Verlag von Guſtav Heckenaſt.
1857.
Das Recht der Überſezung bleibt vorbehalten.
1.
Die Entfaltung.
Wir waren in dem nehmlichen Zimmer zum
Speiſen zuſammen gekommen, in dem wir die Zeit
her, die ich im Schloſſe geweſen war, unſer Mahl
am Morgen Mittag und Abend, wie es die Tageszeit
brachte, eingenommen hatten, der Tiſch war mit dem
klaren weißen feinen Linnen gedeckt, in das ſchönere
und alterthümlichere Blumen, als jezt gebräuchlich
ſind, gleichſam wie Silber in Silber eingewebt wa¬
ren, der Diener ſtand mit den weißen Handſchuhen
hinter uns, der Hausverwalter ging in dem Zimmer
hin und her, und es war an der Wand der Schrein
mit den Fächerabtheilungen, in denen die mannigfal¬
tigen Dinge ſich befanden, die in einem Speiſezimmer
ſtets nöthig ſind: aber heute war mir alles wie feen¬
Stifter, Nachſommer. III. 1[2] haft. Mathilde hatte ein veilchenblaues Seidenkleid
mit dunkleren Streifen an und um die Schultern war
ein Gewebe von ſchwarzen Spizen. Sie kleidete ſich
jedes Mal, wenn ein Gaſt da war, zum Speiſen neu an,
hatte es bisher meinetwillen auch gethan, und hatte
es an dieſem Abende nicht unterlaſſen. Mit dem fei¬
nen lieben und freundlichen Angeſichte, das durch die
dunkle Seide faſt noch feiner und ſchöner wurde,
ließ ſie ſich in ihren Armſtuhl zwiſchen uns nieder.
Natalie war rechts und ich links. Natalie hatte nicht
Zeit gefunden, ihr Kleid zu wechſeln, ſie hatte das¬
ſelbe lichtgraue Seidenkleid an, das ſie am Nachmit¬
tage getragen hatte, und das mir ſo lieb geworden
war. Ich getraute mir faſt nicht, ſie anzuſehen, und
auch ſie hatte die großen ſchönen unbeſchreiblich edlen
Augen größtentheils auf die Mutter gerichtet. So
vergingen einige Augenblicke. Es wurde das Gebet
geſprochen, das Mathilde immer in ihrem Armſtuhle
ſizend ſtille mit gefalteten Händen verrichtete, und das
daher die Anderen ebenfalls ſizend und ſtille vollbrach¬
ten. Als dieſes geſchehen war, wurden, wie es der
Gebrauch in dieſem Hauſe eingeführt hatte, die
Flügelthüren geöffnet, ein Diener trat mit einem
Topfe herein, ſetzte ihn auf den Tiſch, der Hausver¬
[3] walter nahm den Deckel desſelben ab, und ſagte, wie
er immer that: „ich wünſche ſehr wohl zu ſpeiſen.“
Mathilde ſtreckte den Arm mit dem dunkeln Sei¬
denkleide aus, nahm den großen ſilbernen Löffel, und
ſchöpfte, wie ſie es ſich nie nehmen ließ zu thun,
Suppe für uns auf die Teller, welche der Diener dar¬
reichte. Der Hausverwalter hatte, da er alles in Ord¬
nung ſah, das Zimmer nach ſeiner Gepflogenheit ver¬
laſſen. Das Abendeſſen war nun wie alle Tage.
Mathilde ſprach freundlich und heiter von verſchiede¬
nen Gegenſtänden, die ſich eben darboten, und vergaß
nicht, der abweſenden Freunde zu erwähnen und des
Vergnügens zu gedenken, das ihre Rückkunft veran¬
laſſen werde. Sie ſprach von der Erndte, von dem
Segen, der heuer überall ſo reichlich verbreitet ſei,
und wie ſich alles, was ſich auf der Erde befinde, doch
zulezt immer wieder in das Rechte wende. Als die
Zeit des Abendeſſens vorüber war, erhob ſie ſich, und
es wurden die Anſtalten gemacht, daß ſich jedes in
ſeine Wohnung begebe. Mit derſelben ſanften Güte,
mit der ſie mich vor dem Abendeſſen begrüßt hatte,
verabſchiedete ſie ſich nun, wir wünſchten uns wechſel¬
ſeitig eine glückliche Ruhe, und trennten uns.
Als ich in meinem Zimmer angekommen war,
1 *[4] trat ich in der Nacht dieſes Tages, der für mich in
meinem bisherigen Leben am merkwürdigſten gewor¬
den war, an das Fenſter, und blickte gegen den Him¬
mel. Es ſtand kein Mond an demſelben und keine
Wolke, aber in der milden Nacht brannten ſo viele
Sterne, als wäre der Himmel mit ihnen angefüllt,
und als berührten ſie ſich gleichſam mit ihren Spizen.
Die Feierlichkeit traf mich erhebender, und die Pracht
des Himmels war mir eindringender als ſonſt, wenn
ich ſie auch mit großer Aufmerkſamkeit betrachtet
hatte. Ich mußte mich in der neuen Welt erſt zurecht
finden. Ich ſah lange mit einem ſehr tiefen Gefühle
zu dem ſternbedeckten Gewölbe hinauf. Mein Ge¬
müth war ſo ernſt, wie es nie in meinem ganzen
Leben geweſen war. Es lag ein fernes unbekanntes
Land vor mir. Ich ging zu dem Lichte, das auf
meinem Tiſche brannte, und ſtellte meinen undurch¬
ſichtigen Schirm vor dasſelbe, daß ſeine Helle nur in
die hinteren Theile des Zimmers falle, und mir den
Schein des Sternenhimmels nicht beirre. Dann ging
ich wieder zu dem Fenſter, und blieb vor demſelben.
Die Zeit verfloß, und die Nachtfeier ging indeſſen
fort. Wie es ſonderbar iſt, dachte ich, daß in der
Zeit, in der die kleinen wenn auch vieltauſendfältigen
[5] Schönheiten der Erde verſchwinden, und ſich erſt die
unermeßliche Schönheit des Weltraums in der fernen
ſtillen Lichtpracht aufthut, der Menſch und die größte
Zahl der andern Geſchöpfe zum Schlummer beſtimmt
iſt! Rührt es daher, daß wir nur auf kurze Augen¬
blicke und nur in der räthſelhaften Zeit der Traum¬
welt zu jenen Größen hinan ſehen dürfen, von denen
wir eine Ahnung haben, und die wir vielleicht ein¬
mal immer näher und näher werden ſchauen dürfen?
Sollen wir hienieden nie mehr als eine Ahnung ha¬
ben? Oder iſt es der großen Zahl der Menſchen nur
darum blos in kurzen ſchlummerloſen Augenblicken
geſtattet, zu dem Sternenhimmel zu ſchauen, damit
die Herrlichkeit deſſelben uns nicht gewöhnlich werde
und die Größe ſich nicht dadurch verliere? Aber ich bin
ja wiederholt in ganzen Nächten allein gefahren, die
Sternbilder haben ſich an dem Himmel ſachte bewegt,
ich habe meine Augen auf ſie gerichtet gehalten, ſie
ſind dunkelſchwarzen geſtaltloſen Wäldern oder Erd¬
rändern zugeſunken, andere ſind im Oſten aufgeſtie¬
gen, ſo hat es fortgedauert, die Stellungen haben
ſich ſanft geändert, und das Leuchten hat fortgelächelt,
bis der Himmel von der nahenden Sonne lichter
wurde, das Morgenroth im Oſten erſchien und die
[6] Sterne wie ein ausgebranntes Feuerwerksgerüſte er¬
loſchen waren. Haben da meine vom Nachtwachen
brennenden Augen die verſchwundene ſtille Größe
nicht für höher erkannt als den klaren Tag, der alles
deutlich macht? Wer kann wiſſen, wie dies iſt. Wie
wird es jenen Geſchöpfen ſein, denen nur die Nacht
zugewieſen iſt, die den Tag nicht kennen? Jenen gro¬
ßen wunderbaren Blumen ferner Länder, die ihr Auge
öffnen, wenn die Sonne untergegangen iſt, und die
ihr meiſtens weißes Kleid ſchlaff und verblüht herab¬
hängen laſſen, wenn die Sonne wieder aufgeht? Oder
den Thieren, denen die Nacht ihr Tag iſt? Es war
eine Weihe und eine Verehrung des Unendlichen
in mir.
Träumend, ehe ich entſchlief, begab ich mich auf
mein Lager, nachdem ich vorher das Licht ausgelöſcht,
und die Vorhänge der Fenſter abſichtlich nicht zugezo¬
gen hatte, damit ich die Sterne hereinſcheinen ſähe.
Des anderen Morgens ſammelte ich mich, um mir
bewußt zu werden, was geſchehen iſt, und welche
tiefe Pflichten ich eingegangen war. Ich kleidete mich
an, um in das Freie zu gehen, und mein Angeſicht
und meinen Körper der kühlen Morgenluft zu geben.
Als ich mein Zimmer verlaſſen hatte, ſuchte ich
[7] einen Gang zu gewinnen, der im ſüdlichen Theile
des Schloſſes in der Länge deſſelben dahin läuft.
Seine Fenſter münden in den Hof, und von ihm
gehen Thüren in die gegen Mittag liegenden Zim¬
mer Mathildens und Nataliens. Dieſe Thüren,
einſt vielleicht zum Gebrauche für Gäſte beſtimmt,
waren jezt meiſtens geſchloſſen, weil die Verbindung
im Innern der Zimmer hergeſtellt war. Ich hatte den
Gang darum aufgeſucht, weil er an der Weſtſeite des
Schloſſes zu einer kleinen Treppe führt, die abwärts
geht, und in ein Pförtchen endet, das gewöhnlich
des Morgens geöffnet wurde, und durch das man
unmittelbar in die Felder auf breite trockene Wege ge¬
langen konnte, die den Wanderer unbemerkter ins
Weite führen, als es durch den Hauptausgang des
Schloſſes möglich geweſen wäre. Die Bewohnerin¬
nen der Zimmer, die an den Gang ſtießen, glaubte
ich darum nicht ſtören zu können, weil das Stein¬
pflaſter des Ganges ſeiner ganzen Länge nach mit
einem weichen Teppiche belegt war, der keine Tritte
hören ließ. Außerdem hatte die Sonne auch bereits
einen ſo hohen Morgenbogen zurückgelegt, daß zu
vermuthen war, daß alle im Schloſſe ſchon längſt
aufgeſtanden ſein würden.
[8]
Da ich gegen das Ende des Ganges und in die
Nähe der Treppe gekommen war, ſah ich eine Thür
offen ſtehen, von der ich vermuthete, daß ſie zu den
Zimmern der Frauen führen müſſe. War die Thür
offen, weil man fortgehen wollte, oder weil man
eben gekommen war? Oder hatte eine Dienerin in der
Eile offen gelaſſen, oder war irgend ein anderer
Grund? Ich zauderte, ob ich vorbeigehen ſollte; allein
da ich wußte, daß die Thür doch nur in einen Vor¬
ſaal ging, und da die Treppe ſchon ſo nahe war, die
mich ins Freie führen ſollte, ſo beſchloß ich, vorbei
zu gehen, und meine Schritte zu beſchleunigen. Ich
ſchritt auf dem weichen Teppiche fort, und trat nur
behutſamer auf. Da ich an der Thür angekommen
war, ſah ich hinein. Was ich vermuthet hatte, be¬
ſtätigte ſich, die Thür ging in einen Vorſaal. Derſelbe
war nur klein und mit gewöhnlichen Geräthen ver¬
ſehen. Aber nicht blos in den Vorſaal konnte ich
blicken, ſondern auch in ein weiteres Zimmer, das
mit einer großen Glasthür an den Vorſaal ſtieß,
welche Glasthür noch überdies halb geöffnet war. In
dieſem Zimmer aber ſtand Natalie. An den Wänden
hinter ihr erhoben ſich edle mittelalterliche Schreine.
Sie ſtand faſt mitten in dem Gemache vor einem
[9] Tiſche, auf welchem zwei Zithern lagen, und von
welchem ein ſehr reicher alterthümlicher Teppich nieder
hing. Sie war vollſtändig gleichſam wie zum Aus¬
gehen gekleidet, nur hatte ſie keinen Hut auf dem
Haupte. Ihre ſchönen Locken waren auf dem Hinter¬
haupte geordnet und wurden von einem Bande oder
etwas Ähnlichem getragen. Das Kleid reichte wie
gewöhnlich bis zu dem Halſe und ſchloß dort ohne
irgend einer fremden Zuthat. Es war wieder von
lichtem grauem Seidenſtoffe, hatte aber ſehr feine
ſtark rothe Streifen. Es ſchloß die Hüften ſehr
genau, und ging dann in reichen Falten bis auf den
Fußboden nieder. Die Ärmel waren enge, reichten
bis zum Handgelenke, und hatten an dieſem wie am
Oberarme dunkle Querſtreifen, die wie ein Armband
ſchloſſen. Natalie ſtand ganz aufrecht, ja der Ober¬
körper war ſogar ein wenig zurückgebogen. Der linke
Arm war ausgeſtreckt, und ſtüzte ſich mittelſt eines
aufrecht ſtehenden Buches, auf das ſie die Hand legte,
auf das Tiſchchen. Die rechte Hand lag leicht auf
dem linken Unterarm. Das unbeſchreiblich ſchöne An¬
geſicht war in Ruhe, als hätten die Augen, die jezt
von den Lidern bedeckt waren, ſich geſenkt und ſie
dächte nach. Eine ſolche reine feine Geiſtigkeit war in
[10] ihren Zügen, wie ich ſie an ihr, die immer die tiefſte
Seele ausſprach, doch nie geſehen hatte. Ich ver¬
ſtand auch, was die Geſtalt ſprach, ich hörte gleichſam
ihre inneren Worte: „Es iſt nun eingetreten!“ Sie
hatte mich nicht kommen gehört, weil der Teppich den
Fußboden des Ganges bedeckte, und ſie konnte mich
nicht ſehen, weil ihr Angeſicht gegen Süden gerichtet
war. Ich beobachtete nur zwei Augenblicke ihre ſin¬
nende Stellung, und ging dann leiſe vorüber und die
Treppe hinunter. Es erfüllte mich gleichſam mit einem
Meere von Wonne, Natalien von der nehmlichen
Empfindung beſeelt zu ſehen, die ich hatte, von der
Empfindung, ſich das errungene kaum gehoffte und
ſo hoch gehaltene Gut geiſtig zu ſichern, ſich klar zu
machen, was man erhalten hat, und in welche neue
unermeßlich wichtige Wendung des Lebens man ein¬
getreten ſei. Ich konnte es kaum faſſen, daß ich es
ſei, um den eine Geſtalt, die das Schönſte ausdrückt,
was mir bis jezt bekannt geworden iſt, eine Geſtalt, die
man wohl auch ſtolz geheißen, die ſich bisher von jeder
Neigung abgewendet hatte, in dieſe tiefe ſinnende
Empfindungen geſunken ſei. Ich dachte mir, daß ich,
ſo lange ich lebe, und ſollte mein Leben bis an die
äußerſte Grenze des menſchlichen Alters oder darüber
[11] hinaus gehen, mit jedem Tropfen meines Blutes mit
jeder Faſer meines Herzens ſie lieben werde, ſie möge
leben oder todt ſein, und daß ich ſie fort und fort durch
alle Zeiten in der tiefſten Seele meiner Seele tragen
werde. Es erſchien mir als das ſüßeſte Gefühl, ſie nicht
nur in dieſem Leben ſondern in tauſend Leben, die
nach tauſend Toden folgen mögen, immer lieben
zu können. Wie viel hatte ich in der Welt geſehen,
wie viel hatte mich erfreut, an wie Vielem hatte ich
Wohlgefallen gehabt: und wie iſt jezt Alles nichts,
und wie iſt es das höchſte Glück, eine reine tiefe
ſchöne menſchliche Seele ganz ſein eigen nennen zu
können, ganz ſein eigen.
Ich ging durch das Pförtchen hinaus, das ich
nur angelehnt fand, und ging auf dem Wege fort,
der an dieſer Seite vor dem Schloſſe vorbei führt,
und dann in die Felder hinaus geht. Er iſt breit,
mit feinem Sande belegt, und eignet ſich daher ſeiner
Trockenheit willen ganz beſonders zu Morgenſpazier¬
gängen. Er iſt von dem vorigen Beſizer des Schloſſes
angelegt und von Mathilden verbeſſert worden. Er
geht von dem Pförtchen nach beiden Richtungen nach
Norden und nach Süden ziemlich weit fort, und
bildet auf dieſe Weiſe zu dem Schloſſe eine Berüh¬
[12] rungslinie. Roland hatte ihn ſcherzweiſe auch immer
den Berührweg genannt. Die Obſtbäume, die ihn
jezt häufig ſäumen, hat Mathilde meiſtens ſchon
erwachſen an ihn verſezt. Früher war der ganze Weg
eine Allee von Pappeln geweſen; allein da er ganz
gerade durch die Gegend geht, und mit den geraden
Bäumen bepflanzt war, ſo erſchien er ſehr unſchön,
und für einen Luſtweg, was er ſein ſollte, wenig
geeignet. Nach Berathungen mit ihren Freunden
hatte Mathilde die Pappeln, welche außerdem auch
den Feldern ſehr ſchädlich waren, nach und nach be¬
ſeitigt. Sie waren gefällt, und ihre Wurzeln aus¬
gegraben worden. Da man die Obſtbäume an ihre
Stelle ſezte, vermied man es abſichtlich, an allen
Pläzen, an welchen Pappeln geſtanden waren, Obſt¬
bäume zu pflanzen, damit nicht wieder ſtatt der
Pappelallee eine Obſtbaumallee würde, was zwar
minder unſchön als früher geweſen wäre, aber doch
immer noch nicht ſchön. Durch dieſe Unterbrechung
der Baumpflanzung erhielt der Weg, deſſen gerade
Richtung ſchwer zu beſeitigen geweſen wäre, und die
doch ſonſt zu eigenthümlich war, als daß man ſie hätte
abändern ſollen, wenn man nicht Alles nach ganz
neuen Gedanken einrichten wollte, die nöthige Ab¬
[13] wechslung. Mitternachtwärts von dem Schloſſe führt
er durch Wieſen und Felder an Gebüſchen hin, ſteigt
dann zu einem Walde hinan, in welchen er eine
Strecke eindringt. Südwärts geht er durch Felder,
hat dort beſonders ſchöne Apfelbäume an ſeinen Sei¬
ten, wölbt ſich ſanft über einen Ackerrücken und ge¬
währt von ihm eine ſchöne Ausſicht in die Gebirge.
Ich ſchlug die Richtung nach Süden ein, wie ich
überhaupt ſehr gerne bei dem Beginne eines Spazier¬
ganges ſo gehe, daß ich leicht nach Mittag ſehe, das
Licht vor mir habe, und in den ſchöneren Glanz und
die lieblichere Färbung der Wolken blicken kann. Der
Himmel war wie geſtern ganz heiter, die Sonne ſtand
in ſeinem öſtlichen Theile, und begann die Tropfen,
welche an allen Gräſern und an dem Laube der
Bäume hingen, aufzuſaugen. Die Morgenkühle war
noch nicht vergangen, obwohl der Einfluß der Sonne
immer mehr und mehr bemerkbar wurde. Ich ſah mit
neuen Augen auf alle Dinge um mich, es ſchien, als
hätten ſie ſich verjüngt, und als müßte ich mich wieder
allmählich an ihren Anblick gewöhnen. Ich kam auf die
Anhöhe, und ſah aus den langen Zug der Gebirge. Die
blauen Spizen blickten auf mich herüber, und die vie¬
len Schneefelder zeigten mir ihren feinen Glanz. Ich
[14] ſah auch die Berghäupter an dem Kargrat, wo ich
zulezt gearbeitet hatte. Mir war, als wäre es ſchon
viele Jahre, ſeit ich in jenen Eisfeldern und Schnee¬
gründen geweſen war. Ich ließ, während ich ſo da¬
ſtand, die milde Luft den Glanz der Sonne und das
Prangen der Dinge auf mich wirken. Sonſt hatte
ich immer irgend ein Buch in meine Taſche geſteckt,
wenn ich in der Gegend herum gehen wollte; heute
hatte ich es nicht gethan. Mir war jezt nicht, als
ſollte ich irgend ein Buch leſen. Ich ging nach einer
Weile wieder an den Bäumen dahin, an denen ſchon
die mannigfaltigen Äpfel hingen, die jeder nach
ſeiner Art brachte, und die ſchon hie und da ihre
eigenthümliche Farbe zu erhalten begannen. Ich
ging ſo lange auf der Anhöhe des Felderrückens
fort, bis ſie ſich leicht zu ſenken anfing, über welche
Senkung der Weg noch hinabgeht, um in dem
Thale an der Grenze eines fremden Gutes zu enden,
oder vielmehr in einen anderen Weg überzugehen, der
die Eigenſchaften aller jener Fußwege hat, die in un¬
zähligen Richtungen unſer Land durchziehen, und auf
deren taugliche Beſchaffenheit, Verbeſſerung oder
Verſchönerung niemand denkt. Ich ging auf der Sen¬
[15] kung des Weges nicht mehr hinunter, weil ich nicht
thalwärts kommen wollte, wo die Blicke beengt ſind.
Ich wendete mich um, und hatte den Anblick des
Schloſſes vor mir, welches jezt von ſolcher Bedeu¬
tung für mich geworden war. Die Fenſter ſchimmer¬
ten in dem Glanze der Sonne, das Grau der von
der Tünche befreiten ſüdlichen Mauer ſchaute ſanft
zu mir herüber, das dunkle Dach hob ſich von der
Bläue der nördlichen Luft ab, und ein leichter Rauch
ſtieg von einigen ſeiner Schornſteine auf.
Ich ging langſam auf dem Rücken des Feldes
an den Obſtbäumen vorüber meines Weges zurück,
bis er ſachte gegen das Schloß abwärts zu gehen
begann.
An dieſer Stelle ſah ich jezt, daß mir eine Geſtalt,
welche mir früher durch Baumkronen verdeckt geweſen
ſein mochte, entgegen kam, welche die Geſtalt Nata¬
liens war. Wir gingen beide ſchneller, als wir uns
erblickten, um uns früher zu erreichen. Da wir nun
zuſammen trafen, blickte mich Natalie mit ihren gro¬
ßen dunkeln Augen freundlich an, und reichte mir die
Hand. Ich empfing ſie, drückte ſie herzlich, und ſagte
einen innigen Gruß.
„Es iſt recht ſchön,“ ſprach ſie, „daß wir gleich¬
[16] zeitig einen Weg gehen, den ich heute ſchon einmal
gehen wollte, und den ich jezt wirklich gehe.“
„Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?“
fragte ich.
„Ich habe ſehr lange den Schlummer nicht ge¬
funden,“ antwortete ſie, „dann kam er doch in ſehr
leichter flüchtiger Geſtalt. Ich erwachte bald, und
ſtand auf. Am Morgen wollte ich auf dieſen Weg
heraus gehen, und ihn bis über die Felderanhöhe
fortſezen; aber ich hatte ein Kleid angezogen, wel¬
ches zu einem Gange außer dem Hauſe nicht taug¬
lich war. Ich mußte mich daher ſpäter umkleiden,
und ging jezt heraus, um die Morgenluft zu ge¬
nießen.“
Ich ſah wirklich, daß ſie das lichte graue Kleid
mit den feinen tiefrothen Streifen nicht mehr an
habe, ſondern ein einfacheres kürzeres mattbrau¬
nes trage. Jenes Kleid wäre freilich zu einem
Morgenſpaziergange nicht tauglich geweſen, weil es
in reichen Falten faſt bis auf den Fußboden nieder
ging. Sie hatte jezt einen leichten Strohhut auf
dem Haupte, welchen ſie immer bei ihren Wande¬
rungen durch die Felder trug. Ich fragte ſie, ob ſie
glaube, daß noch ſo viel Zeit vor dem Frühmahle ſei,
[17] daß ſie über die Felderanhöhe hinaus und wieder
in das Schloß zurückkommen könne.
„Wohl iſt noch ſo viel Zeit,“ erwiederte ſie, „ich
wäre ja ſonſt nicht fortgegangen, weil ich eine Stö¬
rung in der Hausordnung nicht verurſachen möchte.“
„Dann erlaubt ihr wohl, daß ich euch begleite,“
ſagte ich.
„Es wird mir ſehr lieb ſein,“ antwortete ſie.
Ich begab mich an ihre Seite, und wir wandelten
den Weg, den ich gekommen war, zurück.
Ich hätte ihr ſehr gerne meinen Arm angebothen;
aber ich hatte nicht den Muth dazu.
Wir gingen langſam auf dem feinen Sandwege
dahin, an einem Baumſtamme nach dem andern vor¬
über, und die Schatten, welche die Bäume auf den
Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne da¬
zwiſchen legte, wichen hinter uns zurück. Anfangs
ſprachen wir gar nicht, dann aber ſagte Natalie:
„Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlſein zu¬
gebracht?“
„Ich habe ſehr wenig Schlaf gefunden; aber ich
habe es nicht unangenehm empfunden,“ entgegnete
ich, die Fenſter meiner Wohnung, welche mir eure
Mutter ſo freundlich hatte einrichten laſſen, gehen in
Stifter. Nachſommer. III. 2[18] das Freie, ein großer Theil des Sternenhimmels ſah
zu mir herein. Ich habe ſehr lange die Sterne be¬
trachtet. Am Morgen ſtand ich frühe auf, und da ich
glaubte, daß ich niemand in dem Schloſſe mehr ſtören
würde, ging ich in das Freie, um die milde Luft zu
genießen.“
„Es iſt ein eigenes erquickendes Labſal, die reine
Luft des heiteren Sommers zu athmen,“ erwiederte ſie.
„Es iſt die erhebendſte Nahrung, die uns der Him¬
mel gegeben hat,“ antwortete ich. „Das weiß ich,
wenn ich auf einem hohen Berge ſtehe, und die
Luft in ihrer Weite wie ein unausmeßbares Meer
um mich herum iſt. Aber nicht blos die Luft des
Sommers iſt erquickend, auch die des Winters iſt es,
jede iſt es, welche rein iſt, und in welcher ſich nicht
Theile finden, die unſerm Weſen widerſtreben.“
„Ich gehe oft mit der Mutter an ſtillen Winter¬
tagen gerade dieſen Weg, auf dem wir jezt wandeln.
Er iſt wohl und breit ausgefahren, weil die Bewoh¬
ner von Erlthal und die der umliegenden Häuſer im
Winter von ihrem tief gelegenen Fahrwege eine kleine
Abbeugung über die Felder machen, und dann unſeren
Spazierweg ſeiner ganzen Länge nach befahren. Da
iſt es oft recht ſchön, wenn die Zweige der Bäume
[19] voll von Kriſtallen hängen, oder wenn ſie bereift ſind,
und ein feines Gitterwerk über ihren Stämmen und
Äſten tragen. Oft iſt es ſogar, als wenn ſich auch
der Reif in der Luft befände, und ſie mit ihm erfüllt
wäre. Ein feiner Duft ſchwebt in ihr, daß man die
nächſten Dinge nur wie in einen Rauch gehüllt ſehen
kann. Ein anderes Mal iſt der Himmel wieder ſo
klar, daß man alles deutlich erblickt. Er ſpannt
ſich dunkelblau über die Gefilde, die in der Sonne
glänzen, und wenn wir auf die Höhe der Felder kom¬
men, können wir von ihr den ganzen Zug der Gebirge
ſehen. Im Winter iſt die Landſchaft ſehr ſtill, weil
die Menſchen ſich in ihren Häuſern halten, ſo
viel ſie können, weil die Singvögel Abſchied genom¬
men haben, weil das Wild in die tieferen Wälder
zurück gegangen iſt, und weil ſelbſt ein Geſpann nicht
den tönenden Hufſchlag und das Rollen der Räder
hören läßt, ſondern nur der einfache Klang der
Pferdeglocke, die man hier hat, anzeigt, daß irgend
Wo jemand durch die Stille des Winters fährt.
Wir gehen auf der klaren Bahn dahin, die Mutter
leitet die Geſpräche auf verſchiedene Dinge, und das
Ziel unſerer Wanderung iſt gewöhnlich die Stelle,
wo der Weg in das Thal hinabzugehen anfängt. In
2 *[20] der Stadt habt ihr die ſchönen Winterſpaziergänge
nicht, welche uns das Land gewährt.“
„Nein Natalie, die haben wir nicht. Wir haben
von der dem Winter als Winter eigenthümlichen
Weſenheit nichts als die Kälte; denn der Schnee
wird auch aus der Stadt fortgeſchafft,“ erwiederte
ich, „und nicht blos im Winter auch im Sommer hat
die Stadt nichts, was ſich nur entfernt mit der Frei¬
heit und Weite des offenen Landes vergleichen ließe.
Eine erweiterte Pflege der Kunſt und der Wiſſen¬
ſchaft eine erhöhte Geſelligkeit und die Regierung
des menſchlichen Geſchlechts ſind in der Stadt, und
dieſe Dinge begreifen auch das, was man in der
Stadt ſucht. Einen Theil von Wiſſenſchaft und
Kunſt aber kann man wohl auch auf dem Lande hegen,
und ob größere Zweige der allgemeinen Leitung der
Menſchen auch auf das Land gelegt werden könnten,
als jezt geſchieht, weiß ich nicht, da ich hierin zu
wenig Kenntniſſe habe. Ich trage ſchon lange den
Gedanken in mir, einmal auch im Winter in das
Hochgebirge zu gehen, und dort eine Zeit zuzubrin¬
gen, um Erfahrungen zu ſammeln. Es iſt ſeltſam,
und reizt zur Nachahmung, was uns die Bücher mel¬
den, die von Leuten verfaßt wurden, welche im Win¬
[21] ter hochgelegene Gegenden beſucht oder gar die Spizen
bedeutender Berge erſtiegen haben.“
„Wenn es für Leben und Geſundheit keine Ge¬
fahr hat, ſolltet ihr es thun,“ antwortete ſie. „Es iſt
wohl ein Vorrecht der Männer, das Größere wa¬
gen und erfahren zu können. Wenn wir zuweilen
im Winter in großen Städten geweſen ſind, und dort
das Leben der verſchiedenen Menſchen geſehen haben,
dann ſind wir gerne in den Sternenhof zurückgegan¬
gen. Wir haben hier in manchen größeren Zeiträu¬
men alle Jahreszeiten genoſſen, und haben jeden
Wechſel derſelben im Freien kennen gelernt. Wir ſind
mit Freunden verbunden, deren Umgang uns veredelt,
erhebt, und zu denen wir kleine Reiſen machen. Wir
haben einige Ergebniſſe der Kunſt und in einem ge¬
wiſſen Maße auch der Wiſſenſchaft, ſo weit es ſich
für Frauen ziemt, in unſere Einſamkeit gezogen.“
„Der Sternenhof iſt ein edler und ein würdevoller
Siz,“ entgegnete ich, „er hat ſich ein ſchönes Theil
des Menſchlichen geſammelt, und muß nicht das
Widerwärtige desſelben hinnehmen. Aber es mußten
auch viele Umſtände zuſammentreffen, damit es ſo
werden konnte, wie es ward.“
„Das ſagt die Mutter auch,“ erwiederte ſie, „und
[22] ſie ſagt, ſie müſſe der Vorſehung ſehr danken, daß ſie
ihre Beſtrebungen ſo unterſtüzt und geleitet habe, weil
wohl ſonſt das Wenigſte zu Stande gekommen wäre.“
Wir hatten in der Zeit dieſes Geſpräches nach und
nach die höchſte Stelle des Weges erreicht. Vor uns
ging es wieder abwärts. Wir blieben eine Weile
ſtehen.
„Sagt mir doch,“ begann Natalie wieder, „wo
liegt denn das Kargrat, in welchem ihr euch in die¬
ſem Theile des Sommers aufgehalten habt? Man muß
es ja von hier aus ſehen können.“
„Freilich kann man es ſehen,“ antwortete ich, „es
liegt faſt im äußerſten Weſten des Theiles der Kette,
der von hier aus ſichtbar iſt. Wenn ihr von jenen
Schneefeldern, die rechts von der ſanftblauen Kuppe,
welche gerade über der Grenzeiche eures Weizenfeldes
ſichtbar iſt, liegen, und die faſt wie zwei gleiche mit
der Spize nach aufwärts gerichtete Dreiecke ausſehen,
wieder nach rechts geht, ſo werdet ihr lichte faſt wag¬
recht gehende Stellen in dem graulichen Dämmer des
Gebirges ſehen, das ſind die Eisfelder des Kargrats.“
„Ich ſehe ſie ſehr deutlich,“ erwiederte ſie, „ich
ſehe auch die Spizen, die über das Eis empor ragen.
Und auf dieſem Eiſe ſeid ihr geweſen?“
[23]
„An ſeinen Grenzen, die es in allen Richtungen
umgeben,“ antwortete ich, „und auf ihm ſelber.“
„Da müßt ihr ja auch deutlich hieher geſehen ha¬
ben,“ ſagte ſie.
„Die Berggeſtaltungen des Kargrates, die wir
hier ſehen,“ erwiederte ich, „ſind ſo groß, daß wir ſeine
Theile wohl von hier aus unterſcheiden können; aber
die Abtheilungen der hieſigen Gegend ſind ſo klein,
daß ihre Gliederungen von dort aus nicht erblickt
werden können. Das Land liegt wie eine mit Duft
überſchwebte einfache Fläche unten. Mit dem Fern¬
rohre konnte ich mir einzelne bekannte Stellen ſuchen,
und ich habe mir die Bildungen der Hügel und Wäl¬
der des Sternenhofes geſucht.“
„Ach nennt mir doch einige von den Spizen, die
wir von hier aus ſehen können,“ ſagte ſie.
„Das iſt die Kargratſpize, die ihr über dem Eiſe
als höchſte ſeht,“ erwiederte ich, „und rechts iſt die
Glommſpize und dann der Ethern und das Krumm¬
horn. Links ſind nur zwei, der Aſchkogel und die
Sente.“
„Ich ſehe ſie,“ ſagte ſie, „ich ſehe ſie.“
„Und dann ſind noch geringere Erhöhungen,“ fuhr
ich fort, „die ſich gegen die weiteren Berghänge ſen¬
[24] ken, die keinen Namen haben, und die man hier nicht
ſieht.“
Da wir noch eine Weile geſtanden waren, die
Berge betrachtet und geſprochen hatten, wendeten wir
uns um, und wandelten dem Schloſſe zu.
„Es iſt doch ſonderbar,“ ſagte Natalie, „daß dieſe
Berge keinen weißen Marmor hervorbringen, da ſie
doch ſo viel verſchiedenfarbigen haben.“
„Da thut ihr unſeren Bergen ein kleines Un¬
recht,“ antwortete ich, „ſie haben ſchon Lager von
weißem Marmor, aus denen man bereits Stücke
zu manigfaltigen Zwecken bricht, und gewiß werden
ſie in ihren Verzweigungen noch Stellen bergen,
wo vielleicht der feinſte und ungetrübteſte weiße
Marmor iſt.
„Ich würde es lieben, mir Dinge aus ſolchem
Marmor machen zu laſſen,“ ſagte ſie.
„Das könnt ihr ja thun,“ erwiederte ich, „kein
Stoff iſt geeigneter dazu.“
„Ich könnte aber nach meinen Kräften nur kleine
Gegenſtände anfertigen laſſen, Verzierungen und der¬
gleichen,“ ſagte ſie, „wenn ich die rechten Stücke be¬
kommen könnte, und wenn meine Freunde mir mit
ihrem Rathe beiſtänden.“
[25]
„Ihr könnt ſie bekommen,“ antwortete ich, „und ich
ſelber könnte euch hierin helfen, wenn ihr es wünſcht.“
„Es wird mir ſehr lieb ſein,“ erwiederte ſie, „unſer
Freund hat edle Werke aus farbigem Marmor in ſei¬
nem Hauſe ausführen laſſen, und ihr habt ja auch
ſchöne Dinge aus ſolchem für eure Eltern veranlaßt.“
„Ja, und ich ſuche noch immer ſchöne Stücke
Marmor zu erwerben, um ſie gelegentlich zu künfti¬
gen Werken zu verwenden,“ antwortete ich.
„Meine Vorliebe für den weißen Marmor habe ich
wohl aus den reichen ſchönen und großartigen Dingen
gezogen,“ entgegnete ſie, „die ich in Italien aus
ihm ausgeführt geſehen habe. Beſonders wird mir
Florenz und Rom unvergeßlich ſein. Das ſind Dinge,
die unſere höchſte Bewunderung erregen, und doch,
habe ich immer gedacht, iſt es menſchlicher Sinn und
menſchlicher Geiſt, der ſie entworfen und ausgeführt
hat. Euch werden auch Gegenſtände bei eurem Aufent¬
halte im Freien erſchienen ſein, die das Gemüth
mächtig in Anſpruch nehmen.“
„Die Kunſtgebilde leiten die Augen auf ſich, und
mit Recht,“ antwortete ich, „ſie erfüllen mit Bewun¬
derung und Liebe. Die natürlichen Dinge ſind das
Werk einer anderen Hand, und wenn ſie auf dem
[26] rechten Wege betrachtet werden, regen ſie auch das
höchſte Erſtaunen an.“
„So habe ich wohl immer gefühlt,“ ſagte ſie.
„Ich habe auf meinem Lebenswege durch viele
Jahre Werke der Schöpfung betrachtet,“ erwiederte
ich, „und dann auch, ſo weit es mir möglich war,
Werke der Kunſt kennen gelernt, und beide entzückten
meine Seele.“
Mit dieſen Geſprächen waren wir allmählich dem
Schloſſe näher gekommen, und waren jezt bei dem
Pförtchen.
An demſelben blieb Natalie ſtehen, und ſagte die
Worte: „Ich habe geſtern ſehr lange mit der Mutter
geſprochen, ſie hat von ihrer Seite eine Einwendung
gegen unſeren Bund nicht zu machen.“
Ihre feinen Züge überzog ein ſanftes Roth, als
ſie dieſe Worte zu mir ſprach. Sie wollte nun ſogleich
durch das Pförtchen hinein gehen, ich hielt ſie aber
zurück, und ſagte: „Fräulein, ich hielte es nicht für
Recht, wenn ich euch etwas verhehlte. Ich habe euch
heute ſchon einmal geſehen, ehe wir zuſammentrafen.
Als ich am Morgen über den Gang hinter euren Zim¬
mern ins Freie gehen wollte, ſtanden die Thüren in
einen Vorſaal und in ein Zimmer offen, und ich ſah
[27] euch in dieſem leztern an einem mit einem alterthüm¬
lichen Teppiche behängten Tiſchchen die Hand auf ein
Buch geſtüzt ſtehen.“
„Ich dachte an mein neues Schickſal,“ ſagte ſie.
„Ich wußte es, ich wußte es,“ antwortete ich, „und
mögen die himmliſchen Mächte es ſo günſtig geſtal¬
ten, als es der Wille derer iſt, die euch wohlwollen.“
Ich reichte ihr beide Hände, ſie faßte ſie, und wir
drückten uns dieſelben.
Darauf ging ſie in das Pförtchen ein, und über
die Treppe empor.
Ich wartete noch ein wenig.
Da ſie oben war, und die Thür hinter ſich ge¬
ſchloſſen hatte, ſtieg ich auch die Treppe empor.
Das ganze Weſen Nataliens ſchien mir an dieſem
Morgen glänzender, als es die ganze Zeit her gewe¬
ſen war, und ich ging mit einem tief tief geſchwellten
Herzen in mein Zimmer.
Dort kleidete ich mich in ſo weit um, als es
nöthig war, die Spuren des Morgenſpazierganges
zu beſeitigen, und anſtändig zu erſcheinen, dann ging
ich, da die Stunde des Frühmahles ſchon heran nahte,
in das Speiſezimmer.
Ich war in demſelben allein. Der Tiſch war ſchon
[28] gedeckt, und alles zum Morgenmahle in Bereitſchaft
geſezt. Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, kam
Mathilde mit Natalie zugleich in das Zimmer. Na¬
talie hatte ſich umgekleidet, ſie hatte jezt ein feſtlicheres
Kleid an, als ſie beim Morgenſpaziergange getragen
hatte, weil ſie gleich Mathilden bei Tiſche einen Gaſt
durch ein beſſeres Kleid ehrte. Mit der gewöhnlichen
Ruhe und Heiterkeit, aber mit einer faſt noch größe¬
ren Freundlichkeit als ſonſt, begrüßte mich Mathilde,
und wies mir meinen Plaz an. Wir ſezten uns. Wir
waren nun bei dem Frühmahle, wie wir es die meh¬
reren Tage her gewohnt waren. Dieſelben Gegen¬
ſtände befanden ſich auf dem Tiſche, und derſelbe Vor¬
gang wurde befolgt wie immer. Obgleich nur ein
Dienſtmädchen ab und zu ging, und wir in den
Zwiſchenzeiten allein waren, indem Mathilde nach
ihrer Gepflogenheit manche Handlungen, die bei einem
ſolchen Frühmahle nöthig ſind, an dem Tiſche ſelbſt
verrichtete, ſo wurde doch über unſere beſonderen An¬
gelegenheiten auch jezt nicht geſprochen. Gewöhnliche
Dinge, wie ſie ſich an gewöhnlichen Tagen darbiethen,
bildeten den Inhalt der Geſpräche. Theils Kunſt
theils die ſchönen Tage der Jahreszeit, die eben war,
und theils ein Abſchnitt des Aufenthaltes während
[29] der Roſenzeit im Asperhofe wurden abgehandelt.
Dann ſtanden wir auf, und trennten uns.
Und ſo wurde auch am ganzen Tage von dem
Verhältniſſe, in welches ich zu Natalien getreten war,
nichts geſprochen.
Wir fanden uns noch im Laufe des Vormittages
im Garten zuſammen. Mathilde zeigte mir einige
Veränderungen, welche ſie vorgenommen hatte. Meh¬
rere zu ſehr in geraden Linien gezogene geſchorne
Hecken, die ſich noch in einem abgelegenen Theile des
Gartens befunden hatten, waren beſeitigt worden
und hatten einer leichteren und gefälligeren Anlage
Plaz gemacht. Blumenbeete waren gezogen wor¬
den, und mehrere Pflanzen, welche man erſt kennen
gelernt hatte, welche mein Gaſtfreund ſehr liebte, und
unter denen ſich außerordentlich ſchöne befanden,
waren in eine Gruppe geſtellt worden. Mathilde
nannte ihre Namen, Natalie hörte aufmerkſam zu.
Am Nachmittage wurde ein Spaziergang gemacht.
Zuerſt beſuchten wir die Arbeiter, welche mit der
Hinwegſchaffung der Tünche von der Steinbekleidung
des Hauſes beſchäftigt waren, und ſahen eine Zeit
hindurch zu. Mathilde that mehrere Fragen, und
ließ ſich in Erörterungen über Dinge ein, die dieſe
[30] Angelegenheit betrafen. Dann gingen wir in einem
großen Bogen längs des Rückens der Anhöhen
herum, die zu einem Theile das Thal beherrſchen, in
dem das Schloß liegt. Wir kamen an dem Saume
eines Wäldchens vorüber, von dem man das Schloß
den Garten und die Wirthſchaftsgebäude ſehen
konnte, und gingen endlich durch den nördlichen Arm
desſelben Spazierweges in das Schloß zurück, in
deſſen ſüdlichem Theile ich heute Morgens mit Nata¬
lien gewandelt war.
Gegen Abend kam der Wagen mit den Wande¬
rern an.
Mein Gaſtfreund ſtieg zuerſt heraus, dann folgten
faſt gleichzeitig die übrigen jüngeren Männer. Ich
wurde von allen gegrüßt, und von allen getadelt, daß
ich ſo ſpät gekommen ſei. Man begab ſich in das ge¬
meinſchaftliche Geſellſchaftszimmer, und beſprach ſich
dort eine Weile, ehe man ſich in die Gemächer ver¬
fügen wollte, die für einen jeden beſtimmt waren.
Mein Gaſtfreund fragte mich, wo ich mich heuer
aufgehalten, und welche Theile des Gebirges ich
durchſtreift habe. Ich antwortete ihm, daß ich ihm
ſchon im Allgemeinen geſagt habe, daß ich an den
Simmigletſcher gehen werde, daß ich aber meinen
[31] beſonderen Wohnort im Kargrat aufgeſchlagen habe,
in dem mit dem Gebirgsſtocke gleichnamigen kleinen
Dörflein. Von da aus habe ich meine Streifereien ge¬
macht. Ich nannte ihm die einzelnen Richtungen,
weil er beſonders in der Gegend der Simmen ſehr
bekannt war. Euſtach ſprach über die ſchönen Natur¬
bilder, die in jenen Geſtaltungen vorkommen. Roland
ſagte, ich möchte doch auch einmal die Klamkirche, in
der ſie geweſen ſeien, beſuchen; die Zeichnungen werde
mir Euſtach ſchon zeigen, damit ich einen vorläufi¬
gen Überblick davon zu erlangen vermöge. Guſtav
grüßte mich einfach mit ſeiner Liebe und Freundſchaft,
wie er es immer gethan hatte. Auf die gelegentliche
Frage meines Gaſtfreundes, ob ich nun lange in der
Geſellſchaft meiner Freunde zu bleiben geſonnen ſei,
antwortete ich, daß mich eine wichtige Angelegen¬
heit vielleicht ſchon in ſehr kurzer Zeit fortführen
könnte.
Nach dieſen allgemeinen Geſprächen begaben ſich
die Reiſenden in ihre Zimmer, um die Spuren der
Reiſe zu beſeitigen, ſtaubige Kleider abzulegen, ſich
ſonſt zu erfriſchen, oder Mitgebrachtes in eine Ord¬
nung richten.
Wir ſahen uns erſt bei dem Abendeſſen wieder.
[32]
Dasſelbe war ſo heiter und freundlich, wie es im¬
mer geweſen war.
Am anderen Morgen nach dem Frühmahle ging
mein Gaſtfreund eine Zeit mit Mathilden im Garten
ſpazieren, dann kam er in mein Zimmer, und ſagte
zu mir: „Ihr habt Recht, und es iſt ſehr gut von
euch, daß ihr das, was euren hieſigen Freunden lieb
und angenehm iſt, euren Eltern und euren Angehö¬
rigen ſagen wollt.“
Ich erwiederte nichts, erröthete, und verneigte
mich ſehr ehrerbiethig.
Ich erklärte im Laufe des Vormittages, daß
ich, ſobald es nur immer möglich wäre, abreiſen
müßte. Man ſtellte mir Pferde bis zur nächſten Poſt
zur Verfügung, und nachdem ich mein kleines Gepäck
geordnet hatte, beſchloß ich, noch vor dem Mit¬
tage die Reiſe anzutreten. Man ließ es zu. Ich
nahm Abſchied. Die klaren heiteren Augen meines
Gaſtfreundes begleiteten mich, als ich von ihm hin¬
wegging. Mathilde war ſanft und gütig, Natalie
ſtand in der Vertiefung eines Fenſters, ich ging zu
ihr hin, und ſagte leiſe: „Liebe liebe Natalie, lebet
wohl.“
„Mein lieber theurer Freund, lebet wohl,“ antwor¬
[33] tete ſie ebenfalls leiſe, und wir reichten uns die
Hände.
Nach einem Augenblicke verabſchiedete ich mich
auch von den anderen, die, da ſie wußten, daß ich
abreiſen werde, in das Geſellſchaftszimmer gekommen
waren. Ich ſchüttelte Euſtach und Roland die Hände,
und empfing Guſtavs Kuß, welche innigere Art des
Bewillkommens und Scheidens ſchon ſeit längerer
Zeit zwiſchen uns üblich geworden war, und welche
mir heute ſo beſonders wichtig wurde.
Hierauf ging ich die Treppe hinab, und beſtieg
den Wagen.
Mathildens Pferde brachten mich auf die nächſte
Poſt. Dort ſendete ich ſie zurück, und nahm andere in
der Richtung nach dem Kargrat. Ich gönnte mir
wenig Ruhe. Als ich dort angekommen war, erklärte
ich meinen Leuten, daß Umſtände eingetreten wären,
welche die Fortſezung der heurigen Arbeiten nicht er¬
laubten. Ich entließ ſie alſo, händigte ihnen aber den
Lohn ein, den ſie bekommen hätten, wenn ſie mir in
der ganzen vertragsmäſſigen Zeit gedient hätten. Sie
waren hierüber zufrieden. Der Jäger und Zitherſpieler
war früher, ehe ich gekommen war, fortgegangen.
Wohin er ſich begeben habe, wußten die Leute ſelber
Stifter, Nachſommer. III. 3[34] nicht. Das Verhältniß mit meinen Arbeitern zu ord¬
nen, war mir das Wichtigſte auf meinem Arbeitsplaze
geweſen; deßhalb war ich hingereiſt. Ich hatte ihnen
vor meinem Beſuche im Asperhofe geſagt, daß ich
bald wieder kommen werde, hatte ihnen während
meiner Abweſenheit Arbeit aufgetragen, und hatte
ihnen Arbeit nach meiner Wiederkunft in Ausſicht ge¬
ſtellt. Dieſes mußte nun umgeändert werden. Da
es geſchehen war, gab ich meine Sachen im Kargrat
ſo in Verwahrung, daß ſie geſichert waren, und reiſte
ſogleich wieder ab. Ich hatte die Pferde, die ich von
dem lezten größeren Orte in das Kargrat mitgenom¬
men hatte, bei mir behalten, und fuhr jezt mit ihnen
wieder fort. Auf dem erſten Poſtamte verlangte ich
eigene Poſtpferde, und ſchlug die Richtung zu meinen
Eltern ein.
Als ich dort angekommen war, machte mein un¬
vermuthetes Erſcheinen beinahe den Eindruck des Er¬
ſtaunens. Alle Ereigniſſe waren ſo ſchnell gekommen,
daß, da einmal meine Abreiſe zu meinen Eltern feſt¬
geſezt war, ein Brief, der ſie von meiner Ankunft be¬
nachrichtigt hätte, wahrſcheinlich nicht früher zu ihnen
gekommen wäre als ich ſelbſt. Sie konnten ſich daher
nicht erklären, warum ich ohne vorhergegangene Be¬
[35] nachrichtigung nun im Sommer ſtatt im Herbſte
komme. Ich ſagte ihnen auf ihre Frage, daß aller¬
dings ein Grund zu meiner jezigen Heimreiſe vor¬
handen ſei, aber keineswegs ein unangenehmer, daß
ich in Ungeduld ſo ſchnell abgereiſt ſei, und daß ich
ihnen eine frühere Nachricht von meiner Ankunft nicht
habe zugehen laſſen können. Hierauf waren ſie be¬
ruhigt, und, wie es ihre Art war, fragten ſie mich
nun nicht nach meinem Grunde.
Am anderen Morgen, ehe der Vater in die
Stadt ging, begab ich mich zu ihm in das Bücher¬
zimmer, und ſagte ihm, daß ich zu Natalien der
Tochter der Freundin meines Gaſtfreundes ſchon ſeit
langer Zeit her eine Zuneigung gefaßt habe, daß
dieſe Neigung in mir verborgen geblieben, und daß
es mein Vorſaz geweſen ſei, ſie, wenn ſie ohne Aus¬
ſicht wäre, zu unterdrücken, ohne daß ich je zu irgend
jemanden ein Wort darüber ſagte. Nun habe aber
Natalie auch mich ihres Antheils nicht für unwerth
gehalten, ich habe davon nichts gewußt, bis ein Zu¬
fall, da wir von anderen weit entlegenen Dingen
ſprachen, die gegenſeitig unbekannte Stimmung zu
Tage brachte. Da haben wir nun einen Bund ge¬
ſchloſſen, daß wir uns unſere Neigung bewahren
3 *[36] wollen, ſo lange wir leben, und daß wir ſie in dieſer
Art nie einem anderen Weſen ſchenken würden. Natalie
habe verlangt, und mein Sinn ſtimmte dieſem Ver¬
langen vollkommen bei, daß wir unſeren Angehörigen
dieſe Thatſache mittheilen ſollten, damit wir uns un¬
ſeres Gutes durch ihre Zuſtimmung erfreuen, oder,
wenn von einem Theile die Billigung verſagt würde,
die Neigung zwar unverändert erhalten aber den per¬
ſönlichen Umgang aufheben. Da nun Nataliens An¬
gehörige nichts eingewendet haben, ſo ſei ich hier, um
die Sache meinen Eltern zu ſagen, und ihm ſage ich
ſie zuerſt, der Mutter würde ich ſie ſpäter mittheilen.
„Mein Sohn,“ antwortete er, „du biſt mündig,
du haſt das Recht Verträge abzuſchließen, und haſt
einen ſehr wichtigen abgeſchloſſen. Da ich dich genau
kenne, da ich dich ſeit einiger Zeit noch viel genauer
kennen zu lernen Gelegenheit hatte, als ich dich frü¬
her kannte, ſo weiß ich, daß deine Wahl einen Gegen¬
ſtand getroffen hat, der, wenn ihm auch gewiß wie
allen Menſchen Fehler eigen ſind, an Werth und
Güte entſprechen wird. Wahrſcheinlich hat er beide
Dinge in einem höheren Maße als die Menſchen, wie
ſie in größerer Menge jezt überall ſind. In dieſer
Meinung beſtärken mich noch mehrere Umſtände. Eure
[37] Neigung iſt nicht ſchnell entſtanden, ſondern hat ſich
vorbereitet, du haſt ſie überwinden wollen, du haſt
nichts geſagt, du haſt uns von Natalien wenig erzählt,
alſo iſt es kein haſtiges fortreißendes Verlangen, wel¬
ches dich erfaßt hat, ſondern eine auf dem Grunde der
Hochachtung beruhende Zuneigung. Bei Natalien iſt
es wahrſcheinlich auch ſo, weil, wie du geſagt haſt,
ihre Gegenneigung vorhanden war, ehe du ſie erkennen
konnteſt. Ferner hat bei deinem Gaſtfreunde die Ge¬
ſammtheit deines Weſens eine ſo entſchiedene Förderung
erhalten, du haſt nach manchem Beſuche bei ihm auch
ſo hervorragende Einzelheiten zurückgebracht, daß ihm
eine große Güte und Bildung eigen ſein muß, die
auf ſeine Umgebung übergeht. Ich habe nichts ein¬
zuwenden.“
Obgleich ich mir vorgeſtellt hatte, daß mein Vater
dem geſchloſſenen Bunde kein Hinderniß entgegen¬
ſtellen werde, ſo war ich doch bei dieſer Unterredung
beklommen und ernſt geweſen, ſo wie in der Haltung
meines Vaters eine tiefe Ergriffenheit nicht zu ver¬
kennen geweſen war. Jezt, da er geredet hatte, kam
in mein Herz eine Freudigkeit, die ſich auch in meinen
Augen und in meinen Mienen ausgedrückt haben
mußte. Mein Vater blickte mich gütig und freundlich
[38] an, und ſagte: „Du wirſt mit der Mutter von dieſem
Gegenſtande nicht ſo leicht ſprechen, ich werde deine
Stelle vertreten, und ihr von dem geſchloſſenen Bunde
erzählen, daß du ſchneller über die Mittheilung hin¬
wegkömmſt. Laſſe den Vormittag vergehen, nach dem
Mittageſſen werde ich die Mutter in dieſes Zimmer
bitten. Klotilde wird dann gelegentlich auch Kenntniß
von deinem Schritte erhalten.“
Wir verließen nun das Bücherzimmer. Mein Va¬
ter rüſtete ſich, in ſeine Geſchäftsſtube in die Stadt zu
gehen, wie er ſich jeden Morgen gerüſtet hatte. Als
er fertig war, nahm er von der Mutter Abſchied, und
ging fort. Der Vormittag verfloß, wie gewöhnlich
die Zeit nach meiner Ankunft verfloſſen war. Die
Mutter und Klotilde fragten nicht nach dem Grunde
meines ungewöhnlichen Zurückkommens, und gingen
ihren Geſchäften nach. Als das Mittagmahl vorüber
war, nahm der Vater die Mutter in das Bücherzimmer,
und blieb eine Weile mit ihr dort. Als ſie wieder zu
mir und Klotilden herauskamen, blickte ſie mich freund¬
lich an, ſagte aber nichts.
Sie ſezten ſich wieder zu uns, und wir blieben
noch eine Zeit an dem Tiſche ſizen.
Als wir aufgeſtanden waren, gingen wir in den
[39] Garten, welchen ich jezt durch eine Reihe von Jahren
nicht im Sommer geſehen hatte. Die Roſen, welche
hie und da zerſtreut waren, glichen nicht denen meines
Gaſtfreundes, waren aber auch nicht ſchlechter, als
die, welche ſich in dem Sternenhofe befanden. Der
Garten, welcher mir in meiner Kindheit immer ſo
lieb und traulich geweſen war, erſchien mir jezt klein
und unbedeutend, obwohl ſeine Blumen, die gerade
in dieſer Sommerzeit noch blühten, ſeine Obſtbäume
ſeine Gemüſe Weinreben und Pfirſichgitter nicht zu
den geringſten der Stadt gehörten. Es zeigte ſich nur
eben der Unterſchied eines Stadtgartens und des
Gartens eines reichen Landbeſizers. Man wies mir
alles, was man für wichtig erachtete, und machte
mich auf alle Veränderungen aufmerkſam. Man ſchien
ſich gleichſam zu freuen, daß man mich doch einmal zu
Anfang der heißeren Jahreszeit hier habe, während
ich ſonſt nur immer am Beginne der kälteren gekom¬
men war, wenn die Blätter abfielen, und der Garten
ſich ſeines Schmuckes entäußerte. Gegen den Abend
ging der Vater wieder in die Stadt. Wir blieben in
dem Garten. Da ſich in einem Augenblicke die Schwe¬
ſter mit dem Aufbinden eines Rebenzweiges beſchäf¬
tigte, und ich mit der Mutter allein an dem Marmor¬
[40] brunnen der Einbeere ſtand, in welchen das köſtliche
helle Waſſer nieder rieſelte, ſagte ſie zu mir: „Ich
wünſche, daß jedes Glück und jeder Segen vom Him¬
mel dich auf dem ſehr wichtigen Schritte begleiten möge,
den du gethan haſt, mein Sohn. Wenn du auch ſorg¬
ſam gewählt haſt, und wenn auch alle Bedingungen
zum Gedeihen vorhanden ſind, ſo bleibt der Schritt
doch ein ſchwerer und wichtiger; noch ſteht das Zuſam¬
menfinden und das Einleben in einander bevor.“
„Möge es uns Gott ſo gewähren, wie wir glau¬
ben es erwarten zu dürfen,“ antwortete ich, „ich
wollte auch kein Glück gründen, ohne daß ich meine
Eltern darum fragte, und ohne daß ihr Wille mit
dem meinigen übereinſtimmte. Zuerſt mußte wohl
Gewißheit geſucht werden, ob ſich die Neigungen zu¬
ſammen gefunden hätten. Als dieſes erkannt war,
mußte der Sinn und die Zuſtimmung der Angehörigen
erforſcht werden, und deßhalb bin ich hier.“
„Der Vater ſagt,“ erwiederte ſie, „daß alles recht
iſt, daß der Weg ſich ebnen wird, und daß jene Dinge,
die in jeder Verbindung und alſo auch in dieſer im
Anfange ungefügig ſind, hier eher ihre Gleichung fin¬
den werden als irgendwo. Wenn er es aber auch nicht
geſagt hätte, ſo wüßte ich es doch. Du biſt unter
[41] ſo vortrefflichen Leuten geweſen, du würdeſt auch ohne
dem nicht unwürdig gewählt haben, und haſt du ge¬
wählt, ſo iſt dein Geiſt gut, und wird ſich in Kürze
in ein Frauenherz finden, wie auch ſie ihr Leben in
dem deinigen finden wird. Es ſind nicht alle es ſind
nicht viele Verbindungen dieſer Art glücklich; ich
kenne einen großen Theil der Stadt, und habe auch
einen nicht zu kleinen Theil des Lebens beobachtet.
Du haſt im Grunde nur unſere Ehe geſehen: möge
die deinige ſo glücklich ſein, als es die meine mit
deinem ehrwürdigen Vater iſt.“
Ich antwortete nicht, es wurden mir die Au¬
gen naß.
„Klotilde wird jezt einſam ſein,“ fuhr die Mutter
fort, „ſie hat keine andere Neigung als unſer Haus
als Vater und Mutter und als dich.“
„Mutter,“ antwortete ich, „wenn du Natalien ſehen
wirſt, wenn du erfahren wirſt, wie ſie einfach und
gerecht iſt, wie ihr Sinn nach dem Gültigen und
Hohen ſtrebt, wie ſie ſchlicht vor uns allen wandelt,
und wie ſie viel viel beſſer iſt als ich, ſo wirſt du nicht
mehr von einer Vereinſamung ſprechen ſondern von
einer Verbindung, Klotilde wird um eines mehr haben
als jezt, und du und der Vater werdet um eines mehr
[42] haben. Aber auch Mathilde mein Gaſtfreund und
der Kreis jener trefflichen Menſchen wird in eure
Verbindung gezogen werden, ihr werdet zu ihnen
hingezogen werden, und was bis jezt getrennt war,
wird Einigung ſein.“
„Ich habe mir es ſo gedacht, mein Sohn,“ ant¬
wortete die Mutter, „und ich glaube wohl, daß es ſo
kommen wird; aber Klotilde wird die Art ihrer Nei¬
gung zu dir umwandeln müſſen, und möge das alles
mit gelindem Kelche vorübergehen.“
Zu dem Ende dieſer Worte war auch Klotilde
herzu gekommen. Sie brachte mir eine Roſe, und
ſagte mit heiteren Mienen, daß ſie mir dieſelbe blos
darum gebe, um mir einen kleinen Erſaz für alle die
Roſen zu biethen, welche ich heuer im Asperhofe durch
meine Hieherreiſe verſäumt habe.
Mir fiel es bei dieſen Worten erſt auf, daß im
väterlichen Garten die Roſen blühten, während ſie
doch in dem höher gelegenen und einer rauheren Luft
ausgeſezten Asperhofe ſchon verblüht waren. Ich
ſprach davon. Man fand den Grund bald heraus.
Die Asperhofroſen waren den ganzen Tag der Sonne
ausgeſezt, mochten auch beſſer gepflegt werden und
einen beſſeren Boden haben, während hier theils durch
[43] Bäume, die man des kleineren Raumes wegen enger
ſezen mußte, theils durch die Mauern näherer und
entfernterer Häuſer vielfältig Schatten entſtand.
Ich nahm die Roſe, und ſagte, Klotilde würde
meinem Gaſtfreunde einen ſchlechten Dienſt thun,
wenn ſie in ſeinem Garten eine Roſe pflückte.
„Dort würde ich nicht den Muth dazu haben,“
antwortete ſie.
Wir blieben nun eine Weile bei dem Marmor¬
waſſerwerke ſtehen. Klotilde zeigte mir, was der
Vater im Frühlinge habe machen laſſen, zum Theile,
um den Waſſerzug noch mehr zu ſichern, zum Theile,
um Verſchönerungen anzubringen. Ich ſah, wie treff¬
lich und zweckmäßig er die Dinge hatte zubereiten
laſſen, und wie ſehr ich von ihm lernen könne. Ich
freute mich ſchon auf die Zeit, die nicht mehr ferne
ſein konnte, in welcher der Vater mit meinem Gaſt¬
freunde zuſammen kommen würde.
Als wir von dem Waſſerwerke weg gingen, führte
mich Klotilde nun zu dem Plaze, von welchem eine
Ausſicht in die Gegend geboten iſt, und den man mit
einer Bruſtwehr zu verſehen beſchloſſen hatte. Die
Bruſtwehr war ſchon zum Theile fertig. Sie war auf¬
gemauert, war mit den von mir gebrachten Marmor¬
[44] platten belegt, und war ſeitwärts mit Marmor be¬
kleidet, den ſich der Vater verſchafft hatte. Auch meine
Simſe und Tragſteine waren verwendet. Ich ſah aber,
daß noch vieles an Marmor fehlte, und verſprach,
daß ich ſuchen werde, zu Stande zu bringen, daß die
ganze Bruſtwehr aus gleichartigen Stücken und in
gleicher Weiſe könne hergeſtellt werden.
„Du ſiehſt, daß wir auch in der Ferne deiner den¬
ken, und dir etwas Angenehmes zu bereiten ſtreben,“
ſagte Klotilde.
„Ich habe ja nie daran gezweifelt,“ antwortete ich,
„und denke auch eurer, wie meine Briefe beweiſen.“
„Du ſollteſt doch wieder einmal einen ganzen
Sommer hier bleiben,“ ſagte ſie.
„Wer weiß, was geſchieht,“ erwiederte ich.
Als die Dunkelheit bereits mit ihrer vollen Macht
hereinzubrechen anfing, kam der Vater wieder aus der
Stadt, und wir nahmen unſer Abendeſſen in dem
Waffenhäuschen. Da ſehr lange Tage waren, und
da es nach dem Eintreten der völligen Finſterniß ſchon
ziemlich ſpät war, ſo konnten wir nach dem Speiſen
nicht mehr ſo lange in dem Häuschen mit den gläſer¬
nen Wänden beim Brennen der traulichen Lichter
ſizen bleiben, wie in dem Herbſte, wenn ich nach einer
[45] langen Sommerarbeit wieder zu den Meinigen zurück¬
gekehrt war. Auch hatte man heute in dem lauen
Abende mehrere der Glasabtheilungen geöffnet, der
Eppich flüſterte in einem gelegentlichen Luftzuge, und
die Flamme im Innern der Lampe wankte unerfreulich.
Wir trennten uns, und ſuchten unſere Ruhe.
Am anderen Tage am früheſten Morgen kam
Klotilde zu mir. Als ich auf ihr Pochen geöffnet
hatte, und ſie eingetreten war, verkündigte ihr An¬
geſicht, daß die Mutter über meine Angelegenheit mit
ihr geſprochen habe. Sie ſah mich an, ging näher,
fiel mir um den Hals, und brach in einen Strom
von Thränen aus. Ich ließ ihr ein Weilchen freien
Lauf, und ſagte dann ſanft: „Klotilde, wie iſt
dir denn?“
„Wohl und wehe,“ antwortete ſie, indem ſie ſich
von mir zu einem Size führen ließ, auf den ich
mich neben ihr niederließ.
„Du weißt nun alſo alles?“
„Ich weiß alles. Warum haſt dun mir es den
nicht früher geſagt?“
„Ich mußte doch vorher mit den Eltern ſprechen,
und dann, Klotilde, hatte ich gegen dich gerade den
wenigſten Muth.“
[46]
„Und warum haſt du nicht in früheren Sommern
etwas geſagt?“
„Weil nichts zu ſagen war. Es iſt erſt jezt zu gegen¬
ſeitiger Kenntniß gekommen, und da bin ich hergeeilt,
mich den Meinigen zu offenbaren. Als das Gefühl
nur das meine war, und die Zukunft ſich noch ver¬
hüllte, dürfte ich nicht reden, weil es mir nicht männ¬
lich ſchien, und weil die Empfindung, die vielleicht
in Kurzem gänzlich weggethan werden mußte, durch
Worte nicht geſteigert werden durfte.“
„Ich habe es immer geahnt,“ ſagte Klotilde, „und
habe dir immer das höchſte und größte Glück ge¬
wünſcht. Sie muß ſehr gut ſehr lieb ſehr treu ſein.
Ich habe nur das Verlangen, daß ſie dich ſo liebt
wie ich.“
„Klotilde,“ antwortete ich, „du wirſt ſie ſehen, du
wirſt ſie kennen lernen, du wirſt ſie lieben; und wenn
ſie mich dann auch nicht mit der in der Geburt ge¬
gründeten ſchweſterlichen Liebe liebt, ſo liebt ſie mich
mit einer anderen, die auch mein Glück dein Glück
das Glück der Eltern vermehren wird.“
„Ich habe oft gedacht, wenn du von ihr erzählteſt,
wie wenig du auch ſagteſt, und gerade, weil du wenig
ſagteſt,“ fuhr ſie fort, „daß ſich etwa da ein Band ent¬
[47] wickeln könnte, daß es ſehr zu wünſchen wäre, daß
du ihre Neigung gewänneſt, und daß daraus eine
beſſere Einigung entſtehen könnte als durch die Ver¬
bindung mit einem Mädchen unſerer Stadt oder mit
einem anderen.“
„Und nun iſt es ſo,“ erwiederte ich.
„Warum haſt du denn nie ein Bild von ihr ge¬
malt ?“ fragte ſie.
„Weil ich ſie eben ſo wenig oder noch weniger
darum bitten konnte als dich oder die Mutter oder
den Vater. Ich hatte nicht das Herz dazu,“ ant¬
wortete ich.
„Nun ſei recht glücklich, ſei zufrieden bis in dein
höchſtes Alter, und bereue nie, auch nicht im geringſten,
den Schritt, den du gethan haſt,“ ſagte ſie.
„Ich glaube, daß, ich ihn nie bereuen werde, und
ich danke dir innig für deine Wünſche, meine theure
meine geliebte Klotilde,“ erwiederte ich.
Sie trocknete ihre Thränen mit dem Tuche, ord¬
nete gleichſam ihr ganzes Weſen, und ſah mich
freundlich an.
„Wer wird jezt mit mir zeichnen ſpaniſche Bücher
leſen Zither ſpielen, wem werde ich alles ſagen, was
mir in das Herz kömmt?“ ſprach ſie nach einer Weile.
[48]
„Mir, Klotilde,“ erwiederte ich, „alles, was ich
früher war, werde ich dir bleiben. Leſen zeichnen
Zitherſpielen wirſt du mit Natalien; auch mittheilen
wirſt du dich ihr, und mit ihr wirſt du das alles
vollführen, was du bisher mit mir vollführt haſt.
Lerne ſie nur erſt kennen, und du wirſt begreifen, daß
es wahr iſt, was ich ſage.“
„Ich möchte ſie gerne ſehr bald ſehen,“ ſagte ſie.
„Du wirſt ſie bald ſehen,“ antwortete ich, „es
muß ſich jezt eine Verbindung unſerer Familie mit
jenen Menſchen, bei denen ich bisher ſo häufig gewe¬
ſen bin, anknüpfen; ich wünſche ſelber, daß du ſie
bald ſehr bald ſeheſt.“
„Bis dahin aber mußt du mir ſehr viel von ihr
erzählen, und wenn es möglich iſt, mußt du mir ein
Bild von ihr bringen,“ ſagte ſie.
„Ich werde dir erzählen,“ antwortete ich, „jezt, da
wir einmal von der Sache geſprochen haben, werde
ich dir ſehr gerne erzählen, ich werde mit dir leichter
von dem Bunde reden als mit ihr ſelber. Ob ich dir
ein Bild werde bringen oder ſchicken können, weiß ich
nicht; wenn es möglich iſt, werde ich es thun. Aber
es wird nur in dem Falle ſein können, wenn ein Bild
von ihr da iſt, und man es mir oder eine Abbildung
[49] davon überläßt. Behalte es dann, bis du mit ihr
ſelber zuſammen kömmſt, und wir in freundlicher
Verbindung mit einander leben. Endlich aber, Klo¬
tilde . . .“
„Endlich?“
„Endlich wird doch auch die Zeit kommen, in
welcher du von uns ausſcheiden wirſt, zwar nicht mit
deinem Geiſte, wohl aber mit einem Theile deiner
Beziehungen, wenn nehmlich auch du eine tiefere
Verbindung eingehſt.“
„Nie, nie werde ich das thun,“ rief ſie beinahe
heftig, „nein, ich könnte ihm zürnen, ihm, der mein
Herz hier wegführen würde. Ich liebe nur den Vater
die Mutter und dich. Ich liebe dieſes ſtille Haus und
alle, die berechtigt in demſelben aus und ein gehen,
ich liebe das, was es enthält, und die Dinge, die ſich
in ihm allmählich geſtalten, ich werde Natalien und
ihre Angehörigen lieben, aber nie einen Fremden,
der mich von euch ziehen wollte.“
„Er wird dich aber von uns ziehen, Klotilde,“
ſagte ich, „und du wirſt doch da bleiben, er wird be¬
rechtigt ſein, hier aus und ein zu gehen, er wird ein
Ding ſein, das ſich in dem Hauſe allmählich geſtaltet,
und du wirſt vielleicht nicht von Vater und Mutter
Stifter, Nachſommer. III. 4[50] gehen dürfen, gewiß aber wird kein Zwang ſein, daß
du ſie oder mich weniger lieben müſſeſt.“
„Nein, nein, rede mir nicht von dieſen Dingen,“
erwiderte ſie, „es peinigt mich, und zerſtört mir das
Herz, das ich dir mit großer Theilnahme in der
Morgenſtunde habe bringen wollen.“
„Nun, ſo reden wir nicht mehr davon, Klotilde,“
ſagte ich, „ſei nur beruhigt, und bleibe bei mir.“
„Ich bleibe ja bei dir,“ antwortete ſie, „und ſprich
freundlich zu mir.“
Sie hatte die lezte Spur der Thränen von ihrem
Angeſichte vertilgt, ſie ſezte ſich auf dem Size neben
mir noch mehr zurecht, und ich mußte mit ihr ſprechen.
Sie fragte mich von neuem um Natalien, wie ſie
ausſehe, was ſie thue, wie ſie ſich zu ihrer Mutter
ihrem Bruder und zu meinen Gaſtfreunde verhalte.
Ich mußte ihr erzählen, wann ich ſie zum erſten Male
geſehen habe, wann ich in dem Sternenhofe geweſen
ſei, wann ſie den Asperhof beſucht habe, wann ein
Ahnungsgefühl in mein Herz gekommen, wie es dort
gewachſen ſei, wie ich mit mir gekämpft habe, was dann
gekommen ſei, und wie es ſich gefügt habe, daß wir
endlich die Worte zu einander gefunden haben.
Ich erzählte ihr gerne, ich erzählte ihr immer
[51] leichter, und je mehr ſich die Worte von dem Herzen
löſeten, deſto ſüßer wurde mein Gefühl. Ich hatte
nicht geglaubt, daß ich von dieſem meinen innerſten
Weſen zu irgend jemanden ſprechen könnte; aber
Klotildens Seele war der einzige liebe Schrein, in
welchem ich das Theure niederlegen konnte.
Wir blieben ſehr lange ſizen, immer fragte mich
Klotilde wieder um Neues und wieder um Altes. Da
kam die Mutter in meine Stube. Da ſie uns in ver¬
traulichem Geſpräche ſizen fand, ſezte ſie ſich auch zu
dem Tiſche, der vor mir und Klotilden ſtand, und
ſagte nach einer kurzen Weile, daß ſie gekommen ſei,
uns zum Frühmahle zu holen. Sie hätte Klotilden
nirgends geſehen, und hätte gemeint, daß ſie an die¬
ſem Morgen bei mir ſein müſſe.
„Meine geliebten Kinder,“ fuhr ſie fort, „bewahrt
euch eure Liebe, entfremdet euch nie eure Herzen, und
bleibt euch in allen Lagen zugewandt, wie ihr euch
jezt und wie ihr den Eltern zugewandt ſeid; dann
werdet ihr einen Schaz haben, der einer der ſchönſten
im Leben iſt, und der ſo oft verkannt wird. Ihr wer¬
det in eurer Vereinigung ſittlich ſtark ſein, ihr werdet
die Freude eures Vaters bilden und mir werdet ihr
das Glück meines Alters ſein.“
4 *[52]
Wir antworteten nichts auf dieſe Rede, weil uns
ihr Inhalt ſo natürlich war, und folgten der Mutter
aus dem Zimmer.
Der Vater harrte ſchon unſer in dem Speiſege¬
mache, und da jezt die Urſache meiner unvermutheten
Nachhauſekunft allen bekannt war, und keines ſich
dagegen erklärte, ſo ſprachen wir nun unverholen
gemeinſchaftlich von der Angelegenheit. Die Eltern
hegten die beſten Erwartungen von dem neuen Bunde,
und freuten ſich der Übereinſtimmung zwiſchen mir
und der Schweſter. Ich mußte ihnen nun, wie ich es
ſchon gegen Klotilde gethan hatte, noch mehreres von
Natalien erzählen, wie ſie ſei, was ſie thue, wohin
ſich ihre Bildung neige, und wie ſie ihre Jugend
könne zugebracht haben. Auch von Mathilden und dem
Sternenhofe ſo wie von dem Asperhofe und meinem
Gaſtfreunde mußte ich noch Manches nachholen, was
das Bild ergänzen ſollte, welches ſich die Meinigen
von den dortigen Verhältniſſen machten. Ich ſagte
ihnen auch, daß ein günſtiges Geſchick hier walte, da
gerade Natalie jenes Mädchen geweſen ſei, welches
einmal bei der Aufführung des „König Lear“ in einer
Loge neben mir ſo ergriffen geweſen ſei, welches mir
großen Antheil eingeflößt, und mich, der ich den
[53] Schmerz im Trauerſpiele getheilt hätte, im Heraus¬
gehen gleichſam zum Danke freundlich angeblickt habe.
Erſt in lezter Zeit ſei das aufgeklärt worden.
Der Vater ſagte, daß die Familien, die durch
längere Zeit gleichſam durch ein unſichtbares Band
verbunden geweſen waren, durch das Band der gei¬
ſtigen Entwicklung ſeines Sohnes und des Verkehrs
desſelben mit beiden Theilen, auch in der Wirklichkeit
ſich nähern, ſich kennen lernen, und in eine Verbin¬
dung treten werden.
Die Mutter entgegnete, das ſei jezt die dringendſte
Veranlaſſung, ja es ſei nicht nur eine geſellſchaftliche
ſondern ſogar eine Familienpflicht, daß der Vater,
welcher, je älter er werde, mit einer deſto wärmeren
Ausdauer, welche unbegreiflich iſt, ſich an ſeine
Arbeitsſtube kette, nun endlich einmal ſich den Ge¬
ſchäften entreiße, eine Reiſe mache, und ſich in
derſelben nur mit heiteren und ſchönen Dingen
beſchäftige.
„Nicht nur ich werde eine Reiſe machen,“ antwor¬
tete er, „ſondern auch du und Klotilde. Wir werden
die Menſchen dort, welche meinen Sohn ſo freundlich
aufgenommen haben, beſuchen. Aber auch ſie werden
eine Reiſe machen; denn auch ſie werden zu uns in
[54] die Stadt kommen, und in dieſen Zimmern verweilen.
Wann aber dieſe Reiſen ſtattfinden werden, läßt ſich
jezt noch gar nicht beurtheilen. Jedenfalls muß unſer
Sohn zuerſt allein wieder hinreiſen, und muß die
Einwilligung ſeiner Familie überbringen. Seinem
Ermeſſen und hauptſächlich den Rathſchlägen ſeines
älteren Freundes wird es dann anheimgegeben ſein,
wie die Sachen im weiteren Verlaufe ſich entwickeln
ſollen. Die Reiſe unſeres Sohnes muß aber ſogleich
geſchehen; denn ſo fordert es die neue Pflicht, die er
eingegangen iſt. Wir werden abwarten, welche Nach¬
richten er uns von ſeiner Ankunft im Sternenhofe
zuſenden, oder welche Meinung er uns ſelber über¬
bringen wird.“
„Die Reiſe, mein Vater,“ entgegnete ich, „wünſche
ich, ſo bald es nur möglich iſt, anzutreten, am liebſten
ſogleich morgen oder wenn ein Aufſchub ſein muß,
doch übermorgen.“
„Es wird nicht verſpätet ſein, wenn du übermor¬
gen reiſeſt, da ſich doch noch Einiges zum Beſprechen
ergeben kann,“ antwortete er.
Klotilde äußerte ihre Freude daß einmal alle eine
Reiſe antreten würden.
„Und für den guten Vater könnte nun öfter der
[55] Anlaß gegeben ſein,“ ſagte die Mutter, „daß er in
das Freiere und Weitere komme, daß er reine Luft
athme, und Berg und Wald und Feld betrachte.“
„Ich werde doch, einmal, meine liebe Thereſe,
mein Buch abſchließen,“ erwiederte der Vater, „und es
wird für mich der Stillſtand der Geſchäfte eintreten.
Sie mögen in andere Hände übergehen, oder ſich
ganz auflöſen. Dann wird es Zeit ſein, im Anblicke
von Berg Wald und Feld ein Haus zu miethen oder
zu bauen, daß wir im Sommer dort und im Winter
hier wohnen, wenn wir nicht gar lieber auch manchen
Winter draußen bleiben wollen.“
„So haſt du oft geſagt,“ antwortete die Mutter,
„aber es iſt nicht geſchehen.“
„Wenn Zeit und Ort darnach angethan ſind, wird
es geſchehen,“ erwiederte er.
„Wenn dann noch deine Geſundheit und dein
geiſtiges Weſen davon den gewünſchten Nuzen ziehen,“
ſagte die Mutter, „werde ich jeden Winter preiſen,
welchen wir mitten in irgend einem Lande zubringen.“
„Es wird ſich vieles ereignen, woran wir jezt
nicht denken,“ antwortete der Vater.
Wir ſtanden von dem Frühmahle auf, und jedes
ging an ſeine Geſchäfte.
[56]
Im Laufe des Vormittages ließ mich die Mutter
wieder zu ſich bitten, und fragte mich, wie ich es
denn zu halten gedenke, wo ich mit Natalien wohnen
wolle. Es ſei in dem Hauſe Plaz genug, nur müßte
alles gerichtet werden. Auch ſeien viele andere Dinge
zu ordnen, beſonders meine Kleider, in denen ich doch
nun anders ſein müſſe. Sie wünſche meine Meinung
zu hören, damit man zu rechter Zeit beginnen könne,
um noch fertig zu werden.
Ich ſagte, daß ich in der That auf dieſe Angele¬
genheit nicht gedacht habe, daß ihre Erwägung wohl
noch Zeit habe, und daß wir vor Allem den Vater
um Rath fragen ſollten.
Sie war damit einverſtanden.
Als wir nach dem Mittagseſſen den Vater frag¬
ten, war er meiner Meinung, daß es noch zu frühe
ſei, an dieſe Dinge zu denken. Es würde ſchon zu
rechter Zeit geſchehen, daß alles, was noth thue, in
Ordnung geſezt werden könne. Jezt ſeien andere
Dinge zu beſprechen und zu bedenken. Wenn es an
der Zeit ſei, werde es die Mutter erfahren, daß ſie
alle ihre Maßregeln ausreichend treffen könne.
Sie war damit zufrieden.
Nachmittags fragte ich in der Stadt im Hauſe
[57] der Fürſtin an, und erfuhr, daß dieſelbe zufällig auf
mehrere Tage anweſend ſei. Sie habe die Abſicht
nach Riva zu gehen, um dort einige Wochen an den
Ufern des blauen Gardaſees zu verleben. Sie ſei jezt
eben damit beſchäftigt, die Vorbereitungen zu dieſer
Reiſe zu machen. Ich ließ anfragen, wann ich ſie
ſprechen könnte, und wurde auf den nächſten Tag
um zwölf Uhr beſtellt.
Ich nahm zu dieſer Zeit eine Mappe mit einigen
meiner Arbeiten zu mir, und verfügte mich in ihre
Wohnung. Nach den freundlichen Empfangsworten
drückte ſie ihre Verwunderung aus, mich jezt hier zu
finden. Ich gab die Verwunderung für ihre Perſon
zurück. Sie führte mir als Grund ihre beabſichtigte
Reiſe an, und ich ſagte, daß plözlich gekommene An¬
gelegenheiten meinen Sommeraufenthalt unterbro¬
chen, und mich in die Stadt geleitet hätten.
Sie fragte mich um meine Arbeiten während der
Zeit meiner Abweſenheit.
Ich erklärte ihr dieſelben. Als ich von dem
Simmigletſcher ſprach, nahm ſie beſonderen Antheil,
weil ihr dieſes Gebirge aus früherer Zeit her bekannt
war. Ich mußte ihr genau beſchreiben, und zeigen,
wo wir geweſen, und was wir gethan haben. Ich zog
[58] die Zeichnungen, die ich in Farben von den Eisfeldern
ihren Einränderungen ihrer Einbuchtung ihrer Ab¬
gleitung und ihres oberen Urſprunges gemacht hatte,
und in meiner Mappe mit mir trug, hervor, und
breitete ſie vor ihr aus. Sie ließ ſich jedes auch das
kleinſte an dieſen Zeichnungen beſchreiben und erklären.
Ich mußte ihr auch verſprechen, bei nächſter günſtiger
Gelegenheit meine Zeichnung von dem Grunde des
Lauterſees ihr vorzulegen und auf das Genaueſte zu
erörtern. Es ſei ihr dies doppelt wünſchenswerth,
weil ſie jezt ſelber zu einem See reiſe, der einer der
merkwürdigſten des ſüdlichen Alpenabhanges ſei. Hier¬
auf befragte ſie mich um meine anderen Beſtrebungen
auf dem Gebiete der bildenden Kunſt, worauf ich er¬
wiederte, daß ich heuer außer den Gletſcherzeichnungen,
die doch wieder faſt nur wiſſenſchaftlicher Natur ſeien,
nichts hatte machen können, weder in Landſchaften
noch in Abbildung menſchlicher Köpfe.
„Wenn ihr ein ſehr ſchönes jugendliches Angeſicht
abbilden wollt,“ ſagte ſie, „ſo müſſet ihr ſuchen, das
Angeſicht der jungen Tarona abbilden zu dürfen.
Ich bin alt, habe viel erfahren, habe ſehr viele
Menſchen geſehen und betrachtet, aber es iſt mir
wenig vorgekommen, das edler, einnehmender und
[59] liebenswürdiger geweſen wäre, als die Züge der
Tarona.“
Ich erröthete ſehr tief bei dieſen Worten.
Sie richtete die klaren lieben Augen auf mich,
lächelte ſehr fein, und ſagte: „Haltet ihr etwa ſchon
jemanden für das Schönſte?“
Ich antwortete nicht, und ſie ſchien auch eine
Antwort nicht zu erwarten. Von Natalien konnte ich
ihr nichts ſagen, da die Sache nicht ſo weit gediehen
war, um ſie andern verkündigen zu können.
Wir brachen ab, ich verabſchiedete mich bald, ſie
reichte mir gütig die Hand, welche ich küßte, und lud
mich ein, ja im künftigen Winter ſehr bald von dem
Gebirge zurück zu kommen, da auch ſie ſehr bald in
der Stadt einzutreffen gedenke.
Ich antwortete, daß ich über jenen Zeitpunkt jezt
durchaus nicht zu verfügen im Stande ſei.
Am zweiten Tage Morgens ſtand ich reiſefertig
in meinem Zimmer. Der Wagen war vor das Haus
beſtellt worden. Ich hatte mir es nicht verſagen kön¬
nen, in einem beſonderen Wagen ſo ſchnell als mög¬
lich in den Sternenhof zu fahren. Vater Mutter und
Schweſter waren in dem Speiſezimmer, um von mir
Abſchied zu nehmen. Ich begab mich auch in dasſelbe,
[60] und wir nahmen ein kleines Frühmahl ein. Nach dem¬
ſelben ſagte ich Lebewohl.
„Gott ſegne dich, mein Sohn,“ ſprach die Mutter,
„Gott ſegne dich auf deinem Wege, er iſt der ent¬
ſcheidende, du biſt nie einen ſo wichtigen gegangen.
Wenn mein Gebet und meine Wünſche etwas vermö¬
gen, wirſt du ihn nicht bereuen.“
Sie küßte mich auf den Mund, und machte mir
das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn.
Der Vater ſagte: „Du haſt von deiner frühen
Jugend an erfahren, daß ich mich nicht in deine An¬
gelegenheiten menge; handle ſelbſtſtändig, und trage
die Folgen. Wenn du mich frägſt, wie du jezt gethan
haſt, ſo werde ich dir immer beiſtehen, in ſo weit es
meine größere Erfahrung vermag. Aber einen Rath
möchte ich dir doch in dieſer wichtigen Angelegenheit
geben, oder vielmehr nicht einen Rath geben, ſon¬
dern deine Aufmerkſamkeit möchte ich auf einen Um¬
ſtand leiten, auf den du vielleicht in der Befangenheit
dieſer Tage nicht gedacht haſt. Ehe du das ernſte
Band ſchließeſt, iſt noch Manches für dich nothwen¬
dig, deinen Geiſt und dein Gemüth zu ſtärken und zu
feſtigen. Eine Reiſe in die wichtigſten Städte Eu¬
ropas und zu den bedeutendſten Völkern iſt ein ſehr
[61] gutes Mittel dazu. Du kannſt es, deine Vermö¬
genslage hat ſich ſehr gebeſſert, und ich lege wohl
auch etwas dazu, wie ich überhaupt mit dir Abrech¬
nung halten muß.“
Ich war ſehr bewegt, und konnte nicht ſprechen.
Ich nahm den Vater nur bei der Hand, und dankte
ihm ſtumm.
Klotilde nahm mit Thränen Abſchied, und ſagte
leiſe, als ich ſie an mich drückte: „Gehe mit Gott, es
wird Alles recht ſein, was du thuſt, weil du gut biſt,
und weil du auch klug biſt.“
Ich ſprach die Hoffnung aus, daß ich bald wieder
kommen werde, und ging die Treppe hinab.
Meine Reiſe war ſehr ſchnell, weil überall die
Pferde ſchon beſtellt waren, weil ich nirgends ſchlief,
und zum Eſſen nur die kürzeſte Zeit verwendete.
Als ich im Sternenhofe in das Zimmer Mathil¬
dens trat, kam ſie mir entgegen, und ſagte: „Seid
willkommen, es iſt Alles, wie ich gedacht habe; denn
ſonſt wäret ihr nicht zu mir ſondern zu unſerm
Freunde gekommen.“
„Meine Angehörigen ehren euch, ehren unſeren
Freund, und glauben an unſer Glück und an unſere
Zukunft,“ erwiederte ich.
[62]
„Seid willkommen, Natalie,“ ſagte ich, als dieſe
gerufen worden und in das Zimmer getreten war, „ich
bringe freundliche Grüße von den Meinigen.“
„Seid willkommen,“ antwortete ſie, „ich habe
immer gehofft, daß es ſo geſchehen, und daß eure
Abweſenheit ſo kurz ſein wird.“
„Meine Hoffnung war wohl auch dieſelbe,“ erwie¬
derte ich, „aber jezt iſt alles klar, und jezt iſt völlige
Beruhigung vorhanden.“
Wir blieben bei Mathilden, und ſprachen einige
Zeit mit einander.
Am zweiten Tage nach meiner Ankunft reiſte ich
zu meinem Gaſtfreunde. Mathilde hatte mir einen
Wagen und Pferde mit gegeben.
Als ich in das Schreinerhaus gekommen war, in
welchem ſich mein Gaſtfreund bei meiner Ankunft be¬
fand, reichte er mir die Hand, und ſagte: „Ich bin
von eurer Rückkunft bereits benachrichtigt; man hat
mir von dem Sternenhofe gleich nach eurem Eintreffen
in demſelben geſchrieben.“
Euſtach ſah mich ſeltſam an, ſo daß ich vermu¬
thete, er wiſſe auch bereits von der Sache.
Wir gingen nun in das Haus und man öffnete
mir meine gewöhnliche Wohnung. Guſtav kam nach
[63] einer Weile zu mir herauf, und konnte ſeiner Freude
beinahe kein Ende machen, daß alles ſei, wie es iſt.
Mein Gaſtfreund hatte ihm die Thatſache erſt heute
eröffnet. Er ſprach ohne Rückhalt aus, daß ihm die
Sache ſo weit weit lieber ſei, als wenn Tillburg ſeine
Schweſter aus dem Hauſe geführt hätte, deſſen Wille
wohl immer dahin gerichtet geweſen wäre.
2.
Das Vertrauen.
Ich blieb einige Zeit bei meinem Gaſtfreunde,
theils weil er es ſelber verlangte, theils, um jene
Ruhe zu gewinnen, die ich ſonſt immer hatte, und
die ich brauchte, um in meinen Beſtrebungen klar zu
ſehen, und ſie nach gemachter Einſicht zu ordnen.
Die Leute blickten mich fragend oder verwundert
an. Vermuthlich hatte es ſich ausgebreitet, in welche
Beziehung ich zu Perſonen getreten bin, welche
Freunde des Hauſes ſind, und welche oft in dasſelbe
als Beſuchende kommen. Nirgends aber trat mir der
Anſchein entgegen, als ob man mir das Verhältniß
mißgönnte, oder es mit ungünſtigen Augen anſähe.
Im Gegentheile, die Leute waren faſt freundlicher
und dienſtwilliger als vorher. Ich kam in das
[65] Gartenhaus. Der Gärtner Simon trat mir mit einer
Art Ehrerbiethung entgegen und rief ſeine Gattin Clara
herbei, um ihr zu ſagen, daß ich da ſei, und um ſie
zu veranlaſſen, daß ſie mir ihre Verbeugung mache.
Er hatte dies ſonſt nie gethan. Als dieſe Art von
Vorſtellung vorüber war, führte er mich erſt in den
Garten, wie er mit kurzem Ausdrucke blos ſeine
Gewächshäuſer nannte. Er zeigte mir wieder ſeine
Pflanzen, erklärte mir, was neu erworben worden
war, was ſich beſonders ſchön entwickelt habe, und
was in gutem Stande geblieben ſei; er erzählte mir
auch, welche Verluſte man erlitten habe, wie die
Pflanzen im ſchönſten Gedeihen geweſen ſeien, die
man verloren habe, und welchen beſonderen Urſachen
man ihren Verluſt zuſchreiben müſſe. Er bedachte
hiebei nicht, daß etwa meine Gedanken anderswo
ſein könnten, wie er bei einer früheren Gelegenheit
auch nicht geahnt hatte, daß mein Gemüth abweſend
ſei, da er mir ebenfalls mit vieler Luſt und großer
Umſicht ſeine Gewächſe erklärt hatte. Beſonders eifrig
war er in der Darlegung der Vorzüge und Schön¬
heiten der Roſe, welche die Frau des Sternenhofes für
den Herrn des Hauſes aus England verſchrieben habe.
Er führte mich zu ihr, und zeigte mir alle Vortrefflich¬
Stifter. Nachſommer. III. 5[66] keiten derſelben. Dann mußte ich auch mit ihm in das
Cactushaus gehen, wo er mir ſogleich den Cereus
Peruvianus wies, der durch meine Güte, wie er ſich
ausdrückte, in den Asperhof gekommen ſei. Er wachſe
bereits ſteilrecht in ſeinem Glasfache empor, was
durch viele Mühe und Kunſt bewirkt worden ſei. Die
gelbliche Farbe vom Inghofe ſei in die dunkelblau¬
grüne gleichſam mit einem Dufte überflogene über¬
gegangen, welche die völlige Geſundheit der Pflanze
beweiſe. Wenn es ſo fortgehe, ſo könne auch noch die
Freude der fabelhaften weißen Blumen der lebendigen
Säule in dieſes Haus kommen. Er führte mich dann
zu einigen Cactusgeſtalten, die eben im Blühen be¬
griffen waren. Es lag eine ziemlich große Sammel¬
linſe in der Nähe, um die Blumen und nebſtbei auch
die Waffen und die Geſtaltungen der Pflanzenkörper
unter dem Einfluſſe des vollen Sonnenlichtes betrach¬
ten zu können. Er bath mich, die Linſe zu gebrauchen.
Es war eine farblos zeigende und zugleich eine, bei
welcher die Abweichung wegen der Kugelgeſtalt auf
ein Kleinſtes gebracht war. Überhaupt wies ſie ſich
als vortrefflich aus. Er erzählte mir, daß der Herr
das Vergrößerungsglas eigens zum Betrachten der
Cacteen habe machen, es in das ſchöne Elfenbein
[67] faſſen, und in das reine Sammetfach habe legen laſſen.
Heute erſt ſei er noch indem Cactushauſe geweſen und
habe mit dem Glaſe die Blüthen und viele Stacheln
angeſchaut. Ich bediente mich des Glaſes, und ſah in
den von den ſeidenartigen Blumenblättern umſtandenen
gelben weißen oder roſenfarbigen Kelch hinein, wie
ſie eben vorhanden waren. Daß der Glanz dieſer Blu¬
menfarben beſonders ſchön weit ſchöner als die feinſte
Seide und als der der meiſten Blumen ſei, wußte ich
ohnehin, mußte es mir aber doch von dem Gärtner
Simon zeigen laſſen, ſo wie er auch der ſchönen grün
oder roſig oder dunkelrothbraun dämmernden Tiefe
des Kelches erwähnte, aus der die Wucht der ſchlan¬
ken Staubfäden aufſteige, die keine Blüthe ſo zierlich
habe. Überhaupt ſeien die Cactusblumen die ſchön¬
ſten auf der Welt, wenn man etwa einige Schmarozer¬
gewächſe und ganz wenige andere vereinzelte Blumen
ausnehme. Er machte mich auch auf einen Umſtand
aufmerkſam, den ich nicht wußte, oder den ich nicht
beobachtet hatte, daß nehmlich bei einigen Kugel¬
cactus ſich die Blumen ſtets aus neuen Stachelaugen
meiſtens mit ganz kurzem Stengel entwickeln, wäh¬
rend ſie bei andern auf einem mehr oder minder hohen
Stiele aus vorjährigen oder noch älteren Stachel¬
5 *[68] augen ſich erheben. Er ſagte, das werde gewiß ein¬
mal einen Grund zu einer neuen Eintheilung dieſer
Cactusgeſtalt geben. Er zeigte mir an vorhandenen
Gewächſen den Unterſchied, und ich mußte ihn erken¬
nen. Er ſagte, daß dies nicht zufällig ſei, und daß
er die Thatſache ſchon dreißig Jahre beobachte. Da¬
mals, als er jung geweſen, ſeien kaum einige dieſer
Geſtaltungen bekannt geweſen, jezt vermehre ſich die
Kenntniß derſelben bedeutend, ſeit die Menſchen zur
Einſicht ihrer Schönheit gekommen ſind, und Reiſende
Pflanzen aus Amerika ſenden, wie jener Reiſende,
der von deutſchen Landen aus faſt in der ganzen Welt
geweſen ſei. Es könne nur Unverſtand oder Oberfläch¬
lichkeit oder Kurzſichtigkeit dieſe Pflanzengattung un¬
geſtaltig nennen, da doch nichts regelmäßiger und
manigfaltiger und dabei reizender ſei als eben ſie.
Nur eine erſte genaue Betrachtung und Vergleichung
derſelben ſei nöthig, und nur ein ſehr kurzes Fortſezen
dieſer Betrachtung, damit die Gegner dieſer Pflanzen
in warme Verehrer derſelben übergehen — es müßte
nur ein Menſch überhaupt kein Freund der Pflanzen
ſein, welche Gattung es vielleicht in der Welt nicht
gibt. Als ich das Pflanzenhaus verließ, begleitete er
mich bis an die Grenze der Gewächshäuſer, und auch
[69] ſeine Gattin trat aus der Thür ihrer Wohnung, um
ſich von mir zu verabſchieden.
In dem Blumengarten und in der Abtheilung der
Gemüſe blieben die Arbeitsleute vor mir ſtehen, nahmen
den Hut ab, und grüßten mich artig.
Euſtach war mild und freundlich wie gewöhnlich;
aber er war noch weit inniger, als er es in früheren
Zeiten geweſen war. Mich freute die Billigung gerade
von dieſem Menſchen ungemein. Er zeigte mir alles,
was in der Arbeit war, und was ſich an wirklichen
Dingen was an Zeichnungen was an Nachrichten in
der jüngſten Zeit zu dem bereits Vorhandenen hinzu¬
gefunden hatte. Er ſagte, daß mein Gaſtfreund in
Kurzem eine ziemlich weit entfernte Kirche beſuchen
werde, in welcher man auf ſeine Koſten Wiederher¬
ſtellungen mache, und daß er mich zu dieſer Reiſe ein¬
laden wolle. Ich ſah unter allen vorhandenen Dingen
und Stoffen den ſehr ſchönen Marmor nicht, den ich
meinem Gaſtfreunde zum Geſchenke gemacht hatte,
und war auch nie in Kenntniß gekommen, daß daraus
etwas verfertigt worden ſei. Es ſprach niemand da¬
von, und ich fragte auch nicht. In mancher Stunde
ſah ich den Arbeiten zu, welche in dem Schreinerhauſe
ausgeführt wurden.
[70]
Roland war wie gewöhnlich im Sommer nicht in
dem Asperhofe anweſend.
Mit Euſtach beſuchte ich auch die Bilder meines
Gaſtfreundes ſeine Kupferſtiche ſeine Schnizereien und
ſeine Geräthe. Wir ſprachen über die Dinge, und ich
ſuchte mir ihren Werth und ihre Bedeutung immer
mehr eigen zu machen. Auch in das Bücherzimmer den
Marmorſaal und das Treppenhaus meines Gaſtfreun¬
des ging ich. Wie war die Geſtalt auf der Treppe
erhaben edel und rein gegen die Nimphe in der Grotte
des Gartens im Sternenhofe, die mir in der lezten
Zeit ſo lieb geworden war. Durch meine Bitte ließ
ſich mein Freund bewegen, mir die Zimmer aufzu¬
ſchließen, in denen Mathilde und Natalie während
ihres Aufenthaltes in dem Asperhofe wohnen. Ich
blieb länger als in den anderen in dem lezten kleinen
Gemache mit der Tapettenthür, welches ich die Roſe
genannt hatte. Mich umwehte die Ruhe und Klar¬
heit, die in dem ganzen Weſen Mathildens aus¬
geprägt iſt, die in den Farben und Geſtalten des Zim¬
mers ſich zeigte, und die in den unvergleichlichen Bil¬
dern lag, die hier aufgehängt waren.
Wir gingen auch in den Meierhof. Die Leute be¬
gegneten mir achtungsvoll, ſie zeigten mir alle Räume,
[71] und wieſen, was ſich in ihnen befinde, was dort gear¬
beitet werde, wozu ſie dienen, und was ſich in neuerer
Zeit geändert habe. Der Meier hatte ſeine beſondere
Freude an der neuen von ihm ſelbſt verbeſſerten Zucht
der Füllen und an dem Volke aller von meinem Gaſt¬
freunde eingeführten Gattungen von Hühnern. Als
wir uns von dem Meierhofe entfernten, und uns der
vielſtimmige Geſang der Vögel aus dem Garten des
Hauſes entgegen ſchallte, ſah ich im Rückblicke, daß
ſich unter dem Thorwege eine Gruppe von Mägden
mit ihren blauen Schürzen und weißen Hemdärmeln
geſammelt habe, und uns nachſchaue.
Wenn ich auch erkannte, daß ich der Gegenſtand
der Aufmerkſamkeit geworden war, ſo entſchlüpfte doch
niemandem ein Wort, welches einen Grund dieſer Auf¬
merkſamkeit angedeutet hätte.
Guſtav, welcher wohl Anfangs ſeine Freude ge¬
gen mich ausgeſprochen hatte, daß es ſei, wie es iſt,
und daß keiner von denen, die es gewollt hatten, ſeine
Schweſter fortgeführt, ſprach nun von dem Gegen¬
ſtande nicht mehr, und ſchloß ſich nur noch herzlicher,
wenn dieſes möglich war, an mich an.
Mein Gaſtfreund ſagte mir endlich auch von der
Reiſe nach der Kirche, von welcher Euſtach geſprochen
[72] hatte, und lud mich zu derſelben ein. Ich nahm die
Einladung an.
Wir fuhren eines Morgens von dem Asperhofe
fort, mein Gaſtfreund Euſtach Guſtav und ich.
Guſtav wird, wie mir mein Gaſtfreund ſagte, auf
jede kleinere Reiſe von ihm mitgenommen. Wenn
dies bei ausgedehnteren Reiſen nicht der Fall ſein
kann, ſo wird er zu ſeiner Mutter in den Sternenhof
gebracht. Wir kamen erſt am zweiten Tage bei der
Kirche an. Roland, welcher von unſerer Ankunft unter¬
richtet geweſen war, erwartete uns dort. Die Kirche
war ein Gebäude im altdeutſchen Sinn. Sie ſtammte,
wie meine Freunde verſicherten, aus dem vierzehnten
Jahrhunderte her. Die Gemeinde war nicht groß
und nicht beſonders wohlhabend. Die leztvergange¬
nen Jahrhunderte hatten an dieſer Kirche viel ver¬
ſchuldet. Man hatte Fenſter zumauern laſſen, ent¬
weder ganz oder zum Theile, man hatte aus den
Niſchen der Säulen die Steinbilder entfernt, und
hatte hölzerne, die vergoldet und gemalt waren, an
ihre Stelle gebracht. Weil aber dieſe größer waren
als ihre Vorgänger, ſo hat man die Stellen, an die
ſie kommen ſollten, häufig ausgebrochen, und die frü¬
heren Überdächer mit ihren Verzierungen weggeſchla¬
[73] gen. Auch iſt das Innere der ganzen Kirche mit bun¬
ten Farben bemalt worden. Als dieſes in dem Laufe
der Jahre auch wieder ſchadhaft wurde, und ſich Aus¬
beſſerungsarbeiten an der Kirche als dringlich noth¬
wendig erwieſen, gab ſich auch kund, daß die Mittel
dazu ſchwer aufzubringen ſein würden. Die Gemeinde
gerieth beinahe über den Umfang der Arbeiten, die
vorzunehmen wären, in großen Hader. Offenbar
waren in früheren Zeiten reiche und mächtige Wohl¬
thäter geweſen, welche die Kirche hervorgerufen und
erhalten hatten. In der Nähe ſtehen noch die Trüm¬
mer der Schlöſſer, in denen jene wohlhabenden Ge¬
ſchlechter gehauſt hatten. Jezt ſteht die Kirche allein
als erhaltenes Denkmal jener Zeit auf dem Hügel,
einige in neuerer Zeit erbaute Häuſer ſtehen um ſie
herum, und rings liegt die Gemeinde in den in dem
Hügellande zerſtreuten Gehöften. Die Beſizer der
Schloßruinen wohnen in weit entfernten Gegenden,
und haben, da ſie ganz anderen Geſchlechtern angehö¬
ren, entweder nie eine Liebe zu der einſamen Kirche
gehabt, oder haben ſie verloren. Der Pfarrer, ein
ſchlichter frommer Mann, der zwar keine tiefen Kennt¬
niſſe der Kunſt hatte, aber ſeit Jahren an den Anblick
ſeiner Kirche gewöhnt war, und ſie, da ſie zu verfallen
[74] begann, wieder gerne in einem ſo guten Zuſtande ge¬
ſehen hätte, als nur möglich iſt, ſchlug alle Wege ein,
zu ſeinem Ziele zu gelangen, die ihm nur immer in
den Sinn kamen. Er ſammelte auch Gaben. Auf
leztem Wege kam er zu meinem Gaſtfreunde. Dieſer
nahm Antheil an der Kirche, die er unter ſeinen Zeich¬
nungen hatte, reiſte ſelber hin, und beſah ſie. Er ver¬
ſprach, daß er, wenn man ſeinen Plan zur Wieder¬
herſtellung der Kirche billige, und annehme, alle Koſten
der Arbeit, die über den bereits vorhandenen Vorrath
hinausreichen, tragen, und die Arbeit in einer gewiſſen
Zahl von Jahren beendigen werde. Der Plan wurde
ausgearbeitet, und von allen, welche in der Angele¬
genheit etwas zu ſprechen hatten, genehmigt, nachdem
der Pfarrer ſchon vorher, ohne ihn geſehen zu haben,
ſehr für ihn gedankt, und ſich überall eifrig für ſeine
Annahme verwendet hatte. Es wurde dann zur Aus¬
führung geſchritten, und in dieſer Ausführung war
mein Gaſtfreund begriffen. Die Füllmauern in den
Fenſtern wurden vorſichtig weggebrochen, daß man
keine der Verzierungen, welche in Mörtel und Ziegeln
begraben waren, beſchädige, und dann wurden Glas¬
ſcheiben in der Art der noch erhaltenen in die aus¬
gebrochenen Fenſter eingeſezt. Die hölzernen Bilder
[75] von Heiligen wurden aus der Kirche entfernt, die
Niſchen wurden in ihrer urſprünglichen Geſtalt wieder
hergeſtellt. Wo man unter dem Dache der Kirche oder
in anderen Räumen die alten ſchlanken Geſtalten der
Heiligenbilder wieder finden konnte, wurden ſie, wenn
ſie beſchädigt waren, ergänzt, und an ihre muthma߬
lichen Stellen geſezt. Für welche Niſchen man keine
Standbilder auffinden konnte, die wurden leer ge¬
laſſen. Man hielt es für beſſer, daß ſie in dieſem Zu¬
ſtande verharren, als daß man eins der hölzernen
Bilder, welche zu der Bauart der Kirche nicht paßten,
in ihnen zurückgelaſſen hätte. Freilich wäre die Ver¬
fertigung von neuen Standbildern das Zweckmäßigſte
geweſen; allein das war nicht in den Plan der Wie¬
derherſtellung aufgenommen worden, weil es über die
zu dieſem Werke verfügbaren Kräfte meines Gaſt¬
freundes ging. Alle Niſchen aber, auch die leeren,
wurden, wenn Beſchädigungen an ihnen vorkamen, in
guten Stand geſezt. Die Überdächer über ihnen
wurden mit ihren Verzierungen wieder hergeſtellt. Zu
der Übertünchung des Innern der Kirche war ein
Plan entworfen worden, nach welchem die Farbe
jener Theile, die nicht Stein waren, ſo unbeſtimmt
gehalten werden ſollte, daß ihr Anblick dem eines
[76] bloſſen Stoffes am ähnlichſten wäre. Die Gewölb¬
rippen, deren Stein nicht mit Farbe beſtrichen war,
ſo wie alles Andere von Stein wurde unberührt ge¬
laſſen, und ſollte mit ſeiner bloß ſtofflichen Oberfläche
wirken. Die Gerüſte zu der Übertünchung waren
bereits dort geſchlagen, wo man mit Leitern nicht aus¬
langen konnte. Freilich wäre in der Kirche noch vie¬
les Andere zu verbeſſern geweſen. Man hatte den
alten Chor verkleidet und ganz neue Mauern zu einer
Emporkirche aufgeführt, man hatte ein Seitenkapell¬
chen im neueſten Sinne hinzugefügt, und es war ein
Theil der Wand des Nebenſchiffes ausgenommen
worden, um eine Vertiefung zu mauern, in welche
ein neuer Seitenaltar zu ſtehen kam. Alle dieſe
Fehler konnten wegen Unzulänglichkeit der Mittel
nicht verbeſſert werden. Der Hauptaltar in alt¬
deutſcher Art war geblieben. Roland ſagte, es ſei
ein Glück geweſen, daß man im vorigen Jahrhun¬
derte nicht mehr ſo viel Geld gehabt habe als zur
Zeit der Erbauung der Kirche, denn ſonſt hätte man
gewiß den urſprünglichen Altar weggenommen, und
hätte einen in dem abſcheulichen Sinne des vergange¬
nen Jahrhunderts an ſeine Stelle geſezt. Mein Gaſt¬
freund beſah alles, was da gearbeitet wurde, und es
[77] ward ein Rath mit Euſtach und Roland gehalten,
dem auch ich beigezogen wurde, um zu erörtern, ob
alles dem gefaßten Plane getreu gehalten werde, und
ob man nicht Manches mit Aufwendung einer mäßi¬
gen Summe noch zu dem urſprünglich Beabſichtigten
hinzu thun könnte, was der Kirche noth thäte, und
was ihr zur Zierde gereichte. Die Anſichten vereinig¬
ten ſich ſehr bald, da die Männer nach der nehmlichen
Richtung hin ſtrebten, und da ihre Bildungen in die¬
ſer Hinſicht ſich wechſelweiſe zu dem gleichen Ergeb¬
niſſe durchdrungen hatten. Ich konnte ſehr wenig mit
reden, obgleich ich gefragt wurde, weil ich einerſeits
zu wenig mit den vorhandenen Grundlagen vertraut
war, und weil andererſeits meine Kenntniſſe in dem
Einzelnen der Kunſt, um welche es ſich hier handelte,
mit denen meiner Freunde nicht Schritt halten konnten.
Der Pfarrer hatte uns ſehr freundlich aufgenommen,
und wollte uns ſämmtlich in ſeinem kleinen Hauſe
beherbergen. Mein Gaſtfreund lehnte es ab, und wir
richteten uns, ſo gut es ging, in dem Gaſthofe ein.
Der Ehrerbiethung und des Dankes aber konnte der
beſcheidene Pfarrer gegen meinen Gaſtfreund kein
Ende finden. Auch kam eine Abordnung mehrerer Ge¬
meindeglieder, um, wie ſie ſagten, ihre Aufwartung
[78] zu machen, und ihren Dank darzubringen. Wirklich,
wenn man die ſchlanken edlen Geſtaltungen der Kirche
anſah, welche da einſam auf ihrem Hügel in einem
abgelegenen Theile des Landes ſtand, in dem man ſie
gar nicht geſucht hätte, und die ſchon geſchehenen Ver¬
beſſerungen betrachtete, welche ihre feinen Glieder wie¬
der zu Anſehn und Geltung brachten, ſo konnte man
nicht umhin, ſich zu freuen, daß die reinen blauen Lüfte
wieder den reinen einfachen Bau umfächelten, wie ſie
ihn umfächelt hatten, als er nach dem Haupte des längſt
verſtorbenen Meiſters aus den Händen der Arbeitsleute
hervor gegangen war. Und wirklich mußte man ſich
auch zum Danke verpflichtet fühlen, daß es einen Mann
gab, wie mein Gaſtfreund war, der aus Liebe zu ſchönen
Dingen, und ich muß wohl auch hinzufügen, aus Liebe
zur Menſchheit, einen Theil ſeines Einkommens ſeiner
Zeit und ſeiner Einſicht opfert, um manch Edles dem
Verfalle zu entreißen, und vor die Augen der Menſchen
wohlgebildete und hohe Geſtaltungen zu bringen, daß
ſie ſich daran, wenn ſie deſſen fähig ſind und den Willen
haben, erheben und erbauen können.
Das alles wußten aber die Gemeindeglieder nicht,
ſie dankten nur, weil ſie meinten, daß es ihre Schul¬
digkeit ſei.
[79]
Nachdem mein Gaſtfreund den Bau gut befunden,
und mit Euſtach dem eigentlichen Werkmeiſter das
Nähere angeordnet hatte, und nachdem auch Roland
die Zuſicherung gegeben hatte, daß er dem Wunſche
meines Gaſtfreundes gemäß öfter nachſehen und Be¬
richt erſtatten werde, rüſteten wir uns, unſere ver¬
ſchiedenen Wege zu gehen. Roland wollte wieder in
das nahe liegende Gebirge zurückkehren, von dem er
zu der Kirche heraus gekommen war, und wir wollten
den Weg nach dem Asperhofe antreten. Roland ent¬
fernte ſich zuerſt. Wir beſuchten noch den Inhaber
eines Glaswerkes in der Nähe, der von großem Ein¬
fluſſe war, und begaben uns dann auf den Weg nach
dem Hauſe meines Freundes.
Auf dem Rückwege kamen wir über die Bildung
des Schönen zu ſprechen, wie es gut ſei, daß Menſchen
aufſtehen, die es darſtellen, daß über ihre Mitbrüder
auch dieſes ſanfte Licht ſich verbreite, und ſie immer
zu hellerer Klarheit fort führe; daß es aber auch gut
ſei, daß Menſchen beſtehen, welche geeignet ſind, das
Schöne in ſich aufzunehmen, und es durch Umgang
auf Andere zu übertragen, beſonders, wenn ſie noch
wie mein Gaſtfreund das Schöne überall aufſuchen,
es erhalten, und es durch Mühe und Kraft wieder
[80] herzuſtellen ſuchen, wo es Schaden gelitten hatte. Es
ſei ein ganz eigenes Ding um die Befähigung und
den Drang hiezu.
„Wir haben ſchon einmal über Ähnliches geſpro¬
chen,“ ſagte mein Gaſtfreund, „meine Erfahrungen in
der Zeit meines Lebens haben mich gelehrt, daß es
ganz beſtimmte Anlagen zu ganz beſtimmten Dingen
gibt, mit denen die Menſchen geboren werden. Nur in
der Größe unterſcheiden ſich dieſe Anlagen, in der
Möglichkeit, ſich auszuſprechen, und in der Gelegen¬
heit, kräftig zur Wirkſamkeit kommen zu können. Da¬
durch ſcheint Gott die Manigfaltigkeit der Thaten
mit ihrem nachdrücklichſten Erfolge, wie es auf der
Erde nothwendig iſt, vermitteln zu wollen. Es er¬
ſchien mir immer merkwürdig, wo ich Gelegenheit
hatte, es zu beobachten, wie bei Menſchen, die be¬
ſtimmt ſind, ganz Ungewöhnliches in einer Richtung
zu leiſten, ſich ihre Anlage bis in die feinſten Fäden
ihres Gegenſtandes ausſpricht, und zu ihm hindrängt,
während ſie in Anderm bis zum Kindlichen unwiſſend
bleiben können. Einer, der über Kunſtdinge troz aller
Belehrung troz alles Umganges troz langjähriger täg¬
licher Berührung mit auserleſenen Kunſtwerken nie
Anderes als Ungereimtes ſagen konnte, war ein
[81] Staatsmann, der die feinſten Abſchattungen ſeines
Gegenſtandes durchdrang, der die Gedanken der Völ¬
ker und die Abſichten der Menſchen und Regierungen,
mit denen er verkehrte, errieth, und es verſtand, alle
Dinge ſeinen Zwecken dienſtbar machen zu können,
ſo daß das anderen wie ein Zauberwerk eines
Geiſtes erſchien, was gleichſam ein Naturgeſez war.
In meiner Jugend kannte ich einen Mann, der mit
einem Verſtande, über den wir uns vor Bewunderung
kaum zu faſſen wußten, in die Tiefen eines Kunſt¬
weſens, das er beſprechen wollte, einging, und Ge¬
danken zu Tage brachte, von denen wir nicht begrie¬
fen, wie ſie in das Herz eines Menſchen haben kom¬
men können; während er die Meinungen und Abſich¬
ten ganz gewöhnlicher Menſchen und gerade ſolcher,
die tief unter ihm ſtanden, nicht durchſchaute, und
den nothwendigen Gang der Staaten nicht ſah, weil
ihm das Auge dafür verſagt war, oder weil er im
Drange ſeiner Gegenſtände darauf nicht achtete. Ich
könnte noch mehrere Beiſpiele anführen: den zum
Feldherrn Geborenen im Richterſaale um mein und
dein, oder den, der wiſſenſchaftliche Stoffe fördert,
in der Bildung eines Heeres. So hat Gott es auch
manchen gegeben, daß ſie dem Schönen nachgehen
Stifter, Nachſommer. III. 6[82] müſſen, und ſich zu ihm wie zu einer Sonne wenden,
von der ſie nicht laſſen können. Es iſt aber immer
nur eine beſtimmte Zahl von ſolchen, deren einzelne
Anlage zu einer beſonderen großen Wirkſamkeit aus¬
geprägt iſt. Ihrer können nicht viele ſein, und neben
ihnen werden die geboren, bei denen ſich eine gewiſſe
Richtung nicht ausſpricht, die das Alltägliche thun,
und deren eigenthümliche Anlage darin beſteht, daß
ſie gerade keine hervorragende Anlage zu einem her¬
vorragenden Gegenſtande haben. Sie müſſen in gro¬
ßer Menge ſein, daß die Welt in ihren Angeln bleibt,
daß das Stoffliche gefördert werde, und alle Wege
im Betriebe ſind. Sehr häufig aber kömmt es nun
leider auf den Umſtand an, daß der rechten Anlage
der rechte Gegenſtand zugeführt wird, was ſo oft
nicht der Fall iſt.“
„Könnte denn nicht die Anlage den Gegenſtand
ſuchen, und ſucht ſie ihn nicht auch oft?“ fragte
Euſtach.
„Wenn ſie in großer Macht und Fülle vorhanden
iſt, ſucht ſie ihn,“ entgegnete mein Gaſtfreund, „zu¬
weilen aber geht ſie in dem Suchen zu Grunde.“
„Das iſt ja traurig, und dann wird ihr Zweck
verfehlt,“ antwortete Euſtach.
[83]
„Ich glaube nicht, daß ihr Zweck ganz verfehlt
wird.“ ſagte mein Gaſtfreund, „das Suchen und das,
was ſie in dieſem Suchen fördert, und in ſich und
anderen erzeugt, war ihr Zweck. Es müſſen eben
verſchiedene und zwar verſchieden hohe und verſchie¬
den geartete Stufen erſtiegen werden. Wenn jede
Anlage mit völliger Blindheit ihrem Gegenſtande
zugeführt würde, und ihn ergreifen und erſchöpfen
müßte, ſo wäre eine viel ſchönere und reichere Blume
dahin, die Freiheit der Seele, die ihre Anlage einem
Gegenſtande zuwenden kann oder ſich von ihm fern
halten, die ihr Paradies ſehen, ſich von ihm abwen¬
den und dann trauern kann, daß ſie ſich von ihm
abgewendet hat, oder die endlich in das Paradies
eingeht, und ſich glücklich fühlt, daß ſie eingegan¬
gen iſt.“
„Oft habe ich ſchon gedacht,“ ſagte ich, „da die
Kunſt ſo ſehr aus die Menſchen wirkt, wie ich an mir
ſelber wenn auch nur erſt kurze Zeit zu beobachten
Gelegenheit hatte, ob denn der Künſtler bei der An¬
lage ſeines Werkes ſeine Mitmenſchen vor Augen
habe, und dahin rechne, wie er es einrichten müſſe,
daß auf ſie die Wirkung gemacht werde, die er
beabſichtiget.“
6 *[84]
„Ich hege keinen Zweifel, daß es nicht ſo iſt,“
erwiederte mein Gaſtfreund, „wenn der Menſch über¬
haupt ſeine ihm angeborne Anlage nicht kennt, ſelbſt
wenn ſie eine ſehr bedeutende ſein ſollte, und wenn er
manigfaltige Handlungen vornehmen muß, ehe ſeine
Umgebung ihn oder er ſich ſelber inne wird, ja wenn
er zulezt ſich ſeiner Freiheit gemäß ſeiner Anlage hin¬
geben oder ſich von ihr abwenden kann: ſo wird er
wohl im Wirken dieſer Anlage nicht ſo zu rechnen im
Stande ſein, daß ſie an einem gewiſſen Punkte an¬
landen müſſe; ſondern je größer die Kraft iſt, um ſo
mehr glaube ich, wirkt ſie nach den ihr eigenthümlichen
Geſezen, und das dem Menſchen inwohnende Große
ſtrebt unbewußt der Äußerlichkeiten ſeinem Ziele zu,
und erreicht deſto Wirkungsvolleres, je tiefer und un¬
beirrter es ſtrebt. Das Göttliche ſcheint immer nur
von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menſchen ge¬
geben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugniß auf
die Mitmenſchen wirken ſoll, die Wirkung iſt auch
gekommen, ſie iſt oft eine große geweſen, aber keine
künſtleriſche und keine tiefe; ſie haben etwas anderes
erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das
die, welche nach ihnen kamen, nicht theilten, und von
dem ſie nicht begriefen, wie es auf die Vorgänger
[85] hatte wirken können. Dieſe Menſchen bauten vergäng¬
liche Werke und waren nicht Künſtler, während das
durch die wirkliche Macht der Kunſt Geſchaffene, weil
es die reine Blüthe der Menſchheit iſt, nach allen Zei¬
ten wirkt und entzückt, ſo lange die Menſchen nicht ihr
Köſtlichſtes, die Menſchheit, weggeworfen haben.“
„Es iſt einmal in der Stadt die Frage geſtellt
worden,“ ſagte ich, „ob ein Künſtler, wenn er wüßte,
daß ſein Werk, das er beabſichtigt, zwar ein unüber¬
troffenes Meiſterwerk ſein wird, daß es aber die Mit¬
welt nicht verſteht, und daß es auch keine Nachwelt
verſtehen wird, es doch ſchaffen müſſe oder nicht.
Einige meinten, es ſei groß, wenn er es thäte, er
thue es für ſich, er ſei ſeine Mit- und Nachwelt. An¬
dere ſagten, wenn er etwas ſchaffe, von dem er wiſſe,
daß es die Mitwelt nicht verſtehe, ſo ſei er ſchon
thöricht, und vollends, wenn er es ſchaffe und weiß,
daß auch keine Nachwelt es begreifen wird.“
„Dieſer Fall wird wohl kaum ſein,“ antwortete
mein Gaſtfreund, „der Künſtler macht ſein Werk, wie
die Blume blüht, ſie blüht, wenn ſie auch in der
Wüſte iſt, und nie ein Auge auf ſie fällt. Der wahre
Künſtler ſtellt ſich die Frage gar nicht, ob ſein Werk
verſtanden werden wird oder nicht. Ihm iſt klar und
[86] ſchön vor Augen, was er bildet, wie ſollte er meinen,
daß reine unbeſchädigte Augen es nicht ſehen? Was
roth iſt, iſt es nicht allen roth? Was ſelbſt der ge¬
meine Mann für ſchön hält, glaubt er das nicht für
alle ſchön? Und ſollte der Künſtler das wirklich
Schöne nicht für die Geweihten ſchön halten? Woher
käme denn ſonſt die Erſcheinung, daß einer ein herr¬
liches Werk macht, das ſeine Mitwelt nicht ergreift?
Er wundert ſich, weil er eines andern Glaubens war.
Es ſind dies die Größten, welche ihrem Volke voran
gehen, und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken
ſtehen, zu der ſie ihre Welt erſt durch ihre Werke
führen müſſen. Nach Jahrzehenden denkt und fühlt
man wie jene Künſtler, und man begreift nicht, wie
ſie konnten mißverſtanden werden. Aber man hat
durch dieſe Künſtler erſt ſo denken und fühlen gelernt.
Daher die Erſcheinung, daß gerade die größten Men¬
ſchen die naivſten ſind. Wenn nun der früher angege¬
bene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren Künſt¬
ler gäbe, der zugleich wüßte, daß ſein beabſichtigtes
Werk nie verſtanden werden würde, ſo würde er es
doch machen, und wenn er es unterläßt, ſo iſt er ſchon
gar kein Künſtler mehr, ſondern ein Menſch, der an
Dingen hängt, die außer der Kunſt liegen. Hieher
[87] gehört auch jene rührende Erſcheinung, die von man¬
chen Menſchen ſo bitter getadelt wird, daß einer, dem
recht leicht gangbare Wege zur Verfügung ſtänden, ſich
reichlich und angenehm zu nähren, ja zu Wohlſtand zu
gelangen, lieber in Armuth Noth Entbehrung Hunger
und Elend lebt, und immer Kunſtbeſtrebungen macht,
die ihm keinen äußeren Erfolg bringen, und oft auch
wirklich kein Erzeugniß von nur einigem Kunſtwerthe
ſind. Er ſtirbt dann im Armenhauſe oder als Bettler
oder in einem Hauſe, wo er aus Gnaden gehalten
wurde.“
Wir waren unſeres Freundes Meinung. Euſtach
ohnehin ſchon, weil er die Kunſtdinge als das Höchſte
des irdiſchen Lebens anſah, und ein Kunſtſtreben als
bloſſes Beſtreben ſchon für hoch hielt, wie er auch zu
ſagen pflegte, das Gute ſei gut, weil es gut ſei. Ich
ſtimmte bei, weil mich das, was mein Gaſtfreund
ſagte, überzeugte, und Guſtav mochte es geglaubt
haben — Erfahrungen hatte er nicht — weil ihm alles
Wahrheit war, was ſein Pflegevater ſagte.
Von einem Streben, das gewiſſermaßen ſein eige¬
ner Zweck ſei, vom Vertiefen der Menſchen in einen
Gegenſtand, dem ſcheinbar kein äußerer Erfolg ent¬
ſpricht, und dem der damit Behaftete doch alles An¬
[88] dere opfert, kamen wir überhaupt auf Verſchiedenes,
an das der Menſch ſein Herz hängt, das ihn erfüllt,
und das ſein Daſein oder Theile ſeines Daſeins um¬
ſchreibt. Nachdem wir wirklich eine größere Zahl von
Dingen durchſprochen hatten, die zu dem Menſchen
in das von uns angeführte Verhältniß treten können,
als ich je vermuthet hätte, machte mein Gaſtfreund
folgenden Ausſpruch: „Wenn wir hier alle die Dinge
ausſchließen, die nur den Körper oder das Thieriſche
des Menſchen betreffen und befriedigen, und deren
andauerndes Begehren mit Hinwegſezung alles An¬
dern wir mit dem Namen Leidenſchaft bezeichnen,
weßhalb es denn nichts Falſcheres geben kann, als
wenn man von edlen Leidenſchaften ſpricht, und wenn
wir als Gegenſtände höchſten Strebens nur das
Edelſte des Menſchen nennen: ſo dürfte alles Drängen
nach ſolchen Gegenſtänden vielleicht nicht mit Unrecht
nur mit einem Namen zu benennen ſein, mit Liebe.
Lieben als unbedingte Werthhaltung mit unbedingter
Hinneigung kann man nur das Göttliche oder eigent¬
lich nur Gott; aber da uns Gott für irdiſches Füh¬
len zu unerreichbar iſt, kann Liebe zu ihm nur An¬
betung ſein, und er gab uns für die Liebe auf Er¬
den Theile des Göttlichen in verſchiedenen Geſtalten
[89] denen wir uns zuneigen können: ſo iſt die Liebe der
Eltern zu den Kindern, die Liebe des Vaters zur
Mutter der Mutter zum Vater, die Liebe der Geſchwi¬
ſter, die Liebe des Bräutigams zur Braut der Braut
zum Bräutigam, die Liebe des Freundes zum Freunde,
die Liebe zum Vaterlande, zur Kunſt zur Wiſſenſchaft
zur Natur, und endlich gleichſam kleine Rinnſale, die
ſich von dem großen Strome abzweigen, Beſchäftigun¬
gen mit einzelnen gleichſam kleinlichen Gegenſtänden,
denen ſich oft der Menſch am Abende ſeines Lebens
wie kindlichen Nothbehelfen hingibt, Blumenpflege
Zucht einer einzigen Gewächsart einer Thierart und
ſo weiter, was wir mit dem Namen Liebhaberei be¬
legen. Wen die größeren Gegenſtände der Liebe ver¬
laſſen haben, oder wer ſie nie gehabt hat, und wer
endlich auch gar keine Liebhaberei beſizt, der lebt kaum
und betet auch kaum Gott an, er iſt nur da. So
faßt es ſich, glaube ich, zuſammen, was wir mit der
Richtung großer Kräfte nach großen Zielen bezeichnen,
und ſo findet es ſeine Berechtigung.“
„Jene Zeit,“ ſagte er nach einer Weile, „in wel¬
cher die Kirchen gebaut worden ſind, wie wir eben
eine beſucht haben, war in dieſer Hinſicht weit größer
als die unſrige, ihr Streben war ein höheres, es war
[90] die Verherrlichung Gottes in ſeinen Tempeln, wäh¬
rend wir jezt hauptſächlich auf den ſtofflichen Verkehr
ſehen, auf die Hervorbringung des Stoffes und auf
die Verwendung des Stoffes, was nicht einmal ein
an ſich gültiges Streben iſt, ſondern nur beziehungs¬
weiſe, in ſo fern ihm ein höherer Gedanke zu Grunde
gelegt werden kann. Das Streben unſerer älteren
Vorgänger war auch insbeſondere darum ein höheres,
weil ihm immer Erfolge zur Seite ſtanden, die Her¬
vorbringung eines wahrhaft Schönen. Jene Tempel
waren die Bewunderung ihrer Zeit, Jahrhunderte
bauten daran, ſie liebten ſie alſo, und jene Tempel
ſind auch jezt in ihrer Unvollendung oder in ihren
Trümmern die Bewunderung einer wieder erwachen¬
den Zeit, die ihre Verdüſterung abgeſchüttelt hat, aber
zum allſeitigen Handeln noch nicht durchgedrungen
iſt. Sogar das Streben unſerer unmittelbaren Vor¬
gänger, welche ſehr viele Kirchen nach ihrer Schön¬
heitsvorſtellung gebaut, noch mehr Kirchen aber
durch zahlloſe Zubauten durch Aufſtellung von Altä¬
ren durch Umänderungen entſtellt, und uns eine ſehr
große Zahl ſolcher Denkmale hinterlaſſen haben, iſt
in ſo ferne noch höher als das unſere, indem es auch
auf Erbauung von Gotteshäuſern ausging auf Dar¬
[91] ſtellung eines Schönen und Kirchlichen, wenn es ſich
auch in dem Weſen des Schönen von den Vorbildern
der früheren Jahrhunderte entfernt hat. Wenn unſere
Zeit von dem Stofflichen wieder in das Höhere über¬
geht, wie es den Anſchein hat, werden wir in Bau¬
gegenſtänden nicht auch gleich das Schöne verwirk¬
lichen können. Wir werden Anfangs in der bloßen
Nachahmung des als ſchön Erkannten aus älteren
Zeiten befangen ſein, dann wird durch den Eigenwillen
der unmittelbar Betrauten manches Ungereimte ent¬
ſtehen, bis nach und nach die Zahl der heller Blicken¬
den größer wird, bis man nach einer allgemeineren
und begründeteren Einſicht vorgeht, und aus den
alten Bauarten neue der Zeit eigenthümlich zuge¬
hörige entſprießen.“
„In der Kirche, welche wir eben geſehen haben,“
ſagte ich, „liegt nach meiner Meinung eine eigenthüm¬
liche Schönheit, daß es nicht begreiflich iſt, wie eine
Zeit gekommen iſt, in welcher man es verkennen, und
ſo manches hinzufügen konnte, was vielleicht ſchon
an ſich unſchön iſt, gewiß aber nicht paßt.“
„Es waren rauhe Zeiten über unſer Vaterland ge¬
kommen,“ erwiederte er, „welche nur in Streit und
Verwüſtung die Kräfte übten, und die tieferen Rich¬
[92] tungen der menſchlichen Seele ausrotteten. Als dieſe
Zeiten vorüber waren, hatte man die Vorſtellung des
Schönen verloren, an ſeine Stelle trat die bloße Zeit¬
richtung, die nichts als ſchön erkannte als ſich ſelber,
und daher auch ſich ſelber überall hinſtellte, es mochte
paſſen oder nicht. So kam es, daß römiſche oder
korinthiſche Simſe zwiſchen altdeutſche Säulen gefügt
wurden.“
„Aber auch unter den altdeutſchen Kirchen iſt dieſe,
welche wir verlaſſen haben, wenn ich nach den Kir¬
chen, die ich geſehen habe, urtheilen darf, eine der
ſchönſten und edelſten,“ ſagte ich.
„Sie iſt klein,“ erwiederte mein Gaſtfreund, „aber
ſie übertrift manche große. Sie ſtrebt ſchlank empor
wie Halme, die ſich wiegen, und gleicht auch den Hal¬
men darin, daß ihre Bögen ſo natürlich und leicht
aufſpringen wie Halme, die da nicken. Die Roſen in
den Fenſterbögen die Verzierungen an den Säulen¬
knäufen an den Bogenrippen ſo wie die Roſe der
Thurmſpize ſind ſo leicht wie die verſchiedenen Ge¬
wächſe, die in dem Halmenfelde ſich entwickeln.“
„Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke,“
antwortete ich, „den ich ſchon öfter hatte, daß man
nehmlich die Faſſung von Edelſteinen im Sinne alt¬
[93] deutſcher Baudenkmale einrichten ſollte, und daß man
dadurch zu ſchöneren Geſtaltungen käme.“
„Wenn ihr den Gedanken ſo nehmet,“ erwiederte
er, „daß ſich die, welche Edelſteine faſſen, im Sinne
der alten Baumeiſter bilden ſollen, welche Würdiges
und Schönes auf einfache und erhebende Art darſtell¬
ten, ſo dürftet ihr, glaube ich, recht haben. Wenn
ihr aber meint, daß Geſtaltungen, welche an mittel¬
alterlichen Gebäuden vorkommen, im verkleinerten
Maßſtabe ſofort als Schmuckdinge zu gebrauchen
ſeien, ſo dürftet ihr euch irren.“
„So habe ich es gemeint,“ ſagte ich.
„Wir haben ſchon einmal über dieſen Gegenſtand
geſprochen,“ erwiederte er, „und ich habe damals ſel¬
ber auf die alterthümliche Kunſt als die Grundlage
von Schmuck hingewieſen; aber ich habe damit nicht
blos die Baukunſt gemeint, ſondern jede Kunſt auch
die der Geräthe der Kirchenſtoffe der weltlichen Stoffe
die Malerkunſt die Bildhauerkunſt die Holzſchneide¬
kunſt und Ähnliches. Auch habe ich nicht die unmittel¬
bare Nachahmung der Geſtaltungen gemeint, ſondern
die Erkennung des Geiſtes, der in dieſen Geſtaltun¬
gen wohnt, das Erfüllen des Gemüthes mit dieſem
Geiſte, und dann das Schaffen in dieſer Erkenntniß
[94] und in dieſem Erfülltſein. Es ſteht der Übertragung
der baulichen Geſtaltungen auf Schmuck auch ein ſtoff¬
liches Hinderniß entgegen. Die Gebäude, an denen
der Schönheitsſinn beſonders zur Ausprägung kam,
waren immer mehr oder weniger ernſte Gegenſtände:
Kirchen Palläſte Brücken und im Alterthume Säulen
und Bögen. Im Mittelalter ſind die Kirchen weit
das Überwiegende; bleiben wir alſo bei ihnen. Um
den Ernſt und die Würde der Kirche darzuſtellen, iſt
der Stoff nicht gleichgültig, aus dem man ſie verfer¬
tiget. Man wählte den Stein als den Stoff, aus
dem das Großartigſte und Gewaltigſte von dem, was
ſich erhebt, beſteht, die Gebirge. Er leiht ihnen dort,
wo er nicht von Wald oder Raſen überkleidet iſt, ſon¬
dern nackt zu Tage ſteht, das erhabenſte Anſehen.
Daher gibt er auch der Kirche die Gewalt ihres Ein¬
druckes. Er muß dabei mit ſeiner einfachen Oberfläche
wirken, und darf nicht bemalt oder getüncht ſein. Das
Nächſte unter dem Emporſtrebenden, was ſich an das
Gebirge anſchließt, iſt der Wald. Ein Baum übt nach
dem Felſen die größte Macht. Daher iſt eine Kirche
in Würde und künſtleriſchem Anſehen auch noch von
Holz denkbar, ſobald es nicht bemalt und nicht beſtri¬
chen iſt. Eine eiſerne Kirche oder gar eine von Silber
[95] könnte nicht anders als widrig wirken, ſie würde nur
wie roher Prunk ausſehen, und von einer Kirche aus
Papier, geſezt man könnte den Wänden auf die Dauer
Widerſtand gegen Wetter und den Verzierungen durch
Preſſen oder dergleichen die ſchönſten Geſtalten geben,
wendet ſich das Herz mit Widerwillen und Verach¬
tung ab. Mit dem Stoffe hängt die Geſtaltung zu¬
ſammen. Der Stein iſt ernſt, er ſtrebt auf und läßt
ſich nicht in die weichſten feinſten und gewundenſten
Erſcheinungen biegen. Ich rede von dem Bauſteine
nicht von dem Marmor. Daher hat man die Geſtalten
der Kirche aus ihm emporſtrebend einfach und ſtark
gemacht, und wo Biegungen vorkommen, ſind ſie mit
Maß und mit einem gewiſſen Adel ausgeführt, und
überladen nicht die Wände und die andern Bildun¬
gen. In der Zeit, als ſie das Übergewicht zu bekom¬
men anfingen, hörte auch die ſtrenge Schönheit der
Kirchen auf, und die Niedlichkeit begann. Zu den
Faſſungen unſeres Schmuckes nehmen wir Metall
und zwar meiſtens Gold. Das Metall aber hat we¬
ſentlich andere Merkmale als der Stein. Es iſt ſchwe¬
rer; darf alſo, ohne uns zu drücken, nicht in größeren
Stücken angewendet werden, ſondern muß in zarte
Geſtaltungen auseinander laufen. Dabei hat es
[96] unter allen Stoffen die größte Biegſamkeit und Dehn¬
barkeit, wir glauben ihm daher die kühnſten Windun¬
gen und Verſchlingungen, und fordern ſie von ihm.
Die Bildungen beſonders Zierrathen aus Gold kön¬
nen daher nicht genau dieſelben ſein wie die aus
Stein, wenn beide ſchön ſein ſollen. Aber aus dem
inneren Geiſte des einen, glaube ich, kann man recht
gut und ſoll man den innern Geiſt des andern kennen,
und es dürfte Treffliches heraus kommen.“
Ich vermochte gegen dieſe Anſicht nichts Weſent¬
liches einzuwenden. Euſtach führte ſie noch genauer
durch Beiſpiele aus, die er von bekannten Steingeſtal¬
tungen an Kirchen hernahm. Er zeigte, wie eine ge¬
läufige leichte kirchliche Steinbildung, wenn man ſie
etwa aus Gold machen laſſe, ſogleich ſchwer träg und un¬
beholfen werde, und er zeigte auch, wie man nach und
nach die Steingeſtaltung umwandeln müſſe, daß ſie
zu einer für Gold tauge, und da lebendig und eigen¬
thümlich werde. Er verſprach mir, daß er mir über dieſe
Angelegenheit, wenn wir nach Hauſe gekommen ſein
würden, Zeichnungen zeigen würde. Ich ſah hieraus,
wie ſehr meine Freunde über dieſen Gegenſtand nach¬
gedacht haben, und wie ſie thatſächlich in ihn einge¬
gangen ſeien.
[97]
„Es ſind aber nicht blos die Äußerlichkeiten an
unſerer Kirche ſehr ſchön,“ fuhr mein Gaſtfreund fort,
„ſondern die Geſtalten der Heiligen auf dem Altare
und in den Niſchen ſind ſchöner, als man ſie ſonſt
meiſtens aus dem Zeitalter, aus welchem die Kirche
ſtammt, zu ſehen gewohnt iſt. Wenn ich ſagte, daß
die griechiſchen Bildergeſtalten eine größere ſinnliche
Schönheit haben als die aus dem Mittelalter, ſo iſt
dieſes nicht ausnahmlos ſo. Es gibt auch höchſt lieb¬
liche Geſtalten aus dem Mittelalter, und wo keine
Verzeichnung iſt, und wo ſich Sinnlichkeit zeigt, ſind
ſie meiſtens wärmer als die griechiſchen. In der klei¬
nen Kirche iſt Ähnliches vorhanden, deßhalb habe ich
ſo gerne ihre Wiederherſtellung übernommen, deßhalb
bedaure ich, daß meine Mittel nicht ſo groß ſind, die
gänzliche Vollendung herbeiführen zu können, und de߬
halb habe ich ſo ſehr nach den Geſtalten, die in den
Niſchen fehlen, ſuchen laſſen, um ſo viel als möglich
die Kirche zu bevölkern, wenn auch der Gedanke Raum
hatte, daß vielleicht nicht einmal alle Geſtalten fertig ge¬
worden und alle Pläze beſezt geweſen ſeien. Vielleicht
ſteht einmal eine höhere und allgemeinere Kraft auf,
die dieſe und noch wichtigere Kirchen wieder in ihrer
Reinheit darſtellt.“
Stifter, Nachſommer. III. 7[98]
Wir kamen am zweiten Tage in dem Asperhofe
an, und ich ſagte, daß ich nun nicht mehr lange da
verweilen könne. Mein Gaſtfreund erwiederte, daß
er in einigen Tagen in den Sternenhof fahren werde,
daß er mich einlade, ihn zu begleiten, und daß ich bis
dahin noch bei ihm bleiben möge.
Ich erklärte, daß bei mir wohl einige Tage keinen
weſentlichen Unterſchied machten, daß ich aber doch
wünſche, bald zu meinen Eltern zurückkehren zu können.
So war der Abend vor der Abreiſe in den Sternen¬
hof gekommen, und mein Gaſtfreund ſagte an dem¬
ſelben in einem gelegenen Augenblicke zu mir: „Ihr
tretet nun zu jemandem, der mir nahe iſt, in ein
inniges Verhältniß; es iſt billig, daß ihr alles wiſſet,
wie es in dem Sternenhofe iſt, und in welchen Be¬
ziehungen ich zu demſelben ſtehe. Ich werde euch
alles darlegen. Damit ihr aber in noch viel größerer
Ruhe ſeid, und mit Klarheit das Mitgetheilte auf¬
nehmen könnet, ſo werde ich es euch erzählen, wenn
ihr wieder in den Asperhof kommt. Ihr werdet jezt
zu euren Eltern gehen, wie ihr ſagt, um ihnen zu
berichten, wie ihr aufgenommen worden ſeid, und wie
die Angelegenheit ſteht. Wenn ihr dann nach eurem
beliebigen Willen wieder zu mir kommt, ſei es zu
[99] was immer für einer Zeit, ſo werdet ihr willkommen
ſein und bereitwilligen Empfang finden.“
Am anderen Morgen ſaß ich nebſt Guſtav mit
ihm in dem Wagen, und wir fuhren dem Sternen¬
hofe zu.
Wir wurden dort ſo freundlich und heiter aufge¬
nommen wie immer, ja noch freundlicher und heiterer
als ſonſt. Die Zimmer, welche wir immer bewohnt
hatten, ſtanden für uns wie für Perſonen, welche zu
der Familie gehörten, in Bereitſchaft. Natalie ſtand
mit lieblichen Mienen neben ihrer Mutter, und ſah
ihren älteren Freund und mich an. Ich grüßte mit
Ehrerbietung die Mutter und faſt mit gleicher Ehr¬
erbietung die Tochter. Guſtav war etwas ſchüchterner
als ſonſt, und blickte bald mich bald Natalien an.
Wir ſprachen die gewöhnlichen Bewillkommungsworte
und andere unbedeutende Dinge. Dann verfügten
wir uns in unſere Zimmer.
Noch an demſelben Tage und am nächſten beſah
mein Gaſtfreund verſchiedene Dinge, welche zur Be¬
wirthſchaftung des Gutes gehörten, beſprach ſich mit
Mathilden darüber, beſuchte ſelbſt ziemlich entfernte
Stellen, und ordnete im Namen Mathildens an. Auch
die Arbeiten in der Hinwegſchaffung der Tünche von
7 *[100] der Außenſeite des Schloſſes beſah er. Er ſtieg ſelber
auf die Gerüſte, unterſuchte die Genauigkeit der Hin¬
wegſchaffung der aufgetragenen Kruſte und die Rein¬
heit der Steine. Er prüfte die Größe der in einer
gewöhnlichen Zeit vollbrachten Arbeit, und gab Auf¬
träge für die Zukunft. Wir waren bei den meiſten
dieſer Beſchäftigungen gemeinſchaftlich zugegen. Man
behandelte mich auf eine ausgezeichnete Art. Ma¬
thilde war ſo ſanft, ſo gelaſſen und milde wie immer.
Wer nicht genauer geblickt hätte, würde keinen Unter¬
ſchied zwiſchen ſonſt und jezt gewahr geworden ſein.
Sie war immer gütig, und konnte daher nicht gütiger
ſein. Ich empfand aber doch einen Unterſchied. Sie
richtete das Wort ſo offen an mich wie früher; aber
es war doch jezt anders. Sie fragte mich oft, wenn
es ſich um Dinge des Schloſſes des Gartens der Fel¬
der der Wirthſchaft handelte, um meine Meinung wie
einen, der ein Recht habe, und der faſt wie ein Eigen¬
thümer ſei. Sie fragte gewiß nicht, um meine Mei¬
nung ſo gründlich zu wiſſen; denn mein Gaſtfreund
gab die beſten Urtheile über alle dieſe Gegenſtände
ab, ſondern ſie fragte ſo, weil ich einer der ihrigen
war. Sie hob aber dieſe Fragen nicht hervor und be¬
tonte ſie nicht, wie jemand gethan hätte, bei dem ſie
[101] Abſicht geweſen wären, ſondern ſie empfand das Zu¬
ſammengehörige unſeres Weſens, und gab es ſo. Mir
ging dieſe Behandlung ungemein lieb in die Seele.
Mein Gaſtfreund war wohl beinahe gar nicht anders;
denn ſein Weſen war immer ein ganzes und geſchloße¬
nes; aber auch er ſchien herzlicher als ſonſt. Guſtav
verlor ſein anfängliches ſchüchternes Weſen. Obwohl
er auch jezt noch kein Wort ſagte, welches auf unſer
Verhältniß anſpielte, — das thaten auch die anderen
nicht, und er hatte eine zu gute Erziehung erhalten,
um, obgleich er noch ſo jung war, hierin eine Aus¬
nahme zu machen — ſo ging er doch zuweilen plözlich
an meine Seite, nahm mich bei meinem Arme, drückte
ihn, oder nahm mich bei der Hand, und drückte ſie
mit der ſeinen. Nur mit Natalie war es ganz anders.
Wir waren beinahe ſcheuer und fremder, als wir es
vor jenem Hervorleuchten des Gefühles in der Grotte
der Brunnennimphe geweſen waren. Ich durfte ſie am
Arme führen, wir durften mit einander ſprechen; aber
wenn dies geſchah, ſo redeten wir von gleichgültigen
Dingen, welche weit entfernt von unſeren jezigen Be¬
ziehungen lagen. Und dennoch fühlte ich ein Glück,
wenn ich an ihrer Seite ging, daß ich es kaum mit
Worten hätte ſagen können. Alles, die Wolken die
[102] Sterne die Bäume die Felder ſchwebten in einem
Glanze, und ſelbſt die Perſonen ihrer Mutter und
ihres alten Freundes waren verklärter. Daß in Nata¬
lien Ähnliches war, wußte ich, ohne daß ſie es ſagte.
Wenn wir an dem Scheunenthore des Maierhofes
vorbeigingen, oder an einer anderen Thür oder an
einem Felde oder ſonſt an einem Plaze, auf welchem
gearbeitet wurde, ſo traten die Menſchen zuſammen,
blickten uns nach, und ſahen uns mit denſelben be¬
deutungsvollen Augen an, mit denen man mich in
dem, Asperhofe angeſchaut hatte. Es war mir alſo
klar, daß man auch hier wußte, in welchen Beziehun¬
gen ich zu der Tochter des Hauſes ſtehe. Ich hätte es
auch aus der größeren Ehrerbiethung der Diener her¬
aus leſen können, wenn es mir nicht ſchon ſonſt deut¬
lich geweſen wäre. Aber auch hier wie in dem Asper¬
hofe bemerkte ich, daß es etwas Freundliches war,
etwas, das wie Freude ausſah, was ſich in den Mie¬
nen der Leute ſpiegelte. Sie mußten alſo auch hier
mit dem, was ſich vorbereitete, zufrieden ſein. Ich
war darüber tief vergnügt; denn auf welchem Stande
der Entwickelung die Leute immer ſtehen mögen, ſo
iſt es doch gewiß, wie ich aus dem Umgange mit
vielen Menſchen reichlich erfahren habe, daß Gerin¬
[103] gere die Höheren oft ſehr richtig beurtheilen, und
namentlich, wenn Verbindungen geſchloſſen werden,
ſeien es Freundſchaften, ſeien es Ehen, mit richtiger
Kraft erkennen, was zuſammen gehört, und was
nicht. Daß ſie mich alſo zu Natalien gehörig anſahen,
erfüllte mich mit nachhaltender inniger Freude. Wie
Natalie über dieſe Kundgebungen der Leute dachte,
konnte ich nicht erkennen.
Nachdem ſo drei Tage vergangen waren, nachdem
wir die verſchiedenſten Stellen des Schloſſes des
Gartens der Felder und der Wälder gemeinſchaftlich
beſucht hatten, nachdem wir auch manchen Augen¬
blick in den Gemäldezimmern und in denen mit
den alterthümlichen Geräthen zugebracht und an
Verſchiedenem uns erfreut hatten, nachdem endlich
auch alles, was in Angelegenheiten des Gutes zu be¬
ſprechen und zu ordnen war, zwiſchen Mathilden und
meinem Gaſtfreunde beſprochen und geordnet worden
war, wurde auf den nächſten Tag die Abreiſe be¬
ſchloſſen. Wir verabſchiedeten uns auf eine ähnliche
Weiſe, wie wir uns bewillkommt hatten, der Wagen
war vorgefahren, und wir ſchlugen die Richtung
zurück ein, in der wir vor vier Tagen gekommen
waren.
[104]
Ich fuhr mit meinem Gaſtfreunde nur bis an die
Poſtſtraße und auf derſelben bis zur erſten Poſt. Dort
trennten wir uns. Er fuhr auf Nebenwegen dem
Asperhofe zu, weil er mir zu lieb einen Umweg ge¬
macht hatte, ich aber ſchlug mit Poſtpferden die Rich¬
tung gegen das Kargrat ein. Ich war entſchloſſen,
im Kargrat für jetzt ganz abzubrechen, und alſo die
Gegenſtände, die ich noch dort hatte, fortſchaffen zu
laſſen. Als ich in dem kleinen Orte eingetroffen war,
richtete ich meine Verhältniſſe zurecht, ließ alle meine
Dinge einpacken, und ſchickte ſie fort. Ich nahm von
dem Pfarrer, welchen ich kennen gelernt hatte, Ab¬
ſchied, verabſchiedete mich auch von meinen Wirths¬
leuten und von den anderen Menſchen, die mir be¬
kannt geworden waren, ſagte, daß ich nicht weiß
wann ich in das Kargrat zurückkehren werde, um
meine Arbeiten, welche ich wegen eines ſchnell einge¬
tretenen Umſtandes hatte abbrechen müſſen, fortzu¬
ſezen, und reiſte wieder ab.
Ich ging jezt in das Lauterthal, um es zu beſuchen.
Es war in der Richtung nach meiner Heimath ein ge¬
ringer Umweg, und ich wollte das Thal, das mir lieb
geworden war, wieder ſehen. Beſonders aber führte
mich ein Zweck dahin. Obwohl ich wenig Hoffnung
[105] hatte, daß mein Auftrag, den ich in dem Thale gegeben
hatte, zu forſchen, ob ſich nicht doch noch die Ergän¬
zungen zu den Vertäflungen meines Vaters fänden,
einen Erfolg haben werde, ſo wollte ich doch nicht nach
Hauſe reiſen, ohne in dieſer Hinſicht Nachfrage ge¬
halten zu haben. Die gewünſchten Ergänzungen
hatten ſich zwar nicht gefunden, auch keine Spur zu
denſelben war entdeckt worden; aber manche Leute
hatte ich geſehen, denen ich in früheren Tagen geneigt
worden war, Gegenſtände hatte ich erblickt, von denen
ich in vergangenen Jahren zu meinem Vergnügen
umringt geweſen war, und manches kleine Zwiege¬
ſpräch hatte ich gepflogen, welches mir und den Leu¬
ten, mit denen es gepflogen worden war, zu einiger
Erquickung gereichte.
Ich ging auch in das Rothmoor. Dort fand ich
die Arbeiten noch in einem höheren Maße entwickelt
und im Gange, als ſie es bei meiner lezten Anweſen¬
heit geweſen waren. Von mehreren Orten hatte man
Beſtellungen eingeſendet, ſelbſt von unſerer Stadt,
wo das Becken der Einbeere bekannt geworden war,
und manchen Beifall gefunden hatte, waren Briefe
geſchickt worden. Fremde kamen zu Zeiten in dieſe
abgelegene Gegend, machten Käufe, und hinterließen
[106] Aufträge. Ich ſah alſo, daß ſich manches hier gebeſſert
habe, betrachtete die Arbeiten, und beſtellte auch wie¬
der einige neue, weil ich theils noch Stücke ſchönen
Marmors hatte, aus denen irgend etwas gemacht
werden konnte, und weil anderen Theils in dem
Garten des Vaters zur Brüſtung oder zu anderen
Stellen noch Gegenſtände fehlten. Die Leute hatten
mich recht freundlich und zuvorkommend empfangen,
ſie zeigten mir, was im Gange war, welche Ver¬
beſſerungen ſie eingeführt hatten, und welche ſie noch
beabſichtigen. Sie ließen hiebei nicht unerwähnt, daß
ich der kleinen Anſtalt immer zugethan geweſen ſei,
und daß ich zu den Verbeſſerungen manchen Anlaß
und manchen Fingerzeig gegeben habe. Ich drückte
meine Freude über alles das aus, und verſprach, daß
ich, wenn ich in die Nähe käme, jederzeit recht gerne
einen kurzen Beſuch in dem Rothmoor machen würde.
Nach dieſem unbedeutenden Aufenthalte im Lauter¬
thale und im Rothmoor ſezte ich meine Reiſe zu mei¬
nen Eltern ohne weitere Verzögerung fort.
3.
Die Mittheilung.
Zu Hauſe hatten ſie mich noch nicht erwartet,
weil ich ihnen durch meinen Brief angezeigt hatte,
daß ich mit meinem Gaſtfreunde eine kleine Reiſe zu
einer alterthümlichen Kirche machen würde. Auch
hatten ſie ſich vorgeſtellt, daß ich noch einmal in mei¬
nen Aufenthaltsort in das Hochgebirge gehen und
mich auf der Rückreiſe eine Zeit in dem Sternenhofe
aufhalten werde. Sie irrten aber; denn obwohl ich
in beiden Orten war, war ich doch nicht lange dort,
und es drängte mein Herz, den Meinigen zu eröffnen,
wie meine Angelegenheiten ſtehen. Als ich dieſes ge¬
than hatte, waren ſie bei Weitem, weniger ergriffen,
als ich erwartet hatte. Sie freuten ſich, aber ſie ſag¬
ten, ſie hätten gewußt, daß es ſo ſein würde, ja ſie
[108] hätten ſeit Jahren die jezige Entwicklung ſchon ge¬
ahnt. Im Roſenhauſe und im Sternenhofe, meinten
ſie, würde man mich nicht ſo freundſchaftlich und
gütig behandelt haben, wenn man mich nicht lieb
gehabt, und wenn man nicht ſelbſt das, was ſich jezt
ereignet hat, als etwas Angenehmes betrachtet hätte,
deſſen Spuren man ja doch habe entſtehen ſehen
müſſen. So lieb mir dieſe Anſicht war, weil ſie die
Geſinnungen meiner Angehörigen gegen mich aus¬
drückte, ſo konnte ich doch nicht umhin, zu denken,
daß nur die Meinigen die Sache ſo betrachten, weil
ſie eben die Meinigen ſind, und daß ſie mich auch
darum des Empfangenen für würdig erachteten. Ich
aber wußte es anders, weil ich Natalien und ihre
Umgebung kannte, und ihren Werth zu ahnen ver¬
mochte. Ich konnte das, was mir begegnete, nur
als ein Glück anſehen, welches mir ein günſtiges
Schickſal entgegen geführt hatte, und deſſen immer
würdiger zu werden ich mich beſtreben müſſe.
Mein Vater ſagte, es ſei alles gut, die Mutter
ließ in wehmüthiger und freudiger Stimmung immer
wieder die Worte fallen, daß denn ſo gar nichts für
ein ſo wichtiges Verhältniß vorbereitet ſei; die Schwe¬
ſter ſah mich öfter ſinnend und betrachtend an.
[109]
Ich ſprach die Bitte aus, daß die Eltern mir nun
beiſtehen müßten, das, was in den gegenwärtigen
Verhältniſſen zu thun ſei, auf das Schicklichſte zu
thun, und ich legte auch den Wunſch dar, daß ich
nach des Vaters Anſicht eine größere Reiſe unter¬
nehmen möchte.
„Es ſind mehrere Dinge nöthig,“ ſagte der Vater.
„Zuerſt, glaube ich, erwartet man von deinen Eltern
eine Annäherung an ſie; denn die Angehörigen der
Braut können ſich nicht ſchicklich zuerſt den Angehörigen
des Bräutigams vorſtellen. Außerdem hat mir dein
Gaſtfreund Liebes erwieſen, was ich ihm noch nicht
habe vergelten können. Ferner hat dir dein Gaſtfreund
Mittheilungen zu machen, die er für nothwendig hält;
und endlich ſollteſt du wirklich, wie du auch ſelber
wünſcheſt, eine größere Reiſe machen, um wenigſtens
im Allgemeinen Menſchen und Welt näher kennen zu
lernen. Was deine Gegenleute thun werden, iſt ihre
Sache, und wir müſſen es erwarten. Unſere Angele¬
genheit iſt jezt, das, was uns obliegt, auf ſolche
Weiſe zu thun, daß wir uns weder vordrängen, noch
daß etwas geſchehe, was wie geringere Achtung deſſen
ausſähe, was uns durch dieſe Verbindung gebothen
wird. Ich glaube, die natürlichſte Ordnung wäre fol¬
[110] gende. Du mußt zuerſt die Mittheilungen deines
Freundes anhören, weil ſie dir zuerſt ohne Bedingung
angetragen worden ſind. Dann werde ich mit deiner
Mutter eine Reiſe zur Mutter deiner Braut machen
und bei dieſer Gelegenheit deinen Gaſtfreund beſuchen.
Endlich magſt du den Vorſchlag thun, daß du eine
Reiſe zu höherer Ausbildung zu unternehmen wün¬
ſcheſt. Weil aber dein Gaſtfreund ſelber geſagt hat,
daß du, ehe er dir ſeine Mittheilungen macht, zu
größerer Ruhe kommen ſollſt, und weil es anderer¬
ſeits unziemend wäre, zu ſehr zu drängen, ſo kannſt
du nicht jezt ſogleich zu ihm gehen, und ihn um ſeine
Eröffnungen bitten, ſondern du mußt eine Zeit ver¬
fließen laſſen, und ihn ſpäter, vielleicht im Winter,
beſuchen. Dadurch ſieht er auch, daß du einerſeits nicht
zudringlich biſt, und daß du andererſeits, da du in
ungewohnter Jahreszeit zu ihm kömmſt, doch die
Sehnſucht zu erkennen gibſt, deine Sache zu fördern.
Und damit du gewiſſer zu der erforderlichen Ruhe ge¬
langeſt, ſchlage ich dir vor, mich aus einer kleinen
Reiſe in meine Geburtsgegend zu begleiten, die wir
in Kürze antreten können. Wenn du dann im Win¬
ter zu deinem Gaſtfreunde kömmſt, ſo kannſt du ihm
unſere Grüße bringen, und ihm ſagen, daß wir mit
[111] Beginn der ſchöneren Jahreszeit kommen und für dich
um die Hand der Tochter ſeiner Freundin werben
werden.“
Alle waren mit dieſem Vorſchlage vollkommen ein¬
verſtanden. Beſonders freute ſich die Mutter, als ſie
hörte, daß der Vater von freien Stücken auf einen
Reiſeplan gekommen ſei, deſſen Richtung ſie gar nicht
errathen hätte.
„Ich muß mich ja üben,“ erwiederte er, „wenn
ich im Frühlinge eine Reiſe in das Oberland
bis in die Nähe der Gebirge antreten ſoll, die uns
auch in den Roſenhof bringt, und weiß Gott, wie
weit noch führen kann; denn wenn Leute, die immer
zu Hauſe ſind, einmal von der Wanderungsluſt er¬
griffen werden, dann können ſie auch ihres Reiſens
kein Ende finden, und beſuchen Gegend um Gegend.“
Ich aber ſagte hierauf: „Weil Klotilde nie die
Gebirge geſehen hat, weil ſie in dieſer ganzen Ange¬
legenheit am weiteſten zurückgeſezt iſt, weil ich ihr
immer verſprochen habe, ſie in die Berge zu führen,
und weil die Erfüllung dieſes Verſprechens durch meine
größere Reiſe wieder hinaus geſchoben werden könnte:
ſo mache ich ihr den Vorſchlag, mit mir, wenn ich
mit dem Vater von unſerer kleinen Reiſe zurückgekom¬
[112] men bin, einen Theil des Herbſtes in dem Hochgebirge
zuzubringen. Die Tage des Herbſtes, ſelbſt die des
Spätherbſtes, ſind in den Gebirgen meiſtens ſehr
ſchön, und wir können in den klaren Lüften weiter her¬
um ſehen, als es oft in dem ſchwülen und gewitter¬
reichen Dunſtkreiſe der Monate Juni oder Juli mög¬
lich iſt.“
Klotilde nahm dieſen Vorſchlag mit Freude an,
und ich verſprach ihr, in den Tagen, die noch bis zu
meiner Abreiſe mit dem Vater verfließen werden, alles
anzugeben, was ſie an Kleidern und ſonſtigen Din¬
gen zu der Gebirgsreiſe bedürfe, welche Gegenſtände
ſie dann während meiner Abreiſe vorrichten laſſen
könne.
„Wenn ich zu den Mittheilungen meines Freun¬
des an Ruhe gewinnen muß,“ ſezte ich hinzu, „ſo könn¬
ten dieſe Reiſen das beſte Mittel dazu abgeben.“
Der Vater und die Mutter waren mit meinem
Vorſchlage ſehr zufrieden. Die Mutter ſagte nur, ſie
werde an den Vorbereitungen Klotildens mitarbeiten,
und beſonders darauf ſehen, daß alles vorhanden ſei,
was zu dem Schuze der Geſundheit gehöre.
Ich erwiederte, daß das ſehr gut ſei, und daß ich
auch bei der Reiſe ſelber alle Maßregeln ergreifen
[113] werde, daß Klotildens Geſundheit keinen Schaden
leide.
Wir fingen wirklich am andern Tage an, die
Dinge zu bereden, welche Klotilde zur Reiſe brauche.
Sie ging rüſtig an die Anſchaffung. Ich entwarf ein
Verzeichniß der Nothwendigkeiten, welches ich nach
und nach ergänzte. Als einige Zeit verfloſſen war,
glaubte ich es ſo vervollſtändigt zu haben, daß nun
nicht leicht mehr etwas Weſentliches vergeſſen wer¬
den konnte.
Indeſſen rückte auch der Tag heran, an welchem
ich mit dem Vater abreiſen ſollte.
Am frühen Morgen desſelben ſezten wir uns in
den leichten Reiſewagen, deſſen ſich der Vater immer
bedient hatte, wenn er größere Entfernungen zurück¬
legen mußte. Jezt war er lange nicht mehr aus dem
Wagenbehältniß gekommen. Auf Anordnung der
Mutter wurde er einige Tage vorher von Sachkundi¬
gen genau unterſucht, ob er nicht heimliche Gebrechen
habe, welche uns in Schaden bringen könnten. Als
dies einſtimmig verneint worden war, gab ſie ſich zu¬
frieden. Wir hatten Poſtpferde, wechſelten dieſelben
an gehörigen Orten, und hielten uns in ihnen ſo
lange auf, als es uns beliebte. Gegen jeden Abend
Stifter, Nachſommer. III. 8[114] ließ der Vater noch bei Tageslicht halten, es wurde
das Nachtlager beſtellt, und wir machten vor dem
Abendeſſen einen Spaziergang. In dieſen Tagen, an
denen ich mehr Stunden hintereinander ununterbro¬
chen mit dem Vater zubrachte, als dies je vorher der
Fall geweſen war, ſprach ich auch mehr mit ihm als je
zu einer anderen Zeit. Wir ſprachen von Kunſtdingen:
er erzählte mir von ſeinen Bildern, ſagte mir manches
über ihre Erwerbung, was ich noch nicht wußte, und
verbreitete ſich in guter Rede über ihren Kunſtwerth,
er kam auf ſeine Steine, und erklärte mir manches;
wir ergingen uns in Büchern, die uns beiden geläufig
waren, ſezten ihren Werth, wenn er dichteriſch oder
wiſſenſchaftlich war, auseinander, und erinnerten uns
gegenſeitig an Theile des Inhaltes; wir ſprachen auch
von Zeitereigniſſen und von der Lage unſers Staates.
Er erzählte mir endlich von ſeinem kaufmänniſchen
Geſchäfte, und machte mich mit deſſen Grundlagen
und Stellungen bekannt. Er zeigte mir Theile der
Gegend, durch die wir fuhren, und unterrichtete mich
von dem Schickſale mancher Familie, die in dieſem
oder jenem Abſchnitte der Landſchaft wohnten. Unter
dieſen Verhältniſſen kamen wir am vierten Tage an
dem Orte unſerer Beſtimmung an. Die Gegend war
[115] mir völlig unbekannt, weil mich meine Wanderungen
nie hieher getragen hatten.
Am Saume des Waldes, der den Norden unſeres
Landes begrenzt, ging ein Thal hin, das einſt Wald
geweſen war, und das jezt zerſtreute Häuſer, einzelne
Felder, Wieſen, Felſen, Schluchten und rinnende
Waſſer in ſeinem Bereiche hegte. Eines der Häuſer,
halb aus Holz gezimmert und halb gemauert, war
das Geburthaus meines Vaters. Es ſtand am Rande
eines Wäldchens, das von dem großen Walde her¬
ſtammte, der einſt dieſe ganzen Gegenden bedeckt hatte.
Es war gegen Weſt durch eine Gruppe ſehr großer
und dicht ſtehender Buchen gedeckt, daß ihm die Winde
von dorther wenig anhaben konnten, hatte gegen Oſt
den Schuz eines Felſens, im Norden den des gro¬
ßen Waldbandes, und ſchaute gegen Süden auf
ſeine nicht unbeträchtlichen Wieſen und Felder, deren
Ergiebigkeit in Getreide gering in Futterkräutern
außerordentlich war, weßhalb der größere Reichthum
auch in Heerden beſtand. Wir fuhren in das Gaſt¬
haus des Thales, ließen unſere Reiſedinge abpacken,
beſtellten uns auf einige Tage Wohnung, und beſuch¬
ten dann die ſehr entfernten Verwandten, welche jezt
des Vaters Stammhaus bewohnten. Es war gegen
8 *[116] Mittag. Sie nahmen uns, da wir uns entdeckt hat¬
ten, ſehr freundlich auf, und verlangten, daß wir
unſer Gepäcke holen laſſen und bei ihnen wohnen
ſollten. Nur auf die dringenden Vorſtellungen des
Vaters, daß wir ihnen die Bequemlichkeit nähmen
und ſelber keine gewännen, gaben ſie nach, und ver¬
langten nur noch, daß wir zum bevorſtehenden Mit¬
tageſſen bei ihnen bleiben ſollten, was wir annahmen.
Da wir nun in der großen Wohnſtube ſaßen,
zeigte mir der Vater den geräumigen Ahorntiſch, bei
dem er und ſeine Geſchwiſter ihre Nahrung einge¬
nommen hatten. Der Tiſch war alt geworden, aber
der Vater ſagte, daß er noch in derſelben Ecke ſtehe,
von den zwei Fenſtern beglänzt, und von der herein¬
ſcheinenden Sonne beleuchtet wie einſt. Er zeigte mir
ſeine geweſene neben der Stube befindliche Schlaf¬
kammer. Dann gingen wir hinaus, er wies mir die
Treppe, die auf den hölzernen Gang führte, welcher
rings um den Hof lief, und den Quell, der ſich noch
immer mit hellem Waſſer in den Granittrog ergoß,
welchen ſchon ſein Urgroßvater hatte hauen laſſen,
er wies mir den Stall die Scheune und hinter ihr
den Waldweg, auf dem er noch ein halbes Kind mit
einem Stabe in der Hand die Heimath verlaſſen habe,
[117] um in der Fremde ſein Glück zu ſuchen. Wir gingen
ſogar in das Freie und dort herum. Der Vater blieb
häufig ſtehen, und erinnerte ſich noch der Fruchtgat¬
tungen, welche auf verſchiedenen Stellen geſtanden
waren, als er mit einem Täfelchen, darauf ſich rothe
und ſchwarze Buchſtaben befanden, in das eine Vier¬
telſtunde entlegene hölzerne Haus ging, das an der
Straße ſtand, von Buchen umgeben war, und die
Schule für alle Kinder des Thales vorſtellte. Er
ſagte, es ſei alles noch wie zur Zeit ſeiner Kindheit,
die nehmlichen Begrenzungen die nehmlichen kleinen
Feldwege und dieſelben Waſſergräben und Quellrinn¬
ſale. Er ſagte, es ſei ihm, als ſtänden ſogar dieſelben
Arnicablumen auf der Wieſe, die er als Knabe ange¬
ſchaut habe, und da er mich zu dem Steinbühl ge¬
führt hatte, der am Rande der Felder lag, ſo rag¬
ten die Himbeerzweige empor, rankten ſich die dor¬
nenreichen Brombeerreben um die Steine, und wu¬
cherten die Erdbeerblätter, gerade wie die, von denen
er als Knabe gepflückt hatte. Vom Steinbühl gingen
wir zu dem einfachen Eſſen, das wir mit unſern Ver¬
wandten verzehrten. Nach demſelben beſuchten wir
mit dem jezigen Eigenthümer alle Beſizungen. Der
Vater ſagte, dort habe ſein Vater gepflügt geegt ge¬
[118] graben, hier habe ſeine Mutter mit der Schweſter der
Magd und den Tagelöhnern Heu gemacht, dort ſeien
die Kühe und Ziegen gegen den Wald hinan gegan¬
gen, wie ſie jezt gehen, und die Seinigen haben aus¬
geſehen, wie die Leute jezt ausſehen.
Als wir zurückgekehrt waren, verabſchiedeten wir
uns, der Vater dankte für die Bewirthung, und ſagte,
daß er gegen den Abend noch einmal in das Haus
kommen werde.
Da wir uns in dem Zimmer unſeres Gaſthofes
befanden, öffnete der Vater ſeinen Koffer, und nahm
allerlei Dinge aus demſelben hervor, welche zu Ge¬
ſchenken für die Bewohner des Hauſes beſtimmt
waren, in dem wir geſpeiſt hatten. Ich war von
ihm nie in die Kenntniß geſezt worden, welche Be¬
wohner wir in ſeinem Vaterhauſe treffen würden,
er mußte ſie wohl auch ſelber nicht genau gekannt
haben. Ich war alſo nicht mit Geſchenken ver¬
ſehen. Der Vater hatte aber auch für dieſen Fall
geſorgt, er gab mir mehrere Dinge beſonders Stoffe
kleine Schmuckſachen und Ähnliches, um es bei unſe¬
rem Abendbeſuche in dem Hauſe auszutheilen. Er
hatte nicht gleich bei ſeiner Ankunft die Geſchenke mit¬
nehmen wollen, weil er es, obwohl die Leute nur die
[119] gewöhnlichen Thalbewohner dieſer Gegend waren,
für unſchicklich hielt, mit Gaben belaſtet das Haus
zu betreten, und ihnen gleichſam ſagen zu wollen:
„Ich glaube, daß ihr das für das Wichtigſte haltet.“
Jezt aber war er ihnen etwas ſchuldig geworden, und
konnte den Dank für die gute Aufnahme abſtatten.
Als wir die Geſchenke in dem Hauſe vertheilt,
und dafür die Freude und den Dank der Empfänger
geerntet hatten, die in zwei Eheleuten mittlerer Jahre
in deren zwei Söhnen einer Tochter und in einer
alten Großmutter beſtanden, — den Knecht und die
zwei Mägde nicht gerechnet — war es mittlerweile
Nacht geworden, und wir kehrten wieder in unſere
Herberge zurück.
Wir blieben noch vier Tage in der Gegend. Der
Vater beſuchte in meiner Begleitung viele Stellen,
die ihm einſt lieb geweſen waren, einen kleinen
See, einen Felsblock, von dem eine ſchöne Ausſicht
war, eine Gartenanlage in einem nicht ſehr entfern¬
ten ſchloßähnlichen Gebäude, die hölzerne Schule,
und vor allen die eine und eine halbe Wegeſtunde
entfernte Kirche, welche das Gotteshaus des Thales
war, und um welche der Kirchhof bog, in welchem
ſein Vater und ſeine Mutter ruhten. Eine weiße
[120] Marmortafel, die er und ſein Bruder hatten ſezen
laſſen, ehrte ihr Angedenken. Sonſt ging der Vater
auch faſt in allen Zeiten des Tages auf den Wegen
der Felder und des Waldes herum.
Am fünften Tage traten wir die Rückreiſe zu den
Unſrigen an.
Wir waren am frühen Morgen noch zu unſern
Verwandten gegangen. Sie waren, wie es bei Land¬
leuten in ſolchen Fällen gebräuchlich iſt, ſchöner an¬
gekleidet als ſonſt und erwarteten uns. Wir nahmen
in herzlicher Weiſe Abſchied. Ich verſprach, da ich
ohnehin das Wandern gewohnt ſei, und viele Gegen¬
den beſuche, auch hieher wieder zu kommen, und
noch öfter in dem kleinen Hauſe vorzuſprechen. Der
Vater ſagte, es könne ſein, daß er wieder komme,
oder auch nicht, wie es ſich eben beim Alter füge.
Man müſſe erwarten, was Gott gewähre. Die Leute
begleiteten uns in das Gaſthaus, und blieben da,
bis wir den Wagen beſtiegen hatten. Aus den Wor¬
ten ihres Abſchiedes und ihrer Dankſagungen erkannte
ich, daß der Vater ihnen auch eine Summe Geldes
gegeben haben müſſe. Sie ſahen uns ſehr lange nach.
Im Fortfahren war der Vater anfangs ernſt und
wortkarg, es mochte ihm das Herz ſchwer geweſen
[121] ſein. Später entwickelte ſich bei uns wieder ein Ver¬
kehr der Rede, wie er auf der Herreiſe geweſen war.
Am Abende des dritten Tages nach unſerer Abfahrt
waren wir wieder in dem Hauſe in der Vaterſtadt.
Die Mutter war ſehr erfreut, daß der Aufenthalt
von eilf Tagen in der freien Luft für den Vater von
ſo wohlthätigen Folgen geweſen ſei. Seine Wangen
haben ſich nicht nur ſchön roth gefärbt, ſie ſeien auch
voller geworden, und das Auge ſei weit klarer, als
wenn es immer auf das Papier ſeiner Schreibſtube
geblickt hätte.
„Das iſt nur die Wirkung des Anfangs und eine
Folge des Reizes des Wechſels auf die körperlichen
Gebilde,“ ſagte der Vater, „im Verlaufe der Zeit ge¬
wöhnt ſich Blut Muskel und Nerv an die freie Luft
und Bewegung, und das erſte röthet ſich nicht mehr
ſo, und die lezten ſchwellen. Allerdings aber wirkt
viel Aufenthalt in freier Luft und gehörige Bewegung,
in welche ſich keine Sorgen miſchen, weit günſtiger
auf die Geſundheit, als ein ſtetiges Sizen in Stuben
und ein Hingeben an Gedanken für die Zukunft.
Wir werden ſchon einmal, und wer weiß wie nahe
die Zeit iſt, auch dieſes Glück genießen und uns recht
darüber freuen.“
[122]
„Wir werden uns freuen, wenn du es genießeſt,“
erwiederte die Mutter, „du entbehrſt es am meiſten
und dir iſt es am nöthigſten. Wir andern können in
unſern Garten und in die Umgebung der Stadt gehen,
du ſuchſt immer die düſtere Stube. Weil du es aber
ſchon ſo oft geſagt haſt, ſo wird es doch einmal wahr
werden.“
„Es wird wahr werden, Mutter,“ antwortete der
Vater, „es wird wahr werden.”
Sie wendete ſich an uns, wir ſollen beſtättigen,
daß der Vater nie ſo geſund und ſo heiter ausgeſehen
habe als nach dieſer kurzen Reiſe.
Wir gaben es zu.
Nun mußte aber auch noch auf eine andere Reiſe
gedacht werden, weil heuer einmal der Sommer der
Reiſen war, und wir mußten dieſelbe ins Werk ſezen,
meine und Klotildens Fahrt ins Gebirge. Der Herbſt
war ſchon da, wie ich an den Buchenblättern um das
Geburthaus meines Vaters hatte wahrnehmen kön¬
nen, die bereits im Begriffe waren, die rothe Farbe
vor ihrem Abfallen zu gewinnen. Es war keine Zeit
mehr zu verlieren.
Für Klotilden waren die Vorbereitungen fertig,
ich brauchte keine, weil ich immer in Bereitſchaft war,
[123] und ſo konnten wir ungeſäumt unſere verabredete
Fahrt beginnen.
Die Mutter legte mir das Wohl der Schweſter
ſehr an das Herz, der Vater ſagte, wir ſollen die
Muße nach unſerer beſten Einſicht genießen, und ſo
fuhren wir bei dem Aufgange einer klaren Herbſtſonne
aus dem Thore unſeres Hauſes.
Ich wollte die Schweſter, welche ihre erſte größere
Reiſe machte, nicht der Berührung mit andern Men¬
ſchen in einem gemeinſchaftlichen Wagen ausſezen, da
man deren Weſen und Benehmen nicht voraus wiſſen
konnte; deßhalb zog ich es vor, mit Poſtpferden ſo
lange zu fahren, als es mir gut erſcheinen würde,
und dann die Art unſers Weiterkommens im Gebirge
je nach der Sachlage zu beſtimmen. Es hatte dieſe
Art zu reiſen noch den Vortheil, daß ich anhalten
konnte, wo ich wollte, und daß ich der Schweſter
manches erklären durfte ohne dabei auf jemand Rück¬
ſicht nehmen zu müſſen, der als Zeuge gegenwärtig
wäre. Auch konnten wir uns in unſeren geſchwiſter¬
lichen Geſprächen über unſere Angehörigen unſer
Haus und andere Dinge nach der freien Stimmung
unſerer Seele bewegen. Auf dieſe Art fuhren wir
zwei Tage. Ich gönnte ihr öfter Ruhe, da ſie ein
[124] fortwährendes Fahren nicht gewohnt war, und endete
immer noch lange vor Abend unſere Tagreiſe. Wir
ſahen die Berge ſchon immer in der Nähe von eini¬
gen Meilen mit unſerem Wege gleich laufen; aber
ihre Theile waren hier weniger wichtig. Es war mir
äußerſt lieblich, die Geſtalt der Schweſter neben mir
in dem Wagen zu wiſſen, ihr ſchönes Angeſicht zu
ſehen, und ihren Athem zu empfinden. Ihre ſchwe¬
ſterliche Rede und die friſche Weiſe, alles, was ihr
neu war, in die vollkommen klare Seele aufzuneh¬
men, war mir unausſprechlich wohlthätig.
Am Vormittage des dritten Tages ließ ich ſie
ruhen. Für den Nachmittag miethete ich einen Wagen,
und wir fuhren von der Poſtſtraße weg gerade dem
Gebirge zu. Unſere Fahrt war von angenehmer und
heiterer Stimmung begleitet, und wir ergingen uns
in manigfaltigen Geſprächen. Als die blauen Berge
in der klaren Luft, die einen milchig grünlichen Schim¬
mer hatte, uns entgegen traten, leuchtete ihr Auge
immer freundlicher, und ihre Mienen waren theil¬
nehmend der Gegend, in die wir fuhren, zugekehrt.
Gleich wie bei dem Vater rötheten ſich nach dieſer
dreitägigen Reiſe auch ihre zarten Wangen, und ihre
Augen wurden glänzender. So kamen wir endlich an
[125] dem Orte an, den ich für unſere Nachtruhe beſtimmt
hatte. An demſelben rauſchte die grüne Afel mit ihren
Gebirgswäſſern vorüber, welches Rauſchen durch ein
ſchief über das Flußbett gezogenes Wehr noch ver¬
mehrt wurde. Waldhänge in langen Rücken began¬
nen ſchon ſich zu erheben, und oberhalb des dunkeln
Randes eines bedeutend hohen Buchenwaldes blickte
bereits das rothe Haupt eines im Abende glühenden
Berges herein, auf welchem ſchon einzelne Strecken
von Schnee lagen.
Des andern Tages miethete ich ein Gebirgswägel¬
chen, wie ſie zum Fortkommen auf Wegen, die nicht
Poſtſtraßen ſind, in den Gebirgen am beſten dienen,
und deren Pferde an die Gegenſtände des Gebirges
und an die Beſchaffenheit ſeiner Wege gewöhnt und
daher am zuverläſſigſten ſind. Wir brachten unſere
Sachen in demſelben, ſo gut es ging, unter, und
fuhren der glänzenden Afel entgegen, immer tiefer in
die Berge hinein. Ich nannte jeden Namen eines
vorzüglichen Berges, machte auf die Bildungen auf¬
merkſam, und ſuchte die Farben die Lichter und die
Schatten zu erörtern. Überall begannen ſchon die
Laubwälder die röthliche und gelbliche Färbung anzu¬
[126] nehmen, was den Hauch über all den Geſtaltungen
noch lieblicher machte.
Da ich in eine gewiſſe Tiefe des Gebirges gekom¬
men war, änderte ich die Richtung und fuhr nun nach
der Länge desſelben hin. Als zwei Tage vergangen
waren, und der dritte auch ſchon dem Nachmittag zu¬
neigte, blickte uns aus der Tiefe des Thales das Ge¬
wäſſer des Lauterſees entgegen. Wir kamen um den
Rücken eines breiten Waldberges herum, und die
Glanzſtellen entwickelten ſich immer mehr. Endlich
lag der größte Theil des Spiegels unter dem Ge¬
zweige der Tannen der Buchen und der Ahorne zu
unſern Füſſen. Wir ſanken mit unſerem Wäglein
auf dem ſchmalen Wege immer tiefer und tiefer,
bis wir nach etwa zwei Stunden an dem Ufer
des Sees anlangten, und die Steinchen in ſeinen
ſeichten Buchten hätten zählen können. Wir fuhren
an dem Ufer dahin, umfuhren eine kleine Strecke
des Sees, und kamen in dem Seewirthshauſe an.
Dort lohnte ich unſern Fuhrmann ab, und mie¬
thete uns für mehrere Tage ein. Klotilde mußte das¬
ſelbe Zimmer bekommen, welches ich während der
Zeiten meiner Vermeſſungen des Lauterſees innege¬
habt hatte. Ich begnügte mich mit einem kleineren
[127] Stübchen in ihrer Nähe. Man ſtaunte das ſchöne,
und wie man ſich ausdrückte, vornehme Mädchen an,
und ich gewann ſichtbar an Anſehen, da ich eine ſolche
Schweſter hatte. Alle, die ein Ruder führen konnten,
oder die geübt waren, Steigeiſen anzulegen und einen
Alpenſtock zu gebrauchen, kamen herzu, und bothen
ihre Dienſte an. Ich ſagte, daß ich ſie rufen werde,
wenn wir ſie bedürfen, und daß wir uns dann ihrer
Geſellſchaft ſehr erfreuen würden.
Zuerſt machte ich Klotilden ein wenig in ihrem
Zimmerchen wohnhaft. Ich zeigte ihr bedeutſame
Stellen, die ſie aus ihren Fenſtern ſehen konnte, und
nannte ihr dieſelben. Ich zeigte ihr, wie ich in ver¬
ſchiedenen Richtungen auf dem See gefahren war,
um ſeine Tiefe zu meſſen, und wie wir uns bald auf
dieſer bald auf jener Stelle des Waſſers feſtſezen mu߬
ten. Sie richtete ſich Farben und Zeichnungsgeräthe
zurechte, um zu verſuchen, ob ſie nicht auch nach der
unmittelbaren Anſchauung von den Räumen ihres
Zimmerchens aus etwas von den Geſtaltungen, die
ſie hier ſehen konnte, auf das Papier zu übertragen
vermöchte.
Die folgenden Tage brachten wir damit zu, in
den Umgebungen des Seehauſes Spaziergänge zu
[128] machen, damit Klotilde ſich ein wenig in dieſe Bil¬
dungen einlebe. Das vorausgeſagte ſchöne Wetter
war eingetroffen, es dauerte fort, und ſo konnten wir
uns der Freude und dem Vergnügen, welche dieſe
Gänge uns gewährten, um ſo ungeſtörter hingeben,
als auch der Stand unſerer Geſundheit ein vortreff¬
licher war und die Befürchtungen, welche die Mutter
und zum Theile auch ich in Hinſicht Klotildens ge¬
hegt hatten, nicht in Erfüllung gingen. Wir ſchickten
von hier aus Briefe nach Hauſe.
In der Folge der Tage führte ich ſie auf den See
hinaus. Ich führte ſie auf die verſchiedenen Theile, die
entweder an ſich ſchön und bedeutend waren, oder von
denen man ſchöne und merkwürdige Anblicke gewinnen
konnte. Ich unterſtüzte ſie mit allen meinen Erfahrun¬
gen, die ich mir durch meine mehrfältigen Aufenthalte
in dem Gebirge geſammelt hatte. Sie nahm alles mit
einer tiefen Seele auf, und durch meine Hilfe waren
ihr manche Umwege erſpart, welche diejenigen, die zum
erſten Male die Berge beſuchen, machen müſſen, ehe
es ihnen gelingt, ſich die Größe und Erhabenheit der
Gebirge aufſchließen zu können. Auf den Seefahrten
unterſtüzten uns zwei junge Schiffer, die meine ſteten
Begleiter bei meinen Meſſungen geweſen waren. Wir
[129] gingen auch bergan. Ich hatte Klotilden Fußbeklei¬
dungen machen laſſen, welche nach Innen weich, nach
Außen aber hart und dem rauhen Gerölle Widerſtand
leiſtend waren. Auf dem Haupte trug ſie einen be¬
quemen Schirmhut, und in der Hand einen eigens für
ſie gemachten Alpenſtock. Wenn wir auf die Höhen
kamen, wurde mit Freude die Ausſicht genoſſen.
Klotilde verſuchte auch nach der Anſchauung etwas zu
zeichnen und zu malen; aber die Ergebniſſe waren noch
weit mangelhafter als bei mir, da ſie einen geringeren
Vorrath von Erfahrung zu dem Verſuche brachte.
Nachdem über eine Woche vergangen war, führte
ich Klotilden mittelſt eines gleichen Fuhrwerkes, wie
wir ſie bisher im Gebirge gehabt hatten, in das
Lauterthal und in das Ahornhaus. Dort fanden wir
ein beſſeres Unterkommen als in dem Seehauſe, und
wir erhielten zwei nebeneinander befindliche geräumige
und freundliche Zimmer, deren Fenſter auf die Ahorne
vor dem Hauſe hinausgingen, und durch die gelben
Blätter derſelben auf die blauduftigen Höhen ſahen,
die vom Hauſe gegen den Süden ſtanden. Ich zeigte
meine Schweſter der Wirthin, ich zeigte ſie dem alten
Kaspar, der auf die Kunde meiner Ankunft ſogleich
herbei gekommen war, und ich zeigte ſie den andern,
Stifter, Nachſommer. III. 9[130] welche ſich gleichfalls reichlich eingefunden hatten. Es
war hier ein noch größerer Jubel als in dem See¬
hauſe, es freute ſie, daß eine ſolche Jungfrau in die
Berge gekommen, und daß ſie meine Schweſter ſei.
Sie bothen ihr Dienſte an, und näherten ſich mit eini¬
ger Scheu. Klotilde betrachtete alle dieſe Menſchen,
die ich ihr als meine Begleiter und Gehilfen bei mei¬
nen Arbeiten vorſtellte, mit Vergnügen, ſie ſprach mit
ihnen, und ließ ſich wieder erzählen. Sie lernte ſich
immer mehr in die Art dieſer Leute ein. Ich fragte
um meinen Zitherſpiellehrer, weil ich Klotilden dieſen
Mann zeigen wollte, und weil ich auch wünſchte, daß
ſie ſein außerordentliches Spiel mit eigenen Ohren
hören möchte. Wir hatten zu dieſem Zwecke unſere
beiden Zithern in unſerm Gepäcke mitgenommen.
Man ſagte mir aber, daß ſeit der Zeit, als ich ihnen
erzählt habe, daß er von meinen Arbeiten fortgegangen
ſei, kein Menſch weder in den nähern noch in den
fernern Thälern etwas von ihm gehört habe. Ich ſagte
alſo Klotilden, daß ſie keinen andern als die gewöhn¬
lichen einheimiſchen Zitherſpieler werde hören können,
wie ſie dieſelben auch bereits gehört habe, und wie ſie
ihr anziehender erſchienen ſeien als die Kunſtſpieler in
der Stadt und als ich, der ich wahrſcheinlich ein
[131] Zwitter zwiſchen einem Kunſtſpieler und einem Spie¬
ler des Gebirges ſei. Wir richteten uns in unſerem
Zimmer ein, und begannen ungefähr ſo zu leben, wie
wir in der Umgebung des Seehauſes gelebt hatten.
Ich führte Klotilden in das Echerthal zu dem Meiſter,
welcher unſere Zithern verfertiget hatte. Er beſaß noch
immer die dritte Zither, welche mit meiner und Klo¬
tildens ganz gleich war. Er ſagte, es ſeien zwar Käufer
von Zithern gekommen, die dieſe geprieſen hätten;
aber das ſeien Gebirgsleute geweſen, die nicht ſo viel
Geld haben, ſich eine ſolche Zither kaufen zu können.
Die Andern, welche die Mittel beſäſſen, vorzüglich
Reiſende, ziehen Zithern vor, welche eine ſchöne Aus¬
ſchmückung haben, wenn ſie auch theurer ſind, und
laſſen die ſtehen, deren Tugenden ſie nicht zu ſchäzen
wiſſen. Er ſpielte ein wenig auf ihr, er ſpielte mit
einer großen Fertigkeit; aber in jener wilden und
weichen Weiſe, mit welcher mein ſchweifender Jägers¬
mann ſpielte, und welche gerade dieſem Muſikgeräthe
ſo zuſagte, vermochte weder er zu ſpielen, noch hatte
ich jemanden ſo ſpielen gehört. Ich ſagte dem alten
Manne, daß das Mädchen meine Schweſter ſei, und
daß ſie auch eine von den drei Zithern beſize, von
denen er ſage, daß ſie die beſten ſeien, die er in
9 *[132] ſeinem Leben gemacht habe. Er hatte ſeine Freude
darüber, gab Klotilden ein Bündel Saiten und ſagte:
„Es ſind meine beſten Zithern, und werden wohl
auch meine beſten bleiben.“
Wir beſuchten die Thäler und einige Berge um
das Ahornhaus, und Kaspar oder ein anderer waren
zuweilen unſere Begleiter und Träger.
Ich führte Klotilden auch in das Häuschen, in
welchem ich die Pfeilerverkleidungen für den Vater
gekauft hatte, ich führte ſie in das ſteinerne Schloß,
in welchem ſie urſprünglich geweſen ſein mochten, und
ich führte ſie auch in das Rothmoor, wo ſie das Ar¬
beiten in Marmor betrachten konnte.
Wir blieben länger in dem Ahornhauſe, als wir
im Seehauſe geweſen waren, und alle Menſchen waren
hier noch freundlicher zutraulicher und hilfreicher als
dort. Die Wirthin war unermüdet in Dienſtanerbie¬
thungen gegen meine Schweſter. Zu Ende unſeres
Aufenthaltes traten hier kühle und regneriſche Tage
ein. Wir verbrachten ſie ſtill in der heitern Wohn¬
lichkeit des Hauſes. Aber aus der Beſchaffenheit des
Laubes an den Bäumen und dem Ausſehen der Herbſt¬
pflanzen auf den Matten, aus dem Verhalten der Thiere
und aus der Beſchaffenheit des Pelzes derſelben er¬
[133] kannte ich, daß die dauernde kalte und unfreundliche
Zeit noch nicht gekommen ſei, und daß noch warme
und klare Tage eintreten müſſen. Als daher das Wetter
ſich wieder aufheiterte, verließ ich mit Klotilden das
Ahornhaus, und ſchlug den Weg in das Kargrat ein.
Ich hatte mich in meinen Vorausſezungen nicht
getäuſcht. Nachdem zwei halb heitere und kühle Tage
geweſen waren, die wir mit Fahren zugebracht hatten,
zog wieder ein ganz heiterer zwar am Morgen kalter,
in ſeinem Verlaufe aber ſich ſchnell erwärmender Tag
über die beſchneiten Gipfel herauf, dem eine Reihe
ſchöner und warmer Tage folgte, die den Schnee auf
den Höhen und den, welcher das Eis der Gletſcher
bedeckt hatte, wieder weg nahmen, und das leztere
ſo weit ſichtbar machten, als es in dieſem Sommer
überhaupt ſichtbar geweſen war. Wir hatten am zweiten
dieſer ſchönen Tage das Kargrat erreicht. Die Reiſe
war darum von ſo langer Dauer geweſen, weil wir
kleine Tagefahrten gemacht hatten, und weil wir die
Berge hinan und hinab recht langſam gefahren waren.
Wir zogen in die Ärmlichkeit unſerer Wohnung, die
durch die Größe und Öde der Gegend, von welcher ſie
umgeben war, noch mehr herabgedrückt wurde, ein.
Am zweiten Tage nach unſerer Ankunft, da alles vor¬
[134] bereitet worden war, folgte mir Klotilde auf das
Simmieis. Es waren Führer Träger von Lebens¬
mitteln und von Allem, was auf einer ſolchen Wan¬
derung nothwendig oder nüzlich ſein konnte, und
endlich auch ſolche, die eine Sänfte hatten, mitge¬
gangen. Wir waren am erſten Tage bis zur Kar¬
zuflucht gekommen. Dort waren wir in dem aus
Holzblöcken für die Beſteiger der Karſpize gezimmerten
Häuschen über Nacht geblieben, hatten aus mitge¬
brachtem Holze Feuer gemacht, und uns unſer Abend¬
eſſen bereitet. Mit Anbruch des nächſten Tages
gingen wir weiter, und kamen im Glanze des Vor¬
mittages auf die Wölbung des Gletſchers. Daß an
eine Beſteigung der Karſpize nicht gedacht werden
konnte, war natürlich. Wir betrachteten hier nun,
was zu betrachten war, und als ſich Kälte in den
Gliedern einſtellen wollte, traten wir den Rückweg
an. In der Zuflucht wurden wieder Speiſen bereitet,
und dann gingen wir vollends hinab. Als wir
zurückgekehrt waren, ſank mir Klotilde faſt erſchöpft
an das Herz.
Ich legte am andern Tage Klotilden mehrere Zeich¬
nungen, die ich von Gletſchern ihren Einfaſſungen
Wölbungen Spaltungen Zuſammenſchiebungen und
[135] dergleichen gemacht hatte, vor, damit ſie in der
friſchen Erinnerung das Geſehene mit dem Abgebil¬
deten vergleichen konnte. Ich machte auf vieles
aufmerkſam, führte manches in ihr Gedächtniß zu¬
rück und erwähnte hier auch als an der geeignetſten
Stelle, wie ſehr die Abbildung hinter der Wirklichkeit
zurück bleibe. In den nächſten zwei Tagen beſuchten
wir noch verſchiedene Stellen, von denen wir das Eis
und die Schneegeſtaltungen dieſer Berge betrachten
konnten. Auch einen Waſſerſturz von einer ſteilrechten
Wand zeigte ich Klotilden. Hierauf aber begann ich,
auf unſere Rückreiſe zu den Eltern zu denken. Die
Zeit war nach und nach ſo vorgerückt, daß ein Auf¬
enthalt in dieſen hochgelegenen Räumen beſonders
für ein der Stadt gewohntes Mädchen nicht mehr er¬
ſprießlich war. Ich ſchlug daher Klotilden vor, nun
auf dem nächſten Wege durch das ebenere Land unſere
Heimath zu gewinnen zu ſuchen. Sie war damit ein¬
verſtanden. Von dem nächſten größeren Orte her wurde
ein Fuhrwerk beſtellt, welches uns auf die erſte Poſt
bringen ſollte. Wir nahmen von unſerer Wirthin
und ihrem Manne ſo wie von unſern Trägern und
Führern, die noch zum Empfange eines kleinen Ge¬
ſchenkes herbei gekommen waren, Abſchied, wir ver¬
[136] abſchiedeten uns von dem Pfarrer, der uns zuweilen
beſucht, und uns auf Schönheiten, von ſeinem kleinen
Geſichtskreiſe aus, aufmerkſam gemacht hatte, und
fuhren auf unſerem Karren, der nur mit einem Pferde
beſpannt war, auf dem ſchmalen Wege von dem Kar¬
grat hinab. Das Lezte, was wir von dem kleinen
Örtchen ſahen, war die mit Schindeln bedeckte Wand
des Pfarrhofes und die gleichfalls mit Schindeln be¬
deckte Wand der ſchmalen Seite der Kirche. Ich ſagte
Klotilden, daß dieſe Bedeckungen nothwendig ſeien,
um die in dieſen Höhen ſtark wirkende Gewalt des
Regens und des Schnees von dem Mauerwerke ab¬
zuhalten. Wir konnten nur noch einen Blick auf die
zwei Gebäude thun, dann trat eine Höhe zwiſchen
unſere Augen und ſie. Wir glitten mit unſerem Fuhr¬
werke ſehr ſchnell abwärts, wilde Gründe umgaben
uns, und endlich empfing uns der Wald, der die
Niederungen ſuchte, in ihnen dahin zog, und ſchon
wohnlicher und wärmer war. Wir kamen unter Wie¬
gen und Ächzen unſeres Wägleins immer tiefer und
tiefer, Fahrgeleiſe von Holzwegen, die den Wald
durchſtrichen, mündeten in unſere Straſſe, dieſe wurde
feſter und breiter, und wir fuhren zuweilen ſchon
eben und behaglich dahin.
[137]
Als wir den Ort erreicht hatten, an welchem ſich
die nächſte Poſt befand, lohnte ich den Führer meines
Wägleins ab, ſendete ihn zurück, und nahm Poſt¬
pferde. Wir fuhren in gerader Richtung auf dem
kürzeſten Wege aus dem Gebirge gegen das flachere
Land, um die Heerſtraße zu gewinnen, die nach un¬
ſerer Heimath führte. Immer mehr und mehr ſanken
die Berge hinter uns zurück, die milde Herbſtſonne,
die ſie beſchien, färbte ſie immer blauer und blauer,
die Höhen, die uns jezt begegneten, wurden ſtets
kleiner und kleiner, bis wir in das Land hinaus kamen,
deſſen Gefilde mit lauter dem Menſchen nuzbarem
Grunde bedeckt waren. Dort trafen wir auf die große
Straße. Bisher waren wir gegen Norden gefahren,
jezt änderten wir die Richtung, und fuhren dem Oſten
zu. Wir hatten auch beſſere Wägen.
Da wir einen Tag auf dieſer Straſſe gefahren
waren, ließ ich an einem Orte halten, und beſchloß,
einen Tag an demſelben zu bleiben; den Abend und
die Nacht brachten wir in Ruhe zu. Am andern Tage
gegen Mittag führte ich die Schweſter auf einen mäßig
hohen Hügel. Der Tag war ein ſehr ſchöner Herbſt¬
tag, der Schleier, welcher im Vormittage ſo Hügel
als Gründe zart umwebt hatte, war einer völligen
[138] Klarheit gewichen. Ich befeſtigte mittelſt Schrauben
mein Fernrohr an dem Stamme einer Eiche, und
richtete es. Dann hieß ich Klotilden durchſehen, und
fragte ſie, was ſie ſähe.
„Ein hohes dunkles Dach,“ ſagte ſie, „aus wel¬
chem mehrere breite und mächtige Rauchfänge empor
ragen. Unter dem Dache iſt ein Gemäuer von eben¬
falls dunkler Farbe, in welchem große Fenſter in ge¬
mäßen Entfernungen ſtehen. Das Gebäude ſcheint
ein Viereck zu ſein.“
„Und was ſiehſt du weiter, Klotilde, wenn du
das Rohr in die Umgebungen des Gebäudes richteſt?“
fragte ich.
„Bäume, die hinter dem Hauſe ſtehen, gleichſam
wie ein Garten,“ antwortete ſie. „Die Mauern des
Gebäudes ſind dort licht wie die unſerer Häuſer. Dann
ſehe ich Felder, in ihnen wieder Bäume, hie und da ein
Haus, und endlich wolkenartige Spizen, die wie das
Hochgebirge ſind, das wir verlaſſen haben.“
„Es iſt das Hochgebirge,“ antwortete ich.
„Iſt das etwa — —?“ fragte ſie, den Kopf von
dem Fernrohre wegwendend und mich anſehend.
„Ja, Klotilde, das Gebäude iſt der Sternenhof,“
antwortete ich.
[139]
„Wo Natalie wohnt?“ fragte ſie.
„Wo Natalie wohnt, wo die edle Mathilde ver¬
weilt, wo ſo treffliche Menſchen ein und aus gehen,
wohin meine Gedanken ſich mit Empfindung wenden,
wo ſanfte Gegenſtände der Kunſt thronen, und wo
ein liebes Land um all die Mauern herum liegt,“
antwortete ich.
„Das iſt der Sternenhof!“ ſagte Klotilde, blickte
wieder in das Fernrohr, und ſah lange durch dasſelbe.
„Ich habe dich mit Freude auf dieſen Hügel ge¬
führt, Klotilde,“ ſagte ich, „um dir dieſen Ort zu
zeigen, in dem mein warmes Herz ſchlägt, und ein
tiefer Theil von meinem Weſen wohnt.“
„Ach lieber theurer Bruder,“ antwortete ſie, „wie
oft gehen meine Gedanken an den Ort, und wie oft
weilt mein Gemüth in ſeinen mir noch unbekannten
Mauern!“
„Du begreifſt aber,“ ſagte ich, „daß wir jezt nicht
hingehen können, und daß die Angelegenheit ihre
naturgemäße Entwickelung haben muß.“
„Ich begreife es,“ antwortete ſie.
„Du wirſt ſie ſehen, an deinem Herzen halten,
und ſie lieben,“ ſagte ich.
Klotilde ſah wieder in das Rohr, ſie ſah ſehr
[140] lange in dasſelbe, und betrachtete alles genau. Ich
lenkte ihren Blick auf die Theile, die mir wichtig
ſchienen, erklärte ihr alles, und erzählte von dem
Schloſſe und von denen, die in demſelben ſind.
Es war indeſſen der Mittag gekommen, wir
löſten das Fernrohr ab, und gingen langſam unſerer
Wohnung zu.
„Kann man hier nicht auch das Roſenhaus deines
Freundes ſehen?“ fragte ſie im Heimgehen.
„Hier nicht,“ erwiederte ich, „hier iſt nicht einmal
der höchſte Theil der Roſenhausgegend zu erblicken,
weil der Kronwald, den du gegen Norden ſiehſt, ſie
deckt. Im Weiterfahren werden wir auf einen Hügel
kommen, von dem aus ich dir die Anhöhe zeigen kann,
auf welcher das Haus liegt, und von dem aus du mit
dem Fernrohre das Haus ſehen kannſt.“
Wir gingen in unſere Wohnung, und am nächſten
Tage fuhren wir weiter. Als wir an die Stelle ge¬
kommen waren, von welcher man die Höhe des Asper¬
hofes ſehen konnte, ließ ich halten, wir ſtiegen aus,
ich zeigte Klotilden den Hügel, auf welchem das Haus
meines Gaſtfreundes liegt, richtete das Fernrohr, und
ließ ſie durch dasſelbe das Haus erblicken. Wir waren
aber hier ſo weit von dem Asperhofe entfernt, daß man
[141] ſelbſt durch das Fernrohr das Haus nur als ein weißes
Sternchen ſehen konnte. Nach deſſen Betrachtung
fuhren wir wieder weiter.
Als nach dieſem Tage der dritte vergangen war,
fuhren wir gegen Abend durch den Thorweg des Vor¬
ſtadthauſes unſerer Eltern ein.
„Mutter,“ rief ich, da uns dieſe und der Vater,
der unſere Ankunft gewußt hatte, und daher zu Hauſe
geblieben war, entgegen kamen, „ich bringe ſie dir
geſund und blühend zurück.“
Wirklich war Klotilde, wie es dem Vater auf ſei¬
ner kleinen Reiſe ergangen war, durch die Luft und
die Bewegung kräftiger heiterer und in ihrem Ange¬
ſichte reicher an Farbe geworden, als ſie es je in der
Stadt geweſen war.
Sie ſprang von dem Wagen in die Arme der
Mutter und begrüßte dieſe und dann auch den Vater
freudenvoll; denn es war das erſte Mal geweſen, daß
ſie die Eltern verlaſſen hatte, und auf längere Zeit in
ziemlicher Entfernung von ihnen geweſen war. Man
führte ſie die Treppe hinan, und dann in ihr Zimmer.
Dort mußte ſie erzählen, erzählte gerne, und unter¬
brach ſich öfter, indem ſie das inzwiſchen heraufge¬
brachte Gepäck aufſchloß, und die manigfaltigen Dinge
[142] heraus nahm, die ſie in den verſchiedenen Ortſchaften
zu Geſchenken und Erinnerungen gekauft oder an man¬
cherlei Wanderſtellen geſammelt hatte. Ich war eben¬
falls mit in ihr Zimmer gegangen, und als wir ge¬
raume Weile bei ihr geweſen waren, entfernten wir
uns, und überließen ſie einer nothwendigen Ruhe.
Nun folgte für Klotilden faſt eine Zeit der Be¬
täubung, ſie beſchrieb, ſie erzählte wieder, ſie ſezte ſich
vor Zeichnungen hin, blätterte in ihnen, oder zeich¬
nete ſelber, und ſuchte in der Erinnerung Geſehenes
nachzubilden.
Aber auch für mich war dieſe Reiſe nicht ohne
Erfolg geweſen. Was ich halb im Scherze halb im
Ernſte geſagt hatte, daß ich durch dieſe Reiſe zu einer
größeren Ruhe kommen werde, iſt in Wirklichkeit ein¬
getroffen. Klotilde, welche alle die Gegenſtände, die
mir längſt bekannt waren, mit neuen Augen ange¬
ſchaut, welche alles ſo friſch, ſo klar und ſo tief in ihr
Gemüth aufgenommen hatte, hatte meine Gedanken
auf ſich gelenkt, hatte mir ſelber etwas Friſches und
Urſprüngliches gegeben, und mir Freude über ihre
Freude mitgetheilt, ſo daß ich gleichſam geſtärkter und
befeſtigter über meine Beziehungen nachdenken, und ſie
mir gewiſſermaſſen vor mir ſelber zurecht legen konnte.
[143]
Ich hatte mit Natalien keinen Briefwechſel verab¬
redet, ich hatte nicht daran gedacht, ſie wahrſchein¬
lich auch nicht. Unſer Verhältniß erſchien mir ſo hoch,
daß es mir kleiner vorgekommen wäre, wenn wir uns
gegenſeitig Briefe geſchickt hätten. Wir mußten in
der Feſtigkeit der Überzeugung der Liebe des Andern
ruhen, durften uns nicht durch Ungeduld vermindern,
und mußten warten, wie ſich alles entwickeln werde.
So konnte ich mit dem Gefühle von Seligkeit von
Natalien fern ſein, konnte mich freuen, daß alles ſo
iſt, wie es iſt, und konnte deſſen harren, was meine
Eltern und Nataliens Angehörige beginnen werden.
Klotilden, welche ihren Bergen Lüften Seen und
Wäldern die Farbe geben wollte, die ſie geſehen hatte,
ſuchte ich beizuſtehen, und zeigte ihr, worin ſie fehle,
und wie ſie es immer beſſer machen könne. Wir
wußten es jezt, daß man die zarte Kraft, wie ſie uns
in der Weſenheit der Hochgebirge entgegen tritt, nicht
darſtellen könne, und die Kunſt des großen Meiſters
mir in der beſten Annäherung beſtehe. Auch in ihrem
Beſtreben, die Art, wie ſie im Gebirge die Zither
ſpielen gehört hatte, und die eigenthümlichen Töne,
die ihr dort vorgekommen waren, nachzuahmen,
ſuchte ich ihr zu helfen. Wir konnten wohl beide
[144] unſere Vorbilder nicht völlig erreichen, freuten uns
aber doch unſerer Verſuche. Bei einigen Freunden
machte ich gelegentlich zwei oder drei Beſuche.
So war der Winter gekommen. Ich faßte, weil
ich ſchon nach dem Rathe des Vaters beſchloſſen hatte,
im Winter meinen Gaſtfreund zu beſuchen, zugleich
auch den Entſchluß, einmal im Winter in das Hoch¬
gebirge zu gehen, und, wenn dies möglich ſein ſollte,
einen hohen Berg zu beſteigen, und auf dem Eiſe
eines Gletſchers zu verweilen. Ich beſtimmte hierzu
den Januar als den beſtändigſten und meiſtens auch
klarſten Monat des Winters. Gleich nach ſeinem Be¬
ginne fuhr ich von dem Hauſe meiner Eltern ab, und
fuhr in dem flimmernden Schnee und in der blendenden
Hülle, die alle Fluren deckte, im Schlitten der Gegend
zu, in welcher meine Freunde lebten. Das Wetter
war ſchon durch zehn Tage beſtändig und mäßig kalt
geweſen, der Schnee war reichlich, und auf der
Bahn glitten die Fahrzeuge wie in den Lüften dahin.
Wie ich ſonſt nie anders als im offenen Wagen
fuhr, ſo fuhr ich auch jezt mit guten Pelzen verſehen
im offenen Schlitten, und freute mich der weichen
Hülle, die um meinen Körper war, und auch der,
die überall und allüberall lag, freute mich der
[145] ſchweigenden bereiften Wälder, der ruhenden Obſt¬
bäume, die ihre weißen Gitter ausſtreckten, der Häu¬
ſer, von denen der wohnliche Rauch aufſtieg, und
der Unzahl der Sterne, die Nachts in dem kalten und
finſteren Himmel feuriger funkelten als je ſonſt im
Sommer. Ich hatte vor, zuerſt die Gebirge und dann
meinen Gaſtfreund zu beſuchen.
Ich fuhr bis in die Nähe des Lauterthales, Da
ich die Straße verlaſſen ſollte, miethete ich einen ein¬
ſpännigen Schlitten, weil in den Seitenwegen, auf
denen man immer im Winter nur mit einem Pferde
fährt, die Bahn zu enge iſt, als daß zwei Pferde
ſicher neben einander gehen könnten, und fuhr
in das Thal und in das Ahornwirthshaus. Die
Ahorne ſtreckten ungeheure abenteuerlich geſtaltete
entblätterte und mit feinen Zweigen wie mit Bärten
verſehene Arme der winterlichen Luft entgegen, das
fenſterreiche Wirthshaus war in ſeiner braunen Farbe
gegen die Schneedecke auf ſeinem Dache und gegen
den Schnee, der überall ringsum lag, noch brauner
als ſonſt, und die Fichtentiſche vor dem Hauſe waren
abgebrochen und in Aufbewahrung gethan worden.
Die Wirthin empfing mich mit Erſtaunen und mit
Freude, daß ich in einer ſolchen Jahreszeit komme,
Stifter, Nachſommer. III. 10[146] und gab mir das beſte Verſprechen, daß meine Stube
ſo warm und heimlich ſein ſolle, als wehe kein
einziges Lüftchen hinein, und ſo licht, als ſchiene die
Sonne, wenn ſie überhaupt ſcheint, ſonſt nirgends
hin als auf meine Fenſter. Ich ließ meine Geräth¬
ſchaften in die Stube bringen, und bald loderte auch
ein luſtiges Feuer in dem Ofen derſelben, der aus¬
nahmsweiſe, wie es ſonſt in den Gebirgen faſt gar
nicht vorkömmt, von Innen zu heizen war. Die
Wirthin hatte es ſo einrichten laſſen, weil von Außen
der Zugang zu dem Ofen ſo ſchwer geweſen war.
Als ich mich ein wenig erwärmt, und meine Haupt¬
ſachen in Ordnung gebracht hatte, ging ich in die
allgemeine Gaſtſtube hinunter. In ihr waren ver¬
ſchiedene Leute anweſend, die der Weg vorbei führte,
oder die eine kleine Erquickung und ein Geſpräch ſuch¬
ten. Bei den vielen und ſehr nahe ſtehenden Fenſtern
drang ein reichliches Licht herein, ſo daß die Sonnen¬
ſtrahlen des Wintertages um die Tiſche ſpielten, was
um ſo wohlthätiger war, da auch eine behagliche
Wärme von den in dem großen Ofen brennenden
Klözen das Zimmer erfüllte. Ich fragte wieder um
meinen Zitherſpiellehrer, es hatte niemand etwas von
ihm gehört. Ich fragte um den alten Kaspar, er war
[147] geſund, und es wurde auf meine Bitte um ihn geſen¬
det. Ich ſagte, daß ich im Sinne hätte, von dem
Lauterſee in die Eisfelder der Echern hinaufzuſteigen.
Ich hätte Anfangs Luſt gehabt, das Simmieis an
der Karſpize zu beſuchen; aber der Zugang ins Kar¬
grat ſei mir im Winter ſehr unangenehm, und wenn
die Echern auch etwas tiefer liegen als die Simmen,
ſo ſeien ſie doch ſchöner, und von unvergleichlich
wohlgebildeten Felſen eingefaßt. Alle riethen mir von
meinem Unternehmen ab, es ſei im Winter nicht
durchzudringen, und die Kälte ſei auf den Bergen ſo
groß, daß ſie kein Menſch zu ertragen vermöge. Ich
widerlegte die Einwürfe vorerſt dadurch, daß ich ſagte,
es ſei eben im Winter niemand auf den Echern ge¬
weſen, wie ſie ſelber berichten, und daß man daher
nichts Sicheres wiſſen könne.
„Aber man kann es ſich denken,“ erwiederten viele.
„Erfahrung iſt noch beſſer,“ ſagte ich.
Indeſſen kam der alte Kaspar. Die Sache wurde
ihm gleich von den Anweſenden erzählt, und er rieth
auch entſchieden von dem Unternehmen ab. Ich ſagte,
daß viele Forſcher in Naturdingen im Winter ſchon
auf hohen Bergen geweſen ſeien, auf höheren als
den Echern, daß ſie dort Nächte und zuweilen auch
10 *[148] eine Reihe von Tagen und Nächten zugebracht haben.
Man wendete immer ein, das ſeien andere Berge ge¬
weſen, und in den hieſigen gehe es durchaus nicht.
Der alte Kaspar verſtand ſich endlich ganz allein
dazu, mich, wenn ich durchaus wolle, zu begleiten.
Aber das Wetter, meinte er, müßten wir uns ſorg¬
ſam dazu ausleſen. Ich erwiederte ihm, daß ich
Geräthe bei mir hätte, die mir anzeigen, wenn
eine ſchöne Zeit bevorſtehe, daß ich mich auch ein
wenig auf die Zeichen an dem Himmel verſtehe, und
daß ich ſelber auf den Höhen nicht gar gerne in einen
Schneeſturm oder in einen langedauernden Nebel ge¬
rathen möchte. Alle andern Leute, welche mir ſonſt
gerne bei meinen Bergarbeiten geholfen hatten, und
welche ich ebenfalls ins Wirthshaus hatte rufen
laſſen, lehnten es durchaus ab, mich im Winter in die
Echern zu begleiten. Dem Kaspar ſagte ich, er müſſe
ſich vorbereiten. Ich hätte ſelber verſchiedene Dinge
bei mir, von denen er ſich die ausſuchen könne, von
welchen er glaube, daß er ſie auf unſerer Wanderung
mitnehmen möge. Den Tag, an welchem wir zum
See hinunter gehen werden, würde ich ihm dann
ſchon ſagen. Ich ging unter den lebhafteſten Geſprä¬
chen der Anweſenden über dieſen Gegenſtand in meine
[149] Stube zurück, und brachte den Abend in derſelben zu.
Ich wußte, daß ſie nun tief in die Nacht hinein über
die Sache ſprechen würden, und daß in den nächſten
Tagen für das ganze Thal dieſe Unternehmung den
Stoff der Unterredungen bilden würde.
Es meldete ſich nun auch wirklich keiner mehr,
um mich und Kaspar zu begleiten.
Die Zeit bis zum Beginne unſers Unternehmens
brachte ich damit zu, daß ich Wanderungen in der
Umgegend machte. Ich betrachtete die Wälder, die in
Ruhe und Pracht daſtanden, ich betrachtete die Höhen,
auf welchen die unermeßlichen Schneemengen lagen,
ich betrachtete die Echernwand, von der eine Laſt von
Eiszapfen niederhing, deren manche die Dicke von
Bäumen hatten, zuweilen losbrachen, und mit Krachen
und Klingen in den Schnee niederſtürzten, ich ging
auf Berge, und ſchaute in die ſtille gleichſam verdich¬
tete Winterluft, und auf alle die weißen Gebilde, die
durch dunkle Wälder durch Felſen und durch das ſanfte
Blau der fernen Bergzüge geſchnitten waren.
Gegen die Mitte des Januars, zu welcher Zeit
gewöhnlich das Wetter am ausdauerndſten zu ſein
pflegt, ſtellten ſich die Zeichen ein, daß längere Zeit
ſchöne Tage ſein werden. Ein etwas weicher Luftzug
[150] der vorigen Tage hatte ſich verloren, die graue Decke
am Himmel war verſchwunden, und den verwaſchenen
Federwolken war eine tiefe Bläue gefolgt. Die Luft
zog aus Oſten, die Kälte mehrte ſich, der Schnee
flimmerte, und Abends zeigte ſich der feine blauliche
Duft in den Gründen, der heitere Morgen und immer
größere Kälte verſprach. Meine Werkzeuge gaben
ſtarken Luftdruck und große Trockenheit an.
Ich ſagte dem alten Kaspar, daß wir nunmehr
aufbrechen würden. Wir nahmen an Alpenſtöcken
Steigeiſen Stricken Schneereifen Decken Kleidern,
was wir nöthig erachteten, eine Schaufel eine Axt
Kochgeſchirr und Lebensmittel auf mehrere Tage. So
bepackt gingen wir zu dem See. Dort theilten wir
unſere Dinge in zwei bequeme Laſten, daß jeder mit
der ſeinigen ſo leicht als möglich gehen könne, und
erwarteten den nächſten Morgen.
Beim Grauen des Lichtes machten wir uns auf
den Weg, und ſtiegen mit unſeren ſehr hohen Stie¬
feln, die ich eigens zu dieſem Zwecke hatte machen
laſſen, in den tiefen Schnee der Wege, die zu den
Höhen, auf die wir wollten, führten, die aber nur
im Sommer betreten wurden, die jezt keine Spur
zeigten, und die wir nur fanden, weil wir der Gegend
[151] ſehr kundig waren. Wir gingen mehrere Stunden in
dieſem tiefen Schnee, dann kamen Wälder, in denen
er niederer lag, und durch welche das Fortkommen
leichter war. Viele Gerölle und ſchiefliegende Wände,
die nun folgten, zeigten ebenfalls weniger Schnee als
die Tiefe, und es war über ſie im Winter leichter zu
gehen, als ich es im Sommer gefunden hatte, da die
Unebenheiten und die kleinen ſcharfen Riffe und Steine
mit einer Schneedecke überhüllt waren. Als wir die
erſten Vorberge überwunden hatten, und auf die
Hochebene der Echern gekommen waren, von der man
wieder den blauen See recht tief und dunkel in der
weißen Umgebung unten liegen ſah, machten wir ein
wenig Halt. Die Oberfläche der Echern oder die
Hochebene, wie man ſie auch gerne nennt, iſt aber
nichts weniger als eine Ebene, ſie iſt es nur im Ver¬
gleiche mit den ſteilen Abhängen, welche ihre Seiten¬
wände gegen den See bilden. Sie beſteht aus einer
großen Anzahl von Gipfeln, die hinter und neben
einander ſtehen, verſchieden an Größe und Geſtalt
ſind, tiefe Rinnen zwiſchen ſich haben, und bald in
einer Spize ſich erheben, bald breitgedehnte Flächen
darſtellen. Dieſe ſind mit kurzem Graſe und hie und
da mit Knieföhren bedeckt, und unzählige Felsblöcke
[152] ragen aus ihnen empor. Es iſt hier am ſchwerſten
durchzukommen. Selbſt im Sommer iſt es ſchwie¬
rig, die rechte Richtung zu behalten, weil die Geſtal¬
tungen einander ſo ähnlich ſind, und ein ausgetretener
Pfad begreiflicher Weiſe nicht da iſt: wie viel mehr
im Winter, in welchem die Geſtalten durch Schnee¬
verhüllungen überdeckt und entſtellt ſind, und ſelbſt
da, wo ſie hervorragen, ein ungewohntes und fremd¬
artiges Anſehen haben. Es ſind mehrere Alpenhütten
in dieſem Gebiethe zerſtreut, und es befinden ſich im
Sommer Heerden hier oben, die aber, wie zahlreich
ſie auch ſind, in der großen Ausdehnung verſchwin¬
den, und ſich gegenſeitig oft Monate lang nicht
ſehen. Wir wünſchten noch beim Lichte des Tages
über dieſe Erdbildungen hinüber zu kommen, und
hatten vor, zur Einhaltung der Richtung uns gegen¬
ſeitig in unſerer Kenntniß der Riffe und der Hügelge¬
ſtaltungen zu unterſtüzen, und uns die entſcheidenden
Bildungen wechſelſeitig zu nennen und zu beſchreiben.
Am oberen Ende der Hochebene, wo wieder die größe¬
ren Felſenbildungen beginnen, und das Verirren
weit weniger möglich iſt, ſteht im Bereiche großer
Kalkſteinblöcke eine Sennhütte, die Ziegenalpe ge¬
nannt, welche das Ziel unſerer heutigen Wanderung
[153] war. Am Rande der Berganſteigung und dem An¬
fange der Hochebene, wo wir jezt waren, ſezten wir
uns nieder. Es liegt da ein großer Stein der beinahe
ganz ſchwarz iſt. Er iſt nicht nur dieſer Farbe willen
an ſich merkwürdig, ſondern beſonders darum, weil
er durch eben dieſe Farbe dann durch ſeine Größe
und ſeine ſeltſame Geſtalt von Weitem geſehen wer¬
den kann, und denen, die von der Ziegenalpe durch
die Hochebene abwärts kommen, zum Zeichen, und
wenn ſie bei ihm angelangt ſind, zur Beruhigung
des richtig zurückgelegten Weges dient. Weil vielen,
die auf der Hochebene ſind, Sennen Alpenwanderern
Jägern, der Stein ein Verſammlungsort iſt, ſo fin¬
det ſich von ihm ab ſchon ein merkbar ausgetretener
Pfad und man kann die Richtung zu dem See hinab
nicht mehr leicht verfehlen. Auch iſt die gegen Son¬
nenaufgang überhängende Geſtalt des Felſens geeig¬
net, vor Regen und heftigen Weſtwinden zu ſchüzen.
Als wir bei ihm angelangt waren, ſahen wir freilich
keine Spur eines Menſchen rings um ihn; denn
unberührter Schnee lag bis zu ſeinen Wänden
hinzu, und er ſtand noch einmal ſo ſchwarz aus
dieſer Umgebung hervor. Wir fanden aber auf klei¬
neren Steinen, die unter ſeinem Überdache lagen,
[154] und auf die der Schnee nicht hereingefallen war,
Raum zum Sizen, und folgten dieſer Einladung
willig, da ſich ſchon Ermüdung eingeſtellt hatte.
Kaspar ſchnallte die Umhüllungen der Decken aus¬
einander, und holte zwei leichte aber wärmende Pelze
und andere Pelzſachen hervor, die ich dazu beſtimmt
hatte, unſere Körper und Füſſe, die im Wandern ſich
ſehr erwärmt hatten, in der Ruhe vor Verkühlung
zu ſchüzen. Als wir dieſe Pelzdinge umgethan hatten,
ſchritten wir dazu, uns durch Speiſe und Trank zu
erquicken. Etwas Wein und Brod reichte zu dem
Zwecke hin. Ich betrachtete, nachdem unſer Mahl
vollendet war, den Wärmemeſſer, welchen ich gleich
nach unſerer Ankunft an einer freien Stelle auf mei¬
nen Alpenſtock aufgehängt hatte, und zeigte meinem
Begleiter Kaspar, daß die Wärme hier oben größer
ſei, als wir ſie geſtern zu gleicher Tageszeit unten
in der Ebene des Sees gehabt hatten. Die Sonne
ſchien ſehr kräftig auf den Schnee, es wehte kein
Lüftchen, an dem grünlich blaulichen Himmel lagerten
nur ein paar ſehr dünne weißliche Streifen. Auch
konnte man von dem Steinvorſprunge, von dem aus
der See zu erblicken war, faſt deutlich wahrnehmen,
daß unten nicht nur die dichtere, ſondern auch kältere
[155] Luft liege. Denn ſo deutlich und klar der See zu er¬
blicken war, ſo zog ſich doch an den weißen oder wei߬
geſprenkelten Wänden desſelben ein feiner blaulich
ſchillernder Dunſt hin, zum Zeichen, daß dort unſere
obere wärmere Luft mit der unteren ſchon ſeit längerer
Zeit über dem See ſtehenden kälteren zuſammengrenze,
und ſich da ein ſanfter Beſchlag bilde. Ich ſchaute
nur noch auf den Feuchtigkeitsmeſſer und den des Luft¬
druckes, dann packte Kaspar unſere Decken und Pelze,
ich meine Geräthe ein, und wir gingen unſers Weges
weiter.
Mit großer Vorſicht ſuchten wir die Richtung, die
uns noththat, zu beſtimmen. Auf jeder Stelle, die
eine größere Umſicht gewährte, hielten wir etwas an,
und ſuchten uns die Geſtalt der Umgebung zu ver¬
gegenwärtigen, und uns des Raumes, auf dem wir
ſtanden zu vergewiſſern. Ich zog zum Überfluſſe auch
noch die Magnetnadel zu Rathe. In den Niederun¬
gen und Mulden zwiſchen einzelnen Höhen mußten
wir uns der Schneereife bedienen. Gegen den ſpätern
Nachmittag ſtiegen uns die höheren und dunkleren
Zacken der Echern aus dem Schnee entgegen. Als die
Sonne faſt nur mehr um ihre eigene Breite von dem
Rande des Geſichtskreiſes entfernt war, kamen wir in
[156] der Ziegenalpe an. Hier hatten wir einen eigenthüm¬
lichen Anblick. Es iſt da eine Stelle, von welcher
aus man nicht mehr zu dem See oder zu ſeiner
Umgebung zurückſehen kann, dafür öffnet ſich gegen
Sonnenuntergang ein weiter Blick in die Lich¬
tung des Lauterthales beſonders aber in das Echer¬
thal, in welchem der Mann wohnt, welcher meine
und Klotildens Zither gemacht hatte. In dieſe Ferne
wollte ich noch einen Blick thun, ehe wir in die Hütte
gingen. Aber ich konnte die Thäler nicht ſehen. Die
Wirkung, welche ſich aus dem Aneinandergrenzen der
oberen wärmeren Luft und der unteren kälteren, wie
ich ſchon am ſchwarzen Steine bemerkt hatte, ergab,
war noch ſtärker geworden, und ein einfaches wag¬
rechtes weißlichgraues Nebelmeer war zu meinen
Füſſen ausgeſpannt. Es ſchien rieſig groß zu ſein,
und ich über ihm in der Luft zu ſchweben. Einzelne
ſchwarze Knollen von Felſen ragten über dasſelbe em¬
por, dann dehnte es ſich weithin, ein trübblauer
Strich entfernter Gebirge zog an ſeinem Rande, und
dann war der geſättigte goldgelbe ganz reine Himmel,
an dem eine grelle faſt ſtrahlenloſe Sonne ſtand,
zu ihrem Untergange bereitet. Das Bild war von
unbeſchreiblicher Größe. Kaspar, welcher neben mir
[157] ſtand, ſagte: „Verehrter Herr, der Winter iſt doch
auch recht ſchön.“
„Ja Kaspar,“ ſagte ich, „er iſt ſchön, er iſt
ſehr ſchön.“
Wir blieben ſtehen, bis die Sonne untergegangen
war. Die Farbe des Himmels wurde für einen Au¬
genblick noch höher und flammender, dann begann
alles nach und nach zu erbleichen, und ſchmolz zulezt
in ein farbloſes Ganzes zuſammen. Nur die gewal¬
tigen Erhebungen, die gegen Süden ſtanden, und
die das Eis, das wir beſuchen wollten, enthielten,
glommen noch von einem unſichern Lichte, während
mancher Stern über ihnen erſchien. Wir gingen
nun in dem beinahe finſter gewordenen und ziemlich
unwegſamen Raume zur Hütte, um in derſelben
unſere Vorbereitungen zum Übernachten zu treffen.
Die Hütte war, wie es im Winter immer iſt,
wo ſie leer ſteht, nicht geſperrt. Ein Holzriegel,
der ſehr leicht zu beſeitigen war, ſchloß die Thür.
Wir traten ein, ſteckten eine Kerze in unſern Hand¬
leuchter, und machten Licht. Wir ſuchten das Gemach
der Sennerinnen, und ließen uns dort nieder. In
den Schlafſtellen war etwas Heu, ein grober Bretter¬
tiſch ſtand in der Mitte des Gemaches, eine Bank lief
[158] an der Wand hin, und eine bewegliche ſtand an
dem Tiſche. Wir hatten vor, hier erſt unſer eigent¬
liches warmes Tagesmahl zu bereiten. Aber, worauf
wir kaum gefaßt waren, es zeigte ſich nirgends auch
nicht der geringſte Vorrath von Holz. Ich hatte für
den Fall Weingeiſt bei mir, um einige Schnitten
Braten in einer flachen Pfanne röſten zu können;
aber wir zogen es vorzüglich wegen der Erwärmung
des Körpers vor, ein Stück Bank zu verbrennen, und
dem Eigenthümer Erſaz zu leiſten. Kaspar machte
ſich mit der Axt an die Arbeit, und bald loderte ein
luſtiges Feuer auf dem Heerde. Ein Abendeſſen wurde
bereitet, wie wir es oft bei unſern Gebirgsarbeiten
bereitet hatten, aus dem Heu der Schlafſtellen den
Decken und den Pelzen wurden Betten zurecht gemacht,
und nachdem ich noch meine Meßwerkzeuge, die im
Freien vor der Hütte aufgehängt waren, betrachtet
hatte, begaben wir uns zur Ruhe. Auch jezt am ſpäten
Abende war bei ganz heiterem ſternenvollen Himmel
eine viel mindere Kälte in dieſer Höhe, als ich ver¬
muthet hatte.
Ehe der Tag graute, ſtanden wir auf, machten
Licht, kleideten uns vollſtändig an, richteten all unſere
Dinge zurecht, bereiteten ein Frühmahl, verzehrten es,
[159] und traten unſern Weg an. Die Echernſpize ſtand
faſt ſchwarz im Süden, wir konnten ſie deutlich in
die blaſſe Luft über dem Hauſtein, der uns noch un¬
ſere Eisfelder deckte, empor ragen ſehen. Der Tag
war wieder ganz heiter. Obgleich es noch nicht licht
war, durften wir eine Verirrung nicht fürchten, denn
wir mußten geraume Zeit zwiſchen Felſen empor gehen,
die unſere Richtung von beiden Seiten begrenzten,
und uns nicht abweichen ließen. Wir legten, weil
der Schnee in dieſen Rinnen ſich angehäuft hatte,
unſere Schneereifen an, und gingen in der ungewiſſen
Dämmerung vorwärts. Nach etwas mehr als einer
Stunde Wanderung kamen wir auf die Höhe hinaus
wo die Gegend ſich wieder öffnet, und gegen Oſten
weite Felder hinziehen. Dieſe biegen, nachdem ſie ſich
ziemlich hoch erhoben, gegen Süden um einen Fels
herum, und laſſen dann den Eisſtock erblicken, zu dem
wir wollten. Dieſer drückt mit großer Macht von
Süden gegen Norden herab, und hat zu ſeiner ſüd¬
lichen Begrenzung die Echernſpize. Auf den erklom¬
menen Feldern war es ſchon ganz licht; allein die
Berge, welche wir am öſtlichen Rande derſelben unter
uns und weit draußen erblicken ſollten, waren nicht
zu ſehen, ſondern am Rande der mit Schnee bedeckten
[160] Felder ſezte ſich eine Farbe die nur ein klein wenig
von der Schneefarbe verſchieden war, faſt ins Uner¬
meßliche fort, die des Nebels. Er hatte ſeit geſtern
noch mehr überhand genommen, und begrenzte unſere
Höhe als Inſel. Kaspar wollte erſchrecken. Ich aber
machte ihn aufmerkſam, daß der Himmel über uns
ganz heiter ſei, daß dieſer Nebel von jenem ſehr ver¬
ſchieden ſei, der bei dem Beginne des Regen- oder
Schneewetters zuerſt die Spizen der Berge in Geſtalt
von Wolken einhüllt, ſich dann immer tiefer oft bis
zur Hälfte der Berge hinabzieht, und den Wanderern
ſo fürchterlich iſt; unſer Nebel ſei kein Hochnebel ſon¬
dern ein Tiefnebel, der die Bergſpizen, auf denen das
Verirren ſo ſchrecklich ſei, freilaſſe, und der beim
Höherſteigen der Sonne verſchwinden werde. Im
ſchlimmſten Falle, wenn er auch bliebe, ſei er nur eine
wagrechte Schichte, die nicht höher ſtehe, als wo der
ſchwarze Stein liegt. Von dort hinab aber iſt uns der
Weg ſehr bekannt, wir müſſen unſere eigenen Fu߬
ſtapfen finden, und können an ihnen abwärts gehen.
Kaspar, welcher mit dem Gebirgsleben ſehr vertraut
war, ſah meine Gründe ein, und war beruhigt.
Während wir ſtanden und ſprachen, fing ſich an
einer Stelle der Nebel im Oſten zu lichten an, die
[161] Schneefelder verfärbten ſich zu einer ſchöneren und
anmuthigeren Farbe, als das Bleigrau war, mit dem
ſie bisher bedeckt geweſen waren, und in der lichten
Stelle des Nebels begann ein Punkt zu glühen, der
immer größer wurde, und endlich in der Größe eines
Tellers ſchweben blieb, zwar trübroth aber ſo innig
glimmend wie der feurigſte Rubin. Die Sonne war
es, die die niederen Berge überwunden hatte, und
den Nebel durchbrannte. Immer röthlicher wurde der
Schnee, immer deutlicher faſt grünlich ſeine Schatten,
die hohen Felſen zu unſerer Rechten, die im Weſten
ſtanden, ſpürten auch die ſich nähernde Leuchte, und
rötheten ſich. Sonſt war nichts zu ſehen, als der un¬
geheure dunkle ganz heitere Himmel über uns, und
in der einfachen großen Fläche, die die Natur hieher
gelegt hatte, ſtanden nur die zwei Menſchen, die da
winzig genug ſein mußten. Der Nebel fing endlich
an ſeiner äußerſten Grenze zu leuchten an wie ge¬
ſchmolzenes Metall, der Himmel lichtete ſich, und
die Sonne quoll wie blizendes Erz aus ihrer Umhül¬
lung empor. Die Lichter ſchoſſen plözlich über den
Schnee zu unſern Füſſen, und fingen ſich an den Fel¬
ſen. Der freudige Tag war da.
Wir banden uns die Stricke um den Leib, und
Stifter, Nachſommer. III. 11[162] ließen ein ziemlich langes Stück von der Leibbinde
des einen zu der des andern gehen, damit, wenn einer,
da wir jezt über eine ſehr ſchiefe Fläche zu gehen hat¬
ten, gleiten ſollte, er durch den andern gehalten würde.
Im Sommer war dieſe Fläche mit vielen kleinen und
ſcharfen Steinen bedeckt, daher der Übergang über ſie
viel leichter. Im Winter kannte man den Boden nicht,
und der Schnee konnte ins Gleiten gerathen. Ohne
Hilfe der Schneereife, die hier, weil ſie unbehilflich
machten, nur gefährlich werden konnten, gelangten
wir mit angewandter Vorſicht glücklich hinüber, lös¬
ten die Stricke, bogen nach einer darauf erfolgten
mehrſtündigen Wanderung um die Felſen, und ſtan¬
den an dem Gletſcher und auf dem ewigen Schnee.
Auf dem Eiſe, da wir nach uns ſehr bekannten
Richtungen auf demſelben vorſchritten, zeigte ſich bei¬
nahe mit Rückſicht auf den Sommer gar keine Ver¬
änderung. Da auch im Sommer faſt jeder Regen des
Thales die Höhen entweder gar nicht trift, oder auf
ihnen Schnee iſt, ſo war es jezt auf dem Gletſcher
wie im Sommer, und wir ſchritten auf bekannten Ge¬
biethen vorwärts. Wo die Eismengen geborſten und
zertrümmert waren, hatte ſie an ihren Oberflächen der
[163] Schnee bedeckt, mit den Seitenflächen ſahen ſie grün¬
lich oder blaulich ſchillernd aus dem allgemeinen Weiß
hervor, weiter aufwärts, wo die Gletſcherwölbung
rein dalag, war ſie mit Schnee bedeckt. Der einzige
Unterſchied beſtand, daß jezt keine einzige breite oder
lange Eisſtelle blosgelegt in ihrer grünlichen Farbe
da ſtand, was doch zuweilen im Sommer geſchieht.
Wir verweilten einige Zeit auf dem Eiſe, und nah¬
men auf demſelben auch unſer Mittagsmahl in Wein
und Brod beſtehend ein. Unter uns hatte ſich aber
indeſſen eine Veränderung vorbereitet. Der Nebel
war nach und nach geſchwunden, ein Theil der fernen
oder der näheren Berge war nach dem andern ſichtbar
geworden, verſchwunden, wieder ſichtbar geworden,
und endlich ſtand alles im Sonnenglanze ohne ein
Flöckchen Nebel, der wie ausgetilgt war, in ſanfter
Bläue oder wie in goldigem Schimmer oder wie im
fernen matten Silberglanze in tiefem Schweigen und
unbeweglich da. Die Sonne ſtrahlte einſam ohne
einer geſelligen Wolke an dem Himmel. Die Kälte
war auch hier nicht groß, geringer als ich ſie im Thale
beobachtet hatte, und nicht viel größer, als ſie auch zu
Sommerszeiten auf dieſen Höhen iſt.
Nachdem wir uns eine geraume Weile auf dem
11 *[164] Eiſe aufgehalten hatten, traten wir den Rückweg an.
Wir gelangten leicht an den gewöhnlichen Ausgang
des Gletſchers, von wo aus man das Hinabgehen
über die Berge einleitet. Wir fanden unſere Fußſtapfen,
die in der ungetrübten Oberfläche des Schnees, da
hierauf ſelten auch Thiere kommen, ſehr deutlich er¬
kennbar waren, und gingen nach ihnen fort. Wir
kamen glücklich über die ſchiefe Fläche, und langten
gegen Abend in der Ziegenalpe an. Es war hier ſchon
zu dunkel, um noch etwas von der Umgebung ſehen
zu können. Wir hielten in der Hütte wieder unſer
warm zubereitetes Abendmahl, wärmten uns am Reſte
der Bank, und erquickten uns durch Schlaf. Der
nächſte Morgen war abermals klar, in den Thälern
lag wieder der Nebel. Da auch die Nacht vollkommen
windſtill geweſen war, ſo hatten wir uns jezt in Hin¬
ſicht unſers Rückweges über die Hochebene nicht zu
ſorgen. Unſere Fußſtapfen ſtanden vollkommen unver¬
wiſcht da, und ihnen konnten wir uns anvertrauen.
Selbſt da, wo wir rathend geſtanden waren, und etwa
den Alpenſtock ſeitwärts unſeres Standortes in den
Schnee geſtoßen hatten, war die Spur noch völlig
ſichtbar. Wir kamen früher, als wir gedacht hatten,
an dem ſchwarzen Steine an. Dort hielten wir wieder
[165] unſer Mittagmahl, und gingen dann unter dem ſich
immer mehr und mehr lichtenden Nebel, der uns aber
hier kein weſentliches Hinderniß mehr machte, die ſteile
Senkung der Berge hinunter. Der an ihrem Fuße
beobachtete Wärmemeſſer zeigte wirklich eine größere
Kälte, als wir auf den Bergen gehabt hatten.
Am Nachmittage waren wir wieder in dem See¬
wirthshauſe.
Am andern Tage gingen wir in das Ahornhaus
im Lauterthale. Alles umringte uns, und wollte un¬
ſere Erlebniſſe wiſſen. Sie wunderten ſich, daß die
Unternehmung ſo einfach geweſen ſei, beſonders aber,
daß die Kälte, die ſchon im Sommer gegen die Wärme
der Thäler ſo abſtehe, im Winter nicht ganz fürchter¬
lich ſoll geweſen ſein. Kaspar war ein wichtiger Mann
geworden.
Ich aber war von dem, was ich oben geſehen und
gefunden hatte, vollkommen erfüllt. Die tiefe Em¬
pfindung, welche jezt immer in meinem Herzen war,
und welche mich angetrieben hatte, im Winter die
Höhen der Berge zu ſuchen, hatte mich nicht getäuſcht.
Ein erhabenes Gefühl war in meine Seele gekommen,
faſt ſo erhaben wie meine Liebe zu Natalien. Ja dieſe
Liebe wurde durch das Gefühl noch gehoben und ver¬
[166] edelt, und mit Andacht gegen Gott den Herrn, der ſo
viel Schönes geſchaffen und uns ſo glücklich gemacht
hat, entſchlief ich, als ich wieder zum erſten Male in
meinem Bette in der wohnlichen Stube des Ahorn¬
hauſes ruhte.
Es hat mich nicht gereut, daß ich noch die Weihe
dieſer Unternehmung aus mich genommen hatte, ehe
ich zu meinem Gaſtfreunde ging, um ihm meinen
Winterbeſuch zu machen.
Ich hielt mich nur noch ſo lange in dem Lauter¬
thale auf, um noch die bedeutendſten Stellen desſel¬
ben im Winterſchmucke zu ſehen, und um die Einlei¬
tung zu treffen, daß dem Eigenthümer der Ziegenalpe
die Bank, die wir verbrannt hatten, erſezt würde.
Dann fuhr ich in einem Schlitten in der Richtung
nach dem Asperhofe hinaus. Kaspar hatte recht herz¬
lich von mir Abſchied genommen, er war mir durch
dieſe Unternehmung noch mehr befreundet geworden,
als er es früher geweſen war.
Die größere Wärme in den oberen Theilen der
Luft, welche nur ein Vorbote des beginnenden Süd¬
windes geweſen war, hatte ſich nun völlig geltend
gemacht, der Südwind war in den Höhen eingetreten,
obwohl es in der Tiefe noch kalt war, Wolken hatten
[167] die Berge umhüllt, zogen über die Länder hinaus,
und ſchüttelten Regen herab, der in Geſtalt von Eis¬
körnern unten ankam, und mir um das Haupt und
die Wangen praſſelte, als ich in dem Asperhofe
eintraf.
Die Pferde und der Schlitten wurden in den
Meierhof gebracht, ich ging zu meinem Gaſtfreunde.
Er ſaß in ſeinem Arbeitszimmer, und ordnete Perga¬
mentblätter, von denen er einen großen Stoß vor ſich
hatte. Ich begrüßte ihn, und er empfing mich wie
immer gleich freundlich.
Ich ſagte ihm, daß ich ſeit meiner lezten Anweſen¬
heit im Asperhofe faſt immer gereiſt ſei. Erſt hätte
ich noch das Kargrat beſucht, weil ich dort zu ordnen
gehabt hätte, dann ſei ich zu meinen Eltern gegangen,
hierauf habe ich mit meinem Vater einen Beſuch in
ſeiner Heimath gemacht, dann ſei ich mit meiner
Schweſter auf eine Zeit, um ihr ein Vergnügen zu
bereiten, in das Hochgebirge gefahren, als hierauf
der Winter gekommen ſei, habe ich die Echerngletſcher
beſucht, und nun ſei ich hier.
„Ihr ſeid wie immer herzlich willkommen,“ ſagte
er, „bleibt bei uns, ſo lange es euch gefällt, und ſeht
unſer Haus wie das eurer Eltern an.“
[168]
„Ich danke euch, ich danke euch ſehr,“ erwie¬
derte ich.
Er zog an der Klingel zu ſeinen Füſſen, und die
alte Katharina kam herauf. Er befahl ihr, meine Zim¬
mer zu heizen, daß ich ſie ſehr bald benüzen könne.
„Es iſt ſchon geſchehen,“ antwortete ſie. „Als wir
den jungen Herrn hereinfahren ſahen, ließ ich durch
Ludmilla gleich heizen, es brennt ſchon; aber ein wenig
gelüftet muß noch werden, neue Überzüge müſſen kom¬
men, der Staub muß abgewiſcht werden, ihr müßt
euch ſchon ein wenig gedulden.“
„Es iſt gut und recht,“ ſagte mein Gaſtfreund,
„ſorge nur, daß alles wohnlich ſei.“
„Es wird ſchon werden,“ antwortete Katharina,
und verließ das Zimmer.
„Ihr könnt, wenn ihr wollt,“ ſagte er dann zu
mir, „indeſſen, bis eure Wohnung in Ordnung iſt,
mit mir zu Euſtach hinüber gehen, und ſehen, was
eben gearbeitet wird. Wir können hiebei auch bei
Guſtav anklopfen, und ihm ſagen, daß ihr gekom¬
men ſeid.“
Ich nahm den Vorſchlag an. Er zog eine Art
Überrock über ſeine Kleider, die beinahe wie im Som¬
mer waren, an, und wir gingen aus dem Zimmer.
[169] Wir begaben uns zuerſt zu Guſtav, und ich begrüßte
ihn. Er flog an mein Herz, und ſein Ziehvater ſagte
ihm, er dürfe uns in das Schreinerhaus begleiten.
Er nahm gar kein Überkleid, ſondern verwechſelte nur
ſeinen Zimmerrock mit einem etwas wärmeren, und
war bereit, uns zu folgen. Wir gingen über die ge¬
meinſchaftliche Treppe hinab, und als wir unten an¬
gekommen waren, ſah ich, daß mein Gaſtfreund auch
heute an dem unfreundlichen Wintertage barhäuptig
ging. Guſtav hatte eine ganz leichte Kappe auf dem
Haupte. Wir gingen über den Sandplaz dem Ge¬
büſche zu. Die Eiskörner, welche eine bereifte weiße
und rauhe Geſtalt hatten, miſchten ſich mit den weißen
Haaren meines Freundes, und ſprangen auf ſeinem
zwar nicht leichten aber doch nicht für eine ſtrenge
Winterkälte eingerichteten Überrocke. Die Bäume
des Gartens die uns nahe ſtanden, ſeufzten in dem
Winde, der von den Höhen immer mehr gegen die
Niederungen herab kam, und an Heftigkeit mit jeder
Stunde wuchs. So gelangten wir gegen das Schrei¬
nerhaus. Wie bei meiner erſten Annäherung ſtieg
auch heute ein leichter Rauch aus demſelben empor,
aber er ging nicht wie damals in einer geraden lufti¬
gen Säule in die Höhe, ſondern wie er die Mauern
[170] des Schornſteins verließ, wurde er von dem Winde
genommen, in Flatterzeug verwandelt, und nach ver¬
ſchiedenen Richtungen geriſſen. Auch waren nicht die
grünen Wipfel da, an denen er damals empor geſtie¬
gen war, ſondern die nakten Äſte mit den feinen Ru¬
then der Zweige ſtanden empor, und neigten ſich im
Winde über das Haus herüber. Auf dem Dache des¬
ſelben lag der Schnee. Von Tönen konnten wir bei
dieſer Annäherung aus dem Innern nichts hören, weil
außen das Sauſen des Windes um uns war.
Da wir eingetreten waren, kam uns Euſtach ent¬
gegen, und er grüßte mich noch freundlicher und herz¬
licher, als er es ſonſt immer gethan hatte. Ich be¬
merkte, daß um zwei Arbeiter mehr als gewöhnlich in
dem Hauſe beſchäftigt waren. Es mußte alſo viele
oder dringende Arbeit geben. Die Wärme gegen den
Wind draußen empfing uns angenehm und wohnlich
im Hauſe. Euſtach geleitete uns durch die Werkſtube
in ſein Gemach. Ich ſagte ihm, daß ich gekommen
ſei, um auch einen kleinen Theil des Winters in dem
Asperhofe zu bleiben, den ich in demſelben nie geſehen,
und den ich mir meiſtens in der Stadt verlebt habe,
wo ſeine Weſenheit durch die vielen Häuſer und durch
die vielen Anſtalten gegen ihn gebrochen werde.
[171]
„Bei uns könnt ihr ihn in ſeiner völligen Geſtalt
ſehen,“ ſagte Euſtach, „und er iſt immer ſchön, ſelbſt
dann noch, wenn er ſeine Art ſo weit verläugnet, daß
er mit warmen Winden blaugeballten Wolken und
Regengüſſen über die ſchneeloſe Gegend daher fährt.
So weit vergißt er ſich bei uns nie, daß er in ein
Afterbild des Sommers wie zuweilen in ſüdlichen
Ländern verfällt, und warme Sommertage und aller¬
lei Grün zum Vorſchein bringt. Dann wäre er frei¬
lich nicht auszuhalten.“
Ich erzählte ihm von meinem Beſuche auf dem
Echerngletſcher, und ſagte, daß ich doch auch ſchon
manchen ſchönen und ſtürmiſchen Wintertag im Freien
und ferne von der großen Stadt zugebracht habe.
Hierauf zeigte er mir Zeichnungen, welche zu den
früheren neu hinzu gekommen waren, und zeigte mir
Grund- und Aufriſſe und andere Pläne zu den Wer¬
ken, an denen eben gearbeitet werde. Unter den Zeich¬
nungen befanden ſich ſchon einige, die nach Gegen¬
ſtänden in der Kirche von Klam genommen worden
waren, und unter den Plänen befanden ſich viele,
die zu den Ausbeſſerungen gehörten, die mein Gaſt¬
freund in der Kirche vornehmen ließ, welche ich mit
ihm beſucht hatte.
[172]
Nach einer Weile gingen wir auch in die Arbeits¬
ſtube, und beſahen die Dinge, die da gemacht wur¬
den. Meiſtens betrafen ſie Gegenſtände, welche für
die Kirche, für die eben gearbeitet wurde, gehörten.
Dann ſah ich ein Zimmerungswerk aus feinen Eichen-
und Lärchenbohlen, welches wie der Hintergrund zu
Schnizwerken von Vertäflungen ausſah, auch erblickte
ich Simſe wie zu Vertäflungen gehörend. Von Ge¬
räthen war ein Schrein in Arbeit, der aus den ver¬
ſchiedenſten Hölzern ja mitunter aus ſeltſamen, die
man ſonſt gar nicht zu Schreinerarbeiten nimmt, be¬
ſtehen ſollte. Er ſchien mir ſehr groß werden zu wol¬
len; aber ſeinen Zweck und ſeine Geſtalt konnte ich
aus den Anfängen, die zu erblicken waren, nicht er¬
rathen. Ich fragte auch nicht darnach, und man be¬
richtete mir nichts darüber.
Als wir uns eine Zeit in dem Schreinerhauſe
aufgehalten und auch über andere Gegenſtände ge¬
ſprochen hatten, als ſich in demſelben befanden oder
mit demſelben in Beziehung ſtanden, entfernten wir
uns wieder, und mein Freund und Guſtav geleiteten
mich in das Wohnhaus zurück und dort in meine
Zimmer. In ihnen war es bereits warm, ein lebhaf¬
tes Feuer mußte den Tönen nach, die zu hören waren,
[173] in dem Ofen brennen, alles war gefegt und gereinigt,
weiße Fenſtervorhänge und weiße Überzüge glänzten
an dem Bette und an jenen Geräthen für die ſie ge¬
hörten, und alle meine Reiſeſachen, welche ich in dem
Schlitten geführt hatte, waren bereits in meiner
Wohnung vorhanden. Mein Gaſtfreund ſagte, ich
möge mich hier nun zurecht finden, und einrichten,
und er verließ mich dann mit Guſtav.
Ich packte nun die Gegenſtände, welche ich in
meinen Reiſebehältniſſen hatte, aus, und vertheilte
ſie ſo, daß die beiden Gemächer, welche mir zur Ver¬
fügung ſtanden, recht winterlich behaglich, wozu die
Wärme, die in den Zimmern herrſchte, einlud, aus¬
geſtattet waren. Ich wollte es ſo thun, ich mochte
mich nun lange oder kurz in dieſen Räumen aufzu¬
halten haben, was von den Umſtänden abhing, die
nicht in meiner Berechnung lagen. Beſonders richtete
ich mir meine Bücher meine Schreibdinge und auch
Vorbereitungen zu gelegentlichem Zeichnen ſo her, daß
alles dies meinen Wünſchen, ſo weit ich das jezt ein¬
ſah, auf das Beſte entſprach. Nachdem ich mit allem
fertig war, kleidete ich mich auch um, damit die Reiſe¬
kleider mit bequemeren und häuslicheren vertauſcht
wären.
[174]
Hierauf machte ich einen Spaziergang. Ich ging
in dem Garten meinen gewöhnlichen Weg zu dem
großen Kirſchbaume hinauf. Aus dem in dem Schnee
wohl ausgetretenen Pfade ſah ich, daß hier häufig
gegangen werde, und daß der Garten im Winter
nicht verwaiſt iſt, wie es bei ſo vielen Gärten ge¬
ſchieht, und wie es aber auch bei meinen Eltern nicht
geduldet wird, denen der Garten auch im Winter ein
Freund iſt. Selbſt die Nebenpfade waren gut ausge¬
treten, und an manchen Stellen ſah ich, daß man
nach dauerndem Schneefalle auch die Schaufel ange¬
wendet habe. Die zarteren Bäumchen und Gewächſe
waren mit Stroh verwahrt, alles, was hinter Glas
ſtehen ſollte, war wohl geſchloſſen und durch Ver¬
dämmungen geſchüzt, und alle Beete und alle Räume,
die in ihrer Schneehülle dalagen, waren durch die um
ſie geführten Wege gleichſam eingerahmt und geord¬
net. Die Zweige der Bäume waren von ihrem Reife
befreit, der Schnee, der in kleinen Kügelchen daher
jagte, konnte auf ihnen nicht haften, und ſie ſtanden
deſto dunkler und beinahe ſchwarz von dem umgeben¬
den Schnee ab. Sie beugten ſich im Winde, und
ſauſten dort, wo ſie in mächtigen Abtheilungen einem
großen Baume angehörten, und in ihrer Dichtheit
[175] gleichſam eine Menge darſtellten. In den entlaubten
Äſten konnte ich deſto deutlicher und häufiger die
Neſtbehälter ſehen, welche auf den Bäumen ange¬
bracht waren. Von den gefiederten Bewohnern des
Gartens war aber nichts zu ſehen und zu hören.
Waren wenige oder keine da, konnte man ſie in dem
Sturme nicht bemerken, oder haben ſie ſich in Schlupf¬
winkel namentlich in ihre Häuschen zurückgezogen?
In den Zweigen des großen Kirſchbaumes herrſchte
der Wind ganz beſonders. Ich ſtellte mich unter den
Baum neben die an ſeinem Stamme befindliche Bank,
und ſah gegen Süden. Das dunkle Baumgitter lag
unter mir, wie ſchwarze regelloſe Gewebe auf den
Schnee gezeichnet, weiter war das Haus mit ſeinem
weißen Dache, und weiter war nichts; denn die fer¬
nere Gegend war kaum zu erblicken. Bleiche Stellen
oder dunklere Ballen ſchimmerten durch, je nachdem
das Auge ſich auf Schneeflächen oder Wälder richtete,
aber nichts war deutlich zu erkennen, und in langen
Streifen gleichſam in nebligen Fäden, aus denen ein
Gewebe zu verfertigen iſt, hing der fallende Schnee
von dem Himmel herunter. Von dem Kirſchbaume
konnte ich nicht in das Freie hinausgehen; denn das
Pförtchen war geſchloſſen. Ich wendete mich daher
[176] um, und ging auf einem anderen Wege wieder in
das Haus zurück.
An demſelben Tage erfuhr ich auch, daß Roland
anweſend ſei. Mein Gaſtfreund holte mich ab, mich
zu ihm zu begleiten. Man hatte ihm in dem Wohn¬
hauſe ein großes Zimmer zurecht gerichtet. In dem¬
ſelben malte er eben eine Landſchaft in Öhlfarben.
Als wir eintraten, ſahen wir ihn vor ſeiner Staffelei
ſtehen, die zwar nicht mitten in dem Zimmer, doch
weiter von dem Fenſter entfernt war, als dies ſonſt
gewöhnlich der Fall zu ſein pflegt. Das zweite der
Fenſter war mit einem Vorhange bedeckt. Er hatte ein
leinenes Überkleid an ſeinem Oberkörper an, und hielt
gerade das Malerbrett und den Stab in der Hand.
Er legte beides auf den naheſtehenden Tiſch, da er
uns kommen ſah, und ging uns entgegen. Mein
Gaſtfreund ſagte, daß er mich zu dem Beſuche bei ihm
aufgefordert habe, und daß Roland wohl nichts da¬
gegen haben werde.
„Der Beſuch iſt mir ſehr erfreulich,“ ſagte er,
„aber gegen mein Bild wird wohl viel einzuwen¬
den ſein.“
„Wer weiß das?“ ſagte mein Gaſtfreund.
„Ich wende viel ein,“ antwortete Roland, „und
[177] andere, die ſich des Gegenſtandes bemächtigen, wer¬
den auch wohl viel einzuwenden haben.“
Wir waren während dieſer Worte vor das Bild
getreten.
Ich hatte nie etwas Ähnliches geſehen. Nicht,
daß ich gemeint hätte, daß das Bild ſo vortrefflich ſei,
das konnte man noch nicht beurtheilen, da ſich Vieles
in den erſten Anfängen befand, auch glaubte ich zu
bemerken, daß manches wohl kaum würde bemeiſtert
werden können. Aber in der Anlage und in dem Ge¬
danken erſchien mir das Bild merkwürdig. Es war
ſehr groß, es war größer als man gewöhnlich land¬
ſchaftliche Gegenſtände behandelt ſieht, und wenn es
nicht gerollt wird, ſo kann es aus dem Zimmer, in
welchem es entſteht, gar nicht gebracht werden. Auf
dieſem wüſten Raume waren nicht Berge oder Waſſer¬
fluthen oder Ebenen oder Wälder oder die glatte See
mit ſchönen Schiffen dargeſtellt, ſondern es waren
ſtarre Felſen da, die nicht als geordnete Gebilde
empor ſtanden, ſondern wie zufällig als Blöcke und
ſelbſt hie und da ſchief in der Erde ſtaken, gleichſam
als Fremdlinge, die wie jene Normannen auf dem
Boden der Inſel, die ihnen nicht gehörte, ſich ſeßhaft
gemacht hatten. Aber der Boden war nicht wie der
Stifter, Nachſommer. III. 12[178] jener Inſel, oder vielmehr, er war ſo, wo er nicht
von den im Alterthume berühmten Kornfeldern be¬
kleidet oder von den dunkeln fruchtbringenden Bäu¬
men bedeckt iſt, ſondern wo er zerriſſen und vielge¬
ſtaltig ohne Baum und Strauch mit den dürren Grä¬
ſern den weiß leuchtenden Furchen, in denen ein aus
unzähligen Steinen beſtehender Quarz angehäuft iſt,
und mit dem Gerölle und mit dem Trümmerwerke,
das überall ausgeſät iſt, der dörrenden Sonne ent¬
gegenſchaut. So war Rolands Boden, ſo bedeckte er
die ungeheure Fläche, und ſo war er in ſehr großen
und einfachen Abtheilungen gehalten, und über ihm
waren Wolken, welche einzeln und vielzählig ſchim¬
mernd und Schatten werfend in einem Himmel ſtan¬
den, welcher tief und heiß und ſüdlich war.
Wir ſtanden eine Weile vor dem Bilde und be¬
trachteten es. Roland ſtand hinter uns, und da ich
mich einmal wendete, ſah ich, daß er die Leinwand
mit glänzenden Augen betrachte. Wir ſprachen wenig
oder beinahe nichts.
„Er hat ſich die Aufgabe eines Gegenſtandes ge¬
ſtellt, den er noch nicht geſehen hat,“ ſagte mein
Gaſtfreund, „er hält ſich ihn nur in ſeiner Ein¬
bildungskraft vor Augen. Wir werden ſehen, wie
[179] weit er gelingt. Ich habe wohl ſolche Dinge oder
vielmehr ihnen Ähnliches weit unten im Süden ge¬
ſehen.“
„Ich bin nicht auf irgend etwas beſonderes aus¬
gegangen,“ antwortete Roland, „ſondern habe nur
ſo Geſtaltungen, wie ſie ſich in dem Gemüthe finden,
entfaltet. Ich will auch Verſuche in Öhlfarben machen,
welche mich immer mehr gereizt haben als meine
Waſſerfarben, und in denen ſich Gewaltiges und
Feuriges darſtellen laſſen muß.“
Ich bemerkte, als ich ſeine Geräthe näher betrach¬
tete, daß er Pinſel mit ungewöhnlich langen Stielen
habe, daß er alſo ſehr aus der Ferne arbeiten müſſe,
was bei einer ſo großen Leinwandfläche wohl auch
nicht anders ſein kann, und was ich auch aus der
Behandlung erſah. Seine Pinſel waren ziemlich groß,
und ich ſah auch lange feine Stäbe, an deren Spizen
Zeichnungskohlen angebunden waren, mit welchen er
entworfen haben mußte. Die Farben waren in ſtarken
Mengen auf der Pallette vorhanden.
„Der Herr dieſes Hauſes iſt ſo gütig,“ ſagte Ro¬
land, „und läßt mich hier wirthſchaften, während ich
verbunden wäre, Zeichnungen zu machen, welche wir
eben brauchen, und während ich an Entwürfen arbei¬
12 *[180] ten ſollte, die zu den Dingen nothwendig ſind, die
eben ausgeführt werden.“
„Das wird ſich alles finden,“ antwortete mein
Gaſtfreund, „ihr habt mir ſchon Entwürfe gemacht,
die mir gefallen. Arbeitet und wählt nach eurem Gut¬
dünken, euer Geiſt wird euch ſchon leiten.“
Um Roland, der hier vor ſeinem Werke ſtand,
und deſſen ganze Umgebung, wie ſie in dem Zimmer
ausgebreitet war, auf Ausführung dieſes Werkes hin¬
zielte, nicht länger zu ſtören, da die Wintertage ohne¬
hin ſo kurz waren, entfernten wir uns.
Da wir den Gang entlang gingen, ſagte mein
Gaſtfreund: „Er ſollte reiſen.“
Als es dunkel geworden war, verſammelten wir
uns in dem Arbeitszimmer meines Gaſtfreundes bei
dem wohlgeheizten Ofen. Es war Euſtach Roland
Guſtav und ich zugegen. Es wurde von den verſchie¬
denſten Dingen geſprochen, am meiſten aber von der
Kunſt, und von den Gegenſtänden, welche eben in
der Ausführung begriffen waren. Es mochte wohl
vieles vorkommen, was Guſtav nicht verſtand, er
ſprach auch ſehr wenig mit; aber es mochte doch das
Geſpräch ihn manigfaltig fördern, und ſelbſt das
Unverſtandene mochte Ahnungen erregen, die weiter
[181] führen, oder die aufbewahrt werden, und in Zukunft
geeignet ſind, feſte Geſtaltungen, die ſich fügen wol¬
len, einleiten zu helfen. Ich wußte das ſehr wohl
aus meiner eigenen Jugend und ſelbſt auch aus der
jezigen Zeit.
Da ich in mein Schlafgemach zurückgekehrt war,
fühlte ich es recht angenehm, daß die Scheite aus
dem Buchenwalde meines Gaſtfreundes, der ein Theil
des Alizwaldes war, in dem Ofen brennen. Ich beſchäf¬
tigte mich noch eine Zeit mit Leſen und theilweiſe auch
mit Schreiben.
Am anderen Morgen war Regen. Er fiel in Strö¬
men aus blaulich gefärbten gleichartigen über den
Himmel dahin jagenden Wolken herab. Der Wind
hatte zu ſolcher Heftigkeit zugenommen, daß er um
das ganze Haus heulte. Da er aus Südweſten kam,
ſchlug der Regen an meine Fenſter, und rann an
dem Glaſe in wäſſerigen Flächen nieder. Aber da das
Haus ſehr gut gebaut war, ſo hatte Regen und Wind
keine anderen Folgen, als daß man ſich recht geborgen
in dem ſchüzenden Zimmer fand. Auch iſt es nicht zu
leugnen, daß der Sturm, wenn er eine gewiſſe Größe
erreicht, etwas Erhabenes hat, und das Gemüth zu
ſtärken im Stande iſt. Ich hatte die erſten Morgen¬
[182] ſtunden bei Licht in Wärme damit hingebracht, dem
Vater und der Mutter einen Brief zu ſchreiben, worin
ich ihnen anzeigte, daß ich auf dem Echerneiſe geweſen
ſei, daß ich alle Vorſicht beim Hinaufſteigen und Herun¬
tergehen angewendet habe, daß uns nicht der geringſte
Unfall zugeſtoßen ſei, und daß ich mich ſeit geſtern bei
meinem Freunde im Roſenhauſe befinde. An Klotilden
legte ich ein beſonderes Blatt bei, worin ich auf ihre
theilweiſe Kenntniß des Gebirges, die ſie ſich auf der
mit mir gemachten Reiſe erworben hatte, bauend eine
kleine Beſchreibung des winterlichen Hochgebirgbe¬
ſuches gab. Als es dann heller geworden, und die
Stunde zum Frühmahle gekommen war, ging ich in
das Speiſezimmer hinunter. Ich erfuhr nun hier, daß
es im Winter der Gebrauch ſei, daß Euſtach und
Roland, deren geſtrige Anweſenheit bei dem Abend¬
eſſen ich für zufällig gehalten hatte, mit meinem Gaſt¬
freunde und Guſtav an einem Tiſche ſpeiſen. Es ſollte
auch im Sommer ſo ſein; allein da oft in dieſer Jah¬
reszeit in dem Schreinerhauſe lange vor Sonnenauf¬
gang aufgeſtanden, und zu einer Arbeit geſchritten
wird, ſo verändern ſich die Stunden, an denen eine
Erquickung des Körpers nothwendig wird, und Eu¬
ſtach hat ſelber gebethen, daß ihm dann die Zeit und
[183] Art ſeines Eſſens zu eigener Wahl überlaſſen werde.
Roland iſt ohnehin zu jener Jahreszeit meiſtens von
dem Hauſe abweſend. Ich war nie ſo ſpät im Winter
in dem Roſenhauſe geweſen, daß ich dieſe Einrichtung
hätte kennen lernen können. Mein Gaſtfreund Euſtach
Roland Guſtav und ich ſaſſen alſo bei dem Frühmahl¬
tiſche. Das Geſpräch drehte ſich hauptſächlich um das
Wetter, welches ſo ſtürmiſch herein gebrochen war,
und es wurde erläutert, wie es hatte kommen müſſen,
wie es ſich erklären laſſe, wie es ganz natürlich ſei,
wie jedes Hausweſen ſich auf ſolche Wintertage in
der Verfaſſung halten müſſe, und wie, wenn das der
Fall ſei, man dann derlei Ereigniſſe mit Geduld er¬
tragen, ja darin eine nicht unangenehme Abwechslung
finden könne. Nach dem Frühmahle begab ſich jedes
an ſeine Arbeit. Mein Gaſtfreund ging in ſein Zim¬
mer, um dort im Ordnen der Pergamente, das er
angefangen hatte, fortzufahren, Euſtach ging in die
Schreinerei, Roland, für den die Zeit troz des trüben
Tages doch endlich auch hell genug zum Malen ge¬
worden war, begab ſich zu ſeinem Bilde, Guſtav
ſezte ſein Lernen fort, und ich ging wieder in meine
Zimmer.
Da ich dort eine Zeit mit Leſen und Schreiben
[184] zugebracht hatte, und da der Sturm ſtatt ſich zu mil¬
dern in den Vormittagſtunden nur noch heftiger ge¬
worden war, beſchloß ich doch, wie es meine Gewohn¬
heit war, auf eine Zeit in das Freie zu gehen. Ich
wählte eine zweckmäſſige Fußbekleidung, nahm mei¬
nen Wachsmantel, der eine Wachshaube hatte, die
man über den Kopf ziehen konnte, und ging über die
gemeinſchaftliche Treppe hinab. Ich ſchlug den Weg
durch das Gitterthor auf den Sandplaz vor dem Hauſe
ein. Dort konnte der Südweſtwind recht an meine
Perſon fallen, und er trieb mir die Tropfen, welche
für einen Winterregen bedeutend groß waren, mit
Praſſeln auf meinen Überwurf in das Angeſicht in
die Augen und auf die Hände. Ich blieb auf dem
Plaze ein wenig ſtehen, und betrachtete die Roſen,
welche an der Wand des Hauſes gezogen wurden.
Manche Stämmchen waren durch Stroh geſchüzt, bei
manchen war ſtellenweiſe die Erde über den Wurzeln
mit einer ſchüzenden Decke bekleidet, andere waren
blos feſt gebunden, bei allen aber ſah ich, daß man
außerordentliche Schuzmittel nicht angewendet habe,
und daß alle nur gegen Verlezungen von äußerlicher
Gewalt geſichert waren. Der Schnee konnte ſie über¬
hüllen, wie ich noch die Spuren ſah, der Regen konnte
[185] ſie begießen, wie ich heute erfuhr, aber nirgends konnte
der Wind ein Stämmchen oder einen Zweig loſtren¬
nen, und mit ihm ſpielen, oder ihn zerren. Die ganze
Wand des Hauſes war auch im Übrigen unverſehrt,
und der Regen, der gegen dieſelbe anſchlug, konnte
ihr nichts anhaben. Ich ging von dem Sandplaze
über den Hügel hinunter. Der Schnee hatte ſchon die
Gewalt des Regens verſpürt, welcher ziemlich warm
war. Die weiche ſanfte und flaumige Geſtalt war
verloren gegangen, etwas Glattes und Eiſiges hatte
ſich eingeſtellt, und hie und da ſtanden gezackte Eis¬
trümmer gleichſam wie zerfreſſen da. Das Waſſer
rann in Schneefurchen, die es gewühlt hatte, nieder,
und an offenen Stellen, wo es durch die löcherichte
Beſchaffenheit des Schnees nicht verſchluckt wurde,
rieſelte es über die Gräſer hinab. Ich ging ohne auf
einen Weg zu achten, durch den wäſſerigen Schnee
fort. In der Tiefe des Thales lenkte ich gegen Oſten.
Ich ging eine Strecke fort, ging dort über die Wieſen,
und ließ das Schauſpiel auf mich wirken. Es war faſt
herrlich wie der Wind, welcher den Schnee nicht mehr
heben konnte, den Regen auf ihn nieder jagte, wie
ſchon Stellen blos lagen, wie die grauen Schleier
gleichſam bänderweiſe nieder rollten, und wie die trüben
[186] Wolken über dem bleichen Gefilde unbekümmert um
Menſchenthun und Menſchenwerke dahin zogen.
Ich richtete endlich in der Tiefe der Wieſen mei¬
nen Weg nordwärts gegen den Meierhof hinauf. Als
ich dort angelangt war, erfuhr ich, daß der Herr, wie
man hier meinen Gaſtfreund kurzweg nannte, heute
auch ſchon da geweſen aber bereits wieder fortgegan¬
gen ſei. Er hatte Mehreres beſichtigt, und Mehreres
angeordnet. Ich fragte, ob er heute auch barhäuptig
geweſen ſei, und es wurde bejaht. Da ich den Meier¬
hof beſehen hatte, und in verſchiedenen Räumen des¬
ſelben herum gegangen war, ſah ich erſt recht, was
ein wohleingerichtetes Haus ſei. Der Regen fiel auf
dasſelbe nieder wie auf einen Stein, in den er nicht
eindringen, und von dem er äußerlich nur in Jahr¬
hunderten etwas herab waſchen könne. Keine Rize
zeigte ſich für das Einlaſſen des Waſſers bereit, und
kein Theilchen der Bekleidung ſchickte ſich zur Los¬
löſung an. Im Innern wurden die Arbeiten gethan
wie an jedem Tage. Die Knechte reinigten Getreide
mit der ſogenannten Getreidepuzmühle, ſchaufelten es
ſeitwärts, und maſſen es in Säcke, damit es auf den
Schüttboden gebracht werde. Der Meier war dabei
beſchäftigt, ordnete an, und prüfte die Reinheit. Ein
[187] Theil der Mägde war in den Ställen beſchäftigt, ein
Theil richtete auf der Futtertenne das Futter zurecht,
ein Theil ſpann, und die Frau des Meiers ordnete
in der Milchkammer. Ich ſprach mit allen, und ſie
zeigten Freude, daß ich ſogar in dieſer Jahreszeit ein¬
mal gekommen ſei.
Von dem Meierhofe ging ich über den mit Obſt¬
bäumen bepflanzten Raum gegen den Garten hinüber.
Das Pförtchen an dieſer Seite war unter Tags ſelbſt
im Winter nicht geſperrt. Ich ging durch dasſelbe
ein, und begab mich in die Wohnung des Gärtners.
Dort legte ich meinen Wachsmantel, durch deſſen Fal¬
ten das Waſſer rann, ab, und ſezte mich auf die reine
weiße Bank vor dem Ofen. Der alte Mann und ſeine
Frau empfingen mich recht freundlich. In ihrem gan¬
zen Weſen war etwas ſehr Aufrichtiges. Seit gerau¬
mer Zeit war bei dieſen alten Leuten beinahe etwas
Elternhaftes gegen mich geweſen. Die Gärtnersfrau
Clara ſah mich immer wieder gleichſam verſtohlen von
der Seite an. Wahrſcheinlich dachte ſie an Natalien.
Der alte Simon fragte mich, ob ich denn nicht in die
Gewächshäuſer gehen, und die Pflanzen auch im
Winter beſehen wolle.
Das ſei außer dem Beſuche, den ich ihm und ſeiner
[188] Gattin machen wollte, meine Nebenabſicht geweſen,
erwiederte ich.
Er nahm einen anderen Rock um, und geleitete
mich in die Gewächshäuſer, welche an ſeine Woh¬
nung ſtießen. Ich nahm wirklich großen Antheil an
den Pflanzen ſelber, da ich mich ja in früherer Zeit
viel mit Pflanzen beſchäftigt hatte, und nahm Antheil
an dem Zuſtande derſelben. Wir gingen in alle Räu¬
me des nicht unbeträchtlich großen Kalthauſes, und
begaben uns dann in das Warmhaus. Nicht blos,
daß ich die Pflanzen nach meiner Abſicht betrachtete,
nahm ich mir auch die Zeit, freundlich anzuhören,
was mein Begleiter über die einzelnen ſagte, und
hörte zu, wie er ſich über Lieblinge ziemlich weit ver¬
breitete. Dieſe Hingabe an ſeine Rede und die Theil¬
nahme an ſeinen Pfleglingen, die ich ihm ſtets bewie¬
ſen hatte, mochten nebſt dem Antheile, den er mir an
der Erwerbung des Cereus peruvianus zuſchrieb, Ur¬
ſache ſein, daß er eine gewiſſe Anhänglichkeit gegen
mich hegte. Als wir an dem Ausgange der Gewächs¬
häuſer waren, welcher ſeiner Wohnung entgegenge¬
ſezt lag, fragte er mich, ob ich auch in das Cactus¬
haus gehen wolle, er werde zu dieſem Behufe, da wir
einen freien Raum zu überſchreiten hätten, meinen
[189] Wachsmantel holen. Ich ſagte ihm aber, daß dies
nicht nöthig ſei, da er ja auch ohne Schuz herüber
gehe, daß mein Gaſtfreund heute ſchon barhäuptig in
dem Meierhofe geweſen ſei, und daß es mir nicht
ſchaden werde, wenn ich auch einmal eine kurze Strecke
im Regen ohne Kopfbedeckung gehe.
„Ja der Herr, der iſt alles gewohnt,“ antwor¬
tete er.
„Ich bin zwar nicht alles aber vieles gewohnt,“
erwiederte ich, „und wir gehen ſchon ſo hinüber.“
Er ließ ſich von ſeinem Vorhaben endlich abbrin¬
gen, und wir gingen in das Cactushaus. Er zeigte
mir alle Gewächſe dieſer Art beſonders den peruvia¬
nus, welcher wirklich eine prachtvolle Pflanze gewor¬
den war, er verbreitete ſich über die Behandlung dieſer
Gewächſe während des Winters, ſagte, daß mancher
ſchon im Hornung blüht, daß nicht alle eine gewiſſe
Kälte vertragen ſondern in der wärmeren Abtheilung
des Hauſes ſtehen müſſen, beſonders verlangen dieſes
viele Cereusarten, und er ging dann auf die Einrich¬
tung des Hauſes ſelber über, und hob es als eine
Vorzüglichkeit heraus, daß der Herr für jene Stellen,
an denen die Gläſer über einander liegen, ein ſo treff¬
liches Bindemittel gefunden habe, durch welches das
[190] Hereinziehen des Waſſers an den übereinandergeleg¬
ten Stellen des Glaſes unmöglich ſei, und das die¬
ſen Pflanzen ſo nachtheilige Herabfallen von Waſſer¬
tropfen vermieden werde. Dadurch kann es auch allein
geſchehen, daß an Regentagen und an Tagen, an
welchen Schnee ſchmilzt, das Haus nicht mit Brettern
gedeckt werden müſſe, was finſter macht, und den
Pflanzen ſchädlich iſt. Ich könne das ja heute ſehen,
wie bei einem Regen ſo heftiger Art nicht ein Tröpf¬
lein herein dringen kann, oder vom Winde hereinge¬
ſchlagen wird. Bretter würden überhaupt über dieſes
Haus nicht gelegt. Gegen den Hagel ſei es durch
dickes Glas und den Panzer geſchüzt, und wenn kalte
Nächte zu erwarten ſind, werde eine Strohdecke ange¬
wendet, und der Schnee werde durch Beſen entfernt.
Mir war wirklich der Umſtand merkwürdig und wich¬
tig, daß hier kein Herabtropfen von dem Glasdache
ſtatt finde, was meinem Vater ſo unangenehm iſt.
Ich nahm mir vor, meinen Gaſtfreund um Eröffnung
des Verfahrens zu erſuchen, um dasſelbe dem Vater
mitzutheilen. Als wir auf dem Rückwege durch die
anderen Gewächshäuſer gingen, ſah ich, daß auch
hier kein Herabtropfen vorhanden ſei und mein Be¬
gleiter beſtätigte es.
[191]
Da ich noch ein Weilchen in der Wohnung der
Gärtnerleute geblieben war und mit der Gärtnerfrau
geſprochen hatte, machte ich Anſtalt zum Heimwege.
Die Gärtnerfrau hatte meinen Wachsmantel in der
Zeit, in der ich mit ihrem Manne in den Gewächs¬
häuſern geweſen war, an ſeiner Außenfläche von allem
Waſſer befreit, und ihn überhaupt handlich und an¬
genehm hergerichtet. Ich dankte ihr, ſagte, daß er
wohl bald wieder verknittert ſein würde, empfahl
mich freundlich, nahm die anderſeitigen freundlichen
Empfehlungen in Empfang, und ging dann in meine
Zimmer.
Dort kleidete ich mich ſorgfältig um, und ging
dann zu meinem Gaſtfreunde. Er war eben mit Guſtav
beſchäftigt, der ihm Rechenſchaft von ſeinen Morgen¬
arbeiten ablegte. Ich fragte, ob es mir erlaubt wäre,
in das Bildergemach oder in ähnliche zu gehen.
„Das Leſezimmer und das Bilderzimmer ſo wie
das mit den Kupferſtichen ſind ordnungsgemäß ge¬
heizt,“ antwortete mein Gaſtfreund, „der Bücherſaal
der Marmorſaal und die Marmortreppe werden leid¬
lich warm ſein. Verſchloſſen iſt keiner der Räume.
Bedient euch derſelben, wie ihr es zu Hauſe thun
würdet.“
[192]
Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬
niß der Tageintheilung wußte ich, daß er ſeine Be¬
ſchäftigung mit Guſtav fortſezte.
Ich ging zuerſt auf die Marmortreppe. Ich ſuchte
ſie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬
ſchaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬
ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬
ſchrieben war, Filzſchuhe, welche immer in Bereit¬
ſchaft ſtanden, an, und ging die glatte ſchöne Treppe
hinunter. Als ich in die Mitte derſelben gekommen
war, wo ſich der breite Abſaz befindet, hielt ich an;
denn das war das Ziel meiner Wanderung geweſen.
Ich wollte die alterthümliche Marmorgeſtalt betrach¬
ten. Selbſt heute in dem bleiernen Lichte, das durch
die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf
ihr rinnende Waſſer getrübt war, gleichſam träge
nieder fiel, war die Erſcheinung eine gewaltige und
erhebende. Die hehre Jungfrau, ſonſt immer ſanft
und hoch, ſtand heute in den flüſſigen Schleiern des
dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der
Ernſt des Tages legte ſich auch als Ernſt auf ihre
unausſprechlich anmuthigen Glieder. Ich ſah die Ge¬
ſtalt lange an, ſie war mir wie bei jedem erneuerten
Anblicke wieder neu. Wie ſehr mir auch die blendend
[193] weiße Geſtalt der Brunnennimphe im Sternenhofe
nach der jüngſten Vergangenheit als liebes Bild in
die Seele geprägt worden war, ſo war ſie doch ein
Bild aus unſerer Zeit, und war mit unſeren Kräften
zu faſſen: hier ſtand das Alterthum in ſeiner Größe
und Herrlichkeit. Was iſt der Menſch, und wie hoch
wird er, wenn er in ſolcher Umgebung und zwar in
ſolcher Umgebung von größerer Fülle weilen darf.
Ich ging langſam die Treppe wieder hinan, und
ging in den Marmorſaal. Seine Größe ſeine Leer¬
heit, der, wenn ein ſolches Wort erlaubt iſt, dunkle
Glanz, der von dem dunkeln und mit ungewiſſen und
zweideutigen Lichtern wechſelnden Tage auf ſeinen
Wänden lag, und wechſelte, ließ ſich nach dem An¬
blicke der Geſtalt des Alterthums tragen und ertragen.
Ja der Saal erſchien mir in dem finſtern Tage noch
größer und ernſter als ſonſt, und ich weilte gerne in
ihm, faſt ſo gerne wie an jenem Abende, an welchem
ich mit meinem Gaſtfreunde unter dem ſanften Blizen
eines Gewitterhimmels in ihm auf und ab gegan¬
gen war. Ich ging auch jezt wieder in demſelben hin
und wider, und ließ den Sturm draußen mit ſeinen
trüben Lichtern die Wände herinnen mit ihrem matten
Stifter, Nachſommer. III. 13[194] Glanze und die Erinnerung der eben geſehenen Ge¬
ſtalt in mir wirken.
Nach einer Zeit trat ich durch die Thür, welche
in das Bilderzimmer führt. Die Bilder hingen in dem
düſteren Glanze des Tages da, und konnten ſelbſt
dort, wo der Künſtler die kraftvollſten Mittel des
Lichtes und Schattens angewendet hatte, nicht zur
vollen Wirkſamkeit gelangen, weil das, was die Bil¬
der erſt recht malen hilft, fehlte, die Macht eines ſon¬
nigen und heiteren Tages. Selbſt als ich zu einigen,
die ich beſonders liebte, näher getreten war, ſelbſt als
ich vor einem Guido, der auf der Staffelei ſtand, die
nahe an das Fenſter und in das beſte Licht gerückt
worden war, niederſaß, um ihn zu betrachten, konnte
die Empfindung, die ſonſt dieſe Werke in mir erreg¬
ten, nicht emporkeimen. Ich erkannte bald die Ur¬
ſache, welche darin beſtand, daß ohnehin eine viel
höhere in meinem Gemüthe waltete, welche durch die
Geſtalt des Alterthums in mir hervorgerufen worden
war. Die Gemälde erſchienen mir beinahe klein. Ich
ging in das Bücherzimmer, nahm mir Odyſſeus aus
ſeinem Schreine, begab mich in das Leſezimmer, in
welchem die geſellige Flamme die Freundin des Men¬
ſchen, die ihm in der Finſterniß Licht und im Winter
[195] des Nordens Wärme gibt, hinter dem feinen Gitter
eines Kamines freundlich loderte, und in welchem
alles auf das Reinlichſte geordnet war, ſezte mich in
einiger Entfernung von dem Fenſter in einen weichen
Siz, und begann unter dem Praſſeln des Regens an
den Fenſtern von der erſten Zeile an zu leſen. Die
fremden Worte, die als lebendig geſprochen einer
fernen Zeit angehörten, die Geſtalten, welche durch
dieſe Worte in unſere Zeit mit all ihrer ihnen einſtens
angehörigen Eigenthümlichkeit heraufgeführt wurden,
ſchloſſen ſich an die Jungfrau an, welche ich auf der
Treppe hatte ſtehen geſehen. Als Nauſikae kam, war
es mir wieder, wie es mir bei der erſten richtigen Be¬
trachtung der Marmorgeſtalt geweſen war, die Ge¬
wänder des harten Stoffes löſeten ſich zu leichter
Milde, die [Glieder] bewegten ſich, das Angeſicht er¬
hielt wandelbares Leben, und die Geſtalt trat als
Nauſikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes
Abends geweſen, die heute meine Hand, als ich von
der Treppe in den Marmorſaal und in das Bilderzim¬
mer herauf gekommen war, und in dieſen keine Befrie¬
digung gefunden hatte, zu den Worten Homers im
Odyſſeus greifen ließ. Als die Helden das Mahl in
dem Saale genoſſen hatten, als der Sänger gerufen
13 *[196] worden war, als die Worte jenes Liedes vernommen
worden waren, deſſen Ruhm damals bis zu dem
Himmel reichte, als Odyſſeus das Haupt verhüllt
hatte, damit man die Thränen nicht ſähe, welche ihm
aus den Augen floßen, als endlich Nauſikae ſchlicht
und mit tiefem Gefühle an den Säulen der Pforte
des Saales ſtand: da geſellte ſich auch lächelnd das
ſchöne Bild Nataliens zu mir; ſie war die Nauſikae
von jezt, ſo wahr ſo einfach nicht prunkend mit ihrem
Gefühle und es nicht verhehlend. Beide Geſtalten
verſchmolzen in einander, und ich las und dachte zu¬
gleich, und bald las ich, und bald dachte ich, und als
ich endlich ſehr lange blos allein gedacht hatte, nahm
ich das Buch, das vor mir auf dem Tiſche lag, wie¬
der auf, trug es in das Bücherzimmer auf ſeinen
Plaz, und ging durch den Marmorſaal und den Gang
der Gaſtzimmer in meine Wohnung zurück.
Das Werk des Vormittages war abgethan.
Am Mittagtiſche fanden ſich wieder dieſelben Per¬
ſonen ein, welche bei dem Frühmahle verſammelt ge¬
weſen waren. Nach dem Genuſſe eines einfachen aber
für Gedeihen und Geſundheit ſehr wohl zubereiteten
Mahles, wie es immer in dem Roſenhauſe ſein mußte,
nach manchem freundlichen und erheiternden Geſpräche
[197] ſtand man auf, um wieder zu ſeinen Geſchäften zu
gehen, die jedem ernſt und wichtig genug waren,
mochten ſie nun im Erwerben von Kenntniſſen be¬
ſtehen, wie faſt ausſchließlich bei Guſtav, oder moch¬
ten ſie im Vorwärtsdringen in der Kunſt oder auf
wiſſenſchaftlichem Felde oder in einer richtigeren Ge¬
ſtaltung der eigenen Lebenslage enthalten ſein.
Für den heutigen Nachmittag war ein beſonderes
Geſchäft vorbehalten worden, zu welchem auch Ro¬
land kommen, und deßhalb ſeine heutige Arbeit an
ſeinem Bilde abbrechen mußte. Es war eine Samm¬
lung von Kupferſtichen eingelangt, welche zum Kaufe
angebothen waren, und deren Beſichtigung man auf
den heutigen Nachmittag anberaumt hatte. Mein
Gaſtfreund lud mich zu der Sache ein. Die Kupfer¬
ſtiche lagen in zwei Mappen in dem Zimmer meines
Gaſtfreundes. Wir gingen über die Treppe, die für
die Dienerſchaft beſtimmt war, in ſein Zimmer empor,
und rückten den Tiſch, auf welchem die Mappen lagen,
näher an ein Fenſter, damit wir die Blätter beſſer
betrachten konnten. Die Mappen wurden geöffnet,
und bald ſah man, daß der Sammler der in denſelben
enthaltenen Stücke kein Mann geweſen ſei, der von
der Tiefe der Kunſt von ihrem Ernſte und von ihrer
[198] Bedeutung für das menſchliche Leben eine Vorſtellung
gehabt habe. Er war eben ein Sammler gewöhnlicher
Art geweſen, der die Menge und die Manigfaltigkeit
der Stücke vor Augen gehabt hatte. Jezt lag er im
Grabe, und ſeine Erben mußten weder für die Ver¬
hältniſſe der Kunſt zum menſchlichen Leben noch für
Sammeln von was immer für einer Art einen Sinn
gehabt haben, daher ſie alle Hefte meinem Gaſt¬
freunde, von dem ſie gehört hatten, daß er ſolche
Merkwürdigkeiten ſuche, zum Verkaufe anbothen.
Neben ganz werthloſen Erzeugniſſen des Grabſtichels
nach heutiger unbedeutender Weiſe, wie ſie in Büchern
und Bilderwerken zum Behufe des Gelderwerbes vor¬
kommen, neben Steinzeichnungen mit der Feder und
der Kreide befanden ſich auch beſſere Werke von jezt
und beſonders einige Stücke aus älterer Zeit von
großem Werthe. Mein Gaſtfreund und ſeine zwei
Gehilfen ſprachen bei dieſer Gelegenheit Manches
über Kupferſtiche, was mir neu war, und woran ich
die Bedeutung dieſes Kunſtzweiges mehr kennen lernte,
als ich ſie früher kannte. Da er die Überſezung der
Werke der großen Meiſter aller Zeiten vermitteln kann,
da er ein Bild, das nur einmal da iſt, das für viele
Menſchen an fernen und ihnen nie erreichbaren Orten
[199] ſich befindet, oder das als Eigenthum eines einzelnen
Mannes nicht einmal allen denen, die denſelben Ort
mit ihm bewohnen, zugänglich iſt, vervielfältiget, und
zur Anſchauung in viele Orte und in ferne Zeiten
bringen kann, ſo ſollte man ihm wohl die größte Auf¬
merkſamkeit ſchenken. Wenn er nicht einer gewiſſen
zu beſtimmten Zeiten in Schwung kommenden Art
huldigt, ſondern ſtrebt, die Seele des Meiſters, wie
ſie ſich in dem Bilde darſtellt, wieder zu geben, wenn
er nicht blos die Stoffe, wie ſie ſich in dem Bilde
befinden, von der Zartheit des menſchlichen Ange¬
ſichtes und der menſchlichen Hände angefangen durch
den Glanz der Seide und die Glätte des Metalles
bis zu der Rauhigkeit der Felſen und Teppiche herab
ſondern auch ſogar die Farben, die der Maler ange¬
wendet hat, durch verſchiedene aber immer klare leicht
geführte und ſchöngeſchwungene Linien, die niemals
unbedeutend niemals durch Abſonderlichkeit auffallend
ſein niemals einen bloßen Fleck bilden dürfen, und
die er zur Bemeiſterung jedes neuen Gegenſtandes neu
erfinden kann, darſtellt: dann kann er zwar nicht der
Malerei in ihren Wirkungen an die Seite geſezt wer¬
den, die ſie auf ihre Beſchauer geradehin ausübt,
aber er kann ihr an Kunſtwirkung überhaupt als eben¬
[200] bürtig erkannt werden, weil er auf eine größere Zahl
von Menſchen wirkt, und bei denen, welche die nach¬
geahmten Gemälde nicht ſehen können, eine deſto
tiefere und vollere Kunſtwirkung hervorbringt, je
tiefer und edler er ſelber iſt. Dies habe ich bei mei¬
nem Gaſtfreunde in der Zeit, als ich mit ihm in Ver¬
bindung war, immer mehr kennen gelernt, und dies
iſt mir wieder beſonders klar geworden, als die
Kupferſtiche durchgeſehen wurden, und als man über
ihren Werth und über Mittel Wege und Wirkung der
Kupferſtecherkunſt überhaupt ſprach. Es wurde, da
man die Einzelheiten der guten Blätter genau unter¬
ſucht, und ihre Vorzüge und ihre Mängel ſorglich be¬
ſprochen hatte, feſtgeſezt, daß man der guten Stücke
willen die ganze Sammlung kaufen wolle, wenn ihr
Preis einen gewiſſen Betrag, den man anboth, und
den man gerechter und billiger Weiſe geben konnte,
nicht überſtiege. Die ſchlechten Blätter wollte man
dann vernichten, weil ſie durch ihr Daſein eine gute
Wirkung nicht nur nicht hervorbringen, ſondern das
Gefühl deſſen, der nichts Beſſeres ſieht, ſtatt es zu
heben, in eine rohere und verbildetere Richtung len¬
ken, als es nähme, wenn ihm nichts als die Gegen¬
ſtände der Natur gebothen würden. Den Geiſt des
[201] Menſchen, ſagten die Männer, verunreinige falſche
Kunſt mehr als die Unberührtheit von jeder Kunſt.
Da es dämmerte, wurden die Kupferſtiche in ihre
Behältniſſe gethan, der Tiſch wurde wieder an ſeine
Stelle gerückt, und wir trennten uns.
Der Sturm hatte eher zu als ab genommen, und
der Regen ſchlug in Strömen an die Fenſter.
Abends waren wir wieder in dem Arbeitszimmer
meines Gaſtfreundes vereinigt, nur Guſtav fehlte,
weil er ſich in ſeinem Zimmer noch mit ſeiner Tages¬
aufgabe beſchäftigte. Ehe wir zu dem Abendeſſen
gingen, zeichnete mein Gaſtfreund noch den Stand
der naturwiſſenſchaftlichen Geräthe, welche ſich auf
Luftdruck Feuchtigkeit Wärme Electricität und der¬
gleichen bezogen, in ſeine Bücher, und dann ging er
durch das ganze Haus, und beſah den Verhalt der
Dinge in demſelben die geförderten Arbeiten der
Hausleute ihr jeziges Thun und den allfälligen Ein¬
fluß des heutigen ſtürmiſchen Wetters.
Bei dem Abendeſſen wurde, nachdem man die
Nahrungsbedürfniſſe in kurzer Zeit geſtillt und heitere
Geſpräche geführt hatte, noch aus einem Buche vor¬
geleſen, das damal neu war. Es betraf größtentheils
die Geſchichte des Seidenbaues und der Seiden¬
[202] weberei, und beſonders wurde der Abſchnitt behan¬
delt, wie dieſes Gewerbe aus dem fernſten Morgen¬
lande nach Sirien nach Arabien Egipten Bizanz dem
Pellopones nach Sicilien Spanien Italien und Frank¬
reich gekommen ſei. Mein Gaſtfreund behauptete, daß
in der Anfertigung von jenen Prachtſtoffen, die aus
Seide und Gold oder Silber beſtanden, was die Fein¬
heit und Zartheit des Gewebes, was deſſen Weich¬
heit verbunden mit mildem Glanze, gegen den die
heutigen Stoffe dieſer Art in ihrer Steifheit und in
ihrem harten Schimmer ſtark abſtehen, und was end¬
lich den Schwung die feine Zierlichkeit und die reiche
Einbildungskraft in den Zeichnungen betrift, die Zeit
des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts den
ſpäteren Zeiten und beſonders der unſrigen weit vor¬
zuziehen ſei. Er habe zu ſpät angefangen, dieſem
Zweige des Alterthumes, der beinahe ein Zweig der
Kunſt ſei, ſeine Aufmerkſamkeit zu widmen. Eine
Sammlung ſolcher Stoffe müßte merkwürdig ſein,
er könne aber keine mehr anlegen, da ſie Reiſen durch
ganz Europa ja durch nicht unbedeutende Theile von
Aſien und Afrika vorausſeze, und wahrſcheinlich die
Kräfte eines einzelnen Mannes überſchreite. Geſell¬
ſchaften oder der Staat könnten ſolche Sammlungen
[203] zur Vergleichung zur Belehrung ja zur Bereicherung
der Geſchichte ſelber zu Stande bringen. In reichen
Abteien in den Kleiderſchreinen alter berühmter Kir¬
chen in Schazkammern und andern Behältniſſen könig¬
licher Burgen und größerer Schlöſſer dürfte ſich vieles
finden, was dort zu entbehren wäre, und in einer
Sammlung Sprache und Bedeutung gewänne. Wie
viel müßte nach den Kreuzzügen aus dem Morgen¬
lande nach Europa gekommen ſein, da ſelbſt einfache
Ritter mit dort gewonnener Beute an Gold und koſt¬
baren Stoffen in die Heimath zurückgekehrt ſeien, und
ſich Prunk außer bei kirchlichen Feierlichkeiten Krö¬
nungen Aufzügen Kampfſpielen auch im gewöhnlichen
Verkehre mehr eingefunden hatte, als er früher ge¬
weſen war. Wie müßte dieſer Zweig auch ein Licht
auf die mit ſeinem Blühen ganz gleich laufende Zeit
werfen, in welcher jene merkwürdigen Kirchen gebaut
wurden, deren erhabene Überbleibſel noch heute unſere
Bewunderung erregen, wie müßte er auch eine Be¬
ziehung eröffnen zur Verzierungskunſt jener Zeit in
Steinmezarbeit in Elfenbein- und Holzſchnizerei ja zum
Beginne der ſpäter blühenden großen Malerſchulen in
dem Norden und Süden Europas, und wie müßte
er ſogar auf Gedanken über Anſchauungsweiſe der
[204] Völker ihre Verbindungen und ihre Handelswege
leiten. Thun das ja auch Münzen thun es Siegel
und andere dieſen untergeordnete Dinge. Roland
ſagte, er wolle nun ſolche Stoffe zu ſammeln ſuchen.
Wir gingen an jenem Abende ſpäter auseinander
als gewöhnlich.
Am anderen Morgen, als ich aufgeſtanden war,
und das beginnende Licht einen Ausblick durch die
Fenſter geſtattete, ſah ich friſchen Schnee über alle
Gefilde ausgebreitet, und in dichten Flocken, die um
das Glas der Fenſter ſpielten, fiel er noch immer von
dem Himmel herunter. Der Wind hatte etwas nach¬
gelaſſen, die Kälte mußte geſtiegen ſein.
Wir machten an dieſem Tage alle zuſammen einen
ziemlich großen Spaziergang. Im Garten wurde her¬
umgegangen, ob etwas zu richten ſei, die Gewächs¬
häuſer wurden beſucht, in dem Meierhofe wurde nach¬
geſehen, und Abends wurde in dem Buche, welches
von der Seidenweberei handelte, weiter geleſen. Der
Schneefall hatte bis in die Dämmerung gedauert,
dann kamen heitere Stellen an dem Himmel zum
Vorſcheine.
Wie dieſe zwei Tage vergangen waren, ſo ver¬
gingen nun mehrere und mein Gaſtfreund begann
[205] nicht, ſeine Mittheilungen, welche er verſprochen hatte,
zu machen. Wir hatten außer der Zeit, die jeder in
ſeiner Wohnung bei ſeinen Arbeiten zubrachte, manche
Gänge durch die Gegend gemacht, was um ſo ange¬
nehmer war, als nach den ſtürmiſchen Tagen bei mei¬
ner Ankunft ſich heiteres ſtilles und kaltes Wetter
eingeſtellt hatte. Ich war zu mancher Zeit in der Ge¬
ſellſchaft meines Gaſtfreundes, ich ſah ihm zu, wenn
er ſeine Vögel vor dem Fenſter fütterte, oder wenn er
für Ernährung der Haſen außerhalb der Grenze ſei¬
nes Gartens ſorgte, was des tiefen Schnees willen,
der gefallen war, doppelt nothwendig wurde, wir
hatten weitere Fahrten in dem Schlitten gemacht, um
Nachbarn zu beſuchen, manches zu beſprechen, oder
die freie Luft und die Bewegung zu genießen, einmal
war ich mit meinem Gaſtfreunde zu einer Brücke ge¬
fahren, die er mit mehreren Männern beſchauen ſollte,
weil man vorhatte, ſie im Frühlinge neu zu bauen —
man hatte meinen Gaſtfreund nicht verſchont, und ihn
mit Gemeindeämtern betraut — mehrere Male waren
wir in verſchiedenen Theilen der Wälder geweſen,
um bei dem Fällen der Hölzer nachzuſehen, welche
zum Bauen und zur Verarbeitung in dem Schreiner¬
hauſe verwendet werden ſollten, welche Fällung in
[206] dieſer Jahreszeit vor ſich gehen mußte; wir waren
auch einmal im Inghofe geweſen, und hatten die
dortigen Gewächshäuſer beſehen. Der Hausverwalter
und der Gärtner hatten uns bereitwillig und freund¬
lich herum geführt. Der Herr des Beſizthums war
mit ſeiner Familie in der Stadt.
Eines Tages kam mein Gaſtfreund in meine Woh¬
nung, was er öfter that, theils um mich zu beſuchen,
theils um nach zu ſehen, ob es mir nicht an etwas
Nothwendigem gebreche. Nachdem das Geſpräch über
verſchiedene Dinge eine Weile gedauert hatte, ſagte
er: „Ihr werdet wohl wiſſen, daß ich der Freiherr
von Riſach bin.“
„Lange wußte ich es nicht,“ antwortete ich, „jezt
weiß ich es ſchon eine geraume Zeit.“
„Habt ihr nie gefragt?“
„Ich habe nach der erſten Nacht, die ich in eurem
Hauſe zugebracht habe, einen Bauersmann gefragt,
welcher mir die Antwort gab, ihr ſeied der Asper¬
meier. An demſelben Tage forſchte ich auch in weite¬
rer Entfernung, ohne etwas Genaues zu erfahren.
Später habe ich nie mehr gefragt.“
„Und warum habt ihr denn nie gefragt?“
„Ihr habt euch mir nicht genannt; daraus ſchloß
[207] ich, daß ihr nicht für nöthig hieltet, mir euren Namen
zu ſagen, und daraus zog ich für mich die Maßregel,
daß ich euch nicht fragen dürfe, und wenn ich euch
nicht fragen durfte, durfte ich es auch einen andern
nicht.“
„Man nennt mich hier in der ganzen Gegend den
Asperherrn,“ antwortete er, „weil es bei uns gebräuch¬
lich iſt, den Beſizer eines Gutes nach dem Gute, nicht
nach ſeiner Familie zu benennen. Jener Name
erbt in Hinſicht aller Beſizer bei dem Volke fort, die¬
ſer ändert ſich bei einer Änderung des Beſizſtan¬
des, und da müßte das Volk ſtets wieder einen neuen
Namen erlernen, wozu es viel zu beharrend iſt. Einige
Landleute nennen mich auch den Aspermeier, wie mein
Vorgänger geheißen hat.“
„Ich habe einmal zufällig euren richtigen Namen
nennen gehört,“ ſagte ich.
„Ihr werdet dann auch wiſſen, daß ich in Staats¬
dienſten geſtanden bin,“ erwiederte er.
„Ich weiß es,“ ſagte ich.
„Ich war für dieſelben nicht geeignet,“ antwor¬
tete er.
„Dann ſagt ihr etwas, dem alle Leute, die ich
bisher über euch gehört habe, widerſprechen. Sie
[208] loben eure Staatslaufbahn insgeſammt,“ erwie¬
derte ich.
„Sie ſehen vielleicht auf einige einzelne Ergeb¬
niſſe,“ antwortete er, „aber ſie wiſſen nicht, mit wel¬
chem Ungemache des Entſtehens dieſe aus meinem
Herzen gekommen ſind. Sie können auch nicht wiſſen,
wie die Ergebniſſe geworden wären, wenn ein an¬
derer von gleicher Begabung aber von größerer
Gemüthseignung für den Staatsdienſt, oder wenn
gar einer von auch noch größerer Begabung ſie ge¬
fördert hätte.“
„Das kann man von jedem Dinge ſagen,“ erwie¬
derte ich.
„Man kann es,“ antwortete er, „dann ſoll man
aber das, was nicht gerade mißlungen iſt, auch nicht
ſogleich loben. Hört mich an. Der Staatsdienſt oder
der Dienſt des allgemeinen Weſens überhaupt, wie
er ſich bis heute entwickelt hat, umfaßt eine große
Zahl von Perſonen. Zu dieſem Dienſte wird auch
von den Geſezen eine gewiſſe Ausbildung und ein ge¬
wiſſer Stufengang in Erlangung dieſer Ausbildung
gefordert, und muß gefordert werden. Je nachdem
nun die Hoffnung vorhanden iſt, daß einer nach Voll¬
endung der geforderten Ausbildung und ihres Stufen¬
[209] ganges ſogleich im Staatsdienſte Beſchäftigung finden,
und daß er in einer entſprechenden Zeit in jene höhe¬
ren Stellen empor rücken werde, welche einer Familie
einen anſtändigen Unterhalt gewähren, widmen ſich
mehr oder wenigere Jünglinge der Staatslaufbahn.
Aus der Zahl derer, welche mit gutem Erfolge den
vorgeſchriebenen Bildungsweg zurückgelegt haben,
wählt der Staat ſeine Diener, und muß ſie im Gan¬
zen daraus wählen. Es iſt wohl kein Zweifel, daß
auch außerhalb dieſes Kreiſes Männer von Begabung
für den Staatsdienſt ſind, von großer Begabung ja
von außerordentlicher Begabung; aber der Staat kann
ſie, jene ungewöhnlichen Fälle abgerechnet, wo ihre
Begabung durch beſondere Zufälle zur Erſcheinung
gelangt, und mit dem Staate in Wechſelwirkung ge¬
räth, nicht wählen, weil er ſie nicht kennt, und weil
das Wählen ohne nähere Kenntniß und ohne die vor¬
liegende Gewähr der erlangten vorgeſchriebenen Aus¬
bildung Gefahr drohte und Verwirrung und Mißlei¬
tung in die Geſchäfte bringen könnte. Wie nun die¬
jenigen, welche die Vorbereitungsjahre zurückgelegt
haben, beſchaffen ſind, ſo muß ſie der Staat nehmen.
Oft ſind ſelbſt große Begabungen in größerer Zahl
darunter, oft ſind ſie in geringerer, oft iſt im Durch¬
Stifter, Nachſommer, III. 14[210] ſchnitte nur Gewöhnlichkeit vorhanden. Auf dieſe
Beſchaffenheit ſeines Perſonenſtoffes mußte nun der
Staat die Einrichtung ſeines Dienſtes gründen. Der
Sachſtoff dieſes Dienſtes mußte eine Faſſung bekom¬
men, die es möglich macht, daß die zur Erreichung
des Staatszweckes nöthigen Geſchäfte fortgehen und
keinen Abbruch und keine weſentliche Schwächung er¬
leiden, wenn beſſere oder geringere einzelne Kräfte
abwechſelnd auf die einzelnen Stellen gelangen, in
denen ſie thätig ſind. Ich könnte ein Beiſpiel gebrau¬
chen, und ſagen, jene Uhr wäre die vortrefflichſte,
welche ſo gebaut wäre, daß ſie richtig ginge, wenn
auch ihre Theile verändert würden, ſchlechtere an die
Stelle beſſerer, beſſere an die Stelle ſchlechterer kämen.
Aber eine ſolche Uhr dürfte kaum möglich ſein. Der
Staatsdienſt mußte ſich aber ſo möglich machen, oder
ſich nach der Entwicklung, die er heute erlangt hat,
aufgeben. Es iſt nun einleuchtend, daß die Faſſung
des Dienſtes eine ſtrenge ſein muß, daß es nicht er¬
laubt ſein könne, daß ein Einzelner den Dienſtesin¬
halt in einer andern Faſſung als in der vorgeſchriebe¬
nen anſtrebe, ja daß ſogar mit Rückſicht auf die Zu¬
ſammenhaltung des Ganzen ein Einzelnes minder gut
verrichtet werden muß, als man es von ſeinem Stand¬
[211] punkte allein betrachtet thun könnte. Die Eignung
zum Staatsdienſte von Seite des Gemüthes abgeſe¬
hen von den andern Fähigkeiten beſteht nun auch in
weſentlichen Theilen dann, daß man entweder das
Einzelne mit Eifer zu thun im Stande iſt, ohne deſſen
Zuſammenhang mit dem großen Ganzen zu kennen,
oder daß man Scharfſinn genug hat, den Zuſammen¬
hang des Einzelnen mit dem Ganzen zum Wohle und
Zwecke des Allgemeinen einzuſehen, und daß man
dann dieſes Einzelne mit Luſt und Begeiſterung voll¬
führt. Das leztere thut der eigentliche Staatsmann,
das erſte der ſogenannte gute Staatsdiener. Ich war
keins von beiden. Ich hatte von Kindheit an, freilich
ohne es damals oder in den Jugendjahren zu wiſſen,
zwei Eigenſchaften, die dem Geſagten geradezu entge¬
gen ſtanden. Ich war erſtens gerne der Herr meiner
Handlungen. Ich entwarf gerne das Bild deſſen, was
ich thun ſollte, ſelbſt, und vollführte es auch gerne
mit meiner alleinigen Kraft. Daraus folgte, daß ich
ſchon als Kind, wie meine Mutter erzählte, eine
Speiſe ein Spielzeug und dergleichen lieber nahm,
als mir geben ließ, daß ich gegen Hilfe widerſpänſtig
war, daß man mich als Knaben und Jüngling un¬
gehorſam und eigenſinnig nannte, und daß man in
14 *[212] meinen Männerjahren mir Starrſinn vorwarf. Das
hinderte aber nicht, daß ich dort, wo mir ein Fremdes
durch Gründe und hohe Triebfedern unterſtüzt gege¬
ben wurde, dasſelbe als mein Eigenes aufnahm, und
mit der tiefſten Begeiſterung durchführte. Das habe
ich einmal in meinem Leben gegen meine ſtärkſte Nei¬
gung, die ich hatte, gethan, um der Ehre und der
Pflicht zu genügen. Ich werde es euch ſpäter erzäh¬
len. Daraus folgt, daß ich eigenſinnig der Bedeu¬
tung des Wortes, wie man es gewöhnlich nimmt,
nicht geweſen bin, und es auch im Alter, in dem
man überhaupt immer milder wird, gewiß nicht bin.
Eine zweite Eigenſchaft von mir war, daß ich ſehr
gerne die Erfolge meiner Handlungen abgeſondert
von jedem Fremdartigen vor mir haben wollte, um
klar den Zuſammenhang des Gewollten und Gewirk¬
ten überſchauen und mein Thun für die Zukunft regeln
zu können. Eine Handlung, die nur geſezt wird, um
einer Vorſchrift zu genügen oder eine Faſſung zu voll¬
enden, konnte mir Pein erregen. Daraus folgte, daß
ich Thaten, deren lezter Zweck ferne lag oder mir nicht
deutlich war, nur läſſig zu vollführen geneigt war,
während ich Handlungen, wenn ihr Ziel auch ſehr
ſchwer und nur durch viele Mittelglieder zu erreichen
[213] war, mit Eifer und Luſt zu Ende führte, ſobald ich
mir nur den Hauptzweck und die Mittelzwecke deutlich
machen und mir aneignen konnte. Im erſten Falle
vermochte ich es mir nur durch die Vorſtellung, daß
der Zweck wenn auch dunkel doch ein hoher ſei, abzu¬
ringen, daß ich mit aller Kraft an das Werk ging,
wobei ich aber immer zum Eilen geneigt war, we߬
halb man mich auch ungeduldig ſchalt: im zweiten
Falle gingen die Kräfte von ſelber an das Werk, und
es wurde mit der größten Ausdauer und mit Verwen¬
dung aller gegebenen Zeit zu Stande gebracht, we߬
halb man mich auch wieder hartnäckig nannte. Ihr
werdet in dieſem Hauſe Dinge geſehen haben, aus
denen euch klar geworden iſt, daß ich Zwecke auch mit
großer Geduld verfolgen kann. Sonderbar iſt es über¬
haupt, und dürfte von größerer Bedeutung ſein, als
man ahnt, daß mit dem zunehmenden Alter die Weit¬
ausſichtigkeit der Pläne wächſt, man denkt an Dinge,
die unabſehliche Strecken jenſeits alles Lebenszieles
liegen, was man in der Jugend nicht thut, und das
Alter ſezt mehr Bäume und baut mehr Häuſer als die
Jugend. Ihr ſeht, daß mir zwei Hauptdinge zum
Staatsdiener fehlen, das Geſchick zum Gehorchen,
was eine Grundbedingung jeder Gliederung von Per¬
[214] ſonen und Sachen iſt, und das Geſchick zu einer thäti¬
gen Einreihung in ein Ganzes und kräftiger Arbeit für
Zwecke, die außer dem Geſichtskreiſe liegen, was nicht
minder eine Grundbedingung für jede Gliederung iſt.
Ich wollte immer am Grundſäzlichen ändern und die
Pfeiler verbeſſern, ſtatt in einem Gegebenen nach
Kräften vorzugehen, ich wollte die Zwecke allein ent¬
werfen, und wollte jede Sache ſo thun, wie ſie für ſich
am beſten iſt, ohne auf das Ganze zu ſehen, und ohne
zu beachten, ob nicht durch mein Vorgehen anderswo
eine Lücke geriſſen werde, die mehr ſchadet, als mein
Erfolg nüzt. Ich wurde, da ich noch kaum mehr als
ein Knabe war, in meine Laufbahn geführt, ohne daß
ich ſie und mich kannte, und ich ging in derſelben fort,
ſo weit ich konnte, weil ich einmal in ihr war, und
mich ſchämte, meine Pflicht nicht zu thun. Wenn ei¬
niges Gute durch mich zu Stande kam, ſo rührt es
daher, daß ich einerſeits in Betrachtung meines Am¬
tes und ſeiner Gebote meinen Kräften eine mögliche
Thätigkeit abrang, und daß andererſeits die Zeiter¬
eigniſſe ſolche Aufgaben herbei führten, bei denen ich
die Pläne des Handelns entwerfen und ſelber durch¬
führen konnte. Wie tief aber mein Weſen litt, wenn
ich in Arten des Handelns, die ſeiner Natur entge¬
[215] gengeſezt ſind, begriffen war, das kann ich euch jezt
kaum ausdrücken, noch wäre ich damals im Stande
geweſen, es auszudrücken. Mir fiel in jener Zeit im¬
mer und unabweislich die Vergleichung ein, wenn
etwas, das Floſſen hat, fliegen, und etwas, das Flü¬
gel hat, ſchwimmen muß. Ich legte deßhalb in einem
gewiſſen Lebensalter meine Ämter nieder. Wenn ihr
fragt, ob es denn nothwendig ſei, daß ſich in der
Gliederung des Staatsdienſtes eine ſo große Anzahl
von Perſonen befinde, und ob man nicht einen Theil
der allgemeinen Geſchäfte, wie ſie jezt ſind, zu beſon¬
dern Geſchäften machen, und ſie beſondern Körper¬
ſchaften oder Perſonen, die ſie hauptſächlich angehen,
überlaſſen könnte, wodurch eine größere Überſichtlich¬
keit in den Staatsdienſt käme, und wodurch es möglich
würde, daß ſich hervorragende Begabungen mehr im
Entwerfen und Vollführen von Plänen zu allgemei¬
nem Beſten geltend machen könnten: ſo antworte ich:
dieſe Frage iſt allerdings eine wichtige und ihre richtige
Beantwortung von der größten Bedeutung; aber eben
die richtige Beantwortung in allen ihren Einzelnheiten
dürfte eine der ſchwerſten Aufgaben ſein, und ich ge¬
traue mir nicht, von mir zu behaupten, daß ich dieſe
richtige Beantwortung zu geben im Stande wäre.
[216]
Auch liegt dieſer Gegenſtand unſerem heutigen Ge¬
ſpräche zu ferne, und wir können ein anderes Mal
von ihm reden, ſo weit wir im Urtheile über ihn zu
kommen vermögen. Das iſt gewiß: wenn auch im ge¬
genwärtigen Staatsdienſte Veränderungen nothwen¬
dig ſein ſollten, und wenn die Veränderungen in dem
früher angeführten Sinne vor ſich gehen werden, ſo
hat der gegenwärtige Zuſtand doch in den allgemeinen
Umwandlungen, denen der Staat ſo wie jedes menſch¬
liche Ding und die Erde ſelbſt unterworfen iſt, ſein
Recht, er iſt ein Glied der Kette, und wird ſeinem
Nachfolger ſo weichen, wie er ſelber aus ſeinem Vor¬
läufer hervor gegangen iſt. Wir haben ſchon vielmal
über Lebensberuf geſprochen, und daß es ſo ſchwer iſt,
ſeine Kräfte zu einer Zeit zu kennen, in welcher man
ihnen ihre Richtung vorzeichnen, das heißt, einen
Lebensweg wählen muß. Wir hatten bei unſern Ge¬
ſprächen hauptſächlich die Kunſt im Auge, aber auch
von jeder andern Lebensbeſchäftigung gilt daſſelbe.
Selten ſind die Kräfte ſo groß, daß ſie ſich der Be¬
trachtung aufdrängen, und die Angehörigen eines
jungen Menſchen zur Ergreifung des rechten Gegen¬
ſtandes für ihn führen, oder daß ſie ſelber mit großer
Gewalt ihren Gegenſtand ergreifen. Ich hatte außer
[217] den Eigenſchaften meines Geiſtes, die ich euch eben
darlegte, noch eine beſondere, deren Weſenheit ich erſt
ſehr ſpät erkannte. Von Kindheit an hatte ich einen
Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die ſinnlich
wahrnehmbar ſind. Bloße Beziehungen und Verhält¬
niſſe ſowie die Abziehung von Begriffen hatten für
mich wenig Werth, ich konnte ſie in die Verſammlung
der Weſen meines Hauptes nicht einreihen. Da ich
noch klein war, legte ich allerlei Dinge an einan¬
der, und gab dem ſo Entſtandenen den Namen einer
Ortſchaft, den ich etwa zufällig öfter gehört hatte,
oder ich bog eine Gerte einen Blumenſtengel und der¬
gleichen zu einer Geſtalt und gab ihr einen Namen,
oder ich machte aus einem Fleckchen Tuch den Vetter
die Muhme; ja ſogar jenen abgezogenen Begriffen
und Verhältniſſen, von denen ich ſprach, gab ich Ge¬
ſtalten, und konnte ſie mir merken. So erinnere ich
mich noch jezt, daß ich als Kind öfter das Wort
Kriegswerbung hörte. Wir bekamen damals einen
neuen Ahorntiſch, deſſen Plattentheile durch dunkel¬
farbige Holzkeile an einander gehalten wurden. Der
Querſchnitt dieſer Keile kam als eine dunkle Geſtalt
an der Dicke der Platte quer über die Fuge zum Vor¬
ſcheine, und dieſe Geſtalt hieß ich die Kriegswerbung.
[218] Dieſe ſinnliche Regung, die wohl alle Kinder haben,
wurde bei mir, da ich heran wuchs, immer deutlicher
und ſtärker. Ich hatte Freude an allem, was als
Wahrnehmbares hervorgebracht wurde, an dem Kei¬
men des erſten Gräsleins an dem Knospen der Ge¬
ſträuche an dem Blühen der Gewächſe an dem erſten
Reife der erſten Schneeflocke an dem Sauſen des
Windes dem Rauſchen des Regens ja an dem Blize
und Donner, obwohl ich beide fürchtete. Ich ging
zuſehen, wenn die Zimmerleute Holz aushauten,
wenn eine Hütte gezimmert ein Brett angenagelt
wurde. Ja die Worte, die einen Gegenſtand ſinnlich
vorſtellbar bezeichneten, waren mir weit lieber als die,
welche ihn nur allgemein angaben. So zum Beiſpiele
traf es mich viel mächtiger, wenn jemand ſagte: der
Graf reitet auf dem Schecken, als: er reitet auf einem
Pferde. Ich zeichnete mit einem Rothſtifte Hirſche
Reiter Hunde Blumen, mit Vorliebe aber Städte,
von denen ich ganz wunderbare Geſtalten zuſammen¬
ſezte. Ich machte aus feuchtem Lehm Palläſte aus
Holzrinde Altäre und Kirchen. Ich nenne dieſen Trieb
Schaffungsluſt. Er iſt bei vielen Menſchen mehr oder
minder vorhanden. Eine noch größere Zahl aber hat
die Bewahrungsluſt, von der der Geiz eine häßliche
[219] Abart iſt. Selbſt in ſpäteren Jahren trat dieſe Luſt
nicht zurück. Da ich einmal an unſerem ſchönen
Strome zu wohnen kam, und im erſten Winter zum
erſten Male das Treibeis ſah, konnte ich mich nicht
ſatt ſehen an dem Entſtehen deſſelben und an dem
gegenſeitigen Anſtoßen und Abreiben der mehr oder
minder runden Kuchen. Selbſt in den nächſtfolgenden
Wintern ſtand ich oft ſtundenlange an dem Ufer, und
ſah den Eisbildungen zu, beſonders der Entſtehung
des Standeiſes. Das, was vielen ſo unangenehm
iſt, das Verlaſſen einer Wohnung und das Beziehen
einer andern, machte mir Luſt. Mich freute das Ein¬
packen das Auspacken und die Inſtandeſezung der neuen
Räume. In den Jünglingsjahren trat eine weitere
Seite dieſes Triebes hervor. Ich liebte nicht blos
Geſtalten, ſondern ich liebte ſchöne Geſtalten. Dies
war wohl auch ſchon in dem Kindertriebe vorhanden.
Rothe Farben ſternartige oder vielverſchlungene
Dinge ſprachen mich mehr an als andere. Es kam
aber dieſe Eigenſchaft damals weniger zum Bewußt¬
ſein. Als Jüngling begehrte ich die Geſtalten, wie
ſie als Körper aus der Bildhauerei und Baukunſt
hervor gehen, als Flächen Linien und Farben aus
der Malerei, als Folge der Gefühle in der Muſik,
[220] der menſchlich ſittlichen und der irdiſch merkwürdigen
Zuſtände in der Dichtkunſt. Ich gab mich dieſen Ge¬
ſtalten mit Wärme hin, und verlangte Gebilde, die
ihnen ähnlich ſind, im Leben. Felſen Berge Wolken
Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die entgegenge¬
ſezten verachtete ich. Menſchen menſchliche Handlun¬
gen und Verhältniſſe, die ihnen entſprachen, zogen
mich an, die andern ſtießen mich ab. Es war, ich er¬
kannte es ſpät, im Grunde die Weſenheit eines
Künſtlers, die ſich in mir offenbarte und ihre Erfül¬
lung heiſchte. Ob ich ein guter oder ein mittelmäßiger
Künſtler geworden wäre, weiß ich nicht. Ein großer
aber wahrſcheinlich nicht, weil dann nach allem Ver¬
muthen doch die Begabung durchgebrochen wäre, und
ihren Gegenſtand ergriffen hätte. Vielleicht irre ich
mich auch darin, und es war mehr blos die Anlage
des Kunſtverſtändniſſes, was ſich offenbarte, als die
der Kunſtgeſtaltung. Wie das aber auch iſt: in jedem
Falle waren die Kräfte, die ſich in mir regten, dem
Wirken eines Staatsdieners eher hinderlich als för¬
derlich. Sie verlangten Geſtalten und bewegten ſich
um Geſtalten. So wie aber der Staat ſelber die
Ordnung der geſellſchaftlichen Beziehungen der Men¬
ſchen iſt, alſo nicht eine Geſtalt ſondern eine Faſſung:
[221] ſo beziehen ſich die Ergebniſſe der Arbeiten der Staats¬
männer meiſt auf Beziehungen und Verhältniſſe der
Staatsglieder oder der Staaten, ſie liefern daher Faſſun¬
gen nicht Geſtalten. So wie ich in der Kindheit oft den
abgezogenen Begriffen eine Geſtalt leihen mußte um
ſie halten zu können, ſo habe ich oft in gereiften Jah¬
ren im Staatsdienſte, wenn es ſich um Staatsbezie¬
hungen um Forderungen anderer Staaten an uns
oder unſeres Staates an andere handelte, mir die
Staaten als einen Körper und eine Geſtalt gedacht,
und ihre Beziehungen dann an ihre Geſtalten ange¬
knüpft. Auch habe ich nie vermocht, die bloßen eige¬
nen Beziehungen oder den Nuzen unſeres Staates
allein als das höchſte Geſez und die Richtſchnur mei¬
ner Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den
Dingen, wie ſie an ſich ſind, war bei mir ſo groß,
daß ich bei Verwicklungen ſtreitigen Anſprüchen und
bei der Nothwendigkeit, manche Sachen zu ordnen,
nicht auf unſern Nuzen ſah, ſondern auf das, was die
Dinge nur für ſich forderten, und was ihrer Weſen¬
heit gemäß war, damit ſie das wieder werden, was
ſie waren, und das, was ihnen genommen wurde,
erhalten, ohne welchem ſie nicht ſein können, was ſie
ſind. Dieſe meine Eigenſchaft hat mir manchen Kum¬
[222] mer bereitet, ſie hat mir hohen Tadel zugezogen; aber
ſie hat mir auch Achtung und Anerkennung einge¬
bracht. Wenn meine Meinung angenommen und ins
Werk geſezt worden war, ſo hatte die neue Ordnung
der Dinge, weil ſie auf das Weſentliche ihrer Natur
gegründet war, Beſtand, ſie brachte in ſo ferne, weil
wir vor erneuerten Unordnungen alſo vor wiederhol¬
ter Kraftanſtrengung geſchüzt waren, unſerem Staate
einen größeren Nuzen, als wenn wir früher den ein¬
ſeitigen angeſtrebt hätten, und ich erhielt Ehrenzeichen
Lob und Beförderung. Wenn ich in jenen Tagen der
ſchweren Arbeit eine Ruhezeit hatte, und auf einer
kleinen Reiſe die erhabene Geſtalt eines Berges ſah
oder eine Hügelreihe ſich thürmender Wolken oder die
blauen Augen eines freundlichen Landmädchens oder
den ſchlanken Körper eines Jünglings auf einem ſchö¬
nen Pferde — oder wenn ich auch nur in meinem
Zimmer vor meinen Gemälden ſtand, deren ich da¬
mals ſchon manche ſammelte, oder vor einer kleinen
Bildſäule: ſo verbreitete ſich eine Ruhe und ein
Wohlbehagen über mein Inneres, als wäre es in
ſeine Ordnung gerückt worden. Wenn ein künſtleri¬
ſches Geſtaltungsvermögen in mir war, ſo war es das
eines Baumeiſters oder eines Bildhauers oder auch noch
[223] das eines Malers, gewiß aber nicht das eines Dich¬
ters oder gar eines Tonſezers. Die erſteren Gegen¬
ſtände zogen mich immer mehr an, die lezteren ſtan¬
den mir ferner. Wenn es aber mehr eine Kunſtliebe
war, was ſich in mir äußerte, nicht eine Schöpfungs¬
kraft, ſo war es immerhin auch ein Vermögen der
Geſtalten, aber nur eines, die Geſtalten aufzuneh¬
men. Wenn dieſe Art von Eigenthümlichkeit den Be¬
ſizer zunächſt beglückt, wie ja jede Kraft ſelbſt die
Schaffungskraft zuerſt ihres Beſizers willen da iſt, ſo
bezieht ſie ſich doch auch auf andere Menſchen, wie in
zweiter Hinſicht jede Kraft, ſelbſt die eigenſte eines
Menſchen, nicht in ihm verſchloſſen bleiben kann,
ſondern auf andere übergeht. Es iſt eine ſehr falſche
Behauptung, die man aber oft hört, daß jedes große
Kunſtwerk auf ſeine Zeit eine große Wirkung hervor¬
bringen müſſe, daß ferner das Werk, welches eine
große Wirkung hervor bringt, auch ein großes Kunſt¬
werk ſei, und daß dort, wo bei einem Werke die Wir¬
kung ausbleibt, von einer Kunſt nicht geredet werden
kann. Wenn irgend ein Theil der Menſchheit ein
Volk rein und geſund am Leibe und an der Seele iſt,
wenn ſeine Kräfte gleichmäßig entwickelt nicht aber
nach einer Seite unverhältnißmäßig angeſpannt und
[224] thätig ſind, ſo nimmt dieſes Volk ein reines und
wahres Kunſtwerk treu und warm in ſein Herz auf,
wozu es keiner Gelehrſamkeit, ſondern nur ſeiner
ſchlichten Kräfte bedarf, die das Werk als ein ihnen
Gleichartiges aufnehmen, und hegen. Wenn aber die
Begabungen eines Volkes, und ſeien ſie noch ſo hoch,
nach einer Richtung hin in weiten Räumen voraus
eilen, wenn ſie gar auf bloße Sinnesluſt oder auf
Laſter gerichtet ſind, ſo müſſen die Werke, welche eine
große Wirkung hervor bringen ſollen, auf jene Rich¬
tung, in der die Kräfte vorzugsweiſe thätig ſind, hin¬
zielen, oder ſie müſſen Sinnesluſt und Laſter darſtellen.
Reine Werke ſind einem ſolchen Volke ein Fremdes,
es wendet ſich von ihnen. Daher rührt die Erſchei¬
nung, daß edle Werke der Kunſt ein Zeitalter rühren
und begeiſtern können, und daß dann ein Volk kömmt,
dem ſie nicht mehr ſprechen. Sie verhüllen ihr Haupt,
und harren, bis andere Geſchlechter an ihnen vorüber
wandeln, die wieder reines Sinnes ſind, und zu ih¬
nen empor blicken. Dieſen lächeln ſie, und von dieſen
werden ſie wieder wie herübergerettete Heiligthümer
in Tempel gebracht. In entarteten Völkern blüht zu¬
weilen aber ſehr ſelten ein reines Werk wie ein ver¬
einſamter Strahl hervor, es wird nicht beachtet, und
[225] wird ſpäter von einem Menſchenforſcher entdeckt, wie
jener Gerechte in Sodoma. Damit aber der Dienſt
der Kunſt leichter erhalten werde, ſind in jedem Zeit¬
alter ſolche, denen ein tieferer Sinn für Kunſtwerke
gegeben ward, ſie ſehen mit klarerem Auge in ihre
Theile, nehmen ſie mit Wärme und Freude in ihr
Herz, und übergeben ſie ſo ihren Mitmenſchen. Wenn
man die Erſchaffenden Götter nennt, ſo ſind jene die
Prieſter dieſer Götter. Sie verzögern den Schritt des
Unheiles, wenn der Kunſtdienſt zu verfallen beginnt,
und ſie tragen, wenn es nach der Finſterniß wieder
hell werden ſoll, die Leuchte voran. Wenn ich nun
ein ſolcher war, wenn ich beſtimmt war, durch An¬
ſchauung hoher Geſtalten der Kunſt und der Schöpfung,
die mir ja immer mit freundlichen Augen zugewinkt
haben, Freude in mein Herz zu ſammeln, und Freude
Erkenntniß und Verehrung der Geſtalten auf meine
Mitmenſchen zu übertragen, ſo war mir meine Staats¬
laufbahn in dieſem Berufe wieder ſehr hinderlich, und
dürftige Spätblüthen können den Sommer, deſſen
kräftige Lüfte und warme Sonne unbenüzt vorüber
gingen, nicht erſezen. Es iſt traurig, daß man ſich
nicht ſo leicht den Weg, der der vorzüglichſte in jedem
Leben ſein ſoll, wählen kann. Ich wiederhole, was
Stifter, Nachſommer. III. 15[226] wir oft geſagt haben, und womit euer ehrwürdiger
Pater auch übereinſtimmt, daß der Menſch ſeinen
Lebensweg ſeiner ſelbſt willen zur vollſtändigen Er¬
füllung ſeiner Kräfte wählen ſoll. Dadurch dient er
auch dem Ganzen am Beſten, wie er nur immer die¬
nen kann. Es wäre die ſchwerſte Sünde, ſeinen Weg
nur ausſchließlich dazu zu wählen, wie man ſich ſo
oft ausdrückt, der Menſchheit nüzlich zu werden.
Man gäbe ſich ſelber auf, und müßte in den meiſten
Fällen im eigentlichen Sinne ſein Pfund vergraben.
Aber was iſt es mit der Wahl? Unſere geſellſchaft¬
lichen Verhältniſſe ſind ſo geworden, daß zur Befrie¬
digung unſerer ſtofflichen Bedürfniſſe ein ſehr großer
Aufwand gehört. Daher werden junge Leute, ehe ſie
ſich ſelber bewußt werden, in Laufbahnen gebracht,
die ihnen den Erwerb deſſen, was ſie zur Befriedigung
der angefühlten Bedürfniſſe brauchen, ſichern. Von
einem Berufe iſt da nicht die Rede. Das iſt ſchlimm,
ſehr ſchlimm, und die Menſchheit wird dadurch immer
mehr eine Heerde. Wo noch eine Wahl möglich iſt,
weil man nicht nach ſogenanntem Broderwerbe aus¬
zugehen braucht, dort ſollte man ſich ſeiner Kräfte
ſehr klar bewußt werden, ehe man ihnen den Wir¬
kungskreis zutheilt. Aber muß man nicht in der Ju¬
[227] gend wählen, weil es ſonſt zu ſpät iſt? Und kann
man ſich in der Jugend immer ſeiner Kraft bewußt
werden? Es iſt ſchwierig, und mögen, die betheiligt
ſind, darüber wachen, daß weniger leichtſinnig ver¬
fahren werde. Laſſet uns über dieſen Gegenſtand ab¬
brechen. Ich wollte euch das, was ich geſagt habe,
ſagen, ehe ich euch erzähle, wie ich mit den Ange¬
hörigen eurer künftigen Braut zuſammen hänge. Ich
ſagte es euch, damit ihr ungefähr den Stand beur¬
theilen könnt, auf dem ich nun ſtehe. Wir wollen zur
Fortſezung eine andere Zeit beſtimmen.“
Nach dieſen Worten ging das Geſpräch auf an¬
dere Gegenſtände über, wir machten dann auch einen
Spaziergang, dem ſich auch Guſtav zugeſellte.
15 *
4.
Der Rückblick.
Ohne daß ich eine nähere oder entferntere Auf¬
forderung oder Bitte gemacht hätte, fuhr mein Gaſt¬
freund nach Verlauf eines Tages in ſeinen Mitthei¬
lungen fort. Er hatte gefragt, ob er eine Zeit in
meinem Zimmer zubringen dürfe, und ich hatte es
begreiflicher Weiſe bejaht. Wir ſaſſen an einem ange¬
nehmen und ſtillen Feuer, das von ſehr großen und
dichten Buchenklözen unterhalten wurde, er lehnte
ſich in ſeinem Polſterſtuhle zurück, und ſagte: „Ich
möchte, wenn es euch genehm iſt, heute meine Mit¬
theilungen an euch vollenden. Ich habe Sorge ge¬
tragen, daß wir nicht geſtört werden, ihr dürft nur
ſagen, ob ihr mich hören wollt.“
„Ihr wißt, daß es mir nicht nur angenehm, ſon¬
dern auch meine Pflicht iſt,“ antwortete ich.
[229]
„Zuerſt muß ich von mir erzählen,“ begann er,
„es dürfte ſo nothwendig ſein. Ich bin im Dorfe
Dallkreuz in dem ſogenannten Hinterwalde geboren
worden. Ihr wißt, daß der Name Hinterwald nicht
mehr ſo viel zu bedeuten hat, als er ſagt. Einmal
war er wie über die ganze Gegend, welche von unſe¬
rem Strome als ein Gebilde von Hügeln nordwärts
geht, auch über die Gründe von Dallkreuz verbreitet.
Dallkreuz war damals nicht, und ſein Entſtehen mochte
mit dem Aufſchlagen von einigen Holzarbeiterhütten
begonnen haben. Jezt ſind Felder Wieſen und Wei¬
den über das ganze Hügelland gebreitet, und einige
Reſte der alten Waldungen ſchauen ernſt auf dieſe
Gründe herab. Das Haus meines Vaters ſtand
außerhalb des Ortes in der Nähe einiger anderer,
war aber doch frei genug, um auf Wieſen Felder
Gärten und im Süden auf ein ſehr ſchönes blaues
Waldband zu ſehen. Als ich ein Knabe von zehn
Jahren war, kannte ich alle Bäume und Geſträuche
der Gegend, und konnte ſie nennen, ich kannte die
vorzüglichſten Pflanzen und Geſteine, ich kannte alle
Wege, wußte, wohin ſie führten, und war in allen
benachbarten Orten ſchon geweſen, die ſie berühren.
Ich kannte alle Hunde von Dallkreuz, wußte welche
[230] Farben ſie hatten, wie ſie hießen, und wem ſie gehör¬
ten. Ich liebte die Wieſen die Felder die Geſträuche
unſer Haus außerordentlich, und unſere Kirchen¬
glocken däuchten mir das Lieblichſte und Anmuthigſte,
was es nur auf Erden geben kann. Meine Eltern
lebten in Frieden und Eintracht, ich hatte noch eine
Schweſter, welche meine Knabenfahrten mit mir
machen mußte. Zu unſerem Hauſe, das nur ein Erd¬
geſchoß hatte, welches aber ſchneeweiß war, und
weithin in dem Grün leuchtete, gehörten Wieſen Fel¬
der und Wäldchen. Der Vater ließ aber das durch
Knechte verwalten, er ſelber trieb einen Handel mit
Flachs und Linnen, der ihn auf vielfache Reiſen führte.
Ich wurde, da ich noch ein Kind war, zu dem Erben
dieſer Dinge beſtimmt, ſollte aber vorher auf einer
Lehranſtalt die nothwendige Ausbildung bekommen.
Der Vater hatte, als deſſen Eltern, die ich nur wenig
gekannt hatte, geſtorben waren, keine Verwandten
mehr. Meine Mutter, die der Vater von ferne her
geholt hatte, hatte noch einen Bruder, der aber mit
ihr, weil ſie als von einem wohlhabenden Hauſe
ſtammend eine Verbindung unter ihrem Stande, wie
er ſich ausdrückte, geſchloſſen hatte, zerfallen war,
und durch nichts verſöhnt werden konnte. Wir wu߬
[231] ten nichts von ihm, man vermied es, ſeiner Erwäh¬
nung zu thun, und oft in einem ganzen Jahre wurde
ſein Name nicht genannt. Die Zuſtände meines Va¬
ters aber blühten empor, und er war faſt der Ange¬
ſehenſte in der Gegend. In dem Jahre, nach deſſen
Ende ich in die Lehranſtalt abgehen ſollte, trafen
mehrere Unglücksfälle ein. Hagelſchaden verwüſtete
die Felder, ein Theil des Gebäudes brannte ab, und
als das alles wieder hergeſtellt und in das Geleiſe
gebracht worden war, ſtarb der Vater eines plözlichen
unvorhergeſehenen Todes. Ein läſſiger Vormund hin¬
terliſtige Handelsfreunde, welche zweifelhafte For¬
derungen ſtellten, und ein unglücklicher Prozeß, der
daraus entſprang, brachten für die Mutter eine Lage
herbei, in welcher ſie mit Sorgen für unſere Zukunft
zu kämpfen hatte. Sie war, da man endlich alles zur
Ruhe gebracht hatte, auf das Nothdürftigſte beſchränkt.
Ich mußte im Herbſte das geliebte Haus das geliebte
Thal und die geliebten Angehörigen verlaſſen. Mit
ärmlicher Ausſtattung ging ich an der Hand eines
größeren Schülers zu Fuß den ziemlich weiten Weg
in die Lehranſtalt. Dort gehörte ich zu den Dürftig¬
ſten. Aber die Mutter ſandte das, was ſie ſenden
konnte, ſo genau und zu rechter Zeit, daß ich nie viel
[232] aber doch das zum Beſtehen Nöthige hatte. Es war
an der Anſtalt Sitte, daß die Knaben in den höheren
Abtheilungen denen in den niedreren außerordentlichen
Unterricht ertheilten, und dafür ein Entgelt bekamen.
Da ich einer der beſten Schüler war, ſo wurden mir
in meinem vierten Lehrjahre ſchon einige Knaben zum
Unterrichten zugetheilt, und ich konnte der Mutter die
Auslagen für mich erleichtern. Nach zwei Jahren
erwarb ich mir bereits ſo viel, daß ich meinen ganzen
Unterhalt ſelbſt beſtreiten konnte. Jede Jahresferien
brachte ich bei der Mutter und Schweſter in dem
weißen Hauſe zu. Von dem Antreten des Hauſes
als Erbſchaft war nun keine Rede mehr. Ich dachte,
ich werde mir durch meine Kenntniſſe eine Stellung
verſchaffen, und das Haus und den Grundbeſiz
einmal als Nothpfennig der Schweſter überlaſſen.
So war die Zeit heran gekommen, in welcher ich
mich für einen Lebensberuf entſcheiden mußte. Die
damals übliche Vorbereitungsſchule, die ich eben zu¬
rückgelegt hatte, führte nur zu einigen Lebensſtellun¬
gen, und machte zu andern eher untauglich als taug¬
lich. Ich entſchloß mich für den Staatsdienſt, weil
mir die andern Stufen, zu denen ich von meinen jezi¬
gen Kenntniſſen emporſteigen konnte, noch weniger
[233] zuſagten. Meine Mutter konnte mir mit keinem Rathe
beiſtehen. Ich hatte mir ein kleines Sümmchen durch
außerordentliche Sparſamkeit zuſammengelegt. Mit
dieſem und tauſend Segenswünſchen der Mutter ver¬
ſehen und mit den Abſchiedsthränen der geliebten
Schweſter benezt begab ich mich auf die Reiſe in die
Stadt. Zu Fuſſe wanderte ich durch unſer Thal hin¬
aus, und ſuchte durch allerlei Betrachtungen die Thrä¬
nen zu erſticken, welche mir immer in die Augen ſtei¬
gen wollten. Als unſere Wäldergeſtalten hinter mir
lagen, als die Herbſtſonne ſchon auf ganz andere
Felder ſchien, als ich durch meine Jugend hindurch
geſehen hatte, wurde mein Gemüth nach und nach
leichter, und ich durfte nicht mehr fürchten, daß mir
jeder, der mir begegnete, anſehen könne, daß mir das
Weinen ſo nahe ſei. Die Entſchloſſenheit, welche
mir eingegeben hatte, in die große Stadt zu gehen,
und dort mein Heil in dem Berufe eines Staats¬
dieners zu ſuchen, ließ mich immer feſter und raſcher
meinen Weg verfolgen, und tauſend glänzende Schlöſ¬
ſer in die Luft bauen. Als ich an jenem Rande ange¬
kommen war, wo unſer höheres Land in großen Ab¬
ſäzen gegen den Strom hinabgeht, und ganz andere
Geſtaltungen anfangen, ſah ich noch einmal um,
[234] ſegnete das Mutterherz, das nun beinahe ſchon eine
Tagereiſe weit hinter mir lag, ſtreichelte gleichſam
mit den Fingern die ſchönen langwimperigen Augen¬
lider der Schweſter, die immer etwas blaß ausſah,
ſegnete unſer weißes Haus mit dem rothen Dache,
ſegnete all die Felder und Wäldchen, die hinter mir
lagen, und die ich durchwandelt hatte, und ſtieg nun
wirklich ſchwere Thränen in den Augen tragend in
den tiefen Weg hinunter, welcher damals unter hohem
Laubdache hingehend einen der Päſſe ausmachte, die
das rauhere Oberland mit dem tiefen Stromlande
verbinden. Ich konnte nun, nachdem ich drei Schritte
gemacht hatte, die Geſtaltungen meines Geburtslan¬
des nicht mehr ſehen, nur ſein Rand war alles, was
meine Augen erreichen konnten, und was mich noch
lange begleiten würde. Ganz andere Bildungen lagen
vor mir. Es war mir, ich müſſe umkehren, um nur
noch einmal zurück ſchauen zu können. Ich that es
aber nicht, weil ich mich vor mir ſelber ſchämte, und
ich ging beeiligten Schrittes den Weg hinunter und
immer tiefer hinunter. Ich durfte auch nichts ver¬
zögern, wenn ich vor Einbruch der Nacht noch zu dem
Strome hinunter gelangen wollte, auf dem mich am
andern Morgen ein Schif weiter tragen ſollte. Die
[235] herbſtliche Abendſonne ſpielte durch die Zweige, man¬
che Kohlmeiſe ließ einen Ruf erſchallen, wie ihn die
hatten erſchallen laſſen, welche jezt noch in meinen
heimatlichen Bergwäldchen verweilten, mancher Fuhr¬
mann mancher Wanderer begegnete mir, ich ging mit
ernſtem Herzen weiter, und als die Sonne unterge¬
gangen war, hörte ich das Rauſchen des Stromes,
der mir nun ſo wichtig geworden war, und ſah ſein
goldenes abendliches Glänzen.“
„Ich vergeſſe mich,“ unterbrach ſich hier mein
Gaſtfreund, „und erzähle euch Dinge, die nicht wich¬
tig ſind; aber es gibt Erinnerungen, die, wie unbe¬
deutende Gegenſtände ſie auch für andere betreffen,
doch für den Eigenthümer im höchſten Alter ſo kräftig
daſtehen, als ob ſie die größte Schönheit der Ver¬
gangenheit enthielten.“
„Ich bitte euch,“ entgegnete ich, „fahret ſo fort,
und entzieht mir nicht die Bilder, die euch aus frühe¬
ren Zeiten übrig ſind, ſie gehen ſchöner in das Ge¬
müth, und verbinden leichter, was verbunden werden
ſoll, als wenn von dem lebendigen Leben ein flacher
Schatten gegeben werden ſollte. Auch iſt meine Zeit,
wenn anders die eurige nicht ſtrenger zugemeſſen iſt,
[236] kein Hinderniß, daß ihr mir irgend etwas vorent¬
halten ſolltet.“
„Meine Zeit,“ antwortete er, „iſt entweder ſo
gemeſſen, daß ich nichts anderes thun ſollte, als auf
mein Ende ſehen, oder daß ich über ſie verfügen kann,
wie ich will; denn was ſollte ein ſo alter Mann noch
Ausſchließliches zu thun haben? Er mag für die paar
Stunden, die ihm übrig ſind, noch Blumen zurecht
legen, wie er will. Ich thue ja eigentlich hier auf
dieſer Beſizung nichts anders. Auch dürfte das, was
ich euch ſagen will, für euch nicht ganz unwichtig ſein,
wie ſich wohl in der Folge zeigen wird. Ich fahre
daher fort, wie ſich eben unter den Worten die Er¬
zählung gibt.“
„Die Nacht verbrachte ich in gutem Schlummer,
und der erſte Morgen ſah mich auf einem jener rohen
kleinen Schiffe, wie ſie damals mit verſchiedenen
Gütern beladen unſern Strom abwärts befuhren,
und auch Menſchen mit ſich nahmen. Mehrere junge
Leute, die entweder ganz gleichen oder ähnlichen Be¬
ruf mit mir verfolgten, ſtanden auf dem Verdecke,
und legten ſogar manches Mal Hand an die Ruder,
da unſer Schif auf dem breiten rauchenden Strome
ſich abwärts bewegte, und die kleine Stadt, die uns
[237] Nachtherberge gegeben hatte, ſich aus den Morgen¬
nebeln ringend unſern Augen immer weiter und wei¬
ter zurück trat. Manches Lied mancher Spruch, der
aus der Schaar meiner Begleiter hervortrat, machte
ſeine Wirkung auf mich, und ich wurde ſtärker und
entſchloſſener.“
„Als am Abende des zweiten Tages unſerer Waſ¬
ſerfahrt der hohe ſchlanke Thurm der Stadt, deren
Miteinwohner ich nun werden ſollte, gleichſam luftig
blau unter den Gebüſchen der Ufer ſichtbar wurde,
als man ſich rief, und das Zeichen ſich zeigte, das
man nun nach Verlauf von etwas mehr als einer
Stunde erreichen werde, wollte mir das Herz im Bu¬
ſen wieder unruhiger pochen. Dieſes Merkmal ver¬
gangener Menſchenalter, dachte ich, welches ſo viele
große und gewaltige Schickſale geſehen hatte, wird
nun auch auf dein kleines Geſchick herabſehen, es
mag ſich nun gut oder übel abſpinnen, und wird,
wenn es längſtens abgelaufen iſt, wieder auf andere
ſchauen. Wir fuhren raſcher zu, weil alles hoffnungs¬
voll die Ruder führte, die Entſchloſſneren ſangen ein
Lied, und ehe noch die Stunde um war, legte unſer
Schif an der ſteinernen Einfaſſung des Fluſſes im
Angeſichte ſehr großer Häuſer an. Ein älterer Schü¬
[238] ler, der ſchon zwei Jahre in der Stadt zugebracht
hatte, und jezt von den bei ſeinen Eltern verlebten
Ferien zurückkehrte, erboth ſich, mir einen Gaſthof
zur Unterkunft zu zeigen, und mir morgen zur Auf¬
findung eines Wohnzimmerchens für mich behilflich
zu ſein. Ich nahm es dankbar an. Unter dem Thor¬
wege des Gaſthofes, in den er mich geführt hatte,
nahm er Abſchied von mir, und verſprach, mich mor¬
gen mit Tagesanbruch zu beſuchen. Er hielt Wort,
ehe ich angekleidet war, ſtand er ſchon in meinem
Zimmer, und ehe die Sonne den Mittag erreichte,
waren meine Sachen ſchon in einem Miethzimmer¬
chen, das wir für mich gefunden hatten, untergebracht.
Er verabſchiedete ſich, und ſuchte ſeine wohlbekannten
Kreiſe auf. Ich habe ihn ſpäter ſelten mehr geſehen,
da uns nur die Schiffahrt zuſammengebracht hatte,
und da ſeine Laufbahn eine ganz andere war als die
meine. Als ich von meinem Stübchen ausging, die
Stadt zu betrachten, befiel mich wieder eine ſehr große
Bangigkeit. Dieſe ungeheure Wildniß von Mauern
und Dächern dieſes unermeßliche Gewimmel von
Menſchen, die ſich alle fremd ſind, und an einander
vorübereilen, die Unmöglichkeit, wenn ich einige Gaſ¬
ſen weit gegangen war, mich zurecht zu finden, und
[239] die Nothwendigkeit, wenn ich nach Hauſe wollte,
mich Schritt für Schritt durchfragen zu müſſen, wirkte
ſehr niederdrückend auf mich, der ich bisher immer in
einer Familie gelebt hatte, und ſtets an Orten ge¬
weſen war, in denen ich alle Häuſer und Menſchen
kannte. Ich ging zu dem Vorſtande der Rechtsſchule,
um mich für die Vorbereitungsjahre zum Staatsdienſte
einſchreiben zu laſſen. Er nahm mich meiner treff¬
lichen Zeugniſſe willen ſehr gut auf, und ermahnte
mich, durch die große Stadt mich von meinem Fleiße
nicht abbringen zu laſſen. Ach Gott, die große Stadt
war für mich bei meinen ſo kargen Mitteln nichts als
ein Wald, deſſen Bäume auf mich keine Beziehung
haben, und ſie trieb mich durch ihre Fremdartigkeit
eher zum Fleiße an, als daß ſie mich abgehalten hätte.
Am Tage der Eröffnung des Unterrichtes ging ich,
der ich nun doch ſchon einige auf mich bezügliche Wege
wußte, in die hohe Schule. Dort wogte ein großes
Gewimmel durch einander. Alle Fächer wurden hier
gelehrt, und für alle Fächer fanden ſich Schüler. Die
meiſten ſahen ſehr begabt gebildet und behende aus,
ſo daß ich wieder im Glauben an meine nur geringen
Kräfte zu zagen anfing, hier gleichen Schritt halten
zu können. Ich begab mich in den Lehrſaal, in den
[240] ich gehörte, und ſezte mich auf einen der mittleren
Pläze. Die Lehrſtunde begann, und ging vorüber,
ſo wie nun viele nach und nach begannen, und vor¬
über gingen. Sie und die ganze Stadt hatten noch
immer etwas Ungewöhnliches für mich. Das Liebſte
war mir, in meinem Stübchen zu ſizen, an meine Ver¬
gangenheit zu denken, und ſehr lange Briefe an meine
Mutter zu ſchreiben.“
„Als einige Zeit verfloſſen war, wuchs mir Muth
und Kraft im Herzen. Unſer Lehrer ein würdiger
Rath in der Rechtsverſammlung der Schule lehrte
fragend. Ich ſchrieb getreulich ſeine Lehren in meine
Hefte. Als ſchon eine große Zahl meiner Mitſchüler
gefragt worden war, als endlich die Reihe auch mich
getroffen hatte, erkannte ich, daß ich vielen, die mich
an Kleidern und äußerem Benehmen übertrafen, in
unſerem Lehrfache nicht nachſtehe, ſondern einer gro¬
ßen Zahl vor ſei. Dies lehrte mich nach und nach
die mir bisher fremd gebliebenen Verhältniſſe der
Stadt würdigen, und ſie wurden mir immer mehr
und mehr vertraut. Einige Schüler hatte ich ſchon
früher gekannt, da ſie vor mir von der nehmlichen
Lehranſtalt, in der ich bisher geweſen war, hieher
übergetreten waren; andere lernte ich noch kennen.
[241] Als meine Barſchaft, mit der ich ſehr ſtrenge Haus
hielt, ſich ſchon ſichtlich zu verringern begann, wurde
ich von einem meiner Mitſchüler, der mein Nachbar
auf der Schulbank war, und aus meinem Munde ge¬
hört hatte, daß ich früher Unterricht gegeben habe,
aufgefordert, ſeine zwei kleinen Schweſtern zu unter¬
richten. Wir hatten durch die tägliche Berührung
eine Art Freundſchaft geſchloſſen, und waren einan¬
der geneigt. Als er daher zu Hauſe gehört hatte, daß
man für die zwei kleinen Mädchen einen Lehrer ſuche,
ſchlug er mich vor, und erzählte mir auch von der
Sache. Die Eltern wollten mich ſehen, er führte mich
zu ihnen, und ich wurde angenommen. Auch hatten
die Schritte, welche ich ſelber nach meiner Berechnung
der Dinge gethan hatte, um durch Ertheilung von
Unterricht einen Erwerb zu bekommen, Erfolg. Sie
hatten zwar keinen bedeutenden, auf einen ſolchen
hatte ich nicht gerechnet, aber ſie hatten doch einen.
So war das in Erfüllung gegangen, was ich durch
meine Umſiedlung in die große Stadt angeſtrebt hatte.
Ich lebte jezt ſorgenfrei, hatte in dem Hauſe meines
Freundes, in welches ich öfter geladen wurde, eine
Gattung Familienumgang, und konnte mit allem Ei¬
fer der Erlernung meines Faches mich widmen.“
Stifter, Nachſommer. III. 16[242]
„In den erſten Ferien beſuchte ich die Mutter und
Schweſter. Ich hatte die beſten Zeugniſſe in meinem
Koffer, und konnte ihnen von meinen ſehr guten an¬
derweitigen Erfolgen erzählen; denn gegen das Ende
des Schuljahres hatten ſich dieſe ſehr gebeſſert. Mit
ganz anderem Herzen als vor einem Jahre konnte ich
nach dem Ende der Ferien das mütterliche Haus ver¬
laſſen, und die Reiſe in die Stadt antreten.“
„Nach dem zweiten Jahre konnte ich die Meinigen
nicht mehr beſuchen. Ich war in der Stadt bekannt
geworden, die Art, wie ich Kinder unterrichtete, ſagte
vielen Familien zu, man ſuchte mich, und gab mir
auch einen größeren Lohn. Ich konnte mir dadurch
mehr erwerben, legte mir ſtets etwas als Sparpfennig
zurück, und hatte bei der Freudigkeit meines Gemüthes
über dieſen Fortgang Kraft genug, neben meinem
Fache auch noch meine Lieblingswiſſenſchaften Mathe¬
matik und Naturlehre zu betreiben. Nur das Einzige
war ſtörend, daß die Familien, bei denen ich Unter¬
richt gab, nicht gerne ſahen, daß ich durch eine Reiſe
den Unterricht unterbreche. Es war dieſe Forderung
eine begreifliche, ich blieb mit den Meinigen in einem
lebhafteren Briefwechſel als früher, und verabredete
mit ihnen, daß ich nicht eher als nach Beendigung
[243] meines Lehrganges ſie wieder beſuchen, dann aber
einige Monate bei ihnen bleiben wolle. Hiemit waren
auch die, in deren Dienſte ich ſtand, zufrieden.“
„Die Stadt, welche mir Anfangs ſo unheimlich
geweſen war, wurde mir immer lieber. Ich gewöhnte
mich daran, immer fremde Menſchen in den Gaſſen
und auf den Pläzen zu ſehen und darunter nur ſelten
einem Bekannten zu begegnen; es erſchien mir dieſes
ſo weltbürgerlich, und wie es früher mein Gemüth
niedergedrückt hatte, ſo ſtählte es jezt daſſelbe. Einen
ſchönen Einfluß übten auf mich die großen wiſſen¬
ſchaftlichen und Kunſthilfsmittel, welche die Stadt,
beſizt. Ich beſuchte die Bücherſammlungen die der
Gemälde, ich ging gerne in das Schauſpiel, und hörte
gute Muſik. Es lebte von jeher ein großer Eifer für
wiſſenſchaftliche Beſtrebungen in mir, und ich konnte
demſelben jezt bei der Heiterkeit meiner Lage Nahrung
geben. Was ich bedurfte, und was ich durch meine
Mittel mir nicht hätte anſchaffen können, fand ich in
den Sammlungen. Da ich den ſogenannten Vergnü¬
gungen nicht nachging, ſondern in meinen Beſtrebun¬
gen mein Vergnügen fand, ſo hatte ich Zeit genug,
und weil ich geſund und ſtark war, reichte auch meine
Kraft aus. In hohem Maße befriedigten mich einige
16 *[244] ſchöne Gebäude, beſonders Kirchen, dann Bildſäulen
und Gemälde. Ich brachte manchen Tag damit zu,
mich in die Betrachtung der kleinſten Theile dieſer
Dinge zu vertiefen. Auch hatte ich manche Familien
kennen gelernt, wurde bei ihnen aufgenommen, und
bildete nach und nach meinen Umgang mit Menſchen
etwas mehr heraus.“
„Da ich in dem zweiten Jahre meiner Lernzeit war,
vermählte ſich meine Schweſter. Ich hatte ihren jezigen
Gatten ſchon früher gekannt. Er war ein ſehr guter
Mann, hatte keine Leidenſchaften keine übeln Gewohn¬
heiten, war häuslich ſogar auch thätig, hatte eine an¬
genehme Körpererſcheinung, war aber ſonſt nichts
mehr. Dieſe Vermählung hatte mir keine Freude und
kein Leid gemacht. Da ich meine Schweſter ſo liebte,
ſo war mir ſtets, daß ſie nie einen andern Mann als
den allerherrlichſten bekommen ſolle. Dies war nun
wohl nicht der Fall. Die Mutter ſchrieb mir, daß
mein Schwager ſeine Gattin ſehr verehre, daß er lange
und treu um ſie geworben und endlich ihr Herz ge¬
wonnen habe. Sie wohnen in unſerem Hauſe, und
von da aus treibe er ſtill und emſig ſein kleines Han¬
delsgeſchäft, das ſie nähre. Ich ſchrieb einen Brief
entgegen, worin ich den Vermählten Glück und Segen
[245] wünſchte, und den Schwager bath, ſeine Gattin ſehr
zu lieben zu ſchonen und zu ehren; denn ich glaube,
daß ſie es verdiene. Die Antworten verſprachen alles,
ſo wie die folgenden Briefe immer den Stempel eines
ſtillen häuslichen Friedens trugen.“
„In dieſen Verhältniſſen kam die Zeit heran, da
ich mit den lezten Prüfungen meine Vorbereitungs¬
jahre beendigt hatte. Ich richtete eben mein Reiſe¬
gepäcke zuſammen, um der Verabredung gemäß nach
langer Trennung die Meinigen wieder zu ſehen, als
ein Brief von der Hand der Schweſter kam, deſſen
Inneres häufige Thränenſpuren zeigte, und der mir
ſagte, daß unſere Mutter geſtorben ſei. Sie war vor
einiger Zeit krank geworden, man hielt das Übel nicht
für gefährlich, und da man mich in der Vorbereitung
zu meinen lezten Prüfungen wußte, ſo wollte man
mir, um mich nicht zu ſtören, keine Meldung von der
Krankheit zukommen laſſen. So zog es ſich durch zehn
Tage hin, von wo es ſich raſch verſchlimmerte, und
ehe man es ſich verſah, mit dem Tode endigte. Man
konnte mir nur mehr dieſen melden. Ich raffte ſofort
alles zuſammen, was zu einer Reiſe nöthig ſchien,
ſchrieb zwei Zeilen an einen Freund, worin ich ihn
bath, die Sache meinen Bekannten, die ich ihm bezeich¬
[246] nete, zu melden und mich zu entſchuldigen, daß ich
ohne Abſchied abreiſe. Hierauf ging ich auf die Poſt,
und ließ mich einſchreiben. Zwei Stunden darnach
ſaß ich ſchon in dem Wagen, und obwohl wir in der
Nacht wie am Tage fuhren, obwohl ich von der lezten
Poſt aus, an der der Weg nach meiner Heimath ab¬
lenkte, eigene Pferde nahm, und mittelſt Wechſels
derſelben unaufhörlich fortfuhr, ſo kam ich doch zu
ſpät, um die irdiſche Hülle meiner Mutter noch ein¬
mal ſehen zu können. Sie ruhte bereits im Grabe.
Nur in ihren Kleidern in Geräthen im Arbeitszeuge,
das auf ihrem Tiſchchen lag, ſah ich die Spuren ihres
Daſeins. Ich warf mich in eine Lehnbank, und wollte
in Thränen vergehen. Es war der erſte große Verluſt,
den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des Vaters
war ich zu jung geweſen, um ihn recht empfinden zu
können. Obwohl der erſte Schmerz unſäglich heiß
geweſen war, und ich geglaubt hatte, ihn nicht über¬
leben zu können, ſo verminderte er ſich wider meinen
Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem
Schatten wurde, und ich mir nach Verlauf von eini¬
gen Jahren keine Vorſtellung mehr von dem Vater
machen konnte. Jezt war es anders. Ich hatte mich
daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten
[247] häuslichen Reinheit zu betrachten als das Bild des
Duldens der Sanftmuth des Ordnens und des Be¬
ſtehens. So war ſie ein Mittelpunkt für unſer Den¬
ken geworden, und mir kam faſt nicht zu Sinne, daß
das je einmal anders werden könne. Jezt wußte ich
erſt, wie ſehr wir ſie liebten. Sie, die nie gefordert
hatte, die nie auf ſich irgend eine Beziehung gemacht
hatte, die geräuſchlos immer gegeben hatte, die jedes
Schickſal als eine Fügung des Himmels empfangen
hatte, und die in ruhigem Glauben ihre Kinder der
Zukunft anvertraut hatte, war nicht mehr. Unter der
Decke der Schollen ſchlummerte ihr Herz, das dort
vielleicht ſo ergebungsvoll ſchlummerte, wie es ſonſt
in der Kammer unter der Hülle ſeiner weißen Decke
geſchlummert hatte. Die Schweſter war wie ein
Schatten, ſie wollte mich tröſten, und ich wußte nicht,
ob ſie des Troſtes nicht noch bedürftiger wäre als ich.
Der Gatte meiner Schweſter war in einer gewiſſen
Ergebung, er war ſtille, und ging an die Beſchäfti¬
gungen ſeines Berufes. Ich ließ mir nach einer Zeit
das friſche Grab der Mutter zeigen, weinte dort meine
Seele aus, und betete für ſie zu dem Herrn des Him¬
mels. Da ich in das Haus zurückgekehrt war, beſuchte
ich alle Räume, in denen ſie zulezt geweilt hatte, be¬
[248] ſonders ihr eigenes Stübchen, in welchem man alles
gelaſſen hatte, wie es bei ihrer Erkrankung geweſen
war. Der Schwager und die Schweſter bothen mir
an, und bathen mich, eine Zeit bei ihnen zu verwei¬
len. Ich nahm es an. In dem hinteren Theile des
Hauſes, den ich immer am meiſten geliebt hatte, war
ſchon vor der Erkrankung der Mutter ein Zimmer für
mich größtentheils durch ihre Hände hergerichtet wor¬
den. Dieſes Zimmer bezog ich, und packte darin mei¬
nen Koffer aus. Seine zwei Fenſter gingen in den
Garten, die weißen Fenſtervorhänge hatte noch die
Mutter geordnet, und das Linnen des Bettes war
durch ihre vorſorglichen Finger gleichgeſtrichen wor¬
den. Ich getraute mir kaum etwas zu berühren, um
es nicht zu zerſtören. Ich blieb ſehr lange unbeweg¬
lich in dem Zimmer ſizen. Dann ging ich wieder durch
das ganze Haus. Es ſchien mir gar nicht, als ob es
das wäre, in welchem ich die Tage meiner Kindheit
verlebt hatte. Es erſchien mir ſo groß und fremd.
Die Wohnung, welche ſich meine Schweſter und ihr
Gatte darin eingerichtet hatten, war früher nicht da
geweſen, dafür war das Gemach für Vater und Mut¬
ter, das immer auch nach ſeinem Tode noch beſtanden
war, verſchwunden, ebenſo fand ich das Zimmer für
[249] uns Kinder nicht mehr, welches ich in allen Ferien,
die ich zu Hauſe zugebracht hatte, noch in dem Zu¬
ſtande aus unſerer früheren Zeit her geſehen hatte.
Es war eben eine neue Haushaltung in dem Gebäude
eingerichtet worden. Unter dem Dache angekommen
ſah ich, daß man ſchadhafte Stellen des Daches aus¬
gebeſſert hatte, daß man neue Ziegel genommen hatte,
und daß an den Kanten, wo ſich früher die Rundzie¬
gel befunden hatten, die neue Art der Verklebung
durch Mörtel angewendet worden war. Dies alles
that mir wehe, obwohl es natürlich war, und obwohl
ich es zu einer andern Zeit kaum beachtet haben würde.
Jezt aber war mein Gemüth durch den Schmerz er¬
legt, und jezt ſchien es mir, als ob man alles Alte
auch die Mutter aus dem Hauſe hinaus gedrängt
hätte.“
„Ich lebte von jezt an ſtill in dem Zimmer, las,
ſchrieb, ging täglich auf das Grab der Mutter, be¬
ſuchte die Felder und manches Wäldchen, hielt mich
aber von den Menſchen ferne, weil ſie immer von
meinem Verluſte redeten, und mit den Worten in ihm
ſtets wühlten. Das Haus war auch ſehr ſtille. Die
Vermählten hatten noch keine Kinder, mein Schwa¬
ger, deſſen Weſen friedlich und einfach war, befand
[250] ſich größtentheils außer Hauſe, die Schweſter beſorgte
mit der einzigen Magd, die ſie hatte, die häuslichen
Geſchäfte, und wenn die Abenddämmerung kam,
wurde die Thür, die gegen die Straße ging, mit den
eiſernen Stangen von Innen verriegelt, und nur die
in den Garten führende blieb offen, bis die Stunde
zum Schlafen kam, wo ſie dann auch die Schweſter
mit eigenen Händen ſchloß. Das häusliche Glück der
zwei Ehegatten ſchien feſt gegründet zu ſein, das war
eine Linderung für meine Wunde, und ich verzieh dem
Schwager, daß er nicht ein Mann war, der durch
hohe Begabung und den Schwung ſeiner Seele die
Schweſter zu einem himmliſchen Glücke emporgeführt
hatte.“
„So vergingen mehrere Wochen. Vor meiner
Abreiſe ging ich noch in unſer Gerichtsamt, verzich¬
tete dort für meine Schweſter auf jeden Erbanſpruch
des von unſern Eltern hinterlaſſenen Beſizthumes,
und ließ meine Rechte auf die Schweſter überſchrei¬
ben. So war den beiden Gatten das Daſein, ſo lange
es ihnen der Himmel verlieh, geſichert; ich hatte als
Erbtheil den Unterricht bekommen, und hoffte durch
das, was er mir an Kenntniſſen eingebracht hatte,
und was ich mir noch erwerben wollte, den Unterhalt
[251] meines Lebens ſchon zu decken. Hierauf reiſte ich von
dem Danke und von den wärmſten Wünſchen für
mein Wohl von der Schweſter und dem Schwager
begleitet wieder in die Stadt ab.“
„In derſelben begann ich jezt ein ſehr zurückgezo¬
genes Leben zu führen. Ich hatte mir ſo viel erſpart,
daß ich nur einen kleinen Theil meiner Zeit zum Un¬
terrichtgeben verwenden mußte. Die übrige wendete
ich für mich an, und verlegte mich auf Naturwiſſen¬
ſchaften auf Geſchichte und Staatswiſſenſchaften. Mei¬
nen eigentlichen Beruf ließ ich etwas außer Acht. Die
Wiſſenſchaften und die Kunſt, deren Vergnügen ich
nie entſagte, füllten mein Herz aus. Ich ſuchte jezt
weniger als je die Geſellſchaft von Menſchen auf.
Die Nothwendigkeit, die Zeit der Vorbereitung zu
meinem Berufe recht zu benuzen, und mir außerdem
noch meinen Lebensunterhalt zu erwerben, hatte mich
ſchon in früheren Jahren faſt nur auf mich allein zu¬
rückgewieſen, und ich ſezte jezt dies Leben fort.“
„Allein es dauerte nicht lange in dieſer Art. Schon
nach einem halben Jahre, als ich das Grab der Mut¬
ter verlaſſen hatte, kam mir von meinem Schwager
die Nachricht zu, daß zu den zwei Gräbern des Vaters
und der Mutter auf unſerer Familienbegräbnißſtätte
[252] ein drittes Grab gekommen ſei, das meiner Schwe¬
ſter. Sie hatte ſich ſeit dem Tode der Mutter nicht
recht erholt, und eine unverſehene Verkühlung raffte
ſie dahin. Der Schwager ſchrieb mir, und wie ich
ſah, in aufrichtigem Kummer, daß er nun ganz ver¬
laſſen ſei, daß er keine Freude mehr habe, daß er ein¬
ſam ſein Leben zubringen wolle, daß er wohl von der
Verewigten zum Erben eingeſezt worden ſei, daß er
aber gerne mit mir theilen wolle, er habe kein Kind,
ſeine einzige Freude liege im Grabe, er achte nicht
mehr viel auf Beſizungen, ſein Stückchen Brod, wel¬
ches für ſein einfaches Leben recht klein ſein dürfe,
werde er für die Zeit ſchon finden, die er noch zubrin¬
gen müſſe, ehe er zu Kornelien gehen könne. Da der
Mann meine Schweſter ſehr geliebt hatte, da ihre
Briefe an mich immer von ihrem Glücke erzählten,
gönnte ich ihm das kleine Beſizthum, und ſchrieb ihm
zurück, daß ich keine Anſprüche erhebe, und daß er das
Hinterlaſſene ungetheilt genießen möge. Er dankte
mir, ich ſah aber aus ſeinem Briefe, daß er über das
Geſchenk eben keine ſonderliche Freude habe.“
„Ich zog mich nun noch mehr zurück, und mein
Leben war ſehr trübe. Ich zeichnete viel, ich bildete
zuweilen auch etwas in Thon, und ſuchte ſogar man¬
[253] ches in Farben darzuſtellen. Nach einiger Zeit kam
mir von befreundeter Hand der Antrag, daß ich bei
einer gebildeten und wohlhabenden Familie wohnen
möchte, daß ich einen Theil des Unterrichtes eines
Knaben, der in der Familie ſei, gegen vortheilhafte
Bedingungen übernehmen möchte, worunter auch die
war, daß ich nicht gebunden ſei, daß ich öfter abwe¬
ſend ſein, und zum Theile ſogar kleine Reiſen machen
könne. In der Verödung, in der ich mich befand,
hatte die Ausſicht auf ein Familienleben eine Art An¬
ziehung für mich, und ich nahm den Antrag unter der
Bedingung an, daß ich die Freiheit haben müſſe, in
jedem Augenblicke das Verhältniß wieder auflöſen zu
können. Die Bedingung wurde zugeſtanden, ich packte
meine Sachen, und nach drei Tagen fuhr ich in der
Richtung nach dem Landſize der Familie ab. Dieſer
Siz war ein angenehmes Haus in der Nähe großer
Meiereien, die einem Grafen gehörten. Das Haus
war beinahe zwei Tagereiſen von der Stadt entfernt.
Es war ſehr geräumig, hatte eine ſonnige Lage, lieb¬
liche Raſenpläze um ſich, und hing mit einem großen
Garten zuſammen, in dem theils Gemüſe theils Obſt
theils Blumen gezogen wurden. Der Beſizer des
Hauſes war ein Mann, der von reichlichen Renten
[254] lebte, ſonſt aber kein Amt noch irgend eine andere
Beſchäftigung zum Gelderwerb hatte. So war er mir
geſchildert worden, mit dem Beifügen, daß er ein ſehr
guter Mann ſei, mit dem ſich jedermann vertrage, daß
er eine treffliche ſorgſame Frau habe, und daß außer
dem Knaben nur noch ein halberwachſenes Mädchen
da ſei. Dieſe Dinge waren es auch vorzüglich, welche
mich zur Annahme beſtimmt hatten. Mein Name ſei
der Familie in einem Hauſe genannt worden, mit dem
ſie in ſehr inniger Beziehung ſtand, und ich ſei ſehr
empfohlen worden. Man hatte mir auf die lezte Poſt
einen Wagen entgegen geſandt. Es war ein ſchöner
Nachmittag, als ich in Heinbach, das war der Name
des Hauſes, einfuhr. Wir hielten unter einem hohen
Thorwege, zwei Diener kamen die Treppe herab, um
meine Sachen in Empfang zu nehmen, und mir mein
Zimmer zu zeigen. Als ich noch im Wagen mit Her¬
ausnehmen von ein paar Büchern und andern Kleinig¬
keiten beſchäftigt war, kam auch der Herr des Hauſes
herunter, begrüßte mich artig, und führte mich ſelber
in meine Wohnung, die aus zwei freundlichen Zim¬
mern beſtand. Er ſagte, ich möge mich hier zurecht
richten, möge hiebei nur meine Bequemlichkeit vor
Augen haben, ein Diener ſei angewieſen, meine Be¬
[255] fehle zu vollziehen, und wenn ich fertig ſei, und etwa
heute noch wünſche, mit ſeiner Gattin zu ſprechen, ſo
möge ich klingeln, der Diener werde mich zu ihr füh¬
ren. Hierauf verließ er mich unter höflichem Abſchiede.
Der Mann gefiel mir ſehr wohl. Ich entledigte mich
meiner ſtaubigen Kleider, reinigte mich, legte nur das
Nothwendigſte in meinem Zimmer in Ordnung, klei¬
dete mich dann beſuchsgemäß an, und ließ die Frau
des Hauſes fragen, ob ich bei ihr erſcheinen dürfe.
Sie ſendete eine bejahende Antwort. Ich wurde über
einen Gang geführt, in welchem allerlei Bilder hin¬
gen, wir traten in einen Vorſaal und von dem in
das Zimmer der Frau. Es war ein großes Zimmer
mit drei Fenſtern, an welches ein niedliches Gemach
ſtieß. In dieſem Zimmer waren heitere Geräthe einige
Bilder, und die Nachmittagsſonne war durch ſanfte
Vorhänge gedämpft. Die Frau ſaß an einem großen
Tiſche, zu ihren Füßen ſpielte ein Knabe, und ſeit¬
wärts an einem kleinen Tiſchchen ſaß ein Mädchen
und hatte ein Buch vor ſich. Es ſchien, es habe vor¬
geleſen. Die Frau ſtand auf, und ging mir entgegen.
Sie war ſehr ſchön, noch ziemlich jung, und was mir
am meiſten auffiel, war, daß ſie ſehr ſchöne braune
Haare aber tief dunkle große ſchwarze Augen hatte.
[256] Ich erſchrak ein wenig, wußte aber nicht warum. Mit
einer Freundlichkeit, die mein Zutrauen gewann, hieß
ſie mich einen Plaz nehmen, und als ich dies gethan
hatte, nannte ſie meinen Vor- und Familiennamen,
hieß mich beinahe herzlich willkommen, und ſagte, daß
ſie ſich ſchon ſehr geſehnt habe, mich unter ihrem
Dache zu ſehen.“
„„Alfred,““ rief ſie, „„komm, und küſſe dieſem
Herrn die Hand.““
„Der Knabe, welcher bisher neben ihr geſpielt
hatte, ſtand auf, trat vor mich, küßte mir die Hand
und ſagte: „„Sei willkommen!““
„„Sei auch du willkommen,““ erwiederte ich, und
drückte ein wenig das Händchen des Knaben. Er hatte
ein ſehr roſiges Angeſicht, ebenfalls braune Haare wie
die Mutter aber dunkelblaue Augen, wie ich ſie an
dem Vater geſehen zu haben glaubte.“
„„Das iſt das Kind, deſſentwillen ich euch ſo ſehr
in unſer Haus gewünſcht habe,““ ſagte ſie. „„Ihr ſollt
daſſelbe weniger unterrichten, dazu ſind Lehrer da,
welche das Haus beſuchen, ſondern wir bitten euch,
daß ihr bei uns lebet, daß ihr dem Knaben öfter eure
Geſellſchaft gönnt, daß er außer dem Umgange mit
ſeinem Vater auch den eines jungen Mannes hat,
[257] was auf ihn Einfluß nehmen möge. Erziehung iſt
wohl nichts als Umgang, ein Knabe, ſelbſt wenn er
ſo klein iſt, muß nicht immer mit ſeiner Mutter oder
wieder nur mit Knaben umgehen. Der Unterricht iſt
viel leichter als die Erziehung. Zu ihm darf man nur
etwas wiſſen, und es mittheilen können, zur Erziehung
muß man etwas ſein. Wenn aber einmal jemand et¬
was iſt, dann, glaube ich, erzieht er auch leicht. Meine
Freundin Adele, die Gattin des Kaufherrn, deſſen
Waarengewölbe dem großen Thore des Erzdomes
gegenüber iſt, hat mir von euch erzählt. Wenn ihr es
für gut findet, den Knaben auch in irgend etwas zu
unterrichten, ſo iſt es eurem Ermeſſen überlaſſen, wie
und wie weit ihr es thut.““
„Ich konnte auf dieſe Worte nichts antworten;
ich war ſehr erröthet.“
„„Mathilde,““ ſagte die Frau, „„begrüße auch die¬
ſen Herrn, er wird jezt bei uns wohnen.““
„Das Mädchen, welches immer bei ſeinem aufge¬
ſchlagenen Buche ſizen geblieben war, ſtand jezt auf,
und näherte ſich mir. Ich erſtaunte, daß das Mäd¬
chen ſchon ſo groß ſei, ich hatte es mir kleiner gedacht.
Es war auf einem etwas niederen Stuhle geſeſſen.
Da es in meine Nähe gekommen war, ſtand ich auf,
Stifter, Nachſommer. III. 17[258] wir verneigten uns gegen einander, Mathilde ging
wieder zu ihrem Size, und ich nahm auch den meini¬
gen wieder ein. Die Frau hatte wohl dieſe Begrü¬
ßung eingeleitet, um mein Erröthen vorüber gehen zu
machen. Es war auch zum großen Theile vorüber
gegangen. Sie hatte eine Antwort auf ihre an mich
gerichtete Rede auch wahrſcheinlich nicht erwartet.
Sie fragte mich jezt um mehrere gleichgültige Dinge,
die ich beantwortete. In meine näheren Verhältniſſe
oder etwa gar in die meiner Familie ging ſie nicht ein.
Nachdem die Unterredung eine Weile gedauert hatte,
verabſchiedete ſie mich, ſagte, ich möchte von der Reiſe
etwas ausruhen, bei dem Abendeſſen würden wir uns
wieder ſehen. Der Knabe hatte während der ganzen
Zeit meine Hand gehalten, war neben mir ſtehen ge¬
blieben, und hatte öfter zu meinem Angeſichte herauf¬
geſchaut. Ich löſte jezt meine Hand aus der ſeinen,
grüßte ihn noch, verneigte mich vor der Mutter, und
verließ das Zimmer.“
„Als ich in meiner Wohnung angekommen war,
ſezte ich mich auf einen der ſchönen Stühle nieder.
Jezt wußte ich, weßhalb man mir ſo gute Bedingun¬
gen geſtellt hatte, und wie ſchwer meine Aufgabe war.
Ich zagte. Das Benehmen der Frau hatte mir ſehr
[259] gefallen, darum zagte ich noch mehr. Als ich eine
Zeit auf meinem Stuhle geſeſſen war, erhob ich mich
wieder, und es fiel mir ein, daß ich ja dem Herrn des
Hauſes auch einen Beſuch zu machen habe. Ich klin¬
gelte, und verlangte von dem eintretenden Diener,
daß er mich zu dem Herrn führe. Der Diener ant¬
wortete, der Herr ſei in den Wald gegangen, und
werde erſt Abends zurückkehren. Er hatte den Befehl
hinterlaſſen, daß man mir ſage, ich möge nur meine
Reiſeſachen auspacken, möge ausruhen, und möge
mir ſeinethalben keine Pflichten auflegen, morgen
könne das Weitere beſprochen werden. Ich legte
daher die Kleider, welche ich zu dem Beſuche bei der
Frau genommen hatte, wieder ab, zog mich anders
an, und brachte meine Sachen nun in meiner Woh¬
nung in Ordnung. Bei dieſer Beſchäftigung ging mir
nach und nach der ganze Reſt des noch übrigen Tages
dahin. Als ich fertig war, dämmerte es bereits. Nach¬
dem ich mich gereinigt und zum Abendeſſen angekleidet
hatte, ſagte mir mein Diener, daß ſich der Herr,
der ſchon nach Hauſe zurückgekehrt ſei, zum Be¬
ſuche bei mir melde. Ich ſagte zu, der Herr kam,
und fragte, ob man in meiner Wohnung alles
nach Gebühr vorbereitet habe, und ob ich nichts
17 *[260] vermiſſe. Ich antwortete, daß alles meine Erwar¬
tung übertreffe, und daher ein weiteres Begehren die
größte Unbeſcheidenheit wäre. Er ſagte, daß er nun
wünſche, daß mein Eintritt in ſein Haus geſegnet ſei,
daß mein Aufenthalt darin erfreulich ſein möge, und
daß ich es einſt nicht mit Reue und Schmerz ver¬
laſſe. Hierauf lud er mich zum Abendeſſen ein. Wir
gingen in ein ſehr heiteres Speiſezimmer, in wel¬
chem ein einfaches Abendmahl unter einfachen Geſprä¬
chen eingenommen wurde. Bei demſelben war der
Herr die Frau die zwei Kinder und ich gegenwärtig.“
„Am nächſten Vormittage ließ ich anfragen, ob ich
den Herrn beſuchen dürfe. Ich wurde dazu eingeladen,
und mein Diener führte mich zu ihm. Ich war in
denſelben Beſuchkleidern wie geſtern bei der Frau. Der
Herr ſaß bei Papieren und Schriften, er erhob ſich
bei meinem Eintritte, ging mir entgegen, grüßte mich
auf das Ausgezeichnetſte, und führte mich zu einem
Tiſche. Er war ſchon völlig und ſehr fein angekleidet.
Als wir uns niedergelaſſen hatten, ſagte er: „„Seid
mir noch einmal in meinem Hauſe willkommen. Ihr
ſeid uns ſo empfohlen worden, daß wir uns glücklich
ſchäzen, daß ihr zu uns gekommen ſeid, daß ihr eine
Zeit bei uns wohnen wollt, und daß ihr erlaubt, daß
[261] mein lieber Knabe, dem ich eine glückſelige Zukunft
wünſche, eure Geſellſchaft genieße. Ich glaube, ihr
werdet vielleicht in einiger Zeit ſehen, daß wir eure
Freunde ſind, und ihr werdet uns etwa auch eure
Freundſchaft ſchenken. Richtet eure Beſchäftigungen
ein, wie ihr wollt, verlegt euch auf das, was euer
künftiger Beruf fordert, und betrachtet euch in allen
Stücken wie in eurem eigenen Hauſe. Ihr werdet
euch wohl hier an Einfachheit gewöhnen müſſen. Wir
haben hier und in der Stadt wenig Beſuch, und ma¬
chen auch wenig. Mathilde wird von der Frau ſelber
erzogen. Mit Erzieherinnen hatten wir kein Glück.
Wir gaben es daher auf, für Mathilden eine Geſell¬
ſchafterin zu ſuchen. Sie iſt bei der Mutter, zuweilen
ſieht ſie Mädchen ihres Alters, und manches Mal
wohnt ſie Geſprächen und Spaziergängen mit zwei
älteren guten und lieben Mädchen bei. Sonſt iſt ſie
in ihrer Ausbildung begriffen, und bringt ihre Zeit
mit Lernen zu. Wie es mit dem Knaben iſt, werdet
ihr wohl ſehen. Man hat uns geſagt, daß ihr in der
Stadt ſehr zurückgezogen gelebt habt, deßhalb glaub¬
ten wir, daß ihr bei uns nicht gar ſehr die menſchliche
Geſellſchaft vermiſſen werdet. Ich beſchäftige mich mit
einigen wiſſenſchaftlichen Dingen, und wenn euch ein
[262] Geſpräch hierin, falls wir in den Gegenſtänden zu¬
ſammentreffen, nicht unangenehm iſt, ſo betrachtet mich
als euren älteren Bruder, und zwar nicht blos hierin
ſondern auch in allen anderen Dingen.““
„„Ich bin durch eure Güte ſehr beſchämt,““ ant¬
wortete ich, „„und ſehe jezt erſt, wie groß die Aufgabe
iſt, die ich in eurem Hauſe habe. Ich weiß nicht, ob
ich ihr auch nur in einem geringen Maße werde ge¬
nügen können.““
„„Es wird vielleicht nicht ſchwer ſein, zu genü¬
gen,““ erwiederte er.“
„„Wenn es aber doch nicht geſchähe?““ fragte ich.“
„„Dann wären wir ſo offen, und ſagten es euch,
damit man darnach handeln könnte,““ antwortete er.“
„„Das erleichtert mir mein Herz ſehr,““ erwiederte
ich; „„denn auf dieſe Weiſe wird nie Mißtrauen auf¬
kommen können. Ich habe bisher nur in zwei Fami¬
lien gelebt, in der meiner Mutter — denn mein Vater
iſt in meiner frühen Jugend geſtorben — und in der
eines würdigen alten Amtmannes, in deſſen Hauſe
ich während meiner lateiniſchen Schulen in Koſt und
Wohnung war. Die erſte Familie iſt mir wie jedem
Menſchen unvergeßlich, und die zweite iſt es mir
auch.““
[263]
„„Vielleicht wird es auch die unſere,““ ſagte er,
„„jezt laßt euch das Haus und ſein Zugehör zeigen,
daß ihr den Schauplaz kennt, auf dem ihr ein Weil¬
chen leben ſollt. Oder wollt ihr etwas anders thun,
ſo thut es. Zu mir ſteht euch der Zutritt ſtets offen,
laßt euch nicht anſagen, und klopft nicht an meine
Thür.““
„Mit dieſen Worten war unſer Geſpräch zu Ende,
wir erhoben uns, verabſchiedeten uns, er reichte mir
freundlich die Hand, und ich verließ das Zimmer.“
„Ich kleidete mich nun in meine gewöhnlichen Klei¬
der, und ließ fragen, ob Alfred Zeit habe, mich zu
begleiten, und mir etwas von dem Hauſe und dem
Garten zu zeigen. Man antwortete, daß Alfred gleich
kommen werde, und daß er hinlänglich Zeit habe.
Die Mutter führte den Knaben ſelbſt zu mir, und ſie
brachte auch einen Diener mit, welcher einen Bund
Schlüſſel trug, und den Auftrag hatte, mir die Räume
des Hauſes zu zeigen. Der Diener war ein alter
Mann, und ſchien die Aufſicht über die andern Dienſt¬
leute zu haben. Die Mutter entfernte ſich ſogleich wie¬
der. Ich ſprach einige freundliche Worte mit dem
Knaben, welcher über ſieben Jahre alt ſchien, er
erwiederte dieſe Worte unbefangen, und, wie ich
[264] glaubte, zutraulich. Dann gingen wir, die Räume
des Hauſes zu betrachten. Das Haus war nicht alt,
es war kein Schloß und mochte in dem ſiebenzehnten
Jahrhunderte gebaut worden ſein. Es beſtand aus
zwei Flügeln, die einen rechten Winkel bildeten, und
einen Sandplaz einſchloßen. Die Zufahrt war aber
von entgegengeſezter Seite, daher der Sandplaz, wel¬
cher Blumenbeete hatte, mehr einem Garten und einem
Spielplaze für die Kinder als einer Anfahrt glich. Es
waren auf demſelben und zwar an den Mauern des
Hauſes auch Linnendächer zum Aufſpannen gegen die
Sonne angebracht. Das Haus hatte ein Erdgeſchoß
und ein Stockwerk. Durch beide lief der Länge nach
ein breiter Gang, von dem aus man in die Zimmer
gelangen konnte. Die Mauern des Ganges waren
ſchneeweiß, hatten Stuckarbeit, ſchön vergitterte Fen¬
ſter, und zeigten braune wohlgebohnte Gemächer¬
thüren. An vielen Stellen der Gänge hingen Ge¬
mälde. Sie waren durchaus nicht vorzüglich aber
auch bei Weitem nicht ſo ſchlecht, als ſolche Gang-
und Treppengemälde gewöhnlich zu ſein pflegen. Die
Gegenſtände, welche auf ihnen abgebildet waren,
drehten ſich in einem kleinen Kreiſe: Landſchaften mit
Anſichten der Umgegend oder merkwürdiger Gebäude,
[265] Thiere — vorzüglich Hunde mit Jagdgeräthſchaften
— Küchengeſchirr, oder Inneres von Zimmern und
anderen Gelaſſen. Der alte Diener ſchloß manche
Gemächer auf, die im Gebrauche waren; denn das
Haus hatte mehr, als die jezigen Bewohner benüzten.
Es war ein großer mit ſehr ſchönen Geräthen verſehe¬
ner Saal da, in welchem, wenn es nothwendig war,
Geſellſchaften aufgenommen wurden, dann waren
andere Zimmer zu verſchiedenem Gebrauche, darunter
ein ſehr großes Bücherzimmer und die Zimmer für
Gäſte. Alles war ſehr ſchön eingerichtet und rein
und ordentlich gehalten. Als wir das Haus geſehen
hatten, ſagte Alfred, Raimund, der alte Diener, ſei
nun nicht mehr vonnöthen, den Garten werde er mir
ſchon allein zeigen. Ich war damit einverſtanden, ver¬
abſchiedete den alten Diener, und ging mit Alfred ins
Freie. Das Erdgeſchoß, worin ſich die Küche die
Geſindezimmer und dergleichen befanden, hatten wir
nicht beſucht. Die Ställe und Wagenbehälter waren
abſeits des Hauſes in eigenen Gebäuden. Als wir
in das Freie gekommen waren, zeigte ſich ein ſehr
ſchöner Raſenplaz, der von manigfaltigen künſtlich
angelegten Wegen durchkreuzt war. Auf dieſem Ra¬
ſenplaze ſtanden in ziemlichen Entfernungen ſehr große
[266] Bäume. Zu jedem führte ein Weg, und faſt unter
jedem ſtand ein Bänkchen oder ein Siz. Alfred
führte mich zu den meiſten, und nannte mir ſie. Mich
erfreute dieſes Zeichen des Gedächtniſſes und der Auf¬
merkſamkeit. Er erzählte mir auch, was ſie bald unter
dieſem bald unter jenem Baume gethan, und wie ſie
geſpielt hätten. Die Bäume waren Eichen Linden
Ulmen und eine Anzahl ſehr großer Birnbäume. Dieſe
Art von Wald hatte etwas ſehr Anmuthiges.“
„„Ich darf allein nicht zu dem Teiche gehen,““
ſagte Alfred, „„weil ich leicht hinein fallen könnte,
und ich gehe auch nicht hin; aber weil du heute bei
mir biſt, ſo dürfen wir ihn beſuchen. Komme mit,
ich habe Brot bei mir, um es den Enten und den
Fiſchen zu geben.““
„Er faßte mich bei der Hand, und ich ließ mich
von ihm führen. Er geleitete mich durch ein kleines
Gebüſch zu einem mäßig großen Teiche, der das Merk¬
würdige hatte, daß auf ihm hölzerne Hüttchen in ge¬
ringen Entfernungen angebracht waren, die die Be¬
ſtimmung hatten, daß darin Wildenten niſteten. Das
geſchah auch reichlich. Es war noch nicht ſo weit im
Sommer, und wir ſahen noch manche Mutter mit
ihren faſt erwachſenen, aber noch nicht flugfähigen Jun¬
[267] gen auf dem Waſſer herumſchwimmen. An den Ufern
waren an verſchiedenen Stellen Futterbrettchen ange¬
bracht. Im Waſſer ſelber bewegte ſich eine große Zahl
ſchwerfälliger Karpfen. Alfred zog ein Weißbrot aus
ſeiner Taſche, zerbrach es in kleine Stückchen, warf
dieſe einzeln in das Waſſer, und hatte ſeine Freude
daran, wenn die Enten und auch manch ungeſchickter
Mund eines Karpfen darnach haſchten. Es ſchien,
daß er mich dieſes Zweckes halber zu dem Teiche ge¬
führt hatte. Als er mit ſeinem Brote fertig war,
gingen wir weiter. Er ſagte: „„Wenn du auch den
Garten ſehen willſt, ſo werde ich dich ſchon hin¬
führen.““
„„Ja wohl will ich ihn ſehen,““ antwortete ich.“
„Er führte mich nun aus dem Gebüſche, wir be¬
gaben uns auf die entgegengeſezte Seite des Hauſes,
dort war ein mit einem Gitter umgebener großer Gar¬
ten, und wir gingen durch das Thor deſſelben hinein.
Blumen Gemüſe Zwerg- und Lattenobſt empfingen
uns. In der Ferne ſah ich die größeren und wahr¬
ſcheinlich ſehr edlen Obſtbäume ſtehen. Daß mir der
Garten um viel mehr gefiel als der Teich, ſagte ich
Alfred nicht, er mochte es auch nicht wiſſen. In ſehr
ſchöner Art waren hier die Blumen gepflegt, die man
[268] gewöhnlich in Gärten findet. Sie hatten nicht blos
ihre ihnen zuſagenden Pläze, ſondern ſie waren auch
zu einem ſehr ſchönen Ganzen zuſammengeſtellt. An
Gemüſen glaubte ich die beſten Arten zu ſehen, wie
man ſie nur immer in den Handlungen der Stadt
finden konnte. Zwiſchen ihnen ſtand das Zwergobſt.
Die Gewächshäuſer enthielten Blumen aber auch
Früchte. Ein ſehr langer Gang, welcher mit Wein
überwölbt war, führte uns in den Obſtgarten. Die
Bäume ſtanden in guten Entfernungen, waren gut
gehalten, hatten Grasboden unter ſich, und es führ¬
ten auch hier wieder Wege von einem zum andern.
An ſeiner rechten Seite war dieſer Gartentheil von
dichtem Haſelnußgebüſche begrenzt. Ein Pfad führte
uns durch dasſelbe hindurch. Wir trafen jenſeits einen
freien Plaz, auf welchem ein ziemlich großes Garten¬
haus ſtand. Es war gemauert hatte hohe Fenſter ein
Ziegeldach und ſeine Geſtalt war ein Sechseck. Die
Außenſeite dieſes Hauſes war ganz mit Roſen über¬
deckt. Es waren Latten an dem Mauerwerke ange¬
bracht, und an dieſe Latten waren die Roſenzweige
gebunden. Sie ſtanden in Erde vor dem Hauſe, hat¬
ten verſchiedene Größe, und waren ſo gebunden, daß
die ganzen Mauern überdeckt waren. Da eben die
[269] Zeit der Roſenblüthe war, und dieſe Roſen auch
außerordentlich reich blühten, ſo war es nicht anders,
als ſtände ein Tempel von Roſen da, und es wären
Fenſter in dieſelben eingeſezt. Alle Farben, von dem
dunkelſten Roth, gleichſam veilchenblau, durch das
Roſenroth und Gelb bis zu dem Weiß waren vor¬
handen. Bis in eine große Entfernung verbreitete
ſich der Duft. Ich ſtand lange vor dieſem Hauſe,
und Alfred ſtand neben mir. Außer den Roſen an
dem Gartenhauſe waren auf dem ganzen Plaze Roſen¬
geſträuche und Roſenbäumchen in Beeten zerſtreut.
Sie waren nach einem ſinnvollen Plane geordnet,
das zeigte ſich gleich bei dem erſten Blicke. Alle
Stämmchen trugen Täfelchen mit ihrem Namen.“
„„Das iſt der Roſengarten,““ ſagte Alfred, „„da
ſind viele Roſen, es darf aber keine abgepflückt
werden.““
„„Wer pflanzt denn dieſe Roſen, und wer pflegt
ſie?““ fragte ich.“
„„Der Vater und die Mutter,““ antwortete Alfred,
„„und der Gärtner muß ihnen helfen.““
„Ich ging zu allen Roſenbeeten, und ging dann
um das ganze Haus herum. Als ich alles betrachtet
hatte, gingen wir auch in das Haus hinein. Es war
[270] mit Marmor gepflaſtert, auf dem feine Rohrmatten
lagen. In der Mitte ſtand ein Tiſch und an den
Wänden Bänkchen, deren Size von Rohr geflochten
waren. Eine angenehme Kühle wehte in dem Hauſe;
denn die Fenſter, durch welche die Sonne herein ſchei¬
nen konnte, waren durch gegliederte Balken zu ſchüzen.
Da wir wieder aus dem Innern dieſes Gartenhauſes
getreten waren, beſuchten wir noch einmal den Obſt¬
garten, und gingen bis an ſein Ende. Da wir an das
Gartengitter gekommen waren, ſagte Alfred: „„Hier
iſt der Garten zu Ende, und wir müſſen wieder um¬
kehren.““
„Das thaten wir auch, wir gingen wieder zu dem
Eingangsthore zurück, durchſchritten es, begaben uns
in das Haus, und ich führte Alfred zu ſeiner Mutter.“
„Das war das Haus und der Garten in Hein¬
bach, der Beſizung des Herrn und der Frau Mak¬
loden.“
„Der erſte Tag verging ſehr gut, ſo auch ein zwei¬
ter ein dritter und mehrere. Ich wohnte mich in meine
zwei Zimmer ein, und die Stille des Landes that mir
in meiner jezigen Gemüthsverfaſſung ſehr wohl. Für
den Unterricht Alfreds war in der Art geſorgt, daß
der Graf, deſſen Meiereien in der Nähe von Heinbach
[271] lagen und ein Herr von Heinbach, wie man Maklo¬
den jezt auch nannte, eine Summe ſtifteten, und dem
Lehrer der Gemeinde Heinbach zulegten, unter der
Bedingung, daß ein in gewiſſen Fächern gebildeter
Mann ſtets dieſe Stelle bekleide, welchen ſie in Vor¬
ſchlag zu bringen das Recht hatten, und der die Ver¬
bindlichkeit übernahm, die Kinder des Hauſes Hein¬
bach und die des Verwalters der Meiereien in ihren
Wohnungen zu unterrichten, wofür er aber beſonders
bezahlt wurde. Die Schule und die Kirche Heinbach
waren eine kleine halbe Wegſtunde von dem Herren¬
hauſe entfernt. Der Lehrer kam jeden Nachmittag her¬
über, und blieb eine Zeit bei Alfred. Mathilde wurde
nur mehr in ſeltenen Stunden noch von ihm unterrich¬
tet. Für Alfred ſollte ich die Art der Lehrſtunden ein¬
richten, was ich auch im Übereinkommen mit dem
Lehrer, der ein ſehr beſcheidener und nicht ungebildeter
junger Mann war, that. Den Unterricht in gewiſſen
Dingen, jezt vor allem den Sprachunterricht, behielt
ich mir vor. So kam die Sache in den Gang, und
ſo ging ſie fort.“
„Das Leben in Heinbach war wirklich ſehr ein¬
fach. Man ſtand mit der Morgenſonne auf, verſam¬
melte ſich in dem Speiſezimmer zum Frühmahle, dem
[272] einiges Geſpräch folgte, und ging dann an ſeine Ge¬
ſchäfte. Die Kinder mußten ihre Aufgaben machen,
von denen Mathilde beſonders von der Mutter
manche in einigen Zweigen bekam. Der Vater ging in
ſeine Stube, las, ſchrieb, oder er ſah in dem Garten
oder in dem kleinen Grundbeſize nach, der zu dem
Hauſe gehörte. Ich war theils in meiner Wohnung
mit meinen Arbeiten, die ich in der Stadt begonnen
hatte, und hier fortſezte, beſchäftigt, theils war ich in
Alfreds Zimmer, und überwachte und leitete, was er
zu thun hatte. Die Mutter ſtand mir hierin bei, und
ſie hielt es für ihre Pflicht, noch mehr um Alfred zu
ſein als ich. Der Mittag verſammelte uns wieder in
dem Speiſezimmer, am Nachmittage waren Lehrſtun¬
den, und der Reſt des Tages wurde zu Geſprächen
zu Spaziergängen zum Aufenthalte im Garten, oder,
beſonders wenn Regenwetter war, zum gemeinſchaft¬
lichen Leſen eines Buches benüzt. Was man im
Freien thun konnte, wurde lieber im Freien als in
Zimmern abgemacht. Beſonders war hiezu der Auf¬
enthalt unter den Linnendächern am Hauſe geeignet,
den die Mutter ſehr liebte. Stundenlang war ſie mit
irgend einer weiblichen Arbeit und die Kinder mit
ihrem Schreibzeuge oder mit Büchern auf dieſem Plaze
[273] beſchäftigt. Dies war beſonders der Fall, wenn die
Vormittagsſonne die Luft durchwürzte, und doch noch
nicht ſo viel Kraft hatte, die Mauern zu erhizen und
den Aufenthalt an ihnen zu verleiden. Auch wurden
die manigfaltigen Bänkchen auf dem Raſenplaze, vor
welche man Tiſchchen ſtellte, und das Innere des Ro¬
ſenhauſes benüzt. Zuweilen wurden größere Spazier¬
gänge verabredet. An ſolchen Tagen waren keine Lehr¬
ſtunden, man beſtimmte die Zeit, in welcher fortge¬
gangen werden ſollte, alle mußten gerüſtet ſein, und
mit dem betreffenden Glockenſchlage wurde aufgebro¬
chen. Wir beſuchten zuweilen einen Berg einen Wald,
oder gingen durch ſchöne anſprechende Gründe. Man¬
ches Mal war es auch eine Ortſchaft, in welche wir
uns begaben. Um das Haus lagen in geringen Ent¬
fernungen Beſizthümer von Familien, mit denen die
Bewohner von Heinbach Umgang pflegten. Öfter
fuhr ein Wagen vor unſerem Hauſe vor, öfter fuhr
der unſere in die Nachbarſchaft. Die Kinder miſchten
ſich zur Geſelligkeit, und ältere traten zuſammen. Die
Mutter Alfreds ſah es gerne, wie ſie mir ſagte, wenn
eine Freundin Mathildens bei ihr durch längere Zeit
verweilte, ſie aber konnte ſich nie entſchließen, ihre
Tochter zu anderen Leuten auf Beſuch zu geben. Sie
Stifter, Nachſommer. III. 18[274] wollte nicht getrennt ſein. Auch, meinte ſie, würde
ſich Mathilde fern von ihr nicht wohl fühlen. Von
Künſten wurde bei wechſelſeitigen Beſuchen vorzüg¬
lich die Muſik geübt. Es war der Geſang, der ge¬
pflegt wurde, das Clavier, und zu vierſtimmigen Dar¬
ſtellungen die Geigen. Der Vater Alfreds ſchien mir
ein Meiſter auf der Geige zu ſein. Wir hörten ſolchen
Vorſtellungen zu. Wir Unbeſchäftigten ſahen aber auch
ſehr gerne zu, wenn die Kinder auf dem Raſenplaze
hüpften, und ſich in ihren Spielen ergözten. Bei alle
dem beſorgte die Mutter Alfreds aber auch ihr aus¬
gedehntes Hausweſen. Sie gab den Dienern und
Mägden hervor, was das Haus brauchte, ſorgte für
die richtige und zweckmäßige Verwendung, leitete die
Einkäufe, und ordnete die Arbeiten an. Die Beklei¬
dung des Herrn der Frau und der Kinder war ſehr
ausgezeichnet aber auch ſehr einfach und wohlbildend.
Nach dem Abendeſſen ſaß man oft noch eine geraume
Weile in Geſprächen bei dem Tiſche, und dann ſuchte
jedes ſein Zimmer.“
„So war eine Zeit vergangen, und ſo kam nach
und nach der Herbſt. Ich lebte mich immer mehr in
das Haus ein, und fühlte mich mit jedem Tage woh¬
ler. Man behandelte mich ſehr gütig. Was ich be¬
[275] durfte, war immer da, ehe das Bedürfniß ſich noch
klar dargeſtellt hatte. Aber auch nicht blos das wurde
hergeſtellt, was ich bedurfte, ſondern auch das, was
zum Schmucke des Lebens geeignet iſt. Blumen, die
ich liebte, wurden in Töpfen in meine Zimmer geſtellt,
ein Buch ein neues Zeichnungsgeräthe fand ſich von
Zeit zu Zeit ein, und da ich einmal auf mehrere Tage
abweſend war, ſah ich bei meiner Rückkehr meine
Wohnung mit Farben bekleidet, die ich einmal bei
einem Beſuche in einem Nachbarſchloſſe ſehr gelobt
hatte. Bei Spaziergängen geſellte ſich der Vater Al¬
freds gerne zu mir, wir gingen abgeſondert von den
andern, und führten Geſpräche, die mir in dem, was
er ſagte, ſehr inhaltreich ſchienen. Ebenſo war die
Mutter Alfreds nicht ungeneigt, ſich mit mir zu be¬
ſprechen. Wenn ich in Alfreds Zimmer war, das an
das ihrige grenzte, kam ſie gerne herein, und ſprach
mit mir, oder ſie ließ mich in ihr Zimmer treten, wies
mir einen Siz an, und redete mit mir. Ich hatte ihr
nach und nach alle meine Familienverhältniſſe erzählt,
ſie hatte theilnehmend zugehört, und hatte manches
Wort geſprochen, das höchſt wohlthätig in meine
Seele ging. Alfred war mir gleich in den erſten Ta¬
gen zugethan, und dieſe Neigung wuchs. Sein Weſen
18 *[276] war nicht verbildet. Er war körperlich ſehr geſund,
und dies wirkte auch auf ſeinen Geiſt, der nebſtdem
überall von den Seinigen mit Maß und Ruhe um¬
geben war. Er lernte ſehr genau, und lernte leicht
und gut, er war folgſam und wahrhaftig. Ich wurde
ihm bald zugeneigt. Noch ehe der Winter kam, ver¬
langte er, daß er nicht mehr neben der Mutter ſondern
neben mir wohnen ſolle, er ſei ja kein ſo kleiner Knabe
mehr, daß er die Mutter immer brauche, und er müſſe
nun bald neben den Männern ſein. Man willfahrte
ihm auf meine Bitte, er bekam ein Zimmer neben mir,
und der Diener, der bis jezt nebſt andern meine Auf¬
träge zu beſorgen gehabt hatte, wurde uns gemein¬
ſchaftlich beigegeben. Sein Körper entwickelte ſich
auch ziemlich regſam, er war in dem Sommer gewach¬
ſen, ſein Haupt war regelmäßiger und ſein Blick war
ſtärker geworden.“
„So endete der Herbſt, und als bereits die Reife
an jedem Morgen auf den Wieſen lagen, zogen wir
in die Stadt. Hier änderte ſich manches. Alfred und
ich wohnten wohl wieder neben einander; aber ſtatt
des Himmels und der Berge und der grünen Bäume
ſahen Häuſer und Mauern in unſere Fenſter herein.
Ich war es von früherem Stadtleben gewohnt, und
[277] Alfred achtete wenig darauf. Es wurden mehr Lehrer
in mehr Fächern genommen, und die Lehrſtunden wa¬
ren gedrängter als auf dem Lande. Auch kamen wir
mit viel mehr Menſchen in Berührung und die Ein¬
wirkungen vervielfältigten ſich. Aber auch hier wurde
ich nicht minder gut behandelt als auf dem Lande. Ich
wurde nach und nach zur Familie gerechnet, und alles,
was überhaupt der Familie gemeinſchaftlich zukam,
wurde auch mir zugetheilt. Die Mutter Alfreds ſorgte
für meine häuslichen Angelegenheiten, und nur die
Anſchaffung von Kleidern Büchern und dergleichen
war meine Sache.“
„Als kaum die erſten Frühlingslüfte kamen, gin¬
gen wir wieder nach Heinbach. Mathilde Alfred und
ich ſaſſen in einem Wagen, der Vater und die Mutter
in einem anderen. Alfred wollte nicht von mir ge¬
trennt ſein, er wollte neben mir ſizen. Man mußte
es daher ſo einrichten, daß Mathilde uns gegenüber
ſaß. Sie war, als ich das Haus betreten hatte, noch
nicht völlig vierzehn Jahre alt. Jezt ging ſie gegen
fünfzehn. Sie war in dem vergangenen Jahre bedeu¬
tend gewachſen, ſo daß ſie wohl ſo groß war, wie ein
vollendetes Mädchen. Ihr Körper war äußerſt ſchlank,
aber ſehr gefällig gebildet. Man kleidete ſie gerne in
[278] dunkle Stoffe, die ihr wohl ſtanden. Wenn ſie in dem
tiefen Blau oder in dem Nelkenbraun oder in der
Farbe des Veilchens ging, und das ſchöne Weiß das
Kleid oben ſäumte, ſo wurde eine Anmuth ſichtbar,
die gleichſam ſagte, daß alles ſei, wie es ſein muß.
Ihre Wangen waren ſehr friſch, ſanft roth, und wur¬
den jezt ein wenig länglich, ihr Mund war faſt roſen¬
roth, die großen Augen waren ſehr glänzend ſchwarz,
und die reinen braunen Haare gingen von der ſanften
Stirne zurück. Die Mutter liebte ſie ſehr, ſie ließ ſie
faſt gar nicht von ſich, ſprach mit ihr, ging mit ihr
ſpazieren, unterrichtete ſie auf dem Lande ſelber, und
wohnte in der Stadt jeder Unterrichtsſtunde bei, die
ein fremder Lehrer ertheilte. Nur mit mir und Alfred
ließ ſie ſie im vergangenen Sommer oft im Garten
auf dem Raſenplaze ja ſogar in der Gegend herum
gehen. Da ging ich mit beiden Kindern, fragte ſie,
erzählte ihnen, ließ mich ſelber fragen, und ließ mir
erzählen. Alfred hielt mich größtentheils an der Hand,
oder ſuchte ſich überhaupt irgendwie an mich anzu¬
hängen, ſei es ſelbſt mit einem Hakenſtäbchen, das
er ſich von irgend einem Buſche geſchnitten hatte.
Mathilde wandelte neben uns. Ich hatte nur den
Auftrag, zu ſorgen, daß ſie keine heftigen Bewegun¬
[279] gen mache, welche an ſich für ein Mädchen nicht an¬
ſtändig ſind, und ihrer Geſundheit ſchaden könnten,
und daß ſie nicht in ſumpfige oder unreine Gegenden
komme, und ſich ihre Schuhe oder ihre Kleider be¬
ſchmuze; denn man hielt ſie ſehr rein. Ihre Kleider
mußten immer ohne Makel ſein, ihre Zähne ihre
Hände mußten ſehr rein ſein, und ihr Haupt und
ihre Haare wurden täglich ſo vortrefflich geordnet,
daß kein Tadel entſtehen konnte. Ich zeigte den Kin¬
dern die Berge, die zu ſehen waren, und nannte ſie,
ich lehrte ſie die Bäume die Geſträuche und ſelbſt
manche Wieſenpflanzen kennen, ich las ihnen Stein¬
chen Schneckenhäuschen Muſcheln auf, und erzählte
ihnen von dem Haushalte der Thiere, ſelbſt ſolcher,
die groß und mächtig ſind, und in entfernten Wäl¬
dern oder gar in Wüſten wohnen. Alfred liebte das
Walten und das Thun der Vögel ſehr, beſonders
ihren Geſang. Er freute ſich, aus dem Fluge einen
Vogel zu errathen, und wenn die Stimmen in dem
Gebüſche oder im Walde ertönten, konnte er alle die
Sänger herzählen, von denen ſie ſtrömten. Er lehrte
dies ein wenig auch Mathilden, und fragte ſie bei
manchem Laute, woher er rühre. Ich hatte die Vor¬
ſchriften der Mutter nie überſchritten, und Mathilde
[280] gewann an Schönheit des Ausſehens und an Geſund¬
heit durch dieſe Spaziergänge. So wie die Mutter
im Sommer und Herbſte ſie mit uns hatte herum
gehen laſſen, ſo ließ ſie ſie jezt mit uns fahren. Sie
ſaß zwei Tage uns gegenüber. Es war am Morgen
und Abende noch ziemlich kühl. Ich hatte einen Man¬
tel, und Alfred war in einen warmen Überrock ge¬
knöpft. Mathilde hatte über ihr dunkles Wollkleid,
aus dem nicht einmal die Spizen ihrer Schuhe her¬
vorſahen, ein Mäntelchen, das ihren ganzen Ober¬
körper bis an das Kinn verhüllte, auf dem Haupte
hatte ſie einen warmen wohlgefütterten Hut, deſſen
weite Flügel ſich wohl anſchmiegten, ſo daß nichts,
als beinahe nur die Wangen, welche in der Märzluft
noch röther geworden waren, und die glänzenden Au¬
gen hervorſahen. Wir beredeten, was wir in dem
nächſten Sommer vornehmen wollten. Der Haupt¬
inhalt unſerer Geſpräche aber war, daß alles, was
uns auf unſerem Wege oder in deſſen Nähe begegnete,
bemerkt wurde, daß wir es nannten, und darüber
ſprachen. So kamen wir endlich bei heiterem und kla¬
rem Märzwetter in Heinbach an. Die Bäume vor
den Fenſtern hatten noch kein Laub, der Garten war
[281] öde, und die Felder waren noch nicht grün, außer
dort, wo ſie die Winterſaaten trugen.“
„Obwohl es draußen ſehr unwirthlich war, wenn
man den äußerſt freundlichen blauen Himmel abrech¬
net, ſo war es in dem Hauſe ſehr heimiſch. Alles
war auf das Reinlichſte gepuzt und zu dem Empfange
der Bewohner hergerichtet. Die Zimmer glänzten,
die Fenſter ſpiegelten, durch die Vorhänge ſchien eine
helle Märzſonne herein, und in den Kaminen brannte
ein behagliches Feuer. Meine zwei Gemächer waren
um ein ſehr liebliches Eckzimmerchen vermehrt wor¬
den, und man hatte mir ſchönere und bequemere Ge¬
räthe in meine Wohnung geſtellt. Ich traf jezt die
Veranſtaltung, daß die Thür von meiner Wohnung
in Alfreds Zimmer immer offen war, daß beide Woh¬
nungen eine bildeten, und daß ich gleichſam neben
einem jüngeren Bruder lebte. Hatte ich eine Arbeit
vor, bei der eine Störung hindernd geweſen wäre, ſo
ging ich in mein Eckzimmer.“
„Das Leben in dem Landhauſe begann jezt wieder
wie in dem vorigen Sommer. Wenn auch noch kein
Laub auf den Bäumen war, wenn ſich das Grün der
Wieſen noch dürftig zeigte, und auf den Feldern für
die Sommerfrucht noch die nackte Scholle lag, ſo gin¬
[282] gen wir doch ſchon vielfach ſpazieren. Alfred und ich
gingen täglich, ſelbſt wenn trübes Wetter war, nur
nicht, wenn heftiger Regen von dem Himmel ſtrömte.
Wenn nach einem klaren Morgen, an dem wir noch
die Erde und die Dächer weiß geſehen hatten, ein hei¬
terer Tag kam, und die Wege trocken waren, ging
Mathilde mit uns, und wir führten ſie auf Anhöhen
oder Felder, wo wir kurz vorher die ſchönſten Triller
der Lerchen gehört hatten. Dieſe Sänger waren die
einzigen, die mit uns ſchon die Gegend bevölkerten.“
„Nach und nach wurde das Weiß auf Feld und
Wieſen ſeltener, die Sonne ſchien kräftiger, das Feuer
in den Kaminen war nicht mehr nöthig, die Wieſen
gewannen Grün die Bäume Knospen, und an den
Zweigen der Lattenpfirſiche im Garten erſchienen ein¬
zelne Blüthen. Die Sänger der Luft erſchienen in
verſchiedenen Geſtalten und Farben. Wenn ich irgend¬
wo Veilchen oder andere Frühlingsblumen fand,
welche Mathilde nicht mit uns hatte pflücken können,
ſo brachte ich ſie ihr in einem Strauße für das Blu¬
menglas ihres Tiſchchens nach Hauſe. Als Dank
für ſolche Aufmerkſamkeiten erhielt ich zu meinem Ge¬
burtsfeſte, welches in die erſten Tage des Frühlings
fiel, von ihrer Hand geſtickt ein rundes Deckchen, wor¬
[283] auf ein ſilberner Handleuchter, den mir Mathildens
Mutter gab, zu ſtehen beſtimmt war.“
„Der Frühling war endlich mit voller Pracht ge¬
kommen. Im vergangenen Jahre hatte ich ihn in
dieſer Gegend nicht geſehen, weil ich erſt ſpäter ange¬
langt war. Überhaupt hatte ich meines längern Stadt¬
lebens willen ſchon lange nicht einen vollkommenen
Frühling in der Tiefe des Landes erblickt. Nur an
der Grenze des Landes, das heißt, wo es an die
Stadt reicht, hatte ich den einen oder andern Früh¬
lingstag zugebracht, oder irgend einen Sonnenblick
erlauſcht. Das theilt man aber mit vielen, die aus
der Stadt hinaus kommen, und muß es im Gedränge
und Staube genießen. In Heinbach war Einſamkeit
und Stille, die blaue Luft ſchien unermeßlich, und
die Blüthenfülle wollte die Bäume erdrücken. Jeden
Morgen ſtrömte neue Würze durch die geöffneten Fen¬
ſter. Man fühlte in Heinbach, wie ſehr mich Unge¬
wohnten dieſer Reichthum überraſche und freue, und
man ſuchte mir dieſe Freude auf jede Weiſe noch fühl¬
barer zu machen und ſie zu erhöhen. Jeden Tag
wurden die Blumen in meiner Wohnung durch neu
aufgeblühte aus den Gewächshäuſern erſezt. Wenn
in dem freien Grunde ſich etwas zeigte, ſei es ein Ge¬
[284] ſträuch, ſei es eine Blume, ſo machte man mich darauf
aufmerkſam, man brachte den größten Theil der Zeit
im Freien zu, und machte weit öfter und weit längere
Spaziergänge als ſonſt. Mathilde erzählte mir es,
wenn ſie den Geſang eines Vogels gehört hatte, wenn
Faltern vorüber geflogen waren, wenn ſich ein Becher
in einem Gebüſche geöffnet hatte, ja ſie gab mir zu¬
weilen Blumen, um ſie in meiner Wohnung aufzu¬
bewahren.“
„So verging der Frühling, und der Sommer
rückte vor. War mir das Leben im vergangenen Jahre
in dieſer Familie angenehm geweſen, ſo war es mir
in dieſem noch angenehmer. Wir gewöhnten uns im¬
mer mehr an einander, und mir war zuweilen, als
hätte ich wieder eine unzerſtörbare Heimath. Der
Herr des Hauſes zeichnete mich aus, er beſuchte mich
oft in meiner Wohnung, und ſprach lange mit mir,
er lud mich zu ſich, zeigte mir ſeine Sammlungen,
ſeine Arbeiten, und ſprach über Gegenſtände, die be¬
wieſen, daß er mich auch achte. Mathildens Mutter
war ſehr liebreich freundlich und gütig. Sie ſorgte
wie früher für mich; aber ſie that es einfacher, und
faſt wie ein Ding, das ſich von ſelber verſtehe. Wir
waren oft alle in ihrem Zimmer, und ſpielten ein kin¬
[285] diſches Spiel, oder trieben Muſik. Alfred hatte gleich
Anfangs ſchon viel Zutrauen zu mir gezeigt, dieſes
Zutrauen war immer gewachſen, und war dann un¬
bedingt geworden. Er war ein vortrefflicher Knabe,
offen klar einfach gutmüthig lebendig, ohne doch
einem heftigen Zorne anheimzufallen, heiter unſchul¬
dig und folgſam. Er war jezt gegen neun Jahre
alt, entwickelte ſich ſtets fröhlicher, und gewann am
Geiſte ſowie am Körper. Mathilde wurde immer herr¬
licher, ſie war zulezt feiner als die Roſen an dem Gar¬
tenhauſe, zu denen wir ſehr gerne gingen. Ich liebte
beide Kinder unſäglich. Wenn Alfred Unterrichts¬
ſtunde hatte, war ich dabei, und leitete, und über¬
wachte ſie, ich überwachte ſein Lernen, und fragte ihn
immer um das Gelernte, damit er ſich bei dem Lehrer
keine Blöße gebe. Die Gegenſtände, die ich mit ihm
vornahm, vermehrte ich anſehnlich, ich ſuchte ſie
ihm recht gut beizubringen, und er lernte ſie auch
beſſer als früher bei andern Lehrern. Vater und Mut¬
ter waren oft bei dem Unterrichte zugegen, und über¬
zeugten ſich von den Fortſchritten. Mathilde nahm
ich nicht nur ſehr gerne, ſondern viel lieber als früher
zu unſern Spaziergängen mit. Ich ſprach mit ihr, ich
erzählte ihr, ich zeigte ihr Gegenſtände, die an unſerm
[286] Wege waren, hörte ihre Fragen ihre Erzählungen, und
beantwortete ſie. Bei rauhen Wegen oder wo Näſſe
zu befürchten war, zeigte ich ihr die beſſeren Stel¬
len oder die Richtungen, auf denen man trockenen
Fußes gehen konnte. Zu Hauſe nahm ich an ihren
Beſtrebungen Antheil. Ich ſah öfter ihre Zeichnun¬
gen an, und gab ihr einen Rath, den ſie ſehr gerne
verlangte, und befolgte. Sie freute ſich ſehr, wenn
das Veränderte dann viel beſſer ausſah. Ich war
dabei, wenn ſie auf dem Claviere ſpielte, und hörte
zu, ſo lange ihre Finger aus den Saiten die Töne
hervor zu locken ſuchten. Ich ſchrieb ihr in Hefte ſehr
zierlich ab, wenn ſie irgendwo einen Geſang hörte,
und ſich denſelben aus dem Gedächtniſſe in Muſik¬
noten aufſchrieb. Dies war beſonders in Hinſicht
der Zither der Fall, die ſie ſpielen zu lernen angefan¬
gen hatte, die ſie ſehr liebte, und auf der ſie bedeu¬
tende Fortſchritte machte. Oft hörte die Mutter Ma¬
thildens mit Aufmerkſamkeit zu, wenn ſie anmuthige
Weiſen aus den Metallſaiten hervorbrachte, und ich
und Alfred regten uns nicht, und lauſchten. Ich las
ihr und der Mutter aus ihren Büchern vor, und
bezeichnete ſchöne Stellen durch eingelegte Zeichen.
Auch Blumen Waldfrüchte und dergleichen brachte
[287] ich ihr, wenn ich dachte, daß ſie ihr Freude machen
könnten.“
„Der Sommer war beinahe vergangen, und der
Herbſt ſtand bevor. Wir hatten ſo viel gethan, daß
uns die Zeit ſehr kurz ſchien. Wir waren uns auch
genug, um unſere Stunden zu erfüllen. Wenn fremde
Kinder zugegen waren, wenn Spiele veranſtaltet wa¬
ren, und alle auf dem heiteren Raſen hüpften, und
ſprangen, ſtand Mathilde ſeitwärts, und ſah theil¬
nahmlos zu. Wir fuhren auch nicht ſo oft in die
Nachbarſchaft wie im vergangenen Jahre, und ver¬
langten es auch nicht.“
„Eines Tages nachmittags ſtanden wir drei an
dem Ausgange des langen Laubenweges, der mit Re¬
ben bekleidet iſt, und zu dem Obſtgarten führt. Ma¬
thilde und ich ſtanden ganz allein an der Mündung des
Laubganges, Alfred war unter den Bäumen damit
beſchäftigt geweſen, einige Täfelchen, die an den
Stämmen hingen, und ſchmuzig geworden waren,
zu reinigen, dann las er abgefallenes halbreifes Obſt
zuſammen, legte es in Häufchen, und ſonderte das
beſſere von dem ſchlechteren ab. Ich ſagte zu Mathil¬
den, daß der Sommer nun bald zu Ende ſei, daß die
Tage mit immer größerer Schnelligkeit kürzer werden,
[288] daß bald die Abende kühl ſein würden, daß dann
dieſes Laub ſich gelb färben, daß man die Trau¬
ben ableſen, und endlich in die Stadt zurückkehren
würde.“
„Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die
Stadt gehe.“
„Ich ſagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier
gar ſo ſchön ſei, und daß es mir vorkomme, in der
Stadt werde alles anders werden.“
„„Es iſt wirklich ſehr ſchön,““ antwortete ſie, „„hier
ſind wir alle viel mehr beiſammen, in der Stadt kom¬
men Fremde dazwiſchen, man wird getrennt, und es
iſt, als wäre man in eine andere Ortſchaft gereiſt. Es
iſt doch das größte Glück, jemanden recht zu lieben.““
„„Ich habe keinen Vater keine Mutter und keine
Geſchwiſter mehr,““ erwiederte ich, „„und ich weiß da¬
her nicht wie es iſt.““
„„Man liebt den Vater die Mutter die Geſchwi¬
ſter,““ ſagte ſie, „„und andere Leute.““
„„Mathilde, liebſt du denn auch mich?““ erwie¬
derte ich.“
„Ich hatte ſie nie du genannt, ich wußte auch nicht,
wie mir die Worte in den Mund kamen, es war, als
wären ſie mir durch eine fremde Macht hineingelegt
[289] worden. Kaum hatte ich ſie geſagt, ſo rief ſie: „„Gu¬
ſtav, Guſtav, ſo außerordentlich, wie es gar nicht
auszuſprechen iſt.““
„Mir brachen die heftigſten Thränen hervor.“
„Da flog ſie auf mich zu, drückte die ſanften Lip¬
pen auf meinen Mund, und ſchlang die jungen Arme
um meinen Nacken. Ich umfaßte ſie auch, und drückte
die ſchlanke Geſtalt ſo heftig an mich, daß ich meinte,
ſie nicht loslaſſen zu können. Sie zitterte in meinen
Armen, und ſeufzte.“
„Von jezt an war mir in der ganzen Welt nichts
theurer, als dieſes ſüſſe Kind.“
„Als wir uns losgelaſſen hatten, als ſie vor mir
ſtand erglühend in unſäglicher Scham, geſtreift von
den Lichtern und Schatten des Weinlaubes, und als
ſich, da ſie den ſüſſen Athem zog, ihr Buſen hob und
ſenkte: war ich wie bezaubert, kein Kind ſtand mehr
vor mir ſondern eine vollendete Jungfrau, der ich Ehr¬
furcht ſchuldig war. Ich fühlte mich beklommen.“
„Nach einer Weile ſagte ich: „„Theure, theure
Mathilde.““
„„Mein theurer, theurer Guſtav,““ antwortete ſie.“
„Ich reichte ihr die Hand, und ſagte: „„Auf im¬
mer Mathilde.““
Stifter, Nachſommer. III. 19[290]
„„Auf ewig,““ antwortete ſie, indem ſie meine
Hand faßte.“
„In dieſem Augenblicke kam Alfred auf uns herzu.
Er bemerkte nichts. Wir gingen ſchweigend neben
ihm in dem Gange dahin. Er erzählte uns, daß die
Namen der Bäume, die auf weiße Blechtäfelchen ge¬
ſchrieben ſind, welche Täfelchen an Draht von dem
unterſten Aſte jedes Baumes hernieder hängen, von
den Leuten oft ſehr verunreinigt würden, daß man ſie
alle puzen ſolle, und daß der Vater den Befehl erlaſſen
ſollte, daß ein jeder, der einen Baum wäſcht, puzt
oder dergleichen, oder der ſonſt eine Arbeit bei ihm
verrichtet, ſich ſehr in Acht zu nehmen habe, daß er
das Täfelchen nicht beſprizt oder ſonſt eine Unreinig¬
keit darauf bringt. Dann erzählte er uns, daß er
ſchöne Borsdorfer Äpfel gefunden habe, welche durch
einen Inſektenſtich zu einer früheren beinahe vollkom¬
menen Reife gediehen ſeien. Er habe ſie am Stamme
des Baumes zuſammengelegt, und werde den Vater
bitten, ſie zu unterſuchen, ob man ſie nicht doch brau¬
chen könne. Dann ſeien viele andere, welche vor der
Zeit abfielen, weil die Bäume heuer mit zu viel Obſt
beladen wären, und ihre Kraft nicht genug iſt, alle
zur Reife zu bringen. Dieſe habe er auch zuſammen¬
[291] gelegt, ſo viele er in der erſten Baumreihe habe fin¬
den können. Sie werden wohl zu gar nichts tauglich
ſein. Er freue ſich ſchon ſehr auf den Herbſt, wo man
alles das herabnehmen werde, und wo auch die ſchö¬
nen rothen blauen und goldgrünen Trauben von die¬
ſem Ganggeländer heruntergeleſen werden würden.
Es ſei gar nicht mehr lange bis dahin.“
„Wir ſprachen nicht, und gingen einige Male in
dem Gange mit ihm hin und wider.“
„Die große Erregung hatte ſich ein wenig gelegt,
und wir gingen in das Haus. Ich ging aber nicht
mit Mathilden zu ihrer Mutter, wie ich ſonſt immer
gethan hatte, ſondern nachdem ich Alfred in ſein Zim¬
mer geſchickt hatte, ſchweifte ich durch die Büſche her¬
um, und ging immer wieder auf den Plaz, von wel¬
chem ich die Fenſter ſehen konnte, innerhalb welcher
die theuerſte aller Geſtalten verweilte. Ich meinte,
ich müſſe ſie durch mein Sehnen zu mir herausziehen
können. Es war erſt ein Augenblick, ſeit wir uns
getrennt hatten, und mir erſchien es ſo lange. Ich
glaubte, ohne ſie nicht beſtehen zu können, ich glaubte,
jede Zeit ſei ein verlornes Gut, in welcher ich das
holde ſchlanke Mädchen nicht an mein Herz drückte.
Ich hatte früher nie irgend ein Mädchen bei der Hand
19 *[292] gefaßt als meine Schweſter, ich hatte nie mit einem
ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick
gewechſelt. Dieſes Gefühl war jezt wie ein Sturm¬
wind über mich gekommen. Ich glaubte ſie durch die
Mauern in ihrem Zimmer gehen ſehen zu müſſen mit
dem langen kornblumenblauen Kleide mit den glanz¬
vollen Augen und dem roſenherrlichen Munde. Es
bewegte ſich der Fenſtervorhang; aber ſie war nicht
an demſelben, es ſchimmerte an dem Glaſe wie von
einem roſigen Angeſichte; aber es war nur ein ſchiefes
Hereinleuchten der beginnenden Abendröthe geweſen.
Ich ging wieder durch die Büſche, ich ging durch den
Weinlaubengang in den Obſtgarten, der Weinlauben¬
gang war mir jezt ein fremdwichtiges Ding, wie ein
Pallaſt aus dem fernſten Morgenlande. Ich ging durch
das Haſelnußgebüſch zu dem Roſenhauſe, es war als
blühten und glühten alle Roſen um das Haus, ob¬
wohl nur die grünen Blätter und die Ranken um
daſſelbe waren. Ich ging wieder zu unſerem Wohn¬
hauſe zurück, und ging auf den Plaz, von dem ich Ma¬
thildens Fenſter ſehen mußte. Sie beugte ſich aus
einem heraus, und ſuchte mit den Augen. Als ſie
mich erblickt hatte, fuhr ſie zurück. Auch mir war es
geweſen, da ich die holde Geſtalt ſah, als hätte mich
[293] ein Wetterſtrahl getroffen. Ich ging wieder in die
Büſche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine
Strecke Raſen ſäumten, und in ihrer Mitte eine Bank
hatten, um im Schatten ruhen zu können. Zu dieſer
Bank ging ich immer wieder zurück. Dann ging ich
wieder auf ein Fleckchen Raſen, und ſah gegen die
Fenſter. Sie beugte ſich wieder heraus. Dies thaten
wir ungezählte Male, bis der Flieder in dem Roth
der Abendröthe ſchwamm, und die Fenſter wie Rubi¬
nen glänzten. Es war zauberhaft, ein ſüſſes Geheim¬
niß mit einander zu haben, ſich ſeiner bewußt zu ſein,
und es als Glut im Herzen zu hegen. Ich trug es
entzückt in meine Wohnung.“
„Als wir zum Abendeſſen zuſammen kamen, fragte
mich Mathildens Mutter: „„Warum ſeid ihr denn
heute, da ihr mit den Kindern aus dem Garten zurück¬
gekehrt waret, nicht mehr zu mir gegangen?““
„Ich vermochte auf dieſe Frage nicht ein Wort zu
antworten; es wurde aber nicht beachtet.“
„Ich ſchlief in der ganzen Nacht kaum einige Au¬
genblicke. Ich freute mich ſchon auf den Morgen, an
dem ich ſie wieder ſehen würde. Wir trafen alle in
dem Speiſeſaale zu dem Frühmahle zuſammen. Ein
Blick ein leichtes Erröthen ſagte alles, ſie ſagten, daß
[294] wir uns beſaßen, und daß wir es wußten. Den gan¬
zen Morgen brachte ich mit Alfred im eifrigen Lernen
zu. Gegen Mittag, als Gräſer und Laubblätter ge¬
trocknet waren, gingen wir in den Garten. Mathilde
flog mit einem Buche, in dem ſie eben geleſen hatte,
aus dem Hauſe, ſie eilte auf uns zu, und wir
tauſchten den Blick der Einigung. Sie ſah mich
innig an, und ich fühlte, wie meine Empfindung aus
meinen Augen ſtrömte. Wir gingen durch den Blu¬
mengarten und durch den Gemüſegarten auf den Wein¬
laubengang zu. Es war, als hätten wir uns verab¬
redet, dorthin zu gehn. Mathilde und ich ſprachen
gewöhnliche Dinge, und in den gewöhnlichen Dingen
lag ein Sinn, den wir verſtanden. Sie gab mir ein
Weinblatt, und ich verbarg das Weinblatt an meinem
Herzen. Ich reichte ihr ein Blümchen, und ſie ſteckte
das Blümchen in ihren Buſen. Ich nahm ihr das
Papierſtreifchen, welches als Merkmal in ihrem Buche
ſteckte, und behielt es bei mir. Sie wollte es wieder
haben, ich gab es nicht, und ſie lächelte, und ließ es
mir. Wir kamen in das Haſelgebüſch, durchſtreiften
es, und traten vor die Roſen des Gartenhauſes. Sie
nahm einige welke Blätter ab, und reinigte dadurch
den Zweig. Ich that das nehmliche mit dem Nachbar¬
[295] zweige. Sie gab mir ein grünes Roſenblatt, ich knickte
einen zarten Zweig, was eigentlich nicht erlaubt war,
und gab ihr den Zweig. Sie wendete ſich einen Au¬
genblick ab, und da ſie ſich wieder uns zugewandt,
hatte ſie den Roſenzweig bei ſich verborgen. Wir gin¬
gen in das Gartenhaus, ſie ſtand an dem Tiſche, und
ſtüzte ſich mit ihrer Hand auf die Platte desſelben.
Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach
einigen Augenblicken hatten ſich unſere Finger berührt.
Sie ſtand wie eine feurige Flamme da, und mein gan¬
zes Weſen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr
oft die Hand gereicht, um ihr über eine ſchwierige
Stelle zu helfen, um ſie auf einem ſchwanken Stege
zu ſtüzen, oder ſie auf ſchmalem Pfade zu geleiten.
Jezt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und
die Berührung war von der größten Wirkung. Es
iſt nicht zu ſagen, woher es kommt, daß vor einem
Herzen die Erde der Himmel die Sterne die Sonne
das ganze Weltall verſchwindet, und vor dem Herzen
eines Weſens, das nur ein Mädchen iſt, und das
andere noch ein Kind heißen. Aber ſie war wie der
Stengel einer himmliſchen Lilie zaubervoll anmuths¬
voll unbegreiflich.“
„Wir gingen wieder in das Haus, und wir gin¬
[296] gen, ehe wir zu dem Mittageſſen gerufen wurden, zu
der Mutter. Bei der Mutter waren wir ſtiller und
wortarmer als gewöhnlich. Mathilde ſuchte ſich ein
Papierſtreifchen, und legte es wieder an jener Stelle
in das Buch, wo ich ihr das Merkzeichen herausge¬
nommen hatte. Dann ſezte ſie ſich zu dem Claviere,
und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred er¬
zählte, was wir in dem Garten gethan hatten, und
berichtete der Mutter, daß wir verdorrte und un¬
brauchbare Blätter von den Roſenzweigen, die an den
Latten des Gartenhauſes angebunden ſind, herabge¬
nommen hätten. Hierauf wurden wir zu dem Mit¬
tageſſen gerufen. Nachmittag war kein Spaziergang.
Die Eltern gingen nicht, und ich ſchlug Alfred und
Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines
Lieblingsdichters, las ſehr lange, und feurige Thränen
wie heiße Tropfen kamen öfter in meine Augen. Spä¬
ter ſaß ich auf der Bank in dem Fliedergebüſche, und
ſchaute zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung
Mathildens. Dort ſtand manches Mal das Mäd¬
chen, das ſo ſchön wie ein Engel war, an dem Fenſter.
Gegen den Abend ſpielte Mathilde in dem Zimmer
der Mutter auf dem Claviere ſehr ernſt ſehr ſchön und
ſehr ergreifend. Dann nahm ſie noch die Zither, und
[297] ſpielte auf derſelben ebenfalls. Die Saiten mußten
ſie ſo ergriffen haben, daß ſie nicht aufhören konnte.
Sie ſpielte immer fort, und die Töne wurden immer
rührender, und ihre Verbindung immer natürlicher.
Die Mutter lobte ſie ſehr. Der Vater, welcher in
einem Geſchäfte in der nächſten kleinen Stadt geweſen
war, kam endlich auch zur Mutter, und wir blieben
in dem Zimmer derſelben, bis wir zu dem Abendeſſen
gerufen wurden. Der Vater nahm Mathilden an den
Arm, und führte ſie zärtlich in den Speiſeſaal.“
„Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In mei¬
nem und Mathildens Leben war ein Wendepunkt ein¬
getreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß wir
unſere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hiel¬
ten wir ſie geheim, wir hielten ſie geheim vor dem
Vater vor der Mutter vor Alfred und vor allen Men¬
ſchen. Nur in Zeichen, die ſich von ſelber gaben, und
in Worten, die nur uns verſtändlich waren, und die
wie von ſelber auf die Lippen kamen, machten ſie
wir uns gegenſeitig kund. Tauſend Fäden fanden
ſich, an denen unſere Seelen zu einander hin und her
gehen konnten, und wenn wir in dem Beſize von die¬
ſen tauſend Fäden waren, ſo fanden ſich wieder tau¬
ſend, und mehrten ſich immer. Die Lüfte die Gräſer
[298] die ſpäten Blumen der Herbſtwieſe die Früchte der
Ruf der Vögel die Worte eines Buches der Klang
der Saiten ſelbſt das Schweigen waren unſere Boten.
Und je tiefer ſich das Gefühl verbergen mußte, deſto
gewaltiger war es, deſto drängender loderte es in dem
Innern. Auf Spaziergänge gingen wir drei Mathilde
Alfred und ich jezt weniger als ſonſt, es war, als
ſcheuten wir uns vor der Anregung. Die Mutter
reichte oft den Sommerhut, und munterte auf. Das
war dann ein großes ein namenloſes Glück. Die
ganze Welt ſchwamm vor den Blicken, wir gin¬
gen Seite an Seite, unſere Seelen waren verbun¬
den, der Himmel die Wolken die Berge lächelten
uns an, unſere Worte konnten wir hören, und wenn
wir nicht ſprachen, ſo konnten wir unſere Tritte ver¬
nehmen, und wenn auch das nicht war, oder wenn
wir ſtille ſtanden, ſo wußten wir, daß wir uns be¬
ſaßen, der Beſiz war ein unermeßlicher, und wenn
wir nach Hauſe kamen, war es, als ſei er noch um
ein Unſägliches vermehrt worden. Wenn wir in dem
Hauſe waren, ſo wurde ein Buch gereicht, in dem
unſere Gefühle ſtanden, und das Andere erkannte
die Gefühle, oder es wurden ſprechende Muſiktöne
hervorgeſucht, oder es wurden Blumen in den Fen¬
[299] ſtern zuſammengeſtellt, welche von unſerer Vergan¬
genheit redeten, die ſo kurz und doch ſo lang war.
Wenn wir durch den Garten gingen, wenn Alfred
um einen Buſch bog, wenn er in dem Gange des
Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem
Haſelgebüſche war als wir, wenn er uns in dem In¬
nern des Gartenhauſes allein ließ, konnten wir uns
mit den Fingern berühren, konnten uns die Hand
reichen, oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns
einen Augenblick halten, die heißen Lippen an einan¬
der drücken, und die Worte ſtammeln: „„Mathilde,
dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und
nur dein nur dein allein!““
„„O ewig dein, ewig, ewig, Guſtav, dein, nur
dein, und nur dein allein.““
„Dieſe Augenblicke waren die allerglückſeligſten.“
„So war der tiefe Herbſt gekommen. Wir hatten
in dem Reſte des Sommers ein Äußeres nicht ver¬
mißt. Mathilde und Alfred hatten immer weniger
verlangt, in die Nachbarſchaft zu fahren, und ſo war
es gekommen, daß auch die Eltern weniger fuhren,
und daß auch Fremde weniger zu uns kamen. Wenn
ſie aber da waren, wenn auch Alfred an den Spielen
und Ergözungen der Kinder Theil nahm, ſo war
[300] Mathilde doch theilnahmloſer als je. Sie hielt ſich
ferne, wie eine, die nicht hieher gehört. Auch in ihrem
körperlichen Weſen war in dieſer kurzen Zeit eine große
Veränderung vorgegangen. Sie war ſtärker gewor¬
den, ihre Wangen waren purpurner ihre Augen glän¬
zender geworden. Alfred liebte mich ſehr. Neben
ſeinen Eltern und ſeiner Schweſter liebte er vielleicht
nichts ſo ſehr als mich, und ich vergalt es ihm mit
ganzer Seele.“
„Der ſpäte Herbſt war endlich dem Beginne des
Winters gewichen. Wie wir ſehr früh von der Stadt
auf das Land gingen, ſo blieben wir auch ſehr tief in
die ſinkende Jahreszeit hinein auf demſelben. Alfreds
Erwartung war in Erfüllung gegangen. Das Obſt
und die Trauben waren abgenommen worden. Auf
den Zweigen der Bäume war kein Blatt mehr, und
der Nebel und der Froſt zogen ſich durch die Gründe
des Thales. Da gingen wir in die Stadt. Dort war
Mathilde enger umgrenzt. Lehrer Erziehungsſtunden
Unterricht Arbeiten drängten ſich an ſie heran. Ihr
ganzes Weſen aber war begeiſterter und getragener,
und ich erſchien mir reich, um vieles reicher als die
Beſizer all der Häuſer der Palläſte und des Glanzes
der ungeheuren Stadt. Wir konnten uns nur ſeltener
[301] ſprechen; aber wenn ſie mir auf dem Gange begeg¬
nete, wenn ſie mir in dem Zimmer der Mutter einige
Worte ſagen konnte, wenn in der Menge das Geſchick
uns an einander vorüberführte, oder wenn uns ein
anderer günſtiger Augenblick gegeben war: dann ſag¬
ten mir ihre ſchönen Augen, dann ſagten einige Worte,
wie ſehr wir uns liebten, wie unveränderlich dieſe
Liebe ſei, und wie unbegrenzt unſere Seelen einander
beherrſchten. Sie wurde jezt auch von andern Leuten
bemerkt, und junge Männer richteten ihre Augen auf
ſie; aber wenn man ihr entgegen kam, wenn ihr ge¬
huldigt wurde, wenn man ſie in einer Familie feierte:
ſo war ſie ganz ruhig gegen dieſe Dinge, ſezte ihnen
gar keine Äußerung entgegen, und ihr engelſchönes
Weſen ſagte mir, es ſagte es nur von mir verſtanden,
daß ſie mit ihrer wundervollen Geſtalt mit der Wärme
ihrer Seele und dem Glanz ihres Aufblühens nur
mich beglücke, und daß es ihr Wonne mache, mich
beglücken zu können. Oft, wenn ich von weiten Gän¬
gen in der Stadt zurückkehrte, und zu dem Hauſe
kam, in welche wir wohnten, blieb ich ſtehen, und
betrachtete das Haus. Es war merkwürdiger es
war gefeit worden vor den Häuſern der Stadt,
und mit Rührung ſah ich auf die Mauern, innerhalb
[302] welcher das Weſen wohnte, das von überirdiſchen
Räumen gekommen war, meine Seele zu erfüllen.
Mathilde ſah die Vergötterung, welche ich ihr weihte,
ſie ſah dieſelbe genau auf den geheimen Wegen, auf
denen ich ihre Liebe erkannte, und Freude leuchtete
darüber von ihrer Stirne, welche gleichfalls nur von
mir geſehen wurde. Die Eltern Mathildens fingen
auch an, ſie in vorzüglichere Stoffe zu kleiden, als ſie
bisher gethan hatten, und wenn ſie mit edlen Gewän¬
dern angethan vor mir ſtand, kam ſie mir ferner und
näher fremder und angehöriger vor als ſonſt.“
„Eines Tages, als ich über die Treppe unſers
Hauſes, welches nur von unſerer Familie allein be¬
wohnt wurde, herabging, um einen Freund zu beſu¬
chen, begegnete mir Mathilde. Sie war mit der Mut¬
ter an das Haus gefahren, die Mutter war in dem
Wagen ſizen geblieben, ſie aber ſollte hinaufgehen,
um irgend etwas zu holen. Sie war in ſchwarze
Seide gekleidet, ein ſeidenes Mäntelchen war um
ihre Schultern, und aus dem Hute mit dem grünen
Flore ſah das blühende durch die Kälte erfriſchte An¬
geſicht hervor. Da wir uns hinter einer Biegung der
Treppe begegneten, wurde ſie dunkelglühend. Ich er¬
ſchrak, und ſagte aber: „„O Mathilde, Mathilde, du
[303] himmelvolles Weſen, alle ſtreben ſie nach dir, wie
wird das werden, o wie wird das werden?!““
„„Guſtav, Guſtav,““ antwortete ſie, „„du biſt der
trefflichſte von allen, du biſt ihr König, du biſt der
Einzige, alles iſt gut und herrlich, und Millionen
Kräfte ſollen es nicht zerreißen können.““
„Ich ergrif ihre Hand, ein glühender Kuß nur
einen Augenblick gegeben aber mit feſt aneinanderge¬
drückten Lippen bekräftigte die Worte. Ich hörte ihre
Seide die Treppe emporrauſchen, ich aber ging die
Stufen hinunter. Da ich unten die gläſerne Doppel¬
thür der Treppe geöffnet hatte, ſah ich den Wagen
ſtehen. Hinter den Fenſtern desſelben ſaß freundlich
die Mutter Mathildens, und ſah mich an. Ich grüßte
ſie ehrerbiethig, und ging vorüber. Ich ging nun nicht
mehr zu dem Freunde, den ich hatte beſuchen wollen.“
„Mit Alfred betrieb ich das, was er zu lernen
hatte, immer eifriger, ich war immer ſorgſamer, daß
er es gut inne habe, und legte, wo ich konnte, wie
früher und in noch größerem Maße ſelber Hand an.
Auch auf den Gang ſeiner Entwickelung im Allge¬
meinen ſuchte ich ſo einzuwirken, wie es mir nur
möglich war. Ich ſprach ſehr viel mit ihm, und ging
ſehr viel mit ihm um. Er ſchloß ſich, da er es wohl
[304] wußte, daß ich ihn liebe, immer inniger an mich an,
ja er ſchloß ſich auf das Innigſte und faſt ausſchlie߬
lich an mich. Er wohnte wie auf dem Lande ſo auch
in der Stadt neben mir.“
„Im erſten Frühlinge fuhren wir wieder wie im
vorigen Jahre nach Heinbach. Es war wieder die
Veranſtaltung getroffen, daß Mathilde Alfred und ich
in einem Wagen fuhren. Alfred ſaß wieder neben
mir, und ſchmiegte ſich an mich. Mathilde ſaß gegen¬
über. Und ſo konnten wir uns zwei Tage mit den
Augen der Liebe ungehindert anſehen, und konnten mit
einander ſprechen. Und wenn wir auch von gleich¬
gültigen Dingen redeten, ſo hörten wir doch unſere
Stimme, und in gewöhnlichen Dingen zitterte das
tiefe Herz durch. Jene zwei Tage waren die glückſe¬
ligſten meines Lebens.“
„Auf dem Lande begann nun wieder ein Leben,
wie es im vergangenen Jahre geweſen war. Wir
waren ungebunden, und konnten leichter unſere See¬
len tauſchen. Wir waren freier in dem Zimmer der
Mutter oder in dem des Vaters, wir konnten den
Garten beſuchen, wir konnten unter den Bäumen des
Raſenplazes wandeln, und wir konnten ſpazieren
gehen. Am liebſten wurde uns der Weinlaubengang.
[305] Er war ein Heiligthum geworden, ſeine Zweige ſahen
uns vertraut an, ſeine Blätter wurden unſere Zeugen,
und durch ſeine Verſchlingungen bebte manches tiefe
Wort und wehte mancher Hauch der unergründlichſten
Glückſeligkeit. Faſt eben ſo lieb war uns das Garten¬
haus. Manchen Flug der Wonne deckte es mit ſeinen
ſchüzenden Mauern, und es umgab uns wie ein ſtil¬
ler Tempel, wenn wir alle drei eintraten und zwei
Gemüther wallten. Wir gingen oft an dieſe beiden
Orte. Die Verbindungsfäden wuchſen tauſendfach,
Mathilde wurde ſtets noch herrlicher, ſie wurde von
andern immer heißer begehrt, aber ihre Seele ſchloß
ſich nur feſter an die meinige.“
„Ich machte jezt oft ſehr große Wege allein.
Wenn ich ſo weit war, daß ich das Haus nicht mehr
ſehen konnte, und wenn ich ſo daſtand, und die wei¬
ßen Wolken betrachtete, die über dem Hauſe ſtehen
mußten, und wenn ich auf den Wald ſah, jenſeits
deſſen das Haus ſich befand, ſo kam eine tiefe Bewe¬
gung in mich. Und wenn ich dann nach Hauſe eilte,
ins Innere der Mauern ging, ſie da ſah, und an ihr
die Freude des Wiederſehens erkannte, ſo frohlockte
gleichſam ſpringend mir das Herz in dem Buſen über
meinen unendlichen Beſiz.“
Stifter, Nachſommer. III. 20[306]
„Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein
Übel in mein Glück bohrte. Es nagte der Gedanke
an mir, daß wir die Eltern Mathildens täuſchen. Sie
ahnten nicht, was beſtand, und wir ſagten es ihnen
nicht. Immer drückender wurde mir das Gefühl, und
immer ängſtender laſtete es auf meiner Seele. Es
war wie das Unheil der Alten, welches immer größer
wird, wenn man es berührt.“
„Eines Tages, da eben die Roſenblüthe war,
ſagte ich zu Mathilden, ich wolle zur Mutter gehen,
ihr alles entdecken, und ſie um ihr gütiges Vorwort
bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde
gut ſein, ſie wünſche es, und unſer Glück müſſe da¬
durch ſich erſt recht klären und befeſtigen.“
„Ich ging nun zur Mutter Mathildens, und ſagte
ihr alles mit ſchlichten Worten aber mit zagender
Stimme.“
„„Ich habe das von euch nicht erwartet, und nicht
geahnt,““ erwiederte ſie, „„ich kann euch auch einen
Beſcheid nicht geben. Ich muß erſt mit meinem Gat¬
ten ſprechen. Kommt in einer Stunde in mein Zim¬
mer, und ich werde euch antworten.““
„Ich verbeugte mich, verließ ihr Gemach, und
begab mich in mein Eckzimmer.“
[307]
„Als die Stunde vorüber war, ging ich in das
Beſuchzimmer der Mutter Mathildens. Sie erwar¬
tete mich ſchon. Sie ſaß an ihrem Tiſche, um den
wir uns ſo oft verſammelt hatten. Sie both mir auch
einen Stuhl an. Nachdem ich mich geſezt hatte, ſagte
ſie: „„Mein Gatte iſt mit mir gleicher Anſicht. Wir
haben euch ein Vertrauen geſchenkt, das ſo groß war,
daß wir es nicht verantworten können. Ihr gabet uns
Grund zu dieſem Vertrauen. Wir wollen nicht wei¬
ter darüber rechten. Aber eins muß geſprochen wer¬
den. Die Verbindung, welche ihr beide geſchloſſen
habt, iſt ohne Ziel, wenigſtens iſt jezt ein Ziel nicht
abzuſehen. Ihr mögt wohl beide einen gleichen An¬
theil an der Schließung dieſes Bundes haben. Aber
beide dürftet ihr vielleicht an ſeine Folgen nicht gedacht
haben, ſonſt könnten wir euch ſchwerer entſchuldigen.
Ihr habt euch nur eurem Gefühle hingegeben. Ich
begreife das. Ich kann mir nur nicht erklären, daß
ich es nicht ſchon früher begriffen habe. Ich habe euch
ſo — ſo ſehr vertraut. Hört mich aber jezt an. Ma¬
thilde iſt noch ein Kind, es muß eine Reihe von Jah¬
ren vergehen, in denen ſie noch lernen muß, was ihr
für ihren einſtigen Beruf noth thut, es muß noch eine
Reihe von Jahren vergehen, ehe ſie nur begreift, was
20 *[308] der Bund iſt, den ſie eben geſchloßen hat. Sie iſt leb¬
haft, ſie hat ein Gefühl von ihrer Seele Beſiz nehmen
laſſen, welches ihr angenehm iſt, und welches wahr¬
ſcheinlich dieſe ihre ganze Seele erfüllt. Sollen wir
ſie in dieſem Gefühle befangen ſein laſſen in der gan¬
zen Zeit, in der ſie erſt die wichtigſten Vorbereitun¬
gen zu ihrem künftigen Leben treffen muß, oder ſoll
ſie ruhiger ſein, um dieſe Vorbereitungen in dem rech¬
ten Maße treffen zu können? Soll das Gefühl nun
fortdauern, immer fort, bis wir ſagen können, daß ſie
Braut ſei? Wenn es fortdauert, wird es nicht peini¬
gende Stunden bringen, da es nicht ſo bald in ſeinen
natürlichen Abſchluß gelangen kann, und Zweifel
Ungeduld Vorwärtstreiben Unmuth und Schmerz
in ſeinem Gefolge führen? Wird es da nicht jene
ſchönen edlen heitern ruhigen Tage wegfreſſen, die
der aufblühenden Jungfrau beſtimmt ſind, ehe ſie den
Brautkranz in ihre Haare flicht? Sind nicht oft früh¬
zeitige auf weite Ziele gerichtete Neigungen die Zerſtö¬
rerinnen des Lebensglückes geworden? Wenn ihr Ma¬
thilden liebt, wenn ihr ſie mit wahrhafter Liebe eures
Herzens liebt, könnt ihr ſie einer ſolchen Gefahr aus¬
ſezen wollen? Gräbt nicht tiefes Sehnen und heftiges
Fühlen durch Jahre fortgeſezt alle Kräfte des Men¬
[309] ſchen an? Und wie, wenn die Neigung des einen
ſchwindet, und das andere troſtlos iſt? oder wenn ſie
in beiden ermattet, und eine Leere hinter ſich läßt? Ihr
werdet beide ſagen, das ſei bei euch nicht möglich. Ich
weiß, daß ihr jezt ſo fühlt, ich weiß, daß es bei euch
vielleicht auch nicht möglich iſt; allein ich habe oft
geſehen, daß Neigungen aufhörten und ſich än¬
derten, ja daß die ſtärkſten Gefühle, welche allen
Gewalten trozten, dann, da ſie keinen andern Wider¬
ſtand mehr hatten als die zähe immer dauernde auf¬
reibende Zeit, dieſer ſtillen und unſcheinbaren Ge¬
walt unterlegen ſind. Soll Mathilde — ich will ſagen
eure Mathilde — dieſer Möglichkeit anheim gegeben
werden? Iſt ihr das Leben, in das ſie jezt mit friſcher
Seele hinein ſieht, nicht zu gönnen? Es iſt größere
Liebe, auf die eigene Seligkeit nicht achten, ja die
gegenwärtige Seligkeit des geliebten Gegenſtandes
auch nicht achten, aber dafür das ruhige feſte und
dauernde Glück desſelben begründen. Das, glaube
ich, iſt eure und iſt Mathildens Pflicht. Ihr könnt
mir nicht einwenden, daß dieſes Glück durch eine Ver¬
bindung, die ſogleich geſchloſſen wird, zu begründen
ſei. Wenn auch Mathildens Vermögen ſo groß wäre,
daß daraus ein Familienbeſizſtand gegründet werden
[310] könnte, wenn ihr es auch über euch vermöchtet, von
dem Vermögen eurer Gattin wenigſtens eine Zeit hin¬
durch zu leben, was ich bezweifle, ſo wäre damit doch
noch nichts gewonnen, da Mathilde, wie ich ſagte,
die bei weitem größere Zahl von Eigenſchaften noch
nicht beſizt, welche eine Gattin und Mutter beſi¬
zen muß, da ſie ferner nach den Anſichten, die wir
über das körperliche Wohl unſerer Kinder für unſere
Pflicht halten, wenigſtens vor ſechs oder ſieben Jah¬
ren ſich nicht vermählen kann, und da alſo die Unſi¬
cherheit und Gefahr, wie ich früher ſprach, auch bei
dieſer eurer Behauptung für ſie und euch vorhanden
wären. Da die Kinder in dem Alter Mathildens
ihren Eltern ohne Bedingung zu folgen haben, und
da gute Kinder, wozu ich Mathilden zähle, auch wenn
es ihrem Herzen Schmerz macht, gerne folgen, weil
ſie der Liebe und der beſſern Einſicht der Eltern ver¬
trauen: ſo hätte ich nur ſagen dürfen, mein Gatte
und ich erkennen, daß zum Wohle Mathildens das
Band, das ſie geſchlungen hat, nicht fortdauern dürfe,
und daß ſie daher dasſelbe abbrechen möge; allein ich
habe euch die Gründe unſerer Anſicht entwickelt, weil
ich euch hochachte, und weil ich auch geſehen habe,
daß ihr mir zugethan ſeid, wie ja auch euer Geſtänd¬
[311] niß beweist, welches freilich etwas früher hätte
gemacht werden ſollen. Erlaubt, daß ich nun auch
von euch etwas ſpreche. Ihr ſeid wenn auch älter als
Mathilde doch als Mann noch ſo jung, daß ihr die
Lage, in der ihr ſeid, kaum zu beurtheilen fähig ſein
dürftet. Mein Gatte und ich ſind der Anſicht, daß
ihr, ſo weit wir euch kennen, durch euer Gefühl, das
immer edel und warm iſt, in die Neigung zu Mathil¬
den, der wir auch als Eltern immerhin einigen Lieb¬
reiz zuſprechen müſſen, geſtürzt worden ſeid, daß ſich
euch das Gefühl als etwas Hohes und Erhabenes
angekündigt hat, das euch noch dazu ſo beſeligte, und
daß ihr daher an keinen Widerſtand gedacht habt,
der euch ja auch als Untreue an Mathilden erſcheinen
mußte. Allein eure Lage in dieſer Art genommen darf
nicht als die geſezmäßige bezeichnet werden. Ihr ſeid
ſo jung, ihr habt euch in den Anfang einer Laufbahn
begeben. Ihr müßt nun in derſelben fortfahren, oder,
wenn ihr ſie mißbilligt, eine andere einſchlagen. In
ganz und gar keiner kann ein Mann von eurer Bega¬
bung und eurem inneren Weſen nicht bleiben. Welche
lange Zeit liegt nun vor euch, die ihr benüzen müßt,
euch in jene feſte Lebensthätigkeit zu bringen, die euch
noth thut, und euch jene äußere Unabhängigkeit zu
[312] erwerben, die ihr braucht, damit ihr beides zur Er¬
richtung eines dauernden Familienverhältniſſes
anwenden könnt. Welche Unſicherheit in euren Be¬
ſtrebungen, wenn ihr eine verfrühte Neigung in die¬
ſelben hinein nehmt, und welche Gefahren in dieſer
euch beherrſchenden Neigung für euer Weſen und euer
Herz! Es wird euch beiden jezt Schmerz machen, das
geknüpfte Band zu löſen oder wenigſtens aufzuſchie¬
ben, wir wiſſen es, wir fühlen den Schmerz, ihr beide
dauert uns, und wir machen uns Vorwürfe, daß wir
die entſtandene Sachlage nicht zu verhindern gewußt
haben; aber ihr werdet beide ruhiger werden, Ma¬
thilde wird ihre Bildung vollenden können, ihr wer¬
det in eurem zukünftigen Stande euch befeſtiget haben,
und dann kann wieder geſprochen werden. Ihr hättet
auch ohne dieſe Neigung nicht lange mehr in eurer
gegenwärtigen Stellung bleiben können. Wir verdan¬
ken euch ſehr viel. Unſer Alfred und auch Mathilde
reiften an euch ſehr ſchön empor. Aber eben deßhalb
hätten wir es nicht über unſer Gewiſſen bringen kön¬
nen, euch länger zu unſerem Vortheile von eurer Zu¬
kunft abzuhalten, und mein Gatte hatte ſich vorge¬
nommen, mit euch über dieſe Sache zu ſprechen.
Überdenkt, was ich euch ſagte. Ich verlange heute
[313] keine Antwort; aber gebt ſie mir in dieſen Tagen.
Ich habe noch einen Wunſch, ich kenne euch, und ich
will ihn euch deßhalb anvertrauen. Ihr habt eine
ſehr große Gewalt über Mathilden, wie wir wohl
immer geſehen haben, wie ſie uns in ihrer Größe aber
nicht erſchienen iſt, wendet, wenn meine Worte bei
euch einen Eindruck machten, dieſe Gewalt auf ſie an,
um ſie von dem zu überzeugen, was ich euch geſagt
habe, und um das arme Kind zu beruhigen. Wenn
es euch gelingt, glaubt mir, ſo erweiſet ihr Mathil¬
den dadurch eine große Liebe, ihr erweiſet ſie euch
und auch uns. Geht dann mit dem Eifer der Bega¬
bung und der Ausdauer, wie ihr ſie in unſerem Hauſe
bewieſen habt, an euren Beruf. Wir waren euch alle
ſehr zugethan, ihr werdet wieder Neigung und An¬
hänglichkeit finden, ihr werdet ruhiger werden, und
alles wird ſich zum Guten wenden.““
„Sie hatte ausgeſprochen, legte ihre ſchöne freund¬
liche Hand auf den Tiſch, und ſah mich an.“
„„Ihr ſeid ja ſo blaß wie eine getünchte Wand,““
ſagte ſie nach einem Weilchen.“
„In meine Augen drangen einzelne Thränen, und
ich antwortete: „„Jezt bin ich ganz allein. Mein Va¬
ter meine Mutter meine Schweſter ſind geſtorben.““
[314] Mehr konnte ich nicht ſagen, meine Lippen bebten vor
unſäglichem Schmerz.“
„Sie ſtand auf, legte ihre Hand auf meinen Schei¬
tel, und ſagte unter Thränen mit ihrer lieblichen
Stimme: „„Guſtav, mein Sohn! du biſt es ja immer
geweſen, und ich kann einen beſſeren nicht wünſchen.
Geht jezt beide den Weg eurer Ausbildung, und wenn
dann einſt euer gereiftes Weſen daſſelbe ſagt, was
jezt das wallende Herz ſagt, dann kommt beide, wir
werden euch ſegnen. Stört aber durch Fortſpinnen
Steigern und vielleicht Abarten eurer jezigen heftigen
Gefühle nicht die euch ſo nöthige lezte Entwicklung.““
„Es war das erſte Mal geweſen, daß ſie mich du
genannt hatte.“
„Sie verließ mich, und ging einige Schritte im
Zimmer hin und wieder.“
„„Verehrte Frau,““ ſagte ich nach einer Weile,
„„es iſt nicht nöthig, daß ich euch morgen oder in die¬
ſen Tagen antworte; ich kann es jezt ſogleich. Was
ihr mir an Gründen geſagt habt, wird ſehr richtig
ſein, ich glaube, daß es wirklich ſo iſt, wie ihr ſagt;
allein mein ganzes Innere kämpft dagegen, und wenn
das Geſagte noch ſo wahr iſt, ſo vermag ich es nicht
zu faſſen. Erlaubt, daß eine Zeit hierüber vergehe,
[315] und daß ich dann noch einmal durchdenke, was ich
jezt nicht denken kann. Aber eins iſt es, was ich
faſſe. Ein Kind darf ſeinen Eltern nicht ungehorſam
ſein, wenn es nicht auf ewig mit ihnen brechen, wenn
es nicht die Eltern oder ſich ſelbſt verwerfen ſoll.
Mathilde kann ihre guten Eltern nicht verwerfen, und
ſie iſt ſelber ſo gut, daß ſie auch ſich nicht verwerfen
kann. Ihre Eltern verlangen, daß ſie jezt das geſchloſ¬
ſene Band auflöſen möge, und ſie wird folgen. Ich
will es nicht verſuchen, durch Bitten das Gebot der
Eltern wenden zu wollen. Die Gründe, welche ihr
mir geſagt habt, und welche in mein Weſen nicht ein¬
dringen wollen, werden in dem eurigen feſt haften,
ſonſt hättet ihr mir ſie nicht ſo nachdrücklich geſagt,
hättet ſie mir nicht mit ſolcher Güte und zulezt nicht
mit Thränen geſagt. Ihr werdet davon nicht laſſen
können. Wir haben uns nicht vorzuſtellen vermocht,
daß das, was für uns ein ſo hohes Glück war, für
die Eltern ein Unheil ſein wird. Ihr habt es mir mit
eurer tiefſten Überzeugung geſagt. Selbſt wenn ihr
irrtet, ſelbſt wenn unſere Bitten euch zu erweichen
vermöchten, ſo würde euer freudiger Wille euer Herz
und euer Segen mit dem Bunde nicht ſein, und ein
Bund ohne der Freude der Eltern ein Bund mit der
[316] Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund
der Trauer ſein, er wäre ein ewiger Stachel, und
euer ernſtes oder bekümmertes Antliz würde ein
unvertilgbarer Vorwurf ſein. Darum iſt der Bund,
und wäre er der berechtigteſte, aus, er iſt aus auf ſo
lange, als die Eltern ihm nicht beiſtimmen können.
Eure ungehorſame Tochter würde ich nicht ſo unaus¬
ſprechlich lieben können, wie ich ſie jezt liebe, eure
gehorſame werde ich ehren und mit tiefſter Seele, wie
fern ich auch ſein mag, lieben, ſo lange ich lebe. Wir
werden daher das Band löſen, wie ſchmerzhaft die
Löſung auch ſein mag. — O Mutter, Mutter! —
laßt euch dieſen Namen zum erſten und vielleicht auch
zum lezten Male geben — der Schmerz iſt ſo groß,
daß ihn keine Zunge ausſprechen kann, und daß ich
mir ſeine Größe nie vorzuſtellen vermocht habe.““
„„Ich erkenne es,““ antwortete ſie, „„und darum
iſt ja der Kummer, den ich und mein Gatte empfin¬
den, ſo groß, daß wir unſerem theuren Kinde und
euch, den wir auch lieben, die Seelenkränkung nicht
erſparen können.““
„„Ich werde morgen Mathilden ſagen,““ erwie¬
derte ich, „„daß ſie ihrem Vater und ihrer Mutter
gehorchen müſſe. Heute erlaubt mir, verehrte Frau,
[317] daß ich meine Gedanken etwas ordne — und daß ich
auch noch andere Dinge ordne, die noth thun.““
„Die Thränen waren mir wieder in die Augen
getreten.“
„„Sammelt euch, lieber Guſtav,““ ſagte ſie, „„und
thut, was ihr für gut haltet, ſprecht mit Mathilden
oder ſprecht auch nicht, ich ſchreibe euch nichts vor.
Es wird eine Zeit kommen, in der ihr einſehen wer¬
det, daß ich euch nicht ſo unrecht thue, als ihr jezt
vielleicht glauben mögt.““
„Ich küßte ihr die Hand, die ſie mir gütig gab,
und verließ das Zimmer.“
„Am andern Tage bath ich Mathilden, mit mir
einen Gang in den Garten zu machen. Wir gingen
durch den erſten Theil deſſelben, und wir gingen
durch den Weinlaubengang bis zu dem Gartenhauſe,
an dem die Roſen blühten. Während wir ſo wandel¬
ten, ſprachen wir faſt kein Wort, außer daß wir ſag¬
ten, wie uns hie und da eine Blume gefalle, wie das
Weinlaub ſchön ſei, und wie der Tag ſich ſo ausge¬
heitert habe. Wir waren zu geſpannt auf das, was
da kommen werde, Mathilde auf das, was ich ihr
mitzutheilen habe, und ich auf das, wie ſie die Mit¬
theilung aufnehmen werde. In der Nähe des Gar¬
[318] tenhauſes war eine Bank, auf welche von einem Ro¬
ſengebüſche Schatten fiel. Ich lud ſie ein, mit mir
auf der Bank Plaz zu nehmen. Sie that es. Es war
das erſte Mal, daß wir ganz allein in den Garten
gingen, und daß wir allein bei einander auf einer
Bank ſaſſen. Es war das Vorzeichen, daß uns dies
in Zukunft entweder ungeſtört werde geſtattet ſein,
oder daß es das lezte Mal ſei, und daß man darum
ein unbedingtes Vertrauen in uns ſeze. Ich ſah,
daß Mathilde das empfinde; denn in ihrem ganzen
Weſen war die höchſte Erwartung ausgeprägt. De߬
ohngeachtet rief ſie mit keinem Worte den Anfang der
Mittheilungen hervor. Mein Weſen mochte ſie in
Angſt geſezt haben; denn obwohl ich mir unzählige
Male in der Nacht die Worte zuſammengeſtellt hatte,
mit denen ich ſie anreden wollte, ſo konnte ich doch
jezt nicht ſprechen, und obwohl ich ſuchte, meine Em¬
pfindungen zu bemeiſtern, ſo mochte doch der Schmerz
in meinem Äußern zu leſen geweſen ſein. Da wir
ſchon eine Weile geſeſſen waren, auf unſere Fußſpizen
geſehen, und, was zu verwundern war, uns nicht an
der Hand gefaßt hatten, fing ich an, mit zitternder
Stimme und mit ſtockendem Athem zu ſagen, was
ihre Eltern meinen, und daß ſie den Wunſch hegen,
[319] daß wir wenigſtens für die jezige Zeit unſer Band
auflöſen mögen. Ich ging auf die Gründe, welche
die Mutter angegeben hatte, nicht ein, und legte Ma¬
thilden nur dar, daß ſie zu gehorchen habe, und daß
unter Ungehorſam unſer Bund nicht beſtehen könne.“
„Als ich geendet hatte, war ſie im höchſten Maße
erſtaunt.“
„„Ich bitte dich, wiederhole mir nur in Kurzem,
was du geſprochen haſt, und was wir thun ſollen,““
ſagte ſie.“
„„Du mußt den Willen deiner Eltern thun, und
das Band mit mir löſen,““ antwortete ich.“
„„Und das ſchlägſt du vor, und das haſt du der
Mutter verſprochen, bei mir auszuwirken?““ fragte ſie.
„„Mathilde nicht auszuwirken,““ antwortete ich,
„„wir müſſen gehorchen; denn der Wille der Eltern
iſt das Geſez der Kinder.““
„„Ich muß gehorchen,““ rief ſie, indem ſie von der
Bank aufſprang, „„und ich werde auch gehorchen;
aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern ſind ſie
nicht. Du mußteſt nicht hieher kommen, und den Auf¬
trag übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das
wir geſchloſſen hatten, aufzulöſen. Du mußteſt
ſagen: „Frau, eure Tochter wird euch gehorſam ſein,
[320] ſagt ihr nur euren Willen; aber ich bin nicht verbun¬
den, eure Vorſchriften zu befolgen, ich werde euer
Kind lieben, ſo lange ein Blutstropfen in mir iſt, ich
werde mit aller Kraft ſtreben, einſt in ihren Beſiz zu
gelangen. Und da ſie euch gehorſam iſt, ſo wird ſie
mit mir nicht mehr ſprechen, ſie wird mich nicht mehr
anſehen, ich werde weit von hier fortgehen; aber lie¬
ben werde ich ſie doch, ſo lange dieſes Leben währt
und das künftige, ich werde nie einer andern ein Theil¬
chen von Neigung ſchenken, und werde nie von ihr
laſſen.“ So hätteſt du ſprechen ſollen, und wenn du
von unſerm Schloſſe fortgegangen wäreſt, ſo hätte
ich gewußt, daß du ſo geſprochen haſt, und tauſend
Millionen Ketten hätten mich nicht von dir geriſſen,
und jubelnd hätte ich einſt in Erfüllung gebracht,
was dir dieſes ſtürmiſche Herz gegeben. Du haſt den
Bund aufgelöſet, ehe du mit mir hieher gegangen
biſt, ehe du mich zu dieſer Bank geführt haſt, die ich
dir gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du
gethan haſt. Wenn jezt auch der Vater und die Mut¬
ter kämen, und ſagten: „Nehmet euch, beſizet euch in
Ewigkeit,“ ſo wäre doch alles aus. Du haſt die Treue
gebrochen, die ich feſter gewähnt habe als die Säulen
[321] der Welt und die Sterne an dem Baue des Him¬
mels.““
„„Mathilde,““ ſagte ich, „„was ich jezt thue, iſt
unendlich ſchwerer, als was du verlangteſt.““
„„Schwer oder nicht ſchwer, von dem iſt hier nicht
die Rede,““ antwortete ſie, „„von dem, was ſein muß,
iſt die Rede, von dem, deſſen Gegentheil ich für un¬
möglich hielt. Guſtav, Guſtav, Guſtav, wie konnteſt
du das thun?““
„Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete
gegen die Roſen, die an dem Gartenhauſe blüh¬
ten, gewendet in das Gras nieder, ſchlug die beiden
Hände zuſammen, und rief unter ſtrömenden Thrä¬
nen: „„Hört es, ihr tauſend Blumen, die herabſchau¬
ten, als er dieſe Lippen küßte, höre es du, Weinlaub,
das den flüſternden Schwur der ewigen Treue ver¬
nommen hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner
Zunge in keiner Sprache ausgeſprochen werden kann.
Dieſes Herz iſt jung an Jahren, aber es iſt reich an
Großmuth; alles, was in ihm lebte, habe ich dem
Geliebten hingegeben, es war kein Gedanke in mir
als er, das ganze künftige Leben, das noch viele Jahre
umfaſſen konnte, hätte ich wie einen Hauch für ihn
hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langſam
Stifter, Nachſommer. III. 21[322] aus den Adern fließen und jede Faſer aus dem Leibe
ziehen laſſen — und ich hätte gejauchzt dazu. Ich
habe gemeint, daß er das weiß, weil ich gemeint habe,
daß er es auch thun würde. Und nun führt er mich
heraus, um mir zu ſagen, was er ſagte. Wären was
immer für Schmerzen von Außen gekommen, was
immer für Kämpfe Anſtrengungen und Erduldungen;
ich hätte ſie ertragen, aber nun er — er — ! Er macht
es unmöglich für alle Zeiten, daß ich ihm noch ange¬
hören kann, weil er den Zauber zerſtört hat, der alles
band, den Zauber, der ein unzerreißbares Aneinan¬
derhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewig¬
keit malte.““
„Ich ging zu ihr hinzu, um ſie empor zu heben.
Ich ergrif ihre Hand. Ihre Hand war wie Glut.
Sie ſtand auf, entzog mir die Hand, und ging gegen
das Gartenhaus, an dem die Roſen blühten.“
„„Mathilde,““ ſagte ich, „„es handelt ſich nicht um
den Bruch der Treue, die Treue iſt nicht gebrochen
worden. Verwechſle die Dinge nicht. Wir haben
gegen die Eltern unrecht gehandelt, daß wir ihnen
verbargen, was wir gethan haben, und daß wir in
dem Verbergen beharrend geblieben ſind. Sie fürch¬
ten Übles für uns. Nicht die Zerſtörung unſerer Ge¬
[323] fühle verlangen ſie, nur die Aufhebung des Äußer¬
lichen unſeres Bundes auf eine Zeit.““
„„Kannst du eine Zeit nicht mehr du ſein?““ erwie¬
derte ſie, „„kannſt du eine Zeit dein Herz nicht ſchla¬
gen laſſen? Äußeres, Inneres, das iſt alles eins, und
alles iſt die Liebe. Du haſt nie geliebt, weil du es
nicht weißt.““
„„Mathilde,““ antwortete ich, „„du warſt immer
ſo gut, du warſt edel rein herrlich, daß ich dich mit
allen Kräften in meine Seele ſchloß: heute biſt du
zum erſten Male ungerecht. Meine Liebe iſt unendlich,
iſt unzerſtörbar und der Schmerz, daß ich dich laſſen
muß, iſt unſäglich, ich habe nicht gewußt, daß es
einen ſo großen auf Erden gibt; nur der iſt größer,
von dir verkannt zu ſein. Ich unterſcheide nicht, wer
dir das Gebot der ältern hätte ſagen ſollen, es iſt
das einerlei, ſie ſind die Eltern, das Gebot iſt das
Gebot, und das Heiligſte in uns ſagt, daß die El¬
tern geehrt werden müſſen, daß das Band zwiſchen
Eltern und Kind nicht zerſtört werden darf, wenn
auch das Herz bricht. So fühlte ich, ſo handelte ich,
und ich wollte dir das Nothwendige recht ſanft und
weich ſagen, darum übernahm ich die Sendung; ich
glaubte, es könne dir niemand das Bittere ſo ſanft
21 *[324] und weich ſagen wie ich, darum kam ich. Aus Güte
aus Mitleid kam ich. Die Pflicht leitete mich, in der
Pflicht bricht mein Herz, und in dem brechenden Her¬
zen biſt du.““
„„Ja, ja, das ſind die Worte,““ ſagte ſie, indem
ihr Schluchzen immer heftiger und faſt krampfhaft
wurde, „„das ſind die Worte, denen ich ſonſt ſo gerne
lauſchte, die ſo ſüß in meine Seele gingen, die ſchon
ſüß waren, als du es noch nicht wußteſt, denen ich
glaubte, wie der ewigen Wahrheit. Du hätteſt es
nicht unternehmen müſſen, mich zur Zerreiſſung unſe¬
rer Liebe bewegen zu wollen, es ſoll, wenn hundert¬
mal Pflicht, dir nicht möglich geweſen ſein. Darum
kann ich dir jezt nicht mehr glauben, deine Liebe iſt
nicht die, die ich dachte, und die die meinige iſt. Ich
habe den Vergleichpunkt verloren, und weiß nicht,
wie alles iſt. Wenn du einſt geſagt hätteſt, der Him¬
mel iſt nicht der Himmel, die Erde nicht die Erde,
ich hätte es dir geglaubt. Jezt weiß ich es nicht, ob
ich dir glauben ſoll, was du ſagſt. Ich kann nicht
anders, ich weiß es nicht, und ich kann nicht machen,
daß ich es weiß. O Gott! daß es geworden iſt wie
es ward, und daß zerſtörbar iſt, was ich für ewig
hielt! wie werde ich es ertragen können?““
[325]
„Sie barg ihr Angeſicht in den Roſen vor ihr, und
ihre glühende Wange war auch jezt noch ſchöner als
die Roſen. Sie drückte das Angeſicht ganz in die
Blumen, und weinte ſo, daß ich glaubte, ich fühle
das Zittern ihres Körpers, oder es werde eine Ohn¬
macht ihren Schmerz erſchöpfen. Ich wollte ſprechen,
ich verſuchte es mehrere Male; aber ich konnte nicht,
die Bruſt war mir zerpreßt und die Werkzeuge
des Sprechens ohne Macht. Ich faßte nach ihrem
Körper, ſie zuckte aber weg, wenn ſie es empfand.
Dann ſtand ich unbeweglich neben ihr. Ich grif mit
der bloßen Hand in die Zweige der Roſen, drückte,
daß mir leichter würde, die Dornen derſelben in die
Hand, und ließ das Blut an ihr nieder rinnen.“
„Als das eine Zeit gedauert hatte, als ſich ihr
Weinen etwas gemildert hatte, hob ſie das Angeſicht
empor, trocknete mit dem Tuche, das ſie aus der Ta¬
ſche genommen, die Thränen, und ſagte: „„Es iſt alles
vorüber. Weßhalb wir noch länger hier bleiben ſollen,
dazu iſt kein Grund, laſſe uns wieder in das Haus
gehen, und das Weitere dieſer Handlung verfolgen.
Wer uns begegnet, ſoll nicht ſehen, daß ich ſo ſehr
geweint habe.““
„Sie trocknete neuerdings mit dem Tuche die Au¬
[326] gen, ließ neue Thränen nicht mehr hervorquellen,
richtete ſich empor, ſtrich ſich die Haare ein wenig
zurecht, und ſagte: „„Gehen wir in das Haus.““
„Sie richtete ſich mit dieſen Worten zum Gehen
gegen den Weinlaubengang, und ich ging neben ihr.
Das Blut an meiner Hand konnte ſie nicht ſehen.
Ich unternahm es nicht mehr, ſie zu tröſten, ich ſah,
daß ihre Verfaſſung dafür nicht empfänglich war.
Auch erkannte ich, daß ſie im Zorne gegen mich ihren
Schmerz leichter ertrage, als wenn dieſer Zorn nicht
geweſen wäre. Wir gingen ſchweigend in das Haus.
Dort gingen wir in das Zimmer der Mutter. Ma¬
thilde warf ſich ihrer Mutter an das Herz. Ich küßte
der Frau die Hand, und entfernte mich.“
„Den ganzen übrigen Theil des Tages verbrachte
ich damit, meine Habe zu packen, um morgen dieſes
Haus verlaſſen zu können. Mathildens Vater beſuchte
mich einmal, und ſagte: „„Kränket euch nicht zu ſehr,
es wird vielleicht noch alles gut.““
„Im Übrigen waren ſeine Gründe, die er freund¬
lich und ſanft ſagte, die nehmlichen wie die ſeiner
Gattin. Auch Mathildens Mutter kam einmal zu mir
herüber, lächelte trübſinnig bei meinem Treiben, und
gab mir die Hand. Meine Hoffnungen waren düſte¬
[327] rer, als es die dieſer zwei Menſchen zu ſein ſchienen.
Mathildens Glauben an mich war erſchüttert. Da ich
meine Abſicht, morgen abreiſen zu wollen, erklärt
hatte, und man nichts mehr dagegen einwendete,
was man Anfangs that, rief ich Alfred, und ſagte
ihm, daß ich nicht etwa eine größere Reiſe vor habe,
wie er glauben mochte, ſondern daß ich auf lange
vielleicht auf immer dieſes Haus verlaſſe. Es ſeien
Umſtände eingetreten, die dies nothwendig machten.
Er fiel mir mit Schluchzen um den Hals, ich konnte
ihn gar nicht beſänftigen, ja ich weinte beinahe ſelber
laut. Er wurde ſpäter zu beiden Eltern, die in der
Schreibſtube des Vaters waren, geholt, damit ſie ihn
beruhigten. Sein Schlafzimmer war heute unter der
Aufſicht eines Dieners ein anderes. Als er in das¬
ſelbe gebracht worden war, ging ich zu den Eltern,
und ſagte ihnen den Dank für alles Gute, das ich in
ihrem Hauſe genoſſen habe. Sie dankten mir auch,
und ließen mich Hoffnungen erblicken. Es ward ver¬
abredet, daß ich mit den Pferden des Hauſes auf die
nächſte Poſt gebracht werden ſolle. Mathilde erſchien
nicht zum Abendeſſen.“
„Am nächſten Morgen wurde der Wagen bepackt.
Ich machte mich reiſefertig. Es war mir erlaubt
[328] worden, von Mathilden Abſchied nehmen zu dürfen.
Sie weigerte ſich aber, mich zu ſehen. Ich ging da¬
her in meine Wohnung, reichte dem alten Raimund
die Hand, und ſagte: „„Lebe wohl Raimund.““
„„Lebt recht wohl, junger Herr,““ antwortete er,
„„und ſeid recht glücklich.““
„„Du weißt nicht Raimund!““
„„Ich weiß, ich weiß, junger Herr — es kann ja
werden.““
„„Lebe wohl.““
„Ich ging nun die Treppe hinab, er begleitete
mich. Unten bei dem Wagen ſtand der Herr und die
Frau des Hauſes und mehrere von den Dienſtleuten.
Auch vom Meierhofe waren Leute herbei gekommen.
Alfred, der ſpät entſchlummert war, ſchlief noch; die
Beſizer des Hauſes nahmen auf eine auszeichnende
Weiſe von mir Abſchied, die Umſtehenden beurlaubten
ſich auch, wünſchten mir Glück und eine fröhliche
Wiederkehr. Ich beſtieg den Wagen, und fuhr von
Heinbach dahin.“
„Der Beſizer dieſes Hauſes hatte mir einmal ge¬
ſagt: „„Vielleicht verlaſſet ihr einſt unſer Haus nicht
mit Reue und Schmerz.““
„Ich verließ es nicht mit Reue, aber mit Schmerz.“
[329]
„Er hatte auch die Vermuthung ausgeſprochen,
daß mir etwa auch ſeine Familie unvergeßlich bleiben
dürfte. Sie blieb mir unvergeßlich.“
„Ich verabſchiedete auf der Poſt den Wagen aus
Heinbach, das lezte Merkmal aus dieſem Orte, und
ließ mich nach der Stadt einſchreiben, wo ich ſo lange
geweſen war, wo ich meine Lernzeit vollendet hatte,
von wo ich nach Heinbach gegangen war, und wo ſich
das Haus von Mathildens Eltern befand. Ich blieb
aber nicht in der Stadt.“
„In der Nähe meiner Heimath iſt im Walde eine
Felskuppe, von welcher man ſehr weit ſieht. Sie
geht mit ihrem nördlichen Rücken ſanft ab, und trägt
auf ihm ſehr dunkle Tannen. Gegen Süden ſtürzt ſie
ſteil ab, iſt hoch und geklüftet, und ſieht auf einen
dünnbeſtandenen Wald, zwiſchen deſſen Stämmen
Weidegrund iſt. Jenſeits des Waldes erblickt man
Wieſen und Feld, weiter ein blauliches Moor, dann
ein dunkelblaues Waldband und über dieſem die fer¬
nen Hochgebirge. Ich ging von der Stadt in meine
Heimath und von der Heimath auf dieſe Felskuppe.
Ich ſaß auf ihr, und weinte bitterlich. Jezt war ich
verödet, wie ich früher nie verödet geweſen war. Ich
ſah in das dunkle Innere der Schlünde, und fragte,
[330] ob ich mich hinabwerfen ſolle. Das Bild meiner ver¬
ſtorbenen Mutter miſchte ſich in dieſe unklare ſchauer¬
liche Vorſtellung, und wurde mir ein Liebes, an das ich
denken mußte. Ich ging täglich auf dieſe Kuppe, und
blieb oft mehrere Stunden auf ihr ſizen. Ich weiß
nicht, warum ich ſie ſuchte. In meiner Jugend war ich
oft auf ihr, und wir machten uns das Vergnügen,
Steine ziemlicher Größe von ihr hinab zu werfen, um
den Steinſtaub aufwirbeln zu ſehen, wenn der Ge¬
worfene auf Klippen ſtieß, und um ſein Gepolter in
den Klippen und ſein Raſſeln in den am Fuße des
Felſens befindlichen Gerölle zu hören. Von dieſer
Kuppe war kein Einblick in jene Länder, in denen
Mathildens Wohnung lag, man ſah nicht einmal
Gebirgszüge, die an ſie grenzten. Ich ging auch nach
und nach in anderen Theilen der Umgebung meines
Heimathortes herum. Mein Schwager war ein ſanfter
und ſtiller Mann, und wir ſprachen in meinem Ge¬
burtshauſe oft einen ganzen Tag hindurch nicht mehr
als einige Worte.“
„Als eine geraume Zeit vergangen war, dachte ich
auf meine Abreiſe und auf meine Berufsarbeiten, die
ich ſchon ſo lange vergeſſen hatte, und auf die ich
[331] in dem Hauſe in Heinbach befangen vielleicht noch
länger nicht gedacht haben würde.“
„Ich ging wieder in die Stadt, in der ich meine
Habe gelaſſen hatte, und widmete mich ernſtlich der
Laufbahn, zu welcher ich eigentlich die Vorbereitungs¬
ſchulen beſucht hatte. Ich meldete mich zum Staats¬
dienſte, wurde eingereiht, und arbeitete jezt ſehr fleißig
in dem Bereiche der unteren Stellen, in welchen ich
war. Ich lebte noch zurückgezogener als ſonſt. Mein
kleiner Gehalt und das Erträgniß meines Erſparten
reichten hin, meine Bedürfniſſe zu decken. Ich wohnte
in einem Theile der Vorſtadt, welcher von dem Hauſe
der Eltern Mathildens ſehr weit entfernt war. Im
Winter ging ich faſt nirgends hin, als von meiner
Wohnſtube in meine Amtsſtube, welcher Weg wohl
ſehr lange war, und von der Amtsſtube in meine
Wohnſtube. Meine Nahrung nahm ich in einem
kleinen Gaſthauſe an meinem Wege ein. Freunde
und Genoſſen beſuchte ich wenig, mir war alle Ver¬
bindung mit Menſchen verleidet. Als Erholung diente
mir der Betrieb der Geſchichte der Staatswiſſen¬
ſchaften und der Wiſſenſchaften der Natur. Ein Gang
auf dem Walle der äußeren Stadt oder eine Wan¬
derung in einen einſamen Theil der Umgebungen der
[332] Stadt gaben mir Luft und Bewegung. Mathilden
ſah ich einmal. Sie fuhr mit ihrer Mutter in einem
offenen Wagen in einer der breiten Straſſen der Vor¬
ſtädte in einer Gegend, in welcher ich ſie nicht ver¬
muthet hatte. Ich blickte hin, erkannte ſie, und meinte
umſinken zu müſſen. Ob ſie mich geſehen hat, weiß ich
nicht. Ich ging dann in meine Amtsſtube zu meinem
Schreibtiſche. In der erſten Zeit wurde ich von meinen
Vorgeſezten wenig beachtet. Ich arbeitete mit einem
außerordentlichen Fleiße, er war mir Arznei für eine
Wunde geworden, und ich flüchtete gern zu dieſer
Arznei. So lange alle die Verhältniſſe, welche in
meinen Amtsgeſchäften vorkamen, in meinem Haupte
waren, war nichts anderes darin. Schmerzvoll waren
nur die Zwiſchenräume. Auch die Wiſſenſchaften
leiteten nicht ſo ſicher ab. Mein Fleiß lenkte endlich
die Aufmerkſamkeit auf ſich, man beförderte mich.
Anfangs ging es langſamer, dann ſchneller. Nach
dem Verlaufe von mehreren Jahren war ich in einer
der ehrenvolleren Stellungen des Staatsdienſtes,
welche zu dem Verkehre mit dem gebildeteren Theile
der Stadteinwohnerſchaft berechtigten, und ich hatte
die gegründete Ausſicht, noch weiter zu ſteigen. In
ſolchen Verhältniſſen werden gewöhnlich die Ehen mit
[333] Mädchen aus anſehnlicheren Häuſern geſchloſſen,
welche dann zu glücklichem und ehrenvollem Familien¬
leben führen. Mathilde mußte jezt ein und zwanzig
oder zwei und zwanzig Jahre alt ſein. Irgend eine
Annäherung ihrer Eltern an mich hatte nicht ſtatt
gefunden, auch konnte ich nicht die geringſten Merk¬
male auffinden, wie unermüdlich ich auch ſuchte, daß
ſie ſich nach mir erkundigt hätten. Ich konnte alſo
unmittelbare Schritte zur Annäherung an ſie nicht
thun. Ich leitete alſo ſolche mittelbar ein, welche ſie
auf die gewiſſeſte Art von der Unwandelbarkeit meiner
Neigung überzeugten. Ich erhielt die unzweideutig¬
ſten Beweiſe zurück, daß mich Mathilde verachte. Zu
einer Verehelichung, wozu ihres Reichthums und
ihrer unbeſchreiblichen Schönheit willen ſich die glän¬
zendſten Anträge fanden, konnte ſie nicht gebracht
werden. Mit tiefem ſchwerem Ernſte breitete ich nun
das Bahrtuch der Beſtattung über die heiligſten Ge¬
fühle meines Lebens.“
„Ich will euch nicht mit dem behelligen, wie es
mir weiter in meiner Staatslaufbahn erging. Es ge¬
hört nicht hieher, und iſt euch wohl im Weſentlichen
bekannt. Die Kriege brachen aus, ich wurde abwech¬
ſelnd zu verſchiedenen Stellen verſezt, große um¬
[334] faſſende Arbeiten Reiſen Berichte Vorſchläge wurden
erfordert, ich wurde zu Sendungen verwendet, kam
mit den verſchiedenſten Menſchen in Berührung, und
der Kaiſer wurde, ich kann es wohl ſagen, beinahe
mein Freund. Als ich in den Freiherrnrang erhoben
wurde, kam mein alter Oheim Ferdinand aus der
Entfernung zu mir, um, wie er ſagte, mir ſeine Auf¬
wartung zu machen. Obwohl er meine Mutter ver¬
nachläſſigt hatte, ja nach dem Tode meines Vaters
durch ſeine Zurückhaltung beinahe hart gegen ſie ge¬
weſen war, ſo nahm ich ihn doch freundlich auf, weil
er in meiner Verlaſſenheit zulezt der einzige Verwandte
war, den ich noch hatte. Wir blieben ſeit jener Zeit
mit einander in Briefwechſel. Es kamen wohl viele
Menſchen mit mir in Verbindung und ich lernte
manche Seiten der Geſellſchaft kennen; aber theils
waren die Verbindungen Geſchäftsverbindungen,
theils drängten ſich Menſchen an mich, die durch mich
zu ſteigen hofften, theils waren die Begegnungen
ganz gleichgültig. Wie ſchwer mir aber meine Ge¬
ſchäfte wurden, wie ſehr ich im Grunde zu ihnen
nicht geeignet war, davon habe ich euch ſchon geſagt.
Ich war nach und nach beinahe ein alter Mann ge¬
worden. Da ich viel in der Entfernung lebte, wußte
[335] ich manche Beziehungen der Hauptſtadt nicht. Ma¬
thilde hatte ſich in etwas vorgerückteren Jahren ver¬
mählt. Der Friede wurde dauernd hergeſtellt, ich
blieb wieder beſtändig in der Hauptſtadt, und hier
that ich etwas, das mir ein Vorwurf bis zu meinem
Lebensende ſein wird, weil es nicht nach den reinen
Geſezen der Natur iſt, obwohl es tauſend Mal und
tauſend Mal in der Welt geſchieht. Ich heirathete
ohne Liebe und Neigung. Es war zwar keine Ab¬
neigung vorhanden, aber auch keine Neigung. Die
Hochachtung war gegenſeitig groß. Man hatte mir
viel davon geſagt, daß es meine Pflicht ſei, mir einen
Familienſtand zu gründen, daß ich im Alter von
theuern Angehörigen umgeben ſein müſſe, die mich
lieben pflegen und ſchüzen, und auf die meine Ehren
und mein Name übergehen können. Es ſei auch
Pflicht gegen die Menſchheit und den Staat. Auf
meine Einwendung, daß ich eine Neigung gegen
irgend ein weibliches Weſen nicht habe, ſagten ſie,
Neigungen führen oft zu unglücklichen Verbindungen,
Kenntniß der gegenſeitigen Beſchaffenheit und wech¬
ſelſeitige Hochachtung bauen dauerndes Glück. Troz
meiner gereifteren Jahre hatte ich in dieſen Dingen
noch immer ſehr wenige Kenntniſſe. Meine Jugend¬
[336] neigung, die ſo heftig und beinahe ausſchweifend ge¬
weſen war, hatte kein Glück gebracht. Ich heirathete
alſo ein Mädchen, welches nicht mehr jung war,
eine angenehme Bildung hatte, vom reinſten Wandel
war, und gegen mich tiefe Verehrung empfand. Man
ſagte, ich hätte reich geheirathet, weil mein Haus¬
weſen ein anſehnliches war; allein die Sache verhielt
ſich nicht ſo. Meine Gattin hatte mir eine namhafte
Mitgift gebracht, aber ich hätte eine größere Gabe
hinzulegen können. Da ich in meinem mäßigen Leben
beinahe nichts brauchte, ſo hatte ich, beſonders da ich
einmal in höherer Stellung war, bedeutende Er¬
ſparungen gemacht. Dieſe legte ich in den damaligen
Staatspapieren nieder, und da dieſelben nach Been¬
digung des Krieges anſehnlich ſtiegen, ſo war ich bei¬
nahe ein reicher Mann. Wir lebten zwei Jahre in
dieſer Ehe, und in dieſer wußte ich, was ich vor der
Schließung derſelben nicht gewußt hatte, daß nehmlich
keine ohne Neigung eingegangen werden ſoll. Wir
lebten in Eintracht, wir lebten in hoher Verehrung
der gegenſeitigen guten Eigenſchaften, wir lebten in
wechſelweiſem Vertrauen und in wechſelweiſer Auf¬
merkſamkeit, man nannte unſere Ehe muſterhaft;
aber wir lebten blos ohne Unglück. Zu dem Glücke
[337] gehört mehr als Verneinendes, es iſt der Inbegrif
der Holdſeligkeit des Weſens eines Andern, zu dem
alle unſre Kräfte einzig und fröhlich hinziehn. Als
Julie nach zwei Jahren geſtorben war, betrauerte ich
ſie redlich; aber Mathildens Bild war unberührt in
meinem Herzen ſtehen geblieben. Ich war jezt wie¬
der allein. Zur Schließung einer neuen Ehe war ich
nicht mehr zu bewegen. Ich wußte jezt, was ich vor¬
her nicht gewußt hatte. Liebe und Neigung, dachte
ich, iſt ein Ding, das ſeinen Zug an meinem Herzen
vorüber genommen hatte.“
„Ein Jahr nach dem Tode Juliens ſtarb mein
Oheim, und ſezte mich zu dem Erben ſeines beträcht¬
lichen Vermögens ein.“
„Meine Geſchäfte wurden mir indeſſen von Tag
zu Tag ſchwerer. So wie ich in früheren Zeiten ſchon
gedacht hatte, daß der Staatsdienſt meiner Eigenheit
nicht entſpreche, und daß ich beſſer thäte, wenn ich
ihn verließe: ſo wuchs dieſer Gedanke bei genauerem
Nachdenken und ſchärferem Selbſtbeobachten zu immer
größerer Gewißheit, und ich beſchloß, meine Äm¬
ter niederzulegen. Meine Freunde ſuchten mich dar¬
an zu verhindern, und Mancher, den ich als feſte
Säule des Staates kennen zu lernen Gelegenheit ge¬
Stifter, Nachſommer. III. 22[338] habt, und mit dem ich in ſchwierigen Zeiten manche
harte Amtsſtunde durchgemacht hatte, ſagte eindring¬
lich, daß ich meine Thätigkeit nicht einſtellen ſollte.
Aber ich blieb unerſchüttert. Ich zeigte meinen Aus¬
tritt an. Der Kaiſer nahm ihn wohlwollend und mit
überſendeten Ehren an. Ich hatte die Abſicht, mir für
die lezten Tage meines Lebens einen Landſiz zu grün¬
den, und dort einigen wiſſenſchaftlichen Arbeiten eini¬
gem Genuſſe der Kunſt, ſo weit ich dazu fähig wäre,
der Bewirthſchaftung meiner Felder und Gärten, und
hie und da einer gemeinnüzigen Maßregel für die
Umgebung zu leben. Manches Mal könnte ich in die
Stadt gehen, um meine alten Freunde zu beſuchen,
und zuweilen könnte ich eine Reiſe in die entfernteren
Länder unternehmen. Ich ging in meine Heimath.
Dort fand ich meinen Schwager ſchon ſeit vier Jah¬
ren geſtorben, das Haus in fremden Händen und
völlig umgebaut. Ich reiste bald wieder ab. Nach
mehreren mißglückten Verſuchen fand ich dieſen Plaz,
auf dem ich jezt lebe, und ſezte mich hier feſt. Ich
kaufte den Asperhof, baute das Haus auf dem Hü¬
gel, und gab nach und nach der Beſizung die Geſtalt,
in der ihr ſie jezt ſehet. Mir hatte das Land gefallen,
mir hatte dieſe reizende Stelle gefallen, ich kaufte
[339] noch mehrere Wieſen Wälder und Felder hinzu, be¬
ſuchte alle Theile der Umgebung, gewann meine Be¬
ſchäftigung lieb, und machte mehrere Reiſen in die
bedeutendſten Länder Europas. So bleichten ſich
meine Haare, und Freude und Behagen ſchien ſich bei
mir einſtellen zu wollen.“
„Als ich ſchon ziemlich lange hier geweſen war,
meldete man mir eines Tages, daß eine Frau den
Hügel herangefahren ſei, und daß ſie jezt mit einem
Knaben vor den Roſen, die ſich an den Wänden des
Hauſes befinden, ſtehe. Ich ging hinaus, ſah den
Wagen, und ſah auch die Frau mit dem Knaben vor
den Roſen ſtehen. Ich ging auf ſie zu. Mathilde
war es, die einen Knaben an der Hand haltend und
von ſtrömenden Thränen überfluthet die Roſen anſah.
Ihr Angeſicht war gealtert, und ihre Geſtalt war die
einer Frau mit zunehmenden Jahren.“
„„Guſtav, Guſtav,““ rief ſie, da ſie mich ange¬
blickt hatte, „„ich kann dich nicht anders nennen als:
du. Ich bin gekommen, dich des ſchweren Unrechtes
willen, das ich dir zugefügt habe, um Vergebung zu
bitten. Nimm mich einen Augenblick in dein Haus
auf.““
„„Mathilde,““ ſagte ich, „„ſei gegrüßt, ſei auf die¬
22 *[340] ſem Boden, ſei tauſend Mal gegrüßt, und halte dieſes
Haus für deines.““
„Ich war mit dieſen Worten zu ihr hinzugetreten,
hatte ihre Hand gefaßt, und hatte ſie auf den Mund
geküßt.“
„Sie ließ meine Hand nicht los, drückte ſie ſtark,
und ihr Schluchzen wurde ſo heftig, daß ich meinte,
ihre mir noch immer ſo theuere Bruſt müſſe zer¬
ſpringen.“
„„Mathilde,““ ſagte ich ſanft, „„erhole dich.““
„„Führe mich in das Haus,““ ſprach ſie leiſe.“
„Ich rief erſt durch mein Glöckchen, welches ich
immer bei mir trage, meinen Hausverwalter herzu,
und befahl ihm, Wagen und Pferde unterzubringen.
Dann faßte ich Mathildens Arm, und führte ſie in
das Haus. Als wir in dem Speiſezimmer angelangt
waren, ſagte ich zu dem Knaben: „„Seze dich hier
nieder, und warte, bis ich mit deiner Mutter geſpro¬
chen, und die Thränen, die ihr jezt ſo weh thun, ge¬
mildert habe.““
„Der Knabe ſah mich traulich an, und gehorchte.
Ich führte Mathilde in das Wartezimmer, und both
ihr einen Siz an. Als ſie ſich in die weichen Kiſſen
niedergelaſſen hatte, nahm ich ihr gegenüber auf
[341] einem Stuhle Plaz. Sie weinte fort; aber ihre
Thränen wurden nach und nach linder. Ich ſprach
nichts. Nachdem eine Zeit vergangen war, quollen
ihre Tropfen ſparſamer und weniger aus den Augen,
und endlich trocknete ſie die lezten mit ihrem Tuche
ab. Wir ſaſſen nun ſchweigend da, und ſahen einan¬
der an. Sie mochte auf meine weißen Haare ſchauen,
und ich blickte in ihr Angeſicht. Daſſelbe war ſchon
verblüht; aber auf den Wangen und um den Mund
lag der liebe Reiz und die ſanfte Schwermuth, die
an abgeblühten Frauen ſo rührend ſind, wenn gleich¬
ſam ein Himmel vergangener Schönheit hinter ihnen
liegt, der noch nachgeſpiegelt wird. Ich erkannte in
den Zügen die einſtige prangende Jugend.“
„„Guſtav,““ ſagte ſie, „„ſo ſehen wir uns wieder.
Ich konnte das Unrecht nicht mehr tragen, das ich dir
angethan habe.““
„„Es iſt kein Unrecht geſchehen, Mathilde,““
ſagte ich.“
„„Ja du biſt immer gut geweſen,““ antwortete ſie,
„„das wußte ich, darum bin ich gekommen. Du biſt
auch jezt gut, das ſagt dein liebes Auge, das noch ſo
ſchön iſt wie einſt, da es meine Wonne war. O ich
bitte dich, Guſtav, verzeihe mir.““
[342]
„„O theure Mathilde, ich habe dir nichts zu ver¬
zeihen, oder du haſt es mir auch,““ antwortete ich. „„Die
Erklärung liegt darin, daß du nicht zu ſehen vermoch¬
teſt, was zu ſehen war, und daß ich dann nicht näher
zu treten vermochte, als ich hätte näher treten ſollen.
In der Liebe liegt alles. Dein ſchmerzhaftes Zürnen
war die Liebe, und mein ſchmerzhaftes Zurückhalten
war auch die Liebe. In ihr liegt unſer Fehler, und
in ihr liegt unſer Lohn.““
„„Ja in der Liebe,““ erwiederte ſie, „„die wir nicht
ausrotten konnten. Guſtav, ich bin dir doch troz allem
treu geblieben, und habe nur dich allein geliebt. Viele
haben mich begehrt, ich wies ſie ab; man hat mir
einen Gatten gegeben, der gut aber fremd neben
mir lebte, ich kannte nur dich, die Blume meiner
Jugend, die nie verblüht iſt. Und du liebſt mich auch,
das ſagen die tauſend Roſen vor den Mauern deines
Hauſes, und es iſt ein Strafgericht für mich, daß ich
gerade zu der Zeit ihrer Blüthe gekommen bin.““
„„Rede nicht von Strafgerichten, Mathilde,““ er¬
wiederte ich, „„und weil alles Andere ſo iſt, ſo laſſe
die Vergangenheit, und ſage, welche deine Lage jezt
iſt. Kann ich dir in irgend etwas helfen?““
„„Nein, Guſtav,““ entgegnete ſie, „„die größte
[343] Hilfe iſt die, daß du du biſt. Meine Lage iſt ſehr
einfach. Der Vater und die Mutter ſind ſchon längſt
todt, der Gatte iſt ebenfalls vor Langem geſtorben,
und Alfred — du haſt ihn ja recht geliebt —““
„„Wie ich einen Sohn lieben würde,““ antwor¬
tete ich.“
„„Er iſt auch todt““ ſagte ſie, „„er hat kein Weib
kein Kind hinterlaſſen, das Haus in Heinbach und
das in der Stadt hat er noch bei ſeinen Lebzeiten ver¬
kauft. Ich bin im Beſize des Vermögens der Familie,
und lebe mit meinen Kindern einſam. Lieber Guſtav,
ich habe dir den Knaben gebracht — — wie wußteſt
du denn, daß er mein Sohn ſei?““
„„Ich habe deine ſchwarzen Augen und deine brau¬
nen Locken an ihm geſehen,““ antwortete ich.“
„„Ich habe dir den Knaben gebracht,““ ſagte ſie,
„„daß du ſäheſt, daß er iſt, wie dein Alfred — faſt
ſein Ebenbild — aber er hat niemanden, der ſo lieb
mit ihm umgeht, wie du mit Alfred umgegangen biſt,
der ihn ſo liebt, wie du Alfred geliebt haſt, und den er
wieder ſo lieben könnte, wie Alfred dich geliebt hat.““
„„Wie heißt der Knabe?““ fragte ich.“
„„Guſtav, wie du,““ antwortete ſie.“
„Ich konnte meine Thränen nicht zurückhalten.“
[344]
„„Mathilde,““ ſagte ich, „„ich habe nicht Weib
nicht Kind nicht Anverwandte. Du warſt das Ein¬
zige, was ich in meinem ganzen Leben beſaß, und be¬
hielt. Laſſe mir den Knaben, laſſe ihn bei mir, ich
will ihn lehren, ich will ihn erziehen.““
„„O mein Guſtav,““ rief ſie mit den ſchmerzlich¬
ſten Tönen der Rührung, „„wie wahr iſt mein Ge¬
fühl, das mich an dich den beſten der Menſchen wies,
als ich ein Kind war, und das mich nicht verlaſſen
hatte, ſo lange ich lebte.““
„Sie war aufgeſtanden, hatte ihr Haupt auf meine
Schulter gelegt, und weinte auf das Innigſte. Ich
konnte mich nicht mehr beherrſchen, meine Thränen
floſſen unaufhaltſam, ich ſchlang meine Arme um ſie,
und drückte ſie an mein Herz. Und ich weiß nicht, ob
je der heiße Kuß der Jugendliebe tiefer in die Seele
gedrungen, und zu größrer Höhe erhebend geweſen iſt
als dieſes verſpätete Umfaſſen der alten Leute, in denen
zwei Herzen zitterten, die von der tiefſten Liebe über¬
quollen. Was im Menſchen rein und herrlich iſt, bleibt
unverwüſtlich, und iſt ein Kleinod in allen Zeiten.“
„Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich ſie zu
ihrem Size, nahm den meinigen wieder ein, und
fragte: „‚Haſt du noch andere Kinder?““
[345]
„„Ein Mädchen, welches mehrere Jahre älter iſt
als der Knabe,““ erwiederte ſie, „„ich werde dir das¬
ſelbe auch bringen, es hat ebenfalls die ſchwarzen
Augen und die braunen Haare wie ich. Das Mäd¬
chen behalte ich, den Knaben laſſe, weil du ſo gütig
biſt, um dich leben, ſo lange du willſt. Er möge wer¬
den wie du. O ich hatte kaum geahnt, wie hier alles
werden wird.““
„„Mathilde, beruhige dich jezt,““ ſagte ich, „„ich
werde den Knaben holen, wir werden mit ihm freund¬
lich ſprechen.““
„Ich that es, trat mit dem Knaben an der Hand
herein, und wir ſprachen mit dem Kinde und abwech¬
ſelnd unter uns noch eine geraume Weile. Ich zeigte
Mathilden hierauf das Haus den Garten den Meier¬
hof und alles Andere. Gegen Abend fuhr ſie wieder
fort, um in Rohrberg zu übernachten. Den Knaben
ſollte ſie der Verabredung gemäß wieder mit ſich neh¬
men, ihn ausrüſten und vorbereiten, und ihn, wie ſie
es für gelegen halte, bringen. Wir blieben von dem
Augenblicke an in Briefwechſel, und als eine Zeit
vergangen war, brachte ſie mir Guſtav, der noch bei
mir iſt, ſie brachte mir auch Natalien, die damals im
erſten Aufblühen begriffen war. Eine größere Gleich¬
[346] heit als zwiſchen dieſem Kinde und dem Kinde Ma¬
thilde kann nicht mehr gedacht werden. Ich erſchrak,
als ich das Mädchen ſah. Ob in den Jahren, in
denen jezt Natalie iſt, Mathilde auch ihr gleich ge¬
weſen iſt, kann ich nicht ſagen; denn da war ich von
Mathilden ſchon getrennt.“
„Es begann nun eine ſehr liebliche Zeit. Mathilde
kam mit Natalien öfter, um uns zu beſuchen. Ich
machte ihr in den erſten Tagen den Vorſchlag, daß ich
die Roſen, wenn ſie ihr ſchmerzliche Erinnerungen
weckten, von dem Hauſe entfernen wolle. Sie ließ es
aber nicht zu, ſie ſagte, ſie ſeien ihr das Theuerſte ge¬
worden, und bilden den Schmuck dieſes Hauſes. Sie
hatte ſich zu einer ſolchen Milde und Ruhe geſtimmt,
wie ihr ſie jezt kennt, und dieſe Lage ihres Weſens
befeſtigte ſich immer mehr, je mehr ſich ihre äußeren
Verhältniſſe einer Gleichmäßigkeit zuneigten, und je
mehr ihr Inneres, ich darf es wohl ſagen, ſich be¬
glückt fühlte. Ein freundlicher Verkehr hatte ſich ent¬
wickelt, Guſtav hatte ſich an mich gewöhnt, ich an
ihn, und aus der Gewöhnung war Liebe entſtanden.
Mathilde gab Rath in meinem Hausweſen, ich in der
Verwaltung ihrer Angelegenheiten. Nataliens Er¬
ziehung wurde oft zwiſchen uns beſprochen, und
[347] Schritte gethan, die wir verabredet hatten. Und in
der gegenſeitigen Hilfleiſtung ſtärkte ſich die Neigung,
die wir gegen einander hatten, die nie verſchwunden
war, die ſich zu einem edlen tiefen freundlichen Ge¬
fühle gebildet hatte, und die nun offen und rechtmäßig
beſtehen konnte. Ich hatte wieder Jemanden, den
ich zu lieben vermochte, und Mathilde konnte ihr
Herz, das mir immer gehört hatte, unumwunden an
mein Wohl und an mein Weſen wenden. Nach einer
Zeit wurde der Sternenhof verkäuflich. Ich ſchlug
Mathilden den Kauf vor. Sie beſah das Gut. Seiner
Nachbarſchaft mit mir willen und ſchon ſeiner Linden
willen, die ſie an die großen Bäume auf dem Raſen¬
plaze vor dem Hauſe in Heinbach erinnerten, war ſie
zu dem Kaufe geneigt. Auch hatte der Sternenhof
überhaupt große Ähnlichkeit mit dem Hauſe in Hein¬
bach, war an ſich eine ſehr angenehme Beſizung, und
gab Mathilden für den Reſt ihres Lebens einen feſten
Punkt und einige Abrundung ihrer Verhältniſſe. Alſo
wurde er erworben. Um dieſelbe Zeit ließ ich in
meinem Hauſe die Wohnung für Mathilden und
Natalien herrichten. In dem Sternenhofe war viel
Arbeit, bis alles zur gefälligen Wohnlichkeit geordnet
war. Und auch nach dieſer Zeit wurde beſtändig
[348] geändert und umgewandelt, bis das Haus ſo war,
wie es jezt iſt. Und ſelber jezt, wie ihr wißt, wird dort
wie hier gebaut, befeſtigt, verſchönert, und es wird
wohl immer ſo fortgehen. Die Roſen, dieſes Merk¬
mal unſerer Trennung und Vereinigung, ſollten vor¬
zugsweiſe auf dem Asperhofe bleiben, weil es Ma¬
thilden lieb war, daß ſie dieſelben dort gefunden hatte.
Jede Roſenblüthezeit verlebte ſie bei mir, ſie liebte
dieſe Blumen außerordentlich, pflegte ſie, und konnte
ſich freuen, wenn ſie mir eine Art, die ich noch nicht
hatte, zubringen konnte. Dafür ließ ich ihr in ihrem
Schloſſe die Geräthe machen, die ihr ſo viel Ver¬
gnügen bereiten. Guſtav wurde von Tag zu Tage
trefflicher, und verſprach, einmal ein Mann zu wer¬
den, woran ſeines Gleichen Freude haben ſollten.
Natalie wurde nicht blos ſchön und herrlich, ſondern
ſie wurde auch im Umgange mit ihrer Mutter ſo rein
und edel, wie wenige ſind. Sie hatte das tiefe Ge¬
fühl ihrer Mutter erhalten; aber theils durch ihr
Weſen theils durch eine ſehr ſorgfältige Erziehung iſt
mehr Ruhe und Stettigkeit in ihr Daſein gekommen.
Zwiſchen Mathilden und mir war ein eigenes Ver¬
hältniß. Es gibt eine eheliche Liebe, die nach den
Tagen der feurigen gewitterartigen Liebe, die den
[349] Mann zu dem Weibe führt, als ſtille durchaus auf¬
richtige ſüſſe Freundſchaft auftritt, die über alles Lob
und über allen Tadel erhaben iſt, und die vielleicht
das Spiegelklarſte iſt, was menſchliche Verhältniſſe
aufzuweiſen haben. Dieſe Liebe trat ein. Sie iſt innig
ohne Selbſtſucht, freut ſich, mit dem Andern zu¬
ſammen zu ſein, ſucht ſeine Tage zu ſchmücken und
zu verlängern, iſt zart, und hat gleichſam keinen
irdiſchen Urſprung an ſich. Mathilde nimmt Antheil
an jeder meiner Beſtrebungen. Sie geht mit mir in
den Räumen meines Hauſes herum, iſt mit mir in
dem Garten, betrachtet die Blumen oder Gemüſe,
iſt in dem Meierhofe, und ſchaut ſeine Erträgniſſe an,
geht in das Schreinerhaus, und betrachtet, was wir
machen, und ſie betheiligt ſich an unſerer Kunſt und
ſelbſt an unſern wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen. Ich
ſehe in ihrem Hauſe nach, betrachte die Dinge im
Schloſſe im Meierhofe auf den Feldern, nehme Theil
an ihren Wünſchen und Meinungen, und ſchloß die
Erziehung und die Zukunft ihrer Kinder in mein Herz.
So leben wir in Glück und Stettigkeit gleichſam
einen Nachſommer ohne vorhergegangenen Sommer,
Meine Sammlungen vervollſtändigen ſich, die Bau¬
lichkeiten runden ſich immer mehr, ich habe Menſchen
[350] an mich gezogen, ich habe hier mehr gelernt als ſonſt
in meinem ganzen Leben, die Spielereien gehen ihren
Gang, und etwas Weniges nüze ich doch auch noch.“
Er ſchwieg nach dieſen Worten eine Weile, und
ich auch. Dann fuhr er wieder fort: „Ich habe das
alles mittheilen müſſen, damit ihr wißt, wie ich mit
der Familie in dem Sternenhofe zuſammenhänge, und
damit in dem Kreiſe, in welchen ihr nun auch tretet,
für euch Klarheit iſt. Die Kinder wiſſen die Verhält¬
niſſe im Allgemeinen, ein näheres Eingehen war für
ſie nicht ſo nöthig wie für euch. Ich wünſche nicht,
daß ihr gegen eure künftige Gattin Geheimniſſe habt,
ihr könnt Natalien mittheilen, was ich euch ſagte, ich
konnte es, wie ihr begreifet, nicht. Über Nataliens
Zukunft ſprach ich oft mit Mathilden. Sie ſollte einen
Gatten bekommen, den ſie aus tiefer Neigung nimmt.
Es ſollte die gegenſeitige größte Hochachtung vor¬
handen ſein. Durch beides ſollte ſie das Glück finden,
das ihre Mutter und ihren väterlichen Freund ge¬
mieden hat. Mathilde hat in Begleitung des alten
Raimund, der ſeitdem geſtorben iſt, große Reiſen
gemacht. Sie hat auf denſelben dauerndere Ruhe
geſucht, und auch gefunden. Sie hat ſie in der Be¬
trachtung der edelſten Kunſtwerke des menſchlichen Ge¬
[351] ſchlechtes und in bei Anſchauung mancher Völker und
ihres Treibens gefunden. Natalie iſt dadurch befe¬
ſtigt veredelt und geglättet worden. Manche junge
Männer hat ſie kennen gelernt, aber ſie hat nie ein
Zeichen einer Neigung gegeben. Sogenannte ſehr
glänzende Verbindungen ſind auf dieſe Weiſe für
ſie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge
gehabt, wenn ich unter unſeren jungen Männern
hätte wählen müſſen. Als ihr zum erſten Male an
dem Gitter meines Hauſes ſtandet, und ich euch ſah,
dachte ich: „das iſt vielleicht der Gatte für Natalien.“
Warum ich es dachte, weiß ich nicht. Später dachte
ich es wieder, wußte aber warum. Natalie ſah
euch, und liebte euch, ſo wie ihr ſie. Wir kannten
das Keimen der gegenſeitigen Neigung. Bei Na¬
talien trat ſie Anfangs in einem höheren Schwunge
ihres ganzen Weſens ſpäter in einer etwas ſchmerz¬
lichen Unruhe auf. In euch erſchloß ſie euer Herz
zu einer früheren Blüthe der Kunſt und zu einem Ein¬
gehen in die tieferen Schäze der Wiſſenſchaft. Wir
warteten auf die Entwicklung. Zu größerer Sicherheit
und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten
wir abſichtlich Natalien zwei Winter nicht in die
Stadt, daß ſie von euch getrennt ſei, ja ſie wurde
[352] von ihrer Mutter wieder auf größere Reiſen und in
größere Geſellſchaften gebracht. Ihre Gefühle aber
blieben beſtändig, und die Entwicklung trat ein. Wir
geben euch mit Freuden das Mädchen in eure Liebe
und in euren Schuz, ihr werdet ſie beglücken, und ſie
euch; denn ihr werdet euch nicht ändern, und ſie wird
ſich auch nicht ändern. Guſtav wird einmal den
Sternenhof und was dazu gehört, erhalten; denn
das Haus iſt Mathilden ſo lieb geworden, daß ſie
wünſcht, daß es ein Eigenthum ihrer Familie bleibe,
und daß die kommenden Geſchlechter das ehren, was
die erſte Beſizerin darin niedergelegt hat. Guſtav wird
es thun, das wiſſen wir ſchon, und ſeinen Nachfolgern
die gleiche Geſinnung einzupflanzen, wird wohl auch
ſein Beſtreben ſein. Natalie erhält von mir den
Asperhof mit allem, was in ihm iſt, nebſt meinen
Barſchaften. Ihr werdet mein Andenken hier nicht
verunehren.“
Mir traten die Thränen in die Augen, da er ſo
ſprach, und ich reichte ihn, meine Hand hinüber. Er
nahm ſie, und drückte ſie herzlich.
„Ihr könnt hier auf dem Asperhofe wohnen oder
in dem Sternenhofe oder bei euren Eltern. Überall
wird Plaz für euch zu machen ſein. Ihr könnt auch
[353] euern Aufenthalt abwechſelnd zwiſchen uns theilen,
und das wird wohl wahrſcheinlich der Fall ſein, bis
ſich alle unſere Verhältniſſe dem neuen Ereigniſſe
gemäß gerichtet haben. Die Schriften bezüglich der
Übertragung meines Vermögens an Natalien werden
ihr nach der Vermählung eingehändigt werden. So
lange ich lebe, erhält ſie einen Theil, den Reſt nach
meinem Tode. Wie ihr mit dem, was ſie jezt em¬
pfängt, gebaren ſollt, darüber wird euer Vater die beſte
Belehrung geben können. Er wird wohl mit mir
auch darüber ſprechen. Natalie erhält auch nach ihrer
Vermählung den Theil, der ihr aus dem Nachlaſſe
ihres Vaters Tarona gebührt.“
„Iſt Nataliens Name Tarona?“ fragte ich.
„Habt ihr das nicht gewußt?“ fragte er ſeiner¬
ſeits.
„Ich habe Mathilden immer die Frau von Ster¬
nenhof nennen gehört,“ antwortete ich, „bin mit Ma¬
thilden und Natalien nirgends zuſammen geweſen als
im Sternenhofe Asperhofe und Inghofe, und da
wurden beide ſtets bei ihrem Vornamen genannt.
Weitere Forſchungen ſtellte ich gar nie an.“
„Mathilde ließ geſchehen, daß ſie nach dem Ster¬
nenhofe geheißen wurde, der Name war ihr lieber.
Stifter, Nachſommer. III. 23[354] So mag es wohl gekommen ſein, daß ihr keinen an¬
dern gehört habt. Für Guſtav wird die Erlaubniß
zur Führung dieſes Namens nachgeſucht werden.“
„Aber die Tarona, erzählte man mir, ſei gerade
in jenem Winter, an welchem ich Natalien in der
Loge geſehen habe, nicht in der Stadt geweſen,“ ſagte
ich, und dachte an Preporn, welcher mir dieſe That¬
ſache mitgetheilt hatte.
„Ganz richtig,“ erwiederte mein Gaſtfreund, „wir
ſind auch nur zur Aufführung des König Lear hin¬
gefahren. Ich war in der Loge hinter Natalien, habe
euch aber nicht geſehen.“
„Ich euch auch nicht,“ antwortete ich.
„Natalie hat uns von dem jungen Manne erzählt,
der ihr im Schauſpielhauſe aufgefallen ſei,“ erwie¬
derte er, „aber erſt nach langer Zeit konnte ſie uns
eröffnen, daß ihr es geweſen ſeid.“
„Habe ich euch nicht einmal im Winter in der
Stadt nach der Wiedergeneſung des Kaiſers mit euren
Ehrenzeichen geſchmückt fahren geſehen?“ fragte ich.
„Das iſt möglich,“ antwortete er, „ich war in jener
Zeit in der Stadt und an dem Hofe.“
„Nun mein ſehr lieber junger Freund,“ ſagte er
nach einer Weile, „ich habe euch von meinem Leben
[355] erzählt, da ihr einer der unſeren werden ſollt, ich habe
zu euch von meinem tiefſten Herzen geredet, und jezt
enden wir dieſes Geſpräch.“
„Ich bin euch Dank ſchuldig,“ antwortete ich,
„allein all das Gehörte iſt noch zu mächtig und neu
in mir, als daß ich jezt die Worte des Dankes finden
könnte. Nur eins berührt mich faſt wie ein Schmerz,
daß ihr mit Mathilden nach eurer Wiedervereinigung
nicht in einen nähern Bund getreten ſeid.“
Der Greis erröthete bei dieſen Worten, er errö¬
thete ſo tief und zugleich ſo ſchön, wie ich es nie
an ihm geſehen hatte.
„Die Zeit war vorüber,“ antwortete er, „das Ver¬
hältniß wäre nicht mehr ſo ſchön geweſen, und Ma¬
thilde hat es auch wohl nie gewünſcht.“
Er war ſchon früher aufgeſtanden, jezt reichte er
mir die Hand, drückte die meine herzlich, und verließ
das Zimmer.
Ich blieb eine geraume Weile ſtehen, und ſuchte
meine Gedanken zur Sammlung zu bringen. Das
wäre mir nie zu Sinne gekommen, als ich zum erſten
Male zu dieſem Hauſe heraufſtieg, und des andern
Tages ſeinen Inhalt ſah, daß alles ſo kommen würde,
wie es kam, und daß das alles zu meinem Eigen¬
23 *[356] thume beſtimmt ſei. Auch begriff ich jezt, weßhalb
er meiſtens, wenn er von ſeinem Beſize ſprach, das
Wort „unſer“ gebrauchte. Er bezog es ſchon auf
Mathilden und ihre Kinder.
Nachdem ich noch eine Zeit in meiner Wohnung
verweilt hatte, verließ ich ſie, um in friſcher Luft einen
Spaziergang zu machen, und noch das Gehörte in
mir ausklingen zu laſſen.
5.
Der Abſchluß.
Am nächſten Tage ging ich im Laufe des Vor¬
mittages zu einer Stunde, an welcher ich meinen
Gaſtfreund weniger beſchäftigt wußte, in gewähltem
Anzuge in ſeine Stube, und dankte ihm innig für das
Vertrauen, welches er mir geſchenkt habe, und für die
Achtung, welche er mir dadurch erweiſe, daß er mich
würdig erachte, Nataliens Gatte zu werden.
„Was das Vertrauen anbelangt,“ erwiederte er,
„ſo iſt es natürlich, daß man nicht jeden, der uns
ferne ſteht, in unſere innerſten Angelegenheiten ein¬
weiht; aber eben ſo natürlich iſt es, daß derjenige,
der für die Zukunft einen Theil, ich möchte ſagen,
unſerer Familie ausmachen wird, auch alles wiſſe,
was dieſe Familie betrifft. Ich habe euch das Weſent¬
[358] lichſte geſagt, einzelne kleine Umſtände, die der Vor¬
ſtellungskraft nicht immer gegenwärtig ſind, ändern
wohl an der Sachlage nichts. Was die Hochachtung
anbelangt, die darin liegt, daß ich euch zu Nata¬
liens Gatten geeignet erachte, ſo habt ihr vor allen
Männern dieſer Erde den unermeßlichen Vorzug,
daß euch Natalie liebt, und euch und keinen an¬
dern will; aber auch troz dieſes Vorzuges würden
Mathilde und ich, dem man hierin ein Recht einge¬
räumt hat, nie eingewilligt haben, wenn uns euer
Weſen nicht die Zuverſicht eingeflößt hätte, daß da
ein dauernd glückliches Familienband geknüpft werden
könne. Was die Hochachtung anbelangt, die ich euch
abgeſehen von dieſer Angelegenheit ſchuldig bin, ſo
habe ich meiner Meinung nach euch die Beweiſe der¬
ſelben gegeben. Wenn ich auch gedacht habe, ihr
dürftet Nataliens künftiger Gatte ſein, ſo war der
Eintritt dieſes Ereigniſſes ſo unbeſtimmt, da es ja
auf die Entſtehung einer gegenſeitigen Neigung an¬
kam, daß der Gedanke daran auf mein Benehmen
gegen euch keinen Einfluß haben konnte, ja im Ver¬
laufe der Zeiten war der Gedanke erſt der Sohn mei¬
ner Meinung von euch.“
„Ihr habt mir wirklich ſo viele Beweiſe eures
[359] Wohlwollens und eurer Schonung gegeben,“ antwor¬
tete ich, „daß ich gar nicht weiß, wie ich ſie verdiene;
denn Vorzüge von was immer für einer Art ſind gar
nicht an mir.“
„Das Urtheil über den Grund, woraus Achtung
und Neigung oder Mißachtung und Abneigung ent¬
ſteht, muß immer andern überlaſſen werden; denn
wenn man zulezt auch annähernd weiß, was man in
einem Fache geleiſtet hat, wenn man ſich auch ſeines
guten Willens im Wandel bewußt iſt, ſo kennt man
doch alle Abſchattungen ſeines Weſens nicht, in wie
ferne ſie gegen andere gerichtet ſind, man kennt ſie
nur in der Richtung gegen ſich ſelbſt, und beide Rich¬
tungen ſind ſehr verſchieden. Übrigens, mein lieber
Sohn, wenn es auch ganz in der Ordnung iſt, daß
man in der Geſellſchaft der Menſchen einen gewiſſen
Anſtand und Abſtand in Kleidern und ſonſtigem Be¬
nehmen zeigt, ſo wäre es in der eigenen Familie eine
Laſt. Komme alſo in Zukunft in deinen Alltagsge¬
wändern zu mir. Und wenn ich auch kein Verwandter
deiner Braut bin, ſo betrachte mich als einen ſolchen,
wie etwa als ihren Pflegevater. Es wird ſchon alles
recht werden, es wird ſchon alles gut werden.“
Er hatte bei dieſen Worten die Hand auf mein
[360] Haupt gelegt, ſah mich an, und in ſeinen Augen ſtan¬
den Thränen.
Ich hatte nie im Verkehre mit mir die Augen die¬
ſes Greiſes naß werden geſehen; ich war daher ſehr
erſchüttert, und ſagte: „So erlaubt mir, daß ich in
dieſer ernſten Stunde auch meinen Dank für das aus¬
ſpreche, was ich in dieſem Hauſe geworden bin; denn
wenn ich irgend etwas bin, ſo bin ich es hier gewor¬
den, und gewährt mir in dieſer Stunde auch eine
Bitte, die mir ſehr am Herzen liegt: erlaubt, daß ich
eure ehrwürdige Hand küſſe.“
„Nun, nur dieſes eine Mal,“ erwiederte er, „oder
höchſtens noch einmal, wenn du mit Natalien, die
ein Kleinod meines Herzens iſt, von dem Altare
gehſt.“
Ich faßte ſeine Hand und drückte ſie an meine
Lippen; er legte aber die andere um meinen Nacken,
und drückte mich an ſein Herz. Ich konnte vor Rüh¬
rung nicht ſprechen.
„Bleibe noch eine Weile in dieſem Hauſe,“ ſagte
er ſpäter, „dann gehe zu den Deinigen und leiſte ihnen
Geſellſchaft. Dein Vater bedarf deiner Perſon auch.“
„Darf ich den Meinigen eure Mittheilung erzäh¬
len?“ fragte ich.
[361]
„Ihr müßt es ſogar thun,“ antwortete er, „denn
eure Eltern haben ein Recht, zu wiſſen, in welche Ge¬
ſellſchaft ihr Sohn durch Schließung eines ſehr hei¬
ligen Bundes tritt, und ſie haben auch ein Recht zu
wünſchen, daß ihr Sohn nicht Geheimniſſe vor ihnen
habe. Ich werde übrigens wohl ſelber mit eurem
Vater über dieſes und viele andere Dinge ſprechen.“
Wir beurlaubten uns hierauf, und ich verließ das
Zimmer.
Den Reſt des Vormittages verbrachte ich mit Ab¬
faſſung eines Briefes an meine Eltern.
Am Nachmittage ſuchte ich Guſtav auf, und er
erhielt die Erlaubniß, mit mir einen weiteren Weg
in der Gegend zu machen. Wir kamen in der Däm¬
merung zurück, und er mußte die Zeit, welche er am
Tage verloren hatte, bei der Lampe nachholen.
Unter Arbeiten in meinen Papieren, in welche
ich einige Ordnung zu bringen ſuchte, im Um¬
gange mit meinem Gaſtfreunde, der mir leutſelig
manche Zeit ſchenkte, unter manchem Beſuche im
Schreinerhauſe, wo Euſtach ſehr beſchäftigt war,
oder bei ſeinem Bruder Roland, der jeden lichten
Augenblick des Tages zu ſeinem Bilde benüzte, und
endlich unter manchem weiten Gange in der Umge¬
[362] bung, da dieſer Winter der erſte war, den ich ſo tief
im Lande zubrachte, verging noch die Zeit bis gegen
die Mitte des Hornung. Ich nahm nun Abſchied,
ſendete meine Sachen auf die Poſt nach Rohrberg und
ging zu Fuße nach, harrte dort der Ankunft des Wa¬
gens aus dem Weſten, erhielt, da er gekommen war,
einen Plaz in ihm, und fuhr meiner Heimath zu.
Ich wurde wie immer ſehr freudig von den Mei¬
nigen gegrüßt, und mußte ihnen von der Winterreiſe
im Hochgebirge erzählen. Ich that es, und erzählte
ihnen in den erſten Tagen auch, was mir mein Gaſt¬
freund mitgetheilt hatte. Es war ihnen bisher unbe¬
kannt geweſen.
„Ich habe Riſach oft nennen gehört,“ ſagte mein
Vater, „und ſtets war der Ausdruck der Hochachtung
mit der Nennung ſeines Namens verbunden. Von
der Familie, welche Heinbach beſaß, habe ich nur
Alfred flüchtig gekannt. Mit Tarona war ich einmal
in einer entfernten Geſchäftsverbindung geſtanden.“
Die Jugendbeziehungen meines Gaſtfreundes zu
Mathilden mußten ſehr geheim gehalten worden ſein,
da weder je der Vater noch irgend jemand aus ſeiner
Bekanntſchaft von dieſer Sache etwas gehört hatte,
obwohl über ähnliche Gegenſtände die Sprechluſt
[363] am regeſten zu ſein pflegt. Daß meine Mitthei¬
lungen auf meine Angehörigen nach dem Bunde
mit Natalien den größten Eindruck machten, iſt be¬
greiflich. Deßohngeachtet hatte ich doch auch dem
Vater etwas gebracht, was ihn ſehr freute. Ich war
in den lezten Tagen meines Aufenthaltes in dem Ro¬
ſenhauſe noch bei dem Gärtner geweſen, und hatte
ihn erſucht, mir die Vorſchrift zur Bereitung des
Bindemittels an den Gläſern des Gewächshauſes
zu verſchaffen, wodurch das Hineinziehen des Waſ¬
ſers zwiſchen die Gläſer und das dadurch bewirkte
Herabtropfen verhindert wird. Er hatte die Vorſchrift
wohl nicht ſelber, ging aber zu meinem Gaſtfreunde,
und durch dieſen erhielt ich ſie. Ich erzählte meinem
Vater von der Sache, und übergab ihm die Anlei¬
tung zur Bereitung.
„Das wird das für die Pflanzen ſo ſchädliche
Herabtropfen des Winterwaſſers in unſerem hieſigen
Gewächshauſe alſo für die Zukunft verhindern,“ ſagte
er, „noch mehr freue ich mich aber, es gleich neu in
den neuen Gewächshäuſern anwenden zu können,
welche neben dem Landhauſe ſtehen werden, das ich
bauen werde.“
[364]
Die Mutter lächelte.
„Bereitet euch einſtweilen auf die Reiſe in den
Sternenhof und in das Roſenhaus vor,“ ſagte der
Vater, „alles andere iſt geſchehen, der Schritt, der
nun zu thun iſt, liegt uns ob. In den erſten Tagen
des Frühlings werden wir hinreiſen und ich werde
für meinen Sohn werben. Ihr Weiber bereitet euch
gerne auf ſolche Dinge vor, thut es, und beeilt euch,
ihr habt nicht lange Zeiten vor euch, zwei Monate
und etwas darüber. Was mir bis dahin obliegt,
wird nicht auf ſich warten laſſen.“
Daß dieſe Maßregel Beifall hatte, ging aus der
Sachlage hervor; die Zeit zur Vorbereitung aber
wollte man etwas kurz nennen. Der Vater ſagte,
es dürfe nicht das Geringſte zugegeben werden, weil
man es ſonſt der Wichtigkeit des Verhältniſſes nähme.
Das war einleuchtend.
Es ging nun an ein Arbeiten und Beſtellen, und
kein Tag war, dem nicht ſeine Laſt zugetheilt wurde.
Die Mutter traf auch Vorbereitungen für den Fall,
daß die neuen Ehegatten in ihrem Hauſe wohnen
würden. Der Vater ſagte ihr zwar, daß meiner Ver¬
bindung noch meine große Reiſe vorangehen werde;
[365] allein ſie widerlegte ihn mit der Bemerkung, daß es
keinen Schaden bringe, wenn manches früher fertig
ſei, als man es eben brauche. Er ließ ſofort ihrem
hausmütterlichen Sinne ſeinen Lauf.
Zu Ende des Märzes brachte der Vater einen
ſehr ſchönen Wagen in das Haus. Es war ein
Reiſewagen für vier Perſonen. Er hatte den Wagen
nach ſeinen eigenen Angaben machen laſſen.
„Wir müſſen unſere Freunde ehren,“ ſagte er,
„wir müſſen uns ſelber ehren, und wer kann wiſ¬
ſen, ob wir den Wagen nicht noch öfter brauchen
werden.“
Er verlangte, daß man ihn genau beſehe, und
in Hinſicht ſeiner Bequemlichkeit beſonders für Reiſe¬
gegenſtände von Frauen prüfe. Es geſchah, und man
mußte die Einrichtung des Wagens loben. Es war
Feſtigkeit mit Leichtigkeit verbunden und bei einer
gefälligen Geſtalt both er Räumlichkeit für alle nöthi¬
gen Dinge.
„Ich bin nun fertig,“ ſagte er, „ſorgt, daß eure
Vorbereitungen nicht zu lange dauern.“
Aber auch die Frauen waren zu der rechten Zeit
in Bereitſchaft. Der Vater hatte den Beginn der
[366] Baumblüthe und des Blätterknoſpens als Reiſezeit
beſtimmt, und zu dieſer Zeit fuhren wir auch fort.
Ich fuhr nun einen Weg, den ich ſo oft allein
oder mit Fremden in einem Wagen zurückgelegt hatte,
mit allen meinen Angehörigen. Wir fuhren mit
Pferden, die wir uns auf jeder Poſt geben ließen;
allein wir fuhren zur Bequemlichkeit der Mutter und
Klotildens, weßhalb wir uns oft länger an einem
Orte aufhielten, und kleine Tagereiſen machten. Ein
ſehr ſchönes Wetter und eine Fülle von weißen und
rothſchimmernden Blüthen begleitete uns.
Am vierten Tage vormittags fuhren wir in den,
Sternenhofe ein. Mathilde war von unſerer Ankunft
unterrichtet worden. Wir hatten das Wagendach
zurückgelegt, und alle Blicke meiner Angehörigen
hafteten ſchon von weiter Entfernung her auf dem
Blüthenhügel, auf dem das Schloß ſtand, ſie richte¬
ten ſich jezt auf die Geſtalt des Bauwerkes, endlich
auf das Sternenſchild über dem Thore, auf die Wöl¬
bung des Thorweges, und zulezt auf Mathilden und
Natalien, die da ſtanden, um uns zu empfangen.
Wir ſtiegen aus. Natalie wechſelte die Farben zwi¬
ſchen Blaß und Purpurroth. Man wartete nicht wei¬
ter mit dem Gruße. Klotilde und Natalie lagen ſich
[367] an dem Halſe, und weinten. Meine ehrwürdige Mut¬
ter war von Mathilden umfaßt und an das Herz ge¬
drückt. Dann wurde der Vater von ihr anmuthsvoll
und herzlich gegrüßt, ſie reichte ihm beide Hände,
und ſah ihn mit ihren Augen, die noch immer ſo
ſchön waren, auf das Innigſte an. Natalie hatte
indeſſen die Hand meiner Mutter gefaßt, und ſie
geküßt. Dieſe gab den Kuß auf die Stirne des ſchö¬
nen Mädchens zurück. Der Vater wollte wahrſchein¬
lich etwas Heiteres oder gar Scherzhaftes zu Natalien
ſagen; aber als er ſie näher anblickte, wurde er ſehr
ernſt und beinahe ſcheu, er grüßte ſie anſtändig und
ſehr fein. Wahrſcheinlich hatte ihn ihre Schönheit
überraſcht, oder er erinnerte ſich, wie es auch mir
ergangen war, an die Pracht ſeiner geſchnittenen
Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das
Herz gedrückt. Auf mich dachte beinahe niemand.
Ob dieſer Empfang der ſtrengen Umgangsſitte oder
irgend einer Rangordnung gemäß war, darnach fragte
niemand. Wir gingen unter einander gemiſcht die
Treppe hinan, und wurden in Mathildens Geſell¬
ſchaftszimmer geführt. Dort lieh man den Grüßen
erſt lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck.
„So lange haben wir uns gekannt, und erſt jezt
[368] ſehen wir uns,“ ſagte Mathilde zu meinen Eltern,
als ſie dieſelben zum Niederſizen auf ihre Pläze ver¬
anlaßt hatte.
„Es war ein Wunſch von vielen Jahren,“ entgeg¬
nete mein Vater, „daß wir die Menſchen ſähen, die
gegen meinen Sohn ſo wohlwollend waren, und die
ſein Weſen ſo ſehr gehoben hatten.“
„Das iſt nun Natalie, meine theure Klotilde,“
ſagte ich, indem ich beide Mädchen einander vorſtellte,
„das iſt Natalie, die ich ſo ſehr liebe, ſo ſehr wie dich
ſelbſt.“
„Nein mehr als mich, und ſo iſt es auch recht,“
erwiederte Klotilde.
„Sei meine Schweſter,“ ſagte Natalie, „ich werde
dich lieben wie eine Schweſter, ich werde dich lieben,
ſo ſehr es nur mein Herz vermag.“
„Ich nenne dich auch du,“ erwiederte Klotilde, „ich
liebe meinen Bruder wie mein eigenes Herz, und
werde dich auch ſo lieben.“
Die beiden Mädchen umarmten ſich wieder, und
küßten ſich wieder.
Als wir uns um den Tiſch geſezt hatten, ſagte
ich zu Natalien: „Und mich grüßt ihr beinahe gar
nicht.“
[369]
„Ihr wißt es ja doch,“ erwiederte ſie, indem ſie
mich freundlich anſah.
Das Geſpräch dauerte nun allgemeiner über den¬
ſelben Gegenſtand fort.
Die zwei Frauen konnten ſich kaum genug betrach¬
ten, und nahmen ſich immer wieder bei den Händen.
Als man endlich auf andere Gegenſtände über¬
gegangen war, und über die Reiſe und ihre Annehm¬
lichkeiten und Unannehmlichkeiten geſprochen hatte,
ſagte mein Vater, daß wir noch ſämtlich in Reiſe¬
kleidern ſeien, daß wir uns verabſchieden müßten,
und er fragte, wann er die Ehre haben könnte, ſich
Mathilden wieder vorſtellen zu dürfen.
„Nicht Vorſtellung,“ erwiederte ſie, „Beſuch, wann
ihr immer wollt.“
„Alſo in zwei Stunden,“ entgegnete mein Vater.
Wir gingen in unſere Zimmer, und mein Vater
wies uns an, uns in Feſtkleider zu kleiden. Nach
zwei Stunden ging er allein mit der Mutter, beide wie
an einem hohen Feſttage geſchmückt, zu Mathilden,
welche ſie zu ſprechen verlangten. Mathilde empfing
ſie in dem großen Geſellſchaftszimmer, und mein Va¬
ter warb um die Hand Nataliens für mich.
Nach wenigen Augenblicken wurden Natalie Klo¬
Stifter, Nachſommer. III. 24[370] tilde und ich hineingerufen, und Mathilde ſagte: „Der
Herr und die Frau Drendorf haben für ihren Sohn
Heinrich um deine Hand geworben, Natalie.”
Natalie, welche in einem ſo feſtlichen Kleide da
ſtand, wie ich ſie nie geſehen hatte, weßhalb ſie mir
beinahe fremd erſchien, blickte mich mit Thränen in
den Augen an. Ich ging auf ſie zu, faßte ſie an der
Hand, führte ſie vor ihre Mutter, und wir ſprachen
einige Worte des Dankes. Sie entgegnete ſehr freund¬
lich. Dann gingen wir zu meinen Eltern, und dank¬
ten ihnen gleichfalls, die gleichfalls freundlich ant¬
worteten. Klotilde war in ihrem Feſtanzuge ſehr be¬
fangen, was auch faſt bei allen andern der Fall war.
Mein Vater löſte die Stimmung, indem er zu einem
Tiſche ſchritt, auf welchen er ein Käſtchen niederge¬
ſtellt hatte. Er nahm das Käſtchen, näherte ſich Na¬
talien, und ſagte: „Liebe Braut und künftige Tochter,
hier bringe ich ein kleines Geſchenk; aber es iſt eine
Bedingung daran geknüpft. Ihr ſeht, daß ein Faden
um das Schloß liegt, und daß der Faden ein Siegel
trägt. Schneidet den Faden nicht eher ab als nach
eurer Vermählung. Den Grund meiner Bitte werdet
ihr dann auch ſehen. Wollt ihr ſie freundlich er¬
füllen?”
[371]
„Ich danke für eure Güte innig,“ antwortete Na¬
talie, „und ich werde die Bedingung erfüllen.“
Sie empfing das Käſtchen aus der Hand des
Vaters. Auch die Mutter und Klotilde gaben ihr
Geſchenke, ſo wie Mathilde und Natalie Gegenſtände
aus den benachbarten Zimmern herbeiholten, um die
Mutter Klotilden und den Vater zu beſchenken. Na¬
talie und ich gaben uns nichts. Dann ſezten wir uns
um einen Tiſch nieder, und es begannen herzliche Ge¬
ſpräche. Am Schluſſe ſagte Mathilde: „So wäre
denn der Bund, den die Herzen unſerer Kinder ge¬
ſchloſſen haben, auch durch die Beiſtimmung der El¬
tern bekräftigt. Der Tag der ewigen Verbindung
mag nach ihrem Wunſche und unſerer Meinung feſt¬
geſezt werden. Wir wollen darüber jezt nicht ſprechen,
ſondern es der Berathung und Vereinbarung anheim¬
geben.“
Nach dieſen Worten trennten wir uns, und bega¬
ben uns in unſere Zimmer.
Die feſtlichen Kleider wurden nun abgelegt, und
es begann das Beſuchsleben, wie es in ähnlichen Ver¬
hältniſſen, und namentlich, wenn man in ſo nahe
Beziehungen getreten iſt, der Fall zu ſein pflegt.
Mathilde führte nach und nach den Vater und die
24 *[372] Mutter in alle Theile des Schloſſes des Gartens des
Meierhofes der Felder der Wieſen und der Wälder.
Sie zeigte ihnen alle Zimmer des Hauſes: ihre
Wohnzimmer die Zimmer mit den alten Geräthen,
ſie zeigte ihnen die Bilder und was ſich nur immer
in dem Schloſſe befand. Sie ging mit ihnen in den
Garten: zu den Linden zu allen Obſtbäumen zu den
Blumenbeeten in die Grotte mit der Brunnennimphe
auf die Eppichwand und in jede Anlage, die in dem
Garten enthalten war. Ebenſo wurde alles, was ſich
auf die Landwirtſchaft bezog, auf das Genaueſte
durchgenommen. Gegen den Abend, wenn die Son¬
nenſtrahlen milde auf die blühende Erde leuchteten,
wurde ein gemeinſchaftlicher Gang durch irgend einen
Theil der Gegend gemacht. Wiederholt gingen wir
die ganze Länge des Berührweges durch, und die El¬
tern fanden Gefallen an dieſer Bahn, die eine freie
und rüſtige Bewegung in trüben Tagen ſo wie im
Winter auf eine angenehme Weiſe geſtatte. Der Va¬
ter konnte über alles der Freude und des Lobes kein
Ende finden. Mathilde und die Mutter ſprachen oft
lange und immer ſehr freundlich mit einander, ſie
tauſchten wahrſcheinlich ihre Anſichten über Häus¬
lichkeit und Verwaltung des Zugehörigen aus. Na¬
[373] talie und Klotilde waren faſt unzertrennlich, ſie ſchloſ¬
ſen ſich an einander an, bezeigten ſich jede Innigkeit,
und oft, wenn wir alle in das Schloß zurückgekehrt
waren, gingen ſie noch auf einem einſamen Wege des
Gartens oder auf einem Pfade des nächſtgelegenen
Feldes herum.
„Siehſt du, Klotilde,“ ſagte ich, „ich konnte dir
kein Bild von Natalien bringen, weil keins da war,
jezt haſt du ſie ſelber.“
„Um wie viel lieber als jedes Bild,“ antwortete
ſie, „aber ein Bild muß doch ausgeführt werden, da¬
mit man ſpäter wiſſe, wie ſie in dieſen Jahren aus¬
geſehen habe.“
Acht Tage entließ uns Mathilde nicht von dem
Sternenhofe, und jeder Tag fand ſeine freundliche
Beſchäftigung. Am neunten wurden die Anſtalten
gemacht, daß wir alle in das Roſenhaus abreiſen
konnten. Mathilde und die Eltern fuhren in unſerem
Reiſewagen. Natalie Klotilde und ich in dem Wagen
Mathildens.
Als wir den Hügel hinanfuhren, konnte mein
Vater ſeine Neugierde kaum mehr bemeiſtern. Ich ſah
ihn öfter in dem Wagen aufſtehen, und herumblicken.
Es war ein wolkig heiterer Tag, Strichregen gingen
[374] auf entferntere Wälder nieder, Sonnenblicke ſchnitten
goldne Bilder auf den Hügeln und Ebenen aus, und
das Haus meines Gaſtfreundes ſchaute ſanft von
ſeiner Anhöhe hernieder. Obwohl, da wir von der
Stadt abfuhren, dort bereits alles in Blüthe ſtand,
war in der Umgebung des Roſenhauſes troz der
Zeit, die wir auf der Reiſe und in dem Hauſe Ma¬
thildens zugebracht hatten, doch noch die Baumblüthe
nicht vorüber, ſondern ſie war erſt in ihrer vollen
Entfaltung. Denn das Land hier lag um ein Be¬
deutendes höher als die Stadt. Ein Theil des Win¬
tergetreides ſtand auf dem Hügel in üppigſtem Wuchſe,
ein Theil ſchickte ſich dazu an, das Sommergetreide
keimte hie und da, und hie und da war noch die
braune Erde zu ſehen.
Mein Gaſtfreund hatte durch Mathilden Nach¬
richt von unſerer Ankunft erhalten. Als wir bei dem
Gitter anfuhren, ſtand er mit Guſtav Euſtach Roland
mit der Haushälterin Katharine mit dem Hausver¬
walter mit dem Gärtner und anderen Leuten auf dem
Sandplaze vor dem Gitter, um uns zu empfangen.
Wir ſtiegen aus, und da ſtanden ſich nun mein Vater
und mein Gaſtfreund gegenüber. Der leztere hatte
ſchneeweiße Haare mein Vater etwas minder weiße,
[375] aber liebe ehrwürdige Männer waren beide. Sie
reichten ſich die Hand, ſahen ſich einen Augenblick
an, und ſchüttelten ſich dann ihre Rechte herzlich.
„Seid mir gegrüßt, ſeid mir tauſendmal gegrüßt
an meiner Schwelle,“ ſagte mein Gaſtfreund, „ſelten
iſt hier einer eingegangen, der ſo willkommen geweſen
wäre wie ihr, und ſelten habe ich mich nach jemanden
ſo geſehnt wie nach euch. Wir ſind nun ſo lange in
Verbindung und ich habe euch ſchon ſo lange in der
Liebe eures Sohnes geliebt.“
„Ich euch in der Liebe eures jungen Freundes,“
erwiederte mein Vater, „es iſt einer meiner liebſten
Tage, der mich unter dieſes Dach bringt. Ich komme
in das Haus des Mannes, den ich durch meinen
Sohn kenne, obgleich ich auch den Staatsmann hoch¬
achten muß. Ich komme mit der Schuld des Dankes
belaſtet. Ihr habt mich ausgezeichnet, ehe ich es
nur im geringſten Maße um euch verdient hatte.“
„Laßt das jezt, es machte mir ja ſelber Freude,“
entgegnete mein Gaſtfreund, „aber ſeht, ſo begeht
man Fehler, wenn man von einer Leidenſchaft befan¬
gen iſt, beſonders, wenn zwei alte Alterthumsfreunde
zuſammentreffen. Ich habe verſäumt, eurer verehrten
Gattin meinen erſten Gruß darzubringen, wie es
[376] Pflicht geweſen wär. Aber theure Frau, ihr werdet
es, wenn auch nicht ganz entſchuldigen, doch als ein
geringeres Vergehen anſehen, als eine andere Frau,
da ihr euren Gatten und ſeine Beziehungen zu ſeinen
Schäzen kennt. Seid mir gegrüßt, und wenn ich
ſage, daß ich euch nicht minder als euren Gatten hie¬
her gewünſcht habe, ſo ſage ich die Wahrheit, und
euer eigener Sohn iſt gegen euch Zeuge, wenn ihr
meine Worte bezweifeln wolltet. Es freut mich, euch
in mein Haus führen zu können, erlaubt, daß ich
eure Hand faſſe. Mathilde Natalie Heinrich, ihr
müſſet heute etwas Nebenſache ſein, und dieſes Fräu¬
lein, das ich wohl ſchon als Klotilde kenne, wird
erlauben, daß ich ſie auch ein wenig liebe und um
Gegenneigung bitte. Guſtav, führe das Fräulein.“
„Gönnt mir die Gnade, euch führen zu dürfen,“
ſagte Guſtav zu Klotilden.
Sie ſah den Jüngling ſanft an, und ſagte: „Ich
bitte um die Gefälligkeit.“
„Ehe wir gehen,“ ſagte mein Gaſtfreund noch,
„ſehet noch hier meine zwei ausgezeichneten Künſtler
Euſtach und Roland, die mit mir in unſerem Beſize
leben, den ich Sorgenfrei nennen würde, wenn er nicht
voll von Sorgen ſteckte. Sie wollen euch vor dem
[377] Hauſe begrüßen. Seht da auch meine Katharine, die
das Haus zuſammenhält, und dann meinen Haus¬
verwalter und Gärtner und andere, welche die Luſt
des Empfanges nicht miſſen wollten.“
Mein Vater reichte jedem die Hand, und die Mut¬
ter und Klotilde verbeugten ſich auf das Artigſte.
Hierauf nahm mein Gaſtfreund den Arm meiner
Mutter mein Vater den Mathildens ich Nataliens
Guſtav Klotildens und ſo gingen wir bei dem Eiſen¬
gitter in den Garten und in das Haus. Die Wägen
fuhren in den Meierhof. In dem Hauſe wurden wir
gleich in unſere Zimmer geführt. Mathilde und Na¬
talie gingen in ihre gewöhnliche Wohnung. Für mei¬
nen Vater und für meine Mutter war ein Aufenthalt
von drei Zimmern eigens gerichtet worden. Sie hat¬
ten ſehr ſchöne Wandbekleidungen und vorzügliche
Geräthe. Für alle und jede Bequemlichkeit war ge¬
ſorgt. Klotilde hatte ein zierliches blaßblaues Zim¬
merchen daneben. Ich ging von der Wohnung meiner
Eltern in meine Zimmer, welche die gewöhnlichen
waren. Guſtav beſuchte mich hier in dem erſten Au¬
genblicke, und umſchlang mich mit der größten Freude
und Liebe.
„Nun iſt doch alles ſicher und gewiß,“ ſagte er.
[378]
„Sicher und gewiß,“ entgegnete ich, „wenn Gott
ſein Vollbringen gibt. Jezt biſt du mein theurer viel¬
geliebter Bruder in der That, wenn du es auch der
Faſſung nach erſt in einiger Zeit wirſt.“
„Darf ich auch du ſagen?“ fragte er.
„Von ganzem Herzen,“ erwiederte ich.
„Alſo du, mein geliebter mein theurer Bruder,“
ſagte er.
„Auf immer, ſo lange wir leben, was auch ſonſt
für Zwiſchenfälle kommen mögen,“ ſagte ich.
„Auf immer,“ antwortete er, „aber jezt kleide dich
ſchnell um, damit du nicht zu ſpät kommſt. Man wird
in dem Beſuchſaale zu ebener Erde noch einmal zu
einem Gruſſe zuſammenkommen, ehe man zum Mit¬
tageſſen geht. Ich muß mich ſelber zurecht richten.“
Es war ſo, wie Guſtav geſagt hatte, und es war
an alle die Einladung ergangen. Er verließ mich,
und ich kleidete mich um.
Wir verſammelten uns in dem Beſuchzimmer zu
ebener Erde, in welchem ich, da ich das erſte Mal in
dieſem Hauſe war, allein gewartet hatte, während
mein Gaſtfreund gegangen war, ein Mittageſſen für
mich zu beſtellen. Ich hatte damals den Geſang der
Vögel hereingehört. Der eingelegte Fußboden war
[379] heute mit einem ſehr ſchönen Teppiche ganz über¬
ſpannt. Auch Euſtach und Roland waren zu der Ver¬
ſammlung eingeladen worden.
Als ſich alle eingefunden hatten, ſtand mein Gaſt¬
freund, welcher ſo feſtlich angezogen war wie wir,
auf, und ſprach: „Ich richte noch einmal an alle,
welche gekommen ſind, den Empfangsgruß innerhalb
der Wände dieſes Hauſes. Es iſt ein ſchöner Tag.
Wenn gleich mancher liebe Freund und gewiſſermaſſen
Schlachtkamerade, den ich noch beſize, nicht hier iſt,
ſo kann eben nicht immer alles, was man liebt, ver¬
ſammelt ſein. Das Eigentliche iſt hier, iſt aus einem
lieben Anlaſſe hier, aus welchem ein noch ſchönerer
Tag für manche hervorgehen kann. Ihr ſehr hochge¬
ehrte Frau, die Mutter des jungen Mannes, welcher
zu verſchiedenen Malen unter dem Dache dieſes Hau¬
ſes gewohnt hat, ſeid dem Hauſe willkommen. Es
hat euren Namen oft gehört und die Namen eurer
Tugenden, und wenn der Schall der Rede oft auch
ganz Anderes zu verkünden ſchien, ſo gingen unbe¬
wußt eure Eigenſchaften daraus hervor, ſammelten
ſich hier, und erzeugten Ehrerbiethung und, erlaubt
einem alten Manne das Wort, Liebe. Ihr, mein
edler Freund — gönnt mir den Namen auch, den ich
[380] euch ſo gerne gebe — ein graues Haupt wie ich, aber
ehrwürdiger in der Verehrung ſeiner Kinder, und darum
auch in der anderer Leute, ihr habt mit eurer Gattin un¬
ſichtbar dieſes Haus bewohnt, und ehrt es, da es eure
Geſtalt nun ſelber in ſeinen Räumen ſieht. Ihr, Klo¬
tilde, wandeltet mit euren Eltern hier, und ſeid gleich¬
falls in eurem Eigenthume. Zu dir, Mathilde, ſpre¬
che ich erſt jezt, nachdem ich zu den andern geſprochen
habe, die nicht ſo oft die Schwelle dieſes Hauſes be¬
treten haben wie du. Du bringſt uns heute etwas,
das allen lieb ſein wird. Sei deßhalb nicht mehr ge¬
grüßt und willkommen, als du hier immer gegrüßt
und willkommen geweſen biſt. Sei willkommen Na¬
talie, und ſeid gegrüßet Heinrich. Euſtach Roland
Guſtav ſind als Zeugen hier von dem was da ge¬
ſchieht.“
Meine Mutter antwortete hierauf: „Ich habe im¬
mer gedacht, daß wir in dieſem Hauſe werden herzlich
empfangen werden, es iſt ſo, ich danke ſehr dafür.“
„Ich danke auch, und möge die gute Meinung von
uns ſich bewähren,“ ſagte der Vater.
Klotilde verneigte ſich nur.
Mathilde ſprach: „Sei bedankt für deinen Gruß,
Guſtav; und wenn du ſagſt, daß ich etwas bringe,
[381] das allen lieb ſein wird, ſo berichte ich, daß Heinrich
Drendorf und Natalie vor neun Tagen im Sternen¬
hofe verlobt worden ſind. Wir haben den Weg zu dir
gemacht, um deine Billigung zu dieſer Vornahme zu
erwirken. Du haſt immer wie ein Vater an Natalien
gehandelt. Was ſie iſt, iſt ſie größtentheils durch dich.
Daher könnte ein Band ſie nie beglücken, das deinen
vollen Segen nicht hätte.“
„Natalie iſt ein gutes treffliches Mädchen,“ erwie¬
derte mein Gaſtfreund, „ſie iſt durch ihr innerſtes We¬
ſen und durch ihre Erziehung das geworden, was ſie
iſt. Ich mag ein Weniges beigetragen haben, wie
alle nicht böſen Menſchen, mit denen wir umgehen,
zu unſerem Weſen etwas Gutes beitragen. Du weißt,
daß der geſchloſſene Bund meine Billigung hat, und
daß ich ihm alles Glück wünſche. Weil du mich aber
Vater Nataliens nennſt, ſo mußt du erlauben, daß
ich auch als Vater handle. Natalie erhält als meine
Erbin den Asperhof mit allem Zubehör und allem,
was darin iſt, ſie erhält auch, da ich gar keine Ver¬
wandten beſize, meine ganze übrige Habe. Die Aus¬
folgung geſchieht in der Art, daß ſie einen Theil des
geſammten Vermögens an ihrem Vermählungstage
empfängt nebſt den Papieren, welche ihr das Anrecht
[382] auf den Reſt zuſprechen, der ihr an meinem Todes¬
tage anheim fällt. Einige Geſchenke an Freunde und
Diener werden in den Papieren enthalten ſein, die ſie
gerne verabfolgen wird. Weil ich Vater bin, ſo werde
ich auch meine liebe Tochter ausſtatten, von ihrer
Mutter kann ſie nur Geſchenke annehmen. Und einen
Eigenſinn müßt ihr mir geſtatten, deſſen Bekämpfung
von eurer Seite mich ſehr ſchmerzen würde. Die Ver¬
mählung ſoll auf dem Asperhofe gefeiert werden.
Hieher iſt der Bräutigam vor mehreren Jahren zuerſt
gekommen, hier habt ihr ihn kennen gelernt, hier iſt
vielleicht die Neigung gekeimt, und hier endlich wohnt
jader Vater, wie er eben genannt worden iſt. Vom
Vermählungstage an wird im Asperhofe für die jun¬
gen Eheleute eine Wohnung in Bereitſchaft ſtehen, es
wird aber an ſie nicht die Forderung geſtellt werden,
daß ſie dieſelbe benüzen. Sie ſollen nach ihrer Wahl
ihre Wohnung aufſchlagen: entweder im Asperhofe
oder im Sternenhofe oder in der Stadt oder auch
abwechslungsweiſe, wie es ihnen gefällt.“
Mathilde war während dieſer ganzen Rede mit
Würde und Anſtand in ihrem Size geſeſſen, wie
überhaupt in der ganzen Verſammlung ein tiefer Ernſt
herrſchte. Mathilde ſuchte ihre Haltung zu bewahren;
[383] allein aus ihren Augen ſtürzten Thränen, und ihr
Mund zitterte vor ſtarker Bewegung. Sie ſtand auf,
und wollte reden; aber ſie konnte nicht, und reichte
nur ihre Hand an Riſach. Dieſer ging um den Tiſch
— denn eine Ecke desſelben trennte ſie — drückte Ma¬
thilden ſanft in ihren Siz nieder, küßte ſie ſachte auf
die Stirne, und ſtrich einmal mit ſeiner Hand über
ihre Haare, die ſie glatt geſcheitelt über der feinen
Stirne hatte.
Mein Vater nahm hierauf, da Riſach wieder an
ſeinem Plaze war, das Wort, und ſprach: „Es iſt
noch ein Vater da, welcher auch einige Worte reden
und einige Bedingungen ſtellen möchte. Vor allem,
Freiherr von Riſach, empfanget den innigſten Dank
von mir im Namen meiner Familie, daß ihr ein Mit¬
glied derſelben zu einem Mitgliede der eurigen aufzu¬
nehmen für würdig erachtet habt. Unſerer Familie iſt
dadurch eine Ehre erzeigt worden, und mein Sohn
Heinrich wird ſich ſicherlich beſtreben, ſich alle jene
Eigenſchaften zu erwerben, welche ihm zur Erfüllung
ſeiner neuen Pflichten und zur Darſtellung jener
Menſchenwürde überhaupt nöthig ſind, ohne welche
man ein Theil der beſſeren menſchlichen Geſellſchaft
nicht ſein kann. Ich hoffe, daß ich hierin für meinen
[384] Sohn bürgen kann, und ihr ſelber hofft es, da ihr
ihn in die Stellung aufgenommen habt, in der er iſt.
Mein Sohn wird in die neue Haushaltung bringen,
was nicht für unbillig erachtet werden ſoll. In meinem
Hauſe in der Stadt wird eine anſtändige Wohnung
für die Neuvermählten immer in Bereitſchaft ſtehen,
und wenn ich das Landleben einmal vorziehen ſollte,
ſo werden ſie auch in meiner neuen Wohnung einen
Plaz finden. Ihr eigenes ſtändiges Haus mögen ſie
nach Belieben aufſchlagen. Daß die Vermählung in
dem Asperhofe ſei, iſt nach meiner Meinung gerecht,
und ich glaube, es wird niemand die Maßregel be¬
ſtreiten. Und nun habe ich noch eine Bitte an euch,
Freiherr von Riſach, nehmt mich alten Mann und
meine alte Gattin nebſt unſrer Tochter nicht ungerne
in euren Familienkreis auf. Wir ſind bürgerliche
Leute, und haben als ſolche einfach gelebt; aber in
jedem Verhältniſſe unſere Ehre und unſern guten
Namen aufrecht zu erhalten geſucht.“
„Ich kenne euch ſchon lange,“ antwortete Riſach,
„obwohl nicht perſönlich, und habe euch ſchon lange
hoch geachtet. Noch höher achtete und liebte ich euch,
als ich euren Sohn kennen gelernt hatte. Wie ſehr
es mich freut, in eine nähere Umgangsverbindung
[385] mit euch zu kommen, kann euch euer Sohn ſagen,
und wird euch die Zukunft zeigen. Was die Bürger¬
lichkeit anlangt, ſo gehörte ich zu dieſem Stande.
Vergängliche Handlungen, die man Verdienſte nannte,
haben mich auf eine Zeit aus ihm gerückt, ich kehre
durch meine angenommene Tochter wieder zu ihm
zurück, der mir allein gebührt. Ehrenvoller würdiger
Mann einer ſtettigen Thätigkeit und eines wohlge¬
gründeten Familienlebens, wenn ihr mich, der ich
beides nicht habe, für werth erachtet, ſo kommt an
mein Herz, und laßt uns die lezten Lebenstage freund¬
lich mit einander gehen.“
Beide Männer verließen ihre Pläze, begegneten
ſich auf halbem Wege zu einander, ſchloßen ſich in
die Arme, und hielten ſich einen Augenblick feſt. Wie
erſchütternd das auf alle wirkte, zeigte die Thatſache,
daß es todtenſtill im Zimmer war, und daß manche
Augen feucht wurden.
Meine Mutter war, da Riſach Mathilden ver¬
laſſen hatte, zu ihr gegangen, hatte ſich neben ſie
geſezt, und hatte ihre beiden Hände gefaßt. Die
Frauen küßten ſich, und hielten ſich noch immer bei¬
nahe umfangen.
Ich und Natalie traten jezt vor Riſach, und ſag¬
Stifter, Nachſommer. III. 25[386] ten, daß wir ihm für alles Liebe und Gute gegen
uns aufs Tiefſte danken, und daß unſer einziges Be¬
ſtreben ſein werde, ſeiner guten Meinung über uns
immer würdiger zu werden.
„Ihr ſeid lieb und freundlich und ehrlich,“ ſagte
er, „und alles wird gut werden.“
Wir gingen wieder an unſere Pläze, und Euſtach
Klotilde Roland Guſtav und ſelbſt die Eltern wünſch¬
ten uns nun alles Glück und allen Segen.
Hierauf nahm das Geſpräch eine Wendung auf
einfachere und gewöhnlichere Dinge. Man ſtand
auch öfter auf, und miſchte ſich durcheinander. Meine
Mutter hatte heute einige der ſchönſten geſchnittenen
Steine meines Vaters als Schmuck an ihrem Körper.
Mein Gaſtfreund hatte öfter darauf hingeblickt; allein
jezt konnten er und Euſtach dem Reize nicht mehr wider¬
ſtehen, ſie traten zu meiner Mutter, betrachteten ver¬
wundert die Steine, und ſprachen über dieſelben.
Später kam auch Roland hinzu. Meinem Vater glänz¬
ten die Augen vor Freude.
Als das Geſpräch noch eine Weile gedauert hatte,
trennte man ſich, und beſtellte ſich auf einen Spazier¬
gang, der noch vor dem Mittageſſen ſtatt finden ſollte.
[387] Auf dem Sandplaze vor dem Roſengitter an dem
Hauſe wollte man ſich verſammeln.
Wir kleideten uns in andere Kleider, und kamen
vor dem Hauſe zuſammen.
Mein Vater, der wahrſcheinlich ſehr neugierig
war, alles in dieſem Hauſe zu ſehen, hatte ſich zu
Riſach geſellt, ſie ſtanden vor den Roſengewächſen,
und mein Gaſtfreund erklärte dem Vater alles. Ma¬
thilde war an der Seite meiner Mutter, Klotilde und
Natalie hielten ſich an den Armen, und ich und Gu¬
ſtav ſo wie zu Zeiten auch Euſtach und Roland hiel¬
ten uns in der Nähe der alten Männer auf. Wir
gingen von dem Sandplaze in den Garten, damit
die Meinigen zuerſt dieſen ſähen. Mein Gaſtfreund
machte für meinen Vater den Führer, und zeigte
und erklärte ihm alles. Wo meine Mutter und Klo¬
tilde an dem Geſehenen Antheil nahmen, wurde
es ihnen von ihren Begleiterinnen erläutert.
„Da ſehe ich ja aber doch Faltern,“ ſagte mein
Vater, als wir eine geraume Strecke in dem Garten
vorwärts gekommen waren.
„Es wäre wohl kaum denkbar und möglich, daß
meine Vögel alle Keime ausrotteten,“ antwortete mein
Gaſtfreund, „ſie hindern nur die unmäßige Verbrei¬
25 *[388] tung. Einiges bleibt aber immer übrig, was für das
nächſte Jahr Nahrung liefert. Zudem kommen auch
von der Ferne Faltern hergeflogen. Sie wären wohl
auch die ſchönſte Zierde eines Gartens, wenn ihre
Raupen nicht ſo oft für unſere menſchlichen Bedürf¬
niſſe ſo ſchädlich wären.“
„Bringen denn nicht aber auch die Vögel manchen
Baumfrüchten Schaden?“ fragte mein Vater.
„Ja ſie bringen Schaden,“ entgegnete mein Gaſt¬
freund, „er trift hauptſächlich die Kirſchenarten und
andere weichere Obſtgattungen; aber im Verhältniſſe
zu dem Nuzen, den mir die Vögel bringen, iſt der
Schaden ſehr geringe, ſie ſollen von dem Überfluſſe,
den ſie mir verſchaffen, auch einen Theil genießen,
und endlich, da ſie neben ihrer natürlichen Nahrung
von mir noch außerordentliche und mitunter Lecker¬
biſſen bekommen, ſo iſt dadurch der Anlaß zu An¬
griffen auf mein Obſt geringer.“
Wir gingen durch den ganzen Garten. Jedes
Blumenbeet jede einzelne merkwürdigere Blume jeder
Baum jedes Gemüſebeet der Lindengang die Bienen¬
hütte die Gewächshäuſer alles wurde genau betrach¬
tet. Der Tag hatte ſich beinahe ganz ausgeheitert,
und eine Fülle von Blüthen laſtete und duftete über¬
[389] all. Wir gingen bis zu dem großen Kirſchbaume em¬
por, und ſahen von ihm über den Garten zurück. Der
Vater fühlte ſich ganz glücklich, alles das ſehen und
betrachten zu können. Die Mutter mochte wohl ihren
Umgebungen nicht ſo viel Aufmerkſamkeit geſchenkt ha¬
ben wie der Vater, und ſie mochte mit Mathilden mehr
über das Wohl und Wehe und über die Zukunft ihrer
Kinder geſprochen haben. Auch dürfte der Inhalt der
Geſpräche zwiſchen Klotilden und Natalien nicht vor¬
herrſchend der Garten geweſen ſein. Sie konnten
manche Fäden über andere Dinge anzuknüpfen gehabt
haben.
Von dem großen Kirſchbaume mußte wieder in
das Haus zurückgegangen werden, weil die Zeit, wel¬
che noch bis zu dem Mittageſſen gegeben geweſen
war, ihren Ablauf genommen hatte. Man verfügte
ſich einen Augenblick in ſeine Zimmer, und verſam¬
melte ſich dann im Speiſeſaale.
Der Nachmittag war zur Beſichtigung des Mei¬
erhofes der Wieſen und Felder beſtimmt. Wir gingen
von dem großen Kirſchbaume auf den Getraidehügel
hinaus, und auf ihm fort bis zu der Felderraſt. Wir
gingen genau den Weg, welchen ich an jenem Abende
mit meinem Gaſtfreunde gegangen war, als ich mich
[390] zum erſten Male in dem Asperhofe befunden hatte.
Wir ſahen von der Felderraſt ein wenig herum. Die
Eſche hatte eben ihre erſten kleinen Blätter angeſezt,
und ſuchte ſie auszubreiten. Wir konnten uns nicht
niederſezen, weil das Bänkchen dazu viel zu klein war.
Von der Felderraſt gingen wir in den Meierhof. Wir
ſchlugen den Weg ein, welchen ich einmal mit Nata¬
lien allein gewandelt war. Nach der Beſichtigung des
Meierhofes, in welchem mein Gaſtfreund meinem
Vater das Kleinſte und Größte zeigte, und in wel¬
chem er ihm erklärte, wie alles früher ausgeſehen
hatte, was daraus geworden war, und was noch
werden ſollte, gingen wir durch die Meierhofwieſen,
durch die Felder am Abhange des Hügels des Roſen¬
hauſes, dann den Hügel herum, endlich in das Ge¬
hölze des Teiches hinauf, und von ihm an dem Erlen¬
bache zurück, ſo daß wir wieder zu dem großen Kirſch¬
baume kamen, und von ihm in das Haus zurück¬
kehrten. Es war mittlerweile Abend geworden. Alles
hatte die Bewunderung meines Vaters erregt.
Der nächſte Tag war dazu beſtimmt, das Innere
des Hauſes ſeine Kunſtſchäze und alles, was es ſonſt
enthielt, zu beſehen. Mein Gaſtfreund führte meinen
Vater zuerſt in alle Zimmer des Erdgeſchoſſes, dann
[391] über den Marmorgang die Treppe hinan zur Mar¬
morgeſtalt. Wir waren alle mit, außer Euſtach und
Roland. Bei der Marmorgeſtalt hielten wir uns ſehr
lange auf. Von ihr gingen wir in den Marmorſaal,
in welchem mein Gaſtfreund meinem Vater alle Mar¬
morarten nannte, und ihm die Orte ihres Vorkom¬
mens bezeichnete. Dann beſuchten wir nach und nach
die Wohnzimmer meines Gaſtfreundes die Zimmer
mit den Bildern Büchern Kupferſtichen das Leſezim¬
mer das Eckzimmer mit den Vogelbrettchen und end¬
lich die Gaſtzimmer und die Wohnung Mathildens.
Auch Rolands Gemach wurde beſehen, in welchem
auf einer Staffelei ſein beinahe fertiges Bild ſtand.
Den Beſchluß machte der Beſuch des Schreinerhau¬
ſes und die Beſichtigung ſeiner Einrichtung und alles
deſſen, was da eben gefördert wurde. War mein Va¬
ter ſchon geſtern voll Bewunderung geweſen, ſo war
er heute beinahe außer ſich. Die Marmorgeſtalt hatte
ſeinen Beifall ſo ſehr, daß er ſagte, er könne ſich von
ſeinen Reiſen her nicht auf vieles erinnern, was von
alterthümlichen Werken beſſer wäre als dieſe Geſtalt.
Sie wurde von allen Seiten beſehen und wieder
beſehen, dieſer Theil und jener Theil und das
Ganze wurde beſprochen. So etwas, ſagte mein Va¬
[392] ter, könne er nicht entfernt aufweiſen, nur einige ſei¬
ner alten geſchnittenen Steine könnten neben dieſer
Geſtalt noch beſehen werden. Der Marmorſaal gefiel
ihm ſehr, und der Gedanke ein ſolches Gemach zu
bauen, erſchien ihm als ein äußerſt glücklicher. Er
pries die Geduld meines Gaſtfreundes im Suchen
des Marmors, und lobte die, welche die Zuſammen¬
ſtellung entworfen hatten, daß etwas ſo Reines und
Großartiges zu Stande gekommen ſei. Die alten
Geräthe die Bilder die Bücher die Kupferſtiche be¬
ſchäftigten meinen Vater auf das Lebhafteſte, er ſah
alles genau an, und ſprach als Liebhaber und auch
als Kenner über vieles. Mein Gaſtfreund verſtän¬
digte ſich leicht mit ihm, ihre Anſichten trafen häufig
zuſammen, und ergänzten ſich häufig, in ſo ferne man
überhaupt Anſichten in einer Geſellſchaft, in welcher
man ſich kurz faſſen mußte, ausſprechen konnte. Meine
Mutter freute ſich innig über die Freude des Vaters.
So war es denn alſo doch in Erfüllung gegangen,
was ſie ſo oft gewünſcht hatte, daß mein Vater das
Haus meines Gaſtfreundes beſuchte, und es war
auf eine liebe Art in Erfüllung gegangen, die ſie
ſich gewiß einſtens nicht gedacht hatte. Rolands Bild
betrachtete der Vater ſehr aufmerkſam, er hielt es für
[393] höchſt bedeutend, er ſprach mit Riſach über Verſchie¬
denes in demſelben, und äußerte ſich, daß nach dieſem
Werke zu urtheilen Roland eine hoffnungsvolle Zu¬
kunft vor ſich haben dürfte. Daß es meinen Gaſt¬
freund mit Vergnügen erfüllte, daß ſeine Schöpfun¬
gen mit ſolcher Anerkennung von einem Manne, aus
deſſen Worten die Berechtigung zu einem Urtheile her¬
vorging, betrachtet werden, iſt begreiflich. Die zwei
Männer ſchloſſen ſich immer mehr an einander, und
vergaſſen zuweilen ein wenig die übrige Geſellſchaft.
In dem Schreinerhauſe, in welchem Euſtach den Füh¬
rer machte, wurden nicht nur alle Zeichnungen und
Pläne durchgeſehen, ſondern die ganze Einrichtung
und die Art, wie hier verfahren werde, ſammt allen
Werkzeugen wurde einer genauen Beobachtung unter¬
zogen. Der Vater war voll der Billigung darüber.
Mit Beſichtigung dieſer Dinge war der ganze Tag
verbraucht worden.
Am nächſten Tage fuhr man in den Alizwald, da¬
mit mein Gaſtfreund meinen Eltern den Forſt zeigen
konnte, welcher zu dem Asperhofe gehörte.
Die folgenden Tage waren für die Geſellſchaft
ſchon weniger vereinigend. Man zerſtreute ſich, und
ging dem nach, was eben die meiſte Anziehungskraft
[394] ausübte. Zu mir und Natalien kamen nach und nach
alle Bewohner des Roſenhauſes und des Meierhofes,
um uns Glück und Segen zu unſerer bevorſtehenden
Vereinigung zu wünſchen. Sie hatten jezt erſt nach
geſchehener Verlobung die Gewißheit davon erhalten,
hatten es aber in früherer Zeit aus den Vorgängen,
die ſie ſahen, gemuthmaßt und geſchloſſen. Mein Va¬
ter holte Vieles wieder im Einzelnen nach, was er im
Allgemeinen geſehen hatte, er war bald hier bald
dort, und war viel mit dem Beſizer des Hauſes be¬
ſchäftigt. Die Frauen ließen ſich das angelegen ſein,
was Sache des Hausweſens iſt, und verkehrten
manche Weile mit Katharinen. Wir jüngeren Leute
gingen viel in dem Garten herum, beſuchten manche
Stelle, und machten Spaziergänge. Wir waren meh¬
rere Male bei den Gärtnerleuten, ſaßen einmal
lange bei ihrem Tiſche, und beſahen einmal ausführ¬
lich für uns die Gewächshäuſer, und ließen uns das
Vorhandene von dem Gärtner erklären. Eines Tages
waren wir auch alle im Inghofe, und die Bewohner
des Inghofes waren eines andern Tages im Asper¬
hofe. Der Pfarrer von Rohrberg und mehrere der an¬
geſeheneren Bewohner der Gegend waren von nahe
oder von ferne herzugekommen, um zu dem ihnen be¬
[395] kannt gewordenen Ereigniſſe ihren Glückwunſch dar¬
zubringen. Selbſt Bauersleute der Nachbarſchaft und
andere, die mich und Natalien kannten, kamen zu
demſelben Zwecke.
Wir mußten zwölf Tage in dem Asperhofe zu¬
bringen, dann aber wurde unſer Reiſewagen bepackt,
und wir traten die Rückreiſe in unſere Vaterſtadt an.
Da wir zu Hauſe angekommen waren, wurde ſo¬
gleich daran gegangen, Zimmer in Bereitſchaft zu
ſezen, daß wir den Gegenbeſuch, wenn er eintreffen
würde, anſtandsvoll empfangen könnten. Ich rüſtete
mich indeſſen auch noch zu etwas anderem, was noch
vor der Verbindung mit Natalien ſtatthaben mußte,
zu meiner großen Reiſe. Ich ſuchte die Anſtalten ſo
zu treffen, daß ich glaubte, nichts Weſentliches außer
Acht gelaſſen zu haben. Die Nothwendigkeit, mir
durch dieſe Reiſe noch Manches, was mir fehlte an¬
zueignen, und in dieſer Hinſicht nicht zu weit hinter
Natalien zurückſtehen zu müſſen, war mir einleuchtend,
und eben ſo einleuchtend war es mir, daß ich eine
größere Reiſe allein machen müſſe, ehe ich in künftiger
Zeit mit Natalien eine Reiſe antreten könnte. Ich
hatte auch vor, mich gleich nach der Zeit, in der uns
[396] der Gegenbeſuch abgeſtattet ſein würde, auf die Reiſe
zu begeben.
Der Gegenbeſuch kam drei Wochen nach dem Ta¬
ge, an welchem wir in der Stadt angelangt waren.
Ein Brief hatte ihn vorher angekündigt. Mathilde
Riſach Natalie und Guſtav trafen in einem ſchönen
Reiſewagen ein. Sie wurden in die für ſie in Bereit¬
ſchaft gehaltenen Zimmer geführt. Nachdem ſie ſich
umgekleidet hatten, kamen wir zum Gruße in unſerem
Beſuchzimmer zuſammen. Der Empfang in unſerem
Hauſe war ſo herzlich und innig, wie er nur immer
in dem Sternenhofe und in dem Hauſe meines Gaſt¬
freundes geweſen war. In allen Mienen war Freude,
und alle Worte ſezten die begonnene Bekanntſchaft
und die ſich entwickelnde Freundſchaft fort. Selbſt bis
auf die Dienerſchaft pflanzte ſich das angenehme Ge¬
fühl über. Aus einzelnen Worten und aus den hei¬
tern Angeſichtern entnahm man, wie ſehr ihnen die
wunderſchöne Braut gefalle. Was unſer Haus und
die Stadt für die Gäſte Angenehmes biethen konnte,
wurde ihnen zur Verfügung geſtellt. Wie auf den
beiden Landſizen wurde auch hier alles gezeigt, was
das Haus enthält. Die Gäſte wurden in die Zimmer
geführt, beſahen Bilder Bücher alte Schreine und
[397] geſchnittene Steine. Sie kamen in das gläſerne
Eckhäuschen und in alle Theile des Gartens. In
Hinſicht der Bilder meines Vaters ſprach ſich mein
Gaſtfreund dahin aus, daß ſie als Ganzes durchaus
werthvoller ſeien als ſeine Sammlung, obwohl er
auch einzelne Stücke beſize, welche dem Beſten aus
meines Vaters Sammlung an die Seite geſtellt wer¬
den könnten. Meinen Vater freute dieſes Urtheil,
und er ſagte, er hätte ungefähr dasſelbe gefällt. Die
geſchnittenen Steine, ſagte mein Gaſtfreund, ſeien
auserleſen, und denen hätte er nichts Gleiches ent¬
gegen zu ſtellen, es müßte nur das Marmorſtandbild
ſein.
„Das iſt es auch, und das iſt das Höchſte, was
in beiden Kunſtſammlungen beſteht,“ erwiederte mein
Vater.
Die Schnizarbeiten im Glashäuschen waren mei¬
nem Gaſtfreunde aus meinen Abbildungen bekannt.
Er beſchäftigte ſich aber doch mit ihrer genauen Be¬
ſichtigung, und ertheilte ihnen mit Rückſicht auf die
Zeit ihrer Entſtehung viel Lob. Mein Einbeerblatt
aus Marmor im Garten wurde einer Anerkennung
nicht für unwürdig erachtet. Meinen Vater erquickte
die Würdigung ſeiner Schäze von einem Manne, wie
[398] Riſach war, ſehr, und ich glaube, er hatte keine an¬
genehmeren Stunden gehabt, ſeit er all dieſe Dinge
zuſammen gebracht, als die Zeit, die Riſach bei ihm
geweſen war. Selbſt jenen Augenblick dürfte er kaum
vorgezogen haben, da ſich zum erſten Male meine
Augen für den Werth deſſen geöffnet hatten, was er
beſaß. Bei mir war es damals nur Gefühl geweſen,
bei Riſach war jezt es Urtheil.
Zum Vergnügen außer dem Hauſe geſchahen zwei
Theaterbeſuche drei gemeinſchaftliche Beſuche in Kunſt¬
ſammlungen und einige Fahrten in die Umgebung.
Bei dieſer Zuſammenkunft wurde auch die Ver¬
mählungszeit beſprochen. Ich ſollte meine angekün¬
digte Reiſe unternehmen, und nach der Zurückkunft
ſollte kein Aufſchub mehr ſtattfinden. Der Tag werde
dann feſtgeſtellt werden. Nach dieſer Verabredung
wurde Abſchied genommen. Der Abſchied war dieſes
Mal ſehr ſchwer, weil er auf länger genommen wurde,
und weil unglückliche Zufälle in der Abweſenheit
nicht unmöglich ſein konnten. Aber wir waren ſtand¬
haft, wir ſcheuten uns, vor Zeugen, ſelbſt vor ſo lie¬
ben, einen Schmerz zu äußern, ſondern trennten uns,
und verſprachen, uns zu ſchreiben.
Als uns unſere Gäſte verlaſſen hatten, zeigten wir
[399] in Briefen an einige uns ſehr befreundete Familien
meine Verlobung an. Zur Fürſtin ging ich ſelbſt, um
ihr dieſes Verhältniß zu eröffnen. Sie lächelte herz¬
lich und ſagte, daß ſie ſehr wohl bemerkt habe, daß
ich einmal, da ſie des Namens Tarona Erwähnung
gethan hatte, äußerſt heftig erröthet ſei.
Ich erwiederte, daß ich damals nur erröthet ſei,
weil ſie mich auf einer inneren Neigung betroffen
habe, den Namen Tarona habe ich in jener Zeit an
Natalien noch gar nicht gekannt. Ich ſprach auch
von meiner Reiſe, ſie lobte dieſen Entſchluß ſehr,
und erzählte mir von den Verhältniſſen verſchiedener
Hauptſtädte, in denen ſie in früheren Jahren zeitwei¬
lig gewohnt hatte. Sie erwähnte kurz auch Manches
über das äußere Anſehen der Länder, da ſie eine
große Freundin landſchaftlicher Schönheiten war. Sie
hatte eben in dem Augenblicke vor, wieder an den
Gardaſee zu gehen, den ſie ſchon öfter beſucht hatte.
Das war auch die Urſache, daß ſie noch ſo ſpät im
Frühlinge in der Stadt war. Sie erſuchte mich, nach
meiner Zurückkunft wieder bei ihr auf ein Weilchen
zu erſcheinen. Ich verſprach es.
Meine Reiſe wurde nun keinen Augenblick mehr
verzögert. Ich nahm von den Meinigen Abſchied,
[400] und fuhr eines Tages zu dem Thore unſerer Stadt
hinaus.
Ich ging zuerſt über die Schweiz nach Italien;
nach Venedig Florenz Rom Neapel Syrakus Palermo
Malta. Von Malta ſchiffte ich mich nach Spanien
ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen
Abweichungen durchzog. Ich war in Gibraltar Gra¬
nada Sevilla Cordoba Toledo Madrid und vielen
anderen minderen Städten. Von Spanien ging ich
nach Frankreich, von dort nach England Irland und
Schottland und von dort über die Niederlande und
Deutſchland in meine Heimath zurück. Ich war um
einen und einen halben Monat weniger als zwei
Jahre abweſend geweſen. Wieder war es Frühling,
als ich zurückkehrte, die mächtige Welt der Alpen der
Feuerberge Neapels und Siciliens der Schneeberge
des ſüdlichen Spaniens der Pirenäen und der Nebel¬
berge Schottlands hatten auf mich gewirkt. Das
Meer, vielleicht das Großartigſte, was die Erde be¬
ſizt, nahm ich in meine Seele auf. Unendlich viel
Anmuthiges und Merkwürdiges umringte mich. Ich
ſah Völker, und lernte ſie in ihrer Heimath begreifen,
und oft lieben. Ich ſah verſchiedene Gattungen von
Menſchen mit ihren Hoffnungen Wünſchen und Be¬
[401] dürfniſſen, ich ſah Manches von dem Getriebe des Ver¬
kehres, und in bedeutenden Städten blieb ich lange,
und beſchäftigte mich mit ihren Kunſtanſtalten Bücher¬
ſchäzen ihrem Verkehre geſellſchaftlichem und wiſſen¬
ſchaftlichem Leben und mit lieben Briefen, die aus
der Heimath kamen, und mit ſolchen, die dorthin
abgingen.
Ich kam auf meiner Rückreiſe früher in die Ge¬
gend des Asperhofes und des Sternenhofes als in
meine Heimath. Ich ſprach daher in beiden ein.
Alles war ſehr wohl und geſund, und fand mich ſehr
gebräunt. Hier erfuhr ich auch eine Veränderung,
die mit meinem Vater vorgegangen war, und die ſie
mir in den Briefen verſchwiegen hatten, damit ich
überraſcht würde. Alle ſeine Anſpielungen, daß er
plözlich einmal in den Ruheſtand treten werde, daß
er ſich, ehe man ſich's verſehe, auf dem Lande befin¬
den werde, daß ſich vieles ereignen werde, woran
man jezt nicht denke, daß man nicht wiſſe, ob man
nicht den Reiſewagen öfter brauchen könne, waren in
Erfüllung gegangen. Er hatte ſein Handelsgeſchäft
abgetreten, und hatte den auf einer ſehr lieblichen
Stelle zwiſchen dem Asperhofe und Sternenhofe gele¬
genen verkäuflich gewordenen Guſterhof gekauft, den
Stifter, Nachſommer. III. 26[402] er eben für ſich einrichten laſſe. Man freute ſich ſchon
darauf, wie er ſich in dieſem neuen Beſizthume
häuslich und wohnlich niederlaſſen werde. Ich
nahm mir nicht Zeit, dieſen Hof, den ich von Außen
kannte, zu beſuchen, weil ich Natalien, die mir wie
ein Gut wieder gegeben worden war, nicht noch un¬
nöthig länger von meiner Seite entfernt wiſſen wollte.
Nach innigem Empfange und Abſchiede reiſte ich zu
meinen Eltern, und reiſte Tag und Nacht, um bald
einzutreffen. Sie wußten von meiner Ankunft, und
empfingen mich freudig. Ich richtete mich ſogleich in
meiner Wohnung ein. Es war mir ſeltſam und wohl¬
thuend, den Vater jezt immer zu Hauſe und ihn
ſtets mit Plänen Entwürfen Zeichnungen umringt
zu ſehen. Er war während meiner Abweſenheit fünf
Male in dem Guſterhofe und bei dieſen Gelegenheiten
öfter bei Mathilde oder Riſach als Gaſt geweſen Die
Mutter und Klotilde hatten ihn zweimal begleitet. Er
war in dieſen zwei Jahren um ein gut Theil jünger
geworden. Auch die Bewohner des Sternen- und
Asperhofes hatten ſich einmal im Winter bei meinen
Eltern als Gäſte eingefunden. Die Bande waren ſehr
ſchön und lieb geflochten.
Gleich am erſten Tage meiner Anweſenheit im
[403] elterlichen Hauſe führte mich meine Mutter in die
Zimmer, die für mich und Natalien als Wohnung
hergerichtet worden waren, wenn wir uns in der
Stadt aufhalten wollten. Ich hatte gar nicht gedacht,
daß in dem Hauſe ſo viel Plaz ſei, ſo geräumig war
die Wohnung. Sie war zugleich ſo ſchön und edel
angeordnet, daß ich meine Freude daran hatte. Ich
ſprach bei dieſer Gelegenheit von dem Vermählungs¬
tage, und die Mutter antwortete, daß der Vater
glaube, es ſei nun keine Urſache einer Säumniß,
und von uns als von der Seite des Bräutigams
müſſe die Anregung ausgehen. Ich bath um Be¬
ſchleunigung, und am folgenden Tage gingen ſchon
unſere Briefe in den Sternenhof und zu Riſach ab.
In Kurzem kam die Antwort zurück, und der Tag
war nach unſern Vorſchlägen feſtgeſezt. Der Sam¬
melplaz war der Asperhof.
Meinem Verſprechen getreu ſtellte ich mich nun
auch bei der Fürſtin. Sie war ſchon auf ihren Land¬
ſiz abgereiſt. Ich ſchrieb ihr daher einige Zeilen, daß
ich zurück ſei, und zeigte ihr meinen Vermählungstag
an. In kurzer Zeit kam eine Antwort von ihr nebſt
einem Päckchen, welches ein Erinnerungszeichen an
meine Vermählungsfeier von ihr enthalte. Sie könne
26 *[404] es mir nicht perſönlich übergeben, weil ſie ſeit einigen
Wochen kränklich ſei, und ſich deßhalb ſo früh auf
das Land habe begeben müſſen. Das Erinnerungs¬
zeichen liege ſchon ſeit länger in Bereitſchaft. Ich
öffnete das Päckchen. Es enthielt eine einzige aber
ſehr große und ſehr ſchöne Perle. Die Faſſung war
faſt keine. Nur ein Stengel und ein Goldſcheibchen
hafteten an der Perle, daß ſie eingeknöpft werden
konnte. Ich freute mich außerordentlich über die Ge¬
ſinnung der edlen Fürſtin über die Trefflichkeit des
Geſchmackes und über deſſen Sinnigkeit; denn eine
Perle iſt es ja in meinen Augen, die ich mir als Ge¬
ſchenk an meine Bruſt zu heften im Begriffe war. Ich
ſchrieb eine innige Dankantwort zurück.
Unſere Vorbereitungen waren bald gemacht, und
wir reiſten ab.
„Wir können ja unſere lezten Rüſtungen in mei¬
nem Landhauſe machen,“ ſagte der Vater mit heiterem
Lächeln.
Wir fuhren in den Guſterhof. Eine kleine aber
freundlich beſtellte Wohnung, die der Vater vorläufig
für ſolche Gelegenheiten hatte herrichten laſſen, em¬
pfing uns. Es war ein liebliches Gefühl, in unſerem
eigenen uns zugehörigen Landſize zu ſein. Der Vater
[405] ſchien dieſes Gefühl am tiefſten zu hegen, und die
Mutter freute ſich deſſen ungemein. Wir blieben hier
ſo lange, und vervollſtändigten unſere Vorbereitun¬
gen, daß wir zwei Tage vor der Vermählung in dem
Asperhofe eintreffen konnten. Mathilde und Natalie
waren ſchon anweſend, da wir ankamen. Wir be¬
grüßten uns herzlich. Alles war in einer gewiſſen
Spannung der Vorbereitungen. Ich konnte Natalien
oft nur auf einige Augenblicke ſehen. Klotilde wurde
auch ſofort hineingezogen. Botſchaften kamen und
gingen ab, Gäſte und Trauzeugen trafen ein. Ich
ſelber war in einer Art Beklemmung.
Am Nachmittage des erſten Tages fand ich ein¬
mal Mathilden meinen Gaſtfreund und Guſtav im
Lindengange auf und ab wandeln. Ich geſellte mich
zu ihnen. Guſtav verließ uns bald.
„Wir ſprachen eben davon, daß mein Sohn ſich
nun bald von hier entfernen, und in die Welt gehen
müſſe,“ ſagte Mathilde, „habt ihr ihn nach eurer Reiſe
nicht auch verändert gefunden?“
„Er iſt ein vollkommner Jüngling geworden,“
erwiederte ich, „ich habe auf meinen Reiſen keinen
geſehen, der ihm gleich wäre. Er war ein ſehr kraft¬
voller Knabe, und iſt auch ein ſolcher Jüngling ge¬
[406] worden, aber, wie ich glaube, gemilderter und ſanfter.
Ja ſogar in ſeinen Augen, die noch glänzender gewor¬
den ſind, erſcheint mir etwas, das beinahe wie das
Schmachten bei einem Mädchen iſt.“
„Es freut mich, daß ihr das auch bemerkt habt,“
ſagte mein Gaſtfreund, „es iſt ſo, und es iſt ſehr gut,
wenn auch gefährlich, daß es ſo iſt. Gerade bei ſehr
kraftvollen Jünglingen, deren Herz von keinem böſen
Hauche angeweht worden iſt, tritt in gewiſſen Jahren
ein Schmachten ein, das noch holder wirkt als bei
heranblühenden Mädchen. Es iſt dies nicht Schwäche
ſondern gerade Überfülle von Kraft, die ſo reizend
wirkt, wenn ſie aus den meiſtens dunkeln ſanftſchim¬
mernden Augen blickt, und gleichſam wie ein Juwel
an den unſchuldigen Wimpern hängt. Solche Jüng¬
linge dulden aber auch, wenn böſe Schickſalstage
kommen, mit einem Starkmuthe, der der Krone eines
Märtirers werth wäre, und wenn das Vaterland
Opfer heiſcht, legen ſie ihr junges Leben einfach und
gut auf den Altar. Sie können aber auch zu falſcher
Begeiſterung getrieben und mißbraucht werden, und
wenn ein ſolches Jünglingsauge zu rechter Zeit in
das rechte Mädchenauge ſchaut, ſo flammt die plöz¬
lichſte heißeſte aber oft auch unglücklichſte Liebe em¬
[407] por, weil der junge unverfälſchte Mann ſie faſt un¬
ausrottbar in ſein Herz nimmt. Wir werden, wenn
die jezige Angelegenheit vorüber iſt, weiter von dem
ſprechen, was etwa noth thut.“
„Ich ſehe ja das Gute und die Gefahr,“ ſagte
Mathilde.
Wir gingen bald in das Haus zurück.
„Er muß in die Härte der Welt, die wird ihn
ſtählen,“ ſagte mein Gaſtfreund auf dem Wege dahin.
Endlich war der Vermählungstag angebrochen.
Die Trauung ſollte am Vormittage in der Kirche zu
Rohrberg ſtattfinden, in welche der Asperhof einge¬
pfarrt war. Der Verſammlungsort war der Marmor¬
ſaal, deſſen Fußboden zu dieſem Zwecke mit feinem
grünem Tuche überſpannt worden war. Gleiches
Tuch lag auf allen Treppen. Ich kleidete mich in
meinen Zimmern an, that ein Gebeth zu Gott, und
wurde von einem meiner Trauzeugen in den Mar¬
morſaal geführt. Von unſern Angehörigen waren
erſt die Männer dort. Die Zeugen und die meiſten
Gäſte waren zugegen. Riſach war im Staatskleide
und mit allen ſeinen Ehren geſchmückt. Da that ſich
die Thür, die von dem Gange hereinführte, auf,
und Natalie mit ihrer und meiner Mutter mit Klo¬
[408] tilden und mit noch andern Frauen und Mädchen trat
herein. Sie war prachtvoll gekleidet und mit Edel¬
ſteinen gleichſam überſät; aber ſie war ſehr blaß. Die
Edelſteine waren in mittelalterlicher Faſſung, das ſah
ich wohl; aber ich hatte nicht die Stimmung, auch
nur einen Augenblick darauf zu achten. Ich ging ihr
entgegen, und reichte ihr ſanft die Hand zum Gruße.
Sie zitterte ſehr.
Mein Gaſtfreund ſagte zu meinen Eltern: „Das
Lieblingsgeſpräch eures Sohnes waren bisher ſeine
Eltern und ſeine Schweſter, wer ein ſo guter Sohn
iſt, wird auch ein guter Gatte werden.“
„Die ſchöneren Eigenſchaften, die eine Zukunft
gewähren,“ ſagte mein Vater, „hat er von euch ge¬
bracht, wir haben es wohl geſehen, und haben ihn
darum immer mehr geliebt, ihr habt ihn gebildet und
veredelt.“
„Ich muß antworten wie bei Natalien,“ erwie¬
derte mein Gaſtfreund, „ſein Selbſt hat ſich entwickelt,
und aller Umgang, der ihm zu Theil geworden, vor¬
erſt der eurige, hat geholfen.“
Ich wollte etwas ſprechen, konnte aber vor Be¬
wegung nicht.
[409]
Guſtav, der in der Nähe der Frauen ſtand, ſah
mich an, ich ihn auch. Er war ebenfalls ſehr blaß.
Indeſſen hatten ſich alle nach und nach eingefun¬
den, die bei der Trauung gegenwärtig ſein ſollten,
die Stunde der Abfahrt war da, und der Hausver¬
walter meldete, daß alles in Bereitſchaft ſei.
Mathilde machte Natalien das Zeichen des Kreu¬
zes auf die Stirne den Mund und die Bruſt, und
dieſe beugte ſich mit ihren Lippen auf die Hand der
Mutter nieder. Dann faßten die Mädchen den
Schleier, der wie ein Silbernebel von dem Haupte
Nataliens bis zu ihren Füſſen reichte, hüllten ſie in
ihn, und Natalie ging von ihren Mädchen umringt
und von den Frauen geleitet die Treppe hinunter,
auf welcher die Marmorgeſtalt ſtand. Wir folgten.
Mit mir waren meine Zeugen und Riſach und der
Vater. Den erſten Theil der Wagenreihe nahmen
die Frauen die Braut und die Mädchen ein, den lez¬
ten die Männer und ich. Wir ſtiegen ein, der Zug
ſezte ſich in Bewegung. Es war viel Volk gekom¬
men, die Brautfahrt zu ſehen. Darunter erblickte ich
meinen Zitherſpiellehrer, welcher mir mit einem grü¬
nen Hute, auf dem er Federn hatte, winkte. Die
Bewohner des Meierhofes und die Diener des Hau¬
[410] ſes waren größtentheils vorausgegangen, und harr¬
ten unſer in der Kirche. Einige befanden ſich auch
in den Wägen. Der Zug fuhr langſam den Hügel
hinab.
In der Kirche erwartete uns der Pfarrer von
Rohrberg, wir traten vor den Altar, und die Trauung
ward vollbracht.
Zum Zurückfahren kamen Natalie und ich allein
in einen Wagen. Sie ſprach nichts, der Schleier
blieb zurückgeſchlagen, und Tropfen nach Tropfen floß
aus ihren Augen.
Da wir wieder in dem Marmorſaale waren, wur¬
den auf den langen Tiſch, den man heute hier auf¬
gerichtet und mit vielen Stühlen umgeben hatte, von
Riſach und von meinem Vater die Papiere nieder¬
gelegt, die ſich auf unſere Vermählung und unſer Ver¬
mögen bezogen. Ich aber nahm indeſſen Natalien an
der Hand, und führte ſie durch das Bilder- und Leſe¬
zimmer in das Bücherzimmer, in welchem wir allein
waren. Dort ſtellte ich mich ihr gegenüber, und brei¬
tete die Arme aus. Sie ſtürzte an meine Bruſt. Wir
umſchlangen uns feſt, und weinten beide beinahe laut.
„Meine theure, meine einzige Natalie!“ ſagte ich.
„O mein geliebter, mein theurer Gatte,“ antwor¬
[411] tete ſie, „dieſes Herz gehört nun ewig dir, habe Nach¬
ſicht mit ſeinen Gebrechen und ſeiner Schwäche.“
„O mein theures Weib,“ entgegnete ich, „ich werde
dich ohne Ende ehren und lieben, wie ich dich heute
ehre und liebe. Habe auch du Geduld mit mir.“
„O Heinrich, du biſt ja ſo gut,“ antwortete ſie.
„Natalie, ich werde ſuchen, jeden Fehler dir zu
Liebe abzulegen,“ erwiederte ich, „und bis dahin werde
ich jeden ſo verhüllen, daß er dich nicht verwunde.“
„Und ich werde beſtrebt ſein, dich nie zu kränken,“
antwortete ſie.
„Alles wird gut werden,“ ſagte ich.
„Es wird alles gut werden, wie unſer zweiter
Vater geſagt hat,“ antwortete ſie.
Ich führte ſie näher an das Fenſter, und da ſtan¬
den wir, und hielten uns an den Händen. Die Früh¬
lingsſonne ſchien herein, und neben den Diamanten
glänzten die Tropfen, die auf ihr ſchönes Kleid ge¬
fallen waren.
„Natalie, biſt du glücklich?“ ſagte ich nach einer
Weile.
„Ich bin es im hohen Maße,“ antwortete ſie,
„mögeſt du es auch ſein.“
„Du biſt mein Kleinod und mein höchſtes Gut
[412] auf dieſer Erde,“ erwiederte ich, „es iſt mir noch wie
im Traume, daß ich es errungen habe, und ich will
es erhalten, ſo lange ich lebe.“
Ich küßte ſie auf den Mund, den ſie freundlich
both. In ihre feinen Wangen war das Roth zurück¬
gekehrt.
In dieſem Augenblicke hörten wir Tritte in dem
Nebenzimmer, und Mathilde meine Mutter Riſach
mein Vater und Klotilde, die uns geſucht hatten,
traten ein.
„Mutter, theure Mutter,“ ſagte ich zu Mathil¬
den, indem ich allen entgegen ging, Mathildens Hand
faßte, und ſie zu küſſen ſtrebte. Mathilde hatte ſich
nie die Hand von irgend jemanden küſſen laſſen. Die¬
ſes Mal erlaubte ſie, daß ich es thue, indem ſie ſanft
ſagte: „Nur das eine Mal.“
Dann küßte ſie mich auf die Stirne, und ſagte:
„Sei ſo glücklich, mein Sohn, als du es verdienſt,
und als es die wünſcht, die dir heute ihr halbes Leben
gegeben hat.“
Riſach ſagte zu mir: „Mein Sohn, ich werde
dich jezt du nennen, und du mußt zu mir wie zu dei¬
nem erſten Vater auch dies Wörtchen ſagen — mein
Sohn, nach dem, was heute vorgefallen, iſt deine
[413] erſte Pflicht, ein edles reines grundgeordnetes Fami¬
lienleben zu errichten. Du haſt das Vorbild an deinen
Eltern vor dir, werde, wie ſie ſind. Die Familie iſt
es, die unſern Zeiten noth thut, ſie thut mehr noth
als Kunſt und Wiſſenſchaft als Verkehr Handel Auf¬
ſchwung Fortſchritt, oder wie alles heißt, was begeh¬
rungswerth erſcheint. Auf der Familie ruht die Kunſt
die Wiſſenſchaft der menſchliche Fortſchritt der Staat.
Wenn Ehen nicht beglücktes Familienleben werden,
ſo bringſt du vergeblich das Höchſte in der Wiſſen¬
ſchaft und Kunſt hervor, du reichſt es einem Ge¬
ſchlechte, das ſittlich verkommt, dem deine Gabe end¬
lich nichts mehr nüzt, und das zulezt unterläßt, ſolche
Güter hervor zu bringen. Wenn du auf dem Boden
der Familie einmal ſtehend — viele ſchließen keine
Ehe, und wirken doch Großes — wenn du aber auf
dem Boden der Familie einmal ſtehſt, ſo biſt du nur
Menſch, wenn du ganz und rein auf ihm ſtehſt.
Wirke dann auch für die Kunſt oder für die Wiſſen¬
ſchaft, und wenn du Ungewöhnliches und Ausge¬
zeichnetes leiſteſt, ſo wirſt du mit Recht geprieſen,
nüze dann auch deinen Nachbarn in gemeinſchaftlichen
Angelegenheiten, und folge dem Rufe des Staates,
wenn es noth thut. Dann haſt du dir gelebt und
[414] allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens wie
bisher, und alles wird ſich wohl geſtalten.“
Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an ſich,
und küßte mich auf den Mund.
Natalie war indeſſen in den Armen meiner Mut¬
ter meines Vaters und Klotildens geweſen.
„Er wird gewiß bleiben, wie er heute iſt,“ ſagte
ſie, wahrſcheinlich auf einen Wunſch für die Zukunft
antwortend.
„Nein, mein theures Kind,“ ſagte meine Mutter,
„er wird nicht ſo bleiben, das weißt du jezt noch nicht:
er wird mehr werden, und du wirſt mehr werden. Die
Liebe wird eine andere, in vielen Jahren iſt ſie eine
ganz andere; aber in jedem Jahre iſt ſie eine größere,
und wenn du ſagſt, jezt lieben wir uns am meiſten,
ſo iſt es in Kurzem nicht mehr wahr, und wenn du
ſtatt des blühenden Jünglings einſt einen welken
Greis vor dir haſt, ſo liebſt du ihn anders, als du den
Jüngling geliebt haſt; aber du liebſt ihn unſäglich
mehr, du liebſt ihn treuer, ernſter und unzerrei߬
barer.“
Mein Vater wandte ſich ab, und fuhr ſich mit der
Hand über die Augen.
[415]
Meine Mutter küßte Natalien noch einmal, und
ſagte: „Du liebe gute theure Tochter.“
Natalie gab den Kuß zurück, und ſchlang die
Arme um den Hals meiner Mutter.
„Kinder, jezt müſſen wir zu den andern gehen,“
ſagte Riſach.
Wir gingen in den Saal. Dort gab Riſach Pa¬
piere in die Hände Nataliens. Sie legte ſie in die
meinigen. Mein Vater gab mir auch Papiere. Alle
Anweſenden wünſchten uns nun Glück, vor allen
Guſtav, den ich die lezte Zeit her gar nicht ge¬
ſehen hatte. Er fiel der Schweſter um den Hals und
auch mir. In ſeinen ſchönen Augen perlten Thränen.
Dann beglückwünſchten uns Euſtach Roland die vom
Inghofe der Pfarrer von Rohrberg, der mich auf
unſer erſtes Zuſammentreffen in dieſem Hauſe an
jenem Gewitterabende erinnerte, und alle andern.
Riſach ſagte, daß jezt jedem zwei Stunden zur
Verfügung gegeben ſeien, dann müſſe ſich Alles in
dem Marmorſaale zu einem kleinen Mahle ver¬
ſammeln.
Natalie wurde von ihren Trauungsjungfrauen in
die Gemächer ihrer Mutter geführt, daß ſie dort die
Trauungsgewänder ablege. Ich ging in meine Woh¬
[416] nung, kleidete mich um, und verſchloß die Papiere,
ohne ſie anzuſehen. Nach einer geraumen Zeit ging
ich in das Vorzimmer zu Mathildens Wohnung,
und fragte, ob Natalie ſchon in Bereitſchaft ſei, ich
ließe bitten, mit mir einen kurzen Gang durch den
Garten zu machen. Sie erſchien in einem ſchönen
aber ſehr einfachen Seidenkleide, und ging mit mir
die Treppe hinab. Sie reichte mir den Arm und wir
wandelten eine Zeit unter den großen Linden und auf
anderen Gängen des Gartens herum.
Nachdem die zwei Stunden verfloßen waren,
wurde mit der Glocke das Zeichen zum Mahle gegeben.
Alles begab ſich in den Saal, und erhielt dort ſeine
Size angewieſen. Das Mahl war wie gewöhnlich bei
Riſach einfach aber vortrefflich. Für Kenner und Lieb¬
haber ſtanden ſehr edle Weine bereit. Es war nie in
dem Saale ein Mahl abgehalten worden, und der
Ernſt des Marmors, bemerkte mein geweſener Gaſt¬
freund, dürfe nur in den Ernſt des edelſtens Weines
nieder blicken. Trinkſprüche wurden ausgebracht, und
ſogar Reime auf ewiges Wohl hergeſagt.
„Habe ich es gut gemacht, Natta,“ ſagte mein
einſtiger Gaſtfreund, „daß ich dir den rechten Mann
ausgeſucht habe? Du meinteſt immer, ich verſtände
[417] mich nicht auf dieſe Dinge, aber ich habe ihn auf den
erſten Blick erkannt. Nicht blos die Liebe iſt ſo ſchnell
wie die Electricität ſondern auch der Geſchäftsblick.“
„Aber Vater,“ ſagte Natalie erröthend, „wir haben
ja über dieſen Gegenſtand nie geſtritten, und ich konnte
dir die Fähigkeit nicht abſprechen.“
„So haſt du dir es gewiß gedacht,“ erwiederte er,
„aber richtig habe ich doch geurtheilt: er war immer
ſehr beſcheiden, hat nie vorlaut geforſcht und gedrängt,
und wird gewiß ein ſanfter Mann werden.“
„Und du, Heinrich,“ ſagte er nach einer Weile,
„werde darum nicht ſtolz. Verdankſt du mir nicht end¬
lich ganz und gar Alles? Du haſt einmal, da du zum
erſten Male in dieſem Hauſe warſt, in der Schreinerei
geſagt, daß der Wege ſehr verſchiedene ſind, und daß
man nicht wiſſen könne, ob der, der dich eines Ge¬
witters wegen zu mir herauf geführt hat, nicht ein
ſehr guter Weg geweſen iſt, worauf ich antwortete,
daß du ein wahres Wort geſprochen habeſt, und daß
du es erſt recht einſehen werdeſt, wenn du älter biſt;
denn in dem Alter, dachte ich mir damals, überſieht
man erſt die Wege, wie ich die meinigen überſehen
habe. Wer hätte aber damals geglaubt, daß mein
Wort die Bedeutung bekommen werde, die es heute
Stifter, Nachſommer. III. 27[418] hat? Und alles hing davon ab, daß du hartnäckig
gemeint haſt, ein Gewitter werde kommen, und daß
du meinen Gegenreden nicht geglaubt haſt.“
„Darum, Vater, war es Fügung, und die Vor¬
ſicht ſelber hat mich zu meinem Glücke geführt,“
ſagte ich.
„Die alte Frau, die in dem dunkeln Stadthauſe
unſere Wohnungsnachbarin und zuweilen unſer Gaſt
war,“ ſagte mein Vater, „hat dir, Heinrich, die Weis¬
ſagung gemacht, es werde recht viel aus dir werden:
und nun biſt du blos, wie du ſelber ſagſt, glücklich
geworden.“
„Das Andere wird kommen,“ riefen mehrere
Stimmen.
„Eine gute Eigenſchaft habe ich an deiner Gattin
zu ihren andern Tugenden entdeckt,“ fuhr mein Vater
fort, „ſie iſt nicht neugierig; oder haſt du, liebe Toch¬
ter, das Käſtchen ſchon eröffnet, welches ich dir ge¬
geben habe?“
„Nein, Vater, ich wartete auf deinen Wink,“ ant¬
wortete Natalie.
„So laſſe das Käſtchen bringen,“ entgegnete mein
Vater.
Es geſchah. Der Faden mit dem Siegel wurde
[419] entzwei geſchnitten, das Käſtchen geöffnet, und auf
weißem Sammt lag ein außerordentlich ſchöner
Schmuck von Smaragden. Ein allgemeiner Ruf der
Verwunderung machte ſich hörbar. Nicht nur waren
die Steine an ſich, obwohl nicht zu den größten ihrer
Art gehörend, ſehr ſchön, ſondern die Faſſung, die
Steine nicht drückend, war doch ſo leicht und ſo ſchön,
daß das Ganze wie ein zuſammengehöriges in einan¬
der gewachſenes Werk wie ein wirkliches Kunſtwerk
erſchien. Selbſt Euſtach und Roland ſprachen ihre
Bewunderung aus, und vollends Riſach. Sie ver¬
ſicherten, daß ſie keine neue Arbeit geſehen hätten,
die dieſer gliche.
„Dein Freund, mein Heinrich, hat dieſen Schmuck
fertigen laſſen,“ ſagte mein Vater, „wir haben Sma¬
ragde gewählt, weil er eben ſehr ſchöne und in erfor¬
derlicher Anzahl hatte, weil Smaragde unter allen
farbigen Steinen den Ton des weiblichen Halſes und
Angeſichtes am ſanfteſten heben, und weil du tief ge¬
färbte und reine Smaragde ſo liebſt. Und alle hier ſind
tief und rein. Wir haben geſucht, nach deinen Grund¬
ſäzen die Steine faſſen zu laſſen. Es ſind viele Zeich¬
nungen gemacht gewählt verworfen und wieder ge¬
wählt worden. Es dürfte der beſte Zeichner unſerer
27 *[420] Stadt ſein, der endlich das Vorliegende zuſammen
geſtellt hat. Es wurde hierauf beinahe Tag und
Nacht gearbeitet, um zu rechter Zeit fertig zu ſein.
Geöffnet ſollte das Käſtchen darum nicht werden, da¬
mit meine Tochter nicht etwa blos mir zu Liebe dieſen
Schmuck an ihrem Trauungstage nehmen, und einen
ſchöneren und koſtbareren, den ſie beſize, zu ihrem
Leidweſen ruhen laſſe.“
„Sie beſizt keinen ſchöneren,“ erwiederte Riſach,
„wir haben den, welchen ſie heute trug, nach Zeich¬
nungen, die wir aus mittelalterlichen Gegenſtänden
frei zuſammen trugen, ebenfalls bei Heinrichs Freunde
verfertigen laſſen. Mathilde, laß doch den Schmuck
herbei bringen, daß wir beide vergleichen.“
Mathilde reichte an Natalien ein Schlüſſelchen,
und dieſe holte ſelber das Fach, in welchem der
Schmuck lag. Er war eine Zuſammenſezung von
Diamanten und Rubinen. Er ſah ſo zart rein und
edel aus, wie ein in Farben geſeztes mittelalterliches
Kunſtwerk. Ein wahrer Zauber lag um dieſe Innig¬
keit von Waſſerglanz und Roſenröthe in die ſinnigen
Geſtalten vertheilt, die nur aus den Gedanken unſerer
Vorfahren ſo genommen werden können. Und den¬
noch ſtand nach einſtimmigem Urtheile der Smaragd¬
[421] ſchmuck nicht zurück. Der Künſtler der Gegenwart
kam zu Ehren.
„Es iſt aber auch keiner in unſerer Stadt und
vielleicht in weiten Kreiſen, der ſo zeichnen kann,“
ſagte mein Vater, „er huldigt keinem Zeitgeſchmacke,
ſondern nur der Weſenheit der Dinge, und hat ein
ſo tiefes Gemüth, daß der höchſte Ernſt und die höch¬
ſte Schönheit daraus hervorblicken. Oft wehte es
mich aus ſeinen Geſtalten ſo an wie aus den Nibe¬
lungen oder wie aus der Geſchichte der Ottone.
Wenn dieſer Mann nicht ſo beſcheiden wäre, und
ſtatt den Dingen, womit man ihn überhäuft, lieber
große Gemälde machte, er würde ſeines Gleichen jezt
nicht haben, und nur mit den größten Meiſtern der
Vergangenheit zuſammengeſtellt werden können.“
„Ein Schmuck in ſeinem Fache,“ ſagte eine Stim¬
me, „iſt doch wie ein Bild ohne Rahmen, oder noch
mehr wie ein Rahmen ohne Bild.“
„Freilich iſt es ſo,“ entgegnete Riſach, „man kann
jedes Ding nur an ſeinem Plaze beurtheilen, und da
mein Freund als mein Nebenbuhler aufgetreten iſt,
ſo wäre es nicht zu verwerfen — — Natta biſt du
mein liebes Kind?“
„Vater, wie gerne!“ antwortete dieſe.
[422]
Sie ſtand von ihrem Stuhle auf, entfernte ſich,
und kam ſo gekleidet wieder, daß man ihr einen koſt¬
baren Schmuck umlegen konnte. Es geſchah zuerſt
mit den Diamanten und Rubinen. Wie herrlich war
Natalie, und es bewährte ſich, daß der Schmuck der
Rahmen ſei. Am Vormittage in beklemmenden und
tieferen Gefühlen befangen konnte ich dem Schmucke
keine Aufmerkſamkeit ſchenken. Jezt ſah ich die ſchö¬
nen Geſtaltungen wie von einem ſanften Scheine
umgeben. Im Mittelpunkte aller Blicke erröthete die
junge Frau, und die Roſen ihrer Farbe gaben den
Rubinen erſt die Seele, und empfingen ſie von ihnen.
Der Ausdruck der Bewunderung war allgemein. Hier¬
auf wurde der Smaragdſchmuck umgelegt. Aber auch
er war vollendet. Der dunkle tiefe Stein gab der
Oberfläche von Nataliens Bildungen etwas Ernſtes
Feierliches fremdartig Schönes. War der Diamant¬
ſchmuck wie fromm erſchienen, ſo erſchien der Sma¬
ragdſchmuck wie heldenartig. Keiner erhielt den Preis.
Riſach und der Vater ſtimmten ſelber überein. Nata¬
lie nahm ihn wieder ab, beide Schmuckſtücke wurden
in ihre Fächer gelegt, Natalie trug ſie fort, und er¬
ſchien nach einer Zeit wieder in ihrem früheren
Anzuge.
[423]
Bei dem Smaragdſchmucke hatte ſich etwas Auf¬
fälliges ereignet. Von ihm waren die Ohrgehänge
im Fache zurückgeblieben. Der Diamantſchmuck ent¬
hielt keine Ohrgehänge. Mathilde und Natalie tru¬
gen Ohrgehänge nicht, weil nach ihrer Meinung der
Schmuck dem Körper dienen ſoll. Wenn aber der
Körper verwundet wird, um Schmuck in die Ver¬
lezung zu hängen, werde er Diener des Schmuckes.
Als noch immer von den Steinen geſprochen
wurde, was ihre Beſtimmung ſei, und wie ſie ſich
auf dem Körper ganz anders anſehen laſſen als in
ihrem Fache, ſagte Euſtach etwas, das mir als ſehr
wahr erſchien: „Was die innere Beſtimmung der
Edelſteine iſt,“ ſprach er, „kann nach meiner Meinung
niemand wiſſen: für den Menſchen ſind ſie als
Schmuck an ſeinem Körper am ſchönſten, und zwar
zuerſt an den Theilen, die er entblößt trägt, dann
aber an ſeinem Gewande, und an allem, was ſonſt
mit ihm in Berührung kommt wie Königskronen
Waffen. An bloßen Geräthen, wie wichtig ſie ſind,
erſcheinen die Steine als todt, und an Thieren ſind
ſie entwürdigt.“
Man ſprach noch länger über dieſen Gegenſtand,
und erläuterte ihn durch Beiſpiele.
[424]
„Da heute unſer Wettkampf unentſchieden geblie¬
ben iſt,“ ſagte Riſach zu meinem Vater, „ſo wollen
wir nun ſehen, wer mit geringerem Aufwande ſeinen
Siz zu einem größeren Kunſtwerke machen kann, du
deinen Drenhof, oder wenn du ihn lieber Guſterhof
nennen willſt, oder ich meinen Asperhof.“
„Du biſt ſchon im Vorſprunge,“ entgegnete mein
Vater, „und haſt gute Zeichner bei dir: ich fange erſt
an, und mein Zeichner liefert mir wahrſcheinlich keine
Zeichnung mehr.“
„Wenn es uns im Asperhofe an Arbeit fehlt, ſo
werden wir in den Drenhof hinüber geliehen,“ ſagte
Euſtach.
„Auch dann, wenn wir hier Arbeit haben,“ erwie¬
derte Riſach, „ich will dem Feinde Waffen liefern.“
Der Nachmittag war ziemlich vorgerückt, und es
fehlte nicht mehr viel zum Abende. Das Mahl war
ſchon längſt aus, und man ſaß nur mehr, wie es
öfter geſchieht, im Geſpräche um den Tiſch.
Mir war ſchon länger her das Benehmen des Gärt¬
ners Simon aufgefallen; denn er, ſo wie die vorzüg¬
licheren Diener des Hauſes und Meierhofes war zu
Tiſche geladen worden. Die andern hatten in dem
Meierhofe ein Mahl. Ich hatte ihm am Morgen zur
[425] Erinnerung an den heutigen Tag eine ſilberne Doſe
mit meinem Namen in dem Deckel gegeben. Dieſe
Doſe hatte er bei ſich auf dem Tiſche, und ſprach ihr
unruhig zu. Manches Mal flüſterte er mit ſeinem Wei¬
be, das an ſeiner Seite ſaß, und öfter ging er fort,
und kam wieder. Eben trat er nach einer ſolchen Ent¬
fernung wieder in den Saal. Er ſezte ſich nicht, und
ſchien mit ſich zu kämpfen. Endlich trat er zu mir,
und ſprach: „Alles Gute belohnt ſich, und euch er¬
wartet heute noch eine große Freude.“
Ich ſah ihn befremdet an.
„Ihr habt den Cereus Peruvianus vom Unter¬
gange gerettet,“ fuhr er fort, „wenigſtens hätte er
leicht untergehen können, und ihr ſeid Urſache gewe¬
ſen, daß er in dieſes Haus gekommen iſt, und heute
noch wird er blühen. Ich habe ihn durch Kälte zu¬
rück zu halten geſucht, ſelbſt auf die Gefahr hin, daß
er die Knospe abwerfe, damit er nicht eher blühe als
heute. Es iſt alles gut gegangen. Eine Knospe ſteht
zum Entfalten bereit. In mehreren Minuten kann ſie
offen ſein. Wenn die Geſellſchaft dem Gewächshauſe
die Ehre anthun wollte. . . .“
„Ja Simon, ja wir gehen hin,“ ſagte mein Gaſt¬
freund.
[426]
Sofort erhob man ſich von dem Tiſche, und rüſtete
ſich zu dem Gange in die Gewächshäuſer. Simon
hatte alles andere um die Stelle des Peruvianus,
der in ein eigenes Glashäuschen hinein ragte, ent¬
fernt, und Plaz zum Betrachten der Pflanze gemacht.
Die Blume war, da wir hinkamen bereits offen. Eine
große weiße prachtvolle fremdartige Blume. Alles
war einſtimmig im Lobe derſelben.
„So viele Menſchen den Peruvianus haben,“
ſagte Simon, „denn gar ſelten iſt er eben nicht, ſo
mächtig groß ſie auch ſeinen Stamm ziehen, ſo ſelten
bringen ſie ihn zur Blüthe. Wenige Menſchen in Eu¬
ropa haben dieſe weiße Blume geſehen. Jezt öffnet
ſie ſich, morgen mit Tagesanbruch iſt ſie hin. Sie iſt
koſtbar mit ihrer Gegenwart. Mir iſt es geglückt, ſie
blühen zu machen — und gerade heute. — Es iſt ein
Glück, das die wahrſte Freude hervorbringen muß.“
Wir blieben ziemlich lange, und erwarteten das
völlige Entfalten.
„Es kommen auch nicht viele Blumen wie bei
gemeinen Gewächſen hervor,“ ſagte Simon wieder,
„ſondern ſtets nur eine, ſpäter etwa wieder eine.“
Mein Gaſtfreund ſchien wirklich Freude an der
Blume zu haben, ebenſo auch Mathilde. Natalie
[427] und ich dankten Simon beſonders für ſeine große
Aufmerkſamkeit, und ſagten, daß wir ihm dieſe Über¬
raſchung nie vergeſſen werden. Dem alten Manne
ſtanden die Thränen in den Augen. Er hatte Lampen
um die Blume angebracht, die bei hereinbrechender
Dämmerung angezündet werden ſollten, wenn etwa
jemand die Blume in der Nacht betrachten wolle. Bei
längerem Anſchauen gefiel uns die Blume immer
mehr. Es dürften in unſern Gärten wenige ſein,
die an Seltſamkeit Vornehmheit und Schönheit ihr
gleichen. Von den Anweſenden hatte ſie nie einer
geſehen. Wir gingen endlich fort, und der eine und
der andere verſprach, im Laufe des Abends noch ein¬
mal zu kommen.
Da wir auf dem Rückwege waren, und an dem
Gebüſche, das ſich in der Nähe des Lindenganges
befindet, vorbeigingen, ertönte dicht am Wege in den
Büſchen ein Zitherklang. Riſach, welcher meine Mut¬
ter führte, blieb ſtehen‚ ebenſo mein Vater und Ma¬
thilde, und dann auch die andern, die ſich eben in
unſerer Nähe befanden. Ich war mit Natalien mehr
gegen den Buſch getreten; denn ich erkannte augen¬
blicklich den Klang meines Zitherſpiellehrers. Er
trug eine ihm eigenthümliche Weiſe vor, dann hielt
[428] er inne, dann ſpielte er wieder, dann hielt er wieder
inne, und ſo fort. Es waren lauter Weiſen, die er
ſelber erſonnen hatte, oder die ihm vielleicht eben in
dem Augenblicke in den Sinn gekommen waren. Er
ſpielte mit aller Kraft und Kunſt, die ich an ihm ſo
oft bewundert hatte, ja er ſchien heute noch beſſer als
je zu ſpielen. Es war, als wenn er nichts auf Erden
liebte als ſeine Zither. Alles, was ſich in der Nähe
befand, lauſchte unbeweglich, und nicht einmal ein
Zeichen eines Beifalles wurde laut. Nur Mathilde
ſah einmal auf Natalien hin und zwar ſo bedeut¬
ſam, als wollte ſie ſagen: das haben wir nicht ge¬
hört, und das vermögen wir nicht hervorzubringen.
Die Zither war ein lebendiges Weſen, das in einer
Sprache ſprach, die allen fremd war, und die alle
verſtanden. Als die Töne endlich nicht mehr wieder
beginnen zu wollen ſchienen, trat ich mit Natalien
ins Gebüſch, und da ſaß mein Zitherſpiellehrer an
einem Tiſchchen, und hatte ſeine Zither vor ſich. Sein
Anzug war graues Tuch und ſehr abgetragen, ſein
grüner Hut lag neben der Zither auf dem Tiſche.
„Joſeph, biſt du wieder in der Gegend?“ fragte
ich ihn.
[429]
„So recht nicht,“ antwortete er, „ich bin gekom¬
men, euch auf der Hochzeit einmal gut aufzuſpielen.“
„Das haſt du gethan, und das kann keiner ſo,“
ſagte ich, „du ſollſt dafür eine Freude haben, und ich
weiß dir eine zu verſchaffen, welche dir die größte iſt.
Beſſere Hände können das, was ich dir geben will,
nicht faſſen, als die deinen. Das Rechte muß zuſam¬
menkommen. Ich bin dir ohnehin auch noch einen
Dank ſchuldig für dein eifriges Lehren und für deine
Begleitung im Gebirge.“
„Dafür habt ihr mich bezahlt, und das Heutige
that ich freiwillig,“ ſagte er.
„Warte nur einige Tage hier, dann wirſt du
empfangen, was ich meine,“ ſprach ich.
„Ich warte gerne,“ erwiederte er.
„Du ſollſt gut gehalten ſein,“ ſagte ich.
Indeſſen waren alle andern auch herbeigekommen,
und überſchütteten den Mann mit Lob. Riſach lud
ihn ein, eine Weile in ſeinem Hauſe zu bleiben. Er
ſpielte noch einige Weiſen, er vergaß beinahe, daß
ihm jemand zuhöre, ſpielte ſich hinein, und hörte end¬
lich auf, ohne auf die Umſtehenden Rückſicht zu neh¬
men, genau ſo, wie er es immer that. Wir entfern¬
ten uns dann.
[430]
Ich rief ſogleich den Hausverwalter herbei, ſagte
ihm, er möge mir einen Boten beſorgen, welcher auf
der Stelle in das Echerthal abzugehen bereit ſei. Der
Hausverwalter verſprach es. Ich ſchrieb einige Zeilen
an den Zithermacher, legte das nöthige Geld bei,
verſprach noch mehr zu ſenden, wenn es nöthig ſein
ſollte, und verlangte, daß er die dritte Zither, welche
die gleiche von der meinigen und der meiner Schwe¬
ſter ſei, in eine Kiſte wohlverpackt dem Boten mitgebe,
der den Brief bringt. Der Bote erſchien, ich gab ihm
das Schreiben und die nöthigen Weiſungen, und er
verſprach, die heutige Nacht zu Hilfe zu nehmen, und
in kürzeſter Friſt zurück zu ſein. Ich hielt mich nun
für ſicher, daß nicht etwa im lezten Augenblicke die
Zither wegkomme, wenn ſie überhaupt noch da ſei.
Indeſſen war es tief Abend geworden. Ich ging
mit Natalien und Klotilden noch einmal zu dem Ce¬
reus Peruvianus, der im Lampenlichte faſt noch ſchö¬
ner war. Simon ſchien bei ihm wachen zu wollen.
Immer gingen Leute ab und zu. Joſeph hörten wir
auch noch einmal ſpielen. Er ſpielte in der großen
unteren Stube, wir traten ein, er hatte guten Wein
vor ſich, den ihm Riſach geſendet hatte. Das ganze
Hausvolk war um ihn verſammelt. Wir hörten lange
[431] zu, und Klotilde begrif jezt, warum ich im Gebirge
ſo geſtrebt habe, daß ſie dieſen Mann höre.
Ein Theil der Gäſte hatte noch heute das Haus
verlaſſen, ein anderer wollte es bei Anbruch des näch¬
ſten Tages thun, und einige wollten noch bleiben.
Im Laufe des folgenden Vormittages, da ſich die
Zahl der Anweſenden ſchon ſehr gelichtet hatte, kamen
noch einige Geſchenke zum Vorſcheine. Riſach führte
uns in das Vorrathshaus, welches neben dem Schrei¬
nerhauſe war. Dort hatte man einen Plaz geſchafft,
auf welchem mehrere mit Tüchern verhüllte Gegen¬
ſtände ſtanden. Riſach ließ den erſten enthüllen, es war
ein kunſtreich geſchnittener Tiſch, und hatte den Mar¬
mor als Platte, welchen ich einſt meinem Gaſtfreunde
gebracht hatte, und über deſſen Schickſal ich ſpäter in
Ungewißheit war.
„Die Platte iſt ſchöner als tauſende,“ ſagte Ri¬
ſach, „darum gebe ich das Geſchenk meines einſtigen
Freundes in dieſer Geſtalt meinem jezigen Sohne.
Keinen Dank, bis alles vorüber iſt.“
Nun wurde ein großer hoher Schrein enthüllt.
„Ein Scherz von Euſtach an dich, mein Sohn,“
ſagte Riſach.
Der Schrein war von allen Hölzern, welche unſer
[432] Land aufzuweiſen hat, in eingelegter Arbeit verfertigt.
Euſtach hatte die Zuſammenſtellung entworfen. Die
Sache ſah außerordentlich reizend aus. Ich hatte bei
meinem Winterbeſuche im Asperhofe an dieſem Schrei¬
ne arbeiten geſehen. Ich hatte damals die Anſamm¬
lung von Hölzern ſeltſam gefunden, auch hatte ich
den Zweck des Schreines nicht erkannt. Er war in
mein Arbeitszimmer für meine Mappen beſtimmt.
Zulezt wurden mehrere Gegenſtände enthüllt. Es
waren die Ergänzungen zu meines Vaters Vertäflun¬
gen. Das war gleich auf den erſten Blick zu erken¬
nen, und erregte Freude; aber ob ſie die rechten oder
nachgebildete ſeien, war nicht zu entſcheiden. Riſach
klärte alles auf. Es waren nachgebildete. Zu dieſem
Behufe hatte man von mir die Abbildungen der Ver¬
täflungen des Vaters verlangt. Roland hatte vergeb¬
lich nach den echten geforſcht. Er hatte Meſſungen
nach den vorhandenen Reſten vorgenommen, und nach
Orten geſucht, auf welche die Meſſungen paßten. In
einem abgelegenen Theile der Holzbauten des ſteiner¬
nen Hauſes hatte er endlich Bohlen gefunden, welche
den Meſſungen genau entſprachen. Die Bohlen wa¬
ren theils vermorſcht, theils zerriſſen, und trugen die
Verlezungen, wie man die Schnizereien von ihnen herab
[433] geriſſen hatte. Es war nun faſt gewiß, daß die Er¬
gänzungen verloren gegangen ſeien. Man machte da¬
her die Nachbildungen. In demſelben Winterbeſuche
hatte ich auch das Bohlenwerk zu dieſen Schnizereien
geſehen. Mein Vater erklärte die Arbeit für außer¬
ordentlich ſchön.
„Sie hat auch lange gedauert, mein lieber Freund,“
ſagte Riſach, „aber wir haben ſie für dich zu Stande
gebracht, und ſie wird genau in dein Glashäuschen
paſſen, oder leicht einzupaſſen ſein; außer du zögeſt
vor, die Schnizereien in den Drenhof bringen zu
laſſen.“
„So wird es auch geſchehen, mein Freund,“ ſagte
mein Vater.
Nun ging es erſt an ein Dankſagen und an ein
Ausdrücken der Freude. Die Geber lehnten jeden Dank
von ſich ab. Man beſchloß, die Gegenſtände in kurzer
Zeit auf ihren Beſtimmungsort zu bringen.
An dieſem Tage und in den folgenden verließen
uns nach und nach alle Fremden, und erſt jezt begann
ein liebes Leben unter lauter Angehörigen. Riſach
hatte für mich und Natalien eine ſehr ſchöne Woh¬
nung herrichten laſſen. Sie konnte nicht groß ſein,
war aber ſehr zierlich. In den zwei Jahren meiner
Stifter, Nachſommer. III. 28[434] Abweſenheit waren ihre Wände bekleidet und waren
neue ausgezeichnete Geräthe für ſie angeſchafft wor¬
den. Wir beſchloßen aber unſere regelmäßige Woh¬
nung ſo lange in dem Sternenhofe aufzuſchlagen, bis
ihn Guſtav würde übernehmen können, damit Ma¬
thilde in der Zwiſchenzeit nicht zu vereinſamt wäre.
Dabei würde ich oft in den Asperhof kommen, um
mit Riſach zu berathſchlagen oder zu arbeiten, oft
würden auch die andern kommen, und oft würden wir
uns da, oder im Guſterhofe oder im Sternenhofe
oder in der Stadt beſuchen, und zeitweilig dort woh¬
nen. Mit Natalien hatte ich eine größere Reiſe vor.
Für den Fall, daß ich in was immer für Angelegen¬
heiten abweſend ſein ſollte, nahm jedes Haus das
Recht in Anſpruch, Natalien beherbergen zu dürfen.
Der Zitherſpieler ſpielte täglich und oft ziemlich lange
vor uns. Am fünften Tage kam die Zither. Ich über¬
reichte ſie ihm, und er, da er ſie erkannte, wurde faſt
blaß vor Freude. Dieſes Geſchenk durfte das Beſte
für ihn genannt werden; von dieſem Geſchenke wird
er ſich nicht trennen, während es von jedem andern
zweifelhaft wäre, ob er es nicht verſchleudere. Als
er die Zither geſtimmt, und auf ihr geſpielt hatte,
ſahen wir erſt, wie trefflich ſie ſei. Er wollte faſt gar
[435] nicht aufhören zu ſpielen. Riſach ließ ihm noch über
ihr Fach ein waſſerdichtes Lederbehältniß machen. Nach
mehreren Tagen nahm er Abſchied, und verließ uns.
Wir machten alle eine kleine Reiſe in das Ahorn¬
wirthshaus, und ich ſtellte Kaspar und alle andern,
die mit mir in Verbindung geweſen waren, Riſach
Mathilden meinen Eltern und Natalien vor. Wir
blieben ſechs Tage in dem Ahornhauſe. Von da gin¬
gen wir in den Sternenhof. Die Tünche war nun
überall von ihm weggenommen worden, und er ſtand
in ſeiner reinen urſprünglichen Geſtalt da. Auch hier
wurden wir in die Wohnung eingeführt, die während
meiner Abweſenheit für uns hergeſtellt worden war.
Sie konnte in dem weitläufigen Gebäude viel größer
ſein als die im Asperhofe. Sie war zu einer voll¬
ſtändigen Haushaltung hergerichtet.
Von dem Sternenhofe gingen wir in die Stadt.
Dort machten wir alle Beſuche, welche in den Krei¬
ſen meiner Eltern und in denen Mathildens noth¬
wendig waren. Riſach ſtellte manchem Freunde ſeine
angenommene und neuvermählte Tochter nebſt ihrem
Gatten und ihrer Mutter vor. Ich erfuhr, daß meine
Vermählung mit Natalie Tarona Aufſehen errege;
ich erfuhr, daß insbeſonders einige meiner Freunde
28 *[436] — ſie hatten ſich wenigſtens immer ſo genannt —
geäußert haben, das ſei unbegreiflich. Nataliens Nei¬
gung zu mir war mir ſtets ein Geſchenk und daher
unbegreiflich; da aber nun dieſe es ausſprachen, be¬
grif ich, daß es nicht unbegreiflich ſei. Ich beſuchte
meinen Juwelenfreund, der wirklich ein Freund ge¬
blieben war. Er hatte die innigſte Freude über mein
Glück. Ich führte ihn in unſere Familien ein. Be¬
kannt war er mit allen Theilen ſchon lange geweſen.
Ich dankte ihm ſehr für die prachtvolle Faſſung der
Diamanten und Rubinen und des Smaragdſchmuckes.
Er fühlte ſich über Riſachs und meines Vaters Ur¬
theil ſehr beglückt.
„Wenn wir ſolche Kunden in großer Zahl hätten,
wie dieſe zwei Männer ſind, theurer Freund,“ ſagte
er, „dann würde unſere Beſchäftigung bald an die
Grenzen der Kunſt gelangen, ja ſich mit ihr vereini¬
gen. Wir würden freudig arbeiten, und die Käufer
würden erkennen, daß die geiſtige Arbeit auch einen
Preis habe wie die Steine und das Gold.“
Ich nahm bei ihm eine ſehr werthvolle und mit
Kunſt verzierte Uhr als Gegenſcherz für Euſtachs
Mappenſchrein. Klotilde hatte ſie ausgewählt. Für
Roland ließ ich einen Rubin in einen Ring faſſen,
[437] daß er ihn zur Erinnerung an mich trage, und meine
Dankbarkeit für ſeine Bemühungen zur Auffindung
der Ergänzungen der Pfeilerverkleidungen anerkenne.
„Er iſt ohnehin ein Nebenbuhler von mir,“ ſagte
ich, „er hat Natalien oft lange und bedeutend ange¬
ſehen.“
„Das hat einen ſehr unſchuldigen Grund,“ ent¬
gegnete mein Gaſtfreund, „Roland erwarb ſich ein
Liebchen mit gleichen Augen und Haaren, wie ſie
Natalie beſizt. Er hat uns das öfter geſagt. Das
Mädchen iſt die Tochter eines Forſtmeiſters im Ge¬
birge, und ihm äußerſt zugethan. Da nun der Arme
ihren Anblick oft lange entbehren muß, ſo ſah er zur
Erquickung Natalien an. Es hat Schwierigkeiten mit
dieſem jungen Manne, ich wünſche ſein Wohl. Er
kann ein bedeutender Künſtler werden oder auch ein
unglücklicher Menſch, wenn ſich nehmlich ſein Feuer,
das der Kunſt entgegen wallt, von ſeinem Gegen¬
ſtande abwendet, und ſich gegen das Innere des jun¬
gen Mannes richtet. Ich hoffe aber, daß ich alles
werde ins Gleiche bringen können.“
Da alle nothwendigen Dinge in der Stadt abge¬
than waren, wurde die Rückreiſe angetreten, und zwar
in den Asperhof. Die Zeit der Roſenblüthe war
[438] herangerückt, und heuer ſollte ſie von den vereinigten
Familien als ein Denkzeichen der Vergangenheit und
aber auch als eins der Zukunft zum erſten Male in
dieſer Vereinigung und mit beſonderer Feſtlichkeit
begangen werden. Mein Vater ſollte ſehen, welche
Gewalt die Menge und die Manigfaltigkeit auszu¬
üben im Stande iſt, wenn dieſe Menge und Manig¬
faltigkeit auch nur lauter Roſen ſind. Nach Verlauf
der Roſenblüthe ſollte alles und jedes, das durch
dieſe Vermählung unterbrochen worden war, in das
alte Geleiſe zurückkehren.
Da wir in dem Asperhofe angekommen waren,
gelangte ich erſt zu einiger Ruhe. Da ſah ich auch gele¬
gentlich die Papiere an, die uns Riſach und der Vater
gegeben hatten, und erſtaunte ſehr. Beide enthiel¬
ten für uns viel mehr als wir nur entfernt vermuthet
hatten. Riſach wollte bis zu ſeinem Tode das Haus
in der Art wie bisher fort bewirthſchaften, damit, wie
er ſagte, er ſeinen Nachſommer bis zum Ende ausgenie¬
ßen könne. Unſer Rath und unſere Hilfe in der Bewirth¬
ſchaftung wird ihm Freude machen. Einen namhaften
Theil ſeiner Barſchaft hatte er uns übergeben. Und
weil öfter zwei Familien in dem Asperhofe ſein kön¬
nen, ſo lagen den Papieren Plane bei, daß auf einem
[439] ſchönen Plaze zwiſchen dem Roſenhauſe und dem
Meierhofe hart am Getreide ein neues Haus auf¬
geführt und ſogleich zum Baue geſchritten werden
möge. Aber auch das von dem Vater uns Übergebene
war der geſammten Habe Riſachs ebenbürtig, und
übertraf weit meine Erwartungen. Als wir unſern
Dank abſtatteten, und ich mein Befremden ausdrückte,
ſagte der Vater: „du kannſt darüber ganz ruhig ſein;
ich thue mir und Klotilden keinen Abbruch. Ich habe
auch meine heimlichen Freuden und meine Leiden¬
ſchaften gehabt. Das geben verachtete bürgerliche
Gewerbe eben bürgerlich und ſchlicht betrieben. Was
unſcheinbar iſt, hat auch ſeinen Stolz und ſeine Größe.
Jezt aber will ich der Schreibſtubenleidenſchaft, die
ſich nach und nach eingefunden, Lebewohl ſagen, und
nur meinen kleineren Spielereien leben, daß ich auch
einen Nachſommer habe wie dein Riſach.“
Als wir einige Zeit in dem Roſenhauſe verweilt
hatten, traten eines Tages Natalie und ich zu unſerem
neuen Vater, und bathen ihn, er möge ein Verſprechen
von uns annehmen, deſſen Annahme uns ſehr freuen
würde.
„Und was iſt das?“ fragte er.
„Daß wir, wenn du uns dereinſt in dieſer Welt
[440] früher verlaſſen ſollteſt als wir dich, keine Verände¬
rung in allem, wie es ſich in dem Hauſe und in der
Beſizung vorfindet, machen wollen, damit dein theu¬
res Andenken beſtehe und forterbe,“ ſagten wir.
„Da thut ihr zu viel,“ antwortete er, „ihr ver¬
ſprecht etwas, deſſen Größe ihr nicht kennt. Dieſe
Bande darf ich nicht um euren Willen und eure Ver¬
hältniſſe legen, ſie könnten von den übelſten Folgen
ſein. Wollt ihr mein Gedächtniß in manigfachem
Beſtehenlaſſen ehren, thut es, und pflanzt auch euren
Nachkommen dieſen Sinn ein, ſonſt ändert, wie ihr
wünſcht, und wie es noth thut. Wir wollen, ſo lange
ich lebe, ſelber noch mit einander ändern verſchönern
bauen; ich will noch eine Freude haben, und mit euch
zu ändern und zu wirken iſt mir lieber, als wenn ich
es allein thue.“
„Aber der Erlenbach muß als Denkmal der ſchö¬
nen Geräthe beſtehen bleiben.“
„Sezt eine Urkunde auf, daß ihm nichts angethan
werde von Geſchlecht zu Geſchlecht, bis ſeine Reſte
vermodern, oder ein Wolkenguß ihn von ſeiner Stelle
feget.“
Er küßte Natalien, wie er gerne that, auf die
Stirne, mir reichte er die Hand.
[441]
Als die Roſenzeit wirklich recht innig und zum
Staunen meiner Angehörigen, welche ſo etwas nie
geſehen hatten, vorüber gegangen war, nahmen wir
Abſchied, die Vereinigung, welche nun ſo lange be¬
ſtanden hatte, löste ſich, und die Tage kehrten in
ihren gewöhnlichen Abfluß zurück. Meine Eltern gin¬
gen mit Klotilden in den Guſterhof, wo ſie bis zum
Winter bleiben wollten, und ich ſiedelte mit Natalien
in unſere ſtändige Wohnung in den Sternenhof über.
Wir ſollten nun die eigentliche Familie desſelben ſein,
Mathilde werde bei uns wohnen und mit an unſerem
Tiſche ſpeiſen. Die Bewirthſchaftung des Gutes ſollte
ebenfalls ich leiten. Ich übernahm die Pflicht und
bath um Mathildens Beihilfe, ſo ausgedehnt ſie die¬
ſelbe leiſten wolle. Sie ſagte es zu.
So rückte nun die Zeit in ihr altes Recht, und
ein einfaches gleichmäßiges Leben ging Woche nach
Woche dahin.
Nur im Herbſte fand eine Abwechslung ſtatt.
Die Vettern aus dem Geburtshauſe des Vaters be¬
ſuchten meine Eltern in dem Guſterhofe. Wir fuhren
zu ihnen hinüber. Der Vater ließ ſie reichlich beſchenkt
in einem Wagen in ihre Heimath zurückführen.
Mit Beginn des Winters war Rolands Bild fer¬
[442] tig. Es war ſeiner Größe willen zu rollen, hatte
einen großen Goldrahmen, der zu zerlegen war,
und wurde in dem Marmorſaale auf einer Staffelei
aufgeſtellt. Wir reiſten alle in den Asperhof. Das
Bild wurde vielfach betrachtet und beſprochen. Ro¬
land war in einer gehobenen ſchwebenden Stimmung;
denn was auch die Meinung ſeiner Umgebung war,
wie ſehr ſie auch das Hervorgebrachte lobte, und
wohl auch Hindeutungen gab, was noch zu verbeſſern
wäre: ſo mochte ihm ſein Inneres verſprechen, daß
er einmal vielleicht noch weit Höheres ja ein ganz
Großes zu Stande zu bringen vermögen werde. Riſach
ſagte ihm die Mittel zu, reiſen zu können, und ord¬
nete die Zubereitung zu einer baldigen Abreiſe nach
Rom an. Guſtav mußte noch den Winter im As¬
perhofe zubringen. Im Frühlinge ſollte er endlich in
die Welt gehen.
So waren nun manigfaltige Beziehungen geord¬
net und geknüpft.
Mathilde hatte einmal, da ich ſie im Sternenhofe
beſuchte, zu mir geſagt, das Leben der Frauen ſei ein
beſchränktes und abhängiges, ſie und Natalie hätten
den Halt von Verwandten verloren, ſie müßten Man¬
ches aus ſich ſchöpfen wie ein Mann, und in dem
[443] Widerſcheine ihrer Freunde leben. Das ſei ihre Lage,
ſie daure ihrer Natur nach fort, und gehe ihrer Ent¬
wicklung entgegen. Ich hatte mir die Worte gemerkt,
und hatte ſie tief ins Herz genommen.
Ein Theil dieſer Entwicklung, glaubte ich nun, war
gekommen, der zweite wird mit Guſtavs Anſiedlung
eintreten. An mir hatten die Frauen wieder einen
Halt gewonnen, daß ſich ein feſter Kern ihres Da¬
ſeins wieder darſtelle; ein neues Band war durch mich
von ihnen zu den Meinigen geſchlungen, und ſelbſt
das Verhältniß zu Riſach hatte an Rundung und
Feſtigkeit gewonnen. Den Abſchluß der Familienzu¬
ſammengehörigkeit wird dann Guſtav bringen.
Was mich ſelber anbelangt, ſo hatte ich nach der
gemeinſchaftlichen Reiſe in die höheren Lande die Frage
an mich geſtellt, ob ein Umgang mit lieben Freunden
ob die Kunſt die Dichtung die Wiſſenſchaft das Leben
umſchreibe und vollende, oder ob es noch ein Ferneres
gäbe, das es umſchließe, und es mit weit größerem
Glück erfülle. Dieſes größere Glück, ein Glück, das
unerſchöpflich ſcheint, iſt mir nun von einer ganz an¬
deren Seite gekommen als ich damals ahnte. Ob ich
es nun in der Wiſſenſchaft, der ich nie abtrünnig
werden wollte, weit werde bringen können, ob mir
[444] Gott die Gnade geben wird, unter den Großen der¬
ſelben zu ſein, das weiß ich nicht; aber eines iſt ge¬
wiß, das reine Familienleben, wie es Riſach ver¬
langt, iſt gegründet, es wird, wie unſre Neigung
und unſre Herzen verbürgen, in ungeminderter Fülle
dauern, ich werde meine Habe verwalten, werde
ſonſt noch nüzen, und jedes ſelbſt das wiſſenſchaft¬
liche Beſtreben hat nun Einfachheit Halt und Be¬
deutung.
Ende.
Appendix A
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der Nachsommer. Der Nachsommer. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bndw.0