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Das Leben
und
die Meinungen

des Herrn Magiſter
Sebaldus Rothanker.

[figure]
Zweyter Band.


Mit Königl. Preuß. Churfürſtl. Brandenb. und Churfürſtl. Säch-
ſiſchen allergnädigſten Freiheiten.

Berlin und Stettin,:
beyFriedrich Nicolai.
1775.

[[2]][[3]]

Viertes Buch.


Erſter Abſchnitt.


Sebaldus wanderte auf der von ohngefehr ge-
[fundenen] Landſtraße fort, ohne zu wiſſen
wohin. Er war ſchon ein paar Meilen einſam fort-
gegangen, als er von weitem einen Fußgaͤnger er-
blickte, den er einzuholen ſuchte. Er verdoppelte ſeine
Schritte, und erblickte einen Mann, der in einen
grauen Rock von feinem Tuche gekleidet war, eine
ungepuderte Stutzperucke auf dem Kopfe hatte, einen
kleinen Buͤndel an einem Stabe auf der Schulter
trug, und mit heller Stimme, das Lied: Wachet
auf, ruft uns die Stimme,
ſang. Sebaldus,
ein Freund des Singens geiſtlicher Lieder, zumahl ge-
wiſſer enthuſiaſtiſcher Melodien, geſellte ſich zu dem
Wanderer, und ſummete das Lied, in einer mit vielen
Terzien und Sexten untermiſchten extemporirten
Baßpartie nach.


A 2Als
[4]

Als es geendigt war, gruͤßten ſich die beiden Wan-
derer, und Sebaldus fragte den Fremden: ‚Wo-
”hin der Weg fuͤhre, auf dem ſie giengen?‛


‚Nach Wuſtermark, ſagte der Fremde, wo ich
”Nachtlager zu halteen, und den andern Morgen
”nach Berlin zu gehen geſonnen bin.‛


Sebaldus freuete ſich, daß er auf dem rechten
Wege war, denn ob er gleich, nachdem er ſeine Re-
cecommendationsbriefe verlohren hatte, nicht wußte,
was er in Berlin machen ſollte, ſo wußte er doch eben
ſo wenig, was er an irgend einem andern Orte in
der Welt haͤtte machen ſollen.


Er bat alſo den Fremden um Erlaubniß in ſeiner
Geſellſchaft zu gehen, und erzaͤhlte ihm den Unfall,
deu er auf den Poſtwagen gehabt haͤtte.


Der Fremde kreuzte und ſegnete ſich uͤber dieſe
Begebenheit, und lobte ſeine eigene Vorſicht, daß
er, da die Wege, nach dem Frieden, unſicher waͤ-
ren, lieber zu Fuße gegangen ſey.


‚Nicht eben, ſetzte er hinzu, als ob ich viel Geld
”bey mir haͤtte. Jch bin zufrieden, wenn ich reich
”bin im Heilande. Aber der Herr hat doch meine
”Vorſichtigkeit geſegnet.‛


Sebaldus verſetzte: ‚Jch bin ſo vorſichtig nicht
”geweſen. Jch hatte noch keinen Begrif davon, daß
”ein
[5]
”ein Menſch ſeinen Nebenmenſchen mit kaltem Blute
”anfallen und berauben koͤnnte.‛


‚Ach mein lieber Bruder, die arme menſchliche Na-
”tur iſt ganz verderbt. Wenn wir nicht durch die
”Gnade ergriffen werden, ſo ſind wir in grundloſem
”unerforſchlichem tiefem Verderbniſſe.‛


‚Ey, mein Freund, von den Laſtern einiger Boͤſe-
”wichter kann man nicht auf die Natur der Menſchen
”uͤberhaupt ſchließen. Wir ſind von Natur nicht ge-
”neigt, wie die wilden Thiere, uns anzufallen, ſondern
”in Geſellſchaft zu leben, und uns zu unterſtuͤtzen.‛


‚Ach wir armen Menſchen! wie koͤnnten wir uns
”unterſtuͤtzen, wenn uns die Gnade nicht unterſtuͤtzte,
”wie koͤnnten wir etwas gutes wirken, wenn es die
”alleinwirkende Gnade nicht wirkte.‛


‚Freylich! wir haben alles durch die goͤttliche Gnade.
”Aber die Gnade wirkt nicht wie der Keil auf den
”Klotz. Gott hat die Kraͤfte zum Guten in uns ſelbſt
”gelegt. Er hat uns Verſtand und Willen, Nei-
”gungen und Leidenſchaften gegeben. Er will, daß
”wir thaͤtig ſeyn ſollen, ſo viel gutes zu thun, als
”uns moͤglich iſt. Er hat Wuͤrde und Guͤte in die
”menſchliche Natur gelegt.‛


‚O welch ein Selbſtbetrug, mein lieber Bruder!
”rief der Fremde mit einem tiefen Seufzer aus: Wenn
A 3”wir
[6]
”wir Gott wohlgefaͤllig werden wollen, ſo muͤſſen wir
”nichts als lauter Elend und Unwuͤrdigkeit an uns
”ſehen:

‚Wollt ihr zu Jeſu Heerden,

”So muͤßt ihr gottlos werden!

”Daß heiſt, ihr muͤßt die Suͤnden

”Erkennen und empfinden.‛


‚wie ein theurer Knecht Gottes ſinget. Wir muͤſſen
”an der Gnade hangen, die Gnade alles wirken
”laſſen, der Gnade alles Gute zuſchreiben; denn
”wird die Gnade in uns erſt recht groß, wenn wir
”recht klein, recht unwuͤrdig werden.‛


‚Wenn wir uns mit den Siechen

”Jns Lazareth verkreichen!‛

Sebaldus zuckte die Achſeln, und ſagte: ‚Dieß ſind
”geſalbte Schalle, die einer verderbten Einbildungs-
”kraft heilig ſcheinen, die aber keinen Sinn enthal-
”ten. Wir beſitzen Kraͤfte zum gutem. Wer dieß
”laͤugnen wollte, wuͤrde Gottes Schoͤpfung ſchaͤnden,
”der uns ſo viele Vollkommenheiten gegeben hat. Ohne
”den Einfluß einer uͤbernatuͤrlich wirkenden Gnade zu
”erwarten, koͤnnen wir Tugenden und edle Thaten
”ausuͤben. Oder ſind etwan Wohlwollen, Men-
”ſchenliebe, Freundſchaft, Großmuth, Mitleiden,
”Dankbarkeit nicht Tugenden?


”Schein-

[7]

‚Scheintugenden, mein lieber Bruder, weltliche
”ehrbare Scheintugenden. Mit ſolchem Bettlersman-
”tel, will der unwiedergebohrne Menſch, den Ausſatz
”ſeiner natuͤrlich verderbten Natur bedecken. Mit die-
”ſen ſogenannten Tugenden aber, kann man auf
”ewig in den Schwefelpfuhl geworfen werden, aus
”welchem keine Erloͤſung iſt. Dieß ſind nicht die wah-
”ren gottgefaͤlligen Tugenden. Wenn Tugenden nicht
”aus der Gnade entſpringen; ſo ſind ſie glaͤnzende/
”Laſter zu nennen.‛


‚Wozu ſoll man ſo ſeltſame Benennungen erden-
”ken? Jch vergebe z. B. den Raͤubern die mich be-
”raubt haben, ich wuͤnſche ihre Beſſerung. Dieß iſt
”ſo wenig die Wirkung einer uͤbernatuͤrlichen Gnade
”daß es vielleicht bloß nur die Wirkung meines Alters,
”oder meines Temperaments iſt. Jſt dieß aber des
”wegen Gott nicht gefaͤllig? Jſt es ein Laſter?‛


‚Wenn es nicht aus Herzlichkeit zu dem blutigen
”Verſoͤhner geſchiehet, ſo iſt es nichts als ein weltli-
”ches Tugendbild, eine nachgemachte Froͤmmigkeit,
”bey der man ewig verlohren gehen kann!‛


‚Sprechen Sie doch nicht ſo! Hiemit kan man al-
”ten Muͤtterchen allenfalls eine Furcht einjagen, aber
”aber man beweiſet nichts. Jch habe uͤber dieſe Sa-
”chen reiflich nachgedacht, und ich finde, daß weder
A 4”eine
[8]
”eine blutige Verſoͤhnung, noch eine ewige Verdam-
”niß, mit den erhabenen Begriffen, die wir von Gott
”haben muͤſſen, zuſammenſtimmen.‛


‚Ja! Ja! ſo geht es! je mehr die Menſchen alles
”durch ihre bloße Vernunft einſehen wollen, deſtowe-
”niger erkennen Sie ihre angebohrne Blindheit und
”und Finſterniß. Mir faͤllt hiebey ein, was ein lie-
”ber Sohn des Heilandes ſagt: *) „Es iſt unver-
”meidlich, daß Seelen, die ſich nicht ganz in das
”evangeliſche Weſen verlohren haben, daß ſie ihren
”Biſſen Brod, den ſie in den Mund ſtecken,
”gleichſam in dem Heilande verzehren, und denen
”das im Namen Jeſu auf den Abtritt ge-
”hen,
noch ein Geheimniß iſt, in allerhand Be-
”denklichkeiten verfallen; aber die Gnaden- und Bun-
”desleute verſtehen ſich auf halbe Worte, und wiſſen
”die Theilung des Tempels des Heil. Geiſtes in allen
”Ein- und Ausgaͤngen, ohne Kopfbrechen zu ma-
”chen.‟


Sebaldus ſtarrete den Fremden an, ohne ein
Wort zu ſagen. Dieſer glaubte vielleicht, er verſtum-
me aus Bewunderung oder Entzuͤckung; Er fuhr alſo
fort:


”Ach
[9]

‚Ach lieber! laß dich von der alleinwirkenden Gna-
”de ergreifen! Laß dich von der Kraft des Bundes-
”blutes anfaſſen. Bete herzlich um die Wiederge-
”burt. Bete daß du bald zum Durchbruch kommen
”moͤgeſt. Bete, bete, ich will mit dir beten, lieber
”Bruder!‛


Sebaldus ſagte ſehr kalt: ‚Jch pflege das Vater
”unſer zu beten, darinn ſteht nichts vom Durchbruche,
”nichts vom Bundesblute, nichts von der Wieder-
”geburt und von der alleinwirkenden Gnade.‛


Der Pietiſt ſchlug die Haͤnde uͤber ſein Haupt zu-
ſammen, und rief aus: ‚Welcher Unglaube! welche
”fleiſchliche Sicherheit! O betruͤge dich nicht Menſch!
”die Ewigkeit wird kommen, Quaal ohne Ende fuͤr
”den Suͤnder!‛ —


Sebaldus gerieth in Eifer, und fieng an die Hoͤl-
lenſtrafen, mit dem beſten ihm beywohnenden Gruͤn-
den, zu widerlegen, aber der Pietiſt, der ſich von je her
auf inneres Gefuͤhl, nie aber auf Gruͤnde eingelaſſen
hatte, antwortete nichts, ſondern ſchlug nochmals
die Haͤnde uͤber ſein Haupt zuſammen, hob die Au-
gen gen Himmel, und fieng an, ſo laut er konnte,
nachfolgendes Lied zu ſingen:


A 5*) Zu
[10]

*) ‚Zu ſpaͤt iſts zu erfahren, was Hoͤll’ und Ewig-
”keit, ach! willſt du’s darauf ſparen, thu’s nicht, heut
”iſts noch Zeit, bekehre dich von Herzen, daß du der
”Quaal entgehſt, denk, dann giebt es nicht Scherzen,
”wenn du vorm Richter ſtehſt.‛


‚Der dir das Urtheil faͤllet, das Leben rund ab-
”ſpricht, zum Teufel dich geſellet, des ewgen Todsge-
”richt, o Zeter! Ach! Weh! Jammer! Welch Heulen
”wird da ſeyn, wenn in die Marterkammer, der Hen-
”ker ſchleppt hinein.‛


‚Dahin, wo keine Reue, kein Klagen helfen kann,
”die Marter geht aufs neue nach tauſend Jahren an!
”Da iſt kein Glied ſo kleine, das nicht ſein Leiden hat,
”der Leib der fuͤhlt das ſeine, die Seel’ auch fruͤh und
”ſpat.‛


‚Jn
[11]

‚Jn großer Furcht und Schrecken, in finſtrer Dun-
”kelheit, wird die Verdammten decken, Angſt, Grauen,
”Traurigkeit, die Zaͤhne werden klappen fuͤr Froſt und
”großer Hitz, und werden blindlings tappen, nach einem
”friſchen Sitz.‛


‚Sie werden ewig fallen ins Loch, das keinen
”Grund, und auf einander prallen zuſammen in den
”Schlund, ſich beißen, freſſen, nagen, ſich fluchen, laͤ-
”ſtern ſtets, der Tod wird ſie recht plagen, ohn Ende t
”Seht, ſo gehts.‛


‚So geht es den Verfluchten in ihrem Hoͤllenloch,
”den Schlemmern und Verruchten, ach glaͤubets, glaͤu-
”bets doch, wollt ihr daran noch zweifeln? ſo wahr iſts,
”ſo wahr Gott, ihr fahret zu den Teufeln, wo ihr das
”halt’t fuͤr Spott!‛


Dieß Lied ſang Sebaldus nicht mit, vielmehr
zeigte er unter Abſingung deſſelben ſichtbare Kennzei-
chen der Ungeduld. Nach deſſen Endigung, gerieth
er einige Minuten lang in ein tiefes Nachſinnen, und
fragte endlich ſeinen Mitwanderer:


‚Sind Sie denn alſo ein Wiedergebohrner?‛


‚Ja, antwortete er, mit ſehr ſanfter Stimme,
”das bin ich durch Gottes Gnade. Vor drey Jahren
”den 11ten September, Nachmittags um 5. Uhr,
”hatte ich zuerſt das ſelige innere Gefuͤhl der Gnade,
die
[12]
”die bey mir zum Durchbruch kam, ſeitdem habe ich
”an der Gnade beſtaͤndig gehangen, bin nie der
”Gnade ſatt worden.‛


‚Alſo glauben ſie doch gewiß ewig ſelig zu werden?‛


‚Ach ja! deſſen bin ich gewiß:


‚Denn ich will ſtets ein Bienelein

”Auf des Lammes Wundeu ſeyn

”Und fahren ſo in’n Himmel nein.‛

‚So! Und werden ewige Freude haben, und wer-
”den ganz geruhig zuſehen, *) wie Millionen ihrer
”Nebenmenſchen ſich beißen, freſſen, nagen, ſich
”fluchen und laͤſtern, wie der Tod ſie recht

”plagt
[13]
”plagt ohne Ende. Welcher Graͤuel! koͤnnen Men-
”ſchen ihre Nebenmenſchen ſo verdammen, und koͤn-
”nen mit Wohlgefallen von ihrer Verdammung ein
”feyerliches Lied ſingen!‛


Der Pietiſt laͤchelte, und ſagte mit ſanfter Stim-
”me. Da ſiehet man den natuͤrlichen Menſchen! Jch
”verdamme ſie ja nicht, ſondern (er laͤchelte nochmals)
”die Bibel verdammet ſie, Da ſteht es deutlich.‛


Sebaldus fuhr ſehr heftig heraus: ‚Nein, das
”ſteht nicht in der Bibel; und wiſſen Sie, wenn es
”darinn ſtuͤnde, ſo waͤre ſie nicht Gottes Wort. Jch
”moͤchte eben ſo gern ein Atheiſt ſeyn, als ſolche ab-
”ſcheuliche Begriffe von Gott haben, daß er uns
”das Leben rund abſpricht, daß er uns dem
”Teufel zugeſellet, daß er uns durch Henker
”in Marterkammern ſchleppen laͤßt, wo keine

B”Reue
*)
[14]
”Reue, keine Klagen helfen kann. — Entſetzlich!
”von Jhm ſo zu denken, dem Vater des Lebens, dem
”Geber alles Guten!‛ —


Sebaldus war in großen Eifer gerathen; er brach
ploͤtzlich ab, und fieng an nachzudenken, wie der gute
Mann gemeiniglich that, wenn er merkte, daß er
ſehr heftig geworden war, um zu uͤberlegen, ob er ſich
auch vergangen, oder zu viel geredet habe.


Der Pietiſt bewegte den Zeigefinger ſeiner rechten
Hand zweymal auf und nieder, und ſagte ſanftmuͤ-
thiglich:


‚Lieber Bruder, ich beweine deinen erſchrecklichen
”Unglauben; und du kannſt noch in ungoͤttlichen Eifer
”gerathen! Hier kann man den ſichtlichen Unterſchied
”des Standes der Natur und der Gnade ſehen.
”Wer in der Gnade iſt, der iſt ſo ruhig, der ertraͤget
”alles, der erduldet alles, ſtellet alles Gott anheim.‛ —


Jndem er dieß ſagte, ſprangen unvermuthet zwey
Raͤuber, von welchen damals, nach eben geſchloſſenem
Frieden, die ganze Gegend wimmelte, mit gezogenen
Saͤbeln aus einem dicken Gebuͤſche, und fielen die
Reiſenden an. Sebaldus gab mit dem ruhigen Be-
wußtſeyn, daß er ſich nicht wehren koͤnnte, und daß
er wenig zu verlieren haͤtte, das wenige Silbergeld
her, das ihm uͤbrig geblieben war. Der Pietiſt hin-
gegen
[15]
gegen war unter den Haͤnden der Raͤnber todtenblaß,
zitterte, und bezeigte ſich ſehr ungeberdig. Er waͤlzte
ſich auf die Erde, ſuchte ſeine Uhr zu verbergen, em-
pfieng aber daruͤber verſchiedne Stoͤße und Schlaͤge.
Seine Taſchen wurden demungeachtet ſaͤmtlich aus-
geleeret. Man nahm ihm auch ſein neues feines
Kleid, und den einen Raͤuber geluͤſtete endlich nach
ſeinen ganz neuen Stiefeln. Er mußte, alles Wei-
gerns ungeachtet, ſich auf die Erde ſetzen, um ſie aus-
zuziehen: da aber einer noch nicht voͤllig ausgezogen
war, entſtand ein Geraͤuſch im Buſche, und ein Hund
ſchlug an. Hieruͤber wurden die Raͤuber fluͤchtig. —
Der Pietiſt ſprang auf, und ſchrie aus Leibeskraͤf-
ten: ‚Halt Diebe! halt Diebe!‛ Als aber niemand
kam, ſo ſetzte er ſich, mit dem Stiefel in der Hand,
abermals unter einen Baum, um recht herzlich auf
die Boͤſewichter zu fluchen, die die Straßen berau-
ben.*)


B 2Zuletzt
[16]

Zuletzt ſagte er zum Sebaldus, indem er ihm im
Stiefel ein geheimes Taͤſchchen zeigte, worinn er ſein
Gold verwahret hatte: ‚Sehen Sie nun, wie der Herr
”die Gottloſen mit Blindheit ſchlaͤgt. Jſt nicht dieß
”Gold durch ein Wunder gerettet worden?‛ Hier zog
er ſeinen Stiefel an, und ſtand auf.


Sebaldus verſetzte: ‚Jch finde, daß der Stand
”der Natur und der Gnade, wie Sie vorher be-
”merkten, wirklich unterſchieden iſt. Jch natuͤrlicher
”Menſch kann den Verluſt meines Geldes ruhig er-
”tragen. Es waren freylich nur wenige Groſchen,
”aber mein letzter Heller iſt mit weg. Jhnen iſt noch
”weit mehr uͤbrig geblieben, als ich vorher hatte. Ey|
”Ey! ein Wiedergeborner ſollte wenigſtens nicht
”fluchen!‛


Der Pietiſt ward feuerroth, und ſagte ſtotternd:
”Die Boͤſewichter verdienen den Fluch, daß ſie, wie
”Sie vorher ganz recht ſagten, Menſchen wie wilde
”Thiere anfallen, da wir uns einander unterſtuͤtzen
”ſollten. Ach! und das wenige Gold hat der Herr
”nicht meinetwegen mir ſo wunderbarlich erhalten, ſon-
”dern um nothleidender Bruͤder und Schweſtern wil-
”len,
*)
[17]
”len, fuͤr die ich es von chriſtlichen Seelen geſammlet
”habe. Wiewohl ich itzt ſelbſt nothleidend bin.‛ —


Er hatte nicht ganz unrecht, denn er ſtand im blo-
ßen Hemde da, indeß ein ziemlicher Laudregen zu fal-
len aufieng, Sebaldus zog ungebeten ſeinen alten
Ueberrock aus, und uͤberreichte ihm denſelben.


‚Nehmen Sie, ſagte er; ich begehe freylich ein
”glaͤnzendes Laſter, indem ich Jhnen dieſen alten Kittel
”anbiete. Aber der Regen faͤllt zu ſtark, als daß wir
”itzt feine Diſtinktionen machen koͤnnten.‛


Der Pietiſt nahm den Ueberrock ſtillſchweigend an;
und weil beide Wanderer vielleicht uͤber das Vorgefal-
lene nachzudenken fuͤr gut fanden, ſo ſchwiegen ſie
auch den uͤbrigen Theil des Weges, bis ſie gegen
Abend in Wuſtermark ankamen.


Zweyter Abſchnitt.


Es ſcheint, der Pietiſt war einer von den angeſehe-
nen Perſonen des Konventikels, deren Heiligkeits-
geruch ſich gemeiniglich, zehn bis zwoͤlf Meilen in die
Nunde, unter den frommen Seelen ausbreitet, die da-
her bey jedem Bruder und jeder Schweſter auf ihren
Reiſen willkommen ſind, und in deren Haͤuſern mit
eben der Zuverſicht einſprechen, mit der ein reiſender
B 3Moͤnch
[18]
Moͤnch, in ein an dem Ende ſeiner Tagereiſe liegen-
des Kloſter eintritt. Unſer Wanderer hatte eben des-
halb Wuſtermark zum Nachtlager erwaͤhlt, weil er
wußte, daß daſelbſt eine fromme wohlhabende Bauer-
wittwe wohnte, in deren Haus er auch ſo gleich gieng,
und den Sebaldus ſeinem Schickſal uͤberließ, der
in einer elenden Dorfſchenke eine Stube voll al-
lerhand Geſindel antraf, unter welchem er ſich dieſe
Nacht wenig Ruhe verſprechen konnte.


Man hat bemerkt, daß, bey den Froͤmmlingen maͤnn-
liches Geſchlechts, mit heißem Eifer fuͤr fromme
Uebungen ſehr oft eine große Hartherzigkeit verknuͤpft
iſt, ſeltener bey denen von weiblichem Geſchlechte.
Die Baͤuerinn hoͤrte von ihrem Gaſte kaum, daß er
noch einen Reiſegefaͤhrten habe, welcher, gleich ihm,
von Raͤubern gepluͤndert worden: ſo kam ſie in die
Schenke, und lud den Sebaldus zu ſich ein. Sie
trug auf, was ihr Haus vermochte, und die Wan-
derer erquickten ſich.


Nach Tiſche fieng der Pietiſt die Betſtunde an,
mit der die reiſenden Heiligen, da wo ſie einkehren,
gemeiniglich ihre Zeche zu bezahlen pflegen. Sebal-
dus,
ſo ſehr er eine duͤrre Dogmatik, und eine ſtoͤr-
riſche Polemik haßte, ſo ſehr war er ein Freund herz-
licher Andacht. Er war daher ſehr erbaut von der
ſtillen
[19]
ſtillen Aufmerkſamkeit der Baͤuerinn und ihrer Kinder.
Auch der Vortrag ſeines Reiſegefaͤhrten war ihm nicht
zuwider; denn dieſer beſaß vollkommen die Biegſam-
keit, mit welcher Leute ſeiner Art ſich beſtreben, bey
denjenigen, die ſie nicht bekehren koͤnnen, wenig-
ſtens eine gute Meinung von ſich zu hinterlaſſen. Er
vermied alſo in ſeinem Vortrage, ſehr weislich, alle
Punkte, uͤber die, wie er unterweges gemerkt hatte,
Sebaldus anderer Meinung war, und hielt ſich bey
allgemeinen aſcetiſchen Betrachtungen auf, die der
Bauerfamilie begreiflich ſchienen, und beym Sebal-
dus
gleichfoͤrmige Gedanken erregten, mit denen er
ſich ſehr zufrieden zur Ruhe legte.


Den Morgen fruͤh, nach eingenommenem reich-
lichem Fruͤhſtuͤck, dankten ſie ihrer Wohlthaͤterinn,
und ſetzten ihren Weg weiter fort. Sebaldus ge-
noß den ſchoͤnen Morgen, ſang ein froͤhliches Morgen-
lied, und war ſo innig vergnuͤgt, daß er gar nicht
daran dachte, wie mißlich ſein Zuſtand war, und
welchen Zweck die Reiſe, auf der er itzt eben begriffen
war, haben koͤnnte, bis ſein Reiſegefaͤhrte ſelbſt das
Geſpraͤch auf Berlin brachte, wohin ſie giengen. Dieſer
beſeufzete, mit auf die linke Achſel geſenktem Haupte,
und gen Himmel erhabenen Augen, das Elend dieſer
großen Stadt, wo, wie er verficherte, die Religion
B 4ein
[20]
ein Geſpoͤtte ſey, wo niemand in die Kirche gehe, wo
ein jeder rechtſchaffner Chriſt verachtet werde, und
wo Rotten und Ketzereyen regierten. Er beklagte
den Sebaldus recht gefliſſentlich, weil er, als ein
Fremdling, der ſich nicht in den beſten Umſtaͤnden
befinde, in dieſer Stadt voll Jrrglaͤubigkeit und voll
Unglaubens, ganz gewiß werde umkommen muͤſſen.


‚Jch habe, ſagte Sebaldus, beſſere Hoffnung.
”Jch weiß aus der Erfahrung, daß bey dem, was
”viele Leute Unglauben und Ketzerey nennen, die
”Liebe des Naͤchſten ſehr wohl beſtehen kann.‛


‚Nein! Nein! rief der Pietiſt mit erhabener
”Stimme, wo Glauben iſt, da iſt auch Liebe! die
”findet man aber in dieſer Stadt, ja im ganzen Lande,
”gar nicht. Da herrſcht lauter Eigennutz und Betrug,
”da gehen alle Laſter im Schwange, da iſt die Ruch-
”loſigkeit aufs hoͤchſte geſtiegen, da iſt alle chriſtliche
”Liebe erloſchen.‛


Er ſagte dieſes mit ſo vieler Dreiſtigkeit, und ver-
ſicherte ſo oft, er kenne Berlin, wo er ſich oft aufge-
halten habe, ſo genau, und es ſey uͤberhaupt eine
weltbekannte Sache, daß Sebaldus anfieng dar-
uͤber nachdenkend zu werden.


‚Jch geſtehe, ſagte er, nach einiger Ueberlegung,
”wenn die Einwohner dieſer Stadt, ja dieſes ganzen
”Landes,
[21]
”Landes, ſo beſchaffen ſind, als Sie ſie beſchreiben, ſo
”muß es ein wahres Ungluͤck ſeyn, unter ihnen zu
”wohnen. Aber, fuhr er fort, — nachdem er noch-
”mals ein wenig geſtaunt hatte, — ſollten Men-
”ſchen, die ſo geſinnet ſind, wohl in Geſellſchaft le-
”ben koͤnnen? Sollte ein Staat wohl in kurzer Zeit
”bluͤhend werden koͤnnen, der lauter ſolche Buͤrger
”enthielte? Und doch ſoll, wie man mich verſichert
”hat, der Preußiſche Staat, nur ſeit Menſchengeden-
”ken, ſehr bluͤhend geworden ſeyn; beſonders ſoll ja Ber-
”lin am Wohlſtande ſeit dreißig Jahren ſichtlich zu-
”genommen haben.‛


Der Pietiſt, der dieſes Raiſonnement nicht faſſen
konnte, ſagte mit dummer Gleichguͤltigkeit: ‚Was
”hat das Zeitliche mit dem Himmliſchen zu thun?
”Die Kinder dieſer Welt ſind immer kluͤger, als die
”Kinder des Lichts! Glauben Sie mir gewiß, es giebt
”in dieſer großen Stadt, einige wenige fromme See-
”len ausgenommen, die noch ihren Heiland lieb ha-
”ben, nichts als boͤſe Atheiſten, die keinen Gott, kel-
”nen Teufel, und keine Hoͤlle glauben.‛


‚Ey nun! ſagte Sebaldus, wenn dieſe Leute kei-
”nen Gott glauben, ſo glaube ich einen, und weiß,
”daß er keinem ſeiner Geſchoͤpfe mehr Elend auflegen
”wird, als es tragen kann.‛


B 5Dritter
[22]

Dritter Abſchnitt.


Sie waren unter dergleichen Geſpraͤchen durch
Spandau gegangen, und hatten ſie nur unter-
brochen, um beym Hereingehen und Herausgehen die
kurzen Fragen der wachthabenden Unterofficiere zu
beantworten, die ein Paar ſo unanſehnliche Paſſa-
giere nicht des Aufſchreibens oder Meldens werth hiel-
ten. Als ſie an Charlottenburg kamen, erblickte Se-
baldus,
mit Vergnuͤgen, jenſeit der Spree im koͤnigli-
chen Garten, die lange Allee dichtbelaubter Kaſtanieu-
baͤume, unter denen einige einzelne Spaziergaͤnger
auf- und abgiengen. Er blieb auf der Bruͤcke ſtehen,
um noch einmal darnach zuruͤck zu ſchauen. Vor dem
Schloſſe hingegen gieng er vorbey, ohne daß es ihm
nur einmal eingefallen waͤre, zu fragen, was fuͤr
ein großes Gebaͤude dieß waͤre. So ſehr war er ge-
wohnt von den Schoͤnheiten der Natur ſchnell geruͤhrt
zu werden, und ſo wenig aufmerkſam war er auf
alle Pracht der Kunſt.


Sie kamen nunmehr in den berliniſchen Thiergar-
ten. Je mehr ſie fortgiengen, deſto mehr ward Se-
baldus
entzuͤckt. Man muß anmerken, daß in der
Nacht ein ſtarker Strichregen gefallen war, welcher
den Sand, mit dem die Natur in dieſen Gegenden
ſo
[23]
ſo freygebig geweſen iſt, zum Stehen gebracht, und
den Staub von den Baumblaͤttern abgewaſchen hatte,
den tauſend Frauenzimmerſchleppen, nebſt einer ver-
haͤltnißmaͤßigen Anzahl von Wagenraͤdern und Pfer-
defuͤßen, bey trockenem Wetter im Thiergarten zu
erregen pflegen. Den Vormittag hatte ſich das Wet-
ter aufgeklaͤrt, und bereits ſeit einigen Stunden,
ſchien die Sonne. Die gaͤnzlich reine Luft erhob das
Gruͤn der Baͤume, das auf mannigfaltige Art abge-
wechſelt das Auge beluſtigte.


Die Wanderer ſahen die gluͤckliche Miſchung dunk-
ler Fichten mit ſchlanken Ulmen, hellgruͤnen weißrin-
digen Birken, und glatten Akacien unterbrochen,
denen hundertjaͤhrige majeſtaͤtiſche Eichen zum Hin-
tergrunde dienen. Melancholiſche Gaͤnge von dich-
tem Lerchenholze, und von duͤſtern Eibenbaͤumen,
fuͤhren auf weite Plaͤtze und auf gruͤne Saͤle mit
Statuen geziert, und mit Hecken von jungen Eichen,
und von immergruͤnem Nadelholze umkraͤnzt. Sie
giengen durch beſchattete Gaͤnge, mit Linden, und
breitbelaubten Platanusbaͤumen beſetzt, hinter welchen
dichte Gebuͤſche von Erlen und Eſpen die feuchten
Gruͤnde anfuͤllen, neben ihnen der verwachſene Wald,
wo einſam der ſokratiſche Ahorn waͤchſt, und die Pap-
pel und der Masholder, wo die weit ſich ausbreiteude
Buche,
[24]
Buche, ihre gruͤnen geſtreckten Aeſte wiegt, und erha-
bene Tannenfichten auf ſchlankem und geradem Stam-
me, die belaubte Krone, hoch uͤber den dichten Wald,
einzeln himmelan ſtrecken. Der friſche Geruch des Na-
delholzes, vom Regen ausgelockt, und balſamiſche Lin-
denbluͤthe, erquickten ſie, ſo wie ſie giengen, und beym
Uebergange uͤber jede Queerallee, begraͤnzte die Aus-
ſicht der benachbarte Spreeſtrom, auf dem aufge-
ſpannte Segel vorbeywallten.


Sie kamen endlich Nachmittags gegen drey Uhr
auf den Platz bey den Zeltern, den, weil es Sonntag
war, eine Menge Spaziergaͤnger anfuͤllte. Zwar
war noch nicht die modiſche ſechſte Stunde da, welche
die ſchoͤne Welt in den Zirkel zuſammen bringt, um
zu ſehen, und geſehen zu werden. Die Excellen-
zen und die gnaͤdigen Damen hatten ſich nicht laͤngſt
erſt zur Tafel geſetzt. Die Kenner im Eſſen kaueten
noch an den reichgewuͤrzten Frikaſſeen, ſchmeckten die
zuſammenkoncentrirten Saͤfte der feinen Ragouts, in
Schuͤſſeln mit Aſa Foͤtida gerieben, und zogen im
voraus das Fuͤmet des raren Wildes in ſich, das
ihrer Zaͤhne wartete. Die reichen Kapitaliſten, waren
eben vom Burgunder und ſechs und zwanziger Rhein-
weine geſaͤttigt, und fiengen an, beym Deſſerte, den
Peter Semeyns, Syrakuſer, Rivesaltes und
Cap-
[25]
Capwein aus kleinen Glaͤſern zu ſchluͤrfen. Die
ſchoͤnen Damen buͤrgerliches Standes, waren eben
im Begriffe zu Kaffeeviſiten zu fahren, und ordneten
die Geſchichte des Tages, ſo wie ſie ſie erzaͤhlen woll-
ten, in ihrem Kopfe zuſammen, und die franzoͤſiſche
Kolonie war noch in der Veſperpredigt.


Kurz, es war halb vier Uhr, und es war alſo von
der ſchoͤnen Welt noch wenig zu ſehen; hingegen
wimmelte der Platz von den gluͤcklichen Soͤhnen der
Erde,
die alle Sorgen der Woche am Sonntage
voͤllig vergeſſen, und ſich und ihr Leben, bey einem
Spaziergange, und bey einem geringen Labetrunke,
herzlich genießen. Arbeiter auf Weberſtuͤhlen und in
Schmiedeeſſen, fuͤllten die Zelter an, und ließen ihren
Groſchen unter lautem Gelaͤchter aufgehen, oder ſteck-
ten ernſthaftiglich uͤber das gemeine Beſte ihre Koͤpfe
zuſammen, weißagten neue Auflagen, und faͤllten
Urtheile uͤber Geruͤchte von bevorſtehenden Kriegen.


Der Zirkel, der nach drey Stunden der Schau-
platz der Schoͤnen, vornehmen Standes, ſeyn ſollte,
war itzt vom gemeinen Manne, im beſten Anputze und
voll froͤhliches Muthes, angefuͤllt. Da war mancher
geſunder Juͤngling, im neugewendeten Rocke und mit
goldner Troddel am Hute koͤſtlich geputzt, neben ihm
in ſilberbebraͤmter Muͤtze, ſeine rothbaͤckige Liebſte,
die
[26]
die, zur Feyer dieſes ihm laͤngſt verſprochenen Spazier-
ganges, ihre ſaͤmtlichen ſechs Roͤcke uͤbereinander gezo-
gen, und ihre neuen kalmankenen Schuhe nicht ver-
geſſen hatte. Hinter ihnen, das Bild der ehelichen
Vertraͤglichkeit, ein ehrlicher Handwerksmann, der
ſeinen juͤngſten Knaben im langen Rocke auf dem
Arme trug, indeß ſeine Frau ihres Mannes Stock in
ihrer rechten Hand ſuͤhrte, ihre funfzehnjaͤhrige Toch-
ter ihr zur Linken, in der Schoͤnheit der Jugend,
mit niedergeſchlagenen Augen, die unter der empor-
ſtehenden Haube ſanft hervorblickten. Die große
Allee von der Stadt her, war von Spaziergaͤngern
zu Fuß und zu Pferde bedeckt, und einige Wagen
brachten wohlbeleibte Tanten und buͤrgerlich erzogene
Nichten, bis aus Thor, die nur die Reize eines ange-
nehmen Spazierganges ſuchten, und auf wohlfriſirte
Koͤpfe, und Aufſaͤtze nach der neuſten Mode Acht zu
haben, nicht waren gewoͤhnt worden.


Sebaldus Stirn erheiterte ſich bey dem Anblicke
ſo vieler vergnuͤgten Leute. Des Pletiſten Stirn aber
ward dadurch noch mehr gerunzelt. Er rief voll
geiſtliches Verdruſſes aus: ‚Siehe da die Kinder Be-
”lials, wie ſie den Luͤſten des Fleiſches nachziehen!
”Wie ſie den Weg der Suͤnden gehn, reiten und
”fahren! Jmmer gerade in den hoͤlliſchen Schwefel-
”pfuhl hinein!‛


‚Behuͤte
[27]

‚Behuͤte Gott! ſagte Sebaldus: Jch ſehe nichts
”ſuͤndliches darinn, daß dieſe Leute den herrlichen
”Tag genieſſen, den uns Gott giebt, ſo weit ich ſe-
”hen kann, iſt ihr Vergnuͤgen ſehr unſchuldig.‛


‚O, wie ſuͤndlich! ſagte der Pietiſt mit entflamm-
”ten Augen: das iſt recht des Teufels Lockſpeiſe, wenn
”er uns mit dem weltlichen Vergnuͤgen ankoͤrnen
”kann. Ein rechtes Gnadenkind kann kein anderes
”Vergnuͤgen haben, als ſein eignes Elend zu kennen,
”und zu fuͤhlen was es heißt, ein rechter armer
”Suͤnder zu ſeyn.‛


Sebaldus, dem dieſe geſalbten Weidſpruͤche nicht
gefielen, antwortete nichts, wuͤrde auch nicht zum
Worte gekommen ſeyn; denn der Pietiſt, den die
Herzlichkeit zum Heilande ergriffen hatte, fieng
an, die voruͤbergehenden zu ermahnen, ihnen die
Abſcheulichkeit des Spaziergehens an einem ſchoͤnen
Tage vorzuſtellen, und Jhnen dafuͤr das Seiten-
hoͤhlchen
anzupreiſen, in welchem ſie recht ſelige
Spaziergaͤnge halten koͤnnten, u. ſ. w.


Einige giengen vor ihm vorbey, beynahe ohne ihn
zu hoͤren, andere gafften ihn an, ohne zu wiſſen, was
ſie aus ihm machen ſollten, andere ſchuͤttelten den
Kopf. Endlich verſammlete ſich doch allerhand Poͤ-
bel, der ſchrie und laͤrmte, und vom Tollhauſe zu
reden
[28]
reden anfieng, ja einige hoben Erdkloͤßer auf, und
warfen ſie uͤber ihn weg.


Sebaldus fieng an zu fuͤrchten, daß der Auftritt
ernſthafter werden moͤchte, und ſuchte ſeinen Reiſe-
gefaͤhrten von ſeinem Vornehmen abzuhalten; die-
ſem aber hatte der geringe Anſchein eine Art von Maͤr-
tyrer zu werden, den Kopf angeflammt, und er fieng an,
mit ſtaͤrkerer Stimme, den Voruͤbergehenden ein Wort
ans Herz zu legen.


Endlich gerieth er an einen Kerl, der nach ſeinem
braunen Rocke und rund um den Kopf herum abge-
ſchnittenen Haaren, nichts anders als ein Schlaͤch-
ter oder Gerber ſeyn konnte. ‚Mein Freund, redete
”er ihn an, er gehet, um ſich die Zeit zu vertreiben,
”o! wenn er wuͤßte, wie wohl dem iſt,


‚Der da ſeine Stunden

”Jn den Wunden

”Des geſchlacht’en Lamms verbringt.‛

Herr, ſagte der Kerl mit ſtarren Augen: ‚was
”kann mir das helfen, ich bin vorigen Sonntag im
Lamme geweſen, aber das Bier war ſauer.‛


Und damit gieng er fort. Der umſtehende Poͤbel
ſchlug ein Gelaͤchter auf, und verließ unſre Reiſen-
den. Der Pietiſt verſtummte.


Die
[]
[figure]
[][29]

Die Enthuſiaſten pflegen, in der Hitze ihres Eifers,
gewoͤhnlicher Weiſe einen Kothregen, und allenfalls
auch einige Fauſtſchlaͤge, nicht zu achten, wenn es ihnen
nur gelingt Aufmerkſamkeit zu erregen: wenn ſie aber
trockner Weiſe ausgelachet werden, und niemand bey
ihnen ſtehen bleibt, ſo kuͤhlet ſich ihr Eifer ab, und
ſie begnuͤgen ſich allenfalls, zwiſchen den Zaͤhnen mur-
melnd, die dem Worte ungehorſamen Weltkinder
dem Teufel zu uͤbergeben.


So gieng es hier auch. Der Pietiſt ſchwieg muͤr-
riſch ſtill., und Sebaldus, da ſie indeſſen ins Thor
traten, und unter den Linden fortgiengen, genoß die
Schoͤnheit dieſer Allee, ſog den Duft der Lindenbluͤthe
ein, und freuete ſich uͤber die froͤhlichen Geſichter, die
ihm allenthalben entgegen kamen.


Sie giengen einige Straßen ſtillſchweigend fort,
bis ſie an eine Kirche kamen, in welcher Gottesdienſt
gehalten wurde. ‚Siehe da! rief der Pietiſt aus,
”wie leer der Weg zum Gotteshauſe iſt, und wie an-
”geſuͤllt der Weg zu den Haͤuſern des Teufels war!
”O! wie iſt doch alle Gottesfurcht, alle Liebe zum
”Heilande in dieſer großen Stadt ganz ausgetilget!
”Wie wandelt doch jedermann im Pfade der Ruchlo-
”ſigkeit, laͤuft dem Teufel gerade in den Rachen, und
”ſtuͤrzt ſich in das ewige Verderben!‛


CSebal-
[30]

Sebaldus ſchauete ungeduldig einigemal rechts
und links um ſich.


‚O Stadt! fuhr der Pietiſt fort: die du biſt wie
”Sodom und Gomorrha, wie bald wird Gott ſeinen
”feurigen Schweſelregen uͤber dich ergießen! Und dieß
”waͤre ſchon lange geſchehen, wenn nicht wenige Ge-
”rechten in dir waͤren, um derentwillen dich der Herr
”ſchonet! Ja, mein Freund! (hier fieng er an zu wei-
”nen,) es giebt hier einige erwaͤhlte Seelen, die bis
”uͤber den Kopf in den Wunden des Lammes ſitzen,
”die zu einem Puͤnktlein, zu einem Staͤnblein, zu
”einem Nichts geworden ſind, und ſich nur in das
”blutige Lamm verliebt haben, dieſe halten noch die
”verworfene Stadt, daß ſie nicht faͤllt.‛


Jndem er dieſes ſagte, blieb er ploͤtzlich an einer
Ecke ſtehen, zog des Sebaldus alten Ueberrock aus,
und gab ihn zuruͤck. Sebaldus bat ihn, denſelben
ſo lange zu behalten, als er ihn brauchte. ‚Nein,
”ſagte er, ich trete nunmehr bey einem lieben Bruder
”ab. Wie wird dem ſein Herz ſeyn, wenn er mich in
”meiner Nacktheit ſiehet, wenn er ſiehet, was ich
”um des Heilandes willen gelitten habe. Er wird
”dann thun, ſo viel ihn der Heiland heißt.‛ Hier
druͤckte er dem Sebaldus die Hand, wuͤnſchte ihm
den Segen des Herrn, verließ ihn, klopfte an ein
vier-
[31]
vierzig Schritte davon entferntes großes wohlgebau-
tes Haus, und gieng, nachdem es geoͤffnet wor-
den, hinein.


Sebaldus ſtand noch an der Ecke, mit dem
Ueberrocke auf dem Arme, und nachdem er denſelben
angezogen hatte, befand er ſich an einem ſehr heißen
Nachmittage nichts beſſer. Er gieng voller Gedan-
ken die Straße wieder herunter, die er gekommen
war, und da er wieder an die Kirche kam, ſo trat
er, weil er nichts beſſers zu thun wußte, hinein.


Er fand die Kirche wider Vermuthen ſo geſtopft
voll, daß es ihm einige Muͤhe koſtete, ſich ſo weit
durchzudraͤngen, daß er den Prediger deutlich verſte-
hen konnte. Dieß war ein junger Kandidat, der
mit zierlichem Anſtande, eine erbauliche Rede von
der wahren chriſtlichen Liebe,
beynahe zu Ende ge-
bracht hatte, und itzt eben bey der Nutzanwendung
war. Das Herz des guten Sebaldus erweiterte ſich
wieder, da er die vielen ſchoͤnen Lehren des Pre-
digers, und die Aufmerkſamkeit der zahlreichen
Zuhoͤrer betrachtete; und die finſtere Vorſtellung
von Berlin, welche ſeines Reiſegefaͤhrten Bericht
bey ihm verurſacht hatte, fieng an, etwas aufgehei-
rerter zu werden.


C 2Vier-
[32]

Vierter Abſchnitt.


Jndeß war der Gottesdienſt geendigt. Alle Zuhoͤ-
rer verließen die Kirche, und Sebaldus mit
ihnen. Nun fiel ihm wieder ein, daß er nicht wußte,
wohin er gehen ſollte, indem er in ſeiner Taſche kei-
nen Pfennig hatte, und in dieſer weitlaͤuftigen Stadt
gaͤnzlich unbekannt war. Er fieng an, daruͤber ver-
ſchiedene traurige Betrachtungen zu machen.


Jndem er damit beſchaͤfftigt war, gieng der Kan-
didat vor ihm voruͤber, welcher gepredigt hatte Sein
volles und rundes Geſicht, auf welchem die fruͤhe Ju-
gend bluͤhte, war in eine weißgepuderte, in ſanften
Locken wallende Peruͤcke gehuͤllet, die auf beiden
Schultern ſanft auffiel, und ſich bis gegen die Mitte
des Ruͤckens in lang gezogenen Ringen kraͤuſelte.
Er ſahe, mit einer ſuͤßen ſelbſtgefaͤlligen Miene, im-
mer gerade vor ſich hin, und dankte, mit langſamem
Kopfneigen, rechts und links den gemeinen Leuten,
die ſeinen ſteifgeſtaͤrkten Kragen, und den auf ſeinem
Ruͤcken ſchwimmenden Mantel gruͤßten, den er zu-
weilen mit der linken Hand zierlich aufnahm, indeß
er mit dem in der rechten Hand habenden Hute, den
Layen, fuͤr ihren Gruß, eine Art von Segen zu er-
theilen ſchien.


Er
[33]

Er gieng in ein nicht weit entlegenes Haus, und
in Sebaldus Geiſte ſtieg ploͤtzlich der gute Gedanken,
oder nach gelehrter Exegeſe zu reden, die Offenba-
rung auf, daß er ſich, in ſeiner gegenwaͤrtigen Bekuͤm-
merniß, am beſten an den Juͤngling wenden koͤnnte,
welcher ſo fein von der chriſtlichen Liebe gepredigt
hatte. Er klopfte alſo an die Thuͤr an.


Die Thuͤr oͤffnete ein aͤltlicher Mann, der, wie ſich
hernach auswies, der Vater des Kandidaten war.
Er war ein ehrlicher guter Kraͤmer, der in den
Abendſtunden und Sonntagsnachmittagen gern Er-
bauungsſchriften las, die er nicht ganz verſtand. Er
war daher in des hochtrabenden Oemlers, in des
myſtiſchen Treſcho, in des wortreichen Tiedens
Schriften ſehr beleſen, und galt deshalb bey ſeinen
Nachbarn fuͤr einen gelehrten Mann.


Das Herz huͤpfte dem ehrlichen Kraͤmer, als Se-
baldus
nach dem Prediger fragte, von welchem er
eben die ſchoͤne Predigt von der Liebe gehoͤrt habe.
‚Es iſt mein Sohn, rief er freudig aus: treten Sie
”doch naͤher, mein lieber Herr!‛ und damit fuͤhrte
er ihn in die Stube.


Sebaldus fand den Kandidaten, unter den Haͤn-
den ſeiner, uͤber die erſte Predigt ihres Sohnes noch
entzuͤckten Mutter, die ihm eben einen leichten
C 3Schlaf-
[34]
Schlafrock angezogen und eine weiße Muͤtze aufge-
ſetzt hatte, und noch beſchaͤfftigt war, ihm den ge-
lehrten Schweiß von der Stirn zu wiſchen.


Sebaldus redete ihn an: ‚Seine Predigt mache
”ihm Muth, ſich bey ſeiner itzigen Verlegenheit an
”ihn zu wenden. Er ſey ſelbſt ein Prediger, obgleich
”ſeines Amts entſetzt. Er habe zweymal durch Raͤu-
”ber ſeinen letzten Heller, nebſt ſeinen Empfehlungs-
”briefen verloren. Er bitte ihn nur um ein Obdach,
”und um guten Rath, wie er nothduͤrftig ſein Brodt
”verdienen koͤnne.‛


Der Kandidat fragte ihn mit einer ſehr weiſen und
”ernſthaften Miene: ‚Warum er ſeines Amtes ſey
”entſetzet worden?‛


Sebaldus glaubte, dem Berichte ſeines geweſe-
nen Reiſegefaͤhrten zu folge, er werde ſich am beſten
empfehlen, wenn er ſich als einen Heterodoxen an-
gebe. Er geſtand alſo ohne Umſtaͤnde, ‚daß er wegen
”Abweichungen von den ſymboliſchen Buͤchern abge-
”ſetzt worden.‛


‚Abweichungen! ‚rief der alte Kraͤmer, o! wenn
”Sie doch das ſchoͤne Buͤchlein geleſen haͤtten, das wir
”neulich hier hatten: Fritz! wo wars doch gedruckt?
”in Nuͤrnberg? oder in Jena? da wuͤrden Sie haben
”leſen koͤnnen, wie der liebe Mann die Abweicher ab-
”fuͤhrt;
[35]
”ſuͤhrt; ’s iſt ’n gelehrter Mann, warlich ’n gelehr-
”ter Mann, er wuͤrde Sie verachten, wenn er Sie
”kennete. Der Mann haͤlt was auf Orthodoxie.‛


Er wuͤrde noch weit mehr geplandert haben, aber
der Kandidat, der es ungern ſah, daß ſein ungelohr-
ter Vater geſchwinder antworten wollte, als er, fiel
ihm mit pathetiſcher Stimme ins Wort, und ſagte:
‚Es thut mir ſehr leid, daß Sie nicht beſſer auf die
”ſymboliſchen Buͤcher gohalten haben. Hier zu Lande
”ſchwoͤren wir leider! zwar nicht darauf, ſie ſind aber
”doch ein Pactum, und Pacta ſunt ſervanda. — Und
”worinn fuhr er mit aufgeworſenem Unterkinne fort,
”worinn fanden Sie denn fuͤr ſo noͤthig von den ſym-
”boliſchen Buͤchern abzugehen?‛


Sebaldus, etwas kleinlaut, antwortete: ‚Jn
”der Lehre von der Ewigkoit der Hoͤlleuſtrafen.‛


Der Kandidat ſchlug ſeine Haͤnde uͤber ſeine weiße
Muͤtze zuſammen, und rief aus: ‚Wie iſt es moͤg-
”lich, daß jemand an einer ſo goͤttlichen Lehre zwei-
”feln kann? Haben Sie denn den erſten Theil mei-
”ner Predigt nicht gehoͤrt?‛


‚Nein, ſagte Sebaldus, weil er erſt gegen das
”Ende derſelben gekommen ſey.‛


‚Das thut mir leid, ſagte der Kandidat; denn ich
”habe darinn bewieſen, die wahre chriſtliche Liebe er-
C 4”fodere,
[36]
”fodere, daß man alle diejenigen, welche nicht den
”wahren evangeliſchen ſeligmachenden Glauben ha-
”ben, durch alle nur moͤglichen Mittel in den Schooß
”der Kirche zuruͤck zu bringen ſuche, eben deshalb, da-
”mit man ihre Seelen rette, und ſie nicht ewig ver-
”dammet wuͤrden.‛


Er wuͤrde ſeine ganze Predigt wiederholt haben,
wenn nicht der Vater in großem Eifer aufgefahren
waͤre: ‚Was? keine ewige Hoͤllenſtrafen? das waͤre
”ſchoͤn, wenn mein Nachbar an der Ecke gegenuͤber
”nicht ſollte ewig verdammt werden! Er, der das Pre-
”digtamt verachtet, der in gar keine Kirche gehet,
”der mir einen Proceß an den Hals geworfen, der
”ihn gewonnen hat! der gottloſe Mann! der Atheiſt!
”der Separatiſt!‛


Sebaldus wollte ſich vertheidigen; aber der Kraͤ-
mer nahm ihn beym Arm, und ſchob ihn hoͤflich zur
Thuͤr hinaus.


Sebaldus war ſehr betreten; weil er aber ſahe,
wie aͤußerſt nothwendig es ſey, ſich an irgend jemand
zu wenden, ſo gieng er zu dem Nachbar gegenuͤber,
von dem er beſſere Geſinnungen boffte, weil er nicht
ſo orthodox ſeyn ſollte, als der Kraͤmer.


Er fand einen Mann von blaſſem ſanftmuͤthigem
Anſehen, in einem ſimpeln grauen Rock, und einer
baum-
[37]
baumwollenen Peruͤcke, der, an ſeinem Pulte ſitzeud,
einen Poſten in ſein Hauptbuch trug.


Sebaldus erzaͤhlte ihm, was in des Nachbars
Hauſe vorgefallen war, und wiederholte ſeine Bitte
um einen guten Rath.


Der Separatiſt ſagte mit ſchwacher und ſanfter
Stimme: ‚Jch wundere mich nicht uͤber meines Nach-
”bars unchriſtliche Rede, denn er hat den Geiſt nicht,
”der das Leben giebt. Freylich find die ſymboliſchen
”Buͤcher eine Erfindung des Teufels, ſo wie der ganze
”geiſtliche Stand. Ein jeder wahrer Chriſt iſt ein
”Hoherprieſter. Die Geiſtlichen haben die Welt von
”je her verfuͤhrt, und da Er mein Freund! von dem
”Stande iſt, ſo gehe Er in Gottes Namen, wohin
”Er will, ich habe nichts mit Jhm zu ſchaffen.‛


Er klopfte noch an einigen Thuͤren an, wo man
ihn, als einen gemeinen Bettler, abwies.


Endlich gerieth er in ein Gelag, wo vier lockere
Bruͤder zwiſchen acht Flaſchen ſaßen, und ſaͤmtlich
von Weine gluͤheten. Sie hatten ſchon dreymal
ihren gewoͤhnlichen Zirkel von ſchluͤpfrigen Wortſpie-
len und abgeſchmackten Spoͤttereyen uͤber ehrwuͤrdi-
ge Sachen durchgegangen, und hatten ſchon dreymal
ſich gekuͤtzelt, uͤber das zu lachen, was nicht laͤcherlich
iſt, und ſie waren eben im Begriff, trotz der Duͤnſte
C 5des
[38]
des Weins, mit dem ſie ihre hirnloſen Koͤpfe anfeuer-
ten, in ein allgemeines Gaͤhnen zu gerathen. Der
Zufall fuͤhrte ihnen den Sebaldus zu, dem ſie gleich
anſahen, daß er ſehr leicht aufzuzaͤumen ſeyn wuͤrde.
Der witzigſte unter ihnen, nachdem er den andern
einen Wink gegeben hatte, nahm den Sebaldus, der
oben wieder aus der Thuͤr zuruͤcktreten wollte, mit
freundlicher Miene bey der Hand, ließ ihn ſich nieder-
ſetzen, und fragte ihn um ſein Anbringen. Er ſchien
ihn recht ſehr zu bedauren, fragte dem guten Sebal-
dus,
deſſen Herz gewoͤhnlicher Weiſe auf ſeiner Zun-
ge ſaß, ſehr bald ſeine Geſchichte ab, und er-
fuhr auch von ihm ſeine Neigung zur Apokalypſe,
der er den lauteſten Beyfall zu geben ſchien, indeß ſei-
ne Gefaͤhrten im innern Munde lachten. Er be-
danerte mit ſcheinheiliger Miene den Sebaldus, we-
gen ſeiner vielen erlittenen Ungluͤcksfaͤlle, und fragte
ihn, wie er ſie habe ſo geduldig ertragen koͤnnen.
‚Unvermeidliches Ungluͤck zu ertragen, wird einem
”weiſen Manne leicht, und die Hoffnung jenes Le-
”bens. — Hier konnte ſich einer der Gaͤſte, der dem
Sebaldus gegen uͤber ſaß, und ihn ſchon lange, den
Kopf auf beide Ellenbogen geſtuͤtzt, augegaffet hatte,
nicht laͤnger halten, ſondern ſchlug uͤber jenes Le-
ben
eine lante Lache auf. ‚Du alter Narr, rief er,
”du
[39]
”du wirſt eben ſo wohl in nichts verwandelt werden,
”als ich und wir alle; drum laß uns noch eins trin-
”ken. Denn (er ſang)


‚Unſer leben waͤhret kurz,

”Es vergeht geſchwinde.‛

Hiemit ſchenkte er ein volles Glas ein, und brachte es dem
Sebaldus: ‚Da trink mit, auf der Babyloniſchen Hure
”Geſundheit!‛ Alle vier brachen in ein Pferdege-
laͤchter aus, und Sebaldus, der jetzt erſt merkte in
was fuͤr Geſellſchaft er war, ließ ſich durch kein Zure-
den aufhalten, ſondern eilte zur Thuͤr hinaus, und
ſchoͤpſte nicht eher wieder friſche Luft, bis er auf der
Straße war. Er empfand den ehrlichen Unwillen,
don ein kluger Mann allezeit empfindet, wenn er
merkt, daß er einer Geſellſchaft von Narren zum
Schauſpiele gedienet habe. Hiezu kam die Bekuͤm-
merniß uͤber ſeine nun mehrmals fehlgeſchlagene
Hoffnung, ſich die erſten Beduͤrfniſſe des Lebens zu
ſchaffen.


Er wollte eben in laute Klagen ausbrechen, als
ihm ſein geweſener Reiſegefaͤhrte begegnete. Derſelbe
war in einen guten tuchenen Rock gekleidet, gieng
mit niedergeſchlagenen Augen ernſthaft einher, in
Geſellſchaft, eines braunen von der Sonne verbraun-
ten Menſchen von widriger Miene, der in Reiſeklei-
dern
[40]
dern, und mit einem Hirſchfaͤnger umguͤrtet war. Er
wuͤrde den Sobaldus nicht angeſehen haben, wenn
dieſer ihn nicht bey der Hand genommen, und ihn
alſo angeredet haͤtte:


‚Ach! Sie haben wohl recht, daß in dieſer Stadt
”alle chriſtliche Liebe erloſchen iſt. Aus den Haͤuſern
”weiſet man mich weg, und auf der Straße bin ich
”unter hundert Menſchen, die vor mir vorbey ihren
”Vergnuͤgungen oder Geſchaͤfften nacheilen, eben ſo
”einſam, als in einer Wuͤſte. Der Tag faͤngt ſich
”an zu neigen, und ich weiß noch nicht, wo ich ein
”Obdach finden ſoll. Großer Gott! was ſoll aus mir
”werden?‛


‚Ja freylich, ſagte der Pietiſt, wo die ſeligma-
”chende Gnade nicht iſt, da iſt keine Liebe; aber ein
”guter Chriſt muß doch nicht verzagen. Wiſſen Sie
”was? wenn es d[u]nkler wird, ſo geſellen Sie ſich zu
”den Nachtwaͤchtern, und gehen mit ihnen auf eine
”Hauptwache, da koͤnnen Sie ſchlafen. Morgen
”fruͤh wird ſich wohl etwas finden. Leben Sie wohl,
”ich muß eilen.‛


Sebaldus wollte ihn noch aufhalten, aber er riß
ſich los; denn er ſollte einem jungen Herrn noch heute
unverzuͤglich Geld verſchaffen, und das Pfand war
ſehr ſicher.


Sebal-
[41]

Sebaldus, von aller Huͤlfe verlaſſen, irrte noch
einige Stunden, faſt ohne Beſinnung, auf den Straßen
herum. Er hatte, ſeit dem fruͤhen Mergen, noch nichts
gegeſſen, er war von der Reiſe, und vom Gram
aͤußerſt ermuͤdet, alle ſeine Glieder ermatteten, alle
Hoffnung verließ ihn, und er ſank, als es anfieng
dunkel zu werden, beynahe ohne es ſelbſt zu wiſſen,
unter dem Bogengange der Stechbahn in einen Win-
kel troſtlos nieder. Hier lag er, unter den traur gſten
Betrachtungen. Bald fiel ihm die Hartherzigkeit des
Stauzius und des Praͤſidenten ein, die ihm in ſei-
nem Vaterlande nicht einmal die Luft gegoͤnnet hat-
ten; bald gieng ihm die Gleichguͤltigkeit der Einwoh-
Berlins aus Herz, die auf das Elend eines Neben-
menſchen ſo wenig Acht hatten. Die Standhaftig-
keit, die ihm ſonſt ſein ruhiges Temperament gewaͤhrte,
hatte ihn ganz verlaſſen. Er ſtieß laute Seufzer und
die bitterſten Klagen aus. Er erregte dadurch die
Aufmerkſamkeit vieler Voruͤbergehenden, die von Ga-
ſtereyen, oder Spaziergaͤngen zuruͤck kamen. Einige
ſagte: ‚Da liegt ein Menſch!‛ andere: ‚Was muß
”das fuͤr ein Menſch ſeyn?‛ andere warfen ihm ein
Paar Dreyer zu, die einen Mann, deſſen Geſin-
nungen das Elend noch nicht ganz hatte erniedrigen
koͤnnen, demuͤthigten, ohne ihm zu helfen.


End-
[42]

Endlich, da es ſchon ganz dunkel war, gieng eln
Mann mit einer Laterne in der Hand voruͤber, eben
als Sebaldus einen tiefen Seufzer ausſtieß, und in
unzuſammenhangende Klagen ausbrach. Er leuchtete
ihm mit der Laterne gerade ins Geſicht, und fragte,
was er begehre! Ha! ſagte Sebaldus mit ſtarren
Augen: ‚Jch moͤchte wohl einen mitleidigen Mon-
”ſchen ſehen, denn in dieſer Stadt kann eine menſch-
”liche Kreatur auf der Straße verſchmachten, indeß
”in allen Haͤuſern Freude und Wohlleben herrſchet.‛


Der Voruͤbergehende fragte weiter, und erfuhr in
wenig Worten, wer Sebaldus ſey, und die fehlge-
ſchlagenen Verſuche dieſes Tages.


‚Sie haben ſich, mein Freund, ſagte der Mann
”mit der Laterne, laͤchelnd, nur an allzureiche Leute
”gewendet. Ein wohlhabender Mann kennet das
”wahre Beduͤrfniß eines Ungluͤcklichen nicht recht,
”wirft ihm aufs hoͤchſte einen Dreyer oder Pfennig
”zu, und geht weg. Koͤnigen koͤnnen am beſten Koͤ-
”nige, und Armen am beſten Arme helfen. Stehen
”Sie auf. Er hob ihn auf, und fuͤhrte ihn mit ſich
”fort.‛


Dieſer Mann war Schulmeiſter in einer von den
Freyſchulen fuͤr arme Kinder, die eine rechtſchaffne
Patri-
[43]
Patriokinn,*) bloß ans Liebe zu guten Handlungen,
ohne Ruhmbegierde oder Eigennutz, zuerſt angelegt
hat, und die bisher bloß durch die Mildthaͤtigkeit von
Monſchenfreunden unterhalten worden. Er hatte bey
einer ſauern Arbeit gerade das nothwendigſte Aus-
kommen. Seine Fran und einzige Tochter halfen ar-
beiten, um ſich zu erhalten. Er ſtellte ihnen bey ſei-
ner Zuhanſekunſt den Sebaldus vor, der von ihnen
mit herzlicher Gaſtfreundſchaft empfangen ward. Sie
erquickten ihn mit einer frugalen Abendmahlzeit, und
hernach ward ihm, in einer Art von Abſchlage auf
dem Boden, ein Lager von friſchem Stroh angewie-
ſen, zu deſſen Verbeſſerung ſowohl, der Alte, als
das gute Maͤdchen, jeder ein Stuͤck Bette, hergab.


Fuͤnfter Abſchnitt.


Sebaldus, durch die Ruhe ſehr erquickt, wachte
erſt gegen acht Uhr auf, und fand ſchon ſeinen
Wohlthaͤter bey ſeinen Schuͤlern, deſſen Frau beym
Seide-
[44]
Seidewickeln und die Tochter bey einem Naͤhrahmen
beſchaͤfftigt. Er fieng ſogleich ungebeten an, ſeinem
Wohlthaͤter in ſeiner Schularbeit zu helſen.


Nach dem Mittagseſſen dankte er ihm, von ganzem
Herzen, fuͤr ſeine gaſtfreye Aufnahme, und fuͤgte
die Bitte hinzu, daß er ihm Anleitung geben moͤchte,
ſelbſt ſein Brodt zu verdienen.


‚Was meinen Sie zu verſtehen, antwortete der
”Schulmeiſter, das hier in Berlin brauchbar waͤre,
”und das Sie ausuͤben oder lehren koͤnnten?‛


‚Jch habe gedacht, ſagte Sebaldus, daß, da in
”in dieſer großen Reſidenz, die wichtigſten Landes-
”und Regierungsgeſchaͤffte, Kriegsanſchlaͤge, Hand-
”lungs-und Nahrungsgeſchaͤffte, u ſ. w. vorkommen
”muͤſſen, und da keine von dieſen Sachen ohne Phi-
”leſophie gefuͤhret werden kann, ſo wuͤrde ich am
”beſten mein Auskommen finden koͤnnen, wenn ich
”Unterricht in der Philoſophie gaͤbe. Wenn ich auch
”nicht an die Großen kaͤme, ſo muß doch ein jeder
”Buͤrger vernuͤnftig zu leben ſuchen, und dieß kann
”ich nach den neueſten und gruͤndlichſten Grundſaͤtzen
”des Hrn. D. Cruſius lehren. Jch kann aus der
Thelematologie, aufs unwiederleglichſte, die
”Erhik, die natuͤrliche Moraltheologie, das
”Recht der Natur
und die allgemeine Klugheits-
”lehre
[45]
”lehre herleiten. Denen, die nicht ſo tief eindrin-
”gen wollen, kann ich einen halbjaͤhrigen Kurſus uͤber
Wuͤſtemanns Einleitung in die Philoſophie
”des Hrn. D. Cruſius
halten.


‚Wer iſt der Cruſius? und wer iſt der Wuͤſte-
”mann?


‚Wie? Herr D. Cruſius iſt ein weltberuͤhmter
”Mann, den alle Gelehrten aus Einem Munde prei-
”ſen, der die Thelematologie erfunden hat, der ſich
”dem Wolfiſchen Fataliſmus entgegengeſetzt hat, der
”muß in Berlin in allen Geſellſchaften genennet wer-
”den, deſſen Schriften muͤſſen alle Gelehrten ſich zum
”taͤglichen Studium machen.


‚Es kann ſeyn. Jch bin kein Gelehrter, aber ich
”bin in vielen Haͤuſern in Berlin bekannt; ich war
”drey Jahre Schreiber bey einem Mitgliede der Aka-
”demie der Wiſſenſchaften, zwey Jahre Bedienter bey
”einem Miniſter, und anderthalb Jahre Kuͤſter bey
”einem ſehr gelehrten Prediger, der mir alle ſeine
”Manuſkripte vorlas, und doch habe ich den Namen
Cruſius in meinem Leben nicht nennen hoͤren. Und
”wie hieß der andere?‛ —


‚Magiſter Wuͤſtemann. Dieſer hat die freylich
”etwas weitlaͤuftigen Schriften des Hrn Doktors in
”einen kurzen Begriff gebracht. Jch daͤchte, er muͤßte
Daus-
[46]
”auswaͤrts eben ſo beruͤhmt ſeyn, als Wichmann,
”Reinhard, Schmid, Pezold,
die des Herrn
”Doktors lateiniſche Schriften, den Ungelehrten zum
”beſten, ins Deutſche uͤberſetzt haben. Zudem wird,
”wie ich hoͤre, in Leipzig und in Wittenberg uͤber ſeine
Einleitung geleſen.‛


‚Jch habe ſchon mehrmals bemerkt, daß Lente, die
”auf Univerſitaͤten fuͤr ſehr beruͤhmt gehalten werden,
”in Berlin keinem Menſchen bekannt ſind. Jch glaube
”uͤberhaupt nicht, daß Sie in Berlin durch Philoſo-
”phie Jhr Gluͤck machen werden. Da hilft Gunſt
”und Protektion, tiefes Beugen und langes War-
”ten oft mehr, als das beſte Syſtem. Was haben
”Sie ſonſt ſtudirt, womit haben Sie ſich außer der
”Philoſophie am meiſten beſchaͤfftigt?‛


‚Jch habe meine Nebenſtunden hauptſaͤchlich zu
”Verfertigung eines Kommentars uͤber die Apokalypſe
”angewendet. Jch habe ihn bey einem Freunde nie-
”dergelegt. Mir faͤllt eben ein, ich koͤnnte ihn kom-
”men laſſen; denn unter uns geſagt, ich beweiſe dar-
”inn, daß der Koͤnig von Preußen in kurzem anſehn-
”liche Provinzen erhalten wird, nebſt vielen andern
”wichtigen und nuͤtzlichen Dingen.‛


‚Mein lieber Freund, die Apokalypſe iſt in Berlin
”noch weniger in gutem Geruche, als die Philoſophie.
”Wenn
[47]
Wenn Sie haͤtten weißagen wollen, ſo haͤtten Sie
”muͤſſen vor drey oder vier Jahren kommen, als wir
”noch Krieg hatten. Da galten noch die Weißagun-
”gen etwas. Und doch iſt die Frage: ob nicht Pfan-
”nenſtiel, der Leinweber,
weit uͤber Sie gewe-
”ſen ſeyn wuͤrde, welcher nicht allein die Schlacht bey
”Zorndorf auf den Tag vorher ſagte, da ſie wirklich
”geſchah, ſondern auch, was noch mehr war, den
”Geſaug, der den darauf folgenden Sonntag in der
”Kirche geſungen werden ſollte. Nein! mit Weißa-
”gungen kommen wir nun in Berlin nicht mehr fort.
”Verſtehen Sie nichts anders? Koͤnnen Sie Franzoͤ-
”ſiſch, koͤnnen Sie rechnen, koͤnnen Sie tanzen, koͤn-
”nen Sie den Hunden den Tellwurm ſchneiden? Dieß
”ſind Kuͤnſte, die ihren Mann ernaͤhren.‛


‚Von alle dem verſtehe ich nichts, ſagte Sebal-
”dus,
mit kleinmuͤthiger Miene. Jch verſtehe zwar
”noch etwas, aber das wird mich auch zu nichts fuͤh-
”ren, da man in Berlin ſogar mit der Philoſophie
”nicht fortkoͤmmt. Jch kann ein wenig auf dem
”Klaviere ſpielen; aber was wird mir das nuͤtzen?‛


‚Halt, mein Freund, damit kommen wir weiter,
”als mit allem andern. Dieſe Geſchicklichkeit wird
”Jhnen nicht reichliches, aber doch nothduͤrftiges
”Brodt geben. Sie werden auch Noten ſchreiben
D 2koͤnnen.
[48]
”koͤnnen. Mit dieſen beiden Kuͤnſten habe ich mich
”ſelbſt uͤber zwey Jahre erhalten.‛


Sebaldus ward alſo zu einem Muſiker von der
untern Klaſſe umgeſchaffen. Er unterwies gemeiner
Leute Kinder auf dem Klaviere, und fuͤr vornehmere
ſchrieb er Noten. Er ward hiedurch, zu ſeinem
großen Vergnuͤgen, in gar kurzer Zeit in den Stand
geſetzt, ſeinem Wohlthaͤter, der nun ſein vertrauter
Freund geworden war, nicht ferner beſchwerlich zu
fallen, ob er gleich fortfuhr bey ihm zu wohnen.


Es waren ſchon ein Paar Monathe, in Zufriedenheit,
und ohne merkwuͤrdige Vorfaͤlle, verfloſſen, als eines
Tages dem Sebaldus von einem gewiſſen Hrn. F.
einige Muſikalien zum Abſchreiben zugeſchickt wurden.
Er ward auf dieſen Namen ſehr aufmerkſam, er
glaubte ihn irgendwo gehoͤrt zu haben, er erkundigte
ſich naͤher nach dieſem Manne, und erfuhr, daß er
bey einem Grafen Hofmeiſter geweſen, und von einer
von demſelben erhaltenen anſehnlichen Penſion lebe.
Nun beſann er ſich, daß an einen Mann dieſes Na-
meus des Majors in Leipzig Rekommendationsſchrei-
ben gerichtet geweſen waͤre, an das er, ſeitdem es
verloren war, nicht gedacht hatte. Er ward begie-
rig dieſen Mann naͤher kennen zu lernen, er uͤber-
brachte ſeine Abſchriften ſelbſt, gab ſich zu erkennen,
und
[49]
und ward von Hrn. F. mit der groͤßten Freundſchaft
aufgenommen. Noch mehr, er erfuhr von ihm, daß
der Major, durch Wunden zum Dienſte untuͤchtig,
von einem erhaltenen Gnadengehalte in Berlin lebe.


Er ſah denſelben noch an eben dem Tage in Ge-
ſellſchaft des Hrn. F. Der Major empfieng den Se-
baldus
mit herzlichem Haͤndedruͤcken. Er biß die
Zaͤhne zuſammen, als er hoͤrte, wie treulos
Stauzius, nach dem Abmarſche des Oberſten, ge-
gen ſeinen Freund gehandelt habe; er erbot ſich, auf
die treuherzigſte Weiſe, ihm durch Vorſprache noch
eine Feldpredigerſtelle zu verſchaffen, und bis dahin
ſein Gehalt mit ihm zu theilen. Sebaldus, ob-
gleich uͤber dieſe großmuͤthigen Antraͤge geruͤhrt, ver-
bat ſie doch. Das unabhaͤngige Leben fieng ihm an
zu gefallen, und da er gewohnt war ſo wenig zu
beduͤrfen, ſo erwarb er mit ſeiner Arbeit mehr, als
er zu ſeinem Unterhalte noͤthig hatte.


Mit Muͤhe ließ er ſich bereden, bey dem Hrn. F.
eine bequemere Wohnung einzunehmen, und deſſel-
ben Tiſchgenoſſe zu werden, weil ihn derſelbe verſi-
cherte, daß er, ſeitdem er Wittwer ſey, und ſeine
Kinder verloren habe, in ſeiner Einſamkeit einen
Geſellſchafter zu haben wuͤnſche.


D 3Sech-
[50]

Sechſter Abſchnitt.


Einsmals, nach dem Mittagseſſen, hatte Herr F.
vom Sebaldus die ausfuͤhrliche Erzaͤhlung ſei-
ner Schickſale verlangt. Als ſie geendigt war, ſchlug
Hr. F. weil es einer von den ſchoͤnen Herbſttagen
war, die, unter dieſem Himmelsſtriche, oft den Som-
mertagen weit vorzuziehen ſind, einen Spaziergang
auf den Weidendamm vor. Sebaldus war uͤber
die Schoͤnheit dieſes Spaziergangs entzuͤckt. Mit-
ten in einer bewohnten weitlaͤuftigen Stadt erblickte
er eine große gruͤnende Wieſe, mit Weiden bekraͤnzt,
hoch und belaubt, wie ſonſt nur Ulmen und Linden
zu ſeyn pflegen;*) dieſer laͤndlichen Scene gegen-
uͤber, Gaͤrten und Gartenhaͤuſer, Werke der Kunſt,
ohne Pracht aber anmuthig, zwiſchen beiderley Aus-
ſichten den ſilberreinen Spreeſtrom, von Schwaͤ-
uen bewohnt. Er genoß ganz das Vergnuͤgen dieſes
reizenden Anblicks, er wollte es ſeinem Geſellſchafter
mittheilen, aber nun ward er erſt gewahr, daß der-
ſelbe
[51]
ſelbe in tiefen Gedanken einher gieng, und anſtatt
auf ſeine entzuͤckten Ausrufungen zu antworten, eini-
gemal tief ſeufzete.


‚Was fehlt Jhnen? fragte ihn Sebaldus, Sie
”ſcheinen ganz tiefſinnig zu ſeyn.‛


‚Jhre Geſchichte, autwortete Hr. F. bringt mir
”das ganze finſtere Gemaͤlde der Jntoleranz und der
”Prieſtergewalt lebhaft wieder zu Gemuͤthe. Jch
”bin ſelbſt ein Opfer derſelben geweſen. Jch habe er-
”fahren, was es heiße, ſeine geſunde Vernunft un-
”ter den Gehorſam vorgeſchriebener ſymboliſcher Buͤ-
”cher gefangen zu nehmen; ich habe erfahren, welchen
”bequemen Vorwand ſolche Vorſchriften herrſchſuͤchti-
”gen und eigennuͤtzigen Geiſtlichen darbieten, um ihre
”Abſichten in der Stille auszufuͤhren; ich habe erfah-
”ren wie bitter der Haß iſt, den ſie angenblicklich ge-
”gen jeden, den ſie einer Abweichung zeihen koͤnnen,
”erregen koͤnnen, ſo lange das Volk in der Meinung
”unterhalten wird, daß ſolche Vorſchriften unwieder-
”ruflich feſt ſtehen bleiben muͤſſen.‛


Sebaldus war begierig dieſe Geſchichte zu hoͤren,
und Hr. F. erzaͤhlte ſie folgendermaßen:


‚Jch war in meinen juͤngern Jahren dritter Dia-
”kon an der Kirche einer Stadt eines kleinen Fuͤrſten-
”thums. Jch lebte vergnuͤgt, ich hatte Freunde.
D 4”Der
[52]
”Der Superintendent war ein ganz feiner Mann, der
”in verſchiedenen Arten der Gelehrſamkeit nicht fremd
”war. Jch konnte mich mit ihm unterhalten,
”wir unterredeten uns oft von Verbeſſerung der Maͤn-
”gel der Religion; denn ob er gleich nichts dazu bey-
”zutragen Luſt hatte, ſo mochte er doch gern, unter
”vier Augen, davon ſprechen. Er freuete ſich, daß
”ich ſelbſt daͤchte. Jch durfte ihm meine Zweifel vor-
”tragen, und da ich oft mit ſeinen Beantwortungen
”zufrieden war, ſo gewann er mich lieb. Die Haupt-
”neigung dieſes alten Mannes war die Naturge-
”ſchichte, und zwar hauptſaͤchlich die Nomenklatur
”und Klaſſifikation derſelben, welches nun freylich eben
”nicht meine Neigung war. Er wollte mich belohnen,
”indem er mich zum Mitgliede einer Geſellſchaft auf-
”nehmen ließ, welche er mit dem Buͤrgermeiſter, dem
”Konrektor und dem Apotheker errichtet hatte. Dieſe
”ſammleten Jnſekten, Voͤgel, Steine, Verſteinerun-
”gen, Mineralien, tauſchten mit benachbarten Lieb-
”habern, brachten Kabinette zuſammen, ordneten ſie
”bald nach dieſem bald nach jenem Syſteme, laſen
”ſich lange Abhandlungen daruͤber vor, wozu der
”Superintendent die Theologie lieh, und keinen Jn-
”ſektenfluͤgel, keine Vogelklaue, oder Quarzdruſe, ohne
”erbauliche Nutzanwendung ließ. Dieß war alles
”ganz
[53]
”ganz gut, nur daß es fuͤr mich ein wenig langwei-
”lig war. Jch fieng alſo nach einiger Zeit an, ſelte-
”ner in die Geſellſchaft zu kommen, und vermied, ſo
”viel ich konnte, mit auf die Jnſektenjacht zu gehen.
”Hieruͤber bekam ich einen Verweis vom Superinten-
”denten; denn ſo freundſchaftlich er war, hatte er
”doch den kleinen Fehler, daß er ſich derer ganz be-
”maͤchtigte, die er in Affektion genommen hatte. Er
”ordnete ihre Studien an, er beſtellte ihr Hauswe-
”ſen, er erdachte fuͤr ſie die Vergnuͤgungen, die ſie
”ſich machen ſollten, und er hatte fuͤr alles weiſe
”Gruͤnde anzufuͤhren, denen man nicht widerſprechen
”durfte. Jch durfte mir alſo nicht merken laſſen, daß
”Sammlereyen und Klaſſifikationstabellen, wie er ſie
”liebte, fuͤr mich ſehr wenig Reiz hatten, ſonderlich
”wenn dabey bloß die Augen und das Gedaͤchtniß,
”keinesweges aber der Verſtand, beſchaͤfftigt iſt. Hin-
”gegen mußte ich geduldig zuhoͤren, wenn er mir, als
”eine vaͤterliche Weiſung, einpraͤgte: „daß Spekula-
”lation den Geiſt nicht beſſere, daß man, bey tiefſin-
”nigen Unterſuchungen uͤber Raum und Zeit, ein
”Deiſt bleiben koͤnne, daß hingegen durch Walpur-
”pergers kosmotheologiſche Betrachtungen
*)
”ſchon mancher Freygeiſt bekehret worden ſey.‟ Er
D 5”ſtichelte
[54]
‚ſtichelte mit ſolchen Worten zugleich auf den Um-
”gang, den ich mit einem jungen Officier angefan-
”gen hatte, einem Juͤnglinge, der gute Gaben und
”gute Geſinnungen hatte, der, ob er gleich ein wacke-
”rer Soldat war, gleichwohl die Wiſſenſchaften liebte,
”und ſich, gleich mir, gern mit philoſophiſchen und
”moraliſchen Unterſuchungen beſchaͤfftigte. Dieſer Um-
”gang hatte auf keine Weiſe den Beyfall des Super-
”intendenten; denn weil er von der Wuͤrde des geiſt-
”lichen Standes einen ſehr hohen Begriff hatte, ſo
”wollte er, daß ein Geiſtlicher nur mit Perſonen ſei-
”nes eignen Staudes, oder mit andern alten ernſt-
”haſten angeſehenen Maͤnnern umgehen ſollte. Er
”verlangte, jeder Schritt ſollte verrathen, daß er zu
”den Lehrern des menſchlichen Geſchlechts gehoͤre; er
”verlangte, daß er, mehr als alles, vermeiden ſolte,
”ſich auf irgend eine Art zu kompromittiren; daß er
”ſich beſtaͤndig bedaͤchtig anſtellen, und ſogar auf der
”Straße langſamer gehen ſolte, als die Layen. Jch war
”freylich anderer Meinung. Jch bildete mir ein, es
”waͤre ſehr nuͤtzlich, wenn ein Geiſtlicher ſich im Um-
”gange nicht auf Perſonen ſeines Standes einſchraͤnk-
”te, ſondern auch oͤfters mit Weltleuten umgienge;
”ich glaubte, er wuͤrde dadurch ein gewiſſes ſteifes
”Weſen ablegen, das man von der Univerſitaͤt, und
”aus
[55]
”aus dem Kandidatenſtande mitbringt; er wuͤrde,
”wenn er die mannichfaltigen Einſichten und Ver-
”dienſte von Perſonen anderer Staͤnde oft vor Augen
”haͤtte, ſich den Lehrerton abgewoͤhnen, der bey ver-
”ſtaͤndigen Leuten den Prediger nie wuͤrdiger macht,
”oft aber wohl zur Zuruͤckhaltung und zum Kaltſinn
”Anlaß giebt; er wuͤrde, wenn er ſich der Sitten, Be-
”ſchaͤfftigungen, Vergnuͤgungen, die andere Menſchen
”haben, nicht ſchaͤmte, weit eher ihr Zutrauen er-
”halten, er wuͤrde ſie genauer kennen, und folglich
”auch ihren Gemuͤthszuſtand beſſer beurtheilen lernen,
”als wenn er bloß mit Leuten umgienge, die mit ihm
”aus eben demſelben Kompendium der theologiſchen
”Moral raiſonniren, in welchem nicht ſelten Dinge
”als ausgemachte Wahrheiten behauptet werden, die
”oft ein einziger Blick in die Natur des Menſchen,
”und in den Lauf der Welt, widerlegt.‛


‚Dieß waren die Vortheile, die ich mir von der
”Freundſchaft mit dem jungen Officier, und von
”den ausgeſuchten Geſellſchaften verſprach, in
”die er mich zuweilen fuͤhrte. Jndeſſen brachte dieſer
”mein weltlicher Umgang mir bey dem Superinten-
”deuten ungezweifelten Nachtheil. So wie ich den
”Zirkel uͤberſchritt, den er mir angewieſen hatte, ward
”er kaͤlter und feyerlicher gegen mich, und, ohne daß
”er
[56]
”er ſich gegen mich deutlich erklaͤrte, konnte ich wohl
”merken, daß ſeine Zuneigung gegen mich abgenom-
”men hatte.‛


‚Mein Unſtern trieb mich endlich, ein Buch zu
”ſchreiben, worinn ich mich uͤber gewiſſe dogmatiſche
”und moraliſche Materien, uͤber die ich lange und
”reiflich nachgedacht hatte, freymuͤthig erklaͤrte. Dieß
”machte im Staͤdtchen Aufſehen. Weder der Su-
”perintendent, noch meine uͤbrigen Kollegen, nebſt
”ihren Vorfahren ſeit drey Generationen, hatten je-
”mals ein Buch geſchrieben. Man hielt mich alſo
”fuͤr naſeweiſe, daß ich, als der juͤngſte Diakon,
”hierinn eine Neuerung machen wollte. Selbſt der Su-
”perintendent billigte dieſen Schritt nicht, beſonders
”war ihm die dreiſte und freymuͤthige Art, mit der ich
”verjaͤhrte Vorurtheile angegriffen hatte, ſehr mißfaͤllig.‛


‚Vergebens erinnerte ich ihn, daß dieſes eben
”die Saͤtze waͤren, uͤber deren Richtigkeit wir oft
”in unſern Unterredungen uͤbereingekommen waͤ-
”ren, und die ich zum Theil oft aus ſeinem eigenen
”Munde gehoͤrt haͤtte.‛


„Das war ganz etwas anders, verſetzte er, etwas er-
”hitzt: dergleichen Sachen kann man wohl unter vier
”Augen unterſuchen, aber man muß ſie nicht oͤffentlich
”ſagen. Und Sie am wenigſten, als ein Prediger, haͤt-
”ten
[57]
”ten ſich hieruͤber ſo poſitiv erklaͤren ſollen. Wir muͤſ-
”ſen uns dem Urtheile des gemeinen Haufens nicht bloß
”ſtellen, er erſchrickt uͤber ungewohnte Wahrheiten,
”und wir verlieren das Zutrauen, das wir zu ſeiner
”Beſſerung anwenden koͤnnten. Wenn ein Prediger
”Zweifel uͤber dogmatiſche Saͤtze hat, ſo iſts am be-
”ſten, daß er ſie ganz verſchweige, aufs hoͤchſte kann
”er lateiniſch daruͤber ſchreiben, fuͤr gelehrte Theolo-
”gen, die davon ſo viel in die Welt koͤnnen kommen
”laſſen, als ſie noͤthig finden.‟


‚Vergebens ſtellte ich ihm vor, wie noͤthig es waͤre, daß
”der große Haufen uͤber gewiſſe Wahrheiten belehret
”wuͤrde; vergebens bemerkte ich, daß viele Zweifel deß-
”halb nicht unbekannt blieben, wenn auch die Gottes-
”gelehrten davon ſchwiegen, weil ſie den Weltleuten oft
”aus andern Buͤchern, und durch Unterhaltungen mit
”denkenden Koͤpfen, ſchon laͤngſt bekannt geworden waͤ-
”ren, und wenn ſie nicht naͤher beleuchtet und eroͤr-
”tert wuͤrden, zuweilen noch weit mehr Schaden
”thun koͤnnten. Jch wolltē noch weiter gehen, ich
”wollte ihm zeigen, daß ich es an der noͤthigen Klug-
”heit nicht haͤtte ermangeln laſſen, ſondern verſchie-
”dene Gedanken verſchwiegen haͤtte, die ich oͤffentlich
”bekannt zu machen noch nicht fuͤr rathſam hielte.
”Jch entdeckte ihm einige, ſie gefielen ihm nicht, er
”wollte
[58]
”wollte mich widerlegen, ich ſuchte mich zu verthei-
”digen, und was das ſchlimmſte war, ich hatte Recht,
”und er ward hitzig, nahm ein ſaures Amtsgeſicht
”an, that einen Machtſpruch, und brach das Ge-
”ſpraͤch ab.‛


‚Der gute alte Mann, ſah es zwar ſehr gern,
”wenn andere frey dachten, ſo weit, als er ſich ſelbſt
”das Ziel geſteckt hatte; aber denjenigen, der nur
”Einen Schritt weiter gehen wollte, verachtete und
”haßte er noch mehr, als den, der alles beym Alten
”ließ. Er hat es mir nachher nie vergeben koͤnnen,
”daß ich hatte weiter ſehen wollen, als er. Es war
”ferner auf keine Freundſchaft zu rechnen. Er miß-
”billigte oͤffentlich mein Buch, um ſich zugleich ſelbſt
”deſto kraͤftiger vor dem Verdachte der Heterodoxie
”zu ſichern, und machte dadurch meinen Kollegeu
”mehrern Muth, die ſchon laͤngſt den jungen gelehr-
”ten Diakon mit ſcheelen Augen angeſehen hatten.
”Man vermied mich, man lud mich ferner nicht zu
”den gewoͤhnlichen Zuſammenkuͤnften ein, und ich
”blieb ganz einzeln, mit meinem Freunde dem Officier.‛


‚Jch hatte nur ein ſehr kuͤmmerliches Auskommen.
”Man weiß, wie ſchlecht uͤberhaupt die feſtgeſetzte Geld-
”einnahme der Prediger iſt. Jhr hauptſaͤchlicher Un-
”terhalt beruht auf zufaͤlligen Einkuͤnften, beſonders
”auf
[59]
”auf dem Beichtgelde. Zu der Zeit, da die Layen glaub-
”ten, daß ſie die Vergebung der Suͤnden bloß von
”dem Prieſter, durch Beichte und Abſolntion, erhalten
”koͤnnten, wandten ſie auf eine ſo noͤthige Waare frey-
”lich ſchon ein Erkleckliches. Nachdem man ihnen aber,
”in Schriften und von den Kanzeln, ſo nachdruͤcklich
”eingepraͤgt hat, daß, ohne wahre Beſſerung des Her-
”zens, die Abſolution gar keine Kraft habe, ſo hat die
”große Menge, welche nie Willens geweſen iſt ſich
”zu beſſern, gemerkt, daß ſie ihr Geld fuͤr eine leere
”Ceremonie ausgaͤbe, und hat theils die Abſolution
”viel ſeltener verlangt, theils viel kaͤrglicher bezahlt.
”Da nun alſo hierauf gar nicht mehr zu rechnen war,
”ſo konnten wohlgeſinnte gelehrte Prediger, die nur
”ihre Pflichten zu erfuͤllen ſuchten, ganz ruhig darben,
”aber oͤkonomiſche Prediger, die ihr Amt als eine Art
”von Pachtung betrachteten, die ſie aufs beſte zu nut-
”zen ſuchen wollten, ſahen ſich zu einer ganz andern
”Art von Jnduſtrie genoͤthigt. Sie fiengen an in
”die Haͤuſer zu gehen, ſich ihren Pfarrkindern noth-
”wendig zu machen, ſich nach ihrem Hausweſen zu
”erkundigen, ihre Zwiſtigkeiten zu erforſchen, damit
”ſie ſie ſchlichten koͤnnten, und durch fromme Unterre-
”dungen das Zutrauen der reichen Buͤrgerweiber zu
”gewinnen. Die Buͤrger, welche nun merkten, daß
”der
[60]
”der Pfarrer etwas fuͤrs Geld that, bezahlten ihn auch
”reichlicher, der gelegentlichen Braten, Kuchen, Zucker-
”huͤte, Magenmorſchellen und anderer Geſchenke nicht
”zu gedenken. Ohne dieſe Prieſterkuͤnſte wuͤrde ein ehr-
”licher Buͤrgersſohn, der im geiſtlichen Stande nur ein
”gemaͤchliches Leben ſuchte, und ſonſt, als ein Paͤchter
”oder als ein Kraͤmer, auch ſein gutes Auskommen haͤtte
”haben koͤnnen, es ſchwerlich der Muͤhe werth finden,
”ein Prediger zu ſeyn. Meine Kollegen uͤbten dieſe Kuͤn-
”ſte in ihrem ganzen Umfange aus, und hatten auch
”vollkommen Muße dazu, weil ſie weder durch Studi-
”ren noch durch Nachdenken davon abgehalten wurden,
”Dinge, mit welchen ich die meiſte Zeit, die mir von mei-
”nen ordentlichen Amtsgeſchaͤften uͤbrig blieb, zubrachte.‛


‚Jch wuͤrde den Mangel, der mich druͤckte, den-
”noch gern ertragen haben, weil ich mich, von Ju-
”gend auf, gewoͤhnet hatte, wenig zu beduͤrfen,
”Aber ich hatte mich in ein junges, ſchoͤnes und ver-
”ſtaͤndiges Frauenzimmer verliebt, die aber nicht das
”geringſte Vermoͤgen hatte. Jch ſah die Verbin-
”dung mit derſelben fuͤr die groͤßte Gluͤckſeligkeit
”meines Lebens an; allein, bey ſo geringem Einkom-
”men, war dieſe Verbindung unmoͤglich. Bloß um
”derſelben willen wuͤnſchte ich eine Verbeſſerung mei-
”ner Umſtaͤnde. Jndeſſen war mit dem Verluſte
”der
[61]
”der Freundſchaſt des Superintendenten auch alle
”Hoffnung dazu, in meiner itzigen Lage, verſchwun-
”den. Jch haͤtte mir nicht zu rathen gewußt, wenn
”nicht mein Freund, der junge Officier, mir eine ein-
”traͤgliche Pfarre in einem benachbarten Fuͤrſtenthume
”verſchafft haͤtte.‛


‚Jch nahm ſie ohne Bedenken an. Waͤhrend des
”Gnadenjahrs heurathete ich meine Braut, und
”traͤumte von weiter nichts, als von Gluͤck und von
”Vergnuͤgen, indeſſen daß an dem Orte meines kuͤnf-
”tigen Aufenthaltes ſich ein Wetter wider mich zu-
”ſammen zog. Ein anderer Prediger hatte ſich große
”Hoffnung zu meiner Stelle gemacht, und dieſer konnte
”mir nicht verzeihen, daß alle ſeine Bewerbungen
”fruchtlos geweſen waren. Er breitete graͤßliche Ge-
”ruͤchte von meiner Heterodoxie aus, und berief ſich
”auf mein gedrucktes Buch, wo ſie, ſchwarz auf weiß,
”zu leſen ſtaͤnde. Die Schneider und die Schornſtein-
”feger in meiner Dioͤces laſen eine philoſophiſche Ab-
”handlung, die nicht fuͤr ſie geſchrieben war, und
”fanden Ketzerey uͤber Ketzerey darinn.‛


‚Als ich alſo mein Amt antreten wollte, fand ich
”meine ganze Gemeine wider mich eingenommen,
”die Leute auf der Gaſſe gafften mich als ein Wun-
”derthier an, und draͤngten ſich vor mein Haus, um
E”den
[62]
”den neu angekommenen Ketzer zu ſehen. Zugleich er-
”fuhr ich, alsdann erſt, daß in dieſem Fuͤrſtenthume
”ein Paar ſymboliſche Buͤcher mehr, als in dem an-
”dern Fuͤrſtenthume muͤßten beſchworen werden, daß
”man, fuͤr die Stadt, noch eine beſondere Formulam
”committendi
habe, die von abgeſchmackten Schuldi-
”ſtinktionen voll war, und daß man (weil mein Geg-
”ner bey Leuten von Anſehen eben ſo wenig muͤßig
”geweſen war, als beym Poͤbel,) derſelben noch, wi-
”der die Ketzereyen, die man von mir beſorgte, drey
”ſpitzfuͤndige und verfaͤngliche Klauſeln einverleibt
”habe, die ich unterſchreiben ſollte, ehe ich mein
”Amt antraͤte.‛


‚Jch war wie vom Donner geruͤhrt. Es war ſehr
”hart, etwas beſchwoͤren und unterſchreiben zu ſollen,
”das ich nicht glaubte, und gleichwohl, wenn ich es
”nicht that, ſo brachte ich mich ſelbſt an den Bettel-
”ſtab, und meine Frau, die ich wie meine Seele
”liebte, die ſeit einigen Monathen ſchwanger war,
”ſtuͤrzte ich in das aͤußerſte Elend.


‚Mein Entſchluß mußte kurz gefaßt werden; denn
”man hielt auf mich, und wartete nur, ob ich mich
”weigern wuͤrde. Jch war in der aͤngſtlichſten Ver-
”legenheit, und ich ſuchte doch, aus Zaͤrtlichkeit, mei-
”nen traurigen Zuſtand meiner geliebten Gattinn zu
”verber-
[63]
”verbergen. Jch gieng den folgenden Morgen mit
”Aufgange der Sonne zum Thore hinaus, um mei-
”nen Gedanken nachzuhaͤngen. Jch folgte der Land-
”ſtraße, die mich an einen Wald fuͤhrte. Jch hatte
”in demſelben eine Zeitlang herum geirret, als mir
”unvermuthet ein hagerer blaſſer Menſch entgegen
”lief, dem die Verzweiflung an der Stirn geſchrieben
”war. Er hielt mir einen ſtarken Knuͤttel vors Ge-
”ſicht, und foderte, mit einem ſchrecklichen Fluche, mein
”Geld oder mein Leben. Jch war erſchrocken, und
”wehrlos. Jch gab ihm alſo meinen Beutel, der,
”von einigen Thalern kleiner Muͤnze ſchwer, mehr
”werth ſchien, als er es war. Der Raͤuber ſah ihn
”mit ſtarren Augen an, und rief: „Nein! das iſt
”zu viel!‟ ‚Er band den Beutel auf, wollte etwas
”heraus nehmen, aber die Hand zitterte ihm, er
”warf den Knuͤttel weg, fiel vor mir auf die Knie,
”hielt mir den Beutel vor, und ſchrie laut:


„Nein! ich kann nicht! Nein! lieber Herr! ich
”bin kein Straßenraͤuber! ich bin ein ungluͤcklicher
”Vater. Geben Sie mir ſelbſt nur ſo viel, daß meine
”Frau und meine armen Kinder nicht noch heute
”Hungers ſterben.‟


‚Jch rief voll Entſetzen: „Nimm, Freund! ich bin
”arm, aber nicht ſo arm, als du!‟ ‚Jndem hoͤrte ich
E 2”in
[64]
”in der Naͤhe einen weiblichen Schrey. Eine Frau,
”mit einem vierteljaͤhrigen Kinde im Mantel, ſchleppte
”ſich zu uns, drey kleine Kinder in Lumpen folgten
”ihr. „Mann! was willſt du machen!‟ ‚ſchrie ſie,
”und ſank halb todt zu meinen Fuͤßen.‛


„Dich und deine Kinder nicht vor meinen Augen
”verſchmachten ſehen!‟ rief er mit wildem Tone.‛


‚Jch ſuchte dieſe Leute zu beſaͤnſtigen, ich ſetzte mich
”zu ihnen nieder, fragte wie ſie hieher kaͤmen, und
”was dieß alles bedeuten ſollte?‛


„Lieber Herr! ſagte der Mann, nachdem er ein
”wenig Athem geſchoͤpft hatte, ich bin ein Baum-
”wollenweber. Jch wohnte in einem Flecken in
”Boͤhmen, ich hatte ſonſt mein gutes Auskommen,
”aber unſer Gutsherr war ein harter Mann, er
”wollte uns nicht Gott nach unſerm Glauben dienen
”laſſen, wir ſollten in die Meſſe gehen, und wir
”hielten dieß wider unſer Gewiſſen. Jch will mich
”aufmachen, ſagte ich, und in ein proteſtantiſches
”Land gehen, wo ich Gewiſſensfreyheit habe. Jch
”fluͤchtete, ich kam bis in eine einige Meilen von
”hier entfernte Stadt, ich ward wohl aufgenommen,
”und konnte frey in die Kirche gehen. Doch es iſt
”nicht genug in die Kirche zu gehen, man muß auch
”Frau und Kinder ernaͤhren. Jch fieng alſo an mit
”Muͤhe
[65]
”Muͤhe einen Stuhl zurecht zu bringen, und webte
”Kottonade. Dieſes Zeug war dort bisher noch
”unbekannt geweſen, es fand viele Kaͤufer, ſobald
”es bekannt wurde. Ploͤtzlich ward ich auf das Rath-
”haus gerufen, und bekam Befehl, meine Arbeit ein-
”zuſtellen. Jch fragte erſtaunt: weswegen? Weil
”Jhr ein Pfuſcher ſeyd, rief der Altmeiſter der Raſch-
”macher, welches die ſtaͤrkſte Zunft in der Stadt
”war, weil Jhr keinen Lehrbrief vorzeigen koͤnnt, und
”weil Jhr kein Meiſterſtuͤck gemacht habt. — Jn Boͤh-
”men, erwiederte ich, giebt man keine Lehrbriefe, ſon-
”dern es kann jeder weben, wer will, und was er
”will, und was das Meiſterſtuͤck anbetrifft, ſo ſeht
”meine Waare an, ob ſie nicht ſo gut iſt, als irgend
”Kottonade ſeyn kann. — Eben dieſes Zeug ſollt Jhr
”gar nicht machen; es iſt verboten, ſagte ein Raths-
”herr ſehr ernſthaft. — Weswegen? ſagte ich noch
”mehr erſtaunt. — Weil es nicht der Vorſchrift ge-
”maͤß iſt; weil es der Grundverfaſſung der Stadt zu-
”wider ſeyn wuͤrde. Schon vor langen Jahren ha-
”ben die Gewerke Streit miteinander gehabt, und
”da iſt durch ein Geſetz feſtgeſetzt worden, was fuͤr
”Zeuge, und wer ſie machen ſoll, die Leinweber Lein-
”wand, die Tuchmacher Tuch, und die Raſchmacher
”Raſch. — Aber, lieber Gott! rief ich, was kann ich
E 3”dafuͤr,
[66]
”dafuͤr, das derjenige, der das Geſetz machte, alle
”moͤglichen Zeuge in Leinwand Tuch und Raſch ab-
”theilte, und daß keiner daran dachte, daß es auch
”Kottonade in der Welt geben koͤnnte. — Kurzum,
”hieß es, Euer Geſuch iſt wider alle gute Policey,
”laßt ab das neue Zeug zu machen, das wir nicht
”dulden wollen, oder man wird Euch Ernſt weiſen.‟


„Jch fuhr aber fort zu arbeiten, und mußte, wenn
”ich leben wollte, und ſo kamen des andern Tages
”die Altmeiſter, ſchlugen meinen Stuhl auseinander,
”und brachten ihn mit allem meinem Werkzeuge aufs
”Rathhaus. — Jch ſchrie uͤber Gewalt. Hat man
”Euch nicht genug gewarnt? ſagte der Rathsherr fro-
”ſtig. — Aber lieber Gott! ich muß ja Hungers
”ſterben, wenn ich nicht arbeiten ſoll. — Wer ſagt
”denn, ſprach der Rathsherr mit weiſer Miene, daß
”Jhr nicht arbeiten ſollt, Jhr ſollt nur nicht ſolches
”Zeug machen, das wir hier bey uns nicht leiden
”wollen; es ſind ja ſonſt Handwerke genug. — Aber,
”lieber Herr! ſagte ich, die werden auch zuͤnftig ſeyn,
”und werden mich nicht aufnehmen, und denn habe
”ich einmal nichts anders gelernt, als Kottonade
”weben. — Jch merke wohl, Jhr ſeyd widerſpenſtig;
”ſeht zu, ob man Euch ſonſt wo dulden will, bey uns
”werden wir Euretwegen die Geſetze nicht aͤndern: —
”dieß war mein Abſchied.‟


„Jch
[67]

„Jch mußte alſo mit meiner Familie fort. Ge-
”ſtern Abend kamen wir bey der benachbarten Stadt
”an, wo man uns nicht einlaſſen wollte, weil wir
”keinen Paß hatten. Jch beſaß keinen Heller mehr,
”wir alle hatten den ganzen Tag nichts gegeſſen.
”Wir mußten in dieſem Walde unter einem Baume
”bleiben, die Kinder ſchrien bis nach Mitternacht um
”Brodt. Jch war außer mir, daß ich ihnen nichts
”geben konnte. Nach ein Paar Stunden unruhiges
”Schlummers, erwachte ich vor Sonnenaufgang;
”ich betrachtete meine ungluͤckliche Frau und Kinder,
”und dachte voll Entſetzen, daß ſie alle in dieſem
”Walde verſchmachten muͤßten. Jch erblickte von
”fern einen einzelnen wohlgekleideten Menſchen. Die
”Verzweiflung gab mir einen boͤſen Rath. — Jch
”ſtutzte einen Augenblick beym erſten Schritte, den
”ich that; aber der Anblick meiner ſchmachtenden Kin-
”der brachte mich aufs neue in Wut. — Und
”wenn er ſich wehrt, und deiner maͤchtig wird? dacht’
”ich. — Ey nun! ſo mag man mich gefangen neh-
”men, aber denn wird man doch meine Frau und
”Kinder im Spitale verſorgen muͤſſen. Jch ſtuͤrzte
”wie ein Unſinniger auf Sie zu, aber Sie wehrten
”Sich nicht. Sie gaben mir ruhig, und mehr, als
”ich fuͤr die itzige Noth brauchte. Wars nicht ab-
E 4”ſcheulich,
[68]
”ſchenlich, den Mann zu berauben, der mir gutwil-
”lig wuͤrde gegeben haben. — — Jch bin in Jhren
”Haͤnden, machen Sie mit mir was Sie wollen,
”aber retten Sie nur meine ungluͤckliche Frau und
”Kinder.‟


‚Jch war aͤußerſt geruͤhrt. Jch ließ dieſen un-
”gluͤcklichen Leuten, was im Beutel war, und eilte
”fort, um mich ihrem Danke zu entziehen.‛


‚Mein Gott! dachte ich, dieſer arme Mann lei-
”det auch, weil die Vorfahren ein Symbolum fuͤr
”die Weber erdacht, und alle Zeuge, die man weben
”ſoll, auf Tuch, Raſch und Leinwand eingeſchraͤnkt
”haben! Und dieſer uͤbelverſtandnen Formalie wegen
”ſollen ſeine vier armen Kinder Hungers ſterben? Er
”iſt in Verzweiflung gerathen. Natuͤrlich! das
”zahmſte Thier wird wuͤtend, wenn es ſeine Jungen
”darben ſiehet! — Und ich, der ich auch Vater bin,
”ſoll ich mich in Gefahr ſetzen, die Meinigen darben
”zu ſehen, oder ſoll ich — Ja, ich will unterſchrei-
”ben, was man will. Die Erhaltung meiner ſelbſt
”und der Meinigen iſt die erſte Pflicht, der alle an-
”dern, die damit in Kolliſion kommen, weichen muͤſ-
”ſen. Kann ich den Lauf der Welt aͤndern? Die Koͤ-
”nige und die Prieſter haben den Erdkreis unter ſich
”getheilt, ſo das nichts mehr uͤbrig iſt. Auf dem
Flecke,
[69]
”Flecke, auf dem ich athme, regiert jemand, wohin
”ich mich wenden koͤnnte, wird ein anderer regieren.
”So wenig ich fuͤr mich unabhaͤngig beſtehen, ohne
”Regenten ſeyn, oder mir Regenten und Regie-
”rungsform nach meinem Gefallen einrichten kann,
”eben ſo wenig kann ich fuͤr mich allein, mit meiner
”beſondern Religion, leben. Jede Religionspartey,
”die Gewalt gehabt hat, hat einen Zaun um ſich ge-
”zogen, habe ich nicht ihr Schiboleth, ſo heißts noch
”Menſchenliebe, wenn ſie mich bloß ausſtoͤßt. Jch
”kann ihretwegen in die ganze weite Welt laufen, aber
”wohin ich trete, bin ich im Zaune einer andern, die
”die mich wieder ausſtoͤßt. Wohl denn! ich will blei-
”den, wo ich bin, und dulden, was ich nicht aͤndern
”kann.‛


‚Mit dieſen Gedanken kehrte ich zuruͤck, unter-
”ſchrieb, ohne die Augen aufzuthun, und trat mein
”Amt an. Meine Pfarrkinder, die mich predigen
”und Beichte ſitzen und Kranken troͤſten ſahen, ſo-
”wie meine Vorfahren, wurden bald mit mir ver-
”ſoͤhnt, und wunderten ſich ſelbſt, wie ſie mich fuͤr
”einen ſo garſtigen Ketzer haͤtten halten koͤnnen. Aber
”nicht ſo meine Gegner, welche, ob ſie gleich vor der
”Hand ſtill ſchwiegen, nur auf eine Gelegenheit lauer-
”ten, mir den empfindlichſten Stoß zu verſetzen. Jch
E 5”gab
[70]
”gab ſie ihnen ſelbſt an die Hand, durch einige Ab-
”handlungen ohne meinen Namen, die ich in ein
”Wochenblatt einruͤcken ließ. Mein Superintendent
”entdeckte bald, daß weder die Rechtfertigung, noch
”die Wiedergeburt, noch die Erbſuͤnde, noch der thaͤ-
”tige Gehorſam, noch die Homoouſie, an der Stelle
”ſtanden, wohin er ſie geſetzt wiſſen wollte, Jch
”wurde vor eine meinetwegen niedergeſetzte Kom-
”miſſion citirt. Man begegnete mir im voraus
”als einem teufliſchen Ketzer, man verlangte Erklaͤ-
”rung, mit Ja, oder Nein, ob ich den ſymboliſchen
”Buͤchern, quia, beyfiele, oder nicht? Jch verthei-
”digte mich, und brachte die Kommiſſarien noch mehr
”in Harniſch; denn ſie hatten einen bloßen Widerruf
”und Abbitte von mir erwartet. Kurz, meine Ab-
”ſetzung war unwiderruflich beſchloſſen, und ich haͤtte
”vielleicht mein Leben, als ein Uebelthaͤter, in einem
”Kerker endigen, oder mein Brodt erbetteln muͤſſen,
”wenn nicht mein edelmuͤthiger Freund, der junge
”Officier, ſich abermals meiner angenommen, und
”mir eine Hofmeiſterſtelle bey einem jungen Reichs-
”grafen verſchafft haͤtte. Jch bin mit meinem Gra-
”fen durch ganz Europa gereiſet. Jch habe geſehen,
”daß allenthalben Aberglauben und Prieſtergewalt
”ſich der Erleuchtung des menſchlichen Geſchlechts
”mit
[71]
”mit unuͤberwindlicher Macht entgegenſetzen, daß
”allenthalben Dummkoͤpfe, die eingefuͤhrten Lehren
”und Gebraͤuchen ergeben ſind, laut ſprechen und
”herrſchen, und daß weiſe Leute, welche Mißbraͤuche
”einſehen, und ihnen abhelfen koͤnnten, nicht laut ſpre-
”chen wollen, oder duͤrfen. Nachdem mein Graf voll-
”jaͤhrig geworden, bin ich nun ganz unabhaͤngig, und
”danke Gott, daß ich in einer Lage bin, in der ich meine
”Gedanken nicht ferner verhehlen, noch meine Aus-
”druͤcke auf Schrauben ſetzen darf.‛


‚Ja wohl, ſagte Sebaldus, daß iſt die große
”Gluͤckſeligkeit, die man in Berlin genießet. Hier
”iſt das wahre Land der Freyheit, wo jedermann ſeine
”Gedanken ſagen darf, wo man niemand verketzert,
”wo chriſtliche Liebe und Erleuchtung in gleichem
”Maße herrſchen.‛


‚Ey! Sie haben ja von Berlin eine ſehr gute Mei-
”nung, ſagte Hr. F. laͤchelnd. Freylich, wer, ſo
”wie Sie und ich, kein Amt ſucht, und nicht von der
”Meinung des Publikums abhaͤngen darf, kann in
”Berlin denken und ſagen, was er will; mit demje-
”nigen aber, dem es nicht ſo ganz gleichguͤltig iſt, was
”man von ſeinen Religionsmeinungen denkt, iſt es
”eine ganz andere Sache. Die Regierung beguͤnſtigt
”die Freiheit zu denken, beſonders in Religionsſachen;
”wir
[72]
”wir haben auch einige ſehr wuͤrdige Geiſtlichen, die
”die Unterſuchungen wichtiger Wahrheiten nicht fuͤr
”Ketzerey halten, aber das Publikum iſt nicht voͤllig
”ſo tolerant. Die Einwohner von Berlin ſind ſo we-
”nig, als die Einwohner irgend einer andern Stadt,
”geneigt, Neuerungen in der Lehre machen zu laſſen.‛


‚Das ſollte ich kaum denken, wenigſtens ſtehen ſie
”auswaͤrts in einem ganz andern Rufe. Man glaubt
”vielmehr, Berlin ſey voll von Atheiſten, Deiſten,
”Naturaliſten, und wer weiß von was fuͤr iſten mehr.
”Man glaubt, jeder duͤrfe ſich daſelbſt in Religions-
”ſachen, was er wolle, erlauben. Jch ſelbſt, ob ich
”gleich nicht lange in Berlin bin, habe zuweilen zu-
”faͤlliger Weiſe Reden gehoͤrt, die man anderer Orten
”vielleicht nicht ſo frey haͤtte fuͤhren duͤrfen, ohne
”oͤffentliche Ahndung zu befuͤrchten.‛


‚Nein! oͤffentliche Ahndung hier freylich nicht. Un-
”ſere Regierung hat ſchon ſeit langen Jahren kluͤglich
”eingeſehen, daß man die Meinungen der Menſchen
”von Religionsſachen deshalb nicht beſſert, wenn man
”ſie einſchraͤnkt und ahndet, ſondern, vielmehr da-
”durch jede Thorheit eines Eiferers oder Schwaͤrmers
”zu einer wichtigen Sache macht. Sie verfolgt nie-
”mand wegen Meinungen. Daher machen gute und
”ſchlechte Meinungen in Berlin uͤberhaupt nicht ſo
”viel
[73]
”viel Aufſehen, als an andern Orten. Hierdurch
”geſchiehet es, daß ſich in Berlin, in dieſer Abſicht,
”die Menſchen mehr ſo zeigen, wie ſie ſind. Sie
”koͤnnen in Berlin vielleicht unter ſpekulativen Ge-
”lehrten einige gefunden haben, die die Offenbarung
”fuͤr unnoͤthig halten, und unter lockern Weltleuten
”auch wohl einige, die alle Religion verachten. Aber
”Leute von ſolchen Grundſaͤtzen werden ſie unter Ge-
”lehrten und unter Weltleuten allenthalben, ob-
”gleich nur etwas verborgner, finden koͤnnen, und in
”Berlin machen ſie gewiß eine ſehr geringe Anzahl
”aus. Wenigſtens, wer ſolche Meinungen an ſich
”merken laͤßt, wird weder hochgeſchaͤtzt noch geliebt
”werden. Der Berliniſche Poͤbel iſt noch eben ſo
”beſchaffen, als der, welcher im Jahre 1748, nach-
”dem er eine erbauliche Predigt wider die Freygeiſter
”gehoͤrt hatte, dem bekannten Edelmann die Fenſter
”einwarf. Und den Poͤbel ungerechnet, ſind auch un-
”ſere guten Berliniſchen Buͤrger uͤberhaupt zu nichts
”weniger, als zu ſo freyen Meinungen, geneigt. Jch
”wollte wohl Buͤrge fuͤr ſie ſeyn, daß ſie auch nicht
”einmal die geringſte Heterodoxie verſchlucken wuͤr-
”den, ſie muͤßten ſie denn etwa, mit gutem Herzen,
”fuͤr Orthodoxie halten.‛


‚Das
[74]

‚Das daͤchte ich doch nicht. Sie muͤſſen neuen
”Meinungen nicht ganz abgeneigt ſeyn, wenigſtens
”haben die Verſuche, durch Gebrauch der Vernunft
”die Vorurtheile in der Religion wegzuraͤumen, bis-
”her noch in Berlin den groͤßten Beyfall erhalten.‛


‚Ja! vergleichungsweiſe: Weil ſie an vielen an-
”dern Orten ganz und gar nicht geduldet werden.
”Aber vermengen Sie nur ja nicht wenige Schriftſtel-
”ler und ihre wenigen Freunde mit den Einwohnern
”Berlins, die aus vielen tauſenden beſtehen. Lernen
”Sie dieſe beſſer kennen! Wenn dieſe je von der Dog-
”matik abgehen, oder irgend worinn uͤber die Schnur
”hauen ſollten, ſo moͤchte es gewiß weniger von der Seite
”der Vernunft, als von der Seite der erhitzten Einbil-
”dungskraft*) geſchehen. Keine große Stadt in Deutſch-
”land hat, ſeit dem Anfange dieſes Jahrhunderts, da wir
Jnſpirirte hatten, welche weißagten und Wunder
”thaten,
ſo viel Schwaͤrmer gehabt, als Berlin, und
”itzt, wenn ich, den allgemeinen Charakter der Buͤrger
”von Berlin, mit Einem Worte bezeichnen ſollte, ſo wuͤrde
”ich eher ſagen, ſie waͤren pietiſtiſch als heterodox.


Pieti-
[75]

Pietiſtiſch? rief Sebaldus aus; die Buͤrger
”von Berlin pietiſtiſch!


‚Ja! Ja! verſetzte Herr F. pietiſtiſch, oder
orthodox von der pietiſtiſchen Seite; denn
”Sie wiſſen, es ſind noch nicht funfzig Jahre,
”daß große Streitigkeiten zwiſchen der orthodoxen
”Orthodoxie
und zwiſchen der pietiſtiſchen Or-
”thodoxie
gefuͤhret wurden,| und zu der letztern
”hat ſich ein großer Theil der Einwohner von
”Berlin ſchon damals und in der Folge geneigt:
”woher waͤre ſonſt der große Beyfall entſtan-
”den, den nebſt Leuten, wie Spener und Schade,
”auch Fuhrmann, Schulz, Woltersdorf und
”andere nach einander gehabt haben.‛


‚Sie reden von vergangenen Zeiten, ſeitdem aber
”hat ſich wohl in Berlin vieles gar ſehr abgeaͤndert. —


‚Jn den Schriften, die herauskommen, iſt die Ver-
”aͤnderung geſchwinder und allgemeiner, als in den
”Gemuͤthern der Einwohner geweſen. Dieſe ſind, in
”Abſicht auf Religionsgeſinnungen, noch beynahe eben
”das, was ſie vor vierzig Jahren waren. Jch habe ſo-
”gar bemerkt, daß ſich ihre dogmatiſchen Geſinnungen
”nach den Gegenden der Stadt, wo ſie wohnen, modifi-
”ciren. Jn der alten guten Stadt Berlin findet man
”noch alte Gewohnheiten, und auch alte Dogmatik. Die
”Pfarr-
[76]
”Pfarrkinder der uralten Pfarrkirche zu St. Nikoͤlal,
”am Molkenmarkt, und in der Stralauer Straße
”bis zur Paddengaſſe hinauf, halten am meiſten auf
”reine Orthodoxie. Jch verſichre Sie, daß Sie daſelbſt
”noch ehrenfeſte Buͤrger uͤber Erbſuͤnde und Wiederge-
”burt koͤnnen diſputiren hoͤren; desgleichen haben die
”Gaͤrtner und Viehmaͤſter in den Berliniſchen Vor-
”ſtaͤdten
noch alle loͤbliche Anlage auf einen Ketzer
”mit Faͤuſten loszuſchlagen. Jn Koͤlln, in der Ge-
”gend des Schloſſes,
koͤnnten noch am erſten die
”Freygeiſter anzutreffen ſeyn. Jn dieſer Gegend war
”es auch, wo der Probſt Reinbeck, im Hauden-
”ſchen
Buchladen auf der Schloßfreyheit, ſeine Be-
”trachtungen uͤber die Augſpurgiſche Konfeſ-
”ſion
ſchrieb, welche zuerſt in den Damm, den Eifer
”und verjaͤhrtes Vorurtheil, gegen die menſchliche
”Vernunft, fuͤr die Orthodoxie, aufgeworfen hatten,
”ein kleines Loch machten, das hernach ſo ſehr erwei-
”tert worden iſt. Die Nachbarſchaft des Hofes traͤgt
”auch wohl etwas bey, daß die Leute hier freyer den-
”ken. Man komme hingegen nur in die buͤrgerlichern
”Gegenden der Fiſcherſtraße und Lappſtraße,
”und man wird die Neigung fuͤr die Orthodoxie viel
”ſtaͤrker finden, ja ich vermuthe, daß ſie bey den Ger-
”bern, Pergamentmachern und Seifenſiedern in
Neu-
[77]
Neukoͤlln bis zum Eifer ſteige. Jn den dumpfi-
”gen Gaſſen des Werders wohnen die Separa-
”tiſten,
welche Gott einſam dienen; in den hoͤ-
”her gelegenen die ſtillen Gichtelianer,*) die ruhige
”Beſchaulichkeit lieben, und unerkannt wohlthun. Um
”die Gegend der Hoſpitalkirche zu St. Gertraut
”fangen die Herrnhuter an ſich zu zeigen, und ſo
”wie die breiten und hellen Straßen der Friedrichs-
”ſtadt
anfangen, ſo fangen auch die Religions-
”geſinnungen der Einwohner an, luftiger und gei-
”ſtiger zu werden. Pietiſten, die in Gefuͤhlen und
”innigen Empfindungen ihre Religion ſuchen, und
”Schwaͤrmer von allen Gattungen, finden ſich hier,
”und der innere Trieb der Raſchmacher und Woll-
”kaͤmmer bricht hier oft in Erbauungsſtunden und
”Weißagungen aus. Die Dorotheenſtadt wird
”zum Theil von ketzeriſchen Reformirten und Fran-
”zoſen bewohnt. Aber in allen Gegenden der Stadt
”iſt eine andere Gattung Leute verbreitet, die ich oft
”in Geſellſchaften angetroffen habe, denen man es
F”anmerkt,
[78]
”anmerkt, daß ſie niemals weder Orthodoxie noch
”Heterodoxie unterſucht haben, bey denen es hinge-
”gen feſtgeſetzt bleibt, daß alles darinn bleiben foll,
”wie es war. Es giebt unter ihnen ſo gar deliirte
”Weltleute,
die ſcherzen, Karten ſpielen, mit Frauen-
”zimmern taͤndeln, und doch die Naſe ruͤmpfen koͤn-
”nen, wenn ſich die geringſte Ketzerey ſpuͤren laͤßt.


‚Dieß ſollte mir herzlich leid thun, ſagte Sebal-
”dus;
denn wenn ſolcher Leute in Berlin viele ſind,
”ſo koͤmmt mir Jhre Nachricht nur allzu glaubwuͤr-
”dig vor, daß hier die Erleuchtung und die Frey-
”heit zu denken noch nicht ſo groß iſt, als ich mir
”vorgeſtellt habe. Jch habe immer gefunden, daß
”diejenigen, die aus Traͤgheit und Nachlaͤßigkeit die
”Wahrheit nicht ſuchen wollen, die Selbſtdenker am
”meiſten haſſen, weil ſie ſich ſonſt ihrer Traͤgheit und
”Nachlaͤßigkeit ſchaͤmen muͤßten. Mir iſt aber immer,
”ſelbſt derjenige, viel ehrwuͤrdiger geweſen, der, durch
”Liebe zur Unterſuchung der Wahrheit, auf Jrrthuͤ-
”mer verfaͤllt, als derjenige, der ſie gar nicht unter-
”ſuchen mag.‛


‚Jn dieſen Geſinnungen werden viele Einwohner
”Berlins nicht mit Jhnen uͤbereinſtimmen, und viel-
”leicht nicht einmal alle Berliniſchen Geiſtlichen.‛


Sieben-
[79]

Siebenter Abſchnitt.


Unter ſolchen Geſpraͤchen hatten ſie ſich unvermerkt
von ihrem Spaziergange linker Hand abgeſchla-
gen, und waren in die Lindenallee gerathen, wo ſie
ſich ziemlich ermuͤdet auf eine Bank niederſetzten, an
deren anderm Ende ein Prediger mit einem Kandi-
daten in tiefem Geſpraͤche ſaß.


‚Es muͤſſen doch noch einige andere Urſachen ſeyn,
”ſagte der Kandidat, warum die Freydenkerey ſo ſehr
”in Berlin uͤberhand genommen hat. Ueppigkeit und
”Wolluſt gehen in andern großen Staͤdten auch im
”Schwange, aber man ſiehet da nicht ſo viele oͤffent-
”liche Freydenker.‛


‚Freylich, verſetzte der Prediger, unſere ſchoͤnen hete-
”rodoxen Herren, die die Religion ſo menſchlich machen
”wollen, und die dabey die Wuͤrde unſeres Standes ganz
”aus der Acht laſſen, ſind am meiſten Schuld daran.
”Sie wollen den Freydenkern nachgeben, ſie wollen ſie
”gewinnen. Als ob es ſich fuͤr uns ſchickte, mit Leuten
”ſolches Gelichters Wortwechſel zu fuͤhren. Man muß
”ihnen kurz und nachdruͤcklich den Text leſen, man muß
”ihnen das Maul ſtopfen, man muß ſich bey ihnen
”in der Ehrfurcht zu erhalten wiſſen, die ſie uns ſchul-
”dig ſind.‛


F 2‚Das
[80]

‚Das iſt wahr. Nur iſts zu beklagen, daß dieſe
”Leute fuͤr alle ehrwuͤrdigen Sachen, und beſonders
”fuͤr den Predigerſtand nicht die gehoͤrige Ehrfurcht
”haben.‛


‚Daran ſind wieder die neumodiſchen Theologen
”ſchuld, die ſich ſelbſt die Mittel benehmen, womit
”man die Layen im Zaum halten muß. Sie ſchwat-
”zen immer viel vom Nutzen des Predigtamts, und
”vergeſſen das Weſen des Predigtamts hieruͤber.
”Sie geben ſich ſelbſt als die nuͤtzlichen Leute an,‛
(Hier verbreitete ſich ein mildes ironiſches Laͤcheln,
dicht unter ſeinem breiten Schiffhute) ‚die der Staat
”verordnet hat, Weisheit und Tugend zu lehren.
”Eine rechte Wuͤrde! Weisheit und Tugend duͤnkt
”ſich jetzt jeder Wochenblaͤttler oder Romanſchreiber
”zu lehren! Damit werden wir eine feine Ehrfurcht
”von Layen fordern koͤnnen! Aber wenn wir, ſo wie
”es recht iſt, darauf beſtehen, daß unſer Beruf ein
”goͤttlicher Beruf iſt, daß die Ordination, die wir
”empfangen haben, nicht eine leere Ceremonie iſt,
”ſondern daß ſie uns zu Nachfolgern der Apoſtel, zu
”Boten Gottes, zu Handhabern ſeiner Geheimniſſe
”macht, daß ſie uns das Amt der Schluͤſſel uͤber-
”traͤgt, ſo wird unſer Orden bald wieder zu ſeiner vo-
”rigen Wuͤrde gelangen, und dann wird auch, natuͤr-
”licher
[81]
”licher Weiſe, die Religion mehr geſchaͤtzt werden.
”Aber unſre feinen Lehrer der Rechtſchaffenheit ha-
”ben ſo eine große Begierde nuͤtzlich zu ſeyn, daß ſie
”ſich und ihren Orden und die Religion daruͤber ver-
”geſſen.‛


‚Es iſt wahr, ſagte der Kandidat, indem er den
”Kopf ſchuͤttelte, es ſcheint mir auch faſt, daß die
”Proteſtanten, in der Abſicht eine paͤbſtiſche Hierar-
”chie zu vermeiden, den geiſtlichen Stand andern
”Staͤnden allzuſehr gleich machen.‛


‚O! ein wenig Pabſtthum waͤre uns ſehr noͤthig,
”oder wir werden nie wieder Glaubenseinigkeit und
”Glaubensreinigkeit erlangen. Jch kann es dem Luther
”und Melanchthon nicht vergeben, daß ſie die
”Hierarchie ganz aufgehoben, und auf die Vorzuͤge
”des geiſtlichen Standes ſo wenig geachtet haben.
”Daraus iſt denn endlich der ganze Verfall des Chri-
”ſtenthums entſtanden. Denn wer giebt darauf Ach-
”tung, was ein elender Prediger ſagt? Hingegen,
”wenn ein Erzbiſchof ſpricht, ſo muͤſſen die Frey-
”geiſter wohl ſchweigen. Man ſieht es auch noch, daß
”an den proteſtantiſchen Orten, wo den Geiſtlichen
”ein Schatten von Autoritaͤt uͤbrig iſt, daß da auch
”die Religion geachtet wird. Jch wollte es unſern
”Freydenkern rathen, daß ſie einem Senior in Ham-
F 3”burg,
[82]
”burg, oder einem Praͤpoſitus in Mecklenburg, oder
”einem Superintendenten in Sachſen, oder einer
”theologiſchen Fakultaͤt in Greifswalde und in Goͤt-
”tingen in die Haͤnde fielen, da wuͤrde ihnen ein kur-
”zer Proceß gemacht werden. Aber mit uns armen
”Berliniſchen Predigern koͤnnen ſie bald fertig werden;
”wir haben keine Wuͤrde mehr, wir verdienen keine
”Ehrfurcht mehr, wir haben ſie uns ſelbſt vergeben,
”da wir vernuͤnfteln und beweiſen wollen, anſtatt
”daß wir ſolchen Leuten imponiren, daß wir ihnen
”den Daumen aufs Auge druͤcken ſollten.‛


‚Ach! rief der Kandidat mit einem Seufzer aus,
”ſeitdem ich mich dem geiſtlichen Stande gewiedmet
”habe, habe ich es ſchon oft beklagt, daß dieſes nicht
”mehr ſo recht angehen will. Nun muß man ſchon
”aus der Noth eine Tugend machen, muß die Zwei-
”fel der Gegner kennen lernen, muß ſich auf Wider-
”legungen und Beweiſe gefaßt machen. —‛


‚Damit, fiel ihm der Prediger ins Wort, werden
”Sie nicht weit kommen. Die Layen muͤſſen glauben,
”was ihnen an Gottes ſtatt geſagt wird, und ihre
”Zweifel unterdruͤcken, darauf muß man dringen!
”Die Dogmatik iſt eine Art von ſtatutariſchem Rech-
”te, das man annehmen muß, wenn man es auch
”nicht allemal bis aufs Recht der Natur zuruͤckfuͤh-
”ren
[83]
”ren kann. Und zuletzt wird bey dem Vernuͤnfteln
”doch nichts herauskommen; denn, ich wiederhole es
”nochmals, dem Layen muß und ſoll man nicht er-
”klaͤren
und beweiſen, ſondern er muß glauben.
”Es koͤmmt hier gar nicht auf die Vernunft, ſondern
”auf die Bibel, auf eine uͤbernatuͤrliche Offenba-
”rung
an. Hier muß man nur nicht ſchmeicheln,
”ſondern die menſchliche Vernunft in ihrer Ohnmacht
”zeigen, ihr aber keinesweges, wie unſre trefflichen Leh-
”rer der Tugend thun, ein Recht in Glaubensſachen
”zugeſtehen.‛


Herr F. hoͤrte dieſes Geſpraͤch ſtillſchweigend an,
das Geſicht auf ſeinen Stock geſtuͤtzt. Sebaldus
aber war dabey ſehr unruhig, und ruͤckte ſich auf der
Bank hin und her, ſo daß er unvermerkt dem Pre-
diger naͤher kam.


Dieſer fuhr fort: ‚Und unſern neumodiſchen Theo-
”logen, die die Welt haben erleuchten wollen, die ſo
”viel unterſucht, vernuͤnftelt, philoſophirt haben, wie
”wenig haben ſie ausgerichtet! wie muͤſſen ſie ſich
”kruͤmmen und winden! Sie philoſophiren Saͤtze
”aus der Dogmatik weg, und laſſen doch die Folgen
”dieſer Saͤtze ſtehen; ſie brauchen Woͤrter in man-
”cherley Verſtande, ſie verwickeln ſich in ihre eignen
”Schlingen, ſie ſind aufs aͤußerſte inkonſequent. —‛


F 4Sebal-
[84]

Sebaldus fiel ihm ſchnell in die Rede: ‚Und wenn
”ſie denn nun inkonſequent waͤren? Wer einzelne Vor-
”urtheile beſtreitet, aber viele andere damit verbun-
”dene nicht beſtreiten kann oder darf, kann, ſeiner
”Ehrlichkeit und ſeiner Einſicht unbeſchadet, inkonſe-
”quent ſeyn oder ſcheinen. Die Verbeſſerer der Reli-
”gion moͤgen immerhin ein zerrißnes Buch ſeyn, daß
”weder Titel noch Regiſter hat, und in welchem hin
”und wieder Blaͤtter fehlen; aber auf den vorhande-
”nen Blaͤttern ſtehen noͤthige, nuͤtzliche, vortrefflliche
”Sachen, und ich will dieſe Blaͤtter, ohne Zuſammen-
”hang, lieber haben, als Meenens Beweis der
”Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen,
und wenn dieß
”Buch noch ſo komplet waͤre.‛


Der Prediger ſchaute, mit ſtierem Blicke, und ver-
laͤngertem Angeſichte, dem Sebaldus gerade ins Ge-
ſicht, zog ſeinen Hut langſam ab, und ſagte, indem
er ſich gegen ihn neigte, mit einem Tone voll Nach-
druck und Wuͤrde:


‚Sie ſind alſo, wie ich merke, ein Goͤnner der
”neuern heterodoxen Theologen. Sie werden ver-
”muthlich alles, was dahin gehoͤrt, wohl uͤberlegt ha-
”ben; denn Herren Jhrer Art handeln niemals un-
”uͤberlegt. Sagen Sie mir alſo doch, was fuͤr ein
”Chri-
[85]
”Chriſtenthum wir bekommen moͤchten, wenn dieſe
”Herren ſo fortfahren, wie ſie angefangen haben.‛


‚Ey nun! verſetzte Sebaldus, es koͤnnte wohl ein
”ſehr chriſtliches Chriſtenthnm werden.‛ —


‚Chriſtlich? ja ein heidniſches Chriſtenthum
”wird es werden. Hoͤren Sie wohl? heidniſch iſt der
”wahre Namen!‛


‚Mag es doch heißen, wie es will; das menſchliche
”Geſchlecht wird durch eine Benennung weder gluͤck-
”lich noch ungluͤcklich.‛


‚So? wenn Sie denn alſo meinen, ſo moͤgen die
”Herren immer auf den Naturaliſmus fort arbeiten.
”Jndifferentiſten ſind ſie ohnedem ſchon. Auf die Art
”koͤnnten ſie ziemlich fortſchreiten. Zum Gluͤcke aber,
”ſetzte er mit einer weiſen Miene hinzu, ſind ſie ſeichte
”Koͤpfe, die ſich in kurzem vor ſich ſelbſt ſcheuen, und
”ſo wie in ihrer Philoſophie, auch in ihrer Theologie,
”auf dem halben Wege ſtehen bleiben.‛


‚Wenn es der Weg zur Wahrheit iſt, ſo iſts, mei-
”nes Erachtens, kein geringes Verdienſt, bis auf den
”halben Weg zu kommen. Der Weg der Wahrheit
”iſt ſo ſteil und ungebahnt, daß der eine fruͤh, und der
”andere ſpaͤt, ermuͤdet. Ein jeder gehe, ſo weit es ihm
”ſeine Kraͤfte erlauben. Auch derjenige, der nur
”einen einzigen Schritt fortgeht, auch derjenige, der
F 5”nur
[86]
”nur eine ganz kleine Strecke durch ſeinen Fleiß bah-
”net, iſt mir ehrwuͤrdig. Aber nicht derjenige, der
”aus Stolz den Weg gar nicht antreten will, der aus
”Traͤgheit, um nicht einen Schritt weiter zu gehen,
”die Falſchheit die vor den Fuͤßen liegt, fuͤr Wahr-
”heit ausgiebt.‛


‚Alſo, rief der Prediger mit einem ſpoͤttiſchen Laͤ-
”cheln aus, wollen Sie erſt neue Wege zur Wahrheit
”bahnen? Sie kommen zu ſpaͤt, mein lieder Herr! der
Weg iſt ſchon ganz gebahnt; er heißt die Bibel.
”Und dabey haben uns unſere Vorfahren einen ganz
”untruͤglichen Wegweiſer geſetzt, der heißt die ſym-
”boliſchen Buͤcher.
Die haben Sie freylich, vermuth-
”licher Weiſe, nicht geleſen, denn die Herren Selbſt-
”denker pflegen nicht ſehr beleſen zu ſeyn. Wenn Sie
”mich zuweilen beſuchen wollen, ſo koͤnnen Sie ſich
”naͤher belehren. Jch will Jhnen unſere aͤltern Theo-
”logen zu leſen geben, denn die werden ihnen wohl
”gaͤnzlich unbekannt ſeyn. Sie werden darinn, zu
”Jhrer Verwunderung, alle Streitfragen laͤngſt er-
”oͤrtert, alle Zweifel laͤngſt beſtimmt, und alle die
”neuen Meinungen, auf die ſich die neuen Hetero-
”doxen ſo viel zu Gute thun, laͤngſt widerlegt finden.
”Leben Sie wohl, mein lieber Herr! — Jch wohne in
”der … Straße.‛


Hiemit
[87]

Hiemit ſtand er auf, das ſuͤße Laͤcheln der Selbſt-
zufriedenheit auf ſeinen Lippen. Die andern ſtan-
den gleichfalls auf, und jeder gieng ſeinen Weg.


Achter Abſchnitt.


Nach einer kurzen Pauſe, ſagte Sebaldus: ‚Haͤtte
”ich doch nimmermehr gedacht, daß man auf
”dieſe Art in Berlin von den ſymboliſchen Buͤchern
”reden wuͤrde. Ein unbetruͤglicher Wegweiſer!
”Jch daͤchte, kein vernuͤnftiger Menſch wuͤrde blind-
”lings einem Wegweiſer folgen, der vor mehr als
”zweyhundert Jahren geſetzt worden, er wuͤrde be-
”denken, durch wie viele Vorſaͤlle der Wegweiſer ſeit
”zweyhundert Jahren koͤnne verruͤckt, oder der Weg
”ſeyn geaͤndert worden. Wenn man dieſe Truͤglich-
”keit uͤberlegt, ſo muß man ſich ſehr wundern, daß
”die Menſchen ſo großes Verlangen bezeigen, ſich
”nach Lehrformeln, Synodalſchluͤſſen und ſymbo-
”liſchen Buͤchern zu richten.


‚Die Menſchen ein Verlangen? rief Herr F.
”aus. — Dieß glaube ich eben ſo wenig, als daß die
”Menſchen ein Verlangen haben, ſich bey der Naſe
”herumfuͤhren zu laſſen. Aber diejenigen, welche die
”Menſchen beherrſchen wollen, brauchen Naſen, dar-
”an
[88]
”an ſie dieſelben herumfuͤhren koͤnnen, und dazu
”ſind die waͤchſernen Naſen am beſten. Glauben
”Sie denn, daß der Mann, der eben itzt ſo viel von
”ſymboliſchen Buͤchern redete, ihnen eben ſo ſtrenge
”anhaͤngt, als er verlangt, daß ihnen andere an-
”hangen ſollen?‛


‚Dieß muß ich dahin geſtellt ſeyn laſſen, weil ich
”den Mann nicht genau genug kenne.‛


‚Jch laſſe es auch dahin geſtellt ſeyn. Jch kenne
”aber nicht wenig Geiſtliche von hohem Sinne, die
”vielleicht ſehr leicht Heterodoxen geworden waͤren,
”wenn dadurch Ruhm oder anſehnliche Aemter zu er-
”langen geweſen waͤren. Wenn ſie aber ſehen, daß
”andere ſchon mit beſſerm Erfolge durch Heterodoxien
”Ruhm erworben haben, wenn ſie fuͤhlen, daß ſie
”ſchwerlich Geſchicklichkeit und Muth genug haben
”moͤchten, noch wichtigere Neuerungen zu wagen, ſo
”ekelt ihnen davor, Heterodoxen vom zweyten oder
”dritten Range zu ſeyn, und ſie ergreifen die viel be-
”quemere und ſichrere Partey, ſie ſtellen ſich an die
”Spitze der Orthodoxen ihrer Stadt oder ihrer Pro-
”vinz, und wenden eben die Lebhaftigkeit des Geiſtes,
”mit der ſie Ketzereyen haͤtten anſtiften koͤnnen, an,
”um ſich Ketzereyen zu widerſetzen. Sich auf die aͤl-
”tern Theologen und auf die ſymboliſchen Buͤcher, bloß
”als
[89]
”als auf unwiderſprechliche Grundgeſetze, zu berufen,
”iſt ſchon eine ſo alte politiſche Maxime ſolcher Leute,
”daß ſie bereits abgenutzt iſt, und daß die Kluͤgern
”unter ihnen ſchon auf ganz andere Mittel denken,
”um den Ruhm, den ſie durch neue Heterodoxien nicht
”zu erhalten wußten, durch eine neue Orthodoxie von
”ihrer eignen Schoͤpfung zu erlangen. Denn wenn
”dieſe Herren auch vorgeben, daß ſie noch ſo alt-or-
”thodox waͤren, ſo iſt doch gemeiniglich die Art, wie
”ſie orthodox ſeyn wollen, ſehr neu.‛


‚Dieß kann wohl nicht anders ſeyn, erwiederte
Sebaldus, denn je mehr ich den Gang, den der
”menſchliche Verſtand in ſeiner Entwicklung von je
”her genommen hat, bedenke, deſto unmoͤglicher
”ſcheint es mir, daß alles ſo bleiben ſollte, wie es
”vor zweyhundert Jahren geweſen iſt, und deſto un-
”gereimter ſcheint es mir, daß man, durch Vorſchrif-
”ten von irgend einer Art, die Veraͤnderungen der
”Meinungen und ihren Fortgang hindern will. Die
”ſymboliſchen Buͤcher ſind fuͤr die Zeit und unter
”den Umſtaͤnden, unter denen ſie gemacht worden
”ſind, ſehr gut. Aber wenn wir denſelben beſtaͤndig
”anhangen wollten, ſo befuͤrchte ich, da ſich ſeitdem
”Regierungsform, Wiſſenſchaften und Sitten gaͤnz-
”lich geaͤndert haben, wir wuͤrden endlich eine Theo-
”logie
[90]
”logie bekommen, die ſich fuͤr die Zeit, in der wir le-
”ben, auf keine Weiſe ſchicken wuͤrde.‛


‚Sie haben ganz recht. Wenn unſere Theologen
”die ſymboliſchen Buͤcher des ſechszehnten Jahrhun-
”derts zur unveraͤnderlichen Form des Glaubens an-
”nehmen, ſo handeln ſie gerade eben ſo klug, als
”wenn unſere Schneider die ſteifen Kragen, kurzen
”Maͤntel, und weiten mit Pelz bebraͤmten Roͤcke eben
”dieſes Jahrhunderts zur unveraͤnderlichen Form der
”Kleidertracht haͤtten feſtſetzen wollen. Die Erfah-
”rung lehret uns, daß die Meinungen ſich nicht min-
”der veraͤndern, als die Kleidertrachten. Es geht da-
”her auch den ſymboliſchen Buͤchern eben ſo, wie der
”Kleidung der Geiſtlichen. Als die ſymboliſchen Buͤ-
”cher gemacht wurden, enthielten ſie bloß die allge-
”mein angenommenen Meinungen aller Glieder der
”Lutheriſchen Kirche, ſo wie die Kleidung der Geiſt-
”lichen, dem Schnitte nach, die Kleidung aller ge-
”lehrten Leute, und die ſchwarze Farbe, die
”Farbe eines Biedermanns war, wenn er feyer-
”lich erſchien. Als die Kleidermoden ſich aͤnderten, ſo
”blieben die Geiſtlichen in derſelben immer wohl vier-
”zig oder funfzig Jahre zuruͤck, ſo wie es ihnen
”noch oft in der Litteratur und Philoſophie geht.
”Endlich aͤnderte ſich die Welt ſo ſehr, daß der Schnitt
”des
[91]
”des Glaubens und der Kleidung, der zu Luthers
”Zeiten allen guten Leuten gemein war, endlich das
Symbolum eines beſondern Standes blieb. Und
”dennoch befuͤrchte ich, es gehe, noch in einer andern
”Abſicht, der Konformitaͤt mit den ſymboliſchen Buͤ-
”chern, wie den Aermeln und den Maͤnteln der Geiſt-
”lichen. Obgleich jene immer Orthodoxie heißt,
”und dieſe immer ſchwarz bleiben, ſo haben ſie beide
”doch, ſonderlich ſeit funſzig Jahren, ſo viel kleine,
”aber weſentliche Veraͤnderungen erlitten, daß im
”Grunde, ein guter alter orthodoxer Dorfpaſtor, der,
”ſeit Buddeus Zeiten, an keine Veraͤnderungen we-
”der in der Gelehrſamkeit noch in Rockſchoͤßen und
”Peruͤcken gedacht hat, von einem jungen orthodoxen
”Diakon itziger Zeit, der vier Jahre lang in adelichen
”Haͤuſern Hofmeiſter geweſen iſt, aller Konformitaͤt
”unerachtet, eben ſo ſtark in der Kleidertracht, als in
”der Glaubenslehre verſchieden iſt.


Sebaldus ſagte laͤchelnd, es duͤnckt mich doch faſt,
”die Dogmatik habe ſeit meiner Jugend mehrere Ver-
”aͤnderungen erlitten, als die Kleidertracht. Jch daͤch-
”te die Geiſtlichen giengen noch eben ſo, wie vor vier-
”zig Jahren, in Roͤcken, und in Kragen und Maͤnteln.‛


‚Jch daͤchte nicht. Sie haben nur auf jene Ver-
”aͤnderung mehr acht gegeben, als auf dieſe. Sie
”iſt
[92]
”iſt eben ſo merklich. Ja ſogar, oft iſt ſie aus Be-
”gierde, ſich von andern Glaubensgenoſſen zu unter-
”ſcheiden, entſtanden, und dann ward ſie ein Stuͤck
”der Kirchengeſchichte.‛


‚Sie ſcherzen. Wie kann die Glaubenslehre auf
”die Kleidertracht einen Einfluß haben! Außerdem
”ſieht ja, in der ganzen proteſtantiſchen Kirche, eine
”Prieſterkleidung der andern aͤhnlich.‛


‚Keinesweges! Der ſteife Wolkenkragen in
”Hamburg, Braunſchweig, Breßlau, Leipzig, und
”das feine Ueberſchlaͤgelchen anderer Laͤnder, die
”enge Summarie in Mecklenburg und Holſtein, der
”weite Prieſterrock in Sachſen und Anhalt, der
Mantel in Brandenburg, das ſammtne Kalott-
”chen,
das der Danziger Prediger auf ſeine Peruͤcke
”naͤhet, ſind alles weſentliche Unterſchiede, die, ſo
”wie alle Dinge in der Welt, ihren zureichenden
”Grund, (determinirenden Grund, dachte Sebal-
dus
heimlich bey ſich) und vielleicht oft zunaͤchſt
in der Lehre haben. Hier habe ich eben eine un-
”gedruckte Handſchrift: Hiſtoriſche Verſuche uͤber
”Berlin
betitelt, in der Taſche, die mir ein Freund
”mitgetheilt hat. Jch will Jhnen daraus etwas we-
”niges von der Geſchichte der Huͤte und Maͤntel
”der Berliniſchen Geiſtlichkeit
vorleſen. Vielleicht
”merken,
[][]

[figure]

[93]
”merken Sie daraus, daß die Eingeweihten aller Orden
Zeichen haben, die den Augen der Profanen entgehen.‛


Sie ſetzten ſich abermals auf eine Bank, und Herr
F. las, wie folget:


Philipp Jakob Spener, ein gutmuͤthiger red-
”licher Mann, der, in einem Zeitalter voll theologi-
”ſches Stolzes, und theologiſcher Zaͤnkerey, beſchei-
”den und friedliebend war, der, vorzuͤglich vor allen
”dogmatiſchen Spitzfuͤndigkeiten, die er gern vermie-
”den haͤtte, und nach dem Genius ſeines Zeitalters
”nicht vermeiden konnte, die Rechtſchaffenheit und
”die Lauterkeit des Herzens einſchaͤrfte, befliß ſich
”nicht in ſeiner Kleidung etwas ſonderliches zu ha-
”ben. Sein ehrwuͤrdiges Haupt,*) um das ſeine ſil-
”berweißen Haare in natuͤrlichen Locken hinabhien-
”gen, waͤrmte ein kleines Kalottchen, und ſein weit-
”gefalteter Mantel (die damals gewoͤhnliche Tracht
”der Gelehrten, die noch bis in das erſte Viertheil
”dieſes Jahrhunderts alle Schuͤler in Berlin trugen,)
”hieng, als eine brauchbare Bedeckung, ungekuͤnſtelt
”uͤber die Schultern und Arme herab. Bald nach
”ſeiner Zeit, ward ein Theil der Berliniſchen Geiſtlich-
”keit nach dem modiſchen Putze der Spaniſchen Pe-
”ruͤcken**) luͤſtern, die ſie ſo oft auf den Haͤuptern der
”Geheimenraͤthe und der Edelknaben, an dem prunk-
G”vollen
[94]
”vollen Hofe unſers guten Koͤnigs FriedrichsI. geſe-
”hen hatten. Selbſt die Pietiſtiſchen Prediger mochten
”dieſe ſo oft abgekanzelte, und, nebſt den Fontangen der
”Frauenzimmer, vom Einblaſen des leidigen Teu-
”fels hergeleitete Kopfzierde, ſo bald ſie die Welt-
”leute mit dem Regierungsantritte Koͤnig Frie-
”drich Wilhelms
ablegten, ferner nicht verſchmaͤ-
”hen. Vermuthlich ihrer Gravitaͤt wegen; denn ſie
”fiengen nunmehr, gleich den Leuten, die ihre
”Denkzettel breit und die Saͤume an ihren Klei-
”dern groß machten,
*) an, in ihrer Kleidung ſich
”gefliſſentlich von andern Menſchen zu unterſchei-
”den.**) Sie machten an ihren Kragen einen breiten
”Saum. Ein breiter nur zweymal aufgeſtutzter
”Schiffhut beſchattete vorn und hinten ihr Haupt,
”und in den Mantel wickelten ſie den Unterleib der-
”maßen ein, daß, bey dem wenigen Raume, den die
”Fuͤße uͤbrig behielten, derjenige unter ihnen, der
”von Natur nicht bedaͤchtig war, einen bedaͤchtigen
”Gang anuehmen mußte. Da unſere ganze Lutheri-
”ſche Geiſtlichkeit um dieſe Zeit aufieng, ſich von
”der Hamburgiſchen Orthodoxie der polternden
Mayer und Neumeiſter, ab, und zum ſanftern Pie-
”tiſmus zu neigen, ſo ward dieſer eben beſchriebene
”Anzug
[95]
”Anzug ſehr bald das Merkzeichen eines jeden Luthe-
”riſchen Pfarrers. Denn die Reformirten, dem
”Hofe naͤher, wollten ſich nicht ſo ſehr von der ge-
”woͤhnlichen Kleidung abwenden. Sie behielten den
”gewoͤhnlichen dreymal aufgeſtutzten Hut bey, und
”den Mantel,*) deſſen viele pedantiſche Falten ſie
”unmerklich vermindert hatten, ſchlugen ſie von den
”Schultern zuruͤck, und hoben ihn im Gehen mit der
”linken Hand zierlich auf, ſo daß ſie mit mehrerm
”Anſtande fortſchreiten konnten. Nach einiger Zeit
”fiengen ſie an, den Mantel**), den ſie mit der linken
”Hand empor gehalten hatten, zu mehrerer Bequem-
”lichkeit ganz auf den linken Arm zu legen. Unter
”den Lutheranern, welche ſchon laͤngſt den ſchmalern
”Mantel, und die freyern Fuͤße der Reformirten
”mit heimlichem Neide mochten angeſehen haben,
”wagte es zuerſt ein Mann, in großen Dingen klein,
”und in kleinen Dingen groß, den Mantel***) um
”den Leib zu ſchlagen, und mit freyen Fuͤßen einher zu
”treten, worinn er bald viele Nachahmer bekam. Es
”waͤre zu weitlaͤuftig zu erzaͤhlen, welche Widerſpruͤ-
”che jede von dieſen Veraͤnderungen habe leiden
”muͤſſen, wie oft man aus der veraͤnderten Art den
”Mantel zu tragen, auf eine Neuerung in der Lehre
G 2”geſchloſſen
[96]
”geſchloſſen habe, und wie oft eine Neuerung in der
”Lehre unbemerkt durchgegangen ſey, weil der Neuer-
”ling den Mantel noch nach der alten Art trug.
”Genug, die alte ſymboliſche Reinigkeit des Man-
”teltragens bekam noch einen groͤſſern Fleck, da
”einige Kryptokalviniſten anfiengen, den Man-
”tel, nach Art der Reformirten, auf den Arm zu le-
”gen, ob ſie ihn gleich, weil ſie ſich denſelben nicht
”ganz gleich ſtellen durften,*) auf dem rechten Arme
”trugen. Jn kurzem wurde dieſer ſo kleine Unter-
”ſchied der Konfeſſionen auch nicht mehr beobachtet.
”Die Maͤntel wurden rechts oder links getragen,
”ohne einzige Regel, wie es jedem einfiel. Und nun
”konnte man einen Lutheriſchen Prediger von einen
reformirten deſtoweniger auf der Straße unter-
”ſcheiden, da eben zu der Zeit einige Lutheriſche Geiſt-
”lichen ſich unterfiengen, den ehrbaren Schiffhut, der
”bisher immer noch das Schiboleth eines Berli-
”niſchen Lutheriſchen Geiſtlichen
geweſen war,
”mit dem dreyeckigten Hute zu vertauſchen, den alle Ein-
”wohner Berlins, und unter ihnen auch die refor-
”mirten
Geiſtlichen, trugen. So vielem Wider-
”ſpruche auch dieſes Unternehmen anfangs aus-
”geſetzt
[97]
”geſetzt war,*) ſo gieng es doch ohne weitere Ahn-
”dung durch. Denn nunmehr war die Zeit gekom-
”men, da die Unordnung und Lauigkeit in der Lehre,
”die ſich ſchon lange in die Herzen eingeſchlichen hatte,
”auch an den Kleidern ſichtbar werden ſollte. Vor
”Zeiten hatten ſich die Lutheriſchen und Refor-
”mirten,
ſo viel wie moͤglich, von einander abgeſon-
”dert, auch wohl, eine Folge des Eifers fuͤr eines je-
”den Symbolum, weidlich mit einander geha-
”dert,
nicht weniger, eine Folge des Haders, ein-
”ander herzlich gehaſſet; nunmehr aber, da ſich
”ihre Geiſtlichen auch nicht einmal mehr| der Klei-
”dung nach von einander unterſchieden, war faſt
”gar die Frage nicht mehr, ob jemand Lutheriſch
”oder reformirt ſey. Dieſe Jndifferentiſterey hatte
”aber auch andere ſchaͤdliche Folgen. Denn die geiſt-
”lich Kleidung
verlohr einen großen Theil ihrer
G 3”ſym-
[98]
ſymboliſchen Deutung, und zugleich einen gro-
”ßen Theil ihrer Gravitaͤt. Jn der allgemeinen
”Sorgloſigkeit gegen alle beſtimmten aͤußerlichen Zei-
”chen, wurden die Maͤntel immer ſchmaͤler, leichter
”und kuͤrzer,*) und hiengen als eine zweckloſe Verzie-
”rung den Ruͤcken herunter; die Peruͤcken, die ſonſt in
”gravitaͤtiſcher Zierde den Ruͤcken herab wallten,
”oder auf den Schultern in ſanften Seiteulocken ru-
”heten, gewannen taͤglich ein weltlicheres Anſehen,
”hoben ſich in Taubenfluͤgeln und geſteckten Lo-
”cken
in die Hoͤhe, und endlich trugen Prediger kein
”Bedenken, ohne alle Amtskleidung,**) in blauen,
”grauen und braunen Roͤcken auf der Straße und in
”Geſellſchaften zu erſcheinen, und ſich keiner gleich-
”guͤltigen Handlung zu entziehen, die ein jeder an-
”derer unbeſcholtener Buͤrger auch verrichten darf.‟


‚Und nun fragte Herr F. laͤchelnd: Was ſagen Sie
”zu dieſen Veraͤnderungen der Kleidertracht, die doch
”offenbar mit gewiſſen Veraͤnderungen in den Glau-
”bensgeſinnungen Schritt gehalten haben?‛


‚Jch ſage, antwortete Sebaldus ſehr ernſthaft,
”daß ſie nur merkwuͤrdig werden, wenn ſie merkwuͤr-
”dige Folgen haben, und die haben ſie nur, wenn
”man ſie fuͤr merkwuͤrdig haͤlt. Macht man ein un-
”wich-
[99]
”wichtiges Ding wichtig, es mag nun ein Rockaͤrmel,
”oder ein ſymboliſches Buch ſeyn, ſo kann uͤber deſſen
”Veraͤnderung Zank und Bitterkeit, ja wohl gar Auf-
”ruhr und buͤrgerlicher Krieg entſtehen. Eben des-
”halb ſollte man, meines Erachtens, in Dingen, die
”von der Meinung der Menſchen abhangen, nicht all-
”zuviel beſtimmen und durch Zeichen feſtſetzen wol-
”len, weil dadurch Nebendingen mehr Werth beyge-
”legt wird, als ſie eigenthuͤmlich haben. Das Be-
”zeichnete iſt weſentlich, das Zeichen willkuͤhrlich.
”Hat ein ietziger Geiſtlicher Speners edelmuͤthige
”Geſinnungen, ſo wird er einem weiſen Manne eben
”ſo werth ſeyn, er mag ſich ſchwarz oder gruͤn kleiden,
”und jeder ehrliche Mann, der rechtſchaffen handelt,
”und ſo viel er kann, tugendhafte Thaten thut, ver-
”dient verehrt zu werden, er mag ſeine Gedanken vor
”ſich ſelbſt weglaufen laſſen, oder ſie an irgend ein
Symbolum heften wollen. Wenn mich nicht alles,
”was ich als Kennzeichen der Wahrheit erkennt,
”truͤgt, ſo muß ich glauben, Gott ſelbſt werde uns
”nach unſern Geſinnungen, und nicht nach unſern
”Spekulationen richten; er werde jedem gnaͤdig ſeyn,
”der ſo viel gutes thut, als er in der Lage, in der er
”ſich befindet, thun kann, und werde keinen verdam-
”men, weil er ſymboliſche Buͤcher, die irgend eine
G 4”Par-
[100]
”Partey, die einmal auf einem Winkel der Erde
”eine Zeitlang maͤchtig war, zur Richtſchnur feſtgeſetzt
”hat, entweder nicht verſtehen oder nicht billigen
”konnte.‛


Neunter Abſchnitt.


Unter dieſem Geſpraͤche waren ſie aufgeſtanden, und
ſetzten es fort, bis ſie vor das Haus kamen, wo
ihr beiderſeitiger Freund, der Major, wohnte, dem ſie
dieſen Abend einen Beſuch zugedacht hatten. Jn-
dem ſie eben ins Haus traten, ſahen ſie, zu ihrem gro-
ßen Erſtaunen, daß der Armenſchulmeiſter, Sebal-
dus
Freund, von zwey Bedienten mit Gewalt die
Treppe hinunter geworfen ward, denen der Pietiſt, mit
welchem Sebaldus nach Berlin gekommen war, eiligſt
folgte, und mit weggewandtem Angeſichte, die Haͤnde
uͤber das Haupt zuſammenſchlagend, ſich durch die
Hausthuͤr auf die Straße draͤngte. Herr F. und
Sebaldus ſtießen die Bedienten zuruͤck, die den
wehrloſen und todtenblaſſen Schulmeiſter noch uͤbler
behandeln wollten, und der Major, der im Erdge-
ſchoſſe wohnte, und bey dem heftigen Laͤrm ſeine
Thuͤr geoͤffnet hatte, nahm ihn in ſeinen Schutz, und
fuͤhrte ihn in ſein Zimmer, wo er ihn in einen Arm-
ſtuhl ſich niederſetzen ließ.


Nach-
[101]

Nachdem der Schulmeiſter wieder etwas Athem zu
ſchoͤpfen anfieng, war die allgemeine Frage: ‚was die
”Urſache des Laͤrms geweſen ſey, und was er mit dem
”im erſten Stockwerke wohnenden Edelmanne, deſſen
”Bedienten ihm ſo hart begegnet, zu thun gehabt
”habe.‛


Der Schulmeiſter antwortete bloß durch tiefes
Schluchzen, und durch die klaͤglichſten Ausrufungen:
‚Jch elender Mann! ich ungluͤcklicher Mann! ich
”bin ohne Rettung verloren!‛


Sebaldus ſuchte ihn durch alle moͤglichen Gruͤnde
wieder zur Faſſung zu bringen, der Major bot ihm ſei-
nen Arm, Herr F. ſeine Boͤrſe und alle ſonſt nur
moͤgliche Huͤlfe an.


Vergebens! er wiederholte ſeine troſtloſen Aus-
rufungen, mit den Geberden eines Verzweifelten be-
gleitet, bedeckte dazwiſchen einmal uͤber das andere
ſein Angeſicht mit ſeinen beiden Haͤnden, und weinte
bitterlich.


Nach langem Zureden beruhigte er ſich endlich ſo
weit, daß er, mit vielen untermiſchten Seufzern, fol-
gendes erzaͤhlen konnte.


‚Sie wiſſen es, ſagte er, in dem er ſich zum Se-
”baldus
wandte, und ihm wehmuͤthig die Hand
”druͤckte, wie ruhig und wie gluͤcklich ich war. Ob-
G 5”gleich
[102]
”gleich arm, hatte ich doch mein Auskommen. Jch
”arbeitete, nebſt meiner Frau, fleißig; und meine Toch-
”ter — o mein einziges Kind! Sie war nie ihren
”Aeltern ungehorfam geweſen, ſie hatte uns nie
”den geringſten Verdruß gemacht, ſie uͤbertraf uns
”an Fleiß, ſie machte uns mit ihrer kuͤnſtlichen Arbeit
”Vergnuͤgen; wenn wir Aeltern nur gerade die Noth-
”durft erwerben konnten, ſo verſchaffte uns ihr Fleiß
”zuweilen einen feſtlichen Tag. Sie war mein Aug-
”apfel, ich wor mehr als gluͤcklich, als der heuchleri-
”ſche Boͤſewicht, den ſie haben aus der Thuͤre rennen
”ſehen, meine ganze Gluͤckſeligkeit, die ich auf Erden
”habe, zerſtoͤrte. Er ſetzte ſich in der St. Gertrauts-
”kirche oft neben mir, wo er auch wohl zuerſt meine
”Tochter mag geſehen haben. Er ſuchte meine Bekannt-
”ſchaft, indem er zwey arme Knaben in meine Schule
”brachte, fuͤr die, wie er ſagte, gottſelige Leute das
”Schulgeld bezahlen wollten. Er ſah und lobte mei-
”ner Tochter Arbeit, er brachte in kurzem einen Men-
”ſchen mit, der feiue ausgenaͤhte Arbeit beſtellte, und
”reichlich bezahlte. Dieß war, wie ich hernach er-
”fahren habe, der Kammerdiener des wolluͤſtigen
”Muͤßiggaͤngers, der in dieſem Hauſe wohnt, ein
”undeutſcher Kerl, ohne Redlichkeit, ohne Menſchen-
”gefuͤhl, den das Wimmern der zu Grunde gerichte-
”ten
[103]
”ten Unſchuld ſo wenig ruͤhrt, als den Schlaͤchter das
”Bloͤken des Lamms, dem er die Kehle abſchneiden
”will. Mit dieſem hat der ſchaͤndliche Unterhaͤndler
”vermuthlich den abſcheulichen Entwurf ins Reine ge-
”bracht, mich und mein Kind ins Ungluͤck zu ſtuͤrzen.
”Er fuͤhrte meine Tochter, in Geſellſchaft ihrer Mut-
”ter, zu ſeiner Muhme, wie er ſagte, einer Matrone,
”die ausgenaͤhte Arbeit verfertigte, und verfertigen
”ließ. Sie ſchien mit meiner Tochter Arbeit zufrie-
”den, zeigte ihr aber noch feinere, und gab ihr zu
”verſtehen, daß ſie dergleichen von ihr wolle verferti-
”gen laſſen, daß ſie ihr mehrere Vortheile dabey zei-
”gen wolle, nur muͤſſe ſie unter ihren Augen arbei-
”ten. Mein Kind freute ſich, mehr lernen zu koͤn-
”nen, und wir fanden kein Bedenken, ſie in das
”Haus einer Matrone zu ſchicken, bey der alles ein
”frommes und verſtaͤndiges Anſehen hatte. Sie gieng
”einige Monathe lang taͤglich in dieß Haus. Sie nahm
”an Geſchicklichkeit zu, und wir glaubten, dieſe Be-
”kanntſchaft waͤre ein Gluͤck fuͤr unſer Kind. Ach,
”leider! wir wußten nicht, daß ſie ſchon unwieder-
”bringlich ungluͤcklich war. Jn den erſten Tagen
”ihres Anfenthalts in dieſem Hauſe, war der junge
”Herr ſelbſt, unter dem Vorwande Arbeit zu beſtel-
”len, dahin gekommen, er hatte meine Tochter geſe-
”hen,
[104]
”hen, und ihre Arbeit gleichguͤltig gelobt. Jn kurzem
”ward er zudringender, die Wirthinn ließ ihn mit mei-
”ner Tochter gefliſſentlich allein, oder ward von
”ihrem Vetter zu andern Geſchaͤfften gerufen. Nun
”wandte er alle verfuͤhreriſchen Kuͤnſte an, um ein jun-
”ges Herz zu gewinnen, daß noch nicht gelernt hatte,
”ſich gegen betruͤgeriſche Anlockungen zur Wehre zu
”ſtellen. Das ſuͤße Gift der Schmeicheley bethoͤrt
”wohl oft einen weiſen geſetzten Mann, wie ſollte ihm
”ein junges unerfahrnes Maͤdchen widerſtehen koͤn-
”nen, das noch keinen hinterliſtigen Menſchen geſe-
”hen hatte, das jedes Herz fuͤr ſo ehrlich hielt, als
”ihr eigenes. Kurz, ihr ward ihre Unſchuld geraubt.
”Die Folgen davon ließen ſich bald ſpuͤren. Sie
”ward kraͤnklich, und das ſchreckliche Geheimniß konnte
”ihrer Mutter ferner nicht verborgen bleiben. Wir
”waren wie vom Blitze geruͤhrt, aber Klagen und
”Verwuͤnſchungen waren zu ſpaͤt, wir mußten nur
”unſer armes Kind zu retten ſuchen, das in Kummer
”uͤber ihren Fehltritt, den ſie nun erſt in ſeiner wah-
”ren Geſtalt ſah, ſich das Leben abhaͤrmte. Auf der
”andern Seite wollte der Verfuͤhrer auch nicht eher
”von ihr ablaſſen, bis er ihrer voͤllig ſatt waͤre. Er
”ſandte taͤglich Botſchaften und Briefe, die nicht an-
”genommen wurden. Der Kammerdiener ſchlich ſich
”einige-
[105]
”einigemal ins Haus, wo ich ihn unſanft abwies. End-
”lich meldete ſich heute der Unterhaͤndler, der ſich ſeit
”langer Zeit nicht hatte ſehen laſſen. Er betauerte,
”mit gleisneriſchem Wortgepraͤnge, den Unfall, den
”ich haͤtte erfahren muͤſſen, und, nach vielen Um-
”ſchweifen, kam er endlich auf ſeinen Antrag, nehm-
”lich, daß ich mit dem Herrn ſelbſt ſprechen moͤchte,
”weil er mir Vorſchlaͤge thun wolte, die ſo vernuͤnf-
”tig und billig waͤren, daß dadurch ein großer Theil
”des geſchehenen Schadens koͤnne erſetzt werden. So
”groß auch mein Widerwillen war, dem Verfuͤhrer
”meiner Tochter ohne Verwuͤnſchung in die Augen zu
”ſehen, ſo gieng ich doch mit dem dienſtwilligen Un-
”terhaͤndler hin. Was meinen Sie, daß der vernuͤnftige
”und billige Vorſchlag war? (Hier drang ein Strom
”von Thraͤnen aus ſeinen Augen:) Meine Tochter
”ſollte Ausgeberinn bey dem Verraͤther ihrer Ehre
”werden, und ihr Vater ſollte einen ſchimpflichen mo-
”nathlichen Gehalt haben, um die Frucht des uner-
”laubten Umgangs zu erziehen. Hier konnte ich mich
”nicht maͤßigen, ich ſtieß aus, was der Unwillen
”einem ehrlichen, obwohl armen Vater eingeben kann,
”dem ein vornehmer Wolluͤſtling zumuthen darf, der
”Kuppler ſeiner eignen Tochter zu werden. Der Kam-
”merdiener, der waͤhrend der ganzen Unterhandlung
”eben
[106]
”eben ſo viel geſprochen hatte, als der Herr ſelbſt, fand
”es ſehr laͤcherlich, daß ich mich einem Arangément
”widerſetzen wollte; daß der gnaͤdige Herr der petite
”fille
ja weiter nichts uͤbels thun wollte, u. d. gl. Jch
”ließ meinen ganzen Unmuth aus, und wollte unver-
”zuͤglich zur Thuͤr hinaus, als der Unterhaͤndler ins
”Mittel trat. Er verſicherte, daß er den erſten Vor-
”ſchlag ſelbſt nicht billige, weil dadurch den Schwa-
”chen manches Aergerniß gegeben werden koͤnnte; er
”erklaͤrte alſo, daß der Kammerdiener meine Tochter
”heurathen, und das Kind als ſein eigenes aufnehmen
”ſolte, dagegen werde ihn der gnaͤdige Herr zum Haus-
”hofmeiſter machen, ſo bald er ſich mit ſeinen Glaͤu-
”bigern voͤllig geſetzt habe, und wieder zum Genuß ſei-
”ner Guͤter gekommen ſey. Nein! laͤnger konnte ich mich
”nicht halten. Eben ſo gern wuͤrde ich meine Tochter
”dem Buͤttel gegeben haben, der dieſen Buben haͤtte
”brandmarken ſollen, welcher das vornehmſte Werkzeug
”der Verfuͤhrung meiner Tochter geweſen war. Jch
”ſagte nunmohr dem Herrn gerade heraus, daß ich
”ſein Bubenſtuͤck auf keine Weiſe durch meinen Bey-
”tritt billigen wollte, daß ich die wenige Gerechtig-
”keit, die mir der Richter wiederfahren laſſen koͤnnte,
”aus allen Kraͤften ſuchen wuͤrde, und daß er mit mei-
”nem Willen meine Tochter nie wieder ſollte zu Ge-
”ſicht
[107]
”ſicht bekommen. Er kam daruͤber in die groͤßte Wut,
”und befahl ſeinen Bedienten mich hinaus zu werfen;
”der Unterhaͤndler wollte ihn zwar beſaͤnftigen, aber
”er hieß ihn auch zum Teufel gehen, und lief als ein
”Raſender in ſein Kabinett.‛


Als er ſeine Erzaͤhlung geendigt hatte, verbarg er
abermals ſein Angeſicht in ſeine Haͤnde, und uͤber-
ließ ſich einer troſtloſen Verzweiflung.


Alles, was Sebaldus und Herr F. thaten, um
ihn aufzurichten, verfieng nichts. Er rief mit klaͤg-
licher Stimme aus: ‚Alle Hoffnung iſt fuͤr mich ver-
”loren! Selbſt die Geſetze haben keinen Schutz fuͤr
”mich. Mein Gegner darf mich ungeſtraft beleidi-
”gen, ungeſtraft ungluͤcklich machen!‛


‚Nein! das ſoll er nicht!‛ rief der Major, der
”ſchon lange mit ſtarrer Aufmerkſamkeit zugehoͤrt
hatte. ‚Wir wollen ſehen, was der Burſche zu
”thun vermeint.‛


Er rief ſeinen Reitknecht, ließ ſich bey ſeinem
Nachbar eine Treppe hoch melden, und ein Paar
Minuten drauf nahm er ſeinen Hut und Degen, und
ſtieg die Treppe hinauf, ohne erſt Antwort zu erwar-
ten.


Er fand den Edelmann im Vorſaale, im Begriffe
auszugehen, um dieſen Beſuch zu vermeiden. Er
wollte
[108]
wollte ſogleich eine hoͤfliche Entſchuldigung ſtammeln,
aber der Major trat gerade vor ihn, und ſprach mit ge-
runzelter Stirn:


‚Herr! ſind Sie ein Edelmann?


‚Jch daͤchte, war die Antwort, ich koͤnnte mich in
”ein hohes Stift aufnehmen laſſen, wenn ich wollte.
”Aber um Vergebung, wozu dieſe Frage, die mich be-
”fremden koͤnnte?‛


‚Wozu? weil ich daͤchte, daß ein Edelmann auch
”ein ehrlicher Mann ſeyn muͤßte, ehe er ein Edel-
”mann ſeyn kann.‛ —


‚Wie ſo? — Mein Herr! Sie kommen in meine
”eigene Wohnung, mich zu beleidigen, geben ſie wohl
”Acht, —


‚Herr, die Wahrheit iſt gut zu ſagen, wo es auch
”iſt. Sie haben, Herr! eines ehrlichen Mannes Toch-
”ter verfuͤhrt, und haben noch dazu den Vater groͤb-
”lich beleidigt, das thut kein Mann der Ehre im Leibe
”hat, und das haben Sie gethan.‛


‚Herr Major, wenn ich nicht fuͤr Jhr Alter Ach-
”tung haͤtte, — ſo wuͤrde ich … Aber parbleu ich weiß
”auch noch nicht, was Sie von mir eigentlich wol-
”len. Meinen Sie etwa den Kerl, der eben hier
”war? der geht mich gar nichts an. Mein Homme
”de Chambre
hat mit ſeiner Tochter was zu thun ge-
habt,
[109]
”habt, und daruͤber laͤrmt der Vater. Aber er hat
”Unrecht, denn mein Homme de Chambre will das
”Menſch heurathen.‛


Der Kammerdiener trat vertraulich hervor, und
verſicherte den Major, in gebrochenem Deutſch, daß
er noch zur Heurath bereit ſey.


Der Major ſah ihn flaͤmiſch uͤber die Achſel an,
und ſagte: ‚Patron, wenn ich mit dir werde reden
”wollen, ſo werde ich dirs ſagen. — Mit Jhnen
”habe ichs zu thun, Herr! der Sie ſich ins Herz
”ſchaͤmen ſollten. Meinen Sie, Herr, daß ich nicht
”weiß, wer mit dem Maͤdchen zu thun gehabt hat?
”Denken Sie, Herr, daß die Tochter eines ehrlichen
”Mannes, weil Sie ſie geſchaͤndet haben, nun fuͤr
”Jhren Kuppler gut genug iſt?‛


‚Das iſt doch beſonders, — ganz beſonders; —
”und Sie maͤßigen ſich noch dazu gar nicht in Wor-
”ten; — laſſen Sie doch die Leute die Sache ausma-
”chen, die Sache geht mir ja gar nichts an; — und
”darf ich fragen, wie Sie dazu kommen, daran Theil
”zu nehmen?‛ —


‚Wie? Herr! weil der Mann mein Freund iſt.‛ —


Ah pardi! das iſt eine andere Sache. Jch habe
”nicht gewußt, daß Sie unter Leuten ſolcher Art auch
”Freunde haͤtten.‛


H‚Ja,
[110]

‚Ja, Herr! Jch ſchaͤme mich nicht, eines ehrlichen
”Mannes Freund zu ſeyn, und ſcheue mich, nicht je-
”den Schurken zur Rede zu ſetzen, der einem ehrli-
”chen Manne ungeſtraft Unrecht thun will.‛


‚Jch bin ganz betroffen, Herr Major; da ich gar
”nicht die Ehre habe, Sie zu kennen, kommen Sie
”in meine Wohnung, und ſagen mir voll Ungeſtuͤm
”Dinge vor, die — — ich weiß gar nicht — Was
”verlangen Sie denn, daß ich dem Manne und dem
Maͤdchen thun ſoll? —


‚Herr! Genugthuung ſollen Sie beiden geben,
”und — doch, durch welche Genugthuung koͤnnen Sie
”ein ſolches ſchimpfliches Verfahren wieder gut ma-
”chen!‛ — Er ſchlug ſich mit der Hand vor die Stirn.


‚Sie, ſehen alſo ſelbſt, Herr Major, daß ich bey
”der Sache nichts weiter thun kann; und wenn mein
Homme de Chambre das Maͤdchen heurathet, und
”ich ihr in Anſehung ſeiner, ein Heurathsgut gebe. —


‚Nein, Herr! mir ſollen Sie Genugthuung ge-
”ben, weil Sie ein Schurke ſind, und ſich unterſte-
”hen, mit mir unter Einem Dache zu wohnen;‛ —
und hiemit zog er den Degen.


‚Herr Major! hoͤren Sie doch vernuͤnftige —


‚Herr! zieh’ Er, oder, ſtraf mich Gott! ich will Jhm
”zeigen, daß Er nicht werth iſt einen Degen an der
”Seite zu tragen.‛


‚Gut
[][]
[figure]
[111]

‚Gut! Herr Major! ich will Jhnen Satisfak-
”tion geben, — aber auf Piſtolen; — — ich ſchlage
”mich nicht anders, als auf Piſtolen.‛


‚Herr! mach’ Er kein Federleſens, zieh Er auf der
”Stelle, oder ich will Jhn —‛


Dem Edelmann blieb nichts uͤbrig, als den Degen
zu ziehen. Der Major drang auf ihn ein. Der
Kammerdiener kam ſeinem Herrn mit gezogenem
Hirſchfaͤnger zu Huͤlfe, und ploͤtzlich fuhr der Hirſch-
faͤnger tief in des Majors Ruͤcken, ob von ungefaͤhr,
oder vorſetzlicher weiſe, ſey dahin geſtellt.


Franz, der Reitknecht, faßte den Kammerdiener in
die Gurgel, und gab ihm einen Deutſchen Fauſt-
ſchlag auf den andern ins Geſicht. Der Major
lag in ſeinem Blute, der Edelmann machte ihm eine
verbindliche Entſchuldigung, wegen dieſes ungluͤckli-
chen Vorfalls, die der Major bloß mit einem Blicke
voll Verachtung beantwortete. Herr F. ſchickte nach
der Wache. Der Kammerdiener ward in Verhaft
genommen, der Edelmann bekam Hausarreſt. Der
Major ward in ſein Bette gebracht und von einem
Wundarzte verbunden, und der Schulmeiſter, den
ſeines Vertheidigers Unfall, noch mehr wie ſein eige-
ner, außer aller Faſſung gebracht hatte, ward halb
H 2todt
[112]
todt in eine Miethskutſche geſetzt, und von Herrn F.
und von Sebaldus nach Hauſe gebracht.


Zehnter Abſchnitt.


Der Major ward von ſeinen Freunden taͤglich be-
ſucht. Jm Anfange ſchien die Wunde nicht
gefaͤhrlich. Aber nach einigen Tagen verſchlimmerten
ſich die Umſtaͤnde ſehr. Das Wundfieber ward hef-
tiger, die Entzuͤndung nahm zu, und die Kraͤfte
nahmen ab. Der Wundarzt erklaͤrte endlich, daß
ſehr wenige Hoffnung zur Wiedergeneſung da waͤre.
Die ſaͤmmtlichen Freunde des Majors waren daruͤber
ſehr niedergeſchlagen, der gute Franz aber, der uͤber
dreißig Jahre in des Majors Dienſte geweſen war,
weinte unablaͤſſig, ſo daß ihn der Kranke ſelbſt troͤ-
ſtete, der unter allen dieſe Nachricht mit der groͤßten
Gleichmuͤthigkeit aufnahm. Die geſchwinde Abnahme
ſeiner Kraͤfte ließ nur allzuſehr befuͤrchten, daß ſie
wahr ſeyn moͤchte.


Eines Tages war der Kranke beſonders ſchwach.
Gegen Mittag aber fiel er in einen Schlummer, in
dem er einige Stunden verblieb, und als er erwachte,
aͤußerlich ein wenig erquickt ſchien. Franz, der uͤber
deſſen mißlichen Zuſtand ſehr traurig war, ergriff
die
[113]
die Gelegenheit, da der Major heiteres Gemuͤths,
und ſie beide allein waren, und that, nach vorgaͤngi-
ger Entſchuldigung, eine Frage, die ihm ſchon lange
auf dem Herzen gelegen hatte, nehmlich:


‚Ob der Herr Major, nicht das Sakrament neh-
”men wollte.‛


‚Lieber Franz, du meinſt es recht gut, ſagte der
”Kranke, aber wozu? Jch habe das Abendmahl im-
”mer nur genommen, wenn entweder das Regiment
”kommunicirte, oder wenn ich beſondere Urſach fand,
”mich zu ſammeln, und ernſthaft uͤber mich nachzu-
”denken; aber glaube mir, Franz, ein Krankenlager
”von drey Wochen giebt an ſich ſelbſt Gelegenheit ge-
”nug zum ernſthaften Nachdenken.‛


‚Aber, lieber Herr Major! ein Menſch muß doch
”ſo ſchwer ſterben, wenn er nicht gebeichtet hat.‛


‚Hoͤre nur, mit der Beichte habe ich niemals et-
”was zu thun gehabt. Anſtatt der Beichte ſagte ich
”allemal laut und ernſtlich: Schaff in mir Gott
”ein reines Herz, und gieb mir einen neuen ge-
”wiſſen Geiſt; verwirf mich nicht von dei-
”nem Angeſichte, und ſey mir gnaͤdig.
Damit
”war mein Feldprediger zufrieden, und ich denke, Gott
”wird auch damit zufrieden ſeyn, wenn ichs jetzt ſage.
”Aber hoͤre, Franz, ich will jetzt thun, was ich ſonſt
H 3”bey
[114]
”bey der Beichte that, ich will dich wegen alles deſ-
”ſen um Vergebung bitten, was ich dir kann zuwi-
”der gethan haben; vergieb es mir.‛ Hier reichte er
Franzen die Hand.


Franz kuͤßte des Majors Hand, die er mit Thraͤ-
nen benetzte, und ſagte ſchluchzend: ‚Ach, Herr Ma-
”jor! ich kann Jhnen nichts vergeben, Sie ſind im-
”mer mein guter Herr geweſen, und haben an mir
”mehr Liebe bewieſen, als ich verdiente. Vergeben
”Sie mir nur, wenn ich zu vorſchnell geweſen bin.
”Jch dachte doch, man koͤnnte nicht ruhig ſterben,
”wenn man nicht von einem geiſtlichen Herrn ordent-
”lich vorbereitet wuͤrde. Als Sie daher ſchliefen, lief
”ich geſchwind zu einem Prediger, der nicht weit von
”hier wohnt, aber er war nicht zu Hauſe.


‚Du haſts recht gut gemeint, Franz; da er aber
”nicht zu Hauſe war, iſts nun auch eben ſo gut. Jch
”habe mit dieſen Herren nicht gern etwas zu thun,
”wenn ich ſie nicht vorher genau kenne. Jch lag,
”du weißt es, auf dem Schlachtfelde bey Torgau, hart
”verwundet, an zwoͤlf Stunden, ehe du mich unter
”den Todten und Bleſſirten herausfandeſt. Damals
”konnte mir kein Feldprediger zuſprechen, und ich war
”zum Tode eben ſo bereit, wie jetzo.


Jndem
[115]

Jndem er dieſes ſagte, trat Sebaldus herein, um
ihn zu beſuchen.


‚Sie kommen, mein lieber Freund, ſagte der
”Kranke, gerade zur rechten Zeit. Jch werde von
”dieſem Lager nicht wieder aufkommen, ich weiß es,
”und bin ganz voͤllig gefaßt zu ſterben. Nun meine
”mein guter Frauz, (er druͤckte demſelben die Hand)
”es ſey noͤthig, daß ich von einem Geiſtlichen zum
”Tode bereitet wuͤrde. Dieß wuͤnſchte ich von nie-
”mand lieber, als von Jhnen, mein Freund. Thun
”Sie, als ob Sie mein Beichtvater waͤren. Fragen
”Sie mich, lehren Sie mich, beten Sie mit mir.‛


Sebaldus ſagte ſehr geruͤhrt: ‚Der Zuſpruch auf
”dem Todtenbette iſt allezeit eine ſehr ſchwere und
”zuweilen eine vergebliche Sache. Es kann daſelbſt
”ſchwerlich noch eine Veraͤnderung des Geiſtes vorge-
”hen, wenn ſie vorher im ganzen Leben nicht geſche-
”hen iſt. Glaubenslehren zu beweiſen, iſt die Zeit zu
”kurz und der Geiſt nicht heiter genug; Pflichten ein-
”einzuſchaͤrfen, iſt zu ſpaͤt. Die Schwachen aufzurich-
”ten, iſt was ein menſchenfreundlicher Prediger am
”leichteſten thun kann.‛


Maj. Herr! ich bin nicht ſchwach! ſchonen Sie
meiner gar nicht, ſondern gehen Sie mit mir um,
H 4wie
[116]
wie ein Pfarrherr am Todtenbette thun ſoll, recht
wie es vorgeſchrieben iſt.


Seb. Jch wuͤrde mich warlich freuen, wenn ich
zur Beruhigung eines Mannes, den ich ſo werth
ſchaͤtze, etwas beytragen koͤnnte. Da Jhr Gemuͤth
gelaſſen iſt, ſo iſt es vielleicht am nuͤtzlichſten, wenn
ich Sie an verſchiedene Wahrheiten, die den Men-
ſchen ehrwuͤrdig und wichtig ſeyn muͤſſen, erinnere.
Jch kann nicht wiſſen, ob Sie dieſelben in Jhrer ge-
hoͤrigen Verbindung gedacht haben; waͤre dieſes nicht,
ſo koͤnnte ich vielleicht ihre Wirkungen vermehren,
wenn ich, durch eine kurze Ueberlegung, eine Luͤcke
zwiſchen denſelben ausfuͤllen koͤnnte. Dieſerhalb
wuͤnſchte ich Jhre Geſinnungen uͤber gewiſſe Lehr-
punkte zu wiſſen.


Maj. Ganz recht; examiniren Sie mich nur, ich
will auf alles antworten.


Seb. Sie glauben vermuthlich, daß ein Gott da
iſt, der Himmel und Erde geſchaffen hat?


Maj. Ja, freylich! Wer ſollte nicht an Gott
glauben?


Seb. Sie glauben auch, daß Gott die Welt, und
alle Dinge darinn, mit einer weiſen Vorſehung re-
giere?


Maj. Freylich! ohne Gott geſchiehet nichts.


Seb.
[117]

Seb. Und daß nach dieſem Leben noch ein kuͤnf-
tiges zu gewarten ſey?


Maj. Nein, mit dem Tode iſt alles aus.


Seb. Jch habe zuweilen aus Jhren Reden geſchloſ-
ſen, daß Sie eine ſolche Meinung hegten, ohne daß
es ſich gefuͤgt haͤtte, ſie naͤher erlaͤutern zu koͤnnen.
Waͤre dieſe Meinung wahr, ſo waͤren wir, wie Sie
ſelbſt nicht laͤugnen werden, in vielen Begegniſſen des
Lebens voͤllig troſtlos. Gott hat aber, wie ich glaube,
ſo wie er kein Uebel, ohne zu gutem Zwecke zulaͤßt,
auch, als ein guͤtiger Vater, fuͤr jedes Uebel den
Troſt in die Natur gelegt. Dieß hat mir ſchon vor
langen Jahren uͤber dieſe Meinung naͤher nachzuden-
ken Gelegenheit gegeben; ich weiß daher, daß, in der
Vernunft und in der Schrift, viele Gruͤnde zu finden
ſind, die ſehr bald das Gegentheil wahrſcheinlich, und,
bey reiferm Nachdenken, gewiß machen.


Maj. Herr! ich habe immer gedacht, daß die Ver-
nunft nicht einmal weiß, wenn ein Todter recht todt
iſt, wie ſollte ſie wiſſen, was nach dem Tode vorge-
het. Wenigſtens meine Vernunft reicht ſo weit nicht.
Was die Schrift betrifft, ſo ſteht viel gutes darinn.
Jch habe alles geleſen. Es laͤßt ſich vieles hier in
dieſem Leben recht wohl nuͤtzen. Aber von einem kuͤnf-
tigen Leben, ſo wie von ſo viel andern unbegreifli-
H 5chen
[118]
chen Dingen, glaube ich nichts, wenns auch in einem
Buche ſteht.


Seb. Wenn Sie denn alſo die Bibel geleſen ha-
ben, glauben Sie denn, daß darinn der Willen Got-
tes enthalten iſt, dem wir folgen ſollen?


Maj. Gottes Willen iſt, daß ein Menſch ein recht-
ſchaffner Kerl ſeyn ſoll, und nicht Unrecht thun. Das
weiß jeder, und es ſteht auch in der Schrift. Das
uͤbrige mag fuͤr euch Herren Geiſtlichen gut ſeyn. Ein
Soldat kann nicht ſo vielerley Dinge in ſeinen Kopf
kriegen, woruͤber ihr euch diſputirt.


Seb. Sie geſtehen alſo, daß kein Menſch Unrecht
thun ſollte. Gleichwohl thun die meiſten, ja man
kann wohl ſagen alle Menſchen mannichfaltig Unrecht.
Wie iſts nun, wenn wir mit unſern Suͤnden Be-
ſtrafung verdient haͤtten?


Maj. So moͤgen wir ſie leiden. Wer heißt uns
fuͤndigen?


Seb. Die Frage laͤßt ſich vielleicht nicht ſo gerade
zu entſcheiden. Denn, wenn nun unſere Natur ſo
unvollkommen iſt, daß wir nicht ohne Suͤnde bleiben
koͤnnen, wenn wir nun zu ſchwach ſind, den Willen
Gottes vollkommen zu befolgen.


Maj. Ey! denn kann Gott auf uns nicht zuͤrnen.
Er hat uns ſelbſt gemacht, und warhaftig recht mit
großer
[119]
großer Klugheit gemacht, daß nichts an uns ohne
Urſach iſt. Wie koͤnnte er denn von uns etwas ver-
langen, das wir nicht leiſten koͤnnten? Sehen Sie
hier meinen Huͤhnerhund, der iſt ein Huͤhnerhund,
und weiter nichts, er wird vor einem Huhn ſtehn;
aber wenn ich verlangen wollte, daß er eine Sau
ſtellen ſollte, ſo kann ich nicht ſagen, der Hund fuͤn-
digt, wenn ers nicht kann.


Seb. Sie ſchließen viel zu raſch. Wir wuͤrden
langſamer gehen muͤſſen, wenn wir dieſe Frage gruͤnd-
lich unterſuchen wollten, dazu fehlt uns itzt aber die
Zeit. Laſſen Sie uns auf das kuͤnftige Leben zuruͤck-
kommen. Ueberlegen Sie wohl, daß wenn es weg-
faͤllt, auch alle Belohnungen und Beſtrafungen weg-
fallen, welche Tugend und Laſter, wie es offenbar iſt,
in dieſem Leben nicht in angemeſſenem Maße erhal-
ten. Und damit wuͤrden alſo auch alle Bewegungs-
gruͤnde zur Tugend wegfallen.


Maj. Warum das? Ein ehrlicher Kerl muß Recht
thun, weil es Recht iſt, und nicht weil er dafuͤr be-
lohnt ſeyn will. Werde ich belohnt, ſo iſts gut, wo-
fern aber nicht, ſo muß ich doch rechtſchaffen handeln.
Jch habe im letztern Kriege oft mein Leben gewagt,
ob ich gleich immer Major geblieben bin. Oder glaubt
er, Herr! daß ich nur deswegen den Schurken da
oben
[120]
oben zur Rede geſtellt habe, damit ich dadurch in je-
nem Leben koͤnnte Oberſtlieutenant werden?


Seb. Die Belohnungen ſind aber doch Folgen gu-
ter Thaten. Auch in dieſem Leben verlangt ein Sol-
dat fuͤr ſeine Tapferkeit vom Koͤnige Belohnung, und
iſt unzufrieden, wenn er ſie nicht bekoͤmmt.


Maj. Ey, iſts nicht Belohnung genug, wenn ich
weiß, daß ich Recht thue. Und dann, Herr! iſts mit
Gott eine ganz andere Sache, als mit dem Koͤnige.
Der Herr, iſt ein Menſch wie ich, und kann nicht al-
les wiſſen, ſonſt waͤre ich auch wohl weiter. Aber
Gott weiß alles, und da hats gute Wege, der wird
mir ſchon zukommen laſſen, was mir gehoͤrt.


Seb. Setzen Sie nun aber einmal auf einen An-
genblick voraus, daß ein kuͤnftiges Leben waͤre, welches
doch, wie Sie geſtehen werden, an ſich nicht unmoͤglich
iſt; ſetzen Sie voraus, daß alle unſere Handlungen,
gute und boͤſe, auch in jenem Leben Folgen haben muͤſſen,
und daß dieſe Folgen, wenn uns gleich die Art noch
unbegreiflich iſt, in vielen Faͤllen uͤberſchwenglich
groß ſeyn koͤnnen. Wird nun derjenige nicht viel vor-
ſichtiger gehandelt haben, der ſeine Handlungen, nach
einer ſtrengen Richtſchnur, ſo eingerichtet hat, wie
er ſie auch in jenem Leben zu verantworten gedenkt,
als derjenige, der, in der Meinung, es ſey nach dem
Tode
[121]
Tode alles aus, gethan hat, was ihm beliebt, und
in dieſer Sorgloſigkeit vieles begangen hat, das er
nicht rechtfertigen und deſſen Folgen in jenem Leben
er nicht aͤndern kann? Und uͤberlegen Sie, welcher
unter beiden in dieſer Welt ein beſſerer Buͤrger, und
ein rechtſchaffenerer, tugendhafterer Menſch ſeyn
werde.


Der Major ſah den Sebaldus mit ſtarren Au-
gen an, und ſchwieg ſtill. Sebaldus auch. End-
lich brach der Kranke aus:


Herr! daran habe ich noch in meinen Leben nicht
gedacht. Ein Soldat hat auch nicht Zeit, ſo weit
hinzudenken. Aber ich beſinne mich itzt eben. Wenn
auch ein kuͤnftiges Leben, und ein juͤngſter Tag iſt,
ſo glaube ich, ich werde dann ein Herz faſſen, und
weder vor Gott noch vor dem Teufel erſchrecken. Laß
ihn kommen den Teufel, wenn er mich anklagen will,
er muß mich doch vor Gott anklagen, und der weiß,
daß ich nie wiſſentlich etwas boͤſes gethan habe. O!
du mein allmaͤchtiger Schoͤpfer! wuͤrde ich ſagen, (er
richtete ſich ein wenig auf, und faltete ſeine Haͤnde,)
du weißt, daß ich nie den huͤlfloſen Ungluͤcklichen ge-
druͤckt, daß ich nie Wittwen und Waiſen betruͤbt,
daß ich nie wiſſentlich dieſe Haͤnde zum Boͤſen ge-
braucht habe. Zwar — (hier ſchwieg er ein wenig
ſtill
[122]
ſtill, und ſchlug ſeine Augen nieder) ich haͤtte noch
mehr Gutes thun koͤnnen — Aber (hier hob er ſeine
Augen abermals empor) allguͤtiges Weſen, ich werfe
mich in deine Haͤnde. Du haſt mich zum Menſchen
machen wollen, alſo ſollte ich wohl nicht ganz voll-
kommen ſeyn. Jch verlange auch nicht, wenn ein
Himmel iſt, im Himmel obenan zu ſtehen.


Hier ſank er, von der Anſtrengung entkraͤftet, ſanft
zuruͤck, die Luft fehlte ihm, er erholte ſich, und
ſprach noch mit ſtammlender Stimme zum Sebal-
dus,
indem er ihm die Hand druͤckte:


‚Ach! mein Freund, wenn Gott ein Regiment von
”Seligen hat, ſo waͤre es ſchon genug, wenn unſer
”einer nur ein Gemeiner werden koͤnnte. — —


Er wollte noch etwas ſagen; aber der Steckfluß
nahm uͤberhand, er fieng an zu roͤcheln, und nach
einigen fruchtloſen Verſuchen ihm zu helfen, ver-
ſchied er einige Minuten darauf, und Sebaldus
druͤckte ihm weinend die Augen zu.


Elfter Abſchnitt.


Kaum war er entſchlafen, als der Prediger, wel-
chen Sebaldus unter den Linden auf der Bank
getroffen hatte, ſchnell in das Zimmer trat. Er
hatte
[123]
hatte bey ſeiner Zuhauſekunſt, die durch Franzen
an ihn gebrachte Botſchaft erfahren. Er eilte, ſo ſehr
er konnte, an einen Ort, wo er ſich, wie ein ande-
rer Freſenius, durch die Bekehrung eines Freygeiſtes
auf dem Todtenbette zu ſignaliſiren dachte; denn
weil er ſich um alles, was in ſeinem Kirchenſprengel
vorgieng, bekuͤmmerte, ſo war ihm unverborgen geblie-
ben, daß der Major beſondere Meinungen hege, und
weder ihn noch einen von ſeinen Kollegen zum Beicht-
vater gehabt habe.


Als er ſahe, daß er zu ſpaͤt kam, rief er aus:


Pr. O Gott! wie groß ſind deine Gerichte! Auch
dieſen Suͤnder, dem du ſo lange Zeit zur Beſſerung
gegeben, und der die Gnadenzeit muthwillig hat ver-
ſtreichen laſſen, haſt du ins Gericht der Verſtockung
dahin gegeben! daran mag ſich jeder ſpiegeln, und
Buße thun, weil es noch Heute heißet!


Seb. Mein Herr! ſchmaͤhen Sie dieſen todten
Leichnam nicht! Der ſelige Major war ein rechtſchaf-
fener Mann. Sein Jnnerſtes wird Gott richten, vor
deſſen Richterſtuhle er ſtehet.


Pr. Wie koͤnnen Sie einen verſtockten Suͤnder
ſelig nennen? Wiſſen Sie wohl, daß dieſer ungluͤck-
liche Menſch kein ewiges Leben, keinen Himmel und
Hoͤlle
[124]
Hoͤlle, keinen Gott und keinen Teufel geglaubt, und
in ſeinen Suͤnden dahin gelebt hat?


Seb. Jch weiß es, daß er viel Trugſchluͤſſe ge-
macht hat. Jch habe ſchon oft gewuͤnſcht, und die-
ſer Fall erneuert bey mir den Wunſch, daß der Ge-
brauch einer geſunden Philoſophie unter der ganzen
Nation gemein wuͤrde, damit auch unſtudirte Perſo-
nen uͤber tranſcendente Saͤtze, die ſie nicht ganz ent-
behren koͤnnen, richtige Begriffe haͤtten. Jeder
Menſch — —


Pr. O! Sie moͤgen wohl ſelbſt ſehr irrige Begriffe
haben; was gehoͤrt eine weltliche Philoſophie hieher?
Der Weg zum Heil iſt in Gottes Wort vorgeſchrie-
ben, und in den Schriften bewaͤhrter Theologen, die
es erklaͤrt haben, die wollen Sie doch wohl nicht ver-
werfen? Wollen Sie?


Seb. Davon iſt nicht die Rede. Meine Mei-
nung iſt nur: Wer ſich bey der gewoͤhnlichen Ausle-
gung und bey der gewoͤhnlichen Dogmatik beruhigen
kann, der thue es; kann er aber nicht, und will er
ſeine Zweifel verfolgen, ſo wage er ſich nicht, ohne
das Licht einer geſunden Philoſophie, in die Jrrgaͤnge
der Dogmatik und Exegeſe, er wird ſich ſonſt immer
mehr in ſeine Zweifel verwickeln. Jndeſſen kann
ich
[125]
ich nicht glauben, daß Gott jemand verdammen wer-
de, weil er nicht richtig genug gedacht hat, *) und
Menſchen ſollten es auch nicht thun.


Pr. O! der ſchoͤnen Philoſophie! O! der ſuͤndlichen
Weichherzigkeit eines natuͤrlichen Menſchen! Wer
Gottes Wort nicht fuͤr Gottes Wort haͤlt, wer ſich
der Sakramente als von Gott gegebener Gnadenmit-
tel nicht gebraucht, und ſo in ſeinen Suͤnden dahin
ſtirbt, der iſt verdammt.


JSeb.
[126]

Seb. Wenn Sie naͤhere Nachrichten von dem Zu-
ſtande in jenem Leben haben, ſo muß ich es geſche-
hen laſſen. Jch wenigſtens kann mich nicht uͤberzeu-
gen, daß ein Menſch, der, ſo viel er gekonnt, ſeinen
Pflichten nachgelebt, und Gutes gethan hat, der un-
eigennuͤtzig, gerecht und wohlthaͤtig geweſen, und ſich
bey ſeinem Ende in des barmherzigen Gottes Arme
geworfen hat, — daß dieſer von Gott ausdruͤcklich
muͤſſe verdammt werden. Jſts anders, ſo weiß ichs
wenigſtens nicht.


Pr. Ja! Jch aber weiß es beſſer! Jch, als ein be-
rufener und verordneter Diener Gottes, ſage Jhnen,
daß Gottes Wort ausdruͤcklich lehret: Wer nicht an
den dreyeinigen Gott glaubt, der iſt ewig verdammt,
und iſt keine Erloͤſung fuͤr ihn, weder in Zeit noch
in Ewigkeit.


Sebaldus, deſſen Blut durch das Wort ewige
Verdammniß
ſehr leicht erhitzt ward, fuhr auf, und
wollte im Zorne heftig antworten. Er faßte ſich aber
zum Gluͤcke bald, und ſagte bloß, indem er einen
Schritt zur Thuͤre gieng:


‚Jn der That, bloß der, welcher glaubt, er ſey
”ein unmittelbarer Geſandter Gottes, darf ſich un-
”terſtehen, das Schickſal eines Menſchen ſo poſitiv
”zu beſtimmen. Verantworten Sie dieß bey dem,
”der
[127]
”der Sie geſandt hat zu verdammen.‛ Und ſo
gieng er zur Thuͤr hinaus.


Der Prediger, weil er niemand anders hatte, wen-
dete ſich an Franzen. Er bewies ihm, daß der Ma-
jor ewig verdammt ſeyn muͤſſe. Franz weinte, ſchlug
ſich an die Bruſt, und rief aus:


‚Ach! er war doch ſo ſehr boͤſe nicht, daß nicht fuͤr
”ſeine arme Seele Huͤlfe ſeyn ſollte. Jch wollte
”gern ſelbſt fuͤr ihn hundert Roſenkraͤnze beten, wenn
”ich ſeine Seele aus dem Fegefeuer retten koͤnnte.
”Doch was kann ich armer einfaͤltiger Menſch! Nein!
”ich keune einen frommen Prior in Boͤhmen, deſſen
”Kloſter der Major vom Anzuͤnden und Pluͤndern
”gerettet hat, der wird ihm gern von den guten Wer-
”ken des Kloſters etwas zukommen laſſen, den will
”ich bitten, daß er fuͤr ihn Seelmeſſen leſe.‛


Der Prediger entdeckte nun mit Erſtaunen, daß
Franz katholiſch war. Jn dem Eifer ſeiner Bekeh-
rungsſucht fieng er an, ihm den Graͤuel des papi-
ſtiſchen Sauerteiges recht lebhaft vorzumalen, und
drohte ihm, daß er, wenn er ſich nicht zur reinen ſe-
ligmachenden Lehre wendete, eben wie ſein Herr, ewig
verdammt werden wuͤrde.


Franz, der ſolche Worte nie bey dem Major ge-
hoͤrt hatte, ſah den Prediger ſtarr an, und ſegnete
J 2ſich
[128]
ſich uͤber ſolche Laͤſterungen; und da der Prediger
fortfuhr, den Pabſt den Antichriſt zu nennen, ſchalt
er ihn eine ketzeriſche Beſtie, und lief zur Thuͤr
hinaus.


Der Prediger blieb alſo bey dem Leichnam allein,
und da derſelbe auf ſeine Verdammungen weiter nichts
antworten konnte, ſo gieng er auch hinaus. Als er
uͤber den Hausflur gieng, machte Franz zwey große
Kreuze vor ſich, und ſpie ihm nach.


Zwoͤlfter Abſchnitt.


Herr F. und Sebaldus lebten nun den Winter
uͤber ſehr eingezogen. Jhre Unterhaltung,
die durch die Geſellſchaft des Majors ſonſt mannich-
faltiger geweſen war, ward nun viel einfoͤrmiger.
Sie beſtand mehrentheils aus gelehrten Unterredun-
gen, welche aber ſehr bald das gewoͤhnliche Schick-
ſal gelehrter Unterredungen unter vier Augen hatten,
die weniger gemeinnuͤtzig und lehrreich werden, wenn
jeder dem andern ſein eigenes Steckenpferd vorreiten
will. Herr F. hatte ſich auf den Senſus kommu-
nis
ein Lehrgebaͤude der Sittenlehre und der natuͤr-
lichen Thelogie gebauet, welches dem Sebaldus gar
nicht einleuchten wollte, als welcher ſeine Ethik, als
ein
[129]
ein aͤchter Cruſianer, auf die Thelematologie gruͤn-
dete. Sebaldus hingegen wollte ſeiner ſeits ſei-
nem Freunde auch ſeine neuen Entdeckungen uͤber die
Apokalypſe mittheilen, welche aber gar kein Gehoͤr
fanden, ſondern vielmehr gerade zu ausgelacht wur-
den, weil Herr F. ſchon laͤngſt bey ſich ausgemacht
hatte, daß in der ganzen Apokalypſe kein Senſus
Kommunis
zu finden ſey. Sebaldus fieng zu ſei-
ner eignen Vertheidigung an, das Grundgeſetz des
Senſus kommunis zu untergraben. Er zeigte mit
philoſophiſchen Gruͤnden, welch ein ſchwankender Be-
griff dieß ſey, und bewies, daß eine Appellation an
den Senſus kommunis,
als an ein untruͤgliches
Gericht uͤber den Werth ſpekulativer Wahrheiten,
nicht viel mehr, als eine Appellation an ein inne-
res Gefuͤhl
bedeute, und da dieſes von Menſchen zu
Menſchen verſchieden ſeyn muͤßte, ſo waͤre nicht zu
erwarten, daß dadurch irgend etwas koͤnnte mit Er-
folge behauptet oder wiederlegt werden. Vergebens.
Herr F. hatte ſein Syſtem lieb, Sebaldus wollte
ſich ſeine Weißagungen auch nicht nehmen laſſen, ſie
wurden alſo heftig, machten nichts aus, und endlich,
ob ſie gleich nicht aufhoͤrten ſich hochzuſchaͤtzen, ward
doch ihr Umgang laulicher, und einer fand nicht mehr
ſo viel Vergnuͤgen in der Geſellſchaft des andern.


J 3So
[130]

So ſtanden die Sachen unter ihnen am Ende des
Winters, als Herr F. von ſeinem Freunde, dem Offi-
cier, dem er ſo viel zu danken hatte, einen Brief be-
kam. Dieſer edle Mann, nachdem er in allen Feld-
zuͤgen des letzten Krieges fuͤr das Vaterland geſoch-
ten, und ehrenvolle Wunden erworben hatte, begab
ſich auf ſeine Guͤter, um, in Geſellſchaft einer wuͤrdi-
gen Gattinn, in haͤuslicher Zufriedenheit den Reſt ſei-
nes Lebens zuzubringen. Aber er wollte auch, daß
nicht er allein, ſondern auch andere gluͤcklich ſeyn ſoll-
ten. Er betrachtete ſich als den allgemeinen Vater
ſeiner Unterthanen, und in dieſer Abſicht ſorgte er fuͤr
die Erziehung ihrer Kinder. Er wollte zum Schul-
meiſter einen verſtaͤndigen menſchenfreundlichen
Mann haben, der nicht etwan nur die Kinder bloß die
Fragen und Antworten einer unverſtaͤndlichen zweck-
loſen Hellsordnung koͤnnte auswendig lernen laſſen,
ſondern, der ihnen Pflichten deutlich machen ſollte,
die ſie gegen Gott und Menſchen zu beobachten haͤt-
ten, der ſie vor Vorurtheilen bewahren ſollte, die
ſich beym Bauer ſonſt Jahrhunderte lang fortpflan-
zen, der ihnen richtige Begriffe vom Landbaue, den
ſie zu treiben beſtimmt waren, beybringen, kurz, der
ſie zu vernuͤnftigen Menſchen und zu guten
Bauern, erziehen ſollte. Einen ſolchen Mann wollte
der
[131]
der Menſchenfreund aus ſeinen eignen Mitteln be-
ſolden, *) und er bat ſeinen Freund F. ihm einen ſol-
chen Mann zu verſchaffen.


Herr F. ſchlug dem Sebaldus dieſe Stelle vor,
der ſie auch vielleicht wuͤrde angenommen haben, wenn
er nicht uͤberlegt haͤtte, daß ſein Wohlthaͤter, der Armen-
ſchulmeiſter, ſie ſo gut, als er, verwalten koͤnnte, und
daß demſelben, nach der unverſchuldet erlittenen Be-
ſchimpfung ſeiner Familie, die Entfernung von ſeinen
bisherigen Bekannten zur Beruhigung gereichen
wuͤrde. Er empfohl alſo denſelben, und er ward an-
genommen.


Jndeſſen verließ Sebaldus dennoch Berlin ge-
gen den Fruͤhling. Er hatte ſeit geraumer Zeit keine
Nachricht von ſeiner Tochter, welches ganz natuͤrlich
zugieng, denn die Frau von Hohenauf hatte fuͤr gut
gefunden, den Brief, welchen Mariane, vor ihrer
Abreiſe zur Graͤfinn ***, unter Einſchluß des Hie-
ronymus,
an ihren Vater geſchrieben hatte, zu
J 4ver-
[132]
verbrennen, weil ihr daran gelegen war, daß nie-
mand Marianens Aufenthalt wiſſen ſollte. Als
ſich Hieronymus, auf Sebaldus wiederholtes Bit-
ten, bey der Fr. v. H. nach Marianen erkundigte,
war derſelben kaltſinnige Antwort: ‚die Mamſell habe
”ſich heimlich fortgemacht, und ſie wiſſe nicht wohin.‛
Dieß meldete Hieronymus dem Sebaldus, der,
durch dieſe Nachricht ſehr beunruhigt, beſchloß, im
Fruͤhlinge eine Reiſe zum Hieronymus zu thun, um,
wo moͤglich, von ſeiner Tochter naͤhere Nachricht zu
erhalten.


Ob es auf dieſen Entſchluß nicht einigen Einfluß
mag gehabt haben, daß weder Herr F. noch ſonſt
jemand in Berlin, von ſeiner Auslegung der Apoka-
lypſe etwas hoͤren wollte, und daß er, ſo vortheilhaft
auch die Schilderung war, die Herr F. von dem Of-
ficier machte, doch Urſach finden mochte, zu glau-
ben, derſelbe werde noch weniger apokalyptiſch geſin-
net ſeyn, wollen wir den Schreibern moraliſcher Sy-
ſteme zu unterſuchen uͤberlaſſen, welche auf ein Haar-
breit anzugeben wiſſen, aus welchen Grundſaͤtzen
die menſchlichen Handlungen entſpringen und nicht
entſpringen.


Genug, Sebaldus, der, bey ſeiner fleißigen Ar-
beit und ſparſamen Lebensart, eine fuͤr ihn betraͤcht-
liche
[133]
liche Summe zuruͤckgelegt hatte, nahm im Maymo-
nathe von Herrn F. Abſchied, ſetzte ſich auf die Poſt,
und befand ſich, in wenigen Tagen, bey ſeinem lieben
Hieronymus, und bey ſeinem ihm eben ſo lieben
Kommentar uͤber die Apokalypſe.


Dreyzehnter Abſchnitt.


Sebaldus konnte, wider ſein Vermuthen, beym
Hieronymus keine naͤhere Nachricht von ſei-
ner Tochter erhalten, und dieſer wiederrieth ihm auch,
deshalb zur Frau von Hohenauf zu reiſen, weil er
ſchon voraus wußte, daß alle Nachforſchung vergeb-
lich ſeyn wuͤrde. Sebaldus troͤſtete ſich indeſſen da-
mit, daß er Gelegenheit hatte, ſeinen Kommentar
uͤber die Apokalypſe aufs neue zu uͤberſehen und zu ver-
mehren. Nachdem er damit uͤber einen Monath zu-
gebracht hatte, fieng er an, der muͤßigen Lebensart
uͤberdruͤßig zu werden, und wuͤnſchte wieder eine or-
dentliche Beſchaͤfftigung zu haben. Jn der fuͤrſtli-
chen Reſidenzſtadt hatte er kein Amt zu hoffen. Zu
Herrn F. zuruͤckzukehren trug er kein Belieben, und
andere Ausſichten konnte er auch in Berlin eben nicht
haben. Es fuͤgte ſich aber, daß ein gewiſſer Edel-
mann, der vormals am fuͤrſtlichen Hofe Kammer-
J 5junker
[134]
junker *) geweſen, und nachher im Holſteiniſchen
anſehnliche Guͤter erheurathet hatte, vom Hierony-
mus
einen Aufſeher ſeiner Bibliothek und ſeines An-
tiquitaͤtenkabinets verlangte. Sebaldus ließ ſich
leicht bereden, dieſe Stelle auzunehmen. Hie-
ronymus
gab ihm einen Empfehlungsbrief an den
Kammerjunker mit, und weil er eben im Magdebur-
giſchen fuͤr verkauftes Getreide Rechnungen abzu-
thun hatte, ſo ſetzte er ſich mit dem Sebaldus auf
die Poſt, um denſelben, ſo weit es ſein Weg mit ſich
braͤchte, zu begleiten.


Nachdem ſie einige Meilen gereiſet waren, geſellte
ſich zu ihnen ein Mann zu Pferde, der einem Ver-
walter aͤhnlich war, und den Hieronymus als einen
Bekannten begruͤßte, und in der folgenden Station
beſtieg den Poſtwagen, nebſt andern unbedeutenden
Reiſenden, ein Mann ernſthaftes Anſehens, der
ihnen, nach der erſten Begruͤßung, ſelbſt ſagte, daß
ſein Hauptſtudium die Arabiſche Sprache ſey. Er galt
in der That, wie man nachher unter der Hand er-
fahren hat, allenthalben fuͤr einen grundgelehrten
Mann, der Hebraͤiſch, Arabiſch, Perſiſch, Syriſch,
Samaritaniſch, Phoͤniciſch und Koptiſch aus dem
Grunde verſtehe. Er hatte nicht allein, gleich an-
dern
[135]
dern Kennern der hoͤhern Eregeſe, das Hebraͤiſche
durch das Arabiſche zu erklaͤren geſucht, ſondern er
war auf eine Hoͤhe geſtiegen, die noch kein anderer
Ereget erreicht hatte, nehmlich, er hatte einen Verſuch
gemacht, das Arabiſche durch das Hebraͤiſche in ein
helleres Licht zu ſetzen. Er war in Leipzig geweſen,
und freylich ſoll ſeine geruͤhmte Arabiſche Kenntniß bey
Reisken nicht großen Beyfall gefunden haben, wel-
cher glaubte, daß ſie ſich nicht weit uͤber den Solius
erſtreckte. Unſer Mann hielt dieß aber, wie billig,
fuͤr Neid, und wandte ſich nach Wittenberg. Er
hatte eine Sammlung von ihm in der Bibel, vermit-
telſt des Arabiſchen, neuentdeckter Beweisſpruͤche bey
ſich, wodurch die vornehmſten Artikel der Dogmatik
aufs neue befeſtigt werden ſollten. Er glaubte dadurch
in dieſer orthodoren Stadt gewiß eine anſehnliche Be-
lohnung oder Befoͤrderung zu erhalten. Er erſtaunke
aber nicht wenig, da alle dortigen Doktoren der Gottes-
gelahrtheit ſeine neuen Beweisſpruͤche fuͤr ganz uͤberftuͤ-
ßig hielten, weil ſie meinten, die Dogmatik ſey durch
die Augſpurgiſche Konfeſſion und durch das Konkordion-
buch befeſtigt genug. Zum Gluͤck, konnte ihm ſeine
Arabiſche Gelehrſamkeit ſo gut dienen, als weiland
dem Ritter Hudibras ſeine Logik:


who
[136]
who could refute
Change ſides, and ſtill diſpute.
()

Er zog alſo, mit Huͤlfe der Arabiſchen Sprache, eine
große Menge Erklaͤrungen aus der Schrift, wodurch
die vornehmſten Artikel der Dogmatik zweifelhaft ge-
macht wurden, und jetzt eben war er im Begriff,
mit dieſem Schatze von neuen Entdeckungen ins Bran-
denburgiſche zu reiſen, wo ſie, wie er gewiß glaubte,
Waare fuͤr den Platz ſeyn muͤßten.


Dieſer Mann wendete ſich ſo gleich an den Sebal-
dus
als an einen Gelehrten, und ſuchte ihm einen ho-
hen Begriff von ſeinen Entdeckungen beyzubringen. Er
bewies ihm weitlaͤuftig, daß die Hebraͤiſche Sprache
gaͤnzlich ausgeſtorben ſey, und daß, ohne die
Arabiſchen Wurzeln, an keine Palingeneſie derſelben
zu gedenken ſey. Er legte ihm daher verſchiedene
ganz nagelneue Erklaͤrungen vor, z. B. daß
1. B. Moſ. XLIX, v. 10. wo man, einige Jahr-
hunderte lang, den Meſſias zu finden ge-
glaubt habe, von einer Ueberſchwemmung die
Rede ſey, daß B. der Richter VII, v. 13, wo
Luther von geroͤſteten Gerſtenbrodten redet,
von einem aus der Scheide gezogenen Schwerte
verſtanden werden muͤſſe, und dergleichen ſchoͤne Saͤ-
chelchen mehr. Sebaldus, der kein Freund vom
Erege-
[137]
Eregeſiren, am allerwenigſten von einer ſo ausſchwei-
fenden Eregeſe war, ſchwieg ganz ſtille, bis ihn der
Fremde zu wiederholtenmalen fragte, was ihm von
dieſer neuen Erklaͤrungsart duͤnke, und ob ſie nicht
voͤllig nen, und ſehr ſinnreich ſey.


Sebaldus ſagte ganz kalt: Neu und ſinnreich
mag ſie ſeyn, aber ich ſehe auch wohl, daß man
mit ſolcher Erklaͤrungsart leicht ſchwarz in weiß
verwandeln, und einen Autor ſagen laſſen kann,
was man will.


Der Fremde, der laute Bewunderung erwartet
hatte, fieng nochmals an, mit ſehr beredten Gruͤn-
den darzuthun, daß die Bedeutungen der Hebraͤiſchen
Woͤrter verloren gegangen waͤren, und daß man in den
Wurzeln der verwandten Sprachen, beſonders der
Arabiſchen, dieſe Bedeutungen wieder auffinden muͤſſe.


Sebaldus verſetzte: Es ſcheint mir ganz unmoͤglich,
wenn die Bedeutungen der Deutſchen Sprache ganz
verloren gegangen waͤren, ſie, nach ein Paar tau-
ſend Jahren, in den Wurzeln der Daͤniſchen, Schwedi-
ſchen und Engellaͤndiſchen wieder zu finden. Die
Wurzelwoͤrter veraͤndern in der Zuſammenſetzung
ihre Bedeutung auf mancherley Art. Wer die Deut-
ſche Sprache nur in den Wurzeln kennte, und z. B.
im Daͤniſchen die Wurzelwoͤrter Tiſch, Topf
und
[138]
und Nacht gefunden haͤtte, und nun daraus
ſchließen wollte, daß Nachttiſch und Nachttopf Sa-
chen von einerley Art ſeyn und nur in der Nacht
gebraucht werden muͤßten, dem wuͤrde es gerade ſo
gehen, wie unſern heutigen Arabiſchen Philologen.
Jch habe kuͤrzlich eine Schrift des beruͤhmten Reis-
ke
*) geleſen, der die Unmoͤglichkeit zeigt, die Ara-
biſche Sprache, itzt ſchon, auf die Hebraͤiſche anzuwen-
den. Er verſichert: ‚Daß noch nicht der tauſendſte
”Theil der nuͤtzlichen Arabiſchen Manuſkripte bekannt
”iſt und gebraucht werden kann; daß die meiſten
”Theologen, die das Hebraͤiſche aus dem Arabiſchen mei-
”ſteru wollen, aus des Golius Lerikon nur eine ſehr
”duͤrftige Kenntniß erſchnappt haben, oder aufs hoͤch-
”ſte ein Paar Suren aus dem Alkoran leſen koͤnnen;
”daß wir ſelbſt vom Alkoran nicht einmal ſo viel
”wiſſen, um zu entſcheiden, ob der vom Maraccius
”oder von Hinkelmannen eingefuͤhrte Tert, nach der
”Les-
[139]
”Lesart der Schule zu al Kufah oder al Baſrah ſey,
”welches, wie er ſagt, ein ſo großer Unterſchied iſt,
”als zwiſchen Lutheranern oder Katholiken. Er ſagt
”ausdruͤcklich, daß man noch einhundert Jahre hin-
”durch gute Arabiſche Buͤcher drucken, und ſich bis
”dahin die Luſt daruͤber zu philoſophiren ganz
”vergehen laſſen ſollte.
Er vergleicht, ſehr tref-
”fend, die Theologen, die itzt ſchon das Hebraͤiſche
”aus dem Arabiſchen erlaͤutern wollen, mit den al-
”ten Philoſophen, welche die Wirkungen der Dinge
”in der Natur a priori demonſtriren wollten, ehe ſie
”noch die Natur durchſtudiret hatten, und dadurch
”die laͤcherlichſten Grillen in die Phyſik brachten.‛
Habe ich Unrecht, fuhr Sebaldus fort, wenn ich
Reisken, dem groͤßten Kenner der Arabiſchen Spra-
che, hierinn glaube?


Ey! rief der Fremde ziemlich entruͤſtet, Reiske
kann hievon nicht urtheilen; der Mann verſteht zwar
etwas Arabiſch, aber von dem Hebraͤiſchen und an-
dern orientaliſchen Sprachen, weiß er ſo viel als
nichts. Und Sie, mein guter Herr, der Sie von
allen dieſen gelehrten Sachen ganz und gar nichts
verſtehen, Sie ſollten davon auch ganz und gar nicht
urtheilen, ſondern Ehrfurcht fuͤr die Bemuͤhungen
gelehr-
[140]
gelehrter Maͤnner haben, die durch ihre Arabiſche
Philologie in der Bibel ein neues Licht anzuͤnden.


Eben deswegen bekuͤmmere ich mich, nebſt andern
Ungelehrten darum, ſagte Sebaldus, weil es uͤber
unſere Haut hergeht. Von der einen Seite wird
uns zugerufen, daß wir ohne den geſchriebenen Wil-
len Gottes nicht ſelig werden koͤnnen, und von der
andern Seite kommen gelehrte Leute, erklaͤren
uns, mit Huͤlfe von einigen Wurzeln, und Kon-
jekturen,
hinein und hinaus, was ihnen beliebt.
Und das ſollen wir mit Ehrfurcht glauben, weil wir
nicht den Golius geleſen haben, oder nicht den Ara-
biſchen Alkoran erponiren koͤnnen? Nein! die Se-
ligkeit des menſchlichen Geſchlechts kann unmoͤglich
auf ſolchen Wortklaubereyen beruhen! Hat man
einen ſeltſamern Zirkel geſehen, als den, in welchem
man uns herumfuͤhren will? Der Willen Gottes
im alten Teſtamente iſt Hebraͤiſch geſchrieben. Zu den
Zeiten der Apoſtel und der erſten Chriſten wußte man
nichts davon, daß die Bedeutung der Hebraͤiſchen Woͤr-
ter verloren gegangen waͤre. Jn den folgenden Jahr-
hunderten auch nicht, aber wohl vergaß man den
Hebraͤiſchen Tert bey nahe ganz und gar, und hielt
ſich an die Vulgata. Als man die Hebraͤiſche Spra-
che wleder hervorſuchen wollte, mußte ſie Reuchlin
von
[141]
”von den Juden lernen, ohne zu wiſſen, daß dieſe
”ihr Hebraͤiſch ſelbſt nicht verſtaͤnden, welches ſie
”ſich auch nicht traͤumen ließen. Auf dieſe Kennt-
”niß der Hebraͤiſchen Sprache, wurden ſowohl Lu-
”thers
Deutſche Ueberſetzung, als auch alle unſere ſym-
”boliſchen Buͤcher gebaut; wir ſtritten, beynahe zwey
”Jahrhunderte lang, mit bitterm Eifer, uͤber Lehr-
”ſaͤtze, die ſich darauf gruͤndeten, und endlich, nach
”zweyhundert Jahren, erfahren wir, daß die Be-
”deutung der meiſten Woͤrter der Hebraͤiſchen Spra-
”che verloren gegangen iſt, und daß wir ſie im Ara-
”biſchen aufſuchen muͤſſen. Nun haben wir wieder
”zweyhundert Jahre zu ſtreiten. Alsdann koͤmmt
”vielleicht jemand, der uns berichtet, daß ſich die Be-
”deutung der Arabiſchen Woͤrter auch veraͤndert haͤt-
”ten, *) ſo wie es in allen Sprachen in der Welt ge-
K”gangen
[142]
”gangen iſt, und daß wir dieſe Bedeutung wieder
”in der Perſiſchen Sprache, *) oder wer weiß wo, auf-
‚ſuchen muͤſſen.‛


Hier ward Sebaldus durch ein heftiges Geſchrey
unterbrochen, welches ſich auf der Landſtraße einige
hundert Schritte vom Poſtwagen erhob. Was die-
ſes fuͤr ein Geſchrey geweſen, wollen wir kuͤnftig
berichten, und indeſſen zur Geſchichte Marianens
und Saͤuglings zuruͤckkehren.


*)


Ende des vierten Buchs.



Fuͤnf-
[143]

Fuͤnftes Buch.


Erſter Abſchnitt.


Mariane ward bey ihrer Ankunft auf dem Gute,
wo ſich die Graͤfinn von *** aufhielt, von
derſelben mit offnen Armen empfangen. Die
Graͤfinn, welche, in der ſchoͤnen Jahreszeit,
haͤufige Beſuche hatte, ward mehrentheils, ſo-
bald die rauhe Herbſtwitterung eintrat, einſam
gelaſſen. Alle ihre Nachbarn, denen der heitere
Sonnenſchein und die gruͤnenden Baͤume kaum
den Aufenthalt auf dem Lande hatten ertraͤglich ma-
chen koͤnnen, eilten nach der Reſidenzſtadt, um zu
Vergnuͤgungen zuruͤckzukehren, die ihnen angemeß-
ner waren: zu Cour-Tagen, wo man ſich tief neiget,
um ſeinen Stolz zu zeigen; zu Baͤllen, wo jeder ſich
bis uͤber die Zaͤhne vermummt, ob gleich keiner mit
K 2einer
[144]
Maſke ſpricht oder tanzt, die er nicht kennet; zu
großen Mittagsmahlen, wozu man alles, was vor-
nehm und angeſehen iſt, bittet, um vier Stunden
lange Weile zu haben, und zu feinen Abendmahlzei-
ten, zu welchen man ſich, mit leichtſinnigen und ſit-
tenloſen Leuten einſchließt, um ſich ein paar Stunden
lang einzubilden, man ſey verguuͤgt geweſen. Die
Graͤfinn, die ſeit langen Jahren alle dieſe herrlichen
Vergnuͤgungen geſchmeckt hatte, und davon ſehr bald
war geſaͤttigt worden, trug kein Verlangen im Win-
ter ihre Guͤter zu verlaſſen. Sie hatte gelernt, ſich
ſelbſt genug zu ſeyn. Die Beſorgung ihrer Angelegen-
heiten, kleine weibliche Arbeiten, und die Lektur,
konnten ſehr wohl den groͤßten Theil ihrer Zeit be-
ſchaͤfftigen. Nur fehlte ihr noch eine Geſellſchafterinn
ihres Geſchlechts, von unbeſcholtenen Sitten, und der
es nicht an Verſtande und Geiſte fehle, die bey Spazier-
gaͤngen, (die ſie auch in ſchoͤnen Wintertagen nicht ver-
abſaͤumte,) und bey ihren wohlthaͤtigen Beſuchen ihrer
Unterthanen, ihre Gefaͤhrtinn ſey, in deren Geſellſchaft
ſich der Geiſt, der in der Einſamkeit erſchlafft, zu
angenehmer Unterhaltung wieder anſpannen koͤnne.
Eine ſolche Geſellſchaſterinn fand ſie an Marianen,
die ihr daher alle Tage werther ward.


Maria-
[145]

Mariane auf ihrer Seite, lebte ſehr gluͤcklich
Die Graͤfinn von *** verbannte aus ihrer Geſell-
ſchaft alle Art von Dienſt; ſie wollte eine Freundinn
haben. So verfloſſen die Wintermonathe unter ge-
meinſchaftlichen Arbeiten, Lektur und Unterhaltung.
Es iſt leicht zu erachten, daß Marianen der Um-
gang mit einer Dame, die ſo viel Verſtand mit ſo
viel Erfahrung und Weltkenntniß verknuͤpfte, unge-
mein lehrreich geweſen ſeyn muͤſſe. Die von der Graͤ-
finn ſehr wohl gewaͤhlte Lektur trug das ihrige dazu
bey; und obgleich Mariane dadurch beleſener ward,
ſo wußte ſie die Graͤfinn doch, durch feinen Scherz, von
der kleinen Thorheit ihre Beleſenheit in Geſellſchaft
zu zeigen, in kurzem ganz zu heilen.


Die einzige Stoͤrung der Reihe von ſanften Ver-
gnuͤgungen, in denen Mariane lebte, war das An-
denken an Saͤuglingen, und vielleicht war eine
ſolche Stoͤrung einem jungen und lebhaften
Frauenzimmer behaglich, weil ſie die Einfoͤrmigkeit
ihrer Empfindungen mannichfaltiger machte. Sie
dachte ſehr| oft an den ſchnellen Abſchied; ſie war zu-
weilen ungehalten, daß er ihr keine Nachricht von
ſich gebe; dann uͤberlegte ſie wieder, daß er ihren
Aufenthalt nicht wiſſen wuͤrde; und indem ſie ganz
leiſe den Gedanken dachte, daß ſie an ihn ſchreiben
K 3koͤnnte,
[146]
koͤnnte, erroͤthete ſie, als vor einem ihr unanſtaͤndl-
gen Schritte. Sie klagte wieder uͤber die Unmoͤglich-
keit von ihm Nachricht zu erhalten; dann fiel ihr
das Verſprechen ein, das ſie der Frau von Hohen-
auf
gethan hatte, alle Verbindung mit Saͤuglingen
aufzuheben: und dann entſchloß ſie ſich, ihn voͤllig
zu vergeſſen. Jndem ſie aber dieſen Entſchluß recht zu
befeſtigen ſuchte, ward ſein Bild unvermerkt in ihrer
Einbildungskraft lebhafter, und ſie vernichtete ihren
Vorſatz, ſelbſt indem ſie ihn ausfuͤhren wollte.


Saͤugling, auf ſeiner Univerſitaͤt, zerbrach ſich
nicht weniger den Kopf uͤber Marianens Zuſtand.
Er hatte vermittelſt des Kammermaͤdchens nichts
weiter erfahren koͤnnen, als daß Mariane in der
Nacht in einem Wagen waͤre weggebracht worden.
Er ſpannte ſeine ganze Einbildungskraft an, um zu
muthmaßen, wohin ſie gerathen ſey; aber vergeb-
lich. Er mußte ſich begnuͤgen, an ihr geliebtes Schat-
tenbild die zaͤrtlichſten Seufzer abzuſenden. So ver-
gieng der Winter damit, daß er an Marianen
dachte, ihren Namen, in Ermanglung eines Baums,
in ſein Schreibepult ſchnitt, wenn er ſie beſingen
wollte, und uͤber beides von Rambolden geſchraubt
ward.


Jm
[147]

Jm Fruͤhlinge, nachdem er auf dieſer zweyten Uni-
verſitaͤt ein Jahr geweſen war, berief ihn ſein Va-
ter, der ſich nach geendigtem Kriege in Weſtphalen
ein Landgut gekauft hatte, nach Hauſe. Er reiſete
alſo mit Rambolden ab, und nahm ſeinen Weg
uͤber den Landſitz ſeiner Tante, die ſich ſtellte, als ob
ſie den Vorfall mit Marianen ganz vergeſſen haͤtte,
und ihn mit ſehr vieler Freundlichkeit aufnahm. Er
trauete ſich demungeachtet nicht, ſich nach Maria-
nen
zu erkundigen. Sie ſelbſt aber nahm Anlaß ihm
einſt, bey Gelegenheit, mit laͤchelndem Munde eine
Neuigkeit zu ſagen, die ihm wie ein Blitz in ſeine
arme Seele fuhr: „daß die Mariane, die einſt ein
”fluͤchtiger Gegenſtand ſeiner Neigung geweſen, in
”Franken bey einem Edelmanne, Franzoͤſiſche Mann
”ſell worden, und kuͤrzlich den Jnformator, dem der
”gnaͤdige Herr eine erledigte Pfarre gegeben haͤtte,
”geheurathet habe.‟


Sie erdichtete dieſe Nachricht nicht ohne beſondere
Abſichten. Zu Folge ihrer beſtaͤndigen Leidenſchaft,
ihre Familie zu erheben, wuͤnſchte ſie, daß ihr Neffe
eine Adeliche heurathen moͤchte. Jhre Augen waren
dabey auf das Fraͤulein von Ehrenkolb gerichtet,
ein Fraͤulein von altem Adel, aber nicht von großem
Vermoͤgen, welche mit ihrer Mutter, einer Wittwe,
K 4auf
[148]
auf einem kleinen Gute in der Nachbarſchaft wohnte.
Die Frau von Hohenauf glaubte, die Frau von Eh-
renkolb
werde durch den großen Reichthum, welchen
der junge Saͤugling, der ein einziger Sohn war, zu
erwarten hatte, leicht bewogen werden, in dieſe Heurath
zu willigen; der alte Saͤugling, der ſchon ein Rit-
tergut gekauft hatte, werde ſich adeln laſſen, er werde
ſeinem Sohne eine anſehnliche Bedienung kaufen;
und nun wiegte ſie ſich ſchon im voraus mit dem an-
genehmen Traume, daß durch ihn ihre Familie, in
ein Paar Generationen, zu den angeſehenſten des Lan-
des werde gezaͤhlet werden.


Die Frau von Hohenauf hatte ihrem Neffen von
dieſen ihren politiſchen Abſichten noch nichts geſagt,
und er konnte ſich, aus eignem Triebe, ſo hohe Ge-
danken nicht in den Kopf kommen laſſen. Er war
nur bloß mit ſeinen Gedichten, und mit ſeiner Liebe
zu Marianen beſchaͤfftigt. Er hatte, ſeitdem er von
ihr ſo ploͤtzlich war geſchieden worden, fleißig, an Sie
gerichtete Lieder gemacht, und in der Deutſchen Ge-
ſellſchaft
des Orts vorgeleſen. Dieſe Sammlung
von Gedichten hatte er kurz vor ſeiner Abreiſe unter
die Preſſe gegeben. Er war, wie jeder junge Autor,
uͤber dem Gedanken, daß ſeine Gedichte gedruckt
wuͤrden, vor Freuden außer ſich. Er unterhielt ſich
uͤber-
[149]
uͤberdieß mit den angenehmſten Traͤumen, welche
zaͤrtliche Scenen erfolgen wuͤrden, wenn er einmal
von Marianen Nachricht erhalten, und ihr dieſe
Folge von Gedichten uͤberreichen ſollte. Man urtheile
alſo, wie groß ſein Schmerz war, da er hoͤrte, wie
leichtſinnig Mariane ſeine Liebe ſollte vergeſſen ha-
ben, und mit einemmal befand, daß alle dieſe zaͤrt-
lichen Liebesſeufzer ihre Wirkung verfehlen wuͤrden,
Zwar gehoͤrte er nicht zu den ſtarken ſelbſtſtaͤndigen
Seelen, welche, wenn ihnen ihre Geliebte vor dem
Munde weggeheurathet wird, ſich nothwendig er-
haͤngen, oder in einen Fluß ſtuͤrzen muͤſſen; dennoch
aber irrte er oͤfters troſtlos in dem nahegelegenen Wal-
de, achtete weder Wind noch Regen, ſondern klagte
dem Echo und den murmelnden Baͤchen ſeine Noth,
Er ſang manche Lieder voll verliebter Verzweiflung,
und endlich eins, worinn er der Liebe ganz und gar
entſagte. Dieß letztere erhielt ſeinen voͤlligen Beyfall;
denn es ſchien ihm, es habe etwas feyerliches, wel-
ches ſeinen vorigen Liedern fehlte; und er fieng an
ſeinen verliebten Schmerz, durch das Wohlgefallen
an den Geiſteswerken die er verurſacht hatte, in
etwas zu lindern.


K 5Zwey-
[150]

Zweyter Abſchnitt.


Die Frau von Ehrenkolb, nebſt ihrer Fraͤulein
Tochter, begaben ſich, auf geſchehene Einla-
dung, nach dem Gute der Frau von Hohenauf.
Die Fraͤnlein hatte in der Bluͤthe ihrer Jahre, (denn
ſie war noch nicht voͤllig achtzehn Jahre alt) eine
ſehr gluͤckliche Erziehung genoſſen, unter der Aufſicht
einer Franzoͤſinn, die in Frankreich eine Troͤdelkraͤ-
merinn geweſen, in Deutſchland aber, mit dem Reſte
ihrer Bude ausgeſchmuͤckt, ſich zur Comteſſe erhob,
und, nachdem ſie verſchiedene Deutſche Hoͤfe beſucht,
und auf maſkirten Baͤllen und auf Luſtſchloͤſſern, mit
Herzogen und Reichsfuͤrſten, gegeſſen und geſpielt
hatte, ſich endlich, des Hoflebens ſatt, aus ange-
borner Gutherzigkeit, bereden ließ, ein Deutſches
Landfraͤulein zur Dame umzuſchaffen, und es auf den
guten Ton zu ſtimmen, den ſie ſelbſt in Paris, ob-
gleich freilich nur aus der dritten oder vierten Hand,
gelernt hatte. Das Fraͤulein machte einem ſo treffli-
chen Unterrichte wirklich Ehre, indem ſie alles, was
ihr die Franzoͤſinn anpties, noch zu uͤbertreiben ſuch-
te. Sie konnte, mit gelaͤufiger Zunge, jedermann
Rede angewinnen, alles verachten, ſich zu allem draͤn-
gen, ſich nichts uͤbel nehmen, dreyerley auf einmal
ſpre-
[151]
ſprechen und thun, um in Geſellſchaft die Aufmerk-
ſamkeit auf ſich zuziehen; widerſprechen, um eigen-
ſinniger Laune Lauf zu laßen, die oft fuͤr lebhaften
Geiſt genommen wird; nachgeben, um mit Zierlich-
keit ſchmollen zu koͤnnen; in Einem Nachmittage an
ſechs Orten, und allenthalben abweſend ſeyn; in der
ganzen Geſellſchaft am lautſten reden, und am we-
nigſten ſagen; ſich putzen, ſchminken, ſpielen, tan-
zen, liebaͤugeln, Liebeshaͤndel anſpinnen und Senti-
niens plaudern, alles zugleich und ohne daran zu den-
ken. Kurz ſie beſaß den bon ton vollkommen, und
hatte ſich, um ihn an Mann zu bringen, den ver-
gangenen Winter, an einem benachbarton fuͤrſtlichen
Hofe, zum erſtenmal als eine ausgemachte Petite-
maitreſſe gezeigt. Sie war mit ihrem Anfange ſelbſt
nicht uͤbel zu frieden; denn ſie hatte mehr Aufſehen
gemacht, als irgend ein anderes Fraͤulein, ejnige ihrer
Moden waren nachgeahmt worden, die Schoͤnheiten
des vorigen Winters, kamen gegen ſie nicht mehr iu
Betrachtung, die Anbeter draͤngten ſich um ſie, Ge-
ſchenke, Nachtmuſiken, Baͤlle, von denen ſie die
Koͤniginn war, folgten ſich unaufhoͤrlich, und ſie be-
ſaß wirklich ein ſehr großes Paket Liebesbriefe, von
den beſtfriſirten Koͤpfen des Hofes.


Die
[152]

Die Frau von Ehrenkolb gehoͤrte zu den guten
Muͤttern, die ſich ſelbſt in ihren Toͤchtern genießen.
Daß ihre Tochter Aufſehen machte, und geruͤhmt
wurde, gefiel dem guten muͤtterlichen Herzen, und
wenn ſich ihre Erfahrung auch wider manche Frivo-
litaͤt ſetzte, ſo war doch die kleinſte Liebkoſung der
Tochter hinlaͤnglich, die ſchwache Mutter nachge-
bend zu machen, ja ein ruhiger Nachmittag war ge-
nug, ihr einzubilden, daß ihre Tochter geſetzt und
weiſe waͤre.


So ungelegen es dem Fraͤulein geweſen war, daß
ſie der verdrießliche Fruͤhling aus der fuͤrſtlichen Re-
ſidenz auf das Land trieb, ſo angenehm war ihr die
Einladung der Frau von Hohenauf. Sie hatte bey
derſelben ſchon oft große glaͤnzende Geſellſchaften ge-
ſehen, und hoffte alſo daſelbſt ebenfalls wieder viel
ſchoͤne Welt, und unter derſelben viele Anbeter zu
finden. Sie probirte ſchon in Gedanken die Rollen,
die ſie ſpielen wollte, und traͤumte ſchon viel von
zahlreichen Partien, vom Neide anderer Damen,
und von einer muntern Jugend, die ſie mit Einem
Blicke an ihrem Siegeswagen hinter ſich zog. Wie
ſehr erſchrocken war ſie daher, als ſie niemand an-
traf; denn den ſchuͤchternen Saͤugling, der eine ſo
rauſchende Petitemaitreſſe, als ein niegeſehenes Wun-
derthier
[153]
derthier anſtaunte, und Einen Reverenz uͤber den an-
dern machte, rechnete ſie wirklich fuͤr nichts. Sie
ſahe ſich alſo einige Tage lang in der traurigen Noth-
wendigkeit, drey Stunden nach Sonnenaufgang auf-
zuſtehn, ſich zu putzen, ohne geſehen zu werden, den
lieben langen Tag in friſcher Luft und in gruͤnen
Auen herumzugehn, und des Abends ſich zu einer
einſamen Whiſtpartie zu ſetzen, bey der ſie keine an-
dere Beſchaͤfftigung hatte, als aufs Spiel Acht zu
geben.


Da indeſſen die Frau von Hohenauf ihren Neffen,
ſo viel moͤglich, in dem beſtem Lichte darzuſtellen ſuch-
te, und er ſelbſt, dem es zur andern Natur gewor-
den war, gegen jedes Frauenzimmer galant zu ſeyn,
es an Achtſamkeiten gegen das Fraͤulein nicht er-
mangeln ließ, ſo faßte ſie ihn endlich in die Augen,
und wollte, da ſie an ſeiner Kleidung einen ziemlichen
Geſchmark bemerkte, aus langer Weile verſuchen,
ob aus ihm etwas zu machen waͤre. Dieß gelang ihr,
uͤber Vermuthen; denn kaum hatte ſie den erſten Bo-
gen von Saͤuglings gedruckten Gedichten, die er
ihr vorlas, gelobt, ſo zeigte er ſich als ein ganz an-
derer Menſch. Seine weibiſche Schuͤchternheit, die
der ungeſtuͤme Rambold durch Schrauberey wegzu-
ſpotten vergebens verſucht hatte, verſchwand, ſobald
er
[154]
er einer petillirenden Petitemaitreſſe gefiel, und wie-
der gefallen wollte. Er fieng an, zu ſchwatzen, zu
wiederſprechen, ſich dreymal in einer Minute herum-
zudrehen, zu antworten, ehe die Frage vorbey war,
und zu fragen, ohne Antwort zu verlangen, jeder-
mann dreiſt in die Augen zu ſehen, und ſich des pour
cela, eh mais tant pis,
und tant mieux, ſo geſchickt zu
bedienen, daß man ſchier haͤtte glauben moͤgen, er
haͤtte monde. Dabey war, weil er ſeine liebe Poeſie
nie vergaß, das Fraͤulein der Gegenſtand aller ſeiner
Gedichte, ja, weil er uͤberhaupt (wie mehrere junge
Poeten, und alte Poeten, die lange jung bleiben)
nur allzugeneigt war, ſeine poetiſchen Phantaſien ins
wirkliche Leben uͤberzutragen, ſo deuchte ihm oft,
daß er etwas fuͤr das Fraͤulein empfaͤnde, welches er,
ohne Bedenken, wuͤrde Liebe genennet haben, wenn
ihm nicht ſein gutes Herzchen augenblicklich geklopft,
und erinnert haͤtte, daß ſeine Mariane, obgleich un-
getreu, doch von ihm noch nicht vergeſſen werden
muͤſſe. Das Fraͤulein, ihrer ſeits, betrachtete ihn als
ihre Kreatur. und triumphirte, einen Anbeter, und
zwar einen Anbeter von einer ſo neuen Gattung, als
ihr ein Poet war, erworben zu haben. Denn ſie
hatte noch nie Deutſche Verſe geſehen, noch weniger
Verſe, deren Gegenſtand ſie ſelbſt war. Dieſe neue
Seltſam-
[155]
Seltſamkeit war hauptſaͤchlich die Urſach, warum ſie
Saͤuglings Verſe ſo allerliebſt fand, obgleich der Ver-
faſſer wirklich glaubte, die Vortreflichkeit ſeiner Verſe
ſey die Urſach davon. Ein ſehr gewoͤhnlicher Jrr-
thum. Denn wenn z. B. unſere Deutſchen Hofleute,
neben ihrer gewoͤhnlichen ſtandesmaͤßigen Franzoͤſi-
ſchen Lektur, zuweilen auch ein Deutſches Buch durch-
blaͤttern, und davon reden, geſchieht es oft bloß des-
halb, weil ſie dadurch am Hofe einen gewiſſen An-
ſtrich von Sonderbarkeit zu erhalten meinen, der ſie
unter den uͤbrigen flachen Hofgeſichtern ein wenig
hervorziehen koͤnnte; indeſſen halten dieß unſere gut-
herzigen Deutſchen Genien doch oft fuͤr einen wirkli-
chen Beyfall, und traͤumen wohl gar, die Zeit ſey
nahe, da ſich der reichſte und wolluͤſtigſte Theil der
Nation, des witzigſten und verſtaͤndigſten nicht mehr
ſchaͤmen wird.


Saͤugling, dem ein Zweifel dieſer Art nicht ein-
fallen konnte, ſchwamm in dem Vergnuͤgen, daß
ſeine Geiſteswerke, von einem ſo ſchoͤnen Fraͤulein
bewundert wuͤrden. Jn dieſer Entzuͤckung kam er
auf den Gedanken, ihr ſeine Sammlung von Ge-
dichten, deren Abdruck eben geendigt werden ſollte,
zuzueignen. Dieß ſetzte ihn ganz in die Gunſt des
Fraͤuleins. Jhren Namen gedruckt zu erblicken, ſich
vor
[156]
vor dem ganzen H. Roͤmiſchen Reiche fuͤr ſchoͤn und
witzig erklaͤrt zu ſehen. (denn Saͤugling hatte in
feiner Zueignungsſchrift die poetiſchen Floskeln nicht
geſpart) war ihr ſo ſchmeichelhaft, daß ihr Saͤug-
ling
ein homme adorable war, und daß ſie bey ſich
Kraft fuͤhlte, ihn wirklich vierzehn Tage nacheinan-
der zu lieben.


Nun waren beide unzertrennlich. Obgleich dieſe
beſtaͤndigen Zuſammenkuͤnfte von beiden Seiten ei-
gentlich nur Eigenliebe und Galanterie zum Grunde
hatten, ſo hielt ſich doch die Frau von Hohenauf,
die beide von Anfang an mit aufmerkſamen Au-
gen betrachtet hatte, und die ſich nicht wenig Ge-
ſchicklichkeit, die Geheimniſſe anderer zu errathen, zu-
traute, ſeſtverſichert, daß Liebe im Spiele waͤre, und
freute ſich insgeheim, daß ihr Anſchlag anfienge, faſt
ohne ihre Bemuͤhung, ſo gut von ſtatten zu gehen.


Als die Frau von Ehrenkolb, nebſt ihrem Fraͤu-
lein, nach einiger Zeit auf die Ruͤckreiſe nach ihrem
Gute dachte, that die Frau von Hohenauf den Vor-
fchlag, daß ihr Neffe nebſt ſeinem Hofmeiſter in
ihrer Geſellſchaft reiſen ſollte, weil der Aufenthalt der
Frau von Ehrenkolb wirklich auf dem Wege nach
Weſtphalen lag, den ſie zu reiſen hatten. Daß dem
Fraͤulein dieſer Vorſchlag angenehm geweſen ſey, iſt
leicht
[157]
leicht zu erachten, und die Mutter war gleichfalls
damit zufrieden, weil Saͤugling auch ihre Gunſt
erlangt hatte, indem er ſich zuweilen zu ihr ſetzte,
mit ihr zu ſchwatzen, und ihre Arbeit lobte, wenn ſie
im Tambour ſtickte.


Uebrigens fand die Frau von Hohenauf noch
nicht fuͤr gut, der Frau von Ehrenkolb ihre Ab-
ſichten zu entdecken. Jhrem Neffen aber ließ ſie,
kurz vor der Abreiſe, ihren Willen vernehmen, der
dazu nicht Nein ſagen durfte, aber auch nicht Ja
ſagte. Denn ein ſchoͤnes Fraͤulein, und das ſeine Ge-
dichte liebte, war zwar eine ſehr verfuͤhreriſche Anlok-
kung, aber das Andenken an ſeine Mariane, ver-
ſtattete es ihm noch nicht, in voͤlligem Ernſte an eine
andere Verbindung zu denken.


Sie reiſeten nunmehr ſaͤmmtlich nach dem Landſitze
der Frau von Ehrenkolb. Hier gieng Saͤuglings
Umgang mit dem Fraͤulein wie vorher fort, bis nach
einigen Tagen die Ankunft eines jungen Oberſten,
den das Fraͤulein an dem Hofe, wo ſie ſich den Win-
ter uͤber aufgehalten hatte, ſchon hatte kennen ler-
nen, den Sachen ein etwas anderes Anſehen gab:
Er war drey und zwanzig Jahr alt, wohlgebildet,
plapperte im Tone der großen Welt, trug eine glaͤnzen-
de Uniform und eine reiche Schulterſchleife, fuhr mit
Lſech-
[158]
ſechſen, hatte einen Laͤufer und vier Lakaien, alles
Dinge, die ihm, bey einem jungen Fraͤulein nach der
Welt, einen großen Vorzug vor dem armen Saͤug-
ling
zuwegebringen mußten, der ihm, außer einer klei-
nen netten geſchniegelten Perſon, einem geringen An-
fange von Weltmanieren, und vielen Gedichten,
nichts entgegen zu ſetzen hatte. Saͤugling ſtellte alſo
von dem Augenblicke an, da der Oberſte erſchien, nur
die zweyte Perſon vor. Gluͤcklicherweiſe ward er die-
ſes nicht einmal gewahr; denn das Fraͤulein ver-
ſtand nicht allein die Kunſt ſehr wohl, ſich mit mehr
als Einem Anbeter zu unterhalten, ſondern der Oberſte,
ein feiner Weltmann, der alle Dinge ſo zu nehmen
wußte, wie ſie waren, wollte auch nicht umſonſt
mit einem ihm ſo neuen Geſchoͤpfe, als ein Deutſcher
Poet war, vierzehn Tage lang in Geſellſchaft ge-
weſen ſeyn. Er hatte ſich, ſchon ſeit einiger Zeit, in
der am Hofe ſo nuͤtzlichen Kunſt geuͤbt, ſich anzuſtel-
len, als ob er jedes Ding verſtehe oder daran An-
theil nehme, was er zu verſtehen oder woran er An-
theil zu nehmen ſcheinen wollte. Dieſe von vielen
Hofleuten fuͤr ein großes politiſches Geheimniß ge-
achtete Kunſt beſteht, im Grunde, bloß in einigen
Geberden und kahlen Gemeinſpruͤchen, die, wie in
manchen Laͤndern geringhaltige Muͤnze, am Hofe
fuͤr
[159]
fuͤr vollguͤltig angenommen werden. Die meiſten
Hofleute machen dieſe Grimaſſe ſo oft, daß ſie ſie
fuͤr etwas wirkliches halten, und ſich einbilden, ſie
verſtaͤnden viel, und naͤhmen an vielen Dingen An-
theil, merken aber nicht, daß ſie oft von denen, die
ſie am meiſten uͤberredet zu haben glauben, durch
und durch geſehen werden.


Dieſe Kunſt nun ſuchte der Oberſte zu uͤben, in-
dem er ſich ſtellte, als ob er von Gedichten entzuͤckt
wuͤrde, an denen ihm eigentlich nichts gelegen war,
und wovon er weder etwas verſtand noch empfand.
Saͤugling, der nicht weit ſahe, ſondern glaubte, daß
man es aufrichtig meinen muͤßte, wenn man ſeine
Gedichte lobte, war ſehr zufrieden. Der Oberſte war
es auch, weil er ſeine Geſchicklichkeit genoß, einen
andern zu uͤberliſten. Das Fraͤulein auch, weil ſie,
anſtatt Eines Anbeters, zwey hatte. Und endlich die
Frau von Ehrenkolb auch, weil ſie glaubte, daß
zwiſchen ihrer Tochter und dem reichen Oberſten eine
Vermaͤhlung geſchloſſen werden koͤnne. Denn daß
Saͤugling, ein buͤrgerlicher Poet, auf ihre Tochter
ſollte Anſpruch machen wollen, kam ihr gar nicht in
den Sinn; und Saͤugling ſelbſt hatte, mit gutem
Herzen, das, was ihm die Frau von Hohenauf dar-
uͤber geſagt hatte, gaͤnzlich vergeſſen; denn ſein gan-
L 2zer
[160]
zer Geiſt war von dem Vergnuͤgen ſeine Gedichte taͤg-
lich vorzuleſen und gelobt zu hoͤren ſo eingenommen,
daß er ſelbſt nur in wenigen Minuten voll Phantaſie
an ſeine ungetreue Mariane denken konnte.


Dritter Abſchnitt.


Die Sachen ſtanden auf dieſe Art in dem Schloſſe
der Frau von Ehrenkolb, als ſie ſich vor-
nahm, ihre Freundinn, die Graͤfinn von *** zu be-
ſuchen, welche einige Meilen von ihr wohnte. Jhre
Tochter hatte ſchon einigemal dieſe Reiſe hintertrie-
ben, weil ihre Geſinnungen mit den Geſinnungen
der Graͤfinn gar nicht uͤbereinſtimmten, und ſie ſich
von dem Aufenthalte bey ihr nicht das geringſte Ver-
gnuͤgen verſprach. Jzt beſtand aber die Mutter
darauf, und die Tochter durfte nicht ferner wider-
ſprechen.


Die ganze Geſellſchaft reiſete alſo fort, und Saͤug-
ling
wiegte ſich mit dem Gedanken, vor der Graͤfinn,
deren guten Geſchmack er ſchon kannte, mit ſeinen
Gedichten zu glaͤnzen, unwiſſend, daß ſeiner ganz
andere Vorfaͤlle warteten.


Die Graͤfinn empfieng ſie bey ihrer Ankunft in
einem offnen Gartenſaale. Der Oberſte fuͤhrte die
Fran
[161]
Frau von Ehrenkolb, Saͤugling das Fraͤulein.
Kaum hatte die Graͤfinn ihre Freundinn umarmen
koͤnnen, als das Fraͤulein, von Saͤuglings Hand,
auf ſie zurauſchte, und ſich mit einem: „Ah ma chere
”Comteſſe, que je ſuis ravie de vous embraſſer, c’eſt
”un million d’années, qu’on ne vous a pas vû‟
in ihre
Arme warf. Jndem dieſes geſchah, erblickte Ma-
riane Saͤuglingen,
und ward feuerroth; Saͤug-
ling
warf zu gleicher Zeit die Augen auf Marianen,
und ſtand mit einemmale, wie eine Salzſaͤule, ſo
daß er auch weder die Graͤfinn noch Marianen
gruͤßte. Die Graͤfinn redete ihn an, er ward blaß
und roth, wollte ſeine Verwirrung verbergen, und
ſahe noch daͤhmiſcher aus. Die Graͤfinn ſtellte ihm
Marianen, als eine vorige Bekanntſchaft vor, er
fieng an zu ſtammeln, und nannte ſie Madame. Die
Graͤfinn lachte, und fragte, ob er ſeine ehemalige
Freundinn nicht kenne. Saͤugling ſtotterte aber-
mals, — und beſann ſich zu ſpaͤt, zu ſagen, daß er
ſich im Geſichte geirret haͤtte, wußte aber noch nicht,
welche Miene er annehmen ſollte.


Nachdem er ſich von ſeiner erſten Beſtuͤrzung ein
wenig erholt hatte, ſah er wohl ein, daß er von ſei-
ner Tante ſey hintergangen worden, und konnte auch
die Abſicht ihrer Liſt leicht errathen. Nun ent-
L 3brannte
[162]
brannte ſeine Liebe zu Marianen wieder viel ſtaͤr-
ker als zuvor. Er hieng wieder an ihren Augen, ſeine
Gedichte waren wieder an ſie gerichtet, er ſchrieb ihr
oͤfters Briefe, indem er ſehr ſelten ſo gluͤcklich war,
ſich mit ihr unter vier Augen zu unterreden.


Mariane hingegen war gegen ihn ungemein zu-
ruͤckhaltend. Sie hatte der Graͤfinn, mit der ſie
ſonſt auf einen ſehr vertraulichen Fuß lebte, nichts
von ihrer Neigung zu Saͤuglingen, noch weniger
von den Verdrießlichkeiten, die ſie deshalb erfahren
hatte, entdeckt; ſie wollte ſich alſo nunmehr auch
keinem Verdachte ausſetzen. Dieß war die Urſach,
die ſie ſich ſelbſt angab; ſie hatte aber noch eine an-
dere und geheimere. Sie bemerkte nehmlich, daß
Saͤugling nicht wenig veraͤndert war, und daß er da-
durch nicht wenig gewonnen hatte. Er war ſonſt
aͤngſtlich beſcheiden, weil er glaubte, daß dem Frauen-
zimmer das Sanfte gefiele; er hatte einer rauſchen-
den Hofſchoͤnheit gefallen wollen, und war lebhafter
und ungezwungner geworden. Mariane war ſcharf-
ſichtig genug, dieſe Veraͤnderung der rechten Urſach
zuzuſchreiben, zumal da ſie gewiſſe Achtſamkei-
ten
bemerkte, die Saͤugling fortfahren mußte ge-
gen das Fraͤulein zu bezeugen, und da ſie, ſonderlich
im Anfange, des Fraͤuleins Augen oft auf Saͤug-
lings
[163]
lings Augen gerichtet fand. Dieß, nebſt der ge-
druckten Zueignungsſchrift, die ihr nicht verborgen
bleiben konnte, ſchien ſie von einer naͤhern Verbin-
dung zwiſchen Saͤuglingen und dem Fraͤulein zu
uͤberzeugen, und erregte bey ihr eine kleine Eiferſucht,
welche zu verbergen, das Frauenzimmer gemeiniglich
eine kalte Zuruͤckhaltung am dienlichſten haͤlt, und ſie
dadurch gemeiniglich am erſten verraͤth.


Auf der andern Seite, war Mariane auch dem
Oberſten in die Augen gefallen. Da er in ſeinem
Herzen gar wohl fuͤr mehr als Eine Liebe Raum
hatte, und er es, nach der hohen Meinung, die er
von ſeiner eigenen Perſon hatte, nicht fuͤr moͤglich
hielt, daß ihm ein Frauenzimmer ſollte widerſtehen
koͤnnen, ſo glaubte er, daß Mariane gar wohl ein
fluͤchtiger Gegenſtand ſeiner Neigung werden koͤnne,
und daß er bey ihr ſehr bald ſeinen Zweck erreichen
wuͤrde. Er griff ſie in der zuverſichtlichen Stellung
eines Hofmanns an, wie ein kuͤhner Eroberer eine
Feſtung ſtuͤrmt, ohne ſie aufzufodern oder Laufgraͤ-
ben zu eroͤffnen. Gleichwie aber ein Belagerer, wenn
ihm ein zu fruͤher Sturm abgeſchlagen worden, oft
nicht weiß, welche Miene er gegen den Belagerten an-
nehmen ſoll; ſo war auch der Oberſte, durch die kalte
und veraͤchtliche Art, mit der Mariane ſeine Liebes-
L 4erbie-
[164]
erbietungen ausſchlug, um Deutſch zu reden, ziemlich
aus der Faſſang gebracht, und deshalb, um Un-
deutſch zu reden, nicht wenig intriguirt.


Das Fraͤulein uͤberſah mit Einem Blicke, daß ihr
Mariane ihre beiden Liebhaber raubte, und ſetzte
alle Kraͤfte der Schoͤnheit und der Koketterie in Be-
wegung, um uͤber ſie den Sieg davon zu tragen.


Jndeß daß alle dieſe Perſonen ihre kleinen Ent-
wuͤrfe machten, dachte Rambold, Saͤuglings
Hofmeiſter, einen Meiſterſtreich auszufuͤhren. Ram-
bold
war ein ſchwarzhaͤriger, rothbaͤckiger, wohl-
bewadeter Magiſter, der auf Univerſitaͤten zwar ſehr
locker gelebt, aber doch auch, mit Huͤlfe eines offnen
Kopfes, ſo viel von den Wiſſenſchaften erſchnappt
hatte, daß er ziemlich fertig davon plaudern konnte.
Er hielt ſich ſelbſt fuͤr ſehr gelehrt, weil er, mit der
Selbſtgenuͤgſamkeit eines Gecken, der von allem hat
reden hoͤren, und uͤber nichts nachgedacht hat, uͤber
alles entſcheiden konnte. Sein Eigenduͤnkel trieb
ihn, jedermann zu hohnnecken, auch der kluͤger war,
als er, und zu widerſprechen, ehe er noch wußte, was
er ſagen wollte. War jemand einer Meinung, ſo
war dieß fuͤr ihn genug, das Gegentheil zu behaupten,
und er glaubte, er zeige ſeinen Witz, wenn er den
andern niederſchreyen, und ſeinen Scharfſinn, wenn
er
[165]
er ſeinen Satz, ſo ungereimt er auch war, durchſet-
zen konnte. Ob er wahr oder falſch ſey, war ihm
einerley; denn es war in ſeiner Philoſophie ein aus-
gemachter Satz, daß Wahrheit, ſowohl als Schoͤn-
heit und Tugend, nur relative Begriffe waͤren. Ein
Satz, den er nicht nur glaubte, ſondern auch im ge-
meinen Leben fleißig anwendete; daher er in Anwen-
dung der Mittel, ſeine Zwecke zu erlangen, eben
nicht delikat war.


Dieſer feine Mann hatte auf Marianen ein
Auge geworfen, und gieng damit um, ſie zu heura-
then, wovon er ihr doch nicht ein Wort ſagte, weil
er, durch einen Umweg, ſeinen Zweck beſſer zu er-
reichen meinte. Er war von den Abſichten, welche
die Frau von Hohenauf mit ihrem Neffen hatte,
ſehr wohl unterrichtet. Sie hatte ihm ſogar eine ein-
traͤgliche Pfarre, die auf ihren Guͤtern naͤchſtens of-
fen werden mußte, verſprochen, wenn er etwas dazu
beytragen wuͤrde, daß Saͤugling das Fraͤulein von
Ehrenkolb heurathete. Daher glaubte er zwey
Schlaͤge mit Einem Streiche zu thun; wenn er der
Frau von Hohenauf von Saͤuglings und Maria-
nens
Zuſammenkunft Nachricht gaͤbe, und die Fol-
gen derſelben zu verhindern ſuchte.


L 5Er
[166]

Er ſchrieb ihr alſo, daß ſie Marianen, die ſie, aus
weiſen Abſichten, von ihrem Schloſſe entlernt haͤtte,
auch hier wegſchaffen muͤßte, weil ihr Neffe, ſo lange
er ihren Auffenthalt wuͤßte, auch nach ſeiner Abreiſe,
nicht von ihr ablaſſen wuͤrde. Sein unmaßgeblicher
Vorſchlag war, ſie ſolle insgeheim einen Wagen mit
drey ſtarken Kerlen ſenden, und er nahm es auf ſich,
Marianen, ohne großes Aufſehen, in derſelben
Haͤnde zu liefern. Zuletzt gab er zu verſtehen, daß
wenn nur erſt die bewußte Pfarre vakant waͤre, ſich
auch ein auſtaͤndiger Ehemann fuͤr Marianen fin-
den wuͤrde, wodurch Saͤuglings unbedachtſamer
Liebe und ihrer Furcht auf einmal wuͤrde ein Ende
gemacht werden.


Er ſchmeichelte ſich, es ſo einzurichten, daß Ma-
riane
es nicht merken koͤnne, daß er an der Entfuͤh-
rung Theil habe, und nahm ſich vor, ſobald er nur
ſeinen jungen Herrn nach Hauſe gebracht haͤtte, zu-
ruͤckzukehren, und aus den Haͤnden der Frau von
Hohenauf eine reiche Pfarre und eine ſchoͤne Frau
zu erhalten; denn daß ſich Mariane weigern koͤnnte
ſeine Hand anzunehmen, ſchien ihm gar nicht wahr-
ſcheinlich.


Vier-
[167]

Vierter Abſchnitt.


Nachdem Rambold auf dieſe Art ſeinen Plan ſo
ſimpel als kuͤnſtlich angelegt hatte, erwartete er
ruhig den erwuͤnſchten Erfolg, den er als unausbleib-
lich anſahe, ſehr zufrieden mit ſeiner ſchlauen Erfin-
dung. Hingegen die uͤbrigen Perſonen wurden,
durch die Lage, in der ſie waren, unvermerkt immer un-
ruhiger, unzufriedner und unwilliger gegen einander.


Marianen mißfiel es, daß ihr der Oberſte beſtaͤn-
dig nachfolgte, und fortfuhr, ſie mit vieler Drei-
ſtigkeit ſeiner Liebe zu verſichern, ob er gleich ſehr
trocken und froſtig abgewieſen wurde. Nicht weni-
ger unzufrieden war ſie mit Saͤuglingen, den ſie
im Verdacht hatte, daß er das Fraͤulein heimlich
liebte, und weder ſeine Brieſchen, darauf ſie nie ant-
wortete, noch ſeine Verschen, von denen ſie arg-
wohnte, daß ſie mehr aus der Phantaſie, als aus dem
Herzen herruͤhrten, konnten ſie zufrieden ſtellen.


Das Fraͤulein war aͤußerſt daruͤber erbittert, daß
alle ihre Verſuche, ihre beiden Liebhaber wieder zu ſich
zuruͤck zu bringen, fruchtlos waren. Weil ſie, aus
Politik, ihren Zorn nicht ganz auslaſſen durfte, ſo
blieb ihr nichts, als der armſelige Behelf, die arme
Mariane, bey aller Gelegenheit, das Uebergewicht
fuͤhlen
[168]
fuͤhlen zu laſſen, welches ihr Stand ihr uͤber ſie gab.
Dieß veranlaßte verſchiedene kleine unangenehme
Scenen, die, weil ſie Marianen nur kraͤnkten, ohne
ſie zu demuͤthigen, die uͤble Laune des Fraͤuleins
nicht vermindern konnten.


Der Oberſte war auf das Fraͤulein nicht wenig
verdrießlich, weil ſie ſeiner Liebe gegen Marianen im
Wege ſtand, die er gern mit ſeiner Liebe gegen das
Fraͤulein vereinigt haͤtte, zumal, da er die Verbin-
dung mit der letztern auſtaͤndigerweiſe nicht ganz
und gar aufheben konnte. Saͤuglingen war er herz-
lich gram, weil er ſich einbildete, daß dieſer bey Ma-
rianen
beſſer gelitten waͤre, als er, und mit Maria-
nen
war er auch nicht ſonderlich zufrieden, weil
dieſes kleine Maͤdchen, der er die Ehre einer gelegent-
lichen Eroberung zugedacht hatte, ſich gegen eine Per-
ſon von ſeinen Verdienſten ſo gar kalt und ſproͤde
bezeigte, daß es noch ungewiß ſchien, ob ſie nicht
auch einer foͤrmlichen Belagerung wuͤrde widerſte-
hen wollen.


Saͤugling war auch ungluͤcklich, denn er liebte
Marianen herzlich, daher konnte er ihre Zuruͤckhal-
tung nicht ertragen, die er, weil er ihre Eiferſucht
nicht einſahe, bloß nur einer wirklichen Abneigung
gegen ihn zuzuſchreiben wußte. Sie koſtete ihm viel
Seuf-
[169]
Seufzer und nicht wenig Verſe. Aber eben ſein zwey-
tes Ungluͤck war, daß ſeine Gedichte, durch deren
gute Aufnahme in dieſer Geſellſchaft er bisher
eine ſo ſeltne Gluͤckſeligkeit genoſſen hatte, nun ſehr
zu fallen anfiengen, wovon er die Urſachen nicht ein-
ſehen konnte. Sie waren gleichwohl ſehr natuͤrlich.
Mariane ſchwieg davon gemeiniglich ganz ſtill, weil
ſie ſich fuͤrchtete, ihre geheimen Bewegungen, die ſie
zu verbergen ſuchte, unvermuthet zu verrathen. Das
Fraͤulein hatte immer etwas daran zu tadeln, weil
ihr die Eiferſucht eingab, daß ſie an Marianen ge-
richtet waͤren, oder auf ſie anſpielten; und der Ober-
ſte, der ſich nie im Ernſte um Verſe bekuͤmmert hatte,
fand itzt nicht mehr, wie vormals, Urſach ſich zu
ſtellen, als ob ſie ihm gefielen, vielmehr pflegte er,
in ſeiner itzigen uͤblen Laune, ſich oft geradezu dar-
uͤber aufzuhalten. Zum Ungluͤcke fuͤr Saͤuglingen,
ward er darinnen zuweilen von der Graͤfinn unter-
ſtuͤtzt, deren feiner Geſchmack ſchon laͤngſt in Saͤug-
lings
Liedern eine gewiſſe Einfoͤrmigkeit und Laͤßig-
keit wahrgenommen hatte, wofuͤr ihm ſelbſt der Sinn
fehlte. Da er nun unablaͤßig fortfuhr, taͤglich neue
Gedichte vorzuleſen, ſo nahm ſich die Graͤfinn im
Ernſte vor, dem ſonſt unbeſcholtenen guten Juͤnglinge
dieſe kleine Thorheit abzugewoͤhnen.


Als
[170]

Als einſt die Frau von Ehrenkolb Mittagsruhe
hielt, und die uͤbrige Geſellſchaft im Garten ſpazie-
ren gieng, ergriff die Graͤfinn Saͤuglings Arm,
fuͤhrte ihn in einen Gang beſonders, und nach-
dem ſie das Geſpraͤch auf Lektur gebracht, ſagte ſie
ihm gerade heraus: ‚ Gedichte waͤren nicht die Lek-
”tur, die ſie am meiſten liebte.‛


Saͤugling, nicht wenig beſchaͤmt und beſtuͤrzt, ver-
ſetzte mit ſtammlender Stimme: ‚Ew. Gnaden ſcher-
”zen vielleicht. Es ſchien mir doch ſonſt, als ob Sie
”die ſchoͤnen Wiſſenſchaften liebten.‛


Gr. O ja! ich liebe ſie ungemein. Aber Sie
wiſſen, die ſchoͤnen Wiſſenſchaften haben einen wei-
ten Umfang, und die Dichtkunſt iſt nur ein Theil
davon. Dieſen zu haſſen, bin ich weit entfernt. Jch
liebe vielmehr Gedichte herzlich, wenn ſie ganz vor-
trefflich ſind, ſie wirken mit unbeſchreiblichem Reize
auf mich, ſie bleiben meiner Seele tief eingepraͤgt.
Aber ſie wiſſen, der ganz vortrefflichen Gedichte ſind
nur ſehr wenige. Was die uͤbrigen anbetrifft, ſo ſind
ſie ganz gute Dingerchen, die man wohl einmal
anhoͤren, aber auch entbehren kann; und mich duͤnkt
immer, die Augenbraunen ſind einem leichter, wenn
man ſie entbehrt.


S.
[171]

S. Vielleicht ſprechen dieß Ew. Gnaden ‒ ‒ nicht
ganz ‒ ‒ im Ernſte, ‒ ‒ die Damen pflegen doch
ſonſt, ‒ ‒ wenigſtens glaube ich es ſo gefunden zu ha-
ben, ‒ ‒ unter aller uͤbrigen Lektur ‒ ‒ am meiſten ‒ ‒
Gedichte zu lieben —


Gr. Glauben Sie das nicht mein, lieber Saͤug-
ling;
oft kaum, wenn wir darinn gelobt werden,
finden wir ſie ertraͤglich. Unter uns geſagt, wir ha-
ben oft herzliche lange Weile, wenn man ſie uns vor-
lieſet. Wir gaͤhnen, und trauen uns nicht den Mund
aufzuthun.


S. Ach! ich merke ſchon, hier iſt ein kleines Miß-
verſtaͤndniß, Sie wollen ſagen:


Die großen Verſe, welche man

Auf einem großen Amboß ſchmiedet,

Die lieſt man nicht, man wird ermuͤdet;

Jhr Donner ſtoͤret unſre Ruh.

So großer Lerm wozu? wozu?

Allein die kleinen niedlichen Verſe:


Die kleinen Dingerchen die ſich,

Gefaͤllig zu Gedanken ſchmiegen,

Zwar nicht bis an den Himmel fliegen,

Jedoch auch nicht, dahin verſtiegen

Und dann geſtuͤrzet, jaͤmmerlich

Zerſchmettert auf der Erde liegen:

Die kleinen Dingerchen lieb’ ich!

Sie
[172]
Sie pflegen ſich mit Artigkeit

Jn das Gedaͤchtniß einzuſchleichen,

Darinn zu bleiben, und nicht weit

Den großen Verſen auszuweichen.

Gr. Ach! das iſt meine Meinung gar nicht. Die
kleinen Dingerchen ſind ſo voll kalter Taͤndeleyen.
Meinen Sie denn, daß dem Frauenzimmer das Suͤße
und Taͤndelhafte ſo ſehr gefaͤllt? Wir ſind nun frey-
lich, weil es Jhrem Geſchlechte ſo beliebt, das ſchwaͤ-
chere, aber glauben Sie mir, wir lieben an uns ſelbſt
die Schwaͤche nur, in ſo fern ſie uns ſchoͤn und nied-
lich macht, und ich weiß nicht, obs nicht gar bloße
Eitelkeit bey uns iſt, daß wir nicht wollen, daß die
Mannsperſonen ſchoͤn und niedlich ſeyn ſollen. Wiſ-
ſen Sie wohl, Saͤugling, daß Sie zu ſchoͤn ſind, und
daß ich auf Sie eiferſuͤchtig bin. Wenn Sie mich be-
ruhigen wollen, waſchen Sie ſich nicht mehr mit Eſ-
ſenzen, und laſſen Sie ſich ein wenig von der Sonne
verbrennen. Hoͤren Sie wohl, ſchreiben Sie mir
eine gute derbe Proſe, ſo fuͤr den geſunden Men-
ſchenverſtand, ohne Niedlichkeit. Oder, nehmen
Sie ſich in acht! wenn Sie mich boͤſe machen, ver-
damme ich ſie zum großen Amboß


Jndem die Graͤfinn dieſes ſagte, erblickte ſie das
Fraͤulein und den Oberſten, die aus einer benachbar-
ten Allee auf ſie zukamen.


— ‚Kom-
[173]

‚Kommen Sie,‛ rief ſie, weil ſie den armen
Saͤugling ein wenig quaͤlen wollte: ‚Kommen Sie,
”meine Liebe, helfen Sie mir die kleinen taͤndelnden
”Liederchen gegen den Hrn. von Saͤngling verthei-
”digen. Stellen Sie ſich nur vor, er will ihnen ent-
”ſagen! Wenn wir ihn gehen laſſen, ſo wird er große
”maͤchtige Hexameter ſchmieden wollen, und dann
”iſt er fuͤr uns verloren.‛ —


Das Fraͤulein antwortete mit ſauerſuͤßer Miene:
‚Ach nein! dazu iſt der Hr. von Saͤugling viel zu
”zaͤrtlich! Er wird nur merken, was ich ſchon lange
”gedacht habe, daß die Deutſche Sprache uͤberhaupt
”zu baͤuriſch iſt, um liebliche Jdeen auszudruͤcken.
”Er wird kuͤnftig Franzoͤſiſch ſchreiben, fuͤr die große
”Welt, und nicht fuͤr die unpolirten Deutſchen Buͤr-
”ger. Er liebt ja ohnedieß die Franzoͤſiſche Nation
”vor allen andern.‛ Hiebey blickte ſie Marianen,
die aus einer andern Allee zu ihnen gekommen war,
ſpoͤttiſch uͤber die Achſel an.


Die Graͤfinn verſtand den Stich, wollte ihn aber
nicht verſtehen, fuhr daher im ſcherzenden Tone fort:


‚Nein! Saͤugling, wenn doch einmal das Schick-
”ſal beſchloſſen hat, daß es Jhnen ungluͤcklich gehen
”ſoll, ſo werden Sie lieber ein Original, als ein
”ſolches Mittelding, wie die meiſten Schriftſteller
M”ſind,
[174]
”ſind, die in Deutſchland Franzoͤſiſch ſchreiben: in
”Frankreich fremd, in Deutſchland nicht zu Hauſe.
C’eſt à Paris qu’il faut ecrire! ruft der Franzoſe mit
”vollen Backen, und wenn er von ſeiner Sprache
”redet, mag er immer Recht haben.‛


Unter dieſem Geſpraͤche erreichten ſie eine Laube,
wo ſie ſich niederſetzten, und kurz darauf kam ein Be-
dienter, der Graͤfinn zu melden, daß von der durch-
fahrenden Landkutſche ein wohlgebildetes aber tod-
krankes Frauenzimmer bey dem Prediger ſey abgeſetzt
worden. Die Graͤfinn, bey welcher Handlungen der
Wohlthaͤtigkeit allen Vergnuͤgungen vorgiengen, be-
gab ſich ſogleich dahin, und nahm Marianen mit ſich.


Jn ihrer Abweſenheit nahm das Geſpraͤch eine
nicht ſehr angenehme Wendung. Das Fraͤulein hatte
mit dem Oberſten uͤber ihr beiderſeitiges Mißver-
gnuͤgen kurz vorher eine Erlaͤuterung unter vier
Angen gehabt, die ihre gute Laune eben nicht ver-
mehrt hatte. Sie war von Natur eigenſinnig und
auffahrend, wie ſichs auch fuͤr eine Petitemaitreſſe
gebuͤhrt; nun aber war ſie dadurch, daß man ihren
Reizungen den Sieg ſtreitig machen wollte, aͤußerſt
bitter geworden, und ließ itzt ihren Zorn, durch eine
Menge anzuͤglicher Spoͤttereyen uͤber Saͤuglings un-
veraͤnderliche Ergebenheit gegen Marianen, aus-
brechen.
[175]
brechen. Der Oberſte, der froh war, daß ihre Pfeile
nur auf Saͤuglingen gerichtet waren, hielt ſich außer
dem Schuß, und ſagte bloß etwa hie und da ein
Wort. Saͤngling aber bekam Muth von ſeiner
Liebe, und da er ſich ohnedieß vorgenommen hatte,
mit dem Fraͤulein, das er nie geliebt hatte, ganz zu
brechen, ſo vertheidigre er ſich nachdruͤcklich, obgleich an-
ſtaͤndig; ja ſein offnes Herz floß von Marianens
Lobe uͤber, von dem es immer voll war Das Fraͤu-
lein verlor daruͤber alle Geduld und Faſſung, und
ruͤckte auf dem Stuhle hin und her, aus Verdruß
ſtillſchweigend.


Gerade zu dieſer Zeit kam Mariane zuruͤck, ohne
etwas von dieſem Geſpraͤche zu wiſſen. Sie erzaͤhlte,
indem ſie ſich die Augen trocknete: ‚Das ungluͤckliche
”Frauenzimmer iſt hoͤchſt zu betauern. Sie iſt eine
”Perſon buͤrgerliches Standes von guter Herkunft.
”Sie hat einen Lieutenant aus Liebe geheurathet, der,
”kurz vor dem Frieden, in einem Scharmuͤtzel toͤdtlich
”verwundet worden. Er hat zwar, wegen ſeines
”Wohlverhaltens, eine Compagnie erhalten, das Re-
”giment iſt aber auch, nach erfolgtem Frieden, ab-
”gedankt worden. Sie hat in ſeinem langwierigen
”Krankenlager, was ſie gehabt, zu ſeiner Heilung
”verwendet. Er iſt endlich geſtorben. Sie hat zu
M 2”weit-
[176]
”weit entfernten Verwandten ihre Zuflucht nehmen
”wollen. Von Gram und Nachtwachen entkraͤftet,
”iſt ſie unterweges ſo krank geworden, daß ſie, ohne
”Lebensgefahr, nicht weiter reiſen konnte. Die Graͤ-
”finn, die den Beweis ihrer Ausſage in einigen
”Briefſchaften, die ſie bey ſich gehabt, gefunden hat,
”iſt ſehr geruͤhrt. Sie hat mich vorausgeſchickt, um
”einen Wagen anſpannen zu laſſen, und einen Reit-
”knecht nach der Stadt zu ſenden, einen Arzt zu ho-
”len. Sie laͤßt ſich bey der Geſellſchaft, ihres lan-
”gen Außenbleibens wegen, entſchuldigen. Sie will
”die Kranke ſelbſt nach dem Schloſſe begleiten.‛


Saͤuglingen trat eine mitleidige Thraͤne ins Auge,
der Oberſte aber drehte ſich auf einem Abſatze herum,
und das Fraͤulein, deſſen innerer Unmuth aufs hoͤch-
ſte geſtiegen war, fuhr hart heraus: ‚Die Graͤfinn
”beweiſet in der That eine uͤbertriebene Guͤtigkeit,
”daß ſie alles Geſindel bey ſich aufnimmt. Eine
”Perſon von der Landſtraße! — Am Ende gehts Per-
”ſonen ſo, die ſich uͤber ihren Stand erheben wollen.
”Wer weiß, wo ſie Kammermaͤdchen oder Geſell-
”ſchaftsjungfer geweſen iſt. — Es iſt Zeit, daß wir
”abreiſen, denn die Geſellſchaft‛, — — Hier nahm
ſie eine Priſe zur Contenanz, ließ ihre Doſe fal-
len, und rief Marianen:


‚Mein
[177]

‚Mein Kind! nehme Sie mir doch die Doſe
”auf!‛ —


Mariane, uͤber die ganze Scene erſtaunt, ſtand
ſprachlos da; denn ſo weit hatte das Fraͤulein die Un-
hoͤflichkeit noch nicht getrieben. Saͤugling ſprang
auf, und uͤberreichte dem Fraͤulein die Doſe.


‚Laſſen Sie,‛ rief ſie, ‚laſſen Sie, Herr von
Saͤugling, Mariane wird ſie ſchon …


Saͤugling nahm allen ſeinen Ernſt zuſammen,
und verſetzte: ‚Verzeihen Sie, gnaͤdiges Fraͤulein,
”Jhnen aufzuwarten, halte ich nur fuͤr meine Schul-
”digkeit‛


Das Fraͤulein maß ihn mit den Augen von oben
bis unten, und ſchlug ein bitteres Gelaͤchter auf.


Mariane, welche empfand, daß die Demuͤthigung,
wodurch ſie bis zu einer gemeinen Dienſtmagd herun-
ter geſetzt werden ſollte, zu den Beleidigungen ge-
hoͤre, fuͤr die man, ſo grob ſie ſind, keine Worte
hat, um ſich daruͤber zu beſchweren, konnte nicht ver-
hindern, daß ſich nicht eine Thraͤne in ihr Auge
draͤngte, und gieng ſtillſchweigend ab, doch nicht ohne
auf Saͤuglingen einen Blick zu werfen, in welchem
er ihr ganzes Herz las.


Der Oberſte, ob er wohl, an ſich, Marianen
gern dieſe Demuͤthigung erſpart haͤtte, war doch wohl
M 3damit
[178]
damit zufrieden, weil er glaubte, daß ſie Saͤuglin-
gen,
den er haßte, weil er ihn von Marianen ge-
liebt glaubte, verdrießen wuͤrde. Um ihn noch mehr
zu kraͤnken, ſpottete er unhoͤflich uͤber Marianen,
nachdem ſie weggegangen war.


Beleidigungen, die ſtufenweiſe ſteigen, koͤnnen den
geruhigſten Menſchen endlich aufbringen, und
wenn er edel denkt, wie Saͤugling wirklich dachte,
ſo wird er die Beleidigung ſeiner Geliebten hoͤher
empfinden, als ſeine eigene.


Saͤugling antwortete alſo dem Oberſten lauter
und entſchloſſener als jemals; der Oberſte fuhr im
hohnneckenden Tone immer weiter fort, bis ihm
Saͤugling ſehr trocken ſagte:


‚Jch kann Jhnen, in Gegenwart des Fraͤuleins,
”hierauf weiter nicht gehoͤrig antworten, aber wir
”wollen uns deshalb beſonders ſprechen.


Der Oberſte lachte ihm in die Zaͤhne, und rief
ſpoͤttiſch: ‚Mein gutes Herrchen, trotz des kleinen
”Federhuts, den es Jhnen zu tragen beliebt, ſind
”Sie nicht von ſolchem Stande, daß ich Jhnen Sa-
”tisfaktion geben werde.‛


‚So! rief Saͤugling, Sie halten mich fuͤr wehr-
”los, und erlauben ſich doch, mich anzugreifen? Jſt
”dieß wie ein Mann von Ehre gedacht? Aber ich bin
”nicht
[][]

[figure]

[179]
”nicht wehrlos. Wenn Sie mir nicht Genugthuung
”geben wollen, werde ich ſie mir nehmen, oder Sie
”muͤßten jede kahle Sticheley doppelt von mir zuruͤck
”bekommen, und es ruhig ertragen wollen.‛


Der Oberſte ward lauter, Saͤugling auch. Das
Fraͤulein ſaß ruhig, und wiegte ſich mit dem Gedan-
ken, auszuſprengen, daß um ihretwillen ein Zwey-
kampf geſchehen waͤre. Die Graͤfinn kam, nach-
dem ſie die Kranke bis in das fuͤr ſie bereitete Zim-
mer begleitet hatte, zuruͤck, forſchte nach der Urſach
des Streits, gab dem Oberſten Unrecht, und verei-
nigte beide um ſo viel leichter, weil der Oberſte eben
kein Liebhaber vom Halsbrechen war, und ſich wirk-
lich eingebildet hatte, der fanfte Saͤugling ſey ein
bloßes Jungferngeſicht, und werde alles, was es
auch ſey, ohne Antwort einſtecken.


Unterdeſſen gieng Mariane im Garten herum, um
ſich zu faſſen, weil ſie die Graͤfinn mit Erzaͤhlung
des ihr unangenehmen Vorfalles nicht kraͤnken wollte,
zumal da ſie glaubte, daß die Ehrenkolbiſche Fami-
lie naͤchſtens abreiſen wuͤrde. Rambold begegnete
ihr, der, voll von ſeinem Projekte, im Garten herum-
irrte. Sie gab ihm den Arm, weil ſie durch ſeine
Unterhaltung ihre Gedanken am geſchwindeſten zu
zerſtrenen hoffte. Rambold ſchwatzte, wie ſchon ge-
M 4dacht,
[180]
dacht, viel von gelehrten Sachen, war voll von Anek-
doten und Journalhiſtoͤrchen, und die gute Ma-
riane,
die einen Anſatz hatte, eine Gelehrte vorzu-
ſtellen, mochte gern von Rambolden dieſe gelehrten
Diskurſe hoͤren, um ſo viel mehr, da aus der Geſell-
ſchaft der Graͤfinn alles, was das Anſehen von Be-
leſenheit hatte, verbannet war.


Rambold hub alſo an, die lange Geſchichte von der Re-
gierung Koͤnigs Joh. Chriſtoph, des Dummen, und
Koͤnigs Joh. Jakob, des Klugen, und von ihren Strei-
ten um die Monarchie, und von ihren Schlachten, und
wie ſie gewonnen, indem ſie verloren, und verloren,
indem ſie gewonnen. Und wie unter vielem Getuͤm-
mel und fruchtloſem Streben nach der Alleinherr-
ſchaft, der Geiſt der Freyheit erwacht ſey unter dem
Volke, und entſtanden ſeyn Demagogen, die Littera-
turbrieffteller,
die laut gerufen, das ganze Volk habe
gleiches Recht ſeine Meinung zu ſagen uͤber alle Vor-
faͤlle; und wie keine Oberherrſchaft ſey geweſen, und
wie jedermann habe gedacht und gethan, was ihm
recht deuchte; und wie man die Demagogen im
Verdacht gehabt habe, daß ſie wollten Koͤnige wer-
den, und Ephoren der Koͤnige; und wie dieſe ſchwa-
chen Koͤpfe nicht daran gedacht, ſondern ihre Han-
thierung getrieben haͤtten, und waͤren gar nicht mehr
gekom-
[181]
gekommen ins Forum; und wie da gar keine Zucht
und Ordnung ſey geweſen unter der Menge. Und
wie ſich da haͤtten weiſe und erlauchte Maͤnner zu-
ſammengethan, und haͤtten feſtgeſetzt, dem Volke
ſey es nuͤtzlich, wenn es beherrſcht wuͤrde. Haͤtten
ausgemacht, daß ſtattliche und ernſthafte Maͤnner
ſollten am Regimente ſeyn, ſollten umthun lange
Feyerkleider, und anfſetzen gruͤne Eichenkraͤnze, ſoll-
ten ſitzen auf breiten Stuͤhlen, und ſollte ihnen je-
dermann tiefe Reverenze machen, und desgleichen
mehr. Haͤtten auch Rathsfahrten augeſetzt und
Gerichtstage, Geſetze gemacht und Strafen feſtge-
ſetzt; und waͤre nunmehr alles richtig; nur, wer
regieren ſolle, wiſſe man noch nicht, daruͤber waͤren
die Herren ſehr uneins; und ſo lange dieſe Uneinig-
keit daure, habe mancher noch Hoffnung in den Rath
zu kommen; und wuͤrden daruͤber heimliche Un-
terhandlungen gepflogen, woran er, Rambold, vie-
len Antheil habe, und, wegen ſeiner weitlaͤuftigen
Verbindung mit vielen Zunftmeiſtern und Aus-
rufern,
noch gewiß glaube, ein anſehnliches Ehren-
amt davon zu tragen.


Alle die Nachrichten hoͤrte Mariane an, bloß weil ſie
ihr ganz neu waren, ob ſie gleich ſonſt an dieſen gelehrten
Reichsangelegenheiten, bey aller ihrer Liebe zur Lek-
M 5tur,
[182]
tur, keinen Theil zu nehmen wußte; ſo wie etwan wun-
derbare Geſchichten von neu entdeckten Voͤlkern im
Suͤdmeere, der Sonderbarkeit wegen, Aufmerkſam-
keit erregen, auch bey denen, die ſonſt nicht Luſt ha-
ben dieſe fremden Voͤlker zu beſuchen, die ſich weder
von den Otahitiſchen Jungforn, voll Suͤßigkeit,
wollen liebkoſen, noch von den Neuſeelaͤndiſchen
Herren,
voll Staͤrke, wollen freſſen laſſen.


Unter dieſem langen Geſpraͤche hatte ſie Ram-
bold
unvermerkt in das an den Garten ſtoßende
Waͤldchen gefuͤhrt, ſie waren in demſelben ſchon eine
ziemliche Strecke weiter gegangen, als ploͤtzlich einige
ſtarke Kerle hinter einem Baume hervorſprangen,
und Marianen ergriffen. Rambold war unbewaff-
net. Er ſuchte zwar von einem Baume einen Knuͤt-
tel abzureißen, er hielt ſich aber ſo lange dabey auf,
daß Mariane gemaͤchlich zu einem naheſtehenden
ſechsſpaͤnnigen Wagen geſchleppt werden konnte, der
ſogleich eiligſt fortfuhr. Rambold lief zwar hinter-
her, und Mariane, die ihn erblickte, ſuchte aus
dem Wagen zu ſpringen, aber ſie ward feſtgehalten,
und der Wagen kam ihm bald aus dem Geſichte. Er
verweilte noch einige Zeit im Walde, um dem Wa-
gen Zeit zu laſſen, ſich zu entfernen; hernach eilte er
zuruͤck, und verkuͤndigte, außer Athem, und mit er-
ſchrocknem
[183]
ſchrocknem Geſichte, Marianens Entfuͤhrung. Die
ganze Geſellſchat erſtaunte. Saͤugling, deſſen
Nerven durch den Zank mit dem Oberſten ſchon
ziemlich erſchuͤttert waren, bekam eine Anwandlung
von einer Ohnmacht, erholte ſich aber augenblicklich,
und eilte in deu Stall, um ein Pferd ſatteln zu laſ-
ſen, ſo ſehr ihm auch Rambold dieß widerrathen
wollte, der endlich, als Saͤugling auf ſeinem Sinne
blieb, ſelbſt mit ihm Marianen nachritt. Der
Oberſte wollte ein gleiches thun, aber das Fraͤnlein
verlangte ſeinen Arm und ſeine Geſellſchaft, fuͤhrte
ihn in den großen Saal, und zwang ihn, Piket zu
ſpielen.


Fuͤnfter Abſchnitt.


Saͤugling kam den folgenden Tag, ermuͤdet und
troſtlos zuruͤck, ohne Marianen gefunden zu
haben, welches ſehr natuͤrlich zugieng, weil Ram-
bold
gar nicht fuͤr gut fand, ihn auf den
Weg zu fuͤhren, den der Wagen genommen hatte.
Er fand einen Brief von ſeiner Tante, die nunmehr,
da Mariane aus dem Wege geſchafft war, weiter
keine Zeit verliehren wollte, und ihm empfahl, alles
anzuwenden daß ſeine Verbindung mit dem Fraͤu-
lein
[184]
lein zu Stande kaͤme. Dieß war aber, bey ſeinem
itzigen ganz neuen Schmerze uͤber Marianens
Verluſt, eine Sache, daran er gar nicht denken konnte
und wollte Die Frau von Hohenauf ſchrieb zu
gleicher Zeit einen Brief an die Frau von Ehren-
kolb,
worinn ſie derſelben die Abſichten ihres Nef-
fen auf das Fraͤulein ziemlich deutlich zu verſtehen gab.
Aber auch dieſer Brief kam ſehr zur Unzeit. Denn
theils hatte ſich die Frau von Ehrenkolb niemals
vorgeſtellt, daß die Abſichten eines Menſchen, wie
Saͤugling, der nicht von Familie war, ſo hoch
gehen ſollten, daß er an ihre Tochter denken duͤrfte,
theils hatte ſie itzt ein viel nothwendiger Geſchaͤfft im
Sinne. Das Fraͤulein von Ehrenkolb, die zu allen
Launen einer verfehlten Petitemaitreſſe noch allen
Eigenſinn eines verzaͤrtelten Muttertoͤchterchens hinzu-
that, hatte den vorigen Abend dem Oberſten, der
ihrer beſtaͤndigen Eiferſucht ohnedieß uͤberdruͤßig war,
und den Marianens unvermuthete Entfernung noch
verdrießlicher gemacht hatte, ſo uͤbel mitgeſpielt, daß
er ganz kurz mit ihr abbrach, den andern Mor-
gen ſich der Geſellſchaft empfahl, und nach ſeinem
Gute zuruͤckreiſete. Das Fraͤulein vermißte in ihm
mir einen Anbeter, deſſen Verluſt ſie zwar in der itzi-
gen Einſamkeit empfand, aber kuͤnftig bald zu erſet-
zen
[185]
zen vermeinte; ihre Mutter aber, welche die Sache,
von Anfange an, viel ernſthaſter angeſehen hatte, be-
fuͤrchtete einen reichen Schwiegerſohn zu verlieren, der
ihre verſchuldeten Guͤter wieder in Stand ſetzen koͤnnte.
Die Mutter hatte alſo mit der Tochter eine lange
Konferenz uͤber dieſe wichtige Sache, und die letzte
ward endlich ſo gruͤndlich uͤberzeugt, welche nuͤtzliche
Sache ein Mann von Range und Reichthum fuͤr
eine Dame ſey, die am Hofe leben will, daß ſie mit
ihrer Mutter uͤbereinkam, den Liebeshandel mit dem
Oberſten von neuem wieder anzuknuͤpfen. Die Frau
von Ehrenkolb antwortete alſo der Frau von Ho-
henauf
in ſehr kalten und in ſehr ſtolzen Ausdruͤk-
ken, und reiſete den folgenden Tag mit ihrer Toch-
ter nach ihrem Gute zuruͤck, wobey Saͤugling kaum
ein maͤßiges Kopfneigen beym Abſchiede erhielt.


Der Graͤfinn war Saͤuglings Liebe gegen Ma-
rianen
unverborgen geblieben. Da ſie mit Marianen
auf einem ſehr vertraulichen Fuße lebte, ſo hatte ſie auch
derſelben Neigungen zu erforſchen geſucht; Mariane
war aber in dieſem Stuͤcke gegen ſie ſo zuruͤckhaltend
geweſen, daß ſie von Marianens Liebe gegen
Saͤuglingen nichts gemerkt hatte. Jtzt aber
glaubte ſie, durch die Entfuͤhrung, ſchnell ein Licht in
dieſer Sache zu erhalten. Sie war ſehr geneigt,
Saͤug-
[186]
Saͤuglingen fuͤr den Urheber dieſer Frevelthat zu hal-
ten, worinn, wie ſie glaubte, Mariane gewilligt haͤtte.
Sie ward in dieſer Vermuthung beſtaͤrkt, da ſie
unter Marianens Sachen viele zaͤrtliche Briefe und
Gedichte von Saͤuglings Hand geſchrieben fand,
nebſt verſchiedenen Entwuͤrfen zu Briefen von Ma-
rianens
Hand, die zwar nicht waren abgeſendet
worden, aber itzt doch ein unwiderlegliches Zeugniß
wider ſie abzulegen ſchienen. Die Graͤfinn war da-
her wider die arme Mariane aͤußerſt entruͤſtet, und
eben ſo zornig auf Saͤuglingen, der, wie ſie glaubte,
die Gaſtfreyheit ſo ſchaͤndlich beleidigt hatte, der eine
romanhafte Liebe vorgab, und ihr ihre Geſellſchafte-
rinn aus ihrem Schloffe entfuͤhrte, wobey ſie ihm,
trotz ſeines zuͤchtigen Anſtandes, eben nicht die rein-
ſten Abſichten zutraute. Sie ſetzte Rambolden
uͤber die Auffuͤhrung ſeines Zoͤglings zur Rede, der,
um den Verdacht von ſich abzuwaͤlzen, ihr in allen
ihren Vermuthungen Recht gab, Marianen noch
mehr anklagte, und die Geſchichte ihrer Entlaſſung
von der Frau von Hohenauf auf eine ihr ſehr un-
vortheilhafte Art erzaͤhlte. Die Graͤfinn hielt nun
ihre Vermuthung fuͤr vollkommen bewieſen, und
ließ den unſchuldigen Saͤugling ſo viel Unwillen
merken, daß er, ob er gleich die Urſach davon nicht
recht
[187]
recht begriff, dennoch ſich entſchloß, unverzuͤglich ſei-
nen Weg weiter fortzuſetzen; in welchem Vorhaben
er von Rambolden gar ſehr beſtaͤrkt ward, der
nichts mehr wuͤnſchte, als ihn nur erſt zu feinem Va-
ter nach Weſel gebracht zu haben, damit er bald zur
Frau von Hohenauf zuruͤckkehren, und die Fruͤchte
ſeiner Treuloſigkeit einaͤrnten koͤnnte. Sie nahmen
alſo von der Graͤfinn Abſchied, die ſie mit ſehr kalten
Hoͤflichkeitsbezeugungen entließ.


Auf dieſe Art ward die Geſellſchaft ploͤtzlich zer-
trennt, und jeder war, einzeln fuͤr ſich, mißvergnuͤgt,
und ſchmollte; bis auf den boshaften Rambold, der
ſich heimlich freuete, daß ſein Anfchlag ſo gut von
Statten gieng, und bis auf Saͤuglingen, der einen
ſchwachen Troſt darinn fand, daß er, waͤhrend der
Reiſe, einige Stanzen uͤber ſtine Entfernung von
Marianen in ſeine Schreibtafel ſchrieb.


Sechster Abſchnitt.


Mariane war, unterdeſſen dieß vorgieng, mit
ihren Entfuͤhrern einen Tag und eine Nacht
lang fortgefahren, ohne daß ſie von ihnen durch ihre
oͤfteren Fragen haͤtte erfahren koͤnnen, wohin ſie ſollte
gefuͤhrt werden. Sie hatten, ſo viel moͤglich, die
Land-
[188]
Landſtraßen vermieden, und nur, auf abgelegenen
Vorwerkern, Pferde, die ſchon fuͤr ſie beſtellt waren,
gewechſelt, ohne daß Mariane aus dem Wagen ſtei-
gen durfte. Den zweyten Tag mußten ſie nothwen-
dig quer uͤber eine Landſtraße fahren. Mariane er-
blickte auf der Landſtraße einen Poſtwagen. Sie
ſchrie aus dem Wagen. Jhre Begleiter in der Kut-
ſche wollten ſie zwar zuruͤckhalten, und riefen dem
Kutſcher zu, er ſolle eilen, welches auch geſchah; aber
auf Marianens fortdaurendes Geſchrey, fuhr der
Poſtwagen nicht allein geſchwinder, ſondern ein
Mann zu Pferde, der neben dem Poſtwagen ritt,
naͤherte ſich, und holte in kurzem den Wagen ein.
Er ſchrie dem Kutſcher zu, er ſolle ſtill halten, der
ſich aber daran nicht kehrte, und aus der Kutſche ward
eine Piſtole auf ihn gerichtet; indem ſie aber
losgedruͤckt wurde, ſchlug ſie der Reiter mit ſeinem
Hirſchfaͤnger herunter, ſo daß ſie ihn nur am Fuße
verwundete. Jndem dieß geſchah, oͤffnete Mariane
auf der andern Seite den Schlag, und ſprang ohne
Schaden heraus. Der auf dem Bock ſitzende Be-
diente traute ſich nicht, dieſes zu hindern, weil der
Poſtwagen ganz nahe war, von dem vier oder fuͤnf
Reiſende abgeſprungen waren, und zu Huͤlfe eilten;
daher der Kutſcher mit verhaͤngtem Zuͤgel davon jagte.


Maria-
[189]

Mariane fiel im Springen, doch ohne Schaden.
Der eine Reiſende, der, mit einem Spaniſchen Rohre
in der Hand, vorangelaufen war, und den Wagen bey-
nahe erreicht hatte, hob ſie auf. Sie erkannte
ihn ſogleich fuͤr ihren Freund Hieronymus; und
kaum erholte ſie ſich von ihrem erſten Erſtaunen, ſo
erblickte ſie ihren Vater, und lag in ſeinen Armen.
Jndeß daß beide ſich ihrer Freude uͤber die unerwar-
tete Zuſammenkunft uͤberließen, beſichtigten die
uͤbrigen Reiſenden den Verwalter, den die Kugel
nahe am Schienbein geſtreift hatte. Sie hoben ihn
vom Pferde und auf den Poſtwagen, auf den Ma-
riane
gleichfalls ſtieg; das Pferd ward an den Wa-
gen gebunden, und ſo zogen ſie fort, bis in das
naͤchſte nicht weit entlegene Staͤdtchen.


Hier blieben ſie liegen, um ihren Verwundeten
verbinden zu laſſen, deſſen Wunde, nachdem den
andern Tag der Verband abgenommen war, nicht
gefaͤhrlich befunden ward. Sie nahmen ſich alſo vor,
zu der Graͤfinn zuruͤckzukehren, zumal da der Ver-
wundete in der Nachbarſchaft wohnte. Hierony-
mus
miethete dazu einen halb bedeckten dreyſitzigen
Wagen. Jn denſelben ſetzte ſich Mariane und der
Verwundete vorwaͤrts, und Hieronymus mußte den
Ruͤckſitz einnehmen; denn Sebaldus, der durch die
NFreude,
[190]
Frende, ſeine Tochter wiedergefunden zu haben, ganz
verjuͤnget war, ſetzte ſich, alles Zuredens ungeachtet,
auf des Verwalters Pferd, und trabte neben dem
Wagen her. Da ihm dieß in kurzem beſchwerlich
ward, ſo kam er auf den Gedanken voranzureiten,
und in dem Dorfe, wo ſie den Mittag anzuhalten
gedachten, die Mittagsmahlzeit zu beſtellen. Der
Kutſcher bezeichnete es ihm ſehr genau, und verſi-
cherte, daß der Weg nicht zu verſehlen ſey. Sebal-
dus
ſtieß alſo ſein Thier in die Seite, und ſie ver-
loren ihn bald aus den Geſichte.


Als ſie Mittags im Dorſe ankamen, fanden ſie,
daß keine Mittagsmahlzeit beſtellt war, und, was
noch mehr, daß niemand den Sebaldus geſehen
hatte. Mariane und Hieronymus wurden da-
durch nicht wenig beunruhigt. Nachdem ſie ein Paar
Stunden gewartet hatten, ſchickten ſie einige Bauern
auf verſchiedenen Wegen aus, die aber zuruͤck kamen,
ohne etwas von ihm gehoͤrt zu haben; wodurch ihre
Angſt nicht weuig vermehrt ward. Sie warteten
dieſen und den folgenden Tag auf ihn; da er aber
nicht erſchien, ſo reiſeten ſie in großer Bekuͤmmer-
niß weiter, nachdem ſie eine Nachricht fuͤr ihn zu-
ruͤckgelaſſen hatten.


Sie
[191]

Sie kamen in kurzem auf dem Gute der Graͤfinn
an. Mariane begab ſich ſogleich mit Hieronymus
nach dem Schloſſe. Sie hoffte von der Graͤfinn mit
Vergnuͤgen empfangen zu werden; aber dieſe Dame
war, beſonders durch Rambolds tuͤckiſche Einblaſun-
gen, ſo ſehr wider die gute Mariane eingenommen,
daß ſie dieſelbe ſehr kalt bewillkommte. Jn der That
war der aͤußerliche Auſchein ganz wider Marianen.
Auf die Frage der Graͤfinn, wie die Entſuͤhrung ver-
anlaſſet worden, konnte ſie nichts mehr antworten,
als daß ſie von unbekannten Leuten auf einen unbe-
kannten Weg gefuͤhret worden, ohne daß ſie die ge-
ringſte Veranlaſſung dazu gegeben habe. Dieß war
in der That unwahrſcheinlich, und daß Mariane
ſchien die Warheit verhehlen zu wollen, that ihr in
dem Gemuͤthe der Graͤfinn noch mehrern Schaden.
Die Graͤfinn erinnerte ſie, wie vertraulich ſie mit ihr
umgegangen waͤre, und daß ſie ihr doch aus den Vor-
faͤllen bey der Frau von Hohenauf, und aus ihrer
Verbindung mit Saͤuglingen, ein Geheimniß ge-
macht haͤtte. Sie zelgte ihr die gefundenen Brieſe
von Saͤuglingen an ſie, woraus genug erhellte,
wie genau dieſe Verbindung geweſen, Sie erin-
nerte ſie an ihre und ſeine Verlegenheit, bey ſeiner
Ankunft, und an viele andere kleine vorher nicht be-
N 2merkte
[192]
merkte Umſtaͤnde. Sie erzaͤhlte, mit welchem unge-
gewohnten Eifer ſie Saͤugling gegen den Oberſten
vertheidigt habe. Alles dieß zeugte wider Maria-
nens
Ausſage. Sie konnte ſich durch nichts verthei-
digen, als durch ihre Thraͤnen, die oft die Waffen
der Unſchuld, aber eben ſo oft auch der Deckmantel
der Verſtellung ſind; und Hieronymus Vorſtellun-
gen, dem alle vorgefallenen Begebenheiten unbekannt
waren, konnten wenig Gewicht haben.


Die Graͤfinn brach endlich kurz ab. Sie ſagte zu
Marianen: ‚Es iſt in dieſer Sache ein Geheimniß,
”das ich nicht aufzuklaͤren vermag Jch liebe Sie, und
”wuͤnſche daher, daß Sie unſchuldig ſeyn moͤgen.
”Sind Sie es, ſo erinnern Sie ſich doch aufs kuͤnf-
”tige, daß ein Frauenzimmer, das ſich mit einer
”Mannsperſon in ein Liebesverſtaͤndniß, in einen ge-
”heimen Briefwechſel einlaͤßt, und wenn es auch in
”der unſchuldigſten Abſicht waͤre, derſelben einen
”großen Vortheil uͤber ſich einraͤumet, und daß ſie
”Verdacht erregen kann, wo ſie es am wenigſten
”wuͤnſchet. Eine ſolche kleine Jntrigue koͤmmt
”einem jungen Frauenzimmer, ich weiß es wohl, ſo
”romantiſch, ſo empfindſam vor, es duͤnkt ſich ſo
”vom gemeinen Haufen unterſchieden, einer Sappho
”oder Hero ſo aͤhnlich, wenn es an ſeinen Phaon
oder
[193]
”oder Leander denken und ſchreiben kann. Dieſes ro-
”mantiſche Weſen aber, (wozu Sie, meine liebe Ma-
”riane,
einige Anlage haben,) iſt zwar in Buͤchern
”und in Gedichten ſchoͤn und gut; wenn es aber ins ge-
”meine Leben gebracht wird, ſo verurſacht es, daß nie-
”mand ſich in die Lage ſchickt, in die er vom Schickſale ge-
”ſetzt iſt, ſondern eine eigne Welt fuͤr ſich allein haben
”will. Jch wenigſtens bin keine Liebhaberinn davon, und
”ich verlange eine Geſellſchafterinn, die davon ganz
”frey iſt. Die unbekannte Perſon, die ſich fuͤr Sie
”ſo ſtark intereſſirt, wird nicht ſogleich ablaſſen; und
”dieß koͤnnte ſich in eine neue Entfuͤhrung oder in eine
”andere unvermuthete romanhafte Scene endigen.
”Wir koͤnnen alſo nicht auf dem vorigen Fuße zuſam-
”menbleiben. Jndeſſen ſollen Sie nicht verſtoßen
”ſeyn; bleiben Sie in meinem Hauſe, bis Sie auf
”eine anſtaͤndige Art verſorgt werden; und wenn Sie
”ſich uͤber den letztern unerklaͤrlichen Vorfall rechtfer-
”tigen koͤnnen, will ich ſelbſt fuͤr Jhr ferneres Gluͤck
”Sorge tragen.‛


Mariane weinte bitterlich, daß ſie erſt ihren Va-
ter und nun auch ihre Goͤnnerinn verlor, und daß
ihr Schickſal ſie, ohne ihr Verſchulden, in einen Ver-
dacht brachte, den ſie nicht widerlegen konnte, und
der noch dazu, ungluͤcklicherweiſe, wahrſcheinlich war.
N 3Sie
[194]
Sie gleng in ihr Zimmer, und uͤberlegte mit Hiero-
nymus,
was in ihren itzigen Umſtaͤnden zu thun
ſey, oder vielmehr Hieronymus uͤberlegte es allein;
denn die gute Mariane lag halb ſinnlos auf einem
Lehnſtuhle, und zerfloß in Thraͤnen. Hieronymus
ſann auf verſchiedene Vorſchlaͤge, die er wieder ver-
warf. Endlich beſann er ſich auf den Freyherrn von
D ***. Dieſer wuͤrdige Mann hatte eigentlich Wil-
helminens
Heurath mit Sebaldus veranlaſſet*),
und Mariane war ſeine Pathe. Er hatte, als er
noch am Hofe war, den unuͤberlegten Vorſatz ge-
habt, ein ehrlicher Mann zu ſeyn, nie zu ſchmeicheln,
keinen maͤchtigen Boͤſewicht erheben, und keinen recht-
ſchaffenen Mann, in Ungnade, unterdruͤcken zu hel-
fen. Es konnte alſo nicht fehlen, daß er nicht endlich
ein Opfer der Liſt und der Raͤnke der Hofſchranzen
werden mußte, und ſelbſt in Ungnade kam; wenn
man es Ungnade heißen kann, daß ein ehrlicher Mann
der Abhaͤngigkeit entzogen, und ſich ſelbſt, ſeinen Guͤ-
tern, und ſeiuer Familie wiedergegeben wird. Der
Herr von D *** hatte ſeitdem, auf ſeinen Guͤtern im
Hildesheimiſchen, im Schooße ſeiner Familie und als
ein Vater ſeiner Unterthanen gelebt. Er hatte ſich
noch kuͤrzlich nach ſeiner Pathe, der er in ihrer erſten
Jugend
[195]
Jugend ſehr gewogen geweſen war, erkundigt, und
dieß brachte den Hieronymus auf die Gedanken, daß
Mariane bey ihm die ſicherſte Zuflucht finden koͤnnte.


Er uͤberlegte Abends mit ſeinem Reiſegefaͤhrten;
dem Verwalter, wie dieſer Vorſatz am beſten auszu-
fuͤhren ſey. Denn ſeine Geſchaͤffte riefen ihn auf eine
weitere Reiſe, entfernt von ſeiner Vaterſtadt; und
hier wollte er Marianen auch nicht laſſen, weil er
wirklich das Geheimniß der Entfuͤhrung nicht ergruͤn-
den konnte, und noch mehrere Folgen davon befuͤrch-
tete. Der Verwalter, dem Marianens Unfall ſohe
zu Herzen zu gehen ſchien, beſtaͤrkte ihn in die-
ſen Gedanken; und um ihn zu beruhigen, ſchlug er
vor, daß er Marianen mit ſich nach Hauſe nehmen
wollte, wo ſie ſo lange bey ſeiner Frau bleiben koͤnnte,
bis ſeine Wunde voͤllig geheilt ſey; alsdann wolle er
ſie ſelbſt zum Hrn. von D ***, der ihm ſehr wohl be-
kannt war, bringen, und denſelben auch vorher da-
von benachrichtigen.


Hieronymus billigte dieſen Vorſchlag, und die
Graͤfinn, die Marianen im Grunde herzlich liebte,
und des Hrn. von D *** vortreffliche Eigenſchaften
kannte, war damit auch ſehr wohl zufrieden. Sie
nahm von Marianen den freundſchaftlichſten Ab-
ſchied, gab ihr, mit einer muͤtterlichen Fuͤlle des Her-
N 4zens,
[196]
zens, die weiſeſten Lehren und Erinnerungen, und
beſchenkte ſie mit einer anſehnlichen Summe. Ma-
riane
empfand alles, was ſie an dieſer edlen Dame
verlor, kuͤßte ihr weinend die Haͤnde, umarmte
ihren Freund Hieronymus, und ſo ſtieg ſie mit ſchwe-
rem Herzen in den Wagen, und kam, in kleinen Ta-
gereiſen, in der Wohnung des Verwalters an.


Siebenter Abſchnitt.


Der Verwalter gehoͤrte zu den Leuten, von denen
man zu ſagen pflegt, daß ſie wiſſen, wie es
in der Welt zugeht.
Dieſe Leute glauben bemerkt
zu haben, daß diejenigen in der Welt am weiteſten
kommen, die ſich um den Nutzen anderer viel weni-
ger bekuͤmmern, als um ihren eigenen, die niemand
gutes thun, als den ſie zu brauchen gedenken,
und alſo den huͤlfloſen Ungluͤcklichen, der vor ihren
Fuͤßen niederfaͤllt, liegen laſſen, ohne ihn anzuſehen,
um ſich zu dem zu draͤngen, der ſie ein Paar Schritte
weiter fortziehen kann. Mit dieſen brauchbaren
Grundſaͤtzen war er in der Welt ziemlich fortgekom-
men; denn er war aus dem allerniedrigſten Stande
bis zu Stelle eines Verwalters anſehnlicher adelicher
Guͤter geſtiegen, und verwaltete ſie mit ſo gutem Er-
folge,
[197]
folge, daß er eine Moͤglichkeit vorher ſahe, er werde
in einigen Jahren einen Theil davon kaufen koͤn-
nen. Dabey hielt er freylich Recht und Unrecht fuͤr
dasjenige, womit man entweder etwas vor ſich brin-
gen, oder in Gefaͤngniß und Geldſtrafe gerathen
kann; ſo lange er alſo dieſes nur nicht zu befuͤrchten
hatte, war ſein Augenmerk beſtaͤndig auf jenes ge-
richtet. Die Geſchichte von Marianens Entfuͤhrung,
davon ſie ſelbſt die Veranlaſſung nicht anzugeben
wußte, hatte ihn neugierig gemacht; er hatte alſo,
unterdeſſen daß Mariane und Hieronymus auf
dem Schloſſe geweſen waren, einige Bedienten der
Graͤfinn, die ſich in der Schenke, wo er abgetreten
war, einfanden, uͤber die vorhergehenden Begeben-
heiten und uͤber die Geſellſchaft, die auf den Schloſſe
geweſen war, ausgefragt, und aus allen Umſtaͤnden
den Schluß gezogen, daß der Oberſte, deſſen Nei-
gung zu huͤbſchen Maͤdchen er ſehr wohl kannte, die
Entfuͤhrung koͤnne veranſtaltet haben. Er huͤtete ſich
aber wohl, davon etwas gegen Hieronymus und
Marianen zu erwaͤhnen; denn er glaubte, ſich
durch dieſe Entdeckung fuͤr das Pferd, mit welchem
Sebaldus verloren gegangen war, und fuͤr die
Wunde, die ihm ſeine unbefugte Neugier (denn was
gieng’s ihm eigentlich an, daß jemand auf der Land-
N 5ſtraße
[198]
ſtraße entfuͤhrt wurde?) zugezogen hatte, reichlich be-
zahlt zu machen. Anſtatt alſo Marianens Aufent-
halt dem Freyherrn von D *** zu melden, ſo meldete
er denſelben lieber dem Oberſten, und benennte ihm
zugleich den Preis, um welchen er ſie an einen ihm
beliebigen Ort bringen wollte. Er gieng hiebey des-
halb ſo offenherzig zu Werke, weil er im Laufe der
Welt gefunden hatte, daß ſelbſt vornehmere Leute, als
er, die er, um ſeine Zwecke zu erlangen, zu beſtechen
noͤthig gehabt hatte, wenn es wirklich ihr Ernſt ge-
weſen Wort zu halten, lieber vorher um den Preis
ihrer Protektion gehandelt, als ſich auf eine unge-
wiſſe Freygebigkeit verlaſſen hatten.


Der Oberſte, der ſich das Gluͤck nicht hatte traͤumen
laſſen, Marianen ſobald wieder zu ſehen, noch we-
niger, ſie in ſeiner Gewalt zu haben, gieng alle Be-
dingungen ein. Der Verwalter reiſete alſo mit ihr
fort, unter dem Vorwande, ſie zu dem Hrn. von
D *** zu bringen, und nahm ein Nachtlager auf
einem der Guͤter des Oberſten. Jn der Schenke war
ſchon beſtellt, daß ſie nicht aufgenommen werden
koͤnnten, weil alles ſchon beſetzt waͤre. Der Ver-
walter fuhr alſo nach dem herrſchaftlichen Hauſe, wo
er den Aufſeher zu kennen vorgab. Sie traten ab.
Hier verließ er des Nachts heimlich Marianen, und
den
[199]
den folgenden Morgen bekam ſie unvermuthet den
Oberſten zu ſehen.


Der Oberſte war ein Maͤnnchen, das, wie wir
ſchon bemerkt haben, von ſeiner Perſon eine nicht ge-
ringe Meinung hegte. Er hatte zwey Jahr auf Uni-
verſitaͤten reiten lernen, und Billard geſpielt, hatte ſich,
etwan ein halbes Jahr vor erfolgtem Frieden ein Re-
giment gekauft, mit dem er verſchiedenen Fouragi-
rungen beygewohnt, es bey einigen Ruͤckmaͤrſchen in
der Avantgarde kommandirt, und es darauf wohlbe-
halten in die Winterquartiere gefuͤhrt hatte. Die
folgende Zeit hatte er meiſt am Hofe zugebracht. Aus
dieſem glorreichen Lebenslaufe glaubte er, muͤſſe er-
hellen, daß er ein Mann ſey, gelehrt, tapfer und
voll Weltkenntniß. Er ſuchte alle Dinge zu affekti-
ren, die ihm die Natur verſagt zu haben ſchien.
Unerachtet er in ſeinem ganzen Betragen fluͤchtig
und laͤppiſch war, ſo pflegte er doch gemeiniglich eine
weiſe Miene anzunehmen, und den Zeigefinger an
die Naſe zu legen, wenn er gleich gar nichts tiefſinni-
ges ſagte. Unerachtet er unbeſtaͤndig und veraͤn-
derlich war, und dabey die Bequemlichkeit liebte, ſo
redete er doch beſtaͤndig von der Standhaftigkeit, von
der Anſtrengung und Anſpannung der Kraͤfte, und
von feſten Vorſaͤtzen, die man unverruͤckt ausfuͤhren
muͤßte.
[200]
muͤßte. Ob er gleich, durch fruͤhzeitige Ausſchweifun-
gen, faſt zu allen Wolluͤſten untuͤchtig war, ſo war
doch Genuß immer ſein drittes Wort. Nach die-
ſer Beſchreibung ſollte man kaum glauben, daß ein
ſolcher feyerlicher Haſenfuß in der menſchlichen Geſell-
ſchaft nur habe ertraͤglich ſeyn koͤnnen, wenn man
nicht taͤglich ſaͤhe, daß eine vornehme Geburt, eine
Englaͤndiſche Kutſche mit einem Zuge von ſechſen, und
ein ziemlich leidliches Angeſicht, eben ſo große und
groͤſſere Thoren zu liebenswuͤrdigen Kerlchen macht.


Unſer Mann hegte uͤbrigens den erſprießlichen
Grundſatz, daß man in allen Vorfaͤllen um ſein ſelbſt
willen handeln muͤſſe, und daß daher derjenige, der
Kraft habe, denjenigen, der ſchwaͤcher ſey, ohne Be-
denken zwingen muͤſſe, ſeinen, als des Staͤrkern, Ab-
ſichten zu folgen. Da nun das weibliche das ſchwaͤ-
chere Geſchlecht iſt, ſo folgerte er ganz natuͤrlich, daß
alle Mannsperſonen ein unwiderſprechliches Recht
haͤtten, alle Frauenzimmer nach eignem Willen zu
behandeln. Zwar gab er zu, daß Stand, Erziehung,
Stolz, Sproͤdigkeit und Eigenſinn, dem Frauen-
zimmer eine gewiſſe Art von zufaͤlliger Staͤrke geben
koͤnne, die man Tugend nenne; aber er meinte auch,
daß, wenn eine Mannsperſon, neben der dieſem Ge-
ſchlechte eigeuthuͤmlichen Kraft, noch genugſamen
Ver-
[201]
Verſtand habe, die ſchwache Seite eines Frauenzim-
mers zu finden, er unfehlbar uͤber ſie triumphiren
werde. Da er ſich nun Verſtand in hohem Maße
zutrauete, ſo iſt leicht zu erachten, daß er uͤberzeugt
geweſen, kein Frauenzimmer koͤnne ihm widerſtehen.


Er griff alſo auch ungeſaͤumt Marianen an. Jhre
bisherige Zuruͤckhaltung hielt er fuͤr Stolz. Wenn
er dieſem ſchmeichelte, glaubte er, waͤre das meiſte
geſchehen. Er begegnete ihr mit der groͤßten Hoͤflich-
keit und Unterwuͤrfigkeit. Er erſuchte ſie, ſein Haus
als das ihrige anzuſehen, bis der Verwalter zuruͤck-
kaͤme, von dem er vorgab, daß er, wegen eines un-
vermutheten Geſchaͤfftes, eine Reiſe von einigen Mei-
len gethan haͤtte, und verſprach, daß er ſie allen-
falls in ſeiner eignen Kutſche weiter bringen wolle.
Mariane ließ ſich aber in dieſer Falle nicht fangen.
Sie beſtand darauf, unverzuͤglich auf dem erſten dem
beſten Bauerwagen, oder auch zu Fuße, weiter zu ge-
hen. Sie ſagte dieß ſo dreiſt und ernſthaft, daß er
ſeinen Angriff aͤnderte. Seine gluͤhende uͤberſchweng-
liche Liebe wurde vorgebracht; Mariane war die
Goͤttinn, die er anbetete, zu deren Fuͤßen er ſich und ſein
ganzes Vermoͤgen niederlegen wollte. Mariane,
voll edles Unwillens, wuͤrdigte ihn keiner Antwort,
ſon-
[202]
ſondern wollte ſtehendes Fußes weggehen, das aͤußere
Zimmer aber war verſchloſſen. Er ſagte ihr auf die
hoͤflichſte Weiſe, ſie ſolle in allen Dingen uͤber ihn
und ſein Haus zu befehlen haben, den einzigen Punkt
ausgenommen, daß ſie ſich nicht wegbegeben muͤſſe.
Mariane fragte voll Unwillen, wer das Recht habe,
ſie aufzuhalten? Er wendete wieder ſeine Liebe vor;
er bat, er beſchwur ſie, er verſicherte auf den Knien,
ſie habe von ihm nichts unanſtaͤndiges zu beſorgen;
ſelbſt ihrer Geſellſchaft, ſo angenehm ſie ihm ſey,
wolle er ſich entziehen, wenn er ihr beſchwerlich fiele.
Mariane warf ſich in einen Stuhl und weinte; er
fuhr fort zu bitten und zu verſprechen; und ſie mußte
der Gewalt nachgeben, und wider ihren Willen da
bleiben.


Sie begab ſich in ein ihr angewieſenes Zimmer Sle
unterſuchte ſorgfaͤltig, ob irgendwo ein verdeckter Ein-
gang ſeyn koͤnne; aber es war alles ſicher. Sie fruͤh-
ſtuͤckte allein. Sie gieng nachher in den Garten. Sie
bemerkte wohl, daß ſie von verſchiedenen Perſonen
von fern beobachtet ward, und daß ſie nicht werde
entfliehen koͤnnen; aber der Oberſte ließ ſich nicht ſe-
hen. Es giengen einige Tage hin, in denen ſie alles
empfand, was ihr itziger Zuſtand ſchreckliches, und
die
[203]
die Ausſicht ins kuͤnftige beunruhigendes hatte. Der
Oberſte, der ſeinen Anſchlag nie aus dem Sinne ließ,
fand ſich unvermuthet auf ihren Spaziergaͤngen, wo
ihm nicht auszuweichen war. Er begegnete ihr mit
der groͤßten Ehrfurcht. Sie konnte ihm zuletzt nicht
abſchlagen, zuweilen bey Tiſche, oder bey einem km-
zen Spaziergange, in ſelner Geſellſchaft zu ſeyn. Er
fuhr fort zu betheuren, daß er ſie auf das innigſte
liebe, und daß er ihre Gegenliebe nicht zu erzwingen,
ſondern zu verdienen ſuchen wolle. Mariane fuhr
fort, ihm aufs entſchloſſenſte zu verſichern, daß er
ihre Gegenliebe auf keine Weiſe erhalten werde, daß
er ſie alſo nicht ferner quaͤlen, ſondern ſie wegreiſen
laſſen moͤchte; und ſie ſelbſt ſann beſtaͤndig auf ein
Mittel, ſich aus dieſer unangenehmen Lage zu ziehen.


Der Oberſte, der ſich einen ſo ſtarken Widerſtand
nicht vermuthet hatte, ward dadurch noch mehr er-
hitzt, und fieng an auf andere Plane zu ſinnen, um
ſeinem Zwecke naͤher zu kommen. Er wiederholte
ſich in Gedanken alle die ſinnreichen Mittel, die von
entflammten Liebhabern gebraucht worden, um bey
ihren widerſpenſtigen Gebieterinnen zu ihrem Zwecke
zu gelangen: z. B. die Ehe zu verſprechen, und ſein
Wort nicht zu halten; die Ehe zu verſprechen, und
ſich
[204]
ſich durch einen verkleideten Kammerdiener trauen zu
laſſen; ſeiner Geliebten einen Schlaftrunk zu geben,
und ſich in ihr Schlafzimmer zu ſchleichen; im Fuß-
boden ihres Zimmers eine Fallthuͤre machen zu laſſen,
oder durch einen Kamin hineinzuſteigen u. ſ. w. Weil
ihm dieſe aber ſaͤmmtlich nicht gefielen, nahm er ſeine
Zuflucht zur Leſung der Geſchichte der Klariſſa Har-
lowe,
um ſeine Einbildungskraft durch den Charak-
ter des Lovelace anzufeuern, einen Charakter, den
er beſtaͤndig aͤußerſt bewundert hatte, und nicht ohne
Urſach, da ihm ſelbſt Leibeskraͤfte und Geiſteskraͤfte
zum Guten und zum Boͤſen fehlten, um ein Love-
lace
zu ſeyn. Bey dieſer Lektur fiel ihm auf, daß
er das, was Lovelacen der Zufall gewaͤhrte,*)
durch ausdruͤckliche Anſtalt erlangen koͤnnte. Er ließ
wirklich eines Morgens, kurz vor Anbruch des Tages,
in Marianens Vorzimmer ein Paar Vorhaͤnge und
ein Paar Bunde Stroh anzuͤnden, und pochte nach-
her mit großem Getoͤſe an ihr Zimmer, um ſie aufzu-
wecken. Er glaubte gewiß, ſie in der allerleichteſten
Nachtkleidung zu treffen. Er irrte ſich aber; denn
Mariane, die von Anfang an ſehr mißtrauiſch gewe-
ſen war, hatte, ohne ſich auszuziehen, in ihren ge-
woͤhn-
[205]
woͤhnlichen Kleidern geſchlummert. Sie oͤffnete die
Thuͤr, voll Entſetzen, und da ſie Rauch und Flam-
men zu Thuͤr und Fenſtern hereinſchlagen ſahe, er-
griff ſie nur ihre Taſche und Uhr, und folgte dem
Oberſten, der ſeine Beute, durch Dampf und Fun-
ken, in den Garten bis zu einem abgelegenen Gar-
tenhauſe ſchleppte, wo ſich Mariane athemlos
niederſetzte. Der Oberſte wollte ihre erſte Beſtuͤr-
zung nuͤtzen, fiel ihr zu Fuͤßen, wiederholte ſeine
Liebeserklaͤrung feuriger als jemals, und ward in
kurzem ſo unbeſcheiden, daß ihn Mariane mit bei-
den Haͤnden ſo heftig von ſich ſtieß, daß das Maͤnn-
chen, welches, wie ſchon bemerkt, zwar in Worten,
aber nicht an Kraͤften ein Herkules war, ruͤcklings
zu Boden fiel. Ehe er noch, vom Falle betaͤubt,
aufſtehen konnte, ſprang Mariane in den Garten.
Dieſer war von dem daran ſtoßenden weitlaͤufigen
Park, durch eine hohe gruͤne Hecke geſondert, die
an einer einzigen verdorrten Stelle niedriger war.
Dieſe Stelle hatte ſich Mariane bey ihren Spa-
ziergaͤngen ſchon laͤngſt genau bemerkt. Sie ſchaffte
Oſich
[206]
ſich da, durch die duͤrren zerbrechlichen Straͤuche,
leicht einen Weg in den Park, und da ſie ſchnell
das Ende deſſelben erreicht hatte, ſo lief ſie gerade
aus ins Feld, ohne ſich umzuſehen.


Ende des fuͤnften Buchs.



Sechs-
[207]

Sechstes Buch.


Erſter Abſchnitt.


Es iſt Zeit, daß wir zum Sebaldus zuruͤckkehren,
den wir auf dem Pferde des Verwalters ver-
laſſen haben, auf dem er voranritt, um in dem naͤch-
ſten Dorfe, fuͤr die nachkommende Geſellſchaft, eine
Mittagsmahlzeit zu beſtellen. Der Fuhrmann hatte
ihn verſichert, daß der Weg nicht zu verfehlen ſey.
Dieß war auch vielleicht einem Fuhrmanne nicht moͤg-
lich, aber wohl einem Manne, wie Sebaldus, der
ſelten ganz genau auf die Dinge Achtung gab, die
um ihn waren, am wenigſten auf das Gleis einer
Landſtraße. Er war kaum einige hundert Schritte
fortgeritten, als er anfieng, ſich in eine Betrachtung
uͤber die zweyte Poſaune in der Apokalypſe zu vertie-
fen; dahingegen ſein Pferd, welches fuͤhlte, daß der
O 2Zuͤgel
[208]
Zuͤgel an der Maͤhne hinabhieng, ſich kurz darauf an
einen vier Schritt vom Wege ſtehenden Heuſchober
machte. Sebaldus merkte, nach einigen Minuten,
daß das Pferd ſtille ſtand, und ſpornte es an, ohne
es zu lenken. Es trabte daher gerade fort, uͤber Wie-
ſen und Brachfelder, bis es wieder auf einen Weg
kam. Nachdem Pferd und Mann auf demſelben ein
Paar Stunden fortgeeilt hatten, wunderte ſich Se-
baldus,
daß er noch kein Dorf vor ſich ſahe; doch
ließ er ſichs gar nicht traͤumen, daß er den rechten
Weg koͤnnte verfehlt haben. Nach einiger Zeit er-
blickte er ein Dorf. Er zweifelte gar nicht, daß es
das rechte waͤre; ritt vor den Krug, ſtieg vom Pferde,
und uͤbergab es einem vor dem Hauſe ſtehenden
Knechte, der es ſeitwaͤrts nach dem Stalle zu, fuͤhrte.
Er ſelbſt gieng ſogleich ins Haus, beſtellte die Mit-
tagsmahlzeit fuͤr vier Perſonen, und ſetzte ſich in die
Gaſtſtube, um ſich auszuruhen. Nachdem er ſo eine
Weile unter einem Geraͤuſche von vielen Menſchen
geſeſſen hatte, ſtand er auf, um ſeiner Geſellſchaft
entgegen zu gehen, weil er aus der Laͤnge der ver-
floßnen Zeit ſchloß, daß ſie ſchon dicht vor dem Dorfe
ſeyn muͤßte. Er wanderte fort, das Gemuͤth voll von
dem doppelten Vergnuͤgen, ſeine Tochter bald wieder
zu ſehen, und eine neue Erklaͤrung der zweyten Po-
ſaune
[209]
ſaune erfunden zu haben. Er hieng ſonderlich dieſem
letztern Vergnuͤgen ſo ſtark nach, daß er, nach ge-
raumer Zeit, aus untrieglichen Kennzeichen merkte,
er ſey auf einem ganz andern Wege, als auf dem er
gekommen war; denn er befand ſich dicht vor einem
andern Dorfe, und merkte, aus der Hoͤhe der Sonne,
es ſey wirklich Mittag. Er eilte alſo zuruͤck, und fand,
zu ſeinem großen Erſtaunen, daß die Geſellſchaft noch
nicht angekommen war. Er befuͤrchtete, ihr moͤchte ein
Ungluͤck begegnet ſeyn, er foderte ſein Pferd, um ihr ent-
gegen zu reiten. Aber wie erſtaunte er, da niemand
von ſeinem Pferde etwas wiſſen wollte. Er hatte,
wie es ſcheint, einen fremden Kerl fuͤr einen Knecht
aus dem Hauſe angeſehen, und ihm ſein Pferd ge-
geben, der ſich aber, ſo bald er ſahe, daß Sebaldus
im Hauſe war, darauf geſchwungen und es fortgerit-
ten hatte. Er war alſo um ſeine Geſellſchaft und
um ſein Pferd gekommen, und hatte zum Troſte
nichts, als ſeine apokalyptiſche Entdeckung, und ein
uͤbergahres Mittagseſſen auf vier Perſonen, davon
er ſich, ſo hungrig er war, doch nicht zu eſſen ge-
trauete, weil er immer noch auf die Ankunft ſeiner Ge-
ſellſchaft hoffte. Endlich noͤthigte ihn der Hunger
doch, ſein Antheil davon zu verzehren, und die Wir-
thinn noͤthigte ihn, das ganze zu bezahlen.


O 3Er
[210]

Er wartete dieſen und noch ein Paar folgende
Tage auf ſeine Geſellſchaft, und war in der groͤßten
Verlegenheit, da ſie nicht ankam. Er hatte weder
den Namen des Dorfes, wo er auf ſie warten ſollte,
noch den Namen der Graͤfinn, noch den Namen
ihres Gutes behalten. Er ſahe ſich alſo auf einmal
wieder in die weite Welt verſetzt. Sein einziger Troſt
war, daß er des Hieronymus Empfehlungsbrief
an den Kammerjunker in Holſtein, und noch ſo viel
Geld bey ſich hatte, um dahin zu reiſen. Da er alſo
von der Wirthinn erfuhr, daß die Poſt nach Holſtein
den andern Tag durch das Dorf gienge, ſo ſetzte er
ſich, ohne ferneres Verweilen, darauf.


Er kam in wenigen Tagen, ohne weitern Zufall,
bey dem Kammerjunker an, der ſich auf ſeinen Guͤ-
tern aufhielt. Dieſer hatte, als er am Hofe war,
den Mangel des Verſtandes durch reiche Kleider*)
zu erſetzen geſucht. Nachdem er aber, durch ſeine Heu-
rath mit einer reichen alten Wittwe, in den Stand ge-
ſetzt war, den Hof zu verlaſſen, und ſich auf ſeiner
Frauen Guͤter zu begeben, verdeckte er den oben ge-
dachten noch immer fortdauernden Mangel durch
eine andere Art von Virtu. Er ſchaffte ſich eine Samm-
lung von antiken und modernen Muͤnzen und Gem-
men,
[211]
men, von Kopien und Abguͤſſen alter Statuen und
Basrelieffe, und von allerhand aͤchten und unaͤchten
Griechiſchen und Roͤmiſchen Alterthuͤmern an. Dieſe
Sammlung zu vermehren, zu ordnen, ſeinen Beſu-
chern zu zeigen, und daruͤber zu ſchwatzen, war ſeine
hauptſaͤchlichſte, einer verſtaͤndigen und gelehrten ſo
aͤhnlich ſcheinende Beſchaͤfftigung, daß er ſich oft ſelbſt
einbildete, er habe Verſtand und Gelehrſamkeit. Frey-
lich gieng es ihm mit ſeinem Kabinette zuweilen, wie
ſonſt mit ſeinem Kleiderputze. Bey dieſem mußte oft
Straß anſtatt Juwelen, Pluͤſch ſtatt Sammet,
und ein bunter Lack von Martin, ſtatt Goldes die-
nen. Eben ſo war auch jenes, anſtatt wahrer Al-
terthuͤmer, Muͤnzen und Gemmen, meiſt mit aller-
hand Lumpenzeuge angefuͤllt, welches den groͤßten
Werth davon hatte, daß es zerbrochen, beſchmutzt und
unbrauchbar war. Der kleine Mann war aber in
allen antiquariſchen Kenntniſſen, durch die er haͤtte
einſehen koͤnnen, daß ſeine Alterthuͤmer lange nicht
alt genug waͤren, gluͤcklicherweiſe ſo unwiſſend, daß
ihm ſeine aͤlten Lampen, Urnen, Opferbeile, Schei-
demuͤnzen und Petſchafte, vollkommen eben das Ver-
gnuͤgen machten, was ſie einem aͤchten Alterthums-
kenner wuͤrden gemacht haben, wenn ſie tauſend
Jahre aͤlter geweſen waͤren. Er hatte weiter keine
O 4Kennt-
[212]
Kenntniſſe, als die er aus einigen Kompendien und
Journalen aufraffte, und die ihm diejenigen einpraͤg-
ten, die ihm Muͤnzen und Gemmen verkauften. Er
fand dieſe auch zu ſeinem Zwecke, ſich als eine wich-
tige Perſon zu fuͤhlen, ſo vollkommen hinlaͤnglich,
daß er nicht daran dachte, andere und beſſere zu er-
werben; zumal da er noch dabey die gluͤckliche Gabe
hatte, wenn er gelehrte Leute reden hoͤrte, ſtill zu
ſchweigen, und das, was ſie geſagt hatten, in der
naͤchſten Vierteiſtunde woͤrtlich, als ſeine eignen Ge-
danken, zu wiederholen, welches in vielen Vorfaͤllen
beynahe eben die Dienſte that, als ob er ſelbſt gedacht
und geurtheilt haͤtte.


Der hochwohlgeborne Kenner empfieng den Se-
baldus
mitten in ſeinem Kabinette, wo alle ſeine
Herrlichkeiten zur Schau ausgeſtellt waren, ſitzend
auf einer Sella curulis, nicht zwar von Elfenbein, doch
aber von weiß angeſtrichnem Holze, mit bloßem halb-
geſchornem Haupte, wie ein Roͤmiſcher Konſul, und
in einem Schlafrocke, der nach dem aͤchten Modell einer
Trabea zugeſchnitten war, welches ihm, gegen reich-
liche Bezahlung, von einem gelehrten Profeſſor, war
mitgetheilt worden, der ausdruͤcklich die Schneider-
kunſt gelernt hatte, um den aͤchten Schnitt dieſes Roͤ-
miſchen Feyerkleides endlich einmal herauszubringen;
wel-
[213]
welches ſo vielen grundgelehrten Leuten, die uͤber die
Kleidung der Alten geſchrieben haben, vielleicht bloß
deswegen noch bisher nicht hat gelingen wollen, weil
ſie alle nicht wußten, ob man einen Pelzmantel in
die Laͤnge oder in die Quere des Zeuges zuſchneiden
muß.


Nachdem er des Hieronymus Brief geleſen hatte,
verſicherte er den Sebaldus zwar ſehr ernſthaft ſeiner
Gnade; (denn ſeitdem er reich geworden, ergriff er
gern jede Gelegenheit, wobey er den Maͤcen ſpielen
konnte;) doch bedauerte er es, daß er einen ſo grund-
gelehrten Mann, wie Sebaldus nicht zu ſeinem
Bibliothekar haben koͤnnte, weil dieſe Stelle bereits
durch einen gelehrten Magiſter beſetzt worden, der
ein Schweſterſohn eines Mannes war, der ihm viele
Alterthuͤmer, und noch kuͤrzlich einen raren Kameo,
in aͤchten Ambra, und nicht etwa in Bernſtein ge-
ſchnitten, verkauft habe. Jndeſſen lud er ihn doch
auf den andern Morgen zum Fruͤhſtuͤck ein.


Dieß letztere geſchahe nicht ſowohl des Sebaldus,
als ſein ſelbſt wegen; denn, weil es ſeinen Nachbarn,
die ohne dieß von allen Alterthuͤmern aufs hoͤchſte alte
Pokale und alte Bankothaler liebten, ſchon bekannt
war, daß unſer gelehrter Landjunker diejenigen, die
er einmal in ſein Kabinett bekommen konnte, ſo bald
O 5nicht
[214]
nicht wieder herausließ, ſo konnte er nur ſehr ſelten
jemand finden, der es beſehen wollte.


Der gute Sebaldus, der von aller Kennerſchaft
weit entfernt war, mußte, unter manchem Gaͤhnen
und Raͤuſpern, wirklich uͤber fuͤnf Stunden aushalten.
Zuerſt ward er in einen Saal gefuͤhrt, wo verſchiedene
Abguͤſſe von beruͤhmten antiken Bildſaͤulen aufgeſtellt
waren. ‚Man muß damit, ſagte der Beſitzer, ſchon
”zufrieden ſeyn, weil man die Originale nicht haben
”kann.‛ Er gieng ziemlich geſchwind dabey voruͤber,
doch fuhr er ſeiner Venus von Medicis ſanft uͤber den
Ruͤcken herunter, und fragte den ganz erſtaunten
Sebaldus, ob ihm derſelben Hintertheile auch ſo
wohl gefielen, als dem gelehrten Smollet.*) Ohne
Antwort zu erwarten, wandte er ſich ſchnell zu ſeinen
geliebten originalen Antiken, bey deren Deutung er
ſich weitlaͤufig aufhielt. Da war mehr als eine dick-
baͤuchige Venus, und dickpluͤnſchige Minerva, des-
gleichen verſchiedne Apolle, die wie Schneidergeſellen
ausſahen, breitſchultrige Merkure, und Jupiter mit
ſpitzen Stirnen und aufgeſtutzten Naſen. Von da
kamen ſie in verſchiedene Zimmer voll zerbrochner Ur-
nen, Toͤpfe und Teller, voll roſtiger Degenklingen und
Beile,
[215]
Beile, und einer unzaͤhlichen Menge unbrauchbares
Hausgeraͤthes, woraus mit Verwunderung zu erſe-
hen ſeyn ſollte, daß die Leute vor tauſend Jahren
Meſſer, Schnallen und Schluͤſſel gehabt haͤtten,
beynahe eben ſo, wie wir. Von da traten ſie ins Al-
lerheiligſte, wo die Gemmen und Muͤnzen aufbe-
halten wurden. Mitten im Zimmer ſtand des be-
ruͤhmten Lipperts Sammlung von Abguͤſſen auf
einem zierlichen Geſtelle. Der Kammerjunker machte
ein Paar Schubladen davon nachlaͤßig auf, und
ſagte: ‚Sie ſind ganz artig, aber doch nur Abdruͤcke,
”ich halte auf Originale.‛ Er beſaß wirklich eine
große Menge von plumpen und verzerrten Geſichtern,
ſehr ſtumpf in allerhand Steine geſchnitten, denen er
einen großen Werth beylegte. Er zeigte auch ſeine
Muͤnzen, auf deren vielen er dem Sebaldus den
edlen Roſt bemerken ließ. Sie waren alle unver-
faͤlſcht antik, und zu mehrerer Bequemlichkeit in ſehr
dicke Pappen gefaßt, ſo daß man Seite und Ruͤck-
ſeite, nicht aber die Raͤnder ſehen konnte. Er verſi-
cherte, daß dieſe Einrichtung ſehr niedlich waͤre, und
daß ihm die ganze Sammlung von einem gelehrten
Antiquare, ſo gefaßt, ſey verkauft worden. Was er
aber mehr, als alles zu ſchaͤtzen ſchien, war eine
Sammlung von Belagerungsmuͤnzen und
Noth-
[216]
Nothmuͤnzen. Er hatte in der That viele Stuͤck-
chen geſtempeltes Blech, Zinn und Leder, nebſt Stuͤck-
chen von ſilbernen Tellern mit allerley Figuren. Er
ſagte, mit erhabener Naſe, er beſitze nicht wenig ſolche
Muͤnzen, die ſelbſt der beruͤhmte Klotz in ſeinem ge-
lehrten Werkchen de nummis obſidionalibus nicht ge-
kannt habe, und er hoffe in kurzem ein kapitales
Stuͤck zu erhalten, nehmlich eine Nothmuͤnze, in
einer der Feſtungen geſchlagen, die der beruͤhmte
Oberſte Shandy durch ſeinen Feuerwerksmeiſter
Trim mit ledernen Kanonen beſchießen ließ.


Jndem er ſo mit großem Eifer ſeine Seltenheiten
herausſtrich, erblickte er von ungefaͤhr an des Se-
baldus
Finger deſſen Petſchierring, worinn ein An-
ker gegraben war.*) Ey! rief er aus:


‚Ey! Was fuͤr eine ſchoͤne Antike haben Sie da?


Sebaldus verſicherte ihn, daß der Ring ſehr
modern ſey, und von einem Petſchierſtecher in einer
kleinen Stadt in Thuͤringen ſey gegraben worden.


Der Antiquar verſetzte, mit ſonderbar ſchlauer
Miene:


‚Ja! ja! aber, ob er gleich modern iſt, ſo moͤchte
”ich ihn doch wohl haben. Die Kamern --- von einer
”gewiſſen Farbe, --- von einem edlen Ziegelroth ---
gefal-
[217]
”gefallen mir. Jch will ihn Jhnen abkan-
”fen.‛


Sebaldus antwortete: er habe dieſen Ring bis-
her zum Andenken ſeiner Wilhelmine getragen, wenn
er aber wuͤrdig ſey, in dieſes Kabinett aufgenommen
zu werden, ſo wolle er ihm ſolchen ſchenken. Der
Kammerjunker ließ ſich die Schenkung nochmals mit
einem Handſchlage beſtaͤtigen; und nun konnte er
ſeine verſteckte Freude nicht mehr bergen. Er druͤckte
dem Sebaldus die Hand, zeigte ihm hin und wie-
der ein Puͤnktchen auf dem Steine, verſicherte, mit
ſelbſtzufriedner Miene, er ſey ein Kenner antikern Ar-
beit; der Stein, ſey ungezweifelt, aͤcht antik, und
fuͤr ihn unſchaͤtzbar, weil er eine Ferm von Ankern ab-
bilde, die weder Bayfius noch Amnelius, in ihren
Werken de re nautica veterum angefuͤhrt haͤtten. Nun-
mehr nahm er den Sebaldus, welcher verſtummte,
und ſich nicht getraute, dem gelehrten Kenner zu wider-
ſprechen, im Ernſte in ſeine Protektion, gab ihm ſo-
gleich ein Zimmer in ſeinem Schloſſe ein, und ver-
ſchaffte ihm, in wenig Tagen, die Stelle eines Hof-
meiſters bey dem Sohne eines Pfarrers in einem be-
nachbarten Staͤdtchen.


Sebaldus ſchrieb an ſeinen Freund Hieronymus,
um ihm die Unfaͤlle ſeiner Reiſe, ſeine Ankunft bey
dem
[218]
dem Kammerjunker, und ſeine Befoͤrderung zu mel-
den; bat ihn um Nachrichten von Marianens Auf-
enthalte, und gieng darauf nach ſeinem neuen Po-
ſten, zum Archidiakon Mackligius ab.


Zweyter Abſchnitt.


Der Archidiakon Mackligius hatte weder viel
gute noch viel boͤſe Eigenſchaften. Er hatte
gerade ſo viel ſtudiret, als er zum Predigen und zum
Beichteſitzen fuͤr noͤthig hielt, das heißt, ſehr wenig. Er
hatte, von ſeinen Kandidatenjahren an, einen ſehr
hellklingenden vernehmlichen Tenor gepredigt, wel-
cher der ſaͤmmtlichen erbgeſeſſenen Buͤrgerſchaft ſehr
gefallen hatte; daher war er auch fruͤhzeitig zum Dia-
kon an einer Kirche ſeiner Vaterſtadt erwaͤhlt wor-
den. Mit der Zeit ruͤckte er nicht allein in die Ar-
chidiakonatsſtelle, ſondern ein Edelmann, der die
Pfarre eines nahe an der Stadt gelegenen kleinen
Fleckens zu vergeben hatte, welche gewoͤhnlich das Fi-
lial eines Stadtpredigers war, gab ihm dieſelbe, ne-
ben ſeinem Archidiakonate, zu verwalten.


Mackligius hatte, beym Antritte ſeines Amts, alle
Buͤcher, die man in dieſem Winkel Holſteins fuͤr ſym-
boliſch
[219]
boliſch hielt, unbeſehen beſchworen, und was in der
beſondern Formula committendi dieſes Staͤdtchens von
ihm verlangt wurde, ohne Umſtaͤnde unterſchrieben.
Er war dabey ſehr beruhigt, weil er nunmehr, durch
einen heiligen Eid, der Muͤhe uͤberhoben zu ſeyn
glaubte, uͤber die ſaͤmmtlichen in den ſymboliſchen
Buͤchern enthaltenen Lehren weiter nachzudenken.
Er wußte zwar wohl, daß es noch erlaubt ſey, dieſel-
ben in der Abſicht ferner zu unterſuchen, um mehrere
Beweisgruͤnde dazu aufzufinden; er fand aber weis-
lich fuͤr gut, dieſes zu unterlaſſen, weil er gar nicht
einſehen konnte, wozu noch mehrere Beweisgruͤnde
noͤthig ſeyn ſollten, da alle Geiſtlichen, durch einen
ſchweren Eid, ſie zu lehren verpflichtet waren, und
da man, ſeit mehr als hundert Jahren, in den
Marſchlaͤndern kein Beyſpiel wußte, daß ein Laye
einen Zweifel daruͤber gehabt haͤtte; auch in unver-
muthetem Falle leicht abzuſehen war, daß man einen
ſolchen, durch Verſagung der Abſolution und Weg-
weiſung vom Abendmahl, genugſam wuͤrde im Zau-
me halten koͤnnen. Er hielt ſich alſo im Gewiſſen
verbunden, die Zweifel, die ihm zuweilen, obwohl
ſehr ſelten, aufſtießen, denen zur Verantwortung zu
uͤberlaſſen, von denen er war vereidet worden. Da
er nun alſo bloß zu lehren, nicht aber zu unterſuchen
hatte,
[220]
hatte, ſo konnte er ſein Amt beynahe ganz mechaniſch
ausuͤben. Die Zeit, die ihm davon uͤbrig blieb, brach-
te er, zur Motion, mit Graben und Pflanzen in ſei-
nem Pfarrgarten zu; denn er war ein großer Ken-
ner und Liebhaber von allen raren Nelkenarten und
Tulpenzwiebeln, und zog ſie in großer Volkommen-
heit. Eine unverdaͤchtige Beſchaͤfftigung. Denn man
will bemerkt haben, daß die Liebhaber derſelben we-
der in der Kirche noch in dem Staate Unruhen zu er-
regen pflegen. Er hielt auch viel auf Federvieh, wel-
ches er taͤglich ſelbſt zu fuͤttern, und ſeine tolligen
Huͤhner, eine nach der andern, beym Namen zu ſich
zu rufen pflegte. Daneben hatte er auch einen ſchoͤ-
nen Taubenſchlag, der ihm manche halbe Stunde
vertrieb. Bibelfeſt war er ſehr, und konnte bey al-
ler Gelegenheit Spruͤche anfuͤhren; welches ihm,
wenn ſich der Jnnhalt auch gar nicht zur Sache
ſchickte, ſondern nur etwan ein Wort einen aͤhnli-
chen Klang hatte, nicht unerbaulich ſchien. Sonſt
las er eben nicht ſonderlich viel Buͤcher, und weil er
meiſt aus dem Stegereife predigte, ſo kam auch das
Schreiben ſelten an ihn, außer, daß er akkurate Li-
ſten von allen bey ihm beichtenden Kommunikanten
hielt, und ſelbige woͤchentlich nachtrug. Er hatte ſie
in ſo guter Ordnung, daß er mit Einem Blicke uͤber-
ſehen
[221]
ſehen konnte, wer in dem vorigen Vierteljahre nicht
gebeichtet hatte. Ein ſolches Beichtkind zeichnete er
ſich an, um, ſo bald ſichs thun ließ, bey demſelben
einen Hausbeſuch abzuſtatten; wobey er denn, gegen
die Veraͤchter der Beichte ein wenig zu eifern pflegte,
weil er wirklich auf dieſen Glaubensartikel am ſtreng-
ſten hielt. Sonſt that er niemand etwas boͤſes; und
ob er gleich, wenn es ſein Evangelium mit ſich brachte,
auch von der Kanzel weidlich auf die Suͤnder zu ſchel-
ten wußte, ſo war er doch, im gemeinen Leben, ein
ganz umgaͤnglicher Mann, der, wenn ſich jemand
an ihn wendete, gern mit Rath an die Hand gieng,
auch zuweilen mit That, nur nicht mit Gelde, wel-
ches, wie wir der Wahrheit zur Steuer bekennen
muͤſſen, dem ehrlichen Mackligius ziemlich feſt ans
Herz gewachſen war.


Eben auch die Begierde, ſeine Einkuͤnfte nicht zu
vermindern, bewog ihn, den Sebaldus in ſein Haus
zu nehmen, und der Unterricht ſeines Sohnes war
eigentlich nur eine Nebenſache. Denn da Ehrn
Mackligius der heilſamen alten Meinung war, daß
man auf Schulen die menſchlichern Studien,
(humaniora) das heißt, bloß Wortkenntniß treiben
muͤſſe, daß hingegen die wenige Sachenkenntniß, die
ein Theologe braucht, ſehr fuͤglich bis zur Univerſi-
Ptaͤt
[222]
taͤt verſpart werden koͤnne: ſo beſtand die Unterwei-
ſung des jungen Heinz Mackligius beynahe bloß
darinn, daß er wechſelsweiſe ein Penſum aus Diete-
rici Inſtitutionibus catecheticis,
aus Rheni Grammatica
latina,
und aus Welleri Grammatica graeca auswendig
lernen mußte, und nebenher ein wenig Hebraͤiſch buch-
ſtabierte. Nun hatte Heinz Mackligius (der, nach
dem, was man in fruͤhen Jugendjahren an ihm be-
merkt hat, zu urtheilen, gewiß noch ein Pfeiler der or-
thodoxen Kirche werden muß,) eine ſo gluͤckliche Ga-
be, Regeln, die er nicht verſtand, auswendig zu
lernen, daß er ſeinem Lehrmeiſter beynahe gar keine
Muͤhe machte. Sein Vater hatte daher deſſen Un-
terricht, neben ſeinem Predigtamte, Gartenbaue und
Huͤhnerfuͤtterung, ganz gemaͤchlich abwarten koͤnnen;
wuͤrde alſo auch wohl nicht daran gedacht haben, fuͤr
denſelben einen Hofmeiſter anzunehmen, wenn ihm
nicht, bey herannahendem Alter, das Predigen in ſei-
nem Filiale allzubeſchwerlich geworden waͤre. Der
Weg war weit, und wenn er, nach geendigter Pre-
digt, in der Sakriſtey den Klingebeutel ausſchuͤttete, ſo
ſchien er ihm nicht halb bezahlt zu ſeyn. Er ward
daruͤber ſo verdrießlich, daß er einſt das Filial ganz
aufgeben wollte. Nachdem er aber uͤberlegt hatte,
daß die Artikel des Beichtgeldes, der Taufen, Trauun-
gen
[223]
gen und Beerdigungen, in der Haushaltung ein Loch
machen wuͤrden, ungerechnet noch die Kaͤſe und
Butter, nebſt den fetten Hammeln und Gaͤnſen,
woran die gottſeligen Marſchlandsbauern ihren
Seelenhirten keinen Mangel leiden ließen: ſo ward er
ganz uuruhig, und wußte nicht, wozu er ſich ent-
ſchließen ſollte.


Endlich fiel er auf den gluͤcklichen Einfall, daß er
einen Hofmeiſter fuͤr ſeinen Sohn annehmen, und
demſelben die ſonntaͤglichen und meiſten feſttaͤglichen
Predigten im Filiale auftragen wollte. Die Ein-
kuͤnfte des Klingebeutels dachte er ihm zum Hofmei-
ſtergehalte anzuweiſen, das Beichtgeld hingegen, nebſt
den Taufen, Trauungen und Leichengebuͤhren, be-
hielt er ſich ſelbſt vor. Auf dieſe Art hatte er klaren
Vortheil. Er waͤlzte den Unterricht ſeines Sohnes,
und die beſchwerlichen Filialpredigten, von ſich ab,
und doch wurden ſeine Einkuͤnfte nur um etwas ſehr
weniges vermindert.


Dieſes ſehr wenige war indeſſen, nebſt freyer Woh-
nung und Koſt, fuͤr den genuͤgſamen Sobaldus ganz
hinlaͤnglich. Er trat alſo ſein doppeltes Amt mit herz-
licher Zufriedenheit an, unterwies ſeinen Zoͤgling,
und predigte jeden Sonntag fleißig. So lebte er ei-
nige Wochen lang ſehr geruhig, bis ein kleiner Um-
P 2ſtand
[224]
ſtand ſeine Ruhe ſtoͤrte, und in dem ganzen Staͤdt-
chen einen unvermutheten Rumor erregte.


Dritter Abſchnitt.


Es hatten damals die Herren Landprediger, zwey
Meilen in die Runde um dieſes Staͤdtchen, ein ſehr
nuͤtzliches Jnſtitut angefangen, das wir allen Landpre-
digern, innerhalb und außerhalb Holſtein, zur Nachah-
mung hoͤchlich anrathen wollen. Es iſt ein ſehr gemeiner,
und ſehr oft nicht ungegruͤndeter Vorwurf, den man
den Landpredigern macht, daß ſie auf dem Lande
ſelbſt zu Bauern und Koſſaͤthen werden, und gaͤnz-
lich vergeſſen, daß ſie Gelehrten ſind. Die Haupt-
urſach davon iſt wohl, daß ſie, außer etwan auf Syno-
dalverſammlungen oder auf Wittwenkaſſenberechnun-
gen, ſelten zuſammenkommen. Sie erfahren daher
nichts von dem, was in der gelehrten Welt vorgehet,
und verlieren alſo alle Luſt, ſich um gelehrte Sachen
zu bekuͤmmern, die ganz außer ihrem Geſichtskreiſe
liegen.


Dieſem Uebel vorzubeugen, war, auf Veran-
laſſung des juͤngſten Diakonus in der Stadt, Ehrn
Pypſnoͤvenius, unter den ſaͤmmtlichen Landpredigern
dieſer Dioͤces die Verabredung genommen worden,
daß
[225]
daß ſie, beſonders im Sommer, alle Freytage Nach-
mittags zur Stadt kamen. Sie ließen ſich zuvoͤrderſt
ſaͤmmtlich balbieren, auch ſollen ſie wohl, unter der
Hand, Diſpoſitionen von vorjaͤhrigen Predigten ge-
geneinander ausgewechſelt haben, die dadurch auf die-
ſes Jahr wieder brauchbar wurden. Alsdann bega-
ben ſie ſich zu Ehrn Pypſnoͤvenius, wo ſie die neuen
Stuͤcke der Hamburgiſchen Nachrichten aus dem
Reiche der Gelehrſamkeit
allemal auf dem Ti-
ſche fanden. Wenn dieſe geleſen, und daruͤber dis-
kurirt worden war, ſo wurden wohl, wenn es die
Zeit erlaubte, noch andere neue oder nuͤtzliche Buͤcher
vorgeleſen: z. B. des Hrn. D. Heins patriotiſcher
Medikus,
die in Buͤtzow herauskommende Samm-
lung vermiſchter Schriften
des tiefſinnigen Hrn.
Reinhard, verſchiedene Deutſche Schriften des Hrn.
D. Cruſius, als, der Gnomon, oder Zeiger zum
richtigen Verſtande des Propheten Jeſaias, der
Plan der Offenbarung Johannis, die Prophe-
tiſche Theologie u. a. m.
desgleichen einige aus
Rudolſtadt eingeſchickte Einladungsſchriften des
Hrn. Direktor Ulrich, oder Leichenpredigten des
Hrn. Jnſpektor Biel, die neueſten Lateiniſchen Verſe
der Hamburgiſchen Gymnaſiaſten, auch wohl einige
ungedruckte neue exegetiſche Entdeckungen des Hrn.
P 3Erich-
[226]
Erichſon in Storkow, oder neue dogmatiſche Erin-
nerungen von Hrn. Paulſen in Wedel, oder neue po-
litiſche Remarken und Epigrammen von Hrn. Weſt-
phal
in Toͤnning.


Wenn dieſes vorbey war, wurde um ſechs Uhr,
damit die fremden Gaͤſte beyzeiten nach ihrer Heimath
zuruͤckreiſen konnten, gegen eine geſetzte Zeche von ſechs
Luͤbſchillingen, eine Abendmahlzeit von Holſteiniſchem
Rauchfleiſche und Schlackwuͤrſten, nebſt gutem altem
Entiner Biere, aufgetragen. Dabey erzeigte ſich die Ge-
ſellſchaft froͤhlich, und jeder der Gaͤſte erzaͤhlte dann,
was an ſeinem Orte morkwuͤrdiges vorgefallen war.
Jubelhochzeiten, Zwillinge, oder Drillinge, Kaͤlber
mit ſechs Fuͤßen, oder Hunde mit zwey Koͤpfen,
Mordgeſchichten und Hagelſchaden, wurden nicht leicht
uͤbergangen. Eine Nenerung in der Lehre oder in der
Kirchenzucht aber durſte kaum irgendwo aufducken,
ſo ward ſie unfehlbar in dieſer Verſammlung an-
gezeigt, die auswaͤrtigen herzlich beſenfzet, die inn-
laͤndiſchen aber, (die freylich ſehr ſelten vorfielen,) zur
Ahndung empfohlen. Durch dieſe Anſtalt ward die
Reinigkeit der Lehre in dieſem ganzen Kirchſprengel
nicht wenig befoͤrdert; denn Ehrn Pypſnoͤvenius
trug das, was in der Verſammlung berichtet worden
war, jederzeit den folgenden Sonntag, nach geendig-
ter
[227]
ter Veſper, dem Kirchenprobſte Ehrn D. Pudde-
wuſtius
zu, der denn, nach Beſchaffenheit der Um-
ſtaͤnde, die weiſeſten Maßregeln nehmen konnte.


Einſt berichtete auch, in dieſer Verſammlung, einer
der Landprediger, Ehrn Suurſnutenius, daß ſein
Schulmeiſter, ein Leinweber, und ſeiner wachſamer
Mann, der die ſymboliſchen Buͤcher ad unguem aus-
wendig wiſſe, am vergangnen Sonntage in dem Fi-
liale Ehrn Mackligii, von deſſen Jnformator eine
Predigt gehoͤrt habe, worinn behauptet worden, ‚daß
”man die Chriſten von andern Religionsparteyen
”als ſeine Bruͤder lieben muͤſſe.‛ Ehrn Sumſnute-
nius
ſetzte fuͤr ſich hinzu, hieraus wuͤrde folgen, daß
man auch die Kalviniſten als ſeine Bruͤder lieben
muͤſſe, welcher Satz, bey itzigen Umſtaͤnden, um ſo
viel bedenklicher ſey, da ja bekanntlich, aller Vorſtel-
lungen Rev. Miniſterii ungeachtet, verſchiedene Kalvi-
niſche Tuchmacher in der Stadt das Buͤrgetrecht er-
halten haͤtten, zum großen Schaden und Aergerniß
der alt-evangeliſchen Einwohner, die noch wohl wuͤr-
den in Huͤtten und Keller weichen, oder gar den
Wanderſtab ergreifen muͤſſen, wenns ſo fortgienge.
Noch wolle der Schulmeiſter erzaͤhlen, der Jnfor-
mator habe auch gepredigt, ‚Gott ſehe aufs Herz, und
”nicht auf die Lehre; man muͤſſe daher auch tugend-
P 4”hafte
[228]
”hafte Juden und Heiden nicht geradezu verdam-
”men.‛ Er Suurſnutenius aber, wolle, weils gar
zu arg ſeyn wuͤrde, der Chriſtlichen Liebe gemaͤß, glau-
ben, der Schulmeiſter koͤnne auch hierinn wohl falſch
gehoͤrt haben.


Die Geſellſchaft gieng auseinander. Aber dieſe
Nachricht wurde, wie gewoͤhnlich, den folgenden
Sonntag von Ehrn Pypſnoͤvenius dem Kirchen-
probſte D. Puddewuſtius, wieder erzaͤhlt. D. Pud-
dewuſtius
ſchuͤttelte ziemlich den Kopf, fragte noch-
mals nach den Umſtaͤnden, und ſchuͤttelte wieder. Er
ſtieß manches Hum und Hem aus, legte zwey oder
dreymal den linken Zeigefinger an die Naſe, und,
nach reifer Ueberlegung, entſchloß er ſich, bey dem
Archidiakonus Ehrn Mackligius naͤhere Anfrage zu
thun.


Um bey der naͤhern Unterſuchung dieſer wichtigen
Angelegenheit deſtoweniger Aufſehen zu machen, be-
ſuchte der Probſt und der Diakon den Archidiakon
den Montag nach Tiſche, als ob es nur von unge-
faͤhr im Vorbeygehen geſchehe. Sie fanden ihn im
Garten, im Kamiſole, eine alte Nachtmuͤtze auf dem
Kopfe, und eine Schuͤrze vorgebunden, die Spa-
te in der Hand, beſchaͤfftigt, den vorher auf ein
Salatfeld ausgebreiteten Duͤnger, unterzugraben.


Bey
[229]

Bey der unvermutheten Ankunft des Prebſtes war
zwar der Archidiakon ziemlich betroffen, er holte aber
gar bald aus dem naheliegenden Gartenhauſe eine
genaͤhte baumwollne Peruͤcke, nebſt einer alten
Summarie, die ihm im Hauſe ſtatt eines Schlaf-
rocks diente, ſo daß es, weil der Kirchenprobſt ſehr
langſam einhergieng, und der Archidiakon ſich ſehr
geſchwind umzog, nicht lange waͤhrte, bis letzterer im
Stande war, ſeinen geiſtlichen Obern zu empfangen.


Nach den erſten Bewillkommungskomplimenten,
nachdem die Materie vom ſchoͤnen Wetter abgehan-
delt, und die Nachfrage nach dem Fluſſe in der Schul-
ter und den Ruͤckenſchmerzen, denen Se. Hochwuͤr-
den zuweilen unterworfen waren, geendigt war, ka-
men die Klagen uͤber die ſchlechten verderbten Zeiten,
bey welchen die in der Stadt angeſetzten Kalviniſchen
Tuchmacher erwaͤhnt wurden; und hievon kam
D. Puddewuſtius ganz natuͤrlich auf die Predigt, die
Sebaldus von der Liebe gegen Mitglieder anderer
Religionsparteyen ſollte gehalten haben. Ehrn
Mackligius war uͤber den Jnnhalt derſelben nicht
wenig beſtuͤrzt. Er verſicherte, daß er an keinem
ſeiner Hausgenoſſen ſolche irrige Lehre leiden wuͤrde.
Er wolle ſogleich den Jnformator rufen laſſen, daß
er ſich ſelbſt in Gegenwart Sr. Hochwuͤrden verant-
P 5worte.
[230]
worte. Der Probſt aber wollte dieß nicht geſtatten,
damit es nicht etwan in der Stadt ein Aufſehen ge-
ben moͤchte. Er ermahnte nur Ehrn Mackligium,
ſeinen Jnformator insgeheim zu vernehmen, ob er
wohl wirklich ſo gelehrt habe, und ihn fuͤr fernerer
Neuerung in der Lehre ernſtlich zu warnen, in wei-
term Uebertretungsfall aber ihn ganz abzuſchaffen.
Er verſicherte, aus der Erfahrung zu haben, daß die
Hornviehſeuche durchs Todſchlagen der kranken Haͤup-
ter, und die Hete rodoxie durch Abſetzen und Weg-
ſchaffen der irrigen Lehrer am ſicherſten vertilgt wuͤr-
den, und daß, in beiden Faͤllen, alle anderen Mittel zu
weitlaͤufig und uͤberdieß zu unkraͤftig waͤren. Hiemit
nahmen die beiden Gaͤſte Abſchied.


Vierter Abſchnitt.


Mackligius ließ den Sebaldus ſofort rufen, und
fragte ihn uͤber den Jnnhalt ſeiner am Sonn-
tage vor acht Tagen gehaltenen Predigt. Sebal-
dus
laͤugnete nicht, daß der Jnnhalt ſo geweſen, wie
ihn der Kuͤſter angegeben hatte. Der Archidiakonus
erſtaunte zwar nicht wenig, weil er aber ſonſt mit ſei-
nem Jnformator wohl zufrieden war, und auf ſo
leidliche Bedingungen nicht ſo bald einen andern zu
erhal-
[231]
erhalten hoffen konnte, ſo gab er ſich die Muͤhe, die
[e]r ſich ſonſt nicht leicht gab, einen Verſuch zu ma-
chen, ihn zu uͤberzeugen, daß er ſich auf einer ge-
faͤhrlichen Lehre habe betreten laſſen, der er nothwen-
dig abſagen muͤſſe.


Seb. Und was iſt an dieſer Lehre verwerfliches?
Gebietet uns nicht die Schrift, unſern Naͤchſten
zu lieben, als uns ſelbſt?
Jſt davon derjenige un-
ſerer Nebenmenſchen ausgenommen, der in Glau-
bensſachen anders denkt, als wir?


Mackl. Dieß will ich nun freylich eben nicht ſa-
gen; nur duͤnkt mich, in Abſicht auf die Sektirer iſts
[...] geſagt, daß ſie unſere Naͤchſten ſeyn
ſollen. Wir moͤgen ſie immer lieben, wenn ſie nur!
weit weg ſind. Wenigſtens in dieſer guten Stadt iſt
es nun einmal der Grundverfaſſung gemaͤß, daß nur
bloß rechtglaͤubige Lutheraner darinn wohnen koͤnnen,
und dabey muß man feſt halten. Es iſt alſo hier ſehr
bedenklich, zu predigen, daß man die Jrrglaͤubigen
lieben ſoll; denn wenn ſie erſt wiſſen, daß wir ſie lie-
ben, ſo werden ſie auch bey uns wohnen wollen. Da
gehts denn immer weiter. Dann wuͤrden auch
ſymboliſchen Buͤcher kaum mehr helfen, und es
wuͤrde keine Einigkeit und Reinigkeit der Lehre mehr
da ſeyn. Haben ſich nicht ſo bey uns die Kalviniſchen
Tuch-
[232]
Tuchmacher eingeniſtelt? Was half das Widerſpre-
chen? Selbſt der billige Vorſchlag wurde verworfen,
daß jede Kalviniſtiſche Feuerſtelle dem Paſtor ihres Kirch-
ſpiels jaͤhrlich einen Portugaloͤſer abgeben ſollte, weil
doch ſonſt die Jura Stolæ litten, indem auf demſelben
Flecke ein rechtglaͤubiger Lutheraner haͤtte wohnen
koͤnnen. Ach! lieber Herr Magiſter, bey der einmal
feſtgeſetzten Grundverfaſſung muß man halten, es
geht ſonſt nicht.


Seb. Und doch ſteht von ſolchen Grundverfaſſun-
gen, die unſerm Nebenmenſchen nicht die Luft goͤn-
nen wollen, im ganzen Neuen Teſtamente nicht ein
Wort. Jura Stolæ, ſymboliſche Buͤcher, und derglei-
Dinge mehr, ſind auch darinn nicht geboten.


Viel Diſputirens war Mackligius Sache nicht.
Er wollte ſich alſo weiter nicht auf Gruͤnde ein-
laſſen, ſondern rief nur aͤngſtlich aus: ‚Die Grund-
”verfaſſung unſerer Stadt iſt einmal nicht zu aͤndern.
”Auf die ſymboliſchen Buͤcher ſind wir auch verpflich-
”tet. Man muß keine Neuerungen geſtatten. Die
”Verbindung iſt einmal unverbruͤchlich feſtgeſetzt, und
”eidlich beſtaͤtiget, daß wir bey der alten Lehre blei-
”ben, und uns jeder fremden Lehre ſtandhaft wider-
”ſetzen wollen; und nun kann man nicht wieder un-
”terſuchen, ſondern die Sache muß ganz und gar ihr
Bewen-
[233]
”Bewenden haben. Wir koͤnnen nun einmal keine
”Jrrlehrer, Kalviniſten u. d. gl. bey uns haben, alſo
”muß man auch nicht lehren, daß man ſie lieben muͤſſe.‛


Sebaldus mochte immer einwenden, die Vernunft
ſage uns, eine ungereimte Verfaſſung koͤnne gar wohl
veraͤndert werden, und eine Verbindung, die ſich auf
Unwahrheit ſtuͤtze, koͤnne nicht verbindlich ſeyn. Ver-
gebens! Mackligius blieb dabey, daß, wenn man eine
Verbindung einmal eingegangen ſey, man dabey
feſt verharren muͤſſe, ſie ſey beſchaffen, wie ſie wolle.
Auf die Vernunft muͤſſe man in Glaubensſachen uͤber-
haupt gar nicht achten. Man muͤſſe ſich dem fuͤgen,
was die Voraͤltern feſtgeſetzt haben; und ſo drang er
dem Sebaldus einen Handſchlag ab, daß er ferner
ſolche Lehren, die den Jrrglaͤubigen koͤnnten vortheil-
haft ſeyn, gar nicht predigen, ſondern ſie lieber ganz
mit Stillſchweigen uͤbergehen wolle.


Einige Tage darauf ſollte im Filiale ein Kind eines
Schiffers, getauft werden. Mackligius gieng mit dem
Sebaldus hinaus. Als der erſtere an den Taufſtein
trat, erblickte er einen Pathen, den er nicht kannte.
Er ließ ihn in die Sakriſtey treten, um ſich naͤher zu
erkundigen, und erfuhr, zu ſeiner nicht geringen Be-
ſtuͤrzung, daß er ein reformirter Kaufmann aus Bre-
men
[234]
men ſey. Mackligius ſagte ihm darauf gerade her-
aus, er koͤnne ihn nicht zum Taufzeugen annehmen,
weil Rev. Miniſterium noch kuͤrzlich ſich verbunden
habe, niemals einen reſormirten Pathen bey irgend
einer Taufe zuzulaſſen. Der Kaufmann wunderte
ſich hieruͤber nicht wenig; der Schiffer, deſſen Rehder
der Kaufmann war, und dem zu gefallen er ausdruͤck-
lich von Bremen uͤber die Elbe gekommen war, er-
ſchrak ſehr. Man ſuchte den Mackligius zu uͤber-
reden, man ward hitzig; aber er war unbeweglich.


Der Kaufmann faßte ſich endlich, und ſagte: Wollen
Sie mir nicht erklaͤren, Herr Paſtor, was bey einem
Taufzeugen das Weſentliche, und was dabey das
Zufaͤllige iſt?


Jch merke ſchon, rief Mackligius, daß Sie etwas
von Mitteldingen, von Adiaphoris, ſchwatzen wol-
len; das gehoͤrt aber gar nicht hieher.


Nicht doch! verſetzte der Kaufmann, vom We-
ſentlichen und Außerweſentlichen wollen wir reden.
Meinen Sie nicht, das Weſentliche eines Taufzeu-
gen ſey, daß er bezeuge, wenn es noͤthig iſt, daß das
Kind getauft worden, und daß er, in Ermangelung
der Aeltern und Vormuͤnder, fuͤr des Taͤuflings Er-
ziehung ſorge?


Mackligius konnte dieß nicht laͤngnen.


Und
[235]

Und nun! fuhr der Kaufmann fort, iſt nicht das
Opfer, das ins Becken geworfen wird, etwas zuſaͤl-
liges?


Mackligius, nach einigem Stocken, bejahete es.


Gut! ſagte der Kaufmann, hoͤren Sie alſo ei[n]en
Vorſchlag zum Vergleiche: Jch will, weil es denn
Rev. Miniſterium nicht anders haben will, allen we-
ſentlichen Pflichten eines Taufzeugen entſagen. Jch
will jedermann in Ungewißheit laſſen, ob das Kind
getauft worden; ich will mich huͤten, fuͤr ſeine Erzie-
hung zu ſorgen, und wenn es auch Vater und Mut-
ter verlieren, und von ſeinen Vormuͤndern verlaſſen
werden ſollte. Kann mir denn nun wenigſtens nicht
erlaubt werden, das Zufaͤllige eines Taufzeugen zu
verrichten, und, nach vollbrachter Handlung, dieſe
Dukaten ins Becken zu opfern?


Mackligius war in keiner geringen Verlegenheit.
Endlich bewog ihn die Diſtinktion des Kaufmanns,
und das Bitten des Vaters, fuͤr dieſesmal einen
reformirten Taufzeugen zuzulaſſen.


Kaum waren ſie wieder zu Hauſe angekommen,
ſo ruͤckte ihm Sebaldus vor, daß er nicht nach ſei-
nen eignen Grundſaͤtzen handele. Denn, wenn eine
feyerliche Verbindung unverbruͤchlich muͤſte gehalten
wer-
[236]
werden, ſo wuͤrde er Unrecht haben, wider dieſelbe,
einen reformirten Taufzeugen anzunehmen.


Ja! rief Mackligius, ein wenig verlegen, dieß
war eine Ausnahme. Zudem ſahe ich wohl, der
Bremer war ein ganz guter Mann, der ſich gerade
bey uns nicht wird niederlaſſen wollen.


Seb. Ey! nun ſey Gott Dank! Wenn nur Ein
Mitglied einer andern Konfeſſion ein guter Mann
iſt, ſo moͤgens auch wohl mehrere ſeyn. Jch kann
alſo auch wohl eine Ausnahme von dem Jhnen ge-
thanen Verſprechen machen; denn warum ſollten
wir ſolche gute Leute, wie der Bremer Kaufmann
und ſeine Glaubensgenoſſen ſind, nicht lieben? —


Mackl. Herr Magiſter! Jch bitte Sie ſehr, fan-
gen Sie ja nicht wieder an, ſo zu predigen; Sie koͤn-
nen ſonſt ſich und mich ungluͤcklich machen. Wozu
wollen wir denn die Kalviniſten, und dergleichen Leute,
ſo ſehr lieben? Jm Lande duͤrfen ſie ſich doch nicht
weiter ausbreiten, als ſie leider! bereits gethan ha-
ben; denn es muß Ein Glaube, Ein Hirt und Eine
Heerde im Lande ſeyn, ſonſt koͤmmt alles in Un-
ordnung.


Seb. O! damit ſchrecken Sie mich nicht! Jch
komme eben itzt aus dem Brandenburgiſchen, wo
Menſchen von zwanzigerley Religionsgeſinnungen
meiſt
[237]
meiſt ganz friedlich neben einander leben; und wenn ſie
ſich ja zuweilen ein wenig zanken, ſo bleibt doch
alles im Staate in ſehr guter Ordnung Laſſen Sie
uns nur nicht waͤhnen, daß alle Wahrheit bey un-
ſerer Religionspartey zu Hauſe ſey; laſſen Sie uns
vielmehr unterſuchen, ob diejenigen, die wir fuͤr
Jrrlehrer halten, nicht mehr Wahrheit moͤgen ge-
funden haben, als wir, und dann finden wir viel-
leicht, daß wir ſie verehren und lieben muͤſſen. Jch
wiederhole nochmals, laſſen Sie uns unterſuchen,
und laſſen Sie uns keine Verabredung, kein Lehrge-
baͤude, kein ſymboliſches Buch aufhalten, wenn wir
Wahrheit ſuchen und finden koͤnnen.


Mackl. Ach! mein lieber Herr Magiſter! Sie wollen
doch immer ſo viel ſpekuliren! Dieſe Sucht moͤgen Sie
wohl aus dem leidigen Brandenburgiſchen Lande mit-
gebracht haben. Da ſolls arg zugehen; da ſoll alles
voll Rotten und Sekten ſeyn. Das koͤmmt her von
dem unchriſtlichen Vernuͤnfteln! Da wird immer
einer an dem andern irre! Und wenn denn einem
auch hin und wieder ein Zweifel einfaͤlt, ſo iſts ja beſſer,
man unterdruͤckt ihn gleich. Dieß iſt viel kuͤrzer und
beſſer, als daß man davon viel Redens macht, daruͤber
denn andere auch irre gehen. Nein! laſſen Sie mir
immer die Lehrformeln und die ſymboliſchen Buͤcher
Qin
[238]
in Ehren. Sie ſind, aufs wenigſte gerechnet, ein
nothwendiges Uebel. Da iſt ja ſo vieles in der Bi-
bel, aus dem man ſich ſogleich nicht finden kann, und
man wuͤrde ſeine ganze Lebenszeit unterſuchen muͤſſen,
was man glauben ſoll, wenns nicht in der Augſpur-
giſchen Konfeſſion vorgeſchrieben waͤre.


Seb. Schoͤn! Aber dieß iſt eben daſſelbe Argu-
ment, das die Katholiken fuͤr die unfehlbare Au-
toritaͤt der Kirche
anfuͤhren. Wir ſelbſt koͤnnen, ſa-
gen ſie, die Bibel nicht hinlaͤnglich erklaͤren, dieß thut
die Kirche fuͤr uns; darum muͤſſen wir glauben, was
die Kirche glaubt. Alſo haͤtten wir bey der Reformation
nur Eine Unfehlbarkeit mit der andern verwechſelt,
der wir blindlings trauen muͤßten. Wenn alſo der
Pabſt die Augſpurgiſche Konfeſſion gemacht haͤtte, ſo
wuͤrden Sie, Herr Paſtor, ohne Bedenken ein Pa-
piſt ſeyn.


Mackl. Behuͤte mich Gott! was reden Sie?
Herr Magiſter! Herr Magiſter! Sie wiſſen ja, daß
ich der aͤchten ungeaͤnderten evangeliſchen Lehre zu-
gethan bin.


Seb. Ja! dem Buchſtaben nach, aber nicht
dem wahren Geiſte nach. Eine blinde Unterwuͤrfig-
keit unter die Ausſpruͤche der geiſtlichen Obern iſt
nicht der wahre Geiſt des Proteſtantiſmus. Von
der
[239]
der Lehre, die wir glauben ſollen, muͤſſen wir uͤber-
zeugt ſeyn, und um davon uͤberzeugt zu ſeyn, muͤſſen
wir ſie unterſuchen. Die bloße blinde Annehmung
einer Lehre, weil ſie in einem Buche verzeichnet iſt,
es mag dieß Buch Bibel, ſymboliſches Buch, oder
wie man ſonſt will, heißen, iſt keine ſichere Ueberzeu-
gung. Sollen wir uͤberzeugt werden, ſo muͤſſen wir
unterſuchen, und erſt dann, wann wir durch vernuͤnf-
tige Unterſuchung von einer Wahrheit uͤberzeugt ſind,
kann ſie moraliſche Wirkungen veranlaſſen.


Mackl. Aber, Herr Magiſter! wohin wuͤrden wir
kommen, wenn wir erſt von neuem anfangen wollten
zu unterſuchen? Muͤßte man da nicht ſein ganzes Le-
benlang ſtudieren! zumal zu unſern itzigen letzten be-
truͤbten Zeiten, da, wie man aus den Hamburgi-
ſchen Nachrichten
zuweilen fiehet, an der Ober-
Elbe ſo viele neuerungsſuͤchtige Leute ſind, die nichts
thun wollen, als unterſuchen, die uns eine ganz neue
Theologie, ja ſogar eine ganz neue Bibel machen
wollen. Ja warhaftig! eine neue Bibel. Da ſchickt
mir der Poſtmeiſter neulich mit den Zeitungen einen
Zettel, daß ich 234 Mrk. auf eine Bibel praͤnumeriren
ſoll, die einer in England, (ich glaube der Menſch heißt
Kennikott,) will drucken laſſen. Ja! daß Gott erbarm!
234 Mrk. in dieſen ſchweren Zeiten! Und da ſollen in
Q 2dieſer
[240]
dieſer Bibel viele tauſend Stellen ganz anders ſeyn,
als in unſerer Lutheriſchen Bibel! Nun ſehen Sie
einmal ſelber, was das fuͤr eine Verwirrung in un-
ſerm guten Holſtein geben wuͤrde, wenn man nicht
ſchon wuͤßte, was man zu glauben haͤtte.


Seb. Jch habe von dieſer Bibel auch gehoͤrt; ich
glaube aber, ſie wird ganz und gar keine Verwirrung
anrichten. Sie kann vielmehr einen ſehr großen Nut-
zen haben. Denn wenn die Theologen, wie es nicht
unterbleiben wird, uͤber die Menge der Varianten,
die der arbeitſame Englaͤnder, fuͤr ſeine funfzigtau-
ſend Pfund Sterlings, zuſammengeleſen hat, ſich
hundert Jahre lang werden muͤde diſputirt haben,
ſo wird man endlich wohl einſehen, daß die Gluͤckſe-
ligkeit des menſchlichen Geſchlechts, die Gott bey ſei-
ner Offenbarung zum Zwecke gehabt haben muß,
nicht auf Schreibfehlern und Varianten, Muthmaßun-
gen und Wortklaubereyen beruhen koͤnne. Alſo auch
von dieſer Unterſuchung uͤber Varianten will ich nie-
mand abſchrecken. Jch glaube, die wahre Religion
koͤnne und werde die ſtrengſten Unterſuchungen von
aller Art aushalten; darum mag man in Gottes Na-
men fortfahren, alle Meinungen der Menſchen zu
ſichten, und den Weizen von der Spreu zu ſondern.


Mackli-
[241]

Mackligius rief ſehr erſchrocken: Nein! nein!
die Menſchen muͤſſen nicht zu vorwitzig ſeyn. Wenn
wir nicht der Unterſuchungsſucht ein Ziel ſetzen wol-
len, wer weiß, wohin wir noch gerathen koͤnnnen;
da koͤnnen wir noch Synkretiſten und Jndifferenti-
ſten, ja endlich gar Naturaliſten werden.


Seb. Jch glaube nicht, daß uns die Unterſuchung
ſo weit fuͤhren werde, aber ich, fuͤr meine Perſon,
folge dem Wege zur Wahrheit ganz gelaſſen, wohin
er mich auch fuͤhret, ohne mir ein Ziel zu ſtecken, wo
ich aufhoͤren will.


Mackl. Ach! mein lieber Herr Magiſter! ich will
lieber bleiben, wo ich bin, als mich ſo weit wagen.
Jch werde gar zu unruhig, wenn ich an ſolche Dinge
denke: darum vermeide ich ſie lieber, und das thun
Sie nur auch.


Seb. Wenigſtens will ich niemand zureden, hier-
inn weiter zu gehen, als ihn ſeine Neigung fuͤhret.
Jndeſſen erhellet aus allem dieſem wenigſtens ſo viel,
daß wir uns die Unfehlbarkeit in Glaubensſachen
nicht zueignen koͤnnen, daß wir die, die daruͤber an-
ders denken, lieben duͤrfen, und toleriren muͤſſen.


Mackl. Ja! ja! toleriren iſt auch viel kuͤrzer,
als wenn man ſo viel unterſucht. Wir wollen ſie, wie
Sie ganz recht ſagen, lieber toleriren. Jndeſſen,
Q 3um
[242]
um wieder aufs vorige zu kommen, thun Sie mirs
immer zu gefallen, und predigen nicht ferner davon,
daß man ſie lieben muͤſſe. Sehen Sie, wir haben
hier in unſerer Stadt unſere beſondere Verfaſſung;
und dann iſts bedenklich, wegen der Neuerung mit
den Kalviniſchen Tuchmachern.


Seb. Sehr gern! Jch habe uͤberhaupt nicht ge-
glaubt, daß die Lehre, die ich predigte, ſo neu waͤre, daß
dadurch Anfſehen erregt werden koͤnnte; ich meinte nur,
eine ſchon bekannte nuͤtzliche Lehre weiter einzuſchaͤr-
fen. Freylich! wenn die Ermahnung, unſere Bruͤ-
der von andern Konfeſſionen mehr zu lieben, den Er-
folg haben ſollte, daß man ſie mehr haßte, ſo iſts
beſſer, ganz davon zu ſchweigen.


Mackligius gab ihm von ganzem Herzen darinn
Recht, daß Schweigen hier das beſte waͤre, und ver-
ſicherte ihn, er kenne die rechtglaͤubigen Holſteiner,
und wiſſe gewiß, daß die Ermahnung, die Kalviniſten
zu lieben, bey ihnen nur mehr Haß zuwegebringen
werde. Der ehrliche Sebaldus beſeufzete eine ſo un-
chriſtliche Gemuͤthsverfaſſung, und gerieth in ein Lob
einer wahren Chriſtlichen Toleranz, und Mackligius,
wohl zufrieden, daß er nur den Hauptpunkt, wegen
des Predigens, von ihm erlangt hatte, ſtimmte ihm
in allem bey. Sebaldus ſagte viel ſchoͤne Sachen dar-
uͤber,
[243]
uͤber, daß ſich die Chriſten uͤber allerhand Meinun-
gen, die doch nicht ausgemacht waͤren, und auch
wohl nicht ausgemacht werden koͤnnten, nicht un-
chriſtlicher Weiſe haſſen, ſondern ſich vielmehr recht
chriſtlicher Weiſe vertragen ſollten, und Mackligius
ſagte ja! einmal uͤber das andere.


Jndem ſie in dieſem Geſpraͤche begriffen waren,
trat ein Jude aus Rendsburg in das Zimmer, wel-
cher beym Mackligius Geld umzuſetzen und ſonſt zu
handeln pflegte. Beide hatten ſich, durch die ſchoͤnen
Traͤume von Chriſtlicher Toleranz, die Einbildung ſo
erhitzt, und das Gemuͤth in eine ſo ſelbſtgefaͤllige
wohlthaͤtige Lage gebracht, daß ſie ſich ſtark genug
fuͤhlten, dieſes Juden Bekehrung zu verſuchen. Mack-
ligius
bewies ihm mit ſtarken Gruͤnden, daß der
Meſſias ſchon gekommen ſey. Der Jude verſetzte,
es koͤnne ſehr wohl ein Meſſias gekommen ſeyn, nur
nicht der Meſſias der Jnden, wofuͤr er zum unwi-
derleglichen Grunde anfuͤhrte, daß widrigenfalls er,
der Jude, ein vornehmer Mann ſeyn muͤßte, hin-
gegen Mackligius vielleicht wuͤrde alte Kleider kau-
fen und Zerbſter Drittel einwechſeln muͤſſen. Se-
baldus
hielt ſich an das himmliſche Jeruſalem; der
Jude aber wollte nur vom irrdiſchen Jeruſalem hoͤ-
ren, wohin alle Juden in der Welt, wie er gewiß
Q 4glaub-
[244]
glaubte, noch einſt wuͤrden verſammlet werden. Alle
drey wurden ſehr hitzig. Endlich brach der Jude
kurz ab, ſagte, wenn der Hr. Paſtor heute nichts
zu handeln habe, wolle er ein andermal wieder
kommen, und gieng zur Thuͤr hinaus. Mackligius
ſchalt nicht wenig uͤber den blinden und verſtockten
Juden. Sebaldus ſaß eine Weile, den Kopf
auf den Tiſch geſtuͤtzt; endlich ſchlug er ſich an
die Bruſt, und rief aus:


‚Ach! er iſt ein Menſch, wie wir, glaubt von ſei-
”ner Meinung uͤberzeugt zu ſeyn, wie wir, die ihn
”mit ſich zufrieden macht, wie uns die unſrige. Laſſen
”Sie uns, dem barmherzigen Gotte gleich, der uns
”alle ertraͤgt, unſre Toleranz nicht nur auf alle Chri-
”ſten, ſondern auch auf Juden und alle andern Nicht-
”chriſten ausdehnen.‛


Fuͤnfter Abſchnitt.


Jndeſſen hatte der Vorfall mit dem reformirten
Taufzeugen in der Stadt kein geringes Aufſe-
hen gemacht. Der Paſtor Ehrn Lic. Wulkenkra-
genius
predigte wider einen ſolchen grundſtuͤrzenden
Jrrthum, in den Vormittagspredigten, und der Ar-
chidiakon Ehrn Mackligius, ob er gleich ſonſt am
Strei-
[245]
Streiten keinen Gefallen hatte, war doch, da ſeinen
Beichtkindern ſeine Reinigkeit in der Lehre verdaͤch-
tig zu werden anfieng, genoͤthigt, ſich in den Nach-
mittagspredigten zu vertheidigen. Die Erbitterung
nahm taͤglich zu. Das ehrwuͤrdige Miniſterium theilte
ſich in zwey Parteyen, davon der groͤßte Theil
wider Mackligius war, und man faßte einen Mi-
niſterialſchluß, vermittelſt deſſen ſowohl der Archtdia-
kon, als der Jnformator, wegen falſcher Lehre, vor
dem Konſiſtorium verklagt wurden.


Jndeſſen dieſes auf dem Tapete war, ſtarb ein
reicher Brauer, welcher mit der ganzen Schule,
mit Wachslichtern und Schildern, und mit einer Lei-
chenpredigt, begraben ward. Das ganze geiſtliche
Miniſterium gieng mit zur Leiche. Da war der
Probſt Ehrn D. Puddewuſtius, der Paſtor
Ehrn Buhkvedderius, der Paſtor Ehrn Lic.
Wulkenkragenius,der Archidiakonus Ehrn
Weelſteertius, der Archidiakonus Ehrn Mackligius,
der Diakonus Ehrn Mag. Slaboͤrderius und der
Diakonus Ehrn Pypſnoͤvenius.


Ehrn Wulkenkragenius hielt eine Leichenpredigt
von der Bewahrung der reinen Lehre. Er
ruͤhmte an dem ſeligverſtorbenen, daß er vor den Kal-
Q 5vini-
[246]
viniſchen Graͤueln beſtaͤndig den groͤßten Abſchen
gehabt habe, und daß die, mit Unrecht der Stadt
aufgedrungenen, Kalviniſten, gewiß wuͤrden haben ver-
durſten muͤſſen, wenn alle andere Brauer, ſo wie
er, den weltlichen Vortheil, dem Eifer fuͤr die
Nechtglaͤubigkeit nachgeſetzt haͤtten. Nach geendigter
Leichenpredigt und verrichteter Beerdigung, kamen
ſie ſaͤmmtlich im Trauerhauſe zur Trauermahlzeit zu-
ſammen, wo dieſe Materie wieder vorgenommen,
und die Jndifferentiſterey, daß man reformirte Tauf-
zeugen zuließe, ſehr bitter geruͤgt wurde. Ehrn
Weelſteertius nahm ſich des bedraͤngten Mackli-
gius
an. Der Streit ward ſehr heftig; beide Theile
ſchrien ſo ſtark, daß kein Theil den andern verſtand;
und weil die miniſterialiſche Partey die heftigſte,
und auch die ſtaͤrkſte war, ſo wuͤrde es vielleicht gar
zu Thaͤtlichkeiten gekommen ſeyn, wenn nicht die
Minoritaͤt, die ihre Schwaͤche merkte, ſich am Ende
der Mahlzeit, nach der Hausthuͤr gezogen haͤtte.
Doch hatte das Gezaͤnk auch auf der Gaſſe noch kein
Ende. Der Poͤbel lief zuſammen, nahm an dem
Streite der geiſtlichen Herren Antheil, und weil dem-
ſelben, in ſeinem Eifer fuͤr die Rechtglaͤubigkeit, eben
ein Kalviniſcher Tuchmacher ungluͤcklicher Weiſe in
den Weg kam, ſo ward derſelbe, zur Beſtaͤtigung der
recht-
[]

[figure]

[][247]
rechtglaͤublgen Lehre, mit Fuͤßen getreten, und ihm
ein Auge ausgeſchlagen.


Dieſer Vorgang, wobey ſich die Regierungskanz-
ley in Gluͤckſtadt, ſehr unorthodoxer Weiſe, der Kalvi-
niſten annahm, und dem geiſtlichen Miniſterium
mehrere Vertraͤglichkeit und Behutſamkeit empfahl,
machte des Mackligius Sache eben nicht beſſer.
Lic. Wulkenkragenius, ein choleriſcher Mann, der
nicht verwinden konnte, daß ihm von der Obrigkeit,
die doch nur aus Layen beſtand, ſo ein trockner Ver-
weis gegeben worden, arbeitete eifrig, daß der gute
Mackligius ganz und gar vom Amte abgeſetzt wer-
den ſollte. Hierinn ſtand ihm, unter der Hand,
Diakon Pypſnoͤvenius nicht wenig bey, als welcher,
durch den maͤchtigen Beyſtand ſeines Goͤnners, des
Kirchenprobſtes D. Puddewuſtius, in die Archi-
diakonatsſtelle zu ruͤcken dachte. Aber Archidiakon
Weelſtertius und Diakon Slaboͤrderius, welche
von der Gegenpartey waren, und uͤberdem von der
Vakanz, die durch Mackligius Abſetzung entſtan-
den ſeyn wuͤrde, keinen Vortheil zu ziehen wußten,
brauch-
[248]
brauchten ihre Bekanntſchaften in vornehmen Haͤu-
ſern, wo ſie Hofmeiſter geweſen waren, dergeſtalt,
daß nur bloß aus dem Konſiſtorium ein Befehl an
Mackligius ergieng, ſeinen Jnformator nie wie-
der die Kanzel beſteigen zu laſſen, und ſich, der Reinig-
keit der Lehre wegen, mit einem neuen Eide zu ver-
binden. Dieſen leiſtete er zwar ungeſaͤumt, aber er
verlor nichtsdeſtoweniger ſein Filial. Denn der
Edelmann, der ſich fuͤr die Reinigkeit der Lehre haͤtte
erſtechen laſſen, hatte von ihm, durch die heimlichen
Einblaſungen des Diakon Pypſnoͤvenius, ſolch eine
widrige Meinung bekommen, daß er ihn weiter auf
ſeinem Erbgute nicht dulden wollte, ſondern ſeine
Pfarre dem Landprediger Ehrn Suurſnutenins,
einem ehrbaren konkordanzfeſten Manne verlieh, zu
nicht geringem Mißvergnuͤgen des Diakon Ehrn
Pypſnoͤvenius, welcher, da ihm die Archidiakonats-
ſtelle zu Waſſer geworden, durch die kraͤftige Re-
kommendation des Kirchenprobſts, das Filial ge-
wiß nicht zu verfehlen gedachte. Gleich wie man
aber leider! mehrere Beyſpiele hat, daß die Kir-
che der Kuͤche weichen muß, ſo war auch hier
die
[249]
die Rekommendation des Probſtes nicht ſo kraͤftig,
als die Rekommendation der Haushaͤlterinn des Edel-
manns, welcher Suurſnutenius von ihrer Baſe
war empfohlen worden, die da war eine Halbſchwe-
ſter eines Dingſchreibers, deſſen Mutter Gevatterinn
war von einem Geſchwiſterkinde der Frau eines
Kammerdieners, deſſen gnaͤdige Frau eine Kam-
merjungfer hatte, welche Beichtkind war eines Pre-
digers in einer andern Stadt, deſſen Kinder Ehrn
Suurſnutenius eine Zeitlang unentgeldlich un-
terrichtet hatte. Dieß verurſachte zwiſchen
Ehrn Suurſnutenius und Ehrn Pypſnoͤvenius
einigen Wortwechſel, und nachher nicht geringe
Kaltſinnigkeit, welche endlich Anlaß gab, daß die
gewoͤhnliche Freytagsverſammlung ſich ganz und gar
zerſchlug. Der Himmel weiß, wie es ſeitdem mit
der Kenntniß der neuen Litteraturgeſchichte, und mit
den Baͤrten der Landprediger, in dieſem Theile Hol-
ſteins, beſchaffen ſeyn mag.


Doch mit dem guten Sebaldus war es, auf alle
Weiſe, noch viel ſchlechter beſchaffen. Da Ehrn Mack-
ligius
[250]
ligius ihn bloß des Filials wegen zu ſich genom-
men hatte, ſo wußte er ihn nunmehr ferner gar nicht
zu gebrauchen, ſondern dankte ihn unverzuͤglich ab.
Jn der Stadt wollte niemand einen Mann unter ſein
Dach nehmen, der die gottloſe Jrrlehre gepredigt
hatte, daß man alle ſeine Nebenmenſchen, wenn
ſie auch von anderer Religion waͤren, lieben
muͤſſe. Der Kammerjunker, ein Mann von fei-
ner politiſcher Weisheit, hielt es ſeinem guten Ver-
nehmen mit verſchiedenen Maͤnnern, die im Lande
anſehnliche Aemter bekleideten, nicht zutraͤglich, einen
Heterodoxen zu beſchuͤtzen. Sebaldus wuͤrde alſo
unter freyem Himmel haben verſchmachten muͤſſen,
wenn ihm nicht der Schiffer, deſſen Kind mit einem
Reformirten Taufzeugen getauft worden war, frey-
willig ſein Haus angeboten haͤtte.


Kaum war dieſes geſchehen, ſo erhielt er von ſei-
nem Freunde Hieronymus, auf den an ihn geſchrie-
benen Brief, eine Antwort, welche ſeine Betruͤbniß
vollkommen machte. Hieronymus hatte ſich bey
dem Verwalter nach Marianen erkundigt, und
weiter
[251]
weiter nichts zur Antwort erhalten, als daß Ma-
riane,
mit Zuruͤcklaſſung aller ihrer Sachen, die er,
fuͤr das vom Sebaldus mitgenommene Pferd, zu-
ruͤckbehalten habe, entlaufen ſey, niemand wiſſe wohin.


Dieſe Nachricht brach dem Sebaldns gaͤnzlich das
Herz. Von ſeinem Sohne hatte er ſchon ſeit vielen
Jahren keine Nachricht. Seine Tochter war nun-
mehr auch fuͤr ihn verloren, und ihre Auffuͤhrung
ſchien ſeiner unwuͤrdig zu ſeyn. Er ſelber hatte nur
dem Mitleiden ein Obdach zu verdanken, und er
ſahe keine Ausſicht, wie er ſein muͤhſeliges Leben auch
nur kuͤmmerlich fortſchleppen koͤnnte.


Der Schiffer, dem ſein Zuſtand zu Herzen gieng,
ſchlug ihm vor, daß er nach Oſtindien, der allgemei-
nen Zuflucht der ungluͤcklichen Europaͤer, gehen ſollte,
und erbot ſich, ihn nach Amſterdam, wohin ſein
Schiff eben abſegelte, umſonſt mitzunehmen. Die-
ſer Vorſchlag ward von dem bekuͤmmerten Sebal-
dus
mit beiden Haͤnden angenommen, der nun
nichts mehr hatte, was ihn in dieſem Welttheile
zuruͤck-
[252]
zuruͤckhalten konnte. Er nahm ſchriftlich vom
Hieronymus, ſeinem einzigen Freunde, den
letzten Abſchied, und empfahl ihm, ſeinen Kom-
mentar uͤber die Apokalypſe, bis er aus Oſtindien
von ihm Nachricht erhielte, in Verwahrung zu
behalten. Darauf fuhr er mit dem Schiffer nach
Brunsbuͤttel, wo deſſen Schiff lag. Er ſtieg an
Bord, und in wenig Tagen lichteten ſie die An-
ker, erreichten Cuxhaven, und ſtachen mit gutem
Winde in die See.


Ende des ſechsten Buches.



Zuver-
[[253]]

Zuverlaͤßige Nachricht
von einigen
nahen Verwandten

des Hrn. Magiſter
Sebaldus Rothanker.

Aus ungedruckten Familiennachrichten gezogen.



R
[[254]][[255]]

Der Vater unſers Sebaldus war ein ehrlicher
Handwerksmann, in einem kleinen Staͤdt-
chen in Thuͤringen, der durch Fleiß und Sparſam-
keit ein Vermoͤgen von einigen hundert Thalern er-
worben hatte, und in ſolches Anſehen kam, daß er
zum Rathmann und zum Vorſteher des Gotteska-
ſtens in ſeiner Vaterſtadt erwaͤhlt ward. Dieſe
Ehrenſtellen aber, die verſchiedene von ſeinen Vor-
gaͤngern bereichert hatten, brachten ihm gar keinen
Nutzen. Denn er war ein ſo ſchlechter Wirth, daß
er nicht allein, fuͤr ſeine Arbeit zum gemeinen Be-
ſten, keine Einkuͤnfte annehmen wollte, ſondern
auch zum gemeinen Beſten verſchiedenes aufwendete,
wozu er gar nicht haͤtte koͤnnen genoͤthigt werden.
Es kann alſo der oͤkonomiſche Leſer leicht ermeſſen,
da Sebaldus Vater, bey ſeinen Aemtern, keine Ein-
nahme und nicht wenige Ausgaben hatte, daß ſein
Vermoͤgen ſich habe verringern muͤſſen. Den Ueber-
R 2reſt
[256]
reſt deſſelben zehrte die Vormundſchaft uͤber ver-
ſchiedene arme Waiſen auf, die er freywillig uͤber-
nahm, ſo daß er bey ſeinem Tode gerade ſo viel hin-
terließ, daß er begraben werden konnte.


Er war Vater von drey Soͤhnen, Eraſmus,
Sebaldus und Elardus,
welche ſeine Frau, Hed-
wig,
die mehr ihrer Froͤmmigkeit, als ihres Ver-
ſtandes wegen bekannt war, ſchon in Mutterleibe
dem Prieſterſtande wiedmete.


Eraſmus, der aͤlteſte, war fuͤnf Fuß und zehen Zoll
hoch, breitſchulterig, wohlgewachſen, und weiß und
roth im Geſichte. Von ſeiner erſten Jugend an
liebte er ſeine eigene Perſon und hatte von ſeinen Ta-
lenten eine ſehr hohe Meinung. Nach geendeten
Univerſitaͤtsjahren, brachte ihm ſein wohlgewachſner
Koͤrper eine Hofmeiſterſtelle in einem vorneh-
men Hauſe zuwege, wo man wohlgewachſne
Leute liebte. Von da ward er Prediger, in einer
Stadt, wo ihm ſeine anſehnliche Leibesgeſtalt, ſein
ernſthafter wohlbedaͤchtiger Gang, und ſeine ver-
nehmliche Stimme, unter ſeinen Kirchkindern nicht
wenig Liebe und Ehrfurcht erwarben. Jn kurzem
wußte er eine junge reiche Wittwe von ein und
zwan-
[257]
zwanzig Jahren, ſein Beichtkind, ſo zu gewinnen,
daß ſie ihn heurathete. Von der Zeit an legte Eraſ-
mus
ſein Amt nieder, ob er gleich den geiſtlichen
Stand, des Anſehns wegen, das er dadurch in der
Stadt zu erhalten vermeinte, beybehielt. Er genoß
nunmehr ſeinen Reichthum, und wendete ihn zu al-
len Dingen an, wodurch er ſich ein Anſehen zu ge-
ben glaubte. Er ließ Waiſenkinder erziehen, ſtiftete
Stipendien, ließ Kirchen ausputzen und Altaͤre klei-
den, praͤnumerirte auf alle Buͤcher, denen die Na-
men der Praͤnumeranten vorgedruckt wurden,
nahm Zueignungsſchriften gegen baare Bezahlung
an, ſchenkte Geld zum Bau der Kirchthuͤrme und
Orgeln, u. dergl. mehr. An beſtimmten Tagen, theilte
er Geld und Brodt unter die Armen aus, welche ſich
ſchaarenweiſe vor ſeiner Thuͤr verſammelten. Und
weil er nicht allein ſeinen Reichthum, ſondern auch
ſeinen Verſtand und ſeine Perſon zur Schau tra-
gen wollte, pflegte er freywillig, alle ſechs oder acht
Wochen, eine zierliche Predigt zu halten, bey welcher
ſich alle ſeine Klienten einfinden mußten, und ſchon
den Wink hatten, ſich nach Beſchaffenheit der Um-
ſtaͤnde, durch Weinen in der Kirche, oder durch lau-
tes Lob außer der Kirche, in ſeine fernere Gunſt ein-
zuſchmeicheln.


R 3Elar-
[258]

Elardus, ein mageres blaſſes Maͤnnchen, vier
Fuß und zwey Zoll hoch, war, als das juͤngſte Kind,
von Jugend auf das geliebte Soͤhnchen ſeiner Mut-
ter, die, von ſeiner erſten Jugend an, Sorge trug,
daß er taͤglich wohl mit Speiſen geſtopfet, und mit
dem Lernen nicht ſehr angegriffen wuͤrde. Jndeſſen
glaubte er doch, in ſeinem fuͤnf und zwanzigſten
Jahre genug begriffen zu haben, um eine Predi-
gerſtelle bekleiden zu koͤnnen, welche zu erlangen ſein
aͤußerſter Wunſch war. Dieß wollte ihm aber, ſo
viel Muͤhe er ſich auch deshalb gab, auf keine Weiſe
gelingen; daher er beynahe dreyßig Jahre alt ward,
ehe er recht wußte, was er einmal in der Welt vor-
ſtellen ſollte. Zwar bekam er einſtmals, durch
Empfehlung ſeines Bruders, den Antrag, Rech-
nungsfuͤhrer bey einer Stutterey und Hundezucht zu
werden, welche ein benachbarter Fuͤrſt zum beſten
ſeiner Parforcejacht angelegt hatte, ein Amt, wo-
zu nur Rechnen und Schreiben erfodert ward, und
das doch an achthundert Gulden eintrug. Elardus
aber, der die Wuͤrde des gelehrten Standes gehoͤ-
rig zu ſchaͤtzen wußte, wies ein ſo ungelehrtes Amt,
mit Verachtung, von ſich. Jndeſſen ließ er ſich, nach
nochmaligem zweyjaͤhrigem Harren, bereden, die
Stelle eines Konrektors an einer Lateiniſchen Schule
anzu-
[259]
anzunehmen, die ebenderſelbe Fuͤrſt, um des unge-
ſtuͤmen Anhaltens ſeiner Landſtaͤnde loszuwerden, in
ſeiner Reſidenz geſtiftet hatte. Hier waren ihm zwan-
zig Gulden fixes Gehalt, ein halber Wiſpel Rocken,
etwas Flachs, und andere Naturalien, nebſt freyer
Wohnung, ausgeſetzt, welche letztere aber, vor der
Hand, wegen Baufaͤlligkeit nicht gebraucht wer-
den konnte. Alles war ungefaͤhr auf achtzig
Gulden geſchaͤtzt, weil der Fuͤrſt der gnaͤdigſten
Meinung war, den Unterweiſern ſeiner Unter-
thanen nur ungefaͤhr den zehnten Theil deſſen
zukommen zu laſſen, was die Erzieher ſeiner Pfer-
de und Hunde foderten. Die Geheimen Raͤthe des
Fuͤrſten hielten dieß fuͤr ſehr billig; theils, weil es
ungleich leichter ſeyn muͤßte, vernuͤnftige Men-
ſchen zu erziehen, als unvernuͤnftige Beſtien
abzurichten; theils, weil jedes Schulkind noch wohl
woͤchentlich einen oder zwey Groſchen Schulgeld ge-
ben koͤnnte, welches die Fuͤllen und jungen Hunde
nicht aufzubringen vermoͤchten.


Ungluͤcklicherweiſe hatte der ehrliche Elardus
nicht recht gelernt, was zu einem tuͤchtigen Schul-
manne erfoderlich iſt. Jm Hebraͤiſchen war er
beym kleinen Danz ſtehen geblieben, im Griechiſchen
R 4konnte
[260]
konnte er zwar, ziemlich ohne Anſtoß, das neue Teſta-
ment, und die goldenen Spruͤche des Pythagoras
exponiren, mehr aber nicht; und ob er zwar
Lateiniſch ganz gut verſtand, um es zu leſen,
ſo wollte, es doch mit der Lateiniſchen Schreib-
art nicht recht fort, und Lateiniſche Verſe konnte er
gar nicht machen. Es iſt wahr, er hatte einen ziem-
lichen guten natuͤrlichen Verſtand, hatte ſeine Mut-
terſprache ſo gut in ſeiner Gewalt, daß er einen ganz
artigen Deutſchen Aufſatz machen konnte, welches
er auch beſonders ſeine Schuͤler lehrte, und ſich alle
Muͤhe gab, ihnen von Geographie, Geſchichte, Sit-
tenlehre und andern Sachen, wovon er glaubte,
daß ſie ſie in der Welt brauchen moͤchten, einige Be-
griffe beyzubringen. Weil aber die Einwohner der Re-
ſidenz ihre Soͤhne, in der laͤngſt erwuͤnſchten neuen La-
teiniſchen Schule, nun auch zu rechten gelehrten Leu-
ten erzogen wiſſen wollten, ſo hatten ſie zu des Elardus
Deutſcher Lehrart gar kein Vertrauen, ſondern ſchick-
ten ihre Kinder in die Privatſtunde zum Rektor,
einem grundgelehrten Manne, der alle halbe Jahre
ein Lateiniſches Programm ſchrieb, der die Alter-
thuͤmer lehrte, und, außer den gewoͤhnlichen gelehr-
ten Sprachen, noch Syriſch, Samaritaniſch und
Arabiſch verſtand. Der gute Elardus mußte ſich
alſo
[261]
alſo ſehr ſchlecht behelfen, wenigſtens des Tages
zwoͤlf Stunden oͤffentlich lehren, und Privatunter-
richt im Dekliniren und im Rechnen ꝛc. geben. Dane-
ben, weil er ſeinen ſehnlichen Wunſch, ſich einſt aus
dem Schulſtaube zu dem Predigerſtande zu erheben,
nie vergaß, arbeitete er bis nach Mitternacht an
geiſtlichen Reden, und predigte, aus eignem Triebe,
faſt alle Sonntage, bald fuͤr dieſen, bald fuͤr jenen
Prediger. Aber Elardus war, wie ſchon geſagt,
nur klein von Perſon, hatte eine ſchwache Stimme,
und aus Mangel gruͤndlicher Gelehrſamkeit, weil
er weder die Philologie ſtndirt, noch die Dogmatik,
Polemik und Hermenevtik genugſam getrieben
hatte, waren ſeine Predigten blos moraliſch; da-
her fanden ſie keinen Beyfall, und er predigte, zu
ſeiner unbeſchreiblichen Kraͤnkung, meiſt den leeren
Choͤren und Kirchſtuͤhlen. So brachte er ſein Leben
in Gram und Kummer zu, und ſtarb an der Schwind-
ſucht, im ſechs und dreyßigſten Jahre ſeines Alters.


Eraſmus hatte einen einzigen Sohn, Cyriakus
genannt, einen Polyhiſtor und ſchoͤnen Geiſt. Alles
wußte Cyriakus, und was er nicht wußte, duͤnkte er
ſich zu wiſſen. Er ſelbſt dachte eben nicht viel, aber
wohl wiederholte er, was andere gedacht hatten,
R 5ſo
[262]
ſo oft, daß er meinte, er habe es ſelbſt gedacht. Er
las ſehr viel, und ihm gefiel alles, was er las, und
was ihm gefiel, wollte er nachmachen. Daher verſuchte
er alle Schreibarten, und ſchrieb wechſelsweiſe, hoch,
wie Klopſtock, ſanft, wie Jakobi, fromm, wie
Lavater, weltlich, wie Clodius, tiefdunkel, wie
Herder, populaͤr, wie Gleim. Jn allen Wiſ-
ſenſchaften und ſchoͤnen Kuͤnſten war er auch
gleich ſtark. Man hat einmal von ihm, in Einer
Meſſe, eine Schrift von den Dudaim des Ruben,
einen Band Anakreontiſcher Gedichte, eine Abhand-
lung von der Natur der Seele, und ein halbes Al-
phabeth hiſtoriſcher Erzaͤhlungen geleſen. Ein Amt
hat Cyriakus nie bekleidet; denn in ſeiner Jugend
war ſein Vater ein reicher Mann, und er glaubte
alſo, ſich nicht auf Brodtwiſſenſchaft legen zu duͤr-
fen. Nachdem aber Eraſmus, durch viele Unterneh-
mungen, die ſeinen Namen verewigen ſollten, ſein
Vermoͤgen ſehr verringert, und Cyriakus, nach deſ-
ſen Tode, den Reſt deſſelben, aus Liebe zu den ſchoͤ-
nen Kuͤnſten und Wiſſenſchaften, auf der Univerſitaͤt
verſchwendet hatte, ſo befand ſich der letztere in ſehr
beduͤrftigen Umſtaͤnden. Er trieb ſich an verſchiede-
nen Orten herum, ſo daß von verſchiedenen Jahren
ſeines Lebens die zuverlaͤßigen Nachrichten fehlen.
Soviel
[263]
So viel weiß man, daß er eine Zeitlang Hofpoet, bey
einem jovialiſchen Abte, in einem Kloſter in Franken
geweſen, daß er hernach Lehrer der Philoſophie bey
einem Kreisregimente geworden, deſſen Officiere,
weil ſie ſonſt nichts zu thun hatten, Gelehrte wer-
den wollten, und daß er zuletzt bey einer kleinen ge-
lehrten Repnblik,
auf einer ſichern Deutſchen
Univerſitaͤt, welche ihre Landtage, in Ermang-
lung eines Eichenhains, in einem Kaffegarten vor
dem Thore hielt, als Naſenruͤmpfer geſtanden
hat.


Dieſe Familiennachrichten dem Publikum mitzu-
theilen, wird man veranlaſſet durch eine Schrift,
betitelt:


Predigten des Herrn Magiſter Sebal-
dus Nothanker, aus ſeinen Papieren ge-
zogen. Leipzig in der Weigandiſchen Buch-
handlung 1774. 8.


Es koͤnnte ſchon ſehr ſonderbar ſcheinen, daß ein
Fremder dieſe Predigten aus den Papieren des Herrn
Magiſter Sebaldus Nothanker ſollte gezogen ha-
ben, da dieſer noch bey gutem Wohlſeyn lebt, ſeine
ſaͤmmt-
[264]
ſaͤmmtlichen Papiere beſitzt, und noch nicht geneigt zu
ſeyn ſcheint, etwas daraus, am wenigſten aber Pre-
digten,
herauszugeben. Jndeſſen, wenn dieſe Pre-
digten nur dem Charakter des Hrn. Magiſter Se-
baldus Nothanker
gemaͤß, geſchrieben waͤren,
ſo wuͤrde man doch ſein Urtheil noch zuruͤckhalten,
und dahingeſtellt ſeyn laſſen, ob etwan die Hand-
ſchrift derſelben, auf eine unbekannte Art, dem Her-
ausgeber moͤchte in die Haͤnde gerathen ſeyn; aber
derjenige, der den Hrn. Magiſter Sebaldus etwas
genauer und perſoͤnlich gekennet, wird gleich einſe-
hen, daß dieſe Predigten unmoͤglich von dieſem gu-
ten Manne herruͤhren koͤnnen.


Wenn man nur S. L. der Vorrede, die Anmer-
kungen
lieſet, die am Rande der Handſchrift der
Predigten ſollen geſtanden haben, ſo ſiehet man
gleich, daß darinn ein unertraͤglicher Egoiſmus herr-
ſchet, der dem von allem Eigenduͤnkel entfernten
Charakter des Sebaldus ganz zuwider iſt.


Z. B. ‚Jch danke meinem Gott alle Tage, daß
”er mich in einen Stand geſetzt hat, in welchem
ich zur Erleuchtung des Landmannes ſo viel
”beytragen kann.‛


So
[265]

So haͤtte Sebaldus nie von ſich geredet, der in
aller Einfalt ſeine Pflicht that, und Gutes ſtiftete, ſo
viel er konnte, ohne zu glauben, daß er ſo viel
thaͤte, ohne feyerlich auszurufen: Jch danke dir,
Gott, daß ich nicht bin, wie andere Leute!


Eben ſo iſt die Anmerkung S. LII. beſchaffen:


‚Jch gebe meine Predigten nicht fuͤr Muſter aus,
”wornach meine Kollegen ſich bilden ſollten. Wenn
”ſie nur daraus abſehen, was ungefaͤhr ſie vor-
”tragen ꝛc. ꝛc.‛


O! wie haͤtte der beſcheidene Sebaldus, der,
wenn er predigte, und ſeine Kirchkinder troͤſtete, und
ſie zum Guten ermahnte, nur ganz gewoͤhnlicher Weiſe
ſeine Pflicht gethan zu haben glaubte, ſich auch nur
die Jdee in den Sinn kommen laſſen, er koͤnne
jemand ein Muſter werden, oder es koͤnnten andere
von ihm etwas abſehen!


Daß ferner bey dieſen Predigten keine bibliſchen
Texte
vorhanden ſind, zeigt auch genugſam, daß ſie we-
der Sebaldus, noch irgend ſonſt ein Prediger, der die
Geſinnungen der Landleute kennet, gemacht haben
kann.
[266]
kann. Sebaldus wußte viel zu gut, wie viel Ge-
walt auch nur der bloße Ton eines bibliſchen Spruchs
uͤber die Seele eines Bauren hat, als daß er ein ſo
unſchaͤdliches Huͤlfsmittel nuͤtzliche Wahrheiten ein-
zupraͤgen, haͤtte vernachlaͤßigen ſollen.


Doch, ſelbſt aus der Nachricht des Herausge-
bers, wie er zu denen Handſchrift dieſer Predig-
ten gekommen ſey, erhellet nicht allein deutlich,
daß dieſe Handſchriften nicht wohl vom Sebal-
dus
geweſen ſeyn koͤnnen, ſondern wir kommen
dadurch auch auf eine ſehr wahrſcheinliche Vermu-
thung, wo ſich dieſe Handſchriften eigentlich her-
ſchreiben moͤgen.


Es heiſt S. XLV. der Vorrede: ‚Vor einiger Zeit
”kam ein Deſſauiſcher Jude zu mir, der, nebſt
”andern Waaren, verſchiedene Paar ſchwarze
”ſeidne Struͤmpfe, Halskrauſen,
ꝛc. ꝛc. faſt alles in
beſchriebenes Papier eingewickelt, mir zum Ver-
”kaufe anbot. „Aber, mein guter Mann, ſprach
”ich, wie kommt Er denn zu Chriſtlichen Hals-
”krauſen?
‟ ‚Jn einem Dorfe, nicht weit von hier,
”antwortete er, hat ſie mir ein Bauer verkauft, der
”ſie, vor einigen Jahren, nebſt dem uͤbrigen, an
”der
[267]
”der Landſtraße gefunden zu haben vorgab. Kurz
”vorher hatte ich Nothankers Geſchichte geleſen.
”Gleich fiel mirs aufs Herz, ob dieſe Sachen nicht
”von dem gepluͤnderten Poſtwagen ſeyn moͤchten.‛


Jſt dieſe Erzaͤlung richtig, ſo haͤtte auf den Titel
geſetzt werden ſollen: Aus dem Makulatur eines
Deſſauiſchen Juden abgedruckt,
nicht aber: Aus
Sebaldus Papieren gezogen,
denn dieß letztere
Vorgeben iſt durch nichts erwieſen. Der Heraus-
geber hat bey ſeiner Muthmaßung, die er bloß auf
ſeine Erzaͤhlung bauet, in der That ſehr wenig hi-
ſtoriſche Kritik
gezeigt Haͤtte er doch mehr auf
die Chronologie, welche die Fackel der Geſchichte
iſt, geachtet. Jſts wohl warſcheinlich, daß Klei-
dungsſtuͤcke, welche 1763 auf einem Poſtwagen ver-
loren gegangen ſind, noch 1773, unverkauft, mit
dem Papier worinn ſie anfaͤnglich gewickelt geweſen,
in den Haͤnden eines Juden ſeyn ſollten? Und war-
um that er an den Juden die unnoͤthige Frage,
‚wie er zu Chriſtlichen Halskrauſen komme?‛
da es ja bekannt iſt, daß die Juden abgetragene
Chriſtliche Kleider mit eben ſo wenigem Bedenken in
ihre Laden aufnehmen, als die Chriſten manche abgetra-
gene Juͤdiſche Lehre in ihre Dogmatik aufgenommen
haben.
[268]
haben. Und wie kann er auf des Juden unbeſtimmte
und unbewieſene Antwort das geringſte bauen?
Wenn auch alle die Sachen, die der Jude zum Ver-
kauf anbot, wirklich auf der Landſtraße gefunden
worden waͤren, ſo koͤnnen ſie doch gewiß nicht dem
Sebaldus gehoͤrt haben. Wie waͤre er, der zeitle-
bens in einer laͤndlichen Einfalt gelebt hatte, und der
aus Noth ſeine beſten Sachen hatte verſtoßen muͤſ-
ſen, zu ſeidnen Struͤmpfen gekommen? Wozu
haͤtte er wohl, nachdem er abgeſetzt worden, Hals-
krauſen
*) mit ſich gefuͤhrt? Und da er, als er weg-
reiſete, wie S. 163 des erſten Theils ſeines Lebens
berichtet worden, ſeinen ihm ſo werthen Kommentar
uͤber die Apokalypſe bey ſeinem Freunde Hierony-
mus
zuruͤckließ, iſts wohl wahrſcheinlich, daß er
die Koncepte von alten Predigten ſollte mitgenom-
men haben?


Die Muthmaßung des ungenannten Herausge-
bers iſt alſo hoͤchſt unwahrſcheinlich. Wenn man
nun aber hingegen aus den ſicherſten Familiennach-
richten
[269]
richten weiß, daß Cyriakus ſeines Vaters Kleider
Halskrauſen und Manuſkripte, ſo wie auch den ge-
ringen Nachlaß des fruͤhzeitig verſtorbenen Elardus
geerbt hat, wenn ferner unwiderſprechlich bewieſen
werden kann, daß Cyriakus, als er 1772 von Leip-
zig wegreiſen wollte, ſeine ſaͤmmtliche Kleidung, Buͤ-
cher und Papiere, zu einem Troͤdler getragen hat,
der vor dem Grimmiſchen Thore, in der Gegend des
Richterſchen Kaffegartens wohnt, und ſeinen haupt-
ſaͤchlichen Abzug an Deſſauiſche Juden hat: wird es
nun nicht vielmehr wahrſcheinlich, daß die dem un-
genannten Herausgeber ſo zufaͤlliger Weiſe in die
Haͤnde gerathenen Predigten, wenn ſie gleich nicht
von Sebaldus Nothankern ſind, dennoch ſehr
wohl von Eraſmus Nothankern, von Elardus
Nothankern,
und von Cyriakus Nothankern her-
ruͤhren koͤnnen?


Dieſe Muthmaßung wird beynahe zur Gewiß-
heit, wenn man die innere Beſchaffenheit dieſer Pre-
digten betrachtet. Gleich der erſte Abſatz, der er-
ſten Predigt, von der Einigkeit in der Ehe,
kann
ganz unmoͤglich aus Sebaldus Feder gefloſſen ſeyn;
denn es koͤmmt darinn, ob er gleich nur eine halbe
Seite lang iſt, ſechszehnmal das liebe Jch vor.
Man hoͤre:


S‚Nichts
[270]

‚Nichts wuͤnſche ich ſo ſehr, als daß ihr gluͤcklich
”ſeyn moͤget. Jhr werdet es von mir uͤberzeugt
”ſeyn, meine lieben Zuhoͤrer, daß ich dieſes auf-
”richtig wuͤnſche; denn ihr wißt, wie ich zu euch
”eile, um euch zu troͤſten, wenn ihr traurig ſeyd,
”und wie gern ich auch an euren Freuden Antheil
”nehme, wenn ihr einen froͤhlichen Tag habt. Mein
”Amt, und mein Herz macht mir dieſes zur Pflicht.
Mein Amt, weil es mir zunaͤchſt aufgetragen iſt,
”euch an meiner Hand durch die Bahn dieſes Le-
”bens zu fuͤhren, und euch zu einem ſeligen Leben,
”das euch nach dieſem erwartet, zu bereiten. Aber
”auch mein Herz macht es mir zur Pflicht, weil
ich euch aufs herzlichſte liebe. Ein Hirt kann
”nicht ſo ſehr ſeine Schafe, ein Vater nicht ſo ſehr
”ſeine Kinder lieben, als ich euch.‛


So ein grober Egoiſt war der beſcheidene Sebal-
dus
nicht. Er ſprach nicht ſo viel von ſich. Er
liebte ſeine Kirchkinder; aber dieſe Liebe trug er nicht
oͤffentlich zur Schau. Er ſtand ſeinem Amte vor, er
that ſeine Pflicht; aber er hatte ſein wichtiges
Amt,
ſeine theure Pflicht, nicht immer auf der
Zunge, um ſeinem guten Herzen ein Kompliment zu
machen. Hingegen der ruhmſuͤchtige Eraſmus, der
haupt-
[271]
hauptſaͤchlich nur deswegen predigte, um ſich, von
der Kanzel herab, in ſeiner Groͤſſe zu zeigen, redete
beſtaͤndig von ſich ſelbſt, von ſeinem guten Willen
gegen ſeine Zuhoͤrer, von ſeinem Herzen, von ſei-
ner
Liebe, von ſeinem Vertrauen, kurz, er predigte
ſich ſelbſt, um ſein ſelbſt willen.


Wenn ferner dieſe Predigt vom Sebaldus, oder
auch nur von irgend einem andern Landprediger, an
Bauern, gehalten waͤre, ſo wuͤrde darinn nicht ſo
mancherley ‚von Geld und Gut; von einem Geiz-
”halſe
der einen Freyer abweiſet, wenn er nicht ſo
”viel Gut und Geld hat, als ſeine Tochter; von
”einem Maͤdchen, das am meiſten Geld hat; von
”einem unehrbaren Maͤdchen, das man nicht heura-
”then ſollte, wenn ſie auch noch ſo viel Geld haͤtte,‛
vorkommen. Wenn Sebaldus uͤber dieſe Gegen-
ſtaͤnde zu reden gehabt haͤtte, ſo wuͤrde er von Vieh,
Aeckern, Wieſen
und Gaͤrten geſprochen haben;
denn darinn beſtand das Vermoͤgen ſeiner Bauern,
ſo wie der allermeiſten Bauern in der Welt. Daß
Sebaldus Vaterland zwar fruchtbar, aber ohne
baares Geld geweſen, kann der Leſer ſchon aus der
Art, wie der ehrliche Hieronymus ſeinen Buchhan-
del treiben mußte, ſchließen.


S 2Eben
[272]

Eben ſo heißt es, S. 4. ‚Jch will euch itzt nichts
”davon ſagen, daß der Reichthum oͤfters eurer
”Seele hoͤchſtſchaͤdlich iſt, daß er eine Verſu-
”chung iſt zu allem Boͤſen,
und daß unſer weiſe-
”ſter Lehrer ſagt, daß die Reichen nicht in das
”Reich Gottes kommen werden.
Daran will
”ich euch itzt nicht erinnern, weil ich unlaͤngſt von
”der Schaͤdlichkeit des Reichthums ausfuͤhrlich
”zu euch geredet habe.‛ Dieß iſt ein klarer Beweis,
daß Sebaldus nicht der Verfaſſer dieſer Predigt
ſeyn koͤnne; denn man kann ſich fuͤr ihn ſicher verbuͤr-
gen, daß er ein ſo ungeſchmacktes Poſtillengeſchwaͤtz,
von der Schaͤdlichkeit des Reichthums, ſeinen
Bauern nie werde vorgeredet haben. Er war viel-
mehr beſtaͤndig befliſſen, ſeinen Bauern zu predigen,
daß ſie fruͤh aufſtehen, ihr Vieh fleißig warten,
ihren Acker und Garten aufs beſte bearbeiten ſollten,
alles in der ausdruͤcklichen Abſicht, daß ſie wohl-
habend
werden, daß ſie Vermoͤgen erwerben,
daß ſie reich werden ſollten. Sebaldus wußte nur
allzuwohl, daß die niederdruͤckende Duͤrftigkeit,
welche die einzige Alternative ſeyn kann, wenn der
Bauer nicht wohlhabend ſeyn ſoll, eine fruchtba-
rere Mutter der Barbarey und verderbter Sitten
iſt, als der baͤuriſche Reichthum, der allemal eine
Folge
[273]
Folge des Fleißes ſeyn muß; daher derjenige, der
den Bauern von der Schaͤdlichkeit des Reich-
thums
predigen wollte, ihnen ausdruͤcklich die Faul-
heit
empfehlen muͤßte. Dagegen weiß man vom
Eraſmus, daß er, ſeitdem er ſelbſt reich gewor-
den war, den erbaulichen Gemeinort, von der Nich-
tigkeit und Schaͤdlichkeit des Reichthums,
ſehr
oft im Munde gefuͤhrt habe; einen Gemeinort, uͤber
den man in der That am zierlichſten zu reden weiß,
wenn man an nichts Mangel hat.


Noch eine andere Stelle giebt die ſtaͤrkſte Vermu-
thung an die Hand, daß niemand anders, als Eraf-
mus Nothanker,
der Verfaſſer dieſer Predigt ſeyn
koͤnne. S. 6. heißt es: ‚Es entſpringt viele Unei-
”nigkeit unter euch daher, daß ihr gemeiniglich
”mit euren Schwiegeraͤltern unter Einem Dache
”wohnet.
Es iſt mir leid, daß ich es ſagen muß,
”aber leider! iſt es durch die Erfahrung gegruͤndet,
daß nur ſehr wenige Eheleute in Einigkeit le-
”ben, wenn ſie ihre Schwiegeraͤltern bey ſich
im Hauſe haben.
Jhr wuͤrdet euch oͤfters nicht
”zanken, wenn nicht zuweilen eines der Schwieger-
”aͤltern Oel ins Feuer goͤſſe. Die Schwiegeraͤl-
tern
glauben, man koͤnne ſie nicht zu gut hal-
S 3”ten,
[274]
ten, und ihnen nicht dankbar genug ſich be-
”weiſen.
Sie ſind uͤberzeugt, in allen Stuͤcken
”alles beſſer zu wiſſen, als
die jungen Eheleute,
”und wollen alles im Hauſe anordnen. Nichts
”kann man ihnen recht thun.
Hiezu koͤmmt
”noch, daß das Alter ſie ohnehin muͤrriſch und
”verdrießlich, und mit ſich ſelbſt und der gan-
”zen Welt unzufrieden macht.
Haben nun die
”Eheleute einen kleinen Zwiſt untereinander, ſo tritt
”der Schwiegervater oder die Schwiegermutter auf
”die eine oder andere Seite, und vergroͤſſert den
”Streit, ſtatt daß dieſe Alten ihn ſchlichten, und
”die ſtreitenden Parteyen verſoͤhnen ſollten.


Laͤßt es ſich wohl nur denken, daß der ſittſame
Sebaldus, auf eine ſo plumpe Art, alle Schwie-
geraͤltern,
die bey ihren Kindern wohnen, habe oͤf-
fentlich, von der Kanzel herab, beſchimpfen wollen?
daß er dieſes vor Bauern habe thun wollen, welche
ihre Schwiegeraͤltern gewiß nur bloß, wenn dieſe
aus Armuth, oder aus Alter und Schwachheit, ihren
eigenen Acker nicht bauen koͤnnen, bey ſich haben
werden? Zwar wird, S. 12. den Zuhoͤrern empfoh-
len, daß ſie ihre Schwiegeraͤltern in Ehren halten,
ihrem guten Rath folgen,
und ſie pflegen ſollen;
aber
[275]
aber wie werden ſie dieſes thun, wie werden ſie ihre
Schwiegeraͤltern nur im Hauſe leiden wollen, wenn
der Prediger dieſe ſchon vorher als die veraͤchtlichſten,
verdrießlichſten, zaͤnkiſchſten Geſchoͤpfe abgeſchil-
dert hatte, die zu den Haupturſachen der eheli-
chen Uneinigkeit
gehoͤren, die bey den haͤus-
lichen Zwiſtigkeiten Oel ins Feuer gießen, die ſie
vergroͤſſern, an ſtatt ſie zu ſchlichten? Dieſes un-
bedachtſame Epiphonema ſieht dem ſtolzen Eraſ-
mus
ſehr aͤhnlich, der wirklich mit ſeiner Schwie-
germutter anfaͤnglich in Einem Hauſe gewohnt hat,
und hernach, als ſie ihm ſehr vernuͤnftige Vorſtel-
lungen daruͤber that, daß er das Vermoͤgen ihrer
Tochter aus Eitelkeit verſchwendete, mit ihr in be-
ſtaͤudiger Uneinigkeit lebte, und ſie wohl oft mag
abgekanzelt haben.


Es iſt hoͤchſt wahrſcheinlich, daß Eraſmus Noth-
anker
auch die folgende Predigt wider die Pro-
ceſſe
verfertigt habe. Man findet darinn, S. 18.
unter andern, folgende hoͤchſt anſtoͤßige Stelle: ‚Der
Advokat muͤßte ein allzuuneigennuͤtziger Mann
”ſeyn, wenn er enren Rechtshandel nicht ſo
”lange auszudehnen ſuchte, als es moͤglich iſt,

”um recht vieles von euch einzunehmen. Es hat zwar
S 4”den
[276]
”den Anſchein, als wenn kein Advokat dieſe Abſicht
”haͤtte; denn zuerſt ſucht er euch gemeiniglich mit
”eurem Gegner zu vergleichen, oder es wird, wie
”man ſich ausdruͤckt, ein Termin zur Guͤte ange-
”ſtellt. Habt ihr aber jemals gehoͤrt, daß ein Ter-
”min zur Guͤte einen erwuͤnſchten Erfolg ge-
”habt haͤtte?
Der Advokat muͤßte ſeinen Vortheil
”gar nicht verſtehen,
wenn er nicht, ſtatt euch
”mit eurem Gegner zu vergleichen,
in euch eine
”groͤſſere Luſt erweckte,
dem Rechte ſeinen Lauf
”zu laſſen.‛ Ferner, S. 22. ‚Der groͤßte Theil
”der Leute von dieſem Stande ſcheint den Ei-
”gennutz zu ſeinem Gott gemacht zu haben, den
”er allein anbetet, und dem er Ehre, Gewiſſen,
”Redlichkeit, alles aufopfert,
u. ſ. w.


Sollte es wohl moͤglich ſeyn, daß der ſanftmuͤthige
Sebaldus einen ganzen, dem gemeinen Weſen noͤthi-
gen und nuͤtzlichen Stand, habe oͤffentlich, auf eine ſo
bittere und zugleich ſo toͤlpiſche Weiſe, verunglimpfen
wollen? Sollte wohl ein verſtaͤndiger Mann zweifeln
koͤnnen, daß jemals ein Termin zur Guͤte den
erwuͤnſchten Erfolg gehabt habe?
Dieß ſiehet
wirklich viel weniger einem unbefangenen Dorfpre-
diger,
[277]
diger, wie Sebaldus, als einem aufgeblaſenen Reu-
tenirer, wie Eraſmus, aͤhnlich, der, weil er ver-
langte, daß ſich jedermann vor ihm beugen, und
nach ſeinem Willen handeln ſollte, eine Menge Pro-
ceſſe gehabt hat, in welchen freylich kein einziger
Termin zur Guͤte jemals einen erwuͤnſchten
Erfolg gehabt hat,
weil Eraſmus beſtaͤndig ſei-
nem Eigenſinne folgen, und niemals vernuͤnftigen
Vorſtellungen Gehoͤr geben wollte.


Die Prdigten wider den Aberglauben, von
der Zufriedenheit, von der Geſundheit, von
der Kinderzucht, von der Gluͤckſeligkeit des
Landmannes,
ſcheinen von Elardus Nothanker,
dem juͤngern Bruder unſers Sebaldus herzuruͤhren.
Es ſind ganz leidliche, gutgemeinte, etwas weitſchwei-
fige Homilien, die Leſern in Staͤdten, die gern Pre-
digten leſen, ganz gut gefallen werden; nur findet
man darinn freylich hin und wieder Spuren, daß ſie
nicht vor Bauern gehalten worden, oder fuͤr Bauern
beſtimmt geweſen. Wie wuͤrde man z. B. (S. 57.)
darauf kommen, Bauern vorzuſagen: ‚Geld und
”Ehre
machen nicht warhaftig gluͤcklich.‛ Der
Bauer hat ja gemeiniglich kein Geld, und verlangt
keine Ehre.


S 5Die
[278]

Die beiden Fragmente der Predigten von der
Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen,
und vom Tode fuͤrs
Vaterland,
haben ohne Zweifel den witzigen Cyria-
kus
zum Verfaſſer. Es iſt ſchon oben geſagt worden,
daß er in allen Schreibarten Verſuche gemacht habe,
und man ſieht es dieſen Fragmenten auch nur allzuſehr
an, daß ſie Verſuche, und zwar Verſuche eines jungen
Menſchen ſind. Ein Mann, der ſo viel Ueberlegung
hatte, wie Sebaldus, wuͤrde ſchwerlich, vor Bauern,
von der Endlichkeit der Hoͤllenſtrafen eine ausdruͤck-
liche Predigt gehalten haben, wenigſtens ſicherlich nicht
auf die Art, wie es hier geſchiehet. Er haͤtte ge-
wiß uͤberlegt, daß er, ehe er uͤber dieſe Materie haͤtte
mit Nutzen predigen koͤnnen, noch vorher in der
groben Vorſtellung, die ſeine Bauern von goͤttli-
chen Strafen haben koͤnnten, ſehr viel zu aͤndern
und zu beſſern gehabt haben wuͤrde. Er wuͤrde ihnen
haben zeigen muͤſſen, daß, durch Gottes weiſe Ein-
richtung, die natuͤrlichen, ſowohl phyſiſchen als mo-
raliſchen Folgen der Laſter, auf unabſehliche Zeiten
hinaus, die Strafen der Laſter ſeyn muͤſſen; daß
auch poſitive Strafen Gottes, ſeiner Guͤte und Ge-
rechtigkeit angemeſſen, dazu kommen koͤnnen; daß
dieſe, nach geſchehener Beſſerung, aufhoͤren werden,
ſo wie durch die Beſſerung auch die Folgen der Suͤn-
den
[279]
den gemildert werden, da ſie ſonſt freylich, an ſich,
in alle Ewigkeit fortdauern. Hierbey hatte er aber,
fuͤr einen gemeinen Bauerverſtand, viel zu ſubtil
werden muͤſſen; daher er, wie wir von ihm ſelbſt er-
fahren haben, von dieſer Materie ſeinen Bauern
niemals etwas geſagt, ſondern ihnen nur Gott, als
ein allgerechtes und allguͤtiges Weſen, das ſeine
Strafen nach weiſen Abſichten verhaͤngt, und deſſen
Zweck dabey allemal das wahre Wohl des Menſchen
iſt, vorgeſtellt hat; ohne ſich in die transcendenten
Begriffe von Ewigkeit und Endlichkeit einzulaſſen,
die kein Bauer recht genau faſſen wird, und die ihm
zur Beſſerung ſeines Lebens, welche Sebaldus fuͤr
den einzigen Zweck ſeiner Predigten hielt, nichts hel-
fen koͤnnen.


Das Fragment der Predigt vom Tode fuͤrs
Vaterland
iſt gleichfalls gewiß nicht vom Sebal-
dus,
welches ſchon daraus erhellet, daß man von
dem enthuſiaſtiſchen Feuer, in welchem, nach S. 32
des erſten Theils ſeiner warhaften Lebensgeſchichte,
dieſe Predigt gehalten worden, in dieſem Frag-
mente nicht das geringſte findet; ſo daß, wenn
die Predigt ſo kahl und kalt geweſen waͤre, als
dieſes Fragment, ſchwerlich nur ein einziger Bauer-
kerl
[280]
kerl dadurch wuͤrde bewogen worden ſeyn, Kriegs-
dienſte zu nehmen. Es ſcheint, Magiſter Cyriakus
habe hiemit bloß einen Verſuch machen wollen, zu
zeigen, wie die Predigt, um welcher willen ſein
Oheim, Sebaldus, abgeſetzt worden war, ausgeſe-
hen haben moͤge. Dieſer Verſuch aber mißlung,
weil Cyriakus nicht Sebaldus iſt, obgleich beide
Nothanker heißen.


Uebrigens will man freylich den Satz: daß Eraſ-
mus Nothanker, Elardus Nothanker,
und Cy-
riakus Nothanker,
die Verfaſſer der ſogenannten
Nothankerſchen Predigten ſind, fuͤr weiter nichts,
als fuͤr eine wahrſcheinliche Muthmaßung aus-
geben. Wem dieß zu wenig duͤnkt, der bedenke, daß
das Reſultat der tiefſinnigſten hiſtoriſchen Unterſu-
chungen, oft weiter nichts als eine Muthmaßung
ſey, und daß, z. B. die wichtige hiſtoriſche Frage:
ob die Prinzeſſin Olgaanno Domini 946, oder 955,
zu Konſtantinopel getauft worden,
nachdem die
groͤßten hiſtoriſchen Kritiker unſerer Zeit daruͤber
manche nordiſche Nacht durchwacht*) haben,
den-
[281]
dennoch auf beiden Theilen leider! nur noch bloß auf
Muthmaßungen beruhe, dagegen mit unſerer
Muthmaßung, noch die unſtreitige Warheit ver-
bunden iſt: daß gedachte Predigten, ihr Verfaſſer
ſey auch, wer er wolle, wenigſtens gewiß nicht
von Sebaldus Nothankern
ſind.


Man hat uͤbrigens aus ſichern Privatnachrichten
erfahren, daß hin und wieder einige gelehrte Fabri-
kanten auf ihren Weberſtuͤhlen zu verſchiedenen Zeu-
gen die Ketten angedreht haben, wozu der ehrliche
Sebaldus Nothanker, und ſeine Bekannten, den
Einſchlag geben ſollen. Z. B. Sebaldus Nothan-
kers
Beicht-Bet-und Kommunionbuch; Sebal-
dus Nothankers
Betrachtungen auf alle Tage im
Jahre; Sebaldus Nothankers Sonn- und Feſt-
tagspredigten uͤber alle Evangelien und Epiſteln; Se-
baldus Nothankers
ſchrift-und vernunftmaͤßige
Auslegung der Offenbarung Johannes; des Hrn.
D. Stauzius Aufmunterung zur Bewahrung der
Rechtglaͤubigkeit, und Warnung vor falſcher Lehre;
Kochbuch von 5000 Speiſen, nach der Anlage Sr.
Excellenz, des Hrn. Grafen von Nimmer, nebſt
einem Anhange von Faſtenſpeiſen. Rambolds
aͤſthetiſches Lehrbuch; Hieronymus Tiſchreden, Ein-
faͤlle
[282]
faͤlle und Meinungen; u. a. m. Daher will man
das Publikum warnen, ſich durch dieſe und andere der-
gleichen verfaͤngliche Titel nicht hintergehen zu laſſen;
denn Hr. Sebaldus Nothanker wird, was er et-
wa der Welt vorlegen wollte, ſchon zu ſeiner Zeit
ſelbſt herausgeben, von den uͤbrigen Perſonen aber
moͤchten wohl keine aͤchten Schriften zu erwarten ſeyn.


Zuletzt iſt der geneigte Leſer zu benachrichtigen,
daß ein kurzweiliger Mann darauf gefallen iſt, das
Leben und die Meinungen des Hrn. Magiſter
Sebaldus Nothanker,
ohne die geringſte Nach-
richten davon zu beſitzen, aus ſeinem eigenem Ge-
hirne fortzuſetzen, und einen ſo genannten zweyten
Band
unter dem Druckorte Frankfurt u. Leipzig,
1774, drucken zu laſſen, welcher zu Hamburg in der
Zeitungsbude der Frau Wittwe Tramburginn, im
Brodtſchrangen,
nebſt andern Zeitungsblaͤttern, oͤf-
fentlich zu verkaufen iſt. Der geneigte Leſer kann
freylich, in dem unaͤchten zweyten Bande, den wah-
ren fernern Verlauf der Geſchichte des Hrn. Mag.
Sebaldus Nothanker nicht finden, weil der unge-
nannte Verfaſſer ſelbſt nichts davon wußte; aber
wem daran gelegen iſt, kann allenfalls daraus erſe-
hen, was fuͤr eine Vorſtellung vom Sebaldus
Noth-
[283]
Nothanker, in dem Kopfe eines ſolchen Menſchen,
wie der ungenannte Verfaſſer iſt, exiſtiren mag.


Die unaͤchte Fortſetzung kann uͤbrigens noch
einen andern Nutzen haben. Jn dem aͤchten zwey-
ten Bande
wird man, der Wahrheit gemaß, ſehr
viele Meinungen und nur ſehr wenige Handlun-
gen
antreffen, weil der ehrliche Sebaldus wirklich
meiſtens nur gedacht, aber nicht gehandelt hat.
Sollte es nun Leſer geben, welche wuͤnſchten, daß
man ihnen lieber Handlungen, als Meinungen, er-
zaͤhle, ſo koͤnnten ſie verſuchen, ob ſie vielleicht bey
dem unaͤchten zweyten Bande ihre Rechnung fin-
den moͤchten, in welchem alles voll Bewegung und
Handlungen iſt, und zwar voll ganz ungemein merk-
wuͤrdiger Handlungen. Z. B. ‚Wie Sebaldus,
”nachdem ihm die Raͤuber auf dem Poſtwagen ein
”Loch in den Kopf geſchlagen hatten, ein Glas
Kirſchbrandwein trinkt, welches alle Grillen ver-
”trieb.
— Wie Tuffelins ſeines Schulmeiſters Frau
”verfuͤhrt, welcher ihn dafuͤr durchs ganze Dorf
”peitſcht. — Wie ſich eine alte Jungfer Sibylle,
”in Sebaldus verliebt, und ihn des Nachts in ſei-
”nem Bette beſucht. — Wie Saͤugling mit Ma-
”rianen
heimliche Zuſammenkuͤnfte haͤlt, wobey die
Ver-
[284]
Vertraulichkeit ſo hoch ſteigt, daß ſie ſich ſo laut
”kuͤſſen,
daß man es in einer ziemlichen Entfer-
”nung hoͤret.
— Wie Hieronymus den D. Stau-
”zius
auf einem Wagen, in einen Kaſten ſetzt, wor-
”inn Schweine und Gaͤnſe geweſen, wobey Stau-
”zius
ſehr andaͤchtig ſingt: So fahre fort und
”ſchone dort;
— nebſt nicht wenig Hochzeiten und
andern poſſierlichen Begebenheiten, woraus abzuneh-
men iſt, daß der Verfaſſer, der ſolche ſchnakſche
Dinge hat erdenken koͤnnen, ein pudelnaͤrrſches
Menſchengeſicht
ſeyn muͤſſe.


Appendix A Druckfehler.


  • S. 7. Z. 9. glaͤnzende, lies, geſchminkte.
  • S. 9. Z. 16. die Hoͤllenſtrafen, l. die Ewigkeit der Hoͤl-
    lenſtrafen.
  • S. 10. Z. 8. von unten: leibliche, l. liebliche.
  • S. 17. Z. 8. glaͤnzendes, l. geſchminktes
  • S. 25. Z. 7. halb vier, l. drey.
  • S. 72. Z. 5. von unten: ſondern vielmehr, l. ſon-
    dern, daß man vielmehr.
  • S. 216. Z. 2. von unten: Kamern l. Kameen.


[[285]][[286]][[287]][[288]][[289]]
Notes
*)
Woltersdorfs ſämtliche neue Lieder. Berlin 1768. S. 37.
*)
Der Pieriſt hat dieſe Worte buchſtaͤblich aus den Buͤ-
dinzſchen Sammlungen.
8ten Stück S. 257. genommen.
*)
Der Leſer glaube nicht etwan, daß ein ſolches Lied zu
Behufe dieſes Geſprächs erdichter worden. Er darf
auch nicht glauben, daß es etwan ein unbedeutender
Schwärmer für den Winkel eines fanatiſchen Conventikels
verfertigt habe. Nein! dieß Lied ſteht S. 792. eines, in die
evangeliſch-lutheriſchen Kirchen in der Churmark, unter
oͤffentlicher Autoritaͤt,
eingeführten Geſangbuchs, betitelt:
Geiſtliche und leibliche Lieder, welche der Geiſt des Glau-
bens durch D. M. Luther, Joh. Hermann, Paul Gerhard,
und andere ſeiner Werkzeuge, in den vorigen und itzigen
Zeiten gedichtet, und die bisher in den Kirchen und Schü-
len der Koͤnigl.
Preuß. und Churf. Brandenb. Lande be-
kannt, u. ſ. w. herausgegeben von Johann Porſt, Koͤnigl.
Preuß. Conſiſtorialrath, Probſt und Jnſpector zu Berlin-

Gedruckt zu Berlin in 12.
*)
Manchen eifrigen Gottesgelehrten, muß es nicht ſo anſtößig
ſeyn, als dem ehrlichen Sebaldus, daß die Seligen im Him-
mel die ewige Quaal der Verdamten ganz geruhig, ohne Mit-
leid,
anſehen ſollen. Z. B. Jn M. Cyriacus Hoͤfers kur-
zem und richtigem Himmeisweg wie ein Kind in 24 Stun-
den lernen kann, wie es ſoll der Hoͤllen entgehen und ewig
ſelig werden, einem Katechismus, der im Churfuͤrſten-
thume Sachſen,
und vielleicht auch in andern Provinzen,
in vielen Schulen, zur Unterweiſung der Jngend gebraucht
wird, und der noch 1772 zu Leipzig gedruckt worden, findet
man S. 97. folgende Fragen und Antworten:

„Wenn du welche der Deinen würdeſt in der Hölle ſehen
”würde dir die Marter zu Herzen gehen, oder würde ſie
”dir nicht zu Herzen geben?‟
„Antw. Sie wuͤrde mir nicht zu Herzen gehen.
„Warum wird ſie dir nicht zu Herzen gehen?‟
„Antw. Weil alsdenn mein Willen mit dem Willen
”Gottes uͤbereinſtimmen wird.


Will
*)
Will man denn nicht endlich einſehen, wie unſinnig es
iſt, bey Kindern, indem man ihnen die Lehren der Reli-
gion beybringen will, die edlen Empfindungen der Menſch-
lichkeit zu unterdruͤcken, und wie abſcheulich, ſie zu lehren,
daß ihr Willen mit dem Willen Gottes uͤbereinſtimme,
wenn ſie die überſchwenglichen Leiden anderer Menſchen
ſich nicht zu Herzen gehen laſſen. So lange ſolche Unge-
reimtheiten noch in unſern Katechismen ſtehen, dürfen wir
den Spoͤtter nicht anklagen, der einem Kapuziner die Worte
in den Mund legt: „Et moi Predeſtiné, je rirai bien quand
”vous ſerez damné.
*)
Er ſoll, wie verſchiedne Nachrichten bezeugen, den from-
men Wunſch hinzugethan haben, daß ihnen, wenn das
eiskalte Fieber ihre Glieder zerruͤtte, weder bittre Eſſenz
noch Kirchengebet helfen moͤchten,
welchen Wunſch der
Verfaſſer des Gedichts Wilhelmine, der, nach Art der Dich-
ter, wegen der genauen Beſtimmung der Zeiten und Per-
ſonen, wohl die ungedruckten Urkunden nicht eben mag
nachgeſchagen haben, dem Sebaldus beylegt. (S. Wil-
belmine S. 79.) Es iſt aber ſeht unwahrſcheinlich, daß
Sebaldus einen ſolchen Wunſch ſollte gethan haben, da
aus
*)
aus ſichern Nachrichten erhellet, er ſey der Meinung
geweſen,- daß das Kirchengebet überhaupt keine Krank-
heiten lindere.
*)
Die ſel. Feldmarſchallinn von Spaen, ſetzte zuerſt ein Ka-
vital zu einer Freyſchule aus, die im Jahre 1999. eroͤſt-
net ward. Auch die folgenden Freyſchulen ſind bloß durch
Vermaͤchtniſſe, und freywillige Beytraͤge edelmüthiger
Wohlthaͤter beſtanden. Jm Jahr 1773 ſind in ſechzehn
Freyſchulen
980 arme Kinder umſonſt unterrichtet worden.
Der itzige Aufſeher dieſer Freyſchulen, Herr Prediger
Rauch, giebt jaͤhrlich eine Nachricht von dem Zuſtande
derſelben heraus.
*)
Jm Jahre 1772 iſt ein Theil dieſer Wieſe bebauet worden,
aber die ſchonen Weidenbäume ſind glücklicherweiſe ſtehen
geblieben, von denen der Naturkundiger Schreber ſagt: daß
er ſie, von ſolcher Höhe und Schönheit, auf ſeinen Reiſen
noch nirgend geſehen habe.
*)
Ein Buch in vier dicken Quartbänden.
*)
Berlin iſt vielleicht die einzige Stadt in der Welt, wo
man auf den Einfall gerathen iſt, in Verſen zu predigen.
Verſchiedene Prediger verſuchten dieß, zu verſchiedenen
Zeiten, mit Beyfall der Zuhörer, bis endlich, durch
einen ausdrücklichen Befehl des Oberkonſiſtoriums, das
Predigen in Verſen verboten ward.
*)
Dieſe harmloſe Religionspartey unterſcheidet ſich ſehn
rühmlich durch ſehr anſehnliche Almoſen, (zuweilen von
einigen tauſend Thalern,) die ſie giebt, und zwar mehren-
kheils ſo unbekannter weiſe, daß man die Geber nur
muthmaßen kann.
*)
Fig. 1.
**)
Fig. 2.
*)
Matth. XXIII. 5.
**)
Fig. 2.
*)
Fig. 3.
**)
Fig. 4.
***)
Fig. 5.
*)
Fig. 6.
*)
Unter andern fanden in einer gewiſſen Kirche, in welcher
wechſelsweiſe Lutheriſch und reformirt gepredigt ward,
beide Gemeinen Urſach, ſich über dieſe Neuerung zu be-
klagen. Es war bisher die Gewohnheit geweſen daß der
Prediger, ehe er in die Sakriſtey trat, außen, neben der
Thür derſelben, ſeinen Hut anhieng, woraus die Zuhoͤ-
rer gleich abnehmen konnten, an welcher Konfeffion die
Reihe ſey. Nachdem aber der Hut ſeine ſymboliſche
Kraft
verloren hatte, ſo konnten die irregemachten
Kirchkinder nunmehr weiter an keinem Kennzeichen un-
terſcheiden, ob die Predigt, die ſie hörten, Lutheriſch oder
reformirt ſey.
*)
Fig. 7.
**)
Fig. 8.
*)
Dieſe Meinung des Sebaldus, die vielen Gottesgelehr-
ten als nach Ketzerey ſchmeckend vorkommen möchte-
hegte auch ein ſehr verſtändiger und gottſeliger Mann.
Er ſagt: ‚So iſt es im Heidenohume den Epikuraern,
”und im Judenthume den Sadducäern ergangen. Wo-
”bey mir ein öfters eingekommener Gedanke wieder ein-
”fällt: was doch die Urſache ſeyn müſſe, daß unſer Hei-
”land, der bey allen Gelegenheiten die Phariſäer ſo hart
”anläſſet, weit gelinder mit den Sadducäern umgeht, die
”doch, weil Sie die Auferſtehung, und ein anderes Le-
”ben, wo das Gute belohnt, und das Böſe beſtraft wird,
”das Daſeyn der Geiſter, mithin auch gute und böſe
”Engel, leugneten, den Grund aller Religion umſtießen?
”Jch erinnere mich nicht irgendwo etwas gründliches
”darüber geleſen zu haben. Sollte vielleicht daraus zu
”ſchließen ſeyn, daß in Gottes Augen, die Heucheley,
”der geiſtliche Hochmuth, und der verſtockte Aberglau-
”ben, für groͤſſere Fehler
angeſehen werden, als die blo-
”ßen Jrrthuͤmer des Verſtandes, wenn ſie auch noch
”ſo wichtige Gegenſtaͤnde betreffen
?‛ S. v. Bünau Be-
trachtungen über die Religion. Leipzig 1769. in 8. 1tes
Buch. S. 90.
*)
Wenn die Chronologie, welche in unſerer wahren Ge-
ſchichte das Hauptwerk iſt, nur auf irgend eine Art, ſollte
es auch nur durch eine Hypotheſe ſeyn, ſich vereinigen
ließe, ſo wuͤrde im uͤbrigen dieſe ganze Beſchreibung
vollkommen auf den verehrungswuͤrdigen menſchen-
freundlichen Verfaſſer des Verſuchs eines Schulbuchs fuͤr-
Landleute
(Berlin 1771. 8.) paſſen, welcher alles das oben
erzaͤhlte, und noch mehr gethan hat.
*)
S Wilhelmine S. 99.
*)
Dieſes ſehr gelehrten und ſehr aufrichtigen Mannes Ge-
danken, wie man der Arabiſchen Litteratur aufhelfen koͤnne
und ſolle, ſtehen in den von ihm verfertigten Zuſaͤtzen zu
der koͤnigl. Akademie der ſchoͤnen Wiſſenſchaften zu Paris,
die den elften Theil der Deutſchen Ueberſetzung (Leipzig
1751. gr. 8.) ansmachen. Dieſe kleine Schrift verdiente
bekannter zu ſeyn, und von vielen geleſen zu werden, zu-
mal zu itziger Zeit, da wieder allenthalben ſtark aus der
Arabiſchen Gaukeltaſche geſpielt wird.
*)
Wenn der Fremde wieder zum Worte gekommen waͤre, haͤtte
er vermuihlich ſtandhaft behauptet, daß keine einzige Be-
deutung eines einzigen Arabiſchen Werks jemals ſich ver-
aͤndert haͤtte. Dieß verſichert wenigſtens Magiſter Schel-
ling, welcher, ſitzend in ſeiner Studierſtube im herzogli-
chen Stifte zu Tuͤbingen, unwiderſprechlich uͤberzeugt iſt,
daß die Arabiſche Sprache ‚noch jetzt eben dieſelbe iſt, die
”ſie bald nach der Zeit ihrer Entſtehung war,‛ und ein
feines Kapitel, ‚von der wunderbaren Erhaltung der Ara-
”biſchen Sprache in ihrer erſten Reinigkeit, von den aller-
”aͤlteſten Zeiten,
bis auf den heutigen Tag, zu erzaͤhlen,
weiß, wie aus ſeiner Abhandlung von der Alabiſchen
Sprache
*)
Der gelehrte Englaͤnder Jones hat in der Vorrede zu ſei-
ner Perſiſchen Grammatik, ſchon einen Wink gegeben, den
ein Deutſcher Profeſſor der Philologie, der vor ſeinen Zu-
hoͤrern mit neuen Entdeckungen glaͤnzen will, bald wird
mißbrauchen koͤnnen.
*)
Sprache (Stuttgard 1771. 8.) beſonders S. 16 bis 21 des
mehrern zu erſehen. Freylich, der Reiſende Niebuhr, wel-
cher in Arabien geweſen iſt, berichtet, daß die itzige Arabi-
ſche Sprache von der alten Sprache, wie Jtaliaͤniſch vom
Lateiniſchen unterſchieden iſt, daß die itzigen Arabiſchen Ge-
lebrten die Sprache des Alkorans, und anderer Schrif-
ten, in ihren Schulen, als eine todte Sprache lernen muͤſ-
ſen; daß die itzige Arabiſche Sprache, ſo wie alle Spra-
chen des Erdbodens, in viele Dialekte vertheilt iſt, u. d. g.
Aber was thut das zur Sache: Niebuhr iſt ja ein unge-
lehrter Jngenieur, und kein gelehrter Philologe!
*)
S. Wilhelmine, S. 100.
*)
S. Geſchichte der Klariſſa, Deutſche Ueberſetzung, 5. Th.
7. Brief, S. 70. u. f.
*)
S. Wilhelmine S. 99.
*)
S. Smollets Reiſen, nach der Deutſchen Ueberſetzung.
S. 297.
*)
S. Wilhelmine S. 50.
*)
Jn einigen Deutſchen Provinzen würde das Wort Hals-
krauſen bloß Halstuͤcher bedenten; aber der Zuſatz Chriſt-
liche Halskrauſen,
ſcheint anzudeuten, daß es runde
Prieſterkragen, oder Wolkenkragen geweſen, die man in
Sachſen, Krauſen nennet.
*)
S. Thunmanns Unterſuchungen über die Geſchichte der
öſtlichen Europäiſchen Völker, erſter Theil, S. 393.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnf8.0