[][][][][][][[1]][[2]]
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[[3]]
Lebenslaͤufe
nach
Aufſteigender Linie

nebſt Beylagen A, B, C.

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Meines Lebenslaufs
Zweiter Theil.

Beylage A, und Beylage B.

Berlin,:
beyChriſtian Friedrich Voß,1779.

[[4]][[5]]

Die Koͤnigin iſt weg: Das Spiel iſt ver-
loren, ſagte Herr v. G.; da von der
Abreiſe meines Vaters geredet ward.


Ich wuͤrde dieſen Umſtand meinem Vater
nicht nachleichreden, wenn ich mich nicht bei
den Leſern des zweiten Theils entſchuldigen
muͤßte, warum ich aus der Noth eine Tu-
gend gemacht, und mich in den feſten Ort
der Erzaͤhlung geworfen.


Freylich iſt man hiebey vor den leichten
Truppen der Kritik ſicherer; was aber meine
kunſtrichterlichen Leſer dazu ſagen werden,
die entweder bei der ſchweren Cavallerie in
Dienſten ſtehen — oder blos aus Luſt und
Liebe leſen, und gar nicht in gelehrten Kriegs-
dienſten ſind, muß die Zeit lehren. — Aug
und Ohr haben zwar viel Aehnlichkeit mit
einander, allein alle Welt ſpricht von ſchoͤ-
nen Augen; ein verzaͤrtelter Kenner aber
nur vom ſchoͤnen Ohr. Das Geſicht iſt un-
ſtreitig der edelſte Sinn, ohn’ ihn iſt kein
anderer Sinn vollſtaͤndig. Auch ſelbſt, wenn
ich
[6] ich im gemeinen Leben erzaͤhlen hoͤre, ſeh’
ich — ich ſehe den Erzaͤhler ſteif an, recht
als ſchien ich es zu bedauren, daß ich dieſe
Geſchichte nicht im Original geſehen, ich ver-
lange, der Erzaͤhler ſoll ſie nachhandeln: Soll,
was und wie es geſchehen, leibhaftig zeigen.
Je mehr ein Erzaͤhler zu ſehen iſt, je mehr
freu ich mich, je mehr ſind ich die Kopie
getroffen. Oft’ hab ich gedacht, daß es
eine Geſchichte geben koͤnne, (ob einen Ro-
man, weis ich nicht, wo man nicht hoͤre,
ſondern ſehe, durch und durch ſehe, wo
nicht Erzaͤhlung ſondern Handlung waͤre,
wo man alles oder wenigſtens mehr ſehe, als
hoͤre. — Man ſieht freilich den Erzaͤhler
im gemeinen Leben; allein die Wahrheit zu
ſagen, man hoͤrt ihn mehr, und es wuͤrd’
Affektation ſeyn, wenn er mehr zu ſehen,
als zu hoͤren waͤre. Ein Erzaͤhler, wenn
er im Druck erſcheint, wie wenig iſt er zu ſe-
hen! wie weit weniger als im gemeinen Le-
ben! — — — — Dergleichen Geſchichte,
wo, wie meine Mutter ſagen wuͤrde, ge-
wandelt
und gehandelt wird, will man ſie
eine redende, eine Geſchichte mit eignen
Worten
nennen, meinthalben! Daß eine Ge-
ſchichte durchweg in Geſpraͤchen, eine in
Frag
[7]Frag und Antworten, ein ganz ander Ding
ſey, verſteht ſich. Waͤren in einer redenden
Geſchichte auch nur ausgeriſſene Lebensblaͤt-
ter, wie leicht wuͤrden ſie zuſammen zu ſetzen
ſeyn. — Man wuͤrde dem Leſer noch oben
ein eben hiedurch unvermerkt Gelegenheit zu
mehrerer Anſtrengung geben, und ihn zum
Mitarbeiter an ſeinem Werke machen. — —
Daß ich es bei dieſer Geſchichte zu dieſem
Ziel nicht angelegt, beſcheid’ ich mich von
ſelbſt, und ich bin ſchon zufrieden, wenn mein
Lebenslauf nur hier und da Darſtellung ent-
haͤlt, und wenn ſich in dem Schluſſe des erſten
Bandes die Perſonen ſelbſt zu erkennen und zu
verſtehen gegeben. Rede und du biſt, koͤnnte
das Motto zu dieſen Geſpraͤchen ſeyn: es liegt
eine beſondre Natur in der Rede. — —


Zwar waren auch ohne meinen Vater
noch vortrefliche Officier auf dem Brette,
die noch immer redend eingefuͤhrt zu werden
verdient haͤtten; allein der kommandirende
General war gefallen. — Wer wuͤrde mei-
nem Vater wohl dieſe Ehre ſtreitig gemacht
haben, wenn er nicht zu oft auf die Kanzel
geſtiegen?


Herr v. G. hatte, um auf dem Brette
zu bleiben, den Gang des Elephanten:


A 3Wer
[8]

Wer den Springer vorſtellte, wiſſen
wir alle —


Vielleicht finden meine Leſer noch mehr
aus dem Schachſpiel in der Geſellſchaft,
aus der mein Vater ploͤtzlich ſchied. Dies
Spiel iſt Bild der Welt, wenn auch nur
Koͤnig und Koͤnigin in Erwaͤgung genom-
men werden. — So wie ſie im Schach ge-
ſchehen, ſo gemeinhin in der Welt — Herr
v. W. hatte den Dionyſius beſchaͤmt, und
den Waldhorniſten ein anſehnliches und fuͤhl-
bares Compliment in die Hand gedruͤckt.
Die Art, wie er dieſes Geſchenk gegeben,
haben wir nicht noͤthig abzulauern, um ihn
mehr zu wißen; denn wir wiſſen ihn ſchon
inwendig und auswendig. Er hatte Urſache,
dieſe Schreier zum Schweigen zu bringen;
denn es gingen die Vigilien wegen eines den
folgenden Tag zu feyernden Trauerfeſies an.


Der Laufer, Herr Herrmann, bedeu-
tete mehr, nachdem mein Vater weg war,
und Herr v. W. ihn deckte. Herr Herrmann
ſchien ſich ſo gar, vielleicht in Ruͤckſicht die-
ſer Deckung, ein Direktorium uͤber mich an-
zumaaßen. Ich konnt’ ihm hiezu keine Be-
fugniß zugeſtehen; denn obgleich er mir zu
Bruſttuͤchern ehemals Maas genommen; ſo
glaubt
[9] glaubt’ ich doch dieſerhalb keine Pflicht zur
Verehrung auf mir zu haben. Die Feyer-
kleider waren ihm ohnedem nicht anver-
trauet worden. Von meiner Seite ge-
hoͤrte die Nachſicht auf Minchens Rech-
nung. Ihretwegen that ich, was ich
that; indeſſen vergaß ich nicht, daß ſie ſelbſt
mich mit dem Herrn Herrmann, als Vater,
nicht beſchweren wolte. Herr v. G. war
durch den Alten ſo geruͤhrt, daß er nicht ins
Leben zuruͤckkehren konnte; er ſahe ſchon jetzt
immer gen Himmel, obgleich noch nicht die
acht Tag’ um waren, wo der Alte ein Zeug-
niß in perpetuam rei memoriam fuͤr ihn im
Himmel einzulegen verſprochen. Die Vigi-
lien
des Herrn von W. kamen dem Herrn
v. G. ſo zur rechten Zeit, daß er mit feſtlich
ward. Die Frau v. W., und ihre kleine
Tochter, unterhielten ſich von dem armen
bedraͤngten Sterbenden, den mein Vater
troͤſten ſolte. Frau v. G. ſelbſt hatte ſich zu
dieſem Vorfall, obgleich der Sterbende nicht
von Adel — nicht einſt ein Litteratus, mit-
hin nach Landesart ein Bauer war, hoch-
adlich herunter zu laſſen geruhet, und ſo war
unſere Geſellſchaft des alten Mannes, der
in acht Tagen ſterben wird, und des unſchuldi-
A 4gen
[10] gen Sohnsmoͤrders wegen, in eine ſo heilige
Schwermuth geſunken, daß Herr v. W., der
den ſanft und ſeligen Hintritt ſeines Ael-
tervaters zu feyern anfieng, mit Herz und
Sinn dieſes Feſt, und wie mir’s vorkam
fruͤher, als es ſonſt geſchehen waͤre, begann.


Die Herren v. X. Y. Z. und ihre Ge-
mahlinnen gehoͤrten nicht zur heiligſchwer-
muͤthigen Geſellſchaft. Sie waren zwar ver-
ſtummet; allein blos, weil die Waldhorni-
ſten verſtummt waren, denen Herr v. W.
das Maul geſtopft hatte. Dieſe Herren
ſchienen von curſcher Politik, Wein und
Waldhoͤrnern trunken, ſo daß ſie ſich weder
in Ruͤckſicht des Leibes, noch der Seele,
aufrecht halten konnten. Sie ſaßen nicht,
ſondern lagen auf ihren Stuͤhlen; jeder hatte
ſich zwei Stuͤhle zugeeignet, den dritten Stuhl
rechne ich nicht, auf dem der rechte Arm
uͤbergeſchlagen lag: denn auf dieſem dritten
ungerechneten ſaß die eine Haͤlfte des Nach-
bars. Die Herren v. X. Y. Z. waren alſo
in einander gekettet. So ſchwach indeſſen
dieſe gute Herren ſchienen; ſo hatten ſie doch
ſo viel Staͤrke, Hand an ihre Pfeiffen zu le-
gen, und ſich in Rauch zu huͤllen. Sie
ſchmauchten wie aus einem Munde, und
hiel-
[11] hielten ſo genau Takt, als ihn Herr Herr-
mann, wenn er ein Poſitiv ſchlug, oder
meine Mutter, wenn ſie ihrem Hauſe eine
neue Melodie beibringen wollte, nur halten
konnten. Aus dieſer Lage zu urtheilen, waͤ-
ren die Herren v. X. Y. Z. ſo leicht nicht aus
dem Schlaf zu bringen geweſen: es haͤtte
denn an den Herzog Jocobus gedacht wer-
den muͤſſen, der den Uniten, welche ſich mit
der Katholiſchen Religion vereiniget, als ver-
triebenen Exulanten rußiſcher Nation, die
freie Religionsuͤbung zugeſtanden — oder an
den Titel Wohlgebohren, welcher der Rit-
terſchaft im Jahr unſers Herrn, ein tau-
ſend ſechshundert und vier und achtzig bewil-
liget wurde, obgleich ſie durch aus und durch
all Hochwohlgebohren heißen wollten —
oder an den Rangſtreit mit der Geiſtlichkeit,
woruͤber bitter geſtritten worden — oder an
den Oberkammerherrn v. — und deſſen
maͤnnliche Deſcendenten — oder an die Ka-
tholiſche Religion in Curland. —


Dergleichen Staatsanſtoͤße wuͤrden viel-
leicht (gewiß weiß ichs nicht) die Herren
v. X. Y. Z. ermuntert und von drittehalb
Stuͤhlen auf einen, oder gar auf die Beine
gebracht haben.


A 5Es
[12]

Es war indeſſen niemand aus der heilig-
ſchmermuͤthigen Geſellſchaft, der dieſen Ap-
pel zu ſchlagen, und den Verſuch zu machen
Luſt hatte, ob die liegende Herren hierdurch
aufzuwiegeln waͤren? Daß ſie nicht ſtill ge-
blieben, iſt zuverlaͤßig: ob ſie aber aufgebro-
chen waͤren — daran zweifl’ ich. Giebts
denn nicht Agenten von Haus aus? —


Ein Wort der Ermunterung waͤr’ es
auch geweſen, wenn man den Hunden ein
Patent als Adjudanten des Menſchen aus-
gefertigt:
oder einen meerſchaumen Pfeifenkopfs-
handel aufgebracht haͤtte.


Die gnaͤdigen Frauen v. X. Y. Z. ſaßen,
die Haͤnde um den Magen kreuzweiſe gelegt,
als ob ſie ihre Magen zur Verdauung ein-
ſeegnen wolten. Sie ſahen hierbey die Frau
v. G. ſteif und feſt an, als ob ſie ſich
fuͤr die empfangene Gaben bedanken, und
ſich, vor wie nach, ihrer Protektion empfeh-
len wolten. Der Frau v. G. Aushuͤlfe
bei Gelegenheit des Schooshuͤndchens war
ihnen, und das mit Recht, im friſchen An-
denken. —


Mein Reiſegeferth war nicht Fiſch nicht
Fleiſch. Er hatte mit mir Bruͤderſchaft
gemacht,
[13] gemacht, und ich hatte Hofnung ihn zu er-
weichen, und ihn zu einen gutgeſinnten Kir-
chenpatron zu bekehren, der die Jagd an-
dern Pflichten unterordnen muß; allein die
Herren v. X. Y. Z., als jagdgerechte Jaͤger,
hatten ihn wieder ganz und gar — wie es
ſchon aus den Tiſchreden des vorigen Bandes
zum Theil hervorſtrahlt. Er war in Gedan-
ken, Geberden, Worten und Werken, mit
den Herren v. X. Y. Z. auf Wild ausge-
wandert: denn ſelbſt in der tiefſten Stille,
die auf die Herren v. X. Y. Z. lag, hielten
ſie die Pfeifen als ein Mordgewehr, zielten
und machten Puf, Paf, und wieder Puf
Paf! Mein Reiſegefehrte hielt ſeine Pfeife,
zielte wie ſie, und toͤnte Puf, Paf! wie ſie,
und wieder Puf, Paf! — Er war in ihrer
Wolke auf und angenommen. —


Doch muß ich (und das wird meinen Le-
ſern eine erfreuliche Nachricht ſeyn, weil der
juͤngere Herr v. G. ein Sohn des aͤltern
Herrn v. G. iſt) pflichtſchuldigſt bemerken,
daß er ſeinen kuͤnftigen Paſtor nicht voͤllig
vergeſſen hatte. Wenn er ſeine Pfeife nach-
ſtopfte und aus dem Takte kam, brach ſich
ſein Blick durch den Nebel zu mir, und da
ſeine Pfeife gluͤhete und nicht ſogleich wieder
gela-
[14] geladen werden konnte, kam er ſogar zu mir,
faßte mich bruͤderlich an und fragte: warum
ſo traurig? und warum nicht auf Puf und
Paf mitgemacht? So was, fuͤgt’ er hinzu,
ſtaͤrkt das Auge, und wenn wir morgen auf
die Jagd gehen, haſt du ſchon eine vorlaͤu-
fige Theorie, die du benutzen kannſt — ich
verſicherte, heut am wenigſten zum Puf, Paf
Anſatz zu haben. Ich verdenk dir deinen
Truͤbſinn nicht, fuhr er fort — Dein Va-
ter — —


Scheiden heißt ſterben, hatt’ ich zu ihm
geſagt, da mein Vater abfuhr, und dies
Wort zu ſeiner Zeit war ſo gluͤcklich geweſen,
den Weg zu ſeinem Herzen zu finden, der ſo
leicht nicht zu finden war. Seine Liebes-
grenze ging nicht weiter, als bis Vater und
Mutter, und zur Noth Schweſter und Bru-
der. — Weiter, glaub’ ich, geht ſie auch
bei keinem Jaͤger, Koch und Schlaͤchter,
welches Profeſſionsverwandte oder hoͤchſtens
von einem und demſelben Handwerk unter-
ſchieden ſind, wie Frauens- und Manns-
ſchneider. — Außer Vater und Mutter,
und zur Noth Bruder und Schweſter,
ſchien dem Herrn v. G. dem juͤngern alles
Wild — — —


Man
[15]

Man gieng den Abend zeitig zur Tafel,
weil alles die Karten verbeten hatte. — Zur
Ehre der Herren v. X. Y. Z. muß ich noch
anfuͤhren, daß ſie nach ihrem Ausſchlaf, um
die edle Zeit auszukaufen, eine Stunde Wuͤr-
fel geſpielt. —


Bei Tafel war alles auf den Ton des
Herrn v. W. geſtimmt, der mit ſchwarzer
Weſte, ſchwarzen Beinkleidern, und einem
Flor um den linken Arm, bei der Mahlzeit
erſchien. Man ſprach viel von den Schick-
ſalen der Menſchen und von der Ungewißheit
der Todesſtunde. Herr v. W. erzaͤhlte den
Lebenslauf des Herr v. W., ſeines Herrn
Grosvaters, dem heute aufs neue parentirt
ward. Herr v. G. ſprach vom Tode, wie
ein Gerechter, der in ſeinem Tode getroſt iſt.
Die Vernunft, ſagt’ er, iſt ein Kuͤſſen; al-
lein kein Kopfkuͤſſen. Die Einbildungskraft
muß auch Beſchaͤftigung haben, wenns zum
Scheiden geht. Wohl uns indeſſen, daß wir
nicht wiſſen, wenn wir ſterben: denn wir
wuͤrden dann nicht leben, nicht ſterben —
beides iſt gut. — Doch, fuhr er fort, giebts
einige, die’s wiſſen, die auf die Stunde ihrer
Erloͤſung mit Gewißheit rechnen koͤnnen —
Nur heute — — hier ſchwieg er, und ſtuͤtzte
ſich
[16] ſich traurig auf. Ich verſtand ihn ganz.
Seine Frau fragt’ ihn: iſt dir nicht wohl?
mit einem Tone, der mich uͤberfuͤhrte, daß
ſie ihren Mann nach ſich am meiſten liebte,
und warum ſollte ſie’s nicht? er war ja von
gutem Adel. Sehr wohl, erwidert’ er, mein
Kind. — Sie ſtand auf und kuͤßt’ ihn; er
blieb mit aufgeſtaͤmmten Arm. Es ging al-
les ſtill, wie bei einer Leichenwache zu, und
dieſes brachte die Herren v. X. Y. Z. zum
Aufbruch. Schon lange hatten ſie nach dem
Monde geſehen und es ihm uͤbelgenommen,
daß er nicht eher aufgegangen war; denn es
ward nicht getrunken, wie des Mittags:
nicht geſchrieen, wie des Mittags: nicht ge-
blaſen wie des Mittags. Das haͤtte frei-
lich der Mond bedenken ſollen. Sie zogen
unter einander auf die Wache, um keine Zeit
zu verſaͤumen. Der erſte Strahl war ein all-
gemeiner Wink zum Abſchiede. Sie empfah-
len ſich und fuhren mit ihren gnaͤdigen Frauen,
denen des Mittags die Zeit lang geworden
war, weil viel, und des Abends weil wenig
geſprochen worden, heim. Die Waldhoͤrner
wurden auf eine kuͤnſtliche Art in Poſthoͤrner
verwandelt und man macht’ ein ſolches Lerm;
als wenn dreißig blaſende Poſtillions vorher-
ritten.
[17] ritten. Der Herr v. W., den dies unverſe-
hens uͤberfiel, brach ein Glas, das er eben
in der Hand hatte und begoß ſich ſeine Trauer-
weſte, die, wie er ſagte, zum Gluͤck ſchwarz
waͤre. So bricht unſer Leben, ſagt’ er, um
den Glasbruch geſchickt bey dem gegenwaͤrti-
gen Fall anzuwenden. —


Es war der Herr v. W. wie von neuem
geboren, da die Herren v. X. Y. Z. fort
waren, und ſo giengs auch dem Herrmann,
der zwar viel uͤber die Herren X. Y. Z. ge-
dacht, allein wenig geſagt hatte. Mir war
immer bang, die guten Herren wuͤrden aus
Freude, von den Waldhoͤrnern und ihren An-
haͤngern befreit zu ſeyn, aus dem Trauerton
des Feſtes kommen; indeſſen fiel es ihnen
zeitig wieder ein, daß die heutige Freude in
ihren Schranken bleiben muͤßte. Der arme
Herrmann hatte wegen der Herren v. X. Y. Z.
in eccleſia preſſa gelebt. Was er, ſo lang ſie
da waren, thun konnte, war aufs Aug’ ein-
geſchrenkt. Dieſes, dem Herrn v. W. ge-
widmet, war oft Gelegenheitsmacher, oft
Theilnehmer, nachdem Herr Herrmann we-
niger oder mehr von den Herren v. X. Y. Z.
und ihren Damen bemerkt werden konnte.
Er wußt’ aus vieljaͤhriger Erfahrung, was
Zweiter Th. Bder
[18] der Adel in Curland zu bedeuten habe, und
fuͤhlt’ es auch noch in den Gliedern, daß er
wegen einer Grabſchrift drey Tage und drey
Naͤchte wachen muͤſſen. Er dacht’ an alle
Ehrenerklaͤrungen und Maulſchlaͤge, die er
zu uͤbernehmen nothgedrungen worden, und
an ſeine eigene Grabſchrift, die man noch le-
bend auf ihn gemacht:
Hier wacht der lebendig Todte. —
Viele Leute pflegten dieſer Grabſchrift wegen
mit Herrn Herrmann ein Geſpoͤtte zu treiben
und zu behaupten, daß er mit lebendigem
Leibe ſpuͤcke.


Ein Tag, wie der heutige, fieng Herr
v. G. an, nachdem er die Haͤnde gefalten
und ſie gen Himmel gebrochen hatte, ein Tag,
wie der heutige, iſt eines ſolchen Abends werth!
Ich hab dieſen Tag gelebt, und wenn gleich
viel vom Leben dieſes Tages auf die Rechnung
der zehnjaͤhrigen Entfernung gehoͤret; ich ſetze
zehn fuͤr eins — zwoͤlf Tage koͤnnte man im
Jahre von dieſer Art leben. Wer wolt’ aber
vergeſſen, daß der Tod aufs Leben folgt,
fuhr Herr v. G. fort! Der Herr v. W.
wußte nicht Worte zu finden, dem Herrn
v. G. ſeine Erkenntlichkeit zu beweiſen; denn
er
[19] er hielte dieſes alles fuͤr Folgen ſeiner ſchwar-
zen Weſt und Beinkleider und des Flors um
den linken Arm, ob gleich die Weſte begoſſen
war. Gern haͤtt’ er, in der erſten Hitze ſei-
ner Erkenntlichkeit, das Gartengeſpraͤch mit
Herrn Herrmann uͤber den Herrn v. G.
oͤffentlich wiederrufen: allein dieſes wuͤrde ſich
nicht geſchickt haben. Die Worte: „Traget
die Groben
, weil ihr hoͤflich ſeid, waren ihm
unertraͤglich geworden, ſo erkenntlich war er,
und dieſe Anlage zur Erkenntlichkeit werden
ſich meine Leſer ſchon bei dem Feſte der Deut-
ſchen angezeichnet haben.


Die Frau v. W. und die uͤbrigen ſchrie-
ben die heilige Schwermuth des Herrn
v. G. auf die Rechnung des Sterbenden,
dem mein Vater in die andre Welt zu leuch-
ten gegangen war.


Ich hatte den Hauptſchluͤſſel zu dem Her-
zen des Herrn v. G., den er bis dahin hin-
terhalten hatte. Jezt erzaͤhlt’ er der Frau
v. W., was mit ihm und dem alten Manne
vorgefallen war, doch ſo, daß es alle hoͤren
konnten. Wem haͤtt’ er dieſe Geſchicht’ auch
beſſer dediciren koͤnnen, als der Frau v. W.?
Der Herr v. G. ſah es mir an, daß mir
dieſe Geſchichte nicht neu waͤre und ich fand
B 2keine
[20] keine Urſache zuruͤckzuhalten, daß ich den al-
ten Mann mit dem einen Handſchuh ſelbſt
gehoͤret haͤtte. Ich hatte mein Bekenntnis
noch nicht vollendet, als Herr v. G. auf-
ſprang, mir ſeine eingeweihte Hand reichte:
der Seegen dieſes Himmliſchen, ſagt’ er,
indem er mir die Hand druͤckte, wird auch
auf dir ruhen, du Sohn deines Vaters!
Nach mir gab er dieſe Hand der Frau v. W.
ihrer Tochter, und zuletzt ſeinem Sohne, der
aber nicht wußte, was ihm geſchah. —


Der Herr v. W. haͤtte dieſen Handſchlag
fuͤr einen Mangel der feinen Lebensart ge-
halten, wenn der Herr v. G., der ſich aber
von ſelbſt zu beſcheiden wußte, auch ihm ihn
angeboten haͤtte; indeſſen war Herr v. W.
doch ſehr bewegt uͤber dieſe Geſchichte und
wer weis, wenn dieſer Himmliſche ein Edel-
mann geweſen waͤre, ob er ihn nicht mit in
ſein Trauerfeſt eingeſchaltet haͤtte. Jetzo
konnt’ er auf dieſe Ehre nicht Anſpruch ma-
chen, und das um ſo weniger, da er nur
einen Handſchuh getragen.


Herr Herrmann wolte bey dieſer Gele-
genheit den Herrn v. G. mit Witz unter
den Arm greifen, auf den Herr v. G. ſich
geſtuͤtzt hatte, und ihn durch einen Einfall
troͤſten.
[21] troͤſten. Der elendeſte Troſt von allen, der
jedem klugen Mann ekelt! Um zum witzigen
Ziel zu kommen, mußt er einen langen un-
angenehmen Umweg machen. — Endlich
an Ort und Stelle. Er erzaͤhlte, daß der
Paſtor in — — einen Amtmann uͤber die
ſchlechte Zeit zur Ruhe geſprochen und ihn
auf den Himmel gewieſen haͤtte. Der Amt-
mann aber in ſeiner Einfalt haͤtt’ ihm zur
Antwort gegeben: „Herr Paſtor, wie man
„hoͤrt, ſoll es auch da nicht mehr ſeyn, wie
„zuvor.“


Herr v. W. war gewohnt, alles was
er ſprach, abzuruͤnden, und dieſes vermißt’
er zuweilen am Herrmann, der, eh man es
ſich verſah, aus der Rolle kam. Wahrlich
er ſpielte zuviel Rollen. — Ob nun gleich
Herrmann alles that, was er dem Herrn v.
W. an den Augen anſehen konnte; und
immer Colophonium (Geigenharz) in der
Hand hielt, um den Bogen des Herrn v. W.
zu ſtaͤrken; ſo war dem Herrn v. W., der
aus Hoͤflichkeit erkenntlich zu ſeyn wohl ver-
ſtand, jedoch dieſer Gedanke voͤllig unpaſſend
und ungeſchliffen. Er ſchuͤttelte ſein Haupt
und verwies dem Herrn Herrmann dieſe Ge-
ſchichte, wiewohl aus Erkenntlichkeit — blos
B 3mit
[22] mit einem Winke, der ſagen ſolte: „alles zu
„ſeiner Zeit“ Herr v. G. aber ſprang auf.
Der Funke, fieng er an, war nicht werth,
daß ſie ſo oft darnach ſchlugen. Ich habe
dieſe Geſchichte, welche nach ihrer Ausſage
dem Paſtor in — begegnet ſeyn ſoll, ſchon
in meiner Jugend gehoͤrt. Der Herr v. W.
nahm ſich des Herrn Herrmanns nicht an,
weil Herr Herrmann ſich nicht in die Zeit
geſchickt hatte, und Herr v. G. behauptete,
um den Witz deſto geſchwinder los zu werden,
daß man ſich nicht beßer des Todes erinnern
koͤnne, als wenn man ſchlafen gienge. Heil
dem, ſagt’ er, der ſo ſtirbt, als ein Bauer
einſchlaͤft, der gedroſchen hat. Nach ausge-
ſtandener ſchwerer Arbeit in der Welt laͤßt
ſichs ſelig und ruhig ſterben. In der letzten
Stunde des Lebens ſieht man ſchon den Un-
terſchied zwiſchen reicher Mann und armer
Lazarus
. — —


Man wuͤnſchte ſich eine gute Nacht.
Herrmann beurlaubte ſich. Herr v. W. lies
es bey dem Wunſch’ eine gute Nacht nicht
bewenden, ſondern wuͤnſchte noch ergiebiger,
daß die ewige Vorſicht ſowohl den Herrn v.
G. als die gnaͤdige Frau vor allen Trauer-
faͤllen bewahren und ſie die hoͤchſten Stuffen
des
[23] des menſchlichen Lebens hinauf fuͤhren moͤch-
te. — Herr Herrmann nahm Gelegenheit,
dem Herrn v. W. wegen des Ablebens ſeines
Hochwohlgebohrnen Herrn Grosvaters zu
condoliren. Ich buͤckte mich blos, und da
er dieſes gleichmaͤßig fuͤr eine Condolenz an-
ſah, wandt’ er ſich zu jedem von uns beyden,
zu mir zuerſt, und wuͤnſchte jedem was be-
ſonders, jedem aber eine lange Reihe gluͤckli-
cher Jahre. —


Der Herr v. G. nahm die Frau v. W.
bei der Hand, um ihr das Schlafzimmer an-
zuweiſen. Da die Frau v. G. durchaus ſie
auch begleiten wolte; gab ihr Herr v. W.,
nach vielen Complimenten und Bitten zu-
ruͤck zu bleiben, auch die Hand. Dem juͤn-
gern Herrn v. G. ward das kleine Fraͤulein
v. W. angewieſen. Mich mußte der gewe-
ſene
Hofmeiſter, den ſein geweſener Unterge-
bener nicht mehr vor voll anſahe, wiewohl
in das nehmliche Zimmer bringen, wo ich
ſchon die vorige Nacht geſchlafen hatte, und
das ich alſo ohne dieſe Anweiſung gefunden
haben wuͤrde. Hier ſolt’ auch der alte Herr
ſchlafen. Dieſer lezte Umſtand, obſchon er
von der Frau v. G. zu meiner Erniedrigung
ausgekuͤnſtelt ſchien, und mich einen Augen-
B 4blick
[24] blick befremdete, war mir doch gleich nach
dieſem Augenblick willkommen. Ein betruͤb-
tes Herz liebet zaͤrtlicher, und wahre Liebe iſt
keine frohe Leidenſchaft. — Sie faͤngt mit
Seufzern an, ſo wie wir mit Thraͤnen ge-
boren werden. Mine war mit Leib und
Seel vor meinen Augen, es iſt doch ihr Va-
ter, dacht’ ich, und reichte dem Herrn Herr-
mann die Hand. So Hand in Hand kamen
wir ins Schlafzimmer. Hier legte der alte
Herr ſein Protektionsanſehen, womit er mich
ohnehin nur nach der Abreiſe meines Vaters,
und das ſehr beylaͤufig, heimgeſucht hatte,
zugleich mit ſeiner Peruͤk’ ab, und that un-
gemein vertraut mit mir. Um ſeine heuti-
ge Hofnarrenfuͤhrung zu entſchuldigen, zog
er auf den Adel los. Traget die Narren,
ſagt’ er, weil ihr klug ſeyd, und reſtituirte
alſo dieſen Spruch in integrum, nachdem er
von ihm und dem Herrn v. W. in der Art
war verdrehet worden: Traget die Groben,
weil ihr hoͤflich ſeyd
. Ich weis nicht, wie’s
mir anwandelte, daß ich dem alten Herrn
bey den Worten: traget die Narren, weil
ihr klug ſeyd, ins Wort fiel:
„allein macht euch nicht ſelbſt zum
Narren„


Es
[25]

Es that mir leid, ſobald ich dieſen Zu-
ſatz ausgeſprochen hatte. Der alte Herr
ſchien es zu empfinden, und ſetzte ſeine
Rechtfertigungen fort. Ein Litteratus iſt
freylich, ſagt’ er, ein halber Edelmann; in-
deſſen iſt zwiſchen halb und ganz ein Unter-
ſchied. Man laß’ ihnen das von, wenn ſie
uns nur den Verſtand laſſen. Da er her-
ausgieng, ſich eine Flaſche Wein zu beſor-
gen, um noch eine Pfeife, wie er ſagte,
in bona pice et pace zu rauchen: nahm ich
das Teſtament meines Vaters heraus, wel-
ches ich die ganze Zeit uͤber verborgen in der
Hand gehalten. Ich hatte beynah dieſen
Abend nur mit einer Hand gegeſſen; denn
ich konnte dies Teſtament in der Taſche kei-
nen Augenblick allein laſſen. Die Hand,
mit der ichs hielt, war in einer ſolchen Tran-
ſpiration, als wenn ſie nicht zu den uͤbrigen
Theilen des Koͤrpers gehoͤrte.


ανεχου και απὲχου las ich, und las
wieder: ανεχου και απὲχου. Oefne ſie
nicht eher, als wenn du in der groͤßten Noth
biſt, und was iſt die groͤßte Noth? — dacht
ich bey mir ſelbſt. Ich fand, daß Geld in
dieſem letzten Willen lag, und da es ſich nicht
thun lies, meinen Kaſten aufzuſchließen,
B 5und
[26] und dieſe donationem mortis cauſſa zu den
Denkzetteln meiner Mutter zu legen, die mir
als eine donatio inter viuos vorkam; ſo de-
ponirt’ ich dieſe Schrift vor der Hand ins
Bett unters Kopfkuͤſſen, und dacht’ an mei-
ne Mutter, und an den hochheiligen Abend
vor der erſten Predigt bey dieſem Interims-
depoſito. Ich mußt’ eilen; denn der alte
Herr kam wieder, und ein Bedienter hinter
her, mit Wein und einem Teller voll Rauch-
toback. Da iſt Eſſen und Trinken, ſagte der
alte Herr, und that dabey, als ob er etwas
ſehr witziges geſagt haͤtte, welches ich aber
nicht finden konnte. Bald darauf fieng er
ſich an zu beklagen, daß er einen guten
Freund ſeines Hauſes an mir verloͤhre, und
ich nahm Gelegenheit, mich nach ſeinem
Sohne zu erkundigen; vielleicht, dacht’ ich,
faͤngt er von ſelbſt von ſeiner Tochter an, —
wenn er doch anfienge!


Ich ſah es ſeinen Augenwimpern, ſeiner
Naſ’ und Stirn an, daß er ſein ganzes Geſicht
umſtimmen mußte, eh’ er heraus zu bringen
im Stande war, daß der Sohn eines Litte-
ratus ein Schneider geworden waͤre, ob-
gleich mein Bruſttuch, wie man es in Cur-
land nennt, noch von der ſelbſt eigenen ge-
lehrten
[27] lehrten Hand des alten Herrn edirt war.
Zwey, die ich im Kaſten hatte, waren ſo
gar durch ihn geflickt — und verbeſſert und
vermehrt zum andernmal aufgelegt. Das
iſt dem Benjamin nicht, fuhr er fort, in
ſeiner Wiege vorgeſungen, und da er Darius
war, hatt’ er ſo gut Koͤnig zu ſeyn die Ehre,
als ein anderer. Manchem kommen die ge-
bratene Tauben entgegen, ein anderer muß
ihnen Netz und Strick legen, und ſie erſt
fangen und braten. — Das Schneider-
handwerk, fuhr er nach einer Weile fort,
da ich nicht noͤthig fand, ihm auf den Wie-
gengeſang und die Dariusehre zu antwor-
ten, das Schneiderhandwerk iſt bey alle dem
fuͤr den Sohn eines Litteratus noch das ſchick-
lichſte. Gott der Herr ſetzte ſelbſt, nach
dem betruͤbten Suͤndenfall, dieſes geſchenkte
Handwerk ein, und verfertigte die erſten
Kleider. — Was zu thun? Er ſitzt bey
einem ſehr geſchickten Schneider auf Prima,
und wird kuͤnftige Oſtern Student, oder
Geſell, wie es die Leute nennen. (Dieſe
Worte waren ein Gemiſch von Stolz und
Satyre. Sie waren der alte Herr ſelbſt.
Wer ihn hier nicht findet, findet ihn nirgend.)
Meine ſelige Frau ſagte mir gleich nach uͤber-
ſtande-
[28] ſtandenen Wochen, Benjamin wird entweder
Schneider oder Litteratus, welches ſie der
Nothtaufe wegen vermeynte, die Benjamin
empfieng. Das, verſicherte ſie, hab ich von
alten Leuten, was die Nothtauf’ empfaͤngt,
wird eines von beiden. — Ich ſuchte ſie auf
den rechten Weg zu lenken, und wolte durch-
aus nur vom Litteratus hoͤren und wiſſen;
allein ſie blieb bey ihrem entweder und oder,
Das Bein, welches ſich, als er Darius
war, zu ſeinem Vortheil wendete, und die
rechte Hand, der er auch redlich nachgehol-
fen, beſtaͤrkten meine Hofnung, und war-
um ſolt er nicht? Sein Vater iſt ein Lit-
teratus, und meine ſelige Frau war auch
von gutem Hauſe; wenigſtens kann man ih-
ren Vater ohne Bedenken nennen, (das
war niederſchlagend Pulver fuͤr mich, damit
ich mich ja nicht uͤberheben moͤchte) und —
hier glaubte der alte Herr, daß jemand zu uns
kaͤme, und kehrte das Blatt bey der dritten
Reihe von oben auf eine ſehr komiſche Art
um, „das alte Weib, ſagt’ er, als ob er
fortfuͤhre, hatte dem Organiſten einen
Streich geſpielt, und er ſang bey ihrer
Trauung mit einem jungen Menſchen, der
ſie des leidigen Geldes wegen heyrathete:


Was
[29]
Was Gott thut, das iſt wohlgethan!

Soll ich den Kelch gleich ſchmecken,

der bitter iſt nach meinem Wahn;

laß ich mich doch nicht ſchrecken,

weil doch zuletzt

(nehmlich wenn ſie ſtirbt)


ich werd ergoͤtzt

mit ſuͤſſem Troſt im Herzen;

da weichen alle Schmerzen.

Der alte Herr ſahe ſeinen Irthum ein, der
jemand, von dem er befuͤrchtete, daß er
uns bey dieſen Familienangelegenheiten uͤber-
fallen wuͤrde, gieng unſre Thuͤr vorbey.
Herrmann nahm alſo ſein und auf


und, fuhr er fort, (als wenn er das Blatt
zuvor zu rechter Zeit umgekehrt haͤtte) was
wolt’ ich ſagen? und meiner Frauen Ent-
weder, Oder
iſt erfuͤllet! Entweder Littera-
tus oder Schneider. — Was Gott thut,
ſagt’ ich, das iſt wohlgethan! Dieſe Worte
brachten ihn auf Minchen, ich weis nicht
wie —


Minchen verdient einen Litteratus, fuhr
er fort. Sie verdient, ſagt’ ich, einen Lit-
teratus, der ihren Bruder nicht vernachlaͤſ-
ſiget, wenn gleich er ein Schneider iſt. Dies
beſchaͤmte den alten Herrn, der, ſobald nur
etwas
[30] etwas unſere Thuͤr vorbey rauſchte, ſeinen
Sohn verſteckte, um ſich als Litteratus zu
zeigen. Ich glaub’ er waͤr’ eher geſtorben,
als daß er geſtern Abend uͤber Tafel, da
man ſich ungefehr nach ſeinen Kindern er-
kundigte, bemerken ſollen, daß Benjamin
das Schneiderhandwerk ergriffen. „Eine
„Tochter und einen Sohn, antwortete er„
auf die Erkundigung nach ſeinen Kindern,
und mehr keine Sylbe. — Ich kann mir
vorſtellen, wie ſorgfaͤltig er ſein eigenes Bie-
geleiſen, Nadel und Zwirn und Scheere und
Schuſterpfriem und Leiſten und Toͤpferrad
verborgen haben wird.


Minchen, ſagt’ er, ohn auf meine Zu-
rechthuͤlfe zu achten, iſt ein Maͤdchen „die
der Familie keine Schande machen wird„


Er erzaͤhlte mir ihre Vorzuͤge, die ich
gottlob! beſſer wußte, wie ein Mann, der
ſeines Sohns ſich ſchaͤmen konnte, blos
weil der Sohn ein Schneider war. Bey
alledem hoͤrt’ ich ihr Lob mit Vergnuͤgen.
Da er aber auf ihre Kinderjahre kam, ward
ich entzuͤckt. Ich fuͤhlte die Worte von gan-
zem Herzen: Was Gott thut, das iſt
wohlgethan!


Der
[31]

Der alte Herr hieß mich waͤhrend dieſer
Erzaͤhlung Herr Candidat, und freute ſich,
daß auch ich ihn Herr Candidat nennte.
Eine Hoͤflichkeit iſt der andern werth. Je
oͤfter ich Herr Candidat ſagte, je mehr er-
zaͤhlt’ er mir von Minchen mit einer ge-
wiſſen vaͤterlichen Wohlmeinung, und je oͤf-
ter nannt’ er auch mich wieder Herr Candi-
dat. Er fieng an, mir dieſen Titel beyzu-
legen.


Ein Paar loſe Buben (ich erzaͤhl ein
Paar Geſchichtchen von meiner Mine) hat-
ten aus einem Finkenneſte zwey Eyerchen
geſtolen, und den Inhalt derſelben heraus-
geblaſen. Dies erzaͤhlten dieſe Buben dem
kleinen Minchen. Sie bildete ſich ein —
ſie hat eine ſtarke Einbildungskraft — daß
das beraubte Paar ihr verlaßnes Neſt vom
benachbarten Baume anſaͤhe, und ſich ihr
Leid einander klagte. — Minchen klagte
mit. Das liebe Maͤdchen wußte, daß man
der Henne die Eyer nicht wegnimmt, daß
ſie ſolche als getreues Hausthier dem Men-
ſchen hinlegt. Sie bat ihre Mutter um
zwey Eyer, die ihr heute und geſtern die
Henne mit der ſchwarzen Muͤtze geſchenkt
hatte, und hat den Benjamin, ihr den Ge-
fallen
[32] fallen zu thun, die Wallfahrt auf den Bir-
kenbaum zu uͤbernehmen, und das verlaßne
eiskalt gewordene Finkenneſt durch die zwey
Huͤnereyer zu entſchaͤdigen. Dieſer ſchlug
es der Gefahr wegen aus, er war zu der
Zeit noch link und lahm — und bemerkte
ſehr weislich, daß die Huͤnereyer groͤßer
waͤren, als die Finkeneyer, die er ſelbſt in
den Haͤnden der Buben geſehen. Minchen
freute ſich daruͤber: indem ſie glaubte, den
Schaden deſto vollſtaͤndiger zu erſetzen. Ge-
gen kleine! große! Sie bat ihren Bruder,
und bat ihn wieder. Er aber blieb bey ſei-
nem Nein, und ſeiner weiſen Bemerkung. —
Endlich ſah ſie den Baum einigemal an,
uͤbermaas ſich und ihn, und da ſie ganz al-
lein war, erſtieg ſie ihn, und legte die bey-
den Eyer in das verlaßne Neſt, in Hof-
nung, es wuͤrden ſich die Eigenthuͤmer wie-
der zu Hauſe finden. Die Voͤgel, die haͤu-
fig auf den Aeſten des Baumes ſaßen, den
ſie erſtieg, wurden nicht im mindeſten ver-
ſcheucht. Sie ſahen ſie ohngefehr, wie
fromme Leute einen Engel ſehen wuͤrden. —
Den beyden Finken, die Minchen vor die
beſtolne Eltern hielt, ſah’ und hoͤrte ſie die
Freud’ und Dankbarkeit an. Voll Entzuͤ-
ckung
[33] ckung uͤber dies alles huͤpfte Minchen auf
dem Baum, und fiel auf die Erde, ſo daß
ſie ſich nicht regen konnte. Einer von den
boͤſen Buben ſah ſie liegen; allein es war
ihm nicht viel anders, als ein ausgeblaſe-
nes Finkeney. Ihre Mutter, der man ih-
ren wuͤrklichen Tod angekuͤndiget hatte, kam
halb todt zu ihrer Tochter, die ſich nach und
nach erholte. Der ganze Fehler meynte
Minchen, (wiewohl kindlich) laͤge darin,
daß ſie ſich ſchon auf dem Baum gefreut
haͤtte —


Ich haͤtte ſie ſollen auf dieſem Bette der
Ehren ſehen, ſagt’ ich, da der alte Herr an
dieſe Stelle kam. — Sie iſt eine gebohrne
Koͤnigin, ſetzt’ ich hinzu.


  • Der alte Herr. Ein Litteratus wird ihr
    ſchon zu Theil werden —
  • Ich — Benjamin that unrecht, daß er ſich
    entſchuldigte.
  • Der alte Herr — link und lahm.
  • Ich — Wer nur ein Bein hat, wagt
    nur ein Bein.
  • Aber, fuhr der alte Herr fort, ein Huͤ-
    nerey —

Zweiter Th. CBey
[34]

Bey Gott iſt das einerley, erwiedert’
ich, nur bey den Finken nicht. — Ich
glaube, Herr Candidat, bey unſern meiſten
guten Handlungen iſt ein Huͤnerey, anſtatt
eines Finkeney’s. —


Lieben Leſer! ſeht da Minchen! Iſts
moͤglich, daß der alte Herr ſo was erzaͤh-
len, und der alte Herr bleiben konnte? —


Minchen gieng einen ſchoͤnen Morgen
ins Feld, und begegnet’ einen Jungen mit bey-
den Haͤnden in den Haaren und weinen bit-
terlich. Er hatt’ einen Milchtopf zerbrochen,
und befuͤrchtete von ſeiner Mutter daruͤber
geſchlagen zu werden. Sey gutes Muths,
ſagte Minchen, und nahm ihm die rechte
Hand von den Haaren, die linke Hand gab
ſich von ſelbſt. Er lies ſich troͤſten. Je
naͤher er aber zum Dorfe kam, je langſamer
gieng er, und da er das Haus ſah, fieng er
von neuem an zu weinen, und wolte durch-
aus wieder mit der rechten Hand in die Haa-
re — die linke nach. — Die Mutter des
Jungen kam ihnen entgegen, und ihr erſtes
Wort war: der Topf. Minchen trat vor
und ſagte: liebe Nachbarin, ich! ich! bin
den Topf ſchuldig. Seht! ich gieng ſchnell
zu, und da war der Topf hin. Meine
Mut-
[35] Mutter hat heute die Waͤſche, und da wißt
ihr kann man nicht ſagen, daß ein Topf
gebrochen iſt. Wenn die Waͤſche vorbey
iſt, will ich euch einen andern Topf brin-
gen. Die Baͤurin war gegen des alten
Herrn Toͤchterchen ſo galant, daß ſie kei-
nen Topf verlangte. Minchen verbat
dieſes Geſchenk. Der Jung indeſſen, ſo-
bald er merkte, daß die Mutter ſich gefun-
den hatte, ſprach Minchen los, und eignete
ſich der Wahrheit gemaͤß alle Schuld zu.
Nehmt keinen Topf, Mutter, ſie hat ihn
nicht zerbrochen, ich ſah, wie es alles ſo
ſchoͤn gruͤn und gelb auf dem Felde war,
und da fiel der Topf mir aus der Hand.
Die Baͤurin war ſo bewegt, daß ſie Minen
wie eine Heilige verehrte, und an ihrer Hand
zu Hauſe begleitete. Ich erkundigte mich
nach dem Jungen, und wuͤrd’ es gern ge-
ſehen haben, daß Helm ſich durch dieſe große
That in ſeiner Jugend ausgezeichnet haͤtte;
allein der Herr Candidat verſicherte, daß
dieſer Edle im ſiebenten Jahre ſelig verſtor-
ben waͤre. Alle Welt, fuͤgte der alte Herr
hinzu, ſagte: der Jung’ iſt zu ſchad’ fuͤr
dieſe Welt, und die Wahrheit zu ſagen, ich
wundre mich, daß Mine ſo gros geworden
C 2iſt
[36] iſt. Der liebe Gott weis freylich was gut
iſt, Herr Candidat, erwiedert’ ich, und will
gern ſo was im Himmel haben; indeſſen iſt
es auch auf der Erde zur Art noͤthig. Was
wuͤrde ſonſt am Ende aus uns werden?


Der alte Herr gefiel mir ſo ſehr bey die-
ſer Gelegenheit, daß ich ihn bey mir ſelbſt we-
gen ſeiner heutigen Fuͤhrung und wegen vie-
ler andern mir bewußten Umſtaͤnde zu entſchul-
digen anfieng. Wuͤrde nicht Minchens
Zeugnis ſelbſt wider ihn das Wort genom-
men haben, ich haͤtt’ ihn noch laͤnger und
mehr entſchuldiget, und vielleicht eben ſo
oft Vater genannt, als ich ihn jetzo Herr
Candidat zu ſeiner Seelenfreude nannte.


Es fiel mir zur rechten Zeit ein, daß
man mit dem Vaternamen ſehr behutſam
ſeyn muͤſſe, da das ganze Chriſtenthum dar-
innen beſtehet, daß Gott unſer Vater iſt.


Minchen (aus der Erzaͤhlung des alten
Herrn) nahm ſich in ihrer Kindheit immer
der ſchwaͤchlichſten Pflanzen an. Sie begeg-
nete ihnen, wie armen Leuten. Sie begoß
ſie zuerſt, und ſtreichelte, liebkoſete und troͤ-
ſtete ſie. Wenn der Wind eins beſchaͤdigte,
zog ſie ihm das gebrochene Bein in Ord-
nung, und heilte den Schaden. Gieng ihr
eins
[37] eins aus, war es ihr ſo, als wenn was le-
bendiges geſtorben waͤre. Gott hab es ſe-
lig, ſagte ſie, und begrub es in die Erde,
die, wie ſie ſagte, unſer aller Mutter iſt.


Das iſt die Weiſe aller guten Seelen,
bemerkt’ ich, und der Herr Candidat fuͤhrte
bey dieſer Gelegenheit an, daß mein Vater
keinen Citronen oder Pomranzenkern in die
Erde geſteckt. Ich halte dies, haͤtt’ er zu
ihm geſagt, fuͤr eine Suͤnd’ in einem Lande,
wie Curland, einen Citronenbaum zu pflan-
zen. Aber die Blaͤtter riechen ſchoͤn, und
ſind gut im Schnupftobak, ſagt ich zum
Herrn Vater. Der Blaͤtter wegen, erwie-
dert’ er, muß man keinen Citronenbaum in
die Welt ſetzen. Nichts halb, lieber Freund!
und ein Blat iſt kaum ein Viertel. — Ich
ſahe wohl ein, daß der Herr Candidat mei-
nen Vater bei dieſem Umſtande ſehr unrichtig
berechnete; indeſſen ſah ich keine Pflicht ab,
ihn auf den rechten Weg zu lenken, und hie-
durch die edle Zeit zu verlieren. Wo iſt eine
Zeit, die edler waͤre, als die, wo ich von
Minchens Kinderjahren erzaͤhlen hoͤrte. Wer
ein Maͤdchen kennen will, frage nicht wie es
jezt iſt, da es Ja ſagen ſoll; ſondern wie’s
als Kind war, wo noch an kein Ja gedacht
C 3wer-
[38] werden konnte. Dies war freylich mein Fall
nicht mit Minchen. Ich hatt’ ihre Kinder-
jahre nicht zu dieſem Belag in beweiſender
Form noͤthig; allein ich war entzuͤckt, meine
Vorſtellungen von den erſten Jahren ihres
Lebens ſo genau getroffen zu finden; ich fand
alles, wie ich’s mir gedacht hatte.


Noch eins von Minchen unter ſo vielem.
Ein benachbarter von Adel hatt’ einen kleinen
juͤdiſchen Knaben, der mit Pfeifenkoͤpfen fuͤr
andre Juden herumgieng, in Feſſeln legen
laſſen, weil er eben zu der Zeit, da dieſer
Judenknabe ihm Pfeifenkoͤpfe angebothen,
ſein Federmeſſer nicht vorfinden konnte. Der
Knabe ward gleich bis aufs Hemde ausge-
zogen; allein man entdeckte kein Federmeſſer,
ob gleich er noch keinen Tritt oder halben
Schritt aus dem adlichen Hofe ſeit der Zeit
geſetzet hatte, da das Meſſer vermißt war.
Der Edelmann behielte zu Anfang wohlbe-
daͤchtig alle Pfeifenkoͤpfe. Da ſich die zwey
Eigenthuͤmer zur rechtlichen Vindication an-
gaben, macht’ er ihnen viele Schwierigkeiten
und ſetzt’ auf das verlohrne Meſſer einen uner-
hoͤrten Lieblingswerth. (Pretium affectionis)
Es wuͤrden die Vindicanten nichts dagegen
ausgerichtet haben, wenn ſich nicht zwey an-
dre
[39] dre benachbarte Edelleute, die zu ihren Piſto-
len: macht euch fertig, ſagten, dieſer Juden
und ihrer Pfeifenkoͤpfe angenommen haͤtten.
Der arme Junge blieb alſo der einzige Gegen-
ſtand der Grauſamkeit, die durch dieſen Vor-
gang noch mehr vergroͤßert ward. Der Un-
gluͤckliche ſolte verbuͤßen, daß ſich die Juden
als Vindicanten und die zwey Edelleute als
Sekundanten gemeldet hatten. Man konnte
nicht begreifen, was Herr v. — mit dieſem
Arreſt beabſichtigte; indeſſen ſchien er zu glau-
ben, daß ſich einer von den Iſraeliten mel-
den, und den armen Jungen loͤſen wuͤrde.
Alles bedaurte den ungluͤcklichen Knaben.
Chriſt und Jude ſprach von des Edelmanns
Grauſamkeit. Der Chriſt ſagt’ indeſſen, es
iſt ein Judenknabe, und der Jude, wer wirds
mit dem vornehmen Chriſten anbinden. Die
zwey Eigenthuͤmer der Pfeifenkoͤpfe, welche
dem Ungluͤcklichen die Commißionsguͤter an-
vertrauet hatten, giengen auch wie der Prie-
ſter und Levite vorbey, und wuͤnſchten ſich,
ſo oft an die Grauſamkeit des Edelmanns ge-
dacht wurde, Gluͤck, daß ſie ihre Pfeifenkoͤ-
pfe in Sicherheit haͤtten. Der grauſame
Edelmann, dem das Brod und Waſſer mit
der Zeit zu koſtbar ward, welches er zu dem
C 4hohen
[40] hohen Ausloͤſungspreis treufleißig geſchlagen
hatte, ſetzte dieſen Preis bis auf die Helfte
herab. Allein niemand that einen Both.
Wegen der Pfeifenkoͤpfe ſchlugen ſich ſogleich
zwey Edelleut’ ins Mittel, und bedrohter
ihren Mitbruder, mit ihm Kugeln zu wech-
ſeln, oder ihm einen rothen Hahn aufs Haus
zu ſetzen. Was iſt aber ein Judenjunge ge-
gen meerſchaume Pfeifenkoͤpfe? Die Eigen-
thuͤmer hatten ſich, unter uns geſagt, mit
dieſen Renomiſten abgefunden. Die Hoch-
wohlgebohrnen Schlaͤger droheten nicht um-
ſonſt, ſondern vor Geld und gute Worte. —


Der arme Judenjunge! Zu den ſchoͤnen
Reden, womit man ihn bedaurete, und ſich
uͤber die Grauſamkeit des Edelmanns beklagte,
kam nun noch der Umſtand, den man hinzu-
fuͤgte: der Edelmann haͤtte den Preis des
Federmeſſers und den des Brods und Waſ-
ſers, womit der Knab’ im Gefaͤngniße bekoͤ-
ſtiget worden, auf die Helfte herabgeſchla-
gen — hiebey bliebs. — Es war um
Weynachten, da Minchen und ihr Bruder
ihren bemittelten Verwannten muͤtterlicher
Seits beſuchten, um ein Chriſtgeſchenk, wel-
ches in allerley Spielzeug beſtand, abzuho-
len. — Dieſer Verwannte wohnte dem Ty-
ran-
[41] rannen noch naͤher. Man weis, wie gern
Kinder, und beſonders wie gern Maͤdchens
ſpielen. Es war Weynachten, wo die Na-
tur den Kindern, außer den Schneebaͤllen,
die keinem Maͤdchen anſtehen, alles Spiel-
zeug verſagt. — Weynachten iſt ein wah-
res Kinderfeſt, an dem das Spiel zur an-
dern Natur wird. Es liegt uns im chriſt-
lichen Blut, und alte Leute ſelbſt muͤſſen ſich
zwingen, wenn ſie nicht ſelbſt in Weynachten
ſpielen wollen. — Alles dieſes zuſammen-
gerechnet, in Summe, konnte Minchen von
ihrem Entſchluß nicht abwendig machen.
Ihre Verwannten waren furchtſam wie Tau-
ben, die in der Nachbarſchaft von Raubvoͤ-
geln geniſtelt haben. Der arme Judenjunge
ſtoͤrt’ ihre heilige Chriſtfreude. Sie waren
nicht halb ſo weynachtsfroh, als ſie es ſonſt
geweſen ſeyn wuͤrden. Das Federmeſſer hatte
ſich nach der Zeit vorgefunden, und der un-
ſchuldige Knabe war blos wegen des verzehr-
ten Brods und Waſſers in Ketten und Ban-
den. — Minchen ſchickte ſtillſchweigend
durch ihren Bruder Benjamin, der aber kein
Stuͤck von dem Seinigen dazu legte, ihr
Weynachtsſpielzeug dem Edelmann, um den
Knaben zu befreyen. Benjamin hatte Gele-
C 5gen-
[42] genheit zu Schlitten hinzukommen: denn
ſonſt waͤr’ ihm dieſer Liebesdienſt, weil er
hinkte, auch etwas zu ſtehen gekommen, ob-
ſchon er von ſeinem Spielzeug kein Stuͤck da-
zu gelegt hatte, und obgleich es nur uͤber
Feld war. Haͤtt’ er nicht Gelegenheit gehabt,
eine Schlittenfarth zu gewinnen, die bey ihm
uͤber alles gieng, es waͤr’ aus der Negotia-
tion nichts geworden. — Zu Benjamins
Ruhme wird bemerkt, daß er ſeiner Schwe-
ſter die Erlaubnis gegeben, ſich ſeines Spiel-
zeugs, deſſen Eigenthum er ſich aber aus-
druͤcklich vorbehielt, zu bedienen. Es war
indeſſen nicht Spielzeug fuͤr Maͤdchen, die
am liebſten eine Wiege, eine Puppe, und
ſo etwas lieben. Benjamin ward, weil er
als ein Knabe mit Spielzeug angemeldet
wurde, vorgelaſſen. Der ehrliche Benjamin
erweckte ſogleich ein Haͤndeklatſchen, da er
nur ins Zimmer trat; denn man glaubt’
einen großen Kram, und es war nur ein Arm
voll. Urſache genug! daß ſogleich ſcrutinirt
und Benjamin bei dieſem Verhoͤr nach Lan-
desmanier mit dem Stock hochadlich bedro-
het wurde. Benjamin lies es nicht zur pein-
lichen Frage kommen, ſondern geſtand alles
haarklein. — Meine Schweſter, ſagte der
be-
[43] bedraͤngte Benjamin, hat an allem Unheil
ſchuld. Kurz, es blieb kein Wort auf ſeinem
verzagten Herzen. — Benjamin war zu
dieſer Zeit noch nicht zum Darius gediehen,
und wer kennt’ ihn nicht vom Finkenneſt?


Der Teufel, dachte Herr v. —, wenn
es nur nicht ein ſatyriſcher Ball iſt, den der
alte Herr auf mich ſchlaͤget, und hatte Luſt,
ihn auf den jungen Herrn zuruͤckzuſchlagen,
und den armen Benjamin mit ſeinem chriſt-
lichen Spielzeuge dem Judenjungen zuzuge-
ſellen. Da aber Benjamin, der aus See-
len- und Leibesangſt aͤchtzte, kniefaͤllig bat,
ſeinem Vater nichts von allem, was der gnaͤ-
dige Herr geſehen und gehoͤret hatte, zu
entdecken, weil Herr Herrmann von die-
ſer Sache nichts, gar nichts wußte, und
ihn an einem ganz andern Ort glaubte; ſo
fiel dem Blutygel zu guter Zeit ein, daß
der alte Herr freylich nur von hinten mit
einem Cavalier geſcherzet haben wuͤrde. —


Der Teufel, dacht’ er wieder, (man
ſah es ihm ordentlich an, daß er jeden Ge-
danken mit dem Teufel anhob,) der alte
Herr wuͤrde nicht den Sohn geſchickt ha-
ben! — Die Sonne gieng wieder in ſei-
nem Angeſicht fuͤr Benjamin auf. Der
Teu-
[44] Teufel, ſagt’ er, deine Schweſter muß ein
feines Maͤdel ſeyn! Die Sache gab zu vie-
len ſatyriſchen Fragen, Benjamins Schwe-
ſter betreffend, Anlaß. Er fragte nach ih-
rem Alter? und ob ſie denn eine ſolche Nei-
gung zu Juden haͤtte? Der Schluß war, daß
nur ein Stuͤck Spielzeug zuruͤckbehalten wur-
de, welches ſich der Junker Fritz ſogleich zuge-
eignet hatte. Der Judenknabe ward losge-
laſſen; — Benjamin aber mußte dieſer
Grosmuth wegen, um der Hochadlichen
Herrſchaft zur Weynachtszeit ein Vergnuͤ-
gen zu machen, dreymal um den großen
Tiſch hinken, und alles wolte vor Lachen
niederſinken. Eine natuͤrliche Polonoiſe!
ſchrie alles, und lachte, was es konnte; nur
der hinkende Benjamin nicht. Der Junker
Fritz gab ſein Spielzeug der gnaͤdigen Mam-
ma zu halten, und verſuchte dem Benjamin
nachzuſpotten, da er aber bey einem Haar
ein adliches Bein gebrochen haͤtte; ſo blieb
es bey einem mahl, und Benjamin ſahe nach
dem armen Judenknaben, der blas wie
eine Leiche ſtand. Der Tod haͤtt’ ihn bald
befreyt, wenn Benjamin dem Tode nicht
zuvor gekommen waͤre. Benjamin bot dem
Judenknaben, ſo bald ſie aus der adlichen
Geſell-
[45] Geſellſchaft im Freien waren, von ſeinem,
oder beßer, von ſeiner Schweſter heiligen
Chriſt an, um ſich dafuͤr Eßen zu kaufen.
Der Judenknabe verbat es aus Religions-
eifer, und blieb lieber hungrig und durſtig,
als daß er ſich fuͤr dieſes chriſtliche Spielzeug
labte. Benjamin hatte ſich bey dieſer Ge-
legenheit die Schlittenfahrt ſo verekelt, daß
er nie ohne Herzensangſt daran denken
konnte. Dieſes Vergnuͤgen hatte fuͤr ihn
keinen Werth mehr. Er hinkte zu Hauſ’
und dankte Gott, daß niemand druͤber
lachte, als wie er dreymahl um den großen
Tiſch hinken mußte. —


Obgleich Benjamin das Spielzeug bis
auf ein Stuͤck, ſo der Junker Fritz behalten
hatte, zuruͤckbrachte, indem er wegen des
uͤbrigen, dreymal um den Tiſch hinken muͤſ-
ſen; ſo ward doch dieſe Begebenheit ſo be-
kannt, daß Minchen daruͤber viel ausſte-
hen, und die bitterſten Thraͤnen weinen
mußte. (Ich hab Urſache, aus der Er-
zaͤhlung des Herrn Candidaten zu ver-
muthen, daß der Herr Vater Minchen
ſelbſt im Litterateneifer reichlich und taͤglich
beſchaͤmt haben wird.) Man zog Min-
chen unter ihres Gleichen mit dem Juden-
knaben
[46] knaben auf, und ſie nahm es ſich unendlich
zu Herzen. Ich habe, ſagte ſie in ihrer
Unſchuld zu Benjamin, den Judenknaben
nicht geſehen, und will es auch nicht. —
Der Spott zehrte ſie ſo ab, als das Gefaͤng-
nis bey Waſſer und Brod den Judenknaben.
Sie fiel in ein Fieber, und nun gieng der
alte Herr in ſich, welcher mit Beyhuͤlfe des
Doktors Saft wieder Seel und Leib ins Ge-
leiſe brachte. — Der alte Herr bemerkte,
daß ſich die Liebe zur Schlittenfarth beym
Benjamin wieder gefunden, und daß Min-
chen noch bis auf den heutigen Tag bleich
im Geſicht wie gewaͤßerte Milch wuͤrde,
wenn man das Wort Jude ausſpraͤche, wie —
(Der Herr Candidat legte ſeine Pfeife hin, und
kam mir dicht ans Ohr, da er mir dieſe Pille
eingab)

ihr Herr Vater uͤber den Ausdruck Melchi-
ſedech
.


Dieſe Zugabe ſetzte mich nicht wenig in
Erſtaunen, und ich machte die Bemerkung,
daß jeder Menſch, der unſchuldigſte nicht
ausgenommen, ein Wort haͤtte, wobey ihm
nicht wohl zu Muth’ wuͤrde, es ſey Melchi-
ſedech — Judenjunge — ich zum Exem-
pel — — —


Gott!
[47]

Gott! muß man denn, rief ich aus,
noch ehe der Herr Candidat geendiget hatte,
Gott! muß man denn ein Fieber ausſtehen,
durch den D. Saft gerettet, und mit ei-
nem Judenjungen gepaart werden, wenn
man Gutes thut! Der alte Herr ſetzte noch
hiezu: und dreymal um den großen Tiſch
hinken!


O Minchen! welch eine Seele haſt du!
(dies fuͤhlt’ ich nur) wie gluͤcklich bin ich,
daß ſie mein iſt! — ich war außer mir. —


Bey dem Alexanderſpiel hatt’ es Min-
chen in der erſten Zeit uͤbel aufgenommen,
daß ihr Bruder Darius immer geſchlagen
wurde. Laß mich den Darius machen,
ſagte ſie zu Benjamin. — Du wirſt ſehen
wir gewinnen. Benjamin aber entſchuldigte
ſich ſehr weiſe mit der Geſchichte, welcher er
nachgeben muͤßte, obgleich ich auch beym
Ringen, eh’ er Darius und ich Alexander
war, jederzeit bey allem ſeinem Schweis
des Angeſichts Ueberwinder war. Nach-
dem ſie groͤßer war, ſetzte der Herr Candi-
dat hinzu, ließ ſie ſich gern ſchlagen und ge-
fangen nehmen. Sie ſah’ es ohnfehlbar
ſelbſt ein, daß es die Geſchichte ſo mit ſich
brachte. Wie viel Muͤhe hatt’ ich, nicht
uͤber-
[48] uͤberlaut zu rufen: Mine! Mine! liebe
Mine! Der alte Herr bemerkte, daß Min-
chen fuͤr ein Frauenzimmer zu viel Herz
haͤtte, und rechnet’ es ihr zum Fehler an. —
Entweder, ſagt’ er, iſt die Rolle daran
Schuld, die ſie bey den Kriegen als aͤlteſte
Prinzeßin Tochter des Darius uͤbernahm —
oder ſie kennt keine Damen von Stande. —
Mag ſie ſich doch, fuhr er fort, der Littera-
tus, der ſie zur Frau macht, beßer ziehen.
Sie fuͤrchtet ſich fuͤr keine Maus und keinen
Froſch, und wenn die Spinnen den Weg
verwuͤrkt haben, zieht ſie das Geweb’ wie
einen Vorhang in die Hoͤhe mit bloßen Haͤn-
den. — Noch bemerkte der Herr Candidat,
daß Mine in ihrer Jugend, obſchon ſie we-
gen des Finkenneſts einmal ruͤhmlichſt vom
Baum gefallen, doch nicht nachgelaſſen, wie-
wohl nur auf der Erde zu huͤpfen, und zu
ſpringen. — Je groͤßer ſie aber wurde, je
ernſthafter, ſetzt’ er hinzu. Nur ſehr ſehr
ſelten wandelt ihr jetzo, fuhr er fort, das
Huͤpfen und Springen an, weit oͤfter aber
das Weinen — welches nach dem Tod ihrer
Mutter ohn’ End’ und Ziel iſt, und das —
(der alte Herr zog ſelbſt den Mund zur Thraͤ-
ne in Ordnung, indeſſen wolt’ es die Pfeife
nicht
[49] nicht zugeben —) und das, ſagt’ er, ſo
ſchoͤne Thraͤnen, und ſchien nicht undeutlich
zu verſtehen zu geben, daß zwiſchen Thraͤnen
und Thraͤnen ſchoͤn und heßlich ſtatt finde. —
Was mich wunderte war, daß er ſelbſt fuͤhl-
te, Minchen ſaͤnge vortreflich. Was das
Spielen betrift, fuhr er fort, ſo hat ſie ihre
eigene Manier. Freylich, dacht’ ich, den
ſteinigten Acker verſteht ſie nicht auszudruͤ-
cken, auch nicht die fuͤnf Gerſten Brodte und
ein wenig Fiſchlein. Da der Herr Candidat
außer ihren erſten Jugendjahren — nichts
von Minchen zu ſagen wußte, was mir nicht
weit genauer und richtiger bekannt war; ſo
lenkt’ ich ihn auf die Univerſitaͤten, allein ich
fand ihn nicht bewaͤrth. Er ſagte davon we-
niger, wie mein Vater von ſeinem Vater-
lande, und dies war wohl natuͤrlich, da mein
Vater gewiß ein Vaterland hatte, der Herr
Candidat aber ſchwerlich auf irgend einer Uni-
verſitaͤt geweſen ſeyn wird. — Des Herrn
Candidaten fruͤhere Spargel, Pfeife in
der freien Luft, und Wein bey der Quelle,
waren bey dieſer Gelegenheit ein Vade
mecum von Studentenſtreichen, womit
er meine Frage nicht befriedigte. Ich brach
alſo ab, ohne ihm, ſo ſchlecht er auch
Zweiter Th. Dbeym
[50] beym Examen beſtand, den Candidatentitel
zu entziehen. Ich weiß nicht, ob ich ſchon
wo bemerkt habe, daß er kein Curlaͤnder von
Geburt war, und daß man ihm ſeine Litte-
ratenwuͤrde aus der erſten Hand nicht wider-
legen konnte.


Ich merkt’ aus meiner Munterkeit, daß
ich dieſe Nacht Minchens wegen eben ſo we-
nig ſchlafen wuͤrde, als ich die vorige Nacht
des neuen Bettes halber geſchlafen; indeſſen
ſah ich dem Herrn Candidaten, meinem ſehr
werthen Herrn Collegen, der ſeine Bouteille
Wein ausgetrunken und ſeinen Teller mit
Tobak bis auf eine halbe Pfeife ausgeraucht
hatte, an, daß er ſchlaftrunken war. Wein
und Tobak hatten hiebey, wie es mir vorkam,
nicht den mindeſten Einfluß. Er fieng mit
mir zu complimentiren an, in welchem Bett
ich ſchlafen wolte und verlangte durchaus das
Bette, wo das Depoſitum lag, weil das, ſo
ich ihm beſtimmt hatte, und in welchem mein
Vater geſchlafen, mit einem Geſimſe war.
Vorhaͤnge konnten in dem Hauſe des Herrn
v. G. an dem Bette nicht ſeyn. Ich glaube,
ſagte der Herr Candidat, da wir uͤber dieſen
Umſtand ſprachen, Herr v. G. haͤtte, wenn
er Adam im Paradieſe geweſen, ſich keine
Schuͤrze
[51] Schuͤrze von Feigenblaͤttern gemacht. Der
Herr v. W. brachte ſich, wenn er zum Herrn
v. G. kam, ſeine ſeidne Vorhaͤnge mit. Ohn-
fehlbar wird wohl die Farbe der Vorhaͤnge
nach Beſchaffenheit des Feſtes geweſen ſeyn.
Mit Zuverlaͤßigkeit weiß ich’s nicht. — Da
ich den Herrn Candidaten verſicherte, daß ich
in dieſem Bette ſchon eine Nacht ſchlaflos zu-
gebracht und den Tribut bezahlt haͤtte: ſo
bat er ſich, wenn es ohne mir etwas zu ent-
ziehen geſchehen koͤnnte, ein Kopfkuͤſſen von
den Meinigen aus. Das war eine neue Ver-
legenheit fuͤr mich wegen des lezten Willens,
den ich ſeinem Aug’ entziehen wolte. Er
ſtand an meinem Bette und wolt’ aus Be-
ſcheidenheit und Dankbarkeit das Kuͤßen ſelbſt
nehmen: ich hatte viele Kunſt noͤthig, ihm
das unterſte in die Hand zu ſpielen. Kaum
war er im Bette, ſo ſchlief er, wovon er
durch ſein Schnarchen untruͤgliche Beweiſe
gab. Ich widmete Minchen dieſe Nacht,
und wenn ich ſchlummerte, ſah ich den Ju-
denjungen und das Finkenneſt und den Milch-
topf, alles in Lebensgroͤße. — Gegen den
Morgen ſchlief ich feſter ein; indeſſen ſagt’
ich dem Herrn Candidaten den erſten guten
Morgen, weil ich ihn aufwachen hoͤrte, und
D 2fuhr
[52] fuhr mit ſechſen aus meinem Bette. Er
dankte fuͤr den guten Morgen; allein er blieb
bey dem Dank, wie ’s ſich eignet’ und ge-
buͤhrt’, im Bette. — Nach ſeinem ſchoͤnen
guten Morgen war ſein erſtes Wort, daß ich
zweymal Minchen gerufen haͤtte. Ich weis
nicht, fuͤgt’ er ſehr hoͤflich hinzu, ob es mei-
ne Tochter iſt? Gewiß, erwiedert’ ich, und
begrif es ſelbſt nicht, wie’s zugieng; ich war
beym Woͤrtchen Gewiß nicht im mindeſten
verlegen: vielleicht kam es, weil der alte
Herr noch im Bette war. — Wie haͤtt’ ich
Minchen verleugnen koͤnnen! Wir haben ge-
ſtern, fuhr er fort, viel von ihr geſprochen,
der Herr Candidat werden es verzeihen, daß
ich Sie ſo lange von meiner Tochter unterhal-
ten. Ich konnte kein Wort hierauf antwor-
ten — ohnfehlbar wolte der Herr Candidat
einen voͤlligen Herzensaufſchluß; allein wie
ſolt’ ich den bewilligen? Der alte Herr Can-
didat war noch immer im Bett und, wie’s
mir vorkam, auf einem Haͤufchen. Er ſchien
nicht in Lebensgroͤße zu liegen und ſo lang
er war; er wußte ſich nicht nach ſeiner Decke
zu ſtrecken.


Damit meine Leſer nur ja nicht auf den
Gedanken fallen, daß ich noch viele Tage
in
[53] in — — geblieben und ihnen all dieſe Tage
meines Aufenthalts — — eben ſo langwei-
lig wie bisher erzaͤhlen werde; ſo will ich nur
kurz und gut bemerken, daß der folgende Tag
zu unſerm Aufbruch beſtimmt war. — Hof-
fentlich wird ihnen dieſe Anzeige eine froͤli-
che Botſchaft ſeyn. —


Der junge Herr v. G. nahm mich we-
gen der Jagd in Anſpruch. Ich hatt’ ihm
daruͤber mein Wort gegeben und ſogar den
Commandoſtab hiebey anvertrauet. Ohne
Murren nahm ich alſo ſeinen Antrag als eine
Ordre an, Vormittage dieſe Jagd anzuſtel-
len. Die Wahrheit zu ſagen: ich wolt’ ihn
auf der Jagd wo moͤglich von der Jagd ab-
bringen, und dieſen Jaͤgertrieb beſchraͤn-
ken. —


Ich war in dieſer ritterlichen Uebung we-
nig erfahren, obgleich ich ein Auge zum Ziel-
ſchuß auf ein Haar hatte, ohne mir durch
Puf, Paf, und durch das Exercitium mit der
Tobakspfeife, dieſe Geſchicklichkeit erzielt, oder
ihr auch nur nachgeholfen zu haben. —
Warum willſt du, ſagt’ ich, ein ſo blutiges
Andenken zuruͤcklaſſen, eben da du von hin-
nen ziehſt? Mein Recht nicht zu vergeben,
erwiedert’ er. Du glaubſt es nicht, man
D 3muß
[54] muß die Baͤren und Woͤlfe im Reſpekt er-
halten, wenn es auch nur durch einen Schuß
iſt, die Beſtien machen unſer einem ſonſt das
Eigenthum ſtrittig — der Haaſe kennt ſeinen
Junker. —


Wir hatten oft angelegt, und eben legte
mein Reiſegefehrt’ an, da ich eine Menſchen-
ſtimme hoͤrte: Rett! Rett!


Herr v. G. kam nicht aus der Stellung:
ich lief und ſchrie wo? wo? hier! hier! wo?
wo? hier! hier! — und denn wieder Rett!
Rett! und mitten drunter mit einer erbaͤrm-
lichen Stimme: Lorchen im Waſſer! — Auch
dies brachte den Herrn Braͤutigam in keine
andre Lage; er hatt’ angelegt. — — Noch
viele Rett’s! Rett’s! und viele hiers! hiers!
und noch mehrere wo? wo? ich rief wo bis
ich ſah — ich ſah die Begleiterin der Fraͤu-
lein v. W. jaͤmmerlich die Haͤnde ringen.
Hier, hier, rief ſie noch zu guter lezt. —
O Gott! matt! matt! Die Waſſer uͤber
Sie! — Ich warf meine Flinte weg, und
dieſe gieng los. Luiſe fiel in Ohnmacht.
Das wird ſich geben, dacht’ ich, und ſprang
ins Waſſer, und brachte das liebe kleine Ge-
ſchoͤpf heraus. Die Angſt hatte ihre kleine
Haͤnde gelaͤhmt. Das Waſſer war ihr mehr
an
[55] an die Seele, als an den Leib, gegangen —
jezt war ſie — friſch wie ein Fiſch worden,
wuͤrde meine Mutter des Reims wegen ge-
ſagt haben. —


Luischen, ſagte ſie, da ſie ihre Beglei-
terin wie todt liegen ſah. Ich nahm einen
Hut mit Waßer, um Luischen ins Seyn zu-
ruͤckzubringen; allein das Wort ihrer Pfleg-
befohlnen: Luischen, hatte ſie ſchon aufer-
weckt. Ich kam mit meinem Hut voll Waſ-
ſer zu ſpaͤt, und goß dies Waßer, welches
zum Schlagwaßer beſtimmt und eingeweihet
war, ſo andaͤchtig aus, als meine Mutter
das Reſtchen vom Taufwaßer ausgegoſ-
ſen haben wuͤrde, welches nach ihrer Mei-
nung ein paradiſiſches Gruͤn befoͤrdert. —
Wir wollen, ſagt’ ich zu Luiſen, unſer
Schaͤfchen aufs Trockne bringen. Es lief
Waßer von ihr herab, wie nach einem ſtar-
ken Regen von den Daͤchern. Luiſe wolt
ſie ſchelten, daß ſie einem Steige zu ſehr ge-
trauet haͤtte; allein Luiſe ſahe wohl ein, daß
das Wiedervergeltungsrecht zu Hauſe nicht
ausbleiben wuͤrde. Es ward alſo verabredet,
daß ſich das Fraͤulein v. W. ganz ſauber
und ſchoͤn ankleiden, und darauf erſt ihrer
Mutter den Vorfall erzaͤhlen ſollte. Wißen,
D 4ſagte
[56] ſagte ſie, muß Sie’s. Mich, bat ich, laſ-
ſen Sie aus dieſer Geſchichte. Sie? ant-
wortete die Kleine, und reichte mir die
Hand. Ich wußte nicht ob dies Sie? Ja
oder Nein war. Es ſprach das liebe kleine
Maͤdchen Sie ganz beſonders aus. — Ich
koͤnnt’ es ihr zur Noth noch nach ſprechen! —
Waͤhrend der Zeit kam mein Reiſegefehrt’,
und, ohne ſich nach ſeiner Braut zu erkun-
digen, macht’ er mir Vorwuͤrfe, daß ich
ihn mit meinen Wos und Luiſe mit ihren
Retts und Hiers geſtoͤret haͤtte. Bruder,
ſagt’ ich, das Wort Rett iſt das deutſche
hohe Nothwort. Wenn es ein Sterbender
hoͤrt, muß er ſich noch aufrichten. — Nur
keiner, fiel er ganz gelaſſen ein, der ange-
legt hat, und was haſt denn du getroffen?
fuhr er fort. Dies edle Geſchoͤpf, ſagt’ ich.
Er ward von allem unterrichtet, und ver-
ſicherte hoch und theuer, daß wenn er nicht
angelegt gehabt, er gewiß eben ſo, wie ich, ge-
laufen und die Flinte weggeworfen haben
wuͤrde, ſo unverantwortlich es gleich waͤre, Pul-
ver und Schrot, dieſe Gabe Gottes, umkom-
men zu laßen. Luiſe lachte herzlich. —
Die liebe Kleine ſah mich blos lieblich an.
Beyde wußten ſich nicht drinn zu finden,
daß
[57] daß Pulver eine Gabe Gottes ſey. Der
junge Herr v. G. konnte nicht leugnen, den
Namen Lorchen gehoͤrt zu haben, indeſſen
hatt’ er angelegt, das wolte mehr ſagen, als
Lorchen. Es iſt wahr, durchs Ohr kommt
weniger Mitleiden ins Herz, als durchs
Auge. Man kann eher ſeine Stimme als
ſein Auge verſtellen, und wen ſiehſt du,
wenn du jemand ins Auge ſiehſt? — dich
ſelbſt im Kleinen. Du biſt in gewißer Art
gegen dich ſelbſt mitleidig; allein hier iſt
nicht von mehr oder weniger die Rede, ſon-
dern von Menſchenſtimme und von einem
Jaͤger, der angelegt hat. —


Das kleine Fraͤulein und ihre Begleiterin
ſchlichen ſich nach Hauſe, recht als ob die
Frau v. W. ſie hier ſchon beym Waſſer be-
merken koͤnnte. —


Mein Reiſegefehrt’ unterrichtete mich in
noch einigen Jaͤgerkunſtworten, und da ihm
eben ein Haaſ’ aufſtieß, den er traf, war
unſre Jagd zu Ende. — Ich ließ mir ſei-
nen Unterricht mit vielem Eifer gefallen,
um ihn deſto mehr zu meiner Predigt vorzu-
bereiten, die ich uͤberdacht hatte, und noch
uͤberdachte. Gewiß war mein Reiſegefehrte
vergnuͤgter uͤber ſeinen Haaſen, als ich uͤber
D 5die
[58] die Ehre, ſeine kleine Braut gerettet zu ha-
ben. Er lies mich merken, daß im Hof-
dorf’ ein ſchmuckes Maͤdchen waͤre, ſo wie
Fraͤulein v. W. wie er ſich ausdruͤckt’ in die-
ſem Jammerthal nicht werden wuͤrde, und
wenn Herr v. W. nicht ein Gut haͤtte, das
er ihm gleich, ohne ſich ſelbſt zu entbloͤßen,
nach ritterlich uͤberwundenen academiſchen
Jahren uͤberlaßen koͤnnte; ſo wuͤrd’ er, auſ-
ſer dem ſchmucken Maͤdchen im Hofdorfe,
ſchon eine Frau finden. Ich ſprach viel von
der guten Gemuͤthsart der Kleinen, und der
edlen Gemuͤthsart ihrer Mutter; allein dies
ſchien ihm gegen das Gut, das er nach uͤber-
wundenen Univerſitaͤtsjahren zu bejagen ge-
daͤchte, eine unbedeutende Kleinigkeit zu
ſeyn.


Obgleich der Vorfall mit Lorchen mir
eben keinen gluͤcklichen Erfolg uͤber eine Pre-
digt erwarten lies, die ich meinem kuͤnftigen
Kirchenpatron zu halten entſchloßen war;
ſo wolt’ ich doch nicht alle Hofnung aufgeben.
Meine Leſer wißen ſchon, daß ich waͤhrend
dem Anlegen auf die Bekehrung meines jetzi-
gen Reiſegefehrten und kuͤnftigen Goͤnners
gezielt hatte, und wer haͤlt nicht gern eine
Predigt, die er im Concept hat?


Bruder,
[59]

Bruder, fieng ich an: die Spinne faͤngt
Fliegen.


  • v. G. Der Menſch Baͤren, Woͤlfe,
    Haaſen und ſo weiter.
  • Ich. Der Menſch, Bruder, — aber lei-
    der zwiſchen Menſch und Menſch iſt Un-
    terſchied. — Du wuͤrdeſt kein Scharf-
    richter ſeyn, nicht wahr?
  • v. G. Warum nicht? wenn dem Delin-
    quenten die Augen verbunden ſind.
  • Ich. aber Menſchenblut. — Dein Blut
    bey kaltem Blute ſehen, ich kanns nicht,
    wenn Ader gelaßen wird. — Mich duͤnkt’
    ich ſeh’ den Menſchen mehr, als nackt,
    wenn ich ſein Blut ſehe — das der
    liebe Gott zweymal verſchloßen hat. —
    Im Kriege hat niemand kaltes Blut, als
    der Oberfeldprobſt und ſeine Juͤnger. —
    Wir haben ſchon uͤber Krieg und Jagd ge-
    redet: allein es iſt auf kein gut Land, ſon-
    dern auf ſteinigten Acker, gefallen, den
    der alte Herr in Muſik geſetzt hat. — Du
    biſt zu edlern Geſchaͤften da.
  • Er. Gelt! Lorchen aus dem Waſſer zu
    ziehen. —
  • Ich. Und wenns die ſchmucke Hofdirne
    geweſen waͤre?

Er.
[60]
  • Er. Bruder, ein ander Ding! ich weiß
    auch, wenn der Menſch ſelbſt ſchreiet,
    der in Noth iſt — hohl mich — Haͤtte
    Lorchen ſelbſt geſchrien, und nicht ſchreien
    laßen, ich waͤre gelaufen, auch wenn
    ich eben angelegt haͤtte. —
  • Ich. Lorchen bey Seite. —
  • Er. Schoͤn. —
  • Ich. Ein Jaͤger und Student? —
  • Er. Das ſolt nicht paßen?
  • Ich. Haſt du den Plinius uͤberſetzt? —
  • Er. Nein! dieſe Ehre habe ich nicht ge-
    habt. — Das ſolt mein kuͤnftiger Schwie-
    gervater, Gott hab’ ihn ſelig! hoͤren! —
  • Ich. Des Plinius Brief an ſeinen Corne-
    lius Tacitus iſt fuͤr dich. — Ridebis, et
    licet rideas,
    hebt er ſich an. Ego ille,
    quem noſti, apros tres et quidem pulcher-
    rimos cepi. Ipſe inquis?
    und der Schluß:
    Proinde quum venabere, licebit, auctore
    me, panarium et lagunculam, ſic etiam
    pugillares, feras. Experieris, non Dia-
    nam magis montibus quam Mineruam iner-
    rare. Vale.
  • Er. In deutſch?

Ich.
[61]
  • Ich. Verſtehſt du nicht latein?
  • Er. Hier und da erjag’ ich ein Wort.
    Den Plinius hab’ ich nicht uͤberſetzt: es
    ſoll den Mund zu ſehr ſpitzen, ſagt mein
    Vater. —
  • Ich. Plinius hat drey, und was noch
    mehr iſt, recht ſchoͤne wilde Schwein’ er-
    jagt. —
  • Er. Das iſt mein Mann. — Schoß er?
  • Ich. Plinius?
  • Er. Uebereilt, Bruder! freylich — das
    Pulver iſt ſpaͤtere chriſtliche Erfindung. —
  • Ich. Er jagt’ und ſtudirte.
  • Er. Siehſt du!
  • Ich. Bey der Jagdtaſche und Hirſchfaͤnger,
    um in unſrer Mundart zu reden, hatt’ er
    Bleyfeder und Schreibtafel, und was
    noch mehr iſt, er verſicherte ſeinem
    Freund —
  • Er. Hoffentlich ein Jagdſpoͤtter, wie du. —
  • Ich. Daß Diana und Minerva Geſchwi-
    ſterkind waͤren, und zuweilen auf Jagd-
    bergen ſich verloͤren, aber!
  • Er. Aber! beym Plinius ein aber? —

Ich.
[62]
  • Ich. Ein zu ſpitzer Mund. — Er fieng
    Worte, wie er Wild fieng — vielleicht
    verdarb ihn die Jagd. —
  • Er. Mich ſoll ſie nicht verderben, weder
    Herz noch Styl. — Eins bekenn ich —
    ein Hund gilt mir zween Bauren. Hunde
    ſind aber auch Geſchoͤpfe, die wenigſtens
    Wackers verdienten zu ſeyn. (Aufſeher
    uͤber die Bauren.) Wir brachen geſtern
    zu ſchnell ab von den Hunden. Es giebt
    Hundsinſeln, warum nicht feſtes Land
    von der Art? Mein Vater hetzt nicht
    gerne, das haſt du wohl geſtern beym
    Schuß gehoͤret, wie man die Hunde los-
    lies. Dein Vater hingegen — „Die
    „Sternſeher haben dieſen Namen in den
    „Himmel verſetzt. Die Dichter ſchildern
    „uns die Diana in Geſellſchaft einer Kup-
    „pel Hunde.„ Das iſt ein Weib! „Die
    „griechiſchen Damen hatten ſchon Huͤnd-
    „chens.„ Es iſt nur zu wenig fuͤr die
    Hunde, ſonſt waͤre der Gedanke was
    werth; Gott wolte nicht, daß ein Menſch
    dem andern aufwarten ſolte, drum Hunde,
    die ſind gebohrne Lakaien und Kammer-
    diener. Sie bieten ſich gleich zur Miethe
    an, wo ſie einen Menſchen ſehen. Ein
    Menſch
    [63] Menſch, zu dem kleine Kinder und Hunde
    kommen, ohne daß er ſie lockt, iſt ein
    guter Menſch. Siehſt du, hab’ ich
    nicht von geſtern behalten?
  • Ich. Treflich! allein warum nicht noch
    eins von geſtern Mittag? Jener Philo-
    ſoph der alten Welt, der aus Gefaͤlligkeit
    fuͤr die gnaͤdige Frau des Hauſes ihrem
    Schooshuͤndchen Schmeicheleyen vorſagte!
    Ey der! da er das Huͤndchen in die Hoͤhe
    hob, um es zu kuͤſſen, p. — es ihm in
    den Bart und die Geſellſchaft lachte,
    und der Philoſoph hatte nicht das Herz,
    ſeinen Bart zu trocknen. —
  • Er. Das erzaͤhlte dein Vater der Frau
    v. W. zum Munde, die geſtern bitterboͤſ’
    auf die Hunde war, wer weiß obs wahr
    iſt!
  • Ich. Zwiſchen wahr und wahrſcheinlich,
    in Ruͤckſicht der alten Welt, kein Un-
    terſchied! —
  • Er. Wahr oder nicht wahr! zu meinen
    zwo Flinten, einem Paar Piſtolen, und
    dem Jagdmeſſer, wirſt du mir doch ein
    Paar Hund’ erlauben? Eine Flinte,
    Bruder, iſt der Hunde Fahne. Es ſol-
    ten viel, viel mehr, als ein Paar, bey
    der
    [64] der Fahne ſeyn; da du aber kein Freund
    von Hunden biſt —
  • Ich. Bruder! die Wiſſenſchaften lieben
    Stille, in ein weiches Herz ziehen ſie ein,
    und machen Wohnung daſelbſt. Wald-
    hoͤrner ſind nicht ihr Inſtrument. Ich ſoll
    dein Paſtor werden. Du, und nicht der
    Wacker, ſondern der letzte deiner Bauren,
    ſind gleich vor Gott und — — —

Da ſah man uns kommen. Ich ward,
weil ich leer kam, ausgelacht; uͤber Tafel
aber, da die Frau v. W. die Geſchicht’ ihrer
Tochter erzaͤhlte, beſtand Herr v. G. der
juͤngere ſchlechter, als ich. Herr v. G. be-
ſchaͤmte ſeinen Sohn. Wer wird ſeine
Braut um einen elenden Haaſen uͤberlaßen,
die Erſtgeburt um ein Linſengericht? So
ſeyd ihr Jaͤger alle. Ich bin auch ein Jaͤ-
ger, das weißt du, aber —. Frau v. G.
entſchuldigt’ ihren Sohn, ich weiß nicht
mehr womit? Frau v. W. dankte mir herz-
lich, und ihr Gemahl ſchalt aus Hoͤflichkeit
auf ſeine Tochter, um dem jungen Herrn
v. G. Genugthuung zu verſchaffen. Mei-
netwegen war er in erſchrecklicher Verlegen-
heit: denn ſo ſehr dieſer Vorfall zu einem
neuen Feſte Anlaß zu geben ſchien; ſo blieb
es
[65] es ihm doch bedenklich, weil ich nicht von
Adel war, und wie haͤtt’ ich mir ein ander
Schickſal, als der Mann mit dem einem Hand-
ſchu
, verſprechen koͤnnen, der a Dato nach
ſieben Tagen ſterben wird. — Er kaͤmpft’
indeſſen, weil es ſeine Tochter betraf, mei-
netwegen auf eine unbeſchreibliche Art, und
endlich kam es dahin, daß er mit vielen
Complimenten ſich bedankte, und dieſe Be-
gebenheit an den Rand zu verzeichnen ſich
verbindlich machte; wie denn auch meine
Geſundheit bey Tafel von ihm ausgebracht
wurde. Es war eine unausſprechliche Hoͤf-
lichkeit, mit der mir der Herr v. W. zu ver-
ſtehen gab, daß beym: was iſt geſchehen?
die Frage wer thats? nothwendig ſey.


Hoͤflichkeit und Feſtlichkeit ſcheinen und
ſind zuweilen wirklich Antipoden: allein un-
ſer Herr v. W. hatte dieſe Eigenſchaften ſo
zuſammen vereinigt, daß ſie wie eins waren.
Beyde ſtammen vom Hofe: der Geringere
iſt hoͤflich aus Falſchheit oder Furcht, der
Vornehme aus Stolz, und dies iſt auch
die rechte Quelle der Feſtlichkeit. So wie
ſich eine große freye Stadt zum Hofe ver-
haͤlt, ſo die Urbanitaͤt, die Staͤdlichkeit,
zur Hoͤflichkeit.


Zweiter Th. EWenn
[66]

Wenn dieſe Bemerkungen zur Erlaͤute-
rung des Charakters des Herrn v. W. etwas
beyzutragen im Stande waͤren, ſo wuͤrd’ es
mir lieb ſeyn. — Was mich bey der Frage:
wer thats? betraf; ſo war ich hiebey verlege-
ner, als bey dem Sprung ins Waſſer. Ich
konnte nichts mehr, als meinen Reiſegefehr-
ten entſchuldigen. Der herzliche Blick der
Frau v. W. und das frohe Laͤcheln der Kleinen
war mir mehr, als zehn Feſte des Herrn v.
W. Dieſer Vorfall inzwiſchen bracht’ uns
eine geraume Zeit nicht aus dem Zank. Ein
Vorwurf vom Herrn v. G. dem aͤltern, dann
eine Entſchuldigung von ſeiner Gemahlin,
und vom Herrn v. W., der es mit keinem
verderben wollte. Beylaͤufig, oder am Ran-
de, wiederholt’ er ſeinen Dank, die Frau
v. W. ihren Blick, und das kleine Fraͤulein
ihr Laͤcheln.


Die große Achtung, die Herr v. G. der
aͤltere gegen meinen Vater aͤußerte, bewies
zwar die Redlichkeit ſeiner Ausſoͤhnung; al-
lein ſie machte mir ihre zehnjaͤhrige Tren-
nung zugleich unbegreiflicher. Es ward
vieles wiederholt, was mein Vater geſagt
hatte, und alles mit einer dem Herrn v. G.
eigenen Wendung, ſo, daß es wie neu aus-
ſah.
[67] ſah. Sein plein good ſenſe, ſein geſunder
Menſchenverſtand, wußte gleich ein Exem-
pel, wenn eine Regel gegeben ward; und
vielleicht verhielt er ſich gegen meinen Vater,
um den Vergleich ins Kurze zu ziehen, wie
Regel und Erlaͤuterungsbeyſpiel.


Wir haben heut Ragout, eingeſchnitte-
nen Braten, ſagte Herr v. G. Alles von
geſtern. — Wir wiederholen die Predigt,
und fragen ſie uns ab. —


Wenn je ein Ausdruck auf meinen Va-
ter paßt, und der Wahrheit angemeſſen iſt;
ſo iſt es der von einer Predigt. Dies Kleid
war wie auf den Leib gegoſſen, konnte man
ſagen, um von der Bemerkung, daß Worte
Kleider der Gedanken waͤren, Gebrauch zu
machen. Wer kann aber meinem Vater,
den Paſtor, und meiner Mutter, die Paſto-
rin verdenken? Die Predigt und den Geſang!


Herr v. G. erklaͤrte ſeiner Gemahlin
was naif und was Laune ſey, woruͤber ſie
zuweilen eine naife und launigte Unterredung
gehabt. Laune, ſagt’ er, iſt der koͤrnigte
Ausdruck eines naifen Gedanken. Naifitaͤt
iſt eine Satyre auf die Kunſt, es beſte-
he dieſe Satyre in Gedanken, Geberden,
Worten oder Werken. — Er belehrte ſie,
E 2daß
[68] daß ſie ſich nicht ferner Laune zueignen koͤnnte.
Wer Laune hat, fuͤgt’ er hinzu, muß un-
term Barte lachen, wenn von einer guten
Laune die Red’ iſt: obwohl bey jeder Laune
wenigſtens ein Zug vom Lachen unterm
Barte, zur Ehre des Lachens, ſich hervor-
ſchleicht, oder durchbricht, wenn es gleich
ſtock finſter auf dem Geſicht iſt. — Un-
term Barte lachen, ſagte die Frau v. G.
mit einem Veraͤnderungszeichen!


Naif aber, meine gnaͤdige Frau, ſind
Sie — der Herr v. G. buͤckte ſich gegen die
Frau v. W. Sie wieder — ihr Mann aus
Hoͤflichkeit auch; die Frau v. G. hatte heut’
ihren guten Tag. — Ein launigtes Weib,
fuhr Herr v. G. fort, wuͤrd’ ein Weib mit
einem Barte heißen, und alſo ſetzt er hin-
zu — —


Daß es verſchiedene Arten von Laune
giebt, ſahen wir geſtern, ſagte Herr v. G.
Nachdem die Feſte ſind, erwiederte Herr v.
W. Je nachdem, fuhr Herr v. G. fort,
je nachdem ein kluger Menſch Ding’ anſieht,
je nachdem ſehen ſie ihn wieder an. Die
Vorſtellung von Gluͤck und Ungluͤck kommt
nicht von den Dingen in der Welt, ſondern
von
[69] von der Gemuͤthsart der Menſchen. Der
Standpunkt thut bey Seel und Leib viel, ſehr
viel! alles! — Die miſantropiſche Laune,
wolt er fortfahren, da ihm wieder ſein
Sohn und das Fraͤulein Lorchen einfiel. —
Diesmal aber, wie mich duͤnkt, zum Vor-
theil meines Reiſegefehrten. —


Es ward von der Donquichotterie und
den Windmuͤhlen und verfluchten Schloͤßern
in der Liebe geſprochen. Jede Luͤge, ward
bemerkt, hat was richtiges in ſich, ſonſt
wuͤrd ſie kein Menſch anhoͤren und ausſte-
hen koͤnnen. (Meine Mutter nahm hier-
aus den Beweis, daß es am Ende Geſpen-
ſter gaͤbe.) Die Feenmaͤrchen wurden ana-
tomirt, und die Naturtheilchen abgeſondert.


Wo iſt, ward gefragt, ein feu’rfangen-
der Juͤngling, der nicht bis ins ein und
zwanzigſte Jahr wuͤnſcht, daß der Vater ſei-
ner Schoͤnen abbrennen moͤchte, um die Ge-
liebte aus dem Feuer zu retten? Es ſind
ihm dieſe Lebensguͤter
(wie meine Mutter ſingen wuͤrde)


eine Hand

blanker Sand,

Kummer der Gemuͤther.

E 3Nackt
[70]

Nackt, wie die Tugend iſt, will er ſeine
Fiducia; allein iſt dies der Weg zur guten
Ehe? Dies war die zwote Frage.


Herr v. G. behauptete in dienſtlicher
Antwort, zum Wohlgefallen der Frau v. W.,
daß man heyrathen muͤßte, um einen ge-
treuen Gehuͤlfen oder Gehuͤlfin zu haben,
und eben hiedurch entſchuldigt’ er in gewißer
Art ſeinen Sohn, welches ihm die Frau v.
G. auf eine naive Weiſe zu verſtehen gab.
Um ſich herauszuhelfen, ſagt’ er von mei-
nem Vater gehoͤrt zu haben, daß man ſich
auch in die Tugend verlieben koͤnnte. Man
muß aber, wie der Paſtor bemerkte, nicht
aus Neigung, ſondern aus Urtel des Ver-
ſtandes, tugendhaft ſeyn, nicht, weil die Tu-
gend huͤbſch iſt, ſondern weil es die Tugend iſt.
Man muß ſie lieben, wie ſein Weib, und nicht
wie ſein Maͤdchen. — Ein Tugendverliebter
wird kalt, wie jeder uͤbertriebene Liebhaber. —


Aber, fiel die Frau v. G. ein —


Ich weiß dein Aber, fuhr Herr v. G. fort,
die Damen wollen Neigung. — Sie glauben,
daß eine unſichtbare hoͤhere Macht ihr Band
geſchlungen habe. Neigung iſt ihnen der Him-
mel
, in dem die Ehen geſchloſſen werden.


Frau
[71]

Frau v. W. war auch einigermaaßen
fuͤrs Aber, und es erinnerte ſich der Herr
v. G. zu rechter Zeit, daß mein Vater be-
hauptet haͤtte, wir Menſchen ſpraͤchen im-
mer von Neigung, auch ſelbſt da, wo Urtel
des Verſtandes entſchieden haͤtte. Es ſchei-
net, daß der Menſch ſeiner Vernunft nicht
recht trauet. Bey einem Hauptargument
hat er noch verſchiedene ad hominem, ſetzte
Herr v. G. hinzu, ohne beſonders zu bemer-
ken, ob es ſein Eigenthum, oder von mei-
nem Vater herkaͤme. Es ſchien, als ob er
vieles von meinem Vater jure antichretico
beſaͤße.


Herr v. G. brach ſich ſehr den Kopf uͤber
die Extreme, von denen ihm mein Vater be-
ſondere Dinge geſagt haͤtte. Zwey Extre-
me ſind zwey Enden, wiederholte der Herr
v. G., als wenn er zu ſich ſelbſt ſpraͤche.
Zwey Enden, die man den Augenblick ver-
binden kann. So war der Teufel Gottes-
freund. Wolluſt und Nothdurft ſind Nach-
barskinder. Schwindſucht und Waſſerſucht,
Schlafloſigkeit und Schlafſucht, Licht und
Schatten, Leben und Sterben, himmliſche
erhabenſte Weisheit und Einfalt. — Die
groͤßte Wuth iſt, wenn ein Menſch den an-
E 4dern
[72] dern frißt — und geſchieht das nicht? Ha-
ben nicht die Menſchen mehr, als Wolfshun-
ger? Iſt es mit ihnen nicht oft in dem
Zwoͤlften? Iſt nicht oft leiblicher Bruder
des leiblichen Bruders Teufel, welcher die
Seelen verſchlingt, als ſchluͤrft’ er weiche
Eyer, oder Auſtern?


Herr v. G. kam aufs Freßen zuruͤck,
und doch, ſagt er, (alles wie zu ſich ſelbſt)


Die groͤßte Liebe auszudruͤcken, ſagt
man: ich moͤchte dich vor Liebe auffreſſen.
Niemand hat mehr Blasphemien geſagt, als
ein Quaͤker. Er, und ein Gottesleug-
ner, ſind naͤher verwandt, als man glau-
ben ſolte.


Ich habe nicht noͤthig zu bemerken, daß
Herr v. G. dieſes lange vor ſich ſo ausſprach,
daß, wenn ers auch nicht ſo oft treulich und
ſonder Gefehrde angefuͤhrt, jeder doch theils
aus ſeinem Ton, theils aus ſeinem Kopf-
ſchuͤtteln, geſehen haben wuͤrde: es ſey nicht
ſein, ſondern meines Vaters.


Dies! dies! dies! Herr v. G. ſagte drey-
mal dies, wie meine Mutter dreymal das
Wir im Glauben ſang, dies iſt mir et-
was am Paſtor, das ich noch bey keinem
Men-
[73] Menſchen ſonſt, er ſey Paſtor oder nicht Pa-
ſtor, gefunden habe. Es iſt was Seel und
Leib eigenes, was theoſophiſches, wie ſoll ichs
nennen? Unſer Freund Paſtor hat den heili-
gen Buſch im Brande geſehen. — Rechnet
man dazu, daß er die Bibel nicht in ſchwarz
Saffian gebunden hat, ſondern im weißem
Pergament, ſelbſt — ohne goldnen Schnitt,
daß er ſie nicht als Medicin, ſondern als taͤg-
lich Brod braucht; ſo iſt der gute Paſtor ein
ganz beſondrer Paſtor. Seine andern Sei-
ten, daß er z. E. die Glatze nicht mit Puder
bedeckt, daß er kein Jaherr iſt, daß ſein
Ausdruck nicht Scheidemuͤnze, nicht Gang-
und Gaͤbemuͤnze, oder courent, ſondern aus
der Sparbuͤchſe genommenes Geld iſt, und
um, mit Erlaubnis, in eine andre Figur zu
kommen, nicht wie auf den Kauf gemacht,
ſondern wie beſtelte Arbeit ausſieht; ſo, daß
es von ihm heißen kann: „was er ſpricht,
„das geraͤth wohl
!“


  • Daß der Paſtor nicht ein gelernter Gelehr-
    ter, nicht einer des Buchſtabens, ſondern
    einer des Geiſtes und der Kraft iſt;
  • daß er nichts bloß theoretiſch weiß, ſon-
    dern alles, alles in Blut und Lebensſaft
    oder Praxis bey ihm uͤbergegangen;

E 5daß
[74]
  • daß er die meiſten Dinge aus einem oft un-
    betraͤchtlichen Geſichtspunkt nimmt, und
    eben dadurch beym rechten Ende faßt; —
  • daß er einen koͤniglichen, einen Reviſions-
    blick, der immer mit einem gewiſſen Gluͤck
    verknuͤpft iſt, beſitzet; — (Sein Blick
    trift immer, ohne daß er zielt)
  • daß, und noch viele daß, gehen vor ſich. —

Beym letzten daß erzaͤhlte der Herr v. G.
eine Geſchichte, die ſich noch vor der Schei-
dung vom Tiſch und Bette, und alſo vor zehn
Jahren, zugetragen haͤtte.


Ein Barbier ſchnitt mit moͤrderiſcher
Hand dem — den Hals ab, nachdem er ihn
zuvoͤrderſt ganz ſauber und koͤſtlich von der
Buͤrde ſeines Barts befreyet, und leicht ums
Kinn gemacht hatte. Waͤr ich Inquirent,
(haͤtte mein Vater nicht blos geſagt, ſondern
behauptet,) wuͤrde eine meiner Hauptfragen,
ſowohl im Generalverhoͤr, als bey den Spe-
cialartikeln, ſeyn:


  • Warum der Barbier den Ermordeten zu-
    vor ſauber und koͤſtlich von der Buͤrde
    ſeines Barts befreyet, und leicht ums
    Kinn gemacht, eh’ er? —

(Der Boͤſewicht! ſetzte Herr v. G., ohne
das Comma abzuwarten und meinen Vater
aus-
[75] ausreden zu laßen, hinzu, das kommt vom
Aderlaſſen heraus! Man ſolte nicht Leute
an den Hals laßen, die Blut ſehen koͤnnen,
als ſaͤhen ſie ſuͤße Milch. —)


Der Moͤrder haͤtte bekannt, daß er mit
Mordgedanken zum — gegangen. Alle Um-
ſtaͤnde beſtaͤtigten dieſe Ausſage. Der erſte
Strich war in ſeiner Seele Mord. Warum
vollbracht’ er ihn erſt beym lezten? — Nota
bene. Er fand den — allein, und ſo blie-
ben ſie auch — die That kam nach vier
Stunden erſt aus. —


Ich weiß nicht, ſagte meine Mutter im
erſten Bande und deſſen zweyhundert und ſie-
benzigſten Seite, ich weiß nicht, gegen das
gemeinſte Volk hab’ ich, bis ich bekannt bin,
ruͤckhaltende Achtung; ich glaube, das macht
das Bild Gottes. Wenn meine Leſer den
erſten Band nicht bey der Hand haben; ſo
war es bey Gelegenheit der Blutreinigung,
deretwegen meine Grosmutter muͤtterlicher
Seits das alte Geſinde behielt, welcher blu-
tigen Meynung meine liebe Mutter, in Ruͤck-
ſicht der Koͤniglichen Frau Mutter Babbe,
beytrat.


So ohngefehr beantwortete mein Vater
ſeine General- und Specialfrage: denn ich
muß
[76] muß aufrichtig geſtehen, daß ſich der Herr
v. G. daruͤber ſo ungefehr, wie uͤber die be-
ſte Welt, ausdruͤcke.


Unſer Paſtor, fuhr Herr v. G. fort,
nachdem er ſich von ſo vielen daß losgemacht,
unſer Paſtor beſitzet etwas, was man nicht
ausſprechen kann, in dieſem Punkte. Er
iſt ein Gegenfuͤßler von einem Lauen, und
ich kenne keinen Menſchen, der mehr Theil-
nehmer waͤr’ als er!


Obgleich der Herr v. G. dieſen Zug in
meines Vaters Charakter nicht in ſeinem hei-
ligen Dunkel ſtoͤrte, ſo daß er hoͤchſtens nur
den heiligen, nicht aber den lezten, den al-
lerhoͤchſten Vorhang, hoheprieſterlich zog,
und in gewiſſer Art eben ſo unbegreiflich blieb,
als mein Vater ſelbſt; ſo muß ich doch bey
dieſer Gelegenheit geſtehen, daß mein Vater
wuͤrklich in dieſem Stuͤck was ganz beſonders
eigenthuͤmliches beſaß. Ich hab’ ihn einen
im Himmel Angeſchriebenen, einen Verklaͤr-
ten genannt, und als einen aus dem Reiche
Gottes dargeſtelt, von welchem wir beten:
dein Reich komme!


Ich weiß nicht mehr, wer von ihm in
ſeinem eigenen Paſtorat, da er eben den Ruͤ-
cken gekehret hatte, das Urtheil ausſprach,
daß
[77] daß er, ſobald er ſpraͤche, den Sprengwedel
in der Hand haͤtte, und die Seele mit ge-
weihtem Waſſer beſprenge, und daß er jeder-
zeit mit gewaſchenen Haͤnden erſchien, ſo wie
man von dem alten und neuen Gebrauch ſich,
ehe man in den Tempel gieng, zu beſprengen
und zu reinigen, zu ſagen pfleget: mit un-
waſchenen Haͤnden
. Vielleicht uͤbertrieb
es mein Vater an vielen Orten, wie jener
Juͤnger, der anfaͤnglich auf die Art des Herrn
v. W. mit ſeinem Herrn und Meiſter com-
plimentirte, nachher aber auf einmal aus-
brach: nicht die Fuͤß’ allein, ſondern die
Haͤnd’ und das Haupt. — —


Der Socinianismus iſt etwas kleinſtaͤdt-
ſches, etwas verlahmtes, etwas ermuͤdetes,
pflegte mein Vater zu ſagen. Entweder Hof,
oder plattes Land. Kalt oder warm. Alles
oder nichts. Aut aut


Eltern ſehen ſonſt nicht, daß Kinder
wachſen, und Kinder ſehen nicht, daß ihre
Eltern alt werden, weil ſie ſich taͤglich und
ſtuͤndlich ſehen; wenn es aber ein Fremder
bemerkt, denn reißt ſich ihr Aug’ auf. —
Mir werden meine Leſer den Vorwurf nicht
machen, und wenn ſie mit mir in Ruͤckſicht
dieſes Charakters nicht zufrieden ſind; ſo ge-
hoͤrt
[78] hoͤrt es nicht auf meine, ſondern auf die Rech-
nung meines Vaters. — Wer mir aber den
Einwand entgegen ſetzt, daß ich meine Cha-
raktere nicht friſirt und gepudert, und voͤllig
vom Haupt zu Fuß geſchmuͤckt, und fein an-
gethan praͤſentire; hat es in den Tod ver-
geſſen, daß ich eine Geſchicht’ erzaͤhle. Schon
im Roman muß man ſeine Leute kennen, der
Natur nachfolgen, und den Menſchen ſich oͤf-
fentlich ankleiden laſſen. Man muß den Men-
ſchen im Seelencamiſoͤlchen, in der Federmuͤ-
tze, wenn er ein Gelehrter, und mit einem
ſeidnen Tuch kuͤnſtlich rußiſch um den Kopf
gebunden, wenn er ein Edelmann iſt, dar-
ſtellen — in naturalibus. Jeder Menſch hat
ſeine Art, ſich anzukleiden und zu erzaͤhlen,
und dieſe beyde Arten ſtimmen mit einander
ſo uͤberein, daß wenn ich jemanden ſich an-
kleiden ſehe, ich ſagen will, wie er erzaͤhlt,
und umgekehrt, wenn ich ihn erzaͤhlen hoͤre,
will ich ſagen, wie er ſich ankleidet. Die
Art ſich auszukleiden, kann den Kenner vie-
lerley lehren, und unter andern auch, wie
der ſich entkleidende ſterben werde. Hievon
ein andermal. — —


Eine Erzaͤhlung, der man das Studierte,
das Gefliehene, das Geordnete anſieht, iſt
unaus-
[79] unausſtehlich. — So wie es in der Welt
geht, ſo muß es auch in der Geſchichte ge-
hen. — Bald ſo, bald ſo. — Der Hoͤrer,
der Leſer, mag ſich hieraus ein Miniatur-
ſtuͤckchen auf theophraſtiſch, bruͤyeriſch zeich-
nen, wenn er will. —


Belaͤge zu dieſer Bemerkung die Menge
in meinem Lebenslauf, und um meine Leſer
auf der Stelle zu uͤberzeugen —


Herr v. G. erzaͤhlte, daß mein Vater
nicht die mindeſte Wirthſchaftskenntniße be-
ſeſſen haͤtte, da er Paſtor geworden.


Jetzt weiß er ſo gut, wie Einer, wenn
Zeit zu ſaͤen und Zeit zu erndten iſt, wenn
man dreſchen, malzen, Haus- Acker- Gar-
ten- und Fiſchergeraͤthe beſſern muß. Er
verſteht ſich auf die Eisfiſcherey, auf die
Nachtfroͤſte, Holz und Miſtfuhren, Flachs-
und Hanfbrechen.


Wie er anzog, wolte der gute Paſtor,
fuhr Herr v. G. fort, den Paſtoratsbauern
ſeine Schwaͤche nicht verrathen, und was
that er? Eh’ er durch Geſicht und Ohr ſo weit
gebracht war, als er jetzt iſt? Er viſitirte
ſein Inventarium. Das Regiſter in der
Hand frug er:
Neun
[80]Neun Braune? Ja.
neunzehn Schimmel? Ja.
acht Fuͤchſe? Ja.
dreißig Kuͤhe? Ja.

Wer hier nicht den Paſtorem loci findet —


Herr v. G. war mit Ehren zu melden
ein großmaͤchtiger Wirth. Er las, ver-
ſuchte, fehlte und verſtand zuletzt ſeinen Bo-
den, als wenn er mit ihm ſprechen koͤnnte.
Er benutzte, im Ganzen genommen, ſeine
Aecker auf eine Art, welche ihm den Neid ſei-
ner hochwohlgebohrnen Bruͤder zuzog. Der
gemeine Mann ſagte: er haͤtte den Alp.
Die Frau v. G. nannte die oͤconomiſchen
Buͤcher, die er ſich mit vielen Koſten ver-
ſchrieb „Wurzelbuͤcher„ und wußte ſehr ge-
nau, wenn und wo er durch Verſuche ver-
loren hatte. So war der Herr v. G., um
ſeinen eigenen Ausdruck zu adoptiren, eine
Erdſcholle, ein glebæ adſcriptus; allein er
war ſelbſt auch dies als v. G. Wenn ich
ihnen mit dem Ausdruck einen Dienſt erwei-
ſen kann, gnaͤdige Frau v. G., er war ein
Wurzelmann — Die Blaͤtter fallen im
Herbſt in der Truͤbſal abe. —


Ob-
[81]

Obgleich wir ein Trauerfeſt hatten, und
der Herr v. W., ſein Waffentraͤger, und
Herr v. G. ſehr hoͤflich gegen einander wa-
ren, welches gemeinhin bey Trauerfeſten zu
ſeyn pflegt; ſo konnte doch Herr v. G. nicht
umhin, wiewohl ohne ihnen dieſe Saladiere
anzubieten, gelegentlich anzumerken, daß
derjenige, der nicht bezahlen koͤnnte, ſehr
hoͤflich waͤre, welches geſtern mit alten Maͤn-
nern, wenn ſie junge Weiber zur Ehe haͤt-
ten, bewieſen ſey.


Wie denn Herr v. G. ſich wider alle Ge-
burtstags Gluͤckwuͤnſche erklaͤrte. — Wer
wird, ſagt er, gratuliren, daß man ſchwaͤ-
cher geworden? Zum Geburtstage muß
man nur bis zum dreyßigſten, und da in
der Weichlichkeit der Juͤnger immer ſtaͤrker,
als der Meiſter iſt, nach unſerm Weltlauf
bis zum fuͤnf und zwanzigſten, ein und zwan-
zigſten, und wohl neunzehnten Lebensjahre
Gluͤck wuͤnſchen — es waͤre denn, daß
man auf die andere Welt Ruͤckſicht nehmen
wolte, nach der aber in geſunden Tagen
wenig Nachfrag’ iſt. —


Noch eins! Mein Vater haͤtte geſagt,
ſagte Herr v. G., wer einen Brief ſchreibt,
Zweiter Th. Fmuß
[82] muß glauben, er ſchreibe ihn an die Welt,
und wer ein Buch, ich ſag’ ein Buch,
ſchreibt, ſchreib’ es an einen guten Freund,
wenn man nicht in beyden Faͤllen alltaͤglich
ſeyn will. —


Ich ergreife dieſes noch eins als eine er-
wuͤnſchte Gelegenheit, um meinem Leſer auf
Ehre zu verſichern, daß ich dies noch eins
nicht aus den Augen gelaſſen, und dieſes
Ganze an Einen gerichtet habe. Ich habe
dieſes Einen in dem erſten Bande erwehnt,
und es iſt eben derjenige, der mich auf der
ein und zwanzigſten Seite beſuchte, und dem
ich auf eben der Seite (ich rede von der er-
ſten Ausgabe, denn wer ſteht mir dafuͤr, daß
es zu mehrern kommt) eine gluͤckliche Reiſe
gewuͤnſcht habe.


Wie viel liegt in dem Wort Einer? Wer
es faſſen kann, der faß’ es, und wers nicht
kann, wird auch ſchwerlich begreifen, was
eigentlich Einheit in einer jeden Schrift liſt,
welche da ſeyn muß, die Schrift wandle
gleich im finſtern Thal, ſie gehe gleich durch
dick und duͤnn, durch Licht und Finſterniß.
Eine Schrift, welche dieſes Ziel nicht hat,
und nicht an Ort und Stelle kommt, iſt eine
Mißgeburt. — Je weiter man es gebracht
hat,
[83] hat, alles zu Einem einzulenken, und kein
Rad zu viel und keins zu wenig in ſeinem
Buch zu uhrmachen, je mehr Ganzes iſt da.
Man ſagt: Ein Apoſtel Paulus, Ein Rath,
Eine chriſtliche Gemeine wolle mit gebuͤhren-
der Andacht verleſen hoͤren. — — Gott
ſchuf nur einen Menſchen! ſein Bild! und
wenn ihr Herren Praͤadamiten in die Kreuz
und in die Queere euch dagegen baͤumet. In
dem Gedanken: Ein Menſch und ſein Weib
von ihm genommen, liegt was Goͤttliches,
was Großes! was — Ein Syſtem, wenn
es ſo ganz da liegt, ſo ganz, wie Thier und
Menſch, iſt Arbeit eines Halbgottes. Wo
iſt ein Syſtem dieſer Art? Wenn es ja fer-
tig werden kann, wird es das Werk eines
Deutſchen ſeyn. — Im Syſtem geht man
vom Ganzen zu den Theilen. Man ſieht den
Menſchen ganz. Ein Blick iſt genug hiezu,
und ſodann anatomirt man ihn. — Sonſt
geht man von den Theilen zum Ganzen. Ein
Syſtem heißt nicht Compendium, und iſt
nicht ein auf Drat gezogenes Gerippe. Seht
die Welt! Sie iſt ein Menſch im Großen.
So ganz wie ein Menſch. Gott ſieht ſie,
wie ich meinen Haushahn, meinen Philax,
meinen Leopold; wir aber finden ſie ſo in
F 2Un-
[84] Unordnung, daß es Kunſtrichter gegeben
hat, die dem lieben Gott gern was ins Ohr
daruͤber geſagt haͤtten.


Wo das, was ich verſtehe, gut iſt, da
leg’ ich beyde Haͤnde auf den Mund, wenn
ich an etwas ſtoße, das ich nicht verſtehe. —


Mein Einer, an den ich dieſes Buch ge-
ſchrieben, iſt mein lieber getreuer — — den
ich auch getreu lieben werde bis in den Tod.
Dieſes ganze Buch iſt eine Dedication, eine
Zuſchrift, in Ruͤckſicht auf ihn, ein Brief
mit einem cachet volant ſub ſigillo volante
(unter offenem fliegenden Siegel) allein kein
Wunſch iſt ſehnlicher, als daß meine Leſer
hiebey nichts verloren, ſondern vielmehr reich-
lich gewonnen haben moͤgen. — — —


Mitten in dieſen und andern Wiederho-
lungen kam ein Brief von meinem Vater an
den Herrn v. G., und an mich?


Nichts an mich, zum offenbarſten Be-
weiſe, daß mein Vater nicht fuͤrs Schrei-
ben war.


Auch der Brief an den Herrn v.
G. war kurz und enthielt nur eine Anwei-
ſung, einen Fingerzeig, wegen der Beylage.
Unſer Bekannte, der das erſte und letzte-
mal, da er eine Flinte losdruͤckte, oder
viel-
[85] vielmehr, da ſie ohne ſein Vorwiſſen und
Mitwuͤrkung in ſeiner unerfahrnen Hand
losgieng, ſeinen Sohn erſchoß, hatte ſeine
Lebensumſtaͤnde eigenhaͤndig verfaßt, und
ſie ſeinem Troͤſter, meinem Vater, in die
Haͤnde gelegt. Der Herr v. G., den der
Alte mit dem einen Handſchu
aufmerkſam
gemacht, hatte meinen Vater beſchworen,
ihm den Erfolg von dem Troſtamte, welches
dieſer Ungluͤckliche in ſeiner Seelenangſt auf-
gefordert hatte, zu berichten.


Ein kurzer Brief, ſagte Herr v. G.,
da er den Brief meines Vaters entfaltete,
der, wie ich bey Gelegenheit des Converſus
bemerkt habe, fuͤrs muͤndliche war. Dies
gab Anlaß, von meines Vaters Weiſe kurz
zu ſchreiben, nach ſeinem Beyſpiel ein lan-
ges Geſpraͤch zu halten, das Herr v. G.
auf eine mir unvergeßliche Weiſe beſchloß.
Die Sprache Gottes! Gott ſprach, hauchte
nur auf, und es ward. Gott iſt auch
Schriftſteller worden, fuhr Herr v. G. fort.
Das Wort Fleiſch. — Es iſt viel von
Gottes Wort zu ſagen. Ein Ausdruck,
den alle Welt im Munde fuͤhrt, und doch
ein tiefer, tiefer Ausdruck!


F 3Eine
[86]

Eine lange Beylage, ſagte Herr v. G.,
nachdem er den kurzen Brief durch und durch
geblickt hatte. Er las ihn nicht, er blickt’
ihn auf. Die Beylage ward woͤrtlich ab-
geleſen. Einige Stellen hatten Thraͤnen
uͤberſchwemmt, und ſie ſchienen wie verwuͤ-
ſtete Wieſen, die das ausgerißene Waßer
zerſtoͤret hat.


Hier iſt ein wohlgemeynter Auszug.
Es war der — — der einzige Sohn eines
Amtmanns. Seine Mutter, die Tochter
eines Litteratus. Seine Eltern ſtarben in
Ketten. Der ungnaͤdige Herr Principal
hatt’ ihnen Defekte gezogen, ohne ſich Zeit
zu nehmen, eine Probe bey ſeiner Rechnung
zu machen.


Die Cavaliere, ſchreibt er, rechnen ge-
meinhin mit ihren Amtleuten ohne Probe,
und ſind Klaͤger! Richter und Henker!


Unſer Bekannte hatte Gelegenheit ge-
habt, in ſeiner erſten Jugend ſchreiben und
rechnen zu lernen, ohne daß er ſich unter-
ſtehen durfte, von dieſer Kunſt bey der Ver-
rechnung des Herrn v. — in Ruͤckſicht ſei-
nes Vaters Gebrauch zu machen, und ihr
durch eine Probe nachzuhelfen. Er entgieng
mit vieler Muͤhe der Schuldunterthaͤnigkeit,
konnte
[87] konnte von Gluͤck ſagen, daß er frey blieb,
und als Bedienter ſich in einem andern hoch-
adelichen Hofe anzubringen die Erlaubniß
erhielt. Er verſprach Charlotten die Ehe,
einer freyen Perſon, die aber weder reich
noch ſchoͤn war. — Sie hatten ſich von
dem erſten Augenblick geliebt, da ſie ſich ge-
ſehen hatten. Sie war verliebt und tugend-
haft, das iſt nicht viel aus einander, und
verliebt und tugendhaft war alles, was man
von Charlotten ſagen konnte. Gewiß wuͤrd’
unſer Bekannte an ihrer Hand gluͤcklich ge-
worden ſeyn. Er hatt’ ihr die Ehe einmal,
da es donnerte, verheißen, und ſo laut, wie
er ſchreibt, daß er faſt den Donner uͤber-
ſchrien! — Alles was Charlott’ und un-
ſer Bekannte ſahen, alles was ſie hoͤrten
beſtaͤtigt’ ihre Liebe — denn Aufforderung,
hatten ſie nicht mehr noͤthig. Unſer Bekann-
te hatt’ eine Laube gepflanzt, welche Char-
lotte begoß. Sie wuchs mit ihrer Lieb’
um die Wette. Charlotte hatte das Gluͤck,
wie’s die Leute hießen, den gnaͤdigen Herrn
in verliebten Aufruhr zu ſetzen. Sie war
die vierte, der er ein ſeidenes Schnupftuch
zugeworfen; allein die drey, ſo vor ihr ge-
weſen, die Cammerjungfer nicht ausgenom-
F 4men,
[88] men, waren auf einen andern Fuß genom-
men. Er fieng an zu ſeufzen, und Char-
lotten foͤrmlich die Cour zu machen. Wenn
niemand dabey war, kuͤßt er ihr die Haͤnde,
und das Cammermaͤdchen ſeiner Frau Ge-
mahlin Gnaden hatt’ ihn auf Knien vor
Charlotten geſehen. Dieſes verdroß dem
Cammermaͤdchen beynahe mehr, als der
gnaͤdigen Frau, welche letztere die Kunſt ſich
zu entſchaͤdigen aus dem Grunde verſtand, und
den Herrn Gemahl laͤnger verloren hatte,
als die Cammerzofe den Liebhaber. Indeſ-
ſen fand auch die entſchaͤdigte gnaͤdige Frau
unſchicklich, daß Se. Hochwohlgebohrnen
einem Dienſtmaͤdchen die Cour machten.
Die Cour! auf Knien! So was hielte Sie
ihrer Ehre zu nahe, und das Cammermaͤd-
chen ſetzte hinzu: wenn Charlotte noch eine
Cammerjungfer waͤre!


Charlotte haͤtte, wenn ſie den Plan der
gnaͤdigen Frau und des Cammermaͤdchens
befolgen, und den gnaͤdigen Herrn oͤffentlich
laͤcherlich machen wollen, ein ziemlich groſ-
ſes Spiel gewonnen; allein ſie wolte nicht
durchs Spiel reich werden. Sie ſuchte Se.
Hochwohlgebohrnen auf den rechten Weg zu
bringen, er aber blieb auf dem Irwege zu
ihrem
[89] ihrem Herzen. Da ſie ihn nicht los werden
konnte, entfernte ſie ſich, wie ſie ſtand und
gieng, und lies wie Joſeph ihre Plundern
zuruͤck, die man ihr bey Haͤngen und Wuͤr-
gen auslieferte. Die Sache macht’ Aufſe-
hen, und Charlotte war die einzige Perſon,
die den Herrn v. — vom Theater der dor-
tigen Gegend bringen konnte. Sie that es,
und da unſer Bekannte ſie ſelbſt darum bat,
kehrte ſie zuruͤck ins Hauß. Solche Herren
wißen ſich durch Ableiter vor dem Ungewit-
ter zu ſichern. Sie wißen nicht, was eine
fehlgeſchlagene Liebe ſagen will. Der Herr
v. — hatte ſich mit weniger Muͤhe, ohne
zu knien, verſorgt und unſer Bekannte be-
ſaß Charlotten nun ohn’ Anfechtung. Sie
war ihm jetzo theurer; denn ihre Tugend
hatte geſiegt und das Feld behalten. —


Es iſt unausſprechlich, wie gluͤcklich un-
ſere Verliebten waren. Er pfluͤckt’ ihr die
erſten Blumen, und die Natur ſchien ſie
recht geflißentlich fuͤr ihn, oder eigentlich
fuͤr Charlotten, zu verwahren. Nur ein
durch Liebe geweihtes Auge konnte die Blu-
men finden, die er fand. Sie hingegen
bracht’ ihm die erſten Fruͤchte. Er aß ſie
F 5aus
[90] aus ihrer Hand, und dann ſchmekten ſie
ihm deſto ſuͤßer.


Nach dem Auftritt mit dem Herrn v. —
ſchien Charlott’ unſerm Bekannten eine Maͤr-
tyrin, und er glaubt’, daß dieſe erhabene
Idee ſeiner Liebe Schaden gethan haben koͤn-
ne. Nachdem ich ſie, ſchreibt er, uͤber-
menſchlich liebte, ſchien ſich ein gewißes
Feuer im Herzen zu legen.


Er geſtehet mit allen Merkzeichen einer
wahren Reue, die niemand gereuet, daß
ſein Herz vorzuͤglich durch die Geſchenke ſei-
nes Principals den ganzen Reſt von An-
haͤnglichkeit zu Charlotten verloren. Welch
ein Verluſt! O Gott, welch ein Verluſt!
Ich ward wie ein ſchwankendes Rohr, ſchreibt
er, lange vom Winde hin und her getrieben.
Ein Flick Land, und ein blanker Hut mach-
ten das Garaus mit mir. Ich balancirte
ſchon zuvor. Dies Flickwerk gab den Aus-
ſchlag. Der gnaͤdige Herr konnte Char-
lottens Gutherzigkeit empfinden. Viel vom
gnaͤdigen Herrn! Er haßt’ und ehrte Char-
lotten, wie die Teufel glauben und zittern.
Sie hatte ſeine Beſchaͤmung oder Beſchimpfung
in ihrer Gewalt: allein ihre edle himmliſche
Seele wußte von keiner Rache. Charlot-
tens
[91] tens Herz hatte nicht ſeines Gleichen. Sie
frug nicht, ehe ſie Mitleiden zeigt’, ob der
Ungluͤckliche Schuld an ſeinem Ungluͤck waͤre?
Oft dacht’ ich, wenn ſie weinte mit den
Weinenden, und wenn es ihr genug war,
Elend zu ſehen, um bewegt zu werden: Sie
laͤßt, wie Gott der Herr, regnen uͤber Ge-
recht’ und Ungerechte! — Dieſe edle Den-
kungsart vermochte vielleicht den gnaͤdigen
Herrn, durch ſein Geſchenk die gute Sache
mit Charlotten ins Reine zu bringen. Der
Hut, ſagt’ er zu mir, iſt mir zu groß.
Das Land iſt mir zu klein! Es iſt beydes
ſein. — Weg war ich, ja wohl weg. —


Unſer Bekannte verdarb ſein Herz von
Tage zu Tage. Je mehr Charlott’ ihm ſagte,
daß ihm der Hut ſchlecht ſtuͤnde, (ſie ſah da-
bey auf ſein Herz; er war ſonſt ein ſchoͤner
Mann,) je gleichguͤltiger ward er gegen ſie.
Er hatt’ an jedem Finger eine Schoͤne, die
ſich in dem blanken Hute ſpiegelt’, um ſich
nach Maasgabe deſſelben das Tuch und den
Halß zurecht zog, bis endlich Luiſe ihn zur
heiligen Ehe beſtimmte. Sein Hut war ab-
getragen und Luiſe war reich. Dieſe Luiſe
iſt das ungluͤckliche Weib, das nach dem un-
gluͤckſeligen Schuß mehr aus Gram uͤber den
Gram
[92]Gram ihres Mannes, als uͤber den Verluſt
ihres einzigen Sohnes ſtarb
; wie ich im er-
ſten Bande bereits bemerkt habe. Das Stuͤck
Acker, ſo ihm der Herr v. — ſchenkte, war
zur Noth eine Brodſtelle; allein einen blan-
ken Hut warf es nicht ab. Bis auf den Zu-
ſchlag mit Luiſen hatte Charlotte noch Hof-
nung gefaßt. Sie, die alles zum Beſten zu
kehren gewohnt war, verlohr nicht all’ Aus-
ſicht zur Beſſerung ihres ungetreuen Liebha-
bers. Vom Tage ſeiner Verlobung mit Char-
lotten ſank ſie in Schwermuth! o Gott! ſie
ſank tief. Dicke Wolken uͤberzogen ſie, und
es war ſo feyerlich anzuſehen, als wenn
ſchwarze Wolken den Mond beziehen. —
Wer dieſen Bezug nicht bemerkt hat, thue
Charlotten die Ehre, und bemerk’ ihn noch.
Waͤhrend der Zeit, da ſich unſer Bekannte
von Charlotten gedrehet, bekam ſie einen
Freyer, der ſie herzlich zu lieben vorgab.
Man konnt’ an der Ehrlichkeit ſeiner Liebe
nicht zweifeln, da er reich und ſie arm war.
Dies wußte ſie zu empfinden; allein ſie em-
pfand auch, daß es nicht unſer Bekannte
war!


Die erſte Liebe, merkte Herr v. G. bey
dieſer Gelegenheit an, ſtimmt unſer Herz
auf
[93] auf ewig. Der Ausſchweifendſte koͤnnte be-
haupten, er habe nur eine einzige geliebt,
und in Wahrheit, das koͤnnt’ ihn heilen, —
wenn es ſein Ernſt waͤre, heil zu werden.
Man liebt immer die erſte Liebe, auch ſelbſt,
wenn man am Hof’ iſt. In jeder neuen
Theaterprinzeßin iſt wenigſtens ein Zug von
der erſten Liebe. Sie iſt uns ins Herz ge-
ſchrieben, im theologiſchen Sinn, — und
beweiſet, daß von Anbeginn nur ein Weib
und ein Mann geweſen. Der arme Freyer!
Es war ſeine erſte Liebe, er heyrathete;
allein es war keine Charlotte. Die Braut
unſers Bekannten wandte ſich an Charlot-
ten; denn ſie hatte zu ihrem Braͤutigam
mit dem abgetragenen blanken Hut kein ab-
ſolutes Vertrauen. — Charlotte gab ihm
mit weinenden Augen das beſte Zeugniß.
Sie kuͤßte die Ruthe, womit ſie gezuͤchtiget
ward. Sie kuͤßte Luiſen herzlich. — Arme
Charlotte! Ihrem beklommenen Herzen Luft
zu machen heyrathete ſie; allein, was iſt
von einer Heyrath aus Verzweiflung zu er-
warten? Sie macht’ ihren Mann ungluͤck-
lich, und ſie war es noch weit mehr. Sie
kuͤßt’ ihn zitternd, wie eine Taube, die den
uͤber ſich hangenden Moͤrder ſieht, indem ſie
ihren
[94] ihren Gatten ſchnaͤbelt. Charlotte ſah den
Habicht ganz allein, und mithin wußt’ ihr
Mann nicht, was ihr war! — Sie hatte
keine Kinder, und Charlotte ward allgemein
fuͤr eine Perſon erklaͤret, die ſchwermuͤthig
waͤre. Beſonders aͤußerte ſich dieſer Truͤb-
ſinn, wenn ſie was blankes ſah; es muͤßte
denn durch die Sonne verguͤldet ſeyn, ſonſt
konnte ſie nichts ſchimmerndes ohne Thraͤ-
nen anſehen. Ihr Silber und Zinn muß-
te nicht glaͤnzend gemacht werden. Am
liebſten aß ſie von Holz. — Man verſchloß
ſo gar Scheer und Meſſer eine zeitlang. Ein
Schrecken war das einzigſte, was Charlotten
ins Lachen bringen konnte. Ihr Lachen hielte
man vor Hitze, ſo wie ihre Thraͤnen vor
Froſt, bis man mit ihrer Art bekannter ward,
und Meſſer und Scheere wieder aufſchloß.


Charlotte konnte keine Kinder ausſtehen;
allein wenn ſie heimlich den einzigen Sohn
unſers Bekannten habhaft werden konnte,
druͤckte ſie ihn feſt an ihr Herz. Es war ruͤh-
rend anzuſehen. — Unſer Bekannte hatte
das Gluͤck, ſich zu uͤberreden, Charlotte ſey
nicht ſeinet, ſondern ihres einzigen Mannes
wegen, ſchwermuͤthig. Es war Charlottens
Mann der beſte Mann in der Welt; indeſſen
ward
[95] ward er ordentlich gehaßt, und wenn man
ihn am Ende ſo boͤſe nicht fand, als man
ihn ausgab, kam es auf den gnaͤdigen Herrn,
man ſagt’ es ſich ins Ohr, daß Charlotte ſei-
netwegen ſo truͤbe geworden waͤre. —


Sie ſtarb — und ſo froh, daß es er-
baulich war, von ihrem Tode zu hoͤren.
Wer ſie ſterben geſehen; war bis an die Thuͤr
des dritten Himmels entzuͤckt worden. Char-
lotte war aber gewiß weiter eingedrungen
zur ewigen Freud und Herrlichkeit. Wer ihre
lezten Worte gehoͤrt hatte, redete von ihr mit
Ausgelaſſenheit. — Es hatte kein Aug ge-
ſehen, es hatte kein Ohr gehoͤrt, es war in
keines Menſchen Herz kommen, was die Um-
ſtehenden geſehen und gehoͤrt hatten, und
was ihnen ins Herz gekommen. Ihr Ehe-
mann hatt’ in Wahrheit die Freuden des Ehe-
ſtandes nicht an ihrer Hand erfahren; allein
ihr Andenken ließ ihn an keine zweite Verbin-
dung gedenken.


Unſere Verbindung, ſagt’ er, war fuͤr
die andere Welt, wo keine Thraͤnen mehr von
Charlottens Augen fallen werden! Sie ſind
getrocknet, dieſe Thraͤnen, und Engelsfreud
iſt in ihren Augen. — Halleluja! Charlotte
bat
[96] bat ihm ſterbend ab, und er ihr, und alle,
die Meſſer und Scheer verſchloſſen hatten,
verlangten ihren Segen. —


Vergib mir, ſagte ſie zu ihrem Manne,
es wird dir alles im Himmel gelohnt werden.
Am Grab’ endet ſich alles Elend, aller Kum-
mer. — Dort wird das Buch meines Schick-
ſals aufgethan, damit ich leſ’ und verſtehe,
was hier kein weiſer Mann zu erklaͤren wuß-
te. Alle Finſterniß wird dort Licht ſeyn. O!
wie froh werd ich ſeyn, den Zuſammenhang
meines Lebens kennen zu lernen. — Ihr
Mann rang die Haͤnde, und wenn ſie ihm
abbat, weint’ er bitterlich. — Ehe ſie ihr
edles Auge ſchloß, ſah ſie ſich rund herum.
Bey ihrem Manne ließ ſie das Auge etwas
ruhen, und nachdem ſie dieſen Lauf vollen-
det, ſah ſie gen Himmel und ihr Auge ſchloß
ſich, als wenn man muͤd’ iſt, von ſelbſt. Es
durfte nicht zugedruͤckt werden. — Sie ent-
ſchlief. — Wahrlich! wahrlich! ſie ſtarb in
einer ſeligen Stunde. — Ihr Liebling, der
Sohn unſers Bekannten, ſpielt’ oft auf
ihrem Grabe, das kein Kraut des Fluchens,
Dornen und Diſteln, entehrte, obgleich es
rund herum ſtand. Es ſchien, als ob Dor-
nen und Diſteln Achtung fuͤr das Grab un-
ſerer
[97] ſerer Seligen haͤtten. Der Sturmwind, wenn
er daher fuhr, und die Kirchenlinden abſplit-
terte, und Aeſte brach, ſchonte der Blumen
auf dieſer heiligen Staͤte. Sie war jedem
heilig, wie die Pforte des Himmels. —


Ich glaube, meine Leſer verlieren bey die-
ſem Auszuge: denn das weitſchweifige Origi-
nal hatte Stellen, die ſchrecklich waren.


Unſer Bekannte war durch dieſen denk-
wuͤrdigen Tod noch nicht auf Bußgedanken
gebracht. Er konnte Charlottens Leiche ſo
gar folgen, ohne eine Thraͤne fallen zu laſſen!


Das nenn ich, ſagte Herr v. G., Ge-
richt der Verſtockung
! Die Troſtloſigkeit des
Mannes unſrer Charlotten beſtaͤtigte das Vor-
urtheil, daß er Charlotten ungluͤcklich ge-
macht haͤtte. Man hielt es fuͤr Gewiſſens-
biſſe. Die Umſtaͤnd’ ihres Todes, die un-
ſerm Bekannten, wiewohl zum groͤßten Theil
ſehr unrichtig und nur beylaͤufig, erzaͤhlet
worden, beſtaͤtigten dieſen unerhoͤrten Wahn.
— Da Charlott’ ihrem Ungetreuen auswich,
und ihn nicht anders, als in ihrem Herzen
ſah, ſo unterhielt alles die Ruhe unſeres Be-
kannten, um mich deſto unruhiger zu ma-
chen
(Dies ſind ſeine eigene Worte.)


Zweiter Th. GDer
[98]

Der Herr v. G. bemerkte, daß ihm nichts
ſchrecklicher, als ein ganz ruhiger Menſch
waͤre. Die Ruhe der Weiſen ſey ſo ſehr,
bemerkt’ er, mit einer gewiſſen ſeligen Unru-
he, mit einer Sehnſucht verknuͤpft, daß man
ſie eine ſelige Unruhe nennen koͤnnte. Ruh’
iſt Dekoration, wie’s eine Aufrichtigkeit von
der Art giebt, eine Aufrichtigkeit, die ver-
kleideter Mord iſt — und wodurch man ſiche-
rer betruͤgt, als durch Ruͤckhalt. —


Unſern Herrn und Meiſter, ſagte Herr
v. G., konnte nur eine gewiſſe Ruhe, die
Folge von einem goͤttlichen Ruf, kleiden —
Seinen Apoſteln kommt ſie ſchon nicht zu —
dem Sokrates nicht — wohl aber der Ma-
ria, des Herrn Mutter, und jedem Weibe,
die einen Sohn hat, der ſeiner Mutter Ehre
macht. — Solch ein Weib hat es vollen-
det. — Hier in der Welt ſind wir in der ſtrei-
tenden Kirche. — Wer wird die Haͤnde in
den Schoos legen, wer ſein Auge ſinken laſ-
ſen? Ruh’ iſt der Anzug der Seligen, der
Vollendeten des Herrn! Von Gott kann man
ſagen: er ſah’ an, was er gemacht hatte, und
ſiehe da: Es war alles ſehr gut! — — —


Der Gang auf Vogelwild unſeres Be-
kannten war ſein lezter ruhiger oder verſtock-
ter
[99] ter Gang. Der Schuß, wodurch er ſeinen
Sohn toͤdtete, ſprengte ſein Gewiſſen auf.
Knall und Fall paßte nicht blos auf ſeinen
Sohn, ſondern auch auf ſeine Ruhe. Er
fuͤhrt’ an, daß er im Schuß den nemlichen
Knall gehoͤrt haͤtte, als im Donnerſchlag, den
er uͤberſchrien, und den er zum gerechten
Zeugen fuͤr ſeine ehrliche Liebe zu Charlotten
aufgerufen! Die Molltoͤne hatten ſein Herz
nicht erweichen koͤnnen, ſo wie goͤttliche
Wohlthaten die wenigſten Menſchen zu Gott
lenken. Es mußt’ einſchlagen, und nun
fielen die Schuppen von ſeinen Augen. Der
Schuß ſchleifte ſeine ganze Veſtung.


Da ſtand er, und trauerte wie ein
Baum, dem ein brauſend wuͤthender Angrif
des Sturms alle ſeine Blaͤtter auf einmal
raubt, und ihn ſchnell ganz nackt auszieht.
— Nun war ihm Charlottens Grab die ein-
zigſte Zuflucht; hier ſah er Charlotten und
ſeinen Sohn, der auf dieſem Grab’ oft ge-
ſpielt hatte. — Was fuͤr ein ſchreckliches
Licht war ihm aufgeblitzt! Gott iſt gerecht,
ſchrieb er, und alle ſeine Gerichte ſind gerecht.
Seine Ausdruͤcke waren brennend. Sie gien-
gen durch Mark und Bein. Wie gern haͤtt’
er ſein verpfaͤndetes Wort eingeloͤſet. Sein
G 2Weib
[100] Weib war ihm unertraͤglich, und er ſich noch
unertraͤglicher, weil ſie’s ihm war. Sein
einziger Umgang war mit dem Manne ſeiner
Charlotte, der ihm alles haarklein erzaͤhlen
mußte, was unſer Bekannter, nachdem er
zur Erkenntniß der Suͤnden gekommen war,
beſſer verſtand, als ſein Freund. Die Lau-
be, welche er gepflanzet und Charlotte begoſ-
ſen, war ihm fuͤrchterlich finſter worden; in-
deſſen gieng die Sonne keinen Tag unter, wo
er ſie nicht beſuchte. Er ſuchte Charlotten
drinn und weinte. Er, der ehemals mit
dem Fruͤhling um die Wette bluͤhte, konnt’,
außer dem Herbſt, keine Jahreszeit ausſtehen.
Abgefallenes Laub ſah er lieber, als eine Ro-
ſenknoſpe, und wenn er einen verdorreten
Baum fand, ſetzt’ er ſich unter ihn: er war
ihm der liebſte. —


Gott hat mich verſtoßen, ſeufzt’ er zu-
weilen, und niemand konnt’ ihn ſeufzen hoͤ-
ren, ohn ihn herzlich zu bedauren, — das
bracht’ einen neuen Seufzer hervor. Wenn
er zum Nachtmahl gieng, weint’ er ſo, als
wenn er unter den Kriegsknechten geweſen
waͤre, und jetzo oͤffentliche Kirchenbuße thaͤte.
Er war ſtets zerſchlagenen zerrißenen Herzens.
Sein ganzes Leben war eine immerwaͤhrende
Lita-
[101] Litaney, ein ewiges Kyrie eleiſon. Froh
wuͤrd er ſeiner Erloͤſung entgegen gegangen
ſeyn, wenn nicht Charlotte und ſein Sohn
im Himmel geweſen. — Seinen Sohn
durft’ er nur vor den Menſchen bekennen;
deſto mehr litt’ er, daß er Charlottens Na-
men verbeißen mußte. In der Still nannt’
er ihn tauſendmal in einem fort. Er zitterte
vor dem Tage ſeines Todes, und das Leben
war ihm auch unertraͤglich. O Gott! es
muß ein ſchrecklicher Zuſtand ſeyn, wenn
man nicht leben, nicht ſterben kann. Am
Ende war ihm doch das Leben das unertraͤg-
lichſte. Er ſehnte ſich vom Fegfeuer dieſes
ſeines Lebens, und von allem Uebel befreyt zu
werden, — und wenn ihn eine Furcht vor
dem Himmel ergrif, wo er ſeinen Sohn,
Charlotten und Luiſen finden wuͤrde; ſchlug
er ſeine Haͤnde gen Himmel: Vergieb! war
alles was er ſagen konnte.


Sein Morgen und Abendgebet war:


Von allem Uebel mich erloͤſ’;

es ſind die Tage bitterboͤs;

erloͤſ’ mich von dem ew’gen Tod,

und troͤſt mich in der letzten Noth.

Beſcheer mir, Herr! ein ſeel’ges End;

nimm meine Seel in deine Haͤnd’!

G 3und
[102]

und ſo beſchloß er auch ſeinen Aufſatz, den
meine Mutter nicht der Sache angemeſſener
beſchließen koͤnnen.


Charlottens Mann ſolt’ ihm nach ſei-
nem Teſtament im erſten Paar folgen, und
alles erben, was er nachließ. Folgen will
ich ihm, ſagte dieſer Ungluͤckliche; was ſoll
mir aber ſein Gut, da ich ſeit Charlottens
Tode nicht mehr lebe. —


Dies war der Schluͤßel zu der Seelen-
angſt
unſers Bekannten. Sein Sohn war
nur der erſte Eingang. Charlotte war das
Thema. —


Er hatte, wie mein Vater in ſeinem
Briefe bemerkte, ſich auch darum Vorwuͤrfe
gemacht, daß er dieſen innern Gram ſeinem
Weib’ und dem Manne Charlottens und ſei-
nem Beichtvater, meinem Vater, und ſei-
ner Beichtmutter, meiner Mutter, verheim-
liget; allein mein Vater abſolvirt’ ihn des-
falls, weil er eben durch dieſe Verſchwiegen-
heit gebuͤßet. Er rief nicht blos, ich ſoll
meinen Gerg ſehen, ſondern auch, ich ſoll
Charlotten ſehen, und er wolte nicht blos
von meinem Vater eine Anleitung, ſich ge-
gen ſeinen Sohn, ſondern auch gegen Char-
lotten, zu fuͤhren. — Dieſe Umſtaͤnde wa-
ren
[103] ren ſo verwandt in ſeinen Empfindungen,
daß bey ihm All eins war, Charlott’ und
ſein Sohn. —


Den Ehemann Charlottens uͤberfiel eine
ordentliche Art von Eiferſucht, da ihm unſer
Bekannt’ im Himmel zuvorkam; allein mein
Vater heilt’ ihn.


Er hatte ſich feyerlich erklaͤret, nichts
von dem Nachlaß des Bekannten ſich zuzueig-
nen, und da ihm mein Vater die Folgen hie-
von vorſtellte, verſprach er zu nehmen und
zu geben. Mit der Linken nahm er, und
mit der Rechten wandt’ er dies Erbtheil bis
zum letzten Dreyer den Armen des Kirchen-
ſprengels zu. „Dank fuͤr die Anweiſung,
„ſagt’ er zu meinem Vater, das ſind die
„rechten Erben„ —


Das letzte Wort unſers Bekannten war
ein mit gefaltenen gen Himmel gehobenen
Haͤnden, bey denen er aber ſein Geſicht,
als wenn er ſich vor dem Donner fuͤrchtete,
wegwandte: Gedenke mein! Er hielt ſich
fuͤr einen vierfachen Moͤrder. — Seines
Sohnes, Luiſens, ſeines Weibes, und
Luiſens Ehemanns. — —


Herr v. G. war dieſer Geſchichte wegen
aͤußerſt bewegt, und Herr v. W. fieng den
G 4heili-
[104] heiligen Abend zum Freudenfeſt diesmal ſpaͤ-
ter an, um das Trauerfeſt, das ohnehin
fruͤher ſeinen Anfang genommen, hiedurch
recht vollſtaͤndig zu machen.


Ich habe mich, wie meine Leſer ſchon wiſ-
ſen, bey dem Auszuge kurz gefaßt, und wenn
ich die Anmerkungen, welche vorfielen, hin-
zufuͤgen ſolte, wuͤrde die Stuͤtze vollends groͤſ-
ſer, als das Gebaͤude, geworden ſeyn.


Die Frau v. W. hatte die Haͤnde gefal-
ten, als wenn Hausgottesdienſt gehalten
wuͤrde, und ihre Thraͤnen fielen gerad her-
ab, ohne daß ſie, ihr Kleid zu ſchonen, et-
was unterſetzte, wie man Regenwaſſer auf-
faͤngt. — Sie floſſen von ihrem Kleide,
wie Thautropfen von Blumen. — Die
Frau v. G. weint’ in ihr einbalſamirtes
Schnupftuch. —


Es freute den Herrn v. G., dieſe Bewe-
gung an ihr wahr zu nehmen, da unſer Be-
kannter
kein Edelmann war. Waͤhrend die-
ſer Vorleſung und der Nutzanwendung, die
Herr v. G. aus ſeinem guten Herzen ſchuͤt-
tete, fiel mir all’ Augenblick Mine ein.
Gern haͤtt’ ich ihr geſagt, was ich bey die-
ſer Geſchicht’ empfunden, und ſiehe da,
ihr Bruder Darius Benjamin
! — — Mir
iſt
[105] iſt es oft begegnet, daß das alles, was mir
von der Lieb’ ahndete, auf ein Haar eintraf,
und dies beſtaͤtigte meine Idee, daß eine un-
ſichtbare Hand mit meiner Liebe ſey, ſo wie
ſie’s mit jeder reinen Lieb’ iſt. —


Benjamin hatt’ einen verſtelten Auftrag
an ſeinen Vater, der unaufhaltſam boͤſe
war, daß ſich Benjamin unterſtanden, ihn
hier aufzuſuchen. Es fiel ihm gar nicht ein,
daß das Schneiderhandwerk fuͤr den Sohn
eines Litteratus noch das allerſchicklichſte
ſey, daß Gott der Herr ſelbſt nach dem be-
truͤbten Suͤndenfall dieſes geſchenkte Hand-
werk eingeſetzet, und die erſten Roͤcke verfer-
tiget, daß ſein Sohn auf Prima ſaͤße, und
kuͤnftige Oſtern Student werden wuͤrde.
Noch boͤſer wuͤrde der alte Herr geweſen ſeyn,
wenn Benjamin nicht ſein Ehrenkleid ange-
legt, und die Haar’ in Verſe gezwungen
haͤtte; ſo nannte meine Mutter die damalige
Art in Curland, Locken im eigentlichſten
Sinn — anzunehen. Dem Benjamin war
dieſe Friſur die natuͤrlichſte.


Waͤhrend der Zeit, daß der alte Herr
dem Benjamin ſeine Herausnahme, ihn
hier aufzuſuchen, verwieß, winkte Darius
ſeinem Freunde Alexander, daß er aus ei-
G 5ner
[106] ner ganz andern Urſache hergekommen, die
er in der Taſche haͤtte. Benjamin ſollte ſo-
gleich fort. Herrmann ſtand Schildwache,
damit niemand den Primaner ſaͤhe, und be-
fahl ſeinen Sohn, vom Fenſter zu gehen. —
Der arme Junge mußte ſich lange kehren und
wenden, bis er ein Plaͤzchen fand, wo man
am wenigſten entdecken konnte, daß Benja-
min, des alten Herrn Sohn, hier waͤre.
Ich wuͤrd ihn nicht von dieſer Wache weg-
gebracht haben, wenn ich nicht mit Benja-
min wie du und du umgegangen. Dies brach-
te den Herrn Candidaten von der Thuͤr, und
vielleicht fiel ihm zu rechter Zeit ein, daß er
ſelbſt zu Hauſe Fingerhut, Buͤgeleiſen, Na-
del und Zwirn, (wiewohl unter ein Paar
Schloͤßer verwahrt,) haͤtte. — Er loͤſete
ſich von der Schildwach’ ab, und Benjamin
und ich waren allein. —


Mir war von je her angſt und bange
uͤber Benjamin, wie meine Leſer es ſelbſt
wißen, weil er das geſchlagen werden ſchon
gewohnt war. Das Finkenneſt und der Juden-
junge hatten dieſe Angſt und Bangigkeit wieder
aufgefriſcht, die der Gedanke, daß Minchen
Benjamins Schweſter war, zum groͤßten
Theil widerlegt hatte. Benjamin war ſchon
bey
[107] bey der vaͤterlichen Belagerung ungewoͤhn-
lich beherzt. Er hatte nicht Ruh noch Raſt,
mich von ſeiner Schweſter zu gruͤßen, und mir
ihren Brief, das Handgeld, ſo er, als un-
ſer Vertrauter, genommen, zu uͤberreichen.
Hier iſt er. Ich hatte nicht Zeit, den Ben-
jamin in ſeinen neuen Poſten einzufuͤhren.
Ein Brief von Minen! — wie konnt’ ich
das? Ich beſpart’ alſo das Introduktions-
geſchaͤft’ auf eine gelegenere Zeit. —


Gottlob! daß du noch in Curland biſt,
und gottlob! daß ich noch von dir Abſchied
nehmen kann. Gottlob! gottlob! — Ich bin
ſehr daruͤber bekuͤmmert, daß es ſo unordent-
lich bey unſerm lezten Geſpraͤch hergieng.
In Wahrheit, ich weiß kein Wort von dem,
was du mir zu guter lezt geſagt haſt, oder
haſt du mir nichts zu guter lezt geſagt?
Nichts? — Was noch aͤrger iſt, und was
mich noch mehr bekuͤmmert, darf ich dir
nicht ſagen. Du wirſt es leider! zu ſehr,
zu ſehr wißen, und dir daruͤber Gedanken
machen! Ich fuͤhl es, daß ich ſelbſt, daß ich
dir auch kein Sterbenswort geſagt — nichts
zu
[108] zu guter lezt — und doch liegts auf meinem
Herzen, wie ein Berg. O lieber Junge,
verzeih mir! — Es war alles ſo geſchwind,
ich ſah dich nicht gehen, du biſt auch nicht
gegangen, du biſt verſchwunden. — Vielleicht
hiengſt du ſchon lange, lange nicht mehr an
meiner Hand, eh’ ich dich mißte, eh’ ich
wußte, daß ich allein war. Allein! großer
Gott, ich allein! Ein ſchrekliches Wort —
allein! O wie betruͤbt bin ich! wie ſehr be-
truͤbt! und am meiſten, daß wir einen ſo
ſchnellen Tod ſterben. Wir beten:


Fuͤr einen boͤſen ſchnellen Tod

Behuͤt’ uns, lieber Herre Gott!

Ich habe bis hieher geglaubt, es ſey gut
ſchnell zu ſterben, wenn es nur nicht ein
boͤſer Tod iſt, denn du haſt es mich gelehrt;
allein nimm deine Lehre zuruͤck, ein ſchneller,
duͤnkt mich jetzt, iſt immer ein boͤſer! Leib
und Seel’, denk’ ich, wißen nicht wo ſie ge-
blieben, wenn es zu ſchnell geht, ſo wie ich
von dir nichts wußte. — Junge! die ganze
Zeit uͤber und noch dieſen Augenblick ſeh’ ich
mich nach dir um, allein du biſt nicht
mehr. — Gott ſegne dich, und behuͤte dich!
Dich! Dich! Dich! Mir iſt ſo, mein Lieber,
als
[109] als wenn dieſer Brief der lezte ſey, den du,
eh’ ich ſterbe, von mir leſen wirſt, der lezte,
duͤnkt mich, ohne zu wißen warum? Dieſe
Ahndung faͤhrt mir kalt durch alle Glieder,
und laͤßt ein Zittern und Beben zuruͤck, ein
Zittern und Beben, daß ich die Feder nicht
halten kann, auch die Gedanken nicht. —
Lieber Junge! wie kann mir ſo was ahnden?
Ich bin noch nie ohnmaͤchtig geweſen; allein
wenn dieſer ganze Brief nicht ſchon eine wuͤrk-
lich’ Ohnmacht iſt; — ſo iſt mir ſo, als
ſey eine in der Naͤhe. — Unſer Briefplan,
Lieber! wird eine Abaͤnderung leiden. —
Benjamin kann dir muͤndlich die Urſache ſa-
gen. Es ſind ihrer viel, Benjamin iſt mein
Bruder, mein Geliebter, mach ihn, wenn
er dir dieſen Brief abgiebt, zu dem Deini-
gen. Weih’ ihn dazu ein! damit es Ein-
druck bey ihm mache! — Wir haben beyde,
Benjamin und ich, lange lange uͤberlegt,
und ganze Seiten in Gedanken ausgeſtrichen
und links und rechts verſucht, — das beſt’
iſt und bleibt, daß du deine Briefe nicht an
Benjamin uͤberſchreibſt und — ſondern —
ſondern — — — Benjamin kennt ihn
vollſtaͤndig. Es bleibt, daß du die Brief’
an — — meinem Vater zur Abgab’ em-
pfiehlſt
[110] pfiehlſt. Die meinige wird Benjamin durch
ſeine Ueberſchrift an dich verkleiden, wenn
er und ich wißen, wo du zu finden biſt.
Du ſchreibſt den erſten. Er an Sie. So
bleibts, ſo und anders nicht. Findeſt du
dieſen Plan ganz oder zum Theil unrecht,
aͤndere, das heißt beßere, anders aͤnderſt
du nicht, das weiß ich. Von Benjamin
erwart’ ich deinen Entſchluß, und da ich
deine lezten Worte bis in den Tod vergeßen
habe, ſchreib mir andere lezte, im Fall du
die erſten lezten ſelbſt vergeßen haſt — und
haſt du keine Gelegenheit zu ſchreiben, lehre
ſie den Benjamin auswendig, damit er ſie
mir ja unverſehrt uͤberbringe, und ſie mir
eine Feuerſaͤule werden, und eine Wolken-
ſaͤule, je nachdem ichs bedarf. Bald zittre
ich, bald wuͤtet ein maͤchtiges Feu’r in mir.
Sommer und Winter, dicke Nacht und
Sommermittag. Das iſt wohl die Liebe,
Herzensjunge, ſonſt wuͤßt’ ich nicht, was
es ſeyn koͤnnte. O Junge, wie ſehn’ ich mich
nach deinem: zu guter lezt, zu guter lezt,
zu guter lezt!


Es bleibt mit der Aufſchrift und mit
allem. Außer dem Briefe, den mir, wenn
das Gluͤck gut iſt, Benjamin jetzt bringt,
ſchreibſt
[111] ſchreibſt du mir den erſten. — Alles uͤbrige
wird dir Benjamin ſagen.


Wenn du es nicht ſelber endlich fuͤrs beſte
gehalten haͤtteſt, dem Benjamin den Vor-
hang unſrer Lieb’ aufzuziehen, ich waͤre ver-
gangen in meinem Elend. Der Brief, den
Benjamin von dir mitbringt, wird nicht
gerechnet. Er an Sie zuerſt, wenn du an
Ort und Stelle biſt, wo dich Gott hingeleiten
wolle durch ſeinen heiligen Engel, dem ich,
wie dir, eine gluͤckliche, gluͤckliche Reiſe wuͤn-
ſche. Ich haͤng’ an einem deiner Blick’, ich
weiß aber nicht, ob es der lezte war. So
hieng ich nie an deinem Mund, ſo feſt nie,
als an dieſem Blick. Was iſt aber in dei-
nem Auge? Schwermuth, tiefe Schwer-
muth? Um wen traureſt du, Lieber, um
wen? Kannſt du um wen anders trauren,
als um deine Mine? Iſt ſie tod, deine Mi-
ne? Hat ſie ausgekaͤmpft, den ſchweren
Kampf, die Dulderin? Mir liegt der Spruch
ſo tief in der Seele: ſey getreu bis in den
Tod, ſo will ich dir die Krone des Lebens
geben; daß die Krone des Lebens vor mei-
nen Augen ſchimmert. — Liebe und An-
dacht, pflegſt du zu ſagen, ſind zwey Lieder
auf eine Melodie. Iſt denn die Liebe nicht,
wie
[112] wie die Seel’ ewig? Wo biſt du, mein Ge-
liebter? Denke mein, denke mein! — Ge-
ſchwind, wie der Geſang des Vogels durch
den Wald laͤuft, geſchwinder biſt du entflo-
hen. — Am Abend duftet, was man
pflanzet am lieblichſten, und die Seele duftet
eben ſo lieblich, wenn ſie der Tod uͤberfaͤlt.
Ich weis nicht, was ich ſchreibe, du wirſt es
aber wißen, was ich ſchreiben wolte. Ich
bitte Gott, daß er’s dir eingebe, wenn du
es nicht von ſelbſt wißen ſolteſt. Wir ſind
eins, lieber Junge, du und ich! — Ver-
giß nicht, mit Benjamin einen andern Weg
zu bahnen, wenn der meinige nicht gut iſt,
du mußt alles bis auf ein Haar abreden,
wenn du meinen Vorſchlag nicht annimmſt.
Benjamin wird dir die Urſache zur Abaͤnde-
rung ſagen, ich kann es nicht, ich weiß ſie
nicht mehr, ich weiß nichts, nichts mehr,
als daß ich dich liebe, und dich lieben werde
im Gluͤck und im Ungluͤck, im Leben und im
Sterben, bis vor Gottes Angeſicht! O!
wie wohl iſt mir, da ich daran denke! wie
wohl!


Da iſt er wieder dein Blick! — War-
um ſo finſter? Iſt denn der Tod ſo bitter?
Lebe wohl, das weiß ich noch, daß ich es
dir,
[113] dir, daß du es mir ſagteſt. Aber das
letzte? — ich kann nicht mehr. Lebe gluͤck-
lich und wohl, und Gott ſegne dich und be-
huͤte dich, er laße ſein Antlitz leuchten uͤber
dir und ſey dir gnaͤdig! — ich leb’ und
ſterbe dein. —


N. S. Am Ende hab’ ich wieder nicht
recht Abſchied genommen. Gott ſegne dich —
ich bete lange fuͤr dich, und werd’ jeden Mor-
gen und jeden Abend, und vor Tiſch und
nach Tiſch, fuͤr dich beten. — Ich werde mir
manches Gebet entziehen, und es fuͤr dich
thun. — Der liebe Gott ſey mit dir! und
gebe dir noch einen Engel zu, da du auf Rei-
ſen geheſt — und wohl ein Paar noͤthig
haſt. — Du ſchreibſt bald! und bald kommſt
du wieder, und wenn ich nicht todt bin, biſt
du bald ganz der Meinige. Wie Gott will!
Er, der Gnaͤdige, ſey dir gnaͤdig, der allein
Gnaͤdige ſey es dir! Amen! Amen! Amen!
Ich bin auch im Tode dein, und ewig dein!
und ewig, ewig, ewig dein, dein, dein,
dein. — Ich weiß nicht wie mir iſt! Der
Tod wird uns nicht ſcheiden. Wir ſind und
bleiben eins. — Der Tod nicht? was ich
ſchreibe! Sind wir nicht ſchon geſchieden,
biſt du nicht fort? und wenn ich ſtuͤrbe, wer
Zweiter Th. Hwird
[114] wird mir das Auge zudruͤcken, das nach dir
noch ſtarr offen ſtehn wird. Sonſt hat es
nach nichts zu ſehen, in dieſem Jammerthal,
nach Vater nicht, nach Mutter nicht, nach
der ganzen Welt nicht. Du wuͤrdeſt es mit
einem ſanften Kuß ſchluͤßen, wie die Abend-
luft eine Lilie, das wuͤrdeſt du, mein Einzi-
ger, wenn du geblieben waͤreſt. Dies, dies
truͤbt mich bey deinem Abſchiede, du wuͤrdeſt
meine Leiche mit Thraͤnen ſalben, wenn du
geblieben waͤreſt. — Ich wuͤrd’ in deinem
Arm ſterben, wenn du geblieben waͤrſt. —
O wie mir iſt! Verzeih, Geliebter! ich weiß
nicht was ich ſchreibe — und werfe Blicke
hin und her auf dieſen Brief, und faſt moͤcht’
ich ihn zuruͤck halten, wenn ich nicht ſchrei-
ben muͤßte des guter lezt und des neuen Vor-
ſchlages wegen. Schreib mir doch was dir
ahndet, und Gott ſey mit ſeiner Gnade bey
und uͤber dir! Amen, jezt und in Ewigkeit,
Amen, in Ewigkeit Amen!


Ich hatte dieſen Brief nicht ohne die
heißeſten Thraͤnen leſen koͤnnen. All’ Augen-
blick druͤckt’ ich ihn an meine Lippen und
dann,
[115] dann, als ob dies viel zu wenig waͤr’, und
dann wieder an mein Herz, das ihm entge-
gen ſchlug. — Benjamin hatte des Vaters
Poſten eingenommen, und war auf die Wa-
che gezogen, wie er mir nachher erzaͤhlte;
denn geſehen hatt’ ichs nicht, ich wolt’, ich
mußte ſchreiben. — O wie war mir! —
als ſchrieb ich ein Todesurtel, als ſchrieb ich
mit Blut — ſo angſt und bang! und dann
wieder ſo vergnuͤgt ums Herz, daß Blut uͤber
und uͤber ſtuͤrzte, und denn wieder ſo ſanft,
als im Junius, wenn es geregnet, und jede
Blume Wonnetrunken iſt, und ſich noch
auf ihrem Ruͤcken fuͤr den ſchwuhlen Mittag
des kuͤnftigen Tages einen großen, großen Tro-
pfen aufgeſpart hat. — Alle Jahreszeiten
in einer Viertelſtunde — ich weiß nicht, was
eigentlich mit mir vorgieng. Nur das weiß
ich, daß Benjamin einigemal zu mir kam
eilfertig, um ſeinen Poſten nicht kalt werden
zu laßen, und mich in ſeine Arme nahm,
und mir die Arme kuͤßte; meine Thraͤnen
waren ihm zu heilig, um ihren Lauf zu
hemmen und ſie mit den Seinigen zu miſchen.
Kein Waßer, ſagt’ er, zu dieſem Wein —
der gute Benjamin!


H 2Und
[116]

Und dann fieng er wieder an: ich werd’ ihr
alles ſagen. Alles. Er ſchrie: alles und
jedes, bis ers merkte, daß er zu laut ge-
weſen, und nun ſeufzt’ er wieder: Alles und
jedes! Ich brach die Haͤnde, daß es ruͤhrend
war. Das nicht, erwiedert’ er. Warum
ringſt du? Zwar iſts, als ſaͤh’ ich den En-
gel und Jacob ringen! ſo ſchoͤn ringſt du!
ſo ſchoͤn ringt nur Lieb’ und Pflicht! Das
nicht, ſagt’ ich, Benjamin! das nicht! —
Mein zu guter letzt iſt Segen von Gott, dies
Ringen zu dem Allguͤtigen iſt Sorge fuͤr ſie!
Mehr ſag’ ihr nicht, mehr ’nicht von dieſem
zu guter letzt, als was ſie tragen kann.
Ich weinte herzlich und Benjamin weint’ auch.
Wir waren beide ſehr bewegt — und ich
wett’ es, waͤre gekommen, wer da wolte,
er haͤtte mich um keine Thraͤne gebracht, nicht
um eine einzige. —


Ich billigte den Plan ohn’ ihn zu uͤber-
denken: denn wie konnt’ ich das? Benja-
min waͤre nicht die Nacht geblieben, um alles
nicht. Warum? Das ſolten meine Leſer
rathen. Seines durch ihn beſchaͤmten Va-
ters halben? Nein! geliebteſter Leſer!
Nein! — Minens wegen. Mehr braucht’
ich nicht zum Beweiſe, daß er meines Ver-
trauens
[117] trauens werth ſey. Ich vergaß ſeine Rolle
beym Finkenneſt, beym Judenjungen, und
als Darius, ich dachte nur dran, daß er
Minchens ihrer, blos ihretwegen, nicht die
Nacht bleiben wolte. — Dein Plan iſt gut,
weil du ihn gemacht haſt, ſagt’ ich ihm, —
du ſiehſt, ich kann nichts uͤberdenken. —
Es kam mir alles uͤbern Halß, Minens
Brief, der Mann mit dem einen Handſchu,
und die Geſchicht’ unſeres Bekannten. Wenn
ich ein Boͤſewicht waͤre, ſagt’ ich zu Benja-
min, wie koͤnnt’ ich dieſe Geſchichte wißen,
und Minen untreu ſeyn? Ich empfahl Ben-
jamin die Laube, welche der Ueberwundene
gepflanzt hatte, die jetzt fuͤrchterlich finſter
war. So finſter und zehnmal finſterer ſey
es um meine Seele, wenn ich Minen ver-
geße! — Erinnern ſie ſie, Benjamin, an
die kalte Hand ihrer Mutter! — Ich liebe
Minen ſehr, ſehr. —


Da ſank ich abgemattet nieder, und er-
hohlte mich erſt nach einer Viertelſtunde. —


Was ich mich freue, (fieng Benjamin
an, hielte beyde Haͤnde gefalten, und huͤpft’
auf ſeinem Poſten immer auf einer Stelle.)


  • Ich. Warum?

H 3Ben-
[118]
  • Benjamin. Weil Mine ſo gluͤcklich iſt.
  • Ich. Ich bin es mehr, Bruder! weit
    mehr! —
  • Benjamin. Gott gebe, daß Sie’s ganz wer-
    den moͤgen!
  • Ich. So ſage du! oder —
  • Benjamin. Kann ich?
  • Ich. Warum nicht?
  • Benjamin. Litteratus und Schneider! Alex-
    ander und Darius!
  • Ich. Beydes Koͤnige, beydes Menſchen!
    Wenn du keine Schweſter Mine haͤtteſt,
    muͤßteſt du mich du nennen.
  • Benjamin. Sehr guͤtig!
  • Ich. Gerecht, Bruder! Wenn ich tauſend-
    mal Superintendent waͤre! Was waͤr’
    es? Nannten wir uns nicht du als Kin-
    der im Stande der Unſchuld? Wenn du
    nicht einen natuͤrlichen Ekel gegen das
    liebe Latein gehabt haͤtteſt, du wuͤrdeſt
    wißen, daß man in Latein alle Welt du
    nennet. Dutzen wir nicht Gott den
    Herrn, ohn’ ihm mit dieſem Wort zu
    nahe zu kommen? Und was unter uns
    fuͤr
    [119] fuͤr Umſtaͤnde? Bruder Benjamin, das
    heißt, Minens Bruder.
  • Benjamin. Nun du! du! du! du! ich muß
    es nur einigemal hinter her ſagen, da-
    mit ich in die Gewohnheit komme, ja
    du biſt ein Menſch, ein ganzer Menſch.
  • Ich. Ich hab’s angefangen zu ſeyn, und mit
    Gottes Huͤlfe will ichs vollenden.
  • Benjamin. Bleib Minen gut.
  • Ich. Das bitt ich dich! ich bin ihr naͤher,
    als du! —
  • Benjamin. Sie iſt dir ſchrecklich gut, ſchreck-
    lich. — Es iſt ihr Ausdruck. —
  • Ich. Ich ihr auch — ſchrecklich, Bruder!
  • Benjamin. Schrecklich, das heißt: Eur
    Ziel iſt noch fern.
  • Ich. Das heißt, wir haben noch viele Berge
    zu ſteigen, viele! Grauſam aber ſoll,
    wie ich zu Gott hoffe, unſre Liebe nie
    werden, das heißt, hocheiferſichtig. Ei-
    ferſichtig iſt jede, jede Liebe!
  • Benjamin. Minens wegen eiferſichtig?
  • Ich. Du biſt mein, Mine! ich bin dein!
    Mein, dein! Mein, dein! Mein, dein!
    O Bruder, was iſt die Liebe? Ruhm,
    H 4Reich-
    [120] Reichthum und andere Narrenpoßen,
    gehn all durch Menſchenhaͤnd, ich fuͤhls,
    Bruder! Die Lieb’ allein kommt aus der
    Hand der Natur. Sie iſt roh, ſie iſt
    Obſt; denn bey nach alles andere iſt ge-
    kocht und gebraten! Bruder! Bruder!
    ich gehoͤre Minen, ganz und gar gehoͤr’ ich
    ihr! ihr! und wenn ſie mich zuruͤckgeben
    wolte! O Gott wie ungluͤcklichreich wuͤrd’
    ich ſeyn! verdammt verflucht reich, ich
    verlange mich nicht. — Wie gut bin ich
    bey ihr aufgehoben — bey ihr wie gut
    verſorgt? —
  • Benjamin. Faß dich, Bruder, ſonſt ſinkſt
    du wieder.
  • Ich. Laß mich! Mine iſt mein! — lebend
    und ſterbend! O wie ſuͤß, wie ſuͤß werd’
    ich in ihrem Arm ſterben! ſterben, Bru-
    der! hoͤrſt du, ſterben! — Dann komm’
    ich aus einem Engelsarm in den an-
    dern.
  • Benjamin. Faß dich, Alexander! faß dich! —
  • Ich. Laß mich nicht faßen! ich bitt’, ich
    beſchwoͤre dich! Laß es mich nicht. Faßen
    iſt gut, ſich nicht faßen, iſt auch gut.
    Kann ſich die Liebe faßen? ich glaube,
    man
    [121] man liebt nicht mehr, wenn man ſich
    faßt. — O Bruder, das Menſchenge-
    ſchlecht wird nicht ausſterben; allein die
    Liebe liegt in den letzten Zuͤgen, die rechte
    Liebe, die rechte. — O Liebe! Liebe!
    Du biſt ſtark,
    ſingt meine Mutter. —
  • Benjamin. Die Deinig’ iſt ſtaͤrker, als Alex-
    ander. — Gott helf meiner Schweſter,
    die ihrige tragen! —
  • Ich. Gott helf ihr — aus der Hoͤhe! —
    Gib du ihr auch die Hand, wenn ſie ſie
    noͤthig hat. — Greift ſie nach beyden,
    gib ihr beyde. — Du biſt link, ehrlicher
    Junge, gib ihr deine Arme! Stuͤtze ſie! —
    O Jammer, daß du ſo weit entfernt von
    ihr biſt. Wenn ſie ſo iſt, wie ſie war,
    da ſie den Brief ſchrieb, den du brach-
    teſt — den himmliſchen Brief! O Bru-
    der! hilf ihr! hilf ihr!
  • Benjamin. Gott helfe mir, um ihr zu helfen!
  • Ich. Warum bricht die Wolke? warum?
    weil es nicht zur rechten Zeit regnet. Will
    Minens Herz brechen, bring ſie zu Thraͤ-
    nen! zum ſanften, ſanften Regen! —
    Warum weinſt du jezt, Benjamin?
  • Benjamin. Wer kann dich dutzen, und dann
    dich hoͤren, und nicht weinen!

H 5Ich.
[122]
  • Ich. Weine nicht, Benjamin! wein’ ihr
    aber vor, wenn ſie verzweiflend die Haͤn-
    de ringt, wenn ſie verzagt, ſag’ ihr, ſag’
    ihr mit Ueberzeugung, als ob du Gott,
    und als ob du mich vor dir ſaͤheſt, daß
    Gott im Himmel, und ich in der Welt
    bin — ich reiſ’ in die Nachbarſchaft, es
    iſt abvotirt, daß ich in Koͤnigsberg ſtu-
    dire. — Sterb’ ich! — ſterb ich —
    o Benjamin! o Benjamin! ſag’ ihr, daß
    ich als ihr Mann geſtorben! — daß ich
    ihr entgegen kommen werde, mit einem
    erweitertem Arm, o Benjamin, wenn ich
    ſterbe! —
  • Benjamin. Denke nicht an den Tod! —
  • Ich. Du weißt vor vielen Jahren, da ich
    krank war, ſetzt’ ich dich zu meinem Er-
    ben ein, du ſolteſt nach meinem Tode den
    Alexander ohne Abzug, ſo wie ich ihn hatte,
    erben! Das Spiel hat aufgehoͤrt. Ich
    vermache dir Minen! Minen! — ich
    vermache ſie dem lieben Gott, der erqui-
    cke ſie, wenn ſie muͤhſelig und beladen iſt.
    — Das iſt mein leztes Gebet, mein lez-
    ter Seufzer!

Wir umarmten unß.


Benja-
[123]
  • Benjamin. Die Liebe wird dich im Studie-
    ren ſtoͤren. —
  • Ich. Recht, Bruder! Sie wirds, und ich
    werde kein ſo großer Kunſterfahrner Ge-
    lehrter werden; allein ein herzlicher werd’
    ich ſeyn, ich werd’ aus jedem Buche lieben
    lernen. Die Liebe ſchlaͤfert Trieb’ ein;
    allein ſie weckt auch Trieb’ auf! — Weiß
    Gott, wie’s zugeht; allein wer nicht liebt,
    ſieht durchs Glaß, durchs Fenſter, wer
    liebt ſieht mit eigenen Augen! Durch und
    durch mit Leib und Seel!
  • Benjamin. Gott helfe dir! ich weiß nicht, wie
    ich einfaͤdeln und das Nadeloͤhr finden
    werde, da ich dich nur lieben geſehen und
    gehoͤrt habe, — und du, du ſolſt Predi-
    gen lernen?
  • Ich. Das iſt bey der Liebe leichter, als
    ſchneidern. Sieh, Benjamin! Heut zu
    Tag’ iſt unſre Liebe mehr geiſtiſch geworden,
    und Geiſt mit Geiſt kommt in die Ver-
    wanntſchaft. Sorge nicht fuͤr mich, Bru-
    der, ſorge nur fuͤr Minen! — Sag ihr
    alles, alles! und bitte ſie, daß ſie mir treu-
    lich ein Tagebuch halte, und Auszuͤge hie-
    von alle Vierteljahr uͤberſende. Es bleibt
    bey der Anordnung, es bleibt ganz dabey!
    Ein
    [124] Ein Brief von meiner Mine wird mir
    ihr Wiederſchein ſeyn. Gruͤße ſie tauſend,
    tauſend, tauſendmal! —

Ich ſchaͤm’ es mich, das weiß Gott! nie-
derzuſchreiben: Benjamin gefragt zu haben,
ob er Geld brauche? Seine Antwort war
Nein, und ein ſolches Nein, daß ich kein
Wort mehr daran wagen durfte.


Warum traͤgſt du denn Geld in der Ta-
ſche los, fuhr er fort? Das weiß ich ſelbſt
nicht, war meine Antwort. — Es war die-
ſes ein Gebrauch, den ich an Kindesſtatt auf-
genommen hatte, und noch trag ich mein all-
taͤgliches Geld, wie ein großer Koͤnig den
Toback, in der Taſche. Ich hab’ es in der
Folge gefunden, daß ſich das Geld ſo ſehr an
den Beutel gewoͤhnt, daß es nicht heraus will,
wenn gleich Menſchen da ſind, die es zu for-
dern befugt ſind. Das Geld iſt kein ſeidnes
Netz, kein Schloͤßchen werth; wer erſt los-
winden und aufſchluͤßen muß, findet ge-
meinhin die nemliche Schwierigkeit beym
Herzen. —


Ich klagte mich beym Benjamin an, daß
ich, weil er das Schlagen gewohnt geweſen,
ihn nicht zu unſerm Vertrauten in Vorſchlag
gebracht
[125] gebracht haͤtte. — Ich verwieß ihm alles,
was ihm in der Geſchichte vom Huͤnerey und
Judenjungen zu verweiſen war, und nun
fieng ich an: erſteige Berge, und ſchaudre
nicht vor Thaͤlern! Sey Mann! Sey Mi-
nens Bruder! und der Meinige! Ich habe dir
nicht zugetraut, was ich heut’ in dir gefun-
den. —


Hiemit weihet’ ich ihn zu unſerm dritten
Blatt’ ein, das bey jeder ehrlichen Liebe vor
der Hochzeit ſeyn muß, ſo bald die Sache
nicht eins, zwey, drey, zu End’ iſt.


  • Ich. Denk an Gott, an Minen, und an
    deinen Bruder! —
  • Benjamin. Ich werd’, ich werd’, ich werd’
    an Gott denken, an Minen, und an
    Dich! —

Wir gaben uns die Hand, und ſahen gen
Himmel. —


Benjamin brach auf, und ich gab ihm
noch einen heißen Kuß fuͤr Minen mit. —
Benjamin ritt’, ohn’ Abſchied von ſeinem
Vater zu nehmen, davon.


Da ich ins Zimmer trat, wo die Geſell-
ſchaft war, fiel mir die Angſt des alten Herrn
in alle fuͤnf Sinnen. Er ſchlich ſich an mich,
und
[126] und brannte zu wiſſen, ob Benjamin ſchon
weg waͤre? — Obgleich ſein ſo unbaͤndiger
Stolz, welcher dieſes Angſtfeuer angeſteckt
hatte, eine ſo ſchleunige Loͤſchung nicht ver-
diente; ſo konnt’ ich’s doch nicht uͤber mein
Herz bringen, den Herrn Candidaten ſo lich-
terloh brennen zu ſehen. Er war der Vater
meiner Mine. — Er konnte wahrlich das
Geſicht nicht ſo verziehen, wenn ihn das Zip-
perlein plagte, und er dem Nicolaus Herr-
mann leiblich aͤhnlich war, als jezt, da er
befuͤrchtete, ſein Sohn wuͤrd’ ihn verdunkeln.
Eben darum hatt’ er auch den Benjamin aus
dieſer Gegend ſo weit entfernt. Wie dies
ſeine Schweſter, nachdem Benjamin vollends
der Vertraut’ unſrer heiligen Liebe geworden,
bedauret, wie ſehr ich’s zu bedauren fand,
darf ich nicht bemerken, da es ſich, wie vieles
in dieſer Geſchichte, von ſelbſt verſtehet. —


Um mir Zaum und Gebiß in den Mund
zu legen, ſprach er geſtern, wie meine Le-
ſer es ſich erinnern werden, von ſeinem
Sohn, als von einem angehenden Praͤpo-
ſitus! Wie ſehr ward ſein Stolz beſtraft! —
Ich konnt’, um aufrichtig zu ſeyn, mich des
Laͤchelns nicht enthalten, da ich ſahe, wie
der Herr Candidat mit ſeiner geſtrigen fal-
ſchen
[127] ſchen Muͤnze angehalten ward, die ihm auf
der Stelle confiſciret wurde. — Heute
haͤtt’ ich uͤberlaut lachen muͤßen; allein ich
konnt’ es nicht, weit eher haͤtt’ ich mich aͤr-
gern koͤnnen. —


Ich ſah’ und hoͤrte den Herren v. G. un-
willig, ohne zu wißen, was ihn unwillig ge-
macht; endlich erfuhr ich, daß es darum
waͤre, weil der Herr Candidat Herrmann
mein Schlafgeſell geweſen. Feur und Waſ-
ſer, Schuld und Unſchuld, hoͤrt’ ich ihn
ſagen! —


Er ordnet’ an, daß ich die letzte Nacht
durchaus mit ſeinem Sohne ſchlafen ſolt;
auch Gottfried, der unſer Begleiter war,
mußt’ in dies Zimmer. Dies Zimmer,
ſagt’ er, heißt Koͤnigsberg, und ihr muͤßt
ſo thun, liebe Reiſende, als ob ihr ſchon
an Ort und Stelle waͤret. Die Frau v. G.
hatte verſchiedene Einwendungen wider dieſ’
Anordnung; indeßen kam ſie nicht zum
Wort, und die Einrichtung des Herrn v. G.
ward ganz puͤnktlich befolgt.


Gottfried brachte mir, ſo bald wir nur
in Koͤnigsberg, oder in unſerm Schlafge-
mach, waren, von meiner Mutter viele
Gruͤß’ und einen zweygliedrigen Segen,
auch
[128] auch verſichert’ er mich hoch und theuer, daß
er unmoͤglich von hinnen ziehen koͤnnen, oh-
ne der Frau Paſtorin, der Mutter ſeines
zweyten Herrn, aufzuwarten. — Es kam
mir vor, daß Gottfried ſehr geweint hatte,
und wie konnte dies fehlen, da er von den
Ermahnungen einer Paſtorin kam? Eine
ſchriftlich’ Inſtruktion ſchien er ſo wenig, als
der Converſus zu haben, allein man ſah dem
ehrlichen Gottfrieden einen geheimen Auftrag
an. Ich war inzwiſchen viel zu ſehr ein
Sohn meines Vaters, um desfals mit
Gottfrieden eine Unterſuchung anzuſtellen. —
Mein Reiſegefehrt’ und ich gingen zu Bett,
als wenn wir wirklich ſchon unſern Stab in
ein fremdes Land geſetzet haͤtten. Wie ge-
faͤlts dir hier? fieng er an. Wie in Cur-
land, erwiedert’ ich, es iſt uͤberall Gottes Erd-
boden.


Schon mehr als ein und zweymal iſt auf
den vorigen Blaͤttern an Koͤnigberg gedacht,
auch hab ich bemerkt, wie dieſes der Ort un-
ſerer Beſtimmung war, welches beyde Vaͤ-
ter abvotirt hatten: indeßen war es nur ein
Interlocut, die Definitivſentenz ſolte nach-
folgen, — wenn wir unſern Vaͤtern von
unſerm academiſchen Leben zu Koͤnigsberg in
Preuſ-
[129] Preußen, einen getreuen Bericht wuͤrden
eingeſandt haben. —


Es war unter der vorigen Regierung
auf der Koͤnigsbergſchen Akademie auch
Alexander und Darius geſpielt, und ein
grauſam laͤcherlicher Streit zwiſchen Pietiſten
und Ortodoxen gefuͤhert worden. Nicht
blos Theologen, ſondern auch Juriſten und
Mediciner, hatten ſich werben laßen. — Es
waren Presbyterianer und engliſche Kirche,
Pilatus und Herodes, Wigs und Torrys. —
Dies veranlaßte uͤberhaupt ein kurzweiliges
Geſpraͤch uͤber den Pietismus und Inpietis-
mus, und hiebey ward eines curlaͤndiſchen
Theologen Bedenken vom Pietismo in dreyen
Abſchnitten betrachtet, mir einer Vorrede
von Erdmann Neumeiſtern. Hamburg bey
Philipp Hertel, im Jahr
1737 zum Grun-
de geleget. Dieſer curlaͤndiſche Theologus
oder Bedenker ſoll Paſtor Johann Wilhelm
Weinman ſeeliger, geweſen ſeyn. Er
hat in Frag und Antworten die Pietiſten an-
gegriffen, indem er nemlich ſelbſt fragt’ und
ſelbſt antwortet’, und ſo, wie’s oft ſehr
kluͤglich in dergleichen Faͤllen zu geſchehen
pflegt, ſo war auch hier die Antwort eher,
als die Frage fertig.


Zweiter Th. JDie
[130]

Die ſechs und ſiebenzigſte Antwort auf
die ſechs und ſiebenzigſte Frage des erſten
Abſchnittes ließ den Herrn v. G. und mei-
nen Vater herzlich lachen.


Frage.


Hat ſich denn der Pietismus auch in
Eurland einniſteln wollen?


Antwort.


(Ich laß’ einen großen Theil dieſer Ant-
wort unangefuͤhrt, damit meine Leſer deſto
beßer das Ende fuͤhlen moͤgen.) — — de
externis tantum, non autem de occultis, ju-
dicat eccleſia
.


Als ob, ſagte mein Vater.


Ja wohl, antwortete Herr v. G.


Eine Stell’ aus der Vorrede des mehr
beſagten Grundtextes wider die Pietiſten,
wo der Vorredner Neumeiſter noch am ſaͤu-
berlichſten mit dem Knaben Abſalon ver-
faͤhrt. —


„Doch auch ihre (der Pietiſten) Tu-
„genden will ich nicht verſchweigen. Es
„preiſet ſich an ihnen die Gottſeligkeit, wenn
„ſie nemlich aus ihr ein Gewerbe machen.
„Die Liebe zu Gottes Wort und geiſtlichen
„Buͤchern,
[131] „Buͤchern, denn ſie laßen eine unzaͤhlige
„Menge Bibeln, Arends wahres Chriſten-
„thum, und andere Schriften drucken, ih-
„ren Gewinſt damit zu treiben. Die Liebe
„gen den Naͤchſten, ihn von den Beſchwer-
„den des Seinigen zu befreyen, und ſich
„ſelbſt damit zu beluſtigen. Die bruͤderliche
„Liebe
gegen ihre heilige Schweſtern. Die
„Selbſtverleugnung
, da ſie ſich verleugnen
„laßen, wenn ſie von ihren Schuldnern ge-
„mahnt werden. Die Kreuzigung des Flei-
„ſches, ſonderlich bey gebratenen Haaſen,
„die in Form eines Kreuzes in der Schuͤßel
„liegen. Die Maͤßigkeit beym ungariſchen
„Wein. Die Keuſchheit auf dem Kranken-
„bette. Die Freygebigkeit, ſie andern zu
„empfehlen. Die Gutthaͤtigkeit, fuͤr ihren
„Bauch. Die Gnuͤgſamkeit, wenn alles
„bey ihnen uͤberlaͤuft. Die Dienſtfertigkeit,
„ehrliche Maͤnner aus Amt und Dienſt zu
„bringen. Die Demnth, zu knien, wo es
„nicht noͤthig iſt. Die Vorſichtigkeit, ihre
„Bosheit nicht an den Tag zu bringen. Die
„Geduld
, wenn es mit ihren Tuͤcken nicht
„recht fort will. Die Beſtaͤndigkeit, in ih-
„rer Heucheley. Die Eintraͤchtigkeit, da
„ſie alle eines Sinnes ſind, diejenigen die
J 2„nicht
[132] „nicht von ihnen ſind, zu verlaͤumden, zu
„ſchaͤnden, zu verfolgen. Der Gehor-
„ſam
, den ſie ihren eigenen Luͤſten leiſten. —„


Es war allerliebſt anzuſehen, wie ſich
Herr v. G. und mein Vater bey dieſer Ver-
leſung gebehrdeten.


Als ob, ſagte mein Vater. Ja wohl,
antwortete Herr v. G. Es ward bey die-
ſer Gelegenheit eine Geſchichte folgendes In-
halts eingeſchaltet:


Eine Perſon weiblichen Geſchlechts, die
ihrer geſegneten Umſtaͤnde wegen, Gewiſ-
ſensſchmerzen empfand, und eben darum
in den andaͤchtigen Erquickungsſtunden nach
Troſt liebaͤugelte, weil ſie Pein in dieſer
Flamme litt; hoͤrt’ in dieſen pietiſtiſchen Zu-
ſammenkuͤnften ohne End und Ziel vom
verkehrten Herzen reden. Sie kam nie-
der! und ſiehe da! ein Kind mit einem
verkehrten Herzen!


Es hat dieſes Kind (nach dem Bericht
des Candidaten, der dieſe verkehrte Herzens-
geſchichte von Univerſitaͤten mitgebracht,)
nur drey Tage gelebt. Seine Mutter folgt’
ihm, und zwar ebenfals nach drey Tagen,
von dieſem Todestage an gerechnet. Sie
verbat indeſſen ſorgfaͤltig im letzten Willen
alle
[133] alle Beſichtigung nach ihrem Tode, um
nicht durch ihr eigenes noch ein verkehrtes
Herz mehr an Tageslicht zu bringen.


Herr v. G. erzaͤhlte dieſe interimiſtiſche
Geſchichte; ich konnte, fuhr er fort, dem
Candidaten nicht beßer antworten, als
durch eine gleichmaͤßige Geſchichte von einem
Jagdhunde, der ſich die Beine abgelaufen
haͤtt’, und ein Dachs geworden waͤre.


Und um dem Herrn Candidaten mit die-
ſer Herzensgeſchichte, keinen Heller ſchuldig
zu bleiben, fuͤgt’ ich noch vom Paradiesgaͤrt-
lein
den Umſtand hinzu, daß dies Werkchen
oft und viel in Feuersgefahr geweſen; al-
lein es verbrannte nicht nur ſelbſt nicht,
ſchrie ich! ſondern es beſprach auch das Feu-
er; es war eben ſo gut, als ein halb Du-
tzend Feuerhaken, und ein Dutzend Schlan-
genſpruͤtzen, und iſt alſo dies Paradiesgaͤrt-
lein das wohlfeilſte Recept wider Feuersge-
fahr. Probatum eſt — —


Der curlaͤndiſche Bedenker nimmt ſich
die Freyheit, im erſten Abſchnitt ſeines cate-
chetiſchen Unterrichts eine hiſtoriſche Erzaͤh-
lung vorauszuſenden, was fuͤr Unruhe der
Pietismus in der evangeliſchen Kirche von
J 3Anfang
[134] Anfang bis zur jetzigen Zeit erwecket, und
da ſind viele Hoͤfe, Staͤdt’ und Flecken, wo
dieſe Krankheit gewuͤtet, und nicht der Kin-
der in der Wiege verſchonet. Auf dieſer Reiſe
kommt er gluͤcklich und wohlbehalten nach
Koͤnigsberg, und ruft ach! und wehe! —


Was wuͤrd’ er aber jetzt rufen, ſagte
Herr v. G.?


Der Herzens Candidat hatte verſichert,
der jetzige Koͤnig von Preußen haͤtte das ganze
alte Teſtament durch den Codicem Fridericia-
num abgeſchaft
, und das neue Teſtament
durch eine Inſtruktion verkuͤrzet. —


Als ob, ſagte mein Vater.


Ja wohl, ſagte Herr v. G.


und das war das letzte mal, daß ich als ob,
und ja wohl, von ihnen hoͤrte.


Die Gewohnheit der Pietiſten, wo ſie
ſtehen, oder liegen, oder ſitzen, die Haͤnde
zu kreuzen und laut zu beten, brachten den
Herrn v. G. und meinen Vater aufs Gebet.


Man kann wohl, ſagt’ er, wie Dioge-
nes uͤberall eßen; allein nicht uͤberall beten.


Warum, erwiederte mein Vater, —
Iſt Gott nicht uͤberall?


Herr
[135]
  • Herr v. G. Wenn Sie mir ſo kommen,
    Freund, ſo komm ich Ihnen ſo. Zugege-
    ben, Gott iſt uͤberall; allein wir ſollen
    an Gott glauben; durchs Gebet thun wir
    mehr, wir reden ihn an. — Thun Sie
    das gegen irgend jemand, von dem ſie
    nur glauben, daß er da iſt?
  • Paſtor. Gott iſt nicht irgend jemand. —
  • Herr v. G. Wenn Sie reden, muͤßen ſie ſe-
    hen — nicht?
  • Paſtor. Der Blinde ſpricht, ohne zu ſehen,
    und ſind wir mehr in dieſem Verhaͤltniß?
  • Herr v. G. Der Blinde greift mit der Hand,
    eh’ er ſpricht, und das iſt ihm anſtatt des
    Sehens.
  • Paſtor. Und iſt Gott nicht handgreiflich, —
    iſt er fern von uns, leben, weben und
    ſind wir nicht in ihm? —
  • Herr v. G. Gott iſt ein Geiſt, und nicht
    ſo handgreiflich, als dem Blinden der
    Jemand, den er zur Rede ſtellt. Das
    Sehen iſt von der Anrede unzertrennlich.
    Wer uns nicht anſieht, wenn er mit uns
    ſpricht, was ſagen wir von dem? Um
    Ihnen mein Glaubensbekenntniß auf ein-
    J 4mal
    [136] mal abzulegen: wenn ich mit jemand re-
    den ſoll, muß ich leibhaftig ſehen; an
    Gott glaub ich, und ich kann ihn alſo
    nicht anreden. —
  • Paſtor. Wir beten, um Gott und an Gott
    deſto feſterer zu glauben. — Glaub’
    und Gebet ſind ſich ſo nahe verwandt. —
  • Herr v. G. lieber Paſtor! man nennt oft
    den einen Seher, der ohne zu ſehen ſich
    einbildet, daß er ſaͤhe. Das ſind Sie,
    mit Ihrer Erlaubniß, uͤber dieſe Lehre.
    Dem Glauben iſt das Wuͤnſchen angemeſ-
    ſen. Wuͤnſchen kann ich alſo! beten aber
    nicht.
  • Paſtor. Wuͤnſchen Sie ſich nicht, was Sie
    von oben herab beten, was Sie von Gott
    bitten?
  • Herr v. G. Recht Paſtor! allein ein Wunſch
    iſt nicht ein Gebet. Laßen Sie uns ins
    gemeine Leben gehen. Wenn ich in Ge-
    ſellſchaft ſag’, ich wuͤnſche herzlich, daß
    Gott meiner Schweſter huͤlfe, wer findet
    dies nicht wohlanſtaͤndig! wer nicht bruͤ-
    derlich! Sie wiſſen doch, meine arme
    Schweſter kann ſich nicht nach dem Wo-
    chenbett’ erholen. Ich fuͤrchte, ich
    fuͤrchte!
    [137] fuͤrchte! — Das Soͤhnlein chriſtlicher El-
    tern iſt vorausgegangen, und die Mutter
    werd’ ihm folgen! —
  • Paſtor. Eine wuͤrdige Frau. — —
  • Herr v. G. Ein gutes Weib! Gelt! wenn
    ich, ſagt’ ich, wuͤnſche von meinem gan-
    zen Herzen, daß Gott meiner Schweſter
    huͤlfe; Sie wuͤrden mit wuͤnſchen, Paſtor.
  • Paſtor. Von Herzen — der liebe Gott
    helf’ ihr!
  • Herr v. G. Wenn ich aber in einer großen
    Geſellſchaft die Haͤnde falt’ und wie aus
    der Piſtol’ anfange: lieber Gott! Du hilfſt,
    wenn nichts mehr helfen kann! ich bitte
    dich, hilf meiner Schweſter, der armen
    Kranken, die dir ſchon ihren Sohn geopfert
    hat. Sie lieget da in deiner Gewalt! —
    ich wett’ es ſteht alles auf oder — oder
    — oder —
  • Paſtor. Woher und warum? Vielleicht weil
    wir nicht gern mit dem lieben Gott in Ge-
    ſellſchaft ſind, weil wir, wenn ich ſo ſa-
    gen ſoll, manchmal unter uns ſeyn wol-
    len. Ey in der Kirche?
  • Herr v. G. Das nemliche, Paſtor! Euer
    einer kann zwar fuͤr meine Schweſter be-
    J 5ten,
    [138] ten, aber ſolt’ ichs in meinem Kirchen-
    ſtuhl? — Paſtor, das nemliche! auf
    ein Haar das nemliche. Es geſchiehet
    zuweilen, daß einer von der Geſellſchaft
    in Privathaͤuſern ſich auf einmal gerade
    ſtellt, ein Paar Handſchuh anlegt, und
    Allerſeits anfaͤngt, wie es bey meinem
    Schwager v. W. nichts neues iſt; allein
    wie iſt ihnen dabey? — Wenn aber
    dieſer Redner feyerlich eben herein tritt,
    und ſeine Rede fein zuͤchtig anhebt? —
    Man ſchaͤmt ſich, wenn man eben ein
    Glaß in der Hand hat, man ſtelt es un-
    vermerkt an einen entlegenen Ort des
    Zimmers, ſo bald man Allerſeits hoͤrt,
    man ſieht den geputzten Redner, wenn
    man ihn auch noch ſo gut kennt, fuͤr ei-
    nen Fremden an, und hat nicht das Herz
    ſich gerade hin, ſondern ehrfurchtsvoll an
    ihn zu wenden. Dem Vater gehts ſo
    mit dem eheleiblichen Sohn. Der Sohn
    wird Vater, der Vater Sohn, wenn der
    Sohn redet, und der Vater hoͤret. Man
    ſieht den Saal als eine Kirche an, und
    den Sohn auf der Kanzel. Der Redner
    hats vollbracht; allein man traͤgt noch
    Bedenken, ſo gleich ein Glaß Wein mit
    ihm
    [139] ihm zu verſuchen. Man iſt im Handgrif,
    den Hut fuͤrs Geſicht zu halten, womit
    man in unſrer Zeit den Anblick eines hei-
    ligen Orts bezeichnet.
  • Paſtor. Alſo nur Anſtand ins Zimmer ge-
    bracht, nur heilige Haͤnde, und Sie koͤn-
    nen fuͤr ihre wuͤrdige Schweſter beten,
    die Sie ein gutes Weib zu nennen be-
    liebten. —
  • Herr v. G. Paſtor! wenn ich ganz rein her-
    aus ſagen ſoll; daß Euch das oͤffentliche
    Gebet kleidet, fließt aus dem frommen
    Vorurtheil, daß ihr in Gottes Dienſt
    ſeyd. — Man glaubt, ihr ſehet Gott
    den Herrn, wenn ihr die Augen verdreht,
    ihr ſehet ihn, wie man ſieht. — So
    lange wir aber Gott nicht ſehen, wie man
    ſieht, ſolten wir mehr als wuͤnſchen?
  • Paſtor. Redt man im Eifer nicht mit ſich
    ſelbſt?
  • Herr v. G. Mit ſich ſelbſt zwar —
  • Paſtor. Auch mit andern — ſo gar mit leb-
    loſen Dingen. —
  • Herr v. G. Im Eifer! oder in Redfiguren?
  • Paſtor. Auch in Entzuͤckung, in Verle-
    genheit. Chriſtus verſchließt daher das
    Gebet
    [140] Gebet ins Kaͤmmerlein, weil uns da nie-
    mand hoͤrt. Die Idee iſt ſehr natuͤrlich,
    daß wenn uns kein Menſch hoͤret, Gott
    uns hoͤre. — Dein Vater, der ins
    Verborgene ſiehet, ſpricht Chriſtus, wird
    ſich oͤffentlich an dir offenbaren. Das
    Gebet bringt uns den Glauben, daß
    Gott ſey, faſt bis zum Schauen. Das
    Gebet iſt der Spiegel, durch welchen wir
    im dunklen Ort Gott ſehen! — Ihn ſe-
    hen! — Wenn aber kommt das Vollkom-
    mene, wird das Stuͤckwerk aufhoͤren. Wenn
    mein Gebet eintrift; iſts mir ſo, als
    waͤr’ ich entzuͤckt bis zum unausſprechli-
    chen. — Es iſt die Probe, daß mein
    Glaub’ an Gott richtig gerechnet, und die
    wahre Summe herausgebracht. Chri-
    ſtus, der Herr, kam unſerer Schwach-
    heit zu Huͤlfe. Auch was ohn unſer Ge-
    bet geſchehen waͤre, wenn es auf unſer
    Gebet geſchieht, hilft unſerer Schwach-
    heit auf. — Kurz, das Gebet ſetzt den
    Menſchen mit Gott in Verbindung! —
    Wer erzaͤhlt nicht gern, was er geſehen
    und gehoͤrt hat, und was geſchehen iſt?
    Wie viel hoͤrt, ſieht man, und laͤßt ge-
    ſchehen, blos um es erzaͤhlen zu koͤnnen!
    und
    [141] und wer hat nicht wenigſtens etwas,
    (mancher hat viel) ſo er vor ſeinem ver-
    trauteſten Freunde, ſeinem Weibe, ſei-
    nem Kinde, verbirgt?
    • (Der Herr v. G. laͤchelte, ich aber dacht’ an das
      Land, wo man fruͤher als in Curland Spar-
      gel ißt, den Wein bey der Quelle hat, und
      lange Manſchetten traͤgt, ich dacht’ an den
      Melchiſedech und —)

    Mit ſich ſelbſt kan man nur kurz ſpre-
    chen. Das vor ſich muß noch kuͤrzer
    im gemeinen Leben, als nach den Regeln
    auf dem Theater ſeyn. Eigentlich ſolt’
    es nur in Schreys, in Aufwallungen,
    in Silben, beſtehen —
  • Herr v. G. Gott weiß alles, warum Zeit-
    verluſt?
  • Paſtor. Iſt es Zeitverluſt, ſich mit Gott
    bekannt machen, mit ihm umgehen, mit
    ihm reden? —
  • Herr v. G. Ohne daß er antwortet?
  • Paſtor. O! Er antwortet! Laut ſchallt es
    in der Seele! laut —
  • Herr v. G. Solch ein Hoͤrer hoͤrt aber,
    was tauſend andre nicht hoͤren. Er iſt
    mit dem Seher von einerley Art.

Paſtor.
[142]
  • Paſtor. Die Erfuͤllung unſers Gebets —
  • Herr v. G. Die ohn unſer Gebet gekommen
    waͤre. — Ich hab’ auf meinen Guͤtern
    einen alten Kerl, der, wenn er fuͤr ſeinen
    Fritzen betet, ihn dem lieben Gott auf
    ein Haar beſchreibt. Segne meinen
    Sohn, den Friedrich Emanuel, Gold-
    ſchmidt in Mitau, nah bey der Kirche,
    oben im Stuͤbchen zur rechten Hand. —
    Freund, ſo iſt all unſer Gebet! Wir ſa-
    gen dem lieben Gott, was er beßer weiß,
    wir ſagen ihm alle, daß unſer Sohn
    ein Goldſchmidt in Mitau ſey, daß er
    Friedrich Emanuel heiße, nah bey der
    Kirche oben im Stuͤbchen zur rechten
    Hand wohnhaft. Mein ehrlicher Franz
    machts beßer! Der kauft ſich ein Gebet-
    buch, das er in ſeinen Kaſten verſchließt,
    und wenn er des Abends ſchlaͤfrig iſt,
    klopft er dreymal an den Kaſten, und
    ſagt Amen! „Wie das Franz?„ ich denk,
    ſagt’ er, es iſt dem lieben Gott eins,
    wo er es heraus nimmt, ob aus dem
    Kaͤſtchen, oder aus dem Herzen: wenn
    nur das Amen dabey iſt. — Lieber Pa-
    ſtor. Gott bedarf unſers Gebets nicht.

Paſtor.
[143]
  • Paſtor. Aber wir beduͤrfen des Gebets, wir!
    Wir ſollen alles mit Dankſagung empfa-
    hen, wir ſollen nicht vergeßen, daß alles
    von Gott komme!
  • Herr v. G. Er iſt der Herr Himmels und
    der Erden! Koͤnige wollen Bitte und
    Dank! Gott der Herr! —
  • Paſtor. Gebet und Dank von anderer Art!
    Unſer Lallen, unſer Verſtummen iſt ihm
    mehr, als ein ſtudirtes Geplerr! Solch
    Gebet und Dank, als wir Gott widmen,
    verſtehen Koͤnig’ und Fuͤrſten nicht. —
    Es iſt mir unausſtehlich, wenn meine
    Amtsbruͤder ſich phariſaͤiſch ein langes Ge-
    bet concipiren, und es ſich zehn und mehr-
    mal in ihrer Studierſtube vorſumſen, als
    ob der liebe Gott in ihrer Studierſtube
    nicht waͤre? und als ob ſie ihn blos
    in der Kirch’ auf einen Panegyrikus ein-
    geladen haͤtten? Chriſtus, der uns eine
    Vollmacht zu beten gab, und es uns in
    ſeinem Namen zu thun nachließ, will,
    daß wir als Kinder zum Vater treten. —
    Hier liegt die ganze Lehre vom Gebet. —
    Hochtrabende Gebete mit allen goͤttlichen
    Titeln! Studirte Gebete! wie ſehr die-
    ſer Idee entgegen? — Der Mann be-
    tet
    [144] tet auf der Kanzel ſo vortreflich, heißt
    mit andern Worten: der Mann iſt ein
    falſcher Spieler!
  • Herr v. G. Iſts aber nicht kindlicher, ſich
    in Gottes Willen ergeben und ihm alles
    anheim ſtellen?
  • Paſtor. Das iſt Gebet. Das Vater unſer
    iſt bis auf die beſcheidene Bitte: Brod
    auf heute
    , Ergebung in den goͤttlichen
    Willen. — Es iſt ein heidniſcher, allein
    ein uͤberdachter großer Vorſchlag „wenn ein
    anderer betet, daß er ſeinen Sohn nicht
    verlieren moͤge; ſo bitte du, daß du dich
    nicht weigern oder fuͤrchten moͤgeſt, ihn
    zu verlieren —„ Der Chriſt braucht dies
    nicht von Heiden zu lernen. Sein Herr
    und Meiſter lehrt es ihm. Wer ſo ſtark
    iſt, daß er nicht Worte braucht, bete
    mit der Seele, Geiſt zu Geiſt! Schwer-
    lich wird jemand, der von Jugend auf
    ſagen gelernt: Abba, mein Vater! ſich
    ohne Worte behelfen. — Ein Wort,
    ein Wort, ſagt man, ein Mann, ein
    Mann; allein Lebens und Sterbens we-
    gen ſchreibt mans doch auf. — Was
    dies Schriftliche beym Menſchen iſt, das
    iſt das Gebet bey Gott, es geſchehe, wie
    die
    [145] die Theologen ſagen, mit dem Herzen
    allein, oder mit Herz, mit Hand und
    Mund!
  • Herr v. G. Gott iſt ein Geiſt, und die ihn
    anbeten, muͤßen es in Geiſt und in
    Wahrheit.
  • Paſtor. Luther ſagt von der Taufe: Waſſer
    thuts freilich nicht. — Worte thun es
    auch beym Gebet freylich nicht. Das
    Gebet ſelbſt, was iſts ohne Handlungen?
    ohne gute Geſinnungen? Gehe hin, und
    verſoͤhne dich mit deinem Bruder, und
    dann komm und bete, empfinde das in-
    nere Bewuſtſeyn dieſer guten That, und
    dieſes Bewuſtſeyn opfre Gott dafuͤr! dank
    ihm! Warum ſolten wir aber auch von
    einer ſo theuren Gab’, als die Sprach’ iſt,
    Gott nicht die Erſtling’ opfern? Es giebt
    ein gewiſſes herzliches kindliches Denken,
    das durchaus in Worte ausbricht. — Wir
    ſind und bleiben Menſchen! Das weiß der
    liebe Gott, der Engel kennt und Menſchen
    kennt. — Er erlaubt uns gern, ein Woͤrt-
    chen mitzureden, wenn ſich unſer Geiſt zu
    ſeinem Schoͤpfer, dem Geiſt der Geiſter,
    emporſchwingt. — Ich hab’ einen Stum-
    Zweiter Th. Kmen
    [146] men gekannt, der alle Morgen und all
    Abend an den lieben Gott ſchrieb. —
  • Herr v. G. Paſtor! da wolt’ ich drauf wet-
    ten, das hat der liebe Gott recht gern
    geſehen —
  • Paſtor. Weil eine kindlich’ Einfalt drinn iſt.
  • Herr v. G. Jeder wird ſeines Glaubens le-
    ben! — — Vielleicht ſolten wir nichts
    mehr, als das Vater unſer beten, wenig-
    ſtens iſt es das allervollkommenſte Gebet,
    wie ihr Herren ſelbſt ſagt. Warum ſolt
    ich etwas, das weniger vollkommen iſt,
    vorziehen?
  • Paſtor. Das nicht! wer kann aber das Va-
    ter unſer ſo oft beten und mit Andacht? —
    So wie man Linien mit Bleyfeder zieht,
    damit die Kinder gerad ſchreiben, ſo Chri-
    ſtus mit dem Vater unſer. Ich ſpar’ das
    Vater unſer, bin darauf geizig, und thue
    mir ordentlich damit was zu gut. — Alle
    Kubache haben mehr Schaden als Nutzen
    geſtiftet. Der gemeine Mann wird durchs
    Gebet aus dem Herzen klug, er lernt ſich
    faſſen, und wenn wir Volksgebete ſamm-
    len koͤnnten, Herzensgebete guter Men-
    ſchen, ich ſage, wenn wirs koͤnnten —
    wie vortreflich wuͤrde dieſe lautere Milch
    ſchme-
    [147] ſchmecken, wie wohl uns bekommen! —
    Ein ſolch naifes Buch waͤr noch nicht in
    der Welt. — Es koͤnnte nur blos vom
    Himmel fallen, — um menſchlich zu re-
    den. Gott muͤßt es aus ſeinem himmli-
    ſchen Archiv herausgeben. Es waͤre das
    beſte Lehrbuch fuͤr Prieſter und Leviten,
    die vor Gelehrſamkeit nicht zu Gott kom-
    men koͤnnen. — In Wahrheit, man kann
    von den meiſten Gelehrten ſagen, daß vor
    Rauch nicht Feur zu ſehen iſt!
    Meine Wuͤnſche werden indeſſen Wuͤnſche
    bleiben, weil Herzensgebete durchaus ins
    Kaͤmmerlein zu Hauſe gehoͤren. —

Es fielen außer dieſem piiſſimo deſiderio noch
mancherley pia deſideria vor. Es ward ſtuͤck-
weiſe von Bitte, Gebet, Fuͤrbitte und Dank-
ſagung gehandelt — wovon ich aber vor
jetzt nachzuhandeln bedenklich finde. —


An den geneigten Leſer,
und an den
ungeneigten Kunſtrichter.


Dies Geſpraͤch iſt uͤber Pauſch und Bo-
gen, wie mir alles war, was bey meiner
K 2An-
[148] Ankunft in — — dem Hauſe des Herrn
v. G. vorfiel.


Mein Vater betete weniger, als er vom
Gebet ſprach, und es gefiel mir ſeine Anmer-
kung, die er zu einer Zeit machte, daß vom
Gebet reden, auf gewiſſe Weiſe beten heiſ-
ſen koͤnne. — Wenn dieſe Anmerkung rich-
tig iſt; ſo wird man faſt behaupten koͤnnen,
es waͤr’ ohn Unterlaß in dieſer Geſchichte ge-
betet worden. — Dieſes Geſpraͤch haͤtt’, ich
geſteh es, uͤberſchlagen werden koͤnnen, ich
wolt’ indeſſen ehrlich bey dieſer Sache ver-
fahren, und ſo, wie in der ganzen Schrift
verfahren iſt. Des ungeneigten Kunſtrichters
wegen (der geneigte Leſer wird es ſo genau
nicht nehmen) muß ich anfuͤhren, daß dieſes
alles und jedes nach der Tafel an dem Tage
vorgefallen, da wir nach — zum Herrn
v. G. kamen, und zwiſchen Herrn v. G. und
meinem Vater eine Koppelweide bruͤderlich
verabredet ward, und da dieſer Vergleich mit
einem aͤchten Glaſe Wein aus einem Schauer
begoſſen ward, und wo ich, quod bene no-
tandum,
alles uͤber Pauſch und Bogen ſah
und hoͤrte; wovon der Schluß dieſes Ge-
ſpraͤchs einen hinreichenden Beweis zu geben
im Stand’ iſt.


Dies
[149]

Dies iſt alſo das Datum
zum Gebetsgeſpraͤch,
zur Frage wohin?


  • Zur Antwort: Koͤnigsberg vor der Hand, —
    der Pietiſterey des Codicis Fridericiani und
    der Inſtruktion unerachtet,
    Koͤnigsberg vor der Hand.
    Goͤttingen nach der Hand.

Dies nach der Hand aber, ſag’ ich meinen
Leſern ins Ohr, wie ich es mit mancher Nach-
richt aus gutem Herzen gemacht habe.


Herr v. G. wolte nicht, daß wir den an-
dern Tag zeitig unſre Reiſ’ antreten ſolten. —


Große Reiſen, ſagt’ er, immer nach
Mittage. Tagereiſen fangen des Morgens
an. Er war ſehr kurz in den Ermahnungen
an ſeinen Herrn Sohn. —


Er rieth ihm nach Anleitung meines Va-
ters an, lebendige Thiere zu halten. Sein
theurer Herr Sohn hatte ſchon, wegen des
Satans, den er gern mitgenommen haͤtte,
eine abſchlaͤgige Antwort erhalten, und war
alſo ſeine etwas ſtoͤrriſche Frage ſehr natuͤrlich:
Was fuͤr Thiere?
Der junge Herr v. G. hielt den Hund fuͤr ein
K 3Com-
[150] Compendium aller nuͤtzlichen Thiere, fuͤr ein
lebendiges Thier κατ̕ εξοχὴν.


Noch eine andere Bemerkung, eh’ ich
die Antwort auf die ſtoͤrriſche Frage: was fuͤr
Thiere? mittheile: es hatte der gute Herr
v. G. der aͤltere viele Huͤner. Aus ſeinem
geſchmackreich gebauten Huͤnerhaͤuslein, und
der Weiſe des Herrn v. G., ſie ſelbſt zu fuͤt-
tern, haͤtte man ſchluͤßen ſollen, daß er das
alte Wahrſagerprincipium angenommen, und
daß er aus der Begierde, womit die Huͤner
fraßen, ſo, daß die Koͤrner auf dem Boden
herum tanzten, Gluͤck oder Ungluͤck ſagen
koͤnnte. —


Huͤner, antwortete der Herr v. G. ſei-
nem Sohne. Alles was Othem und Leben
hat, zieht an, fieng ich an. Die Sympa-
thie hat im Othem ihren Hauptſitz. — Im
Othem iſt Leben und Tod. —


Der Herr v. G. der aͤltere loͤſete mich ab,
und wandte ſich zu ſeinem Sohne.


Du wirſt bey deinen Huͤnern bleiben,
wenn du dir Huͤner anſchaffeſt und meinen
Rath befolgſt, du wirſt mancher Geſellſchaft
eine abſchlaͤgige Antwort geben. Der Satan
haͤtte dich zur Jagd verfuͤhrt, ob er gleich
auch
[151] auch Othem hat, und mit dir ſympathiſirt,
— auf der Akademie keine Jagdhunde! —


In Pohlen halten ſich einige Familien ein
Paar, um die Teller zur zweyten, dritten und
vierten Schuͤſſel ſtehendes Fußes rein lecken
zu laſſen. — Das wirſt du nicht noͤthig ha-
ben. Die Reinlichkeit hat man uͤberall um-
ſonſt. —


Haſt du Huͤner und Tauben, fuhr er fort,
und hat der Wirth ein Gaͤrtchen beym Hauſe,
verdople die Miethe. — Jeder Menſch muß
einen Zeitpunkt in ſeinem Leben haben, wo
er zu Hauſe bleibt. Laß dir den Vorfall mit
deiner Braut, der lieben Kleinen, zur Lehre
dienen, — und thue der Jagd einen Poſſen,
und ſchieß’ und hetz’ in drey Jahren nicht. —
Converſation iſt dem Studieren und ſelbſt der
Lektuͤr ſpinnefeind. — Vergeßt nicht, (ſein
Blick traf uns beyde) daß ihr aus einem
freyen Lande ſeyd. — Die Monarchie hat
viel verfuͤhreriſches; allein Sie verſaͤuret
das Herz, ſie nimmt Seel’ und Gewiſſen in
Beſchlag. — Ein Monarch! Ja, was ſo
ein Herr nicht alles thut! Wunder uͤber
Wunder! — Es iſt aber auch darnach. —
Das leichteſte Stuͤckchen Brod iſt es, das
Gott giebt. Sie ſaͤen nicht, ſie erndten nicht,
K 4wie
[152] wie die Lilien auf dem Felde, und Gott naͤhret
ſie doch. — Der Paſtor, ihr Vater, (Herr
v. G. der aͤltere wandte ſich zu mir) der mich
ehegeſtern beten gelehrt, wird mich nie, nie
dahin bringen, in dieſer Ruͤckſicht etwas an-
ders zu beten, als daß Gott der Herr Cur-
land wo moͤglich noch unabhaͤngiger mach’,
als es jetzt Gott ſey Lob und Preis ſchon
iſt! — Je unabhaͤngiger, je mehr Gott
aͤhnlicher. Ich hab’ einen Franzoſen gekannt,
der von Curland ſagte, das elendeſte Land,
das ich kenne! Man kann im Sommer nicht
ſeinen Winterrock verſetzen. Das Wetter
wechſelt wunderlich. — Du guter Schlucker!
Ich will dir dein Land und deinen allerchriſt-
lichen Koͤnig laſſen. — Gott ehr mir mein
ſchlecht und rechtes Haus, wo manche prie-
ſterliche Schwalbe niſtet. — Du ſolſt ſo viel
Freyheit haben, wie ich gutes Ding Wohl-
ehrwuͤrdiger Vogel! Seht nur Kinder! wie
die mich da eben anſieht! ich kann den
Schwalben nichts nachſagen, und außer dem
Umſtande, daß ſie den Todtengraͤber Tobias
blind gemacht, — weiß ich nichts boͤſes von
ihnen!


Preußen hat einen gebohrnen Koͤnig,
den man nicht X vor U machen kann, der
koͤnig-
[153] koͤnigliche Gaben hat; allein roth, blau und
gruͤn, machen ſchwarz, kohlſchwarz. —
Gern haͤtt’ ich den Herrn v. G. gebeten, mir
dieſes Raͤthſel zu loͤſen; allein er hielt inne.


Nach einer Weile fuhr er fort: der
Staat, dem ihr zueilt, hat — ich geſteh
es, einen Philoſophen und einen Koͤnig zum
Beherrſcher. Er hoͤrt jeden, er ſieht jeden,
er hilft ſo weit ſeine lange Koͤnigshand es
kann. — Jeden! und es iſt mir ordent-
lich bange, daß er euch die Monarchie in ei-
nem zu vortheilhaften Lichte zeigen werde. —
Pruͤfet alles, und das Gute behaltet. Eine
Schwalbe macht keinen Sommer!


Die Monarchen ſolten nur angeloben zu
hoͤren, phyſiſch zu hoͤren; allein thun ſie es?
Sie meßen ihre Superioritaͤt nicht mit ih-
ren allerunterthaͤnigſten treugehorſamſten
Knechten, ſondern mit andern Monarchen,
und da mag der Teufel Unterthan ſeyn.
Sie haben keinem Rechenſchaft zu geben, als
dem lieben Gott in der andern Welt, und den
Poeten und Geſchichtſchreibern in dieſer. —
Die letzten haben nicht aufs Recht geſchwo-
ren, und nehmen Geſchenk’ an, und mit
dem lieben Gott hats Zeit genug, daß ſie
K 5Ihm
[154] Ihm im Titel den Rang laßen! Kommt
Zeit kommt Rath. —


Der Herr v. G. der aͤltere hielte dieſe
Anrede mit einer unausſprechlichen Waͤrme,
Er ſchien im Ernſt zu fuͤrchten, wir wuͤrden
uns in Preußen werben laßen, und Koͤnig-
ſche
werden. —


Noch muß ich bemerken, daß er ſich
waͤhrend der Zeit, da er Curland prieß,
aufs gruͤne Gras geworfen hatte, als wenn
er der freyen Erde ſeinen Dank ablegen und
ſie umarmen, umfaßen wolte. — Es ſchien,
da er geendiget hatte, als beſorg’ er, nicht
aufſtehen zu koͤnnen.


Dies bewog den alten Herrn, ihm un-
ter den Arm zu greifen; allein Herr Herr-
mann kam beym Herrn v. G. jederzeit zu
kurz, er mocht’ es anlegen, wie ers wolte.
Es riß Herr v. G. den allzeit dienſtfertigen
Herrmann auf Gottes Erdboden. Da lag
mein Schwiegervater ſo lang er war. Herr
v. G. ſtand auf, ſo friſch als ein Juͤngling
von funfzehn Jahren. — Es war bey die-
ſem Niederriß nicht Gewaltthaͤtigkeit, ſon-
dern nur Staͤrke. — Es war ſchoͤn anzu-
ſehn! — —


Den
[155]

Den Abſchied durchaus im Freyen! Er
verfliegt eher, ſagte Herr v. G. Es ward
auch im Freyen Abſchied genommen. Wolte
Gott, fuhr Herr v. G. fort, wir koͤnnten auch
ſo den letzten Abſchied nehmen, und im Frey-
en ſterben, und warum ſolten wir es nicht?
Wo iſt uns am meiſten Gutes geſchehen?
Der Geiſt ſucht das Freye, und wird dort
nicht wohnen in einem Hauſe mit Men-
ſchen Haͤnden gemacht. Der Tod wuͤrde
nur halb ſo ſchwer ſeyn. Wahrlich der
Menſch entzieht ſich zu ſehr der Luft, und
zieht eben dadurch Leib und Seel eine Art
von Stockung zu. Ward unſer Geiſt denn
nicht, wenn er das Freye ſucht, ſchon ent-
zuͤckt, obgleich ihn der Leib wie ein Bleyge-
wicht zur Erde zog! —


Die Frau v. G. hatte noch viel auf ih-
rem Herzen; indeßen empfahl ſie ihrem Soh-
ne das Alter zu ehren, und es macht ihr
viele Muͤhe, die Sache endlich zu drehen,
wohin ſie ſie wolte. Sie ſagte, daß ſie fuͤr
einen alten Baum, fuͤr einen alten Mann,
(an eine alte Frau dachte ſie nicht,) und
fuͤr eine alte Familie große Hochachtung
haͤtte. —


Alſo
[156]

Alſo auch fuͤr eine alte Familie: Ein
neuer Edelmann, ſetzte ſie, um es noch ein-
druͤcklicher zu machen, hinzu, iſt ein Baum,
der noch nicht die Blattern gehabt, der noch
nicht oculirt iſt. — Weiter lies ſie ihr Ge-
mahl nicht, das paßt, ſagt’ er, wie die
Fauſt aufs Auge, und in Wahrheit, du
weißt nicht, wer Koch oder Kellner iſt. —


Von der Frau v. W. wieder einen
Blick — von ihrer liebenswuͤrdigen Tochter
ein Laͤcheln. Leben Sie wohl und gluͤcklich,
ſagte die Frau v. W., — und gluͤcklich!
hall’te die liebe Kleine nach. — Die Worte
fielen auf den jungen Herrn v. G.; allein
das Aug’ auf mich. —


Ich weiß nicht, wer auf den Gedanken
kam, daß mein Reiſegefehrt’ ſeiner kleinen
Braut einen Kuß geben ſolte. Ihrem Ret-
ter auch einen, ſagte Herr v. G., und die
Frau v. W. als wenn ſie darauf gewartet
haͤtte, freylich kleine Undankbare, das ſolteſt
du von ſelbſt thun — ich nahm mich ſehr un-
geſchickt dabey. Die arme Kleine ward roth
uͤber roth — und da ich mich zum letzten-
mal gegen ſie beugte, trat ihr eine Thraͤn’
in ihr blaues ſchoͤnes Auge, welches ſo durch-
ſchimmerte, wie ein Veilchen durch ein Thau-
troͤpf-
[]

[figure]

[][157] troͤpfchen. — Gott ſegne die gute Frau v.
W. und ihre Tochter, dacht’ ich, und den
Herrn v. G., der mir zum Kuß verhalf,
und zu der ſchoͤnen Thraͤne! —


Jetzt war die Reih’ an den Herrn v. W.
und den Herrn Herrmann. Ich hatte ſchon eini-
gemal mich an den Herrn v. W. gewendet; al-
lein er hatt’ es ſehr hoͤflich verbeten, weil es —
wie er ſich auszudruͤcken gefaͤlligſt beliebte —
noch nicht an ihn waͤre.


Er umarmte meinen Reiſegefehrten und
that mir, wie wohl mit ſteifen Arm, eine
gleiche Ehr’ an. — Hiebey macht’ er,
(weil es eine Abſchiedsumarmung war,)
ein grißgraͤmiſches Geſicht. —


Bey meiner Umarmung weniger,


Bey des jungen Herrn v. G. mehr.


Der Herr v. G. der aͤltere ſagte, Herr
Bruder, du ſiehſt ja aus, als ob du vom
verbotenen Baum gegeßen haͤtteſt! —


Laß mich, ſagt’ er, und that ſo peinlich,
als verloͤr’ er ein Glied vom Finger. —


Es iſt, fieng er an: Es iſt — er unterbrach
ſich wieder mit einem tiefen Seufzer. — —


Es iſt mein Herr Schwiegerſohn, brach
er endlich heraus, und die heißeſten Wuͤn-
ſche, daß der große Gott ihn auf ſeinen Rei-
ſen
[158] ſen begleiten, ſeine Studien zu ſeiner Ehre
und des Vaterlandes Nutzen ſegnen, und
ihn zu ſeiner Zeit in die Arme ſeiner kleinen
Braut geſund zuruͤckbringen wolle! — Das,
das iſt ein Theil, der kleinſte, von der Em-
pfindung. —


Zieh ein Paar weiße Handſchu auf,
ſagte Herr v. G., ſolch’ eine Rede verdient
es, deine Briefe ſind all’ auf Poſtpapier mit
verguldetem Schnitt und —


Dieſer Eingrif war ſehr erwuͤnſcht, um
den Herrn v. W., der viel zu leiden ſchien,
zurecht zu bringen. Ich bin ein Diener der
deutſchen Sprache, ſagt’ er, Herr Bruder!
allein ein gewißes je ne ſais quoi ſuch’ ich in
Gedanken, Geberden, Worten und Wer-
ken. —


Das iſt auf deutſch, du ſuchſt nichts,
rein nichts, erwiederte der brave Herr
v. G. —


Mir konnte Herr v. W. nichts mehr ſa-
gen, als Dank! und tauſend Dank! —
Sein Compliment war noch nicht ausgeknetet.


Du haſt mich geſtoͤrt, ſagt’ er zum
Herrn v. G., wie ehegeſtern die Waldhoͤr-
ner. — Das wundert mich, fiel ihm Hert
v. G. ein, du faͤhrſt ja ſonſt immer mit fuͤnf
Raͤdern,
[159] Raͤdern, auf allen Fall, eins aufgebunden —
du haͤtteſt ja das fuͤnfte abbinden koͤnnen. —


Der alte Herr drengte ſich vor, um mich
vor aller Augen zu kuͤßen. Ich that es, die-
ſer Schwachheit unerachtet doch, und —
das ganz ehrlich, ich entzog ihm nichts. —


Gruͤßen Sie, ſagt’ ich ihm —


ich werd, erwiedert’ er.


Ich. tauſendmal —


Er. tauſendmal —


Dieſer Gruß gehoͤrte nicht Vater, nicht
Mutter, ſondern blos Minen, blos ihr, alle
tauſend ihr, all ihr. — Mir kam es vor,
daß der alte Herr es fuͤhlte, wen es galt,
und fuͤr dieſes Gefuͤhl druͤckt’ ich ihm die
Hand, und er ſchien uͤberaus mit mir zufrie-
den zu ſeyn, ich ſagt’ ihm noch ganz leiſe,
tauſendmal, tauſendmal! —


Herr v. G. ſah mich an, und ſein Blick
wolt’ in Beziehung auf meinen herzlichen Ab-
ſchied vom alten Herrn ſagen: junger Menſch,
dir fehlt Erfahrung! Man ſiehts; ſonſt wuͤr-
deſt du den Herrmann ſo nicht herzen und
kuͤſſen, den ich nur eben koͤrperlich zur Erde
riß, mit ſeiner Seele mach’ ichs all’ Augen-
blick ſo, — der gute Herr v. G. irrte dies-
mal
[160] mal mit dieſer Gebehrde. — Zwar hatt’ er,
wie meine Leſer ſo gut wiſſen als ich, einen
naturfindenden umfaſſenden Blick, daß er
aus dieſem Abſchiede haͤtte wiſſen koͤnnen und
ſollen, Herrmann hab’ eine Tochter, deren
Freund, deren Seelenmann ich ſey — allein
diesmal fand er nicht den rechten Weg. —


Die Frau v. G. konnte ſich nicht des La-
chens erwehren, da ſie meinen Feldkeſſel, den
mir mein Vater mitgeben laſſen, und den
meine Mutter nicht zu kennen die Ehre hatte,
(ſonſt waͤr’ er gewis nicht mitgekommen,)
aufbinden ſahe. — Der junge Herr v. G.
hatt’ alles nach Jagdmanier, als ob er auf
eine weite Jagd ſich begeben ſolte, obgleich
der Herr v. G. der aͤltere den Satan ſeinem
Sohn abgeſchlagen und ihn verſichert hatte,
„daß jeder Menſch einen Zeitpunkt in ſei-
„nem Leben haben muͤßte, wo er zu
„Hauſe bleibt.“

obgleich er ihm die Jagd wohlmeynend wie-
derrathen, und ihm Huͤner empfohlen, um nach
der Meynung meines Vaters etwas, was
Othem hat, um und neben ſich zu haben.


Obgleich — ſo war doch der Sohn wie
Jaͤger ausſtaffirt! —


Der
[161]

Der gute Herr v. G. der aͤltere that dies
in ſeiner Unſchuld! Seht da einen Original-
zug von Curland, dem Herr v. G. der aͤltere
nicht ausweichen wolt’ und konnte. — Die
gruͤne Farb’ iſt Trumph.


Herr v. W. ſchlug eine Begleitung aus
Hoͤflichkeit vor; allein Herr v. G. verbat ſie
nachdruͤcklich. — Es blieb alles ſo lange ſte-
hen, als es uns ſehen konnte, und da wolt’
ich wetten, Herr v. W. noch ein wenig laͤn-
ger. —


Sobald wir ihrem Nachblick entfahren
waren, kuͤßte mich mein Reiſegefehrt von
freyen Stuͤcken herzlich. — Wir wollen uns
einander alles ſeyn — Vater und Mutter,
ſagt’ er — ich ſeufzete, denn ich dacht’ an
Minchen. —


Wir langten in der Haupt und Reſidenz-
ſtadt Mitau an, um hier mit einem Koͤnigs-
bergſchen Fuhrmann, (man nennt derglei-
chen Leute Rigaſche Fuhrleute,) die Fahrt
bis Koͤnigsberg zu verabreden. — Ich fand
in dem Fuhrmann und ſeinem Untergebenen
ein Paar ſo geſunde und ſtarke Menſchen,
daß ich wohl einſahe, wie man auch im mo-
narchiſchen Staat, der Ermahnung des Herrn
v. G. auf dem curſchen Graſ’ unerachtet,
Zweiter Th. Lſeinen
[162] ſeinen ſtattlichen Schritt haben, gerade aus-
ſehen und ſich wohl befinden koͤnne. — Ich
konnte nicht aufhoͤren, dieſe Menſchen zu
fragen und ſie anzuſehen, ſo daß ich die Haupt-
und Reſidenzſtadt Mitau daruͤber vergaß, die
am Ende auch nur zur Johanniszeit unter
die ſichtbaren gehoͤrt und gewis unter den
ſichtbaren nicht die vornehmſt’ iſt. Um Jo-
hann iſt eine allgemeine Wallfahrth nach Mi-
tau; dann laͤßt der Edelmann in Begleitung
eines Theils Bauren die Eßwaaren, und ſo
gar Meubles, an dieſen Johannisort nach-
bringen. Dem Vorreuter iſt auf dem linken
Arm ein Silberblech aufgeneht, worauf das
hochadliche Wapen ſteht, um — Mitau Ehre
zu machen. —


Ich hatte mir, die Wahrheit zu ſagen,
einen zu großen Begrif von Mitau gemacht,
woran meine Mutter zum groͤßten Theil
Schuld war. Dies bitt’ ich zu den preußi-
ſchen Leuten hinzuzurechnen, um das unbe-
traͤchtliche Intereſſe herauszubringen, das ich
an Mitau nahm. — Das vom Herzoge
Ernſt Johann angelegte Schloß, wozu 1738
den vierzehnten Junius der Grundſtein gelegt
worden, und welches in die Stelle des alten
ſeit 1269 geſtandenen verwuͤſteten errichtet
wor-
[163] worden, ſtand da zum glaͤnzenden Beweiſe,
daß Plan und Ausfuͤhrung, Verlobung und
Hochzeit, zweyerley ſind. Dieſe Betrach-
tungen fuͤhrten mich zu Minen, und was
fuͤhrte mich nicht alles zu ihr?


Meine Mutter wuͤrd’ es mir ſehr ver-
dacht haben, daß das anſchauende Erkennt-
niß meinen Begrif von Mitau ſo ſehr herab-
geſtimmet. Wohnet denn, wuͤrd’ ohn’ In-
tegralrechnung ihre Bemerkung geweſen ſeyn,
wohnet denn nicht der Herr Superinten-
dent hier?


Mein Reiſegefehrt war im Mittelpunkt’
und konnte nicht aufhoͤren zu ſehen. Mie-
tau ſchien ihm


terrarum Dea gentiumque Roma,

cui par eſt nihil \& nihil ſecundum.

Die Hauptſtadt der Welt! — obgleich
es nicht Johann war. Die Reſidenz iſt fuͤr
jeden Edelmann das Treibhaus im kalten Cli-
ma. So wie’s Arzeneyen giebt, die nur
durch das heilige himmliſche Feuer der Son-
ne gekocht, gebleicht und getrocknet werden
koͤnnen; ſo iſt auch die Reſidenz die Inſola-
tion in Abſicht des Edelmannes. Mein Rei-
ſegefehrt empfand alle Nepos wollas, die er
L 2in
[164] in ſeinem Leben geben wuͤrde: und Adam
haͤtte nicht auf die Schwangerſchaft von al-
len Seelen, die in ihm lagen, ſo ſtolz ſeyn
koͤnnen, wenn man ihre Fortpflanzung per
traducem
ſich traͤumet, wie Herr v. G. auf
alle Nepos wollas, als die Inſignien eines
Edelmannes in Pohlen und Curland. Was
iſt denn, fieng ich an, in Mitau? Man
muß es in Johann ſehen, erwiedert’ er!
Denn iſts illuminirt, erwiedert’ ich, und
wenn die Lichter ausgebrannt ſind, was iſt’s
denn? Kennſt du ein Johannswuͤrmchen,
fragt’ ich zur Wiedervergeltung? ich will
es dir praͤſentiren. Es iſt ein Wuͤrmchen
gruͤnlicht auf dem Bauch. — Hier hat es
auch ein kleines Blaͤschen, welches einen
gruͤnlichen hellen Glanz wirft, ſo bald dies
Blaͤschen ſich einzieht — weg iſt ihr Glanz.
Die Exiſtenz dieſes Wuͤrmchens waͤhret nur
einige Sommernaͤchte. — Mein Reiſege-
fehrt’ lachte — ich mochte nun denken, daß
der Superintendent in Mitau ſey oder nicht;
ſo war es mir doch ſo, als ob ich nicht in
Curland, ſondern da zu Hauſe gehoͤre, wo
man fruͤher Spargel ißt, eine Pfeife in der
freyen Luft raucht, den Wein bey der Quelle
hat, und lange Manſchetten traͤgt. Kein
Wun-
[165] Wunder alſo, daß Mitau nicht meine Re-
ſidenz war. In Curland gehoͤrt ich in un-
ſerm Paſtorat und auf dem Gute des
Herrn v. G. zu Hauſe. Ueberhaupt ſchei-
nen die Curlaͤnder zu keiner Stadt Luſt und
Liebe zu haben. Sie gehoͤren aufs Land,
wo ſie auch Geſchmack anzubringen wißen. —
Sie ſind geſtiefelt und geſporet, und es laͤßt
keinem Curlaͤnder, wenn gleich er ſich in Un-
koſten ſetzt, und Schu und Struͤmpf’ an-
legt. Sie ſind gebohrne Cavalleriſten.
Wenn ſie geputzt ſind, muß es ihr Pferd
auch ſeyn. Ich hab’ allerliebſte Reit- und
Jagdkleider in Curland geſehen, die Mitgabe
meines Reiſegefehrten kann hier zum Belag
dienen, unerachtet ſein Herr Vater durch-
aus keinen Jaͤger auf der Univerſitaͤt haben
wolte, ſeinem Sohn den Satan abſchlug,
und unter lebendigen Thieren die Huͤner in
Vorſchlag brachte. —


Unſere Preußen verzoͤgerten uns beynahe
zwey Tage, ehe wir endlich die curſche Re-
ſidenz verließen. Das herzogliche Schloß
hat ſo wenig Verhaͤltniß zu dem uͤbrigen
Theil der Stadt, als das mitauſche Pflaſter
zur Regelmaͤßigkeit und Ordnung. In
Wahrheit, wenn man die Nation beſchrei-
L 3ben
[166] ben wolte, muͤßte man Mitau beſchreiben.
Ich fiel auf den Gedanken, indem ich dies
niederſchrieb, ob nicht jede Reſidenz das Land
im verjuͤngten Maasſtabe ſey, allein ich habe
mich geirrt; es giebt ſo viel Ausnahmen, ſo
viel ungerathene Soͤhne bey dieſer Regel,
daß die Regel ſelbſt den Mutternamen Regel
nicht verdient. — Unter dem Alltaͤglichen,
was auf der Reiſe vorkommt, fielen mir die
armen Menſchen auf, die an Hecken ſitzen,
und ſie den Reiſenden oͤfnen. In Wahr-
heit, dacht’ ich, das koͤnnen nicht alles Leute
von niedriger Geburt ſeyn. Ich ſah’ einen
alten Mann in einem dergleichen Diogenes-
haͤuschen am Heck, der einen ſo vortrefli-
chen Kopf hatte. — Das war wenigſtens
ein Litteratus! und wo anders ſah ich ein
armes krankes Weib, die in der groͤßten Be-
hendigkeit aus ihrer Behauſung kam, und
Hand ans Werk legen wolte; allein kraͤm-
pfigte Zufaͤlle laͤhmten ihr ſtehendes Fußes
die Hand. — Es war ruͤhrend anzuſehn.
Die Preußen wolten ihr keinen Schilling ge-
ben, weil ſie ein altes Weib war, und der
Kraͤmpfe wegen das Heck nicht oͤfnen konn-
te; ich entſchaͤdigte ſie zwar, allein ich mußte
die Entſchaͤdigung auf Gottes Acker, auf die
Erde,
[167] Erde, werfen. — Nicht Geld konnte ſie
halten. Dafuͤr ward ich im Wagen aus-
gelacht — und wer weiß, was noch der
Kritikus thut? —


In Wahrheit, wenn ſich jemand finden
ſolte, die Lebenslaͤufe aller dieſer Ungluͤck-
lichen in Diogeneshaͤuschen zu ſchreiben,
auf einer Reiſe, die freylich nicht durch die
Welt ſeyn duͤrfte, wie ohnedem noch niemand
gereiſet iſt; gewiß er waͤr’ ein vortreflicher
Schriftſteller, und wuͤrde geleſen werden, bis
an den lieben juͤngſten Tag. —


Ich hatte, um mir eine Bewegung zu
machen, den Wagen verlaßen, und hiezu
kam noch dankbare Empfindung gegen mein
freyes Vaterland, die ich unmoͤglich ſitzend
aushalten konnte. Ich ſahe die Graͤnzſchei-
dung, und da ich eben einen gruͤnen Platz
fand, beredet’ ich meinen Gefehrten, Cur-
land zu umarmen. Wir legten uns hin,
ſo lang wir waren. — Der Wagen fuhr
langſam weiter, ſo unvermerkt, wie aus ei-
ner Monarchie Despotiſmus wird, wenn ſie
es nicht ſchon an ſich iſt, woruͤber die Gelehr-
ten noch uneins ſind. —


Lebe denn wohl! herzlich geliebtes Va-
terland! Ich danke dem Himmel, daß dein
L 4freyer
[168] freyer Boden das erſte war, was mein Fuß
betrat. Das fuͤhl’ ich noch! noch! daß er
frey war, und ich wuͤnſchte, meine Leſer
moͤchten es auch, wo nicht uͤberall, ſo doch
wenigſtens an einigen Stellen gefuͤhlt haben!
Natur und freyer Staat ſind Geſchwiſterkind,
und vertragen ſich wie Kinder! — Etwas
reine klare Natur muß bey jedem Werk der
Kunſt ſeyn, und dies etwas eignet ſich See-
lenwuͤrde zu, es iſt Seele, es iſt goͤttlicher
Hauch, lebendiger Othem in die Naſe. Die
Kunſt, die Verſchoͤnerung, iſt Leib.
Man kann in Wahrheit auch die Menſchenſee-
le durch den Menſchenkoͤrper verſchoͤnern. —
Nur leider heut zu Tage wird der Koͤrper nicht
verſchoͤnert, ſondern geſchwaͤcht. Ich leugn’
es nicht, daß dadurch, daß der auswendige
Menſch gelitten, der inwendige Menſch zum
Theil zugenommen, wir haben mehr Seele
und weniger Koͤrper bekommen; es fraͤgt ſich
aber, ob wir gewonnen oder verloren ha-
ben? Wir haben aufgehoͤrt zu genießen, und
haben angefangen zu denken!


Wer lacht, macht zu lachen: wer weint,
macht zu weinen. Denn es giebt kein ge-
faͤhrlicheres Thier, den Affen ſelbſt nicht
ausgenommen, als den Menſchen, allein
wer
[169] wer darſtellt, wer handelt, und handeln
laͤßt, bereitet ein Lachen von ganzem Herzen,
von ganzer Seele, und von allen Kraͤften,
und auch ſolch ein Weinen. — Wer im ge-
meinen Leben keinen Blick hervorlacht, ſon-
dern nur durch ſein Handeln mit Fleiß zum
Lachen Gelegenheit giebt, iſt komiſch im ho-
hen Grade! Und in Wahrheit, ein verſtohl-
nes Ach gilt mehr, wenn man darauf vor-
bereitet iſt, das iſt, wenn man leiden geſe-
hen, und es nicht blos gehoͤret, als eine
Suͤndfluth von Thraͤnen. Pruͤft nach die-
ſen Angaben die Dichter alter und neuer Zeit.
Ich fuͤr mein Theil wolte hier nur ſagen, ſo
wie Darſteller vom Selbſtlacher und Selbſt-
weiner unterſchieden iſt; ſo wie Werk vom
Wort, ſo monarchiſcher Staat vom Freyen.
Wer es faßen kann, der faß’ es. —


Ich merk’ es, daß ich meinem gruͤnen
Platz entlaufen bin! und will mich gleich
wieder, ſo lang ich bin, hinſtrecken, um
mein Vaterland zu Ende zu ſegnen. — Der
Menſch iſt zum Scheiden geboren. Ster-
ben lernen und philoſophiren, iſt von je her
fuͤr einerley gehalten worden; denn in Wahr-
heit, dieſe Welt iſt entweder ein Vorberei-
L 5tungs-
[170] tungsort, oder wir ſind die elendeſten unter
allen Geſchoͤpfen! Drum nehm ich ſo gern
Abſchied
auf die Art, wie vom Vaterlande,
wenn ich ſchon weg bin. — Ich empfand
warlich mehr, als ich ſagen kann, und was
noch mehr, als ſagen iſt: ſchreiben kann. —
Noch wo ich gruͤn ſehe, kommt mir vor, als
ſaͤh’ ich Freyheit. Seht! was ich die-
ſem Scheidewaͤndchen zwiſchen Curland und
Preußen, und dem gruͤnen Fleck, auf dem
Herr v. G. der aͤltere uns belehrte, daß wir
Curlaͤnder waͤren,


zu verdanken habe! — ich wuͤnſch’ allen
Koͤnigſchen, wes Standes und Geburt ſie
ſeyn moͤgen, ſonder Argliſt und Gefehrde,
etwas Gruͤnes, damit ſie wenigſtens einiger-
maaßen wißen, was Freyheit ſey? Monar-
chiſcher Staat iſt wie eine Lanze, oben klingt
es, unten iſt Holz, wie ein Kegelſpiel, das
die Kugel nicht trift. — Was Se. Ma-
jeſtaͤt nicht allerhoͤchſt eigenhaͤndig faͤllt, das
thun die fallende Kegel, einer wirft den an-
dern mit. — So wie geſteiftes und unge-
ſteiftes Kleid, ſo Monarchie und freyer
Staat. Hier ſtammen wir in gerader Linie
von der Mutter Natur ab; dort hoͤchſtens
von der Seitenlinie. Im monarchiſchen
Staat
[171] Staat waͤchſt, was noch in die Hoͤhe ſchießt,
wie eine Bohne an der Stange. Im freyen
Staate, ſagt man, ſind die Menſchen wild,
das heißt mit andern Worten: im monar-
chiſchen Staat ſind die Menſchen, Menſchen.
Warum denn alles nach der Regel de tri?
Ein Koͤnigſcher, ein Unterthan, iſt ein zah-
mes Thier, das aus der Hand frißt, und
nicht weis, was es erſt thun ſoll, ob freſ-
ſen? oder die Hand kuͤßen? Er ſitzt beſtaͤn-
dig auf den Tod, und wartet nur auf den
Appetit ſeines allergnaͤdigſten. Ruft nicht
Penſionairs! Im freyen Staat iſt wenigſtens
eben ſo viel Sclaverey, als Freyheit. Dies
hat mir Herr v. G. beßer gelehrt, der mei-
nes Wißens keine Penſion zog. Wo Wai-
zen waͤchſt, waͤchſt Unkraut, und je beßer
der Boden, je beßer ſchießt beydes hervor. —
Die ganze Natur iſt fuͤr und wider ſich,
alles kreutzt ſich in der Welt, Voͤgel und
Aeſte. Was ſich neckt, das liebt ſich. —
Seht da wieder Natur im freyen Staat,
Homerſche, Schakeſpaͤrſche Natur! Das
Lobopfer, das ihr der Monarchie bringt,
ihr Profeßores Poeſeos! was iſts? Erbau-
liche Gedanken neben einer Hecke, die eben
gekoͤpft iſt, auf die Melodie: Nun ſich der
Tag
[172]Tag geendet hat, und keine Sonn mehr
ſcheint.


Lebe wohl, herzlich geliebtes Vaterland!
Du haſt mich gelehrt, die Freyheit ſchaͤtzen,
obgleich du ſelbſt bey weitem noch nicht frey
biſt, ſondern dich zu Pohlen verhaͤlſt, wie
ein Aufſchlag zum Kleide. — Frevelhafte
Beſchuldigung iſt es, daß man in deinem
Schoos wie eine Flinte ſey, die nicht mehr,
nicht weniger knallt, es fall’ ein Sperling
oder ein Menſch, nach Gottes Bilde ge-
macht. Es giebt monarchiſche Staaten,
wo man ſich uͤber den Kopf eines Moͤrders
wenigſtens zwoͤlf Monate bedenkt, ſo, daß
das Publikum die Verbindung zwiſchen Ver-
brechen und Strafe vergißt, und der Paſtor
loci recht gemaͤchlich Gelegenheit nehmen
kann, den Geiſt und Kraft der Religion
an dieſem Boͤſewicht ad oculum zu demon-
ſtriren. Alle Moͤrder ſterben alsdenn wie
der Schaͤcher am Kreutze! Dagegen fließt in
dieſen Staaten das Blut von tauſend Edlen
im Kriege. Niemand loͤtet die Wunden
der Redlichen. — Es giebt Thiere, ſagte
mein Vater, die im Marmor, aber nicht
im Leben gefallen, und ſo wie der Bienen-
ſchwarm, ſo der freye Staat. — Nicht
alſo
[173] alſo, mein Vater: ich glaub, daß das Den-
ken im monarchiſchen Staat, und das Re-
den im Freyen zu Hauſe gehoͤre, oft auch
das thun, — ſo wie ein Sclave nur eigent-
lich unverſchaͤmt ſeyn kann; im freyen Staat
kennt man dies Wort nicht. —


Meine Leſer werden ohne Fingerzeig ein-
ſehen, daß ich dieſes nicht auf dem gruͤnen
Platz ſchreibe, ſondern in einem Staat. —
Bald haͤtt’ ich zu viel geſagt. Ich empfand
auf dieſem gruͤnen Platz, und zwiſchen em-
pfinden und denken iſt oft ſo ein Unterſchied,
wie zwiſchen wachen und traͤumen. Ein
ſchoͤner Traum! ich gaͤb’ einen Tag drum
unbeſehens. —


Meine Empfindungen wurden den Preuſ-
ſen, dem Fuhrmann und ſeinem Untergebe-
nen zu lange. — Ich ſchlief ihnen zu viel.
Sie ſchrien mich heraus, und gaben mir zu
verſtehen, daß hier guter Weg ſey, wo der
Wagen ohne Noth aufgehalten wuͤrde, und
daß ſchon Stellen vorfallen wuͤrden, wo ich
Gelegenheit haben wuͤrde, mich zur Ruhe zu
begeben. (eigentlich zu empfinden.)


So gruͤndlich gleich dieſe Aufforderung
war, ſo verdroß mich doch dieſes Commando,
und ich konnte nicht umhin, ich weiß ſelbſt
nicht
[174] nicht wie ich darauf fiel, zu fragen, warum
ſie denn nicht Soldaten waͤren? Ich haͤtte
doch gehoͤrt, daß alles was einen ſtattlichen
Schritt in Preußen haͤtte, gerad ausſeh’ und
ſich wohlbefaͤnde, Soldat waͤre, dahero auch
zaͤrtliche Muͤtter Gott auf Knien danken ſol-
ten, ſobald ſie aus dem Wochenbett’ auf die
Fuͤße kaͤmen, wenn er ſie einen Kruͤppel auf
die Welt zu bringen gewuͤrdiget, weil dieſer
allein das Recht haͤtte, eine Stuͤtze der Fa-
milie zu werden. — Herr! ſagten die Preuſ-
ſen, wer ihnen das geſagt hat, iſt ein H — t.
Beym hoͤchſtſeeligen Herrn giengs zuweilen in
dieſem Stuͤck bunt uͤber Eck — und da konnte
man manches nicht ſpitz kriegen. Gott laß
ihn hoͤchſtſeelig ruhen! Unſer jetzige Herr, ſie
zogen ihre abgekrempften Huͤt’ ab, braucht
Fuhrleut’ und Generals, und es thut in
Preußen nichts, ob man einen Orden, oder
eine Peitſch’ umgehangen hat. (Sie hatten
die Peitſchen wuͤrklich auf Ordensart.) Ich
laße keinem Menſchen die Mittelſteine, wenn
ich nicht will. Ein General und ein Corpo-
ral geht mich mit keiner Ader an! — Ich fuͤr
mich, ſie fuͤr ſich. — Wer dem Herrn die
Abgaben giebt, iſt ihm angenehm, ſo wie
dem lieben Gott, wer recht thut, und wenn
die
[175] die Soldaten zur Revue ſind, verſtehn Sie
mich, (der Alte ſprach,) junger Herr Cur-
laͤnder, ſo bin ich waͤhrend der Zeit Major
von der Cavallerie, und dieſer mein Schwe-
ſterſohn iſt Junker, und ich verſichre dem
Herrn, daß wir unſern Saͤbel fuͤhren, er
machte Luftſtreich’ und der Junker gleichfalls,
wie einer —


Es fiel mir eben, da die preußiſche Grenz’
anfieng, eine große hohe Eich’ ins Auge,
die ſich nicht um das, was unter ihr war,
bekuͤmmerte. Sie hatte ſogar gegen unten
keine Schattenaͤſte fuͤr ihr’ Unterthanen. —
Stolz wuchs ſie gen Himmel, und ſelbſt ich
hatte Muͤh’ ihren Gipfel zu erreichen. —
Sieh da einen Monarchen, ſagt ich zum jun-
gen Herrn v. G., und er verſtand die Eich’
und mich auf ein Haar. —


Ich wuͤnſchte, daß mein Vater dieſe
koͤnigſche Fuhrleute geſehen haͤtte; — denn
ich ſelbſt war ſo begeiſtert, daß ich gern
Luftſtreiche mit dieſen tapfern Preußen um
die Wette gewagt haͤtte, wenn mir nicht
mein Reiſegefehrt heimlich auf den Fuß ge-
treten, und eben ſo heimlich die rechte Hand
gedruͤckt haͤtte, als wolt’ er treten und druͤ-
cken.
[176] cken. — Bruder, laß den Major und Jun-
ker, den Fuhrmann und ſeinen Unterge-
benen. — —


Es war gleich alles wie abgeſchnitten. —
Unſere Heerfuͤhrer waren ſo ſehr von allem
Eifer zuruͤckgebracht, daß ſie uns herzlich ver-
ſicherten, wie die Fuhrleut’ und Studenten
in Koͤnigsberg Schwaͤger und Freunde waͤ-
ren! Trotz dem gruͤnen Platz, und dem klei-
nen Streit, der zuweilen vorfiel. — Sie
bewieſen uns ihre aufrichtige ſchwaͤgerliche
Verwandſchaft, daß ſie den folgenden Tag
ſchon um drey Uhr halt machten, um uns,
oder eigentlich mir, Zeit und Raum zu laſ-
ſen, eine Leichenbeerdigung zu hoͤren und
zu ſehen. —


Wir waren eben im Begrif in — —
Mittag zu machen, da die Glocke gezogen
ward! Ich verſtand auf den erſten Anſchlag,
daß es Trauertoͤne werden ſolten.


Wer iſt todt, fragt’ ich den Hauswirth?
Fragen Sie, antwortet’ er, wer wird begra-
ben? Auch das, erwiedert’ ich, und wer?


Schoͤn, fuhr er fort, nun werd ich Sie
fragen, wer wird begraben?


Ich ſah den unwitzigen Mann ernſthaft
an, und wenn nicht eben eine Sturmglocke
fuͤr
[177] fuͤr mein Herz zu hoͤren geweſen waͤre, es
waͤre ſchwerlich beym Anblick geblieben. —
Der Hauswirth war indeſſen ſo gefaͤllig, mir
ſogleich auf meinen erſten Augenſchlag (der
Herr v. G. trat und druͤckte mich wieder,)
aus dem Traume zu helfen. Mein Herr,
ſetzte der Hauswirth im Geſchichtsſtyl hinzu:
Es iſt ein Fremder, ein Unbekannter. Nie-
mand weiß, wo er her iſt. Ohnfehlbar hat
er nicht nach Hauſe reichen koͤnnen, denn
man ſieht ihm ſein hohes Alter an. — Er
hat ein ſehr gutes Ausſehen, — weil man
einige Gulden und eine Schreibtafel (beydes
hat der Pfarrer gleich an ſich genommen)
bey ihm gefunden; ſo wird er mit einer Lei-
chenpredigt begraben. —


Gott, ſchrie ich, das iſt der Alte!


Alt iſt er, ſagte der kupfernaſige Hauswirth,
— ganz gelaſſen. —


Ich konnte nicht mehr — ich will hin,
ich will hin — und ſeine kalte ſtarre Hand
angreifen. — Noch iſt Seegen Gottes drinn.
Da die Gebeine jenes Mannes, den man in
Eliſa Grab warf, die Gebeine des Prophe-
ten beruͤhrten, wurden ſie lebendig — und
es trat der Mann auf ſeine Fuͤße. —


Zweiter Th. MIch
[178]

Ich will hin, ich will hin — und wenn
ich ſeinen einen Handſchu erben koͤnnte! —
O welch eine Erbſchaft haͤtt’ ich gethan!


Der Hauswirth nahm, waͤhrend dieſer
heiligen Entſchluͤße, Toback und zog ihn ſehr
hoch in die Hoͤhe. —


Jetzt erſt wandt’ ich mich zu unſern Fuhr-
leuten, um ſie zu uͤberreden, den Mittag und
Abend in einem weg zu halten.


Abgemacht. —


Der Herr v. G. erkundigte ſich nach
Wild, — und ich gieng ſpornſtreichs in die
Kirche. —


Eben hatte der Pfarrer den Text, den
er zu der Leichenpredigt ausgeſondert hatte,
verleſen. Den Spruch fand der Leichenpre-
diger in der Schreibtafel des Seligen aufge-
ſchrieben und dreymal unterſtrichen. Er ſte-
het in der zweyten Epiſtel an die Corinther
im ſechſten Capitel, vom vierten bis zehn-
ten Vers:
„Sondern in allen Dingen laſſet uns
beweiſen, als die Diener Gottes, in gro-
ßer Geduld, in Truͤbſalen, in Noͤthen,
in Aengſten, in Schlaͤgen, in Gefaͤngniſ-
ſen, in Aufruhren, in Arbeit, in Wachen,

in
[179]in Faſten, in Keuſchheit, in Erkenntnis,
in Langmuth, in Freundlichkeit, in dem
heiligen Geiſte, in ungefaͤrbter Liebe, in
dem Worte der Wahrheit, in der Kraft
Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit,
zur Rechten und zur Linken, durch Ehr’
und Schande, durch boͤſe Geruͤchte und
gute Geruͤchte, als die Verfuͤhrer und
doch wahrhaftig; als die Unbekannten
und doch bekannt; als die Sterbenden
und ſiehe wir leben; als die Gezuͤchtigten
und doch nicht ertoͤdtet; als die Trauri-
gen, aber allezeit froͤhlich; als die Armen,
aber die doch viel reich machen; als die
nichts inne haben, und doch alles haben.“

Ein Thema pflegt bey den Geiſtlichen ein lee-
res Haus zu ſeyn, wo man mancherley und
manches anſchlagen kann, ein Nagel, an
den man viel haͤngt, ich weiß nicht, ob man
nicht auch in dieſem Sinn ſehr richtig ſagen
wuͤrde: man muß nicht zu viel an einen Na-
gel haͤngen?


Das Ziel, nachdem der Paſtor loci an-
legte, war der Schein und das Seyn des
Chriſten! Meine Mutter haͤtte, wenn ſie
ſelbſt dieſe Leichenpredigt gehalten, kein ge-
reimteres Thema gefunden; ich fuͤr mein
Theil hatt’ alle Faſſung noͤthig, um mich zu-
M 2ruͤck
[180] ruͤck zu halten. — Ich brannte vor Begierde,
den Sarg dieſes Seligen aufzuſprengen, und
mir einen Seegen abzufordern. Es war ſehr
zu merken, daß ich dem Pfarrer ein Meteor
war, und ein unverhofter Gaſt, — er ha-
ſpelte ſeine Predigt in hoͤchſter Eil herab; in-
deſſen verzaͤhlt’ er all’ Augenblick die Faͤden,
und dies zwang ihn von neuem zu zaͤhlen.
— Endlich die Nutzanwendung, zum Schein
und Seyn.


„Meine Geliebte! der ſelig verſtorbene
„ſchien uns anfaͤnglich ein Mann nach der
„Weiſe Melchiſedech.“ Ich fragt’ ihn nach
Namen? Geburtsort? Vaterland? Ob er
noch in dieſer Welt etwas zu berichtigen haͤt-
te? Auf alle dieſe Fragen nicht eins zur
Antwort.


(Ich ward uͤber und uͤber roth, und nun
erſchien mir der Pfarrer als ein Meteor, und
ein ungebetener Gaſt, und das aͤrgſte bey die-
ſer Verlegenheit war, daß ich nicht haſpeln
konnte. Nichts iſt einem Verlegenen heilſa-
mer, als wenn er reden kann; er faͤlt zwar
immer tiefer drein, indeſſen iſt es ihm Labſal
reden zu koͤnnen, wenn er auch nur ſtam-
meln und ſtottern ſolte. Er iſt wenigſtens
vor einer Seelenlaͤhmung ſicher, die eben ſo,
wie
[181] wie eine koͤrperliche, oft Zeit Lebens auf die
Seel’ einen Einflus hat. Die Zung’ iſt in
ſolchen Faͤllen Ventilator in einem ſtockigen
Zimmer. — Sie bringt friſche Luft herein.)


Da ich einſahe, fuhr der Leichenprediger
fort, daß unſer Seliger Urſachen zur Zuruͤck-
haltung hatte, wandt’ ich ſchnell um, und
klopft’ an eine andre Thuͤr, die zum Seelen-
heil fuͤhrt. Hier blieb er mir kein Wort
ſchuldig. — Nach ſeinem ſeligen Hintritt
klaͤrte ſich alles auf. Er fand nicht fuͤr gut
zu erzaͤhlen, was ſeine Schreibtafel enthielt,
er wolt’ ſich nicht die Augenblicke entwenden,
die er himmliſch anwenden konnte. Sein
Wandel war nicht von hier, ſondern von dro-
ben. — Das erſte, was ich oͤfnete, war
ſeine Schreibtafel, die wie ein Commu-
nionbuch gebunden war. Seinen Geldbeutel,
worinnen vierzig Gulden waren, oͤfnete ich
nachher.


(Ich war im preußiſchen Gelde ganz un-
erfahren, und ich muß mich noch huͤten, um
ja hiebey nicht wider das Coſtume zu ſuͤn-
digen.)


In ſeinem Communionbuch von Schreib-
tafel fand ich mehr, als ich gefragt hatte.
Man pflegt oft in Schreibtafeln das Geheim-
M 3ſte,
[182] ſte, das man oft ſeinem geheimſten Rathe
nicht entdeckt, zu finden. Es iſt der Maͤn-
ner Schooshuͤndchen.


Unſer Selige heißt — — — — — — —


Ha, kunſtrichterlicher Leſer! da hatteſt
du ſchon deine Bleyfeder zum Strich geſpitzt.
— Wieder einer ohne Namen, eine unbe-
nannte Geſchichte
! Stecke dein Schwert in
die Scheide; denn wer das Schwert nimmt,
wird durchs Schwert umkommen, und damit
ich bey dieſer Gelegenheit auch an eine andre
Thuͤr anklopfe, die zum Seelenheil fuͤhrt,
bet’ ich ein Vater unſer fuͤr dich! — damit
du nicht vielleicht ohne Namen dahin faͤhreſt
in deinen Suͤnden. — Halt den Hut vor! —


ne nos inducas in tentationem

ſed libera nos a malo. Amen.

Unſer Selige heißt — — — — — — — wie er
ſeinen Namen ganz mit allen Punkten und
Clauſuln ausgeſchrieben.


Er faͤhrt fort:


Ich war reich — ich hatte ſo viel, daß meine
großſtaͤdtſche Freunde zuweilen zu mir kamen,
und ſich laͤndlich vergnuͤgen konnten. —


Ich ward arm, faͤhrt er fort: der Herr
hats gegeben, der Herr hats genommen, der
Name
[183] Name des Herrn ſey gelobt! Wie er um das
Seinige gekommen, meine Lieben, iſt nicht
angefuͤhrt. In ſeinem Wohlſtande hatt’ er
zum Aufbau eines Luſthauſes und Luſtgartens
fuͤr eben dieſe Freunde, wenn ſie ihr ſtocken-
des Blut wieder in Fluß bringen wolten, zwey
tauſend Gulden angeliehen, ſchwer Geld.


Da er arm geworden, erließen ſie ihm
die Schuld, und gaben ihm ſeinen Schuld-
brief zuruͤck. Sie bedachten vielleicht, daß
er nur ihretwegen dieſen Bau unternommen.
— „Was dankt’ ich Gott„ ſchreibt der Se-
lige „daß ich unter meinen Freunden Men-
ſchen fand. „So in der Naͤhe, dacht ich! —
Gott ſchlaͤget, Gott heilet, Halleluja!„ Un-
ſer Selige hatte zwar nicht das Gluͤck des
Hiobs, der zwiefaͤltig ſo viel bekam, als er
gehabt hatte, und außer dem ſchoͤnen Gro-
ſchen und dem guͤldenen Stirnband, ſo ihm
ſeine Bruͤder und Schweſtern und Bekannten
verehrten, noch vierzehntauſend Schaafe, und
ſechstauſend Cameel und tauſend Jochrinder
und tauſend Eſel — wie er denn auch nach
ſeinem gehabten Unfall einhundert vierzig
Jahre lebte und Kinder und Kindeskinder ſa-
he, bis in das vierte Glied. — Unſer Se-
lige konnte zwar nicht ſeine Freunde zum laͤnd-
M 4lichen
[184] lichen Vergnuͤgen mehr einladen, ſein Gaͤrt-
chen und ſein Luſthaͤuschen war in fremden
Haͤnden; allein er hatte doch Nahrung und
Kleider! — Seine Freunde hatten auch nach
der Zeit ſich bitter und ſauer Brunnen an-
gewoͤhnt, welchen ſie die nemliche Kraft als
guter friſcher Milch, und einem Garten-
haͤuschen und einem Luſtgarten, beyleg-
ten. — Der Selige hatte ſich indeſſen ſo
weit herausgewunden, daß er viertauſend
und ſiebenzig Gulden nach Koͤnigsberg neh-
men konnte, um ſein Verkehr durch einige
neue Waaren zu verſtaͤrken. Bey viertau-
ſend und ſiebenzig Gulden baar Geld konnt’
ein ſo ehrlicher Mann, als er, auf noch ein-
mal ſo viel Credit rechnen. — Seine An-
verwandten hoͤrten von den viertauſend ſie-
benzig Gulden, und nahmen ihn allein. —


Sie fragten nach der Handſchrift. Hier,
ſagt’ er, und zog ſie aus der Schreibtafel.
So lang ich lebe, ſoll auch dieſe Handſchrift
leben; ich koͤnnte vielleicht aufhoͤren dankbar
zu ſeyn, wie viele Menſchen, wenn ſie zu
ſatt werden, Gottes vergeſſen. — Hier,
ſagt’ er, ohne Flecken, ohne Runzel, oder
des etwas, ſo wie ich ſie geſtellt hatte, und
zuruͤck erhielt. —


Der
[185]

Der Senior Familiaͤ, ein alter herzlo-
ſer Mann, nahm ſie entgegen, und es ward
dem Dankbaren angedeutet, daß da man von
den viertauſend Gulden, ohne an die ſieben-
zig zu denken, gehoͤret, er wohl ihre zwey-
tauſend Gulden, zuſammt den Verzoͤgerungs-
zinſen, entrichten koͤnnte.


Freunde, fieng er an: allein man droht’
ihm mit dem breiten Wege Rechtens, der
zur Verdammnis fuͤhret, und viele ſind, die
darauf wandlen.


Freunde, fieng der Selige wieder an:
allein (und dies kraͤnkt’ ihn am meiſten) ſie
machten ihm Vorwuͤrfe, daß er noch dazu
die zweytauſend Gulden zu Luſthaus und
Garten verwendet haͤtte.


Aber — fieng er wieder an, und der
Senior Familiaͤ fiel ihm ins Wort, freylich
hatte Sie Gott damals reichlich geſeegnet,
und Sie konnten an Luſt denken, jetzt aber
bey viertauſend ſiebenzig Gulden muͤßen Sie
an Zahlung denken. — Denkt, ſagte der
Selige. Zahlt, ſagten die Verwandten, die
Unſeligen. Sie hatten ohne Flecken, ohne
Runzel, oder des etwas, das Document,
und er hatte keinen Beweis der Schenkung,
und wenn ich auch, ſchreibt er, Beweis der
M 5Schen-
[186] Schenkung gehabt haͤtte — und wenn
auch — —


Er bezahlte.


„Nur die Zinſen! es macht’ auf jeden
„der Herren eine Kleinigkeit. —


Keinen Dreyer, ſagte Senior Familiaͤ.
Es ſind die uſurae morae (die Verzoͤge-
rungszinſen,) er hatte dieſen Biſſen Latein
von einem Rechtsgelehrten erhandelt! —


Der Selige mußte von Heller zu Pfen-
nig, Capital und Zinſen berichtigen, und da
einig’ andere von ſeinen unbetraͤchtlichern
Glaͤubigern, die ihm aber nichts erlaſſen,
ſondern theils auf ſeine Verbeſſerung wegen
der alten Schuld gewartet, theils ihn mit
neuem Flickvorſchus unterſtuͤtzet hatten, die-
ſes hoͤreten, verlangten auch ſie Geld und
reſervirten ſich quaevis juris competentia con-
tra quem vel quos,
wenn der Arme nicht
noch ſo viel uͤbrig behalten haͤtte, daß ihr
neuer Vorſchuß hinreichend berichtiget wer-
den koͤnnte. Es fehlten ihm dreyhundert
Gulden, der Arme gieng zum Senior Fami-
liaͤ, und dieſer? Er hatte nur eben Zeit zu
einem Vorſchlage, der dem Seligen bis in
die Seele gieng. Er ſchlug ihm vor, ſeinen
Wa-
[187] Wagen und vier Pferde zu verkaufen, um
auszulangen. —


Vierzig Gulden war alles, was unſer
Selige eruͤbrigte, und ein Paar Fuͤße, die
ſeine ſchwermuͤthige Seele mit genauer Noth
tragen konnten. Sein Leib wog nicht vier
Pfunde.


„Vierzig Gulden„ ſagt’ er zu ſich ſelbſt,
und ſah ſeinen ledig gewordenen Geldbeutel
an! Er hob’ ihn und fuͤhlt’ es, daß auch er
noch zu ſchwer fuͤr ſeine Fuͤße war. — Wenn
ſich doch Gott erbarmen wolte! rief er! hier
in der Welt iſt’s mit der Erbarmung aus!
Wenn doch Gott ſich erbarmen wolte! —
Wenn er doch meine Thraͤnen ſo zaͤhlen wolte,
wie die Schlucker mein Geld! Er hatt’ auf
dieſen ſauren Tag eine angenehme Nacht; es
traͤumt’ ihm, daß das Luſthaͤuschen und das
Gaͤrtchen, welches wie er verarmte ſubhaſtirt
ward, ihm wieder zufielen, und alles ſo
gruͤn, ſo ſchoͤn, daß es ihn duͤnkte, als hoͤr’
er die Stimme: Ey du frommer und ge-
treuer Knecht, du biſt uͤber wenig treu ge-
weſen, ich will dich uͤber viel ſetzen, gehe
ein zu deines Herrn Freude
.


Was das fuͤr eine Freud’ im Traum
war, ſchreibt’ er, iſt unausſprechlich! So
was
[188] was kann man nicht leben, ſo was muß man
traͤumen. Er ging zu Fuß aus Koͤnigsberg,
und es ſey, daß die Ungewohnheit ein Fuß-
gaͤnger zu ſeyn, oder daß der gerechte Schmerz
uͤber dergleichen Verfahren ihn noch tiefer,
als ſein hohes Alter, angrif; unſer Selige
ward in — — krank. Ich fuͤhlte, ſchreibt
er, beym erſten Stich in der linken Seite,
daß mein Stuͤndlein vorhanden ſey, und die
Erfuͤllung des Traumes: Geh’ ein zu deines
Herrn Freude
. —


Dieſe Worte wiederhohlte der Sterbende
unzaͤhligemal, und allemal mit einer Freude,
die wie Kraft der zukuͤnftigen Welt ausſah. —


Er hatte in Ruͤckſicht ſeiner Wohnung
nichts weiter auf ſeinem Herzen, als die
Bitte, ſeinen Tod in — —, wo er zu Hauſe
gehoͤrte, zu melden und alle, die ſich ſeiner
erinnern ſolten, gruͤßen zu laſſen.


Er hatte nicht Frau nicht Kind. Gehabt
zwar beydes; allein beydes war vorausge-
gangen, um ihm dort entgegen zu kommen.
Gott ruft mich, ſchreibt er, zu rechter Zeit.
Ich habe meine Schulden bezahlt, und bin
keinem weiter, als dem lieben Gott, ſchul-
dig, der mit mir wahrlich, das hoff’ ich,
anders rechnen wird, als meine Verwand-
ten.
[189] ten. — Die mir zu tragen ſchwergewordene
vierzig Gulden bleiben zu meinem Begraͤbnis
und fuͤr


und fuͤr, waren ſeine letzten Worte. —


Ich haͤtte dieſen Bruch, fuhr der Pfar-
rer fort, heben und es ſo erklaͤren koͤnnen:
und fuͤr den Paſtorem loci; denn ich hab’
ihn zweymal mit Gottes Wort beſucht, und
den glimmenden Tocht der Hofnung, die in
ihm war, ſo wenig ausgeloͤſcht, daß ich ihn
vielmehr vollends anfachte; — allein ich hab’
Euch auch all’ an dieſem und fuͤr Theil neh-
men laſſen wollen. Den Organiſten und die
Leichenbegleiter, — und an uns allen ver-
dient der Selig’ einen Gotteslohn! —


Mir fiel eine natuͤrliche Erklaͤrung des
und fuͤr ein. Da ſchon des Begraͤbniſſes er-
wehnt war; ſo hat der Selige dacht’ ich mit
ſeinem und fuͤr die Dorfarme gemeint: denn
in Wahrheit, das waren bey ſeinen Umſtaͤn-
den ſeine naͤchſten Anverwandten! — Es ge-
hen freylich verſchiedene Sterbende, die noch
viel Unrecht auf ihrem Herzen und Gewiſſen
haben, zur Beichte, um am Himmel nicht
aufgehalten zu werden: ſie laſſen ſich hier
plombiren, um dort bey der Himmelspforte
ſich keiner Reviſion auszuſetzen, und da traͤgt
es
[190] es ſich freylich wol zu, daß dem Geiſtlichen,
dem Beſucher, etwas in die Hand gedruͤckt
wird. — Unſer Todte! das wett’ ich, nicht
alſo! —


Wohl dem! rief unſer Pfarrer aus, wohl
dem, der ſo lang er mit ſeinem Bruder auf
dem Weg’ iſt, das heißt: ſo lange ſie beyde
die Straße dieſes Lebens gehen, ihm erſetzt,
was er ihm unrecht gethan, den abbittet, den
er beleidiget; den in integrum reſtituirt, den
er beſchaͤdiget hat. Wohl dem! der alles
mit warmer Hand abtraͤgt; denn wie leicht
kann der Glaͤubiger ſterben? und die Erſe-
tzung iſt alsdenn nicht moͤglich; wie leicht
kann der Lebenslauf des Schuldners gehemmt
werden, und wie leicht kann es kommen,
daß ſie aufhoͤren, einen und denſelben Weg zu
wandeln! Weh’ alsdenn dem Schuld-
ner! Alles iſt aus! — Er kann nicht mehr
bezahlen, ſo gern er auch wolte. Seine
Muͤnze galt nur in dieſer Welt, mit einem
ewigen Vorwurf geht er in die Ewigkeit uͤber.
Dieſe Stell uͤberwog die ganze Predigt. Wer
ſie lieſet, der merke drauf; ſo lang er eine
warme Hand hat, ſo lang er noch auf dem
Wege mit ſeinem Glaͤubiger iſt, und mit
ihm lebenslaͤuft! —


Es
[191]

Es ſtarb, der Selige, (meine Leſer
hoͤren wieder den Paſtorem loci) ſeines Lebens
muͤd’ und ſatt, mit der dringenden Bitt’,
ihm auf unſerm Gottesacker ein Raͤumlein zu
goͤnnen, bey frommer Chriſten Grab. So
wie Abraham zu den Kindern Heth, nach
dem erſten Buch Moſe im drey und zwan-
zigſten Capitel, im vierten Vers ſprach:


ich bin ein Fremder bey euch: gebet mir ein
Begraͤbniß;
ſo ſprach auch unſer Seliger, und
obgleich er nicht vierhundert Seckel Silbers,
das im Kauf gang und gaͤbe war, wie
Abraham zu bezahlen im Stande war; ſo
war unſer Alte doch auch nicht der Abraham,
und wir nicht die Kinder Heth. — Das
Plaͤtzchen, das wir ihm verſtattet, iſt kein
Erbbegraͤbniß, wer wolt auch ſeine Anver-
wandte mit den zwey tauſend Gulden Capi-
tal und den Verzoͤgerungszinſen zur Nach-
barſchaft haben! Man erzaͤhlt, daß Haͤnde,
die ihre Eltern geſchlagen, nicht verweſen,
ſondern aus dem Grabe herauswachſen, ob-
gleich ich viele ungerathene Kinder, bisher
aber leider! noch keine herausgewachſene
Hand, geſehen habe. — Wahrlich wir
wuͤrden alle die Haͤnde der Anverwandten
unſres Seligen ſehen, wenn dieſe Sage
wahr
[192] wahr waͤre, — und die Hand des Senioris
Familiaͤ hager und ungeſtaltet mit langen un-
abgeſchnittenen Naͤgeln. — Wie ſchrecklich
— Nein — nicht fuͤr hundert Seckel Sil-
bers, das im Kauf gang und gaͤb’ iſt, nicht
fuͤr tauſend! — Fuͤr dich aber, Seliger,
machet die Thuͤr’ unſeres Kirchhofs weit und
die Thoͤre hoch, damit er bey uns einziehe! —
Wenn der Fall nicht ſo, wie er wuͤrklich iſt,
geweſen waͤre, wir haͤtten keinen Dreyer fuͤr
dieſes Plaͤtzchen genommen. — Die Kirche
dankt dir, lieber Seliger, fuͤr das, was ſie
durch meine Hand erhalten hat, und ich
danke dir fuͤr das, ſo uns allen zugewendet
worden, bis auf den letzten Traͤger. Ju-
das verrieth wegen dreyßig Silberlinge ſeinen
Meiſter. — Hier ſind freylich nur vierzig
Kupferlinge, und es iſt allerdings mehr
Schein als Seyn dran; indeßen wie bald
wird ſein abgetragener Leib in einer Hand
Raum haben. — Dieſe Handvoll ehrliche
Erde giebt er uns ohnehin als Agio von den
vierzig Gulden. —


Uns allen lehre der Herr unſeres Lebens
bey dieſer Gelegenheit unſer Schein und
Seyn, daß heißt: er lehr uns wohl beden-
ken, daß wir nicht wißen, wenn der Herr
kommt
[193] kommt — Darum wachet! So geſund wir
ſcheinen, ſo iſt doch nichts gewiſſer, als daß
es ein End mit uns haben muͤße, daß unſer
Leben ein Ziel habe und wir davon muͤßen.
Das iſt unſer Seyn! —


Ihr Gebeugten im Volke! freuet euch in
dem Herrn, und abermal ſag’ ich euch! freuet
euch; denn ihr werdet ſterben! und eben
dann, wenn ihr nicht aus noch ein wißt, wird
euch der Herr gen Himmel zeigen — da
werdet ihr Friede haben und nicht hoͤren die
Stimme des Steuereinnehmers, da werden
getrocknet werden die Thraͤnen von den Wan-
gen der Wittwen, da werden die Gottloſen
aufhoͤren mit Toben, und ſanft ruhen die des
Lebens Laſt und Hitze gerragen haben. —
Faſſet eure Seelen in Geduld, und wenn
euch eine Krankheit anficht, denket, daß ſich
eure Erloͤſung nahet. Sehet an den Feigen-
baum und alle Baͤume, wenn ſie jetzt aus-
ſchlagen; ſo ſehet ihrs und merket, daß jetzt
der Sommer nahe ſey. — Bey Menſchen-
kindern iſt es umgekehrt. — Wenn der
auswendige Menſch ſtirbt, faͤngt der inwen-
dige zu leben an. Gern haͤtt’ ich dieſe Le-
bensumſtaͤnde, die mir, ſo wie ſie da ſind,
gewiß nicht wenig Muͤhe gemacht, da ſehr
Zweiter Th. Nviele
[194] viele Worte halb verwiſcht und viel unleſer-
lich geſchrieben war, gern haͤtt’ ich, weil mir
wohl bekannt iſt, daß ihr lieber einen Lebens-
lauf, als eine Predigt hoͤret, gern haͤtte ich
dieſe Lebensumſtaͤnde verſtaͤrkt, wenn ich
mehr im Taſchenbuch gefunden haͤtte. Zum
Beſchluß wollen wir vom ein und dreißigſten
Vers bis zum ſechs und vierzigſten des fuͤnf
und zwanzigſten Capitels des Evangelii Mat-
thaͤi verleſen hoͤren und verleſen:


Wenn aber des Menſchenſohn kommen
wird in ſeiner Herrlichkeit, und alle heilige
Engel mit ihm, dann wird er ſitzen auf dem
Stuhl ſeiner Herrlichkeit. Und werden vor
ihm alle Voͤlker verſammlet werden. Und
er wird ſie von einander ſcheiden, gleich als
ein Hirte die Schaafe von den Boͤcken ſchei-
det. Und wird die Schaafe zu ſeiner Rech-
ten ſtellen, und die Boͤcke zur Linken. Da
wird denn der Koͤnig ſagen zu denen zu ſeiner
Rechten: kommet her, ihr Geſegneten mei-
nes Vaters, ererbet das Reich, das euch
bereitet iſt von Anbegin der Welt. Denn
ich bin hungrig geweſen, und ihr habt mich
geſpeiſet. Ich bin durſtig geweſen, und ihr
habt mich getraͤnket. Ich bin ein Gaſt ge-
weſen, und ihr habt mich beherberget. Ich
bin
[195] bin nackend geweſen, und ihr habt mich be-
kleidet. Ich bin krank geweſen, und ihr
habt mich beſuchet. Ich bin gefangen ge-
weſen, und ihr ſeyd zu mir kommen. Dann
werden ihm die Gerechten antworten und
ſagen: Herr, wenn haben wir dich hungrig
geſehen, und haben dich geſpeiſet? oder dur-
ſtig, und haben dich getraͤnket? Wenn haben
wir dich einen Gaſt geſehen und beherberget?
oder nackend, und haben dich gekleidet?
Wenn haben wir dich krank oder gefangen ge-
ſehen, und ſind zu dir kommen? Und der
Koͤnig wird antworten und ſagen zu ihnen:
wahrlich, ich ſag’ euch: was ihr gethan
habt, einem unter dieſen meinen geringſten
Bruͤdern, das habt ihr mir gethan. Dann
wird er auch ſagen zu denen zur Linken: ge-
het hin von mir, ihr Verfluchten, in das
ewige Feuer, das bereitet iſt dem Teufel und
ſeinen Engeln. Ich bin hungrig geweſen,
und ihr habt mich nicht geſpeiſet. Ich bin
durſtig geweſen, und ihr habt mich nicht ge-
traͤnket. Ich bin ein Gaſt geweſen, und ihr
habt mich nicht beherberget. Ich bin nackend
geweſen, und ihr habt mich nicht bekleidet.
Ich bin krank und gefangen geweſen, und
ihr habt mich nicht beſuchet. Da werden
N 2ſie
[196] ſie ihm auch antworten und ſagen: Herr,
wenn haben wir dich geſehen hungrig oder
durſtig, oder einen Gaſt, oder nackend, oder
krank, oder gefangen, und haben dir nicht
gedienet? Dann wird er ihnen antworten
und ſagen: wahrlich ich ſag euch, was ihr
nicht gethan habt Einem unter dieſen gering-
ſten, das habt ihr mir auch nicht gethan.
Und ſie werden in die ewige Pein gehen; aber
die Gerechten in das ewige Leben. — — —


Ins ewige Leben verhelf uns alle zuſam-
men der Herr des Lebens, Amen!


Nach der Predigt lies der gute Pfarrer
ſingen: Lieber Gott, wenn werd ich ſter-
ben
, und ſeine werthen Zuhoͤrer, welches bis
auf mich lauter Bauren und Fiſcher waren,
ſangen dies Lied mit einem ſo himmliſch ſehn-
ſuchtsvollen der Welt abgeſtorbenem Herzen,
daß ich ſehr geruͤhrt ward. Man hoͤrt’ es
ihnen genau an, daß niemand unter ihnen
vierzig Kupferlinge im Vermoͤgen hatte, und
daß ſie alle des Tages Laſt und Hitze dieſes
Lebens truͤgen. — Der Pfarrer ſang eben
ſo herzlich, nur mit dem Unterſchiede, daß
er mit ſeiner Stimme die ganze Gemeine
commandirte.


Mei-
[197]

Meinen Leſern zu gefallen, die kein Ge-
ſangbuch haben, will ich die Stelle, die mir
der Pfarrer vorzuͤglich ins Ohr und Herz
ſang, abſchreiben:


Lieber Gott wenn werd ich ſterben?

meine Zeit laͤuft ſchnell dahin,

und des alten Adams Erben,

(wo ich auch ein Erbe bin)

haben dies zum Vatertheil,

daß ſie eine kleine Weil

arm und elend ſind auf Erden,

und am Ende Erde werden.

Ich mit allen meinen Bruͤdern

lebe eine kleine Zeit. —

Trag ich nicht in allen Gliedern

Saamen zu der Sterblichkeit?

geht nicht immer da und dort

einer nach dem andern fort?

und wie mancher liegt im Grabe,

den ich hochgeehret habe.

Aber Gott, was werd ich denken,

wenn es wird zum Sterben gehn!

wo wird man den Leib verſenken?

wie wird’s um die Seele ſtehn?

ach! ein Kummer faͤlt mir ein:

weßen wird mein Vorrath ſeyn? — —

N 3Man
[198]

Man haͤtte glauben ſollen, das Gewißen
haͤtte beym guten Pfarrer wegen ſeiner Er-
klaͤrung der Wort’: und fuͤr, dieſe Reihe
mitgeſungen; allein ich verſichr’ auf Ehre,
das Gewißen gab ſeine Stimme nicht dazu.
— Beynahe moͤcht’ ich das Gewißen auf ein
Haar kennen, wenn es mitſingt. — Es
haͤlt ſelten Melodie, ſingt lahm und ſo, als
duͤrft’ es nicht. —


Schriebe meine Mutter dies Buch, ſie
haͤtte von dieſem Liede keinen Buchſtab aus-
gelaſſen; indeſſen will ich einigen meiner Le-
fer dieſen Gefallen thun. —


Die ganze Gemeine, o Gott! wie in-
bruͤnſtig ſang ſie dieſe Zeilen:


Lieber heute noch als morgen,

denn ich werd’ einſt auferſtehn!

ich verzeih’ es gern der Welt,

daß ſie alles hier behält,

und beſcheide meinen Erben

einen Gott! — der wird nicht ſterben!

Vorzuͤglich fiel mir ein alter Mann bey die-
ſer Stell’ auf, der ohnfehlbar nicht mehr
Traͤger wegen ſeiner ſehr hohen Jahre ſeyn
konnte, und ſich in einem etwas finſtern Kir-
chenwinkel aufgeſtuͤtzt hatte. — Ich haͤtte
mich nicht enthalten koͤnnen, dieſem aufge-
ſtuͤtz-
[199] ſtuͤtzten etwas aus meinem ανεχου και απε-
χου zu geben, wenn ich es bey mir gehabt. —
Dieſem alten Mann gehoͤrte, das merkte
man, noch ein Haufen Kinder an, der um
Brod ſchrie! Es war recht, als wenn alle
dieſe Kleinen mitleierten. —


Zwinge dich nicht, ſchreibt meine Mut-
ter, ohne Geld auszugehen, das heißt: aus
einem guten ein ſchlechter Menſch werden
wollen
. — diesmal freut’ ich mich aber,
ohne dieſes verſiegelte Schatzpaͤckchen gewe-
ſen zu ſeyn, da ich zu Hauſe kam; denn ich
haͤtte mich in Wahrheit nicht gehalten, und
meines Vaters Auflage gerade zu entgegen
gehandelt! „In der groͤßten Noth!„ Dies
brachte mich zum Geluͤbde bey mir ſelbſt,
dies Schatzpaͤckchen nie bey mir zu tragen.
Ohne Geld aber, liebe Mutter! werd’ ich
nicht ausgehen.


Bey der lezten Strophe, die ich meinen
Leſern auch nicht entziehen will, war der Ton
ganz anders:


Herrſcher uͤber Tod und Leben,

man einmal mein Ende gut!

lehre mich den Geiſt aufgeben

mit recht wohlgefaßtem Muth!

hilf, daß ich ein ehrllch Grab

N 4neben
[200]
neben frommen Chriſten hab’

und auch ſelber in der Erde

nicht zu Spott und Schande werde!

Ob nun gleich der Alte, den ich bis oben zu,
begraben geſehen, nicht der mit dem einen
Handſchu war, als welchen Handſchu ich
mithin eben ſo wenig, als den Segen dieſes
himmliſchen, aus ſeiner Hand erben konnte;
ſo war ich doch ſehr belohnt, daß Mittag
und Abend in einem weggehalten ward. —
Ich dacht’ an Minen, wie beym Schloß
in Mitau, und bey aller Gelegenheit; und
wie haͤtte wol ein Vorfall, der mich zum
ſtehen, zum denken, bringen konnte, nicht
zugleich Minen und ihn in einem Paar dar-
ſtellen ſollen? Wenn man liebt, iſt uͤberall
ſchoͤne Natur fuͤr den Liebenden. —


Mein Reiſegefehrt kam eben von der
Jagd, und hatte drey Voͤgel erlegt, die
wir uns braten ließen. Ich hatte noch
nichts gegeßen, und er hatte ſich weide-
maͤnnlich ermuͤdet. —


Indem wir uns niederſetzten, und ich
ihm von meinem Todten, er mir von ſeinen
drey Voͤgeln erzaͤhlte; ſiehe da der Paſtor
loci! und mit ihm ein Melotenpflaſtergeruch,
ſo, daß der Paſtor die ganze Stube wuͤrzte. —


Er
[201]

Er konnte nicht unterlaßen, denjenigen,
der heut ihm die Ehre gethan, ſein Zuhoͤrer
zu ſeyn, naͤher kennen zu lernen, und da
wir aus ſeiner Art ſich zu fuͤhren, uns uͤber-
zeugten, daß er nicht abſchlagen wuͤrde, mit
uns vor’n Willen zu nehmen; ſo baten wir
ihn, ſeine Kapuſe abzulegen. Der Herr
v. G. erzaͤhlt’ eben, drey Voͤgel geſchoßen
zu haben. Eben drey, ſagte der Paſtor,
und fand hiebey was beſonders. Der Mann
ein Vogel, beſchloß ich! und der Paſtor
konnte nicht aufhoͤren zu wiederholen: eben
drey
! Der arme Pfarrer entdeckt’ uns gele-
gentlich ſeine recht ſchlechte Verfaßung. —
In Curland, ſagt’ er, ſind meine Herren
Amtsbruͤder Edelleute! Moͤgen ſie doch. —
Wenn ich nur einen beßern Fang, wie vorm
Jahr haͤtte!


Dieſen Wunſch klaͤrt’ er uns durch die
Erzaͤhlung auf, daß er auf den Droßelfang
gewieſen waͤre, und dieſes ein Hauptaccidenz
bey der Pfarre ſey. — Ohnfehlbar war
dies die Urſache, warum er: eben drey ſo
oft ſagte. Wir oͤfneten dem armen Paſtor
noch unſern Eßkorb, den uns die Frau
v. G. reichlich gefuͤllt hatte. Unſer Wein
war ihm Labſal. — Ich konnte mich kaum
N 5des
[202] des Lachens enthalten, da er den heut be-
grabenen einen Zugvogel nannte. Da ich
die Verſaßung dieſes ehrlichen Droßelpfarrers
hoͤrte; fand ich die Erklaͤrung, die er von
den letzten Worten:
und fuͤr
gemacht hatte, der Sache ſo vollkommen an-
gemeßen, daß ich uͤberzeugt war, das Geld
haͤtte nicht beßer angelegt werden koͤnnen,
wenn es ins Hoſpital gekommen waͤre! Die
ſo genannte Paſtoralklugheit iſt, in einer gu-
ten Ueberſetzung, eine wohlehrwuͤrdige Be-
muͤhung, auf anderer Leute Koſten zu leben,
bey unſerm Droßelpaſtor nicht alſo. —


Ich erkundigte mich noch nach verſchie-
denen Umſtaͤnden des zur Ruhe gebrachten;
allein außer dem, was der gute Pfarrer in
der Kirche angebracht, wußt’ er kein Wort. —


Ich gab dem Paſtor loci fuͤr den Alten,
der ſich in einem finſtern Kirchenwinkel auf-
geſtuͤtzt hatte, und die Worte:


und heſcheide meinen Erben

einen Gott, der wird nicht ſterben!

uͤberlaut ſang, eine Kleinigkeit, um ſie ihm
morgen abzugeben. So hat er, ſagt’ ich,
zwey frohe Tage, — denn wenn er gleich
Alters wegen nicht getragen hat —


Aller-
[203]

Allerdings, fiel der Pfarrer ein, ich habe
die Anordnung gemacht, daß ſie alle was
zu eßen und zu trinken haben. Der Alte
ein Theil mehr, weil er noch außer den gro-
ßen Kindern, drey kleine Kinder zu Hauſe
hat. —


Da der Paſtor hoͤrte, daß wir auf die
Akademie giengen, wuͤnſcht’ er uns tauſend
Gluͤck. Mit einer beſondern Freude, die
ihn wohl kleidet’, erzaͤhlt’ er von ſeinen aka-
demiſchen Jahren, wo er ſich alles ganz ge-
nau zu beſinnen wußte, wie alle von gewiſ-
ſen Jahren, die nach Art von Leuten, welche
treflich in die Ferne ſehen, ſchlecht aber in
der Naͤhe ſehen koͤnnen, alles haarklein wiſ-
ſen, was in ihrer Jugend geſchahe, wenig
aber oder gar nichts von dem, was geſtern
und ehegeſtern vorfiel. — Das iſt die beſte,
beſte Zeit, ſagt’ er, ſo bald man ein laſtbares
Geſchaͤftsvieh wird, iſts aus. Ich pfluͤge zwar
Gottes Acker; indeſſen fallen doch all’ Augen-
blick Menſchenſatzungen vor. Wohl dem, mein
Herr v. G., dem die Geburt das Recht ge-
geben — ein Menſch zu ſeyn fuͤr ein Amt zu
halten. „Wenn Jagdten dabey ſind„ fiel
ihm Herr v. G. ein. —


Der
[204]

Der ehrliche Pfarrer ließ ſich merken,
daß er herzlich gern einen Adjunctus haͤtte,
und wenn es auch nur der Geſellſchaft, und
der Maulbeerbaͤume wegen waͤre, welche das
ehrwuͤrdige Conſiſtorium
ihm zu pflanzen
aufgegeben haͤtte. Endlich kam ſeine Toch-
ter Marthe hinter dem Berge hervor, und
man ſahe wohl, daß der Adjunctus nicht
blos ſeiner Geſellſchaft und der Maulbeer-
baͤume halber gewuͤnſcht ward. Noch hat
er keinen gefunden, der einen ſo uͤberwiegen-
den Droßelgeſchmack gehabt, daß er ihm
andere Vortheile aufzuopfern kein Bedenken
getragen haͤtte. — Man ſagt, ſetzt’ er
hinzu, daß man darum nicht gern ein Teſta-
ment mache, damit den Erben nicht die Zeit
zu lang wuͤrde; allein ich verſichr’ auf Ehre,
daß ich bey der Anfrage meines Schwieger-
ſohns wie ich geruhet, und wie ich mich be-
faͤnde?
keine Falſchheit vermuthen wuͤrde.


Die Gegend war wuͤſt’ und oͤde. Ich
habe keine Biene gehoͤrt, und ich wolte was
drum geben, daß hier kein Bienengewaͤchß
im ganzen Bezirk anfzutreiben geweſen.


Nachdem der Paſtor drey bis vier Glaͤ-
ſer Wein getrunken hatte, ſang er das Stu-
dentenliedchen:
Vivat
[205]Viuat Academia!


Nach dem Liede, (dacht ich mit einem
Verwunderungszeichen,) nach dem Liede:
Lieber Gott, wenn werd ich ſterben?
indeſſen, wenn gleich ein ſolcher Zugvogel
nicht tagtaͤglich kommt, ſo wird ein Predi-
ger doch mit der Zeit mit dem Tode ſo be-
kannt, wie eine geuͤbte Woͤchnerin mit einer
Entbindung. Muth, das bin ich vollkommen
uͤberzeugt, iſt nicht Staͤrke der Seele, ſon-
dern Bekanntſchaft mit dem Gegenſtande. —


Unſer alte Pfarrer war nicht ohne Em-
pfindung; er ward ſehr leicht roth, wenn
man ihn nur mit einem Blick etwas zu hart
anfuͤhlte. Gleich roth — iſt ein ſo ſichres Zei-
chen von einem empfindlichen als empfindſa-
men Menſchen, von einem Menſchen, der
ſich fuͤhlt, und der auch fuͤhlt, was um und
neben ihm iſt! ſo wie es was ſanftes, was
weibiſches verraͤth, wenn man Muſik liebt!
— Der gute Paſtor! in Wahrheit, er
brauchte keinen andern Beweis von ſeiner
Froͤmmigkeit, als ſein heiteres Gott erge-
benes Auge, in dem Ruh’ und Zufriedenheit
lag. Ich will nicht, ſagt’ er, wie Iſrael
uͤber die Wachteln murren, und waͤr’ es
auch der vierzig Wuͤſtenjahre, der vierzig Fe-
ſtungs-
[206] ſtungsjahre wegen, — ich bin ſchon, fuͤgt’
er ſeufzend hinzu, zehn Jahre bey dieſer
Wachtelſtelle. —


Es wußt’ unſer Gaſt nicht viel von dem
Zuſtande der Koͤnigsbergſchen Univerſitaͤt,
außer daß er uns einen Catalogum lectionum
aus den Intelligenzzetteln vorwies, und uns
verſicherte, daß es noch bis jetzo nicht fried-
lich hergienge; er war ein Inpietiſt, denn
einen Orthodoxen kann ich ihn nicht nennen,
fals nehmlich die Orthodoxie, wie ich faſt
vermuthe, eine Strenge der Obſervanz iſt,
ſich und andere an angenommene Regeln zu
binden. — Ihm ſchien der Pietismus ſo
ſehr nicht zu Herzen zu gehn, obgleich er
nicht umhin konnte zu bemerken, daß die
Pietiſten viel ſaͤhen, was kein Impietiſt ſaͤhe,
und viel empfaͤnden, was ſie nicht ausdruͤ-
cken koͤnnten. Es blieb dabey, ohne die
inpietiſtiſche Parthie unſers guten Paſtors zu
nehmen, daß Gedanken, die man nicht aus-
druͤcken koͤnnte, unreifes Obſt waͤren. Bald,
ſagte der Paſtor, haͤtt’ ich geſagt, daß ein
Wort ein verdauter Gedanke ſey. — Er
ward roth dabey! —


So wie Gaͤrtner ihre Blumen oft ſo
pflanzen, daß die Farb’ einer in die andre
ſpielt,
[207] ſpielt, und dadurch jede einzele verdirbt; ſo
iſts auch auf Univerſitaͤten. —


Bey dem zweyten Vers des:
Viuat Academia!
ward die Frag’ aufgeworfen, warum man
beym Trunk ſo gern Lerm mach’ und vorzuͤg-
lich Fenſter einwuͤrfe: welches auch ſolche
Juͤnglinge thaͤten, die bey ſpaͤtern Jahren
einen ſtillen innerlichen Rauſch bekaͤmen? —


Unſer Paſtor nahm Abſchied. Sein leztes
Wort war viuat Academia! Wir verpfaͤndeten
uns ſchluͤßlich, ſo oft wir dieſe Straße zoͤ-
gen, uns ihm aufzudringen. Dies Wort
bitt’ ich zu ſtreichen, fiel er ein, vielleicht
giebt mir Gott bald ein Stuͤck Brod anſtatt
der Droßeln, und alsdenn bitt’ ich zu mir —
Alles andere: Gott ſey mit Euch, lebt wohl,
faßt’ er zuſammen in das vielbedeutende vi-
uat Academia!


Kaum hatten wir uns niedergelegt, ſo
hoͤrten wir einen ſchrecklichen Streit, den
unſere Fuhrleute, die von Mittag bis Abend
in einem Zuge gezecht hatten, erregten. —


Ich wolte Mittler ſeyn; allein mein Rei-
ſegefehrt verbat es dringend.


Warum
[208]

Warum, Bruder, willſt du gerad oder
ungerad ſpielen? Deine Worte werden nichts
gegen dieſe Roß und Maͤuler verfangen. —
Glaub mir, ich zittre vor einem Lande, wo
ein Fuhrmann Major, ſein Schweſterſohn
Junker, und ein Paſtor ein Droſſelfaͤnger
iſt. —


Das Ungewitter legte ſich und ſtieg wie-
der auf — ich ſchlief vielleicht beym haͤrte-
ſten Schlag’ ein. —


Habt ihr je in einer Geſellſchaft, in der
alles uͤberlaut war, auf eurem Stuhl ge-
ſchlafen? Wie ſuͤß! — Mein Reiſegefehrt
verſicherte mich des folgenden Tages, daß er
noch nach meinem Einſchlaf zwey Stunden
gewacht haͤtte. —


  • Ich. Aus Furcht, Bruder?
  • Er. Ich kann es nicht leugnen —
  • Ich. Entſchließ dich, Bruder, meinem Bey-
    ſpiel zu folgen. Ich fuͤrchte mich nur
    vor der Furcht, das ſcheint ein Wort-
    ſpiel; allein es iſt ein richtiges wahres
    Wort. — — Auf mein Wort gehe
    hin, und thue desgleichen! —

Unſer Major und Junker waren mit den
Wirthsleuten des Hauſes an dieſem guten
Mor-
[209] Morgen ſo einig, daß man nichts anders
hoͤrt’ als bitten:
bald! bald! wieder zuzuſprechen,
und Verſprechungen bald! bald!


Wie ſchoͤn es ſich, ſagte Herr v. G., nach
dem geſtrigen Gewitter abgekuͤhlet hat! —
Da ſiehſt du, Bruder, erwiedert’ ich,
der Teufel traue den Preußen, beſchloß
er! — —


Und nun in Koͤnigsberg! Ein großer
weitlaͤuftiger Ort. — Ich fragte meine Fuhr-
leute, wo dieſer und jener Profeßor wohne,
die mir dem Namen nach bekannt waren?
Das weiß Gott am beſten, ſagten ſie. —


Im Kneiphoff gehoͤrt die Akademie in die
Kirche, und vor dieſem kam der Magnifi-
cus mit einem Purpurmaͤntelchen, es war
ſpannlang und mit einer goldnen Borte be-
braͤmt, alle Michaelis und alle Oſtern in
dieſe Kirche. —


nun nicht mehr?


Nein! nun nicht mehr. Man erzaͤhlt,
daß ein grober Kerl von Bauer, der von
ohngefehr zu dieſer Ceremonie zu Maas ge-
Zweiter Th. Okom-
[10[210]] kommen, uͤberlaut der Puͤffel! (doch was
verſteht ein Bauer von Safran!) geſagt ha-
ben ſoll:


Wie ſich doch ſo ein alt und wohlbetag-
ter Herr noch zum Narren macht! —


Nach der Zeit geht der Magnificus ohne
ſpannlanges Maͤntelchen in die Kirche. —


Die Kneiphofſche Kirche iſt der Dom,
und auch die akademiſche Kirche. Die zur
Akademie gehoͤrigen Gebaͤude ſind in einer ſo
vertrauten Nachbarſchaft mit dieſer Kirche,
daß alles wie Eins ausſieht. — Dies iſt
eine Erklaͤrung zur Fuhrmanns Erzaͤhlung.


Wir ſtiegen bey dem Major ab, der uns
zwey Zimmer mit der Verſicherung aufraͤumte,
daß wir ſie ſo lange gebrauchen koͤnnten, bis
wir ein gutes Quartier bekommen wuͤrden.
Er fuͤr ſein Theil ſchluͤg’ uns die Magiſtergaſſe
im Kneiphofe vor, wo die meiſten Studen-
ten logiren — und der Name ſelbſt ſchien ihm
ſehr angemeſſen. Es waͤhrete nicht drey Stun-
den, ſo waren drey Landsleute bey uns, wel-
che die Sorg’ uͤber ſich nahmen, uns ein
Quartier zum Kuͤßen, wie ſie’s nannten,
anzuangeln. Dies Wort war damals, ſo
wie das Wort Fidel, Univerſitaͤtsparole.


Dieſe
[211]

Dieſe Nacht blieben wir bey unſerm
Fuhrmann. Den Morgen um neun Uhr
kamen ſchon unſre fidele Landsleute, verſtaͤrkt
mit drey andern; das Quartier zum Kuͤſſen
war angeangelt, — und wir Burſchen, (um
ganz akademiſch zu ſprechen) zogen vom Pfer-
dephiliſter
aus.


Iſt es Hecht? oder Barſch? fragt’
ich, was ſie uns angeangelt haben? und
ſie lachten herzlich uͤber eine ſo unakademi-
ſche Frage. —


Wir giengen unſer Quartier beſehen, das
uns uͤber alle Maaße gefiel. Es hatt’ es ein
Curlaͤnder bewohnt, der heim reißte, um
nachher in franzoͤſiſche Dienſte zu gehen.


Warum in franzoͤſiſche, ſagt’ ich?


Zum groͤßten Theil der Sprachewegen. Auch
gut! Ehemals verliebte man ſich, um fran-
zoͤſiſch und das Feine der Sprache, das je ne
ſais quoi
des Herrn v. W., zu lernen! —


Es ward verabredet, daß die Landsmann-
ſchaft von dem Abziehenden und dem Anzie-
henden bewirthet werden ſolte. — Jeder,
ſagten die Aelteſten und Vorſteher, giebt ſein
Theil, und zwar der Abziehende allein ſo viel,
als ihr Anziehende beyde — denn er kommt
bald nach Canaan. —


O 2Um
[212]

Um indeſſen dieſen Schmaus mit Ehren
zu geben, ward beſchloſſen, daß wir zuvor
immatriculirt werden ſolten.


Einer der Landsleute begleitet’ uns zu
Sr. Spektabilitaͤt, wie man den Decanus
der Facultaͤten nennet, zum Examen.


Curlaͤnder? fanden Se. Spektabilitaͤt
der Decanus der philoſophiſchen Facultaͤt fuͤr
gut zu fragen, als wollten ſie zugleich an-
deuten, daß das Examen darnach eingerich-
tet werden wuͤrde. Man hat uͤberhaupt die
Gewohnheit, Fremde entweder ganz und gar
nicht, oder hoͤchſtens nur ſehr wenig zu exa-
miniren. — Es ſind, wie ſich unſer ehrliche
Paſtor in — — ausgedruͤckt haben wuͤrde,
Zugvoͤgel.


Se. Spektabilitaͤt ſchienen ohnedem uͤber-
ſchwenglich luſtig, und, wie wir nach der
Zeit erfuhren, waren ſie die Nacht vorher
Grosvater geworden. — Sie kamen uns
mit einem mundvoll Latein entgegen, und
erkundigten ſich in dieſer Sprache nach un-
ſerm Namen? Geburtsort? und Alter? Ich
antwortete ſehr behende, und da das lateini-
ſche Geſpraͤch blos zum Spaß angehoben,
von mir aber im Ernſt fortgefuͤhrt wurde;
ſo wolten Se. Spektabilitaͤt es durch-
aus
[213] aus nicht glauben, daß ich ein Curlaͤnder
waͤre. — Nachdem ich ihm dieſes in lateini-
ſcher, nachhero aber, um es deſto kraͤftiger
zu machen, auch in deutſcher Sprache ver-
ſicherte, fand er fuͤr gut mich zu fragen: ob
mein Vater ein Curlaͤnder waͤre? Dies
ſetzte mich aus aller Faſſung, beſonders da
er dieſen Ausfall in reinem Deutſch that, und
meinem Reiſegefehrten dieſe verfaͤngliche Frage
zu Ohren gekommen war. Ich ward Blut-
roth — und nach einer Weile (dergleichen
Empfindung iſt immer wie ein kaltes Fieber)
fuͤhlt ich, daß ich wie eine bleich gewordene
Roſe ausgeſehen haben muͤßte. — Der Pro-
feßor, (das merkt’ ich auch,) ſah mich ſo an,
wie man eine bleichgewordene Roſ’ anzuſe-
hen gewohnt iſt — mit einer großen Theil-
nehmung. Er trieb dieſe Frage nicht weiter;
allein ich war beſtimmt, bey Sr. Spekta-
bilitaͤt aus dem Regen in die Traufe zu
kommen.


Erſt einige Fragen nach Art meiner Gros-
mutter muͤtterlicher Seits, z. E. wie ſich la-
tinum
von latinitas unterſchiede?


Was der Magiſter Saliorum fuͤr eine
Wuͤrde bekleidet? was fuͤr ein unlauteres un-
orthodoxes Wort dem Tiberius Gewiſſens-
O 3biſſe
[214] biſſe gemacht, da er Neujahrsgeſchenke ver-
beten, und daruͤber ein Edict erlaſſen?


Wie Attejus Capito, dem er daruͤber ge-
beichtet, ihn abſolviret?


Was Marcus Pomponius Marcellus, als
der zweyte Hofprediger, ihm im Beichtſtuhl
geſagt?


(Jener meynte, das Wort koͤnnte wohl
dem Kayſer zu Gefallen auf- und angenom-
men werden, dieſer aber war ſo ſtockortho-
dox, daß er dem Kayſer gerade zu ſagte, er
koͤnne zwar den Menſchen das Buͤrgerrecht
ertheilen; allein den Worten nicht.)


Was den Virgilius bewogen, wie er ſelbſt
geſagt, aurum ſe ex Ennii ſtercoribus legere,
und warum er nicht, da doch Ennius ingenio
maximus, arte rudis
geweſen, lieber gerade
zu, zur Natur oder zum Homer, gegangen,
der fuͤr uns Adam der Natur iſt, ob es gleich
in dieſem Stuͤck Praͤadamiten gegben? —


Bey jedem großen Werk muͤſſen zwey
Koͤpfe arbeiten; wenn auch der eine nur den
Kalk loͤſchen, oder einen Grundſtein legen
oder abmeſſen ſolte. Moſes und Aron ſind
gemeinhin noͤthig. Einer erfindet, der an-
dere ſagt. Einer ſchaft den Leib, der andere
die Seele. Einer weiſet den Weg, der an-
O 4dre
[215] dre geht. Niemand, der ſterblich iſt, kann
ein ſelbſtſtaͤndiges Genie ſeyn!


Hier ein Wort von der Natur des Dich-
ters und von dem Lande, wo er ſie pfluͤckt.


Er pfluͤckt ſeine Natur; denn der Ort,
wo er ſie nahm, iſt, wenn man die Natur
wiederſucht, die der Dichter beherzigte, wie
abgemaͤht: man ſieht hoͤchſtens die Staͤte,
das, was der Dichter ſah, iſt es wohl mehr
erſichtlich?


Des Dichters Natur iſt unſterblich. Sie
macht die Seele, die Monaden in ſeinem
Werke. —


Man ſagt, und in Wahrheit kluge Leute
ſind unter dieſem Man ſagt inbegriffen. Er-
giebiger Boden zieht nicht Genies, ſondern
ſchwieriger. — Nicht alſo! Reiſet nach Hol-
land, um nur eine einzige Reiſe vorzuſchla-
gen, hier hat der Fleiß alles gethan. Wie
das Land, ſo die Koͤpfe. Ein ſchwieriger Bo-
den zieht Kritik, ein ergiebiger Genies.


Wieder eine Frage.


Was den Caſimirus, den vierten Koͤnig in
Pohlen, zum Befehl bewogen, die lateini-
ſche Sprache in Pohlen zu treiben?


In wie viel Tagen Joſephus Juſtus Sca-
liger,
des Jul. Cæſ. Scaliger Sohn, den
gan-
[216] ganzen Homer, und alſo 63,000 griechiſche
Verſe durchgeleſen, und zwar ſo, daß die
Frage wegfiel: verſtehſt du auch, was du
lieſeſt? Es waren, glaub’ ich, ein und zwan-
zig. Elias, ſetzten Se. Spektabilitaͤt hinzu,
oder, wie er ſich ſchreibt, Helias Putſchius,
der ſo bald er auf die Welt kam, herzlich zu
lachen anfieng, bis in ſein vierzehntes Jahr
kein latein konnte, und eben drum als
Grammaticus und Criticus es ſo weit brachte,
wie Einer, nennt den Joſeph in ſeiner Epi-
ſtola dedicatoria
vor den zwey und dreyßig
Grammatiken, die er commandirt,
illuſtrem et incomparabilem Virum.
(Wir ſolten, bemerkten Se. Spektabilitaͤt,
alle ſpaͤter die Wiſſenſchaften anfangen, alle
wie Putſchius ſein latein. Wir waͤren auf
Ehre weiter! — Fruͤhzeitige Unterrichte ſind
feine Ketten, die uns binden, oft ſo fein,
wie Seidenfaͤden. — Bey ſpaͤtern Anfaͤngen
wuͤrde der Schuͤler wo nicht ſelbſt was erfin-
den, ſo doch den Lehrer drauf bringen.)


Die Scaligers bildeten ſich ein, aus dem
Geſchlecht der Fuͤrſten de la Scala abzuſtam-
men, ſagten Se. Spektabilitaͤt. Jammer
und Schade, fuhren ſie fort, Putſchius ver-
gaß
[217] gaß ſein latein bald; denn er ſtarb im ſechs
und zwanzigſten Jahre, ſo, daß er alſo nur
etwas uͤber zehn Jahre latein gekonnt hat. —
Se. Spektabilitaͤt kamen wieder auf ihre
Raͤthſelaufgaben, und wandten ſich zur Auf-
loͤſung Notarum, und vorzuͤglich juridicarum,
und ſo wie unſer Grosvater ſich herzlich auf-
hielt, daß man Aut verkuͤrzet durch A. Ante
durch AN̅. Auctor durch AVCT. Eſt durch
E. ſo gab er mir vielerley Abreviaturknoten
zu entchiffern und zu loͤſen. — Ich lies mich
mit einer Bemerkung hoͤren, wie man ein
Volk aus der Sprache kennen lernen und be-
urtheilen kann; ſo ſind, ſagt’ ich, in der
Sprache vorzuͤglich dieſe Abreviaturen, ſo
bald ſie ins Allgemeine gehen, eine Findgru-
be. Sie ſind das Volk in compendio. Jeder
Menſch hat indeſſen ſeine eigene Abreviatu-
ren, und dies iſt ein Grundriß eines jeden
Menſchen. — Bey dem Abreviaturknoten
bewieß ich mich als Alexander, und da das
meiſte, ſo bis dahin verhandelt war, latei-
niſch zwiſchen uns vorfiel; ſo konnte mein
Reiſegefehrt und Begleiter nicht wiſſen, wo
ich gieng, und wo ich ſtand — mithin wuß-
ten ſie nicht, was aus dem Kindlein wer-
den wuͤrde!


O 5Kann
[218]

Kann was aͤhnlicheres zwiſchen meiner
Grosmutter muͤtterlicher Seits, und dieſem
ſeit der vorigen Nacht gewordenen Grosvater
ſeyn? Meine Grosmutter iſt mir ſeit der
Zeit eben ſo ſpectabilis, (ſichtbar) als ein
Decanus. Seltene Fragen ſind ſeltene Fra-
gen. Raͤthſel ſind Raͤthſel. Knoten ſind Kno-
ten. Die Sprache thut hiebey nichts. — —


Ich rechne nicht blos auf Leſer, ſondern
auf Leſerinnen, und dieſe guten Kinder ha-
ben nicht noͤthig, mit fremden Kaͤlbern zu
pfluͤgen, und ihre Liebhaber wegen einer Ue-
berſetzung, die ohnehin ſtutzerfrey ausfallen
doͤrft’, in Anſpruch zu nehmen: denn was
der Magiſter ſaliorum fuͤr eine Wuͤrde beklei-
det, heißt mit andern Worten, was der En-
gel Gabriel fuͤr Federn in ſeinen Fluͤgeln ge-
habt? und alles, was ſie von Tiberius, En-
nius, Attejus Capito
und Marcus Pomponius
Marcellus
geleſen, betrift den Nabel des
Adams, die Farbe Rahels, die Frag’: ob
David ein Adagio oder ein Allegro vor Saul
geſpielt? Ob Pilatus ſich mit Seife gewa-
ſchen, und wie viel Selas in der heiligen
Schrift vorkommen?


Durch die Aufloͤſung der Abreviaturen,
wo ich — meine Leſer wiſſen warum? gieng
und
[219] und nicht am Berge ſtand, wetzt ich alle ge-
machte Scharten aus, und Se. Spektabili-
taͤt beliebten mich wuͤrklich auch fuͤr ein ſicht-
bares Geſchoͤpf zu halten! wofuͤr ich Sr.
Spektabilitaͤt noch jetzt dienſtergebenſt verbun-
den bin. —


Nun ließen mich Se. Spektabilitaͤt einige
Stellen aus den Carminibus ſaliariis ins La-
tein kuͤnſteln, und ſodann dieſes Kunſtſtuͤck
mit einigen Stellen aus den zwoͤlf Tafeln
machen.


Meinem Reiſegefehrten bot er auch einen
lateiniſchen Rapier an; allein er erhielt eine
abſchlaͤgige Antwort, und ich nahm das
Wort fuͤr ihn. —
Ὡς αἰεὶ τὸν ὁμοῖον ἁγει ϑεος ὡς τὸο ὁμοῖον,
ſagten Se. Spektabilitaͤt, und ich weiß nicht,
ob dieſe Stelle, oder ein Hund, der auf der
Straße ſich hoͤren ließ, und eben dadurch den
Herrn v. G. aufſprengte und ans Fenſter zog,
Se. Spektabilitaͤt auf die Frage brachte:
Ob auch im Griechiſchen?
Der ehrliche Noſter holte ſeinen Homer —
nicht aus einem rußigen Buͤcherſchrank.
Homer war ſo wenig, wie die Bibel, die
neben
[220] neben ihm lag, beſtaͤubt. Ich dachte, wenn
ja ein Mann Grosvater zu werden verdient,
iſt Ers. Er lies mich eine der Lieblingsſtellen
meines Vaters, die ein adliches Thier an-
gieng, uͤberſetzen, ich wußte ſie eben, weil
ſie eine vaͤterliche Lieblingsſtelle war, faſt
auswendig. Sie faͤngt an


Ὡς οἰ μεν τοιαῦτα πρὸς αλληλους ἀγορευον.
Αν δὲ κύων κεφαλήν τε καὶ ȣ῏ατα κίμενως ἔχεν
Ἂργος Οδυσσῆος ταλασίφρονος, ὅν ῤά ποτ̕ αυτός
Θρεψε μὲν, ȣ᾿δ̕ ἀπόνητο παρος δ̛εις ίλιον ιρήν
Ὡιχετο. τὸν δὲ παροιϑεν ἀγινεσκον νέοι ἂνδρες
Ἆιγας ἐπ ἀγροτέρας, ἠδέ πρόκας, ἠδὲ λα-
γω´ς — — —

Mein Vater hatte die Gewohnheit nicht an-
genommen, die haͤufig graßirt, das Griechi-
ſche zu verlateinen, ich mußt’ es verdeutſchen,
und dieſe Gewohnheit behielt ich bey, und
mein Reiſegefehrt lernte den Hund Argos
kennen, der nach zwanzig Jahren ſeinen
Herrn Ulyſſes erkannte, ſich von ſeinem Sterb-
lager aufrichtete, mit dem Schwanze we-
delte; indeſſen nicht mehr das Vermoͤgen hat-
te, mit ſeiner Zunge ſeinen Herrn zu beruͤh-
ren, um ihm Dank zu lecken. — Dieſer
weinte! —


Argos
[221]

Argos aber, der ſeine ſtarren Augen noch
angeſtrenget hatte, ſeinen Herrn zu ſehen,
ſtarb, nachdem er ihn geſehen hatte, in Frie-
den. — Gott hab’ ihn ſelig, ſagte Herr v. G.,
und eine Thraͤne blinkt’ in ſeinen Augen; —
denn es war ein Hund, von dem geredet
ward. — Herr v. G., ſie haben mir etwas
ſehen laſſen, ſagte der Großvater, was eben
ſo gut iſt, als griechiſch verſtehn. — Wollte
Gott, anwortete Herr v. G., ich koͤnnte
griechiſch, des Argos wegen. — Es ſind
mehr ſchoͤne Seelen im Homer, fuhr der
Grosvater fort. — Herr v. G. wiederhohlte:
des Argos wegen.


Endlich fiengen Se. Spektabilitaͤt (auch
dies, weil ſie Grosvater geworden waren,)
etwas aus der lieben Weltweisheit an. Es
ſah ſo aus, als wenn wir einen Ritt dran
wagen wolten.


Quid eſt


Wenn Ewr. Spektabilitaͤt es im Deutſchen
erlauben? —


Der gute Mann ſtimmte bey, und aus
unſerm Examen ward ein Geſpraͤch, ein Pik-
nik, wo jeder ſein Schuͤſſelchen giebt. —


Die
[222]

Die Philoſophie und die deutſche Sprache,
— wolte Gott, dies koͤnnt’ ein Paar wer-
den fuͤr und fuͤr! — Wolte Gott, unſere
Philoſophen moͤchten ſolche Gewißenskoliken
haben, als Tiberius uͤber jenes Wort im
Edict, und uͤber das Wort Monopolium,
von welchem mir bekannt iſt, daß er es mit
ſalua venia verbraͤmt, und uͤber das Wort
ἔμβλημα, welches er wie Se. Spektabilitaͤt
beylaͤufig anzumerken beliebten, aus einem
Edikt ausradiren laßen. —


Es giebt Natur-Philoſophie und Kunſt-
Philoſophie. Leben! Leben! Leben! und
Schulweisheit. Philoſophie, die blos weiß,
und Philoſophie, die weiß und thut, ge-
lehrten Wuſt und Weisheit. Ariſtoteles war
ein Kuͤnſtler, Epikur, Diogenes, (mit
Fleiß zuſammen,) waren Naturaliſten, und
Sokrates desgleichen. — Die kuͤnſtliche
wird ganz und gar gelehrt, bey der natuͤr-
lichen iſt nur eine gewiſſe Methode, die ge-
zeigt wird. Das Faß des Diogenes, die
Brey des Epikurs, wie verehrungswerth! —
Die Fenſter im Auditorio, wo natuͤrliche
Weisheit gelehrt wird, gehen all’ ins ge-
meine
[223] meine Leben. — Die natuͤrliche lehrt die
Zeit gebrauchen, die kuͤnſtliche, ſie vertreiben.
Die Naturphiloſophie iſt fließend Waßer,
Springwaßer, die kuͤnſtlich’ iſt Waßer, wel-
ches ſteht. Die Kunſtphiloſophie treibt Com-
mißionshandel, die Naturphiloſophie hat
blos eigenes Produkt. Das Leben der Na-
turphiloſophie iſt eine Copia vidimata ihrer
Grundſaͤtze, und zu ihren Angaben ein ſolch
erklaͤrender nachhelfender Belag, daß ohne
Beylage ſub Vide ihre ganze Lehre wie gar
nichts iſt. Wohl dem, der von dieſem Waſ-
ſer des Lebens getrunken hat! Die Idee der
Weisheit liegt der Naturphiloſophie zum
Grunde, die nicht gleichguͤltig, ſondern gleich-
muͤthig macht. — Iſt wohl ein paßende-
res Motto zur kuͤnſtlichen Philoſophie, als
„die Herren werden doch wohl Spas ver-
ſtehn„ Will man ein Emblem, ſo iſt’s ein
optiſcher Kaſten. —


Vom natuͤrlichen Philoſophen ſagt man,
er philoſophirt. Ein kuͤnſtlicher Philoſoph
hat Philoſophie. Er hat ſie vor Geld und
gute Worte zum Verkauf und zur Pacht. —
Man muß es bey der Philoſophie nicht anle-
gen, ein Buch, den beliebten Autor, ſon-
dern die Sache zu verſtehn. Man will ſich
vorzuͤg-
[224] vorzuͤglich ſelbſt verſtehn, und das Buch
Gottes, die Welt. — Dieſe Philoſophie
kann nicht auswendig gelernt werden; es iſt
was inwendiges, ein Philoſoph zu ſeyn.
Denken und leben heißt: philoſophiren.
Wenn man die Wiſſenſchaften in die, der
Gelahrtheit, und die, der Einſicht eintheilt;
ſo wuͤrd’ ich die kuͤnſtliche Philoſophie zur
Gelahrtheit rechnen, und ſo, wie man z. E.
von einem Hiſtorikus ſagen kann: er ſey ein
Gelahrter, er habe viel gelernt; ſo auch von
einem Kunſtphiloſophen. Die natuͤrliche
Philoſophie beſtehet nicht in Nachricht, ſon-
dern in Einſicht. Man kann nicht vom na-
tuͤrlichen Philoſophen ſagen: er habe viel ge-
lernt; allein er kann viel lehren. Alle Ver-
nunfterkenntniß aus Begriffen, gehoͤret zwar
zur Philoſophie; allein der Philoſoph iſt ei-
gentlich ein Fuͤhrer der Vernunft, und brin-
get den Menſchen an Ort und Stelle. Der
Menſch iſt nicht bey ſich, heißt, oder ſolte
heißen: er habe dieſen eigentlichen philoſo-
phiſchen Weg verfehlt. Die Beſtimmung
des Menſchen, und die Mittel dahin zu ge-
langen, das iſt das Ziel, wo alle philoſo-
phiſche Erkenntniß zuſammen trift. Es iſt
die Probe der Philoſophie. Der gemeine
Mann
[225] Mann meynt und wuͤnſcht, und ſelbſt dazu
iſt er ex ſpeciali gratia privilegirt; der Weiſe
denkt und will. Verſtand und Wille zu-
ſammen iſt eine Seele. Wer kann die Seele
halbiren? Der Mann hat Geiſt und Leben,
das heißt: der Mann iſt ein Philoſoph na-
tuͤrlicher Art. Zwar ſagt man auch, dies
Buch hat Geiſt und Leben; allein alsdann
denkt man, der Verfaßer, ein Philoſoph der
beſagten Art, hat es geſchrieben, und es ſich
ſo aͤhnlich gemacht, daß er ihm etwas Geiſt
und Leben abgegeben. Er hat es angehau-
chet! — wie Gott den bis auf die Seele fer-
tigen Adam. Der Mann iſt im Buch ge-
troffen! — — — Oft hab’ ich gehoͤrt:
wenn man den Mann ſieht, und ſein Buch,
ſolte man ſie wohl fuͤr Vater und Sohn hal-
ten? Ja — und wenn ihr ſie nicht dafuͤr
haltet, liegt es an euch. Wie der Autor,
ſo das Buch, per omnia ſæcula ſæculorum.
Jeder Phyſionomiſt muß den Autor aus dem
Buch abziehen, und zum reden treffen.
Das Buch hat Hand und Fuß, der Mann
hat Hand und Fuß, heißt ein Mann mit
Winkelmaaß und Waage, der alles mißt
und paßt, und ein Buch von der nemlichen
richtigen abgemeſſenen Weiſe, wo weder
Zweiter Th. PMan-
[226] Mangel noch Ueberfluß iſt, ſondern juſt die
erforderlichen Gelenke. — Die Naturphi-
loſophie iſt keine Feindin von reinen Vernunfts-
begriffen; allein ſie beſtaͤtiget ſie, wenn ich
ſo ſagen ſoll, auf der Stelle. — Sie ſchaft
ſich gleich einen Abdruck — wie Gott die
Welt. — Die Religion faͤngt heut zu Tage
mit dem Catechismus, und die Philoſophie
mit einem Compendio an. — Allein in
Wahrheit, man ſolt’ auf ein lebendiges Er-
kenntniß dringen, dann wuͤrde man doch ein-
mal einen Philoſophen zu ſehen bekommen. —


Roußeau, damit ich eine Bemerkung
mache, die in unſern Tagen zu Hauſe ge-
hoͤrt, Roußeau, (ſchade! daß er todt iſt,)
war wirklich eine Spektabilitaͤt unter den
Philoſophen. — Der bloße philoſophiſche
Kuͤnſtler weiß nichts rechtes, nicht daß ein
Gott iſt; der arme Schelm! man koͤnnte die
natuͤrliche: Philoſophie κατ̕ εξοχην, die kuͤnſt-
liche: Vernuͤnfteley nennen. Die Vernuͤnf-
teley und die Zweifelſucht ſind Grenznachba-
ren. Ein Zweifler und ein Aberglaͤubiſcher
ſind Schweſter und Bruder. — Ein Zweif-
ler macht ſich ſein Leben nicht gemaͤchlich. —
Nein, er hat ſich mehr aufgelegt. Er hat
Ja und Nein zu tragen, wenn er denkt.
Im
[227] Im Fall er aber blos ſpaßt, iſt er nur ein
Scheinzweifler, und ein Mann, der alles
der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge-
meinhin, ein Zweifler ſey kein Vielwiſſer;
allein er iſt es im eigentlichſten Verſtande, und
es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wiſ-
ſen blaͤſet auf.
Wer Dinge, die gaͤng und
gaͤbe ſind, bepruͤft, und keinen Stein auf
den andern laͤßt, iſt kein Zweifler, ſondern
ein Pruͤfer; im Fall er nemlich aus pro und
contra, aus links und rechts, ſich etwas
auspunktirt, was Stich haͤlt. Solch ein
Mann iſt nicht aufgeblaſen, ſondern beſchei-
den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den
rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr-
heit und zum Leben. — Ein Lehrer der
Naturphiloſophie kann von ſich und ſeinen
Juͤngern ſagen; ich leb’, und ihr ſolt auch
leben.
— Wer hat je mit den Pietiſten uͤber
die Wahrheit der chriſtlichen Religion geſtrit-
ten? Wer ſo lebt, als er lehrt, darf nur
bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein-
zuſprechen. Man iſt heut zu Tage von der
Naturphiloſophie ſo abgekommen, daß man
den, der ſo lebt, als er lehrt oder glaubt,
einen Schwaͤrmer nennt. — Sehr unrich-
tig! —


P 2Meine
[228]

Meine Leſer werden, hoff ich, nicht
vergeſſen haben, daß ſie zu einem Pikenik ge-
laden ſind, wo nur Se. Spektabilitaͤt und
ich, (meinen Vater kann ich immer mit ein-
rechnen,) ihr Schuͤßelchen auftrugen. Wenn
ein Koch dieſe Schmauſerey angeordnet haͤtte,
waͤr es freylich abgemeſſener geweſen — ob
ſchmackhafter, weiß ich nicht.


Ich bemuͤhe mich auch hier, Lebenslaͤu-
fer zu ſeyn, und dieſ’ Abſchrift iſt dem Ori-
ginal aͤhnlich. — Wir fielen von einem
aufs andre. Wir ſcheitelten die Haare
nicht. Wuͤrd ich nicht einen Roman ſchrei-
ben, wenn ich nicht auch von einem aufs
andre fallen und die Haare ſcheiteln ſolte?
Ein Roman! fern ſey er von mir! —


Die Eintheilung der Philoſophie in die
natuͤrlich’ und kuͤnſtliche, iſt die Hauptein-
theilung, die philoſophiſche Eintheilung der
Philoſophie. Sonſt giebt es Eintheilungen
Gott weiß wie viel! — In Abſicht der
Kraͤfte des Menſchen, in Abſicht der Prin-
cipien, in Abſicht der Objekte, der Erkennt-
niſſe. —


Ein Philoſoph muß das allgemeine in
concreto,
und das einzelne in abſtracto er-
waͤgen, und wenn man gleich gern zugiebt,
daß
[229] daß bey jeder Wiſſenſchaft die Idee des Gan-
zen die Avantgarde macht, und daß aus der
Eintheilung des Ganzen die Theile entſtehen,
und daß, um die Theile zu wiſſen, man erſt
das Ganze von Perſon zu kennen die Ehre
haben muͤße; ſo iſt doch nicht gut, wenn
ein erſchreklicher Eingang praͤludirt und pro-
logirt wird, ehe man zum Thema ſchreitet,
auch wenn die Praͤludia, wie die des Herr-
manns, noch ſo ausſtudirt ſind. Wozu die
Prolegomena, und das erſchrekliche Geſchrey:
da werden ſie ſehn! da werden ſie ſehn!
Gleich das Lied, iſt am beſten! Wenn ich heiß-
hungrig bin und der Wirth, der mich gela-
den hat, zeiget mir erſt ſeine drey Porcelain
Service, und ſodann ſein Silberzeug, und
endlich ſeine Faiance, bis ich mich uͤberhun-
gert, und keine ordentliche Mahlzeit thun
kann, wie wenig Urſach hab ich den Wunſch
einer geſegneten Mahlzeit anzunehmen, und
mich ergebenſt zu bedanken; ich wolt’ anbeiſ-
ſen, und nicht mit der Gabel anſpießen.
Warum nicht kurz praͤſentirt: Herr Gott dich
loben wir. Befiehl du deine Wege.
Philoſo-
phie! Verſtands- und Willenphiloſophie, theo-
retiſche und praktiſche, wenn es ja nach der
alten Leyer gehen ſoll. Vernunfts- und Er-
P 3fah-
[230] fahrungsphiloſophie. Empiriſche und ratio-
nale, und damit die Eintheilung in Ruͤck-
ſicht des Objekts nicht vernachlaͤßiget wer-
de — Philoſophie der engelreinen Vernunft,
und der menſchlichen Sinne. Die Philoſophie
der Sinne heißt die Naturlehre. Die Sin-
ne ſind zwiefach, innerlich und aͤußerlich.
Was ich mit dem innerlichen Sinn gewahr
werde, iſt einzig und allein meine Seele.
Alſo giebts Seelennaturlehre und Koͤrperna-
turlehre. — Empiriſch und rational kann
jene und dieſe ſeyn, und was kann nicht alles
ſo ſeyn? — — Ich kann zwar nur mit mir
ſelbſt Seelenbetrachtungen anſtellen; allein
ich kann nach dem Kennzeichen der Ueberein-
ſtimmung auf andre ſchließen. Welch ein
großes Wort: lern dich ſelbſt kennen!
Mancher Philoſoph, der ſich auf die Seelen-
naturlehre legt, und viel drinn philoſophirt,
kommt endlich zu einer Art nota bene, zu
einer Art von Geiſterſeherey, von Anſchauung
vom Platonismus und myſtiſchen Weſen. Er
wird entzuͤckt, und wenn man gleich mit dem
Verſtande nicht ſehen, ſondern nur denken
kann; ſo iſt er doch in einer Verfaſſung, wo
es heißen koͤnnte: Es hat kein Auge geſehen,
kein Ohr gehoͤrt, es iſt in keines Menſchen
Herz
[231] Herz kommen, was Gott bereitet hat denen,
die ihn lieben. Oft verſehen ſich dieſe guten
Leute ſo, daß ſie an ihren Ort geſtellet wer-
den, der nicht der angenehmſt’ iſt. — Bie-
gen oder brechen iſt die Loſung dieſer Seher!
Jammer und Schade, daß es gemeinhin
bricht! —


Iſt denn in den aͤußern Sinnen Wahr-
heit, ihr Sinnenglaͤubige? Seht die Sonn’
an, geht oder ſteht ſie? Selbſt wenn unſer
Urtel mit der Erſcheinung uͤbereinſtimmt, und
wenn man ſagen kann, die Sach’ iſt wahr-
ſcheinlich, iſt ſie drum ſo und nicht anders?


Gott allein kann die Gegenſtaͤnde mit
dem Verſtand’ [anſchauen]; denn ſie ſind durch
ihn und in ihm. — Er hat alles in originali,
wir uns ſelbſt nur ſo! — Was heißt: Gott
ſchauen und in Gott alle Dinge? — —
Durch eine einzelne Vorſtellung erkennen,
koͤnnte man anſchauen nennen, durch allge-
meine Begriffe erkennen, wuͤrde denken heiſ-
ſen. Man kann phyſiſch und myſtiſch ſchauen,
durch Koͤrper und Seelenaugen. Die Seele
hat, nach der Myſtiker myſtiſchem Dafuͤr-
halten, wie die Cyclopen nur ein Auge.


Die Logik iſt Verſtands Grammatik. Sie
lehrt uns, von keinem Gegenſtande etwas —
P 4ſelbſt
[232] ſelbſt vom Verſtande nichts; allein ſie lehret
uns von Dingen, die wir gar nicht kennen
viel, und, was noch mehr iſt, gelehrt —
reden. Von Dingen, die man weiß, von
denen man uͤberzeugt iſt, ſpricht man nur
wenig. Man handelt wie oben gezeigt wor-
den. Dingen aber, von denen man nicht
uͤberzeugt iſt, legt man durch eine gewiſſe
Hitze einen Grund bey. Man legt es recht
dazu an, ſich dadurch, daß man den an-
dern uͤberzeugt, auch ſelbſt zu uͤberzeugen, und
oft iſt man hiebey gluͤcklich, ſo daß man in
der That auch hier durchs Lehren lernt. Es
kann eine allgemeine Grammatik aller Spra-
chen geben, ſo auch eine des Denkens, die
nemlich allgemeine Regeln des Denkens ent-
halten muͤßte. Was thun Woͤrter zur Gram-
matik! Allgemeine Regeln der Sprachen wuͤrd’
eine allgemeine Grammatik ſeyn. Vielleicht
haͤtte die lateiniſche dazu all’ Anlage. Die
Dialektik iſt die Logik des Scheins. Wahrheit
iſt der Inhalt der Erkenntniſſe, mithin kann
ſie durch die Dialektik nicht erkannt werden.
Die Dialektik traͤgt die Liverey des Verſtan-
des, ſie iſt die Kunſt des Scheins, die Wiſ-
ſenſchaft der Sachwalter und der Sceptiker.
— Die Roͤmer waren nicht ſpeculativiſch in
der
[233] der Philoſophie, ſondern geſund. Sie waren
nicht Ariſtoteliker ſondern Menſchen. Den
Cicero machten die Wiſſenſchaften ruhig;
denn er ſprach wenigſtens, wie Sokrates lebte,
und ſchon dieſe von der Naturphiloſophie ent-
zuͤndeten Worte weheten ihm Ruhe zu. —
Durch die Scholaſtiker iſt dem Summus Ari-
ſtoteles
ein Ehrengedaͤchtnis geſtiftet. Der
Ausleger weiß immer ein Drittel mehr, als
ſein Autor; ſo geht es immer, und ſo gieng
es auch hier! Man findet von dieſem Greuel
der Verwuͤſtung noch Ueberbleibſel, und vor-
zuͤglich ſind dieſe Antiquitaͤten noch in der Lo-
gik zu ſehen. — Da giebt es Alterthuͤmer die
Menge, (Einen Winkelmann bey den Anti-
quitaͤten der Logik, wuͤnſcht ich blos der
Seltenheit wegen; dieſes iſt ein Wunſch der
ohne Fingerzeig weit juͤnger, als mein Exa-
men, iſt.)


Des Ariſtoteles, Gott! verzeih mir mei-
ne Suͤnden! oder vielmehr ſeiner Ausleger
wegen; denn wahrlich Er, fuͤr ſeine Perſon,
war ein Mann, der ſich gewaſchen hatte,
ſolte man eine Feindſchaft wider all’ undeut-
ſche Namen in der Philoſophie haben. — Die
Ausleger! was ſind ſie meiſtentheils und was
ſind ſie in caſu beſonders? Canaͤle in die kreuz
P 5und
[234] und quer, die dem Lande die feuchte Kraft
nehmen, und den Reiſenden hindern. — —


Viele behaupten, daß wir mit Erkennt-
niſſen auf die Welt kommen, die man all-
maͤhlig herausſpinnt, wie Garn aus Flachs.
Dieſe halten die Seele fuͤr eine beſchriebene,
andere halten ſie fuͤr eine unbeſchriebene Ta-
fel. Beyde fuͤr Tafeln von Wachs, und nicht
von Stein, wie die Tafeln Moſis. Alle Suͤn-
den aus der Erbſuͤnde herleiten, heißt: eben
dadurch eine wuͤrkliche Suͤnde mehr begehen.
Es waren ſchon Weiſe des Alterthums, die
der Meynung waren, daß alles noch Ueber-
bleibſel von unſerer vorigen Gemeinſchaft mit
Gott waͤre, daß alles, damit ich mich deut-
lich und chriſtlich ausdruͤcke, aus dem Para-
dieſe herkaͤme. Was mein Vater von ange-
bohrnen Begriffen dachte, konnte ich nicht
anbringen, Se. Spektabilitaͤt uͤberkrieſchen
mich, und was Se. Spektabilitaͤt davon
dachten, ergiebt ſich ziemlich deutlich aus
dem vorigen. Sie glaubten, der Tiſch ſey
nicht mit Eßen und Trinken beſetzt; allein
auf dem Tiſch ſtuͤnd’ ein Beutel mit Dukaten
und Thalern, groß und klein Geld, je nach-
dem die Faͤhigkeiten ſind, Eßen und Trinken
anzuſchaffen. Die Erkenntniße moͤgen nun
aus
[235] aus den Sinnen geſchoͤpft werden, oder die
Sinne moͤgen blos Gelegenheitsmacher ſeyn;
dies ſey der Weg zur Erkenntniß. — —


Es iſt die Frag’, ob wir alle gut, alle
boͤſ’ oder bald gut, bald doͤſ’ auf die Welt
kommen?


Wenn wir in die Hoͤhe wollen, muͤßen
wir ſteigen. — Wenn der Menſch alles
aus dem lieben Gott beweiſet, ſo will er ohne
Leiter auf den Kirchthurm, gluͤckliche Reiſe!
So philoſophiren nenn’ ich, einen leichtſinni-
gen Eyd ſchwoͤren. Man muß ſich nicht
anders auf Gott berufen, als bis Noth am
Mann iſt. Du ſolſt den Namen deines Got-
tes nicht unnuͤtzlich fuͤhren! — Eure Rede
ſey Ja, ja, Nein, nein, was druͤber iſt,
iſt vom Uebel. So wie ſich Gott durch die
Werk’ offenbaret hat, und der Menſch von
allen Geſchoͤpfen, die wir die Ehre haben
zu kennen, ſein Meiſterſtuͤck iſt; ſo will er
auch keinen Sprung zu ihm hinauf, ſon-
dern will, daß es fein in dem Geleiſe der Na-
tur bleibe, die nicht ſpringt. Die Inſtan-
zien, die Gott angeordnet hat, muͤßen nicht
uͤbergangen werden. Schein iſt ein Urtheil,
das aus der falſchen Anleitung des Verſtan-
des
[236] des entſpringt, Wahrheit iſt die Ueberein-
ſtimmung der Erkenntniß mit dem Gegen-
ſtande. Wenn alſo gefragt wird, was iſt
Wahrheit? reine gediegene Wahrheit? ſo
kann man nicht beßer drauf antworten, als
Wahrheit iſt Wahrheit. Wenn mir nicht
ein Gegenſtand gegeben wird; ſo kann ja
auch keine Probe der Uebereinſtimmung ge-
zogen werden. Eine Erklaͤrung der Wahr-
heit in der Art zu geben, daß ſie auf alle
Objekte ohn’ Unterſchied paßt, iſt unmoͤglich.
Jeder hat ſeine Uhr, jeder ſeine Brille, je-
der ſein Pferd — und jeder ſeinen Hund,
ſeinen Argos, ſetzte Herr v. G. hinzu. Ein
allgemeines Wahrheitsmerkzeichen, wo iſt es?
Eine Regel, die all’ Objekte umfaßt und ſie
herzt und kuͤßt, wo iſt ſie? Ich muß verglei-
chen Erkenntniß und Gegenſtand; wenn ich
aber keinen Gegenſtand habe, wie kann ich’s?
Vielleicht koͤnnte ſie, die Uebereinſtimmung
der Erkenntniß mit den Geſetzen des Verſtan-
des und der Vernunft heißen, und der Ir-
thum, der Widerſtreit der Erkenntniß mit
den Geſetzen des Verſtandes und der Ver-
nunft — vielleicht! — —


Die Seel’ in jeder Sache, oder dasje-
nige in der Erkenntniß von ihr, was in al-
len
[237] len Vorſtellungen, die wir von der Sache
haben koͤnnen, gilt, iſt das wahre darin.


In ſo weit ſich eine Sache nicht wider-
ſpricht, in ſo weit iſt eine Seitenwand zum
Wahrheitsgebaͤude fertig, in ſo weit iſt eine Be-
dingung da, unter der etwas wahr iſt. Wer
kann und will aber ſagen: alles was ſich nicht
widerſpricht, iſt wahr? Es kann wahr werden.
Es iſt in Gott wahr, jeder Gedanke bey ihm
ſteht da. Das Principium des Widerſpruchs iſt
immer ein negatives Wahrheits kennzeichen. Es
iſt nur eine Laterne in der Hand; allein es ge-
hoͤrt mehr dazu, als meiner Mutter Hand-
laternchen, wenn man hier ſicher und ohn-
angefallen an Stell’ und Ort kommen ſoll.


Die Sinne lehren das Formale eines
Dinges, der Verſtand das Materiale. Das,
wodurch das Mannigfaltige auf gleiche Art
gedacht werden kann, heißt Regel. Der
Verſtand iſt das Vermoͤgen der Vorſtellungen
nach Regeln. Wir haben viele Vorſtellun-
gen, die wir nicht wahrnehmen, deren wir
uns nicht bewußt ſind. Man kann mit ei-
nem Menſchen ſprechen, ohne daß man weiß,
was er fuͤr ein Kleid hat, und man kann
denken, ohne daß man es wahrnimmt. Ein
abſtrakter Kopf iſt, der ſo denkt, daß er
nur
[238] nur immer auf das ſieht, was den Begrif-
fen gemein iſt. Das Vermoͤgen, ſich Dinge
durch Begriffe vorzuſtellen, heißt denken.
Einen Begrif analyſiren, ihn klar machen,
iſt ein Hauptſtuͤck der Philoſophie. Sie
macht Gold; denn wenn es aus der Erde
kommt, iſt es Erde, durch Laͤuterungen wird
es Gold. — Ein Moralphiloſoph kann kei-
nen Buchſtab mehr, als dies. Laͤge der
Begrif der Tugend nicht in uns, wie koͤnn-
ten wir von ihm uͤberzeugt werden? Wie?
— Begrif, Urtheil, Schluß, major, mi-
nor, concluſio!
Ein Uebergang von einem
Urtheil zum andern, heißt Schluß. Major
enthaͤlt mehr in ſich, als das Subjekt quæ-
ſtionis.
Es iſt der Vater vieler Kinder,
Soͤhne und Toͤchter. Ehe man ſein Zimmer
bezieht, ſieht man den ganzen Pallaſt. —
Das Praͤdicat iſt groͤßer, als das Subjekt. —
Es behaupten einige: Empfindung waͤre die
groͤßte Wahrheit; allein ſie giebt nur Stof
zum Urtheil. Die Sinne urtheilen nicht;
die Vernunft urtheilt. Die Sinne ſind
Stahl, Feuerſtein und Zunder. Zum Ir-
thum
(Heil mir und meinem Buche!)
gehoͤrt ſo gut, als zur Wahrheit, Verſtand.
Die
[239] Die Unwiſſenheit allein kann ſich ohn’ ihn be-
helfen. Der Verſtand wird beym Irthum
anders gewendet. Beym Irthum iſt Illu-
ſion des Verſtandes. Sinne und Verſtand
ſind Waßer und Wein. Wer hat Wein ohne
Waßer getrunken? Schon in der Traube iſt
Waßer! —


Jedes muß ſein Maas und Gewicht ha-
ben. Die Schranken des Verſtandes brin-
gen nicht Irthuͤmer hervor, ſondern nur
weniger Erkenntniße. Ein engbegraͤnzter
Verſtand irrt weniger als ein großer! Bey
Gelehrten ſind mehr Irthuͤmer, bey gemei-
nen Leuten aber mehr Vorurtheile. — Wenn
man den Menſchen bindet; ſo laͤuft er nicht
davon. — Man ſagt von großen Genies,
ihre Irthuͤmer, ihre Fehler, waͤren ſchoͤn.
— Schmeicheley!


Ein Kleid hebt das Geſicht. Ein kleines
Maͤnnchen kann ſo richtig gebaut ſeyn, als
der groͤßeſte; es kommt nur auf das Ver-
haͤltniß unter den kleinen Theilchen an. Ir-
thum, wenn ihn ein Kluger begeht, iſt Ta-
ſchenſpielerey; es gehoͤrt ein Auge dazu, den
Trug zu entdecken, und dies Aug hat nicht
jeder. Irthum liegt oft in Saͤtzen, oft in
der Anwendung dieſer Saͤtze. Ein Fehler in
Abſicht
[240] Abſicht der Saͤtze heißt wirckliche, in Abſicht
der Anwendung Schwachheitsſuͤnde.


Erſt buchſtabiren, dann leſen, ſagten
unſere liebe Alten. — Erſt ein Urtheil uͤber
Pauſch und Bogen, dann ein richtiges. Erſt
der Laͤufer, dann der Herr. Wer in ſeinen
vorlaͤufigen Urtheilen das rechte trift, heißt:
ein Gluͤckskind, oder ſolt’ es eher heißen, als
der, in deſſen Familie viele alte Tanten ſind.
Es waͤre wohl werth, ein Buchſtabirbuch in
dieſem Verſtande, in dieſem Sinn, herauszu-
geben, und uͤber die vorlaͤufige Urtheile eine
Anleitung zu ertheilen. Die Franzoſen ſind
vorlaͤufige Urtheiler. — Der erſte Gedank’
iſt oft der beſte, und in Wahrheit, es giebt
vorlaͤufige Urtheile, die werth ſind, in Rah-
men gefaßt zu werden!


Vorurtheile ſind Urtheile aus der bloßen
Sinnlichkeit, die man fuͤr Urtheile aus dem
Verſtande haͤlt. Die Sinnlichkeit laͤuft dem
Verſtande vor. Den Grund, den wir ha-
ben, von einer Sache zu urtheilen, der aber
nicht aus den Geſetzen des Verſtandes genom-
men iſt, heißt ein Vorurtheil. Die Eltern
haben Vorliebe zu ihren Kindern; hieraus
entſtehet eine Vorſprache, welches die Rede-
kunſt des Vorurtheils iſt. —


Ein
[241]

Ein Vorurtheil iſt eine Luͤge, nur daß
ſie nicht immer vom Vater, dem Teufel, iſt.


Große Koͤpfe ſtiften viel Gutes; allein
auch wahrlich viel Unheil: denn ſie werden
verehrt, und niemand unterſteht ſich, weiter
zu gehen. Sie ſind ein Wall, den kein Re-
mus zu erſteigen ſich unterfaͤngt. Jeder
Menſch hat einen Hang, ſeine Meynungen
andern mitzutheilen, und der Gelehrteſte iſt
nicht gleichguͤltig gegen das Urtheil ſeiner
Waͤſcherin und ſeines Ofenheizers. Die Me-
thode iſt dogmatiſch uͤber apodiktiſche Wahr-
heiten, und dies iſt die Methode der Unter-
weiſung und Behauptung. Die Methode iſt
aber ſceptiſch, polemiſch, wo man erſt unter-
ſucht, ob etwas apodiktiſch heißen kann. Dies
iſt die Methode der Unterſuchung, Bepruͤ-
fung oder Kritik. Die polemiſche Method’
iſt die Laͤuterung, das Sterben, die Verwe-
ſung in der Kenntniß, ehe wir zum Licht und
Leben kommen. Die ſceptiſche Philoſophie
iſt hievon verſchieden, von welcher wir oben
loco congruo ſchon ein Woͤrtchen gewechſelt.
Zweifeln und ſein Urtheil aufſchieben, iſt ſo
unterſchieden, als vorurtheilen und nach-
urtheilen.


Zweiter Th. QHier
[242]

Hier eine ſchoͤne Predigt uͤber die Worte:
Der Glaube kommt durch die Predigt, viua
vox docet.


Ein muͤndlicher Vortrag verraͤth die Art
zu denken. Sie zeigt den Lehrer unangeklei-
det. Beym Hoͤren denkt man immer mehr,
als beym Leſen. Hoͤren iſt auch natuͤrlicher,
als leſen. Zwar koͤnnen auch Buͤcher er-
bauen; allein es iſt hier das nemliche Ver-
haͤltniß, wie zwiſchen Kirchen und Hauß-
andacht. —


Man muß beym Leſen die Seele des
Buchs ſuchen, und der Idee nachſpuͤren,
welche der Auctor gehabt hat, alsdann hat
man das Buch ganz. Zuweilen iſt freylich
die Seele ſchwer zu finden, wie bey manchem
Menſchen ſie wahrlich auch ſchwer zu finden
iſt. Der Verfaßer ſelbſt wuͤrde Muͤhe haben,
die Seel aus ſeinem Buch herauszurechnen
— indeſſen hat jedes Buch eine Seele! Et-
was hervorſtehendes wenigſtens, und ge-
meinhin pflegt ſich hiernach das Uebrige zu
bequemen. —


Es ſcheint in der Welt bey allen Sachen
eine Fibel noͤthig zu ſeyn, uͤberall ein gewiſ-
ſer Mechanismus, uͤberall eine Schule, eine
Akademie. — Wer nur ein Buch lieſet,
vergißt,
[243] vergißt, daß das Jahr vier Jahreszeiten,
und daß jeder Tag vier Tagezeiten habe.
Man leſe vier Buͤcher auf einmal, und man
wird finden, daß dies dem Gemuͤthe Erho-
lung ſey! Ein einzig Buch leſen heißt im
Seelenverſtande: den Pflug fuͤhren, oder
dreſchen. — Neue Beſchaͤftigung iſt wahr-
lich Erholung. Warum iſt die Geſellſchaft
Erholung? Weil ein kluger Mann hier mehr,
als ein Buch, lieſet. Der hat es weit
gebracht, der Menſchen leſen kann! —


(Gott weiß! dies iſt ein großes Stu-
dium. Die ſchoͤnſte Gegend, was iſt ſie ge-
gen einen Menſchen? Und wer die Geſell-
ſchaft aus dieſem Geſichtspunkt nimmt,
kann gelehrt werden, ohn’ ein gedrucktes
Buch, das ohnehin ſelten Leben hat.)


Es giebt einen gewiſſen Leſegeiz, alles,
was man lieſet, in ſeinen Nutzen zu verwen-
den. — Einen Leſevielfraß, alles zu ver-
ſchlingen, — und da ereignen ſich oft Kopf-
druͤcken und Verſchleimungen. Sich in ei-
nem Buche betrinken heißt: druͤber ſehen
und hoͤren vergeßen, und es ſo vorzuͤglich
finden, daß nichts druͤber iſt. — Wenig
und gut leſen, iſt großen Koͤpfen eigen. Es
iſt ſchwerer, ſo ſchreiben, als ſo reden, daß
Q 2es
[244] es einen intreßirt. Das beſt’ iſt, ſich ſelbſt
herausdenken, nicht bey Hand und Lehrbuͤ-
chern, ſondern bey ſeinem Genie in die Schule
gehen und ihm Folge leiſten, und die Lo-
gik dem natuͤrlichen Gange ſeines ſelbſt eige-
nen Geiſtes, ſo wie die Moral ſeinem Ge-
wißen, zu verdanken zu haben! Wohl dem,
der ſich von allem entkleiden kann, was nicht
er ſelbſt (das letzte Hemde nicht ausgenom-
men) iſt! Wohl dem, der ſeine Willkuͤhr
dem Geſetz der Wahrheit und der Tugend
unterwirft, wohl dem, der Weſen vom
Schein, Schatten vom Licht abſondert! Men-
ſchenfurcht, Menſchenehre und den ganzen un-
wuͤrdigen Troß von Vorurtheilen, ſie moͤgen
gleich die hoͤchſte Stuffe des menſchlichen Le-
bens und ihre achtzig erreicht haben, und
mit dem regierenden Hauſe in Einverſtaͤnd-
niß leben, vom Hauptpaſtor kanoniſirt, und
vom Profeßore Philoſophiae ordinario als ein
Anhang dem Catechismus der Vernunft bey-
gebunden ſeyn, fuͤr das haͤlt, was ſie ſind
— Menſchenſatzungen und Tand! — —
Wohl —


Alles rationale zuſammen genommen,
heißt Metaphyſik. Sie iſt die Seele der
Philoſophie. Die Methapyſik enthaͤlt Urtheil
des
[245] des Verſtandes, abgeſondert von aller Er-
fahrung, und von allen Verhaͤltnißen der
Sinne, wenn z. E. von der Moͤglichkeit,
Zufaͤlligkeit u. ſ. w. gehandelt wird. Hier
reden wir nicht vom Schein, ſondern vom
Seyn, um dem Droßelpaſtor nachzuahmen.
Die Metaphyſik hat kein Verhaͤltniß zu den
Sinnen. Es will hier alles geiſtiſch gerich-
tet ſeyn. Sie iſt ein Lexicon der reinen
Vernunft; ein Verſuch, die Saͤtze des rei-
nen Denkens in eine Tabelle zu bringen.
Was in der Logik Urtheile ſind, ſind in der
Ontologie Begriffe, unter die wir die Dinge
ſetzen, Titel des Verſtandes, Inhalt der
Vernunft. Die Metaphyſik muß critiſiren.
Ihr Gebrauch iſt negativ, wenn —


Wir waren im Begrif, uns recht viel
Metaphyſik ins Auge zu ſtreuen; allein ſiehe
da! Die Hausmuͤtze Sr. Spektabilitaͤt, die
Grosmutter, wuͤrgte die Thuͤr’ auf, und
blinkte durch ein Ritzchen. Man ſahe, daß
die alte Frau noch einen Brand im Auge
hatte. Sie ſchlug einen Strahl ins Zim-
mer. Dieſer Wink ſolt’ ihren lieben Ehe-
gatten zum Schluß bringen, weil ſie ohn-
fehlbar beym Grosſohn den Abend verſpro-
chen waren. Man ſah es Sr. Spektabili-
Q 3taͤt
[246] taͤt an, daß Sie wußten, was man einem
Blick durchs Ritzchen ſchuldig waͤre. Es
gieng uͤber und uͤber. — Ich weiß nicht,
ob ich dies uͤber und uͤber ſchriftlich werde
nachmachen koͤnnen.


Die moraliſche Maximen, fingen Se.
Spektabilitaͤt, nach dieſem Blick durchs
Ritzchen, (ich weiß nicht warum?) an, zei-
gen, wie ich der Gluͤckſeligkeit wuͤrdig wer-
den koͤnne; die pragmatiſchen zeigen, ihrer
theilhaftig zu werden. Die Moral leh-
ret der Gluͤckſeligkeit wuͤrdig zu ſeyn; ihrer
theilhaftig zu werden, iſt eine Lehre der Ge-
ſchicklichkeit. Es iſt nicht moͤglich, die Regeln
der Klugheit und der Sittlichkeit zu trennen.
Es iſt kein natuͤrlicher Zuſammenhang zwi-
ſchen dem Wohlverhalten und der Gluͤckſelig-
keit: um es zu verbinden, muß man ein
goͤttliches Weſen annehmen. Ohne dies
kann ich keine Zweck’ in der Welt finden,
keine Einheit. — Ich ſpiel in der Welt
blinde Kuh. — Ohne Gott hab’ ich keinen
Punkt, wo ich anfangen ſoll, nichts, was
mich leitet. Gott iſt groß und unausſprech-
lich! — — Die Menſchen bedienen ſich ihrer
Vernunft a priori, zum Nachtheil des prakti-
ſchen Gebrauchs, wenn ſie nicht durch kuͤnſtli-
che
[247] che Schranken zuruͤckgehalten werden. Dieſes
iſt auch die Pflicht der Metaphyſik. — —


(Zehnmal fiengen Se. Spektabilitaͤt:
quid eſt? an, und zehnmal macht’ ich
eine Verbeugung, um ihn vom Fragen ab-
zubringen. —)


Das erſte, was ich bey mir gewahr
werde, iſt das Bewußtſeyn, dies iſt kein be-
ſonderes Denken, ſondern die Bedingung
und die Form, unter der wir denkende We-
ſen ſind. Wie ſchoͤn bauen und wuͤrken
nicht manche Thiere, wie nah kommen ſie
uns nicht auf die Seele; allein eins, was
nicht erſetzt werden kann, das Bewußtſeyn
fehlt, und wahrlich es fehlt wenig! und es
fehlt viel! Mein Reiſegefehrt wolte wegen
der Hunde einwenden; indeſſen konnt’ er
nichts mehr, als huſten. —


Alles was da iſt, iſt im Raum und der
Zeit. Raum und Zeit ſind Formen der An-
ſchauungen, ſie gehn den Erſcheinungen vor,
wie das Formale dem Weſentlichen. Ich
muß Zeit und Raum haben, damit, wenn
Erſcheinungen vorfallen, ich ſie hinſtellen
und beherbergen koͤnne. Die Objekte der aͤuſ-
ſern Sinne werden im Raum, die der in-
nern Sinne, in der Zeit, angeſchaut. Hier
Q 4ein
[248] ein ganz kleiner Commentarius uͤber den
theologiſchen terminum technicum Zeit und
Raum zur Buße, der, wie Se. Spektabi-
litaͤt ſich ausdruͤckten, nicht außerm Wurf
laͤge. Wie vielen Dingen mußten wir auf
der Stelle, des Blicks durch die Ritze wegen,
einen Scheidebrief geben. Wir nannten blos
ihre Namen, und behalfen uns damit, daß
wir dieſe Namen nannten, und uns einan-
der zulaͤchelten. — Ein wahres Exa-
men! — —


Bey reinen Verſtandsbegriffen haben wir
keine Begriffe von Sachen, ſondern nur
Titel, worunter wir uns eine Sache denken
koͤnnen. Durch dieſe Titel koͤnnen wir nichts
ausrichten, außer wenn wir ſie auf Gegen-
ſtaͤnde der Erfahrung und Anſchauung an-
wenden. Wer kann aber ohne die Titel des
Verſtandes vorauszuſetzen, wer kann Er-
fahrungen anſtellen? Wer Fiſch’ ohne Netz
oder Hamen fangen? Die Metaphyſik ent-
haͤlt alles, und enthaͤlt nichts. Sie macht
nichts von den Gegenſtaͤnden aus; allein
ohne ſie kann man nichts von Gegenſtaͤnden
ausmachen. Sie iſt das Zollhaus, die oͤf-
fentliche Wage der philoſophiſchen Erkennt-
niß. Sie enthaͤlt Titel des Denkens; allein
keine
[249] keine Praͤdicata der Dinge. Nur die Er-
ſcheinungen verleihen Begriffe von den Din-
gen. — —


Vernuͤnfteley (Se. Spektabilitaͤt wurden
von einer Muͤcke verfolgt, die um ſie herum-
ſauſete, und ſich nicht haſchen lies,) iſt das,
was kein Objekt hat. Was eine Bedingung
der Vorſtellung und des Begrifs vom Ge-
genſtand iſt, machen wir oft zur Bedingung
des Gegenſtandes ſelbſt, die ſubjektive Be-
dingung zur objektiven. — Die Muͤcke ver-
hinderte Se. Spektabilitaͤt, dieſes Thema
weiter auszufuͤhren. Im Ernſt, die Muͤcke
haͤtte nicht beßer ihre Sache machen koͤnnen,
wenn ſie von der Frau Gemahlin Sr. Spek-
tabilitaͤt waͤr’ auf den Hals geſchickt worden.


Der analytiſche Theil der Metaphyſik
enthaͤlt Definitionen meiner Begriffe, der
ſynthetiſche, Bereicherung von Erkenntniſ-
ſen. Der Begrif von den Monaden muß
billig nur auf denkende Weſen gedeutet wer-
den, fiengen Se. Spektabilitaͤt mit einem
friſchen Athemzuge, nach einer geendigten
Cadenz an, und ſchienen noch ſehr viel Me-
taphyſik auf ihrem Gewiſſen zu haben; al-
lein die Thuͤre gieng auf. — — Wir ſahen
ein Grosmuͤtterchen in Sterbensgroͤße; denn
Q 5ſie
[250] ſie war ſo zuſammen gefallen, daß man Ke-
gel mit ihr ſchieben koͤnnen, wie Herr v. G.
bemerkte. Was fuͤr Feuer im rechten Auge!
Damit hatte ſie durch die Ritze geblitzet, das
linke Auge war ſchon aus der Welt gegan-
gen, es war ſtumpf und todt, als wenn
eine Blatter darauf gefallen waͤre; allein
das war es nicht. Die Zeit hatt’ es ſo ab-
gefeilt. — Die Tochter, fieng ſie an, und
ohne ſie auszuhoͤren, ſchrie die uͤberfallene
Spektabilitaͤt — Gleich, gleich! — Nur
das Signum depoſitionis. Er ſchrieb uns
einen Paßierzettel, einen Freybrief, womit
wir uns noch bey Sr. Magnificenz zu mel-
den haͤtten.


Waͤhrend der Ausfuͤllung dieſes gedruck-
ten Zettels wandt’ er ſich zu mir:


Sie, fieng er an, werden ſich wohl der
Univerſitaͤt widmen?
ich, fragt’ ich, etwas einfaͤltig?
Der Herr v. G. nicht, erwidert’ er,
ich auch nicht!

Alles was geſchieht, hat ſeine Urſach, fuhr
er fort, und warum?


Es war ſo gar, mit Ewr. Spektabilitaͤt
Erlaubnis, Streit, ob ich gar auf eine Uni-
verſitaͤt gehen ſolte?


Die-
[251]

Dieſer Streit war wohl gewiß generis
feminini,
und die Frau Mutter? =


Ich. Wenn ſie daran Theil nahm, ſo
geſchah’ es blos, um den Akademien Ruhm,
Preiß und Ehre zu geben, und Staͤrk und
Kraft; denn ſie behauptete, daß das Para-
dies die erſte Univerſitaͤt geweſen, weil die
erſten Eltern relegirt worden. —


Der neue Grosvater lachte herzlich uͤber
dieſen Einfall und —
machte mir viele Complimente auf Rech-
nung meiner lieben Landsleute.


Der eine der Landsleute, der uns zu
Sr. Spektabilitaͤt begleitet hatte, war die
ganze Zeit uͤber in Seelennoth geweſen. —
Es waren ihm alles boͤhmiſche Waͤlder, bis
auf den Caſimirus den IV ten Koͤnig von
Pohlen, welcher vom Koͤnig’ in Schweden
Carolo Canuto in Danzig examinirt ward,
und mit ſeinem ganzen Hofſtaat kein Latein
verſtand. Dieſen Koͤnig kannt’ er par renom-
mée;
alles uͤbrige war ihm dicke Finſter-
niß. Er erzaͤhlte mir beym Weggehen, daß
er gefuͤrchtet haͤtte, der Profeßor wuͤrd’ ihn
aus Hoͤflichkeit ein Woͤrtchen mitfragen. —
und wenn, ſagt’ ich?


Bru-
[252]

Bruder, erwiedert’ er, deutſch, latein
und griechiſch — alles war mir gleich un-
verſtaͤndlich. —


Wegen der zwoͤlf Tafeln fragt’ er mich in
Vertrauen, wie der gute Profeßor auf zwoͤlf Ta-
feln gefallen waͤre, da ihm doch nur zwey ſtei-
nerne Tafeln bekannt waͤren? — und mußt’ ich
ihm erklaͤren, daß Se. Spektabilitaͤt nicht
von den Tafeln Moſis geredet haͤtten. — —


Ich erinnre mich an ein Verſprechen zu-
ruͤck. Den Regen kennen meine Leſer; al-
lein die Traufe bin ich ihnen noch ſchuldig. —


Nachdem das Signum Depoſitionis un-
terſchrieben und beſiegelt war, und wir uns
der Gewogenheit Sr. Spektabilitaͤt, als un-
ſers Vorgeſetzten, empfohlen hatten, ſagten
Se. Spektabilitaͤt laͤchelnd zu mir:


So wuͤnſch’ ich ihnen denn ein Seceſſum,
Secretum, Angulum,
das iſt, ein Paſtorat
in ihrem Vaterlande, damit ſie bald ihre zu-
ruͤckgelaſſene Schoͤne heyrathen koͤnnen! —


Das war die Traufe. Ich weiß nicht,
was ich geantwortet; nur das weiß ich, daß
es nicht griechiſch, nicht latein, nicht deutſch
war, und daß ich mich gern noch einmal lie-
ber examiniren laſſen wollen, als —. Se.
Spektabilitaͤt beſchloſſen den ganzen Actum
mit
[253] mit einer guͤldenen Aberegel: minus eſt actio-
nem habere, quam rem.


Unſer Begleiter begegnete mir mit einer
ganz vorzuͤglichen Achtung. Beym Schmauſe
ſagt’ er der ganzen Landsmannſchaft, was
ich fuͤr ein Kerl waͤre, und daß ich von zehn
Tafeln mehr wuͤßte, als er bis heute gewußt
haͤtte. Man verſicherte mich, daß kein Cur-
laͤnder bey Menſchen Gedenken durch ſo viel
Truͤbſal des Examens in das akademiſche
Reich eingegangen waͤre, und daß beſonders
Se. Spektabilitaͤt gar kein beißiger Hund
waͤren. —


Wer Henker, ſetzt’ er hinzu, konnt’ es
wiſſen, daß er eben die Nacht vorher Gros-
vater geworden. — Ich dachte bey dieſer
Gelegenheit an den Backofen, der bey mei-
ner Geburt, wie der Tempel zu Epheſus,
als Alexander gebohren ward — abbrannte,
und hatt’ in Verbindung mit dieſem Examen-
vorfall, nach meiner Mutter Anweiſung,
recht erbauliche Gedanken. Das Teſtimo-
nium unſers Begleiters ſetzte mich in eine
ſolche Achtung bey meinen Landsleuten, daß
ich dux fax et tuba war, und kein Duell
konnte vorfallen, keine Fackel angezuͤndet,
keine Muſik gebracht werden, wo mir nicht,
der
[254] der zwoͤlf Tafeln wegen, ein votum deciſi-
uum
waͤr’ eingeraͤumet worden.


Bald haͤtt’ ich Sr. Magnificenz vergeſſen,
wohin uns Se. Spektabilitaͤt ſandten. Gott
verzeih mir meine Suͤnd’ ich dachte, von Pi-
latus zu Herodes. —


Se. Magnificenz ſahen den weißen Stein,
den wir aus den Haͤnden Sr. Spektabilitaͤt
mit hatten, und wollten uns anfaͤnglich auf
den Stein und Bein des Albrechts, Stifters
dieſer hohen Schule, ſchwoͤren laſſen; allein ſie
beſannen ſich eines andern, eines beſſern, und
verwandelten den Eid in einen Handſchlag —
worauf wir die akademiſche Geſetze erhielten,
und mit großen Siegeln zu den lieben Unſri-
gen nach Hauſe kehrten, wo uns die Lands-
manſchaft mit einem curſchen Liedchen bewill-
kommete. Jede Strophe ward mit einem
Lihgo oder Frohlocken beſchloßen. Es war
mir, als waͤr’ ich mit dem Ritter Jachins
und ſeinen Leuten zuſammen! —


Unſere Landsleute beſahen die großen
Siegel und die Schriften, als wenn ſie ihnen
was Neues waͤren, und blieſen den Sand
von unſern Taufſcheinen. — — Kinder,
hieß es am Ende, ihr kriegt darauf nicht ei-
nen Dreyer geborgt. — —


Ich
[255]

Ich muß noch einen Vorfall nachholen,
der in dem Hauſe Sr. Magnificenz auf mich
zukam.


Der Edelmann, ſagten Sie, zahlet dop-
pelt, und hat die Ehre, einen Degen zu tra-
gen, der in preußiſchen Staaten dem buͤrger-
lichen Studenten wegen vieler vorgefallenen
Schlaͤgereyen verboten iſt. — Die auswaͤr-
tigen Familien ſind uns indeſſen nicht ſo be-
kannt, (mit einem Fragzeichen,) alſo beyde
Edelleute? Mein Reiſegefehrt nahm hier das
Wort, wie ich beym Latein. Beyde, ſagt’
er. — Verzeihung, Bruder, erwiedert’
ich —


Es verdroß mich, daß ich in einem frem-
den Lande, wo ich mein Geld und, im Fall
der Noth, mein ανέχου και απέχου aus-
zugeben willens war, und wo es keinem was
angieng, ob ich als Edelmann, oder als Buͤr-
ger, aͤß’ und traͤnke, durchaus Adel oder Una-
del documentiren ſolte — und wie? dacht’
ich, hat man hier zur Ruhe des Degens,
wenn ihn der Edelmann traͤgt, ein beſſeres
Zutrauen, als wenn ihn ein Buͤrgerlicher
angelegt hat?


Ich bezahlte, wie ein Edelmann; allein
ich hat ſehr, mich als Buͤrgerlicher in Al-
bum
[256]bum Studioſorum einzufuͤhren. Dies fiel
Sr. Magnificenz nicht wenig auf. Da aber
Dieſelben die vorige Nacht nicht Grosvater
geworden waren; ſo gaben Dieſelben weiter
nichts darauf, ſondern nahmen was ihnen
gebuͤhrte, und wuͤnſchten wohl zu leben. —


Ich konnte nicht umhin, von dieſem Um-
ſtande gegen meine buͤrgerliche Landesleute
Gebrauch zu machen; allein dieſe lachten herz-
lich uͤber meine Einfalt. — „Den Edelmann
„dir ſo nah zu legen, und ihn nicht zu neh-
„men„ — und eine Luͤge? „Sie wird ja
„bezahlt„ und wenn ich heim komme? „Ja
„denn muͤſſen wir freylich Ew. Hochwohl-
„gebohrnen oder mein Goͤnner
ſagen,„ in-
„deſſen ſind wir doch Litterati„ — Daß Euch
Gott helfe, dacht’ ich, Litterati, ohne von
keinen Tafeln mehr, als von den zween des
Moſes, zu wiſſen!


Der Abend ward mit Eßen und Trinken
und Muſik zugebracht. — Einige gaben dem
Abreiſenden das Geleit, und da in der gan-
zen Straße, ſo weit nur das Geſicht reichte,
die ganze Nacht hindurch Licht brannte; ſo
brachte mich dieſes auf die Frage, was dieſe
Erleuchtung und nachbarliche Aufmerkſamkeit
zu bedeuten haͤtte? Die Antwort unſers Vor-
fahrs
[257] fahrs war: Seht da, Kinder! So viel Lich-
ter, ſo viel Maͤdels, die ich euch unentgeld-
lich laße; indeſſen will ich wohlmeynend an-
raͤthig ſeyn, daß ſich jeder eins oder zwey
ausſondre, und die andern fahren laſſe. Sonſt
geht es Euch wie mir! Dieſe, jene, dort,
hier, die, da, diſſeits, jenſeits, links, rechts,
kurz, in all den Haͤuſern, die ihr ſeht, ſind
Maͤdchen, die den ganzen ausgeſchlagenen
Tag, von fruͤh bis in die ſinkende Nacht, im
Fenſter liegen und liebaͤugeln, die guten Din-
ger! Man ſieht ihnen den Verdruß an, daß
ſie nicht Mittag und Abend am Fenſter hal-
ten koͤnnen! — Ihr koͤnnt es nicht glauben,
wie die Maͤdchen unſrer Landsmannſchaft
treu, hold und gewaͤrtig ſind. Ein Praͤſent-
chen, und ihr habt das ganze Spiel gewon-
nen. — Glaubt mir, die all zuſammen, wo
ihr Licht ſeht, waren mein! Sie ſahen mich
ſo ſteif und feſt an, als ob ſie mich mit den
Augen faßen wolten! Die guten Dinger!
und ich ſahe ſie all zuſammen ſo, (der Him-
mel weiß, wie mein Aug’ auf dieſe Art aus-
fiel,) daß jede glaubte, ich ſaͤhe nur ſie an!
Ich regierte hier wie Sultan, hol mich der
Teufel! nur daß jedes Fenſter glaubte, es
haͤtte mein Schnupftuch. — Die guten Din-
Zweiter Th. Rger!
[258] ger! Die eine da! Ein Aug’ ins Himmels-
blau getaucht — der, den ſie mit dieſem Aug’
anſieht, glaubt, er ſaͤhe den Himmel in Mi-
niatuͤr. — Wenn ich ſie zuweilen (denn ſie
verdient’ es) ganz allein anſah’, dann! dann!
fragte mich ihr Auge ſo, daß es mein Inner-
ſtes hoͤren konnte: iſt’s auch wahr? und wenn
ihr mein Auge vorlog! Ja, es iſt wahr! o wie
zitterte dann ſuͤße Verwirrung in ihrem Auge,
recht als ob wir zur Trau gehen ſolten, und
noch weiter. — Das iſt ein Maͤdchen, ſo ich
dir goͤnne, (er wandte ſich zu mir.) Ihr
Athem goͤttlich! Bruder! Wen ſie anhaucht,
von dem koͤnnt’ es heißen: alſo ward der
Menſch eine lebendige Seele!
Sie ſpielt eine
Laute, Bruder! Des Abends im Sommer,
wenn ſie am Fenſter dieſem Inſtrument die
Zunge loͤſet — Zephirs, die eben der Hitze
halber Mittagsruhe gehalten — denn es iſt
im Sommer hier ſehr heiß, flatterten ganz
friſch und munter herum, und brachten mir
alles, bis auf die geheimſte Bebung zu! Auf
Ehr’ in jedem Finger hat ſie eine Seele! und
wenn alle dieſe Seelen einen Ton heraus-
brachten — Bruder, da iſt die Nachtigal
ein Kind! — Leb wohl, Amalia! Leb wohl!
Ich laß dir einen braven Jungen zuruͤck, der
auch
[259] auch Bebungen verſteht. Schau, wie ſie die
Laute haͤlt, und wie ſie den Ordensband ſich
ſo leicht umhaͤngt, als floͤß’ er, Bruder! —
Die Laut’ iſt an ſich ein ſo gutherziges In-
ſtrument! Amalia traurte juͤngſt, und da kam
die Weiße ihres Arms aus der Dunkelheit ſo
abſtechend hervor, daß ich ſitzen blieb, wie
vom Schlage geruͤhrt. Haſt du bemerkt, wenn
das Hemd’ auf dem Buſen eines Dorfmaͤd-
chens ſich einen Finger breit verſchiebt und bey
dem ſonnenſchwarzen Buſen den weißen Fleck
verraͤth! — Das, ſagte Herr v. G., hab
ich bemerkt, meine Leſer wiſſen wo?


Die, ſagt’ unſer Mahler zum Herrn v. G.,
die in dieſem Hauſe! Bruder, ſchwarz Haar,
wie Ebenholz! Ein Auge, das immer drey
Schritt weiter gieng, als meines, ſo ſtark auch
meines zudrang. — Ein Buſen! zehntau-
ſend Liebesgoͤtter tanzten darauf. — Pfui, ſagte
Herr v. G., was muß das fuͤr ein Buſen
ſeyn! Unſer Reiſende hatte Muͤhe, ihn mit
dem Buſen und den Liebesgoͤttern auszuſoͤh-
nen, die er auf zehn reducirte, wobey ſich am
Ende Herr v. G. zufrieden gab. Bey deiner
lebt man, bey des — (auf mich) ſtirbt
man. Bey deiner haͤlt man ſich gerade, denn
ſie iſt eine Goͤttin. Man ſieht gen Himmel —
R 2Bey
[260] Bey deiner (wieder auf mich) legt man den
Kopf von einer zur andern Seite, denn ſie
iſt eine Schaͤferin! O die ſchoͤnen Schaͤferſtun-
den! Ich hab noch vergeſſen, fuhr er zu mir
fort, ihr Buſen wallt, ſo wie eine Laute, er
bebt nur herauf, und Bruder! ihre Stimme,
wenn ſie ſingt — Sie thut es ſelten, ſie hat
eine blonde Stimme, du wirſt mich verſtehen,
ſie ſtiehlt das Herz, deine Brunette (zum Herrn
v. G.) nimmt es mit Gewalt! ſie raubt! —
Sie kommt nicht mit vollen Segeln! Sie iſt
ſtolz, und ſcheint ſich wenig aus einem Siege
zu machen; denn ſie iſt ſich bewuſt, daß ſie
Herzen wie Fliegen zu fangen im Stand’ iſt.
Jene ſtreichelt, dieſe ſchlaͤgt; allein wenn ſich
dieſe Koͤnigin herablaͤßt, iſt’s auch ſo, als
wenn die Sonne aufgeht. Man hat ſich beſof-
fen, wenn man ſie liebt, und einen Jeſuiter-
rauſch, wenn es die mit der blonden Stimme
gilt. — Dieſe ſpielt kein Inſtrument. Die
Orgel wuͤrde ſie ſpielen: allein wenn ſie ſingt
— das thut ſie oft, Bruder, ſo praͤchtig wie
ein Donnerwetter! Dieſe beyden Auserwaͤhl-
ten
empfehl ich euch zu Gemahlinnen, die
andern
— zur linken Hand und ſo neben an,
zum Spiel! — Noch eine Warnungsanzeige
eh ich von hinnen gehe. — Die beyden wa-
ren
[261] ren freylich die Hauptperſonen und meine
Gemahlinnen; allein auch unter den andern
giebts Dingerchen zum raſend werden! Sie
waren gleich in den erſten acht Tagen alle
mein! Ich meyne mit den Augen, und nun
hielt da unten zu — ein Kaufmann Hochzeit,
der die ganze Gegend und mich mit bat. Ich
kam zum erſtenmal mit all dieſen angeangel-
ten Maͤdchen zuſammen; jedes Auge forderte
Rechenſchaft. Da ward ich, wie Caͤſar, mit
drey und zwanzig Wunden erſtochen. — Sah
ich eine an, ſo waren die andern wie Tyger
auf mich, und forderten Antwort uͤber meine
Untreue! O wer da mehr Augen gehabt haͤt-
te, als zwey! Ich wußte nicht aus noch ein —
bis ich endlich Muth zum Entſchluß faßte, und
mich zu vieren bekannte, und in Ruͤckſicht der
andern die Augenehen aufhob, und dies Band
trennte. Dieſe vier halfen mir ſelbſt die an-
dern abfertigen — und dieſen vieren bin ich
auch ſo treu geblieben, als moͤglich. Sie ha-
ben ſich bis an mein End’ in meinem Gewahr-
ſam befunden! Seht! da iſt es am hellſten.
Es blieb nicht bey den Augen in Ruͤckſicht die-
ſer vier; indeſſen doͤrft’ ihr nichts von mir
fuͤrchten. —


R 3Mich
[262]

Mich muͤßte der Teufel plagen, ſetzte der
Abſchiedsredner fort, ein Maͤdchen in Koͤ-
nigsberg zu heyrathen, wo Curlaͤnder grad’
uͤber logirt haben! — Ihr werdet Wunder
ſehen! und glauben! Schaut die andern ſelbſt,
von denen ich mich, nach dem fatalen Gefech-
te, ſcheiden mußte, auch die noch Licht! —
Wenn es angeht, ſchraͤnke ſich jeder auf zwey
ein, damit kann man beſtehen und bey Ehren
bleiben, einer das rechte, der andern das linke
Auge! — —


Wie wenig ich von dieſer Uebergabe Ge-
brauch gemacht, darf ich nicht bemerken. —
Herr v. G. vergaß zwar ſeine Dorfdirne, ſeine
ſchmucke Trine, nicht; indeſſen legt’ er ſich
dennoch, wenn er nicht zu jagdmuͤde war, ins
Fenſter, und dann hatt’ er ſie, nach ſeinem
etwas jagdfreyen Ausdruck, wie am Roſen-
kranz! — Ich habe mich nie in Liebeshaͤndel
andrer Leute gemiſcht, nur das konnte mir
nicht verborgen bleiben, daß er ſeine uͤbrige
Zeit (er hatt’ indeſſen nicht viel uͤbrig,) den
beyden von unſerm Vorgaͤnger beſchriebenen
Maͤdchens ſchenkte, mit denen er, wie er zu
ſagen pflegte, ſo ziemlich bekannt waͤre. —
Sie ſind, ſagt’ er, meine Dorfdirn’ in man-
gelhafter Copie; allein mich ſoll der Teufel
beym
[263] beym erſten Kuß, den ich ihnen zudruͤcke, ho-
len, wenn ich nicht mein Dorfmaͤdchen viel
hoͤher ſchaͤtze, als ſie! — Ehrlicher! und das
heißt genau genommen, auch ſchoͤner! Meine
Trine, ausgewachſen wie eine Goͤttin, kein
Mißglied an ihr, keins verkruͤmmet und ver-
kratzt. — Alles reif, herausgegangen wie die
Natur! —


redet dein Vater aus dir? fiel ich ihm ein.
getroffen, erwiedert’ er, aber meine Empfin-
dung beſtaͤtigt ſeine Rede.


Mein akademiſcher Wandel — ich kam
nicht mit Denkſucht ſondern mit Lernſucht,
in die Hoͤrſaͤle, nicht verwoͤhnt, ſondern hung-
rig und durſtig. Ich dachte nicht meinen Le-
benslauf zu ſchreiben, welcher Einfall mich
nur ſeit kurzem uͤberfiel, ſondern ich wolte le-
ben lernen. Ich durfte nicht meine Hengſte
der Einbildungskraft ausſpannen, die mich zu
tauſend Zeitungslorbern fuͤhren ſolten; denn
ich hatte ſie nie angeſpannet. Ich flog nicht,
ich gieng, und wußte, wie es waͤchſernen Fluͤ-
geln, wenn ſie der Sonne nahe kommen, zu
gehen pflegt. Hoͤchſtens lief ich — um aus
einer Stunde zeitig genug in die andre zu ſtuͤr-
zen. Im Hoͤrſal dacht’ ich: Er hats geſagt;
zu Hauſe frug ich mich: was hat er geſagt?


R 4Ich
[264]

Ich ſchreibe (meine Leſer werden es, wie
ich nach der Liebe hoffe, wiſſen) Leben, nicht
Schule, und was kann ich alſo von meinem
akademiſchen Laufe ſagen, was eingroßer Theil
meiner Leſer nicht ſchon ſelbſt, wie ihren Haus-
und Wirthſchaftscalender, aus und inwendig
wuͤßte. Die Lehrer laſen; ich hoͤrte. Ich
lernte von allem, was ich ſchon wußte, die
Grammatik, auf der Reitſchule, auf dem Tanz-
boden, in der Philoſophie, in — allem. Ich
lernte meinen Lehrern den kuͤrzeſten Weg zum
Ziel ab, und war aufmerkſam auf die Straße,
die zu gehen, und auf die Straße, die zu mei-
den, war. Solte man nicht uͤberhaupt auf
Univerſitaͤten mehr Polemik als Thetik in al-
len menſchmoͤglichen Wiſſenſchaften lehren?
Und ſolte nicht Kritik, in einem beſondern
Sinn, der Gegenſtand der akademiſchen Be-
ſchaͤftigungen ſeyn? Der iſt in meinen Augen
der beſte Profeſſor, der am gruͤndlichſten ſei-
nen Schuͤlern zu ſagen weiß, was nicht ver-
lohnt gelernt zu werden, und die Titel von
dem, was Lernens werth iſt. Meine Haupt-
bemuͤhung in Ruͤckſicht der Gelehrſamkeit auf
der Univerſitaͤt war, ein Lexicon zuſammen zu
tragen, wo ich die Gelehrſamkeit weiter nach-
ſchlagen koͤnnte, wenn ich, wie Felix, geleg-
nere
[265] nere Zeit haben wuͤrde. Gottlob! Dieſe ge-
legene Zeit iſt gekommen. Die Sprachen,
die ich angefangen, ſetzt’ ich fort, in ſo weit
es von ihnen und mir heißen konnte: der
Schmidt hat mehr, als eine Zange. Ich wuͤn-
ſche, daß ſie ihre Zeit gut anwenden moͤgen,
war damals in dem Munde eines Profeßors,
wenn er mit einem Studenten ſprach, ſo viel,
als guten Morgen, guten Abend und gute
Nacht! — Die Pietiſten ſetzten hinzu: Gott
ſegne ihre Studia, und mehr, als dies, weiß
ich von dieſen Leuten nicht zu ſagen. —


Se. Spektabilitaͤt nannten mich, wo ſie
mich reichen konnten, den curſchen Philoſo-
phen und empfohlen mich ihren Herren Col-
legen, wo ich nicht viel Grosvaͤter fand; in-
deſſen wuͤnſchten alle, daß ich meine Zeit gut
anwenden, und daß Gott meine Studia ſeg-
nen moͤgte! Wenn ſie zum Inpietismus ge-
hoͤrten, blieb der eingliedrige Segen weg. —


Froh denk ich noch heut, (es iſt eben
Michaelstag,) an dieſe akademiſche Zeit, und
rufe mit dem guten Droſſelpaſtor: viuat Aca-
demia!
Mir fehlte nichts, als Mine, der
Kirchhof, das Waͤldchen, und die andre hei-
lige Oerter, wozu noch die gruͤndicke Laube
des Bekannten gekommen war; indeſſen er-
R 5ſetzte
[266] ſetzte mir die Einbildungskraft alles. Ich las
Minens Briefe, beſchaͤftigte mich mit den
von ihr eingeweihten Sachen, und kam mir
wie ein Wittwer vor, der ſeine Frau in ſei-
nen von ihr zuruͤckgelaſſenen Kindern ſucht.
Seine ſchoͤnſte Zeit iſt, wenn er mit ihnen
ſpielen kann. — Meine Spaziergaͤnge waren
Kirchhoͤfe, Waͤldchens, und uͤberhaupt Oer-
ter, die mich deſto deutlicher an Minen erin-
nern konnten. Sie ſah ich uͤberall. Ich ſtu-
diert’ an ihrer Hand. — Sie beſeelte mich
mit Muth, und war mir ſans comparaiſon
das, was jedem Ritter ſeine Schoͤne iſt. —


Mein lieber v. G. blieb keinem Profeſſor
einen Dreyer ſchuldig, das iſt alles, was ihm
zum Ruhm im Teſtimonio behauptet werden
koͤnnen, wenn er ein dergleichen Ding noͤthig
gehabt haͤtte. Ich ſtudirt’ in ſeine Seele, als
ſein Sachwalter, und erzaͤhlt’ ihm des Abends
im Zeitungston, was ich den Tag uͤber in eig-
nem Nahmen, und vi ſpecialis mandati, ge-
hoͤrt hatte, woruͤber er, wenn er jagdmuͤde
war, ſanft einſchlief. — Ich indeſſen ſetzte
meine Wiederholung fort, und hatte dadurch
den Vortheil, mit dem gehoͤrten Wort bekann-
ter zu werden. Die Digeſtion der Wiſſenſchaf-
ten wird eben hiedurch unendlich befoͤrdert,
wenn
[267] wenn man erzaͤhlt, was man weiß. Man lernt
auf dieſe Art, mit der Wiſſenſchaft converſiren,
und ſie auf einen freundſchaftlichen Fuß neh-
men: der Hoͤrer ſey uͤbrigens jagdmuͤde oder
nicht. — Was konnte Herr v. G. dafuͤr, daß
es um Koͤnigsberg ſolche ſchoͤne Jagdplaͤtze
gab, und daß ihm davon viele Feldmarken,
die durch zwey beſondre Thore lagen, als plus
licitanti
zugeſchlagen wurden. — Herr v. G.
hatte ſich vortrefliche Jagdbuͤcher angelegt, und
war jetzo ſo ſattelfeſt in der Jagdterminologie,
daß er nicht allein Hochſelbſt fuͤr Fund zeitle-
bens ſicher war; ſondern er war noch oben
ein im Stande, andern Fund zuzuwenden, die
ihre Zeit auf der Akademie nicht ſo gut, wie er,
angewendet hatten. Mir verſprach er, wenn
es noͤthig ſeyn ſolte, aus Noth zu helfen, du
hilfſt mir wieder, ſetzt’ er hinzu, wenn etwas
vom Argos vorfaͤllt. — Am Ende, fuhr er
fort, duͤnkt mich, daß uͤberall bey eurer welt-
geprieſenen Gelehrſamkeit Jagdterminologie
iſt. — — Den mangelhaften Copien ſeiner
Dorfdirn entgieng oft zu viel durch dieſe
Jagdneigung, und gern haͤtten ſie ihn davon
abgebracht — allein ſo ſehr hatten ſie ihn
nicht getroffen, wie er ſehr jagdmaͤßig ſich ge-
gen mich erklaͤrte. — Die eine ließ ihre blon-
de
[268] de Stimme hoͤren, die andere donnerwetterte;
allein es gehoͤrte mehr dazu, als Orgel und
Laute, den Herrn v. G. auf die Springe zu
bringen. Bey alledem war er Sieger, und
die beyden Schoͤnen geſchlagen. Die andern
Schoͤnen in der Straße ſah er an, wie ſolche
Feldmarken, die ihm nicht als plus licitanti
zugeſchlagen waren. Bruder, ſagt’ er zu mir,
in Ruͤckſicht der Beyden, ſie ſind abgerichtet,
ſie ſind dreßirt, ſie verſtehn alles auf ein
Haar. — Die werthen Eltern dieſer beyden
ſetzten die Freundſchaft mit uns fort, wobey
ich freylich in der Hauptſache ſehr leer aus-
gieng. Dieſe Freundſchaft war alſo nicht an
die Perſonen, die hier logirten, ſondern an
die Zimmer gebunden, nicht eine perſonal,
ſondern eine real Bekanntſchaft, wie es jede
nachbarliche Bekanntſchaft iſt. Freylich trug
es ſich zuweilen zu, daß die Dirnen den Herrn
v. G. in die Enge brachten; allein er pflegte
ſehr richtig mir ins Ohr zu bemerken, daß
die Stadtſchoͤnen, wenn gleich ſie mit Witz
ausziehen, doch ohne Witz in die Flucht ge-
ſchlagen werden koͤnnen, wenn nur — —
Herr v. G. beſaß von dieſem Wenn nur ge-
rade ſo viel, um ſeinen Poſten zu behaupten.
— Der Schweiß Abels, hatt’ er im Jagd-
eifer
[269] eifer geſagt, ſchrie zu Gott um Rache, und
unſre Stadtnympfen wolten ihm hart fallen.
— Ich war Augen- und Ohrenzeuge von
ihrem witzigen Ausfall — er ſah ſie nur an
und ſie, gleich in die Flucht. —


Unſere Bekanntſchaften waren, außer den
beyden Nachbarn, das Hauß eines Creys-
richters, auf deßen Hauß uns unſer Vorfahr
gleichfals eine Aßignation zuruͤck gelaßen. Die-
ſer Creysrichter, der eine alte Frau des Gel-
des wegen geheyrathet, hatte keine Kinder.
Er braucht’ ein Paar junge Leute zu ſeinen
haͤufigen Geſellſchaften, als Hausofficire,
und obgleich dieſe Stellen beſetzt waren; ſo
honorirt’ er doch die Aßignation unſers Vor-
fahren, deßen Andenken uͤberhaupt im Se-
gen war. Ich nahm ſelten an dieſen Zeit-
verkuͤrzungen Antheil; indeſſen lernten wir ei-
nen koͤniglichen Rath bey dem Creysrichter
kennen, der an Leib und Seel auffiel, und
ſich auch bey jedermann zu erhalten im Stande
war. Er ſchien gegen vierzig, und hatte
ſehr feine Kenntniße. Er las die Alten und
kannte die Neuern. Er legt’ es nicht dazu
an, daß man ihm dies anhoͤren und anſehen
moͤchte; allein wo er ſtand und gieng ſtreut’
er Funken. Er verdraͤngte keinen. Er ver-
nich-
[270] nichtete nicht Sproͤslinge von Witz der Juͤng-
linge, die mit ihm zu Tiſche ſaßen, um den
Saft den bejahrten Zweigen zuzuleiten. Witz
und Verſtand war ihm Witz und Verſtand —
es mochte hervorſproßen, wo es wolte. —
Er wußte wohl, daß alles Obſt nicht reif ſey,
das der Wind herabwirft. — Es war nicht
abgezogener Geiſt, nicht Lebenstinktur —
was er ſprach. Beym Creysrichter ſprach er,
wie der Creyßrichter, der uͤber nichts als
Schlaͤgereyen, neue Brautſchaften, Todes-
faͤlle, oder dergleichen Dinge mehr, ſich ver-
lauten lies; indeſſen wußt unſer Rath uͤber
die gemeinſten Dinge beſonders zu ſeyn. Oft
war er ganz ſtill, und alsdann ſah man es
ihm an, daß er wohlbedaͤchtig mit den fal-
ſchen Spielern in der Geſellſchaft nicht mit-
ſpielen wolte. — Ich fand, wenn er ſprach,
ſo viel eigenes, daß ich tauſendmal wuͤnſchte,
wenn er doch ſchreiben moͤchte, oder wenn er
doch wenigſtens mehr ſpraͤche. Er verbeſſerte
nie ein Urteil, das er in Geſellſchaft hoͤrte,
und legte ſich nie das Anſehen einer Appella-
tions und Reviſions Inſtanz bey. Wenn ich
eine Rechtsſache gehabt haͤtte, waͤre mir
ſein Gutachten Entſcheidung geweſen. Viele
hatten dies Zutrauen zu ſeinem Herzen und
Ver-
[271] Verſtande, und ſein Laudum, (ſein Schieds-
ſpruch,) galt ihnen mehr, als ein fuͤr Geld
und gute Wort’ in beſter Form genommenes
Urtel. — Er war ungeheyrathet. Man
ſagt’, er waͤr’ in der Liebe ungluͤcklich gewe-
ſen! Schade! Es haben Curlaͤnder vielleicht,
bemerkte Herr v. G., ſeiner Schoͤne gerad
uͤber logirt. — Mag wohl ſeyn! — Dieſer
wuͤrdige Mann war im Stande, Menſchen zu
leſen, und dis ſchien ſein Hauptgeſchaͤft’ in Ge-
ſellſchaft zu ſeyn. Durch vereinte Kraft eins
ſeyn, iſt der Zweck der großen Staatsgeſellſchaf-
ten, ſagt’ er zu mir! So im Großen, ſo im Klei-
nen! Inſtinkt und Vernunft lehren uns, daß
ein großer Theil unſerer Gluͤckſeligkeit von
Menſchen abhaͤngt, und darum ſeh ich Men-
ſchen, darum geh’ ich nach ihnen aus, und
freue mich herzlich, wenn ich was unerwar-
tetes vorfinde. Im Collegio iſt alles auf ei-
nen gewiſſen beſtimmten Horizont calku-
lirt. — — —


Noch ſeh’ ich den Mann mit ſeiner ofnen,
weit ofnen Stirn, ſchwarz Haar, ein Aug’,
in dem man ihn im Kleinen — allein doch ganz
ſahe. Zuweilen hatt’ er kleine Abendgeſellſchaft-
ten, woran er mich Theil nehmen ließ. Dieſes
Collegium verſaͤumt ich nie. Ich fand einen
Officier,
[272] Officier, einen koͤniglichen Rath, ſeinen Col-
legen, einen Prediger, und einen Profeßor;
allein alle waren große Lehrer in ihrer Art fuͤr
mich. — Da war er zuweilen ausgelaſ-
ſen. — Er warf Muͤnzen aus, und ich muß
aufrichtig bekennen, daß wenn ich je in meinem
Leben mit Leib und Seel zugleich gegeßen und
getrunken; ſo war es hier: ich wundre mich
noch jetzt, daß es mir ſo gut bekam. Wenn
er es nicht laͤnger ausſetzen konnte, gab er eine
große Mahlzeit. Da that er wenig mehr, als
vorlegen, und hiezu braucht’ er auch als dann
den Officier, den koͤniglichen Rath, den Predi-
ger, den Profeßor, und mich. — — — —


Ich habe ſchon bemerket, daß ich das
votum deciſiuum bey der Landsmannſchaft
hatte, und ſo lang’ ich den Praͤſidentenſtuhl
bekleidete, iſt kein Stein von einer curſchen
Hand gehoben, um ehrlichen Leuten die Fen-
ſter zu verwuͤſten. — Mit der Zeit waͤr’
ich weiter bis zum Kopf meiner Landsleute
gekommen. Vors erſte hatt’ ich Urſach,
mir Gluͤck zu wuͤnſchen, daß ich uͤber ihre
Haͤnde disponiren konnte. —


Wenn ein Landsmann kam, oder gieng,
ward ein Mahl gegeben, wozu ich zwar
meine
[273] meine Stimme, allein nicht meinen Magen
gab.


Herr v. E. war, unter vielen andern,
Koͤnig eines ſolchen Mahls. Er war von
ſeiner Mutter, die Wittwe geworden, aus
Frankreich nach Curland gerufen. Seine Ge-
ſchaͤft’ indeſſen hatten ihn noch ein halbes Jahr
in und um Koͤnigsberg zuruͤck gehalten ohne daß
wir uns zuſammen getroffen. Kein Wunder!
Er gieng nicht in die Hoͤrſaͤle, und gieng
nicht auf die Jagd. Seine Geſchaͤfte wa-
ren wie man ſich leicht vorſtellen wird —
Liebesangelegenheiten. Freylich hatten die
koͤnigsbergſchen Schoͤnen Urſach’ einem Manne
Complimente zu machen, der von Paris kam,
und ſie nicht verſchmaͤhete. — Endlich ſchlug
ſeine Stunde. — Ich war, ohne ſelbſt zu wiſſen,
wie’s zugieng, bey dieſem Mahl, und lernt’ ei-
nen Menſchen ohne Kopf und Herz kennen, der
auf den preußiſchen Adel loszog, weil ihm nie-
mand, (die Sach’ ohn’ Allegorie vorzutragen,)
obgleich er angeklopft, aufgethan. — Wahrlich
dies brachte mir eine ſehr gute Meynung vom
preußiſchen Adel bey, die ich auch nie aufzu-
geben Urſache gefunden. Ich brachte die
Nacht, da Herr v. E. mit Extrapoſt abgieng,
wider Gewohnheit ſchlaflos zu, und ſelten
Zweiter Th. Shab
[274] hab’ ich einen Menſchen gefunden, in dem je-
der Zug mir ſo entgegen arbeitete! — Dem
Herrn v. G. war er auch unausſtehlich. Er
ſolt’ ihn bis Schacken begleiten; allein er
konnte nicht. Herr v. E. kroch, und war
ſtolz, er war Franzos und Curlaͤnder. Fuͤr
und wider ſich — und gewiß auch Freund
und Feind eines jeden, der es mit ihm an-
binden wollen. — Sein Geſicht und Er ſchie-
nen zweyerley! und waren es auch immer. —
Er frug uns, ob wir nicht an unſere Maͤd-
chens was zu beſtellen haͤtten! Da fuhr es
mir ſo durch die Seele, daß ich außer mir
war! — Herr v. G. ſagte, daß er ihn am
wenigſten zum Liebespoſtillon brauchen wuͤrde,
weil er aus Frankreich kaͤme, und Sie, fuhr
er fort, indem er ſich zu mir wandte? —
Ich habe, ſagt’ ich, nur eben Briefe von
ihr. — Er nahm es als Scherz, und ich
fand diesmal, und hab es oft gefunden, daß
ſelbſt bey dergleichen Verlegenheiten die Wahr-
heit am beſten aushilft. Ich hatte wirklich
Briefe von Minen. —


Sie erfuͤlte redlich ihr Verſprechen, ſie
hielt ein Tagebuch, und alle Vierteljahr’ er-
hielt ich es durch den bezeichneten Weg. Das
erſte Paͤckchen kam nach Monatsfriſt, ich
hoffe
[275] hoffe, niemand werde fragen: warum? Er
an Sie
gieng vor ſich, ſo bald ich an Ort
und Stelle war. Ich fuͤhlt’ jeden Kuß in
ihren Briefen, ſo warm, ſo ſonnenwarm,
obgleich er ſeine funfzig Meilen gereiſet war.
In Wahrheit, haͤtt’ ich Minchen nicht ge-
habt, ich haͤtte nicht die Haͤlfte von dem auf
der Univerſitaͤt gethan, was ich jetzt that,
nicht die Haͤlfte vor mich gebracht. —


Da bin ich an einer ſchweren Stelle mei-
nes Lebens! wo ich noch zittr’ und bebe!
Der Himmel helfe mir auch in dieſem Buch
uͤber! Er! der ſie mir leben geholfen, helfe
ſie mir auch ſchreiben. — Ein bittrer Kelch!
— Gottes Wille geſcheh’ auf Erden, wie
im Himmel! —


Ich will Ihm nicht fluchen, dem Va-
ter meiner Mine, denn dieſe Holdſelige
verbietet es mir! — Ich will Ihm nicht
fluchen. —


Sie ſchrieb mir ehemals:
„ich will meinen Vater nie unſern Vater
„nennen. Der meinige iſt er, weils
„Gott hat haben wollen, warum ſolſt du
„dich aber mit ihm beſchweren?„

S 2O
[276] O Mine, warum warſt aber du mit ihm
beſchweret. Warum? du Dulderin, du
Maͤrtyrinn! du Heilige! mit dieſem Peini-
ger, mit dieſem Tyrannen, mit dieſem Un-
heiligen — mit dieſem —


Ich will abbrechen, bis ich beßer gefaßt
bin, ſonſt wuͤrd’ ich dein heiliges Gebot uͤber-
treten, du heiliger Engel, und ihm doch —
fluchen. —


Auf heute, morgen und uͤbermorgen,
nehm ich von meinen Leſern Abſchied. — Ich
will mir ordentlich Zeit nehmen, mich zu faſ-
ſen — und wenn ich es in dreyen Tagen
nicht bin, noch einen und noch einen — zu-
geben, und bis acht Tage zu dieſer Faßung
ausſetzen! In dieſer ſtillen Woche ſoll meine
Seele gen Himmel ſich aufrichten, und mit
meiner Mutter will ich beten:


Herr, wie du wilſt, ſo ſchicks mit mir,

im Leben und im Sterben. — —

Rede, Herr! dein Knecht hoͤret. — Thue
mit mir, wie’s dir wohlgefaͤlt. In deine
Haͤnde befehl ich meinen Geiſt. —


An einem ſchwarz bezogenen Tage, da
es Vormittag donnerte.


Ich habe meine Leſer nur drey Tag’ al-
lein gelaßen. — Jemehr ich mir Zeit nehme,
mich
[277] mich zu faßen, jemehr verlier’ ich das Gleich-
gewicht. — Faſt glaub’ ich, daß die Faßung
ſo ſchnell komme, als der Schreck, die Huͤlfe
wie die Krankheit, und wenn alle Faßung
nur Betaͤubung waͤre? —


Der Gedanke hat mich am meiſten in die-
ſen drey heiligen Tagen erfriſcht, daß es Tu-
genden gaͤbe, die es nicht geben wuͤrde, wenn
nicht boͤſe Menſchen in der Welt waͤren.
Wahrlich, die groͤßten Tugenden werden hie-
durch an Tageslicht gebracht. — Durch
Schatten wird das Bild erhoͤht. Es iſt, ich
geſteh’ es gern, dieſes eben nicht einer von
den Gedanken, die einer goͤttlichen Eingebung
nahe kommen; allein wenn Noth am Mann
iſt, ſchmeckt Haußmannskoſt am beſten, und
bekommt auch ſo. — Der Ungluͤckliche, der
Furchtſame, glaubt alles, wenn es nur
Troſt enthaͤlt. —


Fluchen will ich dem Herrmann nicht;
allein ich will treu befunden werden.


Von dem erſten Tag’ an, da meine Leſer
den alten Herrn kennen lernten, fanden ſie
einen Mann, (kaum kann das Wort Mann
von jemanden gebraucht werden, der ſich
nicht nach ſeiner Decke zu ſtrecken verſteht. —
Doch Minchens wegen —) einen Mann,
S 3der
[278] der allem, was man Belang heißen kann,
gerad’ entgegen war. Sie fanden eine ge-
ſchwaͤchte, eine zu Fall gekommene Perſon,
einen Hofnarren, Cammerherrn, Forſt und
Jaͤgermeiſter, einen Witzdiener, Poſitiv-
ſchlaͤger. — Einen, von dem man nicht be-
haupten kann, daß er ſeinen Namen, wie
mein Vater ſein Vaterland, geflißentlich ver-
ſchloß
, (wie einer meiner Splitterrichter des
erſten Bandes der Meynung geweſen,) ſon-
dern den man den alten Herrn zu nennen fuͤr
gut fand, und der, weil mit dem Wort’
Alt das Wort Herr verſchwaͤgert war, (wo-
mit man wahrlich in Curland nicht ver-
ſchwendriſch iſt) nichts mehr erwarten konnte,
und mit dieſer Ehre ſehr zufrieden ſchien,
und wie haͤtte wohl dieſer Schneider, Schu-
ſter, Toͤpfer, Ton und Tauſendkuͤnſtler, und
waͤr’s auch nur des Podagras wegen, wel-
ches keine gemeine Krankheit iſt, wider den
Ehrennamen, Nicolaus Herrmann, eine
Sylbe einwenden und den Kopf ſchuͤtteln
koͤnnen? Der alte Herr war kriechend und
ſtolz, wie die Stolzen immer zu ſeyn pflegen.
— Obgleich er ſeinen Abſchied als Witzdiener
in hoͤchſten Gnaden erhalten; ſo ſprudelte
doch ein ſchwarzes Blut in ſeiner ſatyriſchen
Ader
[279] Ader auf, ſobald es Gelegenheit gab. Die
Ader war recht ſchwarz und fuͤrchterlich auf-
gequollen zu ſehen. — Seine ganze Geberde
verſtelte ſich, ſo bald dieſ’ Ader auflief. Er
pflegte ſich ſelbſt einen Invaliden des Apolls
zu nennen, und Dank ſey meiner Mutter,
die ihn, wie ich mich eben erinnre, bey die-
ſer Gelegenheit einmal frug: wie’s mit ſei-
ner Wund’ am Kopf ſtuͤnde? Die Zeiten,
ſagte Herrmann ſelbſt, ſind gottlob vorbey,
und dies waren Zeiten, da er Graͤber ſchaͤn-
dete; allein kann auch ein Mohr ſeine Haut
bleichen, und ein Parder ein Fleckkuͤgelchen
benutzen? Erſt mehr Fechter, jetzt mehr
Taͤnzer
!


Ich bin der Meynung, daß ſich die
Phyſionomiſten nie eher, als in der Miene
eines Pasquillanten, (waͤr’ es auch ein Re-
cenſent,) und Moͤrders irren koͤnnen? Da
muß ein ſehr feiner Unterſchied ſeyn! Sie
ſind eines Handwerks: beyde ſchlagen aus
Gewinſt todt — und es kommt nur auf Um-
ſtaͤnd’ an. Beyde legen Haͤnd’ an uns, und
ſo wie es blos von der Kuͤrze der Jahre
kommt, daß nicht jeder, dem der Strick in
den Liniamenten liegt, gehangen wird; ſo —


S 4Wenn
[280]

Wenn ich in einer großen Geſellſchaft ei-
nen Witzling ſehe, der nach Landesmanier
wie der dritte Mann zum Spiel gebeten wird,
und der uͤber Tiſch und Stuͤhle ſchreit, iſt
mir nicht anders, als waͤr’ ich mit dem
verſtockten Schaͤcher zuſammen! Wer in ei-
ner Geſellſchaft von zwoͤlf Perſonen witzig
ſeyn, und ſich hoͤren und ſehen laßen kann,
iſt ein ſchrecklicher Menſch. — Wo zwey
und drey verſammlet ſind, da iſt Witz an
Ort und Stelle. Niemand iſt geiziger, als
ein wirklich witziger. Er wirft ſeine Perlen
nicht weg. — Ein Witziger ohn’ Urtheil iſt
ein Witzling — und wehe dem Menſchen,
durch welchen Aergerniß kommt! Vorrede
genug —


Herrmann hatte, nach dem Tode der
Mutter meiner Mine und der Meinigen,
noch Luſt ſich ein Hochzeitbett anzulegen.
Der Tiſchler, den er daruͤber beſprach, glaubt
es ſey ein Sarg, da er ſich in der Still’ an
ihn wandte. Der Tiſchler wandte ſich mit
einem warum? auch in der Still’ an Herr-
mann zuruͤck. — Ich hab’ es von meiner
Mutter, daß eben dieſer Tiſchler in ſeiner
Gewerksſtube herzlich geweint habe, wenn
er einen Sarg fuͤr einen Redlichen im Land’
erbau-
[281] erbaute. Meine Mutter nannt’ ihn oft des
Todes Zimmermann, und gratulirte Cur-
land und der dortigen Gegend, wo hoͤlzerne
Haͤuſer
etwas gewoͤhnliches ſind, weil ſie,
ſchon im Leben, mit ihrem lezten Hauſe ſich
bekannt gemacht. — Wir ſind ſchon im Le-
ben im Sarge, pflegte ſie zu ſagen. Wir
ſterben taͤglich, heil uns! Der eigentliche
Sarg wird uns kein ſo wild fremdes Ge-
mach ſeyn! —


„Lieber Freund„ fieng Herr Herrmann
wieder in der Still’ an, und der liebe Freund
lies ihn nicht zum Worte, wenigſtens nicht zum
Ende, kommen.


Sie ſind ja, unterbrach er ihn, munter
und geſund — friſch und geſund hab’ ich ſie
nie gekannt. —


„Eben darum, weil ich munter und ge-
ſund bin. —„


Recht! Es ſteht uns nicht vor der Stirne
geſchrieben.


„Vor der Stirn? —„


Sie fochten lang in die Luft, bemerkt
mein Waffentraͤger Benjamin, von dem ich
dies alles hab’, ehe ſie zuſammen trafen. —


„Ein Himmelbett,„ ſagte Herrmann, al-
lein da man einen Sarg eben ſo gut, wo
S 5nicht
[282] nicht beßer, als ein Brautbett’, ein Him-
melbette nennen kann; ſo erwiederte der
Tiſchler: „ſchoͤner Ausdruck!„ Der gute
Tiſchler konnte den Sarg nicht aus Sinn
und Gedanken bringen, und ſelbſt, da ihm
Herrmann ziemlich laut (er war hitzig ge-
worden,) geſagt hatte: „Ein Brautbette„
ſchuͤttelte der Tiſchler noch den Kopf — und
dies Schuͤtteln war dem Herrmann widriger,
als das vorige Misverſtaͤndniß vom Him-
melbett’
, und von der Stirn, und von
munter und geſund.


In Ruͤckſicht der Jahre haͤtte freylich
Herrmann eher an Sarg, als an Braut,
oder, wie man es gewoͤhnlich in Curland
nennt, an ein Himmelbette denken koͤnnen;
wenigſtens haͤtte Herrmann, der ein Weib,
wie unſere Mutter gehabt, eine andere, der
Seligen — und ihm anſtaͤndigere Wahl
treffen ſollen. Ich will, um aller Parthey-
lichkeit auszuweichen, an ſeine Tochter nicht
denken, obgleich auch Toͤchter, wenn ſie
wie Mine ſind, hiebey einen Blick verdie-
nen. —


Seine Schoͤne war eine Perſon, die ſich
in der Nachbarſchaft, Gott weiß wie! ein
kleines Vermoͤgen erworben hatte. Der
Un-
[283] Unterricht der Kinder ward dem Herrmann
in die Laͤnge zu beſchwerlich, und es iſt freylich
eine andre Sache Kinderlehrer, und eine
andre Hofnarr zu ſeyn. Dies war die Ur-
ſach, warum er zuweilen zu ſehr fuͤr die koͤr-
perliche Uebungen war, und die Kinder ohn’
Unterricht ganze Wochen hinſchlendern ließ.
Hiedurch litte ſein guter Ruf. Seine Se-
lige wußt’ alles zum Beſten zu kehren. Nach
ihrem Tode war er ſich ganz und gar allein
uͤberlaßen, und das hieß, an der Hand ei-
nes ſchlechten Fuͤhrers ſeyn. — Die Schul-
jugend trieb ſich um, und der Lehrer desglei-
chen. Kurz, Herrmann war wieder auf der
ſchlimmen Seite und
lebendig todt, ja wohl! lebendig todt!


Ich will mir, ſagte Herrmann, einen
ruhigen guten Tag machen: eigentlich wolt’
er ſich dieſen ruhigen guten Tag fuͤr baar
Geld kaufen, ohne zu bedenken, daß Ruhe
nicht feil ſey. Immer noch uͤberzeugt, daß es
beßer ſey, ein Schneider, als ein Hofnarr,
zu ſeyn, blieb des Herrmanns Loſung zwar:


Gottlob! die Zeiten ſind vorbey; in-
deſſen war er doch feſt entſchloßen, aus ei-
nem Hofnarren ein Stocknarr zu werden.
Der
[284] Der Unterſchied iſt ungefehr, wie zwiſchen
Poſtbot’ und Nachtwaͤchter.


Magdalene, (ſo hieß die Schoͤne quaͤ-
ſtionis,) war nicht abgeneigt, mit dieſem
Manne zu ziehen. Sie hatte nicht erman-
gelt, weit und breit herumzublicken, und
ihr Augennetz auszuwerfen; allein ſie hatte
nichts gefangen, ſie hatt’, um die Sache
deutlicher zu machen, nicht abgeſehen, daß
ſich ein anderer mit ihr in dieſem Leben ein-
ſpannen wuͤrde. — Magdalene weinte herz-
lich, ſo oft ſie an den ſeligen gnaͤdigen Herrn
dachte, deſſen gnaͤdige zuruͤckgebliebene Wittwe
ſo herzlich nicht uͤber dieſen Verluſt weinte.
Dies macht’ Aufſehen in der ganzen Gegend,
die nur eine ſolche Kleinigkeit von Anlaß
brauchte, um laut zu ſagen, was jedes laͤng-
ſtens, und ſchon bey Lebzeiten des ſeligen gnaͤ-
digen Herrn, da Magdalene noch nicht ſo
herzlich weinen durfte, gedacht hatte. Man
machte uͤber dieſe Thraͤnen der Magdalene,
bittre Anmerkungen, ſo daß, da der groͤßte
Theil davon an die beyden Weinenden kam,
Wohlſtandes wegen Magdalene weniger, als
die nachgebliebene Frau Wittwe, zu weinen
anfieng. Der wunderbare Wohlſtand!


Es
[285]

Es hatte der Herr Gemahl der Frau
v. E. in ſeinem lezten Willen die feyerliche
Verfuͤgung gemacht, daß ſeine Gemahlin
und Mamſell Dene, (ſo ward Magdalene
im ganzen Hauſ’ und uͤberall genannt,) ſich
nicht von einander trennen, ſondern beyſam-
men bleiben ſolten, bis ſie der Tod ſchiede.
Das war ein neuer Gegenſtand zu Anmer-
kungen, welche die ganze Gegend machte,
ſo bald das Teſtament eroͤfnet war. Die
Frau Wittwe, die vor der Eroͤfnung des
Teſtaments, und vorzuͤglich bey Gelegenheit
der Thraͤnen, den Plan gemacht hatte, De-
nen
in allen Gnaden zu verabſchieden, war
jetzo, wie ſie ſich ausdruͤckte, gezwungen,
dieſe Klett’ am Kleide zu leiden. Sie ſah’ es
alſo im Herzen ſehr gern, daß Herr Herrmann
Denen die Aufwartung machte. Zwar hatte
ſie ſich ſo feſt an dem Willen ihres verſtorbe-
nen Gemahls gebunden, daß ſie keine Tren-
nung von Denen moͤglich glaubte; indeſſen
glaubte ſie, durch Denens Umgang mit
Herrmann wenigſtens die Scene zu veraͤn-
dern, und der Nachred’ eine andere Wen-
dung zu geben. Einen Rechtsgelehrten hatte
ſie nicht das Herz, daruͤber zu Rathe zu zie-
hen. — Es giebt Krankheiten, die man
nicht
[286] nicht gern entdeckt. Dene fand von dieſer
Seite nicht die mindeſte Schwierigkeit, wohl
aber war ihr bedenklich, daß ſie die Eheſchei-
dungsſtrafen, wenn ſie den Aufſtand anheben
ſolte, zu tragen wuͤrd’ angewieſen werden.
Wenn aber die Frau v. E. anfienge, dachte
Dene, was koͤnnteſt du nicht fuͤr Bedin-
gungen vorſchreiben! — Dene ſahe wohl,
wie uͤberlaͤſtig ſie der Wittwe war, ſie mochte
mehr oder weniger weinen, als ſie. Wenn
Dene alſo nach dieſer ihrer Verbindung mit
dem Herrn Herrmann gefragt ward, war
ihre Antwort: Sie belieben zu ſcherzen, oder,
ich bitte tauſendmal um Verzeihung, oder,
mir fehlt ohne den Herrn Herrmann nichts
auf der Welt. Roth zu werden hatte ſie
entweder ſchon laͤngſt verlernt, oder hatt’ es
nie gekonnt. Es blieb alſo ihre Verbindung
mit dem Herrn Herrmann problematiſch.
Die Nachbarſchaft pflegte die gnaͤdige Frau
und Denen zu nennen Sara und Hagar. —
Sowohl Sara als Hagar aͤrgerten ſich uͤber
dieſe Beynahmen, ohne gegen einander ſich
dieſe Aergerniß merken zu laßen. —


Magdalene hatte, ſeit ihrer vieljaͤhrigen
Praxis, alle Kniffe auf einem Schnuͤrchen,
wodurch unſer in Liebesangelegenheiten aber-
glaͤu-
[287] glaͤubiſches Geſchlecht gefeßelt gehalten wer-
den kann, ſo daß es noch dieſe Feßeln als
Ordensketten verehret. — Sie hatte den
alten Herrn erſt aͤußerſt verliebt gemacht, und
war ihm in allem — wenigſtens ein Viertel
Meilchen, (ich rede von deutſchen Meilen,)
zuvor gekommen. Auf einmal eine andere
Dekoration. Wer A ſagt, muß auch B ſa-
gen, war bey Denen keine Regel, und alle
ausgelernte Koqetten denken ſo. Der alte
Herr hatte durch eine uͤberaus gefaͤllige Auf-
nahme in dem Hauſe der Sara, ſich das
Wohlleben ſo angewoͤhnt, daß, wenn auch
nicht die koͤrperliche Uebungen ſeine Schul-
jugend, die wie Schaafe in der Irre gieng,
zerſtreut haͤtten, dieſe guten Tage ſich mit
den Schulſtunden nicht laͤnger vertragen ha-
ben wuͤrden. Was ſolte der alte Herr an-
fangen? Der Unterhalt, den ihm ſeine ver-
ſtorbene Witzprincipalen zugeſtanden hatten,
war klein, und zum Theil ungewiß. Dene
hatte, nach der Meynung des alten Herrn,
mit Herzen Mund und Haͤnden A geſagt;
allein nun war ſie nicht aus der Stelle, und
bey weitem nicht zum B. zu bringen; viel-
mehr ſchien ſie zuweilen gar das A zuruͤckge-
hen zu wollen, wenigſtens ward aus dem
großen
[288] großen A ein ſo kleines, daß man es bey-
nah dafuͤr nicht anſehen konnte. — Ich
habe, dachte der alte Herr, das unreine
Waßer ausgegoſſen, ohne reines aufgefangen
zu haben — obgleich er wirklich reines Waſ-
ſer ausgegoſſen hatte, um unreines zu ſchoͤ-
pfen. — — Dies macht’ ihn aͤußerſt verle-
gen; allein dieſe Scharten wezt’ er zu Hauſ’
aus, und Mine, die arme Mine, haͤtte
nicht in Egypten mehr ausſtehen koͤnnen,
als bey dieſem wetzenden Vater, der reines
Waſſer ausgegoßen hatte, und keinen Tro-
pfen unreines auffangen konnte, ſeine Zunge
zu kuͤhlen; denn es gieng ihm, wie dem rei-
chen Mann, in ſeinem Praͤludio. Der Frau
Sara Gnaden, welche ſich auf dergleichen
Wendungen, (meine Muter wuͤrde Raͤnke
und Schwaͤnke geſchrieben haben,) wohl ver-
ſtand, ſuchte dem alten Herrn Troſt zuzunei-
gen, und ihn wenigſtens durch guten Fraß
und Sof zu ſtaͤrken, und zu feſtigen, ſeine Laſt
zu tragen. — Dene blieb indeſſen halsſtar-
rig beym kleinen, ganz kleinen a, und ſo wie
kein Ungluͤck allein, ſondern paarweiſe kommt;
ſo mußt’ es auch dem Amtmann S. einfallen,
um Denen in einem Brief’, eh ihr Trauer-
jahr noch um war, foͤrmlich anzuhalten. —
Die-
[289] Dieſen Amtmann, der ohnehin in den nem-
lichen Jahren des Herrmanns ſich befand,
obgleich ihn kein Zipperlein plagte, wuͤrde
Dene um alles nicht einem Litteratus, (ohn-
erachtet dieſer Litteratus den kalten Brand
hatte,) vorgezogen haben, indeſſen konnt’
ihr nichts erwuͤnſchter kommen, um den
Herrn Herrmann voͤllig aufs Haupt zu ſchla-
gen. — Herrmann litte zuſehens; denn er
war in das Geld der Dene ſterblich ver-
liebt. — So wenig Herz auch der alte Herr
hatte, ſo wuͤrd’ er doch mit dieſem Amtmann
eins verſucht haben, (nemlich in Briefen,)
wenn nicht die gnaͤdige Wittwe das glim-
mende Tocht der Hofnung in dem Herzen des
alten Herrn aufgefacht haͤtte. — Zwar
brannt’ es ſehr ſchwach; indeſſen brannt’ es
doch. — Zu keiner kleinen Freude des alten
Herrn, veranſtaltete die Wittwe einen Be-
ſuch beym Herrn Herrmann. So viel Ehr’
ihm dieſer Beſuch war, ſo wußt’ er doch
nicht, wie er ſeine Gaͤſte aufnehmen wuͤrde. —
Der Frau Sara Gnaden wolten mit, wie
haͤtt’ auch die viel Ehr [und] Tugend belobte
Jungfer Magdalene, ohn’ eine ſolche Bede-
ckung, zu einer los und ledigen Mannsper-
ſon kommen koͤnnen? Die Frau Sara war
Zweiter Th. Tjetzt
[290] jetzt ihre veſte Burg, in welche ſie ſich zu
werfen Willens war, wenn die boͤſe Nachrede
ſie verfolgen wuͤrde. — Im Herzen konnt’
ihr nichts willkommner, als dieſer Vorſchlag
ſeyn; denn ſie wolte gar zu gern, ihr kuͤnfti-
ges Bleibchen kennen lernen, und auch ihre
Stieftochter, von der ſo viel gutes geſagt ward.
Uebermorgen alſo! — Der alte Herr beur-
laubte ſich ſo gleich, und reiſete mit Freuden
und mit Kummer zu ſeiner Wohnung. —


Mine! Mine! Mine, das arme von einem
Briefe an mich verſcheuchte Maͤdchen, kam und
erfuhr die große Neuigkeit von dem Heil, das
dieſem Hauſe wiederfahren ſolte. Der Stolz
macht’ ihren Vater verdrießlich; denn es war
nicht nach Herzensluſt in ſeinem Hauſ’ einge-
richtet — uͤberall blickte Duͤrftigkeit hervor.
— Wuͤrde nicht die Hofnung auf Denen die-
ſer Leidenſchaft Zaum und Gebiß angelegt ha-
ben; die arme Mine, was haͤtte ſie nicht
noch mehr ausgeſtanden, als ſie ausſtand!
— Das arme Maͤdchen, das viel zu edel
war, um ein einziges Wort von ihren haͤus-
lichen Verfaßungen gegen mich auch nur
fallen zu laſſen: das ſich in alles ſchi-
cken konnte: das ſelbſt auch ihren Bruder
Benjamin, obgleich er das Schneiderhand-
werk
[291] werk lernte, zu dieſer Denkungsart hinauf
geſtimmt, der um alles in der Welt willen
nichts von meinem ανέχου και απηχου an-
genommen haͤtte, dies arme Maͤdchen ſolte
zu meinen Eltern gehn — und borgen, da-
mit die hohen Gaͤſte, wie Herrmann ſie nannte,
uͤbermorgen wie es ſich eigne und gebuͤhre
aufgenommen werden koͤnnten. Verzeihung,
Vater! das kann ich nicht, ſagte Mine ſehr
gefaßt. Herrmann ſtampfte, wuͤtete und
tobte, bis ihm Mine endlich einen Plan
vorlegte, der ohne, daß geborgt werden
duͤrfte, zu beſtreiten waͤre. — Mag es —
antwortet’ er, wiewohl noch unwillig, mag
es — denn er konnte es Minen nicht ver-
zeihen, daß ſie zu meinen Eltern zu gehen
verweigert hatte. Er gab ihr, wiewol un-
ter Hyeroglyphen, zu verſtehen, daß ſie mei-
netwegen dieſes Schrittes wegen die Pein-
lichkeit eben ſo noͤthig nicht haͤtte. — Mine
verſtand nicht blos was er ſagte, ſondern
auch, was er dachte; indeſſen verſchwieg
[Herrmann] meinen Namen vorſichtig, und
da Mine ihren Plan gut einzukleiden wußte,
uͤberwand ihn die Hofnung, Magdalenens
Reichthum zu uͤberzaͤhlen, endlich ganz. —
Die Freude nahm Oberhand, und dieſe ver-
T 2fuͤhrt’
[292] fuͤhrt’ ihn, Minen ſeine Heyrath rund aus
zu entdecken. Das gute Maͤdchen hoͤrte
keine Neuigkeit; allein ſie konnte nicht um-
hin, ihm im Hintergrunde des Gemaͤldes,
das ſo ſchoͤn in ſeiner Erzaͤhlung ausſah,
die Fehler zu zeigen. Die Sache war in-
deſſen nach ihrer Meynung zu weit gekom-
men, als daß ſie ſich lange bei dieſen Feh-
lern im Hintergrunde verweilte. —


Mine hatte durch ihrer Haͤnde Arbeit
ſich ſchon ſeit der Zeit, daß ihr Vater De-
nens
wegen die Schulanſtalten aufgehoben,
beinah allein erhalten. — Jetzt brachte ſie
von dieſem ihrem kuͤmmerlich ernaͤhten Ver-
dienſt, von freyen Stuͤcken etwas in den
Plan zur Aufnahme, ohne ſich einſt daruͤber
ein Verdienſt zuzueignen, und es dem Va-
ter zu entdecken. Das gute Kind! — Der
feyerliche Tag erſchien, den Sara und Ha-
gar zum Beſuch beſtimmt hatten. Der alte
Herr konnte dieſen Mittag nicht eßen nicht
trinken, er blies ſelbſt den Staub ab, wo
er noch Staub in dem Zimmer entdeckte,
und vergaß ſo ſehr, daß er Litteratus war,
daß er Holz geſpalten haben wuͤrde, wenn
es auf dieſen Umſtand bei Minens Plan an-
gekommen waͤre. — Er trug nicht tagtaͤglich
Man-
[293] Manſchetten; allein er legte ſie, wie die
Paſtores den Kragen, in die große Bibel,
um die Manſchetten in Zuͤchten und Ehren
zu erhalten. Diesmal nahm er ein ganz
neues Paar; allein dem unerachtet mußte
Mine ſie ihm noch aufbiegeln, und, da ſie’s
ihm nicht zu Dank machte, vollendet’ er die-
ſes Werk ſelbſt. So lang, wie des Him-
melsbuͤrgers, waren die Manſchetten des
Herrmanns nicht: allein Herrmann war
auch in Wahrheit nicht werth, meines Va-
ters Landsmann, in dem allerentfernteſten
Sinne, zu ſeyn.


Mine hatte Tannenreiſer und Kalmus in
die Zimmer geſtreut, und mit Wacholder ge-
raͤuchert, da Herrmann eben mit den Augen
ſeinen Gaͤſten entgegen gelaufen war. —
Dies mußt’ alles, bis auf das lezte Woͤlk-
chen Rauch, das ſich im Zimmer herum zog
— heraus; ſo bald Herrmann wieder kam,
weil es, wie er ſagt’, in großen Haͤuſern
nicht mehr Sitte ſey, Tannen, Kalmus und
Wacholderrauch zu riechen. Man ſpritzet,
fuhr er fort, die Zimmer mit wohlriechen-
dem Waſſer aus, um den Staub eben hie-
durch niederzuſchlagen. Die Naſe des alten
Herrn fand, nachdem ſchon alles aus dem
T 3Zim-
[294] Zimmer war, noch ſo einen gemeinen und,
wie er ihn nannte, Coriandergeruch, daß
er durchaus Modeweihwaßer verlangte, um
es auszuſprengen. Mine konnt’ ihm damit
nicht dienen — ſie haͤtte gern das Gruͤne
im Zimmer beybehalten.


Es ſchlug die Stunde, da er ſeine Gaͤſt’
erwartete, und da man nach Ortsumſtaͤnden
ſie mit Grund erwarten konnte; allein verge-
bens. — Herrmann, ob ſchon er einen Bo-
ten ausgeſandt hatte, um ja den hohen Gaͤ-
ſten weit genug entgegen kommen zu koͤnnen,
konnte ſich nicht entbrechen, auf die Zinne
des Tempels zu ſteigen. Es konnte bei die-
ſer Gelegenheit nicht fehlen, daß ſeine Unter-
und Oberkleider, obgleich er die letzte durch
einen Mantel von Glanzleinwand in Obhut
genommen, vom Staub’ angegriffen wur-
den. — Er hatte nichts von ſeinen Gaͤſten
entdeckt, und das war ſehr natuͤrlich. Wenn
der gute Mann ſein hoͤchſtunzulaͤngliches Ge-
ſicht zuvor uͤbermeſſen; ſo haͤtt’ er dieſe Muͤhe
ſparen, und den Mautel von Glanzleinwand
in ſanfter Ruhe laſſen koͤnnen. — Er war
von unten bis oben zu beſchaͤftiget, ſich wie-
der zu reinigen und zu laͤutern, und zittert’
an Haͤnd’ und Fuͤßen, und uͤber Leib und
Leben,
[295] Leben, wenn er was rauſchen hoͤrte. Da
ſind ſie, ſchrie er, und lief und kam wieder,
und lief noch einmal, und kam noch einmal
wieder. Obgleich Mine, die heute wohl
Marta haͤtte heißen koͤnnen, ihm eben ſo oft,
als er lief und wieder kam „der Bote„ nach-
ſchrie; ſo war er doch in einem ſolchen Ge-
dankenconcours, daß er nicht aus noch ein
wußte. — Endlich, (nachdem er ſchon eine
halbe Stunde rein und ſauber, wie aus ei-
nem Schreinchen gezogen, da ſtand,) der
Bote! — Wie ein Blitz war er fort. „Noch
eine halbe Viertel Meile„ auch die halbe Vier-
tel Meile hielt ihn nicht. — Er flog. — Re-
gine, das Hausmaͤdchen, ſchrie ihn dies-
mal bey aller ſeiner Eil zuruͤck, ohnfehlbar
glaubt’ er, daß Mine ihm noch eine Frage
zu thun haͤtte.


Wollen Sie, ſagte ſie auf lettiſch, nicht
den Glanzleinwandsmantel uͤberziehen? —
Keine Furie kann wuͤtender werden, als un-
ſer alte Herr ward, und nun haͤtt’ ihn nichts
zuruͤckgebracht, nichts —


Sie kamen — Mine war hoͤflich, ohne
ſich wegzuſchleudern. Sie batte mich vor
Augen und im Herzen — und der alte Herr
konnte nicht aufhoͤren, mit Gebehrden ihr
T 4zu
[296] zu verſtehen zu geben, daß ſie zu wenig, viel
zu wenig, thaͤte. — Er, daß wiſſen ja meine
Leſer, war ein Regenwurm. —


Die gnaͤdige Sara hatte ſo viel mitge-
bracht, daß Minchens wohlgemeinter Plan
voͤllig vereitelt ward. Die hohen Gaͤſte haͤt-
ten, duͤnkt mich, wenn es auch nur der gu-
ten wohlmeynenden Hand Minchens wegen,
geweſen waͤre, ſich zu demjenigen bequemen
koͤnnen, was dieſes gute arme Maͤdchen des
Hausfriedens halber zum Theil von ihrem
Rehgelde angerichtet hatte; allein Sara und
Hagar waren viel zu ſtolz, um ſich ſo tief
herabzulaſſen. —


Mine hatte den Einfall, gleiches mit glei-
chem zu vergelten, und nichts von dem Mit-
gebrachten anzugreifen; allein konnte ſie’s
ihres Vaters wegen? Er winkte ſo lange, bis
ſie nahm und aß. — Nun haͤtt’ er zu winken
aufhoͤren koͤnnen und ſollen; allein er ſetzt’
es fort, und wollte durchaus, daß Mine ſich
den Magen verderben ſollte. Das that ſie
nicht. — Es war ein unbeſchreiblicher Stolz,
womit dieſe Antiken, Sara und Hagar, uͤber
Minen herfuhren. Daß ſie nicht von den
natuͤrlichen wohlgemeinten Speiſen nahmen,
wuͤrde den beiden Damen endlich zu verzei-
hen
[297] hen geweſen ſeyn; allein es war unverzeih-
lich, daß ſie ſich uͤber Gottes Gaben heruͤber
bogen, und die Naſe ruͤmpften. — Sie maa-
ßen Minen hundertmal mit ihren Augen,
und hier und da hielt ſich der Blick auf, als
ob er ein Plaͤtzchen gefunden haͤtte, das werth
waͤr’, ein wenig anzuhalten. Dies alles
war Minen unertraͤglich. Sie durfte nicht
hundertmal auf- und abblicken, um dieſes
Paar voͤllig zu uͤberſehen, und ihre Ueberle-
genheit zu fuͤhlen. — Die Wittwe Sara
that einige Fragen an ſie. Womit ſie ſich die
Zeit vertriebe? Ob ſie einen Liebhaber haͤtte?
Ob ſie auch die Kuͤche verſtuͤnde? Anzuſehen,
ſetzte ſie hinzu, iſt es nicht. — Ihre Haͤnde
ſind ſo kuͤchenrein, als einer Dame vom Stan-
de. — Nicht wahr, liebe Dene? — Dene
enthielt ſich aller Fragen; allein man konnt’
es deutlich bemerken, daß ſie ſich ſolche in be-
ſter Form Rechtens vorbehielt. Ihre Stun-
de hatte noch nicht geſchlagen. —


Das abgebohnte Clavier brachte die ho-
hen Gaͤſte auf die Muſik, und die gnaͤdige
Sara auf die Frage: ob Minchen muſikaliſch
waͤre? Mine beantwortete dieſe Frage mit
der ihr eignen Beſcheidenheit. — Obgleich
die hohen Gaͤſte keinen Beweiß, in wie weit
T 5ſie
[298] ſie muſikaliſch ſey, begehrten; ſo beſtand doch
„der alte Herr darauf, „Mine ſolte ſingen und
ſpielen„ da er es ſeinen hohen Gaͤſten ſo nahe
legte, beſtanden ſie auch darauf; denn eine
Bitte war es noch lange nicht. — Etwas be-
kanntes, ſagt’ er, denn er wußte wohl, daß
ein Praͤludium, wenn es Hand und Fuß ha-
ben ſolte, bey ihm vierzehn Tage zuvor be-
ſtellt werden mußte. — Mine ſang und ſpiel-
te, weil ſie ſingen und ſpielen mußte. — Es
war indeſſen keine Dedication an die hohen
Anweſende. Wenn dieſe Damen Gefuͤhl ge-
habt; haͤtten ſie wohl den Vogel im Bauer
gehoͤrt! Indeſſen hatten die hohen Gaͤſte we-
der ſo feine Ohren, noch ſo feine Herzen. —


Dene hatt’ ein Paar Strahlen der Hof-
nung auf den alten Herrn fallen laſſen, die
ihn entzuͤckten. —


Uebermorgen erwart ich meinen Sohn,
ſagte die gnaͤdige Sara zum Herrmann, ſie
werden doch ſo gut ſeyn, und zu uns kom-
men. Minen fuhr es in alle Glieder. Mir
war es, wie ſie ſchreibt, als ob Sara hinzu-
ſetzen wuͤrde: bringen Sie ihre Tochter mit. —
Ihre Befuͤrchtung war vergebens. Der Stolz
ließ dieſe Bitte nicht zu. —


Noch
[299]

Noch ein Paar Blicke von oben bis un-
ten, und dann wieder von unten bis oben,
ohne daß der Blick Minen die Ehre that, ir-
gendwo zu weilen, und nun — Gott be-
wahre Sie, mein Kind!
— Ein gewoͤhnli-
ches Compliment. Mine ſchreibt: „Mir war
„es als haͤtt’ ich geſagt: vor ſolchen Leu-
„ten
— ich erſchrack; allein ich hatt’ es
„nur herzlich und von ganzer Seele gedacht„
So ward hier, und ſo wird jederzeit, das
Geſetz erfuͤllt: Unrecht ſtraft ſeinen eigenen
Herrn. — —


Der alte Herr war in Seelenangſt, auf
welche Art, ohne ſich zu viel herauszuneh-
men, er die gnaͤdige Wittwe in den Wagen
bringen ſolte. — Endlich legt’ er Hand ans
Werk. — Mit Denen ward er geſchwinder
fertig. Sie hatt’ ihm Muth und Leben ein-
gefloͤßt. — Er wolte durchaus zu Pferd’ und
den hohen Gaͤſten vorreiten; allein ſie ver-
baten es, der uͤblen Rachrede wegen, und
alſo begnuͤgt’ er ſich, ſie wieder bis auf die
Stelle zu begleiten, wo er ſie entgegen ge-
nommen. —


Froh kam er zu Minen; allein dies konnte
die Strafpredigt nicht abwenden, die er ihr
hielte, viel zu wenig, viel zu wenig ſich ge-
buͤckt,
[300] buͤckt, geſungen, geſpielt und gegeſſen zu ha-
ben. —


  • „und wie gefaͤllt dir„ (dieſe Frage außer al-
    lem Zuſammenhang) „wie gefaͤllt dir
    Dene„?
  • wie ſie mir gefaͤllt?
  • „wie ſie dir gefaͤllt?„
  • da ſie meine Mutter werden ſoll — „das
    iſt ſie ſchon„ unterbrach er Minen, we-
    gen der Paar Stralen von Hofnung, die
    ſie auf ihn geworfen hatte, „ſo iſt es
    Pflicht — „dieſe Antwort erwart’ ich
    von Minen.„

Es iſt ſchwer, ſchreibt Mine, ſehr ſchwer, wenn
man eine ſo gute Mutter gehabt, einer Dene
als Mutter zu huldigen, und waͤre das vierte
Gebot nicht —


Der alte Herr verfehlte nicht, der Ein-
ladung der gnaͤdigen Sara gemaͤß, ſich zu
rechter Tageszeit einzufinden, und wer haͤtte
das gedacht? Der Herr Sohn der Madam
Sara war kein andrer, als der Herr v. E.,
der franzoͤſiſche Curlaͤnder, welcher kriechend
und ſtolz, fuͤr und wider ſich, und gewis auch
Freund und Feind eines jeden Menſchen war,
je nachdem es die Umſtaͤnde gaben. — Der
Affe
[301] Affe mit den Halbſtiefeln! Der alte Herr
fand ihn ſchon, da er ankam, und machte
tauſend Umſtaͤnde, daß er ihm nicht entgegen
gekommen! —


Der Teufel, Herr! wo haben Sie wiſ-
ſen koͤnnen, daß ich kommen wuͤrde? —


Die gnaͤdige Mamma! —


Wir waren beym Herrn Herrmann, ich
und Dene, fieng die gnaͤdige Mamma an.
Dank Herr Herrmann fuͤr alle erzeigte Hoͤf-
lichkeiten! — Fuͤr den ſchoͤnen Sang ihrer
Tochter! das iſt wahr, Herr Herrmann!
Sie koͤnnen ſich was auf ſolch eine Tochter
einbilden. Iſt es ihre rechte Tochter? Ein
huͤbſches Maͤdchen! Nur ſcheint ſie mir die
Finger nicht in kaltes, nicht in warmes, Waſ-
ſer zu ſtecken. — Ihre Hand faßt ſich wie
Atlaß an.


Da war unſer Ankoͤmmling wie ein Geyer
auf die Taube. —


Ich liebe ſchoͤne Haͤnde, gnaͤdige Mam-
ma, die nicht kalt und warm vertragen, die
ſich wie Atlaß anfaſſen laſſen, wenn ſind Sie
zu Hauſe, Herr Herrmann?


Wenn Ewr. Hochwohlgebohrnen befeh-
len. —


Ich
[302]

Ich will meiner Mutter nicht die Ehr’
allein laſſen, ſie beſucht zu haben: denn in
Wahrheit, es kann kein Menſch ein groͤßerer
Liebhaber von einer ſchoͤnen Hand, oder von
der Muſik ſeyn, das iſt beynah’ einerley,
als ich. —


Die Wittwe v. E. (ich habe ſie lang ge-
nug und bis zum Ueberdruß meiner Leſer
Sara genannt,) macht’ ihrem Sohn Vor-
wuͤrfe, daß er ſie ſo lang auf ſich haͤtte war-
ten laſſen. Dein Brief aus Koͤnigsberg —


Schoͤnſte Mutter, (Frau von E. hoͤrte
dies gern,) ich fand in Koͤnigsberg noch dies
und das, und Sie wiſſen wohl, wenn man
dies und das findt; ſo kann man ſo geſchwin-
de nicht. — Wir wiſſen das dies und das,
wobey Herr v. E. in und um Koͤnigsberg,
vor ſeiner Ruͤckkunft nach Curland, noch zum
Ritter zu werden den Beruf hatte; nicht zum
irrenden, denn hiezu hatt’ er keinen An-
ſatz. —


Deine Mutter aber haͤtteſt du uͤber dein
Dies und Das nicht vergeſſen ſollen, ſagte
die Frau v. E. —


Vergeſſen! Schoͤnſte, vergeſſen! — Noch
unterwegs traf ich ein huͤbſches liebes Kind,
und ſagen Sie ſelbſt, wie kann man eine ſchoͤne
Gegend
[303] Gegend ſehen, und nicht wenigſtens darauf
athmen? und ſich freuen, daß man athmen
kann? Die gnaͤdige Wittwe holte ſehr tief
Athem, und ward durch dieſe und dergleichen
Unterredungen, die alle ergaben, daß Herr
v. E. ein großer Verehrer von ſchoͤnen Gegen-
den war, zur eigentlichen Materie gebracht.
Du weißt, mein Kind, fieng ſie an, was dein
ſeliger Vater wegen der Fraͤulein S. noch bey
ſeinen Lebetagen berichtiget. — Du weißt,
daß dein Herz und deine Hand vergeben ſind,
und wenn du dieſe Gegend, die dir bald ei-
genthuͤmlich zugehoͤren ſoll, mehr in Erwaͤ-
gung gezogen, ich wette du haͤtteſt deine Mut-
ter nicht ſo lange warten laſſen. — Im Te-
ſtament denkt’ er an dieſe deine Verlobte,
welche dich mehr liebet, als du dir vorſtellen
kannſt. Sein lezter Wille ſetzet feſt, hier
nahm ſie ihren Sohn, um ſich mit ihm die-
ſes Teſtaments wegen, zur vertraulichen Un-
terredung einzuſchließen. — —


Herrmann hatte Gelegenheit, mit ſeiner
Dene eine gleich vertrauliche Unterredung an-
zuſtellen, bei der es beynah bis zum B. ge-
kommen waͤre. Es war dieſes im eigentlichen
Sinn fuͤr Herrmann ein Schaͤferſtuͤndchen —
denn er liebte, er liebte brennend — nicht
Denen,
[304]Denen, ſondern das liebe Ihrige, und davon
ſolt’ in dem gegenwaͤrtigen Stuͤndchen gehan-
delt werden. — Es fiel ſehr auf, daß die
Frau v. E. ſich mit ihrem Sohne, nicht ſei-
ner Heyrath wegen, eingeſchloſſen. Dieſe
diente nur zum Vorwand’ und Ueberrock:
Dene war die Hauptrolle. Herrmann em-
pfand den gluͤcklichen Vorfall, daß ſich die
Frau v. E. und ihr Sohn paarten; denn wo
ein vertrautes Paar ſich ſondert, da giebts
mehr. —


Sehen Sie nur, Herr Herrmann, fieng
Dene an, es iſt bei alledem eine eigene Sa-
che mit dem Teſtament, ich bin mit der gnaͤ-
digen Frau wie getraut, wir koͤnnen es nicht,
der Tod ſoll uns ſcheiden. —


Das daͤcht’ ich, ſagte Herrmann, haͤtte
nichts zu ſagen. —


Ein Teſtament! —


Eine Eheſcheidung! —


recht, lieber Herrmann. —


  • (Herrmanns Herz fieng dieſen Ballen, und freute
    ſich, wie ſich ein Kind freut, wenn es den Bal-
    len gefangen hat.)

nun, meine Engliſche? —


Aber die Scheidungsſtrafen? —


Das
[305]

Das iſt zu machen. —


Und wie?


Und wie? Sie giebt Ihnen ein Jaͤhrli-
liches, ſo lang ſie leben. —


Wenn ſie will. —


Sie muß wollen.


Wenn ich zur Scheidung Anlaß gebe?


Wenn auch! — im Herzen glaub ich ſieht
ſie nicht ungern —


Daß ich gehe? — Dies iſt auch meine
Hofnung. —


Zu der Meinigen gehoͤrt mehr. —


Was mehr?


Sie, meine Engliſche —


Lieber Herrmann, ich dacht’ eben dran.


O wie gluͤcklich bin ich!


Ich dacht’ eben, wenn die Frau v. E.
dieſe Penſion nur auf meine Lebenszeit ver-
ſchraͤnkt, ſo wuͤrden meine kuͤnftige Erben —


  • (Hierbey haͤtte dem Herrmann angſt und bange
    werden koͤnnen; indeſſen deutet’ er dieſe Erben,
    wie es auch wohl gemeint zu ſeyn den Anſchein
    hatte, auf ſich. —

O engliſche, o guͤtigſte! Sie denken auch
nach ihrem Tode. — (Er weinte, denn das
Zweiter Th. Uward
[306] ward ihm nicht ſchwer. Ein Menſch, wie
er, haͤtte beim Wort Tode heulen und zaͤhn-
klappen ſollen; allein es waren dieſe Thraͤ-
nen, wie alles an ihm war. Seine Empfin-
dungen waren Kunſt. Sie ergoſſen ſich nie,
ſie wurden nur durchs Druckwerk getrieben.
Er hatte beides Lachen und Weinen in einem
Behaͤltniß — wie man wolte, wolt’ er
mit. —)


O, den werd ich, den werd ich nicht
uͤberleben!


Dene, welcher unfehlbar der ſelige gnaͤ-
dige Herr beim Ueberleben einfiel, fieng auch
bitterlich zu weinen au. Herrmann deutete
dieſes auf ſich, und umfaßte ihre Knie und
— da hoͤrten dieſe Turteltauben die zuruͤck
kommende Frau v. E. und ihren Sohn, das
Teſtament in der Hand.


Jedes, Dene und Herrmann, giengen
in ein ander Fenſter. Es hatte ſich ſchon
jedes etwas kalt gewordenes Theewaßer aufs
Schnupftuch gegoßen, um deſto gruͤndlicher
alles zu verwiſchen. —


Herr v. E. wandte ſich, da er zuruͤckkam,
das Teſtament noch in der Hand, zu Denen
— da find ich, liebe Dene, fing er an, eine
naͤrriſche Clauſul. — Hat der Teufel je ſo
was
[307] was gehoͤrt, zwey Frauenzimmer ſollen ſich
verheyrathen! — Sie haben mir nie was
boͤſes gethan, liebe Dene, und noch bey
meines Vaters Leben, wo ſie im Hauſe was
galten, hab ich alles Liebes und Gutes, es
verſteht ſich in allen Ehren, von ihnen ge-
noßen; — allein ſo weit geht die Erkennt-
lichkeit nicht, und ſo nah ſind wir mit ihrer
Erlaubniß nicht verwandt, daß meine Mut-
ter eine Perſon im Hauſ’ ertragen ſolte, die
ihretwegen gar nicht ins Haus kommen ſol-
len. Sie verſtehen mich doch, Dene?


O ja, ſagte Dene. —


Sie haben alſo ihren Abſchied. —


Frau v. E. ohne daß ſie ſich eben uͤber-
eilen duͤrfen. —


Herr v. E. heute, morgen, uͤbermor-
gen. —


Dene, und wegen meiner treugeleiſteten
Dienſte? —


Frau v. E. ſah’ ihren Sohn an, als ob
ſie ſagen wolte: hab’ ich es nicht gedacht? —


Herr v. E. Es wird ſich finden —


Frau v. E. die herzlich froh war, daß
ſie Denen ſo auf gute Manier, ohn’ einſt ei-
nem Rechtsgelehrten desfals zu beichten, los
U 2war,
[308] war, fiel ihrem Sohn ins Wort: — Dene
ſoll nicht drunter leiden! — Wir werden dar-
uͤber eins werden! —


Dene kuͤßte der Frau v. E. die Hand,
und dem Herrn v. E. desgleichen, und ſo
war alſo Herr v. E. ein treflicher Executor
teſtamenti.


Herrmann erzaͤhlte dieſe Geſchichte, da
er heim kam, ſeiner Tochter Minen. — Denn
er war außer ſich. — Kein Stein des Anſtoſ-
ſes mehr auf dem Wege zu Denens Herzen
— aber, ein großes Aber, blieb ihm im
Herzen ſtecken, weil es noch nicht berichtiget
war, was Dene zum Abtrag haben ſolte.
Minen ergrif eine große Angſt. Sie hatte
beſtaͤndig Ahndungen. — In dem Augen-
blick, ſchreibt ſie, da mein Vater den v. E.
ausſprach, noch eh’ er ihn ausſprach, wußt’
ich, daß Herr v. E. zu uns kommen wuͤrde,
nur wer er war, wußt’ ich nicht halb, nicht
ein Viertel. —


Den achten Tag, ſo lange hatte ſich
Herrmann wegen kleiner podagriſcher Anfaͤlle,
die ihm ſehr ungelegen kamen, zu Hauſe ge-
halten, langte Herr v. E., wie er ſchwor,
der Muſik wegen, an, und neben her zu ſe-
hen, wie Herrmann ſich befaͤnde. Mine
that
[309] that einen heftigen Schrey, da ſie den Herrn
v. E. ſah. Er aber, nachdem er ſie durchs
Glaß betrachtet, fand ſie aller allerliebſt
und das ſagt’ er ihr ſo ohne Ruͤckhalt, als
ob ſie zum Kauf ſtuͤnde, wo jedem Vorbey-
gehenden frey ſtehet, ohne Umſtaͤnd’ allerliebſt
zu ſagen. —


Es blieb bei dieſem allerliebſt nicht. Sie
war im Negliſchee, und da fand er das Band
am Buſen ſo ſehr der Jahrszeit angemeſſen,
daß man es nicht beſſer in Paris haͤtte waͤh-
len koͤnnen. — Er packte ſeine drey Glaͤſer,
(durch alle drey hatt’ er ſie geſehen,) ein,
und ſchien es dazu anzulegen, Minen mit
ſeinen leiblichen Augen zu erreichen. Er war
fertig, ſie in naͤhern Augenſchein zu nehmen.
Da nahm Mine ihre ganze Gewalt im Aug
zuſammen, um ihn zur Erde zu ſehen. — Er
fuͤhlte dieſen Blick, obgleich er ein ganzes run-
des Jahr in Paris geweſen war, und er kam
wieder zuruͤck, zu ſeinen drey Glaͤſern, und
zum Allerliebſt. Von dieſer Stelle haͤtt’ ihn
das Auge der Tugend ſelbſt nicht wegblitzen
koͤnnen. — Mine hatte nichts mehr noͤthig,
als dieſen Zwitter von Franzos und Cur-
laͤnder zu ſehen, um ihn unausſtehlich zu
finden. — Sie wuͤrd’ uͤber den erſten Sterb-
U 3lichen
[310] lichen mich nicht vergeſſen haben. Sie war
ganz mein. Sobald ſie dieſen Gecken geſe-
hen hatte, ſahe ſie, was ſie oft geſehen,
daß ihre Ahndungen nicht immer traͤfen. —
Ein Geck dieſer Art kann nicht ſchwer zu ent-
fernen ſeyn, dachte ſie, und in Wahrheit ſie
dachte ſehr richtig, denn mich duͤnkt, nichts
iſt einem jeden gutdenkenden Maͤdchen leich-
ter, als einen Stutzer, der ein Jahr in Pa-
ris geweſen, auf ſeine Graͤnze und zu ſeinen
drey Glaͤſern zu bringen — ich weiß wohl
wer unverſchaͤmter iſt.


Es iſt mir unbekannt, ob meine Leſer
ſchon einen curſchen Franzoſen geſehen haben!
Werth zu ſehen iſt er! Franzos und Curlaͤn-
der reimen ſich, als Chapeaubashuͤtchen
und Stallmeiſterſtiefel, als Sonnenſchirm
und Jagdtaſche. —


Ich habe ſchon die Ehre gehabt, den
Herrn v. E. als meinen Nebenbuhler zu praͤ-
ſentiren, und jetzt kennen ihn meine Leſer
noch oben ein.


Herr v. E. konnte nicht ein Auge, oder
eigentlich ein Glaß, von Minen laßen. —
Er war außer ſich, ſteckte die drey Glaͤſer
an ihren Ort, und kam wieder an das der
Jahreszeit ſo angemeſſene Band am Buſen,
das
[311] das man in Paris nicht beſſer waͤhlen koͤn-
nen. — Mine warf ihn auch wieder mit ei-
nem Blick zu Gottes Erdboden — den Elen-
den! der nicht werth war, daß ihm die Sonne
beſchien. — Dem Kuß zum Abſchiede ward
ihr ſchwer zu entgehen, ſie entgieng ihm zwar;
indeſſen fiengen ihre Ahndungen wieder ihr
Recht zu behaupten an. — Herrmann ſelbſt
ſchien die Freyheiten, die ſich Herr v. E. her-
ausgenommen, zu mißbilligen. Dieſen
Schein dedicirt’ er indeſſen blos Minen hin-
ter des Herrn v. E. Ruͤcken. — Uebrigens
verſtattete das Podagra dem Herrmann nicht,
ſo hart er ſich gleich ſtelte, den Herrn v. E.
ſo weit zu begleiten, als ſeine Geburt es
mit ſich brachte, und wegen dieſes Umſtan-
des konnt’ er nicht aufhoͤren, um Verzeihung
zu bitten. —


Schon den folgenden Tag ward Herr-
mann zur Frau v. E. gebeten; allein er
konnte von dieſem Ruf erſt den dritten Tag
Gebrauch machen. — Herrmann war noch
nie ſo bitterboͤſ’ aufs Podagra geweſen, als
diesmal.


Herr v. E. haͤtte beynah, wie er ſich aus-
druͤckte, den Verſtand uͤber Minen verlo-
ren! — Dazu, glaub’ ich zwar, wuͤrde we-
U 4nig
[312] nig erforderlich geweſen ſeyn, weil er gewiß
keine große Summe zu verlieren hatte; in-
deſſen ſahe man aus allem, daß, ſo bereiſet
er gleich war, er ſelten eine ſo ſchoͤne Gegend,
als Minchen, gefunden, obgleich er ein gan-
zes rundes Jahr in Paris geweſen.


Da er ohne und mit den drey Glaͤſern
geſehen, daß Minchen kein bonum vacans,
(erbloſes lediges Gut,) wobey der Dieb gal-
genfrey ſtehlen kann, ſondern zu tugendhaft
waͤr’, um ſein aller Allerliebſt zu beherzigen;
ſo fand er noͤthig, einen andern Weg einzu-
ſchlagen, und dieſe Feſtung, nach ſeinem
Ausdruck, die nicht im Sturm uͤbergieng,
durch Liſt einzunehmen. —


Nachdem ich das Teſtament, fieng er
an, genau erwogen, find ich Ihre Schei-
dung von Denen ſo leicht nicht, gnaͤdige
Mutter, als zuvor.


(Herrmann und Dene gegenwaͤrtig.)


Das dacht’ ich wohl, erwiederte Frau
v. E. in ihrer Unſchuld. Ein Teſtament iſt
ein Teſtament. — Es iſt der Wille eines
Vaters! eines Gemahls! der lezte Wille —
und ich glaube nicht, daß ſie ſich von Denen
ſo leicht zu trennen im Stande ſind. —


Die
[313]

Die Frau v. E. wuͤrde mehr geſagt haben,
wenn nicht der Herr Sohn dieſes Drama in
Gegenwart Denens und Herrmanns aufgefuͤh-
ret. Die Mutter ſchrieb dieſen Umſtand auf
die Rechnung ſeines Leichtſinns; allein er ge-
hoͤrt’ auf ein unwuͤrdigeres Blatt, auf die
Rechnung einer niedrigen Liſt. Es war die-
ſes Drama Ausduͤnſtung eines boͤſen Her-
zens. Die Mutter blinzte bald mit dem rech-
ten, bald mit dem linken Auge; allein der
Sohn ließ den Vorhang nicht fallen, das
Stuͤck hatte ſeine fuͤnf Aufzuͤge — Dene
und Herrmann hoͤrten wie natuͤrlich auf. Er
machte dem Herrmann, auf den es bey die-
ſer Liſt angelegt war, ſo bange, daß er ſte-
henden Fußes Minen verrathen und verkauft
haͤtte, wenn er damit dem Teſtament eine
guͤnſtige Wendung geben koͤnnen. Dies war
das Ziel, nach welchem Herr v. E. redete. —


Je mehr ſeine Mutter bey dieſer Sache
abbrach, je weitſchweifiger ward er. Sein
Auge lag auf der Erde, und konnt’ alſo
dem Winken der Frau v. E. nicht begegnen.
— Die Mutter nahm ihn endlich bey der.
Hand — er kuͤßte die Hand, und fuhr fort.
— Wollen wir nicht allein, ſagte ſie? War-
U 5um
[314] um, ſchoͤnſte Mutter, antwortet’ er: es
ſind ja unſere Freunde. —


Seht! was iſt Recht und Unrecht!
Wachs in einer warmen Hand; du aber,
gerechter Gott, ſiehſt auf alle, die auf Er-
den wohnen!


Nach einem ſehr ausſtudirten Vortrage
aller der Schwierigkeiten, warum Dene
nicht das muͤtterliche Haus verlaßen koͤnnte,
ſucht’ er mit Fleiß eine Gelegenheit, den
Herrmann allein zu ſprechen, um ihn vol-
lends in ſein Netz zu ziehen. Herr v. E. that,
da er dieſe Gelegenheit hatte, als ob ſie ganz
von ungefehr gekommen oder, wie man ſagt,
vom Himmel gefallen waͤre. —


Noͤthig hatt’ er nicht, den Herrmann
uͤber Denen auszufragen; denn alles war
gegenkuͤndig; indeſſen fieng er von Denen,
als von einer Sache, zu ſprechen an, bey
der man wenig oder nichts verloͤre. Dies
wirkte. — Er brachte den Herrmann immer
weiter, bis er ihn endlich ſo weit hatte, daß
er zu allem Ja zu ſagen warm war; nur
Dene mußte von dieſem Ja abhaͤngen. Was
meynen Sie, ſagte Herr v. E., wuͤrd’ ihre
Tochter wohl Denens Platz vertreten? Kurz
Mine
[315]Mine ſolte Dene werden. — Ein Engel,
ein Teufel. Herrmann nahm nicht nur den
Apfel vom verbotenen Baum und aß, ſon-
dern riß noch einen ganzen Aſt mit. Er
dankt’ in tiefſter Unterthaͤnigkeit fuͤr die gnaͤ-
dige Verſorgung, und es ward auf Treu
und Glauben verabredet und abgeſchloſſen,
daß Mine die erledigte Stelle der Dene ein-
nehmen ſolte.


Boͤſewichter! warum ſtarrte nicht euer
Kopf, da ihr dieſe Verraͤtherey, dieſen Mord,
dachtet, und eure Zunge, da ihr ihn aus-
ſpracht! Herrmann, deine Tochter! die Ge-
rechte! kannſt du verrathen und verkaufen?
Minen! die dir nicht mehr zugehoͤrt, ſondern
mir! Minen! — —


Herr v. E. brachte den Herrmann krum
und gebuͤckt zu ſeiner Mutter. Er trug die
Sach’ oͤffentlich vor, das heißt: in Gegen-
wart ſeiner Mutter und Denens, die nun
wohl einſahen warum? Sie laͤchelten beyde;
allein ſie fanden die Sach’ an ſich ſehr uͤber-
dacht. — Die Frau v. E. hatte nur noch die
eine Bedenklichkeit, daß ehe Mine Dene
wuͤrde, ihr Sohn ſich mit der Fraͤulein S.
verheyrathen ſolte. Es iſt nicht darum, ſon-
dern
[316] dern darum, ſagte die gnaͤdige Mutter. —
Sie behauptete, dergleichen Dinge zu verſte-
hen und endlich, nach vielen Zweifeln und
Aufloͤſungen, blieb es dabey, daß er ſich, ehe
Mine zur Frau v. E. zoͤge, wenigſtens oͤffent-
lich verlobt haben muͤßte. Wer die Beyſtim-
mung des Herrmanns zu dieſem Morde fuͤr
Uebertaͤubung gehalten, wird jetzt auf dieſe
Entſchuldigung Verzicht thun und — was
vom Herrmann denken? Zu Anfange ſolte
Herrmann, dem unter dieſer Bedingung ſein
Ja gegeben war, Minens Ja abholen. —
Dene mußt’ unter dieſer Bedingung B. ſagen;
allein dieſer Plan ward abgeaͤndert. Herr
v. E. entſchloß ſich, ſelbſt in hoher Perſon Mi-
nens Ja abzuholen — wenn gleich Minchen
nicht ehe Dene wird, ſagt’ er, als bis ich
verlobt bin; ſo kann ich doch mit ihr den
Contrakt vollziehen und ihn, um eine feſte
Bindung zu haben, verkitten. Warum nicht,
frug Herrmann? alles frug ihm nach? Das
Stratagem, dachte Herr v. E., kann nicht
fehlſchlagen, und du haſt das ſuͤße Vergnuͤ-
gen, Minen Ja ſagen zu hoͤren — „und
„wenn ichs auch nur durchs Glaß hoͤren ſoll.
„— Wer hoͤrt nicht gern Maͤdchen — Jas
„— ich will hin! —„


Herr
[317]

Herr v. E. machte jetzt einen ganz andern
Auftritt, als im erſten Akt. Der Knoten war
geſchuͤrzt. Wer den Vogel im Kefig hat, be-
darf keinen Vogelleim. Ohne ihr Band am
Buſen der Jahreszeit angemeſſen zu finden,
ohne die Exclamation: aller allerliebſt! trug
er Minen, die auf dieſen Antrag nicht im
mindeſten vorbereitet war, das bewuſte Brod-
ſtellchen an. — Vielleicht wuͤrd’ ein weniger
kluges Maͤdchen, als Mine, drey Schritt zu-
ruͤckgetreten und Bedenkzeit nachgeſucht, oder
wohl gar Jageſagt haben; obgleich es an ſich
immer ein falſcher, ein Pariſerzug war, dieſe
Anwerbung ſelbſt, und nicht durch gute Maͤn-
ner, auf deutſche Weiſe zu thun. — Mine
ſagte: Nein! — Ein ſo ofnes Nein, ein ſo
kurz und gutes Nein, daß Herr v. E. nicht
weiter das Herz hatte, auf ein Ja bei dieſem
hartſchaͤligen Maͤdchen, (wie er es zu nennen
beliebte,) zu beſtehen. Herrmann war bey
dieſer Anwerbung nicht gegenwaͤrtig. — Herr
v. E., der von Minen Ja (dies Wortſpiel
von Ja; denn ſie ſolte den Worten nach Aus-
geberin, Geſellſchafterin, werden) hoͤren wolte,
fand ſie auch ſchoͤn beym Nein. Er kuͤßt’ ihr
die Hand! — brennend —


Ich
[318]

Ich beklage, ſagt’ er, und wußte nicht
von ſich ſelbſt, ich beklage meine Mutter, mei-
ne liebe, liebe Mutter, meine ſchoͤne Mutter,
die ſchoͤnſte, die ich kenne. Es faͤhrt mir durch
Mark und Bein, wenn mein Finger noch ſo
leiſe den Ihrigen tipt. Eine aller, aller, aller-
liebſte Mutter. Der Saum ihres Kleides
macht mich ſchon gluͤcklich — ſein Auge re-
dete weiter. — Es war ſo unverſchaͤmt, ſo
ungezogen, als moͤglich. Viele Leute glau-
ben zwar, daß man mit dem Auge nicht un-
gezogen ſeyn koͤnnte. — Die Pariſer! —


Herrmann reiſete mit, und kam ſo bald
Herr v. E. zu ſeiner S. abgieng, wieder heim.
Er that Minen eine Frage, die ihr durch die
Seele gieng. Wie gefaͤlt dir der Herr v. E.,
fieng er an — allein Mine, die das vierte Ge-
bot wußte, und auf die Frage: wie ihr Dene
gefiel? — „als Mutter„ antworten konnte,
beſaß keine Faßung auf dieſe außer dem Ge-
biet des vierten Gebots liegende Frage: wie
ihr Herr v. E. gefiele, zu antworten. Sie
vergaß hiebey den Vater im Kupler, und
ſprach ſo gewaltiglich, ſo zudringlich, daß ſie
den Herrmann aus aller Faſſung ſetzte. —
„Solch einen Antrag„ fieng Mine an: ihre
Zunge war feurig, „ſolch einen Antrag mir!
„War
[319] „War ich denn auch nicht einmal eines gefir-
„nißten eines verkleideten werth? mußte mir
„denn dieſer Entwurf ganz wie er war! und
„nicht einſt gekruͤmmelt dargelegt werden!
„Mir! — zwar waͤre mir die Bosheit auch
„in ihrer Larve nicht entgangen, ich haͤtte das
„Gift auch im Wein erkannt, und wenn ich
„zu ſchwach geweſen, wahrlich! Gottes En-
„gel haͤtten mir den Vorhang aufgezogen,
„wenn er noch ſo kuͤnſtlich waͤre gewebt wor-
„den! aber dieſe Dummdreiſtigkeit im La-
„ſter! — Gott!„ — — ſie reckte ihre Hand
weit gen Himmel, um ſich durch dieſe Voll-
macht zu der guten Sache zu berechtigen: ſie
ſprach im Namen der Tugend, als ihre Macht-
haberin, und Herrmann rang die Haͤnde,
ſchlug an ſeine Bruſt und verſprach, ſie nicht
zu verrathen, und zu verkaufen: ſie nicht zu
vertauſchen, auch ſelbſt — was konnt’ er
mehr verſprechen, auch ſelbſt — „wenn ich
druͤber Denen verlieren ſoll!„ —


Dieſe Busandacht bewegte Minen, ſie
fiel ihm um den Hals, ſie weinte, ſie betete,
ſie verſprach ihn mit ihrer Haͤnde Arbeit zu
ernaͤhren, und ihren Bruder, der bald aus
der Lehre treten wuͤrde, zur Beyſteuer zu be-
quemen, um ohne Denen leben zu koͤnnen.
„Dieſe
[320] „Dieſe Haͤnde„ ſie faltete ſie, und ſprach ſo
feyerlich, als wenn ſie einen Eid ablegte,
„dieſe Haͤnde ſollen Tag und Nacht arbeiten„
„— Herrmann war wirklich bewegt.„ Iſt
„ihnen der Unterricht der Kinder ſchwer, ſie
„koͤnnen ja nicht blos ein Mundwerk, ſon-
„dern mehr als ein Handwerk —„ Pfuy,
ſagte der alte Herr, ſo geruͤhrt er auch war.
Mine wolte das Handwerk dieſes Pfuys we-
gen verreden; allein Herrmann ließ ſie nicht
vom Fleck. Handwerk! fuhr er fort. Wie
kannſt du mir ein Handwerk vorruͤcken? Was
hab’ ich denn fuͤr eins getrieben? Die Schnei-
derey an ihren Ort geſtelt, wo ich doch auch
kein Kleid, keinen Ueberrock, ſondern Sa-
chen fertigte, die nicht ins Auge fielen.
Bruſttuͤcher und ſo was. — Von Stie-
feln Schuh, von Schuhen Pantoffeln kuͤnſteln,
heißt das Schuſtern? Und etwas aus Thon
drechſeln, heißt das Toͤpfer ſeyn? Ich
war, damit du’s einmal fuͤr allemal weißt,
Freyſchneider, Freyſchuſter, Freytoͤpfer, ſo
wie viele von unſern Hochwohlgebohrnen
Herren, wenn ſie von Reiſen kommen, Frey-
maͤurer
ſind. Mine gab ſich alle nur erſinn-
liche Muͤhe, ihren Vater zu beruhigen; al-
lein vergebens. Er konnt’ ihr das Hand-
werk
[321] werk nicht verzeihen, und die Schule? fuhr
Mine fort. Auch nicht! erwiederte Herr-
mann, der nicht Commißbrod eſſen wolte,
wenn er magenverderbendes Gebacknes haben
konnte. Du weißt, ſagt’ er ihr, daß wir die
letzte Zeit jaͤhrlich eingeſchuſtert haben. —
(Gern haͤtt’ er dieſes Wort zuruͤck gehabt.) —
Du weißt — — Mine weinte. — Sie lei-
tet’ ihren Vater auf Gott, den Brunnquell
aller Gnaden! Wie ein Vater ſich erbarmet
uͤber ſeine Kinder, ſo wird ſich Gott erbarmen
uͤber uns, wenn wir ihn fuͤrchten — wenn
wir auf ſeinem Wege wandeln, ſeine Rechte
halten und darnach thun. Ich will Nacht
und Tag zu Gott empor rufen! Ich will eine
Naͤhſchule halten, ich will beten und arbeiten,
bey Brod und Waſſer. — Ich will alles, alles
verſuchen, was ehrlich und recht iſt, vor Gott
und Menſchen. — — Aller Augen warten
auf den Herrn! Er giebt Speiſe zu ſeiner Zeit,
er thut ſeine milden Haͤnd’ auf, ſaͤttiget alles
was lebet, bis auf die himmelſchreiende Ra-
ben. Sind wir denn nicht, als ſie! — Mine
ſagte dies mit ſolcher Zuverſicht, daß Herr-
mann ihr nicht weiter den Vorſchlag von
Mund und Handwerk nachtrug. —


Zweiter Th. XHerr-
[322]

Herrmann wiederholte ſein Verſprechen
langſam, bedaͤchtig, als ſchwoͤr’ er einen Eyd,
Minen zu behalten, auch wenn er Denen
druͤber einbuͤßen moͤchte. —


„Wie haͤtt’ ich, ſchreibt Mine, ihm Glau-
„ben verweigern koͤnnen! — Das Blut, das
„mir bey dieſer Scene zu Herzen ſchoß, redete
„fuͤr ihn„ — — So weit konnt es Mine
nicht bringen, daß er nicht mehr nach —
zur Frau v. E. reiſete. —


Wer hingeht, ſagte Herrmann, muß zu-
ruͤckgehen: indeſſen wiederholt’ er mit einem
feyerlichen Gott anrufenden Blick ſein Ver-
ſprechen. Es war gleich den folgenden Tag
nach ſeinen Bruſtſchlaͤgen, nach ſeinem Blick,
oder, welches einerley iſt, nach ſeinen Schwuͤ-
ren, da er zur Frau v. E. dringend geladen
ward. Mine nahm Gelegenheit, da ſie ihren
Vater auf dem rechten Wege hatte, ihm unſere
Verbindung ſo deutlich zu machen, daß nur
noch die Worte fehlten: ich bin mit Alexan-
der verlobt, wir ſind Eins.
— Mit Fleiß
oͤfnete ſie ihm Ausſichten, wodurch er Denens
wegen entſchaͤdigt werden ſolte, und glaubte
ſie, wie ſie ſchreibt, ihn im Geiſtlichen und
im Leiblichen gewonnen zu haben. So unbe-
ſchei-
[323] ſcheiden Herrmann in dergleichen Faͤllen war;
ſo haſcht’ er doch nach keiner Sylbe mehr von
mir, als ihm Mine gab. Dieſe Beſcheiden-
heit leiſtete Minen Buͤrgſchaft fuͤr alles. —
Vergeſſen Sie ihre Tochter nicht, ſagte Mine,
da er von ihr Abſchied nahm, Gott wird ſie
auch nicht vergeſſen, wenn ihnen Huͤlfe, Troſt,
Rath, — Noth iſt. Es bleibt, erwiederte
Herrmann, und ſchwur wieder mit einem
Blick. — —


Um alſo zuruͤckzugehen, gieng Herrmann
noch — und Mine war voll guter Hofnun-
gen, und dieſe gab ſie, ſo ſehr ſie gleich das
lange Ausbleiben des Vaters befremdete, doch
noch den ganzen Tag, den Abend, die Nacht,
den folgenden Mittag, nicht auf. —


Da aber Herrmann auch den Mittag
drauf noch nicht zu Hauſe kam, ſtiegen wieder
Wolken oder Ahndungen auf. Sie wartete
noch dis Mittag des folgenden Tages, und nun
war es Minen mittagsklar, daß ihr Vater
ſo viel Zeit nicht bedoͤrfe, um zuruͤck zu ge-
hen.
Gegen Abend ein Brief von Herr-
mann! — Mine wußte ſchon, eh ſie ihn oͤf-
nete, was drinn war, und meine Leſer wer-
den es auch wiſſen —


X 2„ich
[324]
  • „ich bin krank, komm deinen Vater ſehen,
    „denn vielleicht ſtirbt er, damit er dich
    „ſegne. —„

Das war der abſcheuliche Inhalt eines
Briefes, den ein Mann ſchreiben konnte, in
deſſen Mark Gichtgift verborgen lag, das oft,
eh’ er ſichs verſah, aufgaͤhrte! Der mit fey-
erlichen Gott anrufenden Blicken geſchworen
hatte. — O Herrmann, konnteſt du ſo mit
dem vaͤterlichen Segen ſpotten, und ſo mit
dem Tode? und ſo mit Eyden?


Mit dieſem Brief’ ein ſehr gemeines
Fuhrwerk, um alles deſto glaubwuͤrdiger zu
belaͤgen — und die Sache deſto kluͤglicher zu
machen. Man wolte durch dieſen Einfall den
vorigen zu plumpen Plan ausputzen, und in
einem elenden Zimmer Schildereyen auf-
ſchlagen. —


Mine ſchrieb ſehr kalt an ihren Va-
ter, bedaurete ſeine Zufaͤlle, kommen wuͤrde
ſie nicht, die Urſachen muͤßten ihm erin-
nerlich ſeyn, ſie hoff’ er wuͤrde ſein Verſpre-
chen erfuͤllen, und hiemit: leben Sie wohl! —


Dieſer Brief machte dem Herrmann na-
tuͤrlich ſehr viele Muͤhe, um ſich herauszu-
winden; denn er hatt’ aller ſeiner Betheu-
rungen unerachtet, auf den erſten gegenſei-
tigen
[325] tigen Angriff alles, alles, aufgeopfert, alles. —
Das Wort von der Hofnung, daß Herr-
mann
ſein Verſprechen erfuͤllen wuͤrde,
das Mine eingeſtreuet hatte, machte ſeiner
Hermenevtik die meiſte Muͤhe. Herr v. E.
ſowohl, als Dene, wolten daraus herleiten,
daß er zween Herren diene. Dieſer ſaure
Schweiß bey der Auslegung brachte den Herr-
mann wider Minen auf eine hoͤchſt ungerecht’
und unnatuͤrlich’ Art auf. Nun hatt’ er mit
genauer Noth dieſe Briefſtelle gerettet und die
hohen Anweſenden uͤberzeugt, daß er nur ei-
nem Herrn diene, und nun war ihm auch
nichts heilig. Der Satan fuhr in ihn. Er wolte
Gift miſchen, und wußt’ es nur nicht anzu-
fangen. — Er entdeckte meine Verlobung
mit Minen, als den einzigen Grund ihres
Neins. — Die Sache ward im ganzen Zuſam-
menhange genommen, und nach dem er meine
Mutter und meinen Vater und mich! (Herr
v. E. erinnerte ſich meiner Haarklein,) in
Lebensgroͤße dargeſtellt, ſo ward beſchloſſen,
meiner Mutter Minens Liebesverſtaͤndniß mit
mir, zu entdecken, ihr einen von meinen
Briefen in der Urſchrift beyzulegen, und Mi-
nen alle Auswege zu beſchneiden, den Stri-
cken ſo vieler Teufel zu entkommen —


X 3Arme,
[326]

Arme, arme Mine!


Herrmann kam, um ſeine Krankheit
deſto wahrſcheinlicher zu machen, und Minen
deſto gewiſſer ins Verderben zu ſtuͤrzen, erſt
nach dreyen Tagen, von dieſem ungluͤcklichen
Brief’ an gerechnet, nach Hauſe. Was
Mine waͤhrend dieſer Zeit ausgehalten, iſt
unbeſchreiblich. Die erſte Beſchaͤftigung des
Herrmanns nach ſeiner Ruͤckkunft war, einen
von meinen Briefen an Minen zu entwenden.
Dieſer Vorpoſten macht’ ihm keine Muͤhe,
weil Mine von dieſer Seite nichts befuͤrchtete.
Vielleicht kuͤhlt’ ihn dieſer Umſtand, oder
vielmehr die Vorſtellung, daß Zorn die gute
Sache verderben koͤnnte. Seine Maske war
Guͤt’ und Freundlichkeit. Eine leichte Rolle
fuͤr einen Boͤſewicht. Der entwandte Brief
ward ſogleich an die Behoͤrde, nemlich an
meine Mutter, und zwar in Begleitung ei-
nes anonymiſchen Briefes verſandt.


Ich weiß nicht, ob meinen Leſern mit
einem Theil des anonymiſchen Uriasbriefes ge-
dient ſeyn werde, womit dieſe Rotte Mi-
nen bei meiner Mutter anſchwaͤrzte, um
ihr die letzte Troſtquelle zu ſtopfen. Herr-
mann war dabey der Faͤnchenfuͤhrer; denn
oben
[327] oben ein raͤcht’ er ſich an meiner Mutter,
ohne daß ſie wußte, von wannen es kam.


Da leſen Sie ſelbſt! hochzuehrende Frau
Paſtorin. Sie kennen Bild und Uberſchrift
— wahrlich ein unwuͤrdiger Sohn einer ſo
wuͤrdigen gottesfuͤrchtigen Mutter, die ge-
nug fuͤr ihn gebetet und geſungen hat! So
viel iſt indeſſen gewiß, daß er nicht der Ver-
fuͤhrer, ſondern der Verfuͤhrte ſey. Retten
Sie ſeine Seele, die im Argen liegt, und
machen Sie, daß er ſie aus dem Argen ziehe,
und in ſeinen Haͤnden trage. — Die ganze
Gegend, und vorzuͤglich die in derſelben, ſo
ſeine Predigt angehoͤret, ziehen uͤber ihn die
Achſeln. Man glaubt, er habe Wilhelmi-
nen ein lebendiges Andenken zuruͤckgelaſſen.
Das wolle der Himmel nicht! Indeſſen waͤr’
aus den Worten: Mann und Weib, du
und du,
auf ein dergleichen im Verborgenen
gebildetes Andenken, dem Sie, hochzueh-
rende Frau Paſtorin! gewiß den Namen
Großkind entziehen wuͤrden, nicht unſicher zu
ſchließen. — Das beſt’ iſt, Wilhelminen —
den Kauf aufzukuͤndigen, und ihr bey Haͤn-
X 4gen
[328] gen und Wuͤrgen alles Einverſtaͤndniß mit dem
Herrn Sohn zu unterſagen, der in Koͤnigs-
berg nichts thut, als Wilhelminen ſchriftlich
lieben. Man weiß aus ſicherer Hand —„
Genug, ich kann nichts mehr abſchreiben.


Mein Brief an Minen, den Herrmann
entwendet hatte, und der dieſem Schleich-
handel den Schein des Rechts beylegte, war
wie gewoͤhnlich treu und herzlich. — Die
Stelle:


„O! Mine, o Weib! Du biſt mir wie ge-
„genwaͤrtig, und alles, alles, iſt mir ge-
„genwaͤrtig. Denkſt du auch dran, wenn
„wir uns die Augen kuͤßten, als traͤnken
„wir ſie aus, wenn ich deine Hand ſo feſt
„an mein Herz hielt, daß du jeden und
„den allergeheimſten Schlag drinn fuͤhlen
„konnteſt, den Puls der Liebe —„


Dieſe Stelle klammerte meine Mutter
ein, und nahm ſie in frommen Beſchlag.
Zur Seite ſchrieb ſie „Gedenke nicht der Suͤn-
„den meiner Jugend und meiner Uebertretun-
„gen, gedenke aber mein nach deiner großen
„Barmherzigkeit! — Ueberall, wo Weib
ſtand, zog ſie einen Strich, als zoͤge ſie ei-
nen Vorhang — —


Mine
[329]

Mine konnt’ es nicht uͤber ihr Herz brin-
gen, ſich nach dem Befinden ihres Vaters zu
erkundigen. Er dagegen hatt’ auch kein
Herz, an ſeine Krankheit zu denken. Herr-
manns Geſicht war bei aller angenommenen
Freundlichkeit ſo durchſichtig, daß Mine
woͤrtlich ihr Schickſal daraus abnehmen
konnte. —


Er fieng die Lobred’ auf Herrn v. E. mit
dem Eingang an: Wir haben uns geirrt,
Mine. Irren iſt menſchlich. Wir haben uns
geirrt. Herr v. E. iſt nicht der Herr v. E.
den wir glaubten, ſondern ein ganz anderer
Herr v. E.. Der Text der Lobrede betraf
ſeine Verlobung mit der Fraͤulein S., und
ſeine Erd- Wand- Band- Niet- und Nagel-
feſte Liebe zu ihr.


Oft kam die Verlobungserzaͤhlung ſo un-
zeitig, daß Mine mehr als zu deutlich ſehen
konnte, was dieſe Wiederholung ſagen wollte.
— Nach einer Weile fieng er an: du kannſt
nicht glauben, mein Kind, wie du dich durch
deine Tugend dem Herrn v. E. empfohlen haſt:
er hat zum erſten und zum zweiten mal ein
Geſchenk fuͤr dich in der Hand gehabt; allein
du haſt ihm ſo viel Achtung eingefloͤßt, daß
er es nicht wagen doͤrfen —


X 5Ein
[330]

Ein Geſchenk, warum das?


Beym Geſchenk, liebes [Kind], fraͤgt nie-
mand warum?


Mine konnt’ und wolte nicht, ihren Va-
ter an ſeine Schwuͤre erinnern. Sie zit-
terte. —


Wenn ſich zu ſeiner Zeit ein Candidat
faͤnde, der dich heyrathen wolte, fuhr Herr-
mann fort, er ſolte gewiß nicht lange auf
ein Paſtorat warten doͤrfen. — Hat der
Herr v. E. Paſtorate zu vergeben, frug
Mine bitter? Das nicht; allein die Con-
nexion der Edelleute untereinander —


Wieder nach einer Weile. Magdalene
wird meine Frau! Das war nicht der erſte
Blitz, der Minen durchs Herz gieng. —
Meine Frau! wiederholte Herrmann: ob du
aber ihre Tochter werden willſt, haͤngt von
dir ab — die alte gnaͤdige Frau will dich —
du ſolſt nichts mit der jungen Herrſchaft zu
thun haben. Herr v. E. heyrathet, das
weißt du doch?


Ja, ſagte Mine, ich weiß —


Wieder nach einer Weile. Er will,
wenn du verlangſt, noch herkommen und
ſich
[331] ſich wegen ſeines Antrages bey dir entſchul-
digen, den er dir ſehr unzeitig gethan. Sei-
ner Mutter kam dieſer Antrag zu.


Ich ſolte denken, ſagte Mine —
und dann wieder nach einer Weile: er ſieht
ſeinen Fehler ein. —


Mit, oder ohne Glaß, erwiederte Mine
ſo bitter, ſo Todes bitter, daß das weiſe
Hofmaͤnnchen ganz aus dem Concept kam.


Mine war in einer ſchrecklichen Situa-
tion. — Sie ſagt’, ihr Plan waͤr’, ihre kuͤnf-
tige Stiefmutter zu ehren, nie wuͤrde ſie in
den Hof, mein Leben, ſetzte ſie ſehr lebhaft
hinzu, und meine Ehr’ iſt eins!


„So„ ſagte Herrmann.


Ja, Vater, ſagte Mine. —
„Und weißt du auch„ Er wolte zu drohen an-
fangen; allein eben zu rechter Zeit fiel ihm
ſeine Mask’ ein, er begnuͤgte ſich daher gros-
muͤthigſt, Minen den Bettelſtab, Elend und
Verachtung, zu prophezeihen.


Arme Mine, edel ungluͤckliches Maͤdchen!
Ich empfinde, was du empfandeſt, und doͤrft’
ich doch nicht erzaͤhlen, was Minen ſehr na-
tuͤrlich noch weit ungluͤcklicher, noch bedau-
renswuͤrdiger machen mußte.


Dies
[332]

Dies verfolgte ungluͤckſelige Maͤdchen
entſchloß ſich in den Armen meiner Mutter
eine Freyſtadt zu ſuchen. Sie war aufs aͤuſ-
ſerſte gebracht. Es ſchrieb an ſie. Den Brief
hat Mine mir nie gezeigt. Es iſt deine Mutter!
ſchrieb die Holdſelige, und machte einen —


Ehe ſie aber dieſen Brief abſchicken konnte,
ſiehe da! ein Brief von meiner Mutter an
Minen. Die Wuͤrkung des Uriasbriefes und
ſeiner Beylage. Dieſer Brief fieng ſich an:


„Es will verlauten, daß Sie meinen
„Sohn verfuͤhret haͤtten und noch verfuͤhren
„—„ und ſchon dieſer Anfang lehret, daß
meine Mutter dem Uriasbriefe ſeine Schliche
abgemerket und den Verfaſſer fuͤr das, was
er war — einen Schwarzkuͤnſtler, gehalten.
Sie glaubte ſein Hokuspokus vom lebendigen
Andenken nicht; allein anſtatt daß ſie der
verfolgten Mine, ihrer ſo wohlgerathenen
Schwiegertochter, die Hand geben und ſie in
Schutz nehmen ſollen, was that ſie? Sie
verſchwieg dieſen ganzen Vorgang meinem
Vater! und wenn ich ihren Brief ganz mei-
nen Leſern mittheilen ſolte; wuͤrd’ ich der Ach-
tung zu nahe treten, die ich meiner Mutter
ſchuldig bin. Sie ließ Minen, aus beſonderer
Milde, Vorzuͤge; nur den konnte ſie ihr nicht
zuge-
[333] zugeſtehen, die Frau eines Paſtors, und die
Schwiegertochter einer ſo ahnenreichen Pa-
ſtorin zu werden. Es waͤre nicht das erſte-
mal, ſchreibt ſie, daß ein Cavalier ein ar-
mes Maͤdchen geheyrathet haͤtte, ſie wuͤnſchte,
daß aus Scherz Ernſt, und Mine die Frau
v. E. wuͤrde: „denn unverhofft- ſetzte ſie hin-
zu- kommt oft-


Ein Paar Stellen muß ich ohngekuͤrzt
geben:


„Es waͤre Stank fuͤr Dank, wenn Sie
„die Nachbarsrechte ſo gewiſſenlos aus den
„Augen ſetzen, und meine grauen Haare ſo
„mit Schimpf und Schande hinab ins Grab
„bringen wolten. Ich habe etwas in Origi-
„nali
geleſen, auf deſſen Rechnung eine grau-
„gewordene Stelle meines Hauptes gehoͤrt.
„Ich weiß die Minute, da ſie grau ward.
„Gott verzeih dem Urheber dieſes etwas in
„Originali
die graue Stelle auf meinem
„Haupte. — Laſſet alles ehrlich und ordent-
„lich zugehen,
das, daͤcht’ ich, hieße wohl
„ziemlich klar und deutlich, die Tochter ei-
„nes noch zu bezweifelnden Litterati koͤnne
„meine Schnur nicht werden. — Ich habe
„ſchwarz auf weiß, und verbitt’ alle Spruͤnge
„durch einen Reif; alle Kunſtſtuͤcke der Ent-
„ſchul-
[334] „ſchuldigung, und kurz und gut, alles und
„jedes zur Antwort, die ich, ſo warm als
„ich ſie erhalte, zuruͤckſenden werde. Ih-
„ren Zuſpruch muß ich noch aus einer Ur-
„ſach mehr verbitten, auch ſelbſt wenn Sie
„an der Hand meines Sohnes kaͤmen, wuͤrd’
„ich fuͤr beyde uͤber Feld gegangen, und
„nicht zu Hauſe ſeyn. So was kann nicht
„geſchlichtet,
ſondern muß gerichtet werden.
„Ungern hab’ ich an Sie geſchrieben; allein
„um nicht Oel zum Feuer zu gießen, und
„das allgemeine Gerede noch gemeiner zu ma-
„chen, das ohnehin ſchon in fliegende Blaͤt-
„ter ausartet, wie eine Raupe in einen
„Schmetterling — blos darum dieſer Brief,
„der erſt’ und der letzte —


„Sing bet’ und geh auf Gottes Wegen,

„verricht das Deine nur getreu!

„vertrau des Himmels reichem Segen,

„und er wird jeden Morgen neu;

„denn wer nur ſeine Zuverſicht

„auf ihn ſetzt, den verlaͤßt er nicht. — —„

Da war nun Mine von aller Welt verlaßen!
Dieſe Gerechte! das ſchwarz und weiß, und
das allgemeine Gerede, und das etwas in
Originali, auf deſſen Rechnung eine grau-
gewordene Stelle gehoͤrte, die Gott dem Ur-
heber
[335] heber verzeihen ſolte, waren Minen unbe-
greifliche Dinge; — allein die Hauptſache
war deſto brgreiflicher. — Mine that ihren
Mund nicht auf. — Zu meinem Vater ſich
zu wenden, hatte ſie kein Herz. — Es fiel ihr
der Ueberfall im Waͤldchen ein. — Dieſer
hatte bey Minen etwas zuruͤckgelaſſen, was
ſie hielt — ſie wolte ſchon; allein ſie konnt’
es nicht vollenden, o! liebe, liebe Mine,
warum nicht? —


Als ich einem meiner Freunde aus freyer
Fauſt meinen Lebenslauf erzaͤhlte, und an
dieſe Stelle kam, bey der ich ihn fragte: ha-
ben Sie das von meiner Mutter gedacht?
antwortet’ er: ja, Freund; denn ſie konnte
buchſtabiren,
ſie ſetzte ihren Caſum, und
war fromm.


Ob mein Freund recht gerichtet, moͤ-
gen meine Leſer, nicht hier, ſondern uͤber
ein kleines beurtheilen. — —


Herr v. E. kam jeden Sonntag’ in unſre
Kirche. Mine ſah ihn nicht an; allein er
ſahe ſie, und wie er ſahe? das wiſſen wir
ſchon. Er verlobte ſich wirklich mit dem Te-
ſtaments Fraͤulein; den Sonntag darauf war
er in unſrer Kirche mit ihr, und trieb die
Sache
[336] Sache ſo weit mit Minen, daß alles das Kir-
chengeſtuͤhl, wo Herr v. E. ſaß, und Minen,
in einer Reihe anſahe, ſo, daß mein Vater
ſelbſt ein paarmal ein Wort zweymal ſagen,
und ein andres lang ziehen mußt’, um ſich
auf das folgende zu beſinnen. So ſehr ward
er geſtoͤhrt! Mine hoͤrt’, indem ſie aus der
Kirche gieng „der Braut im Geſtuͤhl druͤckt’ er
„die Hand, und von Jungfer Minchen laͤßt er
„kein Auge, was iſt beſſer Hand oder Auge?„


Herrmaun ward in dieſer Verlobungszeit
mit keiner Ladung beehrt; allein daß er mit
dem Herrn v. E. in Verbindung war, ergab
ſich unter andern daraus, weil ſie haͤufig
Briefe wechſelten, weil verſchiedenes in die
Kuͤche kam, wovon aber Mine keinen Biſſen
aß, und weil Herrmann ſo gefaͤllig gegen Mi-
nen that, daß ſie ſich vollſtaͤndig uͤberzeugte: es
gieng’ etwas vor. —


Sie hatte ſchon oft an ihren Bruder in
dieſen Herzensnoͤthen geſchrieben; jetzt ſchrieb
ſie dringender, und Benjamin kam. Seine
Ankunft konnte bey Herrmann um ſo weniger
Verdacht erwecken, da er ſelbſt verlangt hat-
te, daß ſein Sohn zur Schicht und Theilung
kommen ſolte. Es iſt unausſprechlich, wie
ſich Mine freute, ihres Geliebten Gevollmaͤch-
tigten,
[337] tigten, ihrer Liebe Zeugen, ihren Benjamin
zu ſehen. — Sie konnte ſich nicht zuruͤckhal-
ten, dieſe Freude vor den Augen des Vaters
aufflammen zu laſſen — Schoͤn, wie ein
Opferfeur!


Mine entdeckt’ ihrem Bruder mehr, als
ſie zu ſchreiben im Stande geweſen, und Ben-
jamin kannte ſie kaum wieder; ſo ſehr hatte
ſie ſich veraͤndert: arme, arme Mine, rief er,
und ſah ſich um, ob es auch Herrmann ge-
hoͤrt haͤtte. — Die ungewoͤhnlich ſtarke Cor-
reſpondenz ihres Vaters mit dem v. E. fiel
beyden zu deutlich auf. Zwar giengen alle
Briefe: An die
Hochedelgebohrne Ehr und Tugend belobte
Jungfer Magdalene —
dienſtfreundlichſt
in

indeſſen ſchien ſie nur uͤberhaupt das Feigen-
blatt zu ſeyn. Bald, ſchreibt Mine, hatt’
ich Hofnung, es wuͤrd’ ein Ende gewinnen,
daß ich’s koͤnnt’ ertragen, bald verlohr ich
den letzten warmen Tropfen Muth — und ich
zittert’ uͤber Leib und Leben. — So gieng es
auch dem Benjamin. — Ohne daß dieſer ſei-
ner Schweſter ſagte, (wer weiß, ob ſie’s zu-
gegeben haͤtte?) entſchloß er ſich, da Herr-
Zweiter Th. Ymann
[338] mann einen guten Nachbar beſuchte — (noch
ward er nicht zum Herrn v. E. beſchieden,)


das Pult zu oͤfnen, und eine handvoll Briefe
zu nehmen. Er rief ſeine Schweſter, „lies„
ſagt’ er. Sie konnte nicht weit kommen. Es
uͤberfiel ſie eine Ohnmacht, nach wenigen Rei-
hen. Meine Leſer ſollen einen Brief ganz le-
ſen und eine Antwort ganz.


Brief des v. E. an Herrmann.


Herr! ſie ſollen nicht Denen haben und
wenn ich Denen ſelbſt heyrathen ſolte. Ich
ſelbſt! hoͤrt der Herr! wenn ich ſie ſelbſt ſolte.
Ihr kruumer Puckel und ihr Haͤndedruck
macht es nicht. Fuͤr was iſt was! Ich bin
Sohn, und will das vaͤterliche Teſtament
aufrecht erhalten. Das will ich! ich will
das! Der Herr ſchreibt nicht hin, nicht her!
nicht gehauen, nicht geſtochen. Ich muß
wiſſen, woran ich bin! denn ich liebe ihre
bildſchoͤne Tochter zum Entſetzen. Unter uns
geſagt, ich denk auch nicht, daß Sie ihr Va-
ter ſind. Minchens Mutter wird ſonder
Zweifel ſo bildſchoͤn geweſen ſeyn, wie die
Tochter noch iſt, und deſſen Gebeine moͤgen
ſanft ruhen, der den Weg mit der Mutter
ging, den ich, wenn ich lebe und geſund
bleibe, mit der Tochter gehen will. — Das
Maͤd-
[339] Maͤdchen hat Verſtand, wie ein Engel, oder
beßer, wie ein Teufel. Gegen mich iſt ſie
ein Teufel. Damit Sie, lieber Herr-
mann, ſich alles zuruͤckerinnern, worauf
es bey der Sache ankommt; ſo bitt’ ich
ja nicht zu vergeſſen und zu verſaͤumen, Min-
chen alle zwoͤlf Stunden, und wenn es auch
oͤfter waͤre, zu ſagen, daß ich heyrathe und
zwar aus lichterloher Liebe. Sie wiſſen es
anders, lieber Freund! allein Mine braucht
es nicht anders zu wiſſen, wenn ich nicht
muͤßte. — Es iſt wenigſtens ein zehnfaches
Muß, das eilfte ſag’ ich keinem, als Ih-
nen, meinem vertrauteſten Freunde! Ich
habe Reiſeſchulden, und im kurzen werden
ein halb Duzend A Datos eintreffen. Se-
hen Sie nur, lieber Herrmann! um ſie
recht von meiner ehrlich und redlichen Ab-
ſicht zu uͤberzeugen; ich will das Teſtaments-
fraͤulein und Minchen zu gleicher Zeit, mit
einer Klatſche zwo Fliegen. — Sagen Sie
ſelbſt, wie mir bey der Trau zu Muthe ſeyn
muͤßte, wenn ich nicht auf den Troſt ihres
Engels rechnen koͤnnte. Ihr gutes Herz
wird mich nicht verwahrloſen. Alle Welt
hat Holz zu dieſem Brande gelegt, und nun
verbrenn’ ich in dieſer Flamme. Ich weiß
Y 2alle
[340] alle Fehler bey dieſer Sache: denn ſonſt
waͤre Mine ſchon mein — ihrer ſtoiſchen
Tugend unerachtet, die eben ſo wenig, wie
heut zu Tag’ irgend eine Feſtung, Stich
haͤlt. — Wir leben in uͤberwindlichen Zei-
ten. — Ich knirſche mit den Zaͤhnen vor
Liebe und vor Wuth, daß ich ſo ſchlecht ge-
ſpielt habe. Wenn meine Mutter Minen
den Antrag gethan, haͤtt’ ich gewonnen
Spiel gehabt; allein alsdann koͤnnten Sie,
Freund! ihre Kunſt nicht zeigen, alles wie-
der in Ordnung zu bringen. Kurz, Herr!
ſo wahr ein Teufel in der Hoͤll’ und ich ein
Cavalier in Curland bin, das iſt viel geſagt,
Dene iſt nicht die Ihrige, wenn Minchen
nicht die Meinig’ iſt. — Eine Hand waͤſcht
die andre. Wird aber Mine, Dene; ſie
verſtehen doch deutſch? ſo ſollen Sie von
meiner Mutter, nemlich von ihrem Witt-
wengehalt, von Teſtaments wegen, ſo lange
Dene lebt, und wenn Dene eher als Sie
ſtirbt, noch ſo lang Sie leben, achtzig Tha-
ler Albertus haben. Gelt! das ſchmeckt!
Außer dem geb’ ich Ihnen ein fuͤr allemal
noch zweyhundert Thaler Albertus, ſobald
Minchen ſich zum Ziele legt. — Die Kinder ſol-
len als deutſche Leute gezogen werden, wie
mein
[341] mein ſeliger Vater Denens Kinder gezogen
hat. Um die Sach’ ihnen ganz auf ein
Haar deutlich zu machen: ich verlange Mi-
nen nur her, und Sie haben die Wette zum
groͤßten Theil gewonnen. Es muͤßte mit
dem Feu’rſpeyenden Drachen zugehen, wenn
ich nicht Minchen bewegen ſollte. — Nur
her, Herr Magiſter! und das Uebrige wird
ſich finden, wie eine auswendig gelernte Pre-
digt. Wenn Minchen ſich weigert, wie ſich
ein Aſt weigert, wenn man Kirſchen pfluͤcken
will: ein hundert funfzig Thaler Alb., wenn
Sie nichts hoͤren und wiſſen will und doch
herkommt, hundert Thaler Alb. und bald
vergeſſen! Muß man doch dem Herrn alles
zu Haͤchſel ſchneiden! — — Die Kruſte
kann der Herr Braͤutgam nicht vertragen,
darum Krume, wo nicht gar Pappe. — Ge-
nug, wenn Sie ſich alle Muͤh’, es verſteht
ſich all’ erdenkliche geben, Minen zu beque-
men, und man dennoch Nein ſchreyt, und
weint und klagt; iſt noch ein Mittel. Ich
denke doch, Sie wiſſen was ein Cavalier
in Curland vermag? und daß er wie Koͤnige
lange Haͤnde hat? Drei verſchwiegene Kerls
zu Hand- und Spanndienſten, ſind auf einen
Wink hier, und dort und da. — Das beſte
Y 3waͤre
[342] waͤre, ſie braͤchten Minchen her. — Schla-
gen ſie vor, was ſie vor gut finden, ſparen
Sie keinen Fleiß. Auch auf den Fall der drey
handfeſten Kerls, funfzig Thaler Alb. und
in allen Faͤllen, wo nur Mine iſt, auch
Dene. Sonſt aber, hol mich der Teufel,
nicht — ewig nicht! — Der Herr ſoll wie-
der ſeine Klippſchule halten, und ſeine Knack-
wurſt eſſen, und Kofent dazu trinken. So
was von Minchen trift man nicht ſo leicht.
Ich bin nicht etwa in ſie verliebt; ich bin in
ſie verruͤckt, und das kommt wohl zum groͤß-
ten Theil, weil ich eben Braͤutigam bin,
und den verliebten ſpielen ſoll. Eine ver-
dammte Rolle! Bey einer Braut, die mir
ſo unertraͤglich iſt, und die mir noch uner-
traͤglicher waͤre, wenn ich nicht eine Mine
haͤtte, bey der ich mich erholen koͤnnte. Mi-
nen gehoͤrt alles, was ich der Teſtaments-
braut ſag’, und wahrlich ich wuͤrd’ ihr nichts
ſagen koͤnnen, ich wuͤrde vergeſſen, was ver-
liebt ſeyn und verliebt thun hieße, wenn ich
Minen nicht zur Uebung haͤtte. Aber Mi-
nens Tugend? — Iſt ſo etwas Tugend, ſo
iſt wenig auf der Welt — hol mich der Teu-
fel — wenig! — Ich ſchwoͤre nur fuͤr Eva,
weil Niemand als Adam da war. — In
Paris
[343] Paris und andern Orten eſſen die Schaͤfchen
aus der Hand. Nur ganz zuletzt in Koͤ-
nigsberg hab’ ich Ihnen ein Maͤdchen —
muͤndlich mehr! Einen ſo langen Brief hab’
ich, ſeitdem ich ſchreiben kann, nicht ge-
ſchrieben. Waͤr Minchen nicht der Inhalt;
ſo muͤßte mich der Teufel plagen, ſo viel zu
ſchreiben. Das Teſtamentsfraͤulein ſoll bey
meiner Seel keinen uͤber ſechs Reihen beſitzen.
Haben Sie nicht was guts von Liebesbrief-
ſteller? damit ich draus ein Paar Briefe fuͤr
die S. abſchreiben kann. Ich hab’ aus vie-
len Gruͤnden, und auch darum, an Sie ge-
ſchrieben, weil ich dich kenne du verzagter
argwoͤhnſcher Hund
! Nun haſt du doch was
ſchriftliches in der Hand, und kannſt mich
vor allen Gerichten knaͤbeln. Neu iſts bey
alledem, daß meine Teſtamentsbraut die
Courtage fuͤr Minchen bezahlt. Glaubt mir
Herrmann! ich meyn’ es ehrlich mit Minen.
Man wird von Tag zu Tag aͤlter, und muß
ſolide denken. — Wenn der Paſtor uns, S.
und mich, traut; laß Mine dabey ſtehen.
Der Teſtamentsfraͤulein geb’ ich zwar die
Hand, denn das bringt die Ceremonie ſo
mit; aber Minen will ich ein ganzes Aug
voll Jas ſchenken, und hol mich der Teufel,
Y 4ich
[344] ich will ſie ſelbſt anſehen, wenn ich Ja zu
S. ſage, und dies Ja ſoll ſo leiſe ſeyn, daß
es der liebe Gott ſelbſt kaum hoͤren ſoll.
Mehr, glaub’ ich, kann Minchen nicht zur
Gewiſſensberuhigung fordern, wenn Sie
Superintendentin waͤre, und mehr kann ſie
nicht fordern, wenn ſie zehn Jahr Jura ſtu-
dirt haͤtte. Dieſer Brief muß zerriſſen wer-
den, ſo bald er geleſen iſt, oder ich ſtecke
dem Herrn Herrmann das Haus an. Hat
Magdalena nicht oͤfter Wochen gehalten, als
meine Mutter? und einen Mund voll Zaͤhne
abgerechnet, was fehlt ihr zur Ehre, die
Frau eines Litteratus zu werden? Reinen
Wein, oder ich heiß nicht


— — v. E. —


Wenn meine Leſer die ſaubere Antwort
auf dieſen curſch-franzoͤſiſchen Brief leſen
wollen; hier iſt ſie:


Hochwohlgebohrner Herr und Goͤnner,
Gnaͤdiger Herr Baron und Goͤnner,


Ew. Hochwohlgebohrnen werden gnaͤdigſt
zu verzeihen geruhen, daß ich gleich anfaͤng-
lich in aller Ehrfurcht bemerke, wie ich mich
wohl zu beſcheiden weiß, an Briefe von gnaͤ-
digen Haͤnden nicht gewaltthaͤtige Hand zu
legen;
[245[345]] legen; indeſſen iſt dieſer hohe Brief fuͤr Mi-
nen wie verbrannt, und noch aͤrger wie ver-
brannt, da ſie nicht einſt die uͤbrig gebliebene
Aſche ſehen ſoll. Es wird Ew. Hochwohlge-
bornen par renommee bekannt ſeyn, daß es
mir nicht an Witz und Faͤhigkeit gebricht; in-
deſſen ſieht mir jetzo alles ſtill, und ich muß
aufrichtigſt bekennen, daß ich bei dieſer Sa-
che keinen Einfall anzubeißen weiß, wenns
mir das Leben koſten ſollte. Die Ochſen ſte-
hen, mit Ew. Hochwohlgebohrnen Erlaubniß,
am Berge. — Der Auftrag, womit Ew.
Hochwohlgebohrnen mich zu beehren geruhet,
zeiget von ſo vielem gnaͤdigen Zutrauen, daß
ich beſchaͤmt bekennen muß, nie auf ſo viel
Gnade gerechnet zu haben. Minen, (ver-
zeihen Ew. Hochwohlgebohrnen, daß ich mit
dem Namen meiner Tochter den Punkt an-
hebe; es geſchieht blos in Ausſicht der Ehre,
die ihr vorſtehet,) hab’ ich alles geſagt, was
ein redlich geſinnter Vater ſeiner ins Verder-
ben laufenden Tochter nur bei dieſer Gelegen-
heit ſagen kann. Sie bleibt indeſſen bei dem,
was Ew. Hochwohlgebohrnen ſchon wiſſen.
Ich habe leiſ’ und laut geredet, ſau’r und
ſuͤß, boͤſes und gutes gezeigt, Finſterniß und
Licht, was hats geholfen? Was die Tugend
Y 5ohne
[346] ohne Brod iſt, weiß ich leider aus eigner Er-
fahrung, und da Ew. Hochwohlgebohrnen
entſchloſſen ſind ſich zu verheyrathen; ſo faͤllt
ja alle Gelegenheit zum Verdacht weg, wel-
ches in Abſicht eines Maͤdchens, nach meiner
wiewohl unmaasgeblichen Meynung, die
ganze Maͤdchentugend iſt. Meidet den Schein,
kommt mir als die ganze Maͤdchenordnung
des Heils
vor. Es iſt nichts verſaͤumt, ſie iſt
gebeten, ſie iſt bedroht, ſie iſt geſegnet, ihr
iſt geflucht; allein ſie bleibt bey ihrem Eigen-
ſinn. Ich ſag’ es ohn’ End und Ziel: Herr
v. E. ſind Braͤutigam, und da ich es ihr ſchon
ſo oft geſagt habe, thu ich als ſagt’ ichs zu
mir ſelbſt! „der Herr v. E. Braͤutigam! wie’s
„ihm doch laſſen wird!„ u. ſ. w. Es waͤr’
alſo mein Rath, uͤber drey Wochen, ſo lange
geruhen Ew. Hochwohlgebohrner ſich gnaͤdigſt
zu behelfen, zu uns zu kommen, und noch
Hochſelbſt einen Beſuch zu kuͤnſteln. Wie
wuͤrd’ ich mich freuen, wenn er einſchluͤge.
Solt’ auch dieſer Vorſchlag vergebens ſeyn;
ſo muß ich ſchon auf die drey verſchwiegene
Kerls votiren, und werd’ich alsdann muͤnd-
lich Zeit und Ort zu beſtimmen die Gnade ha-
ben; indeſſen bitt’ ich, ihr dieſe Widerſpen-
ſtigkeit nicht nachzutragen, ſondern ihr ſo-
gleich
[347] gleich zur bewuſten Brodſtelle zu verhelfen,
und mit der Zeit ſie ihrem Seelenhirten, als
Paſtorin, zu uͤberliefern. Ew. Hochwohl-
gebohrnen koͤnnen ſich ganz ſicher darauf ver-
laſſen, daß ich nicht zum erſtenmal bey einer
ſolchen Gelegenheit, wo drey verſchwiegene
Kerls dabey ſind, in Dienſt geweſen; nur bey
einer Tochter, ich muß es zu meiner Schande
bekennen, doͤrft’ es mir ſchwer werden, falſch
zu weinen, und die Haͤnde zu reiben. Viel-
leicht kann ich indeſſen ſo gluͤcklich ſeyn, und
mir die einhundert funfzig Thaler Alb. ver-
dienen, daher wiederhohl’ ich ganz unter-
thaͤnigſt meine Bitte, mir und ihr annoch drey
Wochen huldreichſt nachzuſehen. Fuͤr die
Nachricht von Magdalenens gluͤcklichen Nie-
derkuͤnften bin Ew. Hochwohlgebohrnen ich
ganz dienſtlich verbunden; indeſſen wuͤnſcht’
ich doch ohnſchwer zu wiſſen, wie oft ſie Dero
ſeliger Herr Vater begnadiget, um ſie deſto
hoͤher ſchaͤtzen zu koͤnnen. Wiewohl ich ohne
Stolz glaube, daß es ihr nicht gleichguͤltig ſeyn
koͤnne, daß ſie einem Litteratus zu Theil wer-
de. Ew. Hochwohlgebohrnen Bedienter hat
ſich ſehr ſchoͤn bey dieſem Briefe genommen.
Er verdient das Geſchenk, wozu Ew. Hoch-
wohlgebohrnen ihm bedingliche Hofnung gege-
ben. — Meine Tochter iſt auf keinen Schat-
ten
[348] ten von Verdacht gefallen, und da ich, wie
ihr bekannt iſt, mit der Jungfer Dene in
einem Liebesverſtaͤndniß ſtehe, ſo kann es
ſie nicht befremden, daß ich in dieſer kritiſchen
Zeit mehr ſchreibe, als ich ſonſt zu ſchreiben
gewohnt geweſen. Wenn Mine an Ort und
Stelle und, (was ich unter Ort und Stell’
einbegreife,) zu ſich ſelbſt zuruͤckgekommen
ſeyn wird; ſo wird ſie’s einſehen, wie redlich
gut es Ew. Hochwohlgebohrnen mit ihr ge-
meynet. Ich weiß nicht, was ſie bei der hef-
tigſten Gewiſſenskolik, (anders kann ich die
Stiche nicht nennen, welche die Maͤdchens
uͤber dergleichen Dinge zuweilen, wenn ein
Ungewitter aufſteigt, befallen,) mehr beruhi-
gen koͤnnte, als wenn ſie erwaͤget, daß ſie die
Ehre gehabt, in gewiſſer Art ſelbſt mit Ew.
Hochwohlgebohrnen getraut zu werden. Das
Aug iſt doch wohl mehr am Menſchen, als
die Hand, obgleich mir noch wohl bekannt
iſt, daß Ew. Hochwohlgebohrnen eine weiße
Hand nicht verachten, wie es denn auch wohl
zu ſeiner Zeit ein Leckerbiſſen ſeyn kann. Uebri-
gens rechnet Ew. Hochwohlgebohrnen ganz
unterthaͤniger Diener es ſich zur vorzuͤglichſten
Ehre, daß Ew. Hochwohlgebohrnen ihn mit
einem ſo langen Briefe zu beehren geruhet.
Von Liebesbriefen im neuen Geſchmack iſt mir
wohl
[349] wohl außer dem bewaͤhrten Talander nichts
bekannt; indeſſen wenn es Ew. Hochwohlge-
bohrnen gar zu viel Muͤhe machen ſolte; ſo
ſteh ich ſehr zu Befehl, und leg’ auch zu die-
ſem End’ ein Proͤbchen nach eigener Weiſe
bey. Wenn Ew. Hochwohlgebohrnen ſo viel
Zutrauen zu mir haͤtten, die Uebergabe der
Jungfer Dene an mich gnaͤdigſt zu bewilligen,
ehe Minchen uͤbergeben wird, und ohne daß
es eben Zug um Zug gienge; ſo koͤnnten Sie
ja Denen noch oben ein den Eyd abnehmen, daß
Mine Ihnen allenfalls gegen einen Sola Wech-
ſel, Kontrakt, Revers, oder wie es in den
Rechten am beſten und ſchnellſten gilt, abge-
liefert werde. Dene wuͤrde hiebey mehr als vier
Kerls verſchlagen; indeſſen iſt dieſes nur ein
unvorgreiflicher Vorſchlag, uͤber den ich nicht
entruͤſtet zu werden ganz unterthaͤnigſt bitte.


Ich erſterbe, nachdem ich die Hand des Ge-
bers mit den aufrichtigſten Wuͤnſchen, daß
es ihm reichlich wiedervergolten werde, ge-
kuͤßt, mit der tiefſten Ehrfurcht


Ew. Hochwohlgebohrnen
Meines gnaͤdigen Herrn Barons und
hohen Goͤnners

ganz unterthaͤnigſter Knecht
und Diener

woͤrtlich abgeſchrieben den —
abgeſchickt den —


Es
[350]

Es fanden ſich auch ein Paar kurze Briefe,
worin Montags der Termin zur Suͤhne an-
geſetzt war. Herrmann wolt’ alsdann mit-
fahren und wiederkommen, und dann ſolte
der Ueberfall verabredet, und Mine mit Ge-
walt fortgeſchleppt werden. Der alte Herr
wuͤnſchte nichts ſehnlicher, als daß er die
hundert funfzig Thaler Alb. verdienen moͤchte.
Bey dieſen vaͤterlichen Wuͤnſchen blieb es,
bis auf den letzten Brief. Hier ſchreibt er:
ich thue jetzt auf alles Geld Verzicht, wenn
Ew. Hochwohlgebohrnen Minen gutwillig be-
reden koͤnnen. Ich habe ſie ehegeſtern durchs
Schluͤßelloch beten geſehen und gehoͤrt. O!
gnaͤdiger Herr! ich wuͤrd’ ein ungluͤcklicher
Menſch Zeitlebens ſeyn, wenn dieſe Entfuͤh-
rung uͤbel fuͤr Minen ablaufen ſolte. Um
alles wuͤnſcht’ ich, daß Mine nicht ſo kraͤftig,
ſo maͤchtig, als ich ſie durchs Schluͤßelloch
ſah und hoͤrte, wider mich beten moͤchte. Da
muß Donner und Blitz wuͤten, wowider ſie
betet. — O gnaͤdigſter Herr! Sie werden
ſie wohl gutwillig an Ort und Stelle brin-
gen? —


Daß der Herr v. E. des Herrmanns
Vorſchlag verworfen, ihm Denen zuvorzuge-
ben, und ſie auf die Entehrung Minchens in
Eydes-
[351] Eydespflicht zu nehmen, darf ich kaum be-
merken. Herr v. E. muͤßte nicht in — —
in — — und — — geweſen ſeyn, wenn
er einem Eyde haͤtte trauen ſollen — und du
Boͤſewicht kannſt du ſo was auf einen Eyd
ausſetzen? — kannſt du deine Tochter durchs
Schluͤßelloch behorchen, wenn ſie mit Gott
allein iſt, wenn ſie betet! — — Gerechter
Gott!


Nach dieſem allen, was konnte fuͤr ein
anderer Entſchluß gefaßt werden, als —
zu fliehen. — Ohne Geld, ohne Beyſtand?
Schrecklich! Was hilf’s aber dem Menſchen,
wenn er die ganze Welt gewoͤnne, und naͤhme
Schaden an ſeiner Seele, oder was kann
der Menſch geben, damit er ſeine Seele loͤſe?
— Mine war entſchloſſen, und Benjamin
war Alexander. — Mine, dies war das Re-
ſultat, ſolte zu Fuß nach — gehen. Da
wuͤrde Benjamin Wagen und Pferde beſor-
gen, und ſie kaͤm’ alsdann zu ihm, nicht
zu ſeinem Meiſter, ſondern — — und von
da nach Mitau, bei einem Anverwandten
ihrer ſeligen, ſeligen Mutter. Um alles
deſto geheimer zu machen, ſolte Mine allein
bis —. Von — wolte Benjamin ſie bis
Mitau begleiten, — von Mitau Mine wie-
der
[352] der allein mit einem Fuhrmann nach Koͤnigs-
berg, nicht zu mir — — Ach Mine! Mine!
warum nicht zu mir? ſondern nach L —
wieder zu einem Verwandten ihrer ſeligen
Mutter. Von da aus, einen Brief zu ſei-
ner Zeit an mich, daß ich kaͤme, und ſie im
Schoos ihrer Freunde ſpraͤche. — Dieſer
Plan ward bebetet und beſungen. Es bricht
mir das Herz, wenn ich dran denke. Arme
Mine! ich haͤtte wiſſen ſollen! Arme —


Und wenn, frug Mine? Dienſtags,
Schweſter, Sonntags kannſt du noch Gott
in ſeinem Hauſe anflehen, daß er mit uns
ſey, und vor uns her eine Wolken und Feu’r-
ſaͤule ziehen laſſe! — Gott! ſagte Mine und
rang ihre Haͤnde, aus denen ein kalter Angſt-
ſchweiß drang. Gott, du weißt! — Leite
mich! Fuͤhre mich! Verlaß mich nicht! —
Ich gehe deinen Weg, den Weg der Tu-
gend! ich hoff’ auf dich! — Vater und
Mutter haben mich verlaſſen, aber der
Herr nimmt mich an. Hier bin ich! mach’
es mit mir wie’s dir wohlgefaͤllt. Laß meine
Seele, wenn ſie ſchwach wird, empfinden
was geſchrieben ſteht: Fuͤrchte dich nicht, ich
bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein
Gott: ich ſtaͤrke dich: ich helfe dir auch, ich
erhal-
[353] erhalte dich durch die rechte Hand meiner
Gerechtigkeit! Amen!


Herrmann war in Gedanken weggegan-
gen, und kam in Gedanken zuruͤck. In
Wahrheit, er hatte Urſach zu denken! —


Mine war nachgebend gegen ihren Vater,
ohn’ eine Luͤge, auch nur mit dem Auge, zu
begehen; dies bracht’ ihn zu Ruhepunkten —
zu Hofnungen, hundert und funfzig Thaler
Alb. in der Lotterie zu gewinnen. —


Benjamin drang auf die Berechnung,
weil er nicht Zeit haͤtte, ſich laͤnger aufzu-
halten. Es war dies Donnerſtags Abends.
— Morgen, ſagte Herrmann. — Sie be-
rechneten ſich Freytags, und dieſe Berech-
nung waͤhrete keine Stunde. Sein Erbtheil
war auf den Fingern abzuzaͤhlen, es war
nicht viel! Da Benjamin ſehr bat, weil
er der Gewerkslade Geld zu zahlen haͤtt’,
ihm den wenigen Muttertheil baar auszu-
zahlen; ſo zeigt’ ihm Herrmann die Unmoͤg-
lichkeit. — Ich will, wenn du es durchaus
und durchall noͤthig haſt, an den Herrn v. E.
ſchreiben, mir dieſes Anlehn auf Abſchlag De-
nens zu geben. — Mine ſtieß ihren Bruder
an, der es ſogleich ausſchlug. Mit ſolchem
Gelde, ſagten ſie, da ſie wieder allein waren,
Zweiter Th. Zwuͤr-
[354] wuͤrden wir nicht weit kommen. — Benja-
min hatte vor, dieſes Geld ſeiner Schweſter
mitzugeben. Jetzt mußte der lezte Weg ein-
geſchlagen, und Minens Kleider und viel von
ihren Sachen, welche ohn’ Aufſehen wegge-
nommen werden konnten, verkaufet werden.
Benjamin beſorgte dies mit einer unbeſchreib-
lichen Behutſamkeit. Er brachte zehn Thaler
Albertus zuſammen. Mine bat ihren Bru-
der herzlich, zu bleiben, und ihr noch Mon-
tags beym Termin zur Suͤhne beyzuſtehen;
allein er konnte nicht — ſondern befahl ſie
dem Schutze Gottes. — Dein Mann, ſagt
er, iſt Gottes Liebling, und du biſt es auch,
ihr ſeyd beyde fromm! Wie kann euch Gott
verlaſſen? Euch ſeine Kinder! — Sie wein-
ten, da ſie ſchieden. Zum leztenmal im vaͤ-
terlichen Hauſe, lieber Benjamin — wo ich
die erſte Thraͤne weinte, wo! — Sie konnte
vor Thraͤnen nicht mehr. — Auch Benjamin
weinte. — — O! Schweſter, fieng er an:
Du warſt von je her weit — weit beſſer als ich!
Alexander und du haben mich zum Menſchen
gemacht. — Du warſt nie boͤſe, Benjamin,
ſagte Mine, jetzt biſt du gut! gut! „und
„dann wieder „du warſt nie boͤſe —„ O Gott!
fieng Benjamin an, wenn ich denke, wie du
dich
[355] dich nicht blos des Viehes, ſondern der Pflan-
ze, der Blumen auf dem Feld’ erbarmteſt,
wenn ich denke, wie du dich nicht ſatt ſehen
konnteſt an dem gruͤnen Graſe und an den
gelben Bluͤmchen, wenn ich denke, wie du
mich bateſt, die Rinnen zu oͤfnen, wenn ſie ver-
ſtopft waren, damit das arme Waſſer, wie du
ſagteſt, nicht aufgehalten wuͤrde! Wenn ich
bedenke, daß ich dir oft dergleichen Bitten ab-
ſchlug, und dir den Ruͤcken kehrte, wenn du
mir ſo was uͤbermenſchliches, ſo was himm-
liſchguͤtiges, bateſt: wenn ich denke. — Laß
dies — fiel ihm Mine ein, du wareſt nie boͤſe,
denk vielmehr, wo wir oft unſchuldig ſaßen,
und Sallat fuͤr unſere fromme ſelige Mutter
laſen, und wo wir mit Alexandern herzlich
froh waren, mit Alexandern! Denk, wo wir
rothe und weiße Johannisbeeren pfluͤckten,
und ich euch den Saft mit Zucker zubereitete,
und wir uns einander ſagten, wenn es uns
herzlich ſchmeckte: zweyerley Wein, rother
und weißer
! Denk an meine Liebe zu Alexan-
dern, und an ſeine zu mir! Du bleibſt hier,
Bruder! Laß mich jetzt Uebergabe halten; ich
will alles in deine Haͤnde geben. —


Komm, da liegt unſere Mutter begraben!
Oft hab’ ich hier gebetet. Oft Gott gedankt;
Z 2denn
[356] denn hier hat Er mich manche ſeelenfrohe
Stunde leben laſſen! Sie knieten beyde aufs
Grab und weinten bitterlich. — —


Ich nehm Abſchied von dir, o du mir
liebes Grab! — ſie bog ihr Haupt auf ſelbi-
ges, als ob ſie’s kuͤßte. O moͤcht’ ich, wie die
Selige ruhen, die du bedeckeſt, liebe ſanfte
Erde! o moͤcht’ ich — Sie konnten beyde
nicht mehr.


Bruder, ich beſchwoͤre dich bey der heili-
gen Aſche unſerer Mutter, die auferſtehen
wird am juͤngſten Tage, daß du dies Grab
ehreſt. Pfleg’ es, wart ſein. — Gott erhoͤr
dich, wenn du hier beteſt. — Geh’ oft hin,
und wenn der Vater Hochzeit haͤlt, vergiß
nicht auf dieſem Grabe zu weinen. — Wenn
dich Gott aus Curland ruft, es iſt moͤglich —
gieb dies Grab in die Haͤnde deines Vertrau-
teſten, beſchwoͤr ihn, wie ich dich beſchworen
habe, daß er ſein pfleg’ und warte! O liebe,
liebe Mutter, bald! bald! werd’ ich dich wie-
derſehen! Ja, Benjamin, bald werd’ ich ſie
ſehn, und ſie von dir herzlich gruͤßen! Du
biſt ihr gut, unſerer Mutter. — Hier wieder
eine Thraͤnenſcene. — —


Lebe wohl, liebes Grab, lebe wohl bis an
den lieben juͤngſten Tag! —


Ich
[357]

Ich uͤbergebe dir dieſen heiligen Ort, wo
ich mit Alexandern getraut bin. Mit dei-
nem Freunde! Gott gab uns zuſammen,
Menſchen wollen uns ſcheiden! — allein ſie
ſollen es nicht! — ſie ſollen es nicht! —
Was meynſt du, Benjamin? Benjamin
ſchluchzte „ſie ſollen nicht„ —


Hier iſt der Ort, wo er mich zum erſten-
mal kuͤßte! Sieh, wie die Natur ihn ge-
ſchmuͤckt hat. — Es ſind mir heilige Oerter
geweſen. Du weißt, wie mich Alexander
liebte „ich weiß„ ſagte Benjamin. So! So!
lag ich in ſeinem Arm, wenn er mich kuͤßte.
O ſeine Kuͤße! Wahrheit und Leben war in
ihnen! Ich ſein! Er mein! Wenn ich was
liebliches gegeſſen oder getrunken hatte, wo-
von der Nachgeſchmack noch auf meinen Lip-
pen war, fand er meinen Kuß nicht halb ſo!
O der liebe, liebe Junge! Ich will dich! ſo
natuͤrlich wie du biſt, ſagt’ er, und ich wolt’
ihn auch ſo natuͤrlich, wie er war. Wir
liebten beyde die Natur, und wahrlich die Na-
tur liebt’ uns wieder. Sie hat viel an uns
gethan! Der Bach ſpricht nicht, Benjamin,
allein wenn wir zuſammen giengen, hoͤrten
und verſtanden wir ihn aufs genaueſte. Die
ganze liebe guͤtige Natur ſprach mit uns,
Z 3und
[358] und alles ſo zuthaͤtig, ſo freundlich. — O
Benjamin, alle dieſe heilige Oerter befehl ich
dir! —


Hier! Benjamin! falte deine Haͤnde!
denn die Staͤte iſt heilig! Hier ſah Alexan-
der mein Geſicht, er ſah mich im Monden-
glanz, wie er mich nach der Auferſtehung ſe-
hen wird in all’ Ewigkeit. — Dort ſah’ ich
ein Geſicht! ich ſah Alexandern im Sonnen-
glanz! — ich ſah uns beid’ im Himmel!
ihn in Sonne, mich in Mond gekleidet —
und meine Mutter zog mir das Sterbhemd’
ab, und kleidete mich ein zur ewigen Selig-
keit. — Dieſe Staͤte, Bruder, iſt heilig
und jene Staͤt’ iſt heilig! — Amen! Sie iſt
heilig, ſie iſt Gottes Hauß, die Pforte des
Himmels! Amen! — —


Die Oerter, wo wir in unſerer Jugend
froh waren, da wir noch keinen v. E. und
keine Dene kannten, laß ſie dir empfohlen
ſeyn! Vergiß ſie nicht! Wir haben hier den
beſten Theil gelebt, glaub mir, den beſten
Theil! — Komm! — Paulus war der
juͤngſt’ unter den Apoſteln, und doch ein
auserwaͤhltes Ruͤſtzeug. — Sieh hier mei-
nen Paulus! dies iſt der lezte Ort, den ich
in deine Haͤnde befehle! ich bin zulezt mit ihm
ver-
[359] vertraut worden, der — (unſer Bekannte)
pflanzte dieſe Laube, ſeine Charlotte begoß
ſie. — Hier bejammert’ er ſie, da ihm ſeine
Augen aufgiengen, hier wallfahrtet’ er taͤg-
lich, du weißt ſeinen Lebenslauf — ſeinen
ſtummen ſeinen bohrenden Gram! — Gott
hat ſeines Leidens ein Ende gemacht. — Dieſe
Laube, Bruder! ſey der Ort, wo du deine
Schweſter beweinen kannſt. — O hier! ſind
ſchon viele, viele Thraͤnen vergoſſen! — Gott
laß es dir wohlgehen, lieber Benjamin,
wenn du heyratheſt. Lehre hier in dieſer
Laube deinem Weibe ihre Schweſter kennen,
und ſag’ihr, daß ſie ungluͤcklich war. Lehre
deinen Kindern hier weinen. Es iſt eine
ſchwere Sache, Gott gefaͤllig zu weinen. —
Schreibe dir, Benjamin, alle dieſe Oerter
tief ins Herz! und Gott ſey mit dir — mit
meinem Alexander und mir! — —


So ſchieden Benjamin und Mine aus
dem vaͤterlichen Hauſe. — Er reiſete Frey-
tags gegen die Nacht. —


Woͤrtlich von Minen:


„Sonnabends — den — —„


„Wie geruͤhrt, lieber Mann meiner
„Seele, wie geruͤhrt ich geſtern war, weißt
„du beſſer, als ich es dir heute ſagen koͤnnte!
Z 4„O
[360] „O Gott, wie ſehr anders bin ich heut! Fel-
„ſenhart iſt mein Herz! Gallenbitter meine
„Zunge! Weißt du von wenn an? Vom Ab-
„ſchied an, den mein Vater vom Benjamin
„nahm. Nach einer ſo warm empfundenen
„Sonne, ein kaltes: gluͤckliche Reiſe an Ben-
„jamin, und denn hinterher, wenn du den
„Augenblick Geld zur Gewerkslade noͤthig
„haſt, will ich den Herrn v. E. druͤber ſchrei-
„ben! — Da fuhr all das unausſtehliche
„Weſen, das Unweſen, was ich noch dieſen
„Augenblick an mir habe, fuhr in mich!„


Liebe Mine, kalt und warm bekommt
dem Herzen ſo wenig, als dem Magen. In
den Worten: gluͤckliche Reiſe! ſahſt du dei-
nen Vater ganz! Alle Briefe des v. E., alle
Briefe deines Vaters, — und nicht blos die
erſten wenigen Reihen, die du geleſen haſt —
bis auf den lezten, lezten Hefen, dachteſt du
dieſe Briefe, alle Briefe, den ganzen hoͤlliſchen
Plan, alles, alles dachteſt du dir, und dir
ekelte vor dieſer loſen Speiſe! — —


Mine befand ſich den ganzen Sonnabend
in einer ſchrecklichen Lage! Ihr Vater haͤtt’
ihr das ſturmlaufende Herz anſehen muͤſſen,
wenn er ein Auge auf ſeine Tochter gehabt
haͤtte. Sie war mehr als unruhig. — Ein
Auf-
[361] Aufruhr in jeder Ader, das Blut ſchien alle
Aderdaͤmme brechen zu wollen. — Doch!
ſie ſelbſt —


Gott ſey gelobt und gebenedeyt! Ich hab’
uͤberwunden! Ich bin wieder ruhig, und wieder
gut! — O lieber Mann, man hat mir erzaͤhlt,
daß eh’ die lezte Todesangſt eintritt, jeder Ster-
bende entſetzlich unruhig ſey, da er nichts
weiter kann, ſoll er das Deckbette reißen —
unſere Mutter riß es nicht. — So, lieber
Mann, war ich geſtern! ich riß das Deck-
bett’ und warf mich graͤslich, bald zur Rech-
ten, bald zur Linken. — Allein nach dieſer
Unruhe folgt bey Sterbenden was — der
Name des Herrn ſey gelobt! Bey mir folgte
— ſanfte, ſanfte Ergebung. — Ich gieng
noch mit einem aufgewiegelten Herzen, mit
ſiedendem Blut. — Alle Adern ſchienen mir
den Dienſt aufzuſagen, und wolten ſpringen
— ſo gieng ich in die Kirche — zum lezten-
mal, dacht’ ich! Gewiß ein ruͤhrender Ge-
danke; mir war ers nicht. — Ich fieng an
zu beten, ich druͤckte die Augen dicht zum
Gebet zu; allein konnt’ ich? — Die Augen
riſſen ſich los. Sie hielten nicht zuſammen,
und ich mußte das Kirchengeſtuͤhl anſehen,
wo der Verfuͤhrer mich zur allgemeinen Stoͤh-
Z 5rung
[362] rung buhleriſch angeſehen! — Ich mußt’,
ich mochte wollen oder nicht, ich ſah dieſen
Ort, und wenn Teufel drinn geweſen waͤren,
er haͤtte mir nicht fuͤrchterlicher ſeyn koͤnnen!
Ich denke, mein Liebſter, ein Unſchuldiger,
den falſche Zeugen vom Leben zum Tode ge-
bracht, ſieht ſo den Richtplatz, wie ich dieſen
Ort — ich ſah deiner Mutter Stuhl. Ver-
zeih lieber Mann, zwar ſah’ ich keinen Teu-
fel drinn; allein ich dachte doch Arges in
meinem Herzen. Das eine fromme Frau!
Das eine heilige Saͤngerinn! dacht’ ich —
da kam deine Mutter. — Sie gruͤßte mich,
allein ſo verſtohlen, als ob ſie dieſen Gruß
vor der Gemeine bergen, und ja nicht mer-
ken laſſen wolte. Das konnte wohl freylich
meine Hitze nicht niederſchlagen! Gottlob,
der Boͤſewicht blieb dieſen Sonntag aus. Es
verzeih mir der allerbarmherzigſte Gott mein
ſteinernes Herz, das ich in ſein Hauß mitnahm,
das ſich noch mehr verſteinerte, verfelſete! — —


Schon beim Liede vor der Predigt:
Ich hab’ mein Sach Gott heimgeſtellt ꝛc.
fieng dies Herz an fleiſchern zu werden, und
die Predigt! O Gott welch eine Arzeney fuͤr
mein Herz! Es war recht, als ob dein Va-
ter
[363] ter von meinem Entſchluß wußte, als wenn er
mich! mich! predigte. — Bis dahin war
jede Nerve geſpannt. Kein Schlaf hatte die
lezte zween Naͤchte mein Auge gebrochen.
Kein Gebet brach es. — Es war ſtarr. —
Mein Blut ſchlug Wellen, o lieber Junge,
dieſe Predigt bedrohete den Wind und das
Meer, und es ward ganz ſtille — ich ſahe
dich, da ich deinen Vater, den Boten Got-
tes, ſah. Er kam herein, der Geſegnete des
Herrn, er ſtand nicht drauſſen, der Name
des Herrn ſey gelobt! O mein Einziger! Ich
wuͤnſchte nicht, noch ſolch einen Abend, ſolch
eine Nacht, ſolch einen Tag und ſolch eine
Nacht, und noch ſolch einen Morgen zu le-
ben, als vom Freytag Abend bis zur Pre-
digt. — Eine Hitze, und keinen Tropfen
Waſſer in dieſer Hitze, wo mir die Zung’ an
den Gaumen klebte, warum bat ich nicht
Gott in dieſer Duͤrre um Thau und Erqui-
ckung, warum ſucht’ ich nicht durch ſeine
heilige Religion mich abzukuͤhlen, und in die
ſelige Faſſung zu ſetzen, in der ich jetzt bin,
wo es wie im Fruͤhling weder zu kalt noch zu
warm iſt. Gott iſt nah’ allen, die ihn an-
rufen, warum nannt’ ich ihn nicht, im Geiſt
und in der Wahrheit, Vater, da der leib-
liche
[364] liche es ganz und gar aufgehoͤrt hatte zu
ſeyn! Warum betet’ ich nicht um Thraͤnen?
Warum ſang ich nicht mit Innbrunſt:


Gott gib einen milden Regen;

denn mein Herz iſt duͤrr, wie Sand!

Vater gib vom Himmel Segen;

traͤnke du dein durſtig Land! —

Warum? Ey koͤnnen! Ich mache mir
jetzt Vorwuͤrfe; allein es iſt, als hoͤrt’ ich
eine Stimme zu meiner Losſprechung. Das
Gebet iſt auch eine Gabe Gottes, und Thraͤ-
nen ſind ein unausſprechliches Geſchenk!
Habe denn Dank, Allguͤtiger, daß ich jetzt
beten, daß ich jetzt weinen kann! Habe
Dank fuͤr dieſe Gabe, fuͤr dies Geſchenk!
Es iſt das ſchrecklichſte, mein Lieber, das
hab’ ich erfahren, wenn ein Vater zum Sohn
gluͤckliche Reiſe ſagt, und wenn er ſeine Toch-
ter verhandelt! Habe Mitleiden mit deiner
Mine, wenn du dies lieſeſt, und Gott wird
es mit dir haben, und dich nie ſolch eine
Herzens Duͤrre erleben laſſen! —


Gleich die erſte Strophe:


Ich hab mein Sach Gott heim geſtelt,

er mach’s mit mir wie’s ihm gefaͤlt!

wie empfieng ſie mein Herz! Sie zogen ſich
ein
[365] ein, dieſe Troſtworte, wie Thau auf einer
welken Pflanze. —


Bey der dritten Strophe regnet’ es ſchon:


Es iſt allhier ein Jammerthal,

Angſt, Noth und Truͤbſal uͤberall;

des Bleibens iſt eine kleine Zeit,

voll Muͤhſeligkeit!

Was iſt der Menſch? Ein Erdenkloß,

von Mutterleibe nackt und blos;

bringt nichts mit ſich auf dieſe Welt,

kein Gut noch Geld,

nimmt nichts mit ſich, wenn er hinfaͤlt.

Ich hab hier wenig guter Tag;

mein taͤglich Brod iſt Muͤh und Klag,

wenn mein Gott will, ſo will ich mit

hinfahren in Fried!

O lieber Junge! ſinge, wenn du dieſes
ließt. — Gott weiß, wenn du es leſen wirſt,
ſinge dieſes ſchoͤne Regenlied! —


Deines Vaters Predigt war Vollendung
fuͤr mich, wie auf mich gemacht. Wort
fuͤr Wort auf mich. O lieber Junge, wie
gluͤcklich iſt man, wenn man todt iſt — wie
namlos gluͤcklich! —


Er kam ohne Gebet mit den Worten auf
die Kanzel:


„Geh
[366]
  • „Geh aus deinem Vaterlande, und von dei-
    „ner Freundſchaft, und aus deines Va-
    „ters Hauſe, in ein Land, das ich dir
    „zeigen will„

Ich zeichnete mir dieſe Stelle, ſie ſteht
im erſten Buch Moſis im zwoͤlften Capitel
im erſten Vers; ich zeichnete ſie aber heimlich.
Ein oͤffentliches Zeichen, dacht’ ich, wuͤrde
mich verrathen — ich konnt’ in einigen Mi-
nuten nicht aufblicken. — Wahrlich, Gott
redete mit mir durch deinen Vater! Wie er
die Wort’ anfieng: Geh aus deinem Vater-
lande, von deiner Freundſchaft, und aus
deines Vaters Hauſe,
wars mir, als ob es die
ganze Gemeine nun wußte, daß ich weggehen
wuͤrde. Der erſte Aufblick, den ich wagte,
war nach dem Stuhl meines Vaters. Er
war leer; kurz vor dem Gelaute war ihm
was vorgefallen. — Dies ſtaͤrkte mich; ich
ſah mich rund um. — O lieber Junge! Laß
mich noch mehr von der Predigt deines Va-
ters predigen, die mich ſo erquickt hat.
Gott lindre dafuͤr ſeine Todesangſt, und ſo
wie er mich geſtaͤrkt und getroͤſtet hat; ſo ſtaͤrk
und troͤſt ihn der Herr, wenn er heim faͤhrt
aus dieſem Elend, und ſo wie er die Bande
loͤſete, die mein Herz und meine Augen hiel-
ten;
[367] ten; ſo loͤſ’ auch der Herr ſeine Bande, und
mach’ ihm alles leicht, wenn ſeine Stunde
kommen! Die Stimme Gottes an Abraham
war mir ein ſichres Geleit, ein Paß auf mei-
ner Reiſe, ich war gefaßt, getroſt — und
ſo heiter, als waͤr ich ſchon angelangt, und
wo? Ich gieng in meinen Gedanken nirgend
anders, als in die ſelige Ewigkeit, aus mei-
nes Vaters Hauſe — aus meinem Vater-
land’ und aus meiner Freundſchaft! — Gern
haͤtt’ ich communicirt, wenn es ſo angegan-
gen waͤre — ich war recht dazu vorbe-
reitet, recht —


Der Text zur Predigt war Ebr. im drey-
zehnten Capitel der vierzehnte Vers: Wir
haben hie keine bleibende Statt, ſondern
die zukuͤnftige ſuchen wir!


Alles auf mich! — Du kannſt dir dei-
nen Vater vorſtellen, der auch nicht in Cur-
land zu Hauſ’ iſt. Er redete mitten durchs
Herz. So hat er noch nie gepredigt. Es
war Seelenſpeiſe auf den Weg. — Er pre-
digt’ als wenn er auch ſchon den Abend von
hinnen ziehen ſolte. —


Dein Vater fuͤhrt’ in ſeiner Predigt die
Geſchichte vom Sohne der Wittwe zu Nain
an, er erhob ſeine Stimme, und dieſe nahm
ſich
[368] ſich ſo heraus, daß jedes aufmerkte. Als
er aber nah’ an das Stadtthor kam,
Luc.
im ſiebenten Capitel im eilften Vers: als er
aber nah’ an das Stadtthor kam, ſiehe da
trug man einen Todten heraus, der ein
einziger Sohn war ſeiner Mutter.


So wenig dieſe Wort’ eine Deutung auf
mich zu haben ſchienen; ſo fielen doch auch
dieſe Worte ſchwer auf mich, und es war
mir, als ſagte wer „das biſt du — du biſt
die Perſon des Todes! —„


Wie kommt das, mein Lieber, wenn es
einem ſo iſt, als hoͤrte man eine Stimme:
das biſt du!


Nach der Predigt ward geſungen aus
Befiel du deine Wege die letzten Verſe:


Der Anfang war:


Auf, auf, gib deinen Schmerzen

und Sorgen gute Nacht!

Laß fahren, was im Herzen

dir bangen Kummer macht!

Der lezte Vers iſt ſchon laͤngſt mein Lieb-
ling geweſen, und, nach dieſer Leichenpre-
digt auf mich, war ers noch weit mehr.


Mach’ End, o Herr! mach Ende

mit aller meiner Noth —

ſtaͤrk meine Fuͤß’ und Haͤnde,

und
[369]
und laß, bis in den Tod,

mich allzeit deiner Pflege

und Treu befohlen ſeyn;

ſo gehen meine Wege

Gewiß zum Himmel ein!

O Lieber! das Amen, welches dein Va-
ter ſagte, war ein Amen fuͤr alle; allein fuͤr
mich beſonders — fuͤr mich! Es war ein
Wink fuͤr mich, in dieſem Gottes Hauſ’ Ab-
ſchied zu nehmen, wo wir unſer Glaubensbe-
kenntniß vor dem Altar ablegten, und auch
oft zu Gott in die Hoͤhe ſchwuren: wir wer-
den uns lieben, bis vor deinen Thron!

O Gott, dieſer Abſchied war mir ruͤhrend, und
wie ruͤhrend aus No. 5. zu gehen, wo ich ſo
oft geſeſſen, wo ich ſo oft einen uͤberzeugten
Mann Gottes Wort reden gehoͤrt, wo ich
ſo oft inbruͤnſtig geſungen und gebetet und er-
hoͤret worden, wo ich dich predigen gehoͤrt,
mein Lieber! — Gott ſey fuͤr alles gelobet
und gebenedeyet, Halleluja! Er ſey mit ſei-
nem Hauſe! Amen! ich betete fuͤr dich und
fuͤr mich — und riß mich endlich von No. 5.
los. Sanft faßt’ ich dieſe Bank noch an,
recht als wenn ich ihr die Hand druͤckte, und
nun raft’ ich mich auf, um nach Hauſe zu
gehen, da mir deine Mutter ins Auge kam.
Zweiter Th. A aWas
[370] Was weiß ich, ob ſie’s mir anſehen koͤnnen,
daß ich geweint hatte, oder ob etwas anders
die Urſache war: Sie gruͤßte mich liebreich!
Zum leztenmal dacht’ ich, und eine Thraͤ-
ne ſtuͤrzt’ aus meinen Augen! — Deines
Vaters Hand, oder die Deinige, war auch
das lezte, was ich anſah, und hiemit fielen
mir die Wort’ ein: Der Herr behuͤte deinen
Ausgang und Eingang, von nun an bis
in Ewigkeit! —


Da ich zu Hauſe war, und die Predigt
deines Vaters, und den liebreichen lezten
Gruß deiner Mutter, mir wiederholte, uͤber-
fiel mich der Gedanke, deinen Eltern lieber
alles zu entdecken. Wer ſteht dir, dacht’ ich,
fuͤr den Erfolg? Fuͤr deinen Vater war mir
zwar ſeine Predigt Buͤrge geworden, ſeine
Hand war mir Buͤrge, du warſt mir Buͤrge;
indeſſen ſchlug der Eifer deiner Mutter fuͤr
den Stamm Levi, dieſen Gedanken nieder.
Die feſte Verabredung mit Benjamin, die
Gewalt, die ſich ein curſcher Cavalier bey-
legt — und endlich das Waͤldchen, waren
Beytraͤge zur Entkraͤftung meines Muths —
ich kaͤmpfte lange, endlich ſiegte der Zwei-
fel. — —


Mine
[371]

Mine packte noch das uͤbrige zuſammen,
berichtigte jeden Dreyer, wo ſie etwa fuͤr
Milch, oder fuͤr Fruͤchte etwas ſchuldig war,
ſchenkt’ ihren Pathen im Dorfe viele Saͤchel-
chen, die ihr auf der Reiſe nichts helfen
konnten. —
Nichts, ſchreibt ſie,
Montags fruͤhe


Nichts iſt, mein Einziger! von den ge-
ſegneten Sachen zuruͤckgeblieben! Alles, alles,
was ich von dir habe, alles, was dein Mund,
deine Hand eingeweyhet hat, geht mit mir.
Regine bat mich, da ſie ſahe, daß ich im Aus-
theilen begriffen war, um das Band, das
dir ſo ſehr gefallen hatte; du hatteſt es oft
in deiner Hand. — Nein, Regine, das nicht —
ich gab ihr ein ander Band, und da ich kein
ſchlechtes hatte, eins, das zehnmal hoͤher im
Weltwerth war.


Du packſt ja, Mine, ſagte Herrmann, in-
dem er ſich Sonntags an den Tiſch, der mit
Schoͤpſenfleiſch und weißen Kohl beſetzt war,
hinſetzte. — Mine muß es ſehr merklich ge-
macht haben.


Ich raͤume auf, antwortete ſie.


Schoͤn, mein Kind! es ahndet dir viel-
leicht ein Beſuch!


A a 2Ein
[732[372]]

Ein Beſuch?


Es koͤnnte ſich zutragen, daß Herr v. E.
kaͤme! Wenn es ſich zutruͤge, liebe Mine,
wenn? Folg deinem Vater und ſey gefaͤllig. —


Sie hatte kein Wort im Vermoͤgen; al-
lein ſie war ſo ruhig, daß Hermann dieſe
Ruhe fuͤhlte und ſie zu ſeinem Vortheil ent-
gegen nahm. Er klopft’ ihr auf die Wange,
und ſagte, du biſt doch ein huͤbſches gutes
Maͤdchen, und wirſt eine Paſtorin werden
zum kuͤſſen. Auch daruͤber entruͤſtete ſich Mine
nicht. — Sie blieb ruhig. Herrmann zaͤhlte
ſchon die hundertfunfzig Judasthaler in Ge-
danken. —


Montag Nachmittag kam Herr v. E.,
alles wie es geſchrieben ſtand. Die Suͤhne
ward eroͤfnet. Herrmann entfernte ſich, nach-
dem er, wie er glaubte, die Sach’ in Gang
gebracht. So bald die Hauptpartheyen allein
waren, fieng Herr v. E. ohne Glas ſeine Rede
mit vielem Bitten um Verzeihung an, und
machte ſich als Braͤutigam mit Fraͤulein S.
bekannt. Mine gab drauf nichts, als das All-
taͤgliche. Es hatte wieder das Anſehen, daß
Herr v. E. ein Geſchenk in der Naͤhe haͤtte.
Er wollte wagen, es zum Vorſchein zu brin-
gen; allein es ſchien, als duͤrft’ ers nicht.
Nun
[373] Nun nahm er einen andern Weg, und be-
merkte, daß er mich kenne. Zwar haͤtt’ er
nur einen Abend in meiner Geſellſchaft zuge-
bracht; indeſſen waͤr’ ein Abend hinreichend,
wenn man Leute wie mich traͤfe. — Mine
hatte ſich ſo ſehr in ihrer Gewalt, daß ſie
Fragen nach mir that, die Herr v. E. zu mei-
nem Vortheil beantwortete. Mine ward
dadurch aufgeraͤumt, und Herr v. E. ergrif
dieſen Zeitpunkt, im Namen ſeiner Mutter
ſeine Anwerbung zu thun. So ſetzt’ er
hinzu, haͤtte dieſe Sache gleich gefaßt werden
koͤnnen, und gefaßt werden ſollen. Verzei-
hen Sie dieſen, verzeihen Sie alle und jede
Fehler — ich bin jung; allein merken Sie
es nicht ſelbſt, fuͤgt’ er hinzu, bin ich nicht
aͤlter geworden, ſeitdem ich mich verlobt ha-
be? Meine Mutter darf alſo hoffen?


Mine ſagt’ ihm mit einem Anſtande, der
nicht ſeines Gleichen hatte, daß ſie nie ge-
wohnt geweſen Hofnungen zu geben, die ſie
zu erfuͤllen außer Stande waͤre. Sie muͤß’t
es abſchlagen, und warum? fiel Herr v. E.
hitzig ein.


Sie und mich zu ſchonen — und, wol-
len Sie noch mehr, ihre kuͤnftige Gemah-
lin. —


A a 3Er
[374]

Er widerlegte ſie Schritt vor Schritt
mit vielem kuͤnſtlichen Zubehoͤr. Da Mine
aber feſt in ihrer Gottſeligkeit blieb, und das
ſegne Gott und ſtirb des Herrn v. E. mit
engliſcher Geduld trug, lief Herr v. E. uͤber,
und ſtand da ganz, wie er war. Mine er-
ſchrack, da ſie die ploͤtzliche Verwandlung der
Schlang’ in einen Tyger ſah; indeſſen kam
ſie nicht aus der Faſſung. —


Es ſcheint, Sie haben ihrem Adonis zu-
geſchworen, keine Mannsperſon anzuſehen,
fieng Herr v. E., nach einigen Erholungsbli-
cken, ſpitzig und hohnlaͤchelnd an. Seine
Zaͤhne blieben unbedeckt. —


Eben wuͤrd’ ich das Gegentheil bewieſen
haben, wenn ich einen Adonis haͤtte, erwie-
derte Mine.


Du ſolſt nicht andere Goͤtter haben ne-
ben mir, iſt zwar, fuhr Herr v. E. fort, das
erſte Gebot im Catechismus; allein die Liebe
hat keinen Catechismus.


Die Meinige hat einen —


Herr v. E. war in Unordnung gekom-
men, und hatte tief vergeſſen, was in ſeiner
Rolle ſtand, er extemporirte, ward zudringlich
grob, und Mine gab ihm auf eine Art ſeinen
Abſchied, daß er mitten im Worte blieb. —
Ihre
[375] Ihre Haͤnde riß er an ſeine Lippen, eine
nach der andern, und brannt’ ihnen Kuͤße
auf. Mine fuͤhlt’ in jedem Handkuß das
Siegel, das er auf ſeinen teufliſchen Plan
druͤckte, und ein Schreckſchauer ergrif ſie uͤber
den andern. — Seine Handkuͤſſe brannten
wie hoͤlliſch Feuer, auf einmal faßte ſich
Mine zuſammen, und entriß ihm beyde
Haͤnde. — Er zum Herrmann, mit dem er
heftig ſprach. — Im Plan folgte, daß Herr-
mann mitfahren ſollte; allein dies unterblieb
— und Herr v. E. fuhr allein. —


Herrmann ſchien nicht zu wiſſen, wie er
gegen Minen ſeyn ſollte. — Er wolt’ und
konnte nicht. — Mine ſank in eine entſetz-
liche Angſt: denn es fiel ihr ein, daß v. E.
vielleicht ſeinen Plan abgeaͤndert, und der
Ueberfall noch dieſen Abend erfolgen koͤnnte!
— zwar ſagt’ ihr Herrmann, daß er morgen
nach — reiſen wuͤrde. Er haͤtte mich heute
ſchon mitgenommen; indeſſen ſind zu viel
Gaͤſte. — Minchens Befuͤrchtungen wurden
hiedurch nicht im mindeſten widerlegt. Die
Art, wie Herrmann ſich gegen Minen betrug,
beſtaͤtigte vielmehr ihre Furcht. — Masken
dachte ſie uͤber Masken! und rang die Haͤnde,
betete und war in einem unausſprechlichen
A a 4Zuſtan-
[376] Zuſtande Gott der Huͤlfe, rief ſie, ſende
mir Troſt und Rath! — Wende dich, Herr,
zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit,
und verbirg dein Angeſicht nicht von mir;
denn mir iſt angſt, erhoͤre mich! Ich vergeh’
in meinem Elende!


Wahrlich ſie vergieng — — —


Was konnte ſie anfangen? Wahr oder
nicht wahr, ein Entſchluß mußte gefaßt wer-
den. — Sie ſchloß kein Auge, blieb in Klei-
dern, und nach einem Gebet um Rettung!
um Huͤlfe! frug ſie bei dem Herrn ihres
Lebens, bey Gott, um die Erlaubniß an,
(ich ſchaudre, da ich es ſchreibe,) ſich das
Leben zu nehmen. — Sie las Todtenlieder,
ſingen konnte ſie nicht, und fand in dem Liede:
Ich bin ja, Herr, in deiner Macht, Ruhe.


Ich bin ja, Herr, in deiner Macht,

betete ſie dreymal nach einander,


denn du haſt mich ans Licht gedracht

du unterhaͤltſt mir Leib und Leben.

Du kenneſt meiner Mondenzahl

und weißt, wenn dieſem Jammerthal

ich wieder gute Nacht ſoll geben.

Wo! wie! und wenn! ich ſterben ſoll

das weißt du Lebensvater wohl!

und nun war ſie entſchloſſen.


O
[377]

O Gott! wohin kann die Tugend kommen?
Mine war entſchloſſen, ſich das Leben zu
nehmen, wenn man Gewalt brauchen ſollte.
Freylich wuͤrd ein’ Caſuiſt feiner diſtinguirt,
und die Grenze richtiger abgemeſſen haben,
wenn und zu welcher Zeit — allein Gott
der Herr laͤßt nicht durch Caſuiſten Recht
ſprechen und — Sein Richter iſt das Gewiſſen,
ſein Urtel nicht: in Sachen — entgegen
erkennen und ſprechen wir,
ſondern:
kommt und geht! Ich will in Gottes Haͤnde
fallen! Er iſt gerecht, er iſt barmherzig! Sie
warf ſich zur Erde und betet’ an, den der
gemacht hat Himmel und Erde, ſie bat um
Hofnung der Seligkeit, wenn ſie eine Selbſt-
moͤrderin wuͤrde, um Verzeihung, wenn ſie
in der Art fehle! Sie betete: ſo du wilt
Herr! Suͤnde zurechnen, Herr, wer kann,
wer wird beſtehen! Bey dir iſt die Verge-
bung — und nach einer Weile: „erforſche
mich, Herr, und, pruͤfe wie ich’s meyne,
wie ich’s meyne! Sieh ob ich auf falſchem
Wege bin, und leite mich, fuͤhre mich zu-
recht, auf den Weg zum Leben! Laß, wenn
ich irre, Gnade fuͤr Recht ergehen! Gnade!
Gnade! Wenn dieſe Hand! Moͤrder an die-
ſem Herzen wird, und es durchbohrt — o
A a 5Gott!
[378] Gott! Gnade! Gnade! — Allbarmherziger,
nimm mich an zu Gnaden, und laß mich ſe-
lig ſterben. — —


Denkt, empfindſame Leſer, wie Minen
zu Muth geweſen! Sie ſucht’ ein Meſſer und
mußte lang ſuchen. — Find’ ich es nicht,
dachte ſie, kann es Gottes Wille nicht ſeyn.
— Sie fand! ſie fand! — ſchaͤrfte das
Meſſer, hielt es gen Himmel, flehte noch
einmal zu Gott! verſuchte wieder zu ſingen,
konnte nicht, legte das Meſſer, das zuge-
ſchlagen war, vor ſich zur Erd, und warf
ſich aufs Bett! Die Unruh ihres Herzens
war groß. Sie ſprang ſchnell auf, nahm
ihre Bibel, riß das Meſſer auf, und legt’
es auf die Spruchſtelle im erſten Buch der
Chronick im zwei und zwanzigſten Capi-
tel im dreizehnten Vers:


„Mir iſt faſt angſt: doch ich will in die
„Hand des Herrn fallen; denn ſeine Barm-
„herzigkeit iſt ſehr groß, und will nicht in
„Menſchenhaͤnde fallen.”


Nach einem namloſen Seeſenſchmerz,
nach einer wahren Todesnoth, legte ſich Mine
wieder auf ihr Bett in Kleidern, wie ſie war.


Soll dieſe Nacht die letzte ſeyn

betete ſie


in
[379]
in dieſem Jammerthal!

ſo faͤhr mich, Herr, im Himmel ein

zur auserwaͤhlten Zahl!

Und alſo leb’ und ſterb’ ich dir,

du ſtarker Zebaoth,

im Tod und Leben hilfſt du mir

aus aller Angſt und Noth!

Sie legt’ es nicht an zu ſchlafen, denn
daran war nicht zu denken — Sie wolte nur
ruhen — auch das konnte ſie nicht. All’ Au-
genblick ſprang ſie auf, dies Iſaacsopfer! Je
naͤher aber zum Morgen, je ruhiger. Sie fieng
an einzuſehen, daß ſie ſich vergebens gefuͤrchtet
hatte. — Sie war indeſſen ſo ſehr an Furcht
und Zittern gewoͤhnt, daß auch der helle lichte
Morgen ſie nicht voͤllig beruhigen konnte. —


Da kamen Pferd und Wagen nach ih-
rem Vater, und dieſe brachten ihr die verlohr-
ne Ruhe mit. Mine dankte Gott, der Großes
an ihr gethan, der bisher geholfen, und al-
les, alles, wohlgemacht hatte. — Sie
konnte weder die aufgeſchlagene Bibel, noch
das aufgeſchlagene Meſſer, anſehen! —
Mit Entſetzen wand ſie ihr Geſicht weg, und
machte beydes zu! Es kam ihr vor, als
ſaͤhe ſie Menſchenblut auf dem Meſſer! Der
Ort, wo ſie dies Meſſer gewetzet, machte ſie
ſchwind-
[380] ſchwindlicht, da er ihr ins Auge fiel. —
Das Meſſer warf ſie unter Dank und Gebet
fort. Gott, ſagte ſie, laſſ’ es nie einen
finden, der es brauchen will, als ich wolte.
Sie glaubte hiedurch dieſen ſchrecklichen Vor-
ſatz aus ihren Gedanken geworfen zu haben;
allein hierin fand ſie ſich getaͤuſcht. — Durch
ſtille ſeyn und hoffen,
heißt es, werdet
ihr ſtark ſeyn!
Wer kann aber, o Gott,
wer kann immer ſtille ſeyn und hoffen? —


Waͤhrend der Zeit war Herrmann reiſe-
fertig. —


  • Herrmann. Leb wohl, Mine.
  • Mine. Leben Sie wohl, mein Vater — Le-
    ben Sie wohl, mein Vater, leben Sie
    wohl. —
  • Herrmann. Was fehlt dir? du weinſt ja!
  • Mine. Ach Gott!
  • Herrmann. Mine uͤberdenk alles! uͤberleg!
    du biſt klug! Du jammerſt mich! Mine
    uͤberleg — Leb wohl!
  • Mine. Leben Sie wohl.

Moͤrder, wo willſt du hin? fuͤrchteſt du
dich denn nicht, daß die Erde ihren Mund
oͤfne, und dich verſchlinge, und die Wolken
ſich trennen, und Feuer und Schwefel auf
dich regnen laſſen! — Du kennſt Minen,
wie
[381] wie Judas ſeinen Meiſter. Der Abend,
da du mir die Geſchichte vom Judenknaben
und von den Huͤnereyern erzaͤhlteſt, wird
wider dich zeugen, Frevler! Kuppler! Boͤ-
ſewicht! — —


Mine nahm von ihrer Zelle Abſchied,
und konnte nicht umhin, noch einmal nach
ihrer Mutter Grab zu blicken. Hiebey lies
ſie es bewenden. Sie befahl Reginen das
Hauß, und ſagt’ ihr, ſie doͤrfe nicht warten,
ſondern koͤnne nur immerhin zeitig zu Bett
gehen, womit Reginen ſehr gedient war. Ich,
fuhr Mine fort, werde dieſe Nacht nicht zu
Hauſe kommen, und nun ging Mine mit
dem Geſang:


So gehen meine Wege

gewiß zum Himmel ein!

aus ihrem Vaterlande, und aus ihrer
Freundſchaft, und aus ihres Vaters Hauſe,
in ein Land, das ihr der Herr, wie ſie
glaubte, zeigen wuͤrde. — Ihre Fuͤß’ und
Haͤnde zitterten; indeſſen fand ſie ſich durch
die Gedanken geſtaͤrkt, daß ſie den Anſchlaͤ-
gen der Bosheit entgienge. Sie fand an
dem beſtimmten Ort ein Wagchen und zwey
Pferde. Ohne zu fragen wie? und wohin?
ſetzte
[382] ſetzte ſie ſich auf. Alles verſtand ſich einan-
der. Der Fuhrmann hatte ſelbſt nicht noͤ-
thig, die Pferde zu ihrer Schuldigkeit aufzu-
ſchreyen. Es gieng alles ſeinen Gang. Bis
hieher hat der Herr geholfen, ſagte ſie, und
fieng an freyer zu athmen. Sie haͤtte ſchla-
fen koͤnnen, ſo ruhig war ſie; allein die
Dankempfindungen gegen Gott verwieſen den
Schlaf aus ihren Augen. Arme Mine! Du
weißt nicht, was auf dich wartet — arme
Mine! Sie kam in den Flecken, wo Ben-
jamin war. Vortreflich! dachte ſie, und
noch ein vortreflich dachte ſie hinzu, da der
Wagen nicht bey der Thuͤr des Meiſters ihres
Bruders hielt: — Alles Plangemaͤß — nur
ihr Bruder Benjamin fehlte. Zwar fand ſie
eine willige Frau, die ſie herzlich bewill-
kommte; allein ihren Bruder Benjamin fand
ſie nicht. Anfangs fieng ſie an zu zweifeln,
ob ſie Benjamin nach der Verabredung vor-
finden ſolte? oder nicht? Ihr Kopf, das
heißt ihr Gedaͤchtniß, hatte ſehr gelitten, ſie
frug ſich ob Ja? oder Nein? und da ſie noch
mit Ja und Nein kaͤmpfte, fieng die gute
Frau an: „Sie werden ſich doch nicht erſchre-
cken! Die gewiſſeſte Art uns einen Schreck
beyzubringen. Sie werden doch nicht! Gott!
rief
[383] rief Mine und glaubte, ſie ſey verrathen und
verkauft. Nach vielen unertraͤglichen Sie
werden doch nicht erfuhr
die Ungluͤckliche
erſt, daß ihr Bruder in den lezten Zuͤgen waͤre.
Noch ehe Benjamin ſich legte, hatt’ er in
dieſem Hauſe von ſeiner Schweſter geredet;
allein blos vorlaͤufig. Iſt es moͤglich, fieng
Mine an! Es iſt erſchrecklich zu leſen, was
Mine hiebey ausgeſtanden. — — Sie zit-
terte zu ihm hin, ohn’ an die Gefahr zu den-
ken, der ſie ſich blos gab, und da ſie an ſein
Bette trat, und ſeine Hand nahm — ſchlug
er mit Heftigkeit auf ſie zu! — Was Ge-
walt! Dene — wie! Gewalt! Bluthund!
ich werde dir Gewalt lehren! Gegen Minen
Gewalt, du Aftermutter! Er ſprang aus
dem Bett, und da er ſich weder im Guten
noch im Boͤſen beruhigen ließ, ſo mußt’ er
gebunden werden — und Mine davon Au-
genzeuge ſeyn! —


„Der Meiſter, der mich ohne Beden-
„ken bey meinem Namen nannte, und ſich
„einbildete, daß ich, blos weil ich von Ben-
„jamins Krankheit gehoͤret haͤtte, da waͤre,
„erzaͤhlte mir, daß Benjamin gleich Freytags,
„als er zuruͤck gekommen, uͤber Kopfweh ge-
„klaget. — In der Nacht haͤtt’ er eine grau-
„ſame
[384] „ſame Hitze bekommen, und dieſe haͤtte Sonn-
„tag Abend ſeinen Verſtand voͤllig zerruͤttet. —
„In ſeiner Phantaſie haͤtt’ er: rett ſie! rett
„ſie, die arme Schweſter, gerufen. Seht
„ihr nicht Raͤuber? Diebe? Rett ſie, rett
„ſie, und dann all Augenblick: ſpannt an!
„ſpannt an! Sie kommt! ſpannt an! —
„und dann wieder haͤtt’ er die Hausfrau bey
„der Hand genommen. — Ach liebe, liebe
„Frau, was ich auf meinem Gewiſſen habe.
„— Sind wir auch allein? Ihnen will ichs
„wohl entdecken — ich kann keine Verge-
„bung der Suͤnden haben — ich bin ein
„Hoͤllenbrand! Und wiſſen ſie warum? ich
„hab meinen Vater nicht todt geſchlagen,
„und das haͤtt’ ich ſollen. — Es ſind lauter
„Flicken, liebe Jungfer, ſagte der Meiſter,
„es kann kein Menſch ein Kleid daraus ma-
„chen. Sie ſehen doch, wie er leider! iſt.
„Er kennt ſeine eheleibliche Jungfer Schwe-
„ſter nicht. —”


Mine, die wohl einſahe, wie alles die-
ſes zuſammenhieng, und die noch uͤberdem
ſehr leicht herausbringen konnte, daß ihr un-
gluͤckliches Schickſal ihren Bruder ſo ſehr an-
gegriffen, daß er in die entſetzliche Krankheit,
die einen Menſchen auf eine Zeitlang aus dem
Buch
[385] Buch der Menſchen ſtreicht, gefallen —
machte ſich bittre Vorwuͤrfe. Ich bin Schuld
an ſeinem Tode, ſchrie ſie mahl auf mahl!
Ich legt’ ihm mehr auf, als er tragen konnte.
Mine war ſo von Mitleiden und Kummer
durchdrungen, daß ſie nichts mehr, als ein
erbarm dich Gott! uͤber das andre ausrufen
konnte. — Sie fiel ſich indeſſen ſelbſt zur rech-
ten Zeit ein. Stirbt er, ſagte ſie zu den be-
wegten Leuten, die ihren Lehrling mit Thraͤ-
nen in den Augen gebunden hatten. Stirbt
er: werd ich ihn finden, wo man nicht rett
ſie! rett ſie! mehr rufen darf. — In den
Wohnungen der Gerechten! — Bald! bald
werd’ ich ihm folgen. — Hilft ihm Gott, wie
ich hoff’ und bete; ſo bitt’ ich ihm zu ſagen,
daß ein Frauenzimmer bey ihm geweſen, die
ihre Haͤnde zu Gott aufgehoben, da man die
Seinigen gebunden haͤtte, die Kyrie Eleiſon
gerufen. — — Sie konnte nicht ausreden —
ſo bewegt war ſie. — Sie gieng und kam
wieder, faßt’ ihn an und ſagte Benjamin! —
Er ſah ſie mit ſtarrem Blick an, wolte ſich
losreißen — konnte nicht, und ſie gieng be-
truͤbt bis in den Tod! —


Benjamin hatte die Reiſe nach Mitau
nicht beſtelt. Mine dacht’ aus dem: ſpannt
Zweiter Th. B ban,
[386]an, ſpannt an, ſie kommt! Ja „allein ſie
fand Nein“ und ſah’ ſich genoͤthiget, alles
ſelbſt zu berichtigen. — Wer beten kann,
pflegte mein Vater ſelbſt auf der Kanzel zu
ſagen, kann auch mit Vornehmen und Ge-
ringen umgehen — und dies fiel ihr ein,
wie ſie ſchreibt. — Sie fand die Beſtaͤtigung
zu derſelben Stund, traf Anordnungen, ſchloß
Contrakt und reiſete nach Mitau. — Kurz
vor der Stadt hatte Mine einen neuen
Schreck, gegen den alles, was ſie am Kran-
kenbett’ ihres Bruders erlitten, nach ihrem
Ausdruck wie gar nichts war. Sie war
abgeſtiegen, weil der uͤble Weg dieſe Wa-
generleichterung nothwendig gemacht. Sie
ſuchte ſich gruͤne ſchoͤne Stellen aus, wo ſie
gieng, und wo ſie mit den Voͤgeln des Him-
mels den Schoͤpfer lobte, in deſſen heilige Haͤn-
de ſie ſich befahl. „Wenn auch hie und da
„ſchwere Stellen auf dem Wege des Lebens
„ſind, es giebt doch, dacht’ ich, links oder
„rechts gruͤne blumenreiche Stellen, aus denen
„uns die ſchoͤne Natur willkommen heißt. Gott
„ſegne meinen Mann, hilf meinem Bruder!
„— ſo dacht’ ich, oder ſo betete, ſo dankt’
„ich Gott“ ſchreibt Mine, und ſchnell ſprengte
ein Reuter auf ſie zu, der ſie ſteif anſahe,
und
[][]

[figure]

[387] und wen ſolte man wohl weniger vermuthen,
als den Herrn v. E.? Er war es ſelbſt! Er
ſelbſt! — Kein Erdbeben kann ſo erſchuͤt-
tern, als dieſer Anblick Minen! — „Ich
„verlohr“ ſchreibt ſie „gleich auf der Stell’
„alle Kraft, Staͤrk’ und Macht. Gott,
„wie unergruͤndlich ſind deine Gerichte, wie
„unerforſchlich deine Wege! Das Meſſer,
„das ich, auf den Fall mich Raͤuber, Boͤſe-
„wichter uͤberfallen ſollten, fuͤr meinen Bu-
„ſen geſchaͤrft hatte, war der Dankbarkeit
„gegen Gott, der Liebe zum Leben, und dem
„Zutrauen, daß der, welcher bisher gehol-
„fen, auch weiter helfen wuͤrde — geopfert.
„Da war ich alſo ohne Rettung in des Moͤr-
„ders Haͤnden“ —


Er war es! Er! v. E. ſelbſt!


„Schon wolt’ ich niederknien und von
„dem Boͤſewicht den Tod als die einzige
„Gnad erbetteln. Moͤrder dieſer Art ſind
„aber ſo menſchlich nicht, umzubringen. Sie
„morden Seelen! Gewiſſen! Mir fielen
„die Wort’ unſers Herrn und Meiſters ein:
„Hebe dich weg, Satan! — Schon wolt’
„ich knien und Abgoͤtterey begehen, als ein
„Wagen kam.“


B b 2In
[388]

In dieſem Wagen ſaß ſeine Verlobte und
Frauenzimmer ihrer Verwandtſchaft. Herr
v. E. hatt’ alſo keine Zeit, Minen naͤher
kennen zu lernen. Allerliebſte Augen, ſagt’
er, in dem Wagen! Ich kenne nur noch ein
Paar der Art!
Ohnfehlbar eignete ſich die
Braut dieſes Compliment zu, das aber Mi-
nen gehoͤrte. Alles lacht’ ohn End’ und Ziel
im Wagen uͤber dieſes Abentheuer, und
Herr v. E. mußte Schand halber ſich beym
Wagen, der ſich zur Linken wandt, halten:
indeſſen ſandt’ er unvermerkt einen ſeiner Ge-
treuen Minen nach, ſie zu examiniren: wo-
hin? und wo her? Mine, welche zwar in
dieſem Vorfall, daß Herr v. E. mit Blind-
heit geſchlagen war, und ſie verließ, aufs
neue geſehen hatte, daß ſie auf Gottes We-
gen waͤre, konnte ſich doch von dieſem Um-
ſtande nicht erholen. — Es kam alles Schlag
auf Schlag. — Da ſie den Abgeſandten des
Satans ſahe, machte ſie einen Schrey! der
dieſen Inquirenten mit erſchreckte. Sie
wußte nicht ſeinen Auftrag, und ſtelte ſich
nichts anders vor, als daß er ſie fort-
ſchleppen wuͤrde. Der Abgeſandte hielt Mi-
nen fuͤr keinen Biſſen, der einer Jagd werth
waͤre. Es war dieſer Helfershelfer nie ber
Herr
[389] Herrmann geweſen — noch in der Kirche
zu — und wie konnte man alles Wild fahen,
was Herr v. E. aufjagen ließ? Ermuͤdet von
dergleichen Auftraͤgen, begnuͤgte der Abge-
ſandte ſich, als er von Minen „nach Mitau,
zu meiner Muhme
” heraus hatte, kehrte
zuruͤck, und log ſeinem Befehlshaber das
uͤbrige zu, um dieſen Roman fein ſaͤuberlich
zu endigen. Durch dieſen Vorfall war Mine
ſo außer Faſſung gebracht, daß ſie nicht ein-
mal Gott danken konnte. — Es war ihr
alles, wie im Traum! Groß iſt, Herr, deine
Huͤte, fieng ſie zuweilen an, und dann rief
ſie wieder: Herr! hilf, ich verderbe! Wenn
ſie ſich recht geſammlet hatte, erſchrack ſie
vor ſich ſelbſt. — Faſt kannte ſie ſich nicht,
ſo ſehr hatte ſie ſich veraͤndert. — Kurz vor
Mitau fand ſie ſich wieder, und rang ihre
Haͤnde zu Gott! Der dich behuͤtet, ſchlaͤfet
und ſchlummert nicht, dachte ſie, in Finſter-
niß iſt er dein Licht! Die dir nachſtellen, er-
ſchrecken ſehr, und werden zu Schanden ploͤz-
lich. — So dachte Mine, und freute ſich,
daß Bibel und Geſangbuch ſeit einiger Zeit
ihre Hauptbuͤcher, ihre einzigen Buͤcher, ge-
weſen. Dein Wort, rief ſie, iſt meiner
Fuͤße Leuchte und Licht auf meinen Wegen! —


B b 3Mine
[390]

Mine kam nach Mitau. Ihre Anver-
wandten, die ſie bald ausfragte, waren in
der traurigſten Verfaſſung. Sie hatten in
der Nachbarſchaft einem Cavalier ein Stuͤck
Land abgepachtet, und da an den Schaden
nicht ausdruͤcklich im Contrakt gedacht war;
ſo mußten ſie von Heller zu Pfennig bezahlen,
und den Schaden erſetzen, obgleich er vom
Himmel kam. —


„Der liebe Gott hats gethan“ ſagten die
armen Leute vor Gericht; allein die Richter
behaupteten W. R. J. V. R. W. daß dieſer
Contrakt ohne den lieben Gott gemacht waͤre.
— Die Armen! In der Welt habt ihr Angſt,
ſagt Chriſtus zu ſeinen Juͤngern, und das
konnte man von dieſen Armen mit Wahrheit
behaupten! Alles, was ſie an und um ſich
hatten, ward ihnen genommen. Sie behiel-
ten ſich nur allein uͤbrig und die Erinnerung
an einen Contrakt, der ohne den lieben Gott
gemacht war. W. R. J. V. R. W. Anſtatt,
daß Mine alſo von dieſen Armen Beyſtand
erwartete, ließ ſie ihnen etwas von ihren Sa-
chen. Sie wolt’ ihnen auch durchaus von
ihrem wenigen Vorrath an Gelde die Helfte
abgeben; allein dieſe Armen erklaͤrten dies fuͤr
den groͤſten Diebſtal. Mine muſt’ ihnen den
Ster-
[391] Sterbenslauf ihrer Mutter, (die Verwandt-
ſchaft kam von Mutter Seite her,) erzaͤhlen,
und die guten Leute freuten ſich uͤber ihre Ver-
ſorgung! Wer einmal oben iſt, o! der iſt wohl
verſorgt! ſagten ſie beyde. Wer weiß, wie
nahe mir mein End’, ſetzten ſie hinzu, auch
Mine ſagte: Wer weiß, und alle drey freu-
ten ſich.


Die ungluͤcklichen Leute hatten einen
Sohn, der Paſtor an der Grenze war, wie
ſie ſich ausdruͤckten! Wenn er lieber was
anders waͤre, wuͤnſchten ſie, dann wuͤrden wir
eher Huͤlfe von ihm erwarten koͤnnen. Mine
befragte ſie, ob ſie denn ſchon Proben von ſei-
ner Haͤrte haͤtten? Haͤrte koͤnnen wir es nicht
nennen, erwiederten ſie. Er hat ſich das Be-
ten ſtatt des Gebens ſo angewoͤhnt, und frey-
lich kommt man dabey am wohlfeilſten ab.
Hohl doch, ſagt’ er, liebe Mutter, hohl doch
den Brief vom neuen Jahr, da iſt ein Ge-
bet drinn, das ein Kirchengebet werden
koͤnnte!


Unſer Nachbar, ſagte die liebe Mutter,
anſtatt daß ſie den Brief mit dem Gebet holte,
welches ein Kirchengebet werden koͤnnte, un-
ſer Nachbar hatt’ eben ſo ein Pachtungluͤck;
aber wie weit gluͤcklicher iſt der! Er hat ei-
B b 4nen
[392] nen Schneider zum Sohne, der ſchon alles
reichlich mit Zinſen erſetzt hat, was der Va-
ter verloren. — Sag nicht, Mutter, be-
ſchloß der Alte — du weißt noch nicht, was
unſer thun wird! — geben iſt gut — beten
iſt auch gut. — Nicht wahr, Jungfer Muͤhm-
chen? frug der Alte. —


Minchens ehrliche Anverwandten halfen
die Sache mit einem preußiſchen Fuhrmann
berichtigen, und da Mine ihren Freunden
von ihrer Geſchichte ſo viel, als ihnen zu wiſ-
ſen noͤthig war, entdeckt hatte; blieb die
Hauptſache eine geſchwinde Abreiſe. —


Minens Verwandte gab ihr einen Brief
nach L. in Preußen, neun Meilen hinter Koͤ-
nigsberg, mit, wo eine leibliche Schweſter
des ehrlichen verungluͤckten Paͤchters wohnte,
und wohin auch Minchen gleich Anfangs hin-
dachte. Es ſind reiche Leute, ſagt’ er. Viel-
leicht thaͤten ſie an uns etwas. — Gott
wird es ihnen bezahlen, hier zeitlich und
dort ewiglich. —


Und Minens Vater? —


Er hatt’ einen harten Kampf mit dem
Herrn v. E., daß er Minen nicht weichher-
ziger, wie er ſich auszudruͤcken beliebte, ge-
macht. — Dieſer Kampf hatte ſchon, wie
ſich
[393] ſich meine Leſer erinnern werden, in Herr-
manns Hauſe angefangen, und ward noch
hitziger fortgeſetzet, da Herrmann zum Herrn
v. E. kam.


Was will die Naͤrrin, ſchrie er? Nach
einer Viertelſtunde raunte er dies was will
ſie? dem Herrmann ins Ohr.


Um aus der Noth eine Tugend zu ma-
chen, war Herrmann es ganz unterthaͤnigſt zu-
frieden, daß Gewalt fuͤr Recht gehen, und
Mine dem Herrn v. E. als ein Schlachtopfer
gebunden zu Fuͤßen geleget wuͤrde. Ich hoffe
doch, ſagte Herrmann, daß es alles ehrlich
und ordentlich mit Minen zugehen werde —
denn wahrlich, Hochwohlgebohrner und gnaͤ-
diger Herr Baron! es iſt ein Maͤdchen, die
ſterben koͤnnte, ehe man ſichs verſeh’ und ey,
dann Vater ſeyn! — Verſteht ſich, ſagte
Herr v. E., ehrlich und ordentlich — ich
werde doch Herr! zum Teufel wiſſen, mit
einem Maͤdel eine Comoͤdie zu ſpielen! Hat der
Herr ſchon gehoͤrt, daß die Perſonen im lez-
ten Akt des Luſtſpiels ſterben? und ein Luſt-
ſpiel, hoͤrt der Herr! ein Luſtſpiel ſoll es wer-
den! Dieſes Luſtſpiel waͤre Dienſtags vollen-
det worden; allein Herr v. E. mußte nolens
volens
ſeine Braut zu einem ihrer Anver-
B b 5wand-
[394] wandten, der bey Mitau wohnte, begleiten.
Herrman blieb, auf Geheiß des [Herrn] v. E.
ſo lange bey der Frau v. E. Gnaden, und
bey der Jungfer Denen Hochedelgebohrnen.


In zwey bis drey Tagen bin ich hier;
ſchrie noch Herr v. E. dem Herrmann vom
Pferde zu, und dann ohne Verzug. — Sie
hatten ſich in die Haͤnde geſchlagen, wenn al-
les gut gienge, ſoll es nicht bey vierzig Tha-
ler Alb. bleiben. — Gott gebe, daß es gut
geht, ſagte Herrmann; das Uebrige werden
meine Leſer an ſeinen Ort zu ſtellen und ein-
zuſchalten wiſſen. Wuͤrde Herr v. E. Mi-
nen nahe bey Mitau vermuthet haben, und
haͤtte ſein Abgeſandter ihm hievon auch nur
die entfernteſte Spuren zuruͤck gebracht; das
Gelaͤchter im Wagen wuͤrd’ ihn eben ſo we-
nig von ihren Augen abgebracht haben, als
Gottes Wort in der Kirche. Sein Herz hieng
an Minen, und eben weil es an ihr hieng,
verfolgt’ er das Maͤdchen nicht weiter, das
nach ſeiner Einſicht blos Minens Augen haͤtte;
obgleich ſie es gottlob ſelbſt war. —


Herr v. E. traf nach dreyen Tagen ein,
fand den Herrmann froͤlich und guter Dinge,
und es ward der Mord ganz puͤnktlich verab-
redet. Herrmann reiſete nach Hauſ’ um
alles
[395] alles zu dieſer Gewaltthaͤtigkeit vorzubereiten.
Regine hatte von Minens Entfernung dem
Herrmann keine Nachricht ertheilet. Zwar
hatte Mine ihr nur blos geſagt, daß ſie die
Nacht nicht heimkommen wuͤrde; indeſſen
dachte Regine, wer weiß, was fuͤr ein Zufall
ſie bindet! — Herrmann kam betruͤbt nach
Hauſe. — Ich glaub’, es iſt es jeder Nach-
richter, wenn er den Streich vollfuͤhren ſoll,
wenn er ſich bewußt iſt: unſchuldig Men-
ſchenblut.
Hermann fand die unbeſorgte Re-
gine, und ſtatt Minen
folgende Schrift:


Sie wiſſen ſelbſt mein Vater — Vater
werd ich ſie nennen, es gehe wie es gehe. —
Sie wiſſen ſelbſt, daß ich nicht aus Tuͤcke
des Herzens aus meinem Vaterlande, und
aus meiner Freundſchaft, und aus meines
Vaters Hauſe gegangen, in ein Land, das
Gott mir gezeigt hat! — Sie wiſſen alles!
Ich bin ihre Tochter! Mehr als dies: Sie
wiſſen alles,
darf ich mich nicht unterſtehen
zu ſchreiben, und ſolten oder wolten Sie
nicht alles wiſſen; ſo waͤr’ es ein ſehr unzei-
tiges Geſchaͤfte, mehr zu ſchreiben. Gott
verzeih’ es mir! wenn ich jetzt oder jemals
die
[396] die Achtung aus dem Auge verloren, die
ich Ihnen ſchuldig bin. — Mein Weg geht,
wie ich fuͤhle, zum Himmel ein. Ich habe
zu viel Angſt, zu viel Kummer erlitten, um
hoffen zu koͤnnen, eher als vor Gottes Thron
bey meiner ſeligen, ja wohl, ſeligen Mutter
gluͤcklich zu ſeyn! Dann, dann wird, o wie
freu’ ich mich deſſen! das Grab in Abſicht
meines hinfaͤlligen Theils meine Behauſung,
Finſterniß mein Bette, die Verweſung mein
Vater, und die Wuͤrmer die Meinigen ſeyn
— allein mein Geiſt! — dort, dort werden
abgewiſcht werden die Thraͤnen von meinen
Augen. — Im Himmel iſt mein Theil und
Erbe. — Ich bitte Gott, daß ich Sie einſt
auch da finden moͤge, mein Vater! da wo
Ruh’ iſt! Sie haben mir auf volle acht Tag’
Ausgabegeld gegeben; die Rechnung vom
Sonntag und Montag liegt auf ihrem
Schreibtiſche. Reginen hab’ ich Geld auf
zwey bis drey Tage zuruͤckgelaſſen, hier iſt
das Uebrige vom Wochengelde. — Ich habe
nichts von dem Ihrigen mir zugeeignet, ich
hab’ Ihnen nichts entwendet. Sie berech-
neten ſich mit meinem Bruder Benjamin,
und wie’s mir vorkam; legten ſie auch mein
Theil ab. Dieſen ſchenk ich meinem Bruder.
Ich
[397] Ich wuͤnſchte wohl, daß Dene nichts truͤge,
was meine theure Mutter getragen hat, wenn
es ihr, wie ich vermuthe, nicht ſchon an ſich
zu ſchlecht iſt. — — Solten Sie, mein
Vater, wider all mein Vermuthen etwas
miſſen, ſo muß Regine davon Anzeige thun
koͤnnen, die indeſſen, wie Sie wiſſen, die
Ehrlichkeit ſelbſt iſt. Ich gehe, und das
koͤnnen Sie ſich leicht vorſtellen, mit ſchwe-
rem Herzen, o Gott! mit ſchwerem Herzen
von hier. An dieſem Briefe hab’ ich drey
Tage geſchrieben. Thraͤnen beziehen mir ſo
die Augen, daß ich auch jetzt nicht ſehe, was
ich ſchreibe. — Gott ſey mir gnaͤdig! Ich
bet’ auch fuͤr Sie! und werd’ es nie aufhoͤ-
ren zu thun. Haben Sie tauſend Dank fuͤr
alles Gute, ſo Sie meiner Munter, und ſo
Sie mir gethan. Meine Mutter laͤßt ſich
noch durch mich bedanken. Gott vergelt es
Ihnen! — Ihr Grab war mein Labſal,
ſonſt waͤr’ ich vergangen in meinem Elende.
Verzeihen ſie alle meine Fehler, wodurch ich
Sie in meiner Jugend betruͤbt habe. Seit
vielen Jahren, duͤnkt mich, hab’ ich Ihnen
nicht Gelegenheit zur Unzufriedenheit gegeben.
Man muß Gott mehr gehorchen, als den
Menſchen. — Meine Entfernung rechnen
Sie
[398] Sie nicht unter Fehler, die ich ihnen abzu-
bitten ſchuldig waͤre — ich bitte ſie Ihnen
dennoch ab, weil ich weiß, daß ſie Ihnen
einigen Verdruß machen wird. Der Him-
mel gebe, daß er ſo klein ſey, als nur moͤg-
lich, nur moͤglich. — Wenn Sie nicht glau-
ben wollen, daß mich Gott zu gehen geheiſ-
ſen hat; ſo laſſen Sie ſich von dem Herrn
Paſtor die Predigt vom vorigen Sonntag ge-
ben. Dieſe Predigt ließ Gott durch ihn an
mich halten — das koͤnnen Sie mir glau-
ben, weil ich es empfunden habe, und wenn
Sie die Predigt leſen, werden Sie’s auch
empfinden, und mir wenigſtens eine gluͤckli-
che Reiſe
wuͤnſchen, wie ſie meinem Bruder
wuͤnſchten. — Die Frau Paſtorin haben
Leute, das weiß ich, wider mich aufge-
bracht.


Ich bitte Sie, meine liebe Frau Paſto-
rin, um Gottes willen, um Gottes willen,
nicht zu denken, daß ich ihren Sohn verfuͤhrt
habe, und noch verfuͤhre. Eben ſo wenig, als
er mich verfuͤhret hat, und verfuͤhren wird,
eben ſo wenig ich, ihn. — Sie ſind eine gute ver-
ehrungswuͤrdige Frau, meine geiſtliche Mut-
ter, die mich uͤber die Taufe gehalten hat —
ach! — — Gott der Herr ſegne Sie! Ich
kuͤß’
[399] kuͤß ihnen und dem Herrn Paſtor, dem Bo-
ten Gottes, die Hand. Gott wird ihn ſo in
ſeinem Lezten erquicken, als er mich vori-
gen Sonntag in meinem Lezten in — er-
quicket hat.


Lieber Vater, ſagen Sie dieſe Stellen der
Frau Paſtorin vor, und danken Sie dem
Herrn Paſtor tauſendmal, tauſendmal! Lie-
ber Herr Paſtor! Engel Gottes! ich dank’
Ihnen tauſendmal, tauſendmal! —


Ich wuͤnſchte ſehr, mein Vater, daß dieſe
frommen Leute gut von mir daͤchten, des Ge-
bets dieſer Frommen wegen, dem ich mich
empfehle. Setzen Sie mich, mein Vater,
in die Guͤte, in das fromme Andenken der
Frau Paſtorin zuruͤck. Schlagen Sie mir,
lieber Vater, dieſe lezte Bitte nicht ab: und
denn noch eine nicht: — das Grab meiner
Mutter in Ehren zu halten! Wenn die Erde
nachlaͤßt, und das Grab ſinkt, laßen Sie,
laßen Sie doch Erde, gute ſchwarze Erde
nachſchuͤtten, damit es nicht das Anſehen, das
edle Anſehn eines Grabes, eines Huͤgels, ver-
liere. Meine Mutter iſt ja die Hand voll
ſchwarzer Erde werth! — Nun leben Sie
wohl! — Wenn Sie Denen heyrathen, laſ-
ſen Sie ſie nicht veraͤchtlich von meiner Mut-
ter
[400] ter reden. Es iſt eine ſelige Mutter. Verdop-
peln Sie Ihre Liebe gegen meinen Bruder
Benjamin. Er iſt jetzt das einzige Kind, das
von einer Mutter ſtammt, die im Himmel
iſt. — Gruͤßen Sie ihn von mir tauſendmal.
So oft er zu Ihnen kommt, gruͤßen Sie ihn
tauſendmal. — Gruͤßen Sie alle, die ſich mei-
ner zu erinnern die Guͤte haben. Verfolgen
Sie mich nicht, denn ich geh’ auf Gottes We-
gen. Regine iſt ſo unſchuldig an meiner Ent-
fernung, als die Sonn’ am Himmel. Gruͤßen
Sie auch Reginen von mir! Ich bitte Regi-
nen ab, daß ich ſie wegen meiner Flucht ge-
taͤuſchet habe. — Gott laß’ es Ihnen allen,
allen, allen, wohl gehen zeitlich! geiſtlich!
und ewig! wohl! wohl! Wenn Herr von E.
ſeine Gemahlin treu lieben wird, nur dann
wird er gluͤcklich ſeyn. Gott ſteht das Herz
an, und alle guten Leute, die Gottes Bild
an ſich tragen, desgleichen. Ich wuͤnſch’
auch ihm alles, alles Gute! Hiemit leben
Sie wohl alle! alle! Leben Sie wohl! —


Herrmann war geruͤhrt — weinen konnt’
er nicht. Schon wolt’ er den ganzen Han-
del mit Denen wieder aufgeben, und zu mei-
nem
[401] nem Vater gehen, und ſeine Suͤnde in den
Schoos ſeines Beichtvaters bekennen. Er
konnte ſich nicht entbrechen, vor ſich zu ſagen,
als ob er ſich auf das Compliment zu meinem
Vater beſoͤnne: Vater, ich habe geſuͤndiget
im Himmel und vor dir, ich bin hinfort
nicht werth, daß ich dein Beichtſohn heiße. —


Dieſe Bußgedanken wurden aber bald
zerſtreuet. Nimmt Herr v. E. Denen von
mir! Was heb’ ich an? Graben mag ich
nicht; doch ſchaͤm’ ich mich zu betteln. Dies
ſetzt’ er ſeinen Bußgedanken entgegen, und
wenn ſie gleich nicht voͤllig in die Flucht ge-
ſchlagen wurden; ſo waren ſie doch wenig-
ſtens wankend gemacht. Je weiter er dem
Vorfall nachdachte, je mehr befeſtigte ſich
ſein Entſchluß, ſich unter die gewaltige Hand
des Herrn v. E. zu demuͤthigen. Sein letz-
ter Vorſatz war, dem Herrn v. E., der,
wenn er wollte, ihn ganz und gar an den
Bettelſtab bringen koͤnnte, alles zu entdecken
— und ſich ihm auf Gnad und Ungnad, auf
Tod und Leben, zu ergeben. Er nahm den
Brief mit (die Hand zittert’ ihm, da er
ihn angrif,) und ritt nach — zum Herrn
v. E. —


Zweiter Th. C cNun,
[402]

Nun, Teufel, war der Willkommen —


Hochwohlgebohrner! gnaͤdiger Herr!
hier! —


Was? (Herr v. E. nahm und las —)


Blitz! Donner! Zeter! Wetter! Wo iſt
die Beſtie?


Gnaͤdiger Herr! Verzeihen Sie —


Er iſt doll!


Wie Ew. Hochwohlgebohrnen befehlen.


Die Beſtie, wo iſt ſie?


Das iſt Gott bekannt!


Nach einem laugen Mißverſtaͤndniß kam
es heraus, daß der Abgeſandte Jacob die
Beſtie war. Ich hab ſie begegnet! Gewis
und wahrhaftig, ſie war es, ſchrie Herr v. E.


Ketten! — Jacob! wo iſt die Beſtie?
Jacob kam, und, nach den entſetzlichſten Fluͤ-
chen, wurde Jacob in Eiſen geſchmiedet Die-
ſer Kerl, mit dem ein kurzer Proceß gemacht
ward, ſchien der Ableiter der Wuth des Herrn
v. E. zu ſeyn — v. E. erholte ſich. — So
lang als ich ſie nicht habe, ſollſt du ſo liegen,
Beſtie, das war das Urtel. —


Es wurden Steckbriefe und Boten zu Fuß,
zu Pferde und zu Wagen, ausgeſandt — al-
lein Mine kam gluͤcklich nach — Koͤnigs-
berg! — Sie erſchrack uͤber dieſen Ort! So
groß
[403] groß, ſagte ſie zu den Fuhrleuten! Es war der
nehmliche Major, und der nehmliche Junker,
die mich nach Koͤnigsberg gebracht hatten! —
Mine ſchlief in Koͤnigsberg auf der nemlichen
Stelle, wo ich geſchlafen hatte, und es ſey,
daß Ahndung es ihr eingab, oder was weiß
ich wie ſie empfand, daß ich da geweſen. Bis
dahin hatte ſie hievon keinen Gedanken gehabt.
— Jetzt kam es ihr ſchnell ein, wie alles
kommt, was gut iſt. — Mine lenkte das
Geſpraͤch auf die hohe Schule, und immer
weiter und weiter, bis die Majorin ſelbſt
von mir anfing. Der Major hatte mich
laͤngſt vergeſſen. Ueberhaupt ſchwaͤcht nichts
ſo ſehr das Gedaͤchtniß, als Reiſen. Die
Majorin gab ſo viel Umſtaͤnd’ an, daß Mine
mich vor ſich ſahe. Haͤtte Kummer und Elend,
und vorzuͤglich der Ueberfall des Boͤſewichts,
da Mine zu Fuße gieng, und die peinlichen
Fragen des Abgeſandten, der jetzt in Eiſen ge-
ſchmiedet war, dieſe Arme nicht ſo ſehr zuruͤck-
geſetzt, ich glaube die Liebe haͤtt’ ihre Gruͤnde,
mich nicht zu ſehen, uͤberwunden. Jetzt
uͤberwanden die Gruͤnde. Wer ſiehet gern
Leute, die man recht zaͤrtlich liebt, wenn
man ſo kuͤmmerlich iſt, wie Mine war.
Ihre Gruͤnde:


C c 2„Die
[404]

„Die Paſtorin nennt mich eine Verfuͤh-
„rerin! Koͤnnt’ ich es nicht werden? Und
„unter welchem Namen ſolt ich? Unter weſ-
„ſen Schutz? Was wuͤrden ſeine Bekannten
„von mir denken? von ihm ſagen? wie und
„wo ſoll er mich ſehen?” Mine, die uͤber-
all auf Gottes Wegen gieng, hatte ſchon der
Majorin geſagt, daß ſie keinen Verwandten
in Koͤnigsberg haͤtte, und daß ſie nach L —
wolte. Es war ſchon unterwegs abgemacht,
daß man ſie dorthin ſenden wuͤrde. Eine ge-
wiſſe fraͤuliche Delikateſſe, die, wenn ſie
Schwaͤche waͤre, ſelbſt unſerm Geſchlecht,
angenehmer als Staͤrk’ iſt, gab jedem Ge-
danken Nachdruck —


„Koͤnnte man nicht denken, ich waͤre ſei-
„netwegen? — Er kann und wird mich ſe-
„hen, im Schoos meiner Verwandten — und
„ſterb’ ich — in der ſeligen Ewigkeit! —”


Kurz, es ward beſchloſſen, nach L —.
Der Herr Major ſagte: Frau, ſolch ein Frauen-
zimmer haſt du noch nicht geſehen, und die
Frau Majorin that mir die Ehre, Notabene
nachdem mein Andenken bey ihr aufgefriſcht
war, bey dieſer Gelegenheit zu bemerken, daß
ſie ſolch einen jungen Herrn, als mich, ſo
leicht nicht geſehen haͤtte. Mine ſchreibt:
„dies
[405] „dies kam mir ſo unerwartet, daß ich feuer-
„roth wurde, — ich freute mich, mein Lie-
„ber, ſo ſehr ſich Mine freuen konnte! —„
Da Mine eine Luſt bezeigte, die Stadt zu
beſehen, ſo ward den Morgen eine Kutſche
angeſpannet. Die Majorin machte Umſtaͤn-
de, mit Minen zuſammen zu ſitzen. Sie
wolte gerad uͤber ſitzen. Endlich — — All
Augenblick, wenn Mine einen jungen Men-
ſchen ſah, fiel ſie zuruͤck. Sie glaubte mich —


Den nemlichen Tag nach Tiſche.


Herr v. G. und ich.


  • Er. Endlich.
  • Ich. Ich bin auch heut noch zu beklommen,
    ich habe noch kein empfaͤngliches Herz fuͤr
    die Natur — keinen Hunger und Durſt —
    nach ihrer Milch und Honig. Sie nimmt
    es uͤbel, Bruder! wenn man zu ihr kommt
    und ſauer ſieht. —
  • Er. Sie wird dich aufmuntern. —
  • Ich. Das thut ſie nicht.
  • Er. Ihren Lieblingen wohl, und du ſitzeſt
    ihr im Schoos. —
  • Ich. Wohin denn?
  • Er. Das laß mir uͤber! Unſer ehrlicher Ma-
    jor hat, daß weißt du, Urſach, es uͤbel zu
    C c 3neh-
    [406] nehmen, daß wir nicht ſchon die Parole von
    ihm abgehohlt. — Ein Paar Pferde —
  • Ich. Meinetwegen! Wen ſenden wir?
  • Er. Uns ſelbſt. —
  • Ich. Deſto beſſer. —
  • Er. Zum Major! —
  • Ich. Zum Major! —

Wir giengen, nachdem wir uns umge-
zogen. Schon ſahen wir ſein roth abgeputz-
tes Hauß, freueten uns unſere Kriegscame-
raden zu ſehen, und frugen einander. — Da
begegneten uns ein Paar Landleut’ im Wa-
gen, die uns hineinwinkten. — Wir nah-
men dieſen Wink entgegen — und fuhren
ihren Weg nach Hollſtein, (einem Luſtorte
bei Koͤnigsberg.) Warum konnten wir nicht
zum Major, obſchon wir das roth abgeputzte
Hauß ſahen? Große Frage! warum? O Gott
warum? Eine kurze Freude fuͤr meine Leſer! —


Der Weg nach Hollſtein iſt einer der
ſchoͤnſten, den man fahren kann. Auf der
einen Seite Waſſer, wo Schiffe ſich kreuzen,
auf der andern die anmuthigſten Wieſen. —
Man koͤnnte, ſagt’ einer in unſern Wagen,
um den Wieſen ein Compliment zu machen,
Billard darauf ſpielen!


Ich
[407]

Ich war blind und taub! Wie konnt’ es
anders! Schon ſechs Wochen uͤber das Vier-
teljahr, und kein Brief von Minen!


Mine reiſte den andern Tag nach L — zu
ihren Verwandten. — Wie ſie zum Thor
heraus fuhr, fielen ihr wieder die Wort’ ein:
Man trug einen Todten aus der Stadt,
der war der einzige Sohn ſeiner Mutter.

Sie konnte dieſe Worte nicht los werden. —


Mine ſchreibt: „mein Weg, mein Lieber,
„wie du ſchon weißt, wie ich dir ſchon tau-
„ſendmal geſchrieben habe, gieng Himmel an,
„uͤberall Himmel an. —”


Sie fand ihren Verwandten auf dem
Brete. Seine Frau war ſchon laͤngſt geſtor-
ben. Muͤd’ und matt fiel Mine, bey dem An-
blick ihres Verwandten in Ohnmacht. Nach-
dem ſie ſich erholt hatte und den Todten an-
ſah, fand ſie eine Aehnlichkeit von ihrer Mut-
ter in allen ſeinen Zuͤgen. Sie konnt’ ihr
Aug nicht von ihm laſſen. Sie ſelbſt:


„Es ſey, mein Lieber, daß alle Todten
„eine Aehnlichkeit haben, die im Herrn ſter-
„ben, oder der Selige hatte, der Verwand-
„ſchaft wegen, wuͤrklich aͤhnliche Zuͤge von
„meiner Mutter. Mir war es Zug an Zug!
„— Lieber Gott, dacht’ ich, indem ich ihn
C c 4„ſtarr
[408] „ſtarr anfah, nun hab ich auch einen Brief in
„den Himmel. Du weißt doch, mein Lieber,
„den Brief aus Mitau! — Gott, dein heiliger
„Wille geſchehe! — Nur daß du mich
„nicht verlaͤßeſt, wenn ich dieſen ſeligen Weg
„gehe — und die lezte, letzte Reiſe thue.


„Laß mich, wenn ich ſterbe

„mit der Schaar der Frommen

„aus Sturm und Wellen kommen

„an den erwuͤnſchten Ort. —

„Wieder ein Wegweiſer Himmel an!
„Himmel an, mein Lieber! Ich glaube nicht,
„daß ich mehr weit zum Ziele habe. — Es
„kann, es kann nicht mehr weit ſeyn! —”


„Ich wolt’ in Koͤnigsberg mich mit dem
„Fuhrmann und ſeiner Frau abfinden, die
„Leute hatten mir viel, ſehr viel Gutes ge-
„than; allein weder er, noch ſie, waren zu
„einem Dreyer zu bequemen. Ich ſchenkte
„der kleinen Tochter, die nicht von mir ließ,
„einen Kopfputz, und mehr war den Leuten
„nicht aufzudringen. — Sie hatten mir gar
„zu eſſen und zu trinken auf den Weg gege-
„ben, ohne daß ich’s wußte. — Mein Gott,
„was giebt es doch fuͤr gute Menſchen in der
„Welt! Dieſe Guͤte bewegte mich bis zu
„Thraͤ-
[409] „Thraͤnen, die, Gott ſey geprieſen, ſogleich
„da ſind, und mir ſehr treue und gute Dien-
„ſte thun. —”


Der Prediger in L—, wahrlich ein Mann,
der nicht blos betete, ſondern auch arbeitete,
der nicht blos lehrte, ſondern auch gab, kam
eben von der Erfuͤllung des lezten Willens des
Seligen! Es hatte der Verſtorbene verord-
net, da er keine Erben hatte, daß ſein ganzer
Nachlaß an das Hoſpital und die Hausarmen
gegeben werden ſolte. Der gute Prediger hatt’
alle die frohen Zuͤge der Armen in ſeinem Ge-
ſicht, die er veranlaſſet hatte, und ſo kam er
ins Trauerhauß. — Einen Tag eher, und
Mine haͤtte fuͤr die bewuſten Armen in Mitau
Anſpruch auf dieſen lezten Willen machen koͤn-
nen! Es war ſeit undenklichen Jahren keine
Nachricht von ihnen in L eingelaufen, und
der Selige glaubte, ſie ſchon alle da zu fin-
den, wo er hingieng.


„Auch ich Hoſpitalitin, ſchreibt Mine,
„haͤtt’ ein Recht an dieſer Austheilung gehabt,
„ich pruͤfte mich vor Gott, ob ich es einem
„beneidete? auch der es weniger, wie ich,
„noͤthig hatte; allein ich beſtand in der Wahr-
„heit. — Mein Lieber! ich bin verlaſſen;
„allein Gott weiß, dieſer Gedanke koſter mir
C c 5keinen
[410] „keinen bittern Augenblick. — Keinen ein-
„zigen iſt der verlaſſen, der auf Gottes We-
„gen geht! Wenn mir einfaͤlt, wo Brod in
„der Wuͤſten? bild ich mir ein, wenn ich kein
„Brod habe, werd’ ich auch keinen Hunger
„haben, und das iſt jetzt mein unaufhoͤrliches
„Denken, ſo lang ich bey der Leiche bin —
„und denn noch ein großer uͤber alle maaßen
„wichtiger Gedank’ iſt mein: bald wird mich
„gar nicht mehr hungern und duͤrſten —
„und nicht mehr auf mich fallen Froͤſte des
„Schrecks, und keine Flamme der Anfechtung
„mich mehr ergreifen. Ich fuͤhl’ es, Gelieb-
„ter, innerlich, obgleich mir aͤußerlich nichts
„anzuſehen iſt, es werde bald Amen mit mir
„ſeyn. — Glaub mir, ich bin mehr dort,
„wie hier; ich ſehne mich nach meiner rech-
„ten Behauſung! denn kann ich nicht mit
„Wahrheit ſagen: Ich habe hier keine blei-
„bende Statt gefunden, ſondern die zukuͤnf-
„tige ſuch’ ich. — Bald! bald! wird man
„einen Todten heraustragen. — Was ſolt’
„ich mich alſo graͤmen, und wider Gott mur-
„ren, der den Himmel ausbreitete und die
„Erde gruͤndete, und ſo groß er iſt, doch auch
„meinen Schmerz wog, warum ſolt ich mur-
„ren, und uͤber die klagen, die den Nach-
„laß
[411] „laß meines Verwandten in Empfang ge-
„nommen. Da ich den Herrn ſucht’, ant-
„wortete er mir, und errettete mich aus aller
„meiner Furcht. — Er ließ mein Angeſicht
„nicht zu Schanden werden, da mich v. E.
„und ſein Bothſchafter ſahen. Ich Elende
„rief, und es hoͤrte mich der Herr, und half
„mir aus allen meinen Noͤthen. Der Engel
„des Herrn lagerte ſich um mich her, und
„ſchlug mit Blindheit, die mich greifen wol-
„ten! — Du kannſt nicht glauben, Gelieb-
„ter, wie froh ich bin! Froh bey einem Tod-
„ten! — Er iſt entgangen, ich werd’ auch
„entgehen. — Von ganzer Seel empfind ich
„die Worte: der Menſch lebt nicht vom Brod
„allein! — Ich habe ſo wenig Hunger, daß
„ich noch drey Tag’ ohne Eſſen und Trinken
„bleiben koͤnnte. Ich ſchmecke und ſehe, wie
„freundlich der Herr iſt, wohl dem, der auf
„ihn trauet!„


Der Pfarrer in L — fand Minen ver-
ehrungswuͤrdig. Er ſah ihr an, was ſie
war. Er war mit einem geſtaͤrkten Auge
zu ihr gekommen. Mit einem Anſtande,
frey wie die Tugend, erzaͤhlt’ ihm dies lie-
benswuͤrdige friſch und muntere Maͤdchen
einen Theil der Geſchicht’ ihrer Reiſe. Es
bluͤhte,
[412] bluͤhte, wie eine Roſe; allein es fiel auch ſo
hin, wie ſie. Indem ſie mit dem Prediger
ſprach, ſank ſie zur Erde. — — Vielleicht
daß ſie der Theil der Geſchichte, den ſie zu-
ruͤck behielt, ſo angrif, vielleicht daß die
Krankheit, wie es oͤfters geſchieht, den Ru-
hepunkt, den ſie abgewartet hatte, eben jetzt
erreichet, um auszubrechen. —


Mine bemerkte zwar, daß die Erſchei-
nung des Herrn v. E. und ſeines Geſandten
ihr ganzes Weſen bebend gemacht, und daß
dieſer Schreck ſie mehr angegriffen, als alles
— indeſſen half ſie ſich wieder auf. Jetzt
aber war ihr Stuͤndlein vorhanden. — Sie
konnte nicht mehr. Sie ſank! — O Gott!
ſie ſank! — Es iſt, glaubt mir, lieben
Freunde, mit Leben und Tod eine beſondere
Sache. Der Menſch bringt zwar die Urſa-
che ſeines Todes mit auf die Welt. Er ſtirbt
an ſeiner Geburt; allein man koͤnnte behaup-
ten, daß der Tod immer, wie ein Dieb in der
Nacht, immer wie ein Blitz, komme, und
daß man in gewiſſer Art jederzeit, und auch
als denn noch ploͤtzlich ſterbe, wenn man gleich
an einer Lungenkrankheit ſtirbt. Der Eintritt
dieſer Krankheit iſt als denn der ploͤzliche Tod,
und ſobald dieſe Sterbenskrankheit eingetre-
ten,
[413] ten, ſagt, leben wir wohl mehr? — wir
hoffen doch? Wir zweifeln, wilſt du ſagen,
und das iſt wahrlich kein ſo gluͤcklicher Zu-
ſtand! Ein Hektikus, der in der Lebenshof-
nung, wie man ſagt, am ſtaͤrkſten ſeyn ſolt’,
iſt er nicht ſchon immer todt? wenn gleich er
dem Arzt entgegen huſtet „heut befind’ ich
„mich ſo leidlich! —” Was er nicht weiß,
iſt der Augenblick, da ihn die Welt todt nennt.
— Eigentlich iſt er ſchon verſchieden. —
Was duͤnkt dich,


friſcher Juͤngling, dich, bluͤhendes
Maͤdchen,
was duͤnkt euch, die ihr dieſes leſet?
Wenn euch beim Worte: ſie ſank ein Schau-
der durchs Herz fuhr! denkt dran! ſo wird auch
euer Tod kommen, ſo wird er eintreten. —
Darum wachet, wacht, jedes, ſo dieſes Blatt
lieſet, alt und jung! Ich beſchwoͤr’ Euch alle
bey dem Gott, der an den Tag bringen wird,
was im Dunkeln geſchah, und der den Rath
der Herzen offenbaren kann, ich beſchwoͤr je-
des, ſo dieſes Blatt lieſet, heute! heute! —
heute! — eine gute Handlung im Stillen zu
thun: dieſe Handlung, wenn es moͤglich iſt,
vor ſich ſelbſt zu verbergen — damit ſie im
Sterben euch Luft zuwehe! Heute Freunde!
heute folget mir — heute noch!


Der
[414]

Der Selige war ein großer Liebhaber
vom Voͤgelſang. Da er nicht mehr aus-
gehen, und ihn im Freyen hoͤren konnte, hatt’
er verſchiedene von dieſen Saͤngern im Zim-
mer. — Ihr Geſang ſoll mich auch im Ster-
ben nicht ſtoͤren, pflegt’ er zu ſagen. Es iſt
der Ausbruch der Freud’ und der Unſchuld,
es ſind gluͤckliche Geſchoͤpfchen. Seine lezte
Verfuͤgung war: ſeine Voͤgel nach ſeinem
Tod’ ins Freye zu laſſen. Zuweilen wuͤnſcht’
ich, hatt’ er hinzugefuͤgt, daß ich ihnen et-
was im Teſtament legiren koͤnnte — allein
was wuͤrd ihnen ein Legat gegen die weit und
breite Welt ſeyn, die ihnen eignet und gebuͤh-
ret. Mine war bey der Erfuͤllung dieſes lez-
ten Willens, den der gute Pfarrer mit ſehr
vieler Empfindung befolgte. Nach den er-
ſten Begruͤßungen an Minen war dies ſein
Geſchaͤfte. Sie brauchen kein Legat, ſagte
der Prediger, dieſe Weltbuͤrger. Auf jedem
Aeſtchen iſt ihr Bette gemacht. Gott ſey mit
euch, fuͤgt’ er hinzu, und ließ die Voͤgel flie-
gen.


Mine ſank — der gute Prediger ermun-
terte ſie; allein er ſahe, daß ihr das Herz
gebrochen war — Sie war nicht mehr! —
Sie haben mich ſterben geſehen, ſagte ſie zum
Pfar-
[415] Pfarrer. Das hab’ ich, erwiederte er. Der
Bote des Friedens ließ ſie nicht von ſeiner
Hand, und bat ſie, mit ihm zu kommen. —
Dieſes nahm ſie als Gottes Einladung an,
und dankt ihm herzlich fuͤr das Aeſtchen, das
er ihr anbot. Mine war ſo ſchwach, daß ſie
ſich gleich ins Bette legen mußte, ſo bald ſie
zum Prediger kam. —


Laßt mich kurz ſeyn, liebe Leſer, ihr koͤnnt
fuͤhlen, nicht wahr? ihr koͤnnt es — wie
mir iſt. Wenigſtens hier und dort und da.
Laßt mich abbrechen, und leſet mehr als da
ſteht. —


Die Dulderin konnte ſelbſt ihren Ver-
wandten nur durchs Fenſter begraben ſehen.
Da man ihn einſenkte, ſank ſie ohnmaͤchtig
hin, und mußt’ ins Bett getragen werden.
— Sie ſagte, da ſie wieder zu ſich ſelber
kam, es waͤr’ ihr im ſanften Schlummer ſo vor-
gekommen, als truͤge man ſie ſelbſt ins Grab. —
Sie war zuweilen ſehr unruhig, und blieb es
ſo lange, bis ſie dem rechtſchaffenen Geiſtlichen
ihren ganzen Lebenslauf gebeichtet, und ihr
ſchwer beladenes Herz gelichtet hatte. —
Der redliche Mann ſtaͤrkt’ und troͤſtete ſie!
Er billigte dieſe ſo engelreine Liebe, die Lilien-
keuſche Liebe, wie er ſie zu nennen die Guͤte
hatte
[416] hatte — und, was man Minen an ihren
gebrochenen Augen anſehen konnte, war da.


Die Abſolution des guten Predigers
machte Minen munter. Dies kann man
auch bey einer großen Krankheit ſeyn. Man
ſahe, daß ihr Geiſt heiter war, und nicht
zu ſeyn aufhoͤren wuͤrde, wenn gleich der
Koͤrper dahin fiele. — Er war ſo ſehr dem
Koͤrper uͤberlegen, daß der Prediger mich
verſicherte, dies waͤre ſein Beweiß von der
Unſterblichkeit. Oft, ſagt’ er, hab’ ich dies
gefunden, und noch oͤfter haͤtt’ ichs finden
koͤnnen, wenn nicht die meiſten Seelen im
Concurs ſtuͤrben! und von ſo vielen Schuld-
nern uͤberlaufen wuͤrden, die ſie nicht befrie-
digt, ſo lange ſie mit ihnen auf dem Wege
dieſer Welt waren. —


Mine wollte die Communion, und zwar
in der Gemeine empfangen. — Ich werde,
ſagte ſie, drinn ſchmecken und ſehen, wie
freundlich der Herr iſt, und wie wohl denen
auch dort ſeyn wird, die auf ihn trauen,
ich werd’ einen Vorſchmack drin von dem
himmliſchen Manna finden. — Der Predi-
ger ſetzte hiezu einen Tag an, und ſie em-
pfieng die Communion mit zwoͤlf Perſonen
in ihrem Zimmer. — Dieſe Zahl kam ganz
von
[417] von ungefehr; indeſſen fiel ſie Minen ſehr
auf! — „Gott laß doch keinen Verraͤther
unter dieſen zwoͤlfen ſeyn!„ Mine gab jedem
von ihrer geiſtlichen Tiſchgeſellſchaft die Hand.
— Wir ſehen uns wieder, ſagte ſie. Die Dank-
ſagung, welche der Prediger aus der Agende
nach der Communion las, ſprach Mine laut
und mit Seelenwonne mit. Die Tochter
des Predigers, ein Maͤdchen von neunzehn
Jahren, wollte durchaus ſterben, da ſie Mi-
nen ſo ſterben ſah. — Sie war immer um
und bey ihr. Mine bat den Prediger nicht,
mit ihr zu beten. — Dazu hatte ſie keinen
Geiſtlichen noͤthig, obgleich ſie den Prediger
ſehr gern um ſich hatte. Sie ſprach beſtaͤn-
dig mit ihm von Sterbenden, die er zum Tode
vorbereitet hatte, und freute ſich, wenn ſie
von Leuten hoͤrte, die freudig aus dieſer
Welt gegangen, und deren Seelen ſo ſtark
geweſen, daß man ihnen die Vollendung an-
geſehen. — So was, ſagte der Prediger,
uͤberzeugt. Man ſteht in gewiſſer Art Gei-
ſter — und ſo, wie ſie ſich aus dem Koͤrper
herausſchlauben, ſo werden ſie ſich auch zu
ſeiner Zeit beym Weltgericht aus dem Stau-
be machen. — Wenn Minchen allein war,
gieng ſie im beſondern Sinn mit Gott um. —
Zweiter Th. D dVon
[418] Von langen Gebeten hielt ſie nicht — auch
in geſunden Tagen nicht. — Sie war
das ſah man, das hoͤrte man, ihrer Sache
gewiß. Sie war im Himmel bekannt. Ich
habe dort eine Mutter, die mir gewiß ent
gegen kommen wird, pflegte ſie zu ſagen, und
dann wieder, ich behalte denſelben Gott in
Curland, in Preußen, im Himmel! Ich
veraͤndere nicht den Beherrſcher, ſondern nur
den Ort. Ich zieh aus einer Provinz Got-
tes in die andere. Hier wohn ich zu Miethe,
und dort werd’ ich Eigenthuͤmer ſeyn. —
Es war ruͤhrend, ſie ſterben zu hoͤren! ſie
ſterben zu ſehen! —


(O Gott, lehre mich bedenken, daß
ich ſterben werde, daß mein Leben ein
Ziel habe! daß ich davon muͤſſe! lehr’
es jedem, der dies ließt!)


Auf einmal fiel es Minchen ein, mich
noch zu ſehen. — Da ſie gewiß zu ſterben ge-
dachte, ſprach ſie von unſerer Verbindung
mit ſo wenigem Ruͤckhalt, daß ſie mich ge-
gen den Prediger ihren Mann hieß. Der
Prediger ſprach auch von uns, wie von Ver-
lobten. Gretchen, die Tochter des Predi-
gers, wußt einen großen Theil von meiner
Geſchichte; nur gegen die Predigerin war man
ruͤck-
[419] ruͤckhaltend. — Man ließ ſie ſelbſt ſelten zu
Minen, obgleich ſie ſich recht nach ihr ſehn-
te. Sie neigte ſich ſehr zur Schwermuth, und
man mußt alles entfernen, was dieſem Tem-
peramente Nahrung gab. Bei ihren letzten
Wochen war einer von den drey Lindenbaͤu-
men, die vor dem Paſtorhauſe ſtanden, aus-
gegangen; dies hatte ſie ſich ſo zu Gemuͤthe
gezogen, daß vorzuͤglich jeder Lindenbaum ſie
gleich zum Tiefſinn brachte. Wenn die Linden
bluͤheten, war ſie immer in Thraͤnen. Die
gemeinen Leute nannten es eine Linden-
krankheit.
— Sie fanden indeſſen auch in an-
dern Vorfaͤllen Anlaͤſſe zur Traurigkeit, und
Nahrung fuͤr ihre Schwermuth. Die gute
Paſtorin hatte ſich eingebildet, daß der Lin-
denbaum vor dem Paſtorat, da er in ihrem
Geburtsjahre gepflanzet worden, jetzo ihren
Tod ankuͤndige, und ihr Vorlaͤufer, ihr Jo-
hannes, ſeyn wuͤrde. Gewiß hat dieſer
Baum ihr Leben mitgenommen! — Sie
weint’, oft am heiterſten Tage. — Der arme
Prediger, welcher anfangs alle Mittel ange-
wendet hatte, dieſe Krankheit zu heilen, ſahe
wohl ein, daß ſie nicht heilbar waͤre.


Oft mußt er ihr ſogar die Bibel wegneh-
men. Sie war nicht aus den Klagliedern
D d 2Jere-
[420] Jeremiaͤ, den ſieben Bußpſalmen, und der
Offenbarung Johannis herauszubringen —
und im Geſangbuch waren die Todten- und
die Abendlieder ihre Sache. „So komm doch
auf einen gruͤnen Fleck!„ ſagte der Kreuz-
tragende Prediger; allein ſie blieb wo ſie war.
— Sie ſah in jedem Gruͤn die Linde vor ih-
rem Hauſe. Es war dieſem Baum ſein
Taufatteſt, ſein Pflanzjahr, eingeſchnitten,
und alſo wußte ſie gewiß, daß ſie eines Jahrs
Kinder waren. — Zuweilen kam die Schwer-
muth der Frau Predigerin bis zu Ausbruͤ-
chen. Dann waren ihre Begriffe alle durch-
einander. —


Was meynen Sie, lieber Paſtor, ſagte
Mine, ſoll ich ihn noch ſehen? Ihre Gruͤn-
de hatte ſie jetzt all’ aufgegeben. Der Prediger
war fuͤr; der Arzt wider. Es war betruͤbt
anzuſehen. Sie wollte mit ihrem Arzt druͤ-
ber ſprechen; allein das konnte ſie nicht. Sie
hatte kein Wort unmittelbar mit ihm gewech-
ſelt. Er war ſehr harthoͤrig — und eines
der Hauptuͤbel, die ſich bey Minen aͤußer-
ten, war kurzer Othem und Bruſtſchwach-
heit. Da man dem Arzt Minens Wuͤnſche
ins Ohr ſchrie; widerrieth er. Nichts, ſetzt’ er
hinzu, was ſie angreift! Der erſte Blick ih-
res
[421] Freundes wuͤrd’ ihr letzter ſeyn. — Die ge-
ringſte Spannung wuͤrd’ ihre Nerven in Stuͤ-
cken reiſſen.


Mine war es zufrieden, oder mußt’ es
zufrieden ſeyn, da der Prediger dem Arzt
beytrat. Sie erholte ſich, allein nicht zum
Leben, ſondern zum Tode, wie ſie ſelbſt be-
merkte; indeſſen dankte ſie ihrem Arzt mit
einem Haͤndedruck! Zuweilen ſtand ſie auf,
ſahe nach dem Grabe ihres letzten Verwand-
ten, ließ ſich von fern die Graͤber der Frauen
dieſes friſch begrabenen, und ihrer Kinder
zeigen. Sie waren alle mit einer kleinen in
die Hoͤhe ſtehenden Tafel bezeichnet, worauf
ein Spruch ſtand. Die Tochter des Predi-
gers mußte ſie leſen gehen, und ſie Minen
erzaͤhlen — das Auge reichte nicht ſo
weit. —


Auf ſeiner Tafel ſtanden die Worte, Da-
niel 12. v. 13. Du aber, Daniel, gehe hin,
bis das Ende kommt, und ruhe, daß du
aufſteheſt in deinem Theil, am Ende der
Tage.
Er hieß Daniel. —


Auf der Tafel ſeiner Frauen, Hiob 7.
v. 2, 3. Wie der Knecht ſich ſehnet nach dem
Schatten, und ein Tagloͤhner, daß ſeine

D d 3Arbeit
[422]Arbeit aus ſey; alſo ſind mir elender
Naͤchte viel worden.


Auf dem Grabe der Tochter, Buch der
Weisheit 3. v. 1. Der Gerechten Seelen
ſind in Gottes Hand, und keine Quaal
ruͤhret ſie an.


Auf dem Grabe des Sohnes, 2 Samu-
el, 12. v. 23. Ich werde wohl zu ihm
fahren. Er kommt aber nicht zu mir.


Mine eignete ſich dieſe Denkſpruͤche zu.
Es war ihr Stammbuch, und jedes Grab
brachte ſie auf das Grab ihrer Mutter. Oft
machte ſie die Augen dicht zu, um, wie ſie
ſagte, mit ihrer Seel’ in naͤhere Bekannt-
ſchaft zu treten, und zu verſuchen, wie es
ihr nach dem Tode ſeyn wuͤrde. Zuweilen
ſaß ich ſchon, ſo fuhr ſie fort, wie ich noch
lebte, wenn ich mich ſehen wollte, ich macht’
eine Schlafende, um deſto beſſer uͤber die Fra-
gen: wo kommſt du her? wo wilſt du hin?
Auskunft zu finden. Ich kehrte mein Aug
in mich, und ab von der Welt, und von dem
was in der Welt iſt. Da ließ ich mich
denn nicht aus den Augen, ich konnte mir
ſelbſt nicht entlaufen, und welche ſelige
Stunden hab’ ich auf dieſe Art zugebracht!
Jetzt
[423] Jetzt uͤb’ ich mich auf gleiche Weiſe zu ſterben.
— Sie pflegte zu Gretchen, des Pfarrers
Tochter, zu ſagen, da war ich uͤber drey
Stunden zur Probe todt. —


Es war den — — ein Tag, da ſie ſehr
munter war, und da ſie zu Gretchen ſich
ausließ: mich duͤnkt, liebe Freundin, es geht
mir, wie dem Koͤnige Hiskias. Ich hoͤrte
die Stimme: beſchicke dein Haus, denn du
wirſt ſterben, und nicht leben bleiben, und
nun geht der Schatten hinter ſich zuruͤck,
zehn Stufen am Zeiger Ahas, die er war
niederwaͤrts gegangen. — Mine wollte nicht
fuͤr ſich, ſondern fuͤr mich leben. Mine
und Grete waren dieſen Morgen froh mit
einander; allein wahrlich eine kurze Freude!
Denn Mine und das ganze Haus, hatte
einen Schreck, der Minen auch den letzten
Herzensreſt gab. —


Um die Sache in ihrem Zuſammenhange
zu zeigen, muͤſſen wir aus dieſen Vorhoͤfen
des Himmels in die arge boͤſe Welt zuruͤck.


Alle Boten zu fahren, zu reiten, und
zu Fuß, die Herr v. E. ausgeſandt hatte,
kamen ohne Minen zuruͤck; allein nicht oh-
ne Spuren, welchen Weg ſie genommen. Es
war voͤllig klar und deutlich ausgemittelt,
D d 4daß
[424] daß ſie in L — bei ihren Verwandten ſich
aufhielte. Herrmann, wie es ſich von ſelbſt
verſteht, hatte zu dieſer Klarheit und Deut-
lichkeit einen Familienbeytrag geliefert. Er
ſtand als ein Gefaͤngnißwaͤrter, der eine
Staatsverbrecherin entfliehen laſſen: indeſſen
begegnet’ ihm Herr v. E., der zu ſeinen
Abſichten noch auf Herrmann mehr als einen
Anſchlag in petto hatte, leidlich — das heißt,
er ſchlug ihm nicht vorm Hals, er ſpie ihm
nicht ins Geſicht, er hob ſeinen Fuß nicht
auf wider ihn. —


Was iſt zu thun? frug Herr v. E. das
ganze Hauß, und niemand wußte, was zu
thun waͤre. Endlich fiel es ihm ein, ein
Gutachten von ein Paar Rechtsgelehrten, die
ihren Schnitt verſtanden, vor Geld und gute
Wort’ einzuziehen. Dieſen Zween ward
noch einer zugeſelt, um die Sache von allen
Enden zu faſſen. Herr v. E. dirigirte. Die
preußiſche Staaten hat uns der Teufel zur
Nachbarſchaft zugemeſſen, ſagte Herr v. E.
Aus der Hoͤll’ iſt keine Erloͤſung, ſetzt’ einer
von den Dreyen hinzu.


Das conſilium juridicum eroͤfnete ſeine
Seßion. Herrmann war Beyſitzer. — Die
Sache mußt’ in hoͤchſter Eil getrieben wer-
den.
[425] den. Einer der Rechtsgelehrten, der, wie
er ſelbſt zu bemerken die Ehre hatte, ſich in
allen Faͤllen am Kopf zu halten gewohnt ſey,
ſchlug vor, an den Koͤnig ſelbſt zu ſchreiben.
Er iſt das in Preußen, was Ew. Hochwohl-
gebohrnen auf ihren Guͤtern ſind, ſetzte
Herrmann hinzu. Herr v. E. war fuͤr die-
ſes Compliment in hoͤchſten Gnaden dem
Herrmann wohl beygethan. Die andern
zwey Rechtsgelehrten, die ſich nicht ſo ſehr
am Kopf zu halten gewohnt waren, brach-
ten ein Anſchreiben an die Landesregierung
in Koͤnigsberg in Vorſchlag, mit welcher
die kurſche Regierung in freundnachbarlichem
Vernehmen, wie ſie nach der Liebe hoften,
ſtuͤnde. Dieſes Votum gieng durch. Der
Thron bleibt uns — ſagten ſie alle, bis auf
den Kopfhalter. — Wenn Ew. Hochwohl-
gebohrnen, fieng derſelbe, oder Herr α, (ich
will die drey Rechtsgelehrten mit ihrer Er-
laubniß α. β. γ. nennen,) nach einer Weil’
an, nur innerhalb vier und zwanzig Stun-
den von ihrer Flucht Nachricht eingezogen —


Wenn, ſagte Herr β? —


und wenn, Herr γ? —


Der Edelmann hat in Curland das Recht,
wenn ihm ſein Unterthan entlaͤuft, ihn inner-
D d 5halb
[426] halb vier und zwanzig Stunden zu nehmen,
wo er ihn findet, und Hand an ihn zu legen,
auf jeglichem Boden. Nach der Zeit wird
der Unterthan gerichtlich gefordert; doch wird
ſtehendes Fußes obtorto collo verfahren, und
gehts hiebey eins, zwey, drey; wie denn
das Recht der Wiederforderung, obſchon der
Menſchen Leben ſiebenzig und, wenns hoch
kommt, achtzig waͤhret, allererſt in hundert
Jahren verjaͤhret.


Das Hochweiſe Conſilium ſahe Minen
als eine Unterthanin des Herrn v. E. an,
und niemanden fiel ein Wort zum Widerſpruch
ein. Der Litteratus Herrmann, pro tem-
pore Aſſeſſor
, wolte — allein konnt’ er?
Man diſputirte ins Kreuz und in die Quere.
Herr α, der ſich gewoͤhnlich am Kopf hielt,
und der ſich das Anſehn gab, als ſaͤß’ er
unter einem Baldachin, und einer von ſei-
nen Collegen ihm zur Rechten, und der an-
dere ihm zur Linken, ſchuͤttete ſo viel Gelehr-
ſamkeit uͤber die Ruͤckforderung der Untertha-
nin aus, daß die Staͤdte bey dieſer Gelegen-
heit uͤbel wegkamen, wie gewoͤhnlich in Cur-
land. —


Herr β nahm ſich der Staͤdt’ an; in-
deſſen ſah man nach vielen Streifereyen in
an-
[427] andere, wiewohl mit der gegenwaͤrtigen ver
ſchwaͤgerte Materien, wie Herr α ſich aus-
druͤckte, ein, daß die Staͤdte in Curland gar
nicht zum Gutachten gehoͤrten, indem von
Preußen die Rede ſey.


Ich beſitze eine Abſchrift des bey dieſem
Blutgerichte gefuͤhrten Protokols. Herr α
brachte, des Kopfs wegen, in Vorſchlag,
daß das Pro und Contra bey dieſer Sache
genau verzeichnet werden moͤchte, und eben
dieſer Vorſchlag des Herrn α wuͤrde mich
in Stand ſetzen eben ſo ganz, als ich dieſe
Verhandlung empfangen habe, ſie meinen
Leſern mitzutheilen; wenn das meiſt’ in die-
ſem Protocol nicht Dinge waͤren, die ganz
und gar keine Beziehung auf den gegenwaͤr-
tigen Fall haben. Juriſtiſche Hobelſpaͤne. —
Wozu die kunſterfahrnen Einſchaltungen: wie
es mit dem Großherzogthum Litthauen und
mit Liefland ehemals in dergleichen Angele-
genheiten gehalten worden? und jetzt gehal-
ten werde? welches der Protokolliſt alles ge-
treulich und ſonder Gefaͤhrde mit einverzeich-
net. Der gelehrte α hatt’ ihm befohlen,
nichts auf die Erde fallen zu laſſen, was ſie
quirlen und nach Beſchaffenheit kochen wuͤr-
den, und dies war die Urſache, warum der
Pro-
[428] Protokolliſt ganz fremden zur Sache nicht
zweckenden Materien, das Gaſtrecht in ſei-
nem Protokol angedeihen ließ. Herr — (ſo
hieß der Protokolliſt,) war damals ein jun-
ger Menſch, der durch dieſe Proben wie
Gold gelaͤutert und bewaͤhret werden ſolte,
und iſt jetzt — mein Rechtsfreund. — Auſſer
den Protokollen hab’ ich viel von ihm muͤnd-
lich. — Aus allem nur ein Extrakt. —


Es ward ein Geſuch beliebet, Kraft deſ-
ſen Mine als eine Unterthanin vindiciret wer-
den ſollte. Auf einmal fiel es dem ganzen
Concilio, wie es ſagte, zum Gluͤck ein, daß
die Sach’ ob und in wie weit Mine wuͤrk-
lich Unterthanin ſey? ſehr leicht zur naͤhern
Unterſuchung in Preußen fortgeſetzt werden
koͤnnte, wenn man ſie (und was iſt gewiſſer?)
in Preußen uͤber ihren Statum befragen wuͤrde.
Ey denn, ſagte Herr α, ey denn β, ey denn
γ, und ey denn der Beyſitzer dieſes Conſili-
ums, der ſich herzlich freute, daß ſeine
Tochter ohne ſein Zuthun emancipirt war.


Herr α wuͤnſchte, ſeinen Gedanken, de-
nen er ob periculum in mora Zaum und Ge-
biß anlegen mußte, freien Lauf laſſen zu
koͤnnen. In obſcuro libertas praevalet 15. ff.
de
[429]de fideic. libert. und fauor libertatis ſaepe
benigniores ſententias exprimit. 1. 32. in f.
ff. ad L. Falcid.
Er war im Begrif, noch
mehr fuͤr die Ehre der Freyheit anzufuͤhren,
wovon ein rechtskraͤftiges oder rechtsgeſtaͤrk-
tes Auge, auch ſelbſt im monarchiſchen und
ſeinem Grenznachbar, im deſpotiſchen Staat
ſchoͤne Ruinen finden wuͤrde; allein Herr v.
E. als Praͤſident dieſes Collegiums, bat, weil
es ein agoniſirender Fall waͤre, um ein ge-
ſchwindes Recept — welches Herr β und
Herr γ, die dem gelehrten Herrn α nicht
gleich thun konnten, auch ſehr nothwendig
fanden. Der voͤllige Abſchluß war folgendes
Geſuch, das in Pleno bis auf die letzten
Kleinigkeiten, ins Unreine und ins Reine ge-
bracht ward:


Durchlauchtigſter Herzog,
Gnaͤdigſter Fuͤrſt und Herr,


Das Ableben meines Vaters legte mei-
ner Mutter, der — v. E. gebohrnen v. R.
die Verbindlichkeit auf, die Sorge fuͤr ſeine
betraͤchtliche Guͤter eine geraume Zeit zu
uͤbernehmen; denn meine auswaͤrtige Ver-
bindungen ließen mich nicht eher als jetzo den
Wuͤnſchen meines Herzens genuͤgen, um
mein
[430] mein Vaterland wieder zu ſehen, das ich
auch ſelbſt auf allen meinen Reiſen nicht ver-
laſſen hatte. Wie gluͤcklich duͤnkte ich mich
zu erfahren, daß Curland als frey und ge-
recht weit und breit bekannt iſt. Dieſe große
Eigenſchaften meines Vaterlandes nehm’ ich
bey einem Vorfall in Anſpruch, der, ſo klein
er beim erſten Ueberblick anſcheinet, ins
Große uͤbergehen koͤnnte. Meine Mutter,
ich muß es ohne Ruͤckhalt geſtehen, hatte
durch ihre Gelindigkeit die den Guͤtern Ange-
hoͤrige von genauer Erfuͤllung ihrer Pflichten
abgebracht, anſtatt daß dieſe meiner Mut-
ter eigene Denkungsart ihr die Herzen aller
Unterthanen zuziehen ſollte. Beſonders gab
eine gewiſſe Wilhelmine — — — durch un-
ertraͤglichen Stolz und Ungehorſam ein ſo
ſchlechtes Beyſpiel, daß da meine Ermahnun-
gen nichts bewuͤrkten, ich ihr drohen mußte.
Dieſe wohlgemeinte Bedrohung, die in den
Grenzen der Worte blieb, und gewiß nicht
anders, als im hoͤchſten Nothfall, weiter
herausgeruͤckt ſeyn wuͤrde, brachte die beſagte
Perſon ſo ſehr aus allen Schranken des Ge-
horſams und der Verbindlichkeit, daß ſie es
fuͤr gut fand, fluͤchtigen Fuß zu ſetzen, und
ein hoͤchſinachtheiliges Exempel zuruͤck zu laſ-
ſen.
[431] ſen. Hiebey blieb es nicht, ſondern es leh-
ret die Anlage, daß beſagte Wilhelmine noch
mehr Pflichten durch eben dieſen Austritt ver-
letzet, indem ſie diebiſcher Weiſe verſchiedene
Sachen an ſich gebracht, welche ſie theils
verkaufet, theils leibhaftig, oder in natura
mitgenommen.


Das Corpus Delicti bey dieſem Diebſtal
iſt wohl ganz unſtrittig bewieſen, da wegen
der geſchehenen Entwendung und der dabey
beabſichtigten Gewinnſucht alles entſchieden
iſt; die kuͤnftige mit der Laͤuflingin zuhal-
tende Unterſuchung wird die Groͤße des Dieb-
ſtahls noch genauer begraͤnzen, indem vor der
Hand nur ohne alle Nebenruͤckſichten die
Frage ſeyn kann: ob Wilhelmine — eine
Diebin ſey? Die Flucht der beſagten Perſon
wuͤrde dem angeſchloſſenen Protokol noch
einen Grad der Gewißheit ertheilen, wenn
noch mehr Gewißheit erforderlich waͤre, und
die Sache nicht ſchon an ſich da und offen
laͤge. Denn was iſt auffallender, als daß
Wilhelmine — — welche wenige Tage,
nachdem ſie die Sachen verkaufet, entſprun-
gen, blos aus Furcht vor der Strafe ſich ent-
fernet, zu dieſem Behuf abgelegene Straßen
geſucht, und den Weg nach Preußen genom-
men?
[432] men? Der Umſtand, daß ihr Begleiter ſo-
gar den Martin Jakob Kegler moͤrderiſcher
Weiſ’ ums Leben bringen wollen, erſchwert
ihr Verbrechen ſo ungemein, daß man die
Tuͤcke des Herzens dieſer Ungluͤcklichen im
ganzen heßlichen Umfang’ erblickt. Ein wohl-
gefuͤhrtes Leben iſt fuͤr die Unſchuld ein alles
uͤberredender Vertheidigungsgrund, und
wenn ſelbſt nach einem, viele Jahre her ge-
fuͤhrten guten Lebenswandel, jemand wegen
eines Verbrechens in Anſpruch genommen
wird, iſt und bleibt der vorige gute Lebens-
wandel ein unbezweifelter Linderungsgrund.


Ludovici de praeſumt: bonitat:)


Wenn aber der Lebenslauf des Bezuͤchtig-
ten wider ihn das Wort nimmt, und eine Kette
von ſchlechten Aeußerungen iſt, kann da ein
An- und Sachwald eine Vertheidigung, ich
will nicht ſagen unternehmen, ſondern auch
ſelbſt wagen? Wilhelmine — — iſt eine ſo bos-
hafte Perſon, daß ſie mit der Beſſerungs-
ausſicht praͤcludirt zu ſeyn ſcheint. Es ſind
ſelbſt ſchwerlich, wenn ich mich hier dieſes
Ausdrucks bedienen darf, gute Stunden, hei-
tere Abwechſelungen, dilucida interualla,
von ihr zu erwarten. Damit ich indeſſen Ew.
Durchlauchten nicht zu beſchwerlich werde;
ſo
[433] ſo ſey es mir erlaubt, meinem eigentlichen
Geſuch naͤher zu treten. Es iſt die mehr
beſagte Wilhelmine — — nach Preußen ge-
fluͤchtet, und haͤlt ſich in L — im — ſchem
bey ihren Anverwandten Namens — —
auf. Ech erſuch’ alſo Ew. Hochfuͤrſt. Durchl.
unterthaͤnigſt gehorſamſt, die preußiſche Lan-
desregierung zur Noth und Rechtshuͤlfe zu
erſuchen:
beſagte Wilhelmine — — nach Sicht
dieſes nachbarlichen Requiſitorial-An-
ſchreibens dingfeſt zu machen und unter

Bedeckung bis an die Grenzſtadt Memel ge-
faͤlligſt auszuliefern, wo ich ſie entgegen zu
nehmen und wegen des Gewahrſams die er-
forderlichen Einrichtungen zu treffen nicht er-
mangeln werde.


Dieſes Geſuch bedarf keiner Unterſtuͤtzung
in Ruͤckſicht der preußiſchen Regierung,


denn obgleich, wie es die Archive nach-
weiſen, in aͤltern Zeiten Bauerforderungen
zwiſchen Preußen und Curland vorgefallen;
ſo iſt doch nach der Zeit keine Nachfrage
weiter deshalb vorgefallen. Der Curſche Land-
tags-Abſchied von 1624. ſetzet in §. 23 feſt:
„Wir wollen auch alle fremde Bauren
„ausantworten, welches eine edle Rit-

Zweiter Th. E e„ter-
[434]„ter- und Landſchaft ebenmaͤßig zu thun
„verbunden, ausgenommen welche uͤber
„dreißig Jahr nicht abgefordert und
„verjaͤhret worden„

und ſo wie ich Ew. Durchlauchten tiefunter-
thaͤnigſt anflehe, dieſe Stelle mit der Urſchrift
gegen einander halten und als ſtimmig verge-
wiſſern und atteſtiren zu laſſen; ſo werden
Ew. Durchlauchten auch der koͤniglichen Lan-
des-Regierung in Koͤnigsberg die Verſiche-
rung, wenn ſie erforderlich waͤre, ertheilen,
daß nach dieſem Abſchiede verfahren, und
vorzuͤglich die preußiſchen Laͤufer ohne Anſtand
ausgeliefert worden, wovon ſowohl der Stadt
Memel, als dem Koͤniglichen Amte Althof
Memel, Beyſpiele bekannt ſeyn werden. Die
Seltenheit der Faͤlle entſcheidet nichts zu mei-
nem und zu Curlands Nachtheil: denn die
preußiſchen Grenzen ſind beſetzt, und ſo ge-
ſchloſſen, daß ſelten ein Laͤufling ſich durchzu-
dringen Gelegenheit findet.


Wenn dieſe Auslieferung indeſſen ſchon
bey Bauren von curſcher Seits beobachtet
wird; ſo werd’ ich um ſo mehr bey einer Die-
bin, Stoͤrerin der allgemeinen Ruhe, ja ſelbſt
einer Mordanfuͤhrerin auf dieſe Rechtshuͤlfe
Anſpruch machen koͤnnen.


Es
[435]

Es iſt eine Sache der Menſchheit, der-
gleichen Verbrechen zu ſtrafen, und ohne mich
in einen Streit einzulaſſen, was fuͤr ein fo-
rum
das vorzuͤglichſte ſey, ob das des delicti
des domicilii, oder deprehenſionis, ſo iſt
wohl offenbar, daß Preußen keines von allen
dreyen iſt, ſondern allererſt durch das Ange-
ſuch Ew. Durchlauchten bewogen wird, die
Wilhelmine — — dingfeſt zu machen, ſo,
daß alſo dieſe Deprehenſion Namens Ew.
Durchlauchten geſchieht, und was iſt wohl
angemeſſener, als da das Verbrechen zu un-
terſuchen, wo es vollbracht worden? Hier
bieten alle Umſtaͤnde dem Inquirenten die
Hand, und wuͤrde man nicht ſelbſt dem End-
zweck der Strafe entgegen handeln, wenn
man an einem mit dem Verbrechen unbe-
kannten Orte die Strafe vollziehen wollte?
Bey dieſen ſehr auffallenden und in geſitteten
Staaten allgemein beliebten Grundſaͤtzen bin
ich der Erhoͤrung meines Geſuchs gewiß, und
koͤnnte mit der vollkommenſten Zuverſicht
ſchluͤßen, wenn ich nicht noch unterthaͤnigſt
gehorſamſt bemerken muͤſte:


wie außer den bezeichneten Laſtern, die
der Wilhelme — — natuͤrlich geworden,
die Liebe zu Unrichtigkeiten mit gehoͤret, wel-
E e 2che
[436] che ohnehin beſtaͤndig, ſo wie mit allen Laſtern
ſo vorzuͤglich mit der Dieberey, in Geſelſchaft
zu treten pflegt. Wenn alſo ein Verhoͤr mit
ihr veranlaſſet werden ſolte; ſo wuͤrd’ ihre
Verſchlagenheit, die alle Geſtalten ſich zuzu-
eignen verſteht, der Sache ganz andere Wen-
dungen beylegen. Dieſes zwingt mich zu einer
Beyſchrift meines unterthaͤnigen Geſuchs:
die Koͤnigliche Preußiſche Landes-Regie-
rung zu requiriren, die Wilhelmine —
— ohne alle Weitlaͤuftigkeiten einzuzie-
hen und zu transportiren.


Der Einfluß, den dieſer ins Publicum drin-
gende Vorfall auf meine Guͤter hat, iſt un-
ausſprechlich, und kann nur dadurch den
Fremden, die unſre Landsart nicht kennen, be-
greiflich gemacht werden, daß die Letten, ſo wie
alle begraͤnzte eingeſchraͤnkte Menſchen, mehr
nach Exempeln, als nach Grundſaͤtzen leben.


Damit allendlich wegen der Perſon der
Wilhelmine — — — keine Irrung entſte-
he; iſt


ſelbige in Abſicht ihres Koͤrpers das Ge-
gentheil von dem was man Gewoͤhnlich nennt,
ihr Wuchs ſelbſt iſt zwey Finger breit uͤber
das Gewoͤhnliche, den gang und gaͤben Wei-
berwuchs. Sie hat nichts kleinigliches, und
nichts
[437] nichts kindiſches, ſondern graͤnzt ans maͤnn-
liche; allein es iſt demunerachtet nichts maͤnn-
lich an ihr. — Sie iſt ſchlank, ſehr geſund,
roth und weiß, hat ſchwarzes Tint, allein
nicht Zigeuner Haar, große ſtimmige ſchwar-
ze Augen, wo aber nichts gutes wohnt. In
der Mund Gegend, die Zaͤhne nicht ausge-
nommen, liegt Spott und Hohn. Ihre
Sprache iſt klingend, ihr Gang kraͤftig und
entſchieden. Sie ſieht mehrentheils aus, als
ob ſie Kreuz truͤge; allein es iſt eine Heuch-
lerin und Spitzbuͤbin von Hauß aus.


Die mir durch die Willfahrung meines
auf Gleich und Recht ſich gruͤndenden Geſuchs
zu erzeigende Landesvaͤterliche Huld, Gnade
und Gerechtigkeit werd ich lebenslang vereh-
ren und niemals aufhoͤren, mit ſo viel Ehr-
furcht als Treue zu ſeyn


Ew. Hochfuͤrſtlichen Durchlaucht
unterthaͤnigſt gehorſamſter
v. E. — — —
Actum — — den — —


Des Herrn v. E. auf — — Hochwohlgebohr-
nen erklaͤren, wie ſehr entfernt ſie waͤren, gleich
bey dem Antritt der vaͤterlichen Erbguͤther,
auch nur durch eine anſcheinende Haͤrte ſich
E e 3die
[438] die Zuneigung und Liebe ihrer Unterthanen zu
entziehen, und ſtellen den leiblichen Vater der
entlaufenen Wilhelminen — — vor Gericht,
um wegen ihrer ſtrafbaren Auffuͤhrung gewiſ-
ſenhafte Anzeige zu thun.


Es wird bemerkt, daß man den Vater,
der Gewohnheit gemaͤß, zu ſeiner Anfrage
rechtlich vorbereiten und mit einem Eyde be-
legen wollen. Der Herr v. E. indeſſen bittet
bei dieſer Gelegenheit, den ſo betruͤbten Va-
ter, in ſo weit es rechtlich beſtehen koͤnnte,
zu ſchonen. So viel faͤlt ſehr auf, daß ein
leiblicher Vater das Verbrechen der Tochter
nicht vergroͤßern werde, und wuͤrd’ alſo nur
blos zu beſorgen ſeyn, daß er aus vaͤterlicher
Neigung vielleicht zu wenig anbringen und
der Sache einen Anſtrich zuwenden doͤrfte.
In dieſer Ruͤckſicht wird dem Publiko ſein
Recht bei der kuͤnftigen naͤhern hier mit der
Wilhelmine — — anzuſtellenden Unterſu-
chung ausdruͤcklich vorbehalten und der hoͤchſt-
betruͤbte Vater vorgelaſſen.


Er heißt — — — iſt acht und funfzig
Jahr alt, lutheriſcher Religion. Der ge-
genwaͤrtige Fall druͤckt ihn ſo ſehr, daß er
nicht aus noch ein weiß. Seine Tochter
Wilhelmine — — — hat von Jugend an
einen
[439] einen Trieb zur Widerſpenſtigkeit geaͤußert,
und ſowohl ihm, als ſeiner verſtorbenen Ehe-
gattin, viele betruͤbte Tage zugezogen. Ihr
Wortauffang, ihre Spitzfindigkeit, ihre Griffe
und Hinterhalte, konnten einem gutgeſinn-
ten Vater freylich keine Freude machen, wozu
dieſe Ungerathene es auch nie anlegte. Nach
dem Tode ſeiner Ehegattin aͤußerte ſie den
Trieb zur Unregelmaͤßigkeit noch naͤher, vor-
zuͤglich empoͤrte ſie ſich wider eine Heyrath,
die er zu unternehmen mit Huͤlfe Gottes ent-
ſchloſſen. Dieſe und andre Umſtaͤnde hatten
den Comparenten nothgedrungen, ſie im
Hofe zu — — anzubringen, wo ſie, anſtatt
ſich die gnaͤdige Zuneigung der Hochwohlge-
bohrnen Herrſchaft zu erwerben, ſich auf
eine ſtrafbare Art fuͤhrete. Ich habe nicht
verfehlt, ſie vaͤterlich zu ermahnen, ſo vie-
len unverdienten gnaͤdigen Geſinnungen nicht
entgegen zu ſeyn, bemerkte der Vater, (um
ſeine eigene Worte beyzubehalten,) allein dieſe
Zuſprache wolte nicht Platz greifen. Guͤte
wiegelte ſie noch mehr auf, bis ſie, dem zu-
rechtbeſtaͤndigen Contrakt zuwider, der mit
der Hochwohlgebohrnen Gutsherrſchaft ver-
abredet, getroffen und geſchloſſen iſt, das weite
ſuchte, nachdem ſie vorher ihrer Haͤnde nach
E e 4unrech-
[440] unrechtem Gute ausgeſtrecket, und verſchie-
dene Sachen und Baarſchaft Geld und Gel-
deswerth diebiſcher Weiſe mitgenommen.


Comparent zeiget ein Verzeichnis vor,
und verbindet ſich ſolches bey der kuͤnftig wi-
der ſeine Tochter zu eroͤfnenden Unterſuchung
zu den Akten zu legen.


Es wird dem Comparenten aufgegeben
abzutreten; allein vor dem Abſchluß des ge-
genwaͤrtigen Verhoͤrs ſich nicht zu entfernen.


Das Verzeichniß der entwandten Sachen
bleibt in richterlichen Haͤnden, um davon bey
dieſem Verhoͤr Gebrauch zu machen.


Ob es gleich aus dieſer vaͤterlichen An-
zeige ſchon vollſtaͤndig erhellet, daß mehr be-
ſagte Wilhelmine — — —


  • a) Als eine Dienſtfluͤchtige ſich ſelbſt zur
    wohlverdienten Straf’ und andern zum
    ſchreckenden Beyſpiel dingfeſt zu machen,
    nicht minder, daß Wilhelmine — — —
  • b) unſtrittig als eine Diebin zn nehmen,
    die nicht als eine ausgetretene Perſon et-
    wa blos der Dieberey bezuͤchtiget worden,
    ſondern deren Diebſtal voͤllig am Tag’ iſt;

ſo
[441]

ſo ſind doch, um die Sache noch mehr zu er-
gruͤnden,
einige Zeugen wegen der Dienſtflucht der
Wilhelminen — und ihrer Dieberey ver-
nommen.


Des Herrn v. E. Hochwohlgebohrnen
benahmen eine lange Reihe von dergleichen
Zeugen, wovon aber nur einige zum Verhoͤr
vorgelaſſen werden. Der erſte unter dieſen
Ausgewaͤhlten iſt:


Johann Peter Beifuß, von welchem,
nachdem er wohl ermahnet worden, die reine
Wahrheit zu ſagen, folgendes vorſchrifts-
maͤßig zum voraus bemerket wird. Er heißt
Johann Peter Beifuß, iſt ein Deutſcher,
und ſteht in Dienſten Sr. Hochwohlgebohr-
nen des Herrn v. E. Sein Alter iſt ſieben
und dreyßig Jahr, und ſeine Religion die
lutheriſche. Zur Sache.


Wilhelmine — hat ihrer Geburt nach
nichts ſolideres erwarten koͤnnen, als die Lage,
in welche ſie ihr Vater gebracht; indeſſen
war ihr ſtoͤrriſches Betragen ſo unausſtehlich,
daß wohl ſonſt ſchwerlich jemand anders, als
eine ſo gut denkende gnaͤdige Herrſchaft ſo
nachgebend ſeyn koͤnne: man gab, ſo vieler
Hintergehung unerachtet, nicht alle Hofnung
E e 5auf,
[442] auf, ſie auf den rechten Weg zuruͤck zu len-
ken, dem aber die Laͤuferin bei aller Gele-
genheit auswich. Von ihren erſten Lebens-
jahren iſt dem Zeugen zwar nichts genaues
bewußt; indeſſen war Wilhelmine — —
als eine dem Stolz und Eigenſinn ergebene
Perſon jederzeit bekannt, die Flitterſtaat und
Frechheit liebte; wie denn bey dem unerwar-
teten Tode ihrer Mutter die Rede gefallen,
daß ſie ſelbige ins Grab geaͤrgert. Compa-
rent beſinnet ſich ſehr genau, wie Wilhelmine
— — bey dem Begraͤbniß ihrer Mutter ſo
leichtſinnig geweſen, daß ſie, anſtatt ihre
Augen auf den Sarg zu heften, mit ſelbigen
herumgeſchweift und flankirt, auch ſolche
zum allgemeinen Aergerniß einem jungen
Menſchen zugebracht, mit dem ſie ein unan-
ſtaͤndiges Verkehr getrieben. Comparent ſte-
het an, dieſen jungen Menſchen zu nennen,
obgleich die Sach’ an ſich jedermann, jung
und alt bekannt ſeyn ſoll. Die Steine wuͤr-
den ſchreyen, fuͤgt’ er hinzu, wenn nicht je-
dermann, jung und alt, in — — wo die
Laͤuflingin zu Hauſe gehoͤrt, reden ſolte. Ich
ſelbſt, faͤhrt er fort, bin ein Augen- und
Ohrenzeuge geweſen, wie Wilhelmine — —
den gnaͤdigen Ermahnungen des Herrn v. E.
Hoch-
[443] Hochwohlgebohrnen widerſtand, die doch
nichts, als ihr wahres Heil, bezweckten.


Mit ihrem leiblichen Vater lebte dieſe
heilloſe Wilhelmine — — in einer aͤrgerli-
chen Feindſchaft. Der ehrliche Mann, der
auch am beſten weiß, wo ihm der Schuh
druͤckt, wollte zur zweyten Heyrath ſchreiten;
allein Mine vertrat ihm den Weg, das macht’
in der ganzen Gemeine gewaltiges Aufſehen;
indeſſen ging es ihr vor genoſſen aus, und
ſie kam jezt und immer ungeſchlagen davon.


So viel weiß Zeuge gewiß, daß die Er-
mahnungen des Herrn v. E. Hochwohlgebohr-
nen an die Entwichene von keiner Haͤrte be-
gleitet geweſen, und daß der Zwang ſie viel-
leicht weit eher in das Verhaͤltniß gebracht
haben wuͤrde. Sie haͤtt’ einem jeden als
eine ſolche geſchienen, die fuͤhlen muͤßte, weil
ſie nicht hoͤren wolte. Ihr Beiſpiel hat
ſo gar viele von ihrem Gelichter zu einem glei-
chen Aufruhr gegen die Wohlmeynung des
Herrn v. E. Hochwohlgebohrnen gelenkt, der
nur eben die Guͤter angetreten, und die Liebe
ſelbſt waͤre.


Sonſt ſey die Fluͤchtlingin nicht uneben,
wend’ aber ſowohl Geiſtes als Leibes Gaben
nicht
[444] nicht zum Nutz des Raͤchſten an, wie aus
dem obigen ſich ergeben wuͤrde.


Nichts ſey zuverlaͤßiger, als der Dieb-
ſtal, oder die Diebſtaͤle, denn ſchwerlich
koͤnnte die Laͤuflingin auf einmal ſo viel ent-
wendet haben, wer weiß es nicht, faͤhrt Com-
parent fort, daß ſie im Dorfe viele geſtohlne
Sachen verſilbert? und daß ſie eine Menge
Sachen in Paͤcken mitgenommen? Den eigent-
lichen Werth des Diebſtals kann Comparent
zwar nicht abwiegen; indeſſen glaubt er, daß
ohne viele Stuͤcke nach dem Lieblingswerth
zu wuͤrdigen, der Diebſtahl wohl ein hundert
Reichsthaler Albertus wiegen und betragen
koͤnnte. Comparent bedient ſich des Aus-
drucks, da er die Verſchlagenheit der Wil-
helmine — — und ihre Verkleiſterungs- und
Verflechtungskunſt beſchreiben will, ſie ſey
Verſtandflink, und verſichert, daß ſie ſich in
einen Engel des Lichts luͤgen und ausſtaffi-
ren koͤnnte, welches zur Steuer der Wahr-
heit mit verzeichnet wird. Auf die Frage,
ob und in wie weit Comparent Leute nahm-
haft zu machen wuͤßte, denen Wilhelmine —
— — Sachen verkauft? erwiedert’ er: ich
kann viele nennen.


Die Amtmannin — —


Die
[445]

Die Schweſter dieſer Amtmannin, ein
noch unverheyrathetes Maͤdchen, fallen ihm
urploͤtzlich ein. Es iſt ſo gewiß, als irgend
etwas ſeyn kann, und als meine Ausſag’ iſt,
ſagt Comparent, daß Wilhelmine — —
laͤngſtens Handel und Wandel getrieben, wo
waͤr’ auch ihr Prunk hergekommen, wenn
es nicht unrichtig zugegangen waͤre? Es wird
dem Comparenten woͤrtlich ſeine Ausſage
vorgehalten, welche er in allen Punkten ſich
zueignet. Von den Umſtaͤnden der Flucht
weiß Beifuß nichts zuverlaͤſſiges; indeſſen
giebt er an, wie Kegler hievon vollſtaͤndig
unterrichtet ſey, indem er ihr auf Hochwohlge-
bohrnen Befehl nachgeſetzet, und uͤberlaͤßt es
der Erkenntniß, ob und in wie weit dieſer
Martin Jakob Kegler noch zum Verhoͤr zu
ziehen ſeyn werde?


Martin Jakob Kegler wird vorgefordert,
wohl ermahnt, die reine klare Wahrheit aus-
zuſagen, und ſolche nicht zu laſſen, um Lieb
oder Leid, um Freundſchaft oder Feindſchaft,
um Geſchenk oder Gabe, und um keinerley
Urſach willen. Vorlaͤufig wird bemerkt, daß
Comparent Martin Jakob Kegler heiße, im
Hofe wird er Jakob genennet. Er iſt im
Dienſt Sr. Hochwohlgebohrnen des Herrn
v. E.
[446] v. E. Seine Religion iſt die lutheriſche.
Alt iſt er fuͤnf und zwanzig Jahr. In Ruͤck-
ſicht der Sache ſelbſt ſtimmet er in ſeinen
Auſſagen mit dem Beyfuß puͤnktlich: außer
daß er wegen der Flucht der Wilhelmine — —
— noch folgende Umſtaͤnde nachtraͤgt:


Es ward ihm aufgegeben, die Fluͤchtlin-
gin einzuholen, nachdem ihre Flucht und ihr
grober Diebſtal zu jedermanns Wiſſenſchaft
drang. Nach einigen fruchtloſen Bemuͤhun-
gen war er wuͤrklich ſo gluͤcklich, ſie auf der
Flucht zu erſpuͤren und zu bezirken, da indeſ-
ſen ſein Auftrag ſich nicht weiter erſtreckte,
als die Laͤuflingin guͤtlich zur Ruͤckkehr zu
bequemen, blieb er bey der Verfolgung dieſer
Laͤuflingin unbewaffnet. So bald er ſie traf,
machte ſie einen Schrey, welcher ihm zwar
ſehr auffiel; indeſſen haͤtt’ er ſich eher den
Tod, wie er bemerkt, als die Folge vorgeſtelt,
welche dieſer Schrey wuͤrklich gehabt: denn
es war ein Huͤlfs- und Nothzeichen, und
ſogleich ſtuͤrzte eine ſtarke Mannsperſon auf
ihn zu, mit einem Meſſer, mit welchem ſie
den Comparenten nicht etwa bedrohete, ſon-
dern ſie ſtuͤrmte los auf ihn, und wuͤrd’ ihm
auch wuͤrklich auf der Stelle das Leben
genom-
[447] genommen haben, wenn er ſich nicht zu ret-
ten geſucht haͤtte. Wilhelmine — — forder-
te dieſen Moͤrder mit Gebehrden und Wor-
ten auf, ſetzt’ Comparent hinzu, mich zu ver-
folgen; indeſſen war mein Pferd aller dieſer
Bemuͤhung uͤberlegen. Dieſer ungluͤckliche
Vorfall brachte den Comparenten nicht ab,
der Fluͤchtlingin nachzuſetzen, vielmehr
ſprengt’ er ins naͤchſte Dorf, um ſich zu verſtaͤr-
ken. Er hatte Muͤhe wegen der Feldarbeit, ein
Paar Maͤnner fuͤr Geld und gute Worte zu
Stande zu bringen. Er ritte mit zwey herz-
haften Begleitern — wir alle drey, wie die
Baͤren, ſagt er, allein Wilhelmine und der
Moͤrder (anders kann ich ihn nicht nennen,)
waren nicht aufzufinden — ihre Staͤte war
nicht mehr. — Wir ritten ins Kreuz und in
die Queer, bis in die ſinkende Nacht hinein.
Auf die Frag’, in welchem Verhaͤltniß Com-
parent den Moͤrder gegen Wilhelminen ge-
funden? und was ſich eins gegen das andre
angemaaßet? erwiedert’ er, um ſeine eigene
Worte beyzubehalten: Ich halt dieſen Kerl
fuͤr nichts weniger, als ihren Liebhaber, wohl
aber fuͤr einen, den der Liebhaber gedungen
haben koͤnne, ihr ſicher Geleit zu geben. Ohn-
fehlbar ſchlief Mine, da ich ſie entdeckte, und
ſchon
[448] ſchon die Entfernung des Moͤrders bei dieſer
Gelegenheit beweiſet meine Meynung.


Ob Wilhelmine zu fahren, oder zu rei-
ten, oder zu Fuß geweſen, weiß Comparent
nicht anzugeben, der ſehr bedauert, daß Se.
Hochwohlgebohrnen ihm, dieſes Vorfalls we-
gen, einen großen Theil des vorigen gnaͤdi-
gen Zutrauens entzogen: ſo daß ihm, wenn
ſelbſt er ein Schuldgenoß, Mitgehuͤlfe und
Theilhaber von dieſer Laͤuflingin geweſen,
nicht ungnaͤdiger begegnet werden koͤnnte, in-
dem Guͤte und Wohlwollen die Hauptzuͤge an
Sr. Hochwohlgebohrnen waͤren. Seine des
Comparenten Wuͤnſche, die er mit gefaltenen
Haͤnden thut, gehen dahin, daß Wilhelmine —
— als eine Landſtreicherin, Die bin und Mord-
befehlshaberin, dingfeſt gemacht und zur Be-
ſtrafung eingeliefert werden moͤchte, und daß
alsdann nicht Gnade fuͤr Recht gienge, wie
er aber, nach der Milde Sr. Hochwohlge-
bohrnen, nach vielen belebten Datis, be-
fuͤrchten muͤſte.


Nachdem dem Comparenten ſeine Aus-
ſage woͤrtlich vorgeleſen worden, und er ihr
in alle Wege beygeſtimmet, wird er abgelaſſen.


Bey der kleinſten Nachfrage findet ſich
vor, daß Wilhelmine — — weit und breit
geſtohl-
[449] geſtohlne Sachen verkauft. Um die Akten
nicht ohne Noth zu haͤufen, ſchrenkt man ſich
auf die laudirte Amtmannin und ihre
Schweſter ein, welche bey all [...]n Anſtrichen
und Bemaͤntelungen, die ſie der Sache zuwen-
den, jedoch ſo viel unverdreht eingeſtehen, daß
ſie Waͤſch’ und Kleider, wenige Tage vorher,
da Wilhelmine entſprungen, gekaufet. Sie
verſichern, daß ſie auf keinen hoͤſen Gedanken
gefallen, da Wilhelmine — — ſchon ſonſt
Kopfputz und andere Stuͤcke ihnen kaͤuflich
uͤberlaſſen. Dieſesmal, ſagt die Amtmannin,
war das erſtemal, daß ſie nicht unmittelbar
mit uns handelte, ſonſt geſchah es nie durch
die dritte Hand, ſondern vor aller Welt Au-
gen und Ohren, und allen andern Sinnen. —
Diesmal war das erſte mal, daß die Sachen
unter der Vorſpiegelung zu uns gebracht wur-
den, die Perſon, welcher dieſe Stuͤcke als Ei-
genthuͤmerin zuſtuͤnden, ſey in Geldverlegen-
heit und nothgedrungen, dies und das aus-
zuſtoſſen. Beyde, ſowohl die Amtmannin
als ihre Schweſter, bekennen, aus vielen
Umſtaͤnden gemerkt zu haben, daß Wilhel-
mine — — bey dieſem Verkauf unter der
Decke ſpiele, gewiß aber, fuͤgen ſie hinzu,
wußten wirs nicht. Sie bitten inſtaͤndigſt,
Zweiter Th. F fes
[450] es zu verguͤnſtigen, daß ſie dieſe Sachen,
da ſie ſolche nicht unter den Werth berichti-
get, behalten und nicht auszuantworten moͤ-
gen angewieſen werden.


Nebenumſtaͤnde findet man nicht noͤthig
dieſem Protokol einzuverleiben, welche dieſe
beyden lezten Perſonen, nemlich die Amt-
mannin nnd ihre Schweſter, eingeſtreuet.


Alle Broͤdlinge des Herrn v. E. Hoch-
wohlgebohrnen treten den Auſſagen des leib-
lichen Vaters der Laͤuflingin bey, und be-
kunden, daß dieſe Wilhelmine — — ein
verhaͤrtetes verdorbenes Herz beſitze, und
ſich durch die gnaͤdigſten Verheißungen der
Hochwohlgebohrnen Gutsherrſchaft, ſie aus-
zuſtatten, und den Kranz zu bezahlen, nicht
auf andere Wege lenken laſſen; wie ſie denn
gefliſſentlich, vorſetzlich und argliſtig, Zwi-
ſtigkeiten, Irrungen und Verſchiedenheiten
erreget, die klarſten Dinge verflochten und
verdrehet. Mit dieſen Geſinnungen verein-
barte ſie auch oben ein die verteufelte Scha-
densfreude, ſo daß, um die Sache kurz zu
faſſen, dieſe Perſon, welche ſchnoͤde zu han-
deln ſich zur Gewohnheit gemacht, und ih-
res Blendwerks von Geſicht unerachtet, den
Satan im Herzen gehabt, Unterſuchung und
Be-
[451] Beſtrafung verdienet. Es ſtrahlt aus vie-
len Umſtaͤnden hervor, wenn es gleich nicht
durch aͤußere Kundgebung an den Tag ge-
legt worden, daß Wilhelmine — — falls
ſie nicht anders ihre Abſichten erreichen koͤn-
nen, ſich aus einem Mordmeſſer kein Ge-
wiſſen gemacht haben wuͤrde.


Der Vater der Ungluͤcklichen ward noch
vor dem Abſchluß dieſes Protokols vorgelaſ-
ſen, welcher vor Wehmuth ſich nicht zu ber-
gen weiß. Da ihm indeſſen von Sr. Hoch-
wohlgebornen, ſeinem gnaͤdigen Goͤnner,
ein Wort des Troſtes verehret wird; ſo be-
ruhiget er ſich in der Hofnung, daß, da er
ſehr leicht ſelbſt in ſeinem guten Ruf durch
dieſen Vorfall leiden koͤnnte, allererſt die
kuͤnftige auszuuͤbende Strafe an ſeiner ent-
laufenen Wilhelmine, Vater und Tochter
unterſcheiden, und ihn in die Achtung des
Hochwohlgebohrnen Publikums zuruͤckſetzen
wuͤrde, die von je her der Geſichtspunkt ſei-
ner Handlungen geweſen. Um dieſen be-
draͤngten Vater nicht noch mehr in die Enge
zu bringen, hat man ihm viele Stellen aus
dieſem Verhoͤr verſchwiegen, und dieſes
Protokoll, in ſo weit es ſeine Ausſag’ ent-
F f 2haͤlt,
[452] haͤlt, von ihm in ſidem unterzeichnen laſſen.
Actum ut ſupra.
Namen des Juſtizbeamten —
Namen des Herrn v. E. —
Namen des Hermanns —

Iſts moͤglich! — Mehr als dieſen Ausruf
kann ich nicht. Iſts moͤglich! —


Nichts iſt mir von je her herzſchneiden-
der geweſen, als wenn die Bosheit ihre Luͤ-
gen mit ein wenig Wahrheit ſalzet und wuͤr-
zet, und ſie dann auftiſchet, und wie war
euch zu Muth, ihr edlen Leſerinnen, da Jo-
hann Peter Beifuß Minen einen Muttermord,
eine Grabesſchaͤnderey anruͤget? — und wie!
da er unſere engelreine Liebe ſchaͤndet und laͤ-
ſtert. Wie, edle Seelen? Eine Luͤg’ iſt ſchaͤnd-
lich; allein ſie iſt es um die Helfte weniger,
wenn nichts von Wahrheit eingemiſcht iſt. —
Das iſt ein ehrlicher Luͤgner, der ſo luͤgt! und
faſt wolt’ ich behaupten, daß ſolch ein recht-
ſchafner Luͤgner nicht vom Vater, dem Teu-
fel, in gerader Linie abſtamme; allein der
iſt der Teufel ſelbſt, der ein Schild der Wahr-
heit aushaͤngt, um deſto beſſer Mord und Toot-
ſchlag im Hinterhalt zu verſtecken. — Solch
ein Giftmiſcher! ſolch ein Hoſtienverfaͤlſcher
von Luͤgner, welch ein Scheuſal! —


[[453]]

Verzeiht Leſer! ich bin ein Menſch, und
Mine iſt ein Engel! — Die Regierung in
Mitau fand nichts unbilliges in dem Geſuch
des Herrn v. E., das von den Herren α, β, γ,
mit einem gerichtlichen Verhoͤr ausgeſtattet
ward, und das Requiſitorialſchreiben an die
Preußiſche Landesregierung ward ohne An-
ſtand bewilliget. Ich koͤnnt’ es woͤrtlich mit-
theilen; allein warum? Hier iſt die treffen-
de Stelle:


Ew. Ew. Excellenzen werden ſich aus die-
ſen Umſtaͤnden uͤberzeugen, aus was fuͤr
Gruͤnden wir das unterthaͤnigſt gehorſamſte
Geſuch des Wohlgebohrnen v. E. verſtattet,
und da der ausfuͤhrliche Vortrag der Sache,
welcher durch gerichtliche Verhoͤre beſtaͤrkt
worden, uns der Pflicht uͤberhebt, noch naͤ-
here Aufſchluͤſſe beyzufuͤgen; ſo begnuͤgen wir
uns, die ausdruͤckliche Verſicherung zu erthei-
len, daß von Seiten dieſer Herzogthuͤmer in
gleichen Faͤllen eine gleiche Gerechtigkeit be-
wieſen werden ſoll. Der Verluſt dieſer an
ſich unbedeutenden Perſon, kann den Wohl-
gebohrnen v. E. freilich nicht beſtimmen, die
nach Preußen verlaufene Wilhelmine — —
— wieder zuruͤck zu ſuchen; allein die Fol-
gen ſind zu bedeutend, die dieſer Vorfall,
F f 3wenn
[454] wenn er nicht eingelenkt wuͤrde, dem Wohl-
gebohrnen v. E. und der ganzen Gegend zu-
ziehen doͤrfte. So wie aus den gleichmaͤßig
in der Anlage bis zur Vollſtaͤndigkeit ge-
brachten Gruͤnden ſich ergeben wird, warum
der Wohlgebohrne v. E. alle Unterſuchung
in Preußen verbeten; ſo treten wir des Endes,
ſo wie in allem, ſo auch in Ruͤckſicht dieſes
Theils ſeines Geſuchs, ihm bey, und ſehen
uͤberhaupt der geneigteſten Erfuͤllung dieſer
unſrer Wuͤnſche um ſo zuverſichtlicher entge-
gen, als Ew. Ew. Excellenzen uns jederzeit von
einer ſo großen Gerechtigkeitsliebe, als nach-
barlichen Gefaͤlligkeit, beweiſende Proben ge-
geben. Wir verharren mit vollkommener
Hochachtung,
Ew. Ew. Excellenzen
ergebenſte Diener
Mitau den — — Oberburggraf
17 — — Canzler
— Landhofmeiſter
— Landmarſchall.


Die Antwurt der preußiſchen Regierung:


Hochwohlgebohrne,
Inſonders Hochgeehrte Herren,


E. Hochfuͤrſtl. Herzogl. Curlaͤndſchen Re-
gierung erwiedern wir auf das gefaͤllige An-
ſchrei-
[455] ſchreiben vom — 17 — wie wir ſogleich
den erforderlichen Auftrag an die Behoͤrde
erlaſſen, die aus Curland entlaufene Wilhel-
mine — — uͤber die im Angeſuch des cur-
ſchen von Adel v. E. enthaltene Umſtaͤnde,
welche durch ein gerichtliches Protokoll be-
kraͤftiget worden, vorſchriftsmaͤßig zu verneh-
men, und nach dieſem Verhoͤr wegen ihres
Arreſtes die noͤthigen Verfuͤgungen, die wir
ihm auf alle Faͤlle zugemeſſen, werkthaͤtig zu
machen, weil wir, ohn’ ein mit dieſer Per-
ſon gehaltenes Verhoͤr, uns in der Sach’
entſcheidend zu erklaͤren auſſer Stande ſind.
Wir haben die Ehre mit vollkommener Hoch-
achtung zu ſeyn,


E. Loͤbl. Herzogl. Curlaͤndiſchen
Regierung
Freund- und Dienſtwillige
N. N. N.


Zu gleicher Zeit ein Auftrag an das —
— Collegium, Minen durch einen Deputatus
zu vernehmen, und, wenn ſich die Umſtaͤnde
protokollgemaͤß und nach dem curſchen An-
ſchreiben verhielten, ſie ſogleich dingfeſt zu
machen, und zu dem Ende dem zu ernennen-
den Commiſſarius zugleich ein Geſuch an die
F f 4naͤch-
[456] naͤchſte Guarniſon mitzugeben, um davon,
wenn die Laͤuflingin gefaͤnglich eingezogen
werden ſollte, einen augenblicklichen Gebrauch
machen zu koͤnnen. Solt’ indeſſen Mine
Milderungs, oder gar Aufhebungsumſtaͤnde,
fuͤr ſich anfuͤhren, oder auch nur die wider
ſie angebrachte Klage zu entkraͤften vermoͤ-
gend ſeyn; ſo koͤnnte ſie zwar nicht in feſte
Hand genommen, und in engere Verwah-
rung gebracht werden; indeſſen ſcheinen ſo
viel Umſtaͤnde wider ſie einzutreten, daß wenn
gleich dieſer Kummer nicht nachgeblich waͤre,
dennoch eine genaue Aufſicht ihrer Perſon,
oder wenigſtens eine hinreichende Caution,
anzuordnen ſeyn wuͤrde. Von allen dieſen
Vorgaͤngen ſolt’ ein ſo ſchleuniger, als ge-
nauer Bericht erſtattet werden.


Das Ruͤckſchreiben der preußiſchen Re-
gierung fand in Mitau keinen, am wenig-
ſten den vollwichtigen Beyfall, und da es
dem Wohlgebohrnen v. E. in Abſchrift zuge-
fertigt ward, ließ er ſogleich, wie Pharao,
da er von den ſieben fetten und ſieben ma-
gern Jahren getraͤumet, den hohen Rath der
Traͤume: und Zeichendeuter α, β, γ, zu ſich
kommen und anſtatt der erſten Frage:


Was
[457]

Was iſt zu thun?
fragten Se. Hochwohlgebohrnen:


Was nun?
und ſchienen nicht undeutlich zu verſtehen zu
geben, daß bey allen bewieſenen Merkzei-
chen der Einſicht und Geſchicklichkeit die Her-
ren α, β, γ, kein Gluͤck haͤtten. Jeder der
Herren α, β, γ, behauptete, daß er von Gluͤck
ſagen koͤnnte, und ſchrieb alles fluchs auf die
Rechnung der preußiſchen Staaten, die der
Teufel ihnen zur Nachbarſchaft zugewieſen
haͤtte. Hab ich nicht geſagt, fing Herr β an:
aus der Hoͤlle iſt keine Erloͤſung! Mit ihrer
Erlaubniß, Herr College, erwiederte Herr α,
aus der Hoͤll nicht, wohl aber aus dem Feg-
feuer. Wenn man, fuhr dieſer Kopfhalter
fort, auf meine unvorgreifliche Meynung, an
den Koͤnig ſelbſt zu gehen, ſtimmige Ruͤckſicht
genommen; die Sache waͤr’ in einer andern
Lage. Ich laſſe meinen Kopf in einer andern
— vielleicht in einer gefaͤhrlicheren, bemerkte
Herr v. E., und jeder, ſelbſt Herr α, trat ihm
bey mit einem Vielleicht!


Wenn ein Bollwerk erklettert werden ſoll,
muß eins da ſeyn, und dies ſuchten die Her-
ren α, β, γ, in der groͤßten Geſchwindigkeit
zu ſchuͤtten und zu haͤufen.


F f 5Man
[458]

Man that, ohne auf die gegebene Frage:
Was nun? das Auge zu richten, wie gewoͤhn-
lich verſchiedene Ausfaͤlle, und hatte dagegen
Einfaͤlle, bis der Herr v. E. die in die Irre ge-
henden Rechtsgelehrten zuſammen rief und
feſt hielt. Was nun? ſagte jeder. Herr v. E.
wolt’ an der Abſchrift des koͤnigsbergſchen
Ruͤckſchreibens ein Exempel ſtatuiren, und ſich
daran vergreifen; indeſſen ließ er ſich bedeu-
ten, und ſah zu rechter Zeit ein, daß es nur
Papier — und, was noch mehr war, eine cur-
ſche Abſchrift ſey. — Endlich und endlich war
noch ein erneuertes und geſchaͤrftes Anſchrei-
ben nach Koͤnigsberg verabredet, geſchloſſen,
und getroffen. Hie und da bitter, und hie
und da wieder ſuͤß. Laͤndlich, ſittlich, ſagte
Herr β. Es iſt nicht ſo ganz ohne, daß man
Wilhelminen — — zuvor verhoͤrt. Audiatur
et altera pars,
und wenn, ſetzt er hinzu, und
wenn Preußen alle ſeine Unterthanen recla-
miren ſollte, was meynen Sie, mein Goͤn-
ner
und meine Herren? wer wuͤrde mehr ver-
lieren, Curland an Wilhelminen, oder wir
an ſo vielen wuͤrdigen Praͤpoſitis, Paſtoren,
Aerzten und Rechtsgelehrten? Bey dem lez-
ten Wort ließ er die Stimme fallen, und man
beſann ſich, daß Herr Collega [...] aus Preuſ-
ſen
[459] ſen waͤre — welches ſo ganz dreiſt heraus
zu behaupten, er ohnfehlbar außerhalb der
Jahreszeit hielt; da Herr v. E. ſo ſehr geruͤ-
ſtet ſchien, ſich an allem, was preußiſch war,
zu vergreifen und ein Exempel zu ſtatuiren.
Herr α nannte dieſe Zuruͤckhaltung, um zu
zeigen, daß er durch das preußiſche Ruͤckſchrei-
ben nicht Kopfſcheu geworden waͤre, wie ei-
ne Katze um den heißen Brey gehn
. Er ſa-
he den Herrn β ſteif und feſt an, und man merk-
te, daß er ſeinen Einwand aus dem Grunde
widerlegen wollte. Schon recht, ſagte Herr α,
allein Preußen hat noch keinen Praͤpoſitus,
Paſtor, Arzt und Rechtsgelehrten, unter de-
nen ich einen guten Freund habe, den wir alle
kennen, gefordert: wir aber fordern Wilhel-
minen. — Was das Fordern anbetrift, wolte
Herr β fortfahren, indeſſen ſchlug Herr α
vor, das Wiederholungsſchreiben noch ein-
mal vorzuleſen, und punktatim zu bepruͤfen.
Es ward als eine Zugabe feſtgeſetzet, daß es
nach drey Wochen allererſt abgelaſſen, und,
falls in dieſer Zeit eine Definitivantwort aus
Preußen kaͤme, nach Bewandniß derſelben mit
dieſem Entwurf verfahren werden ſollte.


Dieſe Erzaͤhlung iſt wieder ein Auszug aus
genau gefuͤhrten Protokollen und den muͤnd-
lichen
[460] lichen Zuſaͤtzen des Herrn —, der eben jetzo
bei mir iſt, und nie, wie er ſagt, an dieſe Erſt-
linge ſeiner rechtlichen Arbeiten zuruͤckdenken
kann, ohne daß ihn ein Herzensfieber, Kaͤlte
und Hitz’ ergreift, es iſt ein guter Mann und
kein α, β, und γ, obgleich er beim α das
Handwerk gelernt hat.


Eine Einſchaltung, die freylich zu die-
ſem Rechtskram wunderlich abſtechen wird.
— Eine Eul’ unter den Kraͤhen. —


Herr v. E., das zeigt freilich ſein Krieg
und Kriegesgeſchrey, — fand fuͤr gut, Mi-
nen zu lieben, und alles, was ich thue, wie
er es dem Vater Herrmann, (bald haͤtt’ ich
dem Vater, dem Teufel geſchrieben,) ſagte,
geſchieht aus lichterloher Liebe. Dieſer Boͤſe-
wicht ſprach das Wort Liebe, ſo wie die Teufel
den lieben Gott aus, und fand fuͤr gut, Mi-
nen zu lieben — ein Teufel einen Engel! —


Sie, nur Sie! alles, was ich bisher ge-
liebt habe, iſt Staub, Erd’ und Aſche — ſchrie
Er! Ich vergaß alles, was ich je von Mutter-
leib’ an geliebt habe, ſeitdem ich ſie ſahe, ſie hoͤr-
te, und ihre Hand druͤckte. So ſehr liebt’ ich
Sie ſo rein! — Sie ſchwebt mir vor Seel’ und
Sinn! Sie, nur Sie! nur Sie! rief er mal uͤber
mal, und kuͤßte den Herrmann, der nicht wußte,
wie
[461] wie geſchwind er die Hoch wohlgebohrne Hand
erhaſchen ſollte, um ihr dieſen Kuß ganz warnt
wieder abzugeben, — bald jagt’ er den Herr-
mann zu allen Teufeln, und ſah ihn als den
Raͤuber dieſes Kleinods an. —


Dann wieder wie in Gedanken, wie vor
ſich. Wenn ich denk: ſie in Preußen! im
Soldatenlande, o dann iſt mir, als wenn
ich Gift eingenommen haͤtte, und hab ichs
nicht? Es wuͤtet in meinem Eingeweide. Es
ſchneidet in mir! Iſt denn kein Gegengift?
Da lieg ich! Ein abgeriſſener Aſt, der von
ſeinem Baum getrennt iſt und welkt, wahr-
lich ich welke! Herr, ſchrie er auf, zu Herr-
mann, nicht wahr? ich welke? —


Herrmann jubelfroh, daß er auf keine
categoriſche Antwort beſtand, buͤckte ſich bis
auf die Erde. —


Sie haͤtte was aus mir gemacht! Sie
haͤtte gemacht, daß ich den Teſtamentsnickel
geliebt haͤtte. Minen zu Gefallen haͤtt’ ich es,
und was haͤtt ich nicht alles, ihr zu Gefallen! —
Ihrer Liebe zu Gefallen! Hin iſt ſie — hin!
hin! und Satanas weiß, welch ein Gluͤcklicher
auf mein Fundament bauet. (Ich fiel dem
Herrn v. E. ein. Ich bin eiferſichtig, ſchrie er
wieder, zum raſend werden! Die blaue Farbe,
wo
[462] wo ich ſie ſehe, martert mich, denn — —
war blau gekleidet. — Auf die Art, Hut und
Haarlocken und Stiefel zu tragen, und auf al-
les, was ſein war, bin ich gallenbitter boͤſe! —


Was ich geſchrieben habe, das hab’ ich
geſchrieben, was ich habe ſchreiben laſſen,
das hab’ ich ſchreiben laſſen. — Bin ich
nicht mehr, viel mehr gefangen, wie ſie.
Ich! ich! ſitz’ im Kefig. — Laßt mir die
Freud’, in die Stangen des Kefigs zu beiſ-
ſen. — Wenn jedwede ein und einzige Liebe,
Adam und Evasliebe,
ſolche Leiden macht;
ſo ſind es Einfaͤlle von Milzſuͤchtigen, eine ein-
zige Liebe! wer kann ſo lieben und leben? —


Sonſt war mein Stolz, in der Liebe
wetterwendiſch zu ſeyn. Dieſe Grundſaͤtze
haben ſich verlaufen, und das erſchreckliche
Gericht der Beſtaͤndigkeit iſt uͤber mich eroͤf-
net. Weh mir! daß ich beſtaͤndig bin! weh!
weh mir! daß ich es bin! — — Vergieb
mir dieſe Wehs, liebe Mine, vergieb ſie mir,
wohl mir, daß ich beſtaͤndig bin, wohl —
wahrlich eine ganz nagelneue Erfindung fuͤr
mich! — Haͤtt’ ich ihr nur einen Kuß ge-
geben, ſo wuͤßt’ ich doch, wie’s waͤre, wenn
man einen Engel kuͤßt. — Ihren Othem
hab’ ich von fern geſchmeckt, und wie Veil-
chen
[463] chen und Roſenduft eingeſogen! — Meynt
ihr denn, lieben Freunde, daß ich ſie haſſe,
ihr aus Wuth mit Ruͤge und Bezuͤchtigung
nachſetze, meynt ihr? Ich kann nicht Ohs
und Achs rufen; allein hier liegen ſie Finger-
dick im Herzen. Ich liebe ſie. — Ich haſſe
ſie, weil ich ſie liebe, ich liebe ſie unendlich. —
Ein Schwanenbett ſoll ihr Gefaͤngnlß ſeyn:
Liebe, die liebſte Liebe, ihre Ketten. So
bald die Nachricht eingehet: Mine iſt einge-
ſchloſſen! — Entzuͤckt will ich ſchon uͤber dieſe
unbetagte Schuld ſeyn! Entzuͤckt, noch ehe der
Verfalltag kommt — all ihr Leiden ſey wie
abgeſchnitten! Bis Memel ſoll ſie zwar zum
Schein leiden; der Teufel trau den preußi-
ſchen Staaten, aber dann im Triumph! —
Mine du biſt mein, meine Gemahlin biſt du!
Dir gehoͤrt mein Herz. Mit deinem Auge
will ich getrauet werden, mit dir Hochzeit
halten, dir will ich das Ja zuſagen, und es
halten, ſo lang ein Stuͤck von mir iſt. —
Wenn gleich nicht vor der großen Welt, ſo
doch im Stillen. — Im Stillen, wo’s ſich
am beſten liebt. — Mine! Liebe gehoͤrt in
die Stille zu Hauſe. — Mine, die verbotene
Frucht ſchmeckt am ſuͤßſten. Waͤr’ alles Ge-
bot und kein Verbot, ſo moͤchte der Teufel
ein
[464] ein Menſch ſeyn! — Nur einen Verſuch,
Mine. Komm Mine! Komm — komm!
Komm doch! wird ſie kommen? —


Was meynen Sie, rechtsgelehrter lieber
Achſeltraͤger! zum Protokolliſten, den Herr
v. E. nicht von ſich ließ, um ohne Aufhoͤren
zu fragen.)


Wird ſie? Wird ſie? Dieſer junge Mann,
der den Herrn v. E. von Univerſitaͤten her
kannte, war uͤber dies und jenes bey der
Sache im Irrgarten, aus dem er ſich end-
lich herausgefunden haben wuͤrde, (obſchon
v E. auf die Art noch nie gelebt hatte, oder
eigentlicher verliebt geweſen war,) wenn
nicht Minens leiblicher Vater eine Rolle in
dieſem Stuͤcke gehabt. — —


Herr v. E. litte wuͤrklich; allein ſo wie
jeder Suͤnder leidet. — Kann man ſo etwas
leiden nennen? Zuweilen war er ſtummdoll.
— Man hatte Urſach ſeinetwegen zu fuͤrch-
ten. — Der Protokolliſt hatte wuͤrklich Mit-
leiden mit ihm; ſo nah wußt’ ers ihm zu le-
gen. Koͤnnt’ ich doch weinen! ſagt’ er einen
Abend zu ihm, Herzensfreund, weinen!
Wer kann es aber in der Hoͤlle? Haͤtt’ es der
reiche Mann gekonnt, wuͤrd’ er nicht noͤthig
gehabt haben, einen Tropfen Waſſer zu bet-
teln —
[465] teln — und dann wieder: „Freund! wenn
„die Hoͤll aͤrger ſeyn kann, iſt kein Gott im
„Himmel!„ — Wuͤrde Mine auch nur in
Mitteldingen, (wenn es dergleichen giebt,)
ergiebiger geweſen ſeyn, Herr v. E. wuͤrde ſie
geliebt haben, wie er ſonſt zu lieben gewohnt
war. — Ihr edler Ruͤckhalt, ihre heroiſche
Flucht, bracht’ ihn mit zu dieſem, ihm ſonſt
wildfremden Schwung — — —


Der Juſtizrath — — (wir ſind wieder
in Preußen,) ward vom Direktor, als das
A und Q im Collegio, zu dieſem Geſchaͤft
auserſehen und eben, weil er auserſehen,
war, wollt’ er ein Meiſterſtuͤck liefern. Er
lernte faſt das Geſuch des Herrn v. E. an
die curſche Regierung, und das Protokoll
auswendig, um ja keine Sylbe ungetrof-
fen zu laſſen. Folgender Entwurf zu den
Fragen an die engelreine unſchuldige Mine,
kann von ſeinem Dienſteifer ein Proͤbchen
abgeben. Es konnte ſich der Deputatus
nichts gewiſſers denken, als daß Mine alles
und jedes waͤre, wozu ſie das feine curſche
Protokoll, und deſſen Ueberrock, das verklei-
ſterte gekuͤnſtelte Geſuch des Herrn v. E., ma-
chen wolte. Dieſes blinde Zutrauen zu ei-
nem gerichtlichen Protokoll beſtimmt’ ihn, den
Zweiter Th. G gRe-
[466] Requiſitorialbrief an die Guarniſon noch eher
abzuſenden, als er Minen geſehen und ge-
hoͤrt hatte. Eine Meile vor L — — ſand’
er, nachdem er nochmals alles uͤberleſen,
und das Volwort des Protokolls ihn uͤber-
ſchienen hatte, den Requiſitorialbrief ab.
Den Erfolg dieſer Abſendung wolt’ er eben
hier und eine Meile vor L — abwar-
ten. Es kann ſeyn, daß auch etwas Furcht
vor dem ſtarken Kerl, der dem Martin Ja-
cob Kegler ſo ſchwer gefallen, zu den Ingre-
dienzen dieſer Eilfertigkeit und dieſes Vorlauts
gehoͤret. — Zwar erfolgte keine ſchriftliche
Antwort; allein es erfolgten ein Unterof-
ficier und zwey Mann, die ſich Verhaltungsan-
ordnungen ausbaten. Einen Augenblick, ſagte
unſer Scharfrichter, denn er uͤberſah noch ſeine
Fragſtuͤcke, und fand ſie hie und da nicht band-
feſt. Einen einzigen Augenblick, ſagte unſer
Juſtizrath; allein es waͤhrte eine Stunde. —


Ein Proͤbchen von unſerm Juſtizrath —


Promemoria


  • in Unterſuchungsſachen wider die aus
    Curland entlaufene Dienſtbotin und
    Diebin Wilhelmine — — ihre vor-
    laͤufige Abhoͤrung und Haft betreffend.

Nach den gewoͤhnlichen Fragen:


Namen
[467]

Namen?


Geburtsort?


Vaterland?


Eltern?


Wer ihr Vater ſey? (Es ergiebt ſich nicht
aus den Akten — unterthaͤnig iſt ſie nicht.)


Bey der Mutter, ein Wort zu ſeiner Zeit.


Wie alt?


Religion?


Wozu noch außerhalb der Linie kommen
koͤnnte: ob ſie vom vierten Gebot unterrich-
tet? und mit den Pflichten bekannt ſey, die
ſie allen denen, die Gottes Bild an ſich tra-
gen, welches im gegenwaͤrtigen Fall Herr
v. E. waͤre, ſchuldig?


Des Vaters Segen bauet den Kindern
Haͤuſer.


Stof zur dreyfachen Ermahnung —


Bleib’ im Lande und naͤhre dich redlich.


Ob ſie das ſiebente Gebot Gottes wiſſe?


Geſchaͤrfte Ermahnung!


Ob das fuͤnfte Gebot Gottes?


Wer luͤgt, ſtiehlt auch, und wer ſtiehlt,
mordet —


Eine Erſchuͤtterung !!!!


Wer Menſchen Blut vergießt, des Blut
ſoll wieder vergoſſen werden.


G g 2Ob
[468]

Ob ſie nicht alle zehn Gebote Gottes uͤber-
treten, und


ob, wenn noch mehr als zehn waͤren, ſie
nicht auch die mehrere mit Fuͤßen geſtoßen?


Es giebt nur ein Laſter, nur eine Tugend.
Einmal eins iſt eins.


Das gegebene boͤſe Exempel iſt wie eine
Brandſtiftung; wenn man auch gern die
Flamme hemmen wolte, kann man?


Donner und Blitz —


Vogel friß, oder ſtirb!


Nach dieſen Vorbereitungsfragen:


Ihr ſtehet vor Gott und der Obrigkeit, die von
ihm geordnet iſt, pruͤft euch, ob ihr mit dem
Vorſatz hergekommen, Gott die Ehre zu ge-
ben, und die reine ungeſchminkte Wahrheit
zu bekennen? Iſt es nicht euer Vorſatz ge-
weſen, ſondern habt ihr gefliſſentlich Suͤnden
mit Suͤnden haͤufen wollen; ſo verſtockt we-
nigſtens auf dies Wort euer Felſenherz nicht.


Das wenigſte, was ihr thun koͤnnt, iſt
Bekenntniß und eine geduldige Unterwerfung
in Ruͤckſicht der zeitlichen Strafe, die gegen
die ewige leicht iſt. Antwortet ohne Gleis-
nerey und Kunſtſtuͤck, aus dem innerſten eu-
res Herzens, und ſo, wie ihr es einſt vor
dem lezten ſtrengen Richtſtuhl Gottes zu ver-
ant-
[469] antworten gedenkt, wohin, ſo jung ihr ſeyd,
ihr uͤber ein kleines citiret werden koͤnnet.
Wolt ihr? —


Ehe noch Mund und Hand ans Werk ge-
legt wird, die Recognition der Perſon, nach
denen, wiewol im beſondern Styl, uͤberſand-
ten Angaben:


Wuchs.


Sie grenzt ans Maͤnnliche.


Schlank,


geſund,


roth und weiß.


ſchwarzes Haar,


große Augen von der nemlichen Farbe,


Spott und Hohn.


Kraͤftiger Gang.


Heuchlerin und Spitzbuͤbin von Hauß aus.


Hauptpunkte:


Sie hat ihre Mutter ins Grab gebracht —
Ungehorſam, verſtockt gegen ihren Vater
Sie hat ſich wider ſeine Heyrath empoͤrt.


  • Warum?
  • Kinder muͤſſen auch wunderlichen Eitern
    gehorchen.
  • Ihr Vater hat zu ihrem wahren Heil an
    eine zweite Heyrath gedacht. Viel-
    G g 3leicht
    [470] leicht weniger, um| eine Frau fuͤr ſich,
    als eine Mutter fuͤr ſie, zu haben.
    Er iſt acht und funfzig Jahr! Ein
    ſchoͤnes Alter!
  • Der Vater hat ſie im Hof’ angebracht;
    ſie iſt aus dem Contrakt gelaufen.

    • In welcher Qualitaͤt und Geſtalt ſie im
      Hof’ angebracht worden?
    • (Es iſt hievon in der Schrift mit keinem Jota
      gedacht, und ſolte doch. Ohne Zweifel als
      Cammerjungfer, Ausgeberin, oder ſo Etwas.)
    • Warum ſie dieſe gute Abſichten vereitelt?
    • und dem Herrn v. E. in ſeiner Wohl-
      meynung widerſtanden, der doch die
      Liebe ſelbſt ſey, und der, wenn ſie aus-
      gedient, ſie gewiß zu ſeiner Zeit un-
      ter die Haube gebracht haben wuͤrde?
  • Sie hat andere aufgewiegelt? (Dunkelheit.)
  • Sie hat Verſchiedenheiten und Zwiſt’ im
    Hauſ’ erreget.
    (Auch dunkel. Die Broͤdlinge
    ſagen es zwar aus, Gott weiß aber wer? und
    warum?)
  • Sie hat geſtohlen?
    • Was ſie geſtohlen? (Unzulaͤnglichkeit.)
    • Wenn? (Ungewisheit.)
    • Wen ſie beſtohlen? (Finſterniß.)
    • Ob ſie noch von den geſtohlnen Sachen
      etwas bey ſich haͤtte? Wo ſie die an-
      dern Sachen angebracht?
    • Das Geld?
    • Wider die Amtmannin und ihre Schwe-
      ſter iſt aller Verdacht der Mitwiſſen-
      ſchaft. Das Verhoͤr mit ihnen iſt vol-
      ler Maͤngel. Da Inculpatin erſt ge-
      rades Weges mit dieſen beyden feinen
      Zeiſigen gehandelt, haͤtte der Neben-
      weg, den Inculpatin jetzt einſchlug,
      ſie zum Nachdenken bringen ſollen,
      wenn ſie anders nachdenken koͤnnen.
    • Es fraͤgt ſich:
    • Ob Inculpatin der Amtmannin und ihrer
      Schweſter angezeiget, daß es geſtohl-
      ne Sachen?
    • Ob der Kopfputz, den die Inculpatin der
      Amtmannin und ihrer Schweſter ver-
      kaufet, auch geſtohlen Gut?
    • Was es fuͤr andere Stuͤcke geweſen, wel-
      che Inculpatin der Amtmannin und
      ihrer Schweſter verhandelt?
    • (Andere Stuͤcke! wie unbeſtimmt!)
  • Sie hat fluͤchtigen Fuß geſetzet.
    • Wer ihr behuͤlflich geweſen?
    • Wer der junge Menſch ſey, mit dem ſie in
      unregelmaͤßigem Verkehr geſtanden?
    • (Ein tiefes Stillſchweigen im Protokoll.)
    • Wie ſie geflohen? ob zu Fuß? oder wie
      ſonſt?
  • Sie hat zum Morde aufgefordert.
    • (Gott ſey ihrer Seele gnaͤdig!
    • Beym erſten Ueberblick nahm ich ſchon die Sache
      der Inculpatin; allein, alles genau genom-
      men, iſt ſie nicht zu retten, um alles nicht.)
    • Die ſtarke Mannsperſon.
    • Der Schrey, als das Nothzeichen.
    • Warum Inculpatin ſo gar dieſen Boͤſe-
      wicht, obgleich Martin Jakob Kegler
      ſie bleiben laſſen muſte, welches ſie
      ſahe, aufgefordert, dieſen Kegler, (im
      Hofe Jakob genannt,) zu verfolgen?
    • Ob dieſer ſtarke Kerl allein ſie begleitet?
    • Ob noch wer mehr?
    • Wer ihn zu dieſem Mordgeſchaͤfte gedun-
      gen? — — —
    • Noch vor dem Verhoͤr das Haus beſetzen.
    • Den Wirth des Hauſes an ſeinen des
      Koͤniges Majeſtaͤt geleiſteten theu-
      ren Eid erinnern.
    • Alles im Hauſe zu erinnern, Ohne Er-
      laubniß
      mit der Inculpatin keine Ge-
      meinſchaft zu haben.
    • Die Inculpatin mit einer kurzen Anrede
      der Wache zu uͤberliefern:

Da ſehet ihr nun die traurigen Folgen
eures Ungehorſams! Dieſe koͤnigliche Solda-
ten, nicht wie die Engel bereit, zum Dienſt
derer, die ererben ſollen die Seligkeit, ſon-
dern fertig, Boßheit zu beſtrafen, und Frev-
ler zu bewachen, ſollen euch vorerſt an Haͤn-
den und Fuͤßen geſchloſſen in feſte Hand neh-
men, und in engere Verwahrung bringen,
damit ihr, nach eingezogenen naͤhern Ver-
haltungsbefehlen, nach Memel gebracht, und
von dort aus den Abgeſchickten eures ſo anaͤ-
digen Brodherrn des v. E. uͤberreichet wer-
den koͤnnet! Wolte der Himmel, daß euch eure
ſo grobe Verbrechen das Herz durch bohren,
und ihr, noch ehe ihr dort! dort! eure Mut-
ter vor Gottes Richterſtuhl erblickt, euch mit
ihrem Schatten ausſoͤhnen moͤchtet! Wolte
der Himmel, daß eure verfaͤlſchte unlautere
Seele noch gerettet, und ihr wenigſtens die
Hofnungen auf die andere Welt nicht aufge-
ben doͤrftet, da in dieſer fuͤr euch kein Ort
abzuſehen, wo ihr vor Vorwuͤrfen eures Ge-
G g 5wiſſens
[474] wiſſens, und anderer ehrlichen Leute, werdet
ſicher ſeyn koͤnnen. Eure Flucht nach Preuſ-
ſen iſt euch gegluͤckt; allein euch ſelbſt, und den
Augen der Rechtſchafnen, koͤnnet ihr nicht ent-
fliehen! — Gehet hin zu eurem gnaͤdigen
Herrn, werfet euch vor ihm auf die Knie.
Ein gutes Wort findet ein gutes Herz! Viel-
leicht, daß er euch ſeine gnaͤdige alles verzei-
hende Hand zureicht, und eure Strafe nicht
ganz genau mit eurem Frevel abmißt! Gehet
zu eurem leiblichen Vater. Ob verlohrner
Sohn, oder verlohrne Tochter, gleich viel!
Wenn ihr von ganzem Herzen ſagt: ich habe
geſuͤndiget, im Himmel und vor dir, und bin
hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Kind
und des Herrn v. E. Magd heiße; ſo wird
er vielleicht ſo ſehr durch Reue, durch eure
ganze Buß- und Beichtandacht, erweicht, als
ihn teſtantibus actis eure Boßheit und Got-
tesvergeſſenheit erweicht hat! Sein Fuͤrwort
wird den Herrn v. E., der die Liebe ſelbſt
ſeyn ſoll, voͤllig ausſoͤhnen. Eure Jugend
redet euch das Wort, und wenn euch Gott,
nach ausgeſtandener Strafe, noch Leben und
Geſundheit friſtet, habt ihr noch Zeit und
Raum, Gutes zu thun, die Leute, die ihr
beſtohlen habt, zu entſchaͤdigen, und da Friede
und
[475] und Ruhe zu ſtiften, wo ihr Zank und Zwiſt
verbreitet habt. Seht! wie nahe liegt der
Mord, das lezte ſchrecklichſte Cainsverbrechen
in dieſer Welt, dem erſten Schritt vom rech-
ten Wege! Wie nahe! — Wir werden uns
ſchwerlich in dieſer Welt mehr ſehn, wie ſehr
aber wuͤrd’ ich mich freuen, wenn wir uns
da zuſammen finden wuͤrden, wo wir beyde
Partheyen ſind, und wo ich auch mein Rich-
teramt dem, der mich damit belehnt hat, ab-
zugeben verbunden bin. Thut eure Pflicht,
brave tapfere Soldaten! nehmt dieſe Frevle-
rin hin! — Vor der Hand kann ſie nach —
ins Gefaͤngniß abgeliefert werden, bis ihres
weitern Transports wegen von hoͤherm Ort
Verhaltungsbefehl erfolgt.


Gott bekehre die Frevlerin!


ſaluis omnibus.


Dieſes Promemorias wegen, muſten der
Unterofficier und die zwey Mann eine Meile
vor L — einen ſo genannten Augenblick, der
aber eine Stunde war, verziehen, indem der
Deputatus noch hier und da ein Wort nahm
und gab, und nun nach L —


Das erſte, was Deputatus vornahm,
war die Belagerung des — — Hauſes des
verſtor-
[476] verſtorbenen — — und da er damit fertig
war, gieng er gerade zu ins Hauß, und re-
dete den Wirth ohn’ ihn zu ſehen an:


„Er moͤchte wohl bedenken, was er naͤchſt
„Gott Sr. Majeſtaͤt ſchuldig waͤre, nemlich
„treu, hold und gewaͤrtig zu ſeyn, das Beſte
„Sr. Majeſtaͤt uͤberall zu befoͤrdern, Schaden
„und Nachtheil aber zu verhindern„ und,
nachdem er ziemlich weit in dieſer Anrede ge-
diehen, ward er erſt gewahr, daß niemand,
als ein altes Weib, vor ihm geſtanden. Sie
war, außer einer Katze, welche ihr ſelbſt zu-
gehoͤrte, die einzige lebendige Seele im gan-
zen Hauſe. Er war alſo, nachdem er ſich mit
dieſem Phaͤnomen bekannter gemacht, verbun-
den, ſein Protokoll wie folget anzuheben —


Actum L — 17 —


Dem hoͤchſten Befehl der koͤniglichen Re-
gierung von — — zur unterthaͤnigſten Fol-
ge, begiebt ſich Endesunterſchriebener, nach-
dem er die ihm zugefertigten Akten genau ge-
leſen, bepruͤft, und ſich den erforderlichen Plan
entworfen, nach L — — in die Behauſung
des — wo der Angabe nach Inculpatin Wil-
helmine — — ſich aufhalten ſoll. Das Hauß
iſt indeſſen voͤllig wuͤſt und bis auf eine alte
Perſon leer, welche ſogleich vernommen wird.


Sie
[477]

Sie heißt Catharina — — iſt acht und
ſiebenzig Jahr alt, lutheriſcher Religion, naͤh-
ret ſich von Kinder- und Krankenwartungen,
und iſt nicht eher, als nach dem ſeligen Ab-
leben des — — in dieſes Hauß gekommen.
Der Pfarrer des Orts hat ſie dazu berufen,
damit, ſo lange das Hauß nicht verkaufet ſey,
welches nicht anders, als nach oͤffentlicher
Feilbietung, und mittelſt gewoͤhnlichem An-
ſchlage, geſchehen koͤnnte, es nicht ledig ſte-
hen und am Werth einbuͤßen moͤchte. Der
ſelige Mann iſt ſeit fuͤnf Wochen, wie es ihr
duͤnkt, begraben und zwar Kinder- und Er-
benlos. Sein Haab und Gut iſt, nach ſei-
nem letzten Willen, den Orts Armen zu Theil
geworden. Die Comparentin ſagt, ich ſelbſt
hatte Urſach ſeine kalte Hand zu kuͤſſen. Der
Prediger iſt Teſtamentswaͤrter und Vollſtrecker
geweſen, und um ihren eigenen Ausdruck bey-
zubehalten „es iſt viel davon zu ſagen.
Zur Sache fuͤhret ſie an, daß ein Frauen-
zimmer, wohl gebildet wie Milch und Blut,
gleich nach dem Ableben des — — angelanget.
Sie kam ohn alle Begleitung und ganz allein
an, ſagt Comparentin, und wie ich nicht an-
ders weiß, in einem gemeinen Wagen mit
vier Pferden beſpannet. Ihr Beſuch, der auf
dieſe
[478] dieſe Art zu ſpaͤt gekommen, hat, wie’s der
Comparentin duͤnkt, keine andre Abſicht ge-
habt, als ihren Verwandten zu beſuchen und
ihn vielleicht, wenn es Gottes heiliger Wille
ſo genehmiget, zu beerben.


Auf die Frage: ob ſich keine ſtarke
Mannsperſon zu dieſer Zeit, oder vor und
hernach, blicken laſſen? erwiederte ſie ja! es
haͤtt’ einige Tage vorher ſich jemand blicken
laſſen. Nachdem aber dieſem Umſtande ge-
nauer nachgeſpuͤret wird; ſo kommt endlich
heraus, daß dieſes ein Luftſpringer ſey, der
ſich im Dorf zur Schau geſtellt. In wie weit
dieſer Luftſpringer mit der Inculpatin in Ver-
bindung geweſen ſey? noch ſey? und ſeyn
werde? iſt der Catharine — ganz und gar
unbekannt.


Damit alle Gerechtigkeit erfuͤlt und bey
dieſer Gelegenheit der Umſtand eingetrieben
und eingemahnet werde:


ob dieſer Gaukler die ſtarke Mannsperſon
mit dem gezogenen Meſſer ſey? und


in wie weit dieſer Gaukler ein Allerhoͤchſt-
privilegirter
ſey? wird dem Amtswachmei-
ſter aufgegeben, dieſen Luftſpringer vorzube-
ſcheiden. Dieſer ſtellt ſich mit ſeiner Beſtallung
die allerhoͤchſt eigenhaͤndig vollzogen iſt,
dar,
[479] dar, und will durch einige Proben dem De-
putatus ad oculum ſeine Geſchicklichkeit de-
monſtriren, welches verbeten wird. Außer
dieſer Nothdurft bringet er bei, wie der Pre-
diger die Kirchſpielskinder von ihm abgepre-
diget, und ganz offenbar zu verſtehen gege-
ben, daß ſie beſſer thaͤten, wenn ſie was an-
ders thaͤten, als einen allerhoͤchſt privilegir-
ten Gaukler ſaͤhen, und daß ein Gaukler ein
Gaukler bleibe, wenn er auch ein koͤnigliches
Patent haͤtte, und daß dergleichen Gaukler
mit koͤniglichen Patenten viel waͤren, obgleich
ſie nicht alle ſpraͤngen — und daß — Depu-
tatus kann und mag dieſe Sache nicht angrei-
fen, und begnuͤget ſich zu bemerken, daß der
Gaukler auch nicht den mindeſten Verdacht
abſchatte, daß er die ſtarke Mannsperſon ſey,
daher er abgelaſſen wird. Es iſt aller Muͤh’
unerachtet nichts rein, nichts von der ſtarken
Mannsperſon mit dem gezogenen Meſſer her-
auszubringen, und behaͤlt Deputatus wider
ihn dem preußſchen, curſchen und dem Welt-
publico, ſeine Rechte vor. Ob (um wieder
auf Inculpatin einzulenken) die fehlgeſchlage-
ne Hofnung, ihren Verwandten zu beerben,
oder der Umſtand, daß der verſtorbene Ver-
wandte ihren Beſuch nicht mehr annehmen
koͤnnen,
[480] koͤnnen, oder ſonſt was anderes Schuld daran
geweſen, weiß Comparentin nicht anzugeben,
wohl aber daß Inkulpatin, nachdem ſie friſch
und geſund angekommen, in Gegenwart des
Pfarrers, der als Teſtamentsvollſtrecker (wie
der Selige es angeordnet) einige Voͤgel ins
Freye gelaſſen, in Ohnmacht geſunken. Der
Pfarrer erſchrack nicht wenig, ſie erhohlte ſich
aber wieder, und der Pfarrer nahm ſie zu ſich.
Nach der Zeit hoͤrt’ und ſah man nichts von
ihr. Es hieß: „ſie iſt krank, ſie iſt immer
„krank„ aber zuweilen ſieht man ſie am Fen-
ſter, nach der Kirche zu, ſtehen oder ſitzen.
Wer ſie zuruͤck haben will, darf nur ſtehen blei-
ben, weg iſt ſie. Es kommt zwar ein Doktor
zum Pfarrer; aber man weiß nicht, ob zu ihr?
oder zu wem anders? Seit dem ſie ins Hauß
gekommen, iſt alles beim Prediger wie um-
gekehrt. Man ſagt ſogar, es ſey eine Ver-
lobung zwiſchen dieſer Unbekannten und Gott-
bekannten, und noch Jemand vorgefallen —
wenigſtens ſind zwoͤlf Perſonen beim Pfarrer
eingeſchloſſen geweſen, und heißt es, Gott
verzeih mir meine Suͤnden, ſie haͤtten all’ com-
municirt! Auf die Frage: ob der Pfarrer ver-
heyrathet ſey? erfolgt die Antwort: er iſt ver-
heyrathet, er iſt auch nicht verheyrathet —
ſeine
[481] ſeine Frau iſt melancholiſch, Gott weiß wovon,
er lebt nicht ſo recht zuſammen mit ihr. Jetzt
ſoll alles uͤber und uͤber ſeyn. Es iſt viel zu
ſagen.
Melancholiſch iſt die Pfarrin zwar
ſchon zum Theil vorhin geweſen, aber, aber —


Deputatus traͤget Bedenken aus dieſen,
dem exemplariſchen Lebenswandel des Pfar-
rers ſehr entgegen arbeitenden Umſtaͤnden,
Schluͤſſe zu ziehen, und der Comparentin ihren
Seelſorger durch einige naͤhere Fragſtuͤcke uͤber


die Aufnahme der Inculpatin Wilhel-
mine — —?


deren Verlobung?


und der Schwermuth die Pfarrin? ver-
daͤchtig zu machen, oder fals Comparentin
ſchon von ſelbſt, wie es faſt das Anſehen hat,
auf dieſen Verdacht gefallen, ihn nicht zu
beſtaͤrken, und dieſen Funken anzufachen.
In der Hauptſach iſt kein anderer Weg, als
Inculpantin beym Pfarrer aufzuſuchen, dies
Protokol dort fortzuſetzen, und vorſchrifts-
maͤßig uͤberall zu verfahren v. s.


N. N.


Waͤhrend der Zeit, daß Deputatus ſein
Verhoͤr ſchloß, und ſeinen Muthmaßungen
freyen Lauf ließ, gieng Catharine — —
ſpornſtreichs zum Pfarrer, drengte ſich bey
Zweiter Th. H hMinen
[482] Minen vor, und ſagte der Aufgeſtandenen
gerade zu unter die Augen, daß ein Herr
mit Soldaten da waͤre, um ſie zur Haft zu
ziehen.


Wie wußte dies Cathrine?


Und wie wußte der Deputatus, daß
die Pfarrin, die doch die Lindenkrankheit
hatte, Minchens wegen noch
tiefer in
Schwermuth geſunken? Sorget nicht fuͤr
den andern Morgen, ein jeder Tag wird fuͤr
das Seine ſorgen, und es iſt genug, daß ein jeg-
licher ſeine eigene Plage habe; findet auf den
Verdacht und das Mistrauen Anwendung, zu
dem die Rechtsgelehrten oft aus Amtspflicht
verbunden ſind, obgleich ſie den Grundſatz de-
bitiren: jeder iſt gut, bis das Gegentheil erprobt
und W. R. J. erwieſen iſt. Es iſt kein mistraui-
ſcher Volk, als das rechtsgelehrte. — Tau-
ſendmal hab’ ich gefunden, daß ſich die Men-
ſchen uͤberhaupt hiedurch gefliſſentlich ihr Le-
ben truͤben, und ſich vor dem Teufel und ſei-
nen Engeln fuͤrchten, wenn gleich keine da
ſind. —


Ob Catharine die Gabe der Feinheit ge-
habt, weiß ich nicht; allein das weiß ich, daß
Mine nur einen Hauch noͤthig hatte, um
o Gott! wieder — zu ſinken. Eine geknikte
Lilie
[483] Lilie kann ein Zephyr niederwerfen. Ein Hauch
iſt Sieger uͤber ſie. — Catharinens Zudring-
lichkeit und der Voͤrfall, daß Mine eben am
Fenſter ſtand, da die Soldaten anruͤckten,
ſchlug ſie ganz und gar nieder, und nie hat ſie
ſich weiter aufgerichtet — nie! — — Fuͤr
ſie war keine Quelle mehr, die den muͤden ab-
getragenen Wanderer am ſchwulen Tag’ er-
goͤtzt. Kein Trunk mehr kuͤhlte ſie! — Sie
hatte ausgelebet! — den letzten Lebenstropfen
koſtete ihr dieſer Vorfall. Gott, rief ſie, in
deine Haͤnde, in deine Haͤnde! nicht Herr in
die Haͤnde meiner! deiner Feinde! — Dir,
dir, Herr! leb ich, dir, dir ſierb’ ich! —
Der Pfarrer hatte genug mit dem Juſtizrath
— zu thun, und konnte nach der kraͤnklichen
Pflanze nicht ſehen, die er bisher mit ſo vieler
Sorgfalt jedem Sturm, jedem ſengenden
Sonnenſtral entzogen, die er gepfleget, wie
ein Vater eine kranke Tochter pflegt, die ſei-
nem ſeligen Weib’ aͤhnlich iſt. —


Das Paſtorat, oder, wie man in Preuſ-
ſen ſpricht, die Widdem, war von Soldaten
umzingelt. — Mine war ohne Troſt, ohne
Leben. Das ganze Hauß war in Aufruhr,
und die arme Predigerin uͤber dieſen Vorfall
ſo weg, daß ſie voͤllig aus ihrem Geleiſe trat,
H h 2und
[484] und Zeter rief, Zeter! Rettet — und Huͤlfe!
Huͤlfe!
Der Wachmeiſter, deſſen Stimm’ ins
Hauß einſchlug, hatte ſie voͤllig erſchuͤttert.
— Ihre Nerven waren fein, das Geweb’
einer Spinne, wuͤrd’ ich ſagen, wenn Spin-
nen gut waͤren. Kein Wunder! daß ſie aller
Faſſung und Beſinnung entwich! — Erbar-
mung! Erbarmung! — Weh! weh! krieſch
ſie und flog wie Espenlaub! Jedes Glied
war in Bewegung. — Sie hauen die Lin-
den,
ſchrie ſie! die lezten —! meine Rinder
geraubt —! meine Tochter! bete doch, bete
doch, Gretchen, ha! wie er ſie entfuͤhrt, der
Boͤſewicht! Mein Mann in Retten und
Banden! — was hat er gethan?
Die arme
Tochter, wenn ſie nur gewuſt haͤtte, wornach
ſie greifen wolte, waͤre ſie gluͤcklich geweſen. Es
lag ihr hart an, ob ſie Mutter oder Minen
troͤſten, ſtaͤrken, und in die Arme ſchluͤßen
ſolte. — Catharine, wenn ſie zu ihrem Beicht-
vater gegangen waͤre wuͤrd’ all dieſem Jam-
mer vorgebeugt haben! Allein jetzt alles, alles,
aus! Der gute Prediger war der lezte, der
dies Erdbeben merkte, und da ſah er auch
ſchon den Schlund weit! weit! offen! Herr!
hilf! ſchrie er, es lag zu viel auf ihn, wir
verderben! Er wolte ſich dagegen baͤumen;
allein
[485] allein konnt’ er? Ueberall Jammer! — Der
Inſtizrath hielt alles dies fuͤr Gewiſſensauf-
gaͤhrung, und wollt’ eben thun, was ſeines
Amts war, da ihn der Prediger bat, ſo viel
Menſchlichkeit zu haben, und ihm nur eine
Viertelſtunde Faſſungszeit zu bewilligen und,
ehe dieſe abgelaufen, keine Gewaltthaͤtigkeit
in einem Kirchenhauſe zu beginnen. Der Ju-
ſtizrath fand Bedenklichkeiten. — Gott, ſagte
der Prediger, wird ihnen die Viertelſtund’ in
ihrem lezten, in ihrem letzten, vergelten —
ich bin ein geſchlagener ein ungluͤckſeliger
Mann! —


Der Juſtizrath gab ihm dies Sterbvier-
telſtuͤndchen mit dem Beding nach, daß der
Wachmeiſter vor Minens Thuͤr ſich lagern
koͤnnte. Es war ein erſchrecklicher Kerl.
Wenn er nur nicht donnert, ſagte der Pre-
diger, das ſoll er nicht, erwiederte der De-
putatus; allein er bedachte nicht, daß ein
Segen in dem Munde dieſes Menſchen Fluch
waͤre. Es konnte dieſer Henkerhandlanger
nichts als Zeter rufen, und Staͤbe brechen,
und Moͤrder ſchließen, und Leitern zum Gal-
gen anſetzen. —


Ein Maͤrtyrer wuͤrde hier die Standhaf-
tigkeit verloren haben. Seine Geduld wuͤrd’
H h 3aus-
[486] ausgeriſſen ſeyn. — Da ſtand der Wachmei-
ſter, wie eine Katze vorm Keficht, und die
Soldaten, als wenn hungrige Tyger vor
der Thuͤre witterten. Des Juſtizraths Au-
gen glaͤnzten vor Wonne, als haͤtt er Gott
einen Dienſt gethan. Er ging auf und nie-
der, in Erwartung der Dinge, die kommen
ſollten. —


Der Prediger blieb eine kleine Weile’ im
Lehnſtuhl, ſchlug die Haͤnd’ in einander,
ſprang auf, und wand ſich zu ſeiner Frau!
Gretchen, ſeine Tochter, hatt’ ihm dieſe
Sorg’ anheim geſtellt. Faſſe dich! Seele,
beruhige dich, wilſt du mit Gott rechten,
ſagte der arme Prediger? Harr’ auf den
Herrn. Die Linden ſollen bleiben, und deine
Tochter ſoll gruͤnen, wie die Weiden an dem
Kirchengraben. Ich bin nicht in Ketten
und Banden. Gretchen iſt nicht entfuͤhrt,
ſie ſoll nicht einen Boͤſewicht, ſondern wenn
Zeit und Rath kommt, ihren Hanſen haben.
Hoͤr’ auf mit Zeter und Weh. — Man ſucht
hier jemand, der nicht hier iſt.


Dieſe herzliche Troſtworte haͤtten den
Juſtizrath freylich auf andere Gedanken brin-
gen koͤnnen und ſollen; allein er ließ nicht
von Catharinens Hand, die ihn leitete und
fuͤhrte
[487] fuͤhrte auf unebner Bahn, und von der er
jedes Wort als baar annahm. Die Spra-
che des Herzens iſt nicht jedermanns Ding.
Sie findet ſich nicht, wie das Griechiſche,
nach einem bewaͤhrten Spruͤchwort, und wenn
ich mich recht beſinne; kann ich nur dieſe Herz-
lichkeit den Verliebten zuſtehen — wie kaͤme ſie
an einen koͤniglich preußiſchen Juſtizrath,
der gemeinhin ein rechtlicher Dominikaner von
Hauß aus iſt. Der gute Mann hatte Muͤhe,
die verſtattete Friſt unverletzt und unbefleckt zu
halten. Welche Frechheit, dacht’ er, man
ſucht hier jemand, der nicht hier iſt.
Er
dacht’ es bey allem treufleißigen Ruͤckhalt,
doch ſo laut! ſo laut! — Eben ſo uͤberlaut,
als es ſein marktſchreyender Wachmeiſter ge-
ſagt haben wuͤrde. Wie konnt’ er bey die-
ſem Gedanken ſitzen bleiben! Dieſe Worte:
Man ſucht jemand, der nicht hier iſt
brachten ihn auf die Fuͤße, nachdem er bis da-
hin Platz genommen. „Armes, armes Weib,
„du ſolſt glauben! Solch einen Glauben hab’
„ich in Iſrael nicht funden. Glauben! was
„ſie anders mit ihren ſichtlichen Augen geſe-
„hen hat! — Ein feiner Glaube!„ Die Un-
geduld des Juſtizraths war unbeſchreiblich,
ſie hatte nicht in der Widdem Raum, er
H h 4gieng
[488] gieng in Gottes weite Welt mit den Vorſtel-
lungen: mein Haus iſt ein Bethaus, ihr
aber habts gemacht zu einer Moͤrdergru-
be!
Es war das beſte, daß er gieng — indeſſen
ließ er die Widdem nicht aus den Augen, um
zu bemerken, wer zn ihrer Thuͤr aus oder
eingieng. — Der ploͤtzliche Aufbruch des
Juſtizraths beruhigte die arme Predigerin
mehr, als der Zuſpruch ihres Mannes. Sinn-
lichkeit gegen Sinnlichkeit. — Sie ward ſtill,
das war ein gutes Zeichen, der Prediger be-
nutzte dieſe Stille, und ließ ſeine Tochter ru-
fen, die das Werk vollenden mußte. Er
loͤſete ſie bey Minen ab, die er ſtaͤrker fand,
als er glaubte. O Mann Gottes, fing ſie
an! ich ſoll? oder ſoll ich nicht? in die
Haͤnde der Menſchen! Nein, Sie ſollen
nicht, antwortete der Prediger, allein ſie
blieb bey ihrem entſetzlichem: ich ſoll, und
konnte ſich davon nicht abgewoͤhnen. — Es
gieng dem Prediger durch die Seele, ſie ſo
leiden, ohne Hofnung, ohne Zutrauen, lei-
den zu ſehen! Er kniete nieder, und betete
kurz! ſtark! himmelſtuͤrmend! und nun auf
dies Gebet verſprech ich Ihnen, ſagt’ er zu
Minen: Sie ſollen nicht. — Sie blieb ſtill.
— Nach der Zeit geſtand ſie, daß es ihr wie-
der
[489] der eingefallen ſey, ſich ſelbſt das Leben zu
nehmen, um nicht ein ſchreckliches Schau-
ſpiel der Bosheit zu werden. — Ihre ſtarke
Einbildungskraft hatte ihr den v. E. in der
Naͤhe gezeigt, frohlockend uͤber ſeine gegluͤckte
Rache — alle ſeine Helfer und Helfershelfer,
die ihr nach der Seele ſtanden, waren ihr
erſchienen, und dieſe Erſcheinungen waren
ihr ſchwer zu ertragen. — Mine litte ge-
waltig; indeſſen ließ Gott ſie nicht verſucht
werden uͤber Vermoͤgen. Er, der ſie aus
ſechs Truͤbſalen erloͤſet, ließ ſie auch jetzt
nicht verzweifeln. Sie unterdruͤckte die auf-
ſteigenden Selbſtmordgedanken beym erſten
Anfang. — Das weggeworfene Meſſer und
auf ihm die Tropfen Menſchenblut, fielen
ihr ein — (Sie ſah’ alles, was ihr ein-
fiel
—) Das Gebet des Predigers hatte eine
Nachwuͤrkung — Sie fand ſich — Sie
ſchmeckte Troſt in dem Kelch der Leiden, und
dieſe Pruͤfungsſtunde kuͤhlte ſie etwas ab;
indeſſen blieb ſie noch aͤngſtlich wegen der
Dinge die kommen ſolten. — —


Der Prediger gieng zum Juſtizrath —


Eben recht, fieng dieſer an!


  • Der Prediger. Und wenn ich jetzt fragen darf?

H h 5De-
[490]
  • Deputatus. An mich iſt zu fragen —
  • Prediger. So erbitt ich mir die Erlaubniß zu
    antworten.
  • Deputatus. Schrecklich wenn ein Prediger
    ſelbſt! —
  • Prediger. Ungluͤckliche aufnimmt?
  • Deputatus. Und eben dadurch Ungluͤckliche
    macht. Herr Prediger! — Ich wuͤnſcht’
    ich waͤr zu dieſem Auftrage nicht —
  • Prediger. Und dieſer Auftrag?
  • Deputatus. Nicht mehr, und nicht weniger,
    als die Diebin, die Laͤuferin, ja ich kann
    Moͤrderin hinzuſetzen, das kann ich, der
    ſie in ihrem Hauſe Obdach gegeben, zur
    gefaͤnglichen Haft zu bringen, damit ſie
    an Stell’ und Ort leide, was ihre Thaten
    werth ſind.
  • Pred. Ach Gott, vor dir iſt kein Lebendiger
    gerecht! Du weiß’ſt —
  • Deput. Er weiß! allein leider! auch Men-
    ſchen wiſſen —
  • Pred. Fuͤrchtet euch nicht vor denen, die
    den Leib toͤdten, und die Seele nicht toͤd-
    ten moͤgen, ſpricht mein Herr und Meiſter,
    der mit Zoͤllnern und Suͤndern umgieng.
  • Deput. Aber es nicht ſelbſt ward.
  • Pred. Das hof’ ich auch nicht —

De-
[491]
  • Deput. Er war Herr und Meiſter, und Sie
    Prediger in L —. Von ihm, dem Hei-
    ligen, konnt es nicht heißen: gleich und
    gleich —
  • Pred. Wenn Sie ſelbſt wuͤßten —
  • Deput. Ich weiß alles. —
  • Pred. Deſto beſſer! —
  • Deput. Und vorzuͤglich, daß Sie den Na-
    men der Communion entweihen, daß Sie
    den Ihren Herrn und Meiſter nennen —
  • Pred. der es in ſeinem Leben, Leiden und
    Sterben iſt.
  • Deput. Das koͤnnen Sie ſagen?
  • Pred. Das kann ich!
  • Deput. Mir?
  • Pred. und dem ganzen Juſtiz Collegio —
  • Deput. und ihren Frauen? man ſucht hier
    jemand, der nicht hier iſt
    . —
  • Pred. Sie iſt zuweilen nicht bey Troſt —
  • Deput. und wer hat ſie troſtlos gemacht?
    Wer ihr den Kopf verdreht? Wer?
  • Pred. Der Lindenbaum! der ſo alt wie ſie
    war, und in ihren letzten Wochen aus-
    gieng! —
  • Deput. Herr meinen Kopf ſollen ſie nicht
    verdrehen. Irret euch nicht, Gott laͤßt
    ſich nicht ſpotten, und ich auch nicht.
    Meine
    [492] Meine Geduld iſt wie die viertelſtuͤndige
    Friſt zum Ende. — Kurz und gut, der
    Koͤnigliche allerhoͤchſte Auftrag ans Colle-
    gium —
    „Wir Friedrich von Gottes Gnaden,
    „Koͤnig in Preußen, Marggraf zu Bran-
    „denburg, des heiligen roͤmiſchen Reichs
    „Erzkaͤmmerer und Churfuͤrſt ꝛc. Unſern
    „gnaͤdigen Gruß zuvor. Edler, hochge-
    „lahrte Raͤthe,
  • Pred. Daß ſich Gott erbarme!
  • Deput. „liebe getreue! aus der Anlage wer-
    „det ihr erſehen, was die curlaͤndiſche
    „Negierung wegen einer aus dem Dienſt
    „entlaufenen Diebin Wilhelmine — —
    „bey Uns angeſucht und zu verfuͤgen ge-
    „beten.
  • Pred. und ich bitt’ um Gottes Willen —
  • Deput. „Ob nun gleich ſo viel Umſtaͤnde wi-
    „der ſie aus dem gerichtlich abgehaltenen
    „Protokoll und der, in Curland von dem
    „v. E. —
  • Pred. Gott erbarm dich! und bekehre was zu
    bekehren iſt.
  • Deput. „eingereichten Vorſtellung hervor-
    „gehen, daß die beſagte Perſon nicht al-
    „len Ruͤgen zu entwachſen im Stande iſt;
    „ſo
    [493] „ſo befehlen Wir euch jedoch dieſe Wilhel-
    „mine — — zuerſt durch einen zu er-
    „nennenden Deputatum abhoͤren zu laſ-
    „ſen. Finden ſich bey dieſem Verhoͤr Um-
    „ſtaͤnde, welche die curſchen Angaben ent-
    „kraͤften, und als Milderungs- oder wohl
    „gar Aufhebungsumſtaͤnde in den Rech-
    „ten geltend zu machen waͤren; ſo iſt es
    „des Deputati Pflicht, die ihm hiemit
    „auferlegt wird, wegen ihrer Perſon eine
    „leidliche doch genaue Aufſicht anzuord-
    „nen, oder die etwa einzulegende rechts-
    „guͤltige Caution anzunehmen, und in
    „Rechtsform einzulenken.
  • Pred. Ich cavire mit Leib und Seel, mit Leib
    und Leben!
  • Deput. Das glaub’ ich „im Fall ſich aber
    „alles den eingeſandten Schriften gemaͤß
    „verhaͤlt und angeruͤgte Wilhelmine — —
    „nicht das mindeſte von ſich abzulehnen in
    „den Umſtaͤnden iſt, was als Rechtfertigung,
    „Entſchuldigung, Vertheidigung vor den
    „Ding- und Rechtsſtuͤhlen zu gebrauchen
    „waͤre; ſo muß Wilhelmine — — ſogleich
    „dingfeſt gemacht werden. Zu dem Ende
    „habt ihr die naͤchſte Garniſon von L — zu
    „erſuchen, euch hinlaͤngliche Mannſchaft
    „zu
    [494] „zu bewilligen, und dieſes Requiſitorial-
    „ſchreiben eurem Deputato anzuvertrauen,
    „um davon beym Befinden der Sache, ohne
    „aufhaltende Ruͤckſchrift an euch, augen-
    „blicklichen Gebrauch machen zu koͤnnen.
    „In allen Faͤllen liegt dem von euch zu be-
    „ſtimmenden Deputato ob, ſo genau als
    „ſchleunig an Uns Bericht zu erſtatten, da-
    „mit in dieſer Sache, entweder den Wuͤn-
    „ſchen der curlaͤndiſchen Regierung gemaͤß,
    „oder anders wie, in alle Wege aber recht-
    „lich, die Verfahrungsart eroͤfnet werden
    „koͤnne. Das iſt unſer eigentlicher Wille.
    „Sind Euch mit Gnaden gewogen. Gege-
    „ben Koͤnigsberg den — 17 —„
  • Pred. Tauſend Dank fuͤr dieſe Eroͤfnung,
    und nun?
  • Deput. Und nun werd’ ich Wilhelminen ver-
    hoͤren, ſie dingfeſt machen, und nach —
    ins Gefaͤngniß bringen laſſen.
  • Pred. Wenn ſie aber unſchuldig iſt? wenn
    ich Caution einlege? wenn —
  • Deput. Kein Wenn weiter — Sie verdienen
    nicht, daß man ein einziges von Ihnen hoͤrt,
    damit ich Ihnen gerad aus mein Herz aus-
    ſchuͤtte, und alle Wenns auf einmal be-
    nehme. —

Pred.
[495]
  • Pred. Wenn Sie aber erlauben wollen —
  • Deput. Wieder Wenn!
  • Pred. Die Koͤnigliche Landesregierung, (um
    gerade zu, und ohne Wenn, meinem Her-
    zen Luft zu machen,) hat nur Bedingungs-
    weiſe den gefaͤnglichen Haft verfuͤgt, und
    dem Collegio nicht [uͤberhaupt] nachgelaſſen,
    die Garniſon um Beyhuͤlf anzutreten. Ich
    weiß alſo nicht, warum mein Hauß bela-
    gert iſt, und ich, wie Jeruſalem, an allen
    Orten geaͤngſtiget werde, ehe noch Minchen
    verhoͤret worden. Sie iſt die Ehre ihres
    Geſchlechts.
  • Deput. Und Sie, Herr Prediger! nicht wahr,
    die Ehre ihres Standes? —

Hier loͤſeten ſich die Raͤthſel; denn der gute
Prediger konnte die wohlgemeinte Grobheiten
des Deputatus laͤnger nicht tragen. Er dul-
dete, da ihm die Grenzen des Auftrags die-
ſes feurſpeyenden Rechtsgelehrten, und ſeines
Spießgeſellen, unbekannt waren. Jetzt ſah’
er keine Verbindlichkeit ein, den Deputatus
im verkehrten Sinn reden zu laſſen, was nicht
taugt; und da ihm der Juſtizrath ſeine Zwei-
fel entdeckt, und der redliche Prediger ihm den
Unſinn von dieſem Vorurtheil gewieſen hatte,
ging Deputatus in ſich, und hatte nichts
wei-
[496] weiter in petto. — — Wenn man ſich eine
geraume Zeit im Cirkel herumgedreht, ſchei-
nen die aͤußere Gegenſtaͤnde eben dergleichen
Bewegung zu bekommen, auch wenn man
aufgehoͤrt hat, ſich herum zu drehen, bleiben
die Objekte noch immer in einer cirkelrunden
Bewegung in unſerm Auge. — So gieng es
dem Juſtizrath, bis ihm das Verſtaͤndniß ganz
geoͤfnet war! und nun? Heftige Leute Leute
uͤber Halß und Kopf,
kennen nicht die Mittel-
ſtraße, und unſer Deputatus war nun wieder
ſo aufs Haupt geſchlagen, daß er nicht aus noch
ein wuſte. Der Prediger gab ſeiner Gewiſſens-
regung, Minen mit eigenen Augen zu ſehen,
nach. Sie ſollen, ſagte der Prediger, wie Tho-
mas, alles handgreiflich haben, und gieng hin,
Minen zu dieſem Beſuch vorzubereiten. Da
der Deputatus ſie ſahe, fiel er zuruͤck. — So
hatt’ er ſie ſich nicht vorgeſtelt!


Gott ſey mir Suͤnder gnaͤdig, fing er aus
dem Innerſten an, ſah die abgezehrten Haͤn-
de, die eingefallenen Augen, und die langſam
und Seligſterbende!
— Mit einem Blick
hatte er alles. Er konnte nach dieſem Blick
ſeine Augen nicht mehr aufthun. Das erſte
war, daß er die Soldaten abgehen hieß, die
nicht ſehr mit dieſer Commißion zufrieden wa-
ren
[497] ren, auch der Amtswachmeiſter muſte mit
Schanden unten an ſitzen, und im Wirths-
hauſe ſeine Diaͤten verzehren. Dies geſchahe
gleichfals nicht ohne Kopfſchuͤtteln. Man ſah
es dem Peiniger an, daß er gern Ketten und
Band’ angelegt haͤtte. —


Da ſtand der Juſtizrath, wie von Gott
verlaſſen! —


Mine wuͤnſchte, nachdem er lange vor
ihr als Inculpatus geſtanden, allein zu ſeyn,
er ſchwur, er koͤnne nicht von dannen, bis ſie
ihm verziehen haͤtte. Mein Gott, was iſt
der Menſch? Ein trotzig und verzagt Ding.
Wer kann ihn ergruͤnden?


Der Deputatus weinte bitterlich.


Mine hob ihre halb abgeſtorbene Haͤnd-
auf, und blickte den Bußfertigen ſanft laͤ-
chelnd an. Ihr Blick ſagte: Sie wuſten
nicht, was Sie thaten.


Er hatte ſich vorgenommen, ihr einige
Fragen, wiewohl außerhalb den Grenzen
ſeines Promemorias, zu thun; allein er
konnte nicht. —


Kommen Sie, ſagte der Prediger, da-
mit wir uns nach langem Mißverſtaͤndniß
mit Herz und Seele verſtehen. Der Predi-
ger erzaͤhlt’ ihm den lezten Theil von Mi-
Zweiter Th. J inens
[498] nens Lebenslauf, um dem Deputatus die
curſchen Papiere in einem andern Licht, und
uͤberall verborgene Schlangen, zu zeigen.
Der gute Rechtsgelehrte konnte ſich nicht be-
ruhigen, und wenn der Prediger ihm nicht
grosmuͤthigſt die Folgen verſchwiegen haͤtte,
welche dieſer Vorfall auf Minens Geſund-
heitsverfaſſungen gehabt, er waͤre nicht ge-
ſund aus dem Kirchenhauſe gekommen, wel-
ches ſchon ohnehin in aller Form ein Lazaret
war. Er aß den Mittag beym Prediger.
Gretchen wollte nicht mit eſſen. Der Predi-
ger muſte es verlangen. Sie kam; allein
ſie konnte den Deputatus nicht anſehen. —
Die Predigerin hatte ſich uͤber alle Erwar-
tung ziemlich erhohlt. Der arme Rechts-
gelehrte konnte nicht eſſen, nicht trinken.
Er war unlaͤngſt ans Collegium wegen ſei-
nes bekannten Dienſteifers, der ein ander
Ding als Dienſtverſtand iſt, gekommen,
um die Schwachen und Kranken, und zum
Theil entſchlafenen Mitglieder dieſes Colle-
giums, wieder herzuſtellen. — Seine Un-
bekanntſchaft mit ſeinem Kreiſe trug viel zu
dieſer Uebereilung bey. Bey Tiſch uͤberfiel
den Bußfertigen und Zerſchlagenen der Ge-
danke, ſein Amt in die Haͤnde der Obern zu
legen.
[499] legen. Er hatte zu leben. Aus Noth durft’
er nicht ein Zelote ſeyn, und ſich vom Dienſt-
eifer freſſen laſſen. —


Nachdem ich ſo uͤbel gerichtet, kann ich,
frug er, kann ich wohl hinfort mehr Haus-
halter ſeyn? Bei dem Blicke der Unſchuld:
ſie wußten nicht, was ſie thaten! wie ward
mir Gott! kalt unter den Fuͤßen.


Der Prediger ſucht’ ihn von dieſem Ge-
danken zu entfernen; allein er blieb. Wie
kann ein Menſch, fieng er an, ſeines Bru-
ders Richter ſeyn? — Bin ich darum gerecht,
wenn ich nicht uͤber Dinge ſtrauchle und falle,
uͤber die andere ſtraucheln und fallen? Je-
der Menſch hat ſeine beſondere Welt, ſeine
beſondere Klippe, ſein ihm eigenes Fleiſch
und Blut. — Ja und Nein ſey mir genug!
Ich will nicht richten, damit ich nicht auch
gerichtet werde!


Gott, ſchrie er, der du aller Welt Rich-
ter biſt, und ſtand auf, dir! ſtehen wir, dir!
fallen wir, und brach die Haͤnde. — Gehe
nicht ins Gericht mit deinem Knecht, vor dir
iſt kein Lebendiger gerecht. Wer kann vor
dir beſtehen! wer?


Der Prediger verſichert’ ihn, nachdem
er ihn ganz um und um kennen gelernt, daß
J i 2wenn
[500] wenn je ein Mann den Namen Nathanael
verdiente, er’s waͤre. Der heutige Fall ſey
in gewiſſer Art Nathanaels Geſchichte. Er
ſagte in Beziehung auf meinen Herrn und
Meiſter, fuͤgte der Prediger hinzu, wie kann
aus Nazareth etwas Gutes kommen? Allein
Chriſtus nennt ihn dem unerachtet einen Iſ-
raeliten, in dem kein falſch iſt. —


Dies richtete den armen Rechtsgelehrten
ziemlich auf, wozu der Umſtand einen be-
traͤchtlichen Beitrag lieferte, daß Natha-
nael einer ſeiner Vornamen war.


Seine Heiterkeit war indeſſen nicht dau-
erhaft. Er konnte nicht aufhoͤren, ſich Zwei-
fel vorzuwerfen. Wenn ich ſchwiege, fuhr
er fort, wenn ich ſchwiege, wuͤrden die Steine
ſchreyen. Minens Geſchichte gieng ihm ge-
rade durch die Seele, und doch bat er ohn
End’ und Ziel, ſie ihm zu erzaͤhlen, und
das Erzaͤhlte zu wiederholen. Mein taͤgli-
ches Gebet ſoll ſeyn, ſagte der Bußfertige:
Schaf in mir Gott ein reines Herz, und gib
mir einen neuen gewiſſen Geiſt! —


Er erſuchte den Prediger ſo oft und viel,
ſein Freund zu bleiben, daß der gute Pre-
diger herzlich bewegt war. Wahrlich, wer
im-
[501] immer mit ſchand- und laſterhaften Men-
ſchen im Gemeng’ iſt, bekommt am End’ ein
Inquirentengeſicht. Er findet uͤberall arme
Suͤnder
und Suͤnderinnen, Diebe, Raͤuber
und Moͤrder. — So unter Nathanael, der
den Menſchenblick eingebuͤßet, und nur blos
dieſen Blick uͤbrig behalten hatte, den man
nicht Richterblick nennen kann. Dieſer Fah-
nenſchwung iſt ein defenſio ex officio, die ich
dem Nathanael ſchuldig bin. — Der Pre-
diger, (von dem ich dieſes alles haarklein
habe,) und Nathanael ſprachen viel von
Menſchenkenntniß. Ihr Endurtel war, der
Menſch ſoll offen ſeyn; allein er iſt unzugang-
bar. Wer die Menſchen leicht findet, hat
nicht ſie, ſondern ſich geſucht und gefunden,
wer andere richtet, beſtrafet ſeine Unart in
andern, und glaubt ſich eben dadurch weiß
gebrannt zu haben, wie die liebe Unſchuld.
— Wer hinter dem Fenſter in ſeinem ein-
ſamen Zimmer ſteht, kann alles ganz deut-
lich wahrnehmen, was auf der Straße vor-
geht, ohnerachtet er von den Leuten auf der
Straße entweder gar nicht, oder doch nicht
deutlich, geſehen wird. Es kommt mehr
Licht aus der Straße ins Zimmer, als aus
dem Zimmer in die Straße. — — —


J i 3Alle
[502]

Alle dieſe Vorſtellungen loͤſeten ſich jetzo
beim Nathanael auf, (und damit ich mit
der Erlaubniß meiner Leſer vorgreife,) er legte
wuͤrklich ſein Amt uͤber ein Kleines nieder,
und iſt nicht mehr Richter im Volke. Dies
Geſchaͤfte war ſein leztes. — Ich muß eine
Stell’ aus dem Briefe des Nathanaels an den
Prediger in L —, in dem er ihm ſeinen Er-
laß eroͤfnete, praͤnumerationsweiſe herſetzen,
ich mag wollen oder nicht.


„Ich lege mein Amt nieder, um dem
„Herrn zu dienen, und auf ebener Bahn zu
„wandeln. Es muß eine Zeit der Heiligung
„ſeyn, ein Reinigungsperiod — ein Feg-
„feuer — ein Selbſtgericht, ehe wir vor Got-
„tes Richterſtuhl treten. Dieſe meine Stund’
„iſt kommen — ich will mich ſelbſt richten —
„und den Krieg Rechtens mit mir ſelbſt an-
„ſtellen. Ein ſchoͤn Stuͤck Arbeit! — Nur
„bloß auf dieſe Weiſe ſollen fortan meine
„Vermuthungen, wenn ſie nicht zu Gunſten
„meines Herzens ausfallen, zu Tagefahrten
„und Protokollen Gelegenheit geben.„


„In dieſem einzigen Fall kann Riemand
„zu ſtrenge ſeyn; allein um andere zu rich-
„ten, wahrlich Niemand gelind genug —
„ich
[503] „ich beſitze nicht Richterkaͤlte, nicht Entſchei-
„dungsfaͤhigkeit.„


Wenn ihn der Prediger nicht an den Be-
richt und an den Amtswachmeiſter erinnert
haͤtte; er haͤtte weder Bericht erſtattet, noch
den Amtswachmeiſter mitgenommen, der
ſchon uͤber ſeine Diaͤten getrunken hatte, und
den Nathanael ins Geheim, doch wegen ſei-
ner durchfahrenden Stimme, ſo daß es je-
dermann hoͤren konnte, um Loͤſegeld anſprach.
— Nathanael ließ dem Prediger alle Akten,
und bat zur Probe ſeiner Vergebung, und zum
Siegel der ihm zugeſtandenen Freundſchaft,
dieſen Bericht aufzuſetzen. Das Promemo-
ria konnt’ er ſo wenig anſehen, als Gretchen
ihn. Die Predigerin lief noch vor ihm.


Hier iſt der Bericht, oder vielmehr ſein
Inhalt; denn meine Leſer haben, wie ich
ſelbſt zu befuͤrchten anfange, ſchon zu viel Cu-
rialien geleſen.


Es wird die ſchlechte Denkungsart des
Herrn v. E. und des Herrmanns aufgedeckt,
und der Geſichtpunkt eroͤfnet, aus dem die-
ſer ganze Vorgang zu nehmen iſt.


J i 4„Die
[504]

„Die lezten Worte des Sterbenden ent-
„fernen ſchon den Begrif des unterlaufenden
„Betrugs und der Falſchheit, und was ſolte
„dieſe Sterbende, die vielleicht nur noch ſehr
„wenige Stunden in dieſer jammervollen Welt
„zu leben, und keinen Transport nach Cur-
„land, oder ſonſt eine uͤble Begegnung zu be-
„fuͤrchten hat, was ſollte dieſe Sterbende,
„welche der Tod gegen alles in Schutz genom-
„men, was ſolte ſie wohl bewegen, mit Ge-
„wiſſensbiſſen ſich auf der Reiſe zur Ewigkeit
„zu beladen, und ſich eben dadurch ihre Sterb-
„ſtunde zu erſchweren? Dagegen decken die
„angegebene Maͤngel des Protokolls und der
„Vorſtellung, die v. E. eingebracht, uͤberall
„und beſonders an denen unterthaͤnigſt be-
„zeichneten Stellen, eine ſchlechte Abſicht auf.
„Ew. Koͤniglichen Majeſtaͤt kann ich auf mei-
„nen Amtseyd und bey meinem Seelenheil
„verſichern, daß ich den Eindruck, den der
„Anblick dieſer Sterbenden auf mich gemacht,
„nie verlieren werde, und wie kann eine Per-
„ſon, die mit ſo erhabener Faſſung, und der
„Selenruh einer Maͤrtyrinn, dieſe Welt ver-
„laͤßt, ſich ſolcher Laſter, als ihr angedichtet
„worden, ſchuldig wiſſen? Der Prediger —
„— hat ſich verbindlich gemacht, ſo gleich
wenn
[505] „wenn dieſe Unſchuldige im Herrn entſchlaͤft,
„ihren Tod Ew. Koͤniglichen Majeſtaͤt einzu-
„berichten„
„ich erſterbe in tiefſter Treue„
„Ew. Koͤniglichen Majeſtaͤt„
„allerunterthaͤnigſter Knecht„
‚Nathanael — —„


Meine Leſer wiſſen ſchon, daß Mine die-
ſen Vorfall zu uͤberleben außer Stande war.
Vielleicht waͤre ſie mit der Zeit ſo ſtark gewor-
den, mich noch in dieſer Welt zu ſehen, o
waͤre ſie’s doch! Gott waͤre ſie’s doch! Jetzt
war hiezu keine Ausſicht. — Sie ſelbſt ſagte
zum Prediger, ehe dieſer Vorfall ſich vollends
zu Grunde richtete, was meynen Sie, werd’
ich nicht bald ſtark genug ſeyn, Alexandern
zu ſehen, nur ihn zu ſehen — in dieſer
Welt — und dann! dann! laß mich in Frie-
den fahren! ich habe genug! Nimm Herr mei-
ne Seele! — Der Prediger trug Bedenken,
ihr die ganze Anlage des Herrn v. E. zu ent-
decken, und beſonders war er bemuͤhet, einen
Vorhang uͤber den Antheil, den Minens Va-
ter an dieſer Mordgeſchichte genommen, zu
ziehen! — Sie drang nicht weiter. — Sie
war zu ſchwach, um ihre Bitte zu wiederho-
J i 5len.
[506] len. Wiederholungen derſelben Sache ko-
ſten allen ſchwaͤchlichen Perſonen unglaublich
viel. Sie ſahe des Predigers Bedenklichkeit,
und that ihren Mund nicht auf. — Ihr gan-
zes, ganzes Leben war Duldung. Sie war
nur ein Zuͤgling fuͤr eine andere Welt. Dies
empfand ſie, wie mir der Prediger auf das
heiligſte verſichert hat, ſo ſehr, daß ſie dieſe
Welt nur wie die erſte Erde anſah, aus der
ſie verſetzt wuͤrde. „Sie war froh in Gott„
des Predigers eigene Worte,
„und ſich ſelbſt bis auf Faͤlle von der Art,

„wie der Tod ihres lezten Verwandten, und
„die Veranſtaltung zur Haft, immer gleich
„— das heiſt, Gott ergeben. Solche außer-
„ordentliche Faͤlle ſchienen ihren Geiſt in der
„Hofnung der Kuͤnftigkeit zu verſtaͤrken; al-
„lein ihren ſchwachen Koͤrper fuͤhrten ſie im
„Triumph. Ihr Geiſt war willig, das
„Fleiſch ſchwach. Die Gottesfreud’ iſt von
„Dauer, ſie iſt ſich gleich, ſie jauchzt, ſie
„lermt und kreiſcht nicht, wie die Weltfreude,
„die mit aller ihrer Luſt oft nach vier und
„zwanzig Stunden vergehet.
Wer den
„Willen Gottes thut, bleibt in Ewigkeit. —
„Faſt moͤcht’ ich ſagen, daß die Gottesfreude
„niemals im Geſicht laͤge, ſie liegt tiefer —
„und
[507] „und im Herzen. Zuweilen erhebt ſie ſich
„bis zum Aug, und das ſieht denn erſt gen
„Himmel, eh’ es um ſich herum ſieht. So
„eine Gottesfrohe war Ihre Mine. Sie
„dankte dem Herrn; denn er iſt freundlich,
„und ſeine Guͤte waͤhret ewiglich. — Freuen
„und froͤhlich muͤſſen ſeyn in Gott, die nach
„ihm fragen, und die ſein Heil lieben immer
„ſagen: hochgelobt ſey Gott! —„


Der Prediger ſetzte zu dieſem allem etwas
hinzu, worauf ihn Mine gebracht hatte;
„die viel beten, ſind nicht froh, ſie verkla-
„gen den lieben Gott bey ihm ſelbſt. Sie
„ſind ſchwach. Allein Freud’ am Herrn iſt
„unſere Staͤrke. Nehemia im achten Ca-
„pitel, im zehnten Vers.


„Mine betete wenig; ihr ganzes Herz
„war Gottes. —„


Nach einiger Erholung, die Minen ſo gar
erlaubte, wieder aufzuſtehen, erſchlich ſie den
Ort, welcher der Catharine mit zum Verdacht
Gelegenheit gegeben, um nach den Gebeinen
ihrer Verwandten zu ſehen. Es war ihr
eine Ausſicht zum Himmel. Eben kam der
Prediger, da ſie ſo voll guter Zuverſicht, ſo
voll Seelenwonne hinſah, und freute ſich
uͤber ihren heitern Blick. — Solt’ ich nicht,
ſagte
[508] ſagte Mine, und erzaͤhlte dem Prediger das,
was er ihr verſchweigen wolte, und die ganze
Abſicht des Nathanaels — mit ſamt dem
Einfluß, den ihr Vater dabey gehabt — faſt
woͤrtlich wie er da ſtand. —


Sterbende, ſagte der Paſtor, indem er
mir dieſes erzaͤhlte, haben den Geiſt der Weiſ-
ſagung. Ich hab’ in meiner lieben Gemeine
Vorfaͤlle gehabt. — Mine ſchien ſchon lange
die Gabe der Ahndungen zu beſitzen, fuhr
der Prediger fort, und ſie hatte wuͤrklich
dieſe Salbung, die nicht jedermanns Ding
iſt. —


Hier ein Auszug eines weitlaͤuftigen Ge-
ſpraͤchs, das zwiſchen dem Prediger und mir
bey dieſer Gelegenheit vorfiel. Valcat, in
quantum valere poteſt.


Ein großer Boͤſewicht iſt allemal ein tuͤch-
tiger, ſtarker, geſunder Menſch! — ein
Himmels- und Hoͤllenſtuͤrmer! — Es giebt
auch ſchwaͤchliche, feige, hinterliſtige Bu-
ben: allein dieſe erreichen nie den Grad
der Bosheitsſtaͤrke, zu dem jene faͤhig ſind.
Dieſe morden von hinten, jene von vorn.
Den Beelzebub wuͤrd’ ich ſo feſt benervt,
bruſtſtark, als den Herkules mahlen, nur —


Wenn
[506[509]]

Wenn aber tuͤchtige, ſtarke, geſunde
Leute, Menſchen Gottes werden, welch ein
Vergnuͤgen, dieſe ſtarke Geiſter, dieſe Engel
(die auch ſtark ſind,) zu ſehen. Die Tu-
gend, und ihre Tochter, die Religion, braucht
auch in ihrem Dienſt Leute fuͤr den Riß, und
Feldherren! Einen Petrus mit dem Schwert,
einen Luther mit dem Tintfaß — ſolchen
Leuten ahndet wenig oder gar nichts, und
wenn die Welt voll Teufel waͤr’, und wol-
ten ſie verſchlingen, wenn tauſend zu ihrer
Rechten fallen, und zehn tauſend zu ihrer
Linken, ſind ſie gefaßt, ſie gehen auf Loͤwen
und Ottern, und treten auf junge Loͤwen und
Drachen. Sie glauben nicht an Traͤume,
und fuͤhlen kein Ungewitter, wenn es gleich
ſchwer in der Luft liegt. Wer das Ungewit-
ter vor empfindet, kommt ſchon in die Claſſe
dieſer frommen Rieſen nicht. — Dieſe un-
beſorgte ſind ſtark genug, allem was ihnen
entgegen will, auf der Stelle ſtattlichen Wi-
derſtand zu thun, und uͤberall das Feld zu
behaupten. Den frommen guten Seelen
aber, welche ein ploͤzlicher Ueberfall gleich zu
Boden reißen wuͤrd’, iſt eine Warnung vor
einem kommenden Ungluͤck nothwendig. Die
Ahndungen ſind ihnen Wecker zur Faſſung
zur
[510] zur Geduld, zur Gottergebung. Sie ſind
Sturmgloͤckchen, die ſie zum Oelkruge brin-
gen, ihr verloͤſchendes Laͤmpchen aufzufri-
ſchen. — Dieſe Seelen ſind faſt zu ſchwaͤch-
lich fuͤr dieſe Welt, wo ſo viel Streit, Jam-
mer und Elend iſt. — Ich bin ſchon in der-
gleichen Faͤllen gewiegt, ſagte der Prediger,
der ſelbſt die Ahndungsgabe zu beſitzen glaubte,
ich konnte mich, fuhr er fort, in dieſe puͤnkt-
lich treffende Erzaͤhlung Minchens finden,
da ſie alles wuſte, warum ſolt ich laͤnger
ruͤckhalten? Dergleichen Ahndungsbegabte
pflegen ſich die Sachen nicht leichter zu ma-
chen, und ſelbſt der Zweifel, der ſie, ſie moͤ-
gen noch ſo weit in der Selbſtweiſſagung, in
der Ahndung, gediehen ſeyn, bekaͤmpft, iſt
ein Kampf, und kaͤmpfen macht Muͤhe. —


Kurz, der Prediger las Minen alles
und jedes, und auch das vor, was ich mei-
nen Leſern verkuͤrzt habe. — Gott Lob und
Dank, ſagte Mine, daß ich ſterbe! Bey
der Auſſage des Keglers, daß ſie zum Mord
angefuͤhret, und den Worten: daß ſie ſich
aus einem Mordmeſſer kein Gewiſſen
gemacht haben wuͤrde,
ſagte ſie:


Solls ja ſo ſeyn,

Daß Straf und Pein

auf
[511]
auf Suͤnden folgen muͤſſen;

Herr! fahr hier fort,

nur ſchone dort!

Ich muß Ihnen geſtehen, lieber Beicht-
vater! fuhr ſie zum Prediger fort, daß der
Vorſatz, mir ſelbſt das Leben zu nehmen, der
wieder, wie ich die Gewafnete ſahe und Ca-
tharinen hoͤrte, in mir Feuer faßte — daß
dieſer Vorſatz mir oft! oft! als etwas vor-
gekommen, das mir meine lezte Stunde er-
ſchweren koͤnnte. — Nun ſind dieſe Stiche
hin — ich habe nichts, nichts mehr, was
mich druͤckt! und ich fuͤhl’ es! Ich werde
ſelig und ruhig ſterben! und wie Alexanders
Mutter ſingt, wenn wir die Gedanken, wie
ein Licht, das hin und her wankt, bis ihm die
Flamm gebricht, vergehen; werd’ ich ſanft
und ſtill einſchlafen — ich werd ausgehen
wie ein Licht. Sagt man nicht: Er iſt aus-
gegangen, wie ein Licht? —


Gott! ſo war ihr End’ auch wuͤrklich.
Ihre Ahndung ließ ſie nicht zu Schanden
werden. Puͤnktlich traf ſie ein. — Allein
Mine blieb nicht feſt bey dieſen beruhigenden
Vermuthungen. Zuweilen ſchien es ihr ſchreck-
lich — zu ſterben, ſie nannte dies Leben einen
hellen Tag, zwiſchen zwei dunklen Naͤchten.
Nur
[512] Nur des Leibes wegen, ſetzte ſie hinzu, nenn’ ich
es ſo, meines Lebens beſſerer Theil, mein eigent-
liches Leben, geht nicht aus, ſtirbt nicht. —
Wenn dieſe Anfechtungen Minen uͤberfielen,
wie es der Prediger nannte, kam es Minen vor,
daß ihr leztes, leztes Ende vielleicht ſchreckhaft
werden koͤnnte, vielleicht ein Maͤrtyrer Tod; ſo
wie ihr Leben ein Maͤrtyrer Leben war.


Herr, fahr hier fort;
nur ſchone dort! rief ſie denn zu Gott

empor! und ihr Buſen hob die Decke, ſo
ſchlug ihr das das Herz! —


Geſchiehet das am gruͤnen Holz, was will
am duͤrren werden? ſagte der Prediger bey
dieſer Erzaͤhlung und bemerkte, daß er Minen
auf dieſe Stroph’ aus dem Liede gebracht, die
er in einer Unterredung mit ihr verloren, im
eigentlichen Verſtande, fuͤgt er hinzu, ver-
loren; denn Sie, das weiß Gott! hatte
nur mein Troſtamt noͤthig! Ich durfte nicht zu
ihr ſagen: wache auf, die du ſchlaͤfſt, und
ſteh’ auf, um noch ſo viel in dieſer Welt gut
zu machen, als du kannſt. — — Sie war
die Unſchuld ſelbſt.


Minens Troſt bey dem Gedanken, daß
ihr Ende nicht ſanft ſeyn, und daß ſie nicht
wie ein Licht ausgehen wuͤrde, war, daß auch
dies
[51[513]] dies ſein Gutes haben koͤnnte. Das Sterb-
bette iſt weit mehr, als das Grab, die Schule
der Weißheit, bemerkte der Prediger. Man
erlangt ein anſchauendes Erkenntniß, wenn
man den Todten da ſieht. Bein von meinem
Bein, Fleiſch von meinem Fleiſch. —


Sie nahm ein feyerliches Verſprechen vom
Prediger, mir ihren Tod auf das aller, aller
genanſte zu erzaͤhlen, iſt er ſchrecklich, iſt er
ſanft! wie er war! Alles! alles! Ihm! Er
braucht Lebenslehren; wenn ich ſie ihm zu-
ruͤcklaſſe, ſo werden ſie ihm, das weiß ich,
deſto werther ſeyn! —


Einen Morgen — die Sonne gieng un-
bewoͤlkt auf — war Mine ſchwaͤcher als je.
Alle Faͤſerchen verloren ihre zuſammenziehen-
de Kraft. Mine empfand dieſe Schwaͤche,
und dies bewog ſie, Gretchen ſehr zeitig zu
ſich bitten zu laſſen. Sie bat ſie um Licht,
damit ſie ihre Briefe zuſiegeln koͤnnte. Es
war das Tagebuch. Sie befahl Gretchen Gott
und ſeiner Huld und Gnade, und bat mich
tauſendmal zu gruͤßen — tauſendmal und
mir dieſes Pack, (ſie gab es ihr,) und noch
andere Sachen, zu behaͤndigen, in ſeine eigene
Haͤnde! ſagte ſie, und eine Zaͤhre floß ſanft
ihre Wangen herab. — Minens Aug’ und
Zweiter Th. K kHerz
[514] Herz brach zu gleicher Zeit. Grete konnte nie
an dieſen Herz- an dieſen Augenbruch denken,
ohne bitterlich zu weinen. — Mine erhohlte
ſich indeſſen mit dem Tage, der ſich auch er-
hohlte. Was ſie nach der Zeit ſchrieb, konnte
ſie nicht mehr verſiegeln. Sie nahm die Ver-
abredung mit Gretchen, dieſe Poſtſcripte,
gleich nach ihrem lezten Hauch, an ſich zu
nehmen, und ſie mir zu geben.


Von ihrem Begraͤbniſſe ſprach ſie wenig
oder nichts. Zuweilen aͤußerte ſie den Wunſch,
und auch dies nur beylaͤufig, unter ihren
Verwandten begraben zu werden. Mitten
unter ihnen — da hat man doch gleich Be-
kannte bey der Auferſtehung um ſich herum,
ſagte ſie!


Ich, das bat ſie ſehr, und es ward ihr
heilig verſprochen, ſolte bey ihrem Begraͤb-
niß ſeyn. Vielleicht wuͤnſcht’ er mich noch zu
ſehen! Der Arme! troͤſten Sie ihn! ich ſterbe
dem Herrn, unſerm Gott, ich ſterb’ als Alexan-
ders Freundin. Er hat mir geſchrieben, daß
er gern eine Haarlocke von mir haͤtte. Wenn
er nicht vor dem Haar einer Todten zuruͤckbebt,
kann er ſie nehmen. Gott ſey ihm gnaͤdig! —


Der Tod grub jede Stunde naͤher, um
Minen ans Herz zu kommen. Sie lebte zwar
nach
[515] nach dem dunkeln Morgen noch einige Tage;
allein es waren nur noch wenige Tropfen im
Kelch! — Sie klagte wenig uͤber Schmerzen,
was ich dulde, duld’ ich Gott. Kopfweh, Bruſt-
ſchmerz und ein ſchleichendes Fieber, waren
die Zerſtoͤrer ihres Lebens. —


An einem ſehr ſchoͤnen Morgen kam der
Prediger zu ihr. Gretchen war ſchon da. Sie
nahm den Prediger und Gretchen bey der
Hand. Dank! Dank! fuͤr alles Gute! Gott
lohn Sie, ſprach ſie ſehr leiſe — fuͤr alles,
fuͤr alles — ſie ſprach noch ſchwaͤcher, ſtam-
melte, ſchwieg, blickte ſehr ſchnell auf, ſah
Gretchen, ſah den Prediger an, hob ihr
Haupt, fiel zuruͤck, ſchloß ihre Augen und
(Gott mein Ende ſey wie ihr Ende!) ſtarb — —


So war die Ahndung der Seligen er-
fuͤllt, daß ſie des Morgens ſterben wuͤrde.
Der Tag, der letzte Tag fuͤr Minen unter der
Sonne, gieng ſchoͤn auf, und blieb, wie er
anfieng. Gretchen war außer ſich! Sie war
nicht von der Seligen zu bringen! O! der
letzte Tropfen Todesſchweiß, ſchrie ſie, wie
er da ſtarr ſteht, und der Prediger — Gott
hat abgewaſchen die Thraͤnen von ihren Au-
K k 2gen.
[516] gen. Sie iſt eingegangen zu ihres Herrn
Freude! — Mir fielen, ſagt’ er, da er mir
dieſen Sterbenslauf und den Umſtand, daß
ſie ihr Haupt gehoben, erzaͤhlte, die Wort’ ein:


Wenn dieſes anfaͤhet zu geſchehen, ſo
ſehet auf, und hebet eure Haͤupter auf,
darum daß ſich eure Erloͤſung nahet.
Die
Predigerin, als ob es ihr jemand geſagt haͤtte,
empfand, daß ein Todter in ihrem Hauſe
waͤre, und ward ſo unruhig, daß der gute
Prediger Muͤhe hatte, ihr alles auf eine fuͤr
ſie ertraͤgliche Art beyzubringen. Er, und
ſeine Tochter, konnten nicht von der Leiche
kommen! —


Gretchen nahm, um den lezten Willen
der Seligen zu erfuͤllen, ihren Brief an ſich,
die ſie neben ihr fand. Sie kuͤßte ſie, und
bat ihren Vater, ſie zu verſiegeln. — Sie
laſen beide keine Sylbe. —


Der Prediger ſchrieb an ſeinen Bruder
in Koͤnigsberg, mich zu erfragen, und mich
zu allem vorzubereiten. Er bat ihn, Sorge
zu tragen, daß ich wohlbehalten nach L —
kaͤme. Wagen, Pferde, und Vorlegpferde,
alles war von dem Teſtamentsvollſtrecker be-
forgt. Den Bruder bat er nur halb mit zu
kommen; denn er wuſte nicht, daß ich ihn
kannte
[517] kannte, und daß er in Koͤnigsberg mein
Beichtvater
waͤre, ſo wie er es in L — von
Minen
geweſen.


Ich darf, nach dieſem Umſtande, es
meinen Leſern nicht naͤher legen, daß dieſer
Bruder eben der koͤnigliche Rath, der Men-
ſchenleſer, war, mit einer ofnen, weit of-
nen Stirn, ſchwarzem Haar, und einem
Aug’, in dem man ihn zwar im Kleinen, al-
lein doch ganz ſahe, und deſſen Abendgeſell-
ſchaften aus einem Officier, einem Collegen,
einem Prediger, einem Profeſſor, und mir
beſtanden.


Der koͤnigliche Rath — hatte nicht noͤ-
thig, mich zu erfragen. Er ließ mir ſagen,
daß er gern den Abend mit mir theilen moͤchte.
Ich kam, und fand nicht den Collegen, den
Prediger und Profeſſor, ſondern blos ihn!
— Mit einer Klugheit, die ihres gleichen
nicht hat, bracht er mich auf meine Liebe,
wovon ſein Bruder ihm, wiewohl nur ge-
rade ſo viel, als ihm hoͤchſt noͤthig zu ſeinem
Auftrage war, entdeckt hatte! Ich wuſte wo
ich war. — Deutlich vermuthet’ ich aus ei-
nigen Stellen unſers Geſpraͤchs, daß der koͤ-
nigliche Rath von meiner Geſchicht’ unter-
richtet war. Das Vierteljahr, und noch
K k 3viele
[518] viele Wochen druͤber, waren laͤngſt [uͤberſchrit-
ten]
, ohne daß ich das Tagebuch erhalten.
Da ich auf alle meine Erinnerungen und
Briefe keine Sylbe erhielt, ſchlug die Ahn-
dung wie ein Blitz, bey mir ein, ohne daß
ich mir dieſe Ahndungsgabe je zu geeignet habe,
noch jetzt zueignen darf: „Mine iſt — —
— hier
„! Wo iſt ſie, theureſter Herr —
Rath, frug ich, wo? Das Feuer, womit
ich ſprach, und womit ich ihm mein Herz
voͤllig aufſchloß, erlaubte dieſem feinen ſehr
feinen Menſchenkenner, und eben ſo großen
Menſchenfreunde nicht, mir alles zu entde-
cken. Ich erfuhr nur, daß Mine in L —
bey ſeinem Bruder waͤre! daß ſie krank ge-
weſen, und daß ſie ſehr krank geweſen. Ich
wuͤrde mit — obgleich mein Bruder mich
nur ſo, als wolt’ er mich nicht gebeten,
ſagte der — Rath — allein der koͤnigliche
Dienſt —


Wie mir war, kann ich nicht ſchreiben,
ich hab’ es ſelbſt nie ausſprechen koͤnnen. —
Gleich ſo wie ich ſtand und gieng, wolt’ ich in
den Wagen. — Er verſicherte mich, daß ich
nicht noͤthig haͤtte mich zu uͤbereilen, und
daß es ſchon beſſer mit ihr waͤre. Tauſend-
mal wolt’ es mir einfallen, ſie iſt todt; al-
lein
[519] lein es wolte nur, ich ließ es nicht dazu.
Ich ſtieß dieſen Einfall mit allen Kraͤften fort
— und baͤumte mich ſo dagegen, daß ich
auch wuͤrklich nur kurz vor L — mich davon
uͤberzeugte. Wenn ich auf die Gegenſtaͤnd’
acht gehabt, welche mein Lehrer abhandelte,
wuͤrd ich freylich nicht bis kurz vor L —
ungewiß geblieben ſeyn — ich hatte, die
Wahrheit zu ſagen, nicht das Herz, auf
dieſe Gegenſtaͤnde acht zu haben. Es waren
alles Troſtgruͤnde unter fremden Namen; un-
ter ihrem eigenem taugen Troſtgruͤnd’ ohne-
dem nichts. Sie muͤſſen all’ incognito kom-
men. — Ich hatte nicht das Herz, den Fuhr-
mann eher, als kurz vor L — nach Minen
zu fragen. Hundertmal wolt’ ich, und hun-
dertmal konnt’ ich nicht. Da grif ich Herz,
und der gute Fuhrmann, dem freylich ver-
boten war, mit der Thuͤr ins Hauß zu ſtuͤr-
zen, ſagte mir eben alles, da er mir nichts
ſagte, oder nichts ſagen wolte. —


Gott! mehr konnt’ ich nicht. Der Fuhr-
mann bot mir ein Glaß Waſſer an, um die
Sache gut zu machen: allein ich hatt’ es
nicht noͤthig. — Iſts Betaͤubung, oder was
iſt eine ſolche Staͤrke? —


K k 4Auf
[520]

Auf dem Kirchhofe, kurz vor dem Paſto-
rat, ergriffen mich Schauer auf Schauer
und ich fieng an zu zittern und zu zagen. —


Der Pfarrer und ſeine Tochter kamen mir
entgegen — ich hatte kein Wort, ich glaub’
auch keinen Ausdruck, im Vermoͤgen, wenn
es mir das Leben gekoſtet haͤtte. Der Pfar-
rer, der, wie er mich verſicherte, ſelten einen
ſo Seel und Leib geſunden Juͤngling geſehen
hatte, ſah mir alles! alles! an, — Gretchen
wuſte nicht, was ſie denken ſollte. Todt! fieng
ich nach einer ſchrecklichen ſtummen Scene an,
und Todt! war alles, was ich konnte. — Der
Pfarrer wuſt’ auch nicht, nachdem er mich
ſahe, womit er anfangen ſollte. Alles, worauf
er ſich vorbereitet hatte, war nicht anwendbar.
Er hatte ſich ein ander Bild, wie er mir nach-
her entdeckte, von mir gemacht. —


Todt! alles todt! ſagte ich — und hielt
mir den Kopf mit der rechten Hand. Der
Pfarrer ergrif meine Linke. Faſſung, ſagt’ er
ſo furchtſam, als wenn er zu fehlen glaubte,
als wenn er ſelbſt nicht wuſte, was er ſagen
ſolte, als wenn er ſelbſt nicht gefaſt war. Er
war es wuͤrklich nicht, der gute Mann. Gott,
der dieſer Zeit Leiden ſo einrichtet, daß wirs
koͤn-
[521] koͤnnen ertragen, ließ mich nicht lang in dieſen
ſchrecklichen, erſchrecklichen Lage, in dieſem:
Mein Gott, mein Gott, warum haſt du
mich verlaſſen!


Sie ließ ſie tauſendmal gruͤßen, ſagte
Gretchen, und dies Wort wuͤrkt’ auf meine
Empfindung, die Spannung ließ nach. —
Mein Auge bezog ſich. — O Mine! ſagt’
ich mit einem Ton, der Greten durch Mark
und Bein gieng, auch den Prediger traf er.
Sie weinten beyde — auch ich fieng an zu wei-
nen; allein heftig. Das Donnerwetter hatte
ſich noch nicht voͤllig verzogen. Es donnerte
und blitzte waͤhrend dem heftigen Regen.


Oft hab ich daruͤber gedacht, wie es zu-
gegangen, daß ich nicht ſogleich gerungen,
ſie zu ſehen. — Nun fiel es mir auf einmal
ein, wo iſt ſie? wo? fieng ich an, und da war
ſie auch ſchon in meinen Armen, an meinen
Lippen!


Gott, welche Scene! — — O Mine!
Mine! Mine! Mine! Mehr konnt’ ich
nicht, ich fiel zuruͤck. — Eine Seelenohn-
macht ergrif mich. — Der gute Prediger und
ſeine Tochter ſagten abwechſelnd: Sie iſt bey
Gott!
mehr konnte ſie auch nicht. Wir wa-
ren alle drey ſo Lebens muͤde und ſatt, daß
K k 5wir
[522] wir gern! gern allzuſammen da geſtorben waͤ-
ren. Gern, um in Minens Geſelſchaft zu ſeyn.
Gott! iſt ſie dann nicht werth, daß man ihret-
wegen ſtirbt! Sie war mir alles, fieng ich an,
und weinte. Welt! Leben! alles! ſagt’ ich,
und weinte bitterlich. —


Geliebte Leſer und Leſerinnen, habt Mit-
leiden mit mir, auch jetzt, da ich dies ſchreibe,
wein’ ich und weine bitterlich. —


Nach einer langen Weile, da ich mit ſtar-
rem Blick ſie angeſehen, ſprang ich auf und
ſchrie: ſie lebt! Noch dieſe Minute weiß ich
nicht, wie ich zu dieſem: Sie lebt! kam —
ich ſprang auf, druͤckte ſie feſt an mich, und
ſiehe da — — ich fuͤhlt’ einen warmen Othem.
— Der Prediger kam, Gretchen kam, alles
mir nach: Sie lebt! — Minchen, rief ich,
du lebſt, du lebſt! Steh’ auf von den Todten!
Erwach! erwach! Du ſchlaͤfſt nur! Mine,
Weib meiner Seele! ſieh auf! ſieh nur noch
einmal auf! nur noch ein Wort! Mine! nur
ein einziges! Der Prediger machte Proben
mit dem Othem, wie es ſchien, und das nicht
ohne die Faſſung, die eine jede Probe erfor-
dert. — Sie lebt! ſchrie er mit einer erpruͤf-
ten Gewißheit, daß ich vor Freud’ außer mir
war! Es ging ſo weit, daß wir lebendiges
Blut
[]

[figure]

[][523] Blut in ihrem Geſicht bemerkten, und froh
und froͤhlich waren. Wir haben einen Gott,
ſagte der Prediger, der da hilft, und einen
Herrn, der vom Tod errettet. —


Sie lebte nicht! — hin iſt hin — Wir
haben einen Gott, der da hilft und einen Herrn,
der vom Tode errettet. Dort lebt ſie, dort
wird ſie leben, dort! Ich werde ſie eher nicht
wiederfinden, als unter den Vollendeten Got-
tes, die zu ſeinem Reiche gekommen ſind! —
Heil denen, die kommen ſind aus großem Truͤb-
ſal, und die dort ruͤhmen koͤnnen, daß der Zeit
Leiden nicht werth ſind der Herrlichkeit, die
an ihnen offenbar worden! — —


O Gott, dieſer Lebensſtunde, wie viel
bin ich ihr nicht ſchuldig? Dies war der En-
gel, der mich ſtaͤrkte. Es war ſo, als ob
die Selige mir Troſt eingehaucht, und einen
himmliſchen Othem verliehen haͤtte. Ich fuͤhlte
mich kraͤftig, bald! bald! werd’ ich ſeyn, wo
ſie iſt, bald bey ihr ſeyn!


Durch das eingebildete Leben ward’ ich
lebendig. Sind wir Menſchen nicht beſon-
dere Geſchoͤpfe? Oft troͤſtet uns, was uns
mehr niederſchlagen ſollte! —


Wir
[524]

Wir blieben ein Paar Stunden bey der
Leiche. Der Prediger machte nun wieder
Entgegenproben! — Nachdem wir die Leiche
verließen, und der Prediger mich, nach ſei-
nem ſelbſt eigenen Ausdruck, wie umgekehrt
fand, nahm er mir ein Verſprechen ab, ihre
Huͤll, ihr Erdenkleid, nicht mehr, als
noch einmal, zu ſehen.
— Er machte dies zur
Sache Gottes, und ich verſprach — und
hielte. Gott weiß, wie ſchwer es mir ward.


Ich aß wenig, trank noch weniger. Der
Prediger glaubte, daß ich nach ſo entſetz-
lichen ſprachloſen Stunden Ruhe noͤthig
hatte. Gott ſchenk ſie ihnen, ſetzt’ er hinzu!
— Wir giengen ein jeglicher in ſein Kaͤm-
merlein, wie uͤber ein kleines jeglicher in ſein
Grab gehen wird, am Ende ſeiner Tage! —
allein welch eine Nacht! — Mein Herz
ſchlug ein andres Capitel auf. — Die Ver-
klaͤrte hatte mich ihres Ablebens wegen zuvor
mit verklaͤrt; allein jetzt fiel es mir ein! wie
kam Miene nach Preußen? Ich ungluͤcklicher!
ſo nah bey ihr! Dieſe Sandkoͤrner wurden
mir zu Bergen; ich druͤckte die Augen zu,
um dieſe Vorſtellungen zu erdruͤcken; allein
dies war eben der Weg, noch mehr zu ſe-
hen. — Ich ſah’ im eigentlichen Sinn Ge-
ſpen-
[525] ſpenſter. Anfangs fuhr ich auf, und nach-
her wimmert’ ich — ich wuſte von nichts,
was ich that. Im Bette hatt’ ich nicht
Raum, mit allen dieſen Dingen. —


Der redliche Prediger hatte ſein Kaͤmmer-
lein neben mir genommen. Anſtatt ſchlafen
zu gehen, zog er alſo eigentlich auf die Wa-
che, um, wenn es noͤthig waͤre, bey der Hand
zu ſeyn. — Der Schlaf floh auch ihn, und
es war mir beſonders, daß wir all’ im Hauſe
nicht eher eine ruhige Schlafſtunde hatten, ſo
muͤd’ und matt wir auch waren, als bis Mine
begraben war. Der Prediger meinte, daß es
ein unempfindliches Herz verrathen wuͤrde,
in einem Hauſe ſchlafen zu koͤnnen, wo ein
noch uneingeſargter Menſch laͤge. Er wenig-
ſtens haͤtt’ es, wie er ſagte, nie koͤnnen. —


Man bildet ſich ein, duͤnkt mich, zu ſter-
ben, wenn man ſo nahe bey einem Todten
einſchlafen ſolte, und fuͤrchtet ſich vor dem
Schlafe — daher die Leichenwachen, oder
aus einem andern Geſichtspunkte: man ſieht
ſich ſelbſt todt, wenn ich ſo ſagen ſoll, bei einem
mit Haͤnden zu greifenden Leichnam. Die Ae-
gyptier wuͤrden nicht bey einer Leiche haben
eſſen und trinken koͤnnen. Dafuͤr ſteh’ ich.


Wir
[526]

Wir blieben zuſammen. Der Prediger hielt
fuͤrs dienlichſte, mir die ganze Sache ſo, wie
ſie war, darzuſtellen, und in Wahrheit, das
iſt das einzige Mittel zur Beruhigung. Wenn
ein Ungluͤcklicher die Grenzen ſeines Ungluͤcks
wiſſen will, meßt ſie ihm gleich ganz und gar
zu — keinen Strich weniger, ihr macht ihn
ſonſt bey jedem neuen Zuge ungluͤcklicher —
ihr laßt ihn einen ſo vielfachen Tod ſterben,
als ihr Abſaͤtze, Ruͤckhalte, und Punkte macht;
ich ſelbſt kann zum Belage in Ruͤckſicht dieſer
Bemerkung dienen. Was der lebendige
Othem Minens geſtern Abends war, das
war die Geſchichte des Predigers heute Mor-
gens. — Gretchen kam, hoͤrte was vorgieng,
und holte mir das Depoſitum. Da hatt’
ich nun Minens Geiſt in allen Haͤnden.
Ewig werth ſind mir dieſe Papiere, wenn
ich ſterbe, ſollen ſie mein Hauptkuͤſſen im
Sarge ſeyn. — Das, ſo der Prediger be-
ſiegelt hatte, war das erſte, welches ich las.
Aus dem verſiegelten Pack wiſſen meine Le-
ſer ſchon, was mir ſchien, als koͤnnt es ih-
nen wiſſenswuͤrdig ſeyn. Vieleicht iſt ihnen
vieles nicht alſo? Verzeihung in dieſem Fall,
geneigter Leſer! Ich hab’ es oft, nie aber ſo
ſehr, als hier gefuͤhlt, wie ſchwer es ſey,
mit
[527] mit ich anzufangen. Pilatus und Herr v. E.
ſagen: was ich geſchrieben habe, das hab’
ich geſchrieben. Schade! ſonſt wuͤrd’ ichs
auch auf mich anwenden. —


Minchens lezte Schrift.
aus
Gretens Haͤnden.


Das lezte, das ich in dieſer Welt ſchrei-
be, ſey dein. Gott der Herr! der Herr! ſey
mit dir! Wenn ich ſagen wuͤrd’, ich gieng’ ohne
Wunſch aus der Welt, noch laͤnger hier zu ſeyn,
wuͤrd’ ich einen falſchen Eid vor Gottes Ge-
richt zu verantworten haben. Eng’ iſt die
Pforte, durch die ich mich drenge — allein
wenn ich durchgebrochen — ich fuͤhl’s was fuͤr
Erquickung mir entgegen wehen wird. Meine
Seele ſehnet ſich nach Ruhe, nach dem Sab-
bath —! Der Gerechten Seelen ſind in Got-
tes Hand, und keine Quaal ruͤhret ſie an. Ich
liebe dich! Ich liebe dich! Gern haͤtt’ ich dich
noch in der Welt geſehen und geſprochen —
gekuͤßt — jetzt nicht mehr, ſo gern ich dich-
ſonſt gekuͤßt habe. — Deine Hand haͤtteſt du
mir aber reichen muͤſſen! Ich war immer ſtark
an ihr — und auch nun haͤtt’ ich die Staͤrke
aus ihr herausgenommen. — Ich ſterbe dar-
um
[528] um getroſt, weil ich unſrer Liebe wegen Gott
geopfert werde, und ihm und ſeinem Gebot
ſterbe. Ich ſterb’ einen Maͤrtyrertod und fuͤhl’
es, wie weit leichter es ſeyn muß, ſo und nicht
anders zu ſterben. Zwiſchen Tod und Tod muß
ein großer Unterſchied ſeyn! Das kann ich beſ-
ſer wiſſen, wie du. — Wir werden uns wie-
derſehen, Lieber! Lieber! Lieber! Mit dieſen
Augen werd’ ich dich ſehen, mit dieſem Herzen
dich lieben, mit dieſem Herzen — wie ſchwach
iſts, ſehr ſchwach. Ich will die lezte Kraft
abwarten, das lezte Aufflackern meiner Seele.
— Ich habe meinen Geiſt in die Haͤnde Got-
tes befohlen, ſo lang ich mich noch ganz be-
ſaß. Jetzt ſterb ich allmaͤhlig! Bald vollbracht!
Ihm, dem Vater aller Barmherzigkeit und
alles Troſtes, ſey Lob und Preiß fuͤr alles! fuͤr
alles! Er ſchlaͤgt und heilt! Er verwundet und
laͤßt geneſen! Oft dacht’ ich, er haͤtte ſich von
mir gewendet. Ich rief, und er antwortete
nicht; allein er erloͤſete mich gewaltiglich aus
aller Noth! Bald vollbracht! bald! Ich dachte
ſchon nicht mehr in dieſer Welt zu ſchreiben,
denn es uͤber fiel mich ſehr ploͤzlich; allein ich
habe noch viel zu ſchreiben, wuͤrde mich der
Tod uͤbereilt haben, haͤtt’ ichs muͤndlich zuruͤck-
laſſen muͤſſen. Wie oft ich gewuͤnſcht und mich
ge-
[529] geſehnt habe, dich noch zu ſehen, weiß Gott
der Herr! Der Arzt widerrieth es, und der
liebe Prediger auch. Gottes heiliger Will iſt
geſchehen. Ich hatte mich ſchon ziemlich er-
hohlt — nicht zum Leben — nein, dich zu
ſehen, und dieſe Hofnung, eben dieſe, dieſe
Hofnung, friſchte mich zuſehens auf. — Got-
tes Gedanken ſind nicht unſre Gedanken, ſeine
Wege nicht unſre. Bald haͤtt’ ich dir wieder
erzaͤhlt, was du ſchon weißt — mein Kopf
iſt ſchwach, ſehr ſchwach. — Daß es keine
Suͤnd’ iſt dich zu lieben, kann ich am beſten
jetzt entſcheiden — jetzt, wo uͤber das ganze
Leben entſchieden wird. Es entgeht mir nicht
das mindeſte von allem! allem! allem! was
ich von Jugend an gedacht und gethan! —
uͤber alles haͤlt das Gewiſſen Gericht! — Ver-
zeihe mir, Herr, alle meine Fehler, dein harret
meine Seele! meine muͤde Seele. Du allein,
Herr! ſchenkſt den Beladenen Ruhe, Seelen-
ruhe. Dein Joch iſt ſanft, deine Laſt iſt leicht,
ſchon hier ſanft und leicht; allein noch mehr
ſanft und leicht, wenn man auf die Zukunft
ſieht. Vor Gott iſt kein Lebendiger gerecht;
allein glaub mir, mein Lieber! ich bin ruhig —
und ich bin der feſten, feſten Zuverſicht, daß,
der hier in mir angefangen hat das gute Werk,
Zweiter Th. L les
[530] es beſtaͤtigen und vollfuͤhren werde bis an den
lezten Gerichtstag! Ich lieb dich, mein Lie-
ber! Gott weiß es. Er weiß auch wie! Es iſt
eine andre Liebe, wie in — — auf dem Kirch-
hofe, mit der ich dich jetzt ſterbend liebe. Ue-
ber all’ unſre Liebe hat mich das Gewiſſen
gleich losgeſprochen, gleich ohne Umſtaͤnde —
Das kann ich dir zum Troſt ſchreiben. O Gott!
waͤr’ doch dies zureichend, dich zu troͤſten.
Wenn ich wuͤſt’ und glauben koͤnnte, daß es
dir zum groͤßern Troſt gereichet, wenn du
mich geſehen und mich geſprochen, was wuͤrd’
ich mir fuͤr Vorwuͤrfe machen! Wahrlich dann
haͤtt’ ich mich ſehr an dir verſuͤndigt — ich
glaube nicht, daß es dir troͤſtlicher geweſen
waͤre — ich glaub’ es nicht — und dieſer Ge-
danke beruhiget mich! —


Ich will, ich werd’ an dich denken, mein
Geliebter! auch in meinem lezten! allerlezten!
— Verlaß dich drauf und ſey nicht unruhig,
daß du mich und ich dich nicht noch geſehen. —
Wir werden uns doch kennen, wie ich hoffe,
daß Leib und Seel, wenn ſie gleich lange durch
Tod und Grab getrennet worden, ſich gleich
wieder kennen werden. Das wird eine Freude
ſeyn. All dieſe Freuden ſtehen mir vor, und
auch dir! O Selig ſind die Todten, die im
Herrn
[531] Herrn ſterben! — Deinen Namen, mein Ge-
liebter, will ich tauſendmal ausſprechen und
dir die kalte Hand zureichen, wenn du auch
nicht da biſt. Deinen Namen will ich mir
auch beym Scheiden vorſtammeln, ſo daß ich
noch mit der lezten Sylbe bis in den Him-
mel, bis in die andere Welt, lange. Ich
werd’, ich kann ihn nicht vergeſſen, auch wenn
ich deinen himmliſchen Namen erfahre, will
ich deinen irrdiſchen nicht vergeſſen! Ich habe
dich ſehr, ſehr geliebt, mehr als du gedacht,
mehr als ich dir geſagt hab’ und ſagen konnte.
Meine Mutter will ich dort von dir gruͤßen,
und ihr ſagen, welch ein guter edler Junge
du geweſen biſt, bis in meinen Tod — Gott
ſey mit ſeiner Gnade, mit ſeinem Segen uͤber
dir, hier zeitlich nnd dort ewiglich. Das
fuͤhl’ ich im Sterben! im Sterben, bey der
lezten Probe von dem, was gut iſt, und
was es nicht iſt! Das fuͤhl ich, daß eine
Liebe, wie die unſrige, eine himmliſche Liebe
ſey. Sie war nicht fuͤr dieſe Welt, ſie war
nicht von dieſer Welt. — Ich empfehle dich
Gott und ſeiner Gnade, der walt’ uͤber
dich — wieder ſchwach — ich lege die Feder
noch nicht weg — ich hoffe Staͤrke. Nein
— ſchwach noch immer, ſehr! ſehr ſchwach! —


L l 2Noch
[532]

Noch ſchwach, allein ſo ſehr nicht, wie
geſtern. — Gegen Abend bin ich immer
matter, ſo gehts allen Kranken. Der Pre-
diger ſagt, daß die meiſten mit dem Tage
ſterben, ſie gehen des Abends zur Ruhe. Mir
ahndet, daß ich des Morgens ſterben, und
zu meiner Ruh eingehen werde. — Wie
Gott es beſchloſſen hat. Nicht was ich will,
ſondern was Gott will. Die Stunde des
Todes iſt Gottes Sache! Ihm ſey alles
heimgeſtelt! Laß mich nur ſelig ſterben! Gott,
meine Zuverſicht, laß mich vor dir Barmher-
zigkeit im Tode finden! im Tode! So wie
das Leben iſt, ſo iſts Sterben. Bald ſchwach
— bald etwas beſſer. Ganz gut iſt’s doch
nicht hier, ſondern dort. Der liebe Paſtor,
ſeine Frau und Gretchen, ſind gute Seelen!
O lieber Gott, wie wird’s in deinem Him-
mel ſeyn, wo dir alles nach macht und ſo gut
ſeyn will, wie du’s biſt. Da kommt Gret-
chen mit ihrer Mutter — ich ſoll zu Bette
gehen. — Gott ſey mit dir! — Ich denk
immer, wenn ich zu Bette gehe, wie wirds
ſeyn, wenn ich begraben werde? wie? Der
Gerechten Seelen ſind in Gottes Hand, und
keine Quaal ruͤhret ſie an — das troͤſtet
mich!
[533] mich! Dieſer Troſt bleibt auch im Tode un-
uͤberwunden! Ich lebe dem Herrn! Ich ſterbe
dem Herrn, im Leben und Sterben bin ich
des Herrn! —


Ich habe lang mit mir geſtritten, ob ich
dir das lezte Stuͤck von meinem Tagebuch,
das mit einem großen Kreuz bezeichnet iſt,
zuruͤcklaſſen, oder ob ichs mit ins Grab neh-
men ſollte? Du weiß’ſt, daß ich dir bis an
das große Kreuz keine Klage uͤber meinen
Vater gefuͤhret habe, ich wolt’s auch jetzo
nicht — ich ſtritt lang mit mir, endlich und
endlich hielt ich mich verbunden, dir, fuͤr
den ich kein Geheimniß gehabt und haben
kann, Rechenſchaft von meinem Tode zu ge-
ben. Im Himmel haͤtt’ ich dir ohnedem ſo
was nicht erzaͤhlen koͤnnen, und niemand
weiß es, was ich weiß, und was dir dieſes
Tagebuch ſagen kann, auſſer Benjamin! und
den hof’ ich auch dort zu finden. — Lies,
und fluche meinem Vater nicht, ich hab’
ihm naͤchſt Gott mein Leben zu danken. Wuͤrd’
ich nicht in dieſer Pruͤfung gelebet haben,
koͤnnt’ ich nicht Gottes Angeſicht ſehen, und
ewig geneſen. Dort iſt mein unbeflecktes
Erbe mir aufbehalten im Himmel! Fluch’
L l 3ihm
[534] ihm nicht, meinem Vater. Denen, die Gott
lieben, muͤſſen alle Dinge zum beſten dienen.
Seine Grauſamkeit iſt meine Befoͤrderung
zur ewigen Ruhe. Mein Leib ſtirbt je laͤn-
ger je mehr, und der Geiſt, ſein Freund,
nimmt oft mehr hier an Theil, als ichs gerne
ſehe. Doch giebts Stunden, wo ich fuͤhle,
daß meine Seel’ unſterblich ſey, wo ich nicht
ſehe auf das Sichtbare, ſondern auf das Un-
ſichtbare, denn was ſichtbar iſt, iſt zeitlich,
was aber unſichtbar iſt, (o Gott hilf mir!) iſt
ewig, iſt ewig. Es iſt meiner Seel oft ſo,
als wenn man den Kirchthurm von dem Orte
ſieht, wo man hin will. Man denkt, man
ſey ſchon da! Ich habe heute mit meinem lie-
ben Paſtor wegen des Tagebuchs mit dem
Zeichen des Kreuzes
noch einmal geſpro-
chen. Er nimmt es auf ſich, dich zu allem
vorzubereiten. — Fluche meinem Vater
nicht. Fluch’ ihm nicht! —


Darf ich hier eine Einſchaltung machen;
dies Kruztagebuch lag im großen Pack. Nach
einem großen Kreuze faͤngt es an:

[figure]
Ob
[535]

Ob du je dies Blatt und die Folge die-
ſer Geſchichte leſen wirſt, weiß Gott, der
alles weiß. Ich zittere, daß meine Ahn-
dungen ſo haarklein eingetroffen ſind. Wenn
noch eine andere eintrift; ſehen wir uns
nicht eher, als in der ewigen Freud und Se-
ligkeit. Waͤrſt du nicht, lieber Junge, in
dieſer kummervollen Welt, wie gerne, wie
herzlich gerne! — im Leben und im Sterben
bin ich dein, und ewig dein! dein! dein! —


Wieder Minchens Schrift
aus
Gretchens Haͤnden.


Ein Teſtament, lieber Junge, iſt mir
von je her was feyerliches, eine Herzensluſt,
eine Seelenwonne, geweſen. Schon laͤngſt
hab ich drauf gedacht, dir eins zuruͤckzulaſſen.
Wo ich nur dazu kommen konnte, las ich
Teſtamente, und wie ſehr freut’ ich mich,
wenn ich eins geleſen hatte, daß die Leut’ oft
in ganz geſunden Tagen bedenken, daß ihr
Leben ein Ziel hat, und daß ſie davon muͤſ-
ſen. Heute will ich mein Teſtament machen.
Ein Teſtament in meinem neunzehnten Jahre!
— So winkt Gott manchem am truͤben
L l 4Abend
[536] Abend ſeines Lebens, manchem am heitern
Morgen — komm, Herr, ich bin bereit!


Im Namen Gottes.


In deine Haͤnde befehl’ ich meinen Geiſt,
treuer Gott und Herr! Wenn mein Haupt
ſich neigt, wenn mich nichts mehr erwaͤrmt,
wenn die Haͤnde ſaftlos dahin ſinken, und
der Puls, ſtatt zu ſchlagen, zittert, als ob
er ſelbſt vor dem Tod’ erſchroͤcke, ſey nicht
fern von mir, Gott meine Huͤlfe! Sey mir
nicht ſchrecklich, mein Gott! in meiner lez-
ten Noth! Ich harre dein. Laͤngſt hab’ ich
den Tod kennen gelernt; denn ich bin ſchon
viel und oft geſtorben, wenn ich aber zum
leztenmal ſterbe, o Gott, hilf mir! Wenn ich
heimfahr’ aus dieſem Elend, ſey mein Herr
und mein Gott. Amen! Amen!


Dich, herzlich Geliebter, bekenn’ ich ſter-
bend als den Meinigen! — Ich beſchwoͤre
dich, daß du uͤber meinen Tod nicht traureſt,
wie die, ſo nicht glauben eine Zuſammen-
kunft der Auserwaͤhlten zu Gottes Rechten,
und dann Freud’ und Wonn’ in Ewigkeit
vor dem Angeſicht des Herrn aller Welt! —
Ich ſetze dich zum Erben ein alles deſſen,
was ich habe. Es ſind Sachen, die du in
deinen Haͤnden gehabt; eben hiedurch haſt du
ſie
[537] ſie fuͤr mich geweihet. Nach unſerer Tren-
nung hab ich auf nichts neues gedacht. Ma-
che mit dieſen Sachen, was dich gut duͤnkt.
Ein Stuͤck gib meinem Vater zum Andenken,
wenn ers will, ich glaub’ er wird wollen,
und ein Stuͤck behalt deiner Mine zum An-
denken. Wenn eine Thraͤne auf dies dein Lieb-
lingsgewand hinabfaͤlt, (Gott laß ſie ſanft
wie Thau fallen!) haſt du genug Leid getra-
gen um deinen Todten — und hiemit nehm’
ich von dir, als meinem Mann, Abſchied. —
Ich danke dir fuͤr deine eheliche Treue, du
haſt mich herzlich geliebet. — Habe Dank,
mein Seelenmann, fuͤr alles Gute, das du
an mir gethan! fuͤr deinen treuen Unterricht!
fuͤr dein Beiſpiel! fuͤr alle, alle Proben dei-
ner Liebe! — Gott lohne dir fuͤr alles zeit-
lich! geiſtlich! und ewig! Meine Sinnen
ſind ausgetrocknet. Faſt hab’ ich keine Thraͤ-
nen mehr, um dieſe Wuͤnſche zu begleiten. —
Da quilt ein’ empor! Sie ſey dir zum Se-
gen geweint, Amen! Nun meine feyerlichſte
Bitte: mein Beſchwur! — Ich bitte dich
vor Gott und nach Gott! ich beſchwoͤre dich
bey allem, was heilig iſt im Himmel und
auf Erden, und nach dieſem hohen Schwur
— bey meinem lezten, lezten Seufzer, bey
L l 5mei-
[538] meinem lezten Todesſtoß, bey meinem lezten
warmen Hauch — dich zu ſeiner Zeit ehe-
lich zu verbinden! Gott ſegne dein Weib
und die Kinder, die ſie dir ſchenken wird!
Wir ſind geſchieden! Gott hat uns verbunden
und geſchieden; der Tod bringt uns den
Scheidebrief. Von dieſem Augenblick an,
da ich dieſes ſchreibe, biſt du nicht mehr mein
Mann! Das leztemal nenn’ ich dich meinen
Mann, o Gott, das leztemal! — und von
dieſem leztenmal biſt du nicht der Meinige,
ſondern der Mann deines kuͤnftigen Weibes.
Wenn dir ein Sohn ſtirbt, ſchreckliche Ahn-
dung! ſey er mein, in der andern Welt —
ich will mich mit ihm verbinden, wie ſich Engel
Gottes verbinden, und deine himmliſche
Schwiegertochter werden. Da kommen dir
dann und deinem kuͤnftigen Weib’ entgegen,
ich, meine Mutter, dein Sohn — und
lehren dich in der Stadt Gottes die Haͤuſer
kennen. Halleluja! Halleluja! Amen! —


Ich bat Gott um einen Engel, mit
Staͤrkung aus ſeiner Hoͤhe; er ſandte mir ſei-
nen Knecht auf Erden, die auch des Herrn
iſt. Er ließ mich eſſen aus ſeiner Hand, und
trinken aus ſeinem Becher. Es iſt bey wei-
tem nicht dein Vater; allein er iſt auch ein
treu-
[539] treuer Diener ſeines Herrn, nach der Gabe,
die er empfangen hat. Seine Tochter Gret-
chen druͤckte mir den Kopf zuſammen, wenn
er aus einander fallen wolte, eh’ es Zeit war
— und ſeine Frau, man ſagt ſie ſey ſchwer-
muͤthig; allein ich ſage, ſie iſt entzuͤckt, ſie
hoͤrt und ſagt Worte, die uͤbermenſchlich ſind.
— Sie war mir als eine Gereiſete, die zu
erzaͤhlen wuſte, wies dort zugeht. — Der
Mann ſanft, wie Johannes, den der Herr
lieb hatte! — Sie eine Hanna. —


Er hat mich getroͤſtet, da nichts mehr
Mark und Bein erquickte, da kein Trunck
mich labte, und das Waſſer ſelbſt, wies der
liebe Gott giebt, mir ſchaal ſchmeckte —
ich durſtete nach dem Waſſer des Lebens.
Bald! bald! — Zehn und mehrmal war
mir der Puls abgelaufen, ſein Troſt zog ihn, ſo
daß ichs recht merken konnt’, auf — freylich
nur auf wenige Stunden; allein glaub mir,
je naͤher am Tode, je koͤſtlicher die Zeit. Wenn
du dich dieſem Prieſterhauſe verbinden kannſt,
thu es. — Es ſind all zuſammen gute gnuͤg-
ſame Leute, die nicht aufs Sichtbare ſehen, ſon-
dern auf die Erſcheinung des Herrn warten. —


Schon oft hab’ ich gebeten, und ich wie-
derhohl’ es noch einmal, in dieſem meinem
lezten
[540] lezten Willen, meinem Vater nichts zuzurech-
nen. Vergib ihm, o Lieber! Vergib ihm,
ſo wie du wilſt, daß mir und dir Gott ver-
gebe. Kannſt du ihm helfen, hilf ihm. Meine
Flucht kann ihn vielleicht in noch ſchlechtere
Verfaſſung bringen, als er ſchon war, da
er die Schule aufgegeben hatte. — Vergib
ihm, und dem v. E. — — ſo wie ich bey-
den vergebe! — O es iſt eine ſchoͤne Sache
zu vergeben. Vergib ihnen alle Leiden, die
ſie mir gemacht, und auch dir — du kannſt
in deiner eigenen Sache nicht Richter ſeyn.
Mein Leiden und Tod trift dich zu nahe, ver-
gib allen alles — den Eßig und Gall am
Kreuz — ſie wiſſen nicht, was ſie thun!
Oft denk ich an den Tod des groͤſten Todten!
der uns ein Fuͤrbild ließ nachzufolgen ſeinen
Fußſtapfen, und dann bin ich froh uͤber die
Kriegsknechte, welche die Widdem beſetzten,
und uͤber ſo manchen Pilatus, der nur den
Leib toͤdten kann, und die Seele nicht, wor-
unter ich aber den ehrlichen Nathanael nicht
rechne; denn wahrlich er that mehr, als ſich
die Haͤnde waſchen. — Sag’ ihm, wenn
du ihn in dieſer Welt ſprichſt, daß ich ihm
von Herzen vergeben habe. Seit der Zeit,
da er mich ſchreckte, war es vollbracht! al-
les
[541] les vollbracht! Wenn mein Bruder lebt, gib
ihm den Brief, den ich deinem großen von
mir verſiegelten Pack beygelegt. Meinem
Vater gieb auch den Seinigen. Kannſt du
meinen Verwandten in Mitau foͤrderlich und
dienſtlich ſeyn; ſey es! — Gott wird dich
lohnen. Er ſegne dich mit reichlichem Se-
gen, mit mehr als einem Segen. Amen!
Ueber ein Klelnes werden wir uns nicht ſehen,
und uͤber ein Kleines werden wir uns ſehen;
ich gehe zum Vater. Dieſe Worte hat mir
der liebe Paſtor in L — — ſo eindruͤcklich
gemacht, daß ſie mich ſtaͤrken fuͤr und fuͤr.
Gruͤße deinen Vater und Muter — ich kuͤſſe
beyden die Haͤnde. Gott laß es ihnen wohl
gehen, ewig, ewig wohl! — ich bin matt,
ſehr matt! — Wenn mein Bruder mir im
Himmel zuvorgekommen iſt, denk’ an das
Grab meiner Mutter, damit es nicht ver-
falle, ſondern ein Grab bleibe; denk’ an alle
heilige Oerter, von denen ich meinem Bru-
der geſchrieben habe. Ich bin in — —
nahe am Kirchhofe in die Welt gekommen,
in L — — nah am Kirchhof’ geh ich
aus der Welt. Ich verbiete dir nicht,
an mich zu denken; allein thu es nie,
wenn du allein biſt, ſondern im Beyſeyn
der
[542] der Deinigen, damit du ſtark bleibeſt.
Amen! —


Dies iſt mein lezter Wille, den du in al-
len Stuͤcken und beſonders wegen meiner
feyerlichſten Bitte vor Gott und nach
Gott
erfuͤllen muſt, ſo wahr dir mein An-
denken lieb iſt! Nun zum leztenmal Amen;
Angefangen fruͤh Morgens, geendigt um ſie-
ben Abends den — — 17 —


Nach dieſem Teſtament, das ſie den Tag
vor ihrem Tode gemacht hatte, ſchrieb ſie nur
noch folgende Zeilen:


Sey gut — ich kann nicht mehr — Nach
dieſem Elend iſt uns bereitet ein Leben in
Ewigkeit — Heilig! heilig! heilig! iſt Gott
der Herr! — hinauf! hinauf! ich kann nicht
mehr! — aber denken, beten, ſegnen noch! —
noch — noch — Leb wohl! wohl! wohl! —


Noch ſehr unleſerlich und immer in die
Hoͤhe
ſtanden die Worte: ich bin bereit —
Komm Herr! — Schmerz — Angſt, keine —
im Himmel — lieber


Wie ſehr mich dieſe Zugabe geruͤhrt hat,
iſt unausſprechlich — Alles himmelan! Sie
iſt entgangen! Gott helf’ auch mir und allen,
die ſeine Erſcheinung lieb haben, kaͤmpfen den
guten
[543] guten Kampf des Glaubens und den Le-
benslauf
vollenden! Ihm ſey Ehre von
Ewigkeit zu Ewigkeit! —


Der Brief an ihren Vater, deſſen
ſie erwehnt:
Mein Vater!


Wenn Sie dieſen Brief leſen, hat ihre
Tochter alles geendiget, alles! — Sie hat
ausgerungen, ausgekaͤmpft — uͤberwunden.
Ihr iſt wohl, ewig wohl! Sie iſt bey ihrer
Mutter in der ewgen Freud’ und Seligkeit,
verklaͤrt! und herrlich! Halleluja! — Ich
mache dem Herrn v. E. keine Vorwuͤrfe, und
habe meinen Geliebten gebeten, auch keine zu
machen, ſondern ihm alles zu verzeihen, ſo wie
ich alles dem Herrn v. E. verziehen habe, und
jetzt mit ſterbender Hand verzeihe. Wenn
ihn mein Tod auf den Gedanken bringt,
daß die verfolgte unterdruͤckte Tugend den
großen Vorzug habe, ſterben zu koͤnnen,
(wahrlich ein großer Vorzug!) ſo wird er
einſehen, daß ſie uͤber alle Gewalt erhaben
ſey, und ſie eben darum vielleicht hochſchaͤt-
zen lernen. — Moͤcht’ er es doch! —


Ihnen, mein Vater, wuͤnſche ich Gottes
Gnad und Segen. Es gehe Ihnen wohl, ſehr
wohl!
[544] wohl! Unſer Leben iſt kurz. Sie ſind aͤlter,
als ich. — Was iſt doch die ganze, ganze Welt,
wenns zum Sterben geht! — Solt’ es Ihnen
in dieſer Welt noch fehlen, ſehen Sie meinen
Geliebten, als ihren Freund, an, der ſie nicht
verlaſſen, noch verſaͤumen wird. Ich empfehle
mich Ihrem Andenken. Meine Mutter werd
ich von Ihnen gruͤßen, und wie froh werd’ ich
ſeyn, Sie, mein Vater, einſt dort wieder zu
finden, und meiner Mutter dieſe feſte Hof-
nung zu geben. Es wird ihr, das weiß ich,
eine große Freude ſeyn. Leben Sie wohl! Le-
ben Sie wohl! — — ewig wohl! — —


Der Brief an ihren Bruder Benjamin iſt
eine Wiederholung Ihres von ihm genomme-
nen Abſchiedes, da ſie in — — ſich ſchieden,
und der Uebergab’ und Einweiſung in Ruͤck-
ſicht aller heiligen Oerter, unter denen das
Grab ihrer Mutter das vornehmſte war. So-
dann die Eroͤfnung, daß ſie mich auf ſeinen
Todesfall in dieſer Aufſicht ſubſtituirt haͤtte,
und auch im Leben ſchreibt ſie, wird er dich
unterſtuͤtzen. Er ließt dieſen Brief, den ich
ihm offen laſſe. —


Ich lernte die Predigerin den Tag nach
meiner Ankunft kennen, ihn, glaub’ ich, ken-
nen meine Leſer ohne meine Nachhuͤlfe. Er
war
[545] war ein ehrlicher Mann, und wolte nichts
mehr, allein auch nicht weniger, als ein Pre-
diger ſeyn. Seine Stelle war nicht die vorzuͤg-
lichſte; indeſſen warf ſie ſo viel ab, daß er le-
ben konnte, mehr, ſagt’ er, bedarf ich nicht.
Er hatte zwey Soͤhne, welche der koͤnigliche
Rath als die Seinigen in Koͤnigsberg erzog.
Gretchens Bruͤder giengen in eine der beſten
Schulen, ſie ſolten beyde Geiſtliche werden.
Unſer Prediger war kein Kipper und Wipper.
Er verfaͤlſcht’ und beſchnitte nichts, ſondern
ließ alles, wie es war, unumgeſchmolzen beym
alten Schroot und Korn. — Die Bibel, ſagt
er, iſt an ſich ſchon eine lautere und vernuͤnf-
tige Milch. Wer die Bibel anders, als aus der
Bibel erklaͤrt, iſt ein Miethling. — Schon
ſeit fuͤnf Jahren hat er an einem Werk uͤber
die Suͤnde wider den heiligen Geiſt
gear-
beitet, woran er mich nach Minens Begraͤbniß
naͤhern Theil nehmen ließ. Er wolte ſeinem
Bruder eine unvermuthete Freude machen und
ihm dieſe Schrift zueignen. So weit ich den
Bruder kenne, konnt ihm mit einer Zuſchrift
uͤber ein Werk von der Suͤnde wider den hei-
ligen Geiſt
nicht ſonderlich gedient ſeyn.


Seine Frau? Bey ihrer Einbildungskraft
war der Zaun gebrochen, ſagte der Prediger,
Zweiter Th. M mund
[546] und traf ſie vollſtaͤndig. Sie hatte viel Gutes,
viel Herzliches an ſich. Sie ſah’ jeden ſtarr an
und kam dem, mit welchem ſie ſprach, unge-
woͤhnlich nahe. Sie grif ihn mit ihren großen
etwas verwilderten Augen. Es ließ dieſe Pro-
phetin gleich beim erſtenmale ſo viel Zutrauen
gegen mich aus ihren Augen ſchießen, daß ſich
der Prediger und alle, die ſie kannten, daruͤber
wunderten. Sie blieb ſich die ganze Zeit uͤber
gleich, ohne tiefer in ihre Lindenkrankheit zu
fallen, die ſie indeſſen nie ganz verließ. Sie
hatt’ eine ſchleichende Lindenkrankheit, ſagte
Gretchen, wie man dergleichen Fieber hat,
das auch zuweilen in Heftigkeit ausbricht,
und nicht immer ſchleicht. —


Gretchen, ein rein und unſchuldiges Maͤd-
chen, das aus Liebe zu Minen mit dem Depu-
tatus nicht eſſen wolte. Sie hatte Verſtand;
allein ihr Verſtand lag in ihrem Herzen, oder
wenigſtens nicht weit davon. Alles, was Gret-
chen ſagt’ und that, ſagt’ und that ſie von gan-
zem Herzen —


Ich habe mit Fleiß meine Leſer und mich
von Minchens Leich’ abgezogen; allein konnt’
ich ſie laſſen? Wenn meine Leſer ſcheel uͤber
dieſen Abzug geſehen, dann! dann erſt! koͤnnt’
ich vom Gluͤck ſagen! —


Mine
[547]

Mine hatte ſich mit Gretchen am meiſten
unterhalten und Gedanken mit ihr gewechſelt.
Gretchen nahm Stunden bey Minen. Ich weiß
nicht, ob ich meinen Leſern einen Gefallen er-
weiſe, wenn ich Ihnen etwas aus einem Auf-
ſatz ausziehe, den Gretchen, wie ſie ſagte, Mi-
nen nachgeſchrieben. Nur etwas —


Ich hab mich ſehr mit mir ſelbſt geſtrit-
ten, ob ich das Leben verliere. Allein in
Wahrheit ich verliere nichts, nichts, wenn
ich auch einen Strich zwiſchen dieſer und
jener Welt ziehe. Denn hatt’ ich dies Le-
ben? Hoͤchſtens haͤtt’ ich es haben koͤnnen.
Hatt’ ich [Alexandern] den Paſtor? War ich
Frau Alexander, die Paſtorinn? Ich hab
nur Hofnung, nicht Leben eingebuͤßt —
und (wenn ich den Strich wiederloͤſche,)
dieſe Hofnung mit jener Hofnung abge-
wogen: Sterben iſt mein Gewinn, und
ſchadet mir nicht
. —


Wie wahr in jedem Munde, und wie ruͤh-
rend wahr in einem ſterbenden! — Wer neun-
zig Jahr gelebt hat, iſt im ſiebenten geſtorben,
und hat ſich hin und zuruͤckgelebt. Wer ſich
nicht mit Leben uͤberhaͤuft und zuviel auf ein-
mal gelebt hat, iſt im ſechszigſten Jahre ſtark,
wie ein Juͤngling, und kann ſelbſt noch Vater
werden, wie es oft geſchehen iſt. Im
M m 2ſieben-
[548] ſiebenzigſten Jahr’ iſt man Kind, oder faͤngt
es an zu werden. Niemand ſagt daher ſein
Alter gern, wenn er in dieſe Jahre kommt,
auch wenn er, in keiner einzigen Ruͤckſicht,
Nachtheile davon fuͤr ſich abſieht. Der Menſch
will durchaus und durchall nicht gern ein Kind
ſeyn. Alles, was um ihn lebt und ſchwebt,
kommt ſo ſchnell zur Reife; nur er allein iſt
der Spaͤtling. Er iſt ohn End’ und Ziel auf
Tertia, dann ruͤckt er freylich ſchnell fort; allein
bald ſind die Claſſen aus. Wer zwanzig Jahre
gelebt hat, iſt hundert alt worden; das kuͤnf-
tige Jahrhundert
ſagt man. Thor! wie viel
ſind nicht ſchon geweſen, was brachte das neue,
Neues? recht Neues vom Gott deiner Seel’
und der andern Welt? — —


Es muß doch bey den Menſchen groͤ-
ßere Uebel geben, als der Tod, weil ſich
viele den Tod wuͤnſchen, um dieſem und
jenem Uebel zu entkommen. Die Men-
ſchen wuͤnſchen ſelbſt ihren Lieblingen
den Tod, und freuen ſich, daß ſie durch
ihn oft einer kleinen Schmach und Schan-
de entkommen: „Gottlob, daß er, daß
„ſie todt iſt, und daß er und daß ſie nicht
„dieſes, nicht jenes erlebt haben!” Iſt
wohl eine Frage, was Alexander lieber

ge-
[549]gewuͤnſcht haͤtte, mich todt? oder mich
in buhleriſchen Armen? Wie der Arbeiter
am ſchwuͤlen Tag ſich ſehnt nach Schat-
ten, und ein Tagloͤhner, daß ſeine Arbeit
aus ſey; (Hiob das ſiebente Capitel, der
zweyte und dritte Vers,) ſo hab’ ich mich
auch geſehnt Tag und Nacht, um zu kom-
men aus großem Truͤbſal. In dieſer
Ruͤckſicht, in dieſer Ausſicht, wie gut iſt
der Tod — und was iſt er? Ein Weg uͤber
Feld
— — — Dies Leben iſt wahrlich ein Jam-
merthal. Vielleicht wickelt ſich dieſe Welt noch
anders aus, wenn ſie aͤlter wird. Vielleicht
kommt noch Gottes Reich in dieſem Leben!
Vielleicht daß die Menſchen durch ſo viel Thor-
heit kommen werden zur Wahrheit, durch ſo
viel Abweichungen zum Geſetz des Herrn. Ein
Menſch beherrſcht den andern. Schrecklich —


Der Haupttitel, den man der Seele
beylegt, iſt arm; alle Welt ſpricht, die ar-
me Seele! und woher? Iſt ſie reicher, als
der Leib? Der Leib iſt, ohne ſie, eine
Handvoll Staub und ſie iſt, ohne Leib,
eben das, was ſie mit ihm iſt
— —


Arme Seele! warum arm? Weil man
nicht weiß, wo ſie iſt? wie ſie iſt? Doch die-
ſes ſteht mit der Armuth in keinem Verhaͤlt-
M m 3niß;
[550] niß; genug, daß ſie iſt! — Sie iſt ungefehr
das im Koͤrper, was Gott der Herr im All
iſt — ungefehr — Sie iſt Gottes Bild. Sie
iſt in allem, und durch alles, und mit allem,
und in ihr leben, weben und ſind wir. Vor-
zuͤglich nennen wir ſie arm, wenn der Menſch
ſtirbt, und die Seele den Leib verloren hat.
Leute, die ſich einmal an Koͤrpern die Augen
verdorben; halten ſie fuͤr arm, fuͤr bettel-
arm: wie man in der Welt, aus dem Kleide
Armuth und Reichthum beurtheilt. Man giebt
der Seel’ ein Koͤrperchen mit, damit ſie nur
nicht ganz und gar nackt und bloß erſcheine.
Dann iſt ſie doch, denkt man, wenigſtens im
Hemde: allein warum dieſe Umſtaͤnde? Bleibt
die Seele nicht in Gottes Welt, in Gottes
Hand, wo nichts arm iſt, als was ſich dafuͤr
haͤlt? — — —


Gott der Herr arbeitet ins Große und
ins Kleine. In ihm lebt, webt und iſt al-
les! Wer nicht in ſeinem Leben einen zu-
ſammenhang findet, auch ſelbſt, wenn er
es nicht dazu anlegt, hat nicht an Gott
und nicht an ſich gedacht — — Wir koͤn-
nen nicht den Vorhang vor der Zukunft
zerreißen. Bey unſerm Tode zerreißt er,
wie beym Tode Chriſti der Vorhang vor

dem
[551]dem Allerheiligſten. Wahrlich die Zu-
kunft iſt das Allerheiligſte! Wer kann
das Triebwerk der Schoͤpfung leiten! Auf
Gott aber koͤnnen wir uns verlaſſen!


Eine ſelige Empfindung! — Der Meiſter
druͤckt ſeinem Werke ſeinen Namen ein, nicht
ohne Schaamroͤthe, wenn er ein ehrlicher Kerl
iſt, und wenn er auf die kleineren Gelegenhei-
ten zuruͤck denkt, die ihn zu dem Meiſterſtuͤcke
brachten. Darum, und nicht aus Affektation,
ſollten große Kuͤnſtler auch ihren Namen nur
ſo hin — werfen, und Gott die Ehre geben,
ihrem Obermeiſter ihre Arbeit weyhen und zu-
eignen. Wer gab ihnen Handwerkzeug und
Materie? Wer Zeit, Ort und Umſtaͤnde?
Selbſt das Formale gehoͤrt dem Obermeiſter.
Iſts denn Wunder, wenn das Werk ſo ſehr
uͤber den Stand des Kuͤnſtlers iſt, daß es laͤn-
ger lebt, wie er, und daß jedes eher darnach
greift, als nach ihm! Des Kuͤnſtlers Verdienſt
in dieſer Welt iſt ein Kunſtgrif, ein Grif nach
gutem Stof zu ſeiner Arbeit, nach einem gu-
ten Reißbrett in der Werkſtube Gottes, nach
guten Zeichnungen, die ihm die Natur dar-
reicht — — — Doch! wo gerath’ ich hin? Ich
ſolte mich begnuͤgen zu ſagen: Geſegnet iſt der
Mann, der ſich auf den Herrn verlaͤßt!


M m 4Eben
[552]

Eben hab’ ich einem Freunde im Ganzen
Mienchens Gedanken, in Gretchens Abſchrift,
vorgeleſen. Seine Aufforderung, dieſen Auf-
ſatz entweder ganz oder gar nicht mitzuthei-
len, hemmt Text und Noten. Es iſt ein beſon-
derer Gedankengang in dieſem Aufſatz. Die
Stellen, die ich herausnahm, ſind nicht genom-
men, weil ſie charakteriſtiſch waren, ſondern
weil ſie eben meinen Empfindungen, da ich
dieſes ſchrieb, accompagnirten —


Zur Beylage A. hab’ ich meinen Leſern
diejenigen Stuͤcke beſtimmt, die mein Engel
in einer ziemlich angewachſenen Sammlung
gezeichnet hatte. Dieſe Sammlung war ent-
ſtanden, wie alle Sammlungen entſtehen ſol-
ten, ohne daß man zu ſamlen dachte. Je nach-
dem Minen dies oder jenes Stuͤck gefiel,
ſchrieb ich es ihr auf — ihr. — Viele Stuͤcke
ſind aus der lettiſchen Garbe meines Vaters,
die aus lauter curſchen zaͤrtlichen Liedlein be-
ſtehet, die ich halb und halb oͤffentlich mitzu-
theilen verheißen habe. Viele ſind Ueberſe-
tzungen aus andern nordiſchen Zungen und
Sprachen. Mein Vater, der gewiß Natur-
kenner war, pflegte zu ſagen, daß die mei-
ſten dieſer Stuͤcke (er hat ſie alle geleſen) er-
neu-
[553]neuert und geheiliget waͤren. Zwar gab er
ſich viele Muͤh’, alles roh, unerneuert und
ungeheiliget zu haben: allein dahin war es
nicht zu bringen. Manche Stuͤcke ſind offenbar
Kinder neuerer Zeit; alles und jedes aber iſt
Ueberſetzung. Mein Vater (dies trift die
Stuͤcke aus der Garbe) war, wie wir alle
wiſſen, vor dem Brande nicht muſikaliſch.
Die Ueberſetzung ſeiner baͤuriſch zaͤrtlichen
Liederchen iſt, wie ich ſchon im erſten Theil an-
gemerkt, nach meines Vaters Manier. Eine
freye Ueberſetzung, pflegt’ er zu ſagen, iſt
nicht hin nicht her, iſt Wein und Waſſer, wo
oft das Waſſer die Kraft des Weins erſaͤuft,
und doch, ſetzt’ er hinzu, muß die Ueberſe-
tzung frey ſeyn, in Abſicht der Sprache, in
die man uͤbertraͤgt. — Ueberhaupt ſind alle
Ueberſetzungen, die ich hier uͤberliefere, mit
Haut und Haar deutſch und ehrlich, oder,
wie ich mich an einem andern Ort heilſamer
ausgedruͤckt καρα ποδα. Wer mir aber des
Inhalts ſelbſt wegen etwas anhaben will,
und ſich gebehrdet, als thue er der Kunſt ei-
nen Dienſt dran, mag wohl bedenken, daß
Gott die Menſchen aufrichtig gemacht; al-
lein ſie ſuchen, wie es heißt, viele Kuͤnſte.
Sie vergeſſen, daß die Lerche fruͤh aufſtehe,
M m 5und
[554] und die Nachtigal lang aufſitze, (ſchon
wolt’ ich lucubrire ſchreiben) daß die See
brauſe und ſauſe, wie meine Mutter ſich
ausdruͤcken wuͤrde, und der Bach ſparſam
und wohl gar geizig wandle und handle: daß
der Nord, ſo wie die helle Sonne, das Geſicht
roth mach’ als waͤr es feurig, und ein Abend-
luͤftchen ſich blos mit den ungebundenen Haa-
ren necke. — — Da verſchlag’ ich wieder in
das Feld der Anmerkungen! Mit den lieben
Anmerkungen! Macht ſie nur, ſo viel ihr
wolt, Schriftſteller! Auch ſelbſt ihr vom goͤtt-
lichen Geſchlecht, vom heiligen Volk, vom koͤ-
niglichen Prieſterthum, vom Volk des Ei-
genthums; darum ſeyd ihr nicht geborgen.
Der Kunſtrichter findet doch ſeinen Zaun, von
dem er brechen kann; das weiß ich aus ſichrer
Hand, und wenn es auch nur eine Anmerkung
uͤber eure Anmerkung waͤre. —


Gern wuͤrde meine Wenigkeit Anmer-
ker
dieſer Art beym Brodte laſſen; allein
Euch! die ihr nicht im Vorgemach bleibet,
ſondern weiter dringt, Euch, Pfeifer und
Geiger! die ihr dieſe unſchuldige Haut und
Haargeſaͤngchen mit eurem Accompagne-
ment haben, und groß- und kleinmeiſtern
wolt
[555] wolt — wie gern, wie herzlich gern, haͤtt’ ich
Euch mit ſamt euren geſtimmten Inſtrumen-
ten aus meinem Philomelenwaͤldchen, ſo wie
ihr damals heraus muſtet, als Jairi Toͤch-
terlein zu ſich ſelbſt kommen ſolte! Gerade
ſeyd ihr in meiner Schrift, was ehemals die
Kaͤufer und Verkaͤufer im Tempel wa-
ren! —


Da eben ein Brief von einem Redlichen
im Lande! Er ſchreibt mir, (er ſchreib’ es
auch meinen Leſern,) daß man ſich an vielen
Orten den Kopf zerbreche, um die Namen
in dieſem Buch zu ergaͤnzen. Dieſer Redliche
befuͤrchtet, man wuͤrde ſich an noch mehr
als an vielen Orten die Beine brechen
,
weil man dem Lebenslaͤufer ſpornſtreichs nach-
liefe, um ihn einzuholen. — Ich fuͤr mein
Theil bedaure vorzuͤglich die Beine der
Steckbrieftraͤger oder Nachlaͤufer; an den
Koͤpfen der andern, die ſie ſich meinetwegen
zu brechen belieben, wird hoffentlich weniger
gelegen ſeyn. Warum lauft ihr, eh’ ihr ge-
jagt werdet, und ihr Kopfbrecher! warum
brecht ihr? Doch wolt ihr nicht hoͤren, ſo
moͤgt ihr fuͤhlen: wolt ihr nicht den dritten
Theil abwarten, in dem ich ganz klar und
deutlich ſagen werde wo? — —


Wie
[556]

Wie werd’ ich wieder auf Beylage A.
kommen? Ich habe bemerkt, daß Minchen
die folgende Stuͤcke in einer Sammlung ge-
zeichnet hatte
, viele ſelbſt in ihrer Krank-
heit. — Gretchen
verſicherte, dieſe Stuͤcke
haͤtten Minchen auf ihrem Lager abgekuͤhlet,
wie Fruͤchte, wenn es heiß iſt. Die nehm-
liche Freude, die mich bey den Schriftſtellen
uͤberfiel, welche in meines Vaters Hand- und
Hausbibel gezeichnet waren, die nemliche
Freude belebte mich hier. Auch bin ich der gu-
ten Zuverſicht, daß dieſe gezeichneten Stuͤcke
meinen Leſern nicht misfallen werden, waͤr’
es auch nur Minchens Zeichen wegen.


[[557]]

Beylage A.


[[558]][[559]]
[figure]

Du biſt mir treu, Hans, treu biſt du
mir! Ich weiß es, du biſt mir treu, aber ach!
das arme Kornbluͤmchen, das mir dieſe gute
Zeitung brachte, wie ſchlecht belohnt! Ich
legte mir an ein Kornbluͤmchen, ſo blau als
deine Adern, wenn du das Hemd an deinem
nervigten Arm aufgeſchoben haſt, ſo blau als
der Himmel, wenn der liebe Gott freundlich
ausſieht. — Was mich das freut, daß ichs
noch an der Wurzel ließ, das arme Kornbluͤm-
chen, ich wolt es abreißen und da waͤr es noch
aͤrger. Sieh Hanns! Ich muß es nur beich-
ten: ich riß ein Blaͤttchen und ſagt’ „Er iſt
„mir
[560] „mir treu” und das andre „Er iſt mir nicht
„treu” und wieder eins „treu” und das an-
dre „nicht treu” Das lezte war! treu treu!
Du biſt mir treu, das hat mir das Korn-
bluͤmchen zugeſchworen. Jammer und Schade,
daß die Blaͤtter abgeriſſen ſind! Schade, daß
es da im bloßen Kopf ſteht! Schoͤn, daß der
Stengel noch an der Wurzel blieb. Schoͤn,
uͤber alles ſchoͤn, daß Hans mir treu iſt!


Gottlob! Der Junker hat gefreyt und
Gret iſt mein. Gottlob! Der Herzog iſt uͤber
Land gezogen! Gret iſt mein. O Herzog!
o Junker! O Junker! o Herzog! Herzog fahr
wohl! und Junker fahr wohl! Du im frem-
den Land, und du im Brautbett. Nun moͤcht’
ich ſehen, wer mich uͤberprunken kann! Den
Hanns bey Greten! Hoͤrts weit und breit,
den moͤcht’ ich ſehn, wer dieſes kann, wer den-
ken kann „ich koͤnnt’ es wohl” auch den moͤcht’
ich ſehn, auch den noch, dem es nur getraͤumt
hat „er koͤnnt’ es.“ Wie Gras will ich ſie all
zuſammen wegmaͤhen, und wenns Baͤume ſind,
will ich einhauen, bis ſie fallen. Gret’ iſt mein.
Gottlob der Junker hat gefreyt. Gret’ iſt mein.
Gottlob! Der Herzog iſt uͤber Land gezogen.


Ach
[561]
Ach, daß ſich Gott erbarm,

nun bin, nun bin ich bettelarm!

Nicht, wie mich im erſten feſten Schlaf ein
Blitzſtral erweckte. Er ſchoß mir dicht vor-
bey, als wenn er ſich bey mir, dem Haus-
vater melden wolte. Schnell ſprang ich auf
und ſiehe da! mein Strohdach in Flammen!
Ich armer alter Mann! was konnt’ ich? was
mehr als meine Freunde und Bekannte auf-
ſchreyen, die ſo feſt ſchliefen, als ich geſchla-
fen hatte. Ich that Schrey auf Schrey und
ſeht! nicht blos meine Freunde und Bekann-
ten; nein


jedes, jung und alt,

von Ehren mannigfalt,

ſprang ſo ſchnell auf, als wenn es der Blitz
erweckt haͤtte, ſo als wenn es ihm uͤberm Kopf
brannte, und kam und loͤſchte das brennende
Strohdach meines Hauſes. Der Blitz war
ſo gut zu bedenken, daß ich alt ſey und nicht
Daͤcher mehr ſteigen koͤnne. Er ließ ſich gern
loͤſchen, des dank’ ich ihm, und noch mehr
dem lieben Gott, der den Faden in ſeiner Hand
behaͤlt, wenn er den Blitzknaͤuel auf ſeinen
Erdboden ſchießen laͤßt. Der liebe Gott kennt
den alten Peter, und wolte von ſeinem Hauſe
Zweiter Th. N nnicht
[562] nicht mehr, als eine Handvoll Stroh, treffen
laſſen. Das folgende Jahr war das Gras
Mann hoch. — War es nicht recht anzuſe-
hen, daß der liebe Gott es gut mit dem Peter
meynte?


Ach, daß ſich Gott erbarm,

nun bin, nun bin ich bettelarm!

nicht, wie die Hagelkugeln mein ſchoͤnes Korn
niederſchoſſen, das aller meiner Nachbarn Fel-
der uͤberſah. Die Leute waren neidiſch auf mich,
und mancher mag mir den Tod gewuͤnſcht ha-
ben, dieſes ſchoͤnen Korns halber, und der Tod,
dacht’ ich zu der Friſt, wird von ſelbſt kommen,
ungewuͤnſcht. Jezt komme der Tod, wenn er
will: damals haͤtt’ ich noch Luſt zu leben. Da-
mals hatt’ ich noch Weib und Kind, und das
iſt Luſt zu leben. Erſt beneidete jedes mein
wohlgewachſenes Korn, und nun beklagte
mich jedes an Ort und Stell des vorigen
Neides. Jedes wuͤnſchte mir langes Leben,
und das ſo rechtſchaffen, daß mir hundert-
mal Thraͤnen das Aug’ uͤberſchwommen.
Man ſchuͤttelte mir ſo ehrlich die Hand, daß
ſie mir alten Mann wehe that. Am Ende
fand ich, daß ich ſo viel behalten, als die,
ſo der Hagel nicht betroffen hatte.


Ach,
[563]
Ach daß ſich Gott erbarm,

nun bin, nun bin ich bettelarm,

nicht, wie mir mein Weib ſtarb, die hart
an der Kirche liegt, wo ich Weynachten, Oſtern,
Pfingſten feyre, indem ich auf ihrem Grabe
den erſten heiligen Tag knie und bete. Es
wird mir ſchwer, mir alten Mann! Zum
Gluͤck iſt das Grab hoch, und je aͤlter ich werd,
je hoͤher wird das Grab. Sie ſtarb, und
ich dacht’, ich waͤre mitten entzwey geſchnit-
ten; doch waren noch da, Tochter, Schwie-
gerſohn und mein und ihr Lieschen. Noch
ſchlaf ich in dem großen Bette, wo ich mit
der Seligen ſchlief, und wenn ich nicht alle
Woche dreymal von ihr traͤume, denk’ ich,
ich ſey undankbar, und bitte Gott und ihr
ab. Ich dacht’ ewig zu weinen! Dumm
war es von mir, daß ichs dachte, wie bald
muß ich bey Maſchen ſeyn! Drey Jahr aͤlter
als ſie, wie bald muß ich bei ihr ſeyn! O! waͤr’
ich geſtorben vor dir! liebe Maſche — vor dir!
O waͤr ich vor dir geſtorben, und du gleich nach
mir; denn wenn ich wuͤnſchen ſolte, daß du er-
lebt haͤtteſt, was ich erlebe, wuͤrd’ ich ein Boͤſe-
wicht ſeyn, und nie zu dir im Himmel kommen.


Ach daß ſich Gott erbarm,

nun bin, nun bin ich bettelarm!

N n 2nicht,
[564]

nicht, wie mir meine Tochter ſtarb, die ein-
zige, die mir mein Weib gleich das erſte Jahr
nach der Hochzeit ſchenkte. Das nenn’ ich
ein Heyrathsgut! Maſche brachte nicht Geld
nicht Gut; allein ſie brachte mir mehr, als
Geld und Gut, mehr als ein Herzogthum:
reines Herz und reinen Mund, und nach
weniger, als einem Jahre, ein Toͤchterlein
— das nenn’ ich Heyrathsgut! So was
kann nur der liebe Gott mitgeben. Es war
ein huͤbſches Kind, ihr Toͤchterlein, mein
Toͤchterlein, unſer Toͤchterlein! Wahrlich un-
ſer Toͤchterlein! Man durfte ſie nur ſehen,
halb meine Seel, halb Maſchens, halb mein
Leib, halb Maſchens. Es war ein Drittes
von uns zweyen. Als dies Maͤdchen geboh-
ren ward, war ſie weiß wie Schnee, und
hatt’ Aderchen wie Vergiß mein nicht; aber
ſie ſcheute nicht Gottes Wetter: ſo ſtrich es
ſie braun an! Weiße Scherung und brauner
Einſchlag! Allerliebſt! Geſchwind wie der
Wind lief Lottchen bey Sonn und Mond.
Nicht Hitze nicht Kaͤlte ſcheute ſie. Am lieb-
ſten brachte ſie den Leuten Eſſen aufs Feld,
und die Leute, ſo hungrig ſie waren, wußten
nicht, ob ſie eſſen, oder das Kind anſehen
ſolten. Sie aßen ohn’ Augen; die Augen
brauch-
[565] brauchten ſie, Lottchen anzuſehen. Es lag
nicht an Maſchen und mir, daß wir nicht
mehr Kinder hatten; am lieben Gott lag es,
der am beſten weiß, was jedem dient. O
du lieber Gott! Lotte ſtarb im erſten Kind-
bette. Alles weinte, nur ich konnte nicht
weinen; ſo gings mir ans Herz. Lotte
ſtarb; doch zum Troſt ließ ſie mir ein ander
Lottchen, ihr Weſen.


Ach daß ſich Gott erbarm,

nun bin, nun bin ich bettelarm!

nicht, wi [...] mein Schwiegerſohn ſtarb! Der
brave Junge. Er ward mit Lottchen erzo-
gen, und ſie waren im fuͤnften Jahr ſchon
Mann und Weib. Gern ſah ichs, daß ſie
Greger nahm, obſchon er nichts hatte. Er
war gut, das iſt mehr, als alles, wenn
man bey allem nicht gut iſt. Schoͤn war
es zu ſehn, wie ſich die junge Leutchens lieb-
ten! Haͤtten ſie ſich nicht ſo abgezehret;
wuͤrd’ ich ſie ſo bald noch nicht haben Hoch-
zeit machen laſſen. So was gieriges im Aug’
als die Leutchens zeigten, hab’ ich noch nie
geſehen — man bekam Appetit, wenn man
ihren Hunger und Durſt nach einander ſahe.
Er ſtarb vier Wochen nach ihr. Wer ihn
kannte, weint’ uͤber ſeinen Tod; ich aber
N n 3freute
[566] freute mich, da er ſtarb, und lobte Gott;
denn er ſtarb zu ſeinem Gluͤck. Ohne ſie
haͤtt er nur gethan, als lebt’ er. Er konnte
nichts mehr anfaſſen. Seine Haͤnde zitterten,
und uͤber ſeine Fuͤße fiel er, drum troͤſtete ich
mich darob, und ſagte wie der Paſtor: Der
Herr hats gegeben, der Herr hats genom-
men, der Name des Herrn ſey gelobet
!
Sie ſchlafen zuſammen in einem Grabe, und
es koſtet mir was, es dahin zu bringen, daß
ſie in ſein Sarg geleget ward. Es war ein
Bett auf zwey Perſonen. Die Leute, die ſie
handhabten, ſagten all, ſie haͤtte gelaͤchelt, und
ihre Hand waͤr’ um ihn herumgefallen, als
wenn ſie gelebt haͤtte. — Schlaft geſund, liebe
Kinderchens, und liebt euch im Himmel! —


Ach, daß ſich Gott erbarm,

nun bin, nun bin ich bettelarm!

das Toͤchterlein meiner Kinder, das ſie mir
ließen, mein Lottchen iſt todt, iſt todt, lieber
Gott, iſt todt, o ich Bettler! Lottchen iſt todt,
und ich bin es bey lebendigem Leibe. Das iſt
mehr als todt. Alles todt — alles todt — nur
ich nicht todt. Sie iſt bey ihrer Mutter, ſie iſt
bei ihrem Vater, ſie iſt bey meinem Weibe;
allein die hatten an einander genug. Was
hab denn ich? was? Seit Lottchen todt iſt,
oder
[567] oder ſeit ſie begraben iſt, (bis dahin dacht’
ich noch immer, ich haͤtt’ ſie) ſeitdem ſie be-
graben und ganz todt iſt, iſt alles todt fuͤr
mich, alles bis auf mich! Ich leider! lebe!
o ich armer Mann! ich wie Brod ohne Kruſte
ſo weich! ſo kraftlos, ſo! recht ſo bin ich —
ich armer alter Mann! Es ſtirbt nur wer le-
ben will. Habt Mitleiden mit mir im Him-
mel, ihr Seligen, und bittet den lieben Gott,
daß er mich zu ſich nehme. Mein Haus
und Hof kommt doch in fremde Haͤnd’, ich
will es wem vermachen, der Lottchen aͤhn-
lich ſieht; denn wo ſoll ichs ſonſt laſſen? Oft
freut’ ich mich darauf, Euch, meine Seli-
gen!
von Lotten neue Zeitung zu bringen,
wenn ich zu euch kaͤme, zu euch, ihr mir
verwandte Seligen! Sie iſt mir vorgelaufen.
O! wie gut iſts, wie ſehr gut, einen von
den Seinen auf dieſer Welt zu haben. Iſt
es denn nicht auch Gottes Welt? Dieſe Welt
der Leib, der Himmel die Seele. Beydes
gut. Wer wird nun vor Tiſch, wer wird
beten, damit mir das Eſſen gedeye, da Lotte
todt iſt? Wer wird mir ſo ſchoͤn, ſo laut vor-
beten, wer? wer? Wer wird mir Weib, Toch-
ter, Schwiegerſohn, wer Lotte ſelbſt ſeyn?
Lotte ſelbſt? Wer wird mir die Augen zu-
N n 4druͤcken?
[568] druͤcken? O ich armer Mann! O ich blut-
armer Mann, ich Bettler ich!


Komm, Schweſterchen, komm auf den
gruͤnen Kirchhof, da liegt mein Mutterchen,
dein Mutterchen, wir wollen ſie beſuchen
beym Mondenlicht, wenn gute Geiſter nacht-
wandeln, und wenn ſie in den Mond ſehen,
in des lieben Gottes Nachtlampchen. Viel-
leicht erſcheint ſie uns, o moͤcht ſie! vielleicht
fraͤgt ſie: was wolt ihr mein Paarchen,
was hier? Dich! ach dich! dich wollen wir,
dann kommt ſie wohl mit — und wenn ſie
nicht vom Kirchhof kann, wenn ſie nicht vom
grasgruͤnen Kirchhof will; laß uns bey ihr blei-
ben, Schweſterchen! bey ihr! Hier? o! wenn
wir nur bey dir ſind, liebes Mutterchen „was
werdet ihr eſſen? gruͤnes Kraut, das ſieht
auf dem Kirchhof uͤber und uͤber „Was trin-
ken? Seht! kein Waſſer des Lebens iſt
hier! Den Thau des Morgens, den Thau
des Abends, wollen wir trinken, und wenn
der Thau ſich des Morgens verſpaͤtet, wol-
len wir unſre Thraͤnen trinken, die wir ſo
lange weinen werden, bis das Aug’ uns
bricht, wie das Deine brach. O! wenn
wir
[569] wir nur bey dir ſind, nur bey dir, liebes
Mutterchen! wir, dein Paarchen, deine
zwey kleine Toͤchterchen, die Treuen!


Ha! du! du! die Baumſchaͤnderin!
Sprich, nein, ſchrey, ſchrey, damit der hart-
hoͤrige Wiederhall es vernehm’, und der Ge-
gend auspoſaune. Schrey! Warum zieheſt
du ſtellenweis den Baͤumen die Kleider,
das Hemd’ aus, und die Haut ab
? Die
Haut! Weiß du nicht, daß die Baͤume dann in
drey Jahren (wenns hoch kommt) ausgehen
an der Schwindſucht — und ſo langſam ſter-
ben, ſo langſam, als die Leut’ an der ſtillen
Aergerniß. Sieh her! du haſt den Baum
geaͤrgert, zu Tod geaͤrgert! und warum die
Haut? Zur Farbe! Zur Farbe? Schaͤm
dich, Baummoͤrderin! Schaͤm dich von un-
ten bis an den Hals, und dann ganz voll;
Schaͤm dich ſo, daß du von Stund an ver-
ſtummeſt! Solch ein’ Entſchuldigung! Iſt
die werth, daß ſie die Gegend durchs wahr-
haft ehrliche Echo erfahre? Traͤgt dein Vater,
du Ungerathene, traͤgt er nicht einen weißen
Schaafpelz? Der unſchuldige Mann, der
jeden Baum bey Haut und Hemd und Kleid
N n 5laͤßt
[570] laͤßt, wenn er ihn nicht in Zuͤchten und Eh-
ren braucht zu Bau oder Brand. Er weiß,
was dem Stamm gebuͤhret, der himmelan
mit ſeinem Wuchs ſtuͤrmt und groͤßer iſt, als
ein Menſch es werden kann. Schaͤm dich, du
Baummoͤrderin, ſchaͤm dich! Faͤrberin! Die
Natur verſteht das Faͤrberhandwerk beſſer,
als du. Sie weiß, was angemahlt werden
muß, die liebe Mahlerin! Zu Handſchuhen?
Sind denn deine Haͤnde nicht weiß? Warum
deine Handſchu anders? Streich die Butter
im Sommer weiß, und im Winter gelb an.
Schaͤm dich, du Naturbeſchaͤmerin, ſchaͤm
dich bis in deinen Hals — bitte den Vater,
daß er dieſen Baum bald erloͤſe von all ſeinem
Elend’, und dann bleib’ beim weißen Schaaf.
Laß dem Wacker die ſprenklichten und dem
Amtmann die ſchwarzen. Es ſind viele Felle
von Boͤcken ſprenklicht und ſchwarz. Bleib
wie dein Vater beym weißen ehrlichen Schaaf,
und das gnaͤdige Volk laß tragen Marder,
Woͤlfe, Baͤren, den Herzog Loͤwen, ſo traͤgt
alles ſein eigen Haar *).


Fritz-
[571]

Fritzchen, mein Bruder, ſtarb! o wenn!
er noch lebte! o wenn! o wenn! wenn!
Welch Lieschen hat nicht ein Fritzchen noͤ-
thig, ein Bruder Fritzchen. Fuͤr ein anderes
Fritzchen dank ich. Seliges Fritzchen! War-
um nahmſt du mich nicht mit? Warum die
Nachtigal? Warum? — Das Voͤgelchen ver-
ſchied in Fritzens Hand. Sie hatten ſich
ſehr lieb — das Voͤgelchen und Fritzchen.
Ich ſah ſie beye ſterben. Der Vogel laurte
recht auf Fritzens Seelchen, um ſich ihm an-
zudraͤngen, wie das Voͤgelchen ſich hier an
ihn anſchloß. Sie ließen nicht von einander.
Fritz ſieht mich an. Was ſiehſt du, Fritz-
chen? Was — ich weinte — ſolt ich nicht?
Still, Lieschen„ ich hoͤr es ihn noch ſa-
gen „ſtill Lieschen, bleib bei Vater und
„Mutterchen, ich finde dort auch ein Lies-
„chen, unſer Schweſterchen, dort, wo
„der liebe Gott ſeinen Himmel hat, der
„beſſer als ſeine Erd’ iſt, auch wenn Fel-
„der und Wieſen voll ſind. Hilf ihn bit-
„ten ſehr bitten, den lieben Gott, daß er
„mich in den Himmel nimmt, und auch
„mein Voͤgelchen herein laͤßt — uns beyd’
„fuͤr einen. Du biſt ein gutes Maͤdchen,

„der
[572]„der liebe Gott thut dirs gewiß zu
Gefallen
!„


Fritz ſah gen Himmel, das Nachtigaͤl-
chen auch. Fritz ſeufzete, das Voͤgelchen ſang
noch auf, und jedes neigte ſein Koͤpfchen auf
die Bruſt, und jedes ſtarb. O wenn ſie noch
lebten! Wenn Bruder Fritzchen noch lebte!
Dort leben ſie beyde, Fritzchen, auch ſein
Nachtigaͤlchen. Was kommts dem lieben Gott
auf ein Plaͤzchen fuͤr ein Nachtigaͤlchen an.


In das kleine Geſtraͤuch jenſeit des Fluſ-
ſes kam ein Sturmwind aus dem Fluſſe. Der
Fluß erſchrack und lief was er konnte. Der
Sturmwind fuhr durchs Geſtraͤuch raßlend,
wie ein vornehmer Prinz, und riß mir mei-
nen Blumenkranz vom geflochtenen Haar-
thuͤrmchen, ich grif — weg war das Kraͤnz-
chen! ich lief nach, weg — weg — wer iſt ſo ge-
ſchwind, wie der Wind? Da kam Hans, mein
Herzlieber, und Peter, der was beym Junker
gilt — bey mir gilt Peter nichts. Sie ſahen
mich im bloßen, und liefen ſuchen alle beyde.
Findet Haͤnschen den Blumenkranz, gern
nehm ich ihn und ſetz ihn auf und trag ihn,
ſo lang noch ein Blumblaͤttchen lebt und freu
mich, daß mich der Wind im bloßen gelaſſen!
Wenn
[573] Wenn Er doch faͤnde. Aus Peters Hand
nichts, rein nichts, auch nicht einen Kranz,
der mir gehoͤrt, und den ich mir zuſammen
gefluͤckt. Nichts, nichts, wenn er auch gleich
beym Junker gilt und viel gilt!


Da bin ich uͤberm Waſſer und Mutter-
chen iſt jenſeits. Es ging ſchwer ab, wie wir
Abſchied nahmen, und nun iſts mir noch ſchwe-
rer, da du jenſeit des Waſſers biſt, am ſchwer-
ſten wirds ſeyn, wenn ich dich nicht mehr ſe-
hen kann, o du liebe liebe Mutter! — Noch
— noch — noch — ſteh doch — ſteh doch nur
noch einen Augenblick. Weg iſt ſie und ich? —
O gutes Mutterchen, ich in der weiten lang
und breiten Welt, erſt bey dir, nun in der wei-
ten pfadloſen Welt. — Es muß geſchieden
ſeyn. — — Nun hoͤr’ ich dich nicht mehr be-
ten, nun ſeh ich dich nicht mehr weinen! Nun
rufſt du nicht mehr: Lieschen, wenn der Tiſch
raucht, Lieschen, wenn du reife Beeren fin-
deſt, Lieschen, wenn du eine Quelle am
ſchwuhlen Mittag’ entdeckeſt, die von der Son-
ne nicht gefunden war! Ich armes Lieschen!
Dies Wellchen kommt von mir, liebes Mut-
terchen, und bringt ein Thraͤnchen mit von mir
— von mir. Sieh’ es an, es walt zu dir,
ſey
[574] ſey ihm gut dem Wellchen, es kommt von
mir. Da bin ich, arme Wayſe! allein! ganz
allein! Mutterchen weg! alles weg! alles! —
Das Sternchen dort oben — wie es mich an-
blitzt! Willkommen! dich hab’ ich auch in
unſerm Doͤrfchen geſehen, du ſolſt Mutter-
ſternchen heißen. Es war das erſte, was ich
wieder aus unſerm Dorfe ſah. Ewig ſolſt du,
ewig Mutterchen heißen, ſo lang ich ſehen
kann, ſoll es Mutterchen heißen — Dies
Sternchen ein Spann lang vom Mond. Nenn
auch du ein Sternchen: Lieschen, nenn’ es:
Toͤchterchen, o! du gute Mutter jenſeit des
Fluſſes. — Gottlob, wieder ein Bekannter,
der Kukuk, und eine gute Freundin, die Nach-
tigal. Mutterchen, leb wohl jenſeit des Waſ-
ſers! Dich hab’ ich nicht, kein Mutterchen
hab’ ich, doch bin ich nicht mehr in der Fremd.
Ich hab’ ein Sternchen dort oben, den Nach-
bar Kukuk und die liebe Freundin, die aller-
liebſte Nachtigal.


Schilt nicht, ſtrenger Vater, daß ich bey
Hannchen geweſen! Schilt nicht, Vaterchen,
ich bitte dich, Sieh in den Stall, deinen
Liebling, den Schwarzen hab’ ich gefuttert.
Sieh! das hab’ ich ſchon ſo viel Jahre gethan,
und
[575] und das werd’ auch ſo viel Jahre thun, als
dich Gott leben laͤßt und den Schwarzen. Ich
ſtreu mit gluͤcklicher Hand die Saat, und ſchlag
das Getreyd wie ein Gewapneter. Warum
ſchilſt du? Du haſt vergeſſen was lieben heißt,
ſonſt wuͤrdeſt du wiſſen, wie mir waͤre, wenn
ich zu Hauſe bliebe. Immer wuͤnſch’ ich wenn
ich hinreit, und wenn ich wieder komme: Wenn
es doch Nebel waͤre! daß er nicht ſaͤhe, der
ſtrenge Vater: und wenn auch Nebel iſt und
wenn ichs auch noch ſo leiſe mache; was kann
ich dafuͤr, daß der Braune wiehert? und ſich
laut freut, wenn er geht, und wenn er kommt.
Alterchen, nur Sonntags reit’ ich. Gehoͤrt
denn der Sonntag dir, Vaterchen? Nur Sonn-
tags reit’ ich bey mein Maͤdchen! nicht mit
deinem Schwarzen, den ſchon’ ich, wie mein
Aug im Kopf, ich reit’ geſchwind zu Hann-
chen, und du wilſt, dein Liebling der Schwarze
ſoll ſo gehen, wie du, Alterchen, ob er
gleich nur ſechsjaͤhrig iſt. Laß mich reiten
und ſchilt nicht, ich reit nur Sonntags, ich
reit zum lieben Gott, und auf dieſem Wege
tref ich Hannchen und ihre Mutter.


Mein Vaterchen! mein Troſtchen! biſt
du vorm Thor geweſen? Da iſt glatt und
ſchluͤpf-
[576] ſchluͤpfrich, wer da geht, faͤlt ſchneller, als
auf dem blanken Spiegeleiſe. So iſts den
ganzen Sommer auch, wenn die Erde rings-
umher brennt, wie ein Backofen. Immer
glatt und ſchluͤpfrich, wie Leim, wenn er
zum Hausbau geknetet wird. Weißt du
auch, wie es glatt und ſchluͤpfrich ward,
Vaterchen, mein Vaterchen? Eben da, da,
wo es jetzt glatt und ſchluͤpfrich iſt, gab mir
Peter den Silberring, bey Mondſchein — ſo
ſchoͤn Silber, wie der Mond, ich hielt beyde
zuſammen und prahlte mich gegen den Mond.
Silber iſt Silber. Da, eben da, verlohr
ich mich ſelbſt. Meine Unſchuld, mein Le-
ben, es iſt all eins. — Der Boͤſewicht ſchwur
und fluchte, als er verfuͤhrte. Philax nimm
kein Brod von ihm, und wenn er mit friſcher
Maybutter es auch ſalbet: nimm nicht vom
Boͤſewicht, der ſpotten konnte nach der That.
Du weißt, er ſpottete auch dein, Vater! und
deiner geſprenkelten Haare. Den Ring hab
ich an der ſchluͤpfrichen Stelle vorm Thor
verworfen, verworfen vorm Thor, wo es
jetzt glatt und ſchluͤpfrich iſt. Alles war da
ſchoͤn, gruͤn und gelb, wie der Boͤſewicht
mich verfuͤhrte, aber ich weinte, Vater!
ich weinte, und weinte von Herzen
ſehr,
[577] ſehr, ach ſehr! — Gleich, Vater, iſt das
gruͤne Plaͤzchen moraͤſtig worden, ſeitdem ich
die erſte Thraͤn’ darauf fallen ließ, und ſo
glatt und ſchlipfrich, daß alles faͤllt, was
drauf geht!


Wo bleibſt du, mein Liebchen? wo?
Schreyen darf ich nicht, ſonſt moͤcht’ es meine
Mutter hoͤren, die mich zu Greten zwingen
will, weil ihre Eltern Acker haben, und du nur
geſunde Haͤnde. Nur! das ſey Gott geklagt
Nur zu ſagen, wenn man von geſunden Haͤn-
den ſpricht. Schreyen darf ich nicht — allein ich
rufe: Liebchen! Liebchen! ſo wie ein Zeiſig:
Liebchen, Liebchen! wo bleibſt du, mein Lieb-
chen? wo bleibſt du, wo? Schreyen darf ich
nicht, aber der ſchoͤne Abend liſpelt ers dir nicht
ins Ohr, daß ich warte, daß ich nach dir ſeh,
und nach dir laufe? — Ha! da kommt ſie!
Nein, ein Stieglizchen, leicht — leicht, wie
du, mein Liebchen — wo bleibſt du? wo
bleibſt du, Hannchen? Haſt du ihn abgeſchickt?
Voͤgelchen — weg iſt er. — Er kam nicht
von dir, waͤr’ er nicht ſonſt geblieben? Schrey-
en darf ich nicht, aber — hoͤrſt du nicht, hoͤrſt
du nicht, Liebchen, hoͤrſt du nicht die Nachti-
gal, ſie ruft ihr Siechen, und ruft dich mit.
Zweiter Th. O oDie
[578] Die Nachtigal kann lauter ſeyn, als ich, denn
ſie hat keine Mutter zu fuͤrchten, und keine
Grete, ich darf nicht ſchreyen, aber du wirſt
doch wohl ſo eine deutliche Ausred, als die
Nachtigalſche verſtehen? Wo bleibſt du, mein
Hannchen, wo? All Augenblick denk’ ich, da!
da iſt ſie! und immer iſt ein Voͤgelchen, eins
ſchoͤner als das andre — keins ſo ſchoͤn, wie du.
Wenn du nicht mich, nicht den Abend, nicht die
Nachtigal hoͤren kannſt; o! wenn du taub uͤber
taub biſt, hoͤr’ den lieben Gott, du haſt mir ver-
ſprochen zu kommen, und kommſt nicht. Weißt
du auch, daß wir auf die Nacht Ungewitter
haben? wo bleibſt du, wo? Hanne? wo?


Warum weinſt du, Schwaͤgerin, du haſt
einen Mann verloren; allein er hat dir
drey zuruͤckgelaſſen. Drey Soͤhne, drey ge-
ſunde ſtarke Jungens, die dich auf ihren Haͤn-
den tragen, drey brave Jungens, die was
tragen koͤnnen. Goͤnn’ ihm die Ruhe, ſeine
Krankheit ließ ihn nicht viel ſchlafen, da er
aͤlter war, und in der Jugend ließ es die Ar-
beit nicht. Er hat in dieſer Welt nicht viel
geſchlafen. Goͤnn’ ihm den tiefen, ſuͤſſen
Schlaf, du haſt drey Soͤhne, laß ihn aus-
ſchlafen, Schwaͤgerin, weine nicht!


Was
[579]

Was weint ihr, Kinder? Ihr habt nur
einen Theil verloren, und einen Theil habt
ihr noch. Eine gute Mutter — wiſcht ihr
die Thraͤnen. Pflegt ſie, damit ſie nicht auch
krank werde, wie er war, und ihr es nicht
am Ende ſelbſt von Gott bitten muͤßt: ach,
wenn ſie doch nur ſtuͤrbe! wer kann ſie ringen
ſehn? wer? wer kann ſie wimmern hoͤren?
Ach wenn ſie doch nur ſtuͤrbe! Dann muͤßtet
ihr weinen, wenn ihr daran Schuld haͤttet,
daß ihr ſo beten muͤßtet; jetzt weint nicht!


Mich! mich laßt weinen, lieben Leut-
lein! laßt mich! mich! laßt weinen! Ich
hab meinen Bruder verloren, den einzigen,
den ich hatte, und was hab’ ich von ihm be-
halten? Zwar auch was, aber was? Einen
Baum am vaͤterlichen Hauſe, den unſer gute
Vater an dem Tage pflanzte, da unſre Mut-
ter zu ihm ſagte: es geht unter meinem Her-
zen auf. Der Vater pflanzte den Baum, und
Caſpar und der Baum waren Jahreskinder.
Der Vater nannte ſie beyde Caſpar, den Sohn
Caſpar, den Baum Caſpar. Der Baum
ſteht und bluͤht und iſt immer Kerngeſund.
Sein Milchbruder todt! Das iſt nicht troͤſt-
lich, aͤrgerlich iſts! Der Baum Caſpar ſteht,
der Bruder Caſper ſtirbt; aber auch ich finde
O o 2mich
[580] mich drinn, und ſolt’ ich nicht? Der Baum
lebte nur im Sommer, und Bruder Caſper
lebt’ auch im Winter. Zwar ſchlaͤft der
Menſch: doch lebt er drum nicht? Ich moͤcht’
einen Traum nicht um drey Tage hingeben,
und der Baum ſchlaͤft er nicht auch? Laͤßt
er ſeine Fluͤgel nicht fallen? Seine Blaͤtter
genieſſen die fuͤſſe ſanfte Ruh, und werden
durch den Sonnenſtrahl erweckt fruͤher, wie
wir. Waͤren die Baͤume im Winter, wo
die Stoͤrche ſind, wuͤrden ſie inwaͤrts aus-
ſchlagen und bluͤhen; o! denn waͤr’ es was an-
ders! Iſt aber im Winter der Wald nicht
eine Einoͤde bis auf die Tannen, die nicht aus
den Kleidern kommen? Da ſtehen ſie, wie
Trabanten, in voller Pracht und Herrlichkeit,
wie eine gruͤne rußiſche Wache um den Re-
genten, ſo ſtehen die Tannen um die Eiche
herum — und Bruder Caſpar! war er nicht
ein Menſch? Das iſt vielmehr, als ein gan-
zer Wald voll Eichen und Tannen. Der Baum
iſt Baum und bleibt Baum. Bruder Caſpar
iſt ein Engel worden. Baum Caſpar iſt Baum
und bleibt Baum. Sey ruhig, lieber Baum,
ich werde dich nicht toͤdten! Ihr, die ihr die
Hand nach ihm ausreckt, laßt ihn, wenn er
auch noch ſo alt und wohl betagt iſt, oben
eine
[581] eine Glatze bekommt und blaͤtterlos wird. —
Laßt ihn, er iſt mit mir verwandt. Er heißt
Caſpar. Und wenn ich mit dem rechten
Caſpar im Himmel zuſammen komme, will
ich es ſeinem Milchbruder erzaͤhlen, daß der
Baum noch vor dem vaͤterlichen Hauſe ſtehe.
Ich weine nicht mehr *).


Der Krieger iſt gefallen, doch fiel er?
Nein, er ſank. Wer faͤlt, hat das Herz ver-
loren, und man braucht das Herz bis auf den
lezten Lebenshauch. Er ſank! Allmaͤhlig kam
er zur Erde. Hoͤrt es, Krieger, die mit ihm
lebtet und nach ihm leben werdet. Nicht
der Feind, nicht der Feind, ſondern der Tod
hat ihn uͤbermannt. Unſer Held hatte den
lezten Schlag. Den Krieger ſchlug er, der
ihm den Todesſchlag gab, und der fiel, aber
unſer Held nicht. Unſer — ſank. Die
Sonne geht allmaͤhlig unter. Seht ihn,
wie langſam er ſich zum Staube neigt. Zum
Staube, ein Held. Kommt! Kommt! Laßt
uns unter ſein ſchwindelndes Haupt einen
O o 3bemo-
[582] bemoſten Stein legen. Solch ein Kopfkuͤſ-
ſen geziemt ihm. Kommt, laßt uns ſeinen
Leib auf eine ſchoͤne Wieſe tragen, und den
Blutstropfen nicht auswaſchen, der auf un-
ſer Kleid faͤlt. Es iſt edles Blut. Der
Staub ſoll ſich nicht drinn betrinken. Du,
grasreiche Wieſe! Lager fuͤr Helden! Du
verſtehſt dieſen Trank, du traͤgſt Blumen fuͤr
Helden, womit ſie bekraͤnzet werden, wenn
ſie den Frieden auf ſchwarz gewordenen Haͤn-
den heimtragen. — Er richtet ſich auf!
Kein Ach! Das kann kein Held ausſprechen!
Was iſts dann, was? Seine Zung’ iſt ge-
laͤhmt, er kann nicht mehr, er wolte — —
Sieg. Krieger! Die Deinen haben geſiegt:
ha! wie er laͤchelt! Seht ihn, den Großen!
Eh’ euch Engel verdraͤngen, denn die muͤſſen
zu ſolch einem Anblick herabſtuͤrzen, ſie ha-
ben ſolcher nicht viel. Sieg! Held! Sieg!
Gott, ſo ein leichtes Wort kann er nicht mehr
ausſprechen. Gern wolt’ ers! aber hoͤren
kann ers! Schreyt, Bruͤder: Sieg! Sieg!
Er laͤchelt wieder und — ſtirbt. O gluͤckli-
cher Halm! O gluͤcklichſter, auf den der
lezte Tropfen fiel, auf den er noch warmes
Blut thaute! Wie ſchnell wirſt du wachſen
und alles uͤberſehen, was rings um dich ſteht,
und
[583] und groͤſſer zu werden droht! — O gluͤck-
liche Maͤnner, auf die noch der lezte Stral
aus ſeinen Augen ſchoß. Wir haͤtten die
Altarlichter dran anzuͤnden koͤnnen, ſo feurig!
Er ſtirbt — ich wolte weiter ſingen; kann
ich? kann ich mehr? Er ſtirbt! er ſtirbt!
iſt alles was ich ſagen werde, bis auch ich
ſterbe. Das erſt und lezte vom Menſchen
iſt das beſte! Ich habe viel geſehen! ſah’
ihn, wie er gebohren ward, ſah, wie er ſtarb!
Ich hab’ ihn ganz! Er laͤchelte, wie er zur
Welt kam; allein er lag ſo ſchoͤn nicht, als
jetzt, da er ſtarb. Wie ſchoͤn er da todt iſt!
So todt ſind nur wenige; denn ſonſt wuͤrd’
es nicht ſchwer ſeyn zu ſterben.


Du haſt geſiegt, Held! Du haſt den
Feind uͤberwunden, und zween Tode, zween
Tode ſtarbſt du, ohn zu ſterben; dem drit-
ten mußteſt du nachgeben. Du warſt matt! —
Iſts Wunder?


Goͤnnt der heiligen Stelle die Ehre, daß
er noch laͤnger darauf liege. Sie iſt warm
durch ihn worden. Laßt ſie auch kalt durch
ihn werden. Der warme Tag iſt ſchoͤn, der
kuͤhle Abend auch, und dann ſcharrt ihn nicht
ins Thal, auf jenen ſteilen Berg, wo wenige
hinauf koͤnnen, keiner der einen kurzen Othem
O o 4hat.
[584] hat. Da ſcharrt ihn auf die Spitze, damit
er den Berg noch groͤßer mache. Er war
Berg im Leben, und nicht Thal, und muß
bey ſeines Gleichen im Tode —


Wie! du willſt ihm die Augen zudruͤcken?
Laß ſie ſtarr; wie ſie ſind! Laß ſie, Freund!
Die Sonne bleibt Sonne, wenn ſie gleich
verfinſtert iſt, und auch ein Viertel vom Mond
iſt Mond. Laß ſie ſo ſtarr, wie ſie da ſind.
Ihre Seel’ iſt weg; allein ſie haben noch
was, das viele Augen mit Seelen nicht ha-
ben. Es wohnt’ eine große Seel’ in ihnen,
und das ſieht man jedem Hauſ’ an, wenn
ſchon der, welcher es baute, lang todt iſt.
Aendre nichts — was die Natur will, ſey
auch dein Wille. Wilſt du was thun, ſetz
oben uͤber ſein Grab ein Kreuz, das iſt das
groͤßte Zeichen, was mir bekannt iſt, eine
Krone hat auch ein Pfau! Mache dies Kreuz
groß, damit es in der See geſehen werde und
Schiffe, die ſich verirren, dies Kreuz als Weg-
weiſer ehren, und ſich freuen, wenn ſie es ſehen.


Leb wohl, Streiter! Erzaͤhle den Gei-
ſtern des Himmels, die nie geſtorben ſind,
daß es auch gut ſey zu ſterben, damit ſie den
Sterblichen nicht verachten, weil er ſterblich
iſt. Die Engel, die dich todt geſehen haben,
kannſt
[585] kannſt du auf mein Wort zu Zeugen rufen.
Erhabener Todter! Man achtet das Leben
nicht, wenn man dich ſiehet! O moͤchteſt du
nicht verweſen! Du ſolteſt ewig dazu dienen,
den Furchtſamen zu ſteifen, und jeden zu leh-
ren, daß nicht jeder auf gleiche Weiſe todt ſey.
Dir ſieht man es an, daß du nicht aufhoͤren
kannſt, daß du nicht aufgehoͤret haſt. Es
ſtirbt nicht jeder auf gleiche Weiſe, es lebt
nicht jeder auf gleiche Art. Stiller Mond,
dies große Grab empfehl’ ich dir! Du ſiehſt
viel, was die Sonne nicht ſieht, du biſt ein
Sonntagskind und kannſt Geſichter ſehen,
die ſonſt niemand zu ſehen verſteht. Du ſiehſt
fromme Geiſter, wenn ſie um die Graͤber der
Ihrigen wanken, die ſie noch nicht in dem wei-
ten Himmel aufgefunden haben, Du ſiehſt,
wenn ſie ſich von ungefehr treffen; und wenn
ſie den himmliſchen Bund machen „wir laſſen
uns nicht in Ewigkeit.“ — Du ſiehſt erkennt-
liche Geiſter, die ihren Ueberreſt, ihren ver-
weſenden Koͤrper, beſuchen; die Stuͤck vor
Stuͤck von ihm Abſchied nehmen, und ihn
bedauren, daß er Koͤrper war und daß er ge-
ſtorben iſt. Ruͤhrend muß es dir ſeyn, lie-
ber Mond, ruͤhrend, ſo was zu ſehen, wenn
Geiſt und Leib ſich zuſammen finden, und ſich
O o 5nicht
[586] nicht mit einander beſprechen koͤnnen: wenn
die Seel’ erkenntlich ſeyn will gegen ihren gu-
ten Freund, den Leib, und es nicht ſeyn kann!
Oft hab’ ich einen Freund auf dem Brette
geſehen, mit dem es mir faſt ſo gieng, als
dem Geiſt mit dem Erd werdenden Koͤrper! —
Da wankt der Betruͤger, der der armen Witt-
we den Acker abgrenzte. Gern moͤcht’ er ſie
mit einem dreymal groͤſſern Stuͤck entſchaͤdi-
gen. Kann er? will ſie? Noch haben ſie
ſich nicht begegnet, allein wenn auch; hat ſie
denn jetzt nicht mehr, als Er?


Hier wankt ein Geiſt, der als roher
Juͤngling ein warmbluͤtiges zu leichtglaͤubi-
ges Maͤdchen ins Verderben zog. Bald war
ihr Jammer vollendet. Sie ſtarb, ohne dem
Berraͤther Vorwuͤrfe zu machen, die Abge-
zehrte! Ihr Auge durfte nicht zugedruͤckt wer-
den, es war ſo tief geſunken, daß manns nicht
mehr ſehen konnte. Es war ein eingefallnes
Grab. Sterbend rang ſie ihre verwelkten
Haͤnde, und bat um Gnade bey Gott und den
Menſchen. Die Menſchen erhoͤrten ſie nicht.
Mit Spott und Schande ward ſie begraben:
aber jezt hat ſie ausgerungen, ihre Leiden
ſind geendigt — wenn werden die Deinigen
geendiget ſeyn? Ungluͤckſeliger! Wenn? —
Im
[587] Im Traum ſieht man alles groͤßer und naͤher
und ſo ſehen Geiſter auch! Deſto beſſer fuͤr
den Guten, deſto ſchlechter fuͤr den Boͤſen,
und fuͤr dich! Moͤrder! Ungluͤckſeliger!


Das alles, Mond, Seelenfreund, das
alles ſiehſt du, als Sonntagskind, und was
ſiehſt du nicht unter den Lebendigen? Doch
du biſt verſchwiegen, ich will es auch ſeyn
— — —


Wenn der von ſeinen ungerathenen Kin-
dern verſtoſſene Greiß die Haͤnde gen Him-
mel uͤber ſein Haupt zuſammenſchlaͤgt, und
ſich nach einem ſeligen Ende ſehnt: wenn er
laut betet: „es iſt genug, Herr! Laß mich
ruhen! Ich kann nicht mehr!“ Dann be-
ſtrale das Kreuz auf dieſem Grabe, mach’ es
ringsumher hell und klar; denn in des Grei-
ſes Augen iſt Abend worden. Es war nicht
Raum in der Herberge fuͤr mich Unterdruͤck-
ten in der Welt! Gott nimm mich in den
Himmel, wo fuͤr mich Raum iſt. So bet’
er, wenn er dies Kreuz ſieht, und ſanft und
ſelig geh’ er dann zur Ruhe! Mond! dem
frommen Pilger, der nicht mehr die Kirchen-
thuͤrme der benachbarten Stadt reichen kann,
den der Tod auf dem Feld’ uͤberraſcht, Mond!
dieſen Pilger leuchte nach Hauſe, dieſem Pil-
ger
[588] ger ſey dies Kreuz ein Kirchthurm des Him-
mels! Mond, laß es dies jenem Kreuztraͤ-
ger ſeyn und jedem Boͤſewicht ein Schreck-
bild, damit er an ſeine Bruſt ſtark klopfe,
und umkehr’ und gut werde, und endlich,
Mond, wenn unſer Land Helden braucht, laß
ſie von dieſem Grab’ ausziehen, und wenn
blutduͤrſtige Feinde wie [Heuſchrecken] uns uͤber-
fallen, dann verhuͤlle dein Haupt und drey-
mal blitz’ es um dies Grab! Da ſage dann
ein Ehrenmann im Volke: ſo wie dieſer Blitz,
ſo blinkte mit dem Schwerdte der da oben
begraben liegt, da oben, nah am Himmel,
und wie ein kalt Fieber im Fruͤhiing in die
Glieder faͤhrt, ehe mans merkt; ſo fahre Furcht
und Schrecken in die Feinde, wenn ſie das
Grab und das Kreuz druͤber im Blitze ſehen!
Das iſt anders, als ein Mondſchein! Du
biſt derſelbe, wo man ſteht und geht, weit
ausſehender Mond! Sey den Freunden des
Helden, uns, den edlen Todtengraͤbern, ſey
ein Spiegel, in dem wir das Grab und das
Ehrenzeichen druͤber immer ſehen, wir moͤgen
ſtehen und gehen, wo wir wollen, und auch in
deinem lezten Viertel! — Bitt’ ich zu viel,
ſo denke wie nah wir dieſem Grabe verwandt
ſind — auch in deinem lezten Viertel ſey dies
Grab
[589] Grab bis zur Helfte zu ſehen, bis zur Helfte! —
Genug, Freunde! Mond! Kreuz! Grab!
Das ſey unſre Loſung, bis auch wir begraben
werden im ſtillen Thal, wie es uns geziemet.
Ein kleines Graͤblein, das ſich nichts uͤber
das Thal heraus nehmen und kein Huͤgel
ſeyn darf, ſey unſer Hauß. Ein Orden, ein
Kreuz, gebuͤhret nur Helden. Wenn der
Geiſterſeher der Seelenvertraute Mond, wenn
er mit den Graͤbern der Helden fertig iſt, und
noch einen Blick uͤbrig hat; er wird ungebe-
ten mit ein Paar holden Stralen unſere Graͤ-
ber beehren, damit ein Minneſaͤnger unſer
Ruhethal bemerke, und auf unſer Grab durch
heilige Ahndung gebracht, ein Grablied auf
ſeine Geliebte ſinge, und auf ſich ſelbſt eins,
weil jene ihm ſtarb! —


Dank ſey Euch, ihr Treuen, ihr Lieben
des Helden, die er beſchuͤtzet hat! Wir ha-
ben eine heilige Pflicht erfuͤllet und Ehre ge-
geben, dem Ehre gebuͤhret und einen Hel-
den und einen Berg verbunden! — Gleich
mit gleich. — Laßt uns froh heim gehen;
denn es laͤßt nicht, wenn Helden weinen, und
wer kann einen Berg mit Thraͤnen im Aug’
anſehen, wer? Er hat uͤberwunden und iſt
mit Ehren vom dritten Tod’ uͤberwunden.
Noch
[590] Noch eine Pflicht liegt uns ob, dies Grab zu
verhehlen ſeiner Vielgetreuen. Was wir koͤn-
nen, kann ſie nicht. Sie iſt ſo ſehr ein Weib,
als er ein Mann war! Kommt, Freunde!
Sie koͤnnt’ uns uͤberraſchen, kommt! Warum
ſeht ihr euch um? Freunde, kein Held ſieht ſich
um, kommt! Wir nehmen den Mond mit.


Weh! weh! Iſts nicht ihr Silberton?
Verſteckt Euch — doch nein! Es iſt eine
Nachtigal, die auch den Geliebten verloren
hat. Solch ein Paar Stimmen, Luiſens
und der Nachtigal, ſind leicht zu verwechſeln.
Schluchze nicht, kleine Betruͤbte! Dein Ge-
liebter iſt nicht im Felde geweſen, da faͤlt nur
was vortreflich und ehrlich unter den Men-
ſchen iſt, du wirſt ihn wieder finden; allein
Luiſe nicht ihren Geliebten!


Was fuͤr ein Geſchrey? Iſts eine Taube,
die nach ihrem Gatten girrt? Iſt es ein
Kaͤuzlein, das erbaͤrmlich ſich hoͤren laͤßt?
Iſts beydes? Iſts keins? Ha, Freunde!
Sie iſts, es iſt Luiſe! Gott wie veraͤndert!
Aus einer Nachtigal, was iſt ſie worden?
Kommt, laßt uns fliehen — fliehen — flie-
hen! — Unſern Freund haben wir ſterben
geſehn. Luiſen werden wir nicht leben hoͤ-
ren koͤnnen. Kommt, Freunde! Auch du,
Alter
[591]Alter! Nimm dich zuſammen, gib deinem
Sohn die Hand, damit er ein Stuͤck von dir
uͤbertrage. Kommt, kommt alle! Du ſtarrſt,
Geliebter! Du ſtarreſt! Du, vor allen Ge-
treuer
! Was iſt mein Geſang gegen dein Ge-
ſicht? Laß es mich abſchreiben. Ich bitte
dich Laß! Dann haben Kinder und Kindes-
kinder ein Muſter von edlen Schmerz. Doch
ſeht! Es bricht ſich Tod und Leben auf dei-
nem Geſicht, mein Geliebter! mein Freund!
Gottlob die Herzens Blutſchleuſe iſt nicht
mehr gehemmt. Sie iſt wieder aufgezogen,
und es fließt Blut in dein Geſicht. — Ach
Geliebter! ſoll ich, ſoll ich weiter ſingen?
Es iſt Luiſe, Freund! Sie iſts! Kann ich?
Soll ich? Flieht, Freunde, ſie iſt uns nahe!
Verbergt euch ins Geſtraͤuch tief — tiefer
— Freunde eines Helden fliehen? verber-
gen? Doch! einem Weibe zum beſten! dem
Weibe eines Helden zum beſten! Solch ein
Weib koͤnnen nur Memmen aushalten! Maͤn-
ner nicht! Wir ſind Helden, Freunde, weil
wir fliehen, weil wir uns verbergen tief im
Geſtraͤuch. Je tiefer, je heldenmuͤtiger! —


Iſt Luiſe nicht eine Heldin, weil ſie be-
truͤbt iſt bis in den Tod! Weil ſie ihre Stim-
me verloren hat, und was weiß ſie? Weiß
ſie
[592] ſie mehr, als daß ihr Geliebter im Feld’ iſt,
weiß ſie ſeinen Tod? Weiß ſie die Loſung:
Kreuz! Grab! Tod!


Louiſe! ſie iſts, Freunde! O waͤr’ es ihr
Geiſt; dann waͤren Franz und Louiſe doch bey
einander! Wie hat ihr Geſang ſich veraͤndert?
Haͤtt’ ich ſie nicht geſehen; durchs Gehoͤr
haͤtte ſie niemand gekannt, der ſingen kann,
niemand, der nur ſingen hoͤren kann! Louiſe!
Louiſe
! Seufz’t ihren Namen, Freunde!
ſeufzt inwaͤrts! So wie der Seufzer aus
dem Herzen kommt, ſtoß ihn ins Herz —
ſie koͤnnt uns ſonſt merken, und wir waͤren
verloren. — Auf unſerer Stirn wuͤrde ſie
leſen, was ſie nicht wiſſen ſoll. Wir waͤ-
ren ihre Moͤrder! Die geheimen Worte:
Kreuz! Grab! Tod! ſind uns angeſchrie-
ben an der Stirn einmal! zweymal! drey-
mal! uͤberall — Stecket die Koͤpf’ ins Ge-
buͤſche. Juͤngling! Du haſt noch zu wenig
Kreuz gehabt, du verſtehſt nicht Seufzer zu
daͤmpfen, lern es von uns, du wirſt es be-
nutzen. Freunde, wenn euch die Haͤnde zit-
tern und die Fuͤß’ auch; ſchlagt ſie ins Kreuz,
damit eins das andre halte, und Louiſe nichts
merke! — Ins Kreuz, Freunde —


Wo
[593]

Wo biſt du, Franz? Wo biſt du hin,
Falſcher! Du liebſt den Krieg mehr, als
mich, den Tod mehr, als das Leben! Wo
biſt du? — Du haſt deine Geliebte verlaſ-
ſen, die nach dir zielte, wie ein Jaͤger nach
Wild! — nach dir ſang, wie die Voͤgel im
Fruͤhling nach einander ſingen, bis ſie ſich
gefunden haben. Wo ſind deine Schwuͤre?
Deine Verwuͤnſchungen? Ungluͤcklicher! Was
hat der Krieg, das dich reizen konnte, da
du mich hatteſt! Dein Leben gehoͤrt Gott!
dir! und mir! oder beſſer Gott! mir! und
dir! und keinem von uns dreyen giebſt du es.
Du bringeſt es dem Vaterland! Kennſt du dies
Ungeheuer? Ich kenn’ es nicht, ich mag es
nicht, ich will es nicht kennen, dieſes blutduͤrſti-
ge Thier, das ſeinen Weg mit Menſchenleichen
pflaſtert, um weich zu treten, und an ver-
wuͤſteten Feldern und an ausgebrannten Waͤl-
dern ſeine Luſt ſieht, das jedes Grab haßt,
weil es lebt! — Vaterland, wie heßlich biſt
du! — Auch meinen Geliebten haſt du auf
deiner Seele, wenn du eine Seele haſt! Va-
terland, du wohnſt in einer Moͤrdergrube!
Franz! wie konnteſt du dich verleiten laſſen?
Ehre! Was iſt Ehre? Weißt du es? Ich
weiß es nicht! — Wer uns in die Augen
Zweiter Th. P pehrt
[594] ehrt, ehrt uns der? Und wers thut, wenn
wir nicht dabey ſind, ehrt uns der? Weiß
dieſer Fels, wenn ich ſag’ein ſchoͤner Fels, und
richtet ſich die abgehauene Tanne in die Hoͤhe,
wenn ich ſag’: ein treflicher Baum? Hoͤren
wir, wenn wir geſtorben ſind, und was iſt
die Ehre, wenn wir nicht hoͤren koͤnnen?
Du haſt falſch Geld eingewechſelt, Franz!
Schaͤme dich, daß du geſtorben biſt. Doch!
biſt du todt! Franz, rede doch, ich ringe
meine Haͤnde, ich halt ſie gen Himmel! Ich
— was weiß ich, was ich thue! — So
rede doch, Franz, biſt du todt? Lebſt du?
Verzeih’ einem Weibe, daß ſie nicht maͤnn-
lich denkt. Du hatteſt zwo Haͤnd’, eine fuͤr
mich, eine fuͤr deine Pflicht. Es war Pflicht
daß du in den Krieg giengeſt. Du hatteſt
dein Wort eher der Fahn’ als mir gegeben.
Verzeih mir, Franz! Ich ſah dein linkes
Aug’ in Thraͤnen, da du Abſchied nahmſt.
Im Rechten war Muth. Eine Hand war
ſtark, die andre ſank. O Franz! Franz!
Wenn wir uns doch eher gekannt haͤtten. —
Vielleicht haͤtteſt du dich mit keiner andern
Pflicht vermaͤhlt, als mit der, mich zu lie-
ben! — Die ſchoͤne Pflicht! — Iſt ſie nicht
ſchoͤn? Traurig ſchoͤn! O wenn du leben
moͤch-
[595] moͤchteſt, doch — du lebſt nicht, du biſt
todt! todt! todt! Ich ſah dich kaͤmpfen, du
edler Kaͤmpfer! Ich ſah dich mit vielen zu-
gleich anbinden. Ich ſah dich kriegen, ed-
ler Krieger! Ich ſah dich den ganz treffen,
der dich halb traf, den ſtuͤrzen, der nach
dir ſchlug — ich ſah Blut und Schweiß,
beydes edel zuſammen rinnen, und vor dei-
ner Stirn ſtehen, und da der Zufluß zu
ſtark war, es von deinen Wangen herab-
thauen — ich ſah! O Gott! ich ſah dich die
Knie ſteifen, die ſchon zu ſinken anfiengen!
Wie bleich, welche Blutduͤrre auf deinen
Wangen! wie welk, Tod! da liegt er! das
dacht’ ich wol, ich dacht’ es, Geliebter, daß
du ſterben wuͤrdeſt—Schreckliche Ahndung!
doch war es bloß Ahndung? Es war Zei-
chen vom Himmel: denn es ſtarb ein Edler!
Wenn ein ſolcher ſtirbt, macht man im Him-
mel Platz — O ein Treflicher iſt gefallen.
Klagt, ihr Jungfrauen! Der edelſte unter
allen Juͤnglingen iſt geſtorben, ohne ſeinen
Stamm fortzupflanzen, und ohn einen Sohn
zuruͤck zu laſſen, der ſeinem Bilde aͤhnlich.
Klagt, ihr Feigen! Ein Held iſt todt. Klagt,
ihr Helden, euer Bruder iſt dahin. Es
ſterben tauſend und abermal tauſend mit ihm!
P p 2mich
[596] mich ohngerechnet! — Ich fuͤhlt’ jeden Her-
zensſtich, den er ausſtand, den er uͤberwand,
und den lezten, lezten Todesſtich, der ihm das
Leben nahm! Ach! noch dehnet ſich dieſer
Stich in meinem Buſen — Franz iſt todt!
todt! todt, todt! Rufe laut, uͤberlaut, al-
les was rufen kann: todt! — und was
nicht Sprache hat, halle nach: todt! —
Fuͤr mich alles todt, die ganze Welt todt —
mein Geliebter hin, alles hin — Leben hin,
Tod hin, ach ſelbſt der Tod hin. Luiſe ſoll
nicht in Franzens Arm ſterben, o des ſchoͤnen
Todes in ſeinem Arm! So treflich ſoll Luiſe
nicht ſterben, ſo lebendig nicht gen Himmel
kommen! Ha, ſchreckliche Nacht, die ich
uͤberſtand! Ich fuͤhl’ es, keine werd’ ich mehr
uͤberſtehen — ich traͤumte, was ich ſang!
Ahndungsvoll ſprang ich auf im Traum, und
Ahndung beſtaͤtigt dieſen Todestraum: Franz
iſt todt! — Ich rief im Walde, wo das
Echo ſo oft Franz nachgerufen! Ich rief in
den Wald: Franz — keine Antwort. Nichts
auf mein Franz, auf mein wiederholtes Franz!
Echo biſt du verſtummt? Du rufſt alles, nur
Franz nicht — kannſt du den ſuͤſſen leichten
Namen Franz nicht mehr nachſprechen? Oder
liegt es an mir, daß ich mir nicht getrau,
ihn
[597] ihn laut vorzuſprechen! Ich koͤnnte Franzen,
duͤnkt mich, im Sterben ſtoͤren — ihn ſtoͤ-
ren, wenn ich ſchrie: Franz! Und nun end-
lich wie aus einer tiefen Kluft hohl: Franz!
Schnell lief ein Schauder mir [durch] alle Glie-
der, durch den geheimſten Mark! Der ſchoͤn-
ſte Name in der Welt, wie ſchrecklich ward
er mir! Wie iſts, Echo! Ich weiß alles!
Heult nicht Hunde! Rufe nicht Eule! Laßt
mich rufen, laßt mich heulen! Ich weiß al-
les! Schrecklich! Wie traurig das Licht
brannte, als auf einer Leichenwache. Ver-
gebens muntert’ ichs durch eine Nadel auf,
womit mein Buſen befeſtiget war. Verge-
bens facht’ ich es an! Es wolte nicht, es
konnte nicht. Franz auch du haſt ausge-
brannt! Umſonſt waͤlzen dich Freunde, um-
ſonſt ſchuͤtteln ſie deine Haͤnde! umſonſt! —
du biſt todt! todt! todt! Doch ſind es Freunde,
die dich umgeben. Vielleicht Feinde —
Deine Moͤrder — Moͤrder, die deinen Hel-
denwerth verkennen, und ſich nicht einſt ruͤh-
men ihrer Mordthat. — Vielleicht rinnt
dein Blut, dein edles Blut, in eine Pfuͤtze
voll unreinem dicken Blut der gemeinſten
Krieger! — O Franz! wuͤßt’ ich, daß du
wie ein Held begraben waͤrſt, wie du gelebt
P p 3haſt,
[598] haſt, und wie du gewiß geſtorben biſt, ich
wuͤrde mich beruhigen: denn bald! bald!
werd’ ich bey dir ſeyn. Wenn aber dein
Leib als Scheuſal aufgeſtelt iſt, dein ſchoͤner
Leib, das Meiſterſtuͤck der Natur, Franz!
was heb’ ich an? Engel! Menſchen! wen
ruͤhren meine Klagen zuerſt? Wer iſt am
menſchlichſten unter allen Geſchoͤpfen — wer?
Franz iſt todt! todt! Wer zeigt mir den Weg
zu dem einzigen Troſt, daß ich weiß, daß
ich ſehe, wie er todt iſt! wo ſeine matte
Haͤnde ruhen! und ſeine kuͤhne Bruſt! Wer
iſt der Holde! der mir den Schluͤßel zu ſei-
nem Grabe giebt? O waͤre ſein Kaͤmmerlein
verſchloſſen! Waͤre ſeine Gruft heilig, wie
ruhig!! —


Auf, Freunde! tretet hervor, folgt mir,
verdoppelt euren Schritt, damit wir Luiſen
das Grab des Helden zeigen! — Luiſe,
wenn du haͤlſt, was du verſprochen haſt,
wenn du ruhig ſeyn wilſt! wenn du es kannſt!
Sie that einen Schwur mit ihren Augen,
die ſie gen Himmel anſtrengte — Dieſe
Haͤnde trugen ihn in die Hoͤhe, ſagte der
Aelteſte, ſie trugen ihn in den Vorhof des
Himmels, wo Lohn nach Arbeit auf ihn
wartet! Mache dein Auge groß, Luiſe, du
ſolſt
[599] ſolſt ſein Grab ſehen, und ein Ehrenzeichen
oben drauf. Goͤnn’ ihm die Ruhe, aoͤnn ſie
dir ſelbſt. — Sein Andenken ſey uns ewig
heilig! — Biſt du vorbereitet? Haſt du den
lezten Tropfen Thraͤnen in deinem Aug ver-
wiſcht, haſt du Staͤrke hinauf zu blicken?
Wohlan! Dort oben ſchlaͤft Franz! —


Sie ſah mit einem umfaſſenden Blick.
Ach, ſeufzte Luiſe! ſchlug ein Kreuz vor ihre
Bruſt, und ſank todt zur Erde.


Heut hab’ ich einen Leichenſchmauß!
Alle meine Kinder ſind bey mir! Komm auch,
Nachbar! — Damit alles paarweiſ’ gehe,
hab’ ich die Wittwe Marthe eingeladen. Du
wirſt Gelegenheit haben, an deine ſelige Frau
zu denken, wenn du die Wittwe Marthe,
deiner Seligen leibliche Schweſter ſiehſt, und
wenn du auf meinem Leichenſchmauſe biſt —
ich hab’ einen Enkel verloren, einen Kern-
jungen. Der Tod hatte lang mit ihm zu
thun, eh’ er ihn zu Boden riß. Jacob
wehrte ſich, ſo klein er war, mit Juͤnglings-
ſtaͤrke. Jacob, der Erſtgebohrne meines
Aelteſten, der im vaͤterlichen Hauſe bleiben
wird, weil er der Alteſte iſt. Jacob fuͤhrte
meinen Namen, und war mir ſo auggreif-
P p 4lich
[600] lich aͤhnlich, als mir keiner von allen meinen
Kindern und Groskindern iſt, die mir all’
aͤhnlicher ſind, als jene. Alle Leute nann-
ten den Seligen: Großvater, und der kleine
Junge freute ſich druͤber, und that ſo alt,
als wenn ers waͤre. Er iſt ein Theil von
mir, ein Aſt vom Stamm, und ſoll da be-
graben werden, wo ich einſt begraben zu wer-
den den Meinigen anbefohlen habe. Nach-
bar! wir wollen betruͤbt und froh ſeyn, ſo
wie man in der Abenddaͤmmerung ſieht, und
nicht ſieht. — O Greger! Es iſt ein koͤſtlich
Ding, wie unſer Paſtor ſagt, zu ſterben,
eh man ſtirbt! Was meinſt du, wenn man
ſich begraben ſieht? Du biſt geſtorben, Gre-
ger, eh du ſtarbſt, du haſt dich begraben ge-
ſehen, und lebſt; denn dein Weib, Wittwer,
war du ſelbſt! Sieh, ich habe noch all die
Meinigen; nur Jacob den Hauptenkel hab’
ich verloren, den begrab’ ich heute! Da liegt
er ſchon auf einem weißen Laken, du wirſt
ihm folgen mit deiner ſeligen Frauen Schwe-
ſter in einem Paar! Ich werde mir ſelbſt
folgen mit meinem Weibe Hand in Hand.
Gott geb’ ich ſtuͤrb mit ihr paarweiſ’! Zwar
hat mich Gott geſegnet mit Kindern und Kin-
deskindern, die noch gruͤnen und bluͤhen und
Fruͤcht’
[601] Fruͤcht’ anſetzen werden zu ſeiner Zeit. Haſt
du aber nicht bemerkt, Greger, die Blaͤtter
ſtraͤuben ſich lang, und trotzen dem Herbſt;
faͤlt aber das erſte gelbe Blatt: fallen ihm
mehr nach, bis der Baum nackt und blos
ſteht! — Ich bin bereit, mein Weib iſt be-
reit. O, waͤren wir die erſten, die nach
dieſem gelben Blatt fielen! Ruhe wohl, Ja-
cob
! Du biſt, ſo klein du wareſt, eines
chriſtlichen Begraͤbniſſes werth, und eines
Leichenſchmauſes! Fromm wollen wir reden,
Nachbar, und das lezte Glas wollen wir
trinken: auf ein ſeliges Ende! —


Tanne; warum ſo ſtolz unter deines
gleichen? Warum Meuterey wider die koͤ-
nigliche Familie der Eiche? Ich, dein
Landsmann, aus Norden gebuͤrtig, wie du,
finde keine Hoheit an dir von Fuß bis zur
Scheitel! Wenn ſanfte Winde dich und al-
les, was um dir iſt, mit einer verſtehbaren
Sprache beleben, rauſche mir zu, was dein
Vorzug iſt, damit ichs durch den Wiederhall
deinen Nachbaren, wer ſie auch ſind, ver-
kuͤndige, auf daß ſie dich ehren, wie die koͤ-
nigliche Eiche geehrt wird, und wenn du es
verdienſt, noch mehr. Sieh an die maje-
P p 5ſtaͤti-
[602] ſtaͤtiſche dreyhundertjaͤhrige Eiche, die die Ge-
ſchichte des ganzen Waldes weiß, da ſteht
ſie unerſchuͤttert, trotzt den Stuͤrmen aller
Weltgegenden, trotzt allem — nur Gottes
Donner nicht; wenn du dich vor jedem Winde
buͤckeſt und dich windeſt, kriechſt und wie ein
Hofmann ſchmeichelſt, damit jeder Wind dich
nicht aushebe, und deine Wurzel aufdecke
allen die voruͤbergehn! Gruͤn biſt du im
Winter, wenn die Eiche, von ihrem koͤnig-
lichen Schmuck entkleidet, nach Art wahrer
Groͤße ſich nichts vor ihren Unterthanen her-
aus nimmt. Iſt aber das Kleid wahre Ho-
heit? Wo iſt dein Werth, wenn auf einem
einzigen Eichenblatte ſich ganze Geſchlechter
niederlaſſen, und du Nadeln ſtatt Blaͤtter
zaͤhleſt? Sieh nicht veraͤchtlich, Tanne, auf
die tief unten gruͤnende Waldblume, die,
wenn ſie im Fruͤhling aufgeht, und rings
umher im nackten Walde alles oͤde und leer
findet, ſich erſt im Thau badet, um deſto
heller und klaͤrer zu dir hinauf zu blicken.
und das erſte Baumgruͤn zu ſehen! Neige
dich zu dieſer aufgehenden Waldblume,Tanne,
die du dich vor jedem nur rauſchenden Winde
ſo tief beugeſt! Blick her auf die Eiche, die
keinem Unterthan, der zu ihr flieht, Schutz
und
[603] und Schirm verſagt, und wenn der in die
Hoͤhe ſtrebende Baum von Buben gebrochen
wird, und ſich zu ihr wendet, ihm einen Aſt
reichet, damit er den Streich verwachſe, den
der Bube an ihm vollfuͤhrte.


Schmetterling, Schmetterling, ſetz dich!
— Sieh den Sperling, der auf dich laurt,
und ſeinen Schnabel wetzet, um dich, als ei-
nen Braten zu eſſen, und Sallat von dem
Blaͤdchen, wo du ſitzeſt, dazu zu bicken.
Schmetterling, Schmetterling, ſetz dich! Ich
will dir nicht einen Fluͤgel ausreißen, oder ei-
nen Fuß oder dich aͤngſtigen,Raͤrrchen! Nein!
Du biſt klein, wie ich! Gerg, mein groͤße-
rer Bruder, faͤngt ſich groͤßere Voͤgel, und
er geht nicht mit ihnen um, wie ich mit dir
umgehen werde. — Weißt du, was ich
will? Ich will dich ein wenig anſehen, ſchoͤ-
nes Jungferchen, nicht lange. — Ich weiß,
du lebſt nur kurz, armes Voͤgelchen! kuͤnf-
tigen Sommer biſt du nicht mehr, und ich
bin ſchon ſieben Sommer alt. — Ich will
dich nicht vom Leben aufhalten, armes Voͤ-
gelchen, aber beſehen will ich dich, dein
niedliches Koͤpfchen, und dein ſchlankes Leib-
chen, und deine Spitzenfluͤgelchen, das will
ich
[604] ich beſehn, und damit du keine Zeit verlierſt,
werd’ ich dir ein Blaͤdchen vorhalten, damit
du waͤhrend der Zeit eſſen kannſt. Schmet-
terling, Schmetterling, ſetz dich! Naͤrrchen,
ich meyn’ es gut mit dir! Schmetterling,
Schmetterling, ſetz dich! —


Es war einmal ein Edelmann, der ritt
ſtets einen Fuchs, der Edelmann war ſo
falſch, wie der Fuchs, und der Fuchs wie
der Edelmann. Ein ſchaͤndlich Paar! Zwar
war der Fuchs ein ſchoͤnes Thier, der Edel-
mann nicht minder. Doch einer ſchlug ſo
aus, wie der andre, und beyde waren be-
ſchlagen, der eine mit Bosheit, der andre
mit Eiſen. Beyde ſchlugen und trafen Men-
ſchen. Der Fuchs hatt’ einen ſeltenen Kopf,
einen Hals zum mahlen, und einen [Fuß]!
gewiß! einen niedlichen Fuß! Sein Schweif
hieng ihm herrlich herab, zum Schrecken
aller Bremſen und Fliegen, die er nicht ver-
jagte, ſondern auf der Stelle todtſchlug. Auf
ſeinem Ruͤcken war ein Bremſen Kirchhof!
O des praͤchtigen Schweifs! Der Edelmann,
gewachſen wie eine Buͤrke, hoch und gerade.
Sein Geſicht braun, wie eine Eichel, wenn
ſie rein und reif iſt, und ſeine Hand noch
brau-
[605] brauner. Nichts an ihm verungluͤckt; kein
Fleck, nichts ſchiefes an ihm, wie ein ausge-
wachſener Halm im Kleinen, war er im Groſ-
ſen, gerad bis auf ſein Seitenhaar, das
kraus lag in natuͤrlichen Locken. Man
glaubte, die liebe Natur haͤtt es mit ihnen
zu einem Knoten angelegt, und ſie waͤren
im Zuziehen geſtoͤrt worden.


Sein Auge meldte jedem an,

es ſey der Mann ein Edelmann.

Nur die Augenbranen waren wild gewachſen,
ſehr wild! Da lag das Boͤſe vom Edelmann,
denn wenn er gleich ſchoͤn von außen war, ſo
hatt’ er doch einen innerlichen Schaden. Sein
Herz war eine Moͤrdergrube, und von draußen
ſtand ein ſchoͤner adlicher Hof. O hoͤrt, ihr tu-
gendſame Jungfrauen, was ſich zutrug im
Jahr nach Chriſti Geburt ein tauſend ſieben
hundert und ſieben, hoͤrt es und weint um eure
Schweſter! Es war einmal ein ehrlicher Buͤr-
gersmann, der hatt’ eine ſchoͤne Tochter. Der
Paſtor ſah ſie an, wenn er die Schoͤnheit des
Engels beſchrieb, der auf Gottes Geheiß einen
menſchlichen Leib auf eine kurze Zeit angezo-
gen. Er ſah nicht ſeine Frau an, denn die
war alt, obgleich ſie ſich beyde nichts vorzuruͤ-
cken hatten, und er auch alt war. Annens
Leib
[606] Leib war ein Engelskind; ſo paſſend gemacht,
daß der Engel nichts abſchneiden durfte, wenn
er ein Menſchengewand auf Gottes Befehl noͤ-
thig gehabt. Freylich ſahe ſie ſo ſchwindſuͤch-
tig nicht aus, wie das vornehme Ding in un-
ſerer Nachbarſchaft, von der alles ſagt, ſie ſey
die ſchoͤnſt’ im Lande. Daß ſich Gott erbarm!
Wer Annen ſah, wuſt ſicher, was Schoͤnheit
ſey. Wer ſie nicht geſehen hatte, war zwei-
felhaft. Man verglich die andern Geſichter
nicht mehr mit der Natur, ſondern mit Annen,
nicht mit der weißen Lilie den Buſen, nicht mit
dem Himmelsblau das Aug, nicht mit einer
aufbrechenden Roſe das Friſche im Geſicht —
man verglich es mit Annen. Sie hat das von
Annen und jenes von Annen. So ſprach jeder
wer Annen geſehen. Man hatte nicht noͤthig,
ſich herum zu thun und hier und da was in
der Natur zuſammen zu ſuchen — Anne war
alles zuſammen. — Sie war weiß; allein wer
auch eine Braune liebte, blieb ſtehen, wenn er
ſie ſah, und ſagte laut: ſchoͤn! Sie hatte ſo
was geſundweißes im Geſicht, daß man das
Blut rinnen ſebn kounte. O ein ſchoͤnes Blut!
Der ganze Himmel lag auf ihrem Geſicht!
weiß! roth! blau! Wenn man ihn im Klei-
nen wollte, ſah man Annen an — und ihre
Seele?
[607] Seele? Wer eine Seele ſehen wollte, ſah’ ihr
ins Aug’. Da hatte ſie ſich eiquartiert. Wen
ſie damit anſah, hatte Gottes Bild geſehen,
und ein Strahl von dieſem Bilde ließ ſo viel
Ehrfurcht zuruͤck, daß man Annen liebt und
ehrte. Ihr Aug war die Sonn’ am Himmel!
Man dankte Gott, daß er ſo ſchoͤne Menſchen
auf ſeiner Welt gemacht — und waͤr’ es er-
laubt, daß ein Engel, wenn er auf Gottes
Extrapoſt faͤhrt, und der Erdenluft wegen ein
Menſchengewand angezogen hat, waͤr’ es er-
laubt, daß ein Engel ohne Gottes Trauſchein
ſich verheyrathen koͤnnte: er naͤhme ſie! —
Sie waͤre Fleiſch von ſeinem Fleiſch! Geiſt
von ſeinem Geiſt! — O ihr Jungfrauen, hoͤrt
was ſich mit Annen zutrug und mit dem Edel-
mann, der ſtets einen Fuchs ritt. Er ſtelte ſich,
als liebt’ er ſie; allein er liebte ſie nicht, denn
die Liebe macht tugendhaft, wenn man einen
Engel wie Annen liebt! Er liebte ſie, doch war
ſeine Liebe Leckerey! — Der Boͤſewicht meynte
nicht ſie, ſondern ſich. — Haſt du ihr nicht
ins Aug geſehen? — und recht ins Geſicht?
oder fuͤrchteſt du dich nicht fuͤr Gott und fuͤr
den Himmel! Boͤſewicht! fuͤr was fuͤrchteſt
du dich denn? Sie waren beyde ſchoͤn! —
ſchoͤn! allein welch ein Unterſchied in der
Schoͤn-
[608] Schoͤnheit! Sie ſchoͤn, wie ein Engel; Er
ſchoͤn, wie ein Teufel, wenn er ſich in einen
Engel des Lichts verkleidet hat. Er ſchwur
Annen zu lieben bis in den Tod, und wie leicht
koͤnnen wir betrogen werden, wenn es Jemand
zum Betrug anlegt, der ſo ſchoͤn iſt, wie der
Edelmann. Wer ſieht immer auf die Augen-
branen? Anne ſagt’ auf ſein Zudringen, ich
will, wenn meine Mutter will. — Ihr Va-
ter war waͤhrend der Zeit geſtorben, und der
Edelmann, der ihn zur Gruft begleitete, hatte
ſich ſo betruͤbt geſtelt, daß Anne ihres Vaters
und ihres Lieb habers wegen gleich betruͤbt war!
Die arme Ungluͤckliche! Bis jezt hatt’ er noch
nicht das vaͤterliche Hauß betreten. Sein er-
ſier Schritt war ins Trauerhauß! Eine ſchreck-
liche Vorbedeutung! — Nun kam er, wenn
er wolte und Anne blieb zwar bei ihrem: ich
will, wenn meine Mutter will; allein ſie ſprach
es immer ſchwaͤcher. Der Boͤſewicht gruͤßte
die Mutter nicht mit den ſuͤßen Worten: gib
mir deine Tochter! — Er ſuchte die Tochter
ihrer Mutter allmaͤhlig zu entwoͤhnen. Die
Mutter merkte — wie iſts? fragte ſie den
Edelmann: Ernſt oder Scherz, Spiel oder
Ehe? — O Anne, warum ſahſt du ihm nicht
in ſein verruchtes Geſicht, bey dieſer muͤtter-
lichen
[609] lichen Frage — recht ins Geſicht? Du haͤt-
teſt den Boͤſewicht entdeckt in Lebensgroͤße. Er
rafte ſich bald zuſammen. Ernſt, ſprach er,
Ehe! Wie, ſagte die Tochter, da der Boͤſewicht
dieſen Abend das Hauß der Unſchuld verließ,
wie waͤr’ es anders zu denken? Die Mutter
ward ruhig nach dieſem Abend. Mehr hatte
dem Edelmann nicht gefehlt, ſeiner Gottloſig-
keit vollen Lauf zu laſſen, und die Unſchuld zu
vergiften, als dieſe Ruhe der Mutter — —
O Ihr Jungfrauen! weint um eure Schwe-
ſter, die durch einen Boͤſewicht von der ſtren-
gen Bahn der Unſchuld und Tugend verfuͤhrt
ward. Nur Mutter und Tochter und drey aus
ihrer Verwandſchaft wußten ihren Fall! Der
Tod entriß ihn dem Ottergift der Stadtlippen.
Ihre Mutter rang die Haͤnde. Anne konnte ſie
nicht ringen — der Tod war ihr Leben! —
Sie konnte, ſie wolte nichts weiter, als ſter-
ben. Kniend bat ſie ihre Mutter, fuͤr ſie zu
beten. Ja! Tochter! ich will fuͤr dich beten!
Ich will beten, daß dich Gott beruhige. —
Nein, Mutter, daß ich ſterbe, daß ich ſterbe,
daß ich ſterbe, alles andre Gebet wiederruf’
ich — der Tod, das iſt mein Alles. —


Anne ſprach dies gelaßner, als ich, ſo
gelaſſen, daß man wohl ſahe, der Tod ſey
Zweiter Th. Q qihr
[610] ihr alles. — Sie knieten beyde, Mutter und
Tochter, dicht zuſammen, und hielten die Haͤn-
de gen Himmel, als waͤr’ es nur eine. — Sehn-
lichſt beteten ſie um den Tod, und das iſt eine
große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht
erſt wem giebt, ſondern nur denen er gut iſt.
Wir ſterben zwar alle; allein es kommt beym
Tod aufs wenn? an, auf eine erwuͤnſchte,
das iſt, auf eine ſelige Stunde. Da nimmt
man nicht zehn Leben um Einen Tod! — Die
Tochter ſtarb ſo ruhig, daß man ihr die ewge
Seligkeit anſehen konnte. Die Mutter muſte
noch acht Tag’ jammern. Sie hatte keinen
Schmerz; allein ſie jammerte — mein Mann
todt, meine Tochter todt — und ich! ich! hab’
ein heimtuͤckiſches hartes Leben! Schon lange
bey Lebenszeit ihres Mannes war ſie ſiech!
Der Tod ihrer Tochter hatt’ ihr vollends das
Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach-
ten Tag, daß die Leich’ ihrer Tochter auf ſie
wartete, unbegraben! Auf einen Tag, ſagte
die Mutter zu ihrer ſterbenden Tochter, auf
einen Tag, ſagte die Tochter. Auf einen Tag,
ſagten ſie ſich hundertmal, und auf einen Tag
waren auch ihre lezten Worte. Sie ſtarb!
o Gott — faſt wie ihre Tochter. Faſt! Ganz
nicht, denn die Tochter ſtarb noch leichter!
Die
[611] Die Mutter war aͤlter, das Leben hatte ſich
mehr angeklammert, und der Tod muſte ſtark
reißen, eh’ er ſeinen Zweck erriß Der Mut-
ter Sarg ſtand ſchon laͤngſt bey dem Sarg
ihrer Tochter, noch eh die Mutter ſelbſt drinn
war. Was das fuͤr ein Leichenzug war! Sie
wolten ſtill begraben ſeyn; allein alles im
Staͤdtchen, was gehen konnte, gieng den Saͤr-
gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei-
ſer zur ewigen Ruhe! Die Tagloͤhner verdun-
gen ſich nur auf den halben Tag, um dieſes
Begraͤbniß zu ſehen. Der Paſtor weinte. Er
war außer den Dreyen der vierte, der An-
nens
Fall wuſte! Die Engel fielen und wur-
den Teufel; allein Anne blieb, was ſie war,
im prieſterlichen Auge. Der Paſtor weinte:
denn er hatte kein Engelbild mehr in ſeiner Ge-
meine. Er wuſte nicht, wie er die Engelgeſtalt
deutlich machen wuͤrde, da er Annen nicht
mehr ſehen konnte — ich werde ſie bald ſehen,
fieng er prophetiſch an mit entzuͤckten Muthe,
druͤckte ſich den Hut in die Augen, und gieng
ſo, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der
gute Paſtor! Er wolt’ ein Erbauungswort bey
dem Grabe dieſer beyden Seligen verbreiten,
doch, das konnt’ er nicht! Annens Geſicht, das
ihm noch zu lebhaft vor den Augen ſchwebte,
Q q 2ſtoͤrte
[612] ſtoͤrte ihn. Er verſtummte ſelbſt in der Kol-
lekte, und ſchluchzte laut. Der Schuſter Veit,
der ſo gut ſingt als Einer, half ihm aus, ohne
daß es viel zu merken war. Dieſer war be-
kannt, daß er Melodie hielt, und nicht weinen
konnte. Sie hatten eben die Todten begraben
und wollten heim gehen; da kam der Edelmann
auf ſie zugeſprengt. Er ritt keinen Fuchs, ſon-
dern einen Schwarzen.


Ha! dachte der Paſtor, da er den Edel-
mann, den er wohl kannte, auf einem Rap-
pen, und nicht mehr auf dem Fuchs, ſahe —
Ha, das Gewiſſen! das Gewiſſen! Es war
ihm Vergnuͤgen, den Judas haͤngen zu ſehen,
und wahrlich wenn ein Boͤſewicht von der
Welt Verzeihung haben will, muß er unſtaͤt
und fluͤchtig — verzweifelnd ausſehen. —


Der Boͤſewicht haͤtt’ ohngefragt wiſſen
koͤnnen was? und wie? und wer? Denn
unſre Todten kamen in eine Reih mit Mann
mit Vater. An dieſer Stelle, Boͤſewicht,
haſt du geweint. Er frug aber ein bloſſes
kaltbluͤtiges wer?


Anne, ſagte der Paſtor, und zog ſeinen
Hut ab, und die Thraͤnen ſtuͤrzten herunter,
als goͤß’ er ſeine Augen aus — Anne, ſagt,
er, und die ganze Verſammlung wimmerte
Anne
[613]Anne, und lange hernach ſagt’ alles, „ihre
Mutter auch“ da haͤtte man doch denken ſol-
len, wuͤrd’ er ſich an die Bruſt ſchlagen und
verzweifeln! Eins ſagte dem andern: das iſt
er, und mancher, der Herz hatte, ſetzte,
wiewohl ins Ohr, hinzu: der Moͤrder! Al-
les wuſte von ſeiner Falſchheit gegen Annen;
allein nur drey, außer dem Paſtor von ihrer
Leichtglaͤubigkeit. Der Boͤſewicht ſchien, mir
nichts, dir nichts! Sie hat Ihnen —
ver—ziehen, gnaͤdiger Herr, ſagte der Pa-
ſtor, und konnte das Wort verziehen lang
nicht herausbringen. Der alte Mann war
zu bewegt. — Sie hat Ihnen verziehen, wie-
derhohlt’ er mit bloſſem Haupt’, und ich,
verſetzte der Frevler trotzig, verzeih’ ihr auch,
daß ſie geſtorben iſt! O Jung frauen! denkt
ans Jahr nach Chriſti Geburt ein tauſend
ſieben hundert und ſieben, und an die
Verzeihung, daß ſie geſtorben iſt! Traut
nicht den gnaͤdigen Herren, wenn ſie
gleich bey den Graͤbern eurer Vaͤter wei-
nen!


Es ward dem Paſtor und ſeiner Gemeine,
als ob die Erde bebte, da der Moͤrder ſieg-
prangte und trotzte. Der Paſtor ſetzte ſei-
nen Hut auf, und die Begleiter und Beglei-
Q q 3terin-
[614] terinnen falteten die Haͤnde. Der Edelmann
mir nichts, dir nichts, ſprengte davon; denn
er hatte ſeit vielen Wochen ein ander Ann-
chen
, drum verzieh er unſerm, daß es geſtor-
ben war!


Dieſe ſchreckliche Worte hatten dem Pa-
ſtor ſchnell die Thraͤnen geſtauet. Beym hef-
tigen Ungewitter regnet es nicht — Da fieng
der Paſtor an, da habt ihr meine Lieben,
den Teufel geſehn! — Sie war ein Engel! Er
ein Teufel, und alle, die ſolche Augenbranen
ſahen, fuͤrchteten ſich nach der Zeit, als ſaͤhen
ſie den boͤſen Geiſt. — Einige von den Stadt-
frauen, welche das ſelige gute unſchuldige
Annchen gekannt hatten, und unter denen
die bewußten drey am meiſten, wunderten ſich
und ſprachen: warum erſcheint nicht Annchens
Geiſt dem Boͤſewicht? Warum faͤhrt nicht ihre
kalte Hand uͤber ſein Geſicht, bis Todesſchweiß
vor ſeiner Stirn ſteht? Warum heulen nicht des
Abends zwiſchen eilf und zwoͤlf Hunde, damit
ihm die Ohren gellen? Warum kreiſelt nicht ein
Sturmwind ſich um ihn herum, damit ihm Hoͤ-
ren und Sehen vergehe? Warum pfeift ihm
nicht der Nord zu: du biſt der Mann des To-
des? Warum raſſeln nicht, wenn er mit ſeiner
Buhlerin ins Bett ſteigt, unter ſeinem Bette
Ketten
[615] Ketten? Warum fahren nicht kalte Schauer
kreuzweis durch ſeine Seele? Warum ſchrey-
en nicht Eulen, wenn er des Abends nach fri-
ſcher Luft ſchnapt? Und warum verſcheucht
ſich nicht ſein Pferd vor einer Erſcheinung,
und wirft ihn herab auf ebenem Wege?
Warum ſchlaͤgt es nicht an ſein Fenſter mit
Faͤuſten an, damit wenn er wer da! rufet,
er nichts als ein Schatten von der Seite
wegziehen ſaͤhe? Warum klirrt und klarrt,
kniſtert und knaſtet es nicht in ſeinem Zim-
mer, obgleich alles rings herum altes reif
ausgeerocknetes Holz iſt, als wolt’ es in die
Wort’ ausbrechen: Moͤrder, Moͤrder! —
Wundert euch des nicht, meine Lieben, ſagte
der Paſtor gar eben, daß das alles nicht ge-
ſchieht, Anne hat ihm verziehen, eben weil
ſie ein Engel iſt! — Wenn ſich die Menſchen
dem Teufel ergeben, laͤßt der Teufel ſie ſeine
Knechtsjahre ungeſtoͤrt. — Des Teufels
Knechte ſind faſt immer vornehme Herren —
allein wenn die Contraktsjahr’ aus ſind —


Die Gemeine ſchlug ſich ein Kreuz, und
alles betete:


„Fuͤr den Teufel uns bewahr!„


Q q 4Zwar
[616]

Zwar eine Aehrenleſerin, und doch reich!
Wie ich noch arbeiten konnte, band ich Gar-
ben, und beſchaͤmt oft junge Maͤdchen in
der Schnelligkeit. Man ſagte von mir, ich
grif Gluͤck, wenn ich unter der blinkenden
Sichel Getreyde grif. Im Alter leſ ich’ Aeh-
ren, und frene mich, daß ichs kann. Lie-
ber wuͤrd’ ichs ſehen, wenn ich mich nicht buͤ-
cken doͤrfte. Doch buͤckt man ſich nicht auch,
wenn man ſtirbt? und mir iſt immer ſo wohl,
wenn ich eine Aehre find, als faͤnd ich mei-
nen ſeligen Tod! — Auch der wird kommen,
wenn Zeit und Stunde ſeyn wird, ſo wie der
liebreiche Gott mir meine Schuͤrze voll Aeh-
ren beſchert, wenn es Zeit iſt. — Da ſa-
gen mir oft Leute, die jung ſind und Aeh-
ren leſen kommen: Mutter, dort ſteht noch
Korn, was leßt ihr, ſchneidet mit einem
Meſſer Aehren, ſo habt ihr in einer halben
Stunde mehr, als ihr tragen koͤnnt! Seht!
wie wir es machen! Schaͤmt euch, Kinder,
antwort’ ich, daß ihr euch mit Aehrenleſen
abgebt, und ſchaͤmt euch doppelt, daß ihr
Gott und Menſchen mit dem Meſſer betruͤgt.
Der liebe Gott, der unſer Haar zaͤhlt, zaͤhlt
auch jedes Erdenhaar, jeden Halm! —
Glaubt
[617] Glaubt wir, jede Aehre, die ihr abgeſchnit-
ten habt, wird euch uͤber kurz oder lang im
Gewiſſen ſchneiden. Wie kann euch Brod an-
ſchlagen, das ihr ſtehlt? — Brod ſtehlen,
das heißt ſo viel, wenn es nicht noch mehr
heißt, als vom Altar Gottes nehmen, ohn-
erachtet die liebe Sonn hell brennt. Ehe
Hungers geſtorben, als ſolch geſtohlnes Brod
gegeſſen! Seht! wenn ein Halm dem Stahl
des Schnitters entkommen, und wie ver-
wayſt — allein unter Stoppeln da ſieht! —
Ich nehm’ ihn nicht! Steh, ſag’ ich zu ihm,
bis dich der Nord knickt, wie mich das Al-
ter! — Wenn ihr ehrlich Aehren leſen wuͤr-
det, ihr Aehrendiebe! waͤr’ es Schand und
Suͤnd: denn koͤnt ihr nicht noch arbeiten,
und Gluͤck greifen, wie ichs gegriffen habe,
ohne Aehren zu leſen, oder bey Gottes Thuͤr
zu betteln? Ich werd’ euch nicht lang mehr
im Wege ſeyn! Alle Jahr find’ ich weniger
Aehren, und immer hab’ ich denn auch weniger
noͤthig. Je aͤlter, je weniger Hunger: je
weniger Zaͤhne, je weniger Magen. — Dies
Jahr nur wenige Haͤnde voll Aehren. So
wenig hab’ ich noch kein Jahr gehabt — ich
glaub’, ich habe dies Jahr zum letztenmal ge-
leſen. O wie gern, wie gern moͤcht’ ich aus
Q q 5die
[618] dieſer argen, boͤſen boͤſen Welt herausſchei-
den, wo man ſo gar Gottes Altar beym hell-
brennenden Licht beſtiehlt! Lebt wohl, wenn
ich euch nicht mehr wieder ſehen ſoll, guͤtige
Felder! Tragt ſiebenfaͤltig und mehrfaͤltig, ſo
vielfaͤltig, als es eurem Eigenthuͤmer nuͤtzlich
und ſelig iſt! — Gott vergelt’ jedem die Aeh-
ren, die mir ſein Acker verliehen hat! Lebt
wohl all’ ihr mitleidigen Oerter, wo ich
mich ausruhete, wenn ich mich nicht mehr
buͤcken konnte, und du vor allen, guͤtigſter
Ort, wo mir ein ſanfter ſpannbreiter Bach
Kuͤhlung gab, und in ſuͤßen Schlaf rauſchte,
leb wohl! Da ſah’ ich, wie das neugierige
Feldbluͤmchen, welches am Ufer bluͤhete, ſich
recht muͤhſam heruͤber bog, als wolt es das
Ohr ans kleine Welchen legen, und es be-
horchen. Da ſah ich — bis ich ſanft ein-
ſchlief — ſanft. O ſo ſanft komme mir auch
der Tod, ſo ſanft! — dann bin ich reicher,
als wenn mir all’ dieſe Felder gehoͤrten, und
der ſpannbreite Bach, den die neugierige Feld-
blume belauſchte, und die mitleidigen Oerter,
wo ich mich ſo ſanft ausruhete — ſo ſanft! —


Ende der Beilage A.



[619]

Daß mir Minens Nachlaß koſtbar ge-
weſen, darf ich nicht bemerken. Ich bat Gret-
chen, [durch] geſchworne Leute die Sachen wuͤr-
digen zu laſſen, um dem Herrmann nichts
zu entziehen, was ihm die Rechte, als Erbe
ſeiner Tochter, zuwenden. Ich konnte bey
dieſer Wuͤrdigung nicht gegenwaͤrtig ſeyn.


Gretchen und ich theilten uns dieſen un-
ſchaͤtzbaren Nachlaß. Sie lehnte meinen An-
trag nicht im mindeſten, auch nicht durch
eine Verbeugung ab. Sie dankt’ auch nicht;
ſondern eignete ſich ihren Theil zu, als etwas,
das ihr eignet’ und gebuͤhrte. Fuͤr den Herr-
mann ward auf alle Faͤlle, oder eigentlicher
auf den Fall, ein Stuͤck abgelegt, wenn er
wollen wuͤrde, und fuͤr den ehrlichen Benja-
min, unter dem einen Beding — wenn er
noch lebet. — An die Theilung ward nicht
eher, als den Siebenden Tag nach Minens
Beerdigung, gedacht. —


Ueber Minens Begraͤbniß werd ich kurz
ſeyn. Den ganzen Tag vor dem Begraͤb-
nißtage brachten wir in Geſellſchaft der Lei-
che zu. Nur bis dahin war ich an mein
Verſprechen, Minen nicht zu ſehen, gebun-
den. Jetzt gieng das noch einmal an, das
ich mir vorbehalten hatte; und dies noch
ein-
[620] einmal waͤhrte einen ganzen Tag. — Gret-
chen hatte mir den muͤndlichen Beſcheid ab-
gegeben: „Wenn er nicht vor dem Haar einer
Todten zuruͤck bebt, kann er eine Haarlocke
nehmen.“ Die Empfindung, mit der ich mir
dies Geſchenk nahm, iſt unbeſchreiblich! —
O! du mir theur und werthes Geſchenk, wie
noch angenehmer waͤrſt du mir aus Min-
chens Hand geweſen, die kalt iſt und kalt
bleibt, obgleich ſie dein Freund, dein Mann,
an brennenden Lippen anzuͤnden will. All’
ihre Sachen nannt’ ich mittelbar, dieſe Haar-
locke war was unmittelbares. Sie war ein
Stuͤck von Minen ſelbſt, das einzige, was
Menſchen unmittelbar mit Anſtand von ein-
ander nehmen koͤnnen — Dies war mit ein
Hauptſtuͤck fuͤr mich, ins Grab — —


Der Tag, den wir mit Minen, eigent-
lich mit ihrer Haͤlfte, mit weniger als ihrer
Haͤlfte, zuſammen waren, wie kurz war er!
Eh’ er ſich neigte, ſchien es mit meiner Faſ-
ſung auch zum Ende zu gehen! Bis dahin hatt’
ich mich gut gehalten, wie der Prediger ſagte.
Er legt’ es nach verſchiedenen Methoden mit
mir an; allein keine einzige hielt Stich. —
Wir hatten ein tiefes und ein hohes uͤber die
Gleichmuͤthigkeit geſprochen — Der gute
Pa-
[]

[figure]

[][621] Paſtor ſagte mir, als etwas ganz Neues,
daß die Gleichmuͤthigkeit zum Charakter ge-
hoͤre, die Gleichguͤltigkeit zum Tempera-
ment. — Ich wußte ſo gut und beſſer, wie
der Prediger, daß wenn die Gleichmuͤthig-
keit aus der Selbſtbeherrſchung entſtehet, ſie
bey allen Vorfaͤllen des Lebens das Kleid des
Weiſen, und ſo ſehr von der Fuͤhlloſigkeit
unterſchieden ſey, als lieben und verliebt ſeyn.
— Was helfen aber all dieſe Vortreflichkeiten,
die nicht zum Herzen gehen! Minens Leich-
nam machte alle Kunſt zu Schanden. Mit
Freuden thaten wir alle auf das Kleid des
Weiſen Verzicht, und ſuchten eine Wonne
drinn, blos Menſchen zu ſeyn, wie die liebe
Mutter Natur ſie am liebſten hat! Und am
Ende, Freunde! gehts der abgehaͤrteten
Seele und dem abgehaͤrteten Koͤrper, wie
dem Stahl — dies und das ſpringt! Ihr!
die ihr den Menſchen an Leib und Seele ver-
haͤrten wolt, bedenkt, was wir ſind. Ich
bin ein Menſch, heißt das nicht, ich bin
ſchwach?


Der lezte Abſchied, den wir von Minens
zuruͤckgelaſſenem Theil nahmen, war ruͤh-
rend! Wir ſprachen mit ihm, als koͤnnt’
er hoͤren, wir verſtummten, da er nicht ant-
wor-
[622] wortete. Wie ſehr es mir zur Beruhigung
gereichte, daß alles meinen Schmerz mit em-
pfand, kann ich nicht ausſprechen. Er
vertheilte ſich, doch blieb fuͤr mich ſo viel zu-
ruͤck, daß mir das Leben wie gar nichts war!
Dieſe Empfindung haͤtt’ ich um alles nicht
weggegeben.


Da wir heraus giengen, und ich Minen
noch zum leztenmal anſehen wolte, konnt’
ich es nicht. — Ich war mit Blindheit ge-
ſchlagen; allein mein Ohr und Herz hoͤrte
die Worte, welche der Prediger, der ſich ans
Sarg ſtelte, mit geruͤhrter Seel’ ausſprach:
Der Herr behuͤte deinen Ausgang und
Eingang, von nun an bis in Ewigkeit!
Und nun kamen zwey Leute, die den Sarg
feſt zudruͤckten, und nach dieſem ſchrecklichen
Zudruck ſich zu uns mit den Worten wende-
ten: Gott beſcheer’ uns allen eine ſelige
Nachfahrt!
Sie hielten ihre Muͤtzen vor
und beteten, und wir beteten alle! —


Minens Sarg war ſehr einfach, ohn’
alle Verzierung. Sie hatt’ es nicht aus-
druͤcklich ſo angeordnet; allein ſie bezeugte
ihr Misfallen, daß der Sarg ihres Verwand-
ten zu gekuͤnſtelt geweſen. — Schon lange
zuvor ward ich vom guten Prediger befragt,
ob
[623] ob Mine nach curſcher, oder preußiſcher
Art, begraben werden ſolte? Sie ſelbſt hatte
weder im Teſtament, noch im Codicill, we-
der ſchriftlich noch muͤndlich, daruͤber Ver-
fuͤgungen getroffen, außer daß ſie gern bey
ihren Verwandten begraben werden wolte,
um ſie am lieben juͤngſten Tag gleich bey der
Hand zu haben. Ich bat ihn ſehr, es wie
es Sitte im Lande waͤre, zu halten; und nun
noch ein Umſtand.


Zu den ausgezeichneten Eingepfarrten
gehoͤrte der Graf v. — — Ein beſondrer
Mann! Seine Hauptbeſchaͤftigung war,
Leute ſterben zu ſehen. Er nahm, wo er
von Kranken hoͤrte, ſie bey ſich auf, und wenig-
nigſtens waren ſieben, die bey ihm ſtarben;
man mochte zu ihm kommen, wenn man
wolte. Oft waren mehr. Unter den Kran-
ken zog er Verlaßne und ſolche Leute vor, de-
ren Schickſal ungemein war, und die meiſte
Zeit war die Zahl außerordentlich, und uͤber
ſieben. Seine Sterbezimmer waren immer
beſetzt. Der Graf hatte ſehr traurige Schick-
ſale uͤberlebt. Seine ſieben Kinder, all’ in
voller Bluͤthe, unter deneu zwey Toͤchter als
Braͤute, und ein Sohn als Braͤutigam, ſtar-
ben in Zeit von drey Jahren. Die Braͤuti-
gams
[624] gams der Toͤchter, die Braut des Sohns,
folgten, und ſeine Gemahlin auch. Ein ein-
ziger Bedienter war von ſeiner Jugend, oder
wie er ſich ausdruͤckte, von ſeiner Fruͤhlings-
bekanntſchaft
uͤbrig, alle Uebrigen hatten
ihn im Stich gelaſſen.
Mit dieſem alten Be-
dienten hielt er Hauß, das hieß in ſeiner
Sprache, beſtelte er ſein Hauß, in dem bibli-
ſchen Sinn: beſtelle dein Hauß, denn du
wirſt ſterben!
Der Graf ging mit dieſem al-
ten Bedienten als Freund, als Menſch um.
Nicht war es Herablaſſung; denn wahrlich
die iſt oft aͤrgerlicher, als Stolz und Hof-
fahrt, ſondern Menſchengefuͤhl war es.
Spoͤtter nannten ſein Schloß ein Gebein-
hauß; allein er ſetzte ſich uͤber dieſes und mehr
hinaus, ich lerne ſterben, ſagt’ er, und laß es
mir von andern vormachen; ich laſſe mir vor-
ſterben — und bin mit allen lezten Dingen
in genaue Bekanntſchaft getreten. Seine Ge-
danken, die er mir bey der Leichenfolge weit-
laͤuftiger eroͤfnete, ſind im kurzen: Ein Arzt
und Prediger ſehn ſterben; allein außerdem,
daß ſie ſelten zu Maaß kommen; ſo haben ſie
zu wenig Zeit, den Tod abzuwarten. Der eine
ſieht auf den Leib, und der andre auf die Seele.
Keiner von, beiden ſieht auf den Menſchen.
So
[625] So befremdend es ſcheint; ſo hat es mir doch
die Erfahrung beſtaͤtiget, daß der Arzt, wenn
er gleich das Pulver erfunden hat, das er
eingiebt, doch eben ſo ſelten, wo nicht ſelte-
ner, den Leib des Kranken treffe, als der Pre-
diger die Seele. Beide gehen aus ihrem Com-
pendio, und nicht aus der Sterbeſtube, aus —
und ſo und nicht anders werden ſie auch von
Seelen und Leibespatienten behandelt. — Ich
habe nicht ſagen gelernt, der Tod mag mir
ſo oder ſo kommen, ich will ihm die Spi-
tze bieten;
wohl aber ich ſterbe taͤglich. —
Wahrlich man macht zu wenig Erfahrungen
uͤber den Eingang des Menſchen in, und den
Ausgang des Menſchen aus der Welt! —
Wir lernen den Menſchen kennen, wenn er
nicht mehr zu kennen iſt. Wenn Leib und Seele
ſich nolens volens ſo in einander geworfen,
daß man in die Schule gehen, und ſich be-
glaͤubigen laſſen muß, daß man eine Seel
und auch einen Leib habe. — Freund! Wer
zehn Menſchen ſterben geſehn, weiß was ein
Menſch iſt. Ein andrer weiß es gar nicht,
oder hat es Muͤhe zu wiſſen. —


Dieſer Graf, dieſer beſondre Mann,
ward zur Leichenfolge gebeten. Es iſt das
einzige Mittel, ſagte der Prediger, um mich
Zweiter Th. R rmit
[626] mit ihm auszuſoͤhnen; denn in Wahrheit, er
wuͤrd’ es fuͤr eine Todſuͤnde halten, daß ich
ihm Minchen entzogen, wenn ich nicht die
Sach’ auf dieſe Art, wenigſtens einigermaßen,
ins Reine bringen ſolte! — Er kommt gewiß,
fuhr der Prediger fort, ohne daß ihm jemand
daruͤber Zweifel entgegenſetzte. Er kommt
gewiß, wenn ihn nicht was ſterbendes ab-
haͤlt, um, nach ſeiner Sprache, der Ent-
ſeelten das Bette machen zu helfen.


Ich war ſehr entfernt, mich dem Prediger
in den Weg zu legen. Ein Mann, wie dieſer
Graf, ſtoͤrt nicht, wenn man auch eine Mine
begraben laͤßt, und eben ſo wenig hatt’ ich
dagegen, da der gute Prediger mir ſeine
Abſicht eroͤfnete, Minen einen Leichenſer-
mon zu halten, wie er, nach ſeinem Ausdruck,
in dem Herrn entſchloſſen waͤre. Auch die-
ſer gehoͤrte vorzuͤglich auf die Rechnung des
Grafen. Die Einladung beantwortete der Graf
wuͤrkich mit Ja, weil er eben nichts verſaͤu-
me.
Auf alle Faͤlle wird mein Bruder, (der
alte Bediente,) die noͤthige Sorgfalt uͤberneh-
men, ſchrieb er zuruͤck. Seit ſechs Wochen ha-
ben ſich drey von meinen Sterbenden gebeſ-
ſert, oder ſoll ich nicht lieber verſchlimmert
ſagen! Sie ſind geſund geworden. —


Mi-
[627]

Minens Begraͤbnißtag war ſo ſchoͤn, wie
ihr Sterbetag, als wenn ſich dieſe Tage be-
redet haͤtten, gleich ſchoͤn zu ſeyn, und ſich
einander nichts nachzugeben. Schon des
Morgens ward gelaͤutet. Nachmittag gegen
fuͤnf Uhr wieder, und dies war ein Wink, daß
ſich ein großer Theil aus dem Dorf, Weiber
und Maͤnner, verſammleten. Die meiſten,
nicht alle, waren ſchwarz gekleidet. Unter
dieſen zu Hauf gelaͤuteten war auch der Orga-
niſt, und einige wenige Kinder.


Dieſe lezten ſtellten ſich paarweiſe vors
Hauß, und fiengen das Lied an:


Was Gott thut, das iſt wohlgethan!
welches die verſammlete Gemeine inbruͤnſtig
mitſang.


Die Knaben und ihr Lehrer giengen dar-
auf voraus, mit dem Liede:


Ich hab mein Sach Gott heim geſtellt.


In der Kirche fanden ſich alle Maͤdchen
um Minchens Sarg zuſammen, nicht mit
Blumenkraͤnzen. Daran dachte niemand:
der Fall war zu ruͤhrend, um ihn mit Blu-
men zu verderben. Sie ſangen aus der Tiefe
ihres Herzens, ſo beteten ſie auch. Es hat-
ten ſich von freyen Stuͤcken zwoͤlf Maͤdchen
gemeldet, Minens Leiche zu tragen, und zu
R r 2ver-
[628] verſenken; allein der Prediger liebte keine
Neuerungen, und es blieb bey der Sitte in
dieſem Kirchſpiel, daß die Aelteſten im Dorf
ſie trugen. An andern Orten, bemerkte der
Pfarrer, ſind die Juͤngſten, Traͤger. Ich
will es ſo laſſen, wie ich es gefunden habe,
Dieſe verließen den Sarg, nachdem ſie ihn
vor dem Altar geſetzt hatten, und mehr als
zwanzig junge Maͤdchen traten in ihre Stelle.


Waͤhrend der lezten Strophe des Liedes:


Amen! mein lieber frommer Gott,

beſcheer uns all’n ein’n ſelgen Tod.

Hilf, daß wir moͤgen allzugleich,

bald in dein Reich

kommen und bleiben ewiglich!

trat der Prediger auf den Altar. Er hielt
nach dieſem Geſang eine Red’ uͤber die Worte
aus der Offenbarung Johannis des dritten
Capittels eilften Vers: Siehe ich komme
bald, halt was du haſt, das niemand
deine Krone nehme.


Die herzliche Art, mit welcher der Pre-
diger den Text behandelte, war alles, was ich
von dieſer Rede hoͤrte, oder eigentlich behielt.
Ich war an Minens offenem Grabe!


Schwer und leer, pflegte meine Mutter
zu ſagen, was ſchwer iſt, iſt mehrentheils
leer.
[629]leer. In den alten Liedern iſt immer die
ganze weit und breite Bruſt, und in den
Melodien die ganze Lunge. Wenn auch
hier und da ein Paar Sylben uͤberlaufen
— was mehr? Wenn du dazu weinſt,
Saͤnger! Saͤngerin! ſo laͤufſt du auch
uͤber.
Wer, wenn er ſingt, Triller ſchlagen und
Kadenzen ſpringen kann, bringt dem lieben
Gott ein Staͤndchen, ehret ihn mit ſeiner Zun-
ge, und naht ſich zu ihm mit ſeinen Lippen;
allein ſein Herz iſt fern von ihm. — Dies
Lieblingslied Minens, da ſie ſang, da ſie aus
ihres Vaters Hauſe und aus ihrer Freund-
ſchaft ausgieng in ein Land, das Gott ihr
zeigte, dies Lied, das ſie mir ſo herzlich em-
pfahl, kann keinen beſſern Vertheidiger, als
meine Mutter haben. Es konnte kein ange-
meſſeneres bey dieſer Leiche geſungen werden,
und ſo das Lied, ſo die Rede! Der Prediger
hatte wenig oder nichts aufſetzen koͤnnen.
Dies haͤtt’ ich, wie es mir eben einfaͤlt, nicht
noͤthig gehabt zu bemerken, nicht wahr? Es
verſteht ſich. —


Der Paſtor wuſte meiner Mutter Grund-
ſaͤtze, zu denen mein Vater den zweyten Diſcant
ſang. Mine hatte dieſe Grundſaͤtze auf- und
angenommen. Schon in den Tagen, von de-
R r 3nen
[630] nen es hieß: Sie gefielen ihr, noch mehr
aber in den Tagen, von denen es hieß; Sie
gefielen ihr nicht.
Einem Leidenden ſcheint
die Proſa zu hart, zu angreifend. Er ſehnt ſich
nach etwas milderm, ſagte meine Mutter,
wenn ſie von dem Druck ſprach, in dem ſie
lebte. — —


In dieſer Ruͤckſicht hatte der gute Pre-
diger mehr Liederſtellen in ſeiner Sermon an-
gebracht, die er mit einer Stroph’ aus ei-
nem alten Kirchenliede ſchloß:


Darum, du milde Erd,

halt dieſes Pfand in Werth!

was Gott zu Ehr’n erhaut,

das wird dir jetzt vertraut.

Gott wird ſein ſchoͤn Bild in Lenzen

des juͤngſten Tags ergaͤnzen;

mit Ehren wird es glaͤnzen!

Es war ziemlich dunkel in der Kirche geworden,
und dies war ein freiwilliger Beytrag zur Fey-
erlichkeit. Dieſes heilige Dunkel! Noch liegt
es vor meinen Augen und vor meiner Seele!
— — Nach der Rede ward eine Stille. Dies
wuͤrkte faſt mehr auf mich, als alles — zu ſel-
ten bedient man ſich dieſes Ruͤhrungsmittels.


Auf einmal fing ein Maͤdchen, das ganz
weis gekleidet war, und das ich noch nicht ge-
ſehen
[631] ſehen hatte, allein zu ſingen an: Sie ſtand
dicht am Sarge — —


Gehabt euch wohl, ihr meine Freund’

die ihr aus Liebe um mich weint — —

Die ganze Gemeine antwortete mit dem Liede:


Nun laßt uns den Leib begraben!

und ſo giengs durchs ganze Lied hindurch.
Es waren zwey Gehabt euch wohl Saͤnger,
und zwey Gehabt euch wohl Saͤngerinnen
in der L — Gemeine,
die bey dieſer Cere-
monie weiß gekleidet waren, ein Alter, eine
Alte, ein Juͤngling, ein Maͤdchen.


Ich will ſehr gern zugeben, daß nicht
alle, ſagte mir der Prediger, nachdem wir
Minen in ihre Schlafkammer begleitet hatten,
die Art billigen werden, einen Todten redend
einzufuͤhren, und ihm Abſchiedsworte in den
Mund zu legen; wenn wir aber hoffen, daß
die Seel’ in Gottes Hand ſey und lebe, war-
um nicht?


So viel weiß ich, daß mich dieſer Ueber-
fall anfangs erſchuͤttert, nachhero ſanft be-
wegt hat.


Die Strophe:


Mein Elend, wie auch mein Beſchwerd,

wird nun verſcharrt mit kuͤhler Erd.

R r 4Was
[632]

Was fuͤr Thraͤnen hat ſie mir gekoſtet? —
Am meiſten ruͤhrten mich folgende Stellen:


In dieſer Welt war Angſt und Noth.

Bekuͤmmerniß, zuletzt der Tod!

Nun aber ſchwindet alles Leid,

und folget drauf die Ewigkeit!

So laſſet mich in ſtolzer Ruh,

und geht nach eurer Wohnung zu.

Bedenkt, wie bald euch Gottes Hand

verſetzen kann in dieſen Stand!

und denn die letzten Worte:


Ich ſcheide, lebet alle wohl!

ſeyd Hofnung-Liebe-Glaubensvoll;

ein jeder ſterb der Suͤnden ab:

ſo kommt er ſelig in das Grab!

Was mich, verſunken in Empfindungen, bey
der Hand nahm und herauszog, war das
Lied: Nun danket alle Gott! das gleich
darauf angeſtimmet ward.


Es war die Gewohnheit in L —, daß
die Kirche nie anders, als nach einem Lobge-
ſang, geſchloſſen wurde. Haben wir nicht,
ſagte der Prediger, da ich ihn daruͤber in ſei-
nem Hauſe befragte, haben wir nicht Urſach,
Gott fuͤr alles zu danken? Koͤnnen wir aber,
wuͤrde
[633] wuͤrde mein Vater entgegen gefragt haben?
Die zweyte Strophe, die meines Vaters Lieb-
lingsſtrophe, und mehr Gebet als Dank ent-
haͤlt, ſey uns allen heilig!


Der ewig reiche Gott

woll’ uns, bei unſerm Leben,

ein immer froͤhlich Herz

und edlen Frieden geben,

und uns in ſeiner Gnad

erhalten fort und fort,

und uns aus aller Noth

erloͤſen hier und dort!

Amen! Amen!

Die Leiche ward ohne Geſang von den Alten
herausgetragen, und verſenkt. — Die erſte
Schaufel Erde, die aufs Sarg fiel — noch
uͤberfaͤllt mich ein Schauer, wenn ich mir die-
ſen dumpfen Ton zuruͤck denke! Wenn ich
ihn zuruͤckhoͤre! Menſch du biſt Erde, und
wirſt zur Erde werden!
Das lag drin.


Der Paſtor ſprach die Kollekte nach der
erſten Schaufel Erde, und


den Beſchluß machte das Lied;


O! wie ſelig ſeyd ihr doch, ihr Frommen,

die ihr durch den Tod zu Gott gekommen!

Ihr ſeyd entgangen

aller Noth, die uns noch haͤlt gefangen!

und nach dieſem Liede giengen wir unſerer
R r 5Woh-
[634]Wohnung zu. Der Graf und ich waren beym
Hingang ein Paar. Beym Ruͤckwege ſchloß
ſich der Prediger uns an. Ich buͤckte mich tief
gegen den Haufen Begleiter und Begleiterin-
nen. — Jedes, das mich anſahe, bedaurte mei-
nen Verluſt, und ſchien es zu empfinden, was
ich verloren hatte, ohne daß es jemand, auſ-
ſer dem Pfarrhauſe eigentlich wuſte.


Der Graf wolte mir ſeine Einrichtung
(wie er bemerkte, mich zu zerſtreuen,) noch
naͤher eroͤfnen, und fieng ſchon an, daß ſein
Bette wie ein Gewoͤlbe geſtaltet, und daß in
den Zimmern, die er ſelbſt unmittelbar inhaͤtte,
Urnen und Saͤrger der Zierrath waͤren; al-
lein ich weiß ſelbſt nicht, wie er auf einmal
auf die unverbrennliche Lampe, das ewi-
ge Grabesfeur,
fiel. Er verſicherte mich, daß
er ſchon ſehr lange auf dieſe Art Lampen ge-
dacht haͤtte, welche man zuweilen in den alten
Graͤbern angetroffen haben will, die ohne Oel-
zuguß eine ſo lange Zeit gebrannt haͤtten. Der
gute Graf hatte noch manches von dieſem
ewigen Grabesfeur, wie ers nannte, zu ſa-
gen. Wie’s mir vorkam, hatte der Graf Luſt
die Sache zu Kuͤnſten zu rechnen, die durch
die Zeit verloren gegangnn, (ſi fabula vera)
— und ſiehe da! Ein keichender Bote mit
einem
[635] einem Briefe von ſeinem Bruder. Der Brief
hatte einen breiten ſchwarzen Rand. Nach
meiner Meynung war es ein Eroͤfnungsſchrei-
ben eines Todesfalls aus der graͤflichen Fa-
milie — oder wenigſtens unter den ſieben;
allein es ward nicht anders, als auf derglei-
chen Papier, im graͤflichen Hauſe geſchrieben.
Die Sache kam dem Grafen eilig vor. Eine
Sterbende aus Curland, von ihrem Mann
verlaſſen, ward angemeldet, und da ſie, nach
der Bemerkung des Herrn Bruders, ſehr viel
auf ihrem Herzen und Gewiſſen haͤtte, bat er
den Grafen, keine Zeit zu verſaͤumen, ſie ab-
zuhoͤren. Es waͤre die hoͤchſte Zeit. —


Ich kann es nicht laͤugnen, daß mir der
Umſtand aus Curland ſehr auffiel. Der
Graf nabm von dieſem Umſtande blos Gele-
genheit, ſeine Bitte zu wiederholen, daß ich
ja nicht von hinnen ziehen moͤchte, ohne ſei-
nen Kirchhof, wie ers nannte, mit allen
Anhaͤngen und Beyſtoͤcken zu beſuchen. Ich
habe, ſetzt’ er hinzu, noch uͤber mancherley
von Seiten ihrer Seligen Sie zum Verhoͤr
zu ziehn. Er ſtieg mit den Worten in ſei-
nen Wagen: heute mir, morgen dir!


Nach unſerm Hingange hatte der Or-
ganiſt eine Red’ aus dem Hut geleſen. Ich
habe
[636] habe nichts verloren, daß ich ſie nicht aus
ſeinem Munde empfangen; denn ich war an
dieſem Tage nicht zum Hoͤren auferlegt. So
wie ich ſie meinen Leſern mittheil, erhielt ich
ſie vom Verfaſſer noch den nemlichen Abend.
Er aß den Abend mit uns beym Prediger,
und wir wurden, der bittern Stellen uner-
achtet, wie er ſelbſt ſagte, Herzensfreunde!
Aus Erkenntlichkeit will ich dieſe Abdankung
zu Beylage B. erheben.


Bey-
[[637]]

Beylage B.


[[638]][[639]]
[figure]

Abdankung
des
Organiſten in
L —.


[figure]

Ich moͤchte was drum geben,

ſo wenig es auch iſt,

denn daß ich blutwenig habe, iſt euch bekannt.

Allerſeits nach Tugend und Alter lieb und
werthe Nachbaren,
und wenn man mir noch oben ein die Lei-
chenabdankungen entzieht, wie es heute (unter
uns geſagt) ſchier den Anfang genommen; ſo
werd
[640] werd ich wohl am Ende gar nichts drum ge-
ben koͤnnen.


Und doch! moͤcht’ ich was drum geben,
wenn ich fein der erſte geweſen, welcher das
menſchliche Leben mit einer Mahlzeit ver-
glichen haͤtte.


Gelt! es iſt ein recht ſchmackhafter
Vergleich!


Indeſſen haben, außer mir, ſchon andre
kluge Leute dieſen geſunden Einfall gehabt,
und wohl gewuſt, was gut ſchmecke: denn in
Wahrheit, es iſt der natuͤrlichſte Gedanke, den
ein Menſch, wenn er nemlich einen geſunden
Magen im Leibe hat, nur haben kann. Wir
eſſen und trinken, das heißt wir leben, und
wir leben, das heißt, wir eſſen und trinken.
— Die liebe Seel iſt beim Leben nur, ſo zu
ſagen, zu Gaſt — in der andern, oder in
der Seelenwelt, — ſoll der Leib der Seele
Koſtgaͤnger werden: denn, wie man lieſt, ſo
wird unſer Leib was extrafeines ſeyn. So ein
Unterſchied, wie zwiſchen Hirts Liſe, und der
Graͤfin Friederikchen — ihr kennt beyde,
meine Lieben. Mir iſt bange, wenn ich die Graͤ-
fin Friederikchen anſehe, daß mein Blick ihr
einen Fleck machen wird, ſo fein iſt ſie: man
hat nicht das Herz, ſie anzuſehen. —


Wenn
[641]

Wenn wir auf dieſe Welt kommen, heißt
es, wie vor Tiſch:


„Aller Augen warten auf dich, Herr, du
„giebſt ihnen ihre Speiſe zu ſeiner Zeit, du
„thuſt deine milde Hand auf, und ſaͤtigeſt
„alles, was lebet, mit Wohlgefallen.„


Die junge Raben ſperren den Mund gen
Himmel auf als hochjaͤhnten ſie, und ſchreyen
den lieben Gott an, wie unverſchaͤmte Bett-
ler unß. Kleine Kinder, das hab ich an mei-
nem Caſpar geſehen, der ſich wieder erhohlt
hat und dick und fett iſt, ja ich wolt von klei-
nen Kindern ſagen, die ſehen nicht gen Him-
mel — ich dacht ſchon, das kaͤme wegen der
Erbſuͤnde, und weil wir unß dem lieben Gott
entwoͤhnt haben; allein ich beſinn mich wie-
der — denn nicht wahr? alles was ſaugt,
ſieht auf die Mutter, und ſein Blick kommt
erſt durch Umwege zum lieben Gott! — Wer
in die Hoͤhe ſieht, iſt gleich ein Paar Zoll groͤſ-
ſer. Das wiſſen die Werber wohl, die uns
Angſt und Furcht genug ausjagen. — Iſt
aber je ein Rabe, wenn ihn gleich ſeine El-
tern nach Rabenart behandelt, Hungers ge-
ſtorben? Habt ihr je ſo was von der kleinſten
Muͤcke gehoͤrt! Ich nicht! Und doch ſagt man
von Menſchen, daß ſie im eigentlichen Brod-
Zweiter Th. S sver-
[642] verſtande Hungers geſtorben ſind! Daß ſich
Gott uͤber ſolche Bengel erbarme, die nicht
werth waren, junge Naben zu ſeyn! — Seyd
ihr nicht mehr, denn ſie
? haͤtte man auf das
Grab dieſer Verhungerten ſchreiben, und ein
Neſt voll junger Raben, eben im Gebet be-
griffen, aushauen ſollen! Sterben wir, liebe
getreue Nachbaren und desgleichen! ſter-
ben wir, ſo heißt es, als wenn wir vom Tiſch
aufſtehen, und das Tiſchtuch, bald haͤtt’ ich
Leichentuch, geſagt, zuſammen legen:


Wir danken Gott fuͤr ſeine Gaben,

die wir von ihm empfangen haben,

und bitten Gott unſern lieben Herrn,

er woll’ uns allzeit mehr beſcheren!

Er ſpeis uns ſtets mit ſeinem Wort;

damit wir ſatt werden hier! und dort!

Ach lieber Gott, du wolſt uns geben,

nach dieſer Welt das ewige Leben!

Kann ein beſſer Todten- oder Begraͤbniß-
lied
ſeyn?


Aber zur Sache zu kommen! Der Stu-
dent, der im erſten Paar mit dem Hochge-
bohrnen Herrn gieng, mag wohl wiſſen,
wie’s in Curland bey Begraͤbniſſen gehalten
wird; von unſerer Manier weiß er keinen
Theeloͤffel aufzuwaſchen, das iſt ein Loͤffel-
chen
[643] chen wie mein kleiner Finger! — Der Juͤng-
ling
wuͤrde mich ſonſt erſucht haben, ein
Wort aufs Grab zu ſprechen, das mir im-
mer zuſtehet, wenn die Leiche nicht ins Ge-
woͤlbe kommt, ſondern in die Kirchhofserde.
— — Ich ſag’ es nicht des Gewinſtes wegen!
denn ſeine Schoͤne! (Ende gut alles gut,
ſonſt waͤre noch Mancherley und Manches
davon zu ſagen, daß er ſich ihr, und ſie ſich
ihm, verpfaͤndet hatten, mein Sohn ſolt’
es nicht verſuchen! doch, ſie iſt todt!) ſeine
Schoͤne! ſeine verſtorbene Wilhelmine, iſt
eines Geiſtlichen Tochter, und er Predi-
gers Sohn, wie ich, wiewohl alles nur
durchs Schluͤßelloch, gehoͤret habe. Eine
Kraͤhe hackt der andern die Augen nicht aus!
Ich hatte keinen Dreyer genommen, ob ich
gleich es eben jetzt zum Fuderholz noͤthig habe.
— Doch wenn ihr Nahrung und Kleider
habt, (an Holz iſt nicht gedacht, wie es denn
auch unſer Glaubensvater Luther bey der
vierten Bitte, Gott weiß warum, ausgelaſ-
ſen hat,) ſo laſſet euch begnuͤgen.


Was ich alſo heute rede, das red’ ich
von Herzen: denn ich hab’ es oft und viel be-
merkt, daß meine Grabreden oder Leichenab-
dankungen nicht ohne Segen geblieben. —


S s 2Gott
[644]

Gott verzeih mir meine Suͤnde! Manch-
mal dacht ich, wenn ihr alle aufs Grab wein-
tet, ſo, daß die Thraͤnen ordentlich drauf zu
kennen waren, der ſelige Menſch werde bald
aufgehen — und ich haͤtte die Ehre gehabt,
dieſe Pflanze Gottes auf ſeinem (nehmlich
Gottesacker) zu begruͤßen. —


Wenn man recht herzlich weint, hat
man nicht Zeit, an einen Schwamm zu den-
ken; und es iſt wahrlich ein ſchoͤner Anblick,
ſo natuͤrlich weg weinen zu ſehen! — Aber
wieder auf das Leben und die Mahlzeit zu
kommen!


Kennt ihr, lieben getreuen Nachbarn
und desgleichen
, kennnt ihr was angeneh-
mers, als eine gute Mahlzeit? — Ich glaub’
es thut den Engelchens leid, wenn ſie uns eſ-
ſen ſehen, daß ſie es nicht auch koͤnnen. —
Der liebe Gott hat uns alle, nach dieſer
Welt, mit Abraham, Iſaac und Jacob, zu
Tiſch bitten laſſen — das wird ſchmecken!
Freylich werden nur blos geiſtliche Gerichte
aufgetragen werden; aber man ſieht doch
draus, daß der liebe Gott ſelbſt an Eſſen und
Trinken denkt, und wohl weiß, daß uns
der Mund alsdenn eher nach dem Himmel
waͤſſern werde, als wenn er geſagt haͤtte,
wir
[645] wir ſolten mit Abraham, Iſaac und Jacob,
dort eine lange Predigt anhoͤren. Wenn
ihr ſo mit euren geſunden Kinderchens um
den Tiſch euch lagert, und bey Sommerszeit
Milch, und bey Winterszeit Erbſen und
Speck eßt. O Nachbaren, mich hungert,
wenn ich daran denke, und ich wuͤrd’ mich
bey einem von euch gleich heut Abend auf
friſcher That zu Gaſt bitten, um meinen heu-
tigen Vortrag recht lebhaft zu machen, wenn
ich nicht bey dem Herrn Pfarrer gebeten
waͤre! Der Herr Pfarrer weiß ſchon, was
einem Handlanger am goͤttlichen Wort zu-
kommt, und ich verſichre euch, daß ich dem
Studenten begegnen werde, wie meinem eig-
nen Kinde, obgleich er die Landes Manier nicht
weiß, und mir nicht die Ehre angethan hat,
eine Leichenabdankung bey mir zu beſtellen.


Seht liebe Nachbaren, wie die Mahl-
zeit, ſo das Leben! Es iſt, unter uns ge-
ſagt, recht gut zu leben! — Wenn ihr nicht
arbeiten moͤchtet, wuͤrd’ es euch wohl ſchme-
cken? Die wenigſten Vornehmen eſſen und
trinken, ſie thun nur ſo, als aͤßen und traͤn-
ken ſie! und denn am Sonntage! — denkt
nur noch an jenen Sonntag, wo wir des
Morgens um vier Uhr ein Werk der Liebe
S s 3und
[646] und der Noth verrichteten, und dem Herrn
Pfarrer ſein Getreyde wegen des bezogenen
Himmels in die Scheure ſammelten, und
hernach, wiewohl nach der Predigt, unterm
Schauer ſaſſen, und regnen ſahen! und un-
ſer gute Seelenhirte mitten unter uns! Das
gieng Proſit! Gevatter! und ich glaube ſolche
Proſittage habt ihr viel gehabt.


Niemand iſt ſchlaͤfrig zum Todesſchlaf.
Jedes hat noch Luſt ein Stuͤndchen aufzu-
bleiben. Alles will gern leben. Die lahme
Trine im Hoſpital haͤtte gern noch einige Jah-
re gehinkt, und es iſt gewiß und wahrhaftig ſo
viel huͤbſches, beſonders im Sommer, in der
Welt zu ſehen und zu hoͤren; daß man recht
gern lebt! — Ich liebe darum vorzuͤglich den
Sommer, weil ſo viel Leben drinn iſt! — Alles
lebt im Sommer! Die ausgewachſenen Baͤu-
me ſind fuͤr Voͤgel und Gewuͤrmer große
Staͤdte, ſo wie das Gras ſchlechte Doͤrfer, und
Geſtraͤuch Kirchdoͤrfer ſind. — Manche Eiche
koͤnnte man wohl ein Schloß nennen: alles
wie man es nehmen will. — Mir hat noch
keine Fliege einen Gedanken weggeſnmmt,
und es iſt mir gleich nicht recht, wenn nicht
ein Paar in meiner Stube ſind. Kann ſie
ein ſo großer Herr, als der liebe Gott iſt,
in
[647] in ſeiner Welt leiden; ſo koͤnnen ſie doch
wohl in meiner Stube ſeyn! Ich hab es von
einem ſehr vornehmen Herrn, der bey ſeinem
Feſte auch fuͤr ſeine Fliegen und Muͤcken Wein
eingießen laͤßt, um alles, was um ihn lebt
und ſchwebt, zu ſaͤtigen und zu traͤnken, mit
Wohlgefallen. Seine Hausthiere muͤſſen all
ein Spitzglaͤschen Wein haben; allein das
halt’ ich, unter uns geſagt, unrecht, wenn
man die Thiere zu menſchlich macht! —
Man wird ſchon einen Lazarus finden, warum
alſo Fliegen und Muͤcken? Der Gevatter Briſe
ſprach mir geſtern von der Groͤße des lieben
Gottes! und ich hatte den Einfall, daß der
liebe Gott jeden Sperling, jeden Stieglitz,
jeden Haͤmpfling, jede Milbe, jede Muͤcke,
mit Namen zu nennen wuͤſte, ſo wie ihr! die
Leute im Dorfe: Schmieds Greger, Brie-
ſens Peter, Heyfrieds Hanß
— denkt nur!
wenn der liebe Gott ſo jede Muͤcke ruft, die
ſich einander ſo aͤhnlich ſehen, daß man ſchwoͤ-
ren ſolte, ſie waͤren all Schweſter und Bruder!
denkt nur!


Kurz lieben Freunde! der liebe Gott iſt
ein guter Herr, bey dem ihr dient, und
ſeyd ihr gleich auf Taglohn bey ihm, und iſt
die Welt gleich nicht verdungen Werk, hat
S s 4gleich
[648] gleich jeder Tag das Seine, und wird gleich
nicht fuͤrs Leben im ganzen Stuͤck, ſondern
fuͤr jede Tagesabtheilung Rechenſchaft gege-
ben, was ſchadet es? Deſto kuͤrzer die Rech-
nung! Deſto leichter alles uͤberſehen! Wir
ſind wahrlich nicht in Egypten! wenn wir
den lieben Gott dienen — Seyd ehrlich —
Habt ihr wohl uͤber eure weltliche Herrſchaft
zu klagen? ob es gleich oft adeliche Aegyptier
giebt, und unter den koͤniglichen Beamten
manchen pharaoniſchen Frohnvogt. — Der
liebe Gott laͤßt jedem, was er hat — Er
nimmt nicht Zoll und Acciſe, nicht Huben-
ſchoß und Vorſpann, er will nur das Herz,
das heiſt: daß ihr das Eurige gut anwen-
det, und euch all zuſammen fuͤr Schweſter
und Bruder haltet. Er goͤnnt uns Wuͤrden
und Ehren, und laͤßt den beym Schulzen-
amt
, den einen Landgeſchwornen, den ei-
nen Haußvater ſeyn, und mich einen Mit-
diener am goͤttlichen Worte
! Er will nur das
Herz, das heiſt: daß wir uns einander Ge-
vatter nennen, und nicht einer uͤber den an-
dern erheben, und all’ einander die Hand
geben und wohl bedenken, daß nicht wir,
ſondern Er, durch uns regieret; dahero wer-
den auch die Schulzen und Landgeſchwornen,
wie
[649] wie die liebe Obrigkeit all zuſammen, Goͤt-
ter der Erden genannt. — Der liebe Gott
hats nicht verboten, in den Krug zu gehen
und ein Glaͤschen zu trinken, und Hannchen
herumzudrehen, wenn es nur des Sonntags
iſt, nichts dabey verſaͤumt wird, und alles
in Zuͤchten und Ehren bleibt. Pfuy, wer
wolte ſich betrinken, um vergnuͤgt zu ſeyn,
wer ſich die Augen verbinden, um deſto beſ-
ſer zu ſehen! —


Seht, lieben Freunde, ſo iſt das Leben
eine Mahlzeit. —


Es giebt aber auch bey jeder Mahlzeit
Mancherley und Manches, was unange-
nehm iſt. Wo Waizen iſt, da ſchleicht ſich
auch Unkraut herein, wie in unſers Herrn
Pfarrers Waizenland. Gott wolle geben, daß
in ſeiner Gemeine weniger Unkraut ſey, als
dies Jahr auf ſeinem Acker! — Sonſt wuͤrden
die liebe Engellein zu jaͤten kriegen, und es
wuͤrden nicht viele in Frieden und Jauchzen
eingefuͤhret werden in die Scheuren — das
iſt auf den Kirchhof, den ich vor des lieben
Gottes Scheure anſehe. —


Wir eſſen im Schweiß des Angeſichts.
Wir eſſen, was wir ſauer verdient haben. —
Ich kann zuweilen das Brod nicht anſehen,
S s 5ohne
[650] ohne daß mir der Angſiſchweiß ausbricht;
denn ich weiß, was es mir gekoſtet hat.
Wenn man nur bedenkt, was der liebe Gott
erſt mit dem Brod fuͤr Wege geht, eh’ es
Brod wird. Wer kann es ohne Sorgen eſſen?
Und mit dem Hemd’ eh es ein Hemd wird!
Wer kann es ohne Seufzer anziehen? Gott
weiß wie es kommt, man ſorgt am liebſten
am Tiſch, und ſieht [auf] die Erde, obgleich
man dankvoll gen Himmel ſehen ſollte. —
Man ſieht all’ um ſich herum, die Nahrung
und Kleider haben wollen, und das bringt
uns in einen Gedankenwald — oder man
glaubt vielleicht, ſich das Sorgen leichter zu
machen, wenn man bei Tiſche ſorgt; allein
man macht es ſich ſchwerer, denn man wird
dadurch unthaͤtig, und anſtatt, daß man
die verlorne Kraͤfte erſetzen ſolte, verliert
man ihrer noch mehr. — Es iſt ſo, wie ein
unruhiger Schlaf, der mehr ſchadet als nuͤ-
tzet, man iſt nach ihm noch ſchlaͤfriger. —
Wenn man einmal ins Sorgen hinein kommt;
findet man ſich bald nicht heraus. Mein
College in B —, der in ſeiner Jugend Bal-
bier geweſen, iſt bis zur Verzweiflung be-
truͤbt, daß er nicht ſo viel Buͤcher hat, als
ſein Pfarrer! Und ich ſag’ oft und viel zu
mei-
[651] meiner Frauen, daß ich Gott fuͤr dreyerley
beſonders danke, nemlich, daß ſie ein treues
fleißiges Weib iſt, die ihre Finger ins Kalte
und ins Warme ſteckt, wie ihr ſie alle kennt.
daß mein Acker nicht der ſchlechteſte iſt, und
ſeinen Organiſten ſchon naͤhrt, und daß ich
nicht viel Buͤcher habe: denn wahrlich Buͤ-
cher ſtehlen einem das Leben unter den Haͤn-
den weg. Freylich muß man der Bibel Ge-
ſellſchaft machen, außer dem Geſangbuch,
das in Abſicht der Bibel wie Mann und Frau,
Bein von der Bibel Bein, Fleiſch von der
Bibel Fleiſch iſt, von dem man ſagen kann:
man wird es Maͤnnin heißen, weil es vom
Mann genommen iſt. — Außer der Bibel
und dem Geſangbuch hab’ ich acht bis neun
Buͤcher. Was will aber der liebe Herr Amts-
bruder mit mehr! mit Bibel, Geſangbuch und
Luthers Catechismus, kann man ſchon hauß-
halten. — Wenn ich leſe, dann leb’ ich nicht,
ſondern der, ſo das Buch geſchrieben, lebet
in mir! — So iſt es aber mit dem verdamm-
ten Neide. Da lob ich mir doch noch Suͤn-
den, bey denen man ſeine Luſt hat, [und] die
man mit lachendem Munde thut: denn da
iſt doch noch etwas dabey. Aber der Neid,
der Zorn und desgleichen, ſind ſo traurige,
ſo
[652] ſo milzige Laſter, daß man gar nicht begrei-
fen kann, wie man zornig und neidiſch und
desgleichen iſt. Bey jenen iſt man auf der
Hochzeit und Kindstaufe, bey dieſen auf Be-
graͤbnißen! Man nennt daher dieſe lezten
ſchwarze Laſter
, und das von Rechts we-
gen
, wie’s in den Urtheilen ſteht, das Gott
erbarm!


Fuͤr ſolche Sorgen, wie mein College,
der geweſene Balbier, ſich aufbindet, bin
ich zwar ſicher; allein ich hab andre — und
meine neun Kinder alle mit Magen, wie
Kornſaͤcke! — So was will gefuͤllt ſeyn, —
Ich mag mein Aemtchen berechnen, wie ich
will, uͤber zwey hundert Gulden dreſch ich
nicht heraus. Wenn noch ſo eine Erndte ge-
weſen, und ich noch ſo viel Leichenabdankun-
gen gehalten, iſt doch am Ende nicht ein
Bund Stroh mehr, als zweyhundert Gul-
den. Was das koſtet, einen Sohn auf der
Univerſitaͤt zu haben, das koͤnnt ihr nicht
glauben, liebe Nachbaren! Indeſſen iſt auch
Waare dafuͤr, und wenn Gott uns leben
laͤßt, wird er kuͤnftige Pfingſten ſeine erſte
Predigt auf unſerer Canzel thun, wozu ich
jung und alt hiemit zum voraus dienſtlich
eingeladen haben will. — Da wird man doch
ſehen,
[653] ſehen, ob er weiß, wo er zu Hauſe gehoͤret.
Da ich an dieſen hofnungsvollen Juͤngling
denke, werd’ ich Muͤhe haben, die Mahlzeit
dieſes Lebens unſchmackhaft zu finden. —
Findet ihr nicht etwas aͤhnliches zwiſchen
ihm, und dem tiefgebeugten Curlaͤnder? Ich
glaub’, am Ende ſehen ſich die Studenten
alle gleich, und doch!


Herzlich geliebte Nachbaren! wenn man
auch einen hofnungsvollen Juͤngling zum
Sohn hat, der auf Pfingſten predigen wird,
iſis doch ein elend jaͤmmerlich Ding um al-
ler Menſchen Leben. Auch die Vornehmen
haben nicht alle Tage Rebhuͤner. Ich aß
ehegeſtern ein halbes beym gnaͤdigen Herrn
v — auf dem Gebetsverhoͤr; allein, unter
uns geſagt, es war ein wenig alt! So iſis
mit dem Leben, wenn auch Rebhuͤner aufge-
tragen werden! Wer eine Wittwe mit Geld
heyrathet, ißt ein altes Rebhuhn, und wer
zu Ehren kommt, ißt ein altes Rebhuhn, und
geſetzt, die Rebhuͤner ſind friſch, und geſetzt,
ſie waͤren auch ein Alltagsgericht; was hilfts?
Die Kinder Iſrael wurden des Manna uͤber-
druͤßig, wie es Leute giebt, die des preußi-
ſchen Mannas, der Schwadegruͤtze, muͤde
werden koͤnnen. Das Manna, es ſey das
Iſrael
[654] Iſraelitiſche, oder das Preußiſche, in Ehren
— allein wer es dazu hat, daß er alle Tage
Haßelhuͤner eſſen kann, dem muͤſſen ſie, wie
unſer einem die graue Erbſen, werden.


Man ſagt, wenn es am beſten ſchmeckt
ſoll man aufhoͤren, und wahrlich ſo iſts mit
dem Leben. Beym Leibgericht verdirbt man
ſich am erſten den Magen. — Die Leibge-
richte der Vornehmen koͤnnte man am fuͤg-
lichſten nennen: Der Tod in Toͤpfen, und
von den ausgewachſenen Baͤuchen der Land-
pfleger
heißt es: uͤbertuͤngte Graͤber.
Habt ihr ſchon, meine Lieben! einen dicken
Bauren? einen dicken Organiſten? und einen
dicken Schneider geſehen? In unſerm, und
den drey uns benachbarten Kirchſpielen, iſt
keiner aufzutreiben, und uͤberhaupt iſt ſo was
ein ſeltener Vogel — allein bey unß, die zu
Pharaonis magern Kuͤhen gehoͤren, ſitzt das
Uebel wo anders — Wo ſitzt es immer bey
Reichen oder Armen, Vornehmen oder Ge-
ringen? — Wir futtern alle durch die Bank
den Tod, wenn wir eſſen und trinken — wir
moͤgen dick oder duͤnn ſeyn. — Wie oft kommt
unß was in die Queere bey Tiſch, und waͤr’
es auch nur eine Graͤte! Da verbrennt ſich
der
[655] der Kleine den Mond und Trinchen kriegts
in die unrechte Kehle!


Selten iſt eine Hochzeit, wo nicht was
trauriges ſich zutraͤgt, ihr wiſſet es wohl, wie
es des Hiobs Kindern gieng, da ſie recht froͤh-
lich und guter Dinge waren! Wenn man lu-
ſtig iſt, hat der Teufel immer ſein Spiel.
Er ſtreicht die Violin beym Tanz. Wo ge-
trunken wird, werden Glaͤſer zerbrochen, und
man kann ordentlich zu viel auf einmal leben,
wie man zu viel auf einmal eſſen und trinken
kann. Wie viele uͤberleben ſich dahero ſelbſt? —
Und dies alles zuſammen genommen, was
meynt ihr? Das Leben iſt zwar eine Mahlzeit;
allein es iſt darauf nicht eben einzuladen —
So fuͤrs Hauß, ſo aus der Hand in den
Mund! —


Wenn es nicht ſchmeckt, ſteht man gern
ein Viertelſtuͤndchen fruͤher auf, und ſieht
ſich im Freyen um, wenn es Mittag, und in
den lieben Mond, wenns Abend iſt. Man
hat alsdenn dem lieben Gott eben ſo viel Ur-
ſach zu danken, daß man aufgeſtanden iſt,
als daß man ſich niedergeſetzt hat. Das heißt
mit andern Worten: im Fall wir uns nicht
das Leben gar zu ſuͤß gemacht, ſterben wir
gern und danken dem lieben Gott fuͤr den Tod,
ſo
[656] ſo wie fuͤrs Leben. Wahrlich, es kann nicht
ſchlimm mit dem Tode ſeyn! Friſche Luft und
ein Blick in den Mond iſt das wenigſte —
Wer recht muͤd’ iſt, liebe Nachbarn! legt ſich
lieber, als daß er eſſen und trinken ſolte. Der
hoͤrt die Kugel nicht, den ſie trift, der ſieht
den Blitz nicht, den er erſchießt. Ich glaub’ es
hat noch kein Menſch recht gewuſt, wenn er
ſtuͤrbe — Weg ſind wir! Der Tod iſt, die
Sache beym Licht genommen, eben ſo ein
Werk der lieben guͤtigen Natur, als das Le-
ben, und der Schlaf eben ſo gut, als das
Eſſen. — Wer nicht ſchlafen kann, kann auch
nicht eſſen; allein wenn es moͤglich waͤre, daß
jemand immer ſchlafen koͤnnte; ſo wuͤrd’ er
nicht eſſen duͤrfen. —


Wolt ihr die Sach’ ins Feine haben,
denkt Euch die Jugend als Fruͤhſtuͤck, die Juͤng-
lingsjahre als Mittag, die maͤnnlichen als
Veſperkoſt, das Alter als Abendbrod — Da
ließ ſich viel, beſonders beym Mittag, an-
bringen; allein denkt der Sache ſelber nach
— und faſſe jeder in ſeinen Buſen, allwo ich
das meiſte, was ich geſagt, herausgenom-
men. —


Laßt uns, lieben Freunde! nicht zu viel
eſſen, damit wir ſanft ſchlafen koͤnnen. Man
ſitzt
[657] ſitzt hoͤchſtens eine Stund’ am Tiſch. Wer
ſchlaͤft aber nicht gern ſeine ſieben Stunden?


Manche Bluͤthe, die ſchon angeſetzt hat,
faͤllt ab, weil ein boͤſer Junge, indem er nach
einem Vogel wirft, die kernfriſche Bluͤte trift.
Viele vergeuden ihre Jugendkraͤfte, und ſind
Lebensdurchbringer — — Wie der Baum
faͤlt, ſo bleibt er auch liegen! Sorget nicht
fuͤr den andern Morgen, ſonſt verlieret ihr
den heutigen und den folgenden Tag, und
wer weiß, iſt nicht der Tag, da ihr am mei-
ſten fuͤr den folgenden ſorget, eu’r juͤngſter,
eu’r lezter Tag! —


Hiemit verlaſſen wir dieſes Grab! Gewiß,
Freunde, ein denkwuͤrdiges Grab! — Flieg
vorbey, du Geyer und Habicht, und wenn
du in dieſe kalte Gegend, (wo der D. Luther
gewiß an Holz in der vierten Bitte gedacht
haͤtte, wenn er in L — Organiſt geweſen,)
wenn, ſag’ ich, du in dieſe kalte Gegend dich
verirren ſolteſt, auch du, Adler! — und all
ihr unheilige Voͤgel! allein ihr heilige, Nach-
tigall! Lerche! und Schwalbe! ſetzt euch auf
dies Grab, waͤrs auch nur, weil Chriſten-
leute Minen das Geleit gegeben und an ihre
Bruſt geſchlagen und gebetet:


Zweiter Th. T tWas
[658]
Was ich gelebt hab, decke zu.

was ich noch leben ſoll, regiere du! — —

Man faͤngt die Grabſchriften mit Wanderer
an! Warum aber nicht mit Reuter? — Reu-
ter ſo gut, als Wanderer, und auch du ſelbſt,
der du mit ſechſen faͤhrſt — Hier ruhet ein
Maͤdchen aus fremden Landen, ſie fand hier
den Tod, auch du wirſt ihm nicht entwan-
dern, entreiten, entfahren — Ihr habt alle
einen Weg — alle zum Grabe!


Genug! auf heute, liebe Nachbaren!
Da ich dies Weſen, (eine Abdankung kann
ichs nicht mit gutem Gewiſſen nennen,) bis
beynah ans Ende fertig hatte, fiel es mir ein,
daß ich auch das Leben mit einer Reife haͤtte
vergleichen koͤnnen, weil unſre Seligtodte nicht
von hier war, und ein reiſendes Maͤdchen
was ſeltenes iſt; allein da ich eben zu Hauſe
war, und den nemlichen Abend, als ich dies
Weſen aufſetzte, eine ſehr maͤßige Mahlzeit
that, ſchien mir das erſte beſſer, und ſo wuͤnſch’
ich Euch denn, und die Selige, wenn ſie re-
den koͤnnte, wuͤrd’ außer dem herzlichen
Dank, daß Ihr ihr auf eurem Kirchhof’ ein
Plaͤtzchen gegoͤnnet, nnd ſie dahin fein ſau-
ber angezogen in Communionskleidern beglei-
tet habt, und die Selige, ſag’ ich, wuͤrd’
euch
[659] euch außer dieſem Dank ein gleiches wuͤn-
ſchen, das iſt:
Eine geſegnete Mahlzeit!


Schluͤßlich laßt uns allerſeits auf unſre
Knie fallen, um ein glaͤubiges und andaͤchti-
ges Vater unſer zu beten! Ihr wißt wohl,
wie ich mich aͤrgre, wenn ihr Leutchen erſt
eure Beine anſeht, eh ihr hinkniet, als wenn
ihr von ihnen Erlaubniß baͤtet. — Wozu die
Umſtaͤnde! Ich hab doch auch ein Ehrenroͤck-
chen an, aber ich fall, mir nichts dir nichts,
nieder wie ein Stuͤck Holz, und meine Mar-
the auch ſo, wenn auch am Kleid oder
Schuͤrz’ ein Fleck bleibt. — Kinderchens,
iſts doch kein Fettfleck. Er bleibe! Dieſes
Grabzeichen. Eine ſchoͤne Erinnerung:
Menſch, du biſt Erde! bedenke das Ende!
Betet alſo, als betet ihr zum leztenmale:
Vater unſer ꝛc.


Ende der Beylage B.



[660]

Der Prediger erinnerte ſich an ſeine Pflicht,
der Regierung nach Koͤnigsberg von dem erfolgten
Tod’ unſerer Seligen Nachricht zu ertheilen. Ich
ſchrieb an meine Mutter, und an meinen Va-
ter, an Benjamin und an Herrmann
. Ich
leugn’ es nicht, daß der Brief an meine Mutter
mit Bitterkeit gewuͤrzt war, der an Herrmann
war gewiſſensruͤhrig! Ich beſtaͤtigt’ alles, was
Mine in meinem Namen verſprochen hatte. Ich
forderte nicht ihr Blut von ſeines und des v. E.
Haͤnden; allein ich forderte den Herrmann auf,
zu bedenken zu dieſer ſeiner Zeit, was zu ſeinem
Frieden diene. Bald wuͤrd’ es vor ſeinen Augen
verborgen ſeyn, wenn der Richter der Lebendigen
und der Todten ſein Gericht eroͤfnen wuͤrde! —


Um Minens Grab ward ein viereckigt Boll-
werk geſchlagen, welches man in L — einen Kranz
nannte Es war nichts weiter darauf geſchrie-
ben, als:


Wilhelmine — — —

gebohren zu — in Curland

geſtorben zu L — in Preußen

wer ſo ſtirbt, der ſtirbt wohl!

Acht Tage blieben wir ſo verſammelt, ſo ein-
muͤthig, ſo bei verſchloſſenen Thuͤren, wie die
Juͤnger, da ihr Herr und Meiſter ſich ihren ſicht-
lichen Augen entzogen hatte. Wir ſprachen von
Minen, und giengen Hand in Hand zu ihrem
Grabe. Mine war der Mittelpunkt aller unſrer
Unterredungen, bis auf die Abhandlung von der
Suͤnde wider den heiligen Geiſt
, worin ſich
weder Gretchen noch ihre Mutter miſchte. So
oft ich allein zu Minens Grabe wallfahrtete, be-
gegnete ich Gretchen, die mir nie im Wege war.


[][][]
Notes
*)
Bey dieſer Stelle ſind ich angemerkt: unwoͤrt-
lich. Die Feinheit des Originals kann nicht
erreicht werden.
*)
Dieſes Stuͤck war Gretchen, des Predigers Toch-
ter in L —, Liebling. Sie beſaß es, wie ſie
ſich zu mir ausdruͤckte, ſchriftlich und muͤnd-
lich. Sie hatt’ es abgeſchrieben und wußt’ es
auswendig, — Das gute Maͤdchen fand etwas
aͤhnliches von der muͤtterlichen Linde drinn. — —

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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). Hippel, Theodor Gottlieb von. Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnfb.0