Verlag von Guſtav Heckenaſt.
Leipzig,: bei Georg Wigand.
Inhalt des zweiten Bandes.
- Seite
- I. Bergkriſtall 1
- II. Kazenſilber 93
- III. Bergmilch 211
I.
Bergkriſtall.
Stifter, Jugendſchriften II. 1[[2]][[3]]Unſere Kirche feiert verſchiedene Feſte, welche zum
Herzen dringen. Man kann ſich kaum etwas Liebli¬
cheres denken als Pfingſten und kaum etwas Ernſte¬
res und Heiligeres als Oſtern. Das Traurige und
Schwermüthige der Charwoche und darauf das
Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das
Leben. Eines der ſchönſten Feſte feiert die Kirche faſt
mitten im Winter, wo beinahe die längſten Nächte
und kürzeſten Tage ſind, wo die Sonne am ſchiefſten
gegen unſere Gefilde ſteht, und Schnee alle Fluren
dekt, das Feſt der Weihnacht. Wie in vielen Ländern
der Tag vor dem Geburtsfeſte des Herrn der Chriſt¬
abend heißt, ſo heißt er bei uns der heilige Abend,
der darauf folgende Tag der heilige Tag und die
dazwiſchen liegende Nacht die Weihnacht. Die katho¬
liſche Kirche begeht den Chriſttag als den Tag der
1*[4] Geburt des Heilandes mit ihrer allergrößten kirchlichen
Feier, in den meiſten Gegenden wird ſchon die Mit¬
ternachtſtunde als die Geburtſtunde des Herrn mit
prangender Nachtfeier geheiligt, zu der die Gloken
durch die ſtille finſtere winterliche Mitternachtluft
laden, zu der die Bewohner mit Lichtern oder auf
dunkeln wohlbekannten Pfaden aus ſchneeigen Bergen
an bereiften Wäldern vorbei und durch knarrende
Obſtgärten zu der Kirche eilen, aus der die feierlichen
Töne kommen, und die aus der Mitte des in beeiste
Bäume gehüllten Dorfes mit den langen beleuchteten
Fenſtern empor ragt.
Mit dem Kirchenfeſte iſt auch ein häusliches ver¬
bunden. Es hat ſich faſt in allen chriſtlichen Ländern
verbreitet, daß man den Kindern die Ankunft des
Chriſtkindleins — auch eines Kindes, des wunder¬
barſten, das je auf der Welt war — als ein heiteres
glänzendes feierliches Ding zeigt, das durch das ganze
Leben fortwirkt, und manchmal noch ſpät im Alter
bei trüben ſchwermüthigen oder rührenden Erinnerun¬
gen gleichſam als Rükblik in die einſtige Zeit mit den
bunten ſchimmernden Fittigen durch den öden, trauri¬
gen und ausgeleerten Nachthimmel fliegt. Man pflegt
den Kindern die Geſchenke zu geben, die das heilige
Chriſtkindlein gebracht hat, um ihnen Freude zu
[5] machen. Das thut man gewöhnlich am heiligen
Abende, wenn die tiefe Dämmerung eingetreten iſt.
Man zündet Lichter und meiſtens ſehr viele an, die
oft mit den kleinen Kerzlein auf den ſchönen grünen
Äſten eines Tannen- oder Fichtenbäumchens ſchwe¬
ben, das mitten in der Stube ſteht. Die Kinder
dürfen nicht eher kommen, als bis das Zeichen gege¬
ben wird, daß der heilige Chriſt zugegen geweſen iſt,
und die Geſchenke, die er mitgebracht, hinterlaſſen
hat. Dann geht die Thür auf, die Kleinen dürfen
hinein, und bei dem herrlichen ſchimmernden Lichter¬
glanze ſehen ſie Dinge auf dem Baume hängen oder
auf dem Tiſche herum gebreitet, die alle Vorſtellungen
ihrer Einbildungskraft weit übertreffen, die ſie ſich
nicht anzurühren getrauen, und die ſie endlich, wenn
ſie ſie bekommen haben, den ganzen Abend in ihren
Ärmchen herum tragen, und mit ſich in das Bett
nehmen. Wenn ſie dann zuweilen in ihre Träume
hinein die Glokentöne der Mitternacht hören, durch
welche die Großen in die Kirche zur Andacht gerufen
werden, dann mag es ihnen ſein, als zögen jezt die
Englein durch den Himmel, oder als kehre der heilige
Chriſt nach Hauſe, welcher nunmehr bei allen Kindern
geweſen iſt, und jedem von ihnen ein herrliches Ge¬
ſchenk hinterbracht hat.
[6]
Wenn dann der folgende Tag, der Chriſttag,
kömmt, ſo iſt er ihnen ſo feierlich, wenn ſie früh
Morgens mit ihren ſchönſten Kleidern angethan in
der warmen Stube ſtehen, wenn der Vater und die
Mutter ſich zum Kirchgange ſchmüken, wenn zu Mit¬
tage ein feierliches Mal iſt, ein beſſeres als in jedem
Tage des ganzen Jahres, und wenn nachmittags
oder gegen den Abend hin Freunde und Bekannte
kommen, auf den Stühlen und Bänken herum ſizen,
mit einander reden, und behaglich durch die Fenſter
in die Wintergegend hinaus ſchauen können, wo ent¬
weder die langſamen Floken niederfallen, oder ein
trübender Nebel um die Berge ſteht, oder die blut¬
rothe kalte Sonne hinab ſinkt. An verſchiedenen
Stellen der Stube, entweder auf einem Stühl¬
chen oder auf der Bank oder auf dem Fenſterbrett¬
chen liegen die zaubriſchen nun aber ſchon bekann¬
teren und vertrauteren Geſchenke von geſtern Abend
herum.
Hierauf vergeht der lange Winter, es kömmt der
Frühling und der unendlich dauernde Sommer —und
wenn die Mutter wieder vom heiligen Chriſte erzählt,
daß nun bald ſein Feſttag ſein wird, und daß er auch
diesmal herab kommen werde, iſt es den Kindern,
als ſei ſeit ſeinem lezten Erſcheinen eine ewige Zeit
[7] vergangen, und als liege die damalige Freude in
einer weiten nebelgrauen Ferne.
Weil dieſes Feſt ſo lange nachhält, weil ſein Ab¬
glanz ſo hoch in das Alter hinauf reicht, ſo ſtehen
wir ſo gerne dabei, wenn Kinder dasſelbe begehen,
und ſich darüber freuen. — —
In den hohen Gebirgen unſers Vaterlandes ſteht
ein Dörfchen mit einem kleinen aber ſehr ſpizigen
Kirchthurme, der mit ſeiner rothen Farbe, mit wel¬
cher die Schindeln bemalt ſind, aus dem Grün vieler
Obſtbäume hervor ragt, und wegen derſelben rothen
Farbe in dem duftigen und blauen Dämmern der
Berge weithin erſichtlich iſt. Das Dörfchen liegt ge¬
rade mitten in einem ziemlich weiten Thale, das faſt
wie ein länglicher Kreis geſtaltet iſt. Es enthält außer
der Kirche eine Schule, ein Gemeindehaus und noch
mehrere ſtattliche Häuſer, die einen Plaz geſtalten,
auf welchem vier Linden ſtehen, die ein ſteinernes
Kreuz in ihrer Mitte haben. Dieſe Häuſer ſind nicht
bloße Landwirthſchaftshäuſer, ſondern ſie bergen auch
noch diejenigen Handwerke in ihrem Schoße, die
dem menſchlichen Geſchlechte unentbehrlich ſind, und
die beſtimmt ſind, den Gebirgsbewohnern ihren ein¬
zigen Bedarf an Kunſterzeugniſſen zu deken. Im Thale
und an den Bergen herum ſind noch ſehr viele zerſtreute
[8] Hütten, wie das in Gebirgsgegenden ſehr oft der
Fall iſt, welche alle nicht nur zur Kirche und Schule
gehören, ſondern auch jenen Handwerken, von denen
geſprochen wurde, durch Abnahme der Erzeugniſſe
ihren Zoll entrichten. Es gehören ſogar noch weitere
Hütten zu dem Dörfchen, die man von dem Thale
aus gar nicht ſehen kann, die noch tiefer in den Ge¬
birgen ſteken, deren Bewohner ſelten zu ihren Ge¬
meindemitbrüdern herauskommen, und die im Winter
oft ihre Todten aufbewahren müſſen, um ſie nach
dem Wegſchmelzen des Schnees zum Begräbniſſe
bringen zu können. Der größte Herr, den die Dörfler
im Laufe des Jahres zu ſehen bekommen, iſt der
Pfarrer. Sie verehren ihn ſehr, und es geſchieht ge¬
wöhnlich, daß derſelbe durch längeren Aufenthalt im
Dörfchen ein der Einſamkeit gewöhnter Mann wird,
daß er nicht ungerne bleibt, und einfach fortlebt.
Wenigſtens hat man ſeit Menſchengedenken nicht er¬
lebt, daß der Pfarrer des Dörfchens ein auswärts¬
ſüchtiger oder ſeines Standes unwürdiger Mann
geweſen wäre.
Es gehen keine Straſſen durch das Thal, ſie haben
ihre zweigleiſigen Wege, auf denen ſie ihre Felder¬
zeugniſſe mit einſpännigen Wäglein nach Hauſe brin¬
gen, es kommen daher wenig Menſchen in das Thal,
[9] unter dieſen manchmal ein einſamer Fußreiſender, der
ein Liebhaber der Natur iſt, eine Weile in der bemal¬
ten Oberſtube des Wirthes wohnt, und die Berge
betrachtet, oder gar ein Maler, der den kleinen ſpizen
Kirchthurm und die ſchönen Gipfel der Felſen in ſeine
Mappe zeichnet. Daher bilden die Bewohner eine eigene
Welt, ſie kennen einander alle mit Namen und mit
den einzelnen Geſchichten von Großvater und Urgro߬
vater her, trauern alle, wenn einer ſtirbt, wiſſen, wie
er heißt, wenn einer geboren wird, haben eine Spra¬
che, die von der der Ebene draußen abweicht, haben
ihre Streitigkeiten, die ſie ſchlichten, ſtehen einander
bei, und laufen zuſammen, wenn ſich etwas Außer¬
ordentliches begibt.
Sie ſind ſehr ſtettig und es bleibt immer beim
Alten. Wenn ein Stein aus einer Mauer fällt, wird
derſelbe wieder hineingeſezt, die neuen Häuſer wer¬
den wie die alten gebaut, die ſchadhaften Dächer wer¬
den mit gleichen Schindeln ausgebeſſert, und wenn
in einem Hauſe ſchekige Kühe ſind, ſo werden immer
ſolche Kälber aufgezogen, und die Farbe bleibt bei
dem Hauſe.
Gegen Mittag ſieht man von dem Dorfe einen
Schneeberg, der mit ſeinen glänzenden Hörnern faſt
oberhalb der Hausdächer zu ſein ſcheint, aber in der
[10] That doch nicht ſo nahe iſt. Er ſieht das ganze Jahr,
Sommer und Winter, mit ſeinen vorſtehenden Felſen
und mit ſeinen weißen Flächen in das Thal herab. Als
das Auffallendſte, was ſie in ihrer Umgebung haben,
iſt der Berg der Gegenſtand der Betrachtung der Be¬
wohner, und er iſt der Mittelpunkt vieler Geſchich¬
ten geworden. Es lebt kein Mann und Greis in dem
Dorfe, der nicht von den Zaken und Spizen des Ber¬
ges, von ſeinen Eisſpalten und Höhlen, von ſeinen
Wäſſern und Geröllſtrömen etwas zu erzählen wüßte,
was er entweder ſelbſt erfahren, oder von andern er¬
zählen gehört hat. Dieſer Berg iſt auch der Stolz
des Dorfes, als hätten ſie ihn ſelber gemacht, und es
iſt nicht ſo ganz entſchieden, wenn man auch die Bie¬
derkeit und Wahrheitsliebe der Thalbewohner hoch
anſchlägt, ob ſie nicht zuweilen zur Ehre und zum
Ruhme des Berges lügen. Der Berg gibt den Be¬
wohnern außerdem, daß er ihre Merkwürdigkeit iſt,
auch wirklichen Nuzen; denn wenn eine Geſellſchaft
von Gebirgsreiſenden herein kömmt, um von dem
Thale aus den Berg zu beſteigen, ſo dienen die Be¬
wohner des Dorfes als Führer, und einmal Führer
geweſen zu ſein, dieſes und jenes erlebt zu haben,
dieſe und jene Stelle zu kennen, iſt eine Auszeich¬
nung, die jeder gerne von ſich darlegt. Sie reden oft
[11] davon, wenn ſie in der Wirthsſtube bei einander ſi¬
zen, und erzählen ihre Wagniſſe und ihre wunderba¬
ren Erfahrungen, und verſäumen aber auch nie zu
ſagen, was dieſer oder jener Reiſende geſprochen
habe, und was ſie von ihm als Lohn für ihre Be¬
mühungen empfangen hätten. Dann ſendet der Berg
von ſeinen Schneeflächen die Waſſer ab, welche einen
See in ſeinen Hochwäldern ſpeiſen, und den Bach
erzeugen, der luſtig durch das Thal ſtrömt, die Bret¬
terſäge die Mahlmühle und andere kleine Werke
treibt, das Dorf reinigt, und das Vieh tränkt. Von
den Wäldern des Berges kömmt das Holz, und ſie
halten die Lawinen auf. Durch die innern Gänge und
Lokerheiten der Höhen ſinken die Waſſer durch, die
dann in Adern durch das Thal gehen, und in Brünn¬
lein und Quellen hervorkommen, daraus die Men¬
ſchen trinken, und ihr herrliches oft belobtes Waſſer
dem Fremden reichen. Allein an lezteren Nuzen den¬
ken ſie nicht, und meinen, das ſei immer ſo geweſen.
Wenn man auf die Jahresgeſchichte des Berges
ſieht, ſo ſind im Winter die zwei Zaken ſeines Gip¬
fels, die ſie Hörner heißen, ſchneeweiß, und ſtehen,
wenn ſie an hellen Tagen ſichtbar ſind, blendend in
der finſtern Bläue der Luft; alle Bergfelder, die um
dieſe Gipfel herum lagern, ſind dann weiß; alle Ab¬
[12] hänge ſind ſo; ſelbſt die ſteilrechten Wände, die die
Bewohner Mauern heißen, ſind mit einem angefloge¬
nen weißen Reife bedekt, und mit zartem Eiſe wie
mit einem Firniſſe belegt, ſo daß die ganze Maſſe wie
ein Zauberpallaſt aus dem bereiften Grau der Wäl¬
derlaſt emporragt, welche ſchwer um ihre Füſſe herum
ausgebreitet iſt. Im Sommer, wo Sonne und war¬
mer Wind den Schnee von den Steilſeiten wegnimmt,
ragen die Hörner nach dem Ausdruke der Bewohner
ſchwarz in den Himmel, und haben nur ſchöne weiße
Äderchen und Sprenkeln auf ihrem Rüken, in der
That aber ſind ſie zart fernblau, und was ſie Äderchen
und Sprenkeln heißen, das iſt nicht weiß, ſondern hat
das ſchöne Milchblau des fernen Schnees gegen das
dunklere der Felſen. Die Bergfelder um die Hörner
aber verlieren, wenn es recht heiß iſt, an ihren höhe¬
ren Theilen wohl den Firn nicht, der gerade dann
recht weiß auf das Grün der Thalbäume herab ſieht,
aber es weicht von ihren unteren Theilen der Win¬
terſchnee, der nur einen Flaum machte, und es wird
das unbeſtimmte Schillern von Bläulich und Grün¬
lich ſichtbar, das das Geſchiebe von Eis iſt, das dann
blos liegt, und auf die Bewohner unten hinab grüßt.
Am Rande dieſes Schillerns, wo es von ferne wie
ein Saum von Edelſteinſplittem ausſieht, iſt es in
[13] der Nähe ein Gemenge wilder rieſenhafter Blöke,
Platten und Trümmer, die ſich drängen, und verwirrt
in einander geſchoben ſind. Wenn ein Sommer gar
heiß und lang iſt, werden die Eisfelder weit hinauf
entblößt, und dann ſchaut eine viel größere Fläche
von Grün und Blau in das Thal, manche Kuppen
und Räume werden entkleidet, die man ſonſt nur weiß
erblikt hatte, der ſchmuzige Saum des Eiſes wird
ſichtbar, wo es Felſen, Erde und Schlamm ſchiebt,
und viel reichlichere Waſſer als ſonſt fließen in das
Thal. Dies geht fort, bis es nach und nach wieder
Herbſt wird, das Waſſer ſich verringert, zu einer Zeit
einmal ein grauer Landregen die ganze Ebene des
Thales bedekt, worauf, wenn ſich die Nebel von den
Höhen wieder löſen, der Berg ſeine weiche Hülle
abermals umgethan hat, und alle Felſen Kegel und
Zaken in weißem Kleide da ſtehen. So ſpinnt es ſich
ein Jahr um das andere mit geringen Abwechslun¬
gen ab, und wird ſich fort ſpinnen, ſo lange die Na¬
tur ſo bleibt, und auf den Bergen Schnee und in den
Thälern Menſchen ſind. Die Bewohner des Thales
heißen die geringen Veränderungen große, bemerken
ſie wohl, und berechnen an ihnen den Fortſchritt des
Jahres. Sie bezeichnen an den Entblößungen die
Hize und die Ausnahmen der Sommer.
[14]
Was nun noch die Beſteigung des Berges betrifft,
ſo geſchieht dieſelbe von dem Thale aus. Man geht
nach der Mittagsrichtung zu auf einem guten ſchönen
Wege, der über einen ſogenannten Hals in ein ande¬
res Thal führt. Hals heißen ſie einen mäßig hohen
Bergrücken, der zwei größere und bedeutendere Ge¬
birge mit einander verbindet, und über den man zwi¬
ſchen den Gebirgen von einem Thale in ein anderes
gelangen kann. Auf dem Halſe, der den Schneeberg
mit einem gegenüberliegenden großen Gebirgszuge
verbindet, iſt lauter Tannenwald. Etwa auf der grö߬
ten Erhöhung desſelben, wo nach und nach ſich der Weg
in das jenſeitige Thal hinab zu ſenken beginnt, ſteht eine
ſogenannte Unglükſäule. Es iſt einmal ein Bäker,
welcher Brod in ſeinem Korbe über den Hals trug,
an jener Stelle todt gefunden worden. Man hat den
todten Bäker mit dem Korbe und mit den umringenden
Tannenbäumen auf ein Bild gemalt, darunter eine
Erklärung und eine Bitte um ein Gebet geſchrieben,
das Bild auf eine roth angeſtrichene hölzerne Säule
gethan, und die Säule an der Stelle des Unglükes
aufgerichtet. Bei dieſer Säule biegt man von dem
Wege ab, und geht auf der Länge des Halſes fort,
ſtatt über ſeine Breite in das jenſeitige Thal hinüber
zu wandern. Die Tannen bilden dort einen Durchlaß,
[15] als ob eine Straße zwiſchen ihnen hin ginge. Es
führt auch manchmal ein Weg in dieſer Richtung hin,
der dazu dient, das Holz von den höheren Gegenden
zu der Unglükſäule herab zu bringen, der aber dann
wieder mit Gras verwächst. Wenn man auf dieſem
Wege fortgeht, der ſachte bergan führt, ſo gelangt
man endlich auf eine freie von Bäumen entblößte
Stelle. Dieſelbe iſt dürrer Haideboden, hat nicht ein¬
mal einen Strauch, ſondern iſt mit ſchwachem Haide¬
kraute, mit trokenen Moſen und mit Dürrbodenpflan¬
zen bewachſen. Die Stelle wird immer ſteiler, und
man geht lange hinan; man geht aber immer in einer
Rinne gleichſam wie in einem ausgerundeten Graben
hinan, was den Nuzen hat, daß man auf der großen
baumloſen und überall gleichen Stelle nicht leicht
irren kann. Nach einer Zeit erſcheinen Felſen, die wie
Kirchen gerade aus dem Grasboden aufſteigen, und
zwiſchen deren Mauern man längere Zeit hinan gehen
kann. Dann erſcheinen wieder kahle faſt pflanzenloſe
Rüken, die bereits in die Lufträume der höhern Ge¬
genden ragen, und gerade zu dem Eiſe führen. Zu
beiden Seiten dieſes Weges ſind ſteile Wände, und
durch dieſen Damm hängt der Schneeberg mit dem
Halſe zuſammen. Um das Eis zu überwinden, geht
man eine geraume Zeit an der Grenze desſelben, wo es
[16] von den Felſen umſtanden iſt, dahin, bis man zu dem
ältern Firn gelangt, der die Eisſpalten überbaut, und in
den meiſten Zeiten des Jahres den Wanderer trägt.
An der höchſten Stelle des Firns erheben ſich die
zwei Hörner aus dem Schnee, wovon eines das höhere
mithin die Spize des Berges iſt. Dieſe Kuppen ſind
ſehr ſchwer zu erklimmen; da ſie mit einem oft breite¬
ren oft engeren Schneegraben — dem Firnſchrunde —
umgeben ſind, der überſprungen werden muß, und da
ihre ſteilrechten Wände nur kleine Abſäze haben, in
welche der Fuß eingeſezt werden muß, ſo begnügen
ſich die meiſten Beſteiger des Berges damit, bis zu
dem Firnſchrunde gelangt zu ſein, und dort die Rund¬
ſicht, ſo weit ſie nicht durch das Horn verdekt iſt, zu ge¬
nießen. Die den Gipfel beſteigen wollen, müſſen dies
mit Hilfe von Steigeiſen, Striken und Klammern thun.
Außer dieſem Berge ſtehen an derſelben Mittag¬
ſeite noch andere, aber keiner iſt ſo hoch, wenn ſie ſich
auch früh im Herbſte mit Schnee bedeken, und ihn bis tief
in den Frühling hinein behalten. Der Sommer aber
nimmt denſelben immer weg, und die Felſen glän¬
zen freundlich im Sonnenſcheine, und die tiefer
gelegenen Wälder zeigen ihr ſanftes Grün von breiten
blauen Schatten durchſchnitten, die ſo ſchön ſind, daß
man ſich in ſeinem Leben nicht ſatt daran ſehen kann.
[17]
An den andern Seiten des Thales nehmlich von
Mitternacht Morgen und Abend her ſind die Berge
langgeſtrekt und niederer, manche Felder und Wieſen
ſteigen ziemlich hoch hinauf, und oberhalb ihrer ſieht
man verſchiedene Waldblößen Alpenhütten und der¬
gleichen, bis ſie an ihrem Rande mit feingezaktem
Walde am Himmel hingehen, welche Auszakung
eben ihre geringe Höhe anzeigt, während die mittäg¬
lichen Berge, obwohl ſie noch großartigere Wälder
hegen, doch mit einem ganz glatten Rande an dem
glänzenden Himmel hinſtreichen.
Wenn man ſo ziemlich mitten in dem Thale ſteht,
ſo hat man die Empfindung, als ginge nirgends ein
Weg in dieſes Beken herein und keiner daraus hinaus;
allein diejenigen, welche öfter im Gebirge geweſen
ſind, kennen dieſe Täuſchung gar wohl: in der That
führen nicht nur verſchiedene Wege und darunter ſogar
manche durch die Verſchiebungen der Berge faſt auf
ebenem Boden in die nördlichen Flächen hinaus, ſon¬
dern gegen Mittag, wo das Thal durch ſteilrechte
Mauern faſt geſchloſſen ſcheint, geht ſogar ein Weg
über den obbenannten Hals.
Das Dörflein heißt Gſchaid, und der Schneeberg,
der auf ſeine Häuſer herab ſchaut, heißt Gars.
Jenſeits des Halſes liegt ein viel ſchöneres und
Stifter, Jugendschriften II. 2[18] blühenderes Thal, als das von Gſchaid iſt, und es
führt von der Unglükſäule der gebahnte Weg hinab.
Es hat an ſeinem Eingange einen ſtattlichen Markt¬
fleken Millsdorf, der ſehr groß iſt, verſchiedene Werke
hat, und in manchen Häuſern ſtädtiſche Gewerbe und
Nahrung treibt. Die Bewohner ſind viel wohlhaben¬
der als die in Gſchaid, und obwohl nur drei Weg¬
ſtunden zwiſchen den beiden Thälern liegen, was für
die an große Entfernungen gewöhnten und Mühſelig¬
keiten liebenden Gebirgsbewohner eine unbedeutende
Kleinigkeit iſt, ſo ſind doch Sitten und Gewohnheiten
in den beiden Thälern ſo verſchieden, ſelbſt der äußere
Anblik derſelben iſt ſo ungleich, als ob eine große
Anzahl Meilen zwiſchen ihnen läge. Das iſt in Ge¬
birgen ſehr oft der Fall, und hängt nicht nur von der
verſchiedenen Lage der Thäler gegen die Sonne ab,
die ſie oft mehr oder weniger begünſtigt, ſondern auch
von dem Geiſte der Bewohner, der durch gewiſſe
Beſchäftigungen nach dieſer oder jener Richtung ge¬
zogen wird. Darin ſtimmen aber alle überein, daß
ſie an Herkömmlichkeiten und Väterweiſe hängen,
großen Verkehr leicht entbehren, ihr Thal außerordent¬
lich lieben, und ohne demſelben kaum leben können.
Es vergehen oft Monate oft faſt ein Jahr, ehe
ein Bewohner von Gſchaid in das jenſeitige Thal
[19] hinüber kömmt, und den großen Marktfleken Mills¬
dorf beſucht. Die Millsdorfer halten es eben ſo,
obwohl ſie ihrerſeits doch Verkehr mit dem Lande
draußen pflegen, und daher nicht ſo abgeſchieden ſind
wie die Gſchaider. Es geht ſogar ein Weg, der eine
Straße heißen könnte, längs ihres Thales, und mancher
Reiſende und mancher Wanderer geht hindurch, ohne
nur im Geringſten zu ahnen, daß mitternachtwärts ſei¬
nes Weges jenſeits des hohen herabblikenden Schnee¬
bergs noch ein Thal ſei, in dem viele Häuſer zer¬
ſtreut ſind, und in dem das Dörflein mit dem ſpizigen
Kirchthurme ſteht.
Unter den Gewerben des Dorfes, welche beſtimmt
ſind, den Bedarf des Thales zu deken, iſt auch das
eines Schuſters, das nirgends entbehrt werden kann,
wo die Menſchen nicht in ihrem Urzuſtande ſind.
Die Gſchaider aber ſind ſo weit über dieſem Stande,
daß ſie recht gute und tüchtige Gebirgsfußbekleidung
brauchen. Der Schuſter iſt mit einer kleinen Aus¬
nahme der einzige im Thale. Sein Haus ſteht auf
dem Plaze in Gſchaid, wo überhaupt die beſſeren
ſtehen, und ſchaut mit ſeinen grauen Mauern, weißen
Fenſterſimſen und grün angeſtrichenen Fenſterläden
auf die vier Linden hinaus. Es hat im Erdgeſchoſſe
die Arbeitsſtube die Geſellenſtube eine größere und
2*[20] kleinere Wohnſtube ein Verkaufſtübchen nebſt Küche
und Speiſekammer und allen zugehörigen Gelaſſen;
im erſten Stokwerke, oder eigentlich im Raume des
Giebels hat es die Oberſtube oder eigentliche Prunk¬
ſtube. Zwei Prachtbetten ſchöne geglättete Käſten mit
Kleidern ſtehen da, dann ein Gläſerkäſtchen mit
Geſchirren ein Tiſch mit eingelegter Arbeit gepolſterte
Seſſel ein Mauerkäſtchen mit den Erſparniſſen, dann
hängen an den Wänden Heiligenbilder zwei ſchöne
Sakuhren gewonnene Preiſe im Schießen, und end¬
lich ſind auch Scheibengewehre und Jagdbüchſen
nebſt ihrem Zugehöre in einem eigenen mit Glastafeln
verſehenen Kaſten aufgehängt. An das Schuſterhaus
iſt ein kleiners Häuschen nur durch den Einfahrts¬
ſchwibbogen getrennt angebaut, welches genau dieſelbe
Bauart hat, und zum Schuſterhauſe wie ein Theil
zum Ganzen gehört. Es hat nur eine Stube mit den
dazu gehörigen Wohntheilen. Es hat die Beſtim¬
mung, dem Hausbeſizer, ſobald er das Anweſen
ſeinem Sohne oder Nachfolger übergeben hat, als
ſogenanntes Ausnahmſtübchen zu dienen, in welchem
er mit ſeinem Weibe ſo lange hauſt, bis beide geſtorben
ſind, die Stube wieder leer ſteht, und auf einen neuen
Bewohner wartet. Das Schuſterhaus hat nach rük¬
wärts Stall und Scheune; denn jeder Thalbewohner
[21] iſt, ſelbſt wenn er ein Gewerbe treibt, auch Landbe¬
bauer und zieht hieraus ſeine gute und nachhaltige
Nahrung. Hinter dieſen Gebäuden iſt endlich der
Garten, der faſt bei keinem beſſeren Hauſe in Gſchaid
fehlt, und von dem ſie ihre Gemüſe, ihr Obſt und für
feſtliche Gelegenheiten ihre Blumen ziehen. Wie oft
im Gebirge ſo iſt auch in Gſchaid die Bienenzucht
in dieſen Gärten ſehr verbreitet.
Die kleine Ausnahme, deren oben Erwähnung
geſchah, und die Nebenbuhlerſchaft der Alleinherrlich¬
keit des Schuſters iſt ein anderer Schuſter, der alte
Tobias, der aber eigentlich kein Nebenbuhler iſt, weil
er nur mehr flikt, hierin viel zu thun hat, und es ſich
nicht im Entfernteſten beikommen läßt, mit dem vor¬
nehmen Plazſchuſter in einen Wettſtreit einzugehen,
insbeſondere, da der Plazſchuſter ihn häufig mit Le¬
derfleken Sohlenabſchnitten und dergleichen Dingen
unentgeldlich verſieht. Der alte Tobias ſizt im Sommer
am Ende des Dörfchens unter Hollunderbüſchen, und
arbeitet. Er iſt umringt von Schuhen und Bund¬
ſchuhen, die aber ſämtlich alt grau kothig und zer¬
riſſen ſind. Stiefel mit langen Röhren ſind nicht da,
weil ſie im Dorfe und in der Gegend nicht getragen
werden; nur zwei Perſonen haben ſolche, der Pfarrer
und der Schullehrer, welche aber beides, fliken und
[22] neue Waare machen, nur bei dem Plazſchuſter laſſen.
Im Winter ſizt der alte Tobias in ſeinem Stübchen
hinter den Hollunderſtauden, und hat warm geheizt,
weil das Holz in Gſchaid nicht theuer iſt.
Der Plazſchuſter iſt, ehe er das Haus angetreten
hat, ein Gemſewildſchüze geweſen, und hat überhaupt
in ſeiner Jugend, wie die Gſchaider ſagen, nicht gut
gethan. Er war in der Schule immer einer der beſten
Schüler geweſen, hatte dann von ſeinem Vater das
Handwerk gelernt, iſt auf Wanderung gegangen, und
iſt endlich wieder zurük gekehrt. Statt, wie es ſich
für einen Gewerbsmann ziemt, und wie ſein Vater es
Zeit Lebens gethan, einen ſchwarzen Hut zu tragen,
that er einen grünen auf, ſtekte noch alle beſtehenden
Federn darauf, und ſtolzirte mit ihm und mit dem
kürzeſten Lodenroke, den es im Thale gab, herum,
während ſein Vater immer einen Rok von dunkler wo
möglich ſchwarzer Farbe hatte, der auch, weil er einem
Gewerbsmanne angehörte, immer ſehr weit herab
geſchnitten ſein mußte. Der junge Schuſter war auf
allen Tanzpläzen und Kegelbahnen zu ſehen. Wenn
ihm jemand eine gute Lehre gab, ſo pfiff er ein Liedlein.
Er ging mit ſeinem Scheibengewehre zu allen Schießen
der Nachbarſchaft, und brachte manchmal einen Preis
nach Hauſe, was er für einen großen Sieg hielt.
[23] Der Preis beſtand meiſtens aus Münzen, die künſtlich
gefaßt waren, und zu deren Gewinnung der Schuſter
mehr gleiche Münzen ausgeben mußte, als der Preis
enthielt, beſonders, da er wenig haushälteriſch mit dem
Gelde war. Er ging auf alle Jagden, die in der
Gegend abgehalten wurden, und hatte ſich den
Namen eines guten Schüzen erworben. Er ging aber
auch manchmal allein mit ſeiner Doppelbüchſe und
mit Steigeiſen fort, und einmal ſagte man, daß er
eine ſchwere Wunde im Kopfe erhalten habe.
In Millsdorf war ein Färber, welcher gleich am
Anfange des Marktflekens, wenn man auf dem Wege
von Gſchaid hinüber kam, ein ſehr anſehnliches Ge¬
werbe hatte, mit vielen Leuten und ſogar, was im
Thale etwas Unerhörtes war, mit Maſchinen arbei¬
tete. Außerdem beſaß er noch eine ausgebreitete Feld¬
wirthſchaft. Zu der Tochter dieſes reichen Färbers
ging der Schuſter über das Gebirge, um ſie zu ge¬
winnen. Sie war wegen ihrer Schönheit weit und
breit berühmt, aber auch wegen ihrer Eingezogenheit
Sittſamkeit und Häuslichkeit belobt. Dennoch, hieß
es, ſoll der Schuſter ihre Aufmerkſamkeit erregt haben.
Der Färber ließ ihn nicht in ſein Haus kommen;
und hatte die ſchöne Tochter ſchon früher keine öffent¬
lichen Pläze und Luſtbarkeiten beſucht, und war ſelten
[24] außer dem Hauſe ihrer Eltern zu ſehen geweſen:
ſo ging ſie jezt ſchon gar nirgends mehr hin als in
die Kirche oder in ihrem Garten oder in den Räumen
des Hauſes herum.
Einige Zeit nach dem Tode ſeiner Eltern, durch
welchen ihm das Haus derſelben zugefallen war, das
er nun allein bewohnte, änderte ſich der Schuster gänz¬
lich. So wie er früher getollt hatte, ſo ſaß er jezt in
ſeiner Stube, und hämmerte Tag und Nacht an ſeinen
[Sohlen]. Er ſezte prahlend einen Preis darauf, wenn
es jemand gäbe, der beſſere Schuhe und Fußbeklei¬
dungen machen könne. Er nahm keine andern Arbeiter
als die beſten, und trillte ſie noch ſehr herum, wenn
ſie in ſeiner Werkſtätte arbeiteten, daß ſie ihm folgten,
und die Sache ſo einrichteten, wie er befahl. Wirklich
brachte er es jezt auch dahin, daß nicht nur das ganze
Dorf Gſchaid, das zum größten Theile die Schuſter¬
arbeit aus benachbarten Thälern bezogen hatte, bei
ihm arbeiten ließ, daß das ganze Thal bei ihm arbei¬
ten ließ, und daß endlich ſogar Einzelne von Mills¬
dorf und andern Thälern herein kamen, und ſich
ihre Fußbekleidungen von dem Schuſter in Gſchaid
machen ließen. Sogar in die Ebene hinaus verbreitete
ſich ſein Ruhm, daß manche, die in die Gebirge gehen
wollten, ſich die Schuhe dazu von ihm machen ließen.
[25]
Er richtete das Haus ſehr ſchön zuſammen, und
in dem Waarengewölbe glänzten auf den Brettern die
Schuhe, Bundſtiefel und Stiefel; und wenn am Sonn¬
tage die ganze Bevölkerung des Thales herein kam,
und man bei den vier Linden des Plazes ſtand, ging
man gerne zu dem Schuſterhauſe hin, und ſah durch
die Gläſer in die Waarenſtube, wo die Käufer und
Beſteller waren.
Nach ſeiner Vorliebe zu den Bergen machte er
auch jezt die Gebirgsbundſchuhe am beſten. Er pflegte
in der Wirthsſtube zu ſagen: Es gäbe keinen, der ihm
einen fremden Gebirgsbundſchuh zeigen könne, der
ſich mit einem ſeinigen vergleichen laſſe. „Sie wiſſen
es nicht,“ pflegte er beizufügen, „ſie haben es in ihrem
Leben nicht erfahren, wie ein ſolcher Schuh ſein muß,
daß der geſtirnte Himmel der Nägel recht auf der
Sohle ſize, und das gebührende Eiſen enthalte, daß
der Schuh außen hart ſei, damit kein Geröllſtein,
wie ſcharf er auch ſei, empfunden werde, und daß er
ſich von Innen doch weich und zärtlich wie ein Hand¬
ſchuh an die Füſſe lege.“
Der Schuſter hatte ſich ein ſehr großes Buch
machen laſſen, in welches er alle verfertigte Waare
eintrug, die Namen derer beifügte, die den Stoff ge¬
liefert, und die Waare gekauft hatten, und eine kurze
[26] Bemerkung über die Güte des Erzeugniſſes beiſchrieb.
Die gleichartigen Fußbekleidungen hatten ihre fort¬
laufenden Zahlen, und das Buch lag in der großen
Lade ſeines Gewölbes.
Wenn die ſchöne Färberstochter von Millsdorf
auch nicht aus der Eltern Hauſe kam, wenn ſie auch
weder Freunde noch Verwandte beſuchte, ſo konnte es
der Schuſter von Gſchaid doch ſo machen, daß ſie ihn
von ferne ſah, wenn ſie in die Kirche ging, wenn ſie
in dem Garten war, und wenn ſie aus den Fenſtern
ihres Zimmers auf die Matten blikte. Wegen dieſes
unausgeſezten Sehens hatte es die Färberin durch
langes inſtändiges und ausdauerndes Flehen für
ihre Tochter dahin gebracht, daß der halsſtarrige
Färber nachgab, und daß der Schuſter, weil er denn
nun doch beſſer geworden, die ſchöne reiche Millsdorfe¬
rin als Eheweib nach Gſchaid führte. Aber der Färber
war deßungeachtet auch ein Mann, der ſeinen Kopf
hatte. Ein rechter Menſch, ſagte er, müſſe ſein Gewerbe
treiben, daß es blühe und vorwärts komme, er müſſe
daher ſein Weib ſeine Kinder ſich und ſein Geſinde
ernähren, Hof und Haus im Stande des Glanzes
halten, und ſich noch ein Erklekliches erübrigen,
welches Leztere doch allein im Stande ſei, ihm Anſe¬
hen und Ehre in der Welt zu geben; darum erhalte
[27] ſeine Tochter nichts als eine vortreffliche Ausſtattung,
das andere iſt Sache des Ehemanns, daß er es mache
und für alle Zukunft es beſorge. Die Färberei in
Millsdorf und die Landwirthſchaft auf dem Färber¬
hauſe ſei für ſich ein anſehnliches und ehrenwerthes
Gewerbe, das ſeiner Ehre willen beſtehen, und wozu
alles, was da ſei, als Grundſtok dienen müſſe, daher
er nichts weggebe. Wenn einmal er und ſein Eheweib
die Färberin todt ſeien, dann gehöre Färberei und
Landwirthſchaft in Millsdorf ihrer einzigen Tochter
nehmlich der Schuſterin in Gſchaid, und Schuſter
und Schuſterin könnten dann damit thun, was ſie
wollten: aber alles dieſes nur, wenn die Erben es
werth wären, das Erbe zu empfangen; wären ſie es
nicht werth, ſo ginge das Erbe auf die Kinder derſel¬
ben, und wenn keine vorhanden wären, mit der Aus¬
nahme des lediglichen Pflichttheiles auf andere Ver¬
wandte über. Der Schuſter verlangte auch nichts,
er zeigte im Stolze, daß es ihm nur um die ſchöne
Färberstochter in Millsdorf zu thun geweſen, und
daß er ſie ſchon ernähren und erhalten könne, wie ſie
zu Hauſe ernährt und erhalten worden iſt. Er kleidete
ſie als ſein Eheweib nicht nur ſchöner als alle Gſchai¬
derinnen und alle Bewohnerinnen des Thales, ſondern
auch ſchöner, als ſie ſich je zu Hauſe getragen hatte,
[28] und Speiſe, Trank und übrige Behandlung mußte
beſſer und rükſichtsvoller ſein, als ſie das Gleiche im
väterlichen Hauſe genoſſen hatte. Und um dem
Schwiegervater zu trozen, kaufte er mit erübrigten
Summen nach und nach immer mehr Grundſtüke ſo
ein, daß er einen tüchtigen Beſiz beiſammen hatte.
Weil die Bewohner von Gſchaid ſo ſelten aus
ihrem Thale kommen, und nicht einmal oft nach
Millsdorf hinüber gehen, von dem ſie durch Bergrü¬
ken und durch Sitten geſchieden ſind, weil ferner
ihnen gar kein Fall vorkömmt, daß ein Mann ſein
Thal verläßt, und ſich in dem benachbarten anſiedelt
(Anſiedlungen in großen Entfernungen kommen öfter
vor), weil endlich auch kein Weib oder Mädchen gerne
von einem Thale in ein anderes auswandert, außer
in dem ziemlich ſeltenen Falle, wenn ſie der Liebe
folgt, und als Eheweib und zu dem Ehemann in ein
anderes Thal kömmt: ſo geſchah es, daß die ſchöne
Färberstochter von Millsdorf, da ſie Schuſterin in
Gſchaid geworden war, doch immer von allen
Gſchaidern als Fremde angeſehen wurde, und wenn
man ihr auch nichts Übels anthat, ja wenn man ſie
ihres ſchönen Weſens und ihrer Sitten wegen ſogar
liebte, doch immer etwas vorhanden war, das wie
Scheu oder wenn man will, wie Rükſicht ausſah, und
[29] nicht zu dem Innigen und Gleichartigen kommen ließ,
wie Gſchaiderinnen gegen Gſchaiderinnen, Gſchaider
gegen Gſchaider hatten. Es war ſo, ließ ſich nicht
abſtellen, und wurde durch die beſſere Tracht und
durch das erleichtertere häusliche Leben der Schuſterin
noch vermehrt.
Sie hatte ihrem Manne nach dem erſten Jahre
einen Sohn, und in einigen Jahren darauf ein Töch¬
terlein geboren. Sie glaubte aber, daß er die Kinder
nicht ſo liebe, wie ſie ſich vorſtellte, daß es ſein ſolle,
und wie ſie ſich bewußt war, daß ſie dieſelben liebe;
denn ſein Angeſicht war meiſtens ernſthaft und mit ſei¬
nen Arbeiten beſchäftigt. Er ſpielte und tändelte ſelten
mit den Kindern, und ſprach ſtets ruhig mit ihnen
gleichſam ſo, wie man mit Erwachſenen ſpricht. Was
Nahrung und Kleidung und andere äußere Dinge
anbelangte, hielt er die Kinder untadelich.
In der erſten Zeit der Ehe kam die Färberin öfter
nach Gſchaid, und die jungen Eheleute beſuchten auch
Millsdorf zuweilen bei Kirchweihen oder anderen feſt¬
lichen Gelegenheiten. Als aber die Kinder auf der
Welt waren, war die Sache anders geworden. Wenn
ſchon Mütter ihre Kinder lieben, und ſich nach ihnen
ſehnen, ſo iſt dieſes von Großmüttern öfter in noch
höherem Grade der Fall: ſie verlangen zuweilen mit
[30] wahrlich krankhafter Sehnſucht nach ihren Enkeln.
Die Färberin kam ſehr oft nach Gſchaid herüber, um
die Kinder zu ſehen, ihnen Geſchenke zu bringen, eine
Weile da zu bleiben, und dann mit guten Ermah¬
nungen zu ſcheiden. Da aber das Alter und die Ge¬
ſundheitsumſtände der Färberin die öfteren Fahrten
nicht mehr ſo möglich machten, und der Färber aus
dieſer Urſache Einſprache that, wurde auf etwas ande¬
res geſonnen, die Sache wurde umgekehrt, und die
Kinder kamen jezt zur Großmutter. Die Mutter
brachte ſie ſelber öfter in einem Wagen, öfter aber
wurden ſie, da ſie noch im zarten Alter waren, einge¬
mummt einer Magd mitgegeben, die ſie in einem
Fuhrwerke über den Hals brachte. Als ſie aber grö¬
ßer waren, gingen ſie zu Fuße entweder mit der Mut¬
ter oder mit einer Magd nach Millsdorf, ja da der
Knabe geſchikt ſtark und klug geworden war, ließ man
ihn allein den bekannten Weg über den Hals gehen,
und wenn es ſehr ſchön war, und er bath, erlaubte
man auch, daß ihn die kleine Schweſter begleite. Dies
iſt bei den Gſchaidern gebräuchlich, weil ſie an ſtar¬
kes Fußgehen gewöhnt ſind, und die Eltern überhaupt
namentlich aber ein Mann wie der Schuſter, es gerne
ſehen, und eine Freude daran haben, wenn ihre Kin¬
der tüchtig werden.
[31]
So geſchah es, daß die zwei Kinder den Weg
über den Hals öfter zurüklegten als die übrigen
Dörfler zuſammen genommen, und da ſchon ihre
Mutter in Gſchaid immer gewiſſermaſſen wie eine
Fremde behandelt wurde, ſo wurden durch dieſen Um¬
ſtand auch die Kinder fremd, ſie waren kaum Gſchai¬
der, und gehörten halb nach Millsdorf hinüber.
Der Knabe Konrad hatte ſchon das ernſte Weſen
ſeines Vaters, und das Mädchen Suſanna nach ihrer
Mutter ſo genannt oder, wie man es zur Abkürzung
nannte, Sanna hatte viel Glauben zu ſeinen Kennt¬
niſſen ſeiner Einſicht und ſeiner Macht, und gab ſich
unbedingt unter ſeine Leitung, gerade ſo wie die Mut¬
ter ſich unbedingt unter die Leitung der Vaters gab,
dem ſie alle Einſicht und Geſchiklichkeit zutraute.
An ſchönen Tagen konnte man Morgens die Kin¬
der durch das Thal gegen Mittag wandern ſehen,
über die Wieſe gehen, und dort anlangen, wo der
Wald des Halſes gegen ſie her ſchaut. Sie näherten
ſich dem Walde, gingen auf ſeinem Wege allgemach
über die Erhöhung hinan, und kamen, ehe der Mittag
eingetreten war, auf den offenen Wieſen auf der an¬
deren Seite gegen Millsdorf hinunter. Konrad zeigte
Sanna die Wieſen, die dem Großvater gehörten,
dann gingen ſie durch ſeine Felder, auf denen er ihr
[32] die Getreidearten erklärte, dann ſahen ſie auf Stan¬
gen unter dem Vorſprunge des Daches die langen
Tücher zum Troknen herab hängen, die ſich im Winde
ſchlängelten oder närriſche Geſichter machten, dann
hörten ſie ſeine Walkmühle und ſeinen Lohſtampf, die
er an ſeinem Bache für Tuchmacher und Gerber ange¬
legt hatte, dann bogen ſie noch um eine Eke der Fel¬
der, und gingen im Kurzen durch die Hinterthür in
den Garten der Färberei, wo ſie von der Großmutter
empfangen wurden. Dieſe ahnte immer wenn die
Kinder kamen, ſah zu den Fenſtern aus, und erkannte
ſie von Weitem, wenn Sannas rothes Tuch recht in
der Sonne leuchtete.
Sie führte die Kinder dann durch die Waſchſtube
und Preſſe in das Zimmer, ließ ſie niederſezen, ließ
nicht zu, daß ſie Halstücher oder Jäkchen lüfteten,
damit ſie ſich nicht verkühlten, und behielt ſie beim
Eſſen da. Nach dem Eſſen durften ſie ſich lüften, ſpie¬
len, durften in den Räumen des großväterlichen Hau¬
ſes herum gehen, oder ſonst thun, was ſie wollten,
wenn es nur nicht unſchiklich oder verboten war. Der
Färber, welcher immer bei dem Eſſen war, fragte ſie
um ihre Schulgegenſtände aus, und ſchärfte ihnen
beſonders ein, was ſie lernen ſollten. Nachmittags
wurden ſie von der Großmutter ſchon, ehe die Zeit
[33] kam, zum Aufbruche getrieben, daß ſie ja nicht zu
ſpät kämen. Obgleich der Färber keine Mitgift gege¬
ben hatte, und vor ſeinem Tode von ſeinem Vermögen
nichts wegzugeben gelobt hatte, glaubte ſich die Fär¬
berin an dieſe Dinge doch nicht ſo ſtrenge gebunden,
und ſie gab den Kindern nicht allein während ihrer An¬
weſenheit allerlei, worunter nicht ſelten ein Münzſtük
und zuweilen gar von anſehnlichem Werthe war, ſon¬
dern ſie band ihnen auch immer zwei Bündelchen zu¬
ſammen, in denen ſich Dinge befanden, von denen
ſie glaubte, daß ſie nothwendig wären, oder daß ſie
den Kindern Freude machen könnten. Und wenn oft
die nehmlichen Dinge im Schuſterhauſe in Gschaid
ohnedem in aller Trefflichkeit vorhanden waren, ſo gab
ſie die Großmutter in der Freude des Gebens doch,
und die Kinder trugen ſie als etwas Beſonderes nach
Hauſe. So geſchah es nun, daß die Kinder am heili¬
gen Abende ſchon unwiſſend die Geſchenke in Schach¬
teln gut verſiegelt und verwahrt nach Hauſe trugen,
die ihnen in der Nacht einbeſchert werden ſollten.
Weil die Großmutter die Kinder immer ſchon vor
der Zeit zum Fortgehen drängte, damit ſie nicht zu
ſpät nach Hauſe kämen, ſo erzielte ſie hiedurch, daß
die Kinder gerade auf dem Wege bald an dieſer bald
an jener Stelle ſich aufhielten. Sie ſaßen gerne an
Stifter, Jugendſchriften. II. 3[34] dem Haſelnußgehege, das auf dem Halſe iſt, und
ſchlugen mit Steinen Nüſſe auf, oder ſpielten, wenn
keine Nüſſe waren, mit Blättern oder mit Hölzlein
oder mit den weichen [braunen] Zöpfchen, die im erſten
Frühjahre von den Zweigen der Nadelbäume herab
fielen. Manchmal erzählte Konrad dem Schweſterchen
Geſchichten, oder wenn ſie zu der rothen Unglükſäule
kamen, führte er ſie ein Stük auf dem Seitenwege links
gegen die Höhen hinan, und ſagte ihr, daß man da
auf den Schneeberg gelange, daß dort Felſen und
Steine ſeien, daß die Gemſen herum ſpringen, und
große Vögel fliegen. Er führte ſie oft über den Wald
hinaus, ſie betrachteten dann den dürren Raſen und
die kleinen Sträucher der Haidekräuter; aber er führte
ſie wieder zurük, und brachte ſie immer vor der Abend¬
dämmerung nach Hauſe, was ihm ſtets Lob eintrug.
Einmal war am heiligen Abende, da die erſte
Morgendämmerung in dem Thale von Gſchaid in
Helle übergegangen war, ein dünner trokener Schleier
über den ganzen Himmel gebreitet, ſo daß man die
ohnedem ſchiefe und ferne Sonne im Südoſten nur
als einen undeutlichen rothen Flek ſah, überdieß war
an dieſem Tage eine milde beinahe laulichte Luft
unbeweglich im ganzen Thale und auch an dem Him¬
mel, wie die unveränderte und ruhige Geſtalt der
[35] Wolken zeigte. Da ſagte die Schuſtersfrau zu ihren
Kindern: „Weil ein ſo angenehmer Tag iſt, weil es
ſo lange nicht geregnet hat, und die Wege feſt ſind,
und weil es auch der Vater geſtern unter der Bedin¬
gung erlaubt hat, wenn der heutige Tag dazu geeig¬
net iſt, ſo dürft ihr zur Großmutter nach Mills¬
dorf gehen; aber ihr müßt den Vater noch vorher
fragen.“
Die Kinder, welche noch in ihren Nachtkleidchen
da ſtanden, liefen in die Nebenſtube, in welcher der
Vater mit einem Kunden ſprach, und bathen um die
Wiederhohlung der geſtrigen Erlaubniß, weil ein ſo
ſchöner Tag ſei. Sie wurde ihnen ertheilt, und ſie
liefen wieder zur Mutter zurük.
Die Schuſtersfrau zog nun ihre Kinder vorſorglich
an, oder eigentlich, ſie zog das Mädchen mit dichten
gut verwahrenden Kleidern an; denn der Knabe
begann ſich ſelber anzukleiden, und ſtand viel früher
fertig da, als die Mutter mit dem Mädchen hatte
ins Reine kommen können. Als ſie dieſes Geſchäft
vollendet hatte, ſagte ſie: „Konrad, gib wohl acht:
weil ich dir das Mädchen mit gehen laſſe, ſo müſſet
ihr bei Zeiten fort gehen, ihr müſſet an keinem Plaze
ſtehen bleiben, und wenn ihr bei der Großmutter
gegeſſen habt, ſo müſſet ihr gleich wieder umkehren.
3*[36] und nach Hauſe trachten; denn die Tage ſind jezt
ſehr kurz, und die Sonne geht gar bald unter.“
„Ich weiß es ſchon, Mutter,“ ſagte Konrad.
„Und ſiehe gut auf Sanna, daß ſie nicht fällt,
oder ſich erhizt.“
„Ja Mutter.“
„So, Gott behüte euch, und geht noch zum Va¬
ter, und ſagt, daß ihr jezt fortgehet.“
Der Knabe nahm eine von ſeinem Vater kunſtvoll
aus Kalbfällen genähte Taſche an einem Riemen um
die Schulter, und die Kinder gingen in die Neben¬
ſtube, um dem Vater Lebewohl zu ſagen. Aus dieſer
kamen ſie bald heraus, und hüpften von der Mutter
mit einem Kreuze beſegnet fröhlich auf die Gaſſe.
Sie gingen ſchleunig längs des Dorfplazes hinab,
und dann durch die Häuſergaſſe und endlich zwiſchen
den Planken der Obſtgärten in das Freie hinaus.
Die Sonne ſtand ſchon über dem mit milchigen Wol¬
kenſtreifen durchwobenen Wald der morgendlichen
Anhöhen, und ihr trübes röthliches Bild ſchritt durch
die laubloſen Zweige der Holzäpfelbäume mit den
Kindern fort.
In dem ganzen Thale war kein Schnee, die
größeren Berge, von denen er ſchon viele Wochen
herab geglänzt hatte, waren damit bedekt, die klei¬
[37] neren ſtanden in dem Mantel ihrer Tannenwälder
und im Fahlroth ihrer entblösten Zweige unbeſchneit
und ruhig da. Der Boden war noch nicht gefroren,
und er wäre vermöge der vorhergegangenen langen
regenloſen Zeit ganz troken geweſen, wenn ihn nicht
die Jahreszeit mit einer zarten Feuchtigkeit überzogen
hätte, die ihn aber nicht ſchlüpfrig ſondern eher feſt
und widerprallend machte, daß ſie leicht und gering
darauf fortgingen. Das wenige Gras, welches noch
auf den Wieſen und vorzüglich an den Waſſergräben
derſelben war, ſtand in herbſtlichem Anſehen. Es lag
kein Reif und bei näherem Anblike nicht einmal ein
Thau, was nach der Meinung der Landleute baldigen
Regen bedeutet.
Gegen die Grenzen der Wieſen zu war ein Ge¬
birgsbach, über welchen ein hoher Steg führte. Die
Kinder gingen auf den Steg und ſchauten hinab.
Im Bache war ſchier kein Waſſer, ein dünner Faden
von ſehr ſtark blauer Farbe ging durch die trokenen
Kieſel des Gerölles, die wegen Regenloſigkeit ganz
weiß geworden waren, und ſowohl die Wenigkeit als
auch die Farbe des Waſſers zeigten an, daß in den
größeren Höhen ſchon Kälte herrſchen müſſe, die den
Boden verſchließe, daß er mit ſeiner Erde das
Waſſer nicht trübe, und die das Eis erhärte, daß es
[38] in ſeinem Innern nur wenige klare Tropfen abgeben
könne.
Von dem Stege liefen die Kinder durch die
Gründe fort, und näherten ſich immer mehr den
Waldungen.
Sie trafen endlich die Grenze des Holzes, und
gingen in demſelben weiter.
Als ſie in die höheren Wälder des Halſes hinauf
gekommen waren, zeigten ſich die langen Furchen des
Fahrweges nicht mehr weich, wie es unten im Thale
der Fall geweſen war, ſondern ſie waren feſt, und
zwar nicht aus Trokenheit, ſondern, wie die Kinder
ſich bald überzeugten, weil ſie gefroren waren. An
manchen Stellen waren ſie ſo überfroren, daß ſie die
Körper der Kinder trugen. Nach der Natur der Kinder
gingen ſie nun nicht mehr auf dem glatten Pfade
neben dem Fahrwege, ſondern in den Gleiſen, und
verſuchten, ob dieſer oder jener Furchenaufwurf ſie
ſchon trage. Als ſie nach Verlauf einer Stunde auf
der Höhe des Halſes angekommen waren, war der
Boden bereits ſo hart, daß er klang, und Schollen
wie Steine hatte.
An der rothen Unglükſäule des Bekers bemerkte
Sanna zuerſt, daß ſie heute gar nicht da ſtehe. Sie
gingen zu dem Plaze hinzu, und ſahen, daß der
[39] runde roth angeſtrichene Balken, der das Bild trug,
in dem dürren Graſe liege, das wie dünnes Stroh
an der Stelle ſtand, und den Anblik der liegenden
Säule verdekte. Sie ſahen zwar nicht ein, warum die
Säule liege, ob ſie umgeworfen worden, oder ob ſie
von ſelber umgefallen ſei, das ſahen ſie, daß ſie an
der Stelle, wo ſie in die Erde ragte, ſehr morſch war,
und daß ſie daher ſehr leicht habe umfallen können;
aber da ſie einmal lag, ſo machte es ihnen Freude,
daß ſie das Bild und die Schrift ſo nahe betrachten
konnten, wie es ſonst nie der Fall geweſen war. Als
ſie alles — den Korb mit den Semmeln, die bleichen
Hände des Bekers, ſeine geſchloſſenen Augen, ſeinen
grauen Rok und die umſtehenden Tannen — betrachtet
hatten, als ſie die Schrift geleſen und laut geſagt
hatten, gingen ſie wieder weiter.
Abermal nach einer Stunde wichen die dunkeln
Wälder zu beiden Seiten zurük, dünnſtehende Bäume
theils einzelne Eichen theils Birken und Gebüſch¬
gruppen empfingen ſie, geleiteten ſie weiter, und nach
Kurzem liefen ſie auf den Wieſen in das Millsdorfer
Thal hinab.
Obwohl dieſes Thal bedeutend tiefer liegt als
das von Gſchaid, und auch um ſo viel wärmer war,
daß man die Erndte immer um vierzehn Tage früher
[40] beginnen konnte als in Gſchaid, ſo war doch auch
hier der Boden gefroren, und als die Kinder bis zu
den Loh- und Walkwerken des Großvaters gekommen
waren, lagen auf dem Wege, auf den die Räder oft
Tropfen heraus ſprizten, ſchöne Eistäfelchen. Den
Kindern iſt das gewöhnlich ein ſehr großes Ver¬
gnügen.
Die Großmutter hatte ſie kommen geſehen, war
ihnen entgegen gegangen, nahm Sanna bei den er¬
frornen Händchen, und führte ſie in die Stube.
Sie nahm ihnen die wärmeren Kleider ab, ſie
ließ in dem Ofen nachlegen, und fragte ſie, wie es
ihnen im Herübergehen gegangen ſei.
Als ſie hierauf die Antwort erhalten hatte, ſagte
ſie: „Das iſt ſchon recht, das iſt gut, es freut mich
gar ſehr, daß ihr wieder gekommen ſeid; aber heute
müßt ihr bald fort, der Tag iſt kurz, und es wird auch
kälter, am Morgen war es in Millsdorf nicht gefroren.“
„In Gſchaid auch nicht,“ ſagte der Knabe.
„Siehſt du, darum müßt ihr euch ſputen, daß
euch gegen Abend nicht zu kalt wird,“ antwortete die
Großmutter.
Hierauf fragte ſie, was die Mutter mache, was
der Vater mache, und ob nichts Beſonderes in Gſchaid
geſchehen ſei.
[41]
Nach dieſen Fragen bekümmerte ſie ſich um das
Eſſen, ſorgte, daß es früher bereitet wurde als ge¬
wöhnlich, und richtete ſelber den Kindern kleine Leker¬
biſſen zuſammen, von denen ſie wußte, daß ſie eine
Freude damit erregen würde. Dann wurde der Färber
gerufen, die Kinder bekamen an dem Tiſche aufgedekt
wie große Perſonen, und aßen nun mit Großvater
und Großmutter, und die lezte legte ihnen hiebei
beſonders Gutes vor. Nach dem Eſſen ſtreichelte ſie
Sannas unterdeſſen ſehr roth gewordene Wangen.
Hierauf ging ſie geſchäftig hin und her, und ſtekte
das Kalbfellränzchen des Knaben voll, und ſtekte ihm
noch allerlei in die Taſchen. Auch in die Täſchchen
von Sanna that ſie allerlei Dinge. Sie gab jedem
ein Stük Brot, es auf dem Wege zu verzehren, und
in dem Ränzchen, ſagte ſie, ſeien noch zwei Wei߬
brote, wenn etwa der Hunger zu groß würde.
„Für die Mutter habe ich einen guten gebrannten
Kaffeh mitgegeben,“ ſagte ſie, „und in dem Fläſchchen,
das zugeſtopft und gut verbunden iſt, befindet ſich
auch ein ſchwarzer Kaffehaufguß, ein beſſerer, als
die Mutter bei euch gewöhnlich macht, ſie ſoll ihn
nur koſten, wie er iſt, er iſt eine wahre Arznei, ſo
kräftig, daß nur ein Schlükchen den Magen ſo wärmt,
daß es den Körper in den kälteſten Wintertagen nicht
[42] frieren kann. Die anderen Sachen die in der Schach¬
tel und in den Papieren im Ränzchen ſind, bringt
unverſehrt nach Hauſe.“
Da ſie noch ein Weilchen mit den Kindern geredet
hatte, ſagte ſie, daß ſie gehen ſollten.
„Habe acht, Sanna,“ ſagte ſie, „daß du nicht
frierſt, erhize dich nicht; und daß ihr nicht über die
Wieſen hinauf und unter den Bäumen lauft. Etwa
kömmt gegen Abend ein Wind, da müßt ihr lang¬
ſamer gehen. Grüſſet Vater und Mutter, und ſagt,
ſie ſollen recht glükliche Feiertage haben.“
Die Großmutter küßte beide Kinder auf die Wan¬
gen, und ſchob ſie durch die Thür hinaus. Nichts deſto
weniger ging ſie aber auch ſelber mit, geleitete ſie durch
den Garten, ließ ſie durch das Hinterpförtchen hinaus,
ſchloß wieder, und ging in das Haus zurük.
Die Kinder gingen an den Eistäfelchen neben den
Werken des Großvaters vorbei, ſie gingen durch die
Millsdorfer Felder, und wendeten ſich gegen die Wie¬
ſen hinan.
Als ſie auf den Anhöhen gingen, wo, wie geſagt
wurde, zerſtreute Bäume und Gebüſchgruppen ſtan¬
den, fielen äußerſt langſam einzelne Schneefloken.
„Siehſt du, Sanna,“ ſagte der Knabe, „ich habe
es gleich gedacht, daß wir Schnee bekommen; weißt
[43] du, da wir von Hauſe weg gingen, ſahen wir noch
die Sonne, die ſo blutroth war wie eine Lampe bei
dem heiligen Grabe, und jezt iſt nichts mehr von ihr
zu erbliken, und nur der graue Nebel iſt über den
Baumwipfeln oben. Das bedeutet allemal Schnee.“
Die Kinder gingen freudiger fort, und Sanna
war recht froh, wenn ſie mit dem dunkeln Ärmel
ihres Rökchens eine der fallenden Floken auffangen
konnte, und wenn dieſelbe recht lange nicht auf dem
Ärmel zerfloß. Als ſie endlich an dem äußerſten Rand
der Millsdorfer Höhen angekommen waren, wo es
gegen die dunkeln Tannen des Halſes hinein geht,
war die dichte Waldwand ſchon recht lieblich geſpren¬
kelt von den immer reichlicher herab fallenden Floken.
Sie gingen nunmehr in den diken Wald hinein, der
den größten Theil ihrer noch bevorſtehenden Wan¬
derung einnahm.
Es geht von dem Waldrande noch immer auf¬
wärts, und zwar bis man zur rothen Unglükſäule
kömmt, von wo ſich, wie ſchon oben angedeutet
wurde, der Weg gegen das Thal von Gſchaid hinab
wendet. Die Erhebung des Waldes von der Mills¬
dorferſeite aus iſt ſogar ſo ſteil, daß der Weg nicht
gerade hinan geht, ſondern, daß er in ſehr langen
Abweichungen von Abend nach Morgen und von
[44] Morgen nach Abend hinan klimmt. An der ganzen
Länge des Weges hinauf zur Säule und hinab bis
zu den Wieſen von Gſchaid ſind hohe dichte ungelich¬
tete Waldbeſtände, und ſie werden erſt ein wenig
dünner, wenn man in die Ebene gelangt iſt und gegen
die Wieſen des Thales von Gſchaid hinaus kömmt.
Der Hals iſt auch, wenn er gleich nur eine kleine
Verbindung zwiſchen zwei großen Gebirgshäuptern
abgibt, doch ſelbſt ſo groß, daß er in die Ebene ge¬
legt einen bedeutenden Gebirgsrüken abgeben würde.
Das Erſte, was die Kinder ſahen, als ſie die
Waldung betraten, war, daß der gefrorne Boden ſich
grau zeigte, als ob er mit Mehl beſät wäre, daß die
Fahne manches dünnen Halmes des am Wege hin
und zwiſchen den Bäumen ſtehenden dürren Graſes
mit Floken beſchwert war, und daß auf den verſchie¬
denen grünen Zweigen der Tannen und Fichten, die
ſich wie Hände öffneten, ſchon weiße Fläumchen
ſaßen.
„Schneit es denn jezt bei dem Vater zu Hauſe
auch?“ fragte Sanna.
„Freilich,“ antwortete der Knabe, „es wird auch
kälter, und du wirſt ſehen, daß morgen der ganze
Teich gefroren iſt.“
„Ja, Konrad,“ ſagte das Mädchen.
[45]
Es verdoppelte beinahe ſeine kleinen Schritte, um
mit denen des dahinſchreitenden Knaben gleich bleiben
zu können.
Sie gingen nun rüſtig in den Windungen fort,
jezt von Abend nach Morgen, jezt von Morgen nach
Abend. Der von der Großmutter vorausgeſagte Wind
ſtellte ſich nicht ein, im Gegentheile war es ſo ſtille,
daß ſich nicht ein Äſtchen oder Zweig rührte, ja ſogar
es ſchien im Walde wärmer, wie es in lokeren Kör¬
pern, dergleichen ein Wald auch iſt, immer im Winter
zu ſein pflegt, und die Schneefloken fielen ſtets reich¬
licher, ſo daß der ganze Boden ſchon weiß war, daß
der Wald ſich grau zu beſtäuben anfing, und daß auf
dem Hute und den Kleidern des Knaben ſo wie auf
denen des Mädchens der Schnee lag.
Die Freude der Kinder war ſehr groß. Sie traten
auf den weichen Flaum, ſuchten mit dem Fuße abſicht¬
lich ſolche Stellen, wo er dichter zu liegen ſchien, um
dorthin zu treten, und ſich den Anſchein zu geben, als
wateten ſie bereits. Sie ſchüttelten den Schnee nicht
von den Kleidern ab.
Es war große Ruhe eingetreten. Von den Vö¬
geln, deren doch manche auch zuweilen im Winter in
dem Walde hin und her fliegen, und von denen die
Kinder im Herübergehen ſogar mehrere zwitſchern ge¬
[46] hört hatten, war nichts zu vernehmen, ſie ſahen auch
keine auf irgend einem Zweige ſizen, oder fliegen, und
der ganze Wald war gleichſam ausgeſtorben.
Weil nur die bloßen Fußſtapfen der Kinder hinter
ihnen blieben, und weil vor ihnen der Schnee rein
und unverlezt war, ſo war daraus zu erkennen daß ſie
die einzigen waren, die heute über den Hals gingen.
Sie gingen in ihrer Richtung fort, ſie näherten
ſich öfter den Bäumen, öfter entfernten ſie ſich, und
wo dichtes Unterholz war, konnten ſie den Schnee auf
den Zweigen liegen ſehen.
Ihre Freude wuchs noch immer; denn die Floken
fielen ſtets dichter, und nach kurzer Zeit brauchten ſie
nicht mehr den Schnee aufzuſuchen, um in ihm zu
waten; denn er lag ſchon ſo dicht, daß ſie ihn überall
weich unter den Sohlen empfanden, und daß er ſich be¬
reits um ihre Schuhe zu legen begann; und wenn es
ſo ruhig und heimlich war, ſo war es, als ob ſie das
Kniſtern des in die Nadeln herab fallenden Schnees
vernehmen könnten.
„Werden wir heute auch die Unglükſäule ſehen?“
fragte das Mädchen, „ſie iſt ja umgefallen, und da
wird es darauf ſchneien, und da wird die rothe Farbe
weiß ſein.“
„Darum können wir ſie doch ſehen,“ antwortete
[47] der Knabe, „wenn auch der Schnee auf ſie fällt, und
wenn ſie auch weiß iſt, ſo müſſen wir ſie liegen ſehen,
weil ſie eine dike Säule iſt, und weil ſie das ſchwarze
eiſerne Kreuz auf der Spize hat, das doch immer her¬
aus ragen wird.“
„Ja Konrad.“
Indeſſen da ſie noch weiter gegangen waren, war
der Schneefall ſo dicht geworden, daß ſie nur mehr
die allernächſten Bäume ſehen konnten.
Von der Härte des Weges oder gar von Furchen¬
aufwerfungen war nichts zu empfinden, der Weg war
vom Schnee überall gleich weich, und war überhaupt
nur daran zu erkennen, daß er als ein gleichmäßiger
weißer Streifen in dem Walde fort lief. Auf allen
Zweigen lag ſchon die ſchöne weiße Hülle.
Die Kinder gingen jezt mitten auf dem Wege,
ſie furchten den Schnee mit ihren Füßlein, und gin¬
gen langſamer, weil das Gehen beſchwerlicher ward.
Der Knabe zog ſeine Jake empor an dem Halſe zu¬
ſammen, damit ihm nicht der Schnee in den Naken
falle, und er ſezte den Hut tiefer in das Haupt, daß
er geſchüzter ſei. Er zog auch ſeinem Schweſterlein
das Tuch, das ihm die Mutter um die Schulter
gegeben hatte, beſſer zuſammen, und zog es ihm mehr
vorwärts in die Stirne, daß es ein Dach bilde.
[48]
Der von der Großmutter vorausgeſagte Wind
war noch immer nicht gekommen; aber dafür wurde
der Schneefall nach und nach ſo dicht, daß auch nicht
mehr die nächſten Bäume zu erkennen waren, ſondern
daß ſie wie neblige Säke in der Luft ſtanden.
Die Kinder gingen fort. Sie dukten die Köpfe
dichter in ihre Kleider, und gingen fort.
Sanna nahm den Riemen, an welchem Konrad
die Kalbfelltaſche um die Schulter hängen hatte, mit
den Händchen, hielt ſich daran, und ſo gingen ſie
ihres Weges.
Die Unglükſäule hatten ſie noch immer nicht
erreicht. Der Knabe konnte die Zeit nicht ermeſſen,
weil keine Sonne am Himmel ſtand, und weil es
immer gleichmäßig grau war.
„Werden wir bald zu der Unglükſäule kommen?“
fragte Sanna.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete der Knabe, „ich
kann heute die Bäume nicht ſehen, und den Weg
nicht erkennen, weil er ſo weiß iſt. Die Unglükſäule
werden wir wohl gar nicht ſehen, weil ſo viel Schnee
liegen wird, daß ſie verhüllt ſein wird, und daß kaum
ein Gräschen oder ein Arm des ſchwarzen Kreuzes
hervor ragen wird. Aber es macht nichts. Wir gehen
immer auf dem Wege fort, der Weg geht zwiſchen
[49] den Bäumen, und wenn er zu dem Plaze der Un¬
glükſäule kömmt, dann wird er abwärts gehen, wir
gehen auf ihm fort, und wenn er aus den Bäumen
hinaus geht, dann ſind wir ſchon auf den Wieſen
von Gſchaid, dann kömmt der Steg, und dann haben
wir nicht mehr weit nach Hauſe.
„Ja Konrad,“ ſagte das Mädchen.
Sie gingen auf ihrem aufwärtsführenden Wege
fort. Die hinter ihnen liegenden Fußſtapfen waren
jezt nicht mehr lange ſichtbar; denn die ungemeine
Fülle des herabfallenden Schnees dekte ſie bald zu,
daß ſie verſchwanden. Der Schnee kniſterte in ſeinem
Falle nun auch nicht mehr in den Nadeln, ſondern
legte ſich eilig und heimlich auf die weiße ſchon da¬
liegende Deke nieder. Die Kinder nahmen die Kleider
noch feſter, um das immerwährende allſeitige Hin¬
einrieſeln abzuhalten.
Sie gingen ſehr ſchleunig, und der Weg führte
noch ſtets aufwärts.
Nach langer Zeit war noch immer die Höhe nicht
erreicht, auf welcher die Unglükſäule ſtehen ſollte,
und von wo der Weg gegen die Gſchaider Seite ſich
hinunter wenden mußte.
Endlich kamen die Kinder in eine Gegend, in
welcher keine Bäume ſtanden.
Stifter, Jugendſchriften. II. 4[50]
„Ich ſehe keine Bäume mehr,“ ſagte Sanna.
„Vielleicht iſt nur der Weg ſo breit, daß wir ſie
wegen des Schneiens nicht ſehen können,“ antwortete
der Knabe.
„Ja, Konrad,“ ſagte das Mädchen.
Nach einer Weile blieb der Knabe ſtehen, und
ſagte: „Ich ſehe ſelber keine Bäume mehr, wir müſ¬
ſen aus dem Walde gekommen ſein, auch geht der
Weg immer bergan. Wir wollen ein wenig ſtehen
bleiben, und herum ſehen, vielleicht erbliken wir
etwas.“
Aber ſie erblikten nichts. Sie ſahen durch einen
trüben Raum in den Himmel. Wie bei dem Hagel
über die weißen oder grünlich gedunſenen Wolken die
finſteren franſenartigen Streifen herabſtarren, ſo war
es hier, und das ſtumme Schütten dauerte fort. Auf
der Erde ſahen ſie nur einen runden Flek Weiß und
dann nichts mehr.
„Weißt du Sanna,“ ſagte der Knabe, „wir ſind
auf dem dürren Graſe, auf welches ich dich oft im
Sommer herauf geführt habe, wo wir ſaßen, und wo
wir den Raſen betrachteten, der nach einander hinauf
geht, und wo die ſchönen Kräuterbüſchel wachſen.
Wir werden da jezt gleich rechts hinab gehen!“
„Ja Konrad.“
[51]„Der Tag iſt kurz, wie die Großmutter geſagt
hat, und wie du auch wiſſen wirſt, wir müſſen uns
daher ſputen.“
„Ja Konrad,“ ſagte das Mädchen.
„Warte ein wenig, ich will dich beſſer einrichten,“
erwiederte der Knabe.
Er nahm ſeinen Hut ab, ſezte ihn Sanna auf
das Haupt, und befeſtigte ihn mit den beiden Bänd¬
chen unter ihrem Kinne. Das Tüchlein, welches ſie
um hatte, ſchüzte ſie zu wenig, während auf ſeinem
Haupte eine ſolche Menge dichter Loken war, daß
noch lange Schnee darauf fallen konnte, ehe Näſſe
und Kälte durchzudringen vermochten. Dann zog er
ſein Pelzjäkchen aus, und zog dasſelbe über die Är¬
melein der Schweſter. Um ſeine eigenen Schultern
und Arme, die jezt das bloſſe Hemd zeigten, band er
das kleinere Tüchlein, das Sanna über die Bruſt,
und das größere, das ſie über die Schultern gehabt
hatte. Das ſei für ihn genug, dachte er, wenn er
nur ſtark auftrete, werde ihn nicht frieren.
Er nahm das Mädchen bei der Hand, und ſo
gingen ſie jezt fort.
Das Mädchen ſchaute mit den willigen Äuglein
in das ringsum herrſchende Grau, und folgte ihm
gerne, nur daß es mit den kleinen eilenden Füßlein
4 *[52] nicht ſo nachkommen konnte, wie er vorwärts ſtrebte
gleich einem, der es zur Entſcheidung bringen wollte.
Sie gingen nun mit der Unabläſſigkeit und Kraft,
die Kinder und Thiere haben, weil ſie nicht wiſſen,
wie viel ihnen beſchieden iſt, und wann ihr Vorrath
erſchöpft iſt.
Aber wie ſie gingen, ſo konnten ſie nicht merken,
ob ſie über den Berg hinabkämen oder nicht. Sie
hatten gleich rechts nach abwärts gebogen, allein ſie
kamen wieder in Richtungen, die bergan führten,
bergab und wieder bergan. Oft begegneten ihnen
Steilheiten, denen ſie ausweichen mußten, und ein
Graben, in dem ſie fortgingen, führte ſie in einer
Krümmung herum. Sie erklommen Höhen, die ſich
unter ihren Füſſen ſteiler geſtalteten, als ſie dachten,
und was ſie für abwärts hielten, war wieder eben,
oder es war eine Höhlung, oder es ging immer gedehnt
fort.
„Wo ſind wir denn, Konrad?“ fragte das Mädchen.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete er.
„Wenn ich nur mit dieſen meinen Augen etwas
zu erbliken im Stande wäre,“ fuhr er fort, „daß ich
mich darnach richten könnte.“
Aber es war rings um ſie nichts als das blen¬
dende Weiß, überall das Weiß, das aber ſelber nur
[53] einen immer kleineren Kreis um ſie zog, und dann in
einen lichten ſtreifenweiſe niederfallenden Nebel über¬
ging, der jedes Weitere verzehrte, und verhüllte, und
zulezt nichts anderes war als der unerſättlich nieder¬
fallende Schnee.
„Warte Sanna,“ ſagte der Knabe, „wir wollen ein
wenig ſtehen bleiben, und horchen, ob wir nicht etwas
hören können, was ſich im Thale meldet, ſei es nun
ein Hund oder eine Gloke oder die Mühle oder ſei es
ein Ruf, der ſich hören läßt, hören müſſen wir etwas,
und dann werden wir wiſſen, wohin wir zu gehen
haben.“
Sie blieben nun ſtehen, aber ſie hörten nichts.
Sie blieben noch ein wenig länger ſtehen, aber es
meldete ſich nichts, es war nicht ein einziger Laut auch
nicht der leiſeſte außer ihrem Athem zu vernehmen,
ja in der Stille, die herrſchte, war es, als ſollten ſie
den Schnee hören, der auf ihre Wimpern fiel. Die
Vorausſage der Großmutter hatte ſich noch immer
nicht erfüllt, der Wind war nicht gekommen, ja was
in dieſen Gegenden ſelten iſt, nicht das leiſeſte Lüftchen
rührte ſich an dem ganzen Himmel.
Nachdem ſie lange gewartet hatten, gingen ſie
wieder fort.
„Es thut auch nichts, Sanna,“ ſagte der Knabe,
[54] „ſei nur nicht verzagt, folge mir, ich werde dich doch
noch hinüber führen. — Wenn nur das Schneien
aufhörte!“
Sie war nicht verzagt, ſondern hob die Füßchen,
ſo gut es gehen wollte, und folgte ihm. Er führte ſie
in dem weißen lichten regſamen undurchſichtigen
Raume fort.
Nach einer Weile ſahen ſie Felſen. Sie hoben ſich
dunkel und undeutlich aus dem weißen und undurch¬
ſichtigen Lichte empor. Da die Kinder ſich näherten,
ſtießen ſie faſt daran. Sie ſtiegen wie eine Mauer
hinauf, und waren ganz gerade, ſo daß kaum ein
Schnee an ihrer Seite haften konnte.
„Sanna, Sanna,“ ſagte er, „da ſind die Felſen,
gehen wir nur weiter, gehen wir weiter.“
Sie gingen weiter, ſie mußten zwiſchen die Felſen
hinein, und unter ihnen fort. Die Felſen ließen ſie
nicht rechts und nicht links ausweichen, und führten
ſie in einem engen Wege dahin. Nach einer Zeit verlo¬
ren ſie dieſelben wieder und konnten ſie nicht mehr
erbliken. So wie ſie unverſehens unter ſie gekommen
waren, kamen ſie wieder unverſehens von ihnen. Es
war wieder nichts um ſie als das Weiß, und ringsum
war kein unterbrechendes Dunkel zu ſchauen. Es
ſchien eine große Lichtfülle zu ſein, und doch konnte
[55] man nicht drei Schritte vor ſich ſehen; alles war,
wenn man ſo ſagen darf, in eine einzige weiße Finſter¬
niß gehüllt, und weil kein Schatten war, ſo war kein
Urtheil über die Größe der Dinge, und die Kinder
konnten nicht wiſſen, ob ſie aufwärts oder abwärts
gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte,
und ihn aufwärts zu gehen zwang.
„Mir thun die Augen weh,“ ſagte Sanna.
„Schaue nicht auf den Schnee,“ antwortete der
Knabe, „ſondern in die Wolken. Mir thun ſie
ſchon lange weh; aber es thut nichts, ich muß doch
auf den Schnee ſchauen, weil ich auf den Weg zu
achten habe. Fürchte dich nur nicht, ich führe dich doch
hinunter ins Gſchaid.“
„Ja, Konrad.“
Sie gingen wieder fort; aber wie ſie auch gehen
mochten, wie ſie ſich auch wenden mochten, es wollte
kein Anfang zum Hinabwärtsgehen kommen. An
beiden Seiten waren ſteile Dachlehnen nach aufwärts,
mitten gingen ſie fort, aber auch immer aufwärts.
Wenn ſie den Dachlehnen entrannen, und ſie nach ab¬
wärts beugten, wurde es gleich ſo ſteil, daß ſie wieder
umkehren mußten, die Füßlein ſtießen oft auf Uneben¬
heiten, und ſie mußten häufig Büheln ausweichen.
Sie merkten auch, daß ihr Fuß, wo er tiefer durch
[56] den jungen Schnee einſank, nicht erdigen Boden unter
ſich empfand, ſondern etwas anderes, das wie älterer
gefrorner Schnee war; aber ſie gingen immer fort, und
ſie liefen mit Haſt und Ausdauer. Wenn ſie ſtehen blie¬
ben, war alles ſtill, unermeßlich ſtill; wenn ſie gingen,
hörten ſie das Raſcheln ihrer Füße, ſonſt nichts; denn
die Hüllen des Himmels ſanken ohne Laut hernieder,
und ſo reich, daß man den Schnee hätte wachſen
ſehen können. Sie ſelber waren ſo bedekt, daß ſie ſich
von dem allgemeinen Weiß nicht hervor hoben, und ſich,
wenn ſie um ein par Schritte getrennt worden wären,
nicht mehr geſehen hätten.
Eine Wohlthat war es, daß der Schnee ſo troken
war wie Sand, ſo daß er von ihren Füßen und den
Bundſchühlein und Strümpfen daran leicht abglitt
und abrieſelte, ohne Ballen und Näſſe zu machen.
Endlich gelangten ſie wieder zu Gegenſtänden.
Es waren rieſenhaft große ſehr durch einander
liegende Trümmer, die mit Schnee bedekt waren, der
überall in die Klüfte hinein rieſelte, und an die ſie ſich
ebenfalls faſt anſtießen, ehe ſie ſie ſahen. Sie gingen
ganz hinzu, die Dinge anzubliken.
Es war Eis — lauter Eis.
Es lagen Platten da, die mit Schnee bedekt wa¬
ren, an deren Seitenwänden aber das glatte grünliche
[57] Eis ſichtbar war, es lagen Hügel da, die wie zuſam¬
mengeſchobener Schaum ausſahen, an deren Seiten
es aber matt nach einwärts flimmerte und glänzte,
als wären Balken und Stangen von Edelſteinen durch
einander geworfen worden, es lagen ferner gerundete
Kugeln da, die ganz mit Schnee umhüllt waren, es
ſtanden Platten und andere Körper auch ſchief oder
gerade aufwärts ſo hoch wie der Kirchthurm in Gſchaid
oder wie Häuſer. In einigen waren Höhlen einge¬
freſſen, durch die man mit einem Arme durchfahren
konnte, mit einem Kopfe, mit einem Körper, mit
einem ganzen großen Wagen voll Heu. Alle dieſe
Stüke waren zuſammen oder empor gedrängt, und
ſtarrten, ſo daß ſie oft Dächer bildeten, oder Über¬
hänge, über deren Ränder ſich der Schnee herüber
legte, und herab grif wie lange weiße Tazen. Selbſt
ein großer ſchrekhaft ſchwarzer Stein, wie ein
Haus, lag unter dem Eiſe, und war empor geſtellt,
daß er auf der Spize ſtand, daß kein Schnee an ſeinen
Seiten liegen bleiben konnte. Und nicht dieſer Stein
allein — noch mehrere und größere ſtaken in dem Eiſe,
die man erſt ſpäter ſah, und die wie eine Trüm¬
mermauer an ihm hingingen.
„Da muß recht viel Waſſer geweſen ſein, weil ſo
viel Eis iſt,“ ſagte Sanna.
[58]
„Nein, das iſt von keinem Waſſer,“ antwortete
der Bruder, „das iſt das Eis des Berges, das immer
oben iſt, weil es ſo eingerichtet iſt.“
„Ja Konrad,“ ſagte Sanna.
„Wir ſind jezt bis zu dem Eiſe gekommen,“ ſagte
der Knabe, „wir ſind auf dem Berge, Sanna, weißt
du, den man von unſerm Garten aus im Sonnen¬
ſcheine ſo weiß ſieht. Merke gut auf, was ich dir
ſagen werde. Erinnerſt du dich noch, wie wir oft
nachmittags in dem Garten ſaßen, wie es recht ſchön
war, wie die Bienen um uns ſummten, die Linden
dufteten, und die Sonne von dem Himmel ſchien?“
„Ja, Konrad,“ ich erinnere mich.
„Da ſahen wir auch den Berg. Wir ſahen wie er
ſo blau war, ſo blau, wie das ſanfte Firmament,
wir ſahen den Schnee, der oben iſt, wenn auch bei
uns Sommer war, eine Hize herrſchte, und die Ge¬
treide reif wurden.“
„Ja Konrad.“
„Und unten wo der Schnee aufhört, da ſieht man
allerlei Farben, wenn man genau ſchaut, grün, blau,
weißlich — das iſt das Eis, das unten nur ſo klein
ausſchaut, weil man ſehr weit entfernt iſt, und das,
wie der Vater ſagte, nicht weggeht bis an das Ende
der Welt. Und da habe ich oft geſehen, daß unterhalb
[59] des Eiſes die blaue Farbe noch fort geht, das werden
Steine ſein, dachte ich, oder es wird Erde und Weide¬
grund ſein, und dann fangen die Wälder an, die
gehen herab und immer weiter herab, man ſieht auch
allerlei Felſen in ihnen, dann folgen die Wieſen, die
ſchon grün ſind, und dann die grünen Laubwälder,
und dann kommen unſere Wieſen und Felder, die in
dem Thale von Gſchaid ſind. Siehſt du nun Sanna,
weil wir jezt bei dem Eiſe ſind, ſo werden wir über
die blaue Farbe hinab gehen, dann durch die Wälder,
in denen die Felſen ſind, dann über die Wieſen, und
dann durch die grünen Laubwälder, und dann werden
wir in dem Thale von Gſchaid ſein, und recht leicht
unſer Dorf finden.“
„Ja Konrad,“ ſagte das Mädchen.
Die Kinder gingen nun in das Eis hinein, wo
es zugänglich war.
Sie waren winzigkleine wandelnde Punkte in die¬
ſen ungeheuern Stüken.
Wie ſie ſo unter die Überhänge hinein ſahen,
gleichſam als gäbe ihnen ein Trieb ein, ein Obdach
zu ſuchen, gelangten ſie in einen Graben, in einen
breiten tiefgefurchten Graben, der gerade aus dem
Eiſe hervor ging. Er ſah aus wie das Bett eines
Stromes, der aber jezt ausgetroknet, und überall mit
[60] friſchem Schnee bedekt war. Wo er aus dem Eiſe
hervorkam, ging er gerade unter einem Kellergewölbe
heraus, das recht ſchön aus Eis über ihn geſpannt
war. Die Kinder gingen in dem Graben fort, und
gingen in das Gewölbe hinein, und immer tiefer hin¬
ein. Es war ganz troken, und unter ihren Füßen
hatten ſie glattes Eis. In der ganzen Höhlung aber
war es blau, ſo blau, wie gar nichts in der Welt iſt,
viel tiefer und viel ſchöner blau, als das Firmament,
gleichſam wie himmelblau gefärbtes Glas, durch
welches lichter Schein hinein ſinkt. Es waren dikere
und dünnere Bogen, es hingen Zaken Spizen und
Troddeln herab, der Gang wäre noch tiefer zurükge¬
gangen, ſie wußten nicht wie tief, aber ſie gingen
nicht mehr weiter. Es wäre auch ſehr gut in der
Höhle geweſen, es war warm, es fiel kein Schnee,
aber es war ſo ſchrekhaft blau, die Kinder fürchteten
ſich, und gingen wieder hinaus. Sie gingen eine
Weile in dem Graben fort, und kletterten dann über
ſeinen Rand hinaus.
Sie gingen an dem Eiſe hin, ſo fern es möglich
war, durch das Getrümmer und zwiſchen den Platten
durchzudringen.
„Wir werden jezt da noch hinüber gehen, und
dann von dem Eiſe abwärts laufen,“ ſagte Konrad.
[61]
„Ja,“ ſagte Sanna, und klammerte ſich an ihn an.
Sie ſchlugen von dem Eiſe eine Richtung durch
den Schnee abwärts ein, die ſie in das Thal führen
ſollte. Aber ſie kamen nicht weit hinab. Ein neuer
Strom von Eis, gleichſam ein rieſenhaft aufge¬
thürmter und aufgewölbter Wall lag quer durch den
weichen Schnee, und grif gleichſam mit Armen rechts
und links um ſie herum. Unter der weißen Deke, die
ihn verhüllte, glimmerte es ſeitwärts grünlich und
bläulich und dunkel und ſchwarz und ſelbſt gelblich
und röthlich heraus. Sie konnten es nun auf weitere
Streken ſehen, weil das ungeheure und unermüdliche
Schneien ſich gemildert hatte, und nur mehr wie an
gewöhnlichen Schneetagen vom Himmel fiel. Mit
dem Starkmuthe der Unwiſſenheit kletterten ſie in das
Eis hinein, um den vorgeſchobenen Strom desſelben
zu überſchreiten, und dann jenſeits weiter hinab zu
kommen. Sie ſchoben ſich in die Zwiſchenräume hin¬
ein, ſie ſezten den Fuß auf jedes Körperſtük, das mit
einer weißen Schneehaube verſehen war, war es Fels
oder Eis, ſie nahmen die Hände zur Hilfe, krochen,
wo ſie nicht gehen konnten, und arbeiteten ſich mit
ihren leichten Körpern hinauf, bis ſie die Seite des
Walles überwunden hatten, und oben waren.
Jenſeits wollten ſie wieder hinabklettern.
[62]Aber es gab kein Jenſeits.
So weit die Augen der Kinder reichen konnten,
war lauter Eis. Es ſtanden Spizen und Unebenhei¬
ten und Schollen empor wie lauter furchtbares über¬
ſchneites Eis. Statt ein Wall zu ſein, über den man
hinüber gehen könnte, und der dann wieder von
Schnee abgelöst würde, wie ſie ſich unten dachten,
ſtiegen aus der Wölbung neue Wände von Eis em¬
por, geborſten und geklüftet, mit unzähligen blauen
geſchlängelten Linien verſehen, und hinter ihnen waren
wieder ſolche Wände, und hinter dieſen wieder ſolche,
bis der Schneefall das Weitere mit ſeinem Grau
verdekte.
„Sanna, da können wir nicht gehen,“ ſagte der
Knabe.
„Nein,“ antwortete die Schweſter.
„Da werden wir wieder umkehren, und anderswo
hinab zu kommen ſuchen.“
„Ja Konrad.“
Die Kinder verſuchten nun von dem Eiswalle
wieder da hinab zu kommen, wo ſie hinauf geklettert
waren, aber ſie kamen nicht hinab. Es war lauter
Eis, als hätten ſie die Richtung, in der ſie gekommen
waren, verfehlt. Sie wandten ſich hierhin und
dorthin, und konnten aus dem Eiſe nicht heraus
[63] kommen, als wären ſie von ihm umſchlungen. Sie
kletterten abwärts, und kamen wieder in Eis. Endlich
da der Knabe die Richtung immer verfolgte, in der
ſie nach ſeiner Meinung gekommen waren, gelangten
ſie in zerſtreutere Trümmer, aber ſie waren auch größer
und furchtbarer, wie ſie gerne am Rande des Eiſes
zu ſein pflegen, und die Kinder gelangten kriechend
und kletternd hinaus. An dem Eiſesſaume waren
ungeheure Steine, ſie waren gehäuft, wie ſie die
Kinder ihr Leben lang nicht geſehen hatten. Viele
waren in Weiß gehüllt, viele zeigten die unteren ſchie¬
fen Wände ſehr glatt und fein geſchliffen, als wären
ſie darauf geſchoben worden, viele waren wie Hütten
und Dächer gegen einander geſtellt, viele lagen auf
einander wie ungeſchlachte Knollen. Nicht weit von
dem Standorte der Kinder ſtanden mehrere mit den
Köpfen gegen einander gelehnt, und über ſie lagen
breite gelagerte Blöke wie ein Dach. Es war ein
Häuschen, das gebildet war, das gegen vorne offen,
rükwärts und an den Seiten aber geſchüzt war. Im
Innern war es troken, da der ſteilrechte Schneefall
keine einzige Floke hinein getragen hatte. Die Kinder
waren recht froh, daß ſie nicht mehr in dem Eiſe
waren, und auf ihrer Erde ſtanden.
Aber es war auch endlich finſter geworden.
[64]
„Sanna,“ ſagte der Knabe, „wir können nicht mehr
hinab gehen, weil es Nacht geworden iſt, und weil
wir fallen, oder gar in eine Grube gerathen könnten.
Wir werden da unter die Steine hinein gehen, wo
es ſo troken und ſo warm iſt, und da werden wir
warten. Die Sonne geht bald wieder auf, dann
laufen wir hinunter. Weine nicht, ich bitte dich recht
ſchön, weine nicht, ich gebe dir alle Dinge zu eſſen,
welche uns die Großmutter mitgegeben hat.“
Sie weinte auch nicht, ſondern nachdem ſie beide
unter das ſteinerne Überdach hinein gegangen waren,
wo ſie nicht nur bequem ſizen, ſondern auch ſtehen,
und herumgehen konnten, ſezte ſie ſich recht dicht an ihn,
und war mäuschenſtille.
„Die Mutter,“ ſagte Konrad, „wird nicht böſe
ſein, wir werden ihr von dem vielen Schnee erzählen,
der uns aufgehalten hat, und ſie wird nichts ſagen;
der Vater auch nicht. Wenn uns kalt wird — weißt
du — dann mußt du mit den Händen an deinen Leib
ſchlagen, wie die Holzhauer gethan haben, und dann
wird dir wärmer werden.“
„Ja Konrad,“ ſagte das Mädchen.
Sanna war nicht gar ſo untröſtlich, daß ſie heute
nicht mehr über den Berg hinab gingen, und nach
Hauſe liefen, wie er etwa glauben mochte; denn die
[65] unermeßliche Anſtrengung, von der die Kinder nicht
einmal gewußt hatten, wie groß ſie geweſen ſei, ließ
ihnen das Sizen ſüß unſäglich ſüß erſcheinen, und ſie
gaben ſich hin.
Jezt machte ſich aber auch der Hunger gelten.
Beide nahmen faſt zu gleicher Zeit ihre Brode aus
den Taſchen, und aßen ſie. Sie aßen auch die Dinge
— kleine Stükchen Kuchen Mandeln und Nüſſe und
andere Kleinigkeiten — die die Großmutter ihnen in
die Taſche geſtekt hatte.
„Sanna, jezt müſſen wir aber auch den Schnee
von unsern Kleidern thun,“ ſagte der Knabe, „daß wir
nicht naß werden.“
„Ja, Konrad,“ erwiederte Sanna.
Die Kinder gingen aus ihrem Häuschen, und
zuerſt reinigte Konrad das Schweſterlein von Schnee.
Er nahm die Kleiderzipfel, ſchüttelte ſie, nahm ihr
den Hut ab, den er ihr aufgeſezt hatte, entleerte ihn
von Schnee, und was noch zurük geblieben war, das
ſtäubte er mit einem Tuche ab. Dann entledigte er
auch ſich, ſo gut es ging, des auf ihm liegenden
Schnees.
Der Schneefall hatte zu dieſer Stunde ganz auf¬
gehört. Die Kinder ſpürten keine Floke.
Sie gingen wieder in die Steinhütte. und ſezten
Stifter, Jugendſchriften, II. 5[66] ſich nieder. Das Aufſtehen hatte ihnen ihre Müdig¬
keit erſt recht gezeigt, und ſie freuten ſich auf das Sizen.
Konrad legte die Taſche aus Kalbfell ab. Er nahm
das Tuch heraus, in welches die Großmutter eine
Schachtel und mehrere Papierpäkchen gewikelt hatte,
und that es zu größerer Wärme um ſeine Schultern.
Auch die zwei Weisbrode nahm er aus dem Ränzchen,
und reichte ſie beide an Sanna: Das Kind aß begierig.
Es aß eines der Brode und von dem zweiten auch noch
einen Theil. Den Reſt reichte es aber Konrad, da es
ſah, daß er nicht aß. Er nahm es, und verzehrte es.
Von da an ſaßen die Kinder, und ſchauten.
So weit ſie in der Dämmerung zu ſehen vermoch¬
ten, lag überall der flimmernde Schnee hinab, deſſen
einzelne winzige Täfelchen hie und da in der Finſter¬
niß ſeltſam zu funkeln begannen, als hätte er bei Tag
das Licht eingeſogen, und gäbe es jezt von ſich.
Die Nacht brach mit der in großen Höhen ge¬
wöhnlichen Schnelligkeit herein. Bald war es rings¬
herum finſter, nur der Schnee fuhr fort, mit ſeinem
bleichen Lichte zu leuchten. Der Schneefall hatte nicht
nur aufgehört, ſondern der Schleier an dem Himmel
fing auch an, ſich zu verdünnen, und zu vertheilen;
denn die Kinder ſahen ein Sternlein blizen. Weil der
Schnee wirklich gleichſam ein Licht von ſich gab, und
[67] weil von den Wolken kein Schleier mehr herab hing,
ſo konnten die Kinder von ihrer Höhle aus die Schnee¬
hügel ſehen, wie ſie ſich in Linien von dem dun¬
keln Himmel abſchnitten. Weil es in der Höhle viel
wärmer war, als es an jedem andern Plaze im ganzen
Tage geweſen war, ſo ruhten die Kinder enge aneinan¬
der ſizend, und vergaßen ſogar die Finſterniß zu fürch¬
ten. Bald vermehrten ſich auch die Sterne, jezt kam
hier einer zum Vorſcheine jezt dort, bis es ſchien, als
wäre am ganzen Himmel keine Wolke mehr.
Das war der Zeitpunkt, in welchem man in den
Thälern die Lichter anzuzünden pflegt. Zuerſt wird
eines angezündet und auf den Tiſch geſtellt, um die
Stube zu erleuchten, oder es brennt auch nur ein
Span, oder es brennt das Feuer auf der Leuchte, und
es erhellen ſich alle Fenſter von bewohnten Stuben,
und glänzen in die Schneenacht hinaus — aber heute
erſt — am heiligen Abende — da wurden viel meh¬
rere angezündet, um die Gaben zu beleuchten, welche
für die Kinder auf den Tiſchen lagen, oder an den
Bäumen hingen, es wurden wohl unzählige ange¬
zündet; denn beinahe in jedem Hauſe in jeder Hütte
jedem Zimmer war eines oder mehrere Kinder, denen
der heilige Chriſt etwas gebracht hatte, und wozu
man Lichter ſtellen mußte. Der Knabe hatte geglaubt,
5*[68] daß man ſehr bald von dem Berge hinab kommen
könne, und doch, von den vielen Lichtern, die heute
in dem Thale brannten, kam nicht ein einziges zu
ihnen herauf; ſie ſahen nichts als den blaſſen Schnee
und den dunkeln Himmel, alles andere war ihnen in
die unſichtbare Ferne hinab gerükt. In allen Thälern
bekamen die Kinder in dieſer Stunde die Geſchenke
des heiligen Chriſt: nur die zwei ſaſſen oben am
Rande des Eiſes, und die vorzüglichſten Geſchenke,
die ſie heute hätten bekommen ſollen, lagen in verſie¬
gelten Päkchen in der Kalbfelltaſche im Hintergrunde
der Höhle.
Die Schneewolken waren ringsum hinter die
Berge hinab geſunken, und ein ganz dunkelblaues faſt
ſchwarzes Gewölbe ſpannte ſich um die Kinder voll
von dichten brennenden Sternen, und mitten durch
dieſe Sterne war ein ſchimmerndes breites milchiges
Band gewoben, das ſie wohl auch unten im Thale
aber nie ſo deutlich geſehen hatten. Die Nacht rükte
vor. Die Kinder wußten nicht, daß die Sterne gegen
Weſten rüken und weiter wandeln, ſonst hätten ſie an
ihrem Vorſchreiten den Stand der Nacht erkennen
können; aber es kamen neue und gingen die alten, ſie
aber glaubten, es ſeien immer dieſelben. Es wurde
von dem Scheine der Sterne auch lichter um die Kin¬
[69] der; aber ſie ſahen kein Thal keine Gegend, ſondern
überall nur Weiß — lauter Weiß. Blos ein dunkles
Horn ein dunkles Haupt ein dunkler Arm wurde ſicht¬
bar, und ragte dort und hier aus dem Schimmer
empor. Der Mond war nirgends am Himmel zu
erbliken, vielleicht war er ſchon frühe mit der Sonne
untergegangen, oder er iſt noch nicht erſchienen.
Als eine lange Zeit vergangen war, ſagte der
Knabe: „Sanna, du mußt nicht ſchlafen; denn weißt
du, wie der Vater geſagt hat, wenn man im Gebirge
ſchläft, muß man erfrieren, ſo wie der alte Eſchen¬
jäger auch geſchlafen hat, und vier Monate todt auf
dem Steine geſeſſen iſt, ohne daß jemand gewußt
hatte, wo er ſei.“
„Nein, ich werde nicht ſchlafen,“ ſagte das Mäd¬
chen matt.
Konrad hatte es an dem Zipfel des Kleides ge¬
ſchüttelt, um es zu jenen Worten zu erweken.
Nun war es wieder ſtille.
Nach einer Zeit empfand der Knabe ein ſanftes
Drüken gegen ſeinen Arm, das immer ſchwerer wurde.
Sanna war eingeſchlafen, und war gegen ihn herüber
geſunken.
„Sanna, ſchlafe nicht, ich bitte dich, ſchlafe nicht,“
ſagte er.
[70]
„Nein,“ lallte ſie ſchlaftrunken, „ich ſchlafe nicht.“
Er rükte weiter von ihr, um ſie in Bewegung zu
bringen, allein ſie ſank um, und hätte auf der Erde
liegend fortgeſchlafen. Er nahm ſie an der Schulter,
und rüttelte ſie. Da er ſich dabei ſelber etwas ſtärker
bewegte, merkte er, daß ihn friere, und daß ſein Arm
ſchwerer ſei. Er erſchrak, und ſprang auf. Er ergrif die
Schweſter, ſchüttelte ſie ſtärker, und ſagte: „Sanna,
ſtehe ein wenig auf, wir wollen eine Zeit ſtehen, daß
es beſſer wird.“
„Mich friert nicht, Konrad,“ antwortete ſie.
„Ja, ja, es friert dich, Sanna, ſtehe auf,“ rief er.
„Die Pelzjake iſt warm,“ ſagte ſie.
„Ich werde dir empor helfen,“ ſagte er.
„Nein,“ erwiederte ſie, und war ſtille.
Da fiel dem Knaben etwas anderes ein. Die
Großmutter hatte geſagt: Nur ein Schlükchen wärmt
den Magen ſo, daß es den Körper in den kälteſten
Wintertagen nicht frieren kann.
Er nahm das Kalbfellränzchen, öffnete es, und
grif ſo lange, bis er das Fläſchchen fand, in welchem
die Großmutter der Mutter einen ſchwarzen Kaffeh¬
abſud ſchiken wollte. Er nahm das Fläſchchen heraus,
that den Verband weg, und öffnete mit Anſtrengung
den Kork. Dann bükte er ſich zu Sanna, und ſagte:
[71] „Da iſt der Kaffeh, den die Großmutter der Mutter
ſchikt, koſte ihn ein wenig, er wird dir warm machen.
Die Mutter gibt ihn uns, wenn ſie nur weiß, wozu
wir ihn nöthig gehabt haben.“
Das Mädchen, deſſen Natur zur Ruhe zog, ant¬
wortete: „Mich friert nicht.“
„Nimm nur etwas,“ ſagte der Knabe, „dann darfſt
du ſchlafen.“
Dieſe Ausſicht verlokte Sanna, ſie bewältigte ſich
ſo weit, daß ſie das faſt eingegoſſene Getränk ver¬
ſchlukte. Hierauf trank der Knabe auch etwas.
Der ungemein ſtarke Auszug wirkte ſogleich, und
zwar um ſo heftiger, da die Kinder in ihrem Leben
keinen Kaffeh gekoſtet hatten. Statt zu ſchlafen, wurde
Sanna nun lebhafter, und ſagte ſelber, daß ſie friere,
daß es aber von innen recht warm ſei, und auch ſchon
ſo in die Hände und Füſſe gehe. Die Kinder redeten
ſogar eine Weile mit einander.
So tranken ſie troz der Bitterkeit immer wieder
von dem Getränke, ſobald die Wirkung nachzulaſſen
begann, und ſteigerten ihre unſchuldigen Nerven zu
einem Fieber, das im Stande war, den zum Schlum¬
mer ziehenden Gewichten entgegen zu wirken.
Es war nun Mitternacht gekommen. Weil ſie noch
ſo jung waren, und an jedem heiligen Abende in höchſtem
[72] Drange der Freude ſtets erſt ſehr ſpät entſchlummerten,
wenn ſie nehmlich der körperliche Drang übermannt
hatte, ſo hatten ſie nie das mitternächtliche Läuten
der Gloken, nie die Orgel der Kirche gehört, wenn das
Feſt gefeiert wurde, obwohl ſie nahe an der Kirche
wohnten. In dieſem Augenblike der heutigen Nacht
wurde nun mit allen Gloken geläutet, es läuteten die
Gloken in Millsdorf, es läuteten die Gloken in
Gſchaid, und hinter dem Berge war noch ein Kirchlein
mit drei hellen klingenden Gloken die läuteten. In
den fernen Ländern draußen waren unzählige Kirchen
und Gloken, und mit allen wurde zu dieſer Zeit ge¬
läutet, von Dorf zu Dorf ging die Tonwelle, ja man
konnte wohl zuweilen von einem Dorfe zum andern
durch die blätterloſen Zweige das Läuten hören: nur
zu den Kindern herauf kam kein Laut, hier wurde
nichts vernommen; denn hier war nichts zu verkün¬
digen. In den Thalkrümmen gingen jezt an den
Berghängen die Lichter der Laternen hin, und von
manchem Hofe tönte das Hausglöklein, um die Leute
zu erinnern; aber dieſes konnte um ſo weniger herauf
geſehen und gehört werden, es glänzten nur die Sterne,
und ſie leuchteten und funkelten ruhig fort.
Wenn auch Konrad ſich das Schikſal des erfrornen
Eſchenjägers vor Augen hielt, wenn auch die Kinder
[73] das Fläſchchen mit dem ſchwarzen Kaffeh faſt ausgeleert
hatten, wodurch ſie ihr Blut zu größerer Thätigkeit
brachten, aber gerade dadurch eine folgende Ermat¬
tung herbei zogen: ſo würden ſie den Schlaf nicht
haben überwinden können, deſſen verführende Süſſig¬
keit alle Gründe überwiegt, wenn nicht die Natur in
ihrer Größe ihnen beigeſtanden wäre, und in ihrem
Innern eine Kraft aufgerufen hätte, welche im Stande
war, dem Schlafe zu widerſtehen.
In der ungeheueren Stille, die herrſchte, in der
Stille, in der ſich kein Schneeſpizchen zu rühren ſchien,
hörten die Kinder dreimal das Krachen des Eiſes.
Was das Starrſte ſcheint, und doch das Regſamſte
und Lebendigſte iſt, der Gletſcher, hatte die Töne her¬
vorgebracht. Dreimal hörten ſie hinter ſich den Schall,
der entſezlich war, als ob die Erde entzwei geſprungen
wäre, der ſich nach allen Richtungen im Eiſe verbrei¬
tete, und gleichſam durch alle Aderchen des Eiſes lief.
Die Kinder blieben mit offenen Augen ſizen, und
ſchauten in die Sterne hinaus.
Auch für die Augen begann ſich etwas zu entwi¬
keln. Wie die Kinder ſo ſaßen, erblühte am Himmel
vor ihnen ein bleiches Licht mitten unter den Sternen,
und ſpannte einen ſchwachen Bogen durch dieſelben.
Es hatte einen grünlichen Schimmer, der ſich ſachte
[74] nach unten zog. Aber der Bogen wurde immer heller
und heller, bis ſich die Sterne vor ihm zurük zogen,
und erblaßten. Auch in andere Gegenden des Him¬
mels ſandte er einen Schein, der ſchimmergrün ſachte
und lebendig unter die Sterne floß. Dann ſtanden
Garben verſchiedenen Lichtes auf der Höhe des Bogens
wie Zaken einer Krone, und brannten. Es floß helle
durch die benachbarten Himmelsgegenden, es ſprühte
leiſe, und ging in ſanftem Zuken durch lange Räume.
Hatte ſich nun der Gewitterſtoff des Himmels durch
den unerhörten Schneefall ſo geſpannt, daß er in die¬
ſen ſtummen herrlichen Strömen des Lichtes ausfloß,
oder war es eine andere Urſache der unergründlichen
Natur. Nach und nach wurde es ſchwächer und immer
ſchwächer, die Garben erloſchen zuerſt, bis es allmäh¬
lich und unmerklich immer geringer wurde, und wieder
nichts am Himmel war als die tauſend und tauſend
einfachen Sterne.
Die Kinder ſagten keines zu dem andern ein Wort,
ſie blieben fort und fort ſizen, und ſchauten mit offe¬
nen Augen in den Himmel.
Es geſchah nun nichts Beſonderes mehr. Die
Sterne glänzten, funkelten, und zitterten, nur manche
ſchießende Schnuppe fuhr durch ſie.
Endlich, nachdem die Sterne lange allein geſchie¬
[75] nen hatten, und nie ein Stükchen Mond an dem
Himmel zu erbliken geweſen war, geſchah etwas
anderes. Es fing der Himmel an, heller zu werden,
langſam heller, aber doch zu erkennen; es wurde ſeine
Farbe ſichtbar, die bleichſten Sterne erloſchen, und die
anderen ſtanden nicht mehr ſo dicht. Endlich wichen
auch die ſtärkeren, und der Schnee vor den Höhen
wurde deutlicher ſichtbar. Zulezt färbte ſich eine Him¬
melsgegend gelb, und ein Wolkenſtreifen, der in der¬
ſelben war, wurde zu einem leuchtenden Faden ent¬
zündet. Alle Dinge waren klar zu ſehen, und die
entfernten Schneehügel zeichneten ſich ſcharf in die
Luft.
„Sanna, der Tag bricht an,“ ſagte der Knabe.
„Ja, Konrad,“ antwortete das Mädchen.
„Wenn es nur noch ein bischen heller wird, dann
gehen wir aus der Höhle, und laufen über den Berg
hinunter.“
Es wurde heller, an dem ganzen Himmel war
kein Stern mehr ſichtbar, und alle Gegenſtände ſtan¬
den in der Morgendämmerung da.
„Nun jezt gehen wir,“ ſagte der Knabe.
„Ja, wir gehen,“ antwortete Sanna.
Die Kinder ſtanden auf, und verſuchten ihre erſt
heute recht müden Glieder. Obwohl ſie nichts geſchla¬
[76] fen hatten, waren ſie doch durch den Morgen geſtärkt,
wie das immer ſo iſt. Der Knabe hing ſich das
Kalbfellränzchen um, und machte das Pelzjäkchen an
Sanna feſter zu. Dann führte er ſie aus der Höhle.
Weil ſie nach ihrer Meinung nur über den Berg
hinab zu laufen hatten, dachten ſie an kein Eſſen, und
unterſuchten das Ränzchen nicht, ob noch Weißbrode
oder andere Eßwaaren darinnen ſeien.
Von dem Berge wollte nun Konrad, weil der
Himmel ganz heiter war, in die Thäler hinab ſchauen,
um das Gſchaider Thal zu erkennen, und in dasſelbe
hinunter zu gehen. Aber er ſah gar keine Thäler.
Es war nicht, als ob ſie ſich auf einem Berge befän¬
den, von dem man hinab ſieht, ſondern in einer
fremden ſeltſamen Gegend, in der lauter unbekannte
Gegenſtände ſind. Sie ſahen heute auch in größerer
Entfernung furchtbare Felſen aus dem Schnee empor
ſtehen, die ſie geſtern nicht geſehen hatten, ſie ſahen
das Eis, ſie ſahen Hügel und Schneelehnen empor
ſtarren, und hinter dieſen war entweder der Himmel,
oder es ragte die blaue Spize eines ſehr fernen Berges
am Schneerande hervor.
In dieſem Augenblike ging die Sonne auf.
Eine rieſengroße blutrothe Scheibe erhob ſich an
dem Schneeſaume in den Himmel, und in dem Augen¬
[77] blike erröthete der Schnee um die Kinder, als wäre
er mit Millionen Roſen überſtreut worden. Die
Kuppen und die Hörner warfen ſehr lange grünliche
Schatten längs des Schnees.
„Sanna, wir werden jezt da weiter vorwärts
gehen, bis wir an den Rand des Berges kommen,
und hinunter ſehen,“ ſagte der Knabe.
Sie gingen nun in den Schnee hinaus. Er war
in der heiteren Nacht noch trokener geworden, und
wich den Tritten noch beſſer aus. Sie wateten rüſtig
fort. Ihre Glieder wurden ſogar geſchmeidiger und
ſtärker, da ſie gingen. Allein ſie kamen an keinen
Rand, und ſahen nicht hinunter. Schneefeld entwikelte
ſich aus Schneefeld, und am Saume eines jeden ſtand
alle Male wieder der Himmel.
Sie gingen deßohngeachtet fort.
Da kamen ſie wieder in das Eis. Sie wußten nicht,
wie das Eis daher gekommen ſei, aber unter den Füſſen
empfanden ſie den glatten Boden, und waren gleich
nicht die fürchterlichen Trümmer, wie an jenem Rande,
an dem ſie die Nacht zugebracht hatten, ſo ſahen ſie doch,
daß ſie auf glattem Eiſe fortgingen, ſie ſahen hie und
da Stüke, die immer mehr wurden, die ſich näher an ſie
drängten, und die ſie wieder zu klettern zwangen.
Aber ſie verfolgten doch ihre Richtung.
[78]
Sie kletterten neuerdings an Blöken empor. Da
ſtanden ſie wieder auf dem Eisfelde. Heute bei der
hellen Sonne konnten ſie erſt erbliken, was es iſt. Es
war ungeheuer groß, und jenſeits ſtanden wieder
ſchwarze Felſen empor, es ragte gleichſam Welle hin¬
ter Welle auf, das beſchneite Eis war gedrängt,
gequollen, empor gehoben, gleichſam als ſchöbe es
ſich noch vorwärts, und flöße gegen die Bruſt der
Kinder heran. In dem Weiß ſahen ſie unzählige vor¬
wärts gehende geſchlängelte blaue Linien. Zwiſchen
jenen Stellen, wo die Eiskörper gleichſam wie an¬
einandergeſchmettert ſtarrten, gingen auch Linien wie
Wege, aber ſie waren weiß, und waren Streifen,
wo ſich feſter Eisboden vorfand, oder die Stüke doch
nicht gar ſo ſehr verſchoben waren. In dieſe Pfade
gingen die Kinder hinein, weil ſie doch einen Theil
des Eiſes überſchreiten wollten, um an den Bergrand
zu gelangen, und endlich einmal hinunter zu ſehen.
Sie ſagten kein Wörtlein. Das Mädchen folgte dem
Knaben. Aber es war auch heute wieder Eis, lauter
Eis. Wo ſie hinüber gelangen wollten, wurde es
gleichſam immer breiter und breiter. Da ſchlugen ſie
ihre Richtung aufgebend den Rükweg ein. Wo ſie
nicht gehen konnten, griffen ſie ſich durch die Mengen
des Schnees hindurch, der oft dicht vor ihrem Auge
[79] wegbrach, und den ſehr blauen Streifen einer Eis¬
ſpalte zeigte, wo doch früher alles weiß geweſen war;
aber ſie kümmerten ſich nicht darum, ſie arbeiteten ſich
fort, bis ſie wieder irgend wo aus dem Eiſe heraus
kamen.
„Sanna,“ ſagte der Knabe, „wir werden gar nicht
mehr in das Eis hinein gehen, weil wir in demſelben
nicht fortkommen. Und weil wir ſchon in unſer Thal
gar nicht hinab ſehen können, ſo werden wir gerade
über den Berg hinab gehen. Wir müſſen in ein Thal
kommen, dort werden wir den Leuten ſagen, daß wir
aus Gſchaid ſind, die werden uns einen Wegweiſer
nach Hauſe mitgeben.“
„Ja, Konrad,“ ſagte das Mädchen.
So begannen ſie nun in dem Schnee nach jener
Richtung abwärts zu gehen, welche ſich ihnen eben
darbot. Der Knabe führte das Mädchen an der Hand.
Allein nachdem ſie eine Weile abwärts gegangen
waren, hörte in dieſer Richtung das Gehänge auf,
und der Schnee ſtieg wieder empor. Alſo änderten
die Kinder die Richtung, und gingen nach der Länge
einer Mulde hinab. Aber da fanden ſie wieder Eis.
Sie ſtiegen alſo an der Seite der Mulde empor, um
nach einer andern Richtung ein Abwärts zu ſuchen.
Es führte ſie eine Fläche hinab, allein die wurde
[80] nach und nach ſo ſteil, daß ſie kaum noch einen Fuß
einſezen konnten, und abwärts zu gleiten fürchteten.
Sie klommen alſo wieder empor, um wieder einen
andern Weg nach abwärts zu ſuchen. Nachdem ſie
lange im Schnee empor geklommen, und dann auf
einem ebenen Rüken fortgelaufen waren, war es wie
früher: entweder ging der Schnee ſo ſteil ab, daß ſie
geſtürzt wären, oder er ſtieg wieder hinan, daß ſie
auf den Berggipfel zu kommen fürchteten. Und ſo
ging es immer fort.
Da wollten ſie die Richtung ſuchen, in der ſie
gekommen waren, und zur rothen Unglükſäule hinab
gehen. Weil es nicht ſchneit, und der Himmel ſo helle
iſt, ſo würden ſie, dachte der Knabe, die Stelle ſchon
erkennen, wo die Säule ſein ſolle, und würden von
dort nach Gſchaid hinab gehen können.
Der Knabe ſagte dieſen Gedanken dem Schweſter¬
chen, und dieſe folgte.
Allein auch der Weg auf den Hals hinab war
nicht zu finden.
So klar die Sonne ſchien, ſo ſchön die Schnee¬
höhen da ſtanden, und die Schneefelder da lagen, ſo
konnten ſie doch die Gegenden nicht erkennen, durch
die ſie geſtern herauf gegangen waren. Geſtern war
alles durch den fürchterlichen Schneefall verhängt
[81] geweſen, daß ſie kaum einige Schritte von ſich geſehen
hatten, und da war alles ein einziges Weiß und
Grau durch einander geweſen. Nur die Felſen hatten
ſie geſehen, an denen und zwiſchen denen ſie gegangen
waren: allein auch heute hatten ſie bereits viele Fel¬
ſen geſehen, die alle den nehmlichen Anſchein gehabt
hatten, wie die geſtern geſehenen. Heute ließen ſie
friſche Spuren in dem Schnee zurük; aber geſtern
ſind alle Spuren von dem fallenden Schnee verdekt
worden. Auch aus dem bloßen Anblike konnten ſie
nicht errathen, welche Gegend auf den Hals führe,
da alle Gegenden gleich waren. Schnee lauter Schnee.
Sie gingen aber doch immer fort, und meinten, es
zu erringen. Sie wichen den ſteilen Abſtürzen aus,
und kletterten keine ſteilen Anhöhen hinauf.
Auch heute blieben ſie öfter ſtehen, um zu hor¬
chen; aber ſie vernahmen auch heute nichts, nicht den
geringſten Laut. Zu ſehen war auch nichts als der
Schnee, der helle weiße Schnee, aus dem hie und da
die ſchwarzen Hörner und die ſchwarzen Steinrippen
empor ſtanden.
Endlich war es dem Knaben, als ſähe er auf
einem fernen ſchiefen Schneefelde ein hüpfendes Feuer.
Es tauchte auf, es tauchte nieder. Jezt ſahen ſie es,
jezt ſahen ſie es nicht. Sie blieben ſtehen, und blikten
Stifter, Jugendſchriften. II. 6[82] unverwandt auf jene Gegend hin. Das Feuer hüpfte
immer fort, und es ſchien, als ob es näher käme;
denn ſie ſahen es größer und ſahen das Hüpfen deut¬
licher. Es verſchwand nicht mehr ſo oft und nicht
mehr auf ſo lange Zeit wie früher. Nach einer Weile
vernahmen ſie in der ſtillen blauen Luft ſchwach ſehr
ſchwach etwas wie einen lange anhaltenden Ton
aus einem Hirtenhorne. Wie aus Inſtinkt ſchrieen
beide Kinder laut. Nach einer Zeit hörten ſie den Ton
wieder. Sie ſchrieen wieder, und blieben auf der
nehmlichen Stelle ſtehen. Das Feuer näherte ſich
auch. Der Ton wurde zum drittenmale vernommen,
und dieſes Mal deutlicher. Die Kinder antworteten
wieder durch lautes Schreien. Nach einer geraumen
Weile erkannten ſie auch das Feuer. Es war kein
Feuer, es war eine rothe Fahne, die geſchwungen
wurde. Zugleich ertönte das Hirtenhorn näher, und
die Kinder antworteten.
„Sanna,“ rief der Knabe, „da kommen Leute
aus Gſchaid, ich kenne die Fahne, es iſt die rothe
Fahne, welche der fremde Herr, der mit dem jungen
Eſchenjäger den Gars beſtiegen hatte, auf dem Gipfel
aufpflanzte, daß ſie der Herr Pfarrer mit dem Fern¬
rohre ſähe, was als Zeichen gälte, daß ſie oben ſeien,
und welche Fahne damals der fremde Herr dem
[83] Herrn Pfarrer geſchenkt hat. Du warſt noch ein recht
kleines Kind.“
„Ja, Konrad.“
Nach einer Zeit ſahen die Kinder auch die Men¬
ſchen, die bei der Fahne waren, kleine ſchwarze Stel¬
len, die ſich zu bewegen ſchienen. Der Ruf des
Hornes wiederholte ſich von Zeit zu Zeit, und kam
immer näher. Die Kinder antworteten jedes Mal.
Endlich ſahen ſie über den Schneeabhang gegen
ſich her mehrere Männer mit ihren Stöken herabfah¬
ren, die die Fahne in ihrer Mitte hatten. Da ſie
näher kamen, erkannten ſie dieſelben. Es war der
Hirt Philipp mit dem Horne, ſeine zwei Söhne,
dann der junge Eſchenjäger, und mehrere Bewohner
von Gſchaid.
„Gebenedeit ſei Gott,“ ſchrie Philipp, „da ſeid
ihr ja. Der ganze Berg iſt voll Leute. Laufe doch
einer gleich in die Sideralpe hinab, und läute die
Gloke, daß die dort hören, daß wir ſie gefunden
haben, und einer muß auf den Krebsſtein gehen, und
die Fahne dort aufpflanzen, daß ſie dieſelbe in dem
Thale ſehen, und die Pöller abſchießen, damit die es
wiſſen, die im Millsdorfer Walde ſuchen, und damit
ſie in Gſchaid die Rauchfeuer anzünden, die in der
Luft geſehen werden, und alle, die noch auf dem
6*[84] Berge ſind, in die Sideralpe hinab bedeuten. Das
ſind Weihnachten!“
„Ich laufe in die Alpe hinab,“ ſagte einer.
„Ich trage die Fahne auf den Krebsſtein,“ ſagte
ein anderer.
„Und wir werden die Kinder in die Sideralpe
hinab bringen, ſo gut wir es vermögen, und ſo gut
uns Gott helfe,“ ſagte Philipp.
Ein Sohn Philipps ſchlug den Weg nach ab¬
wärts ein, und der andere ging mit der Fahne durch
den Schnee dahin.
Der Eſchenjäger nahm das Mädchen bei der
Hand, der Hirt Philipp den Knaben. Die andern
halfen, wie ſie konnten. So begann man den Weg.
Er ging in Windungen. Bald gingen ſie nach einer
Richtung, bald ſchlugen ſie die entgegengeſezte ein,
bald gingen ſie abwärts bald aufwärts. Immer ging
es durch Schnee, immer durch Schnee, und die Ge¬
gend blieb ſich beſtändig gleich. Über ſehr ſchiefe
Flächen thaten ſie Steigeiſen an die Füſſe, und trugen
die Kinder. Endlich nach langer Zeit hörten ſie ein
Glöklein, das ſanft und fein zu ihnen heraufkam,
und das erſte Zeichen war, das ihnen die niederen
Gegenden wieder zuſandten. Sie mußten wirklich
ſehr tief herab gekommen ſein; denn ſie ſahen ein
[85] Schneehaupt recht hoch und recht blau über ſich ragen.
Das Glöklein aber, das ſie hörten, war das der
Sideralpe, das geläutet wurde, weil dort die Zu¬
ſammenkunft verabredet war. Da ſie noch weiter
kamen, hörten ſie auch ſchwach in die ſtille Luft die
Pöllerſchüße herauf, die in Folge der ausgeſtekten
Fahne abgefeuert wurden, und ſahen dann in die
Luft feine Rauchſäulen aufſteigen.
Da ſie nach einer Weile über eine ſanfte ſchiefe
Fläche abgingen, erblikten ſie die Sideralphütte. Sie
gingen auf ſie zu. In der Hütte brannte ein Feuer,
die Mutter der Kinder war da, und mit einem furcht¬
baren Schrei ſank ſie in den Schnee zurük, als ſie die
Kinder mit dem Eſchenjäger kommen ſah.
Dann lief ſie herzu, betrachtete ſie überall, wollte
ihnen zu eſſen geben, wollte ſie wärmen, wollte ſie
in vorhandenes Heu legen; aber bald überzeugte ſie
ſich, daß die Kinder durch die Freude ſtärker ſeien, als
ſie gedacht hatte, daß ſie nur einiger warmer Speiſe
bedurften, die ſie bekamen, und daß ſie nur ein wenig
ausruhen mußten, was ihnen ebenfalls zu Theil
werden ſollte.
Da nach einer Zeit der Ruhe wieder eine Gruppe
Männer über die Schneefläche herabkam, während das
Hüttenglöklein immer fortläutete, liefen die Kinder
[86] ſelber mit den andern hinaus, um zu ſehen, wer es
ſei. Der Schuſter war es, der einſtige Alpenſteiger,
mit Alpenſtok und Steigeiſen, begleitet von ſeinen
Freunden und Kameraden.
„Sebaſtian, da ſind ſie,“ ſchrie das Weib.
Er aber war ſtumm, zitterte, und lief auf ſie
zu. Dann rührte er die Lippen, als wollte er etwas
ſagen, ſagte aber nichts, riß die Kinder an ſich, und
hielt ſie lange. Dann wandte er ſich gegen ſein Weib,
ſchloß es an ſich, und rief: „Sanna, Sanna!“
Nach einer Weile nahm er den Hut, der ihm in
den Schnee gefallen war, auf, trat unter die Män¬
ner, und wollte reden. Er ſagte aber nur: „Nach¬
barn, Freunde, ich danke euch.“
Da man noch gewartet hatte, bis die Kinder ſich
zur Beruhigung erholt hatten, ſagte er: „Wenn wir
alle beiſammen ſind, ſo können wir in Gottes Namen
aufbrechen.“
„Es ſind wohl noch nicht alle,“ ſagte der Hirt
Philipp, „aber die noch abgehen, wiſſen aus dem
Rauche, daß wir die Kinder haben, und ſie werden
ſchon nach Hauſe gehen, wenn ſie die Alphütte leer
finden.“
Man machte ſich zum Aufbruche bereit.
Man war auf der Sideralphütte nicht gar weit
[87] von Gſchaid entfernt, aus deſſen Fenſtern man im
Sommer recht gut die grüne Matte ſehen konnte, auf
der die graue Hütte mit dem kleinen Glokenthürmlein
ſtand; aber es war unterhalb eine fallrechte Wand,
die viele Klaftern hoch hinab ging, und auf der man
im Sommer nur mit Steigeiſen im Winter gar nicht
hinab kommen konnte. Man mußte daher den Umweg
zum Halſe machen, um von der Unglükſäule aus
nach Gſchaid hinab zu kommen. Auf dem Wege
gelangte man über die Siderwieſe, die noch näher an
Gſchaid iſt, ſo daß man die Fenſter des Dörfleins zu
erbliken meinte.
Als man über dieſe Wieſe ging, tönte hell und
deutlich das Glöklein der Gſchaider Kirche herauf, die
Wandlung des heiligen Hochamtes verkündend.
Der Pfarrer hatte wegen der allgemeinen Bewe¬
gung, die am Morgen in Gſchaid war, die Abhal¬
tung des Hochamtes verſchoben, da er dachte, daß
die Kinder zum Vorſcheine kommen würden. Allein
endlich, da noch immer keine Nachricht eintraf, mußte
die heilige Handlung doch vollzogen werden.
Als das Wandlungsglöklein tönte, ſanken alle,
die über die Siderwieſe gingen, auf die Knie in den
Schnee, und betheten. Als der Klang des Glökleins
aus war, ſtanden ſie auf und gingen weiter.
[88]
Der Schuſter trug meiſtens das Mädchen, und
ließ ſich von ihm alles erzählen.
Als ſie ſchon gegen den Wald des Halſes kamen,
trafen ſie Spuren, von denen der Schuſter ſagte:
„Das ſind keine Fußſtapfen von Schuhen meiner
Arbeit.“
Die Sache klärte ſich bald auf. Wahrſcheinlich
durch die vielen Stimmen, die auf dem Plaze tönten,
angelokt, kam wieder eine Abtheilung Männer auf
die Herabgehenden zu. Es war der aus Angſt aſchen¬
haft entfärbte Färber, der an der Spize ſeiner Knechte
ſeiner Geſellen und mehrerer Millsdorfer bergab kam.
„Sie ſind über das Gletſchereis und über die
Schründe gegangen, ohne es zu wiſſen,“ rief der
Schuſter ſeinem Schwiegervater zu.
„Da ſind ſie ja — da ſind ſie ja — Gott ſei Dank“
antwortete der Färber, „ich weiß es ſchon, daß ſie
oben waren, als dein Bote in der Nacht zu uns kam,
und wir mit Lichtern den ganzen Wald durchſucht
und nichts gefunden hatten — und als dann das
Morgengrau anbrach, bemerkte ich an dem Wege,
der von der rothen Unglükſäule links gegen den
Schneeberg hinan führt, daß dort, wo man eben von
der Säule weg geht, hin und wieder mehrere Reiſer¬
chen und Rütchen geknikt ſind, wie Kinder gerne
[89] thun, wo ſie eines Weges gehen — da wußte ich
es — die Richtung ließ ſie nicht mehr aus, weil ſie
in der Höhlung gingen, weil ſie zwiſchen den Felſen
gingen, und weil ſie dann auf dem Grat gingen, der
rechts und links ſo ſteil iſt, daß ſie nicht hinab kom¬
men konnten. Sie mußten hinauf. Ich ſchikte nach
dieſer Beobachtung gleich nach Gſchaid, aber der Holz¬
knecht Michael, der hinüber ging, ſagte bei der Rük¬
kunft, da er uns faſt am Eiſe oben traf, daß ihr ſie
ſchon habet, weßhalb wir wieder herunter gingen.“
„Ja,“ ſagte Michael, „ich habe es geſagt, weil die
rothe Fahne ſchon auf dem Krebsſteine ſtekt, und die
Gſchaider dieſes als Zeichen erkannten, das verabre¬
det worden war. Ich ſagte euch, daß auf dieſem
Wege da alle herab kommen müſſen, weil man über
die Wand nicht gehen kann.“
„Und kniee nieder, und danke Gott auf den Knieen,
mein Schwiegerſohn,“ fuhr der Färber fort, „daß kein
Wind gegangen iſt. Hundert Jahre werden wieder
vergehen, daß ein ſo wunderbarer Schneefall nieder¬
fällt, und daß er gerade niederfällt, wie naſſe Schnüre
von einer Stange hängen. Wäre ein Wind gegangen,
ſo wären die Kinder verloren geweſen.“
„Ja, danken wir Gott, danken wir Gott,“ ſagte
der Schuſter.
[90]
Der Färber, der ſeit der Ehe ſeiner Tochter nie in
Gſchaid geweſen war, beſchloß, die Leute nach Gſchaid
zu begleiten.
Da man ſchon gegen die rothe Unglükſäule zu
kam, wo der Holzweg begann, wartete ein Schlitten,
den der Schuſter auf alle Fälle dahin beſtellt hatte.
Man that die Mutter und die Kinder hinein, verſah
ſie hinreichend mit Deken und Pelzen, die im Schlit¬
ten waren, und ließ ſie nach Gſchaid vorausfahren.
Die andern folgten, und kamen am Nachmittage
in Gſchaid an.
Die, welche noch auf dem Berge geweſen waren,
und erſt durch den Rauch das Rükzugszeichen erfahren
hatten, fanden ſich auch nach und nach ein. Der lezte,
welcher erſt am Abende kam, war der Sohn des Hir¬
ten Philipp, der die rothe Fahne auf den Krebsſtein
getragen, und ſie dort aufgepflanzt hatte.
In Gſchaid wartete die Großmutter, welche her¬
über gefahren war.
„Nie nie,“ rief ſie aus, „dürfen die Kinder in ihrem
ganzen Leben mehr im Winter über den Hals, gehen.“
Die Kinder waren von dem Getriebe betäubt. Sie
hatten noch etwas zu eſſen bekommen, und man hatte
ſie in das Bett gebracht. Spät gegen Abend, da ſie
ſich ein wenig erholt hatten, da einige Nachbarn und
[91] Freunde ſich in der Stube eingefunden hatten, und
dort von dem Ereigniſſe redeten, die Mutter aber in
der Kammer an dem Bettchen Sannas ſaß, und ſie
ſtreichelte, ſagte das Mädchen: „Mutter, ich habe
heute Nachts, als wir auf dem Berge ſaſſen, den hei¬
ligen Chriſt geſehen.“
„O du mein geduldiges, du mein liebes, du mein
herziges Kind,“ antwortete die Mutter, „er hat dir
auch Gaben geſendet, die du bald bekommen wirſt.“
Die Schachteln waren ausgepakt worden, die
Lichter waren angezündet, die Thür in die Stube
wurde geöffnet, und die Kinder ſahen von dem Bette
auf den verſpäteten hell leuchtenden freundlichen
Chriſtbaum hinaus. Troz der Erſchöpfung mußte
man ſie noch ein wenig ankleiden, daß ſie hinaus
gingen, die Gaben empfingen, bewunderten, und end¬
lich mit ihnen entſchliefen.
In dem Wirthshauſe in Gſchaid war es an die¬
ſem Abende lebhafter als je. Alle, die nicht in der
Kirche geweſen waren, waren jezt dort, und die An¬
dern auch. Jeder, erzählte, was er geſehen und gehört,
was er gethan, was er gerathen, und was für Be¬
gegniſſe und Gefahren er erlebt hat. Beſonders aber
wurde hervorgehoben, wie man alles hätte anders
und beſſer machen können.
[92]
Das Ereigniß hat einen Abſchnitt in die Ge¬
ſchichte von Gſchaid gebracht, es hat auf lange den Stoff
zu Geſprächen gegeben, und man wird noch nach
Jahren davon reden, wenn man den Berg an heitern
Tagen beſonders deutlich ſieht, oder wenn man den
Fremden von ſeinen Merkwürdigkeiten erzählt.
Die Kinder waren von dem Tage an erſt recht
das Eigenthum des Dorfes geworden, ſie wurden von
nun an nicht mehr als Auswärtige ſondern als Ein¬
geborne betrachtet, die man ſich von dem Berge herab
geholt hatte.
Auch ihre Mutter Sanna war nun eine Einge¬
borne von Gſchaid.
Die Kinder aber werden den Berg nicht vergeſſen,
und werden ihn jezt noch ernſter betrachten, wenn ſie
in dem Garten ſind, wenn wie in der Vergangenheit
die Sonne ſehr ſchön ſcheint, der Lindenbaum duftet,
die Bienen ſummen, und er ſo ſchön und ſo blau wie
das ſanfte Firmament auf ſie hernieder ſchaut.
II.
Kazenſilber.
[[94]][[95]]In einem abgelegenen aber ſehr ſchönen Theile
unſers Vaterlandes ſteht ein ſtattlicher Hof. Er ſteht
auf einem kleinen Hügel, und iſt auf einer Seite von
ſeinen Feldern und ſeinen Wieſen und auf der andern
von ſeinem kleinen Walde umgeben. Man ſollte eigent¬
lich auch einen Garten, hieher rechnen; aber es würde
doch eine unrechte Benennung ſein; denn Gärten der
Art, wie ſie in allen Ländern im Brauche ſind, gibt
es in jenem hochgelegenen mit Hügeln und Waldes¬
ſpizen beſezten Landestheile nicht, weil die Stürme
des Winters und die Fröſte des Frühlings und Herb¬
ſtes allen jenen Gewächſen übel mit ſpielen, die man
vorzugsweiſe in Gärten hegt; aber der Beſizer des
Hofes hat gegen eine Sandlehne hin, die ſteil abfällt,
und in den warmen Lagen die Sonnenſtrahlen recht
heiß zurük wirft, Bäume gepflanzt, die auf weichem
[96] ſchönen Raſen ſtehen, vor den Abend- Mitternacht-
und Morgenwinden geſchüzt ſind, durch die höhere
und eingeſchloſſene Lage vor dem Reife bewahrt wer¬
den, und auf ihrem warmen Plaze ſo ſchnell gewachſen
ſind, daß ſie auf ihren Edelreiſern, die ihnen eingeſezt
worden, und zu bedeutenden Äſten gediehen ſind, jähr¬
lich die großen ſchwarzen Kirſchen, die Weichſeln die
Birnen und die rothwangigen Äpfel tragen. Von den
kleineren Gewächſen als Johannisbeeren Stachelbee¬
ren Erdbeeren rede ich nicht. Sogar Pfirſiche und
Aprikoſen reifen an einer an der Sandlehne aufge¬
führten Mauer dann, wenn ſich ein heißer Sommer
ereignet, und wenn man das Zuhüllen durch eine
Rohrmappe an kühlen Frühlingsabenden nicht ver¬
geſſen hat. Seine Blumen hegt der Beſizer in ver¬
ſchiedenen gläſernen Häuſern, ſtellt ſie an ſchönen
Tagen und in den warmen Sommermonaten auf die
hölzernen Geſtelle vor dem Hauſe oder in die Fenſter.
Selbſt in den Zimmern ſieht man die ſchönſten auf
dazu eingerichteten Tiſchen ſtehen. Diejenigen, welche
für die Luft und das Wetter des Landes eingerichtet
ſind, ſtehen in dem freien Grunde.
Wenn man über die Sandlehne empor gegangen
iſt, ſteigt noch ein Felſen auf, der dem Berge Feſtigkeit
gibt, deſſen Geſchiebe nicht gegen den Garten abſinken
[97] läßt, und zur Vermehrung der Wärme nicht wenig
beiträgt. Der Beſizer des Hofes hat einen Weg mit
feſtem Geländer durch die Sandlehne und um den
Felſen empor anlegen laſſen, weil man von dort
recht ſchön auf das Haus auf den Garten und auf
die Landſchaft nieder ſieht. Er hat an einigen Stellen
Bänkchen anbringen laſſen, daß man da ſizen, und
die Dinge mit Ruhe betrachten kann. Hinter dem
Felſen gegen mitternachtwärts geht Gebüſch, dann
folgen noch auf dem immer anſteigenden Boden ein¬
zelne Eichen und Birken, dann der Nadelwald, der den
Gipfel einnimmt, und das Schauſpiel beſchließt.
Um das Haus liegen, wie es in jenem Lande
immer vorkömmt, in nähern und fernern Kreiſen
Hügel, die mit Feldern und Wieſen bedekt ſind, man¬
ches Bauerhaus manchen Meierhof zeigen, und
auf dem Gipfel jedes Mal den Wald tragen, der wie
nach einem verabredeten Geſeze alle Gipfel jenes
hügligen Landes beſezt. Zwiſchen den Hügeln, die
oft, ohne daß man es ahnt, in ſteile Schluchten ab¬
fallen, gehen Bäche ja zuweilen Giesbäche, über
welche Stege und in abgelegenen Theilen gar nur
Baumſtämme führen. Regelmäßige Brüken haben nur
die Fahrwege, wo ſie über einen ſolchen Bach gehen
müſſen. Das ganze Land geht gegen Mitternacht
Stifter, Jugendſchriften. II. 7[98] immer mehr empor, bis die größeren düſteren weit¬
gedehnten Wälder kommen, die den Beginn der böh¬
miſchen Länder bezeichnen. Gegen Mittag ſieht man
die freundliche blaue Kette der Hochgebirge an dem
Himmel dahin ſtreichen.
Der Beſizer des Hofes war einmal als ein ſehr
junger Menſch in die Welt gegangen, und hatte viele
Dinge erfahren, und viele Menſchen kennen gelernt.
Als er herangereift, als ihm der Vater geſtorben war,
und er von ihm und zwei unverehlichten Oheimen eine
hinreichende Habe geerbt hatte, ging er mit der Erb¬
ſchaft und dem, was er ſich ſelber erworben hatte, auf
beſtändig in das Land ſeiner Geburt zurük, das er
früher nur zuweilen beſucht hatte, und baute dort
die Gebäude des Vaterhauſes um, und noch ſo viel
daran, bis der liebliche Hof da ſtand. Dann holte er
ſich aus der entfernten Hauptſtadt ein ſehr ſchönes
Mädchen, und wurde mit demſelben in der kleinen
Pfarrkirche eingeſegnet. Er wollte lieber in der trau¬
lichen Einöde ſeiner Heimath als beſtändig unter dem
Geräuſche der vielen und fremden Menſchen der
Hauptſtadt leben. Wenn es aber Winter wurde,
dann ging er mit der Gattin in ihre Geburtsſtadt,
um eine Weile dort zu ſein, und zu ſehen, was die
Menſchen indeſſen wieder gefördert, was auf geiſtigem
[99] Felde ſich zugetragen und im Zuſammenleben ſich ge¬
ändert hat. Mit der Rükkehr der Sonne kam er wie¬
der auf ſeinen Hof.
Auf demſelben lebte auch ſeine Mutter, welche nie
aus ihrer Heimath entfernt geweſen war, nur die
nächſten Orte kannte, und blos ein einziges Mal in
der Hauptſtadt des Landes geweſen war. Sie nahm
die Tochter liebreich auf, und es war reizend, wenn
die ſchöne junge Gattin neben der ältlichen Frau ging,
die die Tracht des Landes trug. Während des Auf¬
enthaltes der Eheleute in der Hauptſtadt hüthete ſie
den Hof, und beſorgte und ordnete alles. Wenn ſie
kommen ſollten, ſandte ſie den Knecht mit den Pfer¬
den entgegen, und ſah ihm nach, wenn der Wagen
den Hügel hinab fuhr.
Sogleich ging der thätige Sohn wieder an die
unterbrochene Arbeit. Anlagen wurden erweitert,
neue begonnen, das Haus verbeſſert, und verſchönert,
und die Geſchäfte des Feldes geführt. Man ſah ihn
unter ſeinem Geſinde und unter ſeinen Leuten.
Nach zwei Jahren ſchikte der Himmel einen Zu¬
wachs der Familie, es erſchien das Töchterlein Emma.
Gatte und Gattin, die bisher Sohn und Tochter ge¬
heißen hatten, wurden jezt Vater und Mutter, und
die Mutter wurde Großmutter.
7*[100]
Sie nahm das Kindlein, und lehrte die Tochter
manche Dinge, wie es zu behandeln ſei.
Als dem Mädchen die Härlein auf dem Haupte
ſich zu ringeln begannen, und in ſchöner blonder
Farbe herab fielen, erſchien das zweite dunkle Schweſter¬
lein Clementia, deſſen Haupt ſchon bei der Geburt
beſchattet war, und an dem ſich bald die ſchwarzen
Ringlein bildeten.
Wenn nun nicht mehr der Vater und die Mutter
allein im Winter wegfuhren ſondern auch die Kindlein,
hatte die Großmutter nun mehr zu ſorgen, ſie hatte
für viere zu fürchten, und wenn ſie kamen, fanden ſie
die Gelaſſe für viere noch wohnlicher eingerichtet.
Die Kindlein wuchſen empor. Sie hatten einen
unſchuldigen Mund rothe Wänglein große Augen
und eine reine Stirne, und das eine hatte um dieſelbe
die blonden ſeidenweichen Loken des Vaters, das
andere die ſchwarzen der Mutter.
Großmutter war ihre Geſpielin, ſie lokte ſie in
ihr Gemach, ſie ſiedelte ſich mit ihnen im Garten an,
in der ſchattigen Laube am Stamme des Apfelbau¬
mes oder in den Glashäuſern oder an der Lehne des
Sandes.
Da ſie ſchon größer waren, da ſie mit den Füßlein
über Hügel und Thäler gehen konnten, da die Kör¬
[101] perchen ſchlanker und behender empor zielten, gingen
ſie mit der Großmutter auf den hohen Nußberg.
Wenn der Haber bleichte, und das Korn und die Gerſte
in der Scheune zur Ruhe war, dann färbten ſich die
Haſelnüſſe mit braunen oder roſenfarbenen Wänglein.
Die Kinder hatten breite Strohhüte auf, ſie
hatten Kleider, aus deren Ärmeln die Arme hervor
gingen, ſie hatten weiße Höschen und hatten Schuhe,
die ſo ſtark waren, daß ſie das Gerölle des Berges
nicht empfanden. An der Hand trugen ſie ein Körblein,
in der andern eine weiße Ruthe mit einem Haken, daß
ſie die Haſelzweige herab beugen konnten. Die Ruthe
war ſelber von einem Haſelſtrauche genommen, und
war abgeſchält worden. Sie gingen unter den Obſt¬
bäumen hin, ſie gingen hinter den Glashäuſern in der
Sandlehne empor, ſie hielten ſich mit den Händchen
an dem Geländer, und ſie raſteten auf den Sizen.
Wenn ſie in den Felſen hinauf gekommen waren,
ſaſſen ſie auf einem Bänklein oder auf einem Stüke
Stein, nahmen eine Steknadel aus den Bändern ihres
Hutes, oder bathen die Großmutter um ein ſpizes
Meſſerlein, das ſie in ihrer Armtaſche hatte, und
gruben die kleinen feinen Blättchen und Flinſerchen
aus den Steinen, die da ſtaken, und ſo funkelten und
glänzten. Sie thaten dieſelben in ein Papierchen, und
[102] hoben ſie im Schürzenſäkchen oder in der Armtaſche
der Großmutter auf. Die Großmutter wartete auf
ſie, oder half ihnen, oder erzählte Geſchichten. Wenn
ſie noch höher hinauf kamen, da war wieder die Erde,
und auf ihr war das Haidekraut und die Gräſer und
Kräuter, und da ſtand auch ein Wachholderſtrauch
oder der Strunk einer Birke oder eine Diſtel. Und
bei denſelben ſaſſen ſie wieder nieder, und ruhten wie¬
der. Sie waren die einzigen weißen Punkte, und
um ſie waren die Hügel, die von den lichten Stoppeln
der Ernte glänzten oder von den gepflügten Feldern
braunten, oder von dem Grün der Gewächſe, die man
nach der Ernte gebaut hatte, mannigfach gefärbt
waren, da lagen die Thäler die Wieſen mit dem
zweiten Grün oder ein glänzendes Waſſer, es erklom¬
men die Wäldchen die Gipfel der Hügel, ein Erdbruch
leuchtete, ein Häuschen oder ein Gemäuer von Höfen
ſchimmerte, und weit weit draußen lagen die blauen
Berge, die mit den ſchwachen Felſen durchwirkt waren,
und die kleinen Täfelchen von Schnee zeigten.
Da ſie einmal in dem dürren Graſe ſaſſen, und
die hohen Halme wankten, erzählte die Großmutter
folgende Geſchichte: „Wo dort hinter dem ſpizigen
Walde die weißen Wolken ziehen, liegt das Hagen¬
bucher Haus. Der Hagenbucher war ein ſtrenger
[103] Mann, und es konnte kein Dienſtbote bei ihm aus¬
halten, und kein Knecht und keine Magd konnte die
Arbeit verrichten, die das große Haus verlangte. Sie
gingen immer davon, oder er ſchikte ſie fort. Einmal
erſchien eine große Magd mit braunem Angeſichte
und ſtarken Armen, und ſagte, ſie wolle ihm dienen,
wenn er ihr nur die Nahrung gäbe, und manchmal
ein Tuch auf einen Rok und ein Linnen auf ein
Hemd. Der Bauer dachte, er könne es verſuchen.
Die braune Magd waltete und wirthſchaftete nun, als
ob zwei gekommen wären, und aß doch nur für eine,
und lernte immer beſſer ſchaffen und arbeiten. Der
Bauer dachte, er habe es getroffen, und die Magd
war Jahre in dem Hauſe. Einmal, da der Bauer
zwei Ochſen zu verkaufen hatte, und da er ſie in
einem Joche den Gallbrunerwald hinunter nach Roh¬
rach auf den Viehmarkt getrieben, und verkauft hatte,
nahm er das ledige Joch auf ſeine Schultern, und
ging durch den Wald nach Hauſe zurük. Da hörte er
eine Stimme, die rief: »Jochträger, Jochträger, ſag’
der Sture Mure, die Rauh-Rinde ſei todt — Joch¬
träger, Jochträger, ſag’ der Sture Mure, die Rauh-
Rinde ſei todt.« Der Bauer ſah unter die Bäume, er
konnte aber nichts ſehen und erbliken, und da fürchtete
er ſich, und fing ſo ſchnell zu gehen an, als er konnte,
[104] und kam nach Hauſe, da ihm der Schweiß über die
Stirne rann. Als er beim Abendeſſen die Sache
erzählte, heulte das große Mädchen, lief davon, und
wurde niemals wieder geſehen.“
Ein anderes Mal erzählte die Großmutter: „Sehet
ihr Kinder, wo der Gallbrunerwald aufhört, da
geht ein fahles Ding empor, das ſind die Karesberge,
und dort ſind die Karesbergerhäuſer auf dem Graſe
und zwiſchen den Steinen.“
„Zu den Karesbergern kam einmal ein Wichtelchen,
und ſagte, es wolle ihnen die Ziegen hüten, ſie dürf¬
ten ihm keinen Lohn geben; aber Abends, wenn die
Ziegen im Stalle wären, müßten ſie ihm ein weißes
Brot auf den hohlen Stein legen, der außerhalb der
Karesberge iſt, und es werde es ſich holen. Die
Karesberger willigten ein, und das Wichtelchen wurde
bei ihnen Gaißer. Die Ziegen liefen des Morgens
fort, ſie liefen auf die Weide hinaus, und holten ſich
das Futter, ſie kamen Mittags mit den gefüllten
Eutern, und liefen wieder fort, und kamen am Abend
mit gefüllten Eutern, und gediehen, und wurden
immer ſchöner, und vermehrten ſich ſowohl weiße als
ſchwarze ſowohl ſchekige als braune. Die Karesber¬
ger freuten ſich und legten das weiße Brot, das ſie
eigens baken ließen, auf den Stein. Da dachten ſie,
[105] ſie müßten dem Gaißer eine Freude machen, und lie¬
ßen ihm ein rothes Röklein machen. Sie legten das
Röklein Abends auf den Stein, da die Ziegen ſchon
zu Hauſe waren. Das Wichtelchen legte das rothe
Röklein an, und ſprang damit, es ſprang wie toll
vor Freude unter den grauen Steinen, ſie ſahen es
immer weiter abwärts ſpringen, wie ein Feuer, das
auf dem grünen Raſen hüpft, und da der andere Mor¬
gen gekommen war, und die Ziegen auf die Weide lie¬
fen, war das Wichtelchen nicht da, und es kam gar
nie wieder zum Vorſcheine.“
So erzählte die Großmutter, und wenn ſie aufge¬
hört hatte, ſo ſtanden ſie auf, und gingen wieder wei¬
ter. Sie gingen an den Gebüſchen der Schlehen und
Erlen dahin: da waren die Käfer die Fliegen die
Schmetterlinge um ſie, es war der Ton der Ammer
zu hören oder das Zwitſchern des Zaunkönigs und
Goldhähnchens. Sie ſahen weit herum, und ſahen
den Hühnergeier in der Luft ſchweben. Dann kamen
ſie zu den weißen Birken, die die ſchönen Stämme
haben, von denen ſich die weißen Häutchen löſen, und
die braune feine Rinde zeigen, und ſie kamen endlich
zu den Eichen, die die dunkeln ſtarren Blätter und die
knorrigen ſtarken Äſte haben, und ſie kamen zulezt in
den Nadelwald, wo die Föhren ſauſen, die Fichten mit
[106] den herabhängenden grünen Haaren ſtehen, und die
Tannen die flachzeiligen glänzenden Nadeln auseinan¬
der breiten. Am Rande des Waldes ſahen ſie zurük, um
das Haus und den Garten zu ſehen. Dieſe lagen winzig
unter ihnen, und die Scheiben der Glashäuſer glänzten
wie die Täfelchen, die ſie mit einer Steknadel oder mit
dem ſpizigen Meſſerlein der Großmutter aus dem
Steine gebrochen hatten.
Dann gingen ſie in den Wald, wo es dunkel war,
wo die Beeren und Schwämme ſtanden, die Moos¬
ſteine lagen, und ein Vogel durch die Stämme und
Zweige ſchoß. Sie pflükten keine Beeren, weil ſie
nicht Zeit hatten, und weil ſchon der Sommer ſo
weit vorgerükt war, daß die Heidelbeere nicht mehr
gut war, die Himbeere ſchon aufgehört hatte, die
Brombeere noch nicht reif war, und die Erdbeere auf
dem Erdbeerenberge ſtand. Sie gingen auf dem ſan¬
digen Wege fort, den der Vater an vielen Stellen
hatte ausbeſſern laſſen. Und als ſie bei dem Holze
vorbei waren, das im Sommer geſchlagen worden
war, und noch ein Weilchen auf dem Sandwege ge¬
gangen waren, kamen ſie wieder aus dem Walde hinaus.
Sie ſahen nun einen grauen Raſen vor ſich, auf
dem viele Steine lagen, dann war ein Thal, und dann
ſtand der hohe Nußberg empor.
[107]
Da gingen ſie nun auf dem Raſen abwärts, der
eine Mulde hatte, in dem ein Wäſſerlein floß. Sie
gingen zwiſchen den grauen Steinen, auf denen ein
verdorrtes Reis oder eine Feder lag, oder die Bach¬
ſtelze hüpfte, und mit den Steuerfedern den Takt
ſchlug. Und als ſie zu dem Bächlein gekommen waren,
in welchem die grauen flinken Fiſchlein ſchwimmen und
um welches die blauen ſchönen Waſſerjungfern flattern,
und als ſie über den breiten Stein gegangen waren, den
ihnen der Vater als Brüke über das Bächlein hatte
legen laſſen, kamen ſie gegen den hohen Nußberg empor.
Sie gingen auf den Nußberg, der ringsherum
rund iſt, der eine Spize hat, an deſſen Fuſſe die
Steine liegen, der die vielen Gebüſche trägt — die
Krüpelbirke die Erle die Eſche und die vielen vielen
Haſelnußſtauden — und der weit herum ſteht auf die
Felder, auf denen fremde Menſchen akern, und auf
weitere unbekannte Gegenden.
Großmutter hatte Schwarzköpfchen an der Hand.
Blondköpfchen ging allein, und ſprang über die Steine.
Da ſie zu dem Nußberge kamen, gingen ſie unter das
Gehege hinein, die Großmutter bükte ſich, Blondköpf¬
chen bükte ſich auch, es bükte ſich ſogar Schwarzköpf¬
chen, und ſie kamen zu den Gebüſchen der Nüſſe. Da
waren nun ſie und viele andere Dinge auf dem Berge.
[108] Es waren die röthlichen Mäuslein, die auch Nüſſe
freſſen, die unter den Wurzeln die trokenen Gänge
bohren, in welche ſie die Sämereien des Berges und
andere Dinge zu Malzeiten tragen, in welche ſie
Halme und Heu für die Neſter der Jungen tragen,
und in welchen ſie die Nüſſe mit den Zähnen benagen,
um zu dem ſüſſen kräftigen Kerne zu gelangen — da
war der flüchtige Heher, der mit den Flügeln, in die
er die blaugeſtreiften Täfelchen eingeſezt hat, durch die
Äſte dahin flog — da war das Eichhörnchen, das
über den Raſen ſchlüpfte, und auf einem hohen diken
Aſte hielt, die Vorderpfoten an den Mund nahm, und
emſig nagte, — und wer weiß, was noch da war,
ſeine Freude und Luſt auf dem hohen Nußberge zu
ſuchen, was Flügel hat, oder wie die Wieſel und
Iltiſſe in der Sandgrube lief.
Es ſtanden die grünen Äſte zu dem blauen Him¬
mel empor, und Blätter und Nüſſe ſtarrten an ihnen,
bald einzeln bald zwei bald drei bald zu großen
Knöpfen vereinigt, und hatten blaſſe oder grünliche
oder bräunliche oder röthliche Wangen. Die Kinder
langten mit den Händlein in die Zweige, oder ſie
faßten dieſelben mit dem Haken, und zogen ſie nieder,
um die Nüſſe zu pflüken. Und wenn ſie ſich geirrt,
und einen tauben Zweig herab gebogen hatten, ließen
[109] ſie ihn gleich wieder los, und ſuchten nach einem
andern. So waren ſie emſig und fleißig. Und wenn
die Äſte zu hoch waren, oder wenn ſie zu ſtark waren,
daß ſie durch die Kraft der Kinder nicht gebogen wer¬
den konnten, ſo half die Großmutter, ſie langte den
Zweig herunter, und hielt ihn ſo lange, bis die Hände
der Kinder die Nüſſe gefunden und gepflükt hatten.
Sie führte ſie auch in Gegenden, wo die Zweige recht
gefüllt waren, und von Nüſſen an Nüſſen prangten.
Wenn dann die Kinder recht viel geleſen hatten, wenn
ſie ihre Körblein voll hatten, wenn ſie auch in ihre
Täſchlein noch geſtekt, ja ſogar in ihre Tüchlein ge¬
bunden hatten, ſo blieben ſie noch auf dem Berge,
ſie gingen herum, ſie gingen auf den Gipfel empor,
und ſezten ſich an einer diken und veralteten Haſel¬
wurzel, die ſehr einladend war, nieder, und verweilten
in der weiten glänzenden Luft.
Die Großmutter ſagte ihnen, da ſei es auch gewe¬
ſen, wo das Hähnlein und das Hühnlein auf den
Nußberg gegangen ſeien, wo das Hühnlein ſo viel
gedurſtet und das Hähnlein ihm Waſſer gebracht habe,
und wo auch noch andere Dinge geſchehen ſeien.
Sie zeigte ihnen dann herum, und ſagte ihnen die
wunderlichen Namen der Berge, ſie nannte manches
Feld, das zu erbliken war, und erklärte die weißen
[110] Pünktlein, die kaum zu ſehen waren, und ein Haus
oder eine Ortſchaft bedeuteten. Und wenn gar reine
ſchöne Himmelsferne war, und die Gebirge deutlich
ſtanden, enträthſelte ſie die ſeltſamen Spizen, die
hinauf ragten, und erzählte von manchem Rüken, der
ſich dehnte, und wenn ſchwache Wolken über dem
Gebirge waren, ſo ſagte ſie, ſie gleichen wirklichen
Palläſten oder Städten oder Ländern oder Dingen
die niemand kennt. Und gegen Mitternacht ſahen ſie
auf den Gallbrunerwald und die Karesberge und da¬
hinter auf den Streifen des Seſſelwaldes, über dem
oft eine lange matte Wolke war, die nicht ſo ſchön
glänzte, wie die gegen Mittag über dem Gebirge.
Und wenn ſie recht viel in das Land geſehen hatten,
erzählte ihnen die Großmutter auch von den Männern,
die in demſelben gelebt hatten, von den Rittern, die
herum geritten, von den ſchönen Frauen und Mäd¬
chen, die auf Zeltern geſeſſen ſeien, von den Schäfern
mit den klugen Schafen, und von den Fiſchern und
von den Jägern.
Dann gingen ſie zurük. Sie ordneten die zerdrük¬
ten Kleidchen, nahmen Korb und Ruthe, und gingen
auf dem nehmlichen Wege hinab, auf dem ſie gekommen
waren.
Sie gingen an den Haſelſtauden abwärts, ſie gin¬
[111] gen über die Steine, ſie gingen über das Bächlein mit
den grauen Fiſchlein und den blauen Waſſerjungfern,
ſie gingen über den Raſen, ſie gingen durch den Wald,
ſie gingen in dem Felſen in dem Gebüſche und in der
Sandlehne nieder, und kamen von den Glashäuſern
auf dem Raſen gegen den Hof vorwärts, wo die
Mutter oft in ihrem ſchönen Gewande und mit dem
Sonnenſchirme wandelte, und ihnen entgegen ging.
Dann bekamen ſie ein Eſſen, weil ſie ſehr hun¬
gerte. Sie hatten zwei Nußknaker, Blondköpfchen
einen größeren und ernſteren, Schwarzköpfchen einen
kleineren und närriſcheren, der einen drolligen Mund
hatte, und fürchterliche Augen machte. In die Mäuler
der Nußknaker thaten ſie die Nüſſe, die ſie gebracht,
und von den grünen Hülſen befreit hatten, drükten
mit den Zünglein, und zerbrachen die Nüſſe, indem
die Knaker gewaltig die Kinnladen zuſammen thaten,
und erſchrekliche Geſichter erzeugten. Sie gaben von
den Kernen und von den Nüſſen dem Vater und der
Mutter und auch der Großmutter, die ſelten Nüſſe
von dem hohen Nußberge mitbrachte, und dann immer
nur wenige, die ſie ſtets auf das Tiſchlein der Kinder
legte, ſo wie ſie auch die geſchenkten ihnen immer
wieder zurük ſchenkte.
Als Blondköpfchen ſchon recht groß geworden
[112] war, und zu lernen anfing, als Schwarzköpfchen auch
ſchon lernte, und ein freundlicher Lehrer aus der
Stadt gekommen war, und mit ihnen auf einem
Tiſche in der Kinderſtube die ſchönen Bücher auf¬
machte, und die Dinge in denſelben deutete: wurde
auch ein Brüderlein geboren, Sigismund. Und wie
Blondköpfchen der Vater Schwarzköpfchen die Mutter
war, ſo war Sigismund Vater und Mutter, er war
Blondköpfchen und Schwarzköpfchen; denn wie ſich
ſeine Haare zu entwikeln begannen, ſo wurden ſie
Anfangs licht, und bildeten ſich dann zu braunen
Ringeln, die Augen waren nicht blau oder ſchwarz
ſondern braun.
Jezt konnten ſie nicht mehr mit der Großmutter
auf den hohen Nußberg gehen, weil ſie bei dem kleinen
Brüderlein bleiben mußte. Mit jemand andern durften
ſie nicht gehen, und mußten bei dem Hauſe verweilen.
Da gingen ſie nun in dem Garten herum, ſchauten die
Obſtbäume an, oder ſie waren in den Glashäuſern
und betrachteten die Blumen.
Als aber das Brüderlein zweimal in dem Winter
im großen Wagen mit in die Stadt gefahren, und
zweimal im Sommer wieder gekommen war, ſo war
es ſchon ſo ſtark geworden, daß es mit den Schweſter¬
lein und mit der Großmutter herum gehen konnte.
[113] Sie gingen durch die Felder, ſie gingen in den Wald
und übten die Füſſe. Dann gingen ſie wieder auch auf
den hohen Nußberg.
Die Schweſterlein hatten weiße Kleider an, ſie
hatten gelbe Strohhüte auf, von denen der eine ſich
mit Blondköpfchens Loken unkenntlich vermiſchte, der
andere ſich von Schwarzköpfchens Haupte wie ein
Schein abhob, ſie hatten rothe Bänder an den Hüten
und Kleidern, ſie trugen Körblein an dem Arme und
die weiße Haſelruthe mit dem Haken in der Hand.
Der Knabe hatte weiße Höslein ein blaues Jäkchen
auch ein Strohhütchen auf den braunen Loken und
eine kleinere weiße Ruthe mit einem Haken. Statt
des Körbleins hatte er ein Täſchchen von gelbem
Leder an grünen Bändern über ſeine Schulter hängen.
Sie gingen viel langſamer, ſie raſteten öfter, und die
Schweſterlein zeigten dem Bruder viele Dinge an dem
Wege die ſie ſchon kannten, und ſie zeigten auch, wie
ſchnell ſie gehen könnten, wenn ſie wollten, indem ſie
auf dem Raſen hüpften, auf den Steinen hüpften,
vorwärts und wieder rükwärts liefen. Sie gingen
durch die Sandlehne das Geſtrippe durch die Felſen
den Wald über die graue Mulde und den hohen Nu߬
berg hinan. Sie pflükten ſich die Nüſſe in ihre Körb¬
lein, das Brüderlein langte auch mit ſeinem kleinen
Stifter, Jugendschriften. II. 8[114] Häklein, und alle halfen zuſammen, bis es auch ſein
Täſchchen voll hatte.
Als ſie an der diken veralteten Haſelwurzel ſaßen,
erzählte die Großmutter wieder eine Geſchichte. Sie
ſagte: „Bei dem Seſſelwalde an ſeinem ſteilen
Mittagsfalle, war einſtens auch ein Wald, aber
er war nicht dicht, es ſtanden Birken und Ahorne
auf dem Raſen. Da war ein Schäfer, der die
Schafe in das Gehölz führte, daß ſie auf dem Raſen
weideten, und daß ſie ihm Milch und Wolle gaben.
Da kam aus dem Seſſelwalde ein ſchwarzer Mann
herunter, der ſagte, daß in der Harthöhle wo das
Silber rinne, das blutige Licht ſei. Der Schäfer
wußte nicht wer der Mann ſei, und was das Sil¬
ber und das blutige Licht ſei, und konnte ihn auch
nicht fragen, weil er gleich fort ging. Aber er wartete
bis er wieder käme. Allein der Mann kam nicht
mehr. Da der Schäfer eines Tages ein verlorenes
Lamm ſuchte, ging er dem Bache entgegen, wo er
herab fließt, daß er die ſpringenden Wellen in den
Augen hatte. Da er das Lamm immer wieder weiter
oben blöken hörte, ging er fort und fort. Er ging ſo
weit hinauf, daß der Wald ſchon ſehr dik war, daß
der Bach über Steine und Kugeln floß, und daß an
den beiden Seiten harte Felſenwände ſtanden. Da
[115] ſah er aus einem Steine ein Waſſer heraus fließen,
und herab fallen, als ob lauter ſilberne Bänder
und Franſen über die Steine herab gebreitet wären.
Da ſtieg er an dem Steine empor, und ſuchte
ſich an dem glatten Felſen mit Füſſen und Händen
zu halten. Als er oben war, ſah er, daß das Waſſer
aus einer Höhle heraus rinne, und daß die Höhle
ſehr glänzend hart ſei, als wäre ſie aus einem kunſt¬
reichen Steine gehauen worden. Er ging in die Höhle
hinein. Sie wurde immer enger, und wurde immer
finſterer, und das Wäſſerlein floß aus ihr hervor.
Da ſah er es plözlich in einem Winkel leuchten, als
ob ein rother blutiger Tropfen dort läge. Er ging
näher, und es leuchtete fort. Da gab es ihm ein,
er ſolle die Hand ausſtreken, und den Tropfen nehmen.
Er nahm den Tropfen, aber es war ein kalter rauher
Stein, den er in der Hand ſpürte, und der Stein
war ſo groß, daß er ihn kaum mit der Hand faſſen
konnte. Er trug den Stein hervor, bis er an das
Tageslicht kam, und da ſah er, daß es ein Feldſtein
war, wie man viele Tauſende findet, und daß aus
dem Feldſteine ein rothes Äuglein hervor ſchaue,
wie wenn es von den Lidern der harten Steinrinde
bedekt wäre, und nur roſenfarb blinzen könne. Wenn
man den Stein drehte, warf er Funken auf die Dinge.
8*[116] Der Schäfer ſtieg eilig die Felſenwand herab, er ging
den fließenden Bach entlang, und ſputete ſich, bis er
zu ſeiner Heerde kam. Das Lamm, das er verloren,
und nicht gefunden hatte, war zu Hauſe, und trank
an ſeiner Mutter. Er wikelte den Stein in ein Tuch,
und bewahrte ihn ſorgſam. Da kam einmal ein Hoch¬
bauer, und er verkaufte ihm den Stein um fünf
Schafe. Und der Hochbauer verkaufte ihn einem
Arzte um ein Pferd, und der Arzt verkaufte ihn einem
Lombarden um hundert Goldſtüke, und der Lombarde
ließ ihn von dem gemeinen Geſteine befreien und
ſchleifen, und jezt tragen ihn Fürſten und Könige in
ihren Kronen, er iſt ſehr groß und leuchtend, und
iſt ein Karfunkel oder ein anderer rother Stein,
ſie beneiden ſich darum, und wenn ſie das Land
erobern, wird der Stein ſorgſam fort getragen, als
ob man eine eroberte Stadt in einem Schächtelchen
davon trüge.“
Zu einem anderen Male ſagte die Großmutter:
„In unſern Wäſſern, die braun und glänzend ſind, weil
ſie den Eiſenſtaub aus den Bergen führen, iſt nicht blos
das Eiſen enthalten, es glänzet der Sand, als ob er
lauter Gold wäre, und wenn man ihn nimmt, und
wenn man ihn mit Waſſer vorſichtig abſchwemmt,
ſo bleiben kleine Blättchen und Körner zurük, die eitel
[117] und wirkliches Gold ſind. In früheren Jahren haben
ſeltſame Menſchen, die weit von der Ferne gekommen
ſind, das Gold in unſern Bächen gewaſchen, und
ſind reich von dannen gezogen; es haben dann auch
mehrere von uns in den Wäſſern gewaſchen, und
manches gefunden; aber jezt iſt es wieder vergeſſen
worden, und niemand achtet das Waſſer weiter, als
daß er ſein Vieh dann tränkt. Dann liegen noch köſt¬
lichere Sachen in demſelben. Wenn man eine Muſchel
findet, und ſie die rechte iſt, ſo liegt in ihr eine Perle,
die ſo koſtbar iſt, daß man ſie durchbohrt, und mit
mehreren vereinigt an einer Schnur gefaßt den ſchönen
Frauen als ſanften Schmuk um den Hals thut, oder
Heiligenbilder umwindet, und heilige Gefäße einfaßt.“
Wenn die Kinder und die Großmutter lange ge¬
ſeſſen waren, ſtanden ſie wieder auf, und gingen nach
Hauſe.
Aber auch auf andere Stellen gingen die Kinder
mit der Großmutter, ſie gingen auf die Wieſen, wo
die Schmalz- und Butterblumen waren, und beſonders
die Vergißmeinnicht, die wie klare Fiſchäuglein aus den
Wellen ſchauen, und auf einem Gefäße mit Waſſer
lange auf dem Tiſche der Mutter blühen. Sie gingen
auf den Erdbeerenberg, wo die würzigen Erdbeeren
ſtanden, die kleiner aber beſſer waren, als die der
[118] Vater in Beeten an der Sandlehne zog. Sie gingen in
die Felder, wo der brennende Mohn die blauen Korn¬
blumen und die hellgelben Frauenſchühlein blühten.
Für ſich allein ſtanden die Kinder gerne am Bache,
wo er ſanft fließt, und allerlei krauſe Linien zieht, und
blikten auf den Sand, der wohl wie Gold war, wenn
die Sonne durch das Waſſer auf ihn ſchien, und der
glänzende Blättchen und Körner zeigte. Wenn ſie
aber mit einem Schäufelchen Sand heraus holten, und
gut wuſchen, und ſchwemmten, ſo waren die Blätt¬
chen Kazenſilber, und die Körner waren ſchneeweiße
Stükchen von Kieſel. Muſcheln waren wenige zu
ſehen, und wenn ſie eine fanden, ſo war ſie im Innern
glatt, und es war keine Perle darin.
Als Blondköpfchen und Schwarzköpfchen ſchon
ſchöner und wunderbarer geworden waren, als Sigis¬
mund ſchon groß geworden war, und ſie wieder ein¬
mal auf dem hohen Nußberge an der diken veralteten
Haſelwurzel ſaſſen, kam aus dem Gebüſche ein frem¬
des braunes Kind heraus. Es war ein Mädchen, es
war faſt ſo groß und noch ſchlanker als Blondköpf¬
chen, hatte nakte Arme, die es an der Seite herab
hängen ließ, hatte einen nakten Hals, und hatte ein
grünes Wams und grüne Höschen an, an welchem
viele rothe Bänder waren. In dem Angeſichte hatte
[119] es ſchwarze Augen. Es blieb an dem Gebüſche der
Haſeln ſtehen, und ſah auf die Großmutter und auf
die Kinder. Die Großmutter ſagte nichts, und fuhr
fort, zu reden. Die Kinder aber ſahen auf das Mäd¬
chen. Als die Großmutter geendet hatte, redete ſie das
Mädchen an, und ſagte:
„Wer biſt du denn?“
Das Mädchen aber antwortete nicht, es ſprang
in die Gebüſche, und lief davon, daß man die Zweige
ſich rühren ſah.
Die Großmutter und die Kinder gingen von dem
hohen Nußberge, ohne weiter von dem Mädchen et¬
was zu ſehen oder zu hören.
Als ſie wieder ein Mal an der diken veralteten
Haſelwurzel ſaßen, und die Großmutter redete, kam
das braune Mädchen wieder, trat wieder aus den
Gebüſchen, blieb ſtehen, und ſah die Kinder an. Als
man es fragte, lief es nicht davon wie das erſte Mal,
zog ſich aber gegen das Gebüſch zurük, daß die Blät¬
ter ſeine nakten Arme dekten, und ſah auf die Kinder.
Da man ſich erhob, um weg zu gehen, lief es wieder
über den hohen Nußberg hinunter.
Die Kinder verlangten nun öfter nach dem hohen
Nußberge, um das braune Mädchen zu ſehen.
Die Großmutter ging mit ihnen hinauf. Sie
[120] gingen wohl öfter, ohne das braune Mädchen zu
erbliken, aber einmal, als ſie ihre Körbchen mit
Nüſſen gefüllt hatten, und an der Haſelwurzel ſaſſen,
kam das Mädchen wieder aus den Gebüſchen, blieb
wieder ſtehen, und ſah auf Blondköpfchen hin. Es
mochte wohl hinſehen, da es ſelber nicht die langen
blonden Loken ſondern kurz abgeſchnittene ſchwarze
Haare hatte. Als man es nach langer Weile freund¬
lich anredete, wich es nur ein wenig zurük, lächelte,
zeigte wunderbare weiße Zähne, antwortete aber
nicht. Die Kinder blieben länger ſizen, die Großmut¬
ter ſprach allerlei, und das braune Mädchen ſtand,
und ſah zu. Da man fortging, lief es nicht ſo eilig
davon, wie die zwei erſten Male, ſondern ging auch
langſam auf einem Wege, der den Kindern nahe war,
den Berg hinunter, und konnte einige Male in den
Gebüſchen geſehen werden. Es hatte immer die
nehmlichen Kleider an, die es das erſte Mal ange¬
habt hatte.
Der Vater erlaubte den Kindern gerne, daß ſie
auf den hohen Nußberg gingen, ſagte aber, daß ſie
dem fremden Kinde nichts zu Leide thun ſollten. Wenn
ſie oben waren, kam das Kind, blieb an dem Rande
der Gebüſche ſtehen, und ſah zu. Es lächelte recht
freundlich, wenn man zu ihm ſprach, antwortete aber
[121] nicht. Wenn man fortging, ging es hinterher bis an
das Ende der Gebüſche.
Einmal erſchien es auch mit einer weißen abge¬
ſchälten Haſelruthe wie die Kinder hatten, und hielt
die Ruthe hoch empor.
Ein anderes Mal, da die Kinder herab gingen,
und es hinter ihnen ging, und die Kinder etwas
langſamer gingen, näherte es ſich ihnen immer mehr,
und berührte endlich Blondköpfchen mit der Ruthe.
Nach und nach legte es ſich auch in das Gras,
wenn die Großmutter erzählte, es ſtüzte den braunen
Arm auf den Ellbogen, das Haupt auf die Hand, und
richtete die ſchwarzen Augen auf die Großmutter. Es
verſtand die Worte, weil es in dem Angeſichte die Em¬
pfindungen ausdrükte. Die Kinder hatten es recht lieb.
Sie brachten ihm Spielzeug und Äpfel, legten
ſie zu ihm in das Gras, und es nahm dieſelben, und
ſtekte ſie zu ſich.
Da es nach und nach tief in den Herbſt gegangen
war, da keine Nüſſe mehr an den Zweigen hingen,
da die Zweige ſich ſchon mit Gelb färbten, die ge¬
akerten Felder der Ferne ſchon das Grün der Win¬
terſaaten angenommen hatten und die Tage kurz
waren, daß man bald nach Hauſe gehen mußte, war
einmal ein gar heißer ſchöner Herbſttag, wie kaum
[122] ſeit Menſchengedenken einer geweſen ſein mochte. Die
Kinder ſaſſen wieder auf dem hohen Nußberge, das
braune Mädchen ſaß in dem Graſe, und die Gro߬
mutter ſaß auf einem Steine.
Es war ihnen wohl, in der ſpäten warmen
Sonne ſizen zu können. Die Züge der alten Frau
waren beleuchtet, die Steine glänzten, an den Za¬
ken und Hervorragungen hingen geſpannte ſilberne
Fäden, und die rothen Bänder des braunen Mädchens
ſchimmerten, wenn ſie die Sonne an einer Stelle traf,
und ſie hingen herab wie glühende Streifen.
Die Großmutter erzählte wieder von einer ſchönen
Gräfin, die auf dem Walle geſtanden war, und ſich
allein gegen die Bauern im Bauernkriege vertheidigte,
als dieſelben mit Gabeln Dreſchflegeln Morgenſternen
und anderen Dingen das Schloß erbrechen und an¬
zünden wollten, bis endlich von fernen Landen ihr
Mann kam, und wie ein Sturmwind die Aufrührer
zerſchmetterte und vertilgte.
An dem Himmel, da ſie ſprach ſtanden Wolken,
die eine Wand machten, und mit den Bergen ver¬
ſchmolzen, daß alles in einem lieblichen Dufte war,
und die Stoppelfelder noch heller und glänzender ſchim¬
merten und leuchteten.
Die Kinder blieben auf dem Berge. Sie ſpielten,
[123] und hatten dem fremden Mädchen liebliche Dinge
mitgebracht.
Die Wolken aber wurden nach und nach immer
deutlicher, und an ihren oberen Rändern waren ſie
von der Sonne beſchienen, und glänzten, als ob ge¬
ſchmolzenes Silber herab flöße.
Die Hize wurde immer größer, und weil man
in ihr im Herbſte müder wird als im Sommer, ſo
blieben ſie noch immer auf dem Berge ſizen.
Die Großmutter ſchaute nach den Wolken. Wenn
es Sommer geweſen wäre, würde ſie gedacht haben,
daß ein Gewitter kommen könnte; aber in dieſer Jah¬
reszeit war das nicht möglich, und es war daran nicht
zu denken. Das braune Mädchen ſah auch nach den
Wolken.
Wenn im üblen Falle ein leichter Herbſtſtaubregen
käme, dachte die Großmutter, ſo macht das nichts,
da die Kinder gewohnt ſeien, naß zu werden, und da
dies ihrer Geſundheit eher zuträglich iſt.
Aber bald ſollte ſie anders denken. Man hörte
aus den Wolken ſchwach donnern.
Man wartete noch ein Weilchen und der Donner
wiederholte ſich.
Die Großmutter überlegte nun, was zu thun ſei.
Zwiſchen dem hohen Nußberge und dem Hofe ihres
[124] Sohnes war kein Haus und keine Hütte, man konnte
alſo nirgends eine Unterkunft finden. In dem Walde
könnten wohl die Bäume einen Schuz vor dem Regen
gewähren, aber dafür waren ſie deſto gefährlicher
wegen des Blizes, und man durfte dort keine Zuflucht
ſuchen. Ob ſie mit den Kindern noch vor Ausbruch
des Gewitters nach Hauſe kommen könnte, war zwei¬
felhaft. Aber ſie dachte, wenn auch das Gewitter
erſchiene, ſo könne es auf keinen Fall in der ſpäten
Jahreszeit ſtark ſein, der Regen werde nicht in Strö¬
men herabfließen wie im Sommer, und ſo würde er
leicht zu überſtehen ſein.
Indeſſen hatte ſich die Geſtalt der Wolken verän¬
dert. Sie bildeten eine dunkle Wand, und auf dem
Grunde dieſer Wand zeigten ſich weißliche leichte
Floken, die dahin zogen. Es wurden auch ſchon Blize
in den Wolken geſehen, aber die Donner, die ihnen
folgten, waren noch ſo ferne, als wären ſie hinter
den Bergen. Die Sonne ſchien noch immer auf den
hohen Nußberg und die umringende Gegend.
Die Kinder fürchteten ſich nicht. Sie hatten ſchon
ſtarke Gewitter geſehen, wie ſie in ihrem Hügellande
vorkommen, und da Vater und Mutter ihre Geſchäfte
ruhig fort thaten, ſo waren ihnen Gewitter nicht
entſezlich.
[125]
Das braune Mädchen war in der Nähe der Stelle,
auf welcher ſie geſeſſen waren, hin und her gegangen.
Es hatte unter manche Haſelbüſche hinein geſehen,
es hatte unter Wurzelgeflechte geblikt, oder in kleine
Erdhöhlungen geſchaut.
Die Wolken hatten nach und nach die Sonne
verſchlungen. Die vielen Haſeln auf dem Berge lagen
im Schatten, die anſtoßende Gegend war im Schat¬
ten, und nur noch die fernen Stoppeln gegen Morgen
waren beleuchtet und ſchimmerten.
„Ich weiß nicht, liebe Kinder,“ ſagte die Gro߬
mutter, „ob es nun auch wirklich wahr iſt, was meine
Mutter oft erzählt hat, daß die heilige Mutter Ma¬
ria, als ſie zu ihrer Baſe Eliſabeth über das Gebirge
ging, unter einer Haſelſtaude untergeſtanden ſei, und
daß deßhalb der Bliz niemals in eine Haſelſtaude
ſchlage; aber wir wollen uns doch eine dichte Haſel¬
ſtaude ſuchen, deren Zweige gegen Morgen hängen,
und ein Überdach bilden, und deren Stämme gegen
Abend ſtehen, und den von daher kommenden Regen
abhalten. Unter derſelben wollen wir ſizen, ſo lange der
Regen dauert, daß er uns nicht ſo ſchaden kann, und daß
wir nicht zu naß werden. Dann gehen wir nach Hauſe.“
„Ja, ſo thun wir, Großmutter,“ riefen die Kin¬
der, „ſo thun wir.“
Sie gingen nun daran, eine ſolche Staude zu
ſuchen.
Das braune Mädchen aber ſchoß in die Ge¬
büſche und lief davon.
Nach einem Weilchen kam es wieder, und trug ein
Reiſigbündel in den Händen, wie man ſie aus dün¬
nern und dikern Zweigen und Stäben macht, auf¬
ſchlichtet, troken werden läßt, und gegen den Winter
zum Brennen nach Hauſe bringt.
Es lief nun wieder fort, und brachte zwei Bündel.
Und ſo fuhr es mit großer Schnelligkeit fort, daß
die braunblaſſen Wangen glühten, und der Schweis
von der Stirne rann.
Während das braune Mädchen die Bündel trug,
und die Kinder und die Großmutter eine Haſelſtaude
ſuchten, waren die Wolken, die früher ſo langſam
geweſen waren, nun viel ſchneller näher gekommen,
und der Donner rollte klarer und deutlicher.
Das braune Mädchen hörte endlich mit dem Her¬
beitragen von Bündeln auf, und begann aus denſel¬
ben gleichſam ein Häuschen zu bauen. Es ſuchte eine
Stelle aus, die gegen Abend mit dichten Haſeln
umſtanden war, ſtellte Bündel gleichſam als Säulen
auf, legte quer darüber Stangen und Stäbe, die es
von dem Bündelſtoße herbei getragen hatte, bedekte
[127] dieſelben wieder mit Bündeln, und häufte immer
mehr und mehr Bündel auf, daß im Innern eine
Höhlung war, die Unterſtand both.
Da es fertig war, und da die Großmutter und
die Kinder auch bereits eine taugliche Haſelſtaude
gefunden hatten, unter derſelben ſaſſen, und auf das
Gewitter warteten, ging es zu ihnen hin, und ſagte
etwas, das ſie nicht verſtanden. Darauf machte es
ein Zeichen, weil es die Sache nicht mit Worten
ſagen konnte: es hielt die linke Hand flach auf, hob
die rechte hoch, machte eine Fauſt, und ließ dieſelbe
auf die geöffnete Hand niederfallen. Dann ſchaute es
auf die Großmutter, und zeigte auf die Wolken.
Die Großmutter ging unter der Haſelſtaude her¬
vor, und ſtellte ſich auf einen Plaz, wo ſie die Wolken
ſehen konnte. Dieſelben waren grünlich und faſt
weißlich licht, aber troz dieſes Lichtes war unter
ihnen auf den Hügeln eine Finſterniß, als wollte die
Nacht anbrechen. So wogten ſie näher, und bei der
Stille des Nußberges hörte man in ihnen ein Mur¬
meln, als ob tauſend Keſſel ſötten.
„Heiliger Himmel, Hagel!“ ſchrie die Gro߬
mutter.
Sie begrif nun ſogleich, was das Mädchen
wollte, ſie begrif die Kenntniß und Vorſicht des
[128] braunen Mädchens, die es mit den Reiſigbündeln
gezeigt hatte, ſie lief gegen die Haſelſtaude, riß die
Kinder hervor, bedeutete ihnen zu folgen, das fremde
Mädchen lief voran, die Großmutter eilte mit den
Kindern hinterher, ſie kamen zu den Bündeln, das
Mädchen zeigte, daß man hinein kriechen ſollte, Si¬
gismund wurde zuerſt hinein gethan, dann folgte
Clementia, dann folgten Emma und die Großmutter
neben einander, und am äußerſten Rande ſchmiegte
ſich das braune Mädchen an, und hielt die blonden
Loken Emmas in der Hand.
Die Kinder hatten kaum Zeit gehabt, ſich unter
die Bündel zu legen, und eben wollten ſie lauſchen,
was geſchehen würde, als ſie in den Haſelſtauden
einen Schall vernahmen, als würde ein Stein durch
das Laub geworfen. Sie hörten ſpäter das noch ein¬
mal, dann nichts mehr. Endlich ſahen ſie wie ein
weißes blinkendes Geſchoß einen Hagelkern vor ihrem
Bündelhauſe auf das Gras nieder fallen, ſie ſahen
ihn hoch empor ſpringen, und wieder niederfallen,
und weiter kollern. Dasſelbe geſchah in der Nähe mit
einem zweiten. Im Augenblike kam auch der Sturm,
er faßte die Büſche, daß ſie rauſchten, ließ einen
Athemzug lang nach, daß alles todtenſtill ſtand, dann
faßte er die Büſche neuerdings, legte ſie um, daß das
[129] Weiße der Blätter ſichtbar wurde, und jagte den
Hagel auf ſie nieder, daß es wie weiße herabſauſende
Blize war. Es ſchlug auf das Laub, es ſchlug gegen
das Holz, es ſchlug gegen die Erde, die Körner
ſchlugen gegen einander, daß ein Gebrülle wurde,
daß man die Blize ſah, welche den Nußberg entflamm¬
ten, aber keinen Donner zu hören vermochte. Das
Laub wurde herab geſchlagen, die Zweige wurden
herab geſchlagen, die Äſte wurden abgebrochen, der
Raſen wurde gefurcht, als wären eiſerne Eggenzähne
über ihn gegangen. Die Hagelkörner waren ſo groß,
daß ſie einen erwachſenen Menſchen hätten tödten
können. Sie zerſchlugen auch die Haſeln, die hinter
den Bündeln waren, daß man ihren Schlag auf die
Bündel vernahm.
Und auf den ganzen Berg und auf die Thäler fiel
es ſo nieder. Was Widerſtand leiſtete, wurde zer¬
malmt, was feſt war, wurde zerſchmettert, was Leben
hatte, wurde getödtet. Nur weiche Dinge widerſtan¬
den, wie die durch die Schloſſen zerſtampfte Erde und
die Reiſigbündel. Wie weiße Pfeile fuhr das Eis in
der finſtern Luft gegen die ſchwarze Erde, daß man
ihre Dinge nicht mehr erkennen konnte.
Was die Kinder fühlten, weiß man nicht, ſie
wußten es ſelber nicht. Sie lagen enge an einander
Stifter, Jugendſchriften. II. 9[130] gedrükt, und drükten ſich noch immer enger aneinan¬
der, die Bündel waren bereits durch den Hagelfall nie¬
der geſunken und lagen auf den Kindern, und die Gro߬
mutter ſah, daß bei jedem heftigeren Schlag, den eine
Schloſſe gegen die Bündel that, ihre leichten Körper¬
chen zukten. Die Großmutter bethete. Die Kinder
ſchwiegen, und das braune Mädchen rührte ſich nicht.
Die Stumpfen der Haſelnußſtauden, die hinter
den Bündeln waren, machten, daß der Wind nicht
in die Bündel fahren, und ſie aus einander werfen
konnte.
Nach längerer Zeit hörte es ein wenig auf, daß
man den Donner wieder hören konnte, der jezt als
ein mildes Rollen erſchien. Die Schloſſen fielen dich¬
ter, waren aber kleiner, und endlich kam ein Regen,
der ein Wolkenbruch war. Er fiel nicht wie gewöhn¬
lich in Tropfen oder Schnüren, ſondern es war, als
ob ganze Tücher von Waſſer nieder gingen. Dasſelbe
drang durch die Fugen und Zwiſchenräume der Bün¬
del auf die Kinder hinein.
Nach und nach milderte es ſich, der Wind wurde
leichter, und der Donner war entfernter zu hören.
Das braune Mädchen kroch aus den Bündeln hervor,
ſtand auf, und ſah mit den ſchwarzen Augen unter
die Bündel hinein.
[131]
Die Großmutter ſtand auch auf, und ſah nach
dem Himmel. Die Wolken hatten ſich gegen Aufgang
gezogen, dort war es finſter, und man hörte das
Niederfallen des Waſſers und Eiſes herüber. Aber
auf den Bergen gegen Untergang war es lichter,
lichtere graue Wolken zogen herüber, und zeigten,
daß der Hagel nicht mehr zurükkehren werde.
Die Großmutter zog nun zuerſt Blondköpfchen her¬
vor, dann Schwarzköpfchen, dann Braunköpfchen.
Die naſſen Kinder gingen unter den Bündeln
hervor, und die Kleider klebten an ihren Körpern.
Das braune Mädchen hatte auch ſein ſchönes Gewand
verdorben, es war naß und beſchmuzt an ſeinem
Körper. Das Mädchen blutete an dem nakten rechten
Arme. Weil es ſich nicht ganz unter das Reiſig hatte
hinein legen können, ſo war es von einem Eisſtüke
geſtreift und gerizt worden. Da die Kinder hinzu
gingen, um es zu betrachten, da die Großmutter es
unterſuchen wollte, wandte es ſich ab, und machte
eine Bewegung, als ob es ſagen wollte, daß die
Sache keiner Mühe werth ſei.
Man richtete ſich zum Fortgehen.
Die Großmutter nahm die zwei Körbchen der
Mädchen und das Ledertäſchchen des Knaben, band
alles mit einem naſſen Tuche zuſammen, und trug es
9*[132] ſelber, damit die Kinder leichter wären, damit ſie ſich
beim Fortgehen an ſie anhalten, und ihre Kleidchen
aufheben konnten. Sie hielt ſie bei ſich, daß ſie nicht
auf der naſſen Erde und in den Hagelkörnern ausglei¬
ten und fallen könnten. Das braune Mädchen ging
mit ihnen.
Die Kinder ſahen, wie der Wind das dürre Gras
die Blätter und andere Dinge in die Stämme der
Haſeln hinein geblaſen hatte, ſie ſahen, wie keine
Büſche mehr auf dem Berge ſtanden, ſondern nur
lauter dike Strünke, ſie ſahen, wie ſchier kein Gras war
ſondern nur beinahe ſchwarze Erde, die mit dem Waſ¬
ſer einen Brei machte. Und wo die Erde nicht zu
ſehen war, dort lagen lauter weiße Haufen von
Schloſſen, wie im Frühlinge die Schneelehnen liegen,
wenn er auf den ſonnigeren Stellen ſchon weggeſchmol¬
zen war. Wenn die Kinder eine Schloſſe anrührten,
war ſie ſehr kalt, und wenn ſie dieſelbe genau anſahen,
war ſie ſo ſchön wie eine Glaskugel, und hatte im
Innern eine kleine Floke von Schnee. Auf allen Seiten
des Berges rannen die Waſſer des Regens nieder.
Die Großmutter gab ſehr acht, daß die Kinder
nicht gleiteten.
Der Regen hatte aufgehört, und es fiel nur mehr
ein naſſer Staub von dem Himmel.
[133]
Sie kamen an den Rand des hohen Nußberges,
und das braune Mädchen ging dieſes Mal mit ihnen
auf den grauen Raſen hinaus.
Aber es war kein grauer Raſen mehr. Er war
zerſchlagen worden, und war ſchwarze Erde, ſo wie
die Steine, die durch den Regen naß geworden waren,
ſchwarz erſchienen. Da lagen große weiße Streken
vom Hagel.
Als ſie zu dem Bächlein gekommen waren, war
kein Bächlein da, in welchem die grauen Fiſchlein
ſchwimmen, und um welches die Waſſerjungfern flat¬
tern, ſondern es war ein großes ſchmuziges Waſſer,
auf welchem Hölzer und viele viele grüne Blätter und
Gräſer ſchwammen, die von dem Hagel zerſchlagen
worden waren. Es ſtanden ſonſt immer kleine Ge¬
ſträuche an dem Bache, die im Sommer rothe Blüthen
hatten, und dann, wenn die Blüthen abgefallen waren,
ſchöne weiße Käzchen bekamen. Von dieſen Geſträu¬
chen ſchauten die Spizen aus dem Waſſer.
Die Großmutter ging zu dem kleinen ſteinernen
Brüklein, allein dasſelbe war nicht zu ſehen, und
man konnte die Stelle nicht erkennen, an welcher
es ſei.
Da die Großmutter zauderte, und ſich bemühte,
den Plaz des Brükleins aufzufinden, zeigte das braune
[134] Mädchen auf eine Stelle, und als man noch immer
zögerte, ging es ruhig und entſchloſſen gegen das
Waſſer. Es ging in dasſelbe hinein, ging durch das¬
ſelbe hindurch, und ging wieder zurük, gleichſam,
um den ſichtbaren Beweis zu geben, daß man hin¬
durch gelangen könne. Weil ihm das Waſſer nur
gegen die Hüften reichte, ſah man deutlich, daß es
auf dem Brüklein gehe.
Da es zurük gekommen war, bükte es ſich ſanft
und freundlich gegen Sigismund, und ſtrekte ihm die
Arme entgegen. Der Knabe verſtand die Bewegung,
er ließ die Hand der Großmutter los, und begab ſich
in den Schuz des braunen Mädchens. Dieſes nahm
ihn auf den Arm, er ſchlug beide Ärmchen um den Hals
desſelben, und es trug ihn feſt und ſicher ſchreitend
auf das jenſeitige Ufer.
Die Großmutter hatte Schwarzköpfchen auf den
Arm genommen, hatte Blondköpfchen feſt an der Hand
gefaßt, und ging hinter dem braunen Mädchen. Sie
empfand bald an den Füſſen, daß ſie das Brüklein
unter ſich habe, und kam auch an das andere Ufer.
Als das fremde Mädchen Sigismund und die
Großmutter Schwarzköpfchen auf die Erde geſtellt
hatten, mußten ſie weiter gehen. Sie ſahen auf das
Waſſer zurük. Die Spizen der Geſträuche waren nicht
[135] mehr zu ſehen, und das Waſſer war viel breiter ge¬
worden. Es eilte mit dem Holze mit dem Laube und
mit den fremden ſchwarzen Dingen, die auf ihm
ſchwammen, dahin.
Sie gingen nun auf dem Raſen aufwärts gegen
den Wald. Sie mußten den weißen Haufen von
Schloſſen ausweichen, ſie mußten den Wäſſern aus¬
weichen, die in den Vertiefungen ſtanden, und ſie
mußten den Bächen ausweichen, die überall herab
floßen. Daher mußten ſie öfter von einem Steine
auf den andern ſpringen, um fort zu kommen, und
öfter durch ein fließendes Wäſſerlein gehen. Die
Großmutter ließ, ihre eigenen Gewänder dem Waſſer
und dem Schmuze der Erde preis, um die der Kinder
zu wahren, und zu helfen, daß die Kleinen leichter
fortkommen könnten. Das braune Mädchen ging mit.
Als ſie in die Nähe des Waldes kamen, ſahen ſie
aus demſelben Männer heraus treten, und über den
Raſen herab eilen. Da dieſelben gegen ſie heran
kamen, erkannten ſie den Vater, der an der Spize
aller ſeiner Knechte und Männer daher kam. Sie
trugen Stangen Strike und trokene Kleider.
Als der Vater näher kam, rief er: „Da ſind ja
die Kinder, Gott ſei gedankt, ſie leben. Mutter, wo
habt ihr ſie denn geborgen?“
„Unter Bündeln dürren Reiſigs,“ antwortete die
Großmutter.
Schwarzköpfchen und Braunköpfchen gingen in
ihrem durch und durch naſſen Anzuge zu ihm hin,
wie ſie es am Morgen vor ihrem Frühmale zu thun
gewohnt waren, und küßten ihm die Hand. Blond¬
köpfchen blieb ſtehen, weil es ſchon begrif, daß das
ſich hier nicht ſchike.
Der Vater nahm die Kinder zu ſich auf, küßte
ſie auf die Wangen, unterſuchte ſie, und ſagte: „Ihr
armen Dinge!“
Das fremde Mädchen ſtand in der Ferne, wie es
ſonſt an dem Rande der Haſelbüſche zu ſtehen gewohnt
war, aufrecht und ſteif.
„Mutter,“ ſagte der Vater, „wir haben geglaubt,
daß ihr in dem Walde hinter einem diken Stamme
oder hinter einem Holzſtoße werdet Sicherheit geſucht
haben. Darum gingen wir gleich nach dem Hagel in
den Wald, wir hatten trokene Kleider in einem Bündel
mit, um die Kinder umzukleiden, und ſuchten auch an
allen Stellen neben dem Wege, und riefen nach euch.
Da wir euch nicht fanden, und da keine Stimme ant¬
wortete, ſandte ich ſchnell einige Knechte um Stangen
und Strike zurük, weil ich dachte, ihr könntet etwa jen¬
ſeits des Baches ſein, der bei ſolchen Anläſſen immer
[137] ſehr anſchwillt, und wir könnten die Werkzeuge zum
Durchdringen des Waſſers brauchen. Da die Knechte
gekommen waren, gingen wir weiter. Ich hatte große
Angſt, aber ich hatte auch große Hoffnung zu euch,
liebe Mutter, daß ihr werdet eine Stelle gefunden
haben, euch alle zu ſichern.“
„Ich werde dir gleich erzählen, wie es gekommen
iſt,“ ſagte die Mutter, „aber laß uns weiter gehen.
Die Kinder können hier nicht umgekleidet werden,
und in den naſſen Kleidern dürfen ſie nicht ſtehen
bleiben. Wenn ſie gehen, wird ihnen wärmer, und
die Näſſe ſchadet nicht.“
„Und auch ihr ſeid durchnäßt, liebe Mutter,“
ſagte der Vater.
„Ich bin ein Weib aus den alten Bergen unſres
Landes,“ antwortete die Großmutter, „mir ſchadet
die Näſſe nicht. Ich bin naß geworden, mein Kind,
da ich kaum einige Jahre zählte, ich bin durchnäßt
geweſen, da ich ein Mädchen war, und wie oft habe
ich Tage lang naſſe Kleider gehabt, da ich ſchaffen
mußte, weil du noch klein warſt, und der Vater ſchon
kränkelte. Aber ſchike ſogleich einen Knecht ab, daß
er laufe, was er kann, und die arme Frau zu
Hauſe beruhige, die um die Kinder in Angſt vergehen
wird.“
Der Vater that es ſogleich. Die Knechte waren
bisher in einem dichten Kreiſe um den Vater die Kin¬
der und die Großmutter geſtanden. Nachdem einer
abgeſchikt worden war, ſezte man ſich in Bewegung.
Der Vater die Kinder und die Großmutter gingen
voran, dann folgten die Knechte. Der Vater führte
Blondköpfchen und Braunköpfchen an der Hand, die
Großmutter Schwarzköpfchen. Sie erzählte ihm nun,
was ſich auf dem Nußberge begeben hatte, und wie ſie
bis zu der Stelle gelangt ſeien, an der er ſie gefunden
habe.
„Aber du biſt ja ſelber ganz naß,“ ſchloß ſie.
„Weil wir während des Wolkenbruches in den
Wald hinauf gegangen ſind,“ antwortete er, „da nur
einmal der Hagel nachgelaſſen hatte.“
Sie kamen nun in den Wald, und hier ſah es
zum Erſchreken aus.
Wie man eine Streu aus Tannenreiſern macht,
wenn in einem Jahre wegen Dürre oder andern Un¬
glüksfällen die Halme nicht gerathen, ſo lagen auf
dem ganzen Boden die Tannenzweige gehäuft, man¬
cher ſtarke Aſt lag mehrere Male getroffen und alſo
gebrochen darunter, an den Stämmen waren Riſſe
der Rinde ſichtbar, daß hie und da das weiße Holz
hervor ſtand, und durch den Wald war ein feiner
[139] Harzgeruch verbreitet, wie er iſt, wenn Nadelholz
geſägt oder geſpalten wird. Die Schloſſen lagen mit
der Tannenſtreu untermiſcht und von ihr bedekt, und
hauchten eine unſägliche Kälte unter den Stämmen
aus, welche im Freien draußen nicht ſo empfunden
worden war. Der Vater und die Knechte mußten den
Weg ſuchen, weil er mit Streu bedekt, und nicht zu
ſehen war.
Aus dem Walde kam man wieder in das Freie,
und ging bis zu den Felſen nieder, von denen aus
man das Haus und die Felder ſehen konnte.
Der Garten war verſchwunden, nur einzelne
Stämme mit verſtümmelten Armen ſtanden empor.
Das Grün war dahin, und die Felder jenſeits des
Gartens ſahen aus, als wären ſie ſchlecht geeggt
worden.
Der Vater ging mit den Kindern in der Sand¬
lehne nieder.
Da ſahen ſie, daß alle Fenſter der Glashäuſer
zerſtört waren, und daß im Innern an der Stelle,
wo die Blumen in Töpfen und Kübeln geſtanden
waren, weiße Haufen von Schloſſen lagen. Die
Fenſter des Hauſes, welche gegen Abend ſchauten,
waren zertrümmert, die Ziegeldächer und die Schin¬
deldächer waren zerſchlagen, daß ſie theils wie ein
[140] Sieb ausſahen, theils große ausgebrochene Stellen
hatten, durch die das innere Bauholz hervor ſah.
Die Verzierungen und der Anwurf der Mauern waren
an der Wetterſeite herunter geſchlagen, daß die Mauern
nicht etwa wie neu, ehe der Anwurf geſchieht, ſon¬
dern wie mit Hämmern ausgeſchlagen da ſtanden.
Als ſie gegen das Ende der Sandlehne kamen,
ſahen ſie eine weiße Geſtalt durch den ehemaligen
Garten eilen, durch naſſes Gras durch Schloſſen
über die herab geſtürzten Baumäſte laufen, und ihnen
an der Eke der Glashäuſer begegnen.
Es war die Mutter.
Sie lief gegen die Kinder und ſah ſie an.
Auf den Wangen der Kinder war durch das Gehen
ein ſchöner roſiger Hauch erblüht, und ihre Haare
lagen wohl naß und zuſammengeklebt aber wunder¬
ſchön um ihr Antliz.
„Vater, Vater,“ ſchrie ſie, „du haſt ſie mir gebracht.“
„Ja, ohne Makel ohne Beſchädigung,“ erwie¬
derte er.
„Mein Gott, mein Gott, du biſt gütig, daß du
ſie mir gegeben haſt. O Clementia, o Emma, o
Sigismund!“ rief die Frau.
Sie rieß die Kinder an ſich, ſie drükte ſie, herzte
ſie, und hatte alle drei in ihren Armen.
[141]
„Mutter, wir haben keine Nüſſe gebracht,“ ſagte
der Knabe.
„Aber dich ſelbſt, du kleines unvernünftiges Kind,“
ſagte die Mutter, „das mir lieber iſt als goldene
Nüſſe.“
„Schauerlich war es und beinahe prächtig,“ ſagte
Emma.
„Laſſe mir das Bild nicht vor die Augen, Vater,
ich bitte dich, — — was hätte werden können!“ ſagte
die Mutter.
„Sie lagen unter Reiſigbündeln,“ antwortete der
Vater, „aber laſſe uns in das Haus gehen, ich werde
dir alles erzählen, gib ihnen trokene Kleider und
etwas zu eſſen, daß ihr Blut wieder in gleichmäſſige
Bewegung komme.“
„So kommt, ihr Kinder,“ ſagte die Mutter.
Sie wendete ſich, um durch den Garten in das
Haus zu gehen. Die Kinder ſchloßen ſich an. Sie
führte alle drei, ſo weit dies möglich iſt, an der
Hand. Dann folgte die Großmutter und der Vater,
dann die Knechte.
Als man zu dem Haupteingange des Hauſes
gekommen war, wandte ſich der Vater zu den Knechten
um, dankte ihnen, entließ ſie, ſagte, ſie ſollten das,
was ſie tragen, an die rechte Stelle thun, ſollen ſich
[142] umkleiden, ſollen alle Arbeit ruhen laſſen, und er
werde ihnen ein Glas Wein zu ihrem Abendeſſen
ſenden.
„Und ich danke euch auch,“ ſagte die Mutter, die
mit den Kindern bei den Worten ihres Gatten vor
dem Hauſe ſtehen geblieben war, und ſich umwendete,
„ich danke euch auch, und werde es euch gewiß ver¬
gelten.“
„Es iſt nicht nöthig,“ ſagte der Altknecht, „wir
haben nichts beſonderes gethan, als was unſere
Schuldigkeit geweſen iſt.“
Die Knechte fingen nun an ſich zu zerſtreuen.
Als ſie auseinander gegangen waren, und man
die Ausſicht auf den Weg hatte, auf dem man her
gekommen war, ſah man das braune Mädchen in
einiger Entfernung im Garten ſtehen.
Man hatte es bei dem erſten Anblike des Vaters
und bei ſeinem Empfange, da man von den Knech¬
ten umſtanden war, nicht beachtet, man hatte es im
Nachhauſegehen, da die Knechte gerade hinter dem
Vater den Kindern und der Großmutter gingen, nicht
geſehen, und hatte geglaubt, daß es nach ſeiner Art
ſchon längſtens umgekehrt ſein werde. Als die Kinder
es ſahen, ließen ſie von den Händen der Mutter los,
hatten große Freude, daß das fremde Kind in ihrem
[143] Garten ſtehe, liefen zu ihm hin, und ſprachen zu
ihm.
Die Mutter aber fragte: „Wer iſt denn das?“
Der Vater ſagte ihr, daß es das braune Mädchen
von dem hohen Nußberge ſei, und erzählte ihr,
was es heute zu dem Schuze der Großmutter und der
Kinder gethan habe.
Dann wendete er ſich zu der Gruppe der Kinder,
und ſagte: „Komme her, du liebes Kind, wir werden
dir ſehr viel Gutes thun.“
Das Mädchen zog ſich bei dieſen Worten langſam
von den Kindern zurük, und da es ein Stükchen ent¬
fernt war, fing es zu laufen an, es lief durch den
Garten zurük, es lief um die Glashäuſer herum, und
in dem nächſten Augenblike ſah man es ſchon in der
Sandlehne empor laufen.
Die Kinder gingen wieder zu ihren Eltern zurük.
„Schade, daß das Kind nicht näher kommt, und
ſo ſcheu iſt,“ ſagte der Vater.
„Ich fange das Ding,“ ſagte ein Knecht.
Alle drei Kinder thaten auf dieſe Äußerung einen
Angſtſchrei der Abwehrung.
„Laſſe das,“ ſagte der Vater, „das Mädchen hat
meiner Mutter und meinen Kindern heute den größten
Dienſt erwieſen. Darf man es überhaupt nicht rauh
[144] behandeln, ſo darf man es jezt um ſo weniger, ſo
lange es ſich nicht ſchädlich erweist. Wir werden es
ſchon auszukundſchaften und zu finden wiſſen, dann
muß es gut behandelt werden, daß es Zutrauen ge¬
winnt, und wir werden die Art ſchon finden, wie wir
das Kind belohnen, und ihm ſein Leben vielleicht
nüzlicher machen können, als es jezt ahnt.
Indeſſen war das Mädchen ſchon wie ein Hirſch
auf die höchſte Höhe gekommen, war noch einen
Augenblik in den Klippen ſichtbar, und war dann
verſchwunden.
Der Tag neigte ſich ſchon gegen den Abend, und
man war nicht ohne Beſorgniß um das Kind, beſon¬
ders, da die Großmutter erzählt hatte, daß es an
dem rechten Arme blute. Aber der Himmel war lich¬
ter, ein ſchweigender Nebel ſtand an demſelben, und
es war kein Regen mehr zu befürchten. Man mußte
der Anſicht des Vaters beipflichten, daß das Mädchen
am beſten aufgehoben ſei, wenn man es ſeinem eigenen
Ermeſſen überlaſſe, daß es ein Waldgeſchöpf ſei, dem
Berge und Hügel nichts anhaben, und daß ihm,
wenn man es ſuchen oder beobachten ließe, ein größe¬
res Ungemach zuſtieße, als ihm ſo bevorſtehen
könne.
Man ging nun in das Haus. Die Mutter hatte
[145] die Kinder in ein an der Morgenſeite des Hauſes
gelegenes gut erhaltenes und gut verwahrtes Zimmer
gebracht, das ſie auf die Nachricht des vorausge¬
ſchikten Knechtes in Anbetracht der eingetretenen
Kälte ſogar ſchwach hatte heizen laſſen. Dort wurden
die Kinder entkleidet, auf wenige Augenblike in ein
warmes Bad gethan und hierauf mit wohlgetrokneten
und durchwärmten Kleidern angethan. Weil ſie durch
die vorangegangene Begebenheit aufgeregt waren,
ſo gingen ſie troz der Müdigkeit ſelbſt bei Kerzenſcheine
und, als ſie das Abendmahl eingenommen hatten,
noch nicht zu Bette; und als die Großmutter ſich
umgekleidet hatte, und wieder zu ihnen herein kam,
ſaßen ſie um den Tisch, und knakten mit ihren drei
Nußknakern die Nüſſe auf, die ſie noch vorräthig
hatten, und die ihnen die Großmutter gegeben hatte.
Sie erzählten auch von dem Gewitter, und erzählten
ſo, daß man ſah, daß ſie auch nicht die entfernteſte
Ahnung von der Gefahr hatten, in der ſie geſchwebt
waren. Sie nahmen die Reiſigbündel als etwas an,
das ſich von ſelber verſtehe, und das ſo da ſei,
wie im Winter das warme Haus, daß ſie nicht
erfrieren.
Als man die Großmutter fragte, ob ſie das Ge¬
witter nicht hätte kommen geſehen, antwortete ſie:
Stifter, Jugendſchriften. II. 10[146] „Ich habe die Wolken nicht für ein Gewitter gehalten,
und da es zu regnen anfing, war es zu ſpät, den Wald
zu erreichen.“
Auf die Frage, ob ſie die Wolken als Hagelwol¬
ken erkannt habe, antwortete ſie: „Ich habe wohl
eine kleine Vermuthung gehabt, daß aus den Wolken
Hagel kommen könnte; aber ich habe eine ſo dichte
Haſelſtaude ausgeſucht, daß ein gewöhnlicher
Hagel nicht durch gedrungen wäre. Nur das
braune Mädchen hat die Reiſigbündel herbei ge¬
tragen.“
„Ich will den Anblik und das Bild deſſen, was
ſich hätte zutragen können, wenn die Bündel früher
nach Hauſe geführt worden wären, in den Hinter¬
grund und in die Ferne rüken,“ ſagte der Vater zu
der Mutter, „da die Kinder den hohen Nußberg ſo
lieben, da die Großmutter ſie gerne dahin begleitet,
und da es hart wäre, ihnen dieſe Freude zu rauben,
ſo werde ich ein Stükchen Landes dort kaufen, und
werde auf demſelben ein winziges kleines Häuschen
zum Schuze bauen. Wenn es auch faſt gewiß iſt, daß
die Kinder ſchon erwachſene Perſonen, ja vielleicht
ſchon Greiſe ſein werden, ehe ſich ein Hagelwetter
wiederholt, wie das heutige war, ja wenn auch in
mehreren Menſchenaltern, wie zu vermuthen iſt, kein
[147] ſolches mehr kommen wird, ſo wie in den vergange¬
nen Menſchenaltern keines verzeichnet iſt, das ſo
entſezlich geweſen wäre, ſo würden in deinem und
meinem Gemüthe doch immer Hagelwolken herauf
ſteigen, ſo oft die Kinder auf dem hohen Nußberge
wären. Bei einer Überraſchung finden ſie in dem
Häuschen Schuz, und wenn ſie auf dem Heimwege ein
Gewitter ſehen, ſo gibt auch der Wald die nothdürf¬
tige Unterkunft, und wir dürfen beruhigt ſein, wenn
ſie auf jenem Wege gehen, beſonders, wenn man
fleißig auf die Wolken, und den Himmel blikt.“
„Es iſt häufig geblikt worden,“ erwiederte die
Großmutter, „aber wenn Gott zur Rettung kleiner
Engel ein ſichtbares Wunder thun will, daß wir uns
daran erbauen, ſo hilft alle menſchliche Vorſicht nichts.
Ich habe in ſiebenzig Jahren alle Wolken geſehen, die
in dieſem Lande ſind; aber wenn es heute nicht wie
ein Nebel ausgeſehen hat, der in dem Herbſte blau
auf allen fernen Wäldern liegt, an den Rändern weiß
funkelt, gegen Abend in die Thäler und auf das
Land herunter ſteigt, und Morgens doch wieder weg
geht, und die helle Sonne ſcheinen läßt: ſo will ich
eine ſehr harte Strafe hier und dort erdulden. Und
ſind in dieſer Zeit des Jahres ſchon öfter Gewitter
geweſen. Ein altes Wort ſagt: Um das Feſt der
10*[148] Geburt der heiligen Jungfrau ziehen die Wetter heim,
und heute iſt es ſechs Wochen nach jenem Feſte. Dein
alter Vater wird ſich in der Ewigkeit wundern, wenn
er es weiß, oder wenn ich komme, und es ihm ſage,
daß nach Gallus ein ſo großes außerordentliches
Gewitter geweſen ſei, und daß es die Bäume und
die Häuſer zerſchlagen habe. Es iſt ein Wunder,
wie Gott in dem Haupte des braunen wilden Kindes
die Gedanken wekte, daß es die Wolken ſah, und daß
es die Bündel herbei trug.“
„Ihr habt Recht, theure Mutter,“ antwortete der
Vater, „es war das nicht zu erwarten, was gekommen
iſt. Kein Menſch konnte errathen, was geſchehen
würde, und es iſt ein Glük, daß ſich alles ſo gewen¬
det hat. Wir waren in dem Garten, die Knechte
arbeiteten in den nächſten Gemarken, als es donnerte.
Da die erſten Hagelkörner fielen, konnten die Knechte
nur verwundert in die Scheune ſpringen und wir in
das Haus, und als es mit Getoſe nieder ging, die
Fenſter die Mauern und das Dach zerſchlagen wurde,
fiel die Mutter ohnmächtig auf den Teppich des
Fußbodens.“
„Der Menſch iſt eine Blume,“ ſagte die Gro߬
mutter, „zuerſt iſt er ein Veilchen dann eine Roſe
dann eine Nelke, bis er eine Zeitloſe wird. Und wer
[149] eine Zeitloſe werden ſoll, der kann nicht als ein
Veilchen zu Grunde gehen, darum war die dunkle
Blume da, daß die lichten leben.“
„Nur die Annahme, daß es faſt gewiß ſei, daß
ihr alle den dichten Wald als Schuz geſucht habt,
und hinter einem diken Stamme desſelben geborgen
ſeid,“ ſagte der Vater, „konnte der Mutter und mir
Troſt geben, und die Verzweiflung abhalten.“
„Es wäre die dichte Haſelſtaude hinreichend ge¬
weſen,“ antwortete die Mutter, „aber weil ſie nicht
hinreichend war, waren die Bündel da, und es war
die Hand ſchon beſtimmt geweſen, welche ſie einſt
ſchneiden mußte.“
„Als wir euch in dem Walde nicht errufen konnten,“
ſagte der Vater, „da faßte auch mich das Entſezen.“
„Ich ſage dir ja,“ erwiederte die Mutter, „daß die
Hand ſchon beſtimmt war die Bündel zu tragen, ſo
wie einmal der Fuß ſchon beſtimmt war, daß er durch
den Wald zwiſchen Jericho und Jeruſalem gehe, damit
der verwundete und geſchlagene Mann, der dort lag,
gepflegt und geheilt werde.“
„Amen, theure Schwiegermutter,“ ſagte die Frau,
„das iſt ein troſtreicher herzlindernder Glaube.“
„Gib dich ihm hin, und du wirſt dein Leben lang
gut fahren,“ antwortete die alte Frau.
[150]
Die Kinder waren unterdeſſen in ihrem Geplauder
fortgefahren, ſie ſagten allerlei zu den Erwachſenen
und unter ſich, und verſtanden nichts von dem ernſt¬
haften Geſpräche, das ihretwillen ſtattgefunden hatte.
Als es ſpäter geworden war, als doch ſchon der
Sand in die ſchönen Äuglein zu kommen anfing,
wurden ſie zu Bette gebracht. Blondköpfchen hatte
ſein Schlafgemach neben dem der Eltern, Braunköpf¬
chen hatte es auf der entgegengeſezten Seite, und
Schwarzköpfchen hatte ſich noch von der Großmutter
nicht trennen können; es ſchlief in dem Gemache
derſelben, und entſchlummerte, wenn das Auge der
alten Frau ſein Bett behütete, und erwachte, wenn
dasſelbe Auge auf ſeine Lider ſchaute, und ihr Öffnen
erwartete. Die zwei erſten Kinder wurden in ihre
Schlafkämmerlein geführt, Schwarzköpfchen wurde
von der Großmutter auf den Arm genommen, und
nachdem man gute Nacht geſagt hatte, über den Gang
in die gemeinſchaftliche Schlafſtube getragen. Was
die beiden Eltern vor dem Bilde des Gekreuzigten
gebethet haben, weiß niemand, weil es nur ein ehe¬
liches Geheimniß iſt, wenn ſie ihre Freude oder ihren
Schmerz vor Gott ausſchütten.
Am andern Morgen war ein kühler Tag. Wol¬
kenhaufen zogen beſtändig von der Gegend des Son¬
[151] nenunterganges nach der des Sonnenaufgangs, und
wenn man oft meinte, die Sonne werde jezt durch¬
brechen, die Wolken ſich zertheilen, und dem blauen
Himmel Plaz machen, ſo entſtanden wieder neue,
dekten wieder die früher lichteren Stellen, und zogen
wieder gegen Morgen. Es regnete aber nicht. Die
ungeheuern Mengen von Schloſſen, welche auf die
Gegend nieder gefallen waren, verbrauchten Wärme,
die Kälte verdichtete daher beſtändig die in der Luft
befindlichen Dünſte und erzeugte die unaufhörlichen
Wolken.
Das erſte, was der Vater am Morgen vornehmen
ließ, war, daß er das Innere der Glashäuſer reinigen
ließ. Die Schloſſen wurden mit Schaufeln auf Kar¬
ren gethan, und in eine Grube gefahren, aus der
einſt Steine gebrochen worden waren, und die der
Vater wieder dadurch ausfüllen wollte, daß er alle
feſten Abfälle des Hauſes wie Geſchirrtrümmer oder
des Feldes wie ausgeleſene Steine in dieſelbe werfen
ließ. Der Hagel wurde dorthin geführt, weil nirgends
ein paſſender Ort für ihn war. Die Gewächſe, von
denen man hoffen konnte, daß ſie noch zu retten ſein
könnten, wurden ausgeleſen, die übrigen und die
Scherben der Töpfe wurden in obbeſagte Grube ge¬
bracht. Auch wurden Knechte auf den Boden des
[152] Hauſes geſchikt, um den Schaden dort zu unterſuchen,
und andere mußten in Verbindung mit Mägden das
Reiſig von den zerſchlagenen Obſtbäumen aus dem
Garten wegräumen. Ein Bote wurde nach dem Glas¬
arbeiter geſchikt. Der Vater beſah die Bäume, ob
manchen aus ihnen noch zu helfen ſei. Wenn dieſes
wäre, ſo müßte bald dazu geſchritten werden, weil
ſonſt der Herbſt zu weit vorrükte, und die Kälte die
Wiederbelebungskraft der Bäume nicht wirkſam wer¬
den ließe.
Die Kinder gingen in der Kühle mit der Gro߬
mutter in die Luft. Die ungeheuer vielen kleinen
Glastäfelchen, die an der Abendſeite des Hauſes
lagen, waren wie die kleinen flimmernden Täfelchen,
welche ſie gerne aus den Steinen der Sandlehne und
aus anderen auslösten. Die Bäume des Gartens
erkannten ſie aus den Stumpfen nicht, und konnten
ſich nicht erinnern, was der Stamm einſt getragen
habe. Im Freien ſahen ſie, wie Menſchen damit be¬
ſchäftigt waren, die noch immer hie und da liegenden
Schloſſenhaufen von den Vertiefungen der Felder
weg zu ſchaffen. An dem Wieſenbache, der zurük
getreten war, deſſen Waſſer ſich aber noch immer
nicht geklärt hatte, ſahen ſie, daß die Weidenruthen
zerſchlagen und weggeſchwemmt waren, daß ſich
[153] Schlamm und Steine auf den Wieſenrändern befan¬
den, und daß todte Fiſche da lagen, die das Weiße
des Bauches empor zeigten.
Am Tage zuvor war es wie Sommer geweſen,
jezt war tiefer Herbſt eingetreten.
Nachmittags ging der Vater zu dem eine halbe
Stunde Wegs entfernten Pfarrer hinüber, deſſen
Pfarrhaus neben der kleinen Pfarrkirche war, und
fragte ihn wegen des braunen Mädchens.
Der Pfarrer wußte nichts. Es war kein Ding
dieſer Art in die Pfarr- oder Schulbücher eingetragen,
und war auch nie unter den Pfarrkindern zu ſehen
geweſen.
Der Vater ging nun zu dem Jäger, der oft durch
Felder Wälder und Fluren ſtrich, und alle Dinge
derſelben kennen mußte.
Allein auch dieſer wußte nichts.
Es ſeien Banden geweſen, ſagte er, aber ſie ſeien
immer in den höheren Wäldern, die gegen Baiern
hinüber ziehen, geweſen, und hätten ſich längs des
Saumes aufgehalten, an dem ſie durch die Länder
gewandelt ſind. Sein Nachbar aus den jenſeitigen
Gegenden wiſſe auch nichts.
Der Vater kehrte unverrichteter Dinge wieder heim.
Die folgenden Tage waren eben ſo kalt und un¬
[154] freundlich wie der vergangene. Immer kamen Wolken,
ſelten waren Sonnenblike, und der Wind wehte zwar
nicht ſtark, aber rauh. Auf den Dächern waren die
Arbeiter, und hämmerten die Latten und Schindeln
feſt, oder ſezten die Ziegel ein. Die Glasarbeiter,
die Anfangs durch die viele Arbeit verhindert waren,
kamen endlich doch, und es wurde ihnen zur Herſtel¬
lung aller Fenſter des Hauſes und der Gewächshäuser
der große Saal eingeräumt. Die Maurer arbeiteten
an der Außenſeite des Hauſes, damit noch alles in
vollkommenen Stand geſezt würde, ehe die kalte Zeit
käme, und die meiſten Hausbewohner fort zögen.
Der Vater war mit Beihilfe von Arbeitern beſchäf¬
tigt, die verwundeten Bäume zu verbinden, oder die
Stämme zu überſtreichen. Die Mägde mußten die
Pläze vor dem Hauſe reinigen.
Endlich, da lange die Nachwehen des Gewitters
angehalten hatten, kamen noch tief im Herbſte ſchö¬
nere Tage, die im Verhältniſſe zur Jahreszeit ſehr
warm genannt werden konnten.
Der Vater munterte die Kinder ſelber auf, auf
den hohen Nußberg zu gehen. Er ſagte, er werde
mitgehen, um etwa das braune Mädchen zu ſehen.
Er möchte ſich ihm gerne dankbar beweiſen.
Die Kinder gingen mit der Großmutter wie
[155] immer auf den hohen Nußberg. Der Vater be¬
gleitete ſie.
Sie gingen durch den Saum der Stumpfen hinein,
die traurig da ſtanden, und die wohl den ganzen Win¬
ter ſo bleiben würden.
Das braune Mädchen ſahen ſie nicht.
Sie gingen bis zu dem Gipfel, ſie gingen zu der
alten diken Haſelwurzel, ſie gingen endlich zur Stelle,
wo ſie Schuz vor dem Hagel gefunden hatten. Die
Reiſigbündel lagen noch da. Der Vater ſchlug vor,
die Bündel mit vereinten Kräften auf den Plaz zurük
zu tragen, von dem ſie genommen worden waren.
Er fand den Plaz nach einigem Suchen, und man
ſchaffte die Bündel wieder zu denen, von denen ſie
genommen worden waren. Blondköpfchen konnte ein
ganzes tragen, und Schwarzköpfchen und Braunköpf¬
chen trugen eins mit einander, bei dem auch die
Großmutter half. Als alles geſchehen war, blieb
man noch lange auf dem Berge, man ging zu dieſer
und jener Stelle, und wartete. Aber das braune
Mädchen erſchien nicht. Da ging man nach Hauſe.
Der Vater ging ein zweites Mal mit den Kindern
auf den hohen Nußberg, er zeigte ihnen die Stelle,
wo er das Schuzhäuschen bauen wollte und wartete;
aber das braune Mädchen kam auch dieſes Mal nicht.
[156]
Und ſo ging er mehrere Male; aber das braune
Mädchen war nicht zu ſehen.
Da gingen die Kinder allein auf den hohen Nu߬
berg, und die Großmutter ging mit ihnen.
Die Sonne ſchien warm, der Himmel war blau,
das Haidebächlein war klar, die grauen flinken Fiſch¬
lein ſpielten darin, und da die Kinder zu der Grenze
des Geheges kamen, lief das braune Mädchen durch
die laub- und zweigeloſen Stumpfen der Haſeln
Birken und Eſchen daher, und geſellte ſich zu den
Kindern. Alle ſchauten ſich mit freudigen Augen an,
und da die Kinder hingingen und den Arm des Mäd¬
chens und ſeine Bänder berührten, da nahm es
Blondköpfchens Haare in die Hände, und drükte ſie
feſt, und nahm dann Schwarzköpfchens Loken, und
hielt ſie. Braunköpfchen, das mehr Muth bekommen
hatte, weil es von dem braunen Mädchen getragen
worden war, nahm deſſen Finger, und hielt ihn, und
das braune Mädchen ließ es geſchehen, es nahm
deſſen Hand, und es ließ es auch geſchehen. Es ging
mit ihnen auf den hohen Nußberg empor, und ſie
ſchauten ins Weite und Breite, und die Gro߬
mutter erzählte. Es redete Worte, und die Kinder
verſtanden ſie. Sie gaben ihm Kuchen Brot, und
was ſie ſonſt mit gebracht hatten. Das Mädchen
[157] hatte ihnen nichts zu geben, und hielt die leeren
Hände hin.
Das braune Mädchen hatte denſelben Anzug, den es
immer gehabt hatte, aber er war in jenem Gewitter
ſehr verdorben worden, er war unrein und verknittert.
Die Großmutter erzählte ihnen von den Bäumen,
die von dem Berge herab gefallen waren, und doch
nicht aufgehört hatten zu leben — dann erzählte ſie
ihnen von den Königen mit den drei Seſſeln —
dann von dem Weizen, der nicht hatte blühen können
— dann ſprach ſie von den fernen Ländern, deren
hohe Gebirge man gar nicht mehr ſehen könne— und
endlich von den unbeſchlagenen Wägen und Akerwerk¬
zeugen, mit denen man vor Zeiten die Felder beſtellt
hatte.
Hierauf traten ſie den Rükweg nach Hauſe an.
Die Sonne ſchien auch im Herabgehen warm,
der Himmel war blau, die Schatten waren lang,
weil es ſchon tief in den Herbſt ging, die Gräſer
wurden gelb, und die grauen flinken Fiſchlein in dem
klaren Bächlein der Mulde ſpielten ſo luſtig wie im
Sommer.
Das braune Mädchen war mit ihnen gegangen.
Es war mit ihnen den hohen Nußberg herab gegan¬
gen, es war mit ihnen über das Bächlein der Mulde
[158] gegangen, und ging mit ihnen über den grauen Raſen
durch den Wald durch die Klippen und über die Sand¬
lehne herab. Und da man zu den Glashäuſern des
Gartens gekommen war, da ſagte es anmuthige
Worte, und lief dann wieder über die Sandlehne
empor, und ward nicht mehr geſehen.
Die Kinder erzählten den Eltern, daß das braune
Mädchen nun da geweſen, und daß es mit ihnen
gegangen ſei.
Sie gingen nun, ſo oft es möglich war, auf den
hohen Nußberg, das fremde Mädchen kam immer,
und ſie ſpielten und koſ’ten. Sie brachten dem braunen
Mädchen ſchöne Sachen. Das braune Mädchen
brachte ihnen auch bunte Steine, es brachte ihnen
verſpätete Brombeeren, es trug in ſeinem Wamſe
Haſelnüſſe herbei, die es im Sommer geſammelt
hatte, oder brachte ihnen die geflekte Feder eines
Geiers oder die ſchwarze eines Raben.
Wenn die Kinder nach Hauſe gingen, ſo ging
das braune Mädchen immer mit ihnen bis zu den
Glashäuſern, man hielt ſich bei den Händen, und
ſcherzte. Bei den Glashäuſern liebkoſ’ten ſie ſich, und
das fremde Mädchen lief dann immer über die Sand¬
lehne zurük.
Wenn es Nacht war, und wenn die Kinder an
[159] dem Tiſche mit den Lichtern ſaſſen, da ſprachen ſie von
dem fremden Mädchen, und ſtritten, wer es lieber habe.
Die Großmutter erzählte den Eltern von dem
braunen Mädchen, und Vater und Mutter achteten
auf das, was ſie ſagte, und merkten es ſich in ihrem
Sinne gar wohl.
Es wurde immer ſpäter und ſpäter im Jahre.
Die Fäden, die auf dem Raſen und zwiſchen dem
Wachholder geſponnen hatten, waren verſchwunden,
die Beeren der Moore, die in dem Sumpfgraſe oder
neben der ſchwarzen Erde ſo roth und weiß geglänzt
hatten, waren vergangen, die ſpäte Preißelbeere, die
unter dem Schuze eines Steines oder eines Baumes
von dem Hagel verſchont worden war, war dahin,
ihr Kraut und das kräftige der Heidelbeere war ein
dürres Stengelbüſchlein, der Wald wurde ſehr durch¬
ſichtig, die Berge waren roth, an den Morgen lag
der weiße Reif auf der Gegend, oder es war der
lange Nebel da, und die Sonne, die ſpät kam, konnte
ihn kaum zerſtreuen, die Hügelgipfel etwas bliken
laſſen, und dann untergehen; oder es kamen die
froſtigen Wolken, ſchütteten den Regen in kleinen
Tröpflein herunter, und wenn ſie vergingen, war der
hohe ferne Wald weiß beſtäubt.
Da wurde eines Tages der große Wagen heraus
[160] geſchoben, er wurde gepakt, alles Nöthige hinein ge¬
than, und in Mäntel und warme Kleider gehüllt ſtiegen
der Vater und die Mutter ein, es ſtiegen die Kinder
ein, und fuhren davon.
Die Kinder weinten, als ob ihnen ein tiefer
Schmerz und ein tiefer Kummer angethan worden
wäre.
Erſt als ſie ſchon weit gefahren waren, als ſie
ſchon durch Dörfer Marktfleken und Städte gekommen
waren, und Wälder und Flüſſe geſehen hatten, mil¬
derte ſich die Trauer, ſie ſprachen und redeten unter
einander, bis ſie in die große Stadt einfuhren, die
hohen Häuſer mit den glänzenden Fenſtern da ſtan¬
den, dicht gedrängt die ſchön gekleideten Menſchen
gingen, prächtige Wägen fuhren, und vor den Ver¬
kaufsläden die ſchönen Waaren und Kleinodien unter
Glastafeln funkelten.
Da die weißen Hüllen über die Berge und Thäler
vergangen waren, da der Himmel wieder öfter blau
lächelte, als er trüb verhüllt war, da die Sonne ſchon
höher ſtieg, und kräftiger nieder leuchtete, kam der
Wagen wieder gegen den Hof in dem Hügellande
gefahren, und Vater und Mutter und die Kinder
ſtiegen aus.
Es war noch kein Gräslein, es war kein Blätt¬
[161] chen, die Felder waren nakt, nur die Winterſaaten,
die ſich ſchon regten, legten grüne Tafeln auf die
braune Erde, und an manchem Morgen war es noch
ein wenig gefroren, daß der Weg zähe war, und an
dem Rande vom Wäſſerlein Eisſpizen glänzten: aber
die Sonne ſchien ſehr freundlich, ſie ſiegte alle Tage
mehr, und füllte alle Tage ſchöner die Zimmer der
Kinder und der Großmutter auf dem ländlichen Hofe
mit Licht und mit Wärme.
Als man die Kleider der Stadt eingepakt hatte,
als man die Kleider des Landes aus den Käſten des
Hauſes hervor gethan hatte, fand ſich, daß manches
geändert werden mußte. Die Säume der Kleider der
Mädchen mußten aufgelaſſen werden, daß die Kleider
tiefer reichten, die Jaken von Braunköpfchen mußten
erweitert werden, und die Strohhütchen von Blond¬
köpfchen von Schwarzköpfchen und von Braunköpfchen
mußten weggethan und es mußte um neue geſchrieben
werden.
Da die Sonne ſchon ſehr warm ſchien, da man
ſchon begann, die Sommerfrucht in die geeggte Erde
zu ſäen, da es ſchon troken war, und in der Früh¬
lingsſonne die Flimmer der Steine und Felder funkel¬
ten, begehrten die Kinder auf den hohen Nußberg.
Die Großmutter legte ihnen wärmere Kleider an,
Stifter, Jugendſchriften, II. 11[162] als ſie ſonſt im Sommer hatten, that ſelbſt wärmere
Gewänder an, und führte ſie auf den hohen Nußberg.
Sie hatten ihre Haſelruthen mit den Haken nicht
mit, wie ſie dieſelben überhaupt nie mit nahmen, als
wenn die Nüſſe reif waren. Sie trugen nur ihre
Körbchen am Arme. Sie gingen über die Sandlehne
empor, ſie gingen durch die Felſen und den Wald.
Als ſie über die graue Haide gingen, lief ihnen das
braune Mädchen von weitem entgegen. Sie freuten
ſich, ſie jubelten, ſie liebkoſ’ten ſich, und Braunköpf¬
chen ſchlang ſeine zwei Ärmlein um den Naken des
braunen Mädchens, und hielt ihn feſt.
Aber nicht blos an den Kindern war, während ſie
abweſend geweſen waren, eine Veränderung vorge¬
gangen, ſondern auch das braune Mädchen hatte ſich
verändert. So wie man bei ihnen die Säume der
Kleider hatte auflaſſen müſſen, daß ſie ihnen wieder
recht wären, ſo waren dem braunen Mädchen ſeine
grünen Höschen zu kurz geworden; es war größer
und ſchlanker geworden, und ließ ſeine nakten Arme
dicht an ſeinem Körper hinab hängen. Die vielen
ſchwarzen Haare, die ihm immer abgeſchoren waren,
trug es jezt nicht mehr ſo, ſondern es hatte auch Loken
bis auf den Naken hinab, wie ſie die Kinder bisher
gehabt hatten.
[163]
Sie gingen auf den Nußberg, ſie gingen weit
und breit herum, ſie ſahen alle Stellen, und ſahen
auf die Berge des Landes hinaus.
Auf der Erde war noch kein neues Gras, aber ſie
war troken; an den zerſchlagenen Äſten war kein Laub¬
lein, aber die reine Luft war um ſie, und die Sonne
ſchien hold auf ſie hernieder.
Als die Kinder nach Hauſe gingen, ging das
fremde Mädchen bis zu den Glashäuſern mit ihnen,
und lief dann zurük.
Die Kinder kamen nun wie immer oft auf den
hohen Nußberg, und das fremde Mädchen erſchien
häufig.
Nach und nach lokte die Sonne die grüne Farbe
auf die Erde. Die Wieſen wurden grün, und die
Unzahl der gelben weißen rothen blauen Blümlein
miſchte ſich darunter. Die Felder wurden grün, weil
die junge Saat hervor ſproßte, und die hellgrüne
Farbe zeigte, und weil die Winterſaat weiter wuchs,
und die dunkelgrüne beigeſellte. Der Vater hatte viele
Pflanzen und Gewächſe kommen laſſen, und ſie ſtan¬
den jezt neben den noch erhaltenen in den Glashäuſern,
und es war, als ob nie ein Schaden angerichtet
worden wäre. An den verſtümmelten Bäumen wuchſen
zahlreiche kleine Zweige hervor, die ſo ſchön waren,
11 *[164] und ſo lebhaft wuchſen, als wäre das Abſchlagen der
Zweige kein Unglük geweſen, ſondern als hätte ein
weiſer Gärtner dieſelben beſchnitten, daß ſie nur deſto
beſſer empor trieben. An den Zweiglein, die der
Vater vielen abgeſchnittenen Äſten eingepfropft, und
die er mit Pflaſtern verbunden hatte, prangten zwei
oder vier große Blätter. Im Walde im Geſtrippe
oberhalb der Sandlehne ja ſogar auf der grauen
Haidemulde war alles thätig. Die Zweige ſproßten,
als müßten ſie eine Verſäumniß einbringen, ſie
drängten ſich, und ſtrebten empor. Endlich, da die
Erde weithin grün war, da die Zweige ſich verlängert
hatten, kamen auch Blüthen, ſie kamen ſpäter, und
waren weniger als in andern Jahren, aber ſie waren
da, und waren faſt noch zutraulicher und lieblicher
als in früheren Zeiten.
Einmal in der Fülle des Frühlings, da alles blühte
und duftete, und ſich das menſchliche Herz erfreute,
da die Kinder von dem hohen Nußberge nach Hauſe
gingen, das braune Mädchen ſie begleitete, und man
bis zu den Glashäuſern gekommen war, hatte Blond¬
köpfchen mit ernſten Augen die Hand des braunen Mäd¬
chens gefaßt. Braunköpfchen hatte es am Arme ge¬
nommen. Blondköpfchen ſah dem braunen Mädchen in
das Angeſicht, und ſagte: „Komme mit, komme mit.“
[165] Braunköpfchen ſagte auch: „Komme mit, komme
mit.“
Das braune Mädchen ſah die Kinder an, und
that einen Schritt vorwärts.
Braunköpfchen war außerordentlich erfreut, es
ging einen Schritt voraus, und ſagte lokend: „Komme
mit, komme mit.“
Das braune Mädchen ging zögernd nach. Es
ging von den Glashäuſern gegen die Bäume vor¬
wärts, es ging auf dem Kieswege durch das Grün
des Gartens, es ging über den Sandplaz vor dem
Hauſe, es ging über die Treppe empor, und ſtand
auf dem Teppiche des Beſuchzimmers.
Es war in dem Zimmer niemand zugegen. Die
Großmutter ging gleich, da man die Treppe empor
gekommen war, in ein anderes Gemach.
Das fremde Mädchen ſtand, und öffnete ſeine
großen Augen noch mehr, und ſchaute auf den
Spiegel an der Wand auf die Uhr auf den
Schrein, auf welchem ſchöne Gefäße ſtanden, auf Tiſche
und Stühle und Seſſel und auf den wunderbaren
Teppich.
Die Kinder liefen und brachten ſüſſe Milch in
einer Schale, und brachten feines Weizenbrod und
ſilberne Löfflein. Das fremde Kind trank die Milch
[166] aus der Schale, nahm ein Stükchen Brot in die
Hand, biß davon ab, und verzehrte es ſo.
Die Kinder brachten ihre Spielzeuge, und zeigten
ſie. Das braune Kind wußte damit nichts anzufan¬
gen. Die Kinder brachten auch ihre Nußknaker, ihre
ſchöneren Kleider, und ihre Bänder.
Endlich kam auch die Mutter in einem feinen
weißen Anzuge, und trug gezukerte eingemachte
Früchte auf einer Taſſe, und both dem fremden Mäd¬
chen davon an.
Das braune Mädchen wich zurük, bis es mit dem
Rüken aufrecht an der Wand ſtand. Es rührte keine
Hand, es blikte die Früchte an, und ließ die Arme
an dem Körper herab hängen.
Da wendete ſich die Mutter wieder um, und ging
ohne weiter ein Wort zu reden aus dem Zimmer.
Die Kinder traten zu dem fremden Mädchen,
liebkoſ’ten es, es gab die Liebkoſungen zurük, und
nachdem dies ein Weilchen gedauert hatte, nachdem
man geredet, nachdem das fremde Kind geantwortet
hatte, und da es die Augen immer auf die Thür ge¬
heftet hielt, liefen alle zur Thür hinaus, liefen über
die Treppe hinab, liefen durch den Garten, und hin¬
ter den Glashäuſern lief das fremde Mädchen dann
allein über die Sandlehne empor.
[167]
So wie es an dieſem Tage geweſen war, war es
wieder einmal an einem andern. Da die Kinder auf
dem Nußberge geweſen waren, da das fremde Mäd¬
chen zu ihnen gekommen war, da man nach Hauſe
gegangen, und bei den Glashäuſern angekommen
war, hielt Braunköpfchen das fremde Mädchen an
dem Arme, zog es nach ſich, und bath, daß es mit¬
gehen möchte. Das braune Mädchen ließ ſich ziehen,
es folgte dem Knaben willig, man ging durch den
Garten, man ging über die Treppen, und man ging
dieſes Mal in das Spielzimmer der Kinder. Dort
ließ ſich das braune Mädchen gar bewegen, ſich nieder
zu ſezen. Es ſaß an der Seite des Knaben, es ließ
ſich von ihm Kuchen gedörrte Pflaumen Milch Butter
und Honig geben. Als man gegeſſen hatte, als man
einen Kreiſel gezeigt, als man einen Federball verſucht,
und ein Bilderbuch aufgeſchlagen hatte, ging man
wieder fort, die Kinder begleiteten das braune Mäd¬
chen bis an die Glashäuſer, küßten und herzten es
dort wie immer, nahmen Abſchied, und ließen es
über die Sandlehne empor gehen.
Indeſſen war der Sommer vorgerükt. Der hohe
Nußberg hatte ſich über und über mit grünen Zweigen
bedekt. Wie es in dem Garten des Vaters geweſen
war, ſo geſchah es auch hier. Die zerſchlagenen
[168] Stämme der Haſeln der Birken der Eſchen der Erlen
ſuchten durch ihren ſteigenden Saft die verlorenen
Äſte zu erſezen, und trieben Zweige, die ſchnell wuch¬
ſen, dik wurden, und Blätter hatten, deren Größe
und dunkle Farbe nie vorher auf dem Nußberge geſehen
worden war. Die wenigen Äſte, welche von früher
übrig geblieben waren, bedekten ſich mit Nüſſen, die
in diken Knöpfen und enge geſchaart an den Zweigen
ſaßen, als müßten dieſe die Pflicht der verloren
gegangenen Äſte übernehmen, und ſo viel Nüſſe, als
ſie nur immer könnten, auf die Welt bringen. Dieſel¬
ben waren noch grünlich und weißlich, fingen aber be¬
reits an, ſich mit einem ſanften rothen Hauche zu färben.
In dieſer Zeit war auch das Schuzhäuschen des
Vaters fertig geworden. Er hatte ein Stükchen Lan¬
des gekauft, das an der Morgenſeite des Berges
gelegen war, woher am ſeltenſten ein Gewitter zu
kommen pflegte. Er hatte das Häuschen ſo gebaut,
daß es gegen Mittag und Abend ein Fenſter mit
eiſernen Fenſterläden hatte, und daß gegen Morgen
die Thür war. Im Innern ſtand an der Mitternacht¬
ſeite ein Bänklein an der Wand, davor ein Tiſchlein
war. Es befanden ſich noch Stühle und Schemel in
dem Häuschen.
Die Kinder waren öfter, wenn ſie auf dem Nu߬
[169] berge waren, zu der Stelle gegangen, an der man
arbeitete, und hatten zugeſchaut. Auch das braune
Mädchen ſtand dabei, und betrachtete, was da wurde.
Es war von außen nicht angeſtrichen oder ange¬
worfen worden, ſondern ſah ſo aus, wie die Steine
oder die Steinhaufen ausſehen, die auf dem Nußberge
liegen. Das Dach war mit dunkelbrauner Farbe be¬
malt. Im Innern hatte es der Vater ſehr ſchön grün
machen, und hatte in jeder Eke ein Sträußlein
von wilden Roſen von Kamillen und Cyanen malen
laſſen. Da es fertig war, begleitete einmal der Vater
die Kinder auf den hohen Nußberg, um das Häuschen
einzuweihen. Sie traten hinein. Die Kinder waren
außerordentlich erfreut, als ſie das nette Zimmerchen
und alle die netten Dinge ſahen. Die Großmutter
hatte in ihrer Taſche eine Flaſche mit Milch Kuchen
in einer Doſe Butter und andere Dinge nebſt dem
Tiſchgeräthe mit gebracht. Sie dekte wie das wohl¬
thätige Weiblein den Knappen Rolands ein weißes
Tuch über das Tiſchlein, das ſo glänzte wie die
Blüthen des Kirſchbaumes, ſie legte an jedem Size
ein Tellerchen auf das Tiſchlein, ſie that auf das
Tellerchen ebenfalls ein weißes Tüchlein, und legte
ein Löffelchen Meſſerlein und Gabel zu jedem Teller.
Dann that ſie aus der Flaſche Milch in das Milch¬
[170] töpflein, und legte einen ſilbernen Schöpfer dazu, dann
that ſie den reinen Honig auf die weißen Taſſen, daß
er wie Gold in denſelben ſtand, dann legte ſie Butter
auf einen Teller, und gab zu jedem Size ein feines
weißes Brot. Die Kinder aſſen nun in ihrem Hauſe,
und der Vater war ihr Gaſt. Da gegeſſen war, wur¬
den die Reſte wieder weggeräumt und eingepakt. Die
Kinder freuten ſich über dieſes Vesperbrot ſehr. Das
braune Mädchen war an dieſem Tage nicht gekommen,
und der Vater wunderte ſich, warum denn das Mäd¬
chen immer nicht komme, wenn er auf dem hohen
Nußberge ſei.
Die Kinder gingen nun dem Häuschen zu lieb auf
den Berg. Sie waren immer in demſelben, und wenn
das braune Mädchen kam, mußte es mit in das
Häuschen gehen, auf einem Stühlchen ſizen, und mit
ihnen tafeln. Es waren in der Zwiſchenzeit die Erd¬
beeren gekommen, und wenn die Kinder in ihre
Birkenrindentäſchchen im Walde an Rainen und ober¬
halb der Sandlehne Erdbeeren geleſen hatten, ſo that
die Großmutter ſie im Häuschen auf einen der Teller,
die in der Tiſchlade aufbewahrt wurden, und man
verzehrte vergnügt das Nachmittagsmal.
Aber die Freude an dem Häuschen wurde nach
und nach geringer. Die Kinder gingen ſtets weniger
[171] hinein, und als eine Zeit vergangen war, ſchien es
gar nicht mehr da zu ſtehen. Sie ſaſſen wieder an
ihrer alten diken Haſelwurzel, und wenn ſie nicht da
ſaſſen, ſo gingen ſie herum, waren in den Gebüſchen,
laſen verſchiedene Dinge und Steinchen zuſammen,
und ſprachen mit der Großmutter.
Wenn das braune Mädchen kam, ging man frü¬
her als gewöhnlich nach Hauſe, weil das Mädchen
mit ging, weil es mit den Kindern in ihre Stube
ging, und dort bei ihnen war, und aß und ſprach,
und gegen Abend wieder fort zog.
Die Mutter ging bei ſolchem Anlaſſe öfter durch
das Zimmer, aber ſie näherte ſich dem braunen Mäd¬
chen nicht, und ſprach nicht zu ihm. Sie hatte ein
blaſſes Kleid angethan, wie Schwarzköpfchen eines
an hatte, ihre Loken waren in den Naken gekämmt,
wie Schwarzköpfchen hatte, ſo daß ſie ihm in allem
glich, und ein großes Schwarzköpfchen war. In
dieſer Weiſe brachte ſie einmal auf einem Teller viele
große ſchöne Erdbeeren, die in dem Walde und auf
der Haide nicht wachſen, ſondern die der Vater in
eigenen Beeten, auf welche im Frühlinge Glas gelegt
wird, zog. Die Mutter hatte früher auf alle Pläze
der Kinder an dem Tiſche Tellerchen legen laſſen. Sie
ging zu dem Tellerchen Blondköpfchens, that mit
[172] einem Löffel Erdbeeren auf dasſelbe, und Blondköpf¬
chen begann zu eſſen. Sie ging zu dem Tellerchen
Schwarzköpfchens, that Erdbeeren darauf, und
Schwarzköpfchen fing an zu eſſen. Sie ging zu dem
Tellerchen Braunköpfchens, that Erdbeeren darauf,
und Braunköpfchen aß ſie. Sie ging zu dem Teller¬
chen des braunen Mädchens, legte Erdbeeren darauf,
und das braune Mädchen begann zu eſſen. Dann
ging ſie wieder zur Thür hinaus. Ein anderes Mal
kam ſie wieder, war wieder ein Schwarzköpfchen,
brachte allerlei Dinge, und war unter den Kindern.
So that ſie nun öfter, bis das braune Mädchen auch
mit ihr redete, ſich immer mehr an das Haus ge¬
wöhnte, mit den Kindern in der Stube ſpielte, und
mit ihnen auch im Garten war. Da bekam es von
der Mutter auch ein Kleid, welches wie das frühere
war, nur daß es viel ſchöner war, und daß es Ärmel
hatte, die bis zu dem Ellbogen herab gingen.
Der Vater bekümmerte ſich jezt wieder um die
Herkunft des braunen Mädchens. Er fragte Nachbarn
und Bekannte, ſie wußten gar nichts von ihm. Er
beſchloß nun die Landleute die armen Häusler die
Holzhauer die Pechbrenner die Waldhüttler zu fra¬
gen. Er ging deßhalb auf den Berg der Ahorne,
der hinter der Grenze ſeiner Beſizthümer empor ſteigt,
[173] und wo eine Hütte mit zwei alten Leuten war, die
einen jungen Sohn hatten, der Fäſſer und Bottiche
machte, und viel in die Wälder kam. Sie wußten
nichts. Er ging an dem Steingehege aufwärts, und
fragte bei den Hütten der Steinbrecher. Das Kind wird
wohl von weiter oben ſein, war die Antwort. Er
ging weiter hinauf, und fragte. Das Mädchen könne
zu den Haideleuten gehören, ſagten ſie. Er fragte an
der Haide, ſie antworteten, das Mädchen komme etwa
von den Moorhütten herab. Er fragte an den Moo¬
ren. Sie wußten dort nichts. Er kam nun zu den
hohen Wäldern. Die Holzhauer und Pechbrenner
ſagten, es gäbe allerlei Leute. Und wenn er das
Mädchen beſchrieb, ſo ſagten ſie insgeſamt, ſie hätten
es ſchon geſehen, und wenn ſie das Mädchen beſchrie¬
ben, ſo beſchrieb es der eine ſo, der andere anders,
ein jeder auf ſeine Weiſe. Der Vater kehrte wieder
nach Hauſe.
Wenn die Mutter das Mädchen ſelber leiſe fragte,
ſo war es ſtill, und ſagte nichts. Die Kinder fragten
nie. So verging nun die Zeit.
Das Mädchen kam jezt auch zuweilen allein zu
dem Hauſe. Wenn man an einem Morgen die Lehnen
der Fenſter öffnete, ſtand es naß in dem bethauten
Graſe des Gartens, und wartete.
[174]
Wenn die Kinder lernen mußten, ſtand es dabei,
und ſah zu. Plözlich konnte es einmal die Buchſtaben
ſagen, und konnte dann leſen. Es wurde öfter um
das Gelernte gefragt, und zu weiterem Lernen ver¬
anlaßt.
Wenn die Großmutter mit den Kindern fort ging,
hing es ſich ſo gut an die Schürze derſelben wie die
anderen Kinder, und ging mit. Einmal über die Nacht
in dem Hauſe zu bleiben, und ſich in ein Bettlein zu
legen, konnte es nicht bewogen werden.
Und wie der Sommer immer vorrükte, wie das
Getreide reifte, und in die Scheunen geſammelt
wurde, und wie der Haber goldig da ſtand, die leich¬
ten Fäden zitterten, und die Hülſe den weißen Schna¬
bel aufſperrte, was immer auch die Zeit der Reife der
Haſelnüſſe iſt, ſo gingen die Kinder im Sonnenſcheine
mit ihren Haſelruthen auf den hohen Nußberg. Sie
gingen nachmittags, wenn ſie ihre Aufgaben gelernt,
und ihre Schriften geſchrieben hatten. Das braune
Mädchen hatte einen langen Stab, an dem ein gut
gerichteter Haken war. Sie gingen über die Sand¬
lehne empor, ſie gingen durch die Felſen durch das
Geſtrippe und Geniſte, ſie gingen durch den Wald
über die graue Haide und durch die grauen Steine,
wo wieder das Bächlein ſo lieb wie immer war,
[175] die Fiſchlein ſpielten, die Waſſerjungfern flogen, und
die rothen Blumen ſtanden, die ein Samenhaus voll
weißer Wolle machen würden, ſie gingen über das
Steingerölle in das Gehege der Nüſſe. Sie mußten
heuer ſehr mühſam ſuchen, um die wenigen Stellen
zu finden, an denen jezt Nüſſe waren, ſie riefen ein¬
ander, wenn ſie ſie fanden, und ſie langten mit ihren
Haken nach den bedekten Zweigen, und das braune
Mädchen ſchwang ſich empor, und zog mit ſeinem
Stabe die höchſten Äſte herab, daß Braunköpfchen
die Nüſſe ſammeln, und in ſeine lederne Taſche thun
konnte. Dann ſuchte man noch die lieben Stellen des
Nußberges, wo allerlei Dinge im Geſteine im Sande
und im Gebüſche waren, und ſaß dann noch wie ge¬
wöhnlich an der alten Wurzel.
Und wie der Haber endlich von den Feldern ver¬
ſchwunden war, wie die Haſelſtauden ſich entfärbten,
und die Blätter ſich runzelten und rollten, wie auf
den Hügeln die weißen Fleke der Stoppeln ſich in
braune verwandelten, wie auf den Feldern nichts
mehr war als die Kartoffeln der Kohl und die Rüben,
wie kein Apfel und keine Birne mehr in den Zweigen
der Bäume war, ja wie die Blätter ſchon von dieſen
Bäumen abfielen, wie die Blumen, die der Vater
vor dem Hauſe in Töpfen ſtehen hatte, wieder in die
[176] Glashäuſer geſammelt wurden, wie die blauen Wach¬
holderbeeren an den Wachholderſträuchen immer blauer
wurden, und die grünen ſchwollen und ſich mit einem
Thaue überzogen, wie wieder der Fadenſommer ſpann,
und die Großmutter immer trauriger wurde, und
immer zärtlicher die Loken aller Kinder ſtreichelte: ſo
wußten ſie, daß die Zeit da ſei, daß ſie bald ſcheiden
mußten, daß der traurige Herbſt und die Nebel die
Gegend bedeken werden, daß der Schnee und die
Kälte kommen werde, und daß ſie lange nicht werden
beiſammen ſein können.
Als dieſe Zeit gekommen, als der lezte Tag ver¬
gangen war, an dem ſie noch beiſammen ſein konnten,
nahmen ſie, da das braune Mädchen fort ging, Ab¬
ſchied, ſie umhalſeten es, und weinten, und Braun¬
köpfchen ſchenkte dem fremden Mädchen ſeine Bilder¬
bücher, und ſeine Trompete.
Und ſie fuhren wieder fort, da die Großmutter
voll Kümmerniß bei dem Wagen ſtand, da die Knechte
und Mägde bei dem Wagen waren, da der Vater
noch mit weinenden Augen die faltenreichen Wangen
der Großmutter küßte, ihre Hand küßte, wie er auch
noch in ſeinen Mannestagen that, in den Wagen
ſtieg, und die Pferde die Räder in Bewegung ſezten.
Es verging der lange Winter und das Schneege¬
[177] ſtöber, das das Haus den Garten die Glashäuſer
die Sandlehne den Wald die Felder den hohen Nu߬
berg alle Berge und Wohnungen der Menſchen ein¬
gehüllt hatte, hörte auf, die Sonne kam wieder, die
harten Winde gingen in mildere Lüfte über, und der
Vater die Mutter und die Kinder kehrten wieder in
ihr Haus auf dem Lande zurük.
Sie fanden alles, wie ſie es verlaſſen hatten.
Die Großmutter war geſund, alle Knechte und
Mägde waren geſund, und alle Thiere des Hauſes
lebten, und waren fröhlich.
Das braune Mädchen war wieder größer gewor¬
den, und die ſchönen ſchwarzen Haare gingen in noch
größerer Fülle, und noch dichter auf den Naken hinab.
Die Kinder liefen ihm entgegen, als es in das Haus
kam, ſie begrüßten es, und gaben ihm die vielen
Sachen die ſie ihm aus der Stadt mitgebracht hatten.
Es ging nun das Leben auf dem Lande wieder
an, ſie waren beiſammen, ſie lernten, ſie arbeiteten,
und da, wie es im vergangenen Jahre war, die Gräſer
auf den Wieſen und Rainen ſproßten, da die Schwal¬
ben kamen, und mit ihren braunen Kehlchen und dem
weißen Bauche tief an dem Wege dahin fuhren, und
wieder hoch in die Lüfte ſchoſſen, da das Rothkehlchen
in dem Gebüſche ſaß, mit dem Vorderleibe nikte, und
Stifter, Jugendſchriften. II. 12[178] ſeine Stimme ſchmettern ließ, da alle Bäume mit
Blüthen bedekt waren, kleine Laubbüſchel bekamen,
und nichts mehr von dem Unglüke des Hagels zu
erbliken war, da die Felder grün waren, und die
weißen Wolken darauf nieder leuchteten: da ging
man wieder herum, und ergözte ſich, wie man ſich in
früheren Zeiten ergözt hatte.
Das braune Mädchen war nun auch nicht ſcheu,
wenn der Vater bei den Kindern war, und es wich
vor den Knechten und den Mägden nicht zurük,
welche im Hauſe im Garten und auf den Feldern
herum gingen und arbeiteten.
Da auf dieſe Weiſe der Sommer ſehr weit vorge¬
rükt war, da eines Tages die Sonne ſchon gegen Un¬
tergang neigte, da die Kinder von ihrer Wanderung
heimgekehrt waren, ihr Vesperbrot gegeſſen hatten,
das fremde Mädchen ſchon fortgegangen war, und
die Kinder mit der Mutter allein in der Stube gegen
den Garten hinaus ſaſſen, weil der Vater verreiſet
war: geſchah es, daß Blondköpfchen wiederholt
ſagte, es rieche etwas unangenehm, als würden
widrige Gegenſtände verbrannt. Man ſah überall
nach. Auf dem Heerde war kein Feuer, in den Kami¬
nen war auch keines, da man in der Hize des hohen
Sommers keines brauchte. Auf den Feuerſtellen der
[179] Dienſtmädchen war ebenfalls kein Feuer, an dem ſie
etwa Eiſen zum Glätten gehizt, oder irgend Wäſche
oder dergleichen geſotten hätten. Man ſchaute aus
den Fenſtern, alles lag ruhig und freundlich da, und
nicht einmal ein Rauch ging aus nahen und fernen
Schornſteinen empor.
Die Mutter ſprach mit den Kindern über die
Sache, und man wunderte ſich, wie ſolche Eindrüke
in die Sinne kommen können, Blondköpfchen ver¬
theidigte ſich, andere griffen es an, und wie man ſo
redete, geſchah draußen ein Schrei, es geſchahen
ſogleich mehrere, und wie alle an die Fenſter liefen,
um zu ſehen, was es gäbe, ſtieg ein diker qualmender
Rauchknäuel als ſchwarze finſtere Säule von dem
Scheuerdache empor, er wirbelte ſchnell, und gleich
darauf ſchoß die blizende Flamme in ihn hinauf, und
während die Kinder und die Mutter noch ſchauten,
lief es geſchäftig und praſſelnd, als ob die Sommer¬
hize alles vorbereitet hätte, in lichten kleinen Flämm¬
chen von der Scheuer längs des Dachfirſtes der Stal¬
lungen und Wagenbehälter gegen das Haus hervor,
mit eins geſchah ein Knall, wie wenn ein auf glü¬
hende Kohlen gelegtes Papier plözlich ſeiner ganzen
Fläche nach Feuer fängt, und das ganze Dach der
Ställe und Wagenbehälter ſtand unter einer einzigen
12*[180] breiten nach aufwärts gehenden Flamme, das Scheuer¬
dach aber war ein Körper von Glut und von Flamme.
Knechte und Mägde rannten unten herum, und ſchrieen,
und das Fichtenholz der Sparren und Latten krachte
furchtbar unter dem Feuer.
„Kinder! um mich!“ ſchrie die Mutter.
„Mutter, Mutter, Großmutter, Sigismund,
Clementia, Emma!“ ſchrieen die Kinder.
Sie ſchoßen in das Zimmer zurük, ſie ergriffen
Dinge, ſie zu retten, und wußten nicht was ſie thaten.
Sie nahmen eine Puppe, einen Lappen, oder ſonſt
etwas, das ihnen in die Hände kam, ob es Werth
hatte oder nicht. Die Mutter hatte ſchnell einen
Schreibtiſch geöffnet, der in der Nebenſtube ſtand,
hatte ein Käſtchen aus demſelben genommen, ſtürzte
wieder in die Stube zurük, raffte die Kinder, die mit
Verſchiedenem beladen waren, zuſammen, und führte
ſie die Vordertreppe, die von dem Feuer weggewendet
war, hinunter ins Freie. Da ſie die Hausthür hinter
ſich hatten, hörten ſie erſt recht das Brüllen Wehen
und Krachen der furchtbaren Macht, die hinter ihnen
auf der andern Seite des Hauſes in ihrem Eigen¬
thume herrſchte. Die ſtille Luft drükte den Rauch nie¬
der, der ſich an der Abendſeite des Hauſes lagerte,
und durch den die untergehende Sonne wie eine blu¬
[181] tige Scheibe ſchien. Viele Leute, man konnte nicht
unterſcheiden, ob es eigene oder ſchon herzugelaufene
waren, drängten ſich wild durch einander.
Die Mutter führte die Kinder nach der Morgen¬
ſeite des Gartens. Da die Hize den nach aufwärts
ſtrebenden Wind erzeugt hatte, und derſelbe die feuri¬
gen Lappen, die aus brennenden Schindeln aus Stroh
Heu oder Linnen und Gewändern der Leute herſtamm¬
ten, wie frevelnde Geiſter in die Luft hinauf, und
aus einander ſchleuderte, ſo mußte die Mutter die Kin¬
der vor dem fallenden Feuer zu ſichern ſuchen, damit
ſich ihre Kleidchen nicht entzündeten. Sie führte daher
dieſelben unter dichten Bäumen und Gebüſchen weg.
Sie führte ſie in die äußerſte Laube an der Morgenſeite
des Gartens, vor der zwei reiche Linden ſtanden, die
ſogar jeden Funken abhielten, der etwa in dieſer Rich¬
tung hätte fallen können.
„Kinder bleibt nun hier, entfernt euch ja nicht,“
ſagte die Mutter, „was ihr auch hören mögt. Hier
geſchieht euch nichts, ich muß fort, ich komme aber
bald wieder. Bewahrt indeſſen das Käſtchen.“
„Ja,“ ſagten die Kinder, „wir werden bleiben.“
Nach dieſen Worten lief die Mutter aus der
Laube, und lief entſchloſſen in den Hof, und da ihr
Gatte nicht anweſend war, übernahm ſie ſeine Stelle,
[182] und drang bei den Knechten, die faſt den Verſtand
verloren hatten, darauf, daß ſie in den Stall gingen,
und die Pferde heraus zogen, damit ſie nicht etwa
erſtiken, und daß ſie dieſelben an Bäume anbanden,
daß ſie nicht wieder in das Feuer liefen. Ein Theil
der Leute hatte es mit dem Rindviehe ſchon ſo gemacht.
Man rettete aus dem brennenden Stalle ein Pferd
nach dem andern, die Mutter leitete das Unternehmen,
und gab die Stellen an, wo die Pferde angebunden
werden ſollten. Den Haushund hatte jemand los
gelaſſen. Er kam in großen Sprüngen auf die Frau
zu, ſtrebte an ihr empor, und gab ſeine Freude zu
erkennen, gleichſam als wüßte er, daß eine Gefahr
vorhanden geweſen war, und daß die Frau ihr glük¬
lich entronnen ſei.
In den Zwiſchenaugenbliken lief die Frau in den
Garten, um nach den Kindern umzuſehen, und wenn
ſie ſich überzeugt hatte, daß dieſelben in der Laube
ſeien, kehrte ſie wieder zu dem Feuer zurük.
Endlich fand ſie eine Magd, die ſie zu den Kindern
ſenden konnte, daß ſie bei denſelben in der Laube bliebe.
Die Knechte hatten indeſſen alle Thiere gerettet.
Die Tauben kreuzten in der Luft, und fielen wie
die Müken, die um ein Licht flattern, mit verſengten
Flügeln in die Flammen.
[183]
Die Wagenbehälter grenzten an die Holzlage, in
welcher die großen Vorräthe von Winterholz und
Kochholz aufgehäuft waren. Wenn dieſes Holz Feuer
finge, ſo wären die Wägen ſamt dem Wagenbehälter
verloren. Darum ließ die Frau auch die Wägen aus
ihren Behältern ziehen, und ließ ſie in dem Garten
unter den Bäumen in Sicherheit bringen.
Da die Leute bei dieſer Beſchäftigung waren, hörte
man hoch oben ein neues plözliches Krachen und
Praſſeln, und da man hinauf ſah, ſo erblikte man
das Dach des Wohnhauſes von den Flammen ergrif¬
fen. Es war wohl eine Feuerſprize in dem Hauſe, es
war auch Waſſervorrath theils im Hauſe theils in
dem nahen Bache, die Sprize hatte immer auf das
Hausdach geſpielt, die Hausleute und die Nachbarn,
die ſchnell genug herbei geeilt waren, hatten das
Waſſer ſtets in hinreichender Menge heran geſchafft:
aber die Hize des Sommers hatte das Holzwerk zu
ſehr ausgetroknet, die Gewalt des Feuers auf den
angrenzenden Dächern war zu mächtig geweſen, der
Waſſerſtrahl verdünſtete faſt in der Luft, die Tropfen
auf dem Dache waren ohnmächtig, und da das
Holzwerk einmal Feuer gefangen hatte, ſo war das
ganze Dach bald ein ſauſender krachender brodelnder
Feuerberg. Das Sprizen in die Flamme war nun
[184] unnüz, ja es belebte dieſelbe nur noch mehr. Die
Frau befahl daher, jezt die Feuerhaken zu gebrauchen,
die vielfach in dem Hauſe vorhanden waren, und die
brennenden Sparren von dem Dache ſoviel als mög¬
lich herunter zu reißen.
Für die Gemächer fürchtete die Frau nicht viel,
weil ihre Deken mit ſehr dikem Eſtrich belegt waren,
und weil die Glut, die von dem brennenden Dache
auf das Eſtrich fiel, mittelſt der Haken und ſpäter
durch Schaufeln eher entfernt werden konnte, ehe das
Eſtrich ſo erhizt würde, daß die Tragbalken ergriffen
würden, in Brand geriethen, und die Deke einſtürzen
ließen. Daher hatte ſie aus den Gemächern nichts
heraus räumen laſſen, außer was Mägde bereitwillig
und aus unbefohlenem Eifer heraus getragen hatten.
Da nun die Feuerhaken angelegt waren, und die
Männer an ihnen bereit ſtanden, um die Sparren,
ſobald ſie durch das Feuer ein wenig geledigt wären,
herunter zu reißen, ſo glaubte die Frau einen Augen¬
blik für ſich gewinnen zu können, weil nun kein
Haustheil mehr war, der von der Flamme ergriffen
werden konnte, und ſie ging hinweg, um nach ihren
Kindern in der Laube zu ſehen.
Als ſie zu der Laube kam, liefen ihr Emma und
Clementia entgegen, und riefen: „Mutter, wir ſind
[185] nicht fortgegangen, und haben das Käſtchen aufbe¬
wahrt.“
„Wo iſt Sigismund?“ rief die Mutter.
„Er wird bei der Großmutter ſein,“ ſagte Emma.
„War die Großmutter bei euch in der Laube hier?“
fragte die Mutter.
„Nein,“ ſagten die Kinder.
„Iſt die Großmutter nicht bei euch hier in der
Laube geweſen und hat Sigismund mit ſich fortge¬
nommen?“ fragte die Mutter noch einmal.
„Mutter, du haſt ja Sigismund gar nicht mit
uns über die Stiege mit herab genommen,“ riefen die
beiden Mädchen einſtimmig.
„Dann muß er ja bei der Großmutter ſein,“ ſagte
die Mutter, und rief in den Garten hinaus: „Gro߬
mutter, Großmutter!“
Die Großmutter kam in dem Augenblike, da ſie
ſo gerufen wurde, gegen die Laube herzu, entweder
weil ſie den Ruf gehört hatte, oder weil ſie zu den
Kindern gehen wollte.
„Wo iſt Sigismund?“ rief ihr die Mutter ent¬
gegen.
„Iſt er nicht bei dir?“ antwortete die Großmutter.
„Nein,“ ſagte die Mutter.
„Ich habe ihn in dem Augenblike, da Feuer geru¬
[186] fen wurde, gehört,“ ſagte die Großmutter, „ich habe
ihn vor meinem Zimmer Großmutter rufen gehört,
und da ich in dem nehmlichen Augenblike auch deine
Stimme vernahm, wie du die Kinder zuſammen
riefſt, und da ich dich die vordere Treppe mit ihnen
hinunter gehen hörte, ſo meinte ich, er ſei bei dir,
ſperrte die Thür, die von dem Gange aus dem Kin¬
derzimmer zu meinem Gemache führt, zu, ging durch
die andere hinaus, ſperrte ſie ebenfalls hinter mir zu,
und ging über die hintere Treppe herab.“
Die Mutter durchzukte ein Strahl.
Von dem Kinderzimmer führte eine Thür auf ei¬
nen Gang, der ganz allein zu dem Zimmer der Gro߬
mutter ging. Die Thür von dem Kinderzimmer in
den Gang fiel gerne ins Schloß, und dasſelbe konnte
Sigismund mit ſeiner ſchwachen Kraft nicht öffnen.
Es war daher wahrſcheinlich, daß er von dem Kin¬
derzimmer gegen das Zimmer der Großmutter geeilt
war, ſie zu warnen, daß hinter ihm das Schloß zu¬
gefallen war, daß er das Zimmer der Großmutter
verſchloſſen fand, daß er zurük wollte, nicht mehr ins
Kinderzimmer konnte, und nun auf dem Gange ein¬
geſperrt ſei.
Als dieſe Gedanken plözlich durch den Kopf der
Mutter liefen, ſchrie ſie: „O du heilige himmliſche
[187] Barmherzigkeit, dann iſt er durch den Gang zu Euch
gelaufen, um Euch zu helfen, hat hinter ſich die Thür
ins Schloß geworfen, konnte in Euer Zimmer nicht
hinein, und iſt nun auf dem Gange eingeſchloſſen.
Ich habe alle Kinder, wie ſie mit ihren Lappen bela¬
den waren, über die Treppe hinabgebracht, ohne zu
achten, ob ſie zwei oder drei ſeien. Er kann erſtiken,
es kann das Eſtrich einbrennen. Der Schlüſſel ſtekt
von innen in der Thür des Kinderzimmers, ich muß
hinauf ihn zu befreien.“
Nachdem ſie dieſe Worte gerufen hatte, lief ſie ohne
auf die andern Kinder zu achten dem brennenden
Hauſe zu. Sie lief gerade durch alle Pflanzen und
mitten durch den Funkenregen hindurch. Die Gro߬
mutter folgte ihr. Die Magd, die bei den Kindern
war, konnte dieſelben nicht zurükhalten, ſie liefen auch
zu dem Feuer, und die Magd lief mit ihnen.
Als die Mutter bei der Feuerſtätte angekommen
war, war es dort bei weitem nicht ſo gefahrlos für
die Zimmer, als ſie gedacht hatte. Der Dachſtuhl
war beinahe zuſammen gebrannt, wenigſtens war er
ſchon zuſammen geſtürzt. Ein furchtbarer Gluthaufen,
der die Luft vor Hize zittern machte, lag auf der Deke
der Zimmer. Von dieſer Glut trennte nur eine Lage
Eſtrich die Tragbalken, ſie konnten ſich erhizen, bren¬
[188] nen, und die Deke konnte einſtürzen. Die Männer
mit den Feuerhaken hatten außerordentlich gearbeitet.
Einen großen Theil der Sparren hatten ſie herab ge¬
riſſen, und die Trümmer lagen um das Haus, und
brannten, und rauchten; aber ein anderer Theil hing
noch oben, und konnte aus der Verbindung nicht
geriſſen werden. Die Nacht war mittlerweile einge¬
brochen, und in der düſtern Finſterniß war das Leuch¬
ten des Feuers und des Rauches das Glühen der
vorragenden Balken und das Glänzen der umſtehen¬
den Bäume doppelt unheimlich.
Die Mutter lief gerades Weges gegen die Thür
zu, von welcher die Treppe gegen das Kinderzimmer
empor führte. Sie wollte in das Zimmer gelangen,
dort an der Thür zu dem Gange den Schlüſſel um¬
drehen, und den Knaben befreien. Aber als ſie gegen
die Thür kam, lag ein Haufen herabgeriſſener Balken
vor derſelben, und brannte.
Es war unmöglich durchzukommen.
„Reißt das Holz weg, Sigismund iſt in dem
Hauſe,“ ſchrie ſie zu den Männern, die da waren.
Die Männer verſtanden ſie. Sie näherten ſich dem
Feuerhaufen, ſchlugen die Haken ein, und ſuchten die
Balken wegzubringen. Aber es war vergeblich. Die
Balken waren theils noch in Verbindung, theils hat¬
[189] ten ſich andere herabgeſtürzte mit ihnen verſchlungen,
ſo daß die angeſtrengteſte Kraft aller Männer nicht
hinreichte, das zuſammenhängende Gewirr eher hin¬
weg zu bringen, als bis es mehr ausgebrannt wäre,
und die Verbindungen ſich gelöst hätten.
„Das geht nicht,“ rief die Mutter, „wir müſſen
durch die hintere Treppe in Euer Zimmer hinauf,
Großmutter, um von demſelben in den Gang zu
kommen. Wo habt Ihr die Schlüſſel.“
„Ich weiß es nicht, ich werde ſie in meiner Arm¬
taſche haben, die ich vielleicht in den Glashäuſern
nieder gelegt habe,“ antwortete die Großmutter, „ich
werde ſie gleich holen.“
„Um des Himmels willen, warum habt Ihr zu¬
geſperrt?“ rief die Mutter.
„Der Diebe wegen,“ rief die Großmutter, und
eilte von einem Knechte begleitet davon.
Noch war es Zeit; denn alle Fenſter des Hauſes
waren noch ſchwarz, zum Zeichen, daß das oberhalb
herrſchende Feuer noch nirgends in die Zimmer hinein
gebrochen war.
Aber es kam der Knecht gelaufen, und ſagte, daß
die Schlüſſel der Großmutter nirgends zu finden ſeien.
Die Mutter änderte ihren Plan. Sie ging um
die Eke des Hauſes, und kam zu einer Seite, die mit
[190] Weingeländer bepflanzt war, die gegen den Garten
ſah, und in welcher ein offenes Fenſter der Kinder¬
ſtube war. Sie zeigte gegen das Fenſter empor, und
rief: „Eine Leiter, eine Leiter, da kann man in das
Kinderzimmer einſteigen.“
Die Knechte liefen nach einer Leiter. Andere ſchloſ¬
ſen ſich an. Die Leitern waren unter einem eichenen
Dächlein auf einem eigenen Geſtelle angehängt, das
in der Nähe des Wagenbehälters war. Dort brannte
aber jezt in einer entſezensvollen ruhigen Flamme,
die majeſtätiſch in die Höhe ging, der geſamte Vor¬
rath des Holzes des Hauſes. Es war unmöglich, ſich
zu nähern. Ein Mann, der in eine naſſe Deke gehüllt
es gewagt hatte, war durch den heißen Athem umge¬
worfen worden, und man konnte ihn nur mittelſt ei¬
nes Feuerhakens retten, mit dem man ihn aus der
heißen Luft zog. Im nächſten Augenblike hatte auch
das Leiterdächlein Feuer gefangen, und dasſelbe und
die Leitern brannten.
Die Knechte kamen zurük, und meldeten es der
Mutter.
Da ſtürzte ſie auf die Knie, breitete die Arme
auseinander, und ſchrie: „So rette du ihn, der die
Macht und das Vollbringen hat, und der ein un¬
ſchuldvolles Leben nicht vernichten kann!“
In dieſem Augenblike tönte ein gellender Schrei:
„Braunköpfchen, Braunköpfchen!“
Und ehe man ſichs verſah, huſchte eine dunkle
Geſtalt gegen das Haus, und kletterte wie ein
Eichhörnchen an dem Weingeländer empor, und war
in dem nächſten Augenblike durch das Fenſter ver¬
ſchwunden.
Alle vergaſſen ihre Arbeit oder, was ſie immer
im Herzen hatten, und richteten ihre Augen auf das
Fenſter.
Es dauerte nicht lange, ſo kamen zwei Geſtalten
am Fenſter an. Sie waren durch brennende Balken,
die oberhalb ihrer über die Mauer des Hauſes her¬
vorragten, wie von Fakeln beleuchtet. Es war das
braune Mädchen und Sigismund.
Ein Schrei ertönte einſtimmig aus dem Munde
aller Umſtehenden bei dieſem Anblike.
Emma und Clementia kreiſchten vor Entſezen und
vor Freude.
Aber die Kinder konnten nicht herunter. Das
braune Mädchen hätte es gekonnt; allein den Knaben
konnte es nicht auf das Weingeländer bringen. Wie
ein Nachtbild, das ein Künſtler gemalt, und mit der
äußeren Glut beleuchtet hat, ſtanden ſie in dem ſchwar¬
zen Rahmen des Fenſters.
[192]
„Leintücher, Leintücher, bindet Leintücher zuſam¬
men,“ riefen mehrere Stimmen hinauf.
„Da iſt eine Leiter,“ hörte man unten rufen, „die
Leiter wird reichen, ſie wird halten, für Kinder hält
ſie ſchon.“
In dem Augenblike drängten ſich der Altknecht
und der Pferdeknecht durch die hier zuſammenge¬
preßten Menſchen, und trugen eine Leiter herbei.
Sie war von den Wägen, die aus Gottes Vorſicht
und mit dem Willen der Frau gerettet worden waren,
genommen, und aus zwei Leitern eines Erntewagens
zuſammen gebunden worden.
Sie wurde angelehnt, und reichte.
Das braune Mädchen ſtieg zuerſt aus dem Fen¬
ſter. Es faßte feſten Fuß auf den Sproſſen, und half
dann dem Knaben auch aus dem Fenſter heraus. Die
beiden Kinder kletterten nun ſchnell und geſchikt über
die Leiter herab.
Als ſie auf dem Graſe waren, kniete das braune
Mädchen vor dem Knaben nieder, ſezte ſich auf ſeine
eigenen Ferſen, und ſah den Knaben mit den ſchwar¬
zen Augen an.
Man hätte in der dunkeln Nacht und bei dem
Scheine des Feuers ſehen können, wie dieſe Augen
freudeſprühend waren, daß er gerettet ſei.
[193]
Der Knabe konnte nicht reden, er ſchwindelte,
und es war, als ſollte er umfallen.
Da eilte die Mutter herbei, nahm ihn in die Arme,
wiſchte ihm die Stirne ab, und ſuchte ihn zu tröſten.
In dieſem Augenblike kam auch die Großmutter,
ſo ſchnell ſie in ihrem Alter laufen konnte, in von der
Haſt in Unordnung gerathenen Kleidern und mit
den Schlüſſeln in der Hand herbei.
Da ſie den Knaben gerettet ſah, bemühte ſie ſich
mit der Mutter um ihn. Die anderen Kinder ſtanden
dabei, und viele Menſchen drängten ſich herzu.
Da das Kind noch immer im halben Bewußtſein
war, ſo hoben es die Mutter und Großmutter auf,
brachten es zum Brunnen im Garten und benezten
dort mit friſchem Waſſer ſeine Stirne und Schläfe.
Da ſich der Knabe hierauf erholt hatte, brachten
ſie ihn in die Laube, in welcher zu Anfang des
Feuers die Kinder geweſen waren.
Während dort die Mutter mit dem Knaben
beſchäftigt war, ihn zu unterſuchen, ob er keine
Beſchädigung erlitten habe, ihn zu befragen, und zu
beſänftigen, ſah man die alte Frau an dem Stamme
eines Obſtbaumes knieen, und mit gefaltenen Händen
bethen.
Das Kind ward nach und nach beruhigt. Die
Stifter, Jugendschriften. II. 13[194] Mutter richtete ihm die Kleider zurecht, und ſtreichelte
ihm die Wangen und die Haare. Die zwei Schweſter¬
lein ſtreichelten ihm auch Loken und Wangen, und
gaben ihm Liebkoſungen.
Der Knabe hatte wirklich keine Beſchädigung
erlitten. Er war in der That von der Kinderſtube in
den Gang geeilt, der zu dem Zimmer der Großmutter
führte, um zu ihr zu gehen, und ihr zu ſagen, daß
Feuer in dem Hauſe ſei, und daß ſie fortgehen ſolle.
Er hatte auch, wie es ihm öfter geſchah, die Gang¬
thür hinter ſich zugeworfen, und der Riegel war in
den Haken geſprungen. Da er bei der Thür der
Großmutter nicht hinein konnte, als er ſie auch nicht
zu errufen vermochte, wollte er zurük. Allein da ſah
er erſt zu ſeinem Schrek, daß er die Thür zugeſperrt
habe. Er verſuchte mit allen Kräften den Riegel auf¬
zuziehen, aber die Feder war zu ſtark, und er konnte
nichts ausrichten. Da klopfte er mit beiden Fäu¬
ſten bald an die Thür der Kinderſtube bald an
die der Großmutter. Er ſchrie auch aus allen Kräf¬
ten, damit er gehört würde. Allein da er dies eine
Weile gethan, und ihn niemand vernommen hatte,
ſezte er ſich in dem Gange auf den Boden nieder,
und wartete, ob jemand kommen, und ihm öffnen
würde.
[195]
Er hörte da das Krachen und Sauſen des Feuers
oberhalb ſeiner.
Da kam das braune Mädchen, führte ihn fort,
und ſtieg mit ihm die Leiter herab.
Als er ſich ſchon ganz von ſeiner Angſt erholt
hatte, übergab ihn die Mutter der Großmutter und
den Mägden, die in der Laube waren, und ging
wieder fort, um bei dem Feuer nach zu ſehen.
Die Männer rießen die lezten Balken herab. Der
Gluthaufe, der über den Zimmern des Herrn und
der Seinigen ſtand, würde die Deke durchgebrannt
haben, da alles Sprizen mit Waſſer nichts fruchtete:
allein es war in der Zeit, als die Mutter in der
Laube war, der Pfarrer mit den Kirchenleitern ge¬
kommen. Sie waren mit ihren eiſernen Haken an die
Mauerränder des brennenden Hauſes gelegt worden,
die Männer ſtiegen hinauf, und begannen mit Schür¬
haken die Glut hinab zu werfen. Sie wechſelten hiebei
ab. Da die Glut immer weniger wurde, wurde das
hinauf geſprizte Waſſer immer wirkſamer, indem es
zum Theile die Glut dämpfte, zum Theile dem aus¬
gedörrten und geklüfteten Eſtrich wieder Feuchtigkeit
gab, daß es die Hize nicht ſo durchlaſſe, und den
Tragbalken keinen Schaden zufüge. Auf dieſe Weiſe
wurden die Zimmer gerettet.
13 *[196]
Da man den Geſindezimmern nicht zugleich die
nehmliche Hilfe zuwenden konnte, brannten wirk¬
lich einige ein. Als man aber die Herrnzimmer
in Sicherheit wußte, wendete man ſich jezt auch
dorthin, und that dem Weitergreifen des Feuers
Einhalt.
Hierauf wurden die Balken und Sparren, die
rings um das Haus herum geſtreut lagen, und
brannten, bei Seite gebracht und gelöſcht. Und ehe
Mitternacht gekommen war, war die Hauptſache
vorüber. Nur das vorräthige Brennholz brannte noch
mit ſtiller aber heftiger Glut und Lohe weiter. Die
Sprize vermehrte nur den Brand, da ſich das Waſſer
zerſezte, und das Brennen beförderte. Man hätte mit
Schaufeln Erde auf das Feuer werfen können; aber
die Hize erlaubte nicht, ſich ſo weit zu nähern, daß
man mit Werfen das Feuer hätte erreichen können.
Es blieb daher nur übrig, das Feuer zu umſtehen,
es zuſammen brennen zu laſſen, und nur zu ſorgen,
daß es ſich nicht neuerdings weiter verbreite. Auch
um alle Theile des Hauſes wurden Wachen geſtellt,
daß kein Funke ſich neu belebe oder weiter getragen
werde. Der in der niedergebrannten Scheune ſtehende
und rauchende Stok von Heu konnte zwar nicht ge¬
löſcht werden, wurde aber durch die Sprize in einer
[197] Grenze gehalten, daß das Feuer nicht lebhafter werde,
und daß es endlich unter ſeiner Aſche erſtike.
Da nun alles ſo weit geſänftigt, und in eine
Ordnung gebracht war, dachte die Mutter auch daran,
die Kinder zur Ruhe zu bringen. Sie ging in die
Laube, nahm ihr Käſtchen, nahm die Kinder bei der
Hand, und führte dieſelben nach rükwärts in die Glas¬
häuſer. Weil man den Zuſtand der verſchont gebliebenen
Zimmer nicht kannte, hatte die Mutter die Glashäuſer
gewählt. Da Sommer war, und ein Theil der Blu¬
men im Freien ſtand, ſo war in einem der Glas¬
häuſer hinreichend Plaz. Die Mutter ließ durch die
Mägde Betten Deken und alles Nothwendige aus
den Zimmern bringen. Sogar Tiſchchen Stühle und
Schemel wurden herbei geſchafft.
Bei dieſer Gelegenheit ſah man auch nach dem
braunen Mädchen. In der Verwirrung und Angſt
und in der Thätigkeit, die die Mutter noch bei dem
Feuer anwenden mußte, hatte man auf das Mädchen
nicht gedacht. Jezt aber war es nirgends zugegen.
Man ängſtete ſich aber nicht weiter, es werde wieder
fortgegangen ſein, weil es nie in der Nacht in dem
Hauſe geblieben war.
Es wurden nun die Betten theils auf den Bänken
des Glashauſes theils auf der Erde gemacht, und als
[198] die Kinder gebethet hatten, wurde jedes unter ſein
Deklein gebracht, und ſie ſahen noch, wie das Feuer
des Holzſtoſſes in den Tafeln des Glashauſes glänzte,
und entſchlummerten dann ſanft und beruhigt.
Auch die Mutter und Großmutter ſuchten auf kurze
Zeit die Ruhe.
Mit der Morgenröthe ſtand das braune Mädchen
im Garten, und wartete. Die Kinder gingen zu ihm
hinaus, und auch die Großmutter und die Mutter
geſellten ſich dazu. Man ging an alle Stellen. Der
Garten war ein Viehſtall; denn an den Bäumen
waren Pferde Ochſen Kühe und Kälber angebunden,
und hatten Heu vor ſich; denn es waren ſchon vor
Tages Anbruch Nachbarn und andere Leute mit Wä¬
gen gekommen, und hatten Heu Stroh und Lebens¬
mittel gebracht; erſchrekte Hühner liefen unter den
Blumen und Gebüſchen herum, und Schweine zer¬
wühlten den Raſen. Die Mauern des Hauſes waren
ſchwarz und beſchmuzt, der Sandplaz und der Raſen
vor dem Hauſe waren ſchwarz wie ein Kohlenmeiler,
die Stätte des Brennholzes war ein Haufen naſſer
Kohlen und Aſche, und aus dem Heu ſtieg noch
ſchwacher Rauch mit widrigem Geruche empor.
Als die Kinder alles geſehen hatten, ging die
Mutter mit ihnen auf die Wieſe hinaus, wo die
[199] Wägen ſtanden, welche eine Beiſteuer gebracht hatten,
und bei denen noch die Leute waren, welche die
Wägen hergeführt hatten. Die Mutter bedankte ſich
recht herzlich bei allen.
Dann machte ſie bei ihren Leuten und bei denen,
die bereitwillig zu helfen gekommen waren, Anſtalten,
was gethan werden ſollte.
Die Kinder hatten ihre Wohnung im Glashauſe,
in welches man noch mehrere Sachen brachte, die
geſtern nicht nothwendig geweſen waren.
Am Nachmittage kam der Vater. Er hatte in der
Nacht die Feuerröthe am Himmel geſehen. Er hatte
gedacht, daß es bei ihm ſein könnte, er gab ſeine
Geſchäfte einem Bevollmächtigten, und reiſte ab. In
der Nähe hatte er erfahren, daß ſein Hof abgebrannt
ſei, und er miethete ein Pferd zum Reiten, daß er
auf Fußwegen und näheren Feldwegen ſchneller nach
Hauſe kommen könnte.
Als er ſeine Mutter die Gattin und die Kinder
geſehen hatte, als er erfahren hatte, daß kein Menſch
bei dem Brande verunglükt ſei, war er ſehr freudig,
und fragte nicht, was er noch weiter verloren habe.
Er ſchritt nun zur Ausbeſſerung des Schadens.
Zuerſt mußten die Deken der Zimmer unterſucht
werden. Da ſich die Tragbalken als gut auswieſen,
[200] und da ſich gezeigt hatte, daß ſie durch die Hize und
durch das zerklüftete Eſtrich nicht ſchadhaft geworden
waren, noch auch durch Näſſe gelitten hatten, zogen
die Mutter die Kinder und die Großmutter wieder in
ihre Zimmer ein. Am anderen Tage wurde zur einſt¬
weiligen Abhilfe ein Nothdach aus Brettern über das
Haus gemacht.
Dann wurden alle Pläze vor dem Hauſe gereinigt,
damit das Bild des Schmuzes und der Unordnung
nicht mehr ſichtbar wäre. Die Thiere wurden, da
ihre wohlgewölbten und erhaltenen Ställe nun durch
Lüftung vom Rauche und Geſtanke befreit waren,
wieder in dieſelben gethan. Das Heu ließ er voll¬
kommen löſchen, und dann in einem abgelegenen
Orte auf einen Haufen thun, damit es ſich zum
Dünger verwandle. Er ließ auch die gebrochenen
Fenſterſcheiben ſogleich einſchneiden, und dem Geſinde
erſezte er ſeinen Verluſt reichlich, weil es ſich ſo
ſehr zur Rettung ſeiner Wohnung hatte verwenden
laſſen.
Nachdem alles dieſes geſchehen war, fing man zu
bauen an.
Auf dem Hauſe wurden Sparren aufgezogen, und
auf demſelben waren Zimmerleute, und hämmerten
die Latten an, und waren Ziegeldeker, und hingen
[201] die Ziegel ein. Der Vater ließ die Scheune völlig
einwölben, und die Zugfenſter und Öffnungen mit
eiſernen Thüren verſehen, daß im Falle eines Feuers
dieſe und die Thore geſchloſſen, und das Feuer erſtikt
werden könne. Die Außenmauern wurden gereinigt,
friſch angeworfen, und getüncht. Das Weingelände,
welches der Vater ſchon oft, weil die Reben in dieſen
Gegenden keine Trauben tragen, und die Ausſchmü¬
kung des Hauſes durch Weinlaub auch nicht ſo ſchön
iſt, wie in anderen Ländern, hatte wegthun wollen,
wurde jezt nicht weggethan, ſondern noch feſter und
ſchöner gemacht, und der Vorſaz gefaßt, die Reben
recht zu pflegen. Das Schloß an der Thür der Kin¬
derſtube, welche auf den Gang geht, wurde mit einem
neuen vertauſcht, deſſen Riegel nicht mehr vorſpringen
konnte. Die Holzlage wurde ebenfalls ein Gewölbe,
das von allen Seiten mit eiſernen Thüren und Fen¬
ſterladen zu ſchließen war. Das Leiterhäuschen wurde
an einer ſehr zugänglichen Stelle in dem Garten auf¬
gerichtet, ſein Dächlein wurde roth angeſtrichen, und
unter ihm hingen die neuen Leitern wagerecht in allen
Abſtufungen der Länge.
Der ganze Sommer verging mit Bauen, und als
der Herbſt gekommen war, ſtand das Haus ſchöner
und ſtattlicher da, als es je geweſen war.
[202]
Wie das Feuer entſtanden war, konnte nicht er¬
gründet werden. Wahrſcheinlich war irgend eine
Unvorſichtigkeit Schuld, da es in der Scheune aus¬
gebrochen war.
Sie gingen heuer früher als gewöhnlich in die
Stadt, weil mehreres zu beſorgen war, und gingen
unruhiger dahin als zu anderen Zeiten.
Aber keine Unruhe ging in Erfüllung. Als die
Lenzlüfte wehten, kam man wieder zurük, und traf
alles gut und wohlbehalten an.
Die Mutter hatte dem braunen Mädchen Stoffe
gebracht, um es recht ſchön zu kleiden, und gab ihm
dieſelben, indem ſie es mit liebevollen und zärtlichen
Augen anſah.
Der Vater und die Mutter hatten beſchloſſen,
das braune Mädchen zu erziehen, und es demjenigen
Glüke zuzuführen, deſſen es nur immer fähig wäre.
Man war ſehr vorſichtig, daß man es nicht verſcheuche,
und man ließ es nur ſelbſt gewähren, daß es immer
mehr Zutrauen gewinne.
Es kam recht oft mit den Kindern, es kam von
ſelber, und da es die neuen Kleider hatte, die dem
Schnitte nach wie die alten gemacht waren, blieb es
auch manchmal über Nacht da, wozu man ihm ein
eigenes Bettchen hergerichtet hatte.
[203]
Von den Eltern des Mädchens vermuthete man
keinen Widerſtand, weil man ſah, daß ſie ſich ſo wenig
um dasſelbe kümmerten, weil ſie es ſo in der Gegend
herum gehen ließen, weil ſie ſich nie meldeten, da ſie
doch wiſſen mußten, daß das Kind oft in dem Hauſe
ſei, und da ſie die neuen Kleider ſehen mußten die man
ihm gegeben hatte.
An das Haus hoffte man es zu binden, indem
man wie bisher die ſanften Fäden der Liebe und Nach¬
ſicht walten ließ, bis ſein Herz von ſelber in dem
Hauſe ſein würde, bis es nicht mehr fort ginge,
und ſein Gemüth ohne Rükhalt hingäbe.
Das Mädchen hatte früher ſchon vieles mit den
Kindern gelernt, und man hatte es gefragt, und es
in das Geſpräch gezogen, ohne daß es eine Abſicht
merkte, und hatte das Gelernte geordnet und erwei¬
tert. Jezt traf man die Einrichtung, daß der junge
Prieſter, der den Religionsunterricht der Kinder
beſorgte, zwei Mal in der Woche von der Pfarre
herüber kam, um das Mädchen Gott und die Ge¬
bräuche unſerer heiligen Religion kennen zu lehren.
Die Mutter wiederholte die Lehre, und erzählte dem
Kinde von heiligen Dingen.
Das Mädchen lernte ſehr feurig, und ſo wie es
den Kindern in körperlicher Fertigkeit und Gewandt¬
[204] heit voraus war, und ſie es nachahmten, beſonders
Sigismund, ſo lernte es von ihnen wieder andere
Dinge, wenn ſie in den Zimmern beſchäftigt waren,
oder wenn ſie ſich bei der Mutter befanden, oder wenn
ſie bei der Großmutter waren, oder mit ihr in der
Gegend herum gingen.
So verfloſſen mehrere Jahre. Das braune
Mädchen gewöhnte ſich immer mehr an das
Haus, es blieb immer da, und ging ſchier gar
nicht mehr fort. Es lernte allerlei Arbeiten, wie
ſie die andern Mädchen machten, und verrichtete ſolche
Dinge, wie ſie.
In die Stadt mit zu gehen, konnte es nicht be¬
wogen werden. Es blieb im Winter immer bei der
Großmutter.
Endlich brachte man es auch dahin, daß es weib¬
liche Kleider trug. Die Mutter hatte die Stoffe dazu
gekauft, dieſe wurden zu Kleidern verarbeitet, und mit
Bändern nach dem Gebrauche verziert.
Da es weibliche Kleider trug, war es ſcheuer,
und machte kürzere Schritte.
Nach und nach wuchſen die Kinder heran, daß ſie
ſo groß wie die Eltern waren. Es waren nun drei
Schwarzköpfchen. Da die Mutter ihre dunkeln Haare
noch immer ſchön und glänzend bewahrt hatte, war
[205] ſie das eine, Clementia war das zweite und das
braune Mädchen das dritte. Blondköpfchen waren
der Vater und Emma. Braunköpfchen war Sigis¬
mund allein. Auch ein Weißköpfchen war unter den
Kindern vorhanden — die Großmutter. Ihre Haare,
die grau waren, waren endlich ſo weiß geworden,
daß, wenn eine Loke neben der Krauſe der weißen
Haube zufällig hervor ſchaute, ſie von derſelben nicht
zu unterſcheiden war.
Emma war eine ſchöne Jungfrau geworden, die
ernſthaft blikte, blaue Augen im ſtillen Haupte trug,
die Fülle der blonden Haare auf den Naken gehen
ließ, und wie ein altdeutſches Bild war. Clementia
war roſig und zart, und das ſüſſe Feuer der ſchwar¬
zen Augen ſchaute unter den ſchwarzen Haaren
aus der Tiefe der Seele. Sigismund war muthig
heiter und frei, er war wirklich ein Mund des
Sieges; denn wenn ſeine Rede tönte, flogen ihm die
Herzen zu.
Es kamen aus der Nachbarſchaft Leute, Jünglinge
und Mädchen, ſelbſt aus der fernen Hauptſtadt kamen
Bekannte, die Bewohner des abgelegenen Hofes zu
beſuchen. Alle waren fröhlich, nur das braune Mäd¬
chen nicht. Seine Wangen waren, wie wenn es krank
wäre, und ſein Blik war traurig. Wenn alle freudig
[206] waren, ſaß es im Garten, und ſchaute mit den einſa¬
men Augen um ſich.
Eines Sommers an einem ſehr ſchönen Tage, da
Fremde da waren, da man in dem großen Saale des
Hauſes Tanz Klavierſpiel Pfänderſpiele und ſtädtiſche
Vergnügen trieb, gingen Vater und Mutter gegen die
Sandlehne zurük. Dort lag auf einem Sandhaufen
in ſeinen ſchönen Kleidern das braune Mädchen, und
ſchaute mit den verweinten Augen gegen die Erde.
Die Mutter näherte ſich, und fragte: „Was iſt dir
denn?“
Das Mädchen erhob ſich ein wenig, und da Vater
und Mutter ſich auf ein Bänkchen neben dem Sand¬
haufen nieder gelaſſen hatten, ſaß es ihnen gleichſam
zu Füſſen.
„Liebes theures Mädchen,“ ſagte die Mutter,
„betrübe dich nicht, alles wird gut werden, wir lieben
dich, wir geben dir alles, was dein Herz begehrt.
Du biſt ja unſer Kind, unſer liebes Kind. Oder haſt
du noch Vater und Mutter, ſo zeige es uns an, daß
wir auch für ſie thun, was wir können.“
„Sture Mure iſt todt, und der hohe Felſen iſt
todt,“ ſagte das Mädchen.
„So bleibe bei uns,“ fuhr die Mutter fort, „hier
iſt deine Mutter, hier iſt dein Vater, wir theilen
[207] alles mit dir, was wir haben, wir theilen unſer Herz
mit dir.“
Bei dieſen Worten brach das Mädchen in ein
Schluchzen aus, das ſo heftig war, daß es dasſelbe
erſchütterte, und daß es ſchien, als müſſe es ihm das
Herz zerſtoßen. Es fiel plözlich mit dem Angeſichte
gegen den Sand nieder, es drükte mit den Händen
ein Theilchen von dem Saume des Gewandes der Frau
in einen Knauf zuſammen, und preßte dieſen Knauf an
ſeine Lippen. Da es nach einem Weilchen die Hand der
Frau auf ſeinen dichten dunkeln ſchönen Loken ſpürte,
die dort ruhte, und freundlich drükte, ſprang es auf,
hob die Arme, die nun nicht mehr ſo voll und glänzend
waren, auf, ſchlang ſie feſt um den Naken der Frau, küßte
ſie auf die Wange, als müßte es Lippen und Zähne
in dieſelbe eindrüken, und weinte fort, daß die
Thränen über die Wange der Frau herab floßen,
und ihr Kleid benezten. Als ſich dieſes nach und nach
löste, als das Mädchen das Haupt zurük bog, und
nach dem Vater ſah, als es merkte, daß es dieſer bei
der Hand halte, daß er aber nicht ſprechen könne,
weil ſeine Augen in Waſſer ſchwammen: da konnte
es auch nicht mehr ſprechen, ſeine Lippen bebten, ſein
Herz hob ſich krampfhaft in kurzen Stößen, und ſo
ging es hinter die Glashäuſer zurük.
[208]
Der Vater und die Mutter wollten dem Mädchen
nicht folgen, damit es ſich einſam beruhigen könnte.
Sie dachten, es werde ſich geben.
Aber es gab ſich nicht. Sie ſahen das Mädchen
über die Sandlehne empor gehen, und ſahen es ſeit¬
dem nie wieder.
Da eine Zeit vergangen war, ohne daß das
braune Mädchen erſchien, meinten die Eltern und
Kinder, es ſei nur fort gegangen, und bleibe länger
aus, als man jezt glauben ſollte; aber als das
Ausbleiben bedenklicher wurde, ſtellte der Vater Nach¬
forſchungen an, und da das Mädchen immer nicht
kam, wurden dieſe Nachforſchungen mit allen Mitteln,
die es nur gab, betrieben. Aber ſie waren wie die
früheren ohne Erfolg. In der Nähe kannte man das
Mädchen als ein ſolches, das immer zu den Kindern
auf den Hof kam, und betrachtete es faſt als ein
Mitglied der Familie; in der Ferne wußte man gar
nichts von ihm. Alle Bewohner des Hauſes Vater
Mutter Kinder Großmutter waren betrübt, und die
Wunde wurde immer heißer.
Aber als Monate und Jahre vergangen waren,
milderte ſich der Schmerz, und die Erſcheinung ſank
wie andere immer tiefer in das Reich der Vergan¬
genheit zurük.
[209]
Aber vergeſſen konnte man das Mädchen nie.
Immer redeten alle beſonders die Kinder von ihm,
und als ſchon viele Jahre vergangen waren, als die
Großmutter ſchon geſtorben war, als der Vater ſchon
geſtorben war, als die Mutter eine Großmutter war,
als die Schweſtern Gattinen in fernen Gegenden
waren: war es Sigismund, wenn er auf den An¬
höhen ſtand, wo jezt das Bächlein mit den grauen
Fiſchlein recht klein geworden war, wo der hohe
Nußberg recht klein geworden war, als huſche der
Schatten des braunen Mädchens an ihm vorüber,
er fühlte ein tiefes Weh im Herzen, und dachte: wie
oft mußte es herüber gekommen ſein, wie oft mußte
es einſam gewartet haben, ob ſeine Geſpielen kämen,
und wie hat es ſeinen Schmerz, den es ſich in der
neuen Welt geholt hatte, in ſeine alte zurük getragen.
Er dachte: wenn dem Mädchen nur recht recht viel
Gutes in der Welt beſchieden wäre.
Stifter, Jugendſchriften. II. 14
III.
Bergmilch.
14*[[212]][[213]]In unſerem Vaterlande ſteht ein Schloß, wie man
in manchen Gegenden ſehr viele findet, das mit einem
breiten Waſſergraben umgeben iſt, ſo zwar, daß es
eigentlich ausſieht, als ſtünde es auf der Inſel eines
Teiches. Von ſolchen Vertheidigungsmitteln ſind ge¬
wöhnlich diejenigen Schlöſſer umgeben, die auf Flä¬
chen liegen, alſo das Vertheidigungsmittel des Waſ¬
ſers haben, aber dafür desjenigen entbehren, das ihre
ſtolzen Schweſtern auf hohen Bergen und ſchroffen
Felſen beſizen. Sie müſſen die geringere Sicherheit,
die ein Waſſergraben gibt, noch mit feuchter Luft mit
Fröſchequaken und Fliegenungeziffer erkaufen, wäh¬
rend ihre erhabenen Schweſtern zu dem größeren
Schuz der hohen Felſen noch die reine Luft und die
Ausſicht als Zugabe erhalten. Dafür können die
erſten ſich gegen Winterſtürme in ein ganzes Bett von
[214] Bäumen verhüllen, während die lezten dem Anfalle
der Winde ſo hingegeben ſind, wie ein Kieſel im
Fluße dem ewigen Glätten durch Waſſer. Seit aber
unſere Mitmenſchen nach und nach den Harniſch ab¬
gelegt haben, ſeit das Pulver erfunden worden iſt,
gegen welches ein Waſſergraben und ein hoher Fels
nichts nüzt, ziehen ſich die Mächtigeren von den Ber¬
gen und aus den Teichen heraus, und laſſen die
Trümmer wie ein abgelegtes zerriſſenes Kleid auf ihrem
früheren Plaze ſtehen. Wer aber nicht ſo mächtig und
reich iſt, der muß ſein früheres Haus bewohnen, und
ſich gegen die ſchlechten Einflüſſe ſo gut als möglich
zu ſichern ſuchen. So ſieht man noch manches be¬
wohnte Schloß in ſeinem Teiche wie einen Fehler
der Zeitrechnung ſtehen, und manches mit verwahrten
Fenſtern und Fenſterläden von einem Felſen hernieder
ſchauen. In dem einen verſumpft das Waſſer immer
mehr, in dem andern wird die Wetterſeite preis gege¬
ben, und die Zimmer ziehen ſich tiefer zurük.
Unſer zu Anfang dieſer Zeilen erwähntes Waſſer¬
ſchloß heißt Ar. Es iſt von den Beſizern in neuerer
Zeit etwas gethan worden, um die Lage zu erleich¬
tern. Es iſt ſtatt der früheren Bogenbrüke, die immer
ausgebeſſert werden mußte, und die an dem Schlo߬
thore gar in eine Zugbrüke endete, an welcher es ſtets
[215] Anſtände gab, ein großer feſter Steindamm gebaut
worden, auf dem eine mit runden Kieſeln gepflaſterte
und mit Mauern eingefaßte Straße läuft, auf welcher
man in geräumigen Wägen oder zu Pferde luſtig in
gerader Richtung von dem Schloſſe weg ſprengen
kann, während es früher noth that, daß man ſogar
mit einem Schubkarren ſehr ſachte fuhr, daß Zug-
und Bogenbrüke nicht beſchädigt würde. Der Gro߬
vater des lezten Beſizers hat ſogar mit vielen tauſenden
von Fuhren von Steinen und Erde aus ſeinem An¬
theile im Arwalde den Teich hinter dem Hauſe aus¬
füllen laſſen, hat Erde aufgeführt, hat Bäume
gepflanzt, und hat ſo den Garten ſeiner Wohnung
unmittelbar an das Gebäude angeſtoßen. Er hat da¬
durch der Feſtigkeit des Schloſſes, wenn es einer
bedürfen ſollte, nichts genommen; denn der Garten
iſt mit einer ſehr hohen ſehr alten ſehr diken und aus
Steinen gebauten Mauer umgeben, die ein Gitterthor
aus ſtarkem Eiſen hat, das auf das Feld hinaus führt.
Der Nachfolger hatte nichts gethan, und der lezte
Beſizer, der ein Junggeſelle geblieben iſt, und gar
keine Verwandten hatte, ſo daß er nicht einmal wußte,
wem er ſein Gut vermachen ſollte, hat gar keine Nei¬
gung verſpürt, das Erbe ſeiner Ahnen irgendwie zu
verändern. Und ſo ſtand das Gebäude noch da, wie
[216] es zu Großvaters Zeiten geweſen iſt, es hatte vor den
Fenſtern noch das Waſſer aus den Ritterzeiten und
aus dem Bauernkriege, und athmete noch die Sumpf¬
luft, und erlitt noch das Froſchgequaker und das
Mükenſtechen, wie es die Ritter und Bauern gelitten
hatten, die hier gehaust und gekämpft hatten.
Das Schloß hat allerlei Rundungen Bruſtwehren
dike Mauern kleine Schießlöcher und Dinge, die wir
heute nicht mehr begreifen, die aber ein ſolches Ge¬
bäude einſt ſehr feſt machten, und heute namentlich in
den Augen junger Leute ihm ein ſehr geheimnißvolles
und merkwürdiges Anſehen geben, beſonders wenn
noch eine Armſchiene oder ein Helm in irgend einem
Winkel des Hauſes gefunden wird. Was aber un¬
ſerm Schloſſe ein beſonders auffallendes Anſehen gibt,
iſt ein runder ſehr diker und ſehr hoher Thurm, der gar
kein Fenſter und alſo im Innern nur finſtere Räume hat,
der ſtatt eines Daches mit Steinen gepflaſtert iſt, die
das Regenwaſſer in einer Rinne an einer Stelle ab¬
laufen laſſen, und die mit einer vier bis fünf Fuß
hohen Mauer als Bruſtwehre umgeben ſind. Der
Thurm hat wahrſcheinlich, weil das Schloß in der
Ebene liegt, als Warte als Lug ins Land und bei
Belagerungen als Vertheidigungsmittel gedient. Jezt
ſind in ſeinen inneren Räumen, die wegen der Dike
[217] der Steinmauern ſehr kühl ſind, alle Gattungen von
Grünwaaren Gemüſen Kartoffeln Rüben ſelbſt Wein
und Bier aufbewahrt, denen man an kühlen Tagen
Luft durch geöffnete Zuglöcher zulaſſen kann. Die
Höhe des Thurmes dient jezt blos mehr zur Ausſicht,
welche aber leider nur in eine große fruchtbare Ebene
geht.
Der lezte Beſizer hat, wie wir ſagten, nie gehei¬
rathet. Er war der einzige Sohn ſeines Vaters von
der Mutter etwas verzogen und von der Natur wider¬
ſprechend ausgeſtattet. Während er nehmlich ein wun¬
derſchönes Angeſicht und einen ſehr wohlgebildeten
Kopf hatte, war der übrige Körper zu klein geblieben,
als gehörte er jemand anderem an. Er hieß im Hauſe
ſeines Vaters der kleine, obwohl es einen größeren
nicht gab, da er der einzige war. Er fuhr aber auch
fort, der kleine zu heißen, da er ſchon dreißig Jahre
alt war, und man nicht mehr daran denken konnte,
daß er noch wachſe. Er hieß auch auf der lateiniſchen
Schule und auf der Univerſität der kleine. Mit die¬
ſem Widerſpruche der Körpertheile war noch einer der
Geiſtesvermögen verbunden. Er hatte ein ſo reines
Herz, im Alter faſt noch knabenhaft rein, daß er die
Liebe und die Verehrung der Edelſten erworben hätte,
er hatte einen klaren ſicheren Verſtand, der mit Schärfe
[218] das Richtige traf, und den Tüchtigſten Achtung einge¬
flößt hätte: aber er hatte auch eine ſo bewegliche leb¬
hafte und über ſeine anderen Geiſteskräfte hinaus
ragende Einbildungskraft, daß ſie immer die Äuße¬
rungen ſeiner andern Geiſtesthätigkeiten zu Schanden,
und ſich in ſtruppigen wirren und zakigen Dingen
Luft machte. Wäre ſie bildend geweſen ſo wäre er
ein Künſtler geworden; aber ſie blieb nur abſchweifend
zerbrochen und herumſpringend, ſo daß er Dinge ſagte,
die niemand verſtand, daß er wizig war, daß er lä¬
cherlich wurde, und vor lauter Plänen zu keinem rech¬
ten Thun kam. Daraus folgte daß in ſeinem Leben
nur Anfänge ohne Fortſezung und Fortſezungen ohne
Anfänge waren.
Er wurde einmal, da ſein Vater und ſeine Mutter
ſchon todt waren, der Gegenſtand großer Zuneigung
eines Mädchens. Er liebte das Mädchen ſo ſehr, daß
kein Weſen auf der Erde war, dem er eine gleiche oder
nur annähernde Neigung hätte ſchenken können. Es
ſchienen alſo alle Bedingungen zu einer glüklichen Ver¬
einigung vorhanden zu ſein. Aber einmal machte er ſich
in Geſellſchaft vieler Menſchen durch ſeine Reden und
Wortſprünge ſo lächerlich, daß das Mädchen mit
Glut und Scham übergoſſen da ſaß. Er ſchrieb des
andern Tages an ſeine Braut, daß er ihrer unwürdig
[219] wäre, und daß er ſie nicht unglüklich machen könne.
Alle Zuredungen ſeiner Freunde waren umſonſt, das
Mädchen bereute bitter ſeine Empfindung, und be¬
weinte den Tag: aber es war vergebens, und die Ver¬
bindung blieb getrennt.
So kam er nicht dazu, ſeine Gaben beſonders ſein
Herz zu verwerthen, und lebte vereinzelt dem Alter
entgegen.
Da er einmal entſchloſſen war, ſich nicht mehr zu
verehlichen, machte er es ſich zur Aufgabe, ſich ſeinen
künftigen Erben zu ſuchen. Das Gut, das außer dem
Schloſſe in liegenden Gründen beſonders Wäldern
beſtand, und die landesüblichen Bezüge hatte, war
einſt ein landesfürſtliches Lehen geweſen, war aber
in Folge großer Verdienſte eines Ahnherrn mit Ab¬
findung entfernter Anwärter in wirkliches Eigenthum
übergegangen. Der Schloßherr, wie ſie ihn in der
ganzen Gegend nannten, konnte alſo mittelſt, Teſta¬
ment über das Gut verfügen. Er wollte aber der
geſezlichen Erbfolge zugethan bleiben, wollte dem,
der ihm, wenn er ohne Teſtament ſtürbe, geſezlich
folgen würde, auch teſtamentlich ſeine Nachlaſſenſchaft
zuwenden, nur wollte er den Erben vorher kennen
lernen, ob er der Erbſchaft auch würdig wäre.
Er ſchlug alſo das Ahnenbuch auf. Abkömmlinge
[220] von ihm waren natürlich nicht da. Alſo zu Geſchwi¬
ſtern. Die waren ebenfalls nicht da. Alſo zu den
Vorfahren. Vater und Mutter waren todt, beide hat¬
ten keine Geſchwiſter. Alſo zu den Großältern. Der
einzige Großvater väterlicher Seits hatte einen einzi¬
gen Bruder, deſſen nachkommende Linie aber erloſchen
war. Alſo zu den Urgroßeltern. Alle von ihnen ab¬
wärts gehenden Linien, die er in dem Buche verzeich¬
net fand, und in den Ländern erforſchte, reichten nicht
in die Gegenwart. Ihr Erlöſchen war ämtlich belegt.
Er ging eine Stufe höher, die Sache wurde immer
ſchwieriger. Aber alle Linien, die von allen Stufen
ſie mögen wie hoch immer ſein, hinab liefen, rießen
ab, ihr Abriß war beurkundet, und er kam endlich
dort an, wo nichts mehr zu wiſſen iſt, und wo keine
Abſtammung mehr erhellt, oder erweislich iſt. Nach¬
dem er ſo viele Reiſen gemacht, nachdem er einen
Theil ſeines Lebens damit zugebracht, nachdem er ſo¬
gar in den Zeitungen einen Aufruf hatte ergehen laſ¬
ſen, wer mit ihm verwandt ſei, möge ſich melden,
und nachdem manche gekommen waren, aber keinen
Beweis hatten beibringen können, gelangte er zu der
traurigen Entdekung, daß er ganz und gar keinen Er¬
ben beſize.
Er wollte daher wenigſtens für den Fall ſorgen,
[221] wenn er ſchnell und unverſehens von der Erde genom¬
men würde, und ſezte aus Vaterlandsliebe den Kaiſer
zum Erben ein. Er that das Teſtament in die Lade
ſeines Schreibtiſches.
Wenn er es auch aufgegeben hatte, ſein Herz
noch an eine Frau zu hängen, ſo war dies nicht auch
mit Freunden der Fall. Er hatte ſolche immer gehabt,
und da er alt wurde, bekam er derſelben noch mehr.
Ja ſogar die Frauen wurden ihm wieder zugethaner,
freilich nicht in dem Sinne, daß ſie ihn hätten
ehlichen wollen; denn da er älter wurde, ſtachen ſeine
Wunderlichkeiten, obwohl ſie noch größer geworden
waren, nicht mehr ſo hervor, ja ſie wurden, da ſie
von Wiz und Einbildungskraft unterſtüzt wurden,
zur Lebhaftigkeit, die einen alten Mann ganz beſon¬
ders ziert, und er wurde überall liebenswürdig ge¬
heißen. Auch ſeine körperliche Nichtſtimmung ver¬
ſchwand, da man Schönheit und [Übereinſtimmung]
bei einem Alten nicht ſuchte.
Unter ſeinen Freunden war der erſte und geliebteſte
ſein eigener Verwalter. Schon in früher Jugend —
und er iſt ſehr früh zum Beſize ſeines Vermögens
gelangt — ſah er ein, daß er durch ſeine Einbildungs¬
kraft ſich zu Verſuchen ſtetten Abänderungen ja zu
Vernachläſſigungen ſeines Anweſens hinreißen laſſe,
[222] die namentlich im Landbaue ſtets von ſchlechten Erfol¬
gen begleitet ſind. Daher ſah er ſich nach einem
jungen Manne um, der ihm ſein Vermögen verwal¬
ten könnte, und weil er mit ſeinem Verſtande ſehr
gut die Eigenſchaften anderer Menſchen abzuſchäzen
wußte, ſo gelang es ihm auch, einen ſehr tüchtigen
zu finden. Er erwarb ihn als Vorſtand ſeiner Güter
mit einem ſehr anſtändigen Gehalte und mit der Be¬
dingung, daß er ſich von niemanden etwas einreden
laſſe, am allerwenigſten von ihm ſelber. Der Ver¬
trag wurde unterzeichnet, und die Männer fuhren
recht gut mit einander. Der Verwalter verſtand ſeine
Sachen trefflich, machte das Gut nach und nach
immer beſſer, verliebte ſich in dasſelbe, betrachtete es
und behandelte es zulezt wie ſein eigenes, und ge¬
wöhnte ſich zu ſeinem Herrn zu ſagen, er ſolle ſich
nicht in fremde Sachen miſchen; nur daß ſie Geld
und Geldſachen in einer eigenen Truhe behandelten, zu
der jeder einen Schlüſſel hatte, daß ſie das Geld wie
das eines Dritten anſahen, und ſich ihre Bezüge
davon auszahlten. Der Verwalter hatte auch ſeine
Wunderlichkeiten, und ging namentlich in die Bücher
und politiſchen Anſichten ſeines Herrn ein, ſo daß ſie
ſich liebten, daß der Schloßherr immer auf ſeinem
Schloſſe blieb, und daß der Verwalter keine beſſere
[223] Stelle verlangte. Beide ſchienen dasſelbe Loos des
nicht verehlichten Lebens gezogen zu haben.
Aber wie die Schikſale der Menſchen wandel¬
bar ſind, der Verwalter gerieth noch in ſeinen vor¬
gerükteren Jahren in die Fallſtrike eines Mädchens,
und heirathete es.
Nun kam ein ganz ſeltſames Verhältniß über den
Schloßherrn. So wie der Verwalter ſich als Eigen¬
thümer des Gutes betrachtete, und ſelbes ſo behan¬
delte, ſo betrachtete ſich der Schloßherr als verheira¬
thet. Wenn ſein Verwalter immer auf den Feldern
Wieſen in den Wäldern war, und ſagte: mein Haber
meine Bäume, mein Holz, mein neugekauftes Feld;
ſo war der andere immer in dem Schloſſe, und ſagte:
unſer Kaſten, unſere Ausſicht, unſere neuen Geräthe,
unſere Kinder.
So wie der Verwalter und der Schloßherr früher
immer an demſelben Tiſche geſpeist hatten, ſo blieb
es auch jezt, und der Schloßherr ſpeiste mit der Fa¬
milie des Verwalters. Da einmal Kinder kamen, da
zeigte es ſich recht, wie ſehr der Schloßherr zu dem
Familienleben geeignet geweſen wäre; denn er war
ein Kinderfreund, und die Kinder merkten das ſehr
bald, und es kam die Thatſache zum Vorſcheine, daß
alle viere zu dem Schloßherrn „du“ ſagten, es war
[224] ihnen mit aller Strenge nicht abzugewöhnen, er war
froh darüber, und wäre betrübt geworden, wenn es
ihnen abzugewöhnen geweſen wäre. Die Schloßbe¬
wohner wohnten alle in demſelben Flügel, und wenn
ein Fremder gekommen wäre, der die Verhältniſſe
nicht gekannt hätte, ſo würde er geglaubt haben, der
Schloßherr ſei ein alter Verwandter, der unter ſeinen
Angehörigen ſeine lezten Tage zubringe.
Das erſte Kind, welches dem Verwalter geboren
wurde, war ein Mädchen. Es bekam den Namen
Ludmilla. Der Schloßherr wollte es nicht ſo nennen,
er nannte es nur immer abgekürzt Lulu.
Das zweite Kind war ein Knabe, Alfred, das
dritte ein Mädchen, Clara, und das vierte ein Knabe,
Julius.
Damit war die Reihe abgeſchloſſen, es erſchienen
keine mehr.
Lulu wuchs heran. Sie bekam die verſtändigen
ruhigen braunen Augen ihres Vaters und den lieb¬
lichen Mund der Mutter. Und wie ſie waren alle Kin¬
der das eine oder andere Gemiſch ihrer Eltern.
Sie begannen heran zu wachſen, der Schloßherr
führte ſie aller Orten herum, hatte ſeinen Stolz über
ſie, nahm ſtets immer ihre Parthei gegen die Eltern,
und hätte ſie, wären nicht andere treffliche Eigen¬
[225] ſchaften und Umſtände ins Mittel getreten, vollſtändig
verzogen.
Einer dieſer Umſtände war die Mutter ſelbſt. Sie
war eine gelaſſene vernünftige Hausfrau mit einem
wohlwollenden Herzen. Sie waltete in Reinlichkeit
Ordnung und Sittſamkeit im Hauſe, und dieſe Eigen¬
ſchaften verſtand ſie in einem gewiſſen Grade auch
ihrem Geſinde einzupflanzen und daher auch den
Kindern. Sie zankte nie, war aber unermüdlich, die¬
ſelbe Sache ſo oft zu befehlen, und thun zu laſſen,
bis ſie dem damit Beauftragten zur Geläufigkeit und
Gewohnheit war. Durch die Gleichheit und Heiter¬
keit ihres Weſens kam Gleichheit und Heiterkeit in
die Kinder, durch Abweſenheit jedes Harten Rohen
und Unziemlichen wurden ſie fein und anſtändig, und
beſonders war es die Scham, etwas Unrechtes zu thun,
was ihnen ein Beiſtand war, und das Erröthen war
eine harte Strafe, weil die Mutter ſelbſt mit großem
Ernſte allem aus dem Wege ging, was ſich nicht
ſchikte.
Ein zweiter Umſtand war der Vater. Die größte
Rechtlichkeit und Biederkeit in ſeinem Weſen verfehlte
nicht auf die Kinder, ſelbſt da ſie noch ſehr klein
waren, einen großen Eindruk zu machen. Er war
ihnen das Bild der Vollkommenheit und des Wiſſens,
Stifter, Jugendſchriften. II. 15[226] und als ihnen von dem Vater im Himmel erzählt
wurde, dachten ſie ſich denſelben ſo wie ihren Vater
auf Erden, nur älter. Sie hatten vor dem freundlichen
Vater, der nie einen Verweis ſondern höchſtens einen
Rath gab, mehr Furcht und Scheu als vor der oft
rügenden und ermahnenden Mutter.
Der dritte Umſtand war der Lehrer der Kinder.
So wie der Schloßherr ſich mit Umſicht einen Ver¬
walter ausgeſucht hatte, ſo ſuchte ſich der Verwalter
mit Umſicht einen Lehrer aus. Er brachte einen Mann
in das Haus, der in den Jahren ſchon etwas vorge¬
rükt ruhig und ernſt war, und von dem der Verwalter
wußte, daß er die Kinder bald ſehr lieben würde. Er
hatte einen kleinen Gehalt von einer frühern Erziehung
her, von der er, da er unverehlicht war, hätte leben
können; aber das Erziehen war ihm ſo zur Natur
geworden, daß es ihm eine große Freude gewährte,
daß ihm der Verwalter den Antrag machte, und daß
er die Laſt wie ein Geſchenk hinnahm.
Der Mann ſtimmte zu den beiden anderen Män¬
nern in Gutem und Thörichtem ſo, daß die
Leute halb im Ernſte halb im Scherze ſagten: „Nun,
der hat ihnen noch gefehlt.“
Er ſagte nach kurzer Zeit gleichfalls wie die zwei
andern Männer: „Mein Hausweſen, meine Kinder.“
Die Kinder liebten ihn ſehr, aber ſie nekten ihn
nie, was ſie mit dem Schloßherrn öfter thaten. In
verſchiedenen Abſtufungen hatten alle drei Männer
etwas Sonderbares, was die Kinder aber nur bei
dem ausgezeichnetſten bei dem Schloßherrn merkten.
Die Mutter allein war die immer klare und einfache.
Als Lulu heran wuchs, als ſie ſehr ſchön und lieb
zu werden verſprach, als ſie die großen Augen
demüthig niederſchlug, die Wimpern darüber hinab
zielten, und nicht mehr ſo oft wie früher ſich vorlaut
erhoben, als endlich auch noch das Lezte eintrat,
nehmlich ein oftmaliges heißes Erröthen ohne Grund
und Urſache: da ſchlich ſich der Schloßherr ein¬
mal leiſe auf ſein Zimmer, riegelte hinter ſich die
Thür zu, ging heimlich zu der Lade ſeines Schreib¬
tiſches, that ſie auf, nahm das Teſtament heraus, in
welchem er den Kaiſer zum Erben eingeſezt hatte, und
durchſtrich es ganz und gar. Dann ſchrieb er emſig
ein neues, und ſezte Lulus Namen hinein. Er warf
den andern drei Kindern Vermächtniſſe aus, die Lulu
auszuzahlen hatte, wodurch ſie Lulu zwar näher
kamen, aber ſie doch nicht erreichten. Als er das
gethan hatte, ging er mit einem glänzenden Angeſichte
in den Garten, als hätte er einen Schabernak verübt,
und freue ſich auf deſſen Bekanntwerden. Um gar kein
15*[228] Aufhebens zu machen, und keine Vermuthungen und
kein Gerede zu veranlaſſen, ließ er keine Zeugen unter¬
fertigen, ſondern that unſerm Geſeze, das er gut
kannte, damit Genüge, daß er am Eingange ſchrieb:
„Mit meiner eigenhändigen Schrift und Unterſchrift.“
Dennoch hätte Lulu einmal ſeine Gunſt und
wahrſcheinlich auch die Erbſchaft, von der ſie nichts
wußte, vom Grunde aus verſcherzt, hätte ſie ihn nicht
ohne ihr Wiſſen bereits ſo unterjocht gehabt, daß er
ſich nicht mehr aus der Sklaverei zu befreien ver¬
mochte.
Es waren jene traurigen Tage eingetreten, in
denen ein auswärtiger Feind den Boden unſers Vater¬
landes betrat, lange und wiederholt da verweilte,
und durch Schlachten ihn verwüſtete, bis er durch
jene ruhmwürdigen Anſtrengungen großer Männer,
an denen unſer Vaterland einen glänzenden Antheil
nahm, aus allen Fluren, wo man die deutſche
Sprache ſpricht, wieder verjagt wurde.
Schon bei dem Beginne der franzöſiſchen Kriege
kamen die drei Männer in die größte Aufregung. Sie
waren insgeſamt ſehr eifrige Vaterlandsfreunde, ließen
an den Franzoſen nichts gutes gelten, wünſchten ſie
nur bald geſchlagen aufgerieben vernichtet und zu
Grunde gerichtet. Am weiteſten ging hierin der
[229] Schloßherr, der in dem Angriffe gegen unſer Land
geradezu die unverzeihlichſte Schandthat erblikte, was
ſich ſchon aus ſeiner Anhänglichkeit an den väterlichen
Boden und aus der Thatſache erklären ließ, daß er,
ehe ihn ſein Herz anders verleitete, für ſeine Erbſchaft
keinen würdigeren Erben zu finden gewußt hatte als
den Kaiſer. Er meinte, die Franzoſen ſeien blos
Räuber und Mörder, man müſſe ſie ausrotten wie
Ungeziffer, und jeden und alle, wo ſie ſich bliken
ließen, erſchlagen, wie man einen Wolf erſchlage,
wenn er durch die Felder in den Hof herein gerannt
komme. Nicht einmal in dem Himmel gab er ihnen
einen Plaz, ſondern jeder mußte in die Hölle. Ob er
mit dem Erſchlagen, wenn es dazu gekommen wäre,
rechten Ernſt gemacht hätte, weiß man nicht, da bis¬
her keine Gelegenheit war, ſein Weſen bis zu thätigem
Ingrimme empor zu ſteigern.
Als die Franzoſen Fortſchritte machten, wurde es
noch ärger, die Männer redeten von nichts als Zei¬
tungen Nachrichten und dergleichen, und führten
grauſame Worte in dem Munde. Die Kinder wußten
von nichts, ſie hatten damals nur die Obliegenheit
zu wachſen, und waren die einzigen, die von den
Ereigniſſen unberührt blieben.
Die Mutter war in einer ſchmerzlichen Lage. Sie
[230] konnte jene hohe Freude nicht theilen, die die Männer
über jeden Vortheil hatten, den die Unſrigen errangen,
ſie fühlte nur die Wunden, die geſchlagen wurden,
ob ſie auch dem Feinde galten, und wenn ſie auch
wünſchte, daß Friede würde, und unſere Fluren von
dem Feinde befreit wären, ſo wünſchte ſie das nicht
durch Erſchlagen aller Feinde, ſondern nur durch ihr
Vertreiben, und ſie konnte es ſich nicht verhehlen,
daß es ihr ſehr widrig ſei, daß vernünftige Weſen
ihren Streit nicht in Vernunft und nach Gerechtigkeit
austragen können, ſondern daß ſie ſich gegenſeitig
dabei tödten, und ſie ſchalt die Wildheit der drei
Männer, welche auch nicht mehr die Thatſachen rechts
und links ſähen, ſondern nur den Feind im Auge hät¬
ten, auf den ſie blind los rennen wollten.
So waren die Sachen endlich zu jenem Stande
gediehen, da unſere Truppen auf unſerem Boden ge¬
ſchlagen ſich nach Norden zogen, um dort noch tiefere
und ſchmerzlichere Wunden zu empfangen, bis das
Maß voll war, bis das Gericht eintrat, und der Über¬
muth und die Willkühr wieder in ihre Grenzen zurük
geworfen, ja dort hart geſtraft werden ſollte.
Als unſere Truppen ſich damals vor dem Sieger
zurükzogen, geſchah es zum erſten Male, daß auch
eine Abtheilung unſerer Kriegsmacht und zwar eine
[231] Hauptabtheilung in die Gegend kam, in welcher das
Schloß lag. Den ganzen Tag waren Truppen ge¬
zogen, Richter Geſchworne Gemeindemänner hatten
zu thun, Vorſpann und Wegezeigung mußte geleiſtet
werden, und jedes Haus gab, was es vermochte.
Die Bewohner der Umgegend hatten herbeigebracht,
was ſie konnten, und hatten es auf dem Plaze des
Dorfes aufgehäuft.
Gegen Abend kam eine Abtheilung Ruſſen. Sie
ſchienen nicht mehr weiter gehen, ſondern hier Nacht¬
ruhe halten zu wollen. Sie ſchienen aber ihrer Sache
nicht ſehr gewiß zu ſein, und ſchikten ſich an, große
Vorſichtsmaßregeln zu treffen. Sie zerſtreuten ſich
nicht, wurden nicht in die Häuſer verlegt, und brachen
ihre kriegeriſch eingetheilten Glieder nicht ab. Von
der Umgegend mußte Stroh herbeigebracht werden,
das an jener Stelle zum Bette diente, an welcher der
Schlummernde aufſpringen, und ſogleich auf ſeinem
Plaze ſtehen konnte. Die Wachenden waren zur
Überſicht und Warnung verſendet, und ausgeſtellt.
Manche Abtheilungen lagen weiter zurük in den Fel¬
dern, und alle waren nach gewiſſen Anordnungen ver¬
theilt. Die Bewohner mußten Lebensmittel Brennbe¬
darf und andere Dinge herbeiſchaffen, und an be¬
ſtimmte Stellen abliefern. Sie durften aber nicht
[232] zwiſchen den Gliedern herum gehen, ſich nicht in die
kriegeriſchen Anordnungen eindrängen, und etwa da
Unordnung anrichten. Sie hatten Befehl, wenn die
Dämmerung eingetreten wäre, ihre Wohnungen nicht
mehr zu verlaſſen.
Daß das alles die größte Aufregung unter den
Bewohnern hervor brachte, läßt ſich denken. Sie
gaben ihre Beiträge gerne, ſie hätten alles gegeben,
wenn ſie den Sieg hätten auf unſere Seite bringen
können; aber ſie waren unruhig, was die Nacht was
der kommende Tag bringen könnte. Daß kein einziger
an Ruhe dachte, iſt begreiflich.
Der Schloßherr hatte ſeine Vorrathskammer ſeine
Speicher ſeine Küche und ſeinen Keller geöffnet, er
gab mehr als gefodert wurde, und er ſandte unter
Tags Knechte mit Wägen an entfernte Stellen ſeines
Gutes, wo er Scheunen und Getreideböden hatte,
um Vorrath herbei zu führen, wenn etwa der folgende
Tag noch etwas in Anſpruch nehmen ſollte.
So war die Nacht herein gebrochen. Sie war
dunkel, weil es ſpäter Herbſt war und weil tiefe
Wolken den Himmel bedekten.
In den Häuſern des Dorfes waren Lichter, weil
die Leute nicht ſchlafen gingen. Es war ſtille, nur
daß ein gedämpfter Ruf der Wachen oder das Klirren
[233] und der Stoß einer Waffe die Ruhe zuweilen unter¬
brach.
Die ganze Familie des Schloſſes, ſelbſt Geſinde
eingerechnet, war in der ſogenannten Gartenhalle
untergebracht. Die Gartenhalle iſt ein großes Gemach
und heißt deßhalb ſo, weil es rükwärts gegen den
Garten liegt. Es iſt gewölbt, hat ſehr ſtarke dike
Steinmauern, die Fenſter ſind mit eiſernen Stäben
verſehen, und die Geräthe ſind ſehr alt, und ſehr
ſtark. Man kam gerne im Sommer dahin, weil das
Gemach kühl war, und weil die grünen Zweige ſehr
anmuthig an den Fenſtern ſpielten. Im Winter war
es häufig an den langen Abenden der Aufenthalt der
Mägde, die da ſpannen oder andere Arbeiten verrich¬
teten, weil es ſich gut heizen ließ, und nicht ſelten
geſchah es, daß die Verwalterfamilie der Schloßherr
und der Lehrer herab kamen, man verſammelte ſich um
den Ofen, und gerieth öfter in das Erzählen von
Märchen und Geſchichten.
Daß man gerade heute dieſes Gemach zum Auf¬
enthalte gewählt hatte, war das Werk des Vaters.
Wenn es doch zu etwas kommen ſollte, und Kugeln
fliegen würden, war man hier für die erſten Augen¬
blike am ſicherſten. Gegen das Dorf und den Teich
hin war man durch die ganze Dike des Schloſſes gedekt‚
[234] gegen die Seiten ſchüzte die halbe Schloßlänge, weil
das Gemach in der Mitte lag, und gegen den Garten
der Garten, der ſehr lang war, und daher den Lauf
einer Kugel ſchwächte, und der in der Nähe der Fen¬
ſter des Gemaches ſeine dikſten und dichtſtehendſten
Bäume hatte, die ſie auffangen konnten. Man hatte
beſchloſſen, die ganze Nacht da zuzubringen. In
keinem anderen Theile des Schloſſes war ein Licht.
Nur ein paar Knechte, die in dem Meierhofe waren,
hatten eins in ihrer Stube, das aber bald erloſch, da
ſie ſchlafen gingen. Die Mägde aber waren alle in
der Gartenhalle, und ſpannen.
Als man ſich in die Lage geſezt hatte, die jedem
zuſagte, als die zwei kleineren Kinder eingeſchlafen
waren, die zwei größeren in der Nähe der Mutter bei
dem Ofen ſich zuſammen gekauert hatten, und die
Spinnräder ſchnurrten, kam man wieder ins Erzählen
aber heute mit Eifer in das der Kriegsereigniſſe, und
zwar noch dazu in die Färbung, wie ſie der Leiden¬
ſchaft eines jeden zuſagte.
Als der Lehrer eine vergleichende Thatſache aus
der alten Geſchichte erzählt hatte, ſagte der Schlo߬
herr: „Da machten es die Tiroler noch beſſer und
heißer; als die Franzmänner durch das Thal der
Gleres herunter zogen, war kein Menſch in dem
[235] Dorfe. Die Männer waren mit ihren Stuzen in die
Steine hinauf gegangen, die zu beiden Seiten der
Straſſe empor ragen, und die Weiber und Kinder
waren noch viel höher in den Wald und gar bis gegen
den Schnee hinan gebracht worden. Nur ein achtzig¬
jähriger Zimmermann, der keinen Freund und keinen
Feind hatte, war im Dorfe zurükgeblieben. Er ſtand
hinter ſeiner Scheuer, und hatte den Stuzen geladen.
Als die ſchneeweißen Mäntel kamen — denn die Rei¬
terei der Franzoſen hatte weiße Mäntel, und war in
der Vorhut — hielt er den Athem an, und gebrauchte
die Augen. Der beſte Federbuſch, der in der Mitte
wehte, ſchien dem Vornehmſten anzugehören, weil
die andern ihm Ehrfurcht erwieſen. Der Zimmermann
ſprang hinter der Scheuer hervor, legte an, ein Rauch
— ein Bliz — ein Krach — der Federbuſch war ver¬
ſchwunden, und der Reiter lag todt unter dem Pferde.
Sie hieben im nächſten Augenblike den Zimmermann
zuſammen, er lachte in ſich, und ließ es geſchehen.
Jezt ſprengten ſie in das Dorf, durchſuchten alles,
fanden keinen Menſchen, fanden keine Schäze, und
da ihre Kameraden die Fußgänger nachgekommen
waren, zündeten ſie das Dorf an allen Eken an, und
zogen weiter. Es ging ganz gut, ſie zogen in der
Stille der Berge fort, bis das Thal enger wurde,
[236] und die Gleres an der Straſſe rann. Da wurden die
Klippen lebendig, lauter Rauch und lauter Blizen
und Krachen, und auf jeden Schuß fiel ein Mann,
und es wurde immer geladen, und es krachte immer
wieder, als ob ihrer viele Tauſende oben wären; und
wenn die Soldaten hinauf ſchoſſen, ſo trafen ſie
niemand, weil ſie niemand ſahen, und wenn ſie
hinauf wollten, ſo konnten ſie nicht, weil die Felſen
zu ſteil waren, und weil ſie erſchoſſen wurden. Und
als ſie ſich beeilten, und im Laufe fort wollten, um
aus dem entſezlichen Wege zu kommen, und als ſie
gegen den Ausgang gelangten, wo die Straſſe durch
die engſten Schluchten läuft, da ſprangen unzählige
Felsſtüke von den Bergen nieder, aufgehängte Bäume
rollten herab, ſchmetterten alles nieder, machten
in der Enge einen Verhau, die Franzoſen konnten
nicht vor, ſie mußten zurük, ſie flogen, ſie rannten
— da hatten ſie aber das brennende Dorf, das ſie
ſelbſt angezündet hatten unter den Füſſen, die hölzer¬
nen Häuſer waren alle in Glut, daß man nicht
zwiſchen ihnen durch konnte. Da waren ſie in der
Noth, da war mancher ſchneeweiße Mantel ein rother,
mancher ſchwamm in der Gleres, mancher lag auf
der Deke des Pferdes, ohne daß der Reiter dabei
war, viele Männer lagen auf der Straſſe, viele ver¬
[237] brannten, und wenige kamen auf einſamen Pfaden
nur durch, um draußen zu ſagen, was ihnen begeg¬
net ſei, oder um auf ihren Irrwegen von den Land¬
leuten gefangen und erſchlagen zu werden.“
Da es nach dieſer Erzählung eine Weile ſtill war,
ſagte er: „So ſollten wir es auch machen, wir haben
zwar keine Berge und keine engen Thäler, in denen
wir auf ſie warten könnten, wie die Tiroler; aber
wir ſollten uns zuſammen thun wie ſie, wir ſollten
Waffen tragen, uns üben, uns verabreden, Kundſchaft
einziehen, und wenn wir erfahren, daß ein Trupp,
dem wir gewachſen ſind, durch einen Wald oder Buſch
oder Hohlweg zieht, ſollten wir ihm auflauern, und
alle, die er enthält, erſchießen. In den obern Ländern
ſind in ein Seitendorf, ich weiß nur ſeinen Namen
nicht zu nennen, ich habe mir die Sache erzählen
laſſen, zwölf franzöſiſche Reiter gekommen, um zu
plündern. Die Bauern verſtanden aber die Sache
ſchlecht, und überfielen ſie, da ſie in einem einſamen
Wirthshauſe zechten, und ſchlugen ſie bei einem ein¬
zigen todt. Die Pferde, welche im Hofe angebunden
waren, trieben ſie weit nach Ungarn, und verkauften
ſie, die Sättel die Kleider die weißen Mäntel und die
Waffen verbrannten ſie im Feuer. So mögen manche
Feinde von ihrer Hauptabtheilung weg gekommen,
[238] nicht mehr zurük gelangt ſein, und niemand weiß,
wohin ſie gerathen ſind.“
„Aber,“ ſagte die Mutter, „wenn es ſchon unter
den Völkern feſtgeſezt iſt, daß die Kriege durch die
Armeen ausgefochten werden, ſo ſollten die Bevöl¬
kerungen ſich ruhig verhalten, und die Sache in die
Hände des Heeres legen. Einen einzelnen Feind, der
ſich harmlos nähert, zu erſchlagen, ſcheint mir ein
ſündlicher Mord zu ſein.“
„Sie nahen ſich aber nicht harmlos,“ ſagte der
Schloßherr, „wie haben ſie nur in ihrem eigenen
Lande gewirthſchaftet, ſie haben ihre Landsleute er¬
würgt erſäuft erſchoſſen enthauptet, weil ſie ihnen
verdächtig waren, oder den König liebten, und dann
ſind ſie heraus gegangen, und wollten es bei uns
auch ſo machen. Wir ſollten gegen einander ſein, und
das Land in Zerwürfniß bringen daraus es kaum ent¬
rinnen könnte. Darum ſollen wir ſie verfolgen, ausrot¬
ten, vertilgen, wie wir nur können; und wenn ſie dar¬
über zornig werden, und wüthen, ſo iſt es nur deſto beſ¬
ſer, damit die Menſchen es nicht mehr ertragen können,
ſich zuſammen thun, und ſie aus dem Lande jagen,
daß kein Huf und kein Helmbuſch von ihnen mehr bei
uns iſt. Wenn morgen die Franzoſen nachkommen
können Dinge geſchehen — wer weiß, was geſchieht.“
Während er ſo ſprach, hörten die Dienſtleute zu,
die Mägde hatten das Spinnrad ſtill ſtehen laſſen,
die Knechte, die da waren, ſahen ihn an, und der
Verwalter und der Lehrer blikten vor ſich. Es war
mittlerweile ſo finſter geworden, daß es ſchien, als
wären die Fenſter des Gemaches nur ſchwarze Tafeln,
von draußen hörte man nicht das Geringſte herein,
und nur die Uhr pikte eintönig an der Wand. Die
zwei jüngſten Kinder ſchliefen feſt, Alfred kauerte
neben der Mutter und fürchtete ſich, Lulu ſtand neben
ihm, und half fürchten.
In dieſem Augenblike regte ſich ein leiſes Geräuſch
an der Klinke der Thür, die Thür öffnete ſich, und
es trat ein Mann herein, der einen glänzenden Helm
auf hatte, und in einen langen weißen Mantel ge¬
wikelt war.
Alle ſchauten auf ihn.
„Ich habe Licht durch dieſe Fenſter ſcheinen ge¬
ſehen,“ ſagte er in guter deutſcher Sprache, „und bin
herein gekommen, eine Bitte vorzubringen.“
„Und welche?“ fragten der Verwalter und der
Schloßherr zugleich.
„Sie werden mir gefälligſt auf die Spize des
diken Thurmes folgen,“ ſagte der Fremde, indem er
auf den Verwalter zeigte.
[240]
Er hatte hiebei den einen Arm erhoben, den
Mantel gelüftet, und man ſah, daß er in der Hand
des anderen Armes eine doppelläufige Piſtole habe.
„Wer kann das fodern, ich bin hier der Gebieter,“
rief der Schloßherr.
„So? Sie ſind der Gebieter,“ ſagte der fremde
Mann, „Sie gehen auch mit hinauf.“
Hiebei griff er mit der freien Hand auf die Piſtole,
und ſpannte beide Hähne, daß man ſie knaken hörte.
„Sie werden eine Laterne auf die Treppe mit
nehmen, und vor mir gehen,“ fuhr er fort, „es wird
keinem ein Haar gekrümmt, ſo lange alles ruhig aus¬
geführt wird. Wenn ich aber Verrath merke, muß
ich von den Waffen Gebrauch machen, es geſchehe
dann, was wolle. Bleibt hier ruhig ſizen, ihr andern,
bis ſie wieder zurükkehren.“
Er war mit dem Rüken gegen den Thürpfoſten
ſtehen geblieben, hatte die Piſtole in der Hand, und
ſah alle an.
„Es iſt nichts, ſeid nur ruhig, und ihr folgt uns,“
ſagte der Verwalter, indem er den Schloßherrn bei
der Hand nahm, „und ihr verlaßt keines das Gemach,
bis wir wieder kommen.“
Er langte bei dieſen Worten mit der Hand nach
der Laterne, die neben dem Weihbrunnenkeſſel hing,
[241] machte ſie auf, zündete das Stümpfchen Kerze in der¬
ſelben an, ſchloß ſie wieder gut zu, ſchritt in die
Stube vor, und ſagte: „Wenn es gefällig iſt.“
Der fremde Mann ließ, indem er ſich ſeitwärts
ſtellte, den Verwalter und Schloßherrn bei der Thür
hinaus, und folgte ihnen dann, mit dem Körper
ſeitwärts gewendet, daß er die in der Stube und die
Vorangehenden zugleich überbliken konnte.
Die Zurükgebliebenen hatten kein Wort geſagt,
die Sache war eines Theils ſo ſchnell vor ſich ge¬
gangen, und die Ruhe des Verwalters hatte ihnen
anderen Theils Vertrauen eingeflößt.
Die zwei Männer gingen mit der Laterne den
Gang entlang, der zu dem Thurme führte, der
Fremde folgte ihnen, daß ſie die Sporne, die er an
den Füſſen hatte, ſtets hinter ſich klirren hörten.
Sie kamen an die Treppe, und ſtiegen hinan.
Als der Fremde merkte, daß ſie bald oben ſeien, be¬
fahl er ihnen, ſtille zu ſtehen, die Laterne auf eine
Stufe zu ſtellen, zu öffnen, und mehrere Stufen auf¬
wärts zu gehen.
Als ſie das gethan hatten, näherte er ſich der La¬
terne, zog aus ſeiner Manteltaſche ein ſehr kleines
Laternchen heraus, zündete ein faſt unſcheinbares
Lichtchen in demſelben an, ließ die andere Laterne auf
Stifter, Jugendſchriften. II. 16[242] der Treppe ſtehen, ſtieg gegen die Männer, die indeſſen
gewartet hatten, hinan, und befahl ihnen, weiter zu
gehen.
Als man auf das Steinpflaſter des Thurmes
hinaus gekommen war, welches, wie oben geſagt
wurde, die Stelle des Daches vertrit, hieß er die
Männer an einem Plaze der Bruſtwehre, wo er ſie
ſehen konnte, ſtehen bleiben, er ſelber ging an eine
andere Stelle der Bruſtwehr, ſtellte ſein ſehr kleines
Laternchen darauf, legte die Piſtole daneben, zog eine
Brieftaſche heraus, und fing an, bei dem Scheine ſeines
Lichtchens in dieſelbe zu ſchreiben oder zu zeichnen. Die
Nacht war ſo finſter, daß man von der Gegend nichts
ſah als einen einzigen ſchwarzen Raum, in welchem
die Lichter und Wachfeuer wie rothe Sternchen ſich
zeichneten. Von dem Dorfe ſah man nichts als den
Umriß mancher Dächer und der Kirche. Von dem
Plaze war ein Theil durch die Feuer der Truppen
beleuchtet.
Als der Fremde eine Weile gezeichnet oder geſchrie¬
ben hatte, ſtekte er ſeine Brieftaſche wieder ein, nahm
ſein Laternchen in die eine ſeine Piſtole in die andere
Hand, und hieß die Männer vor ſich hinab gehen.
Als man zu der Stelle gekommen war, wo die
Laterne ſtand, mußten ſie dieſelbe nehmen, und den
[243] Mann in der Weiſe, wie man herauf gekommen war,
wieder zurük führen.
Da man an der Thür der Gartenhalle ange¬
kommen war, ſagte der Fremde, daß ihn nun die
zwei Männer auch durch den Garten bis zu dem
Gitter, das auf das Feld hinaus führt, begleiten
müßten. Wenn er außerhalb des Gitters wäre,
könnten ſie zurük kehren. Die Laterne müßten ſie in
dem Thorwege, der an der Halle vorbei führt, ſtehen
laſſen.
Der Schloßherr und der Verwalter gingen alſo
in dem finſtern Garten vor dem Fremden her.
Nicht weit von dem Schloſſe fand man ein Pferd
an einem Baume angebunden. Der Fremde löste es
los, ſchlang den Zügel um den Arm, und führte es
hinter ſich her. Er führte es nicht auf dem Garten¬
wege, auf dem die zwei Wegweiſer gingen, ſondern
auf dem Raſen daneben, damit die Hufſchläge nicht
gehört würden.
Als man in die Nähe des Gitters kam, zeigten
ſich dunkle Geſtalten an demſelben. Der Fremde
näherte ſich den beiden Vorgängern plözlich und
flüſterte ihnen zu: „Halt.“
Dann ſchaute er ſehr lange und, wie es ſchien,
anſtrengend auf die Geſtalten.
16*[244]
Endlich ſagte er ſehr leiſe, ſie ſollten ihn wieder
zu der Halle zurük führen.
Sie thaten es, er zog ſein Pferd hinter ſich her.
Da ſie bei der Halle angekommen waren, befahl
er ihnen, das Thor, welches den an der Halle vor¬
beiführenden Thorweg ſchloß, und überhaupt das
Hauptthor des Schloſſes war, zu öffnen.
Der Verwalter ging um den Schlüſſel, während
der Schloßherr in der Gewalt des Fremden bleiben
mußte, und da der Verwalter aus der Gartenhalle,
in welcher ſich der Schlüſſel befunden hatte, heraus
trat, folgten ihm auch neugierig die Leute, die in der
Halle geweſen waren. Der Fremde hielt ſich an ſein
Pferd, hatte den Schloßherrn immer im Auge,
und die Piſtole in der Hand. Der Verwalter und
ein Knecht ſperrten das Thor auf, thaten im Later¬
nenſcheine den großen eichenen Querbalken weg, öff¬
neten die beiden Flügel, daß man in den ſchwarzen
Raum hinaus ſah.
„Thut die Laterne zurük,“ ſagte der Fremde.
Als man das gethan hatte, ſchaute er eine Weile
ſcharf bei dem Thore hinaus, den Blik aber jeden
Augenblik kurz auf den Schloßherrn richtend, daß
derſelbe ſich nicht entfernen konnte. Dann, ſoweit
man bei dem Scheine der Laterne beurtheilen konnte,
[245] richtete er etwas an dem Pferde, prüfte anderes, und
da es gut befunden war, ſchwang er ſich hinauf. Da
er einmal oben ſaß, war es nur ein Augenblik, in
welchem er ſich gleichſam feſt zu ſezen ſuchte, dann
gab er die Sporen, that einen Ruf, und mit
einer ſo fürchterlichen Schnelligkeit, daß man kaum
mit den Augen bliken konnte, daß die Funken in
Schwärmen ſprühten, flog er über den Steindamm
hinaus. Als er jenſeits war, wie man aus dem
ſchwächeren Hufſchlage ſchließen konnte, ſchoß er rechts
und links einen Piſtolenſchuß ab, worauf ſogleich
Blize hinter ihm ſichtbar wurden, Schüſſe krachten,
Geſchrei ſich erhob, und ſich ferner zog.
„Das iſt ein Mann,“ rief Lulu jubelnd.
„Du Scheuſal, du kleine Ausgeburt,“ ſchrie der
Schloßherr, „du fällſt in Bewunderung unſern Fein¬
den zu.“
„Er iſt ja kein Franzoſe,“ antwortete Lulu, „er
ſpricht ſo ſchön deutſch.“
„Um ſo ſchlechter, um ſo tauſendmal ſchlechter iſt
er, ſagte der Schloßherr, „als ein Deutſcher ſollte er
lieber in die fernſten Gegenden ziehen, und betteln,
ehe er mit dem Erzfeinde ſich verbindet, ja er ſollte
lieber den Tod leiden. So aber nimmt er von unſerem
Thurme die Stellung der Verbündeten auf, verräth
[246] ſie, und wir werden es morgen früh ſchon ſehen, wenn
ſie ihn nicht nieder geſchoſſen oder erwiſcht haben.“
„Er rennt mit ſeinem Pferde an ein Haus an,
und zerſchmettert ſich und das Thier,“ ſagte eine
Magd.
„Der rennt nicht an,“ erwiederte ein Knecht, „er
ſieht ſich die Sache gut zuſammen, und verſteht ſein
Ding.“
„Er iſt doch ein Mann, wenn er auch ein Feind
iſt,“ ſagte Lulu.
„Warum haſt du ihn denn nicht umgebracht, da
er einen weißen Mantel hat?“ fragte Alfred den
Schloßherrn.
Dieſer ſchaute den Fragenden an, und antwortete
nicht.
„Kinder, Leute, wir werden hier bald ein anderes
Schauſpiel haben,“ ſagte der Verwalter, „dieſer kühne
Mann mag nun umgekommen ſein oder nicht, er iſt
ein Feind, wie ſich aus ſeinem Thun gezeigt hat, er
iſt aus unſerem Schloſſe in unſere Verbündeten ge¬
ſprengt, bald werden ſie da ſein, und werden Rechen¬
ſchaft fodern. Sehe jeder, daß er ſich genau merke,
wie die Sache, bei der er war, hergegangen iſt, damit
er die Wahrheit bekennen könne, daß ſich keine Wider¬
ſprüche finden, die uns arge Dinge bereiten könnten.
[247] Die Soldaten im Dorfe draußen ſind auf dem Rük¬
zuge begriffen, und ſind erbittert. Laßt uns das Thor
wieder ſchließen, aber bei dem erſten Stoße an das¬
ſelbe es gerne und ſchnell öffnen. Bis dahin gehen
wir wieder in die Gartenhalle.“
Die Knechte ſchloſſen das Thor, thaten den
Eichenbalken vor, gaben dem Verwalter den Schlüſ¬
ſel, und man ging mit der Laterne wieder in die
Halle.
Man war noch nicht lange dort, als ſich Schläge
an das Thor vernehmen ließen.
Die Mutter that einen ſchwachen Schrei, und
bewegte ſich gegen den Vater hin. Dieſer beruhigte
ſie, ließ das Thor öffnen, und ging ſelber den Ein¬
tretenden mit einem Lichte entgegen. Es waren zwei
Vorgeſezte mit Begleitung von Soldaten. Der Stein¬
damm war mit Soldaten bedekt.
„Sind noch mehrere Feinde hier?“ fragte einer
der Vorgeſezten in ziemlich verſtändlicher deutſcher
Sprache.
„Es war der Einzige, der eben hinaus geritten
iſt,“ antwortete der Verwalter.
Sofort ließ der Krieger alle Aufgänge alle Thüren
und die Ausgänge in den Garten mit Mannſchaft
beſezen. Die Schloßleute wurden in der Halle be¬
[248] wacht, und der Schloßherr und der Verwalter mußten
unter Bedekung von Soldaten in alle Räume des
Schloſſes gehen, daß man dieſelben unterſuchte.
Der Schloßherr war viel geſelliger geſprächiger und
freundlicher gegen die jezigen vielen bewaffneten Sol¬
daten, die ihn begleiteten, als er es früher gegen den
einzigen geweſen war. Als man nirgends etwas
Verdächtiges fand, kehrte man zu der Gartenhalle
zurük. Den Garten unterſuchte man nicht, nur
wurden die Ausgänge aus dem Schloſſe zu ihm ſehr
verrammelt, daß ein Feind, wenn einer im Garten
wäre, ſchon dadurch gefangen war.
Dann ſchritt man zum Verhöre. Der Verwalter
erzählte die Sache, wie ſie ſich begeben hatte. Er
ſtellte die Vermuthung auf, daß der Fremde durch den
Garten gekommen ſein müſſe, weil das Thor gegen
das Dorf geſchloſſen geweſen ſei, und in dem Dorfe
ſich ja die Verbündeten befunden hätten. Wenigſtens
habe der Fremde durch den Garten fort gewollt, dies
werde ſich ſehr deutlich in den Fußſtapfen und nament¬
lich in den Hufſpuren im Graſe zeigen, wenn man ſie
morgen bei Tag unterſuchen wolle.
„Man wird die Sache unterſuchen,“ ſagte der Krieger.
Hierauf wurde der Schloßherr abgeſondert ver¬
nommen, und dann alle andern, ſelbſt die Kinder.
[249]
Als dieſes vorüber war, wurden die Männer in
ein Gewölbe des Thurmes abgeführt, dort einge¬
ſperrt, und bewacht. Die Weiber und die Kinder
wurden in der Gartenhalle gelaſſen, wurden aber
dort ebenfalls eingeſperrt, und bewacht.
Von da an verging die Zeit, die Ängſtlichkeit
und die Beſorgniß abgerechnet, ruhig. Nicht ein
Laut war zu vernehmen als zuweilen der Schritt
einer Wache vor der Thür das Raſſeln eines Geweh¬
res oder ein Kolbenſtoß. An dem Himmel war kein
Lüftchen, die Wolken ſchienen unbeweglich dort zu
ſtehen, und die Wipfel der Bäume im Garten regten
ſich nicht. Unter dieſen Betrachtungen brachten die
Gefangenen der Gartenhalle die Nacht zu. Daß kein
Schlaf in ihre Augen kam, iſt begreiflich. Wohin
man die Männer gebracht hatte, wußten ſie nicht.
Als endlich das Morgengrauen anbrach, hörte
man verworrenes Getöſe wie Fahren Reiten Gehen
Rufen, man hörte endlich Hörnerklänge Trompeten
und Trommeln, aber alles gedämpft, da es von der
entgegengeſezten Seite des Schloſſes herkam. Sehen
konnte man nichts, da die Thür verſchloſſen war,
und vor den Fenſtern nur die Bäume des Gartens
ſtanden, deren dunkle Wipfel ſich immer deutlicher ge¬
gen den grauen lichter werdenden Himmel zeichneten.
[250]
Endlich geſchah ein dumpfer ferner Schlag, der
aber ſo ſchwer war, daß die Luft beinahe erzitterte.
Gleich darauf ein zweiter. Sie folgten nun ſchneller,
und es war beinahe wie ein entfernter Donner, der
ſo tief ging, daß manchmal die Fenſter leiſe klirrten.
Die Trompetenklänge das Blaſen der Hörner das
Wirbeln der Trommeln nahm in der Nähe zu.
Der Tag wuchs immer mehr dem Morgen entgegen.
Das Rollen des Donners kam näher, es ging in
ein Krachen über, und hinter den Gipfeln der Bäume
ſtieg ein weißer Rauch auf. Endlich krachte es auch
ganz nahe an dem Schloſſe, man konnte nicht erken¬
nen, woher es kam, bald war es rechts bald links,
bald vorn bald hinten, bald mehr bald weniger, aber
furchtbar war es, daß das Gemach ſich zu rühren
ſchien; und wenn der kleinſte Zwiſchenraum eintrat,
ſo hörte man einen Ton, wie wenn unzählige Hölz¬
lein an einander geſchlagen würden, es waren die
Schüſſe der kleinen Gewehre. Sogar die Trommeln
konnte man zuweilen vernehmen.
Der Rauch war endlich ſo in den Garten gedrun¬
gen, daß er wie ein Nebel in den Bäumen war.
Er vermehrte und verdichtete ſich ſtets, daß kaum die
nächſten Stämme zu ſehen waren. Im Zimmer ent¬
ſtand übler Geruch.
[251]
Als dieſes lange gedauert hatte, zog ſich der
Donner auf der entgegen geſezten Seite in die Ferne,
das Rollen wurde dumpfer, einzelne Schläge waren
in der Nähe noch zu vernehmen, aber man hörte
Geſchrei Brauſen und verworrenes Getöſe. Zulezt
wurde auch das immer ſchwächer, man hörte nichts
mehr, der Rauch zog ſich langſam aus den Bäumen,
die Wolken waren auch gleichſam durch den Schall
verjagt worden, und die Sonne, die Anfangs als eine
rothe Scheibe in dem Rauche geſtanden war, glänzte
endlich freundlich auf den Garten herunter.
Die Frauen in der Halle warteten lange. Als
aber gar kein Ton ſich vernehmen ließ, als ſie auch gar
kein Geräuſch von der Wache vernahmen, die außer
der Thür war, ſo riefen ſie auf dieſelbe. Sie er¬
hielten keine Antwort. Sie riefen noch einmal, und
ſtärker, aber erhielten wieder keine Antwort. Da ver¬
ſuchten ſie an der Thür und an dem Schloſſe zu
rütteln. Von Außen erfolgte kein Zeichen und kein
Widerſtand. Nun riſſen ſie wirklich mittelſt Beilen
und Stemmeiſen, die in der Gartenhalle als brauch¬
bare Werkzeuge immer vorräthig waren, das Schloß
herunter, und öffneten die Thür. Kein Menſch war
vor derſelben. Die Thorflügel ſtanden weit offen.
Im Dorfe rauchte noch kohlendes Stroh, und von
[252] einer entfernten Hütte, die brannte, ging Rauch auf.
Sonſt ſah man keine Beſchädigung, aber man ſah
auch keinen Menſchen im Dorfe. Unter dem Schwib¬
bogen des Thores lag eine eiſerne Kugel, und eine
andere ſtak in der Mauer des Schloſſes.
Als man noch ſo ſchaute, hörte man plözlich
Geraſſel und Getrappe rennender Pferde, und in dem
Augenblike kam um eine Eke der Häuſer ein Schwarm
weißer Reiter, bog gegen das Schloß, und ritt über
den Steindamm herein. Lulu rief beinahe vor Freude
auf, als ſie an ihrer Spize den Mann im weißen
Mantel erblikte, der in der Nacht im Schloſſe geweſen
war. Man hoffte, daß man wenigſtens von der Unge¬
wißheit, vielleicht auch von der Angſt und Bangigkeit
befreit werden würde.
Der Mann ritt auf die Verſammelten zu. Bei
der Beleuchtung des Tages ſahen ſie erſt jezt, daß er
noch ſehr jung ſei, und ein blühendes Angeſicht habe.
Er ſtieg ſogleich von dem Pferde, und ſagte: „Ich
habe nur kurze Zeit, ich mußte Ihnen geſtern Schreken
und Gewalt anthun, damit wir heute die Früchte
ernten. Wir haben ſie geerntet, und ſind im Vorrüken
begriffen. Ich aber bin auf einen Augenblik gekom¬
men, um mir Verzeihung einzuholen, daß ich von
einer harten Kriegsregel Gebrauch gemacht habe, und
[253] ich bin auch gekommen, um die Bewohner allenfalls von
einer Unannehmlichkeit, die ihnen mein Verfahren
könnte zugezogen haben, zu befreien. Wo ſind die
Männer?“
„Wir wiſſen es nicht, wir haben uns in dieſem
Augenblike aus unſerem Gefängniße in der Garten¬
halle befreit, ſie ſind in der Nacht gefangen abgeführt
worden,“ ſagte die Mutter.
„So müſſen wir ſie ſuchen,“ erwiederte der Fremde,
„vielleicht ſind ſie im Hauſe.“
Er nahm aus Vorſicht mehrere bewaffnete Reiter
mit, und aus Kenntniß der Kriegsgebräuche ſchlug er
gleich den Weg zu dem Thurme ein. Alle Frauen
folgten ihm. Der Schlüſſel ſtak an der Thür des
Gewölbes, in welchem ſich die Männer befanden.
Man drehte ihn um, traf da die Gefangenen, und
ließ ſie heraus.
Als die Angehörigen ſich gegenſeitig überzeugt
hatten, daß keines einen Schaden genommen habe,
und als ſich die Unruhe von Fragen und Antworten
ein wenig gelegt hatte, trat der Fremde gegen die
Männer heran, und ſagte: „Wir haben, und ich
hege die Hoffnung, nicht ganz ohne Zuthun meiner
geſtrigen Beobachtungen, den Sieg errungen. Ich
bin gekommen, verehrte Herrn, um den Augenblik,
[254] der mir gegönnt iſt, zu benüzen, Sie um Verzeihung
wegen meines Verfahrens gegen Sie in dieſer Nacht
zu bitten. Hier iſt eine Karte mit meinem Namen
und Stande, Sie können an meiner Perſon und an
meinem Vermögen Genugthuung fodern, wenn Sie
eine zu fodern für gut befinden ſollten.“
Bei dieſen Worten reichte er dem Schloßherrn ein
Blatt Papier.
„Den Frauen,“ fuhr er fort, „kann ich freilich
keine Genugthuung für die Angſt und den Schreken
geben, um ſo inniger bedarf ich ihrer Verzeihung,
und um ſo mehr bitte ich ſie darum.“
„Die beſte Genugthuung würde ſein,“ ſagte der
Schloßherr, „wenn Sie nicht auf jener Seite ſtänden,
auf der Sie ſtehen.“
„Mein Herr,“ erwiederte der Fremde, „wenn Sie
dieſe Anſicht bei meinem Könige durchſezen können,
ſo werde ich eine That wie die von heute Nacht mit
leichterem Herzen verrichten, als ich ſie heute verrich¬
tet habe. Aber bei dem Krieger heißt es gehorchen.
Nun lebt wohl, meine Zeit iſt ſehr gemeſſen.“
Er reichte dem Schloßherrn die Hand, der ſie
nahm.
„Haben Sie doch keine Verlezung erlitten?“ fragte
der Verwalter.
[255]
„Keine einzige,“ antwortete der junge Mann.
„Nun ſo leben Sie wohl,“ ſagte der Verwalter,
„und mögen Ihre Thaten bald von leichten Gefühlen
begleitet ſein.“
„Amen,“ ſagte der junge Mann.
Er verbeugte ſich vor den Männern, aber noch
tiefer vor den Frauen ſelbſt vor den Mägden, ſeine
Begleiter ſchwenkten ſich, und er ging mit ihnen
davon.
Man ſah ihnen nach, ſah ſie unter dem Thorbo¬
gen zu Pferde ſizen, und über den Steindamm hinaus
reiten.
Jezt war nichts mehr von Kriegern zu ſehen.
Nachdem der Verwalter und der Schloßherr die
Unordnung im eigenen Hauſe ſo weit es möglich
war, beſichtiget hatten, wobei einige ſchöne von
Kugeln arg verlezte Gartenbäume zu bedauern waren,
verfügten ſie ſich in das Dorf, um dort und in der
Umgegend den Bewohnern in den Maßregeln beizu¬
ſtehen, die in Folge des ſtattgehabten Gefechtes noth¬
wendig geworden waren. Unterbringung der noch
aufgefundenen oder nach und nach eintreffenden Ver¬
wundeten von Freund und Feind war das Erſte.
Der Arzt richtete im Schloſſe ein Hospital ein, und
die Verwalterin kochte für Freunde und Feinde. Das
[256] Zweite war die Beerdigung der Todten. Endlich ging
man an das Einſammeln und Aufbewahren von
Waffen und Kriegsgeräthen, und an das allmählige
Ausbeſſern der Verlezungen an eigenen Häuſern und
Gebäuden.
Es pflegte in dieſen Tagen mancher Verwundete
ſeinen Nachbar, der noch ärger verwundet war.
Mancher trug einen Feind zur Verpflegung herbei,
und am dritten Tage verbreitete ſich die Nachricht,
daß ein Pferd regungslos bei ſeinem todten Reiter in
den Kohlgärten auf der Anhöhe ſtehe, und daß ein
Spiz nicht von dem Grabe ſeines Herrn weg zu brin¬
gen ſei.
Anfangs zogen noch viele feindliche Abtheilungen
den Fliehenden nach, dann aber hörte dies auf, es
kam nichts mehr, und Schloß und Dorf hat bis zum
Frieden weder feindliche noch freundliche Krieger mehr
geſehen. — — —
Es waren Jahre nach dieſem Ereigniſſe vergan¬
gen. Die Feinde, die damals geſiegt hatten, waren
nun vollkommen geſchlagen, ihre Hauptſtadt erobert,
ihr weltberühmter Führer auf Elba und endlich nach
ſeinem Hervorbruche gar auf St. Helena verbannt,
und der Friede ruhte ſegnend auf allen Ländern, die ſo
lange verwüſtet worden waren. Die Menſchen, welche
[257] den Krieg noch geſehen hatten, erkannten vollkommen
deſſen Entſezliches, und daß ein ſolcher, der ihn muth¬
willig entzündet, wie ſehr ihn ſpätere verblendete
Zeiten auch als Helden und Halbgott verehren, doch
ein verabſcheuungswürdiger Mörder und Verfolger
der Menſchheit iſt, und ſie meinten, daß nun die
Zeiten aus ſeien, wo man ſolches beginne, weil man
zur Einſicht gekommen: aber ſie bedachten nicht,
daß andere Zeiten und andere Menſchen kommen
würden, die den Krieg nicht kennen, die ihre Lei¬
denſchaften walten laſſen, und im Übermuthe wieder
das Ding, das ſo entſezlich iſt, hervor rufen
würden.
Es war in unſerem Schloſſe abermals der Herbſt
gekommen, aber ein ſo lieblicher, daß man die meiſte
Zeit im Freien zubringen konnte, und daß die Bewoh¬
ner des Schloſſes täglich große Spaziergänge mach¬
ten, um noch das lezte ruhige Lächeln der Natur vor
den Stürmen und Fröſten zu genießen.
So ſaſſen ſie auch einmal alle an einem Nach¬
mittage auf einem Hügel, der in dem Garten nahe
an dem Gitterthore, das auf das Feld führt, entſtan¬
den war. Alfred und Julius hatten nehmlich alle
Ferien aller ihrer Studienjahre dazu verwendet, mit
eigenen Händen und kleinen Schubkarren einen Hügel
Stifter, Jugendſchriften. II. 17[258] aufzuführen, und darauf ein Säulenhäuschen auf¬
zurichten, in dem die ganze Bewohnerſchaft des
Schloſſes Plaz hatte. Der Schloßherr und der Ver¬
walter hatten die Knaben walten laſſen, weil ſie es
für beſſer hielten, daß ſie da bauten, wenn auch etwas
ſo ungeſchlachtes als einen Hügel, als daß ſie durch
Vogelfangen oder Jagen zerſtörten. Weil die Sonne
gar ſo lieblich ſchien, wollte man in dem Säulenhäus¬
chen den Nachmittagkaffeh verzehren. Man hatte die
ganze Geräthſchaft auf dem Tiſche, wollte aufgießen,
und ſpielte mit den gelben Blättern, die herum lagen,
oder mit den Herbſtfäden, die heuer beſonders reichlich
flogen, und an den Säulen des Häuschens und an
den Gewändern der Geſellſchaft hingen.
Plözlich that Lulu, die eine erwachſene und, wir
müſſen es ſagen, ſehr ſchöne Jungfrau geworden war,
einen Schrei.
„Hat dich eine Spinne geſchrekt?“ fragte man.
„Nein ein weißer Mantel,“ antwortete ſie, und
zeigte nach der Stelle, nach welcher ſie bei Ausſtoßung
ihres Schreies geblikt hatte.
Alle ſchauten hin.
Außerhalb des Gitters ſtand auf dem Feldwege,
der um den Garten ging, ein Wagen, in demſel¬
ben ſaß ein einzelner Mann, der einen weißen Mantel
[259] um die Schultern hängen hatte, und unverwandt auf
die Geſellſchaft hinein ſah.
„Lauf, Julius,“ ſagte der Vater, „und frage, ob
er etwas wünſcht.“
Der Knabe lief hin, redete mit dem Manne, kam
zurük, und ſagte: „Eingelaſſen wünſcht er zu werden,
er ſagt, er ſei nicht ganz fremd.“
Der Knabe erhielt den Schlüſſel, den man zur
Bequemlichkeit bei Spaziergängen immer mit ſich
führte, er ſchloß das Thor auf, der Fremde ging
herein, ſtieg den Hügel hinan, und ſtellte ſich der
Geſellſchaft vor.
Man erkannte ihn augenbliklich. Es war der junge
Mann aus jener ſchreklichen Kriegesnacht. Aber er war
nun kein Jüngling mehr ſondern ein freundlicher Mann,
der ſo gütig blikte, daß man unmöglich hätte glauben
können, daß er derſelbe ſei, der damals das fürchter¬
liche Spiel auf Leben und Sterben getrieben habe.
„Verzeihen Sie, meine Herrn und Frauen,“ ſagte
er, „daß ich zu Ihnen komme, ich bin ihnen nicht
fremd, Sie haben nicht Urſache, mir irgend gut zu
ſein; aber Sie werden mich doch auch nicht haſſen,
was ich daraus ſchließen muß, daß ſeit den vielen
Jahren her keine Genugthuung von mir wegen jener
Nacht gefodert worden iſt.“
„Nein, nein, es wird auch keine mehr gefodert
werden,“ rief man, und nöthigte ihn zum Sizen.
Er that es, und ſagte: „Laſſen Sie mich nur noch
einen Augenblik fortfahren. Jeder Menſch hat einen
Punkt der Sehnſucht in ſeinem Leben, nach dem es
ihn immer hinzieht, und den er erreichen muß, wenn
er ruhig ſein will. Meine Sehnſucht iſt jenes Git¬
ter dort. Seit ich damals in der Nacht ſein Schloß
erbrach, um auf den Thurm zu gehen, und die
Lichterſtellung des Feindes zu zeichnen, ſeit jenem
Augenblike, wo ich es, da ich zurükkehrte, von dem
Feinde beſezt fand, und nun nur noch die Ausſicht
vor mir hatte, entweder als Spion gefangen und
ſchimpflich aufgehängt zu werden, oder durch einen
tollkühnen Ritt von vorne heraus in die überraſchten
Feinde zu ſprengen, um entweder ehrlich zu fallen, oder
eben durch die Unglaublichkeit des Wagſtükes durch¬
zukommen — nach rükwärts hätte ich wegen des
geakerten Bodens und der andern Hinderniſſe nicht
hinaus ſprengen können — ſeit jenem Augenblike zog
es mich immer zu dem Gitter, und ich dachte, ich
müſſe es doch noch einmal ſehen. Darum kam ich her,
und fuhr auf dem Feldwege um den Garten zu dem
Gitter. Und laſſen Sie mich es offenherzig ſagen,
einen nicht minderen Antheil an meinem Kommen hat
[261] der Gedanke, Sie alle zu ſehen, mir wegen des
Übels, das ich Ihnen zufügte, und das mir immer
Unruhe machte, Ihre vollkommene Verzeihung zu
holen, und Ihre Achtung zu erwerben; denn ich habe
ſeither in vielen Schlachten mit jenem leichten Herzen
gekämpft, das mir dieſer Herr damals gewünſcht hat.“
Er zeigte bei dieſen Worten auf den Verwalter.
„So gefallen Sie mir viel beſſer, junger Mann,
als in jener Nacht,“ ſagte der mit rothem Angeſichte
und ſchneeweißen Haaren prangende Schloßherr.
„Ja, lieber Herr,“ erwiederte der Fremde, „ich
kenne kein fröhlicheres Gefühl, als mit entlaſteter
Bruſt an der Seite ſeiner Stammes- und Sprachge¬
noſſen einem übermüthigen und anmaßenden Feinde
des ſchönen Vaterlandes entgegen zu reiten. Mir iſt
dies Gefühl zu Theil geworden, ich habe geſucht, die
Scharte, die meine Dienſtpflicht in jener Nacht der
gemeinſchaftlichen Sache vielleicht geſchlagen hat,
wieder gut zu machen, und mögen alle Himmel geben,
daß das ſo tief fühlende denkende edelherzige Volk der
Deutſchen nie wieder in ſeinen altersgrauen Fehler
zurükfalle, und gegen ſich ſelber kämpfe.“
„Ja gebe es Gott, gebe es Gott,“ ſagten die
Männer.
Es war indeſſen der Kaffeh eingeſchenkt worden‚
[262] und die Hausfrau gab dem Fremden die erſte Taſſe.
Der Verwalter ließ den Wagen um die Gartenmauer
herum in das Schloß bringen, und der Schloßherr
und alle luden den Fremden ein, nun in Ruhe und
Muße in dem Schloſſe zu bleiben, und das Garten¬
gitter ſo oft anzuſchauen, als er wolle.
Die Einladung wurde angenommen.
Der Fremde blieb nun in dem Schloſſe. Er konnte
das Gitter den Thurm den Garten und die Gegend
betrachten, ſo viel er nur immer wollte. Aber das
Schikſal hatte auch noch ganz andere Zweke mit ſei¬
ner Reiſe verbunden. Alle gewannen ihn ſehr lieb.
Zwiſchen Lulu und ihm hatte ſich das Verhältniß
vollſtändig umgekehrt. So wie ſie ihn in jener Nacht
bewundert hatte, ſo konnte nun er von ſeiner Seite
aus nicht aufhören, und kein Ziel finden, das Mäd¬
chen zu bewundern. Und da er es dem Kinde ſchon
in jener Nacht angethan hatte, und da er jezt gar ſo
gut und freundlich war, ſo konnte es nicht fehlen,
daß auch ihn die Jungfrau bald außerordentlich liebte,
und die Verehrung eine vollkommen gegenſeitige war.
Da er wegen des guten Verhältniſſes, das ſich
mit allen angeknüpft hatte, und wegen des Wunſches
aller immer länger im Schloſſe blieb, da er ſich über
Stand und Vermögen auswies, ja ſogar endlich ein
[263] benachbartes feil gewordenes Gut kaufte, um in der
Gegend anſäſſig zu werden, ſo ſtand einem Bündniſſe
nichts entgegen, und die zwei Leutchen wurden in der
Pfarrkirche des Dorfes ehelich eingeſegnet.
Und von nun an begann ein ruhiges friedliches
und glükliches Leben. Oft wenn die Ehegatten in der
Zukunft allein bei einander ſaſſen, wenn er Lulu ſeine
Freude und ſein höchſtes Glük auf dieſer Welt nannte,
ſagte ſie: „Wie haſt du durch dein Herz die ſchönſte
Genugthuung gegeben, die du geben konnteſt.“
„Es iſt doch gut, daß ich ihn damals nicht erſchla¬
gen habe,“ ſagte noch lange und öfter der uralte
gleichſam immer kleiner werdende Schloßherr.
Lulu lächelte jedes Mal bei dieſer Rede, ſpäter
lächelten auch Alfred und Julius und endlich alle
ſelbſt der graue Lehrer, obgleich er der Schach- und
Spaziergenoſſe des Schloßherrn geworden war.
Die weißen Mäntel ſpielten noch lange eine Rolle
in der Familie. Nicht nur trugen Alfred und Julius,
die in dem kaiſerlichen Heere dienten, weiße Mäntel,
ſondern auch der kleinere Alfred und der kleinere
Julius, die Buben Lulus, hatten im Winter, wenn
ſie im Schlitten über die Ebene gefahren wurden,
weiße Mäntel an, die aus jenem weißen Mantel ent¬
ſtanden waren, den der Vater angehabt hatte, als er
[264] auf ſeinem Zuge begriffen war, das alte eiſerne Git¬
ter zu ſuchen. Der Vater hatte mit den Waffen die
weißen Mäntel abgelegt, und trug jezt im Winter
dunkle und ausgezeichnete Pelze.
Appendix A
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
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CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Stifter, Adalbert. Bunte Steine. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnf0.0