[][][][][][][[1]]
Kritiſche Waͤlder.


Oder
Betrachtungen,
die
Wiſſenſchaft und Kunſt
des Schoͤnen

betreffend,
nach Maasgabe neuerer Schriften.

[figure]

Leſer, wie gefall ich dir?
Leſer, wie gefaͤllſt du mir?

Logau.


Erſtes Waͤldchen.

Herrn Leßings Laokoon gewidmet.


1769.

[[2]][[3]]

Analytiſcher Jnhalt.



  • 1. Es iſt unbillig, Leßing auf Winkelmanns Koſten zu loben.
    Unterſchied beider Schriftſteller in Materie, Denkart
    und Styl.
  • 2. Sophokles Philoktet leidet nicht mit bruͤllendem Geſchrei.
    Die Helden Homers fallen nicht mit Geſchrei zu Boden.
    Schreien kann nicht ein nothwendiger Charakterzug ei-
    ner Helden- und menſchlichen Empfindung ſeyn.
  • 3. Die Empfindbarkeit der Griechen zu ſanften Thraͤnen
    zeigt ſich ganz anders. Sie iſt auch den Griechen nicht
    allein und ausſchlieſſend eigen. Proben und Charakter
    der alten herſiſchen Geſaͤnge.
  • 4. Eine philoſophiſche Geſchichte der Elegiſchen Dichtkunſt
    uͤber Voͤlker und Zeiten, oder Gruͤnde der alten Helden-
    menſchlichkeit, aus ihrer Empfindung fuͤr Vaterland,
    Geſchlecht, heroiſche Freundſchaft, einfaͤltige Liebe und
    die Menſchlichkeit des Lebens hergeleitet, nicht aber als
    ob ſie einen Schlag mehr empfunden, und beſſer geſchrien
    haͤtten, wie wir. Empfindbarkeit der homeriſchen Hel-
    den zeigt ſich wuͤrdiger.
  • 5. Sophokles macht in ſeinem Philoktet gewiß nicht Ge-
    ſchrei zum Hauptmittel der Ruͤhrung. Beſſere Eindruͤ-
    cke des griechiſchen Drama. Ob koͤrperlicher Schmerz
    je die Hauptidee eines Trauerſpiels werden koͤnne? Daß
    ers bei Sophokles nicht ſey.

A 26. Die
[[4]]
  • 6. Die Behauptung: der griechiſche Kuͤnſtler ſchilderte das
    Schoͤne, iſt wahr. Grenzen und Erklaͤrung dieſes Sa-
    tzes aus ihrem mythiſchen Cirkel und ihrer Heldenge-
    ſchichte. Warum Timanthes ſeinen Agamemnon ver-
    huͤllt gemahlet?
  • 7. Von den Hoͤrnern des Bacchus. Von dem Einfluß
    der verſchiednen mythologiſchen Zeitalter auf Poeſie und
    Kunſt.
  • 8. Wen Virgil in Schilderung ſeines Laokoon nachgeahmet
    haben moͤge? Urtheil uͤber Quintus Calaber, und Pe-
    tron, in ihren Schilderungen. Nach wem der Kuͤnſtler
    gebildet haben koͤnne?
  • 9. Soll die Kunſt nichts Voruͤbergehendes zu ihrem An-
    blicke waͤhlen: ſo verliert ſie ihr Leben. Soll ſie fuͤr
    jede wiederholte Erblickung arbeiten: ſo ihr Weſen. Ur-
    ſache, warum die Kunſt ein Jdeal der Schoͤnheit habe,
    und inſonderheit die ſtille Ruhe liebe, aus dem Grund-
    ſatz, daß ſie fuͤr Einen ewigen Anblick arbeite.
  • 10. Ueber Spence’s Erlaͤuterungen der Alten aus Kunſt-
    werken. Rettung ſeines herunterſchwebenden Mars.
    Frage, ob die Kunſt ſchwebende Koͤrper vorſtellen Koͤnne?
  • 11. Dem Kuͤnſtler ſind Goͤtter und geiſtige Weſen nicht
    blos perſonifirte Abſtrakta, ſo bald et ſie in Handlung
    kann erſcheinen laſſen. Die Mythologie iſt eigentlich
    poetiſch, und hat dichteriſche Geſetze. Dem Dichter
    geht Jndividualitaͤt ſeiner Goͤtter weit uͤber Charakter;
    ſo hat er ſie dem Kuͤnſtler uͤbergeben.
  • 12. Ueber die poetiſchen Attributen von Horaz, dem großen
    Liebhaber ſymboliſcher Weſen, wird ſeine Ode an das
    Gluͤck,
    [[5]] Gluͤck, ſein Bild der Nothwendigkeit u. ſ. w. erklaͤrt. Die
    Maſchinen des epiſchen Dichters muͤſſen nicht allegori-
    ſche Abſtrakta ſeyn: bei Homer ſind ſie es nicht.
  • 13. Homers Nebel und Unſichtbarwerden ſind keine poetiſche
    Phraſes: ſondern gehoͤren mit zum mythiſchen Wunder-
    baren ſeiner Epopee. Unſichtbar ſeyn iſt nicht der na-
    tuͤrliche Zuſtand der homeriſchen Goͤtter.
  • 14. Auch die Groͤße derſelben iſt bei ihm nicht ſolch ein
    Hauptzug, als Macht und Schnelligkeit. Unter welchen
    Bedingungen, und mit welcher Maͤßigung er ihre Groͤße
    ſchildert? Erklaͤrung des Helms der Minerva. Von
    wem er das Coloſſaliſche ſeiner Goͤtter entlehnet?
  • 15. Ob Homer fuͤr uns Deutſche uͤberſetzt werden ſolle?
    Das Fortſchreitende ſeiner Manier, und die beſtaͤndig zir-
    kelnden und wiederkommenden Zuͤge in ſeinen Bildern
    ſind kaum uͤberſetzbar.
  • 16. Das Succeßive in den Toͤnen iſt nicht das Weſen der
    Dichtkunſt. Ganz und gar auch nicht mit dem Coexſi-
    ſtenten der Farben zu vergleichen. Aus dem Succeßiven
    der Poeſie folgt nicht, daß ſie Handlungen ſchildere. Das
    Succeßive der Toͤne kommt jeder Rede zu.
  • 17. Fehlſchluͤſſe, wenn man die Succeßion der Toͤne fuͤr
    das Hauptmerkmal der Poeſie annimmt. Homer waͤhlt
    gar nicht das Fortſchreitende ſeiner Schilderungen, um
    ſie nicht coexſiſtent zu ſchildern; ſondern weil jedesmal
    in dem Fortſchreiten ſeiner Bilder die Energie derſelben
    und ſeiner Gedichtart liegt.
  • 18. Homers Gedichtart kann nicht allen Dichtarten Geſetze,
    und aus ihrer Manier ein oberſtes Geſetz geben. Aus
    A 3der
    [[6]] der Succeßion der Toͤne folgt keine Achtserklaͤrung ge-
    gen die malende Poeſie.
  • 19. Energie iſt das oberſte Geſetz der Dichtkunſt: ſie malet
    alſo nie werkmaͤßig. Urtheil uͤber Harris Vergleichung
    und Unterſcheidung der ſchoͤnen Kuͤnſte.
  • 20. Ob die Schilderung koͤrperlicher Schoͤnheit der Dicht-
    kunſt verboten ſey? Wo ſie jede Schoͤnheit durch Reiz
    zeigen koͤnne? Ob ſie jemals an einer Schoͤnheitsſchilde-
    rung werkmaͤßig arbeite? Ob, wenn der Dichter haͤß-
    liche Formen nuͤtzen kann, er nicht auch ſchoͤne nutzen
    koͤnne?
  • 21. Homer macht Therſites nicht haͤßlich, um ihn laͤcherlich
    zu machen. Haͤßlichkeit an Seele und Koͤrper iſt ſein
    Charakter, der blos dadurch gemildert wird, daß er auf
    nichts Schaͤdliches auslaͤuft. Es wird alſo der Perſon
    Therſites noch diesmal erlaubt, in Homer zu bleiben.
  • 22. Wenn das Haͤßliche zum Laͤcherlichen hilft: ſo iſts zum
    Contraſt des Laͤcherlichen weſentlich. Zum Schrecklichen
    nicht ſo. Ja zum Schrecklichen thut es niemals nichts,
    ſondern zum Abſcheu. Ekel kommt eigentlich allein dem
    Geſchmack und Geruch zu; andern Sinnen nur, ſo fern
    ſie ſich an deren Stelle ſetzen. Nicht alles Haͤßliche alſo
    iſt ekelhaft.
  • 23. Gebrauch des Laͤcherlichen, Schrecklichen, Ekelhaften
    in Poeſie und Malerei. Abſchied vom Laokoon.
  • 24. Einzelne Fehler der Winkelmanniſchen Schriften. Sein
    Tod — — — Beſchluß.

Kriti-
[[7]]

Kritiſche Waͤlder.
Erſtes Waͤldchen.



1.


LDer Laokoon des Herrn Leßings, ein
Werk, an welchem die drei Huldgoͤt-
tinnen unter den menſchlichen Wiſſen-
ſchaften, die Muſe der Philoſophie, der Poeſie, und
der Kunſt des Schoͤnen, geſchaͤftig geweſen, iſt in
unſrer jetzigen kritiſchen Peſtilenz in Deutſchland,
fuͤr mich eine der angenehmen Erſcheinungen gewe-
ſen, um welche Demokritus die Goͤtter bat, als
um die Seligkeit ſeines Lebens. Jch wuͤrde daſſel-
be auch ſehr wohlfeil mit der Bildſaͤule vergleichen
koͤnnen, von der es den Namen hat, wenn nicht
die Mine des Vollendeten, des Schriftſtelleriſchen
εποιησε eben die waͤre, die dieſer Laokoon am wenig-
ſten annehmen will. Es mag alſo dieſe Sprache
durch Kunſtvergleichungen immer unſern Schoͤn-
A 4heits-
[8]Kritiſche Waͤlder.
heitskuͤnſtlern des Styls bleiben: ich will den Lao-
koon als eine Sammlung von Materialien, als einen
Zuſammenſchuß von Collektaneen betrachten — auch
als ſolcher allein, verdient er Betrachtung gnug.


Die Kunſtrichter unſrer Zeit, eine Heerde der
kleinen Geſchoͤpfe, die Apollo Smintheus jetzt
ſcheint auf unſer liebes Vaterland gebannet zu ha-
ben, um auch die wenigen blumen- und frucht-
reichen Auen zu verwuͤſten, die noch hie und da als
Laͤndereyen des Genies uͤbrig geblieben — dieſe
Boten Apollo haben meiſtens Laokoon nicht beſſer zu
loben gewußt, als auf Winkelmanns Koſten; denn
welch ein Lob fließt von den Lippen großer Leute wohl
glatter herunter, als das auf Koſten eines dritten?
Leßing ſoll Winkelmannen ſo viel unverzeihliche
Fehler gezeigt, ihn philoſophiren gelehrt, ihn die
Grenzen und das Weſen der Kunſt gewieſen, und
inſonderheit in ſeinen Schriften das aufgedeckt ha-
ben, daß ſeine Kenntniß der Alten ein ſchwankender
Grund ſey. Waͤre das nicht viel? Einem Win-
kelmann, ihm, der ſich ſo ganz nach den Alten gebil-
det, der in Griechenland lebet und webet, der in den
Alten Kunſtkenntniß, bis zum Erſtaunen, zeiget,
dem Homer, wie er ſelbſt ſchreibet, taͤglich ſein an-
daͤchtiges Morgengebet geweſen, — dieſem Mann
zeigen, daß er Homer nicht geleſen, daß er die Grie-
chen nicht kenne: warum? weil ſie Leßing kennet,
weil Leßing Homer geleſen! Noch aͤrger, daß Win-
kel-
[9]Erſtes Waͤldchen.
kelmann kein Philoſoph ſeyn ſoll, weil er nicht auf Leſ-
ſings Art philoſophirt, ſondern lieber in der Aka-
demie alter griechiſchen Weiſen, und inſonderheit am
heiligen Jlyſtus wandelt. Und denn am aͤrgſten,
Winkelmannen das Weſen der Kunſt lehren — o
der unſeeligen Richter, die taub und bloͤdſinnig, wie
Klaudius, uͤber die groͤßeſten Schriftſteller unſrer
Zeit, nicht anders als im Schlafe, nicht anders
als uͤber Schuͤler urtheilen, bei denen Examen zu
halten ſey, uͤber das, was ſie wiſſen, und nicht wiſ-
ſen, zeigen und nicht zeigen, inſonderheit, was ih-
nen gegen dieſen und jenen fehle? a) — —


Auch Leßing wiederum hat, wie billig und
recht iſt, erleuchteten Kunſtrichtern zum Vorwurf
A 5die-
[10]Kritiſche Waͤlder.
dienen muͤſſen, die Schaͤrfe ihrer Augen dem Pu-
blikum zu zeigen. Wenn der eine ihn zum groͤß-
ten Antiquar unſrer Zeiten, zum erſten Lehrer der
Kunſt machte: ſo war er dem andern, ach leider!
ein witziger Kopf, und einem dritten, einem from-
men kritiſchen Chriſten a), ein Schulphiloſoph, ein
Aeſthetiker aus Baumgartens Schule, der nach der
Sprache unſrer neuen Schoͤndenker, mit ein paar
Unzen Baumgartenſcher Philoſophie den Weltwei-
ſen aller Zeiten trotzen wolle. O! mit verſtopftem
Ohr durch dieſe Choͤre quaͤckender Froͤſche hindurch,
wie Ulyſſes durch den Geſang der Syrenen!


Fuͤr mich hat Laokoon an ſich ſelbſt Schoͤnheit
gnug, als daß er blos durch den Kontraſt mit einem
andern gewinnen doͤrfte. Vor und hinter demſel-
ben, was L. gegen W. habe, ſind entweder nichts
als Parerga, fuͤr die beide ſie anſehen werden,
oder wenigſtens trifft nichts auf Winkelmanns
Hauptzweck, die Kunſt; und Laokoon alſo, als Abhand-
lung uͤber die Graͤnzen der Poeſie und Malerei, hat
Werth und Vortrefflichkeit; aber ihn als Streit-
ſchrift, als Pruͤfung der ganzen Winkelmanniſchen
Werke betrachten zu wollen, iſt meines Erachtens
der falſcheſte Geſichtspunkt, und der Genius eines
Leſ-
[11]Erſtes Waͤldchen.
Leßings und Winkelmanns ſind auch zu verſchieden,
als daß ichs von mir erlangen koͤnnte, ſie gegen ein-
ander abzumeſſen.


Wo Leßing in ſeinem Laokoon am vortrefflich-
ſten ſchreibt, ſpricht — der Kritikus: der Kunſt-
richter des poetiſchen Geſchmacks: der Dichter.
Wie Sophokles Philoktet leide, und die Helden Ho-
mers weinen, und Virgils Laokoon den Mund oͤf-
nen, und koͤrperliche Schmerzen auf dem Theater
winſeln doͤrfen — wie Virgil, Petron und Sado-
let den Laokoon bilden, und der Dichter den Kuͤnſtler,
und der Kuͤnſtler nachahmen koͤnne — wer ſpricht
hier uͤberall, als der Kunſtrichter des Poeten? Die-
ſer iſts, der dem Philoktet des Chateaubrun einen
Streich giebt, der Spence’n und Caylus ihre
Fehler zeiget, der Homers poetiſche Weſen claßifi-
cirt, und poetiſche von der maleriſchen Schoͤnheit
unterſcheidet — uͤberall der Kunſtrichter des Dich-
ters: das iſt ſein Geſchaͤft. Und ſein Zweck der-
ſelbe. Dem falſchen poetiſchen Geſchmack entgegen
zu reden, die Grenzen zwoer Kuͤnſte zu beſtimmen,
damit die eine der andern nicht vorgreifen, vorarbei-
ten, zu nahe treten wolle: das iſt ſein Zweck. Was
er auf dieſem Wege von dem Jnnern der Kunſt fin-
det, freilich nimmt ers auf; aber mir noch immer
Leßing, der poetiſche Kunſtrichter, der ſich ſelbſt
Dichter fuͤhlt.


Win-
[12]Kritiſche Waͤlder.

Winkelmann aber, ein Lehrer griechiſcher Kunſt,
der ſelbſt in ſeiner Kunſtgeſchichte mehr darauf
bedacht iſt, eine hiſtoriſche Metaphyſik des Schoͤ-
nen aus den Alten, abſonderlich Griechen, zu lie-
fern, als ſelbſt auf eigentliche Geſchichte. Und alſo
auf eine Critik des Kunſtgeſchmacks noch uneigent-
licher. Um den falſchen Geſchmack andrer Zeiten
und Voͤlker iſt ihm nie als um Hauptzweck zu thun;
den zuͤchtigt er blos, wenn er neben oder unmittel-
bar vor den Alten ihm zu Geſicht kommt: denn
ſonſt, wie oft haͤtte er nach ſeiner vornehmen grie-
chiſchen Jdee zuͤchtigen, und ſeine Hand in Neben-
ſtreichen ermuͤden muͤſſen! Und ſchreibt er alſo nicht
als Kritikus des Kunſtgeſchmacks; wie weit entfern-
ter vom Kunſtrichter der Poeſie? Als Kuͤnſtler las
er die Dichter, als Kunſtlehrer brauchet er ſie, und
wuͤrde nicht ſo haben ſchreiben koͤnnen, wenn er auch
ſelbſt die Dichter anders, und nicht als Kuͤnſtler ge-
leſen. Er, dem wie jenem griechiſchen Kuͤnſtler,
die Schoͤnheit ſelbſt, (aber die Kunſtſchoͤnheit) er-
ſchienen war; bezaubert von ihr, ſuchte er ihre Ge-
ſtalt alſo mit Feuer in ſeinen Geiſt gemalt, bren-
nend in ſeinem Auge, und ſich in ſeinem Herzen re-
gend — dieſe Geſtalt der Kunſtſchoͤnheit, dieß
Bild der Liebe, ſuchte er allenthalben, wollte ſie auch
im bloßen Abglanz ſehen, vermuthete ſie ſelbſt, wie
Kleiſts Amynt ſeine geliebte Lalage, auch in Fußtrit-
ten, auch im Bilde des Waſſers, auch im Hauche des
Ze-
[13]Erſtes Waͤldchen.
Zephyrs, der freilich von einer andern Lalage, (der
Schoͤnheit des Dichters) kommen konnte. Jm Gefuͤhl
alſo dieſer bildenden und nicht dichtenden Schoͤnheit
ſtand er auch vor Virgils Laokoon, wie vor dem Lao-
koon des Polydorus, und ſo muß er geleſen werden:
denn das ſind Schranken der menſchlichen Natur,
auf einmal nur eines ſehen zu koͤnnen, was man will,
und wie man will — Dieß eine war bei Winkel-
mann die Kunſt. Soll ich ihm alſo Kenntniß
der Alten abſprechen, weil er Homer nicht als Dich-
ter, ſondern als Kuͤnſtler, nicht alſo des poetiſchen
Weſens ſeiner Muſe wegen, nicht wie Leßing gele-
ſen? Soll ich ihm einen Seitenblick, den er auf die
Poeſie wirft, um ſeine Ku ſt zu erlaͤutern, und ge-
ſetzt dieſer Seitenblick traͤfe auch nicht auf das Jn-
nere der Dichtkunſt, zum Hauptverbrechen anrech-
nen? Und ſoll ich, weil Leßing wiederum alles aus
dem Grunde der Seele holt, ſoll ich ihn fuͤr einen
ſpekulativen Witzling, und wenn er einigemal mit ſei-
nen muntern Schluͤſſen zu weit kaͤme, fuͤr einen ra-
thenden Kopf halten? Warum koͤnnen wir denn
nicht zween ſo originale Denker, Winkelmann und
Leßing nehmen, wie jeder iſt? Auch in der Schreibart
ſo gar haben beide eine griechiſche Grazie zur Freun-
din; nur daß ſie bei beiden nicht Eine Grazie iſt.


Winkelmanns Styl iſt wie ein Kunſtwerk der
Alten. Gebildet in allen Theilen, tritt jeder Gedan-
ke hervor, und ſtehet da, edel, einfaͤltig, erhaben,
vollen-
[14]Kritiſche Waͤlder.
vollendet: er iſt. Geworden ſey er, wo oder wie er
wolle, mit Muͤhe oder von ſelbſt, in einem Grie-
chen, oder in Winkelmann; genug, daß er durch die-
ſen auf einmal, wie eine Minerva aus Jupiters
Haupt daſtehet und iſt. Wie alſo an dem Ufer ei-
nes Gedankenmeeres, wo auf der Hoͤhe deſſelben der
Blick ſich in den Wolken verliert: ſo ſtehe ich an ſei-
nen Schriften, und uͤberſchaue. Ein Feld voll
Kriegsmaͤnner, die weit und breit zuſammen ge-
worben, die Ausſicht erſt lange ins Große fuͤhren;
wenn aber endlich aus dieſer Weite das Auge er-
habner zuruͤck kommt: ſo wird es ſich an jeden ein-
zelnen Kriegsmann heften, und fragen, woher?
und betrachten, wer er ſey? und alsdenn von vie-
len den Lebenslauf eines Helden erfahren koͤnnen.


Leßings Schreibart iſt der Styl eines Poeten,
d. i. eines Schriftſtellers, nicht der gemacht hat,
ſondern der da machet, nicht der gedacht haben will,
ſondern uns vordenket, wir ſehen ſein Werk wer-
dend, wie das Schild Achilles bei Homer. Er
ſcheint uns die Veranlaſſung jeder Reflexion gleich-
ſam vor Augen zu fuͤhren, ſtuͤckweiſe zu zerlegen,
zuſammen zu ſetzen; nun ſpringt die Triebfeder,
das Rad laͤuft, ein Gedanke, ein Schluß giebt den
andern, der Folgeſatz kommt naͤher, da iſt das
Produkt der Betrachtung. Jeder Abſchnitt ein
Ausgedachtes, das τεταγμενον eines vollendeten
Gedanken: ſein Buch ein fortlaufendes Poem, mit
Ein-
[15]Erſtes Waͤldchen.
Einſpruͤngen und Epiſoden, aber immer unſtaͤt,
immer in Arbeit, im Fortſchritt, im Werden.
Sogar bis auf einzelne Bilder, Schilderungen
und Verzierungen des Styls, erſtrecket ſich dieſer
Unterſchied zwiſchen beiden, Winkelmann der
Kuͤnſtler, der gebildet hat, Leßing der ſchaffende
Poet. Jener ein erhabner Lehrer der Kunſt; die-
ſer ſelbſt in der Philoſophie ſeiner Schriften ein
muntrer Geſellſchafter; ſein Buch ein unterhalten-
der Dialog fuͤr unſern Geiſt.


So doͤrften beide ſeyn: und wie unterſchieden!
wie vortreflich bei dem Unterſchiede! Weg alſo mit
der Brille, durch die man von einem zum andern
ſpielen will, um durch Kontraſt zu loben! Wer
L. und W. nicht leſen kann, wie jeder derſelben iſt,
der ſoll keinen von beiden, der ſoll ſich ſelbſt le-
ſen! — —


2.


W. ſchildert ſeinen Laokoona), mit dem Ge-
fuͤhl, als haͤtte er ihn ſelbſt geſchaffen: „Der Schmerz,
„welcher ſich in allen Muskeln und Sehnen des
„Koͤrpers entdecket, und den man ganz allein, oh-
„ne das Geſicht und andre Theile zu betrachten,
„an dem ſchmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe
„ſelbſt zu empfinden glaubt; dieſer Schmerz, ſage
„ich, aͤußert ſich dennoch mit keiner Wuth im Ge-
„ſicht
[16]Kritiſche Waͤlder.
„ſicht und in der ganzen Stellung. Er erhebt
„kein ſchreckliches Geſchrei, wie Virgil von ſeinem
„Laokoon ſinget; die Oeffnung des Mundes ge-
„ſtattet es nicht: es iſt vielmehr ein aͤngſtliches
„und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet be-
„ſchreibt. Der Schmerz des Koͤrpers und die
„Groͤße der Seele ſind durch den ganzen Bau der
„Figur mit gleicher Staͤrke ausgetheilet und
„gleichſam abgewogen. Laokoon leidet, aber er
„leidet, wie des Sophokles Philoktet: ſein Elend
„gehet uns bis an die Seele; aber wir wuͤnſchten,
„wie dieſer große Mann, das Elend ertragen zu
„koͤnnen.„


„Laokoon leidet, wie des Sophokles Philo-
„ktet.„ Von dieſer Vergleichung gehet Hr. Leſ-
ſing a) aus, und will, daß es keine Vergleichung
ſey: daß Sophokles Philoktet nicht blos aͤngſtlich und
beklemmt ſeufze, ſondern klage, ſchreie, mit wilden
Verwuͤnſchungen; das oͤde Eiland ſchrecklich anfuͤlle,
und auch das Theater von Toͤnen des Unmuths,
des Jammers, der Verzweiflung durchhallen laſſe.
Winkelmann muß alſo zuerſt wohl nicht recht gele-
ſen haben, und zweitens alſo uͤbel vergleichen, uͤbel
folgern.


Der Philoktet Sophokles mag entſcheiden —
wie leidet dieſer? Es iſt ſonderbar, daß der Ein-
druck,
[17]Erſtes Waͤldchen.
druck, den dieſes Stuͤck bei mir von lange her zu-
ruͤck gelaſſen, derſelbe iſt, den W. will: naͤmlich der
Eindruck eines Helden, der mitten im Schmerz ſei-
nen Schmerz bekaͤmpft, ihn mit holem Seufzen
zuruͤckhaͤlt, ſo lange, als er kann, und endlich, da
ihn das Ach! das entſetzliche Weh! uͤbermannet,
noch immer nur einzelne, nur verſtohlne Toͤne des
Jammers ausſtoͤßt, und das uͤbrige in ſeine große
Seele verbirgt. Laſſet uns Sophokles aufſchlagen,
laſſet uns leſen, als ob wir ſaͤhen, und ich glaube,
wir werden den naͤmlichen Philoktet gewahr werden,
den Sophokles ſchuf, und Winkelmann anfuͤhrt,
wie er geſchaffen iſt.


Mit Anfange des dritten Aufzuges uͤberraſchet
ihn der Schmerz; aber mit bruͤllendem Geſchrei?
Nein: mit einem ploͤtzlichen Stillſchweigen, mit
einer ſtummen Beſtuͤrzung, und da dieſe ſich end-
lich loͤſen, mit einem holen verzognen ἆ ἆ ἆ, das
ſich auch kaum vom Neoptolem will hoͤren laſſen. a)
Was iſt dir? faͤhrt dieſer auf. „Nichts boͤſes,
gehe nur, mein Sohn; antwortet Philoktet, und
wie anders, als mit einem Geſicht voll Liebe, voll
zuruͤckhaltendem Heldenmuthe. So geht die Sce-
ne des ſtummen Schmerzes fort: der bekuͤmmerte,
Bder
[18]Kritiſche Waͤlder.
der unruhige, der fragende Neoptolem, und Philo-
ktet, der — nicht bruͤllet und tobet, der ſeinen
Schmerz beklemmt, ihn eine große Zeit ſelbſt dem
Neoptolem verbergen will, und nur immer zwiſchen
inne mit einem bangen ιω ϑεοι den Goͤttern klaget.
Und eben dieſe ſtumme Scene des Schmerzes, von
welcher Wirkung muß ſie auf den Zuſchauer ge-
weſen ſeyn? Er ſieht Philoktet leiden, ſtumm, nur
in einer verzognen Geberde, nur mit einem be-
klemmten Ach! leiden; und wer fuͤhlt dieß beklemm-
te Ach! nicht mehr, als das bruͤllende Geſchrei ei-
nes Mars, der in der Schlacht verwundet, wie
zehn tauſend Mann, oder warum nicht lieber, wie
zehn tauſend Ochſen? aufbruͤllet? Hier erſchrickt,
dort fuͤhlet man: mit Philoktet mitleidend beſtuͤrzt,
als Neoptolemus, banget man, weiß nicht, woran
man iſt, was man thun, wie man helfen ſoll?
Man tritt auf ſein trauriges α α zu ihm: „Wie
denn? du leideſt! du redeſt nicht! Warum ſo ver-
ſchloſſen? du wirſt gepeiniget? warum ſeufzeſt du zu
den Goͤttern? — Und ein Philoktet antwortet
mit verzognem Laͤcheln, mit einem Geſicht, in wel-
chem ſich Schmerz und Muth und Freundlichkeit
miſchen: Jch? Nein! ich empfinde Erleichterung!
ich flehe zu den Goͤttern um gluͤckliche Schiffahrt.
Welch ein griechiſcher Garrik gehoͤret dazu, den
Schmerz und den Muth, die menſchliche Empfin-
dung und die Heldenſeele hier abzuwiegen!


Ueber-
[19]Erſtes Waͤldchen.

Uebermannet endlich vom Schmerz unterliegt
er; er bricht aus — aber in Toͤne der bruͤllenden
Verzweiflung, des wuͤtenden Geſchreies? Nichts!
in ein trauriges απωλολα τεκνον. βρυχωμαι τε-
κνον. παπαῖ. απαπαπᾶ. παπᾶ. πάπα. πάπα.
παπαῖ: das ſind ſeine gezognen Klagetoͤne! Er
bittet um die Heldencur, ſeinen Fuß abzuhauen:
er winſelt. — Nichts mehr? Nein, nichts
mehr! Er war ausgebrochen, wie Neoptolem ſagt,
nur in νιγην και στονον in Aechzen und Seufzen,
und Ach! wie muß dieß ruͤhren! Sein gekruͤmm-
ter Fuß, ſein verzognes Geſicht, ſeine vom Seufzer
erhobene Bruſt, die vom Aechzen hole Seite, ſein
halbes Ach! — — Weiter geht der Dichter
nicht: und um zuvor zu kommen dem Uebertreiben
des Ausdrucks, laͤßt er Philoktet vor Schmerz in
Unſinn fallen! So ſehr hat er gelitten, ſo ſehr ſeine
Kraͤfte zuſammen gefaſſet, daß er raſet.


Er kommt wieder zu ſich! er erholt ſich! aber
die Krankheit kommt, wie ein verirrter Wandrer
wieder: ſchwarzes Blut ſpruͤht hervor: ſein απτα-
παπα ſaͤngt an: er bittet, aͤchzet; ein Fluch auf
Ulyſſes, ein Zorn mit den Goͤttern, ein Ruff an
den Tod, aber alles nur ruckweiſe, nur Augenbli-
cke! der Schmerz laͤßt nach; und ſiehe! den Augen-
blick der Erholung wendet er an, um den dritten
Anfall zu erwarten. Er kommt, und da der thea-
traliſche Ausdruck nicht hoͤher ſteigen kann, ſo laͤßt
B 2ihn
[20]Kritiſche Waͤlder.
ihn Sophokles — Alles, was er ihn thun laſſen
kann, um ihn nicht ſchreien zu laſſen: ſchwaͤrmen,
aͤchzen, bitten, zuͤrnen, athemlos zu ſich kommen
und — — einſchlafen. Peinlicher Auftritt!
der hoͤchſte am Ausdrucke, den vielleicht je ein tragi-
ſches Stuͤck gefodert, und nur ein griechiſcher
Schauſpieler erreichen konnte.


Aber in dieſem peinlichen Auftritte, was iſt
da das Hoͤchſte am Ausdruck, was iſt der Haupt-
ton deſſelben? Etwa Geſchrei? So wenig, daß
Sophokles ja auf nichts ſorgfaͤltiger ſcheint, als zu
vermeiden, daß dieß nicht Hauptton wuͤrde. Wo
ſind „die Klagen, das Geſchrei, die wilden Ver-
„wuͤnſchungen, mit welchen ſein Schmerz das La-
„ger erfuͤllte, und alle Opfer, alle heilige Hand-
„lungen ſtoͤrte, die ſchrecklich durch das oͤde Ei-
„land erſchollen a);„ wo ſind ſie? auf dem Thea-
ter? Ja! aber in der Erzaͤlung b), in der Erzaͤ-
lung ſeines Feindes Ulyſſes, der ſich daruͤber recht-
fertigen will, daß man ihn ausgeſetzt, und verlaſ-
ſen; nicht aber in der Aktion, nicht als ob dieß Ge-
ſchrei Hauptausdruck waͤre. Ein andrer Dichter,
ein Aeſchylus z. E. wuͤrde freilich hieraus mehr
Hauptton gemacht, und vielleicht, wie durch ſeine
Evmeniden eine Schwangere erſchreckt haben, zu
misgebaͤhren: bei einem uͤbertriebenen neuen Tra-
gikus
[21]Erſtes Waͤldchen.
gikus wuͤrde Philoktets Gebruͤlle gewiß ſchon hinter
den Scenen anfangen, und er ſich mit wuͤſtem,
wildem Geſchrei aufs Theater ſtuͤrzen, wie z. E.
Hudemanns Kain durch den ſchoͤnſten und neueſten
Coup de Theatre ſich vor dem Eintritt mit ſei-
ner Keule meldet, ſie vor ſich hin wirft, und ihr
nach, Laͤnge lang aufs Theater hineinfaͤllt. Aber
bei dem weiſen Sophokles? — Wie hat er den
Ton der Angſt abgewogen? wie ſorgfaͤltig auf ihn
bereitet! wie lange unterdruͤckt! wie oft unter-
brochen! wie ſehr durchgaͤngig gemildert! Der gan-
ze Auftritt kann ein Gemaͤlde des Schmerzes hei-
ßen durch alle ſeine Grade vom ſtummen, bis zum
betaͤubenden Schmerze, der ſich ſelbſt gleichſam er-
toͤdtet; aber im Ganzen doch das Gemaͤlde des zu-
ruͤck gehaltenen
und nicht des ausgelaſſenen
Schmerzes, dieß iſts unſtreitig bey Sophokles vom
Anfang zu Ende.


Und daher auch die Kuͤrze des Akts, der kurz
in Worten, aber lang in der Vorſtellung iſt. Kaͤ-
me es hier auf „das Schreien, auf die jammer-
„vollen Ausrufungen, auf das ausgeſtoßne und
abgebrochne haͤufige ά ά an„ wie Hr. L. a)
will: ſo weiß ich nichts, was entweder ſchneller auf
einander folgen, oder den Zuſchauer unwillig ma-
chen muß. Aber das Zuruͤckhalten, das peinliche
B 3Ver-
[22]Kritiſche Waͤlder.
Verſchmerzen, die langen Kaͤmpfe mit dem Weh
im Stillen, die endlich mit einer verſtohlnen ω
μοι! μοι! geſchloſſen werden; dieſe dehnen, dieſe
ſchleichen, und ſie ſind der Hauptton des ganzen
Auftritts. Nun ſetzen ſie noch den daͤmmerenden
Chorus hinzu, der dem entſchlafnen Philoktet ſein
Schlaf-ſein Ruhelied, in ſanften langſamen Zuͤgen
ſinget, und hier nicht bloß den Akt beſchließet, ſon-
dern ſelbſt im Akte iſt; denn der ſchlafende Philoktet
lieget dem Zuſchauer vor Augen; dieſen, ſage ich, ſe-
tze man hinzu, und es iſt ein langer, ganzer, vollen-
deter Akt, der meine Seele fuͤllet: aber nicht durchs
Ausſtoßen, ſondern eben durch das Ruͤckhalten des
Ach! Und ſo kann Winkelmann mit Recht ſagen:
Laokoon leidet, wie Sophokles Philoktet: nur je-
ner, als Bildſaͤule, bei welcher ein Seufzer ewig
dauret, ewig die Bruſt beklemmet, und dieſer als
tragiſche Perſon, die den langen Seufzer endlich
mit einem Ach! ſchließen, und den wieder kommen-
den Schmerz mit einem Ach! empfangen muß, die
zwar auf einer Saite des Jammers herum irret,
aber mit abgeſetzten, mit langſam wiederkommen-
den, mit etwas auf- und abſteigenden, mit Zwiſchen-
toͤnen des unterdruͤckten Schmerzes. Sophokles
war alſo derſelbe weiſe Meiſter in ſeinem Philoktet,
wie Polydorus in ſeinem Laokoon, und bei beiden
zeigt ſich, nur nach der Verſchiedenheit ihres Vor-
wurfs, einerlei Weisheit, denſtillen, den praͤgnant-
ſten
[23]Erſtes Waͤldchen.
ſten Ausdruck zu ſuchen, und dem uͤbertriebnen
Ausdruck zu entweichen. Und das ſagt Win-
kelmann!


Allerdings iſt Schreien der natuͤrliche Aus-
druck des koͤrperlichen Schmerzes a): nur jede
Kunſt der Nachahmung, und ſo darf ich auch ſa-
gen, jede Gedichtart, hat in Nachahmung dieſes
Ausdruckes ihre eigenen Graͤnzen. Wie abwech-
ſelnd iſt Homer in der Art, wie ſeine Krieger, ſeine
Helden niederfallen, und wie wiederholend in dem,
was den Niederfallenden und Sterbenden gemein
iſt; aber weder jene Abwechſelung, noch dieſe Wie-
derholung macht mir das leßingſche Wort verſtaͤnd-
lich: „Homers Krieger fallen nicht ſelten mit Ge-
„ſchrei zu Boden b)!„ Sehr ſelten, moͤchte ich
ſagen, (wenn mich nicht mein Gedaͤchtniß aus Ho-
mer truͤgt) und faſt gar nicht, außer wenn eine
naͤhere Beſtimmung dieſes Charakters es fodert.
So gewoͤhnlich ihm iſt, das ſein Krieger mit klir-
renden Waffen,
mit bebendem Boden u. ſ. w.
faͤllt und ſtirbt, indem ihm Dunkelheit die Au-
gen deckt
c); ſo ungewoͤhnlich faͤllt und ſtirbt einer
mit Geſchrei, mit Heulen: und alsdenn iſt dieß
nicht „der natuͤrliche Eindruck des koͤrperlichen
„Schmerzes„ ſondern ein Charakterzug ſeines
B 4Verwun-
[24]Kritiſche Waͤlder.
Verwundeten. So heult z. E. bei ſeiner Verwun-
dung ein Phereklesa); aber dieſer Pherekles iſt ein
Trojaner, ein unkriegeriſcher Kuͤnſtler, ein feiger
Fluͤchtling, der auf der Flucht eingeholt wird; und
freilich ein ſolcher kann ſich durch ein Geheul auf
ſeinen Knieen unterſcheiden; aber offenbar „nicht
„der leidenden Natur ihr Recht zu laſſen„ ſondern
Vermoͤge ſeines Charakters. Vermoͤge dieſes,
ſchreiet die Venus lautb); denn ſie iſt die weich-
liche Goͤttinn der Liebe: ihre zarte Haut iſt kaum ge-
ſtreift, kaum wird ſie den rothen Jchor, das Goͤt-
terblut, gewahr, ſo entſinken ihr die Haͤnde; ſie
verlaͤßt die Schlacht, ſie weint vor Bruder, Mut-
ter, Vater und dem ganzen Himmel: ſie iſt untroͤſt-
lich. Wer will nun ſagen, daß mit dieſem allen
Homer ſie charakteriſiere, „nicht um ſie als die
„weichliche Goͤttinn der Wolluſt zu ſchildern, ſon-
„dern vielmehr um der leidenden Natur ihr Recht
„zu geben?„ Waͤre dieß, wie wuͤrde er ſo genau
die Seite des Weichlichen c) mit jedem Bilde, mit
jedem Worte, mit jeder Bewegung zeichnen? wie
wuͤrde er ſie noch oben drein, von Pallas verſpotten
laſſen, als haͤtte ſie ſich bey einem Liebeshandel viel-
leicht geritzt? wie wuͤrde ſelbſt ihr lieber Vater Ju-
piter uͤber ſie laͤcheln? Lachet dieſer, ſpottet jene, um
der
[25]Erſtes Waͤldchen.
der leidenden Natur ihr Recht zu geben? und wel-
che leidende Natur iſt ein Ritz der blendenden Haut?
— Eben ſo wenig ſchreiet der eherne Mars a)
aus einer andern Urſache, als eben — weil er der
eherne, der eiſenfreſſende Mars iſt, der im Getuͤm-
mel der Feldſchlacht raſet, und eben ſo wild bey der
Verwundung aufſchreiet. Nichts iſt ungezweifel-
ter, als dieß, wenn wir Homer ſagen laſſen, was
er ſagt; denn waͤre es ihm auch nur je eingefallen,
das Schreien, als „einen natuͤrlichen Ausdruck des
„koͤrperlichen Schmerzes„ und nicht mit hoͤhern
Abſichten zu gebrauchen, ſo waͤre der Ausdruck:
„Er ward verwundet und ſchrie!„ ihm ſo gelaͤu-
fig, als der „er fiel, und ſchwarze Nacht bedeckte
„ſeine Augen.„


So weit ſind wir alſo, daß Homer „das Praͤ-
„dikat des Schreiens, nicht als einen allgemeinen
„Ausdruck des koͤrperlichen Schmerzes, nicht als
„eine abſolute Bezeichnung, der leidenden Natur
„ihr Recht wiederfahren zu laſſen„ gebrauche; es
muß in dem Charakter eben deſſen, den er ſchreien
laͤßt, eine naͤhere Beſtimmung dazu liegen, daß
eben dieſer ſchreiet und kein andrer. Und da duͤnkt
es mich jetzt unbeſtimmt, von ſeinen Helden allge-
mein zu reden b), was ſie nach ihren Thaten und
Empfindungen ſind; denn keiner derſelben iſt an
B 5Em-
[26]Kritiſche Waͤlder.
Empfindungen ſo wenig, als an Worten, Geberden,
Koͤrper, Eigenſchaften dem andern gleich; jeder iſt
eine eigne Menſchenſeele, die ſich in keinem andern
aͤußert.


Noch minder ſcheinet mir „das Schreien„ der
wichtige unveraͤnderliche Zug zu ſeyn, der zu der
unveraͤnderlichen Aeußerung eines Menſchengefuͤhls
gehoͤren muͤßte: denn einer kann ſeufzen, der andre
aͤchzen, der dritte ſchreien, und ein Hannibal in ſei-
nem aͤußerſten Kummer lachen. Am mindeſten
aber iſts nothwendige Beſtimmung des Helden,
als Menſch betrachtet: ſo daß er ein Unmenſch ſeyn
muͤßte, wenn er nicht ſchrie. Waͤre dieß: ſo haͤtte
Homer lauter Unmenſchen beſungen. Sein Aga-
memnon, ein Koͤnig der Voͤlker, der herrlichſte der
Griechen vor Troja wird im tapferſten Gefecht ver-
wundet: er faͤhrt zuſammen a) — aber aufzu-
ſchreien, zu weinen, vergißt er; er faßt ſich, und
ſtuͤrzt mit ſeinem Spieße deſto ſchaͤrfer in die Feinde:
ſollte er deßwegen kein Menſch an Empfindung ſeyn,
weil er nicht wie Mars, oder die Dame Venus
aufſchrie? Hektor, der tapferſte Trojaner, wird von
des Ajax großem Felſenſtein niedergeworfen, und
auf der Bruſt gequetſcht: Spieß und Schild und
Helm entfallen: rings um ihn klingen die ehernen
Waffen
[27]Erſtes Waͤldchen.
Waffen a) — aber aufzuſchreien vergißt er. Man
muntert ihn auf, gießt ihm Waſſer ein: er kommt
zu ſich: blickt auf; aber er ſinkt in die Kniee, ſpeiet
ſchwarzes Blut — und doch denkt der Unmenſch
an eins nicht, uͤber ſeine Bruſtſchmerzen, uͤber ſeine
Seitenſtiche zu ſchreien und zu weinen. — So
mit allen Helden Homers, der auch in dieſem
Stuͤcke Charakter beobachtet. Menelaus wird
vom Pfeile Pandarus unvermuthet und im wichtig-
ſten Zeitpunkte getroffen: ſein Blut rinnt: Agame-
mnon faͤhrt zuſammen: Menelaus ſelbſt b); aber
nichts mehr! da er den Pfeil in der Wunde ſieht,
zieht er ihn aus, und laͤßt ſeinen Bruder und ſeine
Mitſoldaten um ſich ſeufzen. Man weiß, daß
Homer eine ordentliche Leiter der Tapferkeit habe,
und er hat ſie auch in dieſer anſcheinlichen Kleinig-
keit ſogar. Ulyſſes c) haͤlt deßwegen ſeinen
Schmerz zuruͤck, weil er die Wunde nicht toͤdtlich
fuͤhlt; Agamemnon und Menelaus fahren d) bei
der Verwundung doch noch zuſammen; aber end-
lich der verwundete Diomedes„ ſtand, rief dem
Sthenelus, ihm den Pfeil aus der Wunde zu zie-
hen; und da das Blut quoll, ſo ſtroͤmte ſeine Em-
pfindung, ſtatt in Thraͤnen und Geſchrei, in feuri-
ge Gebethe wider die Feinde aus e). Solche Un-
men-
[28]Kritiſche Waͤlder.
menſchen ſind die Helden Homers, und je groͤßerer
Held, je groͤßerer Unmenſch: ſein Achilles iſt ſogar
am Koͤrper unverletzlich.


Jſts alſo bei Homer, daß ſeine Helden ſchreien
und weinen muͤſſen „um der menſchlichen Natur
„treu zu bleiben, wenn es auf das Gefuͤhl der
„Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung dieſes
„Gefuͤhls durch Schreien oder durch Thraͤnen an-
„kommt?„ a) Jch wollte nicht, daß ein alter
Grieche, deſſen Heldenſeele, als ein ſeliger Daͤmon
noch in der Welt unſichtbar wandelte, dieſe Behau-
ptung laͤſe. Was? wuͤrde er ſagen, was iſt wohl
einem in die Schlacht ziehenden Helden natuͤrlicher,
als verwundet, getroffen werden; ſich fuͤrchten alſo
kann er, wenn ihn ein unvermutheter Pfeil trifft;
aber in der Schlacht ſchreien und weinen, das thut
kein homeriſcher Held der Griechen; ſelbſt kein Held
der Trojaner, die doch immer Homer in kleinen Zuͤ-
gen herunter ſetzt. Einem Hektor b) in ſeinem
Tode entſinkt, ſelbſt bei ſeiner letzten ſterbenden Bit-
te, keine Thraͤne, kein Ton des Geſchreies: ein
Sarpedon c) knirſcht, da er ſtirbt, und je tapferer,
um ſo gefaßter bei dem Schmerze. Nur die Fei-
gen zittern und weinen und ſchreien: Pherekles, der
feige Fluͤchtling, und die weichliche Venus, und
der
[29]Erſtes Waͤldchen.
der eiſenfreſſende trojaniſche Mars. So dichtet
mein Homer.


Und ſo haͤlt alſo die ſo einnehmende leßingſche
Betrachtung a) uͤber die Empfindbarkeit der Grie-
chen, und den Kontraſt derſelben gegen rohe Bar-
barn, und ſeine Europaͤer nicht Stich? Die Em-
pfindbarkeit zum Schmerzen bei einem koͤrperlichen
Schmerze nicht wohl, wenigſtens nicht als homeri-
ſcher Heldenzug, nicht allgemein, nicht als noth-
wendiges Kennzeichen der menſchlichen Empfindung.
Giebts aber keine andre Empfindbarkeit zu Thraͤ-
nen, und auch zu lauten, zu klagenden Thraͤnen,
als koͤrperlicher Schmerz? Ohne Zweifel, und eben
dieſe Empfindbarkeit, wenn ſie ein Vorzug der
Griechen waͤre, macht ihnen zwar mehr Ehre; al-
lein die Abhandlung daruͤber waͤre offenbar eine
Ausſchweifung von dem Satze, den Hr. L. glaubt er-
wieſen zu haben b) „daß das Schreien c) bei Em-
„pfindung koͤrperlichen Schmerzes, beſonders nach
„der alten griechiſchen Denkart, gar wohl mit ei-
„ner großen Seele beſtehen kann;„ ein ſeltner Satz,
der im erſten Abſchnitt, auch eben ſo ſelten, mit ei-
ner Armee von weinenden Helden, die ich im Homer
nicht kenne, bewieſen wird d).
hat-Um alſo doch nicht
leer
[30]Kritiſche Waͤlder.
leer auszugehen, laſſet uns Leßingen auf ſeinem Ab-
wege folgen.


3.


Die Empfindbarkeit der Griechen zu ſanften
Thraͤnen, iſt zu ſehr bekannt in Aeußerungen, als
daß man, wie Herr Leßing ein einzelnes Beiſpiel,
und dazu aus einer bloßen Vermuthung a) nehmen
doͤrfte, die hier vielleicht nicht beweiſet, was ſie be-
weiſen ſoll. Griechen und Trojaner ſammlen ihre
Todten. Beide vergießen heiße Thraͤnen; aber den
Trojanern verbietet dieß Priamus. Warum ver-
bietet ers ihnen? Er beſorgt, ſagt die Dacier, ſie
wuͤrden ſich zu ſehr erweichen, und morgen mit we-
nigerm Muth an den Streit gehen. „Warum
„aber, fragt Herr Leßing, muß nur Priamus dieſes
„beſorgen? Der Sinn des Dichters geht tiefer.
„Er will uns lehren, daß nur der geſittete Grieche
„zugleich weinen und tapfer ſeyn koͤnne; indem der
„ungeſittete Trojaner, um es zu ſeyn, alle Menſch-
„lichkeit vorher erſticken muͤſſe.„ Zu hart fuͤr die
armen Trojaner! Kann Priamus nicht ihren Thraͤ-
nen Einhalt thun wollen, nicht aus ungeſitteter
Bar-
31
[31]Erſtes Waͤldchen.
Barbarei, ſondern weil die Thraͤnen der Trojaner,
ſeiner Kinder, freſſender waren, als die Thraͤnen
der Griechen. Dieſe waren Angreifende, und ſtrit-
ten um der Ehre wegen; ihnen wards alſo leichter,
neuen Muth zu faſſen, und Agamemnon brauchte
deßwegen keine Beſorgniß. Die Trojaner aber
litten: ſie waren Angefallene, die nicht der Ehre
ſo wohl als der Sicherheit, ihres Lebens wegen ſtrit-
ten a), die ſich in Bedraͤngniß fuͤhlten, und halb
in Verzweiflung, eines Raͤubers wegen, ihre Kin-
der und Maͤnner verlieren, eines Raͤubers wegen
die Jhrigen begraben mußten. Hier empoͤrten ſich
die Empfindungen der Bedraͤngten, hier floſſen
heiße Thraͤnen der murrenden Unſchuld. Und
Priamus ließ ſie nicht weinen! Warum? weil er
ein ungeſitteter Barbar war, und ſeine Trojaner
als ſolche kannte, die nicht zugleich weinen und
ſtreiten koͤnnten? Wie wenn er ſie zuruͤckgehalten
haͤtte, als ein Vater ſeiner ungluͤcklichen Stadt, und
ſeines ungluͤckbringenden Sohns? damit ſie nicht
in einem Schickſale, das ihm ſelbſt ſo zu Herzen
gieng, gar murren oder verzweifeln moͤchten? —
Doch wenn das auch nicht: noch ſind die Trojaner
keine Lapplaͤnder, keine Scythen: denn ſie weinen
ja um die Jhrigen, und Priamus befuͤrchtet eben
ein zu weiches Herz, zu tief einfreſſende Thraͤnen.
Ge-
[32]Kritiſche Waͤlder.
Gerade alſo das Gegentheil! — Doch aus ſolchen
Deutungen kann man immer machen, was man
will, und eine bloße Allegorie; „der Sinn des Dich-
„ters geht tiefer„ kann uns endlich ſo tief fuͤhren, daß
der Boden ſinkt.


Die ganze Dichtkunſt der Griechen hat zu viel
Spuren dieſer Empfindbarkeit ihrer Nation zu
Schmerz und Thraͤnen, als daß man bloß muth-
maßen doͤrfte, und ſie iſt einem großen Theile
nach gleichſam ein ganzer lebender Abdruck dieſes
Gefuͤhls, dieſer weichen Seele. Laſſet uns dieſen
Theil die elegiſche Poeſie nennen; aber niemand ver-
ſtehe hier unter dieſem Namen jenen hinkenden Af-
fen, der ſich nach unſern weiſen Lehrbuͤchern der
Poeſie bloß im Sylbenmaas unterſcheiden ſoll:
ſondern Elegie ſei mir hier die klagende Dichtkunſt,
die verſus querimoniae nach Horaz, ſie moͤgen ſich
finden, wo ſie wollen, in Epopee und Ode, in
Trauerſpiel, oder Jdylle; denn jede dieſer Gattun-
gen kann Elegiſch werden. Jn ſolchem Verſtande
hat die Elegie ein eignes Gebiet in der menſchlichen
Seele, naͤmlich die Empfindbarkeit des Schmerzes
und der Betruͤbniß: man kann alſo aus ihr uͤber
Voͤlker und Zeiten hinaus ſehen, und hier wird ſich
durch Vergleichungen auch die den Griechen
eigne Stelle finden. Jch ſtecke einige Geſichts-
punkte ab.


1. Nicht
[33]Erſtes Waͤldchen.

1. Nicht jedes Volk hat fuͤr milde Betruͤbniſſe
ein gleich zartes Herz; bei manchem haben ſelbſt
die Klagen eine rohe Veſtigkeit, ein heldenmaͤßiges
Brauſen, in welches ſie verſchlungen werden, und
ein ſolches wird, bei ſonſt großen Dichtern, mit
der Sprache dieſer weichen Thraͤnen ſehr unbekannt
ſeyn koͤnnen. So die nordiſchen Skandinavier, die
auch bei Trauerfaͤllen vom Heroismus geſtaͤlt, kaum
kurze Seufzer ausſtießen und — ſchwiegen; wenn
ſie ſangen, ſo war ihr Geſang kaum die milde ele-
giſche Thraͤne.


Der Koͤnig Regner Lodbrog ſtirbt a): er
ſtirbt unter den entſetzlichſten Schmerzen. Stirbt er
in Elegien? Laͤßt er der gequaͤlten ſterbenden
Menſchheit, dem von ſeinen Soͤhnen entfernten
brechenden Vaterherze ſein Recht wiederfahren? Ei-
ne einzige weiche Thraͤne haͤtte den Nachfolger
Odins entweihet. Er ſtirbt im Triumphsliede,
im Andenken an ſeine Thaten, voll Heldenfreude,
voll Rache, voll Muth, voll himmliſcher Hoffnung.
„Wir haben mit Saͤbelſtreichen gefochten, ſo endet
„ſein Geſang, o wuͤßten meine Soͤhne die Plagen,
„die ich erdulde; wuͤßten ſie, daß giſtige Nattern
„mir den Buſen zerfleiſchen — wie heftig wuͤrden
„ſie ſich nach grauſamen Schlachten ſehnen! Denn
„die Mutter, die ich ihnen gab, hat ihnen ein maͤnn-
„liches Herz hinterlaſſen.


C„Wir
[34]Kritiſche Waͤlder.

„Wir haben mit Saͤbelſtreichen gefochten; doch
„jetzt — nahet ſich mein letzter Augenblick. Bald
„wird das Schwert meiner Soͤhne ins Blut des
„Ella getaucht ſeyn: ihr Zorn wird entflammen,
„und dieſe muthige Jugend die Ruhe nicht weiter
„dulden.


„Wir haben mit Saͤbelſtreichen gefochten in
„ein und funfzig Schlachten, wo die Fahnen flo-
„gen. Von meiner Jugend an lernte ich, die
„Spitzen der Lanzen mit Blute faͤrben, und nie
„haͤtte ich einen tapferern Koͤnig, als ich bin, zu
„finden geglaubt. — Aber es iſt Zeit, aufzuhoͤren:
„Odin ſendet ſchon die Goͤttinnen, mich in ſeinen
„Pallaſt zu fuͤhren. Da werde ich auf dem erha-
„benſten Platze ſitzend Bier mit den Goͤttern trin-
„ken. Die Stunden meines Lebens ſind verfloſ-
„ſen, ich ſterbe laͤchelnd! —„ Das beſte Beiſpiel
zu Herrn Leßings Bemerkung uͤber den harten nor-
diſchen Heldenmuth.


Ein anderes aus einer der beſten kritiſchen
Schriften a) unſrer Zeit. Abbiorn Prude, der
heldenmuͤthige Daͤne, in den Haͤnden ſeines Fein-
des, der mit langſamer Wuth in ſeinen Eingewei-
den wuͤhlet — wehklaget er, ſeufzet er? Er denkt
an ſeine Mutter, an alle Freuden ſeiner Jugend,
und ſeines maͤnnlichen Alters; er fuͤhlt ſeine ganze
Pein,
[35]Erſtes Waͤldchen.
Pein, aber als Held: ſo ſtirbt er. — So ſtirbt
der Eskimaux a) an ſeinem Marterpfal. Freund,
und Vaterland, Kinder und Mutter, alles, was ihm
auf ſeiner Welt das liebſte iſt, ruffet er in ſeinem
Sterbegeſange; aber, um uͤber ſie zu weinen, um
den Zoll der Menſchlichkeit zu entrichten? Eine ein-
zige weiche Thraͤne wuͤrde den Helden, ſein ganzes
Geſchlecht, und ſeinen Freund und ſein Vaterland
entehren. Kein Ach alſo entwiſcht ihm, ſelbſt unter
den grauſamſten Schmerzen: geſenget und gebrannt
ſingt er ſeinen Martergeſang. Er wird zum deſto
langſamern Tode losgebunden, und — raucht mit
Scherz und Spott ſeine Pfeife Tobak mit andern:
die Martern fangen wieder an; er ſpottet, ſchweigt,
wird ihr Lehrer in neuen Qualen, ſingt und ſtirbt
im Triumphe. So der Eskimaux!


Wo alſo das Herz eines Volkes Kieſelſtein iſt:
da ſchlaͤgt der heftigſte Schmerz, er treffe nun Leib
oder Seele, nichts als heroiſche Funken; denn wo-
her ſollte dem Kieſelſtein eine zarte elegiſche Thraͤne
kommen? Der Heldenmuth, die Liebe zum Vater-
lande, und zum Ruhme ſeines Stammes, das he-
roiſche Buͤndniß mit ſeinem Freunde, der ſein Rach-
engel ſeyn ſoll: die ganze Bildung einer rohen und
ſtarken Natur zum unerſchuͤtterten Nachfolger
Odins und anderer thraͤnenloſen Helden, die ih-
rem Volk, ihrer Republick, eben den Geiſt der Ta-
C 2pfer-
[36]Kritiſche Waͤlder.
pferkeit einfloͤßen — dieß alles betaͤubte Menſchlich-
keit und Gefuͤhl und Thraͤnen.


2. Nun laßt dieſen Heldenmuth, dieſe Liebe
zum Vaterlande, und zum Ruhme ſeines Stammes,
dieß Gefuͤhl fuͤr Freundſchaft, und die unverhuͤllte
Offenheit der Seele — laßt dieſe edle und große
Geſinnungen ſich alle ohne ſolche Verſchanzung
und Verhaͤrtung aͤußern: die groͤßte Tapferkeit
wird ſich alsdenn immer als die empfindbarſte
Menſchheit zeigen. „Nach ihren Thaten werden
„ſolche Leute Geſchoͤpfe hoͤherer Art ſeyn; nach ihren
„Empfindungen Menſchen.„


Und ſollte es nur unter den Griechen dieſe Dop-
pelgeſchoͤpfe hoͤherer Art, dieſe Heldenmenſchen, dieſe
Semonen gegeben haben? Und unſre Ureltern
waͤren Barbarn, und alle nordiſche Barbarn in
dieſem Stuͤck Unmenſchen geweſen? Menſchliches
Gefuͤhl muß jedem einwohnen, der ein Menſch iſt;
es muß, wo es erſtickt, wo es in rohe Tapferkeit
verſchlungen werden ſoll, erſt von tauſend Beiſpie-
len, von einem großen unter einer Nation lebenden
Vorbilde, von dem ganzen Geiſte des Volks, und
durch alle Eindruͤcke der Erziehung von Jugend auf
gewaltig beſtuͤrmt, und dahin endlich geriſſen wer-
den, daß es mit dieſen Beiſpielen wetteifre, daß
es dieſem großen Vorbilde, das den Geiſt dieſes
Volks beſtimmet, folge. Wo dies nicht iſt: da
wird ſich die unverhuͤllte Natur zeigen; die Empfin-
dun-
[37]Erſtes Waͤldchen.
dungen der Menſchheit werden ſich in ein Helden-
gewand kleiden, und der Sinn des Helden ſich wie-
derum der menſchlichen Thraͤne nicht ſchaͤmen — es
ſei unter einem Volke, wo es wolle!


Und wie? wenn wir ein ſolches Volk auch mit-
ten unter nordiſchen Gebirgen; mitten unter Bar-
barn, ſelbſt unter dem Namen eines barbariſchen
Volks begriffen, und mit nichts als Kriegen be-
ſchaͤfftigt, auffaͤnden? und welches doch gleich fern
von Griechenland, als von ſeinen Sitten, alle die
menſchliche Empfindbarkeit zeigte, die kaum ein
Grieche gezeigt hat — bliebe da noch der Gegen-
ſatz ſo ganz veſt: „Unſere nordiſche Uraͤltern wa-
„ren Barbarn. Alle Schmerzen verbeißen, dem
„Streiche des Todes mit unverwandtem Auge ent-
„gegen ſehen, weder ſeine Suͤnde noch den Verluſt
„ſeines liebſten Freundes beweinen, ſind Zuͤge des
„alten nordiſchen Heldenmuths.
Nicht ſo der
„Grieche! a)„ Wenn ich nun hier einfiele und
fortfuͤhre: Nicht ſo der Schotte, der Celte, der
Jrre!„ er aͤußerte ſeine Schmerzen und Kummer;
er ſchaͤmte ſich keiner der menſchlichen Schwachhei-
ten; keine mußte ihn aber auf dem Wege zur Ehre,
und von Erfuͤllung ſeiner Pflicht zuruͤckhalten,
„So haͤtte ich fuͤr meine Barbarn alles geſagt,
was L. von ſeinen Griechen, im Contraſt mit den
nordiſchen Barbarn, und doch fuͤr meine nordiſche
Barbarn noch nicht gnug.


C 3Jch
[38]Kritiſche Waͤlder.

Jch kenne kein poetiſches Volk der Erde, wel-
ches große und ſanfte Empfindungen, ſo ſehr in Eine
Geſinnung verbunden, und in Einer Seele den
Heroismus des Helden- und Menſchengefuͤhls ſo
ganz gehabt haͤtte, als die — alten Schotten, nach
Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Geſaͤnge. Eine
ſichere Maasgabe, da die Urſpruͤnglichkeit dieſer Lie-
der bewieſen, und das ganze Leben der Nation be-
kannt iſt, als ein Leben, das unter Thaten, Em-
pfindungen und Geſaͤngen verſtrich, und wo die Ge-
ſaͤnge eben zu nichts beſtimmt waren, als dieſe
Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies
alſo vorausgeſetzt: und in jedem Bardenliede zeigt
ſich ein Volk, deſſen Seele ganz der Tapferkeit und
einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, deſſen
Denkart uͤberhaupt von einem Heldenernſt eine ge-
wiſſe melancholiſche Farbe erhalten, und dieſe auch
auf ſeine weichen Empfindungen verbreitete. Die
meiſten Stuͤcke der herſiſchen Dichtkunſt kann ich
nicht beſſer, als feyerliche Trauergeſaͤnge nen-
nen, an die nichts im Alterthume, und was dieſe
Seite des Gefuͤhls betrifft, ſelbſt nichts im griechi-
ſchen Alterthume reicht.


Schilricka) ſcheidet von ſeiner geliebten Vin-
vela:
fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er
verlaͤßt ſie: ſie bleibt allein: er wird vielleicht fal-
len; aber Vinvela wird ſein gedenken. Jch ken-
ne
[39]Erſtes Waͤldchen.
ne kein Stuͤck, das an Suͤßigkeit der Liebe, und
an Entſchloſſenheit des Scheidenden einen ſolchen
Abſchied, zwoer ſo edlen und ſo fuͤhlbaren Perſonen,
mit fuͤnf Worten des Dialogs ſo ruͤhrend beſaͤnge.
Jch nehme Leßingen ſeine Worte auf die Griechen:
„Hier der Schotte! Er fuͤhlte und furchte ſich;
„er aͤußerte ſeine Schmerzen und ſeinen Kummer:
„er ſchaͤmte ſich keiner ſeiner menſchlichen Schwach-
„heiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege nach
„Ehre, und von Erfuͤllung ſeiner Pflicht zuruͤckhal-
„ten.„ Und dieſer Schotte war ein Barbar von
einem nordiſchen Gebirge.


Schilrick trauret um ſeine entfernte Vinvelaa):
ſie erſcheint, ſie ſpricht im ſauſenden Luͤftchen: „Jch
„hoͤrte von deinem Tode: ich hoͤrte und trauerte um
„dich, Schilrick. Vor Gram um dich gab ich den
„Geiſt auf. Schilrick, ich liege erblaßt im Grabe.„
Sie flieht, ſie faͤhrt davon, wie der graue Nebel im
Winde. Schilrick klagt ſie: die ſanfteſte, feier-
lichſte Elegie der Liebe! — Nur ein Schotte, wuͤr-
de ich im Leßingſchen Enthuſiasmus ſagen, nur ein
Schotte kann zugleich weinen und tapfer ſeyn!„


Was geht uͤber das Gedicht: Colma, Co-
mala:
b) an Wahrheit und Einfalt, an Suͤßigkeit
und Hoheit, an Staͤrke und Zartheit der Gedan-
ken, der Empfindungen, des Ausdrucks, an Jn-
halt und Einkleidung; was geht an allem dieſem uͤber
C 4die
[40]Kritiſche Waͤlder.
die elegiſchen Liebesgeſaͤnge dieſer Nation, die ſich
durch nichts, als an Bardenliedern voll tragiſcher
Heldenthaten, und voll tragiſcher Heldenliebe ergoͤtz-
ten? Nichts, ſelbſt aus dem griechiſchen Alterthume
nichts! Die Liebe der Griechen, ihre ſanften Em-
pfindungen und Klagen, ſind weicher und wortſtroͤ-
mend, wenn ich ſie mit dieſen Barbarn vergleiche,
bey denen die Liebe in ſtolzer, in heldenſtolzer Seele
wohnte, ſich zu einer ſanften Schwaͤrmerei, zu ei-
ner erhabnen Heldenzaͤrtlichkeit hob, und auch in
den Elegien der Liebe durch große Geſinnungen ruͤh-
ret, und bezaubert. Die gewaͤſſerten Klagen un-
ſerer Elegiſten ermuͤden mein Ohr; aber dort, in
dieſem feierlichen Alterthume, dort toͤnet eine Me-
lancholie der Liebe, die uns lehret, daß „nicht blos
der geſittete Grieche zugleich weinen und tapfer
ſeyn koͤnne„, der barbariſche Schotte koͤnne es
beſſer.


Vielleicht aber war dies nur ſo mit Einer Em-
pfindung der Menſchlichkeit, indeß alle andre von
Tapferkeit erſtickt werden mußten? Wie kann doch
Eine Statt finden, ohne zugleich Allen Raum zu
machen? Die elegiſche Stimme der Schotten iſt in
der Vater-in der Geſchlechtsliebe eben ſo ſuͤß
und tapfer, als in der Weiberliebe. Man weiß,
was in den alten Zeiten der Ruhm des Stammes
galt: eine Empfindung, die bis auf den dummen
Ahnenſtolz aus den Seelen unſerer Zeiten wegge-
ſchwemmt
[41]Erſtes Waͤldchen.
ſchwemmt zu ſeyn ſcheinet. Wo flieſſen edlere
Thraͤnen, als wenn der Sohn Fingals Oſſiana),
das Andenken ſeiner Soͤhne und ſeines Vaters, ih-
rer Thaten und ihres Todes erneuret — wo ſind ed-
lere Thraͤnen, als dieſe auf den Wangen des Grei-
ſes, der „gleich einer alten Eiche daſteht: aber der
Brand hat meine Zweige weggehauen, und ich bebe
bei den Fluͤgeln des Nords. Allein, allein ſoll ich
an meinem Orte zu Staube werden.„ So klagt
der tapfere Oſſian, und ſo laͤßt derſelbe, den Ar-
nim, ſo den grauhaarigen Carryl klagen: ſo klagen
die Helden, die Vaͤter ihrer Staͤmme. Alle Em-
pfindungen der Helden und der Menſchen, z. E.
Vaterrlands- und Geſchlechter-Freundes- und Wei-
ber- und Menſchenliebe — alle leben in den Ge-
dichten dieſes Volks, wie in Abdruͤcken ihrer
Seele.


Und ſo war es wohl nicht der Grieche allein, der
zugleich weinen und tapfer ſeyn konnte b). So war
nicht jeder, der Barbar heißt, der in einem rauhen
Klima wohnte, und die Bildung der Griechen nicht
kannte, von der Art, „daß er, um tapfer zu ſeyn,
„alle Menſchlichkeit erſticken muͤßte.„ So lag es
alſo wohl nicht an der National-Seele, am Tem-
perament, am Clima, am Geſittetſeyn der Griechen,
wenn ſie beides verbanden: Und ſo muͤſſen alſo
andre Gruͤnde ſeyn, die dieſe Miſchung von Helden-
C 5thum
[42]Kritiſche Waͤlder.
thum und Menſchlichkeit bei ihnen und bei den Bar-
baren hervorbrachten, oder nicht hervorbrachten.
Sollten uns dieſe Gruͤnde nicht auf den Weg brin-
gen: worinn und woher auch die Griechen ſo em-
pfindbar geweſen?


4.


1. Wenn es eine Zeit giebt, da das Wort Va-
terland
noch nicht ein leerer Schall iſt, ſondern


— — ein Silberton dem Ohr

Licht dem Verſtand und hoher Flug zum Denken,

Dem Herzen groß Gefuͤhl —

ſo muß der Name Vaterland ſo gut den Dichter
zum Helden, als den Helden zum Dichter, und
beide zu theilnehmenden Soͤhnen ihres Vaterlandes
machen. Der Held wird dafuͤr ſtreiten, der Dich-
ter ſingen, und wenn ſie beide es nicht mehr retten
koͤnnen, beide noch als Soͤhne darum weinen: und
iſt nun Dichter und Held, und Sohn des Vater-
landes Eine Perſon — ſo iſt dies die Zeit der Pa-
triotiſchen Klagelieder.
Nicht aus einer ſich
uͤbenden Schulfeder; aus dem vollen Herzen werden
dieſe fließen; nicht blos auf dem Papier, ſondern
im Gedaͤchtniß, in der Seele leben; die Stimme
der Ueberlieferung wird ſie aufbehalten, der Mund
des Volks ſie ſingen: ſie werden Thraͤnen und Tha-
ten wecken: ein Schatz des Vaterlandes, und das
Gefuͤhl, das ſie beſingen und wirken, Gefuͤhl des
Volks,
[43]Erſtes Waͤldchen.
Volks, Nationalgeiſt. Es wird alſo Eine Em-
pfindung des Patriotismus ſeyn, die jetzt zu Tha-
ten, jetzt zu Geſaͤngen, jetzt zu Thraͤnen fuͤrs Vater-
land gedeihet, nachdem die Ausbildung deſſelben
die Empfindung da oder dorthin lenket: und keinen
Abſenker derſelben erſticket. Bei den Scandina-
viern erſtickte das Beiſpiel Odins die eine Art des
Ausbruchs, die Heldenthraͤne, um die andre um ſo
mehr zu verſtaͤrken: Heldenthaten.


Nun aber aͤndere man dieſen Geiſt der Zeit:
die ganze Welt werde das Land des Weiſen, oder des
tauglichen und angenehmen Narren; allmaͤlich wer-
den ſich die Bande ſchwaͤchen, die das Herz des Ein-
gebohrnen an den Boden der Natur hefteten; ihm
wird alſo auch das Ungluͤck, oder die Entfernung
ſeines Vaterlandes nicht mehr ſo zu Gemuͤthe drin-
gen: und ſo iſt auch die edle Thraͤne um das Vater-
land verſiegt, die dort den Helden und den Weiſen
nicht verunzierte, ſondern ehrte. Sie wird hoͤchſtens
der eigennuͤtzigen oder uͤppigen Thraͤne Raum ma-
chen, die ein Ovid mitten in ſeinem traurigen Ge-
ſchwaͤtz, oder Buſſi-Rabutin in ſeinem aͤchzen-
den Unſinn, nach einem wohlluͤſtigen Hofe fließen
laͤßt. Und ſo iſt eine Quelle dieſes Heldengefuͤhls
ausgetrocknet: „die Bildung, die Erziehung fuͤr das
Vaterland.„


2. Wenn noch ein jedes Geſchlecht, eine jede Fa-
milie, unzertrennt und Eins im Ganzen, einen Baum
bil-
[44]Kritiſche Waͤlder.
bildet, wo die Zweige und Fruͤchte dem Stamme
zur Ehre gereichen, und durch das Abreißen der-
ſelben der Stamm ſelbſt verwundet wird: wie be-
deutend ſind alsdenn die gefuͤhlvollen Zuͤge Homers
bei ſeinen fallenden Helden: „er fiel, ein bluͤhender
„Juͤngling; der Vater wars nicht, der ihm zum
„Kriege rieth! — er ſtammt aus einem edeln Ge-
„ſchlechte; mit ſeinem Tode aber iſt dies geendigt
„— er war aus fernem Lande gekommen; nie aber
„wird er in daſſelbe ruͤckkehren — die Soͤhne des
„Reichen fielen; der Vater hat alles fuͤr Fremde
„geſammlet.„ Jn dieſe Welt alſo gehoͤren die
Heldenklagen des Priamus um ſeinen Hektor, den
Ruhm ſeines Geſchlechts, die Mauer von Troja:
in dieſe Welt die Klagen Oſſians, um ſeine abgeſchie-
denen Soͤhne; die ganze ruͤhrende Umarmung Hek-
tors an ſeinen kleinen Aſtyanax: die Klagen der
Elektra und andrer tragiſchen Heldinnen, der ruͤh-
rende Hingang der Morgenlaͤnder zu ihren Vaͤ-
tern
u. ſ. w. eine Ader des Gefuͤhls, die die beſten
Dichtungen und Geſchichte, nicht blos der Griechen,
ſondern aller Voͤlker durchſtroͤmt, bei denen dieſe
Einigkeit der Geſchlechter, dies Familienge-
fuͤhl lebte.


Nun erſticke man aber daſſelbe: man gehe uͤber
die natuͤrlichen Beduͤrfniſſe der unverdorbnen menſch-
lichen Seele und der einfachern Lebensart hinaus:
man mache die Ehre zu einem Wirthſchaftsver-
gleich,
[45]Erſtes Waͤldchen.
gleich, zu einem Stande der Mode, und Eheleute
zu nichts, als einander laͤſtigen oder zeitkuͤrzenden
Perſonen: man erziehe die Bruͤder, daß ſie ſchon
an den Bruͤſten einer Fremden nicht mehr Bruͤder
ſind, und anwachſend immer fremder werden: man
knuͤpfe Perſonen, die ſchon am Hochzeittage ge-
trennt, und lege Kinder in ihre Arme, die blos ih-
ren Namen haben doͤrfen — freilich ſo wird eine
Nerve des Gefuͤhls getoͤdtet: es erliſcht der Ehren-
name:„ Achilles war ein Sohn Peleus „allmaͤlich:
die Sehnſucht des Ulyſſes zu ſeiner alten Penelope,
und ſeinem ſteinigten Jthaka duͤnkt uns abentheuer-
lich: der gefuͤhlvolle Stolz der Morgenlaͤnder auf
ihre Geſchlechtswuͤrde wird laͤcherlich in unſern Au-
gen, und die Klagen eines Hallers, Klopſtocks,
Canitz, Oeders, duͤnken vielen artigen Ehemaͤnnern
ſo poetiſch, als eine Anrufung an die Muſe.


Es war eine Zeit (ſie iſt noch jetzt unter den
Wilden!) da es Freunde gab, in einem Verſtande,
der ſonſt kaum Statt findet: zwei unzertrennliche Ge-
faͤhrten in Gluͤck und Ungluͤck, durch die heiligſten
Geſetze verbunden, wetteifernd in den ſtrengſten
Pflichten, und in Erfuͤllung derſelben Muſter ihrer
Vaterſtadt, und die Verehrung des Landes. Zu die-
ſem Gefuͤhl erzogen, beſiegelten ſie daſſelbe alſo oft
mit ihrem Tode und Blute: ſie verließen ihren
Freund nie, auch in Lebensgefahren, denen die da-
malige Tapferkeit mehr als unſre Ueppigkeit ausge-
ſetzt
[46]Kritiſche Waͤlder.
ſetzt war; die kleinſte Untreue gegen ihren Freund
machte ſie zum Spott ihres Geſchlechts, und zum
Abſcheu der Stadt; ſie waren nach allen Geſetzen
verbunden, ſeinen Tod zu raͤchen, und die letzte
Stimme des Einen, vielleicht gefangenen, vielleicht
getoͤdteten Freundes war — an ſeinen Freund, an
den Begleiter ſeines Lebens. Da alſo gab es einen
Herkules und Jolaus, einen Aeneas und Acha-
tes,
einen Oreſtes und Pylades, einen Theſeus
und Pirithous, einen David und Jonathan:
mithin eine Quelle des Gefuͤhls der Freundſchaft fuͤr
den Helden, die jetzt fuͤr den bloßen Buͤrger und
Geſellſchafter beinahe verſiegen iſt. Da alſo, da
floſſen, wenn der Tod, wenn ein Ungluͤck die tren-
nete, die das Leben nicht trennen konnte, ſo edle Hel-
denthraͤnen, die der Held Achilles um ſeinen Pa-
troklus, wie ein Pylades um ſeinen Oreſtes, wie
der Held David um ſeinen Jonathan weinten.


Nun laßt die Welt zu einer ſolchen Freund-
ſchaft verſchwinden: die Art des Lebens mache nicht
mehr zween ſolche Begleiter im Leben und Tode
noͤthig: das Feierliche bei ſolchen Verbindungen
laſſe nach: der Beruf der Menſchen zu arbeiten, zu
Lebensarten werde verſchiedner und gleichſam unſtaͤ-
ter: der Zuſtand der Buͤrger und Mitbuͤrger ruhi-
ger: jeder ſich ſelbſt ſein Gott in der Welt — wo
wird alsdenn ein Kriegshaufen von Liebhabern, von
maͤnnlichen Geliebten, ein boͤotiſcher ιερος λοχος
noch
[47]Erſtes Waͤldchen.
noch Statt finden? Der Freund wird ein Geſellſchaf-
ter, und ein Ding ſeyn, was man will, nur nicht,
was er in der Welt der Helden, und der Freund-
ſchaftsbuͤndniſſe war, es mochte dieſe Welt uͤbrigens
in Griechenland, oder Schottland, oder Amerika
leben. Verſtopft alſo eine neue Quelle zu Helden-
thraͤnen, wenigſtens iſt das ruͤhrendſte Bild zweener
Freunde jetzt ein Cabinetſtuͤck blos, uud nicht mehr
ein Schauſpiel der Welt, wie ehedem, und ſo anders,
als Achilles, als Held, nach unſern Zeiten ſeyn
muͤßte: ſo fremde iſt fuͤr ſie „der um ſeinen Patro-
klus weinende, und bis zum Unſinn betruͤbte und
raſende Achilles.„


Wenn es eine Zeit und ein Land giebt, da die
Schoͤnheit noch mehr Natur, noch minder Putz und
Schminke: da die Liebe noch nicht Galanterie, und
die maͤnnliche Gabe zu gefallen, etwas mehr als
Artigkeit iſt: da wird auch die Empfindung, die
Sprache, und ſelbſt die Thraͤne der Liebe Wuͤrde ha-
ben, und ſelbſt das Auge eines Helden nicht enteh-
ren. Freilich wird dieſer nicht, wie Polyphem,
der Cyklope Theokrits, elegiſiren; aber gewiß noch
weniger mit dem Philoktet des Chateaubrun, und
mit den verliebten griechiſchen Helden der franzoͤſi-
ſchen Buͤhne. Die wahre Empfindung, und ein
maͤnnlicher Werth hat ſeine Wuͤrde und Hoheit,
ohne dieſe von ungeheuren Metaphern, von galan-
ten Wortſpielen, oder von artigen Seufzern zu bor-
gen:
[48]Kritiſche Waͤlder.
gen: und auch hier ſei die Liebesſprache des alten
z. E. Schottiſchen Helden Beiſpiel. — Sie handeln
als Helden, und fuͤhlen als Menſchen.


Da aber freilich keine Empfindung ſo gern das
Reich der Phantaſie zu ſeinem Gebiet haben mag,
als die Liebe: ſo kann auch keine ſo leicht von der
Wuͤrde und Wahrheit ab, und in Phantaſterei und
Spielwerk hinein gerathen, als dieſe: und alſo, aus
mancherlei Urſachen, zwiſchen der Heldenthraͤne der
Liebe, und zwiſchen der Verachtung nur immer ein
ſchmaler Rand. Unter allen menſchlichen Schwach-
heiten, deren ſich ein Held nicht ſchaͤmen doͤrfte, iſt
dieſe die delikateſte; und daß ſie es ſey, kann ein groſ-
ſer Trupp verliebter Roman- und Theaterhelden be-
weiſen. — — Hier indeſſen hatten die griechi-
ſchen Dichter einen ziemlichen unerkannten Vortheil,
naͤmlich den Zutritt zu einem ihnen nationellen Lie-
besreiche voll ſehr poetiſcher Phantaſien, die ſie aus
mancher Verlegenheit reißen mußten. Die Liebes-
begebenheiten, hier Goͤtter und Goͤttinnen, das gan-
ze Gefolge der Venus, der Gratien und Amors,
hundert ſchoͤne und unterhaltende Anekdoten aus der
Mythologie der Liebe, gaben ihrer Sprache der Liebe
eine Suͤßigkeit, und eine Wuͤrde, die unſre Zeit
nur zu oft nachahmet, um — laͤcherlich zu werden.
Wenn in unſern Elegien und Oden der Amor mit
ſeinen Pfeilen umherflattert, wenn man den Grie-
chen und Roͤmern eine ganze Nomenklatur von Lie-
bes-
[49]Erſtes Waͤldchen
besausdruͤcken abgeborget hat, und dieſe endlich ſo
gar in Briefe zwiſchen Mannsperſonen ausſchuͤttet:
ſo verliert ſich das Spielwerk von der Wuͤrde, ich
will nicht ſagen, einer Heldenſeele, ſondern nur des
geſunden Verſtandes voͤllig ab, und wird fader Un-
ſinn. Oder wenn endlich gar der gothiſche Ton der
Liebe aus den mittlern Zeiten der Ritter und Rie-
ſen, mit der ſuͤßen Artigkeit unſrer Zeiten in Eins
zuſammen fließt: ſo wird alsdenn der herzbrechende
Parenthyrſus, die weinerliche Galanterie daraus,
von der fuͤrwahr! ein griechiſcher Held, mit aller ſei-
ner Empfindbarkeit fuͤr die Schwachheiten menſch-
licher Natur, eben ſo viel wußte, als der weiſe So-
krates von der Kloſterheiligkeit der Kapuciner.


Ueberhaupt: da die Scene des menſchlichen Le-
bens noch mehr ins offene Auge fiel: da die Ge-
ſchaͤfte der Welt noch nicht ſo verwickelt und fein,
aber um ſo verdienſtvoller fuͤr die Menſchheit ſeyn
mochten: da die Nutzbarkeit und Geſchicklichkeit
und Tugend noch nicht in ſo krummen Linien zu be-
rechnen, ſondern menſchlich war: da zog das Men-
ſchengefuͤhl auch die Gemuͤther noch mehr zuſam-
men; und die Graͤber der Guten des Landes foder-
ten die Thraͤne des Helden. Einfacher und mehr
zum Augenſchein war das Leben des andern, und
ſeine Tugenden und Verdienſte auch alſo treffender
an das Herz, denn ein Held, ein Staatskluger, ein
Verdienſtvoller, ein Weiſer, ſo wie ihn die alte Zeit
Dfoder-
[50]Kritiſche Waͤlder.
foderte, und bildete; konnte doch eher eine menſch-
liche
Thraͤne hervorlocken, als z. E. ein General
nach der Taktik, ein Miniſter, ein Civiliſt, ein
Litterator der neuern Welt, wenn er nichts als die-
ſes iſt; denn bei dem Verluſt aller ſeiner Geſchick-
lichkeiten und Tugenden ſind die wenigſten menſch-
lich,
und was iſt im Stande, menſchliche Empfin-
dungen zu erregen, als — — Menſchheit. Wo
bleiben nun die Namen ohne Thaten, die Rangſtel-
len ohne wirkliche Verdienſte, die Bemuͤhungen
und Aemter unſrer Zeit ohne Geiſt und Leben, die
Religionen ohne menſchliche Tugend — wo blei-
ben alle ſaͤmtliche gelehrte, reiche, vornehme, an-
daͤchtige Narren unſrer buͤrgerlichen und feinen und
allerchriſtlichſten Welt, ſind die wohl einer
menſchlichen Thraͤne werth?


Endlich, als man den wahren Gebrauch des
menſchlichen Lebens, und der Gluͤckſeligkeit vielleicht
beſſer, obgleich nicht aus Predigten und Moralen,
kannte, und das Leben mehr genoß, und menſchli-
cher anwandte, natuͤrlich waren da auch die bittern
Zufaͤlle des Lebens ruͤhrender. Der Tod eines
Juͤnglinges, der ſein Leben nicht genoſſen, der in
der Bluͤthe ſeiner Jahre dahin faͤllt, wie ein junger
ſchoͤner Pappelbaum — ein ſolcher Fall iſt bei
Homer die Veranlaſſung zu Bildern, die auch in
dem Heldenauge eine zarte Thraͤne der Menſchlich-
keit erwecken koͤnnen, weil ſie — menſchlich ſind:
und
[51]Erſtes Waͤldchen.
und ich wuͤrde kaum eine gute Jdee von dem Juͤng-
linge faſſen, den bei Homer dieſe Bilder nicht ruͤhr-
ten. Eine eben ſo zarte Empfindung erregt der
Tod eines Mannes, der ſein Leben nur halb ge-
braucht, der z. E. wie der Proteſilaus Homers
halbgeendigte Pallaͤſte der Pracht, halb vollendete
Entwuͤrfe des maͤnnlichen Stolzes nachließ, der
ſich Anlagen und Geſchicklichkeiten umſonſt erwor-
ben, den Diana vergebens jagen, und Pallas um-
ſonſt kriegen gelehret: ruͤhrende Bilder aus einer
menſchlichen Welt, in die uns Homer ſo gern ver-
ſetzet, und in der freilich die Helden leben muͤſſen,
die „an Thaten den Goͤttern, und an Empfindun-
„gen den Menſchen gleich ſind.„


Jch kann meine Materie nicht vollenden; al-
lein zuſammen genommen dieſe Einzelnheiten, wird
man ein Zeitalter gewahr, da die Helden, ſo weit
ſie uͤber die menſchliche Natur erhoben ſeyn moͤgen,
doch in dem Gefuͤhle der Betruͤbniß, und in der
Aeußerung derſelben durch Thraͤnen, derſelben treu
bleiben, treuer bleiben, als wir, bei denen dieß ſanf-
te Gefuͤhl entweder erſtickt, oder in eine weibiſche
Ueppigkeit umgeſchmolzen wird. Zuruͤck alſo in
dieſe Welt ſetze ich mich, wenn ich die Helden Ho-
mers und die griechiſchen Tragoͤdien mit ganzer Seele
fuͤhlen will: allein auf Griechenland moͤchte ich dieß
Gefuͤhl nicht einſchraͤnken: denn wohin das beſchrie-
bene menſchliche Zeitalter trifft, da auch dieß Gleich-
D 2gewicht
[52]Kritiſche Waͤlder.
gewicht zwiſchen Tapferkeit und Empfindung; und
dieß, duͤnkt mich, iſt uͤberall das Zeitalter zwiſchen
der Barbarei eines Volks, und zwiſchen der zah-
men Sittlichkeit, dem hoͤflichen Schein, in dem wir
leben. Jn dieſem ſtirbt auf gewiſſe Art Vaterland,
Ehre, Geſchlecht, Freund und Menſch ab, und
mithin erſtirbt auch hierum das Gefuͤhl, und die
Aeußerung deſſelben, die Thraͤne.


Aber die Empfindung des koͤrperlichen Schmer-
zes, kann die ſich aͤndern? Ein Schlag bleibt ein
Schlag, Wunde bleibt Wunde, eine Ohrfeige eine
Ohrfeige, und wird es, ſo lange die Welt ſteht,
bleiben. Es iſt alſo nicht der naͤmliche Fall dieſer
mit den vorigen Empfindungen, und unſer weichli-
cher Zuſtand hat vielmehr das Gefuͤhl der Schmer-
zen unendlich, und oft zum Weibiſchen erhoͤhet.
Hiernach muß es alſo umgekehrt ſeyn, daß, wenn ein
griechiſcher Theſeus, Herkules, Philoktetes, einen
Schmerz, eine Wunde einmal fuͤhlet, ſo muͤßte ein
Sybarit unſrer Zeit ihn ſiebenfach fuͤhlen, und
wenn alſo „das Schreien der natuͤrliche Ausdruck
„des koͤrperlichen Schmerzes, das Recht der leiden-
„den Natur, ein Charakterzug griechiſcher Helden
„ſeyn ſoll,„ ſo folgt, daß, wenn jener Einmal, der
unſre bei ſiebenhaft heftigerer Empfindung auch ſie-
benfach ſtaͤrker ſchreien doͤrfte und ſollte, um —
ein Held des Homers zu ſeyn.


Wie
[53]Erſtes Waͤldchen.

Wie ſollte es denn nun gekommen ſeyn, daß
„wir feinern Europaͤer einer kluͤgern Nachwelt ge-
„ler[n]t haben, uͤber unſern Mund und Augen zu
„herrſchen, und uns alſo ſo grauſam das Privile-
„gium der leidenden Natur verſaget haben?„
Wenn wir die Empfindungen fuͤr Vaterland,
Freund, Geſchlecht, Menſchheit und was ſey, mit-
hin unter dieſen Empfindungen das weiche Gefuͤhl
des Schmerzes daruͤber verloren, und den Verluſt,
den Mangel derſelben mit Anſtand und Artigkeit
uͤberdeckt haben, ſo laͤßt ſich das erklaͤren. Nun
aber ſoll uns am koͤrperlichen Schmerz ein groͤßerer
Grad von Empfindung beiwohnen, und doch weni-
ger, unendlich weniger Rechte der leidenden Natur?
Ja noch dazu, was bei den Heldengriechen, bei
minderm Anlaſſe des Gefuͤhls, Ehre, oder wenig-
ſtens erlaubt war, ſollte bei uns Weichlichen Schan-
de, und durch den Anſtand, der doch wenigſtens
den Schein der Staͤrke geben ſoll, verboten ſeyn?
und zwar als ein Zeichen der Schwaͤche verbo-
ten? — —


Und dieß waͤre je bei den Griechen ein Charak-
terzug homeriſcher Helden geweſen? So kenne ich mei-
nen Homer nicht; ſo will ich nicht meine Griechen ken-
nen. Wenn ein Agamemnon a) in der Verſammlung
uͤber den Verluſt der Griechen, an dem er durch den
Zank mit Achilles Schuld war, weinet; ſo liebe ich
D 3ſeine
[54]Kritiſche Waͤlder
ſeine koͤniglichen Zaͤhren: ſie fließen fuͤr Kinder: ſie
erleichtern in ihrem Strome, den Homer mit einem
Bache vergleichen kann, ſein trauriges vaͤterliches
Herz; dieſer Agamemnon aber bei ſeiner Verwun-
dung ſchreie und heule mir nicht. Wenn Achilles,
vom Agamemnon oͤffentlich beleidigt, ſeine Ehre
fuͤhlt, und vor ſeiner Mutter Thetis weinet a): ſo
ſehe ich ſeine ruhmliebende Thraͤnen gern: ich wei-
ne mit, mit dem jungen Helden: aber bei einer Ver-
wundung weine und ſchreie er nicht, ſonſt iſt er
Achilles nicht mehr. Um ſeinen Freund Patroklus
heule und aͤchze und traure er b); ich fuͤhle ſeine
Thraͤnen und ſein edles Herz: ich wuͤrde ihn nicht
verehren, wenn er ein ſtoiſcher Held waͤre: ſo ſeufze
Agamemnon c) uͤber ſeinen verwundeten Bruder,
und Priamus uͤber ſeinen erſchlagenen Sohn: das
ſind Leiden der Seele, und edle Thraͤnen, mit denen
ja das Geſchrei und das Weinen uͤber eine Wunde
nicht in Vergleich kommt. Keiner von den Helden
Homers ſchreiet und weinet uͤber ſo etwas, und ſoll-
te es lohnen, den ganzen Homer zu aͤndern, damit
der Leſſingſche Satz wahr werde: „So ſehr auch
„Homer ſonſt ſeine Helden uͤber die menſchliche
„Natur erhebt; ſo treu bleiben ſie ihr doch ſtets,
„wenn es auf das Gefuͤhl der Schmerzen, wenn
„es auf die Aeußerungen dieſes Gefuͤhls durch
„Schrei-
[55]Erſtes Waͤldchen.
„Schreien, oder durch Thraͤnen ankommt a)?„
Jch wollte, Hr. Leſſing haͤtte dieß nicht geſchrieben.


5.


Aber Philoktet? — Hr. Leſſing hat einen
großen Abſchnitt b) darauf gewandt, Sophokles
zu vertheidigen, daß er koͤrperliche Schmerzen aufs
Theater gebracht, und einen Helden in dieſem
Schmerze ſchreien laſſe. Die ganze Vertheidigung
iſt von der Seite des Dramaturgs, und verraͤth in
der feinen Manier der Entwicklung, den Verfaſſer
der Dramaturgie; Schade aber, daß ſie ganz auf
unrichtige Vorausſetzung gebauet iſt: bei Sopho-
kles Philoktet ſey Geſchrei der Hauptton des Aus-
drucks ſeines Schmerzes, und alſo das Haupt-
mittel,
Theilnehmung zu wirken, das doch nicht
iſt. Und denn Schade auch, daß ſie blos als Dra-
maturgie, als Anlage zum Drama abgefaßt iſt;
mich duͤnkts beſſer, ſich den Eindruͤcken der Vorſtel-
lung zu uͤberlaſſen, und nichts als Dramaturg zu
rechtfertigen, ſondern als ein griechiſcher Zuſchauer
auf unverſtellte Eindruͤcke zu merken — —


Und welches ſind dieſe Eindruͤcke ohngefaͤhr?
Wenn ein griechiſches Stuͤck geſchrieben iſt, um
vorgeſtellt, und nicht um geleſen zu werden, ſo iſts
Philoktet: denn die ganze Wirkung des Trauer-
ſpiels beruhet auf dem Leben der Vorſtellung. Hin
D 4alſo
[56]Kritiſche Waͤlder.
alſo mit Auge und Geiſt in die athenienſiſche Buͤh-
ne. Der Schauplatz oͤffnet ſich a): ein Ufer ohne
die Spur eines Menſchen: eine einſame unbewohn-
te Jnſel mitten in den Wellen des Meers: — wie
ſind dieſe Reiſende dahin verſchlagen? was wird in
dieſer wuͤſten Einoͤde vorgehen? — Hier, hoͤren
wir, iſt Philoktet, der beruͤhmte Sohn Poͤans: Elen-
der Einſamer! der menſchlichen Geſellſchaft voͤllig
beraubt, hier zur ewigen Einſamkeit verbannet —
wie wird er ſeine Tage hinbringen? — Und er iſt
krank — krank am Fuße mit einem faulenden Ge-
ſchwuͤre! — Noch aͤrmerer Einſiedler! wer wird
dich hier pflegen, dir Speiſe ſchaffen, dich reinigen
und verbinden? — und wie biſt du hergekommen?
ach! ausgeſetzt — ohne Barmherzigkeit, ohne Huͤl-
fe — und wegen eines Verbrechens, wegen ſeines
Eigenſinns? Nein, wegen ſeines barmenden Ge-
ſchreies! Ach! die Unmenſchen, was kann der Kran-
ke, der Elende anders, als weinen, als ſchreien? und
ſelbſt dieſe Linderung ihm nicht zu goͤnnen, dieſe
kleine Ungemaͤchlichkeit nicht zu ertragen, ihn aus-
zuſetzen! Wer hat ihn ausgeſetzt? die Griechen,
ſein Volk, ſeine Gefaͤhrten — vielleicht geſchahe
es durch Einen Boshaften? Nein, auf Befehl der
griechiſchen Heerfuͤhrer vom — Ulyſſes ſelbſt. Und
eben dieſer Ulyſſes kann uns ſo etwas, ſo kalt erzaͤh-
len, ſo lau abbrechen, er darf noch die Jnſel ſehen,
er
[57]Erſtes Waͤldchen.
er hat neue Anſchlaͤge wider ihn — o des Boͤſen!
wer wollte nicht mit einem armen, einſamen, ver-
laſſenen Kranken, mit dem niemand Mitleiden ge-
habt, gegen den Treuloſen Parthei nehmen, der
ein Werkzeug ſeines Ungluͤcks war.


Nun faͤllt uns die Wohnung des Elenden naͤ-
her in die Augen — eine unbewohnte Hoͤle! —
Jſt noch etwas Hausgeraͤth und Speiſe darinn?
zertretenes Gras — ein elendes Lager der Thiere!
— hier muß der Held liegen, ohne den Troja nicht
kann erobert werden: ein Becher von Holze, etwas
Feuergeraͤth — iſt der ganze Schatz des Koͤniges
— und o Goͤtter! hier eitervolle Lappen, Zeugen ſei-
ner Krankheit! — Er iſt fort — wie weit kann der
Elende fort hinken? Ohne Zweifel mußte ers —
nach Speiſe vielleicht! vielleicht nach einem lindern-
den Kraut! daß ers doch faͤnde! daß man ihn doch
ſaͤhe! Jndeſſen a) geht die Scene des Betruges an,
da Ulyſſes den Neoptolemus ſo weit bringt, daß
dieſer gutherzige Redliche, der Sohn des redlichen
Achilles, einen Fremden, einen Elenden, mit Liſt
durch Luͤgen und Raͤnke gefangen nehmen ſoll. Jch
weiß es, daß die Griechen, zumal Sophokles, jene
unmoraliſche Ungeheuer ſo haſſet, als er nur die
moraliſchen haſſen mag, und daß er auf ſeinen Thea-
ter nichts als Menſchen, weder Engel, noch Teu-
fel vorſtellet; allein Ulyſſes, wie er hier erſcheint, iſt
D 5nicht
[58]Kritiſche Waͤlder.
nicht blos der ſchlaue, der verſchlagene Ulyſſes Ho-
mers: er iſt ein Verfuͤhrer, der offenbar Grundſaͤtze
der Treuloſigkeit verraͤth, die alle Tugend uͤbern
Haufen werfen, und pfui des Boͤſewichts! bei dem
das Laſter ſchon zur Sprache durch Grundſaͤtze ge-
worden. Sophokles alſo will lieber die Vorwuͤrfe
der Moralitaͤts-Pedanten auf ſich nehmen, die jeden
Ausſpruch von der Buͤhne zu einem Sittenſpruche
des Pythagoras haben wollen: er mahlt ſeinen Ulyſ-
ſes lieber ſchwaͤrzer, als er ſonſt zu mahlen pflegt
— um uns nur deſto mehr fuͤr den armen Philok-
tet einzunehmen, der von ihm hintergangen iſt,
und hintergangen werden ſoll.


Der Chor und Neoptolem ſind nun a) beſchaͤff-
tigt, dieſes Mitleid fuͤr Philoktet tiefer in uns zu
praͤgen; ſie wiederholen die vorigen Jammerzuͤge,
vermehren ſie durch Vermuthungen und — —
da laͤßt ſich von weitem ein Aechzen hoͤren! Daß es
ein Aechzen und kein Gebruͤll ſey, zeigt das Betra-
gen Neoptolems, der, uͤber dem mit ſeinem Auf-
trage beſtuͤrzt, nicht weiß, woher es kommt? das
Ach kommt naͤher, es wird ein Wimmern, ein tie-
fes klaͤgliches Ach — nun iſts erſt vernehmlich!
Sie haben ſich nicht geirrt: Philoktet muß kom-
men, und ach! der Hirte kommt mit einem Tone der
Schalmey, und Philoktet mit einem Tone des Jam-
mers
[59]Erſtes Waͤldchen.
mers — er tritt auf! oder vielmehr er ſchleicht
ſich hinan, um —


Nun wird er ſich mit Gebruͤll aufs Theater
werfen? zu ſchreien anfangen, daß Peter Squenz
ſagen moͤchte: lieber Loͤwe, bruͤlle noch einmal!
Wer doch den Kunſtrichtern einmal das Gebruͤll
ausreden koͤnnte, von dem im Griechiſchen ſo wenig
Spur iſt! Einen langen Aufzug durch a) ſpricht
Philoktet mit dem Fremden, ohne daß er aus
Schreien gedenkt: ſelbſt das vorher von ferne toͤ-
nende Ach hat Sophokles hinter den Scenen gelaſ-
ſen. Der weiſe Sophokles! wie wird mich der
Mann weibiſch duͤnken, wie wird mir ſein Ach!
veraͤchtlich ſeyn koͤnnen, daß er nur hin aͤchzte, da
er allein zu ſeyn glaubte, das er vor den Fremden
gleich verbirgt, und im Geſpraͤche immer bergen
kann. Der Leidende iſt ein Held.


Und fuͤr dieſen Charakter ſorgt Sophokles ge-
nau. Er muß ſich erſt mehr zum Feunde unſrer
Seele machen b), ehe unſer Koͤrper ſympathiſiren
koͤnnte, und wie bekuͤmmert iſt der Arme um die
Fremden? Nichts vermuthet er weniger, als daß ſie
ihm nachſtelleten; der Gutherzige haͤlt ſie fuͤr Ver-
ſchlagne, fuͤr ſolche, die ſeines Theilnehmens werth
waͤren — der Menſchenfreund! Er ſieht die grie-
chiſchen Kleider; ein boͤſes Erinnerungszeichen fuͤr ihn
an die treuloſen Griechen; aber dieß hat er vergeſ-
ſen.
[60]Kritiſche Waͤlder.
ſen. Wie wuͤnſcht er, daß ſie Griechen waͤren:
wie verlangt er, wieder einen griechiſchen Laut zu hoͤ-
ren! das iſt ein ehrlicher Grieche, der kann Grie-
chen intereſſiren. — Er hoͤrt griechiſch: der arme
Philoktet hat fuͤr Freude all ſein heftiges Weh ver-
geſſen. Er lernt den Sohn Achilles kennen, den
Sohn ſeines zaͤrtlichen Freundes: er wird offner; er
erzaͤlt ihm ſeine Geſchichte, ruͤhrend wie wenn die
Penia ſeibſt erſchiene. Er iſt ein Freund ſeiner
Freunde: dem todten Achilles opfert er ſeine Zaͤhre
der Freundſchaft; er vergißt ſich ſelbſt, und ſeufzet
uͤber einen Todten, der gluͤcklicher iſt, als er. Er
iſt ein Freund ſeiner Freunde; der Sohn des Achil-
les ſieht ihn herzlichen Antheil an ſich nehmen, ſelbſt
da er ihn hintergeht. Er trauret um den Tod der
Helden, und noch edler, er trauret blos deßwegen,
weil ſie brave Leute ſind: die Nichtswuͤrdigen ver-
flucht er! Wie ſehr hat uns nun Philoktet fuͤr ſich
intereſſirt, als Menſchenfreund, als ein Grieche mit
Leib und Seele, als ein Held. Und dieſer Held
ſoll hier, fern von dem Wetteifer mit andern Hel-
den, auf einer wuͤſten Jnſel modern? Schmerzliche
Abweſenheit, da jene Thaten thun, da jene mit
Lorbeern ſtarben, ſo ſoll er an einer Wunde aͤchzen,
die ja keine Heldenwunde iſt. Er, eine ſo griechi-
ſche Seele, muß fern von ſeinem Vaterlande, fern
von ſeinem liebenden Vater, der vielleicht ſchon zu
den Schatten gegangen, ſein Leben verzehren: er
ein
[61]Erſtes Waͤldchen.
ein betrogner Redlicher — — o Neoptolem, du
willſt ihn verlaſſen! o daß ihn Philoktet anflehete!
Er thuts, und ſo dringend: er beſtuͤrmt ſein Herz
von ſo vielen Seiten, daß die Fuͤrbitte des Chors:
erbarme dich ſeiner! auch unſre Einſprache wird.
Wir aͤrgern uns uͤber Neoptolem, daß ihm der Ekel
ſeiner Krankheit noch Einwendung macht, und lie-
ben ihn, da er — — es ihm verſpricht; Er wird
ihm doch nicht betriegen! ſiehe! wie er ihm flehte,
wie er ihm danket, wie er ihn noch zu guter Letzt in
ſeine Hoͤle ladet und —


Nun a) kommt der verkleidete Kaufmann. Er
hoͤrt: „er ſoll nach Troja, Ulyſſes habe dieß dem
„Heere oͤffentlich verſprochen„ und — den Kauf-
mann haͤlt er kaum ſeiner Antwort werth. Eine
einzige heroiſche Verwunderung: „Goͤtter! dieſer
„Elende, dieſer Treuloſe hat ſchwoͤren doͤrfen, mich
„ins Lager zu bringen?„ verraͤth die ganze Helden-
ſeele Philoktets: dieſe redet fort b): dieſe will zu Schif-
fe: dieſe redliche Seele glaubt dem Neoptolem, ver-
traut ihm ſeine Waffen, vertraut ſich ihm in ſeiner
Krankheit. Wie fuͤhle ich fuͤr Philoktet! aber fuͤr
ihn den Schreienden? Noch nichts! fuͤr ihn, den
Helden, den Griechen, den Edlen — und denn den
im hoͤchſten Grade Elenden, und elender noch da-
durch, was man mit ihm vor hat. Noch fuͤhlen
wir blos mit ſeiner Seele durch die Phantaſie, und
jetzt
[62]Kritiſche Waͤlder.
jetzt erſt ſoll die ſeltne Scene der Krankheit kommen.
Der Chor a) bereitet auf ſie, durch ein Lied auf den
aͤußerſt jammervollen Philoktetes, und ſie kommt b).
Jch habe ſie vorher durchgefuͤhrt und mag ſie nicht
wiederholen. Mich aͤrgert, wenn man ſie auf der
einen Seite zu einem bloßen Zetergeſchrei macht,
und auf der andern Seite, wie z. E. Brumoic),
unter den loͤblichen Franzoſen fuͤr nichts, als, einen
Riegel, ein Einſchiebſel, daß fuͤnf Akte voll werden.
Welch eine Stille muß auf dem Schauplatze zu Athen
geherrſchet haben, da dieſer Akt vorgieng!


Die Auftritte des koͤrperlichen Leidens ſind vor-
bei, und weiter darf ich nicht. Jch kehre alſo von
der Buͤhne zu Athen zuruͤck, dahin wo ich Leſſingen
gelaſſen — wie ſehr ſind wir aber in dem Eindrucke
verſchieden, den dieſes Stuͤck machen ſoll. Einer
von beiden kann nur Recht haben, und der andre
hat ſich nur nicht gnug idealiſiren koͤnnen, um nicht
zu leſen, ſondern zu ſehen. Damit dieß mich
nicht treffe, will ich auf guter Hut ſeyn.


Hr. Leſſing macht „die Jdee des koͤrperlichen
„Schmerzes„ zur Hauptidee des Stuͤcks d), und
ſucht die feinen Mittel auf e), womit der Dichter
dieſe Jdee zu verſtaͤrken, zu erweitern gewußt hat.
Jch geſtehe es, daß, wenn dieß die Hauptidee der
Tra-
[63]Erſtes Waͤldchen.
Tragoͤdie waͤre, einige von Hr. L. angegebene Mit-
tel wenig auf mich gewirkt haͤtten. Der Eindruck
des koͤrperlichen Schmerzes iſt viel zu verworren
und koͤrperlich gleichſam, als daß er z. E. der Fra-
ge Platz ließe a): wo ſitzt der Schmerz? außen oder
innen? wie ſieht die Wunde aus? was fuͤr ein Gift
wirkt darinnen? Waͤre die Vorſtellung deskoͤrperli-
chen Schmerzes ſo ſchwach, um durch ſolche Sa-
chen verſtaͤrkt werden zu muͤſſen, ſo iſt die Wirkung
des Theaters verlohren: ſo iſts beſſer, daß ich hin-
gehe, um die Wunde ſelbſt chirurgiſch zu beſichtigen.
Nein! theatraliſch ſey die Jdee des Schmerzes,
und ich mag alſo auch nichts, als theatraliſche Ver-
ſtaͤrkung — von fern, aus den gezogenen Minen,
aus Toͤnen des Jammers, will ich, wenn Schmerz
die Hauptidee des Stuͤcks iſt, ihn kennen lernen,
und denn iſts mir wohl beinahe gleich, woruͤber man
ſchreie, und ſich geberde? ob uͤber einen lahmen Fuß,
oder uͤber eine Wunde im Jnnern der Bruſt. Der
Kunſtrichter verliert alles, wenn er aus der theatra-
liſchen Anſchauung weichet, und uns zur Verſtaͤr-
kung, zur Glaubwuͤrdigkeit derſelben den Atteſt ei-
nes Wundarztes geben ließe — — was es fuͤr
eine Krankheit, daß es eine wirkliche Wunde, daß
es ein Gift ſey, das wohl ſo viel Schmerzen erregen
koͤnne. Sophokles habe ſo etwas uͤberdacht, oder nicht
uͤberdacht: gnug, wenn ſo etwas auf mich wirken muͤſ-
ſe,
[64]Kritiſche Waͤlder.
ſe, um meine Jdee vom Schmerze zu verſtaͤrken —
Lebe wohl, Theater! ſo bin ich in der Lazarethſtube.


Theatraliſche Ruͤhrung alſo! und wodurch kann
ich, wenn die Hauptidee des Stuͤcks koͤrperlicher
Schmerz iſt, geruͤhret werden? welches ſind als-
denn die Hauptmittel zur Erregung der Sympa-
thie? Jch weiß nichts anders, als die gewoͤhnlichen
Aeußerungen, Geſchrei, Thraͤnen und Zuͤckungen:
dieſe giebt auch Hr. Leſſing a) dafuͤr aus, und giebt
ſich viele Muͤhe b), bei ihnen den nicht beleidigten
Anſtand, und ihre entſchiedne Wirkung zu erklaͤ-
ren. Gut alſo! aber, wenn das Wimmern, das
Schreien, die graͤßlichſten Zuͤckungen, das Mittel,
das Hauptmittel ſind, mir die Jdee des koͤrperlichen
Schmerzes einzupflanzen, und mein Herz zu tref-
fen: was kann denn die beſte Wirkung dieſes tref-
fenden Schlages ſeyn? Mit koͤrperlichem Schmer-
ze kann ich nicht anders, als koͤrperlich, ſympathiſi-
ren: d. i. meine Fibern kommen durch die Theilneh-
mung in eine aͤhnliche Spannung des Schmerzes,
ich leide koͤrperlich mit. Und waͤre dieß Mitleid
angenehm? Nichts weniger, das Zetergeſchrei,
die Zuckung faͤhrt mir durch alle Glieder, ich fuͤh-
le ſie ſelbſt; die naͤmlichen convulſiviſchen Bewe-
gungen melden ſich bei mir, wie bei einer gleichge-
ſpanneten Saite. Ob der in Zuckung Liegende,
winſelnde Mann Philoktet ſey, geht mich nicht an:
er
[65]Erſtes Waͤldchen.
er iſt ein Thier, wie ich: er iſt ein Menſch: der
menſchliche Schmerz erſchuͤttert mein Nervengebaͤu-
de, wie wenn ich ein ſterbendes Thier, einen roͤ-
chelnden Todten, ein gemartertes Weſen ſehe, das
wie ich fuͤhlet. Und wo iſt nun dieſer Eindruck
auch nur im kleinſten Maaße vergnuͤgend, ange-
nehm? Er iſt peinlich, ſchon bei dem Anblicke, bei der
Vorſtellung, ganz peinlich. Hier iſt im Augenblicke
des Eindruckes an keinen kuͤnſtlichen Betrug, an
kein Vergnuͤgen der Einbildungskraft zu gedenken:
die Natur, das Thier leidet in mir, denn ich ſehe,
ich hoͤre, ein Thier meiner Art leiden.


Und welche Gladiatorſeele gehoͤrte dazu, um
ein Stuͤck auszuhalten, in welchem dieſe Jdee, dieß
Gefuͤhl des koͤrperlichen Schmerzes, Hauptidee,
Hauptgefuͤhl waͤre? Jch weiß keinen dritten Fall
außer dieſen beiden: daß ich entweder illudiret wer-
de, oder nicht. Jſt das erſte, iſts auch nur ein
Augenblick, daß ich den Schauſpieler verkenne, und
einen zuͤckenden ſchreienden Gequaͤlten ſehe; wehe
mir! es faͤhrt mir durch die Nerven! Jch kann den
kuͤnſtlichen Betruͤger, der ſich mir zum Vergnuͤgen,
dem Augenſcheine nach, aufhaͤngen wollte, keinen
Augenblick mehr ſehen, ſo bald der Betrug ſchwin-
det, ſo bald er wirklich worget. Jch kann den Seil-
taͤnzer keinen Augenblick mehr ſehen, ſo bald ich ihn
fallen, in das unterliegende Schwert ſtuͤrzen ſehe,
ſo bald er mit zerſchlagnem Fuſſe da liegt. Der
EAn-
[66]Kritiſche Waͤlder.
Anblick Philoktets iſt meinem Geſichte unausſtehlich,
ſo bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet iſt.
Blos eine Fechterſeele kann in dieſer Jlluſion des
koͤrperlichen Schmerzes, wie an jenem ſterbenden
Fechter, ſtudiren wollen: wie viel Seele noch in
ihm ſey? Blos ein Unmenſch kann, nach der Fabel
von Michael Angelo, einen Menſchen kreuzigen, um
zu ſehen, wie er ſtirbt.


Herr Leſſing mag ſagen a), daß „nichts betruͤg-
„licher ſey, als allgemeine Geſetze fuͤr die Empfin-
„dungen geben zu wollen.„ Hier liegt das Geſetz
in meinem unmittelbaren Gefuͤhle ſelbſt, und zwar
in dem Gefuͤhle, das am weiteſten von allgemeinen
Gruͤnden abgehet, das mit, als einem ſympathiſi-
renden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende
Koͤrper Philoktets mein Hauptaugenmerk iſt, ſo
bleibts, „daß b) je naͤher der Schauſpieler der Na-
„tur kommt, deſto empfindlicher Augen und Ohren
„beleidigt werden muͤſſen.„ Ein Meer unangeneh-
mer Empfindungen wird uͤber mich ergehen, und
kein angenehmer Tropfe miſcht ſich dazu. Die Vor-
ſtellung des kuͤnſtlichen Betruges? — iſt durch die
Jlluſion geſtoͤrt; ich habe nichts, als den Anblick
eines zuͤckenden, mit dem ich beinahe mit zuͤcke, ei-
nes Wimmernden, deſſen Ach! mir das Herz durch-
ſchneidet. Es iſt kein Trauerſpiel mehr, es iſt eine
grauſame Pantomime, ein Anblick, Fechterſeelen
zu bilden: ich ſuche die Thuͤre.


Nun
[67]Erſtes Waͤldchen.

Nun aber laſſet uns den zweiten Fall ſetzen, daß
der griechiſche Schauſpieler mit aller ſeiner Skaͤvo-
ponie und Deklamation das Geſchrei und die Ver-
zuckungen des Schmerzes nicht bis zur Jlluſion
bringen koͤnne (etwas, das Hr. Leſſing nicht zu be-
haupten getrauet a), geſetzt alſo, daß ich ein kalter
Zuſchauer bleibe: ſo kann ich mir ja keine widerli-
chere Pantomime gedenken, als nachgeaͤffte Zuckun-
gen, bruͤllendes Geſchrei, und wenn die Jlluſion voll-
kommen ſeyn ſoll, ein uͤbler Geruch der Wunde.
Kaum wuͤrde alſo alsdenn der theatraliſche Affe
Philoktets zum Zuſchauer ſagen koͤnnen, was der
wahre Philoktet zum Neoptolem: „ich weiß! du
„haſt es alles nichts geachtet; weder mein Geſchrei
„noch der uͤble Geruch wird dir Ekel erregt haben. b)
Bei einer widerlichen, und zum Ungluͤcke nicht taͤu-
ſchenden Pantomime iſt dies unvermeidlich.


Jch ſchlage die Litteraturbriefe c) auf, und fin-
de den Erſten ihrer Verfaſſer an gruͤndlicher Philo-
ſophie in einem andern aͤhnlichen Falle meiner Mei-
nung. Er unterſucht, „warum die Nachahmung
„des Ekels uns nie gefallen koͤnnen, und giebt zu
„Urſachen an, weil dieſe widrige Empfindung nur
„unſre niedere Sinne trifft, Geſchmack, Geruch und
„Gefuͤhl: die dunkelſten Sinne, die nicht den ge-
„ringſten Antheil an den Werken der ſchoͤnen Kuͤn-
E 2„ſte
[68]Kritiſche Waͤlder.
„ſte haben: weil zweitens die Empfindung des
„Ekels widrig werde, nicht durch die Vorſtellung
„der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen
„Eindruͤcken, ſondern unmittelbar durchs An-
„ſchauen: und weil endlich in dieſer Empfindung
„die Seele keine merkliche Vermiſchung von Luſt
„erkennet. Er ſchließt alſo das Ekelhafte ganz
„von Nachahmung der ſchoͤnen Kuͤnſte, und den
„hoͤchſten Grad des Entſetzlichen von der pantomi-
„miſchen Vorſtellung im Trauerſpiele aus, weil
„theils die Taͤuſchung hierinn ſchwer waͤre, theils
„auch die Pantomime auf der tragiſchen Schau-
„buͤhne nur in den Schranken einer Huͤlfskunſt
„bleiben muͤßte.„ Jch wollte, daß der philoſo-
phiſche D. ſich uͤber meinen Vorwurf erklaͤren moͤch-
te: denn der koͤrperliche Schmerz Philoktets hat
mehr als einen dieſer Gruͤnde wider ſich. Seine
Taͤuſchung kann nur den dunkelſten Sinn, das thie-
riſche Mitgefuͤhl, erregen: die Empfindung daruͤber
iſt allemal Natur, und niemals Nachahmung: ſie
hat nichts Angenehmes mit ſich: ſie iſt kaum der
Jlluſion faͤhig: ſie macht die tragiſche Buͤhne zur
Pantomime, die, je vollkommner ſie waͤre, um ſo
mehr zerſtreuete. Schlechthin kann alſo der koͤr-
perliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauer-
ſpiels ſeyn.


Und iſts doch bei Sophokles Philoktet, bei ei-
nem Meiſterſtuͤcke der Buͤhne! „Wie manches, ſagt
„Hr.
[69]Erſtes Waͤldchen.
„Hr. Leſſing a), wuͤrde in der Theorie unwider-
„ſprechlich ſcheinen, wenn es dem Genie nicht ge-
„lungen waͤre, das Widerſpiel durch die That zu
„erweiſen.„ Jch glaube, ſchwerlich. Was in der
Theorie wahrhaftig unwiderſprechlich iſt, und nicht
blos ſo ſcheint, wird nie von einem Genie wider-
legt werden, zumal wenn die Theorie in unſern un-
erkuͤnſtelten Empfindungen laͤge. Mich dauert die
Muͤhe, die ſich Herr Leſſing giebt, Sophokles zu
rechtfertigen, und den Englaͤnder Smith zu wider-
legen; beide brauchen es nicht: und wenn ſie es
brauchten, wenn Sophokles Hauptzweck waͤre, durch
die Aeußerungen des koͤrperlichen Schmerzes ſeinen
tragiſchen Endzweck zu erreichen: ſo haͤtte L. mit al-
lem, was er Gutes ſagt, wenig geſagt.


Aber Sophokles, das tragiſche Genie, fuͤhlte
nur gar zu viel dagegen, dieſen Zweck zu erreichen,
und gieng ganz einen andern Weg, der ihm nicht
mißrathen konnte, und den Hr. L. wie es ſcheint,
von einer Nebenſeite geſehen. Jch muß aus dem
vorigen Eindrucke, den ich davon geliefert, einige
Zuͤge zuruͤcknehmen:


  • 1. Der erſte Begriff von Philoktetes iſt der Be-
    griff eines Verlaſſenen, Kranken, Elenden, von Men-
    ſchen verrathenen Einſiedlers, eines Robinſon Cru-
    ſoe, deſſen jammervolle Hoͤle uns gezeigt wird: dieſe
    Situation ſetzt Hr. L. mit der ihm gewoͤhnlichen
    Staͤrke aus einander.

E 32. Der
[70]Kritiſche Waͤlder.
  • 2. Der Elende ſoll noch einen neuen Streich von
    der Liſt ſeines alten Feindes leiden: hier ſchwillt
    unſere Theilnehmung, und der Kontraſt zwiſchen
    Ulyſſes und Neoptolemus macht die ganze Scene
    menſchlich.
  • 3. Der Chor und Neoptolem druͤcken die Pfeile
    des Mitleids tiefer in unſer Herz: ſie ſingen ſein
    Elend in vollem Maaße. Wie begierig ſind wir
    nun, den Mann zu ſehen, der hier in der wuͤſten Jn-
    fel eine beſondere Scene ſpielt, und auf den neues
    Ungluͤck lauert. Jn dieſem ganzen Akt iſt noch
    kein Philoktet zu ſehen: noch weniger die Vorſtel-
    lung von ſeinem koͤrperlichen Schmerz Hauptidee.
    Sophokles hat in dieſem Akt dreierlei Vorſicht, uns
    erſt auf Philoktet lange vorzubereiten, ehe er auf-
    tritt: das Schwerſte und Untheatraliſche in Er-
    zaͤlung und nicht in Handlung zu zeigen: unſer Herz
    und unſre Phantaſie ihm zu ſichern, damit wir erſt
    — auch nur ſeinen Anblick ertragen lernen. Und
    gleich als ob dieſer noch nicht gnug vorbereitet waͤre,
    muß den wilden Mann ein fern her murmelndes
    Ach anmelden, das ſich naͤhert, und —
  • 1. Nun ſind durch den Anblick der Fremden die
    Seufzer weg, voͤllig weg. Warum das? warum
    laͤßt ſie Sophokles ſo ganz hinter der Scene? Erſt
    muß er ihn nicht blos vor Verachtung ſichern, ſon-
    dern ſeinem ganzen erſten Anblicke nach, iſt Philoktet
    ein leidender Held. Jch weiß nicht, warum L.
    die-
    [71]Erſtes Waͤldchen.
    dieſen erſten Eindruck, in dem der Held erſcheint,
    nicht verfolget; wimmern haben wir ihn kaum von
    fern gehoͤrt, jetzt ſehen wir dulden. Mitten unter
    verbiſſenen Schmerzen ſteht und ſpricht der Men-
    ſchenfreund, Grieche, Held — warum hat Hr. L.
    das Jntereſſe nicht mehr entwickelt, das er als
    Grieche, als ein theilnehmender Freund der Frem-
    den, als der Verehrer griechiſcher Helden, wirket?
    Man kann kaum mehr fuͤr ihn ſympathiſiren, als
    man ſchon geſtimmet iſt.
  • 2. Und noch zeigt er eine große Seite. Der
    eben jetzt Flehende hoͤrt Ulyſſes neuen Verrath, und
    wie iſt der flehende Elende ploͤtzlich in einen Helden
    verwandelt?
  • 3. Jn einen Helden, der gegen ſeine Feinde noch
    der ungedemuͤthigte Stolze bleibt: Originalzug der
    griechiſchen Groͤße, „Liebe gegen die Freunde, un-
    „wandelbarer Haß gegen die Feinde„ a)! Und wer
    anders als ein Redlicher, kann Neoptolem ſeine
    Pfeile und ſein Leben ſo großmuͤthig anvertrauen? —
    ein ſolcher Mann iſt nicht blos auf alle Wege vor
    Verachtung geſichert: er hat unſer ganzes Herz.
  • 4. Das Chor bereitet uns auf die Scene des
    Elendes, und iſt offenbar in dem Tone der Ehr-
    furcht gegen einen Helden, der da duldet, der ſo lange
    geduldet hat, nicht, der da ſchreiet. — Wie wenig,
    wie wenig iſt doch alſo der Philoktet Sophokles ſei-
    E 4nem
    [72]Kritiſche Waͤlder.
    nem Hauptzuge nach auf der Buͤhne, der, den L. ge-
    wohnt iſt, als den Graͤßlichen zu charakteriſiren,
    noch iſt er immer der große duldende Held: und
    das in zween langen Auftritten!
  • Und beinahe faͤngt die Jdee von ſeinem Elende,
    und von dem Verſprechen des Neoptolemus an zu
    ſchwinden: faſt kann man uns von ſeinem Schmerz
    zu viel erzaͤhlt, faſt kann derſelbe ſich in neun Jah-
    ren doch wohl verringert haben? koͤnnten wir ihn
    alſo nicht ſelbſt leiden ſehen? Wenn nichts mehr iſt,
    als was wir geſehen haben, ſo — und nun kommt
    der Anfall. Es iſt bloß ein Anfall, und ich weiß
    nicht, wie Hr. L. die Wahl einer Wunde ruͤhmt a),
    die doch keinen andern Vortheil bringen konnte, als
    ein ekles Ach fuͤnf Akte lang zu dehnen! Sophokles
    wußte was beſſers zu waͤhlen — eine kurze An-
    wandlung. Sie legt er in die Mitte des Stuͤcks
    zur Auszeichnung: ſie kommt ploͤtzlich; um ſo ein-
    druͤcklicher wird das Gift, als eine Strafe der Goͤt-
    ter, nicht blos als eine ſchleichende Krankheit: ſie
    kommt ruckweiſe, um durch ein Anhalten den Zu-
    ſchauer nicht zu ermuͤden: ſie ſchweift in Raſerel
    aus, um den Zuſchauer von der Pontomime mehr
    auf die leidende Seele zu wenden: ſie wird lange
    von Philoktet unterdruͤckt, und nur mitten unter
    Geſpraͤchen mit einzelnen Toͤnen des Jammers be-
    gleitet: ſie endet ſich in einem ruhigen Schlafe, und
    der
    [73]Erſtes Waͤldchen.
    der laͤßt uns erſt Zeit zu uͤberdenken, was Philok-
    tet ausgeſtanden. Man kann den ganzen Auftritt
    nicht mehr verkennen, als wenn man ihn blos fuͤr
    die Pantomine eines koͤrperlichen Schmerzes, und
    das ganze Stuͤck nicht mehr verkennen, als wenn
    Philoktet da ſeyn ſollte, um uͤber eine Wunde zu
    ſchreien und zu heulen. Der Anfall iſt voruͤber,
    und nach ſo wenig, als vor — — doch ich mag ja
    keinen Kommentar uͤber Sophokles ſchreiben —
    wer urtheilen will, leſe!

So kann alſo W. ſeinen Laokoon mit Philoktet
vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und
am wenigſten bei Homer der Charakterzug eines
Helden geweſen ſeyn! So iſt wohl nie Schreien das
Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu
wirken, und koͤrperlicher Schmerz nie die Hauptidee
eines Drama! So hat das Schauſpiel gewiß ſeine
eigne ſchoͤne Natur gleichſam, und genaue Gren-
zen zwiſchen andern Dichtarten. So kann man
es ohne Suͤnde eine Reihe handelnder, dichteri-
ſcher Gemaͤhlde
nennen! Wer koͤnnte uns uͤber
dieſe Materie beſſer belehren, als — der Verfaſſer
des Laokoon und der Dramaturgie ſelbſt, wenn er
ſich „uͤber das Maas der Pantomime in der Tra-
goͤdie, uͤber die eigne ſchoͤne Natur des Drama,
und uͤber die beſondern Grenzen zwiſchen Malerei
und Schauſpiel beſonders erklaͤrte?


E 56. Der
[74]Kritiſche Waͤlder.

6.


Der große Winkelmann hat uns die ſchoͤne grie-
chiſche Natur ſo meiſterhaft gezeiget, daß wohl kei-
ner, als ein Unwiſſender und Fuͤhlloſer, es leugnen
wird, „ihr Hauptgeſetz in der bildenden Kunſt ſey
„Schoͤnheit geweſen.„ Deß ohngeachtet duͤnkt
mich noch die erſte Quelle mit einigen ihrer Adern
unentdeckt: warum die Griechen in Bildung des
Schoͤnen ſo hoch gekommen, um allen Voͤlkern der
Erde hierinn den Preis abzulaufen? Herr Leſſing
giebt auch ein Supplement a) dazu, da er uns den
Griechen, im Gegenſatz mit dem Kunſtgeſchmack un-
ſerer Zeit, als einen Kuͤnſtler zeiget, der der Kunſt
nur enge Grenzen geſetzt, und ſie blos auf die Nach-
ahmung ſchoͤner Koͤrper eingeſchraͤnket: „ſein Kuͤnſt-
„ler ſchilderte nichts, als das Schoͤne.„


Nichts, als das Schoͤne? Nun ja! mein Leſer,
ich habe die weiſen Erinnerungen und Einſchraͤn-
kungen geleſen, die man wider dieſen Leſſingſchen
Satz ſehr gelehrt aufgeworfen; allein man muß L.
erſt verſtehen, ehe man ihn widerlegt. Will er ſa-
gen, daß die Griechen nichts Haͤßliches gebildet?
Jch glaube nicht, und wuͤnſche an einem andern
Orte b) die Worte weg: „die Griechen haben nie ei-
„ne Furie gebildet. „ Denn gienge ſein Satz ſo
weit: ſo haͤtte Hr. Klotz noch in jedem ſeiner kuͤnf-
tigen Schriften Gelegenheit, ein Beiſpiel anzubrin-
gen,
[75]Erſtes Waͤldchen.
gen, daß die Alten auch Furien, Meduſen u. ſ. w.
gebildet haͤtten — etwas, was wohl jeder weiß, der
etwa ein Muſeum durchlaufen.


Oder haͤtten die Alten das Geſetz gehabt, haͤß-
liche Figuren auch ſchoͤn zu bilden, weil was gebil-
det werde, ſchoͤn ſeyn muͤſſe? Jch weiß, daß man
ihn auch ſo verſtanden, und alsdenn die liebe Me-
duſe ſtatt Alles angefuͤhrt; allein auch dieß iſt nicht
die Verbindung des Sinnes.


Jch verſtehe ihn ſo: es ſei bei den Griechen kein
herrſchender, kein Hauptgeſchmack geweſen, das erſte
beſte
zu ſchildern und zu bilden, um blos durch die
Nachahmung
Werth zu erhalten, blos durch Aehn-
lichkeit
ſich als Kuͤnſtler zu zeigen: ſondern hier
habe ihr Geſchmack das Schoͤne zum Hauptgegen-
ſtande gemacht, um nicht blos mit leidigen Ge-
ſchicklichkeiten zu pralen. Und in dieſem Verſtande
bleiben folgende Beſtimmungen ja von ſelbſt ein-
geſchloſſen.


Um von einem herrſchenden Geſchmacke zu ur-
theilen, nehme man nicht jede einzelne Beiſpiele:
denn die Pauſons, Pyreicus und andre Rhyparo-
graphen, ſo lange ſie nicht Schulen ziehen, und dieſe
mit andern, mit den Schilderern der Schoͤnheit
noch nicht um den Vorzug ſtreiten doͤrfen, hindern
nichts.


Um von einem herrſchenden Geſchmacke zu
urtheilen, muß man die Worte eines Geſetzge-
bers,
[76]Kritiſche Waͤlder.
bers, a) eines politiſchen Philoſophen, nicht als Be-
weis des Gangbaren annehmen: denn ſie ſagen,
was da ſeyn ſollte, nicht was da ifi.


Die beſten Zeugen eines herrſchenden Geſchmacks
ſind die oͤffentlichen Kunſtwerke, die Anordnun-
gen der Obrigkeit: und da Hr. Leſſing auch vorzuͤg-
lich auf dieſe geſehen, ſo lehrt man ihn ja nichts
neues, wenn man ſich vernehmen laͤßt b): der grie-
chiſche Kuͤnſtler ſchilderte nichts, als das Schoͤne —
Entgegengeſetzte Zeugniſſe „der Schriftſteller und
„Beiſpiele der Kuͤnſtler beſtimmen mich, dieſer
„Beobachtung engere Grenzen zu ſetzen, und ſie
„bloß auf oͤffentliche Denkmaͤler einzuſchraͤnken.„
Jch denke, daß das Hrn. L. erſte Quelle geweſen,
und er ſucht ja vielleicht Anordnungen, wo ſelbſt
keine ſind c).


Um von einem herrſchenden Geſchmacke zu ur-
theilen, nehme man ferner nicht Tempelwerke, wo
Religion die Hauptabſicht geweſen, oder der Ge-
ſchmack der Religion nicht geaͤndert werden konnte.
Hr. L. macht ſich dieſe Einſchraͤnkung ſelbſt d), und
ſie iſts, die ſeinen Satz ſo mildert, daß, ich geſtehe
es, er freilich durch ihn ſo viel oder ſo wenig bedeu-
ten kann, als er will.


Um
[77]Erſtes Waͤldchen.

Um endlich vem herrſchenden Geſchmacke zu
urtheilen, nehme man freilich nicht alle Zeiten gleich,
ſondern die, da der Geſchmack ſchon ausgebildet, da
er durch keine Kakozelie verdorben erſcheint: im er-
ſten Fall iſt noch kein Geſetz gegeben, im zweiten
iſts eine Zeitlang unter die Bank gebracht; deßwegen
aber noch immer Landesgeſetz. — Und nach die-
ſen Beſtimmungen kann L. allerdings feſt ſetzen:
„daß bei den Alten die Schoͤnheit das hoͤchſte Ge-
„ſetz der bildenden Kuͤnſte geweſen.„


Allein bei welchen Alten? ſeit wenn? wie lan-
re? welche Unter-welche Nebengeſetze? Und wo-
her iſts bei den Griechen ſo vorzuͤglich, vor allen
Nationen, hoͤchſtes Geſetz geworden? Andre wich-
tige Fragen, wo bei der letzten mir W. ſelbſt kaum
ein Gnuͤge thut.


Hr. L. kommt auf zwo Situationen, die hier-
in einſchlagen: „daß bei den Alten auch die Kuͤn-
„ſte buͤrgerlichen Geſetzen unterworfen geweſen,
„und was die bildenden Kuͤnſte auf den Charakter
„einer Nation wirken koͤnnen a).„ Allein, uͤber bei-
des konnte er ſich nur im Vorbeigehen erklaͤren. Es
muß aus Gruͤnden hergeleitet werden koͤnnen: wie
bei den Griechen Geſetze uͤber die Kunſt nicht blos,
wie weit es Hr. L. nimmt, erlaubt; ſondern noͤ-
thig
geweſen — wie bei ihnen Kunſt und Poeſie
und Muſik weit mehr zum Weſentlichen des Staats
gehoͤ-
[78]Kritiſche Waͤlder.
gehoͤret habe, als jetzt — wie der Staat alſo nicht
ohne ſie, als ſeine damaligen Triebfedern, und ſie
nicht ohne Staat haben ſeyn koͤnnen — wie alſo
die Wirkung der Nation auf die Kunſt, und der
Kunſt auf die Nation nicht blos phyſiſch und pſy-
chologiſch, ſondern auch großen Theils politiſch ge-
weſen — wie bei den Griechen alſo aus ſo man-
chen Urſachen, und nicht blos ihres Nationalchara-
kters, ſondern auch ihrer Erziehung, Lebensart, des
Grades ihrer Cultur, ihrer Religion und ihres
Staats wegen, die Bildung der Schoͤnheit mehr
Eindruͤcke haben koͤnnen, und mehr Eindruͤcke habe
annehmen muͤſſen. Ein wichtiges Problem a),
zu deſſen Aufloͤſung mehr, als einige Kaͤnntniß der
Griechen von der Oberflaͤche her gehoͤret. Un-
ſern gewoͤhnlichen Græculis alſo, die jetzt nach dem
Modegeſchmacke von nichts ſo gern, als von Kunſt,
von Schoͤnheit der Griechen ſprechen, iſt ein Gedan-
ke hieran ſo wenig eingefallen, daß ſie alles glauben
erklaͤrt zu haben, wenn ſie von nichts, als einer ge-
wiſſen feinen ſchoͤnen Empfindung der Griechen
fuͤr die Kunſt, und fuͤr die Schoͤnheit, ſchwatzen;
von einer Empfindung, die ſie gehabt, die Roͤmer
nicht
[79]Erſtes Waͤldchen.
nicht gehabt, und die jetzt in unſern deutſchen Neu-
griechen wieder auflebe. Alle klotziſche Schriften ſind
von dieſem ſuͤßen Geſchwaͤtze voll a): denn freilich
aus einer gewiſſen unnennbaren Empfindung, aus
einem ſechſten Sinne fuͤr die Schoͤnheit, kann man
alles, was man will, ohne Kopfbrechen ausfinden.
— Ein philoſophiſcher Kopf, wie Leſſing, konnte
mit ſolcher qualitas occulta nicht zufrieden ſeyn:
und welcher halbphiloſophiſche Kopf wird ſich denn
damit laͤchelnd begnuͤgen koͤnnen?


Doch nicht zu weit vom Laokoon. Wenn bei den
Griechen Schoͤnheit das hoͤchſte Geſetz der Kunſt
war: ſo mußten gewaltſame Stellungen, haͤßliche
Verzerrungen vom Kuͤnſtler entweder gemieden,
oder herabgeſetzt werden: und L. giebt davon die beſten
Exempel. Jndeſſen hat er Widerſpruch gefunden
und einer ſeiner Widerſprecher b) iſt, wenn er jetzt
einen Stein findet, der dafuͤr, jetzt einen, der dawi-
der zu ſeyn ſcheinet, auch im Wechſelfieber bald fuͤr,
bald gegen den Satz, daß der geneigte Leſer endlich
nicht weiß, wie ihm iſt. Ob ſich hier nicht ein fe-
ſter Faden ziehen ließe?


Zuerſt alſo: der mythiſche Cirkel der alten
Griechen war ohne Widerſpruch der Schoͤnheit ge-
bildet: ihre Goͤtter und Goͤttinnen waren nicht, wie
die
[80]Kritiſche Waͤlder.
die egyptiſchen, allegoriſche Ungeheuer: noch, wie die
perſiſchen und indiſchen, beinahe ohne Bild: noch,
wie die hetruriſchen, traurige und unanſtaͤndige Fi-
guren; ſondern an Bildung reizend dem Auge. Jn
der ganzen Natur der Dinge fanden die Griechen
keine beſſere Vorſtellung der goͤttlichen Natur, wie
eines Jnbegrifs der Vollkommenheiten, als die
menſchliche Geſtalt; und wiederum, welches zu be-
weiſen waͤre, keine der Gottheiten war ſo charakteri-
ſirt, daß ſie immer haͤßlich haͤtte gebildet wer-
den muͤſſen,
um das zu ſeyn, was ſie ſeyn ſollte.
Die Goͤtterbegriffe der Griechen waren von Dich-
tern beſtimmet, und dieſe Dichter waren Dichter
der Schoͤnheit.


Die Griechen hatten z. E. einen Jupiter, der
freilich nicht immer μιλιχιος, der auch oft der Zor-
nige, der Grimmige war: und der Dichter konnte
ihn ſeinem Zwecke gemaͤß ſchildern. Wie aber der
Kuͤnſtler? Wer will denn immer gern einen zorni-
gen Jupiter ſehen, da ſein Zorn doch mit dem Un-
gewitter uͤbergeht? Was alſo natuͤrlicher, als daß
er zu dem ewigen Anblicke ſeines Kunſtſtuͤckes den
Anblick einer ſchoͤnen Groͤße lieber waͤhlte, und ihm
nur hohen Ernſt in ſein Geſicht ſchuf? — Nun
kann es freilich, und inſonderheit in der aͤltern Zeit
der Religion, auch Abbildungen des Zorns gegeben
haben: allein, was thut dieß? der Hauptbegriff bei
Jupiter, ſelbſt wenn er den Donner wirft, bleibt
doch
[81]Erſtes Waͤldchen.
doch — hoher Ernſt, ſchoͤne Groͤße; dieß iſt ſeine
bleibende Geſtalt, jene geht voruͤber.


Venus, wenn ſie um den Adonis trauret, raſet
bei Moſchus fuͤrchterlich: auch Juno kann koͤniglich
zanken, und Apollo tapfer zuͤrnen — allein iſt die-
ſe Raſerei, dieß zaͤnkiſche Geſicht, dieſer Zorn im
Antlitze denn wohl ihre beſtaͤndige Mine, ihr noth-
wendiger Charakterzug? Nicht! er iſt uͤbergehend,
er iſt eine vorbeiziehende Wolke: nun ſoll der Kuͤnſt-
ler Venus, Apollo, Juno bilden; — will er nicht
Unſinn, oder Eigenſinn beweiſen, ſo wird er die Mi-
ne nehmen, die Venus, Apollo, Juno eigen iſt: in
der ſie ſich zeigen wuͤrden, wenn ſie ihm zur Bil-
dung erſchienen, und dieß iſt — eine Geſtalt der
Schoͤnheit.


Doch immer aber gab es ja auch im mythi-
ſchen Zirkel der Griechen Figuren, denen die Haͤß-
lichkeit ein Charakterzug war: z. E. Meduſenkoͤpfe,
Bacchanten, Giganten, Silenen, Furien u. ſ. w.
Meduſa gehe voraus, denn Pallas traͤgt ſie auf ih-
rem maͤchtigen Schilde. Meduſe, iſt ſie eine Ge-
ſtalt, die nothwendig haͤßlich gebildet werden muß,
von der man nur eine Geſtalt wuͤßte, die im hoͤch-
ſten Grade fuͤrchterliche? Die ſo viel uͤber die himm-
liſche Bildung der Meduſe, als von einem Jch
weiß nicht, warum? und einer Parodoxie reden a),
Fſoll-
[82]Kritiſche Waͤlder.
ſollten wiſſen, daß Meduſen dieſe Bildung eigen-
thuͤmlich, daß ſie eine Reizende geweſen, die Ne-
ptun zur Liebe beweget, und daruͤber von der jung-
fraͤulichen Minerve verwandelt worden a). Nun ſoll-
te ſie der Kuͤnſtler bilden: zwo Geſtalten lagen vor
ihm und er waͤhlte — die ſchoͤne vor ihrer Ver-
wandlung: aber um ſie als Meduſe zu bezeichnen,
flocht er Schlangen in ihre Haare.


Um dieſe Schlangen zu erklaͤren, weiß ich da kei-
nen andern Ruͤckweg, als mich „auf das beſondere Ge-
„fuͤhl der Griechen und Roͤmer fuͤr die Schlangen„
zu beruffen b)? ein beſonderer Appetit, der — hier
aber nichts erklaͤrt. Eine ſchoͤne Meduſe ohne
Schlangen waͤre nicht mehr kenntlich, nicht mehr
Meduſe — ein bloß ſchoͤnes Geſicht geweſen; ſo
und aus keinem Schlangenappetit mußte alſo der
Kuͤnſtler dieſen Charakterzug brauchen. Und warum
ſollte ers nicht? Wann er die Schlangen in die
Haare verſteckt, ſo koͤnnen ſie zieren; und was an
ihnen hervorblickt, iſt das was haͤßliches? Schrecklich
und nicht haͤßlich; aber dieß Schreckliche gemaͤßigt,
mit einem ſchoͤnen Antlitze contraſtirt, iſt angenehm;
es erweckt den Begriff des Außerordentlichen, von
der
[83]Erſtes Waͤldchen.
der Macht der Goͤttin, iſt alſo hier als Charakter-
zug noͤthig, und zum viel faſſenden Eindrucke taug-
lich: es erhebt die Schoͤnheit. Meduſe alſo dorf-
te nicht nothwendig ein Bild der Haͤßlichkeit ſeyn.


Und die Furien eben ſo wenig. Die Ehr-
wuͤrdigen:
ſo nannten die Athenienſer ſie, und ſo
konnten ſie die Kuͤnſtler bilden: „weder an ihren
„Bildniſſen, ſagt Pauſanias a), noch an den Ab-
„bildungen der unterirdiſchen Goͤtter, die im Areo-
„pagus ſtehen, iſt was fuͤrchterliches wahrzuneh-
„men.„ Und wenn nicht an den Furien; an den
eigentlichen Rach- und Plagegoͤttinnen: wenn nicht
an den unterirdiſchen Goͤttern; wenn nicht ſelbſt im
Areopagus, dem ernſthafteſten Orte zu Athen —
wo und an welchen Bildungen haͤttte denn das
Graͤuliche der Hauptcharakter ſeyn muͤſſen?


Jch darf alſo behaupten, daß alle mythiſche
Figuren des Zirkels, die als Hauptfiguren, einzeln,
ihrem innern und beſtaͤndigen Charakter gemaͤß, ha-
ben erſcheinen ſollen, das Widerliche und Graͤßli-
che nie zur nothwendigen Bildung haben dorften.
Selbſt bis auf den Schlaf und den Tod b) erſtreckt
F 2ſich
[84]Kritiſche Waͤlder.
ſich dieß, die beide als Knaben in den Armen der
Nacht ruhend vorgeſtellt wurden, und ſo gar bis
auf die hoͤlliſchen Goͤtter — ſchoͤnes Feld von
Vorſtellungen fuͤr den Kuͤnſtler, dem alſo ſeine Re-
ligion es wenigſtens nicht auflegte, zur Schande
des Geſchmacks, und zum Ekel der Empfindung
arbeiten zu muͤſſen. Da waren keine Bilder des
Abſcheues, wie in der ſkandinaviſchen und andern
nordiſchen Religionen: keine Fratzenvorſtellungen,
wie in den Mythologien der heidniſchen Mittaglaͤn-
der: kein Knochenmann, der den Tod, kein Unge-
heuer, das den Teufel vorſtellen ſollte, wie nach den
Jdolen unſeres Poͤbels; unter allen Voͤlkern der Er-
de haben die Griechen, was den ſinnlichen, den
bildſamen Theil der Religion anbetrift, die beſte
Mythologie gehabt: ſelbſt die Kolonien ihrer Reli-
gion, nicht ausgenommen.


Zweitens: doch aber gab es ja ſo haͤufige Vor-
ſtellungsarten, Situationen, und Geſchichte ihrer
Religion, die immer auch fuͤr den Kuͤnſtler widerli-
che Geſtalten liefern mußten, wenn nicht als Haupt-
ſo als Nebenideen: wie nun? Als Nebenideen frei-
lich, und eine Mythologie, die nichts als Geſtalten
in ſeliger Ruhe lieferte, waͤre fuͤr den Dichter gewiß
eine todte, einfoͤrmige Mythologie geweſen, und
haͤtte keine Griechen an Poeſie hervorbringen koͤn-
nen. Gnug aber, daß dieß Nebenideen, unter-
geordnete Begriffe, wandelbare Vorſtellungen wa-
ren;
[85]Erſtes Waͤldchen.
ren; bei ſolchen befand ſich der Dichter recht wohl
und der Kuͤnſtler auch noch ſo unbequem nicht.


Ein Jupiter z. E. der die Giganten unter ſei-
nem Wagen hat, kann und ſoll auf ſie, als auf Unge-
heuer, als auf widrige Geſtalten ſeinen Blitz ſchleu-
dern; aber dieſe Geſtalten ſind ja nicht der Haupt-
anblick: ſie ſind mit ihrem Graͤßlichen dem Jupiter
untergeordnet, und alſo da, das Majeſtaͤtiſche in
ihm zu vermehren; nicht alſo wider das Hauptge-
ſetz der Kunſt. Ein ſchoͤner Bachus unter tau-
melnden Maͤnaden, und ausgelaſſenen mit Pausba-
cken blaſenden Bacchanten, unter Silenen und Sa-
tyrs, wird um deſto herrlicher und ſchoͤner erſchei-
nen. Die fuͤrchterliche Meduſe auf dem Bruſt-
harniſche der Pallas wird die naͤmliche Schoͤnheit ih-
rer Goͤttinn noch mehr erheben: denn hier iſt ſie
nicht Hauptfigur, ſondern Zierrath der Kleidung.
So Perſeus mit ſeiner Gorgone: Vulcanus, der
hinkende, mitten im Saale der Goͤtter: ſo Cerbe-
rus unter den Fuͤßen des majeſtaͤtiſchen Pluto —
wie manches Papier waͤre mit Einwendungen ge-
ſchont, wenn man bedacht haͤtte, daß in eine Com-
poſition von Figuren auf eine Nebengeſtalt ja nicht
das Hauptgeſetz fallen koͤnne, ohne das Ganze zu
verderben.


Drittens: was ich von den griechiſchen Goͤt-
tern geſagt, gilt auch von ihren Helden. Weder
ihre Herren, noch menſchliche Helden haben zu ih-
F 3rem
[86]Kritiſche Waͤlder.
rem Hauptzuge eine Kloſterheiligkeit, eine verzuͤckte
Andacht, eine bußfertige Verzerrung, oder eine
ſich wegwerfende Demuth. Allein alſo, fuͤr ſich ſelbſt
genommen, laͤßt der Held hoher Schoͤnheit Platz,
inſonderheit wenn er als Hauptperſon in ſeiner blei-
benden Faſſung erſchiene. Setzet ihn aber auch in
ein Medium der Hinderniß: ſeine Seele werde von
Zorn, von Jammer, von Betruͤbniß erſchuͤttert:
freilich wird er nicht den ſtoiſchen Weiſen machen;
aber die empfindliche Natur ſeiner Menſchheit, wird
ſie ſeiner hoͤhern Natur widerſprechen doͤrfen?


Hier ſtehe die Abſchilderung Agamemnons in
dem Opfer der Jphigenia. Timanthes verhuͤllte
ihn: warum aber hat er ihn verhuͤllet? Er hat ſich,
ſagt Plinius a), in den traurigen Phyſiognomien er-
ſchoͤpft, ſo daß er dem Vater eine noch traurigere
geben zu koͤnnen verzweifelte. Dieß laͤßt Hr. L.
den Plinius ſagen b), und — — widerlegt alſo die
von ihm gegebene Urſache mit Recht: denn es
iſt wahr, „daß mit dem Grade des Affekts ſich
„auch die ihm entſprechenden Zuͤge des Geſichts ver-
„ſtaͤrken; daß der hoͤchſte Grad die allerentſchieden-
„ſten Zuͤge habe, und nichts ſey der Kunſt leichter,
„als dieſe auszudruͤcken.„ Plinius haͤtte alſo Un-
recht, und der Schriftſteller c) noch mehr Unrecht,
der ohne dieſe von L. angegebne Urſache zu entkraͤf-
ten,
[87]Erſtes Waͤldchen.
ten, Plinius glaubt, blos weil er idoneus auctor
iſt. Aber wie wenn Plinius dieß nicht geſagt
haͤtte?


Plinius Stelle iſt dieſe: Timanthes cum mœ-
ſtos pinxiſſet omnes, præcipue patruum, \& triſti-
tiæ omnem imaginem conſumpſiſſet, patris
ipſius vultum velavit, quem digne non pot-
erat oſtendere.
Was ſagt nun Plinius? daß
Timanth ſich an traurigen Phyſignomien erſchoͤpft,
daß er dem Vater keine traurigere haͤtte geben
koͤnnen? nicht! ſondern daß dieſe noch traurigere
ſeiner nicht wuͤrdig geweſen waͤre, daß er ihn in der-
ſelben nicht wuͤrdig haͤtte zeigen koͤnnen. Jch will
dem Valerius Maximusa) folgen, wie er Ti-
manths Gemaͤlde angiebt: Kalchas erſcheint be-
truͤbt, Ulyſſes traurig, Ajax ſtoͤßt eben ein Ach!
aus, Menelaus windet die Haͤnde — wie nun
Agamemnon? nicht anders als ſtarr, ſinnlos, be-
taͤubt, die Zuͤge des Geſichts eiſern angeheftet,
oder — raſend: denn ſo aͤußert ſich, duͤnkt mich,
der hoͤchſte Affekt. Wuͤrde ſich da nun Agame-
mnon wuͤrdig zeigen? der Anblick eines Starrſe-
henden, iſt er wuͤrdig eines Vaters? kaum! und der
die Haͤnde windende Menelaus, der aͤchzende Ajax,
der traurige Ulyſſes, der betruͤbte Kalchas wuͤrden
geruͤhrter ſcheinen, als der ſtarre Vater ſelbſt. So
erſcheine dieſer raſend? ein unnuͤtz raſender Held,
F 4ein
[88]Kritiſche Waͤlder.
ein knirſchender Agamemon iſt ein unwuͤrdiger An-
blick. Wenn Menfchen ſein Kind ertoͤdten: ſo ret-
te ers: er winde Kalchas das Opfermeſſer aus
der Hand, und mache ſich nicht durch ſein Geſchrei,
durch ſeinen vergeblichen Schmerz unnuͤtz. Wollen
aber Goͤtter das Opfer, fodert es das Wohl der
Griechen; iſts einmal zugeſtanden; Koͤnig, ſo wiſſe
dich zu faſſen: und wenn dein vaͤterlich Herz bricht,
ſo — wende dein Auge weg; verhuͤlle dein Antlitz:
ſo erſcheinſt du wuͤrdig des Vaters, und des Koͤni-
ges, und des empfindbaren Griechen und des pa-
triotiſchen Helden.


Auch wuͤrdig der Kunſt des Malers? Mit dem
vorigen zuſammen; ob aber dieſer letzte Zweck der
Einige und Hauptzweck geweſen? ob die ſchoͤnen Rai-
ſonnemens eintreffen, die Hr. L. dem Timanthes
Schuld giebt a), „daß er die Grenzen ſeiner Kunſt
„gekannt, daß er das Haͤßliche, das Verzerrende
„im Geſicht Agamemnons gerne gelindert haͤtte;
„da es aber nicht angieng — ſo habe er ihn ver-
„huͤllet. Die Verhuͤllung ſey eben ein Opfer, das
„der Kuͤnſtler der Schoͤnheit gebracht habe;„
weiß ich nicht; wenigſtens konnte ihm das Opfer
nicht ſchwer werden, denn er brachte es aus fremden
Mitteln. Mehr als ein Dichter b) hatte ſchon im
Schauſpiele den Agamemnon verhuͤllet, und Ti-
manth
[89]Erſtes Waͤldchen.
manth dorfte alſo nicht erſt mit ſich daruͤber ver-
nuͤnfteln. Er waͤre frech geweſen, wenn er, was
der Dichter verhuͤllt hatte, haͤtte entbloͤſſen wollen,
zumal es auf ſeine Kunſt ſo ſehr zutraf. Warum
ihn aber der Dichter verhuͤllt? ob etwa einem kuͤnf-
tigen Timanthes zu gut? ob etwa eine Figur zu
verhuͤten, die ſich nicht malen ließe? ob um der
Kunſt ein Opfer zu bringen? Der Kunſt freilich;
aber kaum dem Pinſel des Timanthes, ſondern ſei-
nem eigenen Schauſpiel, und der Grazie deſſelben!
Nicht, als wenn dieſe bei der Opferung eines
Kindes einen ſtoiſchen Helden foderte; ſo unmenſch-
lich iſt die griechiſche Grazie nicht. Nicht, als
wenn ſie einen betruͤbten aͤchzenden Vater nicht dul-
dete; warum nicht, wenn es damit gethan waͤre?
Aber hier ſollte er den hoͤchſten Ton des vaͤterlichen
Schmerzes, und des entſetzlichſten Jammers: ihn
ſollte ein Held anſtimmen, der zugleich Koͤnig war,
der dadurch die Griechen rettete, der ihnen die Opfe-
rung verſprochen hatte: dieſer alſo ſein Wort bre-
chen, ſein Volk nicht lieben, dafuͤr auch nicht etwas
Saures thun wollen? Er laſſe ſie opfern, er raſe
nicht wie ein Klageweib vergebens umher: er wende
ſein Auge ab, und weine vaͤterliche Thraͤnen: ſo er-
ſcheint er — wuͤrdig dem Koͤnige und dem Va-
ter, mithin auch wuͤrdig der theatraliſchen Grazie.
Nur da dieſe einer andern Perſon, einer Clytemne-
ſtra, einer Hekuba und andern Helden noch wahr-
F 5ſchein-
[90]Kritiſche Waͤlder.
ſcheinlicher manches haͤtte erlauben koͤnnen, was ſie
in dieſer Situation, dieſem Agamemnon nicht er-
laubte: ſo ſieht man, daß auch bei Euripides die-
ſe Verhuͤllung mehr ein Opfer fuͤr ſeinen Helden in
dieſer Situation,
als fuͤr den Helden abſolut,
oder abſolut fuͤr die Grazie der Schauſpielkunſt ge-
weſen; und daß die Grazie einer fremden Kunſt
hier gewiß ganz beiſeite trete.


Jndeſſen, wie es ſey: ſo bleibt Timanthes Ge-
maͤlde, ſelbſt bis auf den ſchreienden Ajax deſſel-
ben a), fuͤr Hrn. Leſſing, und ſelbſt der raſende
Ajax, die fuͤrchterliche Medea, der leidende Herku-
les, der ſeufzende Laokoon; und immer zehn Beiſpie-
le gegen ein gegenſeitiges beſtaͤtigen ſeinen Satz,
„wie ſehr die griechiſchen Kuͤnſtler das Haͤßliche ver-
„mieden, und wie ſorgfaͤltig auch in den ſchwer-
„ſten Faͤllen Schoͤnheit geſucht.„ Sollte man
aber in der neuern Zeit, mit Ausdehnung der
Kunſt auch uͤber die Grenzen des Schoͤnen, das
Weſen
derſelben haben aͤndern, und ihr ein neues
Obergeſetz: „Wahrheit und Ausdruck„ geen wol-
len b)? oder ſollte dieſe Uebertragung uͤber die
Grenzen des Schoͤnen nicht auch zu unſrer Zeit
blos
[91]Erſtes Waͤldchen.
blos „Eigenſchaft des Geſchmacks in der und jener
„Schule„ und alſo eine Kakozelie ſeyn, an der es
den Griechen bei ihrem Pauſon und Pyreicus auch
nicht fehlte? die Frage wird ſich im folgenden mehr
ergeben. „Wenn man in einzelnen Faͤllen den
„Maler und Dichter (und alſo auch die Kunſt
„zwoer Zeiten) mit einander vergleichen will, ſo
„muß man vor allen Dingen wohl zuſehen, ob ſie
„beide ihre voͤllige Freiheit gehabt haben, ob ſie oh-
„ne allen Zwang auf die hoͤchſte Wirkung ihrer
„Kunſt haben arbeiten koͤnnen a).„ Und wer hat
hier in einer freiern Luft geathmet?


7.


„Ein aͤußerlicher Zwang war bei dem alten
„Kuͤnſtler oͤfters die Religion.„ Bacchus mit
Hoͤrnern iſt Leſſingen b) hier das erſte Beiſpiel, das
ihn auch ſcheint auf dieſe ſo wahre Ausnahme ge-
bracht zu haben. „Bacchus mit Hoͤrnern! in der
„That ſagt Hr. L. ſind ſolche natuͤrliche Hoͤrner eine
„Schaͤndung der menſchlichen Geſtalt, und koͤnnen
„nur Weſen geziemen, denen man eine Art von
„Mittelgeſtalt zwiſchen Menſchen und Thier ertheil-
„te.„ Und ſorgfaͤltiger kann nicht ein Freund be-
dacht ſeyn, ſeinem Freunde die Hoͤrner von der
Stirne wegzuſchaffen, als Hr. L. fuͤr ſeinen ſchoͤ-
nen Bacchus beſorgt iſt.


Er
[92]Kritiſche Waͤlder.

Er erklaͤrt ſie alſo zuerſt fuͤr einen bloßen Stirn-
ſchmuck a). Und woher ein Stirnſchmuck? Aus der
Stelle des Dichters —


tibi cum ſine cornibus adſtas

Virgineum caput eſt:

„Er konnte ſich alſo auch ohne Hoͤrner zeigen, ſagt
„Hr. L. und ſo waren die Hoͤrner ein Stirnſchmuck,
„den er aufſetzen und ablegen konnte.„ Wie?
folgt dieß letzte Alſo wohl aus der Stelle Ovids,
aus einer feierlichen Anruffung deſſelben? War
Bacchus nicht ein Gott? der ſich alſo auch, wie an-
dere Goͤtter[,] in mehr als einer Geſtalt zeigen, der
bald in jungfraͤulicher Schoͤnheit, bald im fuͤrch-
terlichen Schlachtgetuͤmmel fuͤrchterlich, bald als
ein ſchoͤner Juͤngling wie den Seeraͤubern Homers
erſcheinen konnte? Und hatte Bacchus dieß nicht
bloß mit andern Goͤttern gemein, ſondern zu ei-
nem ihm eigenen Vorzuge,
der Gott von tauſend
Geſtalten (μυριομορφος) zu ſeyn, und alſo auch
die unzaͤlig vielen Beinamen zu haben, die ihm Or-
pheus, die Epigrammatiſten, Nonnus u. a. geben?
folgts da wohl aus der Stelle Ovids, daß Bacchus
— — dadurch διμορφος, πολυμορφος, μυριο-
μορφος werden koͤnne, wenn er — — ſeine Hoͤr-
ner ablege, wie ohngefaͤhr eine alte Jungfer ihre fal-
ſchen Zaͤhne und Bruͤſte? armes Lob! — Einen
frommen chriſtlichen Ehemann moͤgen ſeine Hoͤrner
einen bloßen Stirnſchmuck und eine Krone der Ge-
duld
[93]Erſtes Waͤldchen.
duld von bewaͤhrtem Golde bedeuten: nicht dem my-
thologiſchen Bacchus.


So moͤgen es wohl keine Bacchus ſeyn, die
mit hervorſprießenden Hoͤrnern daſtehen, ſondern
lieber Faunen a): denn „in der That ſind ſolche
„natuͤrliche Hoͤrner eine Schaͤndung der menſchli-
„chen Geſtalt, und koͤnnen nur Weſen geziemen,
„denen man eine Art von Mittelgeſtalt zwiſchen
„Menſchen und Thier ertheilt.„ Mit ſolchen ge-
ziemenden Schluͤſſen! als wenn Bacchus nicht oft
gnug dieſen und noch ungeziemendere Namen bekaͤ-
me: als wenn er nicht oft gnug κεραος, δικε-
ραος, χρυσοκεραος, ταυρωπος, ταυρομετωπος,
ταυροκεραος, κερασφορος, gehoͤrnt, zweigehoͤrnt,
goldgehoͤrnt, ſtiergehoͤrnt hieße. Kurz! die Hoͤr-
ner waren in gewiſſen Deutungen ihm weſentlich,
und gehoͤrten mit zu ſeiner heiligen Allegorie, in der
ihn die Griechen mit von andern Voͤlkern, die die
Allegorie noch uͤber die Schoͤnheit der menſchlichen
Geſtalt liebten, bekommen hatten.


Ob aber Bacchus in allenb) ſeinen Tempeln
nicht anders, als gehoͤrnt, erſchienen, iſt wieder auf
der andern Seite zu weit, und hat fuͤr Hrn. L. kei-
nen Vortheil, als nachher c) ſeine Errathungskunſt
zu uͤben, wo denn alle dieſe gehoͤrnte Statuen Ba-
chus geblieben ſeyn moͤgen, da wir jetzt keine haben?
Mir duͤnkts gnug, daß der bei den Dichtern viel-
geſtal-
[94]Kritiſche Waͤlder.
geſtaltige Bacchus auch bei den Kuͤnſtlern, auch in
ſeinen Tempel „in mancherlei Geſtalt„ gewe-
ſen ſey: daß nach der aͤltern allegoriſirenden Mytho-
logie dem Bacchus die Hoͤrner ſehr bedeutend und
oft alſo auch fuͤr den Werkmeiſter, der der Religion
arbeitete, ein Attribut des Bacchus ſeyn muͤſſen:
daß in den beſſern Zeiten, da die Griechen ſelbſt vie-
les von ihrer heiligen Allegorie der Schoͤnheit auf-
geopfert, auch die ganz ſchoͤnen Statuen des Bac-
chus, inſonderheit in ſeinen Kunſtwerken, die beſten
geworden; und ſo zerſtieben alle Widerſpruͤche
von ſelbſt.


Ueberhaupt ſollte das mehr auf Kunſt und
Dichtkunſt angewandt werden, was die zu verſchie-
denen Zeiten verſchiedene
Religion auf beide ge-
wirket. Jn den aͤlteſten Zeiten, da noch die frem-
den, von außen uͤberbrachten Begriffe galten, wa-
ren freilich die Vorſtellungen der Goͤtter oft unwuͤr-
dig: und Jupiter ſelbſt ſchaͤmte ſich nicht, mit bei-
derlei Geſchlecht mit einem Beile, und in Geſtalt ei-
nes Miſtkaͤfers zu erſcheinen. Bald aber entwoͤlk-
te ſich dieß allegoriſche Gehirn der Aegypter und
Aſiaten in der freien griechiſchen Luſt: die unnuͤtzen
Geheimniſſe und Deutungen in Mythologie, Phi-
loſophie, Poeſie und Kunſt wurden unter den Grie-
chen aus ihren verſchloſſenen Kammern auf offnen
Markt getragen, und Schoͤnheit fieng an, das
Hauptgeſetz der Poeſie und Kunſt, nur bei jeder
auf
[95]Erſtes Waͤldchen.
auf eigne Art, zu werden. Homer, der Sohn ei-
nes himmliſchen Genius, ward der Vater ſchoͤner
Dichter und ſchoͤner Kuͤnſtler: und gluͤcklich iſt das
Land, dem in der ſinnlichen Poeſie und der noch ſinn-
lichern Kunſt, der Geiſt ſeiner Zeit in Religion und
Sitten und Gelehrſamkeit und Cultur ſo wenig
Zwang auflegt, als Griechenland in ſeinen ſchoͤnſten
Zeiten. Jch wundre mich, daß W. in ſeinen
Schriften dieſe Abſtreifung fremder, alter, allego-
riſcher Begriffe nicht mehr bemerkt, und in ihrer
Nutzbarkeit gezeiget hat: es iſt ein Hauptknoten in
dem Faden der Kunſtgeſchichte: „wie die Griechen
„ſo manche fremde druͤckende Jdeen in die ihnen
„eigne ſchoͤne Natur verwandelt haben!„


Von hieraus gienge der ſicherſte Weg, um
zwiſchen inne durch Bedeutung und Schoͤnheit,
durch Allegorie und Schoͤnheit der Kunſt und Poe-
ſie unbeſchaͤdigt durchzukommen: ich wuͤrde aber
mit einmal zu tief in den Unterſchied der dichten-
den und bildenden Kunſt tauchen muͤſſen — alſo
zuruͤck zu unſern Prolegomenen.


8.


Wenn Schoͤnheit das hoͤchſte Geſetz der bil-
denden Kunſt iſt: freilich, ſo muß Laokoon nicht
ſchreien, ſondern lieber nur beklemmt ſeufzen: denn
wenn ſchon Sophokles zu ſeinem theatraliſchen Auf-
tritt einen bruͤllenden Philoktet eben ſo ungereimt
fand,
[96]Kritiſche Waͤlder.
fand, als Leſſing den ſtoiſchen Philoktet findet: wie
viel mehr der Kuͤnſtler, bei welchem ein Seufzer
und ein Schrei des offnen Mundes ewig dauret.


Ohne es nun durch eine Handvoll Vermuthun-
gen ausmachen zu wollen, wer den andern nachgeah-
met, ob der Kuͤnſtler den Dichter, oder der Dich-
ter den Kuͤnſtler? fuͤhre ich nur Eins an, was Hrn.
Leſſing in dem Augenblicke a) nicht beigefallen, daß
es außer Piſanderb), der nur als eine Quelle
Virgils im Unbeſtimmten angegeben wird, es Grie-
chen gegeben, wo Virgil den naͤhern Gegenſtand,
die Geſchichte Laokoons ſelbſt, geſchoͤpft haben koͤnne.
Daß unter Sophokles verlohrnen Stuͤcken auch ein
Laokoon ſey, hat Hr. L. ſelbſt angefuͤhrt c), und
Servius meinet, daß Virgil die Geſchichte Lao-
koons aus dem Griechiſchen des Euphormio ge-
ſchoͤpfet. — Vermuthungen, die wenigſtens weiter
bringen koͤnnen, als der leere Name eines Piſan-
ders, oder ein Quintus Calaber, der es nicht ver-
diente, von Hrn. Leſſing d) auch nur als ein halber Ge-
waͤhrsmann angefuͤhrt zu werden: denn was geht
ſeine ganze Giganten - Erzaͤhlung unſern Virgil,
oder Laokoon an?


Quintus Calaber iſt ein ſpaͤter Schriftſtel-
ler, ein uͤbertreibender Dichter, ein ſeyn wollendes
Original — mehr Umſtaͤnde braucht es nicht, ihm
bei dieſer Sache den Zutritt eines Zeugen ſtrittig zu
machen.
[97]Erſtes Waͤldchen.
machen. Er dichtet bei ſeinem Laokoon ſo weit in
die Welt hinein, daß die dichteriſche Fabel kaum
mehr Fabel bleibt: ſie wird ein abentheuerliches Rie-
ſenmaͤhrchen. Warum muß unter dem warnenden
Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die
Liſt der Minerva fallen ſoll; was brauchts die ganze
Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum
muͤſſen ſeine unſchuldigen Augen verblinden? war-
um muß er raſen? Etwa um noch blind und ver-
ſtockt fortzufahren in ſeinem Rathe, und alſo als
ein trotzender Gigante gegen die Goͤtter zu erſchei-
nen? — Etwa weiter durch dieſen verſtockten Rath
noch erſt die neue Verbrecherſtrafe der Drachen zu
verdienen — Was brauchts den gutgeſinneten Pa-
trioten erſt in einen Himmelsſtuͤrmer, in einen tollen
Verbrecher umzuſchaffen, und nachher gar — Un-
ſchuldige fuͤr ihn leiden zu laſſen? Laokoon ſelbſt ge-
ſchieht nichts von den Drachen: ſeine armen un-
ſchuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleiſcht,
— abentheuerliche, abſcheuliche Scene, ohne Wahl
und Zweck, ohne Zuſammenordnung und dichtenden
Verſtand!


Jch bleibe alſo bei Virgil und dem Kuͤnſtler.
Virgil mag aus Piſander, aus Euphormio, und
woher es ſey, geſchoͤpft haben: ſo ſchoͤpfte er als Dich-
ter, als epiſcher Dichter, als Homer der Roͤmer.
Er kleidete alſo auch dieſe Erzaͤlung in ein epiſches
Gewand: er goß ſie in eine Art von Neuhomeri-
Gſcher
[98]Kritiſche Waͤlder.
ſcher Form; und in ſolcher Geſtalt tritt ſie uns vor
Augen. Wir haben einen Schriftſteller a), der ſich
die Muͤhe gegeben, Virgil mit den Griechen zu ver-
gleichen, und ihn daher zu erlaͤutern; Schade aber,
daß ihm in ſeiner Vergleichung bloß Worte, Bilder
und einzelne Lappen vor Augen ſind. Die Manier
ſeiner Poeſie aus Homer und andern Griechen zu er-
klaͤren, iſt ihm nicht eingefallen, ſonſt muͤßte ſich
auch in dieſer Erzaͤlung von Laokoon der Dichter zei-
gen, der nach Homer zeichnen wollte. — Vielleicht
wird meine Vermuthung, welche Stelle Homers
Virgil nachgeahmet, etwas zu unſerm Zwecke
thun.


Aeneas mitten im Erzaͤlen b), kommt auf die
Geſchichte Laokoons, und ſiehe! —


hîc aliud maius miſeris multoque tremendum
obiicitur magis atque improvida pectora turbat.
Laocoon. ‒ ‒
()

Wem faͤllt nun nicht gleich bei Eroͤffnung dieſer
Schlangenſcene der homeriſche Neſtor c) ein, der
auch eine ſolche Schlangenſcene mit einem aͤhnlichen
ενϑ’ εφανη μεγα σημα eroͤffnet? Der Vorfall bei
beiden iſt verſchieden; die Manier der Erzaͤlung iſt
voͤllig dieſelbe. Bei Homer erzaͤlt der geſpraͤchige
Alte, wie vor ihrer Abfahrt die Griechen rings um
eine
[99]Erſtes Waͤldchen.
eine Quelle den Unſterblichen Opfer gebracht, wie
darauf nahe an einem Pappelbaume ſich ein großes
Wunderzeichen ſehen laſſen: ein rothgefleckter graͤu-
licher Drache, den Jupiter ſelbſt geſandt, ſchoß un-
ter dem Fuß des Altars ploͤtzlich hervor, ſchlang ſich
zum Pappelbaume hinan, wo die Brut, die zarte
Brut eines Sperlings auf dem Gipfel des Baums
hinter Blaͤttern verſteckt niſtete — acht an der Zahl,
und die Mutter der Jungen war die neunte. Ohne
Erbarmen wuͤrgte der Drache die winſelnden Kleinen;
die Mutter aber — zwar flatterte ſie klagend um
ihre geliebte Brut, allein auch ſie ward am Fluͤgel
von ihm umſchlungen, ergriffen und mitten in ihrem
Geſchrei erwuͤrgt u. ſ. w. — Mich duͤnkt, Virgil
habe in der epiſchen Einkleidung des Laokoon Homer
im Gedanken gehabt; nur daß er das Epiſche ſo
verſtaͤrkte, daß aus Homers einfacher Erzaͤlung ein
voͤllig ausgemaltes Bild ward, — gegen das ich
doch lieber Homers einfache Erzaͤlung zuruͤck-
wuͤnſchte.


Jn Homer ſind alle Griechen ſchon in Erwar-
tung: rings um eine Quelle gelagert, mit dem
Opfer an die Unſterblichen beſchaͤftigt, und alſo in
der Faſſung, aͤuf ein himmliſches Zeichen zu mer-
ken, ſo bald es erſchiene. Bei Virgil iſt alles un-
ſtaͤt, zerſtreut, auf den griechiſchen Betruͤger hor-
chend, und nicht auf Laokoons Opfer; die Schlangen
erſcheinen, und was fuͤr ein Geraͤuſch, was fuͤr ein
G 2Plaͤt-
[100]Kritiſche Waͤlder.
Plaͤtſchern im Meer muͤſſen ſie machen, ehe ſie be-
merkt werden.„ Zwo Schlangen kommen von der
Hoͤhe des Meers herab: in ungeheure Ringe ge-
ſchlungen, (mich ſchaudert es zu ſagen!) liegen ſie
auf der See und ſtreben gemeinſchaftlich ans Ufer.
Mitten aus den Fluthen hebt ſich ihre Bruſt empor:
uͤber die Waſſer ragen ihre blutrothen Kaͤmme: ihr
uͤbriger Koͤrper iſt mit der langen Oberflaͤche der
See gleich, und kruͤmmt ſeinen unmaͤßlich langen
Ruͤcken in Ringen heran. Es entſteht ein Geraͤuſch
bei ſchaͤumender See, und ſchon ſind ſie am Ufer:
ihre Augen funkeln, ihre Zungen zuͤngeln, ziſchen
— welch entſetzlich lange Vorbereitung, ſo epiſch, ſo
maleriſch, daß — ich nicht weiß, wie Ein Grieche
ihre Ankunft abwartet. Wie vieles wendet Virgil
auf den Nebenzug eines Gemaͤldes, den Homer mit
einem Worte vollendete! und wie iſt die ganze Schil-
derung mit ſolchen ausgemalten Nebenzuͤgen uͤber-
laden — beinahe ein untruͤgliches Wahrzeichen,
daß der Dichter nach der Hand eines andern gear-
beitet, daß er nicht aus dem Feuer ſeiner Phanta-
ſie geſchrieben. Waͤre dies, wie wuͤrde er ſich ſo
lange bei ihrem Heranplaͤtſchern, und noch laͤnger
bei ihren Ringen und Schlingen aufhalten? Dieſe
ſind ihm das Hauptaugenmerk: ſie kommen ihm
immer von neuem ins Geſicht, und er ſchaudert nie
mehr, als wenn er an dieſe unermaͤßliche Windun-
gen, und Umſchlingungen und Stellungen denkt.
Vir-
[101]Erſtes Waͤldchen.
Virgil muß nachgeahmet haben; entweder nun ei-
nem Kunſtwerke, oder welches mich wahrſcheinlicher
duͤnkt, dem Gemaͤlde Homers. Das hat von je-
her den Nachahmer verrathen, wenn er mit gar zu
kuͤnſtlicher Hand klecket, und Nebendinge am ſorg-
faͤltigſten vollendet. Eben daher wage ichs, zu ſa-
gen, daß Virgils Schilderung mehr das Ohr fuͤl-
let, als die Seele. Mit allem Vorplaͤtſchern der
Schlangen thut ſie nichts, als uns zerſtreuen und
betaͤuben: mit allen Windungen derſelben um Lao-
koon, die hier ſo genau angezeigt werden, wird un-
ſer Auge vom Laokoon auf die Schlangen gewandt:
wir vergeſſen, auf ſein Geſicht zu merken, und auf
die Seele, die in demſelben ſpreche: endlich zeiget
ſich dieſelbe — aber durch ein wuͤſtes Geſchrei,
durch das Bruͤllen eines verwundeten Stiers, der
vom Altar entlaufen:


clamores horrendos ad ſidera tollit ‒ ‒ ()

freilich, „ein erhabener Zug fuͤr das Gehoͤr„ wie ich
Hrn. L. gern zugebe a); aber ein leerer Schall fuͤr
die Seele. Der Dichter hat ſich ſo ſehr in die Win-
dungen ſeiner Schlangen verſchlungen, daß er eins,
und zum Ungluͤcke das Hauptſtuͤck, vergißt: Laokoon
ſelbſt, und ſeine Angſt und den Zuſtand ſeiner Seele:
Zuͤge, die Homer ſo gar bei ſeiner jungen Sper-
lingsbrut, und bei ihrer armen Mutter nicht ver-
gißt, und uns alſo ein Bild nicht fuͤrs Auge, und
G 3noch
[102]Kritiſche Waͤlder.
noch minder bloß „erhabne Zuͤge fuͤrs Gehoͤr„,
ſondern ein Bild in die Seele malet. Jch weiß
nicht, wie Hr. L. ſich im Lobe Virgils ſo lange a) bei
den Nebenzuͤgen, „Windungen der Schlangen„ u.
ſ. w. aufhaͤlt, die bei dem Maler und Bildhauer, ge-
wiß aber nicht bei dem Dichter, weites Lob verdie-
nen. Ja wenn Virgil zum Vorbilde eines Kuͤnſt-
lers gearbeitet haͤtte! Jſt das aber nicht wider den
Zweck des ganzen Leſſingſchen Werkes?


Und was er gegen Virgil zu nachſehend iſt:
wird er gegen Petron zu ſtrenge b), da ſich doch die
meiſten dieſer Vorwuͤrfe ſicherer auf Virgil gegen
Homer, als auf Petron gegen Virgil betrachtet, deu-
ten ließen. Jch weiß Petrons gezwungene Art zu
dichten, und geſtehe gern zu, daß aus ſeiner Be-
ſchreibung Laokoons kein Funke poetiſches Genies
hervorblitze: muß aber darum das Gemaͤlde, das
er beſchreiben will, muß die ganze Gallerie von Ge-
maͤlden zu Neapel nur in ſeiner Einbildungskraft
exiſtirt haben? Warum das? Etwa weil ein Ro-
manſchreiber kein Hiſtorikus ſeyn darf? ſeyn darf!
freilich nicht; aber auch nicht, daß ers nicht ſeyn
muͤßte; nicht ſeyn koͤnnte? zumal die ſchlechten Ro-
manſchreiber. Sie erſetzen uns das durch einge-
ſchaltete Geſchichte, was ihre Phantaſie bruͤchig
laͤßt: ſie liefern uns halbhiſtoriſche Romane, oder
romanhafte Halbgeſchichte: der Abt Terraſſon,
mit
[103]Erſtes Waͤldchen.
mit dem Diodor von Sicilien bei Hand, ſeinen
Sethos, und andre einen Roman voll Geographie,
oder wahrer Geſchichte. Sollte ſich nun nicht Pe-
tron auch zu dieſer Klaſſe bekennen? Sehr wahr-
ſcheinlich und eben von dieſer Vermiſchung der
Wahrheit und der Erdichtung, der Geſchichte und
Phantaſie ruͤhrt auch die große Verſchiedenheit des
Urtheils, welches die Kunſtrichter uͤber Petron von
jeher gefaͤllt. Seine Einbildungskraft iſt ſpielend,
trocken, gezwungen; und die Kinder, die ſie hervor
bringt, haben den Charakter ihrer Mutter; aber
ſein Urtheil, die oft eingeſchalteten hiſtoriſchen Zuͤ-
ge uͤber den verderbten Zeitgeſchmack, ſind fein,
ſind lobwuͤrdig. Mir wirds alſo ſehr glaublich,
daß Petron, der mit Gewalt ein Dichter ſeyn woll-
te, ſeine Beſchreibung Laokoons, durch die Nachah-
mung eines wirklichen Gemaͤldes, wohl habe auf-
ſtutzen wollen: daß das Gemaͤlde von Laokoon wohl
irgend wo anders, als in der Phantaſie Petrons
exſiſtirt habe. Und wenn es exſiſtirt haͤtte? —
Nun! ſo treffen auch Hr. L. kritiſche Streiche auf
Petron diesmal einen Unrechten, und ſein Arkanum;
den Styl eines Nachahmers zu entdecken, kann ihm
diesmal unzuverlaͤßig werden. Hat Petron ein Ge-
maͤlde geſchildert: was eher, als daß ſein Auge an
Nebenideen hangen blieb, daß er dieſe Nebenideen
auch uͤbertreiben konnte? Jſts, daß er im Bilde
das Geraͤuſch der Schlangen gleichſam zu hoͤren
G 4glaub-
[104]Kritiſche Waͤlder.
glaubte: iſts, daß er ein Gemaͤlde der Kinder Lao-
koons Leidens, und ſich zu Tode aͤngſtigend antraf:
ſo waren ihm, dem Verſificateur einer maleriſchen
Schilderung, dem Nachahmer des Gemaͤldes, dieſe
Figuren Augenmerk gnug, um mit dem Pinſel zu
wetteifern, um dieſe Nebenideen der Phantaſie,
aber Hauptideen des Auges im Gemaͤlde, beſtmoͤg-
lichſt zu verſchoͤnern. Die Groͤße der Schlangen
wiederum, in deren Schilderung ſich Virgil ver-
liebt hat, war nicht ſein Hauptaugenmerk: denn ſie
konnte es nicht im Gemaͤlde ſeyn, wo man die Groͤße
aus dem Geraͤuſche in den Wellen gleichſam nur
ſchließen mußte. Die ganze Schilderung Petrons
iſt eine Zuſammenhaͤufung ſichtbarer Jdeen: war-
um alſo nicht die Nachahmung eines wirklichen Ge-
maͤldes? und alsdenn nicht ſo ſicher ein Beiſpiel
und eine Probe von der ſchuͤlerhaften Nachah-
mung eines andern Dichters, und noch un-
ſichrer eine erſte Probe, die auf alle goͤlte. So
ſklaviſch ſie iſt: ſo bleibt doch gegen ſie ein Quin-
tus Calaber
noch nicht eben der beßrea) Dichter
und Kenner der Natur: und ſo unendlich ſie hinter
Virgil zuruͤckbleibt, ſo iſt doch auch dieſer in ſeiner
Schilderung gewiß nicht ganz Dichter; er iſt Nach-
ahmer Homers, und zeigt dies in den ſo weit verſtaͤrk-
ten und verſchoͤnerten Nebenzuͤgen, daß das Ganze
verſchwindet.


Was
[105]Erſtes Waͤldchen.

Was wuͤrde hieraus folgen? Dies, daß wenn
Virgil nach Homer gearbeitet, er immer ſeine Ge-
ſchichte, er habe ſie aus Piſander, Euphormio, So-
phokles geſchoͤpft, nach ſeiner Art veraͤndert habe,
und daß alſo der Kuͤnſtler neben ihm aus eben dieſer
Quelle haben ſchoͤpfen, und doch in der Vorſtel-
lung
von ihm abgehen koͤnnen, wenn er auch bloß
dem griechiſchen Buchſtaben gefolget waͤre.


Geſetzt alſo, er haͤtte den verlohrnen Laokoon des
Sophokles vor ſich gehabt: welche Jdee haͤtte ihm
die ſophokleiſche Muſe geben muͤſſen? Sophokles,
ein ſo weiſer Dichter des Theaters, der zuerſt auf
demſelben gleichſam Sittlichkeit und Anſtand veſt-
ſetzte, der hierinn vielleicht einzig und allein das
rechte Maas traf; Sophokles, der bei ſeinem Phi-
loktet die Leiden des Koͤrpers ſo ſehr in Leiden der
Seele zu verwandeln wuſte — wie wird er ſeinen
Laokoon geſchildert haben? Mit dem Hauptzuge des
graͤßlichen Geſchreies? Ein vortreffliches Mittel,
das Trommelfell des Ohres, aber nicht unſer Herz,
zu ruͤhren. Gewiß wird er beſſere Wege an unſer
Herz geſucht, und alſo auch Laokoons Schmerzen und
Geſchrei mit der Waage des richteriſchen Genies zu-
gewogen, mit der er ſie dem Philoktet zuwiegt.
Nun laſſet einen weiſen griechiſchen Kuͤnſtler von ei-
nem weiſen griechiſchen Dichter dieſen Gegenſtand
geborgt: laſſet ihn die Manier des theatraliſchen Ge-
G 5maͤl-
[106]Kritiſche Waͤlder.
maͤldes genutzt, und vom Sophokles Laokoon ſo ge-
lernt haben, als Timanthes vom Euripides die weiſe
Verhuͤllung Agamemnons lernte: ſo duͤnkt mich,
ich ſaͤhe die Waage des Ausdrucks eben auf dem
Punkt, auf dem ſie bei dem Laokoon des Kuͤnſtlers
ſchwebet. Das Maas des Seufzers iſt ihm zuge-
wogen. „Der Schmerz, welcher ſich in allen
„Muskeln und Sehnen des Koͤrpers entdecket, und
„den man ganz allein, ohne das Geſicht und andre
„Theile zu betrachten, an dem ſchmerzlich eingezog-
„nen Unterleibe bei nahe ſelbſt zu empfinden glaubt;
„dieſer Schmerz, ſage ich, aͤußert ſich dennoch mit
„keiner Wuth in dem Geſichte, und in der ganzen
„Stellung. Er erhebt kein ſchreckliches Geſchrei,
„wie Virgil von ſeinem Laokoon ſingt; die Oeff-
„nung des Mundes geſtattet es nicht: es iſt viel-
„mehr ein aͤngſtliches und beklemmtes Seufzen, wie
„es Sadolet beſchreibt. Der Schmerz des Koͤr-
„pers und die Groͤße der Seele ſind durch den gan-
„zen Bau der Figur mit gleicher Staͤrke ausgethei-
„let, und gleichſam abgewogen. Laokoon leidet,
„aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: ſein
„Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir
„wuͤnſchten, wie dieſer große Mann das Elend er-
„tragen zu koͤnnen.„ Jch kenne nichts wuͤrdigers,
als dieſe Worte, und der roͤmiſche Dichter, der
Nachahmer Homers, kommt alſo gar nicht ins
Spiel.


Jch
[107]Erſtes Waͤldchen.

Jch ſehe, daß ich bisher bloß in kritiſchen Ma-
kerien aufgeraͤumt habe, die Hr. L. ſeinem Laokoon
hat zum Grunde legen wollen, fuͤglich aber auch
dem Hauptinhalt ſeines Buchs unbeſchadet, haͤtte
auslaſſen koͤnnen. Es iſt Zeit, meine Leſer aus
dem kritiſchen Schutte hinweg, zu dieſem Haupt-
inhalte ſelbſt naͤher hinan zu fuͤhren, und —


9.


Den erſten Unterſchied zwiſchen Poeſie und der
bildenden Kunſt ſucht L. a) in dem Augenblicke
zu ertappen, in den die materiellen Schranken der
Kunſt alle ihre Nachahmungen binden. Dieſer
Augenblick alſo koͤnne nicht fruchtbar gnug gewaͤh-
let werden: und ſei dann nur fruchtbar, wenn er
der Einbildungskraft freien Raum laͤßt. — So
weit nun ſind ſchon alle Kunſtrichter gekommen, die
uͤber die Grenzen der Kuͤnſte nachdachten; aber der
Gebrauch, den Hr. L. macht, gehoͤrt ihm. Jſt
naͤmlich die Kunſt an einen Augenblick gebunden,
bleibt dieſer Augenblick: ſo waͤhle ſie nicht das Hoͤch-
ſte in einem Affekt: ſonſt weiß die Einbildungs-
kraft kein Hoͤheres: ſie druͤcke auch nichts Tranſi-
toriſches aus; denn dies Tranſitoriſche wird durch
ſie verewigt.


Nichts hingegen noͤthige den Dichter, ſein Ge-
maͤlde in einen Augenblick zu concentriren. Er
neh-
[108]Kritiſche Waͤlder.
nehme jede ſeiner Handlungen, wenn er will, bei
ihrem Urſprunge auf, und fuͤhre ſie durch alle moͤg-
liche Abaͤnderungen bis zu ihrer Endſchaft. Jede
dieſer Abaͤnderungen, die dem Kuͤnſtler ein ganzes
beſondres Stuͤck koſten wuͤrde, koſte ihm einen ein-
zigen Zug u. ſ. w. Das Kennzeichen ſelbſt iſt, wie
geſagt, laͤngſt angegeben; Hr. L. macht aber dies
angegebne Kennzeichen praktiſch.


Nichts Uebergehendes alſo waͤhle die Kunſt zum
Augenblicke ihres Gegenſtandes a): aber was iſt
denn eigentlich, was in der Natur nicht tranſitoriſch,
was in ihr voͤllig permanent waͤre? Wir leben in
einer Welt von Erſcheinungen, wo eine auf die andre
folgt, und ein Augenblick den andern vernichtet;
alles in der Welt iſt an den Fluͤgel der Zeit gebun-
den, und Bewegung, Abwechſelung, Wirkung iſt
die Seele der Natur. Metaphyſiſch alſo — doch
wir wollen hier nicht metaphyſiſch; ſinnlich wollen
wir reden: und im ſinnlichen Verſtande, nach der
Erſcheinung unſrer Augen giebt es da nicht unab-
laͤßige, daurende Gegenſtaͤnde gnug, die alſo die
Kunſt nachahmen ſoll? Allerdings, es giebt ſolche;
und dies ſind gewiſſermaßen alle Koͤrper, und zwar
ſo fern ſie Koͤrper ſind. Dieſe, ſo abwechſelnd ihre
Zeit folgen und Zuſtaͤnde auch ſeyn moͤgen; ſo
ſchnell auch jeder Augenblick ihres Seyns ſie aͤnders:
ſo geht er doch nicht unſern Augen voruͤber; fuͤr
dieſe
[109]Erſtes Waͤldchen.
dieſe kann alſo der Kuͤnſtler Erſcheinungen liefern:
er ſchildere Koͤrper, er ahme nach die bleibende
Natur.


Wenn aber dieſe bleibende Natur auch zugleich
todte Natur waͤre? wenn das Jntranſitoriſche eines
Koͤrpers eben von ſeiner Unbeſeeltheit zeugte? Als-
denn, dies bleibende Jntranſitoriſche des Gegen-
ſtandes zum Augenmerke der Kunſt ohne Einſchraͤn-
kung gemacht — was anders, als daß mit dieſem
Grundſatz der Kunſt auch — ihr beſter Ausdruck
genommen wuͤrde? Denke dir, mein Leſer, einen
ſeelenvollen Ausdruck durch einen Koͤrper, welchen
du wolleſt, und er iſt voruͤbergehend. Je mehr er
eine menſchliche Leidenſchaft charakteriſiret; um ſo
mehr bezeichnet er einen veraͤnderlichen Zuſtand der
menſchlichen Natur, und um ſo mehr „erhaͤlt er
„durch die Verlaͤngerung der Kunſt ein widerna-
„tuͤrliches Anſehen, das mit jeder wiederholten Er-
„blickung den Eindruck ſchwaͤchet, und uns end-
„lich vor dem ganzen Gegenſtande Ekel oder Grauen
„verurſacht.„ Die Einbildungskraft habe noch
ſo viel Spielraum, noch ſo viel Flug: ſo muß ſie
doch endlich einmal an eine Grenze ſtoßen, und un-
willig wieder zuruͤck kommen; ja, je ſchneller ſie ge-
het, je praͤgnanter der gewaͤhlte Augenblick ſey, um
ſo eher kommt ſie zu Ziel. So gut als ich zu einem
lachenden la Mettrie ſagen kann, wenn ich ihn zum
dritten, viertenmal, noch lachend ſehe: du biſt ein
Geck!
[110]Kritiſche Waͤlder.
Geck! ſo gut werde ich auch endlich zu Myrons Kuh
ſagen koͤnnen: nun ſo gehe doch fort, was ſteheſt
du? — Und ſo viel Urſache ich habe, einen ſchrei-
enden, einen unablaͤßig ſchreienden Laokoon endlich
unleidlich zu finden; ſo viel Urſache werde ich, nut
etwas ſpaͤter, finden, auch den ſeufzenden Laokoon
uͤberdruͤßig zu werden, weil er noch immer ſeufzet.
Endlich alſo auch den ſtehenden Laokoon, daß er im-
merhin ſtehet, und ſich noch nicht geſetzet hat: end-
lich auch eine Roſe von Huiſum, daß ſie noch bluͤhet,
noch nicht verweſet iſt: endlich alſo jede Nachah-
mung der Natur durch Kunſt. Jn der Natur
iſt Alles uͤbergehend, Leidenſchaft der Seele und Em-
pfindung des Koͤrpers: Thaͤtigkeit der Seele und
Bewegung des Koͤrpers: jeder Zuſtand der wan-
delbaren endlichen Natur. Hat nun die Kunſt nur
einen Augenblick, in den Alles eingeſchloſſen werden
ſoll: ſo wird jeder veraͤnderliche Zuſtand der Natur
durch ſie unnatuͤrlich verewigt, und ſo hoͤrt mit die-
ſem Grundſatze alle Nachahmung der Natur durch
Kunſt auf.


Nichts iſt gefaͤhrlicher, als eine Delikateſſe un-
ſres Geſchmacks in einen allgemeinen Grundſatz zu
bringen, und ſie in ein Geſetz zu ſchlagen: ſie giebt
alsdenn bei einer guten gewiß zehn mißliche Seiten.
Hr. L. wollte den hoͤchſten Grad des Affekts von der
Bildung einer Bildſaͤule ausſchließen; gut! Er gab
aber davon die Urſache, daß dieſe Leidenſchaft tran-
ſitoriſch
[111]Erſtes Waͤldchen.
ſitoriſch a) waͤre; nicht ſo gut! Er machte endlich
aus dieſer Urſache einen Grundſatz: die Kunſt druͤ-
cke nichts aus, was ſich nicht anders, als tranſitoriſch,
denken laͤßt: und dies verfuͤhrt am weiteſten. Mit
ihm wird die Kunſt tod und entſeelt gemacht, ſie
wird in jene faule Ruhe verſenket, die nur den Klo-
ſterheiligen der mittlern Zeit gefallen koͤnnte: ſie ver-
liert alle Seele ihres Ausdrucks.


Und welches waͤre denn die angebliche Urſache
einer ſo grauſamen kritiſchen Arznei? Weil eine
tranſitoriſche Erſcheinung, ſie moͤge angenehm, oder
ſchrecklich ſeyn, durch die Verlaͤngerung der Kunſt
ein ſo widernatuͤrliches Anſehen bekomme, daß mit
jeder wiederholten Erblickung
b) — Jch mag
nicht weiter! Wiederholte Erblickung! jede wieder-
holte Erblickung! wer wird auf dieſe rechnen? Wer
wird ſich in ſeiner Jugend ein Vergnuͤgen verſagen,
weil es endlich mit jedem wiederholtem Genuſſe
ſchwaͤcher werden muͤßte? wer mit ſich ſelbſt ha-
dern, mit ſeiner Empfindung zanken, ſtatt ſich un-
geſtoͤrt dem angenehmen Jetzt zu uͤberlaſſen, ohne
an die Zukunft zu denken? ohne aus dieſer ſich ſelbſt
Schatten hervor zu ruffen, die die Freuden von uns
ſcheuchen? Alle ſinnliche Freuden ſind bloß fuͤr den
erſten Anblick,
und fuͤr ihn allein ſind auch die
Erſcheinungen der ſchoͤnen Kunſt. „La Mettrie,
„der ſich als einen zweiten Demokrit malen laſſen,
„lacht
[112]Kritiſche Waͤlder.
„lacht dir nur die erſten male, da du ihn ſieheſt:
„du betrachteſt ihn oͤfter, und er wird aus einem
„Philoſophen ein Geck; aus ſeinem Lachen wird ein
„Grinſen.„ Es kann ſeyn! aber wenn dieſer la-
chende Demokrit auch nur fuͤr den erſten Anblick ge-
bildet ſeyn wollte? Wie nun? war bei dieſem erſten
Anblicke ſchon ſein Lachen nicht anders, als veraͤcht-
lich, und widerlich; ward ſo gleich dadurch der Phi-
loſoph ein reſpektiver Geck, und ſeine Demokritmi-
ne ein Grinſen: ſo iſts freilich ſchlimm fuͤr ihn und
den Kuͤnſtler. Das Lachen haͤtte unterbleiben ſol-
len; aber — nicht ſeiner permanenten Dauer, ſon-
dern ſeines veraͤchtlichen widerlichen Anblickes wil-
len. War dies aber nicht: duͤnkt dir nur nach oͤf-
term Beſuche der lachende Philoſoph ein Geck —
delikater Freund! ſo bilde dir ein, du habeſt ihn
noch nicht geſehen, oder — meide ihn. Aber uns
verwehre darum nicht ſeinen erſten Anblick: und
noch weniger forme ein Geſetz, daß hinkuͤnftig kein
Philoſoph lachend gemalt werden ſolle. Warum?
weil das Lachen was tranſitoriſches ſey. Jeder Zu-
ſtand in der Welt iſt ſo mehr oder minder tranſito-
riſch. Sulzera) hat ſich mit geſenktem Haupte, mit
einem vom Finger unterſtuͤtzten Kinne, und mit tie-
fer philoſophiſcher Mine ſtechen laſſen. Nach Hr.
Leſſings Grundſatze muͤßte man ihn im Bilde anre-
den: Philoſoph, wirſt du bald deine Aeſthetik aus-
gedacht
[113]Erſtes Waͤldchen.
gedacht haben? ſtirbt dir nicht dein geſenkter Kopf,
und dein erhabner Finger? Seufzender Laokoon,
wie lange wirſt du ſeufzen? So oft ich dich ſehe, iſt
dir noch die Bruſt beklemmt, der Unterleib einge-
zogen? ein tranſitoriſcher Augenblick, ein Seuf-
zer, iſt bei dir widernatuͤrlich verlaͤngert. Der
donnerwerfende Jupiter, und die ſchreitende Diana,
der den Atlas tragende Herkules, und jede Figur in
der mindſten Handlung und Bewegung, ja auch
nur in jedem Zuſtande des Koͤrpers iſt alsdenn wi-
dernatuͤrlich verlaͤngert: denn keine derſelben dauret
ja ewig. So wird alſo, wenn die vorſtehende Mei-
nung Grundſatz wuͤrde, das Weſen der Kunſt
zerſtoͤrt.


Es kann alſo auch nicht als Urſache gelten,
warum die Kunſt keine Hoͤhe des Affekts ausdruͤcken
muͤßte: es iſt nicht Delikateſſe, ſondern Ekel des
Geſchmacks.


Jedes Werk der bildenden Kunſt iſt, wenn wir
uns die Eintheilung Ariſtoteles gefallen laſſen, ein
Werk und keine Energie: es iſt in allen ſeinen
Theilen auf einmal da: ſein Weſen beſteht nicht
in der Veraͤnderung, in der Folge auf einander, ſon-
dern im Coexiſtiren neben einander. Hat alſo
der Kuͤnſtler es dem erſten aber ganzen und genaue-
ſten Anblicke, der eine vollſtaͤndige Jdee liefern muß,
vollkommen gemacht; ſo hat er ſeinen Zweck erreicht,
die Wirkung bleibet ewig: es iſt ein Werk. Es
Hſteht
[114]Kritiſche Waͤlder.
ſteht auf einmal da, und ſo werde es auch betrach-
tet: der erſte Anblick ſey permanent, erſchoͤpfend,
ewig, und blos die menſchliche Schwachheit, die
Schlaffheit unſrer Sinne, und das Unangenehme
des langen Anſtrengens macht, bei tief zu erforſchen-
den Werken, vielleicht das zweite, vielleicht hundertſte
Mal des Anblicks noͤthig; darum aber ſind alle
dieſe Male doch nur Ein Anblick. Was ich geſe-
hen habe, muß ich nicht wieder ſehen, und was mir
nicht durch das vollſtaͤndige Eine des Anblicks, ſon-
dern nur die Abwechſelung, durch die Wiederholung
deſſelben widerlich wird, liegt nicht in der Kunſt, ſon-
dern in dem Ueberdruß meines Geſchmacks. Kann die-
ſer nun einen Grundſatz der Kunſt bilden? kann er auch
nur eine tuͤchtige Urſache eines andern Satzes abgeben?


So raͤume ich alſo bei Hrn. L. dieſe Urſache, als
Urſache, als Geſetz weg, und denke damit gnug zu
haben, daß der hoͤchſte Affekt dem erſten Anblicke
widerlich, und der Einbildungskraft gleichſam zu
enge ſey, folglich in der Kunſt muͤſſe wenigſtens als
Hauptanblick vermieden werden. Wenn die Wir-
kung der Kunſt ein Werk iſt, zu Einem, aber
gleichſam ewigen Anſchauen gebildet: ſo muß dieſer
Eine Anblick auch ſo viel Schoͤnes fuͤr das Auge, und
ſo viel Fruchtbares fuͤr die Einbildungskraft enthal-
ten, als er enthalten kann. Daher kommt das
Unendliche und Unermaͤßliche in dieſer bildenden
Kunſt, das ſie vor allen andern Kuͤnſten des Schoͤ-
nen
[115]Erſtes Waͤldchen.
nen voraus hat: naͤmlich ein hoͤchſtes Jdeal der
Schoͤnheit fuͤr das Auge, und fuͤr die Phantaſie die
ſtille Ruhe des griechiſchen Ausdrucks: denn beide
ſind die Mittel, uns in den Armen einer ewigen
Entzuͤckung, und in dem Abgrunde eines langen ſe-
ligen Anblicks zu erhalten.


„Wie kommts, fragt ein Philoſoph des Schoͤ-
„nen a), daß es nur in der Malerei und Bildhau-
„erkunſt eine Jdealſchoͤnheit, ein aliquid immen-
„ſum infinitumque
giebt, daß ſich die Kuͤnſtler in
„der Einbildung zum Muſter vorſtellen, und in
„der Dichtkunſt nicht?„ Jch glaube nicht, daß er
ſich dieſe Frage von Seiten der Kunſt durch die Be-
merkung aufgeloͤſet, „daß in den ſchoͤnen Kuͤnſten
„das Jdealſchoͤne am ſchwerſten zu erreichen ſey„
denn die Frage bleibt dieſelbe: „warum muß denn
„ein ſo ſchweres Ziel erreichet ſeyn?„ Aus keiner
Urſache glaube ich, als weil die Kunſt nur Werke
liefert, die Einen Augenblick vorſtellen, und zu einem
großen Anblicke gebildet ſind: die alſo ihren Au-
genblick ſo annehmlich, ſo ſchoͤn machen muͤſſen,
daß nichts druͤber, daß die Seele in Betrach-
tung deſſelben verſunken, gleichſam ruhe, und das
Maas der voruͤbergehenden Zeit verliere. Die
ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften dagegen, die
durch die Zeit und Abwechſelung der Augenblicke
wirken, die Energie zum Weſen haben, muͤſſen kei-
H 2nen
[116]Kritiſche Waͤlder.
nen einzelnen Augenblick ein Hoͤchſtes liefern, nie
auch unſere Seele in dieß augenblickliche Hoͤchſte
verſchlingen wollen; denn ſonſt wird eben die An-
nehmlichkeit geſtoͤrt, die in der Folge, in der Ver-
bindung und Abwechſelung dieſer Augenblicke und
Handlungen beruhet, und jeden Augenblick nur alſo
als ein Glied der Kette, nicht weiter nutzet. Wird
einer dieſer Augenblicke, Zuſtaͤnde und Handlungen,
eine Jnſel, ein abgetrenntes Hoͤchſtes, ſo geht das
Weſen der energiſchen Kunſt verlohren. Jſt aber
wiederum der eine ewige Augenblick der bildenden
Kunſt nicht ſo, daß er auch einen ewigen Anblick
gewaͤhren koͤnnte, ſo iſt ihr Weſen auch nicht erreicht.
Bei Koͤrpern iſt dieſer einige ewige Anblick die voll-
kommene Schoͤnheit; und ſofern die Seele durch
den Koͤrper wirken ſoll, iſts die hohe griechiſche Ru-
he. Dieſe iſt zwiſchen der todten Unthaͤtigkeit,
und zwiſchen der aufgebrachten uͤbertriebnen Wir-
kung mitten inne; die Einbildungskraft kann auf
beide Seiten weiter hinſchweben, und hat alſo in
dieſem Anblicke der Seele die laͤngſte Unterhaltung.
Todte Unthaͤtigkeit ſchneidet den Faden der Gedan-
ken mit einem Schnitte ab; die Figur iſt todt, wer
will ſie erwecken? Das Uebertriebne im Ausdrucke
kuͤrzet wieder auf der andern Seite den Flug der
Phantaſie; denn wer kann ſich uͤber das Hoͤchſte
noch etwas Hoͤheres gedenken? Aber die ſelige Ruhe
des griechiſchen Ausdrucks wieget unſre Seele nach
bei-
[117]Erſtes Waͤldchen.
beiden Seiten hin: und in ihrem Anblicke ſtellen wir
uns zugleich das ſtille Meer vor, aus dem ſich dieſe
ſanfte Welle der Bewegung und Leidenſchaft erho-
ben; zugleich auch: Wie wenn die Welle ſich mehr
huͤbe? wie wenn aus dieſem hauchenden Zephyr ein
reißender Sturm der Leidenſchaft wuͤrde? wie wuͤr-
den ſich alsdann die Fluthen thuͤrmen, und der Aus-
druck aufſchwellen! — Welch weites Feld der Ge-
danken liegt alſo in dem Anblicke der ſanften Ruhe
des griechiſchen Ausdrucks!


Jch glaube, von zweien Problemen, den
Grund in dem Weſen der Kunſt geſunden zu ha-
ben. Warum iſt bei der bildenden Kunſt das
hoͤchſte Geſetz Schoͤnheit? Weil ſie neben einan-
der
wirket, ihre Wirkung alſo in einen Augen-
blick
einſchließet, und ihr Werk fuͤr einen ewigen
Anblick
erſchaffet. Dieſer einzige Anblick liefere
alſo das Hoͤchſte, was ewig veſt haͤlt in ſeinen Ar-
men — die Schoͤnheit. — Koͤrperliche Schoͤn-
heit iſt indeſſen noch nicht befriedigend: durch unſer
Auge blickt eine Seele, und durch die uns vorgeſtell-
te Schoͤnheit blicke alſo auch eine Seele durch. Jn
welchem Zuſtande dieſe? Ohne Zweifel in dem, der
meinen Anblick ewig erhalten, der mir das laͤngſte
Anſchauen verſchaffen kann. Und welches iſt der?
Kein Zuſtand der faulen Ruhe, der giebt mir nichts
zu denken: kein Uebertriebnes im Ausdrucke: dieß
ſchneidet meiner Einbildungskraft die Fluͤgel: ſon-
H 3dern
[118]Kritiſche Waͤlder.
dern die ſich gleichſam ankuͤndigende Bewegung, die
aufgehende Morgenroͤthe: die uns zu beiden Sei-
ten hinſchauen laͤßt, und alſo einzig und allein ewi-
gen Anblick gewaͤhret.


Auf die Art generaliſiren ſich die Begriffe
des Unterſchiedes von ſelbſt, und wir reden nicht
mehr, von Bildhauerei und Poeſie, ſondern von
Kuͤnſten uͤberhaupt, die Werke liefern, oder durch
eine unterbrochne Energie wirken. Was von der
Poeſie gilt, wird, in dieſem Betrachte, auch von
Muſik und Tanze gelten; denn auch dieſe wirken
nicht fuͤr einen Anblick, ſondern fuͤr eine Folge von
Augenblicken, deren Verbindung eben die Wirkung
der Kunſt macht: ſie haben alſo durchaus andre
Geſetze. Es heißt alſo auch nicht, den roͤmiſchen
Dichter Laokoons erklaͤrt; wenn ich anfuͤhre a), daß
ſein clamores horrendos ad ſidera tollit kein ſchie-
fes ſchreiendes Maul, und keinen haͤßlichen Anblick
vorweiſe: denn freilich arbeitete er nicht fuͤrs Auge, und
noch minder ward dieſer Zug ſeines Gemaͤldes ewi-
ger Anblick,
im maleriſchen Verſtande. Aber
wie? wenn ſeine ganze Schilderung, die ich als ein
Gemaͤlde fuͤr meine Seele betrachte, mir keinen
andern innern Zuſtand des Laokoon zeigte, als der in
dieſem Schreie liegt: bleibt alsdenn nicht auch im
Gemaͤlde des Dichters dieſer Zug Hauptfigur?
Wenn ich mich an den virgilianiſchen Laokoon erin-
nere,
[119]Erſtes Waͤldchen.
nere, erinnere ich mich nicht jedesmal an einen
Schreienden? denn auf andre Art hat er bei ſeinem
Schmerze ſeine Seele nicht gezeigt. Nun aͤndert
ſich der Geſichtspunkt. Es muß aus dem We-
ſen der Poeſie, aus dem energiſchen Zwecke des Dich-
ters erklaͤrt werden, ob dieſer Zug von Laokoon, die-
ſe einzige Aeußerung ſeiner Empfindung, in mei-
ner Einbildungskraft Hauptfigur, bleibender Ein-
druck werden ſollte? Nicht gnug, daß clamores
horrendos ad ſidera tollit
ein erhabner Zug fuͤr
das Gehoͤr ſey; (wenn ich einen Zug fuͤr das Gehoͤr
verſtehe) es muß auch dem Dichter daran gelegen
ſeyn, ihn zum Hauptzuge Laokoons in meiner Phan-
taſie zu machen. Jſt dies nicht, ſo hat der Dich-
ter, wenn ich gleich kein ſchoͤnes Bild verlange,
doch auf mich ſeinen ganzen Eindruck verfehlt —


Es iſt nicht mein Zweck, dies bei Virgil zu unter-
ſuchen. Jch habe Winkelmann gerechtfertigt, der (viel-
leicht nur gar hiſtoriſch) ſagen kann: „der Laokoon des
„Kuͤnſtlers ſchreiet nicht, wie der Laokoon des Vir-
„gils.„ Jch habe die Urſache, die Hr. L. giebt vom Un-
terſchiede beider Kuͤnſte, gepruͤft, und auf das Eine
des Anblicks
zuruͤckgefuͤhrt, in dem ſich die bildende,
und keine andre Kunſt zeige. Jch wollte, daß Hr. L. in
ſeinem ganzen Werke dieſen Unterſchied des Ariſtoteles
zwiſchen Werk und Energie zum Grunde gelegt haͤt-
te: denn alle ſeine Theilunterſchiede, die er angiebt, lau-
fen doch endlich auf dieſen Hauptunterſchied hinaus.


H 4Wie
[120]Kritiſche Waͤlder.

10.


Wie kann der Dichter dem Kuͤnſtler, und der
Kuͤnſtler dem Dichter nachahmen? Jch glaube,
daß der Unterſchied, dem Hr. L. bei den Gattungen
ihrer Nachahmung macht a), ſchon in unſrer Spra-
che liege, und alſo auch in der Auseinanderſetzung
alles gleich durch ein Wort deutlich mache. Einen
nachahmen,
heißt, wie ich glaube, den Gegenſtand,
das Werk des andern nachmachen; einem nachah-
men aber, die Art und Weiſe von dem andern ent-
lehnen, dieſen oder einen aͤhnlichen Gegenſtand zu
behandeln.


Um in dieſen Unterſchied einzudringen, ſucht
H. L. b) einen Gegner auf, mit dem er ſtreite, und
dieß iſt Spence. Spence war freilich ein rathen-
der Kopf voll Alluſionen und Aehnlichkeiten: ein
Wort, ein Zug des Bildes war ihm gnug, Anſpie-
lung und Nachahmung zu finden, und ich geſtehe
gern, daß ſich ſein Werk ſelten uͤber ein Verzeichniß
von Parallelſtellen der Dichter, (zwar leider! nur
der roͤmiſchen Dichter) und der Kuͤnſtler (und doch
meiſtens griechiſcher Kuͤnſtler) erhebe. Jndeſſen
ſpielt ihm Hr. L. einen boͤſen Streich, daß er im
Texte nuͤtzliche Erlaͤuterungen anfuͤhrt, die alten
Schriftſtellen aus der Vergleichung mit Kunſtwer-
ken zuwuͤchſen, und in ſeinen Noten dieſe nuͤtzlichen
Erlaͤu-
[121]Erſtes Waͤldchen.
Erlaͤuterungen faſt ſaͤmmtlich widerlegt. Sind alſo
nuͤtzliche Erlaͤuterungen bei Spence von dieſer Art,
oder ſind dies gar die einzigen: ſo danke ich fuͤr
Spence.


Und ich weiß nicht, ob H. L. in Allem, was er
gegen dieſe Erlaͤuterungen ſagt, ſo ungetheilt Recht
habe. Juvenal redet von einem Soldatenhelme, wo
unter andern Sinnbildern er auch


— nudam effigiem clypeo fulgentis \& haſta

Pendentisque Dei perituro oſtenderet hoſti.

und Addiſon glaubte die Stellung des Dei penden-
tis
nicht beſſer, als durch Werke, erklaͤren zu koͤnnen,
wo Mars zu der Rhea herunter ſchwebet, und al-
ſo uͤber ihr gleichſam hanget. Noch bin ich fuͤr
die addiſonſche und ſpenciſche Erlaͤuterung nicht ein-
genommen: was hat aber Hr. L. dagegen a)? daß es
ein Hyſteron proteron von Juvenal ſeyn wuͤrde, von
der Woͤlfinn und den jungen Knaben zu reden, und
dann erſt von dem Abentheuer, dem ſie ihr Daſeyn
zu danken haben. „Bei einem Dichter, bei einem
ſatyriſchen Dichter zumal, wie viel hat da wohl ein
Hyſteron proteron auf ſich? Doch ſo mag ich nicht
reden: das hieße nicht den Dichter erklaͤren, ſon-
dern unſre ihm angepaßte Erklaͤrung retten. Erſt
zeige man mir, wo das Hyſteron proteron ſtecke!
„Jn den erſten rauhen Zeiten der Republik zerbrach
„der Soldat die koſtbarſten Becher, die Meiſter-
H 5„ſtuͤ-
[122]Kritiſche Waͤlder
„ſtuͤcke griechiſcher Kuͤnſtler, um eine Woͤlfin, ei-
„nen kleinen Romulus und Remus, einen hangen-
„den Mars auf ſeinen Helm zu ſetzen.„ Dieß iſt
Juvenals Gedanke, und wo das Hyſteron proteron
in ihm? Der roͤmiſche Soldat iſt ein ſammlender
Name, ein nomen collectivum: und ſein Helm
ſteht fuͤr alle roͤmiſche Helme; auf einen konnte dieß,
auf einen das geſetzt werden; und ſo gut die Woͤl-
finn, und die beiden Kleinen am Felſen, als der han-
gende Mars, waͤre an ſich ein Emblem des roͤmi-
ſchen Urſprunges, und des rauhen Soldaten, dem
das aus ſolchem Urſprunge entſtandene Rom alles
war. Alsdann haͤtte Juvenal ein Paar Beiſpiele
angefuͤhrt, die aus einer Geſchichte hergenommen,
zu dem Emblem einer Sache neben einander ſte-
hen, ja aber unter ſich kein Ganzes ausmachen ſollen.
Wie ſo aber zu dem Emblem einer Sache? „Man
„ſage, fragt Hr. L. a), ob eine Schaͤferſtunde wohl
„ein ſchickliches Emblema auf dem Helme eines roͤ-
„miſchen Soldaten geweſen?„ Warum nicht? Es
war nicht mehr das Bild einer Schaͤferſtunde al-
lein, ſondern das Bild des goͤttlichen Urſprunges der
Roͤmer, des Urſprunges, auf welchen der Soldat
ſtolz war als ein Roͤmer. Es war nicht die Ueber-
raſchung der Rhea, ſondern die Stunde, die dem
Stifter Roms das Leben gab: alſo ſo unpaſſend nicht
auf den Helm eines Roͤmers, der ſeinen Mars
auch
[123]Erſtes Waͤldchen.
auch in dieſer pendenten Stellung nicht verabſcheu-
te, und auch in ihr ſo ungerne nicht ſein Abkoͤmm-
ling ſeyn mochte, den ſie eben zum Roͤmer mach-
te. — —


Jch habe geſagt, die Bilder Juvenals haben
einzeln auf den Helmen der Soldaten ſeyn koͤnnen:
warum aber muͤßte es ein Hyſteron proteron ſeyn,
wenn ſie auch neben einander auf einem Helme ge-
weſen waͤren? nur in verſchiedne Gruppen getheilt,
wovon der Dichter ein Paar anfuͤhrt. Haben mehr
Denkbilder des roͤmiſchen Urſprungs darauf Raum
gefunden: ſo ſchnitze ſie der Kuͤnſtler, mir und dem
Sinne Juvenals nicht zuwider.


Aber ſchwebt auch Mars, faͤhrt Hr. L. fort a),
wirklich? und es iſt viel, wie weit ſein gruͤbelndes
Zweifeln geht. Mag auch Spence recht geſehen,
recht haben ſtechen laſſen, und — — die Muͤnze
auch gehabt haben? „Es iſt hart, muß ich Hrn. L.
nachſagen, es iſt hart, in einer ſolchen Kleinigkeit,
die Aufrichtigkeit eines Mannes in Zweifel zu zie-
hen: zumal es mehr bekannte Muͤnzen von dieſer
Art giebt.


Der Zweifel tritt weiter, und wird zur allge-
meinen Verneinung b). „Ein ſchwebender Koͤr-
„per ohne eine ſcheinbare Urſache, durch welche die
„Wirkung ſeiner Schwere verhindert wird, iſt ei-
„ne Ungereimtheit, von der man in den alten
„Kunſt-
[124]Kritiſche Waͤlder.
„Kunſtwerken kein Exempel findet.„ Nun! ſo weit
haͤtte man es doch nicht fuͤhren doͤrfen! Mars in dem
gegenwaͤrtigen Falle iſt ja nichts minder, als ein
ſchwebender Koͤrper, ein ohne ſcheinbare Urſache
ſchwebender Koͤrper, der ungereimt waͤre, der das
Auge beleidigte, der die Regeln der Bewegung, der
Schwere, des koͤrperlichen Gleichgewichts aufhuͤbe
— wo iſt dieß alles unſer Mars? Es iſt ein ſich
herabſenkender Koͤrper, der eben nach den Regeln
der Bewegung und Schwere und des Gleichgewichts
die Erde ſucht, oder mit Shakeſpears ſchoͤnem Aus-
drucke vom Merkur, der mit ſeinem Fuße den Huͤgel
kuͤſſet. Auf einem Kunſtwerke von ſo wenigem
Umfange denkt ja niemand, daß dieſer herabſchwe-
bende Mars vom Himmel gekommen, daß er ſich
durch die Luft geſtuͤrzt, daß er in ihr ohne Fluͤgel
und Leitband gehangen: wie es alſo ſey, daß er noch
ſo gluͤcklich herabkomme — hieran denkt niemand,
denn er ſieht Mars nur ſo fern, als er die Erde be-
tritt. Es iſt das Niederſenken, wie von einem
ſanften Sprunge, und dazu braucht man kein Gott
zu ſeyn, oder ſich einen Gott von ganz andern Re-
geln der Bewegung, der Schwere, des Gleichge-
wichts denken zu muͤſſen: die ſanfte Stellung kann je-
der dem Mars nachthun, und der Kuͤnſtler ſie ohne
Ungereimtheit waͤhlen. — Der ganze Allgemein-
ſatz iſt alſo hier kaum an ſeiner Stelle, und in der
Weite, die ihm Hr. L. giebt, leidet er Einſchraͤn-
kung.
[125]Erſtes Waͤldchen.
kung. Es muß ein Koͤrper ſehr augenſcheinlich
nicht ſchweben, ſondern hangen, und zwar in der all-
weiten Luft hangen, wenn ſein Anblick die Wahr-
ſcheinlichkeit der Augen beleidigen ſoll: und wie ſel-
ten iſt dieß auf einer Muͤnze, auf einem geſchnitte-
nen Steine, und auch wohl noch ſelten in Gemaͤlden,
und der Wahrſcheinlichkeit der Augen wird da im-
mer ohne Lehrſaͤtze der Bewegung abgeholfen. Was
ſollen doch, wenn man ſo genau rechnen wollte, die
kleinen Fluͤgelchen an den Fuͤßen Merkurs, bei dem
gewaltigem Schwunge, in welchem er ſich z. E. in
einem farneſiſchen Gemaͤlde von Caracci zeigt? ma-
chen ſie denn den Abſchwung wahrſcheinlicher, als
ein Mars, der auf die Erde hinſchwebet? Was ſol-
len alsdann die homeriſchen Goͤtterpferde, die zwi-
ſchen der Erde und dem ſternbeſaͤeten Himmel mit
einem Sprunge ſo viel beſchreiten, als der Hirt ab-
ſieht, der vom Gipfel des hoͤchſten Gebirges in den
ſchwarzen Ocean ausſchauet — was ſollen dieſe,
wenn man ihnen auch ein Paar Fluͤgelchen gaͤbe, die
ihnen uͤberdem Homer nicht giebt, wenn man nach
der Mechanik beſtimmen wollte? Nun aber laſſet
Apollo, Diana, Luna, Juno, Minerva, und wer
von den Himmliſchen mehr Geſellſchaft machen wol-
le, in ihrem Luftwagen ſich fortſchwingen: zeiget ſie
uns der Kuͤnſtler nur in einer Stellung nahe an,
oder uͤber der Erde im Abſenken: ſo vergeſſen wir
gern das Ungeheuere der Luft, die wir uͤberdem hier
nicht
[126]Kritiſche Waͤlder.
nicht in ihrem Umfange ſehen koͤnnen. Wir brau-
chen keinen Leitband, der die ſich abſenkende Figur
an ein Geſtirn hefte, wir brauchen kein Fahrzeug der
Kaklogallinier, welches bei Swifts Reiſe in den
Mond auf der erſten Wolke uͤbernachtete — —


Noch minder thut mir die verbeſſerte Lesart Leſ-
ſings zu dieſer Stelle Gnuͤge: — — ſie iſt ge-
ſuchter und metaphyſiſcher a), als alle vorige Les-
arten; und kurz! ſollte in Spence nicht mehr Vor-
rath zu Erlaͤuterung der Alten ſeyn, inſonderheit
wenn ein beſſerer Kopf die ſpenciſchen Compilationen
von Parallelſtellen nutzte? Aber freilich bleibe ihm
die Grille, daß die Dichter bei jeder kleinen Aehn-
lichkeit ein Kunſtwerk kopiret haben muͤſſen. Hr. L.
widerlegt ſie in einigen Beiſpielen b), und bei man-
chen haͤtte auch aus dem innern Baue der dichte-
riſchen Schilderungen erwieſen werden koͤnnen, daß
ſie aus der Phantaſie des Dichters, und nicht von
der Arbeit des Kuͤnſtlers, gefloſſen, weil ſie ſich ſonſt
dem Dichter anders haͤtten vorſtellen muͤſſen.


11.


Es koͤnnen kritiſche Betrachtungen nicht leicht
nutzbarer ſeyn, als wenn L. gegen Spence uͤber den
Unterſchied diſputirt c), in welchem dem Kuͤnſtler
und Dichter Goͤtter, geiſtige und moraliſche Weſen
erſcheinen: hingegen wird in und außerhalb der
Mau-
[127]Erſtes Waͤldchen.
Mauern von Troja, ich meine in Poeſie und Dicht-
kunſt, geſuͤndigt.


Goͤtter und geiſtige Weſen. „Dem Kuͤnſtler
„ſind ſie nichts als perſoniſirte Abſtrakta, die beſtaͤn-
„dig die aͤhnliche Charakteriſirung behalten muͤſſen,
„wenn ſie erkenntlich ſeyn ſollen: dem Dichter ſind
„ſie handelnde Weſen. a)„ Jch weiß nicht, ob die-
ſer Unterſchied ſo veſt, und beiden Kuͤnſten ſo we-
ſentlich waͤre, als er hier angegeben wird — und
mich duͤnkt, daß ein Jch weiß nicht von dieſer Art,
das nichts minder, als den Gebrauch der ganzen My-
thologie in allen ſchoͤnen Kuͤnſten und Wiſſenſchaften,
betrifft, wohl eine kleine Aufmerkſamkeit verdiene.


Alſo ſind die Goͤtter und geiſtigen Weſen dem
Kuͤnſtler nichts als perſoniſirte Abſtrakte? Freilich
ſo lange eine einzelne Figur nichts als ein kenntli-
ches Bild eines himmliſchen Weſens ſeyn ſoll, ſo
ſind die daſſelbe charakteriſirenden Kennzeichen das
Augenmerk. Nun aber trete dieſe Figur z. E. bei
einem Gemaͤlde in Handlung, geſetzt die Handlung
floͤſſe auch nicht aus ihrem Charakter: ſo bald tritt
die hiſtoriſche Mythologie in die Stelle der emble-
matiſchen: und die Geſtalt iſt nicht mehr durch das,
was ſie iſt, ſondern was ſie thut, kenntlich. Hr.
L. giebt dies zu b); nur meint er, die Handlungen
muͤſſen nicht ihrem Charakter widerſprechen; und
aus dem Beiſpiele, das er giebt, ſehe ich, daß er in
Unter-
[128]Kritiſche Waͤlder.
Unterſuchung dieſes Widerſpruchs ſehr fein iſt. Eine
Venus, meint er, die ihrem Sohne die Waffen giebt,
koͤnne freilich gebildet werden: denn hier bliebe ſie
noch eine Goͤttinn der Liebe: ihr koͤnne noch alle An-
muth und Schoͤnheit gegeben werden, die ihr als
Goͤttinn der Liebe zukomme: ſie werde vielmehr als
ſolche, durch dieſe Handlung noch kennbarer; aber
eine zuͤrnende, eine verachtende Venus ganz und gar
nicht. — Jch bin in der Ausdehnung dieſes Un-
terſchiedes nicht Hr. Leſſings Meinung.


Goͤtter und geiſtige Weſen ſind dem Kuͤnſtler
freilich perſoniſirte Abſtrakta, und Charakterfiguren,
ſo lange er ſie allein, blos in einem ihnen gemaͤßen
Anſtande, oder hoͤchſtens in einer intranſitiven Hand-
lung bilden ſoll; aber alsdann ſind ſie es nur aus
Noth, aus Muß, um kenntlich zu ſeyn. Venus,
Juno, Minerva haben dieſe und keine andre Bil-
dung der Schoͤnheit, nicht als wenn dieſe immer
ein innerer Charakterzug ihres abſtrakten Weſens
waͤre; gnug, daß ſie ein von Dichtern einmal be-
liebtes und veſtgeſetztes aͤußeres Kennzeichen die-
ſer Gottheit iſt. Jch verſtehe mich nicht gnug auf
den abſtrakten Begriff der Liebe, als daß ich wiſſen
koͤnnte, ob jede Kleinigkeit bei der Bildung der
Venus, und keiner andern goͤttlichen Schoͤnheit, da
ſey, weil ſie nothwendig das Abſtraktum der Liebe
charakteriſire? ob z. E. das υγρον ihrer Augen, und
das Laͤcheln ihrer Wangen, und das Gruͤbchen ihres
Kinnes
[129]Erſtes Waͤldchen.
Kinnes zu dieſem Begriffe ſo unentbehrlich ſey, als
auf der andern Seite die majeſtaͤtiſche Bruſt der
Juno, und die ſchlanke Taille der Diana, und die
unſchuldige Mine der Hebe, zu dieſem Begriffe
eben hinderlich ſeyn muͤßte. Jch habe nie die My-
thologie, als ein ſolch Regiſter allgemeiner Begriffe
ſtudirt, und bin allemal in die Enge gerathen, wenn
ich geſehen, wie andre ſie am liebſten auf ſolche Art
angeſehen.


So viel iſt einmal gewiß, daß Dichter, und
kein anderer, die Mythologie erfunden und beſtimmt,
und da wette ich, fuͤrwahr nicht als eine Gallerie
abſtrakter Jdeen, die ſie etwa in Figuren zeigten.
Wo bleibe ich mit den allerdichteriſchten Geſchichten
Homers, wenn ich mir ſeine Goͤtter, nach Damms
Lehrart, nur als handelnde Abſtrakte betrachten
wollte? Es ſind himmliſche Jndividua, die freilich
durch ihre Handlungen ſich einen Charakter veſtſe-
tzen, aber nicht da ſind, dieſe und jene Jdee in Fi-
gur zu zeigen: ein ausnehmender Unterſchied. Ve-
nus kann immer die Goͤttinn der Liebe ſeyn; nicht
aber alles, was ſie bei Homer thut, geſchieht deß-
wegen, um die Jdee der Liebe in Figur zu repraͤſen-
tiren: Vulkan mag ſeyn, was er will, wenn er den
Goͤttern ihren Nektarbecher umreicht; iſt er nichts
als — ihr Mundſchenke.


Jch ſchließe alſo: daß Goͤtter und geiſtige We-
ſen „bei dem Dichter nicht blos handelnde Weſen
J„ſind,
[130]Kritiſche Waͤlder.
„ſind, die uͤber ihren allgemeinen Charakter noch
„andre Eigenſchaften und Affekten haben,
wel-
„che nach Gelegenheit der Umſtaͤnde vor jenen
„vorſtechen koͤnnen, wie Hr. L. ſagt a); ſondern daß
dieſe andre Eigenſchaften und Affekten, kurz!
eine gewiſſe eigne Jndividualitaͤt ihr wahres Weſen,
und der allgemeine Charakter, der etwa aus die-
ſer Jndividualitaͤt abgezogen, uur ein ſpaͤterer, un-
vollkommener Begriff ſey, der immer untergeord-
net
bleiben mußte, ja bei Dichtern oft in gar kei-
nen Betracht komme.


Nun ſchließe ich weiter. Wenn alſo in der My-
thologie und Geiſterlehre der aͤlteſten Dichter der
individuelle, oder hiſtoriſch handelnde Theil vor dem
charakteriſtiſch handelnden das Uebergewicht behaͤlt:
und eben dieſe Dichter doch die urſpruͤnglichen Stif-
ter und Vaͤter dieſer Mythologie und Ge[iſt]erlehre
geweſen; ſo ſei die bildende Kunſt, ſo fern ſie my-
thologiſch iſt, blos ihre Dienerinn. Sie entlehnt
ihre Geſchoͤpfe und Vorſtellungen, ſo fern ſie ſie
brauchen und ausdruͤcken kann.


Bei jeder einzelnen Figur alſo, und mithin
meiſtens bei den Werken der Bildhauer, die einzelne
Geſtalten bilden, fodert es der Mangel, die Graͤn-
zen,
nicht aber das Weſen der Kunſt, die Per-
ſonen mehr charakteriſtiſch, als individuell, auszu-
druͤcken: denn ſonſt verirren ſie ſich in die Menge
hiſto-
[131]Erſtes Waͤldchen.
hiſtoriſcher Perſonen, und laufen Gefahr, unkaͤnnt-
lich zu werden.


So bald es aber dem Kuͤnſtler die Grenzen
ſeiner Kunſt verſtatten, dem Dichter zu folgen; ſo
gleich nimmt der Dichter, dem eigentlich die My-
thologie gehoͤrt, ſein Recht wieder, und die Anord-
nung des Kunſtwerks wird, dem Urſprunge mytho-
logiſcher Jdeen gemaͤß, dichteriſch. Blos um das
Unkaͤnntliche zu vermeiden, ſchraͤnkte er ſich auf die
abſtrakte Jdee ein; Noth und Duͤrftigkeit war ſein
Geſetz: iſt aber dies Geſetz — dieſe Furcht gehoben;
kann er auf andere Art hoffen, kaͤnntlich zu werden,
als durch die einfoͤrmige Charaktervorſtellung; ver-
beut das Weſen ſeiner Kunſt dieſe andre Art der
Kaͤnntlichkeit nicht; erreicht er durch dieſelbe gar ei-
nen Zweck, den er durch die abſtrakte Jdee nicht er-
langen konnte: ſo hat er mit dem Dichter einerlei
Rechte. Die ganze Mythologie iſt eigentlich ein
Land dichteriſcher Jdeen, und auch wenn ſie der
Kuͤnſtler bildet, wird er Dichter.


Und bei dieſem ganzen Privilegium des Kuͤnſtlers,
worauf kommt ſein unumſchraͤnkter Gebrauch an?
auf das Wort: Handlung. Kann der Kuͤnſtler
z. E. Maler, ſeinem Werke Handlung geben; kann
er mehrere Perſonen gruppiren, die gemeinſchaftlich
eine poetiſche oder hiſtoriſche Situation vorſtellen,
kaͤnntlich und ſchoͤn vorſtellen koͤnnen; o ſo vergeſſe
er ſicher die innere und aͤußere Charakteriſtik ſeiner
J 2Goͤt-
[132]Kritiſche Waͤlder.
Goͤtter, die ihm ſonſt einzeln nothwendig waren.
Jmmerhin laſſe er auch ſeine Handlung dem ab-
ſtrakten Charakter ſichtlich widerſprechen: immer-
hin male er uns auch eine auf ihren Kupido zuͤrnen-
de Venus; denn wenn ſie auch in dieſem Augen-
blick nicht die Liebe ſelbſt bliebe, ſo bleibt ſie doch,
was ſie urſpruͤnglich iſt, die Goͤttinn der Liebe, die
Mutter des Kupido. Kann er Venus und den
getoͤdteten Adonis in maleriſche Handlung bringen:
ſo ruffen wir der Venus mit dem Dichter zu: „was
„ſchlaͤfſt du, Cytherea, auf purpurnen Decken!
„Stehe auf, Ungluͤckſelige, zeuch Trauerkleider
„an, und ſchlage an deine Bruſt, und klage der
„ganzen Welt: er iſt nicht mehr, der ſchoͤne Ado-
„nis! und immerhin wollen wir auch Adonis ſe-
„hen, wie ihn der Dichter ſieht: Er liegt, der
„ſchoͤne Adonis liegt ausgeſtreckt auf dem Gebirge.
„Ein moͤrderiſcher Zahn hat ſeine zarte Huͤfte ver-
„letzt. Noch einen letzten Seufzer athmet er:
„ſchwarzes Blut rinnt uͤber den Leib, der blenden-
„der iſt, als Schnee. Das Licht ſeiner Augen
„verliſcht: die Lippen erblaſſen: Adonis ſtirbt.„
Stirbt Adonis etwa, als die Jdee ehelicher Liebe
und Gluͤckſeligkeit und Schoͤnheit? trauret Venus,
um die Jdee der Liebe in Maſke zu zeigen? Wird
die letztere jedem geſunden mythologiſchen Auge deß-
wegen
hier kenntlich werden, weil ſie das Abſtrak-
tum der Liebe macht? Nein, das Suͤjet des Gemaͤl-
des
[133]Erſtes Waͤldchen.
des iſt dichteriſch, iſt hiſtoriſch: ſo auch die Figuren
des Kuͤnſtlers? Jedesmal, daß er ſie dazu machen
kann: wohl! ſo vergeſſe ich die abſtrakte Jdee, die
er in einer einzigen Figur nur aus Noth vorſtellen
mußte. Kupido, der die Pſyche plaget, und Ju-
piter, der den Ganymed entfuͤhret, Diane, die den
Endymion beſucht, und Venus, die ihre geritzte
Haut beweinet — ich verſpreche dem Kuͤnſtler, in
dieſem Augenblicke keine perſonifirten Abſtrakta zu
ſuchen, im Jupiter keinen Praͤſidenten der Goͤtter,
in Dianens Geſichte keine jungfraͤuliche Keuſchheit:
in Venus kein ſchmachtendes Liebaͤugeln, und in
Kupido, keinen ſpielenden Verfuͤhrer. Alle dieſe
Weſen gehoͤren dem Dichter, und der Kuͤnſtler laͤßt
ſie ihm, wo er ſie ihm laſſen kann. —


Jch weiß nicht, wie enge dem Kuͤnſtler der my-
thiſche Cyklus werden muͤßte, wenn Hr. Leſſing ihm
alle hiſtoriſche und dichteriſche Situationen unter-
ſagte, ihm nur zuließe, in ihm perſonifirte Abſtrakta
zu ſuchen, und jeden kleinen Widerſpruch, der in
der Handlung gegen die abſtrakte Jdee des Charak-
ters (ein Jdol der neuern Mythologiſten!) vorkaͤme,
verboͤte. Lebe alsdenn wohl, handlungsvolle Kunſt!
du biſt in der Mythologie eine Gallerie einfoͤrmiger
Jdeen, abſtrakter Charakter!


„Wenn der Dichter Abſtrakta perſonifiret:
„ſo ſind ſie durch den Namen, und durch das, was
„er ſie thun laͤßt, gnugſam charakteriſirt. Dem
J 3„Kuͤnſt-
[134]Kritiſche Waͤlder.
„Kuͤnſtler fehien dieſe Mittel. Er muß alſo ſei-
„nen perſonifirten Abſtraktis Sinnbilder zugeben,
„durch welche ſie kenntlich werden. Dieſe Sinn-
„bilder hat bei dem Kuͤnſtler die Noth erfunden;
„wozu aber den Kuͤnſtler die Noth treibet, warum
„ſoll ſich das der Dichter aufdringen laſſen, der von
„dieſer Noth nichts weiß? Es ſey ihm alſo Regel,
„die Beduͤrfniſſe der Malerei nicht zu ſeinem Reich-
„thume zu machen, und ſeine Weſen mit Sinnbil-
„dern der Kunſt auszuſtaffieren. Er laſſe ſein
„Weſen handeln, und bediene ſich auch poetiſcher
„Attribute„ — u. ſ. w. Wie gerne, wie uner-
muͤdet hoͤrt man Hr. L. ſprechen a), wenn er — doch
ich will nicht loben. Sollte alles dies nicht auch
auf den vorbetrachteten Fall der Kunſtcompoſition
gelten? Der Maler findet im Lande des Dichters
perſoniſirte Abſtrakte, die auch in ſeinem Gemaͤlde,
durch das, was er ſie thun laͤßt, gnugſam charakte-
riſirt ſind. Dem Kuͤnſtler einer Figur fehlt dies
Mittel: er muß alſo ſeinen perſonifirten Abſtraktis
Sinnbilder geben, durch welche ſie kenntlich werden;
aber dieſe Sinnbilder erfand bei ihm die Noth?
Wozu alſo den Kuͤnſtler ohne Handlung die Noth
trieb, warum ſollte ſich das der Kuͤnſtler mit Hand-
lung
aufdringen laſſen, wenn er von dieſer Noth
nicht weiß? Es ſei ihm alſo Regel, auch das, was
ſeiner Kunſt Beduͤrfniß iſt im andern Fall, nicht
zu ſeinem Reichthume zu machen, ſeine Weſen nicht
mit
[135]Erſtes Waͤldchen.
mit Sinnbildern zu uͤberhaͤufen, ſie, wo ſie als hoͤ-
here Jndividua in Handlung erſcheinen, nicht zu
Puppen auszuſtaffieren, und am mindſten es gar
zum Hauptſatze ſeiner Kunſt zu machen: „mir ſind
„die Perſonen der Mythologie nichts als perſonifirte
„Abſtrakta, die beſtaͤndig die aͤhnliche Charakteri-
„ſirung beibehalten muͤſſen, wenn ſie erkenntlich ſeyn
„ſollen.„ Bei dieſem Grundſatze, was wird aus
der Kunſt, die Compoſitionen liefern ſoll? Eine
Maskerade ſymboliſcher und allegoriſcher Puppen!


Es giebt alſo ſelbſt unter den Kuͤnſten, die ſich
auf Zeichnung gruͤnden, noch immer betraͤchtliche
Unterſchiede, die eine oder die andere mehr dem
Dichteriſchen naͤhern. Die Bildhauerkunſt entſteht
ihr am weiteſten: die Malerei aber, in ihrer Kom-
poſition zumal, zumal in der Kompoſition dichteri-
ſcher Geſchoͤpfe, die urſpruͤnglich Weſen der Einbil-
dungskraft und nicht des Anſchauens ſind, tritt der
Poeſie weit naͤher. Sie hat ein Drama ihrer Fi-
guren: ſie ſtellt alle bloß in der Abſicht zuſammen,
um eine Handlung zu repraͤſentiren: ſie laͤßt alſo ſo
viel moͤglich weg, was zur Handlung nicht gehoͤrt,
oder ihr gar widerſpraͤche. Sollte in jedem
Kunſtwerke von Compoſition jede mythologiſche
Perſon mit allem dem Zubehoͤr uͤberladen werden,
der ihr zukommen mag, aber zu dieſer Hand-
lung nicht gehoͤrt: ſollte ſie der hiſtoriſche und
dichteriſche Maler nur als perſonifirte Ab-
J 4ſtrakta
[136]Kritiſche Waͤlder.
ſtrakta behandeln ſollen, die beſtaͤndig die aͤhnliche
Charaktiriſirung beibehalten muͤſſen: welch ein ver-
wirrendes und zerſtreuendes Geſchleppe von ſymbo-
liſchen Zeichen und charakteriſirenden Praͤdikaten!
Soll Venus in einem Gemaͤlde von Kompoſition
nie anders, als die Liebe ſelbſt, (und nicht blos als
die Goͤttinn der Liebe) erſcheinen, und als die Liebe
ſelbſt
jedesmal charakteriſirt werden; und alle theil-
nehmende Perſonen ebenfalls ſo, jede nach ihrer Art
— weg mit dem Ball in Maske. Der Maler
war hier in der Kompoſition eines dichteriſchen Suͤ-
jets Dichter: ſeine Figuren ſollen ſich durch Hand-
lung
kenntlich machen: auf dieſe Handlung ſollen
ſich die Attribute beziehen, die er ihnen giebt: ſol-
che, die zu dieſer Vorſtellung nicht gehoͤren, ſo lange
nur die Perſon noch kaͤnntlich bleibet, laſſe er weg:
er opfere dem Mangel, der Nothwendigkeit ſeiner
Kunſt ſo wenig auf, als er darf, und am allerwenig-
ſten mache er dieſen Mangel, dies Geſetz der Noth
zu ſeiner allgemeinen, weſentlichen Regel: bei dem
Kuͤnſtler ſind Goͤtter und geiſtige Weſen perſonifirte
Abſtrakta, „die beſtaͤndig die aͤhnliche Charakteriſi-
„rung behalten muͤſſen. a)„ Jch ſage umgekehrt:
auch bei ihm ſollen Goͤtter und geiſtige Weſen ſich
durch Handlung charakteriſiren, wo ſie es koͤnnen;
und blos im Fall, wo ſie es nicht koͤnnen, ſich als
perſonifirte Abſtrakte, durch die ihnen beigelegte
Sym-
[137]Erſtes Waͤldchen.
Symbole, kenntlich machen. Jm Grunde alſo
einerlei Geſetz, einerlei Freiheit.


12.


Von Seiten der Dichtkunſt kann es keine noͤ-
thigere Lehre geben, als die a): der Dichter mache
ſich die Beduͤrfniſſe der Malerei nicht zu ſeinem
Reichthume: er ſtaffiere die Weſen ſeiner Einbil-
dungskraft nicht maleriſch aus, laſſe ſie handeln, und
auch die Attribute, womit er ſie bezeichnet, muͤſſen
handelnd, poetiſch, nicht maleriſch ſeyn. So dich-
ten die alten Dichter: die neuern malen.


Unter den Roͤmern in ihrer beſten poetiſchen
Zeit iſt vor Allen Horaz ein Liebhaber von morali-
ſchen Weſen, von perſonifirten Abſtraktis; dieſe
Perſonendichtung iſt mit ein Hauptſtrich ſeines Ge-
nies, und hat ſeine Oden ſehr verſchoͤnert. Da eine
ſolche moraliſche Perſon bei ihm gemeiniglich ſchnell,
mit wenigen, aber lebendigen Attributen, und recht
in die Handlung der Ode auf einmal hineintritt: ſo
lieben wir den angenehmen Sylphen, die ſchoͤne
Sylphide, die uns ſo gelegen voruͤber rauſchet. Wie
ſuͤß iſt ſein Bild der laͤchelnden Venus, die der
Scherz
und die Amors umflattern.


— Erycina ridens

quam Jocus circumvolat et Cupido —

J 5Welch
[138]Kritiſche Waͤlder.

Welch ein Bild! wenn Furcht und Sorge ihren
Herrn auch zu Schiffe verfolgen, auch hinter ihm zu
Pferde ſitzen, auch des Nachts um die Daͤcher der
Reichen flattern: wenn der Tod mit ſeinem Fuß
an die Huͤten der Armen, und an die Pallaͤſte der
Maͤchtigen mit gleichen Schlaͤgen anpochet: wenn
das Gluͤck


Jch komme jetzt auf die Ode Horazens, die an
ſolchen Perſonen-Dichtungen die reichſte iſt, und wo
die perſonifirten Abſtrakta den Auslegern manche
ſaure Viertelſtunde gemacht haben. Das Gluͤck
ſelbſt, die Nothwendigkeit, die Hoffnung, die
Treue u. ſ. w. ſind als moraliſche Weſen in dieſe
Ode zuſammengruppirt, und das Ganze des Geſan-
ges ſelbſt iſt einem perſonifirten Abſtrakto gewidmet.
— Man erraͤth es, daß ich von der Ode aus
Gluͤck
a) rede. Baxter ſucht hier, wie gewoͤhn-
lich, in ihr ſeine lieben Dilogien b), und Geßner c)
geht vielleicht auf der andern Seite zu weit, daß er
ſie fuͤr eine Abhandlung uͤber den Artikel Gluͤck er-
klaͤrt: doch wir wollen ohne vorgefaßte Meinung
leſen.


Gleich zu Anfange rufft Horaz nicht eigentlich
das Gluͤck, als ein Abſtraktum an, um nach Geß-
ners Meinung einen locum daruͤber durchzuhan-
deln; ſondern die Goͤttinn des Gluͤcks, und zwar
zunaͤchſt
[139]Erſtes Waͤldchen.
zunaͤchſt die, ſo zu Antium verehret wurde. Die
ganze Ode tritt alſo gleich aus dem Lichte eines all-
gemeinen Begriffes
weg; und wird ein roͤmi-
ſches, ein Familienſtuͤck der Stadt Anzo: ein Al-
tarſtuͤck in dem Tempel dieſer Stadtgoͤttinn. Ein
Einwohner von Anzo ſollte aufleben, um uns dieſe
Ode aus ſeiner Vaterſtadt zu erklaͤren, und wie wuͤr-
de der uns mit manchem ehrlichen locus communis
auslachen, den wir dem Gluͤcke uͤberhaupt aus die-
ſer Ode andichten, weil wir nicht die Ehre haben,
die Goͤttinn zu kennen, der die Ode als ein Jndivi-
dualſtuͤck gewidmet iſt.


Welches ſind nun die Attribute dieſer Goͤttinn?
„Sie kann erniedrigen und erhoͤhen!„ So geſagt,
waͤre dies Attribut freilich nichts als locus com-
munis;
allein, wie es Horaz ſagt, wird es roͤmiſch.
Dies Gluͤck in Antium iſt eine Roͤmergoͤttinn: ſie
beſchaͤfftigt ſich mit den Revolutionen des Staats,
die Horaz vielleicht eben damals vor ſich ſahe: ſie
giebt und ſtuͤrzet Triumphe um. So wenig der
afrikaniſche Jupiter eben der roͤmiſche Jupiter, und
die Madonna in Loretto voͤllig die Madonna in Par-
ma iſt: ſo iſt nicht ſo ganz dieſe Fortuna jedwede
andere: ſie iſt Antium eigen, und roͤmiſch ge-
ſinnet.


„Rings um ihr Bild geht der flehende Land-
„mann, und der Schiffer des karpathiſchen Meers
„mit ſeiner Bitte.„ Jch weiß nicht, warum Bax-
ter
[140]Kritiſche Waͤlder.
ter hieruͤber bis in den Mond reiſet, und da ſor-
tem fortunae
ſucht; auch iſt mir die Geßnerſche Er-
klaͤrung: daß die Stuͤrme des Meers aus unbekann-
ten Urſachen kommen, nicht vorausgeſehen werden
koͤnnen, alſo dem Gluͤcke zuzuſchreiben ſind, u. ſ. w.
zu allgemein; und endlich die Klotziſche Erlaͤute-
rung a), daß das Gluͤck auf Muͤnzen mit Kornaͤh-
ren, mit Schiffankern, und wer weiß womit mehr?
gebildet werde, iſt fuͤr mich und fuͤr Horaz noch ge-
lehrter. Vermuthlich hat Horaz, der Einfaͤltige!
an Nichts gedacht, als daß Antium, die Woh-
nung der Fortuna, Landꝛinwohner habe, und nahe
an der See liege: der Tempel des Gluͤcks alſo von
beiderlei Art Leuten Beſuch erhalte.


„Dich fuͤrchtet der rauhe Dacier, und die fluͤch-
„tigen Scythen: Staͤdte und Voͤlker: und das
„wilde Latium: die Muͤtter der barbariſchen Koͤ-
„nige, und die bepurpurten Tyrannen.„ Allein
genommen waͤre nichts leichter zu erklaͤren, als
dieſe Strophe: ſie ſchilderte naͤmlich die Goͤttinn des
Gluͤcks roͤmiſch geſinnet: vor ihr muͤſſen die Feinde,
die Rebellen, die Tyrannen Roms zittern; aber nun
der Zuſatz:


iniurioſo ne pede proruas

ſtantem columnam; neu populus frequens

ad arma ceſſantes ad arma

concitet imperiumque frangat.

So
[141]Erſtes Waͤldchen.

So ſind uͤber nichts ſo leicht artigere Dinge geſagt
worden, als uͤber dieſe ſtehende Saͤule: Baxtern a)
duͤnkte ſie ſehr emphatiſch Auguſt zu ſeyn, ohne zu
bedenken, ob auch die Feinde, die rebelliſchen Vaſal-
len Roms, vor dem Sturze Auguſts ſo bange ſeyn
wuͤrden. Geßner verſtand, dem locus communis:
de Fortuna,
den er in dieſer Ode fand, gemaͤß, „je-
„den Menſchen, auf den ſich andere, wie auf eine
„Saͤule ſtuͤtzen,„ ohne uns zu ſagen, wie ſich dieſer
Allgemeinſatz zwiſchen Dacier und Scythen, Bar-
barn und Tyrannen ſchicke. Meine Wenigkeit fin-
det in dieſer ſtehenden Saͤule — nun? nichts als
eine ſtehende Saͤule: eine Saͤule, die, vielleicht in
Anzo, mit dem Namen Roms bezeichnet, vor der
Fortuna ſtand, wie ja ſonſt dem Gluͤcke, der Ruhe,
der Sicherheit ſolche Saͤulen pflegen hingeſtellt zu
werden b). Nun fiel Horazen das Bild ihres Un-
willens ein: wie? wenn ſie ihren Fuß ausſtreckte,
und die Saͤule ſtuͤrzte? So waͤre dieſer Sturz, ein
Sinnbild, dem Poeten ein Loſungszeichen von dem
Sturze Roms. Jn Haufen wuͤrde das Volk zu
Waffen eilen: zu Waffen auch die noch Saͤumen-
den ruffen, und das Reich, dieſe ungeheure Weltſaͤule
zerbrechen. Die ganze Ode laͤßt muthmaßen, daß
manche zur Zeit Horaz ſich regende Welle ihm die-
ſen Sturm prophezeiet, oder mit ſeinem Bilde, daß
For-
[142]Kritiſche Waͤlder.
Fortuna ſchon damals ihren großen Zeh zu regen
ſchien, um an die Saͤule zu treffen. — Wie aber
fuͤrchten ſich davor Dacier und Scythen, Barbarn
und Tyrannen — keine Roͤmer, keine Patrioten?
Horaz ſagt nicht: daß jene ſich davor, vor dieſem
Umſturze fuͤrchten; ſondern, daß ſie die Goͤttinn des
Gluͤcks fuͤrchten und ſcheuen: ſie, die uͤber Rom
wache, und die Saͤule deſſelben vor ſich habe; die
aber auch mit einem Fußſtoße daſſelbe ſtuͤrzen koͤnne:
dieſe Allmaͤchtige fuͤrchten und ſcheuen Scythen und
Barbarn, (denn was koͤnnten ihr dieſe fuͤr ein ande-
res Opfer bringen, als Furcht?) und warten auf
den Augenblick ihres Entſchluſſes, der damals ſich
ſchien zu naͤhern.


Bisher iſt die Ode ein roͤmiſches National- und
ein Antiatiſches Familienſtuͤck geweſen; ſie faͤngt an,
ſymboliſcher zu werden:


— te ſemper anteit ſerva (ſalva) Neceſſitas

Clavos trabales et cuneos manu

Geſtans ahena; nec ſeverus

Vncus abeſt, liquidumque plumbum.

Seit dem es Kunſtrichter von Geſchmacke giebt, iſt
mehr als einer mit dieſem Bilde Horaz nicht zu-
frieden geweſen. Sanadon zuerſt unterſtand ſich,
zu ſagen, daß dies Gemaͤlde in ſeinem Detail genom-
men, ſchoͤner auf der Leinwand, als in einer heroi-
ſchen Ode, waͤre. Jch weiß nicht, ob Sanadons
Gefuͤhl hierinn nicht fein und richtig bleibe, ob ich
gleich
[143]Erſtes Waͤldchen.
gleich den Spott uͤber ihn geleſen a): quod haec
imago non placuit bono Sanadonio, ſui ingenii
homo eſt, delicatus mehercle! et venuſtulus.
Jch
weiß nicht, ob dieſer ſui ingenii homo, delicatus
mehercle et venuſtulus
mit der maͤchtigen Wider-
legung zufrieden ſeyn koͤnnte: neque enim intel-
lexiſſe videtur, quam divina ſint: ahena manus,
ſeverus vncus.
Jch, der-nicht ſein gnug iſt, das
goͤttliche in einem ahena manus, in einem ſeverus
vncus
zu erblicken, fuͤhle mit Sanadon gleich, und
glaube, daß jeder, der die Ode in einem Strome
fortlieſet, bei dieſem Bilde es fuͤhlen werde, daß er
veſtgehalten wird, daß er vor einer bemahlten Lein-
wand ſtehen bleibe: und das will niemand in der
Ode.


Moͤgen alſo alle dieſe Werkzeuge attirail patibu-
laire,
oder Befeſtigungswerke, oder Symbole der
hoͤchſten Macht Fortunens ſeyn: die eherne Hand
und der ſeverus vncus moͤgen Hrn. Klotz ſo goͤttlich
ſcheinen, als ſie wollen: die Stelle bleibt eine der
froſtigſten im Horaz.


Ob aber deßwegen, weil „dieſe Attribute fuͤr
„das Auge und nicht fuͤr das Gehoͤr gemacht ſind,
„und alle Begriffe, die wir durch das Auge erhal-
„ten ſollten, wenn man ſie uns durch das Gehoͤr
„beibringen will, eine groͤßere Anſtrengung erfo-
„dern, und einer geringern Klarheit faͤhig ſind b).„
Hr.
[144]Kritiſche Waͤlder.
Hr. L. thut mir mit dieſem Grunde, wenigſtens ſo
wie er ihn ausdruͤckt, ſo wenig ein Gnuͤgen, als Sa-
nadon oder Klotz: denn waͤre ein Begriff, den man
urſpruͤnglich durch das Auge erhaͤlt, deßwegen nicht
fuͤr das Gehoͤr, weil ſich mit dem Ohre nicht ſehen
laͤßt; ſo verloͤre die Poeſie ihren ganzen Antheil an
ſinnlichen Gegenſtaͤnden des Auges: und was bleibt
ihr da uͤbrig? Nicht alſo, weil die Attribute: Naͤ-
gel, Klammern, Bley, ſich ſehen und nicht hoͤren
laſſen, nicht deßwegen machen ſie die Stelle froſtig:
denn wer wird nicht gleich, wenn er vncus, plum-
bum, clavos
hoͤret, nicht ſogleich mit ſeiner Einbil-
dungskraft vncum, plumbum, clavosſehen? wenn
wird Anſtrengung noͤthig ſeyn, ſich dieſe Dinge,
wenn er ſie durch das Gehoͤr empfaͤngt, ſo klar zu
denken, als wenn er ſie ſaͤhe? Wegen der Attribute
ſelbſt alſo kann wohl die Stelle Horaz nicht froſtig
werden; aber wohl wegen der Compoſition die-
ſer Attribute zu einem Bilde. Die
Neceſſitas
geht vor der Fortuna voraus — wohl! und
wir erwarten, wozu ſie gehen, was ſie ausrichten
wolle? Sie traͤgt Keule und Nagel — wohl! wozu
traͤgt ſie ſie? — Es fehlt ihr auch nicht Klam-
mer und fließend Bley
— hier wird der poetiſche
Leſer ungeduldig — was brauche ich alles das zu
wiſſen, was ihr fehlt, oder nicht fehlt? was ſie
hat oder nicht hat? ich hoͤre ja nicht, was ſie damit
will, oder ſoll? ich ſtehe vor einem todten Gemaͤlde.
Was
[145]Erſtes Waͤldchen.
Was ſie damit ſoll? antwortet Hr. Klotz a): „ſie
„ſoll damit die Macht des Gluͤcks anzeigen, die
„Goͤttinn anzeigen, der nichts widerſtehet, der al-
„les weichen muß, die Goͤttinn von unwandelbarem
„Willen. Wie ſchoͤn alles paſſet! Das Gemaͤlde
„muß allen gefallen, die poetiſchen Geiſt haben.„
Haͤtte Hr. Kl. geſagt, die maleriſchen Geiſt ha-
ben,
ſo recht! — aber die poetiſchen Geiſt haben?
ich wuͤßte nicht, was in der Wirkung des Gemaͤldes
poetiſches waͤre. Der Dichter hat einen andern
Pinſel, die Goͤttinn zu charakteriſiren, der nichts
widerſteht, der alles weichen muß, die von unwan-
delbarem Willen iſt, als daß er ihr ein Stuͤck Bley,
und Eiſen in die Hand gebe, und ſie damit traben
laſſe: die mindeſte Handlung, ja das bloße Wort:
ſie iſt die Goͤttinn, der nichts widerſteht, der alles
weichen muß, iſt beſſer, als eine mit Mordgeweh-
ren wandelnde Figur. Kurz: nicht die Beſchaffen-
heit der Attribute ſelbſt, daß ſie fuͤrs Auge ſind,
auch nicht eben die Gehaͤuftheit der Attribute, iſt
der Fehler des Bildes, ſondern die Kompoſition der-
ſelben zu einer bloßen Symbole: zu einer Symbo-
le, die nichts thut, die mit ihrem proſaiſchen nec
abeſt,
blos da ſteht, damit ihr nichts an ihrem Um-
gehaͤnge fehle, damit ſie als eine voͤllige Symbole in
einem Gemaͤlde paradire — dies beleidigt den Le-
Kſer,
[146]Kritiſche Waͤlder.
ſer, inſonderheit in einer horaziſchen Ode. Er ruffe
ihr gleichſam zu, an der Handlung der Ode mit
Theil zu nehmen, oder ſich weg zu machen, auf ei-
ne Leinwand, an eine Wand, in ein Gemaͤlde der
Fortuna.


Und wie kam Horaz zu der todten Figur?
Wahrſcheinlich, daß er ſie von einem ſolchen Ge-
maͤlde kopirte, daß er ſie mit den Zuͤgen kopirte,
mit denen ſie vielleicht im Tempel zu Antium anzu-
treffen war. Was alſo in einer Ode Horaz auf den
locus communis des Gluͤcks ein befremdender Feh-
ler ſeyn wuͤrde, das findet in einer Ode auf die Fortu-
ne von Anzo wenigſtens eine entſchuldigende Deutung.
Es verewigte ein Gemaͤlde, ein ſchoͤnes ſymboliſches
Gemaͤlde, das ein Schatz des Tempels ſeyn konnte,
in welchen dieſe Ode, als ein Schatz, auch hingehoͤr-
te. Man kritiſire Horazen nicht als Dichter, ſon-
dern hier als Dichter fuͤr Anzo.


Jch glaube hiemit auch den folgenden morali-
ſchen Weſen Licht und Deutung gegeben zu haben,
die man ſo ſehr verkannt hat:


Te Spes \& albo rara Fides colit

Velata panno —

Spence hat Unrecht, daß er in dieſer Stelle eine
duͤnngekleidete Figur findet a): allein er hat Recht,
daß es eine maleriſche Figur ſey, wie aus dem Zu-
ſatze weiß gekleidet erhellet, und die Urſache weiß
geklei-
[147]Erſtes Waͤldchen.
gekleidet darf ich nicht erſt mit dem Scholiaſten, in
der alten Gewohnheit ſuchen, daß die Prieſter der
Treue ihr Opfer mit weißverhuͤlltem Haupte brach-
ten; ich habe ſie naͤher: welche Kleidung kaͤme in ei-
nem Gemaͤlde der Treue zu, als die Kleidung der
Unſchuld? Jſt aber die Figur aus einem Gemaͤlde:
wie unnuͤtz zerbricht ſich Bentley den Kopf daruͤber,
daß Hoffnung und Treue dem Gluͤcke als Begleite-
rinnen beigegeben werden? Wenn dieß Gemaͤlde
des Gluͤcks in Anzo war: wie reich und ſchoͤn waͤre
die Vorſtellung deſſelben!


Nun faͤngt Horaz an, uͤber dieſe reiche Deu-
tung zu allegoriſiren: Hoffnung und Treue ſind
dem Gluͤcke zu Begleiterinnen gegeben — zu Be-
gleiterinnen? „ſo werden ſie daſſelbe auch immer
„begleiten! auch wenn es ſein Kleid aͤndern, auch
„wenn es die Pallaͤſte der Großen feindlich verlaſſen
„ſollte. Das iſt nur der treuloſe Poͤbel, das iſt
„nur eine meineidige Hure, die alsdenn zuruͤck tritt:
„nur hinterliſtige Freunde zerſtieben, wenn die
„Weinbecher leer ſind: ſo ſind nicht Hoffnung und
Treue.„ Jch ſehe hier ſo wenig Widerſpruch a),
„als bei einer erbaulichen allegoriſchen Deutung,
und zwar einer Figur, die ihrem Namen nach dop-
pelſinnig iſt, nur immer ſeyn kann.


K 2Und
[148]Kritiſche Waͤlder.

Und mit dieſer Deutung eben bahnet ſich Ho-
raz den Weg, ſeinen Auguſt, und den damali-
gen Zuſtand des roͤmiſchen Reichs der Gluͤcksgoͤt-
tinn zu empfehlen — eine Materie, die ſeine Ode
ſchließet. Jch finde alſo nichts minder, als ein
Abſtraktum, das Gluͤck, in ihr abgehandelt: wie
man etwa, wenn man ſich die Ueberſchrift aus ei-
nem Woͤrterbuche erklaͤrt, meinen koͤnnte; es iſt
die Gluͤcksgoͤttinn in Anzo, eine roͤmiſchgeſinnte
Gluͤcksgoͤttinn, die auch nach den damaligen Um-
ſtaͤnden
ſich Roms annehmen ſoll. Aus Antium
alſo, aus Rom, und aus der damaligen Zeit muͤſſen
auch die perſonifirten Jdeen dieſer Ode Licht neh-
men; oder man ſchielet. Auch Hr. Klotz ſcheint mit
ſeinen Erlaͤuterungen aus Steinen und Muͤnzen a)
wohl nicht den Endzweck gehabt zu haben, ſich ſelbſt
von dem poetiſchen Baue dieſer horaziſchen Ode Re-
chenſchaft zu geben: wie es doch bei ihr vorzuͤglich
angienge. Wenn uͤberhaupt der Gebrauch perſoni-
firter Geſchoͤpfe aus einem lyriſchen Dichter erklaͤrt
werden ſollte; ſo iſt der Erſte dazu — Horaz, Er,
der dieſe ſchoͤnen Geſpenſter ungemein liebt, und in
Einfuͤhrung derſelben ſehr charakteriſtiſch iſt; ein
Kenner Horaz zeige uns dieſe Seite!


Aber auch der epiſche Dichter hat perſonifirte
Jdeen noͤthig, die man gemeiniglich Maſchinen zu
nennen gewohnt iſt — wie ſoll er ſie erſchaffen?
Als
[149]Erſtes Waͤldchen.
Als ſymboliſche Weſen des Kuͤnſtlers, als Allego-
rien, oder als handelnde Subjekte? Wenn ein
Dichter es noͤthig hat, ſich vom Kuͤnſtler zu unter-
ſcheiden, ſo iſts der Dichter der Epopee, inſonder-
heit in ſeinen Maſchinen — ich wollte, daß Hr. L.
darauf gekommen waͤre!


Jch weiß, daß manche ſich Leidenſchaften, Tu-
genden und Laſter und ein ganzes Heer moraliſcher
Perſonen zu Maſchinen perſonifirt haben: allein, ich
weiß auch, wie froſtig, wie uͤberfluͤſſig dieſe Ma-
ſchinen oft ganze Gedichte herunter erſchienen ſind,
blos weil ſie als perſonifirte Abſtrakta erſchienen,
weil ihnen Jndividualitaͤt fehlte. Ein wirkliches
Abſtraktum in Perſon zu malen, ihm aͤußere Ge-
ſtalt zu geben, um es dichteriſch bekannt zu machen,
geht ohne Symbole nicht an; denn im Jnnern, im
Weſen eines abſtrakten Begriffes liegen nicht Farben
und Geſtalten. Der Dichter laͤuft alſo Gefahr,
daß, wenn er uns eine lange Seite herab, die Un-
ſchuld, den Neid, die Naturlehre u. ſ. w. ſymbo-
liſch gemalt hat, wir hinterher fragen: wie ſah das
Ding aus? Alle einzelne charakteriſirende Zuͤge ſind
vergeſſen: wie kann ich ſie zuſammen nehmen, daß
ein ganzes Bild vor mir ſtehe? Er hat die Arbeit
der Danaiden gehabt, immer neue Zuͤge zu ſchoͤp-
fen, die aber augenblicklich wieder wegſchluͤpfen,
und jetzt ſtehe ich, und habe in meinem loͤcherichten
Siebe — nichts.


K 3Nun
[150]Kritiſche Waͤlder.

Nun ſoll dieſe abſtrakte Perſon als Maſchine
handeln; natuͤrlich nicht anders, als aus ihrem
Weſen, wie die Unſchuld, der Neid, der Zorn
handeln muß. So ſehe ich ja jeden ihrer Tritte
voraus: jede ihrer Reden verrathe ich ſchon aus ih-
rem Namen; nur dieſen brauche ich, nur die Jdee
ſelbſt, und das Uebrige wird poetiſche Einkleidung,
ein Redezierrath. Das ganze Weſen iſt aus einem
Begriffe geſchaffen, und in ein Wort eingehuͤllt:
kann es mich alſo ruͤhren? epiſche Bewunderung in
mir erregen? mir einen ungewohnten großen An-
blick gewaͤhren? Eine ſolche Schoͤpfung durch ein
Wort, das jeder nachſagen, das jeder voraus aus-
denken kann, iſt — Spielwerk.


Nein! Homers Maſchinen ſind keine abſtra-
kten Begriffe: es ſind Subjekte, die aus ſich han-
deln, vollſtimmige Jndividua. Nicht kann ich es
aus einer willkuͤhrlichen Jdee errathen, wie hier
und da Jupiter und Juno, und Minerva handeln
werden, weil ſie Einkleidungen dieſer Jdee ſind.
Alle ſeine Goͤtter ſind erdichtete Perſonen; aber
Perſonen, mit vollſtaͤndig beſtimmter Denkart,
mit Schwachheiten und Staͤrke, mit Fehlern und
Tugenden, mit allem, was zu einem daſeyenden
Weſen gehoͤrt. Sie zeigen nicht blos Gedanken,
Worte, Handlungen; ſondern ich ſehe auch aus der
Art, aus dem Zuſammenhange dieſer Gedanken,
Worte, Handlungen, daß ſie aus dem Jnnerſten
eines
[151]Erſtes Waͤldchen.
eines Jndividuums fließen: der Poet bezaubert
mich, daß, ſo lange ich leſe, ich ein ſolches Weſen
glaube. Jhr Herren Allegoriſten, ihr Namen-
ſchoͤpfer von Maſchinen, ihr Jdeenbildhauer der
epiſchen Dichtkunſt — das thut ihr nicht! ihr
malet, ihr ſchildert; und ſo leſe ich euch auch, als
Maler, als Schilderer; nicht als Dichter, nicht
als zweite Prometheus, nicht als Schoͤpfer unſterb-
licher Goͤtter und ſterblicher Menſchen.


Auch die kleinen Weſen der Einbildung, welche
die Bahn des homeriſchen Gedichts gleichſam nur
einmal queruͤber durchgehen, Furcht, Schrecken,
und die unerſaͤttlich wuͤtende Zwietracht erſcheinen
bei ihm a)perſoͤnlicher, als Allegorien erſcheinen:
die letzte z. E. als die Schweſter und Geſellinn
Mars, des Menſchenwuͤrgers, mit ihm in Geſell-
ſchaft, mitten im Schlachtgetuͤmmel. Dieß alles
daͤmpfet das Allegoriſche in der hohen Jdee, „daß
„ſie, anfangs klein, ſich erhebe, und, indem ſie
„auf dem Boden der Erde einhergeht, ihr Haupt
„in den Wolken habe,„ wir ſehen immer doch
mehr eine Perſon, als einen Begriff, unter einer
Perſon vorgeſtellt.


Fuͤr perſonifirte Abſtrakta, fuͤr allegoriſche
Maſchinen, als ſolche betrachtet, hat Homer kei-
nen Platz; nur den Reden ſeiner Helden b) laͤßt ers,
K 4die
[152]Kritiſche Waͤlder.
die Gebete u. ſ. w. zu allegoriſiren, die alſo aus ih-
rem Munde, nicht aber eigentlich aus ſeiner Schoͤ-
pferhand kamen, die alſo geſprochen und gedacht,
nicht aber dichteriſch gebildet, gleichſam im Gedichte
geſehen werden ſollten. Aber auch ſelbſt da ſucht er
ſie, wo er kann, in das Licht eines beſtehenden We-
ſens zu kleiden; er flicht ſie in die Genealogie der
Goͤtter; er giebt ihnen einen hiſtoriſchen Zug zu: er
malt das Allegoriſche nicht aus mit Praͤdikaten,
ſondern laͤßt es kaum durch den Namen, durch die
hiſtoriſchen Zuͤge, durch die dichteriſchen Attribute
durchblicken. So wenig iſts bei Homer Haupt-
zweck zu allegoriſiren, und am mindeſten zu allego-
riſiren fuͤr Kuͤnſtler. — —


Hier Winkelmanns Werk von der Allegorie:
ich bleibe aber bei zween andern Gefaͤhrten auf dem
Wege: wie der Kuͤnſtler den Dichter, inſonderheit
der griechiſche Kuͤnſtler Homer nachahmen koͤnne?
Dieſe Gefaͤhrten ſind Caylus und Leſſing.


13.


Und duͤnke mich jetzt im beſten Theile a) des
leſſingſchen Werks, wo es die Vorſchriften des
Grafen einſchraͤnkt, wo es die Art der Vorſtellung
Homers, und eines Kuͤnſtlers unterſcheidet, wo es
ein
148
[153]Erſtes Waͤldchen.
ein Muſter von praktiſchem Scharfſinne iſt. Mit
Verwunderung alſo muß jeder Leſer, der Leſſingen
verſtehet, die verwirrenden Widerſpruͤche a) geleſen
haben, die — — doch hieruͤber darf ich die Ver-
theidigung des Verfaſſers ſelbſt b) als bekannt vor-
aus ſetzen.


Jch gehe alſo ins Detail. „Homer bearbei-
„tet ſichtbare und unſichtbare Weſen; dieſer Unter-
„ſchied kann die Materie nicht angeben, bei ihr iſt
„alles ſichtbar; und auf einerlei Art ſichtbar.„ c)


„Das Mittel alſo, deſſen ſich die Malerei bedie-
„net, uns zu verſtehen zu geben, daß in ihren Kom-
„poſitionen dieſes oder jenes als unſichtbar betrach-
„tet werden muͤſſe, iſt eine duͤnne Wolke d).


„Dieſe Wolke ſcheint aus Homer ſelbſt entlehnt
„zu ſeyn e).


„Wer ſieht aber nicht, daß bei dem Dichter
„das Einhuͤllen in Nebel und Nacht weiter nichts,
als eine poetiſche Redensart, fuͤr unſichtbar
„machen, ſeyn ſoll? Es hat mich daher jederzeit be-
„fremdet, dieſen poetiſchen Ausdruck realiſirt, und
„eine wirkliche Wolke in dem Gemaͤlde angebracht
„zu finden f).„


K 5Mit
[154]Kritiſche Waͤlder.

Mit dem Unterſchiede, den Hr. L. angiebt, bin
ich zufrieden; nur der Grund des Unterſchiedes,
den er angiebt, iſt nicht der meine.


Wozu ſoll die Wolke bei dem Dichter und Ma-
ler? zur Verhuͤllung. Wo ſie alſo nicht verhuͤl-
len
kann, da iſt ſie nicht Wolke mehr, da bleibe ſie
weg. So bei dem Maler. Sie ſoll verhuͤllen, und
verhuͤllet nicht: ſie laͤßt den verhuͤllten Helden noch
ſichtbar: er ſteht hinter einer ſpaniſchen Wand, und
ruft uns zu: ich bin unſichtbar, ich ſoll nicht geſe-
hen werden: ich bin nicht zu Hauſe. „Dieſe Urſa-
„che, duͤnkt mich, iſt die wahre.


Aber die, daß die Wolke aus einem Dichter
entlehnt, bei ihm nichts als eine poetiſche Redens-
art, bei dem Kuͤnſtler hingegen eine wirkliche Wol-
ke, und alſo ein poetiſcher Ausdruck auf eine befrem-
dende Weiſe realiſirt ſey; „die Urſache ſcheint min-
„der Stich zu halten.„


Homers Nebel iſt ein poetiſcher Nebel; iſt er
aber damit eine poetiſche Redensart, ein kuͤnſtlicher
Ausdruck, ſtatt „unſichtbar werden a)?„ Wenn
Achilles nach dem in die Wolke verborgnen und
ſchnell entruͤckten Hektor noch dreimal mit der Lanze
zuſtoͤßt: ſoll dieß „in der Sprache des Dichters
„weiter nichts heißen, als daß Achilles ſo wuͤtend
„geweſen, daß er noch dreimal geſtoßen, ehe er ge-
„merkt, daß er keinen Feind vor ſich habe?„ Jch
darf
[155]Erſtes Waͤldchen.
darf ſagen, daß ich bei Homer „eine ſolche Phraſes-
„ſprache des Dichters„ nicht kenne, und nicht ken-
nen mag. Homer, ein Feind aller kuͤnſtlichen Fi-
guren der Einkleidung, die nichts als ſolche, nichts
als poetiſcher Zierrath, ſeyn ſollen, (nach Hrn. Leſ-
ſings Erklaͤrung, was iſt dieſe Wolke, dieſe poeti-
ſche Redensart anders, als eine ſolche Wortblu-
me?
) Homer wird auf ſolchem Wege einer der
nuͤchternen Dichter unſrer Zeiten, die proſaiſch den-
ken, und poetiſch ſprechen, deren gradus ad Parnaſ-
ſum
die Zauberkammer iſt, ihre Gedanken der Pro-
ſe in eine Sprache des Dichters in poetiſche Redar-
ten zu verwandeln. Bei ſolchen mag alsdenn eine
proſaiſirende Schuͤlerpoſition Statt finden: „er
ward mit einer Wolke bedeckt, das iſt: er ward aus
den Augen des Feindes weggebracht: Achill ſtieß
dreimal nach dem dicken Nebel: das iſt: er war ſo
wuͤtend, daß er noch nicht merkte, ſein Feind ſey
weg. Was kaͤme aber heraus, wenn man ſo bei
Homer laͤſe, und auch ſeine Goͤtter, ihren Himmel
ihre Geraͤthe u. ſ. w. durch ein ſolches, das iſt:
proſaiſirte, und alles zu poetiſchen Phraſibus
machte.


Nein! Homer weiß von Redarten nichts, die
nichts als ſolche waͤren. Der Nebel, in den die
Goͤtter huͤllen, iſt bei ihm wirklicher Nebel, eine
verhuͤllende Wolke, die mit zum Wunderbaren ſei-
ner Fiktion, mit zum epiſchen μυϑος ſeiner Goͤtter
ge-
[156]Kritiſche Waͤlder.
gehoͤrt. So lange er mich in dieſer poetiſchen Welt,
in welcher Goͤtter und Helden kaͤmpfen, wie bezau-
bert, veſt haͤlt: ſo lange mich ſeine Minerva durch
dieſe wunderbaren und ſchrecklichen Auftritte fuͤhrt,
und mir die Augen erhoͤht hat, nicht blos ſtreiten-
de Menſchen, ſondern auch kaͤmpfende und verwun-
dete Goͤtter zu erblicken; ſo lange ſehe ich auch die-
ſen Nebel eben ſo glaͤubig, als den Gott ſelbſt, der
die Wolke um ſeinen Liebling webt. Beide, der
Gott und ſeine Wolke, haben ein gleich poetiſches
Weſen; wenn ich das eine proſaiſire, muß auch hin-
ter den andern ein grammatiſches das iſt kommen,
und dann verliere ich die ganze mythiſche Schoͤ-
pfung
in Homer. Jch bin nicht mehr in dem epi-
ſchen Treffen eines Dichters ſondern in einer hiſto-
riſchen Feldſchlacht: ich leſe nach der Taktik: ich ſe-
he nach dem gewoͤhnlichen Augenmaaße.


Hr. L. ſcheint darnach geſehen zu haben; wenig-
ſtens uͤberredet er uns, darnach ſehen zu koͤnnen a).
„Keinen wirklichen Nebel ſahe Achilles nicht, und
„das ganze Kunſtſtuͤck, womit die Goͤtter unſicht-
„bar machten, beſtand auch nicht in dem Nebel —
„ſondern in der ſchnellen Entruͤckung. Nur um
„zugleich mit anzuzeigen, daß die Entruͤckung ſo
„ſchnell geſchehen, daß kein menſchliches Auge dem
„entruͤckten Koͤrper nachfolgen koͤnne, huͤllet ihn
„der Dichter vorher in Nebel ein; nicht weil man
„an-
[157]Erſtes Waͤldchen.
„anſtatt des entruͤckten Koͤrpers einen Nebel geſe-
„hen, ſondern weil wir das, was in einem Nebel
„iſt, unſichtbar denken.„ Welche Unterſcheidun-
gen! welche Amphibolien! „Keinen wirklichen
„Nebel ſahe Achilles nicht.„ Ja! der poetiſche
Held ſahe ihn, und dreimal ſtieß er noch mit ſeinem
Spieße nach dem Nebel. „Das Kunſtſtuͤck, wo-
„mit die Goͤtter unſichtbar machten, beſtand in der
„ſchnellen Entruͤckung!„ Wunderbar! wo ich mir
ſchon wirkſame Goͤtter, eine wunderbare Entruͤckung
denken kann, und denke; bin ich da nicht ein Scru-
pler, am Nebel abdingen zu wollen? „Nur weil die
„Entruͤckung ſchnell vorgieng, huͤllt ihn der Dichter
„ein; nicht, weil man einen Nebel geſehen, ſondern,
„weil wir das, was in einem Nebel iſt, unſichtbar
„denken.„ So! und deßwegen ſtoͤßt Achilles
dreimal nach dem Nebel, nicht, weil er einen Nebel
ſahe, ſondern, weil er das, was in einem Nebel iſt,
ſich als unſichtbar dachte! O der homeriſche Don-
Quixote! o der cervantiſche Homer!


„Neptun verfinſtert die Augen Achilles; in
„der That aber ſind des Achilles Augen nicht ver-
„finſtert, ſondern — —„ Was man uns doch
ſagen will! Neptun gießt dem Achilles Dunkel um
die Augen, er ruͤckt Aeneas fort: er hat ihn in Si-
cherheit gebracht, ihn ermahnt, nicht wider Achil-
les zu ſtreiten, ihn verlaſſen — nun muß er erſt
zuruͤck kommen, um dem Achilles den Nebel

von
[158]Kritiſche Waͤlder.
von ſeinen Augen zu nehmena), und Achilles —
hat keinen Nebel vor Augen gehabt! es iſt nur ſo ſo
geſagt, daß ſeine Augen verdunkelt worden? —
— Achilles bekommt das Licht ſeiner Augen wie-
der, er erſeufzet, er ſtutzt uͤber das Wunder: er
ſieht den Spieß auf der Erde, den Mann hinweg!
er erſtaunt, er ſpricht mit ſich, mit ſeiner großen
Seele, muthmaaßet auf die Goͤtter — —„ Wie?
wird ein homeriſcher Orthodox ſagen, iſt es nicht
ein ſtraͤflicher Unglaube, an dem Nebel der Goͤtter
zu zweifeln, wenn man ein ſo augenſcheinliches
Wunder der Verblendung, eine ſo feierliche Scene
ſieht! Wer homeriſche Goͤtter glaubt, muß auch die
Wolke ihrer Hand glauben! — —


Die Wolkendogmatik der griechiſchen Goͤtter
muß Hrn. Leſſing anders bekannt ſeyn, als mir:
denn er faͤhrt fort, Dinge zu behaupten, die wider
alle ſchoͤne Sichtbarkeit homeriſcher Erſcheinungen
laufen. „Unſichtbar ſeyn, ſagt er, iſt der natuͤrli-
„che Zuſtand der Goͤtter Homers; es bedarf keiner
„Blendung, keiner Abſchneidung der Lichtſtralen,
„daß ſie nicht geſehen werden; ſondern es bedarf ei-
„ner Erleuchtung, einer Erhoͤhung des ſterblichen
„Geſichts, wenn ſie geſehen werden ſollen. Zwar
„laͤßt Homer auch Gottheiten ſich dann und wann
„in eine Wolke huͤllen, aber nur alsdenn, wenn ſie von
„andern Goͤttern nicht wollen geſehen werden b).„
Fol-
[159]Erſtes Waͤldchen.
Folgendes wird zeigen, daß Hr. L. in ſeiner Wolken-
theorie der griechiſchen Goͤtter — — ein Ketzer ſey.


„Unſichtbar ſeyn, iſt der natuͤrliche Zuſtand der
„Goͤtter;„ wie kommt es denn, wenn ich fragen
darf, daß Goͤtter wider Willen koͤnnen geſehen
werden? daß man ſie unvermuthet uͤberraſchen
darf, wenn ſie nicht geſehen ſeyn wollen? Es war
ein Glaubensartikel bei den Griechen, daß nichts ge-
faͤhrlicher ſey, als ein ſolcher uͤberraſchender An-
blick b), und mancher ungluͤcklicher Unſchuldige hat-
te daruͤber ein Opfer werden muͤſſen. Pallas, die
keuſcheſte der Goͤttinnen, die vor Keuſchheit ſich ſelbſt
kaum nackt zu ſehen wagte, die wohl am mindeſten
unter allen Goͤttinnen jene falſche Jungfernſcheu
beſaß, ſich zu verſtecken, und doch wollen geſehen
zu werden, dieſe jungfraͤuliche Pallas waͤhlet ſich den
ſicherſten, den geheimſten Ort, um ihre Gorgone
abzulegen: ſie badet ſich, und ein eben ſo ehrlicher
Tireſias uͤberraſcht ſie, ſiehet ſie wider ſeinen Wil-
len,
erblindet. Jndeſſen um den Unſchuldigen ei-
niger Maaßen ſchadlos zu halten, giebt Pallas —
ihm nicht das Geſicht wieder; denn dies ließ ihre
Jungfraͤulichkeit nicht zu; ſondern die Gabe der
Weiſſagung. Wie haͤtte Pallas wider ihren und
Tireſias Willen uͤberraſchet werden koͤnnen,
wenn „unſichtbar ſeyn, der natuͤrliche Zuſtand der
„Goͤtter waͤre?„


Wie
[160]Kritiſche Waͤlder.

Wie der Pallas: ſo gieng es auch der baden-
den keuſchen Diana. Kalydon ſah ſie, ebenfalls
wider ſeinen und der Goͤttinn Willen, und ward zu
Steine. So gieng es ſelbſt dem Jupiter, da er in
ſeinem liebſten Vergnuͤgen einmal ſeine Wolke ver-
geſſen hatte. Er ward, da er bei der Rhea
ſchlief, von Haliakmon, wider Willen ſeiner, und
ſeiner geliebten Beiſchlaͤferinn, und ſeines Ueberra-
ſchers, in ſeiner Schaͤferſtunde geſtoͤrt — wie
das? wenn „ unſichtbar ſeyn, der natuͤrliche Zu-
„ſtand der Goͤtter waͤre.„


Jch will ſolche geſtoͤrte Schaͤferſtunden der
Goͤtter und Goͤttinnen nicht aufzaͤlen. Meine Mu-
ſe iſt diesmal nicht ſo, wie die Schweſter des
Amors, die


— — wie die Maͤdchen alle thun,

Verliebte gern beſchleichet. —

Jch fuͤhre, ſtatt aller, das Epigramm aus der An-
thologie a) an, in ſeinem einfaͤltigen Scherze, in ſei-
ner naifen Schalkheit: „Werde ja niemand in
„meinen Waſſern eine der Najaden, oder die Ve-
„nus mit ihren Gratien nackt gewahr: ſelbſt wenn
„es ohne Vorſatz ſeyn ſollte; denn immer iſt nach Ho-
„mers
Ausſpruche der offenbare Anblick der Goͤtter ge-
„faͤhrlich, und wer darf Homer widerſprechen?„ Um
die verborgne Schalkheit einzuſehen, die in dieſem Epi-
gramm liegt, merke man ſich den Doppelſinn, der in
dem
[161]Erſtes Waͤldchen.
dem Worte „offenbarer Anblick„ liegt, der Epigram-
matiſt meint nackt; Homer meint „ohne fremde
„Einkleidung, wie die Goͤtter ſind.„ Die Stelle
Homers beſtaͤtigt alſo unſere Meinug: und ſcheint
gar ein Axiom in der griechiſchen Mythologie ge-
worden zu ſeyn.


Juno naͤmlich, die dem Achilles zu Huͤlfe will,
macht den Lehrſpruch a): daß, wenn Achilles einen
Gott gegen ſich ſehen wuͤrde: ſo muͤßte er erſchrecken:
denn „fuͤrchterlich iſt der Anblick der Goͤtter, wenn
ſie offenbar, (wenn ſie ohne menſchliche Einhuͤllung)
erſcheinen. Wie iſt unſichtbar ſeyn alſo ihr natuͤr-
licher Zuſtand?


Nach dieſem Axiom ſcheint Homer in Seiner gan-
zen Goͤtterdichtung zu verfahren. Sind die Goͤt-
ter unter ſich, ſo ſind ſie auch unter ſich ſichtbar;
ſollen ſie aber unter Menſchen wirken — unerkannt
oder erkannt, darnach richtet ſich das Schema ihrer
Erſcheinung. Phoͤbus Apollob) ſteigt vom
Himmel herab in ſeiner ganzen goͤttlichen Geſtalt:
Koͤcher und Bogen ruhen auf ſeiner Schulter: auf
ſeiner Schulter klingen die Pfeile, bei ſeinem zorni-
gen Gange. Nun hatte er ſich ſchon von den Hoͤ-
hen des Himmels herabgelaſſen, und gieng der
Nacht gleich:
bis er ſich weit von den Schiffen
Lnieder-
[162]Kritiſche Waͤlder.
niederſetzen, und ſeine peſtbringenden Pfeile auslaſ-
ſen konnte. Warum muß er ſich der Nacht gleich,
das iſt: mit Dunkel bedeckt, bei den Griechen vor-
bei ſchleichen, und nur ſeine Geſtalt annehmen, da er
fern vom Anblicke der Schiffe und Menſchen iſt? —
Wenn die homeriſchen Goͤtter ſchon an ſich menſchli-
chen Augen unſichtbar ſind, wenn es keiner Abſchnei-
dung der Lichtſtralen bedarf, um nicht; ſondern ei-
ner Erhoͤhung des Geſichts, um geſehen zu wer-
den? Will ich nicht wieder zur heiligen Allegorie
fliehen, ſo iſt die Wolke vergebens.


Und wie oft haͤtte ſie alsdenn Homer vergebens!
Jn einem Nebel a) ſteigt Thetis aus dem Meere
hervor, bis ſie vor ihrem Sohn hinſaß, und ſich
ihm in Geſtalt zu erkennen gab. Jn einer Wolke
ſteigt ſie zum Jupiter hinauf: eine dichte Wolke
warf Jupiter b) um ſich, da er auf Jda ſaß, die
Schlacht uͤberſehen, und nicht geſehen ſeyn wollte.
Eine Wolke iſt bei Homer mehr als einmal die Klei-
dung der Goͤtter, wenn ſie in einer Situation, die
nicht auf andre wirkt, in einer intranſitiven Stel-
lung erſcheinen. Jhr Koͤrper iſt zwar nur, wie
ein
Koͤrper, der Lebensſaft ihrer Adern iſt nur
gleichſam wie Blut c), d. i. nicht ſo grob und ir-
diſch, als ein menſchlicher Koͤrper; doch aber immer
Blut, das zu vergießen, ein Koͤrper, der zu ver-
wunden,
[163]Erſtes Waͤldchen.
wunden, wie weit mehr zu ſehen iſt. So wird
Venus von Diomedes verwundet, ob er ſie gleich
als Goͤttinn erkennet a): und um ſie zu troͤſten, er-
zaͤlt ihre Mutter Dione b), was ſchon von jeher die
Himmliſchen von den Sterblichen haben erleiden
muͤſſen, wie Mars von zween ſeiner tapferen Fein-
de gebunden, ins Gefaͤngniß geworfen, dreizehen
Monate lang gefangen gehalten, und mit genauer
Noth vom Merkur heimlich gerettet ſey: wie Juno
verwundet, Pluto verwundet — — was darfs,
die mythologiſchen Geſchichte her zu erzaͤlen, die alle
wenigſtens ſo viel zeigen, daß nach der homeriſchen
Goͤttertheorie der Satz zu hoch klinge: „Unſichtbar
„ſeyn, iſt der Zuſtand der Goͤtter: einer Erhoͤhung
„des Geſichts bedarfs, um nur von Menſchen ge-
„ſehen zu werden, nicht aber einer Abbrechung der
„Lichtſtralen, um nicht geſehen zu ſeyn.„ Brauchts
dieſes nicht einmal, wie unmoͤglich, daß ein Gott
wider Willen erkannt, gebunden, verwundet werde?
Wenn er den menſchlichen Augen ſeiner Natur nach
nicht bloß entgeht, ſondern dieſelben durch ein Wun-
der erſt erhoͤhet werden ſollen, wie ſinnlos alsdenn,
ſeiner Natur nach, verwundbar, fuͤr den Helden
uͤberwindlich zu ſeyn? Man wird mir antworten:
um einen Gott, um eine Goͤttinn zu erkennen, muß-
ten dem Diomedes erſt von einer andern Goͤttinn die
Augen eroͤffnet werden; allein hier rede ich nur von
L 2dem
[164]Kritiſche Waͤlder.
dem Verwundbarſeyn durch ſeine Natura),
und ſchließe gerade hin: ein verwundbarer Koͤrper
muß auch ein durch ſeine Natur nicht unſichtbarer
Koͤrper ſeyn: wenn unſer Auge ihn der Natur deſſel-
ben nach nicht treffen koͤnnte; wie koͤnnte nach der
Natur des Goͤtterleibes
meine Hand ihn treffen?


Warum aber Minerva dem Diomedes erſt den
Nebel von den Augen nehmen mußte, um Goͤtter
und Menſchen in der Schlacht zu unterſcheiden b)?
Jch kann gerade weg ſagen: weil er poetiſch einen
Nebel vor den Augen hatte; allein ich will Homer
proſaiſch erklaͤren. Wenn die homeriſchen Goͤtter
unmittelbar auf Menſchen, und mit Menſchen wir-
ken; z. E. Streiten, Kaͤmpfen, Pferdelenken, kurz,
menſchliche Thaten thun wollen: ſo nehmen ſie durch-
gaͤngig bei Homer auch bloß menſchliche Geſtalten
an: es heißt alsdenn jedesmal bei Homer: „er
„gleichte ſich dieſem, oder jenem Helden c).„ Und
freilich in dieſer Gleichung war der Gott nicht zu
erkennen: denn er war menſchlich eingekleidet: nur
aus den uͤbermenſchlichen Thaten, aus voͤllig wun-
derba-
[165]Erſtes Waͤldchen.
derbaren Begebenheiten ſchloſſen die Helden, daß
hie oder da ein Gott ſeine Hand mit im Spiele ha-
ben muͤſſe. Sie fuͤrchteten ſich alſo, einem ſo verklei-
deten Gotte zu begegnen, weil es bei ihnen eine Ma-
xime geworden: „keiner lebt lange, der einem Got-
„te widerſteht, oder ſchadet.„ Mit griechiſcher
Ehrlichkeit fragt ein Held den andern, ſo offen zu
ſeyn, und zu ſagen: ob er ein Gott, oder ein Sterb-
licher ſey? damit er wiſſe, mit wem er zu thun ha-
be. Und mit himmliſcher Offenherzigkeit entdeckt
ſich der Gott, wenn er ins Gedraͤnge geraͤth, daß
man ihm aus dem Wege weichen ſollte. — —
Kurzum! weil das ganze homeriſche Treffen voll
verkleidet wandelnder Goͤtter iſt, weil der Dichter
dieſe Hypotheſe wiſſentlich allen Helden und Strei-
tern voraus ſetzt: freilich ſo gehoͤrt eine Minerva
dazu, um dieſe eingekoͤrperten Weſen vor andern
Menſchen kennbar zu machen. Aber nicht alſo,
daß ſie das Geſicht Diomedes erhoͤhen dorfte,
um Unſterbliche zu ſehen: denn die Unſterblichen
glichen hier Menſchen; ſondern, um ihm dieſe und
jene mordende Figur kennbar zu machen, daß ſie
etwas mehr ſey, als wofuͤr er ſie anſehe, daß ſie
kein Menſch, ſondern ein wandelnder Gott ſey a),
u. ſ. f. kurz! hier erſcheinen die Goͤtter in einem
hindernden Vehikulum gleichſam, und in dieſem
L 3Vehi-
[166]Kritiſche Waͤlder.
Vehikulum ſollen ſie kennbar, nicht ſichtbar
werden.


Nun aber falle das Vehikulum weg, laſſet ſie
blos Goͤtter ſeyn: die Wunde, der Schmerz bleibt
ihnen, er iſt nicht mit der Geſtalt weggefallen, in
der ſie ſich menſchlich verkoͤrpert. Mars ſchreit auf
— verlaͤßt die Schlacht, und geht himmelauf: die
Geſtalt des Acamas iſt alſo weg, und ſehet da!
die Wolkenhuͤlle iſt um ihn: mit Wolken gehet er
zum Himmel a). Und noch in ſeiner himmliſchen
Geſtalt fuͤhlt er den Schmerz, den ihm ein Menſch
zufuͤgen konnte? iſt die Wunde nicht der Geſtalt
Acamas geblieben? ſie gehoͤrt Mars: der himmli-
ſche Arzt muß ſie heilen; ſein goͤttlicher Koͤrper war
ſeiner Natur nach alſo verwundbar, wie alſo eben
ſeiner Natur nach nicht ſichtbar? oder gar nicht an-
ders als unſichtbar?


Nein! mein Homer iſt viel zu ſinnlich, als daß
er ſein ganzes Gedicht durch von ſo geiſtigen Goͤt-
tern, und von ſo feinen Allegorien, was die Wolke
hie und da bedeutet? wiſſen ſollte. Einem perſi-
ſchen Epopoͤiſten wuͤrde eine ſolche innere Unſichtbar-
keit der Goͤtter gefallen haben; allein ein griechiſches
Auge will in der Epopee auch an Gottheiten ſchoͤne
Koͤrper und himmliſche Geſtalten erblicken: es will
ſie ſchon ihrer Natur nach in dieſer ſchoͤnen Sicht-
barkeit ſehen, und nicht erſt durch ein Wunder, oder
durch
[167]Erſtes Waͤldchen.
durch die außerordentliche Gnade des Dichters, eine
Erleuchtung, eine Erhoͤhung des ſterblichen Geſichts
noͤthig haben, ſie anzuſchauen. Fuͤr ſolch ein Auge
ſind die griechiſchen Goͤtter geſchaffen. Hat aber
der Dichter es noͤthig, ſie nicht ſehen zu laſſen:
ſo kleide er ſie in eine Wolke; er werfe Nebel
vor unſere Augen. Eine ſolche Wolke, in der
ſie erſchienen, hat außerdem ja ſo manche hohe
Nebenbegriffe: den Begriff des Himmliſchen und
Erhabenen, der einem himmliſchen Weſen zukommt:
iſt ſie glaͤnzend, ſo der praͤchtigſte Thron eines uͤber-
irdiſchen Regenten; dunkel, ſo das Gewand des
Zornigen und Fuͤrchterlichen; ſchoͤn duͤftend, ſo die
Verkuͤndigerinn einer lieblichen angenehmen Gottheit
— alle dieſe Nebenideen liegen ſchon in unſerm
ſinnlichen Verſtande: ſie haben den Dichtern aller
Zeiten die vortrefflichſten Bilder geſchaffen: und
Homer ſollte dieſen edlen Gebrauch der Wolke unter-
laſſen, nicht eingeſehen haben? Er allein haͤtte da-
mit uns blos ein Hokuspokus einer poetiſchen Re-
densart machen wollen, um hier eine Entruͤckung,
dort eine innere Unſichtbarkeit, doch nicht ſo gerade
heraus zu ſagen — ich ſage nochmals, ſo kenne ich
Homer nicht.


Freilich in den ſpaͤtern Zeiten, da man die home-
riſche Mythologie quinteſſenziirte, und aus ihr ein
paar Tropfen metaphyſiſchen Geiſt abzog: da wußte
man nicht gnug von der innern Unſichtbarkeit der
L 4Goͤt-
[168]Kritiſche Waͤlder.
Goͤtter, von ihren myſtiſchen Erſcheinungen, von
dem Ueberirdiſchen ihrer Epiphanien u. ſ. w. zu ver-
nuͤnfteln; allein ſolche Theophanien, ſolche ſeine
Metaphyſik uͤber die Natur der Goͤtter, gehoͤrt in den
Kreis der ſpaͤtern Platoniſten und Pythagoraͤer, und
in das heilige Murmeln ihrer Geheimniſſe. Jch
denke doch aber, daß wir hier nicht uͤber Jamblichus,
ſondern Homer, reden.


— Kurz! ich bin mit der Urſache zufrieden, daß,
wenn der Maler mit ſeiner Wolke nicht unſichtbar
machen kann, er auch dem Dichter die Wolke nicht
nachaͤffen darf: und was brauchts da weitere Alle-
gorien und Deutungen uͤber den Dichter, unter de-
nen der Dichter verlohren geht? Nach meinem Ge-
fuͤhle gebuͤhrt den griechiſchen Goͤttern die ſchoͤnſte
Sichtbarkeit und Jugend als ein Praͤdikat ihres
Weſens: und ohne ſolche ſich einen Apollo, einen
Bacchus, einen Jupiter denken zu ſollen, ſich die
Unſichtbarkeit als den natuͤrlichen Zuſtand der Goͤt-
ter vorſtellen zu muͤſſen — das kann keine griechi-
ſche Seele: kein griechiſcher Dichter und Kuͤnſtler,
ja ſelbſt kein weiſer Epikur. Mit dem Begriffe
ſchoͤner Sichtbarkeit geht das Weſen der Goͤtter, das
Leben ihrer Geſchichte und Thaten, die ſo genau be-
ſtimmten Stuffen ihrer Jdealgeſtalten, das An-
ziehliche ihres Umganges mit Menſchenkindern: das
ganze Kraftvolle der Mythologie verlohren. Jch
ſehe nicht mehr die ſchoͤnen ſinnlichen griechiſchen
Goͤt-
[169]Erſtes Waͤldchen.
Goͤtter: ich ſehe ſichtbar ſeyn wollende Phantome!
Mit einer ſolchen Hypotheſe iſt meine beſte mytholo-
giſche und poetiſche, und Kunſtentzuͤckung getoͤdtet!
Jch mag die ketzeriſche Neuigkeit nicht: ich bleibe
bei der alten griechiſchen Rechtglaͤubigkeit.


14.


„Auch die Groͤße der homeriſchen Goͤtter kann
„der Maler nicht nachahmen!„ und was Hr. L.
daruͤber ſagt a), laͤuft auf die drei Urſachen hinaus:
daß in der Malerei weniger das Wunderbare der
poetiſchen Einbildung, ſondern mehr die Gewohnheit
zu ſehen, die anſchauliche Wahrheit des Auges
herrſche: zweitens, daß, da die Malerei innerhalb
einem Raume arbeitet, auch mehr die Proportion
und Disproportion in Betracht komme, als bei dem
Dichter, deſſen Einbildungskraft in allen Welten
des Moͤglichen und Wirklichen, nicht bloß alſo zwi-
ſchen Himmel und Erde, und am wenigſten zwiſchen
vier engen Seiten wirket. — Drittens, daß, wo
die Groͤße durch Kraft, Staͤrke, Schnelligkeit vom
Dichter ausgedruͤckt werden konnten, der Maler in
dieſem Ausdrucke ihm ganz nachbleibe, da er, der
fuͤr den Raum arbeitet, nicht eben Kraft, und der,
der fuͤr ſeinen Anblick arbeitet, nicht eben Schnel-
ligkeit der Bewegung zum Mittelpunkte ſeiner Wirk-
ſamkeit machen kann. — Es koͤnnte dieſen Urſa-
L 5chen
[170]Kritiſche Waͤlder.
chen ein ſehr philoſophiſcher Mantel umgeworfen
werden, wenn er des Macherlohns werth waͤre.


Jch bleibe gar zu gerne bei Homer, inſonderheit
wenn Hr. L. den Ausleger deſſelben machet. —
„Groͤße, Staͤrke, Schnelligkeit, ſagt Hr. L. —
„Homer hat davon noch immer einen hoͤhern wun-
„derbaren Grad fuͤr ſeine Goͤtter im Vorrath, als
„er ſeinen vorzuͤglichſten Helden beilegt. Jn An-
„ſehung der Staͤrke und Schnelligkeit wird nie-
„mand dieſe Aſſertion in Abrede ſeyn; nur doͤrfte
„er ſich vielleicht der Exempel nicht gleich erinnern,
„aus welchen es erhellet, daß der Dichter ſeinen
„Goͤttern auch eine koͤrperliche Groͤße gegeben, die
„alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſteiget.

„Selbſt Ausleger des Homers, alte ſowohl als neue,
„ſcheinen ſich nicht allezeit dieſer wunderbaren Sta-
„tur ſeiner Goͤtter gnugſam erinnert zu haben, wel-
„ches aus den lindernden Erklaͤrungen abzunehmen,
„die ſie uͤber den großen Helm der Minerva geben
„zu muͤſſen glauben„ a).


Hr. L. hat die Clarkiſch-Erneſtiniſche Ausgabe
des Homer hiebei angezogen, und ſo ſind leicht die
Ausleger des Homers, alte ſowohl als neue, gnug-
ſam zu erkennen, die ſich der wunderbaren Statur
der Goͤtter Homers nicht gnug erinnert; ſie ſind b)
Euſtathius, Clarke, der durch ſeine Anfuͤhrung
Euſtathius genehmigt, und Erneſti, welcher letztere
die
[171]Erſtes Waͤldchen.
die homeriſche Beſchreibung des Helms der Miner-
va mehr auf die Veſtigkeit, als Groͤße deſſelben
will gezogen wiſſen. Wie nun? iſt die alle natuͤr-
liche Maaße weit uͤberſteigende koͤrperliche Groͤße
ein Charakter der homeriſchen Goͤtter? ein eben ſo
offenbarer, kenntlicher und nothwendiger Charakter-
zug, als Schnelligkeit und Staͤrke? und denn noch
zum Ueberfluß haben die alten Meiſter der Bild-
hauerei, wie Hr. L. uͤberzeugt iſt, das Koloſſaliſche,
das ſie oͤfters ihren Statuen ertheilten, aus dem
Homer entlehnet?


So viel iſt leicht zu denken, daß, wenn der Dich-
ter ſeinen Goͤttern eine mehr als Helden- und Rie-
ſenſtaͤrke giebt, er dieſe Staͤrke auch nicht in einen
Pygmaͤenkoͤrper werde eingeſchloſſen haben: etwas,
das wider alle poetiſche und menſchliche Wahrſchein-
lichkeit liefe. Es waͤre dem Anſchaulichen des Dich-
ters voͤllig entgegen, menſchenaͤhnliche Goͤtter mit
unermaͤßlicher Staͤrke wirken, und unter dem ge-
woͤhnlichen Grade von Menſchengeſtalt ſehen zu laſ-
ſen. Jn myſtiſchen Geheimniſſen waͤren ſolche Goͤt-
ter willkommen, weil man um ſo mehr ſeine Ge-
ſchicklichkeit zeigen kann, Knoten aufzuloͤſen, je mehr
Knoten und Widerſpruͤche man geſchlungen: aber
im Felde der offenbaren Poeſie ſind ſolche Weſen
Mikromegas.


Daß alſo die Statur des Koͤrpers der geaͤußerten
Staͤrke nicht durchaus, und ſchon dem ſinnlichen
An-
[172]Kritiſche Waͤlder.
Anblicke nach widerſpreche! Nun aber weiter: wo
kein uͤbermenſchlicher Grad der Staͤrke geaͤußert
wird: da iſt auch keine uͤbermenſchliche Groͤße noͤ-
thig, waͤren es auch Goͤtter oder Goͤttinnen. Ja,
wo es gegentheils zum Charakter dieſer und jener
Gottheit gehoͤrt, dieſe uͤbermenſchliche Staͤrke nicht zu
beſitzen; da waͤre die hypergigantiſche Statur in dem
Anſchaulichen der Dichtkunſt ein unleidlicher Wi-
derſpruch. Jch denke, meine Folgerungen ſind
wahrſcheinlich, und ſie ſollen gewiß werden. Ho-
mer ſei Zeuge: ſein Jupiter, ſein Neptun, ſei-
ne Minerve moͤgen ſo groß ſeyn, als ſie wollen;
eine Juno von koͤniglicher Schoͤnheit ſchon nicht
voͤllig ſo. Sie mag ſo viel Großes in ihrem
Anblicke haben, daß er ſie kuhaͤugicht a) nenne;
ſo viel Erhabenes in ihrem Gliederbaue, als dem
Weibe gebuͤhrt, das in Jupiters Armen ruhet: ſie
mag, wenn ſie ſich zornig auf ihrem himmliſchen
Throne reget, den großen Olymp erſchuͤttern b)
Jdeen von ihrer Hoheit und Groͤße! Nur daß dieſe
im eigentlichen Verſtande mir nicht zuerſt durch die
koͤrperliche Statur vorgeſtellt werde: daß ſich nicht
auf dieſe, als auf den Hauptanblick, mein Auge hef-
ten doͤrfe: ſonſt verliere ich die Koͤniginn der Goͤtter,
die herrlichſte der Goͤttinnen aus den Augen: ich
ſehe ein Rieſenweib. Wo hat ſie alsdenn, die Lang-
ſtreckige? wo hat ſie alsdenn im Himmel Raum?
wie
[173]Erſtes Waͤldchen.
wie groß muß ihr himmliſches Brautgemach a) ſeyn,
das ihr Vulkan erbauet? wie groß der Schluͤſſel
und das Schloß zu dieſem Gemache b), das kein
Gott eroͤffnen kann, als ſie? wie viel Centner Am-
broſia wird ſie brauchen, um ihren Koͤrper c) zu
ſaͤubern? wie viel Tonnen Oel, um ihn zu ſalben?
wie groß wird ihr Kamm, ihr Guͤrtel, ihr Schmuck
ſeyn? wo wird ſie mit Jupiter auf dem Berge Jda
in ihrer ſuͤßen Umarmung d) Raum haben? wie,
wenn er ſie in ſeine Arme faßt, an ſeine koͤnigliche
Bruſt druͤckt, wie wird Jda und die Erde beben?
— — Jch mag nicht weiter, gnug! alles Suͤße
und Große in dem Gemaͤlde Homers von ihrer An-
kleidung, Auszierung, und Umarmung e), verſchwin-
det mit der unermaͤßlichen Geſtalt. So bald auch
nur mit einem Einigen kenntlichen Zuge die gigan-
tiſche Statur zum Hauptaugenmerke wuͤrde: ſo
ſchwinden die Graͤnzen der Schoͤnheit, oder wenn
man lieber will, der hoͤchſten Vollkommenheit im
weiblichen Gliederbaue, Mein Auge erliegt, wenn
es ins Ungeheure ſoll, und die Bewunderung, die
ich jetzt fuͤhle, verwandelt ſich in eine Art von grau-
envollem Selbſtgefuͤhle, und Schauder und Ekel.
Hat Homer nicht alſo gut gethan, daß er „ſeiner
„Goͤt-
[174]Kritiſche Waͤlder.
„Goͤttinn nicht ſo offenbar eine koͤrperliche Groͤße gab,
„die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſtiege.„


Bei ſeiner Venus waͤre dieſe noch von uͤblerer
Wirkung. Wenn ſie ihm die das ſuͤße Lachen lie-
bende Goͤttinn a) iſt: wo bleibt das ſuͤße Lachen im
Rieſengeſichte eines Weibes? Der Mund moͤge ſich
auch nur zum Laͤcheln verziehen wollen: die Lippen
ſich auch nur von fern dazu regen; der ſich verzie-
hende Mund duͤnkt mich Verzerrung, das ſich mel-
dende Lachen wird Grimaſſe, und das ausbrechende
Lachen ungeheures Gelaͤchter. Und wie ungereimt
duͤnkt mich alsdenn dieſe Rieſengeſtalt, wenn ſie
uͤber eine Ritzung ihrer Haut am Finger ſchreiet,
klaget, weinet, und den ganzen Himmel erreget!


Kurz! wo Groͤße und Staͤrke nicht das Haupt-
ſtuͤck im Charakter einer Gottheit ausmacht,
da iſt die uͤbermenſchliche Natur auch nicht ein
nothwendiges Augenmerk?
Wo der Charak-
ter der Gottheit damit aber gar nicht beſtehen
kann,
z. E. die hoͤchſte Vollkommenheit eines weib-
lichen Gliederbaues in der Juno, und die liebreizend-
ſte Schoͤnheit in der Tochter Dionens: da bleibe
ſie unſern Augen weg.
Dieſe koͤnnen, als menſch-
liche Augen, das Jdeal der hohen ſowohl als der
lieblichen Schoͤnheit eines menſchlich ſcheinenden Koͤr-
pers, nicht anders, als mit natuͤrlichem Maaße be-
ſtimmen: zwar mit dem Unterſchiede, daß in der
Male-
[175]Erſtes Waͤldchen.
Malerei dies Maaß in den Graͤnzen der Kunſt bleibt,
in der Poeſie aber ſich zu der Stuffe erheben kann,
die fuͤr die Phantaſie des Menſchen die hoͤchſte iſt;
daß aber auch dies Hoͤchſte fuͤr die Phantaſie uͤber-
ſchaulich,
in ſeinem natuͤrlichen Maaße bleibe. Geht
dies Anſchauliche Ganze verloren, uͤberſteigt die
Statur der Juno und Venus, auch nur in einer Li-
nie, die Groͤße, in welcher ich mir koͤrperliche Voll-
kommenheit und Schoͤnheit gedenke: ſo hat der
Dichter ſeinen Eindruck verfehlt. Nach einmal an-
genommenem Charakter, laͤßt ſich nicht, wie er will,
den Goͤttern eine Groͤße geben, die alle natuͤrliche
Maaße uͤberſteigt; in dem natuͤrlichen Maaße, da
ſich koͤrperliche Schoͤnheit fuͤr meine Phantaſie haͤlt,
muß ſich auch ſeine Groͤße der Venus und Juno
halten — —


Nun ſelbſt die Gottheiten, deren Charakter und
Jndividualitaͤt einmal eine Aeußerung vorzuͤgli-
cher Staͤrke
will: Minerva, der gewaltige Erd-
umfaſſer Neptun, und denn der maͤchtigſte aller
Goͤtter, Jupiter; Und ich wiederhole aufs neue:
daß bei ihnen die koͤrperliche Groͤße ihren Wir-
kungen nur nicht widerſpreche: nicht aber, daß
von Groͤße auf Staͤrke bei Homer der Schluß
gemacht werden doͤrfe!


Homer gab uns keinen Einzigen der Goͤtter ge-
malet: ſo auch nicht ihre, „alles natuͤrliche Maaß
„uͤber-
[176]Kritiſche Waͤlder.
„uͤberſteigende Groͤße„: er zeigt uns ihre Natur
in Wirkung, in Bewegung.


Der große Jupiter! aber iſt er bei Homer deß-
wegen groß, weil er, wie jener Engel des Korans,
von einer ſeiner Augenbranen bis zur andern ſieben
Tagereiſen haͤtte? Das wuͤrde uns Jupiter der Un-
geheure, nicht aber der Große duͤnken: Homer
weiß alſo beſſern Weg. Er winkt mit ſeinem
ſchwaͤrzlichen Augenbranen der Thetis ſein hoͤchſtes
Zeichen zu: das ambroſiſche Haar auf dem un-
ſterblichen Haupte des Koͤniges wallet, und der
große Olympus bebt a) — das iſt der große Ju-
piter! Nicht wie lange, ſondern wie machtvoll
ſeine Augenbrane und ſein Haar ſey: nicht wie ge-
raͤumig, ſondern wie gebietend das Haupt des un-
ſterblichen Koͤnigs: das iſt das Augenmerk des
Dichters. Das iſt Jupiter, der Maͤchtige! Zevs,
der Staͤdteverwuͤſter.


Einmal b) will dieſer Jupiter ſeine uͤberwiegende
Macht vor allen Goͤttern recht ausdruͤcken: er miſ-
ſet ſich alſo mit ihnen — aber an koͤrperlicher Groͤße?
an Laͤnge der Arme? an Staͤrke der Sehnen? un-
wuͤrdiger, ungeheurer Anblick! Jupiter hat einen
beſſern Vorſchlag an ſeine Goͤtter und Goͤttinnen.
Alle ſollten ſich an die himmelherab hangende gol-
dene Kette haͤngen, und mit allen Kraͤften ziehen:
den Jupiter wuͤrden ſie damit nicht vom Himmel
zur
[177]Erſtes Waͤldchen.
zur Erde reißen koͤnnen; ich aber, faͤhrt er fort,
„wenn ich ziehen wollte, mit Erde und Meer wuͤrde
„ich ſie aufziehen, alsdenn die Kette um den Gi-
„pfel des Olympus ſchlingen: da hingen ſie Alle in
„der Hoͤhe. So weit maͤchtiger bin ich, als Goͤtter
„und Menſchen.„ Es kann kein erhabener und
einfaͤltiger Bild gefunden werden, als dies von der
Uebermacht des hoͤchſten Gottes; allein ein Bild
von der Uebergroͤße dieſes Gottes uͤber Goͤtter und
Menſchen findet ſich nicht.


So wird die Groͤße Neptunus durch ſeine
Schritte a) mehr errathen und angedeutet, als ge-
ſchildert: denn eine Ausmeſſung ſeiner ganzen Ge-
ſtalt, nach Maasgabe dieſer Schritte, waͤre unge-
heuer und nicht Homeriſch. Vielmehr hat der
weiſe Dichter auch hier in Aeußerung der Groͤße
durch die Staͤrke, und der Staͤrke durch Bewegung
eine Leiter geſetzt, um nach der Stufe ſeiner Goͤtter
auch ihnen die Wuͤrde zuzuwiegen, die die groͤßeſte
Kraft mit der groͤßeſten Sparſamkeit des Ausdrucks
aͤußert. So wie der Hoͤchſte der Goͤtter ſeine Groͤße
durch einen Wink: ſo zeigt der Naͤchſte nach ihm
Man
[178]Kritiſche Waͤlder
an Hoheit, Neptun, die ſeinige eine Stufe tiefer —
ſchreitenda). Die Groͤße Minervens wird wieder
durch ihre Staͤrke gemeſſen, da ſie einen ungeheuren
Stein b) ergreift, und den langſtreckigen Mars zu
Boden wirft. Vielleicht aber legt Hr. L. mehr Ge-
wicht in dieſen Stein, als Homer in ihn legen woll-
te. „Er war ein ſchwarzer, rauher, großer Stein,
„der zum Grenzſtein dahingewaͤlzet war von Maͤn-
„nern voriger Zeiten.„ Ob nun mit dieſem Homer
den Maasſtab machen wollen: daß ein Held ſeiner
Zeit gleich zween Maͤnnern, und ein Held alter Zeit
gleich zween Helden, und dieſer Stein alſo gleich ſo
viel vierfach zuſammengeſetzten Mannskraͤften be-
rechnet werden muͤſſe, als Maͤnner ihn gelegt hat-
ten, weiß ich ſo genau nicht. Homer kann vielleicht
blos ſagen: es war ein uralter Grenzſtein. —


Auch die Groͤße des Helms der Minerva c) iſt
mir noch ſtrittig; ob ſie nach Maas oder Gewichte
zu berechnen ſey. „Um ihre Schultern legt Pal-
„las die fuͤrchterliche Aegis: die ringsum von Furcht
„umgeben, in der die Zwietracht, und die Staͤrke,
„und die wilde Mordluſt: in der auch das Haupt
„der Gorgone des abſcheulichen Ungeheuers einge-
„graben war, fuͤrchterlich, graͤulich, das Schreck-
„bild des donnernden Zevs — aufs Haupt ſetzte ſie
„den goldnen Helm — —


‘εκατον πολεων πρυλεεσσ’ αραρυιαν.’ ()
Was
[179]Erſtes Waͤldchen.

Was iſt nun das letzte, der den Fußvoͤlkern aus
hundert Staͤdten gnug war?
Es ſey, wie Er-
neſti
will, der den Anfall einer Armee aus hun-
dert Staͤdten,
geſchweige denn aus einer, aus-
halten koͤnnte.
Oder wie der Scholiaſt will, der
die Bilder von Fußvoͤlkern aus hundert Staͤd-
ten auf ſich haͤtte eingegraben haben koͤnnen:

alsdenn ſtimmt dieſe Erklaͤrung in den Zuſammen-
hang der Beſchreibung von der fuͤrchterlichen Aegis.
Oder wie andre wollen, der Helm, den die Fuß-
voͤlker aus hundert Staͤdten zu heben, zu tra-
gen
kaum hinreichten: dieſe Erklaͤrung duͤnkt mir
nach dem Tone Homers die beſte; denn ſie giebt das
ſtaͤrkſte Bild von der innern Macht der Goͤttinn, die
ſich hier in dem Tragen eines Helms, auf eine ſtille
erhabne Weiſe aͤußert. — Es ſei indeſſen welche
von dieſen Erklaͤrungen es wolle: keine iſt erdacht,
um die Stelle zu lindern, ſondern nur den Sinn
Homers zu erklaͤren, und nach allen duͤnkt mir doch
die, obgleich uralte, die Hr. L. annimmt a): „der
„Helm, unter welchem ſich ſo viel Streiter, als
„hundert Staͤdte in das Feld zu ſtellen vermoͤgen,
„verbergen koͤnnen,„ dieſe duͤnkt mir unter allen die
letzte. Wo iſt je ein Helm dazu geweſen, um zu
ſehen, wie viel Streiter unter ihm Raum haben?
wie muͤſſen die Helden ſtehen, wenn ſie mit dem
Helme, wie mit einem Scheffel ſollen gemeſſen wer-
M 2den?
[180]Kritiſche Waͤlder.
den? wie waͤre alſo Homer auf dies kindiſche oder
romantiſche Bild gekommen, die Streiter von hun-
dert Staͤdten, ſich in einem allgemeinen Blindekuh-
ſpiele hierunter verkriechen zu laſſen? u. ſ. w. Kurz-
um! Homer giebt doch kein Maas der Minerve an
ihrer Statur des Koͤrpers geradehin; ſondern laͤßt
uns den Schluß von ihrem Helme auf ihre Groͤße,
oder, wenn die mir ſchicklichſte Erklaͤrung goͤlte, viel-
mehr auf ihre innere Staͤrke, „ſie ſetzte den Helm
„aufs Haupt, der den Kraͤften eines Fußvolks
„aus hundert Staͤdten zu ſchaffen geben koͤnnte,:
welch ein ſtilles Bild ihrer goͤttlichen Staͤrke!


Mars, der Menſchenwuͤrger, in allem roh und
ungeheuer, in ſeinem Anfalle und in ſeinem Geſchreie
— warum ſollte ers nicht auch in ſeinem Hinſturze
ſeyn? Und da erlaubt ſich Homer das Bild, daß
er, ſo wie er zehn tauſend Menſchen gleich auf-
ſchreien, auch im Falle ſieben Hufen Landes a) be-
decken kann: ein gigantiſcher Kerl! aber das iſt
auch Mars! Wuͤrde Homer jeden andern Gott ihm
nachſchreien, und im Falle nachſtrecken laſſen? Wie
wuͤrde wohl der hohen Jund, oder der lieblichen Ve-
nus eine ſo ſeltene Stellung laſſen? — Zudem mißt
Homer ſeinen Koloſſus, da er liegt: aufrecht wag-
te ers nicht, uns den ungeheuren Aufblick abzu-
zwingen. Zudem iſts blos im Kampfe der Goͤtter
mit Goͤttern, wo Homer alle Kraͤfte zuſammen
nimmt,
[181]Erſtes Waͤldchen.
nimmt, einen Gigantenkampf, der ſich von einem
menſchlichen Gefechte unterſchiede, zu ſchildern. Jn
Schlachtordnung mit Menſchen zuſammengeſtellt,
Fuͤhrer menſchlicher Heere, iſt die uͤbermenſchliche
Statur „die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſtei-
„get, „ganz verſchwunden. Mars und Minerve,
da ſie ein Heer auf dem Schilde anfuͤhren, koͤnnen
ſich durch goldene Kleider, durch Schoͤnheit, durch
eine anſehnliche und auszeichnende Statur in ihrer
Ruͤſtung unterſcheiden; denn ſie ſollen ja Goͤtter
auf dem Schilde vorſtellen — ſie koͤnnen in dieſer
anſehnlichen Geſtalt vorragen, und die Menſchen-
voͤlker etwas niedriger a) ſeyn; aber an einen ſieben
Hufen langen Mars iſt ja hier nicht zu gedenken,
und ich weiß nicht, wie Hr. L. eine Stelle fuͤr ſich
anfuͤhret b), die nur ſehr wenig von ſeiner Aſſer-
tion beweiſet. Homer lindert die Groͤße der unter
Menſchen wandelnden Goͤtter hier ſo, als ſie Clarke
und Erneſti am vorigen Orte nicht lindern wollten,
und uͤberhaupt gehoͤrt die Vorſtellung auf dem
Schilde hier nicht zur Sache.


Es iſt Zeit, daß ich ein Ende mache. Groͤße,
Staͤrke, Schnelligkeit ſind bei Homer nicht gleich
wichtige Praͤdikate, um ſeine Goͤtter von ſeinen vor-
zuͤglichſten Helden zu unterſcheiden c). Selbſt
von Staͤrke und Schnelligkeit wird niemand, der den
Homer auch nur ein einziges mal fluͤchtig durchla[u]-
M 3fen,
[182]Kritiſche Waͤlder.
fen, dieſe Aſſertion zugeben. Diomedes uͤberwaͤl-
tigt die unkriegeriſche Venus, und Diomedes war
doch nicht einmal Achilles. Er uͤberwaͤltigt Mars,
und hier mag Dione fuͤr mich das Wort fuͤhren a).


Der Jndividualcharakter der homeriſchen
Goͤtter und Goͤttinnen iſt alſo das Hauptaugenmerk,
nach welchem ſich auch ihre Groͤße und Staͤrke
richtet. Hier kommt kein Allgemeinſatz in Betrach-
tung: Charakter iſt hier uͤber Gottheit.


Es giebt alſo bei ihm Goͤttinnen, die an Staͤrke
unter den Helden bleiben: Goͤttinnen alſo auch, die
an Groͤße den Menſchen gleich ſeyn muͤſſen: Goͤtter,
die eben nicht groͤßer ſeyn doͤrfen. Fuͤr das erſte
zeuge Venus: fuͤr das zweite Juno, Venus, und viel-
leicht alle Goͤttinnen: fuͤr das dritte Apollo.


Ferner: Groͤße iſt niemals Hauptzweck des
Dichters, um aus ihr Staͤrke zu folgern; ſondern
nur immer da, um dem Bilde der Macht und Ho-
heit nicht zu widerſprechen.


Kann dieſe alſo durch andre Merkmaale erkannt
werden, um ſo gefaͤlliger dem Dichter: und welches
iſt ein beſſeres Kennzeichen von Hoheit, als Macht
in der Wirkung, Schnelligkeit in der Bewegung?


Aus dieſer alſo laͤßt Homer auf jene ſchließen:
nicht aber umgekehrt. Aus dem Winke Zevs, aus
dem Schritt Neptuns, aus dem Wurfe der Minerva
auf ihre Groͤße, nicht aber im Gegentheil.


So
[183]Erſtes Waͤldchen.

So wie Er gerne in ſeiner Schoͤpfung zwiſchen
Himmel und Erde bleibt a): ſo uͤberſpannet er auch
nie gern die Phantaſie in dem Maaße der Groͤße.
Wo ein Zug hieruͤber noͤthig war, ward er einge-
ſtreuet, und gelindert.


Jnſonderheit unter Menſchen gelindert: denn
zu einem Goͤttertreffen b), und einem Goͤtterhimmel,
iſt ſchon eine kleine Ueberſpannung zum Wunderba-
ren μωρον ſeiner Goͤtter nothwendig. Wer kann
etwas ſchildern, das er nie geſehen, das er blos durch
Menſchenerhoͤhung trifft?


Und auch hier iſts fuͤr mich kein Axiom, „daß
„der Dichter ſeinen Goͤttern eine Groͤße gegeben,
„die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſteiget.„ Denn
Homer hat bei dem Unendlichen ſelbſt lauter natuͤr-
liche Maaße, und auch deßwegen unter tauſend an-
dern Urſachen iſt er mein Dichter.


Ob endlich die Bildhauer das Koloſſaliſche, das
ſie ihren Goͤtterſtatuen oͤfters ertheilten, aus Homer
entlehnt? c) — Dieſe Frage duͤnkt mich ſo, als jene
indianiſche: worauf ruht die Erde? auf einem Ele-
phanten! und worauf der Elephant? — Von wem
naͤmlich mag denn Homer das Koloſſaliſche entlehnt
haben, das er, hie und da, dieſem und jenem Gotte
giebt? Mich duͤnkt, man koͤnne in Aegypten den
Urſprung von dieſen und mehreren homeriſchen
M 4Jdeen
[184]Kritiſche Waͤlder.
Jdeen finden, inſonderheit an Orten, wo das Alte
der Goͤttererzaͤlung, wo die Tradition von mytho-
logiſchen Anekdoten herrſchet, die ſtatt des Schoͤ-
nen, nach welchem er ſonſt ſeine Goͤtter ſchaffet,
ins wuͤſte Große gehen. Jch habe Luſt, uͤber ein
Paar Proben dieſer Behauptung einige fliegende
Schriftchen a) zu leſen, die zu gut ſcheinen, um un-
ter Schriſten ihrer Art zu verfliegen, inſonderheit,
da mir die Auſgabe im Ganzen betrachtet: „was
„hat Homer von den Aegyptern entlehnet? wie hat
„er die alten Sagen voriger Zeiten in das Schoͤ-
„ne ſeiner Kunſt veraͤndert?„ groß und noch un-
genutzt vorkommt.


15.


Einige Bilder, die Hr. L. aus Homer an-
fuͤhrt b), ſind nicht uͤberſetzt, nur indirekte, und
nach einzelnen Zuͤgen vorgeſtellt — ſie enthalten
aber noch in dieſer Vorſtellung ſo viel Leben, daß
ich an der Ueberſetzung Homers, durch einen Origi-
nalgeiſt, in unſere Sprache nicht verzweifle. Jch
leſe Gott Lob! meinen Homer in ſeiner Sprache:
noch immer aber wuͤrde ich ihn mit Entzuͤcken in
der meinigen haben leſen wollen, wenn ein Mein-
hard
davon auch nur einen Verſuch geliefert haͤtte.
Dieſer wuͤrdige Mann beſaß ſo viel Gabe des Aus-
drucks
[185]Erſtes Waͤldchen.
drucks, die Poeſie einer fremden Sprache in die un-
ſere zu proſaiſiren, oder wenn man lieber will, die
Proſe unſrer Sprache ſo geſchickt zum einfaͤltigen
Adel der Poeſie eines fremden Ausdrucks zu erheben,
daß ihn die Muſe unſres Vaterlandes beſtimmt zu
haben ſchien, der Mund fremder Nationen unter
uns zu werden. Dies iſt, wie ich glaube, der
Hauptzug ſeiner Verdienſte; und wie haͤtte er dieſe
durch eine Ueberſetzung Homers nicht geſteigert!
Grieche muß ich uͤberdem ſchon werden, wenn ich
Homer leſe, ich leſe ihn, wo ich wolle: warum denn
nicht in meiner Mutterſprache? Jnsgeheim muß ich
ihn doch in dieſer ſchon jetzo leſen: insgeheim uͤber-
ſetzt ihn ſich die Seele des Leſers, wo ſie kann, ſelbſt
wenn ſie ihn griechiſch hoͤrt: und ich ſinnlicher Leſer!
ich kann mir ohne dieſe geheime Gedankenuͤberſetzung
ſogar kein wahrhaftig nutzbares und lebendiges Le-
ſen Homers denken. Nur denn erſt leſe ich, als
hoͤrte ich ihn, wenn ich mir ihn uͤberſetze: er ſinget
mir griechiſch vor, und eben ſo ſchnell, ſo harmo-
niſch, ſo edel ſuchen ihn meine deutſchen Gedanken
nachzufliegen: alsdenn und alsdenn nur vermag ich
mir und andern von Homer lebendige beſtimmte Re-
chenſchaft zu geben, und ihn mit ganzer Seele zu
fuͤhlen. Jn jedem andern Falle, glaube ich, lieſet
man ihn als Commentator, als Scholiaſt, als
Schulgelehrter, oder Sprachlehrling, und dies Le-
ſen iſt unbeſtimmt oder todt. Ein anderes iſt,
M 5ſagt
[186]Kritiſche Waͤlder.
ſagt Winkelmann, Homer verſtehen, ein anderes,
ſich denſelben erklaͤren koͤnnen; und dies geſchieht in
meiner Seele nicht anders, als durch eine geheime
Ueberſetzung, durch eine ſchnelle Umwandlung in
meine Denkart und Sprache.


Ueberdem iſt dieſe, in Betracht die Ueberſetze-
rinn Homers zu werden, weit uͤber die Franzoͤſiſche
und Engliſche hinaus; ſie allein kann vielleicht ei-
nen Mittelweg zwiſchen Umſchreibung und Schul-
verſion, wie die meiſten Lateiniſchen ſind, finden:
und dieſer Mittelweg heiße mit einem altdeutſchen
Worte, deſſen ſtarker Gebrauch uns durch ſo man-
che ſchlechte Ausuͤbung veraͤchtlich und laͤcherlich ge-
worden: Verdeutſchung. Freilich werde ich mei-
nen Homer, auch wenn Meinhard ihn uͤberſetzt haͤt-
te, in ſeiner Urſchrift immer fort ſtudiren; nur wuͤrde
ich mich auch nicht ſchaͤmen, die Ueberſetzung neben
an liegen zu haben, bei jedem ſtarken Bilde, das ich
in meiner Mutterſprache ganz fuͤhlen will, in ſie
hinein zu blicken, mit ihr zu wetteifern, — ſo leſe
ich Homer.


Beduͤrfniß iſts alſo nicht, wenn ich mir einen
meinhardſchen Homer wuͤnſche: es iſt Patriotis-
mus,
Gefuͤhl fuͤr ſeine wahre Leſemethode, Gefuͤhl
fuͤr meine Mutterſprache gegen ſo manche ſuͤßlatei-
niſche Ueberſetzung von Hektor und Andromache
z. E. u. ſ. w. a) betrachtet: Gefuͤhl endlich gegen
die
[187]Erſtes Waͤldchen.
die unwichtigen Gruͤnde a), womit man ein Genie,
das zu interpretiren da iſt, vom Homer abfchrecken,
und hinwegſegnen will. Wie? wenn Pope auch ſo
gedacht haͤtte: wo waͤre der engliſche Homer geblie-
ben? und wird wohl ein vernuͤnftiger Englaͤnder,
der Homer griechiſch leſen kann, ihn nicht leſen wol-
len — weil ihn Pope engliſch geliefert? — —


Wenn dies gute Wort uͤber Homer hier nicht
voͤllig an ſeiner Stelle ſteht: ſo haͤtte es doch irgend-
wo anders eine Stelle verdient, und ich fahre fort.
„Es iſt unmoͤglich, ſagt Hr. L. b), die muſikaliſche
„Malerei, welche die Worte des Dichters mit hoͤ-
„ren laſſen, in eine andre Sprache uͤberzutragen,„
und an einem andern Orte c), wo er die fortſchrei-
tende Manier Homers vortrefflich entwickelt, ent-
geht ihm auch nicht der Vortheil, den ihm ſeine
Sprache gewaͤhrte, „die ihm nicht allein alle moͤg-
„liche Freiheit in Haͤufung und Zuſammenſetzung
„der Beiwoͤrter laͤßt, ſondern auch fuͤr dieſe gehaͤuf-
„ten Beiwoͤrter eine ſo gluͤckliche Ordnung hat, daß
„der nachtheiligen Suſpenſion ihrer Beziehung da-
„durch abgeholfen wird. An einer oder mehrern
„dieſer Bequemlichkeiten fehlt es den neuern Spra-
„chen durchgaͤngig. Auch unſre Sprache hat ſie
„nicht, oder welches einerlei iſt, ſie kann ſie nur
„ſelten ohne Zweideutigkeit nutzen.„ Mir haben
dieſe
[188]Kritiſche Waͤlder.
dieſe Bemerkungen einen alten Gedanken wieder in
die Seele gebracht, den ich bei Homer immer em-
pfunden, und zu dem dieſe einige Zuͤge mit ent-
halten.


Homer ſang, ehe ſchriftſtelleriſche Proſe da
war: er weiß alſo von keinen geſchloſſenen Perioden.
Nicht, als ob in ihm kein einiges Punkt waͤre; die hat
er, mein Leſer: und hat er nicht gnug, ſo klecke ihm
noch mehrere zu. Jch rede von keinen Unterſchei-
dungszeichen, in welche unſre Sprachlehrer das We-
ſentliche des Perioden ſetzen, ſondern von der Zuſam-
menordnung vieler einzelnen Zuͤge, zu einem ganzen
Gemaͤlde, das daher anfaͤngt, wo uns die Sache
in die Augen fiel, Zug vor Zug uns weiter fuͤhrt,
aber dieſe Zuͤge verſchraͤnket, ſo umkehret, daß
der Sinn des Ganzen aufgehalten, daß er nicht
eher vollendet iſt, bis wir zu Ende ſind. Und dies
Kunſtſtuͤck des proſaiſchen Perioden, behaupte ich,
hat Homer nicht. Bei ihm faͤllt gleichſam Zug
nach Zug aus einander; er ſchreitet mit jedem Bei-
worte weiter: von keiner Verſchraͤnkung, von einer
kuͤnſtlichen Suſpenſion des Sinnes weiß er nichts.
„Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem
„Praͤdikate, und laͤßt die andern nachfolgen; er
„ſagt „runde Raͤder, eherne, achtſpeichichte„ a)
„So wiſſen wir mit eins, wovon er redet, und
„werden der natuͤrlichen Ordnung des Denkens ge-
„maͤß,
[189]Erſtes Waͤldchen.
„maͤß, erſt mit dem Dinge, und dann mit ſeinen
„Zufaͤlligkeiten bekannt. Dieſen Vortheil hat
„unſre Sprache nicht.„ Keine neuere Sprache
hat ihn, die zur Proſe urſpruͤnglich gebildet
worden.


Und wenn in dieſem Fortſchreitenden eben
Homers Manier beſtehet: und ſeine Sprache (er
pflanzte ſie auf ſeine Dichter fort) und nur ſeine
Sprache dies Fortſchreitende zur Manier, zum Ge-
ſetze ihrer Zuſammenordnung macht: wie in einer
Ueberſetzung; ſo wird Homer in einer Ueberſetzung
nach dieſer neuen Conſtruktionsmanier, die einmal
ein Geſetz unſrer Sprachen geworden, ſeine Ma-
nier,
das Weſen ſeiner Poeſie, das mit jedem Zu-
ge Fortſchreitende verlieren: er wird proſaiſirt
werden. Proſaiſirt, nicht in den Farben, in den
Figuren ſeiner Bilder: ſondern in der Art ihrer
Stellung, in Compoſition und Manier, und da
denke ich, hat er mehr verlohren, als durch jedes
Andere! Ein ſolcher Verluſt geht die Art des Aus-
drucks in ſeinem ganzen Werke durch, er iſt der
groͤßte, denn er hindert den Gang ſeiner Muſe.


Jch nehme ſein Bild vom herabſteigenden Apol-
lo, und ſage: So weit das Leben uͤber das Gemaͤl-
de geht, ſo weit iſt hier der Dichter uͤber den Pro-
ſaiſten einer neuern Sprache: Apollo ſteigt von den
Hoͤhen des Olympus: ergrimmt: Bogen und Koͤ-
cher auf der Schulter. Jch ſehe ihn nicht allein
herab-
[190]Kritiſche Waͤlder.
herabſteigen, ich hoͤre ihn. Mit jedem Schritte er-
klingen die Pfeile um die Schulter des Zornigen.
Er geht einher, gleich der Nacht. Nun ſitzt er ge-
gen den Schiffen uͤber, und ſchnellet — fuͤrchter-
lich erklingt der ſilberne Bogen — den erſten Pfeil
auf die Maulthiere und Hunde. Sodann faßt er
mit dem giftigern Pfeile die Menſchen ſelbſt; und
uͤberall lodern unaufhoͤrlich Holtzſtoͤße mit Leichna-
men. „Es iſt unmoͤglich, ſagt Hr. L., deſſen
Worte ich mich meiſtens bedient, die muſikaliſche
Malerei, welche die Worte des Dichters mit hoͤren
laſſen, in eine andere Sprache mit uͤberzutragen.
Und eben ſo unmoͤglich, fahre ich fort, iſts dem
Fortſchreitenden des Bildes, das mit jedem Zuge
weiter tritt, in einer neuern Sprache Fuß vor Fuß
nachzufolgen. Mit jedem neuen Worte iſt ein
Gemaͤlde.


Nun laßt uns Homer in einer neuern Spra-
che hoͤren: es ſey in Pope ſelbſt, der gewiß das
Maas ſeiner Sprache ſo verſtand, als kein Dichter
vielleicht vor und nach ihm. Umwerfen muß er
die Worte, er muß umſchreiben a). Ein Wort
bei Homer wird ihm ein abgetrenntes Comma,
ein fortlaufender Zug ſteht in ihm einzeln da, wie
eine Erklaͤrung. Hier nimmt er einen Umſtand
voraus, dort erklaͤrt er ihn: warum er ſey? kurz,
die fortſchreitende Manier Homers iſt weg. Ho-
mers
[191]Erſtes Waͤldchen.
mers Bild iſt eine ausgemalte Schilderei, ein hi-
ſtoriſches Gemaͤlde, ſtillſtehend, nur mit poetiſchen
Farben. Die Poeſie Homers, auch in Pope’s Spra-
che, iſt poetiſche, ſchoͤngereimte Proſe.


Um die Schwierigkeit einer homeriſchen Ueber-
ſetzung zu zeigen: fuͤhre ich noch eine Eigenheit in
Homer an, die ich ſeiner Sprachmanier abgemer-
ket, und von unſern Sprachen noch weiter abgehet.
Sie iſt ein gewiſſes Wiederkommen auf einen
Hauptzug, der ſchon da war, und jetzt das Band ſeyn
ſoll, um das Bild weiter zu fuͤhren, und die aus
einander fallenden Zuͤge zu einem Ganzen zu verknuͤ-
pfen. Exempel moͤgen auch erklaͤren. Der zorni-
ge Apollo ſteigt vom Olympus: ergrimmt: Koͤcher
und Bogen auf der Schulter — iſt das Bild
aus? Nein! es rollt fort, aber um die ſchon gelie-
ferten Zuͤge uns im Auge zu erhalten, ſcheint es die
folgenden blos aus den vorigen zu entwickeln.
Koͤcher und Bogen auf der Schulter? Ja! die
Pfeile erklangen auf der Schulter. Ergrimmt
ſtieg Apollo nieder? Ja! ſie erklangen auf der
Schulter des Zornigen! Er ſtieg nieder — er
gieng? ſie klangen alſo mit jedem Tritte des Gan-
ges.
Nun iſt Homer da, wo er ausgieng: er
ſchritt fort, indem er zuruͤcktrat: er hat jeden ver-
gangnen Zug erneuert: noch haben wir das Ganze
vor Augen. Auf eben die Art rollet er ſein Bild
weiter. Der letzte Zug erinnerte uns an die Tritte
des
[192]Kritiſche Waͤlder.
des Schreitenden, und wird weiter gefuͤhrt: der
Schreitende gieng der Nacht gleich. Weßwegen
Apollo Nacht um ſich geworfen? hat der Dichter
nicht Zeit zu ſagen, er laͤßt es errathen, es war ein
fremder Zug in ſeinem Gemaͤlde hier, an die zu
denken, die er jetzt, mit Nacht umdeckt, vorbei
ſtrich: er ſtoͤret ſich nicht im Bilde des gehenden
Gottes. Nun iſt der Gehende die Schiffe vorbei,
weit vorbei, er ſitzt, er ſchnellet einen Pfeil —
trift er, ſo iſt das Bild zu Ende; aber noch muß
es nicht zu Ende ſeyn. Das Bild des klingenden
Bogens waͤre alsdenn verloren: es wird erſt wieder
erweckt — fuͤrchterlich alſo erklingt der ſilber-
ne Bogen;
nun faßt der Pfeil, der erſte, der an-
dre, Thiere, Hunde, Menſchen, Scheiterhaufen
flammen: ſo flogen die Pfeile des Gottes neun Ta-
ge durch das Heer — — Jetzt iſt das Gemaͤl-
de zu Ende: der Gott, Bogen, Pfeil, die Wirkung
derſelben, alles iſt vor Augen: kein Zug verlohren;
keine Farbe mit einem vorbeifliegenden Worte weg-
geſtorben: er weckte jede zu rechter Zeit wiederho-
lend wieder auf: das Bild rollet zirkelnd weiter.


So machen es nicht unſre poetiſchen Schilde-
rer: ſie malen mit jedem Worte, und mit jedem
Worte iſt auch die Farbe weg: der Zug verſchwun-
den, am Ende haben wir nur eben das Letzte: nichts
mehr. So aber nicht der Erſte, der Dichter: er
webt wiederholende Zuͤge ein, die zum zweitenmal
das
[193]Erſtes Waͤldchen.
das Bild tieſer einpraͤgen, eindruͤcken, und einen Sta-
chel in der Seele zuruͤck laſſen, wie Eupolis, der Komoͤ-
dienſchreiber, von dem groͤßten Redner Griechenlan-
des, dem Perikles, ſagte. Die Manier der Kompoſi-
tion ſeiner Bilder gleicht der Sprechart des Ulyſſes,
deſſen Worte wie die Schneeflocken flogen, das iſt,
wie Plinius ſagt, crebre, aſſidue, large. Er laͤßt
keinen Stein unbewegt, um zum Ziele zu treffen,
und ſeine Pfeile ſind, wie die des Philoktets wie-
derkommend.


Menelaus wird den Raͤuber ſeiner Ehre und
ſeiner Gattinn vor dem Heere anſichtig, und „freuet
„ſich wie ein Loͤwe, der auf einen großen Raub
„faͤllt.„ Nun waͤre das Bild zu Ende, aber fuͤr
Homer iſts noch nicht tief gnug in der Seele. Was
iſt das: der auf einen großen Koͤrper faͤllt?
Homer faͤhrt wiederholend fort: wenn er einen
hoͤrnichten Hirſch, oder eine wilde Ziege ge-
ſunden.
Nun waͤre uns wieder das Bild ſeiner
Freude zu weit vom Auge entfernet: es rollt alſo wei-
ter: hungrig war er: gierig verſchlingt ers!
Und um den letzten Stachel in der Seele zu laſſen,
von ſeinem gierigen Schlingen, von ſeiner erhaſchen-
den Freude: ſo erweckt Homer hinter ihm eine laute
kommende Jagd: ſchnelle Hunde, bluͤhende junge
Jaͤger verfolgen ihn. Nun iſt das Bild ganz; ich
ſehe den gierigen Loͤwen, den Raub, ſein Erhaſchen,
und, was der Raub ſey, ſeine Freude, und ſeine
Ndie
[194]Kritiſche Waͤlder.
die Gefahr vergeſſende Gierigkeit. So freute ſich
Menelaus u. ſ. w. a). Sein Gemaͤlde iſt ein Kreis-
bild, wo ein Zug in den andern faͤllt, wo das Vo-
rige zuruͤck kehrt, um das Folgende zu entwickeln.


Jch muͤßte alle Bilder, alle Gleichniſſe Homers
abſchreiben, wenn ich alle Beiſpiele geben wollte;
denn ſie ſind alle nach einer Manier. Nicht immer
ſtroͤmen neue Zuͤge herzu: die Vorigen kommen wie-
der, malen weiter: der Tanz der Figuren kehrt in
ſich zuruͤck, und bricht ploͤtzlich ab. Handlung
und Empfindung, Zuſtand und Bewegung wech-
ſeln: und gemeiniglich nimmt ſich das Wort, das
die Handlung wieder erneuern, das ein Band vori-
ger Zuͤge ſeyn ſoll, auch dadurch aus, daß es einen
Vers anfaͤngt, und alſo die Rede auf ſich ſtuͤtzet.
Jedes Bild Homers iſt eine muſikaliſche Malerei:
der gegebene Ton zittert noch eine Weile in un-
ſerm Ohre: will er erſterben; ſo toͤnt dieſelbe Sai-
te, der vorige Ton kommt verſtaͤrkt wieder; alle
vereinigen ſich zum Vollſtimmigen des Bildes. So
uͤberwindet Homer das Hinderniß ſeiner Kunſt, daß
ihre Wirkung gleichſam jeden Augenblick verſchwin-
det; ſo macht er jeden Zug ſeines Bildes daurend.


Jch habe ein Paar Proben, von der feinen
Kunſt Homers in ſeiner Bildercompoſition, von Sei-
ten der Sprache gegeben, um zu zeigen, daß ich zu
einer Ueberſetzung vielleicht Schwierigkeiten finde,
von
[195]Erſtes Waͤldchen.
von denen manche nichts wiſſen, die recht viel von
Homers Ueberſetzung ſprechen koͤnnen; indeſſen brin-
gen mich auch dieſe Schwierigkeiten noch nicht zur
Verzweiflung. Auch hier wird das Genie Rath
finden: es wird zerſtuͤcken, und wiederholen — ſter-
ben laſſen, und wieder vors Auge bringen, und dem
Homer wenigſtens nacheifern. — Jch wollte, daß
Hr. L. ſich uͤber dies Wiederkommende in Homers
Bildern erklaͤren moͤchte. Homer ſchildert nicht;
wo er aber muß, da braucht er das angezeigte Kunſt-
ſtuͤck, um mittelſt jeden Augenblick ſchwindender,
aber wiederkommender Toͤne das Ganze eines Ein-
drucks zu lieſern. — — Aus der Tonkunſt koͤnn-
te dieſe Energie ſeiner Manier am beſten erlaͤuterk
werden.


16.


Ueberhaupt muß man nicht denken, daß ein
Philoſoph, der den Unterſchied zwiſchen Poeſie und
einer ſchoͤnen Kunſt zu entwickeln unternimmt, da-
mit das ganze Weſen der Dichtkunſt vollſtaͤndig
erklaͤren wolle. Hr. L. zeigt, was die Dichtkunſt
gegen Malerei gehalten nicht ſey; um aber zu ſehen,
was ſie denn an ſich in ihrem ganzen Weſen voͤllig
ſey, muͤßte ſie mit allen ſchweſterlichen Kuͤnſten
und Wiſſenſchaften z. E. Muſik, Tanzkunſt und
Redekunſt verglichen, und philoſophiſch unterſchie-
den werden.


N 2Ma-
[196]Kritiſche Waͤlder.

Malerei wirkt im Raume; Poeſie durch Zeit-
folge. Jene durch Figuren und Farben; dieſe
durch artikulirte Toͤne. Jene hat alſo Koͤrper,
dieſe Handlungen zu eigentlichen Gegenſtaͤnden.
„So weit iſt Hr. Leſſing in ſeiner Entwicklung ge-
kommen. Nun nehme ein philoſophiſcher Ton-
kuͤnſtler ſein Werk auf: wie fern haben Poeſie und
Tonkunſt gemeine Regeln, da ſie beide durch die
Zeitfolge wirken? Wie geht jene ab, da ſie Hand-
lung
ſinget? Der Redekuͤnſtler fahre fort: jede Re-
de kann Handlung ſchildern: wie denn die Poeſie?
wie in ihren verſchiednen Gattungen und Ar-
ten? — Endlich dieſe Theorien zuſammen: ſo hat
man das Weſen der Poeſie.


Auch bei der jetzigen einen Seite der Verglei-
chung iſts indeſſen, als ob mir an dem Weſen der
Poeſie immer etwas zur Berechnung fehle. — —
Jch nehme Leſſingen da das Wort auf, wo er die
Sache aus ihren erſten Gruͤnden herzuleiten ver-
ſpricht a).


Er ſchließet ſo. „Wenn es wahr iſt, daß die
„Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andre Mit-
„tel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poeſie; jene
„naͤmlich Figuren und Farben in dem Raume, dieſe
„artikulirte Toͤne aber in der Zeit; wenn unſtreitig
„die Zeichen ein bequemes Verhaͤltniß zu dem Be-
„zeichneten haben muͤſſen: ſo koͤnnen neben einan-
„der
[197]Erſtes Waͤldchen.
„der geordnete Zeichen auch nur Gegenſtaͤnde, die
„neben einander, oder deren Theile neben einander
„exiſtiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch
„nur Gegenſtaͤnde ausdruͤcken, die auf einander,
„oder deren Theile auf einander folgen.


„Gegenſtaͤnde, die neben einander, oder deren
„Theile auf einander exiſtiren, heißen Koͤrper. Folg-
„lich ſind Koͤrper mit ihren ſichtbaren Eigenſchaf-
„ten die eigentlichen Gegenſtaͤnde der Malerei.


„Gegenſtaͤnde, die auf einander, oder deren
„Theile auf einander folgen, heißen uͤberhaupt
„Handlungen. Folglich ſind Handlungen der ei-
„gentliche Gegenſtand der Poeſie.„


Vielleicht wuͤrde die ganze Schlußkette untruͤg-
lich ſeyn, wenn ſie von einem veſten Punkte anfienge:
nun aber laſſet uns zu ihm hinan. „Wenn es
„wahr iſt, daß die Malerei zu ihren Nachahmun-
„gen ganz andre Mittel oder Zeichen gebraucht, als
„die Poeſie„ allerdings wahr!


„Jene naͤmlich Figuren und Farben in dem
„Raume, dieſe aber artikulirte Toͤne in der Zeit.„
Schon nicht ſo beſtimmt! denn der Poeſie ſind die
artikulirten Toͤne nicht das, was Farben und Figu-
ren der Malerei ſind!


„Wenn unſtreitig die Zeichen ein bequemes
„Verhaͤltniß zu dem Bezeichneten haben muͤſſen.„
Eben damit faͤllt alle Vergleichung weg. Die ar-
tikulirten Toͤne haben in der Poeſie nicht eben daſſel-
N 3be
[198]Kritiſche Waͤlder.
be Verhaͤltniß zu ihrem Bezeichneten, was in der
Malerei Figuren und Farben zu dem Jhrigen ha-
ben. Koͤnnen alſo zwei ſo verſchiedne Dinge ein
Drittes, einen erſten Grundſatz zum Unterſchiede,
zum Weſen beider Kuͤnſte geben?


Die Zeichen der Malerei ſind natuͤrlich: die Ver-
bindung der Zeichen mit der bezeichneten Sache iſt
in den Eigenſchaften des Bezeichneten ſelbſt gegruͤn-
det. Die Zeichen der Poeſie ſind willkuͤhrlich:
die artikulirten Toͤne haben mit der Sache nichts
gemein, die ſie ausdruͤcken ſollen; ſondern ſind nur
durch eine allgemeine Convention fuͤr Zeichen an-
genommen.
Jhre Natur iſt alſo ſich voͤllig un-
gleich, und das Tertium comparationis ſchwindet.


Malerei wirkt ganz im Raume, neben einan-
der, durch Zeichen, die die Sache natuͤrlich zeigen.
Poeſie aber nicht ſo durch die Succeſſion, wie je-
ne durch den Raum. Auf der Folge ihrer arti-
kulirten Toͤne beruhet das nicht, was in der Ma-
lerei auf dem Nebeneinanderſeyn der Theile beru-
hete. Das Succeſſive ihrer Zeichen iſt nichts als
conditio, ſine qua non, und alſo blos einige Ein-
ſchraͤnkung: das Coexiſtiren der Zeichen in der Ma-
lerei aber iſt Natur der Kunſt, und der Grund der
maleriſchen Schoͤnheit. Poeſie, wenn ſie freilich
durch auf einander folgende Toͤne, das iſt, Worte
wirkt: ſo iſt doch das Aufeinanderfolgen der Toͤne,
die
[199]Erſtes Waͤldchen.
die Succeſſion der Worte nicht der Mittelpunkt ih-
rer Wirkung.


Um dieſen Unterſchied deutlicher zu machen:
muß eine Vergleichung zwiſchen zweien durch na-
tuͤrliche Mittel wirkenden Kuͤnſten gemacht werden,
zwiſchen Malerei und Tonkunſt. Hier kann ich ſa-
gen: Malerei wirkt ganz durch den Raum, ſo wie
Muſik durch die Zeitfolge. Was bei jener das
Nebeneinanderſeyn der Farben und Figuren iſt, der
Grund der Schoͤnheit, das iſt bei dieſer das Auf-
einanderfolgen der Toͤne, der Grund des Wohlklan-
ges. Wie bei jener auf dem Anblicke des Coexiſti-
renden das Wohlgefallen, die Wirkung der Kunſt
beruhet; ſo iſt in dieſer das Succeſſive, die Ver-
knuͤpfung und Abwechſelung der Toͤne das Mittel
der muſikaliſchen Wirkung. Wie alſo, kann ich
fortfahren, jene, die Malerei, blos durch ein Blend-
werk, den Begriff der Zeitfolge in uns erwecken
kann: ſo mache ſie dies Nebenwerk nie zu ihrer
Hauptſache, naͤmlich: als Malerei durch Farben,
und doch in der Zeitfolge zu wirken: ſonſt gehet
das Weſen und alle Wirkung der Kunſt verlohren.
Hieruͤber iſt das Farbenklavier Zeuge. Und alſo
im Gegentheile die Muſik, die ganz durch Zeitfolge
wirkt, mache es nie zum Hauptzwecke, Gegenſtaͤnde
des Raums muſikaliſch zu ſchildern, wie unerfahr-
ne Stuͤmper thun. Jene verliere ſich nie aus dem
N 4Coexi-
[200]Kritiſche Waͤlder.
Coexiſtenten, dieſe nie aus der Succeſſion: denn bei-
de ſind die natuͤrlichen Mittel ihrer Wirkung.


Bei der Poeſie aber iſt der Auftritt geaͤndert.
Hier iſt das Natuͤrliche in den Zeichen, z. E. Buch-
ſtaben, Klang, Tonfolge, zur Wirkung der Poeſie
wenig oder nichts: der Sinn, der durch eine will-
kuͤhrliche Uebereinſtimmung in den Worten liegt,
die Seele, die den artikulirten Toͤnen einwohnet, iſt
alles. Die Succeſſion der Toͤne kann der Poeſie
nicht ſo weſentlich berechnet werden, als der Male-
rei das Coexiſtiren der Farben; „denn die Zeichen
„haben gar nicht einerlei Verhaͤltniß zu der bezeich-
„neten Sache a).„


Der Grund iſt wankend: wie wird das Gebaͤu-
de ſeyn? Ehe wir dieſes ſehen, laſſet uns jenen erſt
auf andre Art ſichern. Malerei wirkt im Rau-
me,
und durch eine kuͤnſtliche Vorſtellung des
Raums. Muſik, und alle energiſche Kuͤnſte wir-
ken nicht blos in, ſondern auch durch die Zeitfolge
durch einen kuͤnſtlichen Zeitwechſel der Toͤne. Lie-
ße ſich nicht das Weſen der Poeſie auch auf einen
ſolchen Hauptbegriff bringen, da ſie durch willkuͤhr-
liche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die
Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieſer Wir-
kung Kraft nennen: und ſo, wie in der Metaphy-
ſik Raum, Zeit und Kraft drei Grundbegriffe
ſind, wie die mathematiſchen Wiſſenſchaften ſich alle
auf
[201]Erſtes Waͤldchen.
auf einen dieſer Begriffe zuruͤckfuͤhren laſſen; ſo
wollen wir auch in der Theorie der ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften und Kuͤnſte ſagen: die Kuͤnſte, die Werke
lieſern, wirken im Raume; die Kuͤnſte, die durch
Energie wirken, in der Zeitfolge; die ſchoͤnen Wiſ-
ſenſchaſten, oder vielmehr die einzige ſchoͤne Wiſſen-
ſchaft, die Poeſie, wirkt durch Kraft. — Durch
Kraft,
die einmal den Worten beiwohnt, durch
Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmit-
telbar auf die Seele wirket. Dieſe Kraft iſt das
Weſen der Poeſie, nicht aber das Coexiſtente, oder
die Succeſſion.


Nun wird die Frage: welche Gegenſtaͤnde kann
dieſe voetiſche Kraft beſſer an die Seele bringen,
Gegenſtaͤnde des Raums, coexiſtirende Gegenſtaͤn-
de, oder Gegenſtaͤnde der Zeitſucceſſionen? Und
um wieder ſinnlich zu reden: in welchem Medium
wirkt die poetiſche Kraft freier, im Raume, oder in
der Zeit? —


Sie wirkt im Raume: dadurch, daß ſie ihre
ganze Rede ſinnlich macht. Bei keinem Zeichen
muß das Zeichen ſelbſt, ſondern der Sinn des Zei-
chens empfunden werden; die Seele muß nicht das
Vehikulum der Kraft, der Worte, ſondern die
Kraft ſelbſt, den Sinn, empfinden. Erſte Art der
anſchauenden Erkenntniß. Sie bringt aber auch
jeden Gegenſtand gleichſam ſittlich vor die Seele,
d. i. ſie nimmt ſo viel Merkmaale zuſammen, um
N 5mit
[202]Kritiſche Waͤlder.
mit Einmal den Eindruck zu machen, der Phan-
taſie ihn vor Augen zu fuͤhren, ſie mit dem Anblicke
zu taͤuſchen: zweite Art der anſchauenden Kaͤnntniß,
und das Weſen der Poeſie. Jene Art kann jeder
lebhaften Rede, die nicht Wortklauberei oder Phi-
loſophie iſt: dieſe Art der Poeſie allein zukommen
und macht ihr Weſen, das ſinnlich Vollkom.
mene in der Rede.
Man kann alſo ſagen, daß
das erſte Weſentliche der Poeſie wirklich eine Art
von Malerei, ſinnliche Vorſtellung
ſey.


Sie wirkt in der Zeit: denn ſie iſt Rede.
Nicht blos erſtlich, ſo fern die Rede natuͤrlicher
Ausdruck iſt, z. E. der Leidenſchaften, der Bewe-
gungen: denn dies iſt der Rand der Poeſie; ſon-
dern vorzuͤglich, indem ſie durch die Schnelligkeit,
durch das Gehen und Kommen ihrer Vorſtellungen,
auf die Seele wirkt, und in der Abwechſelung theils,
theils in dem Ganzen, das ſie durch die Zeitfolge er-
bauet, energiſch wirket. Das erſte hat ſie auch
mit einer andern Gattung der Rede gemein; das
letzte aber, daß ſie einer Abwechſelung, und gleich-
ſam Melodie der Vorſtellungen, und Eines Ganzen
faͤhig ſey, deſſen Theile ſich nach und nach aͤußern,
deſſen Vollkommenheit alſo energeſiret — dies macht
ſie zu einer Muſik der Seele, wie ſie die Griechen
nannten: und dieſe zweite Succeſſion hat Hr. Leſſing
nie beruͤhret.


Kei-
[203]Erſtes Waͤldchen.

Keines von beiden, allein genommen, iſt ihr
ganzes Weſen. Nicht die Energie, das Muſikali-
ſche in ihr; denn dies kann nicht Statt finden, wenn
nicht das Sinnliche ihrer Vorſtellungen, das ſie der
Seele vormalet, vorausgeſetzt wird. Nicht aber
das Maleriſche in ihr; denn ſie wirkt energiſch, eben
in dem Nacheinander bauet ſie den Begriff vom
ſinnlich vollkommnen Ganzen in die Seele; nur bei-
des zuſammen genommen, kann ich ſagen, das Weſen
der Poeſie iſt Kraft, die aus dem Raum, (Gegen-
ſtaͤnde, die ſie ſinnlich macht) in der Zeit (durch ei-
ne Folge vieler Theile zu Einem poetiſchen Ganzen)
wirkt: kurz alſo ſinnlich vollkommene Rede.


Nach dieſen Vorausſetzungen wollen wir zu Hrn.
Leſſing zuruͤck. Bei ihm iſt der vornehmſte Ge-
genſtand der Poeſie Handlungen; nur aber Er
kann aus ſeinem Begriffe der Succeſſion dieſen
Begriff ausfinden; ich geſtehe es gerne, ich nicht.


„Gegenſtaͤnde, die auf einander, oder deren
„Theile auf einander folgen, ſind Handlungen.„ a)
Wie? ich laſſe ſo viel ich will auf einander folgen,
jedes ſoll ein Koͤrper, ein todten Anblick ſeyn; ver-
moͤge der Succeſſion iſt keines noch Handlung. Jch
ſehe die Zeit fliehen, jeden Augenblick den andern
jagen — ſehe ich damit Handlung? Verſchiedene
Auftritte der Natur kommen mir vor Augen: ein-
zeln: todte: einander nachfolgend: ſehe ich Hand-
lung?
[204]Kritiſche Waͤlder.
lung? Nie wird P. Kaſtells Farbenklavier mit ſei-
nem ſucceſſiven Vorſpielen der Farben, und wenn es
auch Wellen- und Schlangenlinien waͤren, Hand-
lungen liefern: nie wird eine melodiſche Kette von
Toͤnen, eine Kette von Handlungen heißen. Jch
laͤugne es alſo, daß Gegenſtaͤnde, die auf einander
oder deren Theile auf einander folgen, deßwegen
uͤberhaupt Handlungen heißen: und eben ſo laͤugne
ich, daß weil die Dichtkunſt Succeſſionen liefre, ſie
deßwegen Handlungen zum Gegenſtande habe.


Der Begriff des Succeſſiven iſt zu einer Hand-
lung nur die halbe Jdee: es muß ein Succeſſives
durch Kraft
ſeyn: ſo wird Handlung. Jch denke
mir ein in der Zeitfolge wirkendes Weſen, ich denke
mir Veraͤnderungen, die durch die Kraft einer
Subſtanz auf einander folgen: ſo wird Handlung.
Und ſind Handlungen der Gegenſtand der Dicht-
kunſt, ſo wette ich, wird dieſer Gegenſtand nie aus
dem trocknen Begriff der Succeſſion beſtimmt wer-
den koͤnnen: Kraft iſt der Mittelpunkt ihrer
Sphaͤre.


Und dies iſt die Kraft, die dem Jnnern der
Worte anklebt, die Zauberkraft, die auf meine
Seele durch die Phantaſie und Erinnerung wirkt:
ſie iſt das Weſen der Poeſie. — Der Leſer ſieht,
daß wir ſind, wo wir waren, daß naͤmlich die Poeſie
durch willkuͤhrliche Zeichen wirke; daß in dieſem
Willkuͤhrlichen, in dem Sinne der Worte ganz und
gar
[205]Erſtes Waͤldchen.
gar die Kraft der Poeſie liege; nicht aber in der
Folge der Toͤne und Worte,
in den Lauten, ſo
fern ſie natuͤrliche Laute ſind. —


Hr. L. indeſſen ſchließt aus dieſer Folge von
Toͤnen und Worten alles; nur ſehr ſpaͤt faͤllt es ihm
ein a), daß die Zeichen der Poeſie willkuͤhrlich waͤren:
allein auch denn ponderirt er nicht, was der Ein-
wurf: Poeſie wirkt durch willkuͤhrliche Zeichen, ſa-
gen wolle.


Denn wie loͤſet er dieſen Einwurf? „Dadurch,
„daß mit der Schilderung koͤrperlicher Gegenſtaͤn-
„de die Taͤuſchung, das Hauptwerk der Poeſie, ver-
„lohren gehe, daß alſo zwar Rede an ſich, aber nicht
„die ſinnlich vollkommenſte Rede, die Poeſie, Koͤr-
„per ſchildern koͤnne.„ Die Sache ſcheint jetzt an
beſſerm Orte. Eben weil die Poeſie nicht maleriſch
gnug
ſeyn kann, bei Schilderung koͤrperlicher Ge-
genſtaͤnde: ſo muß ſie ſie nicht ſchildern. Nicht,
damit ſie nicht Malerei ſey, nicht weil ſie in ſucceſ-
ſiven Toͤnen ſchildert: nicht weil der Raum das Ge-
biet des Malers, und blos Zeitfolge das Gebiet des
Dichters ſey — ich ſehe bei allem keine Urſache.
Das Succeſſive in den Toͤnen iſt, wie geſagt, dem
Poeten wenig: er wirkt nicht durch ſie, als natuͤr-
liche Zeichen. Aber wenn ihn ſeine Kraft verlaͤßt,
wenn er mit ſeinen Vorſtellungen unabhaͤngig von
ſeinen
[206]Kritiſche Waͤlder.
ſeinen Toͤnen die Seele nicht taͤuſchen kaͤnn: ja,
dann geht der Poet verlohren, dann bleibt nichts
als ein Wortmaler, als ein ſymboliſcher Namener-
klaͤrer. Aber daß ſie hier noch nicht am beſten Orte
ſei, mag — ſein eignes Beiſpiel zeugen a)., Wenn
es Hallers Endzweck iſt, uns in ſeinen Alpen, den
Enzian, und ſeinen blauen Bruder, und die ihm
aͤhnlichen oder unaͤhnlichen Kraͤuter versmaͤßig ken-
nen zu lehren; allerdings verliert er alsdenn den
Zweck des Dichters, mich zu taͤuſchen, und ich, als
Leſer, meinen Zweck, mich taͤuſchen zu laſſen: Dies
iſt alsdenn der Grund, und kein andrer. Aber
wenn ich nun von Hallers Gedichte zu einem bota-
niſchen Lehrbuche gehe: wie werde ich da den En-
zian und ſeine Bruͤder kennen lernen? Wie anders,
als wider durch ſucceſſive Toͤne, durch Rede? Der
Botaniſt wird mich von einem Theile zum andern
fuͤhren: er wird mir die Verbindung dieſer Theile
klar machen: er wird das Kraut meiner Einbil-
dungskraft theilweiſe und im Ganzen vorzuzaͤhlen
ſuchen, was freilich das Auge mit Einmal uͤberſie-
het: er wird alles thun, was bei Hrn. L. der Dich-
ter nicht thun ſoll. Wird er mir verſtaͤndlich wer-
den? Darum iſt nicht die Frage, wenn ich ſeine
Worte verſtehe: er muß mir klar werden, er muß
mich auf gewiſſe Art taͤuſchen. Kann er dies nicht:
ſehe ich die Sache blos im Einzelnen, deutlich,
nicht
[207]Erſtes Waͤldchen.
nicht aber im Ganzen, anſchauend, ein: ſo werde
ich alsdann alle Regeln, die Hr. Leſſing dem Dichter
giebt, auch dem Verſaſſer eines botaniſchen Lehr-
buchs geben koͤnnen. Jch werde zu ihm ſehr ernſt-
haft ſagen a): „Wie gelangen wir zu der deutli-
„chen Vorſtellung eines Dinges im Raume, eines
„Krauts? Erſt betrachten wir die Theile deſſel-
„ben einzeln, hierauf die Verbindung dieſer Thei-
„le, und endlich das Ganze. Unſre Sinne ver-
„richten dieſe verſchiedenen Operationen mit einer ſo
„erſtaunlichen Schnelligkeit, daß ſie uns nur eine
„einige zu ſeyn beduͤnken, und dieſe Schnelligkeit
„iſt unumgaͤnglich nothwendig — Geſetzt nun alſo
„auch, der ſchriftliche Kraͤuterlehrer fuͤhre uns in
„der ſchoͤnſten Ordnung von einem Theile des Ge-
„genſtandes zu dem andern; geſetzt, er wiſſe uns
„die Verbindung dieſer Theile auch noch ſo klar zu
„machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was
„das Auge mit Einmal uͤberſiehet, zaͤhlt er uns
„merklich langſam nach und nach zu, und oft ge-
„ſchieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den erſten
„ſchon vergeſſen haben. Jedennoch ſollen wir uns
„aus dieſen Zuͤgen ein Ganzes bilden: dem Auge
„bleiben die betrachteten Theile beſtaͤndig gegenwaͤr-
„tig: es kann ſie abermals und abermals uͤberlau-
„fen; fuͤr das Ohr hingegen ſind die vernommenen
„Theile verlohren, wenn ſie nicht in dem Gedaͤcht-
„niſſe
[208]Kritiſche Waͤlder.
„niſſe zuruͤckbleiben. Und bleiben ſie ſchon da zu-
„ruͤck: welche Muͤhe, welche Anſtrengung koſtet
„es, ihre Eindruͤcke alle in eben der Ordnung ſo leb-
„haft zu erneuren, ſie nur mit einer maͤßigen Ge-
„ſchwindigkeit auf einmal zu uͤberdenken, um zu
„einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu gelan-
„gen! — Solche Beſchreibungen moͤgen ſich,
„wenn man die Blume ſelbſt in der Hand hat, ſehr
„ſchoͤn dagegen recitiren laſſen; nur fuͤr ſich allein
„ſagen ſie wenig oder nichts. —


So ſpricht Hr. L. zum Dichter, und warum
ſoll ich nicht eben ſo zum Kraͤuterlehrer ſprechen, der
mich blos durch Worte lehren will? Jch ſehe keine
Veraͤnderung des Falles, eben denſelben Gegenſtand,
einen Koͤrper, eben daſſelbe Mittel, ihn zu ſchildern,
Rede, eben dieſelbe Hinderung in dieſem Mittel,
das Succeſſive der Rede, Worte. Folglich muß
die Lection ſich ſo gut auf ihn, als auf jeden Wort-
ſchilderer paſſen.


Folglich muß die Urſache: „Succeſſion ver-
„hindert, Koͤrper zu ſchildern, „da ſie auf jede Rede
trifft, da jede Rede in ſolchem Falle nicht das De-
finitum, als ein Wort, verſtaͤndlich, ſondern als
eine Sache, anſchauend machen will — eigentlich
außer dem Gebiete der Poeſie liegen.


Folglich auch in demſelben kein eigentliches, we-
nigſtens kein hoͤchſtes Geſetz geben koͤnnen, ſondern
nur
[209]Erſtes Waͤldchen.
nur ein Nebenbegriff bleiben, aus dem Wenig oder
Nichts gefolgert werden kann. — Meine ganze
Schlußkette faͤngt von dem doppelten Grunde an:
daß das Succeſſive in den Toͤnen der Poeſie kein
Haupt- kein natuͤrliches Mittel ihrer Wirkung
ſey; ſondern die Kraft, die dieſen Toͤnen willkuͤhr-
lich anhaͤngt, und nach andern Geſetzen, als der
Succeſſion der Toͤne, auf die Seele wirkt. Zwei-
tens: daß das Succeſſive der Toͤne ja nicht der
Poeſie allein, vielmehr jeder Rede zukommt,
und alſo wenig in ihrem innern Weſen beſtimmen
oder unterſcheiden koͤnne. Wenn nun Hr. L. Suc-
ceſſion in ſeinem Buche zum Hauptgrunde des
Unterſchiedes zwiſchen Poeſie und Malerei macht;
iſt da wohl die richtigſte Graͤnzſcheidung zu er-
warten? —


17.


Um auf einen fruchtbarern Weg zu kommen,
als dieſer trockne Nebenbegriff gewaͤhret, macht Hr.
L. einen Sprung, den ich ihm nicht nachthue. „Die
„Poeſie ſchildert durch ſucceſſive Toͤne; folglich
„ſchildert ſie auch Succeſſionen a), folglich hat ſie
„auch Succeſſionen, und eigentlich nichts als Suc-
„ceſſionen zum Gegenſtande. Succeſſionen ſind
„Handlungen: folglich„ — und folglich hat Hr. L.
Owas
[210]Kritiſche Waͤlder.
was er will; aber woher kann ers haben? Den
Begriff der Handlung fand er in der Succeſſion;
und daß ſie nur fortſchreitende Gegenſtaͤnde ſchilde-
re, ſchloß er, weil ſie in ſucceſſiven Toͤnen ſchildert
— wo bleibt hier die Kette? Geſetzt, daß das Auf-
einanderfolgen der Toͤne in der Dichtkunſt das waͤre,
was das Nebeneinanderſeyn der Farben in der Ma-
lerei: welche Proportion iſt in dem Succeſſiven der
Toͤne, und in dem Succeſſiven der Gegenſtaͤnde,
die ſie ſchildert: Wie weit halten dieſe einen Schritt?
Wie kann man auch nur an Vergleichung denken?
Und wie weit weniger Eins aus dem andern zu
ſchließen? — Und wenn ſie auch denn Succeſſio-
nen ſchilderte, warum muͤſſen dieſe Succeſſionen
Handlungen ſeyn? u. ſ. w. Die Graͤnzſcheidung
nach ſolch einem Riſſe kann kaum richtig ſeyn.


Kaum richtig von Seiten der Malerei, „ihr
„Weſen ſei, Koͤrper zu ſchildern,„ wenigſtens bin
ich mir fortſchreitenderer Handlungen der Malerei
bewuſt, als wovon Hr. L. ein Beiſpiel giebt a):
naͤmlich eine Drapperie, die in ihrem Wurfe zwei
Augenblicke vereinige.


Noch minder aber von Seiten der Dichtkunſt,
wo aus dem Succeſſiven der Toͤne wenig oder
nichts folgt. Nicht: daß ſie keine Koͤrper ſchil-
dern ſolle; denn koͤnnen keine ſucceſſiven Toͤne Be-
griffe von coexſiſtirenden Dingen erwecken; ſo ſehe
ich
[211]Erſtes Waͤldchen.
ich nicht, wie irgend die Rede, die blos hoͤrbare Re-
de anſchauende Erkaͤnntniß wirken koͤnnte: denn
Bilder wuͤrde ich ſagen, ſind nicht hoͤrbar. So
ſehe ich nicht, wie irgend die Rede zuſammenhan-
gende
Bilderbegriffe erwecken koͤnne; denn die ſuc-
ceſſiven Toͤne hangen nicht zuſammen. So ſehe
ich endlich auch nicht, wie in der Seele aus vielen
Theilbegriffen
ein Ganzes, z. E. der Ode, des Be-
weiſes, des Trauerſpiels entſtehen koͤnnte; denn die
ganze Succeſſion der Toͤne macht kein ſolches Gan-
zes: „fuͤr das Ohr ſind die vernommenen Theile
jedesmal verloren.„ Es laͤßt ſich alſo hieraus
Alles oder Nichts folgern.


Noch weniger folgt hieraus, „die Untauglich-
keit der ganzen deſcriptive Poetrya), das Unpoeti-
ſche aller malenden Poeſie.


Noch weniger hieraus, daß das Weſen der
Dichtkunſt Fortſchreitung ſey b); daß die Dicht-
kunſt nur eine einzige Eigenſchaft der Koͤrper nutzen
muͤſſe: daß Einheit der maleriſchen Beiwoͤrter ihr
Regel ſey c)


Ja nicht einmal, daß ſich „nur aus dieſen
„Grundſaͤtzen die große Manier Homers beſtimmen
„und erklaͤren ließe.„ Jch laͤugne Hrn. L. viel,
und in ſeinem Grunde Alles, aber darum laͤugne ich
nicht alle Sachen, die nur Er auf dieſen Grund
bauet. — Darf ich von Homer anfangen? —


O 2„Ho-
[212]Kritiſche Waͤlder.

„Homer malet nichts, als fortſchreitende Hand-
lungen: alle Koͤrper, alle einzelne Koͤrper malet er
nur „durch ihren Antheil an den Handlungen, ge-
„meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn
„ja beſondere Umſtaͤnde, unſern Blick auf einen
„einzelnen koͤrperlichen Gegenſtand laͤnger zu heften:
„ſo weiſt er durch unzaͤlige Kunſtgriffe dieſen ein-
„zelnen Gegenſtand in einer Folge von Augenbli-
„cken, in deren jedem er anders erſcheint a) —„
Schoͤn! vortrefflich! die wahre Manier Homers!
— Nur ob Homer dieſe Manier gewaͤhlt, weil er
mit ſucceſſiven Toͤnen ſchildern wollte b), weil er
koͤrperliche Gegenſtaͤnde anders zu ſchildern verzwei-
felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in
der ſchoͤnſten Ordnung von einem theile des Gegen-
ſtandes fuͤhrte, daß, wenn er uns auch die Verbin-
dung dieſer Theile noch ſo klar zu machen wuͤßte c);
dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur
beſtaͤndig gegenwaͤrtig blieben, fuͤr das Ohr hinge-
gen die vernommenen Theile, folglich die Muͤhe des
Dichters, verlohren waͤre — ob deßwegen Homer
ſeine Gegenſtaͤnde in eine Folge von Augenblicken
geſetzt, iſt mir nie bei Homer beigefallen.


Wenn ſeine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju-
no Stuͤck vor Stuͤck zuſammenſetztd), ent-
kommt da der Dichter dem Verſuche, ein Coexſiſten-
tes
[213]Erſtes Waͤldchen.
tes nicht mit Folgetoͤne zu ſchildern? Jch ſehe Raͤ-
der, Achſen, Sitz, Deichſel, Riemen, Straͤnge, nicht
wie es beiſammen iſt, ſondern erſt langſam zu-
ſammenkommt.
Erſt werden mir die Raͤder,
nicht blos die Raͤder, ſondern die Theile derſelben,
die ehernen Speichen und die goldnen Felgen, und
die Schienen von Erzt, und die ſilberne Nabe u. ſ. w.
langſam vorgezaͤlt, denn erſt Achſen, denn erſt der
Sitz, alles in ſeinen Theilen; und ehe das letzte Stuͤck
dran iſt, habe ich ſicherlich das Erſte vergeſſen. Der
Wagen ſteht zuſammen: und Trotz der Phantaſie,
die ſich jetzt das Bild des Wagens mit Einem
Blicke und doch in allen ſeinen Theilen z. E. die eher-
nen Speichen und die goldnen Felgen, und die Schie-
nen von Erzt u. ſ. w. auf Einmal anſchauend denken
koͤnne! Jch ſehe alſo kaum, was Homer gethan haͤtte,
um gleichſam die Wirkung ſucceſſiver Toͤne zu ſchwaͤ-
chen, um durch unzaͤlige Kunſtgriffe uns das
Coexſiſtente gegenwaͤrtig zu machen? Liegt es hier
einmal am klaren Begriffe des Coexſiſtiven in allen ſei-
nen Theilen, „welche groͤßere Muͤhe, welche ſchaͤr-
„ſere Anſtrengung koſtet es, dieſe langſamen Eindruͤ-
„cke alle in eben der Ordnung ſo lebhaft zu erneuren,
„ſie nur mit einer maͤßigen Geſchwindigkeit auf
„einmal zu uͤberdenken, um zu einem etwanigen
„Begriffe des Ganzen zu gelangen.„ Arbeitete der
Dichter auf dieſen Begriff des Ganzen, da er uns
ſeine Theile zerlegte, um ihn nachher in allen dieſen
O 3Thei-
[214]Kritiſche Waͤlder.
Theilen zuſammengeſetzt darzuſtellen; ſo ſage ich,
hat er eben ſo vergebens gearbeitet, als Brockes,
wenn er uns Kraͤuter malet. Das Zuſammen-
ſetzen,
die Handlung der Hebe kommt gar nicht in
Rechnung; das Nacheinander zuſammenſetzen was
mit Einmal gezeigt, gedacht werden ſollte, iſt Au-
genmerk: dies iſt bei beiden gleich, ja bei Homer
durch das Zuſammenſetzen noch langſamer. „Doch
„nicht blos da, wo Homer mit ſeinen Beſchreibun-
„gen weitere Abſichten verbindet, ſondern auch da,
„wo es ihm um das bloße Bild zu thun iſt, wird
„er dieſes Bild in eine Art von Geſchichte des Ge-
„genſtandes verſtreuen, um die Theile deſſelben,
„die wir in der Natur neben einander ſehen, in ſei-
„nem Gemaͤlde eben ſo natuͤrlich auf einander
„folgen, und mit dem Fluſſe der Rede gleich-
„ſam Schritt halten zu laſſen.
Der Bogen
„des Pandarus z. E. a)„ — aber wie kann Hr. L.
hier in Homers Beſchreibung eine Parallele der Fol-
ge in den Toͤnen, mit dem Coexſiſtiren der Theile,
und der Theile des Objekts mit den Theilen der
Rede finden? Wenn Homer uns den Bogen des
Pandarus mahlen will, und uns erſt auf die Jagd
des Steinbocks fuͤhret, aus deſſen Hoͤrnern der Bo-
gen gemacht worden: und uns erſt den Felſen zeigt,
wo ihn Pandarus erlegt, und nun erſt die Hoͤrner
des Steinbocks laͤngelang ausmißt; nun erſt ſie in
Ar-
[215]Erſtes Waͤldchen.
Arbeit giebt, nun erſt uns jeder. Arbeit des Kuͤnſt-
lers zuſchauen laͤßt — wer kann ſagen, Homer habe
das Succeſſive ſeiner Beſchreibung der Natur des
Coexſiſtenten gleichſam naͤher bringen, und die Theile
des Bogens mit dem Fluſſe der Rede Schritt halten
laſſen! Statt, daß ſie durch dieſe homeriſche Ma-
nier naͤher zuſammen kommen ſollten; ſehe ich ſie
ſich weiter hinaus zerſtreuen; unter vielen andren
fremdenn Zuͤgen: (Jagd, Steinbock, Ort des Erha-
ſchens, Ort der Verwundung, Lage des gefaͤllten
Steinbocks, Werkſtaͤte des Kuͤnſtlers,) liegen ſie
verſteckt: und haͤtte Homer mit ſeiner Geſchichte
des Bogens darauf gezweckt, um mir nachher mit
Einmal alle Theile des Bogens anſchaulich zu geben:
ſo haͤtte er eben den ſchlechteſten Weg genommen.
Meine Phantaſie wenigſtens hat ſich der Geſchichte
uͤberlaſſen, den Pandarus einen Bogen zu zimmern,
aber ihn ſich nachher in allen ſeinen Theilen auf Ein-
mal zu denken, die fremden Zuͤge in der Geſchichte
erſt wegzulaſſen — welche Muͤhe! welche Abſon-
derung! „Homer malet den Schild Achilles in mehr
„als hundert praͤchtigen Verſen, nach ſeiner Mate-
„rie, nach ſeiner Form, nach allen ſeinen Figuren,
„welche die ungeheure Flaͤche deſſelben fuͤllten, ſo
[u]mſtaͤndlich, ſo genau, daß es neuen Kuͤnſtlern
„nicht ſchwer gefallen, eine in allen Stuͤcken uͤber-
„einſtimmende Zeichnung darnach zu machen. Er
„malet dies Schild nicht als ein fertiges vollende-
O 4„tes,
[216]Kritiſche Waͤlder.
„tes, ſondern als ein werdendes Schild. Er hat
„alſo auch hier ſich des beſchriebenen Kunſtgriffes
„bedienet, das Coexſiſtirende ſeines Vorwurfs in
„ein Conſekutives zu verwandeln, und dadurch aus
„der langweiligen Malerei eines Koͤrpers das le-
„bendige Gemaͤlde einer Handlung zu geben a).„
Feine Bemerkung! richtiger Gegenſatz mit Virgi-
len! Ob aber Homer dies Werden des Schildes
ergriffen, um gleichſam mit dem Conſekutiven ein
Coexſiſtirendes zu liefern? „ob er die mehrern Zuͤ-
„ge fuͤr die verſchiedenen Theile und Eigenſchaften
„im Raume in einer gedraͤngten Kuͤrze ſchnell auf
„einander folgen laſſe, damit wir ſie alle auf
„einmal zu hoͤren glauben ſollen?
„ ob es mit
dem Werden des Schildes ſein Zweck geweſen, den
Raum in die Zeitfolge zu verwandeln, und uns
durch dieſe den Anblick Eines Ganzen zu geben, den
wir nur durch jenen faſſen konnten? b) — Sollen
dieſe Fragen ihr Ja bekommen: ſo bekenne ich die
Schwaͤche meines Gedaͤchtniſſes, dieſen Zweck an
mir nicht erreichen zu koͤnnen. Moͤgen zehen oder
noch weniger Gemaͤlde auf dem Schilde ſeyn: moͤge
ich ſie auch werdend geſehen haben; ich erſtaune
uͤber das Werk, aber nicht mit dem glaͤubigen Er-
ſtaunen eines Augenzeugen, dem jetzt der ganze
Schild vor Augen, bei dem das Conſekutive in ein
Coexſiſtirendes verwandelt waͤre. Nur in dem
Haupte
[217]Erſtes Waͤldchen.
Haupte des goͤttlichen Kuͤnſtlers kann der Schild
mit allen ſeinen Figuren ein maleriſches Ganzes ge-
bildet haben; ich muß aufs neue das Schild herum,
wenn ich die mit jedem ſucceſſiven Wortzuge verlohr-
ne Figur wieder ſehen ſoll, und doch wo ſind ſie,
wenn ich ſie zu einem ganzen Schilde ordnen ſoll?
Das Werdenſehen hat hiezu nichts gethan, und
kann hiezu nichts thun, es ſei denn, um mich noch
weiter zu zerſtreuen; das Nacheinander werden
iſt und bleibt der Knoten.


Homers Sprache ſei ſo vortrefflich, als ſie ſeyn
kann, — jedes Wort liefre ein Bild — ohne alle
Suſpenſion der Beziehungen — ſo ſchnell fortſchrei-
tend, als Diane in ihrem Gange a); ſoll dies
ſchnelle Fortſchreitende da ſeyn, um gleichſam das
Hinderniß des Raums zu mindern, zu vernichten,
um dadurch den taͤuſchenden Anblick eines raͤumli-
chen
Gegenſtandes, eines Koͤrpers im Raume zu er-
wecken — dies kann keine Rede. Dazu wohl
kaum wird Homer ſeiner ſchreitenden Manier ſo treu
geblieben ſeyn: dazu eben nicht fuͤr jedes Ding
nur Einen Zug gehabt; dazu am wenigſten das
Conſekutive Werden gewaͤhlt haben: „um die
„Theile ſeines Gegenſtandes mit dem Fluſſe der Rede
„einerley Schritt halten zu laſſen.„ Dies kann
keine Rede: noch minder wills die Rede des Dich-
ters: am mindſten wollte es der Erſte der Dichter.
O 5Seine
[218]Kritiſche Waͤlder.
Seine ganze Manier zeigt, daß er nicht fortſchreite,
um uns es ſei, wovon es ſei, ein Bild des Gan-
zen
durch Succeſſion zu geben, ſondern er ſchreitet
durch die Theile, weil ihm an dem Bilde des
Ganzen ganz und gar nicht lag.


Jch wollte um alles nicht, Hrn. L. einen fal-
ſchen Sinn angedichtet zu haben: in der Sache ſelbſt
mit ihm eins, machen mich nur in dem Grunde der
Sache ſeine Schluͤſſe und Verbindungen verlegen.
Duͤnkt jemand dieſer Unterſchied unbetraͤchtlich —
ſo liegt mir nichts daran; andern wird er betraͤcht-
lich ſcheinen.


Homer iſt immer fortſchreitend in Handlungen,
weil er damit fortſchreiten muß, weil alle dieſe
Theilhandlungen Stuͤcke ſeiner ganzen Handlung
ſind, weil er ein epiſcher Dichter iſt. Jch brauche
alſo den Wagen der Juno, und den Zepter des
Agamemnon, und den Bogen des Pandarus nicht
weiter
kennen zu lernen, als ſie in die Handlung
mit eingeflochten, mitwirken ſollen auf meine See-
le. Darum alſo hoͤre ich die Geſchichte des Bo-
gens, nicht damit mir dieſe ſtatt Gemaͤlde ſey; ſon-
dern um einen Begriff von ſeiner Staͤrke, von der
Macht ſeiner Arme, mithin von der Kraft ſeiner
Sehne, ſeines Pfeils, ſeines Schuſſes zum Voraus
in mich zu pflanzen. Wenn nun Pandarus den
Bogen vornimmt, die Sehne anlegt, den Pfeil an-
ſetzt — abdruͤckt! — wehe dem Menclaus, den
der
[219]Erſtes Waͤldchen.
der Pfeil eines ſolchen Bogens trifft, wir kennen
ſeine Staͤrke. Hr. L. kann alſo nicht ſagen, es ſey
Homeren mit ſeiner Geſchichte des Bogens, um
ſein Bild, und blos um ſein Bild zu thun gewe-
ſen. Um nichts minder, als hierum: die Staͤrke,
die Kraft des Bogens war ſeine Sache: ſie, und
nicht die Geſtalt des Bogens, gehoͤrt zum Gedichte:
ſie, und keine andre Eigenſchaft, ſoll hier energiſch
mitwirken, daß wir, wenn nachher Pandarus ab-
druͤckt, wenn nachher die Senne ſchwirrt, der Pfeil
trifft — um ſo mehr den Pfeil empſinden. Die-
ſer Energie zufolge, die in einem Gedichte das
Hauptwerk iſt, erlaubt ſich Homer, aus der Schlacht
auf die Jagd zu ſpatzieren, und die Geſchichte des
Bogens zu dichten: denn ich ſehe keine andre Art,
dieſen Begriff in aller Staͤrke, als durch Geſchichte.
Durch ein Bild koͤnnen wir eigentlich nur Geſtalt
lernen: aus der Geſtalt muͤſſen wir Groͤße, aus die-
ſer Staͤrke erſt ſchließen; durch eine Geſchichte ler-
nen wir dieſe unmittelbar — und wenn es dem
energiſchen Kuͤnſtler, dem Dichter, blos um dieſe
Staͤrke zu thun iſt, was ſoll er ſich andre Arbeiten
aufbuͤrden? Der Maler male Bild, Geſtalt; er
aber wirke Staͤrke, Energie. — Die wirkt auch
Homer von Anfange zu Ende der Beſchreibung; nur
freilich nicht, wenn ich ihn in der Umkleidung leſe,
die Hr. L. mit dem Schuſſe Pandarus macht; aus
ihr iſt blos ein ſucceſſives, nicht aber (der Haupt-
zweck
[220]Kritiſche Waͤlder.
zweck des Dichters!) ein energiſches Bild zu hoͤren:
wobei wir nicht durch ſucceſſive Toͤne maleriſch,
ſondern in jedem Tone energiſch getaͤuſcht wer-
den, daß wir zuſammen fahren ſollen, wenn
endlich ein ſolcher Bogen trifft.


Ein gleiches gilt vom Zepter Agamemnons:
ich betrachte die Geſchichte deſſelben gar nicht „als
„einen Kunſtgriff, uns bei einem einzelnen Dinge
„verweilen zu machen, ohne ſich in die froſtige Be-
„ſchreibung ſeiner Theile einzulaſſen a).„ Sein
Zepter iſt ein uraltes, koͤnigliches, goͤttliches Zep-
ter! Der Begriff ſoll wirken; um alle andre Kunſt-
griffe und Allegorien bleibe ich unbekuͤmmert.


Der Wagen der Juno wird beſchrieben b): wa-
rum? natuͤrlich, weil ich ohne den Dichter, dieſen
Wagen nicht geſehen, weil ich ihn erſt kennen lernen
muß, um einen himmliſchen Wagen zu kennen.
Warum wird er zuſammengeſetzt? Natuͤrlich, weil
wir einen himmliſchen Wagen nie ſo gut kennen ler-
nen, als wenn er erſt in ſeinen Theilen da liegt,
und zuſammen geſetzt wird. Um alſo die Vortreff-
lichkeit dieſes Goͤtterwagens, um den innern Werth
aller ſeiner Theile, um ſeinen kuͤnſtlichen Bau zu
ſchildern, wird er zuſammen geſetzt: nicht aber, um
dieſe Theile ſucceſſiv zu ſammlen, da man ſie coexſi-
ſtent nicht ſehen kan. Das Zuſammenſetzen iſt hier
kein
[221]Erſtes Waͤldchen.
kein Kunſtgriff, kein quid pro quo, um uns ſo das
Ganze zu geben: den ganzen Anblick zu ſammlen,
iſt kein Zweck des Dichters; im Zuſammenſetzen
ſelbſt liegt die Energie der Rede; nichts mehr. Bei
jedem Theile ſollen wir ausruffen: praͤchtig! goͤtt-
lich! koͤniglich! — iſt dies: iſt dieſer Begriff ſinn-
lich vollkommen in der Seele; das Ganze mit ſei-
nen Theilen war nicht mein Bild: das mag ein Kut-
ſcher lernen. — Der Wagen iſt zuſammen: die
Energie alſo vollendet:„ ich ruffe nochmals aus:
praͤchtig: goͤttlich, koͤniglich! und laſſe Juno und
Minerva kutſchieren.


Der Schild Achilles a)wird unter der Hand
Vulkans: warum wird er? Natuͤrlich, weil er
werden ſoll! Achilles hat Waffen noͤthig: Thetis
flehet Vulkan darum an: er verſprichts, ſteht auf,
arbeitet — warum ſoll er nicht arbeiten? Jm
ganzen homeriſchen Gedichte ſind Goͤtter wirkſam:
ihre Auftritte wechſeln mit den Auftritten der Men-
ſchen ab: nun iſt Nacht: die Handlung ſteht:
Vulkan haben wir ſo lange nicht geſehen: ſeit dem
er als hinkender Mundſchenke der Goͤtter erſchien:
Achilles hat ſeine Waffen mit Patroklus verlohren;
nun gehe Thetis zum Vulkan, nun kan Vulkan
ſchmieden: der Schild iſt werdend. — Die ganze
Scene gehoͤrt zur Handlung des Gedichts, zum
Gange der Epopee, und iſt keine Figur, die aus ſei-
nem
[222]Kritiſche Waͤlder.
nem Poem vorruffe, keine Beſonderheit der homeri-
ſchen Manier. Jm Werden, in der Schoͤpfung
des Schildes liegt ja hier alle Kraft der Energie,
der ganze Zweck des Dichters. Bei jeder Figur,
die Vulkan aufgraͤbt, bewundere ich den ſchaffenden
Gott, bei jeder Beſchreibung der Maaße und der
Flaͤche erkenne ich die Macht des Schildes, das
dem Achilles wird, auf welches der in das Jnter-
eſſe der Handlung verflochtne Leſer ſo ſehnlich, als
Thetis, wartet. —


Kurz: ich kenne keine Succeſſionen in Homer,
die als Kunſtgriffe, als Kunſtgriffe der Noth, ei-
nes Bildes, einer Schilderung wegen, da ſeyn ſoll-
ten: ſie ſind das Weſen ſeines Gedichts, ſie ſind der
Koͤrper der epiſchen Handlung. Jn jedem Zuge
ihres Werdens muß Energie, der Zweck Homers
liegen: mit jeder andern Hypotheſe von Kunſtgrif-
fen, von Einkleidungen, um das Coexſiſtente der
Schilderung zu vermeiden, komme ich aus dem To-
ne Homers. Jch weiß, daß dieſer Vorwurf groß
ſey, daß kein groͤßers Hinderniß der Kraft eines
Dichters gelegt werden koͤnne, als nicht in ſeinem
Tone zu leſen; allein deßwegen nehme ich meinen
Vorwurf nicht zuruͤck. Wer in dem Zuſammenſe-
tzen des Wagens der Juno, und in der Geſchichte
des Bogens und des Zepters, und in dem Werden
des Schildes, nichts als einen Kunſtgriff bemer-
ken will, um einem koͤrperlichen Bilde zu entkom-
men:
[223]Erſtes Waͤldchen.
men: der weiß nicht, was Handlung des Gedichts
ſey, an dem hat Homer ſeine Energie verfehlet.
Wenn Homer ein koͤrperliches Bild braucht, ſo
ſchildert ers, wenn es auch ein Therſites ſeyn ſollte;
er weiß von keinen Kunſtgriffen, von keiner poeti-
ſchen Liſt und Gefaͤhrde: Fortſchreitung iſt die See-
le ſeines Epos.


18.


Nun aber iſt Homer auch nicht der einzige
Dichter: es gab bald nach ihm einen Tyrtaͤus, Ana-
kreon, Pindarus, Aeſchylus u. ſ. w. Sein επος,
ſeine fortgehende Erzaͤlung, verwandelte ſich mehr
und mehr in ein μελὸς, in ein Geſangartiges, und
drauf in ein ειδος, in ein Gemaͤlde; Gattungen,
die noch aber immer Poeſie blieben. Ein Saͤnger,
(μελοποιος) und ein lyriſcher Maler (ειδοποιος)
Anakreon und Pindar, ſtehe alſo gegen den
Geſchichtsdichter (εποποιος) Homer.


Homer dichtet erzaͤlend: „es geſchah! es
„ward!„ bei ihm kann alſo alles Handlung ſeyn,
und muß zur Handlung eilen. Hierhin ſtrebt
die Energie ſeiner Muſe: wunderbare, ruͤhrende
Begebenheiten ſind ſeine Welt: er hat das Schoͤp-
fungswort: „es ward!„ Anakreon ſchwebt zwiſchen
Geſang und Erzaͤlung: ſeine Erzaͤlung wird ein Lied-
chen, ſein Liedchen ein επος des Liebesgottes. Er
kann alſo ſeine Wendung: „es war!„ oder „ich
„will„
[224]Kritiſche Waͤlder.
„will„ oder „du ſollſt!„ haben — gnug, wenn
ſein μελος von Luſt und Freude ſchallet: eine frohe
Empfindung iſt die Energie, die Muſe jedes ſeiner
Geſaͤnge.


Pindar hat ein großes lyriſches Gemaͤlde, ein
labyrinthiſches Odengebaͤude im Sinne, das eben
durch anſcheinende Ausſchweifungen, durch Neben-
figuren in mancherlei Licht ein energiſches Ganzes
werden: wo kein Theil fuͤr ſich, wo jeder auf das
Ganze geordnet, erſcheinen ſoll: ein ειδος: ein poe-
tiſches Gemaͤlde, bei dem uͤberall ſchon der Kuͤnſt-
ler, nicht die Kunſt, ſichtbar iſt. „Jch ſinge!„


Wo mag nun Vergleichung Statt finden?
Das Jdealganze Homers, Anakreons, Pindars,
wie verſchieden! wie ungleich das Werk, worauf ſie
arbeiten! Der eine will nichts, als dichten: er er-
zaͤlet: er bezaubert; das Ganze der Begebenheit
iſt ſein Werk: er iſt ein Dichter voriger Zeiten.
Der andre will nicht ſprechen; aus ihm ſinget die
Freude; der Ausdruck einer lieblichen Empfindung
iſt ſein Ganzes. Der dritte ſpricht ſelbſt, damit
man ihn hoͤre: das Ganze ſeiner Ode iſt ein Gebaͤu-
de mit Symmetrie und hoher Kunſt. — Kann
jeder ſeinen Zweck auf ſeine Art erreichen: mir ſein
Ganzes vollkommen darſtellen; mich in dieſer An-
ſchauung
taͤuſchen — was will ich mehr?


Es iſt eine laͤngſt angenommene, und an ſich
unſchuldige Hypotheſe, das Ganze jeder Gedichtart,
als
[225]Erſtes Waͤldchen.
als eine Art von Gemaͤlde, von Gebaͤude, von
Kunſtwerke zu betrachten, wo alle Theile zu ihrem
Hauptzwecke, dem Ganzen mitwirken ſollen Bei
allen iſt der Hauptzweck poetiſche Taͤuſchung; bei
allen aber auf verſchiedne Art. Die hohe wunder-
bare Jlluſion, zu der mich die Epopee bezaubert, iſt
nicht die kleine ſuͤße Empfindung, mit der mich das
anakreontiſche Lied beſeelen will; noch der tragiſche
Affekt, in den mich ein Trauerſpiel verſetzet — in-
deſſen arbeitet jedes auf ſeine Taͤuſchung, nach ſei-
ner
Art, mit ſeinen Mitteln, etwas im vollkom-
menſten Grade anſchauend vorzuſtellen; es ſey nun
dies Etwas epiſche Handlung, oder tragiſche Hand-
lung, oder eine einige anakreontiſche Empfindung,
oder ein vollendetes Ganze pindariſcher Bilder, oder
— alles muß indeſſen innerhalb ſeiner Graͤnzen,
aus ſeinen Mitteln und ſeinem Zwecke beurtheilt
werden.


Keine pindariſche Ode alſo als eine Epopee,
der das Fortſchreitende fehle: kein Lied als ein Bild,
dem der Umriß mangele: kein Lehrgedicht als eine
Fabel, und kein Fabelgedicht, als beſchreibende
Poeſie. Sobald wir nicht um ein Wort „Poe-
„ſie, Poem„ ſtreiten wollen; ſo hat jede eingefuͤhr-
te Gedichtart ihr eignes Jdeal — eine ein hoͤhe-
res, ſchwereres, groͤßeres, als eine andre; jede aber
ihr eigenes. Aus einer muß ich nicht auf die an-
Pdre,
[226]Kritiſche Waͤlder
dre, oder gar auf die ganze Dichtkunſt Geſetze
bringen.


Wenn alſo „Homer nichts als fortſchreitende
„Handlungen malet, und fuͤr jeden Koͤrper, fuͤr je-
„des einzelnes Ding nur einen Zug haͤtte, ſo fern es
„an der Handlung Theil nimmt a):„ ſo mag da-
mit ſeinem epiſchen Jdeal eine Gnuͤge geſchehen.
Vielleicht aber, daß ein Oſſian, ein Milton, ein
Klopſtock ſchon ein anderes Jdeal haͤtten, wo ſie
nicht mit jedem Zuge fortſchreiten, wo ſich ihre Mu-
ſe einen andern Gang waͤhlte? Vielleicht alſo, daß
dies Fortſchreitende blos Homers epiſche Manier,
nicht einmal die Manier ſeiner Dichtart uͤber-
haupt ſey? — Der Kunſtrichter ſoll hier ein
furchtſames Vielleicht ſagen; das Genie entſcheidet
mit der ſtarken Stimme des Beiſpiels.


Noch minder darf ich, wenn mich die Praxis
Homers auf die Bemerkung fuͤhret: „Homer ſchil-
„dert nichts als fortſchreitende Handlungen,„ ſo-
gleich den Hauptſatz drauf ſchlagen: „die Poe-
„ſie
ſchildert nichts, als fortſchreitende Handlungen
„— folglich ſind Handlungen der eigentliche Ge-
„genſtand der Poeſie.„ Wenn ichs bei Homer
bemerke, daß „er alle einzelne Dinge nur durch ih-
„ren Antheil an dieſen Handlungen, gemeiniglich
„nur mit einem Zuge, male b)ſchil-„ ſo darf nicht gleich
der
[227]Erſtes Waͤldchen.
„der Stempel drauf: folglich ſchildert auch die
„Poeſie
nur Koͤrper andeutungsweiſe durch Hand-
„lungen; folglich kann auch die Poeſie in ihren
„fortſchreitenden Nachahmungen nur eine einige
„Eigenſchaſt der Koͤrper nutzen, und was daraus
„mehr folgen ſoll„ an Regeln von der Einheit der
maleriſchen Beiwoͤrter, von der Sparſamkeit in
den Schilderungen koͤrperlicher Gegenſtaͤnde — —
u. ſ. w. Daß dieſe Grundſaͤtze nicht aus einer Haupt-
eigenſchaft der Poeſie fließen, z. E. aus dem Suc-
ceſſiven ihrer Toͤne, woraus ſie Hr. L. hergeleitet,
iſt bewieſen. Daß ſie auch, und wenn ſie alle in
Homers Praxis ſo Statt faͤnden, wie Hr. L. glaubt,
doch auch nicht aus dem Succeſſiven der Poeſie
uͤberhaupt, ſondern aus ſeinem naͤhern epiſchen
Zwecke fließen, iſt auch gezeigt. Warum ſoll nun
dieſer epiſche Ton Homers der ganzen Dichtkunſt,
Ton, und Grundſatz und Geſetz ſo gar ohne Ein-
ſchließung geben, als er ſich bei Hrn. L. meldet?


Jch zittre vor dem Blutbade, den die Saͤtze:
„Handlungen ſind die eigentlichen Gegenſtaͤnde der
P 2Poe-
232
[228]Kritiſche Waͤlder.
„Poeſie: Poeſie ſchildert Koͤrper, aber nur andeu-
„tungsweiſe durch Handlungen: jede Sache nur
„mit einem Zuge u. ſ. w. a)„ unter alten und neuen
Poeten anrichten muͤſſen. Hr. L.. haͤtte nicht be-
kennen doͤrfen, daß ihn die Praxis Homers darauf
gebracht; man ſieht es einem jeden beinahe an, und
kaum — kaum bleibt der einige Homer alsdenn
Dichter. Von Tyrtaͤus bis Gleim, und von Gleim
wieder nach Anakreon zuruͤck: von Oſſian zu Mil-
ton, und von Klopſtock zu Virgil, wird aufgeraͤumt
— erſchreckliche Luͤcke. Der dogmatiſchen, der
malenden, der Jdyllendichter nicht zu gedenken.


Hr. L. hat ſich gegen einige derſelben erklaͤrt,
und aus ſeinen Grundſaͤtzen ſich noch gegen mehrere
erklaͤren muͤſſen. „Die ausfuͤhrlichen Gemaͤlde
„koͤrperlicher Gegenſtaͤnde ſind ohne den oben er-
„waͤhnten Kunſtgriff Homers, das Coexſiſtirende der-
„ſelben in ein wirkliches Succeſſives zu verwan-
„deln„ (es iſt oben erwaͤhnt, daß Homer von ſol-
chem Kunſtgriffe nichts weiß, und ein Kunſtgriff,
was koͤnnte der zu einem ſo großen Zwecke als
Kunſtgriff wohl thun?) — „ſind jederzeit von
„den ſeinſten Richtern fuͤr ein froſtiges Spielwerk
„erkannt worden, zu welchem wenig, oder gar kein
„Genie gehoͤrt b).„ Von dieſen feinſten Rich-
tern werden angefuͤhrt: Horaz, Pope, Kleiſt,
Marmontel; mich duͤnkt aber, daß ſie fuͤr Hrn. L.
nicht
[229]Erſtes Waͤldchen.
nicht ſo ins Unbeſtimmte hin beweiſen. Horaz am
angefuͤhrten Orte a), ſchilt nicht die fuͤr poetiſche
Stuͤmper, die einen Hayn, Altar, Bach, Strom
u. ſ. w. malen, ſondern am unrechten Orte
malen:


— Inceptis gravibus plerumque \& magna profeſſis

Purpureus late, qui ſplendeat, unus \& alter

Aſſuitur pannus, cum lucus \& ara Dianæ \&c.

Aut flumen Rhenum, aut pluvius deſcribitur arcus.

Sed nunc non erat his locus — —

Pope erklaͤrte ein blos malendes Gedicht fuͤr
ein Gaſtgebot auf lauter Bruͤhen; damit aber hat
er ja nicht „jedes ausfuͤhrliches Gemaͤlde koͤrperlicher
Gegenſtaͤnde, das nur ohne den homeriſchen Kunſt-
griff erſchiene, fuͤr ein froſtiges Spielwerk ohne Ge-
nie erklaͤrt. Der Hr. v. Kleiſt, duͤnkt mich, woll-
te in ſeinen Fruͤling eine Art von Fabel legen (ein
Plan iſt ſofern ſchon drinn, daß ſein Gedicht nicht
eine Menge von Bildern, die er aus dem unendli-
chen Raume der verjuͤngten Schoͤpfung blos auf ge-
rathe wohl, bald hie, bald da, geriſſen, ſondern, nach
der Angabe einer kritiſchen Schrift, ein Spatziergang
iſt, der die Gegenſtaͤnde in der natuͤrlichen Ordnung
ſchildert, in der ſie ſich ſeinen Augen dargeboten) er
wollte, ſage ich, eine Fabel hinein legen; ja nicht
aber jede ausfuͤhrliche Schilderung koͤrperlicher Ge-
P 3gen-
[230]Kritiſche Waͤlder.
genſtaͤnde, als ein froſtiges Spielwerk, hinaus wer-
fen. Und Marmontel endlich will zwar aus der
Jdylle mehr Moral, und weniger phyſiſche Bilder
haben; ob aber dadurch die Jdylle eine mit Bildern
nur ſparſam durchflochtene Folge von Empfindun-
gen, und wenn dies, eben dadurch auch „eine fort-
„ſchreitende Folge von Handlungen werde, wo Koͤr-
„per nur mit einem Zuge geſchildert werden ſollen„
weiß ich nicht, und nach Hrn. L. iſt ſie im andern
Falle nicht Poeſie.


Handlung, Leidenſchaft, Empfindung! —
auch ich liebe ſie in Gedichten uͤber alles: auch ich
haſſe nichts ſo ſehr, als todte ſtillſtehende Schilde-
rungsſucht, inſonderheit, wenn ſie Seiten, Blaͤtter,
Gedichte einnimmt; aber nicht mit dem toͤdtlichen
Haſſe, um jedes einzelne ausfuͤhrliche Gemaͤlde,
wenn es auch coexſiſtent geſchildert wuͤrde, zu ver-
bannen, nicht mit dem toͤdtlichen Haſſe, um jeden
Koͤrper nur mit einem Beiworte an der Handlung
Theil nehmen zu laſſen, und denn auch nicht aus dem
naͤmlichen Grunde, weil die Poeſie in ſucceſſiven
Toͤnen ſchildert, oder weil Homer dies und jenes
macht, und nicht macht — — um deßwil-
len nicht.


Wenn ich Eins von Homer lerne, ſo iſts, daß
Poeſie energiſch wirke: nie in der Abſicht, um bei
dem letzten Zuge ein Werk, Bild, Gemaͤlde (obwohl
ſucceſſive) zu liefern, ſondern, daß ſchon waͤhrend
der
[231]Erſtes Waͤldchen.
der Energie die ganze Kraft empfunden, und wer-
den muͤſſe. Jch lerne von Homer, daß die Wir-
kung der Poeſie nie aufs Ohr, durch Toͤne, nicht
aufs Gedaͤchtniß, wie lange ich einen Zug aus der
Succeſſion behalte, ſondern auf meine Phantaſie
wirke; von hieraus alſo, ſonſt nirgendsher, berech-
net werden muͤſſe. So ſtelle ich ſie gegen die Ma-
lerei, und beklage, daß Hr. L. dieſen Mittelpunkt
des Weſens der Poeſie „Wirkung auf unſre Seele,
„Energie,„ nicht zum Augenmerke genommen.


19.


Malerei wirkt nicht aus dem Raume allein, d. i.
Koͤrper: ſondern auch im Raume, durch Eigen-
ſchaften deſſelben, die ſie zu ihrem Zwecke anrichtet.
Nicht blos alſo, daß kein Gegenſtand der Malerei
ohne Sichtbarkeit und Geſtalt Statt finde; ſondern
Sichtbarkeit und Geſtalt ſind auch die Eigenſchaf-
ten der Koͤrper: durch die ſie wirket. Poeſie aber,
wenn ſie nicht durch den Raum wirket, d. i. coexſi-
ſtent, durch Farben und Figuren; ſo folgt noch nicht,
daß ſie nicht aus dem Raume wirken, d. i. Koͤrper
von Seiten der Sichtbarkeit und Geſtalt ſchildern
koͤnne. Aus dem Mittel ihrer Wirkung folgt dies
nicht: denn ſie wirkt durch den Geiſt, und nicht durch
den ſucceſſiven Ton der Worte.


Malerei wirket durch Farben und Figuren fuͤrs
Auge: Poeſie, durch don Sinn der Worte auf die
P 4un-
[232]Kritiſche Waͤlder.
untern Seelenkraͤfte, vorzuͤglich die Phantaſie. Da
nun die Handlung der Phantaſie immer ein An-
ſchauen genannt werden mag; ſo kann auch die Poe-
ſie, ſo fern ſie derſelben einen Begriff, ein Bild an-
ſchauend macht, fuͤglich eine Malerinn fuͤr die Phan-
taſie genannt werden: und jedes Ganze Eines Ge-
dichts, iſt das Ganze Eines Kunſtwerks.


Nur da die Malerei ein Werk hervorbringt,
das waͤhrend der Arbeit noch Nichts, nach der Vol-
lendung Alles iſt, und zwar in dem Ganzen des
Anblicks Alles: ſo iſt die Poeſie Energiſch, das iſt,
waͤhrend ihrer Arbeit muß die Seele ſchon alles
empfinden; nicht wenn die Energie geendigt iſt,
erſt zu empfinden anfangen, und erſt durch Recapi-
tulation der Succeſſionen empfinden wollen. Habe
ich alſo eine ganze Schilderung der Schoͤnheit hin-
durch nichts empfunden: ſo wird mir der letzte An-
blick nichts gewaͤhren. —


Malerei will das Auge taͤuſchen: Poeſie aber
die Phantaſie — nur wieder nicht werkmaͤßig, daß
ich in der Beſchreibung das Ding erkenne; ſondern
bei jeder Vorſtellung es zu dem Zwecke ſehe, zu
dem es mir der Dichter vorfuͤhret. Die Art der
Taͤuſchung iſt alſo bei jeder Gedichtart verſchieden,
bei allen Gemaͤlden nur zwiefach: entweder taͤu-
ſchende Schoͤnheit, oder taͤuſchende Wahrheit. Aus
dieſem Zwecke muß alſo das Werk der Kunſt und
die Energie des Dichters geſchaͤtzt werden.


Der
[233]Erſtes Waͤldchen.

Der Kuͤnſtler alſo wirkt durch Geſtalten fuͤr
das Ganze Eines Anblicks, bis zur Taͤuſchung des
Auges; der Dichter durch die geiſtige Kraft der
Worte waͤhrend der Succeſſion, bis zur vollkom-
menſten Taͤuſchung auf die Seele. Wer alſo Farbe
und Wort, Zeitfolge und Augenblick, Geſtalt und
Kraft mit einander vergleichen kann, vergleiche. —


Manches zu dieſer Aufgabe hat ein ſcharfſinni-
ger Englaͤnder a) vorgezeichnet, der im Geſchmacke
des Shaftesburi ein Geſpraͤch uͤber die Kunſt, und
ein andres uͤber die Tonkunſt, Malerei und Dicht-
kunſt gegeben. — Schade nur! daß er im letzten,
ſtatt blos den Unterſchied zwiſchen dieſen dreien
Kuͤnſten zu entwickeln, auf die leere Grille geraͤth,
den Vorzug zu beſtimmen, den eine vor der an-
dern habe. Zwiſchen voͤllig ungleichartigen Dingen
laͤuft eine bloße Rangordnung auf einen ſo ſchuͤler-
haften Wettſtreit hinaus, als vor einigen Jahren die
Malerei, Muſik, Poeſie und Schauſpielkunſt, unter
der Aufſicht eines Magiſters der Weltweisheit,
foͤrmlich und feierlich haben eingehen muͤſſen. b)


Laſſet uns ſehen, was Harris fuͤr Seiten des
Unterſchiedes findet. Zuerſt macht er die ſehr deut-
P 5liche
[234]Kritiſche Waͤlder.
liche Eintheilung zwiſchen Kuͤnſten, die ein Werk
liefern, und Kuͤnſten, die durch Energie wirken-
Jene ſind, deren Wirkung coexſiſtirende Theile
hat, wie eine Bildſaͤule, ein Gemaͤlde: dieſe,
die ſucceſſive wirket, z. E. Tanz, Muſik. Der
Mittelpunkt des Leſſingſchen Werkes, in welchen alle
Stralen fallen, iſt alſo ſchon von Ariſtoteles ange-
geben. Wenn die Wirkung einer Kunſt Energie
iſt: ſo kann die Vollkommenheit ſolcher Kunſt nur
waͤhrend der Dauer wahrgenommen werden; iſt
ſie ein Werk: ſo iſt die Vollkommenheit nicht waͤh-
render Energie, ſondern erſt nachher, ſichtbar.


Malerei, Muſik und Dichtkunſt ſind alle
mimiſch, nachahmend; verſchieden aber durch die
Mittel der Nachahmung; die Malerei mimiſiret
durch Figur und Farbe; die Tonkunſt durch Be-
wegung
und Toͤne — Malerei und Tonkunſt
durch natuͤrliche; die Poeſie durch ein kuͤnſtliches
und willkuͤhrliches Mittel. — Dieſen Unterſchied
hat der Verf. der Philoſophiſchen Schriften aufs
gruͤndlichſte aus einander geſetzt.


Jede Kunſt hat ihre Gegenſtaͤnde. Die
Malerei Dinge und Begebenheiten, die ſich durch
Figur und Farbe ausdruͤcken laſſen: Koͤrper: Kraͤfte
der Seele, die ſich im Koͤrper aͤußern: Handlungen
und Begebenheiten, deren Vollſtaͤndigkeit auf einer
kurzen und augenſcheinlichen Folge von Veraͤnde-
rungen beruhet: handlungen, deren Veraͤnderun-
gen
[235]Erſtes Waͤldchen.
gen alle die ganze Dauer der Folge hindurch ſich
ſtets gleichfoͤrmig ſind. Handlungen, die in Einen
Zeitpunkt zuſammenlaufen: vielmehr bekannte als
unbekannte Handlungen — Man ſieht, daß von die-
ſer Seite betrachtet, Leſſings Laokoon nicht vollen-
det ſey, da er uͤberhaupt mehr fuͤr den Dichter, als
Maler, geſchrieben. —


Gegenſtaͤnde der Tonkunſt: Dinge und
Vorfallenheiten, die vorzuͤglich durch Bewegung
und Toͤne ausgedruͤckt werden koͤnnen: dieſe ſind al-
lerlei Bewegungen, Toͤne, Stimmen, Leidenſchaf-
ten durch Toͤne u. ſ. w.


Gegenſtaͤnde der Poeſie ſind die Objekte
beider vorigen Kuͤnſte. Zuerſt, ſo fern ſie durch na-
tuͤrliche
Mittel nachgeahmet werden. Hier war
leicht zu erachten, daß die Poeſie der Malerei nach-
bleiben muͤſſe: denn alles lief dahinaus, daß Worte
keine Farben, und der Mund kein Pinſel ſey. Auch
das iſt mir befremdend, wie hier die Poeſie der Ton-
kunſt an natuͤrlichen Toͤnen gleichkommen koͤnne:
Kurz! die Vergleichung iſt uͤbel gerathen. Durch
bedeutende Worte, als durch willkuͤhrliche ver-
abredete Zeichen,
und dies ſollte eigentlich der
Punkt der Leſſingſchen Vergleichung ſeyn.


Jn den eigentlichen Gegenſtaͤnden der Malerei
(d. i. die durch Farben, Figuren, und Stellungen
charakteriſirt ſind — deren vollſtaͤndige Einſicht
nicht von einer Folge der Begebenheiten abhaͤngt —
wenig-
[236]Kritiſche Waͤlder.
wenigſtens von einer kurzen und in die Augen fal-
lenden Folge — wo alle mannichfaltige Nebenum-
ſtaͤnde in einen untheilbaren Zeitpunkt zuſammen-
laufen) in allen dieſen Gegenſtaͤnden bleibt der Dich-
ter dem Maler nach: denn erſtlich jener ahmt durch
willkuͤhrliche Zeichen, dieſer durch die Natur nach:
dieſer zeigt alles in dem naͤmlichen Augenblicke, wie
in der Natur; jener nur theilweiſe, zergliedernd;
und alſo langweilig oder dunkel.


Es giebt auch Gegenſtaͤnde, die der Dichtkunſt
eigen ſind: Handlungen, die in die Laͤnge dauern,
und die ein fuͤr die Malerei praͤgnanter Augenblick
in Eins bringt: Sitten, Leidenſchaften, Empfindun-
gen, und Charakter an ſich, die ſich am meiſten
durch Rede zeigen. Hier bleibt die Malerei voͤllig
nach, leidet keine Vergleichung — —


Harris geht nachher in die Graͤnzen der Poeſie
und Tonkunſt, wo ich ihm nicht nachfolgen mag.
Hier wuͤnſche ich der Dichtkunſt noch einen Leſſing.
Er betrachtet genauer den ſittlichen, den geiſtigen
Eindruck der Poeſie: eine wieder unberuͤhrte Saite,
die ich auch nicht beruͤhren mag. Jch wollte meine
Leſer blos auf einen Schriftſteller aufmerkſam machen,
der mit Leſſingen einerlei Gegenſtand bearbeitet, in
manchem weiter gekommen, und ſcharfſinnig gnug
war, ſeinen Gegenſtand kurz und buͤndig zu erſchoͤ-
pfen, wenn er ſtatt des leeren Rangſtreites auf nichts,
als
[237]Erſtes Waͤldchen.
als auf Unterſchied, hiernach auf Graͤnzen, denn auf
Geſetze haͤtte ſehen wollen.


20.


Jch will nicht ſagen, daß Hr. Leſſing nicht, dem
Hauptzwecke ſeines Buchs nach, gegen Caylus, und
gegen Caylus Affen an Unterſcheidung Recht be-
halte: nur nicht immer an Gruͤnden der Unterſchei-
dung, und am wenigſten im Hauptgrunde. Er
duͤnkt mich immer noch auf dem halben Wege, als
wenn die Poeſie durch Succeſſion auf ein Werk
arbeiten ſollte, und nicht ſchon eben in der Succeſ-
ſion
ihr Werk liefere.


Der Dichter, z. E. der uns Schoͤnheit mahlen
wollte, es ſei nun ein Conſtantinus Manaſſes, oder
Arioſt, gieng nicht darauf aus, um hinten nach zu
fragen: wie ſahe Helena, wie ſahe Alcina aus? a)
uns mit ſeiner Beſchreibung ein vollſtaͤndiges Bild
zu hinterlaſſen, u. ſ. w. Er fuͤhrt uns durch die
Theile, um jeden derſelben als ſchoͤn anſchauend zu
machen, um, wenn wir alle Theile vergeſſen haͤtten,
ſo viel anſcheinend zu wiſſen: Helena, Alcina war
reizend. Hat Arioſt auf Hrn. Leſſing damit keine
Wirkung gemacht, ſo wird er vielleicht auf dieje-
nigen ſeiner Landesleute Eindruͤcke machen, die die
Schoͤnheit in einer Alcina wie in einer gehauenen
Venus theilweiſe anzuerkennen gewoͤhnt ſind: oder
wenn
[238]Kritiſche Waͤlder.
wenn Arioſt ſelbſt eine Alcina ſaͤhe, wuͤrde er viel-
leicht auf ſolchem Wege — Und uͤberhaupt kann
man hier aus einer Vergleichung wenig folgern.
Homer mahlt ſeine Helena nicht a); warum? weil
ſie ihn nicht angehet, weil er von Anfange bis zu
Ende ſeines Gedichts nicht zu der Frage Zeit hat:
wie ſahe ſie aus? ſondern immer, was trug ſich hier
und damit zu? Helena kommt, die Greiſe ſehen ſie:
wie anders, als daß ſie fuͤhlen und ſagen mußten,
was ſie fuͤhlen und ſagten; nicht aber laͤßt Homer
ſie das fuͤhlen und ſagen, um „durch Wirkung
„anzuzeigen, daß Helena ſchoͤn ſey;„ — Arioſt
hingegen, der Homer Jtaliens, der aber vom grie-
chiſchen Homer Alles eher, als dies beſtaͤndige Fort-
ſchreiten der Handlung hat, Arioſt, der ſein ganzes
Gedicht durch nicht das Werk zu ſeiner Manier
macht: Es ward, es ward, es ward, ſondern auch
„es war,„ und „wie war es?„ Arioſt haͤtte ent-
weder ſo nicht fragen ſollen, oder er mußte uns durch
die Theile
fuͤhren. — Nicht, daß wir nachher die
Theile ſammlen, zuſammenſetzen; nicht, daß nach-
her die Phantaſie ſtreben ſoll, ſich das Ganze Ei-
nes Kunſtwerks zu denken; im Schildern ſelbſt, im
Durchfuͤhren durch ſeine Theile hat er ſeinen Zweck
erreichen wollen — ob er ihn erreicht? Davon
mag jeder denken was er will; gnug, er wollte ihn
waͤhrend der Energie erreichen.


Wenn
[239]Erſtes Waͤldchen.

Wenn der Dichter die Schoͤnheit lieber in Wir-
kung, in Bewegung, d. i. reizend vorſtellet, ſo thut
ers nicht, damit dieſe ſich bewegende Schoͤnheit dem
ſich bewegenden Verſe entſpreche; nicht als wenn
jeder Zug der Schilderung, der Form, Geſtalt, und
nicht Wirkung, nicht Bewegung iſt, deßwegen un-
poetiſch wuͤrde a): ſondern ich generaliſire den Satz
lediglich ſo: „jede Schilderung der Schoͤnheit
„wirke energiſch„ d. i. zu dem Zwecke des Dichters,
zu dem ſie da iſt, und denn waͤhrend jedem Zuge,
den ſie liefert. Hiernach moͤge ſich Arioſt verant-
worten: aber das Leſſingſche Gebot: „Schoͤnheit
„des Koͤrpers zeige ſich bei dem Dichter blos durch
„Wirkung, blos durch Bewegung, b)„ raͤumt zu
viel auf.


Zu viel ſelbſt in Homer; denn ich weiß wohl
nicht, ob bei der ganzen Juno, wenn er ſie nicht
koͤrperlich, wenn er ſie nur durch ein Beiwort ſchil-
dern wollte, kein wirkſamerer, kein reizenderer Zug
ſey, als der, die weißellbogichte Juno, (man er-
laube mir das ungeheure Wort!) ob dieſer eine Zug
der ſei, durch den ſie an der Handlung Theil neh-
me, der durch ihren Koͤrper Handlung bezeichne, u. ſ. f.
So ſeine ſchoͤnknieichte Briſeis, und ſeine blauaͤu-
gichte Pallas, und ſein breitſchulterichter Ajax, und
ſein geſchwindfuͤßiger Achilles, und ſeine ſchoͤnhaa-
rige Helena — wo iſt hier Wirkung, Bewegung,
Reiz
[240]Kritiſche Waͤlder.
Reiz, Handlung? — Jmmer ein ſchoͤner Zuruff an
die Dichter a): „Malet uns das Wohlgefallen, die
„Zuneigung, die Liebe, das Entzuͤcken, welches
„die Schoͤnheit verurſachet„ — (wenn dies naͤm-
lich die Energie eures Gedichts will!) ſo habt ihr
die Schoͤnheit ſelbſt geſchildert, (naͤmlich ſo fern ihr
ſie nach der vorigen Parentheſe ſchildern muͤſſet:)
Nicht aber umgekehrt: ihr Dichter ſchildert keine
koͤrperliche Schoͤnheit; koͤnnet ihr ſie nicht durch-
gaͤngig in Reiz, in Wirkung ſchildern; der Form
nach muͤſſe euch kein Zug entwiſchen: der Geſtalt
nach ſchildert ſie nicht. — So umgekehrt habe ich
auf den Satz wenig Zutrauen.


Wer kann leugnen, daß in mancher Gedichtart
der erotiſchen Poeſie koͤrperliche Schoͤnheit geſchil-
dert werden muͤſſe, und wer muß nicht alsdenn
auch zugeben, daß manche Theile dieſer koͤrperlichen
Schoͤnheit in Reiz, in Bewegung, nicht geſchildert
werden koͤnnen? Einmal vorausgeſetzt, daß Arioſt
ein Gemaͤlde ſeiner Alcine liefern ſollte und wollte:
wie konnte er wohl ihre Naſe, Hals, Zaͤhne, Arme
in Wirkung ſchildern? Hr. L. frage b): was eine
Naſe ſey, an welcher der Neid nichts zu beſſern
findet: und ich frage: was eine Naſe ſey, die ſich
in Reiz, in ſchoͤner Bewegung zeige? — Arioſt
mußte alſo entweder ſolche Theile auslaſſen, und da
ers nun einmal auf Schilderung angeſetzt: ſo wuͤrde
die
[241]Erſtes Waͤldchen.
die Auslaſſung einem Jtaliener ſo, geſchienen haben,
als jene ſeine Lobſatyre, auf ein ſchoͤnes aber groß-
naſichtes Maͤdchen, die alle Theile ihres Geſichts
zum Himmel erhob, und bei Schilderung der Naſe
ohnmaͤchtig aufhoͤrte. Oder er mußte ſolche Zuͤge,
die ſich nicht anders, als durch die Form anſchauend
machen ließen, ſchon ſo ſchildern, und ſich deſto mehr
an andern reizvollen geiſtigen Zuͤgen erholen. Jch
halte dieſe Vermiſchung auch zu ſehr nach dem Ge-
ſchmacke der Jtaliener, als daß ſie ſich durch die vor-
ſtehende Leſſingſche Critik dieſe und dergleichen
Schilderungen, von denen ihre Dichter voll ſind,
wuͤrden rauben laſſen. Noch minder gilt die Ur-
ſache a), warum Arioſt mit ſeiner Schilderung Un-
recht haben ſoll: „was fuͤr ein Bild geben dieſe
„allgemeinen Formeln? Jn dem Munde eines Zei-
„chenmeiſters, der ſeine Schuͤler auf die Schoͤnhei-
„ten des akademiſchen Modells aufmerkſam machen
„will, moͤchten ſie noch etwas ſagen; denn ein Blick
„auf dieſes Modell, und ſie ſehen Stirn, Naſe,
„Hand u. ſ. w. Aber bei dem Dichter ſehe ich
„nichts.„ Eben als wenn der Dichter die Figu-
ren, die er ſchildert, auch im Kupfer muͤßte vorſte-
chen laſſen? Wer hat nicht eine Naſe, Hand, Stirn
geſehen, und wem koſtet es Anſtrengung, ſich eine
Stirn, in den beſten Schranken, den ſchoͤnſten
Schnitt einer Naſe, die ſchmale Breite einer niedli-
Qchen
[242]Kritiſche Waͤlder.
chen Hand zu denken, jedesmal, da ſie der Dichter
nennet. Jch empfinde hierbei nicht ſo, wie Hr. L.
mit Verdruſſe die Vergeblichkeit meiner beſten An-
ſtrengung, ſo etwas einzeln ſehen zu wollen; nach-
her aber jedes zuſammen zu ſetzen, mir Alles in Einem,
und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit
jedem dieſer Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei-
chenmeiſter, zu denken — o die Anſtrengung fo-
dert ja nicht der Dichter von mir! er fuͤhrte mich
theilweiſe, zeigte mir in jedem Theile die Schoͤn-
heit: da energiſirte ſeine Muſe, und warum nicht? da
ſie kein akademiſches Model von Schoͤnheit, das man
auf einmal in allen ſeinen Theilen ſehen ſollte, zu lie-
fern unternahm.


Und ſoll die Dichtkunſt keine ſchoͤne Geſtalt
ſchildern, weil ihre Theile coexſiſtent ſind; ſo ſollte Ho-
mer auch keine haͤßliche Geſtalt, keinen Therſites ge-
ſchildert haben, weil ihre Mißtheile eben ſo coexſi-
ſtent ſind, und auch coexſiſtent gedacht werden muͤſ-
ſen, wenn ein Bild der Haͤßlichkeit werden ſoll. Leſ-
ſing hat Homer durch ſein Gewebe von kritiſchen
Regeln ſelbſt verwickelt, und nun will er mit ihm
hinaus, wo er kaum durchkommt. „Eben weil die
„Haͤßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu
„einer minder widerwaͤrtigen Erſcheinung koͤrperli-
„cher Unvollkommenheiten wird, und gleichſam,
„von der Seite ihrer Wirkung, Haͤßlichkeit zu ſeyn
„auf-
[243]Erſtes Waͤldchen.
„aufhoͤret, wird ſie dem Dichter brauchbar a).
Mich duͤnkt, Hr. L. thue einen Fehlſtreich, um die
Verlegenheit zu zerſtuͤcken. Waͤre die Frage: wie
kann der griechiſche Dichter einen Haͤßlichen ſchil-
dern, da ihn doch der griechiſche Kuͤnſtler nicht ſchil-
dern mochte? ſo mag die Antwort gelten: die Figur
tritt uns nicht mit einmal vors Auge: in der Schil-
derung des Dichters iſt ſie minder widrig: ſie hoͤ-
ret von der Seite der Wirkung auf unſern Anblick
auf, haͤßlich zu ſeyn. Aber was ſoll das hier? Es
wird einmal eine koͤrperliche Geſtalt geſchildert, ſuc-
ceſſive geſchildert, da ihre Theile und Mißtheile
doch zuſammen exſiſtiren, da ſie doch in Verbindung
gedacht werden muͤſſen, wenn der Begriff der Haͤß-
lichkeit aufkommen ſoll — weg alſo, mit dem
Therſites, nach L. Grundſaͤtzen, nicht weil er haͤß-
lich, ſondern weil er ein Koͤrper iſt, weil er als koͤr-
perliche Geſtalt, und doch ſucceſſiv, geſchildert wer-
den muß.


„Aber der Dichter kann ihn nutzen! er nutzt
„ihn zu b) — —„ ſo kann er doch alſo Formen,
koͤrperliche Schilderungen nutzen? und wenn er ſie
nutzen kann, ſind ſie ihm erlaubt? woruͤber ſtreiten
wir denn? Kann er haͤßliche Formen nutzen, wie
weit eher ſchoͤne? und ſind ihm jene erlaubt, wie
weit eher dieſe? So kann er doch alſo, wenn er
Energie in ſie legt, auch koͤrperliche Gegenſtaͤnde
Q 2ſchil-
[244]Kritiſche Waͤlder.
ſchildern — was wollen wir mehr? Die Schaͤrſe
des Bogens hat nachgelaſſen: erſchlaffet liegt er da!
Mit einer ſolchen Zugabe hat Hr. L. den groͤßten
Theil ſeines Buches wiederlegt.


21.


Und wozu nutzet denn Homer den Therſites?
Die Frage wird wieder homeriſch, und in homeri-
ſchen Fragen antworte ich ſo ſelten mit Hrn. L. gleich.
„Homer macht den Therſites haͤßlich, um ihn laͤcher-
„lich machen zu koͤnnen. Durch ſeine bloße Haͤß-
„lichkeit wird er nicht laͤcherlich; aber auch ohne die-
„ſelbe nicht ſeyn a).„ Auf dieſe Aſſertion bauet
Hr. L. einen Theil ſeiner Theorie des Laͤcherlichen,
der ich lieber einen andern Ort und Grundlage
wuͤnſchte, als hier.


Jn meinem Homer iſt der Hauptcharakter
Therſites nicht laͤcherlich, ſondern haͤßlich; er iſt
kein laͤcherlich, ſondern boshaft knurrender Kerl, er
hat die ſchwarzeſte Seele unter allen vor Tro-
ja
b) Alle ſitzen ruhig; der einige Therſites laͤrmt
noch umher c): er faͤngt, wahrhaftig nicht zum
Spaaße, ſondern mit der bitterſten Galle an, zu zan-
ken: er ſchmaͤhet die Koͤnige, aber gewiß nicht als
Hof-
[245]Erſtes Waͤldchen.
Hofnarr, ſondern als Feind, als Todfeind. Wie
derb und empfindlich a) ſchmaͤlet er auf Agame-
mnon! auf ſeinen Geiz, auf ſeine Feigheit, auf ſeine
Ungerechtigkeit! Und das alles, vor der Armee,
verlaͤumdend und luͤgenhaft, im dreuſteſten Tone,
als ein Richter der Koͤnige! und dazu, als waͤre es
im Namen aller Griechen b), als haͤtten ihn alle da-
zu gedungen! und in eben demſelben Athem ſchimpft
er die ganze Nation c) ſelbſt, ſchilt alle Griechen
fuͤr Feige und Nichtswuͤrdige, ſpricht in einem To-
ne, als haͤtte er mehr, als alle, gethan, muͤſſe fuͤr
alle ſorgen, koͤnne allen gebiethen, koͤnne uͤber alle
urtheilen! Und noch nicht gnug! er muß noch einen
Abweſenden d), den Tapferſten der Griechen, den
Achilles ſchmaͤhen, und zwar mit der graͤulichſten
Luͤge ſchmaͤhen, daß Achilles kein Herz habe —
O der nichtswuͤrdige, haͤßliche Kerl! Nach griechi-
ſchen Begriffen konnte kein Nichtswuͤrdigerer vor
Troja gefunden werden.


Und wenn er noch das alles aus Dummdreu-
ſtigkeit ſagte! aber nun kennet ihn Homer beſſer: er
war ſchon von jeher gewohnt, ſo poͤbelhaft ſich ge-
gen die Koͤnige zu ſetzen, um — den Griechen ei-
ne Freude zu erwecken, einen Gefallen zu thun e)
Q 3— und
[246]Kritiſche Waͤlder.
— und nun wird der Kerl noch niedertraͤchtiger,
noch haͤßlicher. Nach griechiſchen Begriffen der
Ehre, kann es keine haͤßlichere Seele geben.


Daher haſſen ihn auch alle Griechen a): daher
auch mitten in ihrer Betruͤbniß das Freudengelaͤch-
ter b), da ſich Ulyſſes ſeiner erbarmet, und ihn mit
ſeinem Zepter zum Schweigen bringt: daher die all-
gemeine Stimme: „Ulyſſes hat nie eine herrlichere
„That gethan, als jetzt, da er dieſen boͤsartigen
„Schwaͤtzer gezuͤchtigt.„


So ſchildert ihn Homer mit jedem Zuge: ſo
zeigt er ſich ſelbſt mit jedem Worte: ſo begegnet ihm
Ulyſſes mit Auge, und Mund und Hand. Er
wirft ihm den veraͤchtlichſten Blick zu c); ſpricht
und handelt mit ihm en Canaille; ſo betraͤgt er ſich
hintennach ſelbſt: er haͤngt die Naſe, kruͤmmt den
Ruͤcken, und weint — veraͤchtlichſte, haͤßlichſte
Seele vor Troja! Nach griechiſchen Begriffen war
der Werth eines Mannes, eines Soldaten, eines
Helden auf edlen Stolz gegen ſich ſelbſt, auf Ehr-
erbietung gegen die, ſo Ruhm verdienten, auf maͤnn-
liche Wahrheitliebe, auf Achtung gegen das Pu-
blikum, auf freien Gehorſam gegen die Obern, auf
Ehre gebauet — in jedem Verſtande war dies ein
Jdeal einer haͤßlichen Seele.


Und
[247]Erſtes Waͤldchen.

Und nach griechiſchen Begriffen muß auch eine
ſo haͤßliche Seele keinen andern, als den haͤßlichſten
Koͤrper, bewohnen: ſo ſchildert ihn Homer: „Am
„Gemuͤthe der Boͤsartigſte, am Koͤrper der Haͤß-
„lichſte aller Griechen vor Troja a).„


Wo iſt nun, daß Homer den Therſites haͤßlich
macht, um ihn laͤcherlich zu machen? Jhn als Poſ-
ſenreißer vorfuͤhren, will er wahrlich nicht: blos ein
Misverſtand des griechiſchen Ausdrucks b) hat
Hrn. L. und andre dazu verleitet. „Er war ſo nie-
„dertraͤchtig, ſagt Homer, daß er ſeine Pflicht ver-
„gaß, mit den Koͤnigen zankte, ſich Pruͤgel ver-
„ſchaffte, blos, um den Griechen mit ſeinen Reden
„eine Freude zu machen; — nichtswuͤrdige Seele!
die alle fuͤr ſo misvergnuͤgt, ſo haͤßlich knurrend
haͤlt, als ſich ſelbſt, die allen durch ihre Bosheit ei-
nen Gefallen zu thun glaubt. So erklaͤre ich Ho-
mer, und finde dieſen Zug dem ganzen Gemaͤlde
ſeiner Reden, ſeiner Handlungen gleich, niedertraͤch-
tig, haͤßlich. So nimmt ihn Ulyſſes: er ſchilt ſei-
ne Bosheit, verachtet ſeine Feigheit, ſtraft ſeinen
Trotz; ſo nehmen ihn die Griechen: ſie haſſen ihn,
hoͤren ihn mit Unwillen, und freuen ſich, da ſein
Q 4Ruͤcken
[248]Kritiſche Waͤlder.
Ruͤcken blutet: ſo tritt er vor, ſo wird er abge-
fertigt.


Jch ſehe alſo nicht, daß die γελοιον ſein Haupt-
charakter iſt, noch minder, daß dieſer Charakter oh-
ne Haͤßlichkeit nicht ſeyn koͤnnte, wie Hr. L. philoſo-
phirt a). Ein haͤßlicher Koͤrper, und eine haͤßli-
che Seele, was giebt dann das fuͤr einen Kontraſt
des Laͤcherlichen! Nach griechiſchen Begriffen ge-
hoͤrt nichts beſſer zuſammen, und auch Homer giebt
ihm den haͤßlichen Koͤrper, eben um den Unwillen
gegen ihn zu beſtaͤrken, um ſeine haͤßliche Seele uns
ſichtbar vor Augen zu ſtellen, um uns den Kerl
durchaus veraͤchtlich zu machen. Das Laͤcherliche
iſt ſo wenig die Hauptfarbe, im Therſites, daß ſelbſt
die Zuͤge, die man dahin zu ziehen pflegt, ſein un-
endliches Geſchwaͤtz b), ſein vieles Geraͤuſch c), ſein
Poͤbelausdruck d), ſein Zweck e), um den Griechen
einen Gefallen zu thun — nicht den Luſtigma-
cher, ſondern nach griechiſchen Begriffen, den in al-
lem nichtswuͤrdigen Menſchen ſchildern. Selbſt,
daß die Griechen uͤber ihn lachen, iſt Schadenfreu-
de, iſt ein Gelaͤchter des Haſſes; nicht die unſchuldi-
ge Freude uͤber eine luſtige Priſe, die unſchuldig
laͤcherlich wird. Waͤre Therſit ein ſolcher; er ſey
auch
[249]Erſtes Waͤldchen.
auch dumm, er ſey auch haͤßlich am Koͤrper; wenn
er nicht boshaft handelte — o ſo vergebe ich es
Ulyſſes nicht, daß er ſo mit ihm umgehet. Laß den
Haͤßlichen, der ſich ſchoͤn, den Dummen, der ſich
klug, den Feigen, der ſich tapfer duͤnkt, nur immer
ohne blutige Schwiele auf dem Ruͤcken laufen! Laß
o Ulyſſes, nur immer deinen Zepter ruhen, und
wenn du nach deiner Klugheit dich ſelbſt kenneſt, ſo
ſprich zu dem, der dir blos laͤcherlich auf der Naſe
ſpielt, was Onkel Tobias Shandy zu jener Flie-
ge: „Geh, armer Teufel! warum ſollte ich dir was
„thun? die Welt iſt gewiß weit gnug, mich und
„dich zu faſſen.„ Thuſt du das nicht? willſt du
einen haͤßlichlaͤcherlichen dafuͤr abpruͤgeln, daß er
haͤßlich und laͤcherlich iſt? Ulyſſes ſo — —


Doch ſo iſt der homeriſche Therſites nicht; er
verdient, was er bekam: wir ſagen mit den Grie-
chen im Homer: „nie hat Ulyſſes edler gehandelt, als
„jetzt!„ wir goͤnnen ihm gern ſeine Tracht Schlaͤge.
Wo bleibt alſo das Unſchaͤdliche, das ον φϑαρτι-
κον, das Ariſtoteles zum Laͤcherlichen fodert? dem
Ulyſſes und Agamemnon ſchadet freilich ſein boͤsar-
tiges Verlaͤumden nicht; aber fuͤr ſeinen eignen Ruͤ-
cken geht es nicht ſo gut ab; denn wem wird ein
blutiger ſchwielenvoller Ruͤcken, als ein ον φϑαρτι-
κον τι, oder, als ein gutes Unterkleid duͤnken. Auch
den Griechen konnten Schlaͤge, als Schlaͤge, kein
Schauſpiel des Laͤcherlichen ſcheinen; wenn ihr ſcha-
Q 5denfro-
[250]Kritiſche Waͤlder.
denfroher Haß gegen Therſites ihnen nicht in die-
ſer Strafe das: Nicht zu viel! das Viel mehr
verdient! haͤtte fuͤhlen laſſen. Der erſte Strich
vom Laͤcherlichen, das Unſchaͤdliche, iſt alſo ziemlich
zweifelhaft: und der andre, der Contraſt zwiſchen
Vollkommenheiten
und Unvollkommenheiten,
erliegt bei Therſites unter dem Eindrucke des Un-
vollkommenen,
des an ſich ſelbſt Haͤßlichen.
Auch wer ein Grieche werden kann, wird Therſites
in dieſem Lichte ſehen.


Nur weil Homer keine einzige Perſon ſeiner
Welt zum Jdeal des hoͤchſt Vollkommnen oder Un-
vollkommnen machet: ſo vertreibet er auch hier die
uͤbermaͤßige Farbe des Haͤßlichen etwas, daß ſein
Therſites nicht vor allen Figuren ſeines Gedichts
vorrufe. Hat er kein Gutes, ſo hat er doch noch
das Gute an ſich, daß er auf ſich ſelbſt einen Werth
ſetzt, daß er, ſeine Beredſamkeit, ſeine Klugheit und
Ehrlichkeit mag ſo leidig ſeyn, wie ſie will, ſich doch
dieſe Haͤßlichkeit nicht zutrauet: ſo wird der ſonſt
ganz und gar Verachtens-Haſſenswuͤrdige doch et-
was leidlicher; es geht auf ein Laͤcherliches hinaus.
Nur iſt dieſes Letzte ſo ſehr Nebenzug, es liegt ſo we-
nig in ſeinem Charakter, daß es ſich, als ein frem-
der Zug, nur voruͤbergehend, nur hinten nach einmi-
ſchet. Homer laͤßt ſeine Haͤßlichkeit auf etwas Unſchaͤd-
liches auslaufen, um ſein ganz Haͤßliches, ganz
Verabſcheuungswuͤrdiges
zu lindern; nicht aber
umge-
[251]Erſtes Waͤldchen.
umgekehrt: „Homer macht den Therſites haͤßlich,
„um ihn laͤcherlich zu machen: nicht ſeine bloße
„Haͤßlichkeit macht ihn laͤcherlich; aber auch ohne
„Haͤßlichkeit waͤre er nicht laͤcherlich geworden u. ſ.
w. Schoͤne Unterſcheidungen! nur Schade, daß
Homer an ihnen ſo unſchuldig iſt, als ich. Sein
Therſit iſt ganz haͤßlich, nur es nimmt mit ihm ein
laͤcherliches Ende. Geſetzt indeſſen, Therſites waͤ-
re der, fuͤr den ihn Hr. L. erkennet: ſo ſind ſei-
ne Beobachtungen uͤberhaupt, philoſophiſch und
richtig.


Nun aber hat eben dieſer laͤcherliche Therſites
unſchuldiger Weiſe zu einem andern Buche von
284. Seiten Gelegenheit geben muͤſſen, in welchem
er ſ. v. die Hauptfigur ausmacht. Hr. Klotz hat
ihn wuͤrdig geachtet, meiſtens uͤber ihn ein Baͤndchen
Epiſtolarum Homericarum (vielleicht ein zweiter
Riccius) zu ſchreiben, und ihn darinn feierlich in die
Acht zu erklaͤren, in den Bann zu thun, ins Feuer
zu werfen — kurz, aus Homer auszurotten. Jch
habe geſagt, daß uͤber Therſites die homeriſchen
Briefe geſchrieben; denn außer dem, daß er ihnen
den meiſten Jnhalt, d. i. die meiſte Gelegenheit,
umher zu ſchwaͤrmen, verſchaffet; ſo wuͤrde ich,
wenn ich Verfaſſer der Briefe waͤre, es meinem Le-
ſer danken, wenn er die uͤbrigen Malereien, ſo ohne
Pruͤfung, vorbeiſchleichen laͤſſet.


Hr. Klotz
[252]Kritiſche Waͤlder.

Hr. Klotz alſo macht nach einem Eingange von
achtzehen Seiten, in denen er uns, nach ſeiner Ge-
wohnheit, nichts mehr ſagt, als: ich bin auf dem
Lande,
und leſe die ſehr neue Bemerkung a):
daß ein großer Geiſt auch Fehler habe — daß
Homer ſelbſt zuweilen ſchlummere, daß man dieſe
Stellen des Schlummers bemerken doͤrfe — daß
Er — — und nach aller geſteigerter Erwartung
kommt das große und breite Beiſpiel b): „daß Ho-
„mer geſchlummert, glaube ich, erhelle an den
„Orten; wo er, — es ſey nun, daß er ſich damit
„nach den Sitten ſeines Zeitalters bequemet, die
„noch nicht gnug gefeilt waren, und bei ihrer Ein-
„falt etwas Baͤuriſches und Rauhes haben; oder
weil es ſchwer iſt, zuruͤck zu halten, wovon
„wir glauben, es werde den Leſern Lachen er-
„wecken;
oder durch einen Fehltritt ſeiner Beur-
„theilungskraft — kurz! wo er ſich zu dem herab
„laͤßt, wovon ich halte, es ſchicke ſich zu der
„Wuͤrde und Ernſthaftigkeit des epiſchen Gedich-
„tes ganz und gar nicht. Jch meine aber,
„daß Homer dadurch, daß er zuweilen, an einem
„ſehr unſchicklichen Orte, ſeine Leſer lachend ma-
„chen will, daß er dadurch ſein goͤttliches Gedicht
mit nicht leichten Flecken beſudele, die ihm (dem
„Gedichte naͤmlich) eine nicht geringe Verunſtal-
„tung, dem Leſer aber — Verdruß erwecken.
„Die
[253]Erſtes Waͤldchen.
„Die Sache wird aus dem zweiten Buche erhel-
„len — —„ Ob ich gleich meinen ernſthaften
Autor ſehr ehrerbietig, wie ein Dekret der Sor-
bonne uͤberſetze, und ſeinen Styl, der im vollen
Monde gebildet worden,


— — for ſcull

That’s empty, when te Moon is full.

mit allen ſeinen Gelenken und Gliedern gern ganz
liefre; ſo kann ich doch ein Paar Seiten a) uͤber-
ſpringen, in denen er Homers Auftritt des Therſites
vorbringt. Was Homer geſagt, iſt mir was Al-
tes, aber was daruͤber geſagt wird, etwas Neues.
Nun will ich nicht laͤugnen, daß Homer alles
„geſammlet, was den Anblick des Menſchen haͤß-
„lich und laͤcherlich machen kann; und auch das
ſehe ich leicht ein, warum Claudius Belurgerius
„(v. Nic. Erythraei Pinacoth. p. 205. \& Vincent.
„Paravicini ſing. Erud. Cent. III. n. 12. p.
150.)
„ſich an dieſem Bilde des Therſites, von der Hand
„eines geſchickten Kuͤnſtlers gemalt, ſo ſehr ergoͤtzet.
„Jmmer aber wollen wir den Spruch Quintiliani
„betrachten: Nihil poteſt placere, quod non decet,
„zu Deutſch: Nichts kann gefallen, was nicht an-
„ſtaͤndig iſt. Wenn dieſer Menſch etwa in einer
„Satyre, oder in einem andern Poſſengedichte auf-
„traͤte: ſo wuͤrde er mich nicht wenig ergoͤtzen,
und
[254]Kritiſche Waͤlder.
„und ich wuͤrde dem Dichter gern das Lob des Wi-
„tzes, und der Erfindung ertheilen.


„Sed nunc non erat his locus \&c. \&c. ()

Mit Erlaubniß des Hrn. Chr. Ad. Klotzius,
und Claudius Belurgerius will ich hier eine lange
Stelle aus Horaz, und Beiſpiele aus Virgil, Taſ-
ſo, und wer weiß woher a)? uͤbergehen, die von der
Beleſenheit des Hrn. Briefſtellers zeigen, und den
Satz hier durch ſich ſelbſt, am beſten beſtaͤtigen:
daß manches zu ſehr unrechter Zeit kommen koͤnne.
Jch will bei Therſites bleiben. „So wie es un-
„ſchicklich iſt, in einer Scherzſache Trauerſpiele zu
„erwecken, ſo auch in einer ernſthaften Sache zu
„lachen, wer wuͤrde das fuͤr anſtaͤndig halten?
„hier wollen wir nicht lachen, wir ſind voll Er-
„wartung, die uns der Poet ſelbſt eingefloͤſſet, was
„die Sache fuͤr einen Ausgang nehmen wird.
„Wir ſehen das ganze Kriegsheer erregt, zuſam-
„men laufend: wir wollen wiſſen, ob die Griechen
„wieder die Waffen ergreifen, oder nach Hauſe ge-
„hen werden: und ſiehe! da ſtoͤßt uns jenes Fratzenge-
„ſicht (zu Griechiſch μορμολυκειον!) auf, und haͤlt
„uns Eilende bei der Schleppe zuruͤck. Wir wider-
„ſtreben, wir ſind auf den unwillig,
der uns
„das Ungeheuer zuſchickte, und da, wo wir ernſt-
„haft, nicht blos ſeyn wollten, ſondern auch
muß-
[255]Erſtes Waͤldchen.
mußten, lachen wir leider. Alle Hochachtung fuͤr
des Hrn. Klotzius Ernſthaftigkeit und ſeine Schlep-
pe! wollte ich hier nur ein Paar Kleinigkeiten fra-
gen: ob naͤmlich Homer uns mit einer Buͤrgermei-
ſter- oder Scholiaſten-Perucke vorſinge? ob ſein
Therſites denn als eine Poſſenfigur, als ein Ding
zum Lachen auftrete? Jſt dies nicht, tritt er jetzt
in dieſem kritiſchen Zeitpunkte, als ein Redner im
Namen der ganzen griechiſche Canaille auf, alles
abzuſagen, was ſolche Therſites in der griechiſchen
Armee auf ihren Herzen hatten: gewiß! ſo kann
Homer keinen gelegenern Zeitpunkt finden, als die-
ſen, und das Colorit, in dem Therſites erſcheint,
iſt ſo dem Epiſchen Tone gemaͤß, daß ich mir
ihn in keinem andern denken kann. Nicht haͤßli-
cher; ſonſt verdient er den Augenblick todtgeſchla-
gen zu werden; nicht froͤmmer; ſonſt wuͤrde er
ſchweigen, und ſo wuͤrde kein Herold ſeyn, der auch
die Stimme des Poͤbels einmal hoͤren ließe. Jch
bin alſo vor meiner Schleppe und vor einem unanſtaͤn-
digen Lachen ſicher! Der ernſthafte Homer aber,
der ſeinen Therſites ganz anders, naͤmlich als ein
unnuͤtzes Fratzengeſicht, als ein Ungeheuer, das ſich
zum Lachen vordraͤngt, kennet, und davor ſehr ban-
ge iſt, faͤhrt fort:


Wenn wir hingegen den Menſchen wegwer-
„fen, wenn wir alle die Verſe wegſchneiden, laßt
„ſehen, ob wir nicht eine ernſte Mine behalten
wer-
[256]Kritiſche Waͤlder.
werden? Jch ſage es noch einmal, Homers Ther-
„ſites gefaͤllt mir nicht, und wird mir nie gefallen,
„wenn ihn auch Medea wieder verjuͤngte. Weg-
„jagen wollen wir den Menſchen, oder wenn er ſich
„widerſetzte, und ſich erkuͤhnte, Uns auch, ſo wie die
„griechiſchen Feldherren, zu ſchmaͤhen, ſo ſoll er
„mit umgedrehetem Genicke heraus. Zwar zwei-
„feln wir nicht, daß auch Er ſeine Vertheidiger fin-
„den, daß ſich Einige finden werden, die an den ar-
„tigen Jungen nicht wollen Hand angelegt haben.
„Denn es giebt Leute, die mit den Muſen und mit
„der Philoſophia in keinem Umgange, in keiner
„Bekanntſchaft ſtehen, die die Wiſſenſchaften blos
„als Handwerk gelernt, die da ſchreien u. ſ. w. —„
Wehe mir! dieſer ſcheltende ſehr ernſthafte Ton
geht eilf Seiten durch, und wie ſollte ichs nun wa-
gen, einen Therſites Homers zu retten, der ohne
Grund und Urſache verurtheilt iſt. Wehe mir!
ſo gehoͤre auch Jch alsdenn unter die Leute, die mit
den alten Jungfern, den Muſen, und mit der ehr-
baren Dame Philoſophia in keinem Umgange ſie-
hen, denn ich haͤtte geglaubt, Therſit waͤre zu viel
geſchehen. Jch lege alſo voll ernſthafter Ehrerbie-
tung die Hand auf den Mund, und reiche blos mit
geziemender Achtung dem h. t. groͤßten Kenner Ho-
mers in Deutſchland dieſen alten Dichter zum noch-
maligen Durchleſen dar: denn aus dieſen und an-
dern Urtheilen, die er uͤber Homer hie und dort ge-
faͤllet,
[257]Erſtes Waͤldchen.
faͤllt, haben viele Leſer mit Recht gemuthmaßet, er
kenne denſelben vielleicht nur noch aus dem erſten
fluͤchtigen Durchlaufe, den er, wie er uns ſelbſt mit
der liebenswuͤrdigſten Offenherzigkeit erzaͤhlt a), ein-
mal mit ſeinem Stubenburſchen in 24 Tagen durch
den ganzen Homer hin angeſtellet, um nur ohnge-
faͤhr etwas von der Form des ganzen Werks zu wiſ-
ſen, und ſich eine Copiam vocabulorum anzuſchaf-
fen. Nun kann dies freilich noch nicht heißen Ho-
mer in Homers Sinne
leſen, und es ſcheint aus
dieſem fluͤchtigen Durchzuge ihm manches aus Ho-
mer entwiſchet zu ſeyn, manches aber ſich in ihm
angeklebet zu haben, was nur Er ſo bemerket.
Kuͤnftig kann ich davon mehr Proben geben; jetzt
wiederhole ichs von Therſites. Wie ich ihn kenne,
iſt er nicht da, um laͤcherlich zu ſeyn, um uns die
Schleppe zu zerreißen, um uns zum ungeziemenden
unartigen Lachen zu bringen. Noch iſt er da, um
Rblos
[258]Kritiſche Waͤlder.
blos haͤßlich zu ſeyn, damit doch nicht lauter ſchoͤne
Leute vor Troja ſeyn moͤgen. Noch iſt er am un-
rechten Orte da, daß man ihm das Genick um-
drehen doͤrfte. Er gehoͤrt mit zur Handlung des
Gedichts, und iſt der Mund des griegiſchen Poͤ-
bels, der ſich jetzt erklaͤren ſoll oder gar nicht. Er
iſt nicht laͤcherlich, ſondern haͤßlich, und um nur
dies Haͤßliche einiger maßen zu lindern, ſo laͤßt es
Homer auf Einen verkleinernden Zug hinauslau-
fen: ſtatt ihn als Kronverbrecher zu toͤdten, ihn
nur gelinder ſtrafen; ſtatt ihn ganz zum Abſcheue zu
machen, verſoͤhnt er ihn durch einen Nebenzug zu-
letzt mit dem Herrn. Jhm einen andern Charak-
ter zu geben, heißt aus der lateiniſchen Ueberſetzung
urtheilen, und in homeriſchen Briefen dieſes an Tag
zu legen, iſt a) — Doch ich kehre lieber zu mei-
nem lieben Leſſing, bei dem ich uͤberall unterhalten-
de Gruͤnde finde —


22. Und
[259]Erſtes Waͤldchen.

22.


Und zwar jetzt zu ihm als Pfychologen. „Der
„Dichter nutzt die Haͤßlichkeit, um die vermiſch-
„ten Empfindungen des Laͤcherlichen und Schreckli-
„chen hervorzubringen a). „


Zuerſt bemerke ich: daß ſo verſchieden an ſich
dieſe zwo Gattungen vermiſchter Empfindungen
Schreckliches und Laͤcherliches ſeyn moͤgen, ſo bald
koͤnnen ſie ſich in einander verwandeln. Das
Schreckliche, als unſchaͤdlich erkannt, wird eben,
weil es uns ſchrecklich duͤnkte, laͤcherlich; das Laͤ-
cherliche, als ſchaͤdlich erkannt, eben weil es uns
nur laͤcherlich duͤnkte, ſchrecklich. Vielleicht wer-
den beide alſo das Haͤßliche aus Einer Urſache, ih-
rer verwandten Natur nach, nutzen? Wir wollen
forſchen:


Nicht alles Laͤcherliche darf haͤßlich ſeyn. Un-
ter der großen Menge unſchaͤdlicher Kontraſte zwi-
ſchen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten
giebts zwar auch einen, der — haͤßlich ſchoͤn heißt,
und ſich auf mancherlei Weiſe aͤußert, z. E. haͤßlich
ſeyn, und ſich ſchoͤn duͤnken, haͤßlich ſeyn und fuͤr
ſchoͤn erkannt werden, haͤßlich ſeyn, und durch Aus-
zierung ſchoͤn ſeyn wollen u. ſ. w. Allein, dieſe eigne
Gattung laͤcherlicher Kontraſte macht noch nicht alle
Gattungen, die ganze Art aus. Der Schwach-ſtarke,
R 2der
[260]Kritiſche Waͤlder.
der klein Große, der unwichtig Witzige in jeder Art,
ſind eben ſolche laͤcherliche Geſchoͤpfe, als der haͤß-
lich Schoͤne.


So darf auch nicht alles Schreckliche haͤßlich
ſeyn. Wenn ein Weſen ſeiner hoͤhern Natur, ſei-
ner groͤßern Uebermacht wegen, uns Schreckena)
gebietet; ſo darf dies Schreckliche weder in dem
Gegenſtande mit Formen, noch in unſrer Seele mit
Empfindungen des Haͤßlichen vergeſellſchaftet ſeyn.
Ein Ungewitter z. E. oder wenn ichs in ein Bild
verwandele, ein donnerwerfender Jupiter, kann fuͤrch-
terlich, ſchrecklich ſeyn, aber ohne Verzerrung des
Geſichts, ohne haͤßliche Formen. Ein bruͤllender
Loͤwe z. E. kann ſelbſt, wenn ich mich in Sicher-
heit fuͤhle, mir ein ſchrecklicher, ein ſchaudervoller;
keinesweges aber deßwegen ein haͤßlicher Anblick
ſeyn.


Es folgt alſo: daß, um die vermiſchten Empfin-
dungen des Laͤcherlichen oder Schrecklichen hervor-
zubringen, Haͤßlichkeit nicht jedesmal, nicht ſchlecht-
hin als Jngrediens gebraucht werden doͤrfe. Es
wird daher dem Weſen einer Kunſt anheim geſtellt
werden koͤnnen, ob ſie das, was ſie nicht brauchen
darf, brauchen koͤnne, was ſie nicht ſchlechterdings
drauchen darf, hie und dort brauchen wolle. Jch
fahre fort:


Unter
[261]Erſtes Waͤldchen.

Unter den unſchaͤdlichen Kontraſten, die das
Laͤcherliche machen, giebts namentlich auch den Kon-
traſt des haͤßlich Schoͤnen; zum Laͤcherlichen alſo
kann Haͤßlichkeit wirklich ein weſentliches Jngrediens
ſeyn, um es hervorzubringen. Jn ſchrecklichen
Gegenſtaͤnden gehoͤrt die Form der Haͤßlichkeit ei-
gentlich gar nicht mit zu der Jdee des Schaͤdlichen,
des Furcht erregenden ſelbſt; Schauder und Unwille
am Haͤßlichen ſind zwo Empfindungen, die in ihrer
Natur verſchieden ſind: folglich kann zum Schreckli-
chen das Haͤßliche nie eigentlich als weſentliches Jn-
grediens wirken: nie es alſo hervorbringen. Jn
Parallelen laͤßt ſich daher kaum ihr beiderſeitiger
Gebrauch behandeln.


Wo das Haͤßliche zum Laͤcherlichen zutrifft: da
treffe es weſentlich zu: es gehoͤre mit zum Kontraſt:
es kann nicht wegbleiben. Wo es wegbleiben kann,
iſts auch ein Kennzeichen, daß es wegbleiben muß
— So erklaͤrt Hr. L. mit Recht es fuͤr eine alberne
Moͤnchsfratze, daß der weiſe und rechtſchaffene Ae-
ſop in der haͤßlichen Geſtalt Therſites durch dieſelbe
im Kontraſt ſeiner ſchoͤnen Seele laͤcherlich wer-
den ſolle.


Traͤfe aber das Haͤßliche zum Schrecklichen;
ſo koͤnnte es blos als Nebenidee zutreffen; es gehoͤr-
te nicht in die Empfindung des Schauders. Es
muß alſo nicht anders als wie ein Nebeningrediens
R 3zuge-
[262]Kritiſche Waͤlder.
zugemiſcht werden: damit es die Hauptempfindung
ja nicht ſchwaͤche, damit der Schauder nicht Un-
wille
werde, wenn ers nicht werden ſoll.


Wo ein Gegenſtand durch das Jngrediens des
Haͤßlichen laͤcherlich werden ſoll; da kann er, ſo
lange er in den Grenzen der Wahrſcheinlichkeit bleibt
und den Kontraſt abwieget, nie zu haͤßlich ſeyn.
Aber das Haͤßliche zum Schrecklichen kann aller-
dings zu ſehr verſtaͤrkt, und als Hauptingrediens
behandelt, das Schreckliche wirklich hindern. Ei-
nen Gegenſtand ganz haͤßlich fuͤhlen, ſo daß die Jdee
des Unwillens, des Ekels, jede andere verdunkelt,
heißt gewiß nicht, ihn ganz fuͤrchterlich empfinden.
Das Gefuͤhl des Schrecklichen iſt Schauder der
Furcht: das Blut tritt zum Herzen zuruͤck: Bloͤße
bedeckt das Geſicht: Kaͤlte laͤuft den Koͤrper her-
ab; bald aber nimmt ſich die Natur zur Selbſt-
vertheidigung zuſammen: das Blut tritt verſtaͤrkt
in ſeinen vorigen Gang: die Wangen roͤthen ſich:
das Feuer breitet ſich wieder aus: die Furcht iſt
vorbei: der Schrecken iſt in Zorn verwandelt.
So erzeugte, gebar und toͤdtete ſich die Em-
pfindung des Schrecklichen. — Aber die Em-
pfindung des Haͤßlichen wie weit anders: der Miß-
ton, die widerwaͤrtige Erſcheinung, die wir haͤß-
lich nennen, wirkt auch in meinem Nervengebaͤu-
de Mißton, Widerwaͤrtigkeit: es bringt meine
Sai-
[263]Erſtes Waͤldchen.
Saiten der Empfindung widrig an einander;
es krallet in meiner Natur. Die Empfindung
des Haͤßlichen durchlaͤuft alſo meinen Koͤrper
ganz anders, als das Gefuͤhl des Schrecklichen:
ſie gehoͤren nicht in Eins.


Und auch zuſammengeſchlagen vermiſchen ſie
ſich kaum. Der grauſame Richard der Dritte a)
erregt mir Schrecken; der an Seele und Koͤrper
haͤßliche Richard Abſcheu. Die Haͤßlichkeit ſei-
ner Seele, den Abſcheu meiner Empfindung gegen
ihn, kann wohl die Haͤßlichkeit ſeines Koͤrpers
verſtaͤrken; mit meinem Schrecken aber, mit ſei-
nem Charakter des Fuͤrchterlichen, hat ſie nichts
zu thun. Wenn ich die abſcheuliche Seele Ed-
munds
b) aus einem wohlgebildeten Koͤrper ſpre-
chen hoͤre: ſo kann ich den ſchoͤnen Koͤrper noch
beklagen, der einer ſo ſchwarzen Seele zur Woh-
nung dienen muß; ich kann ihn lieben, wenn ich
ſeinen Einwohner haſſe: der Abſcheu an der
Seele wird alſo durch den Koͤrper nicht verſtaͤrkt,
oder ich will noch mehr ſagen, geſchwaͤchet. Aber
der Schrecken, welcher die ſchwarzen fuͤrchterli-
chen Anſchlaͤge Edmunds erregen, iſt ganz etwas
anders, er wirkt, ohngeachtet ſeines ſchoͤnen Koͤr-
pers, eben ſo in vollem Maaße. Edmund der Boͤ-
R 4ſewicht,
[264]Kritiſche Waͤlder
ſewicht, iſt mir abſcheulich; Edmund, der ſchaͤdlicht
Boͤſewicht, ſchrecklich.


Wenn ich es alſo Hrn. Leſſing zugebe: „daß
„ſchaͤdliche Haͤßlichkeit allezeit ſchrecklich ſey, a)
ſo wird Hr. L. es mir zugeben, daß ſie es nicht
wegen ihrer Haͤßlichkeit, ſondern blos wegen ihrer
Schaͤdlichkeit ſey: daß alſo der Dichter durch das
Haͤßliche nie die Empfindung des Schrecklichen
hervorbringen, daß er ſie, eigentlich geſprochen,
nie verſtaͤrken koͤnne: kurz, daß Schreckliches und
Haͤßliches, zwo ganz verſchiedene Arten der Ge-
genſtaͤnde; Furcht und Abſcheu zwo ganz verſchie-
dene Arten der Empfindung ſeyn. Herr Leſſing
hat vielleicht ſagen wollen: „Abſcheu gegen die
„haͤßliche Seele des andern wird durch Abſcheu
„an ſeinem haͤßlichen Koͤrper verſtaͤrkt: der Dich-
„ter koͤnne ſich alſo der Formen des Haͤßlichen be-
„dienen, um Abſcheu zu verſtaͤrken. „ Alsdenn
hat er Recht; aber auch keine Verſchwiſterung der
Empfindungen angegeben: denn Abſcheu bleibt Ab-
ſcheu; das Haͤßliche, das Abſcheuliche ſei in Seele
oder Koͤrper.


Jch habe die Empfindung am Haͤßlichen der
Formen Abſcheu genannt: Hr. L. glaubt b), ſie
Ekel nennen zu koͤnnen, und gehet darinn von Hrn.
Mendel-
[265]Erſtes Waͤldchen.
Mendelſohn ab, der Ekel nur in den niedrigen
Sinnen Geſchmack, Geruch und Gefuͤhl; nicht
aber in Gegenſtaͤnden des Geſichts, und kaum des
Gehoͤrs finden will a). Der Sprachgebrauch, der
in Sachen, wo es auf nichts als Gefuͤhl ankommt,
immer gehoͤrt werden kann, ſcheint auf der Seite
des letztern Philoſophen; nur, wenn ich nicht irre,
mit folgenden Unterſcheidungen.


Jm eigentlichen Verſtande ſcheint Ekel dem
Sinne des Geſchmacks zuzukommen; nicht aber
blos uͤbermaͤßige Suͤßigkeit b), ſondern jede widrige
Beruͤhrung unſerer Geſchmacksnerven verurſachet
Ekel. Daher die große Verſchiedenheit des Ge-
ſchmacks auf verſchiedenen Zungen, nachdem ihre
Fibern ſo und nicht anders geſtimmt ſind, ſo und
nicht anders angenehm oder widrig werden koͤn-
nen. Hier iſt alſo Ekel eine Haupteigenſchaft
des Uebelgeſchmacks, der nicht von der zu langen
Dauer einfoͤrmiger Beruͤhrungen unſrer Ge-
ſchmacksfibern, wie Hr. Mendelſohn meinet: ſon-
dern, wie ich glaube, von jeder unſerer Natur widri-
gen Beruͤhrung derſelben herruͤhret. Gewiſſe Ge-
ſchmacksarten ſind ekelhaft nach der allgemeinen
Empfindung; andere nach dem Eigenſinne Einer
Natur, das iſt, nach der beſondern Spannung der
R 5Fi-
[266]Kritiſche Waͤlder.
Fibern in dieſem einzelnen Subjekte. Gewiſſe Arten
des Ekels ſind angebohren, wenn die Werkzeuge
des Geſchmacks urſpruͤnglich ſo und nicht anders ge-
bildet ſind; andre ſind angewohnet, und durch lan-
ge Aſſociationen der Jdeen zur Natur geworden.
Einiges iſt ekelhaft, wenn wirs koſten; ein ande-
res, wenn wirs gekoſtet haben, nach dem die widri-
ge Beruͤhrung ſchnell oder langſam geſchahe u. ſ. w.
Das Ekelhafte, was in Gegenſtaͤnden des Geſchmacks
das Auge praͤoccupirt, iſt nichts als Wiederho-
lung voriger Senſationen, aber eine ſo ſtarke Wie-
derholung, daß ſie ſelbſt Senſation erregt, und alſo
mit derſelben vermiſcht wird. — Jn Gegenſtaͤn-
den des Geſchmacks hat alſo das Auge nichts
Ekelhaftes.


Geſchmack und Geruch ſind in unſrer Natur
durch ein geheimes Band der Organiſation verei-
nigt: die Staͤrke des Einen pflegt nicht ohne die
Staͤrke des andern zu ſeyn, und der Verluſt des
Einen den Verluſt des andern nach ſich zu ziehen.
Zunaͤchſt alſo kommt der Ekel dem Geruche zu,
durch eine widrige Bewegung der Geruchsfibern;
darf ich aber ſagen, daß er ihm blos zukomme, durch
das Band der aͤhnlichen Organiſation mit dem
Geſchmacke? Jch glaube faſt: auch ein ekelhafter
Geruch erregt Erbrechen, d. i. widrige Beruͤhrung
der Geſchmacksorgane. Er aͤußert ſich alſo durch
den
[267]Erſtes Waͤldchen.
den Geſchmack: er kommt dem Geruche zu, blos als
einem mit dem Geſchmacke verbundnen Sinne: jeder
andere unangenehme z. E. zu ſtarke, zu betaͤubende
Geruch heißt nicht ekelhaft.


Dem Gefuͤhle kommt Ekel ſchon ſehr uneigent-
lich zu. „Eine zu große Weichheit der Koͤrper,
„die den beruͤhrenden Fibern nicht gnug widerſte-
„hen „ a), z. E. ein Antaſten des Sammets, fei-
ner Haare, ꝛc. kann im eigentlichen Verſtande eben
ſo wenig ekelhaft heißen, als das ſogenannte Ki-
tzeln: es iſt Widrigkeit, ein heterogenes Gefuͤhl,
eine heterogene Beruͤhrung, als ich mag: und
zwar Widrigkeit durch das zu Sanfte. Nun
giebts eine andere Widrigkeit, das Gefuͤhl einer he-
terogenen Nervenſpannung, durch das zu Heftige,
zu Gewaltſame.
So kreiſcht uns ein Griffel ins
Ohr, der einen Stein hinunter krallet: wir fuͤhlen
unſer ganzes Nervengebaͤude widrig erſchuͤttert:
wir wollen aus der Haut fahren; aber erbrechen
wollen wir uns nicht. Widrig iſt der Gegenſtand
fuͤr unſer fuͤhlendes Ohr; nicht aber ekelhaft.


Dem Gehoͤre, als ſolchem, kommt Ekel noch
minder zu: denn „eine unmittelbare Folge von
„vollkommenen Conſonanzen b)„ kann Ueberdruß;
aber
[268]Kritiſche Waͤlder.
aber eigentlich nur dem Ekel erwecken, bei dem Ge-
ſchmack der Hauptſinn waͤre, und die Suͤßigkeit
der Toͤne nur empfaͤnde, ſo fern ſie mit der Suͤſ-
ſigkeit, in Anſchung des Geſchmacks, Aehnlichkeit
haͤtte. Ein ſolcher allein wuͤrde in der uͤbermaͤ-
ßigen Conſonanz auch eine Aehnlichkeit mit uͤbermaͤ-
ßiger Suͤßigkeit, folglich an Toͤnen, Ekel empfin-
den;
kein andrer! Jch ſage, mit Fleiße empfin-
den, dunkel empfinden; denn von dem klaren
Hinzudenken iſt hier nicht die Rede.


Endlich: ekelhafte Gegenſtaͤnde fuͤrs Auge.
Hr. L. glaubt a), „daß ein Feuermaal in dem Geſich-
„te, eine Haſenſcharte, eine gepletſchte Naſe mit vor-
„ragenden Loͤchern, ein gaͤnzlicher Mangel der Au-
„genbraunen, ſich wohl ſo nennen ließen: daß wir
„etwas dabei empfinden, was dem Ekel nahe kom-
„me, daß, je zaͤrtlicher das Temperament iſt, wir
„deſto mehr von den Bewegungen im Koͤrper fuͤh-
„len werden, die vor dem Erbrechen vorhergehen. „
Jch mag bei ſo unſichern Sachen des dunkelſten Ge-
fuͤhls uͤber Namen nicht ſtreiten: indeſſen duͤnkt
mich, daß das zaͤrtlichſte Temperament, und dazu
im zarteſten Zuſtande der Empfindung, z. E. eine
ſchwangere Frau, ſolche Gegenſtaͤnde eher widrig,
als ekelhaft nennen, eher davor zuruͤck ſchaudern,
und in Ohnmacht fallen, als ſich druͤber erbrechen
werde:
[269]Erſtes Waͤldchen.
werde: daß die unangenehme Empfindung immer
alſo eher Widrigkeit des Gefuͤhls, Abſcheu des An-
blicks, als Ekel, zu nennen ſey. Es ſey indeſſen
darum, daß ein ſolcher Anblick Bewegungen erre-
gen kann, die vor dem Erbrechen voraus gehen:
giebt Hr. L. eben damit das Erbrechen nicht fuͤr
die ſicherſte Wirkung des Ekels an? Und da das
Erbrechen eigentlich nur dem Sinne des Geſchmacks
zukommt: ſo muß, wenn das Auge Ekel empfaͤnde,
es blos durch eine Aſſociation von Geſchmacksideen
ſolchen empfinden, und uͤber die Zaͤrtlichkeit des
Temperaments mag ich nicht ſtreiten.


Gnug fuͤr mich: daß Ekel eigentlich nur dem
Geſchmacke, und dem Geruche, als einem mit dem
Geſchmacke verbundnen Sinne, zukomme. Das
grobe Gefuͤhl der uͤbrigen Sinne empfindet Widrig-
keit, und nicht Ekel; es ſey denn, daß in dieſem
und jenem Subjekte das Geſuͤhl eines Sinnes in
der koͤrperlichen Organiſation, oder in dem zur Na-
tur gewordnen Laufe der Begriffe mit dem Geſchma-
cke, und dem Geruche, gleichſam in naͤherm Ban-
de ſtehen. Es giebt naͤmlich Menſchen, bei de-
nen der Geſchmack, mithin auch der Geruch, unter
den groben Sinnen gleichſam die herrſchendſten ſind,
und den ſinnlichen Empfindungen insgeſamt alſo
Ton zu geben vermoͤgen: bei ſolchen kann ſich ein
widerlicher Anblick, ein widriger Schall, ein widri-
ges
[270]Kritiſche Waͤlder.
ges Gefuͤhl mehr dem Ekel naͤhern: d. i. Bewe-
gungen erregen, die vor dem Erbrechen voraus zu
gehen pflegen. Allein, dieſe Beſonderheit in der
Stimmung des Nervengebaͤudes hindert nicht, daß
auch in ihnen unmittelbare Widrigkeit des Gefuͤhls,
Geſichts, Gehoͤrs, von der mittelbaren Widrigkeit
in dieſen Sinnen durch Huͤlfe eines fremden Sin-
nes, des Geſchmacks, unterſchieden ſeyn ſollte. Das
Ekelhafte kann ſich mehr oder weniger, nach dem
die Organiſation geſtimmt iſt, in jede unangeneh-
me ſinnliche Empfindung einmiſchen; nicht aber jede
unangenehme ſinnliche Empfindung, jede Widrigkeit
in einem Sinne iſt deßhalb Ekel.


Kommt alſo der Ekel vorzuͤglich dem Geſchma-
cke, und andern Sinnen nur ſo fern zu, als ſie mit
ihm verbunden ſind, oder ſich an ſeine Stelle ſetzen
koͤnnen: ſo —


Gilt erſtlich auf die Frage: Warum iſt in
den ſchoͤnen Kuͤnſten und Wiſſenſchaften der Ekel
nicht ſchoͤn? die Urſache a) ſo allgemein nicht; weil der
Ekel blos den dunkeln Sinnen zukommt: denn dem
dunkelſten Sinne unter allen, dem Gefuͤhle, kommt
er nicht zu.


Noch minder iſt der Widerwille, den Haͤßlich-
keit wirket, ſo gaͤnzlich von der Natur des Ekels,
als
[271]Erſtes Waͤldchen.
als Hr. L. meinet a); denn Haͤßlichkeit aͤußert ſich
blos dem Auge; Ekel eigentlich nur dem G[e]-
ſchmacke.


Am mindeſten alſo kann ſich zur Nachahmung
das Ekelhafte vollkommen ſo, wie das Haͤßliche,
verhalten b). Laſſet uns jede der dreierlei Nachah-
mungen des Laͤcherlichen, Haͤßlichen, Ekelhaften
durchfragen.


23.


Das Haͤßliche kann in der Dichtkunſt gebraucht
werden, um das Laͤcherliche zu erwecken, und, wie
geſagt, hat die Dichtkunſt alsdenn in Veranſtal-
tung der Formen keine andre Einſchraͤnkung, als
Wahrſcheinlichkeit und Gleichgewicht des Kontraſts,
naͤmlich das ſcheinbar Schoͤne. Aber das Haͤßli-
che, ein Jngrediens des Laͤcherlichen bei dem Maler?
Kann der Maler ſein Haͤßliches in Kontraſt des ſeyn
wollenden Schoͤnen ſetzen, daß das Laͤcherliche her-
vorblickt: ſo wohl. Da dies aber ſelten iſt, da ſelbſt
bei der geiſtreichſten hogarthſchen Compoſition die
Malerei immer augenſcheinlicher haͤßliche For-
men, als den laͤcherlichen Kontraſt durch haͤßliche
Formen ſchildert: ſo bleibt ſie gleichſam koͤrperlich,
um dem Dichter des Laͤcherlichen folgen zu koͤnnen.
Der
[272]Kritiſche Waͤlder.
Der Dichter trifft den Geiſt des Laͤcherlichen durch
das Haͤßliche; der Kuͤnſtler bleibt am Koͤrper des
Haͤßlichen kleben — und die Hauptſache iſt unſicht-
bar. Jener ſtimmt meine Seele, und mein Mund
lachet willig; dieſer kitzelt mich haͤßlich, und ich
ſoll lachen!


Das Haͤßliche zum Schrecklichen? Nichts! in
Poeſie und Malerei nichts. Will aber der Dich-
ter Abſcheu erregen: eine abſcheuliche, boͤsartige,
grimmige Seele an ſich ſchon, wird ſich durch haͤßli-
che Verzerrungen aͤußern. Soll der Abſcheu ver-
ſtaͤrkt werden; ſo gebe er ihr ganz einen haͤßlichen
Koͤrper: denn wie anders kann wohl das Wohnhaus
ſeyn, das ſie ſich gebauet, in dem ſie ſo lange gewirket?
Soll der Abſcheu ſich in Mitleid brechen; will der Dich-
ter in Entfernung eine Seele zeigen, die beſſer ſeyn
koͤnnte: ſo mildre er ihren Abſcheu wenigſtens durch
Stralen ihrer guten Anlage, durch einen nicht haͤß-
lichen Koͤrper. Der Maler hat hier Schranken ſei-
ner Kunſt: denn wie ſelten will dieſe wohl Abſcheu,
hoͤchſten Abſcheu erregen? und wenn ſich mit dem
Haͤßlichen kein Schrecken, ſondern nichts, als Ab-
ſcheu, erreichen laͤßt: wie frei geht der Kuͤnſt-
ler aus?


Das Ekelhafte endlich — hier bin ich mit
Hrn. L. gar nicht einig. Das Wieſel, das Sokra-
tes
[273]Erſtes Waͤldchen.
tes unterbrach, iſt an ſich kein ekelhafter Gegenſtand,
und die ekelhaften Zuͤge, die Ariſtophanes ſonſt ein-
miſcht, ſind ein Geſchenk an den griechiſchen Poͤbel,
das wir demſelben auch laſſen koͤnnen. Alle hot-
tentottiſche Erzaͤlungen, ſo bald ſie den Ekel zur
Hauptwirkung haben, ſo duͤnken ſie mir Aus-
geburten des brittiſchen Ueberwitzes und boͤſen Hu-
mours. Jn Heſiods Abbildung der Traurigkeit
bin ich mit Longin von einerlei Empfindung: es ſey,
aus welcher Urſache es ſey — Jch mag die fließen-
de Naſe nicht ſehen: ich mag nichts ſehen, was
wirklich Ekel erwecket. Ekel, als ſolcher, laͤßt ſich
ſchlechthin mit keiner andern gefaͤlligen Empfin-
dung verſchmelzen; und wenn das Graͤßliche nichts,
als ein ekelhaftes Schreckliche, iſt: ſo iſt in dieſem
Graͤßlichen, was ſich vom Ekel darein miſchet, alle-
mal unangenehm, widrig.


Nur muß man auch freilich nichts fuͤr Ekel erre-
gend halten, was nur einen Nebenbegriff des Ekels,
durch weite Zuruͤckerinnerung haben moͤchte: nichts
fuͤr Ekel erregend, was, ohne dem Geſchmacke und
Geruche zuzugehoͤren, blos widrig genannt wer-
den koͤnnte: nicht alles endlich in einer kuͤnſtlichen
Nachahmung fuͤr ekelhaft, was kaum in der Na-
tur ſelbſt, die keiner unangenehmen Empfindung
ſolch eine enge Sphaͤre gegeben, als dem wahren
Ekel — —


SDoch
[274]Kritiſche Waͤlder.

Doch ich vergeſſe aus meinem kritiſchen Waͤld-
chen beinahe gaͤnzlich den Ruͤckweg. Wie habe ich
in demſelben umhergeirret! Wie verſchiedne Aus-
ſichten boten ſich mir dar! Wie manchen richtigen
und irrigen Gedanken mag ich auf meinem traͤume-
riſchen Pfade gedacht haben! Es ſey! Leſſings Lao-
koon hat mir Materie zum Nachdenken verſchaffet:
Homer, und die menſchliche Seele waren die Quel-
len, aus denen ich dachte. „Wenn mein Raiſon-
„nement nicht ſo buͤndig iſt, als das leſſingſche, ſo
„werden vielleicht meine kritiſchen Eroͤrterungen mehr
„nach der Quelle ſchmecken a). „


Uebrigens ſey jedes Wort, und jede Wendung
verbannet, die wider Hrn. L. geſchrieben ſchiene.
Jch habe uͤber ſeine Materien gedacht, und wo ich
inſonderheit nach Leitung der Alten davon abgehen
mußte, ſprach ich offenherzig, und wollte in Form
eines Sendſchreibens ſprechen, wenn es die Abwech-
ſelung und der Jnhalt der Materien zugelaſſen haͤt-
te. Wenn meine Zweifel und Widerſpruͤche die
Leſer des Laokoons dahin vermoͤgen, ihn nochmals,
ihn ſo ſorgfaͤltig, als ich, zu lefen, und ihn aus mei-
nen Zweifeln, oder meine Zweifel aus ihm, zu ver-
beſſern: ſo habe ich der Sache des Laokoons weit
mehr gevortheilet, als durch ein kaltes Lob, hinter
welchem
[275]Erſtes Waͤldchen.
welchem jeder Leſer, ſo, wie ſein Urheber und Beſi-
tzer, gaͤhnet. Meine Schrift ſelbſt: wie wuͤrdig
mir Laokoon geſchienen, um daruͤber zu denken! ſey
ein Opfer meiner Achtung an den Verfaſſer deſſel-
ben: Lobworte darzubringen habe ich nicht.


24.


Der Reſt a) beſchaͤfftigt ſich mit einigen Feh-
lern der winkelmanniſchen Schriften: ich wollte,
daß die Aufmerkſamkeit Hrn. L. lieber auf das We-
ſentliche derſelben, und auf das ganze Gebaͤude ſei-
ner Geſchichte gefallen waͤre, das noch ſo mancher
Schwierigkeit unterworfen iſt. — —


Da ich Jahre her taͤglich zu den Alten, als
zu der Erſtgeburt des menſchlichen Geiſtes, wall-
fahrte, und Winkelmann als einen wuͤrdigen Grie-
chen betrachte, der aus der Aſche ſeines Volkes
aufgelebt iſt, um unſer Jahrhundert zu erleuchten,
ſo kann ich Winkelmannen nicht anders leſen, als
ich einen Homer, Plato und Bako leſe, und er ſei-
nen Apollo ſiehet.


Jndeſſen haben ſich bei einem ſiebenmaligen Le-
ſen freilich auch Zweifel bei mir zu Papier gefun-
den, die, was inſonderheit ſein Geſchichtgebaͤude
aus den Materialien der griechiſchen Litteratur an-
S 2betrifft,
[276]Kritiſche Waͤlder.
betrifft, die Alten ſelbſt zu Zeugen, zu Gewaͤhrsleuten
haben doͤrften. Da ich alſo das Gluͤck hatte, von Win-
kelmann einen ermunternden Blick des Beiſalls zu er-
halten: ſo war ich beſchaͤfftigt, mit mir ſelbſt noch-
mals uͤber ſeine Werke zu ſprechen, und alsdenn in
dem wuͤrdigen Tone vor ihn zu treten, in dem ſich
ſein Geiſt offenbaret. Wie erhebend waͤre der Ge-
danke geweſen, von ihm, dem Griechen unſrer Zeit,
gebilligt zu werden, zur Vollkommenheit ſeiner un-
ſterblichen Werke etwas beizutragen! —


Und ach! Winkelmann iſt nicht mehr! durch
die Hand eines Moͤrders, auf die entſetzlichſte Weiſe
der Welt, Rom, und ſeinem Deutſchlande entriſ-
ſen! O, wenn du Goͤttlicher, noch wie ein ſeliger
Daͤmon, umherwandelſt: ſo ſieh die Beſtuͤrzung,
mit der mich die Nachricht von deinem Verluſte
traf, die unglaͤubige Unruhe, die dich noch immer le-
bend ſah, und endlich die Thraͤnen der Wehmuth,
die ich deinem Tode ſchenkte! Wie mancher Litte-
rator und Alterthumstenner haͤtte ſtatt ſeiner nicht
blos ſterben koͤnnen, ſondern auch vielleicht ſterben
ſollen, damit die Welt nicht einſt nichts, als ver-
fuͤhrende Spuren, von ihm aufzuzeigen habe!



Be-
[277]Erſtes Waͤldchen.

Beſchluß.


Jch bin Hrn. L. auf ſeinem Pfade gefolget, und,
wenn ſein Laokoon mehr unordentliche Collek-
taneen „zu einem Buche, als ein Buch ſelbſt a)
iſt: was ſind denn meine kritiſchen Waͤlder? Sie
ſind zufaͤlliger Weiſe entſtanden, und mehr durch
die Folge meiner Lectuͤre, als durch die methodiſche
Entwicklung allgemeiner Grundſaͤtze angewachſen.
Sie zeigen indeſſen, daß ſich auch unſyſtematiſch ir-
ren laſſe, daß nicht blos, wenn man aus ein paar
angenommenen Worterklaͤrungen, in der ſchoͤnſten
Ordnung, ſondern auch, wenn man aus einigen
ausgerißnen Stellen in der ſchoͤnſten Unordnung al-
les, was man will, folgert, man dem Fehltritte
gleich ausgeſetzt bleibe. Jch bin uͤbrigens zu ſehr
ein Deutſcher, daß ich nicht, wenn ſich ein Macht-
wunſch thun ließe, gleich lieber in meine kritiſchen
Waͤlder, Ordnung und Syſtem hinein wuͤnſchen
wollte; und noch mehr wuͤnſche ich ihnen „das
„Vorrecht der Alten, keiner Sache weder zu viel,
„noch zu wenig, gethan zu haben b).„ Jch habe
jetzt in der Materie, die Laokoon abhandelt, den
Grund geſichert; die Folge wird zeigen, was ſich
daruͤber auffuͤhren laſſe?


S 3Vor
[278]Kritiſche Waͤlder. E. W.

Vor der Hand verbitte ich mir nur Eins,
den Titel meines Buchs nicht zu einem Gegenſtan-
de artiger Wortſpiele zu machen, an denen manche
Witzige unſrer Kunſtrichter nicht arm zu ſeyn pfle-
gen. Jn mehr als einer Sprache hat das Wort
Waͤlder den Begriff von geſammelten Materien
ohne Plan und Ordnung; ich wuͤnſchte nur, daß
meine Leſer die etwas trocknen und verſchloſſe-
nen Pfade dieſes erſten Theils uͤberſtehen moͤch-
ten, um hinter denſelben zu freiern Ausſichten zu
gelangen.



[[279]][[280]][[281]][[282]][[283]][[284]][[285]][[286]][[287]][[288]]
Notes
a)
Jch fuͤhre aus dieſen hohen Urtheilen uͤber Winkelmann
nur Eins an: Klotz. acta litter. vol. III. p. 319. laſſen
ſich bei Gelegenheit des Laokoon alſo vernehmen: Red-
diderunt forte virum doctum nimiae laudes ſecurio-
rem, quibus prima illius opuſcula, multo meliora
eo, quod de allegoria compilauit, extulerunt qui-
dam, quibus ſi me quoque accenſueris, nec miror,
nec indignor.
Vtinam ne exemplo Winkelman-
nus ſuo aliquando doceat, ſaepe nocere auctorum
famae et ingeniis praeconum et amicorum voces,
plauſus et laudes, minuere diligentiam, addere fa-
ſtum et fiduciam!
Es ſei denn, daß Herr Klotz dieſes
aus eigner Erfahrung ſage, weiß ich nicht, ob die ein-
zelnen Urtheile, die Herr Klotz uͤber Winkelmann zu faͤl-
len, und die manchen Verbeſſerungen, die er ihm anzu-
drehen beliebet hat, eben Jhn berechtigen, ein ſo entſchei-
dendes Haupturtheil uͤber Winkelmann zu faͤllen, ohne
Beweiſe.
a)
Auch hier fuͤhre ich nur einen Zeugen an: Huch uͤber die
Satyre Archilochus;
und kann zu jedem angefuͤhr-
ten Zuge einen anfuͤhren, wenn es der Muͤhe werth
waͤre.
a)
Von der Nachahmung griechiſcher Werke. S. 21. 22.
a)
Leſſ. in Laok. p. 3.
a)
Νεω. ἑρπ’ εἰ ϑέλεις. τί δή ποϑ ὧδ’ ’δεν ὀυδενός
Λόγ [...] σιωπᾷς, κᾀποπλήκτως ὧδ’ ἔχη;
Φιλ. ἆ ἆ ἆ
Νεω. τι ’στιν;
Φιλ. [...]δ [...]ν δεινόν. ἀλλ’ ἰδ ω τέκνον κ. τ. λ.
a)
Laok. p. 3.
b)
Sophokl. Philokt. Akt. 1. Auftr.
a)
Laok. pag. 4.
a)
Laok. pag. 4.
b)
Laok. pag. 4.
c)
Αμφι δ’ οσσε κελαινη νυξ εκαλυψ [...].
a)
Iliad. Ε. 68. ἔριπ’ οἰμώξας.
b)
Η δέ μέγ’ ἰαχ [...]σα. Iliad. Ε. v. 343.
c)
Αβληχηρην. Iliad. Ε. v. 337.
a)
Iliad. Ε. v. 859.
b)
Laok. pag 5.
a)
Iliad. λ. v. 254. ΡἹΓΗΣΕΝ ν’αρ’ έπειτα ἄναξ ἀνδρωκ
Ἀλαμεμνων.
a)
Iliad. Ξ v. 418.
b)
Iliad. Δ. v. 148.
c)
Iliad. Λ. v. 439.
d)
Iliad. Δ. v. 148.
e)
Iliad. Ε. v. 95. \&c.
a)
Laok. pag. 5.
b)
Iliad. Χ. v. 330. \&c.
c)
Iliad. Π. v. 586.
a)
Laok. p. 4. — 9.
b)
Laok. p. 9.
c)
Daß Ho-
mers Helden nicht bei andrer Gelegenheit das Schreien,
ein tapfres rieſenmaͤßiges Geſchrei, eigen geweſen, leugne
ich nicht; wo gehoͤrt das aber hieher?
d)
Hr. Klotz
a)
Laok. p. 7.
31
hat, wie Er Homer kennet, Leßingen dieß nachſchreiben
doͤrfen: clamor et eiulatus ex Graecorum opinione
nihil detraxit magnitudini animi. Homeri heroes
clamantes cadunt:
ſunt quidem illi heroes Homeri
natura mortali maiores, ſed numquam tamen etc.
Act. litter. Vol. III. p.
286.
a)
Χρειοῖ ἀναγκαίῃ, πρό τε παίδων καὶ πρὸ γυναῖκων. Iliad.
ϑ, 57.
a)
Mallets Geſchichte von Daͤnnem. p. 112. 113.
a)
Briefe uͤber die Merkwuͤrd. der Litterat. p. 112. 113.
a)
Geſchichte von Amerika, Th. I. p. 404.
a)
Laok. p. 6.
a)
Fragmente der alten Hochſchottl. Dichtk. p. 1.
a)
Ebendaſ. p. 4.
b)
Ebendaſ. p. 81.
a)
Eben daſ. p. 17. 21. u. ſ.
b)
Laok. p. 6.
a)
Iliad: l. v. 15.
a)
Iliad. Α. v. 349. 357. 360. \&c.
b)
Iliad. Σ.
v. 21. \&c. Ψ v. 18. \&c.
c)
Iliad. Σ. v. 148.
a)
Laok. pag. 5.
b)
Laok. pag. 31. — 49.
a)
Sophocl. Philoct. Act. l.
a)
Auftr. 2.
a)
Auftr. 3.
a)
Aufzug 2.
b)
Aufz. 2. Auftr. 1.
a)
Aufz. 2. Auftr. 2.
b)
Auftr. 3.
a)
Auftr. 3.
b)
Dritte Scene.
c)
Theatre des Grecs, Tom. 2. p. 89.
d)
Laok. p. 3. 4. 31. 32.
e)
p. 33. — 49.
a)
p. 33. 34.
a)
p. 3. 52. 34.
b)
p. 41. — 49.
a)
p. 42.
b)
p. 32.
a)
p. 49.
b)
Sophokl. Philokt. Akt. 4. Scen. 1.
c)
Litt. Br. Th. 5. B. 82-84.
a)
Laok. p. 33.
a)
Laok. p. 43.
a)
p. 33.
a)
Laok. p. 9-22.
b)
Laok. p. 16.
a)
Laok. p. 11. not. b. wo Hr. L. die Worte Ariſtoteles
anfuͤhret.
b)
Hr. Klotz Geſchichte der Muͤnzen p. 41. 42.
c)
Laok. p. 12. das Geſetz der Thebaner
[...]ις το χειρων iſt mir noch zweifelhaft.
d)
Laok. p. 103.
a)
Laok. pag. 12. — 15.
a)
Ein Programm des Hrn. Prof. Heine, de cauſſis fa-
bularum ſeu mythorum veterum phyſicis,
hat mir
mehr Gnuͤge gethan, als die ganze Philoſophie des Ba-
nier; wie uͤberhaupt dieſer wuͤrdige Kenner der Alten
von ſeinen Griechen das Schwerſte gelernt: ſtille Groͤſ-
ſe, ruhige Fuͤlle, auch im Vortrage und Ausdrucke.
a)
S. Klotz Geſch. der Muͤnzen p. 106. 107.
b)
Klotz
Act. litt. conf. mit der Geſch. der Muͤnzen, und die-
ſe mit der Schrift uͤber die geſchnittenen Steine.
a)
Klotz Geſch. der Muͤnzen p. 46. 47.
a)
Pauſanias erzaͤlt ihre Geſchichte noch bequemer fuͤr die
Kunſt v. Corinth. c. 21.
b)
Klotz Geſch. der Muͤnz. p. 47. „Es iſt wahr, daß un-
„ſer Gefuͤhl uͤber dieſen Punkt eben ſo verſchieden
„von dem Gefuͤhl der Griechen und Roͤmer iſt, als von
„der Empfindung des Kanibalen„ u. ſ. w.
a)
In Attic. c. 28.
b)
Laok. p. 121. Die leſſingiſche
Erklaͤrung des διεστρ [...]μμεν [...]ς τ [...]ς πωδας ſcheint dem Sprach-
gebrauche zu widerſprechen; und wenn es aufs Muth-
maßen ankaͤme, koͤnnte ich eben ſo ſagen: „ſie ſchliefen
„mit uͤber einander geſchlagnen Fuͤßen„ d. i. des einen
Fuß ſtreckte ſich uͤber den andern hin, um die Verwandt-
ſchaft des Schlafs und Todes anzuzeigen u. ſ. w.
a)
Lib. XXXV. Sect. 15.
b)
Laok. p. 18. 19.
c)
Klotz act litter. Vol. III. p. 291.
a)
Valer. Maxim. lib. VIII. Cap. 11.
a)
Laok. p. 19.
b)
Z. E. Euripides in ſeiner Jphige-
nia u. ſ. w.
a)
Hr. L. kann dem Valerius immer glauben: denn auf
den ſchreienden Ajax faͤllt in dem Gemaͤlde nicht das
Hauptaugenmerk: und alſo auch nicht der Mittelpunkt,
die Nerve ſeines Satzes: der das Ganze der Compoſi-
tion, nicht eine Nebenfigur treffen will.
b)
Laok. p. 10. 23.
a)
p. 162.
b)
Laok. p. 103.
a)
Laok. p. 95.
a)
p. 104.
b)
Laok. p. 103.
c)
p. 104.
a)
Laok. p. 50-67.
b)
p. 51.
c)
p. 8.
d)
p. 52.
a)
Virgilius collatione ſcriptor. graecor. illuſtratus
opera et induſtria Fulvii Vrſini. Antverp.
1567.
b)
Virg. Aeneid. lib. II. 199.
c)
Homer. Iliad. B. 305-326.
a)
Laok. p. 30.
a)
Laok. p. 59-66.
b)
Laok. p. 54. 55.
a)
p. 57.
a)
p. 24.
a)
p. 25.
a)
p. 25.
b)
p. 25.
a)
Samml. vermiſcht. Schr. Th. 5.
a)
Litt. B. Th. 4. p. 285.
a)
Laok. p. 30.
a)
p. 78. 79.
b)
p. 80.
a)
p. 83.
a)
p. 83.
a)
Laok. p. 54.
b)
p. 85.
a)
p. 87.
b)
p. 90. 91.
c)
p. 113 — 118.
a)
p. 99. 100.
b)
p. 100. 101.
a)
p. 99.
a)
p. 115. 116.
a)
p. 99.
a)
p. 116.
a)
Lib. I. Od. 35.
b)
Horat. ed. Baxt. p. 49.
c)
Eclog. Horat. edit. Geſſner. p. 71.
a)
Vindic. Horat. p. 152.
a)
Baxt. Horat. p. 50.
b)
Addiſo’ns Dialog. upon
the Uſefullneß of ancient Medals, p.
47.
a)
Klotz. Vindic. Horat. p. 154.
b)
Laok. p. 118.
a)
Vindic. Horat. p. 154. 155.
a)
Dialog. X.
a)
Den groͤßten hat Bentlei gefunden. S. ſeinen Ho-
raz uͤber dieſe Ode.
a)
Vindic. Horat.
a)
Iliad. Δ. v. 441. 42. Iliad. Ι. v. 2.
b)
Z. E. Agamemnons Rede von der Goͤttinn Ate T.78.
a)
p. 119. — 149.
148
78. \&c.Phoͤnix Rede von den Gebeten Iliad. Ι. v. 498.
a)
Klotz geſchnittene Steine hin und wieder.
b)
Hamb. Zeitung. 1765. No. 100.
c)
Laok. p. 130.
d)
p. 137.
e)
p. 137.
f)
p. 137. 138.
a)
p. 137.
a)
p. 138. 139.
a)
Iliad. ύ. v. 341. 342. \&c.
b)
Laok. p. 140. 141.
b)
Callimach. hym. in Pallad. Dianam \&c.
a)
Anthol. L. IV. c. 19. epig. 33.
a)
Iliad. Ι. v. 131. Χαλεποὶ δὲ ϑεοὶ φαίνεϑαι [...]εναργεῖς.
b)
Iliad. Α. v. 47. (νυκτὶ ἐοι [...]ὼς)
a)
Iliad. Α. v. 359. (ἠΰτ’ ὀμίχλη)
b)
Iliad. Θ v. 50.
c)
Iliad. Ε. v. 140. — 142.
a)
Ibid. v. 310. 331.
b)
Ibid. v. 381.
a)
Auch Goͤtter gegen Goͤtter ſind verwundbar, und Ju-
piter laͤßt der Juno und Minerva drohen, daß, wenn
ſie nicht zuruͤckwichen, er ſie auf zehn Jahre lang un-
heilbar verwunden wolle. Θ 464. 475.
b)
Iliad. Ε. v. 116. — 130.
c)
Neptun. (Iliad. Ν. 45.) εισαμενος Κ [...] λχαντι — Mi-
nerva (Iliad.
Χ. 227.) Δηϊφοβω εικυῖα — (Iliad. δ.
86. 87. Η δε ανδρι ικελη Λαοδοκω \&c.
a)
Iliad. Ε. 126. — 130.
a)
Iliad. Ε. 867.
a)
p. 131 — 136. Laok.
a)
Laok. 135.
b)
E. 744. ed. Clark-Erneſt.
a)
Βοωπις ποτνια Ηρη.
b)
Iliad. ϑ’. 198. 199.
a)
Iliad. ξ’ 163. etc.
b)
ν. 168.
c)
Αμβροσιῃ μεν πρωτον απο χροος ιμεροεντος Λυματα παντα κατῃρεν, αλειψατο δε λιπ’ ελαιω. Iliad. ξʹ 171. 172.
d)
ξʹ 345. etc.
e)
Iliad. ξʹ v. 153. etc.
a)
φιλομμειδης Αφροδιτη.
a)
Iliad. Αʹ 528.
b)
Iliad. Θ. 17-27.
a)
Welch ein Bild giebt der auf Jda die Waage des
Schickſals haltende Jupiter! Die Schaale der Grie-
chen ſinkt zur Erde: die Schaale der Trojaner ſteigt
zum Himmel — wie ſtark iſt der waͤgende Arm des
Gottes! Θ. 339. Solche Bilder liefert Homer, und
keine Maasſtaͤbe!
a)
Iliad. Ν. 10. — 45.
b)
Iliad. Φ. 403.
c)
Iliad. Ε. 737.
a)
Laok. p. 135.
a)
Iliad. Φ. 407.
a)
Iliad. Σ. 516-19.
b)
Laok. p. 136.
c)
Laok. p. 135.
a)
Iliad. Ε. 381. etc.
a)
Iliad. Θ. 13-16.
b)
Iliad. Γ. 385 —
c)
Laok. p. 136.
a)
Harles de Jove Homeri \&c.
b)
Laok. p. 143. 151.
a)
Klotz. epiſt. Homeric. var. loc.
a)
Riedels Leben Meinhards p. 60 61.
b)
Laok. 143.
c)
Laok. p. 180.
a)
Laok. 181.
a)
The Iliad. translat. by Pope: Book. 1. v. 61. — 72.
a)
Iliad. Γ-21.
a)
Laok. p. 153.
a)
Laok. p. 153.
a)
Laok. p. 154.
a)
p. 165.
a)
p. 168.
a)
p. 166. 167.
a)
p. 152. 154.
a)
p. 178. 179.
a)
p. 174. 175.
b)
p. 154. 155.
c)
p. 155.
a)
p. 155.
b)
p. 153.
c)
p. 167.
d)
Iliad. Ε. v. 722 — 731.
a)
Laok. p. 163. 164.
a)
Laok. p. 183. 184.
b)
p. 166.
a)
Laok. p. 180. 181.
a)
Laok. p. 159 — 63.
b)
Iliad. Ε. v. 722. — 731.
a)
Iliad. ςʹ, 497. \&c.
a)
Laok. p. 155.
b)
Alle Koͤrper, die in Homers Ge-
dichte mitwirken ſollen, werden mit ſo viel Zugen ge-
232
ſchildert, als mitwirken ſollen. Auf einen ſchraͤnket ſich
Homer ſelten ein; wenn es auch nur ein Stein, Geraͤth,
Bogen, u. ſ. w. waͤre — er nimmt ſich immer Zeit,
ſo viel Eigenſchaften ſeines Koͤrpers anzufuͤhren, als hier
epiſch energiſiren ſollen. Schildert er eine Sache nur
mit einem Zuge: ſo iſt dieſer meiſtens allgemein, und
fuͤr dieſen Ort unbedeutend: es ſind die gewoͤhnlichen Bei-
namen, die er zu jeder Sache hat, die ihm oft wie-
derkommt.
a)
Laok. 154. 55.
b)
p. 173. 74.
a)
De arte poetica v. 14.
a)
J. Harris Geſpraͤche uͤber die Kunſt: uͤber die Mu-
ſik, Malerei und Poeſie: uͤber die Gluͤckſeligkeit.
b)
Wettſtreit der Malerei, Muſik, Poeſie und Schau-
ſpielkunſt: Reden — gehalten unter der Aufſicht
Wolfgang Ludwig Graͤfenhahns, der Weltweisheit
Magiſters. Baireuth 1746.
a)
Laok. p. 204.
a)
p. 201. 215.
a)
p. 217.
b)
Laok. p. 214.
a)
Laok. p. 215.
b)
p. 210.
a)
p. 211.
a)
p. 232.
b)
Laok. p. 232.
a)
Laok. p. 233.
b)
So machte ihn Ulyſſes
ον γαρ εγω σεο φημι χερειοτ [...]ρον βροτον αλλον
Εμμεναι, οσσοι αμ’ Ατρειδης’ [...]πο Ιλιον ηλϑον.
Iliad. β. v. 248. 249.
c)
Iliad. β. 212.
a)
v. 221. \&c.
b)
227. — — ἁς τοι Αχαιοι διδομεν
κ. τ. λ.
c)
v. 232.
d)
v. 241.
e)
v. 215. ὁ, τι οἱ εισ [...]ιτο γ [...]λο [...]ν Αργειοισιν
Εμμενα [...].
a)
Iliad. β. v. 222. 223.
b)
v. 270. \&c.
c)
v. 245. υπωδρα ιδ [...]ν.
a)
Αιχιστος δ’ ανηρ υπο Ιλιον ηλδε v. 216.
— — ον χερειοτερος βροτος αλλος v. 242.
b)
Τι ὁι εισατο γελο [...]ον Αργειοισιν
Εμμεναι — — — v. 215.
a)
Laok. p 233. 34.
b)
Αμετροεπ [...]ς
c)
Εκολωα.
d)
Επεα ακοσμα, [...] κατα κοσμον.
e)
Τι οι εισαιτο γελο [...]ον Αργειοις
a)
Klotz. epiſt. Homer. p. 24.
b)
p. 24.
a)
p. 25. 26.
a)
p. 28. — 30.
a)
Hortabatur vero idem (Baumeiſterus) me in-
primis ad ſtudium graecarum litterarum, qua-
rum in me erat levis cognitio. Hinc vna cum
Neomanno, aequali et familiari meo, divina Ho-
meri carmina non tam legi, quam deuoraui, vt
intra viginti circiter quatuor dierum ſpatium
omnia perlegeremus. Fuit enim tum nobis il-
lud tantum modo propoſitum, vt formam ali-
quam
magni opetis et ſpeciem animo informa-
remus atque verborum nobis compararemus co-
piam.
In praef. Eleg. p.
8.
a)
Die lateiniſche Ueberſetzung freilich ſpricht von ver-
bis ſcurrilibus,
von dem non prout dicebat, von
dem quodcunque videtur ridiculum Argiuis; und
aus ihr kann man alſo ficher den Therſites, ſo in la-
teinifche Phraſes uͤberſetzen: hic homo ſcurram
agere, riſum reliquorum Graecorum
captare,
ſolebat, dedecet carminis grauitatem etc.
Alles
nach der lateiniſchen Ueberſetzung gut und richtig;
wer wird aber Homer in einer lateiniſchen Ueberſe-
tzung leſen?
a)
Laok. p. 232. 233.
a)
Die meiſten homeriſchen Goͤtter ſind ſchrecklich; aber
deßwegen auch haͤßlich?
a)
Laok. p. 238.
b)
Laok. p. 237.
a)
p. 236.
b)
Laok. p. 247.
a)
Litt. Br. Th. 5. S. 107.
b)
Litt. Br. eb. daſ.
a)
Litt. Br. eb. daſ.
b)
Litt. Br.
a)
Laok. p. 247. 48.
a)
Litt. Br. Th. 5. eb. daſ.
a)
Laok. p. 247.
b)
Laok. 258.
a)
Leſſ. Vorr. zu Laok.
a)
Laok. p. 261. — 198.
a)
Vorrede zum Laok.
b)
Eben daſ.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Kritische Wälder. Kritische Wälder. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bndz.0