[][][][][][][[I]]
UEBER DIE LAUTGESETZE.
GEGEN DIE JUNGGRAMMATIKER.


[figure]
BERLIN: ,
VERLAG VON ROBERT OPPENHEIM.
1885.

[[II]][[III]]

Dem Junggrammatiker
Gustav Meyer
freundnachbarlichst
zugeeignet.


[[IV]][[V]]
  • A. Leskien, Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen.
    Leipzig 1876. S. XXVIII
  • H. Osthoff₁ und K. Brugman₁, Morphologische Untersuchungen auf
    dem Gebiete der indogermanischen Sprachen. I. Th. Leipzig
    1878. Vorwort.
  • A. Bezzenberger, Besprechung der vorgenannten Schrift in den Gött.
    Gel. Anz. vom 21. u. 28. Mai 1879.
  • H. Collitz, desgleichen im Anz. f. d. Alt. u. d. Litt. V. Bd. Berlin 1879.
  • K. Brugman2 in Kuhn's Zeitschr. XXIV, 4 ff. Berlin 1879.
  • A. Brückner im Archiv für slav. Philol. III, 240 ff. Berlin 1879.
  • H. Paul₁ in Paul und Braune's Beitr. z. G. d. d. Spr. u. Lit. VI, 1 ff.
    Halle 1879.
  • H. Osthoff2, Das physiologische und psychologische Moment in der
    sprachlichen Formenbildung. [Samml. gemeinv. wiss. Vortr.
    Heft 327.] Berlin 1879.
  • L. Tobler₁, Über die Anwendung des Begriffes von Gesetzen auf die
    Sprache. [Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. III. Bd. Leipzig 1879.]
  • F. Misteli, Lautgesetz und Analogie. [Zeitschr. f. Völkerpsych. u.
    Sprachw. XI. u. XII. Bd. Berlin 1880.]
  • B. Delbrück₁, Einleitung in das Sprachstudium. Leipzig 1880. —
    2Zweite Auflage. Leipzig 1884.
  • H. Paul2, Principien der Sprachgeschichte. Halle 1880.
  • L. Tobler2, Besprechung der vorgenannten Schrift in Behaghel's und
    Neumann's Literaturblatt vom April 1881.
  • G. I. Ascoli, Una lettera glottologica S. 7 ff. [Rivista di filol. e d'istr.
    class. X. Bd. Torino 1881.]
  • F. D'Ovidio, D'un recente libro di Delbrück S. 43 ff. [ebenda.]
  • J. Schmidt₁, in Kuhn's Zeitschr. XXVI, 329 ff. Berlin 1883.
  • Н. Крушевскiй, Очеркъ Науки о языкъ. Казань 1883.
  • F. Masing, Lautgesetz und Analogie in der Methode der vergleichenden
    Sprachwissenschaft. Petersburg 1883.
  • W. Wundt, Logik II, 500. 550 ff. Stuttgart 1883.
  • M. Bloomfield, On the Probability of the Existence of Phonetic Law.
    [American Journal of Philology. V. Bd. Baltimore 1884.]
  • F. Müller, Sind die Lautgesetze Naturgesetze? [Techmer's Zeitschr.
    I. Bd. Leipzig 1884.]
  • G. Körting, Encyklopädie und Methodologie der romanischen Philologie
    II, 43 ff. Heilbronn 1884.
  • F. Neumann in der Zeitschr. f. rom. Philol. VIII, 363 f. Halle 1884.
  • G. Curtius, Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig 1885.
  • J. Schmidt2, Besprechung der vorgenannten Schrift in der Deutschen
    Litteraturzeitung vom 7. März 1885.
  • K. Brugmann3, Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft. Strassburg
    1885.
  • B. Delbrück3, Die neueste Sprachforschung. Betrachtungen über Georg
    Curtius' Schrift Z. Kr. d. n. Sprachf. Leipzig 1885.
  • P. Merlo, Cenni sullo stato presente della grammatica ariana istorica e
    preistorica a proposito di un libro di G. Curtius. [Rivista di
    filol. e d'istr. class. XIV. Bd. Torino 1885.]
[[1]]

Der einzige Satz den die sog. junggrammatische
Schule als ihr ausschliessliches Eigenthum betrachten
darf, ist der von der ausnahmslosen Wirkung
der Lautgesetze
. Er tritt auch in Schriften auf
welche weniger für die Adepten als für die Lehrlinge
und Laien bestimmt sind, und zwar trotz des lebhaf-
testen dagegen erhobenen Widerspruches, ja zum Theil
ohne jeden Hinweis auf ihn. Immerhin würde ich
dem von gewisser Seite gemachten Vorschlag die
Streitaxt bis auf Weiteres zu vergraben, bereitwillig
Folge leisten, wenn sich zwei Parteien mit ganz ein-
heitlichen Bekenntnissformeln gegenüberstünden, es
also nur eines Wortes zur Kennzeichnung des eigenen
Standpunktes bedürfte. Dies ist nicht der Fall: die-
selbe Sache wird auf ziemlich verschiedene Weise ver-
fochten; die Discussion bewegt sich meist nicht in
strengen Geleisen, sondern verliert sich gern in Special-
fragen der indogermanischen Sprachgeschichte; Manche
scheinen da wo es nur eine Alternative zwischen Ja
und Nein gibt, eine Vermittelung für möglich zu
halten, Manche schwanken, Manche schweigen. Wieder-
holte gelegentliche Ausserungen stellen vielleicht gegen
die Gefahr eines falschen Verdachtes nicht hinlänglich
sicher, und so möge man es mir nicht verdenken dass
ich meinerseits die von allem Anfang an stark em-
Schuchardt, Über die Lautgesetze. 1

[2] pfundene Abneigung gegen das junggrammatische Prin-
cip nun endlich zum Ausdruck bringe. Das Meiste
was ich sage, ist freilich schon gesagt worden, und
theilweise gewiss besser; indessen hoffe ich durch
schematische Kürze und Hervorhebung einiger mehr
oder minder unbeachtet gebliebenen Punkte auch auf
die Stellungnahme Anderer in dieser allerwichtigsten
Angelegenheit einen fördernden Einfluss auszuüben.
Die vorangesetzte Liste von Schriften und Stellen ist
nach keinem bestimmten Grundsatz angefertigt wor-
den; sie umfasst nur das was ich bei meiner Arbeit
gerade zu Händen gehabt habe.


Die Natur des vorliegenden Satzes schliesst, wie
dies von junggrammatischer Seite selbst zugestanden
wird, die inductive Beweisführung aus. Die bis-
herigen Versuche einer deductiven aber betrachte
ich als misslungen; sie leiden an starken, mannig-
fachen Unterschiebungen: man fasst minimale Diffe-
renzen als Nullen, Übergänge als Gegensätze, Empi-
risches als Apriorisches, Complicirtes als Einfaches.
Dass nun bei dem deductiven Charakter der folgenden
Darstellung die hie und da vorgebrachten Beispiele
nur den Dienst der Veranschaulichung leisten, das zu
bemerken ist vielleicht nicht überflüssig; die Wider-
legung seitens der Gegner müsste sich nicht auf die
einzelne Thatsache, sondern auf die allgemeine Mög-
lichkeit beziehen.


In dem Urtheil: „die Lautgesetze wirken aus-
nahmslos“, ruft sowohl das Subject wie das Prä-
dicat gewichtige Bedenken hervor.


Wenn Wundt hier ein logisches Postulat erblickt,
so rührt dies daher dass er den Ausdruck „Laut-
gesetze“ schon im juuggrammatischen Sinne nimmt,

[3] während doch so viel gesagt sein soll wie: „was man
bisher als Lautgesetze bezeichnet hat, das sind wirk-
liche, d. h. ausnahmslose Gesetze, im Sinne der Natur-
gesetze“. Mehr empfiehlt sich daher die Formulirung:
„der Lautwandel geht nach ausnahmslosen Gesetzen
vor sich“. Jene Zusammenfassung der Lautgesetze
mit den Naturgesetzen, auf welche man sich zuerst
soviel zu Gute that, wurde später, besonders nach der
vortrefflichen, leider nicht allgemein gewürdigten Dar-
stellung Tobler₁'s von den Führern wieder aufgegeben.
Wenn Andere, wie Körting, sie noch beibehalten, so
erscheint mir dies durchaus consequent; durch die-
selben Umstände durch welche die Ähnlichkeit der
Lautgesetze mit den Naturgesetzen, wird auch ihre
Ausnahmslosigkeit hinfällig. Der Ausdruck „Laut-
gesetze“ ist noch in einer anderen Hinsicht unzweck-
mässig. Obwohl ich ihn hier immer, dem allgemeinen
Gebrauche folgend, von Gesetzen des Lautwandels ver-
stehe, so kann man ihn mit gleichem oder mit grös-
serem Rechte auf solche des Lautbestandes beziehen.
Das thut Kruszewski, und zwar spricht er diesen, den
statischen Gesetzen Absolutheit zu; in Bezug auf die
anderen, die dynamischen erscheinen mir seine Äus-
serungen nicht völlig übereinstimmend.


Das Wort „Ausnahme“ drückt ein ganz äusser-
liches Verhältniss aus, schliesst keinen Hinweis auf die
wirkenden Kräfte in sich; man macht darum über-
haupt und besonders im gegebenen Falle zwischen
scheinbaren und wirklichen Ausnahmen einen unbe-
gründeten Unterschied. Die Ausnahmen von welchen
bei der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze abgesehen
werden soll, bestehen in der Kreuzung mit anderen
Lautgesetzen, in der dialektischen Mischung und in
1*

[4] der Einwirkung begrifflicher Associationen. Von diesen
drei Factoren erheischt der erste für unseren Zweck
keine nähere Prüfung, der zweite wird eine solche
gelegentlich der örtlichen Begrenztheit finden, der
dritte sofort. Er steht im Vordergrund der jung-
grammatischen Ausführungen, man bringt ihn geradezu
in Antithese zu der lautlichen Gesetzmässigkeit, als
den „psychologischen" zum „physiologischen“ Factor.


Die Frage nach der äusseren Beziehung,
dem Rangverhältniss der beiden Factoren zueinander
hat schon Tobler2 aufgeworfen und die Schwierig-
keiten der Beantwortung mit feinstem Verständniss
dargethan. Es besteht zunächst die Möglichkeit der
Unterordnung: der eine Factor ist der constitutive
oder normale, der andere der störende oder anomale.
Man hat dann als den letzteren den psychologischen
gedacht. Allein wenn man sich hierbei auf den äusseren
Anschein beruft, so frägt es sich ob nicht Fälle nach-
zuweisen sind — Tobler2 weiss Nichts davon — in
denen grosse analogische Gruppen durch vereinzelte
Wirkungen von Lautgesetzen beeinträchtigt erscheinen.
Im Spanischen und Portugiesischen gehen sämmtliche
alten Participien auf -udo jetzt auf -ido aus; konnte
nicht eines oder das andere aus rein lautlichem Grunde
bleiben, etwa sabudo wegen des dem u verwandten b?
Und haben nicht vielleicht wirklich solche „mecha-
nischen“ Ursachen im Verlauf dieses Processes einen
retardirenden Einfluss geübt? Zu dergleichen beson-
deren Betrachtungen tritt nun noch das allgemeine
Bedenken den Eingriff einer Art Caprice in eine feste
Ordnung zuzugeben, und so werden wir von allen
Seiten zu der Erkenntniss gedrängt dass Gesetzmässig-
keit dem psychologischen wie dem physiologischen

[5] Sprachprincip innewohnt, mit anderen Worten, dass
beide zu coordiniren sind. Die Peripherieen ihrer
Machtkreise durchschneiden sich vielfach; welches über
das andere siegt, das hängt von den jedesmaligen Um-
ständen ab. Zur vollständigen Lösung des Problems
fehlt indessen noch Eines. Tobler2 weist darauf hin
dass „heterogene Kräfte sich nicht ausgleichen, ja
eigentlich überhaupt einander nirgends berühren kön-
nen“. Es wird kaum von vornherein die Heterogenität
von Kräften sich bestimmen lassen; sie ergibt sich
eben erst aus der absoluten Getrenntheit ihrer Wir-
kungen. Der Wille vermag im eigenen Körper sub-
stantielle Veränderungen nicht zu hemmen, wohl aber
Reflexbewegungen, und das erklärt sich daraus dass
diese weiter nichts als mechanisch gewordene Willens-
handlungen sind. Der Fall der uns beschäftigt, ist
ein ähnlicher. Wo die rein physiologische Ursache
einer Lautvertretung ausser Zweifel steht, als eigen-
thümliche Gestaltung, als natürlicher oder künstlicher
Defect der Sprachwerkzeuge, da sind analogische Aus-
nahmen unmöglich; wo wir daher solche finden, da
haben wir den Gedanken an rein physiologische Wir-
kungen aufzugeben. Der psychologische Charakter des
einen der sich durchkreuzenden Factoren bezeugt gerade
den gleichartigen Charakter des anderen; hat das etwa
schon G. Curtius gemeint, wenn er Studien z. gr. u.
lat. Gr. IX, 232 (1876) sagt: „Unter allen Umständen
muss aber die Analogie bewirkende Macht der ihrem
Einfluss unterliegenden sehr ähnlich sehen“?


So verschwimmt die Antithese vor unseren Augen,
und das Problematische der äusseren Beziehung zwischen
den beiden Factoren klärt sich auf, indem wir ihre
innere Beziehung richtig erfassen. Mancher vor-

[6] bereitende Schritt ist in dieser Richtung geschehen.
Obwohl Osthoff2 auf's Schroffste das physiologische
und psychologische Moment in der formalen Sprach-
bildung gegeneinander hielt, so war doch schon in
den „Morphologischen Untersuchungen“ das Mitwir-
ken „psychischer Factoren“ beim Lautwandel bemerkt
worden. Misteli deckte die Widersprüche auf in die
sich hierbei Osthoff₁ und Brugmann₁ verwickelt hat-
ten, aber auch seiner Vertheilung lautgeschichtlicher
Processe zwischen Physiologie und Psychologie kann
ich deswegen nicht beistimmen weil sie von einem
opportunistischen Gesichtspunkt aus vorgenommen ist,
der dann in der Schlussbetrachtung noch stärker her-
vortritt. Das Schwanken der Junggrammatiker hat
sich in die Darstellung von Wundt verpflanzt, der ja
von ihnen besonders belehrt worden zu sein scheint.
Wenn er zuerst neben den physiologischen Bedingungen
des Lautwechsels „tiefer liegende psychologische Mo-
tive, die wahrscheinlich sogar die ursprünglicheren
sind“, nicht verkannt wissen will, so spricht er später
nur von dem Einfluss physiologischer Factoren bei den
Lautveränderungen; das führt ihn dazu, nachdem er
behauptet hat dass „die Sprache von Naturbedin-
gungen nicht in wesentlich anderer Weise als andere
historische Entwickelungen abhängig“ sei, gleich darauf
von einem „naturgesetzlichen Charakter“ zu reden, dem
„sich freilich die verschiedenen Gebiete des sprach-
lichen Lebens keineswegs in gleichem Grade fügen“.
Der Unterschied in der Charakterisirung welchen
dabei Wundt zwischen dem Gegenstand und der Me-
thodik der Sprachwissenschaft macht, leuchtet mir nicht
ein. Mit Erstaunen lese ich bei Brugmann3 dass
„unter denen die sich Leskien anschlossen, bis zum

[7] Erscheinen des Curtius'schen Buches“ auch die psy-
chische Natur der Lautgesetze festgestanden habe; er
hat dabei vor Allem seinen Mitarbeiter Osthoff2 ver-
gessen, und zudem dass die von diesem in so weitem
Umfang angenommene Unfähigkeit der Sprachwerk-
zeuge zur Hervorbringung gewisser Laute in geringem
Umfang wirklich existirt. Ich habe es eben schon
ausgesprochen dass diejenigen Lautgesetze welche
durch die Analogie gestört werden können, psycho-
logisch bedingt sind; dies bestätigt sich nun dadurch
dass zwischen den Erscheinungen der beiden Kate-
gorieen keine Kluft, sondern ein Übergang wahrnehm-
bar ist, der sich etwa in folgender Reihe romanischer
Beispiele andeuten lässt: conte = comite, dunque = nunc,
treatro = theatro, eglino amano = egli amano, non grieve
ma lieve
= non grave magis leve. Es werden nicht
nur unmittelbar folgende, sondern auch entferntere
lautliche Vorstellungen anticipirt, und wiederum be-
ruhen die Analogiebildungen zum grossen Theil nicht
bloss auf einer ideellen, sondern auf einer thatsäch-
lichen Nebeneinanderstellung von Wörtern; insofern
können wir sie als eine höhere Ordnung von Assi-
milationen auffassen. Anderseits lassen sich nicht
selten Erscheinungen bei denen durchaus keine be-
grifflichen Beziehungen im Spiele sind, auf ideelle
Nebeneinanderstellung zurückführen, und da können
wir von einer niedrigeren Ordnung von Analogie-
bildungen reden. So begünstigt die Häufigkeit ge-
wisser Lautcomplexe die Neubildung identischer (z. B.
= ie in ital. pièta), oder die Häufigkeit eines ge-
wissen Lautwandels wird zur Allgemeinheit. Ich habe
vor langen Jahren den Gedanken geäussert dass im
Italienischen (und im Romanischen überhaupt) ie, uo

[8] = vulgärlat. ē̜, ō̜ ursprünglich, wie noch jetzt in man-
chen Dialekten, an ein folgendes i oder u gebunden
war: vieni, buonu, buoni. Zunächst würde es durch
begriffliche Analogie ausgedehnt worden sein: viene,
buona, dann aber auch ohne eine solche: pietra, ruota,
und Formen wie bene, bove (Plur. buoi), nove (gegenüber
nuovo) würden eben die letzten uneroberten Plätze
bedeuten. Ich weiss nicht ob meine Annahme von
einer rein lautlichen Analogie etwas ganz Neues
ist; aus Bloomfield's Citat zu schliessen, scheint
Easton in einem mir nicht bekannten Artikel zu ähn-
lichem Ergebniss gekommen zu sein. Ich bin jeden-
falls weit davon entfernt einen neuen Gegensatz auf-
zustellen, nachdem ich die Überzeugung von der Un-
haltbarkeit des früheren gewonnen habe; es wird sich
innerhalb der Gesammtheit der Analogieerscheinungen
die Thätigkeit begrifflicher Associationen kaum mit
Sicherheit begrenzen lassen. In den Sprachen in wel-
chen jetzt alle Wörter auf der ersten Silbe betont
sind, war es ursprünglich nur die Mehrzahl, insofern
die erste Silbe auch die bedeutungsvollste war; hat
nun die Mehrzahl in Bausch und Bogen auf die Minder-
zahl gewirkt, oder hat der Fortschritt ganz allmählich,
immer nur zwischen begrifflich verwandten Wörtern
stattgefunden? Zuweilen ist die begriffliche Beziehung
eine so allgemeine dass man sie leicht übersieht;
Manche pflegen z. B. die mehreren Sprachen gemein-
same Verwandlung jedes tönenden Auslautes in den
entsprechenden tonlosen als ein reines Lautgesetz zu
betrachten, während es als solches nur vor tonlosem
Anlaut gelten kann, und die Verallgemeinerung auf
der Bedeutungsidentität beruht. Über das Einzelne
mögen Zweifel noch obwalten; aber im Ganzen sollte

[9] man doch die Einheitlichkeit des Sprachlebens zu-
geben, es sich nicht als den Widerstreit eines Ormuzd
und Ahriman vorstellen.


Wenn ein Naturforscher zum ersten Mal von der
Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze hört, so wird er
wahrscheinlich an immer und überall geltende Laut-
gesetze denken. Solche sind ja bei den gleichen Grund-
bedingungen aller Sprachthätigkeit nicht nur möglich,
man sollte sie geradezu erwarten. Warum hält der
Lautwandel nicht wenigstens im grossen Ganzen die-
selbe Richtung ein, sodass z. B. aus der Tenuis die
Media, aus dem Diphthongen der Monophthong, aber
nicht umgekehrt, entstehen kann? Verständigt man
nun jenen Laien darüber dass dergleichen allgemeine
Lautgesetze noch nicht entdeckt sind, dass vielmehr
allen bisher ermittelten Lautgesetzen eine verhältniss-
mässig enge räumliche und zeitliche Begrenztheit
eignet, so wird er hier jene absolute Nothwendigkeit
vermissen welche stets als Voraussetzung ausnahms-
loser Gesetze erscheint. Die räumliche und zeitliche
Relativität der Lautgesetze ist nicht einmal eine ein-
fache, sondern eine complicirte. Wenn z. B. innerhalb
A und B das Gesetz (r)a, innerhalb C und D : (r)b,
anderseits innerhalb A : (s)a, innerhalb B und C : (s)b,
innerhalb D :(s)c herrscht, so umschliessen sich die
Grenzlinien der Lautgesetze für die beiden verschie-
denen Elemente nicht nur, sie schneiden sich auch;
die Beziehung der Lautgesetze zu ihrer äusseren
Ausdehnung
trägt den Charakter einer wechseln-
den und zufälligen. In der That liegt hier die schwächste
Position der Junggrammatiker, hier sind sie am Ener-
gischsten angegriffen worden, hier wird ihre Abwehr
zum langsamen Rückzug.



[10]

„Die Lautgesetze wirken ausnahmslos innerhalb
desselben Dialektes
.“ In dem Ausdruck „ein
und derselbe Dialekt“ steckt eine Unklarheit; wir
wissen nicht ob wir ihn a priori oder a posteriori zu
fassen haben (ob wir z. B. sagen sollen: „im Dialekt
von Neapel, in dem von Rom, in dem von Florenz u. s. w.
ist lat. k vor e und i zu geworden“ oder: „ = ke, i
herrscht in der Sprache von ganz Süd- und Mittel-
italien“). Das Letztere empfiehlt der damit verbundene
Ausdruck „ein und dieselbe Periode“, welcher nur so
genommen werden kann; das Erstere aber die prin-
cipielle Erwägung, und so pflegt man denn in der That
hier unter „Dialekt“ eine ganz einheitliche Sprach-
gemeinschaft zu verstehen. Allein gibt es die? Selbst
Delbrück steigt, um eine wirkliche Einheitlichkeit
zu finden, innerhalb deren die Ausnahmslosigkeit der
Lautgesetze gelte, zur Individualsprache herab und
zwar zu deren Momentandurchschnitt. Ob diese Be-
schränkung des junggrammatischen Satzes nicht eigent-
lich ihn aufhebt, oder wenigstens seinen praktischen
Werth, das will ich nicht weiter untersuchen (Tobler₁
schon hatte gesagt: „je enger die Kreise werden, um
so mehr nähern sie sich dem Individuellen, welches
niemals von Gesetzen erschöpft werden kann“); mir
aber geschieht nicht einmal damit genüge, mir scheint
nicht einmal in, diesem Falle nothwendige Einheitlich-
keit erweislich. So weit directe Beobachtung an uns
selbst oder an Anderen reicht, ist die Aussprache des
Individuums von Schwankungen nie frei, worunter
ich natürlich keine in strenger Gemässheit der Zeit-
folge auftretenden Veränderungen begreife. Mit dieser
endlosen Sprachspaltung geht endlose Sprachmischung
Hand in Hand. Die Beeinflussung des einen Dialektes

[11] durch den anderen, welche den Junggrammatikern
zufolge eine Störung der ausnahmslosen Lautgesetze
bewirkt, und die Ausgleichung der Individualsprachen,
welche denselben Junggrammatikern zufolge ausnahms-
lose Lautgesetze erst ermöglicht, diese Processe von
conträrer Wirkung sind im Wesen gleich, sie sind nur
verschiedene Mischungsstufen. Man sieht aber nicht
ein warum sich aus dem beständigen Widerstreit der
centrifugalen und der centripetalen Kraft ein so voll-
ständiger Ausgleich ergeben sollte dass keine Diffe-
renzen übrig blieben. Ganz minimale werden aller-
dings von den Junggrammatikern zugestanden, aber
nicht in Rechnung gebracht, und damit wird in meh-
rerer Hinsicht ein starker Fehler begangen. Zunächst
steht die Existenz auch noch so kleiner Differenzen
der Unmöglichkeit von Differenzen entgegen, und diese
wird hier gefordert. Denn der junggrammatische Satz
bedeutet doch nicht dass die Lautgesetze thatsächlich
— etwa die einen aus diesem, die anderen aus jenem
Grunde — keine Ausnahmen haben, sondern dass sie
der Natur der Sache nach keine haben können. Paul2
entfernt sich betreffs dieses Punktes von der strengen
Observanz; er sagt es sei nicht schwer „die Nothwen-
digkeit dieser Consequenz [d. h. der der Lautgesetze]
darzuthun oder, genauer genommen, allerdings nur die
Einschränkung der Abweichungen von solcher Con-
sequenz auf so enge Grenzen dass unser Unterschei-
dungsvermögen nicht mehr ausreicht“. Das hier
Gleichgesetzte ist für mich etwas durchaus Verschie-
denes; „Lautgesetze die sich beinahe mit der Con-
sequenz von Naturkräften geltend machen“ hat ja
auch G. Curtius (Grundzüge ⁵ 81) eingeräumt. Sehen
wir davon ab dass die Annahme von der Unmerk-

[12] lichkeit der Differenzen lediglich eine subjective; zieht
man denn nicht auch sonst bei der Erörterung der
sprachgeschichtlichen Principien das unendlich Kleine
in Rechnung? Man wird antworten: ja, insofern eine
Cumulation desselben statt findet. Nun gut, hier
haben wir uns von einer entsprechenden Wahrnehmung
bestimmen zu lassen. Die minimalen Differenzen um
die sich der Streit dreht, stellen nur die unterste von
verschiedenen Reihen immer stärkerer Differenzen
zwischen immer grösseren Sprachgenossenschaften dar,
und diese Verbindung verleiht ihnen einen reellen
Werth. Auch Paul2 betont dass „Artunterschiede
und individuelle Unterschiede nicht dem Wesen, son-
dern nur dem Grade nach verschieden sind“, und so
hat denn Alles was von dem Verhältniss zwischen
Dialekten irgend welcher Stufe gilt, auch von dem
zwischen Individualsprachen zu gelten, natürlich in
höchster Beschränkung oder höchster Steigerung. Be-
sonders noch in folgender Hinsicht. Ein Latitwandel
findet sich oft über ein sehr weites Gebiet hin, d. h.
in einer Reihe zusammenhängender Dialekte; hat er
sich in jedem von diesen spontan ausgebildet? Nein,
sondern er hat sich, wie wir in vielen Fällen geschicht-
lich verfolgen können, strahlenförmig von einem Punkte
ausgebreitet. Warum soll nun ein Lautwandel in jeder
der Individualsprachen welche einen Dialekt aus-
machen, spontan entstanden sein? Wiederum ist es
Paul2 welcher hier restringirt; nicht allen Individuen
einer Gruppe, nur der Majorität weist er die Spon-
taneität zu. Wenn er für andere Sprachveränderungen
diese Majorität zwar als das Regelmässige, doch nicht
als das schlechterdings Nothwendige betrachtet, so
weiss ich nicht warum man in Bezug auf den Laut-

[13] wandel nicht ebensoweit gehen sollte. So sagt auch
Delbrück₁2 „dass die Veränderungen in der Aus-
sprache bei dem Einzelnen beginnen und sich von da
zu den Mehreren und den Vielen durch Nachahmung
von Seiten dieser fortpflanzen“. Merlo stellt die
Möglichkeit individueller Initiative sehr schlagend dar.
Es kann nun, den Junggrammatikern zufolge, zwischen
den einzelnen Gliedern einer Verkehrsgenossenschaft
nur hinsichtlich des Tempos in welchem der Laut-
wandel sich vollzieht, eine Verschiedenheit existiren;
niemals soll ein „klaffender Gegensatz“ hervortreten.
„Als deutlich ausgeprägter und somit auch zum Be-
wusstsein kommender Gegensatz“, sagt Brugmann3,
„können Altes und Neues nur so nebeneinander be-
stehen dass sie durch verschiedene Sprachgenossen-
schaften vertreten werden, zwischen denen der Ver-
kehr viel weniger intensiv ist als innerhalb jeder
einzelnen.“ Wie vereinigt sich damit Brugmann2's
frühere Annahme von Mutter- und Tochterformen
innerhalb desselben Dialektes, ja bei denselben Indi-
dividuen? Das Alte und Neue erscheint aber inner-
halb eines Dialektes nicht bloss nach dem Alter, son-
dern auch nach Geschlecht, Bildung, Temperament,
kurz in der verschiedenartigsten Weise vertheilt.
Rücksichtlich der Art und Weise wie sich ein Laut-
wandel von Individuum auf Individuum, von Genossen-
schaft auf Genossenschaft überträgt, scheint auch die
Auffassung ziemlich auseinander zu gehen. Ich gestehe
dass ich hier keineswegs das ausschliessliche Spiel un-
bewusster Thätigkeit erblicke; wenn ich mit F. Müller
die Lautgesetze nicht schlechtweg mit den Gesetzen
der Modetrachten vergleichen will, so scheinen sie mir
doch in grossem Umfang Sache der Mode, d. h. der

[14] bewussten oder doch halbbewussten Nachahmung zu
sein. Da Schmidt2 der Meinung ist „es herrsche,
F. Müller ausgenommen, allgemeines Einverständniss
darüber dass sämmtliche Lautveränderungen sich ohne
Bewusstsein der Sprechenden vollziehen, keine Moden
sind, welche der Einzelne nach Belieben mitmachen
oder ablehnen kann“, so stehen hier einige gegen-
theilige Zeugnisse. Th. Benfey sagt (Gött. Nachr. 1877
S. 556): „diese Aussprache fing an Autorität zu er-
langen, für richtig und schön zu gelten und ward in
Folge davon auch von Individuen und Complexen an-
genommen denen die Nöthigung welche sie herbei-
geführt hatte, ganz fremd gewesen sein konnte“,
nimmt jedoch an (S. 557) „dass die Sprechenden
von der Umwandelung gar kein Bewusstsein hatten“;
Bezzenberger: „der Lautwandel kann sich auch mit
Bewusstsein entwickeln“ — „nach der Aussprache
jenes einen oder jener wenigen richten sich aus Grün-
den des Geschmacks mehrere“; Collitz: „die laut-
liche Umwandelung gefällt denen welchen sie auf-
gefallen ist, sie wird Mode, sei es dass man ihr aus
Bequemlichkeit, aus ästhetischen Rücksichten oder aus
irgend einem anderen Grunde folgt; aber man folgt ihr
nicht unbewusst“ ; Delbrück₁2 führt neben der Be-
quemlichkeit auch den ästhetischen Trieb als Grund
des Lautwandels an, er erwähnt (2) eine gewisse Art
zu sprechen, welche sich verbreite, „weil es so Mode
ist und gefällt“, sieht aber als unzweifelhaft an „dass
alle (oder doch fast alle) diese Akte unbewusst voll-
zogen werden“, und dieser unbewusste Vollzug wird
wiederum von ihm (3) unter den Argumenten zu Gunsten
der Gesetzmässigkeit des Lautwandels vorgebracht.
Ich werde daher wohl nicht fehl gehen, wenn ich mit

[15] dem Antheil den das Bewusstsein meines Erachtens
am Lautwandel hat, die Ausnahmslosigkeit der Laut-
gesetze für unvereinbar halte. Welchen Einfluss übt
nicht die Schule selbst da wo der öffentliche Unter-
richt die bescheidenste Rolle spielt? Wie weit ver-
breitet ist nicht unter den Ungebildeten das Bedürfniss
gebildet, unter den Provincialen das hauptstädtisch
zu reden? Rückt nicht im Militärschritt das Berliner
j für g immer tiefer und breiter nach Mitteldeutsch-
land vor? Dass in Frankreich und Deutschland (gut-
turales) ϱ an Stelle von (dentalem) r seit langer Zeit
mehr und mehr in Mode kommt, ersehen wir aus
M. Trautmann's detaillirten Mitteilungen in der
Anglia III, 214 ff. (1880); vorher war gerade ϱ = r
von Brugmann2 als Beispiel für die „blinde“, d. h.
unbewusste Wirkung der Lautgesetze erwähnt worden.
Beiläufig erlaube ich mir eine Frage: Schmidt₁ hat
später auch von „blind wirkenden“ Lautgesetzen ge-
sprochen, wie kommt gerade Brugmann3, dazu zu sagen
dieser Ausdruck sei ihm bisher zweideutig gewesen?
Modischer, d. h. also mehr oder weniger bewusster
oder vielleicht besser gesagt willkürlicher Lautwandel
hat vielfach Neuerungen im Gefolge; er kann fälsch-
liche Anwendung erfahren, kann selbst um eine Stufe
gesteigert werden, kann parallelen Lautwandel her-
vorrufen. Wenn endlich, wie sich ja historisch belegen
lässt, irgend eine Lauteigenthümlichkeit einer wirklich
tonangebenden Persönlichkeit, eines Fürsten, Höflings,
Schauspielers in deren Kreis freiwillig copirt oder
die eines Lehrers von diesem seinen Schülern aufge-
zwungen wird, so lässt sich auch die Möglichkeit
nicht bestreiten dass der Ursprung eines Lautwan-
dels ein willkürlicher sei. Individueller Lautwandel

[16] wenigstens kann ohne Weiteres ein willkürlicher sein,
und aus diesem Grunde schon hilft es Nichts mit
Delbrück die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze auf
die Individualsprache einzuschränken. Kurz, ich
pflichte Bloomfield durchaus bei, wenn er in Whit-
ney
's Sinn mit Bezug auf unsere Frage bemerkt: „the
word »inviolable« or »infallible« in matters of gram-
mar is always to be deprecated, if for no other reason
than the one that the conscious will of any language-
user undeniably stands above phonetic facts“.


Ich füge diesem Abschnitt ein Nachwort bei.
Sprachmischung nehme ich, wie gesagt, auch in-
nerhalb der homogensten Verkehrsgenossenschaft an,
Paul2 nur bei ethnischer Mischung, und diese sei
etwas Exceptionelles. Auch gegen Letzteres lege ich
Verwahrung ein. Einerseits pflegt in jedem grösseren
Centrum die Bevölkerungsfluctuation eine solche zu
sein dass man sie wohl als eine Mischung auch im
engeren Sinne bezeichnen darf: und weit entfernt
davon dass sich da „keine Differenzen entwickeln
können die als solche percipirt werden“, prägen ab-
liegende Mundarten der centralen ihre deutlichen
Spuren auf, ja diese verliert zuweilen auf diesem
Wege vollkommen ihren ursprünglichen Charakter
(wie z. B. die Volkssprache Rom's heutzutage eine
toskanische ist, was sie vor einem halben Jahrtausend
keineswegs war). Besonders dürfen die nicht immer
sehr starken jüdischen Bruchtheile städtischer Bevöl-
kerungen ihrem sprachlichen Einfluss nach nicht unter-
schätzt werden. Anderseits ist nicht einmal der Fall
ein exceptioneller in welchem Paul2 allein Sprach-
mischung annimmt, nämlich „wo in Folge besonderer
geschichtlicher Veranlassungen grössere Gruppen von

[17] ihrem Wohnsitz losgelöst und mit anderen zusammen-
gewürfelt werden“. Von der Bildung der romanischen
Nationen an rückwärts bis zu den ersten Anfängen
des römischen Volkes nehmen wir eine fast ununter-
brochene Serie mannigfacher Mischungen wahr, deren
nicht bloss die romanische, sondern auch die lateinische
Grammatik eingedenk zu sein hat. Paul2 glaubt den
Ausdruck „Dialektmischung“ in „Entlehnung eines
Wortes aus einem fremden Dialekt“ verbessern zu müs-
sen. Wir können uns allerdings fremde Wörter an-
eignen, aber auch die fremde Sprechweise uns ganz
geläufiger. Es ist eine bekannte Thatsache dass
Deutsche bei intensivem Verkehr mit Juden leicht in's
Jüdeln verfallen; wenn sich nun in Folge dessen die
jüdische Aussprache eines aus jüdischem Munde be-
sonders häufig gehörten Wortes, wie etwa Persent =
Perzent bei einem Deutschen festsetzt, kann man da
von einem Lehnwort reden? Und ebenso wenig sind
Lehnwörter franz. haut, gâter, goupil, wenn sie nämlich
wirklich in ihrem Anlaut durch deutsches hoch, wüsten,
Wolf beeinflusst worden, also im Munde romanisirter
Germanen entstanden sind; die Anlässe dieser Vor-
gänge freilich sind dunkel, es müsste denn etwa bei
dem letzten Worte die Jagdliebhaberei der Germanen
massgebend gewesen sein (wie der Stadtrömer viel-
leicht sein vulpes und lupus als ganze Wörter von
irgend welchen jagdfreundlichen Italikern entlehnte).


„Die Lautgesetze wirken ausnahmslos innerhalb
derselben Periode
.“ Es ist dies nur eine er-
gänzende Bestimmung. Innerhalb erst nachträglich
festzustellender zeitlicher Grenzen vollzieht sich ein
Lautgesetz in der ganzen Ausdehnung der Sprach-
genossenschaft und in der ganzen Ausdehnung des
Schuchardt, Ueber die Lautgesetze. 2

[18] Sprachmaterials. Die Eichtigkeit des ersten Punktes
habe ich soeben erörtert, die des zweiten werde ich
sogleich erörtern. Hier nur ein Wort über die Ueber-
gangsstadien im Allgemeinen. Dem Nachweis der-
selben, mag er nun diesen oder jenen Fall betreffen,
sucht man dadurch die Spitze abzubrechen dass man
das Gesetz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze
für die Uebergangsstadien suspendirt. Das ist durch-
aus unzulässig. Jedes Stadium der Sprache ist ein
Uebergangsstadium, ein jedes ebenso normal wie irgend
ein anderes; was vom Ganzen gilt, gilt auch vom Ein-
zelnen. Ich darf mir nicht die Sprache als ein Neben-
einander von fertigen und unfertigen Lautgesetzen
denken; das hiesse in die natürliche Betrachtung
teleologische Vorstellungen einmischen. Wenn auch
ich von Uebergangsstadien rede, so nur in relativem
Sinn, nur mit Bezug auf spätere schon feststehende
Thatsachen; irgend ein gegenwärtiges Verhältniss als
Uebergangsstadium zu bezeichnen, dazu haben wir
kein Recht.


Wer meinen sollte dass bezüglich der äusseren
Ausdehnung der Lautgesetze der Unterschied zwischen
den Junggrammatikern und den Anderen mehr in der
Darstellung als in der Erkenntniss liege, selbst der
wird der folgenden Discussion über die innere
Ausdehnung
der Lautgesetze die praktische Be-
deutung nicht absprechen.


„Bei dem Lautwandel innerhalb desselben Dia-
lektes werden alle einzelnen Fälle in denen die
gleichen lautlichen Bedingungen
vorliegen,
gleichmässig behandelt.“ Hält man aber die Fälle in
denen ein Laut überhaupt auftritt, vor und frägt
welche darunter die gleichen lautlichen Bedingungen

[19] aufweisen, also gleichmässige Behandlung, d. h. Ver-
harren oder Veränderung in den gleichen Laut for-
dern, so wird die Antwort darauf ausbleiben. Da es
eine Reihe von Kategorieen lautlicher Bedingungen
gibt, wie Accent, Silbenstellung, Beschaffenheit des
unmittelbar folgenden Lautes, des unmittelbar voraus-
gehenden, des zweitfolgenden u. s. w., so besteht in
jedem einzelnen Falle ein Bedingungscomplex; ver-
gleichen wir die Bedingungscomplexe aller Fälle mit-
einander so zeigt sich ein jeder von dem anderen ver-
schieden, oder wir haben Homonyme, die ja aber zur
Veranschaulichung lautgesetzlicher Wirkungen am
Wenigsten geeignet sind. Es kommt also nur die
partielle Gleichheit der Bedingungscomplexe in Be-
tracht; aber aus welchen und wievielen Elementen
muss sie bestehen um die partielle Verschiedenheit
zu überwiegen, mit welchen Hülfsmitteln haben wir
die wesentlichen Bedingungen von den accidentiellen
oder die Bedingungen im strengeren Sinne des Wortes
von den Nebenumständen zu sondern? Man, ist ge-
zwungen einzugestehen dass die „gleichen lautlichen
Bedingungen“ immer erst aus jedem Lautgesetze selbst
abstrahirt werden, dass ihre Verwendung als Prämisse
unzulässig ist, dass sie überhaupt in der Definition
von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze keinen
Platz haben. Wollen wir auch von der Gleichheit
der lautlichen Bedingungen zwischen allen einzelnen
Fällen eines Lautgesetzes reden, zwischen allen ein-
zelnen Lautgesetzen eines Dialektes finden wir sie
durchaus nicht. Wir sehen z. B. dass innerhalb der
Kategorie des unmittelbar folgenden Lautes (und zwar
des auf einen Vocal folgenden Consonanten) die vier
Liquiden sich in dieser Weise vertheilen: nach dem
2*

[20] einen Vocal l, r, nm, nach dem anderen l, r
n, m, nach dem dritten l, rnm. Also die
partielle Gleichheit erstreckt sich, über die Combi-
nationen hinaus, auf die einzelnen Kategorieen: n wirkt
in dem angeführten Beispiel einmal als dentale
Liquida, dann als Nasal, endlich als dentaler Nasal.
Nicht selten stossen wir auf Lautgesetze in denen
selbst jene relative Einheitlichkeit der Bedingungen
nicht nachgewiesen ist. Dergleichen wenig klaren
„Lautgesetzen“ lassen sich ganz klare Fälle „spora-
dischen Lautwandels“ gegenüberstellen. Betontes a
ist im heutigen Schriftportugiesisch nur einmal zu o
geworden, in fame = fome. Dem Einfluss eines fol-
genden oder eines vorhergehenden Labialen ist nur
unbetontes a ausgesetzt (z. B. vulgärport. fanforrice,
charomela; s. J. Cornu Romania X, 340 f.); aber der
Einfluss eines folgenden und der eines vorhergehenden
zusammengenommen sind stark genug auch ein betontes
a zu assimiliren, freilich nur in diesem häufigst ge-
brauchten Wort (nicht in fava u. a. — in mama
nicht wegen der Reduplication). Ein Junggrammatiker
würde freilich, ehe er soviel zugestünde, sich an ein
fomentar oder fomite anklammern. Wegen eines ana-
logen Verhältnisses vgl. franz. buvons für älteres be-
vons
, daneben devons. Der Satz „gleiche Ursache,
gleiche Wirkung“ (wir bezeichnen als Ursachen beim
combinatorischen Lautwandel was streng genommen
nur permanente Bedingungen sind) lässt sich hier nicht
zu Gunsten der Lehre von der Ausnahmslosigkeit der
Lautgesetze heranziehen; es handelt sich ja um partiell
Gleiches, in verschiedenem Masse partiell Gleiches.
Der labiale Factor ist in den einzelnen Labialen nicht
gleich stark vertreten, mehr z. B. in m als in b; bei

[21] der Labialisirung des benachbarten Vocals spielen daher
eine ganze Reihe von accessorischen Bedingungen mit.
Delbrück3 giebt die Existenz völlig vereinzelter Fälle
von Lautwandel zu, die also „nicht unter den Begriff
des Gesetzes fallen“; wie verträgt sich das mit dem jung-
grammatischen Satz dass aller Lautwandel ausnahms-
losen Gesetzen unterliegt? — Wir haben bisher bei unse-
ren Erörterungen über die Gleichheit der lautlichen Be-
dingungen einen bestimmten zeitlichen Durchschnitt der
Sprache angenommen, es fragt sich nun: bleiben die laut-
lichen Bedingungen eines Lautgesetzes, mögen sie wie
immer beschaffen sein, im Laufe der Zeiten constant?
Ich will darauf ohne Weiteres mit einem Beispiel ant-
worten. Einem gallo-vulgärlat. (klassischlat. ā́ und ắ
vor einfachem Consonanten) entspricht neufranz. e (bald
offenes bald geschlossenes, doch ist dieser Unterschied
hier unwesentlich), also chef, fève, pré, tel, mer, nez,
ème, lène
= caput, faba, prato, tale, mare, naso, amat,
lana
. Der folgende Consonant erscheint hier also ganz
gleichgültig, nicht aber im Altfranzösischen (das sich
noch in der heutigen Orthographie wiederspiegelt):
chef u. s. w., jedoch áime, láine. Wenn nun vor m
und n ā durch ai zu e geworden ist, kann dies nicht
auch vor den anderen Consonanten geschehen sein?
Und wenn man ursprünglich chaif, faive, tail, mair
sagte, so ist wiederum für eine etwas jüngere Periode
chaif, faive, tel, mer denkbar, sodass in Beziehung auf
die Monophthonirung des aus a entstandenen ai ver-
schiedene Bedingungsstufen vorliegen würden. An-
dernfalls müssen wir verschiedene Lautgesetze anneh-
men, sodass hinter der heutigen Gleichheit sich auf
jeden Fall eine Verschiedenheit birgt. Wenn nun aus
der Gegenüberstellung von Lautformenreihen die durch

[22] einen weiten dunkeln Zeitraum voneinander getrennt
sind, ein Lautgesetz gewonnen wird, welche Bürgschaft
ist dafür vorhanden dass es sich mit diesem nicht
ähnlich verhält? Man betrachte auch eine beliebige
Gruppe verwandter Mundarten; man wird sehen wie die
Bedingungskreise der Lautgesetze sich von Ort zu Ort
mannigfach verändern, man wird hier gleichsam die
räumliche Projection zeitlicher Unterschiede erkennen.
Der Annahme von einer Reihe verschiedener Gesetze
widerspricht die Continuität und Wesenseinheit. Wie
steht es aber dann mit der Ausnahmslosigkeit der
Lautgesetze? dürfen wir die Differenzen zwischen zwei
Bedingungskreisen die gleichsam nur zeitlich-räum-
liche Varianten eines einzigen sind, nicht von diesem
oder jenem Standpunkte aus als Ausnahmen auffassen?
Diese innere Erweiterung der Lautgesetze lässt sich
bei der Annahme lautlicher Analogie leicht begreifen.
Ich habe diesen Punkt oben schon berührt, indem ich
das Vorhandensein eines Dualismus im Sprachleben
bestritt; ich habe an einem Beispiele erläutert wie ein
combinatorischer Lautwandel zu einem freien wird.
Selbst der grösste Abstand zwischen den anfänglichen
und den schliesslichen Grenzen braucht nicht zu be-
fremden, sehen wir doch auch die begriffliche Ana-
logie oft von engstbegrenztem Gebiete aus im weitesten
Umfang wirken, wofür sich besonders in der Ge-
schichte der romanischen Participien Belege finden.
Ich halte es sogar nicht für unmöglich dass aus einer
einzigen durch begriffliche Analogie hervorgerufenen
Lautvertauschung ein ganzes Lautgesetz erwachse. Ich
sage keineswegs dass der ursächliche Bedingungskreis
vermittelst der lautlichen Analogie auf allen Seiten
zugleich überschritten würde; der Lautwandel mag

[23] von Aehnlichem zu Aehnlichem tastend vorrücken,
z. B. in der Verknüpfung mit einem anderen Laut-
wandel, wie wenn etwa ein -ol- = -al- durch -or-
= -ol- zu -or- = -ar- führt. In Gröber's Zeitschrift
V, 319 habe ich behauptet dass wo s in jeder Stellung
zu h geworden, diese Schwächung zuerst als eine com-
binatorische aufgetreten sein muss. So mag die Brücke
zwischen intervoc. h = s und anl. h = s sich in dem
nach vocalischem Auslaut anl. h = s finden lassen
(-aha-: -a ha-: -t ha-, also hier umgekehrt wie bei
dem erwähnten Auslautsgesetz mit Verallgemeinerung
vom tönenden auf den tonlosen Laut). Aber über diese
Metamorphose der Lautgesetze, die meines Wissens
noch nie zum Gegenstand allgemeiner Erörterung ge-
macht worden ist, kann ich mich hier nicht weiter
auslassen; um so nachdrücklicher soll es schliesslich
geschehen. Auch auf dem Gebiete des mechanischen
Lautwandels, um mich der junggrammatischen Termi-
nologie zu bedienen, finde ich ganz Anderes als nur
abgeschlossene in starre Formeln zu kleidende Pro-
cesse, ich erblicke hier das bunte endlose Spiel un-
gezählter Triebe, aus dem Einzelnes heller und stärker
hervortritt.


Während die Junggrammatiker die Ausnahms-
losigkeit der Lautgesetze von einer Gleichheit der
lautlichen Bedingungen abhängig machen wie sie meines
Erachtens überhaupt nicht besteht, halten sie die un-
mittelbar gegebene Verschiedenheit der Wör-
ter
dabei für gleichgültig: „bei dem Vollzug des
Lautwandels ist nun gar nicht denkbar dass in ver-
schiedenen Wörtern verschiedene Wege eingeschlagen
werden“ (Brugmann3). Und zwar wird das folgender-
massen begründet: „Das Bewegungsgefühl bildet sich

[24] ja nicht für jedes einzelne Wort besonders, sondern
überall wo in der Rede die gleichen Elemente wieder-
kehren, wird ihre Erzeugung auch durch das gleiche
Bewegungsgefühl geregelt. Verschiebt sich daher das
Bewegungsgefühl durch das Aussprechen eines Ele-
mentes in irgend einem Worte, so ist diese Verschie-
bung auch massgebend für das nämliche Element in
einem anderen Worte“ (Paul2). Ich halte das, wenig-
stens in der absoluten Form wie es behauptet wird,
für unrichtig; es übt hier Paul das schon von mancher
Seite und soviel ich sehe gerade in dem Kapitel über
den Lautwandel auch von ihm selbst gerügte Ver-
fahren die Betrachtung des einzelnen Lautes von der
des Wortes in dem er vorkommt, zu isoliren. Die
Veränderung eines Lautes, sein Fortschreiten in einer
bestimmten Richtung, wobei natürlich von der noth-
wendigen Wirkung rein physiologischer Veränderungen
abgesehen wird, besteht aus einer Summe der aller-
kleinsten Verschiebungen, ist also von der Zahl seiner
Wiederholungen abhängig. Wenn nun x z. B. 10000
Wiederholungen braucht um zu x1 zu werden, so sind
doch diese Wiederholungen innerhalb der einzelnen
Wörter zu zählen; ein x in 10000 verschiedenen
Wörtern je einmal gesprochen würde nicht zu x1 wer-
den. Dass nun ein Wort das 10000 Mal gesprochen
worden ist, die Entwickelung des Lautes x zu x1 in
einem erst 8000 Mal gesprochenen begünstigen mag
u. s. w., das läugne ich nicht. Die grössere oder
geringere Häufigkeit im Gebrauche der einzelnen Wör-
ter welche ja bei den Analogiebildungen eine so her-
vorragende Rolle spielt, ist auch für ihre lautliche
Umgestaltung von hoher Wichtigkeit, nicht innerhalb
kleinerer, wohl aber innerhalb bedeutender Differenzen.

[25] Sehr selten gebrauchte Wörter bleiben zurück, sehr
häutig gebrauchte eilen voran; von beiden Seiten
also bilden sich Ausnahmen von den Lautgesetzen.
Es ist schon eine sehr alte Erfahrung dass in allen
Sprachen gerade die allergewöhnlichsten Wörter, von
denen man doch am Ersten Gehorsam gegen die
Lautgesetze erwarten sollte, am Meisten Neigung
zeigen sich von ihnen zu emancipiren, ja in Folge
dessen der Deutung zuweilen ernstliche Schwierigkeiten
bereiten (ich erinnere an die romanischen Wörter
für „gehen“); man hat sie mit der in raschem Um-
lauf befindlichen Scheidemünze verglichen, welche bald
ihr Gepräge einbüsst. Diese treffende Beobachtung
hat man in neuerer Zeit nicht weiter verfolgt, ja
man ignorirt sie meistens. Kruszewski hat allerdings
ausdrücklich hierauf hingewiesen; aber seine Andeu-
tungen befriedigen mich doch keineswegs. Er sagt:
„Wenn gosudaŕ zu sudaŕ und- schliesslich zu wird,
babuška zu bauška, pravo zu pra, nasza mitość zu
naszmość, naść, trzeba zu trza, podobno zu pono,
czíoniek zu czíek, proszę pana zu pŭpana u. s. w., so
müssen wir im Auge behalten dass diese Wörter in
der Mehrzahl der Fälle rasch, ohne Accent, mit An-
lehnung an andere Wörter gesprochen werden.“ Alle
Sprachen liefern, besonders in Titeln und Begrüssungen,
Beispiele ähnlicher Art; ich erinnere an magy. alá
szolgáj
= alátos szolgája, tejes oder téns = tekintetes,
span. usted = vuestra merced, vulgärdeutsch g'Morgen
u. s. w. In einigen Fällen liegt allerdings Enklisis
oder Proklisis vor; aber die Tonlosigkeit reicht in-
sofern nicht zur Erklärung aus als sich in den unbe-
tonten Silben einheitlicher Wörter nicht immer die
entsprechenden Veränderungen finden. Rum. ună wird

[26] zu uă, o; aber ein Ausfall des n zwischen diesen
Vocalen ist sonst auch ausserhalb des Accentes uner-
hört. In der Proklisis wird aus casa rom. cas (ca);
aber ist etwa Synkope des vortonigen a lautgesetzlich?
Weiter entsteht die Frage ob nicht jene Tonlosigkeit
ebenfalls erst eine Folge des überhäufigen Gebrauches
ist. Wenn ich g'Morgen für guten Morgen sage, so
ist ja freilich das Adjectiv fast ganz um seine Be-
deutung gekommen, aber doch nur in Folge der un-
endlichen Wiederholung. In nicht anderem Lichte
erscheint mir das Schicksal des lat.-rom. ille. Als
letzte Ursache all solcher begrifflichen und lautlichen
Schwächung muss ich nun aber die Ueberhäufigkeit
um so mehr betrachten als dieselbe auch da wirkt wo
keine Anlehnung an andere Wörter stattfindet. In
guten Morgen wird nicht nur das erste, sondern auch
das zweite Wort entstellt (g'Moin, g'Mõ u. s. w.). Wenn
wir die Entwickelung der Sprache innerhalb kleinerer
durch ganz bestimmte Interessen gebildeter Kreise
verfolgen, so werden wir sehen dass gerade die aller-
bedeutungsvollsten Wörter, insofern sie beständig wie-
derkehren, lautlicher Veränderung am Stärksten aus-
gesetzt sind. Man bemerke z. B. wie bei einem Spiele
die Kürzung und auch die phantastische Umgestal-
tung der termini technici beliebt ist; es scheint als
ob neben der Bequemlichkeit noch ein anderer Trieb,
die Abneigung gegen die Monotonie sich geltend
mache. Man kann diese Beobachtung zum Experiment
condensiren: man lasse Jemanden der nicht weiss wo-
rauf es ankommt, ein Wort vielmal, 30, 50, 80 Mal hin-
tereinander sagen, und man wird sehr starke Schwankun-
gen der Aussprache wahrnehmen. Die Schrift gewährt
für diese Gruppe von Erscheinungen ein Analogon:

[27] dieselben Zeichencomplexe werden, je nachdem sie in
seltneren oder gewöhnlicheren oder genauer gesagt dem
Schreiber und dem Empfänger weniger oder mehr ge-
läufigen Wörtern auftreten, sorgfältiger oder flüchtiger
dargestellt werden, und zwar auch unwillkürlich. Von
Bequemlichkeit ist überall die Rede wo die Ursachen
des Lautwandels in Erwägung gezogen werden; was
ist nun natürlicher als dass man es sich da am Ersten
bequem macht, wo in der Ueberhäufigkeit der stärkste
Antrieb dazu liegt und die Gefahr des Missverständ-
nisses am geringsten ist? Ich komme auf die oben
erwähnte Erweiterung des Lautwandels h = s von der
intervocalischen Position zur anlautenden zurück. Im
Jakutischen — Delbrück3 ist es der die Aufmerk-
samkeit darauf lenkt — findet sich neben inlautendem
auch anlautendes intervocalisches s = h; in einem
einzigen Fall ist anlautendes s schlechtweg zu h ge-
worden, in suoch „nein“. Ist es nicht möglich dass
von diesem "Worte aus anl. s = h sich auf weniger
gewöhnliche ausdehne? Im Andalusischen wird im
Allgemeinen nur vorconsonantisches s zu h; es scheint,
wie ich (Gröber's Zeitschr. V, 319 f.) bemerkt habe,
zunächst im Auslaut die Tendenz zu weiterer Anwen-
dung aufzutauchen (loh amigos neben los amigos), dann
aber auch no heñó, si heñó vorzukommen. Bei Be-
jahung und Verneinung findet Manches statt was sonst
nicht; so hört man vom Italiener nicht selten statt
ein geflüstertes si oder bloss s, und der lautgesetzliche
Schwund des n in span.-ital. no ist wenigstens mir
noch nicht klar. Wo es sich nicht um indigenen,
sondern um verpflanzten Lautwandel handelt, da wird
umgekehrt gerade in den gewöhnlichsten Wörtern die
alte Aussprache am Längsten bleiben. Kolosov (Замѣткн

[28] ο я. и н. II. въ области сѣверно-великорусскаго нарѣчiя.
Petersb. 1877) sieht die Verwandelung des ĕ in i als
einen ursprünglichen allgemeinen Zug des nowgorod-
schen Dialektes an; nun habe an manchen Orten e
dieses i gänzlich verdrängt, an anderen werde dies
nur von alten Leuten gewahrt, während den jungen
Leuten chlib, sino u. s. w. lächerlich erscheine, hier
wiederum finde sich ausnahmsweise i neben dem ge-
wöhnlichen e (so chlib, aber seno u. s. w.), und dort
das Umgekehrte. Dass in dem Worte für „Brod“
sich der alte Laut hält, begreifen wir leicht; Anderes
liegt nicht so zu Tage. Dialektische Mischung ist
freilich nicht in Abrede zu stellen, aber ich weiss nicht
wie sie hier, wo ja nicht einzelne Wörter entlehnt sind,
als nur scheinbare Ausnahme von der lautlichen Gesetz-
mässigkeit angesehen werden kann; es muss doch er-
klärt werden warum in dem einen Worte der her-
gebrachte, in dem anderen der neue Laut herrscht.
Was bei einer solchen Mischung möglich ist, ist über-
haupt möglich. Delbrück₁2 stimmt Brugmann2 darin
vollkommen bei dass eine Lautbewegung nicht bei
bestimmten Wörtern ihren Anfang nehme und dann
auf andere Wörter übertragen werde, und setzt hinzu:
„dass es sich wirklich so verhält, dürfte nicht bloss
die Erfahrung an Volksmundarten beweisen“ — da-
gegen sprechen die vorher angeführten Thatsachen —,
„sondern auch die Ueberlegung dass nur unter der
Voraussetzung einer gleichmässigen und consequenten
Aussprache der Laute die Aneignung einer fremden
Sprache erklärlich ist“. Dieses Argument vermag ich
nicht zu widerlegen, da ich es nicht verstehe. — Dass
sehr selten gebrauchte Wörter leicht eine alterthüm-
liche Gestalt aufweisen, ist ebenfalls bekannt. Es fragt

[29] sich ob nicht innerhalb des gesammten Sprachmaterials
mit Hinblick auf das Eintreten des Lautwandels noch
andere Abstufungen denkbar sind. Delbrück₁2 hat
die Möglichkeit angedeutet — allerdings um sie zu-
rückzuweisen — „dass jede Lautveränderung bei einem
bestimmten Worte beginne und sich von diesem aus
weiter fortsetze, also z. B. von einem Substantivum
auf andere, von da auf Adjective und Participia, und
so zum Verbum gelange“. Könnte aber, die allmäh-
liche Ausbreitung des Lautwandels zugegeben, nicht
der Gedanke entstehen dass überhaupt die begriffliche
Analogie nur in einzelnen Fällen den Lautgesetzen
entgegen, im Allgemeinen vielmehr mit ihnen zusam-
men arbeite?


Die Lehre von der Ausnahmslosigkeit der Laut-
gesetze lässt sich nach dem Gesagten ebensowenig auf
deductivem wie auf inductivem Wege beweisen; wer
ihr anhängt, muss sich zu ihr als einem Dogma be-
kennen, und Dogma heisst sie beiläufig in G. Meyer's
Nachruf an G. Curtius, ausdrücklich in Bloomfield's
der Frage selbst gewidmeten Abhandlung. Nun können
aber Dogmen nur vermittelst „falscher Analogie“ in
die Wissenschaft gelangen, und zwar wird das frucht-
bare tertium comparationis in der Heilswirkung liegen.
Herzhaft sagt in der That Bloomfield, und er meint
nicht zu viel zu sagen, dass wenn die Lehre von der
Unverletzlichkeit der Lautgesetze sich auch schliess-
lich als falsch herausstellen sollte, diese Thatsache
doch dem Werthe derselben als Methode keinen Ein-
trag thun würde; denn sie habe sich als solche durch
ihre Früchte bewährt. Die Beziehung richtiger Re-
sultate auf möglicherweise falsche Prämissen wider-
spricht dem wissenschaftlichen Denken. Ebenso unzu-

[30] lässig ist es ein wissenschaftliches Verfahren mit einem
wissenschaftlichen Theorem ohne Weiteres zu identi-
ficiren; aber hierin dürften sehr viele Sprachforscher,
sei es mehr sei es weniger bewusst, mit Bloomfield
übereinstimmen und sich nur insofern von ihm unter-
scheiden dass die Trefflichkeit der Methode für sie
jeden Zweifel an der Gültigkeit der Lehre ausschlösse.
Ich kann aber nur so viel zugeben dass diese eine
sehr absolute und einfache ist; darum eben lässt sich
so bequem mit ihr operiren. Man sucht gern das in-
fallibilistische Princip auf apagogische Weise zu er-
härten. Paul₁ meint wer dasselbe verwerfe — er er-
kennt ihm allerdings „nicht mehr als den Werth einer
Hypothese“ zu —, der „verzichte damit überhaupt
auf die Möglichkeit die Grammatik zum Range einer
Wissenschaft zu erheben". Nach Kruszewski stellen
uns die Junggrammatiker vor die Notwendigkeit
„ausnahmslose Lautgesetze anzunehmen oder die Ab-
wesenheit aller Lautgesetze einzuräumen“. Dazu be-
merke ich erstens dass das Abschreckungssystem in
der Wissenschaft keinen Platz verdient, und sodann
dass die aufgestellte Alternative auch wenn sie minder
schroff formulirt wird, falsch ist. Ich möchte wissen
wer von den vor- oder nichtjunggrammatischen Sprach-
forschern, bis zu meiner Wenigkeit herab, den Laut-
wandel als ein Chaos (ich finde diesen Ausdruck auch
bei Kruszewski) angesehen und behandelt hätte.
Dass Bloomfield für die Lautgesetze im weitesten
Sinne — von der Ausnahmslosigkeit will er ja Nichts
wissen — eine Lanze bricht, scheint mir höchst über-
flüssig; freilich habe ich Easton's pessimistische Aus-
führungen, auf die er sich bezieht, nicht gelesen. Der
Grundirrthum bei ihm und bei den Anderen liegt

[31] recht tief, nämlich in der Voraussetzung als ob über-
haupt irgend ein Gebiet wirklich existire oder doch
sich annehmen lasse welches keinen Gesetzen unter-
than sei. Wohl stuft sich innerhalb der verschiedenen
Kategorieen von Erscheinungen die verknüpfende Regel-
mässigkeit je nach der grösseren oder geringeren Com-
plication der Bedingungen auf's Mannigfachste ab,
vom Zufall des Hasardspiels bis zur festen Ordnung
der mechanischen Welt. Immer muss eine allgemeine
Betrachtung des Bodens auf dem wir arbeiten wollen,
uns über die Regelmässigkeit belehren die wir zu er-
warten haben. Der Hasardspieler der mit Berech-
nungen sein Glück verfolgt, hat die eigentliche Natur
des Spiels nicht erkannt. Wunderbarer dünkt es mich
dass man die psychologischen Grundlagen des Laut-
wandels, den gesellschaftlichen Charakter der Sprache,
die fliessenden Grenzen ihrer räumlichen und zeitlichen
Verschiedenheiten so deutlich wahrnehmen und dabei
die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze so bestimmt
behaupten kann. Die Junggrammatiker verwechseln
»il concetto semplicissimo di leggi con quello degli
effetti complessi che si producono per molte leggi che
cooperino e si consertino insieme variamente« (Merlo).
Die oben aufgedeckten formalen Mängel des jung-
grammatischen Dogmas gestatten mir es nicht die
eigene Ansicht in contradictorischer Fassung ihm
gegenüber zu stellen; ich werde nicht sagen: „die
Lautgesetze haben Ausnahmen“. Heisst es aber: „es
gibt keinen sporadischen Lautwandel“, dann werde
ich mich positiv ausdrücken: „es gibt sporadischen
Lautwandel“. Ja wenn ich gezwungen wäre den Be-
griff „Ausnahmslosigkeit“ in mein Bekenntniss aufzu-
nehmen, so würde ich ihn eher als auf die Lautgesetze,

[32] auf das Vorkommen des sporadischen Lautwandels
beziehen, in dem Sinne dass jeder Lautwandel in
irgend einer Phase sporadisch ist. Will man den
verschiedenen Standpunkt durchaus mit gegensätz-
licher Ausdrucksweise charakterisiren, so mag man von
absoluter und von relativer Gesetzmässigkeit reden.


Dass nun wir die wir dem unglücklicherweise
einmal eingebürgerten Ausdruck „Lautgesetze“ einen
weiteren Sinn beilegen, in der Praxis, d. h. der
speciellen der Wort- und Formerklärung darum nicht
schlechter fahren, das darzuthun bleibt noch, freilich
als überflüssiges gutes Werk. Man hat mit der in-
fallibilistischen Lehre eine grössere Strenge in die
wissenschaftliche Forschung einzuführen gemeint. Dabei
ist man aber von einer falschen allgemeinen Ansicht
ausgegangen; die Strenge kann nicht am Objecte,
sondern nur am Subjecte sich äussern, nicht in der
Aufstellung eines strengeren Gesetzes, sondern in der
strengeren Beobachtung desjenigen ohne welches es
keine Wissenschaft gibt und das wiederum für alle
Wissenschaft ausreicht, des Causalitätsgesetzes. Diese
strengere Beobachtung vollzieht sich nun im stetigen
Fortschritt der Wissenschaft von selbst, diese vertauscht
immer nur allmählich den beschreibenden Charakter
mit dem erklärenden. Auch in der Sprachwissenschaft
war man anfänglich zu sehr durch das Sammeln von
Thatsachen in Anspruch genommen um in breiter
Linie der Erforschung der Ursachen nachzugehen;
aber einen vorläufigen Verzicht nach dieser Seite hin
als eine Verläugnung des Princips von den verschie-
denen Ursachen verschiedener Wirkungen anzusehen,
das scheint mir eine gewaltsame Unterstellung. Uebri-
gens muss uns auch heutzutage noch gestattet sein

[33] irgend welche Abweichung von einem anerkannten
Lautgesetz zu verzeichnen und über die Ursache dieser
Abweichung lieber zu schweigen als eine schlecht-
begründete Vermuthung auszusprechen. Diejenigen
Fehler gegen welche die Junggrammatiker so laut
ihre Stimme erhoben haben, sind entweder längst
überwundene, oder es sind Rückfälle von denen keine
Wissenschaft frei ist und die wegen so mancher prak-
tischen Verstösse der Junggrammatiker gegen ihre
eigene Theorie gerade bei ihnen Entschuldigung ver-
dienten, oder es sind überhaupt keine Fehler. Mir
hingegen erscheint die Lehre von der Ausnahmslosig-
keit der Lautgesetze als ein Hinderniss für die Wissen-
schaft sich im Sinne des Causalitätsgesetzes fortzuent-
wickeln. Die Lautgesetze werden in eine solche Höhe
gehoben dass das Bedürfniss über sie hinauszudringen ein
weit geringeres ist als wenn sie nur den Werth grosser
Regelmässigkeiten besitzen. Und doch sind sie jedenfalls
nur empirische Gesetze, und, wie auch Wundt betont, muss
ihre Umwandelung in causale vollzogen werden. Ist es
aber nicht eine merkwürdige Inconsequenz der Jung-
grammatiker dass sie davon absehen die Lautgesetze
selbst zu begreifen, jedoch die Ausnahmen durchaus be-
griffen haben wollen? Und dass sie diese grossentheils
in den Wirkungen begrifflicher Associationen suchen,
und dabei andere Factoren, wie die Sprachmischung,
vernachlässigen? Besonders gefährlich erscheint mir
das mit Bezug auf romanische Mundarten wie sie in
mittelalterlichen Handschriften überliefert sind. Kurz,
die Aufstellung des junggrammatischen Princips be-
deutet für mich keinen Umschwung in der Geschichte
der Sprachwissenschaft, mit dem sie sicherer und
rascher fortzuschreiten begonnen hätte; und ich denke
Schuchardt, Ueber die Lautgesetze. 3

[34] auch eine künftige Generation wird zwischen Ascoli's
„Saggi ladini“ und Osthoff's „Tiefstufe im indogerma-
nischen Vocalismus“ keinen solchen segensreichen
Wendepunkt zu entdecken vermögen.


Die Geschichte dieses blendenden Sophismus,
welcher weite Kreise in Verwirrung gebracht hat, ist
bemerkenswerth. Er wurzelt in der früheren Ansicht
welche die Sprache vom Menschen loslöste, ihr ein
selbständiges Leben lieh und welche zuerst in roman-
tisch-mystischer, dann in streng naturwissenschaftlicher
Färbung auftrat. Die Lehre von der Ausnahmlosigkeit
der Lautgesetze, welche wenn sie nicht thatsächlich
von A. Schleicher herrührt, sicher ganz in seinem
Sinne decretirt worden ist, ragt wie eine Antiquität
aus jener Periode in die heutige herein, welche der
Sprachwissenschaft den Charakter einer Geisteswissen-
schaft zuerkennt, welche in der Sprache keinen natür-
lichen Organismus, sondern ein sociales Product er-
blickt. Sie befremdet am Meisten in Paul's „Prin-
cipien“, wo er so tief in das Wesen der Sprache ein-
gedrungen ist; freilich erscheint sie hier in sehr ge-
mildertem Ausdruck. Ueberhaupt hat man von der
Schroffheit mit der man zuerst behauptete, abgehen
müssen, als man versuchte zu beweisen, und so lassen
sich in den vielfachen Corollarien und Ausführungen
zum junggrammatischen Lehrsatz nicht unschwer Wi-
dersprüche zu diesem selbst entdecken. Seine beste
Kritik würde daher vielleicht in der nackten Zu-
sammenstellung der mannigfachen Fassungen liegen
die er, trotz seiner Absolutheit, von Osthoff bis auf
Delbrück erfahren hat. Seine weite Verbreitung ist
kein Argument zu seinen Gunsten. Nur bei Wenigen
ruht er auf spontaner Entwickelung oder gründlicher

[35] Nachprüfung; die Meisten haben sich ihn wegen der
schon bemerkten methodischen Bequemlichkeit an-
geeignet. Er passt sehr gut in die Richtung welche
heutzutage die Wissenschaft auf das Handwerk hat.
Das von W. Scherer treffend so genannte „Mechani-
siren der Methoden“ reducirt die Anforderungen an
selbständiges Denken auf ein Minimum und ermög-
licht so die Theilnahme einer ausserordentlichen Menge
thatsächlich Unbefähigter an der „wissenschaftlichen“
Arbeit.


Ich würde es sehr bedauern wenn ich da wo ich
nur möglichst scharf und bestimmt habe sein wollen
und, im Interesse der Sache selbst, es habe sein müssen,
irgendwie verletzt hätte; ich würde das um so mehr
bedauern als mich mannigfache freundschaftliche Bande
— wie auch die Widmung andeutet — mit der jung-
grammatischen Schule verknüpfen, und ich den Werth
der von den Einzelnen vollbrachten Leistungen, eben
nur vom speciell Junggrammatischen abgesehen, wärm-
stens anerkenne. Pöbelhafte Angriffe welche noch die
neuesten Annalen unserer Wissenschaft befleckt haben,
scheinen Manche unter uns zu einer übertriebenen
Zurückhaltung zu veranlassen. Die Versöhnlichkeit
ist eine schöne Begleiterin der wissenschaftlichen For-
schung, aber sie hat sich doch nur auf das Persön-
liche, nicht auf das Sachliche zu beziehen. Man würde
allgemein den tadeln welcher aus Versöhnlichkeit zwei
Etymologieen die sich einander ausschliessen, mitein-
ander verquicken oder zwischen ihnen unentschieden
bleiben wollte; sollen denn da wo es sich um so weit-
tragende Principien handelt, andere Rücksichten gelten,
gleichsam als ob solche nicht mehr in das Gebiet der
Wissenschaft, sondern in das der Willkür gehörten?
3*

[36] Manche allerdings gibt es welche der Bedeutung der
sprachwissenschaftlichen Principien nicht gerecht wer-
den, welche deren wiederholte gründliche Durch-
sprechung für überflüssig und ermüdend erklären. Ge-
gen sie, also wenigstens in einem Bezug auf diese
Streitfrage, gehe ich mit denjenigen von denen sie
mich trennt, zusammen. Ich will nicht auf die Ver-
schiedenheit der praktischen Consequenzen zurück-
kommen welche zwischen den Junggrammatikern und
uns Anderen bestehen; sie tritt vielleicht nur in be-
schränktem Umfange zu Tage. Aber die Junggram-
matiker geben ja nicht nur eine Vorschrift, sie be-
haupten auch eine Thatsache, eine für das Sprach-
leben im Allgemeinen höchst charakteristische. Ist
es denn nun nicht an sich ganz gleichgültig ob
rom. andare von adnare oder addare oder ambulare
oder einem keltischen Verbalstamm herkommt, ob in
diesem Dialekte l zu r und in jenem r zu l wird u.
s. w.? Welchen Sinn haben alle die tausende ety-
mologischer und morphologischer Correspondenzen,
die tausende von Lautgesetzen, so lange sie isolirt
bleiben, so lange sie nicht in höhere Ordnungen auf-
gelöst werden? Sie dienen zum Theil und nur aus-
hülfsweise der Aufhellung von Völkerverwandtschaften
und culturellen Beziehungen; aber zunächst müssen
sie doch innerhalb der Sprachwissenschaft selbst ver-
arbeitet werden, in dem Einzelnen müssen wir das All-
gemeine finden lernen, und demnach ist auch die Er-
kenntniss einer Thatsache welche das ganze Sprach-
leben beherrscht, von weit grösserer Wichtigkeit als
die Erkenntniss irgend welcher besonderer Erscheinungs-
formen.


Diese Frage nach dem Werthe der Principien

[37] hängt eng zusammen mit der nach der Stellung der
Sprachwissenschaft im Kreise der Wissenschaften,
und so sind denn auch beide von Brugmann3 unter
einem Titel behandelt worden. Auch in Bezug auf
die letztere stehe ich in vollkommenem Widerspruch
zu ihm und glaube nicht dass die von ihm ersehnte
Verständigung möglich sein wird, ehe wir uns nicht
des Namens „Philologie“ entäussert haben. Die Ein-
theilung der Wissenschaften hat aus der Betrachtung
der Dinge hervorzugehen, nicht aus der Definition von
Namen, am wenigsten von Namen ursprünglich so un-
bestimmten Sinnes und daher fortwährend so schwan-
kender Deutung, die aus Zeiten stammen wo es fast
noch keine Wissenschaft gab. Warum in aller Welt
können wir uns nicht entschliessen nur von Sprach-
wissenschaft, Litteraturwissenschaft, Culturwissenschaft
zu sprechen? Was nun die Sache selbst anlangt, so
meine ich dass immer Sprache und Sprache, mögen
sie auch noch so weit auseinander liegen, in wissen-
schaftlichem Sinn enger zusammengehören als Sprache
und Litteratur, seien es auch die desselben Volkes.
Die Identität der Forschungsmethode fällt schwerer
in's Gewicht als der Zusammenhang heterogener Un-
tersuchungsobjecte. Die Wechselbeziehung zwischen
Sprachwissenschaft und Litteraturwissenschaft mag eine
so lebhafte sein wie sie wolle; die eine spielt der
anderen gegenüber immer nur die Rolle einer Hülfs-
wissenschaft. Ich sehe mich vergebens auf anderen
Gebieten nach einem Analogon für das um was unter
„Philologie“ verstanden werden soll. Fasst man etwa
die Fauna und die Flora einer bestimmten Gegend
in einer eigenen Disciplin zusammen? Wenn man jede
der verschiedenen „Philologieen“ als ein praktisches

[38] Studium, als eine Art „Heimathskunde“ betrachten
will, so habe ich Nichts dagegen. Das aber kann ich
Brugmann3 nicht zugestehen dass z. B. die indoger-
manische Sprachwissenschaft nicht ein Ausschnitt der
allgemeinen Sprachwissenschaft, sondern der indoger-
manischen Philologie sei. Die Grenzen der Sprach-
gruppen zu wissenschaftlichen Hauptgrenzen zu er-
heben halte ich für um so unthunlicher als Verwandt-
schaft und Unverwandtschaft in zahlreichen Fällen
noch gar nicht festgestellt, sondern selbst erst Unter-
suchungsobjecte sind. Brugmann3, und die Meisten
mit ihm, geben nicht viel auf Vergleichungen zwischen
unverwandten Sprachen; und in gleichem Credit müssen
folgerichtigerweise auch die Vergleichungen zwischen
historisch nicht zusammenhängenden Erscheinungen in
verwandten Sprachen stehen, wie deren Brugmann
in seinem trefflichen Aufsatz „Zur Frage nach den
Verwandtschaftsverhältnissen der indogermanischen
Sprachen“ (1883) aufgezählt hat. Ich hingegen halte
solche Untersuchungen wie sie z. B. schon vor Jahr-
zehnten A. Schleicher über den Zetacismus anstellte,
für höchst erspriesslich; die Linguisten sollten, dem
Beispiele der Naturforscher folgend, häufiger, irgend
einer Erscheinung oder Erscheinungsgruppe zu lieb,
Spaziergänge um die Welt machen. Es würde dabei
auch auf das Besondere Licht fallen, vor Allem freilich
auf das Allgemeine. Wenn aber, Brugmann3 zufolge,
die Resultate welche die Vergleichungen zwischen Un-
verwandtem abwerfen, nur der Principienwissenschaft
zu Gute kämen, so würde das eben für mich nur eine
Bestätigung ihres Werthes sein. Denn die Sonderung
welche zwischen den einzelnen Sprachwissenschaften
und der allgemeinen, der Principienwissenschaft gemacht

[39] wird, scheint mir am Allermindesten zu rechtfer-
tigen. Jede von jenen geht in diese über, muss in
ihr aufgehen, je mehr sich ihre Wissenschaftlichkeit
selbst steigert, je mehr sie alles Empirische und Zu-
fällige abstreift. Wir sollen bei der sorgfältigsten
Einzeluntersuchung doch nie das Allgemeine und All-
gemeinste aus den Augen verlieren, uns in die Wis-
senschaft nur versenken um uns über sie zu erheben,
ihr nur dienen um sie zu beherrschen.



Druck von C. H. Schulze \& Co. in Gräfenhainichen.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Schuchardt, Hugo. Ueber die Lautgesetze. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bndg.0