrachtet. Man ſieht auch ohne ferneres
Erinnern, daß in dem erſten Falle von Maaßſtaͤben
die Rede nicht vorkoͤmmt, weil, was auf einen gleichen
Maaß-
[387]Der Maaßſtab.
Maaßſtab gebracht werden ſoll, gleichartig ſeyn muß,
wenigſtens in derjenigen Abſicht, in welcher man es
ausmißt, und wozu der Maaßſtab dienet, (§. 717.).
Kann man aber die einzeln Ganzen als Einheiten anſe-
hen, die in ſolcher Abſicht in eine Claſſe gehoͤren, ſo kann
ſich auch die dabey vorkommende Rechnung weiter
als auf das Numeriren erſtrecken. Das allgemeinſte
Beyſpiel hievon giebt uns die Berechnung der Wahr-
ſcheinlichkeit, als bey welcher die Abzaͤhlung der zu
jeder Claſſe gehoͤrenden Faͤlle (§. 152. ſeqq. Phaͤno-
menol.), und ſo auch der zu einem Begriffe gehoͤren-
den einfachen Beſtimmungen (§. 459.) vorkoͤmmt,
und wobey jeder Fall und jede einfache Beſtimmung
als eine Einheit angeſehen wird.


§. 767.


Man ſieht aus den bisher angefuͤhrten Faͤllen und
Beyſpielen, auf wie vielerley Arten man es ange-
griffen, um die Ausmeſſung nach jeder Verſchieden-
heit derſelben moͤglich zu machen, und Maaßſtaͤbe
dabey anbringen zu koͤnnen. Um nun daruͤber eini-
ge allgemeinere Betrachtungen zu machen, ſo bemer-
ken wir erſtlich, als etwas fuͤr ſich offenbares, daß
es zur Ausmeſſung einer Groͤße nicht genug iſt, daß
man wiſſe, ſie koͤnne ſtufenweiſe groͤßer oder kleiner
werden, und daß zwey, drey, vier Grade, zwey,
drey, viermal groͤßer ſey als einer. Denn erſteres
zeiget nur an, daß Ausmeſſung und Maaßſtaͤbe da-
bey moͤglich ſind, das andere aber iſt weiter nichts
als einer der erſten Saͤtze der Arithmetic, welcher die
Grade in der Sache ſelbſt weder angiebt noch kennt-
lich machet. Dieſes wird aber eigentlich zu der Aus-
meſſung erfordert, und ſetzet zugleich voraus, daß
etwas da ſeyn muͤſſe, woran und wodurch die
B b 2Grade
[388]XXVI. Hauptſtuͤck.
Grade unterſchieden und kennbar gemacht werden
koͤnnen. Hiebey bezieht ſich nun das woran meh-
rentheils auf die Sache ſelbſt, das wodurch aber
auf den Maaßſtab, oder auf dasjenige, was man
zur Erkenntniß, Schaͤtzung, Beſtimmung ꝛc. der
Grade gebraucht oder gebrauchen kann. Jn beyden
Abſichten aber will man bey der Ausmeſſung nicht
nur wiſſen, daß ein Grad groͤßer ſey als der andere,
wie z. E. in den Faͤllen des §. 764, ſondern genauer
und eigentlicher, wie vielmal derſelbe groͤßer ſey.


§. 768.


Will man nun hiebey nach der wahren und natuͤr-
lichen Ordnung verfahren, ſo muß man anfangen zu
ſehen, woran ſichs erkennen laſſe, ob bey einer vor-
gegebenen Art von Groͤßen, die einzeln Theile gleich
ſind oder nicht, und welche Bedingungen zu der
Gleichheit derſelben erfordert werden. Dazu thut
nun uͤberhaupt betrachtet der oben (§. 139.) in Abſicht
auf die Jdentitaͤt angefuͤhrte Satz ſehr gute Dienſte,
und man faͤngt mit deſſen ſpecialern Anwendung ge-
meiniglich die beſondern Theile der mathematiſchen
Wiſſenſchaften an, wie es aus den im §. 140. ange-
fuͤhrten Beyſpielen erhellet. Es wird aber dabey die
Gleichheit der Groͤßen beſonders aus dem hergeleitet,
ob alles das, wodurch ſie veraͤndert werden koͤnnten,
einerley iſt. Jſt dieſes, ſo ſind die Groͤßen aller-
dings gleich. Hingegen giebt es Faͤlle, wo ſie deſ-
ſen unerachtet ebenfalls gleich ſeyn koͤnnten, wo naͤm-
lich ein Umſtand den andern compenſirt, (§. 601.).
Dieſes machet, daß man erſt bemeldeten Satz nur
directe gebrauchen kann, und daß es aus den beſon-
dern Umſtaͤnden der Sache muß bewieſen werden,
wenn derſelbe auch umgekehrt angewandt werden ſoll.
Dieſes
[389]Der Maaßſtab.
Dieſes geht nun nothwendig an, wo die Veraͤnde-
rung in der Groͤße nur von einem Umſtande abhaͤngt.
Wo aber mehrere Umſtaͤnde ſind, da muß man bis
auf einen wiſſen, daß ſie gleich oder einerley ſind,
und ſodann laͤßt ſich aus der Gleichheit der Groͤßen
auch auf die Gleichheit dieſes einen Umſtandes den
Schluß machen, wenn man dieſe auch aus andern
Gruͤnden nicht weiß. Es giebt demnach erſt erwaͤhn-
ter Satz eigentlich eine Gleichung an, vermittelſt de-
ren man von den darinn vorkommenden Groͤßen eine
durch die uͤbrigen ſo beſtimmen kann, daß, wenn die
uͤbrigen in zween oder mehrern Faͤllen einerley ſind,
auch dieſelbe einerley ſey.


§. 769.


Es giebt aber in beſondern Faͤllen auch ſpecialere
Benennungen ſolcher Umſtaͤnde, und ſpecialere Kenn-
zeichen von der Gleichheit zwoer oder mehrerer Groͤ-
ßen. Denn ſo z. E. hat man in der Geometrie den
Satz, daß die Figuren, deren Ende auf einander
paſſen, einander (ſowohl der Groͤße als der Art und
der Aehnlichkeit nach) gleich ſind. Dieſer Satz gilt
bey geraden Linien und Winkeln auch umgekehrt, weil
dieſe nicht von gleicher Groͤße ſeyn koͤnnen, ohne auf
einander zu paſſen. Er enthaͤlt auch den eigentlichen
und abſoluteſten Grundbegriff von der unmittelbar-
ſten Vergleichung zwoer Groͤßen, weil man ſich da-
bey nicht nur Worte, ſondern unmittelbar die Sache
ſelbſt vorſtellet. Hingegen haben wir nicht ſelten die
Gruͤnde zur Gleichheit zwoer Groͤßen aufzuſuchen, wo
mehrere und der Art nach von einander verſchiedene
Umſtaͤnde vorkommen, von denen dieſe Gleichheit
abhaͤngt. So z. E. ſagen wir, daß zween Koͤrper
gleiche Dichtigkeit haben, bey welchen in gleich gro-
B b 3ßem
[390]XXVI. Hauptſtuͤck.
ßem Raume gleich viel Materie iſt. Da muß nun
ſchon Raum und Materie mit einander verglichen
werden, und zur Vergleichung der Menge der Ma-
terie muͤſſen wir entweder die Schwere oder die Be-
wegung gebrauchen. So werden bey dem oben
(§. 475. 488.) betrachteten archimediſchen Satze von
der Gleichheit zweyer Gewichte bey inſtehender Wage,
oder umgekehrt von der inſtehenden Wage bey glei-
chen Gewichten, Schluͤſſe erfordert (§. §. cit.), und
wenn man ihn auch will als fuͤr ſich klar gelten laſ-
ſen, ſo kommen dennoch dabey mehrere Umſtaͤnde
zugleich in Betrachtung, und beſonders wird dabey
vorausgeſetzt, daß die Schwere aller Orten gleich
ſey, welches zwar von der Wahrheit nicht merklich
abgeht, aber abgehen wuͤrde, wenn die Erde ſich
ſchneller um ihre Axe drehete ꝛc. Uebrigens laͤßt er
ſich allgemeiner und ohne Ruͤckſicht auf die Umſtaͤnde
der wirklichen Welt vortragen. Man wird aus dem
§. 692. ſehen, daß die Saͤtze von der Vergleichung
der Klarheiten und der Erleuchtung noch von mehrern
Umſtaͤnden abhaͤngen, und aus dem §. 140. daß auch
da noch die Vergleichung nicht einfach iſt, wo man
es auf die Empfindung will ankommen laſſen. Jn
ſolchen Faͤllen koͤmmt nun allerdings die Schwierig-
keit mehr auf das Aufſuchen aller Umſtaͤnde an, von
welchen die Groͤße der Sache abhaͤngt. Denn weiß
man dieſe ſaͤmmtlich, ſo iſt der vorhin erwaͤhnte Satz
des §. 139. ſchlechthin dabey anwendbar, (§. 768.).
Uebrigens iſt hiebey fuͤr ſich klar, daß man leichter
damit fortkoͤmmt, wo man von den beſtimmenden
Umſtaͤnden einige in einen Begriff zuſammen nimmt,
ſo viel naͤmlich fuͤr ſich betrachtet ein Ganzes ausma-
chen koͤnnen, und zu einer vorhabenden Abſicht die-
nen. So z. E. um den Grad der Durchſichtigkeit,
oder
[391]Der Maaßſtab.
oder auch der Weiße eines Koͤrpers zu beſtimmen,
iſt es genug, daß man das auffallende Licht mit dem
durchgehenden oder zuruͤck geworfenen vergleicht, ohne
dabey den Abſtand und die abſolute Helligkeit mit in
Betrachtung zu ziehen, und auf eine aͤhnliche Art mißt
man die Geſchwindigkeit nur durch den Raum und
die Zeit aus, ohne auf andere Umſtaͤnde, z. E. auf
die Maſſe, Direction, Kraft ꝛc. Acht zu haben, weil
dieſe nicht nothwendig dazu erfordert werden.


§. 770.


Um aber zu dem erſt angefuͤhrten geometriſchen
Begriff von dem zuſammen- oder auf einander paſſen
der Figuren zuruͤck zu kehren, um denſelben naͤher zu
betrachten, ſo koͤnnen wir erſtlich anmerken, daß
man bey dieſem Zuſammenpaſſen eigentlich auf die
Enden oder den Umriß der Figur ſieht, weil dieſer
die Figur zur Figur machet, und weil, wenn die
Umriſſe zuſammen paſſen, auch nothwendig die Figu-
ren, ſofern ſie flach ſind zuſammen paſſen. Jn ſo
fern aber iſt der Satz unter dem viel allgemeinern
enthalten, den wir oben (§. 139.) vorgetragen haben.
Sodann koͤnnen wir das in dem §. 80. erwaͤhnte
ideale Herumtragen der Theile des Raumes dabey
mit vornehmen, als welches von dem phyſiſchen Her-
umtragen der Koͤrper verſchieden, und deswegen bloß
ideal iſt, weil es mit den Theilen des wirklichen
Raumes nicht angeht. Durch dieſes ideale Herum-
tragen aber legen wir in Gedanken jede Seiten und
Winkel der einen Figur auf die Seiten und Winkel
der andern, um uns dadurch zu verſichern, daß ſie
durchaus auf einander paſſen. Wollen wir demnach
bey ſolchen idealen Vorſtellungen bleiben, ſo laͤßt ſich
der Satz vom Zuſammenpaſſen weiter ausdehnen,
ungeachtet er in Abſicht auf den Raum immer eine
B b 4groͤßere
[392]XXVI. Hauptſtuͤck.
groͤßere Klarheit und Brauchbarkeit hat. Denn ſo
z. E. koͤnnen wir in Gedanken die Theile der Zeit
herum tragen, und wenn wir uns zwo Stunden von
gleicher Laͤnge vorſtellen, ſo ſtellen wir uns ebenfalls
vor, daß wenn der Anfang von beyden zugleich waͤre,
auch das Ende von beyden zugleich ſeyn wuͤrde. Die-
ſes Zuſammenpaſſen giebt uns, eben ſo, wie in der
Geometrie, den abſoluteſten Begriff von ihrer glei-
chen Laͤnge oder Dauer. Sofern wir der Kraft eine
Ausdehnung und Dauer geben, laͤßt ſich der Begriff
des Zuſammenpaſſens ebenfalls dabey anwenden.
Jndeſſen aber vergleichen wir zwo Kraͤfte ehender mit
der Ausdehnung der Dinge, auf welche ſie angewandt
werden koͤnnen, und in Abſicht auf die Kraͤfte des
Verſtandes und des Willens nehmen wir ſtatt der
Ausdehnung die Anzahl der Gegenſtaͤnde. Hingegen
geht der Begriff vom Zuſammenpaſſen bey den Gra-
den der Jntenſitaͤt nicht anders an, als wenn wir die
einzeln Aufhaͤufungen uns als außer einander vorſtel-
len. Daher ſchaͤtzen wir die Gleichheit zwoer Kraͤfte
der Jntenſitaͤt nach ehender aus der Gleichheit der Wir-
kung, und ſehen, ob dieſe einerley bleibe, wenn eine
Kraft ſtatt der andern geſetzt wird. Es hat aber der
Begriff des Zuſammenpaſſens bey dem Raume deſto
mehrern Gebrauch, weil bey den Figuren Seiten und
Winkel auf einander paſſen muͤſſen, und weil dieſes
Anlaͤſſe giebt viele Lehrſaͤtze daher zu leiten, wodurch
man von dem Zuſammenpaſſen einiger Linien und
Winkel auf das Zuſammenpaſſen der uͤbrigen den
Schluß machen kann. Und dieſes iſt es eben, was in
der Geometrie die Anzahl der gegebenen Stuͤcke ver-
mindert, und zugleich ein Grund mit, warum man
andere Groͤßen auf Linien und Raͤume reducirt,
(§. 762. 82.).


§. 771.
[393]Der Maaßſtab.

§. 771.


Man hat daher, um das Kennzeichen der Gleich-
heit allgemeiner zu machen, ſtatt des Begriffes vom
Zuſammenpaſſen, den Satz angenommen, daß Groͤ-
ßen, die einander gleich ſind, fuͤr einander geſetzt oder
einander ſubſtituirt werden koͤnnen (§. 142. Poſtul. 1.),
und daß hinwiederum Groͤßen gleich ſind, wenn ſie
fuͤr einander koͤnnen geſetzt werden, (§. 137. Axiom. 11.).
Wir unterſuchen hiebey nicht, wie fern der letztere
von dieſen Saͤtzen als eine Definition der Gleichheit
gelten koͤnne, wie ihn Wolf dafuͤr ausgegeben.
Der Begriff der Gleichheit iſt an ſich einfach, und
laͤßt ſich durch die Anzeige, wie wir dazu gelangen,
beſſer und natuͤrlicher klar machen, (§. 126. 136.).
Und ſo wird man erſt angefuͤhrten Satz immer als
ein Kennzeichen der Gleichheit anſehen koͤnnen, wel-
ches fuͤr ſich zureichet, ungeachtet ſtatt deſſen etwann
auch andere gebraucht werden koͤnnen. Wir werden
daher vielmehr unterſuchen, wie weit wir damit rei-
chen? Dieſes koͤmmt nun auf die Fragen an, 1°. wie
die Groͤßen fuͤr einander koͤnnen geſetzt, oder einan-
der ſubſtituirt werden; 2°. woran ſich die Moͤglichkeit
erkennen laſſe, und 3°. wie man ſich dabey verſichere,
daß wenn man die eine fuͤr die andere ſetzet, man we-
der mehr noch minder ſetze, als dieſe war? Denn
kann man in beſondern Faͤllen dieſe Fragen nicht er-
oͤrtern, ſo faͤllt der Gebrauch dieſes Kennzeichens weg,
und die Groͤßen bleiben unverglichen, oder man muß
andere Kennzeichen gebrauchen.


§. 772.


Wir muͤſſen hiebey die zween Faͤlle unterſcheiden,
ob man naͤmlich die Groͤßen nur in dem Calcul ver-
gleicht, oder ob man ſie in der Sache ſelbſt nimmt.
B b 5Denn
[394]XXVI. Hauptſtuͤck.
Denn in dem erſten Falle reichet man mit dem Sa-
tze, daß jede Groͤße ſich ſelbſt gleich ſey, (§. 137.
Axiom. 1.), und daß man ſie, eben ſo, wie die
Einheiten, ſo vielmal nehmen kann, als man
will
(§. 77. Poſtul. 1.), in Abſicht auf die bloße Ver-
gleichung aus, ungeachtet der Calcul ſodann noch an-
dere Grundſaͤtze und Poſtulata fordert, welche die
Verwandlung der Groͤßen, und ſo auch die Faͤlle be-
treffen, wo zwo Groͤßen mit einer dritten verglichen
werden. Jn Anſehung des andern Falles aber reichet
man ebenmaͤßig aus, wo die einzeln Theile der Sa-
che ſchlechthin nur als Ganze angeſehen werden, die
man in Abſicht auf die Rechnung in eine Claſſe
nimmt, wie es in dem vorhin (§. 766.) angefuͤhrten
Beyſpiele von der Berechnung der Wahrſcheinlichkeit
geſchieht. Denn da es hiebey nur auf das Abzaͤhlen
der Faͤlle ankoͤmmt, ſo hat es in Anſehung der Frage,
ob man gleich viele oder mehr oder weniger Faͤlle ha-
be, keine Schwierigkeit. Das Zahlengebaͤude iſt ſo
eingerichtet, daß die Vergleichung der Zahlen unter
allen die leichteſte iſt.


§. 773.


Hingegen in andern Faͤllen, wo die Groͤßen der
Ausdehnung und Staͤrke nach zu vergleichen ſind,
muͤſſen wir allerdings Kennzeichen aufſuchen, die dem
vorhin betrachteten Zuſammenpaſſen (§. 759. ſeqq.)
ſehr aͤhnlich ſind. Wir bemerken zu dieſem Ende,
daß man in Anſehung der Theorie, ſelbſt in Abſicht
auf den Raum, das Zuſammenpaſſen einiger Linien
und Winkel hypothetiſch oder als Bedingungen an-
nimmt, damit man ſodann das Zuſammenpaſſen der
uͤbrigen daraus ſchließen koͤnne. Solche Lehrſaͤtze zei-
gen demnach die Abhaͤnglichkeit einiger Stuͤcken von
den
[395]Der Maaßſtab.
den andern, und dadurch wird der Satz des §. 139.
anwendbar. Hingegen um ſich in individualen Faͤl-
len von der Wirklichkeit des Zuſammenpaſſens zu
verſichern, da muͤſſen die Linien in der That auf ein-
ander gelegt werden, oder, wo dieſes nicht angeht,
oder zu weitlaͤuftig iſt, da bedienet man ſich eines
Maaßſtabes, und verſichert ſich von der Gleichheit
oder Ungleichheit durch die Ausmeſſung. Auf dieſen
Unterſchied zwiſchen der Theorie und Ausuͤbung hat
man bey der Aufloͤſung der vorhin (§. 771.) vorgeleg-
ten Fragen allerdings zu ſehen, weil daraus erhellet,
daß die Theorie immer vielmehr auf die Abhaͤnglich-
keit der Groͤßen von einander, die Ausuͤbung aber
auf die wirkliche und abſolute oder individuale Be-
ſtimmung derſelben geht. Und ſo bedarf die Theorie
im eigentlichſten Verſtande keiner Maaßſtaͤbe, da
hingegen dieſe in der Ausuͤbung unentbehrlich ſind.
Dieſes aber vorausgeſetzt, ſo iſt der Satz des §. 139.
immer die erſte Grundlage zur theoretiſchen Verglei-
chung der Groͤßen, und loͤſet daher fuͤr die Theorie
die erſt vorgelegten Fragen (§. 771.) in ſo fern auf,
daß man ſich in jedem Falle nur von den Umſtaͤnden
verſichern darf, von welchen die Veraͤnderungen einer
Groͤße abhaͤngen. Solche Umſtaͤnde nimmt die Theo-
rie hypothetiſch, als gleich an, und folgert die Gleich-
heit der Groͤßen daraus. Wir koͤnnen noch anmer-
ken, daß dieſer Schluß immer der leichteſte iſt, weil
derſelbe von den beſondern Geſetzen, nach welchen
jeder Umſtand die Groͤße aͤndert, nicht abhaͤngt. Denn
ſo z. E. war man bey der Streitigkeit, ob die Kraft
ſich nach der Geſchwindigkeit oder nach dem Quadrate
derſelben richte, beyderſeits darinn einig, daß wenn
zween Koͤrper gleiche Maſſen und gleiche Geſchwindig-
keit haben, auch die Kraft derſelben gleich ſey.


§. 774.
[396]XXVI. Hauptſtuͤck.

§. 774.


Wir haben nun allerdings in den meiſten uͤbrigen
Faͤllen die Schicklichkeit nicht, daß wir die Groͤßen
ſo an einander legen koͤnnten, wie die Linien in der
Geometrie, und dieſes machet, daß wir andere Mit-
tel zu ihrer Vergleichung, und daher andere Arten
von Maaßſtaͤben gebrauchen und aufſuchen muͤſſen.
Denn ſo z. E. mag das vorhin (§. 770.) angezeigte
ideale Aufeinanderpaſſen der Theile der Zeit uns nach
aller geometriſchen Schaͤrfe den Begriff von ihrer
Gleichheit angeben. Soll aber die Zeit gemeſſen
werden, ſo muͤſſen wir die Bewegung dazu gebrau-
chen (§. 765.), als welche uns bey gleicher Geſchwin-
digkeit die Theile der Zeit durch die Theile des durch-
laufenen Raumes vorſtellet, bey den Pendulen aber
die Einheiten durch ihre Schwankungen vorzaͤhlet.
Daher entſtehen ſodann die verſchiedenen Arten von
Maaßſtaͤben, die wir in den vorhergehenden Abſaͤ-
tzen in Claſſen gebracht und durch Beyſpiele erlaͤutert
haben, (§. 761-767.). Die meiſten davon ſind von
der Art, daß zwo Groͤßen gleich ſind, wenn zwo an-
dere Groͤßen gleich ſind, oder wenn ſie bey einer und
eben derſelben gleichen Groͤße vorkommen. Jn vie-
len Faͤllen muͤſſen wir die Schaͤtzung der Gleichheit
ſchlechthin nur auf die Empfindung ankommen laſſen,
bis ſich etwas Ausmeßbares findet, deſſen Groͤße ſich
nach der vorgegebenen Groͤße richtet.


§. 775.


Die bisherigen Betrachtungen (§. 768-776.) ge-
hen nun vornehmlich darauf, daß ſie angeben, wor-
an ſich die Gleichheit zwoer Groͤßen erkennen laſſe,
die von einerley Art ſind. Dieſes iſt aber nur der
Anfang zu den im §. 767. vorgelegten Fragen. Denn
wenn die Groͤßen, die man gegen einander zu halten
hat,
[397]Der Maaßſtab.
hat, ungleich ſind, ſo fordert die Ausmeſſung, daß man
muͤſſe angeben koͤnnen, wie vielmal die eine groͤßer iſt
als die andere, und dieſes iſt es auch eigentlich, was
man von den Maaßſtaͤben erwartet, die dabey ſollen
angewandt, oder auf welche die Groͤßen ſollen ge-
bracht werden koͤnnen. Wir haben in dem §. 767.
daher bereits angemerket, daß man zu dieſem Ende
darauf zu ſehen habe, woran und wodurch die Grade
unterſchieden und kennbar gemacht werden koͤnnen?
Dieſes hat nun in denen Faͤllen keine große Schwie-
rigkeit, wo die Theile außer einander ſind, oder von
einander getrennet und gleichſam vorgezaͤhlet werden
koͤnnen, wie es z. E. bey dem Raume, der Zeit und
der Bewegung geſchehen kann. Hingegen, wo ſie
theils unſichtbar, theils in einander aufgehaͤufet ſind,
wie bey den Graden der Jntenſitaͤt, da giebt es leicht
mehrere Schwierigkeiten, und man hat genau darauf
zu ſehen, was eine ſolche Aufhaͤufung nach ſich zieht.
Denn ſo z. E. werden etwann fluͤßige Materien von
ungleicher Schwere und Dichtigkeit zuſammen gegoſ-
ſen, oder Salze darinn aufgeloͤſet, oder Metalle zuſam-
men geſchmolzen, und die vermiſchte Materie iſt gar
nicht nothwendig in Verhaͤltniß der Dichtigkeit derer
die man vermiſchet hatte. Sie kann mehr oder minder
Raum einnehmen als ſie vor der Vermiſchung ein-
nahm, je nach dem die Zwiſchenraͤumchen groͤßer und
haͤufiger, oder kleiner und ſeltener werden. Man
kann eben ſo, wenn man zwo ungleich warme Ma-
terien zuſammen gießt, nicht unbedingt auf den Grad
der Waͤrme ſchließen, den die Vermiſchung dabey
erhaͤlt, weil die Kraͤfte, wodurch in jeder Materie
die Theilchen verbunden waren, bey der Vermiſchung
aus dem Gleichgewichte gehoben werden koͤnnen, in
welchem ſie unter ſich und mit der ausdehnenden
Kraft
[398]XXVI. Hauptſtuͤck.
Kraft der Waͤrme waren. So entſteht z. E. eine
Erkaͤltung, wenn man Salze im Waſſer, und hin-
gegen eine Erwaͤrmung, wenn man Metalle in
Scheidewaſſer aufloͤſet, oder Vitrioloͤl mit Weinſtein-
oͤl vermiſchet ꝛc. Auf eine aͤhnliche Art hat man den
Schluß gemacht, daß in bewegten Koͤrpern die Ge-
ſchwindigkeit leichter vermindert als vermehret wird,
weil einem Koͤrper, der einen andern einholen ſoll,
um ihm noch einen Grad von Geſchwindigkeit durch
den Stoß mitzutheilen, eine groͤßere Geſchwindigkeit
gegeben werden muß, als dieſer andere hatte.


§. 776.


Wir fangen aber gemeiniglich bey den Empfin-
dungen an, uns von der Vermehrung und Vermin-
derung der Grade einer Groͤße zu verſichern, und bis
dahin hat dieſes mit unſerer ganzen Erkenntniß etwas
gemeinſames, als welche ohnehin bey den Empfin-
dungen anfaͤngt. Dieſes giebt uns gleichſam das
erſte Bewußtſeyn von der Groͤße, und beſonders auch
von ihrer Veraͤnderlichkeit, und von dem Unterſchie-
de, den wir zwiſchen denſelben und den abſoluten und
unveraͤnderlichen Einheiten machen. So giebt es
auch Faͤlle, wo wir vielmehr die Veraͤnderung als
die Groͤße ſelbſt empfinden, wie z. E. die temperirte
Waͤrme, woran wir uns ſo gewoͤhnen, daß wir da-
bey weder Waͤrme noch Kaͤlte empfinden, und wo
hingegen dieſe Empfindung anfaͤngt, ſo bald ſich die
Temperatur aͤndert. Wo wir aber unſer Urtheil nicht
wollen ſchlechthin nur auf die Empfindung ankommen
laſſen, da ſuchen wir ſodann in der Sache ſelbſt et-
was auf, woran ſich die Veraͤnderung der Groͤße er-
kennen oder abnehmen laͤßt. Denn ſo haben wir
z. E. bey der Waͤrme, die dadurch verurſachte Aus-
dehnung
[399]Der Maaßſtab.
dehnung der Koͤrper, und beſonders auch ſolche Faͤlle,
wobey wir gewiß ſchließen koͤnnen, daß ſich die Waͤr-
me aufhaͤufen und verſtaͤrken muß, wie, wenn z. E.
in den Ofen doppelt, drey und mehrmal mehr Holz
eingelegt, und dadurch das Feuer vergroͤßert wird,
oder wenn wir ſchließen, daß die Waͤrme des Feuers
mit der Entfernung von demſelben abnehme, oder
daß die durch ein Brennglas verdichte Sonnenſtra-
len einen ſtaͤrkern Grad von Waͤrme verurſachen ꝛc.
Alle ſolche Umſtaͤnde zuſammen genommen, laſſen
uns ſodann von dem Satze, daß die Waͤrme die Koͤr-
per ausdehne, und die Ausdehnung mit der Waͤrme
groͤßer werde, nicht zweifeln. Denn da wir dieſes
nicht unmittelbar ſehen, ſo muß es durch Schluͤſſe
herausgebracht werden. Jn Anſehung des Lichtes
haben wir außer der Empfindung ſeiner verſchiedenen
Helligkeit nur die Faͤlle, wo wir offenbar ſehen, daß
eine Aufhaͤufung da ſeyn muͤſſe, wie z. E. wenn eine
Flaͤche von mehrern Lichtern beleuchtet wird, oder,
wo die Stralen wegen des geringern Abſtandes dich-
ter beyſammen ſind. Bey dem Schalle laͤßt ſich
ebenfalls eine Aufhaͤufung gedenken, welche durch
die Anzahl von Trommeln, Pfeifen, Saiten, Stim-
men ꝛc. vermehret, oder auch von einem dieſer Jn-
ſtrumente der Schall verſtaͤrket wird. Man faͤngt
in ſolchen Faͤllen immer am natuͤrlichſten bey dem an,
was ſich dabey zaͤhlen laͤßt, um dadurch gleichſam
einen Maaßſtab zu dem uͤbrigen zu haben. Man
kann aber auch nicht immer ſchließen, daß ſich das
uͤbrige ſchlechthin nach ſolchen Zahlen richte, weil zu-
weilen die Aufhaͤufung mehrere Umſtaͤnde nach ſich
zieht, zuweilen auch ſchon Umſtaͤnde dabey ſind, die
die Sache nach andern Verhaͤltniſſen ausfallen ma-
chen. So z. E. hat der Hr. von Musſchenbroeck
die
[400]XXVI. Hauptſtuͤck.
die Ausdehnung metallener Drate, die von 1, 2, 3, ꝛc.
Lampen erwaͤrmet wurden, der Anzahl dieſer Lampen
nicht proportional gefunden. Man haͤtte dieſes leicht
voraus ſehen koͤnnen, weil die Erwaͤrmung nicht durch
alle Theile gleichfoͤrmig, noch die Luft zwiſchen den
Lampen gleich warm war. Die vorhin (§. 775.) von
der Dichtigkeit und Waͤrme vermiſchter Materien und
von der Vermehrung der Geſchwindigkeit angefuͤhr-
ten Beyſpiele gehoͤren ebenfalls mit hieher.


§. 777.


Hingegen muͤſſen wir uns bey Dingen, die uns
nicht unmittelbar in die Sinnen fallen, mehrentheils
durch Schluͤſſe verſichern, ſowohl, daß ſie da ſind,
als daß ſie ſich ihrer Groͤße und Staͤrke nach veraͤn-
dern, oder den Graden nach verſchieden ſind. So
z. E. hatte man vor der Erfindung des Barometers
und der Luftpumpe von der Schwere dem Drucke und
der Elaſticitaͤt der Luft keinen Begriff, ungeachtet
es eben nicht unmoͤglich geweſen waͤre, ohne dieſe
Jnſtrumente dazu zu gelangen. Auf eben die Art
wuͤrde man ohne den Magneten von der magnetiſchen
Materie, ihrer Direction und Kraft keinen Begriff
haben. Und ſo ſind uns, allem Anſehen nach, noch
viele wirkende Urſachen, und ihre Grade und Ver-
aͤnderungen unbekannt, weil wir entweder auf die Wir-
kungen nicht Acht haben, oder weil ſie ſich gar nicht,
oder nur auf eine entferntere Art entdecken. Wir
befinden uns, in Anſehung des Firmamentes, in glei-
chen Umſtaͤnden, weil uns nur das Sichtbare davon
in die Sinnen faͤllt. Man hat daher den Satz, daß
die Weltkoͤrper gegen einander ſchwer ſind, und die
Schwere ſich nach der Maſſe und dem Quadrate
des Abſtandes richte, durch Schluͤſſe herausbringen
muͤſſen.


§. 778.
[401]Der Maaßſtab.

§. 778.


Wie man aber auch immer zu dem Begriffe einer
Groͤße und ihrer Veraͤnderlichkeit gelanget, ſo muß
man, um die Verhaͤltniſſe dieſer Veraͤnderungen zu
finden, und zu Maaßſtaͤben zu gelangen, bey dem
Einfachen anfangen. Wir haben dieſes Verfahren
bereits oben (§. 706. 723.) angegeben, weil man,
wenn jedes Einfache fuͤr ſich betrachtet wird, dabey
entweder abſolute Einheiten oder Grade findet, die
ganz einfoͤrmig von o bis ins Unendliche fortgehen.
Man wird auch in denen Faͤllen, wo man unvermu-
thet Einſchraͤnkungen oder ein nicht gleichfoͤrmiges
Zunehmen einer Groͤße bemerket, immer finden, daß
dabey das Einfache nicht gleich anfangs allein vor-
genommen, und nach ſeinen Modificationen und Um-
ſtaͤnden betrachtet worden war. Was dieſes nun ſa-
gen will, werden wir durch Beyſpiele umſtaͤndlicher
aufklaͤren und kenntlich machen, die wir im vorher-
gehenden in dieſer Abſicht nur noch uͤberhaupt ange-
zeiget haben. So z. E. nimmt man den Satz an,
die Dichtigkeit verhalte ſich, wie die Menge der Ma-
terie in gleichem Raume. Da die Materie oder das
Solide jedes andere Solide von ſeinem Orte aus-
ſchleußt, ſo wird unſtreitig zur Aufhaͤufung deſſelben
groͤßerer Raum erfordert, und da iſt die Frage, wie
fern mit der Aufhaͤufung zugleich und in eben der
Verhaͤltniß der Raum anwachſe? Man ſieht leicht,
daß dieſes nur unter gewiſſen Bedingungen ſtatt fin-
det. Denn ſo geſchieht es, wenn bey der Aufhaͤu-
fung eine abſolute Continuitaͤt der Materie erhalten
wird, und folglich alle leere Zwiſchenraͤumchen weg-
bleiben. Sodann geſchieht es auch, wenn die Zwi-
ſchenraͤumchen in gleicher Groͤße und Zerſtreuung blei-
ben, oder wenn die Groͤße in umgekehrter Verhaͤltniß
Lamb. Archit.II.B. C cder
[402]XXVI. Hauptſtuͤck.
der Zerſtreuung iſt. Dieſer letztere Umſtand haͤngt
nun von der Figur der Theilchen und von den Kraͤf-
ten ab, womit dieſelben in Verbindung bleiben.
Man verfiel aber auf dieſe Betrachtungen, die man
gleich anfangs und gleichſam a priori haͤtte machen
koͤnnen, erſt nachdem man gefunden, daß die Archi-
mediſche
Regel von der Vermiſchung der Materien
Ausnahmen litte, und daß ſie dem Archimedes,
der eine Vermiſchung von Gold und Silber zu unter-
ſuchen hatte, gluͤcklicher Weiſe zutraf, ohne daß er
vor angeſtellter Probe davon nothwendig haͤtte ver-
ſichert ſeyn koͤnnen.


§. 779.


Der Satz, daß die Waͤrme die Koͤrper ausdehne,
und die Grade der Ausdehnung zugleich mit den Gra-
den der Waͤrme in gleicher Verhaͤltniß wachſe, iſt
aͤhnlichen Einſchraͤnkungen unterworfen. Man kann
durch Verſuche zeigen, daß ein Thermometer in Ver-
haͤltniß der Dichtigkeit der darauf fallenden Sonnen-
ſtralen ſteigt. Der Verſuch bleibt allemal in ge-
wiſſen Schranken, und die Abweichungen laſſen ſich
folgender Maaßen vorſtellen. Man ſetze den Grad
der Kaͤlte viel groͤßer als zum Gefrieren des Wein-
geiſtes noͤthig iſt, ſo wird ſich bey abnehmender Kaͤlte
oder zunehmenden Waͤrme der gefrorne Weingeiſt
ausdehnen, bis er entfriert. Nachgehends wird der
fluͤßig gewordene Weingeiſt weniger Raum einneh-
men, und folglich weniger ausgedehnet ſeyn, als er
vor dem Entfrieren war. Jndeſſen dehnet er ſich
bey noch mehr zunehmender Waͤrme mehr aus, und
dieſe Ausdehnung nimmt zu, bis er anfaͤngt zu ſie-
den. Jſt nun das Thermometer oder das Gefaͤſſe
offen, ſo mag der Raum eine Zeitlang bey dem Sie-
den
[403]Der Maaßſtab.
den bleiben, hingegen duͤnſtet der Weingeiſt aus, und
ſeine Maſſe nimmt ab. Man ſtelle nun die Grade
der Waͤrme durch Abſciſſen, die Grade der Ausdeh-
nung durch Ordinaten einer Linie vor, ſo wird dieſe
Linie nicht nur krumm ſeyn, ſondern, da wo der
Weingeiſt entfriert, ein Maximum, einen Wen-
dungspunct und ein Minimum haben, und das an-
dere Maximum wird bey dem Grade des ſiedenden
Weingeiſtes ſeyn. Statt alles deſſen wuͤrde die Linie
gerade ſeyn, wenn die Ausdehnung in einfacher Ver-
haͤltniß der Waͤrme waͤre. Will man nun zu der erſt
bemeldeten krummen Linie eine Gleichung finden, ſo
ſieht man leicht, daß man die Kraͤfte der Waͤrme,
die Cohaͤſionskraͤfte des Weingeiſtes, die Vermi-
ſchung der Theilchen deſſelben mit den Lufttheilchen ꝛc.
in Betrachtung ziehen, das will ſagen, das Einfache
und deſſen Zuſammenſetzung ſtuͤckweiſe unterſuchen
muͤſſe. Dieſes wird bey der Unterſuchung der Waͤr-
me und Kaͤlte, die bey Vermiſchungen entſteht
(§. 775.) ebenfalls nothwendig. Man wird in dem
§. 96. und §. 459. noch andere hieher dienende Bey-
ſpiele finden.


§. 780.


Sofern wir es bey der Aufſuchung dieſes Einfachen
auf die Empfindung und Vorſtellung der Sache muͤſ-
ſen ankommen laſſen, wird allerdings ein feineres Ge-
fuͤhl, eine fertigere Bemerkung aller, und beſonders
der einfachern Verſchiedenheiten (§. 751. ſeqq.) eine
gelaͤufigere Kenntniß der Sache und eine Uebung da-
zu erfordert. Da dieſe Umſtaͤnde ſich nicht ſo oft bey-
ſammen finden, ſo hat man auch ſchon lange den Ge-
danken gehabt, als wenn es gewiſſen Zeiten und Per-
ſonen vorbehalten waͤre, in einer Sache das Eis zu
C c 2brechen,
[404]XXVI. Hauptſtuͤck.
brechen, und ein lange herumgeworfenes Chaos in
Ordnung zu bringen, und daß derjenige die Thuͤr, ſo
gegen das neue Feld geoͤffnet werden muß, noch am
eheſten finde, der auch im Dunkeln noch am beſten
ſieht, und die Spuren erkennen kann. Es beut uns
auch die Geſchichte, ſowohl der reinen als angewand-
ten Meßkunſt bey jeden Theilen derſelben Proben da-
von an. Denn ungeachtet man, ehe ſie in eine wiſ-
ſenſchaftliche Ordnung gebracht worden, immer ſchon
einige dazu gehoͤrende Saͤtze und Erfahrungen wußte,
ſo waren dieſe dennoch mit andern durchmenget, und
ohne Zuſammenhang. Man datirt daher z. E. die
Hydroſtatic vom Archimedes, die Tonkunſt vom
Pythagoras, und von eben demſelben die erhebli-
chern Saͤtze der Geometrie, die richtigere Kenntniß
des Weltbaues vom Copernicus und Kepler, die
Penduluhren vom Huygens und Galilaͤus, die Be-
rechnung des unendlich Kleinen vom Newton und
Leibnitz, die Kenntniß der Schwere und der Far-
ben vom Newton ꝛc. Und wenn man ſchließt, daß
dieſes große Leute waren, ſo traͤgt der Begriff, daß
ſie in Dingen das Eis gebrochen, das meiſte zu die-
ſem Schluſſe bey.


§. 781.


Laͤßt man es aber, um die einfachen Verſchieden-
heiten zu entdecken, auf Erfahrungen und Verſuche
ankommen, ſo muß man auch bey dieſen wiſſen, wie
man ſie anzuſtellen, und die Umſtaͤnde zu waͤhlen
habe, weil man ſonſt gar leicht, anſtatt die Verwir-
rung zu heben, dieſelbe noch groͤßer machet, und noch
neue hinzu thut. Was wir in den §. 779. 776. 731.
764. 676. 610. von der Waͤrme, und in den §. 777.
750. 735. 611. von dem Magneten angemerket haben,
mag
[405]Der Maaßſtab.
mag hier als Beyſpiele dienen. Die meiſten von
den Verſuchen, die man zur Erfindung der einfachen
Geſetze dieſer Materien gemacht hat, muͤſſen umge-
aͤndert und zu dieſer Abſicht genauer eingerichtet wer-
den. Da aber ſolche Verſuche, jeder etwas beſon-
deres hat, welches durch die demſelben eigene Um-
ſtaͤnde gefunden und beſtimmt werden muß, ſo koͤn-
nen wir uns hier nicht dabey aufhalten. Wir mer-
ken demnach nur uͤberhaupt an, daß wenn man eine
Groͤße nach jeder Dimenſion und Urſache, ſo ſie ver-
aͤndern kann, durch Verſuche beſtimmen und das Ge-
ſetz davon finden will, alles mit Beybehaltung uͤbri-
gens gleicher Umſtaͤnde geſchehen muͤſſe, und wo die-
ſes nicht angeht, ſo muß man ebenfalls auf Mittel
bedacht ſeyn, der Ungleichheit dieſer Umſtaͤnde und
ihres Erfolges Rechnung zu tragen, und zwar ſo,
daß man bis auf jede einzele und einfache Beſtim-
mungen erweiſen koͤnne, daß vermittelſt des gewaͤhl-
ten Verſuches die Abſicht rein und richtig erhalten,
und alle Bedingungen erfuͤllet werden, ſo dieſelbe in
den Umſtaͤnden des Verſuches verausſetzet.


§. 782.


Das bisher angemerkte (§. 767-681.) betrifft die
verſchiedene Arten, wie man zur Ausmeſſung der
Groͤßen und daher zu den dabey dienlichen Maaß-
ſtaͤben gelanget. Wir haben die verſchiedenen Ar-
ten derſelben gleich anfangs (§. 761-767.) angezeiget,
ſo fern ſie den Sachen nach verſchieden ſind. Wir
haben ſie daher noch an ſich zu betrachten, ſo fern ſie
den allgemeinen Formeln und den Tabellen entgegen
geſetzt werden. Die Formeln ſtellen naͤmlich die
Verhaͤltniß zwiſchen zwoen oder mehrern Groͤßen
uͤberhaupt vor, ſo daß in jedem Falle eine durch die
C c 3uͤbrigen
[406]XXVI. Hauptſtuͤck.
uͤbrigen kann berechnet werden, wenn dieſe in Zahlen
gegeben ſind. Hingegen ſtellen die Tabellen dieſe Zah-
len bereits ſchon ausgerechnet vor, ſo daß man ſie
nur nachſchlagen darf. Vermittelſt beyder laſſen ſich
die Maaßſtaͤbe conſtruiren, der Unterſchied aber be-
ſteht uͤberhaupt darinn, daß die Formeln auf jede
Zahlen und Bruͤche gehen, die Tabellen aber meh-
rentheils nach Einheiten oder ganzen Zahlen berech-
net werden, und daher fuͤr die Bruͤche eine Jnter-
polation fordern. Hingegen koͤnnen ſie bis auf klei-
nere Theile berechnet werden, da hingegen die Maaß-
ſtaͤbe, wenn man ſie nicht gar zu groß machen will,
ſo gar kleine Theile nicht angeben.


§. 783.


Die einfachſten Arten der Maaßſtaͤbe ſind gerade
Linien, und dieſe haben gewiſſermaßen zwo Dimen-
ſionen. Die erſte iſt die Laͤnge der Linie, die andere
aber wird durch die Eintheilung und Zahlen angezei-
get, die man zu jeder Laͤnge oder zu jedem Theilungs-
puncte ſetzet. Sind dieſe Zahlen in Verhaͤltniß der
Laͤnge, ſo iſt der Maaßſtab in gleiche Theile ge-
theilet.
Jſt aber die Laͤnge eine Function der Zah-
len von mehrern Dimenſionen, ſo werden die Theile
ungleich. Man ſieht leicht, daß ſolche letztern Maaß-
ſtaͤbe dazu gewidmet ſind, daß ſie eine Rechnung er-
ſpahren. So z. E. ſchreibt man auf den Caliber-
ſtaͤben zu jedem Diameter der Kugel das Gewicht
derſelben, damit man dieſes durch die bloße Aus-
meſſung des Diameters ſo gleich finde, ohne daß
man es durch Rechnung, oder durchs Abwaͤgen zu
ſuchen habe. So wuͤrde man auf der Scale des
Thermometers bey jeder Ausdehnung den dazu erfor-
derlichen Grad der Waͤrme ſchreiben koͤnnen, wenn
die
[407]Der Maaßſtab.
die Verhaͤltniß zwiſchen beyden bekannt waͤre. Der
in dem §. 746. angefuͤhrte Maaßſtab zur Ausmeſſung
des Laufes der Planeten und Cometen iſt von noch
ausgedehnterm Gebrauche. So laſſen ſich auch ver-
mittelſt zweener Maaßſtaͤbe alle perſpectiviſche Zeich-
nungen ohne Grundriß zeichnen.


§. 784.


Wo aber mehrere Dimenſionen vorkommen, da
reichet man auch mit einem linearen Maaßſtabe nicht
aus, ſondern es werden mehrere dazu erfordert, ſo
daß man entweder einen nach dem andern gebraucht,
wie man z. E. auf den Landcharten die Entfernung
der Oerter, wenn man zween Maaßſtaͤbe gebrauchen
will, genau finden kann, oder man dehnet den Maaß-
ſtab auf eine ganze Flaͤche aus, ſo daß man der Laͤnge
nach die eine, der Breite nach aber die anderen Di-
menſionen aufſuchet, und da, wo ſich die Linien durch-
ſchneiden entweder die Zahl oder die verlangte Groͤße
findet. Dieſe letztere Art iſt aber wenig uͤblich, un-
geachtet ſie in vielen Faͤllen gute Dienſte thun kann.
Man ſuchet aber dabey Abkuͤrzungen von der Art,
wie ich ſie in dem §. 855. und 929. der Photometrie
fuͤr zween Faͤlle, wo mehrere Dimenſionen und beſtim-
mende Umſtaͤnde vorkamen, angegeben habe.



C c 4Sieben
[408]XXVII. Hauptſtuͤck.

Sieben und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Das Ausmeßbare.


§. 785.


Nach der Betrachtung der bey dem Ausmeſſen
vorkommenden Hauptbegriffe koͤnnen wir nun
den Gegenſtand ſelbſt, oder das, was ausmeßbar iſt,
zu betrachten vornehmen. Wir haben zwar in dem
vorhergehenden verſchiedenes hieher gehoͤrendes mit-
genommen, weil wir erſt erwaͤhnte Hauptbegriffe
immer auch in Abſicht auf die Sache ſelbſt betrachtet
haben. Jndeſſen, da das Ausmeßbare fuͤr ſich zu
unterſuchen iſt, ſo werden wir um aus dieſer Unter-
ſuchung ein Ganzes zu machen, das davon bereits
geſagte nur in ſo fern mitnehmen, als es mit dem
Ganzen und den uͤbrigen Theilen deſſelben verbunden
iſt, und in dieſer Abſicht nicht weggelaſſen werden
kann. Die Hauptfrage, die wir demnach hier zu
eroͤrtern haben, koͤmmt darauf an, daß wir naͤher zu
beſtimmen ſuchen, was einer Ausmeſſung faͤhig
iſt, und von welcher Seite betrachtet es eine
Ausmeſſung zulaͤßt?
Die Veranlaſſung zu dieſer
Frage iſt an ſich ganz ungezwungen, und gruͤndet ſich
darauf, daß weder alles Kennbare, noch alles Ge-
denkbare,
ohne alle Einſchraͤnkung eine Ausmeſſung
zulaͤßt. Denn ſo laͤßt ſich mit den abſoluten und un-
veraͤnderlichen Einheiten in Abſicht auf die Ausmeſ-
ſung nicht viel oder gar nichts ausrichten. Sodann
koͤnnen ungleichartige Dinge, in ſo fern ſie ungleich-
artig ſind, hoͤchſtens nur gezaͤhlet werden, und koͤmmt
je eine Ausmeſſung dabey vor, ſo werden ſie nicht an
ſich,
[409]Das Ausmeßbare.
ſich, ſondern in Abſicht auf etwas denſelben gemein-
ſames betrachtet, welches ſodann der eigentliche Ge-
genſtand der Ausmeſſung iſt. Auf eine aͤhnliche Art
laſſen ſich Groͤßen von verſchiedenen Dimenſionen z. E.
Linien und Flaͤchen, Geſchwindigkeit und Kraft ꝛc.
nicht addiren und ſubtrahiren. So beut uns auch
die Sprache eine gute Menge von Woͤrtern an, da
bey dem, was ſie vorſtellen, noch viel auseinander
zu leſen iſt, ehe man an das Ausmeſſen gedenken
kann, (§. 714. 715.), und wobey das wie viel, wie
groß, wie oft, wie leicht, wie haͤufig, wie
ſehr,
ꝛc. genau muß unterſchieden werden, wie die-
ſes aus den im §. 697. angefuͤhrten Beyſpielen ohne
Muͤhe zu erſehen iſt, und wovon wir die dabey gar
leicht mit unterlaufende Fehler bereits (§. 709-715.)
angezeiget haben.


§. 786.


Man ſollte allerdings nicht gedenken, daß an ſich
ſehr einfache Fragen, dergleichen das wie viel, wie
groß
ꝛc. ſind, ſo leicht koͤnnten vermenget werden,
zumal da der Unterſchied zwiſchen denſelben ſo beſchaf-
fen iſt, daß, wo die eine derſelben vorkoͤmmt, die
uͤbrigen bey eben derſelben Sache und in eben dem
Sinne nicht ſtatt finden koͤnnen, und auch nicht ſel-
ten eine ohne die andere ſtatt hat. Jndeſſen erhellet
aus den erſt angefuͤhrten §§, daß dieſe Vermiſchung
nicht ſelten vorkoͤmmt. Man kann einen Theil
der Urſache hievon darinn finden, daß dieſe Fragen,
welche eigentlich zur Meßkunſt gehoͤren, in derſelben
in einem ſehr genau beſtimmten Verſtande vorkom-
men, und daß ihre Bedeutung darinn beſſer aus den
Faͤllen, wo ſie gebraucht werden, als aus dem ge-
meinen Leben oder aus Umſchreibungen erlernet wird,
C c 5wie
[410]XXVII. Hauptſtuͤck.
wie wir dieſes bereits in dem §. 685. angemerket ha-
ben. Unterlaͤßt man dieſes, ſo kann man ſich leicht
Moͤglichkeiten einbilden, wo keine ſind, und z. E.
nach Anleitung des in dem §. 697. angefuͤhrten Sa-
tzes von der Bewegung den Schluß ziehen, daß die
Bewegung eines Koͤrpers deſto groͤßer ſey, nach je
mehrern Directionen oder Gegenden derſelbe zugleich
laͤuft, oder daß eine Kraft groͤßere Wirkung hervor-
bringe, welche zugleich mehr als einmal angewandt
wird. Solche Schluͤſſe aber ſind bloß ſymboliſch und
ohne Bedeutung.


§. 787.


Es loͤſet ſich aber die Frage von dem, was aus-
meßbar iſt, eigentlich in die erſt erwaͤhnten einfa-
chern Fragen auf, weil, wo dieſe vorkommen, theils
eine bloße Abzaͤhlung, theils auch eine wirkliche Aus-
meſſung vorkommen kann, und weil dieſelben zugleich
anzeigen, wobey und wie beydes vorzunehmen iſt,
wenn ſie einmal richtig und da angebracht ſind, wo
ſie angebracht werden ſollen und koͤnnen. (Dianoiol.
§. 427.). Es beut aber die Sprache mehrere An-
laͤſſe an, wobey die Bedeutung dieſer Fragen ver-
menget wird. Man fraget z. E. etwann, wie ſtark
ein Regiment, eine Compagnie, ein Bataillon ſey?
Dieſe Frage will dem gemeinen Gebrauch zu reden
nach nicht mehr ſagen, als aus wie viel Mannſchaft
es beſtehe? Jn dem hiſtoriſchen Ausdrucke: es ent-
ſtund eine große Bewegung, wird die Groͤße der
Bewegung in einem viel verwickeltern Verſtande ge-
nommen, als man es in der Mechanic nimmt, wo
man das Product aus der Maſſe in die Geſchwindig-
keit dadurch verſteht, wobey von Lermen, Tumult,
Aufſtand, Erbitterung ꝛc. gar nicht die Rede iſt.
So
[411]Das Ausmeßbare.
So ſaget man etwann auch: eine große Wahrheit,
und verſteht dadurch, daß ſie einen ſtarken Ein-
druck
auf das Gemuͤth mache, wichtig ſey, ſich auf
viele Dinge ausbreitte, von vielen wichtigen und
lange dauernden Folgen ſey ꝛc., und in dieſem
Sinne wird die Wahrheit mit der dadurch verſtan-
denen Sache, und das logiſch Wahre mit dem meta-
phyſiſch und moraliſch Wahren und mit dem Wirk-
lichen durchmenget. Dieſes alles aber muß, wenn
man eine ſolche Groͤße ausmeſſen und ſchaͤtzen will,
aus einander geleſen werden, und dabey findet man
zu addiren, zu multipliciren und auch getrennet zu
laſſen. Bey den Ausdruͤcken: eine große Abſicht,
eine große That, eine große Veraͤnderung, Ord-
nung, Vollkommenheit, Geſetz,
ꝛc. finden ſich
aͤhnliche Vermiſchungen.


§. 788.


Ueberdieß muß man das Ausmeßbare auch nicht
immer ſo ſchlechthin in dem ſuchen, was ſich gleich
anfangs darbeut. So z. E. kann man uͤberhaupt
ſagen, daß man eine Sache deſto deutlicher ſehe,
je kleinere Theile
man daran unterſcheiden kann.
Nach dieſem Ausdrucke aber wuͤrde man die Deut-
lichkeit nach der Kleinheit der Theile ſchaͤtzen, und
folglich den Maaßſtab dazu in der Sache ſelbſt auf-
ſuchen. Es kann aber auch ein Vergroͤßerungsglas
noch kleinere Theile, als man mit bloßem Auge ſieht,
und dennoch undeutlich vorſtellen, wenn es nicht recht
gerichtet iſt. Will man hingegen die Deutlichkeit
wirklich ausmeſſen, ſo ſuchet man die Gruͤnde dazu
in der Structur des Auges, und nicht in der Sache
auf. Dabey ſetzet man die Deutlichkeit abſolut,
wenn die aus einem Puncte in das Auge fallende
Stralen
[412]XXVII. Hauptſtuͤck.
Stralen ſich auf dem Augennetze wiederum in einen
Punct vereinigen, und die anliegenden Fibern nicht
zugleich mit in Bewegung geſetzet werden. Sind
aber dieſe Stralen auf dem Augennetze in einen Cirkel
zerſtreuet, und wird dieſer Cirkel durch die Aufhaͤu-
fung der Stralen und Mittheilung der Bewegung
noch groͤßer, ſo ſieht man undeutlich, und die Un-
deutlichkeit iſt in Verhaͤltniß des Raumes dieſes Cir-
kels, (Photometr. §. 1102-1125.). Auf dieſe Art
erhaͤlt man das abſolute Maaß der Undeutlichkeit,
welches man ſodann ohne Muͤhe auf die Objecte an-
wenden kann. Es iſt kein Zweifel, daß nicht auch
in den Fibern des Gehirnes etwas aͤhnliches vorkom-
me, welches veranlaſſet, daß man Unterſchiede und
Harmonien von ſehr verſchiedenen Graden der Fein-
heit in den Vorſtellungen der Dinge empfinden
kann, und daß oͤfters wie durch einen Nebel im Ge-
hirne die feinern Empfindungen gehemmet werden,
(Phaͤnomenol. §. 133. 135. 100.).


§. 789.


Die Begriffe der Moͤglichkeit, Nothwen-
digkeit, Zufaͤlligkeit, Erwartung, Verwunde-
rung,
biethen uns aͤhnliche Beyſpiele an. Wir ha-
ben das, was man, in Abſicht auf die Groͤße, bey
der Moͤglichkeit zu fragen hat, bereits oben (§. 685.)
angefuͤhret, und (§. 243.) die Kraft als den poſitiven
Grund, oder als das Principium eſſendi (§. 298.
491.) der Moͤglichkeit angegeben. Dieſe Anmer-
kungen gehen ebenfalls auf die Nothwendigkeit
und Zufaͤlligkeit, ſofern man jene durch die Unmoͤg-
lichkeit, dieſe durch die Moͤglichkeit des Gegentheils
definiret. Wir haben daher im vorhergehenden
(§. 283. 697. 718.) die Berechnung der Grade der
hypo-
[413]Das Ausmeßbare.
hypothetiſchen Nothwendigkeit ganz anders angege-
ben, weil ſie intenſiue auf die Staͤrke und Groͤße der
zur Veraͤnderung erforderlichen Kraͤfte, extenſiue
aber auf die Oefternheit der Veraͤnderung und auf
die Vielfaͤltigkeit ſolcher Kraͤfte reducirt wird. Man
wird aus dem §. 151. der Phaͤnomenologie ſehen, daß
die Grade der Erwartung und der Verwunderung
ebenfalls darauf reducirt werden, und daher alle dieſe
Begriffe in Abſicht auf die Ausmeſſung und Berech-
nung eine genaue Verbindung unter ſich haben.


§. 790.


Ueberdieß wird auch ſehr oft das abſolute mit dem
relativen vermenget. Der Begriff der Durchſich-
tigkeit
mag uns hier als Beyſpiel dienen. Man
wird uͤberhaupt einen Koͤrper durchſichtiger nennen,
wenn derſelbe mehr Licht durchfallen laͤßt, weniger
zerſtreuet, zuruͤcke wirft, abſorbirt ꝛc. Dieſem nach
wird das Maaß der Durchſichtigkeit in der Verhaͤlt-
niß des auffallenden und durchfallenden Lichtes beſte-
hen. Nun kann man dieſe Verhaͤltniſſe in vielen
Faͤllen ſehr gut gebrauchen. Hingegen kann man
anſtehen, ob man zur Ausmeſſung der Durchſichtig-
keit nicht vielmehr anſtatt dieſer Verhaͤltniß den Lo-
garithmus derſelben nehmen ſoll, weil doch die Loga-
rithmen der eigentliche Maaßſtab der Verhaͤltniſſe
ſind. Und nimmt man dieſe, ſo werden ſie eigent-
lich die Undurchſichtigkeit angeben, weil, wenn alles
Licht durchfaͤllt, die Verhaͤltniß = 1 : 1, und folglich
der Logarithmus = 0 iſt. Es iſt aber hiebey noch al-
les verwirrt. Denn einmal muß man, um die ab-
ſolute Durchſichtigkeit des Koͤrpers zu finden, die Di-
cke deſſelben mit in die Rechnung nehmen, und da-
bey kommen ſodann ohne allen Anſtand Logarithmen
heraus.
[414]XXVII. Hauptſtuͤck.
heraus. Sodann muß man von dem auffallenden
Lichte dasjenige abziehen, was von der erſten Flaͤche
reflectirt wird, und zu dem durchfallenden dasjenige
addiren, was von der innern Flaͤche reflectirt wird.
Das will nun ſagen, man muß ſchlechthin nur das-
jenige Licht in Betrachtung ziehen, was in dem Koͤr-
per ſelbſt in gerader Linie fortgeht. Dieſes nimmt
bey gleicher Undurchſichtigkeit nach den Ordinaten
einer logarithmiſchen Linie ab, und die Subtangente
dieſer Linie iſt das abſolute Maaß der Durchſichtig-
keit des Koͤrpers. (Photometr. §. 484. 876.). Man
ſieht hieraus, daß die beyden Fragen unterſchieden
ſind, deren die erſtere nur die Verhaͤltniß des auf-
fallenden und durchfallenden Lichtes betrifft, die an-
dere aber dieſe Verhaͤltniß beſtimmt annimmt, und
hingegen zu finden angiebt, wie dick der durchſichtige
Koͤrper ſeyn muͤſſe, bis von dem auffallenden Lichte
ein beſtimmter Theil aufgefangen, zerſtreuet und ab-
ſorbirt werde? Dieſe letztere Frage giebt die abſolute
Durchſichtigkeit des Koͤrpers, erſtere aber, und zwar
in einem ganz andern Sinne, nur die relative. Man
ſieht auch zugleich daraus, daß beyde Ausmeſſungs-
arten angehen, und daß die Sache ſelbſt real ſey,
wenn man auch gleich das Wort Durchſichtigkeit
nur in dem einen Verſtande nehmen, oder demſelben
beyde Bedeutungen laſſen, oder es dabey gar nicht ge-
brauchen will. Denn wo die Sache ſelbſt kann vor-
gezeiget werden, da ſind ſolche Benennungen nur
abgekuͤrzte Ausdruͤcke, und der Wortſtreit iſt bald
gehoben.


§. 791.


Wir machen dieſe letztere Anmerkung zu dem En-
de, weil man in ſehr vielen Faͤllen anſtatt ein Wort,
und deſſen noch etwann ganz unbeſtimmte und viel-
fache
[415]Das Ausmeßbare.
ſache Bedeutung vorzunehmen, beſſer bey der Sache
ſelbſt anfaͤngt, und die dadurch uͤberhaupt vorgeſtell-
ten Dinge, nebſt denen, die damit einige Verwandt-
ſchaft und Verbindung haben, zuſammen nimmt,
um durch eine genauere Vergleichung derſelben zu
ſehen, wie vielerley man darinn zu unterſcheiden hat,
und welchem Stuͤcke etwann das Wort als eine
ſchickliche Benennung beygelegt werden koͤnne? Der
Vortheil, den man davon hat, aͤußert ſich da, wo
etwas ausgemeſſen werden ſoll, am offenbarſten, weil
man ohne ein ſolches Auseinanderleſen alles verſchie-
denen und einfachen ſelten zu einer richtigen und evi-
denten Ausmeſſungsart gelanget.


§. 792.


Um nun aber die vorhin angefuͤhrten Fragen an
ſich zu betrachten, ſo merken wir an, daß ſie in eini-
ge Hauptclaſſen koͤnnen getheilet werden. Die erſte
dieſer Claſſen wollen wir durch die Frage, welche?
anzeigen. Es iſt zwar dieſes Wort im Deutſchen
vieldeutig, weil wir es durch quales eben ſowohl als
durch quaenam uͤberſetzen. Es koͤnnen aber hier dieſe
beyden Bedeutungen vorkommen. Um dieſes zu zei-
gen, bemerken wir, daß die Frage: welche? bey
dem Vorzaͤhlen der Theile vorkommen kann. Denn,
wo nicht von allen die Rede iſt, da kann man fra-
gen, von welchen dann die Rede ſey, und man
kann verlangen, daß man dieſe ſtuͤckweiſe anzeige.
Sind ſie nun der Art nach verſchieden, ſo laſſen ſie
ſich durch ihre Beſchaffenheit und eigene Merkmale
kennbar machen, und da kann die Frage quales vor-
kommen. Hingegen koͤmmt quaenam vor, wenn man
gleichſam mit Fingern darauf deuten oder ſie vorzei-
gen muß, oder ſie durch dieſes, jenes, das erſte,
das
[416]XXVII. Hauptſtuͤck.
das zweyte ꝛc. anzeiget. Ohne uns aber bey dieſem
Unterſchiede beſonders aufzuhalten, ſo bemerken wir
vielmehr, daß die Frage: welche? eben ſo, wie
das bloße Vorzaͤhlen eigentlich bey den Dingen vor-
koͤmmt, die zwar wegen gewiſſen Abſichten und aͤu-
ßerlichen Verhaͤltniſſen in eine Claſſe genommen, da-
bey aber wegen ihrer Ungleichartigkeit ſchlechthin,
als eben ſo viele Ganze vorgezaͤhlet oder vorgeſaget
werden, wie es z. E. bey den Jnventarien, Ver-
zeichniſſen, Rodeln ꝛc. geſchieht. Was nun in dieſe
erſte Claſſe gehoͤret, das kann, ſo fern es in dieſelbe
gehoͤret, weiter keiner anderen Berechnung noch Aus-
meſſung, als eines ſolchen Vorzaͤhlens faͤhig ſeyn,
weil ſolche Einheiten nicht zuſammen gehoͤren, (§. 700.
766.). Bey dieſer erſten Frage, hat man auch der
natuͤrlichen Ordnung nach anzufangen, wenn man
beſonders in zuſammengeſetzten und complexen Be-
griffen und Dingen eine Ausmeßbarkeit, und wie
fern ſie ſtatt hat, finden will. Denn man muß ſich
dabey ohnehin um die einfachen Verſchiedenheiten
umſehen (§. 778. ſeqq.), und da wird allerdings ge-
fraget, welche es ſind, welche davon in eine Claſſe
gehoͤren, welche hingegen abgeſondert werden muͤſ-
ſen ꝛc. Z. E. von welchem Theile der Urſache jeder
Theil der Wirkung herruͤhre? welche Theile des Koͤr-
pers demſelben eigen, oder durch das gemeinſame
Band deſſelben verbunden, und welche hingegen
fremde Theile ſind?


§. 793.


Die andere Claſſe koͤnnen wir durch die Frage,
wie viele? anzeigen. Dieſe kann uͤberhaupt auch
bey der vorhergehenden vorkommen, weil ſich dem
Sprachgebrauche nach auch die ungleichartigſten
Dinge
[417]Das Ausmeßbare.
Dinge zuſammen zaͤhlen laſſen, wiewohl es dabey ſo-
dann auch ſein Bewenden hat, und haben ſoll, wenn
man nicht ohne genugſame Kenntniß der Sache auch
da noch Rechnungen und Ausmeſſungen fordert, wo
keine vorkommen koͤnnen, und z. E. wiſſen will, wie
viel ein Jahr Zeit und ein Cubicfuß Raum zuſam-
men ausmachen. Jnsbeſondere aber koͤmmt die
Frage: wie viele? da vor, wo Einheiten von glei-
cher Art zuſammen gezaͤhlet werden, und bey dieſen
koͤmmt eigentlich das arithmetiſche Addiren und Sub-
trahiren vor. So rechnet man Thaler mit Thalern,
Stunden mit Stunden, Meilen mit Meilen, Cent-
ner mit Centnern ꝛc. zuſammen. Dieſes wird in al-
len Anfangsgruͤnden der Rechenkunſt angemerket.
Hingegen kann es auch Faͤlle geben, wo es bey der
Frage, wie viele? eben ſo, wie vorhin bey der
Frage: welche? ſein Bewenden hat, und wo ſich
das, was man von der Groͤße einer Sache fraget,
auf das wie viele reducirt. Dieſes will nun nicht
ſchlechthin nur ſagen, daß, wenn man fraget, wie
groß z. E. eine Linie ſey, man nur anzeigen doͤrfe,
wie viele Ruthen, Klafter, Fuß, Zoll ꝛc. ſie enthalte.
Denn ſo wird auf die Frage von jeder Groͤße geant-
wortet, welche aus mehrern Einheiten zuſammenge-
ſetzt oder aufgehaͤufet iſt: Sondern, wenn wir ſagen,
daß es oͤfters bey dem: wie viele? ſein Bewenden
habe, ſo iſt es beſonders in dem Verſtande, wo die
Frage von der intenſiven Groͤße nicht vorkoͤmmt.
Man kann das, ſo wir oben (§. 709.) von der Exi-
ſtenz, imgleichen (§. 697.) von der Gleichheit ange-
merket haben, als hieher dienende Beyſpiele anſehen.
Denn da die Exiſtenz und die Gleichheit keine Gra-
dus intenſitaris
haben, ſo koͤmmt der Begriff einer
groͤßern Exiſtenz und groͤßern Gleichheit nicht vor,
Lamb. Archit.II.B. D dſon-
[418]XXVII. Hauptſtuͤck.
ſondern man kann etwann nur fragen, ob mehrere
Dinge exiſtiren oder einander gleich ſind, und da hat
es bey dem: wie viele? ſein Bewenden.


§. 794.


Die dritte Claſſe zeigen wir durch die Frage: wie
groß?
an, und dadurch wird nach der Anzahl auf-
gehaͤufter, oder auch der Continuitaͤt nach zuſammen-
geſetzter Theile gefraget, welche zuſammen nach einer-
ley Maaßſtab gemeſſen werden. Die Bedeutung
des Wortes bringt es ſo mit, daß man dieſe Frage
ſowohl bey den extenſiven, als bey den intenſiven Groͤ-
ßen machet, ungeachtet die Beantwortung und die
Art der Ausmeſſung dabey ſehr verſchieden ſeyn kann,
und daher auf dieſen Unterſchied allerdings muß ge-
ſehen werden. Wir koͤnnen daher die Faͤlle, wo von
den Graden der Jntenſitaͤt die Rede iſt, als die vierte
Claſſe anſehen, und werden nun uͤber dieſe ſaͤmmt-
lichen vier Claſſen einige allgemeinere Anmerkungen
machen, um zu ſehen, wohin dieſe Eintheilung dienen
kann.


§. 795.


Einmal werden die angezogenen und an ſich ſehr
einfachen Fragen nicht immer ſo gar von allen Um-
ſtaͤnden entbloͤßt vorgetragen, ſondern theils in be-
ſtimmtern Ausdruͤcken, theils in ganzen Redensarten
gleichſam verſteckt und verwickelt, aus welchen man
ſie herausziehen muß, um dadurch auf das Einfache,
ſo ſie anzeigen, zu kommen. Denn ſo z. E. geht die
Frage: wie lang? ſowohl auf die Ausdehnung als
auf die Dauer, und die Fragen: ſeit wenn? bis
wenn? von woher? bis wohin?
ꝛc. gehen nur
auf den Anfang und das Ende, ungeachtet beydes
allemal durch die Anzeige einer Ausdehnung oder
Dauer
[419]Das Ausmeßbare.
Dauer und ihrer Groͤße beſtimmt werden muß. Die
Fragen, wie ofte? wie haͤufig? fordern eine Ab-
zaͤhlung, erſtere in Einheiten der Zeit, z. E. alle
Tage, dreymal des Jahres ꝛc. die andere aber, ſo-
wohl in Einheiten der Ausdehnung, als der Dauer,
beſonders aber der Ausdehnung, wo viel einzele
Dinge beyſammen ſind.


§. 796.


Sodann beziehen ſich ſolche Fragen nicht immer
unmittelbar auf die Saͤtze, ſondern mehrentheils auf
das, was an derſelben groͤßer oder kleiner, haͤufiger
oder ſeltener iſt, und auf die Abſicht, in welcher die-
ſelbe ausmeßbar iſt, und von denen, wie wir bereits
oben (§. 717.) erinnert haben, entweder jede fuͤr ſich
allein, oder hoͤchſtens nur ſo viel deren nothwendig
zuſammen gehoͤren, betrachtet werden. Wir merken
dieſes hier an, weil man in vielen Faͤllen leicht ver-
leitet werden kann, einer Sache Grade und Groͤße
zuzuſchreiben, wo eigentlich keine vorkommen, und
weil man etwann auch die Groͤße der Sache in einer
dieſer Abſichten, einer von den andern Abſichten zu-
ſchreibt, wie z. E. wenn man die Exiſtenz einer Sa-
che deſto groͤßer ſetzen will, je mehrere Theile ſie hat,
oder je groͤßern Raum ſie einnimmt. Denn da iſt
der Ausdruck, daß die Exiſtenz groͤßer ſey, uneigent-
lich, weil man ſtatt deſſen ſagen muß, daß die Sa-
che mit mehrern Theilen, oder, daß an der Sache
mehrere Theile exiſtiren, daß ſie einen groͤßern Raum
einnehme ꝛc. Jn der That kann man auch, wo von
der Anzahl der Theile, oder von dem Raume die
Rede iſt, den die Sache einnimmt, den Ausdruck
der Exiſtenz weglaſſen, weil davon eigentlich nicht
die Rede iſt. Hingegen iſt zwar mit dem Begriffe
D d 2der
[420]XXVII. Hauptſtuͤck.
der Exiſtenz der Begriff der Dauer enger verbunden,
doch nicht ſo, daß mit der Dauer zugleich die Exi-
ſtenz groͤßer werden ſollte, weil man ſtatt deſſen
ſchlechthin ſaget, die Sache exiſtire laͤnger, oder auch
nur ſie ſey von laͤngerer Dauer, ſie waͤhre laͤnger ꝛc.
Auf eine aͤhnliche Art ſaget man auch, daß eine Sa-
che mit groͤßern Kraͤften exiſtire, oder auch nur, daß
ſie groͤßere Kraͤfte habe. Denn da wird in dem Worte
haben, wenn von wirklichen Dingen die Rede iſt,
der Begriff der Exiſtenz, wenn aber von bloß moͤg-
lichen Dingen die Rede iſt, die Moͤglichkeit zu exi-
ſtiren bereits mit inbegriffen, oder wie vorausgeſetzt,
und die Kraͤfte werden nicht der Exiſtenz, ſondern
der Sache zugeeignet. Wenn man aber jedoch der
Exiſtenz Grade geben will, ſo kann dieſes mit Veraͤn-
derung der Bedeutung auf eine ſymboliſche und bloß
eingebildete Art geſchehen, weil ſich dadurch die Gra-
de der Wahrſcheinlichkeit vorſtellen laſſen, (§. 104.).


§. 797.


Da demnach die vorhin angefuͤhrten Fragen nicht
ſo unbedingt bey allem Gedenkbaren vorkommen, ſo
muß man, wo man das Ausmeßbare an einer Sa-
che finden will, die Theile und die Verſchiedenheiten
in derſelben ſorgfaͤltig aus einander leſen, um zu ſe-
hen, wo und wie fern jede dieſer Fragen gemacht wer-
den kann. Wir weiſen hiebey unmittelbar auf die
Sache ſelbſt und auf den Begriff, den man ſich da-
von zu machen hat, weil die Definitionen ebenfalls
erſt aus demſelben muͤſſen gebildet werden, und weil
dieſe gewoͤhnlich nicht alle Verſchiedenheiten angeben,
auf die man zu ſehen hat, wenn man das Ausmeß-
bare aufſuchen und die Regeln dazu finden will.
Denn es iſt allerdings da etwas Ausmeßbares, wo
dieſe
[421]Das Ausmeßbare.
dieſe Fragen wirklich koͤnnen gemacht werden, (§. 787.).
Dieſes muß aber, und beſonders bey den einfachen
Beſtimmungen, die Betrachtung der Sache und
ihre Gedenkbarkeit angeben, (§. 776. ſeqq. §. 719.
ſeqq.). Wir haben hiebey die vorhin angegebenen
vier Claſſen, worein ſich ſolche Fragen vertheilen laſ-
ſen (§. 792-794.), ſo geordnet, daß, was bey dieſer
Zergliederung ſchlechthin nur zu einer der erſtern ge-
hoͤret, bey den folgenden, wenigſtens in eben der Ab-
ſicht, nicht vorkomme. Beſonders aber hat man auf
den Unterſchied zu ſehen, der zwiſchen der erſten und
der zweyten Claſſe iſt, und der die Frage betrifft, ob
man die Schaͤtzung der Summe bey dem bloßen Vor-
zaͤhlen der einzeln Stuͤcke muͤſſe bewenden laſſen, oder
ob man dabey noch andere Ausmeſſungen und Be-
rechnungen vornehmen koͤnne. Man ſieht leicht, daß
dieſer Unterſchied gleichſam die Graͤnzlinie zwiſchen
dem Mathematiſchen und dem bloß Symboliſchen
ausmacht, und daß es der Muͤhe lohne, denſelben
ſo viel moͤglich iſt, kenntlich zu machen.


§. 798.


Wir haben die erſte Anlage zu der Betrachtung
dieſes Unterſchiedes bereits in dem vorhergehenden
(§. 434. 714.) angegeben, und dabey bemerket, daß,
indem wir auch die ungleichartigſten Dinge, wenig-
ſtens unter dem Begriffe, daß es Dinge ſind, zu-
ſammen nehmen, wir dadurch verleitet werden, einem
ſolchen Haufen eine Groͤße zuzuſchreiben, und etwann
auch zu ſetzen, daß ſie einen gemeinſamen Maaßſtab
haben, nach welchem ſie nicht bloß, wie einzelne ab-
gebrochene Zahlen vorgezaͤhlet, ſondern eben ſo, als
wenn ſie eine Continuitaͤt haͤtten, ausgemeſſen, mit
einander verglichen und in Verhaͤltniß gebracht wer-
D d 3den
[422]XXVII. Hauptſtuͤck.
den koͤnnten. So z. E. zaͤhlen wir an einem Trian-
gel drey Seiten und drey Winkel, und ſehen ſie zu-
ſammen als ſechs Stuͤcke an. Nun kann man die
drey Seiten beſonders, und ſo auch die drey Winkel
beſonders addiren. Fraget man aber nach der Summe
der Seiten und Winkel eines geradelinichten Trian-
gels zugleich, ſo fraget man etwas ungereimtes, weil
ſich Winkel und Seiten nicht addiren laſſen. Denn
man kann hoͤchſtens nur ſagen, daß es ſechs Stuͤcke
ſind. Wir fuͤhren dieſes an ſich offenbare Beyſpiel
an, damit es nicht ſo unmoͤglich ſcheine, wenn etwann
in dem, was ein Philoſoph dem Mathematiker aus-
zumeſſen vorgiebt, bey der genauern Unterſuchung,
die letzterer anſtellet, ſolche Antworten zum Vor-
ſchein kommen, (§. 685.). Denn zum eigentlichen
Zuſammenrechnen werden gleichartige Dinge erfor-
dert, deren jedes durch Zahlen vorgeſtellet werde,
die einerley Einheiten haben, oder ſich auf ſolche re-
duciren laſſen, und zum Ausmeſſen muͤſſen ſie eine
Continuitaͤt haben, die nach einerley Maaßſtab und
Einheit gemeſſen werden kann.


§. 799.


Die Ungleichartigkeit der Dinge und ihrer Theile,
welche machet, daß ſie nicht ſo ſchlechthin im Gan-
zen gemeſſen, ſondern etwann nur gezaͤhlet und in
ein Verzeichniß gebracht werden koͤnnen, faͤllt nun
mehrentheils leicht in die Augen, und verurſachet,
daß man dabey diejenigen Abſichten und Arten von
Continuitaͤten aufſuchet, die etwann, jede fuͤr ſich,
oder einige zuſammen genommen, eine Ausmeſſung
zulaſſen. Wir haben bereits in dem §. 717. ange-
merket, daß dieſes gewoͤhnlich geſchieht, und aus
der erſt gemachten Betrachtung erhellet, daß es nicht
wohl
[423]Das Ausmeßbare.
wohl anders ſeyn kann. Die vornehmſte Schwierig-
keit koͤmmt daher in den verwirrtern Faͤllen, und be-
ſonders bey abſtracten metaphyſiſchen und morali-
ſchen Begriffen darauf an: worinn ſolche Conti-
nuitaͤten beſtehen, und wo man ſie aufzuſuchen
habe?
Zu dieſer Frage koͤnnen wir noch die beyfuͤ-
gen: wie ferne ſelbſt ſolche Continuitaͤten, wenn
man deren mehrere findet, ungleichartig ſind,
und nicht auf einerley Maaßſtab koͤnnen ge-
bracht werden?
Und ſo auch, wie dieſe Conti-
nuitaͤten von dem, was ſchlechthin nur kann
gezaͤhlet oder in ein Verzeichniß gebracht wer-
den, zu unterſcheiden ſind?
Und endlich, wie
fern bey ſehr weitlaͤuftigen Begriffen, die be-
ſondern Faͤlle und Modificationen, beſonders
genommen werden muͤſſen?
Denn ſo z. E. kann
man fuͤr die Ausmeſſung des Lichtes allgemeine Re-
geln angeben, es wird aber auf den Flaͤchen der Koͤr-
per, und innert den durchſichtigen Koͤrpern durch die
daſelbſt ſich aͤußernden Kraͤfte und Theilchen ſo modi-
ficirt, daß man mit den allgemeinen Regeln dabey
nicht ausreichet, weil ſolche Umſtaͤnde neue Data und
zuſammengeſetztere Regeln angeben.


§. 800.


Auf dieſe viererley Fragen und Umſtaͤnde hat man
zu ſehen, wenn man das Ausmeßbare in einer Sa-
che finden, und nach jeden Modificationen aus ein-
ander ſetzen will. So z. E. haben wir bereits in dem
§. 149. angemerket, daß, wo man die Aehnlichkeiten und
Verſchiedenheiten zweyer oder mehrerer Dinge ſchaͤ-
tzen will, es dabey ſchlechthin auf das Verzeichniß
der einzeln Stuͤcke ankomme, worinn ſie aͤhnlich oder
verſchieden ſind, und wenn man dabey etwann noch den
D d 4Grad
[424]XXVII. Hauptſtuͤck.
Grad der Erheblichkeit eines jeden Stuͤckes mit-
nimmt, ſo wird dieſer gemeiniglich ſo genommen,
daß man ſieht, ob das Aehnliche oder Verſchiedene
darinn bey gewiſſen vorhabenden Abſichten etwas zu
ſagen habe, einen ſtaͤrkern Eindruck mache, ꝛc. Und
nachdem dieſes viel oder wenig auf ſich hat, laͤßt
man das Stuͤck, worinn die Aehnlichkeit oder Ver-
ſchiedenheit vorkoͤmmt, ſo viel gelten, als einige von
den uͤbrigen zuſammen genommen. Setzet man aber,
eine der aufgezeichneten Aehnlichkeiten oder Verſchie-
denheiten, ſey kleiner, weil ſie in einem kleinern Theile
vorkoͤmmt, oder unmerklicher iſt, oder dem taufend-
ſten Menſchen nicht in die Augen faͤllt, oder nicht in
Sinn koͤmmt, ſo ſind dieſes ebenfalls Gruͤnde, wo-
durch man den Werth oder die intenſiue Groͤße der-
ſelben herunter ſetzet, und wenn man eine andere = 1
ſetzet, dieſe nur durch einen Bruch ausdruͤcket. Es
iſt fuͤr ſich klar, daß man bey ſolchen Schaͤtzungen
die Vergleichung ſo anſtellen muͤſſe, daß man nicht
mit Vorſatz unaͤhnliche Stuͤcke gegen einander halte,
ſondern durchaus auf die groͤßte Aehnlichkeit ſehe.
Denn ſo z. E. koͤnnen zwey ungleichſeitige Vierecke
einander gleich und aͤhnlich ſeyn, und daher, wenn
man die correſpondirenden Seiten und Winkel auf
einander legt, genau zuſammen paſſen, da man ſtatt
deſſen lauter Verſchiedenheiten finden wuͤrde, wenn
man die groͤßere Seite oder Winkel des einen auf die
kleinere des andern legen wollte. Durch unſchickliche
Vergleichungen kann man Verſchiedenheiten und Un-
gereimtheiten herausbringen, die nicht in der Sache,
ſondern in der Vergleichung ſind, und auf deſſen
Rechnung geſetzet werden, der die unſchickliche Ver-
gleichung anſtellet. Wir haben in dem §. 353. ange-
merket, daß man in der ſchicklichſten Verflechtung des
Aehn-
[425]Das Ausmeßbare.
Aehnlichen und Verſchiedenen eine Art von Schoͤn-
heit und Vollkommenheit ſuche, und daß ſich zwi-
ſchen dem zu viel Aehnlichen und zu viel Verſchiede-
nen ein Maximum gedenken laſſe, wobey die Aehn-
lich[k]eiten und Verſchiedenheiten in ſolcher Anzahl
und ſo verflochten ſind, daß ſie ſaͤmmtlich wahrge-
nommen werden koͤnnen, und weder durch die zu gro-
ße Menge noch durch die Verwickelung ehender einem
Cahos und bunten Weſen, als einer wohlgeordneten
Sache gleichen. Hiebey iſt nun das Wahrnehmen,
ſowohl in Abſicht auf die Sache, als in Abſicht auf
die Faͤhigkeiten deſſen, der ſie wahrnehmen ſoll, re-
lativ, und daher koͤnnen die Dinge zwar unter ſich
ſtuͤckweiſe verglichen und mit andern von gleicher Art
gegen einander gehalten werden, hingegen in Abſicht
auf die Faͤhigkeiten derer, die ſie bemerken, laͤßt ſich
dieſes nicht ſo unbedingt thun, und man kann im Ge-
gentheile die Dinge ſelbſt ehender als Maaßſtaͤbe zur
Beſtimmung des Grades der Faͤhigkeiten anſehen,
weil ſonſten der eine eben dasjenige bunt, ſchwuͤlſtig,
uͤbertrieben ꝛc. nennet, was der andere ganz recht
und natuͤrlich findet, und der dritte etwann als ein-
faͤltig, kahl, kriechend anſieht. Denn dieſe Aus-
druͤcke ſind relativ, und Kunſtrichter nehmen dabey
ſehr leicht und unvermerkt, theils ihre Erkenntniß-
kraͤfte, theils gewiſſe Stuͤcke, die ſie dieſen Kraͤften
angemeſſen finden, und daher fuͤr Muſter angeben,
als Maaßſtaͤbe und abſolute Einheiten an, die man
entweder nicht uͤberſchreiten, oder nicht innert den-
ſelben zuruͤcke bleiben ſoll. Jndeſſen richten ſich ſol-
che, und beſonders die einfachen Aehnlichkeiten und
Verſchiedenheiten, wo man ſie ſchaͤtzen will, theils nach
der Anzahl, und zwar ſo fern man ſie als gleich er-
heblich und gleich bemerkbar anſieht, theils auch jede
D d 5beſon-
[426]XXVII. Hauptſtuͤck.
beſonders nach dem derſelben eigenen Grade der Er-
heblichkeit und Bemerkbarkeit. Jn ſo ferne wird
bey jeder das Product aus dieſen Graden genommen,
wenn dieſe Grade bey allen in einerley Abſicht ge-
ſchaͤtzet werden, und die Summe dieſer Producte
giebt ſodann die geſuchte Groͤße der Schoͤnheit. Es
koͤmmt aber dieſe an ſich einfache Berechnung nicht
ſo oft vor, weil gewoͤhnlich die Erheblichkeit aus ſehr
verſchiedenen Gruͤnden geſchaͤtzet wird, und weil da-
bey nicht nur auf die Anzahl der Aehnlichkeiten und
Verſchiedenheiten, ſondern auch auf die Verflech-
tung von beyden zu ſehen iſt.


§. 801.


Wir werden aber dieſe Betrachtung hier nicht wei-
ter fortſetzen, weil ſie nur als ein Beyſpiel dienet,
wodurch die vorhin vorgelegten Fragen (§. 799.) ge-
wiſſermaßen erlaͤutert werden. Denn wir ſehen dar-
aus, daß man es mehrentheils bey dem Vorzaͤhlen
der Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten bewenden
laͤßt, und daß, wenn man dabey Stufen gedenken
will, die eine gewiſſe Continuitaͤt haben, man auf
den Grad der Erheblichkeit, auf die Staͤrke des Ein-
druckes, auf den Grad der Bemerkbarkeit ꝛc. zu ſe-
hen habe. Desgleichen auch, daß der Grad der Er-
heblichkeit ebenfalls mehrere einfachere Gruͤnde ha-
ben koͤnne, dergleichen, z. E. die oben (§. 353.) ſchon
angemerkte Verhaͤltniſſe der einzeln aͤhnlichen und
verſchiedenen Stuͤcken zum Ganzen ſind, und ſo auch,
ob man bey Anbringung mehrerer verſchiedenen Stuͤ-
cke nicht auch bey jedem beſondere Gruͤnde habe, war-
um man ſie wegen anderer Abſichten anbringt ꝛc.
Man ſieht aber leicht, daß, wo ſolche andere Abſich-
ten vorkommen, die Betrachtung der Aehnlichkeit
und
[427]Das Ausmeßbare.
und Verſchiedenheit nicht mehr allein vorgenommen,
ſondern mit Vollſtaͤndigkeiten und Vollkommenheiten
von ganz anderer Art verbunden wird. Denn ſo
z. E. ſieht man bey Anlegung eines Gartens zugleich
auf die Anzahl und Art der Pflanzen, auf die Ex-
poſition in Abſicht auf die Sonne, auf den Unter-
ſchied des Erdreiches, der Jahreszeiten ꝛc. und da
koͤmmt eine ganz andere Berechnung von der Voll-
kommenheit der Anlage des Gartens heraus, als
wenn man denſelben nur in Gaͤnge, Beeten, Alleen,
Gelaͤnder ꝛc. einzutheilen hat.


§. 802.


Die Schaͤtzung der Groͤße einer Veraͤnderung hat
mit dieſen Betrachtungen uͤber das Aehnliche und
Verſchiedene eine ſehr nahe Verwandtſchaft, und der
Unterſchied beſteht vornehmlich nur darinn, daß bey
der Veraͤnderung die Betrachtung der Zeit mit vor-
koͤmmt, und daß dabey nicht zwo verſchiedene Sa-
chen, ſondern eine und eben dieſelbe Sache, wie ſie
vor und nach der Veraͤnderung war, mit ſich ſelbſt
verglichen wird. Die Zeit koͤmmt dabey mit in die
Rechnung, ſofern die Veraͤnderung geſchwinder oder
langſamer vor ſich geht, und außer dem, daß dieſes
einen merklichen Einfluß auf die Sache ſelbſt hat,
ſo wird die Veraͤnderung dadurch intenſiue groͤßer,
weil die Kraͤfte und Urſachen ſtaͤrker wirken muͤſſen,
um die Geſchwindigkeit zu vergroͤßern. Sodann, ſo
fern bey Veraͤnderungen die Sache mit ſich ſelbſt ver-
glichen wird, geht auch die Vergleichung leichter und
ordentlicher an, weil man nur auf die Theile, Ver-
bindungen und Verhaͤltniſſe zu ſehen hat, die ſich ge-
aͤndert haben. Man laͤßt es auch hiebey gewoͤhnlich
bey dem Abzaͤhlen bewenden, und ſchaͤtzet hoͤchſtens
nur
[428]XXVII. Hauptſtuͤck.
nur bey jeden einzeln Veraͤnderungen, ob ſie erheb-
licher und bemerkbarer ſind, und ſich theils in der
Sache, theils in den Folgen weiter ausbreiten. Die-
ſes letztere betrifft aber nicht die bloße Vergleichung
der Sache vor und nach der Veraͤnderung, ſondern
den Grad der Wichtigkeit derſelben, und bezieht ſich
daher zugleich auch auf die Verhaͤltniß, in welcher
die Sache mit andern ſteht. Dabey kommen ſodann
Abzaͤhlungen, Continuitaͤten, Einheiten und Maaß-
ſtaͤbe von ganz anderer Art vor.


§. 803.


Wir koͤnnen nun noch ferner anmerken, daß die
Faͤlle, wobey Continuitaͤten vorkommen, von denen,
wobey bloße Abzaͤhlungen muͤſſen vorgenommen wer-
den, nicht immer leicht zu unterſcheiden ſind, und
daß man hinwiederum auch da, wo ſie unterſchieden
werden koͤnnen, dieſelben in Abſicht auf die Rechnung
und Conſtruction, jedoch unter gewiſſen Bedingun-
gen verwechſeln kann. Man ſieht uͤberhaupt leicht,
daß wir die Continuitaͤten von den Abzaͤhlungen ſo
unterſcheiden, daß bey den letztern ſowohl die Menge,
als die Verhaͤltniſſe zwiſchen beyden immer durch
ganze Zahlen vorgeſtellet werden koͤnnen, da hingegen
die Continuitaͤten, wie Linien ſind, wovon Theile ge-
nommen werden koͤnnen, deren Verhaͤltniß zu einander
nicht durch ganze Zahlen koͤnnen angegeben werden.
Dieſes vorausgeſetzt, ſo koͤnnen wir die Verwechs-
lung von beyden durch das Beyſpiel der Todtenliſten
erlaͤutern. Die Zeit, welche das Alter der Men-
ſchen ausmißt, hat allerdings eine abſolute Continui-
taͤt, und man kann auch nicht ſagen, daß die Moͤg-
lichkeit zu ſterben bey allen Menſchen auf gewiſſe Au-
genblicke geſetzt ſey, ſo daß andere Augenblicke da-
von
[429]Das Ausmeßbare.
von ausgeſchloſſen waͤren. Sieht man demnach das
Alter der Sterbenden als Abſciſſen an, und ſtellet die
Anzahl derer, die von jedem Alter ſterben, durch
Ordinaten vor, ſo kann dieſes nicht wohl anders ge-
ſchehen, als daß man das Alter jahrweiſe nimmt,
und indem man die Abſciſſen in Jahre eintheilet, die
Anzahl derer, die z. E. zwiſchen dem funfzigſten und
ſechzigſten Jahre ſterben, durch den Raum einer
krummen Linie vorſtellet, welcher zwiſchen den Ordi-
naten des funfzigſten und ſechzigſten Jahres iſt. Die
Anzahl ſolcher Sterbenden iſt nun immer eine ganze
Zahl, dahingegen erſt beſagter Raum Continuitaͤ-
ten hat, und nicht bloß nach ganzen Zahlen fortgeht.
Das Mittel, ſo man hiebey findet, eine ſolche Ver-
wandlung vorzunehmen, iſt, daß die geſammte An-
zahl der Sterbenden dieſer Continuitaͤt deſto naͤher
koͤmmt, je weiter die Obſervationen in uͤbrigens glei-
chen Umſtaͤnden fortgeſetzt werden. Man verfaͤhrt
ungefaͤhr auf eine aͤhnliche Art, wenn man ſaget, daß
die Summe der natuͤrlichen Zahlen 1 + 2 + 3 + 4 + ꝛc.
dem halben Quadrate der letzten Zahl deſto naͤher kom-
me, je weiter die Reihe oder das Addiren fortgeſetzt
wird. Denn die Summe iſt eigentlich =\frac {1} {2}xx +\frac {1} {2}x,
und da wird das letzte Glied dieſes Ausdruckes, in
Vergleichung des erſten, deſto unmerklicher, je groͤ-
ßer x iſt.


§. 804.


Jn der Naturlehre kommen nun ſolche Faͤlle haͤufig
vor, wo man Abzaͤhlungen in Continuitaͤten verwan-
delt, und beſonders aͤußern ſie ſich da, wo man jedes
Theilchen der Materie einzeln in Betrachtung ziehen,
und die Summen, ſo man ſuchet, durch das Addiren
der Glieder, eine Reihe herausbringen muͤßte, wie
z. E.
[430]XXVII. Hauptſtuͤck.
z. E. bey der Bewegung fluͤßiger Materien, bey dem
Stoße der Koͤrper, wo die Figur derſelben veraͤndert
wird ꝛc. Es giebt aber dabey auch Faͤlle, wo man
eine ſolche Verwandelung nicht wohl vornehmen kann.
So z. E. kann man ſich einen metallenen Drat von
ſolcher Laͤnge gedenken, daß er durch ſein eigenes Ge-
wicht zerreißet. Dadurch werden die Cohaͤſionskraͤfte
derjenigen Theilchen getrennet, die an den zerriſſenen
Durchſchnittsflaͤchen lagen, und die Summe dieſer
Kraͤfte iſt nun etwas kleiner, als die Summe der
Kraͤfte, womit die Schwere alle Theilchen des abge-
riſſenen Stuͤckes herunter druͤcket. Demnach koͤnnen
beyde Summen mit einander verglichen werden. Es
ließen ſich aber auch die beyden Arten von Kraͤften,
ſo fern ſie auf ein einzelnes Theilchen wirken, mit
einander hieraus vergleichen, wenn die Anzahl der
Theilchen, ſo wirklich getrennet worden, ſich mit der
Anzahl aller, die in dem abgebrochenen Stuͤcke ſind,
vergleichen ließe, das iſt, wenn man wuͤßte, wie
viele in einer gegebenen Laͤnge der Ordnung nach an
einander liegen. Denn hier koͤmmt es auf die groͤ-
ßern Theilchen an, die durch ſchwaͤchere Kraͤfte ver-
bunden ſind, als das Solide, daraus ſie beſtehen.
Und da dieſe eine endliche Groͤße haben, ſo koͤmmt
in beyden Abſichten eine beſtimmte Anzahl heraus.
Wir fuͤhren dieſes hier nur beylaͤufig als ein Beyſpiel
an, weil dabey noch mehrere Umſtaͤnde zu erwaͤgen
ſind, wenn man eine ſolche Vergleichung nach aller
Schaͤrfe anſtellen, und die dabey vorkommenden Con-
tinuitaͤten mit in die Rechnung ziehen will.


§. 805.


Man ſieht aber aus dieſen Betrachtungen, daß
das Abzaͤhlen da vorkomme, wo ſich untheilbare Ein-
heiten
[431]Das Ausmeßbare.
heiten finden, es ſey nun, daß dieſe an ſich, oder we-
nigſtens in der vorhabenden Abſicht, als untheilbar
muͤſſen angeſehen werden. So lange nun ſolcher Ein-
heiten nur wenige in der Rechnung vorkommen, muß
man es bey der Abzaͤhlung bewenden laſſen, und den
Erfolg fuͤr jede Einheit fuͤr ſich betrachten. Jſt aber
die Anzahl ſo groß, daß eines mehr oder minder fuͤr
nichts zu achten, ſo kann man auch Bruͤche gelten
laſſen, und dadurch verfaͤllt man auf Continuitaͤten,
und laͤßt in der Anwendung der Rechnung, wo es
ſeyn muß, die Bruͤche weg, oder giebt ihnen eine
andere Bedeutung. Man ſtelle z. E. die Jahre des
Alters durch Abſciſſen, die Anzahl derer, die von
jedem Alter leben, durch Ordinaten vor, ſo wird die
krumme Linie, ſo man auf dieſe Art zieht, haͤufig
ſolche Ordinaten angeben, die außer einer ganzen
Zahl von Lebenden noch einen Bruch anzeigen. Jſt
nun die ganze Zahl ſehr groß, ſo kann man den
Bruch weglaſſen, widrigenfalls aͤndert man die Be-
deutung, und wenn z. E. der Bruch \frac {1} {2} iſt, ſo nimmt
man zwey Jahre zuſammen, und anſtatt zu ſagen,
daß von einem gewiſſen Alter jedes Jahr\frac {1} {2} ſterbe,
ſaget man, daß von dieſem Alter in zweyen Jahren
einer ſterbe ꝛc. Man kann uͤbrigens zugleich aus
der hier gemachten Anmerkung ſehen, daß die Faͤlle,
wo man die Continuitaͤt mit dem Abzaͤhlen leicht ver-
menget mehrentheils diejenigen ſind, wo man ſie in
der That in Abſicht auf die Rechnung ohne merklichen
Fehler verwechſeln kann, und daß die Vermengung
wenigſtens in dieſer Abſicht nichts zu ſagen habe.


§. 806.


Es fordert aber die Continuitaͤt nicht nur, daß die
Einheiten nicht untheilbar ſeyn, ſondern ſie muͤſſen
auch
[432]XXVII. Hauptſtuͤck.
auch nicht ungleichartig ſeyn. Dieſe letzte Bedin-
gung koͤmmt nun bey dem Abzaͤhlen nur in ſo fern
vor, als ſie den Unterſchied zwiſchen der erſten und
zweyten der vorhin angefuͤhrten vier Claſſen aus-
macht, (§. 792. 793.). Und in dieſer Abſicht kann
das Abzaͤhlen, theils in ſeinen zweyerley Arten
(§. cit.), theils mit den Continuitaͤten unſchicklich und
unrichtig vermenget werden. Denn wo das Un-
gleichartige nur durch feinere Unterſchiede erkennet
werden kann, die nicht jedem ſogleich in die Sinnen
fallen, oder nicht ſo leicht in Sinn kommen, da werden
die Dinge nicht nur bald vermenget, ſondern auch
als nach einer und eben derſelben Continuitaͤt fortge-
hend angeſehen. So z. E. faͤllt von undurchſichtigen
Koͤrpern Licht zuruͤck, man kann daſſelbe aber in Ab-
ſicht auf die Berechnung nicht ſo anſehen, als wenn
es auf einerley Art zuruͤcke fiel, ſondern man muß
dabey das eigentlich reflectirte, von dem nach allen
Gegenden zerſtreuten, und beydes von dem gefaͤrb-
ten, welches nicht von der Flaͤche, ſondern von den
unter derſelben liegenden Theilchen zuruͤcke faͤhrt, un-
terſcheiden, und noch das Abſorbirte mitnehmen,
wenn man die ganze Summe des Auffallenden wie-
der herausbringen will. (Photometr. §. 622. ſeqq.).


§. 807.


Sodann koͤnnen Continuitaͤten von ganz verſchiede-
ner Art dergeſtalt an einander graͤnzen, daß ſie dem
erſten Anſehen nach nur eine auszumachen ſcheinen,
ungeachtet jede ihre beſondere Geſetze hat. So z. E. be-
ſchreibt man etwann vermittelſt vier Cirkelboͤgen eine
Ovalfigur, oder vermittelſt ſtufenweiſe groͤßerer Cir-
kelboͤgen von 60, 90, 180 Graden eine Schnecken-
linie, wobey aber die wahre Continuitaͤt, wie ſie z. E.
bey
[433]Das Ausmeßbare.
bey Ellipſen und Spiralen iſt, nicht ſtatt findet.
Man kann die Anomalie, die ſich bey der Ausdeh-
nung fluͤßiger Materien findet, wenn ſie gefrieren,
und die wir oben (§. 779.) umſtaͤndlicher angefuͤhret
haben, als ein Beyſpiel anſehen, weil ſich vor und
nach dem Gefrieren, die Ausdehnung wiederum nach
dem Grade der Waͤrme richtet, ungeachtet es nicht
in eben der Verhaͤltniß geſchieht. Gemeiniglich kom-
men auch bey dem Anfange der Veraͤnderungen klei-
nere Anomalien vor, die ihre eigene Continuitaͤten
haben, und tangenten- oder aſymtotenweiſe abneh-
men, und wodurch ſich die Sache in ihren Behar-
rungsſtand richtet. So z. E. wird ein Schiff, wenn
die Seegel aufgezogen werden, nach und nach in Be-
wegung geſetzt, bis es die Geſchwindigkeit hat, mit
welcher es, bey gleicher Staͤrke des Windes gleich-
foͤrmig fortgehen kann, und legt ſich der Wind mit
einem Male, ſo hoͤret dieſe Geſchwindigkeit wieder-
um nur nach und nach auf. Diejenigen Faͤlle, wo
eine Groͤße anfangs nach Logarithmen, nachgehends
aber nach Cirkelboͤgen zu- oder abnimmt, kommen
ſeit der Erfindung der Differentialrechnung nicht ſel-
ten vor. Man kann ſie aber eigentlich nicht als Un-
terbrechungen der Continuitaͤt anſehen, ungeachtet ſie
in der Rechnung eine Aenderung machen, weil ſie
aus einer und eben derſelben Differentialformel her-
geleitet werden. Hingegen aͤußert ſich z. E. bey der
Schwere eine andere Art von Unterbrechung, weil
dieſelbe, ſo lange die Koͤrper uͤber der Erdflaͤche ſind
umgekehrt, wie das Quadrat der Diſtanz vom Mit-
telpuncte; hingegen in der Erde gerade hin, wie
dieſe Diſtanz abnimmt, und daher an der Erdflaͤche
am groͤßten iſt, und zwar, ohne daß das Differen-
tiale derſelben = 0 wird. Vor der Newtoniſchen
Lamb. Archit.II.B. E eTheorie
[434]XXVII. Hauptſtuͤck.
Theorie der Schwere haͤtte man von allem dieſem
nichts vermuthet, ſondern jeden Koͤrper ohne Ruͤck-
ſicht auf ſeine Lage und Entfernung fuͤr gleich ſchwer
angeſehen. Wird dem Koͤrper, der ſich allmaͤhlig
in die Erde verſenket eine endliche Groͤße zugegeben,
ſo koͤmmt zu der erſt gedachten Unterbrechung der
Continuitaͤt noch eine beſondere hinzu, welche von
dem allmaͤhligen Verſenken herruͤhret. Wir finden
einen aͤhnlichen Umſtand bey dem Satze, daß die
Erleuchtung einer ebenen Flaͤche ſich nach dem Sinus
des Einfallswinkels richte. Denn hat der leuchtende
Koͤrper eine endliche Groͤße ſo kann er auch gegen die
Flaͤche ſo geſtellet werden, daß nur noch ein Theil
davon uͤber derſelben iſt, und dieſes aͤndert ſodann
die Berechnung der Helligkeit der Flaͤche.


§. 808.


Wo ſich hingegen kleinere Continuitaͤten der Ord-
nung nach in einander verlieren, da nimmt man ſtatt
derſelben mehrentheils eine durchgaͤngige und einfoͤr-
mige Continuitaͤt an, und dieſes mag unter gewiſ-
ſen Bedingungen angehen. Denn ſo z. E. giebt
man dem ganzen Koͤrper eine Elaſticitaͤt, ungeachtet
dieſelbe eigentlich bey den Theilchen vorkoͤmmt, aus
denen er zuſammengeſetzt iſt, und man kann ſie auch
nur im Ganzen in ſo fern annehmen, als die Ver-
bindung der Theilchen durch groͤßere Kraͤfte nicht zer-
ruͤttet und getrennet wird, (§. 96.). Auf eine aͤhn-
liche Art wird die Continuitaͤt den Koͤrpern ohne
Ruͤckſicht auf die ſich in denſelben befindlichen leeren
Zwiſchenraͤumchen angedichtet, beſonders ſo fern ſie
eine Feſtigkeit haben. Jn andern Abſichten aber
geht dieſes nicht an, (§. 778.). Man ſetzet auf eine
aͤhnliche Art, daß die Dichtigkeit und ſtralenbre-
chende
[435]Das Ausmeßbare.
chende Kraft der Luft in Anſehung der Hoͤhe nach
einer genauen und einfoͤrmigen Continuitaͤt abnehme,
ungeachtet die in der Luft ſchwebenden fremden Theile
und die Lufttheilchen ſelbſt, weil ſie eine endliche
Groͤße haben, eben ſo viele einzelne und kleinere
Continuitaͤten verurſachen, ſtatt deren zuſammen ge-
nommen, man jene annimmt, die man aber jedoch
wegen der in der untern Luft viel haͤufiger ſchweben-
den Duͤnſte und groͤßern Waͤrme aus drey und meh-
rern beſondern Continuitaͤten zuſammen ſetzen muß.
(§. 730. 736.).


§. 809.


Endlich wird das Abzaͤhlen und ſo auch das Aus-
meſſen noch in verſchiedenen beſondern Faͤllen und
Abſichten eingeſchraͤnket. Denn einmal exiſtirt von
jeden Moͤglichkeiten, die einander ausſchließen, jedes-
mal nur eine, und da muß man ſich beſonders an
dieſe halten, wenn von dem, was exiſtirt, die Rede
iſt. Man kann zwar auch alle zugleich vornehmen,
um mit Ausſchließung der uͤbrigen die ſo wirklich exi-
ſtirt zu finden, und dadurch zu beweiſen, daß ſie exi-
ſtire. Dieſes Verfahren hat aber mit der Groͤße
derſelben keine unmittelbare Verbindung, weil ſich
dieſe nicht nach der Anzahl der uͤbrigen Moͤglichkei-
ten ſchaͤtzen laͤßt. Hat man aber aus andern Gruͤn-
den ſolche Moͤglichkeiten vorzuzaͤhlen, ſo kann man
die Vorzaͤhlung ebenfalls merklich abkuͤrzen, wenn
man ſogleich alle, die bloß ſymboliſch ſind, ſchlecht-
hin weglaͤßt, und ſo auch diejenigen nicht mit ein-
ander verbindet, oder in ein Syſtem bringt, die
einander ausſchließen oder nicht zugleich ſeyn koͤnnen,
wie z. E. wenn man ſetzen wollte, daß ein Koͤrper ſich
zugleich nach mehr als einer Direction wirklich bewege,
E e 2an
[436]XXVIII. Hauptſtuͤck.
an mehrern Orten ſey ꝛc. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar,
daß man bey dem Abzaͤhlen einerley Stuͤcke nicht dop-
pelt nehmen muͤſſe, wie dieſes geſchehen wuͤrde, wenn
man die Vertheilung derſelben nicht richtig trifft,
und das Einfache mit dem daraus zuſammengeſetz-
ten, die naͤchſten Folgen mit den entferntern, die an
ſich ſchon in den naͤchſten enthalten ſind, als eben ſo
viele beſondere Stuͤcke anſieht, die von einander ver-
ſchieden, unabhaͤngig und von gleichem Range und
Werthe ſind.



Acht und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Die Gleichartigkeit.


§. 810.


Wir haben noch in Abſicht auf das Gleichartige
und Ungleichartige, wovon in dem vorher-
gehenden bereits ſchon haͤufig die Rede vorgekommen
war, einige Betrachtungen zu machen, die daſſelbe
beſonders angehen, und deſto weniger weggelaſſen
werden koͤnnen, weil der Unterſchied zwiſchen dieſen
beyden Begriffen, ſowohl da, wo er an das Philo-
ſophiſche graͤnzet, als in der Mathematic ins beſon-
dere, von nicht geringer Erheblichkeit iſt, und weil
beydes genau von einander getrennet werden muß,
wo man nach geometriſcher Schaͤrfe und Richtigkeit
Ausmeſſungen vornehmen will. Wir koͤnnen hiebey
mit der Anmerkung anfangen, daß man ſich in der
Mathematic mit einzeln- und ſehr genauen Gleichar-
tigkeiten beſchaͤfftiget, und ſich, wo dieſe vorkommen,
daran nicht kehret, daß alles uͤbrige, oder das mei-
ſte
[437]Die Gleichartigkeit.
ſte davon ungleichartig iſt. Dieſes koͤnnen wir durch
einige Beyſpiele aufklaͤren und außer allen Zweifel
ſetzen. Man nimmt z. E. vor, die Grade der Un-
durchſichtigkeit
der Luft zu beſtimmen. Dieſe ruͤh-
ret nun groͤßtentheils von den fremden Theilchen her,
die in der Luft ſchweben, und das Licht auffangen.
Man betrachtet dieſelben demnach ſchlechthin und
durchaus nur in der Abſicht, wie fern ſie das Licht
auffangen, ohne ſich daran zu kehren, von welcher
beſondern Art von Materie jedes dieſer Theilchen iſt,
weil es dazu genug iſt, daß ſie einen Raum einneh-
men, und den freyen Durchgang des Lichtes hemmen.
Sodann ſetzet man ſie dergeſtalt vertheilet und durch
die Luft ausgeſtreuet, daß man anſtatt Abzaͤhlungen
vorzunehmen, eine durchgaͤngige Continuitaͤt in der
Rechnung anbringen koͤnne, (§. 808.). Und dadurch
wird alles auf eine an ſich ganz einfache Gleichartig-
keit reducirt, ſo ungleichartig auch jede einzelne Theil-
chen in jeden uͤbrigen Abſichten ſeyn moͤgen. Soll
hingegen das Gewicht der Luft fuͤr jede Hoͤhe be-
ſtimmt werden, ſo verfaͤhrt man in Anſehung dieſer
Theilchen, welche als eine todte Laſt ſchlechthin nur
das Gewicht vermehren und die untere Luft zuſam-
men druͤcken, in Abſicht auf das Gewicht derſelben,
auf eine ganz aͤhnliche Art, und kehret ſich an die
uͤbrigen Ungleichartigkeiten derſelben nicht, und eben
ſo verfaͤhrt man auch, wenn man unterſuchen will,
wiefern ſie, weil ſie nicht elaſtiſch ſind, den Schall,
und beſonders den Klang deſſelben hemmen. Man
wird in dem (§. 717.), wo wir bereits die An-
merkung gemacht haben, daß die Ausmeſſungen in
ſolchen einzeln Abſichten vorgenommen werden, meh-
rere Beyſpiele finden, die das erſt geſagte an den
Tag legen, und zeigen, wie man bey den Ausmeſ-
E e 3ſungen
[438]XXVIII. Hauptſtuͤck.
ſungen genaue Gleichartigkeiten und Continuitaͤten
aufſuchet.


§. 811.


Der Grund, warum man nothwendig darauf be-
dacht ſeyn, und auf dieſe Art verfahren muß, iſt die-
ſer, daß Groͤßen, wenn ſie anders nicht bloß vorge-
zaͤhlet, ſondern in eine Summe gebracht, und mit
einander ſollen verglichen werden koͤnnen, in einem
ſo genauen Verſtande gleichartig ſeyn muͤſſen. Denn
es waͤre ungereimt, zu ſagen, ein Jahr Zeit ſey ſo
groß als ein Pfund Gewicht, oder eine Linie ſo groß
als eine Flaͤche, weil eigenlich nur Zeit mit Zeit,
Gewicht mit Gewicht, Linien mit Linien, Flaͤchen mit
Flaͤchen ꝛc. in Abſicht auf die Groͤße verglichen wer-
den koͤnnen. Wir haben daher ſchon oben (§. 141.
N°. 4.) angemerket, daß man im ſtrengſten Verſtan-
de diejenigen Dinge gleichartig nenne, die ſchlechthin
nur der Groͤße nach verſchieden ſind, und hingegen
(§. cit. N°. 5.), daß ungleichartige Dinge auch nur
in ſo fern ungleichartig ſind, als ſie den Eigenſchaf-
ten nach verſchieden ſind. Da es nun unter den Din-
gen, die eine reale Moͤglichkeit haben, nicht zwey
durchaus Verſchiedene und Ungleichartige geben kann
(§. 146.), ſo giebt es in jeden Dingen mehr oder min-
der etwas Gleichartiges und Gemeinſames, ſo daß
ſie in Abſicht auf daſſelbe Ausmeſſungen und Verglei-
chungen der Groͤße zulaſſen. Jch ſage in Abſicht auf
daſſelbe. Denn darinn unterſcheidet ſich die Gleich-
artigkeit, die der Mathematiker aufſuchet, von der
Philoſophiſchen, daß jener jede einzelne Gleichartig-
keit, nach welcher etwas gemeſſen werden kann, in
Abſicht auf dieſe Ausmeßbarkeit fuͤr ſich betrachtet,
und dabey ungemein weitlaͤuftige Theorien zu Stande
bringen kann, da hingegen der Philoſoph es bey der
Bemer-
[439]Die Gleichartigkeit.
Bemerkung, daß die Dinge in dieſem oder jenem
Stuͤcke gleichartig ſind, bewenden laͤßt, und die Din-
ge deſſen unerachtet mehrentheils in ganz verſchiedene
Claſſen vertheilet, zumal, wenn ſie in allem uͤbrigen
verſchieden ſind. Jn dieſer Abſicht wird der erſt er-
waͤhnte vierte Satz des §. 141. beſtimmter ſo vorge-
tragen, daß die Dinge gleichartig ſind, die ſich
nur durch die Groͤße unterſcheiden laſſen, und
daß, in welcher einzeln Abſicht ſie ſich nur
durch die Groͤße unterſcheiden laſſen, ſie aller-
dings, aller uͤbrigen Unterſchiede unerachtet,
in eben dieſer einzeln Abſicht gleichartig ſind.

Mit ſolchen einzeln Abſichten kann man ſich der Aus-
meſſung halber begnuͤgen, und zwar um ſo viel deſto
mehr, weil nicht nur die Ausmeſſung in jeder beſon-
ders vorgenommen wird (§. 717.), ſondern weil man,
wenigſtens in der wirklichen Welt nicht zwey Dinge
findet, die in allen Abſichten betrachtet, gleichartig
waͤren (§. 130.), und weil uͤberdieß der Philoſoph die
abſolute Gleichartigkeit ohne Verwirrung nicht weiter
ausdehnen kann, als ſie der Mathematiker zur Aus-
meſſung und Berechnung tauglich findet, (§. 458. 455.).


§. 812.


Ungeachtet man aber da, wo es um das Addiren
und Subtrahiren, und um die Vergleichung der
Summen und Differenzen der Groͤßen zu thun iſt,
dieſelben nothwendig und im ſtrengſten Verſtande
gleichartig nehmen muß; ſo hat man dennoch in der
Mathematic Mittel gefunden, auch ungleichartige
Groͤßen, ſo zu vergleichen, daß ſich die einen ver-
mittelſt der andern beſtimmen laſſen. Um dieſes
mit der behoͤrigen Deutlichkeit ins Licht zu ſetzen,
werden wir den Unterſchied zwiſchen dem, was man
E e 4eigentlich
[440]XXVIII. Hauptſtuͤck.
eigentlich Groͤßen nennet, und zwiſchen den Ver-
haͤltniſſen
etwas naͤher betrachten. Wir merken zu
dieſem Ende an, daß jede Groͤße, fuͤr ſich betrachtet,
etwas abſolutes hat. Man kann daher z. E. eine
Linie von gegebener Laͤnge, wie es in der Algeber
geſchieht, durch einen Buchſtaben anzeigen, und ſo
wird dieſer Buchſtabe die abſolute Laͤnge derſelben
vorſtellen. Auf eben die Art kann man, wenn meh-
rere Linien, jede von gegebener Laͤnge, in der Rech-
nung vorkommen, jede derſelben durch einen beſon-
dern Buchſtaben ausdruͤcken, und ſo wird ebenfalls
jeder dieſer Buchſtaben, die dadurch angezeigte Linie
nach ihrer abſoluten Laͤnge vorſtellen. Dabey wuͤrde
man aber in Abſicht auf die Rechnung nicht weit
kommen, und uͤberdieß muͤßte jede dieſer Linien fuͤr
ſich beſonders angegeben werden. Man nimmt da-
her lieber und gleichſam unvermerkt eine Einheit an,
welche ein fuͤr allemal bey der Rechnung eine abſolute
Laͤnge vorſtellet, und dabey kommen ſodann folgende
Faͤlle vor. 1°. Wenn keine von den zu der Rechnung
angenommenen Linien dieſer Einheit gleich iſt, ſo
wird jede wenigſtens durch einen Buchſtaben angezei-
get. 2°. Jſt aber eine dieſer Linien der Einheit gleich,
ſo gebraucht man keinen Buchſtaben dafuͤr, und die-
ſes kann 3°. auch da geſchehen, wo die Linie, welche
man vermittelſt der Rechnung zu ſuchen hatte, der
dabey zum Grunde gelegten Einheit gleich iſt, wie
dieſes zuweilen geſchehen kann. Nimmt man nun
von dieſen Faͤllen den erſten vor, ſo daß naͤmlich jede
Linie fuͤr ſich durch einen beſondern Buchſtaben ange-
zeiget wird, ſo hat man den Vortheil davon, daß
man nicht nothwendig an eine Einheit gebunden iſt,
und folglich dieſelbe nach vollendeter Rechnung nach
den Umſtaͤnden, oder auch ſo waͤhlen kann, daß die
Rech-
[441]Die Gleichartigkeit.
Rechnung oder die herausgebrachte Formel geſchmei-
diger wird.


§. 813.


Wir merken nun hiebey an, daß, wenn die Ein-
heit einmal angenommen worden, jeder Buchſtabe
dadurch eine gedoppelte Bedeutung erhaͤlt. Denn
einmal ſtellet derſelbe an ſich noch immer die abſolute
Laͤnge der Linie vor, welche er bezeichnet, und daher
eine wirkliche Groͤße. Sodann ſtellet derſelbe eine
Zahl, naͤmlich die Anzahl von Einheiten vor, denen,
die dadurch angezeigte Linie gleich iſt, das will ſa-
gen, er zeiget an, wie vielmal die durch denſelben
bezeichnete Linie laͤnger iſt, als die Linie, welche man
bey der Rechnung als eine Einheit anſieht, und dem-
nach ſtellet jeder Buchſtabe zugleich auch die Ver-
haͤltniß
der dadurch angedeuteten Linie zur Einheit,
oder zu derjenigen Linie vor, die als eine Einheit an-
genommen worden.


§. 814.


Auf dieſen Unterſchied hat man genau zu merken,
wenn in der Rechnung mehrere Dimenſionen vorkom-
men, damit man nicht Verhaͤltniſſe, Linien oder
Groͤßen und Dimenſionen verwechſele. Es ſtellen
z. E. a, b, c, d Linien vor, bey welchen noch keine Ein-
heit angenommen iſt, ſo hat im eigentlichſten Ver-
ſtande der Ausdruck ab keine Bedeutung, es ſey
denn, daß man auf eine ganz willkuͤhrliche Art ein
Rectangel dadurch verſtehe, deſſen zwo Seiten a, b
ſind. Liegt hingegen bey dieſen Buchſtaben eine Ein-
heit zum Grunde, ſo kann der Ausdruck ab ſowohl
eine Linie, als ein Rectangel, und wenn man will
einen koͤrperlichen Raum, und ſo auch nur ein blo-
ßes Verhaͤltniß vorſtellen. Eine Linie, wenn man
E e 5ab =
[442]XXVIII. Hauptſtuͤck.
ab = ab : 1 ſetzet, und da ſtellet z. E. a eine Linie,
b : 1 aber Zahlen oder ein bloßes Verhaͤltniß vor.
Ein Rectangel, und da ſtellet ſowohl a als b ſchlecht-
hin nur Zahlen oder Verhaͤltniſſe vor, weil man hier
ab = 1. ab : 1. 1 ſetzet, und in dieſem Ausdrucke durch
das erſte 1 ein Quadrat verſteht, deſſen Seite = 1 iſt,
durch den Ausdruck ab : 1. 1 aber anzeiget, wie viel-
mal dieſes Quadrat genommen wird. Da man nun
aber auch da, wo jede Linie durch einen Buchſtaben
angezeiget wird, immer eine willkuͤhrliche Einheit
zum Grunde legen kann, ſo begnuͤget man ſich uͤber-
haupt mit dem Ausdrucke ab, und behaͤlt ſich gleich-
ſam vor, bey der Conſtruction der Rechnung, Linien,
Flaͤchen oder auch nur Verhaͤltniſſe daraus zu ma-
chen. Um aber dieſes zu thun, muß man allerdings
darauf ſehen, welche und wie viele Einheiten man
mit dazu nehmen muß.


§. 815.


Dieſe Betrachtungen, die wir hier nur durch ſehr
einfache Beyſpiele aus der Geometrie vorgeſtellet ha-
ben, dehnen ſich auf jede Arten von Groͤßen und
Verhaͤltniſſen aus, und werden in ſolchen Faͤllen noch
merklicher, wo die in der Rechnung vorkommenden Groͤ-
ßen der Art nach ganz verſchieden ſind. Es ſey z. E. t
eine Zeit, c eine Geſchwindigkeit, ſo ſieht man in
der Mechanic den Ausdruck ct als einen Raum an,
welcher in der Zeit t mit der Geſchwindigkeit c durch-
laufen wird. Dieſes ſetzet nun nothwendig drey ver-
ſchiedene Einheiten voraus, und der Ausdruck ct will
eigentlich ſagen, daß, wenn in der Zeit = 1 mit der
Geſchwindigkeit = 1 der Raum = 1 durchlaufen wird,
ſodann in der Zeit t mit der Geſchwindigkeit c ein
Raum ſ durchlaufen werde, welcher ſo vielmal groͤ-
ßer
[443]Die Gleichartigkeit.
ßer als ſeine Einheit ſey, ſo vielmal das Product
der beyden Zahlen t, c groͤßer als 1 iſt. Denn da
ſind t, c zugleich auch als Zahlen zu betrachten, und
es geſchieht durch die Multiplication ct keine Ver-
wechſelung der Einheiten, wie es dem erſten Anblicke
nach ſcheint, ſondern die dreyerley Einheiten der Zeit,
der Geſchwindigkeit und des Raumes liegen bereit bey
der Benennung c, t, s zum Grunde, und ihre Mul-
tipla
werden durch den Ausdruck s = ct nur in Ver-
gleichung gebracht. Man wird aͤhnliche Betrachtun-
gen zu machen haben, wenn man die lebende Kraft
eines bewegten Koͤrpers, als das Product aus der
Maſſe in das Quadrat der Geſchwindigkeit anſieht.


§. 816.


Anmerkungen von dieſer Art ſind nun erſt ſeit der
Erfindung der Buchſtabenrechnung bekannter, und
theils auch nothwendiger geworden, weil die Geſetze
der Gleichartigkeit dabey mehr in die Augen fallen.
Sie verhelfen aber auch ſehr viel dazu, wenn man
algebraiſche Formeln in die gemeine Sprache uͤber-
ſetzen, und etwas genauer nachſehen will, was die
einzeln Stuͤcke derſelben, jedes fuͤr ſich, und ſodann in
ihrer Verbindung bedeuten, und man behaͤlt dabey,
wenn mehrere Arten von Einheiten zugleich in der
Formel vorkommen, die Wahl, zu ſehen, nach wel-
cher derſelben die Formel am geſchmeidigſten uͤberſetzet
und in die Kuͤrze gezogen wird. Das oben (§. 364.)
in Abſicht auf die Formel \sqrt {(aa - ab + bb)} gegebene
Beyſpiel, und der vorhin (§. 746. 783.) erwaͤhnte
allgemeine Maaßſtab zur Ausmeſſung des Laufes der
Weltkoͤrper in dem Sonnenſyſteme moͤgen auch hier
als Beyſpiele dienen, und in der Photometrie bin
ich um deſto mehr darauf bedacht geweſen, ſolche
Ueber-
[444]XXVIII. Hauptſtuͤck.
Ueberſetzungen, ſo viel ſichs nur thun ließe, vorzu-
nehmen, weil man es ſonſt gemeiniglich bey den For-
meln bewenden laͤßt, ungeachtet ſie, wenn man ſich
die Muͤhe ſie naͤher zu betrachten nicht will reuen laſ-
ſen, nicht ſelten in die netteſten Lehrſaͤtze uͤberſetzet
werden koͤnnen.


§. 817.


Sofern nun bey jeder Groͤße, ungeachtet ſie fuͤr
ſich betrachtet, abſolut iſt, eine Einheit von gleicher
Art zum Grunde liegt, ſofern wird ſie unmittelbar
mit dieſer Einheit, mittelbarer Weiſe aber mit an-
dern Groͤßen von gleicher Art in Verhaͤltniß gebracht,
und in ſo fern verhalten ſie ſich gegen einander, wie
Zahlen zu Zahlen, wenn man naͤmlich nicht nur ganze
Zahlen, ſondern auch jede gebrochene Zahlen und De-
cimalreihen dadurch verſteht. Vermittelſt ſolcher
Verhaͤltniſſe iſt man nun in Stand geſetzt, auch un-
gleichartige Groͤßen in Vergleichung zu bringen.
Man muß aber immer von jeder Art zwo nehmen,
und zwar ſolche zwo, die einerley Verhaͤltniß haben,
weil eigentlich dadurch nicht die Groͤßen, ſondern die
Verhaͤltniſſe mit einander verglichen werden.


§. 818.


Wir muͤſſen aber auch hiebey das bloß Symboli-
ſche von dem, was bey einer ſolchen Vergleichung in
der That zum Grunde liegt, unterſcheiden. Denn
ſo z. E. kann man allerdings ſagen, daß ſich ein Fuß
Raum zu zween Fuß Raum verhalte, wie eine
Minute Zeit zu zwo Minuten Zeit. Liegt aber hiebey
nichts anderes zum Grunde, weswegen man dieſe Ver-
gleichung anſtellet, ſo hat ſie auch weiter nichts zu ſa-
gen, und ſie iſt gleichſam bloß arithmetiſch, weil man
die
[445]Die Gleichartigkeit.
die Begriffe von Raum und Zeit dabey ohne alles
Bedenken weglaſſen kann. Man nehme aber den
Begriff der gleichfoͤrmigen Bewegung mit hinzu; ſo
wird der Satz ſogleich Verſtand und Nachdruck ha-
ben, und gleichſam belebet werden. Denn da koͤmmt
es ſo heraus, daß was in einer Minute Zeit einen
Fuß Raum durchlaͤuft, in zwo Minuten zween Fuß
durchlaufen werde. Hiebey liegt in dem Begriffe
der gleichfoͤrmigen Bewegung der Grund, daß Raum
und Zeit in gleicher Verhaͤltniß zunehmen, und da-
her die Analogie zwiſchen der Zunahme von beyden
eine reale Bedeutung erhaͤlt.


§. 819.


Man ſieht ohne Muͤhe, daß dieſes Beyſpiel einen
ungleich allgemeinern Grund enthaͤlt, und daß man
ungleichartige Groͤßen nicht fuͤr die lange Weile ge-
gegen einander proportionirt, ſondern, daß man es
eigentlich da thut, wo die eine zugleich mit der an-
dern, und zwar in einerley Verhaͤltniß groͤßer und
kleiner iſt oder wird, und folglich zwiſchen beyden
eine wirkliche Verbindung ſtatt findet, oder die eine
von der andern abhaͤngt. Von ſolchen Verbindungen
und Abhaͤnglichkeiten giebt es nun eine große Menge.
Man kann aber nicht umgekehrt den Schluß machen,
daß allemal, wo ſolche vorkommen, die Verhaͤltniß
zwiſchen den Groͤßen ſchlechthin nur einfach ſey. Wir
haben daher bereits in dem §. 735. angemerket, daß
man zwar mehrentheils damit anfaͤngt, ſolche Ver-
haͤltniſſe einfach zu ſetzen, bis ſich etwann aus meh-
rern Erfahrungen und genauerer Unterſuchung der
Sache zeiget, daß man davon abgehen, oder wenig-
ſtens, wie wir es in dem §. 737. anmerken, den An-
fang der Groͤßen aͤndern, oder ſtatt derſelben andere
anneh-
[446]XXVIII. Hauptſtuͤck.
annehmen muͤſſe. So z. E. ſetzte Kepler die Stra-
lenbrechung den Winkeln proportional, und dieſes
gieng fuͤr kleinere Winkel noch ziemlich an. Hinge-
gen ergab ſich bey der Vergleichung der groͤßern Win-
kel, daß man ſtatt derſelben die Sinus nehmen muͤſſe,
wenn man eine einfache und durchgaͤngige Verhaͤltniß
haben wolle. Man hat auf eine aͤhnliche Art an-
faͤnglich den Widerſtand fluͤßiger Materien den Ge-
ſchwindigkeiten proportional geſetzet, nach genauerer
Unterſuchung aber fand es ſich, daß man das Qua-
drat der Geſchwindigkeit nehmen muͤſſe. Eben ſo
fand Kepler endlich bey der Bewegung der Planeten
die Zeiten, nicht den Winkeln, Linien, Boͤgen ꝛc.
ſondern den Flaͤchenraͤumen proportional. Da dieſes
nun an ſich nicht den geringſten Schein der Wahrheit
hat, das will ſagen, nicht von ſelbſt einleuchtend iſt,
ſo mußte es auch aus andern einfachern Gruͤnden be-
wieſen werden, und dazu verhalf die Theorie der Cen-
tralkraͤfte und die uͤber die Schwere gemachten Be-
obachtungen, daß es ſich erweiſen ließe.


§. 820.


Wir koͤnnen hiebey anmerken, daß auf ſolchen Ver-
gleichungen ungleichartiger Groͤßen der meiſte Theil
der angewandten Mathematic beruht, und daß man
dadurch nicht nur die Abhaͤnglichkeiten jeder Groͤßen
von einander findet, ſondern auch ohne ſolche Ver-
gleichungen gar nicht weit koͤmmt. Denn die gleich-
artigen Groͤßen laſſen ſich ſchlechthin nur addiren und
ſubtrahiren, und dadurch, daß man darauf ſieht,
wie vielmal ſie addirt und ſubſtrahirt werden, bringt
man ſie unter ſich in Verhaͤltniß. Mit allem dieſem
aber reichet man nicht weiter, als man in der Arith-
metic mit Zahlen, und in der Geometrie mit bloßen
Linien
[447]Die Gleichartigkeit.
Linien reichen wuͤrde, deren Theile man ſchlechthin
nur addirt, ſubtrahirt, und das Verhaͤltniß ihrer
Laͤngen aufſuchet. Jede Art von Groͤßen wuͤrde da-
durch von den uͤbrigen wie ganz unabhaͤngig ſeyn, und
an ſich ließe ſie ſich faſt immer nur auf eine bloß
ideale Art betrachten, weil man ſie ganz willkuͤhrlich
groͤßer und kleiner annehmen wuͤrde, ohne zu wiſſen,
was in Abſicht auf andere Arten von Groͤßen daraus
folget. Dieſes waͤre aber wenig wiſſenſchaftlich, weil
die wiſſenſchaftliche Erkenntniß vornehmlich darauf
geht, daß man Verbindungen und Abhaͤnglichkeiten
aufſuche, und vermittelſt der gefundenen aus der ge-
ringſten Anzahl gegebener Stuͤcke die uͤbrigen alle fin-
den und beſtimmen koͤnne. Wir koͤnnen noch beyfuͤ-
gen, daß es uns in vielen Faͤllen ſchwer fallen wuͤr-
de, zu finden, daß in einem vorgegebenen Falle eine
reale Verbindung und Abhaͤnglichkeit ſtatt habe,
wenn wir es nicht daraus ſchließen koͤnnten, daß in
demſelben die eine Art von Groͤßen zugleich mit der
andern zu- und abnimmt.


§. 821.


Die Verbindungen und Abhaͤnglichkeiten, wodurch
ſolche Verhaͤltniſſe und Vergleichungen ungleicharti-
ger Groͤßen moͤglich ſind, laſſen ſich nun in verſchie-
dene Hauptclaſſen bringen, wenn wir dabey nur auf
die unmittelbarſten ſehen wollen. Denn durch fort-
geſetzte Vergleichungen ſolcher Verhaͤltniſſe, koͤnnen
oͤfters auch Groͤßen mit einander verglichen werden,
die bald nichts gemein haben, zumal, wenn man
dabey nur auf Aehnlichkeiten ſieht, und einen Fall
durch den andern wegen gemeinſamer Vergleichungs-
ſtuͤcke vorſtellen, aufklaͤren, oder faßlicher machen
will. Denn auf dieſe Art ſtellet man z. E. bald alle
Arten
[448]XXVIII. Hauptſtuͤck.
Arten von Groͤßen durch Figuren und krumme Linien
vor, ungeachtet dieſe an ſich betrachtet in die Geome-
trie gehoͤren, und eben ſo kann man z. E. die Lehr-
ſaͤtze von dem Mittelpuncte der Schwere da gebrau-
chen, wo von Kraͤften und Gleichgewicht gar nicht,
oder hoͤchſtens nur auf eine metaphoriſche Art, die
Rede iſt, wie etwann bey der Berechnung der Argu-
mente in der Lehre von der Wahrſcheinlichkeit, oder
bey der Beſtimmung des Mittels aus mehrern Ob-
ſervationen, die ſaͤmmtlich vom Wahren mehr oder
minder abweichen ꝛc.


§. 822.


Die erſt erwaͤhnten Claſſen aber ſind vornehmlich
folgende. 1°. Jſt mit der wirkenden Urſache zugleich
auch die Wirkung groͤßer oder kleiner. Man muß
aber hiebey zu demjenigen, was man als die wirken-
de Urſache anſieht, und welche den erſten Anfang
machet, noch alles mitnehmen, was ſich theils in
den Umſtaͤnden, theils in der Sache ſelbſt befindet, in
welcher die Wirkung vorgeht (§. 594.), weil man ſonſt
leicht mehr in der Wirkung findet als in der Urſache
war, und zuweilen, wo naͤmlich durch beſondere Um-
ſtaͤnde die Kraft der Urſache unwirkſam gemacht
wird, eine groͤßere Wirkung erwartet, als in der
That erfolget. Man hat dieſe Betrachtung beſon-
ders auch als einen Grund mit angegeben, warum
man ſich mit der bloß philoſophiſchen Erkenntniß nicht
ſo ſchlechthin begnuͤgen koͤnne, ſondern die mathema-
tiſche mitnehmen, und dazu gebrauchen muͤſſe, ſich
von der Richtigkeit und Vollſtaͤndigkeit der philoſo-
phiſchen zu verſichern, (§. 681.). Denn die Urſachen
muͤßten nicht nur in der That Urſachen, ſondern be-
ſonders auch in Abſicht auf die Groͤße, Staͤrke und
Dauer
[449]Die Gleichartigkeit.
Dauer der Wirkung genau und weder mehr noch min-
der als zureichend ſeyn. Was in jedem Fall hieran
fehlt, da hat man noch nicht alles gefunden, und
zuweilen ſtatt des wahren etwas irriges. So hatte
man z. E. vormals geglaubt, das Steigen des Waſ-
ſers in den Pumpen laſſe ſich aus dem Satze, daß in
der Natur nichts leeres ſeyn koͤnne, voͤllig erklaͤ-
ren. Man fand aber nachher, daß die Folge aus
dieſem Satze weiter als die Erfahrung gehe, und
wurde dadurch veranlaßt, die Urſache in dem Drucke
der Luft zu finden. So machten auch die Haarroͤhr-
chen an den hydroſtatiſchen Saͤtzen eine Ausnahme,
welche zeigeten, daß man dabey außer der Schwere
noch andere wirkende Kraͤfte zu ſuchen habe. Die
Naturlehre beut zu dieſen Beyſpielen noch eine Men-
ge anderer an.


§. 823.


Die zweyte Claſſe betrifft ſolche Groͤßen, die mit
andern zugleich ſind, und beſonders, auf die mit die-
ſen letztern vorkommenden Verhaͤltniſſe gehen, dieſe
moͤgen nun real oder ideal ſeyn. So z. E. findet ſich
bey der Bewegung immer Maſſe, Kraft, Geſchwin-
digkeit, Raum, Direction und Zeit beyſammen, und
die Mechanic beſchaͤfftiget ſich damit, die Verhaͤlt-
niſſe zwiſchen dieſen an ſich ganz ungleichartigen
Groͤßen zu beſtimmen. Jn der Geometrie werden
mit den Linien zugleich, und an ſich ſchon auch Win-
kel gezeichnet, wodurch ihre Lage und die Verhaͤltniſſe
der Theile, die zwiſchen den Durchſchnittspuncten
liegen, angezeiget und beſtimmt werden. Die Ab-
haͤnglichkeiten dabey ſind von der Art, daß in einem
geradelinichten Triangel zween Winkel den dritten be-
ſtimmen, und aus drey von den dabey vorkommen-
Lamb. Archit.II.B. F fden
[450]XXVIII. Hauptſtuͤck.
den ſechs Stuͤcken (§. 798.) die drey uͤbrigen gefunden
werden koͤnnen, wenn die erſtern drey von einander
unabhaͤngig ſind.


§. 824.


Jn die dritte Claſſe koͤnnen wir diejenigen Verbin-
dungen ungleichartiger Groͤßen rechnen, wo in Anſe-
hung der einen, die uͤbrigen als ihre Dimenſionen
koͤnnen angeſehen werden (§. 728.), oder derſelben ein-
fache Beſtimmungen ſind, ſo, daß jene deswegen groͤ-
ßer und kleiner wird, weil dieſe groͤßer und kleiner
werden (§. 451. ſeq.). Von dieſer Art iſt z. E. in der
Mechanic die Quantitas motus, welche aus dem Pro-
duct der Maſſe in die Geſchwindigkeit beſteht, und
ſo auch die lebende Kraft, welche ſich nach der Maſſe
und dem Quadrate der Geſchwindigkeit vergroͤſſert.
Solche aus mehrern einzelen und an ſich einfachen
Beſtimmungen zuſammengezogene Begriffe, bilden
wir nun entweder aus den einfachen, weil das Pro-
duct aus dieſen, in Abſicht auf die Rechnung, als
ein brauchbares Ganzes angeſehen werden kann, der-
gleichen z. E. die erſt erwaͤhnte Quantitas motus iſt,
oder das, was dieſes Product vorſtellet, iſt etwann
eben das, was in die Sinnen faͤllt, oder mit etwas
in die Sinnen fallendem verglichen werden kann. Von
dieſer Art iſt z. E. der Begriff der Dichtigkeit, wel-
che deſto groͤßer iſt, je mehr Maſſe in gleichem Raum
iſt; der Begriff der Weiſſe eines Koͤrpers, welche
deſto groͤßer iſt, je mehr von den auffallenden Licht-
ſtralen der Koͤrper zuruͤcke wirft; der Begriff der le-
benden Kraft,
welche ſich vermittelſt elaſtiſcher Koͤr-
per mit dem Drucke, als welcher eigentlich eine Kraft
oder die weſentliche Wirkung derſelben iſt, verglei-
chen laͤßt (§. 376. 396. ſeqq.). Die ſcheinbare Groͤ-
ße,
[451]Die Gleichartigkeit.
ße, welche ſich gerade wie die wahre, umgekehrt
aber, wie die Entfernung, oder auch, wie das Qua-
drat derſelben verhaͤlt, je nachdem von Linien oder Flaͤ-
chen, die gegen das Auge ſenkrecht liegen, die Rede
iſt, im allgemeinſten und genaueſten Verſtande aber
einen flachen oder ſoliden Winkel zum Maaße hat,
der ſich findet, wenn man ſetzet, das Auge liege an
der Spitze einer Pyramide, welche den Gegenſtand
dichte anſchließend umgiebt (Photom. §. 98.). Man
hat bereits ſchon in der angewandten Mathematic
eine Menge ſolcher Begriffe, die eine Groͤße vorſtel-
len, welche ſich in Verhaͤltniß von mehreren einfa-
chern Groͤßen veraͤndert, und daher durch dieſe be-
ſtimmt wird, und auch hinwiederum zur Beſtimmung
von einer derſelben dienen kann.


§. 825.


Wir haben ſolche einfache Beſtimmungen bereits in
dem §. 451. ſeqq. beſonders in Abſicht auf die Qualitaͤt
derſelben betrachtet, dabey aber zugleich auch ange-
merket, daß es eigentlich diejenigen ſind, welche dem
Begriffe, in dem ſie vorkommen, in Abſicht auf die
Groͤße, ſeine verſchiedene Dimenſionen geben, und
daß ſie ſich uns folglich in dieſer gedoppelten Geſtalt,
naͤmlich als einfache Beſtimmungen und Dimenſio-
nen zeigen. Dabey aͤußert ſich nun aber ein Unter-
ſchied. Denn als Beſtimmungen oder einfache Quali-
taͤten koͤnnen ſie in einen Begriff zuſammengenom-
men werden, weil ſie in der That in der Sache ſelbſt
beyſammen vorkommen. Hingegen als Dimenſio-
nen gehet dieſes nicht ſo allgemein an, ſondern da
werden gewoͤhnlich nur einige zuſammengenommen,
und zwar ſolche, nach welchen die Sache in der da-
bey zum Grunde liegenden Abſicht betrachtet, groͤßer
F f 2oder
[452]XXVIII. Hauptſtuͤck.
oder kleiner ſeyn, oder werden kann. Dieſes haben
wir hier nun etwas umſtaͤndlicher und deutlicher auf-
zuklaͤren, und werden die beſondern Arten der Faͤlle
durch Beyſpiele begreiflicher zu machen ſuchen.


§. 826.


Wir koͤnnen das erſte von einem Circulbogen her-
nehmen. Die zwey Beſtimmungsſtuͤcke ſeiner abſo-
luten Groͤße ſind die Laͤnge des Halbmeſſers, womit
der Bogen beſchrieben wird, und der Winkel, den
die von den beyden Enden des Bogens in den Mit-
telpunct gezogenen Linien oder Halbmeſſer daſelbſt
machen. Nach jedem dieſer beyden Beſtimmungs-
ſtuͤcke wird der Bogen, und zwar in gleichem Ver-
haͤltniſſe, groͤßer. Jn dieſer Abſicht haben wir fuͤr
den Winkel wiederum eine kenntliche Einheit, weil
ſich naͤmlich derjenige = 1 ſetzen laͤßt, deſſen Bogen
dem Halbmeſſer gleich iſt. Denn nimmt man dieſe
Einheit an, ſo iſt in jedem Fall die Laͤnge des Bo-
gens das Product des Winkels in den Halbmeſſer,
und der Bogen wird = 1, wo ſowohl der Winkel als
der Halbmeſſer = 1 iſt. Dieſe drey Stuͤcke koͤnnen
nun fuͤr ſich betrachtet werden, und der Bogen iſt da-
bey ein Begriff, deſſen zwo einfachere Beſtimmungen,
in Abſicht auf ſeine Laͤnge, der Halbmeſſer und der
Winkel ſind. Man ſetze nun eine circulaͤre gleichfoͤr-
mige Bewegung, ſo wird dieſe Bewegung der Haupt-
begriff, und es kommen noch die Begriffe von Zeit
und Geſchwindigkeit als einfache Beſtimmungen hin-
zu. Die Einheiten, die hiebey vorkommen, laſſen
ſich nun ſchon auf mehrere Arten beſtimmen, weil
man ſowohl die angulaͤre Bewegung als auch die Be-
wegung in dem Circulbogen beſonders betrachten kann.
Jm erſten Fall koͤmmt weder der Halbmeſſer, noch
der
[453]Die Gleichartigkeit.
der Bogen, ſondern ſchlechthin nur der Winkel in
Betrachtung. Jm andern Fall aber, wo die Laͤnge
des Bogens den durchlaufenen Raum ausmißt, kann
der Winkel und der Halbmeſſer zur Beſtimmung die-
ſer Laͤnge gebraucht werden. Der Winkel wird der
Zeit und der Geſchwindigkeit nach groͤßer, hingegen deſto
kleiner, je groͤßer der Halbmeſſer iſt. Setzet man
nun ferner, der Koͤrper werde durch Centralkraͤfte im
Circul herum getrieben, ſo wird der Begriff dieſer
Bewegung wiederum zuſammengeſetzter, weil mit
den Begriffen der Zeit, der Geſchwindigkeit, des
Halbmeſſers, Bogens und Winkels, noch die Kraft
und die Maße mit in die Rechnung gezogen werden
muß. Man ſieht aus dieſem Beyſpiele, wie man
ſtuffenweiſe mehr einfache Beſtimmungen zuſammen
nehmen, und die dadurch entſtehende Groͤßen, deren
jede eine ihr eigene und benennbare Einheit hat, mit
einander vergleichen kann. Man nimmt aber auch
jedesmal nur ſo viele zuſammen, als noͤthig iſt, um
die Groͤße der einen durch die Groͤße der uͤbrigen zu
beſtimmen, und dieſes thut man nach allen dabey
moͤglichen Combinationen, um eine vollſtaͤndige Ab-
zaͤhlung derſelben zu haben.


§. 827.


Jn dieſem Beyſpiele waren alle einfache Beſtim-
mungen aus einander geſetzt, und jede fuͤr ſich kennt-
lich. Es giebt aber eine Menge von Faͤllen, wo ſie
ſich in einander ſo verlieren, daß ſich uns nur die
ganze Summe oder das Product von allen zeiget, und
wo man mehrere Muͤhe hat, jede einzelne Jngredi-
entien oder beſtimmende Stuͤcke zu finden. So z. E.
weiß jedermann den Unterſchied, den man zwiſchen
einer todten und lebhaften Farbe machet. Man hat
F f 3aber
[454]XXVIII. Hauptſtuͤck.
aber Muͤhe, die Beſtimmungsſtuͤcke alle zu finden,
die dieſen Unterſchied verurſachen. Die Helligkeit
des Lichtes, welches die gefaͤrbte Flaͤche beleuchtet,
traͤgt unſtreitig viel dazu bey. Man muß aber den
fuͤrnehmſten Grund in der Flaͤche ſelbſt aufſuchen,
und da koͤmmt es viel darauf an, ob an dieſer die
kleinſten Theilchen glaͤtter ſind, und die gefaͤrbten
Stralen mit einigem Glanze zuruͤcke werfen, ob die
gefaͤrbten Stralen von gleicher Art, oder mit Stra-
len von anderer Farbe vermenget ſind, und ob in der
Flaͤche nicht auch viele ſchattichte Vertiefungen ſind,
die unter die hellern Stralen etwas dunkeles und tod-
tes mit einmengen. Alle dieſe Umſtaͤnde ſind nur von
der Art, daß dabey einzelne Producte vorkommen,
welche addirt werden muͤſſen, und daher die Summe
auf ſehr vielerley Arten aͤndern koͤnnen. Alle dieſe
Beſtimmungsſtuͤcke werden hiebey nur in ſo ferne zu-
ſammen genommen, als ſie zur Berechnung der Hel-
ligkeit und Lebhaftigkeit der Farbe des Koͤrpers in
Betrachtung gezogen werden. Man nimmt auch nur
alsdann noch mehrere mit hinzu, wo man die Structur
des Koͤrpers, theils, ſo ferne ſie in die Helligkeit ſei-
ner Farbe einen Einfluß hat, theils auch, ſo ferne
man beydes noch mit andern Beſtimmungen in Ver-
gleichung bringen will, umſtaͤndlicher unterſucht.


§. 828.


Zu ſolchen Vertheilungen der Beſtimmungen, die
in einer und eben derſelben Sache beyſammen ſind,
iſt nun die Sprache ſchon ziemlich eingerichtet, und
ſie wird es vollkommen ſeyn, wenn alles, was ſich
dabey auf beſondere Einheiten bezieht, in Abſicht auf
dieſelben, beſonders benennet wird. So z. E. wenn
von der Groͤße eines Koͤrpers die Rede iſt, ſo ver-
ſtehet
[455]Die Gleichartigkeit.
ſtehet man an ſich ſchon dadurch die Groͤße des Rau-
mes, den er einnimmt, und ſelbſt auch dieſe benen-
net man, wo es ſeyn muß, nach ſeinen drey einfa-
chern Dimenſionen beſonders. Und dabey verſteht
ſich ebenfalls von ſelbſt, daß, wo von der Groͤße die
Rede iſt, die Frage von der Haͤrtigkeit, Dichtigkeit,
Elaſticitaͤt, Schwere, Durchſichtigkeit ꝛc. nicht vor-
komme, ungeachtet ſie in andern Abſichten betrachtet
vorkommen kann, weil dieſe Eigenſchaften mit der
Groͤße allerdings auch eine Verbindung haben koͤn-
nen. Man nimmt aber, wie wir bereits vorhin
(§. 826.) angemerkt haben, in Abſicht auf die Groͤ-
ßen, immer nur ſo viele zuſammen, als erfordert
werden, die eine durch die mit dazu genommene zu
beſtimmen. So z. E. iſt, um das Gewicht zu beſtim-
men, die Groͤße nicht hinreichend, weil man noch die
Dichtigkeit mit hinzu nehmen muß, dabey aber wuͤrde
die Haͤrtigkeit, Elaſticitaͤt, Durchſichtigkeit ꝛc. ganz
uͤberfluͤßig ſeyn. Man ſieht uͤberhaupt leicht, daß
es bald bey jedem Dinge eine Menge ſolcher einfa-
chen Beſtimmungsſtuͤcke giebt. Ein Philoſoph hat
dieſelbe, um den Begriff der Sache vollſtaͤndig zu
machen, nur vorzuzaͤhlen, und zu ſehen, daß er die,
in welchen andere einfachere enthalten ſind, beſonders
nehme. Der Mathematiker aber combinirt ſie der-
geſtalt, daß er finden koͤnne, wie viele Einheiten,
ſowohl von einer als von mehrern Dimenſionen er da-
bey heraus bringen kann, weil er dadurch eben ſo
viele Verhaͤltniſſe, Vergleichungen und Ausmeßbar-
keiten findet. Ueber die Menge hat man ſich deſto
weniger zu verwundern, weil das Subſtantiale etwas
an ſich einfaches, alles uͤbrige aber ſolche Beſtim-
mungen ſind.


F f 4§. 829.
[456]XXVIII. Hauptſtuͤck.

§. 829.


Es iſt ferner die Bedingung, die den Philoſophen
bey dem Zuſammennehmen, einfacher Beſtimmun-
gen einſchraͤnket, wenn er a priori geht, von derje-
nigen einiger Maßen verſchieden, die der Mathema-
tiker zu erfuͤllen hat. Der Philoſoph kann nicht meh-
rere zuſammen nehmen, als zum exiſtiren koͤnnen er-
fordert werden, und nimmt er ſo viele, ſo iſt der Be-
griff des ganzen, den er bilden will, vollſtaͤndig.
Nimmt er aber weniger zuſammen, ſo geſchieht die-
ſes nur, um einen einfachern Begriff zu bilden, und
dabey muͤſſen immer die zuſammengenommenen nicht
an ſich ſchon andere nach ſich ziehen oder erfordern,
weil dieſe ebenfalls auch mit angenommen werden koͤn-
nen. Hiebey iſt nun die Regel, nach welcher der
Mathematiker ſolche einfache Beſtimmungen zuſam-
men nimmt, wo nicht die einige, doch eine ſicher
und zuverlaͤßige Richtſchnur. Denn dieſer nimmt
allemal ſo viele ſolcher einfachen Beſtimmungen zu-
ſammen, als erfordert werden, die Groͤße der einen
durch die Groͤße der uͤbrigen zu beſtimmen, und die-
ſes iſt allemal eine Anzeige, daß unter ſolchen Be-
ſtimmungen eine gemeinſame Verbindung iſt, wel-
che macht, daß ſie zuſammen genommen als ein gan-
zes angeſehen werden koͤnnen. Dabey giebt es nun
unſtreitig vielerley Combinationen, aber mit denſel-
ben zugleich auch eben ſo viele Begriffe, die ein fuͤr
ſich gedenkbares Ganzes vorſtellen, in welchem die
dazu genommenen Theile eine gemeinſame, genaue
und gleichſam fuͤr ſich beſtehende Verbindung haben.
Wie nun hiebey verſchiedene Verwirrungen, die ſich
gar leicht in philoſophiſche Definitionen und Saͤtze ein-
ſchleichen, am ſicherſten vermieden werden, das haben
wir bereits oben (§. 453-461.) ausfuͤhrlich angezeiget.


§. 830.
[457]Die Gleichartigkeit.

§. 830.


Nun bringt zwar der Mathematiker nach ſeinem
Verfahren ſolche Beſtimmungen und Dinge zuſam-
men, die außer einander oder auf eine ganz ungleich-
artige Weiſe von einander verſchieden ſind, da hinge-
gen der Philoſoph Begriffe und Beſtimmungen ſucht,
die in einander ſind, um ſie durch ſein Analyſiren ſtuf-
fenweiſe heraus zu bringen, weil er anfaͤngt, ganze
Summen von Merkmalen, die mehrern Dingen ge-
meinſam ſind, zuſammen zu faſſen, und von dieſen
ſodann nach und nach die ſpecialern weglaͤßt. Wir
haben den Unterſchied zwiſchen dieſem Verfahren, das
iſt, zwiſchen dem Aufſuchen des Aehnlichen und des
Verſchiedenen, bereits oben (§. 751-757.) umſtaͤnd-
lich betrachtet, und dabey geſehen, daß es eben nicht
ſo durchaus einander entgegen geſetzet iſt, wenn man
beydes in richtigen und brauchbaren Abſichten vor-
nimmt. Wir koͤnnen dieſes noch durch folgende Be-
trachtung klar machen. Man ſetze zwiſchen den Be-
griffen oder Beſtimmungen, a, b, c ſey eine ſolche
Verbindung, daß die Groͤße der einen durch die Groͤ-
ße der beyden andern beſtimmt, oder a = bc ſey.
Sind nun a, b, c an ſich einfach, ſo hat der Philo-
ſoph darinn weiter nichts mehr zu ſuchen, und die
Verbindung, die aus dieſen dreyen Beſtimmungen
ein fuͤr ſich gedenkbares Ganzes macht, muß er gleich-
falls, weil ſie ſo einfach iſt, annehmen. Man ſetze
hingegen, daß z. E. b nicht einfach ſey, ſondern aus
zwoen einfachern Beſtimmungen p, q beſtehe, ſo
laͤßt ſich daraus, daß a = bc ſey, ſchließen, es muͤſſe
b = pq ſeyn, und zwar deswegen, weil b, ſo groß
oder klein es iſt, gleichfoͤrmig mit c multiplicirt wird.
Dieſes wuͤrde nicht angehen, wenn b = Ap + Bq
waͤre, das will ſagen, aus zweyen oder mehrern un-
F f 5gleich-
[458]XXVIII. Hauptſtuͤck.
gleichartigen Theilen beſtuͤnde. Man ſetze, z. E. a
ſey das Gewicht, b die Dichtigkeit, c die Groͤße ei-
nes Koͤrpers, ſo wird bey der Formel a = bc noth-
wendig voraus geſetzt, daß die Dichtigkeit in dem
ganzen Koͤrper durchgaͤngig einerley oder gleich ſey,
weil man ſonſt jeden Theil beſonders vornehmen, und
die Formel in a = bc + β + BC + \&c. verwan-
deln muͤßte. Nun wird die abſolute Dichtigkeit
nach aller Schaͤrfe betrachtet, durch die Verhaͤltniſſe
der ſoliden Theilchen und der Zwiſchenraͤumchen be-
ſtimmt, und dieſes Verhaͤltniß muß, wenn b wirk-
lich einfoͤrmig ſeyn ſolle, durch den ganzen Koͤrper ei-
nerley ſeyn. Jch ſage, nach aller Schaͤrfe betrach-
tet, denn in der Naturlehre und in Abſicht auf den
Gebrauch, begnuͤgt man ſich mit kleineren Ungleich-
heiten, die einander, ſo viel ſichs bemerken laͤßt, com-
penſiren. Nach der ſtrengſten Schaͤrfe aber ſetzet die
Formel a = bc nothwendig eine durchgaͤngige Einfoͤr-
migkeit voraus, und wo der Mathematiker beweiſen
kann, daß a = bc ſtatt finde, da kann zwar b und c
aus einfacheren Beſtimmungen beſtehen, ſie ſind aber
von der in dem §. 456 angemerkten Verwirrung frey.
Wir koͤnnen noch mit anmerken, daß der Beweis,
wenn er anderſt a priori ſeyn ſoll, gemeiniglich bey
den in b, c vorkommenden einfachern Beſtimmun-
gen, und bey der Verſicherung anfaͤngt, daß ſie durch-
gaͤngig ſind. Denn a poſteriori geſchieht es durch eine
Jnduction, wenn man ſtuffenweiſe die Probe anſtellet,
ob in allen Verſuchen a = bc heraus komme, man
mag b oder c groͤßer oder kleiner nehmen.


§. 831.


Was aber das erſtgedachte Außereinander oder
auf eine ungleichartige Weiſe verſchieden ſeyn,
der
[459]Die Gleichartigkeit.
der Beſtimmungen ſagen will, die der Mathemati-
ker in Vergleichung bringet, das erhellet aus den
vorhin angefuͤhrten Beyſpielen ohne Muͤhe. Bey
dem Circulbogen (§. 826.) ſind der Bogen, der Halb-
meſſer und der Winkel dem Buchſtaben nach, oder im
eigentlichſten Verſtande außereinander. Die Ver-
bindung zwiſchen dieſen dreyen Stuͤcken beſteht aber
offenbar darinn, daß der Halbmeſſer und der Winkel
weſentliche, nothwendige, und zureichende Beſtim-
mungsſtuͤcke des Bogens ſind, theils, weil der Bo-
gen durch die Umdrehung des Halbmeſſers um einen
Punct erzeuget wird, theils, weil ſich die abſolute
Groͤße oder Laͤnge des Bogens eben ſo wohl nach der
Groͤße des Halbmeſſers als des Winkels richtet. Nun
kann zwar der Bogen fuͤr ſich gedacht werden, allein
eben dieſes iſt es, warum wir ſagen, die beyden Be-
ſtimmungsſtuͤcke ſeyn außer demſelben, und dennoch
ſo damit verbunden, daß ſelbſt die Verſtellung des
Bogens, wenn man ſich dieſen als einen Circulbo-
gen
und von beſtimmter Groͤße vorſtellen will, noth-
wendig den Begriff des Halbmeſſers und des Winkels
erfordert. Die Quantitas motus iſt ein Begriff, den
man eigentlich wegen ſeiner Jngredientien bildet, weil
man dadurch das Product aus der Maſſe in die Ge-
ſchwindigkeit verſteht, weil dieſe beyden Stuͤcke das
ſind, was man bey der Bewegung verſchiedenes fin-
det, wenn dieſe an ſich und ohne Ruͤckſicht auf die
Dauer und Direction nebſt deren Verhaͤltniſſen be-
trachtet wird. Dabey hat nun die Maſſe und die Ge-
ſchwindigkeit fuͤr ſich betrachtet, bald nichts mit ein-
ander gemein, indeſſen ſtehen ſie dieſer Ungleichartig-
keit unerachtet in genauer Verbindung, und die Ab-
haͤnglichkeit zeiget ſich beſonders bey der Mittheilung
der Bewegung, weil ſie dabey gegen einander propor-
tionirt
[460]XXVIII. Hauptſtuͤck.
tionirt werden muͤſſen, wenn einerley oder auch ver-
ſchiedene Bewegung und Kraft heraus kommen ſolle.


§. 832.


Man hat in der Mathematic einige Geſetze in An-
ſehung der Gleichartigkeit der Groͤßen (leges homoge-
neorum
), die man ſich beſonders da zu beobachten
vorleget, wo man Gleichungen heraus bringen, die
Coefficienten beſtimmen, und die Formeln theils an-
wenden, theils in einander verwandeln, oder auch
mit einander vergleichen will. Das Grundgeſetz da-
bey, wovon die uͤbrigen nur beſondere Anwendungen
ſind, iſt dieſes, daß ſich nur ſolche Groͤßen addiren
und mit einander vergleichen laſſen, die der Beſchaf-
fenheit und den Dimenſionen nach gleichartig ſind.
Wir haben nun dieſes Geſetz bereits vorhin (§. 811.)
betrachtet, und dabey zugleich angezeiget, wie man
dieſe Erforderniß verſtehen ſolle, und wie man ver-
mittelſt der Verhaͤltniſſe und Einheiten, da wo dieſe
ungleichartig ſind, die behoͤrigen Verwandlungen vor-
zunehmen habe (§. 814. ſeqq.). Wir werden demnach
das daſelbſt geſagte hier nicht wiederholen, ſondern
nur uͤber die Anwendung deſſelben einige Betrachtun-
gen anfuͤhren.


§. 833.


Einmal erfordert die Anwendung dieſes Geſetzes,
daß man mehrentheils mit gleichartigen Groͤßen eini-
ge Verwandlung vornehmen muͤſſe, bevor ſie ſich ad-
diren oder ſubtrahiren laſſen, das will ſagen, man
kann ſie nicht immer ſo ſchlechthin nehmen, wie man
ſie an ſich findet oder ausmißt, theils, weil dabey noch
einige Unaͤhnlichkeiten vorkommen, theils weil noch be-
ſondere Modificationen dabey ſind, die ſie groͤßer oder
kleiner machen. Das in dem §. 744. von der Aufloͤ-
ſung
[461]Die Gleichartigkeit.
ſung und Zuſammenſetzung der Kraͤfte angefuͤhrte
Beyſpiel, und ſo auch uͤberhaupt, was wir daſelbſt
von der einfachen Geſtalt der Groͤße aus einander ge-
ſetzet haben (§. 740-758.), mag hier zu Erlaͤuterung die-
nen, daher wir auch ſchlechthin nur uns darauf beziehen.


§. 834.


Sodann da man in der Rechnung die Einheiten,
ſofern ſie multipliciren, nicht ausdruͤcket, und auch
da, wo man ſie ausdruͤcket, die Bedeutung derſelben
nicht immer beſonders anzeiget; ſo kommt es fuͤr-
nehmlich darauf an, daß man ſich darein recht zu fin-
den wiſſe. Man ſtelle z. E. die Geſchwindigkeit durch
eine Linie vor, ſo wird offenbar hiebey darunter ver-
ſtanden, dieſe Linie werde in der Zeit = 1 durchlaufen.
Wenn demnach die Einheit fuͤr die Zeit in der Rech-
nung bereits angenommen iſt, ſo hat man nicht mehr
die Wahl, eine beſtimmte Geſchwindigkeit, durch
eine Linie von beliebiger Laͤnge auszudruͤcken, wenn
naͤmlich eine abſolute oder bereits nach einem Maaß-
ſtabe beſtimmte Laͤnge dadurch verſtanden wird. Man
nimmt auf eine aͤhnliche Art Einheiten der Zeit und
des Raums an, wenn man, wie es nunmehr in der
Mechanic gewoͤhnlich iſt, die Geſchwindigkeit durch
die Quadratwurzel derjenigen Hoͤhe ausdruͤcket, durch
die ein Koͤrper im luftleeren Raume fallen muͤßte,
um diefe Geſchwindigkeit zu erlangen. Denn aus
einer Linie laͤßt ſich ohnehin nicht die Quadratwurzel
ausziehen, weil ſie nur eine Dimenſion hat. Dem-
nach iſt hier die Hoͤhe des Falls mit einer Einheit,
welche ebenfalls von einer linearen Dimenſion iſt, mul-
tiplicirt, und dieſe ſtellet den Raum vor, durch wel-
chen der Koͤrper in der Zeit = 2 faͤllt, wenn die ge-
ſuchte Geſchwindigkeit den Raum vorſtellen ſolle, der
in der Zeit = 1 durchlaufen werden kann.


§. 835.
[462]XXVIII. Hauptſt. Die Gleichartigkeit.

§. 835.


Man nimmt ferner da, wo man weiß, daß eine
Groͤße der andern oder einer Function derſelben pro-
portional iſt, einen Coefficienten an, um die Verhaͤlt-
niß in eine Gleichung zu verwandeln. Solche Coeffi-
cienten haben nun immer in der Sache ſelbſt auch eine
Bedeutung, und druͤcken entweder Groͤßen oder Ver-
haͤltniſſe aus. So z. E. wenn ein Koͤrper in einer fluͤſ-
ſigen Materie beweget wird, welche in Verhaͤltniß des
Quadrates der Geſchwindigkeit widerſteht, ſo kann
man, wenn die Zeit dt beſtaͤndig iſt, die Geſchwindig-
keit dem durchlaufenen Raume dx proportional ſetzen,
und ſo wird die Wirkung des Widerſtandes ddx dem
Quadrate dx2 proportional ſeyn. Da nun ddx nur
von einer, dx2 aber von zwoen Dimenſionen iſt, ſo ſe-
tzet man addx = dx2, und da ſtellt nun a eine Linie
vor. Nun findet ſichs, daß wenn die anfaͤngliche Ge-
ſchwindigkeit = G, die Geſchwindigkeit zu der Zeit τ,
= c iſt, ſodann a log (G:g) = x, und folglich a die Sub-
tangente der logarithmiſchen Linie iſt, nach welcher die
Geſchwindigkeit abnimmt. Jn Abſicht auf den Koͤrper
aber iſt a deſto groͤßer, je groͤßer der Diameter deſſel-
ben iſt, und je mehrmal ſeine ſpecifiſche Schwere die
ſpecifiſche Schwere der fluͤßigen Materie uͤbertrifft, in
welcher der Koͤrper beweget wird. Und uͤberdiß laͤßt
ſich a auch durch das Quadrat der Geſchwindigkeit aus-
druͤcken, welche der Koͤrper, wenn er in der fluͤßigen Ma-
terie gerade herunter faͤllt, zuletzt erreicht. Es kommen
in Anſehung der beſtaͤndigen Groͤßen, welche man den
Jntegralien zuſetzen muß, aͤhnliche Betrachtungen in
Abſicht auf ihre Bedeutung vor. Wir koͤnnen uns aber
hier nicht laͤnger damit aufhalten, weil wir dieſes nur
Beyſpielsweiſe anfuͤhren.


Neun
[463]

Neun und zwanzigſtes Hauptſtuͤck.
Das Einfoͤrmige.


§. 836.


Da wir in den beyden vorhergehenden Hauptſtuͤ-
cken das Ausmeßbare theils an ſich, theils
auch in Abſicht auf die Continuitaͤt und Gleichartig-
keit betrachtet haben, ſo bleibt dabey noch ein Be-
griff zuruͤcke, welcher von dieſen beyden Begriffen
zwar verſchieden, daneben aber mit denſelben in ei-
ner ſehr genauen Verbindung iſt. Wir haben naͤm-
lich bereits in dem §. 811. geſehen, daß das Gleich-
artige, welches man in den Dingen eigentlich aus-
mißt, nicht die Dinge ſelbſt nach allen Abſichten be-
trachtet, ſondern mehrentheils eine ſehr ſpeciale Be-
ſtimmung, Eigenſchaft, Verhaͤltniß ꝛc. derſelben be-
trifft, und (§. 808.) daß man dabey, auch wo etwas
unterbrochenes darinn vorkoͤmmt, daſſelbe dennoch,
ſo viel es ſich thun laͤßt, als eine Continuitaͤt anzu-
ſehen, und dadurch die Berechnung leichter und ein-
facher zu machen ſuche. Um dieſes zu erhalten, nimmt
man den Begriff der Gleichfoͤrmigkeit oder Ein-
foͤrmigkeit
und die Geſetze zu Huͤlfe, die dieſer Be-
griff angiebt, und welche fordern, daß die wirkliche
oder angenommene Continuitaͤt nicht nur in einem
fortgehe, ſondern, daß ſie nach einem und eben dem-
ſelben Geſetze, gleichfoͤrmig fortgehe, (§. 807.).
Was dieſes nun ſagen will, das werden wir in ge-
genwaͤrtigem Hauptſtuͤcke aufzuklaͤren ſuchen.


§. 837.
[464]XXIX. Hauptſtuͤck.

§. 837.


Einmal merken wir an, daß die Gleichfoͤrmigkeit
in der reinen Mathematic immer vorkoͤmmt, und
zwar deswegen, weil man darinn die Groͤßen, ihre
Verhaͤltniſſe und Formeln nach aller Schaͤrfe betrach-
tet, und jede Groͤße ſchlechthin nur ſo weit annimmt,
als die Formel oder das Geſetz reichet, nach welcher ſie
groͤßer oder kleiner wird. Denn ſo z. E. haͤngt man an
eine Parabel keine Spirallinie an, weil dabey die
Einfoͤrmigkeit des Geſetzes ihrer Kruͤmmung ganz
unterbrochen wuͤrde, und weil die Gleichungen fuͤr
jede dieſer Linien von ganz verſchiedener Art ſind.
Wir haben daher bey der Betrachtung der Gleich-
foͤrmigkeit unſer Augenmerk eigentlich auf die ange-
wandte Matheſin zu richten, und da haben wir in
Abſicht auf die Dinge der Natur und Kunſt verſchie-
dene Saͤtze, welche mit einander verglichen werden
muͤſſen. Der erſte iſt, daß die geometriſche Schaͤrfe
und Genauigkeit in der Natur nirgends vorkomme,
das will nun ſagen, daß wo wir etwann gerade Linien,
Winkel, einfoͤrmige Wendungen, runde Zahlen ꝛc.
ſuchen, die genauere Beobachtung uns unzaͤhlige klei-
nere Abweichungen davon aufdecket. Der andere
Satz aber iſt, daß deſſen unerachtet nichts durch ei-
nen Sprung geſchehe, und keine Continuitaͤt mit ei-
nem Male und in allen Abſichten betrachtet, abge-
brochen werde, ſondern, daß es immer auf eine tan-
gentiale oder aſymtotiſche Art geſchehe. Da ſich alſo
ſolche Zu- und Abnahmen immer ins unendlich Kleine
verlieren, und auch im Kleinern noch neue Anomalien
zum Vorſchein kommen, ſo entſteht dabey immer die
Frage, wie man der Unterſuchung von allen ſolchen
Kleinigkeiten ausweichen koͤnne, wo uͤberhaupt nur
vom Ganzen oder von groͤßern Theilen die Rede iſt,
und
[465]Das Einfoͤrmige.
und dieſe Frage loͤſet ſich immer in die auf, wie fern
bey ſolchen kleinern Anomalien entweder wirklich et-
was Gleichfoͤrmiges ſey, oder wie fern es wenigſtens
um die Rechnung nicht gar zu ſehr zu verwickeln,
ohne merklichen Fehler angenommen werden koͤnne?
Dieſe letztere Frage iſt nun um deſto zulaͤßiger, weil
es in Abſicht auf den Gebrauch ſehr natuͤrlich iſt, von
allen ſolchen kleinern Unrichtigkeiten und Anomalien
zu abſtrahiren, die einzeln oder auch mehrere zuſam-
men genommen von uns ſchlechthin nicht bemerket,
oder wenn ſie bemerkbar ſind, in Anſehung der vor-
habenden Abſicht, aus der Acht gelaſſen werden
koͤnnen.


§. 838.


Man ſieht nun leicht, daß es hiebey darauf an-
koͤmmt, wie fern ſolche kleinere Anomalien, theils
einander compenſiren, theils auch, wie fern ſie ent-
weder gleichfoͤrmig vertheilet ſind, oder als nach ei-
nem gleichfoͤrmigen Geſetze vertheilet angeſehen wer-
den koͤnnen, ſo daß, wenn ſie auch in der That nicht
genau ſo vertheilet ſind, dennoch dabey ein ſolcher
Erſatz ſtatt finde, daß die Anomalien in den Erfolg
der Rechnung keinen merklichen Einfluß haben. Al-
les dieſes muß nun aus der Betrachtung der Natur
der Sache und der Umſtaͤnde eroͤrtert werden, und
dazu koͤnnen verſchiedene allgemeinere Saͤtze verhel-
fen, die theils von der Vielfaͤltigkeit der wirkenden
Urſachen und individualen Umſtaͤnde, theils auch
eben deswegen von dem Unterſchiede der geſetzlichen
und der localen Ordnung (§. 327.) hergenommen ſind,
und aus dieſem Grunde die Berechnung der Wahr-
ſcheinlichkeit dabey anwendbar machen. Man hat
aber allerdings hiebey die groͤßern Anomalien, die
etwann auch wenig an der Zahl ſind, von den klei-
Lamb. Archit.II.B. G gnern
[466]XXIX. Hauptſtuͤck.
nern und haͤufigern zu unterſcheiden, weil man erſtere
mehrentheils fuͤr ſich betrachten, und beſonders in
die Rechnung ziehen muß. Wir werden nun dieſes
alles ſtuͤckweiſe aus einander ſetzen, und durch Bey-
ſpiele erlaͤutern.


§. 839.


Von ſolchen Beyſpielen finden wir eine ganze Claſſe
bey der Vermiſchung ungleichartiger Materien, und
dieſe Claſſe iſt deſto allgemeiner und weitlaͤuftiger,
weil die Koͤrper und Materien in der Natur durch-
gehends mit fremden Theilen durchmenget ſind. Wir
haben daher bereits in dem §. 808. angemerket, daß
dadurch die Groͤßern und merklichern Continuitaͤten
aus einer Menge von kleinern beſtehen, die ſich in
einander verlieren, und daß daher jene nur in ſo fern
koͤnnen angenommen werden, als dieſe darinn kei-
ne merkliche Ausnahm und Anomalie verurſachen.
Das Beyſpiel, ſo wir in ermeldetem §. 808. von der
Luft angefuͤhret haben, dienet hier ebenfalls zur Er-
laͤuterung. Die Luft iſt beſtaͤndig mit fremden
Theilchen, die darinn ſchweben angefuͤllet, und man
kann leicht zeigen, daß es die untere Luft mehr ſey,
und auch mehr ſeyn koͤnne, als die obere. Will man
nun die in groͤßern Hoͤhen ſtufenweiſe abnehmende
Schwere, Dichtigkeit, Waͤrme, Undurchſichtigkeit,
Stralenbrechung ꝛc. berechnen, ſo kann man ſich da-
bey allerdings nicht mit der Unterſuchung der Lage
eines jeden fremden Theilchens aufhalten, ſondern
man muß in ihrer Vertheilung etwas Gleichfoͤrmiges
und gleichfoͤrmig abnehmendes zum Grunde ſetzen,
und dieſes kann man wegen der Vielfaͤltigkeit der Ur-
ſachen und Umſtaͤnde thun, ſo oft man nicht einzelne
Theile, ſondern die ganze Summe zu ſuchen hat.
Jn
[467]Das Einfoͤrmige.
Jn dieſer Abſicht wird die Luft in horizontale Schich-
ten eingetheilet, die der Ordnung nach uͤber einander
liegen, und der Zuſtand einer jeden Schichte wird
der horizontalen Lage nach als gleichfoͤrmig, der Hoͤhe
nach aber als nach gleichfoͤrmigen Geſetzen veraͤndert
angeſehen, und die Rechnung ſo gemacht, daß die
dabey vorkommenden Coefficienten nicht nach den ein-
zeln Schichten, ſondern nach der Summe oder dem
Producte von allen beſtimmt werden.


§. 840.


Jch ſage, daß man dieſes wegen der Mannichfal-
tigkeit der wirkenden Urſachen und Umſtaͤnde thun
kann. Denn man weiß, daß erſtlich die Luft wegen
der derſelben eigenen Elaſticitaͤt unten an der Mee-
resflaͤche am dichteſten iſt, und mit der Hoͤhe nach
einem ſehr einfachen Geſetze abnehmen wuͤrde, wenn
die Waͤrme und Duͤnſte darinn gleichfoͤrmig verthei-
let waͤren. Nun aber iſt die Waͤrme unten groͤßer
und die Duͤnſte haͤufiger, und dieſes giebt zwo Ano-
malien, die, fuͤr ſich betrachtet, ebenfalls ſich nach
einfoͤrmigen Geſetzen richten. Alles uͤbrige koͤmmt
nun auf die Vermengung der groͤßern und kleinern
Theilchen der Duͤnſte und fremder Materien an, de-
ren Summe zwar in der obern Luft kleiner, als in der
untern iſt, die aber in jeder Schichte eben nicht im-
mer nach einer geometriſch genauen Proportion durch-
menget ſind. Es kann daher ſeyn, daß ſie ſo unor-
dentlich auf einander folgen, wie die Numern bey
den Gluͤcksſpielen, oder wie die Zahlen in den oben
(§. 319. 323.) erwaͤhnten Reihen, ſo daß man nichts
Einfoͤrmiges findet, wenn man nur einige wenige
nimmt. Da aber die Anzahl ſo ungeheuer groß iſt,
ſo koͤmmt, wenn man ſie nach den Schichten zuſam-
G g 2men
[468]XXIX. Hauptſtuͤck.
men rechnet, allezeit die Summe und die Verhaͤltniß
ſo heraus, wie es die vorhin erwaͤhnte allgemeinere
Geſetze erfordern. Wenn aber auch, wie es z. E.
in Abſicht auf die Durchſichtigkeit wegen der Wolken
geſchieht, Anomalien von der Art vorkommen, ſo
ſieht man leicht, daß dieſes Umſtaͤnde ſind, von wel-
chen man in ſolchen Rechnungen abſtrahirt, weil man
allerdings dabey denjenigen Zuſtand der Luft voraus
ſetzet, bey welchem die Rechnung ſtatt finden kann,
und welcher wirklich ſeyn kann, ungeachtet er es nicht
immer nothwendig iſt.


§. 841.


Wir haben in Anſehung der Dinge, die ſich der
Zeit nach aͤndern, aͤhnliche Betrachtungen zu machen.
Die Veraͤnderung, im Ganzen betrachtet, kann dabey
nach allgemeinern Geſetzen auf eine ſehr einfoͤrmige
Art fortgehen, ungeachtet in den kleinern Theilchen
beſtaͤndig Anomalien vorkommen. Jn den aſtrono-
miſchen Berechnungen, wo man eine mittlere Bewe-
gung zum Grunde legt, ſind ſolche Anomalien be-
traͤchtlich, und daher ſuchet man derſelben beſonders
Rechnung zu tragen, und findet auch dermalen noch
deſto mehr nachzuholen, je genauer die Beobachtun-
gen angeſtellet werden, (§. 735.). So findet ſich
auch bey genauerer Beobachtung der Magnetnadel,
daß ihre Abweichung und Neigung ſich taͤglich und
ſtuͤndlich ſo veraͤndert, daß ſie bald vorwaͤrts bald
ruͤckwaͤrts geht. Dieſe kleinern Anomalien hin-
dern aber nicht, daß man bey dieſer Veraͤnde-
rung nicht eine groͤßere und einfoͤrmigere Continui-
taͤt ſollte annehmen koͤnnen, nach welcher die Nadel,
wie wir es oben (§. 735.) angemerket haben, nicht im
Kreiſe herum koͤmmt, ſondern nach Verfluß von eini-
gen
[469]Das Einfoͤrmige.
gen hundert Jahren eine Art von Oſcillation von
Oſten nach Weſten und wiederum zuruͤcke nach Oſten
vollendet.


§. 842.


Solche allgemeinere Gleichfoͤrmigkeiten machen nun,
daß man der kleinern Anomalien unerachtet, fuͤr die
Groͤße, deren Zu- und Abnahme man beſtimmen will,
eine einfachere Gleichung, oder wenn ſie conſtruirt
wird, eine ſolche krumme Linie annimmt, die ſich
zwiſchen den durch die Beobachtungen gefundenen
Puncten dieſer Linie auf eine einfoͤrmige Art durch-
zieht, zumal da man auf dieſe Art auch ein ſolches
Mittel trifft, welches den kleinern Fehlern, die im
Obſerviren unvermeidlich ſind, auf die zuverlaͤßigſte
Art vor- und nachgiebt. Da ich die Art hiebey zu
verfahren fuͤr den Fall, wo dieſe Linie ſchlechthin nur
vermittelſt der Obſervationen gezogen werden muß,
nebſt den dabey nothwendigen Vorſichtigkeiten in dem
§. 396. ſeqq. der Photometrie umſtaͤndlich angegeben,
ſo werde ich mich hier dabey nicht laͤnger aufhalten,
zumal da dieſer einzele Fall zu noch mehrern andern
gehoͤret, welche zuſammen genommen eine eigene
Theorie verdienen, die uͤberhaupt dahin geht, wie
man aus Verſuchen und Beobachtungen, wobey et-
was ausgemeſſen wird, zuverlaͤßigere Folgen zu zie-
hen habe, als wenn man ſie ſo, wie man ſie anſtellet,
und mit den dabey unvermeidlich kleinern Fehlern
anwendet.


§. 843.


Wo es nur um einzelne kleinere Stuͤcke von krum-
men Linien zu thun iſt, die man auf ſolche Art zie-
hen kann, und von denen man weiß, daß ſie vor und
nach einfoͤrmig fortgehen, da ſieht man ſolche kleinere
Stuͤcke entweder als gerade, oder als Stuͤcke von
G g 3Para-
[470]XXIX. Hauptſtuͤck.
Parabeln an, und ſetzet daher im erſten Falle
a + x = b + my, im andern aber a + x = b + my + ny^2.
Man ſieht leicht, daß dieſes ſo viel als die erſten
Glieder einer Reihe ſind, wovon die folgenden weg-
gelaſſen werden, weil y nur einen kleinen Bruch vor-
ſtellet. Muͤßte man aber a + x = b + my + ny^3
annehmen, ſo kann man immer daraus ſchließen,
daß man denjenigen Theil der krummen Linie vor ſich
habe, wo dieſelbe einen Wendungspunct hat, und
da laͤßt ſich ein betraͤchtlicheres Stuͤck derſelben als
gerade anſehen. Man ſieht aber leicht, daß man ſol-
che einfachere Gleichungen nur da gebrauchen kann,
wo in der That nicht mehr als ein ſo kleines Stuͤck
der Linie vorkoͤmmt, und daß man folglich, wo dieſe
ganz vorkoͤmmt, andere Gleichungen gebrauchen
muͤſſe, um ſie durchaus zu beſtimmen.


§. 843.


Jn vielen Faͤllen koͤnnen auch teleologiſche Gruͤn-
de, und beſonders die Geſetze und Bedingungen des
Beharrungsſtandes dazu dienen, daß man in einem
vorgegebenen Falle etwas einfoͤrmiges annehmen, und
dadurch auf die Beſchaffenheit und Anlage der Sache
einen Schluß machen kann, beſonders, wo die Fra-
ge iſt, daß man die Luͤcken ausfuͤlle, die in den Be-
obachtungen deswegen vorkommen, weil man dieſe
nicht durchaus angeſtellet hat. So z. E. finden ſich
in der Halleyiſchen Tafel nur vier und zwanzig Co-
meten. Es zeigen aber dieſe ſchon ganz deutliche
Spuren, wie man ſich die Vertheilung ihrer Lauf-
bahnen um die Sonne vorzuſtellen habe. Der Herr
de la Caille hat dieſe Liſte bis auf vierzig ausgedeh-
net, und auch aus dieſer faſt doppelt groͤßern Anzahl
zeiget es ſich, daß die Laufbahnen der Cometen um
die
[471]Das Einfoͤrmige.
die Sonne gleichfoͤrmig vertheilet ſind, und daß,
wenn die Luͤcken ſollen ausgefuͤllet werden, die An-
zahl derjenigen, die auf der Erde ſichtbar ſind, be-
traͤchtlich groß ſeyn muͤſſe.


§. 844.


Der Beharrungsſtand ſetzet, wie wir im vorher-
gehenden ſchon einigemal erwaͤhnet haben (§. 65. 350.
358.), immer ein Maximum, und mit dieſem ſehr
gewoͤhnlich, einfache und elegante Eigenſchaften vor-
aus, welche um deſto mehr veranlaſſen, etwas Ein-
foͤrmiges dabey aufzuſuchen. Wir koͤnnen ebenfalls
die Bedingung des Beharrungsſtandes als eine Er-
forderniß anſehen, daß von allen Anomalien, die
ſich durch die Mannichfaltigkeit der wirkenden Urſa-
chen und Umſtaͤnde aͤußern, keine vorkomme, welche
die derſelben geſetzte Schranken uͤberſchreiten, und
dieſes machet, daß man die allgemeinern und Haupt-
geſetze der Veraͤnderungen in dem Laufe der Dinge,
ſobald man mehrere Obſervationen zuſammen nimmt,
leichter aus dieſen finden kann, weil ſich durch die
aufgehaͤufte Anzahl der Obſervationen die kleinern
Anomalien unter einander compenſiren. Man hat
dabey vornehmlich auch darauf zu ſehen, daß man
nicht bloß locale Ordnungen ſuche, wo in der That
und oͤfters ſehr einfache geſetzliche ſind, welche die
locale nicht zulaſſen, (§. 327. ſeqq.). Auf dieſe Art
laſſen ſich aus einer Reihe von barometriſchen Ver-
aͤnderungen ſehr viele von den allgemeinern Geſetzen fin-
den, nach welchen ſie ſich richten, und aus den Sterb-
regiſtern hat man derſelben aller einzeln Anomallen
ungeachtet, in Abſicht auf die Grade und Geſetze der
Sterblichkeit bereits mehrere gefunden. (Phaͤnome-
nolog. §. 158. 156. 154.).


G g 4§. 845.
[472]XXIX. Hauptſtuͤck.

§. 845.


Wo ſich aber die Anomalien nicht compenſiren,
da geſchieht es, entweder, weil nur wenige ſind, die
folglich nicht als Anomalien, ſondern als beſondere
Geſetze angeſehen werden muͤſſen, oder es geſchieht,
weil man noch nicht genug Beobachtungen hat. Denn
in denen Faͤllen, wo ſolche Anomalien keine locale
Ordnung haben, da muß die Menge der Obſervatio-
nen dazu gebraucht werden, wenn man die allgemei-
nern und durchgaͤngigen Geſetze darinn finden will,
die ſich bey einer geringern Anzahl von Obſervatio-
nen mit den einzeln und kleinern Anomalien confun-
diren. Man nimmt daher, um zu finden, wie
ſich die Grade der Sterblichkeit nach dem Alter, nach
dem Monate der Geburt ꝛc. richten, die Sterbregi-
ſter von groͤßern Staͤdten, ganzen Provinzen und
mehrern Jahren, weil eben nicht alle Jahre einerley
Zufaͤlle wiederkehren, und weil der Tod, was er in
einem Jahre in Anſehung dieſer oder jener Krankheit
wegnimmt, in Anſehung eben derſelben in dem fol-
genden Jahre an ſich ſchon weniger Stoff findet.
Denn die epidemiſchen Zufaͤlle ſind nur gewiſſen dazu
ſchon diſponirten Temperamenten toͤdtlich.


§. 846.


Dafern ſich aber auch da, wo man nach und nach
mehrere Obſervationen aufhaͤuft, bey dem, was man
anfangs als einzelne Anomalien anſahe, keine Com-
penſation findet, ſo iſt dieſes eine Anzeige, oder we-
nigſtens ein Anlaß zu vermuthen, daß ſich bey ferne-
rer Fortſetzung der Beobachtungen ein Geſetz aͤußern
werde, welches ſich allgemeiner auf das Ganze aus-
breitet, und folglich bey einer groͤßern Zahl von Ob-
ſervationen fuͤr ſich beſtimmt werden kann, und ſeine
eigene
[473]Das Einfoͤrmige.
eigene Urſachen hat. Das vorhin (§. 841.) von der
Magnetnadel angefuͤhrte Beyſpiel mag auch hier zur
Erlaͤuterung dienen. Denn wird ſie nur einige Tage
oder Wochen beobachtet, ſo findet ſichs, daß ſie ſich
bald vorwaͤrts, bald ruͤckwaͤrts wendet, ohne daß
man daraus ſchließen koͤnnte, daß aus ſo viel klei-
nern Oſcillationen dennoch etwas progreßives und eine
groͤßere Oſcillation erwachſe, die von mehrern Graden
iſt, und eine Zeit von etlichen Jahrhunderten erfordert.


§. 847.


Der Beharrungsſtand ſelbſt fordert uͤberhaupt
etwas einfoͤrmiges, und das Wegſeyn der Urſachen,
welche denſelben durchaus ſtoͤren wuͤrden. Die Sa-
che, die im Beharrungsſtande ſeyn ſolle, muß naͤm-
lich ſie, wie ſie iſt, und mit den Veraͤnderungen, die
darinn vorgehen, fortdauern koͤnnen, ſo lange ſie
nicht durch fremde Urſachen und gleichſam auf eine
gewaltſame Art umgekehrt und in eine ganz andere
Form gebracht wird. Dieſe Bedingung macht nun
die Sache entweder an ſich unveraͤnderlich, ſo, daß
ſie ſchlechthin bleibt, wie ſie iſt, oder wenn in der-
ſelben Veraͤnderungen vorgehen, ſo ſind dieſe entwe-
der periodiſch, oder ſie naͤhern ſich immer wiederum,
theils oſcillationsweiſe, theils aſymtotenweiſe dem
Beharrungsſtande, wobey naͤmlich die wirkenden
Kraͤfte im Gleichgewichte ſind (§. 555. 558. 561.). Und
wo dieſes zu einem beſtaͤndigen Fortdauern eingerich-
tet iſt, da bleiben die Veraͤnderungen immer in ge-
ſetzten Schranken. Alles dieſes finden wir in dem
Laufe der Dinge auf der Erdflaͤche und bey den Ab-
wechſelungen der Witterung. Bey der Witterung
ſind die merklichern Perioden jaͤhrlich und taͤglich, weil
man die Sonne als die Hauptquelle ſolcher Veraͤnde-
rungen anſehen kann. Und dieſes bemerket man
G g 5nicht
[474]XXIX. Hauptſtuͤck.
nicht nur in Anſehung der Waͤrme und Kaͤlte, deren
Abaͤnderungen am unmittelbarſten von der Sonne
herruͤhren, ſondern auch in Anſehung der barometri-
ſchen Veraͤnderungen, weil dieſe in den Sommermo-
naten kaum halb ſo groß ſind, als um die Zeit der
kuͤrzeſten Tage, und weil dieſelbe ſich eben ſo, wie
die Abaͤnderungen der Waͤrme und Kaͤlte, vom Ae-
quator gegen die Pole, auf eine ſehr einfoͤrmige Art
vergroͤßern, wie es ſich aus vieljaͤhrigen Beobachtun-
gen von verſchiedenen Polhoͤhen offenbar erweiſen laͤßt.
Jn Anſehung jeder uͤbrigen Dinge findet ſich das zum
Beharrungsſtande erforderliche Geſetz allgemein, daß
was ſterblich iſt, ſein Geſchlecht fortpflanzet, und
was der Veraͤnderung unterworfen iſt, ſich erneuere,
und dazu iſt alles ſo eingerichtet, daß man zur Be-
ſtimmung der dazu erforderlichen Geſetze, immer ein
Datum oder eine Gleichung daher nehmen kann.


§. 848.


Es giebt ferner bey der Art, wie ſich die Dinge
dem Beharrungsſtande naͤhern, immer ſolche Faͤlle,
wo dieſe Naͤherung nach der Beſchaffenheit der Um-
ſtaͤnde am einfoͤrmigſten iſt, und dieſer Fall iſt gleich-
ſam die Aſymtote fuͤr die uͤbrigen nicht ſo einfachen
Faͤlle, ſo, daß die Dinge ſich demjenigen Fall naͤ-
hern, in welchem ſie am einfoͤrmigſten zum Behar-
rungsſtande kommen koͤnnen, und dieſes geht zuwei-
len ſo, daß ſie ſich anfangs von dem Beharrungs-
ſtande wirklich entfernen, um ſich demſelben ſodann
deſto einfoͤrmiger und ordentlicher zu naͤhern.


§. 849.


Man gebraucht aber den Begriff der Einfoͤrmig-
keit nicht nur da, wo man bey den Beobachtungen
Luͤcken
[475]Das Einfoͤrmige.
Luͤcken ausfuͤllen, und zu der Kenntniß der allgemei-
nern und einfachern Geſetze gelangen will, die man
aus den kleinern Anomalien gleichſam heraus ziehen
muß; ſondern man faͤngt gemeiniglich auch die Theo-
rie dabey an, daß man die Faͤlle vornimmt, wobey
etwas ganz einfaches und einfoͤrmiges iſt, damit man
ſodann daraus andere Faͤlle zuſammen ſetzen, und
der Abweichungen von dem Einfoͤrmigen Rechnung
tragen koͤnne. Hievon geben uns nun alle Theile
der Mathematic Beyſpiele. Jn der Rechenkunſt
faͤngt man bey der ganz natuͤrlichen Ordnung der Zah-
len an, ohne ſogleich auf die dazwiſchen fallende Bruͤ-
che zu ſehen, und in der gemeinen Geometrie hat
man ſich ein Geſetz daraus gemacht, daß man deren
Gebieth nur ſo weit ausdehnen wolle, als man mit
Lineal und Zirkel reichen kann. Es iſt aber ſowohl
die Strecke der geraden Linie als die Kruͤmmung des
Circuls das einfoͤrmigſte, das ſich in der Geometrie ge-
denken laͤßt. Jn der Mechanic macht man ebenfalls
mit der Theorie der geradelinichten und gleichfoͤrmigen
Bewegungen den Anfang, um ſodann dieſe bey allen
uͤbrigen zum Grunde zu legen, und von derſelben geht
man zu derjenigen fort, wobey die Geſchwindigkeit
auf eine einfoͤrmige Art zunimmt. Jn der Hydroſta-
tic wird gleichermaßen die Dichtigkeit der Materien
gleichfoͤrmig angenommen, und in der Aerometrie
fieng Mariotte ebenfalls mit dem Geſetze an, daß die
Dichtigkeit in einfacher Verhaͤltniß der aufliegenden
Laſt ſey. Es iſt auch uͤberhaupt ganz natuͤrlich, bey
ſolchen einfachen und durchgaͤngigen Geſetzen anzufan-
gen, weil man ſodann, nachdem dieſe in eine Theo-
rie gebracht ſind, zu den zuſammengeſetztern fort-
ſchreiten kann. Sofern man nun auch ſolche zuſam-
mengeſetztere auf eine bloß hypothetiſche Art vor-
nimmt,
[476]XXIX. Hauptſtuͤck. Das Einfoͤrmige.
nimmt, ſo geſchieht es ſodann beſonders, damit man
Saͤtze daraus herleiten koͤnne, die ſich allgemein um-
kehren laſſen, und dadurch werden die gefundenen
Eigenſchaften in Criteria und Kennzeichen verwandelt,
welche, wo ſie in der Natur vorkommen, ſogleich den
Schlußſatz angeben, daß ſich die ganze Theorie dabey
anwenden laſſe. Der Satz, daß die Erde eine Ku-
gel ſey, wurde auf dieſe Art aus dem runden Schat-
ten derſelben in den Mondsfinſterniſſen hergeleitet,
und daß alle um die Sonne laufende Koͤrper in Ke-
gelſchnitten um dieſelbe laufen muͤſſen, in deren
Brennpunct die Sonne iſt, wurde auf eben dieſe Art
vermittelſt der umgekehrten Saͤtze der Theorie der
Centralkraͤfte gefunden. Hiebey iſt nun fuͤr ſich klar,
daß es viel darauf ankoͤmmt, wenn man gleich an-
fangs die Theorie der Sache von derjenigen Seite be-
trachtet vornimmt, welche am naͤchſten an ſolche Kenn-
zeichen graͤnzet. Dazu verhilft nun allerdings, wenn
man die Erfahrung zum Grunde legen, das Einfoͤr-
mige darinn aufſuchen, und von dieſem, ſo weit es
angeht, ruͤckwaͤrts ſchließen kann, indem man nach-
forſchet, wie die Sache beſchaffen ſeyn muͤſſe, damit
die Erfahrung und das darinn gefundene Einfoͤrmige
ſtatt haben koͤnne. Man ſehe hieruͤber Dianoiol.
§. 404. ſeqq.
wo wir dieſe Methode umſtaͤndlicher aus
einander geſetzt haben.



Dreyßig-
[477]

Dreyßigſtes Hauptſtuͤck.
Die Schranken.


§. 850.


Sofern man bey dem im vorhergehenden Haupt-
ſtuͤcke betrachteten Aufſuchen des Einfoͤrmigen
bey den Groͤßen und ihren Veraͤnderungen dieſes gleich-
ſam aus einer Menge kleinerer Anomalien heraus
zieht, werden dadurch allerdings allgemeinere und
einfachere Geſetze zur Beſtimmung ſolcher Groͤßen ge-
funden, und dieſes giebt, wie wir erſt angemerket
haben (§. 849.), die Anlage zu der Theorie derſel-
ben. Es iſt aber auch nur die erſte Anlage dazu,
und wenn ſie nicht weiter getrieben wird, ſo giebt ſie
auch nur das Allgemeine der Sache, und die Groͤße
derſelben in jedem beſondern Fall auch nur beylaͤufig
an, weil man noch der Anomalien Rechnung tragen
muß, und ſo lange dieſe nicht ebenfalls auf eine The-
orie gebracht ſind, ſo lange kann man auch in jedem
beſondern Fall nicht wiſſen, welche davon ſtatt findet,
wie groß ſie iſt, und wie viel folglich die nach dem
einfoͤrmigen Geſetze allein heraus gebrachte Berech-
nung von der Erfahrung abweichet.


§. 851.


Dieſes iſt nun auch dermalen noch der Fall, in
welchem ſich die angewandte Mathematic durchaus
befindet. Alle Theorien in derſelben gruͤnden ſich
ſchlechthin nur auf ſolche einfachere und allgemeinere
Einfoͤrmigkeiten, und man hat ſich noch immer da-
mit
[478]XXX. Hauptſtuͤck.
mit zu beſchaͤfftigen, die Anomalien nachzuholen. Auf
dieſe Art werden z. E. die aſtronomiſchen Tafeln noch
taͤglich weitlaͤuftiger, und wenn man darinn anfaͤngt,
den Ort eines Planeten nach ſeiner mittlern Bewe-
gung zu berechnen, ſo bleiben noch eine Menge ein-
zeler Gleichungen, dadurch man dieſen mittlern Ort,
welcher oͤfters um mehrere Grade von dem wahren
abweicht, ſtuffenweiſe zu verbeſſern hat, um die Ab-
weichung von dem wahren unmerklicher zu machen,
und da bleibt man noch ſo zuruͤcke, daß man auch, wo
man es am weiteſten gebracht hat, fuͤr eine\frac {1} {2} Minute
eines Grades nicht gut ſtehen kann. Wir fuͤhren
dieſes Beyſpiel vorzuͤglich an, weil die Anomalien
in dem Laufe der Planeten eben nicht ſo gar unordent-
lich und ohne Perioden ſind, wie die von der Witte-
rung und dem Laufe der Dinge auf der Erdflaͤche, den
einigen Fall ausgenommen, wo etwann von den Co-
meten einige Anomalien herruͤhren koͤnnen, wiewohl
man bisher noch keine bemerkbare gefunden, die ſich
haͤtte erweiſen und berechnen laſſen. Die uͤbrigen
haben ſaͤmtlich etwas periodiſches, und von vielen
laͤßt ſich die Groͤße aus dem newtonſchen Geſetze der
Schwere erweiſen, und auf analytiſche Formeln brin-
gen. Es iſt aber dabey nur zu bedauern, daß man
oͤfters die Coefficienten nicht anders beſtimmen kann,
als daß man ſie anfangs, wie bey der Regel falſi,
willkuͤhrlich annimmt, und ſo lange daran beſſert,
bis ſie mit einigen Erfahrungen oder Beobachtungen
uͤbereinkommen, bey welchen aber gar leicht noch Ano-
malien zuruͤcke bleiben, die von andern Urſachen her-
ruͤhren, und eben dadurch, daß ſie in der Formel
nicht vorkommen, die Coefficienten derſelben unrich-
tig machen wuͤrden, auch wenn man dieſe auf eine
nicht ſo willkuͤhrliche Art beſtimmte. Dieſes alles
macht
[479]Die Schranken.
macht ſo viel, daß aſtronomiſche Tafeln, die fuͤr eine
gewiſſe Zeit mit den Beobachtungen uͤbereinkommen,
nachgehends immer mehr davon abweichen. Es iſt
kein Zweifel, daß die Sonne mit ihrem ganzen Ge-
folge nicht einen Kreislauf um einen Mittelpunct ha-
be, der hinterhalb etlichen Fixſternen iſt, und dieſes
kann in dem Laufe der Planeten und Cometen Ano-
malien herfuͤr bringen, auf die man bisher, beſon-
ders auch bey Beſtimmung ſolcher Coefficienten gar
nicht Achtung gegeben.


§. 852.


So weit man nun ſolcher Anomalien genaue Rech-
nung tragen kann, erhaͤlt auch die Theorie dadurch
eine groͤßere Vollſtaͤndigkeit. Jn Ermangelung deſ-
ſen aber iſt es in der Mathematic laͤngſt ſchon uͤblich,
daß man, wo eine Groͤße nicht nach aller Schaͤrfe
beſtimmt werden kann, wenigſtens anzugeben ſucht,
wie viel ſie zum hoͤchſten von dem wahren abweiche,
das will ſagen, man beſtimmt die Schranken, in-
nert welche ſie nothwendig fallen muß, und je enger
dieſe Schranken koͤnnen geſetzt werden, deſto mehr
hat man ſich der wahren Groͤße genaͤhert. Da
man nun dadurch angeben kann, wie viel man zum
hoͤchſten vom wahren abweicht, ſo wird auch dieſes
Verfahren mit unter die Vorzuͤge der mathemati-
ſchen Genauigkeit gerechnet, und zwar um deſto
mehr, weil man in Anſehung der Qualitaͤten ſich
noch wenig Muͤhe gegeben hat, zu beſtimmen, wie-
fern man bey dem Aufſuchen derſelben zuruͤcke bleibt,
und wie nahe das, ſo man bereits gefunden, an das
Ganze graͤnzt, wiewohl dieſes eben nicht ſo gar unmoͤg-
lich iſt. (Dianoiol. §. 41. 626. 628. Alethiol. §. 217.
Phaenomenol. §. 162. 166. ſeqq.
170. 176.)


§. 853.
[480]XXX. Hauptſtuͤck.

§. 853.


Das bisher angefuͤhrte betrifft nun nur noch einen
von den Faͤllen, wobey von Schranken und Naͤ-
herung
die Rede iſt, weil es außer den Anomalien,
welche verurſachen, daß die einfachern Formeln die
wirkliche Groͤße nicht ganz genau angeben, noch meh-
rere Urſachen giebt, dadurch man ſich genoͤthigt fin-
det, oder bis zu mehrerer Aufklaͤrung der Sache ge-
nuͤgen laſſen muß, eine Groͤße ſo zu beſtimmen, daß
ſie entweder nicht merklich von dem wahren abweicht,
oder daß man doch angeben kann, wie viel es zum
hoͤchſten betragen mag. Dieſes letztere beſonders,
welches den Grad der Zuverlaͤßigkeit angiebt, und
zeiget, wie weit man das gefundene gebrauchen kann,
iſt nun immer von mehrerer Erheblichkeit. Denn
ſeit der Erfindung der Buchſtabenrechnung hat man
ſich, um die Rechnung leichter zu machen, oder auch
gar nur um eine wenigſtens beylaͤufige Rechnung
vornehmen zu koͤnnen, ſchon ſo ſehr an ſolche Naͤhe-
rungen gewoͤhnt, daß man bey etwas weitlaͤuftigern
Rechnungen die kleinern Quantitaͤten weglaͤßt, und
ſich eben nicht immer umſieht, ob nicht durch ſo haͤu-
figes Weglaſſen endlich die Summe alles weggelaſſe-
nen betraͤchtlich geworden ſey, ſo, daß man ſich,
anſtatt der wahren Groͤße naͤher zu kommen, in der
That davon entfernet hat.


§. 854.


Wir werden daher die Begriffe der Schranken und
der Naͤherung hier in ihrer groͤßern Ausdehnung be-
trachten, um das, was ſie in jedem Fall auf ſich ha-
ben, umſtaͤndlicher aus einander zu ſetzen. Man
ſieht uͤberhaupt leicht, daß es hiebey auf den Grad
der Genauigkeit ankoͤmmt, den man erhalten will.
Und
[481]Die Schranken.
Und dieſes hat den Erfolg, daß, weil ſich oͤfters die
Genauigkeit und Leichtigkeit der Berechnung gar nicht
beyſammen finden, dieſe beyden Abſichten, ſo gegen
einander muͤſſen proportionirt werden, daß man das,
ſo man nur beylaͤufig zu wiſſen verlanget, eben nicht
muͤhſam ſuchen duͤrfe, und daß man ſich hingegen
etwas mehr Muͤhe gefallen laſſe, wo man die geſuch-
te Groͤße ſchaͤrfer beſtimmt haben will. Die Anwei-
ſung, auch da, wo man nach aller Schaͤrfe rechnen
koͤnnte, einen beylaͤufigen Ueberſchlag zu ma-
chen, hat aus dieſem Grunde ihre Vortheile, weil
man lange nicht immer alles bis aufs genaueſte zu
wiſſen noͤthig hat, und oͤfters erſt ſich durch einen ſol-
chen Ueberſchlag verſichern will, ob es allenfalls der
Muͤhe lohnen wuͤrde, die Rechnung genauer anzu-
ſtellen, und ſich um alle einzele dazu gehoͤrende Da-
ta und Regeln umzuſehen. Auf dieſe Art begnuͤget
man ſich z. E. in vielen Faͤllen mit dem Augenmaaße,
oder man mißt eine Laͤnge mit Spannen oder Schrit-
ten aus. Eben ſo ſetzet man, der Sinus eines Win-
kels von 30, 20, 15, 10, 5 Graden ſey\frac {1} {2}. ⅓. ¼. ⅙. \frac {1} {12}.
des Halbmeſſers, der Diameter verhalte ſich zum
Umkreiſe wie 1 zu 3, oder genauer wie 7 zu 22. Jn
der Aſtronomie, und ſelbſt auch zur Berechnung der
Feſttage des julianiſchen und gregorianiſchen Calen-
ders gebraucht man den Sonnencircul, die guͤldene
Zahl und die Epacten, und in ſehr vielen Faͤllen ge-
braucht man ſtatt der Rechnungen eine Conſtruction.


§. 855.


Man ſieht aus dieſen Beyſpielen, daß die Beſtim-
mung der Schranken und die Naͤherung ſelbſt auch
in der reinen Mathematic vorkoͤmmt. Die erſte
Art, wie man dabey verfaͤhrt, iſt, wenn man, um
Lamb. Archit.II.B. H hzu
[482]XXX. Hauptſtuͤck.
zu beweiſen, daß A = B ſey, beweiſt, daß A weder
groͤßer noch kleiner als B ſeyn koͤnne. Denn in die-
ſem Fall treffen die Schranken, innert welchen die
fuͤrgegebene Groͤße ſeyn muß, vollkommen zuſammen.
Euclid bedienet ſich dieſer Art, eine voͤllige Gleich-
heit zu beweiſen, ſehr oft, und beſonders bey den Saͤ-
tzen, daß Pyramiden von gleicher Hoͤhe und gleichen
Grundflaͤchen einander gleich ſind (Prop. V. Libr. XII.)
und daß ſich die Flaͤchenraͤume der Circul wie die
Quadrate ihrer Diameter verhalten (Prop. II. Libr. XII.)
daß ein Kegel der dritte Theil des Cylinders ſey, der
mit demſelben gleiche Grundflaͤche und gleiche Hoͤhe
hat (Prop. X. Libr. XII.) ꝛc. Die andere Art hat Ar-
chimedes
vornehmlich in die Geometrie eingefuͤhrt,
indem er dadurch, daß der Circul groͤßer als die in
denſelben beſchriebene, kleiner aber als die um den-
ſelben beſchriebene Vielecke ſeyn, den Jnhalt des
Circuls zu berechnen ſuchte. Er nahm daher Viel-
ecke von ſo vielen Seiten an, daß der Unterſchied
zwiſchen dem Jnhalt von beyden unmerklich wurde,
und erhielt nach der angenommenen Zahl der Seiten
und nach der damaligen Art, ohne Decimalbruͤche zu
rechnen, die Verhaͤltniß des Diameters zum Um-
kreiſe wie 7 zu 22, welche den Umkreis um etwas zu
groß giebt, weil dieſer, wenn der Diameter = 1 iſt,
= 3 + \frac {1} {7} - \frac {1} {800} - \frac {1} {70000} - \frac {1} {5000000} - ꝛc. muß ge-
ſetzt werden, oder auf eine andere Art ausgedruͤcket = 3
+ \frac {1} {7} - \frac {1}{7} \cdot 113 - \frac {1} {7 \cdot 113 \cdot 4739} + \frac {1} {7 \cdot 113 \cdot 4739 \cdot 47051}
+ \frac {1} {7 \cdot 113 \cdot 4739 \cdot 47051 \cdot 499762} - ꝛc. iſt. Von
welcher letztern Reihe die drey erſtern Glieder 3 + \frac {1} {7} -
\frac {1} {7 \cdot 113}= \frac {355} {113} ſind, und folglich die metianiſche Ver-
haͤltniß geben, welche, wie es auch aus dieſer Reihe er-
hellet, unter den kleinern Verhaͤltniſſen die genaueſte iſt.


§. 856.
[483]Die Schranken.

§. 856.


Seit der Erfindung der Decimalzahlen und der
Buchſtabenrechnung hat man ſich noch mehr darauf
befliſſen, ſolche Groͤßen, die nicht genau ausgedruͤckt
werden koͤnnen, durch unendliche Reihen vorzuſtellen,
wovon man ſodann, wenn ſie convergiren, die letz-
ten Glieder ſaͤmtlich weglaſſen, und von den erſten ſo
viele behalten kann, als man zu jeder Abſicht noͤthig
erachtet. Die Decimalreihen ſtellen nun ſolche Groͤ-
ßen vor, die zu ihrer Einheit ein durchaus beſtimm-
tes Verhaͤltniß haben, und weder durch ganze Zah-
len noch durch rationale Bruͤche ausgedruͤckt werden
koͤnnen, und in dieſem Fall ſind dieſelben nicht nur
unendlich, ſondern die Ziffern darinn haben auch
durchaus keine locale Ordnung (§. 328.). Man hat
daher die brauchbarſten davon, dergleichen der Um-
kreis des Circuls, die Sinus, Tangenten und Se-
canten, die Logarithmen ꝛc. ſind, bis auf ſolche klei-
ne Decimaltheile ausgerechnet, daß der Fall, wo
man ſie noch genauer gebraucht, ſelten vorkoͤmmt.
Und dieſes iſt es auch alles, was man dabey thun
konnte, weil man ſie doch niemal vollkommen genau
haben kann. Da aber ſolche Zahlen aus ſehr vielen
Ziffern beſtehen, ſo hat man auch darauf gedacht,
ſie durch Bruͤche, die aus kleinern Zahlen beſtehen,
dennoch ziemlich genau auszudruͤcken, und dazu hat
man verſchiedene ſehr allgemeine Mittel gefunden.
Von dieſer Art ſind z. E. fuͤr den Umkreis des Cir-
culs die Bruͤche \frac {3} {1}, \frac {22} {7}, \frac {333} {106}, \frac {355} {113} ꝛc. fuͤr die Cir-
culflaͤche die Bruͤche \frac {3} {4}, \frac {4} {5}, \frac {7} {9}, \frac {11} {14}, \frac {172} {219}, \frac {355} {452} ꝛc.
fuͤr den koͤrperlichen Raum der Kugel\frac {1} {2}, \frac {11} {21}, \frac {111} {212},
\frac {122} {233}, \frac {233} {445}, \frac {355} {678} ꝛc. Da man aber bey dieſen Bruͤ-
chen multipliciren und dividiren muß, ſo kann man
ſtatt eines Bruches etliche finden, bey welchen ſchlecht-
H h 2hin
[484]XXX. Hauptſtuͤck.
hin nur zu dividiren iſt. Von dieſer Art ſind die
zwo vorhin (§. 855.) fuͤr den Umkreis des Circuls an-
gegebenen Reihen von Bruͤchen, wovon die erſtere in
Abſicht auf das Dividiren bequem faͤllt, letztere aber
unter allen ſolchen Reihen diejenige iſt, die am ge-
ſchwindeſten convergirt, und wobey jedes Glied aus
dem naͤchſt vorhergehenden gefunden wird. Man
kann ſich auch mehrentheils mit den drey erſtern be-
gnuͤgen, weil das vierte Glied \frac {1} {7 \cdot 113 \cdot 4799} = \frac {1} {3748549}
iſt. Einen ſolchen Theil des Diameters aber kann
man mehrentheils weglaſſen. Behaͤlt man aber
dieſes vierte Glied, ſo iſt das folgende noch 47051 mal
kleiner, und da geſchieht es ſelten, daß man auch die-
ſes noch mitnehmen muͤßte. Uebrigens iſt fuͤr ſich
klar, daß man ſolche Bruͤche vornehmlich da ge-
braucht, wo der Umkreis in Decimalzahlen geſucht
wird. Denn eben dazu ſind ſie ſo auseinander geſetzt.


§. 857.


Wo man aber andere Reihen hat, da iſt man
ebenfalls darauf bedacht, dieſelben, ſo viel es ſich
thun laͤßt, convergiren zu machen, und auch dazu
hat man bereits ſchon viele Kunſtgriffe ausgefunden,
weil bald jede Art von Reihen hierinn etwas beſonde-
res hat. Man aͤndert aber gewoͤhnlich entweder die
Groͤße, nach deren Dimenſionen die Glieder der Rei-
he fortgehen, oder man zieht die Reihe von einer an-
dern ab, deren Summe bekannt iſt, und welche un-
gefaͤhr gleich viel convergirt, oder man ſetzet die
Summe der Reihe einem Bruche (a + bx) : (c + dx)
gleich, den man durch die Diviſion in eine Reihe
verwandelt, und die Coefficienten a, b, c, d ſo be-
ſtimmt, daß die erſten Glieder dieſer Reihe den er-
ſten Gliedern der fuͤrgegebenen Reihe gleich werden,
und
[485]Die Schranken.
und die folgenden weggelaſſen werden koͤnnen. So
z. E. wird, wenn der Halbmeſſer = 1 iſt, der Bo-
gen ſehr genau durch \frac {sin v (3 - \frac {1} {5} (1 - cos v))} {3} - \frac {6} {5} (1 - cos v) =
\frac {14 sin v + sin v \cdot cos v} {9 + 6 cos v} = \frac {28 sin v + sin 2 v} {18 + 12 cos v} ausge-
druͤcket, und vermittelſt der erſten dieſer drey For-
meln leicht conſtruirt werden koͤnnen. Es geben
aber dieſe Formeln, wenn ſie durch den Bogen v
ausgedruͤckt werden, anſtatt v eine Reihe, deren
zwey erſte Glieder v - \frac {1} {2100} v^7 ſind, und folglich
koͤnnen ſie, wo man den \frac {1} {2100} Theil der ſiebenden
Dignitaͤt des Bogens nichts zu achten hat, ſicher ge-
braucht werden. Man wird eben ſo, wiewohl nicht
ſo genau den Bogen v = \frac {2 sin v + tang v} {3} ſetzen koͤn-
ken. Denn dieſer Ausdruck giebt v + \frac {1} {20} v^5 + \frac {1} {56} v^7 + ꝛc.
woraus man ſieht, daß man denſelben nur da ge-
brauchen kann, wo \frac {1} {20} v^5 nichts zu achten iſt. Man
findet eben ſo \log (a + x) = \log a + 2x : (2a + x)
und dieſer Ausdruck weicht von dem wahren um
(\frac {1} {12} x^3 : a^3) ab. So findet man auch, wenn
\sqrt (AA + B) = x = A + y geſetzt wird, die Glei-
chung y^2 + 2Ay = B, und aus dieſer y = B : (2A + y)
daher durch ein fortgeſetztes ſubſtituiren:
[...]
woraus man fuͤr die Quadratwurzel von AA + B ſtuf-
fenweiſe genauere Bruͤche herleiten kann. Fuͤr die Cu-
H h 3bicwurzel
[486]XXX. Hauptſtuͤck.
bicwurzel von a^3 + b findet man ebenfalls a + \frac {a b} {3} a^3 + b,
welcher Ausdruck von dem wahren nur um \frac {2 a b^3} {81 a^9 + 27 b a^6}
abweicht.


§. 858.


Man hat aber bey den unendlichen Reihen, deren
Form gemeiniglich y = a + bxm + cxm+n + dxm+2n
+ exm+3n
+ ꝛc. iſt auf eine gedoppelte Art des Con-
vergirens zu ſehen. Denn einmal koͤnnen die Coeffi-
cienten a, b, c, d, e, ꝛc. Bruͤche ſeyn, davon jeder
folgende dergeſtalt kleiner wird, daß ſie immer we-
niger von 0 unterſchieden ſind. Sodann kann auch
die geometriſche Progreßion xm, xm+n, xm+2n, ꝛc.
ſich ins unendlich kleine verlieren. Dieſes letztere
haͤngt an ſich betrachtet davon ab, ob x groͤßer oder
kleiner als 1 iſt, und ob m und beſonders n poſitiv
iſt. Nimmt nun dieſe Progreßion zu, ſo muͤſſen die
Coefficienten noch ſtaͤrker als dieſelbe abnehmen,
wenn die Reihe convergirend ſeyn ſolle, wie es z. E.
in den Reihen y = v - \frac {1} {2 \cdot 3} v^3 + \frac {1} {2 \cdot3 \cdot 4\ cdot5 v^5} - ꝛc.,
x = 1 - \frac {1} {2} v^2 + \frac {1} {2 \cdot 3 \cdot 4 v^4} - ꝛc. z = 1 + v + \frac {1} {2} v^2 +
\frac {1} {2 \cdot 3 v^3 + \frac {1} {2 \cdot 3 \cdot 4 v^4 + ꝛc. geſchieht, wo in den bey-
den erſtern v ein Circulbogen, y deſſen Sinus und x
deſſen Coſinus iſt, in der letztern aber v einen Loga-
rithmus und z die demſelben zugehoͤrende Zahl vor-
ſtellet, und welche ſaͤmtlich convergirend bleiben, ſo
groß man auch v annehmen will. Nimmt hingegen
die geometriſche Progreßion xm, xm+n, xm+2n, ꝛc.
ab, ſo muͤſſen die Coefficienten a, b, c, d ꝛc. wenig-
ſtens nicht ſtaͤrker zunehmen, und ſie muͤſſen ſelbſt
noch
[487]Die Schranken.
noch merklich abnehmen, wenn der Fall, wo x = 1
iſt, auch noch ſo convergirend bleiben ſoll, daß man
eben nicht die ganze Reihe berechnen muͤſſe, um die
Summe ziemlich genau zu haben, wenn anders die-
ſelbe nicht unendlich iſt.


§. 859.


Man ſieht aber vornehmlich darauf, daß die Coef-
ficienten ſtark convergiren, und dieſes erhaͤlt man
nun nach der Art, wie ſolche Reihe theils durch die
Ausziehung der Wurzeln, theils durch die Diviſion,
und theils durch das Jntegriren gefunden werden,
gewoͤhnlich nur fuͤr die Coefficienten der erſten Glieder
der Reihen, weil die folgenden anſtatt noch ſchneller
abzunehmen, gemeiniglich langſamer abnehmen. Sol-
len nun ſolche Reihen in andere verwandelt werden,
die ſtaͤrker convergiren, ſo hat man vornehmlich dar-
auf zu ſehen, daß die Werthe der folgenden Glieder,
wo nicht ganz, doch wenigſtens groͤßtentheils in die
vorhergehenden gezogen werden. Um dieſes durch ein
ſehr allgemeines Beyſpiel zu erlaͤutern, ſo ſetze man
die Reihe z = \frac {c} {a} x^n - \frac {c + d} {a + b} x^n + m + \frac {c + 2d} {a + 2b} x^n + 2m
- \frac {c + 3d} {a + 3b} x^n + 3m + ꝛc. in welcher die Coefficienten oͤf-
ters ſo viel als gar nicht convergiren. Man nehme
nun folgende Reihe an:
ꝛc.
Wird nun dieſe durch die wirkliche Diviſion aufge-
loͤſet, ſo erhaͤlt man
H h 4Z =
[488]XXX. Hauptſtuͤck.
Dieſe Reihe kann nun mit der fuͤrgegebenen
verglichen werden, um die Coefficienten A, B, C ꝛc.
zu beſtimmen. Und da erhaͤlt man nach angeſtellter
Rechnung folgende Reihe, wenn man Kuͤrze halber
1 + xm = y ſetzet
Dieſe Reihe convergirt nun deſto geſchwinder, je lang-
ſamer die erſte convergirt. Man ſetze z. E.
welche Reihe die Leibnitziſche von dem ein und funf-
zigſten Gliede an iſt, ſo findet ſich, wenn man dieſe
mit der erſten vergleicht,
x = 1, c = 1, d = 0, a = 101, b = 2, y = 2,
und folglich vermittelſt der gefundenen Reihe
Dieſe
[489]Die Schranken.
Dieſe Reihe convergirt nun ſo, daß ſie ſich einer geo-
metriſchen Progreſſion naͤhert, in welcher jedes fol-
gende Glied die Haͤlfte des vorhergehenden iſt, dabey
aber ſtaͤrker als dieſe convergirt.


§. 860.


Will man hingegen ſtatt einer Reihe einen einfa-
chern Ausdruck haben, welcher die Summe der Rei-
he ziemlich genau angebe, ſo kann dieſes vermittelſt
eines Bruches geſchehen, der ſich auf folgende Art
finden laͤßt. Es ſey z. E. die Reihe
man multiplicire dieſelbe mit einer Reihe
z = 1 + Ab : a + Bb^2 : a^2 + Cb^3 : a^3 + ꝛc.
von einer beliebigen Anzahl von Gliedern: ſo hat man
Jn dieſem Producte werden nun einige der erſten Co-
lumnen gelaſſen, von den folgenden aber der Ordnung
nach ſo viele = 0 geſetzt, als man Coefficienten A, B,
C
ꝛc. angenommen hat. Wir wollen Kuͤrze halber,
und um den herauskommenden Bruch einfacher zu
H h 5machen,
[490]XXX. Hauptſtuͤck.
machen, den einigen Coefficienten A beybehalten, und
in dieſem Producte die dritte Columne = 0 ſetzen, ſo
iſt B = C = 0, und
n \cdot \frac {n - 1} {2} + A \cdot n = 0
folglich
A = - \frac {n - 1} {2}
Wird nun dieſer Werth ſubſtituirt, ſo iſt das Product
und
Behaͤlt man nun in dem Producte nur die zwey er-
ſten Glieder, ſo erhaͤlt man
oder
Dieſer Ausdruck weicht von dem Wahren um
\frac {n \cdot n - 1 \cdot n + 1 \cdot a^n - 2 b^3} {C (2a - (n - 1) b)} ab. Man ſieht leicht, daß
derſelbe eigentlich zu der Ausziehung der Wurzeln
dienen ſoll. Setzet man demnach n der Ordnung
nach =\frac {1} {2}, ⅓, ¼ ꝛc. ſo erhaͤlt man
\sqrt {(a + b)}
[491]Die Schranken.
ꝛc.
So z. E. findet man fuͤr \sqrt [5] 40 den Bruch \frac {23} {11}. Denn
man ſetze 40 = 32 + 8, ſo iſt 32 = a, 8 = b, und
, folglich
Es iſt aber \frac {23} {11} = 2, 09091
der wahre Werth \sqrt [5] 40= 2, 09128
folglich der Unterſchied = 0, 00037


§. 861.


Man gebraucht uͤberhaupt ſolche Methoden, den
Werth einer Groͤße durch Naͤherung zu finden, oder den-
ſelben ziemlich genau auszudruͤcken, wo man den wah-
ren Werth derſelben entweder gar nicht, oder nur durch
ſehr weitlaͤuftige Rechnungen finden kann, und dabey
ſuchet man daher auch vornehmlich, daß die Naͤhe-
rung
[492]XXX. Hauptſtuͤck.
rung eben nicht muͤhſam ſey. Da man uͤberhaupt
die Aufloͤſung der Gleichungen, die uͤber den vierten
Grad ſind, noch nicht hat auf allgemeine Regeln
bringen koͤnnen, ſo hat man ſich beſonders auch Muͤ-
he gegeben, die Wurzeln derſelben durch Naͤherung
zu finden. Von den hiezu dienenden Methoden wird
folgende die allgemeinſte ſeyn. Es ſey die Gleichung
o = xn - axn - 1 + bxn - 2 - + r. x2 - qx + p.
ſo iſt in der Formel
die Quantitaͤt y ſo beſchaffen, daß, wie man ſie auch
immer annimmt, der dadurch gefundene Werth z,
der einen der Wurzeln x naͤher koͤmmt, und zwar
derjenigen, welcher der fuͤr y angenommene Werth
an ſich ſchon am naͤchſten iſt, die Faͤlle ausgenom-
men, wo man fuͤr y eine ſolche Zahl ſetzet, da der
Theiler der Formel = 0 wird. Man ſetze z. E.
x^2 - 5 x + 6 = 0, ſo iſt a = 5, b = 6, und
z = \frac {y^2 - 6} {2y - 5}
Hier wuͤrde nun z unendlich, wenn man y = 2 \frac {1} {2} ſe-
tzen wollte. Setzet man nun y = 10, welches offen-
bar zu groß iſt, ſo findet ſich z = \frac {94} {15}, und folg-
lich etwas mehr als 6. Man ſetze y = 6, ſo iſt
z = \frac {30} {7} = 4 \frac {2} {7}. Macht man y = 4, ſo iſt z = \frac {10} {3} = 3 \frac {1} {3}
Bis dahin iſt z noch immer kleiner als y. Setzet
man aber y = 2¾, ſo iſt z = 3⅛, und demnach groͤ-
ßer als y, welches eine Anzeige iſt, die eine Wurzel
muͤſſe zwiſchen 2¾ und 4 fallen. Setzet man dem-
nach y = 3, ſo iſt auch z = 3, und folglich iſt 3 die
eine der Wurzeln, und zwar die groͤßere. Man ſetze
nun
[493]Die Schranken.
nun y = 0, ſo hat man z = 1⅕. Man ſetze y = 1,
ſo iſt z = 1⅔, und folglich noch immer groͤßer als y.
Setzet man aber y = 2¼, ſo erhaͤlt man z = 1⅞, wel-
ches nun kleiner als y iſt. Demnach faͤllt die andere
Wurzel zwiſchen 1 und 2¼. Man ſetze nun y = 2,
ſo iſt ebenfalls auch z = 2. Und dieſes iſt demnach
die andere Wurzel.


§. 862.


Die Jntegralrechnung und dabey die Quadratur
und Rectification der krummen Linie, hat ebenfalls
haͤufigen Anlaß zu Naͤherungen gegeben, es ſey, daß
man dieſe vor dem Jntegriren vorgenommen, um
die Formeln geſchmeidig und integrabel zu machen,
oder daß man es nachher wegen bequemerer Anwen-
dung gethan. Sofern man ſich, wie es in ſehr vie-
len Faͤllen hinreichend iſt, mit einer Conſtruction be-
gnuͤgen kann, giebt es hiebey ſehr allgemeine Me-
thoden, ſowohl den Raum einer krummen Linie, als
deren Laͤnge zu finden. Jn Anſehung des Raumes
beſchreibt man in dieſelbe ein geradelinichtes Vieleck,
dergeſtalt, daß jede Chorde einen Bogen abſchneidet,
der als ein Stuͤck des Kruͤmmungskreiſes, oder auch
als ein Stuͤck einer Parabel angeſehen werden kann.
Der Jnhalt des Vieleckes kann nun fuͤr ſich berechnet
werden. Man hat daher nur noch den Jnhalt der
Segmente oder Abſchnitte der krummen Linie zu fin-
den. Zu dieſem Ende ziehe man mit jeder Chorde
eine Parallellinie, welche die krumme Linie beruͤhre,
und meſſe die Diſtanz derſelben von der Chorde.
Wird nun dieſe Diſtanz mit ⅔ von der Laͤnge der
Chorde multiplicirt, ſo giebt das Product den Jn-
halt des Abſchnittes, welchen man folglich zu dem
Jnhalte des Vieleckes addirt oder davon ſubtrahirt,
je
[494]XXX. Hauptſtuͤck.
je nach dem das Segment außer oder in daſſelbe faͤllt.
Der Grund von dieſer Art zu verfahren iſt dieſer,
daß alle paraboliſche Segmente, welche auf eben der
Chorde ſtehen, und die mit dieſer Chorde parallel-
gezogene Linie beruͤhren, den hier angegebenen Jn-
halt haben, und daß man folglich diejenige waͤhlen
kann, welche von der vorgegebenen krummen Linie
zwiſchen den beyden Enden der Chorde unter allen am
wenigſten abweicht. Um deſto genauer iſt demnach
der hier angegebene Jnhalt.


§. 863.


Sind hingegen von ſolchen kleinern Stuͤcken einer
krummen Linie Abſciſſen und Ordinaten gegeben, ſo
laſſen ſich die Segmente oder ihr Flaͤchenraum fol-
gender Maaßen berechnen. Es ſeyn drey Abſciſſen
A, B, C, die dazu gehoͤrenden und darauf ſenkrechten
Ordinaten D, E, F. Man ſetze nun
B - A = a
C - A = b
E - D = e
F - D = d

ſo wird der Jnhalt des Segmentes beynahe
s = \frac {dd (bc - ad)} {6 c \cdot (d - c)}
ſeyn. Es iſt aber dieſe Formel nicht uͤberhaupt ſo
genau als die erſt angegebene Conſtruction, weil ſie
ſich auf eingeſchraͤnktere Bedingungen gruͤndet. Denn
es iſt dabey angenommen, das Stuͤck der krummen
Linie ſey von einer Parabel, deren Axe mit den Ab-
ſciſſen parallel laufe. Dieſe Vorausſetzung ſchraͤnket
daher die Formel, uͤberhaupt betrachtet, auf kleinere
Bogen ein. Sofern man aber die Abſciſſen nach
Belieben ziehen kann, koͤnnen ſie dieſer Bedingung
gemaͤß
[495]Die Schranken.
gemaͤß gezogen werden, und da geht die Formel auch
noch bey groͤßern Segmenten an.


§. 864.


Die Rectification der krummen Linien wird ſelte-
ner gebraucht. Es hat ſie aber Joh. Bernoulli
angerathen, in dem er gewieſen, wie man die Jnte-
grationen darauf reduciren koͤnne, und zwar gab er
dieſes als einen Vortheil an, weil die Laͤnge einer
krummen Linie ſehr leicht mittelſt der Umſpannung
eines Fadens gemeſſen werden koͤnne. Man kann
eben ſo den Cirkel darauf herum tragen, wenn man
ſolche kleine Stuͤcke faſſet, die kaum zwey oder drey
Grade Kruͤmmung haben. Denn ſo iſt die Chorde
eines Bogens von vier Graden kaum um \frac {1} {5000}, und
die von drey Graden kaum um \frac {1} {8700} kleiner als der
Bogen. Und auf ſo kleine Unterſcheide kann man
bey den Conſtructionen, wenn ſie nicht in ſehr gro-
ßen Figuren gemacht werden, nicht ſehen. Leibnitz
hingegen ſchlug den Kruͤmmungskreis zur Beſtim-
mung der Laͤnge von den Bogen krummer Linien vor.
So lange nun dieſer von der Linie nicht ſichtbar ab-
weicht, laſſen ſich die vorhin (§. 857.) fuͤr die Laͤnge
der Cirkelbogen angegebenen Formeln und Conſtru-
ction gebrauchen, und es iſt eben nicht ganz unmoͤg-
lich, vermittelſt der um die krumme Linie und in der-
ſelben gezogenen Chorden und Tangenten die Laͤnge
derſelben durch Conſtruction zu beſtimmen. Wenn
die Kruͤmmung des Bogens einfoͤrmig und nicht uͤber
zehn bis funfzehn Grade iſt, ſo laſſen ſich von den
beyden Enden der Chorde Tangenten ziehen, welche
zugleich mit der Chorde einen Triangel bilden. Ad-
dirt man nun die Laͤnge der Chorde doppelt genom-
men zu der Summe der beyden Tangenten oder Sei-
ten
[496]XXX. Hauptſtuͤck.
ten dieſes Triangels, ſo wird der ⅓ Theil der heraus
kommenden Summe ſehr genau die Laͤnge des Bo-
gens angeben. Der allgemeine Beweis dieſes Sa-
tzes laͤßt ſich hier nicht wohl anbringen. Wir mer-
ken daher nur an, daß, wo bey einer fuͤrgegebenen
krummen Linie ein Wendungspunct vorkoͤmmt, die
hier angegebenen Regeln (§. 862. ſeqq.) bey dem Stuͤ-
cke der Linie, wo derſelbe vorkoͤmmt, nicht angehen,
weil bey dieſem Puncte die Linie ehender fuͤr gerade
als fuͤr ein Stuͤck eines Circuls oder Parabel kann
angeſehen werden, (§. 843.)


§. 865.


Ungeachtet man die Conſtructionen uͤberhaupt vor
ſehr unzuverlaͤßig anſieht, und daher in den meiſten
Faͤllen denſelben die Berechnung, auch wenn dieſe
ungleich muͤhſamer iſt, vorzieht, weil man dadurch
alles viel ſchaͤrfer finden kann; ſo geſchieht es doch oͤf-
ters, daß man ſich mit der Conſtruction gar wohl
genuͤgen laſſen koͤnnte, und zwar nicht nur, wo man
die Sache nur beylaͤufig zu wiſſen verlanget, ſondern
wo die Genauigkeit, die man durch die Berechnung
zu erhalten ſucht, nur ertraͤumet iſt. Die Faͤlle, wo
dieſes geſchieht, ſind diejenigen, wo die Data zur
Rechnung aus Obſervationen und Verſuchen gefun-
den werden muͤſſen, oder aus denſelben genommen
ſind. Kann man nun hiebey genauer conſtruiren,
als man hat beobachten koͤnnen; ſo iſt die Conſtructi-
on nicht nur ſcharf genug, ſondern ſie legt gewoͤhnlich
auch alles, was in den Rechnungen verſtecket wird,
vor Augen, zumal da ſich die oben (§. 842.) erwaͤhnte
Methode dabey anwenden laͤßt. Man ſetze z. E. ein
Micrometer, mit dem ſich nur\nicefrac {1} {2} oder ⅓ Minuten
eines Grades unterſcheiden laſſen, ſo werden alle Be-
obachtun-
[497]Die Schranken.
obachtungen, die man mit demſelben bey Sonnen-
und Mondsfinſterniſſen anſtellet, auf einem Riſſe von
mittelmaͤßiger Groͤße conſtruirt werden koͤnnen.
Koͤmmt dabey noch der Umſtand hinzu, daß man
Zeiten von 10, 15, 20 Secunden in die Rechnung zie-
hen, und damit multipliciren und dividiren muͤßte,
ſo hat man ſich, weil ſich eine halbe Secunde nicht
wohl beobachten laͤßt, zu Fehlern zu verſehen, die
ſich auf ein \frac {1} {10}, \frac {1} {15}, \frac {1} {20} des Ganzen belaufen. Die
Conſtruction iſt nun nicht nur leicht eben ſo genau,
ſondern kann auch mehrentheils gebraucht werden, zu
beurtheilen, woher ſolche Unrichtigkeiten kommen,
zumal wo alle Stuͤcke der Obſervation conſtruirt wer-
den. Jn vielen Faͤllen kann es auch geſchehen, daß
man einen Theil conſtruirt, und das uͤbrige ſodann
berechnet. Man muß aber, wo man dieſen Unter-
ſchied macht, richtig beurtheilen koͤnnen, wie derſelbe
zu treffen iſt. So z. E. laſſen ſich etwann durch die
Conſtruction die zuverlaͤßigern Obſervationen erken-
nen, wo man deren mehrere angeſtellet hat, und dieſe
koͤnnen ſodann zum Grunde der Rechnung gelegt wer-
den, oder, wenn man aus denen durch die Conſtru-
ction gefundenen Groͤßen das Mittel zu nehmen hat,
ſo wird jede derſelben auf den Maaßſtab getragen,
um ſie in Zahlen zu haben, weil ſich aus dieſen ſo-
dann das Mittel bis auf kleinere Theile berechnen
laͤßt; und dieſe kann man nunmehr ſuchen, weil man
uͤberhaupt ein ſolches Mittel fuͤr das Zuverlaͤßigſte
haͤlt.


§. 866.


Man gebraucht ferner die Theorie der Schranken,
zwiſchen welchen eine Groͤße faͤllt, wo zur voͤlligen
Beſtimmung derſelben noch ein Datum fehlt, und
in dieſer Abſicht hat die Theorie der Schranken ſo
Lamb. Archit.II.B. J iwohl
[498]XXX. Hauptſtuͤck.
wohl ihre beſondere Gruͤnde als ihren Nutzen. Die
zween Saͤtze, die man dabey immer heraus bringet,
haben die Form, daß x nicht groͤßer ſeyn koͤnne als a,
und nicht kleiner als b. Man ſieht leicht, daß der
Beweis ſolcher Saͤtze ſo beſchaffen iſt, daß man das
Gegentheil aufs unmoͤgliche bringt, welches heraus
kommen wuͤrde, wenn man x groͤßer als a, und klei-
ner als b ſetzen wollte. Dieſes Unmoͤgliche iſt nun
entweder ſchlechterdings unmoͤglich, wie z. E. wenn
man in dem Ausdrucke \sqrt {(aa - xx)} das x groͤßer als
a ſetzen wollte; oder wenn man wollte eine Groͤße ne-
gativ annehmen, die vermoͤge der Bedingungen der
Aufgabe poſitiv ſeyn muß, oder es laͤuft wider die
Erfahrung, wie z. E. wenn man ſetzen wollte, daß A,
wenn es von B bedecket wird, naͤher als B ſey, oder
das z. E. die Venus, wenn ſie von der Sonne ganz
beleuchtet wird, zwiſchen der Sonne und der Erde,
das will ſagen, der Erde naͤher ſey als die Sonne.


§. 867.


Man muß nun zu ſolchen Beweiſen immer ſo viele
Data haben, als zu Beſtimmung der Schranken er-
fordert werden. Demnach muͤſſen in der Gleichung,
die man zur Beſtimmung der Groͤße findet, noch
zwey Stuͤcke unbekannt ſeyn. Findet ſich nun, daß
eines dieſer Stuͤcke zwiſchen gewiſſen Schranken iſt,
ſo laſſen ſich auch die Schranken beſtimmen, zwiſchen
welchen das andere ſeyn muß. Man ſieht demnach
die beyden Stuͤcke als veraͤnderlich an, und da iſt
mehrentheils die Gleichung ſo beſchaffen, daß ſich ein
maximum oder minimum finden laͤßt, welches folg-
lich auf eine bloß analytiſche Art Schranken angiebt.
So z. E. wenn man obſervirt, wie viele Grade ein
Comet von der Sonne entfernt iſt, ſo kann man bloß
dadurch
[499]Die Schranken.
dadurch den kleinſten moͤglichen Abſtand deſſelben von
der Sonne finden, ſo oft der Entfernungsbogen nicht
uͤber 90 Grade iſt. Denn dieſer kleinſte Abſtand iſt
die Perpendicularlinie, welche aus der Sonne auf
die Linie faͤllt, die von der Erde durch den Come-
ten geht.


§. 868.


Außer dieſem Fall, wo ein Maximum oder Mini-
mum
vorkoͤmmt, kann es auch ſolche geben, wo
man den Satz gebrauchen kann, daß eine Groͤße nicht
groͤßer als unendlich ſeyn koͤnne. Dabey koͤmmt nun
etwas aſymtotiſches vor. So z. E. wenn man die
Gleichung x^2 = a : y + b hat; ſo ſieht man leicht,
daß wenn y unendlich iſt, ſodann x^2 = b ſey. Weiß
man nun ohnehin, daß y in dem fuͤrgegebenen Fall
poſitiv iſt, ſo weiß man auch, daß x nicht kleiner als
\sqrt {b} ſeyn koͤnne. Kann hingegen y negativ ſeyn, ſo
wird x = \sqrt {(b - a : y)} und da muß y groͤßer als b : a
bleiben. Newton hat ſich dieſes Umſtandes bedient,
um aus der ſcheinbaren Laͤnge des Schweifes eines
Cometen und deſſen Entfernung von der Sonne den
groͤßten moͤglichen Abſtand des Cometen von der Er-
de zu beſtimmen. Man weiß, daß der Schweif des
Cometen von der Sonne gerade weggekehrt iſt. Setzt
man nun, derſelbe ſey unendlich lang, ſo laͤßt ſich
aus den beyden beobachteten Winkeln der Ort des
Cometen finden, wo derſelbe in ſolchem Fall ſeyn
muͤßte, und die dadurch gefundene Entfernung iſt die
groͤßte moͤgliche. Uebrigens laͤßt ſich dieſe Beſtim-
mung nur da mit Vortheil gebrauchen, wo der Co-
met wenige Grade von der Sonne entfernt, und die
Laͤnge des Schweifes von vielen Graden iſt.


J i 2§. 869.
[500]XXX. Hauptſtuͤck.

§. 869.


Auf eine aͤhnliche Art laͤßt ſich auch oͤfters der Satz
gebrauchen, daß der Theil nicht groͤßer ſeyn koͤnne,
als das Ganze. So z. E. wenn man annimmt, daß
der Mond alles Licht der Sonne zuruͤcke werfe, ſo fin-
det ſichs, daß der volle Mond nur \frac {1} {69250} Theil von
der Helligkeit der Sonne habe, und dieſes iſt die
groͤßte moͤgliche, weil der Mond nicht mehr Licht zu-
ruͤcke werfen kann, als von der Sonne auf denſelben
faͤllt. Daß aber in der That nicht alles zuruͤcke ge-
worfen wird, laͤßt ſich nothwendig aus den Flecken
des Mondes ſchließen, und wenn die Koͤrper auf dem
Monde nicht alle viel weißer ſind, als die auf der Er-
de, ſo wird die Helligkeit des Vollmondes noch gut
7 mal kleiner, und daher kaum \frac {1} {500000} Theil von
der Helligkeit der Sonne ſeyn.


§. 870.


Zuweilen findet ſich auch, wie viel eine Groͤße zum
meiſten oder zum wenigſten betragen mag, weil ſichs,
wenn ſie kleiner oder groͤßer waͤre, Proben davon
muͤßten finden laſſen. So z. E. kann man aus die-
ſem Grunde ſchließen, daß die von Huygens ange-
gebene Entfernung des Sirius zu klein ſey, wenn er
ſie durch einen mehr ſinnreichen als zuverlaͤßigen Ver-
ſuch 27664 mal groͤßer als die Entfernung der Sonne
von der Erde ſetzt. Denn dieſes wuͤrde die jaͤhrliche
Parallaxe deſſelben von 10 Secunden geben, da hin-
gegen Bradley durch ſeine genaue Beobachtungen
durch die er die Aberration des Lichtes und die Nuta-
tion der Erdaxe beſtimmt hat, verſichert, daß er ei-
ne Parallaxe, wenn ſie uͤber eine Secunde geweſen
waͤre, wuͤrde haben beobachten koͤnnen. Man kann
daher aus dieſem Grunde ſetzen, die Fixſterne muͤſ-
ſen
[501]Die Schranken.
ſen uͤber 400000 mal weiter entfernet ſeyn, als die
Sonne.


§. 871.


Endlich laſſen ſich die Schranken, innert welchen
eine veraͤnderliche Groͤße bleibt, oͤfters auch durch Be-
obachtungen beſtimmen. So z. E. mißt man die
groͤßte Entfernung der untern Planeten von der Son-
ne durch angeſtellte Beobachtungen wirklich aus, und
dadurch laſſen ſich Linien beſtimmen, welche die Bahn
derſelben beruͤhren. Man kann auf eben dieſe Art in
Anſehung des zodiacallichtes verfahren, weil ſeine
Figur nicht circulaͤr, ſondern elliptiſch iſt. Auf eine
aͤhnliche Art laſſen ſich aus vieljaͤhrigen Beobachtun-
gen die groͤßten und kleinſten Barometerhoͤhen fuͤr je-
den Monat beſtimmen, und man wird die groͤßten
und mittlern monatliche Veraͤnderungen derſelben des
Sommers nur halb ſo groß als des Winters finden.



Ein und dreyßigſtes Hauptſtuͤck.
Das Zahlengebaͤude.


§. 872.


Wir haben nun noch die Groͤße an ſich zu betrach-
ten, und zwar in ſo fern ſie theils durch Zah-
len und Zeichen, theils durch Linien und Figuren vor-
geſtellet wird. Das erſte, was ſich hiebey zu unter-
ſuchen darbeut, iſt das Zahlengebaͤude, deſſen wiſ-
ſenſchaftliche Structur wir den Arabern zu danken ha-
ben. Die Griechen und die orientaliſchen Voͤlker ge-
brauchten ihr Alphabet, um die Zahlen vorzuſtellen,
und die Roͤmer begnuͤgten ſich mit den Buchſtaben
J i 3M,
[502]XXXI. Hauptſtuͤck.
M, D, C, L, X, V, I, welche gleichſam das we-
ſentliche des Zahlengebaͤudes enthalten, und womit
ſich noch ziemlich hurtig und methodiſch rechnen laͤßt.
Es giebt auch dermalen noch eine Menge Leute, die
nicht anderſt als mit ihren I, V, X rechnen koͤnnen.
Jhre Rechnungen erſtrecken ſich aber auch nicht viel
weiter. Man hat hingegen an dem arabiſchen Zah-
lengebaͤude, welches nach 1, 10, 100, 1000 ꝛc. fort-
geht, und die Bedeutung der Ziffern 1, 2, 3, 4, 5, 6,
7, 8, 9 durch die bloße Anzeige der Stelle in 10, 20,
30, 40 ꝛc. oder in 100, 200, 300 ꝛc. oder in 1000,
2000, 3000 ꝛc. verwandelt, und daraus ſodann jede
Zahlen, z. E. 34, 546, 8725 ꝛc. zuſammenſetzt, eine
ſolche Vollkommenheit der Einrichtung gefunden, daß
man ſchwerlich mehr davon abgehen wird, zumal da
die Gewohnheit, nach 10, 100, 1000 ꝛc. zu zaͤhlen,
durchgaͤngig iſt, und die Sprachen ſchon ganz dazu
eingerichtet ſind. Das willkuͤhrliche dabey wird
gleichſam vergeſſen, oder nur wie fuͤr die lange Weile
angemerket. Dieſes hat nun bereits Ariſtoteles
gethan, indem er die Frage aufwarf, warum alle,
auch ſelbſt die barbariſche Voͤlker darinn uͤber-
ein kommen, daß ſie bis auf 10 zaͤhlen, und ſo-
dann wie von neuem anfangen?
Ariſtoteles be-
antwortete dieſe Frage nur durch andere Fragen, ſtatt
deren er die letzte ſchlechthin haͤtte bejahen koͤnnen, daß
naͤmlich die Menſchen ihre Rechenkunſt bey dem Ab-
zaͤhlen an den Fingern anfangen. Dieſe Antwort
wuͤrde nun ſeine Frage in die verwandelt haben, war-
um die nicht barbariſchen Voͤlker bey eben der
Art, bis auf 10 zu zaͤhlen verbleiben, und ob
nicht ein ſchicklicheres Zahlengebaͤude gewaͤhlt
werden koͤnne?
darauf kann man nun nicht anderſt
antworten, als daß man, wenn man auch ein ſchick-
licheres
[503]Das Zahlengebaͤude.
licheres finden wuͤrde, die Sprache ganz darnach ein-
richten, und ſich von Kindheit auf daran gewoͤhnen
muͤßte. So lange dieſes nicht geſchieht, muͤſſen wir
jedes andere Zahlengebaͤude immer wiederum in das
bisher gewoͤhnliche uͤberſetzen.


§. 873.


Laͤßt man aber eine ſolche Ueberſetzung gelten, ſo
haben wir allerdings noch andere Zahlengebaͤude. Jn
der Aſtronomie z. E. zaͤhlet man nicht nach 10, 100,
1000 ꝛc. ſondern nach 60, 60 mal 60, oder 3600, 60
mal 3600, oder 216000 ꝛc. Und dazu hat man be-
ſondere Einmal Eins, welche von 1 bis auf 60 ge-
hen, und ſo oft das Product uͤber 60 iſt, 60 weg-
werfen, und in den naͤchſt hoͤhern Rang 1 ſetzen.
Das einige, was dabey fehlt, iſt, daß man dazu
nicht 60 einfache Zeichen hat, ſondern ſich mit den
gemeinen Zahlen behilft, und deren, ſo oft man uͤber
9 zu zaͤhlen hat, zwo gebrauchen muß. Man koͤnnte
aber, wenn es der Muͤhe lohnte, in Abſicht auf die
Zeichnung zwo zuſammenſchlingen, und denſelben
dergeſtalt eine einfachere Geſtalt geben, daß ſie ſich
leicht erkennen ließen. Statt deſſen aber unterſchei-
det man die Stellen durch andere Zeichen, und ſchreibt
z. E. den Bogen, deſſen Laͤnge dem Halbmeſſer gleich iſt.
57°. 17′. 44″. 49‴. ꝛc.
Man hat uͤbrigens die Eintheilung der Grade und
Stunden in Minuten, Secunden, Tertien ꝛc. des-
wegen angenommen, weil ſich 60 in 2, 3, 4, 5, 6,
10, 12, 15, 20, 30 Theile eintheilen laͤßt. Die Ein-
theilung der Fuͤße in Zolle, Linien, Puncte ꝛc. wel-
che nach 12 geht, ſtellt ebenfalls eine Art von Zahlen-
gebaͤude vor, wozu man aber, weil es dabey nicht ſo
viel zu multipliciren giebt, und weil es nicht ſo weit
reicht, kein beſonderes Einmal Eins hat. Ueberdiß
J i 4hat
[504]XXXI. Hauptſtuͤck.
hat man bald in allen arithmetiſchen Lehrbuͤchern die
ſogenannte italiaͤniſche Practic, wodurch ſolche Mul-
tiplicationen und Diviſionen leicht gemacht werden.


§. 874.


Unter den uͤbrigen Zahlengebaͤuden, welche man
verſuchet hat, iſt das dyadiſche des Herrn von Leib-
nitz
vorzuͤglich, als welches nur bis auf 2 geht, und
keines Einmal Eins bedarf. Dieſes iſt aber auch
faſt alles, was man zum Behufe deſſelben ſagen
kann, weil man immer ein Regiſter noͤthig hat, um
das, was man nach demſelben rechnet, kenntlich zu
machen, oder durch die gemeine Zahlen auszudruͤ-
cken. Leibnitz glaubte zwar, daß weil dabey nur
0 und 1 vorkommen, alle Zahlen dadurch in ihre erſte
Elemente aufgeloͤſet wuͤrden, und daß ſich folglich viel
merkwuͤrdiges dabey muͤſſe finden laſſen. Nun kom-
men zwar außer den 0 und 1 keine andere Ziffern da-
bey vor, hingegen aber macht die Stelle, an welcher die
1 ſtehen, daß ſie immer eine von den Zahlen 1, 2, 4, 8,
16, 32, 64, ꝛc. bedeuten, welche aber nichts wenigers
als Elemente von Zahlen ſind. Das einige, was
dieſe geometriſche Progreßion beſonders hat, iſt, daß
ſich durch die Glieder derſelben alle Zahlen vorſtellen
laſſen, und daß, wenn man weder ſubtrahiren noch
eines der Glieder doppelt nehmen will, dieſe Vor-
ſtellung nur auf eine Art moͤglich iſt, z. E.
3 = 1 + 2
5 = 1 + 4
6 = 2 + 4
7 = 1 + 2 + 4
9 = 8 + 1
10 = 8 + 2
11 = 8 + 2 + 1
12 = 8 + 4
ꝛc.
Man hat daher die Aufgabe genommen, wie man
mit der geringſten Anzahl einzelner Gewichte, jede
Laſten abwaͤgen koͤnne, und dieſe Aufgabe ſo aufge-
loͤſt, daß man ſich Gewichte von 1, 2, 4, 8, 16, 32 ꝛc.
Pfunden, Lothen, Quentgen ꝛc. anſchaffen muͤſſe.
Und
[505]Das Zahlengebaͤude.
Und auf dieſen Fuß ſind auch die Gewichte eingethei-
let. Denn ſo kann man mit 7 Gewichten bis auf 127
waͤgen, wo man hingegen nach der Decimalprogreſ-
ſion Gewichte von 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 20, 30,
40, 50 ꝛc. Pfunden oder Einheiten haben muͤßte. Mit
der Progreßion 1, 3, 9, 27, 81 ꝛc. reicht man noch wei-
ter, hingegen muß man dabey addiren und ſubtrahi-
ren, wenn man durch deren Glieder alle Zahlen vor-
ſtellen will. Uebrigens hat die Progreßion 1, 2, 4, 8,
16, 32 ꝛc. noch das beſonders, daß ſich dadurch alle
Combinationen vorſtellen laſſen. Und in dieſer Abſicht
kann bey der leibnitziſchen Dyadic der Rang oder die
Stelle der Ziffern die combinirten Dinge vorſtellen,
ſo werden die Zahlen ſelbſt nach ihrer natuͤrlichen Ord-
nung geſchrieben, die Combinationen und ihre Anzahl
angeben. Z. E.


J i 5Stellen
[506]XXXI. Hauptſtuͤck.

Stellen nun hiebey A, B, C, D ꝛc. einfache Beſtim-
mungen vor, ſo erhaͤlt man durch dieſe Zeichung alle
Combinationen derſelben. Es iſt aber dabey eben
das anzumerken, was wir in dem §. 462. in Anſehung
einer aͤhnlichen Zeichnung angemerkt haben.


§. 875.


Man ſieht nun uͤberhaupt leicht, daß wie man auch
ein Zahlengebaͤude annimmt, daſſelbe deswegen an-
genommen werde, damit ſich durch wenige einfache
Zeichen alle moͤgliche ganze Zahlen vorſtellen laſſen,
und daß man dabey uͤberhaupt auf die Einfoͤrmigkeit
der characteriſtiſchen Structur zu ſehen habe. Denn
an ſich betrachtet haben die ganze Zahlen eine ſchlecht-
hin nothwendige und von den characteriſtiſchen Zah-
lengebaͤuden ganz unabhaͤngige Ordnung, und wenn
man ſie ſo unter einander vergleicht, ſo geſchieht es,
um zu ſehen, um wie viele Einheiten die eine groͤßer
iſt als die andere, und ob die eine mehrmal genom-
men die andere ausmacht? Jn dieſer Abſicht werden
die Zahlen in Primzahlen, und in ſolche, die Multi-
pla
von einer andern Zahl ſind, unterſcheiden. Die
Primzahlen laſſen ſich durch keine andere theilen, die
groͤßer als 1 waͤre. Man hat noch bisher kein Mit-
tel finden koͤnnen, die Ordnung, wie ſie auf einander
folgen, und woran ſich jede fuͤr ſich kennbar mache,
durch einfache Merkmale zu beſtimmen, und wenn
eine Zahl fuͤrgegeben, zu entdecken, ob ſie Theiler
habe, oder nicht? Euclid hat in Anſehung der Prim-
zahlen den Satz bewieſen, daß ſo viele man deren
auch gedenken mag, es noch mehrere gebe. Hinge-
gen in Anſehung der Ordnung, wie ſie auf einander
folgen, hat man noch nichts finden koͤnnen, und
zwar allem Anſehen nach, weil gar keine locale
Ordnung
[507]Das Zahlengebaͤude.
Ordnung dabey vorkoͤmmt. Jndeſſen kann man
folgende Reihe angeben,
\frac {x} {1 - x} + \frac {x^2} {1 - x^2} + \frac {x^3} {1 - x^3} + \frac {x^4} {1 - x^4} + \frac {x^5} {1 - x^5} + ꝛc.
welche, wenn ſie durch die wirkliche Diviſion aufge-
loͤſt wird die Reihe
x + 2x^2 + 2x^3 + 3x^4 + 2x^5 + 4x^6 + 2x^7 + 4x^8 + 3x^9 +
4x^10 + 2x^11 + 6x^12 + 2x^13 + 4x^14 + 4x^15 + 5x^16 +
2x^17 + 6x^18 + 2x^19 + 4x^21 + 4x^22 + 8x^24 + ꝛc.
herfuͤr bringt. Werden nun in dieſer Reihe die Ex-
ponenten als Zahlen angeſehen, ſo zeigen die Coeffi-
cienten an, wie viele Theiler ſie haben, die Einheit
und die Zahl ſelbſt mitgerechnet. Wo demnach der
Coefficient 2 iſt, da iſt der Exponent eine Primzahl.
Wird hingegen die Reihe
\frac {x} {1} - x + \frac {2 x^2}{1 - x^2} + \frac {3 x^3} {1 - x^3} + \frac {4 x^4} {1 - x^4} + \frac {5 x^5}{1 - x^5} + ꝛc.
durch die Diviſion aufgeloͤſet, ſo zeigen in der Reihe
x + 3 x^2 + 4 x^3 + 7 x^4 + 6 x^5 + 12 x^6 + 8 x^7 + 15 x^8 +
13 x^9 + 18 x^10 + 12 x^11 + 14 x^13 + ꝛc.
die Coefficienten die Summe der Theiler der Expo-
nenten an. Jn dieſen beyden Reihen haben aber die
Coefficienten gar keine locale Ordnung, und unge-
achtet die Entſtehensart derſelben leicht angegeben
werden kann, ſo laͤßt ſich aus dieſer ſchwerlich herlei-
ten, wie der Coefficient eines jedes Gliedes ohne die
vor- und nachgehenden beſtimmt werden koͤnne. Die
Aufgabe von der Erfindung der Theiler einer Zahl iſt
unter allen die unbeſtimmteſte, weil man weder weiß,
ob ſie Theiler habe, noch wie viele ſie habe, noch ob
unter
[508]XXXI. Hauptſtuͤck.
unter denſelben einige Verhaͤltniß ſtatt finde? Nun
hat man zwar einige leichte Kennzeichen, ob eine fuͤrge-
gebene Zahl z. E. durch 2, 3, 5, 6, 9, 11 ꝛc. theilbar ſey.
Sie gruͤnden ſich aber mehrentheils auf die Structur
des Zahlengebaͤudes. So hat auch Euclid ſchon
die Aufgabe, wie man, wenn zwo oder mehrere Zah-
len fuͤrgegeben ſind, finden koͤnne, ob ſie gemeinſame
Theiler haben, und welches der groͤßte gemeinſame
Theiler derſelben ſey? Dieſes dient aber fuͤr den Fall
nicht, wo nur eine Zahl fuͤrgegeben iſt, deren Thei-
ler ſollen gefunden werden. Alles, was man hiebey
thun kann, iſt, daß man eine Progreßion finde, in
welcher wenigſtens einer der Theiler fuͤrkommen muß,
wenn die Zahl deren mehrere hat. So z. E. weiß
man, daß wenn eine Zahl durch 2 und durch 3 nicht
theilbar iſt, ſo wohl die Zahl, als deren Theiler un-
ter der Formel 6m ± 1 enthalten ſeyn muͤſſe. Man
kann aber auch eine allgemeine Regel geben, wodurch
die Zahlen, von welchen es vermuthlicher iſt, daß
ſie Theiler ſind, ſprungsweiſe erkannt und gefunden
werden koͤnnen, und dieſe Regel iſt nicht ſehr weit-
laͤufig, ſo oft die Zahl ſolche Theiler hat, welche
von der Quadratwurzel derſelben wenig unterſchieden
ſind. Man ſetze z. E. die Zahl 65247, welche
= 3. 7. 13. 239 iſt. Da nun die naͤchſt kleinere Qua-
dratwurzel = 255 iſt, ſo ſetze man den Theiler = 255 - x,
ſo muß
\frac {65247}{255} - x = 255 + x + \frac {xx + 222}{255 - x}
eine ganze Zahl ſeyn. Solle nun dieſes in Anſehung
des Bruches \frac {xx + 222}{225 - x} angehen, ſo ſieht man leicht
daß
[509]Das Zahlengebaͤude.
daß x wenigſtens groͤßer als 6 ſeyn muß. Man ſetze
demnach x = 6 + y, ſo verwandelt ſich dieſer Bruch
in folgenden
\frac {258 + 12 y + y^2}{249 - y = 1 + \frac {9 + 13 y + y^2}{249 - y}
welcher ebenfalls eine ganze Zahl ſeyn muß. Man
ſieht aber wiederum, daß y nicht kleiner als 10 ſeyn
koͤnne. Setzt man demnach y = 10 + z, ſo wird der
letzte Bruch \frac {9 + 13 y + y^2}{249 - y} in folgenden
\frac {239 + 33 z + zz}{239 - z}
verwandelt, und dieſer muß ebenfalls eine ganze
Zahl ſeyn. Dieſe Bedingung wird nun offenbar
erfuͤllt, wenn man z = 0 ſetzt, demnach iſt 239 ei-
ner der geſuchten Theiler. Man kann aber auf eben
die Art fortfahren. Denn dividirt man bey der letz-
ten Formel wirklich, ſo hat man
1 + \frac {34 z + zz}{239 - z}
welcher Bruch ebenfalls eine ganze Zahl ſeyn muß.
Daher kann z nicht kleiner als 6 ſeyn. Macht man
alſo z = 6 + v, ſo erhaͤlt man fuͤr dieſen Bruch den
folgenden
\frac {240 + 46 v + vv}{233 - v} = 1 + \frac {7 + 47 v + vv} {233 - v}
woraus man ſieht, daß v \> 5 ſeyn muß ꝛc. Man
kann ſtatt ſolcher Subſtitutionen, die Sache durch
bloßes
[510]XXXI. Hauptſtuͤck.
bloßes addiren und ſubtrahiren erreichen. Man neh-
me zu dieſem Ende den erſten Bruch \frac {xx + 222}{255 - x}
ſo iſt die Rechnung folgende:


Jn dieſer Rechnung ſind die zwo erſten Zahlen 255,
222 aus dem Bruche \frac {xx + 222}{255 - x} genommen. Wird
x ſtufenweiſe 1, 2, 3, 4, 5, ꝛc. geſetzt, ſo enthaͤlt die
erſte Columne die Theiler, die zweyte aber die Zaͤh-
ler dieſes Bruches, doch letzteres mit der Bedingniß,
daß, ſo oft der Zaͤhler groͤßer wird als der Theiler,
dieſer davon abgezogen werde, wie es z. E. bey den
Stellen *, ** geſchieht. Die zweyte Columne
ſtellet demnach die Ueberreſte, die vierte aber die
Quotienten vor, wenn die fuͤrgegebene Zahl 65247
durch die Zahlen der erſten Columne getheilet wird.
Um die zweyte Columne durch eine bloße Addition zu
berechnen, kann man leicht ſehen, daß die Differen-
zen ihrer Zahlen eine arithmetiſche Progreßion aus-
machen, welche in der dritten Columne bis zu der
Stelle
[511]Das Zahlengebaͤude.
Stelle *, 1, 3, 5, 7, 9, 11 iſt, von da an aber bis zu
der Stelle ** ſich in 14, 16, 18 ...... 32 verwandelt,
und von da an 35, 37, 39 ꝛc. wird, bis wiederum eine
Subtraction muß vorgenommen werden, welches wir
aber hier nicht weiter fortſetzen, weil wir es Kuͤrze
halber bey dem erſten Theiler 239, der bey ** vor-
koͤmmt, bewenden laſſen.


§. 876.


Um aber wiederum zu der Betrachtung des Zah-
lengebaͤudes zuruͤcke zu kehren, ſo merken wir an, daß
man ſehr viele Eigenſchaften von Zahlen gefunden,
die ſich oͤfters nur darauf gruͤnden, daß wir von 1 bis
auf 10 zaͤhlen, und folglich entweder ſchlechthin nur
deswegen wahr ſind, oder, wenn man ein anderes
Zahlengebaͤude haͤtte, etwas geaͤndert werden muͤß-
ten. Um ſolche Unterſuchungen anzuſtellen, muß
man eine allgemeine Formel von jeden Zahlengebaͤu-
den zum Grunde legen, und dieſes iſt nun ſeit der
Erfindung der Algeber moͤglich. Die Frage koͤmmt
nur darauf an, nach welchen Grundregeln man es
allgemeiner machen ſolle. Wir werden hiebey ſtuf-
fenweiſe gehen, und anſtatt der Progreßion 1, 10,
100, 1000 ꝛc. jede Progreßion a, a^2, a^3, a^4 ꝛc. anneh-
men, doch ſo, daß a eine ganze Zahl, und die Coef-
ficienten m, n, p, q, r ꝛc. ebenfalls ganze Zahlen
und kleiner als a ſeyn. Auf dieſe Art ſtellet
b = m + na + pa^2 + qa^3 + ra^4 + ꝛc.
jede ganze Zahl nach jedem Zahlengebaͤude vor. Da
dieſe Formel im eigentlichſten Verſtande nun das iſt,
was man in der Algeber eine Gleichung von 1, 2, 3,
4 ꝛc. Grade nennet, ſo laſſen ſich dabey alle Saͤtze
anwenden, die man in Abſicht auf ſolche Gleichungen
bereits
[512]XXXI. Hauptſtuͤck.
bereits gefunden, zumal wenn man hier den Fall
nimmt, wo b, a, m, n, p, q, r ꝛc. ganze Zahlen
ſind. Bey den gemeinen Zahlen iſt a = 10, bey der
leibnitziſchen Dyadic iſt a = 2, bey der aſtronomiſchen
Sexageſimalrechnung iſt a = 60, oder auch umge-
kehrt a = \frac {1}{60},\frac {1} {2}, \frac {1}{10}, je nachdem man ganze Zah-
len oder Bruͤche berechnet. Da ferners angefuͤhrte
Formel eine Gleichung vorſtellt, ſo kann von den
Buchſtaben oder Zahlen b, a, m, n, p ꝛc. eine ver-
mittelſt der uͤbrigen gefunden werden, und beſonders,
wenn a geſucht wird, ſo hieße dieſes ſo viel als, das
Zahlengebaͤude finden, bey welchem die Gleichung
ſtatt haben kann. Jn der Algeber aber und in der
angewandten Mathematic, heißt dieſe Aufgabe, die
Gleichung aufloͤſen, oder deren Wurzeln finden. Da
wir aber dieſe Formel hier in Abſicht auf das Zahlen-
gebaͤude betrachten, ſo werden wir nun Beyſpielsweiſe
einige Faͤlle anfuͤhren. Man dividire die Zahl

λλ - 1λ - 2λ - 3
ka + ma+ na+ pa+ ꝛc.


durch a - μ, ſo iſt der Quotient

λ - 1λ - 22 λ - 33 λ - 4
ka+ μka+ μka+ μka+ ꝛc.
+ m .....+ .....+ 2 ....+ ꝛc.
+ n .....+ ....+ ꝛc.
+ p ....+ ꝛc.
+ ꝛc.


Wird in dieſem Quotienten jede beliebige Columne
mit a multiplicirt, ſo ſtellt ſie den Ueberreſt vor,
welcher um dieſe Columne in den Quotienten zu brin-
gen, noch ferners zu dividiren ware. Ferner kom-
men in jeder Columne die erſten Glieder der Pro-
greßion
[513]Das Zahlengebaͤude.
greſſion 1, μ, μ2, μ3 ꝛc. vor, welche in umgekehrter
Ordnung mit den Coefficienten k, m, n, p ꝛc. mul-
tiplicirt ſind. Hoͤret nun die fuͤrgegebene Reihe mit
paλ - 3 auf, ſo iſt der Ueberreſt (= μ3k + μ2m + μn + p)
aλ - 3. Jſt nun dieſer durch a - μ theilbar, ſo iſt
auch die ganze fuͤrgegebene Zahl durch a - μ theilbar,
weil ſich das uͤbrige bis auf dieſen Ueberreſt theilen
ließe. Dahin gehoͤren nun folgende Beyſpiele.


  • I°. Man will ſehen, ob ſich 8748 durch 9 theilen
    laſſe? Hier iſt nun a - μ = 9. Man ſetze a = 10,
    ſo iſt μ = 1, k = 8, m = 7, n = 4, p = 8,
    folglich k + m + n + p = 27. Da nun \frac {27}{9} = 3,
    ſo laͤßt ſich auch 8748 durch 9 theilen.
  • II°. Man will finden, ob 518368 durch 97 theil-
    bar ſey. Hier iſt a - μ = 97. Man ſetze a = 100,
    ſo iſt μ = 3, folglich k = 51, m = 83, n = 68,
    p = 0. Demnach
    1. 68 = 68
    3. 83 = 89
    9. 51 = 459
    776

    Dieſe Summe ſoll durch 97 theilbar ſeyn.
    Demnach iſt wiederum k = 7, m = 76, folglich
    1\cdot76 = 76
    3\cdot7 = 21
    97
    Da nun hier 97 heraus koͤmmt, ſo iſt auch
    518368 durch 97 theilbar.
  • III°. Man will finden, ob ſich 34°, 15′, 8″ durch 58
    theilen laſſe? Hier iſt a = 60, a - μ = 58,
    Lamb. Archit.II.B. K kfolg-
    [514]XXXI. Hauptſtuͤck.
    folglich μ = 2, 34 = k, 15 = m, 8 = n,
    demnach
    • 1. 8 = 8
    • 2. 15 = 30
    • 4. 34 = 136
    • 174

    Nun iſt \frac {174}{58} = 3, folglich iſt 34°, 15′, 8″ durch
    58 theilbar.

§. 877.


Wenn in einem jeden Zahlengebaͤude die Zahl
b = m + na + pa^2 + qa^3 + ꝛc.
vorgegeben, und die Progreſſionszahl a ſich durch m
theilen laͤßt, ſo laͤßt ſich auch die ganze Zahl b durch m
theilen. Denn der Quotient iſt
\frac {b}{m}= 1 + (n + pa + qa^2 + ꝛc.) \frac {a}{m}
Bey dem gemeinen Zahlengebaͤude iſt a = 10, folg-
lich ſind nur die Zahlen 2 und 5 von der Art, daß,
wenn z. E. 5 die letzte Zifer einer Zahl iſt, wie z. E.
in 475 die ganze Zahl durch 5 getheilet werden kann.
Bey dem Sexageſimalzahlengebaͤude, wo a = 60 iſt,
giebt es ſolcher Zahlen mehrere, naͤmlich 2, 3, 4, 5,
6, 10, 12, 15, 20, 30. Auf dieſe Art laͤßt ſich z. E.
49°, 37′, 48″
durch 2, 3, 4, 6, 12 theilen, bloß weil 48″ ſich dadurch
theilen laͤßt.


§. 878.


Bey einem jeden Zahlengebaͤude ſind die letzten Zi-
fern der Quadratzahlen nicht jede moͤgliche, ſondern
hoͤchſtens nur halb ſo viel, als die Progreſſionszahl a,
Einheiten hat. Denn die letzte Zifer einer Zahl iſt
entweder
[515]Das Zahlengebaͤude.
entweder groͤßer oder kleiner als\nicefrac {1} {2}a. Man ſetze fuͤr
den letzten Fall m, fuͤr den erſten a - m, ſo iſt das
Quadrat
im letzen Falle + mm,
im erſten a2 - 2ma + mm.

Es mag nun mm groͤßer oder kleiner als a ſeyn, ſo
bleibt die letzte Zifer des Quadrates in beyden Faͤllen
einerley. Demnach ſind an der letzten Stelle einer
Quadratzahl nur halb ſo viel Zifern moͤglich, als a
Einheiten hat. Jſt aber a eine gerade Zahl ſo er-
haͤlt man eine Zifer mehr. So z. E. ſind bey dem
gemeinen Zahlengebaͤude, wo a = 10 iſt, die letzten
Zifern aller Quadratzahlen 0, 1, 4, 5, 6, 9. Laͤßt
ſich a durch 4 theilen, ſo werden die moͤglichen En-
dungen der Quadratzahlen auf den ¼ Theil von a her-
unter geſetzt. Man ſetze a = 4b, ſo iſt\nicefrac {1} {2}a = 2b,
folglich das Quadrat \nicefrac {1} {4}aa = 4bb = ab. Da nun die-
ſes durch a theilbar iſt, ſo gehoͤret es nicht mehr zu
der letzten Stelle. Demnach faͤngt nach\nicefrac {1} {2}a die Ord-
nung der letzten Zifern der Quadratzahlen von neuem
an, wie ſie nach 1 war. Da nun dieſe Ordnung
von a gegen \frac {1} {2}a ruͤckwaͤrts eben die iſt, wie von 1 ge-
gen\nicefrac {1} {2}a, ſo iſt ſie von 1 gegen ¼a, und von\nicefrac {1} {2}a ge-
gen \nicefrac {3} {4}a, wie ſie ruͤckwaͤrts von \frac {1} {2}a gegen 1, und von a
gegen ¾a iſt. Demnach ſind hoͤchſtens nur ſo viel
Endungen moͤglich, als in ¼a Einheiten ſind. So
z. E. bey dem Sexageſimalzahlengebaͤude iſt a = 60,
und folglich durch 4 theilbar. Da ſind die letzten
Stellen der Quadratzahlen von 1 bis auf 15 folgende
1, 4, 9, 16, 25, 36, 49, 4, 21, 40, 1, 24, 49, 16, 45.
und eben ſo auch von 31 bis auf 45. Hingegen von 15
bis 30, und von 45 bis 60, ſind ſie in umgekehrter
Ordnung
45, 16, 49, 24, 1, 40, 21, 4, 49, 36, 25, 16, 9, 4, 1, 0
K k 2Hier
[516]XXXI. Hauptſtuͤck.
Hier kommen nun noch einige Zahlen doppelt vor.
Demnach, ſind in allem nur zwoͤlf Endungen
0, 1, 4, 9, 16, 21, 24, 25, 36, 40, 45, 49.
Man kann daher, wenn man z. E.
37°, 16′, 26″
vor ſich hat, ſicher ſchließen, daß dieſes keine Qua-
dratzahl iſt, weil die letzte Stelle 27″ unter den erſt
angefuͤhrten zwoͤlf Endungen nicht vorkoͤmmt. Setzet
man a = 80, ſo finden ſich ebenfalls nur zwoͤlf ſolcher
Endungen, naͤmlich
0, 1, 4, 9, 16, 20, 25, 36, 41, 49, 64, 65.
Setzet man aber a = 100, ſo ſind zwey und zwanzig
Endungen, naͤmlich

14169
21243629
4144255649
61647669
81849689


Wenn man demnach eine Zahl durch 60, 80, 100
dividirt, und findet die Ueberreſte unter dieſen En-
dungen, ſo iſt es ſehr vermuthlich, daß ſie eine Qua-
dratzahl ſey.


§. 879.


Wenn bey jedem Zahlengebaͤude die Reihe
b = m + na + pa^2 + ma^3 + na^4 + pa^5 + ma^6 + ꝛc.
unendlich fortgeht, ſo daß die Coefficienten m, n, p
immer in der Ordnung widerkehren und keine Stelle
leer bleibt, ſo laͤßt ſich b durch den rationalen Bruch
\frac {m + na + pa^2}{1 - a^3}
ausdruͤcken. Denn dividirt man dieſen Bruch, ſo
koͤmmt die fuͤrgegebene Reihe heraus. Dieſes ma-
chet,
[517]Das Zahlengebaͤude.
chet, daß bey dem gemeinen Zahlengebaͤude alle De-
cimalreihen, in welchen einerley Zifern in eben der
Ordnung widerkehren, wie z. E.
0, 35493549354935 ꝛc.
einen rationalen Bruch vorſtellen, welchen man fin-
det, wenn man unter die Zahlen 3549 eben ſo viele 9
ſchreibt. Denn ſo iſt
\frac {3549}{9999} = \frac {1183}{3333} = 0, 3549354935 ꝛc.
Eben dieſes findet ſich bey dem Sexageſimalzahlen-
gebaͤude. So z. E. iſt
\frac {5}{7} Gr. = 42′, 51″, 25‴, 42′v, 51v, 25v', 42v'', ꝛc.
= \frac {42^\prime, 51^{\prime\prime}, 25^{\prime\prime\prime}}{59^\prime, 59^{\prime\prime}, 59^{\prime\prime\prime}}.


§. 880.


Der Bruch \frac {1}{(1 - a)^2} giebt die Reihe 1 + 2a +
3a^2 + 4a^3 + ꝛc. Hieraus laͤßt ſich erlaͤutern, warum
bey dem gemeinen Zahlengebaͤude
\frac {1}{81} = 0, 0123456790123456790123 ꝛc.
iſt. Denn \frac {1}{81} iſt = \frac {1}{(10 - 1)^2}.


§. 881.


Hingegen koͤmmt bey denen Reihen, welche irra-
tionale Groͤßen, z. E. [√]2, [∛]5, ꝛc. vorſtellen, kei-
ne ſolche periodiſche Widerkehr bey keinem Zahlen-
gebaͤude vor, es ſey denn, daß entweder die Einheit,
ſo dabey zum Grunde liegt, oder die Progreſſions-
zahl a eine ſolche Jrrationalgroͤße ſey. Wo dieſes
K k 3nicht
[518]XXXI. Hauptſtuͤck.
nicht iſt, da wird bey jedem Zahlengebaͤude jede pe-
riodiſche Reihe einen rationalen Bruch vorſtellen,
weil ſie ſich in einen ſolchen verwandeln laͤßt.


§. 882.


Wir werden nun von der Vorausſetzung, daß
(§. 876.) a, b, m, n, p, q, r ganze Zahlen ſeyn muͤſ-
ſen, abgehen, um den Begriff des Zahlengebaͤudes
allgemeiner zu machen. Dabey beut ſich nun ſogleich
die Anmerkung an, daß ungeachtet alle Dignitaͤten
von 1 ebenfalls 1 ſind, dieſes dennoch nicht immer ſo
gleichguͤltig koͤnne genommen werden. Die Reihe
- log (1 - a) = a +\frac {1} {2}a^2 + \frac {1}{3}a^3 + \frac {1}{4}a^4 + \frac {1}{5}a^5 + ꝛc.
giebt uns ein merkwuͤrdiges Beyſpiel hievon. Denn
wird darinn a = 1 geſetzt, ſo iſt die Summe derſelben
- \log (1 - 1) = 1 +\frac {1} {2} + \frac {1}{3} + \frac {1}{4} + \frac {1}{5} + \frac {1}{6} + ꝛc.
unendlich, oder der Logarithmus von 0. Zieht man
nun, uͤberhaupt betrachtet, dieſe Reihe von ſich ſelbſt
ab, ſo bleibt 0. Auf dieſe Art findet man z. E.
1 +\frac {1} {2} + \frac {1}{3} + \frac {1}{4} + \frac {1}{5} + ꝛc.
- 1 -\frac {1} {2} - \frac {1}{3} - \frac {1}{4} - ꝛc./0 = 1 -\frac {1} {2} - \frac {1}{6} - \frac {1}{12} - \frac {1}{20} - ꝛc.

folglich
1 =\frac {1} {2} + \frac {1}{2 \cdot 3} + \frac {1}{3 \cdot 4} + \frac {1}{4 \cdot 5} + ꝛc.
Werden aber die Glieder ſprungsweiſe abgezogen,
z. E.
1 +\frac {1} {2} + \frac {1}{3} + \frac {1}{4} + \frac {1}{5} + \frac {1}{6} \frac {1}{7} + \frac {1}{8} + ꝛc.
- 1 -\frac {1} {2} - \frac {1}{3} - \frac {1}{4} - ꝛc.
ſo bleibt 1 -\frac {1} {2} - \frac {1}{3} + \frac {1}{4} - \frac {1}{5} + ꝛc.

welche
[519]Das Zahlengebaͤude.
welche Reihe nun nicht mehr = 0, ſondern der Lo-
garithmus
von 2 iſt. Eben ſo
1 +\frac {1} {2} + \frac {1}{3} + \frac {1}{4} + \frac {1}{5} + \frac {1}{6}\frac {1}{7} + ꝛc.
- 1 -\frac {1} {2} - ꝛc.
giebt 1 +\frac {1} {2} - \frac {1}{3} + \frac {1}{4} + \frac {1}{5} - \frac {2}{6} + \frac {1}{7} + ꝛc.

oder
1 + \frac {1}{2 \cdot 3}- \frac {1}{3 \cdot 4} + \frac {1}{5 \cdot 6} - \frac {1}{6 \cdot 7} + ꝛc.
welches der Logarithmus von 3 iſt. Denn bey ſol-
chen Verſetzungen iſt die erſte Reihe = - \log (1 - a),
die andere aber = \log (1 - a^n), und folglich die Dif-
ferenz von beyden = \log (\frac {1 - a^n}{1 - a}) = \log (1 + a + a^2
+ a^3 + ..... + a^n-1)
Man wird auf eine aͤhnliche Art
1 + \frac {1}{3} + \frac {1}{5} + \frac {1}{7} + \frac {1}{9} + \frac {1}{11} + \frac {1}{13} + \frac {1}{15} + ꝛc.
- 1 - \frac {1}{3} - \frac {1}{5} - ꝛc./1 - \frac {2}{3} + \frac {1}{5} + \frac {1}{7} - \frac {2}{9} + \frac {1}{11} + \frac {1}{13} - \frac {2}{15} + \frac {1}{17} + ꝛc.
oder
\frac {2}{1 \cdot 3} - \frac {2}{3 \cdot 5} + \frac {2}{7 \cdot 9} - \frac {2}{9 \cdot 11} + \frac {2}{11 \cdot 13} - ꝛc.
finden, welche Reihe dem \frac {1} {2} \log 3 gleich iſt. Man
muß daher ſolche Reihen in der That ſo betrachten,
als wenn ſie mit den Dignitaͤten von 1 multiplicirt
waͤren, damit man die Glieder derſelben, ſo man
auf dieſe Art ſprungsweiſe von einander abzieht, in
Abſicht auf dieſe Dignitaͤten als gleichartig anſehen
koͤnne.


§. 883.


Ungeachtet ſich nun jede Groͤße nach jedem Zahlen-
gebaͤude vorſtellen laͤßt, ſo iſt doch mehrentheils eines
ſchicklicher als das andere. Man ſieht daher, beſon-
K k 4ders,
[520]XXXI. Hauptſtuͤck.
ders, wo unendliche Reihen vorkommen, darauf,
daß ſie ſtaͤrker convergiren, und daß die Coefficien-
ten nach einem einfachen Geſetze auf einander folgen,
oder eine locale Ordnung unter ſich beobachten, da-
mit man die Reihe leicht fortſetzen koͤnne. Es iſt
unnoͤthig hier, viele Beyſpiele davon anzubringen,
zumal, da man in der Algeber, in Abſicht auf die
Gleichungen und unendliche Reihen, andere Namen
gebraucht, weil man nicht aus der Betrachtung des
Zahlengebaͤudes, ſondern aus Aufgaben, welche man
aufzuloͤſen hatte, darauf verfallen, mit den Glei-
chungen vielerley Aenderungen vorzunehmen, die
Summe von unendlichen Reihen zu ſuchen, und die
Reihen in andere zu verwandeln.


§. 884.


Wir haben bisher angenommen, daß bey einem
Zahlengebaͤude eine geometriſche Progreſſion zum
Grunde liegen muͤſſe, wie es in der That die einfachſte
Geſtalt deſſelben mit ſich bringt. Nimmt man aber
ſtatt der Producte a, a^2, a^3, a^4, a^5 ꝛc. ungleiche
Producte a, ab, abc ꝛc. an, ſo verfaͤllt man auf ein
weniger regelmaͤßiges Zahlengebaͤude, dergleichen
z. E. bey den Muͤnzſorten vorkommen, wie, wenn
ein Pfund zu 20 Schilling, und 1 Schilling zu 12
Pfenning gerechnet wird, wozu wiederum ganz be-
ſondere Einmaleins erfordert werden, die man zum
Behuf derer, ſo nicht ſo weit im Rechnen gekommen
ſind, bereits hin und wieder findet. Es giebt aber
auch Syſtemata von Zahlen, wo nicht Producte, ſon-
dern Summen und Differenzen vorkommen. Von
dieſen ſind nun die ſogenannten figurirte Zahlen die
brauchbarſten, weil ſie in der Lehre von den Combi-
nationen und Permutationen von ſehr haͤufigem Ge-
brauche
[521]Das Zahlengebaͤude.
brauche ſind, und außer dem viele merkwuͤrdige Ei-
genſchaften haben, die in der BernoulliſchenArte
coniectandi
großentheils angegeben ſind. Sie ſind
auch zugleich die Grundlage zur Erfindung jeder an-
dern Summen, welche durch fortgeſetztes Addiren
von fuͤrgegebenen Zahlen gefunden werden, und in
dieſer Abſicht werden ſie zum Jnterpoliren gebraucht.



Zwey und dreyßigſtes Hauptſtuͤck.
Vorſtellung der Groͤßen durch Figuren.


§. 885.


Man ſtellet bald alle Groͤßen durch Figuren vor,
und dieſes geſchieht, theils um ſie gleichſam
ſichtbar zu machen, theils auch weil ſich die Lehr-
ſaͤtze der Geometrie dabey anwenden laſſen. Da-
durch werden die Figuren gleichſam in Zeichen ver-
wandelt, und die dabey gezogenen Linien erhalten
eine Bedeutung. Ungeachtet nun der Raum nur
drey Dimenſionen hat, und von dieſen, weil man
die Figuren auf Flaͤchen zeichnet, mehrentheils nur
zwo gebraucht werden, ſo hat man doch Mittel ge-
funden, dieſem Mangel in vielen Faͤllen abzuhelfen,
und dazu ſind beſonders die krummen Linien gewaͤhlet
worden, zumal, da man vermittelſt derſelben die
Verhaͤltniß zwiſchen zwoen veraͤnderlichen Groͤßen
gleichſam vor Augen malen kann, weil man die eine
derſelben durch die Abſciſſen, die andere aber durch
die Ordinaten einer krummen Linie vorſtellet. Da-
bey erhaͤlt nun mehrentheils die Lage der Tangenten,
K k 5die
[522]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
die Subtangente, der Halbmeſſer des Kruͤmmungs-
kreiſes, der Flaͤchenraum ꝛc. eine Bedeutung, welche
ſich auf die Geſetze der Veraͤnderungen der beyden
Groͤßen beziehen, die durch die Abſciſſen und Ordi-
naten, und zuweilen auch durch den Raum vorge-
ſtellet werden.


§. 886.


Um hieruͤber nun einige allgemeinere Betrachtun-
gen anzuſtellen, ſo hat man zwar die krummen Linien
ſchon haͤufig in Claſſen getheilet. Man hat aber bey
ſolchen Eintheilungen die Gleichungen zum Grunde
geleget, wodurch die Verhaͤltniß zwiſchen den Ordi-
naten und Abſciſſen ausgedruͤcket wird. Die allge-
meinen Formeln dieſer Claſſen ſind


  • I°. 0 = x + ay + b.
  • II°.0 = x + ay + bxy + cx^2 + dy^2 + e.
  • III°.0 = x + ay + bxy + cx^2 + dy^2 + exy^2
    + fyx^2 + gx^3 + hy^3 + k. ꝛc.
  • ꝛc.

Von dieſen Claſſen hat man nun geſuchet, die beſon-
dern Arten, die darunter begriffen ſind, abzuzaͤhlen.
Man iſt aber noch nicht bis uͤber die dritte gekom-
men, und auch bey dieſer geht Herr Euler von
Newton, in Abſicht auf die Gruͤnde zur Einthei-
lung ab, in dem er einfachere und zum Theil auch
kenntlichere Gruͤnde aufſuchet. Man ſehe hieruͤber
den zweyten Theil von ſeiner Analyſi infinitorum.
Wir koͤnnen dabey uͤberhaupt ſo viel anmerken, daß
man mit ſolchen Eintheilungen nicht viel ausrich-
tet, weil die krummen Linien auf eine viel zu viel-
fache Art an einander graͤnzen. Es giebt Faͤlle, wo
man eine gerade Linie als eine Parabel, Hyperbel,
Ellipſe
[523]der Groͤßen durch Figuren.
Ellipſe anſehen muß, wie z. E. wenn man den para-
boliſchen, hyperboliſchen, elliptiſchen Fall eines Koͤr-
pers in die Sonne berechnet, um dadurch einen
Maaßſtab zu jeden andern Bewegungen der Welt-
koͤrper um die Sonne zu haben, (§. 746.). So iſt
die Gleichung
x = \sqrt (a + byy + cy^3)
uͤberhaupt vom dritten Grade. Sie ſtellet einen all-
gemeinen Fall vor, wo fuͤr jeden einzeln darunter
begriffenen Fall die Coefficienten a, b, c beſonders
beſtimmet werden muͤſſen. Unter dieſe gehoͤret nun
allerdings derjenige auch mit, wo c = 0 iſt. Fuͤr dieſen
Fall wird die Formel eine Gleichung vom zweyten
Grade, und wenn uͤberdieß noch a = 0 wird, ſo ſtellet
ſie eine gerade Linie vor. So kann eben dieſe For-
mel nur als ein ſpecialer Fall zu einer noch viel allge-
meinern gehoͤren, welche irgend anwendbar iſt. Wir
ziehen hieraus uͤberhaupt die Folge, daß die Ein-
theilung der krummen Linien den verſchiedenen Gra-
den nach, nicht ſo weſentlich ſey, daß nicht ſolche,
die von verſchiedenen Graden ſind, in Abſicht auf
die Sache, die ſie vorſtellen, zuſammen gehoͤren
koͤnnten.


§. 887.


Jndeſſen koͤnnen wir hiebey anmerken, daß
Herr Euler ſolche Gruͤnde zur Eintheilung genom-
men, die viel Weſentliches haben, wenn wir auf die
Sache ſehen, die dadurch koͤnnen vorgeſtellet werden.
Denn da ſtellet man ſich die Geſetze, nach welchen
die beyden mit einander verglichenen Groͤßen ſich ver-
aͤndern, auf eine kenntlichere Art vor, wenn man
weiß, ob eine krumme Linie in ſich ſelbſt zuruͤ-
cke kehre, ob ſie Aeſte habe, die bis ins Un-

endliche
[524]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
endliche hinaus laufen, oder ob ſie zwiſchen
zweyen Puncten liege, und ſich uͤber dieſelbe
nicht ausdehne, ob ein oder mehrere
Maxima
oderMinimadabey vorkommen, ob ſie einen
oder mehrere Wendungspuncte habe, ob der
Halbmeſſer des Kruͤmmungskreiſes irgend = 0
werde, ob die Linie aus abgebrochenen Stuͤ-
cken beſtehe, ob ſie ſich in Form von Spira-
len um einen Punct wende, ob ſie Aſymtoten
habe, ob dabey eine ſolche Axe vorkomme, wo
die auf beyden Seiten derſelben liegende Theile
einander aͤhnlich bleiben, wie die Abſciſſen und
Ordinaten ſollen genommen werden, damit die
einfachſte Gleichung zwiſchen denſelben ſtatt
finde,
ꝛc. Dieſes ſind nun Symptomata von krum-
men Linien, die, wo ſie vorkommen, gewiſſe Be-
dingungen
voraus ſetzen, und Kennzeichen ange-
ben, woran ſie ſich erkennen laſſen.


§. 888.


Das erſte, was wir nun hiebey anmerken koͤnnen,
betrifft die Gleichguͤltigkeit der Ordinaten und Ab-
ſciſſen, wenn dieſe naͤmlich verwechſelt werden koͤnnen.
Dieſes kann man nun mehrentheils den Gleichungen
anſehen. Denn ſo z. E. iſt es in den Formeln
ax^2 + ay^2 = b
ax^2 + bxy + ay^2 = c
ax^3 + bx^2y + cxy + bxy^2 + ay^3 = d
ꝛc.
gleich viel, ob man x oder y nehme, und eben ſo
haͤngt auch in den Formeln
x = \sqrt (ay^2 + byz + az^2)
x^3 = ay + byz + az
ꝛc.
die
[525]der Groͤßen durch Figuren.
die Groͤße x von den Groͤßen y, z auf eine gleichguͤl-
tige Art ab, und y, z laſſen ſich dabey verwechſeln.
Was man demnach fuͤr y findet, wenn z beſtaͤndig
bleibt, iſt auch fuͤr z gefunden, wenn y beſtaͤndig
bleibt. Man hat bey Rechnungen auf ſolche Faͤlle,
wo ſie vorkommen, zu ſehen, weil ſie immer eine be-
ſondere Schicklichkeit und Eleganz haben.


§. 889.


Sodann merken wir an, daß, wenn man die vor-
hin angefuͤhrten Symptomata der krummen Linien in
einem fuͤrgegebenen Fall finden will, man immer die
Gleichung ſo einrichtet, daß
y = A + φ x
ſey, wobey φ x eine jede Function von x vorſtellet.
Da wir hier y, x als die Groͤßen anſehen, zwiſchen
welchen die Verhaͤltniß und das Geſetz der Veraͤnde-
rung kenntlich gemacht werden ſolle, ſo werden wir x
als eine Abſciſſe, y als die dazu gehoͤrende Ordinate
anſehen, und uns die krumme Linie als ſchon gezogen
vorſtellen. Hiebey werden wir nun x = P + ζ, und
y = Q + η ſetzen, dergeſtalt, daß wenn x = P wird,
zugleich auch y = Q werde, das will ſagen, ζ und η
zugleich anfangen. Daraus laſſen ſich nun folgende
Symptomata der krummen Linie uͤberhaupt betrach-
tet herleiten.


§. 890.


Einmal, wenn die Abſciſſe P da genommen wird,
wo Q ein Maximum oder Minimum iſt, da hat die
Gleichung zwiſchen ζ und η folgende Form
± \eta = a\zeta^2 + b\zeta^3 + c\zeta^4 + ꝛc.
Denn η wird zugleich mit \zeta, = 0. Demnach faͤllt
in dieſer Formel die beſtaͤndige Groͤße, welche ſonſt
dabey
[526]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
dabey ſeyn kann, weg. Ferners wird, wo Q ein
Maximum oder Minimum iſt, ζ zugleich mit ζ groͤ-
ßer, man mag ζ poſitiv oder negativ nehmen. Die-
ſes wuͤrde nicht geſchehen, wenn das Glied mit
in dieſer Formel waͤre, weil dieſes Glied mit ζ poſi-
tiv und negativ wird, und weil ζ immer ſo klein an-
genommen werden kann, daß m\zeta \> a\zeta^2 iſt. Dem-
nach kann in dieſer Formel nicht vorkommen,
und ſo muß dieſelbe wenigſtens bey a\zeta^2 anfangen.
Koͤmmt aber in dem fuͤrgegebenen Fall a\zeta^2 vor, ſo
kann auch b\zeta^3 vorkommen, ungeachtet dieſes Glied
mit ζ poſitiv und negativ wird. Denn ζ kann im-
mer ſo klein angenommen werden, daß 2 \> bζ3 iſt,
und unter dieſer Bedingung hat das Maximum oder
Minimum ſtatt. Trifft es ſich aber zu, daß in dem
fuͤrgegebenen Fall a = 0 iſt, ſo muß auch b = 0 ſeyn,
weil aus gleichen Gruͤnden Q nicht ein Maximum oder
Minimum ſeyn kann, es ſey denn, daß die Formel
± y = a\zeta^2 + b\zeta^3 + c\zeta^4 + ꝛc.
mit einer geraden Dimenſion anfange, oder die nie-
drigſte Dimenſion des ζ gerade ſey. Faͤllt nun in ei-
nem fuͤrgegebenen Fall dieſe Formel ſo aus, daß lau-
ter gerade Dimenſionen
± y = a\zeta^2 + c\zeta^4 + d\zeta^6 + ꝛc.
darinn vorkommen, ſo iſt die Ordinate Q nicht nur
ein Maximum, ſondern die krumme Linie iſt ſich auf
beyden Seiten dieſer Ordinate aͤhnlich, und hinwie-
derum, wo dieſes letztere vorkoͤmmt, da hat auch
eine ſolche Formel ſtatt. Hingegen weicht die krum-
me Linie von dieſer Aehnlichkeit nothwendig ab, wo
± y = a\zeta^2 + b\zeta^3 + c\zeta^4 + d\zeta^5 + ꝛc.
iſt,
[527]der Groͤßen durch Figuren.
iſt, und zwar wird dieſe Abweichung deſto naͤher bey
dem Punct, wo das Maximum oder Minimum vor-
koͤmmt, merklich, je groͤßer die Coefficienten b, d ꝛc.
in Abſicht auf die Coefficienten a, c ſind. Uebrigens
iſt hiebey anzumerken, daß der Begriff eines Maxi-
mi
und Minimi etwas relatives hat, weil daſſelbe von
der Lage derjenigen Linie abhaͤngt, auf welcher die Ab-
ſciſſen genommen werden. Je nachdem dieſe Lage
geaͤndert wird, faͤllt auch das Maximum oder Mini-
mum
auf andere Puncte der krummen Linie, naͤm-
lich immer auf ſolche, wo die Tangenten mit der Ab-
ſciſſenlinie parallel ſind. Es kann daher Faͤlle geben,
wo bey einer und eben derſelben krummen Linie bald
von mehrern bald auch von gar keinem Maximo die
Rede iſt. Hingegen ſind bey jeder krummen Linie
ſolche Lagen der Abſciſſen moͤglich, wo wenigſtens ein
Maximum oder Minimum vorkoͤmmt.


§. 891.


Das Maximum und Minimum hat demnach nichts,
das ſich an der krummen Linie unterſcheiden ließe,
wenn man nicht eine Abſciſſenlinie dabey zum Grun-
de legt. Hingegen hat es mit den Wendungspuncten
eine andere Bewandniß, weil dieſe die Kruͤmmung und
folglich das Weſentliche der krummen Linie betreffen.
Man ſetze, die Abſciſſe P falle dahin, wo die Ordi-
nate Q in den Wendungspunct trifft, ſo wird die
Gleichung zwiſchen ζ und η folgende Form haben.
± \eta = a\zeta + b\zeta^3 + c\zeta^4 + d\zeta^5 + ꝛc.
Denn η wird zugleich mit ζ = 0. Demnach faͤllt eben
ſo, wie vorhin, (§. 890.) die beſtaͤndige Groͤße aus
dieſer Formel weg. Sodann bleibt in allen de-
nen Faͤllen, wo die krumme Linie in dem Wendungs-
punct
[528]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
punct mit der Abſciſſenlinie nicht parallel laͤuft. Die-
ſes Glied aber giebt der Linie keine Kruͤmmung, un-
geachtet es die, ſo von den uͤbrigen Gliedern entſteht,
in eine andere und gleichſam verzogene Lage bringen
kann. Ferners kann in dieſer Formel das Glied 2
nicht vorkommen, weil es poſitiv bleibt, man mag
ζ poſitiv oder negativ annehmen, und weil ζ ſo klein
genommen werden kann, daß 2 \> bζ3 ſeyn wuͤr-
de. Dieſes aber wuͤrde machen, daß ſich die Kruͤm-
mung der Linie nicht von dem Punct Q an, wenden
wuͤrde, wie es vermittelſt des Gliedes 3, als wel-
ches mit ζ zugleich poſitiv und negativ wird, geſche-
hen muß. Demnach bleibt m \zeta^2 aus der Formel
nothwendig weg. Wird nun in einem fuͤrgegebenen
Fall auch b = 0, ſo muß aus gleichem Grunde auch
c = 0 werden. Das will nun uͤberhaupt ſagen, daß
in erſt angegebener Formel die niedrigſte Dimenſion
des ζ ungerade ſeyn muß. Kommen nun in einem
fuͤrgegebenen Fall lauter ungerade Dimenſionen
± y = a \zeta + b\zeta^3 + d\zeta^5 + ꝛc.
vor; ſo theilt der Wendungspunct die krumme Linie
dergeſtalt in zwo Haͤlften, die einander durchaus aͤhn-
lich ſind, und nur eine anders gewendete Lage haben.
Muß aber die Formel
± \eta = a\zeta + b\zeta^3 + c\zeta^4 + d\zeta^5 + e\zeta^6 + ꝛc.
ganz beybehalten werden, ſo weicht die krumme Linie
von dieſer Aehnlichkeit deſto ehender ab, je groͤßer die
Coefficienten c, e ꝛc. in Abſicht auf die Coefficienten
b, d ꝛc. ſind.


§. 892.


Nimmt man aber fuͤr die Abſciſſen und Ordinaten
P, Q ſolche an, wo weder ein Maximum oder Mini-
mum,
[529]der Groͤßen durch Figuren.
mum, noch ein Wendungspunct iſt, da kommen in
der Formel
± \eta = a\zeta + b\zeta^2 + c\zeta^3 + d\zeta^4 + e\zeta^5 + ꝛc.
die beyden erſten Glieder nothwendig vor. Denn
ohne das erſte wuͤrde ein Maximum oder Minimum,
ohne das zweyte aber ein Wendungspunct bey P, Q
ſtatt haben (§. 890. 891.). Wir wollen aber in An-
ſehung dieſer Formel noch folgende allgemeine An-
merkung herſetzen. Wenn von den Coefficienten a,
b, c, d, e
ꝛc. einer = 0 iſt, ſo iſt der vorhergehende
ein Maximum oder ein Minimum. Um dieſes zugleich
zu erklaͤren und zu beweiſen, ſo ſetze man ζ = q + x,
ſo verwandelt ſich dieſe Formel in folgende:

  • ± \eta = aq + ax
  • bq^2 + 2bqx + bx^2
  • cq^3 + 3cq^2x + 3cqx^2 + cx^3
  • dq^4 + 4dq^3x + 6dq^2x^2 + 4dqx^3 + dx^4
  • ꝛc.


Demnach ſind die Coefficienten

  • des erſten Gliedes = aq + bq^2 + cq^3 + dq^4 + \&c. = p
  • des zweyten = a + 2bq + 3cq^2 + 4dq^3 + \&c. = p'
  • des dritten = b + 3cq + 6dq^2 + \&c. = p''
  • des vierten = c + 4dq^3 + \&c. = p'''
  • des fuͤnften = d + \&c. = p''''
  • \&c.


Man ſehe nun q als veraͤnderlich an, ſo werden
dieſe Coefficienten ebenfalls groͤßer und kleiner.
Welchen davon man nun = 0 ſetzt, ſo wird das
Differentiale des vorhergehenden ebenfalls = 0,
welches eine Anzeige iſt, daß derſelbe ein Maxi-
Lamb. Archit.II.B. L lmum
[530]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
mum oder Minimum ſey. Denn differentiirt man
alle, ſo findet man

  • dp = p'\cdotdq
  • dp' = 2p''\cdotdq
  • dp'' = 3p''' dq
  • dp''' = 4p'''' dq
  • \&c.


Demnach wird dp mit p', dp' mit p'', dp'' mit p'''
ꝛc. = 0. Wenn demnach in der Formel
± \eta = a\zeta + b\zeta^2 + c\zeta^3 + d\zeta^4 + e\zeta^5 + ꝛc.
einer der Coefficienten = 0 iſt, ſo iſt der Coefficient
des vorhergehenden Gliedes ein Maximum oder ein
Minimum, und die krumme Linie folgt der Kruͤm-
mung, welche dieſes Glied der Formel nach ſich zieht,
am meiſten oder am wenigſten. Man kann auch
hinwiederum hieraus den Schluß machen, daß wenn
η ein Maximum oder ein Minimum ſeyn ſolle, der
Coefficient a = 0 ſeyn muͤſſe. Man kann dieſe An-
merkung noch weiter ausdehnen. Denn ſetzt man dq
beſtaͤndig, ſo iſt

  • ddp = dp'\cdot dq = 2p''\cdot dq^2
  • ddp' = 2dp''\cdot dq = 2 \cdot 3 \cdot p'''\cdot dq^2
  • ddp'' = 2dp'''\cdotdq = 3\cdot4\cdotp''''\cdotdq^2
  • \&c.


Demnach wenn einer der Coefficienten a, b, c, d ꝛc.
= 0 iſt, ſo iſt nicht nur der naͤchſt vorhergehende ein
Maximum oder ein Minimum, ſondern der, ſo die-
ſem vorgeht, hat die Eigenſchaft, die bey einem
Wendungspunct vorkoͤmmt, naͤmlich die geſchwinde-
ſte oder langſamſte Veraͤnderung, oder Zunahm.
Man ſieht demnach auch hieraus wie in der Formel
\eta = ax + cx^3 + dx^4 + ꝛc.
wo
[531]der Groͤßen durch Figuren.
wo bx2 = 0 iſt, der Wendungspunct fuͤr η, und das
Maximum oder Minimum fuͤr a zuſammen treffen,
und ſo auch, daß in den Formeln
\eta = ax + cx^3 + ex^5 + gx^7 + \&c.
\eta = bx^2 + dx^4 + fx^6 + \&c.
die Coefficienten a, c, e, g ꝛc. b, d, f, lauter
Maxima oder Minima ſind, und in der erſtern η ei-
nen Wendungspunct haben. Wir haben aber bereits
vorhin (§. 890. 891.) angemerket, daß die Formeln
nur da vorkommen, wo die auf beyden Seiten der
Ordinate Q liegende Theile der krummen Linie einan-
der durchaus aͤhnlich ſind. Demnach treffen dieſe
Schicklichkeiten auch nur da zuſammen, wo letzteres
ſtatt findet, und folglich nicht nur nicht bey allen krum-
men Linien, ſondern bey denen, wo ſie zuſammen tref-
fen, nur in einigen und oͤfters nur in einem Puncte.
Denn ſo iſt der Circul die einige krumme Linie, bey
welcher alle Diameter gleichguͤltig ſind, und jeder den
Diameter in zwey gleiche und aͤhnliche Theile theilt.
Bey den Ellipſen ſind nur die beyden Axen von dieſer
Art, weil bey den uͤbrigen Diametern, die Stuͤcke
zwar aͤhnlich ſind, aber anders gelegt werden muͤſſen,
um auf einander zu paſſen.


§. 893.


Bey der Formel
\eta = ax + bx^2 + cx^3 + dx^4 + \&c.
zeiget der erſte Coefficient a uͤberhaupt an, wie ſtark
ſich die krumme Linie bey der Ordinate Q gegen die-
ſelbe neigt, und dieſe Neigung behaͤlt ſie deſto laͤn-
ger merklich, je kleiner die Coefficienten a, b, c ꝛc.
ſind. Beſonders wenn b = 0 iſt, ſo behaͤlt die Linie
dieſe Neigung ſehr merklich, weil die Tangente die
L l 2Linie
[532]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
Linie bey dem Wendungspunct unter einem Winkel
durchſchneidet, der kleiner iſt, als jeder, der ſich ge-
denken laͤßt, und weil cx3 vor und nach Q unmerklich
klein bleibt. Wie demnach a uͤberhaupt die Lage der
Linie und ihrer Tangente anzeigt, ſo zeigt hingegen b
die Kruͤmmung derſelben dergeſtalt an, daß, wo b
nicht = 0 iſt, dieſe Kruͤmmung ſich mit der Kruͤm-
mung eines Circuls vergleichen laͤßt, deſſen Halbmeſſer
R = \frac {(1 + aa)^3:2}{2b}
iſt, und folglich mit a zunimmt, und hingegen deſto
kleiner iſt, je groͤßer b iſt. Setzt man nun b ſey = 0,
ſo wird R unendlich, und dieſes will ſagen, die
Kruͤmmung der Linie laſſe ſich mit der Kruͤmmung
eines Circuls nicht vergleichen, und in der That dif-
ferirt ſie davon, wie eine Linie von einer Flaͤche, weil
ſie kleiner iſt, als die von jedem Circul, indeſſen aber
dennoch eine Kruͤmmung iſt, ſo lange die Coefficien-
ten c, d, e ꝛc. nicht = 0 ſind. Man kann aber, wo
die Formel
η = ax + pxn + qxn+1 + \&c.
iſt, die Kruͤmmung der Linie bey Q mit der Kruͤm-
mung einer Linie vergleichen, die durch
z = pxn: (1 + aa)(n + 1):2
vorgeſtellet wird. Es hat aber eine ſolche nicht cir-
culaͤre Kruͤmmung nur bey demjenigen Puncte der
krummen Linie ſtatt, bey welchem die Gleichung
± η = ax + pxn + qxn+1 + \&c.
anfaͤngt, oder wo x = 0 iſt. Denn ſo wenig man
ſich davon entfernt, faͤngt die Kruͤmmung wiederum
an, circulaͤr zu werden, welches leicht daraus erhel-
let,
[533]der Groͤßen durch Figuren.
let, wenn man in dieſer Gleichung x = A + v ſetzet,
und dadurch die Abſciſſe P um die beſtaͤndige Groͤße
A verlaͤngert.


§. 894.


Wir haben in dem vorhergehenden die Abſciſſen
und Ordinaten P, Q dergeſtalt angenommen, daß
dieſelben bey einem Maximo, Minimo, oder Wen-
dungspunct vorkommen. Wir werden nun dieſe Be-
dingungen weglaſſen, und fuͤr P, Q jede Abſciſſe und
Ordinate annehmen, von welcher ζ und η fortgezaͤhlt
werden. Dadurch erhaͤlt die allgemeine Gleichung
zwiſchen ζ und η folgende Form:
\eta = a\zeta + b\zeta^2 + c\zeta^3 + d\zeta^4 + \&c.
Man ſetze nun η = q + x, ſo werden wir die in dem
§. 892. angegebene Formel und Coefficienten haben,
von welchen
der zweyte = a + 2bq + 3cq^2 + 4dq^3 + \&c. = p'
der dritte = b + 3cq + 6dq^2 + \&c. = p''
die Formel aber
\zeta = p + p'x + p''x^2 + p'''x^3 + \&c.
iſt. Soll demnach η ein Maximum werden, ſo muß
p' = o ſeyn, folglich ſetzet man
o = a + 2bq + 3cq^2 + 4dq^3 + \&c.
So viel nun dieſe Gleichung reale Wurzeln hat, ſo
viele Maxima und Minima hat auch die fuͤrgegebene
krumme Linie. Hinwiederum da fuͤr den Wendungs-
punct, p'' = o ſeyn muß, ſo wird ſie auch ſo viele
Wendungspuncte haben, als in der Gleichung
o = b + 3cq + 6dq^2 + \&c.
L l 3reale
[534]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
reale Wurzeln vorkommen. Da nun bey jeder krum-
men Linie, die Maxima und Minima abwechſeln, wenn
ſie in Abſicht auf die angenommene Lage der Abſciſ-
ſenlinie deren mehrere hat, und da zwiſchen zwey auf
einander folgende immer wenigſtens ein Wendungs-
punct faͤllt, ſo laͤßt ſich daraus, wenn p' = o mehrere
reale Wurzeln hat, ſchließen, daß p'' = o ebenfalls ei-
nige haben muͤſſe. Hingegen iſt es leicht moͤglich,
daß dieſe letztere Gleichung mehrere reale Wurzeln
hat, als die erſtere p' = o, weil, wie wir bereits
vorhin (§. 90.) erinnert haben, die Maxima und Mi-
nima
von der Lage der Abſciſſenlinie abhaͤngen, die
Wendungspuncte aber nicht. Der Halbmeſſer des
Kruͤmmungskreiſes iſt dabey uͤberhaupt
R = \frac {(1 + p^\prime \cdot p^\prime)^{3:2}}{2p^{\prime\prime}}
und folglich eben ſo viele male unendlich, als die Glei-
chung p^{\prime\prime} = o Wurzeln hat.


§. 895.


Wenn man bey einem fuͤrgegebenen Fall eine Glei-
chung oder unendliche Reihe von der Form
\eta = a\zeta + b\zeta^2 + c\zeta^3 + d\zeta^4 + \&c.
annimmt, ſo kann man ſich oͤfters aus Betrachtung
der Sache ſelbſt verſichern, wie die Coefficienten a,
b, c, d
ꝛc. beſchaffen, und ob einige davon = o ſeyn
muͤſſen. Denn ſo z. E. wenn man voraus weiß, daß
η einerley ſeyn muͤſſe, man mag ζ poſitiv oder nega-
tiv nehmen, ſo werden nothwendig die geraden oder
die ungeraden Dimenſionen von ζ allein behalten,
und demnach koͤmmt von folgenden Formeln
\eta = a\zeta + c\zeta^3 + e\zeta^5 + \&c.
\eta = b\zeta^2 + d\zeta^4 + f\zeta^6 + \&c.
noth-
[535]der Groͤßen durch Figuren.
nothwendig eine vor, und zwar die erſte, wenn η an-
fangs wie ζ zunimmt, die andere aber, wenn η an-
fangs wie ζ2 zunimmt. Man ſetze z. E. η ſey die
Stralenbrechung, ζ aber der Entfernungsbogen des
Sterns vom Scheitelpunct, oder deſſen Sinus, oder
deſſen Tangente: ſo iſt erſtlich η einerley, man mag
ζ poſitiv oder negativ nehmen. Demnach koͤmmt ei-
ne von dieſen Formeln vor, und zwar die erſte, weil
man weiß, daß in den groͤßern Hoͤhen η in Verhaͤlt-
niß von ζ zunimmt. Vergleicht man nun die erſte
dieſer Formeln mit den Obſervationen, ſo findet ſichs,
daß, wenn fuͤr ζ die Tangente des Entfernungsbo-
gens vom Scheitelpunct genommen wird, die Reihe
am ſtaͤrkſten convergirt. Man wird eben ſo finden,
daß in dieſer Reihe, wo ζ die Tangente iſt, die Zei-
chen + - abwechſeln muͤſſen. Will man hingegen die
Kruͤmmung des horizontalen Lichtſtrals in der Luft
durch eine ſolche Formel beſtimmen, ſo, daß ζ die
gerade horizontale Entfernung, η aber die derſelben
entſprechende Vertiefung des Lichtſtrals vorſtellet, ſo,
daß ζ von dem Punct an gerechnet wird, wo der Licht-
ſtral horizontal iſt, oder die Horizontallinie beruͤhrt:
ſo wird man wiederum η einerley finden, ζ mag poſitiv
oder negativ ſeyn, und da in beyden Faͤllen η abwaͤrts geht
oder poſitiv bleibt, ſo koͤmmt hiebey die zweyte Formel
\eta = b\zeta^2 + d\zeta^4 + f\zeta^6 + \&c.
vor. Vergleicht man dieſe mit den uͤber die Stra-
lenbrechung irdiſcher Gegenſtaͤnde gemachten Obſer-
vationen, ſo findet ſich, daß b nicht = o iſt, ſondern
daß der Halbmeſſer des Kruͤmmungskreiſes, welcher
bey dieſer Formel fuͤr den Anfang der Abſciſſen
R = \frac {1}{2 b}
L l 4iſt
[536]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
iſt (§. 893.), ſiebenmal ſo groß iſt, als der Halb-
meſſer der Erde. Wird dieſer = 1 geſetzt, ſo iſt
7 = \frac {1}{2 b}
b = \frac {1}{14}
Dieſes iſt demnach der erſte Coefficient dieſer Formel,
mit welchem man bey irdiſchen Gegenſtaͤnden ziemlich
ausreicht. Setzet man, daß der Lichtſtral aſymto-
tiſch iſt, ſo werden von den folgenden Coefficienten
nothwendig einige negativ, und es iſt nicht zu zwei-
feln, daß dieſes nicht wechſelsweiſe geſchehe. Da
der Lichtſtral in der Luft keinen Wendungspunct, und
η nur ein Minimum hat, wo naͤmlich ζ = o iſt, ſo
laͤßt ſich daraus ſchließen, daß in den zwoen For-
meln des §. 894.
o = a + 2bq + 3cq^2 + 4dq^3 + \&c.
o = b + 3cq + 6dq^2 + \&c.
welche ſich hier, wegen a = c = e = \&c. = o, in
folgende
o = 2bq + 4dq^3 + \&c.
o = b + 6dq^2 + \&c.
verwandeln, die erſtere, welche fuͤr das Maximum
iſt, nur eine, die andere aber, welche fuͤr den Wen-
dungspunct iſt, gar keine reale Wurzeln hat.


§. 896.


Wir haben dieſe beyden Beyſpiele umſtaͤndlicher
angefuͤhrt, weil daraus erhellet, wie man die allge-
meinen Betrachtungen uͤber die krummen Linien ſehr
gut gebrauchen koͤnne, in vielen Faͤllen die Groͤßen,
ſo in der Natur vorkommen, leichter zu beſtimmen,
und Formeln, die gleichſam bloß analytiſch ſind, auf
eine
[537]der Groͤßen durch Figuren.
eine gegruͤndete und ſchickliche Art dabey anzuwenden.
Denn ſo laſſen ſich, ohne daß man die ſtralenbre-
chende Kraft der Luft und ihre Abnahme in groͤßern
Hoͤhen wiſſe, die Coefficienten der erſtern Formel
\eta = a\zeta + c\zeta^3 + e\zeta^5 + \&c.
unmittelbar aus den beobachteten aſtronomiſchen Re-
fractionen beſtimmen, ohne daß man im geringſten
eine Hypotheſe dabey anzunehmen genoͤthigt ſey.
Wir muͤſſen uͤbrigens hiebey noch anmerken, daß es
nicht immer gleichguͤltig iſt, welche von den beyden
Groͤßen, die man durch ſolche Formeln vorſtellet, als
Abſciſſe und Ordinate angenommen werde. Die Ab-
ſciſſenlinie, das will ſagen, diejenige, worauf man
ζ nimmt, muß die krumme Linie, wenigſtens nicht
bey dem Anfange, oder wo ζ = o iſt, rechtwinklicht
durchſchneiden, weil man ſonſt ſtatt der bisher be-
trachteten Formeln, andere von folgender Art
\eta = a \sqrt {\zeta} + b\zeta \sqrt {\zeta} + \&c.
\eta = a\zeta^1:3+ b\zeta^2:3 + \&c.
ꝛc.
haben wuͤrde, mit deren Betrachtung wir uns hier
nicht laͤnger aufhalten werden, zumal, da man mit
Verwechſelung der Abſciſſen und Ordinaten dieſe For-
meln und deren Wurzelgroͤßen vermeiden kann, wenn
anders der Fall, den man vor ſich hat, einfoͤrmiger
iſt. Aendert man aber nur den Anfang der Ab-
ſciſſen, ſo, daß man ζ = A ± x ſetzet, ſo laſ-
ſen ſich ſolche Wurzelgroͤßen leicht wiederum in
unendliche Reihen verwandeln, die aus rationa-
len Gliedern beſtehen, ꝛc.


L l 5§. 897.
[538]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung

§. 897.


Sodann wenn auch eine der beyden Formeln
\eta = a\zeta + c\zeta^3 + e\zeta^5 + \&c.
\eta = b\zeta^2 + d\zeta^4 + f\zeta^6 + \&c.
bey einer fuͤrgegebenen krummen Linie ſtatt findet, ſo
geſchieht dieſes nicht durchaus, ſondern nur bey eini-
gen und zuweilen nur bey einem Punct (§. 892.). Man
hat demnach nicht nur dieſen zum Anfange der Ab-
ſciſſen zu machen, ſondern es muͤſſen in Anſehung
der zweyten dieſer Formeln die Abſciſſen auf der Tan-
gente genommen werden, weil die Ordinate η dabey
zwiſchen die krumme Linie und die Tangente faͤllt.
Dieſes findet ſich nun, wie es aus den beyden vorhin
(§. 895.) angefuͤhrten Beyſpielen erhellet, aus der
Natur der Sache, auf welche die Formel angewandt
wird, oͤfters ſehr leicht. Wir wollen nun noch ſe-
hen, wie die Coefficienten beſtimmt werden koͤnnen,
wenn man nichts als Obſervationen vor ſich hat.
Zu dieſem Ende wird die erſte dieſer Formeln
\eta = a\zeta + c\zeta^3 + e\zeta^5 + \&c.
in folgende
\eta = A\zeta + B\zeta (\zeta^2-m^2) + C\zeta (\zeta^2-m^2).(\zeta^2-n^2) +
D\zeta (\zeta^2-m^2).(\zeta^2-n^2).(\zeta^2-p^2) + \&c.
aufgeloͤſet. Man ſetze nun, daß wenn
ζ = m iſt, η = α ſey,
= n = β
= p = γ
= q = δ
\&c. \&c.

ſo werden A, B, C, D \&c. folgendermaßen beſtimmt.


I.° Man
[539]der Groͤßen durch Figuren.
  • I.° Man ſetze ζ = m, ſo iſt η = α folglich
    α = A m
    A = α:m
  • II.° Man ſetze ζ = n, ſo iſt η = β, folglich
    β = \frac {\alpha n}{m} + Bn (n^2-m^2)
    B = \frac {\beta m - \alpha n}{n \cdot m \cdot (n^2-m^2)} = \frac {\beta - An}{n \cdot (n^2-m^2)}
  • III.° Man ſetze ζ = p, ſo iſt η = γ, folglich
    \gamma = Ap + Bp (p^2-m^2) + Cp \cdot (p^2-m^2) (p^2-n^2)
    C = \frac {\gamma :p-A-B (p^2-m^2)}{(p^2-m^2) \cdot (p^2-n^2)}
  • IV.° Auf eine aͤhnliche Art findet ſich fuͤr x = q,
    D = \frac {\delta : q - A - B (q^2-m^2) - C (q^2-m^2) \cdot (q^2-n^2)}{(q^2-m^2) \cdot (q^2-n^2) \cdot (q^2-p^2)}
    \&c.

§. 898.


Jn Anſehung der andern Formel
\eta = b\zeta^2 + d\zeta^4 + f\zeta^6
wird
\eta = A\zeta^2 + B\zeta^2 (\zeta^2-m^2) + C\zeta^2 (\zeta^2-m^2) \cdot (\zeta^2-n^2) + ꝛc.
angenommen, und eben ſo verfahren, wodurch man
ſodann
A = \alpha :m^2
B = \frac {\beta :n^2 - A}{n^2 - m^2}
C = \frac {\gamma :p^2 - A - B (p^2-m^2)}{(p^2-m^2) \cdot (p^2-n^2)}
D = \frac {\delta :q^2 - A - B (q^2-m^2) - C (q^2-m^2) (q^2-n^2)}{(q^2-m^2) \cdot (q^2-n^2) \cdot (q^2-p^2)}
ꝛc. findet.


§. 899.
[540]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung

§. 899.


Hat aber die Formel, deren Coefficienten man
durch Beobachtungen beſtimmen will, alle Glie-
der, ſo daß
\eta = a\zeta + b\zeta^2 + c\zeta^3 + d\zeta^4 + \&c.
iſt, ſo muß man
\eta = A\zeta + B\zeta (\zeta - m) + C\zeta \cdot (\zeta - m) \cdot (\zeta - n) +
D\zeta \cdot (\zeta - m) \cdot (\zeta - n) \cdot (\zeta - p) + ꝛc.
annehmen, und die Coefficienten A, B, C, D ꝛc. auf
die erſt angezeigte Art beſtimmen. Der Grund,
warum man dieſer Formel in jedem Fall eine andere
Geſtalt giebt, iſt dieſer, daß, wenn man dieſelbe
durch die wirkliche Multiplication aufloͤſet, die her-
auskommende Reihe keine andere Glieder haben, als
die, ſo in derjenigen Reihe vorkommen, fuͤr die man
ſie annimmt. Es koͤmmt uͤbrigens hiebey viel darauf
an, daß die Coefficienten A, B, C, D ꝛc. geſchwinde
convergiren, weil man auf dieſe Art derſelben weniger
gebraucht. Man kann zwar dieſe letztere Formel auch
bey den beyden erſtern Faͤllen gebrauchen, allein ſie wird
dabey weitlaͤuftiger und weniger convergirend. So z. E.
wenn man den Sinum durch den Bogen ausdruͤcken
will, ſo geſchieht dieſes durch die erſte Formel des §. 897,
weil die kleinern Bogen wie die Sinus zunehmen, und
beyde poſitiv und negativ einerley bleiben. Man ſetze
nun αβγδ, ꝛc. die Sinus von 10, 20, 30, 40 ꝛc. Gra-
den fuͤr m, n, p, q aber 1, 2, 3, 4, ſo iſt
α = 0,1736482, m = 1.
β = 0,3420202 n = 2.
γ = 0,5000000 p = 3.
δ = 0,6427876 q = 4.
\&c.
η = η ζ = ζ

und
[541]der Groͤßen durch Figuren.
und (§. 897.)
\eta = A\zeta + B\zeta \cdot (\zeta^2-m^2) + C\zeta \cdot (\zeta^2-m^2) \cdot (\zeta^2-n^2) + \&c.
Hieraus erhaͤlt man nach der erſt angegebenen Art
zu verfahren
A = + 0,1736482
B = - 0,0008794
C = + 0,0000013⅓
\&c.

und folglich, wenn dieſe Werthe ſubſtituirt werden
\eta = 0,1745329\zeta-0,0008860\zeta^3+0,0000013 \frac {2}{5}\zeta^5 + ꝛc.
Jn dieſer Reihe iſt ζ = 1 der Bogen von 10 Graden,
und folglich der erſte Coefficient 0,1745329 die wirk-
liche Laͤnge deſſelben in eben den Theilen, in welchen
die Sinus genommen worden, naͤmlich in ſolchen,
da der Halbmeſſer = 1,0000000 iſt. Setzet man
\zeta =\frac {1} {2}, ſo giebt dieſe Reihe den Sinus des Bogens
von 5 Graden = 0,0871557. Setzet man ζ = 1½,
ſo giebt ſie den Sinus von 15 Graden = 0,2588190,
alles ſo genau als in den Tafeln, woraus die Sinus
αβγδ, ꝛc. genommen ſind. Nimmt man hin-
gegen die Sinus von 30, 60, 90, 120 ꝛc. Graden, und
ſetzet demnach
\alpha =\frac {1} {2} m = 1
\beta = \sqrt {\frac {3}{4} n} = 2
\gamma = 1 p = 3
\delta = \sqrt {\frac{3}{4} q} = 4
\&c. \&c.
ſo
[542]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
ſo erhaͤlt man
A =\frac {1} {2} = + 0,50000000
B = - \frac {1}{6} (1 - \sqrt {\frac {3}{4}}) = - 0,02232910
C = + \frac {7 - 8 \sqrt {\frac {3}{4}}}{240} = + 0,00029919
D = - \frac {13 - 15 \sqrt {\frac {3}{4}}}{5040} = - 0,00000191
\&c.
welches alles weniger convergirt. Setzet man α,β,
γ,δ ꝛc. ſeyn die Sinus von 90, 180, 270, 360, 450 ꝛc.
Graden, ſo iſt
α = + 1 m = 1
β = 0 n = 2
γ = - 1 p = 3
δ = 0 q = 4
ε = + 1 r = 5
\&c. \&c.

Und hieraus erhaͤlt man
A = 1
B = - ⅓
C = + \frac {1}{2 \cdot 3 \cdot 5}
D = - \frac {1}{2 \cdot 3 \cdot 3 \cdot 5 \cdot 7}
E = + \frac {1}{3 \cdot 3 3 \cdot 3 \cdot 5 \cdot 7 \cdot 8}
\&c.

welches ebenfalls weniger convergirt. Jndeſſen con-
vergiren alle dieſe Faͤlle ungleich ſtaͤrker, als wenn
man die Formel
η = Aζ + Bζ (ζ-m) + Cζ (ζ-m) (ζ-n) + \&c.
genom-
[543]der Groͤßen durch Figuren.
genommen haͤtte. Denn da wuͤrde man fuͤr den er-
ſten Fall, wo α,β,γ,δ ꝛc. die Tabellarſinus von
10, 20, 30 ꝛc. Graden ſind,
A = 0, 1736482
B = - 0, 0026381
C = - 0, 0008527
D = + 0, 0000132
E = + 0, 0000012
\&c.

gefunden haben, und dabey wechſeln die Zeichen + -
anders ab, weil, wenn man dieſe Formel durch die
wirkliche Multiplication aufloͤſet, die Glieder, wo ζ
gerade Dimenſionen hat, = 0 werden muͤſſen. Un-
geachtet uͤbrigens die Coefficienten A, B, C ꝛc. in
allen dieſen Faͤllen ſtark convergiren, ſo iſt dieſes den-
noch nur dem Schein nach, weil ſie ſodann durch m,
n, p, q
ꝛc. wiederum multiplicirt werden. Man
thut demnach beſſer, wenn man die Formeln folgen-
der Geſtalt annimmt.

  • I°.\eta = A\zeta + B\zeta \cdot \frac {\zeta^2-m^2}{m^2} + C\zeta \cdot \frac {\zeta^2-m^2}{m^2} \cdot \frac {\zeta^2-n^2}{n^2} + ꝛc.
  • II°. \eta = A\zeta^2 + B\zeta^2 \cdot \frac {\zeta^2-m^2}{m^2} + C \cdot \zeta^2 \cdot \frac {\zeta^2-m^2}{m^2} \cdot \frac {\zeta^2-n^2}{n^2} + ꝛc.
  • III°.\eta = A \zeta + B\zeta \cdot \frac {\zeta - m}{m} + C \cdot \zeta \cdot \frac {\zeta - m}{m} \cdot \frac {\zeta - n}{n} + ꝛc.


Auf dieſe Art faͤllt das bloß ſcheinbare Convergiren
in den Coefficienten A, B, C, D ꝛc. weg, und wenn
ſie in dieſen Formeln in einem fuͤrgegebenen Fall noch
ſtark convergiren, ſo gebraucht man derſelben nur
wenige,
[544]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
wenige, um ζ zu beſtimmen. So z. E. findet man
fuͤr das erſte der angefuͤhrten Beyſpiele
A = 0, 1736482
B = - 0, 0008794
C = + 0, 0000053
E
= - 0, 0000000 ꝛc.

Bey dem dritten Beyſpiele aber findet man
A = 1
B = - \frac {1}{3}
C = + \frac {2}{3 \cdot 5}
D = \frac {2}{5 \cdot 7}
E = \frac {8}{5 \cdot 7 \cdot 9}
F = \frac {8}{7 \cdot 9 \cdot 11}
ꝛc.
welche Zahlen ſchon viel langſamer convergiren. Sie
machen aber, wenn ſie ſaͤmmtlich poſitiv genommen
werden die Reihe
a = 1 + \frac {1}{3} + \frac {1 \cdot 2}{3 \cdot 5} + \frac {1 \cdot 2 \cdot 3}{3 \cdot 5 \cdot 7} + \frac {1 \cdot 2 \cdot 3 \cdot 4}{3 \cdot 5 \cdot 7 \cdot 9} + ꝛc.
aus, und dieſes iſt der erſte Coefficient der Formel
\eta = a\zeta + c\zeta^3 + e\zeta^5 + ꝛc.
um deren Coefficienten zu beſtimmen die Formel
\eta = A\zeta + B\zeta \cdot \frac {\zeta^2 - m^2}{m^2} + ꝛc.
angenommen worden. Da nun in dem Beyſpiele
fuͤr ζ = 1, 2, 3, ꝛc. Bogen von 90, 180, 270 ꝛc. Gra-
den, und fuͤr η deren Sinus angenommen worden, ſo
iſt dieſer Coefficient a die wirkliche Laͤnge des Qua-
dranten, oder = 1, 5707963 ꝛc. und dieſes iſt auch
die Summe der Reihe
a = 1 + \frac {1}{3} + \frac {1 \cdot 2}{3 \cdot 5} + \frac {1 \cdot 2 \cdot 3}{3 \cdot 5 \cdot 7} + ꝛc.
welche ſich leicht in
a = 2 - \frac{1}{3} - \frac {1}{3 \cdot 5} - \frac {1 \cdot 2}{3 \cdot 5 \cdot 7} - \frac {1 \cdot 2 \cdot 3}{3 \cdot 5 \cdot 7 \cdot 9} - ꝛc.
verwandelt.


§. 900.
[545]der Groͤßen durch Figuren.

§. 900.


Wir haben uns bey dieſen Beyſpielen laͤnger auf-
gehalten, weil ſie nicht nur die angegebenen Formeln
erlaͤutern, ſondern weil zugleich auch daraus erhellet,
daß man, um die Laͤnge des Quadranten eines Cir-
kels zu finden, weiter nichts wiſſen darf, als daß
die Sinus von 90, 180, 270, 360 ꝛc. Graden = 1, 0,
- 1, 0, 1, ꝛc. ſind. Das uͤbrige alles leitet ſich aus
ganz allgemeinen Betrachtungen uͤber die Kruͤmmung
des Cirkels her. Die Vergleichung des erſten und
des dritten Beyſpieles zeiget zugleich, wie viel es
darauf ankomme, daß die Coefficienten A, B, C ꝛc.
ſtark convergiren, und dieſes wird beſonders noth-
wendig, wo man es bey einer Naͤherung will bewen-
den laſſen, ſo daß man nur einige der erſten dieſer
Coefficienten gebraucht. Dieſes geht aber immer
an, ſo oft man nur kleine Stuͤcke einer krummen Li-
nie vor ſich hat, und in dieſer Abſicht laſſen ſich die
angefuͤhrten Formeln zu Jnterpolationen gebrauchen,
wohin nun ebenfalls noch folgende Betrachtungen
dienen.


§. 901.


Wenn man eine conſtruirte krumme Linie vor ſich
hat, ſo laſſen ſich leicht gerade Linien ziehen, welche
dieſelbe beruͤhren. Hingegen iſt der Beruͤhrungspunct
ſchwerer zu beſtimmen. Um dieſes zu thun, ſo ziehe
man mit der Tangente parallele Chorden, ſo viel
man will, und theile jede derſelben in zween gleiche
Theile, ſo laͤßt ſich durch dieſe Theilungspuncte eine
andere Linie ziehen, welche die fuͤrgegebene krumme
Linie in dem geſuchten Beruͤhrungspunct durchſchnei-
det. Dieſe Linie iſt nun nothwendig gerade, ſo oft
Lamb. Archit.II.B. M mdie
[546]XXXII. Hauptſtuͤck. Vorſtellung
die fuͤrgegebene krumme Linie eine von den Kegel-
ſchnitten iſt, und ſie iſt es auch in ſehr vielen andern
Faͤllen. Da man nun, den einigen Fall ausgenom-
men, wo der geſuchte Beruͤhrungspunct zugleich ein
Wendungspunct iſt, fuͤr ein kleines Stuͤck der krum-
men Linie den Kruͤmmungskreis derſelben, oder ein
oſculirendes Stuͤck eines Kegelſchnittes ſubſtituiren
kann, ſo folget daraus, daß die durch die Theilungs-
puncte der Chorden gezogene Linie nahe bey dem Be-
ruͤhrungspuncte, den ſie durchſchneidet, eine ſehr ge-
ringe und einfoͤrmige Kruͤmmung habe, und daher
um deſto leichter gezogen werden koͤnne. Man wird
aus dem §. 864. ſehen, daß man ſich dieſes Mittels
bedienen kann, durch Ziehung ſolcher Tangenten die
Laͤnge der conſtruirten krummen Linie genauer zu fin-
den, als man ſie conſtruiren kann, das will ſagen,
daß, wo man ſich mit einer Conſtruction begnuͤget,
dieſes Verfahren ſicher kann gebraucht werden.


§. 902.


Hat man nun zwey ſolcher Tangenten, die einen
Winkel von 5, 10 oder 15 Graden mit einander ma-
chen, gezogen, und auf erſt bemeldete Art die Be-
ruͤhrungspuncte gefunden, ſo zieht man dieſe zween
Puncte durch eine Linie zuſammen, welche zugleich
eine Chorde iſt, und mit den beyden Tangenten einen
Triangel bildet, durch welchen die krumme Linie
durchgeht. Sie theilet den Flaͤchenraum dieſes Tri-
angels ſo, daß das Segment ⅔ von demſelben iſt,
ſo oft die krumme Linie eine Parabel iſt, und daß
es ſo groß angenommen werden kann, ſo oft die
Kruͤmmung der Linie von der von einem paraboli-
ſchen Stuͤcke nicht merklich abweicht. Von dieſer
Bedin-
[547]der Groͤßen durch Figuren.
Bedingung kann man ſich verſichern, wenn man die
Chorde in zween gleiche Theile theilet, und aus dem
Theilungspuncte in den Punct, wo ſich beyde Tan-
genten durchſchneiden eine Linie zieht. Wird dieſe
von der krummen Linie in zween Theile getheilet, die
ſo gleich ſind, daß man ſie mit dem Zirkel nicht un-
gleich finden kann, ſo unterſcheidet man auch das
Stuͤck der krummen Linie nicht von einem Stuͤcke ei-
ner Parabel, welches man folglich, ſo weit dieſer
Triangel geht, in allen Abſichten dafuͤr ſubſtituiren
kann, ſo fern man ſich mit der Conſtruction und de-
ren Genauigkeit begnuͤget. (§. 865.).



Drey und dreyßigſtes Hauptſtuͤck.
Das Endliche und das Unendliche.


§. 903.


Der Begriff des Unendlichen wird ſowohl in Ma-
thematic als in der Methaphyſic gebraucht,
und aus beyden Gruͤnden gehoͤret auch die Theorie
davon hieher. Die Schwierigkeit wird aber wohl
dieſe ſeyn, im Vortrage der Theorie alles das zu
vermeiden, wodurch die Sache ſehr oft ſchon verwor-
ren gemacht worden. Jch werde bey den Definitio-
nen anfangen, die in einigen Metaphyſiken vorkom-
men, und wodurch man das reelle Unendliche, im
Gegenſatze des Jdealen, kenntlich zu machen bemuͤhet
geweſen.


M m 2§. 904.
[548]XXXIII. Hauptſtuͤck.

§. 904.


Wolf glaubte eine Realdefinition des Unendlichen
heraus gebracht zu haben, als er ſagte, das Unend-
liche ſey ein ſolches Ding, welches alles hat, was es
zugleich haben kann. Dawider hat man bereits an-
gemerket, daß dieſe Erklaͤrung auf jedes Indiuiduum
angewandt werden koͤnne, und daher zu weit ſey.


§. 905.


Ferner hieß es, dasjenige ſey unendlich, was nicht
groͤßer werden kann. Es ſcheint aber auch, daß hie-
durch das Unendliche von dem, was man in der Ma-
thematic ein Maximum nennet, nicht genug unter-
ſchieden werde. Ein Sinus kann nicht groͤßer als der
Halbmeſſer des Cirkels werden, deswegen iſt der Si-
nus
von neunzig Graden nicht unendlich, ſondern ge-
rade nur ſo groß als der Halbmeſſer.


§. 906.


Die dritte Definition iſt bloß grammatiſch. Man
nennet naͤmlich unendlich, was keine Schranken hat.
Die Woͤrter Ende und Schranken ſind hoͤchſtens
darinn verſchieden, daß erſteres mehr bey lineaͤren
letzteres mehr bey raͤumlichen Dingen und Graden
vorkoͤmmt, erſteres ſich mehr auf die Sache ſelbſt,
letzteres aber auf die umliegende und einſchraͤnkende
Dinge ſich bezieht. Dieſe Erklaͤrung ſetzet uͤberdieß
voraus, daß man vom Endlichen und von Schran-
ken
klaͤrere Begriffe habe, als vom Unendlichen.
Die Scholaſtiker ſagten aber, daß idea infiniti prior
idea finiti
ſey, und ſo wuͤrden ſie mit der Definition
auch nicht zufrieden ſeyn. Das Abſtrahiren von den
Schran-
[549]Das Endliche und das Unendliche.
Schranken leitet auch nicht unmittelbar zum Unend-
lichen, ſondern zu einem allgemeinern Begriff, wel-
cher das Endliche und das Unendliche, als zwo Ar-
ten unter ſich begreift, und eine Groͤße ohne Ruͤck-
ſicht auf ihre Endlichkeit oder Unendlichkeit vorſtellet.


§. 907.


Jch ſehe alſo nicht, daß man mit Definitionen
von der Art, wie die drey angefuͤhrten ſind, weit
reiche, noch daß ſehr richtige Schluͤſſe daraus gezo-
gen werden koͤnnen. Es wird inzwiſchen nicht un-
dienlich ſeyn, die Erklaͤrung der Groͤße uͤberhaupt,
die man ſeit Leibnitzen in den meiſten Metaphyſi-
ken findet, vorzunehmen. Sie heißt: Eine Groͤße
ſey der innere Unterſchied aͤhnlicher Dinge, und ſie
koͤnne zwar gegeben oder vorgezeiget, aber nicht
mit Worten deutlich erklaͤret oder ohne Zuziehung
eines dritten deutlich gemacht werden. Jch habe
nun bereits ſchon oben angemerkt, daß dieſe Erklaͤ-
rung ebenfalls nur bey ſolchen Arten von Groͤßen
angeht, die keine beſtimmte Einheit haben, und daß
ſie daher zu enge iſt, weil ſie auf ſolche Groͤßen, die
eine beſtimmte oder vollends eine abſolute Einheit
haben, nicht paſſet. Jch habe aber auch angemerkt,
daß diejenigen Groͤßen, die keine beſtimmte Einheit
haben, ſolche ſind die von 0 bis ins Unendliche fort-
gehen. Will man demnach die erſt angefuͤhrte De-
finition bey dieſen Arten von Groͤßen gelten laſſen;
ſo wird ſie auch bey dem Unendlichen, wenigſtens ge-
wiſſermaßen anwendbar ſeyn. Nun kann man mei-
nes Erachtens ſagen, daß eine unendliche Groͤße
gegeben werden koͤnne. Denn ſie kann viel leichter,
kuͤrzer und unmittelbarer gegeben werden, als eine
M m 3endliche
[550]XXXIII. Hauptſtuͤck.
endliche Groͤße, weil bey dieſer nicht nur die Art
der Groͤße, ſondern auch ihr beſtimmtes Maaß
gegeben
werden muß, wenn man ſie ſich vorſtellen
ſoll, dafern ſie nicht eine beſtimmte Einheit hat.


§. 908.


Das Geben der unendlichen Groͤße ſcheint aber
auch das einige zu ſeyn, was man um ſie deutlich
zu machen
thun kann. Eine unendliche Groͤße
iſt eine Groͤße ſchlechthin oder per eminentiam. Der
Begriff davon iſt ganz poſitiv und einfach, und
daher auch keiner Definition faͤhig. Denn will
man ihn durch Vorzaͤhlung der innern Merkmale
definiren, ſo findet ſich nichts darinn, als was wir
per eminentiam die Groͤße nennen koͤnnen, ohne al-
len Zuſatz von Schranken. Dieſer Zuſatz wuͤrde
ebenfalls etwas poſitives ſeyn. Er wuͤrde aber die
Groͤße endlich, und den Begriff zuſammengeſetzt
machen. Es ſetzet ferner jede Groͤße eine abſolute
Homogeneitaͤt voraus. Und eben dieſes machet,
daß der Begriff der Groͤße uͤberhaupt, und ſo auch
der Begriff der unendlichen Groͤße, nicht durch Merk-
male, die der Qualitaͤt nach verſchieden waͤren, de-
finirt werden kann. Alſo bleiben nichts als die Ver-
haͤltniſſe,
die die Groͤße ihren Stufen oder Schran-
ken
nach haben kann. Das iſt nun aber eben die
Natur des Unendlichen, daß ſich zwiſchen demſel-
ben und dem Endlichen, welches Schranken hat,
kein in Zahlen angebliches Verhaͤltniß gedenken laͤßt.
Und damit iſt ganz klar, daß ſich mit dem Definiren
des Unendlichen nichts thun laͤßt. Es muß und es
kann auch gegeben werden.


§. 909.
[551]Das Endliche und das Unendliche.

§. 909.


Jndeſſen bleibt hiebey, wie bey jeden einfachen
Begriffen das Mittel, daß man anzeige, wie man
zu demſelben gelange. Dieſes Mittel haben nun die
Mathematiker laͤngſt ſchon gebraucht. Sie ge-
brauchten es aber bey ſolchen Groͤßen, die keine be-
ſtimmte Einheit haben,
und die folglich vono
bis zum Unendlichen anwachſen koͤnnen. Von
dieſen gebrauchten ſie, wenn vom Unendlichen die
Rede war, die Ausdruͤcke: quauis data quantitate
maior; quouis numero dato maior; lineam rectam
quousque libet producere etc.


§. 910.


Wenn man demnach von daher eine Definition
nehmen wollte; ſo muͤßte immer dabey vorausgeſetzt
werden, daß ſie nur bey ſolchen Groͤßen anwendbar
waͤre, die von 0 bis ins Unendliche gehen koͤnnen,
und eben dadurch des Unendlichen faͤhig ſind.
Dieſes wuͤrde aber ein Cirkel im Definiren ſeyn.
Und ſo waͤre mit ſolchen Definitionen dennoch nichts
ausgerichtet. Beſſer wird alles in Saͤtzen vorge-
tragen. Unter dieſen Saͤtzen muͤſſen die eigentlichen
Grundſaͤtze und Poſtulata vorgehen, ſo wie dieſe
in jeden Wiſſenſchaften den Definitionen, dafern dieſe
nicht hypothetiſch bleiben ſollen, vorgehen muͤſſen.


§. 911.


Da der Begriff des Unendlichen nicht bey jeden
Groͤßen, ſondern nur bey gewiſſen Arten von Groͤ-
ßen vorkoͤmmt, die naͤmlich von 0 bis ins Unendliche
fortgehen koͤnnen; ſo muß in einer aͤchten Theorie des
M m 4Unend-
[552]XXXIII. Hauptſtuͤck.
Unendlichen vorerſt angegeben werden, von welchen
Arten von Groͤßen die Rede ſeyn kann. Dieſes for-
dert, daß man die verſchiedene Arten von Groͤßen
durchgehe, um zu ſehen, in Anſehung, welcher man
in Form eines Poſtulatum ſetzen kann, daß dabey
Quantitates data quauis quantitate maioresgedacht
werden koͤnnen, und wie dieſe gedacht werden muͤſ-
ſen. Jch ſage gedacht. Denn um ordentlich zu
verfahren, kann das, ſo allenfalls bloß ideal iſt, zu-
erſt vorgenommen werden. Das Reale hat mit dem
Begriffe des exiſtiren koͤnnens und des wirklichen
Exiſtirens
eine Verbindung, die aus eigenen Gruͤn-
den eroͤrtert werden muß.


§. 912.


Nach dieſem Leitfaden laͤßt ſich nun erſtlich Nume-
rus quouis dato maior
gedenken. Dieſes Poſtula-
tum
hat man Eucliden immer eingeraͤumt. Frey-
lich verſteht es Euclid nur von Zahlen an ſich be-
trachtet. Daher entſteht die Frage, von welchen
gezaͤhlten Dingen es ebenfalls angehe. So fern es
nun Dinge giebt, die die einigen in ihrer Art ſind,
ſo fern laͤßt ſich weder von vielen, und noch weniger
von unendlich vielen reden. Es muß daher entweder
bey der Anwendung der Euclidiſchen Forderung auf
beſtimmte Arten von Dingen fuͤr ſich klar ſeyn, oder
bewieſen werden, daß ſich ihre Anzahl groͤßer, als
jede angebliche Anzahl gedenken laſſe.


§. 913.


Hievon habe ich nun bereits oben (§. 122.) eine
Anwendung auf die unendliche Anzahl zuſammen-
geſetzter
[553]Das Endliche und das Unendliche.
geſetzter Begriffe gemacht. Der Satz war; daß
ſo viel man zuſammengeſetzte Begriffe gedenken will,
ſich noch mehrere gedenken laſſen, die den Graden
und der Art nach ſtufenweiſe und ſo viel man will,
von einander verſchieden ſind. Dieſes will nun ſa-
gen; die Anzahl der gedenkbaren Begriffe ſey abſo-
lut unendlich. Nun iſt in allen dieſen Begriffen me-
taphyſiſche Wahrheit, und demnach in den dadurch
vorgeſtellten Dingen die poſitive und im eigentlichſten
Verſtande genommene Moͤglichkeit zu exiſtiren
(§. 302. 303.). Zu dieſer Moͤglichkeit aber wird
ſchlechthin erfordert, daß die Kraft, wodurch ſie zur
Exiſtenz gebracht werden kann, bereits exiſtire. Eine
Kraft aber, die unendlich viele Dinge poſitiv moͤg-
lich,
das will ſagen, wirklich machen kann, muß
an ſich unendlich ſeyn. Hieraus folgt nun meines
Erachtens die Exiſtenz einer Kraft, die groͤßer,
als jede gegebene Kraft,
das will ſagen, abſolut
unendlich
iſt. Die Exiſtenz eines Verſtandes, der
alle, das will ſagen, unendlich viele Begriffe wirklich
denke, wird, weil zur metaphyſiſchen Wahrheit die-
ſer Begriffe, die poſitive Moͤglichkeit des Denkens
gehoͤrt, und dieſe das wirkliche Denken voraus ſetzt,
ebenfalls folgen.


§. 914.


Doch ich will dieſes hier nur zu fernerer Ueberle-
gung hergeſetzt haben. Es bezieht ſich unter andern auch
auf die Frage: ob etwas unendliches, das groͤßer
als jede angebliche, das will ſagen, endliche
Groͤße iſt,
wirklich exiſtiren koͤnne oder nicht? Die-
ſe Frage ſchien bisher auch deswegen erheblich, weil
die Metaphyſiker das, was groͤßer als jede angeb-
liche Groͤße iſt,
als das bloß ideale mathematiſch
M m 5Unend-
[554]XXXIII. Hauptſtuͤck.
Unendliche anſahen, und das reale in ganz was an-
derm ſuchen wollten.


§. 915.


Es wird aber hiebey nicht undienlich ſeyn, noch-
mals zu erinnern, daß das Unendliche zum End-
lichen kein angebliches Verhaͤltniß hat,
und dem-
nach mit einem endlichen Maaßſtabe nicht aus-
gemeſſen werden muß noch kann.
So klar die-
ſes an ſich iſt, ſo leicht verſtoͤßt man dawieder, weil
man nicht immer auf das Endliche Acht hat, das
in den Worten liegt, die man gebraucht. So z. E.
will der Ausdruck: niemals ſagen: vor oder nach
keiner endlichen Zeit. Das Wort Zeit ſelbſt iſt ein
Ausdruck, der die Beſtimmung des Endlichen in
ſich ſchleußt, es ſey, daß man dadurch einen beſtimm-
ten Zeitpunct oder einen beſtimmten Theil der Dau-
er
gedenke. Jn dieſem letztern Verſtande kann ein
tempus quouis dato maius gedacht werden. Hinge-
gen hat die Dauer etwas abſolutes, ſo fern man die
Ewigkeit dadurch verſteht. Alle wirkliche Zeit ge-
hoͤret mit in den Strom der Ewigkeit. Dieſes macht
ſie abſolut unendlich, ſo ſehr man bey dieſer abſoluten
Unendlichkeit, eben weil ſie abſolut iſt, gleichſam per
eminentiam
einen Anfang und ein Ende gedenkt, und
beyfuͤgt, daß vor dieſem Anfang und nach dieſem Ende
runde Vierecke exiſtiren. So abſolut unendlich naͤm-
lich die Ewigkeit iſt, ſo iſt ſie dennoch in ihrer Art
ein Ganzes, eine abſolute Einheit, und ſo wird ſie
auch von einem unendlichen Verſtande gedacht. Un-
ſer nicht gedenken koͤnnen, ruͤhrt von der Endlichkeit
her, die in dem Worte ich liegt. Denn, wenn wir
Jahre fuͤr Jahre fortzaͤhlen, oder wie Haller ſagt,
Gebuͤrge von Millionen Jahren aufhaͤufen wollen, ſo
reichen
[555]Das Endliche und das Unendliche.
reichen wir allerdings niemal, das will ſagen, in
keiner endlichen Zeit ans Ende. Das will aber nur
ſagen, man muͤſſe mit dem Endlichen das Unendli-
che nicht ausmeſſen, weil alle Verhaͤltniß vom End-
lichen zum Unendlichen wegfaͤllt, eben ſo, wie wenn
man in der Geometrie den Jnhalt des Flaͤchenraumes
durch eine Summe von Linien, die keine Breite ha-
ben, beſtimmen wollte. Denn das Unendliche iſt ge-
gen das Endliche ungefaͤhr eben ſo heterogen, als
Flaͤchenraͤume gegen Linien. So fern wir aber das
Abſolute in dem Unendlichen wegen unſerer endlichen
Kraͤfte, nicht gedenken koͤnnen, muͤſſen wir uns an
das Symboliſche halten, und uns begnuͤgen, daß
das Wort Unendlich eine reelle Bedeutung hat.


§. 916.


Ob aber deſſen unerachtet, daß das Unendliche bey
uns ehender ein ſymboliſcher Ausdruck als durchaus
gedenkbar iſt, daſſelbe dennoch koͤnne gebraucht wer-
den, iſt eine Frage, die bey den Mathematikern laͤngſt
ſchon eroͤrtert iſt. Jn der Metaphyſic ſcheint der Ge-
brauch davon nicht beſonders groß zu ſeyn, weil man
da mehr das Quale als das Quantum betrachtet. Da
indeſſen dennoch die Theorie des Unendlichen auf das
Exiſtirende ſolle koͤnnen angewandt werden, ſo wer-
den wir noch ſehen, wie man dabey a poſteriori ver-
fahren koͤnne. Hier koͤmmt es nun fuͤrnehmlich auf
die Theorie der Reihen an, dergleichen, in Abſicht
auf die Veraͤnderungen, in der wirklichen Welt al-
lerdings unzaͤhlig viele Arten exiſtiren. Jn dieſen
Betrachtungen muß nun das Metaphyſiſche mit dem
Mathematiſchen genau verbunden und alles mitge-
nommen werden, weil das Wegbleiben eines einigen
Umſtandes
[556]XXXIII. Hauptſtuͤck.
Umſtandes Ungereimtheiten von erheblichen Folgen
nach ſich ziehen kann. Wir werden um mehrerer Er-
laͤuterung wegen einige Hauptclaſſen ſolcher Reihen,
theils in Beyſpielen, ſo in der Natur ſind, vorle-
gen, theils auch ſie mit bloß Mathematiſchen ver-
gleichen, ohne noch ihre Endlichkeit oder Unendlichkeit
mit in Betrachtung zu ziehen.


§. 917.


Jn die erſte Claſſe rechnen wir uͤberhaupt die peri-
odiſchen Reihen,
das will ſagen, ſolche Veraͤnde-
rungen, die nach geſetzter Zeit in eben der Ordnung
wiederkehren. Solche finden ſich nun mehr am Him-
mel als auf der Erde, und auch die meiſten von de-
nen, ſo auf der Erde vorkommen, haͤngen von dem
Umlaufe der Sonne oder der Erde und des Mondes
ab. Unter dieſen Reihen kommen auch ſolche vor,
die von mehrern Perioden zugleich abhaͤngen, und
daher eine zuſammengeſetzte Periode haben, welche
an ſich deſto mehr ungleich iſt, je mehr die einfachen
Perioden, aus denen ſie beſteht, einander incommen-
ſurabel ſind. Da nun in der wirklichen Welt alles
viel zu ſehr durchflochten iſt, als daß runde Zahlen
darinn vorkommen, oder wenn ſie vorkommen, blei-
ben ſollten, ſo hat keine Periode eine unveraͤnderliche
Groͤße, und wir haben oben (§. 131.) ſchon aus dieſem
Grunde angemerkt, daß ein abſoluter Progreſſus re-
rum circularis
und damit die Platoniſche Apocataſta-
ſis aus der Welt ſchlechthin wegbleibe. Was demnach
immer von periodiſchen Reihen in der Welt kann ge-
ſagt werden, muß ohne Nachtheil des Satzes geſche-
hen, daß man ſie nicht nach mathematiſcher Schaͤrfe
nehmen koͤnne.


§. 918.
[557]Das Endliche und das Unendliche.

§. 918.


Jn die zweyte Claſſe rechnen wir diejenigen Reihen,
die einen Anfang haben, und dieſe ſind gewoͤhnlich
divergirend. Wir finden auf der Erdflaͤche haͤufige
und ſehr verſchiedene Beyſpiele davon, in der Ver-
mehrung des menſchlichen Geſchlechtes, einzeler Voͤl-
ker und Familien, der Thiere, der Pflanzen. Selbſt
auch eine irgend entſtandene Bewegung verbreitet ſich
in die anliegende Koͤrper, ſo wie ſich in der Jntelle-
ctualwelt Meynungen, Gedenkensarten, Erkenntniſſe,
Geruͤchte und Moden ausbreiten. Viele von ſolchen
Reihen werden durch das Divergiren in jeden Thei-
len ſchwaͤcher, und bey allen ruͤhrt der Anfang von
einer aͤußern Urſache her, ſo wie auch aͤußere und in-
nere Urſachen dem Divergiren entweder durchaus oder
in einzeln Theilen ein Ende machen, und die Reihe
unterbrechen, oder in eine andere verwandeln.


§. 919.


Jn die dritte Claſſe koͤnnen wir die Veraͤnderungs-
reihen rechnen, die zunehmen, bis ſie ihr Maximum,
ihre hoͤchſte Periode erreichen, und von da an wieder
abnehmen, dafern ſie nicht aufs neue belebt oder ver-
ſtaͤrkt werden. Man wird ohne Muͤhe das Wachs-
thum jeder einzeln Menſchen, Thiere, Pflanzen,
Staaten, Erkenntniſſe, Sprachen ꝛc. hieher rechnen
koͤnnen. Haͤngen aber ſolche Reihen von periodiſchen
Urſachen ab, wie die jaͤhrliche und taͤgliche Veraͤnde-
rung der Waͤrme, ſo haben ſie wechſelsweiſe ein Ma-
ximum
und ein Minimum, welches ſich, wenn man
von zufaͤlligen Urſachen abſtrahirt, nach der periodi-
ſchen Urſache richtet.


§. 920.
[558]XXXIII. Hauptſtuͤck.

§. 920.


Endlich koͤnnen wir in die vierte Claſſe diejenigen
Veraͤnderungen nehmen, die ſo weit im Beharrungs-
ſtande ſind, daß ſie zwiſchen geſetzten Schranken blei-
ben, ohne daß etwas periodiſches dabey bemerkbar
waͤre. Bey ſolchen Reihen iſt immer ein Zuſam-
menlauf mehrerer Urſachen, die einander einſchraͤn-
ken, und wo eine die andere hindert zu groß zu wer-
den, ſo lange ſie ſaͤmmtlich bleiben. Wir finden in
der Witterung mehrere ſolcher Veraͤnderungen, z. E.
die Schwere und Menge der Luft, des Waſſers, Re-
gens, Windes ꝛc. Selbſt aufbluͤhende Staaten rich-
ten ſich geſchwinde in dieſen Beharrungsſtand, ſo,
daß ſie mehrerer kleinen Unruhen unerachtet, lange
darinn bleiben.


§. 921.


So fern man nun ſolche Reihen fuͤr ſich betrachtet,
giebt es allerdings Faͤlle, wo man aus der Art, wie
ſie fortgehen, auf ihr Endlich ſeyn ſchließen kann.
So kann man bey divergirenden Reihen mehrentheils
ohne Muͤhe den Schluß machen, daß ſie einen An-
fang haben, und der Anfang von einer aͤußern Urſa-
che herruͤhre. Wenn ſie aber dergeſtalt divergiren,
daß ſie ſich einem Maximo naͤhern, ſo kann es ſeyn,
daß ſie eine Periode haben, und um dieſes zu eroͤrtern,
muß man entweder einen laͤngern Theil der Reihe
vornehmen, oder aus der Art, wie ſie immer langſa-
mer zunimmt, ſchließen koͤnnen, daß ſie wieder ab-
nehmen, und uͤberhaupt zwiſchen geſetzten Schranken
bleiben werde.


§. 922.


Jſt hingegen das Geſetz, nach welchem die Reihe
fortgeht, von Glied zu Glied einerley, ſo, daß man
von
[559]Das Endliche und das Unendliche.
von A eben ſo auf B ſchließen kann, wie von B auf C,
von C auf D ꝛc. ſo iſt die Reihe unſtreitig, ſo lange
man von jeder aͤußern Urſache abſtrahirt, vor und
nach unendlich. Uebrigens iſt hiebey allerdings mit
anzumerken, daß, wo von wirklichen Veraͤnderun-
gen die Rede iſt, in der wirklichen Welt keine Reihe
gefunden werde, wo die Veraͤnderung von Glied zu
Glied durchaus einerley ſey, weil die wirkenden Ur-
ſachen viel zu ſehr durcheinander laufen, als daß die-
ſes ſtatt haben koͤnnte. Der einige Fall, wo es an-
zugehen ſcheint, betrifft nicht die Veraͤnderung, ſon-
dern ſchlechthin nur die Fortdauer der Subſtanzen,
oder des Subſtantialen an denſelben. Dieſe iſt von
Augenblicke zu Augenblicke immer ſich ſelbſt gleich,
und man hat daher laͤngſt ſchon den Schluß gemacht,
daß ihr anfangen und aufhoͤren von einer aͤußern Ur-
ſache abhaͤnge, und eben ſo hat man auch den Schluß
gemacht, daß da dieſe Abhaͤnglichkeit offenbar nicht
reciprocirlich iſt, eine erſte und ſchlechthin fuͤr ſich
fortdauernde oder ſubſiſtirende Urſache ſeyn muͤſſe.


§. 923.


Es giebt ferner auſſer den Reihen, die durch das
Divergiren ihren Anfang verrathen, noch ſolche, die
wie die Reihe
\sqrt {1}, \sqrt {2}, \sqrt {3}, \sqrt {4} ꝛc.
deswegen einen Anfang haben, weil die Quadratwur-
zeln negativer Groͤßen, die man allenfalls vor dieſen
Anfang ſetzen wollte, ſchlechthin und an ſich unmoͤg-
lich ſind. So z. E. da man nicht zweifeln kann, daß
der gemeinſame Mittelpunct der Schwere aller Welt-
koͤrper in Ruhe ſey, kann man ebenfalls ſetzen, die
Bewegung derſelben habe von der bloßen Ruhe ange-
fangen. Dieſes iſt vermittelſt des Geſetzes der all-
gemeinen
[560]XXXIII. Hauptſt. Das Endliche und ꝛc.
gemeinen Schwere nicht nur moͤglich, ſondern der
Schluß macht ſich dadurch gleichſam nothwendig,
weil die anfaͤngliche Geſchwindigkeit bis auf incom-
menſurable Theile haͤtte muͤſſen gegen einander pro-
portionirt werden, wenn anders der gemeinſame Mit-
telpunct der Schwere in Ruhe bleiben ſollte. Es
bleibt aber die Aſtronomie und die Analyſe zu weit
zuruͤcke, als daß man von der dermaligen Lage ruͤck-
waͤrts auf dieſen Anfang ſollte ſchließen koͤnnen, ſo
ſehr auch der Schluß ſelbſt an ſich betrachtet moͤglich
iſt. Hier kommen nun in der That Quadratwurzeln
vor, weil der Fall der Weltkoͤrper ſich nach dem Qua-
drate des Abſtandes, der Zeit und der Geſchwindig-
keit richtet. Dieſes macht auch, daß die Ruhe kei-
nen Augenblick dauern konnte, und daß folglich der
Anfang der Bewegung ſchlechthin der Anfang war.



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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Ersten und des Einfachen in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß. Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Ersten und des Einfachen in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnfc.0