über die
Anwendung
der
pſychiſchen Curmethode
auf
Geiſteszerrüttungen
Herrn Prediger Wagnitz
zugeeignet
in der Curtſchen Buchhandlung
1803
[[2]][[3]]
Vorrede.
Vorreden ſind die Pathenbriefe der Schriftſteller,
durch welche ſie das Publikum einladen, ihre
Kindlein aus der Taufe zu heben. Sie enthalten
meiſtens viel Schönes, aber wenig Wahres.
Ueberall findet man in ihnen nur einen Hebel
aller ſchriftſtelleriſchen Anſtrengungen, nemlich
reinen Drang, das Menſchengeſchlecht klüger
und beſſer zu machen. Nichts von überſpannter
Schätzung ſeiner ſelbſt, von Ehrſucht oder Hab-
ſucht, von einem Seitenblick auf die Börſe des
Verlegers, nichts von dem Beſtreben, ſich durch
A 2
[4]Parodoxien an eine lichte Spitze zu ſtellen, oder
einen bedeutenden Maecen zu beſchleichen, um
ſich in deſſen Glanze zu wärmen. Ich werde
heute von der Regel abweichen und die Wahr-
heit ſagen. Hat dies Entſchuldigung nöthig, ſo
verzeihe man es der Vorrede zu einer Abhand-
lung über die Anomalieen des menſchlichen
Geiſtes.
Freund Wagnitz arbeitet jetzt, wie be-
kannt, an dem groſsen Plan, Verirrte wie-
der zur Vernunft zu helfen. Er bat
mich, auch ein Steinchen in irgend eine leere
Fuge dieſes groſsen Gebäudes einzuſchieben.
Ich nahm ſeine Aufforderung um ſo williger an,
da dieſer Gegenſtand in mein Fach ſchlägt, und
das Wohl und Weh der Irrenden an der Tages-
ordnung ſteht, nachdem die moraliſchen Patien-
ten durch einen coup de main an einem ſicheren
Ort berathen ſind. Ich arbeitete alſo die vorlie-
gende Abhandlung für Herrn Wagnitz aus.
Allein er wies ſie, wie man einem Prediger
[5] glauben muſs, deswegen zurück, weil ſie ſich
durch mehrere Jahrgänge ſeines Journals fort-
wälzen würde, und ſein Verleger nur zweimal
im Jahre, und jedesmal nur neun Bogen, für Ar-
me, Gefangne, Tollhäusler und andere Subjecte
dieſes Gelichters drucken laſſe. Einen ſo gro-
ſsen Zweck, Minderung der Verirrun-
gen auf der ganzen Erdfläche, an eine
ſo dürre Convention zu binden, iſt allerdings
eine Verirrung in dem Verhältniſſe zwiſchen
Verfaſſer und Verleger, die bloſs dadurch ge-
fallen kann, daſs eine vermuthete Diſſonanz
zwiſchen Subject und Object ſich in einen ge-
fälligen Accord auflöſst.
Doch ich habe bloſs zu berichten, durch
welche Verirrung meine Abhandlung über die-
ſelbe ihr Daſeyn erhielt. Sie ſollte in des Herrn
Wagnitz Ephemeriden ihren Tag mit flattern.
Allein ihre Auswüchſe verſperrten ihr den Weg
zu dieſer Ehre. Nun thun aber Amputationen
in der Verwandtſchaft wehe, beſonders an eignen
[6] Geiſteskindern, und zur Umkleidung derſelben in
ein ſyſtematiſches Gewand fehlt es mir an Zeit
und Luſt. Sie mag alſo in der leichten Drape-
rie auftreten, wie ſie für die Ideen und Pla-
ne angeputzt wurde. An Herrn Wagnitz
habe ich ihr aus einer kleinen Bosheit einen Ge-
leits-Brief mitgegeben. Er wies den gebetnen
Gaſt an der Thüre zurück; jetzt iſt er in der
Verlegenheit, dem Ungebetenen Quartier zu
machen. Halle den 1ſten Januar 1803.
J. C. Reil.
Von der Anwendung
der
pſychiſchen Curmethode
auf
Geiſteszerrüttungen.
‘De impoſſibilitate ita ſtatuo: ea omnia poſſibilia et
praeſtabilia cenſenda, quae ab aliquibus perfici
poſſunt, licet non a quibusvis; et quae a multis
conjunctim, licet non ab uno; et quae in ſucceſ-
ſione ſaeculorum, licet non eodem aevo; et de-
nique, quae publica cura et ſumptu, licet non
opibus et induſtria ſingulorum.’ (Baco.)
§. 1.
Es iſt eine ſonderbare Empfindung, wenn man
aus dem Gewühle einer groſsen Stadt auf einmal
in ihr Tollhaus tritt. Man [findet] ſie hier noch
einmal, im Geſchmack des Vaudeville’s vorge-
ſtellt, und irgendwo in dieſem Narrenſyſtem ein
bequemes Genus für ſich ſelbſt. Das Tollhaus
hat ſeine Uſurpateurs, Tyrannen, Sklaven, Frev-
ler und wehrloſe Dulder, Thoren, die ohne
Grund lachen, und Thoren, die ſich ohne Grund
ſelbſt quälen. Ahnenſtolz, Egoismus, Eitelkeit,
[8] Habſucht und andere Idole der menſchlichen
Schwäche führen auch auf dieſem Strudel das Ru-
der, wie auf dem Ocean der groſsen Welt. Doch
ſind jene Narren in Biçetre und Bedlam
offener und unſchädlicher, als die aus dem gro-
ſsen Narren-Hauſe. Der Rachſüchtige gebeut,
daſs Feuer vom Himmel falle, und der eingebil-
dete Heerführer glaubt, nach einem tollkühnen
Plan, den halben Erdball mit dem Schwerdt zu
zerſtören. Doch rauchen keine Dörfer, und kei-
ne Menſchen winſeln in ihrem Blute.
Wie wird uns beim Anblick dieſer Horde
vernunftloſer Weſen, deren einige vielleicht ehe-
mals einen Newton, Leibnitz oder Sterne
zur Seite ſtanden? Wo bleibt unſer Glaube an un-
ſern ätheriſchen Urſprung, an die Immaterialität
und Selbſtſtändigkeit unſeres Geiſtes und an an-
dere Hyperbeln des Dichtungs-Vermögens, die
im Drang zwiſchen Hoffen und Fürchten erfunden
ſind? Wie kann die nemliche Kraft in dem Ver-
kehrten anders ſeyn und anders wirken? Wie
kann ſie, deren Weſen Thätigkeit iſt, in dem
Cretin Jahre lang ſchlummern? Wie kann ſie mit
jedem wechſelnden Mond, gleich einem kalten Fie-
ber, bald raſen, bald vernünftig ſeyn? Wie kann ein
unvernünftiges Thier, das wie der Menſch toll,
närriſch und dumm wird, durch ein zerbroche-
nes Rad ſeiner Organiſation eine Vernunft verlie-
ren, die es nie gehabt hat? Mit jedem Gliede,
mit jedem Sinnwerkzeuge des Körpers, wird ein
[9] Theil der Seele amputirt. Ein Meer von Ideen
in den Archiven der Dichtkunſt, die feinſten Spie-
le des Witzes, die ſinnreichſten Erfindungen, die
zarteſten Gefühle, die brennendſten Bilder der
Phantaſie, die heftigſten Triebe, die die Seele
unaufhaltbar zum Handeln fortreiſsen, wären
nicht, wenn der Theil des Körpers nicht wäre,
der ſeine Art fortpflanzt. Ein Faſer im Gehirn
erſchlafft, und der in uns wohnende Götterfunke
iſt zu einem Feen-Mährchen geworden.
Die groſse Welt ſpielt immerhin auf die
kleine nach ihrer zufälligen Verbindung mit der-
ſelben. Die empfangenen Eindrücke werden
vorgeſtellt und im Selbſtbewuſstſeyn als Eigen-
thum aufgenommen. Sie dringen vorwärts an
die Leitſchnüre des Nervenſyſtems, bis zum
Hauptbrennpunkt der Organiſation, und werden
von da nach auſsen, oder nach andern Regio-
nen, innerhalb ihrer Grenzen, reflectirt. Die
Auſsendinge wechſeln; es wechſeln
die Reflectionspunkte in der Organiſa-
tion. Dieſe werden nemlich nach Maaſsgabe der
Thätigkeiten, die jene ehemals erregt haben,
immerhin nach andern Orten verlegt. Es con-
ſtruirt ſich durch ſich ſelbſt unvermerkt ein ande-
res Inſtrument. So entſtehen meandriſche Züge
und unvorhergeſehne Impulſe zur Thätigkeit, die
uns als Spontaneität blenden, weil wir ihre Cau-
ſalität, und daher auch ihre bedingte Nothwen-
digkeit nicht kennen. Es iſt ſogar nicht un-
[10] wahrſcheinlich, daſs durch eine eigenthümliche
Locomotivität aetheriſch-gasförmiger Subſtanzen,
und durch den Wechſel ihrer + und — Natur,
die entgegengeſezten Pole im Microcosmus umge-
tauſcht und das Innere der Organiſation gleichſam
nach auſsen gekehrt werden könne. Der Nacht-
wandler producirt die nemlichen Handlungen,
die wir am Tage nach den Geſetzen der Willens-
freiheit bewirken, unter einer anderer Vorzeich-
nung, im Schlaf, und in einer illüſtren Gröſse,
die uns in Erſtaunen ſetzt. Er produdirt ſie ge-
zwungen, als Automat, ohne klares Bewuſstſeyn
und Spontaneität, durch die abgemeſſenen Reflec-
tionspunkte ſeiner Nerven-Organiſation.
Wir ſtellen die Veränderungen in den Vor-
höfen unſeres Tempels als Luſt und Schmerz,
und die feinern Spiele im Allerheiligſten als An-
ſchauungen und Imaginationen vor, knüpfen
ſie, als uns angehörig, in unſerem Selbſtbewuſst-
ſeyn zuſammen, und werden dadurch inſtinctmä-
ſsig zum Begehren und Verabſcheuen getrieben,
und beſchränkt von Zeit und Raum, durch Ba-
ſtard-Vorſtellungen geäft, in welchen wir das Ich
und Nichtich wie die Grundfarben in der Grünen
verlieren.
Eine andere Reflection! Iſt unſer Verhalten
gegen dieſe Unglücklichſten unſerer Mitbrüder
der Geſetzgebung der Vernunft gemäſs? Leider
nein! Indolenz, Habſucht, Eigennutz, Intrigue
und kalte Barbarey liegen auch hier, wie überall,
[11] im Hintergrunde verſteckt und ſpeien die Maxi-
men aus, nach welchen die übertünchten Men-
ſchen-Gruppen gegenſeitig auf einander wirken.
Doch verſtöſst dieſe Handlungs-Weiſe nicht allein
gegen die Pflichten, die wir Andern ſchuldig ſind,
ſondern ſogar gegen unſer eignes Intereſſe. Ver-
rückte, die ſich nicht ſelbſt rathen und dem Be-
truge Betrug entgegen ſtellen können, leiden an
einem Gebrechen, das in der Menſchheit ſelbſt
gegründet iſt, dem wir alſo alle, mehr als jedem
anderen, offen liegen, und das wir, weder durch
Verſtand, noch durch Rang und Reichthum ab-
halten können. Moraliſche und phyſiſche Poten-
zen, der Anfall eines hitzigen Fiebers und ein
unvermeidlicher Stoſs des Verhängniſſes, der
einzelne Familien oder ganze Staaten erſchüttert,
können uns für immer einen Platz im Tollhauſe
anweiſen. Wunderlich treibt das Glück ſein Spiel
mit dem Menſchen. Es windet ihn zum Diadem
hinauf, und pfropft denn darauf, wie auf der
Kutte des Bettlers, dies Extrem des Miſsgeſchicks.
So greifen auch hier Kopf und Schwanz dieſer
Schlange zuſammen. Erſt im Jahre 1772, ſagt
Langermann*), ſind die Stellen für Wahnſin-
nige in den öffentlichen Häuſern zu Torgau und
Waldheim verdoppelt, und zwanzig Jahre nach-
her fehlte es ſchon wieder an Raum, alle zuſtrömen-
[12] den Narren aus Churſachſen aufzunehmen.
„Heil dir, mächtige Tollheit! Heil dir! dein Reich
breitet ſich aus, deine Macht beſiegt alles. Wo-
hin das ſchwellende Seegel den Reiſenden trägt,
iſt nicht der klügſte, nicht der beſte Mann vor
dir frey *).“ So viele göttliche Anlagen zu ho-
hen und edlen Thaten, als die Natur in uns gelegt
hat, Trieb nach Ruhm, nach eigner Vollendung,
Kraft zur Selbſtbeſtimmung und Beharrlichkeit,
und Leidenſchaften, die durch ihren Sturm für
tödliche Schlafſucht ſichern; eben ſo viele Keime
zur Narrheit hat ſie uns auch zugleich durch die-
ſelben mitgetheilt. Wir rücken Schritt vor Schritt
dem Tollhauſe näher, ſo wie wir auf dem Wege
unſerer ſinnlichen und intellectuellen Cultur fort-
ſchreiten. Erſt muſs der phyſiſche Menſch krank
gemacht werden; damit beginnt die Entbindung
des intellectuellen. Eine abſolute Macrobiotik
übt der Nomade am Kupferfluſs aus. Wollt ihr
dieſe; ſo geht hin, und thut desgleichen. Al-
lein unendlich mehr Geiſt erfordert die Kunſt, den
Menſchen mit ſich ſelbſt einig zu machen und die
Widerſprüche auszugleichen, in welche die Er-
haltung des Individuums durch den Anbau der
Seele geräth. Sie iſt der natürliche Paraſit des
Körpers und verzehrt in dem nemlichen Ver-
hältniſs das Oehl des Lebens ſtärker, welches
ſie nicht erworben hat, als die Grenzen ihres
[13] Wirkungskreiſes erweitert werden *). Im Zu-
ſtande der Natur, ſagt Kant**), kann der
Menſch nur wenig Thorheiten begehen und
ſchwerlich der Narrheit unterworfen ſeyn. Sei-
ne Bedürfniſſe halten ihn jederzeit nahe an der
Erfahrung und geben ſeinem geſunden Verſtande
eine ſo leichte Beſchäftigung, daſs er kaum be-
merkt, er habe zu ſeinen Handlungen Verſtand
nöthig. Seinen groben und gemeinen Begierden
giebt die Trägheit eine Mäſsigung, welche der
wenigen Urtheilskraft, die er bedarf, Macht ge-
nug läſst, über ſie, ſeinem gröſseſten Vortheile ge-
mäſs, zu herrſchen. Wo ſollte er wol zur Narr-
heit Stoff hernehmen, da er, um Anderer Urtheil
unbekümmert, weder eitel noch aufgeblaſen ſeyn
kann? Indem er von dem Werthe ungenoſſener
Güter gar keine Vorſtellung hat, ſo iſt er für
die Ungereimtheit der filzigen Habſucht geſichert,
und weil in ſeinem Kopfe niemals einiger Witz
Eingang findet, ſo iſt er eben deswegen gegen
allen Aberwitz verwahrt. Gleichergeſtalt kann
die Stöhrung des Gemüths in dieſem Stande der
Einfalt nur ſelten Statt finden. Wenn das Gehirn
des Wilden einigen Anſtoſs erlitten hat, ſo weiſs
[14] ich nicht, wo die Phantaſterey herkommen ſollte,
um die gewöhnlichen Empfindungen, die ihn al-
lein unabläſſig beſchäftigen, zu verdrängen. Wel-
cher Wahnſinn kann ihm wol anwandeln, da er
niemals Urſache hat, ſich in ſeinem Urtheile weit
zu verſteigen? Der Wahnwitz liegt ganz über
ſeine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopfe
krank iſt, entweder blödſinnig oder toll ſeyn,
und auch dieſes muſs höchſt ſelten geſchehen,
denn er iſt mehrentheils geſund, weil er frey iſt,
und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfaſ-
ſung finden ſich eigentlich die Gährungsmittel zu
allem dieſen Verderben, die, wenn ſie es gleich
nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhal-
ten und zu vergröſsern dienen.
Dies ſind Gründe, die uns Milde gegen Ir-
rende gebieten, aus Eigenliebe, ohne Nächſtenlie-
be. Dennoch perennirt die Barbarey, wie ſie aus
der rohen Vorzeit auf uns übergetragen iſt. Wir
ſperren dieſe unglücklichen Geſchöpfe gleich Ver-
brechern in Tollkoben, ausgeſtorbne Gefängniſ-
ſe, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde
Klüfte über den Stadtthoren, oder in die feuchten
Kellergeſchoſſe der Zuchthäuſer ein, wohin nie
ein mitleidiger Blick des Menſchenfreundes dringt,
und laſſen ſie daſelbſt, angeſchmiedet an Ketten,
in ihrem eigenen Unrath verfaulen. Ihre Feſſeln
haben ihr Fleiſch bis auf die Knochen abgerieben,
und ihre hohlen und bleichen Geſichter harren
das nahen Grabes, das ihren Jammer und unſere
[15] Schande zudeckt. Man giebt ſie der Neugierde
des Pöbels Preis, und der gewinnſüchtige Wär-
ter zerrt ſie, wie ſeltene Beſtieen, um den mü-
ſsigen Zuſchauer zu beluſtigen. Sie ſind wie die
Pandekten ohne Syſtem, oder confus, wie
die Ideen ihrer Köpfe, in den Irrhäuſern geord-
net. Fallſüchtige, Blödſinnige, Schwätzer und
düſtre Miſanthropen ſchwimmen in der ſchönſten
Verwirrung durch einander. Die Erhaltung der
Ruhe und Ordnung beruht auf terroriſtiſche Prin-
cipien. Peitſchen, Ketten und Gefängniſſe ſind
an der Tagesordnung. Die Officianten ſind mei-
ſtens gefühlloſe, pflichtvergeſſene, oder barbari-
ſche Menſchen, die ſelten in der Kunſt, Irrende
zu lenken, über den Zirkel hinausgetreten ſind,
den ſie mit ihrem Prügel beſchreiben. Sie können
die Plane des Arztes nicht ausführen, weil ſie zu
dumm, oder ſie wollen es nicht, weil ſie nieder-
trächtig genug ſind, ihren Wucher der Geneſung
ihrer fetten Penſionaire vorzuziehen. Der ge-
ſcheuteſte Arzt iſt gelähmt, wie der Handwerker
ohne Werkzeug *). In den meiſten Irrhäu-
ſern ſind die Stuben eng, dumpf, finſter, über-
füllt; im Winter kalt wie die Höhlen der Eis-
bären am Nordpol, und im Sommer dem Brande
des krankmachenden Syrius ausgeſetzt. Es fehlt
an geräumigen Plätzen zur Bewegung, an Anſtal-
[16] ten zum Feldbau. Die ganze Verfaſſung dieſer
tollen Tollhäuſer entſpricht nicht dem Zweck der
erträglichſten Aufbewahrung; und noch weniger
der Heilung der Irrenden. Der bunte Haufe iſt
zu ſehr an Schmetterlingsſüſsigkeiten gewöhnt,
um dieſe Orte des Jammers zu beſuchen, und be-
gnügt ſich mit einigen Anecdoten aus ſeiner Hei-
math, die der Reiſende am Spieltiſch debütirt.
Der Geſchäftsmann hat wichtigere Dinge zu be-
treiben, und der Staat geht, wie der Phariſäer,
kalt und fühllos vorüber. Indeſs man die Kraft
auf die Grenzen ſtellt und die Schaale deckt, mo-
dert im Inneren der Kern. Wo ſind die Früchte
unſerer gerühmten Cultur, Menſchenliebe, Ge-
meingeiſt, ächter Bürgerſinn und edle Reſignation
auf eigenes Intereſſe, wenn es auf Rettung Ande-
rer ankommt? Man muſs warlich in der Jugend
ein warmer Freund der Menſchen geweſen ſeyn,
um ſie im Alter wie die Sünde zu haſſen, wenn
man ſie kennen gelernt hat.
Herrn Wagnitz danken daher alle Edle,
denen die Rettung der Nothleidenden in dem
Kellergeſchoſs unſeres Zuchthauſes am Herzen
liegt, und ſegnen ſeine Feder, die aus Menſch-
heit für die Menſchheit ſchreibt. Vergebens regt
ſich die Scheelſucht, wenn ſie auf Nebenabſichten
hinwinckt, und kehrt den Stachel gegen ſich ſelbſt.
Das Verdienſt ſteigt in gleichen Verhältniſſen, als
es mehrere Zwecke durch einerley Mittel zu rea-
liſiren im Stande iſt. Daſs er die Verrückten an
der
[17] der Thür vorbey gieng, um nach einem Decennium
von den Verbrechern da zurückzukehren, wo er
bequem hätte anfangen können, halten wir gern ſei-
ner Kunſtliebe für die Heilung moraliſcher Krank-
heiten zu Gute. Jene ſchwarzen Patienten gehö-
ren freilich allein für den ſchwarzen Rock, der
ihre Laſter und ſeine fruchtloſen Bemühungen be-
trauert. Allein hier thut er wohl, ein Hülfskorps
unter ſeine Fahne zu nehmen, das er zu Streif-
zügen und in gefährliche Defilees mit Vortheil
gebrauchen kann. Dazu empfehle ich ihm die
Zunft der Aerzte. Sie haben Muth und Kraft,
weil jeder ihrer bedarf. Sie ſind Zöglinge aus
der Schule der groſsen Natur, die den Menſchen
vom Menſchen nicht trennt, und ſehn daher den
Kränkungen ſeiner Rechte mit Unwillen zu. Sie
werden grau im Jammer, den ſie täglich in ſeinen
grellſten Farben anſchaun und ſind daher zum
Handeln bereit, wenn es auf Beiſtand der leiden-
den Menſchheit ankömmt. Sie kennen endlich
den Menſchen, den ſie leider zu oft hinter dem
Vorhang ſchaun, wenn er es im Drange der Um-
ſtände vergiſst, die Maske feſt zu halten. Der
Betrogne entlarvt den Betrüger; der Sünder beich-
tet ſeine eigne Schande, wenn ihm dadurch ge-
holfen werden muſs; und der Barbar entblödet
ſich nicht, ſelbſt in dem Angeſicht des Todes, zu
ſeyn, was er nicht ſcheinen mag, ſobald der ſinn-
loſe Kranke die Härte ſeines Herzens zu brand-
marken auſser Stande iſt. So iſt leider meiſtens
B
[18] jene gleiſsneriſche Moralität in dem offenen Ge-
wühle der Welt nichts Inneres, ſondern ein
Kunſtgetriebe äuſserer Verhältniſſe. Man ſchil-
dere daher zum Beſten der Irrenden ihrer Näch-
ſten ſcheuſsliche Larve, damit ſie in dieſem Spie-
gel erröthen, und nothgedrungen thun, was ſie
aus innerem Triebe nicht haben thun wollen.
Doch genug zur Empfehlung meiner Collegen.
Sie möchten ſonſt auch über die Schnur ſpringen,
und den General en Chef zu dieſer Unternehmung
aus ihrer Mitte wählen wollen. Ich werde, um
mich für alle Zunftfehden beſtens zu verwahren,
mich ſtreng an meinen Leiſten halten, und bloſs
ſolche Fehler der Irrenanſtalten rügen, die dem
Aesculap Herzweh machen.
§. 2.
Kranke werden in ihren Häuſern curirt und
nur dann in öffentliche Spitäler aufgenommen,
wenn ſie kein Haus, oder wenigſtens in demſel-
ben keine Pflege haben. Bloſs die Geiſteszerrüt-
tungen ſind von jeher Ausnahmen von dieſer Re-
gel geweſen. Der Staat legt öffentliche Nar-
ren- und Tollhäuſer, gleichſam als die Ba-
ſis aller Vorſorge für Wahnſinnige zum Grunde,
welches ſchon auf die gröſsere Schwierigkeit der
Cur dieſer Art von Krankheiten hinzudeuten
ſcheint. Er erſpart dadurch an Koſtenaufwand,
kann ſeine Aufmerkſamkeit in einem Punkt ver-
[19] einigen und eine groſse Anſtalt leichter als viele
kleine überſchauen. Für plötzliche Ausbrüche
der Raſerey ſind öffentliche Sicherheits-Oerter
nöthig. Meiſtens gelingt die Cur der Verrükten
beſſer unter unbekannten Menſchen und in frem-
den Häuſern. Die relativen Hinderniſſe ihrer
Herſtellung ſind in einer öffentlichen Anſtalt nur
von einerley, hingegen in den Familien ſo mannich-
faltiger Art, als die Familien, denen ſie angehö-
ren. In Privathäuſern fehlen Bäder, Douchen,
freie Plätze, und andere Hülfsmittel zur Cur,
die in den öffentlichen Anſtalten dem Arzt zu
Gebote ſtehen. Aerzte, die Scharfblick, Beob-
achtungsgeiſt, Witz, guten Willen, Beharrlich-
keit, Geduld, Uebung, einen inponirenden Kör-
per, und eine Miene, die Ehrfurcht gebietet, kurz
alle zur Cur Irrender nöthige Eigenſchaften beſit-
zen, ſind ſo ſelten, daſs ſie kaum für öffentliche
Anſtalten, vielweniger für zerſtreute Privatkran-
ke, gefunden werden können. Eben dies gilt
von allen übrigen Offizianten. Doch ich laſſe
dieſen Gegenſtand, der zu einer beſondern Dis-
kuſſion geeignet iſt *), bey Seite ſtehen, und neh-
me als ausgemacht an, daſs in der Regel
öffentliche Irrenhäuſer die Grundla-
ge zur Behandlung dieſer Art von
Kranken ſeyn müſſen.
B 2
[20]
Oeffentliche Irrenhäuſer haben zweierley
Zwecke, beide ſind weſentlich verſchiedener Na-
tur; eben ſo verſchieden muſs auch ihre Conſtru-
ction ſeyn, wenn beide Zwecke in ihnen realiſirt
werden ſollen. Einmal ſind ſie Aufbewah-
rungs-Anſtalten ſolcher Irrenden, die un-
heilbar ſind. Dieſe Anſtalten müſſen nach folgen-
den Principien conſtruirt ſeyn: 1) Den Irrenden
verwahren, daſs er ſich und Andern nicht ſchade;
2) ihm alle Mittel zum frohen Genuſs ſeines Da-
ſeyns anbieten, die ſeinem Zuſtande angemeſſen
ſind; 3) endlich ihn, ſoweit es möglich iſt, zur
Thätigkeit anhalten. Denn auch die Irrende ſind
organiſche und moraliſche Naturkräfte, die der
gute Haushalter nicht ungenutzt liegen laſſen ſoll.
Die Organiſation dieſer Anſtalt für Irrende, ein-
ſtimmig mit den aufgeſtellten Principien, muſs
ich gegenwärtig bey Seite legen, weil ſie mich zu
weit von meinem Ziele ableiten würde. Doch
werde ich ſie zu einer andern Zeit bearbeiten.
Ein zweiter Zweck, den wir durch die Irrenhäu-
ſer zu erreichen ſuchen, beſteht darin, die ſub-
jectiv-heilbaren Irrenden von ihrer
Krankheit zu befreien. Die Aufbewah-
rungs-Anſtalt bedarf bloſser thätiger und recht-
ſchaffener Menſchenfreunde. Die Heilanſtalt hat
ein ganz anderes Perſonal, zu eignen Zwecken
inſtruirte Aerzte, Prediger und Philoſophen,
mancherley Mittel und beſondere Einrichtungen
nöthig, wenn ſie ihren Zweck, die Wiederher-
[21] ſtellung der Irrenden, erreichen ſoll. Bloſs von
dieſen letzten Anſtalten und ihrer eigenthümlichen
Organiſation werde ich gegenwärtig reden.
Bis jetzt haben wir beide an ſich heterogene
Zwecke, gut und böſe, in unſere Irrenhäuſer
amalgamirt und dadurch jene unſeligen Zwitter
geſchaffen, die keinem Zwecke entſprechen.
Die Aufgabe, ob überhaupt die Realiſirung bei-
der Zwecke in einer Anſtalt möglich ſey: wie
ſollen wir ſie entſcheiden? Zuverläſſig auf dem
Wege, daſs wir die ſeparaten Entwürfe zur beſten
Einrichtung beider Anſtalten vergleichen und
nach dem Befund das Reſultat abziehn, in wie-
fern ſie ſich vereinigen laſſen. Allein dieſe feh-
len, wenigſtens fehlt der Entwurf zur Einrich-
tung einer Heilanſtalt, die allen Forderungen in
Beziehung auf ihren Zweck entſpricht. Ich mei-
nes Theils fürchte, das Reſultat aus der Ver-
gleichung wird dahin ausfallen, daſs beide Zwe-
cke nicht ohne gegenſeitige Aufopferung in einer
Anſtalt erreichbar ſind. Es gehört eine richtige
Vertheilung, groſse Anſtrengung und ein leiſes
Spiel der Kräfte dazu, Irrende zu heilen. Dieſe
werden wahrſcheinlich auf zu viele Punkte zer-
ſtreut, wenn ſie auch die Verpflegung der Unheil-
baren übernehmen ſollen. Dann fürchte ich auch,
daſs die verwirrten Handlungen der Unheilbaren
nur zu oft dem Arzte die Plane verderben, die
er zur Cur der Heilbaren angelegt hat. Doch
auch dieſe Diskuſſion ſetze ich als einen Gegen-
[22] ſtand bey Seite, der auſser meiner Sphäre liegt
und bemerke bloſs noch, daſs wir erſt im Beſitz
beider Plane, ſowohl zur Aufbewahrung, als
zur beſtmöglichſten Heilung der Irrenden ſeyn
müſſen, ehe die Irrenhäuſer darnach eingerichtet
werden können, wenn wir nicht nach der Weiſe
der Abderiten erſt das Haus bauen und nachher
den Riſs dazu anfertigen wollen.
Daſs uns bis jetzt noch ein Entwurf zur
beſtmöglichſten Heilmethode der Geiſteszerrüt-
tung fehle, habe ich bereits oben beiläufig er-
wähnt. Die Aerzte beſtehn darauf, ſie allein
durch Arzneien zu heilen. Durch Mohnſaft
und Nieſewurz ſoll jede verſtimmte Saite des
Gehirns zum normalen Ton angeſchroben werden.
Sie ſeufzen über den Verluſt des Helleboris-
mus*) und achten der reichhaltigen Ueberreſte
der pſychiſchen Curmethode und deren Anwen-
dung auf Geiſteszerrüttungen nicht, die das
Alterthum auf uns fortgepflanzt hat. Allein die
Grenze iſt zu eng geſteckt. Denn wahrſcheinlich
muſs die directe Heilung der Geiſteszerrüttun-
gen allein durch eine pſychiſche Cur-
methode bewerkſtelliget werden.
§. 3.
Was ſind pſychiſche Curmethoden?
Zum Behuf der Gründung dieſes Begriffs muſs ich
[23] vorher der allgemeinen Differenz der Heilmittel
gedenken, als nach welcher die verſchiedenen Ar-
ten von Curmethoden beſtimmt werden. Heil-
mittel ſind Dinge, durch deren An-
wendung auf thieriſche Körper wir
die Krankheiten derſelben zu entfernen
ſuchen. Es iſt gleich viel, ob dieſe Dinge kör-
perlicher oder unkörperlicher Natur, Subſtan-
zen der Erde, oder ätheriſche Stoffe ſind, die
dem ganzen Weltall angehören, ob ſie durch me-
chaniſche, chemiſche oder andere Kräfte wirken.
Ihre Realität gründet ſich alſo auf ein Verhältniſs,
das zwiſchen ihnen und dem Zweck Statt findet,
den ſie erreichen ſollen. Es giebt daher in der
Welt, die als ein Mannichfaltiges nach den Ge-
ſetzen der Cauſalität exiſtirt, keine Dinge, die
ausſchlieſslich zu dem Zweck vorhanden wären,
Krankheiten zu heilen. Ihre Zweckmäſsigkeit
iſt bedingt, und ſo mannichfaltig als die Gegen-
ſtände, auf welche ſie angewandt werden. Das
nemliche Ding, welches der Arzt zur Heilung
der Krankheiten gebraucht, kann auch zu an-
dern Zwecken, z. B. zur Zerſtörung der Organi-
ſation angewendet werden, und iſt alsdenn, in
dieſer andern Beziehung, ein Gift. Die Heil-
mittellehre hat alſo in der Reihe der Naturdinge
kein beſtimmtes Gebiet (dominium), das ſie
als Eigenthum beherrſcht, ſondern wählt aus dem
Inbegriff aller ſolche aus, die Behufs des Zwecks
der Heilung auf den menſchlichen Körper taug-
[24] lich ſind. Ihr iſt in dem Gebiete derſelben bloſs
ein Aufenthaltsort (domicilium) zugeſtan-
den, deſſen Umfang nicht abſolut begrenzt iſt,
ſondern nach den Fortſchritten der Kunſt ſich
verändert, verengert, erweitert. Das nemliche
Ding iſt ein Nahrungsmittel, wenn es den
Verluſt an Subſtanz in einem geſunden Körper er-
ſetzt; eine Arzney, wenn es die verlohrne Ge-
ſundheit wieder herſtellt; und ein Gift, wenn
es dieſelbe zerſtört. Dabey bleibt es, an ſich,
immer das nemliche Ding. Daher muſs jeder
Verſuch verunglücken, durch die Diätetik,
Arzneimittellehre, Toxikologie u. ſ. w.
beſtimmte Scheidungslinien in dem Naturreich zu
ziehen, und es gleichſam in beſondere Provinzen
abzutheilen.
Den Begriff eines Heilmittels müſſen wir
alſo auf ſeinem letzten Zwecke gründen.
Allein ordnen können wir die Heilmittel nicht
nach ihren Unterzwecken, weil das nemliche
Ding zu verſchiedenen Zwecken brauchbar iſt,
und daher keinen ſteten Platz im Syſtem finden
würde. Deswegen iſt die Eintheilung derſelben
in Nahrungsmittel, Arzneien, Gifte,
Brechmittel, Wurmmittel u. ſ. w. fehler-
haft, wenn wir uns einbilden, dadurch jedem
ärztlichen Inſtrument ſeinen eigenthümlichen Ort
im Syſtem angewieſen zu haben. Ein Einthei-
lungsgrund, der ſich nicht ſowohl auf ihre Zwe-
cke, ſondern vielmehr auf ihre abſoluten Kräfte
[25] bezieht, ſcheint mir daher zur Aneinanderrei-
hung derſelben in eine ſyſtematiſche Ordnung be-
quemer zu ſeyn. Sie wirken entweder vermöge
ihrer chemiſchen oder vermöge ihrer phy-
ſiſch-mechaniſchen Eigenſchaften. Unter
dieſer Abtheilung ſtehn die chirurgiſchen
Mittel; unter jener die Arzneien und Nah-
rungsmittel. Hiermit pflegt man die Kette
zu ſchlieſsen; doch zu früh. Denn es giebt noch
andere Dinge, die Heilmittel ſind, weil ſie Krank-
heiten heben; aber weder chemiſch, noch me-
chaniſch, ſondern pſychiſch wirken. Dieſe
Kräfte, die pſychiſch wirken, liegen auch, wenn
ſie auf den beſtimmten Zweck der Heilung der
Krankheiten hinwirken, innerhalb der Grenze
der Heilmittellehre. Alle Inſtrumente derſelben
wirken daher
1) Chemiſch; die Nahrungsmittel, Arz-
neien und Gifte, nach den Zwecken, die ſie in
der Organiſation erreichen. Bromatologie,
Diätetik, Pharmakologie und Toxiko-
logie, ſind unter dieſer Abtheilung begriffen.
2) Phyſiſch-mechaniſch; die chi-
rurgiſchen Heilmittel, welche die Akologie
in ein Syſtem faſst; und endlich
3) Pſychiſch, wenn ſie durch eine be-
ſtimmte Richtung der Seelenkräfte, der Vorſtel-
lungen, Gefühle und Begierden ſolche Verände-
rungen in der Organiſation hervorbringen, durch
welche ihre Krankheiten geheilt werden. Die
[26] Inſtrumente dieſer Art ſind bis jetzt noch in kein
Syſtem zuſammengetragen.
Aerztliche Bemühungen auf dem erſten We-
ge heiſsen mediciniſche, auf dem zweiten
chirurgiſche, auf dem letzten pſychiſche
Curen, wohin z. B. die Curen durch erregte Lei-
denſchaften, Sympathie, Kraft des Vorſatzes,
eigene Haltung des Geiſtes u. ſ. w. gehören.
Doch bemerke ich noch, daſs wir die er-
wähnten Prädikate theils auf die abſoluten Eigen-
ſchaften der Inſtrumente, die ſie an ſich haben,
theils auf die Art der Wirkungen beziehen kön-
nen, die ſie im Körper erregen. Nun ſind aber
die Veränderungen, welche die Heilmittel in der
Organiſation hervorbringen, fortſchreitend,
und die letzten Producte derſelben können
eine von den abſoluten Kräften der Heilmittel
verſchiedene Natur haben. Das Heilmittel fängt
die Veränderung an, die Organiſation vollendet
dieſelbe. Die Färberröthe wirkt chemiſch, doch
macht ſie die krummen Beine rachitiſcher Kin-
der gerade, verurſacht alſo eine endliche me-
chaniſche Veränderung. Ferner iſt es noch
wahrſcheinlich, daſs die letzten relativen Wir-
kungen aller, ſelbſt der pſychiſchen, Heilmittel,
in einer Veränderung des Stoffs und ſeiner Struc-
tur beſtehn. Daher neue Schwierigkeiten in der
Anordnung des Syſtems. Doch dieſe Unterſu-
chungen ſetze ich bey Seite, da ſie zur Philoſo-
[27] phie der Pharmakologie und allgemeinen Thera-
peutik gehören.
Wenn demnach die allgemeine Heilkunde, der
dieſe Unterſuchung angehört, zwey Curmetho-
den, die chirurgiſche und mediciniſche,
von welcher die diätetiſche eine Abart iſt, nach
der Natur und Wirkungsart der Mit-
tel, die angewandt werden, feſtſetzt; ſo muſs
ſie, wenn ſie conſequent verfahren will, denſel-
ben noch eine dritte, die pſychiſche, zu-
fügen. Freilich iſt dieſe letzte noch rohes Feld,
die aber durch Cultur zu der nemlichen, ja viel-
leicht noch höheren Wirkſamkeit geſteigert wer-
den kann, welche die beiden übrigen Curmetho-
den beſitzen. In der That ein bedeutender Zu-
wachs, durch welchen die Grenzen der Heil-
kunde um ein ganzes Drittheil weiter hinausge-
ſteckt werden! Mit demſelben öffnet ſich dem Kunſt-
fleiſse der Aerzte eine neue Sphäre der Thätig-
keit, die ihnen die intereſſanteſten Gegenſtände zur
Bearbeitung anbietet. Die mediciniſchen Fakul-
täten werden nach dieſer Acquiſition genöthigt
ſeyn, den vorhandenen zwey Graden noch ei-
nen Dritten, nemlich die Doctorwürde
in der pſychiſchen Heilkunde, zuzufügen.
§. 4.
Pſychiſche Curmethoden ſind alſo
methodiſche Anwendungen ſolcher
Mittel auf den Menſchen, welche zu-
[28] nächſt auf die Seele deſſelben und auf
dieſe in der Abſicht wirken, damit
dadurch die Heilung einer Krankheit
zu Stande kommen möge. Es iſt daher
in Rückſicht ihres Begriffs gleichgültig, ob ſie
eine Krankheit der Seele oder des Körpers hei-
len; ob das erregte Spiel der Seelenkräfte, zum
Behuf der Heilung, durch mitgetheilte Vorſtel-
lungen und Begriffe, oder durch körperliche Mit-
tel, z. B. durch Ruthen, Douchen und Kanonen-
donner erregt worden iſt.
Dieſe Curmethode iſt zwar als eigne Diſci-
plin, in einem ſyſtematiſchen Zuſammenhang und
in Verbindung mit den ihr angehörigen Wiſſen-
ſchaften nie bearbeitet. Doch finden wir hie und
da Bruchſtücke derſelben, die uns die Geſchichte
der Arzneikunde, aus der älteren und neueren
Zeit, aufbewahrt hat. Apparent rari nantes in
gurgite vaſto. Die Griechen und Römer waren
mit ihr nicht unbekannt. Davon überzeugen uns
manche Stellen in den Schriften des Hippocra-
tes, Celſus und C. Aurelianus. Auch
die Araber bedienten ſich ihrer zur Heilung der
Krankheiten. Mit welchem Glück? das erhellt
aus folgender Geſchichte. Al-Raſchid’s ſchö-
ne Beiſchläferin hatte ſich in den Umarmungen
ihres Gebieters mit ſo vieler Inbrunſt geſtreckt,
daſs einer ihrer Arme ſtarr blieb. Man verſuchte
alles zu ihrer Herſtellung; Balſame von Gilead
und Mekka floſſen in Strömen, Narden und Am-
[29] bra dampften in dem Rauchfaſſe, aber umſonſt.
Es wurde alſo ein neuer Arzt, Gabriel, herbei-
gerufen. Dieſer heilte die Kranke in einem Au-
genblick, durch einen pſychologiſchen Verſuch.
Er ſtellte ſich als wollte er ihren Unterrock be-
rühren, und dies in Gegenwart von Zeugen. Schnell
entbrannte Zorn in der Bruſt des ſchönen Mäd-
chens, ihr Krampf ſchwand, und ſie griff mit bei-
den Händen auf den verwegnen Frevler zu.
Sie war geheilt, der Kaiſer aller Gläubigen glück-
lich durch die Hoffnung neuer Umarmungen,
und der Arzt nicht minder durch 500,000 Thlr.,
die er für dieſe Cur geſchenkt bekam *). Aus
der neueren Zeit führe ich Kant, Th. Bar-
nes, Bolten und einige Andere an **).
[30]
Doch iſt es noch nicht lange, daſs man die
pſychiſche Curmethode auf Geiſteszerrüttungen
angewandt, und es einzuſehen angefangen hat,
daſs dieſe Krankheiten vorzüglich durch
ſie geheilt werden müſſen. Ich fange,
wie billig, mit der Nation an, die ſich die
groſse nennt, es aber nicht durch ihre Aerz-
te iſt. Quantum eſt inane in rebus humanis!
Herr Pinel genoſs der ſchönen Erndte für dies
Fach zur Zeit der Revolution, wo nach ſeinem
eignen Geſtändniſſe die Narren in Frankreich
häufiger waren, als je zu einer anderen Zeit.
**)
[31] Sein Werk über den Wahnſinn iſt ein Coq à l’ane,
üppig in einzelnen Theilen, aber krank im Zu-
ſammenhang, ohne Principien und Originalität,
ob er gleich Nationaldünkel genug hat, ſich
alles dies anzumaſsen. Daſs wir über kurz oder
lang eine ſyſtematiſche Theorie der pſychiſchen
Curmethode bekommen werden, glaube ich:
aus der Republick? das glaube ich nicht. Die
zweite groſse Nation der Erde, die mit mehr Be-
ſcheidenheit das von ſich denkt, was jene von
ſich ſagt, hat viele, aber meiſtens gemeine Arti-
kel über den Wahnſinn geliefert. Herrn Crich-
ton nehme ich aus, dem ich im Vorbeigehn
meine gröſste Hochachtung bezeuge. Ihr Vete-
ran in der Kunſt ihn zu heilen, Herr Willis,
ſoll vorzüglich durch die pſychiſche Curmethode
wirken, iſt aber ſo beſcheiden, daſs er ſeine Ge-
heimniſſe für ſich behält. Allein ehe noch die
groſsen Nationen an dieſen Gegenſtand dachten,
ſtanden unter den Deutſchen Erhard*), Lan-
germann**) und vor ihnen Kloekhof***)
auf, warfen ſich dem Schlendrian in den Weg, und
predigten ohne Pomp, aber laut und verſtändlich
es allen, die Ohren hatten zu hören, daſs der
Wahnſinn vorzüglich durch die pſychiſche Cur-
[32] methode geheilt werden müſſe. Vielleicht könnte
es gar dieſem, wenigſtens an frechen Thraſonen
ärmlichen Völckchen gelingen, dies Fach mit
dem meiſten Glück zu bearbeiten, wenn ſie mit
ihren Nachbaren einerley günſtige Hülfsmittel
hätten.
§. 5.
Die pſychiſche Curmethode hat noch mit
mancherley kleinen und groſsen, relativen und
abſoluten Schwierigkeiten zu kämpfen. Wer ſich
daher ihrer bedienen will, ſcheint ein vorzügli-
ches Talent, groſsen Scharfblick, mehr Kennt-
niſſe und Fertigkeiten nöthig zu haben als jeder
andere Heilkünſtler, der direct auf den Körper
wirkt. Der pſychiſche Arzt hat die verwickelt-
ſten Verhältniſſe zu berechnen. Er kann die ab-
ſolute Kraft ſeiner Inſtrumente, nicht wie die
Kraft eines Tourniquets oder wie die Gröſse eines
Rhabarberpulvers, in Zahlen faſſen, oder durch
Maaſs und Gewicht beſtimmen. Meiſtens muſs
er die Eindrücke auf das Vorſtellungs- und Be-
gehrungsvermögen des Kranken extemporiren,
wie es der Zufall heiſcht und ſein Genie zu ſtar-
ken und überraſchenden Inpromptü’s aufgelegt
iſt. Noch mehr Spielraum hat der relative
Effect der pſychiſchen Mittel. Sie wirken auf
das Seelenorgan, alſo auf einen Theil des Orga-
nismus, der unter allen die zarteſten Kräfte und
dieſe von ſo beweglicher Temperatur hat, daſs
ſie
[33]ſie ſteigen, fallen und ſich verändern
durch ihre eignen Wirkungen. Dieſe
Qualität des Seelenorgans enthält den Grund ſei-
ner Anlagen zu Gewohnheiten und Fertigkeiten;
den Grund der Möglichkeit aller, ſowol der
moraliſchen als der intellectuellen Erziehung des
Menſchen. Nun erfolgt zwar dies Ebben und
Fluthen der Nervenkräfte nach einer ſteten Re-
gel, ſo lange ſie geſund ſind. Aber dieſe Regel
wird aufgehoben, wenn ſie erkranken und ihr
Wechſel bindet ſich nicht mehr an ein allgemeines
Geſetz. Daher neue Schwierigkeiten. Wie ſchwer
muſs es alſo für den Künſtler ſeyn, das Produkt
zweier Factoren zu berechnen, deren Natur und
Gröſse einem ewigen Wechſel unterworfen iſt.
Noch mehr Schwierigkeiten hat die Anwen-
dung der pſychiſchen Curmethode auf Geiſteszer-
rüttungen. In denſelben leidet der Brennpunkt
des Nervenſyſtems; er leidet an einer ſolchen
dynamiſchen Intemperatur, daſs fremde Erſchei-
nungen auf normale Eindrücke erfolgen und alle
Freiheit des Willens aufgehoben iſt. In anderen
Seelenkrankheiten kömmt uns der Patient zu
Hülfe. Er beobachtet ſich ſelbſt und theilt uns
ſeine Erfahrungen über den Einfluſs der ange-
wandten Potenzen auf ſich mit. Er entſchlieſst
ſich als freier Menſch zur Vollziehung des vorge-
legten Curplans und hält ſeinen Geiſt, wie es dem
Zweck ſeiner Geneſung angemeſſen iſt. Allein
beides kann der Verrückte nicht. Er denkt
C
[34] und handelt wie ein Kind und entſchlieſst ſich nie
freiwillig zur Cur einer Krankheit, von deren
Daſeyn er, als Verrückter, ſich ſchlechterdings
nicht überzeugen läſst. Da es ihm alſo an inneren
Beſtimmungsgründen fehlt, ſo müſſen wir ihn von
auſsenher nöthigen, auf ſich wirken zu laſſen.
Nun ſetzt aber dieſer Zwang theils ein beſonderes,
faſt individuelles Studium der Erfahrungs-Seelen-
kunde dieſer eigenartigen Geſchöpfe voraus, theils
beengt er mehr oder weniger die extenſive und in-
tenſive Wirkſamkeit der pſychiſchen Curmethode.
Dann hat noch die Krankheit ſelbſt keine Stä-
tigkeit. Sie wechſelt unaufhörlich, ſteigt, fällt,
ändert ihre Form. In den nemlichen Verhält-
niſſen müſſen auch die Seelenkräfte gewechſelt
haben. Die moraliſchen und intellectuellen Be-
ſtimmungen des Kranken ändern ſich wie die Pe-
rioden ſeiner Krankheit. Der Narr iſt im Anfall
ein anderes, und ein anderes Weſen im Nachlaſs.
Während des Paroxismus wird der Furchtſame
kühn, der Dummkopf beredt, das ſanfte Weib
eine wüthende Megäre. Der Raſende warnt ſei-
ne Freunde vor einem Unglück, das er ihnen
ſelbſt zubereitet; er ſorgt als Freund oder Vater
im Nachlaſs für die, die er im kommenden An-
fall zerfleiſcht. Verrückte haſsten ihre Kinder,
drohten ihre Eltern mit Schlägen in den Anfäl-
len, die ſie auſser denſelben zärtlich liebten *).
[35] Wahnſinnige, die in den Intervallen fromm und
gutmüthig ſind, werden in den Paroxismen wie
von einem böſen Dämon zum Zanken, Zerſtö-
ren, Schlagen, Stehlen und zu ähnlichen Bübe-
reien angetrieben *). Ein grauſamer Inſtinct reitzt
andere, wider ihren Willen, und ohne Verwir-
rung der Begriffe, gleich reiſsenden Tigern, ihre
Wuth in ihren eignen Eingeweiden oder in dem
Blute ihrer Nächſten abzukühlen. Pinel**) ſah
einen Menſchen, der ſich ſeine eigne Hand abge-
hauen hatte, und ohngeachtet ſeiner Feſſeln ſich
mit den Zähnen ſeinen Schenkeln zu nähern und
ſie aufzufreſſen ſuchte. Er ſtarb durch Selbſt-
mord. In dem Stockhauſe zu Gieſsen geſchah
das Nemliche. Der Kranke hatte ſich alles Fleiſch
von den Fingerſpitzen bis zur Handwurzel abge-
nagt, ſo daſs die Sehnen und die mit der Bein-
haut bloſs noch bedeckten Knochen nackend da
lagen ***).
Allein dieſe Schwierigkeiten in der Anwen-
dung der pſychiſchen Curmethode, mögen ſie
auch noch ſo groſs ſeyn, ſollen uns weder muth-
los noch unthätig machen. Nur der Faule ſcheut
C 2
[36] den Löwen im Wege. Manche Hinderniſſe be-
ſeitiget das Genie des Künſtlers in der Ausübung.
Hier ſcheiden ſich Theorie und Praxis. Jene
giebt die allgemeinen Regeln, dieſe muſs ſie den
individuellen Umſtänden anpaſſen. Um dies Ver-
hältniſs richtig aufzufaſſen, muſs der Arzt nicht
allein den vorliegenden Fall in allen, ſelbſt in
ſeinen verſteckteſten Beziehungen, überſchaun;
ſondern auch in Beſitz der Regeln ſeyn, die er
auf denſelben anwenden ſoll. Es iſt daher ein ſo
trivialer als falſcher Gemeinplatz, daſs gute Prak-
tiker gebohren und nicht gezogen werden müſſen.
Alſo unverzagt Hand ans Werk gelegt! Wir
wollen mit Männerkraft und Jünglingswärme
wirken; in Maſſe aufſtehn, wo die einzelnen
Kräfte nicht ausreichen; unſere Anſtrengungen in
dem Verhältniſſe verdoppeln, als die Hinderniſſe
wachſen. Aerzte und Philoſophen ſollen die
Theorie der pſychiſchen Curmethode ihrer Voll-
endung immer mehr annähern; und der Staat ſtif-
tet zweckmäſsige Anſtalten, in welchen die Theo-
rieen verſucht und gute Künſtler durch Uebung
gebildet werden können. Es werde nur ein be-
deutender Menſch durch unſere Arbeiten aus dem
Tollhauſe gerettet; haben wir zuviel für ihn ge-
than?
§. 6.
Pſychiſche Curen ſind Wirkungen auf die
Seele, Behufs des Zwecks der Heilung einer
[37] Krankheit. Sie ſind alſo aus dem Gebiete der
praktiſchen Erfahrungs-Seelenkunde
entlehnt, von deren Verhältniſs zur Arzneiwiſ-
ſenſchaft ich im Vorbeigehn ein Paar Worte ſa-
gen muſs.
Gewöhnlich betrachten die Aerzte ſie als
Hülfswiſſenſchaft. Allein man kann dieſen Be-
griff nehmen wie man will. In gewiſſer Beziehung
ſind alle zur Arzneikunde gehörigen Disciplinen
Hülfswiſſenſchaften; in einer andern ſind ſie ihr
alle eigenthümlich. Sie hat nemlich als ſolche
kein eigenes Gebiet, das durch ſich ſelbſt, wie
z. B. die Aſtronomie, begrenzt wäre. Ihr Zweck
ſetzt ihre Grenzen. Sie nimmt alſo verſchiedene
Erkenntniſsarten, als ihr angehörig auf, wenn ſie
zur direkten Erreichung ihres Zweckes geeignet
ſind. Die nemlichen Anſprüche macht ſie an die
Pſychologie und mit deſto gröſserem Fug, je
mehr ſie dieſelbe in ihr eigenthümliches Intereſſe
verweben kann. Nun ſteht aber die Pſychologie
mit demſelben in mancherley Beziehungen. Sie
iſt eine Naturlehrë eines Theils des Gegenſtandes,
auf welchen der Arzt wirken, den er alſo auch
kennen muſs. Wer umfaſst das Weſen des Sub-
ſtrats der Seelen- und Körperkräfte? Wer darf
ſich unterfangen, darüber abzuſprechen, ob es
homogener oder heterogener Natur ſey? Und ge-
ſetzt auch, die Seele wäre nichts Körperliches,
ſo greift ſie immerhin in daſſelbe ein, und ver-
rückt dem Arzt ſeine Zirkel, wenn er ihre ge-
[38] heimen Spiele nicht kennt. Dann hat die Seele
Krankheiten wie der Körper, die mit einander
in einer beſtändigen Wechſelwirkung ſtehn. Die
Pſychologie bietet ferner dem Arzte eine eigne
Claſſe von Inſtrumenten zur Correction der Feh-
ler organiſcher Körper an. Und endlich muſs
die pſychiſche Curmethode, als Inbegriff von Re-
geln, pſychiſche Mittel zu beſtimmten Zwecken
anzuwenden, aus ihr entlehnt werden.
Allein eine ſolche Pſychologie für Aerzte
und wahrſcheinlich auch von Aerzten, würde
einen andern Zuſchnitt als die gewöhnlichen ha-
ben müſſen. Dem Philoſophen, als bloſsem Na-
turforſcher, genügt es, ſeinen Gegenſtand ohne
Rückſicht auf einen beſonderen Zweck zu bear-
beiten. Für ihn iſt es genug, die Phänomene
der Seele unter ſich in ein Syſtem zu verknüpfen.
Er hält ſich vorzüglich an die Naturlehre der
Seele in ihrem normalen Zuſtande; höchſtens
fügt er etwan ihre moraliſchen Gebrechen zu,
die den Arzt nichts angehn. Der Arzt bedarf
zwar auch, wie der Philoſoph, einer Naturlehre
der geſunden Seele, damit er eine Norm für die
kranke habe. Allein vorzüglich greift die Lehre
ihrer Krankheiten und die Methode, ſie zu ent-
fernen, in ſeine eigenthümliche Beſtimmung ein.
Eine Pſychologie für Aerzte würde daher
ein ganz anderes Ding, ein Inbegriff em-
piriſch-pſychologiſcher Erkenntniſſe
ſeyn, die mit beſtändiger Rückſicht
[39] des gegenſeitigen Einfluſſes beider
Theile des Menſchen aufgeſucht, und
mit dem Heilgeſchäfft in der engſten
Verbindung geſetzt ſind. Es ſcheint, ſie
müſſe nach eben dem Zuſchnitt, wie die Arznei-
kunde, die auf den Körper wirkt, alſo als Phy-
ſiologie und Pathologie der Seele, pſy-
chiſche Heilmittellehre und Therapie
geordnet werden. Die Phyſiologie betrachtet
die Seelenvermögen, wie ſie in der Regel und
ihren Naturbeſtimmungen gemäſs ſeyn müſſen,
und dient zur Norm in der Reflection über ihren
kranken Zuſtand. Dieſen behandelt die Patho-
logie, deren Gebiet man nicht zu eng, etwan
auf bloſse Geiſtesverkehrtheiten einſchränken
darf. Denn die Seele leidet weit ausgedehnter,
je nachdem ihre Kräfte einzeln oder insgeſammt
erhöht, erniedrigt, verſtimmt, oder in ein fal-
ſches Verhältniſs geſetzt ſind. Sie leidet im Alp,
dem Nachtwandeln, der Hypochondrie u. ſ. w.
an Zufällen, die mit der Verrücktheit nichts ge-
mein haben. In der allgemeinen Seelenpa-
thologie würde der Begriff der Seelenkrank-
heiten exponirt, und ihr Unterſchied von mo-
raliſchen Gebrechen und körperlichen Krank-
heiten feſtgeſetzt. Dadurch werden zugleich
ihre Grenzen abgeſteckt. Dann müſste in der-
ſelben der logiſche Eintheilungsgrund der See-
lenkrankheiten aufgeſucht, und ihre generiſche
und ſpecifiſche Differenz angegeben werden. Die
[40]beſondere Pathologie ſtellt die Arten, alſo
Einheiten auf, die gleichſam die Elemente der
zuſammengeſetzten ſind, und alſo vorher zur Er-
kenntniſs kommen müſſen, ehe die Analyſis der
letzten möglich iſt. Krankheiten der Seele er-
regen körperliche, körperliche bringen Seelen-
krankheiten hervor. Daher die Differenz der
einfachen und zuſammengeſetzten, der
reinen und gemiſchten Seelenkrankheiten.
Zur Pathologie gehört endlich noch die Zei-
chenlehre der Seelenkrankheiten, deren ſpe-
cieller Theil in dem Verhältniſs von der Patho-
logie verſchlungen wird, als dieſelbe die weſent-
lichen Merkmale ihrer Objecte immer richtiger
auffaſst.
Dies und manches andere von der Erkennt-
niſs des kranken Zuſtandes. Mit der Entfernung
deſſelben würde ſich der zweite praktiſche Theil
der Erfahrungs-Seelenkunde für Aerzte, nemlich
die pſychiſche Heilmittellehre und die
Therapie beſchäfftigen müſſen. Jene würde
zuerſt in ihrem allgemeinen und philoſophiſchen
Abſchnitt die Vermögen der Seele, auf welche
gewirkt werden ſoll, erörtern müſſen, damit die
Möglichkeit einer pſychiſchen Heilmittellehre be-
griffen werden könne. Dahin rechne ich die Vor-
ſtellungs-, Gefühls- und Willenskraft der Seele,
ihr Aſſociationsvermögen, ihre ununterbrochne
Thätigkeit im wachenden Zuſtande, das Fort-
ſchreiten in ihrem Geſchäffte, das Verlöſchen der
[41] gegenwärtigen Ideen, wenn neue entſtehn, ihren
Haug zur Nachahmung, ihre Anlage zu Gewohn-
heiten und Fertigkeiten, als worauf die Geſetze
ſich gründen, nach welchen die angewandten
Eindrücke wirken, und ihr dynamiſches Ver-
hältniſs abändern. Dann zählte ſie alle körper-
lichen moraliſchen Mittel auf, die zunächſt durch
eine zweckmäſsige Veränderung der Seele wir-
ken, und dadurch eine Körper- oder Seelen-
krankheit zu heilen im Stande ſind. Sie zählte
ſie vollſtändig auf, ordnete ſie ſyſtematiſch, und
beurtheilte ſie in ihren Wirkungen ſcientifiſch,
mit Rückſicht auf das Object, welches ſie abän-
dern ſollen. An ſie ſchlieſst ſich das Seelen-
regimen an, das in einer zweckmäſsigen Hal-
tung der Seele, zum Behuf des Heilgeſchäffts, in
Beziehung ihrer inneren Regungen und der ge-
wöhnlichen äuſseren Einflüſſe auf dieſelbe beſteht,
eine terra incognita, die Diätophilus zuerſt
und mit dem glücklichſten Erfolg zu bearbeiten
angefangen hat. Man findet zwar die Titel einer
Seelendiätetik angezeigt, aber keine Bücher da-
zu; oder dieſe Titel mit Büchern, aber von ver-
ſchiednen Verfaſſern, und daher von einem an-
dern Inhalt, als ihre Aufſchrift beſagt. Einige,
doch unvollkommene Bruchſtücke des Seelenre-
gimes enthalten unſere philoſophiſchen Pathema-
tologien. Uebrigens bemerke ich noch, was
ich oben bereits im Allgemeinen von dieſen Disci-
plinen angemerkt habe, daſs zwiſchen der pſy-
[42] chiſchen Diätetik und Heilmittellehre kein we-
ſentlicher Unterſchied Statt finde. Die Thera-
pie ſtellt endlich die Verhältniſſe zwiſchen den
abſoluten Kräften der Mittel und den in Anfrage
ſtehenden Arten der Krankheiten auf. Sie giebt
die Regeln, nach welchen die in der Heilmittel-
lehre angemerkten Inſtrumente auf concrete Fälle
angewandt werden müſſen. Auf dies Verhältniſs
gründet ſich die Theorie der pſychiſchen
Curen, die ſich um ſo mehr von der Empirie
entfernt, als die Mittelglieder zwiſchen der ab-
ſoluten Kraft des Heilmittels und ihrem Produkt,
der Entfernung der Krankheit, vollſtändig ge-
funden ſind.
Allein an einer ſolchen praktiſchen Erfah-
rungs-Seelenkunde für Aerzte, die, als ein drittes
Glied im Triumvirat, der Arzneikunde und Chi-
rurgie zur Seite treten ſollte, fehlt es ganz. Die
vorhandnen Bruchſtücke pſychiſcher Curen, ſind
zum allgemeinen praktiſchen Gebrauch nicht ge-
eignet, weil ſie unter keine allgemeinen Begriffe
aufgefaſst ſind, und daher in der Anwendung zu
viel Genie des Künſtlers vorausſetzen.
Die hohen Schulen könnten, wenn ſie erſt
wären was ſie ſeyn ſollten, Pflanzſchulen den-
kender Aerzte, durch Vorleſungen über die Me-
thodologie dieſer Disciplin die Bahn brechen.
Aber leider ſinken manche derſelben immer mehr
zu Werkſtätten herab, in welchen rohe Hand-
werker zugehauen werden. Groſs iſt noch das
[43] Feld im Reiche des Wiſſens, das urbar gemacht
werden könnte. Auch fehlt es weder an Kräften
noch an Willen. Nur müſſen die Auſsenverhält-
niſſe das Streben der Menſchen nach Veredlung
und Vervollkommnung ſeiner ſelbſt begünſtigen.
Mir träumte jüngſt, und wer kann davor, daſs
man träumt, nach einem glücklichén Abend in
dem geſchloſſenen Zirkel einiger Freunde, in dem
Lande der Severamben zu ſeyn. Ich ſah da-
ſelbſt neben der Armee, die die äuſsere Sicher-
heit beſorgte, auch ein literariſches Corps,
das aus Chemikern, Anatomen, Botanikern und
andern Naturforſchern beſtand. Der Auditeur,
den es zur Zierrath bey ſich führte, war ein ſpe-
culativer Naturphiloſoph. Es hatte ſeine Chefs
und Handlanger, Denker und Arbeiter, beweg-
liche Garniſonen, gute Werbeplätze, und hielt
ſtrenge Mannszucht, die unſeren Akademien fehlt.
Dies Corps beſtand auf Koſten des Staats, und
war bloſs dazu beſtimmt, Künſte und Wiſſen-
ſchaften, durch dieſelben jeden Zweig des Er-
werbs, die Induſtrie und die innere Wohlfahrt
der Landeseinwohner zu fördern. Es unter-
ſuchte die Produkte des Landes, lehrte ihre
beſſere Benutzung, half den Fabriken und Ge-
werben auf, belebte den Betrieb des Ackerbaues
und des Handels. Dann ſuchte es zur Zeit der
Muſse die Grenzen der Wiſſenſchaften überhaupt,
ohne Rückſicht auf direkten Gewinn, zu erwei-
tern. Wohin es kam, blühte der Erwerbsfleiſs,
[44] Wohlſtand und Reichthum unter ſeinen Fuſsſta-
pfen auf. Es vergieng kein Jahr, in welchem es
ſich nicht durch den Wachsthum des National-
glücks ein Monument ſeiner Exiſtenz ſetzte, das
ſeinen geringen Aufwand rechtfertigte, wenn
gröſsere Anſtrengungen der Staatsfinanzen ent-
weder keine, oder eine mit Zerſtörung bezeich-
nete Spur von ſich zurücklieſsen.
§. 7.
Es giebt nur zwey Wege, Krankheiten zu
heilen, entweder wir tilgen ſie direkt, oder
entfernen die Urſachen, durch welche ſie entſtehn.
Wir vernichten das Produkt, oder die Kräfte,
durch welche es urſprünglich erzeugt und in der
Folge unterhalten wird, und die Vegetation zer-
ſtört alsdenn das Produkt. Ein krummer Baum
wird gerade, wenn er an eine Stange gebunden,
oder dem Windſtoſs, der ihn krümmt, der Zu-
gang vermauert wird. Alle andere Curregeln ſind
unter dieſe begriffen.
Nach dieſen Regeln muſs auch der Wahn-
ſinn geheilt werden. Doch ſcheint es, daſs wir
bloſs die erſte Indication durch Arzneien,
aber die zweite, die unmittelbare Tilgung des
Wahnſinns, keineswegs durch dieſelben
erreichen können. Arzneien können den An-
drang des Bluts zum Kopf, Verſtopfungen des
Unterleibes, Würmer im Darmkanal, Reize im
Sonnengeflecht und in den Geſchlechtstheilen
[45] und andere Dinge, die den Wahnſinn erregen,
fortſchaffen. Sie mögen vielleicht auch dann und
wann eine allgemeine Erhöhung der Reizbarkeit
des Gehirns in Phreneſieen, oder eine gleich-
mäſsige Abſtumpfung derſelben im neuen Blöd-
ſinn heilen können. Doch dies ſind ſeltene Fälle.
Denn die körperlichen Reiz- und Beſänftigungs-
mittel ſcheinen keinen ſolchen Einfluſs auf das
Seelenorgan, wie auf die übrigen Theile des
Körpers zu haben. Oft rechnet man ihnen auch
zu, was ihnen nicht zugerechnet werden darf.
Wenn kalte Bäder, Urtikationen, Brenneiſen
u. ſ. w. den Wahnſinn geheilt haben; ſo iſt es
vielleicht ganz pſychiſch, durch Schmerz, Furcht
und andere Seelenregungen geſchehen.
Die direkte Cur des Wahnſinns, oder
das ärztliche Einwirken unmittelbar auf den
Theil des Organismus, in welchem die Phä-
nomene der Verrücktheit zunächſt und zurei-
chend gegründet ſind, muſs höchſt wahrſcheinlich
bloſs durch die pſychiſche Curmetho-
de geſchehen. Dies ſcheint aus der ganzen Ein-
richtung des Seelenorgans hervorzugehn. Sein
Mechanismus iſt höchſt componirt und die dy-
namiſche Temperatur ſeiner Theile verſchieden.
Dadurch entſtehn die eignen Beziehungen derſel-
ben auf einander, die wir in der Erregung durch
äuſsere Einflüſſe und innere Aſſociationen wahr-
nehmen. Nun ſcheint es, daſs Arzneien zwar all-
gemein, durch die Vegetationsinſtrumente, auf dies
[46] Organ wirken, aber Miſsverhältniſſe in ſeinen Be-
ziehungen nicht verbeſſern können. Mag das
Gehirn einmal als ein zuſammengeſetztes Kunſt-
werk aus vielen tönenden Körpern gedacht wer-
den, die in einer zweckmäſsigen Beziehung (rap-
port) ſtehn. Wird einer derſelben von auſsen,
durch das Mittel der Sinne, angeſtoſsen, ſo er-
regt ſein Ton den Ton eines anderen, dieſer wie-
der einen anderen; und ſo wandelt die urſprüng-
liche Erregung in mäandriſchen Zügen und nach
beſtimmten Kraftverhältniſſen durch die weiten
Hallen dieſes Tempels fort, bis ein neuer Stoſs
den vorigen Zug aufhebt oder mit demſelben zu-
ſammenflieſst und dem vorigen eine andere Rich-
tung mittheilt. Dieſe Beziehungen der Theile
des Seelenorgans unter einander ſind auf eine
eben ſo beſtimmte Vertheilung der Kräfte im Ge-
hirn und dem geſammten Nervenſyſtem gegründet.
Wird dies Verhältniſs geſtört; ſo entſtehn Diſſo-
nanzen, Sprünge, abnorme Vorſtellungen, ähn-
liche Aſſociationen, fixe Ideenreihen, und ihnen
entſprechende Triebe und Handlungen. Die
Seelenvermögen können ſich nicht mehr der Frei-
heit des Willens gemäſs äuſsern. So iſt das Ge-
hirn wahnſinniger Perſonen beſchaffen. Die
Kräfte einiger Gebilde deſſelben ſind über die
Norm erhöht, andere in dem nemlichen Verhält-
niſs herabgeſtimmt. Daher Mangel an Einklang
zwiſchen denſelben, fehlerhafte Fortpflanzung
erregter Thätigkeiten und Umſturz der Normalität
[47] der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantaſie
des Verrückten iſt, deſto weniger kommen die
Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewuſst-
ſeyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefeſſelt iſt,
deſto weniger können andere Platz gewinnen und
die fixirten verdrängen. Denn es iſt unbedingtes
Naturgeſetz, daſs die diſtributiven Aeuſserungen
der Lebenskraft in dem Maaſse erlöſchen, als
ihre Wirkſamkeit an einem Ort hervorſtechend
angeſtrengt wird. Nun wirken aber die körperli-
chen Excitatoren gleichmäſsig, alſo auch auf die
ſchon zu empfindlichen Saiten; die beruhigen-
den Arzneien ſtimmen alles, auch die torpiden
Faſern, in gleichen Graden herunter. Man kann
allerdings den Raſenden durch Mohnſaft zur
Ruhe bringen, allein geſcheut iſt er deswegen
nicht, ſondern nur ein Narr anderer Art gewor-
den. Doch muſs man die Sthenie und Aſthenie
des Vegetationsſyſtems, welches auf das Ganze
einflieſst, nicht verwechſeln mit der eigenthüm-
lichen Energie, die das Gehirn, als ein ſchon
gebildeter Theil, unabhängig von demſelben, be-
ſitzt. Das Vegetationsſyſtem kann zwar zu
ſchwach ſeyn in Rückſicht der ganzen Oekono-
mie, aber doch zu ſtark auf Einen Theil wir-
ken, und denſelben mit Kraft überladen.
Eine andere Anſicht. Die plaſtiſche Natur
ſchafft das Gehirn als eine rohe Maſſe (tabula
raſa) aus einem thieriſchen Stoff, der auſser den
allgemeinen Eigenſchaften thieriſcher Stoffe über-
[48] haupt, noch eine Anlage beſitzt zu ei-
ner eigenthümlichen Ausbildung. Es
hat urſprünglich keine Vorſtellungskräfte, denn
dieſe können nicht ohne Vorſtellungen gedacht
werden, ſondern bloſs Anlage zu ihrem Erwerb,
das heiſst, eine ſolche Beſchaffenheit,
daſs ſie in ihm wirklich gemacht wer-
den können. Urſprünglich entſtehn ſie durch
die eigenthümlichen, aber gezwungenen, Erre-
gungen deſſelben. In der Folge werden ſie wei-
ter ausgebildet und immerhin modificirt, durch
eben dieſe äuſseren Einflüſſe und durch die eigen-
mächtigen Thätigkeiten, die ſie ſelbſt hervorbrin-
gen. Die Erregungen ſind ſo mannichfaltig, als
die Individuen, in welchen ſie Statt finden. Das
Gehirn bekömmt alſo urſprünglich durch Ideen
ſeine Kräfte und die beſtimmte Art von Kräften,
welche ſich verhalten, wie die Erziehung, durch
welche ſeine intellectuelle Anlage entwickelt
wird. Es iſt alſo durch ſich ſelbſt einem ewigen
Wechſel der Kräfte unterworfen, der aber inner-
halb der Breite des geſunden Zuſtandes liegt.
Durch Ideen wird das normale dynamiſche Ver-
hältniſs des Gehirns gegründet, durch Ideen muſs
daſſelbe rectificirt werden, wenn es geſtört iſt.
Der Zweck der meiſten Heilmittel geht da-
hin, diejenigen Kräfte abzuändern, durch wel-
che anomaliſche Erſcheinungen entſtehn. Nun
werden aber die Kräfte durch zweckmäſsig er-
regte Thätigkeiten abgeändert. Denn ſie ſind
Reſul-
[49] Reſultate des Stoffs und der Struktur; und die
Natur vegetirt (wechſelt den Stoff), wenn ſie
wirkt, ändert alſo durch ihre Thätigkeiten die
Qualität und Quantität der Kräfte ab *). Un-
ſere Naſe wird bald durch zu ſtarke Gerüche
ſo abgeſtumpft, daſs ſie mitten in einer Parfü-
meriefabrik nichts riecht. Das Anſchaun der
Sonne raubt unſerer Netzhaut ihre Reizbarkeit
ſo ſehr, daſs es auf einmal Nacht um uns wird.
Gefangene lernen im finſtern Kerker, alſo bey
einem ſehr geringen Licht ſehn. Wenn man auf
ein weiſses Papier in der Sonne eine Nadel ſticht
und ſie nachher wegnimmt, ſo ſieht man nun an
dem Orte des Schattens eine lichtere Stelle.
Wenn daher die alienirten Kräfte des Gehirns
im Wahnſinn rectificirt werden ſollen; ſo muſs daſ-
ſelbe auf eine ſo beſtimmte Art in Thätigkeit ge-
ſetzt werden, daſs dieſer Zweck erreicht wird.
Nun kann daſſelbe aber durch keine anderen Er-
regungsmittel in ſeine ſpecifiſch eigenthümliche
Action gebracht werden, als durch ſolche, in
deren Gefolge Gefühle, Vorſtellungen, Triebe
u. ſ. w. entſtehn. Dies geſchieht durch die pſy-
chiſche Curmethode. Sie erregt das Seelenorgan
ſpecifiſch, weckt die torpiden, bringt die exal-
tirten Theile zur Ruhe. Dadurch wird der In-
temperatur der Reizbarkeit des Gehirns eine an-
dere Richtung gegeben. So ſind wir im Stande
D
[50] Gleichgewicht und normales Kraftverhältniſs in
den verſchiednen Getrieben des Seelenorgans,
Einklang und richtige Beziehung (rapport) der-
ſelben zu einander, dadurch Harmonie der inne-
ren und äuſseren Sinne, die gehörige Stärke der
Phantaſie, die äuſsere und innere Beſonnenheit,
die richtige Verknüpfung der Ideen unter ſich
und mit den Funktionen der Willenskraft wieder-
herzuſtellen, wovon die ganze Normalität der
Kraftäuſserungen der Seele abhängt.
Dies ſind theoretiſche Gründe, aus der Na-
tur des Seelenorgans hergenommen, die die Be-
hauptung unterſtützen, daſs Gefühle und
Vorſtellungen, kurz Erregungen der
Seele, die eigenthümlichen Mittel
ſind, durch welche die Intemperatur
der Vitalität des Gehirns rectificirt
werden müſſe. So wie es Krankheiten giebt, die
vorzugsweiſe durch chirurgiſche Mittel; andere,
die durch Arzneien geheilt werden müſſen; ſo
ſcheint die pſychiſche Curmethode vorzüglich zur
Heilung der Seelenkrankheiten geeignet zu ſeyn.
Dieſem Raiſonnement treten die ſchon gemachten
Erfahrungen von ihrer Wirkſamkeit bey, und
werden dieſelbe in der Folge noch mehr beſtäti-
gen, wenn wir ſie häufiger und nach Regeln an-
wenden.
§. 8.
Behufs der pſychiſchen Curmethode, be-
ſonders in Hinſicht auf Heilung der Geiſteszerrüt-
[51] tungen, ſcheint es gerathen zu ſeyn, wie bereits
oben geſagt iſt, die Vermögen der Seele, und die
Geſetze, nach welchen ſie wirkt, einer eigenen,
dieſem Zweck beſonders entſprechenden Anſicht
zu würdigen. Der Arzt war meiſtens nicht Philo-
ſoph, der Philoſoph nicht Arzt genug, um die Pſy-
chologie nach dieſer Idee zu bearbeiten. Man rai-
ſonirt zu viel und beobachtet zu wenig; ſchaut theils
ohne Plan, theils nicht ohne Vorurtheil an; phi-
loſophirt auf der Stube und vergleicht die gemach-
ten Erfahrungen zu ſparſam mit der Natur, ſo daſs
ſie durch die kreiſenden Traductionen von einem
Verleger zum andern zuletzt ihre urſprüngliche
Geſtalt verlieren. Gewöhnlich wird die Seele
nur in ihrem normalen, ſelten in ihrem abnor-
men Zuſtand geſchildert; und von dieſem werden
alsdann nicht etwan die einfachen Arten, ſondern
die verworrenen Gruppen ihrer gänzlichen Zerrüt-
tung aufgeſtellt. Gute Köpfe ſollten ſich in Nerven-
krankheiten ſelbſt beobachten, welches aber, lei-
der! ſelten geſchieht. Denn dadurch würde mehr
Ausbeute, und dieſe von einem beſſeren Gehalt ge-
wonnen, als durch das kalte Anſchaun der Oberflä-
che, welches bloſs einer dritten Perſon möglich iſt.
Endlich läſst ſich von der Narrheit der Menſchen
in den Tollhäuſern weit mehr Nutzen ziehn, als
bisher geſchehen iſt. Man findet ſie hier ohne
Maske, und ſieht, was ſie ſind und werden kön-
nen, wenn das Räderwerk der Organiſation in
Unordnung gerathen iſt. Kurz, man war mit
D 2
[52] dem mediciniſchen Gebrauch der Pſychologie zu
wenig bekannt, und daher auf ihren Anbau in
Rückſicht dieſes Zwecks nicht ſonderlich be-
dacht. Doch hat neuerdings der Herr Profeſſor
Hofbauer*) einen Verſuch dieſer Art gemacht,
der ganz das ſyſtematiſche Gepräge ſeiner Ar-
beiten hat, und einen trefflichen Beitrag zur end-
lichen Gründung einer Theorie der pſychiſchen
Curmethode anbietet. In der That ein ſonder-
bares Zuſammentreffen verſchiedner Kräfte zur
Vollendung eines Zwecks. Soll man hier den
Zufall anſtaunen, oder den Finger der Vorſehung
verehren? Englands, Frankreichs und Deutſch-
lands Aerzte treten zugleich auf, das Schickſal
der Irrenden zu mildern. Ihnen bieten Philo-
ſophen und Prieſter freundlich die Hand, und
unſere erlauchten Diener des Staats ſind bereit,
Entwürfe zu realiſiren, die dem Staatsintereſſe
keine Aufopferung koſten, ihnen Ehre und dem
Volke Heil bringen. Mit Frohſinn ſieht der
Cosmopolit dem unermüdeten Gewühl der Men-
ſchen für die Wohlfahrt ihrer Nächſten zu. Das
Abſchreckende der Gefängniſſe und Zuchthäuſer
iſt beſeitigt. Heil unſerm Wagnitz! Sanft ru-
he Howard’s Aſche! Ein kühnes Geſchlecht
wagte ſich an die gigantiſche Idee, die dem ge-
[53] wöhnlichen Menſchen Schwindel erregte, eine
der verheerendſten Seuchen von dem Erdball zu
vertilgen. Und wirklich ſcheint es, daſs es dem
Hafen nahe ſey, einzulaufen. Ueber ſie alle
ſchwebt, gleich dem Adler, eine ſublime Gruppe
ſpeculativer Naturphiloſophen, die ihre irdiſche
Beute in dem reinſten Aether aſſimilirt und als
ſchöne Poeſien wieder giebt. Möchte doch jeder
unter uns glauben und lehren ohne Partheiſucht,
die Wahrheit auf ſeiner Straſse verfolgen, aber
nicht ungerecht ſeyn gegen das benachbarte Ver-
dienſt, und es nicht vergeſſen, daſs an dem gro-
ſsen Tempel für Menſchenglück und Menſchen-
wohl Hände aller Art arbeiten müſſen.
Ich will einige Naturalismen über das Be-
wuſstſeyn, die Beſonnenheit und Auf-
merkſamkeit, dies Triumvirat nahe ver-
wandter Kräfte der Seele, wagen, in welchen
ihre Zerrüttungen ganz vorzüglich ſichtbar, und
auf welche daher auch die Mittel zur Heilung
hauptſächlich gerichtet werden müſſen.
§. 9.
Ich fange mit dem Selbſtbewuſstſeyn,
dieſem in der Anſchauung einfachen, aber in der
Zergliederung höchſt verwickelten Produkt un-
ſerer Seelenkräfte an, das gleichſam die Grund-
veſte unſerer ganzen moraliſchen Exiſtenz aus-
macht. Denn was wären wir ohne daſſelbe?
Ein leeres Gleichniſs des Spiegels einer See, die
[54] auch die fliehenden Gegenſtände abkontrefeit,
aber die aufgenommenen Bilder nicht feſthalten,
nicht als Eigenthum ſich aneignen kann.
Das Weſen des Selbſtbewuſstſeyns ſcheint
vorzüglich darin zu beſtehn, daſs es das Man-
nichfaltige zur Einheit verknüpft, und ſich das
Vorgeſtellte als Eigenthum anmaſst. So klar wir
uns unſerer bewuſst ſind, ſo wenig ſind wir es
uns bewuſst, wie es zugehe. Ich will es daher
verſuchen, dieſem Vermögen der Seele durch
eine Analogie aus dem Gebiete der Organiſation
näher zu treten. Der Menſch hat Individualität,
wenn er gleich höchſt theilbar; Einheit, wenn er
gleich ein Aggregat der fremdartigſten Organe
iſt. Knochen, Knorpel, Muskeln, Drüſen, Ein-
geweide, wie verſchiedner Natur ſind nicht dieſe
Dinge? Dazu kömmt noch, daſs wir jede der-
ſelben als einen iſolirten Körper betrachten kön-
nen, der durch ſich eine bloſs mechaniſche, keine
dynamiſche Verknüpfung mit dem andern hat.
Erſt durch das Nervenſyſtem, an deſſen Schnüre
ſie aufgereiht ſind, kömmt Einheit in dieſe groſse
Mannichfaltigkeit. Aeſte deſſelben ſammlen ein-
zelne Parthieen zu Sinnorganen, Eingeweiden,
Gliedern u. ſ. w. auf, und dann erſt werden dieſe
verſchiednen Getriebe, durch das Gehirn, als
den Hauptbrennpunkt des Nervenſyſtems, zu
einem Ganzen zuſammengehängt. Dieſer Ein-
richtung, die das mannichfaltige Körperliche zu
einem Individuum erhebt, ſcheint die Urſache
[55] des Selbſtbewuſstſeyns verwandt zu ſeyn, das
den geiſtigen Menſchen, mit ſeinen verſchiednen
Qualitäten, zur Einheit einer Perſon zuſammen-
faſst. Die durch den geſammten Organismus
ausgeſtreckten Aeſte des Nervenſyſtems bewirken
die Individualität des Körpers, das Gehirn deſ-
ſelben, von dem ſie ausgehn, und wo ſie wieder
zuſammenſtoſsen, die Perſönlichkeit. Daher
rührt es, daſs der Geiſt jeden Stoff, der ihm ge-
geben wird, ſeiner Organiſation gemäſs verarbei-
tet, und überall Einheit in das Mannichfaltige
zu bringen ſucht. Er wickelt im Selbſtbewuſst-
ſeyn den unermeſslichen Faden der Zeit in einem
Knaul zuſammen, reproducirt abgeſtorbne Jahr-
hunderte und faſst die ins Unendliche ausgeſtreck-
ten Glieder des Raums, Bergketten, Flüſſe, Wäl-
der und die am Firmament hingeſtreuten Sterne
in das Miniaturgemälde einer Vorſtellung auf.
Er fühlt ſich gleichſam ſelbſt in jeder Vorſtellung,
bezieht, was vorgeſtellt wird, auf ſich, als den
Schöpfer deſſelben, und behauptet dadurch ein
Eigenthumsrecht über die Welt auſser ihm, ſo
weit ſie vorſtellbar iſt. In dem Vorgeſtellten
unterſcheidet er blitzſchnell Subject und Object,
und faſst beides eben ſo ſchnell, als Veränderun-
gen in ſich, wieder in einem Punkt zuſammen.
Er ſchaut endlich die Welt im Raume, und die
Phänomene ſeiner Seele in der Zeit an, verknüpft
dieſe Formen der Anſchauung mit ſich in richti-
gen Verhältniſſen, und faſst dadurch die Zeit
[56] und den Raum auf, in welchem er ſich wirklich
befindet. Von dieſer Gruppe mannichfaltiger
Erſcheinungen, die durch das Selbſtbewuſstſeyn
wirklich werden, ſind bald dieſe bald jene Par-
thieen mehr erleuchtet.
1) Bald ſind wir uns der Vorſtellung,
als einer Veränderung in uns, in welcher das
Mannichfaltige zu einem Bilde ſynthetiſch ver-
knüpft iſt, mit vorzüglicher Klarheit bewuſst.
Ueberſchreitet dies einſeitige Bewuſstſeyn die
Norm: ſo entſteht ein Zuſtand, in welchem der
Menſch weder das Subject noch das Object mit
nöthiger Klarheit beachtet.
2) Oder das Object ſticht hervor und das
Subject tritt im umgekehrten Verhältniſs ins
Helldunkel zurück. In dieſem Zuſtande iſt der
Kenner, der ein ſchönes Kunſtwerk anſtaunt.
3) Dann kann das Subject auf dem Ta-
bleau am ſtärkſten erleuchtet ſeyn. Je klärer
dies geſchieht, das Ich gleichſam in ſich ſelbſt
zurückkehrt, deſto mehr iſt die Anſchauung der
Welt im Schatten geſtellt. Neben der Vorſtel-
lung des Objects bewirkt die Seele noch eine
andere ihrer ſelbſt, ſie denkt ſich als Schöpferin
der Vorſtellung, und unterſcheidet in derſelben
ihr Eigenthum von dem Antheil der äuſseren
Einflüſſe. Sie denkt ſich mehr oder weniger klar,
faſst alle oder ſolche Beſtimmungen und Verhält-
niſſe ihres Selbſts auf, die mit dem Object in der
zweckmäſsigſten Verbindung ſtehn. Wird z. B.
[57] ihr Körper durchs Gemeingefühl krank angekün-
diget: ſo ruft ſie augenblicklich ihr Verhältniſs
zu demſelben in Selbſtbewuſstſeyn vor. Zwar
ſind wir uns in dem gewöhnlichen Geſchäfftsgang
nicht aller Beſtimmungen unſerer Perſon klar be-
wuſst, um die Kraft nicht auf zu viele Punkte
zu zerſtreuen. Allein wir haben es doch in unſe-
rer Gewalt, durch Hülfe der Beſonnenheit augen-
blicklich alle, oder doch ſolche perſönliche Ver-
hältniſſe zur Klarkeit zu erheben, die mit unſe-
rem gegenwärtigen Intereſſe in der nächſten Bezie-
hung ſtehn. Wir denken uns unſere Eigenſchaf-
ten, Grundſätze, Maximen, die Metamorphoſen
unſeres Körpers und der Seele, die wir während
unſers Lebens bis auf den gegenwärtigen Augen-
blick durchlaufen ſind, und denken wahr, wenn
uns in der That alles dies zukömmt, was wir für
das Unſrige halten und in der Syntheſis des Be-
wuſstſeyns mit unſerer Perſon verbinden. Das
Kind ſchaut auch an, es ſchaut ſich und die Welt
an, aber ohne Verknüpfung. Seine Ideen treiben
losgebunden vorüber, wie die Bilder in einem
Bach. Es ſpielt mit ſeinen eignen Gliedern, wie
mit einem fremden Tand. Es fühlt etwas, nemlich
ſich, es fühlt ſich mit Luſt oder Unluſt, die es zum
Lachen oder Weinen reitzen. Aber es weiſs es
nicht, daſs es die Perſon iſt, die die Welt vorſtellt
und durch ſein eignes Selbſt angenehm oder unan-
genehm afficirt wird. Erſt ſpät er wacht es aus die-
ſem Zuſtand der Ungebundenheit und lernt das
[58] groſse Geheimmniſs, ſein eigenes Ich, ver-
ſtehn.
4) Der Menſch ſchaut die Objekte des
äuſseren Sinnes unter der Form des Raumes
und die Objekte des inneren Sinnes unter der
Form der Zeit an. Es faſst das räumliche Ver-
hältniſs ſeines Körpers zu den Gegenſtänden in
dem unbegrenzten Totalraum im Bewuſstſeyn auf,
und beſtimmt ſich dadurch in Rückſicht des
Orts, den er wirklich einnimmt. Den wahren
Zeitpunkt, in welchem er iſt, hält er dadurch feſt,
daſs er den gegenwärtigen Moment mit der Ver-
gangenheit und Zukunft in ſeinem natürlichen
Fortſchreiten vorſtellt. Auf dieſe Art iſt er im
Stande ſein eignes Selbſt als eine in Zeit und
Raum beſtimmte Perſon vorzuſtellen. Dies Be-
wuſstſeyn iſt wahr, wenn er ſich wirklich in dem
Theil des Raums und in dem Moment der Zeit
befindet, in welchem er ſich als exiſtirend denkt.
5) Wir haben endlich ein Bewuſstſeyn
der Vergangenheit und knüpfen alles, was
von der Welt zu unſerer Erkenntniſs gelangt iſt,
alle Cataſtrophen unſeres körperlichen und See-
lenzuſtandes, die unſer Gedächtniſs und die
Phantaſie reproduciren, an das nemliche beharr-
liche Ich, an welches wir unſern gegenwärtigen
Zuſtand knüpfen. Wir ſchaun als die nemliche
Perſon von dem gegenwärtigen Moment, bis zum
erſten dunklen Punkt unſerer Exiſtenz rückwärts
und immer ferner zurück, je länger wir geweſen
[59] ſind. Die Kreiſe von Begebenheiten, die uns umla-
gern, mehren und erweitern ſich mit der Fortdauer
unſeres Lebens, wie die Kreiſe auf einer See,
die von einem Steine erſchüttert iſt. Und dieſen
individuellen Abſchnitt, deſſen wir uns, als
mit uns verknüpft, bewuſst ſind, ſcheiden wir
von der unendlichen Totalfolge der Dinge, als
uns angehörig, ab. Ohne dies Bewuſstſeyn
des Zuſammenhangs unſerer Exiſtenz würden
wir unbedeutende Ephemeren des gegenwärtigen
Augenblicks und gleichſam in ſo viele Perſonen
zerſplittert ſeyn, als wir Grade an dem groſsen
Rade der Zeit durchlaufen ſind. Dennoch iſt
dies Ich, das in unſerem Bewuſstſeyn mit ſo vie-
ler Beharrlichkeit fortdauert, in der Wirklich-
keit ein höchſt veränderliches Ding. Der Greis
glaubt, er ſey es noch, der vor achtzig Jahren
auch war. Doch iſt er nicht mehr derſelbe. Kein
Atom iſt von dem allen mehr da, was vor acht-
zig Jahren war. Die Zeit hat, mit jedem Schritte
vorwärts, an ſeiner Seele und an ſeinem Körper
genagt, ihn mehr als einmal ganz umgeſchaffen,
moraliſche und phyſiſche Vollkommenheiten in
ihm entwickelt und ſie wieder zerſtört. Er ſieht
auf die durchlaufene Bahn wie auf eine zuſam-
menhängende Linie zurück, obgleich der Schlaf
und längere Epochen von kranker Bewuſstloſig-
keit überall groſse Lücken in ſeinen Lebensfa-
den eingeſchnitten haben. In der That eine ſelt-
ſame Erſcheinung, dieſer feſte Glaube, daſs wir
[60] immer dieſelbe Perſon bleiben, da uns doch von
der Erfahrung die handgreiflichſten Beweiſe des
Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räum-
lichen der Organiſation iſt die nemliche Aufgabe
gegeben. Wir glauben von unſerer Geburt an bis
zu unſerem natürlichen Lebensziel immer in dem
nemlichen Körper zu bleiben. So wie unſere
Perſon uns ſelbſt nicht unbekannt wird, ſo wird
auch unſer Körper keinem in der Familie unbe-
kannt. Und doch hat das Kind in den Windeln
mit dem Jüngling, und dieſer mit dem Greiſe kei-
ne Aehnlichkeit mehr. Der Anflug geſchah
aber immer an den nemlichen Stock und die
Vegetation ſchritt in ſo unmerklichen Graden
zur Entwickelung und Zerſtörung fort, daſs
wir den ganzen Prozeſs nicht gewahr geworden
ſind. Wahrſcheinlich würde daher auch das Be-
wuſstſeyn der Succeſſion unſerer Exiſtenz einen
Stoſs erleiden, wenn die Cataſtrophen ſtark ſeyn,
Knaben mit einem Schritt ins Greiſenalter hin-
überhüpfen könnten. Der Organismus wechſelt
den Stoff, tranſitoriſch und fortſchrei-
tend, er zerſtört ununterbrochen und ſchafft
wieder, was er zerſtört hat. Er nähert ſeine
neuen Schöpfungen dem urſprünglichen Typus
ſoweit wieder an, daſs das Individuum fortdauert
und immerhin zu den nemlichen Veränderungen
fähig bleibt. Allein er nähert ſie nur dem an,
was er zerſtört hat; erreicht daſſelbe aber
nicht vollkommen wieder. Daher der
[61] tranſitoriſche Wechſel und in demſelben der
Grund unſerer fortſchreitenden Metamorphoſen.
So wälzt ſich die Erde um ihre eigene Axe und
giebt uns Morgen und Abend verjüngt zurück,
die ſie uns raubte, ſchreitet aber bey dieſen pe-
riodiſchen Umwälzungen immer vorwärts auf
ihrer Reiſe um die Sonne. So auch ihre Söhne;
nur mit dem Unterſchied, daſs ſie ihre Reiſe nie
wiederholen, wenn ſie einmal am Ziele ſind.
Die Bedingungen, welche dies nor-
male Bewuſstſeyn in der Organiſation vorausſetzt,
werde ich unten weitläuftiger anzeigen. Jetzt be-
merke ich bloſs, daſs das Nervengebäude das ein-
zige animaliſche Band iſt, durch welches alle
übrigen Organe dynamiſch verknüpft und auf
Vollendung eines Zwecks angewieſen ſind.
In demſelben müſſen wir daher auch die Grund-
veſten des Selbſtbewuſstſeyns aufſuchen. Jeder
Theil dieſes ausgebreiteten Syſtems muſs ſeine
Kraft, dieſe in richtigen Verhältniſſen beſitzen
und mit dem Hauptbrennpunkt des Gehirns zu-
ſammenſtoſsen, damit ſie alle, der Norm gemäſs,
ſich auf einander beziehn und eine freie Wechſel-
wirkung unter ſich handhaben können. Dann
kann jedes Getriebe für ſich und hervorſtechend
wirken, aber auch ſchnell, nach freier Willkühr,
wieder zur Ruhe gebracht und ein anderes, nach
einer beſtimmten Regel, erregt werden. Dann
kann die nöthige Mannichfaltigkeit der Vorſtel-
lungen, Aſſociationen, Willensfunktionen und
[62] Bewegungen zu Stande kommen, ohne daſs die
Conſpiration verletzt wird, in welcher dies bunte
Gewühl mit der Einheit des Zwecks ſtehen
muſs. Eine Seele, der ein ſolches Nervenſyſtem
zu Gebote ſteht, kann ſich auf alle Punkte zer-
ſtreun, aber augenblicklich alle Kraft wieder in
ſich zuſammenziehn. Sie kann alles in ihrem
vaſten Gebiete überſchaun, jeden Vorgang in
demſelben wahrnehmen, überall hinwirken,
durch alle Sinne die Einflüſſe der Welt aufneh-
men, ſo die ganze Organiſation, und durch die-
ſelbe das Weltall beherrſchen.
Soviel von dem normalen Bewuſstſeyn. Durch
welche Symptome kündigt es ſich aber im ano-
maliſchen Zuſtande an? Wo finden wir die
Krankheit zu dieſen Symptomen, und welcher Na-
tur iſt dieſelbe? Wahrſcheinlich müſſen wir, um
auch nur mit einigem Glücke etwas auf dieſe Aufga-
beſagen zu können, die Einfachheit der Seele bey
Seite ſetzen und feſt an die Zuſammengeſetztheit
des Nervenſyſtems halten. Die Frage: ob auch oh-
ne Vermittelung der Nerven Beziehungen zwiſchen
den Theilen des Körpers, z. B. zwiſchen den
Generationstheilen und den hornartigen Organen
möglich ſind, laſſe ich bey Seite liegen. Allein
wenn dies auch nicht wäre; ſo giebt es zuverläſ-
fig im Nervenſyſtem eigne Heerde (Knoten,
Geflechte), durch welche beſondere Beziehungen
und Zirkel zu Stande kommen, ohne daſs ſie
auf das Gehirn ſtoſsen und ſich dem Bewuſstſeyn
[63] mittheilen. Dieſe Heerde ſtehn zwar in der
Regel, mit dem Gehirn in Gemeinſchaft; aber
durch Krankheiten können ſie von demſel-
ben abſpringen und als Rebellen-Oberhäupter
ihre eigenen Züge, unabhängig von dem Gehirne,
leiten. Es giebt Thiere, in deren Nervenſyſtem
bloſs ſolche abgeſonderte Heerde ſind, von wel-
chen keiner vor dem andern einen Vorzug hat,
und welche nirgends in einem gemeinſchaftlichen
Brennpunkt geſammlet werden. Dieſe Thiere
kann man gleichſam als Multiplikate mehrerer,
aneinandergereihter, und zwar ſo vieler Thiere
betrachten, als Nervenheerde, von gleicher Dig-
nität, in ihnen vorhanden ſind. An einigen, z. B.
den Bandwürmern, iſt dieſe Vervielfältigung der
Individualität ſogar auf ihrer Oberfläche ſichtbar.
So lange der Menſch geſund iſt, ſammlet das
Nervenſyſtem ſeine durch die ganze Organiſa-
tion ausgeſtreckten Glieder in einem Mittelpunkt.
Dadurch wird das Mannichfaltige zur Einheit
verknüpft. Allein die Angel der Verknüpfung
kann abgezogen werden. Das Ganze wird dann
in ſeine Theile aufgelöſt, jedes Getriebe wirkt
für ſich, oder tritt mit einem anderen, auſser-
halb des gemeinſchaftlichen Brennpunkts, in eine
falſche Verbindung. Der Körper gleicht einer
Orgel; bald ſpielen dieſe bald jene Theile zuſam-
men, wie die Regiſter gezogen ſind. Es werden
gleichſam Provinzen abtrünnig, man verzeihe
mir dieſe bildliche Sprache, die man in der Pſy-
[64] chologie nicht entbehren kann. In dieſem Zu-
ſtande muſs die Syntheſis im Bewuſstſeyn verloh-
ren gehn. Die Seele iſt gleichſam von ihrem
Standpunkt weggerückt; unbekannt in ihrer
eigenen Wohnung, in welcher ſie alles umge-
ſtürzt findet, hat Maſt und Ruder verlohren und
ſchwimmt gezwungen auf den Wogen der ſchaf-
fenden Phantaſie in fremde Welten, Zeiten und
Räume, glaubt bald ein Wurm bald ein Gott zu
ſeyn, lebt in Höhlen oder Paläſten und verſetzt
ſich in Zeiten die nicht mehr ſind, oder noch
kommen ſollen
Das kranke Bewuſstſeyn hat mancherley
Geſtalten, je nachdem dieſe oder jene Beziehun-
gen deſſelben, allein oder hervorſtechend, affi-
cirt ſind. Zuerſt will ich ſeiner Anomalieen er-
wähnen, ſofern ſie ſich vorzüglich durch ein
fehlerhaftes Bewuſstſeyn der Objektivität
äuſsern. Dieſe Anomalieen entſtehn von einem
Fehler der Seele oder der Sinne; dieſe wirken
entweder gar nicht oder falſch, jene nimmt die
Eindrücke derſelben nicht wahr. Der kranke
Zuſtand iſt übrigens dem Grade nach verſchieden,
bald einfach, bald zuſammengeſetzt. In der
Vertiefung geht die ganze Kraft der Seele vor-
wärts in der Meditation, daher ſie die Auſsen-
dinge nicht beachtet und an äuſserer Beſonnen-
heit Mangel leidet. Eben ſo verhält es ſich im
fixen Wahnſinn, in dem cataleptiſchen Hinſtarren
der Seele auf ein Object, in der Entzückung
und
[65] und im fieberhaften Irrereden. Der Kranke
nimmt entweder gar nichts von allen dem wahr,
was um ihm herum vorgeht, oder er nimmt die
äuſseren Gegenſtände falſch wahr, und unter-
ſcheidet ſie nicht genau von den Phantomen, die
ſeine Phantaſie ausheckt. Endlich gehört noch
der Traum hieher, in welchem die Sinnorgane
ſchlafen, und daher den Träumer nicht an die
Welt heranziehen können. Er wird bald über
ſein Verhältniſs zu derſelben mit ſich uneins, ver-
liert ſeinen wahren Standpunkt in der Zeit und
im Raume, ſchwimmt fort in das Reich der
Möglichkeiten, und hält die Bilderwelt ſeiner
Phantaſie für eine reale Welt auſser derſelben.
Je mehr er ſich dem wachenden Zuſtande nähert,
deſto mehr kehrt das Bewuſstſeyn zurück. Der
Nachtwandler iſt nicht ganz ohne Bewuſstſeyn
ſeiner Objektivität. Sonſt würde es ihm ſeyn, als
wenn er in einem abſolut leeren Raume ſchwebte,
wo nirgends feſter Fuſs gefaſst werden könnte.
Er würde nicht gehen, ſtehen oder eine Sache
ergreifen können. Die Eindrücke der Auſsen-
dinge, wie ſie auch auf ihn einflieſsen mögen,
wahrſcheinlich durch bloſse Reflexion in der
Nervenorganiſation, ertheilen ſeiner Phantaſie in
jedem Moment eine andere Richtung. Doch iſt
es ſonderbar, daſs er nur ſolche Dinge durch die
Sinnorgane wahrnimmt, die mit ſeinem Traum-
bilde in Beziehung ſtehn. Er fühlt feiner als ein
Wachender, denn ſein Gefühl dient ihm ſtatt des
E
[66] Geſichts. Dennoch bringen ſtarke Reize auf
daſſelbe ihn nicht zum Erwachen, ſondern er
entflieht oder ſchlägt um ſich. Der Bediente des
berühmten Nachtwandlers A. Forari rieth den
Zuſchauern der nächtlichen Actionen ſeines Herrn
leiſe zu gehn und nicht zu reden, weil er wü-
thend würde, wenn ein um ihn her entſtandenes
Geräuſch ſich in ſeine Träume miſchte *). Die
Urſache davon iſt die, daſs dieſe Reize dem
Nachtwandler fremd ſind, weil ſie nicht in das
Luftgebilde ſeiner Phantaſie paſſen. Er hält ſie
für Ungeheuer, die er zu bekämpfen, oder denen
er zu entfliehen ſucht. Eben dieſe Kranken, die
in gewiſſen Beziehungen ein ſo äuſserſt zartes Ge-
fühl haben, ſind gegen andere Reize ſo gefühllos,
daſs man ihnen, wie Monboddo**) beobach-
tet hat, eine Nadel in den Arm ſtechen kann,
ohne daſs ſie Schmerz äuſsern. Er folgert hier-
aus, daſs die Seelen der Nachtwandler zur Zeit
des Anfalls auswanderten. Allein ſchwerlich
möchten die Emigranten dann zurückkehren.
Vielmehr ſcheint es, daſs die aufgehobne Syn-
theſis ihres Bewuſstſeyns in der genauſten Paral-
lele ſtehe mit der aufgehobnen Verknüpfung, die
die Getriebe der Organiſation im Gehirn haben.
[67] Auch im Schlafreden, das dem Nachtwand-
len ſehr nahe liegt, iſt der Mikrokosmus aus
ſeinen Angeln gehoben. Einige Getriebe ruhn,
andere wirken, aber ohne Verbindung im Haupt-
brennpunkt, ſondern durch partielle Aſſociatio-
nen unter ſich. Das Vorſtellungsvermögen pro-
ducirt, der Wille wirkt, aber nur auf denje-
nigen Theil des Muskelſyſtems, der die Sprach-
organe regiert. Alle übrigen Getriebe ſind aus-
gehoben aus der Angel, durch welche die Ge-
meinſchaft des Ganzen bewirkt wird. Im Arzte *)
wird die Geſchichte zweier Schweſtern erzählt,
die beide Nachtſchwätzerinnen waren, und im
Schlaf Geſpräche mit einander wechſelten. Hier
war den gangbaren Getrieben noch ein drittes,
das Gehörorgan aſſociirt, durch welches einige
Auſsenverhältniſſe aufgefaſst und mit den Spielen
der Phantaſie in Beziehung geſetzt wurden. Eben
weil dieſe Schlafredner von der Welt ſchwach
oder gar nicht afficirt werden, und ſelbſt die
meiſten Getriebe ihres Körpers ſtillſtehn: ſo kann
ſich die Kraft deſto ſtärker in den gangbaren
Getrieben vereinigen. Denn dieſe Träumer pro-
duciren oft ſublime Gedanken, eigenthümliche
Reflexionen, Vorherſagungen ſcheinbar zufälliger
Dinge, die ein prophetiſches Anſehn gewinnen,
den Pöbel im Reiche des Denkens in Verwunde-
rung ſetzen, und eine übernatürliche Kraft ahn-
E 2
[68] den laſſen. Ein Jeſuit predigte im Schlaf mit
groſser Lebhaftigkeit, trug die geiſtreichſten Sa-
chen vor, und klärte dunkele Gegenſtände mit
ſo vielem Scharfſinn auf, daſs des Nachts ſich
viele Perſonen um ſein Bette verſammleten, um
von ſeiner Gelehrſamkeit Nutzen zu ſchöpfen *).
Das Selbſtbewuſstſeyn kann in Anſehung
der Subjektivität und der eignen Per-
ſönlichkeit erkranken. Schlafen wir in ei-
nem Zimmer, in welchem eine Wanduhr hängt,
ohne daran gewöhnt zu ſeyn, ſo hören wir beim
Erwachen ihre Schläge, zählen ſie wol gar, ohne
zu wiſſen, daſs wir es ſind, die zählen, und daſs
es eine Wanduhr iſt, die dieſen abgemeſſenen
Ton verurſacht. Wir haben zwey klare Ideen,
die eines tönenden Körpers, die andere eines
Weſens, das zählt, ohne im Stande zu ſeyn, die
äuſseren Eindrücke in ein richtiges Verhältniſs
mit unſerer Perſon zu ſtellen. In Anwandelun-
gen der Schwäche weiſs der Menſch, daſs ge-
handelt wird, aber es dringt ſich ihm nicht un-
geſucht auf, daſs er es ſey, der handle, ſehe,
höre, rede. Er muſs durch Verſuche und
Schlüſſe gleichſam erſt ſeine Exiſtenz und die Art
derſelben ausmitteln. Wenn jemanden im Vor-
trage der Schlaf überfällt, ſo hört er ſich gleich-
ſam als einer dritten Perſon zu, und beurtheilt
[69] ſeine Rede nicht in dem Moment, wo ſie gedacht,
ſondern erſt wo ſie geſprochen wird. Seine Per-
ſönlichkeit iſt gleichſam verdoppelt, mit der einen
redet er, mit der andern horcht er der Rede zu.
Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor ei-
ner Ohnmacht, unterſcheiden wir die Subjekti-
vität und Objektivität nicht ſcharf und ſchnell
mehr, ſondern werden von ihnen ſo ſchwach
afficirt, daſs wir an beiden zweifeln und uns
immer fragen müſſen, ob wir träumen oder Rea-
litäten wahrnehmen, ob wir es ſind, die em-
pfinden und handeln, oder bloſse Zuſchauer des
Empfindens und Handelns eines andern ſind.
Wir hören den Laut unſerer Sprache, ſind aber
ungewiſs, ob dies wirklich unſere oder eines an-
deren Sprache ſey. Wir faſſen bloſs die Bilder,
die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den
Sinn der Schrift und der Rede faſſen wir nicht
mehr. Die Seele ſchwebt gleichſam in einem
Nebel, in welchen ſie theils ſich ſelbſt nicht fin-
den kann, theils die Gegenſtände wie aus weiter
Ferne wahrnimmt. Als der ſelige Oberbergrath
Goldhagen aus einem Anfall ſeiner letzten
Krankheit, in welchem er abwechſelnd an Schlaf-
ſucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen
erwachte, und mehrere Perſonen ſeiner Familie
um ſein Bette ſaſsen, trat auch ſein einziges Kind,
das er ſehr liebte, herein, ihm einen guten Mor-
gen zu wünſchen und ſich nach ſeinem Befinden
zu erkundigen. Ey, ſagte er, liebes Kind! in-
[70] dem er es an der Hand faſste, ich bin zwar nicht
das, was man geſund nennt, doch hoffe ich es
bald zu werden, da meine Beſſerung von Stunde
zu Stunde zunimmt. Den groſsen Arzt ſeine
eigne Gefahr verkennen, und den zärtlichen Va-
ter vielleicht ſo bald von ſeinem Liebling getrennt
zu ſehen, rührte die Anweſenden ſo ſehr, daſs
ſie in Thränen ausbrachen, und einer nach dem
andern die Stube verlieſs. Dieſe Scene machte
auf den Patienten einen ſo ſtarken Eindruck,
daſs er dadurch augenblicklich zum vollen Be-
wuſstſeyn ſeines Zuſtandes kam. Der Contraſt,
ſagte er mir, den die traurigen Geſichter mit
meiner geäuſserten Hoffnung einer baldigen Ge-
neſung machten, wirkte ſo lebhaft auf mich, daſs
ich auf einmal aus meiner Verirrung in Anſehung
meiner ſelbſt zu mir kam. Ich habe mir dieſe
Nacht viel mit einem gefährlichen Kranken zu
ſchaffen gemacht, an deſſen Geneſung mir und
meiner Familie ſehr gelegen war. Ich wuſste es,
daſs er in meinem Hauſe lag, ſuchte ihn von
einem Zimmer zum andern, nahm eine Perſon
nach der andern von meinen Hausgenoſſen vor,
fand ihn aber nirgends. Jetzt ſehe ich, daſs ich
ſelbſt der Kranke geweſen bin. Dann nahm er
verſchiedne Geſchäffte vor, die theils viele See-
lenkraft, theils eine genaue Beſonnenheit auf alle
Umſtände der Perſonen vorausſetzten, mit wel-
chen er ſie verhandelte, und fiel nachher wieder
in ſeinen vorigen Zuſtand von Bewuſstloſigkeit
[71] zurück *). Goldhagen hörte, ſah und ur-
theilte über ſich. Doch kam er erſt zum vollen
Bewuſstſeyn ſeines Zuſtandes durch die bemerkte
Disharmonie zwiſchen ſeinen Aeuſserungen und
dem Ausdruck auf den Geſichtern der Anweſen-
den. Welche feine Scheidewand trennte jenen
Menſchen von dieſem? Was wurde in jenem ab-
geändert, um dieſen daraus zu machen? — Einer
melancholiſchen Frauensperſon wurde eine Reiſe
zur Zerſtreuung vorgeſchlagen. Sie packte ein,
nahm Abſchied, fuhr zwey Tage lang, und
äuſserte oft ihren Unwillen über die Beſchwer-
den langer Reiſen. Nun warf der Wagen um,
und in dieſem Augenblick kam ſie erſt zum vol-
len Bewuſstſeyn. Wo bin ich, rief ſie aus, wo
ſind Mann und Kinder? Erſt jetzt ſehe ich klar,
was ich vorher nur träumte, daſs ich von meiner
Vaterſtadt getrennt und in unbekannte Gegenden
verſchlagen bin. Pinel**) forderte einen
Wahnſinnigen von gebildetem Geiſte mitten in
einem Anfall chimäriſcher Ausſchweifungen auf,
auf der Stelle einen Brief zu ſchreiben. Es ge-
ſchah; und der Brief war voll Sinn und Ver-
ſtand.
Eine andere Anomalie des Selbſtbewuſst-
ſeyns der Subjektivität beſteht darin, daſs wir
[72] entweder unſere Perſönlichkeit bezwei-
feln oder unſer Ich mit einer fremden
Perſon verwechſeln, fremde Qualitä-
ten uns anmaſsen und unſere eigen-
thümlichen Zuſtände auf andere ver-
pflanzen. In einer Geſellſchaft ſchwärmender
Studenten befand ſich einer, deſſen Vater geſtor-
ben war. Als der Wein zu berauſchen anfing,
brach plötzlich ein anderer in ein lautes Weinen
aus, weil er feſt des Glaubens war, er ſey derje-
nige, dem der Vater geſtorben ſey. — Eben dieſe
Wirkung hatte der Wein auf einen Wirtembergi-
ſchen Beamten. Sein Schreiber wollte ihn die
Treppe herunter führen, allein er ſchämte ſich
deſſen, riſs ſich loſs und fiel der Länge nach her-
unter. Der Schreiber ſprang zu, half ſeinem
Herrn wieder auf, und als er wieder auf den Bei-
nen ſtand, bedauerte er den Fall des Schreibers,
und erkundigte ſich angelegentlich, ob er auch
Schaden genommen habe *). — Ein Candidat,
der erſt aus dem Irrenhauſe entlaſſen war, ſaſs an
einem ſchönen Frühlingsabend am Abhange
des Ufers, wo ein vorüberflieſsender Strom
eine Krümmung bildete. Eine lange hagere
Figur. Sein Haar floſs in ſchlichten Locken
um ſein Haupt und ein Zug des Tiefſinnes
ſchien der herrſchende in ſeiner hohlen, aber
[73] ſcharf gezeichneten Phyſiognomie zu ſeyn. Starr
ſah er vor ſich hin in den Fluſs, ſeinen Kopf auf
den rechten Arm geſtützt. Es ſchien als beob-
achtete er ſeinen Schatten, den der glatte Spiegel
des Stroms im Wiederſchein der Sonne zurück-
warf. Sie ſcheinen in tiefes Nachdenken ver-
ſenkt! ſo redete ein Vorübergehender ihn an. Ich
weiſs nicht, ſagte er, mit langſam abgemeſſenem
Tone, den Zeigefinger an die Naſe haltend, bin
ich das in dem Strome dort, oder das,
indem er auf ſich deutete, was hier in den
Strom ſieht? Was Sie dort ſehn, antwortete
ihm der Vorübergehende, ſcheinen Sie zu ſeyn:
was hier ſitzt, ſind Sie. Nicht ſo? Scheinen Sie zu
ſeyn, fiel er ein: Ja wohl, ſcheinen: Scheinen,
das iſts! Ich ſcheine mir zu ſeyn! Wer doch
wüſste, ob, und was er wäre! Sind Sie
nicht, fuhr der Vorübergehende fort, wenn ich
fragen darf, Herr **? Sie nennen mich ſo: Ja es
gab eine Zeit, wo ich war, wo ich ganz innig,
ſo wahr, ſo lebendig mich fühlte. Ich war — jetzt
fuhr er auf — der Geiſt der Welt, einmal der
Verderbende. Ich ballte den Donner in meiner
Fauſt, Kraft des Sturms ging vor mir her, mein
Athem war Flamme und die Elemente rüttelte ich
zuſammen in wilder Zerſtörung. Hier zogen ſich
ſeine Muskeln krampfhaft zuſammen, ſeine Augen
rollten fürchterlich. Dann, fuhr er mit anderer
Stimme und andern Geberden fort, dann war ich
der gute, der freundliche Geiſt, mein Leben Eine
[74] Melodie, mein ganzes Weſen aufgelöſt in unaus-
ſprechliches Gefühl ſüſser, ſtiller, überſchweng-
licher Ruhe und Seligkeit. Alle Segnungen des
Himmels und der Erde flutheten ſanft in mir, aus
mir, in mich zurück. Aber nun, ſo endete er,
nun iſts vorbey; nun bin ich der Schatten eines
Traumes, verlohren in der Unendlichkeit, ſu-
che mich, und finde mich nirgends.
O! über den Wahn des Daſeyns. Thränen
ſchlichen jetzt von ſeinen Augen und ſchloſſen
dieſe rührende Scene *).
Die Phänomene der umgetauſchten Perſön-
lichkeit ſind ſo merkwürdig, und alle Verſuche,
ſie pſychologiſch zu erklären, ſo unfruchtbar,
daſs ich mich nicht entbrechen kann, noch ein
intereſſantes Factum dieſes Zuſtandes zu erzäh-
len. Ein junges und gefühlvolles Mädchen in
Stuttgard, ſagt Gmelin**), war von ihrem
Geliebten durch Land und Meere getrennt. Sie
litt alſo, und war für analoge Eindrücke des
Trübſinns höchſt empfänglich. Um die nemliche
Zeit brach die franzöſiſche Revolution aus. Sie
las nichts als grauſende Scenen, die durch Feuer
und Schwerdt, Zwietracht und Bürgerkrieg im
Innern Frankreichs entſtanden, hörte von zahl-
[75] loſen Schlachtopfern, die unter dem Beile des
Henkers fielen, und ſah täglich Flüchtlinge, die
in dem Gaſthof zum Römiſchen Kaiſer in Stutt-
gard einkehrten. In dieſer Stimmung ihrer Seele
bekam ſie ein Fieber, das nach einigen Tagen
ohne Criſe verſchwand; und von dem Augen-
blick an fiel die Krankheit auf ihr Seelenorgan.
Sie bekam einen periodiſchen Wahnſinn, in wel-
chem ſie ihre wahre Perſönlichkeit verlohr, und
dieſelbe mit einer fremden umtauſchte. Sie hielt
ſich für eine auf der Flucht begriffene Franzöſin,
die bey ihrem Durchgang durch Stuttgard krank
geworden ſey, und daſelbſt im Römiſchen Kaiſer
logiere. Die Anfälle traten plötzlich ein. Mit
ihrem Eintritt brachte ſie ihre ſämmtlichen Ver-
hältniſſe mit ihrer fixen Idee in das vollkommen-
ſte Ebenmaaſs. Ihre äuſsere Beſonnenheit, Ur-
theilskraft, ihr Scharfſinn, Witz und Gedächt-
niſs, kurz ihre ſämmtlichen Seelenvermögen, waren
eher geſpannt als abgeſtumpft, aber nicht mehr
Eigenthum des Stuttgardter Mädchens, ſondern
zum ausſchlieſslichen Gebrauch der flüchtigen
Franzöſin da. Das ganze um ſie verſammelte
Perſonal wurde, wie durch den Zauberſtab einer
Fee, in ein anderes verwandelt. Sie hielt die
Anweſenden für Bekannte, die von Frankreich
kamen oder dahin gingen, für andere Reiſende,
oder auch für Stuttgardter Einwohner, die ſie
als eine kranke Fremde, in ihrem Gaſthof aus
Höflichkeit beſuchten. Sie ſprach augenblicklich
[76] franzöſiſch, wenn der Paroxismus begann, mit
einer unglaublichen Fertigkeit, nahm den Ton,
die Eleganz und alle Manieren einer Franzöſin
ſo natürlich an, daſs es Erſtaunen erregte. Mit
Perſonen, die die franzöſiſche Sprache ſchlecht
oder gar nicht redeten, ſprach ſie teutſch, aber
teutſch-franzöſiſch, mit einer unnachahm-
lichen Fertigkeit. In den erſten Anfällen fiel ihr
gar die teutſche Sprache, als wenn ſie dieſelbe
erſt erlernet hätte, ſchwer, hingegen redete ſie
ihre eingebildete Mutterſprache in dem nemlichen
Athem mit groſser Fertigkeit. Sie konnte in den
Anfällen an kein Verhältniſs, z. B. an ihre Ge-
burt, erinnert werden, das von der Stuttgardter
Perſönlichkeit unzertrennlich war; hingegen la-
gen alle anderen Reminiſcenzen, die mit derſelben
in keiner ſolchen Verbindung ſtanden, zu ihrem
Gebrauch im Gedächtniſs da. Sie beklagte ſich
über ihr unglückliches Schickſal mit Worten, in
einem Ton und mit einer Miene des tiefſten Lei-
dens, die allen Anweſenden das Herz brach.
Zu andern Zeiten ſcherzte ſie mit vieler Naivität.
Ihr kurzſichtiger Arzt ſah ihr einmal zu nahe ins
Auge, um deſſen Zuſtand zu erforſchen. Warum
das? fragte ſie. Ich bewundere, antwortete er,
ihren ſchönen groſsen Augenſtern. Was bedeu-
tet dieſer? fragte ſie. Eine groſse Seele, antwor-
tete der Arzt. Dann hat ein Kalb, erwiederte
ſie, auch eine groſse Seele. Uebrigens hatten
die Anfälle ihrer Krankheit noch das Merkwür-
[77] dige, daſs ſie ſich wie die Criſen magnetiſcher
Somnambülen verhielten. Sie ſagte die Zeit
derſelben, ihre Dauer und Zahl richtig vorher;
unterſchied das magnetiſirte Trinkwaſſer von dem
gemeinen; und empfand von einer magnetiſirten
Bouteille, die ihr gegen die Herzgrube gehalten
wurde, ein groſses Wohlbehagen. In den Inter-
vallen erinnerte ſie ſich keines Zuges der intereſ-
ſanten Akte, die die Franzöſin während der An-
fälle in ihrem Kopfe geſpielt hatte; in den Pa-
roxismen nichts, was von der teutſchen Perſön-
lichkeit nicht zu trennen war. Hingegen wuſste
die Franzöſin während des Anfalles alles, was
ſie in der ganzen Reihe derſelben gedacht, ge-
ſprochen und gehandelt hatte. Die teutſche und
franzöſiſche Perſönlichkeit waren zwey verſchied-
ne Weſen, die keine Bekanntſchaft mit einander
hatten. Noch eine merkwürdige Erſcheinung in
ihrer Geſchichte. Gmelin war im Stande mit
einem magnetiſchen Zug ſeiner Hand über ihr
Geſicht ſie in einem Moment in ihre natürlichen
Verhältniſſe zu verſetzen. Die Franzöſin floh und
das urſprüngliche teutſche Mädchen ſtand wieder
da und ſah ſich mit einer groſsen Herzlichkeit
erſtaunt in dem Kreiſe ihrer Eltern, Geſchwiſter
und Bekannten um. Nun ein entgegengeſetzter
Zug übers Geſicht; weg war die Teutſche, und
die Franzöſin ſtand wieder an ihrem Platz. Denn
ihr Arzt durfte ſie in dieſem an ſich normalen,
aber für den conkreten Fall abnormen Zuſtand
[78] nicht beharren laſſen, da die Zeit noch nicht ver-
floſſen war, die die Natur als Bedürfniſs für ſich,
durch ihre Vorausſagung, angekündiget hatte.
Wer ſoll dieſe Geſchichte erklären; der Mate-
rialiſt oder der Spiritualiſt nach den reinen
Grundſätzen der Pſychologie? Ich fürchte ſeine
Kunſt ſcheitert an dieſem Phänomen. Waren
hier nicht etwan die elektriſchen Lebensſtröme
mit der beharrlichen Materie in Miſsverhältniſs
gerathen und dadurch die Polaritäten der Organi-
ſation umgetauſcht? Schon die Annäherungen
der Fingerſpitzen des Magnetiſeurs in ihre Atmo-
ſphäre veränderten den Standpunkt ihrer Seele.
Die innere poſitive und die äuſsere negative
tauſchten ſich um.
Daun kann noch das Bewuſstſeyn, ſofern
es ſich durch ein Zuſammenfaſſen al-
ler unſerer Verhältniſſe zur Einheit
einer Perſon äuſsert, von der Norm ab-
weichen. Die Angel der Verknüpfung iſt gleich-
ſam abgezogen, die Maſchine in ihre Theilganze
aufgelöſt, jedes Getriebe wirkt abgeſondert für
ſich, nirgends iſt ein gemeinſchaftlicher Vereini-
gungspunkt und die Produkte ſchwimmen los-
gebunden, gleichſam Niemandem angehörig, in
dem Ocean des Univerſums herum. Die Per-
ſönlichkeit der Seele geht wie die Individualität
des Körpers im Bewuſstſeyn verlohren. In dem
Träumer wirkt die Phantaſie allein; in dem
Schlafredner Phantaſie und Muskelſyſtem. In
[79] der Regel wirken die Sinne zugleich und in rich-
tigen Verhältniſſen mit dem inneren Sinn. Al-
lein in dem Nachtwandler wirken ſie einzeln;
ſein Ohr iſt taub, ſein Auge blind, aber ſein
Gefühl iſt ſo ſcharf, daſs er durch daſſelbe genauer
als ein Wachender unterſcheidet. Es entſtehn
die ſeltſamſten Irrthümer, täuſchende Vorſtellun-
gen, als wenn die Seele in mehrere Perſonen ge-
theilt, von ihrem Körper getrennt, als wenn alle
Organe deſſelben ihres Zuſammenhangs entbun-
den und als ein regelloſes Chaos durch einander
geſchüttelt wären.
Jene cataleptiſche Frauensperſon hatte in
ihrem Anfall das widerſprechende Gefühl, als
wenn ſie zu einerley Zeit in ihrem Körper zu-
gegen und nicht zugegen geweſen wäre *). Mein
ganzes Ich, ſagt Herz**), war mir in dem erſten
Momente meiner Rekonvaleſcenz nicht fühlbar.
Beinahe kam es mir vor, als wenn der Gene-
ſene, ein ganz anderes Subject, neben mir im
Bette wäre. Ein anderer Fieberkranker wurde,
da er von ſeiner Fühlloſigkeit erwachte, von
der Einbildung geplagt, er habe ſich ver-
doppelt. Der Eine ſeiner Perſönlichkeit, glaub-
te er, läge im Bette; der Andere ginge oben
in der Studierſtube auf und ab. Er zwang ſich,
[80] bey ſeinem noch ſchwachen Appetit, zum Eſſen,
weil er glaubte, für zwey Perſonen eſſen zu
müſſen, nemlich für den, der im Bette läge und
für den, der oben herumginge. Dieſer Wahn
verlohr ſich allmälig als ſein Körper mehr
Stärke bekam *). Ich ſah einen Ruhrkranken,
dem das Gemeingefühl ſeinen Körper, in ſeine
Beſtandtheile aufgelöſt, wie er in den Cabinet-
tern der Anatomen aufbewahrt wird, vorlegte.
Er ſah ſein Gehirn, ſeine Nerven, Sinne, Einge-
weide, als in bunter Verwirrung um ſich zerſtreut
liegen. In der Mitte war er, reflektirte über jeden
Theil, vorzüglich über den Darmkanal, als die
Quelle ſeiner Schmerzen. Ein ähnliches Beiſpiel
wird beim Mauchart**) erzählt. Ein Arzt litt an
Engbrüſtigkeit, hatte ſich am Kreutz durchgele-
gen, einen brandigen Schaden am Fuſs und phan-
taſierte dabey. Seine keichende Bruſt nannte er
das alte Weib, das heilige Bein den Unter-
officier und den in Bandagen gewickelten
Fuſs das kleine Kind. Nie verwechſelte
er die Perſonen in dieſer Dreieinigkeit. Als ihm
einſt ſein Kreutz ſchmerzte, befahl er, man ſolle
dem Unterofficier nach dem Geſäſse ſehn. End-
lich bildete ſich noch ein Febricitant ein, daſs er
nicht für ſich, ſondern für einen andern zu
Stuhle
[81] Stuhle gehe. Wenn er deswegen des Tages oft
Oeffnung gehabt hatte, ſo behauptete er doch am
Abend hartnäckig, Er ſey noch nicht zu Stuhl
geweſen.
Wir ſchaun die Veränderungen in uns als
neben uns in, knüpfen die Reihe derſelben an
unſer Ich, als an ein beharrliches Etwas an, das
denſelben zugeſehen, ſie aber nicht erlitten hat,
und bewirken dadurch eine Continuität in der
Rückerinnerung unſererer Exiſtenz. Allein auch
dieſe Funktion des Selbſtbewuſst-
ſeyns kann von der Norm abweichen.
Das nemliche Ich kann beſondere Epochen ſeines
moraliſchen Daſeyns, als verſchiedenen Perſonen
angehörig, von ſich trennen und dadurch die
Einheit in dem Bewuſstſeyn ſeiner Exiſtenz ver-
vielfältigen. Darwin*) behandelte einſt ein
junges, geiſtreiches Mädchen, das um den an-
dern Tag in eine Träumerey verfiel, in deren
Anfällen jedesmal die nemlichen Ideen erwach-
ten, von denen ſie ſich in den Intervallen nichts
erinnerte. Eine Ideenreihe ging durch die Pa-
roxiſmen, eine andere durch die Intervalle fort,
als wenn beide ſich durch keine Alternative un-
terbrächen, und die Freundinnen dieſes Mädchens
glaubten daher von ihr, daſs ſie zwey Seelen
haben müſſe. Die Nachtwandler ſind ſich mei-
F
[82] ſtens auſser dem Anfall deſſen nicht bewuſst, was
in demſelben mit ihnen vorging; erinnern ſich
aber der Begebenheiten der vorigen Anfälle in
dem folgenden. Sie wiſſen es im Anfall nicht,
daſs ſie auch noch zu einer andern Zeit, im In-
tervall exiſtiren. Die Veränderungen der An-
fälle reihen ſich an eine; und die Erſcheinungen
der Intervalle an eine andere Perſon auf. Jede
Epoche in der Succeſſion des nemlichen Indivi-
duums wird in ein beſonderes Bewuſstſeyn aufge-
faſst. Der Zuſchauer ſieht nur eine, das Indi-
viduum unterſcheidet in ſich zwey Perſonen. Be-
ſonders auffallend iſt dieſe Duplicität der Perſön-
lichkeit in der magnetiſchen Somnambüle. In
der Criſe hat ſie die klarſte Vorſtellung ihres
körperlichen Zuſtandes, ein beſtimmteres Gefühl
ihrer Krankheit und iſt dadurch im Stande, ein
richtigeres Urtheil über den Eindruck der Auſsen-
dinge auf dieſelbe zu fällen. Sie weiſs auſser der
Criſe von allen dem nichts, was ſie in derſelben
gethan und geſprochen hat. Allein in dem fol-
genden Paroxismus tritt die Rückerinnerung al-
ler vorigen Anfälle während des ganzen Laufs
der Krankheit wieder ein. Somnambülen, die in
einen Doppelſchlaf fallen, haben gar in der
zweiten Periode des Anfalls keine Rückerinne-
rung deſſen, was in der erſten geſchah *). Die
[83] Somnambüle iſt in der Criſe ein anderes, und
ein anderes Weſen auſser derſelben. Auſser
der Criſe tritt die urſprüngliche Perſon wieder
ein, die von allen dem nichts weiſs, was die
Perſon in der Criſe wirkte. Der Menſch des
Anfalls und der Menſch des Intervalls ſind
durch eine Modifikation des Bewuſstſeyns in
zwey ſich ganz unbekannte Weſen getheilt.
Jedes beſteht für ſich und ſpielt ſeine eigene
Rolle, verſchieden von dem andern, nur auf
einerley Theater. Das Ich muſs das nemliche
Ich ſich als nicht Ich entgegenſetzen und dar-
über mit ſich ſelbſt in Widerſtreit gerathen.
Nahe verwandt mit dieſem Zuſtande iſt ein
anderer, in welchem wir uns gewiſſer Perioden
unſeres Lebens nicht erinnern, ohne daſs ſie be-
wuſstlos waren, uns in Rückſicht einzelner Epo-
chen unſerer Exiſtenz oder in der Geſchichte ein-
zelner Glieder unſeres Körpers irren und uns
heute für ein anderes Individuum halten, als wir
geſtern geweſen ſind. In Nervenkrankheiten
kommen Abſchnitte vor, von denen wir keine
Rückerinnerung haben, und die daher wie weg-
geſchnitten aus dem Faden des Lebens erſcheinen.
Der Doctor Oſann wurde in einem tiefen
Schlaf von einem Boten geweckt, der ſeines
Raths für einen Kranken begehrte. Er lieſs ſich
Licht ans Bette bringen, las die Krankheitsge-
ſchichte, ſchrieb die Antwort und ein Recept,
F 2
[84] und beſtellte Pferde für den andern Morgen, um
den Kranken ſelbſt beſuchen zu können. Dann
verſank er wieder in ſeinen vorigen Schlaf. Al-
lein früh und niemals hat er ſich von allen dieſem
etwas erinnern können und würde die Wahrheit
des ganzen Vorgangs in Zweifel gezogen haben,
wenn ihn nicht ſeine Handſchrift davon über-
zeugt hätte *). Nach hitzigen Fiebern beſinnen
wir uns oft ſehr genau des Irreredens und aller
Ausſchweifungen unſerer Phantaſie während deſ-
ſelben, aber ſchlechterdings der Periode vor dem-
ſelben nicht, wo wir noch vollkommen beſon-
nen waren. Ich habe dieſe Beobachtung oft ge-
macht und Herz beſtätiget ſie. „Von der erſten
Epoche meiner Krankheit, ſagt er **), in wel-
cher ich Beſuche annahm, und mich Stundenlang
mit meinen Freunden über meinen wahrſchein-
lichen Tod unterhielt, erinnerte ich mir nicht
das allergeringſte. Dieſe ſieben Tage ſind gleich-
ſam aus dem Regiſter meiner Lebensſtunden aus-
gelöſcht. Hingegen iſt die zweite, die acht Tage
dauerte, von dem erſten Augenblick meiner Ra-
ſerey bis zur Stunde meiner Geneſung ſo lebhaft
in meinem Gedächtniſs aufbewahrt, daſs ich Bild
nach Bild und Thorheit nach Thorheit an den
Fingern herzählen wollte, wenn es der Mühe
lohnte.“ Dann kommen Fälle vor, wo wir die
[85] Geſchichte der Perſon überhaupt feſthalten, aber
die Wahrheit in der Rückerinnerung einzelner
uns angehöriger Theile verlieren. Einer der
berühmteſten Uhrmacher in Paris, ſagt Pinel*),
kam auf die Idee ein Perpetuum mobile zu er-
finden und wurde durch dieſe Anſtrengung ver-
rückt. Die Hauptidee, um welche ſich ſeine Ver-
kehrtheit drehte, beſtand darin, daſs er ſich
einbildete, ſein Kopf ſey auf dem Blutgerüſte ge-
fallen, und unter die Köpfe der übrigen Schlacht-
opfer gerathen. Nachher habe der Richter ſein
Urtheil bereut, jedem ſeinen Kopf wieder gege-
ben, ihm ſey aber aus Verſehen der Kopf eines
ſeiner Unglücksgefährten auf den Rumpf geſetzt.
Dies beſchäftigte ihn Tag und Nacht. Seht, ſagte
er, meine Zähne! die meinigen waren ſehr
ſchön, und dieſe ſind faul; mein Mund war ge-
ſund, und dieſer iſt unrein. Welcher Unter-
ſchied zwiſchen dieſen Haaren und jenen, die ich
vor der Verwechſelung meines Kopfs trug. Er
wurde endlich durch eine Beſchäftigung mit Uhr-
machen und durch den Witz ſeines Geſellſchaf-
ters geheilt, der das Geſpräch auf das Wunder-
werck des heiligen Dionyſius leitete, der ſei-
nen Kopf in den Händen getragen und ihn doch
geküſst haben ſoll. Der Uhrmacher vertheidigte die
Möglichkeit. Sein Geſellſchafter lachte laut auf
und antwortete ihm, in einem ſpottenden Ton,
[86] du Narr! womit konnte der heilige Dinoyſius
ſeinen eignen Kopf küſſen, etwan mit der Ferſe?
So knüpfen auch andere Kranke, die auf Verwan-
delungen ihrer Perſon oder ihres Körpers fixirt
ſind, ihren gegenwärtigen Zuſtand fehlerhaft mit
dem vergangnen im Bewuſstſeyn zuſammen.
Endlich erwähne ich noch einer Aeuſserung
des kranken Bewuſstſeyns, wo es Zeit und
Ort nicht feſthalten kann. Nach dem
Erwachen in einem fremden Hauſe müſſen wir
uns oft durch weitgeſuchte Merkmale des Be-
wuſstſeyns unſerer Perſon, ihres räumlichen
Verhältniſſes und der wahren Zeit verſichern,
welches ſich uns im Wachen ohne Mühe auf-
dringt. Der Profeſſor Herz glaubte während
ſeines Fiebers mit ſeinem Bette bald zwiſchen
zwey engen Mauren, bald in einem Stall, bald
auf einer Grabſtätte, bald auf einem öffentlichen
Platze vor dem Lazarethe zu ſeyn, und wurde von
dieſem Wahne nicht eher befreit, als bis man ihn
aus ſeiner Stube in ſein Leſezimmer brachte, wo
die bekannteren Gegenſtände das Bewuſstſeyn ſei-
nes räumlichen Verhältniſſes bald rectificirten *).
Ein Zimmermann, deſſen Geſchichte Arae-
teus**) beſchrieben hat, trieb ſein Handwerk
[87] zu Hauſe mit zureichendem Verſtande. So bald
er aber aus demſelben ging, fing er an zu ſeufzen,
ſich zu ängſtigen und verfiel zuletzt in eine hef-
tige Raſerey, von welcher er nicht eher geheilt
wurde, als bis er in ſeine Werckſtätte zurück
kehrte. Das Bewuſstſeyn ſeiner Perſönlichkeit
war ſo abhängig von den Gegenſtänden in derſel-
ben, daſs er es ohne ſie nicht feſthalten konnte,
ſondern verwirrt wurde. Im Traume irren wir
uns immer in Anſehung des Raums, der Zeit
und unſerer Perſon. Wir ſpringen von einem
Welttheil zum andern, von einem Jahrhundert ins
andere über und ſpielen jede Rolle vom König
bis zum Bettler, die uns die zauberiſche Phantaſie
zutheilt. Eben dies geſchieht im Wahnſinn, der
ein Traum im Wachen iſt.
Zum Beſchluſs noch etwas über Schlaf
und Traum, ein Paar Erſcheinungen der thieri-
ſchen Oekonomie, die ſoviel Räthſelhaftes haben,
daſs ſie uns in das gröſste Erſtaunen ſetzen wür-
den, wenn ſie nicht ſo alltäglich wären. Sie
ſtehn mit dem Bewuſstſeyn, deſſen verſchiednen
Zuſtänden und mit dem Wahnſinn in einer ſo na-
hen Verwandtſchaft, und ändern ſich gegenſeitig
in gleichen Verhältniſſen von Moment zu Moment
ab, daſs höchſt wahrſcheinlich alle dieſe Erſchei-
nungen eine analoge Beſchaffenheit in der Orga-
niſation zur Baſis haben. Wir würden daher
dem Bewuſstſeyn und dem Wahnſinn bald auf die
[88] Spur kommen, wenn wir erſt wüſsten, was
Schlaf, was Wachen ſey.
Was mag es wol für eine Revolution ſeyn,
die erſt in der Organiſation vor ſich gehen muſs,
ehe aus einem wachenden Menſchen ein ſchlafen-
der, aus einem ſchlafenden ein wachender werden
kann? Zuverläſſig eine ſehr merkwürdige. In
dem Augenblick, wo der Schlaf entrückt, und
das Erwachen wirklich wird, muſs der Nerven-
menſch mit ſeinen Anhängen in ein anderes Ver-
hältniſs treten, eine ganz andere Sympathie zwi-
ſchen den Organen des Mikrokosmus ſich begrün-
den und das + und — der Erregbarkeit zwi-
ſchen den antagoniſirenden Syſtemen umgekehrt
werden. Um uns davon zu überzeugen, dürfen
wir nur einmal mit Aufmerkſamkeit das wieder
aufkeimende Leben beobachtet haben, welches
das Erwachen in jede Faſer der abgeſtorbenen
Glieder gieſst; nur einmal im Anfall des Alps,
nahe an der Grenze des Erwachens, mit dem
ſehnlichſten Wunſch zu erwachen, herumgeirrt
ſeyn, ohne über dieſelbe treten zu können; nur
einmal Zuſchauer der blitzſchnellen Rückkehr
von den heftigſten Anfällen der Raſerey und von
den wildeſten Zuckungen junger Mädchen, zur
Zeit der Entwickelung der Mannbarkeit, zum
vollen und frohen Bewuſstſeyn geweſen ſeyn.
Warum iſt der Schlaf unentbehrlich? Nicht
etwan deswegen, damit der Organismus durch
Ruhe neue Kraft zum Wirken ſammle. Gerade
[89] das Organ ſchläft nie, das ein ganzes Säkulum
wirkt, ohne auch nur eine Stunde lang auszu-
ruhn.
Wahrſcheinlich ſchläft bloſs das Nervenſy-
ſtem und die übrige Organiſation nur in ſo weit,
als ſie von demſelben abhängig iſt. Daher hö-
ren alle Geſchäffte, die allein und unmittel-
bar von den Nerven abhängen, Bewuſstſeyn,
Wirkung des äuſseren und inneren Sinnes und
willkührliche Bewegung im Schlaf auf. Im Ein-
ſchlafen ſieht das Auge und das Ohr hört nicht
mehr, die Seele fühlt ſich, als wäre ſie ohne Kör-
per. Dann wird auch der innere Sinn geſchwächt,
die Bilder der Phantaſie ſchwimmen ohne Hal-
tung durch einander, bis auch ſie verlöſcht und
mit dieſer Cataſtrophe der vollkommne Schlaf be-
gonnen iſt.
Doch ſchlafen nicht alle Theile des Nerven-
ſyſtems zugleich ſondern nach und nach ein, und
erwachen eben ſo wieder. Auch ſchlafen ſie
nicht alle gleich tief *). Die zu Tage ausgehen-
den Nervenäſte, denen die Sinnorgane auf der
Grenze des Mikrokosmus angehängt ſind, ſchei-
nen tiefer und vollkommner einzuſchlafen, als
die im Inneren der Organiſation ſich endenden
Nerven, die zum Organ des Gemeingefühls be-
ſtimmt ſind. Der Geſchmack ſchläft eher ein als
[90] der Geruch; das Geſicht erwacht ſchwerer als
das Gehör; Geſchmack und Geruch erwachen
am ſpäteſten. Zuerſt erſchlaffen die Muskeln der
Extremitäten; dann die des Nackens; am läng-
ſten wachen und wirken die Muskeln des Rü-
ckens. Eben dieſe Succeſſion des Einſchlafens
zeigt ſich auch in den Nervenenden, die zu den
Eingeweiden gehn.
Dieſer Zuſtand des partiellen Schlafs iſt
zwar gewöhnlich nur tranſitoriſch, aber er kann
auch permanent ſeyn. Das Nervenſyſtem darf
nicht immer ganz; es kann auch theilweiſe ſchla-
fen. In dem nemlichen Verhältniſs perenniren
dann auch die Funktionen der Seele, deren Or-
gan es iſt; aber nicht alle, ſondern nur einige
und dieſe ohne Syntheſis im Selbſtbewuſstſeyn.
Es ſind nur einige Regiſter des groſsen Kunſt-
werks gezogen. Dieſe Nerven, jene Theile des
Gehirns oder des Rückenmarks wachen in dem
vaſten Umfang des ganzen Syſtems und beginnen
ihre Spiele für ſich. Im Traume wacht die
Phantaſie, aber die Sinnes- und Bewegungsnerven
ſchlafen. Im Alp beſchlieſst die Seele Bewegun-
gen, aber ſie erfolgen nicht, weil der Theil,
der ſie beginnen ſoll, keine Gemeinſchaft mit
den Beſchlüſſen der Seele hat. Im Schlafwan-
deln wacht auch dieſer Theil, ſelbſt einige Sinn-
organe wachen. Von einem Soldaten erzählt
man, daſs ihm das geträumt habe, was man ihm
[91] während des Schlafs ins Ohr ſagte *). Einzelne
Nerven des Gemeingefühls erwachen von anhal-
tendem Druck und bringen die belaſteten Glieder,
durch eine mechaniſche Reflexion in ihnen ſelbſt,
ohne Fortpflanzung zum Gehirn, in eine an-
dere Lage. Es giebt Menſchen, die reiten oder
gehn und zugleich ſchlafen können. Galen**)
ging einmal des Nachts faſt ein ganzes Sta-
dium zu Fuſse, ſchlief dabey und erwachte erſt,
als er ſich an einem Stein ſtieſs. In dieſem Fall
ſchläft der innere und äuſsere Sinn, aber einzelne
Bewegungsnerven ſind in partieller Thätigkeit.
Die ſchlafenden Theile des Nervenſyſtems erwa-
chen nie durch Spontaneität, ſondern durch Reize
von auſsen, die entweder das Gemeingefühl oder
die Sinnorgane zuführen ***). Die Modifikatio-
nen des Schlafs ſtehn alſo mit den Modifikatio-
nen des Selbſtbewuſstſeyns in parallelen Verhält-
niſſen. Dies ſtirbt ſtufenweiſe ab, wie jenes
ſtufenweiſe einſchläft, und kehrt mit dem allmäli-
chen Erwachen gleiches Schritts zurück. Wieder-
kehr des vollen Bewuſstſeyns und Wiederkehr
des vollen Erwachens ereignen ſich in einem Mo-
ment. Hier ſind die Getriebe der Organiſation
in dem Heerd des Gehirns, dort die Vermögen
[92] der Seele in dem Brennpunkt der Perſönlichkeit
wieder zuſammengefaſst.
Der Traum iſt Produkt eines partiellen
Wachens des Nervenſyſtems. Daher verhält er
ſich, wie ſich die Extenſität und Intenſität dieſes
Zuſtandes verhält. Entweder die Phantaſie wacht
allein, oder einzelne Sinnorgane, das Bewe-
gungsvermögen u. ſ. w. wachen mit. Daher der Un-
terſchied zwiſchen Traum, Schlafreden, Nacht-
wandlen. Das Selbſtbewuſstſeyn wankt in ſeinen
ſämmtlichen Verhältniſſen. Die Phantaſie ebbet
und fluthet in ſich ſelbſt, kein Eindruck der
Sinne zügelt ſie mehr. Der Träumer hat gar
keine Vorſtellung ſeiner Objektivität, und ſein
Subject denkt er ſich falſch. Er hält ſeine Ge-
ſichte für reale Objekte, und ſpielt jede fremde
Rolle als ſein Eigenthum, die ihm die Phantaſie
zutheilt, hält Reden, beſteht Abentheuer, be-
kämpft Hinderniſſe mit Anſtand. Er hält weder
die wirkliche Zeit noch den wahren Ort feſt, iſt
bald in der Vorzeit bald in der Zukunft; unter
Todten und Lebendigen; durchfliegt Paraſangen
des Raums in einem Augenblick, und hüpft von
einem Welttheil in einen andern über. Die In-
tenſität der Kräfte iſt in dem Maaſse geſtiegen als
ihre Extenſität beſchränkt iſt. Die Bilder der
Phantaſie haben die Stärke der Sinnesanſchauun-
gen. Ihr Colorit iſt grell. Die Scenen ſind wie
vom Tageslicht erleuchtet, wenn Tagesſcenen
geträumt werden.
[93]
In dem Grade, als das Nervenſyſtem er-
wacht, nähert ſich der Traum dem Selbſtbewuſst-
ſeyn. Einer meiner guten Freunde wurde in der
Nacht durſtig. Die Vorſtellung dieſer unange-
nehmen Empfindung durchs Gemeingefühl ver-
ſetzte ihn in die Gaſtſtube eines bekannten
Wirths, der mit ſelbſtgefälliger Geſprächigkeit
den Gäſten die ſchäumenden Gläſer darbot. Doch
blieb der Träumer durſtig. Er fragte ſich ſelbſt
um die Urſache, und fand ſie richtig darin, daſs
er die vollen Gläſer nur im Traum ſähe. Dann
fing er an, über den Traum zu reflectiren, erwog
es, ob er eine Tag- oder Nachtſcene träume?
Es war eine Nachtſcene. Der Himmel graute,
das Dorf lag in Nebel gehüllt vor ihm, und ein
ſchwindſüchtiges Licht brannte auf dem Tiſch.
Nun folgte ein Anfall des Alps, den der Träu-
mer fürchtete, und nach demſelben erſt völliges
Erwachen. Wie nah war dieſer Zuſtand dem
vollen Bewuſstſeyn! aber doch muſste noch ein
Schritt geſchehen, um dahin zu kommen.
Endlich muſs ich noch einer ſonderbaren
Art der Träume erwähnen. Die Schauſpie-
ler treten auf, die Rollen werden vertheilt;
von denſelben nimmt der Träumer nur eine, die
er mit ſeiner Perſönlichkeit verbindet. Alle an-
dere Akteurs ſind ihm ſo fremd, wie fremde
Menſchen, ob ſie gleich, ſo wie alle ihre Hand-
lungen, Geſchöpfe ſeiner eignen, alſo der nemli-
chen Phantaſie ſind. Man hört Menſchen zu,
[94] die in fremden Sprachen reden, bewundert die
Talente eines groſsen Redners und erſtaunt über
die tiefe Weisheit eines Lehrers, der uns über
Gegenſtände aufklärt, von denen wir uns nicht
beſinnen jemals etwas gehört zu haben. John-
ſon ſtritt ſich im Traume mit anderen über
die Kunſt, witzige Einfälle vorzutragen. Mei-
ſtens wurde er von ſeinen Gegnern übertroffen *).
Dem Herrn van Goens träumte es, in der Schule
um den Sinn einer Phraſis gefragt zu werden;
er konnte nicht antworten. Sein Nachbar gab
alle Zeichen, daſs er die Antwort wiſſe. Dies
entrüſtete jenen. Der Lehrer ermüdete, fragte
endlich den Nachbar und in demſelben Moment
gab dieſer den Sinn der Phraſis treffend an **).
Lichtenberg***) träumte, auf einer Reiſe in
einem Wirthshaus an der Straſse zu ſpeiſen. Ihm
gegen über ſaſs ein junger Mann, luftigen Anſe-
hens, der ſeine Suppe aſs, aber immer den
zweiten oder dritten Löffelvoll in die Höhe warf,
wieder mit dem Löffel fing und dann ruhig ver-
ſchluckte. Lichtenberg machte dabey ſeine
gewöhnliche Bemerkung, daſs dergleichen Din-
ge, z. B. von einem Romanenſchreiber, nicht
könnten erfunden, ſondern geſehen werden müſs-
ten. Dennoch hatte er dies in dem nemlichen
[95] Augenblick erfunden. Eine junge und ſchöne
Gräfin ſtarb während der Geburt, ſie wurde mit
ihrem Kinde in einen Sarg gelegt, und mit
einem Leichenwagen in ihr Familienbegräbniſs
gefahren. Vor dem Einſenken in die Gruft wur-
de der Sarg noch einmal geöffnet, die Mutter
lag auf dem Geſicht, und war mit ihrem Kinde in
einen Klump zuſammengeſchüttelt. Dieſe trau-
rige Geſchichte erzählte Lichtenberg*) je-
mandem im Traume, im Beiſeyn eines Dritten,
dem die Geſchichte auch bekannt war. Er ver-
gaſs aber den Umſtand mit dem Kinde, der doch
gerade ein Hauptumſtand war. Nachdem er die
Geſchichte mit vieler Wärme erzählt hatte, ſagte
der Dritte: ja und das Kind lag bey ihr, alles in
einem Klumpen. Ja, fuhr er gleichſam auffahrend
fort, und ihr Kind lag mit im Sarge.
Wer erinnerte Lichtenbergen im Traume an
das Kind? Warum ſchuf ſeine Phautaſie einen
Dritten, der ihn mit dieſer Erinnerung überra-
ſchen, gleichſam beſchämen muſste? Wie kann
das nemliche Ich ſich in Perſonen theilen, die
aus ihm ſelbſt Dinge hervorlangen, von denen es
nicht weiſs, daſs ſie in ihm waren und die es als
fremde Weisheit anſtaunt. Wie kann es in dem
Moment, wo es noch nichts weiſs, es ſich vor-
herſagen, daſs es bald darauf, wo der Lehrer
den Nachbar frägt, werde antworten können?
[96] Warum irrt es ſich nie in dem Zuſammentreffen
der Antwort und ihrer Erwartung? Dieſer Zu-
ſtand, ſagt Lichtenberg, iſt ein dramati-
ſirtes Beſinnen. Allein die Figuranten ſind
ſchon früher da, ehe ihr Schöpfer an den paſſus
gelangt, wo er ihrer bedarf; auch laſſen ſie ihn
nie im Stich, welches doch das Gedächtniſs im
Wachen oft thut.
Ganz analog dieſem partiellen Wirken des
Nervenſyſtems im Traum und [] der Inverſion
der + und — Vitalität in den antagoniſirenden
Syſtemen iſt der Zuſtand, der den Wahnſinn her-
vorbringt. In demſelben träumt die Seele ohne
daſs der Körper ſchläft, die Excitation iſt allge-
meiner und die Norm kann nicht ſo ſchnell als
beim Erwachen wieder hergeſtellt werden.
In welchem engen Verhältniſs ſteht nicht
das Selbſtbewuſstſeyn mit der Organiſation? Sie
iſt durchs Nervenſyſtem in einzelne Getriebe auf-
geſammlet, die ihre beſonderen Heerde haben,
und dieſe ſind wieder durch den groſsen Mittel-
heerd des Gehirns zur Individualität verknüpft.
Allein dieſe Verknüpfung kann durch eine Mo-
difikation der Erregbarkeit aufgehoben werden.
Dann trennen ſich die einzelnen Getriebe ab,
ruhn oder wirken, wirken iſolirt oder aſſociiren
ſich, ohne Verbindung in ihrem Hauptbrenn-
punkt, zu eigenthümlichen Gruppen. So kann
der Menſch in Anfällen des Alps, des Nacht-
wandelns, der Starrſucht, des Entzückens ſich
theil-
[97] theilweiſe ſeiner bewuſst ſeyn; er kann handeln,
ſich beobachten, über ſich reflektiren, ja es ſogar
überlegen, ob er dies alles im Traume oder als
Wachender thue. Doch wacht er nicht und er-
kennt es erſt in dem Moment des Erwachens,
wo die Normal-Sympathie der Getriebe des Mi-
krokosmus hergeſtellt wird, daſs er nicht ge-
wacht habe. Wir können die ſublimſten Werke
der höheren Seelenkräfte mit Bewuſstſeyn, aber
auch ohne daſſelbe, als bloſse Automaten, ver-
richten. Wir können als Somnambülen die ge-
fährlichſten Oerter erſteigen, durch reiſsende
Ströme ſchwimmen, die trefflichſten Dichtungen
entwerfen und in fremden Sprachen reden. Der
Canarienvogel, den wir pfeifen gelehrt haben,
weiſs nichts von dem Verhältniſs der Oſcillationen,
von dem Rythmus des Tacts und hat keine Er-
götzung an der Modulation der Töne. Wir ha-
ben Gruppen und Züge des künſtlichſten und ver-
wickelteſten Muskelſpiels in eine fremde Maſchi-
ne hineingetragen, die ſie mechaniſch wieder-
hallt, wie die Aeols Harfe ihre Geſänge, wenn
der Wind in ihre Saiten bläſt. Der Virtuoſe
ſpielt ſchön, weil er eine Seele hat. Aber eine
Flötenuhr ſpielt ohne dieſelbe eben ſo ſchön. Sie
hatte freilich ihren Meiſter, aber auch ihr Mei-
ſter hatte den ſeinigen. Der letzte Ring in der
Kette der Weſen hängt an dem Bette des Jupi-
ters. Auch Maſchinen müſſen die zufälligen Ver-
hältniſſe äuſserer Einflüſſe wiederhallen, wenn ſie
G
[98] Empfänglichkeit für dieſelben und eine ſolche
Conſtruktion hätten, daſs ihre Reflektionspunkte
durch ihre eignen Thätigkeiten nach anderen Ge-
genden verlegt werden könnten.
§. 10.
Nahe verwandt mit dem Selbſtbewuſstſeyn
iſt die Beſonnenheit. Jenes iſt gleichſam die
Grundlage dieſer Eigenſchaft der Seele, und dieſe
knüpft ſich wieder an die Aufmerkſamkeit an.
Die Beſonnenheit merkt die Objekte an, die Auf-
merkſamkeit hält die angemerkten eigenmächtig
feſt. Jene iſt gleichſam der Compaſs auf dem
Meere der Sinnlichkeit, welcher die Thatkraft
der Seele auf den Zweck ihrer Glückſeligkeit
zuſteuert. Ohne Beſonnenheit würde ſie entwe-
der unverrückt, nach dem Geſetze der Stetigkeit,
auf einerley Gegenſtand haften, oder ohne Leit-
ſtern regellos im Univerſum herumflattern. Was
hier in der Mitte liegt, daſs keins von beiden
geſchieht, iſt Beſonnenheit. So begegnen ſich
Centrifugal- und Centripedal-Kraft in der Dia-
gonale, und gängeln die Weltkörper durch den
leeren Raum, daſs ſie die Spur, ohne ſie zu
haben, nie verlieren.
Was iſt Beſonnenheit, und worauf gründet
ſie ſich? Sie iſt Fortdauer des Wahr-
nehmungsvermögens der Seele, wäh-
rend ihrer Anſtrengungen, und grün-
det ſich auf eine Irritabilität für
[99] fremde Eindrücke, die dem inneren
und äuſseren Sinn noch zur Zeit übrig
iſt, wo er auf ganz andere Dinge haf-
tet. Die Seele wechſelt ihre Geſchäffte. Dies
kann ſie nicht ohne einen inneren und zureichen-
den Grund. Sie wechſelt dieſelben nach Regeln,
die ihr die Beſonnenheit an die Hand giebt.
Daher die ſcheinbare Spontaneität in dem
Gebrauche ihrer Kräfte nach den For-
derungen der Vernunft.
Die Seele muſs vermöge der Beſonnenheit
mitten in ihren Anſtrengungen, ohne Abbruch
derſelben, dennoch ein ſo leiſes Gefühl gegen
die Eindrücke der Welt und ihres Körpers, und
gegen die Reproduktionen des Erinnerungsver-
mögens beibehalten, daſs in richtigen Verhält-
niſſen jedesmal diejenigen Gegenſtände im Be-
wuſstſeyn zur Klarheit kommen, die mit ihrem
gegenwärtigen Intereſſe in Beziehung ſtehn. Sie
muſs ſtättig wirken, aber nicht abſolut gefeſſelt
ſeyn; auf das vorhandene Object haften können
und dennoch alle Eindrücke der Welt, die der
Zufall vorüberführt und das leiſe Anpochen des
Erinnerungsvermögens fühlen, die vorüberſchwe-
benden Vorſtellungen ſchnell beäugeln und auf
der Flucht ihren Werth ſchätzen können. Dann
läſst ſie nichtige Dinge, faſt ohne ſich derſelben
bewuſst zu werden, bey Seite liegen, hält ſich
aber auf der Stelle an, und richtet ihre Kraft
auf das neue Object, wenn es von einem höhe-
G 2
[100] ren Werth iſt. Auf dieſe Art faſst ſie auf, was
die Vernunft aufzufaſſen gebietet, was in das
allgemeine Intereſſe aller Menſchen, und in ihr
individuelles Verhältniſs beſonders einſchlägt.
Sie iſt im Beſitz einer zweckmäſsigen Locomoti-
vität, und ihr Wirken ſteht mit ihrer Naturbe-
ſtimmung in einem ſo vortheilhaftem Gleichgewicht,
daſs jenes ſich dieſer gemäſs äuſsern muſs.
Man theilt die Beſonnenheit in eine äuſse-
re und innere; dieſe bezieht ſich auf die
Wahrnehmung der Reproduktionen des inneren,
jene auf die Wahrnehmung der Eindrücke des
äuſseren Sinns. Vermöge der äuſseren Beſon-
nenheit werden die Eindrücke der Welt und des
eignen Körpers, ſofern derſelbe als äuſseres Object
im Gemeingefühl angekündiget wird, angemerkt
und zum Bewuſstſeyn gebracht. Die Seele läſst,
wenn ſie mit irgend etwas emſig beſchäfftiget iſt,
die Reize der Welt, als Nebelſterne in weiter
Entfernung vorüberſchleichen, aber dunkel merkt
ſie dieſelben doch an, und hebt diejenigen augen-
blicklich aus der fliehenden Menge aus, die mit
ihren Zwecken in Verbindung ſtehn. Die in-
nere Beſonnenheit iſt die nemliche Fertigkeit der
Seele in Rückſicht ihrer inneren Beſtimmungen,
Vorſätze, Maximen und Pflichtverhältniſſe. Wir
gebieten Ruhe dem Gedächtniſs und der Phanta-
ſie, um alle Kraft auf einen Punkt zu ſammlen,
behalten aber doch für ſolche Reproduktionen
dieſer Vermögen ein leiſes Gehör übrig, die in
[101] unſer gegenwärtiges Intereſſe einſchlagen. Indeſs
ſind beide Arten der Beſonnenheit in Rückſicht
ihres Zwecks nicht verſchieden, beide ſind durch-
gehends von gleicher Stärke in dem nemlichen In-
dividuum, erregen ſich gegenſeitig, und ſtehn mit
einander in beſtändiger Wechſelwirkung. Die
Welt erinnert uns an unſer Pflichtverhältniſs, und
dies macht uns aufmerkſam auf Theile unſeres
äuſseren Zuſtandes, die mit demſelben in Ver-
bindung ſtehen.
Die Funktion der Beſonnenheit iſt in dem
Momente ihres Beginnens un willkührlich.
Denn ſie faſst auf, was der Zufall vorüberführt.
Doch können wir derſelben durch die Macht des
Vorſatzes einen höheren Grad von Spannung mit-
theilen, wenn dies unſerm gegenwärtigen Be-
dürfniſſe angemeſſen iſt. Sie iſt gleichſam das
Ohr des Geiſtes, welches wir abſichtlich gegen
ein Feld richten und von demſelben abwenden
können. In der Folge wird ſie entweder ge-
zwungen oder nach Willkühr zur Aufmerkſam-
keit erhoben.
Ihre Gröſse verhält ſich, wie ſich die
Reizbarkeit der Seele zur Stärke der Reize ver-
hält, die auf ſie wirken. Dieſe können um deſto
ſchwächer ſeyn, je ſtärker jene iſt. Die Gröſse
des Reizes hängt von der Stärke des Eindrucks,
der Luſt und Unluſt, die er erregt, und von dem
Intereſſe ab, das er für uns hat, ſofern wir ihn
als Mittel zum Zweck betrachten. Der Schuſs
[102] einer Kanone, das Krachen des Donners und die
Amputation eines Gliedes erregt auch die trägſte
Beſonnenheit. Nicht leicht werden wir wie
Semler und Archimedes in unſern Medi-
tationen beharren, wenn das Haus brennt oder
der Feind in die Stadt eingedrungen iſt. Den
Jüngling arretirt mitten in den ernſthafteſten Ge-
ſchäfften eine lebendige, den Künſtler eine todte
Figur; der Correktor vergiſst den Sinn der
Schrift, wenn er einen Druckfehler, der Gram-
matiker, wenn er einen Schnitzer in der Wort-
fügung anſichtig wird *). Doch müſſen dieſe
Idioſyncraſieen ihre Grenze haben, wenn die
Beſonnenheit innerhalb der Norm bleiben; ihr
muſs eine Aufmerkſamkeit zur Seite ſtehn, die
durch ein verſtändiges Intereſſe geleitet wird,
wenn ſie als Mittel zur Glückſeligkeit wirken
ſoll.
Die Beſonnenheit kann auf mancherley Art
von der Norm abweichen. Iſt die Reizbarkeit
des Seelenorgans zu ſtumpf, ſo ſchleichen ſchwa-
che Eindrücke unbemerkt vorüber; iſt ſie zu
zart, ſo entſteht Flatterhaftigkeit, und Kleinig-
keiten feſſeln uns, in Beziehung auf ernſthafte
Gegenſtände. Bald fehlt es an äuſserer, bald an
innerer Beſonnenheit, oder beide ſtehn nicht mit
einander in gehöriger Wechſelwirkung. Doch
kann man ſich eher aus dem Handel ziehn, wenn
[103] es an äuſserer, als wenn es an innerer Beſonnen-
heit fehlt. Wer heute ſchon ſeiner geſtrigen Vor-
ſätze uneingedenk iſt, bleibt unbemerkt; nicht
ſo derjenige, welcher das Taſchentuch ſeiner
Nachbarin für ſein Hemde anſieht. Endlich ſetzt
die Beſonnenheit ein klares Bewuſstſeyn unſeres
Sitten- und Pflichtverhältniſſes voraus, damit
ſolche Eindrücke aufgefaſſet werden, die mit die-
ſen Verhältniſſen in richtiger Beziehung ſtehn.
Wir ſind auf dem Wege der Narrheit, ſobald es
unſerer Beſonnenheit an dieſer Beziehung fehlt,
wir ihrer Anomalie nicht geſtändig ſind, den
Tadel unſerer Nebenmenſchen nicht achten oder
uns wol gar in dem Zuſtande der Unbeſonnenheit
wohl gefallen. Dieſe Darſtellung der verſchie-
denen Modifikationen der anomalen Beſonnenheit
leitet uns zugleich auf die Krankheiten der Or-
ganiſation, von welchen ſie Symptome ſind.
Denn in derſelben müſſen wir ihre Krankheiten
ſuchen. Menge und Mannichfaltigkeit der Reize
können freilich auch die Beſonnenheit überflü-
geln. Aber dies iſt nicht Krankheit, ſo lang es
etwas Aeuſseres bleibt, und keinen permanenten
Fehler im Inneren zurückläſst. Ihre Krankhei-
ten entſtehn alſo bald von einer überſpannten,
bald von einer zu trägen Reizbarkeit des Seelen-
organs, von Schwäche deſſelben, oder von einem
ganz fehlerhaften Mechaniſmus des Nervenge-
bäudes, vom Mangel oder von falſcher Cul-
tur der Seelen-Vermögen. Dann erwähne ich
[104] noch einer natürlichen Anlage des Menſchen,
ſich durch ſeine Phantaſie zu zerſtreuen, die zur
Unbeſonnenheit führt. Er läſst gerne ſeiner Ein-
bildungskraft den Zügel ſchieſsen, beluſtiget ſich
mit ihren Geſchöpfen, hängt ſich mit Wärme
an dieſelben und wünſcht ihnen Objektivität.
Allein die Beſonnenheit weiſt ihn aus dieſem
Feenlande in ſeine natürlichen Verhältniſſe zu-
rück. Das Kind ſpielt den König und verleug-
net ſeine Beſonnenheit; der Narr hat ſie verlo-
ren, wenn er glaubt, es wirklich zu ſeyn. Dem
Tiefſinnigen iſt ſie wie dem Unglücklichen zur
Laſt, der ſie für eine Zeitlang durch berauſchende
Getränke zu unterdrücken ſucht. Der Hypo-
chondriſt hat zu viel, der Schwindſüchtige zu
wenig Beſonnenheit in Rückſicht des eignen Kör-
pers. Jenen erſchüttert der unbedeutendſte Zufall;
dieſer ſpeit jeden Augenblick ſeine aufgelöſten
Lungen aus und merkt es doch nicht, daſs ſie
krank ſind.
Der Nachtwandler hat eine Art äuſserer
Beſonnenheit, beſonders wenn er an fremden Oer-
tern auftritt. Beim Anfange des Spiels befaſst er
die nächſten Objekte, um ſich zu orientiren.
Dann liegt der Ort mit allen Gegenſtänden, in
richtigen Raumverhältniſſen ſo lichthell in ſeiner
Phantaſie da, daſs er alles vermeidet und alles
ergreift, was ihm in den Weg kömmt. Das
Bild des Orts in ſeiner Imagination iſt dem wirk-
lichen Ort ſo gleich und ſein räumliches Verhält-
[105] niſs zu den Gegenſtänden in demſelben ſo richtig
gefaſst, daſs er ohne Augen zu ſehen ſcheint. Doch
iſt ſeine äuſsere Beſonnenheit beſchränkt auf ſol-
che Objekte, die in das Geſpinnſte ſeiner Phantaſie
paſſen; denn ſonſt würde er nicht nachtwandlen.
Der ſelige Semler hatte ſo wenig äuſsere
Beſonnenheit, daſs man zur Probe in der Nähe
ſeines Studirtiſches eine Gardine anbrannte, ohne
daſs er es bemerkte. Einem Gelehrten ſagte ſein
Bedienter, daſs er ſich retten möge, weil das
Haus in Flammen ſtehe. Ey, antwortete er ihm,
laſſe er mich ungeſchoren mit dergleichen Ange-
legenheiten, von denen er weiſs, daſs ich ſie
meiner Frau überlaſſe. Nicht weniger unbeſon-
nen war ein anderer, der das weiſse Schnupftuch
einer Dame, die ſich mit ihm unterredete, emſig
an den Ort brachte, wohin das Hemde gehört,
weil er es für ſein Hemde hielt. Der groſse Welt-
weiſe Newton ſaſs in einer Geſellſchaft neben ei-
nem Frauenzimmer und ergriff, in Gedanken ver-
tieft, den Finger derſelben, um ſich den brennen-
den Taback in ſeiner Pfeife feſt zu ſtopfen. Erſt als
das Frauenzimmer vor Schmerz zu ſchreien an-
fing, entdeckte er ſeinen Irrthum *). Ich kenne
ſagt Ehrhard**) einen gelehrten und vernünfti-
gen Profeſſor, bey dem dergleichen Streiche nichts
[106] ſeltenes ſind. Einmal wollte er einen guten
Freund beſuchen. Es war Mondhelle und dieſer
ſahe ihn kommen. Vor der Thüre ſtand ein Fu-
der Heu. Der Kommende wollte gerade auf die
Thüre zu, fand das Fuder Heu und verſuchte, es
wegzuheben. Als es nicht gehen wollte, kehr-
te er um, kam wieder und verſuchte noch ein-
mal, es wegzuheben, und als dies wieder nicht
ging, begab er ſich zu Hauſe. Des andern Ta-
ges fragte ihn ſein Freund, was er denn geſtern
gemacht habe? Er wuſste ſich alles zu erinnern,
und ſagte, der Gedanke, um das Fuder Heu her-
umzugehen, ſey ihm nicht eingefallen. Schön
iſt das Gemälde, welches La Brüyere*) von
einem höchſt unbeſonnenen Menſchen, einem
Herrn von Brancas entworfen hat. Nur ei-
nige Züge aus demſelben. Menalk, ſo nennt
la Brüyere ſein Original, will ausgehen,
kommt die Treppe herab, öffnet ſeine Hausthüre,
verſchlieſst ſie hinter ſich, und findet jetzt erſt,
da er ſchon auf der Straſse iſt, daſs er noch ſeine
Nachtmütze nicht abgelegt habe. Er betrachtet
ſich näher und ſieht, daſs er noch ſo gut als un-
angekleidet ſey. — Ein anderesmal geht er un-
ter einem Wandleuchter vorbey, und ſeine Pe-
rücke bleibt hängen. Alle Anweſende lachen
und ſehen ihn an. Menalk lacht lauter als alle,
und ſieht ſich nach dem Kahlkopf ohne Perücke
[107] um. Und dieſes Schauſpiel gab er in den Zim-
mern der Königin. — Einmal als er bey einer
Dame Viſite machte, vergiſst er bald, daſs er zum
Beſuch gekommen iſt, glaubt ſich zu Hauſe und
Beſuch von dieſer Dame zu haben. Der Beſuch
bleibt, ſeiner Meinung nach, läſtig lange. Es iſt
ſchon tief in der Nacht, und er hat noch nicht
gegeſſen. Er bittet alſo die Dame bey ihm zu
Tiſche zu bleiben. Dieſe muſs lachen und ſo
laut, daſs er wie aus einem Traume erwacht. —
„Sie kommen mir wie gerufen, ich ha-
be ſie ſchon lange geſucht;“ ſagte er zu
Jemandem, der ihm im Louvre begegnete,
nimmt ihn beim Arm und durchſtreicht mit ihm
mehrere Säle. Nach einer Viertelſtunde, wie er
ſeinen Begleiter ins Geſicht ſieht, findet er, daſs
er ſich in der Perſon geirrt, und demſelben nichts
zu ſagen habe. Es giebt Menſchen, die in ihre
Einfälle ſo verliebt ſind, daſs ſie dieſelben überall
ohne Beſonnenheit des Orts und ihrer Verhält-
niſſe auskramen. Ehrhard*) kannte einen
ſolchen Mann, aus dem kein kluges Wort mehr
kam, und der zuletzt wahnwitzig wurde.
Noch erwähne ich zweier Krankheiten der
Seele, der Zerſtreuung und der Vertie-
fung, die ſich auf Anomalieen der Beſonnenheit
und Aufmerkſamkeit beziehen. Der Zerſtreute
will alles beachten, faſst daher das Nothwendige
[108] nicht auf und kann keinen Gegenſtand hinläng-
lich feſthalten. Dieſer Zuſtand iſt tranſito-
riſch, wenn er von überhäuften Eindrücken
und flüchtigen Aſthenieen; oder habituell,
wenn er von einer permanenten Schwäche des
Verſtandes und der geſammten Seelenkräfte her-
rührt *). Die Vertiefung iſt ein einſtweiliger
Zuſtand, der durch ein ſo feſtes Anheften aller
Seelenkraft auf einen Gegenſtand entſteht, daſs
auſser demſelben weder Sinneseindrücke noch
Erinnerungen unſerer Pflichtverhältniſſe zum kla-
ren Bewuſstſeyn gelangen. Sie artet in Grübe-
ley, und dieſe in Grillenfängerey aus,
wenn die Grübeley auf unſere Handlungen einen
ſichtbaren Einfluſs hat. Ihre Urſachen ſind ver-
ſchieden. Bald feſſelt die Gröſse des Intereſſes,
bald Schwäche der Seele uns an einen Gegen-
ſtand. Denn ein Menſch, der zu wenig Extenſi-
tät des Verſtandes hat, muſs ſich allen andern
entziehen, wenn er ein Object genau beachten
will. Der höchſte Grad der Vertiefung in Bezie-
hung eines Gegenſtandes, der uns durch das In-
tereſſe der Luſt anzieht, iſt Entzückung, in
welcher die Seele gleichſam cataleptiſch auf einen
Gegenſtand hinſtarrt, und für alles andere kalt
und gefühllos bleibt. Als Beiſpiele der Vertie-
fung habe ich oben ſchon den ſeligen D. Sem-
ler und Archimedes angezogen. Dieſem
[109] will ich noch eins, das Hoffbauer*) ange-
führt hat, zufügen. Ich kannte, ſagt er, einen
Tonkünſtler, der ſeinen Phantaſieen am Clavier ſich
ſo zu überlaſſen pflegte, daſs er nichts von allem,
was neben ihm vorging, wahrnahm. Ein ge-
ſchätzter Freund konnte in ſein Zimmer treten,
und mit offenen auf ihn gerichteten Augen ſahe
er ihn nicht. Das Licht konnte, wenn er des
Abends ſpielte, verlöſchen, er merkte es nicht.
Einſtmals, als er ſeine Freunde an einem Winter-
abende mit ſeinem Spiele unterhielt, löſchte ei-
ner derſelben aus Verſehen das Licht aus. Ganz
in ſeine Phantaſie vertieft, weiſs er nicht eher,
daſs er ſich in einem finſtern Zimmer befindet,
als bis ſein Freund nach einem vergeblichen Ver-
ſuche das Licht wieder zum Brennen zu bringen,
ihn in ſeinem Spiele ſtört.
Die Beſonnenheit liegt alſo in der Mitte
zwiſchen Zerſtreuung und Vertiefung.
Beide Zuſtände ſind Abweichungen von ihr nach
verſchiedenen Richtungen. Je weiter der Menſch
von dem normalen Standpunkt in der Mitte ſich
entfernt, deſto mehr iſt er an dem einem Extrem
vertieft, am andern zerſtreut und an beiden En-
den auf dem Wege zur Verrückung. Der Zer-
ſtreute irrt unter einer Menge von Gegenſtänden
herum, ohne einen feſtzuhalten; der Vertiefte
kann ſich von dem Objekte nicht losreiſsen, das
[110] ihn gegenwärtig feſſelt. Beide faſſen daher die
Eindrücke nicht auf, die ſie nach ihrer gegenwär-
tigen Lage auffaſſen ſollten. Doch kann der
Menſch beides zugleich, zerſtreut und vertieft
ſeyn. Er iſt eingeſchränkt auf einen gewiſſen Be-
zirk von Gegenſtänden, faſst aber innerhalb deſ-
ſelben nirgends feſten Fuſs. Zuletzt veranlaſst
ihn dieſer Zuſtand, in dem er ſeines Zwecks ver-
fehlt, über die Grenze zu treten, und führt als-
denn zur unbegrenzten Zerſtreuung.
§. 11.
Aufmerkſamkeit iſt das Vermö-
gen der Seele, ihre Kraft willkühr-
lich an den Gegenſtand zu feſſeln, der
durch die Beſonnenheit angemerkt
und aus der Menge zum klaren Be-
wuſstſeyn ausgehoben iſt. Die Beſon-
nenheit läſst den Gegenſtand wieder fahren, wenn
er ohne Werth iſt. Erſt durch die Aufmerkſam-
keit, die die Kraft der Seele auf einen feſten
Punkt anheftet, wird ſie conſolidirt. Dies ge-
ſchicht nach einem freien Entſchluſs, der ſich
entweder auf Genuſs der Luſt, oder auf die Er-
reichung eines moraliſchen Zwecks gründet. Je-
ner zieht ſanft an, dieſe feſſelt uns, auch wenn
es uns Mühe macht. Die Luſt wirkt ſtärker,
und am ſtärkſten in der Jugend. Das Alter iſt
ſchwach an Verſtand und liebt die Ruhe. Daher
beherrſchen wir unſere Aufmerkſamkeit in den
[111] mittlern Jahren am freiſten, wo die Vorſätze des
Verſtandes ſtark genug und dem Zuge der Luſt
überlegen ſind.
Ihre Krankheiten ſind denen gleich, die
bey der Beſonnenheit bereits angemerkt ſind,
nemlich Zerſtreuung und Vertiefung.
Dieſe überſchreitet dieſelbe, jene erreicht ſie
nicht. Sie entſpringen von Schwäche des Ver-
ſtandes, Mangel an Uebung und von einer fal-
ſchen Schätzung des Werths der Dinge, die uns
zu einer thörigten Spende unſerer Kräfte ver-
leitet.
§. 12.
Da die Seelenkrankheiten, wie bereits oben
geſagt iſt, vorzüglich durch Anomalieen des
Selbſtbewuſstſeyns, der Beſonnenheit und der
Aufmerkſamkeit ſichtbar werden; ſo will ich zum
Beſchluſs noch einige Geſetze aufſtellen, mit
welchen dieſe Vermögen in Verbindung ſtehn.
1) Der Zuſtand des Selbſtbewuſst-
ſeyns und der Beſonnenheit iſt ab-
hängig von dem Zuſtande des Nerven-
ſyſtems. Allein welcher Modifikationen iſt
das Nervenſyſtem fähig, wie werden ſie wirklich,
wie flieſsen ſie ein auf das Selbſtbewuſstſeyn?
Dieſe Aufgaben kann zur Zeit niemand vollſtän-
dig aufklären; ich werde ſie daher nur, und
nur ſchüchtern umkreiſen. Das Nervengebäude
iſt eine höchſt zuſammengeſetzte Maſchine und
[112] von einer ſolchen Ausdehnung, daſs, wenn man
daſſelbe aus dem Menſchen herausheben könnte,
es als Nerven-Menſch in gleichen Umriſſen da-
ſtehn und den Rückſtand als ein caput mortuum
zurücklaſſen würde. Seine peripheriſche Grenze
iſt gleich einem entfalteten Fächer gegen die Welt
gerichtet. Von derſelben kehrt es in ſich ſelbſt
zurück und ſammlet ſich wie ein umgekehrter Ke-
gel in dem Brennpunkt des Gehirns. Auſser den
Geſchäfften, die ihm als Bewegungs-, Gefühls-,
und Sinnes-Werkzeug eigenthümlich ſind, hat die
Natur es zum Bande beſtimmt, in welchem die
zum Bau eines organiſchen Körpers nöthige
Mannichfaltigkeit von Inſtrumenten zur Einheit
eines Individuums verſchlungen ſind. Es reiht
die zerſtreuten Organe des Körpers an ſeine Aeſte
auf, verbindet ſie durch untergeordnete Heerde
zu eignen Getrieben und ſammlet dieſe endlich
alle in ſeinen groſsen Mittelheerd auf. Hier iſt
der Knoten der Organiſation geſchürzt, durch
welchen ſie ſich als Natur-Zweck über die
lebloſe Natur erhebt.
Auſser den Kräften, die das Nervenſyſtem
von ſeiner beharrlichen Materie hat, wirkt in
demſelben höchſt wahrſcheinlich noch ein ani-
maliſcher Lebensſtrom, der nach einer
gedoppelten Modifikation ſeine Einflüſſe um-
tauſcht. Er ebbet und fluthet, häuft ſich an und
zerſtreut ſich wieder, wogt von Pole zu Pole,
bewegt ſich in Zügen und Kreiſen, wozu ihm
der
[113] der Mechaniſmus des Nervenſyſtems, deſſen Kno-
ten und Geflechte und ſeine kleinen und groſsen
Cirkel behülflich ſind. Daher die groſse Beweg-
lichkeit in der Temperatur der Nervenkräfte, die
Succeſſion ihres Wirkens in den verſchiednen
Getrieben und der Wechſel der Aſſociationen und
Sympathieen, die täglich von andrer Art zu
Stande kommen, wenn gleich der Mechaniſmus
des Nervenſyſtems ſtättig iſt.
So lang das Nervengebäude dieſe Conſtruk-
tion hat, ſeine Getriebe das gehörige Maaſs von
Kraft beſitzen, und ſich richtig auf einander be-
ziehn, wirken das Gemeingefühl, der äuſsere
Sinn, die Phantaſie und das Gedächtniſs der
Norm gemäſs; und von dieſen Vermögen hängt
die Integrität des Selbſtbewuſstſeyns ab. Allein
wenn dieſe Ordnung der Dinge, z. B. im anfan-
genden Schlaf, zu wanken anfängt, ſo wankt in
den nemlichen Verhältniſſen das Selbſtbewuſst-
ſeyn. Sein Zuſtand und der Zuſtand des Nerven-
ſyſtems beſtimmen ſich von Moment zu Moment,
ſtehn alſo mit einander in einer urſachlichen Ver-
knüpfung.
2) Das Nervenſyſtem hat nur dann,
wenn es wirklich handelt, Kräfte
zum Handeln. Wenn es feyert, ſo iſt es auch
ſo weit ohne Kräfte, als es feyert. Schlafende
Kräft ſind Metaphern; zureichende Urſachen
nicht ohne Wirkungen. Es hat alſo bloſs das
Vermögen, in jedem Moment Kräfte zum Wir-
H
[114] ken in ſich zu ſchaffen. Dies geſchieht wahr-
ſcheinlich durch den allgemeinen Schöpfungspro-
ceſs der Vegetation, die entweder permanent
oder einſtweilig iſt. Jene erhält die thieri-
ſche Maſſe als ſolche und ihre Fähigkeit zum
thieriſchen Wirken, die wir mit der ſchnellen
Zündbarkeit eines Brennmaterials vergleichen
können. Dieſe einſtweilige iſt ſtärker, ſchafft
die momentane Kraft zum Wirken, die ein Wir-
ken und hier ein Vorſtellen zur Folge hat. Die
Phänomene wechſeln, wie der Stoff wechſelt; ſie
wechſeln am Eiſen nach Maaſsgabe ſeines Ge-
halts an Sauerſtoff und Kohlenſtoff. Warum?
Das iſt uns hier und überall unbekannt. Denn
wir beobachten nur, was geſchieht; aber nicht,
warum es nothwendig ſo geſchehen müſſe. Es
ſind alſo einſtweilige Vegetationen in dem vaſten
Gebiet des Nervenſyſtems möglich, die höchſt
wahrſcheinlich mit dem galvaniſchen Lebens-
ſtrom in Verknüpfung ſtehn. An dem Ort, wo
dies geſchieht, wird es lichte. Es heben ſich
Vorſtellungen, die ſich auf den handelnden Theil
beziehn, aus der Menge zum klaren Bewuſstſeyn
hervor, und ziehn dadurch unſere Beſonnenheit
und Aufmerkſamkeit an. Alles übrige ſchwimmt,
wie die entfernten Gegenſtände einer Landſchaft,
im Helldunkel vorüber.
Allein dies Wirken des Nervenſyſtems in
ſeinen verſchiednen Getrieben erfolgt nach
einer feſten Regel, die durch die normale
[115] Vertheilung ſeiner Kräfte gegründet und durch
das Auffaſſen beſtimmter Objekte im Selbſtbe-
wuſstſeyn und der Beſonnenheit angekündiget
wird. Sobald dies Verhältniſs der dynamiſchen
Temperatur im Seelenorgan wankt, ſo wankt
auch die normale Receptivität für äuſsere Gegen-
ſtände; es weicht die Ausbreitung der bewirkten
Erregungen ab von den Geſetzen der Aſſociation.
Die Angel der Verbindung iſt abgezogen, ein-
zelne Getriebe wirken für ſich, Nebelſterne drin-
gen aus der Tiefe zur Klarheit hervor, und es
wird in uns eine Welt ſichtbar, von der wir nicht
ahndeten, daſs ſie in uns vorhanden ſey.
Was ſind dunkele Vorſtellungen,
Vorſtellungen ohne Bewuſstſeyn? Chi-
mären. Doch haben Leibnitzens Anhänger
ihr Daſeyn ſogar durch Schlüſſe bewieſen. „Eine
Kraft, ſagen ſie, ſey ohne Thätigkeit nicht ge-
denkbar, da ihr Weſen im Wirken beſtehe. Nun
äuſsere ſich das Seelenvermögen durch Vorſtel-
len; es müſſe alſo auch im Schlafe vorſtellen.
Weil wir uns aber deſſen nicht bewuſst ſind, ſo
folge daraus, daſs wir im Schlafe Vorſtel-
lungen ohne Bewuſstſeyn haben müſ-
ſen.“ So richtig der Oberſatz ſeyn mag, ſo
hypothetiſch iſt der Unterſatz, der eine perma-
nente Seelenkraft als unbedingt nothwendig vor-
ausſetzt. Die Seele wird und vergeht in jedem
Moment, wie der Körper wird und vergeht und
doch derſelbe bleibt Nur wenn wir Vorſtellun-
H 2
[116] gen haben, haben wir die Kraft dazu; auſser
der Zeit bloſs das Vermögen, dieſe Kraft ſchnell
in uns zu ſchaffen. So ſind auch die Wiederer-
innerungen des Gedächtniſſes und der Phantaſie,
in welchen Vermögen der geſammte Schatz un-
ſerer Erkenntniſſe aufbewahrt wird, nicht etwan
Produkte ſchlafender, ſondern wiedergebohrner
Kräfte. Durch die Erlernung einer Wiſſenſchaft
verſchaffen wir dem Seelenorgan das Vermögen,
für die Zukunft Kräfte eigenthümlicher Art zu
erzeugen. Was ſind die Veſtigia rerum, die
man zur Erklärung des Gedächtniſſes angenom-
men hat, wo haben ſie Platz genug in dem Ge-
hirne eines Polyglotten-Schreibers, wie dauren
ſie fort bey dem ununterbrochnen Wechſel des
Stoffs, was kömmt zu ihnen hinzu, daſs ſie
ſichtbar werden? Zuverläſſig ſind die veſtigia
rerum eben ſo räthſelhaft, als das Problem,
welches ſie enträthſeln ſollen. Hingegen lehrt
die Erfahrung, daſs organiſche Thätigkeiten eine
Anlage zur Wiederkehr der nemlichen Kräfte
erzeugen, durch welche ſie urſprünglich entſtan-
den ſind. In dieſem Fall müſſen dann auch die
nemlichen Vorſtellungen mit der Wiederkehr der
nemlichen Kräfte wiederkehren. Es bleibt alſo
bloſs die Frage zu beantworten übrig, wie zuwei-
len Vorſtellungen entſtehn, die nach
dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
nicht entſtehn, und uns daher über ihren
Urſprung in Verlegenheit ſetzen? Allein wenn
[117] die Temperatur der Kräfte des Gehirns geſteigert,
das Kraftverhältniſs ſeiner Theile aufgelöſt, die
Angel der Verbindung abgezogen iſt, die Ge-
triebe einzeln und in dem Grade ſtärker wirken,
als die übrige Maſchine ruht; ſo müſſen aller-
dings auch eben ſolche eigenartige Wirkungen
erfolgen, und dunkle Parthieen in Klarheit her-
vorgehn, die bey einer anderen Erleuchtung des
Seelenorgans nicht ſichtbar werden konnten.
3) Sofern die Seelenkräfte nicht permanent
ſind, ſondern erſt durch die Vegetation geſchaf-
fen werden, läſst es ſich begreifen, warum
dazu eine Weile erfordert werde, wenn
ein Gegenſtand vermittelſt der Beſonnenheit zum
klaren Bewuſstſeyn gelangen, und durch die Auf-
merkſamkeit gehalten werden ſoll. In einer
weiten Landſchaft erkennen wir bey einer raſchen
Ueberſicht alles verworren, und nur die Gegen-
ſtände deutlich, auf welchen wir länger haften.
Eine Kanonenkugel im Fluge wird nicht vorge-
ſtellt, ob ſie gleich Fläche genug hat, weil ſie in
jedem Punkt des Raums eine unendlich kleine
Zeit verweilt.
4) Eine Handlung in einem Theil
des Nervenſyſtems wirkt als Erre-
gungsmittel auf einen anderen. Das
Gehirn erregt den Nerven, dieſer das Muskelſy-
ſtem; der äuſsere Sinn die Thätigkeit des inne-
ren; eine Vorſtellung die andere. Die letzte Art
ſucceſſiver Erregungen im Seelenorgan, ſofern es
[118] Vorſtellungen erzielt, nennen wir Aſſociation.
Doch iſt ſie allen übrigen analog, und muſs als
Art unter die Gattung der Erregungen in der or-
ganiſchen Natur begriffen werden. Vermittelſt
dieſer Einrichtung pflanzt ſich eine urſprüngliche,
von auſsenher erregte Thätigkeit im Nervenſy-
ſtem durch ſeine weiten Hallen, wie die kreiſen-
den Wellen auf dem Spiegel einer ſtillen See fort,
bis ſie ausläuft. Dies geſchieht nach einer Regel,
die in der jedesmaligen normalen oder abnormen
Beziehung der Theile des Ganzen gegen einan-
der gegründet iſt und durch das Verhältniſs der
Aſſociationen ſichtbar wird. Iſt ſie ausgelaufen,
ſo muſs ſie von auſsenher wieder angefangen
werden, entweder durchs Gemeingefühl oder
durch den äuſseren Sinn, von welchem dieſer an
die Welt, jenes an den eignen Körper angrenzt
und dadurch die Gemeinſchaft des Bewuſstſeyns
mit dieſen Objekten begründet. Denn es ſcheint
mir widerſprechend, daſs ein abſoluter Stilleſtand
im Vorſtellen durchs Vorſtellen, d. h. durch
Spontaneität, wieder angefangen werden
könne; eine Behauptung, für welche ich meine
Gründe aus der Erfahrung an einem anderen Ort
anführen werde. Die Vorſtellungskraft ſcheint,
wie die Materie, träge zu ſeyn *). Haben die
[119] geſammten Theile des Nervenſyſtems ein richtiges
Verhältniſs zu einander, welches zum Theil Re-
ſultat der Erziehung deſſelben durch ſeine vorher-
gegangenen Handlungen iſt, ſo wirken die Auſsen-
dinge ein und die erregten [Thätigkeiten] breiten
ſich aus, wie es der Norm gemäſs geſchehen
muſs. Es gelangen die Verhältniſſe unſeres Zu-
ſtandes im Selbſtbewuſstſeyn zur Klarheit, die
mit unſerem Intereſſe in der nächſten Beziehung
ſtehn. So beginnt der Speiſekanal ſein wurmför-
miges Spiel nur dann, wann er Nahrungsmittel
in ſeine Höhle aufgenommen hat. Er wirkt zur
rechten Zeit und ſeiner Beſtimmung gemäſs, ohne
ſich eines Zwecks bewuſst zu ſeyn, nach einer
präſtabilirten Harmonie, die zwiſchen ſeinen
Kräften und ſeinen Zwecken obwaltet.
5) Die Kraft des Nervengebäudes
iſt, wie überhaupt die Lebenskraft des
geſammten Organiſmus, beſchränkt.
Sie wirkt nur auf einem Punkt des Gebiets mit
Nachdruck und in dem Maaſse, wie dies ge-
ſchieht, erlöſchen ihre Wirkungen in den übri-
gen Gegenden. Die Thatſache ſteht feſt, wenn
gleich ihre Urſache uns unbekannt iſt. Schmer-
zen der Haut erſticken Schmerzen im Inneren;
wirkt der äuſsere Sinn lebhaft, ſo ſchweigt der
innere; wenn die Phantaſie beſchäfftiget iſt, ſo
kommen keine äuſseren Eindrücke zum klaren
Bewuſstſeyn. Bey einer chirurgiſchen Operation
hängt die ganze Kraft der Seele an der Spitze
[120] des Meſſers. Daher hört unſer Ohr das Gewim-
mer des Kranken nicht. Mag man ſich, um den
Grund dieſes Phänomens bildlich vorzuſtellen,
mit Heineken ein gasförmiges Weſen denken,
das die Nerven gleich einem Geiſt umſchwebt,
ebbet und fluthet und ihre Thätigkeit vermehrt,
wo es ſich anhäuft, aber ſie in den Theilen ver-
ringert, von welchen es abgezogen wird. Die
Seele muſs alſo, wenn ſie ſich einem Geſchäffte
widmen will, auf alle übrigen Verzicht thun; ſie
muſs daſſelbe fahren laſſen, wenn ſie einen neuen
Gegenſtand beachten will, d. h. ſie muſs Behufs
der reſpektiven Thätigkeit nach Will-
kühr abſtrahiren können. In eben die-
ſer Einrichtung, die die Seele nöthiget, mehrere
Handlungen, nicht gleichzeitig, ſondern in der
Zeit zu verrichten, iſt auch das Geſetz gegründet,
nach welchem wir ihre Thätigkeit zu len-
ken im Stande ſind. Wir dringen ihr neue Ge-
ſchäffte auf; dadurch wird ſie gezwungen die
vorhandnen ſchwinden zu laſſen; löſchen auf die-
ſem Wege gegenwärtige Ideenreihen aus, und
ziehn neue aus der Tiefe hervor.
6) Die Seele muſs zwar ihre Kraft, ſofern
dieſelbe beſchränkt iſt, auf denjenigen Gegen-
ſtand verwenden, welchen ſie mit Ernſt bearbei-
ten will. Doch ſoll ihr noch ſoviel Irrita-
bilität von der Summe derſelben übrig
bleiben, daſs ſie das leiſe Anpochen des inne-
ren und äuſseren Sinns wahrzunehmen im Stande
[121] iſt. Dann ſchätzt ſie die wahrgenommenen Ein-
drücke auf der Flucht, hemmt ihre gegenwär-
tige Thätigkeit und richtet ſie auf die neuen Ge-
genſtände, wenn ſie von Erheblichkeit ſind. Ihr
Abſtraktionsvermögen iſt alſo im eigentlichen
Sinn Unvollkommenheit, die nicht zu groſs ſeyn
darf. Sie muſs den obwaltenden Gegenſtand feſt-
halten, aber nicht abſolut an ihn gefeſſelt ſeyn; ihre
Kraft fixiren, aber derſelben doch ſo vielen Spiel-
raum übrig laſſen, daſs ſie augenblicklich auf an-
dere angemerkte Objekte von gröſserem Intereſſe
gerichtet werden kann. So iſt unſer Ohr in ernſt-
haften Meditationen dem Sinn des benachbarten
Geſprächs verſchloſſen, aber dem Eindruck un-
ſers Namens offen, wenn er in demſelben ge-
nennt wird. Dies Vermögen ſetzt theils Stärke,
theils eine ausnehmende Empfindlichkeit und
Mobilität der Seelenkraft voraus. Einem Men-
ſchen, dem mitten in ſeinen gegenwärtigen Ge-
ſchäfften nichts entwiſcht, der höchſt beſonnen
auf alle Regungen des inneren Sinns, und auf
alles iſt, was von auſsen kömmt und ſchnell von
einem Object auf ein anderes überſpringen kann,
ſchreiben wir Gewandheit der Seele zu.
Dahingegen beſitzt derjenige, welcher mehrere
Dinge zugleich mit zureichender Stärke beachten
kann, der den vorgeſteckten Gegenſtand mit
Nachdruck verfolgt und zugleich alle Verhältniſſe
ſeines äuſseren und inneren Zuſtandes, als ein
entfaltetes Buch, vor ſich offen liegen ſieht, ſie
[122] mit demſelben in Verbindung bringt, jeden Zu-
fall bemerkt, der auf ſeine Vorſätze Beziehung
hat und in den verwickelteſten Vorfällen einen
zweckmäſsigen Entſchluſs faſst, neben der Ge-
wandheit noch Gegenwart und Gröſse des
Geiſtes. Auf die nemliche Beſchaffenheit des
Nervenſyſtems gründet ſich die Beſonnenheit und
Aufmerkſamkeit, innerhalb der Norm, von wel-
chen jene Eigenſchaften der Seele die vollende-
teſten Produkte ſind.
7) Die Richtung der Kraft auf ei-
nen Punkt, oder das Aufmerken und
Wirken auf einen Gegenſtand, muſs
im geſunden Zuſtande eine gewiſſe
Ausdauer haben. In den Sinnorganen iſt
zur Zeit, wo ſie wirken ein gewiſſer Turgor
ſichtbar; ein Symptom des gleichzeitigen Vege-
tationsproceſſes, durch welchen ihr Wirken zu
Stande kömmt. Eben dieſer Turgor iſt wahr-
ſcheinlich in dem Theil des Gehirns vorhanden,
der gegenwärtig wirkt. Allein dieſe einſtweilige
Vegetation läſst endlich nach, die Reizbarkeit
ſchwindet und die Aufmerkſamkeit hört auf.
Beſonders giebt es gewiſſe ſinnliche Eindrücke,
z. B. auf den Geruch, die auch die angeſtreng-
teſte Aufmerkſamkeit nur für eine kurze Zeit
feſthalten kann. Mein parfümirter Rock, ſagt
Montagne*), wirkt bloſs im Anfang auf mei-
[123] ne, nach dreien Tagen nur auf die Naſe meiner
Freunde. Doch muſs ſie eine gewiſſe Normal-
Zeit aushalten. In aſtheniſchen Nervenkrank-
heiten ermüdet ſie im Vortrage, beim Zuhören
und überhaupt im Verfolgen eines Gegenſtandes
des Denkens. Sie muſs zu oft wechſeln, zu oft
Ruhepunkte haben und nach ihrer Anſtrengung
bleibt ein Gefühl von Schwäche zurück. Man-
gel an Ausdauer und Bedürfniſs des Wechſels
verurſacht Flatterhaftigkeit. Die Seele
hüpft vor ſchneller Ermüdung von einem Gegen-
ſtand auf den andern, ohne einen feſthalten zu
können. In ſchwachen und ſtumpfen Köpfen iſt
dieſer Fehler habituell. Daher ſcheint die Narrheit
durchgehends mit einem hohen Grad von Flat-
terhaftigkeit verbunden zu ſeyn.
§. 13.
In der Wirklichkeit ſind die meiſten See-
lenkrankheiten Zuſammenſetzungen. Sie
entſtehn als unbedeutende Gröſsen, wachſen aber
im Fortwälzen, wie Schneelavinen, zu Maſſen
an, die den ganzen Mikrokosmus bouleverſiren.
Wir finden ſie in Gruppen und Züge, die die
Natur aus mehreren Arten in einem Individuum
zuſammenhäuft. Dieſe Gruppen beſtehn theils
aus lauter Seelenkrankheiten, theils aus Krank-
heiten von verſchiedner Natur. Ihr Cauſalver-
hältniſs iſt mannichfaltig.
[124]
Die Seelenkrankheiten ſind vor allen ande-
ren dazu geneigt, ſich zuſammenzuſetzen. Und
davon liegt die Urſache in dem zuſammengeſetz-
ten Bau des Gehirns, in der beweglichen Tem-
peratur ſeiner Kräfte und in der engen Verbin-
dung ſeiner Theile unter ſich und mit den übri-
gen Getrieben des Nervenſyſtems.
In den Gruppen und Zügen ſind bloſs die
Arten abſolut beſtimmt, aber keinesweges die
Regeln ihrer Conſtruktion, die nemlich erſt
durch das Individuum gegeben werden, in wel-
chem ſie vorkommen. Wer ſie daher für Ein-
heiten hält, geräth in Verwirrung, wenn er ſie
bald in dieſer, bald in einer andern Geſtalt antrifft.
Man muſs ſie alſo in ihre Elemente zergliedern,
die beſtändig ſind, wenn man zu ihrer Erkennt-
niſs gelangen will, und daher das Studium
der Seelenkrankheiten mit den Arten
anfangen.
Allein wie werden dieſelben aufgefunden?
Durch Abſonderung der einfachſten Zuſtände, die
in Rückſicht ihrer weſentlichen Merkmale un-
wandelbar ſind. Dazu wird ein groſser Vorrath
zweckmäſsiger Beobachtungen erfordert. Die
Regeln, nach welchen dies geſchehen muſs, lie-
gen auſserhalb meiner Sphäre. Die aufgefund-
nen Arten werden vorerſt noch, ſo lang uns die
Natur der dynamiſchen Seelenkrankheiten an
ſich unbekannt iſt, auf die Grundvermögen der
Seele bezogen und nach ihrem Einfluſs auf das
[125] Selbſtbewuſstſeyn, die Beſonnenheit und Auf-
merkſamkeit charakteriſirt. Dann ſucht man die
Geſetze, nach welchen ſich die Arten folgen und
zuſammenhäufen, in der Natur der Seele und
ihres Organs auf, wodurch man zugleich zur
Erkenntniſs der Cauſal-Verknüpfung gelangt,
die ſie in den Compoſitionen unter ſich haben.
Oben habe ich ſchon einige einfache Ano-
malieen der Seelenvermögen berührt. Jetzt will
ich noch ein Paar Fälle zufügen, die ſich auf das
Fortſchreiten der Seele in ihren Wir-
kungen beziehn, ſofern daſſelbe gehemmt oder
über die Norm beſchleuniget werden kann.
1) Die Seele ſtarrt zuweilen un-
verwandt auf ein Object, oder auf ei-
nen engen Kreis verwandter Objekte
hin, wie ein Thier, das von einer Klapper-
ſchlange ins Geſicht gefaſst iſt. Sie feiert nicht,
ſondern wirkt; es fehlt ihr aber die Mobilität
zum Fortſchreiten in ihren Handlungen. Dieſen
Zuſtand derſelben werde ich Catalepſie ihres
Vorſtellungsvermögens nennen. Die
Grade derſelben ſind verſchieden. Geſunde Men-
ſchen wiederholen zuweilen ein Wort ohne
Wechſel, oder ſtarren unverwandt ein nahe ge-
legnes Object an, ohne klares Bewuſstſeyn ihrer
Exiſtenz, und bemerken erſt beim Aufhören des
Anfalls, daſs ſie abweſend waren. Sie ſind da-
bey im Stande, ſich zu bewegen und gewöhn-
liche Gegenſtände wahrzunehmen, doch ſcheint
[126] es, als geſchähe dies bloſs durch mechaniſche
Reflektionen im Nervenſyſtem. In dieſem Zu-
ſtande, den man eine Vertiefung in Gedan-
ken zu nennen pflegt, iſt der Menſch ohne Ge-
danken, kann alſo auch darin nicht vertieft ſeyn.
Steigt die Catalepſie, ſo hören alle Wirkungen
des Gemeingefühls, der Sinne und der Phantaſie
auf, die Aſſociationen ſtocken und alles Bewuſst-
ſeyn der Subjektivität und Objektivität geht ver-
lohren. Es iſt vollkommne Geiſtesabweſen-
heit vorhanden. Der Art iſt ſie in der Ent-
zückung. Meiſtens iſt dieſe Krankheit inter-
mittirend, ſelten anhaltend; die Paroxismen ver-
ſchwinden ſchnell, durch jeden neuen Reiz, der
in die Sphäre unſerer Sinnlichkeit tritt, oder ſie
dauren länger und ſind ſchwerer heilbar, wenn
ſie von habituellen Aſthenien des Nervenſyſtems
entſtehn.
Alle Kranke, die am fixen Wahnſinn lei-
den, ſind mehr oder weniger cataleptiſch. Sie
haben zwar einigen Wechſel ihrer Vorſtellungen,
der aber nicht über den Kreis hinausgehen kann,
in welchem ihr Wahnſinn ſie beſchränkt. Im
Berliner Irrenhauſe fand ich eine Närrin, die
ſchlechterdings gebähren wollte, und keines an-
dern Gedankens fähig war, der nicht mit dieſer
Idee in Verbindung ſtand. Ein anderer Ver-
rückter in dem nemlichen Hauſe ſtellte ſich wäh-
rend der Verſchlimmerungen ſeiner Krankheit
früh in die Ecke des Zimmers, hielt ſeinen Hut
[127] vor die Augen, und blieb bis zum Abend unver-
ändert in dieſer Stellung. Einige Wahnſinnige,
bemerkt Helmont*), waren ſich, nach dem
Anfall, der Symptome bewuſst, die ſie während
deſſelben erlitten hatten. Ihre Seele, ſagten ſie
von ſich aus, ſey im Anfang deſſelben bey einem
Begriff ſtehen geblieben, von dem es ihnen vor-
gekommen ſey, als wenn ſie ihn im Spiegel vor
ſich geſehen hätten. Doch ſey es ihnen nicht
klar geweſen, daſs ſie denſelben gedacht hätten.
Auch würden ſie mehrere Tage lang geſtanden
ſeyn, ohne es zu wiſſen, wenn der Anfall ſie im
Stehen überfallen hätte.
Ich kenne eine vornehme Dame, die in ei-
nem Anfall von Geiſteszerrüttung ein Wort, z. B.
meine Couſine, ein anderesmal Louis Sei-
ze unaufhörlich, Tagelang, und mit der gröſs-
ten Geſchwindigkeit wiederholt. Dann ſtellt ſie
ſich, wenn die Starrſucht des Vorſtellungsvermö-
gens ſich auch auf die Organe der Bewegung aus-
dehnt, eben ſo lang an einem Fleck ihres Zim-
mers hin, gleich einer Statue, ohne im minde-
ſten die Stellung ihres Körpers zu verändern.
Tiſſot**) beſuchte eine Frau, die zur Brüder-
gemeine gehörte und von der Liebe Chriſti ſo ent-
zündet war, daſs ſie nichts als ihren Gott ſah
und dachte. Mein ſüſses Lamm! dies war
[128] ihr Ausruf, den ſie alle halbe Stunden mit nie-
dergeſchlagenen Augen wiederholte und womit
ſie alle ſeine Fragen beantwortete.
Noch gröſser iſt die Starrſucht des Vorſtel-
lungsvermögens in der Entzückung, in wel-
cher der Kranke, wie Paulus, den Himmel
über ſich offen ſieht. Er hängt ſich mit aller Kraft
der Seele an ſeine Geſichte, daſs ihm nicht ein-
mal ſoviel von derſelben übrig bleibt, ſich derſel-
ben nach dem Anfall zu erinnern. Der Art
war der Capuciner, deſſen Geſchichte Sauva-
ges*) erzählt. Man fand ihn kalt und unbe-
weglich wie ein Marmorbild, mit dem einen Knie
auf der Erde geſtützt und die rechte Hand gen
Himmel geſtreckt. Erſt nach vierundzwanzig
Stunden erwachte er aus ſeiner Extaſe. Tiſ-
ſot**) wurde zu einem armen und cachekti-
ſchen Mädchen von elf Jahren gerufen. Er fand
daſſelbe im Bette, ſtarr, mit offnen Augen und
Munde. Der Ausdruck des Erſtaunens ruhte
auf ſeinem Geſichte. Es hörte, ſah und fühlte
nichts. Bald nachher bekam es ſchwache Zu-
ckungen im Geſichte, erwachte aus ſeiner Ent-
zückung, wie aus einem tiefen Schlaf und er-
zählte ſeine Offenbarungen und Viſionen, in de-
nen es Gott, Chriſtum und alle Auserwählte
ge-
[129] geſehen, geſprochen und ſogar geküſst zu haben
verſicherte, mit einem ſolchen Enthuſiaſmus, daſs
die Eltern und alle Anweſende Freudenthränen
über die Seligkeit dieſes Kindes vergoſſen.
Schwärmerey und Fanatiſmus kann dieſe Krank-
heit epidemiſch machen *).
Den höchſten Grad dieſes Zuſtandes nennt
Tiſſot**)Unempfindlichkeit, in wel-
cher die äuſsern und innern Sinne und das Ver-
mögen zu willkührlichen Bewegungen durchaus
feiern. Sie entſteht gern von heftigen Leiden-
ſchaften, beſonders von plötzlichen Nachrichten
einer verunglückten Liebe, die tiefe Wurzel ge-
faſst hat. Tiſſot erzählt drey Beiſpiele dieſes
Zuſtandes. Der eine Fall iſt die bekannte Ge-
ſchichte eines Schuſters, der vor Gram in dieſe
Krankheit verfiel und von Mutzel durch die
Einimpfung der Krätze geheilt wurde. Der
zweite Kranke war ein Hypochondriſt. Dieſer
machte die Entdeckung, daſs ſein Freund ihm
ungetreu geworden ſey. Er bekam ein heftiges
Zittern, blieb ſiebenundſiebzig Stunden ſprach-
los, regte kein Glied, nicht einmal die Augen,
ſchlief und ſchluckte nicht, und leerte nichts aus.
Der dritte Fall; ein Menſch verfiel in dieſen Zu-
ſtand in dem Augenblick, wo er glaubte aus ei-
nem Gefängniſs entſpringen zu können, in wel-
I
[130] chem er mit Unrecht ſals, aber aufgehalten wur-
de und die Hoffnung zur Freiheit auf immer ver-
lohr. Dem Kranken entwiſchte ſeit dieſem un-
glücklichen Zeitpunkt kein Wort, kein Seufzer
mehr. In ſeinen Gliedern, ſogar in ſeinen Au-
gen, war nicht die geringſte Bewegung ſichtbar.
Man hätte ihn für eine Bildſäule halten können.
In eilf Tagen nahm er nichts von Nahrungsmit-
teln zu ſich. Es wurden Verſuche gemacht, ihm
flüſſige Dinge durch Hülfe eines Trichters
einzugieſsen; aber umſonſt. Er gab alles ohne
Gefühl wieder von ſich und ſtarb wie einer ein-
ſchläft *). Ich ſah einmal eine andere, aber eben
ſo merkwürdige Wirkung der Furcht auf das
Muskelſyſtem. Ein reicher und rüſtiger Mörder
wurde unvermuthet in einer fremden Stadt durch
Steckbriefe entdeckt und in Verhaft genommen.
Er berauſchte ſeine Wächter mit Wein, daſs ſie
einſchliefen. Nun verſuchte er zu entfliehn und
konnte es. Denn das Haus ſtand gegen den Gar-
ten offen und dieſer war mit einer niedrigen
Mauer von etwan drey Fuſs Höhe eingeſchloſſen.
Allein am Morgen fand man ihn noch an derſel-
ben herumhüpfend und alle ſeine Anſtrengungen,
über dieſelbe zu ſetzen, waren umſonſt geweſen.
Eben dieſe Starrſucht, die wir bis jetzt in
den Vorſtellungsvermögen aufgeſucht haben, affi-
cirt auch das Bewegungsvermögen des Seelen-
[131] organs und wird dann eigentlich nur Catalep-
ſie genannt. Doch ſind beide Arten nahe ver-
wandt, wechſeln mit einander und begleiten gern
andere Geiſteszerrüttungen. Auch hat dieſe Ca-
talepſie des Bewegungsvermögens eben ſo man-
nichfaltige Modifikationen, als die Starrſucht der
Vorſtellungen, von welcher bis jetzt die Rede
war. Viele von denen, ſagt Haslam*) deren
Wahnſinn heftig iſt, wiederholen beſondere
Handlungen eine lange Zeit. Manche hört man
die Ketten, mit denen ſie angeſchloſſen ſind, Stun-
denlang ohne Aufhören ſchütteln. Andere, die
in einer aufgerichteten Stellung verwahrt ſind,
ſtampfen den gröſsten Theil des Tages mit den
Füſsen auf den Boden. Nachdem dieſe Kran-
ken wieder zu ſich gekommen ſind, verſichern
ſie, daſs die erwähnten einförmigen Handlungen
ihnen groſse Erleichterung verſchaffen. Tul-
pius**) ſahe eine Frau zu Campen, die be-
reits fünf Monate unaufhörlich bald mit dem rech-
ten, bald mit dem linken Arm auf ihre Knie
hämmerte, wie die Schmiede auf den Amboſs po-
chen, ſo daſs man ihr ein Kiſſen auflegen muſste,
damit ſie ſich nicht verwundete.
Kranke dieſer Art müſſen durch Ableitung
geheilt werden. Man reitzt eine ferne Region des
Seelenorgans, verſchafft demſelben dadurch Wech-
I 2
[132] ſel in ſeiner Thätigkeit und hebt durch die neu
erregte den Zug auf, auf welchen der Kranke
hinſtarrt.
2) Der obigen Krankheit ſtehen die Ideen-
züge und ihr höherer Grad die Gedankenjagd
entgegen. In derſelben leidet das Vorſtellungs-
vermögen an einem doppelten Gebrechen. Die
Ideen ſcheinen theils iſolirt und ohne Verknüp-
fung zu ſeyn, die ſie nach den Geſetzen der Aſſo-
ciation haben ſollten, theils folgen ſie ſich im
Verhältniſs mit dem Kraft-Maaſs des Kranken
ſo ſchnell, daſs es ihm an Weile fehlt, ſie feſtzu-
halten, zu beäugeln, zu vergleichen, zu trennen.
Es keimen Bilder der Erinnerung, neue Schöp-
fungen der Phantaſie und tolle und verwirrte Rai-
ſonnements auf, die die Seele weder fixiren noch
lenken kann. Sie gleicht einem Schiffe, das ſein
Ruder verlohren hat, und dem Spiele der Mee-
reswogen gezwungen folgen muſs. Die Phanta-
ſie hüpft ungezähmt, und mit wilder Schnellig-
keit von einem Gegenſtand auf den andern, ſo
daſs ihr regelloſes und raſches Spiel bald alle
Kräfte verzehrt. Bild auf Bild jagt ſich, Ideen
und Gedanken drängen ungerufen zu, aben-
theuerliche Geſtalten kommen aus dem Hinter-
grunde der Seele hervor, treiben losgebunden
umher und fliehen gleichſam wie leichte Körper
im Sturm, oder wie Hecken und Bäume beim
ſchnellen Fahren vorüber. Ihre Eile iſt ſo groſs,
daſs die Worte nicht Geſchwindigkeit genug ha-
[133] ben, ſie auszudrücken, das Gedächtniſs wenige
derſelben feſthalten kann. Meiſtens ſind ſie ohne
Einwirkung auf die Willenskraft. Der Verſtand
iſt paſſiver Zuſchauer, er ſtaunt oft über den ver-
wirrten Zuſtand ſeiner Oekonomie, ordnet gar
Mittel zur Heilung an, aber ohne Erfolg. Di-
rect ſind wir zwar eigentlich nie Meiſter unſerer
Vorſtellungen; aber uns ſtehen indirekte Mittel
zu ihrer Leitung zu Gebote. Wir ändern nem-
lich die Objekte und erregen neue Ideenreihen,
durch welche die vorhandenen modificirt oder
getilgt werden. Dieſe Mittel verſagen aber in
dem vorliegenden Fall ihren Dienſt.
Ideenjagden kommen ſelten einfach, mei-
ſtens in Geſellſchaft anderer Nervenkrankheiten,
namentlich im Wahnſinn und beſonders in der
Tobſucht und in der Narrheit vor. Der
Tobſüchtige handelt ohne Zuſammenhang ſeiner
Handlungen mit Vorſtellungen, ohne ſich eines
Zwecks derſelben klar bewuſst zu ſeyn. Daran
iſt freilich hauptſächlich der blinde Willensdrang
ſchuld. Doch ich habe groſsen Verdacht, daſs
ein iſolirter Zuſtand ſeiner Vorſtellungen und
ihre ſchnelle Flucht auch einigen Antheil an den
Aeuſserungen ſeiner Krankheit haben. Er han-
delt im Gefolge des Stoſses einer Idee, die aber
ſo ſchnell von einer andern verdrängt wird, daſs
er zur Zeit der Handlung kein Bewuſstſeyn der-
ſelben mehr hat. Auch in der Narrheit finden
wir dies ſchnelle Treiben unzuſammenhängender
[134] Vorſtellungen. Pinel*) erzählt von einem ſol-
chen Kranken, der mit raſcher Geſchwätzigkeit
von ſeinem Hut, von ſeinem Weibe, von Dol-
chen, Säbeln, entmaſteten Schiffen und grünen
Wieſen ſprach, und deswegen ſo wenig Beſon-
nenheit hatte, daſs er die dringendſten Bedürfniſſe
nicht vorſtellte, nicht aſs, wenn ihm die Nah-
rungsmittel nicht in den Mund gefteckt wurden.
Einige von Geiſteszerrüttungen Geneſene, ſagt
Haslam**), beſchreiben ihre Verwirrung als
mit groſser Eile des Geiſtes verbunden. Die
Ideen, ſagten ſie, ſeyen ſo ſchnell vorüber geeilt,
daſs der nachgeſtürzte Strom anderer jeden Ge-
danken augenblicklich weggeführt habe, den ſie
feſtzuhalten ſich bemüht hätten. Einem Nerven-
kranken war es, als wenn alle Büchſen der Apo-
theke auf einer groſsen Kurbel geleimt wären,
die mit unglaublicher Geſchwindigkeit gedreht
würde. Die Büchſen mit ekelhaften Ingredien-
zien machten ihm Erbrechen. Um ſich in dieſem
Strudel zu halten, muſste er es ſich lebhaft vor-
ſtellen, als ſey er in eine unterirdiſche Kluft ein-
geſperrt, die von Drachen bewacht würde.
Eben dieſe verwirrte Eile in der Erzeugung
der Vorſtellungen wird auch in dem Theile des See-
lenorgans gefunden, der die Bewegungen erzeugt.
Und es iſt ſonderbar, daſs dieſe Flucht der Vor-
[135] ſtellungen und Bewegungen in dem nemlichen In-
dividuum, mit der vorher erwähnten Catalepſie
abwechſelt. Eben die vornehme Dame, von der
ich oben geſagt habe, daſs ſie Tagelang einerley
Worte ausſprach, oder auf einem Fleck feſtſtand,
hatte zu andern Zeiten Anfälle des Veitstanzes,
wo ſie Stundenlang mit unglaublicher Schnellig-
keit herumhüpfte und an die Wände aufſprang.
So erzählt Tulpius*) von einem Verrückten,
der wie Queckſilber in ewiger Bewegung war,
Tag und Nacht lief, bis er vor Schweiſs zerfloſs
und nicht eher ruhte, als wenn ihn der Schlaf
überwältigte. Die nemliche zweckloſe Mobilität
beobachtete Pinel**) an einem ſeiner Kranken.
Dieſer Menſch, ſagt er, beläſtiget mich und an-
dere mit einem überſchwänglichen Gewäſche.
Wenn er in ein Zimmer kommt, ſo rückt und
kehrt er alle Meubeln von der Stelle, befaſst
Tiſche und Stühle mit den Händen, hebt ſie auf
und ſchleppt ſie von einem Ort zum andern, oh-
ne dabey durch irgend einen feſten Vorſatz gelei-
tet zu werden. Man hat kaum ſeine Augen wegge-
wendet, ſo iſt er ſchon auf dem nächſten Spatzier-
gange in eben der unruhigen Bewegung, er ſtam-
melt einige Worte, räumt Steine weg, rauft
Kräuter ab, die er wieder hinwirft, um andere
zu pflücken; er kommt, geht, kehrt wieder.
[136]
Was ſoll der Kranke bey dieſen Ideenjagden
zu ſeiner Haltung thun? Er muſs es im Anfall
verſuchen, laut und langſam zu leſen. Dies
Hülfsmittel heftet die in der Irre herumſchwär-
mende Phantaſie auf eine beſtimmte Gedanken-
reihe, vertheilt die Nervenkraft durch die Bewe-
gung ſo vieler Organe gleichmäſsiger und zer-
ſtreut ihre Anhäufung an einem Orte auf mehrere
Gegenden des Nervenſyſtems. Gelingt ihm kei-
ne Rede aus eignen Kräften mehr, ſo ſoll er be-
kannte Reime recitiren, die Finger zählen, an-
fangs einfache Gegenſtände langſam, ſofern dabey
vom Ausſprechen die Rede iſt, in der Folge zu-
ſammengeſetzte Dinge ſchneller nennen. In noch
kritiſchern Augenblicken, wo er nicht einmal
mehr im Stande iſt, viele Sylben im Zuſammen-
hang auszuſprechen, muſs er ſich auf ein Object
(Tiſch, Stuhl) fixiren, das mit einer Sylbe aus-
geſprochen wird, und zugleich dem Auge daſſel-
be vorhalten. Iſt der Anfall ſo heftig, daſs die
Sprachorgane und die Faſſungskraft für die Re-
den anderer gelähmt ſind; ſo ſoll der Kranke
durch eine ſinnliche Anſchauung, die keiner ſo
zuſammengeſetzten Kraft als die Ausſprache ei-
nes Worts bedarf, den wilden Strom der Ideen
aufhalten. Dergleichen Hülfsmittel ſind z. B.
Anſchauungen frappanter Gegenſtände, fremder
Thiere, durchziehender Truppen, oder ein leich-
tes Spiel im Brett, das Abſchreiben einer Vor-
ſchrift, das Couvertiren intereſſanter Briefe, der
[137] Händedruck eines Freundes, pantomimiſche Spie-
le mit den Kindern, die Muſik. Iſt der Kranke
verrückt und daher keiner eigenmächtigen Ent-
ſchlüſſe zu ſeiner Heilung fähig: ſo ſuche man
ihn durch ſtarke und ſinnliche Eindrücke ge-
zwungen auf einen Punkt zu fixiren.
§. 14.
Nach dieſen vorläufigen Digreſſionen ver-
ſchiednen Inhalts rücke ich der Anwendung der
pſychiſchen Curmethode auf Geiſteszerrüttungen
näher, und erwähne vorher noch der Aufgabe,
welche Geiſteszerrüttete für dieſe
Methode vorzüglich geeignet ſind?
Seelenkrankheiten müſſen bald durch die
pſychiſche, bald durch die körperliche Curme-
thode, bald durch beide zugleich behandelt wer-
den. Wir müſſen bald mit der einen, bald mit
der anderen den Anfang machen, je nachdem
der Körper oder die Seele zuerſt litt, dieſer oder
jener Theil des Menſchen hervorſtechend affi-
cirt iſt.
Wer ſich daher mit der Heilung der Seelen-
krankheiten befaſſen will, ſey beides, Arzt der
Seele und Arzt des Körpers, damit er beide Na-
turen des Menſchen umfaſſe, ihren gegenſeitigen
Einfluſs richtig ſchätze und die Kette von Krank-
heiten an der Quelle entdecke, wo ſich die erſte
entſponnen hat. Der bloſse Seelenarzt trifft
ſchwerlich den rechten Zeitpunkt, wo er mit
[138] Vortheil pſychiſch wirken kann, überſieht die
kranke Anlage des Gehirns, die körperlichen
Reize, die daſſelbe gezwungen erregen und da-
durch zuletzt ſeine normale Dynamik umſtürzen.
Wie kann ihm die pſychiſche Cur eines fixen
Wahns gelingen, der vom Einfluſs kranker Ner-
ven und geſchwächter Eingeweide aufs Gehirn
entſpringt? Wie iſt er im Stande, das Kraftmaaſs
des Körpers richtig zu ſchätzen, daſſelbe durch
den Proceſs der Vegetation zu vermehren oder
herunterzuſtimmen? Er ſtürmt daher mit pſychi-
ſchen Reizen, und ſetzt das matte Gehirn in con-
vulſiviſche Erſchütterungen, die es in eine Aſthe-
nie ſtürzen, aus welcher es nie wieder hervor-
gezogen werden kann. Ihm ſind endlich die
Mittel unbekannt, den Ton des geſchwächten
Nervenſyſtems wieder herzuſtellen. Daher Rück-
fälle nach beendigter Cur.
Eben ſo unfähig iſt der bloſse Körperarzt
zur Heilung der Geiſteszerrüttungen. Er kann
ſie nur umgehen, aber dieſelben nie direct an-
greifen. Denn dies iſt allein durch die pſychi-
ſche Curmethode möglich. Es iſt ein empören-
des Schauſpiel, wenn man zuſieht, wie übel der
handfeſte Empiriker mit ſeinen Geiſteskranken
umſpringt. Gleich einem blinden Maulwurf
wühlt er ſich in ihre Eingeweide ein, und ſucht
die Seele auf, wo die Natur die Werkſtätte für
die niedrigſten Operationen der Thierheit ange-
legt hat. Deklinationen des Denkvermögens will
[139] er durch Verdünnung eines atrabilariſchen Bluts
und durch Schmelzung ſtockender Säfte im Pfort-
aderſyſtem berichtigen, Seelenſchmerz mit Nieſe-
wurz und verkehrte Gedankenſpiele mit Kliſtir-
ſprützen bekämpfen. Wehe dem Ebenbilde Got-
tes, das unter einen ſolchen Hobel fällt!
Wenn alſo der Wahnſinn nicht protopathiſche
Krankheit, nicht von moraliſchen Urſachen ent-
ſtanden iſt, wenn das Gehirn durch Reize der
phreniſchen Gegend, des Sonnengeflechts, der
Geburtstheile erſchüttert wird, oder es der Ve-
getation überhaupt an Stoff zur Verarbeitung
fehlt, ſo wirke man zunächſt körperlich auf den
Körper, und entferne dieſe Zuſtände aus der
Organiſation, durch welche das Seelenorgan er-
krankt. Doch ſcheint ſelbſt dieſe körperliche
Curmethode mehr Salz nöthig zu haben, als ihre
Handhaber in den Tollhäuſern ihr zu geben
wiſſen. Ich unterſcheide einen ätheriſchen Stoff,
eine beharrliche Materie und deren Organiſation.
Das gasförmige Fluidum iſt beweglicher Natur,
ſtrömt zu und zerſtreut ſich wieder, hängt der
beharrlichen Materie als + oder — in entgegen-
geſetzten Richtungen an, und begründet dadurch
einen Antagoniſmus benachbarter Syſteme, der
ſich durch Handlungen wieder ins Gleichgewicht
zu ſtellen ſtrebt. Von demſelben ſcheint vor-
züglich die Conſpiration aller Organe zu einem
Zweck, die Begründung neuer Sympathieen
durch die Gewohnheit, und die bewegliche Tem-
[140] peratur der Kräfte in der Organiſation, mit
welcher ihr Wirken in Verbindung ſteht, ab-
zuhängen. Wenn in dieſem Stoffe ein Miſs-
verhältniſs obwaltet, das auf Geiſteszerrüttun-
gen hinwirkt, ſo müſſen wahrſcheinlich Elek-
tricität, Galvaniſmus, Magnetiſmus, Gefühle,
Ideen und andere ſubtile Mittel zur Wie-
derherſtellung des Gleichgewichts angewandt
werden. Der Krampffiſch verliert ſein Vermö-
gen zu elektriſchen Schlägen, wenn man ihn mit
einem Magneten in Verbindung bringt. Es iſt
ein bekanntes Küchen-Phänomen, den Aal durch
einen Schlüſſel oder ein Stahl, den man ihm an
den Kopf legt, zur Ruhe zu bringen. Er liegt
ſtill, als wenn er todt wäre, und windet und
wälzt ſich wieder, wenn man den Stahl weg-
nimmt. Noch ſtärker wirkt der Magnet auf ihn.
Er kömmt augenblicklich an den Rand des Ei-
mers, worin er iſt, wenn man den Magneten in
ſeine Atmoſphäre bringt, thut ängſtlich und
bläſt die Kehle auf *). Wienholt**) hat
ſchon den Galvaniſmus auf Blödſinn und Geiſtes-
ſtumpfheiten angewandt und Gmelin***) heilte
[141] durch den thieriſchen Magnetiſmus einen perio-
diſchen Wahnſinn. Die Kranke war ein Mäd-
chen von zwanzig Jahren. Ihre Anfälle begannen
mit einer glühenden Hitze auf dem Wirbel des
Kopfs und mit Kälte in der Peripherie; dann
ſprach ſie verwirrt, ſang, ſchrie, lärmte und
trieb läppiſche Poſſen. Nun magnetiſirte Gme-
lin ſie, aber auſser den Paroxiſmen. In den
Criſen ſagte ſie die Zahl der Anfälle, die Zeit
ihrer Geneſung voraus und beſtimmte die Arz-
neien, die ihrer Krankheit angemeſſen wären. Nur
einmal magnetiſirte er ſie unmittelbar im Paroxis-
mus. Ein artiſtiſcher Strich mit ſeiner Hand war
hinlänglich, ſie in einem Augenblick zum vollen
Verſtande zu bringen. Allein er verſetzte ſie
gleich wieder durch ein entgegengeſetztes Ma-
növre in den Zuſtand der Verrücktheit. Sie
ſagte nachher in einer ihrer Criſen aus, daſs die
neulich mit Gewalt erzwungene Beſonnenheit ihr
das Leben gekoſtet haben würde, wenn ſie nicht
ſchnell wieder in ihre Krankheit zurückgeworfen
wäre. Dann giebt es Anomalieen in der beharrlichen
Materie, die auf die Funktion des Seelenorgans
Einfluſs haben. Entweder ſie beharrt gleichſam
in dem urſprünglichen Zuſtande ihres Entſtehens,
wo ſie mit Waſſer überladen iſt; das Nervenmark
iſt zu weich, die Muskelfaſer zu dehnbar, die
Galle fade und das Generationsſyſtem ohne Ener-
gie. Oder ſie iſt von entgegengeſetzter Beſchaf-
fenheit. Der Eiweiſs- und Faſer-Stoff ſind zu
[142] dicht und zu trocken, alle Faſern geſpannt, die
Geſchlechtstheile ſehr reizbar und die Galle iſt
bitter. In dieſem Zuſtande haben die Menſchen
raſche und ſtarke; in jenem träge und kraftloſe
Senſationen. Hier ſind ſie zur Narrheit und zum
Blödſinn; dort zum fixen Wahn und zur Tob-
ſucht geneigt *). Allein ſchwerlich möchte es
uns gelingen, dieſe Anomalieen in der beharrli-
chen Materie mit einem compendiöſen Griff durch
ein franzöſches petit lait oder durch ein Brown’-
ſches Cordiale aus Opium und Brantwein zu he-
ben. Zuverläſſig müſſen wir hier durch die Ve-
getation wirken; dieſe dadurch leiten, daſs wir
ſie mit allen Auſsenverhältniſſen des Individuums
in das zweckmäſsigſte Gleichgewicht ſtellen. Wir
müſſen auf die Lungen und Verdauungsorgane,
auf die Ausgabe und Einnahme in der Organi-
fation aufmerkſam ſeyn, das Regime in Anſe-
hung der Luft, der Nahrung, der Bewegung und
des Schlafs richtig beſtimmen und durch Bäder,
Salbungen, Reibungen u. ſ. w. wirken. Endlich
iſt die Organiſation abhängig von der Vegetation,
und ihre Fehler ſind unheilbar, wenn ſie durch
dieſelben nicht gehoben werden können.
Indeſs muſs ſelbſt in ſolchen Fällen, wo die
arzneiliche Curmethode erſtes Bedürfniſs iſt, die
pſychicſhe, wenigſtens das phyſiſcheRegime, ihr zur
[143] Seite geſtellt werden. Beide Methoden bieten ſich
ſchweſterlich die Hand. Das angegriffene Gehirn
bekömmt zuweilen ſeinen Ton von ſelbſt wieder,
wenn ſeine ſtürmiſchen Bewegungen gedämpft ſind;
oder der Geiſt kehrt durch ſich zur Ordnung zu-
rück, wenn der körperliche Reiz beſeitiget iſt,
der ſein Organ ohne Nachlaſs peinigte. Wenn
auch die Kranken zu ſaftreich oder zu blutarm,
zu ſtumpf oder zu reizbar ſind, oder ihr Gehirn
mittelbar oder unmittelbar von fremden Körper-
Reizen afficirt wird und ſie daher vorzüglich
der körperlichen Curmethode bedürfen, ſo wird
dieſelbe doch, ſelbſt in dieſem Fall, da ſie ſich
nie auf die Geiſteszerrüttungen ſelbſt, ſondern
bloſs auf ihre Anlagen und Gelegenheiten bezieht,
ungemein durch eine zweckmäſsige pſychiſche Be-
handlung gefördert werden. Es iſt ſogar nicht
unmöglich, daſs Kranke mit unheilbaren Des-
organiſationen, in und auſser dem Gehirn, durch
pſychiſche Curen von ihrem Wahnſinn geheilt
werden können. Dieſe ſind nemlich nicht die
Krankheit (zureichende Urſache der Symp-
tome), ſondern nur Veranlaſſung zu ihrer Ent-
ſtehung. Ein zerſtörter Gehirntheil iſt kein Ge-
hirn mehr, alſo auch nicht mehr im Stande, deſ-
ſen normale oder abnorme Funktion auszuüben,
d. h. Vorſtellungen zu erzeugen. Der Wahnſinn
hat in dieſem Fall nicht in den zerſtörten, ſon-
dern in den ſcheinbar unverletzten Theilen des
Gehirns ſeinen Sitz. Daher werden auch häufig
[144] Menſchen mit Desorganiſationen im Gehirn ge-
funden, ohne daſs ſie verrückt ſind. Man muſs
ſogar in ſolchen Fällen, wo die entfernte Urſache
unheilbar iſt, ſein Augenmerk allein auf den Geiſt
richten, die Heftigkeit der Anfälle zu mindern,
ſie ganz zu verhüten ſuchen. Durch dieſe künſt-
lich bewerkſtelligte Ruhe ſchwindet die kranke
Irritabilität, in welcher der Wahnſinn gegründet
iſt; ſie erlöſcht von ſelbſt, wenn ſie nicht durch
wiederholte Eruptionen von neuem wieder ange-
zündet wird. Hieraus erhellt alſo, daſs über-
haupt genommen alle Geiſteszerrüt-
tete, die noch als heilbar anerkannt
werden, für die pſychiſche Curmetho-
de geeignet ſind. Doch müſſen ſolche Gei-
ſteszerrüttungen, die von Leidenſchaften, An-
ſtrengungen der Seele und anderen moraliſchen
Urſachen entſprungen, einfach und rein dyna-
miſch (ab intemperie immateriali), alſo ohne
Fehler und ſichtbare Desorganiſationen in der be-
harrlichen Materie ſind, ganz allein durch die
pſychiſche Curmethode behandelt werden. End-
lich ſcheint es, daſs der fixe Wahnſinn mehr als
die Tobſucht, Narrheit und der Blödſinn für ſie
geeignet ſey.
§. 15.
Curen ſind überhaupt, alſo auch pſychiſche
Curen nicht ohne Mittel (Werkzeuge) möglich.
Die Mittel, durch welche der Arzt pſychiſch
wirkt,
[145] wirkt, werde ich pſychiſche Mittel nennen,
um ſie von den Arzneien und chirurgiſchen Mit-
teln zu unterſcheiden. Dies Prädikat lege ich
ihnen aber keinesweges in Rückſicht deſſen, was
ſie an ſich ſind, ſondern bloſs in Beziehung ihrer
Wirkungen auf den Menſchen bey, ſofern ſie
nemlich deſſen Krankheiten durch zweckmäſsige
Veränderungen ſeiner Seele zu entfernen im Stan-
de ſind. Denn an ſich können ſie körperlicher
oder unkörperlicher Natur ſeyn. Einige derſel-
ben ſind materielle Subſtanzen, durch welche
der Arzt den Körper auf eine ſo beſtimmte Art
verändert, daſs die Seele ſeine Zuſtände vermit-
telſt des Gemeingefühls unter der Form der Luſt
oder des Schmerzes wahrnehmen muſs. Dieſe Zu-
ſtände hervorzubringen und die Seele zu nöthigen
dieſelben zu beachten, ſcheint der hauptſächlichſte
Zweck zu ſeyn, den wir durch ihre Anwendung
beabſichtigen. Weniger iſt auf die Fortpflanzung
und Ausbreitung der Erregungen im Seelenorgan
und auf die unmittelbare Wahrnehmung der Mit-
tel ſelbſt berechnet. Andere pſychiſche Mittel
ſind Reize für die Sinnorgane, die in Rückſicht
des beabſichtigten Zwecks mit den vorigen im um-
gekehrten Verhältniſs ſtehn. Durch ſie ſuchen
wir die Seele nicht ſowohl zur Wahrnehmung ihres
veränderten Körperzuſtandes, ſondern vielmehr
zur Anſchauung der vorgeſteckten Objekte zu
nöthigen und durch die Anſchauung das geſamm-
te Spiel ihrer Kräfte zu erregen. Andere ſind
K
[146] endlich künſtliche Zeichen, die wir dem äuſse-
ren Sinn mittheilen, um dadurch beſtimmte
Vorſtellungen, Einbildungen, Begriffe und Ur-
theile in der Seele zu wecken. Bey den beiden
letzten Klaſſen pſychiſcher Mittel iſt es vorzüglich
auf eine allgemeine Erregung des Vorſtellungs-
vermögens und auf die Erregung der Gefühle und
Begierden des Kranken durch daſſelbe angeſehn.
Eben ſo iſt es auch in Rückſicht des Begriffes
pſychiſcher Mittel gleichgültig, was durch ſie ge-
heilt wird, Krankheiten der Seele, oder Krank-
heiten des Körpers, wenn es nur durch erregte
Veränderungen in der Seele geſchieht. Denn
der Menſch kann auch durch die Macht des Vor-
ſatzes ſeiner körperlichen Leiden Meiſter werden.
Daher iſt nicht derjenige Künſtler ein Seelen-
arzt, welcher durch pſychiſche Mittel wirkt,
ſondern bloſs der, welcher Seelenkrankheiten
heilt, auf welchem Wege dies auch geſchehen
mag.
Die pſychiſchen Mittel ſollten wir, neben
den chirurgiſchen und chemiſchen Heilmitteln in
jeder Heilmittellehre, als dritter Theil derſelben,
und auſserdem noch in jeder empiriſchen Pſycho-
logie zum Behuf für praktiſche Aerzte finden.
Allein an beiden Orten ſuchen wir ſie umſonſt.
Was wir davon in kaſuiſtiſchen Geſchichten ge-
heilter Seelenkrankheiten antreffen, ſind Bruch-
ſtücke, die daſelbſt nicht vollendet ſind, ſondern
dies von der Heilmittellehre erwarten, für wel-
[147] che ſie als Materialien eingeſammlet werden kön-
nen. Es verdiente daher dieſer noch rohe Stoff,
den ich hier nur im Vorbeigehn und nur ſo weit
berühre, als er innerhalb meiner Sphäre liegt,
es wohl, daſs er zu ſeinem eigenthümlichen
Zwecke beſonders bearbeitet würde.
Wir ſchreiben den pſychiſchen Mitteln ab-
ſolute Kräfte, ſofern wir ſie an ſich, und
relative Wirkungen zu, ſofern wir das
Product ihrer Kräfte in den Menſchen anſchauen.
Beſſer, wir beziehn das Product auf ſeine Fakto-
ren, auf jeden deſſelben, nemlich auf das pſy-
chiſche Mittel und auf die Empfänglichkeit der
Seele für daſſelbe, das, was ihm angehört.
Daher iſt es ſo ſchwer, ja zum Theil unmöglich,
die Gröſse dieſer Faktoren, welche nur im
Conflict ſichtbar wird, auſser demſelben, nach
einer allgemeinen Idee, zu ſchätzen. Der gröſste
Theil der Kräfte und Eigenſchaften pſychiſcher
Mittel iſt uns bey ihrer Würdigung in der Heil-
mittellehre, gleichgültig. An einem Feuerbrande,
mit dem wir uns einem Irrenden nähern, um
ihn zu ſchrecken, intereſſirt uns bloſs das aus-
ſtrömende Licht, durch welches er dem Auge
wahrnehmbar wird. Sein Material, die Einwir-
kung des Sauerſtoffs auf die combuſtible Materie
und die Intenſität ſeiner Hitze geht uns gar nichts
an. Sind die pſychiſchen Mittel vollends geiſti-
ger Natur, ſo iſt es ganz unmöglich, dieſe un-
körperlichen Gröſsen an einen körperlichen
K 2
[148] Maaſsſtab zu meſſen. Was iſt die Erſchütterung
der Luft von einem ausgeſprochenem Worte an
ſich, wenn ſie nicht wahrgenommen, mit ihr
keine Idee, kein Begriff verbunden wird? Wir
müſſen daher das pſychiſche Mittel, um die Grö-
ſse ſeiner Kraft auszumitteln, in dem Moment
ſeines Einwirkens auf die Seele beobachten. Bey
dieſen Verſuchen erhalten wir aber ſo verſchiedne
Reſultate als die Potenzen verſchieden ſind, die
wir mit einander in Conflict bringen. Nun kön-
nen wir zwar das pſychiſche Mittel, wenigſtens
zum Theil, auf eine beſtimmte Qualität und
Quantität fixiren; aber von Seiten des Seelen-
organs iſt dies mit gröſserer Schwierigkeit ver-
bunden. Denn daſſelbe exiſtirt in einem ſo
hohen Grade individualiſirt, daſs es ſchwer wird,
von demſelben eine allgemeine und fixe Norm ſeiner
Receptivität abzuſondern, die wir als eine be-
ſtimmte Gröſse mit dem pſychiſchen Mittel zu-
ſammenſtellen könnten. In der Arzneimittel-
lehre und Akologie helfen wir uns dadurch, daſs
wir von der individualiſirten Empfänglichkeit
eine allgemeine Norm abziehn und dieſe als
feſten Punkt im Conflict mit den abſoluten
Kräften des reſpektiven Mittels aufſtellen. Eini-
gen, beſonders mechaniſchen Mitteln können
wir einen ſolchen Grad abſoluter Kraft beilegen,
daſs ſie jede Reſiſtenz zu überwinden im Stande
ſind und dieſe dadurch in der Expoſition ihrer
Wirkungen gleichgültig wird. Allein die pſy-
[149] chiſchen Mittel ſind gröſstentheils alle von be-
ſchränkterer Wirkſamkeit und das Seelenorgan
iſt in dem nemlichen Grade, als es am weiteſten
von der todten Natur entfernt liegt, ſtärker
individualiſirt als der übrige Körper und beſon-
ders iſt ſeine dynamiſche Temperatur in Geiſtes-
zerrüttungen, von welchen hier die Rede iſt, ſo
veränderlich, daſs es ſchwer wird, von demſel-
ben eine feſte Norm ſeiner Receptivität abzuſon-
dern. Der Arzt muſs ſich daher mit den allge-
meinſten Beziehungen der abſoluten Kräfte
pſychiſcher Mittel auf die Empfänglichkeit der
Seele begnügen, dem Studium der individuellen
Nervenorganiſationen eifrig obliegen, beide nach
den Regeln der Wahrſcheinlichkeit, mit Hülfe
ſeiner praktiſchen Fertigkeit, ſich gegenſeitig an-
paſſen, und nach dem Erfolg es beurtheilen, in
wiefern er ſich für Fehlgriffe verwahrt habe.
So wie es für die Arzneien und chirurgi-
ſchen Mittel eigene Wege, nemlich die äuſsere
Fläche des Körpers und die Zugänge zur innern
giebt, durch welche es allein möglich iſt, ſie
mit dem Körper in Gemeinſchaft zu bringen, ſo
auch für die pſychiſchen Mittel. Sie müſſen der
Seele durch das Gemeingefühl und die
Sinnorgane, als den einzigen Zugängen zu
ihr, mitgetheilt werden. Davon iſt aber der
Kranke ausgenommen, der ſein eigner Seelenarzt
iſt. Dieſer bedarf keiner Mittheilung von auſsen,
ſondern er langt die Mittel zu ſeiner Geneſung aus
[150] ſich ſelbſt hervor, oder ſondert ſie ab von den
Beobachtungen, die er über ſeine eigene Perſon
anſtellt.
Die pſychiſchen Mittel wirken durch
Handlungen, die ſie im Nervenſyſtem erregen.
Handlungen deſſelben modificiren ſeine
Kräfte, die durch Heilmittel erregten
modificiren ſie auf eine ſo beſtimmte
Art, daſs dadurch das dynamiſche
Verhältniſs des Seelenorgans, wel-
ches in Geiſteszerrüttungen krank iſt,
rectificirt und der Zweck der Gene-
ſung erreicht wird. Wie dies durch Hand-
lungen im Nervenſyſtem möglich ſey? Ob durch
ſie den Strömungen des thieriſch ‒ elektriſchen
Fluidums eine andere Richtung gegeben; daſſelbe,
wo es ſich anhäuft, zerſtreut; es in ſeine ver-
ſchiedenen Polaritäten geſpalten und in der Mitte,
als in einem Indifferenzpunkt, aufgehoben werden
könne? Ob im fieberhaften Irrereden, in der Tob-
ſucht und in einigen Arten der Catalepſie des
Vorſtellungsvermögens wirklich dieſer Zuſtand
obwalte? Ob auf denſelben auch direct durch
den Galvaniſmus und Magnetiſmus gewirkt wer-
den könne? darüber enthalte ich mich alles Ur-
theils, da die mangelhaften Thatſachen es nicht
verſtatten, über Muthmaſsungen hinausgehen.
Unmittelbar können die pſychiſchen Mittel bloſs
an der Grenze, in die Nervenenden des Gemein-
gefühls und der Sinnorgane, einflieſsen. Daſelbſt
[151] wird ihre Wirkung, ſofern ſie ihnen direct ange-
hörig iſt, vollendet. Alles übrige iſt eigenmäch-
tige Thätigkeit des Nervenſyſtems. Die in ſeinen
Spitzen angefangene Erregung geht zum Gehirn,
breitet ſich darin aus und wird als thätiges Beſtre-
ben zum Handeln wieder zur Grenze zurückge-
worfen. Wir ſind alſo nur im Stande, dieſen
Kreislauf in der Nervenorganiſation ſo weit zu
modificiren, als er von dem äuſsern Impuls ab-
hängig iſt. Seine fernere Ausbildung richtet ſich
ganz und gar nach der eigenthümlichen Conſtitu-
tion desjenigen Nervenſyſtems, in welchem er
wirklich wird. Mit derſelben müſſen daher vor-
züglich alle pſychiſchen Mittel in ein richtiges
Verhältniſs gebracht werden.
Es kommt alſo bey der Schätzung der Kräfte
pſychiſcher Mittel vorzüglich auf eine richtige
Beſtimmung der verſchiedenen Receptivität aller
individuellen Nervenorganiſationen an, die in die
Sphäre unſerer Behandlung treten. Ich übergehe
dieſe groſse Mannichfaltigkeit und will gegenwär-
tig nur auf eine ihrer Differenzen aufmerkſam
machen. Unſere Kranke ſind entweder mündig
oder unmündig. Beide müſſen bey einerley
Krankheit durch einen ganz verſchiedenen Inbe-
griff von Mitteln behandelt werden. Der mün-
dige Kranke erkennt entweder ſelbſt die rich-
tige Beziehung des vorgeſchlagenen Curplans auf
ſeinen Zuſtand, oder vertraut ſie der Geſchicklich-
keit ſeines Arztes und wendet denſelben in dieſer
[152] Ueberzeugung nach einer Maxime der Vernunft
an, die in Krankheiten Hülfe zu ſuchen, das
Nützliche zu wollen und das Schädliche zu mei-
den gebietet. Er hat das Vermögen ſich ſelbſt zu
beſtimmen, bedarf alſo keines äuſsern Zwangs
und kann deswegen von Mitteln Gebrauch ma-
chen, die ihrer Natur nach, keinem Zwang
unterworfen werden können. Ihm iſt es möglich,
ſeinen Geiſt im Conflict mit den gewöhnlichen
Potenzen, die auf ihn einwirken, eigenmächtig
zu halten, wie es dem Zweck ſeiner Geneſung
angemeſſen iſt. Er kann endlich durch eine
höhere Ordnung pſychiſcher Mittel, die auf den
Anbau des Verſtandes wirken und dadurch der
Freiheit des Willens einen ausgedehnteren Spiel-
raum verſchaffen, behandelt werden. Ganz
anders verhält es ſich mit Menſchen, die dumm
und krank am Geiſte und daher unmündig
ſind. Dieſen fehlt das Vermögen zu einer ver-
nünftigen Selbſtbeſtimmung. Sie müſſen alſo faſt
in jedem Moment durch äuſsere Verhältniſſe, die
auf die Sinnlichkeit wirken, gehalten, d. h. durch
Zwang beſtimmt werden, das zu thun, was ſie
thun ſollen. Wir ſtellen Luſt dem Guten,
Schmerz dem Böſen zur Seite, ziehn dadurch das
Begehrungsvermögen mit jedem Schritt an die
rechte Bahn heran und nöthigen die Sinnlichkeit,
das zu wollen, was der Verſtand billigt. Sofern
der Kranke von dem Zweck dieſes Verfahrens
unterrichtet iſt, wird er durch Belohnungen
[153] und durch Strafen gezogen. Dies ſind die
nemlichen Grundſätze, die Aeltern in der Zucht
ihrer Kinder und den Staat in der Regierung der
meiſtens unmündigen Volksmaſſe leiten müſſen.
Das Problem der Erziehung iſt alſo dadurch noch
nicht vollſtändig gelöſt, daſs wir ſolche äuſsere
Einflüſſe aufſtellen, durch welche es überhaupt
möglich iſt, böſe Anlagen auszurotten und gute
zu Fertigkeiten zu entwickeln; ſondern beide
Momente müſſen ſich auch verwandt ſeyn, oder
durch ein dazwiſchen geſtelltes Aneignungs-
Mittel ſich verwandt gemacht werden. Da ich
gegenwärtig von der Cur verrückter, alſo un-
mündiger Kranken ſpreche, die ſich durch die
Macht des Vorſatzes nicht ſelbſt beſtimmen kön-
nen, ſo werde ich mich vorzüglich auf ſolche
Mittel einſchränken müſſen, die zur Heilung die-
ſer Patienten geeignet ſind.
Pſychiſche Mittel ſind Reize, die als ſolche,
nichts weiter als das Gemeingefühl
und die Sinnorgane erreichen. Wie ge-
langen ſie aber auf dieſen Wegen zur Seele?
Welche Vermögen derſelben afficiren ſie direct?
welche indirect? Einige pſychiſche Mittel werden
mit dem Körper in unmittelbare Gemeinſchaft
gebracht, wirken aufs Gemeingefühl, erregen
direct nichts als körperliche Luſt oder Unluſt
und werden ſelten ſelbſt, als Objekte auſser uns,
wenigſtens nicht durchs Gemeingefühl wahrge-
nommen. Dahin möchte ich ſelbſt den Geruch
[154] und Geſchmack rechnen, deren Erregungen wir
ſchwerlich für etwas mehr als für reine Modifi-
kationen unſers Ichs halten würden, wenn das
Geſicht und das Gefühl uns nicht überzeugten,
daſs ſie ein Object auſser uns hätten. Andere
pſychiſche Mittel ſind reale Objekte oder Zeichen
und Symbole von Objekten, Vorſtellungen, Be-
griffen und Urtheilen, die den Sinnen mittelbar
durch Luft und Licht mitgetheilt werden. Dieſe
wirken direct unbedeutend, aber deſto mehr in-
direct, durch Anſchauungen, Imaginationen,
Begriffe und Urtheile, die ſie in dem Vorſtel-
lungsvermögen erregen. Die erregten Modifika-
tionen des Vorſtellungsvermögens bringen geiſtige
Gefühle und Leidenſchaften verſchiedener Art
hervor, und im Gefolge derſelben entſtehn eigene
Begierden, die den Menſchen beſtimmen, nach
auſsen zu wirken.
Während dieſes Vorgangs im Seelenorgan
ereignet ſich manches im Nervenſyſtem, was ganz
körperlich iſt. Die unmittelbar aufs Gemeinge-
fühl einwirkenden Reize, in deren Gefolge nichts
weiter als körperliche Luſt oder Schmerz ent-
ſteht, die Erregungen in den Sinnesnerven von
der Grenze bis zum Seelenorgan, die Oscillatio-
nen der Fibern des Gehirns zur Zeit ſeiner Thä-
tigkeit, die Reflexionen der Hirnwirkungen auf
die Bewegungsnerven, ſind, ſofern wir von den
gleichzeitigen Vorſtellungen abſehen, ganz kör-
perlich, und gehören daher auch nicht eigentlich
[155] unter die pſychiſchen Wirkungen. Doch ſind ſie,
beſonders die konvulſiviſchen Erſchütterungen
im Gemeingefühl, Modifikationen in dem Zu-
ſtande des Nervenſyſtems, durch welche neue
Beziehungen, Fertigkeiten und andere Strömun-
gen des animaliſchen Fluidums zu Stande kom-
men können. Allein dies iſt die niedrigſte, faſt
bloſs thieriſche Stufe derjenigen Thätigkeit des
Nervenſyſtems, durch welche eine Correction ſei-
nes dynamiſchen Verhältniſſes möglich iſt.
Mit dieſen körperlichen Erregungen im Ner-
venſyſtem ſind reine Gefühle, oder reine Vorſtel-
lungen, oder Gemiſche von beiden verbunden.
Die Vorſtellungen breiten ſich im Gehirn aus nach
den Geſetzen der Aſſociation, wecken die Einbil-
dungskraft, das Denkvermögen, unſere geiſtige
Gefühle und die Anſchauungen des innern Sinns.
Im Gefolge der Modifikationen des Gefühls- und
Vorſtellungsvermögens, und dieſen Modifikatio-
nen gemäſs, wird das Begehrungsvermögen rege,
und reflectirt die innern Erregungen im Seelen-
organ wieder nach auſsen auf die Bewegungs-
nerven. Dies geſchieht nach Maaſsgabe der In-
dividualität des Seelenorgans, in welchem dieſer
Umlauf wirklich geworden iſt. So entſteht eine
fortdauernde und höhere Ordnung von Handlun-
gen, unmittelbar in dem Brennpunkt des Nerven-
ſyſtems, die vorzüglich auf die Temperatur ſeiner
Dynamik einen entſchiedenen Einfluſs hat. Die
pſychiſchen Mittel wirken alſo direct allein auf
[156] das Gefühls- und Vorſtellungsvermö-
gen der Seele. Auf das Begehrungsvermögen
können ſie nur indirect, durch die Modifikatio-
nen der Gefühle und Vorſtellungen, denen
daſſelbe gezwungen folgt, einflieſsen.
1) Wir haben ein Gefühlsvermögen,
ſofern die Modiſikationen unſers geſammten, Ichs
in Bewuſstſeyn als Zuſtände erſcheinen, die wir
zu erhalten, oder abzuhalten ſuchen. Jene ſind
angenehme dieſe unangenehme Gefühle.
Sie werden in ſinnliche und geiſtige ein-
getheilt, je nachdem ſie entweder auf den Zu-
ſtand des Körpers oder der Seele bezogen
werden.
Doch wird das Gefühl, oder das unmittel-
bare Bewuſstſeyn des Subjects zunächſt durch
den Körper beſtimmt. Vom Gehirn, als ihrem
Brennpunkt, breiten ſich die Nerven durch die
ganze Organiſation aus und ſind zum Theil als
Zuleiter zum Gefühls- und Vorſtellungsvermögen,
zum Theil als Ableiter auf die Bewegungsorgane
anzuſehen. Einige derſelben verlieren ſich inner-
halb der Organiſation, andere gehen zu Tage
aus. Dieſe begründen die Sinnwerkzeuge, jene
das Organ des Gemeingefühls und der Bewegun-
gen. Beide müſſen durch Reize, jene durch die
Welt, dieſe durch den eignen Körper in Thätig-
keit geſetzt werden. Die Action geht von der
Grenze zum Mittelpunkt und kündiget ſich daſelbſt
als Senſation an. Im Gehirn breitet ſie ſich auf
[157] verſchiedene Art aus, nach den Geſetzen der
Aſſociation, zum Behuf der Einbildungskraft und
des Denkvermögens. Von da wird ſie wieder
auf die Bewegungsnerven, alſo vom Mittelpunkt
zur Grenze reflectirt. Dieſe kreiſenden Actionen
im Nervenſyſtem, die ſich als Seelenwirkungen an-
kündigen, können in demſelben nicht ohne
gleichzeitige Modifikationen ſeines
innern Zuſtandes wirklich werden. Denn
von etwas muſs die Action Product ſeyn. Dieſe
Modifikation nimmt die Seele wahr.
Sie ſchaut nicht bloſs die Vorſtellungen und Bewe-
gungen, ſondern auch die körperlichen Thätig-
keiten der Nervenmaſſe an, durch welche ſie
wirklich werden. Sie ſchaut dieſelben unter
der beſtimmten Form der Luſt oder
Unluſt an, je nachdem ſie leicht oder mit Be-
ſchwerde vollbracht werden. Dies iſt aber ab-
hängig von der örtlichen oder allgemeinen, tran-
ſitoriſchen oder permanenten Geſundheit des
Körpers. Die Seele muſs, indem ſie das Pro-
duct wahrnimmt, auch die Urſache wahrnehmen,
durch welche es zu Stande kömmt. Gefühle ſind
alſo Formen ihrer Anſchauungen, die eben ſo
wenig als die Form der Zeit und des Raums von
denſelben getrennt werden können. Dies Ge-
fühl iſt daher immer reines körperliches
Product, ein behagliches oder unbehagliches
Wahrnehmen des Organs im Zuſtande ſeiner
Wirkſamkeit und verſchieden von der Vorſtellung
[158] und Bewegung, die durch dieſe Wirkſamkeit
producirt wird. Allein was ſind denn geiſtige
Gefühle? Zuverläſſig Phänomene verſchiedener
Natur, wenn ich nemlich bey dem Wirken der
Einbildungskraft und des Verſtandes von den
gleichzeitigen Spielen abſehe, die im Gehirn vor-
handen ſind. Es ſind alſo Anſchauungen der
Objekte ohne Gefühle; und Gefühle ohne An-
ſchauung eines Objects möglich. Das erſte, wenn
die Action habituell iſt; das letzte, wenn die
Nerven ihre eignen und eigenmächtig entſtande-
nen Zuſtände vorſtellen oder durch Reize, z. B.
durch innere Theile des Körpers, erregt ſind, die
nicht vorgeſtellt werden können.
Geiſtige Gefühle ſind Produkte einer freien
oder gehinderten Wirkſamkeit unſerer Seelenver-
mögen, und beziehen ſich entweder auf unſere
theoretiſchen Erkenntniſſe, auf den Geſchmack,
oder auf unſern moraliſchen Sinn. Wir empfin-
den es mit Luſt, wenn unſere Einbildungskraft
durch ein leichtes Spiel producirt, Vorſtellungen
erneuert, die ehemals mit Vergnügen verknüpft
waren, der Verſtand ohne Hinderniſſe wirkſam
iſt, oder dieſelben, wenn ſie äuſsere ſind, leicht
beſiegt, wenn unſere körperlichen und Seelen-
Vollkommenheiten uns vorgeſtellt, unſere Wün-
ſche erfüllt werden, und unſere Auſsenverhält-
niſſe der Art ſind, daſs ſie unſere Vorſätze
unterſtützen. Hingegen empfinden wir es
mit Unluſt, wenn das Spiel der Imaginations-
[159] und Denkkräfte erſchwert iſt, unſeren Begierden
unüberwindliche Schwierigkeiten im Wege ſtehen,
unſere Mängel uns vorgehalten werden, oder
unſere Auſsenverhältniſſe ſo beſchaffen ſind, daſs
ſie uns Nachtheile fürchten laſſen. Ein ſtarker
und ſchöner Körper, ein glänzender Verſtand,
viele Erkenntniſſe, das Bewuſstſeyn der Tugend
und ſolcher Auſsenverhältniſſe, die unſere Kräfte
vermehren und uns alle Mittel zur Befriedigung
unſerer Wünſche anbieten, z. B. Ehre und Reich-
thum, vergnügen uns; das Gegentheil macht uns
Miſsvergnügen. Indeſs beurtheilt jeder Menſch
den Gehalt ſeiner Vollkommenheiten und die Be-
ziehungen der Welt auf ſich nach ſeiner eigen-
thümlichen Anſicht. Daher können zwar die
Vorſtellungen und Auſsenverhältniſſe von einerley
Art ſeyn, aber die dadurch erregten Gefühle ſind
verſchieden nach den Perſonen, in welchen ſie
wirklich werden. Sind die geiſtigen Gefühle
rein geiſtig, oder werden die gleichzeitigen Erre-
gungen im Gehirn empfunden? Bringen Seelen-
reize, in deren Gefolge unangenehme Gefühle
entſtehn, dieſelben durch die erregten Vorſtel-
lungen oder durch ein abnormes Spiel der Gehirn-
faſern hervor? Auf die letzte Art wirken wenig-
ſtens ſchmerzhafte Eindrücke aufs Gemeingefühl.
Sind ſie bloſse Anſichten der Zuſtände des Sub-
jects, an welchen das Objektive keinen weitern
Antheil hat, als daſs es ohne dieſe Zuſtände nicht
wirklich werden kann? Dies übergehe ich, und
[160] bemerke noch, daſs auch Verrückte geiſtige Ge-
fühle, aber dieſe von ganz eigner Art haben.
Sie werden auch afficirt von ſich und von der
Welt, aber nach Maaſsgabe der eigenthümlichen
Anſicht dieſer Objekte, von demjenigen Stand-
punkt, auf welchen ihre Krankheit ſie geſtelllt
hat. In dieſem Verhältniſſe ſollen ihre Gefühle
erſt noch beobachtet, und die gemachten Beob-
achtungen zum Behuf der praktiſchen Arznei-
kunde in dem pathologiſchen Theil der empiri-
ſchen Pſychologie für Aerzte, die noch in Petto
iſt, verzeichnet werden. Eine ſolche Darſtellung
der geiſtigen Gefühle Irrender, welche an ſich
ſchon, als Natur-Produkte, Intereſſe haben, würde
uns noch beſonders in den Stand ſetzen, mit
mehrerer Gewiſsheit auf die Irrenden zu wirken,
ſofern wir vorzüglich durch ihr Gefühlsvermögen
auf ſie wirken müſſen. Doch zu ſolchen Beob-
achtungen gehören hellere Köpfe, als ich neulich
einen traf, der auf meine Aeuſserungen über die
noch vorhandenen Mängel in den Tollhäuſern,
mir beſtimmt antwortete, das ſeinige ſey nun-
mehr vollendet, nachdem der Vorſteher deſſelben
dem übrigen heroiſchen Apparat noch ein Bade-
haus zugefügt habe, in welches alle Irrende nach
einem fixen Typus täglich zur Schwemme getrie-
ben würden. Und dieſer Sünder war ein Lehrer
der Jugend. Hätte ſein Waſſer die Kraft des
Teichs Bethesda gehabt, er hätte zuerſt darin
baden ſollen. Faſt wäre ich durch ihn an einem
Glau-
[161] Glaubensartikel, daſs bereits an ſeinem Orte
genug für das mediciniſche Studium geſorgt ſey,
zum Ketzer geworden.
Das Gefühlsvermögen iſt unter allen Seelen-
vermögen dasjenige, auf welches wir durch
pſychiſche Mittel mit dem gröſsten Vortheil wir-
ken können. Wir haben es in unſerer Gewalt,
daſſelbe direct und es auf eine beſtimmte Art zu
erregen. Dies gilt wenigſtens von den körper-
lichen Gefühlen, die wir gezwungen und in einer
Stärke hervorbringen können, daſs ſie den Kranken
nöthigen, ſie zu beachten. Denn es ſteht nicht
mehr in unſerer Willkühr, die Gefühle abzuhal-
ten, wenn der Zuſtand des Körpers hervorge-
bracht iſt, in welchem ſie gegründet ſind. Der
Brechweinſtein erregt uns Eckel, auch wenn wir
es nicht wollen. Wir reizen die groben Sinn-
organe und beſonders das Gemeingefühl in einem
ſolchen Grade, daſs die Seele dadurch entwe-
der angenehm oder unangenehm afficirt werden
muſs. Wir haben es in unſerer Gewalt, eine
groſse Zahl von Krankheiten, und durch die-
ſelben die mannichfaltigſten Krankheitsgefühle,
Eckel, Jucken, Kitzel, Schmerz, Angſt u. ſ. w.,
die als Symptome derſelben von ihnen unzertrenn-
lich ſind, hervorzubringen. Gefühle wirken auf
das Vorſtellungsvermögen, nöthigen daſſelbe,
die Urſachen der Gefühle aufzuſuchen; ſie wirken,
wenn ſie ſtark ſind, auf den innern Sinn, und
zwingen ihn, ſich ſelbſt, als das Subject der Ge-
L
[162] fühle, zu beachten. Sie wecken alſo die äuſsere
und innere Beſonnenheit. Sie fixiren die Auf-
merkſamkeit, ziehn ſie auf angenehme Gegen-
ſtände hin, und ab von unangenehmen. Sie
wirken auf das Begehrungsvermögen, und durch
daſſelbe wieder auf den Verſtand zurück, ſofern
die erregten Begierden denſelben antreiben, die
Objekte der Gefühle zu vervielfältigen, die Mittel
zur Erhaltung der angenehmen und zur Entfer-
nung der unangenehmen aufzuſuchen. Vermittelſt
des Gefühlsvermögens ſteht endlich der äuſsere
Zwang und unſer Wirken durch Lohnen und
Strafen, alſo alles das Gute, was wir auf dieſem
Wege erreichen können, in unſerer Gewalt. Es
hat daher, ſofern durch daſſelbe alle Verhältniſſe
des Menſchen erſt ein Intereſſe für ihn erlangen,
eine Federkraft, durch welche das geſammte
Spiel aller übrigen Seelenkräfte belebt und auf
beſtimmte Zwecke geleitet werden kann.
2) Das Vorſtellungsvermögen er-
zeugt entweder Vorſtellungen, die noch nicht
vorhanden waren, oder es erneuert die ehemals
vorhandenen wieder. Unter ihm, als produk-
tiver Kraft, ſind die Sinnlichkeit und der Ver-
ſtand, als reproduktiver das Gedächtniſs
und die Einbildungskraft begriffen.
Durch den äuſsern Sinn ſchaun wir
Dinge auſser uns, die Welt und unſern Körper,
und dieſe im Raume, und unſern Körper, als
den unſrigen, durch das Gemeingefühl an.
[163] Das Gemeingefühl iſt gleichſam ein Mittelding
zwiſchen dem äuſsern und innern Sinne, welches
den Körper zwar als etwas Aeuſseres, aber ihn
auch als unſeren Körper, und ſeine Zuſtände, als
die unſrigen vorſtellt. Durch den innern Sinn
ſchaun wir unſere Zuſtände, die nemlich die Ob-
jekte deſſelben ſind, unſere Vorſtellungen, Ge-
fühle, Begierden und Leidenſchaften an, wir
ſchaun ſie in der Zeit an, und ſtellen uns durch
ihn, als ſelbſt afficirt von unſern eignen Verände-
rungen, vor. Durch ihn gelangen wir zur An-
ſchauung unſeres eigenen Ichs, alſo zum Selbſt-
bewuſstſeyn, indem wir uns als das Subject
aller Veränderungen in uns denken. Die Reize
welche ihn erregen, ſind weit zarter, als die
körperlichen Reize des äuſseren Sinnes. Daher
ſetzen ſie auch ein leiſeres Gefühl voraus, wenn
ſie zum klaren Bewuſstſeyn gelangen ſollen;
daher kömmt der innere Sinn weit ſpäter zur
Thätigkeit, als der äuſsere. Der Verſtand
bringt aus dem Vorrathe vorhandener Vorſtellun-
gen, als aus ſeiner Materie zum Denken, neue
hervor. Er wirkt in dieſem Geſchäfft nach einer
beſtimmten Regel, die wir die Form des Den-
kens nennen, vermittelſt welcher er den mannich-
faltigen Stoff zur Einheit verknüpft, Begriffe,
Urtheile und Schlüſſe bildet.
Unter die reproduktiven Kräfte des
Vorſtellungsvermögens gehören die Einbil-
dungskraft und das Gedächtniſs. Dies
L 2
[164] weckt ehemalige Vorſtellungen wieder mit dem
Bewuſstſeyn, daſs es die nemlichen ſind, die
ſchon einmal vorhanden waren. Jene knüpft an
die vorhandenen andere aus dem Vorrath in der
Seele an, nach dem Geſetze der Cauſalität, der
Aehnlichkeit, des Contraſtes und nach ihrer
Verknüpfung, die ſie in Zeit und Raum mit ein-
ander hatten. Sie aſſociirt denſelben am leich-
teſten ſolche, die erſt neuerdings aſſociirt waren,
die Intereſſe haben, die urſprünglich durch den
Sinn des Geſichts producirt ſind.
Direct können wir nur auf einen Theil des
Vorſtellungsvermögens, nemlich auf den äuſsern
Sinn wirken. Wir bringen ſo ſtarke und inter-
eſſante Objekte in die Sphäre der Sinnlichkeit des
Kranken, daſs ſie ihn nöthigen, ſie anzuſchauen.
Allein der faſelnde oder fixirte Kranke achtet
derſelben wenig, nimmt ſie entweder gar nicht
wahr, oder läſst ſie als ihm gleichgültig bey Seite
liegen. Nun iſt es aber meiſtentheils unſtatthaft,
den Sinnesanſchauungen dadurch ein Intereſſe zu
verſchaffen, daſs wir ſie mit dem Inhalt ſeiner
Verrücktheit in Verbindung bringen. Wir müſ-
ſen ihn daher durch Zwang nöthigen, ſie zu beach-
ten, wie ich unten ſagen werde, oder Sinnesan-
ſchauungen, z. B. lange und gellende Töne
wecken, die zugleich das Gefühlsvermögen
afficiren, oder ſie mit zufälligen Gefühlen in eine
ſolche Verbindung ſtellen, die der Kranke für
weſentlich hält, oder endlich ſolche Objekte vor-
[165] ſchieben, die durch ihre Gröſse und Majeſtät die
Beſonnenheit wecken. Den innern Sinn und das
Denkvermögen des Kranken können wir nicht
direct erregen. Der verkehrte Verſtand verarbei-
tet den gegebenen Stoff nach den anomalen Denk-
geſetzen, die durch die Revolution im Gehirn zu
Stande gekommen ſind. Zur Anſchauung der
eignen Perſönlichkeit gehört ein leiſes Gefühl und
eine Freiheit der Aufmerkſamkeit, die dem Ver-
rückten fehlt. Eben ſo können wir auch die
reproduktiven Vorſtellungskräfte nicht direct in
Thätigkeit ſetzen, und noch weniger ihre Aſſo-
ciation leiten. Sie ſpringen ab auf den Gegenſtand
des Wahns, von dem wir ſie doch zu entfernen
ſuchen. In dieſer Rückſicht muſs jedesmal der
Phantaſie, ſobald ſie auf eine Ideenreihe abſpringt,
von der wir nicht wollen, daſs ſie dieſelbe ver-
folgen ſoll, ein Stoſs von auſsen mitgetheilt wer-
den, durch welchen ſie gleichſam erſchrocken
zuſammenfährt und darüber den Gegenſtand fal-
len läſst, über welchen ſie hinbrütet.
Die angemerkten Erregungen im Innern
werden, mit dem Bewuſstſeyn eines thätigen
Beſtrebens in uns, welches wir das Begeh-
rungsvermögen nennen, nach auſsen reflek-
tirt. Auf dies Vermögen, ſofern es gleichſam
der Refrain unſerer innern Beſtimmungen iſt,
können wir daher auch nicht unmittelbar, ſon-
dern bloſs durch die Organiſation, das Gefühls-
und Vorſtellungsvermögens wirken. Nun giebt
[166] es aber drey verſchiedene Arten, nach welchen
der Organiſmus von innen nach auſsen wirken
kann, Inſtinct, ſinnliche Begierde und
freier Wille, die ſich nach den Beſtimmungs-
gründen unterſcheiden, durch welche das Wirken
nach auſsen zu Stande kömmt. Der Inſtinct
iſt ein blinder Drang, der das Thier als Auto-
mat handeln läſst, ohne daſs es ſich dabey ir-
gend eines Zwecks weder der Luſt noch des ver-
ſtändigen Intereſſes bewuſst iſt. Es bewegt ſich
nach einer Polarität, die ſeiner Organiſation un-
auslöſchlich eingeprägt iſt, wie ſich der Magnet
gegen Norden dreht, oder wie ein Froſchſchenkel
zuckt, wenn ſein Nerve mit dem galvaniſchen
Apparat in Berührung gebracht wird. Dieſen
Impuls zum Wirken finden wir auf der äuſserſten
Grenze der Animalität in den Kunſtfertigkeiten
der Thiere am ſtärkſten ausgedrückt. In dem
Maaſse, als die Organiſationen ſich dieſer niedrig-
ſten Staffel entwinden und mit Gefühlswerkzeu-
gen und Sinnorganen verſehen werden, ſchwindet
der Inſtinct immer mehr, die Sinnlichkeit ent-
wickelt ſich, mit ihr keimen Vorſtellungen von
Luſt und Schmerz auf, die ſich endlich in dem
Menſchen in ihrer gröſsten Vollendung ankündi-
gen und ihn durch die Freiheit des Willens über
die ganze Thierheit erheben. Allein wenn gleich
die Natur den Menſchen durch die vollkommnere
Ausbildung ſeiner Organiſation von den Inſtincten
entbunden hat, ſo iſt es doch möglich, daſs er
[167] zu ihnen herabſinken kann, wenn ſein Körper
durch Krankheiten merklich verletzt wird. Eben
deswegen kann dieſer Zuſtand auch ſchwerlich
anders, als durch Entfernung der Krankheiten
getilgt werden, durch welche er entſtanden iſt.
Das ſinnliche Begehrungsvermögen
wirkt nach dem Zwecke der erkannten Luſt oder
Unluſt; der Wille nach Vernunft-Maximen,
die das Nützliche zu wollen, das Schädliche zu
meiden gebieten, wenn es gleich nicht unmittel-
bar mit angenehmen oder unangenehmen Gefühlen
verknüpft iſt. Der Wille iſt in ſofern frey, als
ihn dieſe Maximen nicht nothwendig zum Han-
deln beſtimmen.
Nachdem ich die Wirkungsart der pſychi-
ſchen Mittel gezeigt habe, gehe ich zu den Me-
thoden ihres Gebrauchs fort. Dieſe ſind
doppelter Art. Die Seele wirkt, wie der
Körper, gezwungen durch Erregungsmittel, die
ich Reize nenne, ſofern alle Erregungsmittel,
im mediciniſchen Sinn, unter dieſem Namen be-
griffen ſind. Dieſe Reize ſind, in Rückſicht ihres
Zugangs zur Seele, entweder Einflüſſe aufs
Gemeingefühl, oder Einflüſſe auf die
Sinnorgane, oder ſchon vorhandene
Hirnthätigkeiten. In Rückſicht ihres Ver-
hältniſſes zu ihrem Zweck ſind ſie entweder
normal, oder abnorm, oder Heilmittel.
Das erſte, wenn ſie die Seele ihrer Naturbeſtim-
mung gemäſs erregen, das zweite, wenn ſie die-
[168] ſelbe krank, das letzte endlich, wenn ſie den
kranken Organismus geſund machen. Von dieſen
Reizen können wir einen zwiefachen Gebrauch
machen, entweder diejenigen der Seele
entziehn, die mit ihr in Gemeinſchaft
ſind, oder andere mit ihr in Gemein-
ſchaft bringen, die es bis jetzt nicht
ſind. Wir entfernen ſolche Reize, die ſie
krank machen und laſſen ſolche zu, durch welche
das Spiel ihrer Kräfte in der Art erregt wird,
daſs dadurch die Heilung einer Krankheit zu
Stande kommen kann. Dies kann man die po-
fitive, jenes die negative Heilmethode nen-
nen. Der direkte Erfolg der poſitiven Methode
iſt Erregung, der negativen Beruhigung.
Allein Erregungen können auch beruhigen, aber
indirect, indem durch ſie die vorhandenen Ideen-
reihen ausgelöſcht werden. Umgekehrt können
Beruhigungen durch entzogene Reize neue Thätig-
keiten wecken, ſofern die Seele den Müſsiggang
flieht und andere Beſchäfftigungen ſucht, wenn
ſie von den vorhandenen zurückgewieſen wird.
Ich erwähne zuerſt der negativen Me-
thode. Sie wirkt durch Entfernung der Reize
und ſetzt daher voraus, daſs der Arzt mit allen,
normalen und abnormen Reizen bekannt ſeyn
müſſe, die die Seele ſpecifiſch erregen. Deren
giebt es drey Arten, Reize fürs Gemeinge-
fühl, für die Sinnorgane und Hirnwir-
kungen, die andere Hirnwirkungen oder die
[169] Bewegungsnerven erregen. Unter dieſen Reizen
wirkt diejenige Claſſe, die das Gemeingefühl
afficirt, am ſtärkſten auf das Gehirn. Durch das
Gemeingefühl wird der eigne Körper vorgeſtellt,
der die Exiſtenz des Menſchen überhaupt, alſo auch
alle Arten derſelben begründet und daher das
nächſte Intereſſe für ihn hat. Dies Object wird
dunkel vorgeſtellt, und daher der Phantaſie zu
chimäriſchen Dichtungen ein freier Spielraum ge-
laſſen. Mit dem Gemeingefühl ſteht das Gefühls-
vermögen, welches ſo viel über den Menſchen
vermag, in einer engen Verbindung. Denn es
beruht vorzüglich auf die Zuſtände des Körpers,
und dieſe werden durchs Gemeingefühl vorge-
ſtellt. Wir können zuweilen durch Entfernung
ſchädlicher Darmreize, durch Abſtumpfung zu
reizbarer Nerven des Unterleibes und durch
Kühlung erhitzter Geſchlechtstheile auf der Stelle
Anomalieen im Seelenorgan heilen, die durch
dieſe Reize veranlaſst ſind. Doch dieſen Gegen-
ſtand ſetze ich bey Seite, weil ich ihn in der
Folge noch einmal berühren werde. So können
wir auch dadurch dem Seelenorgan Ruhe ver-
ſchaffen, daſs wir die Sinnesreize mäſsigen, oder
ſie ganz entfernen. Durchgehends werden Kran-
ke, die in Gefäſsſiebern phantaſiren, oder Wöch-
nerinnen, die an Raſerey leiden, durch vieles
Licht, Gemählde, Spiegel, Geräuſch, viele Be-
ſuche, Widerſprüche u. ſ. w. mehr aufgeregt;
hingegen in finſtern und geräuſchleeren Zimmern
[170] und in ſtiller Einſamkeit ruhiger oder gar zur
Beſonnenheit gebracht. Doch dies geſchieht
nicht in jedem Falle. Es giebt andere Kranke,
denen im anfangenden Schlaf oder wenn es
finſter wird, Ungeheuer und gräſsliche Geſichter
erſcheinen, die wieder verſchwinden, wenn die
Gegenſtände hinlänglich erleuchtet ſind. Die fort-
ſchreitenden Hirnthätigkeiten beim Wirken der
Phantaſie werden nemlich durch die Excitation des
äuſsern Sinnes unterbrochen *). R. Whytt**) er-
zählt von einem Kranken, der von aller Verwirrung
frey war, wenn er wachte, aber augenblicklich
in Schwärmereien verfiel, wenn er die Augen
ſchloſs, ob er gleich nicht ſchlief. Bald kam
[171] es ihm vor, als würde er durch die Lüſte ge-
führt, bald wieder als wäre ſein Kopf die Hände
und Füſse vom Rumpf getrennt und dieſe Beſtand-
theile, in welche ſein Weſen aufgelöſt war,
flögen nach verſchiedenen Gegenden. Nicolai
litt im Jahre 1778 an einem Wechſelfieber, in
welchem ihm ſchon vor dem Froſt colorirte Bilder
in halber Lebensgröſse, wie in einen Rahmen
gefaſst, erſchienen. Es waren Arten von Land-
ſchaften, mit Bäumen, Felſen u. ſ. w. vermiſcht.
Schloſs er die Augen, ſo änderte ſich nach einer
Minute immer etwas in dieſer Vorſtellung, einige
Figuren verſchwanden und andere erſchienen.
Oeffnete er ſie, ſo war alles weg; ſchloſs er ſie
wieder, ſo war eine ganz andere Landſchaft da.
Eben ſo verhielt es ſich auch mit den Viſionen
menſchlicher Formen, die ihn im Jahre 1791
umringten. Sie verſchwanden zuweilen, wenn
er die Augen ſchloſs, und waren in der nemlichen
Geſtalt wieder da, wenn er ſie öffnete *). De la
Roche**) erzählt ein Paar Beobachtungen, die
eine von Cullen, die andere von Butini, die
hier am rechten Orte ſtehen. Eine Dame glaubte,
nach einer langen Nervenkrankheit, am hellen
Tage und mit offenen Augen, ſie ſey mit Teufeln
[172] und häſslichen Geſpenſtern umgeben. Man hielt
dies für Krankheit des Gehirns und behandelte
ſie dieſer Idee gemäſs, aber ohne Erfolg. Eines
Tages lief ſie verzweiflungsvoll in ihrem Zimmer
herum, und Jemand, der bemüht war, ſie zu
halten, legte zufällig ſeine Hand auf eines ihrer
Augen. Augenblicklich waren alle Geſpenſter
und mit demſelben ihre Angſt verſchwunden;
aber ſie kehrten in dem nemlichen Moment zurück,
in welchem die Hand vom Auge genommen wur-
de. Durch dieſe Verſuche, die man oft wieder-
holte, kam man auf ein einfaches Mittel wider
ihr Uebel, man band nemlich das Auge zu, wel-
ches krank war. Der zweite Fall iſt dieſem
ähnlich. Eine Perſon ſah Phantome bey völliger
Beſinnung am Ende einer hitzigen Krankheit, an
der ſie auch ſtarb, die verſchwanden, ſobald ſie
die Augen ſchloſs. Zu den im Gehirn vorhande-
nen Thätigkeiten, die als Reize andere wecken,
haben wir keinen unmittelbaren Zugang. Indeſs
können wir doch vorhandene Ideenreihen dadurch
auslöſchen, daſs wir die Urſachen entfernen, die
ſie erregen, und vermittelſt der Sinnorgane und
durch Hülfe des Vorſatzes neue Züge einſchieben,
durch welche die alten verdrängt werden. In
einem geſunden Menſchen geſchieht dies mit gro-
ſser Schnelligkeit. Er lieſt die Verſe: diffuge-
re nives, redeunt jam gramina campis,
arboribusque comae, in demſelben Augen-
blick tritt ſein alter Schulfreund herein; weg ſind
[173] Schnee, Fluren, Gräſer und belaubte Bäume,
und eine eben ſo reichhaltige Gruppe von Ideen
hat ihre Stelle wieder eingenommen. Schwerer
gelingt dies freilich in verrückten Köpfen, beſon-
ders wenn man ſich mit der Topographie derſel-
ben durch das Studium ihrer Aſſociationen nicht
hinlänglich bekannt gemacht hat.
Dieſer Methode, durch Entziehung der
Reize des Gemeingefühls, der Sinne, und vor-
züglich durch Unterdrückung der innern Thätig-
keiten des Gehirns zu wirken, füge ich noch die
Gemüthszerſtreuung zu, die durch einen,
zu dieſem Zwecke eigenthümlich geordneten, In-
begriff pſychiſcher Mittel wirklich wird. Wir
bedienen uns ihrer zur Verhütung und Cur der
Verrücktheit, und vollenden dieſelbe durch ſie
in der Reconvaleſcenz. Der Zweck, den wir
durch ſie bezielen, iſt doppelter Art. Theils
ſuchen wir durch ſie den habituell Zerſtreuten zu
ſammlen und an einen beſtimmten Gegenſtand
zu ketten, theils den Kranken, der einer fixen
Idee leidenſchaftlich nachhängt, von derſelben
abzuleiten. Den faſelnden Narren müſſen wir
durch Gegenſtände halten, die ein hinlängliches
Intereſſe für ihn haben, und gerade ſo viel Kraft
zu ihrer Beachtung erfordern, als er beſitzt.
Wo eine fixe Idee obwaltet, ſoll man den Kran-
ken entweder von der Nichtigkeit ſeines Zwecks,
oder von der Unmöglichkeit überzeugen, daſs er
realiſirt werden könne, und ihm dieſelbe dadurch
[174] oder durch Erregung anderer Ideen aus den Au-
gen rücken. Allein eins iſt meiſtens ſo ſchwer
als das andere. Man kränkt ſeine Eigenliebe,
predigt tauben Ohren, oder findet keinen Gegen-
ſtand von einem gröſseren Intereſſe, der im Stande
wäre, ſich ſeiner zu bemeiſtern. In dieſer Rück-
ſicht muſs man gleichſam in die Leidenſchaft deſ-
ſelben einſtimmen, um nur erſt ſein Zutrauen
und ſeine Aufmerkſamkeit zu gewinnen und ihn
dann allmälig durch zweckmäſsige Zerſtreuungs-
mittel von ſeiner fixen Idee ableiten. In der Re-
convaleſcenz, wenn die Seele es wieder in ihrer
Gewalt hat, ſich der Grillen durch die Macht des
Vorſatzes zu entſchlagen, die ihrer Geſundheit
gefährlich werden können, ſind leichte Zerſtreu-
ungsmittel, Reiſen, Geſellſchaften und Spiele
heilſam, und daher mehr für dieſe Periode als
zur Heilung der Krankheit ſelbſt geeignet. Der
Patient heftet eigenmächtig auf Kleinigkeiten
ſeine Aufmerkſamkeit, um nach und nach derſel-
ben wieder Meiſter zu werden. Die Art der
Zerſtreuung iſt verſchieden. Wir laſſen eine un-
unterbrochene Folge mannichfaltiger angenehmer
und unangenehmer Eindrücke auf das Gemein-
gefühl, das Auge und beſonders auf das Ohr
einflieſsen und haben dabey keinesweges die Ab-
ſicht eine beſtimmte Ideenreihe zu wecken, ſon-
dern wollen vielmehr ein leichtes Spiel von Hirn-
wirkungen erregen, um dadurch der Seele die
Vorſtellungen zu entrücken, auf welche ſie hin-
[175] ſtarrt. Doch gelingt dieſe Zerſtreuung durch die
Sinne nur in leichten Fällen. In der Folge und
in ſchweren Fällen ſuchen wir die Einbildungs-
kraft des Kranken und ſein Denkvermögen zu
erregen. Wir ſchmelzen die ſinnlichen Gefühle
mit geiſtigen, die Befriedigung der Luſt mit dem
Intereſſe des Vorſatzes zuſammen. Die Zer-
ſtreuung durch die Sinne darf nicht
gröſser ſeyn, als der Zweck es heiſcht.
Denn von einem Uebermaaſs und einer zu ſchnel-
len Folge ſinnlicher Eindrücke, bey dem wir
keinen Gegenſtand feſthalten können, entſteht ein
Gefühl der Ohnmacht, das uns niederdrückt.
Das ſcheinbar zufällige Zerſtreuungsmittel
iſt willkommen; das für den Kranken erfundene
ihm meiſtens widrig. Der durch das Zerſtreu-
ungsmittel beabſichtigte Zuſtand der Seele muſs
demjenigen in allen Verhältniſſen ſo nahe ſtehen
als es möglich iſt. Die Seele geht leichter zu
verwandten als zu fremden Zuſtänden über. Es
muſs daher den Geiſt in der nemlichen
Menſur von Thätigkeit ſetzen, die er in
dem Zuſtande hat, der durch daſſelbe bekämpft
werden ſoll. Es wird ihm nicht ſo ſchwer zu
einer neuen Action überzugehen, die zwar in
Rückſicht der Qualität anderer, aber doch in
Anſehung der Quantität von der nemlichen Art
iſt. Wahrſcheinlich hat dieſe Erfahrung einen
phyſiſchen Grund. Die Schwermuth wird abge-
zogen, durch Gegenſtände, die den Verſtand
[176] beſchäfftigen, weil in beiden Fällen ein gehaltner
und mäſsiger Grad von Erregung obwaltet.
Wirkt die Seele heftig und ſtoſsweiſe, ſo muſs
man ein Zerſtreuungsmittel aufſuchen, das ähnli-
che convulſiviſche Erſchütterungen hervorbringt
und erſt nach und nach zu mildern Reizungen
übergehen. Dann muſs das gewählte Zerſtreu-
ungsmittel ein der fixen Idee des Kran-
ken nahe kommendes Intereſſe für
ihn haben. Spiele würden z. B. ſchlechte Zer-
ſtreuungsmittel für Menſchen ſeyn, die durch
Unglück ſtark gebeugt ſind. Hingegen können
Gefahren der Ehre und des Vermögens, Krank-
heiten der Kinder oder anderer nahen Verwandten
anziehen. Doch darf daſſelbe auch kein ſo
groſses Intereſſe haben, als der Ge-
genſtand, den es tilgen ſoll, damit
derſelbe nicht ganz aus dem Auge ge-
rückt werde. Die fixe Idee verlöſcht nur
dann ohne Schaden, wenn wir uns mit ihr be-
kannt machen, ſie immerhin in der Erinnerung
vorrufen und ſie wieder für eine Zeitlang ſchwin-
den laſſen. Dies verhütet, daſs ſie nicht habi-
tuell wird; jenes, daſs ſie allmälig ihr Intereſſe
verliert und zuletzt abſtirbt. Könnte man das
Bewuſstſeyn eines erlittenen Unglücks, das zur
Schwermuth führen kann, für eine Zeitlang ganz
unterdrücken, z. B. durch einen langen Schlaf,
ſo wäre damit nichts weiter als Aufſchub des zu
fürchtenden Uebels gewonnen. Es kehrt nach
dieſem
[177] dieſem Intervall in ſeiner urſprünglichen Stärke
wieder. Eine Mutter, die von zwey Kindern
eins zur Zeit verlohr, als das andere noch ge-
fährlich krank lag, wurde erſt dann ſchwer-
müthig als das letzte zu geneſen anfing. Daher
der Vortheil einer Reiſe zur Zerſtreuung in leich-
ten Unglücksfällen. Sie beſchäfftigt uns, läſst
uns aber dabey Augenblicke übrig, an unſer
Uebel zurückzudenken. Darin lag vielleicht der
Grund, ſagt Hoffbauer*), daſs viele Einhei-
miſche, aber wenig Ausgewanderte durch die
franzöſiſche Revolution um ihren Verſtand ka-
men. Dieſe wurden nemlich durch die Reiſe,
durch die anfängliche Sorge für ihren Aufenthalt,
und in der Folge für den Erwerb ihres Lebens-
unterhalts von dem Andenken an ihr Unglück
abgeleitet. Doch blieben ihnen Zwiſchenräume
genug übrig, ſich deſſen zu erinnern und ſich mit
demſelben zu familiariſiren. Das Zerſtreuungs-
mittel muſs endlich einerley Ton mit der
Idee haben, an welche der Kranke gefeſſelt
iſt. Oderunt hilarem, triſtes; triſtemque jocoſi;
ſedatum, celeres; agilem gnavumque, remiſſi.
Eine fröhliche und rauſchende Geſellſchaft zerreiſst
einer Mutter das Herz, die durch den Verluſt
ihres Kindes gebeugt iſt. Hingegen ſind Men-
ſchen, die das nemliche Unglück erlitten haben,
oder einen warmen Antheil an ihrem Verluſt
M
[178] nehmen, die beſten Tröſter. Sie findet in Unter-
haltungen von den Vorzügen ihres verlornen Lieb-
lings die meiſte Linderung ihrer Schmerzen. Sie
fängt an zu ſchwanken zwiſchen ihrem Verluſt
und dem eines andern; und, indem dies geſchieht,
iſt ſie um den erſten Grad von ihrer fixen Idee
weggerückt *).
Die poſitive Heilmethode, welche
durch Anwendung von Reizen auf die
Seele wirkſam iſt, bedarf faſt mehr als die nega-
tive, der Beihülfe der pſychiſchen Heilmittellehre.
Sie ſcheint vorzüglich beim Mangel an Thätigkeit,
in Aſthenieen und wider Starrſucht des Seelen-
organs angezeigt zu ſeyn. Doch kann ſie auch,
nach dem Geſetze der Ableitung, beruhigen.
Dann ſind, ſelbſt in activen Seelenzerrüttungen,
die Kräfte ſelten allgemein erhöht. Einige
Theile feiern in dem Maaſse als andere zu ſtark
wirken und die ruhenden bedürfen der Erregung
durch poſitive Reize.
Wie ſollen die pſychiſchen Mittel claſſificirt
werden? In der That eine ſchwierige Aufgabe.
Nach ihrem Einfluſs auf die verſchiedenen Seelen-
vermögen? Nein. Denn nur auf das Gefühls-
und Vorſtellungsvermögen können ſie direct wir-
ken; auf das Begehrungsvermögen wirken ſie
ſecundär. Dazu kömmt noch, daſs kein pſychi-
ſches Mittel auf einen beſtimmten Inbegriff von
[179] Erregungen beſchränkt iſt. Die Seele pflanzt den
angefangenen Zug nach ihrer eigenthümlichen
Stimmung fort; die urſprüngliche Erregung eines
Seelenvermögens ſpringt ſchnell auf ein anderes
über; der letzte Effect iſt der vorwaltende, der
urſprüngliche Kaum bemerkbar. Die unvermu-
thete Anſicht einer geliebten Perſon ſchlüpft
ſchnell durchs Vorſtellungsvermögen zu den hef-
tigſten Gefühlen über. Die geiſtigen Gefühle ge-
hören zum Gefühlsvermögen; aber ſie entſtehn
durch Mittel, die die Einbildungskraft und den
Verſtand erregen. Wohin ſollen dieſe kommen?
Noch ſchwieriger iſt es, ſie nach ihrem abſoluten
Gehalt zu ordnen. Symbole an ſich ſind leere
Begriffe, die erſt durch ihre Beziehung Realität
bekommen. Ich habe es daher verſucht, den
Inbegriff aller pſychiſchen Mittel gleichſam nach
ihren vorwaltenden Beſtandtheilen
zuſammenzuſtellen; d. h. ich habe ſie theils mit
Rückſicht auf ihre Natur an ſich, theils mit Rück-
ſicht ihres nächſten und direkten Effects auf die
Seele in beſtimmte Claſſen abzutheilen geſucht.
Nach dieſer Idee ſind ſie unter drey verſchiedne
Anſichten geordnet und bey jedem einzelnen Mit-
tel muſs dann die Bedingtheit ſeiner Wirkſamkeit
angezeigt werden. Die erſte Claſſe enthält
Mittel, die an ſich materieller Natur ſind, un-
mittelbar mit dem Körper des Kranken in Gemein-
ſchaft gebracht werden, und dies in der Abſicht,
damit derſelbe durch ſie auf eine beſtimmte Art
M 2
[180] verändert und ſein veränderter behaglicher oder
unbehaglicher Zuſtand der Seele durchs Gemein-
gefühl vorgeſtellt werde. Der Zweck, den wir
durch ſie beabſichtigen, iſt alſo der, dieſe benann-
ten Körperzuſtände und deren nächſten Effect
auf die Seele, Gefühl einer körperlichen Luſt
oder eines körperlichen Schmerzes hervorzubrin-
gen. Die Perception des Mittels ſelbſt und die
Fortpflanzung und Ausbreitung der urſprüngli-
chen Erregung im Seelenorgan iſt uns meiſtens
gleichgültig. Es iſt uns gleichſam nur um den
erſten Stoſs, um eine tranſitoriſche und convulſi-
viſche Erſchütterung des Seelenorgans zu thun.
Dieſe Mittel ſind daher vorzüglich bey böſen und
hartnäckigen Krankheiten, im Beginnen derſelben,
und im Anfang der Cur angezeigt, um durch
ſie den Kranken zu unterjochen, ihn zur Beſon-
nenheit zu bringen und ſeine Aufmerkſamkeit zu
wecken. Die zweite Claſſe pſychiſcher Mit-
tel beſteht aus realen Objekten für den äuſseren
Sinn, beſonders für das Auge, Ohr und das Getaſt.
Hier ſcheint es, als achteten wir der erregten
direkten und körperlichen Gefühle, oder der An-
ſchauung des veränderten Körperzuſtandes wenig,
ſondern bezielten mehr die Anſchauung der Ob-
jekte und das, was durch dieſelbe im Seelenorgane,
vermittelſt der Aſſociation, wirklich wird, nem-
lich das durch ſie erregte ſecundäre und geiſtige
Gefühl, die Erregung der Imagination, der Lei-
denſchaften und des Begehrungsvermögens. Die
[181] letzte und dritte Claſſe enthält Zeichen,
Symbole, Pantomimen und beſonders Sprache
und Schrift, durch welche wir Vorſtellungen,
Imaginationen, Urtheile und Begriffe im Seelen-
organ zu erregen, die höheren Seelenkräfte zu
rectificiren und den Kranken zur eignen Geiſtes-
thätigkeit zu wecken ſuchen. Dieſer Mittel, die
theils für leichtere Krankheiten, theils für die
Periode der Reconvaleſcenz geeignet ſind, bedie-
nen wir uns auſserdem noch dazu, die einzelnen
Vermögen der Seele oder beſondere Zuſtände und
Aeuſserungen derſelben, die Aufmerkſamkeit,
Einbildungskraft u. ſ. w. zu verbeſſern, wenn die-
ſelben vor andern einer beſonderen Hülfe nöthig
haben. Die erſte Claſſe pſychiſcher Mittel ſoll
zur Anſchauung eines durch ſie erregten Körper-
zuſtandes, die zweite zur Anſchauung ihrer ſelbſt
führen, die letzte endlich direct Anſchauungen
bewirken, ohne Beachtung des eignen Körperzu-
ſtandes und der Mittel, durch welche ſie erregt
werden. So ſchreiten wir durch dieſe Claſſen
pſychiſcher Mittel, von den äuſserſten und roheſten
Auſsenwerken des Nervenſyſtems im Gemeinge-
fühl, zu den mehr veredelten Nerven in den Sinn-
organen und von da zur Cultur des Seelenorgans
ſelbſt im Gehirn, als dem Brennpunkt des ganzen
Syſtems, fort.
I. Pſychiſche Mittel, durch wel-
che der Zuſtand des Körpers auf eine
ſo beſtimmte Art verändert wird, daſs
[182] ſeine Vorſtellung vermittelſt des Ge-
meingefühls im Seelenorgan die Seele
auf eine angenehme oder unangeneh-
me Art afficirt. Dieſe Mittel exaltiren und
verbeſſern oder unterdrücken und verletzen die
organiſchen Kräfte, örtlich oder im allgemeinen.
Sie flieſsen alſo ein auf den Geſundheitszuſtand
des Individuums und ſind in Rückſicht ihrer pſy-
chiſchen Wirkungen von doppelter Art; ſie brin-
gen entweder Wohlbehagen und thieriſchen Luſt
oder Schmerz und körperliches Miſsbehagen
hervor.
1) Körperreize, in deren Gefolge thieri-
ſche Luſt enſteht.
Hier erwähne ich vorzüglich der Erregung
eines angenehmen Lebensgefühls, das
als collektive Totalempfindung von dem Eindruck
des geſammten geſunden Zuſtandes der thieriſchen
Oekonomie aufs Gemeingefühl in der Seele ent-
ſteht. In der Regel bekommt dies Gefühl den
meiſten Verrückten und beſonders ſolchen wohl,
die hypochondriſch ſind, oder in deren Wahn
ſich Trübſinn und Schwermuth einmiſchen. Es
iſt Product der Geſundheit, entſpringt alſo von
jedem Mittel, das dieſe fördert und erhält, von
reiner Luft, geſunden Speiſen, Bewegung, Wär-
me, Reinlichkeit, Ordnung im Schlaf und in
allem, was zum Regime gehört. Alſo ſchon in
dieſer Rückſicht, ſofern die diätetiſche Pflege der
Irrenden auf ihre Seele zurück wirkt, iſt dieſelbe
[183] in den Tollhäuſern unnachläſſig; iſt es unnach-
läſſig, ſie durch Zwang an ein Syſtem der Ord-
nung und Nothwendigkeit. zu gewöhnen, damit
ſie für dieſelbe empfänglich werden. Für eine
kurze Zeit, und zu beſondern Zwecken kann
dies angenehme Lebensgefühl durch Mohnſaft,
Wein und überhaupt durch flüchtige Reizmittel,
in deren Gefolge eine tranſitoriſche Spannung der
Kräfte entſteht, geweckt werden.
Der Wein und der Mohnſaft, beſon-
ders der Mohnſaft in kleinen Gaben, der den
Magen nicht wie der Wein beläſtiget, ſpannen
die Kräfte, wie bereits geſagt iſt, und dies nimmt
die Seele mit Wohlgefallen wahr. Der Mohnſaft
ſteigert in der Regel denjenigen Ton der Seele,
auf welchen ſie eben geſtimmt iſt. Er macht uns
froh, wenn wir zur Freude, traurig wenn wir
zur Traurigkeit, zornig, wenn wir zum Zorn
geneigt ſind. Dem fixen Wahn theilt er gleichſam
Thatkraft mit; er treibt die Kranken an, dieje-
nigen Handlungen wirklich zu vollbringen, die
ihr Irrſinn ihnen vorſpiegelt. Der an Lebens-
überdruſs leidende Indianer nimmt Mohnſaft und
wird dadurch zu einer wüthenden Beſtie,
die alles mordet, was ihr in den Weg kömmt. Ein
ſolcher Wüthrig wird ein Hamuck genannt,
bey deſſen Erſcheinung alle Wehrloſe fliehen und
bewaffnete Menſchen herbeieilen, um das Unge-
heuer zu erlegen *). Daher iſt Vorſicht in ſeinem
[184] Gebrauch nothwendig, wenn die Verrücktheit
bereits vollkommen ausgebildet und alle Freiheit
des Willens beſchränkt iſt. Eher paſst er im Be-
ginnen dieſer Krankheit, beſonders wenn dieſelbe
durch unverſchuldete Unglücksfälle hervorge-
bracht iſt. Doch auch in dieſem Falle pflegt die
trübe Stimmung der Seele mit verdoppelter Kraft
zurückzukehren, wenn der Rauſch und die
künſtliche Spannung vorüber iſt.
Ferner bringen Wärme, beſonders die
Wärme der Sonne und ein ſanftes Streicheln
und Reiben des Körpers mit der Hand, mit
Flanell oder mit einer Fleiſchbürſte einen ange-
nehmen Hautreiz hervor. Oft, ſagt Parge-
ter*) habe er die Beobachtung gemacht, daſs
Kranke in der Tobſucht ruhig und vergnügt wur-
den, wenn man ihnen den Kopf ſchor und den-
ſelben mit einem Tuch rieb. Eben ſo erregt auch
das laue Bad ein angenehmes Gefühl. Auſser-
dem hat daſſelbe noch den Vortheil, daſs es die
Haut reinigt, dadurch die Geſundheit, und durch
dieſelbe das angenehme Lebensgefühl fördert,
welches beſonders für Wahnſinnige wichtig iſt,
da ſie mehr als andere ſich verunreinigen. Man
könnte ſie daher, wenigſtens wöchentlich einmal
baden. Dieſem füge ich den mäſsigen Kitzel
[185] zu, der durch eine ſanfte Reizung der Hautner-
ven hervorgebracht wird. Er iſt ſo lange ange-
nehm, als er der Willkühr keinen Abbruch thut
und die Function des Athmens nicht hemmt.
Tiſſot*) bediente ſich deſſelben, und des da-
durch erregten Lachens bey ſchwachen Kindern,
um dadurch der engliſchen Krankheit vorzubeu-
gen. Er lieſs ſie auf einen Teppich an die Erde
ſetzen und ſo lange kitzeln, als es ihnen Vergnü-
gen machte, aber gleich die Manipulation ein-
ſtellen, wenn es ihnen nicht weiter behagte.
Endlich gehört noch die Manipulation zum Be-
huf der Erregung des thieriſchen Magne-
tiſmus hierher, die unmittelbar durch den
ſanften Hautreiz und vorzüglich durch die Er-
höhung der Lebensfähigkeit überhaupt wirkſam
iſt, welche durch ein angenehmes körperliches
Wohlbehagen wahrgenommen wird. Doch hat
man mit dieſem Mittel bis jetzt noch wenige Ver-
ſuche an Wahnſinnigen angeſtellt.
Das ſtärkſte und angenehmſte körperliche
Gefühl bewirkt der Genuſs des Beiſchlafs**).
[186]Chiarugi*) trägt kein Bedenken, ihn den
Verrückten zu verſtatten, und glaubt, daſs er
vorzüglich zur Heilung der Melancholie beitragen
könne. Männern kann man durch eine öffentli-
che Dirne, Weibern ſchwerer genügen, weil ſie
ſchwanger werden, und ihr Uebel auf die Frucht
forterben können. An ſich möchte vielleicht ei-
ne Schwangerſchaft heilſam ſeyn, als Ableitungs-
mittel, und beſonders für ſolche Verrückte, die
vor Gram über kinderloſe Ehen hyſteriſch geworden
ſind, oder an der fixen Idee leiden, daſs ſie
ſchwanger ſind, und gebähren müſſen. Die bei-
den Pole des Körpers, Kopf und Geſchlechts-
theile, ſtehn in einer merkwürdigen Wechſelwir-
kung. Erſchütterungen des einen Endpunkts
durch Beiſchlaf und Schwangerſchaft befreien den
entgegengeſetzten von Anhäufung. Die häufigen
Aeuſserungen der Geilheit verrückter Perſonen,
ſind ſie allemal das, wofür ſie gehalten werden,
Urſache der Krankheit? Können ſie nicht auch
Wirkungen des nemlichen Zuſtandes, z. B. einer
Ueberladung mit elektriſcher Materie ſeyn, die
im Kopf als Tobſucht, in den Geſchlechtstheilen
als Geilheit repräſentirt wird? In Verrücktheiten,
deren Urſache Geilheit iſt, kann der Beiſchlaf als
körperliches Heilmittel wirken. Endlich wirkt
die phyſiſche Liebe noch auf das moraliſche Ge-
[187] fühl des Kranken, bald mit einem guten Erfolg,
bald zum Nachtheil deſſelben. Man gebe dem
weltdummen Platoniker, der den Funken eines
höheren Weſens in den Tugenden des weiblichen
Geſchlechts ahndet und darüber zum Narren
ward, eine Bordell-Nymphe zur Geſellſchaft.
Ich zweifle nicht, ſie wird ihn von ſeinem Wahn
bekehren, wenn er an ſich deſſen fähig iſt, und
ihn bald von dem Gipfel ſeines Ideals an die Pfütze
unreiner Neigungen herablocken.
Endlich können wir noch dadurch angeneh-
me Körper-Gefühle wecken, daſs wir die vor-
handenen Schmerzen wegnehmen. Wir kühlen
den erhitzten, erquicken den matten, ſchaffen
Ruhe dem angeſtrengten Kranken. Zu dieſem
Behuf kann es zweckmäſsig ſeyn, ihm abſicht-
lich Schmerzen zu erregen, um nachher als Erlö-
ſer von denſelben auftreten zu können. Wir
laſſen ihn frieren, hungern, durften; erwär-
men ihn dann, und laben ihn mit Speiſe und
Trank.
Durch dieſe angenehmen Gefühle können
wir mancherley nützliche Zwecke in der Cur der
Irrenden erreichen. Durch ſie ziehn wir den
Kranken, den wir vorher durch ſchmerzhafte
Reize zur Beſonnenheit und zum Gehorſam ge-
bracht haben, wieder an uns heran. Durch ſie
belohnen wir ſein Wohlverhalten und ſtärken ihn
auf dieſem Wege. Sie heitern Kranke auf, die
trübſinnig ſind, und ſöhnen andere mit der Welt
[188] aus, die durch Unglücksfälle gebeugt, und durch
böſe Menſchen verletzt ſind. Durch ſie ſind wir
im Stande, die ganze Reihe angenehmer Affekten,
gute Laune, Zufriedenheit, Hoffnung, Fröhlich-
keit, Philanthropie, Zutrauen, Liebe und Dank-
barkeit und mit denſelben eben ſo viele Trieb-
federn zu eigenmächtigen Handlungen in der Seele
zu wecken. Durch ſie können wir endlich in
der Reconvaleſcenz auf die Phantaſie und das
Aſſociationsvermögen wirken und dem Verſtande
eine Stütze geben, wenn er für ſich allein noch
nicht im Stande iſt, den Willen zweckmäſsig zu
beſtimmen.
2) Körperliche Reize, in deren Gefolge
thieriſche Unluſt entſteht. Faſt alle unter
dieſe Claſſe begriffenen Mittel wirken als Krank-
heits-Urſachen, und die mit den erregten Krank-
heiten verbundenen unangenehmen Gefühle ſind
die pſychiſchen Effekte der Mittel, durch welche
wir den Geiſteszerrüttungen zu begegnen ſuchen.
a) Das unangenehme Lebensgefühl,
welches tief auf die Seele wirkt und zu deſſen
Erregung uns ein weites Feld offen ſteht. Wir
haben es in unſerer Gewalt, durch Zulaſſung oder
Entziehung verſchiedener Potenzen Krankheiten
hervorzubringen. Ein groſser Theil unſers Arz-
neivorraths, alle Gifte, viele andere mechaniſche
oder chemiſche Potenzen und die Mittheilungs-
methoden verſchiedener Krankheitsſtoffe ſind,
Behufs dieſes Zwecks in unſeren Dienſten. Die
[189] meiſten Krankheiten ſind mit Miſsbehagen, Mat-
tigkeit, Eckel, mit den mannichfaltigſten Modifi-
kationen des Schmerzes, alſo mit einem mehr
oder weniger unangenehmen Lebensgefühl ver-
bunden.
b) Hunger und Durſt, durch Entziehung
der Nahrung, zwey mächtige Gefühle, die bald
zahm machen, ohne den Anſtrich einer leiden-
ſchaftlichen Grauſamkeit zu haben. So kann
man auch durch die Entziehung der Wärme, die
das Gefühl des Froſtes erregt, und durch die
Entziehung des Schlafs, wodurch die Falken ge-
bändigt werden, wehe thun.
c) Niesmittel, beſonders von Gummi
Guajack und Euphorbium, welche heftige Em-
pfindungen in der Naſe, eigene Erſchütterungen
des Körpers und einen ſtarken Ausfluſs des
Schleims erregen.
d) Blaſenpflaſter, Haarſeile, das
Abbrennen der Moxa, das glühende
Eiſen oder brennendes Siegellack, wel-
ches in die Hände getröpfelt wird. Meiſtens iſt
es zureichend, mit dieſen Mitteln zu drohen oder
einen leichten Vorſchmack derſelben zu geben *).
Moxa und das glühende Eiſen wendet man ge-
wöhnlich auf dem Wirbel des Kopfs an. Allein
der Ort iſt gleichgültig, wenn wir bloſs eine pſy-
chiſche Wirkung beabſichtigen und die Hirnſchaale
[190] gefährlich, weil die durchdringende Hitze Ent-
zündungen und Abſceſſe im Gehirn veranlaſſen
kann.
e) Das Peitſchen mit Brennneſſeln
auf den Rücken, die Arme und Schenkel, wel-
ches einen Neſſelausſchlag und ein ſchmerzhaftes
Jucken erregt, das auch den Unempfindlichſten
ſich zu rühren und den Tollkühnen ſich zu be-
klagen zwingt. Noch giebt es andere Pflanzen
z. B. verſchiedene Rhus-Arten, die ſchmerzhafte
Hautkrankheiten verurſachen.
f) Ein ſtarker Kitzel, der unſerer
Willkühr Abbruch thut. Durch das Bürſten un-
ter den Fuſsſohlen, durch Niesmittel und die
Traufe brachte ich einen Wahnſinnigen, aus dem
lange Zeit kein Wort zu bringen geweſen war,
in wenigen Tagen dahin, daſs er ſich regte, und
die vorgelegten Fragen zu beantworten anfing.
Auch Wanzen, Ameiſen, Proceſſionsraupen und
andere Inſecten erregen einen unangenehmen Haut-
reiz. Ein Kübel mit lebendigen Aalen, in wel-
chen man den Verrückten ſteckte, ohne daſs er
wüſste, was in demſelben wäre, müſste für ſich
ſchon nicht gering, und noch ſtärker indirect,
durch die peinigenden Spiele der Phantaſie, auf
ſein Gefühl wirken.
g) Die Krätze, welche man durch Ein-
pfropfung erregt, bringt einen unangenehmen,
anhaltenden und ſtarken Hautreiz hervor, der
vorzüglich wider eine Abſtumpfung der Reizbar-
[191] keit des Gehirns im Blödſinn, oder in dem ſoge-
nannten dumpfen Wahnſinn nützlich ſeyn kann.
Mutzel*) heilte durch ſie einen Kranken, der
unbeweglich, wie eine Bildſäule war, nicht aſs
noch trank, keinen Laut von ſich gab, durch
Schläge und andere ſchmerzhafte Mittel nicht ge-
weckt, und durch fünf und zwanzig Gran Brech-
weinſtein nur einmal zum Erbrechen gebracht
werden konnte. Das Tropfbad und das Unter-
tauchen im Waſſer machte wenig Eindruck auf ihn.
Nun wurde die Krätze durch einen Schnitt einge-
pfropft. Am dritten Tage nachher entſtand
ein Gefäſsfieber, am ſiebenten Tage brach die
Krätze aus und von der Zeit an verminderte ſich
das Gefäſsfieber. Am neunten Tage fing der
Kranke an zu reden, und bekam allmälig ſeinen
Verſtand wieder. Reuſs**) ſah, daſs Tobſüch-
tige durch die Einimpfung der Pocken; Chi-
arugi***), daſs Melancholiſche durch Frieſel,
und Wahnſinnige durch Flechten an den Füſsen
und durch die Krätze geheilt wurden.
[192]
h) Unſchädliche Arten der Tortur z. B.
die Brenkenhoffſchen Tröge, das Tropfbad auf
den abgeſchornen Wirbel des Kopfs, das tor-
mentum cum ſcarabaeo, mure vel capra *).
i) Züchtigungen durch Ruthenſtreiche,
die Schmerz machen, aufs Ehrgefühl wirken,
und daher nur für Kranke paſſen, die Strafe ver-
dienen.
k) Das Waſſer, ein Element, für welches
der Menſch eine natürliche Furcht hat, und wel-
ches auf eine mannichfaltige Art zur Cur der
Wahnſinnigen gebraucht werden kann. Das beſte
Mittel ſagt de Haen, die Convulſionen der Be-
ſeſſenen zu heben, beſteht darin, daſs man ſie
mit kaltem Waſſer begieſst. Die Traufe und
die Douche wirken theils durch Schmerz, theils
durch Schreck, beſonders wenn ſie auf eine un-
vermuthete Art zugelaſſen werden. Das Stürzen
ins Waſſer erregt Furcht und Kleinmuth, macht
den Halsſtarrigen geſchmeidig und den Wüthrig
zahm. Man kann die Kranken von einem Kahn
oder von einer Fähre in den Fluſs, oder von ei-
nem
[193] nem Schiff ins Meer ſtürzen. Willis lieſs ein
Haus über einen See bauen, welches in dem
nemlichen Augenblick zuſammenfiel, als die
Kranke hineintrat, und ſie in die Tiefe verſenkte.
Es iſt ein Hauptmittel, ſagt Boerhaave*) die
Wahnſinnigen ins Meer zu ſtürzen und ſie ſo
lange darin unterzutauchen, als ſie es aushalten
können. Sofern dies Mittel bloſs pſychiſch wir-
ken ſoll, ſcheint das lange Untertauchen ohne
Zweck zu ſeyn. Doch fordert v. Helmont**)
es als eine nothwendige Bedingung. Nur dann,
ſagt er, hilft das Stürzen ins Meer nicht wider
den Wahnſinn, wenn man die Kranken aus
Furcht, ſie möchten ſterben, zu früh wieder in
die Höhe zieht. Ein alter Mann wurde, mit ei-
nem Gewicht an den Füſsen, ſo lange ins Waſſer
verſenkt, als zur Herſagung des Pſalms Miſe-
rere Zeit erfordert wird ***). Wir haben viele
Beiſpiele, daſs Raſende und Wahnſinnige ihren
Wärtern entſprungen, ſich in Brunnen, Flüſſe
und Seen geſtürzt und geſund wieder aus dem
N
[194] Waſſer herausgezogen ſind *). Ein verrückter
Zimmermann, erzählt v. Helmont**), der
des Nachts Geſpenſter zu ſehen glaubte, konnte
durch kein Mittel, ſelbſt nicht durch die Wun-
derkraft des Grabes der heiligen Dympa geheilt
werden. Auf dem Wege von dem letzten Ort
zu ſeiner Heimath riſs er ſich loſs und ſprang vom
Wagen in eine tiefe Lache am Wege. Er wurde
ſcheintodt herausgezogen, kam wieder zu ſich
und lebte nachher noch 18 Jahr frey von ſeinem
Wahnſinn. In der Nähe des Tollhauſes müſſen
alſo Flüſſe und Seen und in demſelben Anſtalten zu
Douchen und Traufen, Plongirbäder, Kähne, die
auf dem Waſſer zerfallen, und was ſonſt zur be-
quemen Anwendung dieſes Mittels nöthig iſt,
vorhanden ſeyn.
Dieſe und andere Körperreize, welche direct
durchs Gemeingefühl allerhand Arten des
Schmerzes erregen, paſſen vorzüglich zum An-
fang der Cur und für die erſte Periode der
Krankheit. Durch ſie wird der Irrende unter-
jocht, zum unbedingten Gehorſam genöthigt und
zur Cur vorbereitet. Sie wecken die Beſonnen-
heit, nöthigen den Starrſüchtigen, ſich umzuſehen,
und halten den Unſtäten an ſich, als an die Ur-
ſache des Schmerzes, feſt. Die Gefühle, welche
[195] ſie erregen, bringen Betrübniſs, Muthloſigkeit,
Furcht, Biegſamkeit und andere Affekten der
Seele hervor, die die Phantaſie auf eine eigne Art
beſchäfftigen und dem Triebe zum Handeln eine
nene Richtung mittheilen. Endlich können wir
ſie noch unter dem Schein der Zufälligkeit zulaſ-
ſen, ſie dann entfernen, dadurch den Kranken
angenehm afficiren und ihn an uns heran-
ziehn.
In ihrem Gebrauch müſſen wir für Wechſel
ſorgen. Denn das Gefühl iſt an ſich nichts blei-
bendes, ſondern veränderlich in jedem Zeit-
Moment ſeiner Exiſtenz, weil das Organ, durch
welches es der Seele mitgetheilt wird, durch ſein
Wirken immerhin ſeine dynamiſche Temperatur
abändert. Auch muſs auf die Empfänglichkeit
des Kranken Rückſicht genommen, ihr Effect
beobachtet, und in keinem Fall ihr Gebrauch
übertrieben werden, damit derſelbe nicht in
Barbarey ausarte.
Hier noch einige Bemerkungen über die
Zucht der Wahnſinnigen, welche uns eben
durch die benannten Körperreize möglich iſt, ſo-
fern wir durch dieſelben körperliche Luſt oder
Unluſt hervorzubringen im Stande ſind. Durch
jene belohnen wir das Gute, durch dieſe ſtrafen
wir das Böſe, und ziehen durch eine zweckmä-
ſsige Vertheilung beider Gefühle den Kranken an
die Bahn heran, die ihm nützt und frommt. Von
den Fällen, wo es zweckmäſsig iſt, angenehme
N 2
[196] Gefühle als Preiſe aufzuſtellen, die der Kranke
durch ſein Wohlverhalten gewinnen kann, werde
ich unten noch beſonders ſprechen. Abſichtlich
erregte ſchmerzhafte Gefühle, die wir mit den
Untugenden des Kranken in eine ſolche Verknü-
pfung bringen, daſs dieſe jene nach ſich ziehn,
nennen wir Strafen, wenn der Kranke von
ihrem Zweck unterrichtet und denſelben zu be-
greifen im Stande iſt. Dazu wird alſo erfordert,
daſs der Kranke Unarten habe, betrügeriſch,
boshaft, ungehorſam, widerſpenſtig ſey, dieſe
Eigenſchaften ſelbſt für Unarten anerkenne, und
von dem Zuſammenhange der ihm zugefügten
ſchmerzhaften Gefühle mit ihrem Zweck einen
klaren Begriff habe. Es giebt Verrückte, die
ein boshaftes Herz haben, abſichtlich andere
Menſchen zu plagen ſuchen und dem widerſtreben,
was zu ihrer Geneſung angeordnet wird. Dieſe
können durch eine zweckmäſsige Züchtigung ge-
beſſert werden. Andere kann man dadurch von
Unreinlichkeit, Lärmen, Zank und anderen Un-
arten abhalten. So erzählt Pinel*) von An-
ſtalten in Frankreich und Schottland, in welchen
die Verrückten durch zweckmäſsige Züchtigungen
bey der geringſten Widerſpenſtigkeit zum Gehor-
ſam angehalten werden. Ihnen wird, wenn ſie
in ihren Behältniſſen Lärm machen, ſich des
Nachts nicht niederlegen, nicht eſſen wollen, für
[197] den andern Tag eine beſtimmte Zahl mit dem
Ochſenziemer zuerkannt. Dieſe Züchtigung
wird richtig zur Zeit vollzogen, und nach
den Umſtänden wiederholt. Wer ſich bey Tiſche
unordentlich aufführt, bekömmt, ehe er ſichs
verſieht, einen Schlag mit einem Stock auf den
Finger. Die folgſamen Kranken werden mit
irgend etwas belohnt, was ihnen Freude macht.
Nur in ſeltenen Fällen kann man die Züchtigun-
gen dazu gebrauchen, Wüthenden Furcht für ihre
Vorgeſetzte beizubringen und die Ausbrüche
ihrer Tobſucht zu zähmen. Dies ſind ohngefähr
die Fälle, wo Strafen paſſen. In allen andern
Fällen, wo der Kranke keine Strafe verdient,
keine Begriffe von derſelben und ihrem Verhältniſs
zur Untugend hat, ſinnlos, keiner Furcht oder
Correction fähig iſt, ſind ſie zwecklos und als-
denn Barbarey. Sie machen dieſe unglücklichen
Geſchöpfe furchtſam, miſstrauiſch und heim-
tückiſch, vermehren ihre Wuth, ſtürzen ſie in
einen unheilbaren Zuſtand und verwandeln ihre
Verkehrtheit in Blödſinn.
Die Züchtigungen müſſen nicht unmäſsig
und grauſam, oder der Geſundheit nachtheilig,
ſondern dem Zweck angemeſſen ſeyn, und gleich
unterbleiben, wenn der Zweck wegfällt, oder
erreicht iſt. Sie werden in der Maaſse gemildert
und abgeändert, als die Vernunft wiederkehrt.
Nie dürfen ſie Handlungen ſeyn, die im Gefolge
eines Ausbruchs eigner Leidenſchaften entſtehn,
[198] welches die Verrückten wahrzunehmen meiſtens
wohl im Stande ſind. Dies erregt Verachtung.
Wir haben aber dafür zu ſorgen, daſs das Gefühl
der Furcht, um ſeine Wirkungen dauerhaft zu
machen, mit dem Gefühle der Achtung verbunden
ſey. Die Strafe muſs nicht ohne Grund gedroht,
aber alsdenn auch, und zwar in Gegenwart der
andern, vollzogen werden. Dies wirkt auf
beide, auf den, der die Strafe empfängt, und auf
die Zuſchauer. Sie muſs von einem eignen Büttel,
und nie von Perſonen vollzogen werden, die den
Kranken hauptſächlich zu beſorgen haben. Zur
Züchtigung nimmt man Ruthen oder Ochſenzie-
mer. Zuweilen kann man auch, nach der Em-
pfänglichkeit der Kranken, durch Einſperrung,
Hunger und Beſchimpfung ſtrafen. Die Züchti-
gung muſs immer nach dem Urtheile der Ober-
aufſeher zuerkannt und dieſem gemäſs vollzogen
werden. Nie darf es den gemeinen Wärtern er-
laubt ſeyn, nach ihrem Gutdünken zu ſchlagen.
II. Objekte, die dem äuſseren Sinn
beſonders dem Auge, Ohr und dem
Getaſt zur Anſchauung vorgehalten
werden. Bey dieſen Mitteln iſt es auf die An-
ſchauung derſelben und auf das durch ſie erregte
Spiel der übrigen Seelenkräfte abgeſehn. Wäh-
rend dem, daſs dies geſchieht, iſt die Seele ge-
nöthigt, diejenige Thätigkeit einzuſtellen, in
welcher ſie eben begriffen iſt. Wir machen einen
doppelten Gebrauch von dieſen Mitteln. Entwe-
[199] der laſſen wir eine ununterbrochene Folge von
Objekten, wie die Bilder einer magiſchen Lampe,
vor den Sinnorganen vorübergehn, bey deren An-
ſchauung die Seele ſich paſſiv verhält, bloſs von
auſsen beſtimmt und durch die Folge der Vor-
ſtellungen in ihrer Spannung gehalten wird.
Oder wir halten nur ein Object vor und rechnen
auf die eigenmächtigen Erregungen, die durch
die Anſchauung deſſelben in der Seele geweckt
werden, auf den Uebergang der Anſchauung zur
Einbildungskraft, dem Gefühls- und dem Begeh-
rungsvermögen.
In dem letzten Fall, wenn die Sinnesan-
ſchauungen auf die Erregung des geſammten Spiels
der Seelenkräfte berechnet ſind, muſs man
ihnen durch ein mitgetheiltes Inter-
eſſe Leben, und dies auf eine zweckmäſsige
Art zu verſchaffen wiſſen. Sonſt läſst der Kranke
die Objekte bey Seite liegen, ohne ſie beſonders
zu beachten. Es werden daher auch für dieſe
Reize Kranke erfordert, deren Beſonnenheit
ſchon einigermaaſsen geweckt iſt. Ihnen dadurch,
daſs man ſie in Verknüpfung mit der Verrückt-
heit des Kranken bringt, Intereſſe zu verſchaffen,
iſt meiſtens nicht zweckmäſsig. Wir müſſen da-
her daſſelbe auf einem andern Wege zu gewinnen
ſuchen. Wir wählen Sinnes- Eindrücke, die an
ſich und direct angenehme oder unangenehme
körperliche Gefühle durch die Action erregen,
die ſie in den Nerven hervorbringen. Der Art
[200] ſind z. B. die Eindrücke auf das Geruchs- und
Geſchmacks- Organ, angenehme oder unange-
nehme Gefühle durchs Licht, durch widrige und
gellende Töne. Allein ſofern dieſelben als Kör-
perreize bloſs körperliche Luſt oder Unluſt erre-
gen, gehören ſie zu der vorigen Claſſe pſychi-
ſcher Mittel. Wir müſſen ferner zufällige und
ſtarke Gefühle mit den Sinnesanſchauungen ſo
verknüpfen, daſs der Kranke genöthigt wird, bei-
de als Gegenſtände zu beachten, die im Zuſam-
menhange ſtehn und ſich daher aſſociiren. Wir
wählen Eindrücke, die Furcht oder Hoffnung
erregen, z. B. das glühende Eiſen; ſolche, die die
Einbildungskraft des Kranken an ihrer empfind-
lichen Seite angreifen und ſeine Leidenſchaften
erregen, z. B. neue Münzen für den Geizhals;
oder erregen endlich Sinnesanſchauung, die
durch ihre Gröſse und Majeſtät die Aufmerkſam-
keit anziehn, z. B. nachgemachter Blitz, Donner,
Meeresflächen.
Die zweite Gebrauchsart dieſer pſychiſchen
Mittel iſt nur bey Kranken ſtatthaft, die bereits
unterjocht und an unbedingten Gehorſam gewöhnt
ſind. Der Erfolg kann von dem gröſsten Nutzen
ſeyn. Wir ſchieben den Sinnen eine ununterbro-
chene Reihe von Objekten vor, begnügen uns
damit, durch ſie iſolirte Anſchauungen derſelben
zu erregen, ohne auf ihre Fortpflanzung im See-
lenorgan etwas zu berechnen. Dadurch ſuchen
wir ein fortdaurendes gleichſam paſſives Spiel von
[201] Thätigkeit in der Seele zu unterhalten und ſie
während der Zeit zu hindern, ſich mit etwas an-
derm beſchäfftigen zu können. Beiſpiele werden
dies erläutern. Ich ſetze einen Kranken voraus,
der bereits unterjocht iſt und alles thut, was ihm
befohlen wird. Wir haben verſchiedne Behält-
niſſe, für jeden der Sinne eins, in welchen eine
Menge von Objekten in natürlicher oder verjüng-
ter Gröſse, Naturalien oder Kunſtprodukte, Ori-
ginalien oder Bildniſſe enthalten ſind. Aus dieſem
Vorrath wird ein Penſum nach den Fähigkeiten
und Bedürfniſſen des Kranken zu ſeiner Uebung
ausgeſucht. Er muſs von jedem Objekte den
Namen ſagen, die einzelnen Merkmale deſſelben
aufſuchen, dieſe wieder in eine Total- Vorſtel-
lung auffaſſen und endlich alles, was er ſinnlich
wahrgenommen hat, zu Papier bringen. Man
giebt ihn Baukaſten, die er nach einer gegebenen
Vorſchrift in eine beſtimmte Form ordnen, oder
in unregelmäſsige Figuren zerſchnittene Land-
ſchaften, die er nach einer Muſterkarte zuſam-
menſetzen muſs. Anfangs wird er zu dieſen
Uebungen durch eine Perſon angehalten, für
welche er Achtung hat; in der Folge muſs er ſie
für ſich vornehmen. Endlich nöthigen wir ihn,
ohne Gegenwart der Objekte, aus dem Gedächt-
niſs ſich ihrer Merkmale zu beſinnen. Auf dieſe
Weiſe ſind wir im Stande eine zuſammenhängen-
de Reihe von Anſchauungen in der Seele zu er-
halten, ohne daſs der Kranke Intereſſe für dieſel-
[202] ben hat, welches nemlich durch den Zwang
vertreten wird. Während der Zeit, daſs dieſel-
ben wirklich ſind, muſs der Wahn ſchweigen.
Dann haben dieſe Actionen der Seele noch den
Vortheil, daſs jede derſelben iſolirt iſt, der In-
begriff aller, durch die ununterbrochene Folge,
keine Aſſociation und der Phantaſie keinen Spiel-
raum zur Thätigkeit zuläſst, und daher der Kran-
ke gehindert wird, auf den Gegenſtand des
Wahns abzuſpringen.
Die vorzüglichſten Sinnorgane ſind das
Getaſt, das Ohr und das Auge. Geruch
und Geſchmack gewähren weniger reine Anſchau-
ungen, ſondern mehr Gefühle, und gehören
daher eigentlich nicht hieher, ſondern unter die
vorige Claſſe pſychiſcher Heilmittel. Doch glaube
ich, daſs man wenigſtens mit dem Organ des
Geruchs durch ein wohlgeordnetes Etui von Par-
fümerieen mancherley nützliche Verſuche anſtel-
len und die Seele auf dieſe Weiſe, durch die
Unterſcheidung der Gerüche, in der Beſonnen-
heit üben könnte. Aufs Getaſt können wir
allerhand Gegenſtände anwenden, die durch
Anſchauung des Glatten oder Rauhen, des Kalten
oder Warmen, des Leichten oder Schweren und
beſonders durch ihre mannichfaltigen Formen
wirken. Zur Zeit, wo dieſer Sinn geübt wird,
ſetzt man alle übrigen auſser Thätigkeit, damit
er allein zu wirken genöthiget ſey. Man bringt
z. B. den Kranken in ein ſtockfinſteres und todt-
[203] ſtilles Gewölbe, das mit den ſeltſamſten, feſten
und beweglichen, todten und lebendigen Gegen-
ſtänden angefüllt iſt. Der Art wären, wenn
grauſende Eindrücke erfordert würden, Wind-
ſchläuche, Waſſergüſſe, Eiſsſäulen, Pelzmänner,
Marmor-Statüen, Todtenhände, die unvermerkt
den Bart ſtreichen. Dieſe Objekte würden durch
ihre Wirkung aufs Getaſt der Phantaſie den
mannichfaltigſten Stoff zur Uebung darbieten.
Für andere Kranke, die reizbar ſind, werden
Gegenſtände gewählt, die nichts ſchreckhaftes
haben.
Das Ohr iſt eins der Sinnorgane, das
man den Eindrücken am ſchwerſten verſchlieſsen
kann. Viele ſeiner Anſchauungen ſind zugleich
mit einem angenehmen oder unangenehmen Ge-
fühl verbunden. Durch daſſelbe wirkt der Zau-
ber der Töne auf uns, die Pythagoras das
Element der Geiſter nannte. Auſserdem hat es
noch die hohe Beſtimmung, die Sprache aufzu-
faſſen, fremde Gedanken in der Seele anzuzünden
und dadurch das Haupt- Communicationsorgan
der Geiſterwelt zu werden. Die Schläge von
Schwärmern, Piſtolenſchüſſe, Kanonendonner,
der gellende Ton eines Blasinſtruments, das an-
haltende Brummen einer zwey und dreiſsigfüſsigen
Orgelpfeife, das langſame Anſchlagen an eine
groſse und dumpfe Glocke, oder einzelne Schläge
auf der türkiſchen Trommel; alles dies in einem
einſamen, hohen, ſonoren und finſtern Gewölbe
[204] kann vielleicht den faſelnden Kranken fixiren.
Einen andern kann ein wildes und regelloſes
Chaos von Tönen durch Trommeln, Glocken,
Schallmeien, Menſchenſtimmen, Thiergeheul u.
ſ. w. heilſam ſeyn *).
Ein Wahnſinniger wurde dadurch vernünf-
tig, daſs man in das Zimmer, worin er ſich be-
fand, ein kupfernes Becken ſtellte, und durch
die Decke tropfenweiſe Waſſer in daſſelbe fallen
lieſs. Der ſanfte und abgemeſſene Klang erregte
des Kranken Aufmerkſamkeit, und lockte einen
ruhigen Schlaf herbey **). Ein anderer phanta-
ſirte heftig, kam aber augenblicklich zu ſich, als
[205] er einen Rumor hin- und herlaufender Menſchen
auf der Straſse hörte, und beim Nachfragen er-
fuhr, daſs das Haus des Nachbarn brenne *).
Ich erinnere mich irgendwo von einem
Katzenclavier geleſen zu haben. Die Thiere
waren nach der Tonleiter ausgeſucht, in eine
Reihe mit rückwärts gekehrten Schwänzen ge-
ordnet, auf dieſelben fiel eine mit ſcharfen Nägeln
verſehene Taſtatur. Die getroffene Katze gab ihren
Ton. Eine Fuge auf dieſem Inſtrumente, zu-
mal wenn der Kranke ſo geſtellt wird, daſs er
die Phyſiognomie und das Geberden- Spiel dieſer
Thiere nicht verliert, müſste ſelbſt Loths Weib
von ihrer Starrſucht zur Beſonnenheit gebracht
haben. Noch herzbrechender iſt die Stimme des
Langohrs. Schade, daſs er bey ſeinen geringen
Talenten doch Künſtler-Caprice hat. Allein,
da es der Kunſt zum Behuf der Jägerey gelungen
iſt, in den Lockpfeifen die Stimmen ſo vieler
Thiere nachzuahmen, warum ſollte es ihr nicht
auch möglich ſeyn, für dieſe und andere einſchnei-
dende voces brutorum eigne Inſtrumente zu erfin-
den, die dann, neben der jüngſt empfohlnen
Drehorgel, in dem Apparat der Tollhäuſer ihren
Platz finden würden.
Vorzüglich erwähne ich an dieſem Orte der
Muſik, die ſchon den Juden und Heiden **) als
[206] pſychiſches Mittel wider Geiſteszerrüttungen be-
kannt war. Sie wirkt durch Menſur und Modu-
lation des Tons; wird dem ganzen Nervenſyſtem
durch eine phyſiſche Erſchütterung, und der Seele
beſonders durch das Organ des Gehörs mitge-
theilt. Der Oberhofarzt Kerſting in Hanno-
ver wurde durch eine Gehirnerſchütterung von ei-
nem Fall ein halbes Jahr taub, und zwey Jahre
blind. Allein ſein Gefühl war ſo erhöht, daſs
er durch daſſelbe grobe Schrift leſen, und die
Farben ſeiner Blumen unterſcheiden konnte.
Was gegen ſeine Hand geſprochen wurde, em-
pfand er, ja er war ſogar im Stande durch Ge-
fühle, die man ihm auf dieſem Wege mittheilte,
Buchſtaben und Sylben zu unterſcheiden. Seine
Empfindungen verglich er mit Bebungen oder
Stöſsen, und ſagte, daſs ihm dieſe beſonders von
dem Buchſtaben R bis zur Beängſtigung empfind-
lich wären *). Doch hauptſächlich wirkt die
Muſik durchs Ohr auf die Seele, die ſich an der
Modulation der Töne ergötzt, ihre Bedeutung
auffaſst, dieſelbe mit ihrer Stimmung aſſociirt und
die Kunſt bewundert. Die Tonkunſt ſpricht
durch unartikulirte Töne zu unſerem Ohr und
T. XI. p. 88. Kauſch pſychologiſche Ab-
handlung über den Einfluſs der Töne und der
Muſik auf die Seele. Breslau 1782.
[207] durch daſſelbe unmittelbar zu unſerem Herzen,
ohne erſt, wie die Redekunſt, ihren Weg durch
die Phantaſie, und den Verſtand zu nehmen. Sie
ſpannt unſere Empfindungen, macht unſere Lei-
denſchaften nach einander rege, und lockt ſie
gleichſam aus dem Hintergrunde der Seele ſanft
hervor. Die Muſik beruhiget den Sturm der
Seele, verjagt die Nebel des Trübſinns und
dämpft zuweilen den regelloſen Tumult in der
Tobſucht mit dem beſten Erfolg. Daher iſt ſie
in der Raſerey oft, und faſt immer in ſolchen
Geiſteszerrüttungen heilſam, die mit Schwermuth
verbunden ſind. Bey Starrſuchten des Vorſtel-
lungsvermögens und Ideenjagden, kann ſie aus
dieſem gefährlichen Spiele retten, die Seele be-
weglich machen, oder auf der Flucht ihr einen
Ankerplatz anweiſen, wo ſie ſich anhalten kann.
Sie iſt endlich für Liebhaber in der Reconvales-
cenz ein Mittel, das ſie beſchäfftiget, ableitet,
zerſtreut und ſtärkt. Uebrigens fehlt es auch
hier an Beobachtungen und Reſultaten über dieſen
Gegenſtand. In welchen Fällen und zu welcher
Zeit ſoll die Muſik angewandt werden? Welche
Art für jeden Fall, und auf was für Inſtrumenten?
Denn es kann kaum bezweifelt werden, daſs ſie
fürs Tollhaus, nach der Stimmung des Kranken
zur Starrſucht oder zur Flatterhaftigkeit, nach
der Art ſeines Wahnſinns, nach der eignen Mo-
difikation ſeiner Gefühle und nach der Menſur der
Thätigkeit ſeiner Seele einer beſonderen Compo-
[208] ſition bedürfe und auf eignen Inſtrumenten ausge-
führt werden müſſe. Noch muſs ich zum Be-
ſchluſs ein Paar Beiſpiele ihrer Wirkſamkeit
wider Geiſteszerrüttungen, aus dem Tiſſot*)
anführen. Ein berühmter Tonkünſtler und Com-
poniſt verfiel in ein hitziges Fieber, zu welchem
ſich am ſiebenten Tage ein heftiges und anhalten-
des Irrereden mit Weinen, Schreien, plötzlichem
und ſchreckhaften Auffahren und einer anhalten-
den Schlafloſigkeit hinzugeſellte. Nach zwey
Tagen äuſserte er ein Verlangen, nach einem
kleinen Concert in ſeinem Zimmer. Kaum hatte
er die erſten Accorde gehört, ſo bekam er ſchon
ein fröhliches Anſehn, und die Zuckungen ver-
ſchwanden. Das Heilmittel wurde wiederholt
und allemal flohen Fieber und Irrereden ſolang,
als das Concert dauerte. In einer Nacht muſste
er ſich mit einem Gaſſenlied ſeiner Wärterin be-
helfen, von welchem er auch eine gute Wirkung
verſpürte. Nach zehen Tagen war er durch die
Muſik völlig geheilt. Das andere Beiſpiel betrifft
einen Tanzmeiſter zu Alais, der nach vorherge-
gangener Erhitzung in ein Fieber verfiel. Am
vierten Tage entſtand eine anhaltende Schlafſucht
und darauf folgte ein wüthendes und ſtummes
Irrereden, bey dem der Kranke unaufhörlich
aus dem Bette zu ſpringen ſuchte. Einer ſeiner
Freunde nahm die Violine und ſpielte ihm einige
Stücke
[209] Stücke vor. Dies machte einen ſolchen angeneh-
men Eindruck auf ihn, daſs er ſich aufrichtete,
und mit den Armen die Manieren des Stücks aus-
drückte. Das Raſen hörte auf, der Kranke fiel
in einen tiefen Schlaf und während deſſelben ſtellte
ſich eine Criſis ein, durch welche er genas.
Den Beſchluſs dieſes Abſchnitts mache ich
mit Objekten für den Sinn des Ge-
ſichts, der der Seele am nächſten liegt und auf
die Erregung ihrer Vermögen am kräftigſten ein-
wirkt. Eindrücke auf dieſen Sinn wirken ſelten
direct aufs Gefühl, ſondern vorzüglich aufs Vor-
ſtellungsvermögen, durch daſſelbe auf die Einbil-
dungskraft, wecken den Vorrath von Ideen und
gehn auf dieſem Wege zum Gefühls- und Begeh-
rungsvermögen über. Hier liegt noch ein groſses
Feld zur Bearbeitung für die pſychiſche Heilmit-
tellehre offen. Allein da die Objekte für dieſen
Sinn ſo mannichfaltig und ihr Gebrauch von den
verſchiedenen Zuſtänden des Kranken ganz ab-
hängig iſt, ſo kann ich mich auf ihr Detail nicht
einlaſſen. Ich bemerke bloſs im Allgemeinen,
daſs jedes Tollhaus zum Behuf ihrer impoſanten
Anwendung und zweckmäſsigen Zuſammenſtel-
lung ein für dieſe Zwecke beſonders eingerichtetes,
durchaus praktikabeles Theater haben könnte,
das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen,
Maſchinerien und Decorationen verſehen wäre.
Auf demſelben müſsten die Hausofficianten hin-
länglich eingeſpielt ſeyn, damit ſie jede Rolle
O
[210] eines Richters, Scharfrichters, Arztes, vom
Himmel kommender Engel, und aus den Gräbern
wiederkehrender Todten, nach den jedesmaligen
Bedürfniſſen des Kranken, bis zum höchſten Grad
der Täuſchung vorſtellen könnten. Ein ſolches
Theater könnte zu Gefängniſſen und Löwengru-
ben, zu Richtplätzen und Operationsfälen formirt
werden. Auf demſelben würden Donquichotte
zu Rittern geſchlagen, eingebildete Schwangere
ihrer Bürde entladen, Narren trepanirt, reuige
Sünder von ihren Verbrechen auf eine feierliche
Art losgeſprochen. Kurz der Arzt würde von
demſelben und deſſen Apparat nach den indivi-
duellen Fällen den mannichfaltigſten Gebrauch
machen, die Phantaſie mit Nachdruck und dem
jedesmaligen Zwecke gemäſs erregen, die Beſon-
nenheit wecken, entgegengeſetzte Leidenſchaften
hervorrufen, Furcht, Schreck, Staunen, Angſt,
Seelenruhe u. ſ. w. erregen und der fixen Idee des
Wahnſinns begegnen können.
Nur ein Paar Beiſpiele von der Benutzung
dieſes Sinns zur pſychiſchen Cur der Irrenden.
Chiarugi*) erzählt, daſs man einen Tobſüch-
tigen an einem Stricke in die Höhe gezogen, ihn
dadurch ſchnell zahm gemacht und bald ganz ge-
heilt habe. Man legt zu dieſem Behuf dem Kran-
ken bequeme Leibriemen an, bringt dieſe durch
Stricke und Flaſchenzüge mit einem hohen Ge-
[211] wölbe oder mit einem ungeheuren Maſtbaum in
Verbindung, und zieht ihn in die Höhe, daſs er
wie ein Himmelsbote in den Lüften ſchwebt.
Der Eindruck wird um deſto grauſender ſeyn, je
höher der Kranke, oder wenn er über Feuer-
brände, über eine tobende See aufgezogen wird.
Zum Feſte des heiligen Schweiſstuchs zu Beſan-
çon, erzählt Pinel*), wurden viele Verrückte
hergebracht, die man für Beſeſſene hielt. Eine
unzählige Menge Zuſchauer ſtellte ſich auf einer
erhöhten Bühne, in Geſtalt eines Amphitheaters.
Die angeblich Beſeſſenen wurden von Solda-
ten gehalten und machten raſende Bewegungen.
Prieſter gingen in ihren Ceremonien- Kleidern
ernſthaft umher und ſchickten ſich zur Beſchwö-
rung des Teufels an. Auſserhalb dieſes Kreiſes
und in dem Innern der Kirche hörte man melodi-
ſche Töne, und eine kriegeriſche Muſik. Auf
ein gegebenes Zeichen erſchien in der Luft zu
drey verſchiedenen Malen, unter dem Donner
der Kanonen von der Citatelle eine Art von Fahne,
die das heilige Schweiſstuch vorſtellte.
Und durch dies prachtvolle, feierliche und reli-
giöſe Schauſpiel wurden wirklich manche Wahn-
ſinnige geheilt.
III. Zeichen und Symbole und be-
ſonders Sprache und Schrift, die bloſs
dadurch wirken, daſs ſie die Vehikel ſind, durch
O 2
[212] welche unſere Vorſtellungen, Phantaſieen, Be-
griffe und Urtheile, als äuſsere Potenzen, auf
den Kranken übergetragen werden. Durch ſie
nöthigen wir ſein Gehirn zu Oſcillationen, die
denen analog ſind, durch welche die mitgetheil-
ten Vorſtellungen entſtanden und von welchen wir
vorausſetzen, daſs ſie der Norm gemäſs ſind.
Wiederholte Thätigkeiten werden zu Fertigkeiten.
Durch ſie ſuchen wir den Vorrath der Ideen des
Kranken zu vermehren, die vorhandenen zu be-
richtigen, und dies auf eine Art, wie es dem
Zwecke der Correction ſeiner Seelenvermögen
angemeſſen iſt. Durch ſie können wir der Seele,
unter günſtigen Umſtänden, die nemlichen Er-
ſchütterungen mittheilen, die wir durch die pſy-
chiſchen Mittel der beiden erſten Claſſen beabſich-
tigen. Sie können den Starrſüchtigen wecken,
den Flatterhaften fixiren, ſie können den Kranken
zur Beſonnenheit und Aufmerkſamkeit bringen,
ihn unterjochen, jede Leidenſchaft, Furcht, Ehr-
furcht, Liebe, Zutrauen in ihm hevorrufen. Ja
ſie müſſen meiſtentheils den erſtgedachten Mitteln,
durch ihre Verknüpfung mit denſelben, gleich-
ſam erſt lebendige Kraft und eine beſtimmte
Tendenz mittheilen. Das blanke Schwerdt mit
einem donnernden quos ego! wirkt zur Zäh-
mung der Raſenden unendlich mehr, als das blanke
Schwerdt allein. Doch haben ſie auſserdem ihren
eigenen und höheren Wirkungskreis. Durch ſie
beabſichtigen wir nemlich hauptſächlich den An-
[213] bau und die Correction der oberen Seelenkräfte,
nehmen den Verſtand in Anſpruch und ſuchen
ihn mit der Sinnlichkeit in ein normales Verhält-
niſs zu bringen, um der Verrücktheit ein inneres
Hinderniſs im Wege zu ſtellen, da alle andern
Mittel ſie nur palliativ und durch einen äuſseren
Zwang zu zähmen ſcheinen. Dies iſt eine Funk-
tion, die ihnen ausſchlieſslich eigen iſt und durch
alle übrigen Mittel nicht erreicht werden kann.
Daher paſſen ſie auch nur für Kranke, die noch
ſoviel Seelenkraft haben, daſs ſie den Sinn der
Zeichen faſſen können, die zur radikalen Cur
vorbereitet, oder auf dem Wege der Geneſung
ſind.
Dieſe pſychiſchen Mittel ſind beſonders dazu
geeignet, den abſoluten Anomalieen der einzelnen
Seelenvermögen und den relativen Fehlern derſel-
ben abzuhelfen, die in ihrer Verbindung ſich
äuſsern; die vorſpringenden Kräfte zu zähmen,
den geſchwächten und trägen nachzuhelfen; den
moraliſchen Sinn des Kranken zu wecken; beſon-
dere Zuſtände der Seele, ihre Aufmerkſamkeit
und Beſonnenheit zu cultiviren; eigenthümlichen
Verirrungen, den ſchädlichen Neigungen und
Trieben der Kranken zu begegnen. Dies ſetzt
genaue Kenntniſs der Seele überhaupt und des
Seelenzuſtandes der Verrückten, ihrer Aſſocia-
ciationen, Gefühle und Begierden und eine be-
ſtimmte Charakteriſtik der einfachſten Geiſtesge-
brechen voraus. Dann werden nach den Princi-
[214] pien der Erziehungskunde für Irrende, Curen für
dieſe Fälle projektirt, aus deren Inbegriff endlich
die Mittel für dieſen Abſchnitt abgezogen werden
müſſen. Hier tritt der Pſychologe des Tollhauſes
in ſeine eigenthümliche Funktion ein, der auſser
den allgemeinen Kenntniſſen eine genaue Bekannt-
ſchaft mit dem Individuum, Genie, Scharfſinn,
Praxis und Schnelligkeit in der Benutzung des
Zufalls haben muſs. Ein glücklicher Einfall,
zur rechten Zeit, iſt im Stande den Kranken auf
der Stelle zu heilen. Ferner muſs der Kranke
volles Zutrauen zu ſeinem Seelen- Arzt haben.
Er glaubt alsdenn anfangs auf Auctorität; und
dies bahnt den Weg zum Glauben aus Ueberzeu-
gung. Es kömmt endlich ſehr auf die Wahl der
Zeit, auf die Manier des Vortrags, auf Stimme
und Geberden und auf die Zuſammenſtellung
dieſer pſychiſchen Mittel mit andern an. Dieſe
heben die Wirkung jener, jene die Wirkung dieſer
Mittel.
Der pſychiſche Arzt vermeide alles üppige
Wortgepränge; trage ſeine Ideen und Gründe ſo
deutlich und einleuchtend vor, daſs der gemeinſte
Menſchenverſtand ſie faſſen kann. Spricht er zu
viel, ſo hat dies den Nachtheil, daſs er dem
Kranken als ein Schwätzer erſcheint, der kein
Zutrauen findet, und der Kranke kann aus Ohn-
macht den Schwall nicht faſſen und verliert das
Wichtige über dem Unwichtigen, weil ihm die
Ruhepunkte nicht verſtattet werden, die ſein
[215] ſchwaches Gehirn nöthig hat. Der Arzt laſſe es
gut ſeyn, wenn der Kranke durch einen tiefen
Seufzer ſeinen Gründen Beifall gegeben und da-
durch angezeigt hat, daſs er für dieſelben nicht
ganz taub ſey. Iſt der Kranke ein und abermals
ſeines Irrthums überführt, ſo darf der Arzt den
wiederkehrenden Wahn nicht mit neuen Gründen
beſtreiten. Er verweiſt auf die ſchon gegebenen
und mahnt ihn zum Glauben an. Oft wirken die
Vorſtellungen zwar nicht auf der Stelle; aber nach-
her, bey einer günſtigern Zeit, fängt der Kranke
an ſie zu beachten und ihren Gehalt zu muſtern.
Iſt er taub für die erſten triftigen Gründe, ſo iſt
er es auch für die folgenden ſchwächeren. Die
matte Urtheilskraft erliegt unter dem Wuſt von
Ideen und fängt in dieſem Zuſtande ſo ſehr an zu
ſchwanken, daſs ſie auch an dem Begreiflichſten
zweifelt. Die Aufmerkſamkeit iſt beſchränkt und
kann nur einen gewiſſen Grad von Anſtrengung
aushalten. Gelingen dieſe Verſuche durchaus
nicht; ſo ſtehe man ab, bekämpfe den Kranken
erſt mit andern Waffen, wirke durch körperliche
Gefühle, Arbeit und Zerſtreuung auf ihn, und
bereite ihn dadurch erſt vor zu künftigen neuen
Angriffen durch dieſe höhere Ordnung pſychi-
ſcher Mittel.
Die Mittel ſelbſt übergehe ich, und begnüge
mich den Platz bezeichnet zu haben, wohin ſie
kommen ſollten. Auch ſcheint es, daſs man ſich
mit allgemeinen Reflexionen über dieſelben begnü-
[216] gen müſſe. Ihr Detail würde wahrſcheinlich eine
Rüſtkammer für leere Köpfe ſeyn, die davon
einen unrechten Gebrauch machten. Es iſt genug,
daſs der Arzt mit allen den allgemeinen Kennt-
niſſen ausgerüſtet ſey, die von ihm gefordert wer-
den können, wenn er als Arzt der Irrenden auf-
treten will. Dann kann er die Ideen extempori-
ſiren, durch welche er den beſonderen Modifika-
tionen des Wahns begegnen ſoll.
Zum Beſchluſs noch ein Paar Beiſpiele. Ein
Wahnſinniger in Bicetre hielt ſich für einen König,
und ſchrieb ſeiner Frau in einem befehlenden Ton,
daſs ſie ihn aus ſeinem Arreſt befreien ſolle. Ein
Reconvaleſcent machte ihm darüber Vorwürfe, die
ſo gut wirkten, daſs er den Brief zerriſs und
einen andern ſchrieb. Dieſe Stimmung nützte
Puſſin, ging zu ihm, machte ihn darauf auf-
merkſam, daſs er kein Souverain ſey, weil er
ſeine Gefangenſchaft nicht beendigen könne, und
unter Wahnſinnigen aller Art bleiben müſſe. Am
andern Tage ſetzte er ſein begonnenes Werk fort,
zeigte ihm das Abſurde ſeines Wahns, ſtellte ihm
einen andern Verrückten vor, der des nemlichen
Glaubens ſey, und daher allen vernünftigen Men-
ſchen zum Gelächter diene. Dieſe Vorſtellungen
erſchütterten anfangs den Kranken, dann fing er
allmälig an, ſeine Souverainität zu bezweifeln,
nach vierzehn Tagen war er frey von ſeiner Chi-
märe und nach einigen Probemonaten wurde er
[217] geheilt entlaſſen *). Langermann**) beſuchte
eine wahnſinnige Perſon, die ſich einbildete, ihren
Sohn, den ſie ſehr liebte, umgebracht zu haben.
Es wirkte nicht auf ſie, daſs man ihr den Sohn
vorſtellte. Sie bemerkte ihn gar nicht. Nun
entfernte Langermann denſelben von ihr und
ſagte ihr, daſs ihr Sohn vor Schreck über ihre
unſinnige Aufführung todtkrank geworden ſey.
Dies brachte ſie zur Beſonnenheit, ſie erkundigte
ſich nach der Gröſse der Gefahr, bat um Beiſtand
für denſelben und verſprach, ihn nicht wieder zu
erſchrecken. Durch dieſe Wendung war ſie auf
einmal von ihrer fixen Idee geheilt.
Soviel von der Heilmittellehre pſychiſcher
Mittel. Ich wiederhole es noch einmal, daſs
alles dies rohe Entwürfe ſind, die keine andere
Tendenz haben, als zu zeigen, wieviel auf dieſem
Felde noch zu bearbeiten und zu gewin-
nen iſt.
§. 16.
Ich komme nun zum ſchwerſten Theil,
nemlich zur Heilkunde der Geiſteszer-
rüttungen durch pſychiſche Mittel,
d. h. zu den Regeln, nach welchen obenbenannte
Mittel den in der Erfahrung vorkommenden indi-
viduellen Krankheitsfällen angepaſst werden
[218] müſſen. Wir ſtellen die Kräfte der Mittel und
die concrete Krankheit mit ihren ſämmtlichen
innern und äuſsern Verhältniſſen neben einander
und gewinnen dadurch die Anzeigen und Gegen-
anzeigen. In der That eine miſsliche Arbeit,
da uns die Kräfte der Mittel, das Weſen der
Krankheit, ihre Zuſammenſetzung, ihr Verhält-
niſs zu den entfernten Urſachen und ihre Modifi-
kationen durch die Individualität ſo oft unbekannt
ſind. Ich werde daher nur Verſuche machen und
einige Grundriſſe entwerfen, die von der Zukunft
erſt ihre Vollendung erwarten. Wir ſind noch zu
arm an Erfahrungen in dieſem Fache, um durch
ſie zu den allgemeinſten Reſultaten zu gelangen.
Von den vorhandnen habe ich ſo viele und ſo allge-
meine Regeln abgezogen, als es mir möglich war,
und dieſe durch Beiſpiele zu erläutern ge-
ſucht.
§. 17.
Vorläufig einige allgemeine Regeln,
die auf die pſychiſche Curmethode des Wahnſinns
überhaupt Bezug haben.
1) Ein zuverläſſiges Heilverfahren dieſer
Krankheit iſt nach dem jetzigen Stand unſeres
Wiſſens nicht möglich. Die Natur derſelben und
ihre Cauſalverhältniſſe ſind uns wenig bekannt
und die Wirkungen der pſychiſchen Mittel ſo re-
lativ, daſs wir auf nichts Beſtimmtes rechnen
können. Weder die Art der Erregung der Seele,
[219] wie ſie unſern Abſichten entſpricht, noch die
Stärke, Dauer und Ausbreitung derſelben ſteht
durch ſie in unſerer Gewalt. Wir müſſen uns
daher jetzt noch mit ganz allgemeinen Anweiſun-
gen begnügen und auf das Talent des Künſtlers
rechnen, dieſe den concreten Fällen anzupaſſen.
Daher ſollte man vorerſt gute Köpfe, die Genie,
Scharfſinn, Erfindungsgeiſt und Philoſophie ha-
ben, durch Uebung zu einer geläuterten Empirie
ausbilden. Dieſe würden mit Behutſamkeit das
Bekannte auf die vorkommenden Fälle anwenden,
ihren Irrthum bald einſehen, dadurch zu entge-
gengeſetzten Methoden geleitet werden und nach
und nach von ihren gemachten Erfahrungen allge-
meine Ideen abſondern, die als künftiges Regula-
tiv in der Behandlungsart der Irrenden dienen
könnten.
2) Eine Hauptſache iſt es, daſs der Kranke
gleich beim erſten Ausbruch ſeiner Geiſteszerrüt-
tung in die Hände eines geſchickten Arztes falle.
Die Krankheit ſchreitet fort, ändert ihre Geſtalt
wird ſchwerer heilbar mit ihrem Alter und ein
Fehlgriff bey den erſten Verſuchen kann den
Kranken für jeden künftigen Plan unempfänglich
machen. Mittel, die in der Frühzeit zuverläſſig
gewirkt hätten, ſind fruchtlos in der Folge. Der
Curplan richtet ſich alſo nach dem Gang, Alter,
den Metamorphoſen der Krankheit und der Heil-
methode, die bereits wider dieſelbe angewandt
iſt. Pſychiſche Verſuche, die nichts mehr wir-
[220] ken, läſst man fahren und vertauſcht ſie mit an-
deren.
3) Alle zum Behuf des Curplans erfundenen
pſychiſchen Mittel, Zerſtreuungen, Ableitungen
u. ſ. w. müſſen dem Kranken als durch Zufall
herbeigeführt erſcheinen und daher mit Klugheit
und Behutſamkeit ausgeführt werden, damit er
nichts von Abſicht oder Betrug ahnde. In dieſer
Rückſicht rechne man nicht zuviel auf ſeinen
Stumpfſinn. Er iſt gewöhnlich ſchlauer, als wir
es vermuthen, und unterſcheidet das Natürliche
von dem Künſtlichen richtig genug. Sind wir
einmal auf Betrug ertappt, ſo iſt das Zutrauen
für immer verlohren und jeder künftige Verſuch
miſslingt aus Verdacht eines ähnlichen Be-
truges.
4) Verliert derjenige, welcher die Cur des
Kranken vorzüglich handhabet, das Zutrauen
deſſelben durch irgend einen Fehlgriff in der Me-
thode; ſo gelingt ihm ſchwerlich irgend ein
künftiger Verſuch. Er gehe ab und überlaſſe ſei-
nen Platz einem andern Arzt, den ſein Irrthum
auf einen entgegengeſetzten beſſeren Weg leiten
kann. In der Regel wird es gerathen ſeyn, ſol-
che Kranke ganz in eine andere Anſtalt abzulie-
fern. Eben dies gilt auch von dem Fall, wo der
Kranke, wegen einer unbekannten Idioſyncraſie,
ſeinen Arzt nicht leiden kann.
5) Den Kranken, der ſich ermannt hat, muſs
man zu halten ſuchen. In dem Moment, wo er
[221] zurückſinken will, ſetze man ihm gleich eine
Stütze. An Mannichfaltigkeit der Mittel darf es
daher dem pſychiſchen Arzt nicht fehlen. Jeder
wiederkehrende Anfall hinterläſst eine neue Zer-
rüttung des Gehirns. Wie niederſchlagend iſt es
daher für den Arzt, ſein angefangenes Werk ſo
oft durch Irrthum und Nachläſſigkeit anderer wie-
der zerſtört zu ſehn; wie nachtheilig ſind die Be-
ſuche bey Privat- Kranken. Das bunte und zweck-
loſe Gewäſch entkräftet das Gehirn derſelben und
eröffnet ſeiner Tendenz zur Anomalie neue
Schlupfwege. Wie ſehr wäre es zu wünſchen, das
der Arzt immer um den Kranken ſeyn könnte und
hinlängliche Gehülfen hätte, die mit ihm in ein
Ganzes harmoniſch zuſammenfaſsten.
§. 18.
Der erſte Angriff auf Geiſteszerrüttete muſs
wahrſcheinlich der ſeyn, ſie vorzubereiten,
daſs in der Folge mit Vortheil pſy-
chiſch auf ſie gewirkt werden könne.
Es iſt hier, wie bey moraliſchen Gebrechen, mei-
ſtens eine geringe Kunſt, abſtrakte Hülfen für
abſtrakte Uebel anzugeben. Manche Geiſteszer-
rüttungen, die auf Chimären und vorgefaſste
Urtheile beruhn, würden auf der Stelle geheilt
ſeyn, wenn der Kranke unſern Vorſchlägen Ge-
hör leiſtete, ſich zerſtreute, ſeine Grillen bey
Seite ſetzte und ihren Ungrund ernſtlich prüfte.
Allein eben dann, wenn er dies wollte und könnte,
[222] würden ſeine Irrthümer keine Seelenkrankheiten
ſeyn. Er iſt entweder nicht zu überzeugen, daſs
er wirklich leide, oder doch unvermögend, ſich
durch Mittel zu helfen, die geſunden Menſchen
in ähnlichen Fällen zur Seite ſtehn. Der Starr-
ſüchtige iſt taub für alles, was mit ſeiner fixen
Idee nicht zuſammenhängt; der Flatterhafte kann
an kein Mittel gehalten werden, das ihn retten
könnte. Es wird ſogar dem geſunden Menſchen
oft ſchwer, ſeinen Geiſt durch die Macht des
Vorſatzes zu halten, Furcht, Traurigkeit und
ungegründetes Miſstrauen durch Vernunftgründe
zu bekämpfen, die üppige Phantaſie von ihren
habituellen Zügen abzuleiten und in ihre Grenzen
zurückzuweiſen. Wie unendlich ſchwerer muſs
dies Kranken ſeyn, denen entweder aller Vorſatz
ſich zu helfen fehlt, oder welche nicht einmal
überzeugt werden können, daſs ſie krank ſind.
Dieſe muſs man durch Zwang nöthigen, ſich einer
Cur zu unterwerfen, wie man Kinder zum Ein-
nehmen der Arzneien zwingt. Eben dies, die
allgemeinen Regeln der Individualität anzupaſſen
und den Curplan mit den mannichfaltigſten Ver-
hältniſſen des bedingten Falls in eine ſolche Ver-
knüpfung zu ſtellen, daſs ſein Zweck erreicht
wird, erfordert einen Scharfſinn und eine Fertig-
keit, durch welche das Genie von dem Kunſtpro-
dukte und der praktiſche Arzt von dem theoreti-
ſchen ſich unterſcheidet.
[223]
Die Vorbereitung zur pſychiſchen Cur muſs
durchgehends auch durch pſychiſche Mittel ver-
anſtaltet werden. Durch ſie beabſichtigen wir
einen doppelten Zweck. Theils ſoll ſie die
Beſonnenheit des Kranken wecken,
theils denſelben zum Gehorſam nöthi-
gen. Beides erreichen wir, mit geringen Modi-
fikationen, meiſtens durch einerley Mittel und
auf dem nemlichen Wege. Durch ſtarke und
ſchmerzhafte Eindrücke erzwingen wir des Kran-
ken Aufmerkſamkeit, gewöhnen ihn an unbe-
dingten Gehorſam und prägen ſeinem Herzen das
Gefühl der Nothwendigkeit unauslöſchlich ein.
Der Wille ſeiner Vorgeſetzten muſs ein ſo feſtes
und unabänderliches Geſetz für ihn ſeyn, daſs es
ihm eben ſo wenig einfällt, ſich demſelben zu
widerſetzen, als wider die Elemente zu kämpfen.
Die Vortheile dieſer Vorbereitung zur Erreichung
des Zwecks der Cur ſind ausnehmend groſs.
Durch Gehorſam und wiedergeweckte Beſonnen-
heit muſs der Kranke erſt empfänglich für alle
künftige Operationen gemacht werden. Sie ſind
alſo gleichſam die Grundlage des geſammten Heil-
geſchäffts.
Die Mittel zur Erreichung beider Zwecke,
Beſonnenheit zu wecken und Gehorſam zu er-
zwingen, richten ſich nach der Individualität des
Kranken, dem Grad und der Art ſeiner Krank-
heit nach ſeiner Erziehung, ſeinen Gefühlen, kurz
nach ſeinen ſämmtlichen inneren Beſtimmungen.
[224] Jeder Kranke iſt ein Subject eigner Art, das wie
jedes Kind nach ſeiner Weiſe gezogen ſeyn will.
Unbedingte Regeln giebt es daher auch hier, wie
überall nicht. Der Arzt muſs ſie mit Hülfe ſeiner
praktiſchen Fertigkeit dem individuellen Fall an-
paſſen. Der rohe Naturmenſch und der an Druck
gewöhnte Sklave kann durch eine harte, der
Mann von Bildung und Ehrgefühl durch eine
ſanftere Behandlung zum Gehorſam gebracht;
der gebeugte Menſchenhaſſer durch Güte und
Nachgiebigkeit, der trotzige Wüthrig durch Ernſt
und unnachläſſige Strenge gewonnen werden. Im
Anfang führen meiſtens Mittel, die Furcht ma-
chen, am ſchnellſten zum Ziel. Selbſt ſolche
Kranke, die durch Güte gezogen werden müſſen,
fodern in dieſer Periode eine ernſthafte Behand-
lung, um ihnen Achtung für ihre Vorgeſetzte
einzuflöſsen. Sie ähneln den Kindern, die es
verſuchen, ihren Willen durchzuſetzen, aber
bald einlenken, wenn ihrem Vorſatze ein ſchmerz-
haftes Hinderniſs in den Weg geſtellt wird.
Ich will einen Kranken ſetzen, der in einem
hohen Grade faſelt oder kataleptiſch und unver-
wandt auf einen Gegenſtand hinſtarrt und daher
der Beſonnenheit und alles Bewuſstſeyns äuſserer
Nothwendigkeit beraubt iſt. Denſelben will ich
von dieſer äuſserſten Grenze durch alle Stufen der
wiederkehrenden Vernunft bis zum ungebundenen
Gebrauch derſelben aufwärts führen und für jede
Periode die Mittel anzeigen, die derſelben ange-
meſſen
[225] meſſen zu ſeyn ſcheinen. Man verzeihe es mir,
wenn ich in der Erfindung der Mittel für dieſen
hypothetiſchen Fall der Phantaſie freien Lauf
laſſe. Das aufgeſtellte Gemählde ſoll eine bloſse
Idee ſeyn, wie ohngefähr gehandelt werden könnte,
die in der Wirklichkeit unendlicher Variationen
fähig iſt.
Um den Kranken zu unterjochen muſs man
ihm zuförderſt jede Stütze rauben, damit er ſich
durchaus hülflos fühle. Man entferne ihn von
ſeinen Verwandten, dem Geſinde, das ihm ge-
horchen muſs, von ſeinem Hauſe und aus ſeiner
Vaterſtadt; bringe ihn in ein Tollhaus, in wel-
chem ihm weder das Lokal noch die Menſchen
bekannt ſind. Dies ſpannt ſeine Erwartung, und
um deſto mehr, wenn ſeine Einführung in daſſelbe
mit feierlichen und ſchauderhaften Scenen ver-
knüpft iſt. Er hört bey ſeiner Annäherung
Trommelſchlag, Kanonendonner, fährt über
Brücken, die in Ketten liegen, Mohren empfan-
gen ihn. Ein Eintritt unter ſo ominöſen Vorbe-
deutungen kann auf der Stelle jeden Vorſatz zur
Widerſpenſtigkeit vernichten. In der Abſicht
hat man es auch bereits wirklich vorgeſchlagen,
die Kranken bey Nacht, oder in verdeckten Wagen,
und durch Umwege in die Irrenanſtalt zu fahren,
um ſie dadurch zu täuſchen, als würden ſie in
ferne Gegenden fortgeſchafft. Man bringt ſie in
ein Tollhaus, das ſie als Geſunde nie geſehen
haben, und ſchneidet ihnen in demſelben alle Ver-
P
[226] bindung mit ihren Bekannten ab. Schon deswe-
gen ſollte man es nicht verſtatten, daſs auch die
Tollhäuſer der Neugierde zum Tummelplatz und
dem Müſsiggang zum Zeitvertreib dienen müſſen.
Die Officianten könnten eine unbekannte und
ſonore Sprache reden. Der Kranke glaubt dann,
unter fremde Nationen gerathen zu ſeyn. Dies
macht ihn muthloſer. Er wird die Blöſsen der-
ſelben nicht ſo leicht gewahr, die er zu entdecken
meiſtens noch ſchlau genug iſt, und vermuthet hin-
ter unverſtändlichen Tönen mehr Weisheit, als ſie
wirklich andeuten. Daher, ſagt Willis, wer-
den Fremde, die auch nicht einmal die Sprache
des Tollhauſes verſtehn, unter gleichen Umſtän-
den leichter geheilt als Einländer, weil ſie voll-
kommner iſolirt ſind. Ferner kommt ſehr viel
auf Körperbau, Gang, Geberden, Stimme und
auf den feſten und durchdringenden Blick der
Vorgeſetzten an. Des D. Willis Miene ſoll
gewöhnlich freundlich und leutſeelig ſeyn, aber
ſich augenblicklich verändern, wenn er einen
Kranken zum erſtenmale anſichtig wird. Er ge-
bietet demſelben Ehrfurcht durch ſein Anſehn und
faſst ihn ſcharf ins Auge, als könnte er alle Ge-
heimniſſe aus dem Herzen deſſelben ans Tageslicht
hervorlocken. So gewinnt er augenblicklich
eine Herrſchaft über den Kranken, die er hernach
mit Vortheil zu ſeiner Heilung gebraucht. In der
Folge lenkt er ein, vertauſcht ſeinen Ernſt mit
Leutſeeligkeit, die Strenge mit Güte und zieht
[227] dadurch den Kranken wieder an ſich, den er zu-
vor gleichſam von ſich abſtieſs.
In der Regel müſſen wir, wenigſtens im An-
fang, kurz befehlen und auf eine augenblickliche
und pünktliche Befolgung des Befehls dringen.
Raiſonnements und Ueberredungen durch Gründe
ſind zweckwidrig. Man befiehlt bloſs das, was
man bey Widerſpenſtigkeit durch Gewalt erzwin-
gen kann oder verpönt die Befehle und vollzieht
dann die Strafe richtig, wenn ſie nicht befolgt
werden. Andere Dinge, die zu erzwingen nicht
in unſerer Gewalt ſtehn, müſſen entweder gar
nicht oder nur bittweiſe verlangt werden. Iſt es
dem Verrückten einmal gelungen, unſeren Befeh-
len auszuweichen; ſo macht dies ihn kühn zu
neuen Verſuchen und hartnäckig für die Folge.
In der Erziehung der Kinder befolgen wir die
nemlichen Maximen. Pargeter*) wurde zu
einem wahnſinnigen Jüngling gerufen, der mit den
Kleidern im Bette lag und ſich nicht ausziehen
lieſs. Er ging allein zu ihn, ſetzte ſich in ſeiner
Nähe und ſah die Gelegenheit ab, ihn feſt ins
Auge zu faſſen. Nun gab er ein verabredetes
Zeichen mit dem Fuſs. Zwey Weiber traten her-
ein, die Befehl zum Ausziehen bekamen und es
ohne Widerrede verrichteten.
Einige Kranke haben von dem exaltirten Zu-
ſtand ihrer Kräfte ein ſo lebhaftes Gefühl, daſs
P 2
[228] ſie des Wahns leben, als könne ihnen nichts
widerſtehn. Dieſe überzeugt man vom Gegen-
theil. Man ergreift ſie mit hinlänglicher Kraft,
ohne Rückſicht auf ihr Widerſtreben, taucht ſie
in kaltes Waſſer, oder ſtürzt ſie in einen reiſsen-
den Strom. Andere zarte und furchtſame Sub-
jekte können durch ein rauhes Anfahren, durch
Drohungen oder durch den bloſsen Anblick einer
ſchauderhaften Scene zum Gehorſam gebracht
werden. Ein gewiſſer Monarch wurde wahn-
ſinnig. Man nahm ihm allen eitelen Prunk,
trennte ihn von ſeiner Familie und ſperrte ihn in
einem einſamen Pallaſt ein. Dann erklärte ihm
derjenige, der die Behandlung leitete, daſs er
kein Souverain mehr, ſondern zu gehorchen jetzt
an ihm die Reihe ſey. Man gab ihm zwey Pagen,
die ihn theils bedienen, theils durch ihre Ueber-
legenheit an Kräften ihn überzeugen ſollten, daſs
er ganz von ihnen abhänge. Eines Tages empfing
er ſeinen Arzt hart, und ſich hatte er mit Koth be-
ſudelt. Gleich trat einer der Pagen ins Zimmer,
ergriff ihn mit drohender Miene um die Mitte des
Leibes, warf ihn mit Kraft auf eine Matratze,
entkleidete ihn, wuſch ihn, zog ihn friſch an,
und trat dann wieder auf ſeinen Poſten zurück.
Durch dergleichen wiederholte Warnungen wur-
de der Kranke bald folgſam, unterwarf ſich der
Cur und genas durch dieſelbe bald völlig *).
[229] Den gefeſſelten Kranken ſoll man durch Ein-
drücke, die auf das Gefühl und die Sinne wirken,
den, der noch einigen Gebrauch des Verſtandes
hat, durch moraliſche Mittel zum Gehorſam
nöthigen. Die ſinnlichen Eindrücke müſſen bloſs
rührend, z. B. donnernde Töne ſeyn, wenn der
Kranke ſinnlos iſt; ſie müſſen ſchmerzhaft ſeyn,
wenn er Energie und Widerſtand äuſsert; ſie
müſſen endlich in der Form von Strafen ange-
wandt werden, wenn er hartnäckig und boshaft
iſt. Bey Narren, ſagt Lichtenberg, helfen
die Stockſchläge oft mehr als alle andere Mittel.
Durch ſie wird die Seele genöthiget, ſich wieder
an diejenige Welt anzuſchlieſsen, aus der die
Prügel kommen. Oft iſt es ſchon genug, zu
drohen oder der Phantaſie Bilder vorzuhalten,
die ſchrecken. In ſolchen Fällen, ſagt Langer-
mann, ſoll man nach Wintringham’s *) Rath,
die Drohungen nicht geradezu an die Kranken
richten, ſondern ſie lieber mit den Umſtehenden
verabreden. Sie hören doch darauf, argwöhnen
keine leere Drohung und thun was man wünſcht.
Langermann**) hatte eine unfolgſame und
raſende Kranke, die keine Arzney nehmen wollte.
Er wandte ſich an die Umſtehenden, erklärte de-
nen, daſs er genöthiget ſey, die Marter des
[230] glühenden Eiſens an der Kranken zu verſuchen,
da gelindere Mittel nichts mehr fruchteten. Er
befahl dem Wärter, das Eiſen ins Feuer zu legen
und ihn zu rufen, wenn ſie ſich abermals wider-
ſetzen ſollte. Sie hatte dies ſtill mit angehört und
verweigerte nicht weiter den Gehorſam. Eine
andere eitle, ſtolze und eiferſüchtige Närrin folgte
in keinem Stücke dem Arzt, tyranniſirte alle
Hausgenoſſen, legte ſich nicht zu Bette, ſondern
tobte des Nachts überall im Hauſe herum. Lan-
germann lieſs ihr die demüthigende Wahl, ent-
weder zu gehorchen, oder ſich in eine entfernte
Irrenanſtalt führen zu laſſen. Dann befahl er ihr,
gleich ihren koketten Anzug wegzuthun, ſich am
Abend ins Bette zu legen und wenigſtens ruhig
zu liegen, wenn ſie auch nicht ſchlafen könne.
Dies, ſagte er ihr, ſolle die erſte Probe ſeyn, die ſie
im Gehorſam zu beſtehen hätte. Beides geſchah.
Endlich müſſen oft die Mittel, den Kranken
zum Gehorſam zu bringen, nach den Umſtänden
inproviſirt werden. Das Glück, mit welchem dies
geſchieht, hängt von dem Genie des Künſtlers ab.
Einige Proben der Art gebe ich als Beiſpiele.
Puſſins Frau kam einſt zum Zank dreier Ver-
rückten, die ſich ſämmtlich für Ludwig den
XVIten hielten und ſich über Rechte zum König-
thum ſtritten. Sie nahm einen derſelben bey Seite,
und fragte ihn in einem ernſthaften Tone, wie er
ſich mit Menſchen ſtreiten könne, die nicht klug
wären. Es ſey ja bekannt genug, daſs er Lud-
[231] wig der XVIte ſey. Dieſe Schmeicheley bewog
ihn, die andern mit Verachtung zu verlaſſen, und
der Streit hatte ein Ende. Ein anderes mal wur-
de ein junger Menſch, der mehrere Monate ruhig
geweſen war, plötzlich von einem Anfall ſeiner
Raſerey befallen. Er ſchlich ſich in die Küche,
nahm das Hackemeſſer, ſprang auf einen Tiſch,
und drohete jedem den Kopf einzuſchlagen, der
ſich ihm nähern würde. Die Puſſin nahm auf
der Stelle folgende Wendung: ſie ſchalt ihre Leute,
daſs ſie den Kranken hinderten, mit ihr zu arbei-
ten, redete ihm ſanft zu, zu ihr zu kommen, und
zeigte ihm, wie er ſein Inſtrument gebrauchen
müſste. In dieſem Augenblick griffen die An-
weſenden zu, entwaffneten ihn, und brachten
ihn in Verwahrung *). Ein wahnſinniger Soldat in
Bicetre wurde wild, weil man ihn nicht, wie es
ihm träumte, zur Armee zurückgehen laſſen wollte.
Er zerriſs alles und muſste in Banden gelegt wer-
den. Man lieſs ihn acht Tage lang in dieſer Lage
ſeine Wuth ausſchnauben. Nun kehrte er in ſich
und ſahe ein, daſs er zu ohnmächtig ſey, ſeinem
Eigenſinn zu folgen. Eines Morgens, als der
Vorſteher die Runde machte, bat er denſelben in
einem demüthigen Ton, ihn loszulaſſen, wenn er
ruhig ſeyn würde. Dies geſchah und der Kranke
genas **). Ein anderer wollte keine Nahrungs-
mittel zu ſich nehmen. Herr Puſſin näherte
[232] ſich ihm des Abends in einem ſchreckenden Auf-
zug, von ſeinen Dienſtleuten begleitet, die mit
Ketten klirrten, lieſs ihm eine Suppe vorſetzen,
und ſagte ihm mit feurigen Augen und einer don-
nernden Stimme, daſs wenn er ſie in der bevor-
ſtehenden Nacht nicht würde verzehrt haben, am
andern Tage die grauſamſten Martern ſeiner war-
teten. Der Kranke aſs nach einem innern
Kampf von mehreren Stunden, bekam Schlaf und
Kräfte und genas von ſeinem Wahnſinn. In der
Reconvaleſcenz geſtand er die Unruhe und Angſt,
in welcher er dieſe Probenacht zugebracht hatte.
Sobald der Kranke gehorſam iſt, muſs jeder
Zwang aufhören. Er würde nun zwecklos ſeyn,
Widerſpenſtigkeit, Haſs, Rachſucht und andere
gehäſſige Leidenſchaften erregen, zu welchen
Wahnſinnige an ſich ſchon geneigt ſind. Man
geht jetzt allmälig zu dem entgegengeſetzten Be-
tragen über, handelt offen und freundſchaftlich,
und belohnt das Wohlverhalten des Kranken
durch Dinge, die ihm angenehm ſind.
Auſserdem, daſs man durch den erzwunge-
nen Gehorſam gleichſam den Grund zur geſamm-
ten Cur legt, gewinnt man durch ihn noch einen
anderen bedeutenden Vortheil. Man iſt jetzt
nemlich in Stande, die Handlungen des
Kranken in ein Syſtem von Regelmä-
ſsigkeit zu bringen. Er wird angehalten,
zu beſtimmten Zeiten zu ſchlafen, aufzuſtehen,
ſich zu reinigen, zu kleiden und zu arbeiten. Es
[233] ſcheint zwar, als könne bey einer Verkehrtheit
der Seelenkräfte keine Regelmäſsigkeit der Hand-
lungen zu Stande kommen. Allein dies iſt bloſser
Schein. Denn ſie ſind nicht unbedingt abhängig
von den eigenmächtigen Entſchlüſſen der Seele,
ſondern können durch Zwangsmittel gleichſam
auſser Verbindung mit dem eignen Willen geſetzt
werden. In der Folge wird die urſprünglich er-
zwungene Ordnung durch Gewohnheit zur me-
chaniſchen Fertigkeit. Der Verſtand iſt verkehrt;
das Handlen regelmäſsig. Zum Behuf dieſes
Zwecks muſs man, nachdem vorher der Kranke
unterjocht iſt, ſtreng auf die gegebenen Vorſchrif-
ten halten, und nie, ſelbſt in den unbedeutendſten
Kleinigkeiten, eine Ausnahme verſtatten. Im
Spital muſs Regel, Reinlichkeit, Gerechtigkeit
und Sittlichkeit herrſchen. Dies Vorbild wirkt
auf den Kranken und macht es ihm leicht, ſich
an die nemliche Ordnung zu gewöhnen, die er
überall um ſich verbreitet ſieht. Und welche
Vortheile gewinnen wir dadurch? In der That
keine geringen. Der Kranke bleibt geſund,
ſein Gehorſam wird zur Gewohnheit; die Wärter
können ihn leichter pflegen und die Ordnung des
Spitals erhalten. Sollte man ihn endlich als un-
heilbar an die Aufbewahrungsanſtalt abgeben
müſſen: ſo iſt er für dieſelbe vortrefflich vorberei-
tet. Denn kein Anblick iſt empörender als die
chaotiſche Verwirrung, in welcher die Kranken
in den meiſten Tollhäuſern durch einander ſchwir-
[234] ren. Man hat genug daran, um nach nichts
weiter fragen zu dürfen. Doch hiervon künftig
einmal bey einer anderen Gelegenheit.
Dieſe Mittel, durch welche wir Gehorſam
erzwingen, wirken zugleich auch auf das Selbſt-
bewuſstſeyn, die Beſonnenheit und Aufmerkſam-
keit des Kranken. Aus Furcht beachtet er die
Wiederkehr der Dinge, die ihn einmal zur Furcht
brachten. Allein wenn er bereits zum Gehorſam
gebracht iſt, ſo verſuchen wir es durch eigene
Mittel, ihn auf dem Wege der Beſonnenheit wei-
ter zu fördern. Dieſe Mittel zur Weckung der
Aufmerkſamkeit, deren abſolutes Vermögen wir
nach einer allgemeinen Idee aufgefaſst haben,
müſſen ebenfalls der Empfänglichkeit des in An-
frage ſtehenden Individuums entſprechen, mit ſei-
ner Seelen-Kultur überhaupt, dem Verhältniſs
der Sinnlichkeit zu den Verſtandeskräften, den
hervorſtehenden Neigungen deſſelben und mit der
Natur ſeiner Verrücktheit in ein richtiges Gleich-
gewicht geſetzt ſeyn.
In der Regel divergirt die Aufmerkſamkeit
nur in zwey Richtungen, als Vertiefung im
fixen Wahnſinn, und als Flatterhaftigkeit
in der Narrheit. Ihre Verhältniſſe zum Blödſinn
und zur Raſerey werde ich unten noch beſonders
angeben. Beide Anomalieen werden durch einer-
ley Mittel behandelt, die nemlich Eindruck machen.
Eindrücke fixiren den Flatterhaften und locken
den Fixirten von dem Gegenſtand ab, auf welchen
[235] er hinſtarrt. Die Eindrücke müſſen in der Regel
anfänglich aufs Gefühl wirken, weil dies Körper
und Seele am innigſten verwebt und das meiſte
Intereſſe für den Menſchen hat. Sie müſſen ge-
rade ſo ſtark ſeyn, daſs ſie den Kranken nöthigen,
das durch ſie erregte Gefühl und deſſen Objekte
zu beachten. Dadurch können wir die Seele eine
Zeit lang auf eine neue Art beſchäfftigen, und
in ihr Ideenreihen erregen, die ganz auſser der
Sphäre der Verrücktheit liegen. Und damit iſt
in der That ſchon viel gewonnen. Indem die zu
reizbaren Hirnfaſern zur Ruhe gebracht, die trä-
gen erregt werden, kehrt die normale Proportion
in der Dynamik des Seelenorgans zurück und
der hervorſtechende Wahn ſchwindet. Iſt der
Kranke beides, gehorſam und aufmerkſam, ſo
iſt die Bahn gebrochen, zur Uebung der einzelnen
Kräfte der Seele und ihrer höheren Vermögen.
Einige der Mittel, die wir Behufs der Weckung
der Beſonnenheit und Aufmerkſamkeit anwenden,
ſind unſchädlich, z. B. angenehme Gefühle, gleich-
gültige Sinnesanſchauungen, Arbeiten, Beſchäff-
tigungen der Seele und des Körpers, aber in
hartnäckigen Fällen nicht zureichend. Dann
wählt man ſtärkere; die aber eben deswegen auch
ſchaden können, und daher mit Vorſicht und nur
am rechten Ort angewandt werden dürfen.
Wenn der Kranke auf den äuſserſten Grad
ſinnlos iſt, ſo müſſen erſt einige rohe Züge durchs
Nervenſyſtem gewagt werden. Er werde durch
[236] körperliche Gefühle, ſtarke Sinneseindrücke und
durch erſchütternde Stöſse auf die Phantaſie gleich-
ſam aus ſeinem Taumel geweckt. Man ziehe ihn
mit einem Flaſchenzug an ein hohes Gewölbe auf,
daſs er wie Abſalom zwiſchen Himmel und Erde
ſchwebt, löſe Kanonen neben ihn, nahe ſich ihm,
unter ſchreckenden Anſtalten, mit glühenden
Eiſen, ſtürze ihn in reiſende Ströme, gebe ihn
ſcheinbar wilden Thieren, den Neckereien der
Popanze und Unholde Preis, oder laſſe ihn auf
feuerſpeienden Drachen durch die Lüfte ſeegeln *).
Bald kann eine unterirdiſche Gruft, die alles
Schreckende enthält, was je das Reich des Höl-
lengottes ſah, bald ein magiſcher Tempel ange-
zeigt ſeyn, in welchen unter einer feierlichen
Muſik die Zauberkraft einer reizenden Hulda
eine prachtvolle Erſcheinung nach der andern aus
dem Nichts hervorruft. Dieſe und andere ſtarke
Reizmittel des Gefühls, der Sinne und der
Phantaſie werden den Kranken zum Aufmerken
[237] nöthigen, wenn er nicht ganz gefeſſelt iſt. Bey
dieſem ganzen Vorgang betrachten wir ihn zur
Zeit als bloſsen paſſiven Zuſchauer.
Der erſte Schritt iſt gethan; wir rücken
einen weiter vorwärts. Wir wählen andere Reiz-
mittel, die immer noch ſo ſtark ſeyn müſſen,
daſs ſie den Kranken nicht in ſeine Unbeſonnen-
heit zurück fallen laſſen, aber dabey ihn zur
eignen Thätigkeit nöthigen. Er darf
jetzt nicht mehr bloſser paſſiver Zuſchauer blei-
ben, ſondern muſs handelndes Subject
werden. Dadurch wird nicht allein die äuſsere
ſondern auch die innere Beſonnenheit und das
Selbſtbewuſstſeyn geweckt. Die Mittel dazu ſind
theils der Art, daſs ſie ohne Leidenſchaft, theils
der Art, daſs ſie durch erregte heftige Leiden-
ſchaften zur Thätigkeit treiben. Die letzten
Mittel paſſen nur für Kranke, die durch gelindere
nicht zu halten ſind, können empfindlichen Per-
ſonen ſchaden und müſſen daher anfangs in
geringen Gaben und mit Behutſamkeit angewandt
werden.
Man trifft eine Veranſtaltung, die den
Kranken nöthiget mit ſcheinbaren Gefah-
ren zu kämpfen. Dies beſchäfftigt ſeine
Einbildungskraft, erregt ſeine Leidenſchaften,
nöthigt ſeinen Verſtand, Mittel zur Rettung für
ſich zu erfinden und dieſelben zweckmäſsig aus-
zuführen. Ich werde bloſs einige Phantaſieen
hinwerfen, die dem praktiſchen Arzt als Regula-
[238] tiv zur Erfindung ähnlicher Mittel in concreten
Fällen dienen mögen. Man bringe den Kranken
in ein geſchloſſenes Terrain, wo dem Auge die
Ueberſicht des Ganzen überall durch Hecken und
Irrgänge verrennt iſt. In demſelben droht jede
Partie Gefahr. Hier fällt eine Traufe auf ihn;
er ſucht zu entrinnen, aber umſonſt, verborgene
Sprützen verfolgen ihn mit Waſſergüſſen. In der
Nähe verſpricht ein anmuthiges Plätzchen Ruhe
und Schutz; er ſucht es zu gewinnen, aber ein
ſcheinbar reiſsendes Thier empfängt ihn, das ihn
ängſtiget, ohne ihm zu ſchaden. Er bemüht ſich
über einen Hügel zu entfliehn, von deſſen Spitze
er wieder herunter rollt, wenn er ſie kaum er-
reicht hat. An einem anderen Ort ſinkt der
Grund, er fällt in eine Grube, aus welcher er nur
mit Mühe einen Ausgang findet. Kurz alle
Punkte des Lokals ſind ſo eingerichtet, daſs ſie
überall ſcheinbare Gefahren drohen, die gerade
den Grad von Stärke haben, der zur Erhaltung
der Aufmerkſamkeit zureicht. Sie müſſen den
Kranken weder verwirrt noch muthlos machen,
ſondern ihm Hoffnung zu Rettung anbieten und
durch dieſelbe ſeine Vermögen in Thätigkeit
ſetzen. Sie müſſen ihm Ruhepunkte zur Erholung
laſſen, wenn er ermüdet iſt, mit gelinderen wech-
ſeln und in dem Maaſse an Intenſität des Ein-
drucks abnehmen, als die Beſonnenheit zuge-
nommen hat.
[239]
Sobald durch jene Lection die Beſonnenheit
des Kranken abermals um einen Grad geſteigert
iſt, wählt man zur Weckung ſeiner Thätigkeit
mildere Reize, die durch keinen zweideutigen
Schock, weder auf die Phantaſie noch auf die
Leidenſchaften, gefährlich werden können. Er
muſs zu Uebungen angehalten werden, die augen-
blicklich einige Gefahren bey ſich führen, ſobald
die Aufmerkſamkeit entweicht. Man ſtellt ihn
an, Waſſer aus einer Grube zu plumpen, in wel-
cher gerade ſoviel zuflieſst, als er fördern kann.
Es ſteigt ihm an die Kehle, wenn er nicht fleiſsig
iſt. Er muſs über ſchmale Stiege gehn, in einem
Kahn ſich fahren, reiten. Durch alle dieſe
Uebungen, ſofern ſie nicht ohne Richtung der
Aufmerkſamkeit auf dieſelben möglich ſind, wird
dem inneren Feinde Abbruch gethan. In der
Folge wählt man furchtſame und widerſpenſtige
Pferde; krumme Wege und bergigte Gegenden.
Das Reiten nützt zugleich noch durch Zerſtreuung
und Erſchütterung des Unterleibes. Man unter-
richtet den Kranken in Künſten, die für ihn er-
lernbar ſind und wozu er durch Zwang angehalten
werden kann. Ich will nur ein Paar Ideen als
Beiſpiele anführen. Das Schwimmen wirkt als
Bad, als Bewegung des Körpers; allein auſser-
dem hat es den groſsen pſychiſchen Nutzen, daſs
es durch ſeine Gefahr aufmerkſam macht. Man
kann ſich deſſelben wider den anfangenden fixen
Wahn, wider den Trübſinn und endlich in der
[240] Reconvaleſcenz mit Vortheil bedienen. Eben ſo
würde ein gemeinſchaftliches Exercitium der
Wahnſinnigen, wie es ihrer Faſſung angemeſſen
iſt, zu einer beſtimmten Stunde des Tages, wahr-
ſcheinlich auf ihre Correction einen heilſamen
Einfluſs haben. Es beſchäfftigt ſie, leitet ſie ab,
erhält ſie geſund, ſtärkt ihren Gehorſam, weckt
ihre Beſonnenheit, und gewöhnt ſie an Regel und
Ordnung. Zu dem Ende würden ſie in verſchie-
dene Claſſen, nach ihren Fähigkeiten, abgetheilt,
zum Gehorchen oder zum Befehlen beſtimmt und
angehalten in dem Maaſse ſchwerere Evolutionen
zu erlernen, als ihre Beſonnenheit wiederkehrte.
Oben *) habe ich auch ſchon Uebungen in der
Aufmerkſamkeit vorgeſchlagen, die man durch
Objekte erzwingen kann, welche dem äuſseren
Sinn dargeboten werden und in Rückſicht ihres
Zwecks den benannten nahe verwandt ſind. Von
denſelben kann man bey ſchwächeren Perſonen
und in den Intervallen zwiſchen heftigeren An-
ſtrengungen Gebrauch machen.
In allen Irrenhäuſer müſſen die Kranken zur
Arbeit angehalten werden, welches man durch
einen leichten Zwang bewerkſtelligen kann,
wenn ſie erſt unterjocht ſind **). Dadurch wird
die
[241] die körperliche Geſundheit, mit derſelben frohe
Laune und in dem Tollhauſe Regel und Ordnung
erhalten. Allein auſserdem iſt die Arbeit noch
ein treffliches Mittel den Irrſinn ſelbſt zu heilen.
Sie muſs geſund, wo möglich in freier Luft und
mit Bewegung und Abwechſelung verbunden ſeyn.
Das letzte iſt wenigſtens in Beziehung auf fixes
Wahn nothwendig. Sie muſs den Kräften des
Kranken und ſeinen Neigungen angemeſſen ſeyn,
ihn durch ihr Intereſſe anziehn und ein ſo leichtes
Spiel der Seelenkräfte unterhalten, daſs es gerade
zureicht, von der fixen Idee abzuleiten und den
faſelnden Narren anzuheften. Daher ſollte in den
Irrenhäuſern oder in ihrer Nähe für allerhand
Arten von Profeſſionen geſorgt ſeyn, damit jeder
Kranke nach ſeinen Kräften und nach ſeiner Nei-
gung beſchäfftiget werden könnte. Wahrſchein-
lich iſt es uns möglich, ſolche Abſtufungen ver-
ſchiedener Arbeiten zu erfinden, daſs faſt alle
Wahnſinnige, ihren Fähigkeiten gemäſs, in
Thätigkeit geſetzt werden können. Nur muſs
der engherzige Finanzier uns nicht ins Tollhaus
verfolgen, mit naſſen Augen jeden Zopf Wolle
anſehn, den der Verrückte verdirbt, oder wol
gar den ſteigenden Ertrag der Anſtalt zum Maaſs-
ſtab ihres ſteigenden Flors ſetzen wollen. Irren-
häuſer ſind wie die Schauſpielhäuſer nicht zum
Erwerb geeignet. Für beide muſs die Maſſe auf-
opfern. Endlich müſſen die Arbeiten noch in dem
Verhältniſs abgeändert werden, als der Kranke
Q
[242] in der Cur fortſchreitet. Anfangs beſchäfftiget
man bloſs den Körper, nachher auch die Seele;
man ſchreitet von Handarbeiten zu Kunſtarbeiten,
und von da zu Geiſtesarbeiten fort. Ein Uhr-
macher, deſſen ich oben ſchon erwähnt habe,
kam durch anhaltendes Nachſinnen über die Er-
findung eines Perpetuum mobile um ſeinen Ver-
ſtand und bildete ſich ein, ſein Kopf ſey ihm ver-
tauſcht. Man gab ihm Uhrmacher-Werkzeug
und Materialien zur Verarbeitung. Dies leitete
ihn von ſeiner fixen Idee ab, und führte ihn wie-
der auf ſeine urſprüngliche Narrheit, ein Perpe-
tuum mobile zu erfinden, zurück, von der er
nachher auch geheilt wurde *). In einer ſpani-
ſchen Stadt Saragoſſa beſteht für Kranke und
vorzüglich für Wahnſinnige aller Länder und
Religionen ein offener Zufluchtsort mit der ein-
fachen Inſchrift: Urbis et Orbis. Die Stifter
derſelben ſuchten nicht bloſs durch mechaniſche
Arbeiten, ſondern vorzüglich durch das An-
lockende des Feldbaues den Verirrungen des
Geiſtes ein Gegenmittel entgegen zu ſtellen. Am
Morgen ſieht man, wie einige Kranke die Dienſte
des Hauſes verſehn, andere ſich in ihre Werkſtätte
begeben. Die meiſten derſelben vertheilen ſich,
mit Frohſinn, in verſchiedene Haufen, unter der
Leitung verſtändiger Aufſeher ins Feld, das
zum Hoſpital gehört und übernehmen mit
[243] einer Art von Wettſtreit die Arbeiten, die jeder
Jahreszeit angemeſſen ſind. Sie bauen Waizen,
Hülſenfrüchte, Kräuter, beſorgen die Erndte,
das Dreſchen, die Wein- und Olivenleſe. Davon
haben ſie den Vortheil, daſs ſie am Abend, in
ihrem glücklichen Aſyl, der Ruhe und des
Schlafs genieſsen, und viele ſollen bloſs durch
dieſe einfache Einrichtung wieder zur Vernunft
gelangen *). In der Nachbarſchaft der Stadt
York iſt eine Irrenanſtalt auf die nemlichen
Grundſätze gegründet. Alle Kranke müſſen,
ſobald ſie dazu hinlänglich vorbereitet ſind, arbei-
ten. Die Weiber ſpinnen, die Männer machen
Geräthe von Stroh und Weidenruthen. Dann
verſuchte der Oberaufſeher es auch, ein zum Hauſe
gehöriges Feld durch ſeine Kranken bearbeiten
zu laſſen, und legte jedem ein ſeinen Kräften
angemeſſenes Tagewerk auf. Er bemerkte, daſs
ſie an dieſer Beſchäfftigung Wohlgefallen hatten,
und ſich nach derſelben am Abend beſſer befan-
den, als wenn ſie zu Hauſe geblieben wären.
Delarive ſah ſie arbeiten. Es waren deren
zwölfe bis funfzehn an der Zahl, die ſo vergnügt
und zufrieden zu ſeyn ſchienen, als es nach ihrem
Zuſtand möglich war **). Dieſe Idee, Verrückte
zum Feldbau anzuwenden, um ſie dadurch zu
Q 2
[244] heilen, iſt nicht neu. D. Gregory*) erzählt,
daſs ein Pächter im nördlichen Schottland ſich
einen groſsen Namen in der Kunſt, Narren heilen
zu können, erworben habe. Doch verſtand er
nichts von der Medicin, ſondern war ein Mann
von geſundem Verſtande, brutal, und hatte den
Körperbau eines Rieſen. Seine Methode beſtand
darin, daſs er die Kranken zum Ackerbau an-
hielt. Einige dienten ihm als Domeſtiken, andere
als Laſtthiere. Er ſpannte ſie vor die Egge und
vor den Pflug, nachdem er ſie vorher durch eine
Tracht Schläge, mit denen er ſie bey der erſten
Widerſpenſtigkeit bediente, zum Gehorſam ge-
bracht hatte. Auch in andern Gegenden Schott-
lands ſoll dieſe Methode, die Irrenden zum
Ackerbau anzuhalten, nur auf eine ſanftere Art,
von den Aerzten mit vielem Glück angewandt
werden.
Von den körperlichen und mechaniſchen
Arbeiten ſchreiten wir, in abgemeſſenen Verhält-
niſſen mit der Zunahme der Aufmerkſamkeit und
der Wiederkehr der Vernunft zu Uebungen des
Kranken in Kunſt- und Geiſtesarbeiten fort. Ei-
nige derſelben ſind bereits bemerkt, andere ſollen
noch angezeigt werden. Dieſe Uebungen be-
ziehn ſich mehr oder weniger auf einzelne
Seelenvermögen und dienen daher zu-
gleich zur beſonderen Cultur derſel-
[245] ben. Der Seelenvermögen werde ich unten
noch einmal in einer anderen Rückſicht erwäh-
nen. Hier ſpreche ich von ihren Uebungen
Behufs ihrer Cultur überhaupt; dort erwähne ich
ihrer, ſofern ihre Anomalieen entfernte Urſache
des Wahnſinns ſind, und zeige die Mittel an,
durch welche ihren Gebrechen in dieſer Be-
ziehung begegnet werden muſs. Uebrigens dür-
fen wir uns die einzelnen Seelenvermögen nicht
als abgeſonderte Gröſsen denken. Uebungen des
einen Vermögens flieſsen auf das andere ein;
Uebungen der Aufmerkſamkeit erregen zugleich
die Einbildungskraft.
Ich erwähne der Aufmerkſamkeit,
von der bis jetzt im Allgemeinen die Rede war,
hier noch beſonders, weil ihr Zuſtand einen ſo
bedeutenden Einfluſs auf das Heilgeſchäfft im
Wahnſinn hat. Zur Uebung dieſes Seelenver-
mögens wähle man anfangs einzelne Gegenſtände,
dieſe von einfacher Art. Die Mannichfaltigkeit
verwirrt den Kranken; ſeine ſchwachen Kräfte
reichen nicht zu, dieſelbe zu beachten. Doch
wechsle man mit den Objekten, damit das Einer-
ley ihm nicht gleichgültig werde. Beſchäfftigun-
gen durch Baukaſten, Zuſammenſetzungen zer-
ſchnittener Landſchaften, Uebungen der Sinne
durch Vorhaltung einer Folge von Objekten ſind
ſchon bemerket. Man halte ihn zum Schwimmen,
Tanzen, Balanciren, Exerciren, Voltigiren, zum
Ringwerfen, Strickſpringen und zu anderen gym-
[246] naſtiſchen Uebungen an. Sie ſtärken bei-
des, die Kräfte der Seele und des Körpers. In
der That verdiente dieſer Gegenſtand einer eignen
Beherzigung. Eine Gymnaſtik für Wahnſinnige,
die nach ihren Bedürfniſſen beſonders eingerichtet
wäre, würde wahrſcheinlich viel Gutes ſtiften.
Schade daſs ſie hier, wie in der Erziehung der
Kinder, ſo wenig benutzt wird *). Man unterrichte
den Kranken im Mahlen, Zeichnen, Singen, in
der Muſik und in anderen Kunſtfertigkeiten, zu
welchen er Anlage hat. Beſonders würde ein
Concert die Aufmerkſamkeit auf einem Punkt zu-
ſammenhalten. Hier mag noch eine Idee ihren
Platz finden. Könnten nicht eigne Schauſpiele
fürs Tollhaus angefertigt werden? Die Beſonnen-
ſten führten ſie auf, die übrigen ſähen ſie an.
Zuverläſſig erfordert dies Spiel die pünktlichſte
Aufmerkſamkeit. Dann könnte man durch die
Vertheilung der Rollen noch andere Vortheile er-
reichen; jeden Narren ſeine eignen Thorheiten
lächerlich machen laſſen. Man läſst die Kranken
abſchreiben, rechnen, auswendig lernen, Cor-
recturen leſen. Sie müſſen anfangs mechaniſch,
in der Folge mit Ausdruck vorleſen und zuletzt
über den Inhalt deſſen, was ſie geleſen haben, aus
[247] dem Gedächtniſs referiren. In Geſpächen halte
man ſie an, immer beſtimmt zu antworten. Man
veranlaſſe ſie, irgend etwas ſelbſt vorzutragen,
Scenen ihres vorigen Lebens bloſs geſchichtlich
oder pragmatiſch zu erzählen. In der Folge
müſſen ſie verwickeltere Proben der Aufmerkſam-
keit beſtehn, Beſtellungen ausrichten, im Ge-
wühle abſtrahiren. Man nöthige ſie, in ein
Tagebuch alle Vorfälle einzutragen, die ihnen
begegnen und veranſtalte nun heimliche Ereigniſſe,
um ſie auf die Probe zu ſtellen, ob dieſelben von
ihnen beobachtet ſind. Alle dieſe und andere
Uebungen der Aufmerkſamkeit und Beſonnenheit
müſſen den Kräften des Kranken angemeſſen ſeyn,
ihn nicht ermüden, Veränderungen haben und
mit Pflege des Körpers, Bädern, Bewegungen,
Salbungen u. ſ. w. abwechſeln *).
[248]
Mit den Uebungen in der äuſseren Beſon-
nenheit ſteht die Erregung der Thätigkeit des
inneren Sinns in einer engen Verbindung.
Iſt der Kranke erſt gewöhnt, die Eindrücke der
Welt richtig aufzufaſſen, ſo haben wir ihn da-
*)
[249] durch vorbereitet, ſich als das Subject ſeiner
Anſohauungen und Gefühle zu beachten. Anfangs
üben wir ſein Selbſtbewuſstſeyn durch convulſivi-
ſche Erſchütterungen, durch heftige Gefühle, im-
ponirende Sinnesanſchauungen, und durch kraft-
volle Stöſse auf die Phantaſie, die ihn nöthigen,
auf dieſe Vorgänge in ſich, alſo auf ſich zu reflek-
tiren. Dann veranlaſſen wir ihn zu feineren
Uebungen. Er muſs ſeine inneren Regungen be-
obachten, ſie vortragen, in ſeinen Anſchauungen
ſein Subject von den Objekten trennen. Das
normale Bewuſstſeyn der Perſönlichkeit iſt vorzüg-
lich im Wahnſinn angegriffen. Meiſtens kehrt es
am ſpätſten zurück und beſtätigt daher durch ſeine
Wiederkehr die vollkommne Heilung der Ver-
rücktheit. Die Kranken können lange ſchon ver-
nünftig reden und handeln, äuſsern aber keine
Betrübniſs über ihren vergangenen Zuſtand und
ſind ſolange ſich aller Verhältniſs ihres Ichs nicht
vollkommen bewuſst.
Auf die Einbildungskraft beziehn ſich
viele der bereits oben benannten Mittel, die ſie
*)
[250] erwecken, anſtrengen, ihre Flucht anhalten, ſie
beweglich machen, wenn ſie ſtarrſüchtig iſt, und
ihren habituellen Gängen eine andere Richtung
mittheilen. Anfangs muſs der Kranke durch
Zwangsmittel, durch Arbeit und Beſchäffti-
gung, durch erregte Gefühle und Sinneseindrücke,
die in ſein Intereſſe eingreifen, zu ihrer Uebung
angehalten werden. In der Folge erſt, wenn der
Vernunftgebrauch wiederkehrt, kann er eigen-
mächtig, und dann mit weit mehrerem Nach-
druck, zu ihrer Cultur mitwirken. Vortreffliche
Anweiſungen dazu hat Diaetophilus*) ge-
geben.
Uebungen des Gefühlsvermögens, be-
ſonders in Beziehung auf die edleren Gefühle, an
welchen bald die Einbildungskraft, bald der Ver-
ſtand mehr Antheil hat, ſetzen zuförderſt eine
genaue Kenntniſs der Seelenſtimmung des Kran-
ken und der mit ſeiner Zerrüttung in Verbindung
ſtehenden Triebe und Leidenſchaften voraus. Wir
fördern ſeine Abſichten und Zwecke, nach ihrem
mannichfaltigen Inhalt, oder thun das Gegen-
theil; rufen Dinge herbey, die er begehrt, ent-
fernen andere, die er verabſcheut. Wir ſtellen
Hinderniſſe ſeinen Wünſchen entgegen, die gerade
ſo groſs ſind, daſs er ſie nach ſeiner Meinung
beſeitigen kann. Dies reizt ihn zur Thätigkeit;
die Erreichung des Zwecks macht ihm Vergnügen.
[251] Durch Erinnerungen an ſeine Vollkommenheiten,
an ſeinen Verſtand, ſeine Schönheit und Gelehr-
ſamkeit, an Auſsenverhältniſſe, die ſeinen Nei-
gungen entſprechen, werden angenehme; durch
das Gegentheil unangenehme Gefühle geweckt.
Auch das Ehrgefühl des Kranken kann auf
verſchiedne Art geübt werden. Man bemerkt
ihn nicht, behandelt ihn gleichgültig und verach-
tet ihn, wenn er ſich unartig beträgt; zieht ihn
den andern vor, wenn er gut handelt. In einem
Narrenhauſe, ſagt Erhard*) wurden die Un-
reinlichen an eine Säule geſtellt. Dies wirkte;
ſie fürchteten ſich ſehr vor dieſer Schmach. Wir
halten dem Kranken Muſter groſser Tugenden
vor, aus der alten und neuen Geſchichte, machen
ihn aufmerkſam auf Abſchnitte ſeines eignen
Lebens, wo er vernünftig war, bringen ihn mit
Menſchen zuſammen, die ſeine guten Handlungen
loben, ſeine Narrenſtreiche verachten. Andere,
die noch viel moraliſches Gefühl für Gutes und
Böſes haben, müſſen mit Schonung und Weisheit
behandelt, und für die Anſicht ſolcher Handlun-
gen gehütet werden, die ſie für unſittlich halten.
Dies iſt beſonders in Beziehung auf Religions-
ſchwärmer wichtig.
Uebungen des Verſtandes werden der
Faſſungskraft des Kranken gemäſs eingerichtet.
Er muſs anfangs leichte Verſuche im Bilden der
Begriffe, Urtheile und Schlüſſe machen, Vor-
[252] ſtellungen in ihre Theile auflöſen, dieſe unter ſich
und mit andern vergleichen, gleichartige Merk-
male abſondern und ſie zu neuen Begriffen zu-
ſammenfaſſen. Allmälig ſchreitet man zu ſchwe-
reren Aufgaben. Anfangs wird der Verſtand in
Beziehung auf Gegenſtände geübt, die gleichgül-
tig ſind; in der Folge müſſen ſeine beſondern
Schwächen aufgeſucht, Vorurtheile bekämpft,
falſche Begriffe von Ehre, Habe, Liebe, Reli-
gion u. ſ. w. berichtiget werden, die mit der ob-
waltenden Verrücktheit in Verbindung ſtehn.
Zuletzt muſs der Kranke zur Selbſtthätigkeit in
der Cultur ſeines Verſtandes angereizt werden,
das Verhältniſs ſeiner Seelenkräfte ausſpähn und
diejenigen anbaun, die am meiſten zurück ſind.
Hier hat der Pſychologe des Tollhauſes abermals
ein weites Feld vor ſich, das zu bearbeiten ihm
beſonders obliegt.
Zur Cultur des Begehrungsvermögens
gelangen wir endlich durch die Cultur der obigen
Seelenkräfte. Wir machen rohe Züge durchs
Gemeingefühl, die Hang nach Dingen, welche
Luſt, und Abſcheu gegen andere wecken, welche
Schmerz verurſachen. Wir ſtellen dem Kranken
Objekte vor, die er nach ſeinen erforſchten Nei-
gungen begehren oder verabſcheuen muſs. Ent-
fernung des Gegenſtandes ſchwächt die Begierde,
wenn ſie ſchwach; entflammt dieſelbe, wenn ſie
ſtark iſt. Endlich ſuchen wir durch den Anbau
der Vernunft die Freiheit des Willens wieder
[253] herzuſtellen, ſetzen ihr anfangs Gefühle der Luſt
und Unluſt zur Stütze, bis ſie das Ruder der
Regierung allein zu übernehmen ſtark genug
iſt.
So gängeln wir den Kranken, von der unter-
ſten Stufe der Sinnloſigkeit, durch eine Kette von
Seelenreizen, aufwärts zum vollen Vernunftge-
brauch. Durch die erſten, rohen und körperlichen
Eindrücke aufs Gemeingefühl wecken wir ihn aus
ſeinem Taumel und nöthigen ihn zum Gehorſam.
Die mechaniſchen, mit Bewegung verbundenen
Beſchäfftigungen erhalten ihn geſund, bey Laune,
gewöhnen ihn zur Ordnung und zerſtreuen ihn
durch ein leichtes Spiel der Seelenkräfte. In der
Folge wird ſein Geiſt vorzüglich in Anſpruch ge-
nommen. Seinen Sinnen und der Phantaſie wer-
den Anſchauungen aufgedrungen, die er als paſ-
ſiver Zuſchauer beachten muſs. Dann nöthigt
man ihn zur eignen Thätigkeit und übt endlich
diejenigen Seelenvermögen beſonders, die es am
meiſten bedürfen. Dieſe nach beſtimmten Zwecken
erregte Thätigkeit in den verſchiednen Getrieben
des Seelenorgans aſſimilirt ſich allmälig die
Kräfte, die urſprünglich gleichſam mit Gewalt
durch die Stärke der Reize geweckt wurden und
ſtellt das Verhältniſs in der Dynamik der Seele
wieder her, von welchem der geſunde Menſchen-
verſtand abhängig iſt.
[254]
§. 19.
Was hat der Arzt in Beziehung auf die
entfernten Urſachen der Geiſteszer-
rüttungen zu thun? Es verſteht ſich, daſs
auch hier nur von einem Wirken durch pſychi-
ſche Mittel die Rede ſeyn kann. Dies ſey die
erſte Aufgabe, die bey der eigentlichen Cur-
methode der Geiſteszerrüttungen zu erörtern iſt.
Denn es giebt, wie bereits oben (§. 7.) bemerkt
iſt, überhaupt nur zwey Wege, Krankheiten, alſo
auch Geiſteszerrüttungen zu heilen; der eine ſie
ſelbſt, als beſtimmte Objekte, zu tilgen, der
andere, die Urſachen wegzunehmen, durch
welche ſie hervorgebracht werden. Im erſten
Fall heilen wir ſie direct, im anderen indi-
rect. Alle andern Curregeln ſind Beziehungen
auf dieſe Hauptindikationen und denſelben unter-
geordnet.
Alle Urſachen der Geiſteszerrüttungen ſind
entweder Dinge, die zum äuſseren Zuſtand
des Menſchen gehören, oder ſie ſind innere
Zuſtände deſſelben, mit Ausnahme de[s]jeni-
gen, in welchem die Phänomene der Geiſteszer-
rüttungen unmittelbar gegründet ſind. Beide
bewirken einerley, ſie verletzen die normale
Funktion des Seelenorgans auf eine beſtimmte
Art. Man betrachtet ſie als Anlagen oder als
Gelegenheitsurſachen, je nachdem ſie
langſam zu Geiſteszerrüttungen vorbereiten, oder
[255] dieſelben unmittelbar erregen, ihre Entſtehung
begünſtigen, oder dieſelbe direct bewirken.
Die abſolut äuſseren Potenzen, welche
Wahnſinn verurſachen, übergehe ich. Ihr Ver-
hältniſs zum Wahnſinn iſt ſo einfach und die
Mittel, ihnen zu begegnen, ſind ſo leicht zu
finden, daſs dieſer Gegenſtand keiner weiteren
Erörterung bedarf. Schwieriger und verwickel-
ter ſind die Beziehungen der inneren Zuſtände
des Menſchen auf Geiſteszerrüttungen. Wir
können ſie als Affectionen des phyſiſchen, ſinn-
lichen, moraliſchen und intellectuellen Menſchen
betrachten. In der letzten Beziehung gehören
auch die pſychigiſchen Entwickelungen des
Wahnſinns, nach der Einrichtung der ſinnlichen,
intellectuellen und moraliſchen Natur des Men-
ſchen, hierher. Alle relativ inneren Urſachen
des Wahnſinns ſind Krankheiten des Körpers,
die der Seele durchs Gemeingefühl vorgeſtellt
werden, überſpannte Reizbarkeit der ganzen
Organiſation, die meiſtens mit einer überwiegen-
den Sinnlichkeit verknüpft iſt, Krankheiten der
Sinne, anomaliſche Inſtinkte und Triebe, Mangel
oder ſchiefe Cultur des Verſtandes, Aberglaube,
Unglaube, Schwärmerey, Bigotterie u. ſ. w., die
den Menſchen von der Bahn des geſunden Ver-
ſtandes wegrücken.
Alle entfernten Urſachen der Geiſteszerrüt-
tungen, ſie mögen abſolut äuſsere Dinge oder
Zuſtände der Organiſation ſeyn, ſind entweder
[256] Zuſtände des Nervenſyſtems ſelbſt, oder müſſen
wenigſtens durch daſſelbe zum Seelenorgan ge-
langen. Das Nervenſyſtem iſt gleichſam als
Auſsenwerk des Seelenorgans anzuſehn, iſt In-
ſtrument der Sinnlichkeit, Modifikationsmittel
unſerer moraliſchen Fertigkeiten und Gehülfe der
Seele. Daher müſſen abnorme Einflüſſe auf daſ-
ſelbe oder Krankheiten in demſelben die Vermö-
gen der Seele mehr oder weniger verletzen. In
dieſer Rückſicht dürfen wir es weder überhaupt
noch in ſeinen beſonderen Verhältniſſen aus dem
Auge verlieren, wenn wir in der Erörterung und
Behandlung der entfernten Urſachen des Wahn-
ſinns glücklich ſeyn wollen.
Zur gründlichen Erkenntniſs und Cur der
entfernten Urſachen des Wahnſinns würde es
nöthig ſeyn, daſs theils der Zuſammenhang der
abſolut äuſseren Potenzen mit dem Gehirn, durch
die Vermittelung der Nerven, theils die ſpecifiſch
eigenthümlichen Krankheiten der Organiſation,
die die Seelenvermögen verletzen, beſtimmt an-
gegeben würden. Allein beides iſt uns in den
meiſten Fällen unmöglich. Wir ſind daher ge-
nöthiget, uns an die Verletzungen der Seelen-
kräfte zu halten, durch welche ſie ſichtbar werden,
und die Produkte ſtatt der Urſachen aufzufaſſen.
Allein nach dem Befund jener können wir dieſe
nicht mit Zuverläſſigkeit beſtimmen. Denn den
Seelenvermögen ſind keine abgemeſſenen Grenzen
im Nervenſyſtem angewieſen. Die gemeinen Ner-
ven
[257] ven dienen als Organe des Gemeingefühls und der
Bewegung. Einige derſelben ſcheinen auſserdem
noch einen bedeutenden Einfluſs auf die Erregung
der Triebe und Inſtinkte zu haben. Das Gehirn
iſt eigentliche Werkſtätte des Denkens und ver-
ſtändigen Wollens, das ganze Syſtem Organ des
Gefühls. Die Funktionen kreuzen ſie alſo über-
all, ſelten kommen iſolirte Störungen vor; und
wo es geſchieht, können wir aus denſelben nicht
auf eine beſtimmte Natur derjenigen Krankheit
ſchlieſsen, von welcher ſie Product ſind.
Die Seele, als vorſtellende Kraft,
ſtellt ſich den Zuſtand ihres Körpers durch den
Inbegriff des ganzen Nervenſyſtems, die Welt
durch die Sinnorgane vor, und reproducirt in
einer mannichfaltigen Ordnung dieſe Vorſtellun-
gen des Gemeingefühls und der Sinnorgane, ohne
äuſseres Object, vorzüglich wol durch die Mit-
wirkung des Gehirns. Nach Maaſsgabe dieſer
verſchiedenen Organe entſtehn Vorſtellungen des
Gemeingefühls, der Sinnorgane und der
Imagination. Durch dieſelben wird ſie ſich
ihres dreifachen Zuſtandes, ihrer Verbin-
dung mit ihrem Körper, als mit dem ihrigen, mit
der Welt, und ihrer eignen Veränderungen be-
wuſst, ſofern ſie nemlich obige Vorſtellungen als
ſubjektive Zuſtände in ſich zu denken genöthigt
iſt. Es entſtehn innere Gründe, die zum Handeln
nöthigen, theils im Gefolge obiger Vorſtellungen,
theils ohne dieſelben, von bloſs thieriſchen, oft
R
[258] lokalen Impulſen des Nervenſyſtems. Während
dieſer Vorgänge im Nervenſyſtem ſchaut die Seele
ihr Werkzeug, in ſeinen Operationen, als taug-
liches oder untaugliches Werkzeug an; dies mit
Wohlgefallen oder mit Miſsvergnügen.
Daſs Krankheiten des Körpers überhaupt,
Krankheiten der Nerven und beſonders Krank-
heiten derjenigen Organe, die zunächſt zur Her-
vorbringung der Vorſtellungen mitwirken, die
Funktionen der Seele auf verſchiedene Art ſtören,
ja gar Verrücktheit veranlaſſen können, iſt Reſul-
tat der Erfahrung. Wem ſind nicht die auffallen-
den Gemüthsveränderungen bekannt, die bey dem
Eintritt der Pubertät erſcheinen? Wer kennt nicht
die wechſelnden Launen hypochondriſcher Per-
ſonen? Die ſchüchterne Niedergeſchlagenheit der
Onaniſten, die zum Selbſtmord führt? Den
Trieb, der mit dem Pelagra Behafteten, ſich ins
Waſſer zu ſtürzen? Reize im Unterleibe, Krank-
heiten der Eingeweide dieſer Höhle, eine anoma-
liſche Vitalität der ſplanchniſchen Nerven erregen
ungewöhnliche Appetite, ängſtliche Spiele der
Phantaſie, Hang zu traurigen Leidenſchaften, um-
nebeln den Verſtand und beſtimmen den Willen,
nach dunklen Gefühlen zu handeln. Noch mehr
Einfluſs auf die Seele haben Krankheiten des Ge-
meingefühls und der Sinnorgane. Dieſe Zuſtände
ſind für ſich im Stande, Wahnſinn zu erregen.
Und geſetzt ſie haben ihn nicht hervorgebracht,
ſo unterhalten ſie ihn, wenn er einmal entſtanden
[259] iſt, erregen einzelne Parthieen deſſelben, oder
geben ihm eine beſtimmte Form.
Ich erwähne zuerſt der Krankheiten des
Gemeingefühls als Urſachen der Verrückt-
heit. Die im ganzen Körper zerſtreuten Nerven
erhalten durch die Eindrücke von ihm immerhin
eine Thätigkeit im Gehirn, auf welche ſich das
Urtheil der Seele über den Zuſtand ihres Körpers
gründet. Das Gemeingefühl ſtellt den gewöhnli-
chen Vorgang des Lebens, die Funktionen, durch
welche daſſelbe wirklich wird, die progreſſive
Entwickelung und nachherige Decreſcenz der
einzelnen Organe und des ganzen Körpers der
Seele vor. Sein Organ iſt zugleich das Haupt-
organ unſerer Sinnlichkeit, ſofern die durch daſ-
ſelbe bewirkten Erregungen in der Seele faſt ohne
Ausnahme immer mit dem Gefühle körperlicher
Luſt oder Unluſt verbunden ſind. Deswegen
ſchlieſsen ſich auch die Inſtinkte, Appetite und
überhaupt das untere Begehrungsvermögen an
daſſelbe an, ſofern nemlich dieſe Triebe entweder
blindlings oder durch eine vorausgeſehene Luſt
oder Unluſt uns zum Begehren und Handeln be-
ſtimmen.
Das ganze Nervenſyſtem, und beſonders die
Aeſte deſſelben, welche ſich im Innern der Orga-
niſation enden, ſind Organ des Gemeingefühls;
der eigne Korper iſt der Reiz, welcher durch
ſeine Eindrücke auf dies Organ wirkt. Hier ſoll-
ten zuförderſt die allgemeinen Differenzen der
R 2
[260] Organiſation überhaupt berückſichtiget werden.
Allein in Betreff dieſes Gegenſtandes fehlt es noch
zu ſehr an genauen Beobachtungen. Ich führe
nur eine derſelben an, die ſich, ſo weit wir es
einſehn, auf eine Abſtufung in der Zartheit
derſelben bezieht. Es giebt Menſchen, die mei-
ſtens ein blondes Haar, ein groſses blaues Auge
und eine ſanfte Haut haben, welche ſo delikat
organiſirt ſind, daſs ſie ſchon Sugillationen be-
kommen, wenn man ſie nur derb anfaſst. Ande-
re, die meiſtens eine harte Haut, ein feſtes Fleiſch
und ſchwarzes Haar haben, ſind von entgegenge-
ſetzter Natur. Zwiſchen beiden findet eine ana-
loge Verſchiedenheit ſtatt, wie zwiſchen dem
Fleiſch einer Pfirſche und eines Apfels. Dieſe
haben einen ſtarren Sinn; jene ſind biegſam, em-
pfänglich für das Leiden der Menſchheit und mit
einer ſanft ſchwärmenden Phantaſie begabt.
Beide Arten haben ihre eignen Anlagen zu Gei-
ſteskrankheiten. Dann ſind einige Nerven des
Syſtems, in Rückſicht ihres Einfluſſes auf das
Seelenorgan, von vorzüglicher Dignität und be-
ſonders dazu geeignet, dieſe oder jene Triebe und
Leidenſchaften zu erregen. Es giebt nemlich
Heerde in demſelben, welche als untergeordnete
Brennpunkte die zum Gehirn eilenden Eindrücke
erſt in ſich ſammlen und ſie dann verbunden zu
demſelben fortſchicken. Vielleicht reflektiren ſie
auch einige Eindrücke, ohne ſie dem Gehirn
und dem Bewuſstſeyn mitzutheilen. Endlich
[261] wirken ſie zuverläſſig mit bey der Begründung
der Sympathie in der Organiſation, und mögen
daher oft Urſache der anomalen Beziehungen ſeyn,
die in Krankheiten ſichtbar werden.
Ein ſolcher Heerd liegt im Generations-
ſyſtem, das dem Gehirn gegenüber ſteht, nebſt
demſelben die Pole der Organiſation beſtimmt,
von welchen die Gliedmaaſsen als Strahlen aus-
gehn. Beide Endpunkte ſtehn mit einander in
mannichfaltigen Beziehungen. Je vollſtändiger
die Generationstheile ausgeprägt ſind, deſto un-
wirkſamer pflegt das Gehirn zu ſeyn. Wo ſie ſich
in den Individuen ausbilden, entſtehn neue Ge-
fühle, Triebe, Spiele der Phantaſie. Sie wirken
auf Unkoſten des Gehirns; Saamenergieſsungen
erregen die Anfälle des Alps und der Fallſucht.
Welche nahe Beziehung ſie auf die Seelenvermö-
gen haben, lehrt die Brunſt einiger Thiere, die
mit Wuth verbunden iſt, der Saamenkoller der
Pferde, die Nymphomanie des weiblichen und
die Satyriaſis des männlichen Geſchlechts. Faſt
nie entſteht der Wahnſinn vor der Pubertät. Da-
her hat man auch die Caſtration wider denſelben *)
ja ſogar wider moraliſche Krankheiten der Seele
in Vorſchlag gebracht. In England ſollten nem-
lich die Diebe caſtrirt werden, um ihnen das
Stehlen abzugewöhnen **). Eine beſondere Be-
[262] ziehung hat dieſer Heerd noch auf die Haare,
Federn, Nägel, Hörner und andere hornartige
Organe. Der Hirſch bekömmt kein Geweih,
wenn er vor; wirft es nicht ab, wenn er nach
der Pubertät caſtrirt wird. Es verkrüppelt ſich
auf der nemlichen Seite, wo man ihm einen
Teſtikel nimmt. Metamorphoſen der Geſchlechts-
theile, ihre Ausbildung in der Pubertät, ihre
Decrescenz im Alter, Steigerungen ihrer Reiz-
barkeit in der Brunſt, Veränderungen ihrer Zu-
ſtände in der Schwangerſchaft und endlich die
mannichfaltigen Krankheiten derſelben erregen
die ſonderbarſten Erſcheinungen, beſondere Lau-
nen, Idioſyncraſieen, Spannungen der Phantaſie,
eigne Triebe und Gelüſte, die um ſo heftiger ſind,
je weniger ſie dem Verſtande unterworfen werden
können. Mit der Pubertät entſteht erſt die Ge-
ſchlechtsliebe, Sucht zu gefallen und das Gefühl
der Schaam, wovon der Menſch vorher nichts
wuſste. Das weibliche Geſchlecht beharrt mit
einer Standhaftigkeit auf ſeine Entſchlüſſe, die ihm
ſonſt ungewöhnlich iſt. Es ereignen ſich merk-
würdige Reactionen im Gehirn, die ſich als Irre-
ſinn, Raſerey, Exſtaſen, Zuckungen u. ſ. w.
äuſsern und meiſtens das Eigenthümliche haben,
daſs die Kranken ſchnell, mit lachender Miene
von ihrer Geiſtesabweſenheit wieder zum vollen
Bewuſstſeyn gelangen. Zuverläſſig ſind dieſe Zu-
ſtände Symptome groſser Evolutionen im Körper,
die meiſtens nach einigen Wochen und Monaten
[263] von ſelbſt verſchwinden und durchgehends durch
Arzneien, wenigſtens nicht direct, geheilt werden
können. Ein Mädchen von funfzehn Jahren,
erzählt Dörner*), ſang in einem Anfall ihrer
Krankheit Lieder auswendig und melodiſch, deren
ſie ſich auſser demſelben nicht erinnerte, und ſie
noch weniger nach der Melodie ſingen konnte;
denn ſie ſang ſchlecht. In einem andern Anfall
las ſie aus bekannten und unbekannten Büchern
mit der richtigſten Deklamation, welches ſie
ſonſt nicht konnte. Endlich ſagte ſie es zuweilen
vorher, wer eben in ihr Haus treten würde, ohne
ſich zu irren. Kurz ihre Seelenkräfte waren in
einem Grade erhöht, wie bey einer Clairvoyante.
Endlich beſtätigen die Weiber, welche in der
Schwangerſchaft ſchwermüthig und im Wochen-
bette raſend werden, den Einfluſs des Genera-
tionsſyſtems auf das Gehirn. Doch davon unten
mehr.
Zwiſchen beiden Endpunkten der Organiſa-
tion liegen zwey andere merkwürdige Heerde, die
phreniſche Gegend und das Sonnen-
geflecht.
Zur phreniſchen Gegend rechne ich
das Herz, das Zwergfell, den obern Magenmund
und den Magen, welche ihre Nerven vom achten
Paar, den Zwergfellsnerven und den groſsen
ſympathiſchen Nerven bekommen. Bey ihrem
[264] Leiden erſchlafft das Muskelſyſtem, es entſtehn
Mattigkeit, Ohnmacht und Schwere des Kopfs,
der Seele fehlt es an Aufmerkſamkeit, Denkkraft,
Feſtigkeit in ihren Entſchlüſſen; ſie iſt wie in ei-
nen Nebel gehüllt.
Noch gröſser ſcheint der Einfluſs des
Sonnengeflechts aufs Gehirn zu ſeyn. Es
entſteht durch zwey halbmondförmige Bogen des
Oberbauchgeflechts und des oberen Gekrösge-
flechts, in deren Mitte mehrere Knoten liegen, die
es gleich einer ſtrahligten Sonne umgiebt. In
ihm verweben ſich die Stimmnerven, die ſplanch-
niſchen Nerven und Aeſte des Intercoſtalnerven.
Leidet dieſe Gegend, das Gallen-Organ, das
Syſtem der Pfortader, Leber, Milz und Darm-
kanal an dynamiſchen oder organiſchen Krank-
heiten; ſo wechſelt die Laune ohne äuſsere Ver-
anlaſſung. Der Kranke iſt niedergeſchlagen,
unmuthig, haftet auf Kleinigkeiten, beſonders in
Rückſicht des eignen Körpers, ſchwankt zwiſchen
Muth und Muthlofigkeit, Furcht und Hoffnung.
Die Phantaſie klebt an fixe Ideen, ängſtliche Bil-
der und heckt die ſonderbarſten Miſsgeburten aus.
Die Seele iſt ſcheu, düſter, verſteckt, hartnäckig
in ihren Entſchlüſſen und mit ganzer Kraft ange-
heftet an einzelne Gegenſtände, bis ſie erſchöpft
ſind. Auch ſcheint dieſe Gegend auf das Tem-
perament der Menſchen und dies auf die Con-
[265] ſtitution ihrer ſinnlichen, geiſtigen und morali-
ſchen Beſtimmungen einzuflieſsen *).
Endlich beſchreibt das Nervenſyſtem noch
einige merkwürdige, mit beſondern Polaritäten
begabte Kreiſe in der Organiſation, die vielleicht
als Conductoren inponderabler Flüſſigkeiten durch
ihre Anaſtomoſen und Geflechte das Ströhmen
derſelben aufs mannichfaltigſte modificiren kön-
nen. In dieſer Beziehung ſind der Stimmnerve,
der Zwerchfellsnerve und der groſse ſympathiſche
Nerve merkwürdig. Der erſte ſteigt mit einem
geſchloſſenen Bogen an ſeinem Urſprungsort im
Gehirn nieder, bildet in der Bruſthöhle mehrere
merkwürdige Geflechte, die das Herz, die
Lungen, die groſsen Gefäſse, den Schlund und
den obern Magenmund mit Nerven verſehen, und
vereinigen ſich dann wieder an einem entgegenge-
ſetzten Endpunkt im Sonnengeflecht. Er iſt in
Anſehung ſeiner Entſtehung, Verbreitung und
Endigung das im Kleinen, was die ſympathiſchen
Nerven im Groſsen ſind. Der Zwergfells-
nerve ſchlieſst oberwärts durch ſeinen Urſprung
vom Zungenfleiſchnerven und den Cervicalnerven
den Bogen und verbindet ſich am entgegengeſetz-
ten Pol im Zwergfell und im Sonnengeflecht.
Endlich beſchreibet der groſse ſympathiſche
Nerve den Hauptkreis von einem Pol der Or-
ganiſation zum andern, vom Kopf bis zum Steiſs-
[266] beine. Die Kette iſt im Gehirn durch Fäden des
fünften und ſechsten Paars geſchloſſen, dann gehn
die Schenkel des Bogens auf jeder Seite des Rück-
grats am Halſe, in der Bruſt und dem Bauch
fort, bilden überall Knoten, anaſtomoſiren über
die Wirbelbeine hin von beiden Seiten, erzeugen
die ſplanchniſchen Nerven, beſchreiben überall
kleine Bogen mit den Rückenmarksnerven, ver-
weben ſich mit den groſsen Geflechten der Bruſt-
und Bauchhöhle und enden endlich auf eine merk-
würdige Art, theils durch anaſtomoſirende Aeſte
von beiden Seiten, theils durch das Steiſsknöt-
chen auf dem Steiſsbeine, in welchem beide
ſympathiſche Nerven am entgegengeſetzten Pol der
Organiſation in der Axe des Körpers zuſammen
ſtoſsen. Von dem Steiſsknoten gehn dann noch
einige Fäden aus, die ſtrahlenförmig gegen die
Grenze divergiren.
Wenn in dieſem vaſten Umfang des Nerven-
ſyſtems, ſofern es ſich in die Theile des Körpers
verliert, und dem Gemeingefühl zum Organe
dient, kranke Theile auf daſſelbe wirken oder
die Nerven ſelbſt, einzeln oder in ihrem Inbegriff,
erkranken; ſo entſtehn davon die ſeltſamſten Er-
ſchütterungen des Gehirns, mancherley Störun-
gen der Seelen-Funktionen, ein unangenehmes
Lebensgefühl und Geneigtheit zur Verrücktheit.
Sind die Nerven ſelbſt krank, ſo ſtellen ſie nicht
mehr den Zuſtand des Körpers, ſondern ihre
eigene Krankheit vor. Die Seele wird betrogen,
[267] ſofern ſie gewöhnt iſt, den Zuſtand ihres Körpers
nach der Leitung des Gemeingefühls zu beurthei-
len und kann unter günſtigen Umſtänden in eine
Geiſteszerrüttung verfallen. Wenn ein Menſch
eine Geſchwulſt im Unterleibe hat, ſo wirkt die-
ſelbe als Reiz auf die ſplanchniſchen Nerven und
erregt auf dieſem Wege im Gehirn irgend ein
widriges Gefühl, von dem die Geſchwulſt Object
iſt. Allein das nemliche Gefühl kann auch von
bloſs kranken Nerven, ohne Geſchwulſt entſtehn,
wenn in ihnen durch Krankheit die nemlichen
Zuſtände wirklich werden, durch welche eine
Geſchwulſt im Gehirn angekündigt wird. In der
Regel werden freilich dergleichen Vorgänge uns
nicht immer und augenblicklich um den Verſtand
bringen, ſolange nur einzelne Reize aufs Gemein-
gefühl wirken, oder einzelne Nerven krank ſind,
und die Seele nicht zu ängſtlich auf alle Eindrücke
des Körpers achtet. Wir ſind im Stande, durch
den Gebrauch der Sinne und des Verſtandes, die
kranken Spiele des Gemeingefühls zu berichtigen,
ſeine Urſachen aufzuklären oder das Gefühl als et-
was uns nicht Angehöriges bey Seite zu ſetzen und
darüber zur Ordnung des Tages fortzuſchreiten.
Allein es giebt andere Verhältniſſe, die die Ent-
ſtehung der Geiſteszerrüttungen durch ein kran-
kes Gemeingefühl begünſtigen. An ſich ſtellt es
die Objekte des Gefühls dunkel und verworren
dar, weil ſie verdeckt liegen, nicht nach Will-
kühr verändert und durch die Beihülfe der Sinne
[268] berichtigt werden können *). Daher bleibt der
Phantaſie ein freier Spielraum übrig, den Gefühlen
eine erdichtete Urſache unterzuſchieben. Die
urſprünglich örtliche Krankheit wirkt ferner als
eine ſchädliche Potenz auf die Reizbarkeit des
ganzen Syſtems, erhöht ſie und macht ſie unſtät
in Rückſicht ihrer Temperatur. Auf dieſe Art
veranlaſst eine ſcirrhöſe Gebärmutter Hyſterie,
ein gereizter Nerve, durch die Dazwiſchenkunft
des epileptiſchen Hauchs, Fallſucht. Dann zieht
die fortdauernde Erregung des Gehirns durchs
Gemeingefühl die Aufmerkſamkeit des Kranken,
beſonders wenn er mit hypochondriſcher Aengſt-
lichkeit auf jeden Zufall ſeines Körpers achtet,
in dem Grade an, daſs er für alles andere, alſo
auch für die Gründe taub iſt, die ihn von ſeinem
Wahn überzeugen können. Dem Gefühle, in
welchem das Object nicht klar enthalten iſt, wer-
den falſche Urſachen, Geſchwüre, Geſchwülſte,
Kröten, Eidechſen, Verwandlungen des Stoffs
und der Structur untergeſchoben. Dieſe erſchlich-
nen Urtheile, als Produkte einer kranken Seele,
wirken auf ſie als Krankheits-Urſache zurück
und beſtürmen ſie mit ihren eignen Geburten.
Die herrſchende Idee fixirt ſich nach den Geſetzen
der Gewohnheit. Endlich wird der kranke
Theil des Gehirns, durch welchen die fixe Idee
zu Stande kömmt, vermöge ſeiner exaltirten
[269] Reizbarkeit, mit jeder anderen Erregung deſſel-
ben in Sympathie geſetzt. Daher die Aſſociation
des Wahns faſt mit allen übrigen Vorſtellungen
der Seele, nach den neuen Beziehungen, die
durch die Krankheit zu Stande gekommen
ſind *).
Aus dieſer Darſtellung des Gemeingefühls
iſt es begreiflich, wie Krankheiten deſſelben Irr-
thümer, fixe Ideen, falſche Urtheile und kranke
Spiele der Phantaſie veranlaſſen, wie dadurch ab-
norme Inſtinkte, Triebe und Begierden entſtehn
können, die theils unmittelbare Produkte der
verſtimmten Organiſation ſind, theils im Gefolge
der falſchen Ideen entſtehn. Wie leicht können
dieſe Zuſtände zur Verrücktheit führen, der ſie
ſo nahe verwandt ſind? Wie oft iſt ſie unmittel-
bares Product kranker Appetite und Inſtinkte,
Folge der Geilheit, Mutterwuth und Hypochon-
drie? Und worin anders, als in der Organiſation,
ſind dieſe Zuſtände gegründet **)? Man ſetze einen
Hypochondriſten, dem ſein krankes Gemeinge-
fühl Knochenſchmerzen vorſtellt. Er ſucht die
Urſache derſelben in einem verſteckten veneriſchen
Gift. Die Idee wird habituell; er beſchäfftigt
ſich unaufhörlich mit ihr und iſt deswegen taub
für Gründe des Gegentheils. Dem fixen Wahn
folgen abſurde Handlungen, unzeitiger Gebrauch
[270] des Queckſilbers, Selbſtmord. Ein Menſch, dem
der Fuſs von einer Compreſſion der Nerven in der
Kniekehle eingeſchlafen iſt, hat das Gefühl als
wenn ihm ein Fuſs fehle. Allein er weiſs, woher
dies Gefühl rührt, hat es ſchon ſonſt gehabt, es
verſchwindet bald wieder, er ſieht ſeinen Fuſs
mit den Augen und greift ihn mit den Händen.
Geſetzt aber dies Gefühl ſey von inneren Urſachen
entſtanden, daure fort, bemeiſtere ſich ganz der
Aufmerkſamkeit eines Hypochondriſten. Kann
dann nicht daſſelbe ihn veranlaſſen, daſs er ſeinem
Gemeingefühl und der Phantaſie mehr, als dem
Getaſt und dem Geſicht traue, daſs er ſich allmä-
lig überrede, der Fuſs fehle ihm oder beſtehe
wenigſtens aus einer andern Materie? Von einer
ähnlichen Taubheit der Hälfte des Kopfs rührte
wahrſcheinlich die Krankheit eines Frauenzim-
mers her, die ſonſt vollkommen bey Verſtande
war, aber ſich einbildete, ſie habe den halben
Kopf verlohren *). Mir iſt es höchſt wahrſchein-
lich, daſs aller Wahnſinn, der ſich auf veränderte
Gröſse und Geſtalt und auf Umwandelungen des
Stoffs des Körpers oder ſeiner einzelnen Theile
bezieht, aus dieſer Quelle entſpringe. Chiaru-
gi**) erzählt von einer Frau, die ſich einbildete,
ſie ſey vom Teufel beſeſſen, der des Nachts mit
[271] ihr Wolluſt treiben wolle? Litt dieſelbe nicht
vielleicht am Alpdrücken?
In allen dieſen Fällen, wo ein krankes Ge-
meingefühl Urſache der Geiſteszerrüttungen iſt,
muſs daſſelbe zuförderſt durch Arzneien oder pſy-
chiſche Mittel geheilt werden. Die Geiſteszer-
rüttungen ſchwinden dann meiſtens von ſelbſt.
Durch die Entfernung abnormer Reize aus dem
Magen und Darmkanal, durch die Beruhigung
der ſplanchniſchen Nerven und des Sonnenge-
flechts und durch Kühlung erhitzter Geburtstheile
ſind wir im Stande, den Wahnſinn auf der Stelle
zu heilen. Eine Jungfer verfiel nach einem Ner-
venfieber in den Wahn, ihr Kopf, als die Quelle
ihrer Schmerzen müſſe abgeſchnitten werden.
Zufällig war man genöthiget, ihr dickes und
langes Haupthaar wegzuſchneiden, weil es durch
die Krankheit in Verwirrung gerathen war.
Schon während dieſer Operation fand ſie ſich er-
leichtert. Endlich, rief ſie voller Freuden aus,
ſchneidet ihr mir den Kopf ab, nun werde ich
gewiſs gerettet! Und in der That verlohr ſich
von dieſem Augenblick an ihr Wahnſinn und
kehrte nie wieder zurück. Wahrſcheinlich war
der Eindruck des verworrenen Haars aufs Gehirn,
die Urſache ihres fixen Wahns geweſen *). Ein
Wahnſinniger bildete ſich ein, ſein Kopf ſey ihm
von dem Tyrannen abgehauen. Ueber dieſen
[272] Verluſt war er höchſt melancholiſch. Sein Arzt
Philodotus ſetzte ihm einen Hut von Bley auf,
durch deſſen Druck er ſich überredete, er habe
den Kopf wiederbekommen *). Andere Beiſpiele
glücklicher Curen des Wahnſinns, der ſich auf
ein krankes Gemeingefühl bezog, ſollen unten
angeführt werden. Cabanis**) macht uns
einige Hoffnung, über dieſen wichtigen Gegen-
ſtand, durch die Heilung der Krankheiten des
Körpers die Funktionen der Seele zu rectificiren,
ſeine Gedanken beſonders bekannt zu machen.
Auch Krankheiten der Sinnorgane kön-
nen entfernte Urſache der Geiſteszerrüttungen
werden. Wir ſind gezwungen, Phantome für
Realitäten zu halten, wenn unſer Auge ſie ſieht,
das Ohr ſie hört und die Hand ſie fühlt. Doch
täuſchen Krankheiten der Sinnorgane ſeltner als
Krankheiten des Gemeingefühls. Die Urſache
davon iſt mannichfaltig. Die Objekte der Sinn-
organe intereſſiren uns weniger als unſer eigner
Körper, ſie liegen auſser uns, gelangen durch
mehrere Zugänge zur Seele, werden klärer vor-
geſtellt und laſſen der Phantaſie weniger Spielraum
zu Erdichtungen über. Die Sinnorgane ſind end-
lich an ſo verſchiedne Gegenden des Körpers auf-
geſtellt
[273] geſtellt und mit Nerven ſo verſchiednen Ur-
ſprungs verſehen, daſs ohne gleichzeitige Krank-
heit des Gehirns ſchwerlich eine allgemeine
Krankheit aller Sinnorgane gedenkbar iſt. Täu-
ſchungen eines Sinnorgans werden daher durch
die Wirkung der übrigen und durch das Bewuſst-
ſeyn unſeres Verhältniſſes zur Welt berichtiget.
Doch giebt es wirklich Fälle, daſs kranke Sinn-
organe zur Verrücktheit Anlaſs geben. Normale
Sinnesanſchauungen ſind durch das Object und
die legale Erregbarkeit des Nervenſyſtems, in
Anſehung ihrer Form und Materie nothwendig
beſtimmt. Wenn deswegen die Sinne erkranken,
ſo wird die Welt uns anders, als ſie iſt, vorge-
ſtellt, der wahre Standpunkt unſers Verhältniſſes
zu derſelben verrückt, und wir verfallen in
Wahnſinn, wenn wir die Täuſchungen nicht in
uns, ſondern auſser uns ſuchen. Der Irreſinn im
Rauſch und in Gefäſsfiebern ſcheint zum Theil
von Täuſchungen der Sinne herzurühren. Die
Kranken hören das Geläute der Glocken, das
Sauſen des Windes, ſehen Phantome in einer
Klarheit, als wenn ſie wirklich wären, oder die
wirklichen Objekte in veränderten Farben und
Stellungen, Blumen auf dem Rande der Trink-
gefäſse und Legionen kleiner Teufelchen, die ſich
auf der Bettdecke herumtummlen. Dieſe Er-
ſcheinungen verſchwinden zuweilen, wenn ſie
die Augen ſchlieſsen, oder wenn die Wahrneh-
mung der Gegenſtände durch mehreres Licht
S
[274] gefördert wird. Ein Fieberkranker ſah eine rothe
Schlange, die auf ſeinem Bette herumkroch.
Galen behandelte ihn mit andern Aerzten, be-
merkte das Schlagen der Schlafpulsadern, und
die Röthe ſeiner Augen, ſagte ein Naſenbluten
vorher, welches auch erfolgte. Der Napel, das
Extract des Hanfs und andere Gifte desorganiſi-
ren die Funktionen des Geſichts und Getaſtes,
ohne daſs der Verſtand, wenigſtens im Anfang,
mit leidet. Unter den Wahnſinnigen im Wiener
Irrenhauſe glaubten einige bekannte und unbe-
kannte Stimmen zu hören, die ſie verläumdeten,
beſchimpften, ihnen Befehle ertheilten und ſie zu
allerhand Sünden verleiten wollten. Andere,
beſonders Taube, die nicht im Stande waren,
ihre Täuſchungen durch Vergleichung mit wirk-
lichen Anſchauungen des Gehörſinns zu rectifici-
ren, bildeten ſich ein, die Töne verſchiedner
Inſtrumente zu hören *). So ſah Wagner**)
einen Schwerhörigen, der eine im Bette verſteckte
Leier zu hören glaubte und ſich über dies Unge-
mach bitter beklagte. Sagte man ihm, daſs er
ſie vorſuchen ſollte, ſo ſchützte er eine Zauberey
vor, die ihn daran hinderte. Der nemliche
Kranke bekam ein unerträgliches Jucken am
ganzen Leibe. Auch dies bezog er auf eine äu-
ſsere Urſache, nemlich auf Heuſchrecken. Mir
ſind acht Fälle von Verrückten bekannt, ſagt
[275]Haslam*), die darauf beſtanden, ſie hätten den
Teufel, in der Geſtalt eines ſchwarzen Mannes,
mit einem langen Schwanze und mit Bocksfüſsen
geſehn. Eine Kranke verſicherte ſogar, ſie habe
ihn mit einem Bunde Stroh auf den Schultern an
ihrem Fenſter vorbeigehn ſehen und es gehört,
daſs er die eiſernen Ketten zerbrochen habe, mit
welchen er von Gott angeſchloſſen ſey. Ein ſechs-
zigjähriger Mann, erzählt Dufour**), bekam
einen grauen Staar, der ihn am Geſicht hinderte,
und wurde dadurch wahnſinnig. Erſt als der
Staar reif geworden war, wurde er wieder ſanfter,
unterwarf ſich der Operation und ſein Wahnſinn
verſchwand. Andere Beiſpiele von Irreſinn durch
Sinnes-Krankheiten und ihre Behandlungsart
ſind bereits oben angeführt ***).
Nahe verwandt mit den Sinnesanſchauungen
ſind die Operationen der Phantaſie. Wir ſind
oft nicht im Stande, es zu unterſcheiden, ob vor-
handene Täuſchungen von Krankheiten der Sinne
oder der Phantaſie herrühren. Ich habe deswe-
gen ſchon an einem anderen Ort die Muthmaſsung
geäuſsert, daſs vielleicht die Phantaſie und die
S 2
[276] Sinne in Rückficht ihrer körperlichen Natur ſich
bloſs dadurch unterſcheiden, daſs die Nervenwir-
kungen in entgegengeſetzten Richtungen, bey
jener von Innen gegen die Peripherie durch die
Sinnesnerven, bey dieſen von der Peripherie zum
Inneren ſtatt haben. In den Bewegungsnerven iſt
dieſe auf- und niederſteigende Wirkung offenbar,
ſie wirken von Pole zu Pole, vom Gehirn zur
Peripherie und rückwärts. Warum iſt das nem-
liche nicht auch in den Sinnesnerven möglich?
Ueberhaupt iſt es noch die Frage, ob nicht bey
jedem Wirken des Gehirns, auch bey dem, das
man gewöhnlich auf daſſelbe beſchränkt, nemlich
beim Imaginiren, Denken und Wollen, eine Fort-
pflanzung gegen die Peripherie, ein Strömen vom
Mittelpunkt in alle Nerven, gleichſam eine Entla-
dung durch tauſend Ableiter ſtattfinde? Warum
kommen die Vorgänge im innerſten Heiligthum
ſo deutlich an der Oberfläche, durch die Span-
nung der Augen, durch die Phyſiognomie und
Haltung des ganzen Körpers zu Tage, daſs die
Mahler jene durch dieſe vorzuſtellen im Stande
ſind? Die Haltung des Körpers iſt zwar zunächſt
Product der Stellung des Muskelſyſtems. Allein
was ſtellt das Muskelſyſtem in ſo unendlich ver-
ſchiedene und ausdrucksvolle Formen? Zuver-
läſſig die Nerven; und dieſe müſſen dazu vom
Gehirn erregt ſeyn. Je ſtärker die Hirnwirkun-
gen ſind, z. B. Behufs der Leidenſchaften, deſto
weniger iſt die Oberfläche im Stande ſie zu ver-
[277] bergen. Die Phantaſie iſt in der Cur der Ver-
rücktheit dem Arzte vorzüglich wichtig. Sie
übertrifft an Schnelligkeit, mit welcher ſie Zeiten
und Räume durchfliegt und an zügelloſer Freiheit
im kranken Zuſtande, die der eignen und fremden
Kräfte ſpottet, alle andern Seelenkräfte. Daher
die vielen furchtbaren Scenen ihrer tumultua-
riſchen Wirkung im Wahnſinn. In den Ideen-
jagden producirt ſie ihre Bilder mit einer Ge-
ſchwindigkeit, daſs den Kranken vor der Anſicht
ſeiner eignen Werke ſchwindelt; in der Catalepſie
ſtarrt ſie, wie angeſchmiedet, auf ein Object hin;
in andern Fällen ſtellt ſie ihre Bilder in einem ſo
ſtarken Colorit auf, daſs der Kranke dieſelben
von realen Objekten nicht unterſcheidet und aus
der wirklichen Welt in ein Feenland ſeiner eignen
Träumereien verſetzt wird. Dann iſt die Phan-
taſie dem Arzte auch noch in der Rückſicht merk-
würdig, ſofern ein groſser Theil der pſychiſchen
Mittel durch ſie zur Thätigkeit gelangen muſs.
Sie ſollte noch beſonders in Kranken, denen ein
Sinn fehlt, in allen ihren Verhältniſſen, als
Gedächtniſs, als Dichtungsvermögen, im Traum,
im fieberhaften Irrereden beobachtet werden. Ein
Blindgebohrner ſtellte alle Bilder der Phantaſie
unter der Form der Anſchauungen des Getaſtes
und Gehörs vor. Er träumte wie er fühlte und
hörte. Die Perſonen im Traum unterſchied er
nach dem verſchiednen Ton ihrer Stimmen, die
Sonne dachte er ſich als eine glatte und heiſse
[278] Scheibe und eine Stadt, wie ſich die Häuſer der-
ſelben anfühlen. In einigen Arten des Wahnſinns
und beſonders im Irrereden mit Gefäſsfieber be-
kommen die Bilder der Phantaſie die Stärke der
Sinnesanſchauungen. Noch neulich behandelte
ich zwey alte Matronen am hitzigen Fieber. Bey
der einen war des Nachts Friedrich der Groſse,
bey der andern Buonaparte am Bette geſeſſen.
Verrückte ſehen Feuerſchlünde, offene Gräber,
wiedererſtandene Todte, Geiſter aller Art neben
ſich. Einer erblickte weiſse Geſtalten in Umriſſen
eines Menſchen, von verſchiedner Gröſse um ſich
her. Die kleinen waren wie Punkte und in ſo
groſser Menge vorhanden, daſs ſie auf allem, was
er vor ſich hatte, herumgaukelten, ſein Buch über-
ſäten und ihn am Leſen hinderten. Die groſsen
ſtanden ihm zur Seite, folgten jedem ſeiner Schrit-
te, hauchten ihn, wie der Tod, mit kaltem
Athem an. Ueberhaupt habe ich dieſen Wahn
der Kranken, als würden ſie mit froſtigem Hauche
von allen Ecken her angeblaſen, oft gefunden.
In dieſem kranken Zuſtande der Imagination
müſſen wir ihre Produkte mühſamer von Realitä-
ten, durch das Bewuſstſeyn unſeres inneren und
äuſseren Zuſtandes, durch die Verſchiedenheit
ihres objektiven oder ſubjektiven Urſprungs und
durch die innere Veränderlichkeit ihrer Merkmale
unterſcheiden. Daſs dies möglich ſey, beweiſt
Nicolai’s Beiſpiel, der ſeine Phantasmen für
das hielt, was ſie wirklich waren. Allein der
[279] Verrückte, welcher des Verſtandes ermangelt,
der hier unterſcheiden muſs, hält ſeine Geſichte
für Wahrheit, verliert ſich auf den Grenzen der
Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer
idealiſchen Welt, in welcher ſein Ich beides, den
Zuſchauer und den Schauſpieler macht *). Er
handelt wie er denkt, alſo inkonſequent, nach
unſeren Anſichten. Was ſoll zur Correktion die-
ſer kranken Phantaſie geſchehen? Einige ſchätz-
bare Hülfen hat Diätophilus**) angemerkt;
aber ihre Anwendung ſetzt Spontaneität voraus,
die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich muſs
man dahin ſehn, daſs die zügelloſen Spiele der
Phantaſie durch hinlänglich-ſtarke Gefühls- und
Sinneseindrücke gezähmt werden.
Häufig ſind ſinnliche und moraliſche Aus-
wüchſe Urſache der Geiſteszerrüttungen. Die
Sinnlichkeit herrſoht, die Einbildungskraft über-
flügelt den Verſtand, Schein und Irrthum, Aber-
glaube und Vorurtheile verrücken die richtige
Anſicht ſolcher Gegenſtände, an welchen jeder
Menſch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre,
Habe, Religion, Geſundheit und perſönliche Si-
cherheit treten in einem falſchen Lichte hervor.
Das Heer der Leidenſchaften wird rege und die
Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde.
Dieſen Uebeln ſoll man durch Kultur des Ver-
[280] ſtandes begegnen, und durch ſie die verſchied-
nen Naturen des Menſchen in ihre natürlichen
Verhältniſſe einſetzen. Man ſoll die Ideale der
Vollkommenheit zum Muſter, nicht zum Ziele
ſetzen, und ſeine Vermögen innerhalb der Gren-
zen anbaun, die die Natur ihnen anwies. Man
ſoll ſie in richtigen Verhältniſſen anbaun, damit
keins auf Unkoſten des andern zurückbleibe.
Man ſoll die vorhandenen Begriffe berichtigen,
ſie mit neuen Erkenntniſſen vermehren, beides
mit Rückſicht ihres nächſten Einfluſſes auf unſer
praktiſches Leben. Man ſoll endlich alles vor
den Richterſtuhl der eignen Vernunft ziehn,
nichts auf Auktoritäten glauben, die Lüſternheit
des Körpers durch Arbeit und Nüchternheit ab-
ſtumpfen, den Trieb zu geiſtigen Genüſſen we-
cken, und in ſinnlichen Vergnügungen Maaſse
halten, als der Bedingung, unter welcher ein
dauerhafter Genuſs derſelben ſtattfinden kann.
Allein von allen dieſen Vorſchriften läſst ſich
keine auf Wahnſinnige anwenden. Sie müſſen un-
terjocht, beſchäfftiget und nach und nach durch
Zwang zu leichten Verſtandesübungen angehalten
werden. Endlich erſt, in der Rekonvaleſcenz
und zur Verhütung der Rückfälle, kann der
Kranke, wenn er ſeine Spontaneität wieder er-
langt hat, zum eignen Anbau des Verſtandes ge-
leitet werden.
Ein bedeutender Gegenſtand, an welchem
der Verſtand ſo leicht ſcheitert, iſt die Reli-
[281] gion. Der Menſch lebt zwar für die Gegen-
wart, genieſst ſie aber mit Zittern, wenn er nicht
Sicherheit für die Zukunft hat. Die Religion
wird uns zu früh vor der Reife des Verſtandes,
wenn wir jeden Eindruck feſthalten, ſie wird
uns als Glaubensſache eingeprägt, über die man
nicht vernünfteln ſoll. Ihr ſtellt man zwey mäch-
tige Leidenſchaften, Furcht und Hoffnung, zur
Seite, und knüpft dieſelbe an Gegenſtände, die
auſser dem Gebiete der Erfahrung liegen. Wie
leicht können daher Dogmen der Theologie,
faſche Begriffe von der Gewalt des Teufels, von
der Prädeſtination, von der Verſöhnung, von
der Strafgerechtigkeit Gottes, von der Ewigkeit
der Höllenſtrafen einen an Körper und Seele
ſchwachen Menſchen, der krank, hypochon-
driſch, durch Unglücksfälle gebeugt iſt, ſeine
düſtere Phantaſie in ſtiller Einſamkeit nährt, und
ſeinen Hang zum Wunderbaren durch myſtiſche
Schriften befriedigt, zum Wahnſinn führen?
Und wie ſchwer wird dieſer Schwärmer zu be-
kehren ſeyn? Jeder Widerſpruch empört ihn,
jeden Zweifel hält er für Gottesläſterung. Alle
Vernunftgründe ſcheitern an ſeiner erhitzten Ein-
bildungskraft. Man ſoll daher dem Wahnſinn
aus dieſer Quelle vorbeugen, da er ſo ſchwer zu
heilen iſt, den Fanatismus bekämpfen, die Re-
ligion von Schwärmerey, Myſtik und Pietismus
reinigen. Dies iſt freilich an manchen Orten ſo
gut gelungen, daſs ſie ſelbſt über das viele Licht,
[282] welches man in ſie hineingetragen hat, unſichtbar
geworden iſt. Doch giebt es auch noch finſtere
Gegenden; und neue Helden bauen dem Aber-
glauben neue Throne. In dem erſten Entſtehn
dieſes Wahnſinns iſt Zerſtreuung und Ableitung
eine Hauptſache; nachher unterjocht man den
Kranken, ſondert ihn ab, beſchäfftigt ihn unun-
terbrochen durch Arbeiten, gymnaſtiſche Uebun-
gen und beſonders durch Feldbau. Man bewah-
ret ihn für die Anſicht unmoraliſcher Dinge, und
entfernt alles von ihn, was auf Religionskultus
Bezug hat. Man prüfe ſeine Neigung, und ſuche
ſein Intereſſe für Dinge zu gewinnen, die auſser-
halb der Religion liegen. Man übe ſeinen Ver-
ſtand durch gleichgültige Gegenſtände. Endlich
erſt, wenn er wieder zur Beſonnenheit gelangt
iſt, mache man ihn aufmerkſam auf die Lebens-
geſchichte weiſer Menſchen, deren edle Hand-
lungen, auf die Thorheiten der Anachoreten und
auf das Unglück, welches der Fanatismus in der
Welt angerichtet hat. Man überzeuge ihn davon,
daſs Brav-Handeln Gott in allen Verhältniſſen
wohlgefällig ſey, und alle Religion dahin abzwe-
cken müſſe, zuvörderſt das Glück der Menſchen
auf der Erde zu fördern. Zuweilen kann man
auch durch erſchienene Engel oder durch eine
künſtliche Entrückung von der Erde in die Sphä-
re der Geiſter einzelne fixe Ideen tilgen, oder ihm
auf dieſem Wege Befehle zur Zerſtreuung, [\>Be-
ſchäfftigung] und andern in den Curplan einſtim-
[283] menden Handlungen ertheilen. Ob nicht der-
gleichen Inſpirationen mehr Eingang fänden, wenn
die vermeintlichen Geiſter ſich durch den Magne-
tismus mit den Kranken in Rapport ſetzten?
Einige Menſchen werden durch Vorwürfe
verrückt, die ſie ſich mit oder ohne ihr Ver-
ſchulden über verſäumte Pflichten gegen Gott,
ſich und andere, beſonders über Vernachläſſigun-
gen verſtorbner Verwandten und Kinder, machen.
Daher ein peinigendes Schuldgefühl ihres eignen
Gewiſſens; die fixe Idee des verletzten Rufs in
den Augen anderer Menſchen. Sie fürchten und
glauben anfangs die Nachſtellungen der Juſtiz, und
ſuchen ſich vor denſelben in abgelegne Schlupf-
winkel ihres Hauſes zu verbergen. Allein ihr
innerer Feind folgt ihnen überall nach; deswe-
gen ſuchen ſie nachher, was ſie anfangs flohen,
werfen ſich dem Nachrichter in die Arme, um
durch ihren Tod die beleidigte Gottheit zu ver-
ſöhnen und ihrer Quaal loſszuwerden. Hier
beuge man bey Zeiten vor, zerſtreue den Kran-
ken, beſchäfftige ihn mit Arbeiten, entziehe ihn
dem Cirkel bekannter Verhältniſſe, und beſtelle
ihm im äuſserſten Fall ein Gericht, das ihm eine
Strafe auferlegt, die dazu geeignet iſt, ihn zu
heilen, z. B. eine Strafe, die mit Reiſen, mit
groſsen Anſtrengungen des Körpers verbunden
iſt. Ein Tagelöhner, der ſich während der Re-
volution in Frankreich durch einige Reden ver-
dächtig gemacht hatte, fürchtete die Guillotine,
[284] und wurde wahnſinnig. Pinel*) verabredet
mit drey jungen Aerzten eine Commiſſion, die
über ſeine Verbrechen richten ſollte. Sie war
ſchwarz gekleidet; der ganze Apparat erregte
Ehrfurcht. Dieſe lud den Kranken vor, proto-
kollirte ſeine Ausſagen und ſprach ihn dann, kraft
einer Vollmacht der Nation, mit allen Formali-
täten loſs, welches gute Wirkung that. Ein alter
Hageſtolz, der einem anderen kühneren zu nahe
getreten war, fürchtete deſſen Rache. Er ver-
lieſs den Ort, kaufte ſich viele Meilen davon auf
dem Lande an. Allein die innere Angſt blieb.
Er glaubte an gedungene Meuchelmörder, die
ihm heimlich auflauerten, an beſtochne Giftmi-
ſcher unter ſeinem Geſinde. Er bildete ſich ein,
ſein Feind wolle ihn durch langſame Marter aus
der Welt ſchaffen. Daher ſchritt er zum Selbſt-
mord, der aber nicht vollkommen gelang Nach-
dem der Tod ſeines vermeinten Feindes in den
Zeitungen angekündigt war, zerſtreute man ihn
und gab ihn in die Pflege ſeiner Verwandten, die
er liebte. Dies heilte ihn.
Andere werden verrückt, weil ſie mit
zu viel Sorgfalt über die Schönheit,
Vollkommenheit und Geſundheit ihres
Körpers wachen. Dieſe nähre man ja nicht
mit falſchen Hoffnungen, die morgen zuſammen-
fallen, wenn man ſeinen Kredit erhalten will.
[285] Umgekehrt dient es oft zu ihrer Beruhigung,
ihnen die offene Wahrheit zu ſagen. Der Profeſ-
ſor Moritz war krank und ſo voller Angſt über
die Ungewiſsheit ſeiner Herſtellung, daſs dies
ſein Fieber ununterbrochen unterhielt. Alle
Hoffnungen, die ihm ſein Arzt Herz machte,
fruchteten nichts. Nun erklärte derſelbe ihm mit
feierlicher Mine, daſs er von ſeiner Krankheit
nicht geneſen würde. Dies wirkte. Nachdem
der erſte Schreck vorüber war, wurde er ruhig
und genas. Man unterrichte ſie in dem Gang
der organiſchen Natur, die aus Spannen langer
Exiſtenz der Individuen ihre Kette flicht, und
nichts giebt, was ſie nicht auch wieder zerſtört.
Man ſchildre die Thorheit, über Beſorgniſſe für
die Zukunft den Genuſs der Gegenwart zu ver-
lieren. Man gewöhne ſie allmählich, wirkliche
Uebel mit Ruhe anzuſchaun, ſie als fremde Dinge
bey Seite zu ſetzen und darüber zur Ordnung des
Tages fortzuſchreiten *). Hypochondriſten ha-
ben ein reizbares Gemeingefühl. Sie empfinden
in allen Punkten, wohin ſie die Aufmerkſamkeit
ihrer Seele richten. Sie bilden ſich daher ein,
alle Krankheiten zu haben, von welchen ſie hö-
ren. Beſonders quält ſie der Gedanke verlarvter
veneriſcher Krankheiten, wenn ſie ſich nicht
[286] ſicher wiſſen. In dieſem Fall hüte man ſich, ihr
Nervenſyſtem durch angreifende Arzneien noch
weiter zu zerrütten. Man ſetze ſie auf ein gutes
Regime, verordne ihnen Medikamente wider die
Empfindlichkeit, und verſpreche ihnen davon die
Geneſung ihrer eingebildeten Krankheit binnen
Jahresfriſt, in welcher die Zeit ihren Wahn ver-
tilgt. Faſt eben ſo leicht kann die Beſorguiſs
wegen Sicherheit der Perſon und des Eigentlrums
in tyranniſchen Staaten und zu revolutionairen
Zeiten zum Wahnſinn führen. Daher die vielen
Verrückten während der letzten Anarchie in
Frankreich.
Wenn Leidenſchaften Urſache der Gei-
ſteszerrüttungen ſind, welches leider nur zu oft
der Fall iſt, ſo hat der pſychiſche Arzt zuerſt da-
hin zu ſehen, ſie zu entdecken, wenn ſie der Art
ſind, daſs der Kranke ſie verheimlichet. Ohne Er-
kenntniſs der Urſache iſt keine Heilung möglich.
Sauvages*) erzählt die Geſchichte einer Frau,
die ſich aus Eiferſucht ermordete. Ihr Arzt hätte
ſie retten können, wenn er ihre Leidenſchaft ge-
ahndet hätte. Selbſt Verrückte ſind im Stande,
dieſelben zu verheimlichen; ſie ſchützen erdich-
tete Uebel vor, um ſich hinter denſelben zu ver-
ſtecken. Dazu hat freilich der Arzt Menſchen-
kenntniſs, Weltklugheit, Geſchmeidigkeit, Be-
kanntſchaft mit der Lebensgeſchichte und den
[287] Neigungen des Kranken und Aufmerkſamkeit auf
jede ſeiner Aeuſserungen nöthig. So entdeckte
Galen die Liebe einer römiſchen Dame zu dem
Schauſpieler Pylades dadurch, daſs ihre Ge-
ſichtszüge ſich veränderten, als einer in der Ge-
ſellſchaft ſeinen Namen zufällig nannte. Parge-
ter*) nahm eine artige Wendung in einem ſolchen
Fall. Er faſste die ſchwermüthige Kranke beim
erſten Beſuch ſcharf ins Auge, und ſagte ihr, daſs
er bereits vollkommen von der Urſache ihrer
Krankheit unterrichtet ſey.
Wie ſoll man den Menſchen für den nach-
theiligen Einfluſs der Leidenſchaften, beſonders
in Hinſicht auf Geiſteszerrüttungen ſichern? Zu-
vörderſt erſtickt man ſie nicht, ſondern läſst ſie
austoben. Sie ſind gleich einem reiſsenden Strom,
der deſto nachdrücklicher wüthet, je enger man
ihn eindämmt. Rache, wenn ſie geſättiget, Lie-
be, wenn ſie befriediget wird, ſind weniger ge-
fährlich; der Traurige findet ſich erleichtert,
wenn er weinen, der Zornige, wenn er ſeinen
Muth kühlen kann. Im Gegentheil iſt der An-
griff der Leidenſchaften auf unſere Geſundheit um
ſo nachdrücklicher, je ſtummer ſie ſind. Dann
kömmt ſehr viel darauf an, ſo früh als möglich
zu Hülfe zu eilen, wenn man Gefahr ahndet.
Wahnſinn von Unglücks- und Todesfällen kann
man in der Regel verhüten, wenn man zur rech-
[288] ten Zeit, ehe die fixe Idee Wurzel gefaſst hat,
zweckmäſsige Mittel zur Zerſtreuung des Kran-
ken anwendet. Einſamkeit nährt die Grillen;
Beſchäfftigungen zerſtreuen ſie, wenn ſie der Na-
tur der Leidenſchaft und dem Grade ihrer Erre-
gung angemeſſen ſind. Man beſorgt die Befrie-
digung der Leidenſchaft, entfernt den Gegenſtand,
der ſie erregt, ſtellt ihr eine andere von gleichem
Intereſſe zur Seite. Endlich muſs auch hier die
Fackel der Vernunft Licht geben, den Irrthum
vertilgen, die Dinge in ihrem natürlichen Zuſam-
menhang auffaſſen, ihren wahren Werth beſtim-
men, und uns über Ereigniſſe zufrieden ſtellen,
die von der Menſchheit nicht zu trennen ſind.
Die heftigen und tranſitoriſchen Leidenſchaf-
ten können zwar auch Geiſteszerrüttungen her-
vorbringen. Man kann vor Freude toll und vor
Zorn raſend werden. Doch geſchieht dies ſeltner
und wenn es geſchieht, entſtehn Tobſuchten, die
ſich als akute Krankheiten entſcheiden. Auch
kann meiſtens wider dieſe Urſache während des
Wahnſinns nichts gethan werden, weil ſie dann
längſt verſchwunden iſt. Vielmehr ſoll man den
Hang zu dieſen Leidenſchaften bekämpfen, um
ihren Folgen zu entgehn, dieſer Artikel gehört
aber nicht hieher, ſondern in die Moral. In
Fällen, wo ein ſchauderhafter Eindruck die Tem-
peratur des Nervenſyſtems verletzt hat, kann
die Wiederholung des nemlichen Eindrucks, nach
den Geſetzen der Gewohnheit, ſeine Folgen tilgen.
Ein
[289] Ein Mann ſah der Enthauptung eines Delinquen-
ten zu. Dieſe Vorſtellung erſchien unnachläſſig
im Traum wieder, und ängſtigte ihn ſo ſehr, daſs
er darüber mit Zittern vom Schlaf erwachte. Er
nahm ſich daher vor, auſs neue dieſem Schau-
ſpiel zuzuſehen. Dies wirkte durch die Uebung
ſeines Muths und durch die Ueberlegung, welche
er dabey anſtellte. Er wurde von ſeinen ängſti-
genden Träumen befreit *).
Eher gehören die anhaltenden und nieder-
ſchlagenden Leidenſchaften, Indignation, Kum-
mer und Traurigkeit über verlohrne Ehre, Freun-
de, Güter, Vaterland u. ſ. w. in das Gebiet des
pſychiſchen Arztes, bey der Cur der Geiſteszer-
rüttungen. Dieſe Leidenſchaften erſchüttern fort-
daurend die Seele, auch dann noch, wenn ſie
ſchon zerrüttet iſt. Sie erregen eine gewiſſe Ato-
nie und Trägheit des Nervenſyſtems, daſs es nicht
mehr auf die Vegetation einwirkt, bringen Ab-
nahme der Kräfte, Magerkeit, Gleichgültigkeit,
Verachtung des Lebens und eine Art nervöſer
Abzehrung hervor, die ſich nicht ſelten mit dem
Tode endigt **). Wider dieſe Atonie des Ner-
venſyſtems muſs man Stürme in demſelben erre-
gen, und es durch moraliſche Reize aus ſeinem
T
[290] Schlummer wecken. Man verwickelt den Kran-
ken in ganz neue Lagen, ändert ſeine Lebensart,
ſchickt ihn auf Reiſen, läſst ihn heirathen, kün-
digt ihm Gefahren ſeines Vermögens, ſeiner Ehre,
der Seligkeit, des Lebens an. Eine Frau, die ſehr
thätig geweſen war, und in dem Zirkel der groſsen
Welt gelebt hatte, verlohr einen Theil ihres Ver-
mögens, ſo daſs ſie genöthigt war, ſich zurück-
zuziehn. Gram und Langeweile ſtürzten ſie in
die benannte Auszehrung. Nun verlohr ſie den
Reſt ihres Vermögens, und wurde von Mangel
und Armuth bedroht. Sie ſuchte eine Stelle in
einer Verſorgungsanſtalt; Hoffnung und Furcht,
Erinnerungen der Vergangenheit und Ausſich-
ten in die Zukunft beſtürmten ſie wechſelſeitig;
ihr Nervenſyſtem wurde von neuem erregt und ſie
genas *). Endlich entſteht von dem anhaltenden
Nagen dieſer Leidenſchaften Schwermuth, Ver-
zweiflung und Selbſtmord. Die Kranken ver-
zweifeln an ihrem Auskommen oder an der Gna-
de Gottes. Sie morden ſich oder andere; andere,
weil ſie dieſelben für die Urſache ihrer Leiden
anſehn, ſie von eingebildeten Leiden erlöſen wol-
len, oder aus Furchtſamkeit ſich ſelbſt zu morden,
um durch das Schwerdt des Richters zu fallen,
**)
[291] oder endlich als ſinnloſe Automaten, die ohne
alles Bewuſstſeyn handeln. Bey dieſen nieder-
ſchlagenden Leidenſchaften kömmt es ſehr darauf
an, ob der Kranke geheilt ſeyn will. Dann
kann er des Sieges gewiſs ſeyn. Ein weiſer
Freund, nicht zu voreiliger Troſt, der den
Schmerz ſchärft, Zerſtreuungen, die dem Seelen-
leiden angemeſſen ſind, können wenigſtens ſoviel
thun, daſs Zeit gewonnen wird. Und iſt dieſe
gewonnen, ſo entſteht kein Wahnſinn, denn ſie
tröſtet über jeden Verluſt. Gegen Geiſteszerrüt-
tungen vom Verluſt der Habe wirken zuweilen
Vorſpiegelungen neuer Hoffnungen. Schwerer
ſind die Eindrücke gekränkter Ehre zu tilgen.
Heimliche Entfernung in ein unbekanntes Land
iſt wol das beſte Mittel, wenn keine Genugthu-
ung möglich iſt. Denn der Harm gründet ſich
darauf, daſs die Makel gekränkter Ehre bekannt
geworden und nicht getilgt iſt. Ein Mann fiel
durch unverſchuldete Miſshandlungen in den
fixen Wahn, die ganze Menſchheit habe ſich wi-
der ihn verſchworen. Er muſste deswegen ſeines
Dienſtes entſetzt werden, welches ihn von neuem
in ſeiner vorgefaſsten Meinung beſtätigte. Allein
durch eine leutſelige Behandlung in dem Kran-
kenhauſe und durch die Verſprechung einer an-
deren Verſorgung wurde er geheilt. Er bekam
wirklich nach ſeiner Herſtellung eine andere
Stelle, und iſt dadurch wahrſcheinlich für Rück-
fälle geſichert.
T 2
[292]
Das Heimweh iſt eine wahre Gemüths-
krankheit, die gerade bey ſolchen Völkern am
leichteſten entſteht, die in der Einfalt ihrer Sit-
ten den Begriff ihrer Glückſeligkeit an wenige
Gegenſtände knüpfen, wie die Lappen, die Berg-
ſchotten und Schweizer. Die katholiſchen Appen-
zeller ſind bloſse Hirten, kleben aber am ſtärk-
ſten wie ihre Kühe an die vaterländſchen Alpen;
die Lappen haben eine ſo hohe Meinung von den
Vorzügen und der Verfaſſung ihres Landes, daſs
ſie auſser demſelben erkranken. Die ſüſse Rück-
erinnerung an Freunde und Verwandte, an die
ſchuldloſen Scenen der Jugend, an unbedeutende
Eigenheiten des Vaterlandes, an den Kuhreihen
der Schweizer, den Dudelſack der Schotten, fi-
xirt die Einbildungskraft, erregt Sehnſucht, dieſe
Schwermuth, wenn ſie nicht befriediget wird.
Gern bringt auch das Heimweh die oben ſchon
bemerkte ſchnelle Flucht aller Nerven- und Ve-
getationskraft, und eine nervöſe Schwindſucht
hervor, die aber eben ſo ſchnell durch die Hoff-
nung der Rückkehr wieder verſchwindet. Ein-
ſamkeit vermehrt die Wirkungen des Heimwehs;
frühe Beſchäfftigungen beugen ihnen vor. Iſt
daſſelbe einmal vollkommen ausgebildet; ſo iſt
Rückkehr ins Vaterland das ſicherſte, oft das
einzige Mittel zur Geneſung *). Moreau**)
[293] behandelte einen Kranken im Spital an einem
chirurgiſchen Zufall, der plötzlich gleichgültig
und niedergeſchlagen wurde, Dyspnoe, Magen-
krampf und einen langſamen Puls bekam, ſich
abmagerte und in eine dumpfe Melancholie ver-
fiel. Die Urſache dieſer ſchleunigen Umwälzung
war Heimweh, das durch das Gehör der Stimme
eines Landsmanns entſtanden war. Durch das
nemliche Mittel ſuchte ihn Moreau zu heilen.
Er billigte ſeinen Harm, unterhielt ſich mit ihm
von ſeinem Vaterland, machte ihm Hoffnung zur
baldigen Rückkehr und lieſs ſeinen Landsmann zu
ihm gehn. Es erfolgten bey traulichen Unterre-
dungen über Gegenſtände des Vaterlandes reichli-
che Ergüſſe von Thränen, und der Kranke genas.
Schreckhafte Träume können ähn-
liche Uebel erregen. Der Kranke fürchtet ſie,
fürchtet die Nacht, iſt ungewiſs, ob er träume,
oder ob ſich ſein Bewuſstſeyn auf Realitäten be-
ziehe. Er ſchiebt, wenn er vollends abergläu-
biſch iſt, ſeinen Gefühlen falſche Urſachen, Alpe,
Bären, böſe Geiſter, Vampire unter, hält dieſe
Dinge für die Urſache ſeiner nächtlichen Quaalen,
und kann darüber verrückt werden. Meiſtens iſt
in dieſem Fall körperliche Krankheit, nemlich
Alpdrücken vorhanden, das man entweder
heilen oder von deſſen Natur man wenigſtens den
Kranken unterrichten muſs *).
[294]
Anhaltende Schmerzen können auch die
Seele zerrütten. Man wecke den Muth, tröſte
durch Hoffnungen einer nahen Erlöſung, tilge
die Urſache der Schmerzen, oder ſtumpfe durch
Mohnſaft gegen dieſelben ab. Nachher ſuche
man durch Gemüthsruhe, Zerſtreuung, Landluft,
gute Nahrungsmittel und durch den mäſsigen
Genuſs des Weins dem angegriffenen Nervenſy-
ſtem wieder aufzuhelfen.
Andere werden vor Eitelkeit und Hoch-
muth verrückt. Meiſtens maſsen ſie ſich Vor-
züge in Dingen an, die entweder keinen Werth
haben, oder worin ſie von anderen weit über-
troffen werden. Darüber verſtändige man ſie.
Man zeige ihnen, wie abgeſchmackt ihre Leiden-
ſchaft ſey. Indem ſie der Achtung anderer
nachjagen, verlieren ſie dieſelbe, und werden mit
Verachtung für ihre Anmaſsung geſtraft. Allein
meiſtens ſind dieſe Menſchen von eingeſchränktem
Verſtande, der durch allgemeine Uebungen ange-
bauet werden muſs. Oft iſt es heilſam, dem auf-
geblaſenen Thoren ſeine Ohnmacht und Abhän-
gigkeit fühlen zu laſſen. Ich hatte einen ſolchen
Kranken in der Behandlung, der in keinem
Stücke gehorchte, ſein Haus deſpotiſirte, und
Herr der Welt zu ſeyn glaubte. Die erzwungene
Nachgiebigkeit vermehrte ſeine Tollheit. In die-
ſem Zuſtande erklärte ich ihm, daſs er zu ſeiner
und ſeiner Hausgenoſſen Sicherheit Arreſtant ſey.
In dem nemlichen Augenblick traten zwey baum-
[295] ſtarke Wachtknechte herein, ſtellten ſich mit mar-
tialiſcher Miene ihm zur Seite und empfingen
meine Befehle über ihr Verhältniſs zu dem Kran-
ken. Sein Auge ſing an zwiſchen mir und ſeinen
Wächtern rechts und links zu ſchweben, er ver-
lohr allen Muth, folgte in allem wie ein zaghaftes
Kind und wurde geheilt. Der König Nebu-
cadnezar wurde vor Hochmuth ein Narr.
Dies iſt die ſtolze Babel, ſprach er, die ich er-
baut habe, durch meine groſse Macht, zu Ehren
meiner Herrlichkeit. Allein der Herr heilte ihn
durch Demüthigung. Haut dem Baum um,
ſprach er durch ſeinen Propheten, deſſen Wipfel
gen Himmel, deſſen Aeſte bis an der Welt Ende
reichen, daſs alles Fleiſch unter ihm Schatten
findet. Doch laſst den Stamm mit ſeinen Wur-
zeln in der Erde bleiben. Der groſse König ſoll
ſieben Jahre lang im Graſe gehn, vom Thau des
Himmels naſs werden und mit den Thieren von den
Kräutern der Erde weiden, bis ſein Haar wächſt
wie Adlers Federn und ſeine Nägel wie Vogel-
klauen *). Eben ſo abgeſchmackt iſt die Leiden-
ſchaft des Geizes. Der Kranke hat nach ſei-
ner Meinung viel nöthig und kann von ſeinen Gü-
tern nichts entbehren. Er entbehrt indeſſen wirk-
lich ihrer aller, indem er durch Kargheit einen
Beſchlag auf dieſelben legt.
Zuweilen kann der Nachahmungstrie[b]
[296] der Menſchen Urſache der Verrücktheit werden.
In dieſem Fall muſs man die Vorbilder der Nach-
ahmung entfernen, die Vortheile derſelben auf-
heben, drohen, beſchimpfen. Als der Selbſt-
mord unter den Mädchen von Miletus epidemiſch
geworden war, machte der Staat ein Geſetz be-
kannt, daſs die erſte, welche wieder Hand an ſich
legte, nackend auf dem Markt ausgeſtellt werden
ſollte. Dieſe angedrohte Beſchimpfung ſteuerte
dem Uebel *). In einem Kloſter fielen alle
Nonnen zu einer Stunde täglich nieder und er-
hoben ein allgemeines Geſchrey, das dem Geheul
der Katzen ähnelte und zum Aergerniſs der Reli-
gion mehrere Stunden anhielt. Die Obrigkeit
gab Befehl, daſs beim erſten Katzengeſchrey Sol-
daten anrücken und die Nonne durchpeitſchen
ſollten, die laut geworden war. Dieſe Drohung
hob augenblicklich die Eindrücke der Nachah-
mungsſucht auf die kranke Einbildungskraft **).
Eine fixe Idee, die urſprünglich von einer be-
ſtimmten Urſache entſtanden iſt, ändert ſich in
der Folge mannichfaltig ab, und theilt dadurch
der Verrücktheit immer eine andere Form mit.
Das Beiſpiel einer Mutter, die ein Kind verlohren
hatte, und ſich über verſäumte Pflege deſſelben
Vorwürfe machte, habe ich bereits angeführt.
[297] Sie glaubte Urſache des Todes des Kindes zu
ſeyn, fürchtete anfangs die Juſtiz und endlich
ſuchte ſie die Strafe derſelben. Wahrſcheinlich
wird ſie, wenn ſie geneſt, auf die erſte mildere
Idee zurückkehren. Ein Uhrmacher, deſſen Pi-
nel*) gedenkt, verlohr den Verſtand durch An-
ſtrengung der Seele über die Erfindung eines Per-
petuum mobile. Nachher bildete er ſich ein, er
ſey mit anderen guillotinirt und habe ſtatt des ſei-
nigen einen fremden Kopf bekommen. Man gab
ihm Uhrmacher-Werkzeug; die alte Idee, das
Perpetuum mobile zu erfinden, erwachte wieder
und er machte den Weg rückwärts zur Geneſung,
auf welchem er zum Wahnſinn gelangt war. In
ſolchen Fällen, wo die Verkehrtheit gar nichts
ähnliches mehr mit ihrer erſten Urſache hat, iſt es
demohnerachtet nicht überflüſſig, auf dieſelbe
Rückſicht zu nehmen, und den Kranken wo
möglich auf ſeinen urſprünglichen Wahn zurück-
zuleiten.
Wie ſoll endlich ein Menſchbehandelt wer-
den, der durch übermäſsige Anſtrengungen
ſeiner Seele zum Narren geworden iſt? Dieſe
Urſache zerſtört den Ton der Eingeweide des
Unterleibes, durch die ſitzende Lebensart und
greift das Nervenſyſtem unmittelbar an. Sie macht
finſter, kleinmüthig, hypochondriſch und endlich
toll. Taſſo, Pascal, Peter Jurieu und
[298] andere ſind davon redende Beweiſe. Man muſs
dieſe Kranke ſalben, reiben, zur Bewegung an-
halten. Die Gymnaſtik, welche Herodikus
zuerſt zu einem Zweige der Heilkunſt gemacht hat,
leiſtet ihnen einen doppelten Vortheil, zerſtreut
ihr Gemüth und heilt die Stockungen ihres Unter-
leibes. Gern fehlt ihnen der Schlaf, den man
durch Arbeit und Mohnſaft herbeilockt. Sie müſſen
entweder einer vollkommnen Seelenruhe genie-
ſsen, oder ihren Geiſt mit leichten Gegenſtänden
beſchäfftigen und mit denſelben wechſeln, damit
allmälich alle Theile des Seelenorgans in Thätig-
keit geſetzt werden. Das Gehirn gleicht einem
Acker, der durch die Brache neue Kräfte ſamm-
let. Ihre Diät muſs erquickend, nahrhaft und
leicht verdaulich ſeyn.
§. 20.
Neben der Kur der entfernten Urſachen, wo-
durch den Geiſteszerrüttungen gleichſam die Wur-
zeln behauen werden, muſs die pſychiſche
Behandlung ihnen ſelbſt, mit Rück-
ſicht auf ihre verſchiedne Natur, an-
gepaſst werden. Zu dieſem Behuf iſt es zu-
vörderſt nothwendig, daſs die eigenthümli-
chen Formen derſelben aufgeſucht und nach
ihren generiſchen und ſpecifiſchen Differenzen be-
ſtimmt werden. Denn dadurch gelangen wir zur
Erkenntniſs ihrer weſentlichen Verſchiedenheit
und haben zugleich den Vortheil, die groſse Man-
[299] nichfaltigkeit der ſonderbarſten Erſcheinungen ei-
nes volkreichen Tollhauſes, die uns verwirren
würde, in beſtimmte Punkte zu ſammlen.
Was ſind weſentliche, was zufällige
Differenzen? Wie unterſcheiden ſich Arten und
Varietäten? Arten beziehn ſich auf verletzte
Qualitäten, die einer Thierart überhaupt eigen
ſind, Varietäten auf Modifikationen derſelben durch
Individuen der gegebnen Thierart. Arten der
Geiſteszerrüttungen ſind ſpecifiſch-
eigenthümliche Verletzungen der Dy-
namick des Gehirns, in Beziehung auf
ſeine Funktion als Seelenorgan, die
ſich daher durch einen Inbegriff ſte-
ter Symptome zu erkennen geben müſ-
ſen. Die Symptome dieſer Krankheiten müſſen
als geſtörte Geſchäffte der Seele erſcheinen, ſo-
fern das Gehirn nach ſeinen verſchiedenen Zu-
ſtänden zur Hervorbringung dieſer Geſchäffte mit-
wirkt. Varietäten entſtehn durch das Verhältniſs
der Verrücktheit zu ihren mannichfaltigen ent-
fernten Urſachen, durch die Verſchiedenheit ih-
rer Stärke und Dauer, durch ihre Zuſammenſe-
tzung mit anderen Seelen- oder Körper-Krankhei-
ten und endlich durch die Modifikation, welche
die abſtract gedachte Krankheit erleidet, wenn
ſie als wirklich in einem Individuum geſetzt wird.
Dahin zähle ich auch die Kultur der Seelenkräfte,
die ſo verſchieden iſt, als es die Individuen ſind.
[300] Daher hat Chiarugi*), wenn er nach Graden
und entfernten Urſachen claſſificirt, Varietäten
ſtatt Arten aufgeſtellt. Es iſt hier nicht der Ort,
mich auf eine Kritik der Eintheilungsgrün-
de**) einzulaſſen, die Arnold***), Sauva-
ges****), Erhard†), Schmid††), Chia-
rugi†††) und andere Aerzte zur Claſſifikation
des Wahnſinns angenommen haben. Doch be-
merke ich im Vorbeigehn, daſs nur einer der-
ſelben, nemlich derjenige, welcher ſich auf die
Verſchiedenheit ſeiner Natur bezieht, zum Behuf
der Praxis ſtatthaft ſey. Bloſs Herrn Hoffbau-
ers††††) Eintheilung der Seelenkrankheiten will
ich mit ein Paar Worten erwähnen. Er will ſie
nach den einzelnen Vermögen der Seele, die ver-
letzt ſind, deren abnormes Verhältniſs gegen ein-
ander und nach der geſtörten Gemeinſchaft der
[301] Seele mit dem Körper ordnen und darnach als
Geſchlechter Geiſteszerrüttungen, Ver-
rückungen und Seelenkrankheiten im
engern Sinn feſtſetzen. Allein wird dieſe
Eintheilung in das ganze Syſtem aller Krankhei-
ten eingreifen? Iſt ſie nicht auf Symptome gegrün-
det, ſofern die Verletzungen der Seelenvermögen
nicht Krankheiten ſondern Produkte derſelben
ſind? Sind die Seelenvermögen in Beziehung ih-
res zureichenden Grundes ſo heterogen, als ſie es
nach ihren Aeuſserungen zu ſeyn ſcheinen? Wür-
de nicht das dritte Glied in dem bemerkten Ein-
theilungsgrund, nemlich die geſtörte Gemein-
ſchaft der Seele und des Körpers, fallen, wenn
etwan neben dem Körper kein anderes Subſtrat
der innern Seelenvermögen vorhanden wäre?
Sind nicht die aufgeſtellten Kraftverhältniſſe in
concreten Fällen ſchwer zu finden? Woher
die Phahtasmen, die die Stärke der Sinnesan-
ſchauungen haben; von Hyperſthenie der Phan-
taſie oder der Sinnorgane? Ich möchte daher
Herrn Hoffbauers Anſicht nicht ſowol zur Claſ-
ſifikation, ſondern vielmehr als Einleitung in das
Studium der Arten empfehlen, um darnach ihre
Anfänge, Entwickelungen, Ausbreitungen und
Einflüſſe auf die verſchiednen Seelenvermögen zu
erörtern. Doch ſind wir genöthiget, die Leiden
der Seele nach ſolchen Erſcheinungen zu beſtim-
men, die uns von ihr bekannt ſind. Denn
von der Verletzung derſelben an ſich und ihrer
[302] geſtörten Gemeinſchaft mit dem Körper wiſſen
wir gar nichts. Daher beziehn ſich auch die
meiſten Verſuche zur Claſſifikation der Geiſtes-
zerrüttungen mehr oder weniger auf die Verſchie-
denheit der verletzten Seelenvermögen.
Bey dieſen abſoluten Mängeln unſerer Er-
kenntniſs begnüge ich mich damit, zum prakti-
ſchen Gebrauch für Aerzte vorerſt nur einige
feſte Punkte in das Chaos der Geiſteszerrüt-
tungen zu ſtellen. Ich will nemlich ſolche ſpe-
ciſiſch eigenthümliche Zuſtände derſelben aufſu-
chen, die in ſich ſelbſt ſoviel Charakter haben,
daſs ſie als Arten in jedes Syſtem paſſen müſſen,
und ſie durch Merkmale bezeichnen, durch
welche ſie überall von jedermann erkannt werden
können. Unter dieſelben können die meiſten
Fälle ſubſummirt werden. Der Reſt bleibt ſo
lang als Naturſpiel im Chaos zurück, bis wir
mit ſeinem Weſen näher bekannt werden. Die
Aerzte fehlten darin meiſtens, daſs ſie durch zu
viele und auſserweſentliche Merkmale die Gren-
zen der Arten zu eng gefaſst haben. Denn wenn
wir dem Wahnſinn, auſser ſeinem weſentlichen
Merkmal fixer Ideen, noch ein anderes des
Trübſinns zufügen, ſo ſtoſsen wir auf Fälle
fixer Ideen, denen das letzte Merkmal fehlt, und
die deswegen keinen Platz im Syſtem finden.
Den Grund dieſer beſtimmten Formen zerrütteter
Seelenkräfte im Organismus, als noſologiſchen
Eintheilungsgrund derſelben, kenne ich nicht,
[303] und bin daher genöthiget, ſie wie meine Vorgän-
ger durch Merkmale zu beſtimmen, die ſich auf
verletzte Seelenvermögen beziehn.
Die Gattungen, unter welche die Arten
aufgefaſst werden müſſen, übergehe ich. Denn
es kömmt bey der Claſſifikation der Krankheiten
vorzüglich auf die richtige Begründung der Ob-
jekte, und weniger auf ihre Aneinanderreihung
an. Doch muſs ich einer Differenz der Geiſtes-
zerrüttungen, nemlich ihrer ſtheniſchen oder
aſtheniſchen Natur erwähnen, ohne mich
darauf einzulaſſen, ob dieſelbe weſentlich oder
zufällig, ſpeciſiſche oder generiſche Differenz ſey.
Dieſe Sthenie und Aſthenie beziehe ich direct
auf die Geiſteszerrüttungen. Denn eben dieſe
Zuſtände im Vegetationsſyſtem ſind für ſich be-
ſtehende Krankheiten, bedürfen bloſser körper-
licher Mittel, und ſtehn nicht ſelten mit dem
Charakter der Geiſteszerrüttungen im umgekehr-
ten Verhältniſs. Oft iſt die Seele äuſserſt wirk-
ſam in geſchwächten Subjekten, oder ihre Thätig-
keit wird ganz unterdrückt, wenn das Gehirn
durch eine zu groſse Energie der Gefäſse mit
Blut überfüllt wird.
Zuweilen ſind die Seelenkräfte in den Gei-
ſteszerrüttungen über die Norm erhöht. Jede
Aeuſserung derſelben athmet Energie, die Bilder
der Phantaſie ſind brennend, ihre Verknüpfun-
gen raſch und treffend, die Gedanken kräftig und
und die gewählten Mittel dem Zwecke angemeſ-
[304] ſen, nur daſs der Zweck falſch iſt. Ich erwartete,
ſagt ein von Willis geheilter Wahnſinniger,
meine Anfälle mit Ungeduld, denn ich genoſs wäh-
rend derſelben einer Art von Seligkeit. Alles
ſchien mir leicht, kein Hinderniſs hemmte mich,
weder in der Theorie noch in der Ausführung.
Mein Gedächtniſs bekam auf einmal eine beſon-
dere Vollkommenheit. Ich erinnerte mich lan-
ger Stellen aus lateiniſchen Schriftſtellern. Es
koſtete mir im gewöhnlichen Leben viel Mühe
gelegentlich Reime zu finden, aber in der Krank-
heit ſchrieb ich ſo geläufig in Verſen als in Proſa.
Ich war verſchmitzt, ſogar boshaft und frucht-
bar an Hülfsmitteln aller Art *). In andern Fäl-
len ſcheint alle Energie der Seele erloſchen zu
ſeyn; ſie ſtarrt wie eine Bildſäule auf einen Ge-
genſtand hin, faſst die einfachſten Verhältniſſe
nicht mehr, kann zu keinen Entſchlüſſen gelangen
oder dieſelben nicht ausführen. Sonderbar iſt es,
daſs dieſe Zuſtände der Sthenie und Aſthenie oft
ſchnell und ohne bekannte Urſache, nach dem Lauf
der Anfälle, oder gar nahe vor dem Tode in hitzi-
gen Fiebern, mit einander wechſeln **). In der
Sthenie
[305] Sthenie muſs man Reize anwenden, die in Rück-
ſicht ihrer Natur und Stärke dem Grade der
Torpidität angemeſſen ſind; in der Aſthenie alle
körperlichen und moraliſchen Eindrücke mäſsi-
gen und beſonders die hervorſtechend reizbaren
Theile ſchonen.
Als Arten der Verrücktheit ſetze ich vorerſt
den fixen Wahn, die Wuth, die Narrheit
und den Blödſinn*).
U
[306]
1. Fixer, partieller Wahnſinn, Melan-
cholie.
Der fixe Wahnſinn beſteht in einer
partiellen Verkehrtheit des Vorſtel-
*)
[307]lungsvermögens, die ſich auf einen
oder auf eine Reihe homogener Gegen-
U 2
*)
[308]ſtände bezieht*), von deren Daſeyn
der Kranke nicht zu überzeugen iſt,
und die daher die Freiheit feines Be-
gehrungsvermögens beſchränkt, und
daſſelbe gezwungen, ſeiner fixen Idee
gemäſs, beſtimmt. Beide Merkmale, fixe
Ideen und ſubjektive Ueberzeugung, daſs der
Wahn Wahrheit ſey, gehören weſentlich zur
Charakteriſtik dieſer Krankheit. Denn es giebt
Fälle fixirter Ideen ohne Wahnſinn. Herr Jör-
dens**) konnte ein ganzes Jahr lang den Gedan-
ken nicht loſs werden, daſs er am Schlage ſterben
werde. Dieſe Idee quälte ihn Tag und Nacht.
Er konnte davon nicht reden, das Wort nicht
einmal ausſprechen. Ein eiskalter Schauder er-
griff ihn, wenn in Geſellſchaften von dieſer
Krankheit geredet wurde. Ein Prediger konnte
ſich des Gedankens nicht erwehren, über die
Kanzel hin ins Auditorium zu ſpringen. Er durf-
te deswegen nicht predigen. Andere können die
Idee nicht loſswerden, ein Kind zum Fenſter
hinauszuwerfen oder ein Meſſer zu ergreifen und
ſich oder andere zu ermorden. Sie ſehn es noch
ein, daſs ihre Idee ohne Vernunft ſey, und die
Ausführung derſelben ſie unglücklich machen
werde. Doch fühlen ſie einen blinden Drang,
[309] ihr gemäſs zu handlen. Eben ſo geht es dem
Hypochondriſten. Ihn quälen fixe Ideen in Be-
ziehung auf ſeinen körperlichen Zuſtand. Allein
er will und kann ſich derſelben entſchlagen,
wünſcht von ihnen befreit zu ſeyn, wechſelt mit
ſeinen Grillen, glaubt heute an einem Leberſcha-
den und morgen an einer verſteckten Luſtſeuche zu
leiden, kurz ſeine fixen Ideen beſtimmen ihn noch
nicht völlig und nothwendig in ſeiner Handlungs-
weiſe. Er iſt alſo hypochondriſch, aber noch nicht
wahnſinnig. Dies Vermögen, den Ungrund der fixen
Idee einzuſehn, ſtirbt in unmerklichen Graden ab.
Von dem klarſten Bewuſstſeyn der Täuſchung
geht es durch ein Intervall des Zweifelns zur völ-
ligen Ueberzeugung, die fixe Idee ſey reel, alſo
zum Wahnſinn fort. Auſser dieſen benannten
Merkmalen darf aber auch keins weiter in der
Expoſition dieſer Krankheit aufgenommen wer-
den. Denn wenn wir denſelben andere Merk-
male, z. B. Trübſinn oder Glaube des Kranken,
ſein Zweck ſey nicht erreicht, zufügen; ſo ſto-
ſsen wir auf Fälle fixer Ideen in der Natur, denen
dieſe Merkmale fehlen, und welche daher im
Syſtem keinen Platz finden *). Alles übrige, die
Art der fixen Ideen, ihr Einfluſs auf das Begeh-
[310] rungsvermögen, die Handlungen und Leiden-
ſchaften des Kranken, die Dauer und der Grad
des Wahnſinns und ſein Verhältniſs zu ſeiner
entfernten Urſache ſind unbeſtändig, und daher
auſserweſentlich. Noch weniger können körper-
liche Erſcheinungen, eine blaſsgelbe Farbe der
Haut, atrabilariſches Blut, Zögerung der Aus-
und Abſonderungen und Unempfindlichkeit des
Darmkanals *) als Merkmale des Wahnſinns ge-
ſtattet werden, der als geiſtiges Object nicht
weiſs noch gelb ausſieht, und aus einem rothen
Blut eben ſo wenig als aus einem atrabilariſchen
verſtanden werden kann.
Die fixe Idee kann ſo verſchieden ſeyn, als
es ſubjektive und objektive Gegenſtände des Vor-
ſtellens und Begehrens giebt. Sie kann ein Hirn-
geſpinſt ſeyn, das in ſich ſelbſt Widerſprüche
hat, oder einen möglichen Fall des menſchlichen
Lebens betreffen, der aber unter den vorhan-
[311] denen Umſtänden keine Realität hat. Sie kann ſich
auf einen bereits erreichten oder noch nicht er-
reichten Zweck, deſſen Hinderniſſe gröſser oder
geringer gedacht werden, auf ein erlittenes oder
gefürchtetes Uebel beziehn, ein Gegenſtand der
Sehnſucht oder des Abſcheus ſeyn. Die Idee feſ-
felt den Kranken durch ihr Intereſſe, aber auch
ohne daſſelbe, ſofern ſie ihm habituell geworden
iſt. Bald ſchwebt ſie ihm immerhin gezwungen
vor; er haſst ſie, kann ſie aber nicht loſswerden,
ſie verfolgt ihn wie eine Furie, die ihn unglück-
lich macht. Bald feſſelt ſie ihn durch ihr Inte-
reſſe, ſofern er ihr Object als Mittel zum Zweck,
als ein Gut oder als ein Uebel denkt, das bereits
realiſirt oder noch gehofft und gefürchtet wird.
Die Gröſse des Intereſſes hängt entweder von
dem eingebildeten oder von dem wahren Werth
des Objects ab. Am meiſten pflegen fixe Ideen
zu intereſſiren, die ſich auf Religion, Staatsverfaſ-
ſung, Ehre, Habe, Liebe, und Liebe für die
eigne Geſundheit beziehn.
In der Regel bezieht ſich die fixe Idee auf
unerreichte Zwecke, auf Güter, die gehofft, auf
Uebel, die gefürchtet werden. Die Hinderniſſe
denkt ſich der Kranke mehr oder weniger ent-
fernbar, ſucht ſie bald in der Sache ſelbſt, bald
in ſich oder in ſeinen Auſsenverhältniſſen. Da-
von hängt ihr Einfluſs auf ſeine Leidenſchaften ab.
Er verfällt in unthätige Traurigkeit und Ver-
zweiflung, wenn ſie einen Gegenſtand des Ab-
[312] ſcheus, den er nicht entfernen, oder ein Gut be-
trifft, das er nicht erreichen zu können glaubt.
Bald bringt ſie gehäſſige Leidenſchaften, mit
Trieb zum Handlen, Haſs, Rachſucht, Wuth
hervor, wenn er die Unerreichbarkeit ſeines
Zwecks nicht in die Sache ſelbſt, ſondern in
äuſsere Urſachen ſetzt. Bald erregt ſie Frohſinn
und eine bachanaliſche Freude, wenn der Kranke
den Werth ſeines Phantoms hoch anſchlägt und
er bereits im Beſitz deſſelben zu ſeyn glaubt. So
war der Wahnſinn des Kranken, der ſich einbil-
dete ſchöne Schauſpiele zu ſehn *), des Thra-
ſylaus, der alle Schiffe in dem Hafen von Athen
für die ſeinigen hielt **), des Profeſſor Titel***),
welcher römiſcher Kaiſer und des Pater Sgam-
bari†), der Kardinal zu ſeyn glaubte, zuver-
läſſig mit frohen Gefühlen verbunden. Endlich
giebt es noch fixe Ideen, die keine unmittelbare
Beziehung auf den Kranken haben und daher
mit keinen hervorſtechenden Leidenſchaften ver-
bunden ſind. Der Art war der Wahn einer Frau,
[313] deren Trallianus*) gedenkt, die den Mittel-
finger nicht krumm machte, weil ſie glaubte, die
Welt ſtütze ſich auf denſelben. Auch wechſeln
die Leidenſchaften bey der nemlichen Idee, je
nachdem der Kranke dem Ziele nahe oder wie-
der von demſelben zurückgeworfen zu ſeyn
glaubt. Darnach kann er bald froh, bald weh-
müthig, unthätig oder angeſtrengt, ruhig oder
wüthend ſeyn. Trübſinn und Traurigkeit ſind
alſo nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwen-
dige, ſondern zufällige Merkmale der Melancho-
lie. Auch muſs die Kur derſelben lediglich allein
auf die fixe Idee gerichtet ſeyn, mit deren Ent-
fernung zugleich alle Neigungen, Triebe und
Leidenſchaften verſchwinden, die in ihrem Ge-
folge vorhanden waren. Indeſs, da ſich in der
Regel die fixen Ideen auf gehäſſige Gegenſtände,
auf unerreichbare Güter oder realiſirte moraliſche
oder phyſiſche Uebel beziehn, ſo ſind unange-
nehme Leidenſchaften die gewöhnlichen Gefähr-
ten derſelben. Dieſe Kranke ſehn niedergeſchla-
gen aus, weinen leicht, lieben die Einſamkeit an
grauſenden Oertern, finden nirgends Ruhe, ſchla-
fen wenig und haſſen ihre Exiſtenz. Selbſt die
ſcheinbare Ruhe dieſer Kranken iſt verdächtig,
entweder Verheimlichung ihrer innern Angſt oder
eine Pauſe der Erſchlaffung, auf welche ein deſto
heftigerer Sturm erfolgt. Es entſpinnt ſich Miſs-
[314] trauen, Haſs, Feindſchaft und Rachſucht in ih-
nen, ja ſie gerathen in Wuth, wenn ihnen Ge-
genſtände vorkommen, die ſie als Hinderniſſe in
der Erreichung ihrer Zwecke anſehen. Beſon-
ders werfen ſie dieſen Verdacht leicht auf mo-
raliſche Weſen, und vorzüglich auf ihre Bekannte
und Verwandte, weil ſie von dieſen eher als
von Fremden Beziehungen auf ſich erwarten müſ-
ſen. Sie ſchlagen, verletzen oder tödten ſie im
Gefolge eines Vorſatzes. Wenn ſie hingegen
ohne Thatkraft ſind und die Unerreichbarkeit
ihrer Zwecke in dem Gegenſtand ſuchen; ſo nä-
hert ſich ihre muthloſe Traurigkeit der Verzweif-
lung, ſie ſuchen ſich ſelbſt zu tödten, begehen
Handlungen, die den Tod nach ſich ziehn oder
bitten die Umſtehenden ſie umzubringen.
Der übrige Zuſtand der Seelenkräfte hängt
von ihrer vormaligen Kultur und dem Grade
ihrer nachherigen Verletzung ab. Der Kranke
handelt mit Ueberlegung und Thatkraft, unter
falſchen Vorausſetzungen und zu Gunſten eines
thörichten Zwecks, wenn er denſelben für er-
reichbar hält; oder er iſt unthätig, wenn er des
Gegentheils überzeugt iſt. Er iſt bloſs für ſeine
Idee thätig, und unthätig für alles andere, wenn
dieſelbe ein groſses Intereſſe für ihn hat und ihr
Gegenſtand noch nicht erreicht iſt. Im Gegen-
theil kann er auch für andre Zwecke thätig ſeyn,
wenn er in dem Wahn ſteht, daſs ſeine fixe Idee
bereits realiſirt ſey. Uebrigens hat der Kranke
[315] mehr oder weniger den freien Gebrauch ſeiner
Seelenkräfte; er urtheilt zuweilen ſcharf und rich-
tig über Dinge, die mit ſeinem Wahnſinn in kei-
ner Verbindung ſtehn oder handelt und urtheilt
der fixen Idee conſequent. Ein Wahnſinniger bil-
dete ſich ein, eine Quaterne im Lotto gewonnen zu
haben, die ihm ſeine Frau vorenthalte. Er miſs-
handelte ſie aufs grauſamſte und als er darüber
zur Rede geſtellt wurde, antwortete er gelaſſen,
daſs er erſt alle Gründe der Vernunft und alle
Mittel der Güte, aber umſonſt, verſucht habe,
ſie zum Geſtändniſs zu bringen. Es ſey ihm da-
her nicht zuzurechnen, daſs er zuletzt zu harten
Mitteln habe greifen müſſen *). Ein Mann, deſ-
ſen bereits oben **) gedacht iſt, der aus Furcht
vor Meuchelmord ſeines eingebildeten Feindes
ſich ſelbſt das Leben nehmen wollte, vertheidigte
ſeine Grille, daſs ihm nichts entgegengeſtellt
werden konnte. Er bewies aus dem Mangel des
Widerſpruchs in ihr, daſs ſie möglich ſey, durch
viele Thatſachen aus der alten und neuen Ge-
ſchichte, daſs ſie wirklich ſich ereigne. Daſs ihm
endlich dieſer Tod bevorſtehe, entwickelte er
nach den Regeln der Wahrſcheinlichkeit und ſei-
ner näheren Bekanntſchaft mit dem Charakter ſei-
[316] nes Feindes und aus verſchiedenen Proben des
Haſſes, die er bereits von ihm erfahren habe.
Der Pater Sgambari bildete ſich ein, Kardinal
zu ſeyn. Der Provincial ſuchte ihn von dieſem
Wahn zu befreien; allein er antwortete ihm mit
folgendem Dilemma: entweder halten Sie mich
für einen Narren oder nicht. Im letzten Fall
begehn Sie ein groſses Unrecht, daſs Sie mit mir
in einem ſolchen Ton reden. Im erſten Fall halte
ich Sie, mit Ihrer Erlaubniſs, für einen gröſseren
Narren als mich ſelbſt, weil Sie ſich vorſtellen,
einen Narren durch bloſses Zureden von ſeinem
Wahn überzeugen zu können *).
Die fixe Idee, als Product einer zu hoch
geſpannten Saite im Gehirn, tönt mit bey jeder
auch noch ſo heterogenen Erregung deſſelben.
Daher ihre allgemeine Aſſociation mit allen an-
deren Thätigkeiten der Seele **). Der Kranke
knüpft ſie mit allerhand Gegenſtänden zuſammen,
mit welchen ſie nach unſerem Dafürhalten keine
Verbindung hat. In dieſen Fällen giebt es Inter-
valle, wo die fixe Idee fehlt; ſie erſcheint und
verſchwindet wieder nach gewiſſen Regeln. Al-
lein im höchſten Grade des fixen Wahns ſchwebt
ſie dem Kranken überall wie ein Geſpenſt vor;
er hallt ſie in jedem Augenblick automatiſch wie-
der; producirt ununterbrochen dies Phänomen,
[317] und iſt daher auſser Stande, irgend etwas anders
zu wirken. Der Kranke, ſagt Bellini*), be-
wegt ſich nicht von der Stelle. Sitzt er, ſo ſteht
er nicht auf; liegt er, ſo richtet er ſich nicht in
die Höhe und ſtellt ſich nicht auf die Füſse, wenn
er nicht dazu genöthiget wird. Er flieht die Ge-
ſellſchaft der Menſchen nicht mehr, antwortet
nicht, wenn er gefragt wird, und ſcheint doch
den Geſprächen aufmerkſam zuzuhören. Er
achtet auf keinen Rath, als ob er taub, nimmt
die Objekte des Geſichts und Gefühls nicht wahr,
als ob er in Gedanken vertieft wäre, er ſchläft
und wacht abwechſelnd, iſst und trinkt, wenn
ihm etwas vorgeſetzt wird. Kurz das ganze
Wirken der Seele iſt eine langweilige Monotonie;
aller Wechſel, der ſie im geſunden Zuſtande cha-
rakteriſirt, hat aufgehört; ſie leidet an einer
Starrſucht des Vorſtellungsvermögens in ver-
ſchiednen Modifikationen **).
Daſs der fixe Wahnſinn mancherley Modifi-
kationen annehmen und in andere Arten von
Geiſteszerrüttungen übergehen könne, erhellt aus
der Einrichtung des Seelenorgans. Einige Kran-
ke tragen ihre Idee unaufhörlich vor, andere be-
obachten ein hartnäckiges Stillſchweigen Jahre-
lang, ohne die Geheimniſſe ihres Herzens zu
verrathen. Zuweilen ändert ſich das Object der
[318] Verkehrtheit, wovon der pſychologiſche Grund
leichter oder ſchwerer zu finden iſt. Der Kran-
ke, welcher ſich über irgend etwas Vorwürfe
macht, fürchtet und flieht den Henker, aber in
der Folge ſucht er ihn, wenn er durch die Flucht
keine Seelenruhe findet, und durch ſein Blut die
Rache Gottes verſöhnen zu können glaubt. In
andern Fällen bemüht er ſich, ſeinen ihm läſtigen
Zuſtand zu ändern, und da dies in der Wirklich-
keit nicht geſchehen kann, ſo verſucht er es in
der Einbildung, und überredet ſich endlich, in
der Erreichung ſeines Zwecks glücklich geweſen
zu ſeyn. Ein Verrückter in Bicetre war ſonſt
ganz vernünftig, nur bildete er ſich ein, daſs man
ihn vergiften wolle, und darüber ward er ſchwer-
müthig. In dieſem Zuſtande beharrte er achtzehn
Jahre lang. Dann änderte ſich der Gegenſtand
ſeiner Verkehrtheit; er bildete ſich anfangs ein,
ein groſser Herr der Erde und zuletzt der Mit-
regierer der Welt zu ſeyn. Im Gefolge der ver-
änderten Idee änderte ſich auch die Stimmung ſei-
ner Seele. Er ward nun ſo glücklich, als er
vorher unglücklich geweſen war *). So wechſelt
auch der fixe Wahn mit andern Arten von Gei-
ſteszerrüttungen, oder geht ganz und gar in die-
ſelben über. Seltner verwandelt er ſich in Tob-
ſucht, häufiger in Narrheit und Blödſinn. Die
örtliche Verkehrtheit breitet ſich aus, und die
[319] heftigen Anſtrengungen der Seele ſtumpfen end-
lich ihre Kräfte ab.
Der fixe Wahn unterſcheidet ſich durch ſei-
ne örtliche Verkehrtheit von der Tobſucht und
Narrheit, in welchen die ganze Seele leidet. In
der Narrheit ſind täuſchende Vorſtellungen, die
der Kranke nicht heftig verfolgt. In der Tob-
ſucht iſt das Nervenſyſtem auf den äuſserſten Grad
erregt, aber die kühnen Handlungen ſind, ſoweit
wir es einſehn, nicht ſowohl Produkte eines auf-
geſtellten Zwecks, ſondern eines blinden körper-
lichen Drangs. Der Blödſinn charakteriſirt ſich
durch Ohnmacht, und kann die Merkmale des
fixen Wahns an ſich tragen, wenn er aus dem-
ſelben entſprungen iſt.
Ueber die Natur des fixen Wahns und
ſeiner pſychologiſchen Entwickelung
aus dem Weſen unſerer Seele habe ich wenig Be-
friedigendes in den Schriften über die Seelenlehre
gefunden. Das normale Verhältniſs in der Dy-
namik der Theile des Seelenorgans iſt verſtimmt.
Einige ſeiner Faſern ſind zu reizbar, wirken her-
vorſtechend, halten den aufgefaſsten Gegenſtand
unwandelbar feſt, aſſociiren ſich mit allen, auch
heterogenen Erregungen, und erſchöpfen die
Summe der Kraft ſo ſehr, daſs keine andern
Handlungen wirklich werden können. Die Fort-
dauer erzeugt Fertigkeit, nach den Geſetzen der
Gewohnheit. Die ungeübten Theile roſten ein.
Die Seele iſt genöthiget, das ihr unabläſſig auf-
[320] gedrungne Object für Wahrheit zu halten, und
in dieſem Augenblick iſt ſie verrückt. Der
Menſch hat eine natürliche Anlage zu dieſer
Krankheit, weil er ſchwerlich auch im geſunden
Zuſtande ganz frey von fixen Ideen iſt, die vor
dem Richterſtuhl der unbedingten Vernunft nicht
paſſiren. Er läſst ſie als Axiome ſtehn, ohne über
ihre Haltbarkeit zu reflectiren, aus Gewohnheit,
Bequemlichkeit, Schwäche des Alters oder aus
überwiegender Stärke des Gefühlsvermögens und
der Phantaſie im Verhältniſs zur Vernunft. Es
giebt Arten der Schwärmerey, die das Bürger-
recht haben, weil ſie zu groſsen Unternehmun-
gen anfeuern. Dem Nachruhm, welchen wir
mit dem Leben erkaufen, kann nicht ſowohl die
Vernunft, als vielmehr unſer Gefühl huldigen.
Denn durch das Mittel, wodurch wir ihn erkau-
fen, verlieren wir den Genuſs des erworbnen
Guts. Daher ſuchten auch die Republiken der
Vorzeit nicht ſowohl durch Vernunftgründe als
vielmehr durch die fixe Idee des Verdienſtes um
das Vaterland ihre Bürger für die öffentliche
Wohlfahrt zu gewinnen. Fränklin glaubte an
den prophetiſchen Geiſt ſeiner Träume *) und
Schwammerdam verbrannte einen Theil ſei-
ner Manuſkripte, weil er Gott durch die zu ge-
naue Unterſuchung ſeiner Werke zu beleidigen
fürch-
[321] fürchtete *). Ferner giebt es gewiſſe Gegen-
ſtände, an welche der Menſch ſich mit Wärme
hängt, weil ſie mit ſeinem Intereſſe in enger Ver-
bindung ſtehn und der Organiſmus hat die Eigen-
ſchaft, daſs ſeine Aktionen um ſo leichter wieder-
kehren als ſie oft wiederholt ſind. Dieſe Gegen-
ſtände ziehn ihn urſprünglich durch ihr Intereſſe
willkührlich an und halten ihn in der Folge, in
dem Maaſse, wie das Intereſſe verlöſcht, durch die
Gewohnheit gezwungen feſt. Der Art ſind des-
potiſche Staatsverfaſſungen, Inquiſitionen, Ty-
ranney der Pfaffen, Unglücksfälle, die uns als
moraliſches Weſen treffen, Beſchimpfungen unſe-
rer Ehre, erlittenes Unrecht, Vorwürfe des Ge-
wiſſens und Verluſt ſolcher Perſonen, die durch
die Bande des Bluts und der Freundſchaft mit uns
verbunden ſind. Allein auch die bloſse Gewohn-
heit kann Gefühle und Ideen fixiren, die ohne
beſonderes Intereſſe wegen einer äuſseren Noth-
wendigkeit oft wiederholt werden. Ich habe ei-
nen alten Mann gekannt, der den gröſsten Theil
ſeines Lebens mit Korrekturen zugebracht hatte.
Er dachte an nichts als an dieſen Gegenſtand,
träumte des Nachts und phantaſirte im Fieber da-
von. Zugleich muſs man die Dispoſition des
Menſchen und ſeine äuſseren Verhältniſſe mit in
Anſchlag bringen. Leidenſchaftliche Gegenſtände
gewinnen vorzüglich über Perſonen eine Herr-
X
[322] ſchaft, die von Natur miſstrauiſch, verſchloſſen
und zu Grübeleien geneigt ſind, voller Vorur-
theile ſtecken, an Verſtandes-Schwäche leiden
und daher den wahren Werth der Dinge zu ſchä-
tzen nicht im Stande ſind. Sie glauben leicht
an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün-
ſche in Verbindung ſtehn. Treffen vollends noch
mit dieſen inneren Zuſtänden äuſsere Verhält-
niſſe z. B. Aufenhalt an öden Orten, Einſamkeit,
einförmige Arbeit, Kloſterleben u. ſ. w. zuſam-
men, die die Phantaſie wenig beſchäfftigen, ſo
entſteht der fixe Wahn um deſto leichter. Dann
hat der Menſch einen natürlichen Hang, ſich in
einem geträumten Zuſtand zu denken und in Be-
ziehung auf denſelben das Bewuſstſeyn ſeiner
wahren Verhältniſſe zu verleugnen. Das Kind
ſpielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König;
wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler,
Dichter und Schauſpieler, ja es macht uns ſelbſt
in den ſpäteren Jahren des Lebens noch glück-
lich, uns eine Welt in der Phantaſie zu ſchaffen,
in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der
wirklichen ſpielen. Allein unſere Beſonnenheit
weiſt uns bald in unſere natürlichen Verhältniſſe
zurück. Wenn hingegen dieſelbe durch Schwä-
che des Verſtandes, durch eine hervorſtechende
Stärke der Phantaſie, durch eine geſchäfftsloſe
Einſamkeit, einſeitige Anſtrengungen der Seele
u. ſ. w. geſchwächt wird; ſo kann dieſer Hang
zur Träumerey ein Keim des Wahnſinns werden
[323] und irgend eine romanhafte Idee fixiren. Beſon-
ders ſcheint aus dieſer Quelle jener jovialiſche
Wahnſinn zu entſtehn, der ſich auf den Beſitz
vorzüglicher Reichthümer oder beſonderer Ehre
bezieht. Endlich ſucht noch Herr Ehrhard*)
den Keim zur Melancholie in der Einrichtung
unſerer Willenskraft, vermöge welcher wir im
Stande ſind, Vorſätze zu faſſen und feſt zu halten.
Dies geſchieht nach Vernunftgründen, dem
Pflichtbegriff gemäſs, oder ohne klares Bewuſst-
ſeyn von Gründen und Zwecken nach Eigenſinn.
Im erſten Fall können wir der Reflexion freien
Lauf laſſen und unſere Entſchlüſſe ändern, wenn
wir getäuſcht ſind; im andern Fall müſſen wir
uns vor der Kritik der Vernunft verwahren, ihre
Unterſuchungen abweiſen und gleichſam künſt-
lich eine fixe Vorſtellung ſchaffen. In beiden
Fällen wirkt einerley Vermögen, uns ſelbſt
zu beſtimmen, auf welchem unſere Selbſtſtän-
digkeit beruht. Daher der Hang zur Unabhän-
gigkeit, dem wir aber, ohne mit uns ſelbſt in Wi-
derſpruch zu gerathen, nur dadurch genügen
können, daſs wir dem Moralgeſetz gemäſs hand-
len. Allein da dies nicht ſo leicht iſt, ſo ſucht
der Menſch denſelben auf dem Wege des Eigen-
ſinns, mit weniger Anſtrengung zu befriedigen.
Er hält ſeinen Vorſatz feſt, um ſeine Selbſtſtän-
digkeit in den Augen anderer zu behaupten und
X 2
[324] ſcheut ſich, ihn durch die Vernunft zu beleuchten,
weil er dieſelbe dadurch nach ſeiner eignen Ueber-
zeugung zu verlieren fürchtet. Daher fixe Vorſä-
tze, verbunden mit Angſt und Befangenheit in
Rückſicht ihrer Gültigkeit vor dem Tribunal der
Vernunft. Der gefürchtete Widerſpruch kann
uns zuletzt gar über die Art unſerer Exiſtenz un-
gewiſs machen. Endlich geräth noch der eigen-
ſinnige Menſch zwiſchen dem inneren Triebe,
ſich ſelbſt zu beſtimmen und dem Gefühle der ge-
zwungnen Beſtimmbarkeit durch Auſsenverhält-
niſſe ins Gedränge, weil er ſeine Vernunft ver-
leugnet, die hier allein den Ausweg zeigen muſs.
Bey der pſychiſchen Kur dieſer Geiſteszer-
rüttung kömmt es bloſs allein darauf an, die
fixe Vorſtellung zu tilgen. Mit ihr
ſchwinden alle Triebe, Begierden und unſtatt-
haften Handlungen, die von ihr, als von ihrer
Quelle, ausſtrömen. Sobald dieſelbe auch nur
in längeren Zwiſchenräumen ſchweigt und da-
durch der zitternden Saite einzelne Ruhepunkte
verſtattet werden; ſo vermindert ſich ihre her-
vorſtechende Reizbarkeit, in welcher die kranke
Fertigkeit gegründet iſt. Mit der Rückkehr des
normalen Kraftverhältniſſes im Seelenorgan kehrt
die Freiheit der Ueberlegung und die Beſtimmung
des Willens nach den Geſetzen der Vernunft zu-
rück. Der Kranke iſt im Stande, den Ungrund
ſeiner fixen Vorſtellung aufzuſuchen, oder ſie
als etwas Gleichgültiges bey Seite zu ſetzen, bis
[325] ſie allmählich von ſelbſt verlöſcht. Dazu gehört
nun mancherley; Abſtumpfung einer zu reizbaren
Beſchaffenheit des Körpers, die die Aufmerk-
ſamkeit des Hypochondriſten zu ſehr an denſel-
ben heranzieht; Entfernung der Gelegenheits-
Urſachen im Körper und auſser demſelben z. B.
Reize des Gemeingefühls, Gegenſtände der Lie-
be, des Haſſes; zweckmäſsige Hülfen bey der
frühſten Entwickelung der fixen Idee, damit ſie
nicht Wurzel faſſe; endlich Vorſchiebung ſolcher
Objekte, die nächſt dem fixirten das meiſte Inte-
reſſe für den Kranken haben, nach den Regeln,
die oben bey der Gemüthszerſtreuung, als Heil-
mittel wider Seelenkrankheiten, angegeben ſind.
Alle Ideen, die uns durch ihr Intereſſe feſ-
ſeln, verlöſchen endlich durch die
Zeit, wenn ſie durch einſtweilige Vorfälle auſser
uns und nicht etwan durch permanente Gegen-
ſtände in und auſser dem Körper erregt werden.
In dieſen Fällen kömmt daher alles darauf an, die
Zeit zu gewinnen, die das Uebel zuverläſſig heilt,
ohne daſs bis dahin, durch die überſpannte An-
ſtrengung des Gehirns, Verletzungen deſſelben
entſtehn, die ihrer Natur nach unheilbar ſind.
Wenn der Verluſt irgend eines Glücksguts den
Kranken feſſelt; ſo kann die vorgeſpiegelte Hoff-
nung eines bedeutenden Gewinns, oder die Ge-
fahr, ein anderes eben ſo groſses Gut zu verlie-
ren, ihn in ein Schwanken zwiſchen mehreren
Objekten verſetzen, wodurch die Fixirung auf
[326] eins verhütet wird. Der Verluſt eines Kindes
wird uns wahrſcheinlich nicht feſſeln, wenn
wir in demſelben Augenblick in Gefahr gerathen,
ein zweites durch Krankheit zu verlieren, das
unſere Vorſorge erfordert und deſſen langſame
Geneſung uns Ruhepunkte zur Erinnerung an
den erlittenen Verluſt verſtattet, wodurch wir
mit demſelben familiariſirt werden. Ein Menſch,
der durch einen unerwarteten Glücksfall erſchüt-
tert wird, kann dadurch gehalten werden, daſs
man denſelben ſchmälert, ihn von der Möglichkeit
des Verluſtes oder von der Gefahr eines andern
Unfalls überzeugt.
Dann muſs man den Kranken Gehorſam und
Ehrfurcht für die Perſonen beibringen, die auf
ſie wirken ſollen, ihre Beſonnenheit wecken und
ſie nach den oben angegebenen Regeln zur Kur
vorbereiten. Der Arzt muſs ſich ihrer Herzen
bemeiſtern, bald durch Ernſt und Strenge, bald
durch Gelindigkeit und Theilnahme an ihren
Schickſalen, wenn ſie durch Unglücksfälle ge-
beugt ſind. Dadurch wird er in den Stand ge-
ſetzt, entweder durch Gründe und ſanfte Anmah-
nungen, oder durch Zwangsmittel, ſie anhaltend
zu einer Körper- oder Seelenarbeit zu beſtimmen,
die ihre fixen Ideen verdrängt und Intervalle her-
beiführt, in welchen ſie von ſelbſt erlöſchen. Die
Arbeit muſs mit Wechſel verbunden ſeyn, damit
der Kranke nicht zu ſchnell ſeine fixen Vorſätze
mit den unwandelbaren Gegenſtänden, die bald
[327] ihr Intereſſe verlieren, verweben könne. Sie
muſs ſeinen Kräften und Neigungen angemeſſen
ſeyn, und dadurch ihn anziehn. Sind keine Ge-
genſtände der Art aufzufinden, die durch ihr
natürliches Intereſſe feſſeln, ſo verſchafft man
ihnen ein erkünſteltes, durch vorgeſchobne und
ſcheinbare Gefahren *). Alles dies gelingt in
öffentlichen Anſtalten beſſer als in Privathäuſern.
Zuweilen kann ein plötzlicher und unerwar-
teter Eindruck der fixirten Seelenſtimmung des
Kranken plötzlich eine andere Richtung geben.
Ein junger Menſch, der auſser der fixen Idee, er
ſey ein ſchwediſcher Prinz, vernünftig war, wur-
de einer Frau zur Kur übergeben, die ſich in der
Heilung der Irrenden groſsen Ruf erworben hatte.
Sie ſetzte ihn den erſten Mittag neben ſich am
Tiſche. Er ſprach und handelte lange conſequent,
bis er auf einmal auf ſeine fixe Idee abſprang. In
demſelben Augenblick bekam er eine Maulſchel-
le, daſs ihm der Kopf brummte. Dieſe Behand-
lung, die er theils nicht von einer Frau, theils
nicht am erſten Tage ſeiner Aufnahme, gegen
die Pflichten der Gaſtfreundſchaft erwartet hatte,
wirkte ſo ſehr auf ihn, daſs er ſeiner Grille nie
wieder erwähnte. So können auch erregte Lei-
denſchaften des Schrecks, der Liebe, der
Hoffnung, die man auf wichtige Objekte der
Religion, der Ehre, der Furcht vor Uebeln grün-
[328] det, dazu beitragen, daſs die fixe Idee verdrängt
werde. Als Oreſtes den Tod ſeines Vaters
mit dem Blute ſeiner Mutter Clytemneſtra
gerächt hatte, fiel er in den Wahn, als wenn die
Manen derſelben, mit Fackeln und Schlangen be-
waffnet, ihn verfolgten. Das Orakel rieth ihm
zu einer Seereiſe mit ſeinem Freunde Pylades.
Er landete in Cherſoneſus, und kam daſelbſt in
Gefahr, den Göttern des Landes geopfert zu wer-
den. Doch entging er dem Tode, und erfuhr,
daſs er durch ſeine Schweſter Iphigenia ge-
rettet ſey. Beide Leidenſchaften, Schreck und
Freude, wirkten ſo ſehr auf ihn, daſs er ver-
nünftig nach Griechenland zurückkehrte, und
die Zügel der Regierung übernehmen konnte.
Ein Kaufmann in Frankreich hatte wegen einiger
Unglücksfälle im Handel die fixe Idee gefaſst, er
müſſe vor Armuth verhungern. Um die Zeit
brach die Reformation in Deutſchland aus. Dies
zog die Aufmerkſamkeit des Kranken ſtärker an,
er vertheidigte das Pabſtthum durch Reden und
Schriften, und wurde von ſeinem Wahn geheilt *).
Als Achilles über den Tod des Patroclus
wüthend geworden war, und die grauſamſte Ra-
che an dem gefallenen Hector ausübte, ſuchte
ſeine Mutter Thetis der Wuth eine andere Lei-
denſchaft, Liebe, zur Seite zu ſtellen, und lenkte
durch dieſen Umweg ihren Sohn endlich dahin,
[329] daſs er die Leiche des Hectors ſeinen Ver-
wandten herausgab *). Sobald wir unſere Ab-
ſicht erreicht haben, und der Kranke auſser ſei-
ner fixen Idee noch an irgend einem andern Ge-
genſtand haftet, ſo laſſe man ihm Zeit, zwiſchen
beiden zu ſchwanken, wie eine Korkkugel zwi-
ſchen einem poſitiven und negativen Körper, bis
das Gleichgewicht hergeſtellt iſt. Erſt dann helfe
man nach, wenn er ganz auf dieſelbe zurück-
ſpringt.
Zuweilen kann man den Kranken überreden,
er habe ſeinen Zweck erreicht, oder ihn durch
lebhafte Vorſtellungen von der Abſurdität ſeiner
Vorſätze überzeugen. Bald widerſetzt man ſich
der herrſchenden Idee, bald giebt man ihr nach,
wenn es mit Vortheil geſchehen kann. Sie ver-
löſcht zuweilen von ſelbſt, wenn man ſie nicht
zu bemerken ſcheint, oder ihr nicht wider-
ſpricht **). Ein Hypochondriſt bildete ſich ein,
[330] ſeine Lippe ſey zu einer ungeheuren Gröſse an-
geſchwollen. Einer ſeiner Bekannten hielt ihm
den Spiegel vor, um ihn von ſeinem Wahn zu
überzeugen, aber ohne Erfolg. Ein anderer gab
ihm Recht, tröſtete ihn aber, daſs das Uebel ver-
gehen würde. Schon am anderen Tage behaup-
tete der Kranke ſelbſt, daſs die Geſchwulſt ſich
bereits geſetzt habe *). Ich ſah im Berliner Toll-
hauſe eine Kranke, die ſich für ſchwanger hielt,
und ſich an alle Thüren drängte, um ins Gebähr-
haus zu kommen. Vielleicht wäre ſie von ihrer
Thorheit geheilt, wenn man ſie dahingebracht,
ihr durch Darmreize Koliken erregt und ein
Kind untergeſchoben hätte. Tulpius**) heilte
**)
[331] eine Frau, die ſich einbildete, ſie habe ein leben-
diges Mondkalb bey ſich, dadurch, daſs er ihr
eine Arzney gab, die daſſelbe austreiben ſollte.
Einem Mahler, der ſich einbildete, ſeine Knochen
ſeyen ſo weich wie Wachs geworden, ſagte er, daſs
dieſe Krankheit den Aerzten hinlänglich bekannt,
aber auch heilbar ſey. Er verſprach, ihn binnen
ſechs Tagen zu heilen, wenn er folgen würde,
doch müſſe er anfangs liegen, am dritten Tage
einen Verſuch zum Stehen machen, und endlich
erſt am ſechſten Tage zu gehen anfangen, wenn
die Feſtigkeit der Knochen hergeſtellt ſey. Dieſer
Kurplan überredete den Kranken, daſs ſein Arzt
ihm glaube; er glaubte daher auch dem Arzte,
daſs er nach ſechs Tagen geſund ſeyn würde, und
weiter war nichts zu ſeiner Geneſung nöthig. So
ward in England eine wahnſinnige Perſon, die
aus Liebe zum Esq. Stith verrückt geworden
war, durch die Vermählung mit demſelben wie-
derhergeſtellt. Der bereits angezogne Jeſuit
Sgambari bildete ſich ein, er ſey zum Kardinal
erwählt, und lieſs ſich durch nichts vom Gegen-
theil ſeines ſüſsen Wahns überzeugen. Dieſe
einzige Thorheit abgerechnet, war ſein Verſtand
geſund und zu wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen
aufgelegt. Er ſchloſs jedem, der um ſeine Be-
lehrung bat, den Vorrath ſeiner Kenntniſſe auf,
wenn er ihn nur mit dem Titel der Eminenz be-
ehrte. Wahrſcheinlich wäre er geneſen, wenn
[332] der Pabſt die Barmherzigkeit gehabt hätte, ihn
wirklich zum Kardinal zu machen *).
Meiſtens iſt der Wahnſinn, der auf uner-
reichten Zwecken haftet, und daher mit gehäſſigen
Leidenſchaften verknüpft iſt, leichter zu heilen
als der Thor, der im Beſitz ſeiner Zwecke zu
ſeyn glaubt, ſich in ſeiner Lage wohl gefällt, und
ſie eben deswegen zu erhalten ſucht. Man hat
hier nicht allein die falſche Vorausſetzung, ſon-
dern auch die Vorliebe für dieſelbe zu überwin-
den. Das letzte kann man dadurch heben, daſs
man irgend ein phyſiſches oder moraliſches Uebel
unmittelbar an die Aeuſserung ſeiner Idee knüpft,
und zwar ſo, daſs der Kranke das Uebel für eine
natürliche Folge ſeiner Idee hält. Der Narr, der
mit Wohlgefallen ſich für einen ſchwediſchen
Prinzen hielt, trennte ſich von dieſer Hoheit, als
unmittelbar auf ihre Anmeldung eine Maulſchelle
gefolgt war. Hätte der Pater Sgambari in
jedem Augenblick, wo er ſich für eine Eminenz
hielt, ein ähnliches Uebel erdulden müſſen, er
würde ſeiner Würde bald ſo gramm geworden ſeyn,
als er ſie lieb gewonnen hatte.
Oben habe ich ſchon bemerkt, daſs der
fixirte Wahnſinn unendlich viele Modifika-
tionen nach ſeinen Graden, nach ſeiner Dauer,
Zuſammenſetzung, entfernten Urſachen und nach
der Art und Weiſe habe, wie er auf das Begeh-
[333] rungsvermögen einflieſst, das Intereſſe anzieht,
die Leidenſchaften erregt und die Handlungen des
Kranken beſtimmt. Einige derſelben ſind höchſt
wandelbar, und können nicht beſonders bemerkt
werden, andere flieſsen unmittelbar aus der ver-
ſchiedenen Natur der fixirten Vorſtellung, und
haben mehr oder weniger Einfluſs auf das pſy-
chiſche Heilgeſchäfft. Dieſe Variationen müſſen,
wenn ſie einige Selbſtſtändigkeit haben ſollen,
entweder allein nach der ſpecifiſchen Dif-
ferenz der fixen Ideen, oder nach der
Wirkung beſtimmt werden, die dieſelben
in der Seele hervorbringen. Auf die
erſte Regel bezieht ſich der Wahn erlangter
Reichthümer, eines umgewandelten Körpers,
beſtimmter Gewiſſensbiſſe; auf die andere Le-
bensüberdruſs, der dumpfe, der raſtloſe Wahn-
ſinn. Mir ſcheint die erſte Regel die beſte zu
ſeyn, der ich daher vorzüglich folgen will. Doch
ſpringt man leicht ab, weil manche fixe Ideen in
dem nemlichen Effect, z. B. im Lebensüberdruſs,
zuſammenſtoſsen, den man deswegen gern ſtatt
derſelben auffaſst. Die gewöhnlichſten fixen Vor-
ſtellungen ſind Einbildungen groſser Gewinne
durch das Lotto und Erbſchaften, des Beſitzes
hoher Ehrenſtellen, Furcht für Nachſtellungen,
oder für Anſteckungen böſer Krankheiten, Glau-
be an Verwandlungen des Körpers, Gewiſſens-
biſſe über verabſäumte allgemeine oder Berufs-
pflichten. Die Entſtehung dieſer Ideen gründet
[334] ſich auf den Trieb der Menſchen zur Selbſter-
haltung, auf ſeine Ehrſucht, Habſucht und Eitel-
keit. Indeſs giebt es andere Einbildungen, z. B.
daſs man ſchwanger oder todt ſey, die Welt auf
der Fingerſpitze trage u. ſ. w., deren Urſprung
aus den Kräften und der Kultur der Seele nicht
ſo leicht aufgefunden werden kann. Die eigen-
thümlichen Wirkungen der fixen Ideen auf die
ſämmtliche Conſtellation der Seelenvermögen hän-
gen theils von der Natur dieſer, theils von der
Natur der fixen Ideen ab.
a) Fixirte Vorwürfe, die ſich der
Kranke über begangne Fehler, Hand-
lungen oder verabſäumte allgemeine
oder beſondere Pflichten mit oder
ohne Grund macht. Der Einfluſs dieſes
Wahns auf ſeine Affekten und Handlungen iſt
verſchieden. Einige ſind traurig, niedergeſchla-
gen, ſtumm, furchtſam, unruhig, raſtlos, ge-
rathen in Verzweiflung und tödten ſich ſelbſt.
Andere fürchten und fliehen die Juſtiz anfangs,
drängen ſich aber nachher zu derſelben, weil
ihre Angſt fortdauert, und ſie ihre Schuld mit
ihrem Blute tilgen zu müſſen wähnen. Endlich
geht die urſprüngliche Idee gern in eine andere,
als wenn ihnen von der ganzen Welt nachgeſtellt
würde, über. Ein heller und aufgeweckter
Kopf hielt die Widerſprüche im Kollegium für
Wirkungen der Feindſchaft. Dieſer Gedanke
fixirte ſich, er bildete ſich ein, man wolle ihn
[335] wegen Untreue in ſeinen Geſchäfften bey dem
Landesherrn verdächtig machen. Er nahm ſei-
nen Abſchied, ging in ferne Länder, aber über-
all ſah er ſich von Fallſtricken ſeiner Feinde um-
geben. Er kehrte zurück, weil er nirgends
Ruhe fand, ſchloſs ſich ein, brachte zwanzig
Jahre in dieſem Zuſtande hin, und da er ſo lange
Zeit auſser Dienſten war, ſo änderte ſich ſeine
Idee zuletzt dahin ab, daſs man nun ſeinem Le-
benswandel nachſpüre *). Ein alter Mann, der
einer Kaſſe vorſtand, glaubte an Defekte in der-
ſelben, ob ſie gleich in Ordnung war, und er-
ſäufte ſich, als eine Kommiſſion in ſeine Nähe
kam, von welcher er ſich einbildete, ſie ſey zur
Unterſuchung ſeines Rechnungsweſens herge-
kommen. Ein gewiſſer Klug bildete ſich ein,
er habe des Königs Friedrich des Zweiten Re-
ligioſität in einer öffentlichen Schrift getadelt und
denſelben dadurch ſo aufgebracht, daſs er alles
anwende, ihn in ſeine Gewalt zu bekommen. Er
ſperrte ſich in ſeine Stube ein, verwahrte die
Thür mit eiſernen Stangen und Stricken, bewaff-
nete ſich mit Flinten und Piſtolen, und brachte
Schieſsſcharten zur Vertheidigung in derſelben
an. Den Ofen band er mit Ketten und Stricken,
damit keiner durchbrechen könne, und baute ſich
einen neuen, den er innerhalb der Stube heizte,
und zugleich zum Kochen und Braten gebrauchte.
[336] Seinen Nachtſtuhl verſah er mit einem künſtli-
chen Ventil. Kurz er verfertigte mit beſonderer
Geſchicklichkeit alles ſelbſt, was zu ſeiner Sicher-
heit abzwecken konnte *). Dieſe Kranken muſs
man beſchäfftigen, ihnen beſſere Ideen von der
Güte des menſchlichen Herzens beibringen, ſie
überreden, daſs ihre Feinde geſtorben ſind, oder
ſie mit denſelben in ein ſolches Verhältniſs brin-
gen, daſs ſie nicht nur kein Leides, ſondern viel-
mehr Wohlthaten von ihnen empfangen. Zu-
weilen heilt die Zeit dieſen Wahn, wie ich eini-
gemal geſehen habe. Schwerer ſind die Kranken
zu behandeln, die ſich über verſäumte Pflichten
gegen Gott und ihren Nächſten Vorwürfe machen.
Man bringe ſie vorerſt durch Reizmittel aus ih-
rem dumpfen Wahnſinn zur Beſonnenheit, und
ſuche ſie dann über ihren Irrthum aufzuklären,
und ſie auf die Barmherzigkeit Gottes aufmerk-
ſam zu machen.
b) Einbildungen zu verarmen und
vor Hunger ſterben zu müſſen, oft bey
hinlänglichem Vermögen. Sauvages**) er-
wähnt eines ſolchen Kranken, der nicht aus dem
Bette aufſtand, um ſeine Kleider zu ſchonen.
Andere entſchlieſsen ſich, lieber gleich und will-
kührlich zu verhungern, um es nachher nicht
aus Noth zu müſſen. Einen ſolchen Kranken
ge-
[337] gewann man dadurch, daſs man ſich nach den
Speiſen erkundigte, die er gern genoſſen hatte.
Dieſe kochte man in ſeiner Gegenwart. Der an-
genehme Geruch wirkte ſo ſtark auf ihn, daſs er
von denſelben zu eſſen verlangte. Ueberhaupt
muſs man dieſe Kranken für Einſamkeit und
Müſsiggang hüten, ſie überreden, daſs ſie von
fremden Mitteln erhalten werden, ſie durch Dinge
zerſtreuen, von denen ſie glauben, daſs ſie ihnen
nichts koſten, und ſie mit Arbeiten beſchäfftigen,
die mit Hoffnung zum Erwerb verbunden ſind *).
c) Fixe Vorſtellungen, die ſich auf
Verwandlungen des Körpers und der
Perſönlichkeit beziehn (mania metamor-
phoſis). Jene entſtehenwahrſcheinlich urſprüng-
lich immer von Krankheiten des Körpers und des
Gemeingefühls, denen die Phantaſie eine falſche
Urſache unterſchiebt. Die Verwechſelungen der
Perſönlichkeit ſind vielleicht zuweilen pſycholo-
giſchen Urſprungs, doch meiſtens auch Folgen
abnormer Wirkungen des Gemeingefühls und
eines kranken Gehirns. Denn wir finden ſie zu
häufig als Gefährten hitziger und chroniſcher
Nervenkrankheiten. Die Einbildungen ſind ver-
ſchiedner Art; geringer, gröſser; Möglichkeiten
Y
[338] oder Abſurditäten. Der Kranke glaubt an Ver-
wandelungen einzelner Theile oder an eine Me-
tamorphoſe ſeiner Art, bildet ſich ein, in ein
Gerſtenkorn, einen Krug, Wolf, u. ſ. w. umge-
ſchaffen zu ſeyn. Weiber kleben leicht an der
Idee, daſs ſie ſchwanger ſind und gebähren müſ-
ſen. Arnold*) erzählt von einer Frau, die
nach einer an ihr verſuchten Nothzüchtigung
wahnſinnig wurde, und nachher glaubte, ſie wür-
de jeden Augenblick von einem Kinde entbun-
den. Selbſt Männer haben ſich für ſchwanger
gehalten **). Hipocrates***) erwähnt einer
Melancholie reicher Scythen, die durch vieles
Reiten ohne Steigbügel bey ihren merkantiliſchen
Geſchäfften, das Vermögen zum Beiſchlaf verloh-
ren hatten, ſich einbildeten in Weiber verwandelt
geworden zu ſeyn, und dieſer Idee gemäſs, weib-
liche Kleidungen anzogen, und ſich mit dem
Spinnrocken beſchäfftigen. Die Beiſpiele von
Menſchen, die ſich für Wölfe und Hunde hielten,
dieſer Idee gemäſs in die Wälder flohen, wie
Wölfe heulten, todte Leichname ausgruben und
ſich mit Menſchengerippen herumſchleppten, ſind
in Rückſicht ihres Urſprungs und ihrer Natur
nicht genug beobachtet. Einige mögen vielleicht an
einem kataleptiſchen Stumpfſinn, andere an Tob-
[339] ſucht gelitten haben *). Raulin**) erzählt
von einem Hauſe, in welchem alle Mädchen ſich
für Katzen hielten, und täglich zu einer beſtimm-
ten Stunde wie die Katzen zu ſchreien anfingen.
Sie wurden dadurch geheilt, daſs man ihnen
drohte, diejenige durch Soldaten auspeitſchen
zu laſſen, die ſich zuerſt wieder hören lieſse.
Dann gehören die Fälle ſolcher Kranken hieher,
die Reuter, Schlangen, Kröten, Fröſche, Mäuſe
und andere ungewöhnliche Dinge in ihrem Leibe
zu tragen, die ſo viel Harn bey ſich zu haben
glaubten, daſs eine Sündfluth entſtehen würde,
wenn ſie ihn lieſsen, und endlich ſolche, die
wächſerne Naſen, gläſerne Beine, oder andere
ungewöhnliche Krankheiten zu haben glaubten.
Dieſe Krankheiten gränzen mit dem höchſten
Grad der Hypchondrie nahe zuſammen ***). Von
der Entſtehungsart dieſer Grillen durch Krankhei-
ten des Gemeingefühls habe ich an anderen Or-
ten weitläufiger geſprochen ****). Einige dieſer
Kranken, glaubt Ehrhard†), können viel-
Y 2
[340] leicht an einem ganz anderen Wahn leiden, den-
ſelben aber verheimlichen, und ihn durch eine
angebliche Metamorphoſe ihres Körpers zu mas-
kiren ſuchen. Meiſtens iſt es beſſer, den Grillen
des Kranken nicht zu widerſprechen, ſondern
ſeinen Erzählungen Glauben beizumeſſen. Die
projektirten Heilmittel finden ſonſt keinen Kredit.
Dann ſucht man ihn zu überreden, daſs er ſeinen
Gefühlen eine falſche Urſache unterſchiebe. End-
lich räumt man den Reiz weg, der aufs Gemein-
gefühl wirkt, oder rektificirt das Organ deſſel-
ben, wenn es krank ſeyn ſollte. Nur dann iſt
der Kranke radikal geheilt, wenn er ſich über-
zeugt hat, daſs die Urſache ohne Grund ſey, die
er ſeinen Gefühlen unterſchiebet. Einen Men-
ſchen, der Hörner zu tragen glaubte, heilte ſein
Arzt dadurch, daſs er Sägen und Meſſer hervor-
langte, und insgeheim Hörner bey ſich führte,
die während des Sägens hinfielen. Der Kranke
ſprang geheilt von ſeinem Sitze auf *). Ein an-
derer hielt ſich für todt, und wollte deswegen
nicht eſſen. Man ſetzte neben ihm einen Sarg
mit einer ſcheinbaren Leiche, die ſich aufrichtete
und aſs. Der Verrückte ſah mit Erſtaunen zu,
daſs auch die Todten eſſen, aſs mit und wurde
nachher geheilt **). Einen ähnlichen Kranken
[341] trug man zum Schein zu Grabe. Unterwegs be-
gegneten luſtige Burſche der Leiche, die ihr alle
Schande nachſagten. Dies brachte den Todten
auf, er ſprang von der Bahre und wollte ſeine
Läſterer durchprügeln *). Einen Büchermann
mit gläſernen Beinen kurirte ſeine Magd. Sie
warf ihm ein Stück Holz daran. Entrüſtet ſprang
er auf, und entdeckte dadurch, daſs die Beine
wol nicht von Glas ſeyn möchten, weil er darauf
ſtehen konnte **). Einem Verrückten ohne Kopf
ſetzte man einen Hut von Bley auf; einem an-
dern, der immer zu frieren glaubte, wurde ein
Schaafpelz angezogen, der in Brantwein einge-
taucht und dann angezündet wurde ***). Perſo-
nen, die Fröſche im Leibe oder Kaninchen im
Kopf zu haben glaubten, muſsten in ein Gefäſs
ſich erbrechen, in welches heimlich Fröſche ge-
legt waren, oder einen Kreutzſchnitt in die
Haut des Kopfs aushalten, nach welchem man
ihnen blutige Kaninehen vorzeigte, die aus
ihren Köpfen genommen ſeyn ſollten ****). Ein
Kranker überredete ſich, er trage einen Heuwagen
mit zwey Pferden und einem Fuhrmann in ſeinem
Magen. Alle Gegenvorſtellungen ſeines Arztes
fruchteten nichts. Ein anderer gab ihm Recht,
[342] bedauerte ihn, unterſuchte die Magengegend und
gab den Ort an, wo er den Wagen und die Rä-
der, den Fuhrmann und die Pferde deutlich
fühle. Der Kranke faſste Muth. Sein Arzt
ſprach von Apothekermitteln, die dergleichen
Körper verkleinerten und gab ihm ein Brechmit-
tel. Dem Kranken wurde übel, der Arzt führte
ihn mit dem Kopf zum Fenſter hinaus und als er
eben im Vomiren begriffen war, fuhr ein Fuhr-
mann mit einem Heuwagen zum Hofe hinaus,
welchen der Kranke für den hielt, den er im
Magen getragen hatte *). Ein anderer glaubte
eine gläſerne Naſe zu haben, ging deswegen
nicht aus, damit ſie nicht verunglücken möchte
und ſchlief in einem Stuhl. Sein Arzt ſchlug
ihm zur Sicherheit ein Naſenfutteral vor, und als
er dies anlegte, zerbrach er ein Glas, das er
heimlich in der Hand führte. Der Kranke
hielt die niederfallenden Glasſcherben für Ruinen
ſeiner Naſe und war auſser ſich. Der Arzt verſi-
cherte, die Natur habe die Glasnaſe durch eine
neuhervorgedrungene fleiſcherne abgeſtoſsen, wie
ohngefähr der permanente Zahn den Milchzahn
fortſchiebe. Er brachte den Spiegel, der Kranke
ſah noch eine Naſe, jeder zupfte, bog und ſchlug
daran; ſie blieb ſtehn, und er war es zufrieden,
ſtatt der gläſernen eine dauerhaftere Naſe von
Fleiſch bekommen zu haben.
[343]
d) Fixe Ideen, die ſich auf Aber-
glauben beziehn. Nur einige Blümchen von
dieſem Felde, das beſonders in Staaten, wo die
Religion ſich auf dieſe Krücke lehnt, am frucht-
barſten iſt. Dumme Menſchen können ſich ein-
bilden, daſs ſie beſeſſen oder bezaubert ſind, mit
dem Teufel im Bunde ſtehn, durch ihn Wunder
thun, Impotenz bewirken und heilen, Kinder krank
und geſund machen können, aber dafür auch wäh-
rend des Lebens mit ihm Unzucht treiben und
nach dem Tode in ſeine Gewalt kommen müſſen.
Die Vernunft iſt das Gegengift des Aberglaubens;
ihre Fackel erſtickt die Geburten der Nacht.
Man ſetze ſie in ihre Rechte ein. Doch dies iſt
Sache der Zeit und der Nation. Daher muſs der
Arzt oft erſt zu Paliativmitteln greifen, die Hexen
durch Geiſtliche bannen, die Teufel austreiben
und den geſchloſſenen Bund mit dem Satan auf-
heben laſſen. Ein Mann, ſagt Ehrhard*) klagte
die Polizeibedienten an, daſs ſie ſich, wenn er
tränke oder äſse, in der Gröſse eines Fingers auf
ſeinen Löffel oder Krug ſetzten, und ihm alles weg-
ſchnappten, daſs er endlich vor Hunger umkom-
men müſſe. Er wiſſe zwar wohl, fügte er hin-
zu, daſs ſie dieſe Künſte verſtehen müſsten, um
die Spitzbuben zu fangen. Doch ſolle die Obrig-
keit Sorge tragen, daſs ſie nicht auch ehrliche
Leute plagten. Ein ihm vorgeleſener Befehl an
[344] die Polizeidiener, ſich bey hoher Strafe nicht
mehr gelüſten zu laſſen, ihn zu verfolgen, be-
freite ihn von ſeinem Wahn. Wagner*) er-
zählt von einem Kranken, der ſich einbildete,
die Teufel ſäſsen in ſeinen Ohren, raunten ihm
die ſchädlichſten Anſchläge ein, und wären jetzt
im Begriff, ihn zur Hölle abzuholen. Daher er
an einem Orte kniete und betete, und von dem-
ſelben nicht aufſtand. Der Geiſtliche kam, be-
taſtete ſeinen Hals und ſegnete ihn ein. Nun
ſtand er zwar von ſeinem Platz auf, weigerte ſich
aber zu eſſen, weil die Teufel es nicht zulieſsen.
Der Pfarrer nahm den Kranken in das Pfarrhaus,
wo der Satan keine Gewalt habe, und ſegnete die
Speiſen beſonders ein. Der Kranke aſs, erhohlte
ſich, und wurde nach und nach ganz von ſeinem
Wahn befreit. Wahrſcheinlich würde der Geiſt-
liche nicht ſo glücklich geweſen ſeyn, wenn er
ſeine Grillen unmittelbar angegriffen hätte. Hie-
her gehört auch der Vampyriſmus, ein Aber-
glaube, der ehemals in Ungarn herrſchend war.
Ein Vampyr iſt eine Perſon, die wieder aus dem
Grabe aufſteigt, die Lebenden würgt, oder ihnen
das Blut ausſaugt. Auſserdem giebt es noch an-
dere Plagen, Erſcheinungen und Verfolgungen,
die von den Todten gefürchtet werden. Dieſe
und andere Ideen können ſich bey Perſonen fixi-
ren, die den Glauben dazu haben. Ein Zucker-
[345] bäckergeſell, ſagt Ehrhard*), der ſich öfters
im Dunkeln mit Zitterſchlagen vergnügte, hatte
die Erſcheinung, als wenn ein Bogen Papier zur
Thür herein käme, ſich um ſeine Füſse ſchlänge
und dann wieder hinausflöge. Er ſah dies als
einen Vorboten ſeines nahen Todes an, ward
traurig, ſtill, verlohr allen Appetit und ſtarb ei-
nige Wochen darauf.
e) Fixer Wahn, der ſich auf reli-
giöſe Gegenſtände bezieht. Der Kran-
ke glaubt z. B. Sünden begangen zu haben, die
nicht vergeben werden können, bildet ſich ein,
urſprünglich zur Hölle verdammt zu ſeyn, ver-
zweifelt an der Gnade Gottes. Am hartnäckig-
ſten ſind dieſe Ideen, wenn ſie Folge eines auf
einmal erwachenden Gewiſſens ſind. Man halte
dieſe Kranken zur Arbeit an, und entferne alles,
was den Anſtrich der Religiöſität hat. Zuweilen
leiſtet auch die Muſik gute Dienſte. Ein Wahn-
ſinniger dieſer Art, der an der Gnade Gottes ver-
zweifelte, wurde dadurch gerettet, daſs Jemand
in der Geſtalt eines Engels, mit einer brennen-
den Fackel in der linken und mit einem Schwerdt
in der rechten Hand, des Nachts durch die
Decke des Zimmers kam, und ihm im Namen
des dreieinigen Gottes Vergebung ſeiner Sünden
ertheilte **).
[346]
f) Fixer Wahnſinn, der ſich auf Liebe be-
zieht. Ich übergehe den bloſs thieriſchen Trieb
zum phyſiſchen Genuſs, der durch Krankheit
des Körpers ſo übermäſsig werden kann, daſs er
die Vernunft überflügelt, und zu abſurden Hand-
lungen leitet. Kranke dieſer Art müſſen eine
magere Diät halten, Pflanzen eſſen, Waſſer trin-
ken, Eier, Fleiſch, Gewürze, gegohrne Geträn-
ke und andere reizende Nahrung meiden, im
Schweiſs des Angeſichts ihr Brodt eſſen, damit
der Ueberfluſs drängender Säfte zerſtreut werde *).
Sie müſſen die Geburtstheile kühl halten, kalt
baden, Kampfer ſpeiſen und im Nothfall durch
Entledigungen ihre innere Gluth abkühlen **).
Ich ſpreche hier vorzüglich von der plato-
niſchen Liebe, die nicht nach wollüſtigen Um-
armungen ſtrebt, ſondern in den moraliſchen
Vollkommenheiten ihres Gegenſtandes eine Gott-
heit anbetet, und im Beſitz deſſelben das Glück
des Lebens ſetzt. Jugendliches Alter, ein ver-
liebtes Naturell und eine überſpannte Phantaſie
macht geneigt zu dieſer Phantaſterey, die in der
Folge, wenn ihr nicht genüget wird, in Lebens-
überdruſs, dumpfe Melancholie und Narrheit
übergehen kann.
[347]
In Rückſicht der Kur kommt es zuvörderſt
darauf an, die Liebe zu entdecken, wenn ſie ver-
heimlicht wird. Dazu hat der Arzt Welt- und
Menſchenkenntniſs nöthig, um die Geheimniſſe
des Herzens zu ahnen; das Zutrauen des Kran-
ken, um ſie aus demſelben hervorzulocken. Ga-
len entdeckte die Liebe einer römiſchen Dame
zu dem Schauſpieler Pylades dadurch, daſs
ſie erröthete, als ſein Name zufällig genannt
wurde. Eine Frau, ſagt Sauvages*), die ih-
ren Mann zärtlich liebte, und das nemliche von
ihm glaubte, erfuhr, daſs er ihr untreu ſey, und
beſchloſs zu ſterben. Doch kämpfte lange Re-
ligion, Abſcheu für Selbſtmord und Liebe zu
ihren Kindern wider dieſen Entſchluſs, bis ſie
endlich unterlag. Ihr Arzt, der ihr unſtatthafte
Dinge aus der Apotheke verſchrieben hatte, wür-
de ſie leicht haben retten können, wenn er die
Urſache ihrer Krankheit geahndet hätte. Der
Dr. Stütz**) kurirte ein wahnſinniges Mäd-
chen, bey der alle Arten anderer Mittel umſonſt
verſucht waren, endlich auf folgende Art. Er
bemerkte nemlich, daſs es auf alle Mannsbilder,
den Wärter, Aufſeher u. ſ. w. verliebte Augen
warf, und es gern hörte, wenn man vom Heira-
then ſprach. Er lieſs alſo einen ordentlichen jun-
gen Mann zur Kranken gehen, der ihr wohlge-
[348] fiel. Dieſer verſprach, ſie zu heirathen, wenn
ſie ihr ungeſcheutes Weſen ablegen, und brav
und arbeitſam ſeyn würde. In dem Augenblick
ſchien ſie ſich ihrer halbzerriſſenen Kleider zu
ſchämen, nahm einen gewiſſen äuſsern Anſtand
an, den ſie vorher bey Seite ſetzte, bat um beſ-
ſere Kleidungsſtücke, verſprach zu arbeiten, Me-
dicin zu nehmen. Kurz ein helles Bewuſstſeyn,
geläutert von allen ſchiefen Ideen und Vorſtel-
lungen, kehrte in ihre Seele zurück, und ſie
ward in kurzer Zeit von ihrem Wahnſinn geheilt.
Nach der Geneſung ſchämte ſie ſich ihres vergan-
genen Zuſtandes, und fragte nicht nach dem
jungen Manne, der die erſte Gelegenheit zu ihrer
Geneſung gab, wahrſcheinlich weil ſie es einſah,
daſs jener ganze Vorgang nicht ſo ernſtlich ge-
meint geweſen ſey.
Die Wege zur Heilung ſind verſchieden.
Man ſucht den Kranken zu zerſtreuen, ihn von
dem Gegenſtand ſeiner Liebe zu entfernen. Man
deckt ihm die Mängel deſſelben auf;
Fxige, quod cantet, ſi qua eſt ſine voce puella,
Non didicit chordas tangere, poſce lyram.
Turgida, ſi plena eſt, ſi fusca eſt, nigra vocetur,
Et potuit dici ruſtica, ſi qua proba eſt.
(Ovidius.)
Am ſchnellſten hilft man gewöhnlich dadurch,
daſs man die Wünſche des Kranken befriedigt.
Die Ehefrau eines Mannes verliebte ſich in einen
jungen Menſchen, und wurde verrückt, als der-
[349] ſelbe verreiſen muſste. Man entdeckte dies ihrem
Manne. Er lieſs den Jüngling zurückkommen.
Von der Zeit an erholte ſich ſeine Frau, und
wurde vollkommen wieder hergeſtellt *). Tul-
pius**) erzählt von einem jungen Engländer,
der vollkommen ſtarrſüchtig und unbeweglich
wie eine Bildſäule wurde, als er eine unverhoffte
abſchlägliche Antwort von der Perſon bekam,
die er liebte. Man rief ihm laut ins Ohr, daſs
er ſeine Geliebte zur Frau haben ſollte; er ſprang
ſchnell auf, und war von ſeiner Starrſucht ge-
heilt. Wo dies nicht möglich iſt, ſucht man den
Kranken an einen andern Gegenſtand zu ketten.
Hortor et, ut pariter binas habeatis amicas,
Alterius vires ſubtrahit alter amor.
(Ovidius.)
Zuweilen heilt auch der ſinnliche Genuſs von der
überſinnlichen Liebe. Doch muſs man ſicher
ſeyn, daſs der Kranke ſich darüber keine Vor-
würfe mache, und auf dieſem Wege in eine an-
dere, vielleicht noch gröſsere Geiſteszerrüttung
verfalle.
Hier kann ich nicht umhin, auf ein unge-
ahndetes Verbrechen aufmerkſam zu machen, das
gleich einem verborgenen Krebs im Finſtern
ſchleicht, und die Blüthe des Staats würgt. Wol-
[350] lüſtlinge beſtechen die Gunſt unerfahrner Mäd-
chen durch Geld oder vorgeſpiegelte Liebe, und
überlaſſen ſie nachher ihrem Schickſale. Die
verführte Perſon härmt ſich über den Betrug, oder
verfolgt die geöffnete Bahn, weil ſie nichts weiter
an ſich verderben kann. Sie ſtirbt im Spital, oder
wird eine Bewohnerin des Tollhauſes. Beide
Arten, das Leben zu enden, ſind gleich ſchauder-
haft. Ein direkter Mord iſt nicht ſo quaalvoll,
als ein indirekter durch Wahnſinn oder Luſtſeu-
che und Knochenfraſs. Und wie häufig iſt we-
nigſtens der letzte Fall! Ich kenne mittelmäſsige
Städte, die auf dieſe Art nach einem höchſt wahr-
ſcheinlichen Calcul jährlich mehr als funfzig
Menſchen verlieren. Sicher würden wir vor ei-
nem Ort zurückbeben, an welchem ſich ſo viele
Meuchelmorde ereigneten! Freilich ſollte man es
der Gerechtigkeit nicht zumuthen, Angriffe auf
Glück, Ehre, Geſundheit und Leben zu ahnden,
denen der Menſch durch die Freiheit ſeines Wil-
lens ausweichen kann. Allein die Menſchen,
von denen hier die Rede iſt, kommen meiſtens
nie aus der Unmündigkeit heraus, und die Natur
hat ihnen in Betreff der Liebe eine ſo ſchwache
Seite gelaſſen, daſs ſie einer Staats-Palliſade be-
dürfen.
Nahe verwandt mit der Liebe iſt die Eifer-
ſucht, bey welcher Liebe und Haſs, Achtung
und Verachtung, Rache und gekränkte Ehre mit
einander in Kampf gerathen ſind. Der Verſtand
[351] will, daſs wir das nicht achten ſollen, was uns
verachtet, die Leidenſchaft gebietet das Gegen-
theil. Dieſer Kampf wird vorzüglich peinlich,
wenn man nicht von der Untreue des geliebten
Gegenſtandes überzeugt iſt. Dadurch wurde ein
Bäcker, der ſeine Frau im Verdacht des Ehe-
bruchs hatte, ohne ihr denſelben beweiſen zu
können, veranlaſst, ſich beide Hoden wegzu-
ſchneiden, um ſie auf die Probe zu ſtellen, ob ſie
nach ſeiner Kaſtration ſchwanger werden würde *).
Ein anderer Mann glaubte, ſeine Frau unterhalte
ſich zu frey auf einem Balle mit andern Männern.
Er lief wüthend nach Hauſe, holte ein Gewehr,
und wollte ſie erſchieſsen. Man hielt ihn ab, er
wurde verrückt, und verfiel in einen ſolchen Haſs
gegen das weibliche Geſchlecht, daſs er unauf-
hörlich auf daſſelbe ſchimpfte, und jedem Frauen-
zimmer, das er anfichtig wurde, das nachwarf,
was er eben in den Händen hatte. Er ſtarb im
Irrhauſe. Bey der Oeffnung fand man die Häute
des Gehirns entzündet, das Gehirn in Eiterung
und gröſstentheils in eine ſulzigte Subſtanz ver-
wandelt *). Den Eiferſüchtigen überführe man,
daſs der Verluſt ſeiner Ehre eingebildet oder ge-
rächt ſey, daſs der Gegenſtand ſeiner Eiferſucht
unſchuldig oder ſeiner Liebe nicht werth ſey.
g) Lebensüberdruſs iſt eigentlich nicht
fixe Idee, ſondern Product, und zwar von meh-
[352] reren Arten derſelben. Daher muſs ſich auch
die Kur nach der verſchiedenen Natur der fixir-
ten Vorſtellung richten, die Lebensüberdruſs
erzeugt.
Die Melancholie der Engländer charakteri-
ſirt ſich durch Selbſtmord aus Lebensüberdruſs
ohne zureichende Urſache. Der Kranke weiſs
ſich über nichts zu beklagen, aber nichts kann
ihn auf der Welt fröhlich machen. Er ſehnt ſich
daher nach einer Veränderung ſeines Zuſtandes,
die ihm hier unmöglich ſcheint. Er beſtellt ſein
Haus, macht ſein Teſtament, nimmt Abſchied
von ſeinen Verwandten, und bringt ſich dann
kalten Bluts mit Ueberlegung um. Ich bin in
einem glücklichen Zuſtande, ſagte ein Melancho-
liſcher zu Pinel*), ich habe Weib und Kind,
die mein Glück ausmachen, meine Geſundheit
iſt nicht merklich verändert, und demohngeachtet
fühle ich mich von einer ſchrecklichen Begierde
hingeriſſen, mich in die Seine zu ſtürzen. Er
führte nachher ſeinen Vorſatz wirklich aus. Ein
junger Britte, der hoffnungsvolle Sohn eines an-
geſehnen Hauſes, eben im Begriff, ſich mit einem
reizenden Mädchen von edler Herkunft zu ver-
mählen, hatte an einem Deutſchen einen warmen
Freund. Dieſen beſuchte er eines Abends, ſprach
wenig. Wir ſehn uns heute das letztemal, ſagte
er, das letztemal, Freund, und drückte ihm mit
Wärme
[353] Wärme die Hand. Warum? fragte der Deutſche.
Weil ich morgen ſterbe, antwortete der Englän-
der. Früh fand man ihn todt in einem Garten;
an dem Piſtol hing ein Zettel mit den Worten:
des Lebens ſatt und müde*). Ein an-
derer erhing ſich; ſein Bedienter ſchnitt ihn ab,
und er lebte fort. Am Ende des Jahrs zahlte er
dem Bedienten ſeinen Lohn, und zog ihm zwey
Pence ab. Der Bediente fragte nach der Urſache;
weil du, antwortete er, einen Strick ohne meine
Ordre durchſchnitten haſt. Viele Selbſtmörder
waren unverheirathet und in Ausſchweifungen
der Wolluſt endlich ſo abgeſtumpft, daſs ſie an
nichts mehr Intereſſe finden konnten. In dieſem
Fall, wo der Lebensüberdruſs durch übermäſsi-
gen Genuſs und erkünſtelten Kitzel entſtanden iſt,
wird es meiſtens ſchwer, ſolchen verdorbenen
Menſchen neues Intereſſe für das Leben beizu-
bringen. Wenn Ehrgefühl und Religion nicht
mehr wirken, ſo iſt alle Mühe vergebens.
Ferner erzeugt der peinigende Gedanke an ein
Uebel, dem man nicht entgehen kann, z. B. das
Bewuſstſeyn der Gefangenſchaft mit Unmöglich-
keit zu entrinnen, leicht Lebensüberdruſs und
Sehnſucht nach dem Tode. Eben dies bewirken
Vorwürfe des Gewiſſens über wahre oder einge-
bildete Verbrechen, Verluſt der Ehre, Furcht für
Nachſtellungen, hypochondriſche Vorſtellungen
Z
[354] von dem zerrütteten Zuſtand des Körpers, Kränk-
lichkeit und fortdauernde Schmerzen, Heimweh
und andere phyſiſche und moraliſche, wahre oder
eingebildete Uebel. Die mit dem Pelagra behafte-
ten, ſollen einen beſonderen Trieb fühlen, ſich ins
Waſſer zu ſtürzen. Krankheiten des Unterleibes
ſind gern mit Hang zum Selbſtmord verbunden.
Endlich kann auch das Beiſpiel und die Nachah-
mung dahinführen. Daher er endemiſch und
epidemiſch ſeyn kann. Die Madchen von Mile-
tus hingen ſich haufenweiſe auf, nicht aus Le-
bensüberdruſs, ſondern wegen einer Art von
Schwärmerey, in der ſie ihre Glückſeligkeit
fanden *). Primeroſe erzählt von einem
ähnlichen Fanatiſmus, der zum Erſäufen ver-
leitete. Eine Kindermörderin wurde von dem
Geiſtlichen feierlich zum Tode vorbereitet, dies
wirkte ſo ſehr, daſs der Kindermord ſich mehrte,
und man die Todesſtrafe abſchaffen muſste, um
ihm zu ſteuren. In dieſem Fall helfen angedroh-
te Beſchimpfungen der Selbſtmörder nach dem
Tode, die das Ehrgefühl in Anſpruch nehmen,
deſſen falſche Richtung den Selbſtmord förderte.
Die Schwärmerey der miletiſchen Mädchen hörte
auf, als der Staat das Geſetz bekannt machte,
daſs die erſte Selbſtmörderin nackt auf den Gaſ-
ſen ausgeſtellt werden ſollte. Ich habe verſchie-
dene Fälle geſehen, daſs Kranke dieſer Art nach
[355] einem miſslungenen Verſuch, z. B. nach einer
nicht tödtlichen Verwundung, nie einen neuen
wagten, und ganz von dieſer fixen Idee geheilt
waren. In einzelnen Fällen kann dies Mittel viel-
leicht auf ſie angewandt werden. Man ſtürzt ſie
ins Waſſer, oder bringt ihnen eine ſchmerzliche
Fleiſchwunde bey. Pinel*) wurde bey einem
jungen Menſchen von vierundzwanzig Jahren zu
Rathe gezogen, den der Lebensüberdruſs in pe-
riodiſchen Anfällen quälte, welcher aber jedes-
mal vor dem Anblick der Gefahr erſchrak, ohne
ſeinen Entſchluſs, ſich zu erſäufen oder zu er-
ſchieſsen, zu ändern. Der Vorſatz wurde immer
erneuert, und wieder aufgeſchoben. Ein Uhrma-
cher, der ſich aus Lebensüberdruſs erſchieſsen
wollte, verwundete ſich bloſs die Wangen. Es
entſtand ein heftiger Blutfluſs. Die Wunde wurde
geheilt, und mit derſelben die fixe Idee des
Selbſtmordes **). Ein anderer wollte ſich in
London von einer Brücke in die Themſe ſtürzen.
In dieſem Augenblick fallen ihn Räuber an. Er
bot alle Kräfte auf, ihnen zu entrinnen, und
von der Zeit an war der Vorſatz zum Selbſtmord
ganz aus ſeiner Seele vertilgt ***). Bey Unglücks-
fällen, die die Zeit heilt, beim Verluſt einer ge-
liebten Perſon, ſuche man die erſten Ausbrüche
Z 2
[356] der Verzweifelung zurückzuhalten, oder dem
Kranken einen andern Gegenſtand aufzuſtellen,
der ſich allmählich ſeiner bemeiſtert. Doch iſt die
Hoffnung gering, wenn der Kranke auch für den
Gegenſtand kein Intereſſe mehr hat, der ihn
krank machte, ſondern bloſs der Lebensüber-
druſs ihm übrig geblieben iſt. Zuletzt erwähne
ich noch der Mordſucht in der Raſerey, die
durch einen innern Drang ohne Dazwiſchenkunft
fixer Vorſtellungen zu Stande kommt. Die Kran-
ken ſtürzen ſich ins Waſſer, hängen ſich auf,
ſpringen zum Fenſter hinaus. Bartholin*)
erzählt die Geſchichte eines Menſchen, der am
Fleckfieber litt, und ſich am Bette aufhing, als
ſeine Wärterin ſich auf einige Augenblicke ent-
fernt hatte.
h) Dem Lebensüberdruſs ſteht die fixe Idee
der Todesfurcht entgegen. Sie unterſchei-
det ſich von der Beſorgniſs der Hypochondriſten
für ihre Erhaltung dadurch, daſs die Kranken
meiſtens geſund ſind, wohl ausſehen, und es
bloſs fürchten, daſs ſie ſterben werden. Hin-
gegen iſt der Hypochondriſt durchgehends wirk-
lich krank, nur vergröſsert er ſeine Krankheit
und fürchtet zu viel von ihr. Einige dieſer Kran-
ken führen immerhin ihre Todesfurcht im Mun-
de, und gerathen über jede unbedeutende Em-
pfindung in Angſt, weinen oft, wenn ſie allein
[357] ſind und ſuchen die Perſonen, welche ſie umge-
ben, zu überreden, daſs ſie den Tod nicht fürch-
ten, um ſie deſto eher von der Wirklichkeit ihrer
Vorgefühle zu überzeugen. Andere verber-
gen ihre Grille mit ſtummer Hartnäckigkeit und
dieſe ſind am unheilbarſten. In der Lebensord-
nung machen ſie die ſonderbarſten Bocksſprünge,
hüllen ſich gegen jedes kleine Lüftchen ein, ge-
nieſsen viele Dinge nicht, oder meiden gewiſſe
Oerter, von denen ſie glauben, daſs ſie ungeſund
ſind. Swieten*) erzählt von einem übrigens
geſcheuten Mann, der ſich von Niemandem anrüh-
ren lieſs, weil er von der Hundswuth angeſteckt
zu werden fürchtete. Zuweilen entwickelt ſich
aus dieſer Todesfurcht der Wahn, als ſtelle man
ihnen nach dem Leben, oder ſie ergeben ſich dem
Trunk und den Ausſchweifungen der Liebe,
weil ſie an ihrer Geſundheit nichts weiter verder-
ben zu können glauben. Einige heilt man da-
durch, daſs man ihre Klage nicht bemerkt. An-
deren muſs der Arzt nachgeben und einen ſol-
chen Kurplan wider ihre angebliche Krankheit
entwerfen, der ſie von ihrer fixen Idee ableitet,
und ſie von früh bis in die Nacht beſchäfftiget.
Denn dieſe Krankheit befällt nur reiche und
müſsige Menſchen und flieht vor der Arbeit, die
den Armen drückt. Man läſst ſie reiten, reiſen,
zu Schiffe fahren, jagen, gymnaſtiſche Uebungen
[358] machen. Oft heilt ein Vorfall ſie von ihrer Grille,
bey dem ihre Habe, Ehre oder Leben auf dem
Spiel ſteht. Dergleichen Lagen kann man zu-
weilen durch die Kunſt herbeiführen.
i) Fixer Wahn, durch Aufopferungen
ſich bekannt zu machen, die Menſchen
zu verwirren, ſie in Beſtürzung zu ſetzen, un-
glücklich zu machen. De Haen führt ver-
ſchiedne Beiſpiele ſolcher Kranken an, die durch
die beſchwerlichſten Mittel die nichtigſten Zwe-
cke zu erreichen ſuchten und ſich den gröſsten
Quaalen unterwarfen, um nur ihre Einfälle durch-
zuſetzen. Ins Julius-Spital zu Würzburg, ſagt
Ehrhard*) kam eine Weibsperſon, der vor
ein Paar Wochen zur Ader gelaſſen war, und
gab vor, daſs ſie eine Geſchwulſt am Arm hätte.
Bey der Unterſuchung fand ſich nicht weit von
dem Ort der Wunde eine Erhöhung, aus der
man ein Stück Glas, zwey zuſammengedrehete
Haarnadeln, und eine abgebrochene Nadel her-
auszog. Sie behauptete böſe Leute, bey denen
ſie wohnte, müſsten ihr dieſe Quaal angethan ha-
ben, und als ſie ermahnt wurde, nicht zu lügen,
affectirte ſie fürchterliche Krämpfe. Es wurde
ihr vorgeſtellt, daſs ihre Ausſage unterſucht wer-
den ſollte, und wofern ſie die Unwahrheit ſagte,
würde ſie ausgepeitſcht und ins Zuchthaus ge-
ſteckt. Dies veranlaſste ſie, noch an demſelben
[359] Tage aus dem Spitale zu laufen. Wahrſchein-
lich hatte dies Weib ſich durch die Aderlaſswun-
de das Glas und die Nadeln, unter die Haut ge-
ſteckt, und die Schmerzen nicht geachtet, um
nur die hämiſche Freude zu haben, Aufſehen zu
erregen und andere Menſchen unglücklich zu
machen. Ich ſahe eine ähnliche Weibsperſon,
die täglich Stücke Holz aus der Scheide verlohr,
welches nach ihrer Angabe von einem Fall auf
einen Holzhaufen herrühre. Sie muſste dieſen
Betrug, den ſie ſchon an andern Orten mit meh-
rerem Glück geſpielt hatte, hier mit dem Zucht-
hauſe büſsen. Zuvörderſt kömmt es bey der
Heilung dieſer Kranken darauf an, die Bosheit
zu entdecken, wozu man bald Liſt, bald eine
ſcheinbare Gelindigkeit anwenden muſs. Dann
ſtraft man ihre Betrügereien. Bey den Beſeſſenen
fand de Haen nichts beſſer, ihre Konvulſionen
zu ſtillen, als das kalte Waſſer, womit er ſie be-
goſs. Doch meiſtens iſt die Bosheit dieſer Kran-
ken ſo eingewurzelt, daſs ſie den Ort verlaſſen,
wo ſie entdeckt und beſtraft ſind, und irgend wo
anders ihre Rolle weiter ſpielen.
k) Wahnſinn, der ſich auf Schwärmerey
bezieht. Entweder das Object ſelbſt iſt eine Chi-
märe, oder der Kranke verfolgt es mit einem En-
thuſiaſmus, deſſen es nicht werth iſt. So hat es
Menſchen gegeben, die ſich für begeiſtert hielten,
verborgene Dinge errathen, künftige vorherſagen
zu können glaubten. Andere hängen ſich an
[360] unbedeutende Dinge und ſuchen ſie mit einem
Feuereifer zu realiſiren oder zu erhalten, der ſie
ſelbſt zerſtört. Sie gehen in ihren Bemühungen
zwar mit Ueberlegung, aber ohne alle Rückſicht
auf Gefahr für ſich und andere zu Werke, ach-
ten des Schmerzes, ſelbſt des Todes nicht, ſo-
bald ſie glauben, dadurch ihren Zweck erreichen
zu können. Sie halten unglaubliche Anſtrengun-
gungen aus und ſind zu unmenſchlichen Grau-
ſamkeiten gegen andere Menſchen fähig, von de-
nen ſie glauben, daſs ſie ihren Vorſätzen entge-
genarbeiten. Die gelinderen Grade dieſes Wahn-
ſinns pflegt man mit dem Namen des Eifers zu
beſchönigen. Seine gefährlichſten Arten ſind die-
jenigen, die ſich auf Staatsumwälzungen und Re-
ligion beziehn. Denn ſie zerſtören Länder und
vergieſsen Blut in Strömen, welches der Huſſiten-
Krieg, die ſicilianiſche Veſper, die Bartholomäus-
nacht in Frankreich und die republikaniſchen
Hochzeiten in der Vendee beweiſen. Meiſsner
erzählt das Beiſpiel eines Religionsſchwärmers,
der ſeine zwey Kinder mordete, um das Opfer
Abrahams nachzuahmen. Manche dieſer Kran-
ken verfallen in Raſerey, wenn ſie ſehen, daſs
ſie ihre Einbildungen nicht realiſiren können.
l) Noch komme ich am Schluſs auf ein Paar
Zuſtände, nemlich auf den dumpfen und raſt-
loſen Wahnſinn, die man zwar als Arten aufge-
ſtellt hat, aber ſie enthalten beide keine beſtimmte
fixe Idee, ſondern ſind Produkte derſelben, Dieſe
[361] beſteht in einer raſtloſen Unruhe, die den Kran-
ken veranlaſst, ohne Bewuſstſeyn eines Zwecks
an öden Oertern herumzuirren; jene iſt eine Cata-
lepſie des Vorſtellungsvermögens, durch welche
ſein Fortſchreiten, ſein Einfluſs auf die Bewe-
gungsorgane und die Freiheit des Willens aufge-
hoben iſt. Beide ſind Produkte eines aſtheni-
ſchen Zuſtandes der Seelenkräfte.
In dem dumpfen Wahnſinn *) iſt der
Kranke unbeweglich wie eine Bildſäule. Er
ſteht, ſitzt oder liegt auf einer Stelle, rührt weder
Hand noch Fuſs, hat die Augen geſchloſſen, oder
ſtarrt kurz und ängſtlich herum, ohne die Ein-
drücke in ihrer Verbindung wahrzunehmen. Er
begehrt weder Speiſe noch Trank, verſchlingt
ſie aber ohne Beſonnenheit, wenn ſie ihm ge-
bracht werden. Er iſt ganz ſtumm oder antwor-
tet kurz und unbeſtimmt. Zuweilen iſt ein durch-
dringendes Gebrüll das einzige, was man ihm
ablocken kann. Befällt ihn die Krankheit unbe-
kleidet, ſo leidet er auch keine Kleider. Sie
entſteht von anhaltenden Meditationen, heftigen
und traurigen Leidenſchaften, kurz von allen
plötzlichen und ſtarken Erſchütterungen der See-
le, die ſie in einen kataleptiſchen Zuſtand ver-
ſetzen. Zuweilen kann eine andere Erſchütterung
[362] die Mobilität des Seelenorgans wieder hervor-
bringen. Eine Dame, die in dieſem Zuſtand auf
Reiſen geführt wurde, kam auf einmal aus ihrem
Taumel zu ſich, als der Wagen umſchmiſs. Oft
bekommen fortdauernde und unangenehme Reize
des Gemeingefühls, das Jucken der Krätze, das
Bürſten der Fuſsſohlen, das Kitzeln gut. Das
Ohr kann der Kranke am wenigſten den Ein-
drücken verſchlieſsen, daher verſucht man die
Muſik, und zwar eine rauſchende, das Trommeln.
Ein Melancholiſcher, der unbeweglich wie eine
Säule war, nicht redete und auf nichts um ihn
herum achtete, wurde auf folgende Art geheilt.
An demſelben Ort war ein Mann, der eine be-
ſondere Fertigkeit hatte, alles nachzuahmen.
Dieſer muſste ſich wie der Kranke kleiden, und
ging zu ihm in ſein Zimmer. Er ſetzte ſich dem
Kranken gegenüber, ganz in ſeiner Miene und
Stellung. Anfangs ſchien er ſeinen Geſellſchafter
nicht zu bemerken; allein endlich haftete ſein Auge
auf demſelben. Der letzte that das nemliche, und
ahmte ſo augenblicklich jede Gebährde, Bewe-
gung und Veränderung des Verrückten nach, bis
derſelbe in Harniſch gerieth, vom Stuhl aufſprang,
zu reden anfing und geheilt wurde. Selten geht
der Kranke unmittelbar aus dieſem Zuſtande zur
Geſundheit über, ſondern verfällt vorher in eine
andere Art von Melancholie, die dann nach ihrer
Natur behandelt werden muſs.
[363]
Der raſtloſe Wahnſinn ſteht zwar dem
vorigen entgegen, doch wechſeln beide gern mit
einander. Dem Kranken iſt es nirgends wohl,
er flieht, und weiſs nicht warum und wohin. Er
flieht die Menſchen, ſucht einſame, meiſtens trau-
rige Oerter, ſchwärmt des Nachts unter den Grä-
bern herum, ohne ſich eines beſtimmten Zwecks
bewuſst zu ſeyn. Die Grade der Krankheit ſind
verſchieden. Einige Hypochondriſten haben eine
innere Angſt, die ſie nirgends zur Ruhe kommen
läſst. Der bekannte Grotthouſs gehörte zu
dieſen Patienten. Wagner*) beſchreibt einen
ähnlichen Sonderling, der immer von einem Ort
zum andern herumirrt. So lange man ihn als
Gaſt behandelt, ſpricht er ganz vernünftig; ſobald
er aber ermahnt wird, an einem Ort länger zu
verweilen, ſo wird er faſt raſend, und verflucht
ſeine Feinde, die ihn an ſeinem Glücke hindern
wollen. Auf ſeinen Reiſen ſucht er überall Be-
förderung; kaum hat er aber irgend ein Aemt-
chen erhalten, ſo denkt er ſchon an eine Verän-
derung, ſucht ſich von der Stelle, welche er be-
kleidet, loszumachen, und geht weiter. Ein
Aufenthalt von drey Tagen iſt für ihn eine Ewig-
keit. Fragt man ihn, wo er hinreiſe, ſo giebt er
zur Antwort, er ſuche eine Condition. Er klagt
nie über Mattigkeit von den vielen Reiſen. Zu-
weilen findet ſich ein Anfall dieſer Krankheit zu
Anfang der Pubertät ein, der ſich aber meiſtens
[364] verliert. Urſprünglich liegt ihr wol eine phyſi-
ſche oder moraliſche Angſt zum Grunde, die
endlich eine gänzliche Verwirrung des Verſtandes
nach ſich zieht. Oft kann auch Stolz, der ſich
nirgends gefällt, oder habituelle Zerſtreuung,
oder eitle Furcht für Verfolgungen und Nachſtel-
lungen, oder das Gefühl der Erleichterung kör-
perlicher Beſchwerden durch Bewegung Urſache
ſeyn. Man vertilge die Furcht des Kranken, und
binde ihn an Beſchäfftigungen, die ihn anziehen.
2. Tobſucht, Raſerey, Furor, Mania.
Der Hauptcharakter der Raſerey, vielleicht
ihr einziger, iſt übereilte, raſtloſe, im
höchſten Grade geſpannte Thatkraft,
die ſich in ſcheinbar eigenmächtigen
Handlungen, aber ohne alles Bewuſst-
ſeyn eines ſinnlichen oder verſtändi-
gen Zwecks äuſsert, und Product ei-
ner abnormen Umwälzung der Orga-
niſation iſt. Verkehrte Handlungen, die we-
der in reinen Vorſtellungen gegründet ſind, noch
in Gefühlen, die mit den Handlungen einen pſy-
chiſchen Zuſammenhang haben, charakteriſiren
alſo die Tobſucht. Das Vorſtellungsvermögen
iſt ohne Einfluſs auf die Funktionen des Willens,
wenigſtens in Beziehung der Handlungen, die der
Kranke als Raſender begeht. Er handelt ver-
möge eines Impulſes, der durch eine ſpecifiſche
Verletzung des Organiſmus hervorgebracht wird,
[365] und den wir, theils weil er nicht Vorſtellung,
theils ſeiner Natur nach uns unbekannt iſt, blind
nennen. Der Kranke erſcheint uns als toll-
kühn, weil er kein Bewuſstſeyn der Gefahren,
alſo auch keine Furcht vor denſelben hat; ſein
Trieb zum Handlen als Wuth, weil er zerſtört.
Ein Menſch, der vor Zorn ſchäumt, repräſentirt
im Miniatur das Bild des Raſenden.
Die Raſerey charakteriſirt ſich alſo durch
abnorme Handlungen. Um nun meinen von
ihr gegebnen, vielleicht unvollſtändigen Begriff
weiter zu erläutern, muſs ich mit ein Paar Wor-
ten der Urſachen *) erwähnen, durch welche die
Handlungen der Organiſation entſtehn. Einige
derſelben, z. B. das Klopfen des Herzens, die
periſtaltiſche Bewegung der Gedärme, die Aus-
und Abſonderungen, die Zuckungen und Krämpfe
in dem Muskelſyſtem, ſind zuverläſſig phyſi-
ſchen oder rein organiſchen Urſprungs.
Von dieſen kann hier die Rede nicht ſeyn. An-
dere Handlungen des Menſchen entſtehn im Ge-
folge des Begehrungsvermögens, durch Vorſtel-
lungen eines Objects, die ſeine Begierden erre-
gen, und ihn beſtimmen, das Object wirklich zu
machen. Dieſe ſetzen Erkenntniſſe voraus, wel-
che ſich entweder auf Gefühle der Luſt oder der
Unluſt, oder auf gewiſſe unſprünglich-praktiſche
Geſetze beziehn, die der Form der Vernunft an-
gemeſſen ſind. Dieſe ſind pſychiſcher Natur.
[366] Verletzungen derſelben beſtimmen die abnormen
Handlungen des Melancholiſchen. Endlich liegen
zwiſchen beiden noch andere automatiſche,
aber ſcheinbar eigenmächtige Handlungen in der
Mitte, deren Urſache ich Inſtinct oder blin-
den Trieb nennen will, weil ſie weder mit
dem Gefühls- noch mit dem Vorſtellungsvermö-
gen zuſammenhangen, und ohne Erkenntniſſe
eines Zwecks oder Objects entſtehn. Sie ſind
gegründet in dem urſprünglichen Charakter, der
dem Organiſmus eingeprägt iſt, bey den norma-
len Inſtinkten und Kunſtfertigkeiten der Thiere,
oder Folgen einer kranken Metamorphoſe deſ-
ſelben, durch welche er eine andere Richtung,
neue Reflektionspunkte und anomaliſche Bezie-
hungen bekommen hat. Hier iſt die Pathogenie
der Wuth und Tobſucht zu ſuchen. Es giebt
Menſchen, die einen unwiderſtehlichen Drang zu
irgend einer Handlung haben, z. B. ſich zum
Fenſter hinauszuſtürzen, obgleich die Sinnlich-
keit und die Vernunft ihnen das Gegentheil ge-
bieten. Dieſe können alſo nicht Urſache derſel-
ben ſeyn, weil ſie ſich ſonſt ſelbſt widerſprechen
würden. In der Hundswuth beiſst der Menſch
wider ſeinen Willen, und warnt daher ſeine Ver-
wandten, ſich für ihn zu hüten. Ich habe ein
vierzehnjähriges Mädchen in der Kur gehabt, die
an einer merkwürdigen Evolutionskrankheit litt,
die aus einer Folge der ſonderbarſten Nerven-Paſ-
ſionen beſtand. Sie hatte toniſche und cloniſche,
[367] allgemeine und örtliche Krämpfe. Sie gähnte
einmal acht und vierzig Stunden lang, ein ande-
resmal huſtete ſie eben ſo lange. Unter dieſe Er-
ſcheinungen miſchten ſich auch Anfälle einer
krampfhaften Bewuſstloſigkeit, die einer Starr-
ſucht ähnelten. In denſelben ſetzte ſie die Hand-
lungen fort, in welchen ſie eben beim Entſtehen
des Anfalls begriffen war. Sie ging oder ſtrickte
oder wiederholte einige Worte, wie ein Echo,
die man ihr kurz vor dem Anfall geſagt hatte,
und durch deren Eindruck derſelbe erregt war.
Welches künſtliche Muskelſpiel iſt nicht dazu
nöthig, artikulirte Töne, die einen verſtändlichen
Sinn haben, hervorzubringen, und doch war die
ganze Handlung automatiſch. Noch merkwür-
diger iſt die Geſchichte eines andern Frauenzim-
mers, die ich ehemals als Kranke behandelte.
Ihre Anfälle dauern ein bis drey Tage; in den-
ſelben lacht, weint oder ſingt ſie, je nachdem ſie
ſo oder anders zu der Zeit geſtimmt iſt, wo der
Paroxiſmus ſie überfällt. Sie ſingt melodiſche
Geſänge, ſchön, denn ſie iſt muſikaliſch, bey
vollem Bewuſstſeyn, iſt aber nicht im Stande,
durch die Kraft des Vorſatzes ihrem Gehirnſpiel
und den Actionen des Stimmorgans Ruhe zu ge-
bieten. Das monarchiſche Regiment im Micro-
coſmus iſt aufgehoben, und die Parthieen deſſel-
ben, die den Geſang formiren, haben ſich von
der Seele unabhängig gemacht. Es ſind alſo
Handlungen im Menſchen möglich, die den
[368] Schein der Spontaneität haben, aber ohne Ge-
fühle und Vorſtellungen zu Stande kommen.
Im Seelenorgan und im ganzen Nervenſy-
ſtem tobt ein wilder Orgaſmus, der zum Hand-
len zwingt, um ſich ſeiner überſpannten Kraft,
die in jeder Faſer zittert, zu entladen. Daher
die beſtändige, angeſtrengte Thätigkeit des Kran-
ken, die Heftigkeit und haſtige Eile aller ſeiner
Handlungen. Er wirkt raſtloſs, wird aber nie
befriediget, weil er ohne alles Bewuſstſeyn eines
Zwecks, nach einem blinden Impuls handelt und
hat eben deswegen auch keinen Verdruſs und kei-
ne Zufriedenheit über den Erfolg ſeiner Handlun-
gen. Er wirkt fort, bis er vor Ermattung hin-
ſinkt und die drängenden Kräfte durch die An-
ſtrengung zerſtreut ſind, oder bis er ſich ſelbſt
durch die Gefahren, mit welchen er kämpft zer-
ſtört hat. Soviel von der Subjektivität der
Handlungen raſender Menſchen.
Die Handlung als ſolche, nach ihrer Objek-
tivität betrachtet, kann zerſtörend, pro-
duktiv, oder gleichgültig ſeyn. Meiſtens
iſt ſie zerſtörend, ſelten produktiv, weil dazu
Weile und Beſonnenheit gehört, die dem Raſen-
den fehlt. Zum Zerſtören treibt ihn ſchon ſein
innerer unbehaglicher Zuſtand, die ſtürmiſche Eile
und die natürliche Anlage des Menſchen zur
Grauſamkeit, die zwar durch Vernunft, Kultur
und Auſsenverhältniſſe maskirt werden kann,
aber im Zuſtande der beſchränkten Vernunft und
des
[369] des Mangels an Beſonnenheit wieder in ihre na-
türliche Verhältniſſe tritt. Der Raſende zerſtört
alſo in der Regel, aber ohne Zweck. Daher iſt
auch ſein innerer blinder Drang nicht bloſs auf
Mordluſt beſchränkt, ſondern er zerſtört todte
und lebendige Weſen. Er zerreiſst ſeine Kleider
und Betten, zerſchlägt die Fenſter und zertrüm-
mert die Geräthe ſeines Zimmers. Daſs er or-
ganiſche Weſen und unter dieſen die Menſchen
am häufigſten zerſtört, mag wahrſcheinlich von
der dunklen Vorſtellung herrühren, daſs ſie nur
Urſachen von Quaalen, und Hinderniſſe von
Zwecken ſeyn können, gegen welche der Zorn
ſich mit Grund empören könne. Doch zuweilen
äuſsert ſich die Raſerey auch durch wilde und
unzuſammenhängende Ausbrüche eines joviali-
ſchen Muthwillens; oft ſind die Handlungen in
Rückſicht ihres abſoluten Gehalts gleichgültig.
Der Kranke lacht heftig und ohne alle Veranlaſ-
ſung, ſchreit, heult, brüllt, ſpringt, läuft, wälzt
ſich auf der Erde, in ſeinem eignen Koth, macht
die ſonderbarſten Geſtikulationen, ſchüttelt die
Kette ohne Nachlaſs. Einige weigern ſich hart-
näckig zu eſſen und zu trinken, andere ſchlingen
alles begierig hinter, was ihnen vorkommt, ſelbſt
ihren eigenen Koth *).
A a
[370]
Weil ſeine Handlungen bloſs im Gefolge ei-
nes blinden Drangs und ohne Leitung des Vor-
ſtellungsvermögens entſtehn, ſo haben ſie auch
kein fixes und haltbares Object. Der Kranke
wirkt ohne Unterſchied auf alles, was der Zufall
oder der Unverſtand der Menſchen ihm ent-
gegenführt. Beiſpiele, daſs Raſende ſich das
Fleiſch mit den Zähnen von ihren eigenen Glie-
dern abgenagt haben, ſind oben *) angeführt.
Davon kann weder das Gefühls- noch das Vor-
ſtellungsvermögen Urſache ſeyn. Ich ſah einen
Kranken, der wie ein toller Hund in ſeinen
Schemmel biſs, und ihn ſolang zuſammenſtieſs,
bis er ihn zerſtört hatte. Er mordet ſich und an-
dere, Bekannte und Unbekannte, unſchuldige
Kinder und Menſchen, die ſeine Feinde waren.
Daher die Erfahrungen, daſs Raſende, beſon-
ders in der Waſſerſcheu, ihre Verwandte vor dem
Anfall, ſelbſt anmahnen ſie zu binden, weil in
dem Anfall die Ueberlegung aufhört, der blinde
*)
[371] Drang eintritt, der Freund und Feind nicht unter-
ſcheiden kann.
Das Vorſtellungsvermögen kann auf ver-
ſchiedene Art, urſprünglich oder ſecundair mit-
leiden. Dem Blödſinn, der Narrheit und dem
fixen Wahn kann ſich Tobſucht zugeſellen, wo
dann der concrete Krankheitsfall aus einem Ge-
miſche dieſer und jener Krankheiten beſteht.
Daher ſind die raſenden Handlungen urſprünglich
melancholiſcher Menſchen bald Produkte ihrer
fixen Ideen, bald Symptome einer mitvorhandnen
Tobſucht. Allein das Vorſtellungsvermögen iſt
auſserdem noch bey der Raſerey, ſofern in der-
ſelben das ganze Nervenſyſtem leidet, mit afficirt.
Doch ſteht in beiden Fällen ſein Zuſtand für ſich,
und iſt nicht Urſache der Wuth. Es leidet in
tranſitoriſchen Paroxiſmen, die mit denen der
Tobſucht gleichzeitig ſind. Unmittelbar zur Zeit,
wo die Tobſucht in ſeinen heftigſten Anfällen ob-
waltet, ſcheint das Vorſtellungsvermögen entweder
an einer ſchnellen Flucht der Ideen oder an
einer Catalepſie zu leiden, durch welche die
Freiheit des Willens beſchränkt und gleichſam
auſser Verbindung mit den Vorſtellungen geſetzt iſt.
In dem letzten Zuſtand befindet ſich der Raſende,
der an der ſogenannten ſtillen Wuth leidet, oder
raſtloſs ſeine Ketten ſchüttelt. In dem erſten Fall
brauſt ein loderndes Feuer in der Phantaſie, iſolirte
und loſsgebundene Vorſtellungen drängen ſich zu
und fliehn pfeilſchnell vorüber, daſs die Aufmerk-
A a 2
[372] ſamkeit ſie nicht feſthalten, der Wille ſie nicht zü-
geln, das Aſſociationsvermögen ſie in keine Ver-
bindung bringen und das Gedächtniſs ſie nicht
reproduciren kann. Es entſtehn Verſpätungen
der Handlungen, weil der Wille und das Vermö-
gen zu handlen nicht nachkommen, ſondern erſt
von dem Stoſse einer Idee wirken, wenn dieſelbe
längſt durch eine andere verdrängt und im Ge-
dächtniſs erloſchen iſt. Daher das wilde und
zügelloſe Aufbrauſen und der blinde Trieb zu
eben ſo momentanen, iſolirten, unzuſammenhän-
genden, gleichſam convulſiviſchen Handlungen,
die in dem Augenblick, wo ſie geſchehen, ohne
Vorſtellung eines Zwecks geſchehen. Der Kran-
ke iſt ohne Beſonnenheit, Aufmerkſamkeit und
Urtheilskraft, weil dazu eine Weile erfordert
wird, die ihm fehlt; er nimmt keine oder höch-
ſtens nur ſolche Eindrücke von Dingen wahr, die
ihm als Hinderniſſe in dem Drang zum Handeln
erſcheinen. In den milderen Graden wählt er
zuweilen Mittel zur Erreichung eines Zwecks
mit Ueberlegung, z. B. die Mittel zur Ausfüh-
rung eines Mordes, aber die Handlung ſelbſt iſt
ohne Bewuſstſeyn eines Zwecks. In gewiſſen
Fällen kann er gar den Schein der Ruhe anneh-
men, wenn die äuſseren Umſtände der Befrie-
digung ſeines inneren blinden Drangs ungünſtig
ſind, er kann ſich verſtellen, zur Liſt ſeine Zu-
flucht nehmen, um ſich und andern zu ſchaden,
wenn er ein äuſseres Hinderniſs zu bemerken
ſcheint. Allein lange hält dieſer Zuſtand der
[373] ſcheinbaren Ruhe nicht aus. Er fällt die Umſte-
henden an, wenn ſie nicht auf ihrer Huth ſind.
So kann auch äuſsere Furcht den Zornigen, die
ſeinem wilden Drang ein Gegengewicht hält, auf
einen Augenblick in Schranken halten. Wir fin-
den daher bald eine partielle, bald eine allgemeine,
bald gar keine Verkehrtheit in den verſchiednen
Funktionen des Vorſtellungsvermögens. In den
meiſten Fällen ſind ſie nicht eigentlich verkehrt,
ſondern vielmehr durch den Zuſtand der Tobſucht
unterdrückt und aufgehoben. In der Wuth ohne
Verkehrtheit iſt die Seele bis auf einen blinden
Impuls zu gewaltſamen Handlungen geſund, der
an die Stelle des freien Willens getreten iſt. In
den Intervallen des Nachlaſſes und der Ermattung
iſt das Vorſtellungsvermögen entweder geſund,
oder mehr oder weniger verletzt. Daher kann ich
auch, wie Chiarugi*) will, weder allgemeine
noch partielle Verkehrtheit als Charakter der
Tobſucht gelten laſſen. Denn geſetzt auch, der
Kranke faſelte in den Intervallen, ſo gehört die-
ſer Zuſtand nicht zur Tobſucht, ſondern zu ande-
ren Arten der Geiſteszerrüttungen.
Die Sitten des Kranken ſind aufs ſonderbar-
ſte verändert; das züchtige Weib ſtöſst Zoten aus,
entblöſst ſich, die ſanfte Schöne wird eine wü-
thende Megäre, der furchtſame Hypochondriſt
ein kühner Wüthrig, weil er ohne Bewuſstſeyn
[374] von Gefahren handelt. Doch bleibt einiges Be-
wuſstſeyn äuſserer Umſtände. Ein Mann von Po-
ſitur und Stimme, ein Soldat mit Stock und Degen,
ein Anmarſch der Officianten in Maſſe, ſetzt ihn in
einen kindiſchen Schreck, und treibt ihn augen-
blicklich zu Paaren. Allein auch in dieſem Fall
muſs man auf der Huth ſeyn, weil er ſich verſtellen
und die Gelegenheit abſehen kann, ſeine Wärter
heimlich zu überfallen. Selbſt in den freien In-
tervallen darf man ihm nicht trauen. Perfect*)
erzählt einen hieher gehörigen ſchauderhaften
Fall. Eine vornehme Mutter beſuchte ihren Sohn
im Tollhauſe, fand ihn ruhig und vernünftig,
und lieſs ihn loſs. Es vergingen einige Wochen
ohne Spuren von Wahnſinn. Allein an einem
Morgen ſtand er früher als gewöhnlich auf,
ſchwärmte raſend herum, kam naſs und ſchmutzig
zu Hauſe, ſetzte ſich zu ſeiner Mutter und ergriff,
als dieſe ihm Vorwürfe machte, die Feuerzange
aus dem Kamin und erſchlug ſie. Nach der That
blieb er ruhig, entfloh nicht, äuſserte auch keine
Reue über ſeine That.
Die Abſonderungen des Harns und der Trans-
ſpiration ſind gering, der Puls hart und krampf-
haft, die Empfänglichkeit für Kälte, Hunger,
Arzneien meiſtens vermindert. Einige Tobſüch-
tige ſollen vielen Trieb zur Wolluſt haben.
Die Krankheit iſt acuter oder chroniſcher
Natur. Dies in der Manie, jenes in der Phre-
[375] neſie. In ihrem chroniſchen Zuſtande hat ſie einen
remittirenden oder intermittirenden Typus, weil
die Organiſation dergleichen gewaltſame Anſtren-
gungen nicht lange und ununterbrochen aushält.
Sie gleicht einem Erdbeben, das in Stöſsen wirkt.
Selbſt in der Phreneſie giebt es kurze und perio-
diſche Stürme. Die Anfälle kommen gewöhnlich
zu unbeſtimmten Zeiten, entweder durch innere
und eigenmächtige Steigerungen der Erregbarkeit
oder durch äuſsere zufällige Urſachen. Der
Kranke wird ſtill, ſchlafloſs, iſt wild, da er ſonſt
gelaſſen; frech, da er ſonſt züchtig; unerträglich
geſchwätzig, da er ſonſt beſcheiden war. Durch
dieſe Vorboten kündiget ſich der herannahende
Anfall an. Iſt der Kranke neben ſeiner Tobſucht
auch noch verkehrt, ſo kann die Raſerey aufhö-
ren, aber die Verkehrtheit bleibt in den Inter-
vallen zurück. Die einzelnen Paroxiſmen und
der Inbegriff aller ſteigen und fallen. Endlich
hat die Tobſucht verſchiedene Grade. In einem
gelindern Grade ſpricht der Kranke viel, mit
Heftigkeit und meiſtens nur über einen Gegen-
ſtand. Er murmelt in Geſellſchaften, als wenn
er allein wäre; ſpricht laut und geſtikulirt, wenn
er allein iſt, als wenn er Jemanden bey ſich hätte.
Er geht ohne Plan haſtig herum, wenn er frey,
oder macht ſich alle Bewegungen, die ihm mög-
lich ſind, wenn er gehemmt iſt. Er geht weder
ſich noch anderen gefährlicherweiſe zu Leibe,
wenn er nicht in ſeinen Unternehmungen gehin-
[376] dert wird. In einem höheren Grade ſpricht er
nicht, ſondern ſchreit fürchterlich, bewegt ſich
aufs heftigſte, wenn er angeſchloſſen iſt, und
ſucht ſich und andere zu tödten. Doch hat er
noch einiges Bewuſstſeyn ſeiner Handlungen und
ihres Werths. Endlich befindet ſich der Kranke
in dem höchſten Zuſtand der ſtillen Wuth,
ſpricht und ſchreit nicht, ſteht ſtill, murmelt
und knirſcht mit den Zähnen. Seine Muskeln
ſind gleichſam wie vom Starrkrampf befallen, er
iſt ohne Schlaf. In dieſer kataleptiſchen Dumpf-
heit mordet er jeden, der ihm in Weg tritt, ohne
Zweck, und weiſs nach dem Morde nicht, was
er gethan hat. Dieſer Zuſtand der heftigen Ex-
altation kann nicht lange dauren, und geht in
eine leichtere Raſerey, in Blödſinn, oder in den
Tod über.
Die Krankheit iſt einfach, in der Wuth
ohne Verkehrtheit; oder zuſammengeſetzt, wenn
ſie mit einem allgemeinen oder partiellen Wahn-
ſinn, mit Narrheit, Blödſinn oder mit einem Ge-
fäſsfieber, z. B. in der Phreneſie, verbunden iſt.
Nach dieſer Schilderung der Phänomene der
Tobſucht kann ich ſie nicht für eine pſychiſche,
ſondern muſs ſie vielmehr für eine körperliche
Krankheit halten. Sie iſt nicht, wie Boer-
haave*) will, ein höherer Grad der Melan-
cholie, ſondern eine eigne, ſpecifiſch von ihr
[377] verſchiedene Krankheit. Der Melancholiſche
handelt abſurd im Gefolge kranker Vorſtellungen,
der Tobſüchtige im Gefolge eines blinden Im-
pulſes. Beide können zerſtören, wüthen und
morden, aber aus verſchiedenen Bewegurſachen,
dieſer wie ein Automat, jener nach Zwecken.
Auch iſt eine innere Angſt nicht Urſache der
Tobſucht. Sie mag dieſelbe oft begleiten, aber
nicht immer. Die jovialiſche Tobſucht iſt ohne
Angſt. In der Bruſtwaſſerſucht, Pneumonie und
verſchiednen anderen Krankheiten finden wir ei-
nen weit gröſseren Grad von Angſt, ohne Tob-
ſucht. Auch würde das Object der Angſt kör-
perlich ſeyn, und die Verknüpfung ihrer Vor-
ſtellung in der Seele mit der Tobſucht keinen
verſtändigen Sinn haben. Herr Hoffbauer*)
ſcheint zwar entgegengeſetzter Meinung zu ſeyn,
und die Krankheit, von welcher Tobſucht das
Phänomen iſt, nicht ſowohl im Körper als viel-
mehr in der Seele zu ſuchen. Er beruft ſich auf
das Beiſpiel eines Zornigen. Allein gerade dies
Beiſpiel möchte ich ihm entgegenſtellen. Denn
daſs bey dieſer Leidenſchaft der Körper eine
ſichtbare Veränderung erleide, lehren alle Sym-
ptome des Zorns. Ich habe es oft geſehn, daſs
wenn Hunde und Katzen zum Zorn und zur
Wuth gereizt wurden, in einem Augenblick der
ſchwarze Hintergrund ihrer Augen eine grünlich-
[378] leuchtende Farbe und gleichſam einen phospho-
riſchen Schein bekam. Der Zornige handelt nicht
nach Vorſtellungen, ſondern nach einem blinden
Drang, dem die Vernunft nicht mehr widerſtehen
kann. Ein Kranker, der an Satyriaſis leidet,
handelt abſurd, obgleich ſeine Urtheilskraft rich-
tig wirken und ihm die Gefahren der Ausſchwei-
fung klarer vorhalten mag, als dem Hageſtolzen
die ſeinige, den ſchon ein Fieberfroſt überfällt,
wenn er mit einem Mädchen in einer Stube allein
iſt. Höchſtens wird das Vorſtellungsvermögen
Diener des Triebes, da es Erreger und Führer
deſſelben ſeyn ſollte. Auch darf man, wie Herr
Hoffbauer*) es zu thun ſcheint, wenn von der
zureichenden Urſach der Tobſucht die Rede iſt,
es nicht verwechſeln, ob die Wuth Product des
kranken Vorſtellungsvermögens iſt, oder daſſelbe
ihrer Gewalt weichen muſs. Denn in dem letzten
Fall iſt die Wuth ſchon geſetzt, bevor die freie
Wirkſamkeit der Vernunft beſchränkt wird. Dies
kann alſo nicht Urſache von jener ſeyn, ſondern
es betrifft bloſs ein Verhältniſs der Vorſtellungs-
kraft zur Wuth. Ich halte daher die Krankheit
für ganz körperlich; mag aber nichts darüber
ausſagen, welcher Natur ſie ſey. Die tobenden
Leidenſchaften und beſonders der Zorn mögen
ihr wol ſehr nahe liegen. Zuverläſſig iſt die Er-
regbarkeit des ganzen Nervenſyſtems bis auf den
[379] äuſserſten Grad geſpannt, die Polaritäten deſſelben
können verrückt, der elektriſche Lebensſtrom
mag ſeiner Feſſeln entbunden, in einem beſondren
Wogen begriffen und das Spiel der Erregungsmit-
tel mit der Erregbarkeit in Disharmonie gerathen
ſeyn. Von dieſem Orgaſmus überzeugen uns alle
Phänomene raſender Perſonen, ihre wilde und aus-
drucksvolle Phyſiognomie, das funkelnde Auge,
welches dem Verderben droht, auf welchem es ruht,
die pfeilſchnelle Flucht ihrer Vorſtellungen, daſs
keine Worte ſie faſſen können, ihre kühnen und
kraftvollen Handlungen, ihr wildes Schreien,
ihre Gewaltthätigkeit gegen ſich und andere, ihre
ununterbrochene Unruhe, die enorme Kraft der
Muskeln, die Ketten bricht und Löwen würgt.
Hoffmann*) erwähnt eines Tobſüchtigen, der
wenig Licht, keine lebhaften Farben, und nur
einen ſchwachen Schall vertragen konnte, ja ſo-
gar zuletzt von jedem ſtarken Geruch und Ge-
ſchmack in ein Irrereden verfiel. Wie höchſt
reizbar muſs nicht deſſen Gehirn geweſen ſeyn!
In dem nemlichen Grade ſind auch die Vegeta-
tionsproceſſe in demſelben vermehrt. Die Augen
ſind roth und feurig, der Kopf iſt heiſs, die
Halsadern ſchlagen heftig. Daher müſſen auch
dieſe Kranke, wenigſtens in der Folge, zurei-
chende Nahrung bekommen, weil ſonſt ihre
Tobſucht zunimmt, in Blödſinn und Tod über-
[380] geht. Durch eben dieſen Wechſel des Stoffs wird
zuletzt die Markſubſtanz ſichtbar verändert, leich-
ter, härter, auf der Oberfläche mit einem aus-
geſchwitzten Eiweiſsſtoff überzogen, welches Un-
heilbarkeit, Blödſinn und den Tod nach ſich
zieht. Vielleicht hätten nähere Unterſuchungen
des Körperzuſtandes raſender Perſonen, ihrer
Abgänge, der Wärme und ihrer Vertheilung, des
Standes der Erregbarkeit durch ein galvaniſches
Bioſcop daurendere Reſultate abgeworfen, als die
mit ihnen angeſtellten Phosphorkuren, die nur
zu ſchnell in ihrem eigenen Lichte erſtickt ſind.
Die Urſachen der Tobſucht ſind verſchie-
den. Mittleres Alter, männliches Geſchlecht,
magerer Körper, choleriſches Temperament, hef-
tiger und leidenſchaftlicher Charakter, heiſses
Klima und eine vorhandene Melancholie fördern
ihre Entſtehung. Schwangerſchaft, Geburt, hef-
tige Anſtrengungen des Seelenorgans, Zorn,
Aerger, Schwächungen durch Ausleerungen,
Onanie, Gefäſsfieber, Anomalien der Menſtrua-
tion und Hämorrhoiden erregen ſie wirklich.
Merkwürdig iſt es, daſs dieſe Urſachen, mehr
Beziehung auf den Körper, als auf die Seele ha-
ben. So erregen auch alle Pflanzengifte, die
den Geiſt zerrütten, faſt durchaus Raſerey.
Doch dies übergehe ich und erwähne bloſs noch
einer Beobachtung des Chiarugi*), daſs
ein mit Kochſalz verſetzter Wein Tobſucht errege.
[381] Selbſt der mäſsige Genuſs deſſelben ſoll ſie in
kurzer Zeit hervorbringen.
Die Kur der Tobſucht bedarf noch ei-
ner groſsen Läuterung. Viele Beobachtungen
über dieſelbe ſind unbrauchbar, weil ſie ſich auf
kein haltbares Object, ſondern bald auf die wahre
Raſerey, bald auf jede andere Geiſteszerrüttung
beziehn, die mit heftigen Handlungen verbunden
war. In der Phreneſie entſcheidet ſie ſich, als
akute Krankheit, durch ſich ſelbſt, zur Gene-
ſung oder zum Tode, oder ſie geht in eine andere
Krankheit über. In der chroniſchen Tobſucht
kommt es vorzüglich darauf an, die Geneigtheit
zur Wiederkehr der Paroxiſmen zu heben. Sie
ähnelt in dieſer Rückſicht den akuten und chro-
niſchen Fallſuchten. Zuvörderſt muſs man ihre
entfernten Urſachen wegräumen, dann die er-
höhte Erregbarkeit direct zu dämpfen ſuchen,
und endlich, in der chroniſchen Tobſucht, die
Geneigtheit zur Wiederkehr der Paroxiſmen he-
ben. Dazu, und beſonders zur Ausführung der
erſten und letzten Kurregel ſcheinen nicht ſowohl
pſychiſche Mittel, als vorzüglich Arzneien geeig-
net zu ſeyn. Doch gehn dieſe mich nichts an.
Ich habe bloſs von dem Gebrauch der pſychiſchen
Mittel und zwar von ihrem direkten Gebrauch,
wider die Raſerey ſelbſt, zu ſprechen, ſo fern
ſie vorzüglich nur für dieſen Fall zu paſſen ſchei-
nen. Zu dieſem Behuf muſs man in der Regel
der im Inneren vorhandenen Erregung
[382] freien Spielraum laſſen, damit ſie ſich
auf die ihr natürlichſte Art äuſsern
könne, aber ſich hüten, die irritablen
Theile durch heterogene Reize zu ei-
ner gezwungenen Thätigkeit zu nöthi-
gen. Das Detail wird den Sinn dieſer Vor-
ſchrift näher erläutern.
Alle Reize, die das Nervenſyſtem und die
beſonderen Funktionen deſſelben, Gemeingefühl,
äuſseren und inneren Sinn heftig afficiren, ſind
meiſtentheils nachtheilig. Sie haben zu wenig
Harmonie mit der Natur ſeiner erhöhten Erreg-
barkeit und vermehren daher den Tumult deſſel-
ben. Wir müſſen deswegen alle Eindrücke, die
das Gemeingefühl heftig und beſonders die es un-
angenehm erregen, die ſtarke Empfindungen und
Schmerzen veranlaſſen, entfernen. Die Diät muſs
milde ſeyn; Gewürze, Wein, andere geiſtige Ge-
tränke und überhaupt alle reizenden Speiſen ſind
in der Regel und im Anfang der Krankheit nach-
theilig. Starke Gerüche und ein lärmendes Ge-
räuſch ſchaden. Daher das Zweckwidrige in der
Einrichtung der meiſten Tollhäuſer, wo Koben
an Koben ſtöſst und dieſe grauſenden Gaſſen über-
all von dem Geraſſel der Ketten dumpf wieder-
hallen. Die Zimmer der Raſenden müſſen we-
nig erleuchtet, meiſtens finſter, ohne auffallende
Decorationen und Meublen ſeyn *). Beſonders
[383] reizbar iſt der innere Sinn; daher hüte man ſich
durch Fehler in der Wartung und Pflege, durch
eine rauhe Behandlung, durch Erregung der Lei-
denſchaften, beſonders des Zorns, den Kranken
aufzubringen. Man behandle ihn ſanft, doch
mit Ernſt, gebe ſeinen Wünſchen nach, wo es
möglich iſt und der Widerſpruch ihn empört.
Doch gilt dieſe Regel, alle Reize von dem ge-
ſpannten Nervenſyſtem zu entfernen, nicht un-
bedingt. Zuweilen hat daſſelbe einer Erregung
und beſonders einer ſolchen nöthig, die der Qua-
lität ſeiner Erregbarkeit entſpricht. Eine ſanfte
Manipulation der Haut, eine Muſik, die mit ſei-
nen Gehirnſchwingungen einerley Ton hat, beru-
higet zuweilen. Asclepiades will, daſs die
Kranken Licht bekommen ſollen. Allein Cel-
ſus*) bemerkt mit Recht, daſs einige in einem
hellen, andere in einem finſteren Zimmer ruhiger
ſind und räth daher, die Behandlung nach dem
Erfolg zu beſtimmen.
Daher muſs man der geſpannten Erregbar-
keit freien Spielraum laſſen, damit ſie ſich auf die
ihr natürlichſte Art äuſsern könne. Der entſtan-
dene Anfall entſcheidet ſich ſelbſt durch den Ex-
ceſs der Thätigkeit und zerſtreut die Congeſtio-
nen des Lebensprincips im Seelenorgan, wie ein
*)
[384] epileptiſcher Paroxiſmus durch ſeine Convulſio-
nen ſein Ende bewirkt. Man laſſe den Kranken
auf einem freien Platz laufen, ſchreien, toben und
zähme ihn nur in ſo weit, als es ſeine eigene und
anderer Sicherheit erfordert. Daher die falſche
Maxime, gerade die Tollen in Koben zu ſperren
und an Ketten zu legen. In manchen Fällen kann
es gar dienlich ſeyn, ſie durch äuſsere ſcheinbar
zufällige Urſachen zu heftigen Anſtrengungen, z.
B. zu einem ermüdenden Laufen, zum Ringen und
Kämpfen zu nöthigen. Sollten ſie dieſer Freiheit
nicht fähig ſeyn, ſo ſperre man ſie in ein hohles
Rad oder in eine Kugel ein, die nach allen Sei-
ten beweglich iſt, in welchen ſie nirgends ein
Hinderniſs, aber auch nirgends feſten Fuſs fin-
den, ohne auf ein Object zu ſtoſsen, das ſie zum
Zorn reizen könnte.
Zuweilen kann man durch Erregung der
Furcht zweckmäſsig wirken. Doch müſſen die
Mittel dazu, nicht ſowohl die Phantaſie, durch
ſtarke und ſchreckende Eindrücke auf die Sinn-
organe, ſondern vielmehr das Gefühl direct afſi-
ciren. Daher Feuerbrände und magiſche Erſchei-
nungen eher, als das unvermuthete Stürzen ins
Waſſer, ihres Zwecks verfehlen werden. Des
Flaſchenzuges, durch welchen ein Raſender in
ein hohes Gewölbe aufgezogen und dadurch ge-
bändigt wurde, habe ich oben ſchon erwähnt.
Das Stürzen ins Waſſer wird auf verſchiedene Art
angebracht; man wirft den Kranken von einer
Fähre in den Strom, oder er fällt durch eine
Fall-
[385] Fallthür in ein tiefes Plongirbad. Nach Swie-
ten und Boerhaave*) ſoll man den Kranken
ſolang untertauchen, bis eine Asphyxie erfolgt.
Freilich kann dadurch die Temperatur der Erreg-
barkeit abgeändert werden, wenn man nur im
Stande wäre, das gehörige Maaſs richtig zu
treffen.
Allein mit dieſer Behandlungsart der Raſenden
collidirt nicht ſelten die Nothwendigkeit
ſie zu zähmen. Die meiſten Zähmungsmit-
tel bringen ſie entweder auf, oder hemmen die
Aeuſserungen ihrer Krankheit, durch welche ſie
ſich des Ueberfluſſes ihrer Kräfte entladen. Bei-
des iſt ſchädlich. Es gehört daher vorzüglich
zum Geſchäfft des pſychiſchen Arztes, ſolche
Zähmungen zu erfinden, die dies entweder gar
nicht oder am wenigſten thun. Das Binden,
die Zwangsweſten, das Einſperren in Tollkoben
und das Anſchlieſsen an Ketten iſt meiſtens
zweckwidrig, beſonders ſolang als man noch
Hoffnung hat, den Kranken zu heilen. Für un-
heilbare Raſende in den Aufbewahrungsanſtalten
müſſen noch eigene Mittel erfunden werden.
Die Zähmungen haben keinen andern Zweck, als
daſs der Kranke ſich und andern nicht ſchade.
Ueber denſelben dürfen ſie alſo auch nicht hin-
ausgehn. Meiſtens iſt ein freier Platz oder ein
bewegliches Rad zureichend. In böſen Fällen
legt man ihm eine Zwangsweſte an, oder einen
B b
[386] Gurt um den Leib, welcher hinten einen Ring
hat, der an einen feſten Gegenſtand angehängt
werden kann. Ueberfällt den Kranken plötzlich
ein Anfall ſeiner Wuth, wenn er in Freiheit iſt,
ſo bediene man ſich des Halbzirkels *), einer
Rüſtung, durch welche man vor Verletzungen
deſſelben geſichert iſt, oder man laſſe die Dienſt-
leute in Maſſe anrücken. Der Aufſeher geht un-
bewaffnet voran, gebietet mit drohender Miene
und donnernder Stimme, und indem dadurch der
Raſende auf einen Punkt geheftet und gleichfam
auſser Faſſung gebracht iſt, greifen die Dienſt-
leute zu und bemächtigen ſich ſeiner. Ein junger
Menſch, der mehrere Monate ruhig geweſen war,
wurde plötzlich von einem Anfall ſeiner Raſerey
befallen. Er ſchlich ſich in die Küche und nahm
das Inſtrument zum Hacken der Kräuter weg.
Den vorhandenen Leuten, die ihn entwaffnen
wollten, widerſetzte er ſich, ſprang auf einen
Tiſch und drohte, jedem den Kopf einzuſchlagen,
der ſich ihm nähern würde. Die Puſſin nahm
auf der Stelle folgende Wendung: ſie ſchalt die
Leute, daſs ſie den Kranken hindern wollten,
mit ihr zu arbeiten, redete ihm ſanft zu, zu ihr
zu kommen, damit ſie ihm zeigen könne, wie
er ſein Inſtrument gebrauchen müſſe. In dieſem
Augenblick griffen die Leute zu, entwaffneten
ihn, und brachten ihn in Verwahrung **). Züch-
[387] tigungen paſſen meiſtens nicht für Raſende, höch-
ſtens nur für ſolche, die noch einige Beſonnen-
heit haben, boshaft ſind, Ruhe affektiren, um
nachher heimlich zu ſchaden. Durchgehends ſind
die Zwangsweſte, das Einſperren, Hunger, oder
einige Streiche mit dem Ochſenziemer, die nach
einem förmlichen Urtheilsſpruch von einer frem-
den Perſon mitgetheilt werden, zureichend, die
Kranken bald zahm zu machen. In den Inter-
vallen halte man ſie zur Arbeit an, gewöhne ſie
an eine ſtrenge Ordnung und präge ihnen das Ge-
fühl der Nothwendigkeit ein, wodurch ſie in den
folgenden Ausbrüchen leichter zu behandlen wer-
den. Was darüber iſt, jede zweckloſe und kalte
Barbarey, iſt vom Uebel und ſollte durch Publi-
cität der öffentlichen Schande Preiſs gegeben
werden.
In wiefern die Urſachen der Raſerey, und die
Geneigtheit des Körpers, ihre Paroxiſmen zu
wiederholen, durch pſychiſche Mittel gehoben
werden können, laſſe ich dahingeſtellt ſeyn.
Wuth ohne Verkehrtheit.
Dieſer Zuſtand iſt einfache Tobſucht, in ih-
rer reinſten Geſtalt, ohne alle fremden Zuſätze.
Alle Seelenkräfte, das Wahrnehmungsvermögen,
die Einbildungskraft und der Verſtand ſind in ih-
ren Aeuſserungen geſund, bloſs einige Handlungen
ſind abnorm, weil das Vorſtellungsvermögen ſie
nicht, weder nach ſinnlichen noch verſtändigen
B b 2
[388] Zwecken, ſondern weil ein innerer blinder und or-
ganiſcher Drang ſie beſtimmt. Der Kranke übt als
Automat Grauſamkeiten aus, ohne daſs Vorſtel-
lungen der Luſt oder Unluſt, fixe Ideen oder Täu-
ſchungen der Einbildungskraft ihn dazu leiteten.
Seine Vernunft und ſein Handlungsvermögen ha-
ben ihre Verhältniſſe gegen einander umgetauſcht;
jene iſt in Kampf gegen dies gerathen oder gar
Subaltern deſſelben geworden, ſtatt daſs ſie es
beſtimmen ſollte. Sie kämpft mit dem wilden
Inſtinct zu blutdürſtigen Handlungen, ohne ihr
Herrſcherrecht behaupten zu können, ja ſie wird
ſogar genöthiget, die raffinirteſten Mittel zur Ge-
nügung des blinden Drangs aufzuſuchen. Der
Kranke wählt, weil ſein Verſtand nicht verkehrt
iſt, planmäſsig und mit Ueberlegung die Mittel
zur Ausführung ſeines Vorhabens, Waffen, Ort
und Zeit und mordet nun eine beſtimmte Perſon
oder jeden Menſchen, der ihm in dem Anfall der
Wuth vorkommt. Daher ſind auch einige dieſer
Kranken es ſich bewuſst, an welcher Krankheit
ſie leiden, wodurch ſie ſich von allen andern Ver-
rückten unterſcheiden. Sie fühlen die Annähe-
rung des Anfalls, warnen ihre Freunde in dem-
ſelben ſich für ſie zu hüten, dringen gar auf ihre
Einſperrung, kündigen die Abnahme und das
Ende ihrer wilden Triebe an und erinnern ſich
derſelben in dem Intervall der Apyrexie. Ja
dies Bewuſstſeyn ihrer traurigen Krankheit kann
ſie ſogar ſo ſehr ängſtigen, daſs ſie darüber in
[389] Wahnſinn verfallen. Merkwürdig iſt dieſe Krank-
heit noch für den gerichtlichen Arzt und für den
Criminalrichter. Wie ſollen Handlungen, die
aus ihr hervorgehn, zugerechnet werden?
Meiſtens fängt der Anfall mit allerhand
körperlichen Phänomenen an. Es entſteht ein
Gefühl brennender Hitze im Unterleibe, groſser
Durſt, verſchloſſener Leib. Die Hitze ſteigt
aufwärts zur Bruſt, zum Halſe und Kopf, das
Geſicht wird roth, die Schlagadern des Halſes
und der Schläfe pulſiren heftig. Endlich dehnt
ſich dieſer Proceſs bis zum Gehirn aus, und
in dieſem Augenblick entſteht der blinde und
unwiderſtehliche Drang zum Morden, wie die
Fallſucht erfolgt, wenn ihre vorlaufende Aura
das Gehirn erreicht hat. Die Krankheit iſt
anhaltend, doch meiſtens periodiſch. Die An-
fälle kehren zu verſchiednen Zeiten bald frü-
her bald ſpäter wieder. Pinel*) ſahe Zwiſchen-
zeiten der Ruhe von achtzehn Monaten mit An-
fällen, die ſechs Monate dauerten, und dieſer
Typus war ſo beſtändig, daſs er bis zum Tode
anhielt. Ein anderer dieſer Kranken war das
ganze Jahr hindurch geſund bis auf funfzehn
Tage, wo dieſe blinde Raſerey ihn zu ſeiner eig-
nen Zerſtörung antrieb **). Allen dieſen Kran-
ken war ein trübſinniger Charakter und eine
[390] auſserordentliche Neigung zum Zorn über Klei-
nigkeiten eigen.
Noch einige Beiſpiele dieſer Krankheit. Ein
Wahnſinniger, ſagt Pinel*), blieb gegen acht
Jahre in der engſten Verwahrung; er warf ſich
ſtets herum, ſchrie, drohete und riſs alles in
Stücke, wenn ſeine Arme frey waren, ohne den
mindeſten Fehler in ſeinen Einbildungen, Wahr-
nehmungen, Urtheilen und Schlüſſen zu verra-
then. Ein anderer Menſch, der in der Erziehung
von ſeiner Mutter vernachläſſiget und gewohnt
war, allen ſeinen Launen ohne Zügel der Ver-
nunft zu folgen, griff jeden mit Tollkühnheit an,
der ſich ihm entgegenſtellte. Ein Thier, das
ihm Verdruſs machte, einen Hund, Schaaf oder
Pferd tödtete er augenblicklich. In Verſamm-
lungen gab und empfing er Schläge, und ging
gewöhnlich blutig davon. Zur Zeit der Ruhe
war er vernünftig, erfüllte alle geſellſchaftlichen
Pflichten, und zeichnete ſich gar durch Werke
der Wohlthätigkeit gegen Unglückliche aus.
Doch endlich machte eine unbeſonnene Handlung
ſeinen Gewaltthätigkeiten ein Ende. Er warf
nemlich eine Frau, mit der er ſich erzürnte, in
einen Brunnen. Zur Strafe wurde er nach Ur-
theil und Recht für ſeine tollen Streiche zu einer
ewigen Einſperrung in Bicêtre verurtheilt **). Ich
[391] habe kürzlich einen ähnlichen Fall geſehen. Ein
geſunder und robuſter Bauer vom Lande, der den
vollen Gebrauch aller ſeiner Seelenkräfte hatte,
bekam in den letzten Jahren dann und wann ei-
nen blinden Drang, alle Menſchen mit Steinen
zu werfen. Dabey hatte er ein fortdaurendes
Brennen im Unterleibe. Er war von einem hef-
tigen Temperament; bey einem Dispüt über
gleichgültige Dinge griff er ſeinen Gegner augen-
blicklich an die Gurgel, und prügelte ihn durch.
Ich bekam ihn in mein Lazareth. Weder in
ſeinen Reden noch Handlungen war irgend eine
Verkehrtheit zu entdecken. Auf einmal ent-
wiſchte er heimlich, kam vernünftig zu Hauſe an,
ſpielte mit ſeinen Kameraden Karte, und als dieſe
fort waren, ſchickte er die Magd weg, und er-
mordete mit Ueberlegung ſeine Frau und alle
ſeine Kinder *). Ein Kranker, ſagt Pinel**),
fühlte anfangs eine brennende Hitze im Innern
des Unterleibes, dann in der Bruſt, und zuletzt
im Geſicht; die Wangen wurden roth, die Augen
funkelten, die Arterien und Venen des Kopfs
ſchwollen an, und dieſe nervöſen Affektionen
theilten ſich dem Gehirn mit. Hierauf trat ein
plötzlicher Anfall einer tollen Wuth ein, welche
ihn unwiderſtehlich antrieb, ſich irgend einer
Angriffswaffe zu bemächtigen, um das Blut des
[392] erſten beſten, der ihm unter die Augen kommen
würde, zu vergieſsen. Seiner Ausſage nach hatte
er einen beſtändigen inneren Kampf zwiſchen dem
grauſamen Triebe des auf Zerſtörung gerichteten
Inſtincts und zwiſchen dem tiefen Abſcheu, wel-
chen ihm die Vorſtellung eines ſolchen Verbre-
chens einflöſste, zu beſtehen. Es war bey ihm
kein Zeichen einer Verletzung des Gedächtniſſes,
der Imagination oder der Urtheilskraft vorhan-
den. Auch geſtand er, daſs ſein Hang zum
Morden unwillkührlich ſey, daſs eines Tages
ſein Weib, die er zärtlich liebte, beinahe ein
Schlachtopfer deſſelben geworden wäre, und er
kaum ſo viel Zeit gehabt hätte, ſie an eine ſchleu-
nige Flucht zu erinnern. Welche Urſachen ſollte
ich haben, ſagte er einſtens, den Aufſeher unſe-
res Hoſpitals zu morden, der uns mit ſo vieler
Menſchlichkeit behandelt? Demohngeachtet treibt
es mich an, in dem Augenblick meiner Wuth
über ihn ſo, wie über jeden andern, herzufallen,
und ihm einen Dolch ins Herz zu ſtoſsen. Dieſer
unglückſelige Hang bringt mich zur Verzweif-
lung, und beſtimmt mich, mir lieber ſelbſt das
Leben zu nehmen, als dies Verbrechen an anderen
und unſchuldigen zu begehn. Wirklich hatte er
auch einige Verſuche gemacht, ſich ſelbſt zu
tödten. Als die Mörder, ſagt Pinel*), von der
in den Gefängniſſen verübten Metzeley zurück-
[393] kehrten, drangen ſie mit Gewalt in das Irrenhaus
zu Bicêtre, unter dem Vorwand, gewiſſe Opfer
der alten Tyranney zu befreyen, die man daſelbſt
als Wahnſinnige gefangen halte. Sie gingen von
Zelle zu Zelle; befragten die Eingeſperrten und
gingen weiter, wenn die Verrückung offenbar
war. Dann ſtieſsen ſie auf einen, der in Ketten
geſchloſſen lag, und durch ſeine Reden voll Sinn
und Vernunft, durch ſeine Klagen über eine em-
pörende Ungerechtigkeit ihre Aufmerkſamkeit
anzog, ſich darauf berief, daſs er nie ausſchwei-
fende Handlungen begangen habe, und ſie be-
ſchwor, Rächer der Unterdrückung und Befreier
der Unſchuld zu werden. In dem Augenblick
erhob ſich ein heftiges Murren gegen den Aufſe-
her, der ſich zu ſolchen Bedrückungen gebrau-
chen laſſe. Aller Säbel waren gegen ihn gerichtet.
Vergebens berief er ſich auf ſeine Erfahrung, daſs
es Kranke gebe, die nicht irre redeten, aber doch
wegen ihrer blinden Wuth zu fürchten wären.
Man antwortete ihm mit Schimpfreden, und ohne
den Muth ſeines Weibes, die ihn gleichſam mit
ihrem Körper bedeckte, wäre er durch die Waf-
fen dieſer Rotte gefallen. Der Kranke wurde
loſsgelaſſen, und im Triumph, unter wiederhol-
tem Freudengeſchrey: Es lebe die Republik!
fortgeführt. Allein noch in demſelben Augen-
blick ergriff den Kranken durch den Anblick ſo
vieler bewaffneter Menſchen und ihres lärmenden
Getöſes ſeine Wuth; er bemächtigte ſich des Sä-
[394] bels ſeines Nachbaren, haute rechts und links
um ſich herum, vergoſs Blut und hätte dies-
mal die beleidigte Menſchheit gerächt, wenn
man ſich ſeiner nicht ſchnell bemächtigt hätte.
Die barbariſche Horde führte ihn in ſeine Kam-
mer zurück, und muſste der Stimme der Gerech-
tigkeit und der Erfahrung nachgeben.
Noch führe ich einige kranke Gelüſte an, die
auch mit Mordluſt verbunden ſind und als ähnli-
che Zuſtände neben der Wuth ohne Verkehrtheit
ſtehen mögen. Beide ſind rein organiſchen Ur-
ſprungs, doch darin von einander verſchieden,
daſs jene Gelüſte die blutdürſtigen Handlungen
im Gefolge eines Zwecks, nemlich zu ihrer eig-
nen Befriedigung erregen, hier hingegen der
Trieb zum Handlen ſelbſt die Krankheit iſt.
Es hat bekanntermaſsen Menſchen gegeben, die,
bloſs aus Drang zum Genuſs des Menſchen-
fleiſches, Menſchen gemordet haben. Sauva-
ges*) erzählt von einer Frau, die einen ſo un-
widerſtehlichen Appetit auf die Schulter eines
Bäckers bekam, daſs ihr Mann genöthigt war,
von demſelben die Erlaubniſs zu erkaufen, daſs
ſeine Frau ſich mit ein Paar Biſſen von derſelben
ſättigen könne. Schrecklicher iſt der Fall aus
Langens Beobachtungen von einer Frau, die
während ihrer Schwangerſchaft einen ſo unwi-
derſtehlichen Appetit zum Fleiſch ihres Mannes
[395] bekam, daſs ſie ihn ermordete, und einen Theil
ſeines Fleiſches einſalzte, um es lange genieſsen
zu können.
Die Kur dieſer Krankheit ſcheint nicht ſo-
wohl pſychiſche, ſondern vielmehr körperliche
Heilmittel zu verlangen. Die Erregbarkeit der
Organiſation iſt verſtimmt, ihre normale Sympa-
thie in Verwirrung gerathen. Das Vorſtellungs-
vermögen iſt nicht verletzt, darf alſo auch nicht
rectificirt werden, der Kranke kennt und verab-
ſcheut ſeinen unnatürlichen Hang zur Grauſam-
keit, iſt aber nicht Herr über denſelben. Doch
mag vielleicht die pſychiſche Kurmethode nicht
ganz unbrauchbar ſeyn. Man behandle den Kran-
ken, wie der Staat den Zornigen behandelt, da-
mit er nicht andere verletze. Man ſtelle der
Vernunft, die allein dem Triebe nicht das Ge-
gengewicht hält, Schreckmittel zur Seite, in de-
ren Verbindung ſie vielleicht das Gleichgewicht
halten kann. Man züchtige den Kranken nach
jedem Exceſs nach Maaſsgabe der Gröſse deſſel-
ben. Der Bauer, deſſen ich erwähnt habe,
konnte augenblicklich durch den Stock des Ge-
richtsdieners zur Ruhe gebracht werden. Doch
darf man dem Frieden nicht trauen, ſolang die
Fehler in der Organiſation nicht getilgt ſind.
Die Kranken ähneln den gezähmten Tigern, die
plötzlich wieder von ihrer blutdürſtigen Wuth
ergriffen werden, wenn ſich dazu eine günſtige
Gelegenheit anbietet.
[396]
3. Die Narrheit.
Narrheit iſt allgemeine Verkehrt-
heit und Schwäche der Seelenkräfte,
ohne Tobſucht und Blödſinn, doch
dem letzten am nächſten verwandt.
Durch das erſte Merkmahl unterſcheidet ſie ſich
von dem fixen Wahnſinn; und von der Tobſucht
und dem Blödſinn dadurch, daſs ihr die Merk-
mahle dieſer Krankheiten fehlen. Freilich ſind
meine Charaktere negativ, und daher iſt das Ob-
ject nur unter der Vorausſetzung beſtimmt, daſs
es auſser den aufgeführten Arten der Geiſteszer-
rüttungen keine anderen giebt. Auch fühle ich
es nur zu gut, daſs die Narrheit weniger genau,
als die übrigen Arten definirt ſey. Vielleicht iſt
es gar nicht einmal Art, ſondern ein Chaos meh-
rerer ſpeciſiſch-verſchiedner Zuſtände, was ich
unter dieſem Namen zuſammengeſtellt habe. Al-
lein mir war vor jetzt nichts mehr möglich. Ich
will daher im Allgemeinen ſchildern, was ich
bey dieſen Seelenkranken, die weder fixirt, noch
tobſüchtig oder blödſinnig ſind, gefunden habe.
Die Narren haben keine Hauptidee, ſondern
wechſeln damit, und knüpfen in allen Lagen des
Lebens Dummheiten an bizarre Streiche *). Ne-
[397] ben der allgemeinen Verkehrtheit iſt eine nahm-
hafte Schwäche aller Seelenvermögen und beſon-
ders der Urtheilskraft vorhanden. In ihrem
Vorſtellungsvermögen waltet eine für ihre Kräfte
zu ſchnelle Folge der Ideen ob; abentheuerliche
Vorſtellungen fluthen zu, blitzen auf und ver-
ſchwinden eben ſo ſchnell wieder; ſie ſtehn iſolirt
und ohne Regel da, weil ſie nicht gehalten und
durch die Aſſociation in keine Verbindung ge-
bracht werden können. Daher ihre meiſtens
groſse Geſchwätzigkeit von Dingen, die weder
Sinn noch Zuſammenhang haben. Sie reden in
einem Athem von Säbeln und Zahnſtochern, von
Kindern und Hüten, von zerbrochenen Krü-
gen und entmaſteten Schiffen. Daher eine
Menge anderer Fehler, Flatterhaftigkeit, habi-
tuelle Zerſtreuung, Mangel an Beſonnenheit, Ver-
geſslichkeit und Schwäche oder Unvermögen der
Urtheilskraft. Eben ſo tumultuariſch und unzu-
ſammenhängend ſind ihre Gefühle und Gemüths-
bewegungen. Freude, Zorn und Traurigkeit
wechſeln mit einander ohne Grund, ohne einen
beſonderen Eindruck auf das Begehrungsvermö-
gen zu machen. Ihre Aufwallungen ſind mo-
mentan und ähneln dem Zürnen eines Kindes,
das durch eine ernſthafte Mine zur Ruhe ver-
*)
[398] wieſen wird. So verhält ſich auch ihre Thätig-
keit. Sie ſind regſam und geſchäfftig in jedem
Zeitmoment, aber ohne erhöhte Kraft, ohne
Zweck, ergötzen ſich an Spielereien und treiben
läppiſche Poſſen, wie die Kinder. Ihre Hand-
lungen ſind iſolirt wie ihre Ideen, automatiſche
Muskelſpiele, in den mannichfaltigſten Gruppi-
rungen, die weder unter ſich noch mit den Vor-
ſtellungen einen Zuſammenhang haben. Sie wir-
ken ohne ſich eines Zwecks, der Erreichbarkeit
deſſelben an ſich, oder durch die angewandten
Mittel bewuſst zu ſeyn. Daher kümmern ſie ſich
nicht über den Erfolg ihrer Handlungen, wie
miſslich derſelbe auch ausfallen mag. Sie ſind
in der Regel zufrieden, guter Laune, vergnügt,
gutmüthig, ſchaden ſich und andern nicht, und
können durch ein leichtes Schreckmittel beruhi-
get werden, wenn ſie aufbrauſen *).
[399]
Uebrigens hat dieſe Krankheit verſchiedne
Grade und Modifikationen *). Die Verſtandes-
ſchwäche iſt kleiner oder gröſser, bis ſie an Blöd-
ſinn ſtöſst. Einige Kranke haben noch Sinn für
gewiſſe Dinge, vergeſſen nicht, was man ihnen
verſpricht, beſinnen ſich deſſen, wie man ihre
Narrenſtreiche aufnimmt, entziehn ſich durch
erdichtete Krankheiten den ihnen zugedachten
Züchtigungen, und unterlaſſen Handlungen, von
denen ſie wiſſen, daſs ſie ihnen nicht ungeſtraft
hingehen. Sie haben noch einiges Ehrgefühl,
und können durch Schimpf und Verachtung ge-
lenkt werden. Die Krankheit iſt meiſtens an-
haltend, ſelten periodiſch, wie der fixe Wahn-
ſinn und die Raſerey. Sie iſt zuweilen gemiſcht
mit Zügen der Raſerey und des fixen Wahns,
wenn ſie aus denſelben entſprungen iſt. Sie
kann entſtehn von jeder Urſache, die das Gehirn
ſchwächt, von Raſerey und fixem Wahnſinn.
Der geſcheute Menſch wird ſchwerlich urſprüng-
lich ein Narr, ſondern geht durch Raſerey oder
Wahnſinn zur Narrheit über. Nur der Dumm-
kopf kann, wenn er heftig erſchüttert wird,
gleich in dieſe Krankheit verfallen, weil es ihm
zu anderen Geiſteszerrüttungen an Kraft fehlt.
Daher finden wir auch verhältniſsmäſsig mehr
[400] Narren unter der ungebildeten, hingegen mehrere
Fixirte und Raſende unter der kultivirten Volks-
klaſſe.
Ein ſchönes Beiſpiel eines Verrückten dieſer
Art erzählt Pinel*), das uns ein treffendes
Bild von dem Chaos der Ideen, Entſchlüſſe, mo-
mentanen Regungen und den iſolirten und zweck-
loſen Handlungen der Narren giebt. Dieſe Per-
ſon, ſagt er, nähert ſich mir, ſieht mich an, und
überſchwemmt mich mit ſeinem Geſchwätz. Gleich
darauf macht er es mit einem andern eben ſo.
Kommt er in ein Zimmer, ſo kehrt er alles dar-
in um, faſst Stühle und Tiſche, verſetzt und
ſchüttelt ſie, ohne dabey eine beſondere Abſicht
zu verrathen. Kaum hat man das Auge wegge-
wandt, ſo iſt er ſchon auf einer benachbarten Pro-
menade und daſelbſt eben ſo zweckloſs geſchäftig
als in dem Zimmer, plaudert, wirft Steine weg,
rupft Kräuter aus, geht und geht denſelben Weg
wieder. Kurz ein ununterbrochner Strom loſs-
gebundner Ideen beſtürmt ihn und veranlaſst ihn
zu eben ſo iſolirten und zweckloſen Handlun-
gen. Ein anderer ſprach wechſelsweiſe von ſei-
nem Hof, Pferden, Gärten und von ſeiner Pe-
rücke ohne auf Antworten zu warten und dem
Zuhörer Zeit zu laſſen ſeinen unzuſammenhän-
genden Reden zu folgen. Er ſchwärmte wie ein
Irrwiſch in ſeinem Hauſe herum, ſchrie, ſchwatz-
te,
[401] te, quälte ſeine Dienerſchaft mit kleinlichen Be-
fehlen, ſeine Verwandte mit Ungereimtheiten
und wuſste den Augenblick darauf nicht mehr,
was er geſagt und gethan hatte *).
Die Kur der Narrheit iſt ſchwer. Denn
die bey ihr vorhandene Schwäche und Desorga-
niſation aller Seelenvermögen gründet ſich ent-
weder auf eine urſprüngliche Anlage, oder iſt
Folge heftiger Erſchütterungen des Seelenorgans,
Wirkung anderer Geiſteszerrüttungen, und daher
meiſtens ein veralterter Fehler. Die Stumpfheit
des Verſtandes macht die Kranken taub für alle
Reize; ſie haften auf nichts, wegen der Flucht
ihrer Vorſtellungen.
Im Anfang muſs man ſie meiſtens durch
Zwangsmittel zum Gehorſam gewöhnen. Dieſe
mindert man in dem Maaſse als ſie folgſam ſind
und lohnt nachher durch kleine Annehmlichkei-
ten ihre guten Handlungen. In der Regel ſoll
man dieſe unſchädlichen Menſchen wie die Kinder
ziehn und ſie nicht hart behandlen, welches ſie
nicht verdienen. Dann hält man ſie zur Arbeit
an, um ſie bey ihrer unbeſchränkten Zerſtreuung
an einen feſten Gegenſtand zu heften.
Sobald der Kranke auf dieſe Art zur direk-
ten Kur ſeiner Krankheit vorbereitet iſt, werden
pſychiſche Reizmittel gewählt, die mit ſeinem
Faſſungsvermögen in gleichen Graden ſteigen müſ-
ſen. Man legt ihm Beſchäfftigungen, Spiele und
C c
[402] Uebungen vor, bey welchen die Seele wirken
muſs, und ſteigt mit dieſen Uebungen in dem Maa-
ſse als ihre Kräfte wachſen. Erſt am Ende ſucht
man die Verkehrtheit des Vorſtellungsvermögens
zu berichtigen.
4. Blödſinn.
Blödſinn iſt abnorme Aſthenie des
Verſtandes. Denn die normale in der Kind-
heit iſt nicht Blödſinn. Er gehört alſo unter die
Lähmungen der Seelenvermögen. Doch ſind nur
ſolche Lähmungen Blödſinn, in welchen die Ur-
theilskraft über Dinge fehlt, über welche der ge-
meine Menſchenverſtand urtheilen ſoll. Ob es
aber je einen einfachen Verſtandes-Mangel gege-
ben habe, zweifle ich faſt. Faſt ohne Ausnahme
immer ſteht die Erregbarkeit und Energie der
übrigen Seelenvermögen zugleich auch unter der
Norm. Wenigſtens iſt die Aufmerkſamkeit und
Beſonnenheit in jeder Abart deſſelben geſchwächt.
In welchem Cauſalverhältniſs ſtehn dieſe mehre-
ren Aſthenien? Sind ſie unabhängig von einander
und bloſs ſimultane Zuſtände einer allgemeinen
Stumpfheit des Nervenſyſtems, oder iſt die eine
Lähmung Urſache der andern? Muſs nicht bey
einem abſoluten Mangel des Gedächtniſſes auch
das Vermögen zum Urtheilen fehlen? In noſolo-
giſcher Hinſicht iſt dies nicht einerley. Allein
da wir in concreten Fällen dieſe Differenzen zu
bemerken oft auſser Stande ſind; ſo haften wir
[403] auf dem gemeinſchaftlichen Symptom und nennen
alles Blödſinn, wo es an Urtheilskraft fehlt,
dies mag nun von einer Aſthenie des Verſtandes an
ſich, oder von einer Lähmung einzelner oder al-
ler Seelenvermögen abhängen, die dem Verſtande
in ſeinen Functionen ſekundiren müſſen. Hin-
gegen laſſen wir die Aſthenieen der einzelnen
Seelenvermögen als für ſich beſtehende Krankhei-
ten gelten, ſolang ſie auf das eigenthümliche Ge-
ſchäfft des Verſtandes keinen bedeutenden Ein-
fluſs haben.
Mein Begriff des Blödſinns iſt allgemein ge-
geben. Er begreift alſo jede Ohnmacht des Ver-
ſtandes, als Art oder Abart unter ſich, ſie mag
ſo oder anders modificirt, aus einer eigenthüm-
lichen Schwäche des Verſtandes oder aus Ohn-
machten anderer Seelenkräfte, die auf denſelben
einflieſsen, hervorgegangen ſeyn.
Wenn alſo das Weſen des Blödſinns in direk-
ter oder indirekter Aſthenie des Verſtandes beſteht,
ſo folgt natürlich, daſs wir ſeine Diagnoſtik von
der Verletzung der eigenthümlichen Functionen des
Verſtandes, Begriffe, Urtheile und
Schlüſſe zu bilden, hernehmen müſſen.
Doch nicht alle ſchiefe Urtheile, nicht jeder Mangel
derſelben iſt Kennzeichen des Blödſinns. Sie fehlen
in der Kindheit, im Schlaf, in der Ohnmacht und
dem Scheintod. Sie können ſchief ſeyn oder feh-
len, weil die Sinne, die Einbildungskraft und das
Gedächtniſs dem Verſtande keine Materialien zur
C c 2
[404] Verarbeitung vorſtrecken. Der gemeine Mann
urtheilt zwar falſch über den Lauf der Geſtirne,
aber ohne Blödſinn. Denn ſein Verſtand hat kei-
nen Antheil an dieſem Irrthum. Wir ſehn daher,
wenn wir ein Subject in Beziehung auf Blödſinn
prüfen wollen, nicht ſowohl darauf, ob es Be-
griffe, ſondern ob es deutliche und allgemeine
Begriffe habe, ob es ihm an dem allergemeinſten
Stoff zum Urtheilen fehle, den wir bey jedem
geſunden Menſchenverſtand als vorräthig voraus-
ſetzen dürfen. Wir ſehn nicht ſowohl auf die
Normalität des Stoffs, ſondern vielmehr auf die
Normalität des Verſtandes in dem Gebrauch deſſel-
ben; nicht ſowohl auf die Materie, als auf die
Form der Schlüſſe. Dann müſſen die Mate-
rialien, an welchen das Vermögen der Urtheils-
kraft zu ihrer Bearbeitung geprüft werden ſoll,
nicht ſowohl aus der Vernunft, als vielmehr aus
dem Gebiete der Erfahrung hergenommen wer-
den. Die Wahrheit der Vernunfterkenntniſſe
muſs jedermann zugeben, der ihren Sinn gefaſst
hat. Er kann zu ſchwach ſeyn, denſelben zu
faſſen, allein irren kann er ſich nicht im Betreff
ihrer und das Gegentheil behaupten. Bey weitem
der gröſste Theil unſerer Erkenntniſſe beruht
auf Wahrſcheinlichkeit. Ihr Gegentheil iſt mög-
lich, hat gar auch Gründe für ſich. Die Prämiſ-
ſen unſerer Folgeſätze ſind zum Theil oder insge-
ſammt nicht gewiſs, oder die Concluſionen fol-
gen nicht aus ihnen. Hier kömmt es vorzüglich
[405] darauf an, Gründe und Gegengründe gegen einan-
der abzuwägen, um zu einem richtigen Probabi-
litäts-Schluſs zu gelangen und eben in dieſem Ge-
ſehäfft kann die Stärke der Urtheilskraft vorzüg-
lich erkannt werden. Denn dazu gehört nicht
allein, daſs die Zahl der Gründe, alſo eine
Mannichfaltigkeit von Dingen beachtet, ſondern
auch der Gehalt derſelben richtig geſchätzt
und gegen einander abgewogen werde. Es müſ-
ſen alſo theils alle Momente des gegebnen Falls
überſehn, theils jedes derſelben ſcharf ins Auge
gefaſst werden. Dies erfordert Intenſität, jenes
Extenſitat und Schnelligkeit der Aufmerkſamkeit.
Extenſität derſelben fehlt dem Dummen, Extenſi-
tät und Intenſität dem Blödſinnigen *).
Allein da der Blödſinn ſelten einfach, ſon-
dern faſt ohne Ausnahme immer mit Aſthenieen
anderer oder aller Seelenvermögen gepaart und
vielleicht indirect in ihnen gegründet iſt, ſo folgt
daraus, daſs neben den verletzten Functionen
der Urtheilskraft auch noch die Phänomene der
übrigen verletzten Seelenvermögen vorhanden ſeyn
müſſen. Doch bemerke ich, daſs dieſe letzten Er-
ſcheinungen weniger weſentlich ſind, nach dem
Grade der Aſthenie und ihrer Ausbreitung durch
wenigere oder mehrere Seelenvermögen varii-
ren, alſo in dem concreten Fall daſeyn und feh-
len, ſo und anders ſeyn können.
[406]
Dem Blödſinnigen fehlt es an Aufmerk-
ſamkeit, Beſonnenheit und Selbſtbe-
wuſstſeyn, in einem geringeren oder gröſse-
rem Grade. Der Mangel dieſer Seelenvermögen
iſt Wirkung oder vielmehr Urſache der Aſthenie
ſeines Verſtandes. Er faſst keinen Gegenſtand
ſcharf genug auf, oder ſtarrt auf einen hin und iſt
nicht im Stande auſser demſelben zu gleicher Zeit
irgend einen anderen zu beachten und mit gehöri-
ger Schnelligkeit von dem einen zu einem andern
fortzuſchreiten. Die frappanteſten Eindrücke
ſchleichen unbemerkt vor ſeinen Sinnen vorüber.
Der Beſuch fremder Perſonen ändert die gedan-
kenloſe Mine der Kretinen nicht. Es iſt daher
auch das erſte verdächtige Zeichen eines ange-
bohrnen Blödſinns, wenn das Kind auf keinem
Gegenſtand haftet. Noch gröſser iſt der Mangel
der Beſonnenheit und des Selbſtbewuſstſeyns. Be-
ſonnenheit ſetzt Extenſität der Aufmerkſamkeit
und ein ſchnelles Urtheil voraus, um aus der
Menge das Wichtige auszuheben. Wer nicht ein-
mal die Eindrücke der Welt wahrnimmt, iſt
noch weniger im Stande ſich von denſelben zu
unterſcheiden und jene Veränderungen als Verän-
derungen in ſich wahrzunehmen. Er faſst die
Theile ſeines Körpers nicht zur Individualität, und
ſeine pſychiſchen Verhältniſſe nicht zur Einheit
einer Perſon zuſammen, ſondern ſein ganzes We-
ſen ſchwimmt in Trümmern, wie ein aufgelöſtes
Schiff, im Univerſum herum. Er fühlt Schmer-
[407] zen, weiſs aber nicht, daſs er es ſey, der ſie
fühlt; nicht er, ſondern der Organiſmus wirkt
ihnen convulſiviſch entgegen. Die Kretinen, ſagt
Wenzel*), beiſsen ſich zuweilen ſelbſt und
rupfen ſich die Schaamhaare aus. Wahrſchein-
lich geſchieht dies nicht ohne Schmerz, aber ſie
wiſſen nicht, daſs ihre Handlung Urſache deſſel-
ben ſey. Denn ſie halten den Theil, welchen
ſie verletzen, nicht für einen Theil von ſich.
Auch die Sinne, Imagination und das
Gedächtniſs blödſinniger Menſchen ſind ohne
Kraft. Daher ihre Armuth an Ideen. Ihre ſtum-
pfen Sinne nehmen wenige Eindrücke wahr, ihre
unſtätte Aufmerkſamkeit hält ſie nicht feſt und
ihr untreues Gedächtniſs bewahrt ſie nicht auf.
Ohne Vorrath von Ideen iſt die Imagination leer
und die Seele gedankenloſs. Wenigſtens leiden
einige Fexe an Schwäche und Mangel des Ge-
ruchs, Gehörs und Geſichts **). Sie drehn
und wenden ein unbedeutendes Spielwerk, das
ſie in den Händen halten, langſam hin und her
und ſtarren es unverrückt an, als wenn ſie eine
Klapperſchlange anſtarrten ***). Im Anfang der
Krankheit und in ihren leichteren Graden mag
dann und wann, wie bey den Narren, eine für
[408] ihre Kräfte zu ſchnelle Flucht der Ideen ſtatt fin-
den. Dies ſchlieſse ich aus den leeren Aufwal-
lungen und der zweckloſen Geſchäfftigkeit einiger
Blödſinnigen. Ihr Gedächtniſs iſt mehr oder weni-
ger ſchwach, daſs ſie heute nicht mehr wiſſen, was
ſie geſtern thaten, ja gar ihre Frage vergeſſen,
ehe ſie die Antwort bekommen und daher deren
Sinn nicht begreifen. Zuweilen warten ſie auch
die Antwort auf ihre Fragen nicht ab, ſondern be-
antworten ſich dieſelben ſelbſt. Bey den Kretinen
iſt dieſe Gedächtniſsſchwäche urſprünglich.
Es fehlt am Gefühlsvermögen. Der
äſthetiſchen und moraliſchen Gefühle will ich gar
nicht einmal erwähnen; ſelbſt die ſinnlichen Ge-
fühle find ſtumpf. Die vollkommenen Kretinen
laſſen ſich betaſten, ſelbſt an Orten, deren Berüh-
rung die Schaam verweigert, ohne eine Mine zu
verziehn *). Blödſinnige vertragen groſse Gaben
von Arzneien, Hunger und Froſt, und die Fexe
gar Nadelſtiche, ohne Schmerzen zu äuſsern **).
Einige derſelben äuſsern nicht einmal ein Verlan-
gen zu eſſen, wenn ſie die Speiſen nicht ſehen;
ja ſie müſſen ihnen gar in den Mund geſteckt wer-
den, wenn ihre Käuwerkzeuge in eine mechani-
ſche Bewegung geſetzt werden ſollen. Sie eſſen
ohne Auswahl alles mit gleichem Appetit und mit
ſolcher Trägheit, daſs man ſich unmöglich über-
reden kann, ſie ſtillten ihren Hunger mit Wohlge-
[409] fallen. Der Reiz zur Leibes-Nothdurft macht kei-
nen Eindruck auf ihr Gemeingefühl. Sie entle-
digen ſich überall, aus Mangel an Beſonnenheit;
oder gar nicht, aus Gefühlloſigkeit, bis die
Harnblaſe und der After von den angeſammleten
Excrementen zerſprengt wird.
Mit dem Mangel der Gefühle und Vorſtel-
lungen ſteht die Apathie der Blödſinnigen und
die Trägheit ihres Begehrungsvermö-
gens im Verhältniſs. Sie begreifen den Werth
der Ehre, Habe, Geſundheit und anderer
Glücksgüter nicht und ſind daher gefühlloſs für
dieſe Gegenſtände, die doch durch ihr allgemei-
nes Intereſſe jeden Menſchen anziehn. Sie ſind
entweder ganz ohne Leidenſchaften oder ereifern
ſich über einen leeren Tand, ergötzen ſich an
Spielwerken und fürchten die Ruthe. Ihre leiden-
ſchaftlichen Aeuſserungen ſind flüchtige Aufbrau-
ſungen, die ſo ſchnell wieder vergehn als ſie ent-
ſtanden ſind, weil ihre Aufmerkſamkeit auf kei-
nem Gegenſtand lange haften kann. Daher ſind ſie
auch meiſtens gutmüthig, ſelten auffahrend und
eigenſinnig. Selbſt ihre ſinnlichen Triebe und
Begierden, die ſich auf körperliche Gefühle der
Luſt und Unluſt beziehn, ſind ſtumpf. Doch
ſollen einige viele Geſchlechtsluſt und ein groſses
Vermögen zum Beiſchlaf haben. Die Fexe be-
friedigen ſich ſelbſt oder verbinden ſich mit dem
Vieh, weil das ſchöne Geſchlecht ihnen nicht ſo-
wohl wegen ihrer Dummheit und Häſslichkeit
[410] als vielmehr wegen ihrer Armuth den Zutritt
verſagt. Ein Kretin bey Hittau mordete ſogar ein
Mädchen auf der Stelle, weil es ſeine Wünſche
nicht befriedigen wollte *). Doch in dem äuſser-
ſten Grad des Blödſinns, der weit über Brutalität
hinausgeht, ſchweigt auch der Geſchlechtstrieb.
Nach dieſen Zuſtänden der Seelenvermögen
richtet ſich die Sprachfähigkeit der Blöd-
ſinnigen. In der Regel ſprechen ſie wenig; in
einem höhern Grade ihrer Krankheit murmeln ſie
vor ſich hin, ſprechen nur einzelne Worte deut-
lich, oder in halbartikulirten Tönen; im höch-
ſten Grade ſind ſie ganz ſtumm, wie eine Säule
und unterbrechen periodiſch dieſe dumpfe Stille
mit einen unſinnigen Lachen oder mit einem gel-
lenden und thieriſchen Geſchrey. Nur wenige
Kretinen ſprechen alles, einige nur einzelne Wor-
te deutlich; andere lallen bloſs und geben einen
hellen Laut und ein unartikulirtes Gebrüll von
ſich; andere find endlich ganz ſtumm **). Sind
die Kranken von Kindheit an blödſinnig, ſo
bleiben ſie auf der Stufe der geiſtigen Ausbil-
dung ſtehn, auf welcher ihre Krankheit ſie er-
griff. Ich habe eine alte Frau gekannt, die am
Ende des erſten Lebensjahrs in den Pocken ihren
Verſtand verlohr. Sie lallte und lärmte wie ein
Kind und ſpielte am liebſten mit Schlüſſeln und
Klapperwerk. Die Urſache der verletzten Sprach-
[411] fähigkeit iſt verſchieden; Mangel an Vorſtellun-
gen, Taubheit, oft auch unmittelbare Verletzun-
gen der Sprachorgane durch Kröpfe.
Das Muskelſyſtem der Blödſinnigen iſt
ohne Reizbarkeit und Energie. Daher ihr Un-
vermögen den Körper gebunden und in einer ge-
fälligen Form zuſammenzuhalten. Hiezu kömmt
der Mangel am Wollen, weil es ihnen an Beſon-
nenheit fehlt. Oben habe ich es bereits beiläufig
erwähnt, daſs vielleicht ſelbſt während der eigen-
thümlichen Actionen des Gehirns, von denen wir
glauben, daſs ſie auf daſſelbe beſchränkt ſind,
ein Strom abwärts zum Muskelſyſtem gehe und
daſſelbe ſo beſtimmt ſtelle, daſs Phyſiognomen
darin die inneren Vorgänge der Seele erblicken
und Mahler ſie nach dieſem Vorbilde ſinnlich dar-
ſtellen können. Im Blödſinn iſt die Seele leer,
ſie bewirkt alſo auch dieſe Stellung des Muskel-
ſyſtems nicht, in welcher ſie ſich wie in einem
Spiegel darſtellt. Daher die Geſtalt ohne Leben,
das matte und unſtätte Auge, das keinen Gegen-
ſtand feſthält, die gedankenloſe Mine und die
flache und kraftloſe Phyſiognomie blödſinniger
Menſchen. Ihre Glieder ſchwimmen fort, wohin
Cohärenz und Schwere ſie leiten, ohne Gebunden-
heit zu einer gefälligen Form, durch die Energie
der Muskeln. Die Backen hängen, der Mund
ſteht offen, der Geifer flieſst aus, der Kopf wa-
ckelt, der Rücken iſt gebogen, die Arme ſchlot-
tern und der Tropf ſteht mit gebognen Knieen
[412] da, als wenn er auch den letzten Vorzug der
Menſchen, die aufrechte Stellung, nicht mehr be-
haupten könnte. Seine Bewegungen ſind träge,
ohne Ründung und Gewandtheit. Einige Blöd-
ſinnige ſitzen gar Tage lang auf einem Fleck, oh-
ne auch nur ein Glied zu rühren.
Daſs die Aſthenie des Gehirns, ſofern es
gleichſam der Hauptheerd iſt, von welchem alle
Reizung des Organiſmus ausgeht, auch in allen
übrigen Functionen des Körpers, in dem Kreis-
lauf der Säfte, der Wärme, den Abſonderungen
u. ſ. w. ſichtbar werden müſſe, iſt nicht zu be-
zweifeln. Doch ſind die Erſcheinungen aus die-
ſen Quellen Symptome eigner Krankheiten, die
den Blödſinn, als ſolchem, nichts angehn. Eini-
ge andere Symptome deſſelben will ich unten
noch bey den Graden deſſelben anführen.
Der Blödſinn hat faſt häufigere, mehr oder
weniger zufällige Modifikationen, als jede
andere Krankheit. Denn er kann vielleicht, da
er bloſs ſymptomatiſch beſtimmt iſt, von Krank-
heiten verſchiedner Natur Product ſeyn, welche
in dieſem Fall, neben dem gemeinſchaftlichen
Symptom des Blödſinns, noch ihre eigenthüm-
lichen Charaktere haben. Er variirt nach ſeinen
noſologiſchen Verhältniſſen, ſo fern er urſprüng-
lich im Verſtande, oder durch Aſthenieen der
übrigen Seelenkräfte entſtanden iſt, die auf den
Verſtand übergegangen ſind; nach der Ausbrei-
tung der Aſthenieen durch eins, mehrere oder
[413] alle Seelenvermögen; nach ſeiner Dauer, ſeinen
Graden und Zuſammenſetzungen. Einige ſeiner
vorzüglichſten Modifikationen will ich anführen.
Ich erwähne zuerſt der Grade des Blöd-
ſinns, deren es unendlich viele giebt, die aber
nach der Natur intenſiver Gröſsen nirgends einer
geometriſchen Begränzung fähig ſind. Ich werde
daher nur einige feſte Punkte in denſelben hinein-
ſtellen, wozu ſich die beiden Endpunkte und die
Mitte zwiſchen beiden am beſten paſſen. Jene be-
zeichnen den Anfang und das Ende der Linie,
dieſe theilt ſie in gleiche Theile. An dieſe feſten
Punkte halten wir, als an Maaſsſtäben die con-
creten Fälle und beſtimmen die Gröſse derſelben
nach ihrer Annäherung an dieſem oder jenen der
aufgeſtellten Punkte. Auch die Kretinen werden
in anfangende, halbe oder vollkomme-
ne Kretinen getheilt.
Der erſte Grad iſt am ſchwerſten zu be-
ſtimmen, weil er eine Demarkationslinie zwiſchen
geſundem Menſchenverſtand und anfangendem
Blödſinn vorausſetzt, die nicht ſo leicht gefunden
werden kann. Zwiſchen dem Maximum der See-
lenkräfte in dem gröſsten Genie, deſſen Verſtand
die materielle und intellectuelle Welt umſpannt,
und der unterſten Stufe der Brutalität, auf wel-
cher der Kretin ſteht, finden wir nirgends eine
natürliche Scheidung. Wir wollen daher eine
gewiſſe Breite beſchreiben, die zwiſchen den
geſunden Menſchenverſtand und den anfangenden
[414] Blödſinn fällt. Der Kranke urtheilt noch über
Dinge, mit denen er täglich umgeht und die
keinen ſonderlichen Verſtand erfordern, mit nö-
thiger Fertigkeit, ſtockt aber augenblicklich,
wenn er neue auch noch ſo leichte Gegenſtände
beurtheilen ſoll, zu denen ihm alle Momente ge-
geben ſind. Seine Aufmerkſamkeit haftet ent-
weder nicht ſcharf genug auf ein gegebnes Ob-
ject, oder kann ſich nicht auf mehrere mit nö-
thiger Leichtigkeit ausbreiten. Daher wenig Be-
ſonnenheit der Vergangenheit und Zukunft, und
Vergeſſenheit in den gewöhnlichſten Handlungen.
Die Leidenſchaften ſind tranſitoriſche Aufwallun-
gen ohne Beharrlichkeit, und beziehn ſich auf
Kleinigkeiten. In einigen Vorſätzen ſchwankt der
Kranke, wo es auf Vernunftgebrauch ankömmt,
in anderen beharrt er hartnäckig, die er durch
Eigenſinn behaupten kann. Eben deswegen hängt
er feſt an dem, was er einmal gewohnt iſt. In
den Geſchäfften, denen er gewachſen iſt, beob-
achtet er eine pünktliche Ordnung mit Aengſt-
lichkeit; bey ungewöhnlichen auch noch ſo
leichten Geſchäfften verwirrt er ſich leicht.
Der mittlere Grad iſt von beiden End-
punkten gleich weit entfernt. Der Kranke iſt
nicht ganz ſinnloſs, ſondern faſst noch die ein-
fachſten Begriffe, doch iſt er zu den gemeinſten
Geſchäfften unfähig, wenn ſie nicht ganz mecha-
niſch abzumachen ſind. Er iſt ohne Leidenſchaf-
ten, oder hat noch flüchtigere Aufwallungen als
[415] im erſten Grade. Seine Aufmerkſamkeit iſt faſt
ganz erloſchen. Er iſt nach den Umſtänden arg-
loſs, oder menſchenſcheu, furchtſam und blöde,
beſonders gegen fremde Menſchen. Er lächelt
ſelbſtgefällig, wenn er allein iſt, und genieſst ei-
ner ſichtbaren Wohlbehaglichkeit, die ein Sym-
ptom ſeiner monotoniſchen Gemüthsſtimmung iſt.
An gewiſſen äuſseren Vorzügen ſeiner Geburt, des
Standes, der Kleidung weidet er ſich wie ein
Kind, ohne den eigenthümlichen Werth derſel-
ben zu begreifen. Zuweilen bemerkt man noch
an demſelben ein ununterbrochenes Minenſpiel,
das eine Folge des Wechſels iſolirter Vorſtellun-
gen in ihm iſt. Blödſinnige dieſes Grades ſind
ſchüchtern, miſstrauiſch, und fliehen den Um-
gang der Menſchen. Sie ſind nur zu oft die
Priſe des Eigennutzes, der Witzeleien und des
Muthwillens anderer Menſchen geworden, und
fühlen daher die Ueberlegenheit derſelben über
ſich zu ſehr. Daher ereifern ſie ſich leicht über
Kleinigkeiten, und finden überall Beleidigungen
ihrer Perſon, weil ſie überall böſe Abſichten vor-
ausſetzen. Um deſto feſter halten ſie an Gott,
von dem ſie nicht allein keine Kränkungen fürch-
ten, ſondern vielmehr Schutz wider dieſelben
hoffen. Sie ſind pünktlich im Singen, Beten,
Kirchengehn und in der Erfüllung anderer reli-
giöſer Gebräuche, ſo vergeſslich ſie ſonſt auch
in allen anderen Dingen ſind. Doch zuweilen
iſt der Blödſinnige auch argloſs wie ein Kind,
[416] traut jedem Menſchen das beſte zu, und ſieht
keine Beleidigungen, wo ſie wirklich ſind. Dies
hängt theils von dem Grade des Blödſinns, theils
von dem Charakter des Kranken und den Auſsen-
verhältniſſen ab, in welchen er lebt. So wird
z. B. ein Blödſinniger, der es erſt geworden iſt,
und deswegen ſich nicht ſelbſt überlaſſen bleiben
darf, überall in dieſen Einſchränkungen Eingriffe
in ſeine Rechte wähnen, und deswegen an eine
Verſchwörung der Menſchen gegen ſich glauben.
Hingegen wird ein anderer, der von Natur gut-
müthig und in einer humanen Vormundſchaft auf-
gewachſen iſt, nirgends etwas Böſes ahnden.
Dann hat der Blödſinnige eine Neigung, Selbſt-
geſpräche mit ſich zu halten, für ſich zu reden,
in den Bart zu murmeln, oder gar nur die Lippen
mechaniſch zu bewegen. Wir gebrauchen die
Sprache nicht bloſs zum gegenſeitigen Austauſch
unſerer Ideen gegen einander, ſondern auch dazu,
unſere Gedanken an dieſe Zeichen zu heften, ſie
dadurch gleichſam feſtzuhalten, deutlich zu ma-
chen und einen vor dem andern auszuheben.
Worte, die wir hören, leiſten unſerem Denkver-
mögen dieſen Dienſt vollkommner, als Worte,
die wir bloſs in der Einbildungskraft vorſtellen.
Daher das Bedürfniſs des gemeinen Manns, alles
laut zu leſen; des Blödſinnigen, die Gegenſtände
auszuſprechen, die er vorzüglich beachten will.
Auch bey anderen Arten von Geiſteszerrüttungen
und beſonders bey der Narrheit, die dem Blöd-
ſinn
[417] ſinn am nächſten liegt, finden wir dies Symptom,
daſs die Kranken mit ſich ſelbſt reden *). End-
lich iſt der Blödſinnige in dieſem Grade nicht
im Stande, eine Gedankenreihe im Zuſammen-
hang zu verfolgen, weil ſeine Aufmerkſamkeit
ſtarrt oder unſtätt iſt, ſondern er ſpringt ab auf
Dinge, die mit dem gegenwärtigen entweder gar
keine oder eine entfernte Verbindung haben.
Dabey findet er ſich nicht wieder auf ſeinen vo-
rigen Standpunkt zurück, weil er in dem folgen-
den Augenblick vergeſſen hat, was er in dieſem
that **).
In dem äuſserſten Grade des Blödſinns,
von welchem der vollkommne Kretin das leben-
dige Beiſpiel iſt, fehlen alle Wahrnehmungen der
Sinne, weil ſie ſtumpf ſind, oder die Seele keinen
ihrer Eindrücke beachtet. Der Kranke hört ein
wildes Geräuſch, aber überall keinen verſtänd-
lichen Ton, weil er nicht im Stande iſt, einen
aus der Menge auszuheben, ihn nicht auf ſeine
Urſache zurückzuführen, und dadurch ſeine Be-
deutung einzuſehn. Er ſieht eine unordentliche
Zuſammenſtellung von Farben und Geſtalten, von
welchen er keine beſonders unterſcheidet. Seine
Seele ähnelt einem Spiegel, in welchem ſich ein
todtes Bild der Welt abprägt. Er iſt ohne Be-
griffe, Urtheile, Gefühle, Leidenſchaften, alſo
D d
[418] auch ohne Triebe und Willen. Selbſt die Ge-
fühle des Hungers, Durſtes und des Schmerzes
ſind ſtumpf und werden dunkel vorgeſtellt. Der
Kranke bewegt ſich entweder äuſserſt träge oder
gar nicht, geifert, läſst jedes Glied in der Lage
liegen, in welche man es bringt, und es her-
unterfallen, wie die Schwere es leitet, wenn es
aufgehoben wird. Kurz er lebt zwar, weil er
vegetirt, aber auſser dieſer ganz allgemeinen
Function des Organiſmus, durch welche er vor
Auflöſung geſchützt wird, iſt weiter kein Cha-
rakter der Thierheit vorhanden.
Wozu dieſe Unterſcheidung der Grade des
Blödſinns? Zum Behuf des Erziehers, Arztes
und praktiſchen Rechtsgelehrten. Jenen weiſt
ſie die Gränze zwiſchen Geſundheit und Krank-
heit an, und fordert ſie zur moraliſchen und
phyſiſchen Kur der vorhandnen Gebrechen auf.
Der Rechtsgelehrte muſs nach den Graden des
Blödſinns es beſtimmen, ob dem Kranken die
Verwaltung ſeiner und anderer Rechte anvertraut,
ob ſein Handeln ihm überhaupt und in welchem
Grade es ihm zugerechnet werden könne. Der
Kranke kann an einem Grad des Blödſinns leiden,
wo man ihm zwar die Verwaltung fremder An-
gelegenheiten verweigern, aber die Ausübung
ſeiner eignen Rechte ohne Härte nicht nehmen
kann. Denn in dem letzten Fall ſchadet er nur
ſich; und durch die Beſchränkung ſeiner Freiheit
kann ihm ein weit gröſserer Nachtheil zugefügt
[419] werden. Er kann nemlich dadurch in den fixen
Wahn verfallen, als hätten alle Menſchen, ſelbſt
die Obrigkeit, ſich zu ſeinem Untergang wider
ihn verſchworen. Nur in dem Fall, daſs er Hang
zur Verſchwendung zeigte, dürfte er in der Ver-
waltung ſeines Vermögens auf die mildeſte Art
beſchränkt werden. Wenn aber der Blödſinn bis
zum mittleren Grade gediehen iſt, ſo kann der
Kranke auch ſeine Rechte nicht frey mehr aus-
üben. Er muſs nach Art der Minderjährigen,
oder etwan, wie ein ſchon herangewachſenes
Kind in dem Hauſe ſeines Vaters unter Curatel
geſtellt werden. Auch läſst er ſich in dieſem
Zuſtande jede Einſchränkungen gern gefallen,
weil er die Gemächlichkeit liebt, und zu wenig
Verſtand beſitzt, um noch eignen Willen zu haben.
Dann muſs auch noch auf die Sicherheit des Pu-
blikums Rückſicht genommen werden. Zu ge-
waltthätigen Handlungen iſt der Blödſinnige zwar
ſelten geneigt, wenn er nicht gereizt wird, und
in dieſem Fall mag derjenige, der ihn reizt, die
Folgen ſeiner Handlungen empfinden. Doch
kann dieſer Trieb zur Gegenwehr habituell wer-
den. Er ſchlägt und wirft mit Steinen, jeden, der
ihm vorkömmt und ohne alle Rückſicht auf die
Folgen ſeiner Handlungen, die er zu berechnen
auſser Stande iſt. So kann er auch durch Licht,
Feuer und andere gefährliche Inſtrumente der
Societät gefährlich werden. Endlich iſt er zu
Handlungen fähig, die den gebildeten Ständen
D d 2
[420] anſtöſsig ſind, um welcher willen man ihn ent-
fernt halten muſs. In criminaliſtiſcher Hinſicht
muſs der Blödſinn in Anſpruch genommen wer-
den, wenn von der Strafbarkeit der Handlungen
die Rede iſt, welche er mindert oder aufhebt.
Denn zur Strafbarkeit einer Handlung wird er-
fordert, daſs der Thäter Begriffe von ſeinen
Handlungen habe, die Geſetze kenne, welche ſie
verbieten, und dieſe auf ſeine Handlungen anwen-
den könne. Keins von allen iſt ſchwerlich jen-
ſeits des mittleren Grades des Blödſinns möglich;
daher derſelbe alle Strafbarkeit der Handlungen
aufhebt. Hingegen findet in ſeinem niedrigſten
Grade Zurechnung Statt; doch nicht in dem
Maaſse, als wo der Verſtand unverletzt iſt. Die
Culpa kann dem blödſinnigen Menſchen nicht ſo
hoch angerechnet werden, als dem Vernünftigen,
der ſie leichter vermeiden kann. Mit dem Dolus
hat es eine andere Bewandniſs. In Rückſicht der
Unbekanntſchaft mit den Geſetzen muſs darauf
geſehen werden, ob von Handlungen die Rede
iſt, die an ſich widerrechtlich oder bloſs durch
ein Geſetz verboten ſind. Jenes muſs der Blöd-
ſinnige in dem niedrigſten Grade noch unterſchei-
den; hingegen kann man nicht von ihm fordern,
daſs er alle Geſetze wiſſen ſoll, die Handlungen
verbieten, welche an ſich nicht ſtrafbar ſind *).
Da es indeſſen in der Entſcheidung dieſer Fälle
[421] an einem poſitiven Maaſsſtabe fehlt, ſo muſs immer
dem Gutdünken des Schiedsrichters und ſeinem
praktiſchen Ermeſſen ein anſehnlicher Spielraum
offen gelaſſen werden.
In Rückſicht der Art, wie ſich die
Verſtandesſchwäche äuſsert, unterſchei-
den wir Dummheit und Blödſinn im en-
geren Sinn. Die Frage, ob dieſe Differenz
ſpecifiſch oder zufällig ſey *), übergehe ich, weil
ſie aus der Noſologie des Blödſinns entwickelt
werden muſs, von der wir nichts wiſſen. Ich
bemerke bloſs, daſs beide Differenzen unter dem
höheren Begriff der pſychiſchen Aſthenieen ſtehen,
welches Herr Hoffbauer**) ſelbſt zugiebt, und
es von keiner ſo groſsen Bedeutung ſey, ob wir die
unter dieſen Begriff gefaſsten Differenzen, wenn
ſie nur richtig beſtimmt ſind, Arten oder Varie-
täten nennen wollen. Bey dem Dummen ſcheint
die Aſthenie vorzüglich urſprünglich in dem Ver-
ſtande ſelbſt, bey dem Blödſinnigen allgemein in
allen Seelenvermögen zu liegen ***). Der Blöd-
[422] ſinnige kömmt gar zu keinen Urtheilen, ſelbſt
nicht zu ſolchen, für deren Wahrheit der unmit-
telbare Augenſchein ſpricht. Dem Dummen
fehlt es an Ausbreitung, dem Blödſinnigen an
beiden, an Ausbreitung und Schärfe der Auf-
merkſamkeit. Der Dumme faſst einzelne Mo-
mente und urtheilt richtig, wenn es vorzüglich
auf das gefaſste Moment ankömmt; hingegen kann
er keine Mannichfaltigkeit mit nöthiger Schnel-
ligkeit beachten und ſchlieſst falſch, wenn dazu
ein Abwägen vieler Gründe gegen einander er-
fordert wird. Er urtheilt über einfache Objekte,
und über Objekte, mit welchen er täglich um-
geht, richtig; irrt ſich aber leicht in verwickelten
und zuſammengeſetzten Geſchäfften, in Geſchäff-
ten, die zwar an ſich leicht, aber ihm unge-
wöhnlich ſind, und endlich in Geſchäfften, die
nicht ſowohl durch bündige Gründe, als vielmehr
durch eine ſcharfe Muthmaſsung beſtimmt wer-
den müſſen. Er kann behalten was er lieſt; aber
von dem Geleſenen keinen Gebrauch machen; er
kann nachahmen, aber nicht erfinden; in Wiſſen-
ſchaften, wo es auf ſtrenge Beweiſe, eher, als
***)
[423] in ſolchen, wo es auf Conjektur ankommt, Fort-
ſchritte machen. Der Dumme iſt meiſtens nicht
menſchenſcheu und ſchüchtern, wie der Blödſin-
nige, oft gar dummdreiſt, weil er die Gefahren
nicht überſieht, in welchen er ſchwebt. Er flieht
den, der ihn betriegt, aus einem gekränkten
Stolz, nicht, wie der Blödſinnige, aus Sorge für
ſeine eigne Sicherheit. Er iſt dummſtolz auf
Vorzüge, die er entweder gar nicht beſitzt, oder
die kein vernünftiger Menſch dafür gelten läſst.
Seltner iſt er religiös, als der Blödſinnige, und
dies auf eine andere Art. Er fühlt ſich nicht
ſowohl der Gottheit bedürftig, ſondern ſucht ſie
vielmehr durch Schenkungen an Kirchen und
milde Stiftungen zu beſtechen, und ſieht die weit
unter ſich, welche dies nicht können, weil er es
nicht zu faſſen vermag, daſs Gott das Herz und
nicht das Vermögen anſehe. Er redet nicht ſo
oft mit ſich als der Blödſinnige, weil er ohne dies
Hülfsmittel auf ſeinem Gegenſtand haften kann.
Nur wenn er viele Gegenſtände beachten will,
ſpricht er für ſich, und zwar mit dem Gepräge
der Bedächtigkeit. Doch geſchieht dies ſelten,
weil er wegen ſeiner Einſeitigkeit ſelten die Noth-
wendigkeit fühlt, auf mehrere Momente Rück-
ſicht nehmen zu müſſen. Er ſpringt auch ab,
wie der Blödſinnige, aber auf feſte Punkte, da-
hingegen der Blödſinnige ſich ins Univerſum ver-
liert. Er hat Lieblingsideen, mit welchen er ſich
viel weiſs, die er ohne Rückſicht auf Zeit und
[424] Ort vorträgt, und auf welche jeder Umſtand ihn
abführt *).
Dann kann der Blödſinn einfach oder
zuſammengeſetzt ſeyn. In ſeiner einfach-
ſten Geſtalt zeigt er ſich in der Dummheit, die
ohne andere Krankheiten iſt. Er iſt oft zuſam-
mengeſetzt mit Fallſuchten und Lähmungen. Er
kann verbunden ſeyn mit fixem Wahn und Tob-
ſucht, dies vorzüglich, wenn er Folge dieſer
[425] Krankheiten oder mit ihnen aus einer Urſache
entſprungen iſt. Die Kretinen ſind häufig fall-
ſüchtig, zuweilen wahnſinnig und haben in ihrer
Verkehrtheit den ſonderbaren Hang Feuer anzu-
legen *). Doch finden wir Wahnſinn und Tob-
ſucht ſelten in den höheren Graden des Blödſinns,
weil ihm die Energie fehlt, die jene Krankhei-
ten vorausſetzen. Häufiger iſt er mit Narrheit
gepaart, der er näher verwandt iſt. So finden
wir ihn meiſtens in den Tollhäuſern, in welchen
die Blödſinnigen gewöhnlich ehemalige Verkehrte
waren, und durchgehends noch einen Anſtrich
ihrer urſprünglichen Krankheit an ſich tragen.
Gewöhnlich wird aber dieſe Zuſammenſetzung
Blödſinn genannt, wenn die Ohnmacht, Narr-
heit wenn die Albernheit, der Aberwitz und die
Verkehrtheit hervorſticht.
Noch muſs ich einer merkwürdigen noſolo-
giſchen Differenz des Blödſinns erwähnen, die
auf ſeine Prognoſis und Heilmethode Einfluſs hat.
Er kann nemlich entweder in einem Gehirn ge-
gründet ſeyn, das ſeiner Erregbarkeit zwar be-
raubt, aber an ſeiner Organiſation nicht ſichtbar
verletzt iſt, oder er kann davon entſtehn, daſs
das Gehirn zerſtört iſt. In dem erſten Fall will
ich ihn dynamiſch, in dem letzten orga-
niſch nennen. In beiden Fällen iſt das Phäno-
men einerley, nemlich Blödſinn, obgleich die
[426] Krankheiten, denen es gemeinſchaftlich ange-
hört, ein ſeiner Kräfte beraubtes oder ein zer-
ſtörtes Organ, höchſt verſchiedne Objekte ſind.
Er iſt Symptom und ſo wenig wie die Blindheit
ſpecifiſche Krankheit, die von einer Trägheit
oder Zerſtörung der Netzhaut, von Verdunkelung
der Säfte des Auges u. ſ. w. entſtehen kann.
Sind innerhalb der Hirnſchaale oder auch auſser-
halb derſelben Verletzungen der Organiſation
vorhanden, die zwar als entfernte Urſache das
Denkorgan ſeiner Erregbarkeit berauben, aber
doch nicht in demſelben ſelbſt enthalten ſind; ſo
ſind zwar organiſche Verletzungen da, aber der
Blödſinn an ſich iſt dynamiſch. Aecht organiſch
iſt er alſo nur, wenn die Gehirnmaſſe in eine
andere Subſtanz verwandelt oder durch Blaſen-
würmer, Waſſerkopf u. ſ. w. ganz annihilirt iſt.
Der dynamiſche Blödſinn iſt entweder tran-
ſitoriſch oder anhaltend. Der tranſitoriſche
entſteht von einem vorübergehenden Raub der
Vitalität des Gehirns. So verliert die Netzhaut
für einen Augenblick ihre Sehkraft vom An-
ſchauen der Sonne. Es giebt Sinnloſigkeiten und
Ohnmachten, die mit einer vollkommenen Feier
aller Seelenkräfte verbunden ſind. Auch nach
Gehirnerſchütterungen, heftigen Leidenſchaften,
Phreneſieen und andern ſchweren Nervenkrank-
heiten kann dieſer tranſitoriſche Blödſinn entſtehn.
Häufig iſt er in Gefäſsfiebern. Die Kranken ſind
ohne Bewuſstſeyn, achten auf nichts, murmeln
[427] vor ſich hin und ſuchen im Bette herum. Oft
wechſelt dieſer Zuſtand mit Schlafſucht ab, die
zur Zeit der Exacerbation des Gefäſsfiebers eintritt.
Endlich erfolgt der Tod durch Schlagfluſs, weil
das Gehirn aufgelöſt wird. Merkwürdig iſt es,
daſs in beiden Fällen der Sinnloſigkeit und der
Schlafſucht plötzlich helle Perioden eintreten, in
welchen der Verſtand vollkommen wiederge-
kehrt iſt *). Dann iſt vielleicht das Gehirn noch
eines Zuſtandes fähig, den ich mit einem catalep-
tiſchen Krampf vergleichen will, wie er in der
vollkommnen Starrſucht und in anderen ſchwe-
ren Nervenkrankheiten vorkommen mag. Er iſt
auch, wie jene Lähmungen, mit einer Feier aller
Functionen des Seelenorgans verbunden, aber
dadurch von ihnen verſchieden, daſs ſeine Beglei-
tung auf Krampf hinweiſt. Gewöhnlich pflegt
man dieſe Sinnloſigkeiten von unterdrückten
Kräften herzuleiten, allein uneigentlich. Entwe-
der iſt ein tranſitoriſcher Raub der Vitalität, oder
ein ſpaſtiſcher Zuſtand des Gehirns vorhanden.
Der anhaltende dynamiſche Blödſinn
hat verſchiedne Modifikationen. Dem Feuerlän-
der fehlt es an Erregbarkeit und normaler Orga-
niſation des Gehirns. In anderen Fällen bleibt
es auf der niedrigſten Stufe der Erregbarkeit
ſtehn, weil es nicht geübt wird. Daher der Un-
terſchied der Seelenkräfte zwiſchen den Laſtträ-
gern und den gebildeten Ständen des Menſchenge-
[428] ſchlechts. Oft iſt die Urſache der anhaltenden
Stumpfheit des Gehirns unbekannt; vielleicht dem
unthätigen Zuſtande der Gebährmutter vor der
Pubertät und im Alter analog. Auch dieſe Blöd-
ſinnige können plötzlich von ihrer Krankheit be-
freit werden. Irgend eine merkwürdige Umwäl-
zung in der Organiſation, z. B. das Geſchäfft der
Pubertät, kann ihre Seelenkräfte aus dem Schlum-
mer wecken. Ein Blödſinniger, erzählt Wil-
lis*), bekam nach einem böſen Gefäſsfieber ſo-
viel Genie, daſs er alle in Erſtaunen ſetzte, die
ihn vorher gekannt hatten. Einige leiden Rück-
fälle in der heiſsen Jahrszeit; andere, beſonders
junge Perſonen ſind Monate, ja Jahre lang blöd-
ſinnig und verfallen dann plötzlich in eine Raſe-
rey, die zwanzig bis dreiſsig Tage dauert. Nach
dieſer gewaltſamen Erſchütterung erfolgt Wieder-
kehr der Vernunft **). Ein junger Soldat muſste
gleich nach ſeiner Ankunft bey der Armee einer
blutigen Action beiwohnen und kam durch das
Krachen der Artillerie um ſeinen Verſtand. Man
lieſs ihm Blut, die Bandage ging auf, er verlohr
noch mehr Blut und verfiel in Blödſinn. Nach
einiger Zeit zeigten ſich Spuren von Raſerey, die
achtzehn Tage dauerte. Dann wurde er ruhig
und mit dem Ende derſelben kehrte der Verſtand
zurück ***).
[429]
Auch der urſprünglich-dynamiſche Blöd-
ſinn wird in der Folge leicht unheilbar. Es ge-
ſellen ſich ihm örtliche Lähmungen im Geſicht
und an anderen Theilen, Hemiplegieen und Fall-
ſuchten zu, die mit ihm aus einer Quelle entſprin-
gen. Selten werden Blödſinnige, die es von der
Geburt an ſind, alt. Sie ſterben vor dem dreiſsig-
ſten, und wenn ſie fallſüchtig oder gelähmt ſind,
vor dem fünf und zwanzigſten Jahre.
Die entfernten Urſachen des Blöd-
ſinns ſind verſchiedner Art. Alles, was die Kräfte
des Gehirns über die Norm anſtrengt, kann ſie
zerſtören. Dahin rechne ich heftige Leiden-
ſchaften, Schreck, Freude, anhaltende Grübe-
leien über Gegenſtände, denen der Kopf nicht ge-
wachſen iſt und ein planloſes Studiren. Kinder,
die zu früh und über ihre Kräfte angeſtrengt wer-
den, verfallen leicht in Narrheit oder Blödſinn. Ein
Artilleriſt, erzählt Pinel*), legte dem Wohl-
farthsausſchuſs das Project einer Kanone von
vorzüglicher Wirkſamkeit vor und bekam dar-
über ein ſchmeichelhaftes Schreiben von Ro-
bertspierre, bey deſſen Leſung er erſtarrte und
als ein vollkommen Blödſinniger ins Tollhaus
gebracht wurde. Zwey Brüder gingen zur Ar-
mee, von welchen der eine durch eine Kugel an
der Seite des andern getödtet wurde. Der übrig-
gebliebne wurde ſtarr wie eine Statue in ſein vä-
[430] terliches Haus gebracht und der dritte Bruder,
der noch zurück war, verfiel durch die Nach-
richt von dem Tode ſeines einen und durch den
Anblick der Geiſteszerrüttungen des anderen Bru-
ders in den nemlichen Zuſtand *). Gern iſt
der Blödſinn Folge des Wahnſinns und der Tob-
ſucht. Faſt ein Viertheil der Tollhäusler ſind Blöd-
ſinnige, die ehemals verrückt waren und jetzt
noch einen Anſtrich ihrer ehemaligen Krankheit
an ſich tragen. Die überſpannten Anſtrengungen
zerſtören anfänglich die Reizbarkeit und nachher
die beharrliche Organiſation. Dazu kömmt noch
die meiſtens falſche Behandlung des Wahnſinns
durch Aderläſſe, Purganzen und Brechmittel, die
die Naturkräfte vollends zerſtört, durch welche
eine heilſame Criſe hätte zu Stande kommen kön-
nen. Die Fallſucht liegt dieſer Urſache nahe, die
meiſtens, wenn ſie heftig und anhaltend iſt, die
Seelenkräfte ſchwächt. Mir ſind Fälle bekannt,
daſs ein einziger Anfall derſelben den Kranken um
ſeinen Verſtand brachte. Alles, was den Körper
ſehr ſchwächt, entnervende Vergnügungen, Aus-
ſchweifungen in der Liebe, tiefer in ſich gekehr-
ter Kummer, narcotiſche Subſtanzen, die Toll-
kirſche, das Bilſenkraut und beſonders der
Mohnſaft bey den Opiophagen im Orient, gei-
ſtige Getränke, Ausleerungen des Bluts und der
Lymphe, langer Schlaf können Blödſinn erre-
[431] gen. Das Gehirn wird unter allen Organen,
die in die Gruppe eines Menſchen eingehn, am
ſpätſten reif und dauert am längſten aus. Allein
endlich fängt auch an ihm der Zahn des Alters an
zu nagen. Das Gedächtniſs und der Verſtand
werden ſtumpf; der Greis iſt geſchwätzig, er-
götzt ſich an Kleinigkeiten und wird wieder ein
Kind. Oft ſind auch urſprüngliche oder erwor-
bene Desorganiſationen des Gehirnmarks, Ano-
malieen der Gefäſse und fehlerhafte Bildungen der
Knochen des Körpers Urſache des Blödſinns.
Erlittene Gewaltthätigkeiten während der Geburt
können ihn veranlaſſen und es iſt zu bewundern,
daſs dies nicht öfterer geſchieht. Denn es iſt
kaum zu begreifen, daſs das breiigte Gehirn
beim Durchgang des verlängerten Kopfs durchs
Becken, nicht überall zerreiſsen ſollte. Die
Vegetation formt es von neuem wieder und beugt
dadurch den Geiſteszerrüttungen vor. Waſſer-
ſuchten des Gehirns, Blaſenwürmer, heftige
Schläge auf den Kopf, Gehirnerſchütterungen,
Schlagfluſs, Geſchwülſte in der Hirnſchaale ſind
mit Blödſinn verknüpft. In einem von der Ge-
burt an blödſinnigen Menſchen fand Willis das
Gehirn kleiner als es hätte ſeyn ſollen. Plater
erzählt die Geſchichte eines Soldaten, der nach
einer Verwundung am Kopf blödſinnig wurde.
Nach dem Tode entdeckte er eine ſchwammigte
und ſcirrhöſe Geſchwulſt von der Gröſse einer
Zwiebel auf dem ſchwieligten Körper des Gehirns.
[432]Malacarne fand bey Blödſinnigen nur dreihun-
dert, hingegen bey vernünftigen Menſchen acht-
hundert Blätter im kleinen Gehirn. Die drehen-
den Schaafe werden durch die Einſaugung des Ge-
hirns vom Drucke des Blaſenwurms blödſinnig
und in Menſchen ſollen Hydatiden die nemliche
Wirkung hervorgebracht haben. Die Hirnſchaale
der Fexe iſt nach Malacarne ſo verengert, daſs
ſie das Gehirn in einem Grade zuſammenpreſst,
bey welchem es unwirkſam ſeyn muſs *).
Beim Entwurf des Kurplans zur Heilung
des Blödſinns müſſen zuvörderſt die Krankheiten
von welchen er Symptom iſt, wohl unterſchieden
werden. Nur der rein dynamiſche Blöd-
ſinn, in welchem die Organiſation des Denkor-
gans nicht ſichtbar verletzt, aber ſeiner Reizbar-
keit beraubt iſt, ſcheint heilbar zu ſeyn. Im
rein organiſchen Blödſinn iſt das Organ,
auf welches es beim Denken ankömmt, entweder
zerſtört oder in eine fremde Materie verwandelt.
Dieſer Zuſtand iſt abſolut unheilbar, ſofern
er eine Zerſtörung der Vegetations-Inſtrumente
vorausſetzt, ohne welche keine Umwandlung des
kranken Zuſtandes in einen geſunden möglich iſt.
Auch ein ſolcher Blödſinn, der von organiſchen
Verletzungen entſpringt, die zwar das Denkor-
gan nicht ſelbſt betreffen, aber doch auf daſſelbe
als entfernte Urſache einflieſsen und es ſeiner
nor-
[433] normalen Vitalität berauben, iſt zwar nicht abſo-
lut, aber doch meiſtens relativ unheilbar. Es iſt
an ſich möglich, daſs die Beziehungen dieſer
Desorganiſationen auf das Denkorgan aufhören,
alſo auch der Blödſinn aufhört, ohne daſs ſie auf-
hören. Allein in bedingten Fällen geſchieht dies
ſelten. Dann ſieht man auf die Ausbreitung
der Aſthenie durch die verſchiednen Beſtandtheile
des Seelenorgans. In der Dummheit, in welcher
bloſs das Urtheilsvermögen leidet, iſt die Hoff-
nung der Geneſung gröſser, als im Blödſinn, der
ſich auf Aſthenie aller Fakultäten der Seele grün-
det. Endlich kömmt es auch auf die Grade
des Blödſinns an. Nur der erſte Grad ſcheint
einer radikalen Heilung fähig zu ſeyn; die Krank-
heit im zweiten und dritten Grad, kann, wenn
ſie nicht etwan tranſitoriſch iſt, entweder gar
nicht geheilt oder wenigſtens nur gemindert wer-
den.
In vielen Fällen muſs der pharmaceutiſche
Arzt dem pſychiſchen zur Seite treten, ihm vorar-
beiten, mit ihm gleichzeitig wirken. Wenn der
Kretiniſmus von Miſsbildung der Hirnſchaale, und
dieſe von Knochenerweichung entſteht; ſo wird
jener ohne Heilung dieſes Uebels nicht geheilt
werden können und die pſychiſche Kurmethode
zum Anfang zweckloſs ſeyn. Die Thäler müſſen
gelüftet, das Austreten der Flüſſe verhütet, die
Sümpfe abgeleitet werden. Man muſs die jungen
Kretinen aus den Thälern auf die Berge tragen,
E e
[434] bis die Jahre der Kindheit vorüber ſind, ihnen
nahrhafte Diät und reizende Arzneien verordnen.
Blödſinn nach heftigen Anſtrengungen des Gehirns
erfordert eine leichte und angenehme Beſchäffti-
gung deſſelben. Iſt er nach hitzigen Krankheiten,
Ausleerungen und anderen Schwächungen des Kör-
pers entſtanden, ſo verordne man nahrhafte Speiſen
und ſtärkende Mittel. Wo es dem Gehirn an Erreg-
barkeit und Vegetation fehlt, ſuche man dieſelbe
durch phyſiſche und pſychiſche Reizmittel zu bele-
ben. Der Art ſind Senf, Meerrettig, Pfeffer, Vanille,
das Einathmen des Sauerſtoffgas, die Elektricität,
der Galvaniſmus. Wärme des Kopfs, Reibung deſ-
ſelben, nachdem er vorher abgeſchoren iſt, mit
Flanell, mit Naphten und anderen geiſtigen Mit-
teln, Tropfbad, Douche, Blaſenpflaſter auf den
Wirbel *). Endlich muſs noch der pharmaceu-
tiſche Arzt auf die Naturbemühungen achten, ſie
unterſtützen, Hinderniſſe derſelben aus dem Wege
räumen. Die Revolutionen in der Pubertät,
hitzige Fieber, Ausbrüche der Raſerey können
den Blödſinn heilen. Wo ſich alſo dergleichen
Erſcheinungen äuſsern, faſſe man ſie ſchnell auf,
und helfe der Natur auf ihren Wegen, ſoviel als
möglich iſt, fort **).
Noch mehr wirken pſychiſche Mittel
zur Weckung der Erregbarkeit des Gehirns in
[435] dem dynamiſchen Blödſinn, denn ſie ſind ſpecifiſch-
eigenthümliche Reize des leidenden Organs. Eben
darin liegt es, daſs der Gelehrte den Bauer gerade
ſo viel an Seelenvermögen, als dieſer jenen an
Muskelſtärke übertrifft. Welcher Theil der Or-
ganiſation geübt wird, gewinnt Kraft und Fertig-
keit. Die Intenſität der Reizmittel ſoll der Gröſse
der Stumpfheit entſprechen. Die Uebungen der
Seelenkräfte müſſen in dem Grade allmählich
ſchwerer gewählt werden, als dieſelben zuneh-
men. Denn wenn man in dem Uebergange von
einer Uebung zur andern zu raſche Sprünge
macht, ſo iſt zu beſorgen, daſs der Kranke durch
Anſtrengungen, die ſeine Kräfte überſteigen, ab-
geſchreckt werde. Ueberhaupt muſs man es
ihm nicht merken laſſen, daſs man ihn für
ſchwach hält, ſondern vielmehr dahin arbeiten,
ſein Zutrauen zu ſeinen Kräften zu vermehren.
Zuvörderſt weckt man die Beſonnenheit des
Kranken, beſonders wenn er in ſich ſelbſt ver-
ſunken ſtarrt oder auf keinen Gegenſtand haftet.
Dies finden wir vorzüglich häufig bey den Toll-
häuslern, die meiſtens von anderen Geiſteszerrüt-
tungen zum Blödſinn fortgegangen ſind. Dann
hält man ſie zu Uebungen an, die vorzüglich auf
den Verſtand und die Aufmerkſamkeit berechnet
ſind, als denjenigen Vermögen, die im Blödſinn
am meiſten leiden. Endlich hilft man auch den-
jenigen Kräften der Seele nach, die etwan beſon-
ders zurückbleiben ſollten.
E e 2
[436]
Den Sinnloſen, der keinen Eindruck beach-
tet, greift man durchs Gemeingefühl, als den
offenſten Zugang zum Seelenorgan an, um ihn
vorerſt nur einigermaſsen zu fixiren. Die Zu-
ſtände ſeines eignen Körpers liegen ihm am
nächſten; er haftet am erſten auf Eindrücken, die
Luſt und Schmerz machen. Man reibt und kit-
zelt den Kranken, bringt ihn unter die Traufe
und Douche, impft ihm die Krätze ein, und er-
regt ihm allerhand andere ſchmerzhafte Gefühle *).
Man rührt die Sinnorgane durch Nieſsmittel,
durch einzelne gellende Töne, durch grelle Far-
ben, durch ſchaudernde Anſichten des Meeres,
des Blitzes, anderer groſser Naturerſcheinungen.
Man reizt die Leidenſchaften und beſonders den
Zorn des Kranken, vielleicht auch ſeine Furcht,
durch anſcheinend drohende Gefahren, um we-
nigſtens einige Action im Seelenorgan hervorzu-
bringen. Doch dies mit Vorſicht.
Nun ſchreitet man zur Kultur der Aufmerk-
ſamkeit fort. Der Blödſinnige haftet auf keinem
Gegenſtand, der Dumme iſt nicht im Stande, ſeine
Aufmerkſamkeit auf mehrere Punkte mit gleicher
Stärke zu vertheilen. Man wähle alſo theils
Uebungen, die den Kranken an einen Gegen-
ſtand heften, theils ihn leiten, mehrere ſich
folgende oder gleichzeitige Gegenſtände zu be-
achten. Die Uebungen, welche man dazu wählt,
müſſen durch ein natürliches oder künſtliches
[437] Intereſſe anziehn, Spiele, die zugleich den Kör-
per ſtärken, alſo Leibesübungen, oder ſcheinbare
Gefahren ſeyn, die den Kranken nöthigen, ſie und
die Mittel zu beachten, die zu ſeiner Rettung
dienen. In der Wahl dieſer Uebungen müſſen
wir bloſs ihren Hauptzweck, Weckung der Er-
regbarkeit des Gehirns, vor Augen haben, und
alle Nebenzwecke, z. B. Erweiterung der Kennt-
niſſe bey Seite ſetzen, die uns mit einem unbe-
deutenden Vortheil in der Wahl der Mittel ein-
ſchränken würden. Gymnaſtiſche Uebungen
paſſen ſehr gut. Die Aufmerkſamkeit des
Kranken wird durch ſie genöthiget, mit einer
gewiſſen Schnelligkeit von Moment zu Moment
fortzugehen, darf keinen Gegenſtand überſprin-
gen, aber auch bey keinem zu lang verweilen.
In der Folge, wenn der Kranke erſt in der Be-
achtung ſucceſſiver Erſcheinungen geübt iſt, wählt
man andere Leibesübungen, bey welchen es vor-
züglich auf die Vertheilung der Aufmerkſamkeit
auf mehrere Punkte zu gleicher Zeit ankömmt.
Nun geht man zu wiſſenſchaftlichen Uebun-
gen fort. Zum Anfang dient die Mathematik, in
welcher es auf ſtrenge Beweiſe und auf ein ſtäti-
ges Fortſchreiten der Aufmerkſamkeit von Punkt
zu Punkt ankömmt. Durch ſie wird alſo die
raiſonnirende Vernunft und das Vermögen der
Seele den gegebnen Gegenſtand feſtzuhalten ge-
übt. In der Folge ſucht man die Urtheilskraft
in dem Abwägen der Gründe und Gegengründe,
[438] in dem Abſondern des Allgemeinen von dem Be-
ſondern und in dem Subſummiren des Speciellen
unter Regeln zu üben. Dazu paſſen vorzüglich
die Auflöſungen algebraiſcher Aufgaben *).
Die Kur des Blödſinns beginnt noch einen
Schritt weiter rückwärts. Der Blödſinnige haftet
auf keinem Gegenſtand, welches der Dumme
ſchon kann. Er muſs daher anfangs einen Ge-
genſtand zu beachten, dann von dem einen zu
einem anderen mit einer gewiſſen Schnelligkeit
fortzurücken, und endlich eine Mannichfaltigkeit
mit nöthiger Schärfe gleichzeitig zu beachten ge-
wöhnt werden.
Die höheren Grade des Blödſinns ſind
ſchwerlich radikal zu heilen. Doch iſt es feh-
lerhaft, dieſe Kranken in der Unthätigkeit ganz
zu erſticken, zu welcher ſie vermöge ihrer Träg-
heit ſo ſehr geneigt ſind. Die meiſten derſelben
können unter der Leitung eines geſchickten Füh-
rers zu Handarbeiten und zur Kultur des Ackers
angehalten werden. Selbſt die Dummſten unter
ihnen ſind im Stande, als Laſtthiere wenigſtens
die Egge oder den Pflug zu ziehn. Man ſtelle
nur einige thätige und arbeitſame Menſchen an
ihre Spitze. Sie ſchwingen ſich dann durchge-
hends bald, vermöge des Triebes zur Nachah-
mung, zu dem nemlichen Ton hinauf, und ſind
der anhaltendſten Anſtrengungen fähig. Natürlich
muſs man dabey auf das Kraftmaaſs der Kranken
[439] ſehn, ſie nicht ermatten und ihnen Zwiſchenräu-
me zur Ruhe verſtatten. Gewinnt man auch an
Kultur der Seele durch dieſe Behandlungsart
nichts, ſo beſſert man doch ihre phyſiſche Ge-
ſundheit. Die Kranken eſſen und ſchlafen beſſer,
wenn ſie arbeiten. Die Ordnung im Tollhauſe
gewinnt ſehr. Wenzel*) ſah zwey Kretinen,
die ſich ſeit der Zeit weit beſſer befanden, daſs
man ſie zur Arbeit angehalten hatte.
Es giebt einige Blödſinnige, die einem be-
ſonderen Starrſinn und zornigen Aufwallungen
über Kleinigkeiten unterworfen ſind. Dieſe be-
dürfen einer leichten und zweckmäſsigen Cor-
rektion, nach der Art, wie man eigenſinnige
Kinder behandelt. Doch hüte man ſich, den
Unterofficianten irgend eine Härte gegen ſie zu
verſtatten. Eben dieſe Geſchöpfe ſind den Aus-
fällen der kalten Barbarey am meiſten ausgeſetzt,
weil ſie ſich nicht zur Gegenwehr ſtellen. End-
lich müſſen die Blödſinnigen ihre eigne Abthei-
lung haben, damit die fixirten Wahnſinnigen es
nicht bemerken, daſs man ſie mit ſo elenden
Menſchen in eine Ordnung ſtellt. Die Narren
können ihnen noch am erſten zugeſellt werden,
da ſie ihnen auch im Syſtem am nächſten ſtehn.
§. 21.
Was ſind helle Zwiſchenzeiten? Sie
müſſen ſich auf Perioden des Nachlaſſes oder der
[440] Intermiſſion, oder auf beides zugleich beziehn.
Pinel*) erzählt einige artige Fälle intermittiren-
der Geiſteszerrüttungen. Ein Kranker war bloſs
um den anderen Tag, ein zweiter funfzehn Tage
im Jahre, ein dritter alle Jahre drey Monate
wahnſinnig. Drey Raſende ohne Verkehrtheit
waren in zwey Jahren ſechs Monate krank und
achtzehn Monate frey von ihrem Uebel. Aehn-
liche Fälle habe ich bereits an einem andern
Orte **) geſammlet. Das Irrereden im Gefäſsfieber
intermittirt am Tage, und kehrt wieder bey
Nacht. Menſchen, die zum Wahnſinn Anlage
haben, ſind oft Jahre lang von ihrer Krankheit
frey. Dieſe Intermiſſionen möchte ich aber eben
ſo wenig als die anfangende Reconvaleſcenz zu
den hellen Zwiſchenzeiten zählen, wenn ſie nem-
lich ſo rein ſind, daſs auch nicht der leiſeſte Zug
der Krankheit übrig geblieben iſt. Nach dem
Aufhören der Krankheit kehrt ſie entweder bald
und in dem nemlichen Zuge, oder nach einer
ungemeſſenen Zeit wieder. In beiden Fällen iſt
eine Geneigtheit zur Wiederkehr übrig geblieben,
die in dem erſten ſchon durch den beſtimmten
Lauf der Evolutionen des reſpektiven Organiſmus,
in dem zweiten Fall hingegen durch äuſsere Ver-
anlaſſungen zur wirklichen Krankheit geſteigert
wird. Dann gehören auch die momentanen Re-
miſſionen in den Anfällen der Raſerey, die wie
[441] der Sturm in Stöſsen wirkt; nicht die dumpfen
Intervalle, wo der Tobſüchtige, beſonders der
Tobſüchtige ohne Verkehrtheit, wie ein Zorniger,
durch äuſsere Umſtände pſychiſch gehemmt wird,
zu wüthen, nicht zu den hellen Zwiſchenzeiten.
Heinrich Julius von Bourbon, der Sohn
des groſsen Condé, glaubte in einen Hund ver-
wandelt zu ſeyn, und bellte dem zu Folge wie
ein Hund. Eines Tages bekam er ſeinen Anfall
in den Zimmern des Königs. Die Gegenwart des
Monarchen gebot ſeiner Narrheit, ohne ſie zu
zerſtören. Er ſchlich ſich ans Fenſter, ſteckte
den Kopf hinaus, unterdrückte ſeine Stimme,
und gebehrdete ſich bloſs wie ein bellender
Hund *). Doch iſt es mir wahrſcheinlich, dieſer
Mann habe an dem ſonderbaren Aufſtoſsen gelit-
ten, welches dem Bellen eines Thiers ähnelt.
Denn es wird von ihm geſagt, er ſey an Vapeurs
krank geweſen. In dieſem Fall war das Bellen
phyſiſch, und nur in ſofern mit einer pſychiſchen
Krankheit verbunden, als er es von einer Ver-
wandelung ſeiner Art ableitete. Endlich rechnet
man die Zeiten im fixen Wahn, wo es dem
Kranken an Gelegenheit fehlt, auf ſeine fixe Idee
abzuſpringen, nicht zu den hellen Zwiſchenzeiten.
Ein Wärter führte in einem Tollhauſe die Frem-
den herum, und erzählte denſelben mit vieler
Vernunft die Narrheiten jedes Kranken. Erſt an
[442] der letzten Zelle erfuhr man, daſs er auch zu
den Merkwürdigkeiten des Tollhauſes gehöre.
Hier, ſagte er, ſitzt ein Mann, der ein Narr iſt,
weil er ſich für Gott den Sohn hält, ohne es zu
ſeyn. Denn ich müſste es wiſſen, da ich Gott
der Vater bin. Alſo nur das ſind helle Zwiſchen-
räume, wo die Stärke der Krankheit für eine
längere Zeit nachläſst, und nicht wo ihre Sym-
ptome durch äuſsere Verhältniſſe weniger ſicht-
bar ſind.
Die hellen Zwiſchenzeiten treten langſam
oder plötzlich ein. In dem letzten Falle erwachen
die Kranken, wie aus einem Traume, von ihrer
Zerrüttung zur Beſonnenheit. Dies geſchieht
vorzüglich leicht in der dumpfen Melancholie
und im Irrereden mit Gefäſsfieber *). Die Tem-
peratur der Erregbarkeit ändert ſich durch ein
Spiel unbekannter Kräfte, die zuweilen von ſicht-
baren äuſseren Einflüſſen abhängig ſind. Die
Zeit der Frühlings- und Herbſt-Tag- und Nacht-
Gleiche iſt ominös. In ihr brechen die meiſten und
heftigſten Anfälle aus. Kürzere Aufwallungen
entſtehn, wenn Stürme oder Gewitter ſich nähern.
Die Kranken ſind unruhig, ſchlafen wenig, gehn
mit ſchnellen Schritten, ſprechen für ſich, geſti-
kuliren, deklamiren, die Raſenden ſchütteln die
Ketten, und unterbrechen eine dumpfe Stille mit
einem wilden Geſchrey. Kurz alle Phänomene
weiſen auf einen exaltirten Zuſtand hin.
[443]
Die hellen Zwiſchenräume ſind periodiſch
oder erratiſch, kürzer oder länger, reiner oder
weniger rein. Doch bleibt immer noch, auch
in den reinſten Intervallen, eine Abweichung von
dem Einklang der Seelenkräfte zur Einheit der
Vernunft übrig. Das Zuſammenfaſſen des Or-
ganiſmus zur Individualität und das klare Be-
wuſstſeyn der Perſönlichkeit kehren am ſpätſten
in die zerriſſene Seele zurück. Der Kranke iſt
im ſcheinbar vollen Gebrauch der Vernunft, doch
nicht unglücklich. Denn er hat von dem Um-
fang ſeines Seelenzuſtandes keine deutliche Vor-
ſtellung. Dadurch unterſcheidet ſich der helle
Zwiſchenraum von der Geneſung.
Meiſtens laufen dem wiederkehrenden An-
fall Zufälle vor, die ſeine Annäherung anmelden.
Der Kranke klagt Zuſammenſchnürungen und ein
Brennen in der Magengegend und den Gedärmen,
durſtet deswegen ſehr, hat aber Abneigung gegen
Speiſen, iſt verſtopft, unruhig, ſchlafloſs, fährt
im Schlaf ſchreckhaft zuſammen. Die Wangen
färben ſich, das Geſicht glüht, die Halsadern
klopfen ſtärker, das Auge wird roth, die Blicke
funkeln. Seine Geberden, die Haltung und Be-
wegung ſeines Körpers ſind ungewöhnlich. Er
heftet ſeine Blicke gen Himmel, ſpricht mit ſich,
läuft ſchneller, ſteht ſtill, nimmt die Mine des
Nachſinnens oder einer bedächtigen Ueberlegung
an. Einige ſind ausgelaſſen luſtig, ſchwatzhaft
und brechen ohne Grund in ein lautes Gelächter
[444] aus; andere hingegen weinen ohne Urſache, ſtar-
ren auf einen Punkt, und ſind verſunken in ein
düſteres Stillſchweigen. Der Phantaſt hat Viſio-
nen, dem Verliebten erſcheint ſeine Pſyche im
Traume in einer himmliſchen Geſtalt.
Der Kranke in der hellen Periode iſt ein
anderer Menſch, bedarf alſo auch einer anderen
pſychiſchen Behandlung. Er muſs jetzt mit mehr
Schonung behandelt, und ſanft zur Arbeit und
zum Gehorſam angehalten werden, damit er ſich
an dieſe Tugenden gewöhne. Aeuſsere Urſachen,
die auf die Wiederkehr ſeiner Anfälle wirken
können, vermeide man ſorgfältig. Man verſtatte
ihm mehr Freiheit, doch ſey man auf ſeiner Huth,
und merke auf die Zeichen des herannahenden
Anfalls, damit kein Schade geſchehe. Denn
ihm iſt auch bey dem beſten Anſchein nicht zu
trauen. Ein Verrückter führte einen Fremden
im Tollhauſe herum, und nöthigte ihn am Ende
an die höchſte Gallerie des Hauſes zu treten, um
einer ſchönen Ausſicht zu genieſsen. Hier, ſagte
er dem Fremden, zeige dich und ſpring hinunter,
wenn du Glauben haſt, oder ich werfe dich hin-
ab. Der Fremde beſann ſich, antwortete ihm,
die Kunſt hinauf zu ſpringen ſey gröſser, dies
wolle er verſuchen. Der Verrückte blieb oben,
um den Sprung zu erwarten, aber der Fremde
ſchlich ſich leiſe zum Hauſe hinaus. Ein anderer
wurde von ſeinem Führer bis in die Küche des
Irrhauſes gebracht. Hier verlieſs derſelbe ihn
[445] auf einen Augenblick. Die gegenwärtigen Nar-
ren meinten ihre Suppe würde kräftiger ſeyn,
wenn ſie den Fremden darin abkochten und wür-
den ihren Einfall ausgeführt haben, wenn jener
ihnen nicht eingewandt hätte, daſs er ſich erſt
ausziehen wolle. Unterdeſs kam ſein Führer zu-
rück.
Haben die hellen Zwiſchenzeiten Einfluſs
auf die Zurechnung? Eine ſchlüpfrige Aufgabe
für den Criminaliſten und für den gerichtlichen
Arzt. Zuvörderſt müſſen in dieſer Beziehung die
Intermiſſionen, die allerdings der Zurechnung fä-
hig ſind, unterſchieden werden von den Remiſ-
ſionen. Wie ſchwer iſt ſchon dies! Dann beſtim-
me man den Grad der Remiſſion, der bey inten-
ſiven Gröſsen nicht poſitiv bezeichnet werden
kann. Ferner kömmt es darauf an, ob die Re-
miſſion ſcheinbar oder wahr ſey. Der Wüthrig
ohne Verkehrtheit äuſsert ſeine Wuth nicht,
wenn die äuſseren Verhältniſſe ihm ungünſtig
ſcheinen *). Endlich muſs ausgemittelt werden,
ob die Handlung in der Remiſſion oder in einem
wiederkehrenden Anfall geſchehen ſey. Und zu-
letzt iſt noch zu erwägen, ob die in Anfrage ſte-
hende Handlung mit dem Gegenſtand des Wahns
eine oder keine Verbindung habe? Allein da es
überhaupt ſchon ſchwer iſt die Geſetze concreter
Aſſociationen nachzuweiſen, wer vermag dann,
[446] es zu entſcheiden, ob Vorſtellungen und Handlun-
gen, die nach unſeren Anſichten keine Verknüp-
fung haben, dieſe nicht in einem verrükten Kopf
haben können?
§. 22.
Wie ſoll der Wahnſinnige in der
Reconvaleſcenz behandelt, wie ſol-
len die Rückfälle ſeiner Krankheit
verhütet werden? Wenn er zu geneſen an-
fängt, ſo verkürzen ſich die Anfälle der Exaltation,
kommen ſeltener und bleiben endlich ganz aus.
Er fängt an, ſeinen Zuſtand zu ahnden und die
Rückkehr des Uebels zu fürchten. Und eben
dieſe Furcht iſt eine beruhigende Erſcheinung,
die auf Wiederkehr des Bewuſstſeyns der Perſön-
lichkeit, als dem Merkmale der vollendeten Ge-
neſung, hinweiſt. Auch in dem Gang der kör-
perlichen Geſchäffte, in den Aus- und Abſonde-
rungen, der Verdauung, dem Herzſchlag, der
Wärme u. ſ. w. ereignen ſich mancherley mehr
oder weniger ſichtbare Veränderungen. Die mo-
raliſche und phyſiſche Erregbarkeit des Kranken
iſt empfänglicher für den Einfluſs normaler Reize.
Daher bedarf er einer vorzüglichen Schonung.
Sobald die Geneſung des Kranken durch
dieſe Erſcheinungen angekündiget und in der Fol-
ge beſtätiget wird, und er anfängt, ſein grenzen-
loſes Elend zu ahnden; ſo trenne man ihn von
den übrigen Kranken im Irrenhauſe. Man ſuche
ihm ſeine Krankheit in den gefälligſten Umriſſen,
[447] als ein hitziges Fieber oder als eine ſchwere Ner-
venkrankheit vorzuſtellen. Ihr wahres Bild wür-
de ihn mit Schauder und namenloſer Traurigkeit
erfüllen. Beſonders verwahre man ihn, daſs er
nicht ſolche Epochen ſeiner Krankheit erfahre,
die nach ſeinem Dafürhalten ſeine politiſche Exi-
ſtenz zernichten *). Schon der Gedanke im Toll-
hauſe geweſen zu ſeyn, iſt dem beſonnenen Manne
ſchrecklich! Doch iſt ohne Tollhaus die Heilung
ſchwierig, unmöglich. Wie ſoll dieſe Kolliſion
vermittelt werden? Ein wahnſinniger Muſikus
[448] war auf dem Wege der Geneſung, er ſpielte ſeine
Geige wieder und trieb dieſe Lieblingsübung acht
Mona-
*)
[449] Monate lang mit auffallendem Nutzen für die
Herſtellung ſeiner Vernunft. Nun wurde ein an-
derer Verrückter mit ihm an einen Ort gebracht,
deſſen wilde Ausbrüche ſeinen Kopf wieder in
dem Grade verwirrten, daſs er ſeine Violine zer-
ſchlug und von neuem in einen unheilbaren Wahn-
ſinn verfiel *). Daher ſcheint es auch nicht
zweckmäſsig zu ſeyn, die Reconvaleſcenten zur
Bedienung der Kranken zu gebrauchen, welches
*)
F f
[450] nach Thouin in dem Amſterdammer Irrenhau-
ſe geſchehen ſoll *).
Der Reconvaleſcent muſs in dem nemlichen
Gang der Kur, bey welchem er zu geneſen anfing,
erhalten werden, bis ſeine Geneſung vollendet iſt.
Sein durch die Kur beſtimmter äuſserer Zuſtand
muſs nie durch Sprünge, ſondern allmählich zu
dem freien Zuſtand übergehn, den er ſich nach ſeiner
eignen Willkühr beſtimmt. Daher hüte man ſich,
ihn zu früh aus dem Irrenhauſe in den Schooſs
ſeiner Familie zurückzugeben. Es ſind der Bei-
ſpiele zu viele, daſs darnach leicht Rückfälle ent-
ſtehn. Der Kranke geht durch einen Sprung
von einem äuſseren Zuſtand zu einem anderen
über, ehe er noch Feſtigkeit genug hat. Er
kömmt unter Menſchen, die ihn, ſeiner Seelen-
ſchwäche angemeſſen, nicht mit genugſamer Deli-
kateſſe zu behandlen wiſſen; er fühlt ſich der
Kuratel einer höheren Gewalt entlaſſen, miſs-
braucht ſeine Freiheit und Unabhängigkeit und
überläſst ſich ſeinen Launen, Aufbrauſungen und
Fehlern in der Lebensordnung, die ihn leicht in
ſeine vorige Krankheit zurückwerfen. Man ſu-
che den Reconvaleſcenten zu zerſtreuen, ihn mit
Gärtnerey, Feldarbeit, Profeſſionen und ſolchen
Künſten zu beſchäfftigen, die ſeine Neigungen
anziehen. Dazu muſs alſo jede Irrenanſtalt Ge-
legenheit haben. Man hüte ihn für heftigen An-
[451] ſtrengungen der Seele, Leidenſchaften, Schreck,
Freude, für jeden Eindruck, der ihn plötzlich
und ſtark erſchüttert. Man ſchone ſein Gefühl,
das ſehr reizbar iſt, hüte ihn für Neckereien,
Beleidigungen und Verachtung. Der unbedeu-
tendſte Fehler kann unſere ſchönſten Hoffnungen
zerſtören. Ein Bildhauer und Mahler reconva-
leſcirte; er äuſserte den Wunſch zu mahlen.
Man gab ihm dazu die nöthigen Materialien und
er mahlte verſchiedne Perſonen des Irrenhauſes ab.
Doch dies griff ihn zu ſehr an; der Aufſeher
ſchlug ihm vor, ein Bild nach eignen Ideen zu ent-
werfen, wo er freien Spielraum hätte. Er bat,
weil er auch dazu ſich zu ſchwach fühlte, ihm
die Idee durch eine Zeichnung anzugeben, die er
zum Muſter nehmen könnte. Seine Bitte blieb
unerfüllt. Darüber wurde er aufgebracht, zer-
brach Pinſel und Palette, zerriſs ſeine Skitzen
und erklärte laut, daſs er auf immer auf die Aus-
übung der ſchönen Künſte Verzicht leiſte. Er
verfiel von neuem in Raſerey, hernach in Blöd-
ſinn und ſtarb endlich an der Auszehrung *).
In der Vorbauung der Rückfälle kömmt es
vorzüglich auf die Beſtimmung der Frage an: ob
phyſiſcher oder pſychiſcher Zuſtand den
Hauptantheil an der Entſtehung der Geiſteszer-
rüttung gehabt habe? Iſt die Anlage erblich, an-
gebohren, in der erſten Bildung gegründet, iſt
F f 2
[452] eine Geneigtheit zur Wiederkehr in der Orga-
niſation, die urſprünglich oder erworben iſt,
Krankheit des epigaſtriſchen Geflechts, Anlage
zur Tobſucht, falſche Leitungen der Irritabili-
täts-Temperatur zurückgeblieben; ſo kömmt es
vorzüglich auf körperliche Behandlung an. Der
Kranke muſs ſich für Unmäſsigkeit in aller Rück-
ſicht hüten, Lebensart, Klima, Diät verändern,
mit dem Körper arbeiten, wenn er vorher mit der
Seele gearbeitet hat. Man ſey behutſam im Früh-
ling, bey heiſsem Wetter, bey Revolutionen im
Körper z. B. Schwangerſchaften. Man hüte ihn
für Erſchütterungen der Seele durch Leidenſchaf-
ten und für Anſtrengungen derſelben, beſonders
ſolchen, die auf Einen und auf einen abſtrakten Ge-
genſtand gerichtet ſind. War die Urſache mo-
raliſch; ſo muſs vorzüglich der Pſychologe die
Verhütung der Rückfälle bewirken. Er ſorge
dafür, daſs alle Seelenkräfte in richtigen Verhält-
niſſen angebaut, die Aufmerkſamkeit geübt, die
Phantaſie gezähmt, ſie und das ſinnliche Begeh-
rungsvermögen der Herrſchaft des Verſtandes
unterworfen werden. Er kläre die Begriffe des
Kranken über den Werth ſolcher irdiſchen Dinge
auf, die vorzüglich Urſache leidenſchaftlicher
Aufwallungen ſind. Manche Arten von Ver-
rücktheit können in einem hellen Kopf nie Wur-
zel faſſen. Das Seelenorgan wird geſtärkt, wenn
es ſeinen Kräften angemeſſen, in ſeinen verſchied-
nen Provinzen gleichmäſsig, durch abwechſelnde
[453] Geſchäffte und mit eingeſtreuten Ruhepunkten
angeſtrengt wird. Die Uebungen der einzelnen
Seelenvermögen übergehe ich. Sie ſind bereits
oben angeführt. Das letzte und höchſte Geſchäfft
des Pſychologen ſey, dem Kranken ſelbſt Sinn
für ſeine eigne moraliſche und intellectuelle Kul-
tur beizubringen. Iſt er mit ſich ſelbſt, mit ſei-
nen Schwächen und Vollkommenheiten vertraut,
dann wird er ſelbſt am beſten ſeine Lücken ausfül-
len und ſolchen moraliſchen Reizen, die er noch
nicht wohl verträgt, durch ein ſorgfältiges See-
lenregime ausweichen, wie es Diätophilus*)
angegeben hat.
§. 23.
Wie ſoll ein Irrenhaus eingerich-
tet ſeyn, damit es als Heilanſtalt ſei-
nem Zwecke am vollkommenſten ent-
ſpreche? Es muſs ſo conſtruirt ſeyn, daſs alle
Kräfte zur Heilung der Kranken vorräthig ſind,
harmoniſch in einander greifen und nichts ihrem
freien Spiele widerſtreite. Daher darf es zuvör-
derſt nur Geiſteszerrüttete aufnehmen, die wenig-
ſtens ſubjektiv heilbar ſind, damit nicht durch an-
dere ſich vielleicht widerſprechende Beſtimmun-
gen ſein Hauptzweck verlohren gehe. Dieſe
Trennung heilbarer und unheilbarer Irrenden in
beſondere Anſtalten ſey der erſte Schritt, mit
[454] welchem die Reform unſerer Irrenhäuſer beginne.
Die Aufbewahrungsanſtalt muſs eine Anſtalt für
ſich ſeyn. Ihr kann durch eine eigne und weit
einfachre Organiſation genügt werden. Die Heil-
anſtalt hingegen muſs in Anſehung des Locals,
der Organiſation und des Perſonals ſo eingerich-
tet ſeyn, daſs die pharmaceutiſche, und, wenn
meine Ideen über die Kurmethode der Irrenden
Haltbarkeit haben, vorzüglich die pſychiſche Kur-
methode darin aufs vollkommenſte gehandhabet
werden könne.
Wie wenig entſprechen unſere Irrenanſtalten
dieſen Forderungen! Sie ſind Tollhäuſer, nicht
bloſs wegen ihrer Einwohner, ſondern vorzüglich
wegen des Widerſpruchs, in welchem ſie als
Mittel mit den Zwecken ſtehn, die durch ſie er-
reicht werden ſollen. Sie ſind weder Heilanſtal-
ten, noch Aſyle unheilbarer Irrenden, denen die
Menſchheit huldigen kann, ſondern meiſtens Spe-
lunken, in welchen die Geſellſchaft abſetzt, was
ihr läſtig fällt. Hat der Menſch ſo wenig Ach-
tung für das Kleinod, durch welches er Menſch
iſt, oder ſo wenig Liebe für ſeine Nächſten, die
es verlohren haben, daſs er ihnen zum Wieder-
erwerb deſſelben die Hand nicht bieten mag?
Einige derſelben ſind den Krankenhäuſern, an-
dere den Armenhäuſern, andere gar den Gefäng-
niſſen und Zuchthäuſern angehängt. In allen die-
ſen Fällen fehlt es an friſcher Luft, an Bewe-
gung, an Zerſtreuung, kurz an allen phyſiſchen
[455] und moraliſchen Mitteln, die zur Heilung der
Kranken erfordert werden. Welcher Kopf iſt
im Stande, ein Krankenhaus und zugleich ein
Narrenhaus mit nöthiger Schärfe zu beachten!
Irrende, die noch einige Beſonnenheit haben, müſ-
ſen vollends raſend werden über die Unvernunft
ihrer Nebenmenſchen, die ſie mit Dieben und
Mördern in eine Klaſſe zuſammenſtellen. Die
Zuchtknechte, Stockmeiſter und Diebeswärter
ſind meiſtens rohe Menſchen, bey denen Barba-
rey an der Tagesordnung ſteht, und welche oben-
drein dieſe Unglücklichen als eine läſtige Bür-
de ihrer Amtspflichten betrachten, die ſie, um
ſie auf die kürzeſte Art zu beſorgen, in feuchte
Gewölbe, Gefängniſſe und in die Kellergeſchoſſe
ihrer Anſtalten einſperren. Das nächtliche Ge-
brüll der Raſenden und das Geklirre der Ketten
hallt Tag und Nacht in den langen Gaſſen wie-
der, in welchen Käfig an Käfig ſtöſst, und bringt
jeden neuen Ankömmling bald um das Bischen
Verſtand, das ihm etwan noch übrig iſt.
Und doch ſind Irrenhäuſer, wie bereits
oben bemerkt iſt, in der Regel nothwendige Er-
forderniſſe zur Kur der Irrenden. In keinem
Privathauſe kann der Umfang pſychiſcher und
phyſiſcher Mittel zu ihrer Heilung in der Voll-
kommenheit geſchafft werden, als in einem Ir-
renhauſe. Die Kranken werden entfernt von
den Gegenſtänden, die ſie immer von neuem an
ihre fixen Ideen erinnern. Sie ſind umringt von
[456] lauter fremden Objekten, die ihre Aufmerkſam-
keit anziehn. Sie fühlen ſich auſser dem Schooſse
ihrer Familie verlaſſener, hoffen nirgends eine
Stütze ihres Eigenſinns und ergeben ſich williger
allen Vorſchriften in einem fremden Hauſe, wo
ſtrenger Gehorſam an der Tagesordnung iſt.
Narren, Blödſinnige und Raſende gehören ohne
Ausnahme alle hinein; und nur ſelten mag es
Melancholiſche geben, die durch Kummer ge-
beugt ſind, die Nachſtellungen der Menſchen
fürchten, und noch ſoviel Beſonnenheit haben,
daſs eine gewaltſame Trennung von ihrer Familie
ihnen gröſsere Nachtheile verurſachen, als das
Irrenhaus ihnen Vortheile verſchaffen kann.
Wenn daher unſere Irrenanſtalten, wie es
nicht bezweifelt werden kann, einer Verbeſſe-
rung bedürfen; ſo iſt es eben ſo gewiſs, daſs
ihrer Reformation ein vollſtändiger Plan, nicht al-
lein zur pharmaceutiſchen, ſondern auch zur pſy-
chiſchen Kurmethode, zum Grunde gelegt werden
müſſe. Freilich fehlt es noch an einem vollkom-
menen pſychiſchen Kurplan. Allein wenn die
Irrenanſtalten auch nur nach dem jetzigen Maaſse
unſerer Erkenntniſſe zugeſchnitten würden; ſo
können ſie doch ſchon alles übertreffen, was in
der Art unter cultivirten Völkern gefunden wird.
Welche Nation ſoll den Anfang machen? Jeder
Patriot wünſcht der ſeinigen dieſen Ruhm.
Schade, daſs wir ſo wenige treue Beſchrei-
bungen den Irrenhäuſer haben. Sie könnten zur
[457] Gründung beſſerer, zur Vermeidung ihrer Fehler
und zur Auffaſſung ihrer guten Eigenſchaften in
ein Ideal vortrefflich genutzt werden. Allein
die öffentlichen Behörden ſehn es wohl ein, daſs
es ihrer Eitelkeit nicht ſchmeicheln würde, den
Zuſtand ihrer Anſtalten bekannt zu machen.
Hier, lieber Wagnitz! iſt noch ein Blümchen
zu pflücken, durch eine Entdeckungsreiſe in dies
unbekannte Land. Sie bringen uns Topogra-
phieen der Irrenhäuſer, pſychologiſche Anekdoten,
Schädel ſeltener Narren, zur Exegeſe für die
Gallſche Phyſiognomik mit, und können dann
in den Sternenkranz ihrer Verdienſte dieſen
Hauptbrillant neben den Zuchthäuſern einflechten
und in Parallele mit dem Weltumſegler, der höch-
ſtens fremde Thiergerippe und Karten unbekann-
ter Küſten zuführt, ihre Apotheoſe erwarten.
Ich will einige rohe Umriſſe eines Irrenhauſes
hinwerfen, das als Heilanſtalt wirken ſoll, und
zwar vorzüglich ſolche, die es als pſychiſche
Heilanſtalt haben muſs. Seine techniſchen Ein-
richtungen, die es mit jedem Spital gemein hat,
übergehe ich, und verweiſe die Leſer an Herrn
Marcus*), Howard**) und Krünitz***).
[458]
Zuvörderſt gebe man der Anſtalt den mil-
deſten Namen, nenne ſie eine Penſionsanſtalt für
Nervenkranke, ein Hoſpital für die pſychiſche
Kurmethode, und laſſe nur ſolche Tollhäuſer
übrig, die ſich vermöge ihrer Verfaſſung dazu
qualificiren. Man verheimliche die Aufnahme der
Irrenden, nehme zuweilen auch andere Kranke
auf, die der pſychiſchen Heilmethode bedürfen,
und ſcheide augenblicklich die Reconvaleſcenten
von den Kranken, damit jene in dem Spiegel ihrer
Geſellſchaft ihre Krankheit nicht entdecken. Es
iſt ein peinigender Gedanke, einmal ein Narr ge-
weſen zu ſeyn. Selten ſchöpft der Kranke ihn
aus ſich ſelbſt, denn das Bewuſstſeyn ſeiner Per-
ſönlichkeit iſt durch ſeine Krankheit unterbro-
chen. Er ſchöpft ihn vielmehr aus dem Geſtänd-
niſs anderer, die ihn ins Tollhaus brachten.
Dann muſs die Irrenanſtalt als Heilanſtalt
nur ſo groſs ſeyn, daſs die Kräfte der äuſseren
und beſonders der inneren Adminiſtration ſie be-
ſtreiten können. Schwerlich dürfen mehr als
zwanzig Kranke zu gleicher Zeit aufgenommen
werden. Nun könnte es zwar ſcheinen, als
wenn die deswegen nöthige Vervielfältigung der
Inſtitute in einem narrenreichen Staat ſeine Kräfte
überſteigen möchte. Allein theils koſten kleine
Anſtalten weniger als groſse, theils wird die
Zahl der heilbaren Irrenden im Verhältniſs zu
den unheilbaren gering ſeyn, und ihr Aufenthalt
in der Anſtalt nur auf die Dauer ihrer Krankheit,
[459] und nicht, wie bey jenen, auf die Dauer ihres
Lebens ſich erſtrecken. Die Aufbewahrungsan-
ſtalt kann gröſser ſeyn, weil ihre Verwaltung
einfacher iſt.
Die Irrenanſtalt muſs in einer anmuthigen
Gegend liegen, die Seen, Flüſſe, Waſſerfälle,
Berge und Felder, Städte und Dörfer in der Nähe
hat. Sie muſs Ackerbau, Viehzucht und Gärt-
nerey beſitzen. Der Garten iſt vorzüglich für
Kranke, denen man nicht ganz trauen darf. Er
ſey mit einer Mauer von der Höhe einer Bruſt-
wehr eingeſchloſſen, auf derſelben ſtehe ein Git-
ter, damit die Ausſicht nicht ganz gehemmt
werde. Eine ſolche Lage macht es möglich, je-
den Kranken zu zerſtreuen und zu beſchäfftigen,
wie es ſeine Krankheit erfordert. Man kann
ihm alle Lebensgenüſſe, die ſtillen Freuden des
Landes und die Ergötzung der Stadt verſchaffen;
ihn durch Gärtnerey und Feldbau oder durch
Profeſſionen und Künſte des Städters beſchäfftigen,
nach ſeinem Bedürfniſs *). Daſs übrigens die An-
[460] ſtalt geſunde Luft, keine Sümpfe und Moräſte
und hinlänglichen Abfluſs der Kloaken, kurz
alles haben müſſe, was von einer geſunden Woh-
nung gefordert wird, iſt eine Selbſtfolge.
Ein einziges groſses Gebäude, in welchem
alles zuſammengefaſst iſt, hat zwar für die Ver-
waltung groſse Vortheile. Das Zuſammenſeyn
aller Gegenſtände, die beachtet werden müſſen,
erleichtert die ſchnelle Ueberſicht. Allein noch
gröſser ſind die Nachtheile. Daher würde ich
eher für die Form einer Meierey ſtimmen, die
aus einem Hauptgebäude und mehreren um daſſel-
be zerſtreut liegenden kleinen Häuſern beſtände.
Ein Gebäude von einem Geſchoſs mit einem Sou-
terrain hat viele Vorzüge vor hohen Gebäuden.
Dieſe Conſtruction der Anſtalt in der Form einer
Meierey erleichtert die nöthigen Abſonderungen
der Raſenden, Blödſinnigen und Geneſenden,
und hat das Schauderhafte eines Gefängniſſes
*)
[461] nicht, was von einem einzigen groſsen Hauſe
kaum getrennt werden kann.
Die Fenſter ſind ohne eiſernes Gitterwerk;
Rähme ſowohl als Flügel beſtehn hingegen aus
Eiſen, und haben kleine Scheiben. An Fenſtern
und Thüren ſind keine Riegel und Ketten, ſon-
dern Schlöſſer mit Federn, die beim Zuſchlieſsen
ſich ſo verſchlieſsen, daſs der Kranke ſie nicht
öffnen kann. Auf dieſe Art iſt für ſein Entwei-
chen geſorgt, und ihm die Idee erſpart, daſs er
wie ein Gefangner gehalten werde. Im Erdge-
ſchoſs ſind Zellen, in welche Kranke kommen,
deren Freiheit Gefahr bringen kann. In dieſelben
fällt das Licht durch ein kleines Fenſter, das
nach den Umſtänden geöffnet oder zugemacht
wird. Ein kleines Thürchen, welches ſich nach
auſsen öffnet, dient dazu, die Kranken zu be-
obachten, und muſs ſo eingerichtet ſeyn, daſs ſie
es nicht gewahr werden.
Die Irrenden und beſonders die Narren ha-
ben einen widrigen ſpeciſiſchen Geruch, der als
Gas und Dampf durch Haut und Lungen ent-
weicht, und von Holz und Bleichwänden, wie
von Schwämmen, eingeſogen und nachher wie-
der ausgehaucht wird. Faſt alle Perſonen, die
mit topiſchen Uebeln in mein Lazareth kommen,
und übrigens geſund ſind, bekommen das Hoſpi-
talfieber, wenn ſie auch in leere Zimmer gebracht
werden, die lange gelüftet ſind. Man muſs da-
her die Wände und Decken entweder mit gla [...]rten
[462] Flieſen beſetzen, oder mit Käſeſirniſs und anderen
feſten Tünchen überziehn, damit ſie nicht ein-
ſaugen und abgewaſchen werden können. Die
Fuſsböden werden von Eichenholz gemacht oder
mit Marmor gepflaſtert und dann mit Decken be-
legt. Man ſcheurt, wäſcht und räuchert fleiſsig
mit überſäurter Salzſäure *).
Die Zimmer müſſen einfach meublirt ſeyn,
und im Winter mäſsig erwärmt werden. Einige
Kranke vertragen die Hitze des Sommers nicht.
Dieſe bekommen kühle Schlafgemächer im Erd-
geſchoſs, und am Tage einen Aufenthaltsort in
Grotten, am Waſſer, unter dickſchattigen Bäumen.
Das Geſchirr der Raſenden beſteht aus Leder,
Holz oder Metall, damit ſie es nicht zerbeiſsen.
Auſserdem muſs die Irrenanſtalt alles in Be-
reitſchaft haben, was zur pharmaceutiſchen und
pſychiſchen Kur der Irrenden erfordert wird.
Dahin rechne ich Traufen, Sturzbäder, Douchen,
Höhlen, Grotten, magiſche Tempel. Es muſs
einen groſsen freien Platz zum Exerciren und zu
gymnaſtiſchen Uebungen; Anſtalten zu Concer-
ten, Schauſpielen und zu anderen Uebungen der
Aufmerkſamkeit haben. Es muſs eine Vorrich-
tung haben, durch welche der Kranke ſcheinba-
ren Gefahren ausgeſetzt und dadurch zur Selbſt-
hülfe aufgemuntert wird. Kurz die Heilanſtalt
muſs alle bereits oben angezeigten Mittel in Be-
reitſchaft haben, die zur pſychiſchen Kur noth-
[463] wendig ſind. Dieſe werden in dem Maaſse ver-
mehrt, als die pſychiſche Kurmethode erweitert
wird, welches leicht geſchehen kann, wenn nur
in der Wahl des Locals und in der Anlage der
Gebäude keine Fehler begangen ſind.
§. 24.
Noch ein Paar Worte über die Policey
und innere Verfaſſung ſolcher Irrenhäuſer,
die als Heilanſtalten dienen ſollen.
Hauptſächlich muſs dahin durch obrigkeit-
liche Vermittelung geſehen werden, daſs die
Kranken ſo früh als möglich dem Inſtitut zur
Kur übergeben werden. Bey keinen Krankhei-
ten iſt die Procraſtination der Hülfe nachtheiliger
als bey Geiſteskrankheiten. Ein einziger falſch
behandelter Paroxiſmus kann vielleicht über die
Heilbarkeit oder Unheilbarkeit des Krankenent-
ſcheiden.
Dann muſs der Arzt des Orts nach wohl ab-
gewognen Gründen es beſtimmen, ob die Tren-
nung des Kranken von ſeiner Familie räthlich
und die Abführung deſſelben in die Irrenanſtalt
nicht etwan auf ſeine Krankheit einen nachthei-
ligen Einfluſs haben könne.
Ob der Antrag zur Aufnahme in ein Irren-
haus, das Heilanſtalt iſt, von der Obrigkeit und
nach der Vorſchrift der preuſsiſchen Gerichtsord-
nung *) geſchehen ſolle, nach welcher die Kran-
[464] ken erſt durch ein förmliches Rechtserkenntniſs
für Wahnſinnige erklärt werden müſſen, zweifle
ich faſt. Dadurch würde wahrſcheinlich die
ſchnelle Abführung zum Nachtheil der Kur zu
ſehr verzögert. Die Aufnahme in die Heilanſtalt
kann auf ein bloſses Atteſt des Arztes proviſoriſch
verſtattet werden. Die Sicherheit des Publikums
iſt nicht gefährdet, wenn nur die Aufnahme in
die Aufbewahrungsanſtalt, aus welcher keine
Erlöſung iſt, mit aller Vorſicht veranſtaltet wird.
Mit dem Kranken muſs zugleich eine Ge-
ſchichte ſeiner Krankheit, ſeines moraliſchen und
phyſiſchen Zuſtandes insgemein, der wahrſchein-
lichen Urſache ſeiner Geiſteszerrüttung und der
Art und Weiſe, wie ſie ſich äuſsert, eingereicht
werden, nach einem Schema, welches die Di-
rektion noch erſt zu entwerfen hat.
Unheilbare Kranke dürfen nicht aufgenom-
men werden. Werden ſie gleich augenblicklich
als ſolche von der Direktion erkannt, oder ent-
wickelt ſich die Unheilbarkeit ihres Zuſtandes
erſt während ihres Aufenthalts in der Heilanſtalt;
ſo müſſen ſie an die Aufbewahrungsanſtalt abge-
geben werden. Auch dieſe Handlung, durch
welche der Unglückliche nun auf immer ſeinem
Schickſale hingegeben wird, iſt ſo wichtig, daſs
ſie mit der gröſsten Sorgfalt und Gewiſſenhaftig-
keit verrichtet werden muſs. Die Aufſuchung
der Merkmale, durch welche der Kranke als
Unheilbarer erkannt werden ſoll, iſt medicini-
ſchen
[465] ſchen Inhalts und ein Theil der Semiotik, der
noch einer genaueren Erwägung bedarf. Die
Beſtätigung des ärztlichen Urtheils iſt Sache der
Obrigkeit, und geſchieht am beſten nach den
Formalitäten, die in den preuſsiſchen Geſetzen
vorgeſchrieben ſind.
Tollhäuſer müſſen daher öffentliche Anſtal-
ten ſeyn, und unter der ſpeciellen Aufſicht des
Staats ſtehn. Privat-Tollhäuſer, wie ſie ſonſt
in England waren, ſind der bürgerlichen Sicher-
heit gefährlich. Mir ſind Fälle bekannt, daſs
ſelbſt in öffentlichen Tollhäuſern Menſchen ein-
geſperrt geweſen ſind, die nicht verrückt waren.
Wie viel leichter iſt dies in Privat-Anſtalten
möglich, in welchen die Aufnahme ohne öffent-
liche Auctorität geſchieht, und deren Inhaber
keine Unterſuchung fürchten dürfen. Sie ſind
Privat-Gefängniſſe, für welche Niemand ſicher
iſt, der zwiſchen Habſucht und Boſsheit ins Ge-
dränge kömmt. Der Eingeſperrte kann in le-
benslänglicher Gefangenſchaft verſchmachten, iſt
der grauſamſten Behandlung ausgeſetzt, ſelbſt
nicht ſeines Lebens ſicher, weil dieſe Oerter auſser
der Sphäre der Policey liegen. Ja man hat ſogar
Fälle, daſs bey einer durch öffentliche Auctorität
veranſtalteten Unterſuchung der Privat-Tollhäuſer
die Kerkermeiſter derſelben die Vernünftigen ſo
lang bey Seite geſchafft haben, damit ſie über
ihre Lage den Beſchauern keine Vorſtellung ma-
chen könnten.
G g
[466]
Ein wichtiges Stück der Policey des Irren-
hauſes iſt die Speiſeordnung, die noch einer
beſonderen Beobachtung bedarf. Die Diagnoſis der
Sthenie und Aſthenie iſt ungewiſs. Auch kömmt
es darauf an, ob man dieſe Prädikate auf die
Vegetationsinſtrumente oder auf den dynamiſchen
Gehalt des Seelenorgans bezieht. Im Blödſinn
ſind zuverläſſig die Seelengeſchäffte des Gehirns
aſtheniſch, obgleich die Vegetation in den übri-
gen Regionen des Organiſmus mit hinlänglicher
Energie von ſtatten gehen kann. Man muſs da-
her die Wirkungen der Diät noch genauer in den
Individuen beobachten, und manchmal aus dem
Erfolg auf ihre Statthaftigkeit ſchlieſsen. In der
Regel hat man vielleicht zu allgemein Geiſteszer-
rüttete auf eine magere Diät eingeſchränkt. Sie
paſst nur im Anfang der Krankheit, für robuſte
und vollblütige Subjekte, für Geiſteszerrüttungen,
fixen Wahn und Tobſucht, die mit Thatkraft
verbunden ſind; allein ſelbſt in dieſen Fällen nicht
unbedingt, wie ich noch ſagen werde. Dieſe
Kranke trinken Waſſer, eſſen Obſt und Gemüſe,
und ſchlafen wenig. Narrheit und Blödſinn ſind
an ſich aſtheniſcher Natur, und fordern in dieſer
Beziehung eine nahrhafte Diät, wenn nicht die
Thätigkeit der Vegetationsinſtrumente überhaupt
das Gegentheil gebietet. Kranke, die ſchlaff,
mager, entkräftet, durch Blutflüſſe, Durchfälle,
Kummer und andere ſchwächende Urſachen um
ihren Verſtand gekommen ſind, müſſen eine nahr-
[467] hafte Diät bekommen. Im Blödſinn und der
dumpfen Melancholie kann Tobſucht entſtehn,
und jene Krankheiten als Kriſe entſcheiden.
Dieſe muſs man zuweilen durch eine reizende
Nahrung erregen oder unterſtützen. Kranke,
die raſen, ſich ſtark bewegen, viele Wärme er-
zeugen und wenig ſchlafen, konſumiren unge-
heuer durch die beſchleunigte Vegetation, und
müſſen daher mit zureichender und derber Nah-
rung verſehen werden, wenn ſie nicht in Aſthenie
verfallen ſollen. Dieſe Art Kranke ſind des-
wegen auch meiſtens ſehr gefräſsig. Fehlt es an
Stoff in blutleeren Subjekten bey hinlänglicher
Verdauungskraft, ſo gebe man Nahrungsmittel
im eigentlichen Sinn, Bier, Getreide-Schleime,
Eier, Milch und Fleiſchſpeiſen. Fehlt es zugleich
an Reiz bey trägen, ſtumpfen, blaſſen, gedun-
ſenen und kalten Subjekten, die an ſchwacher
Verdauung leiden und in Schwermuth verſunken
ſind, ſo ſoll man den Nahrungsmitteln Reize,
Wein, Condimente und Gewürze zuſetzen.
Als während der Revolution in der Salpe-
trière und dem Bicetre die Brodtpor-
tionen vermindert wurden, verfielen die Rekon-
valeſcenten von neuem in Raſerey, es entſtan-
den Bauchflüſſe und Ruhren, und in zwey Mo-
naten ſtarben mehrere als ſonſt im ganzen
Jahre *). Poſt pleuritidem ſanatam, ſagt Gili-
G g 2
[468]bert*) vidi hominem ab inanitione delirantem
quod probatum fuit curatione delirii, quae tot [...]
conſiſtebat in nutritione appropriata. Quand [...]
enim comedebat, ceſſavit delirium, peracta dige [...]
ſtione iterum delirabat; manducando ſapiens fie [...]
bat. Wie nah ſind Eſſen und Denken, Vegetation
und Seelenfunction verwandt! Ein junger Menſch
wurde wahnſinnig. Man lieſs ihm ſtark und of[t]
Blut, dadurch wurde er ſo entkräftet, daſs er i[n]
Blödſinn verfiel. Pinel**) verordnete ihm ein [...]
nahrhafte Diät. Der Blödſinn ſtieg zur Verrückt
heit, dieſe bis zur Raſerey und nach derſelbe[n]
kehrte die Vernunft zurück. So gab Parge
ter***) einem ſolchen ſtumpfen Kranken zum
Frühſtück eine Pinte Milch, fünf Unzen Brod[t]
und eine ziemliche Portion Muscatnuſs; zum
Mittage ein Pfund Fleiſch, ſechs Unzen Brodt
eine Pinte Porter und dabey Pfeffer, Senf und
Meerrettig in reichlicher Quantität. Das Abend[-]
brodt war wie das Frühſtück.
In der Irrenanſtalt muſs jeder, ſeinem Ver[-]
mögen und ſeiner Krankheit angemeſſen, beſchäft[-]
tiget werden. Müſsiggang und Faulheit ſtört all [...]
Ordnung. Arbeit macht geſund, erhält den Ap[-]
petit, ladet zum Schlaf ein, und mindert di[e]
Congeſtionen nach dem Kopf. Sie mindert di[e]
[469] leeren Aufbrauſungen und die Verirrungen der
Imagination dadurch, daſs ſie auf ſich heftet und
die Fülle der Lebensgeiſter durch andere Wege
ableitet. Spinnerey und Wollarbeiten ſind zu ein-
förmig und ungeſund. Die Arbeit muſs Wechſel
haben, in freier Luft geſchehen und mit Bewe-
gung verbunden ſeyn. Anfangs genügt eine bloſs
mechaniſche, Land- und Gartenarbeit, in der
Folge muſs ſie mit Anſtrengung der Seele, wie
die gymnaſtiſchen Uebungen, verknüpft ſeyn.
Auf Erwerb darf ſie in den Irrenhäuſern nicht
berechnet ſeyn. Doch lohnt man die Fleiſsigen,
als wenn ſie wirklich etwas verdient hätten, um
ſie aufzumuntern.
Gerechtigkeit und ſtrenge Ordnung muſs in
den Irrenhäuſern in allen Verhältniſſen der Kran-
ken, in dem Betragen der Dienſtleute gegen die-
ſelben, im Eſſen, Trinken, Schlafen, Reinigen,
Kleiden und Arbeiten obwalten. Die beobach-
tete äuſsere Regel wirkt auf ſie zurück, ordnet
ihren verwirrten Kopf, und flöſst ihnen das Ge-
fühl der Nothwendigkeit und des Gehorſams ein.
Die Gerechtigkeit wirkt ihrem Argwohn, Men-
ſchenhaſs und ihrem Starrſinn entgegen. Züchti-
gungen der Halsſtarrigen werden durch den Aus-
ſpruch der Oberen beſchloſſen und pünktlich voll-
zogen; aber eben ſo pünktlich erfülle man ver-
ſprochne Belohnungen. Nie muſs den Dienſtleu-
ten es geſtattet werden, die Kranken nach ihrer
Willkühr zu ſtrafen. Entſchuldigungen der Ge-
[470] genwehr laſſe man nicht gelten. Man halte ihnen
keine Barbarey gegen dieſe Unglücklichen zu
gute, ſondern ſtrafe und entlaſſe jeden, der ſich
derſelben ſchuldig gemacht hat. Des Nachts
müſſen alle Behältniſſe der Irrenden ſtündlich vi-
ſitirt werden.
Beſuche neugieriger Fremden ſind in jeder
Heilanſtalt unzuläſſig. Wozu ein Schauſpiel, das
die Phantaſie der Kranken erregen, Raſerey und
Rückfälle veranlaſſen kann. Pinel*) führt
Beiſpiele der Art an. Die Wärter pflegen gar
die Kranken auf ihre fixen Ideen zu helfen, um
die Zuſchauer zu beluſtigen. Selbſt Verwandte
dürfen ohne Erlaubniſs des Arztes keinen freien
Zutritt haben. Oft iſt vollkommne Sonderung
von allen bekannten Gegenſtänden ein Hauptmo-
ment in dem Kurplan. Nur dann kann man die
Beſuche der Verwandten geſtatten, wenn ſie zum
pſychiſchen Kurplan gehören, und dem Kranken
Troſt und Hoffnung gewähren. Wer an der Be-
ſchau ſeiner eignen Narrheit nicht genug hat, mag
ſich an die Aufbewahrungsanſtalten wenden, in
welchen die erregten Exaltationen von wenigerem
Nachtheil ſind.
Welche Kranke ſollen in die Heilanſtalt auf-
genommen werden? Heilbare Irrende, wie be-
reits oben geſagt iſt. Auſserdem könnte man
vielleicht noch andere Nerven-Kranke, Hypo-
[471] chondriſten, Schlafwandler, Enthuſiaſten und
überhaupt ſolche, die vorzüglich der pſychiſchen
Kur bedürfen, aufnehmen. Dieſe Kranke ge-
wönnen wahrſcheinlich an Schnelligkeit der Ge-
neſung und die Anſtalt verlöhre das Anſehen ei-
nes bloſsen Irrenhauſes, welches ein bedeuten-
der Vortheil iſt.
Nach welcher Regel ſollen die Kranken in
der Anſtalt geordnet werden? Der Stand kann
keinen Unterſchied machen. Man hat ſie vor-
züglich nach ihrer natürlichen Verwandtſchaft zu
ordnen geſucht. Allein theils iſt dieſe noch
nicht zulänglich ausgemittelt, theils zweifle ich,
ob das Ordnen nach dieſer Regel zweckmäſsig
ſey. Wird nicht der Trübſinn des einen, den
Trübſinn des andern erregen? ein Raſender den
andern wecken? Wird der Narr unter lauter Nar-
ren geſcheut werden? Eher möchte ich noch den
Melancholiſchen zu einem Narren, als zu einem
ſeines Gleichen ſtellen? Wenn ich es aber be-
zweifle, daſs eine Klaſſiſikation nach einer abſo-
luten Regel ſtatthaft ſey; ſo vertheidige ich damit
die verwirrte Miſchung nicht, in welcher die
Kranken in den meiſten Irrenhäuſern zuſammen
leben. Ich glaube vielmehr, daſs die möglichſte
Sonderung am dienlichſten ſey; daher die An-
ſtalt nicht zu groſs ſeyn dürfe und die Form ei-
ner Meierey haben müſſe. Uebrigens muſs die
Direktion, nach dem Befund der individuellen
Umſtände, die Subjekte trennen und zuſammen-
[472] ſtellen. Soll irgend ein fixer Eintheilungsgrund
beſtehen, ſo würde ich denſelben am liebſten von
dem phyſiſchen Kurplan hernehmen. Anfangs be-
kömmt jeder neue Irrende ſeine Lection für ſich,
bis er an Gehorſam gewöhnt und zur Kur gehö-
rig vorbereitet iſt. Dann werden mehrere, die
auf einer Stufe ſtehn, zuſammen geübet und un-
terrichtet. Jede Klaſſe, bis zu den Reconvales-
centen, hat keine Gemeinſchaft mit einander,
wenn nemlich das Beiſpiel ſchaden kann. Daſs
zugleich in der Klaſſifikation für die pſychiſche
Pädagogik auf Erziehung und Kultur der Seele
geſehen werden müſſe, der gebildete Stand einer
höhern Stufe des Unterrichts bedürfe als der
gemeine Mann, verſteht ſich von ſelbſt. Sollen in
dieſer Stufenleiter, nach der Annäherung zur Ge-
neſung, die Männer von den Weibern getrennt
werden? Im Allgemeinen, glaube ich, nein;
doch muſs dies noch genauer beobachtet werden.
Die Raſenden mit und ohne Verkehrtheit
bedürfen vorzüglich einer phyſiſchen noch zu be-
richtigenden Kur und müſſen theils dieſerwegen,
theils wegen des nachtheiligen Einfluſſes auf die
anderen durch ihr Gebrüll und durch die Stö-
rung des Schlafs ganz getrennt werden. Man
muſs ſie genau in Beziehung des Einfluſſes äuſse-
rer Potenzen, des Lichts, der Geſellſchaft, der
Speiſen beobachten und darnach ihr Regime ord-
nen. In den hellen Zwiſchenzeiten ſoll man ih-
nen Freiheit geben und ſie in einem eignen Revier
[473] unter einer beſonders dazu inſtruirten Auctorität
arbeiten laſſen. Was zu ihrer Bändigung und
Sicherung geſchehen müſſe, iſt bereits oben geſagt.
Irrende, die zugleich fallſüchtig oder mit
anderen Nervenkrankheiten behaftet ſind, müſſen
gleichfalls geſondert werden. Die Wahnſinnigen
ſcheuen den Anblick der Fallſucht oder fahren
auf den Kranken zu, ſchlagen und miſshandlen
ihn. Der Anblick kann die Fallſucht durch den
Trieb zur Nachahmung verbreiten. Auch ſind
dieſe Kranke meiſtens unheilbar und daher nicht
für die Heilanſtalt geeignet.
Endlich muſs noch ein eignes Krankenhaus
vorräthig ſeyn, wohin die Geiſteszerrütteten kom-
men, wenn ſie von Ruhren, Fiebern und ande-
ren Krankheiten befallen werden. Dieſe Krank-
heiten erfordern bloſs körperliche Mittel. Doch
muſs der Arzt auch in der pſychiſchen Kurme-
thode erfahren ſeyn, damit er den Einfluſs dieſer
Krankheiten auf die Geiſteszerrüttung beobachte
und zur Heilung der letzten davon Gebrauch
mache.
§. 25.
Die Heilanſtalt für Irrende an ſich iſt ein tod-
tes Ding. Durch Menſchen muſs ſie gleichſam erſt
Leben und Federkraft bekommen. Wir geben
ihr eine äuſsere und innere Adminiſtration; jene
beſorgt die allgemeinſten und ökonomiſchen, dieſe
ihre beſondern und techniſchen Geſchäffte.
[474]
Die äuſsere Adminiſtration überge-
he ich, und bemerke bloſs, daſs ſie nicht allein
aus öffentlichen Auctoritäten beſtehen ſollte, die
ſo leicht durch ihren Rang im Staat imponiren
und von ihrer Macht Gebrauch machen, wo ſie
mit Gründen nicht durchdringen können. We-
nigſtens ſollten einige Privatperſonen zugezogen
werden, die ohne Eigennutz, aus Patriotiſmus,
für die bürgerliche Societät arbeiten und durch
fremde Verhältniſſe nicht von ihrer Pflicht abge-
zogen werden. Dann muſs auch das Perſonal
der inneren Adminiſtration in ihr Sitz und Stim-
me haben, damit jene nicht Dinge beſchlieſse, die
mit dem Zweck der Anſtalt im Widerſpruch
ſtehn.
Zur innern Adminiſtration zähle ich
den Oberaufſeher, Arzt, Pſychologen und die
Dienſtleute. Die Dienſtleute übergehe ich. Sie
ſind abhängig von dem Oberſtab, Maſchinen, die
er nach ſeiner Willkühr als Mittel zu ſeinen Zwe-
cken gebraucht. Es kömmt alſo vorzüglich auf
die Beſtimmung der Qualitäten des Oberſtabs an,
von dem, als von ihrer Seele, der Erfolg der An-
ſtalt zunächſt abhängig iſt.
Der Oberaufſeher, Arzt und Pſychologe
müſſen folgende allgemeine Eigenſchaften, Ta-
lent, Kunde ihres Fachs und guten Willen zur
Ausübung deſſelben haben. Sie müſſen Beobach-
tungsgabe und Scharfblick beſitzen, um ins In-
nerſte der Herzen zu dringen und die verborgen-
[475] ſten Triebfedern der Verkehrtheit auszuſpähn;
Schnelligkeit im Auffaſſen der Gegenſtände, im
Entſchlieſsen und Inproviſiren, um jedes momen-
tane Ereigniſs zu nützen; Muth, um die erſchüt-
terndeſten Scenen auszuhalten; Geduld und Be-
harrlichkeit, um die miſslungnen Verſuche ſolang
zu wiederholen, bis ſie zum Zweck führen. Der
ganze Vorrath von Kenntniſſen, von allgemei-
ner Menſchenkenntniſs, Philoſophie, Pſycholo-
gie und Arzneykunde ſtehe ihnen zu Gebot, der
zur Ausübung ihres Fachs erfordert wird. Da-
bey fehle es ihnen nicht an Uebung, ihre Kennt-
niſſe auf concrete Fälle, Behufs des Zwecks der
Heilung Irrender, anzuwenden. Ihr Charakter
ſey unbeſcholten, ihr Herz edel; Menſchenliebe
und Pflichtgefühl leite jeden ihrer Schritte; fern
ſey aller Eigennutz, Liebe für die Kunſt und
Trieb, das vorgeſteckte Ziel zu erreichen, belebe
ihre Thätigkeit. Sanftmuth und Ernſt wech-
ſele auf ihrem Geſicht, wie die Umſtände es
wollen; ihr Herz ſey ſo fern von kalter Barba-
rey als von ohnmächtiger Gelindigkeit. Durch
Ueberlegenheit ihrer Talente, Mäſsigung ihrer
Leidenſchaften und durch Würde in ihrem Betra-
gen ſollen ſie ſich die Liebe und Achtung der Ir-
renden erwerben. Furcht, als Folge einer tyranni-
ſchen Behandlung, iſt mit Haſs und Verachtung
gepaart. Meiſtens ſind die Verrückten noch klug
genug, die Schwäche und den Unverſtand ihrer
Vorgeſetzten bemerken zu können. Ihre Rede
[476] ſey kurz, bündig und lichtvoll. Die Geſtalt des
Körpers komme der Seele zu Hülfe und flöſse
Furcht und Ehrfurcht ein. Er ſey groſs, ſtark,
muskulös; der Gang majeſtätiſch; die Mine feſt;
die Stimme donnernd.
Am beſten ſcheint es zu ſeyn, daſs dieſe
drey Perſonen durch keine äuſsere Rangord-
nung von einander getrennt werden. Jeder der-
ſelben verfolge ſein eigenthümliches Geſchäfft,
mit Hinſicht auf den gemeinſchaftlichen Zweck, der
durch ihr vereintes Wirken erreicht werden ſoll.
Der Oberaufſeher beſorgt die Oekono-
mie des Hauſes, Küche, Kleidung, Wäſche, die
Hauspolicey, hält die Dienſtleute zu ihren Ge-
ſchäfften an und leitet das Ganze ſo, wie es
dem Plane des Arztes und Pſychologen zur Kur
der Irrenden angemeſſen iſt. Er ſey davon ſatt-
ſam unterrichtet, daſs die Anſtalt zur Kur und
nicht zur Verpflegung der Kranken da ſey.
Der Arzt und Pſychologe ſind die
nächſten Kräfte, durch welche die Kur der Irren-
den bewerkſtelligt werden muſs. Sie ſind beide
Heilkünſtler, bloſs verſchieden durch die Mittel,
welche ſie anwenden, ſofern jener durch phar-
maceutiſche, dieſer durch pſychiſche Mittel wirkt.
Sie ſtehn alſo in einem ähnlichen Verhältniſs zu
einander, wie der Arzt zum Wundarzt. Auf
Namen und Perſonen kömmt es hier nicht an.
Genug daſs die Irrenden zum Theil pſychiſch be-
handelt werden müſſen, und daſs dies nicht an-
[477] ders als von einem Menſchen geſchehen kann,
der dazu die nöthigen pſychologiſchen Kenntniſſe
hat. Es iſt gleichgültig, ob dieſe Kenntniſſe in
zwey Perſonen oder gemeinſchaftlich mit den
ärztlichen in einer Perſon vereinigt ſind, ob der
Inhaber derſelben Pſychologe, Arzt oder Predi-
ger heiſse. Allein da beide Zweige der Arznei-
kunde, die pſychiſche und pharmaceutiſche, von
einem ſo ungeheuren Umfang ſind, daſs ſie faſt
die Kräfte eines Menſchen überſchreiten; ſo halte
ich es für gerathen, zwey Perſonen im Irrenhauſe
zur Kur der Kranken unter den Namen des Arz-
tes und des Pſychologen anzuſetzen. Der Arzt
muſs die pharmaceutiſche Arzneikunde in ihrem
ganzen Umfang umfaſſen, mit der Phyſiologie
des Körpers durchaus bekannt ſeyn, die Krank-
heiten der Seele aus der Pathologie zu ſeinem
Hauptfach gemacht haben, und dabey in der
Pſychologie nicht unerfahren ſeyn. Der Pſycho-
loge hingegen ſoll in der Philoſophie überhaupt
zu Hauſe ſeyn, die praktiſche Seelenlehre, auf
Arzneikunde angewandt, das Studium der See-
lenkrankheiten, die pſychiſche Kurmethode zum
Hauptgegenſtand ſeines Wiſſens gemacht, und
von der Medicin überhaupt wenigſtens eine allge-
meine Anſicht haben. Beide müſſen beobachten
und unterſuchen, dieſer die Urſprünge aus der
Seele, jener die Urſachen im Körper, den Plan
zur Kur gemeinſchaftlich entwerfen, und der
Arzt dann die Heilung der körperlichen Gebre-
[478] chen, der Pſychologe die Pädagogik der Seele
übernehmen. Nach dieſem Verhältniſſe werden
in der Folge ihre Inſtructionen angefertiget. Die
Pſychologen zu dieſem Gebrauch müſſen erſt noch
gebildet werden, weil man bis jetzt dieſe Anwen-
dung der Pſychologie nicht cultivirt hat. Zu
Aerzten würde ich Herrn D. Langermann in
Baireuth, Herrn D. Erhard und Meyer in
Berlin empfehlen können. Daſs dieſe Poſten hin-
länglich lohnen müſſen, verſteht ſich von ſelbſt.
Es widmen ſich ſonſt keine Männer dieſem müh-
ſamen Geſchäfft, die Talent haben und überall
mit demſelben vortheilhafter wuchern können.
Die Dienſtleute wählt und entläſst der
Oberſtab nach ſeiner Willkühr. Er wählt junge
rüſtige und gewandte Menſchen, die Verſtand
genug haben, den Plan zu faſſen, der zur Kur
der Irrenden entworfen iſt. Oft iſt es nöthig,
daſs ein Kranker eine gewiſſe Zeit unter beſtän-
diger Aufſicht ſtehe. Dazu werden die Dienſt-
leute angewieſen. Einige derſelben müſſen im
Ackerbau, der Gartenkunſt, dem Schwimmen,
Drechſeln und andern gymnaſtiſchen Uebungen
erfahren ſeyn, damit ſie die Lectionen ausführen
können, die zur Kultur der Irrenden von dem
Arzte angeordnet werden. Alte Krieger paſſen
daher nicht zu dieſem Geſchäfft, und noch weni-
ger die Geneſenen.
§. 26.
Irrenhäuſer, die nach obigen Grundſätzen ein-
gerichtet ſind, würden noch zu Pflanzſchulen die-
[479] nen können, in welchen angehende Aerzte in
dem ſchwierigen Zweig, nemlich der Therapeutik
der Seelenkrankheiten unterrichtet würden. Die
Zöglinge dienten zugleich als Gehülfen. Die an-
geſetzten Aerzte hielten Vorleſungen über Seelen-
krankheiten, pſychiſche Kurmethode und empi-
riſche Pſychologie, zum Gebrauch für die prakti-
ſche Arzneikunde, und hätten dabey die Gele-
genheit, ihre theoretiſchen Vorträge durch Bei-
ſpiele zu erläutern. Auch würde in einem ſol-
chen Irrenhauſe eine reiche Erndte für die Pſy-
chologie gemacht werden können, zu welchem
Zweck die Irrenhäuſer bis jetzt noch wenig ge-
nützt ſind.
§. 27.
Noch fehlt es an einem Moment, das leicht
genannt, aber ſchwer geſchafft wird, Geld zur
Ausführung dieſer Ideen. Der Staat trete als
Obervormund dieſer Unmündigen an die Spitze
ihrer Verſorger. Man überzeuge die reichen
Capitularen, daſs das Uebermaaſs des Fetts ih-
ren Nachfolgern ungeſund ſey; wecke den Bür-
gerſinn zu Subſcriptionen und Vermächtniſſen an
dieſe Anſtalten; und laſſe den Reichen, der
durch ſie geheilt iſt, für die Armen mit be-
zahlen.
§. 28.
Was für euch, unglückliche Geſchöpfe! die
das Verhängniſs von der Stufe der Menſchheit
hinunterſchleuderte, wo Intelligenz und Auſsen-
welt am vollkommenſten in einander greifen, der
[480] Menſch thun müſſe, um euch wieder zu ſich hin-
aufzuheben, das habe ich nach meinem beſten
Wiſſen geſagt, und der unbefangene Menſchen-
verſtand richte, ob mein Mund wahr geredet
habe. Das höchſte Moralgeſetz will, daſs das
geſchehe, was mit der Form der reinen Vernunft
übereinſtimmt, und die Fürſten des Landes
ſind es, denen eure Sachwalter die Acten zum
Spruch vorzulegen haben. Sie nahmen auch
euch unter ihre Flügel, als ſie ſich an die Spitze
von Millionen ſtellten, um ſie in einen Körper zu
regeln, in welchem Volksglück als höchſter
Zweck durch alle Glieder der Verwaltung pulſi-
ren ſoll. Leider zertrümmert es oft in dem Wi-
derſtreit der Kräfte, bis die Staatskörper in rich-
tigen Verhältniſſen gegen einander gravitiren und
wie die Weltkörper in dem leeren Raum, groſs
und klein, Sonnen und Sterne, in friedlicher
Eintracht am politiſchen Horizont durch Men-
ſchenalter ſich fortwälzen. Dann aber, Edle
Fürſten! ſpiegle ſich Eure Regentengröſse in
Handlungen, die keinem Theile der Maſſe die
Köpfe zerknicken und dem allein wohlgefällig
ſeyn können, der vom Aequator zu den Polen
alle Menſchen mit gleicher Güte umſpannt. Eure
Pflicht gegen Geiſteszerrüttete, die als Unmün-
dige ſich am nächſten an Euer Vaterherz drängen,
auch nur bey einem unter Euch geweckt und
ihn an die Spelunken hingezogen zu haben, wo-
hin die Geſellſchaft ſie ausſpie und ſie Eurem Auge
entzog, ſey mein Lohn; nur einen Bürger geret-
tet,
[481] tet, aus eines braven Mannes Bruſt den Dämon
der Melancholie verſcheucht und das kochende
Blut eines raſenden Orlando’s abgekühlt zu
haben, der ohne mich in Banden geſchmiedet und
in ſeiner eignen Gluth erſtickt wäre, ſey meine
Bürgerkrone, die bloſs den ehrt, der ſie giebt
den nicht ehren kann, der ſie empfängt; die
Hoffnung, daſs der Faden, den ich angeſponnen
habe, ins Unendliche ausgeſponnen werde und mit
jedem Schritte vorwärts den Klauen des Tollhau-
ſes einen ſeiner Bewohner entreiſſe, ſey mein
Nachruhm, in dem ich fortlebe, wenn der Sturm
über meine Gebeine ſauſt. So läuft ein Gedanke
unſterblich durch Menſchenketten fort, wenn
längſt das Organ zerſtört iſt, das ihn zuerſt aus-
ſprach und tritt in neue Aſſociationen wie der
Staub in neue Geſtalten hervor.
Noch eins, ehe ich ſchlieſse. Ich habe in-
nerhalb des Gebiets der Arzneikunde geſchrieben
und den Dilettanten in Regionen geführt, von de-
nen er vielleicht nicht ahndete, daſs ſie inner-
halb ihres Bezirks enthalten wären. Möchte
dies die mikrologiſchen und verächtlichen Be-
griffe von ihr tödten, die von dem Troſs abſtie-
ben, der mit der Unwiſſenheit ſeiner Pepiniere
ihre Frechheit erbte. Als höhere Phyſik, auf
den beſtimmten Zweck des Heilgeſchäffts an-
gewandt, kann ſie ſich nur von ihren Schlacken
reinigen und ihre Grenzen erweitern, in dem
Maaſse, als jene aus ihrem Helldunkel immer
H h
[482] mehr ans Tageslicht hervortritt. Jene iſt aber
kaum ſkitzirt, geſchweige denn vollendet. Von
dieſem Begriff mögen die Akademieen und Bu-
reau’s des öffentlichen Unterrichts es entlehnen,
was ſie ihr ſchuldig ſind; Urtheile zurückneh-
men, bey welchen der Genius der Kunſt den
Rücken wendet, als ſey bereits für ſie ge-
nug gethan; und Miniſterknechte, Speichel-
lecker und ohnmächtige Achſelträger von den
Tribünen ſtürzen.
Hehre Göttin, Natur! wie wenig verſtehn es
deine Kinder, die du in dem Strome der Zeit wie
Funken von dir ſprühſt, ihre Genealogie nachzu-
weiſen. Jeder lauert dir aus dem Hinterhalte
des Eigennutzes auf und ſpäht in ſo mannichfalti-
gen Geiſtesfeſſeln, als derſelbe Seiten hat, um-
her, bis er den Punkt findet, auf welchem er ſein
Saugwerkzeug anſetzen kann. Der Kameraliſt
wühlt deine Eingeweide auf, gräbt die Metalle
aus deinen Adern, ſteigert deine Geburten durch
Ueberreizung zu Monſtröſitäten und glaubt, dei-
nen Schleier aufgehoben zu haben, wenn er
dich nöthigt, eine doppelte Erndte aus deinem
Füllhorn über ſeine Kartoffelfelder auszuſchüt-
ten. Ein anderer balgt die Thiere aus, läuft
wie der Knabe mit der Scheere den Schmetter-
lingen nach, ſammlet die Leichname der Pflanzen
in ſeine Catacomben ein und glaubt, dich dadurch
zu erhaſchen, daſs er dich, wie eine Wilde,
ſtückweiſe in ſein Kabinet einfängt und den ſpha-
[483] celirten Abſätzen deiner Glieder, in welche du dich
verzweigſt, einen tönenden Namen giebt. Seine
Kenntniſs iſt Kenntniſs des Volks, Vokabeln und
Anekdoten, die er aus dem Volkskörper, wo
ſie vereinzelt kreiſen, in ein Gefäſs geſammlet
hat. Dort bricht ein Artiſt ein Fragment deines
Rieſenkörpers ab, ſchlept es wie ein Maulwurf
in ſeine Höhle, experimentirt mit demſelben
zwar zum Behuf eines Zwecks, doch ohne Sinn,
und ergötzt und erſchrickt ſich über die Convul-
ſionen deſſelben, wie ein Kind ſich ergötzt und er-
ſchrickt, das auf ein beſaitetes Inſtrument faſst.
Vergebens bemüht er ſich, wie ein Blinder, der
durch die Betaſtung ſeiner Stubenwände nie zur
Idee des unermeſslichen Weltraums gelangt, die
abgeriſſene Kette von Erſcheinungen in einem Cy-
clus zuſammenzuknüpfen und in einer Monade
Einheit zu finden, die in der Sphären Geſang wie-
derhallt. Viel hat er noch an ſich zu beſſern,
ehe er in die Speichen der Organiſmen eingreifen,
die Natur bevormundſchaften, und ſich zum Weg-
weiſer ihrer Verirrungen aufwerfen kann Wie
dieſer Athlet mit dem phyſiſchen, ſo experimen-
tirt jener Dynaſt mit dem moraliſchen Menſchen.
Er zwingt ihn, ſich von ſeinem eignen Geiſt los-
zuſagen, formt ihn als Geſtaltloſes nach einem
Typus, der in ſeiner Phantaſie ausgeprägt iſt, in
Menſchengruppen zuſammen, in welchen ſein
Geiſt wandelt, und glaubt, neben dem Zeus die
Zügel zu halten, an welchen die Weltordnung ge-
H h 2
[484] gängelt wird. Nur hie und da weilt ein ſtiller
Beobachter, der reines Geiſtes iſt, und in hohen
Gefühlen dich um deiner ſelbſt willen zu um-
armen ſtrebt. Mit ſpähendem Blick irrt er durch
die Räume deines unermeſslichen Körpers zum
Focus hin, von welchem deine Ströhmungen ins
Weltall ausgehn, ſich ſpalten und wieder zuſam-
menſchmelzen, dieſen Widerſtreit der Kräfte
durch alle Glieder, in den mannichfaltigſten Ver-
zweigungen nachweiſen, und den ewig regen
Pulsſchlag erhalten, der Leben in alle Adern der
Natur ausgeuſst. Er iſt es, dieſer Zwieſpalt der
Kräfte, der den Formentrieb im Chaos weckte,
das Weltall zu Körpern ballte, ihnen die Bahn
anwies, die ſie Aeonen lang wandlen, daſs ſie
nicht in todte Eisſteppen ſich zuſammendrängen
oder in den leeren Raum hinausranken und die
Lichtmagnete der Milchſtraſse als eine ungeheure
Dunſtwolke umlagern. Er iſt es, in ſeinen zar-
teſten und verwickeltſten Verhältniſſen, der den
anorganiſchen Stoff hinaufſteigert aus der todten
Welt in die belebte. Leiſes Schritts wandelt ſie
hier, die plaſtiſche Göttin Natur! und verſucht
ſich zuerſt, gleichſam ſich ſelbſt nicht trauend,
in der einfachſten Forme der Organiſation, die
ſie in den Polypen ausprägt. Eine organiſche
Röhre, in ihr Vegetation und Geſtalt, ſich ſelbſt
Mittel und Zweck, ein beſchloſſenes Ganze, die
erſte und rohſte Skitze der Individualität, ohne
Reflektionspunkte, eine zitternde Gallert, die
[485] gleich einem Monochord unmittelbar wiederhallt,
was die Auſsenwelt in ſie hinein ruft. Von
dieſer einfachſten Geſtaltung ſteigt ſie weiter die
Stufenleiter der Plaſtik hinan, ſchafft nach der nem-
lichen Idee, in eine andere Formel aufgefaſst,
ein zuſammengeſetzteres Produkt, aus Faktoren in
mehrfacherer Zahl und von zarterem Gehalt.
Sie ſetzt Gefäſse, ſammlet ſie in ein Herz; ſetzt
Nerven, Nerven mit Heerden, in jedem Heerd
einen Reflektionspunkt für die äuſseren Einflüſſe
innerhalb der Organiſation, bis endlich alle von
dem einen groſsen Heerd des Gehirns, hoch
an dem poſitiven Pole der Organiſation, verſchlun-
gen werden. Durch Individualität trennte
ſich die Organiſation ab von der todten Natur;
ihr ſetzt dieſer Dynaſt Perſönlichkeit zu,
und nähert ſie der Intelligenz an. Mit jedem
neuem Faktor gehn neue Arten, in denſelben
neue Vermögen, mit denſelben neue Zwecke
zum Gebrauch für die Reflektion hervor. Je
mehr das Nervenſyſtem Reflektionspunkte hat,
je vollkommner dieſe ſich beziehn, ſich aſſo-
ciiren und in einem Hauptbrennſpiegel alle zur
Einheit aufgefaſst werden, deſto mehr brechen
ſich die äuſseren Einflüſſe innerhalb der Organi-
ſation, deſto ſpäter und mehr umgeſtaltet kehren
ſie zur Auſsenwelt zurück und nähern ſich in
dieſen Metamorphoſen der Spontaneität an. End-
lich knüpft die organiſche Plaſtik Intelligenz mit
Natur zuſammen. Auch hier iſt, wie überall,
[486] ewiger Zwieſpalt und ewiger Bund. Auf den
niederen Stufen tritt die Natur hervor, bis end-
lich in der höchſten Potenziirung des Geiſtes das
groſse Kunſtwerk der cislunariſchen Welt, der
Menſch, entſteht, in welchem der Organiſmus
dem Geiſte ſeine innere Seite der Reizbarkeit als
Gemüth zukehrt, das der Intelligenz gleichſam zur
Aetherhülle dient, in welcher ſie zur Auſsenwelt
herniederſteigt. Mit einem doppelten Janusgeſich-
te ſteht er als Grenzgott auf der Scheidung beider
Welten. Mit ſeinem Geiſt blickt er in die intel-
lectuelle, mit dem Gefühle ſeines Organiſmus in
die materielle Welt hinüber. Mit ſeinem Auge,
hoch an der Stirn, ſaugt er das Licht von der Welt
im Raum ein, mit dem Ohre faſst er die in der
Sprache verkörperten Ideen auf und horcht dem
Geflüſter des Geiſterreichs zu. So conſtruirt
die Natur das Thierreich nach einer allgebrai-
ſchen Formel, in Gleichungen von verſchiedenen
Graden, ſtreut ihre plaſtiſchen Verſuche in allen
Potenzen verſchwenderiſch um ſich her aus und
löſt rückwärts in der Analyſis auf, was ſie an dem
einen Extrem in der Syntheſis gab.
Dieſen Dädalus von Faktoren, den Men-
ſchen, in welchem gleichſam alle Facultäten des
Thierreichs zur Individualität und Perſönlichkeit
aufgefaſst ſind, ſoll der Arzt in ſeinen tauſendſäl-
[487] tigen Beziehungen und Verhältniſſen enträthſeln.
Und wie am beſten? Auf der nemlichen Spur,
auf welcher die Natur zu ſeiner Bildung gelangte.
Er ſteige vom Zoophyten die Stufenleiter der Or-
ganiſationen hinan und laufe an der Kette der
ſichtbaren Formen von den einfachſten zu den
verwickeltſten fort. Er ſondere im Organiſmus,
was ihn erhält, von dem, was ſich als Paraſit an
ihm nährt; die Organe, die auf das eigne Seyn ſich
beziehn, von ſolchen ab, die auf ausheimiſche Zwe-
cke gehn. Er faſſe die direkten Werkzeuge der
Vegetation auf und exponire ihre ſteigende Vered-
lung; rücke weiter zu den Organen fort, die
jenen den Stoff bereiten und das Caput mortuum
nach ſeiner Verarbeitung ausſpeien. Dann folge
erſt, was dieſem Gerüſte der Thierheit, das mit-
telbar oder unmittelbar die Möglichkeit des Lebens
begründet, angehängt, in der Idee frey, in der
Wirklichkeit beſtimmt iſt, die Differenz der Gat-
tungen und Arten ſetzt, nach auſsen wirkt, zur
Fortpflanzung, Vertheidigung, zum Erwerb der
Nahrung und zum ſinnlichen und intellectuellen
Genuſs dient. Von allen organiſchen Elementarthei-
len, Organen und organiſchen Syſtemen, durch die
ganze Thierkette, in ſteigenden Dignitäten, ſondere
er einen Prototypus ab, zum Regulativ in der Be-
urtheilung der Individuen, merke die Modifikatio-
[488] nen deſſelben in den Gattungen und Arten und das
dadurch geſetzte und damit in Parallele ſtehende
Hervortreten der Kräfte und Vermögen an. Nach-
dem ein richtiger Standpunkt für die Naturlehre
nachgewieſen iſt, ziehe er Linien durch ihr unge-
meſſenes Feld, vertheile die Provinzen zum Anbau
unter die Maſſe, vermöge ſie nach einer Idee zu
wirken, bis ein Groſser im Volk aufſteht, der von
ſeiner Veſte lichten Höhen die Ebne überſchaut,
über die Pflöcke wegſchreitet, das erworbne Ma-
terial ſammlet, ordnet, ihm Geſtalt giebt. So wird
allmählich eine allgemeine Phyſik des orga-
niſchen Naturreichs aus dem Chaos hervorgehn,
in welcher die Elemente für jede beſondere der
Arten enthalten ſeyn ſollen. Auf keinem ande-
ren Wege als auf dieſem, durch Kultur der Na-
turphiloſophie überhaupt, der Phyſik der anorga-
niſchen Natur, der Organomie und der Pſycho-
logie kann die Naturlehre des Menſchen reel ge-
ſteigert werden. Die Arzneikunde wendet ſie
auf beſtimmte Zwecke an, hebt die dazu taugli-
chen Theile derſelben beſonders aus und lehrt
die Methode ihres Gebrauchs.
Uebrigens darf ich nicht in Abrede ſeyn,
daſs wir im Mittelpunkt beſſer als in der Peri-
pherie ſehn; die Welt, die wir conſtruirt haben,
beſſer, als die Welt des Weltſchöpfers verſtehn.
[489] Allein wir ſind nun einmal nur Schöpfer der
unſrigen, nicht Schöpfer der wirklichen Welt;
nicht im Mittelpunkt des Weltalls geſtellt, ſon-
dern an die Rinde eines Atoms derſelben gefeſſelt.
Keiner allein wird die Grenzen der Naturwiſſen-
ſchaft erweitern, weder der Empiriker, der in
den Feſſeln der Erſcheinungswelt gefangen liegt,
und es nicht wagt, ihren Zauber mit dem Hebel
ſeiner Vernunft zu durchbrechen, noch der Egoiſt,
dem die wirkliche Welt ein Lump gegen dieje-
nige iſt, die er aus ſeines Geiſtes Tiefen hervor-
zieht, und ſeiner leichtgläubigen Klike es aufbür-
det, daſs er durch einige unverſtändliche Wort-
formeln die Myſterien der Natur beſchworen
habe. Sie wandelt ſicheren Schritts ihrer Voll-
endung näher, ohne ſie zu erreichen, wenn Em-
pirie und Speculation ſich die Hand bieten, und
alle Kräfte, die das Gallſche Schimpforgan
vergeudet, vorwärts dem einen Ziele zu ſtreben,
das uns alle zieht. Dann habe ich zum prakti-
ſchen Gebrauch geſchrieben, welches einen be-
ſchränkten Kreis, beſondere Anſichten, mehr
oder weniger iſolirte Erfahrungen und Fertigkei-
ten in der Ausübung vorausſetzt, und harre des
Lichts, das von oben herab dem Empiriker ent-
gegenrückt, und ſeine dunkelen Stiege erleuchten
ſoll. Bis dahin nütze man, was man hat. Er-
[490] trag, ſey er auch noch ſo gering, iſt beſſer als
Brache. Man nahm Enzian wider das Fieber, ſo
lange man die China nicht kannte, zog Zähne und
Staare, ehe Newton und Keppler waren;
Newton und Keppler waren im Beſitz der
höheren Mechanik, wer aber Zähne und Staare
zu ziehen hatte, ging zu Pfaff und Caſaa-
mata.
[[491]]
Appendix A Inhaltsanzeige.
- Vorrede.
- §. 1. Das Tollhaus iſt im Kleinen, was die Welt
im Groſsen iſt; ſchwächt unſern Glauben an Im-
materialität der Seele. Unſer Verhalten gegen die
Tollhäusler; warum es nicht zu billigen ſey?
Barbarey gegen dieſelben. Herrn Wagnitz
Verdienſte um dieſelben. - §. 2. Oeffentliche Tollhäuſer ſind die Baſis aller
Vorſorge für die Irrenden; ihre Vortheile; Zwe-
[492] cke als Heilanſtalten und Aufbewahrungsanſtalten;
Organiſation der letzteren. Ob es räthlich ſey,
beide in einer Anſtalt zu verbinden? Die Con-
ſtruction der Heilanſtalten muſs ſich auf den Plan
der zweckmäſsigſten Kurmethode gründen. - §. 3. Pſychiſche Kurmethoden, was ſie ſind? Be-
griff der Heilmittel; ihr Unterſchied in chemi-
ſche, phyſiſch-mechaniſche und pſychiſche Mit-
tel; darnach die Differenz der drey Arten der
Kurmethoden, der chirurgiſchen, mediciniſchen
und pſychiſchen. - §. 4. Geſchichte der pſychiſchen Kurmethode.
- §. 5. Schwierigkeiten in ihrem Gebrauch; die Mit-
tel haben keine abſolute Gröſse, das Seelenorgan
als Individuum eine ſehr unbeſtimmte Receptivität,
beſonders bey Geiſteszerrüttungen. Kranke dieſer
Art müſſen zum Gebrauch der Mittel gezwungen
werden. Die Krankheit ſelbſt hat keine Stättig-
keit. - §. 6. Die pſychiſche Kurmethode gehört in das Gebiet
der praktiſchen Erfahrungs-Seelenkunde. Dieſe
iſt nicht Hülfswiſſenſchaft der Arzneikunde, ſon-
dern Theil derſelben. Was eine Pſychologie für
[493] Aerzte ſey? ihre Eintheilung in Phyſiologie und
Pathologie, Heilmittellehre und Therapeutik. Wie
ſie auf den hohen Schulen cultivirt werden
müſſe? - §. 7. Zwey Wege Krankheiten zu heilen, durch
Entfernung ihrer Urſachen und durch direkte
Wegſchaffung der Krankheit ſelbſt. Die unmittel-
bare Tilgung des Wahnſinns muſs durch pſychiſche
Mittel geſchehen. Sie erregen das Gehirn, und
durch die Erregung deſſelben wird die Tempera-
tur der Kräfte abgeändert, die im Wahnſinn ab-
norm iſt. Durch Erregung wird das Seelenorgan
ausgebildet, durch dieſelbe muſs ſein kranker
dynamiſcher Zuſtand auch wieder rectificirt wer-
den. - §. 8. Die Pſychologie muſs beſonders zum Gebrauch
für die pſychiſche Kurmethode bearbeitet werden. - §. 9. Selbſtbewuſstſeyn, was es iſt? Es verknüpft
das Mannichfaltige zur Einheit, und bewirkt
dadurch Perſönlichkeit. Individualität als Analo-
gie. Das Nervenſyſtem bewirkt die Vorſtellung
der Individualität, das Gehirn die Perſönlichkeit.
Im Bewuſstſeyn unterſcheiden wir die Vorſtellung,
das Subject, das Object; faſſen durch daſſelbe
[494] die Zeit und den Raum auf, in welchem wir ſind,
und knüpfen alles, was ſich mit uns in der Ver-
gangenheit ereignet hat, an das nemliche beharr-
liche Ich unſerer Perſon. In dem Nervenſyſtem
müſſen wir die Grundveſten des Selbſtbewuſst-
ſeyns auſſuchen; alle Getriebe deſſelben müſſen
ſich richtig beziehn, im Gehirn als ihrem Brenn-
punkt zuſammengehängt ſeyn. Die Abnormitäten
deſſelben rühren von Unordnungen im Nervenſy-
ſtem her; dieſe ſammlen ſich im Gehirn. Das
kranke Selbſtbewuſstſeyn weicht ab in Beziehung
auf Objektivität, im Traume, im Nachtwandlen;
es weicht ab in Beziehung auf Subjektivität und
eigne Perſönlichkeit, bey Nervenſchwächen, im
Irrereden; Zweifel an der Perſönlichkeit, Vertau-
ſchung derſelben. Beiſpiele. Abweichung des
Selbſtbewuſstſeyns im Zuſammenfaſſen aller unſerer
Verhältniſſe zur Einheit der Perſon. Beiſpiele.
Krankheiten deſſelben in Beziehung auf Continui-
tät in der Rückerinnerung. Beiſpiele. Mangel des
Bewuſstſeyns gewiſſer Perioden unſeres Lebens.
Beiſpiele. Fälle, wo das Selbſtbewuſstſeyn Zeit und
Ort nicht feſthält. Sonderbare Art von Träumen.
Aehnlichkeit des Wahnſinns mit dem partiellen
Wirken des Nervenſyſtems im Traum. - §. 10. Beſonnenheit; was ſie iſt? äuſsere, innere;
iſt unwillkührlich im Beginnen; ihre verſchiedene
[495] Gröſse; Krankheiten derſelben, ihr Mangel. Man-
gel der äuſsern Beſonnenheit. Beiſpiele. Zer-
ſtreuung, Vertiefung. - §. 11. Aufmerkſamkeit; ihr Unterſchied von der
Beſonnenheit; ihre Krankheiten. - §. 12. Geſetze, nach welchen das Selbſtbewuſst-
ſeyn, die Beſonnenheit und die Aufmerkſamkeit
wirken. Sie ſind abhängig von dem Zuſtand des
Nervenſyſtems. Das Nervenſyſtem hat nur Kräfte
zum Handlen, wenn es wirklich handelt. Was
ſind dunkele Vorſtellungen? Warum dazu eine
Weile erfordert werde, wenn ein Gegenſtand
durch die Aufmerkſamkeit angemerkt werden ſoll.
Eine Action im Nervenſyſtem wirkt als Erregungs-
mittel zu einer andern. Die Kraft der Nerven iſt
beſchränkt. Die Seele muſs ihre Kraft auf den
Gegenſtand richten, der der merkwürdigſte iſt,
doch noch ſo viel Irritabilität übrig behalten,
daſs ſie auch die Eindrücke anderer Gegenſtände
wahrnimt. Gegenwart, Gröſse, Gewandtheit des
Geiſtes; das Richten der Kraft auf einen Gegen-
ſtand muſs eine gewiſſe Ausdauer haben, Flatter-
haſtigkeit. - §. 13. Die meiſten Seelenkrankheiten ſind Zuſam-
menſetzungen. Ihre Neigung dazu. Ihre Analyſis
[496] in Arten. Wie die Arten aufgefunden werden.
Starrſucht des Vorſtellungsvermögens, Geiſtesab-
weſenheit, Entzückung, Unempfindlichkeit, Wir-
kung der Starrſucht der Vorſtellungen auf die Be-
wegungen. Das Hämmern. Ideenzüge und Ge-
dankenjagden, kommen in der Tobſucht und Narr-
heit vor. Einfluſs derſelben auf die Bewegungen.
Beiſpiele. Kur. - §. 14. Welche Geiſteszerrüttete müſſen pſychiſch
geheiltwerden? Unter gewiſſen Bedingungen, alle.
Doch wird auch die körperliche Kurmethode er-
fordert; in welchen Fällen und zu welcher Zeit?
Nachtheile, die entſtehn, wenn eine falſche Kur-
methode angewandt wird. Der Arzt der Irren-
den muſs alſo beides, Seelen- und Körperarzt
ſeyn. Die körperliche Kur der Irrenden ſcheint
mehr Salz nöthig zu haben; Anwendung der
Elektricität, des Galvaniſmus; gänzlich veränderte
Lebensart. - §. 15. Pſychiſche Heilmittellehre. Pſychiſche Mit-
tel, was ſie ſind? Begriff eines Seelenarztes. Die
pſychiſchen Heilmittel ſollen neben den chemi-
ſchen und chirurgiſchen in der Materia Medica
vorkommen, ihren dritten Theil ausmachen. Kräfte
der pſychiſchen Mittel, abſolute, relative Wege,
durch welche ſie zur Seele gelangen. Sie wirken
durch
[497] durch Actionen, die ſie im Nervenſyſtem erregen,
modificiren dadurch deſſen Kräfte. Ihre Anwen-
dung auf unmündige und mündige Kranke. Als
ſolche erreichen ſie bloſs das Gemeingefühl und die
Sinnorgane; allein dadurch entſtehn Gefühle, Vor-
ſtellungen, Gemiſche aus beiden. Ihr Einfluſs
aufs Gefühlsvermögen; angenehme, unangenehme,
ſinnliche, geiſtige Gefühle. Gefühl iſt Anſchauung
der Action des Seelenorgans in der Form der Luſt
oder Unluſt. Aufs Gefühlsvermögen können wir
mit dem gröſsten Vortheil durch die pſychiſchen
Mittel wirken. Das Vorſtellungsvermögen als
Sinnlichkeit und Verſtand, als Einbildungskraft
und Gedächtniſs. Direct können wir nur auf den
äuſsern Sinn wirken; nicht auf das Denkvermö-
gen und den innern Sinn. Begehrungsvermögen
iſt refrain unſerer innern Functionen. Inſtinct,
ſinnliche Begierde, Wille. Einfluſs der pſychiſchen
Mittel auf das Begehrungsvermögen. Verſchied-
ner Gebrauch der pſychiſchen Mittel. Negative
Methode. Fälle, wo ſie anzuwenden iſt. Beiſpiele.
Gemüthszerſtreuung; Art ihrer Anwendung,
Wirkung. Poſitiver Gebrauch der pſychiſchen
Mittel. Wie ſollen die pſychiſchen Mittel klaſſifi-
cirt werden? Nach ihren vorwaltenden Beſtand-
theilen; daher drey Klaſſen derſelben. 1ſte Klaſſe.
Reize, die Luſt machen; angenehmes Lebensge.
fühl, Wein, Mohnſaft, Wärme, Streicheln, thie-
I i
[498] riſcher Magnetiſmus, Beiſchlaf; Entfernung der
Schmerzen. Wirkungen der thieriſchen Luſt.
Reize, die Unluſt machen; unangenehmes Lebens-
gefühl, Hunger, Durſt, Nieſsmittel, Blaſenpflaſter,
Peitſchen mit Brenneſſeln, ſtarker Kitzel, Krätze,
Tortur, Züchtigungen, Anwendung des Waſſers,
der Traufe, Douche. Ihre Wirkung. Bemer-
kungen über die Zucht der Irrenden; ihre An-
wendungsart. 2te Claſſe. Objekte, die dem äu-
ſsern Sinn vorgehalten werden; wir laſſen entwe-
der eine Reihe derſelben folgen, oder halten nur
eins vor. Dieſem muſs Intereſſe beiwohnen, da-
mit es ſich eigenmächtig fortpflanze. Anwendung
und Nutzen einer Reihe von Bildern. Einflüſſe
aufs Getaſt, aufs Ohr, Katzenklavier, Muſik;
aufs Geſicht, Theater. Beiſpiele. 3te Claſſe. Zei-
chen und Symbole und beſonders Sprache und
Schrift zur Erregung unſerer Vorſtellungen, Phan-
taſieen, Begriffe und Urtheile. Erregungen durch
dieſelben. Anwendung. Beiſpiele. - §. 16. Therapeutik der Geiſteszerrüttungen durch
pſychiſche Mittel. - §. 17. Allgemeine Regeln. Die pſychiſche Kurme-
thode iſt noch unvollkommen, daher ſehe man
auf ihren Effect. Man bringe den Kranken gleich
anfangs in die Hände eines geſchickten Arztes;
[499] applicire die Mittel, als zufällig. Verliert der
Arzt das Zutrauen des Kranken, ſo gehe er ab.
Den Kranken, der ſich ermannt, muſs man zu
halten ſuchen. - §. 18. Vorbereitung der Geiſteszerrütteten zur Kur.
Sie ſind Unmündige, müſſen alſo genöthigt wer-
den, die Kur an ſich zuzulaſſen. Die Vorberei-
tung geſchieht auch durch pſychiſche Mittel; ſie
geht darauf, den Kranken zur Beſonnenheit und
zum Gehorſam zu nöthigen. Mittel zu dieſem
Zweck. Man muſs ihn ſo ſetzen, daſs er ſich
ganz hülflos fühlt. Vorkehrungen zu dieſem Be-
huf im Tollhauſe. Man befiehlt Dinge, deren
Befolgung man erzwingen kann. Beiſpiele. Ein-
drücke aufs Gefühl und die Sinne. Züchtigungen.
Inpromtües. Beiſpiele. Dadurch werden die Hand-
lungen des Kranken in ein Syſtem der Regelmä-
ſsigkeit gebracht. Vortheile davon. Die Mittel,
durch welche wir Gehorſam erzwingen, wirken
zugleich auch auf das Selbſtbewuſstſeyn, die Be-
ſonnenheit und Aufmerkſamkeit. Erſt machen
wir bey dem ganz Sinnloſen einige rohe Züge
durchs Nervenſyſtem, dann ſpornen wir an zur
eignen Thätigkeit durch ſcheinbare Gefahren, in
welche wir den Kranken bringen. Mildere Reize
zur Weckung der Thätigkeit, Reiten, Schwimmen,
I i 2
[500] Exerciren. Arbeit in den Tollhäuſern; ihr Nut-
zen; Beiſpiele des guten Erfolgs zur Kur der
Irrenden. Uebungen der Aufmerkſamkeit, Gym-
naſtik; des innern Sinnes; der Einbildungskraft;
des Gefühlsvermögens; des Verſtandes; des Be-
gehrungsvermögens. - §. 19. Kur der Geiſteszerrüttungen in Beziehung
auf ihre entfernten Urſachen. Eintheilung derſel-
ben. Entfernte Urſachen im Gemeingefühl. Ab-
ſtuffungen in der Zartheit des Baues, verſchiedne
Dignität der Nerven, Heerde in denſelben. Ge-
nerationsſyſtem, phreniſche Gegend und das Son-
nengeflecht; Bögen, die der Stimmnerve, der
phreniſche und der groſse fympathiſche Nerve
beſchreiben. Wie Krankheiten des Gemeinge-
fühls Geiſteszerrüttungen erregen? Beiſpiele. Kur.
Krankheiten der Sinnorgane als Urſach der Gei-
ſteszerrüttungen. Beiſpiele. Kur. Phantaſie, ihr
Einfluſs auf Seelenkrankheiten; das Wirken der
Phantaſie pflanzt ſich in die Sinnesnerven und die
Nerven überhaupt fort. Daher die Stellung des
Muskelſyſtems. Einfluſs der Phantaſie auf die Kur
der Irrenden. Beiſpiele. Kur. Moraliſche und
ſinnliche Auswüchſe. Religion. Vorwürfe, die
ſich der Menſch über etwas macht; zu groſse
Achtſamkeit auf die Zuſtände des Körpers, Hypo-
chondrie; Leidenſchaften, Entdeckung derſelben,
[501] Atonie von denſelben, wie ſie zu heben ſey?
Heimweh, ſchreckhafte Träume; Schmerzen,
Eitelkeit, Hochmuth, Nachahmungstrieb, Anſtren-
gungen der Seele. Kur. Gymnaſtik. - §. 20. Direkte Kur der Geiſteszerrüttungen. We-
ſentliche, zufällige Differenzen derſelben. Was
ſind Arten? Hoffbauers Eintheilungsgrund.
Stheniſche, aſtheniſche Geiſteszerrüttungen. Son-
derbare Erhöhung der Geiſteskräfte in Gemüths-
krankheiten. Beiſpiele. Arten der Geiſteszer-
rüttungen: 1) Fixer, partieller Wahnſinn, Melan-
cholie. Fixe Ideen ohne Wahnſinn. Fixe Idee
mit Ueberzeugung, daſs ſie Wahrheit ſey, begrün-
det die Melancholie; alle andern Merkmale, z. B.
Trübſinn, ſind zufällig. Verſchiedenheit der fixen
Idee; bezieht ſich meiſtens auf unerreichte Zwecke,
daher gehäſſige Leidenſchaften und Handlungen;
zuweilen aber auch auf erreichte Zwecke, und iſt
alsdann mit Frohſinn verbunden. Aſſociation der
fixen Idee mit allen übrigen; Uebergang derſelben
in andere. Natur des fixen Wahns; Entſtehung
deſſelben aus dem Hange der Menſchen ſich in
geträumte Lagen zu verſetzen, ſich ſelbſt zu be-
ſtimmen. Pſychiſche Cur des fixen Wahns über-
haupt; durch die Zeit; durch andere ſtarke Ein-
drücke; durch Ueberredung, der Kranke habe
ſeine Zwecke erreicht. Modifikation des fixen
[502] Wahns; Kur dieſer Modifikationen; fixirte Vor-
würfe; Einbildung zu verarmen; Glaube an Ver-
wandlungen des Körpers und der Perſönlichkeit;
Aberglauben; Religion; Liebe; Lebensüberdruſs;
Todesfurcht; Aufopferungen, um ſich bekannt zu
machen; Schwärmerey; dumpfer und raſtloſer
Wahnſinn. 2) Tobſucht und Raſerey; ihre Natur,
Erſcheinungen, Zuſammenſetzungen. Catalepſie
und Ideenjagd in der Tobſucht. Sie iſt acut und
chroniſch, hat mehrere Grade, iſt körperlichen
Urſprungs, ihre Urſachen und Kur. Wuth ohne
Verkehrtheit; worin ſie beſtehe? Erſcheinungen,
Urſachen, Kur. 3) Narrheit; Begriff; Erſchei-
nungen; Beiſpiele; Kur. 4) Blödſinn; iſt Aſthe-
nie der Seelenvermögen; ſeine Merkmale. Seine
Zuſammenſetzung. Dem Blödſinnigen fehlt es an
Selbſtbewuſtſeyn, Beſonnenheit und Aufmerkſam-
keit; Sinne, Gedächtniſs und Imagination ſind
ſchwach; Gefühls ‒ und Begehrungsvermögen
ſtumpf. Sprachfähigkeit; Zuſtand des Muskelſy-
ſtems. Modifikationen deſſelben; Grade. Ge-
brauch ſeiner Grade in der Pädagogik und in der
gerichtlichen Arzneikunde. Dummheit und Blöd-
ſinn; wie ſie ſich unterſcheiden? Einfachheit und
Zuſammenſetzung. Dynamiſcher und organiſcher
Blödſinn; der dynamiſche iſt anhaltend oder tran-
ſitoriſch. Entfernte Urſachen. Kurplan des Blöd-
ſinns; nach welchen Regeln er zu entwerfen iſt.
[503] Mitwirkung des pharmaceutiſchen Arztes. Pſy-
chiſche Mittel zur Weckung der Erregbarkeit des
Gehirns; Reize auf die Sinnlichkeit; Kultur der
Aufmerkſamkeit durch ſcheinbare Gefahren, Gym-
naſtik, wiſſenſchaftliche Uebungen. - §. 21. Helle Zwiſchenzeiten; was ſie ſind? treten
plötzlich ein; ſind periodiſch oder erratiſch;
Vorboten der Paroxiſmen. Behandlung in der
hellen Zwiſchenzeit; welchen Einfluſs ſie auf die
Zurechnung habe. - §. 22. Behandlung in der Reconvaleſcenz; Ver-
hütung der Rückfälle. Man trenne den Recon-
valeſcenten von den Kranken; laſſe ihn allmählich
zu ſeiner vorgewöhnten Lebensart zurückgehn;
verhüte die Rückfälle nach Maaſsgabe ihres Ur-
ſprungs aus der Seele oder aus dem Körper. - §. 23. Einrichtung eines Irrenhauſes als Heilan-
ſtalt; muſs getrennt ſeyn von der Aufbewahrungs-
anſtalt; nicht Anhängſel der Armen- und Zucht-
häuſer ſeyn; einen milden Namen haben; nicht
zu groſs ſeyn; in einer anmuthigen Gegend liegen;
die Form einer Meierey haben; in Rückſicht der
Fenſter, Thüren und Fuſsboden wohl verwahrt
ſeyn. - §. 24. Policey im Irrenhauſe; Aufnahme der Irren-
den in die Heilanſtalt; Abgabe der Unheilbaren
[504] an die Aufbewahrungsanſtalt. Tollhäuſer müſſen
öffentliche Anſtalten ſeyn. Speiſeordnung. Ar-
beit im Irrenhauſe; Ordnung; Beſuche der Reiſen-
den. Wie ſollen die Irrenden geordnet werden?
Fallſüchtige; Krankenhaus für Irrende, die auf
eine andere Art erkranken. - §. 25. Aeuſsere, innere Adminiſtration. Allgemeine
Eigenſchaften des Oberſtabs. Oberaufſeher; Arzt;
Pſychologe; Dienſtleute. - §. 26. Irrenhäuſer nach obigen Grundſätzen einge-
richtet, würden Pflanzſchulen für angehende Aerzte
ſeyn können. - §. 27. Fond dazu.
- §. 28. Schluſsanmerkungen.
Appendix B
Ladenpreis 1 Thlr. 18 Gr.
morbos ſtabilienda, Jenae 1797. p. 3.
ber, 4. Bd. §. 25.
ner Schriften von Immanuel Kant, heraus-
gegeben von Rink. Königsberg 1800. S. 50.
ber. Halle 1799. 4. Bd. §. 92.
dem Engliſchen, Leipzig 1784. 1 Th. S. 13.
Oxoniae 1662.
ren, Halle, 1751. Imman. Kant von der Macht
des Gemüths, durch den bloſsen Vorſatz ſeiner
krankhaften Gefühle Meiſter zu ſeyn. In dem
Streit der Facultäten, Königsberg, 1798. Th.
Barnes über die willkührliche Gewalt, wel-
che die Seele über die Senſationen ausüben kann;
in Wagner’s Beitr. I, 144. Tabor über die Heil-
kräfte der Einbildungskraft, 1786. Skizze einer
mediciniſchen Pſychologie, 1787. Scheide-
mantel, die Leidenſchaften als Heilmittel be-
trachtet, Hildburgh. 1787. Siegwart diſſ. de
Symphatia, Antipathia et curationibus ſympathe-
ticis, Tübing. 1784. Alberti diſſ. de curationibus
cura morborum per Sympathiam, Ultraject. 1697.
Boroſagni diſſ. de potentia et impotentia ani-
mae in corpus organicum ſibi junctum, Halae
1728. Alberti diſſ. de medico effectu affec-
tuum animi, Halae, 1735. Le Clerc, ergo
conferunt curandis magnis morbis animi pathe-
mata, Paris 1656. Felix diſſ. de medicina,
nonnunquam ex animi commotionibus capienda,
Viteb. 1790. Junker diſſ. de commotionibus
patheticis corpori interdum proficuis, Halae
1733. Langii diſſ. de animi commotionum vi
medica Op. III. Pauli diſſ. de animi commotio-
num vi medica, Lipſ. 1700. Weltzien diſſ.
de affectuum animi uſu medico, Goett. 1789.
Buſſe diſſ. de imaginationis viribus medicis,
Leid. 1698. Will. Falconer diſſert. on the
Influence of the Paſſions upon the disordres of
the body, London 1788. überſetzt von Michaelis,
Leipzig 1789. Wenzels Verſuch einer prac-
tiſchen Seelenarzneikunde, Grätz 1801.
pologie, Wien 1794. 1ſter und 2ter Band.
überſetzt von M. Wagner, Wien 1801. S. 20.
aus der Arzney-, Wundarzney- und Entbindungs-
Wiſſenſchaft. Reils Fieberlehre, 4ter Band,
S. 357.
le und die verwandten Zuſtände, Halle 1802.
1ſter und 2ter Th.
ſchen, mit Zuſätzen von Richerz, Leipzig
1785. 1ſter Theil, S. 306.
tori l. c. 1ſter Theil, S. 353.
wandlens, Halle 1758, S. 9. 10.
bergraths Goldhagen, Halle 1788, S. 32.
empiriſche Pſychologie, Nürnberg 1792, 1ſter
Band, S. 108.
empiriſche Pſychologie. 5. B. S. 54.
1791, 1ſter Band, S. 3.
de, Berlin 1783, 1. B. 2. St. 70 S.
ver 1795, 2 Abth. 327 S.
thieriſchen Magnetismus und deſſen Anwendung
betreffend. Bremen 1800, S. 59.
Berlin 1783. 1 B. 1 St. 44 S.
Lauſannae 1769. T. V. p. 60.
mae peculiaribus. Hallae 1794, §. 19.
Schriften, überſetzt von Kerſtens, Leipzig 1784.
5 Th. 500 S.
wendung des Geſetzes der Stetigkeit, Celle
1801.
Engliſchen überſetzt, Stendal 1800, 17 S.
2 B. 329 S.
achtungen, Lemgo 1802.
de l’ Homme, à Paris 1802, Vol. I. 398 S.
cerebri, immodici ſplendoris cauſa. Sit etiam
ſine ullo picturae figmento, ne viſa aegri ex
picturis mente accipientes, quae Graeci φαν-
τάσματα vocaverunt, plus aſperentur, ut in riſum
ſolvantur, maxime cum ratione careat, multorum
ingreſſum aut frequentiam prohibere, et pictura
occaſionem lacerandae mentis acquirere, cum
jugi viſu falſa cogantur pro veris accipere.
Hinc etiam ſplendidi colores parietum ſive ſtra-
minum vel operimentorum prohibendi: reſultan-
tes enim, ut ita dixerim, percutient viſum.
Caelius Aurelianus; Artis medicae princi-
pes ex rec. Halleri. Lauſannae 1769. T. X.
p. 26.
rige Schriften, Leipzig 1771. 471 S.
ſyſtems, überſetzt von Merzdorff. Halle
1794. I. B. 131 S.
Wahnſinn; aus dem Engliſchen, Leipzig 1793.
98 S.
magis probemus erit incertum, utrumne prohi-
bendus ſit uſus venereus, an admittendus. Sed
prohibitus indignari magis cogit aegrotantes,
cum deſiderata producuntur. Item permiſſus
vexat, cum corpore evirato animae quoque ſub-
ſtantia turbatur. Caelius Aurelianus; art. med.
princ. T. XI. p. 90.
lieniſchen, Leipzig 1795. 300 S.
gen. 2. Aufl. Berlin 1772. Zweite Sammlung.
60 S.
T. II. 232 S.
auf den bloſsen Leib und ſtürzte ein Glas über
dieſelben, oder beſtrich empfindliche Theile des
Körpers, z. B. die Fuſsſohlen, mit einer Salz-
lake und lieſs dieſelbe nachher von Ziegen ab-
lecken. Jacob Döplers Schauplatz der Lei-
bes- und Lebensſtrafen. Sondershauſen 1693.
ata, quamdiu ferri poteſt, princeps remedium.
Aphor. §. 1123.
Celſus Lib. III. c. 9.
483 S.
ad quod ſymphoniae et cymbala ſtrepitusque
proficiunt. Celſus; art. med. princ. T. VIII.
p. 161.
ſonitu ſaepe aegrotantes inducti ſomnum capiunt.
Caelius Aurelianus; artis med. principes
T. XI. p. 81. Prodeſt etiam aliquid ad ſomnum
ſilanus juxta cadens; vel geſtatio poſt cibum, et
noctu; maximeque lecti ſuſpenſi motus. Celſus
L. II. c. 18. Swieten Comm. in Boerhaa-
vii Aphor. T. II. p. 335. Cuique vero uſitata
ſomnum accerſſunt: nautis in cymba decubitus, et
in mari navigatio, et littorum ſonus, et undarum
murmur, et ventorum bombus, et maris navisque
odor. Muſico tibiarum exercitatio quietem affert,
aut lyrae cantus, aut cytharae etc. Aretaeus
de curatione morbor. acutorum Lib. I. c. 1.
L. I. morb. chr. c. 5. art. med. princ.
282 S.
quibusdam optime curatur. Ubi perperam ali-
quid dixit aut fecit; fame, vinculis, plagis coer-
cendus eſt. Cogendus eſt et attendere et edis-
cere aliquid et meminiſſe. Sic enim ſiet, ut
paulatim metu cogatur conſiderare, quid faciat.
Subito etiam terreri et expaveſcere in hoc mor-
bo prodeſt; et fere, quidquid animum vehemen-
ter perturbat. Poteſt enim quaedam fierimutatio,
cum ab eo ſtatu mens, in quo fuerat, abducta eſt.
Celſus L. II. c. 18.
exerceri debere, multa frictione uti. Celſus
Lib. III. c. 18.
muths Gymnaſtik für die Jugend, Schnepfen-
thal 1793. Ejusdem Spiele zur Uebung und
Erholung für die Jugend, Schnepfenthal 1796.
Vieth über den nemlichen Gegenſtand.
Num literalis enim lectio adhibenda eſt, quae
ſit aliqua falſitate culpata, quo interius mentem
exerceant aegrotantes. Quapropter interroga-
tionibus-quoque erunt fatigandi, ut nunc menda-
cii cauſa, nunc promendi quod quaerimus exer-
ceri videantur: tum ſibi dimittendi, data lectione,
quae non ſit intellectu difficilis, ne plurimo la-
bore vexentur. Hae enim, ſi ſupra vires fuerint,
non minus afficiunt quam corporis immodicae
geſtationes. Item poſt lectionem aliqua compo-
ſita vel mimica ſunt offerenda, ſi moeſtitudine
furentes laborent, aut rurſum triſtitiam vel tra-
gicum timorem habentia, ſi puerili luſu furentes
afficiantur. Oportet enim contrarietate quadam
que habitus ſanitatis mediocritatem agnoſcat.
Tunc proficiente curatione erunt pro poſſibilitate
meditationes adhibendae, vel diſputationes:
ſed tunc quoque ſimiliter ordinatae, ut principia
levi voce promantur: narratio vero et demonſtra-
tiones extenta atque majora: tum epilogus di-
miſſa et indulgenti, ſicut ii volunt, qui de exer-
cenda voce, quam Graeci ἀναφώνησιν vocant,
tradiderunt. Adhibendi denique auditores ſunt
aegrotanti conſueti, qui favore quodam aut laude
dicta proſequentes dicentis animum laxant. Et-
enim jucunda exercitamenta corporis adjuvant
ſanitatem. Tunc poſt meditationem vel diſputa-
tionem deducendus mox eſt atque perungendus
leviter aegrotans, et deambulatione levi moven-
dus. Ei autem, qui literas neſcit, immittendae
quaeſtiones erunt, quae ſint ejus artis propriae,
ut ruſtico ruſticationis, gubernatori navigationis:
ac ſi ex omni parte iners fuerit curandus, erunt
vulgaria quaedam quaeſtionibus tradenda, vel
calculorum ludus. Habet enim quiddam quod
animum exerceat, et magis ſi peritior aegrotanti
colludat. — Et, ſi quidem philoſophorum dis-
pütationes audire voluerit, erunt adhibendae.
Etenim timorem, vel moeſtitudinem, aut iracun-
diam ſuis amputant dictis, ex quibus non parvus
profectus corpori commodatur. — Utendum
etiam peregrinatione terrena atque maritima, et
Caelius Aurelianus; artis med. princ. T.
XI. p. 82. Interdum etiam elicienda ipſius in-
tentio: ut fit in hominibus ſtudioſis literarum,
quibus liber legitur, aut recte, ſi delectantur;
aut perperam, ſi id ipſum eos offendit. Emen-
dando enim advertere animum incipiunt. Quin
etiam recitare, ſi qua meminerunt, cogendi
ſunt. Celſus L. II. c. 18.
2. Theil. 368-378 S.
l’homme, à Paris 1802. T. I. p. 369.
princ. T. VI. p. 91.
lichen Verſtandes. Leipzig 1786. 133 S.
kofer diſſ. de ſenſu externo. Halae 1794. §. 11
Büttner d. c. §. 30.
bloſsen Vorſatz ſeiner krankhaften Gefühle Mei-
ſter zu ſeyn. Königsberg 1798. und in dem Streit
der Facultäten.
ladies, à la gueriſon desquelles les reſſources
pharmaceutiques n’ont point eoncouru; ſuivies
de conſiderations pſychologiques et médicales
d’émul. T. II. p. 178. Crichton l. c. T. II.
p. 173. Tiſſot l. c. 2. B. 28 S. Blumen-
bach med. Bibl. 1. B. 4. St. 732 S.
Mém. de la Soc. med. d’émulat. T. II. 192 S.
1733.
ſachen und Verhütung des Wahnſinns, aus dem
Engl. Leipzig 1784. 1. Th. 34 S.
kunde, XI. B. 1. St.
über die Krankheiten der Seele, 1. Th. 286 S.
ſeipſos de vita migraturos praeſentiunt, deinde
praeſentibus ſutura denuntiant. Nonnulli vero
interdum eorum dictis fidem non habendam pu-
tant, ſed dictorum eventus homines in eorum
admirationem concitat. Aliqui praeterea ex his
cum
Geiſteszerrüttungen noch eine fünfte, die man
Verrückung nennen könnte, gebe, mag ich
nicht entſcheiden. Kants kleine Schriften von
Rink, S. 43. Ein Menſch, der ſeine Phantaſieen
für Realitäten und ſeine Hirngeſpinſte für Er-
fahrungen hielte, vielleicht weil ſie ſich ihm
eben ſo lebhaft als die Anſchauungen ſeiner
fortaſſe quidem ipſi ſoli prae ſenſus acumine et
puritate eos adeſſe cernentes: aut forte ipſorum
animo viros, cum quibus verſaturi ſunt, prae-
noſcente atque enarrante. Quippe antea in lu-
tulentis humoribus et caligine demerſus erat:
quos ubi morbus exhauſit et ab oculis tenebras
deterſit, quae in aere ſiunt, praedicant exutoque
ſordibus animo veraciſſimi vates efficiuntur.
Sed quorum ſucci et ingenium adeo extenuati
ſunt, hi non diu admodum ſolent eſſe ſuperſti-
tes; cum eorum vitalis potentia jam in aerem
ceſſerit atque abierit. Araeteus, de cauſis et ſignis
acut. Lib. II. c. 4. art. med. princ. T. V. p. 31.
Andere Beiſpiele der Art habe ich in meiner
Fieberlehre, 4. Th. 370 S. angeführt.
würde ein Verrückter, ein wachender Träumer
ſeyn. Allein ſein Zuſtand gehörte zum fixen
Wahn, ſo lang er nur einer Chimäre anhinge,
wie es meiſtens in den chroniſchen Geiſteszer-
rüttungen zu ſeyn pflegt, und die topiſche Ex-
altation ſeiner Imagination würde die Urſache
ſeiner fixen Idee ſeyn. Ein Mädchen ſah immer-
hin ein groſses und fürchterliches Geſpenſt, der
toskaniſche Mahler Spinello den Teufel neben
ſich, der ihm vorrückte, daſs er ihn in einer ſo
ſcheuſslichen Geſtalt gemahlt habe. Arnold l. c.
1. Th. 120 und 121 S. Käme es vor, daſs die-
ſer Zuſtand der exaltirten Phantaſie ſich auf ihre
ſämmtlichen Produkte erſtreckte, ſo würde er
als eine eigne Art Seelenkrankheit aufgenom-
men werden müſſen. Das Irrereden im Gefäſs-
fieber ſcheint dieſer Natur zu ſeyn. In dem
Kopf des Kranken läuft alles wild und tumul-
tuariſch durch einander, die durch die Sinne
erregten Ideen, ihre Täuſchung ohne Object,
die Spiele des Gemeingefühls, die Produkte der
Imagination, die aufgehobnen Geſetze der Aſſo-
ciation und der durch die Krankheit geſchwäch-
te Verſtand, veranlaſſen im Seelenorgan eine
ſolche Verwirrung, daſs der Kranke gar nicht
bey ſich zu Hauſe zu ſeyn ſcheint, und es ihm
faſt unmöglich wird, ſein Bewuſstſeyn an ſeine
Perſon feſtzuhalten. Eine Fieberkranke ſah,
hörte und empfand bey Tage alles abnorm, vor
Getränke hatten einen fremden Geſchmack, vor
den Augen lagen Berge, die Objekte hatten die
Farben des Regenbogens, der Rand des Trink-
gefäſses erſchien ungleich, als wenn Blumen-
kohlköpfe und andere Gewächſe daraus hervor-
gewachſen wären. In dem reinſten Getränk ſah
ſie Thiere, eine Kreuzſpinne, Eidechſe und eine
Schlange, und wunderte ſich, daſs auch wir
ſie nicht ſahen. Mit der Exacerbation erſchie-
nen wirkliche und zahlreiche Phantasmen. Sie
ſah Thiere, Menſchen, Verwandte, Geiſter ohne
Zahl. Einige Zeit ſaſs Friedrich der Groſse,
den ſie noch kurz vor ſeinem Tode geſehen hat-
te, die ganzen Nächte durch an ihrem Bette,
ſo lebhaft, wie es nur in der Wirklichkeit hätte
geſchehen können. Sobald es finſter im Zimmer
wird, oder der Kranke die Augen ſchlieſst, er-
ſcheinen ihm Ungeheuer und gräſsliche Geſich-
ter, die ihn angrinzen. Er erkennt dieſen Zu-
ſtand noch ſelbſt als Phantasm, oder läſst ſich
durch Gründe ſeiner Freunde, und durch meh-
rere Erleuchtung der Gegenſtände davon über-
zeugen. Er ſpricht irre, wenn er einſchlum-
mert, und die Beſonnenheit ſeiner Verhältniſſe
durch die Entziehung der Sinneswirkungen ge-
ſchwächt iſt. Beim Erwachen ſagt er, daſs ihm
ſein Irrereden wie ein lebhafter Traum vor-
komme. Alles dies ſind Spiele einer überſpann-
ten Thätigkeit in den äuſseren Sinneswerkzeu-
gen und in den Organen der Phantaſie. Reils
Fieberlehre, B. 4. §. 67.
eidem fere et uni ſemper cogitationi defixus.
Boerhaave Aphor. §. 1089.
xus atque inhaerens, absque febre. Araeteus
de cauſ. et ſig. morb. diuturn. Lib. I. c. 5. Doch
bemerkt Swieten (Comm. §. 1089.) ſchon,
daſs dieſe Definition zu eng ſey.
ſtand man zweifelt, Brechweinſtein, ſagte
einmal ein Arzt und Schriftſteller; dieſe Feuer-
probe entſcheidet gewiſs, beſteht er ſie, ohne
zu brechen, ſo iſt er melancholiſch. Armer
Wichmann, wie weit bleiben deine Ideen
zur Diagnoſtik gegen dieſen ſublimen Gedanken
zurück! Daſs doch Hogarths Pinſel dem Er-
finder dieſes Probierkabinets neben Lichten-
bergs Vorſchlag, die Aerzte durch einen Strick
Hunde zu ſekundiren, ein Ehrendenkmal ſtiften
möge, das ſeiner würdig iſt.
Expulit Helleboro morbum bilemque meraco,
Et rediit ad ſe. Pol me occidiſtis, amici,
Non ſervaſtis, ait; cui ſic extorta voluptas,
Et demptus per vim mentis gratiſſimus error.
Horatii Epiſt. L. II. epiſt. 2.
Beiſpiel von einer Perſon, die durch das Lotto
verrückt wurde. Es bringt daher die Menſchen
nicht bloſs um ihr Geld und um ihre Moralität,
ſondern auch um ihren Verſtand.
et maxime ignotorum. Mandandum quoque mi-
niſtris, ut eorum errores quodam conſenſu ac-
cipientes corrigant, ne aut omnibus conſentien-
do augeant furorem, eorum viſa confirmantes,
aut rurſum repugnando aſperent paſſionis aug-
mentum, ſed inductive nunc indulgeant conſen-
tientes, nunc inſinuando corrigant vana, recta
demonſtrantes. Caelius Aurelianus, med.
art. princ. T. XI. p. 79. — Adverſus omnium
cujusque natura neceſſarium eſt. Quorumdam
enim vani metus levandi ſunt: ſicut in homine
praedivite famem timente incidit, cui ſubinde
falſae haereditates nunciabantur. Quorumdam
audacia coercenda eſt; ſicut in his fit, in quibus
continendis plagae quoque adhibentur. Quo-
rumdam etiam intempeſtivus riſus objurgatione
et minis prohibendus eſt. Quorumdam discu-
tiendae triſtes cogitationes: ad quod ſymphoniae
et cymbala ſtrepitusque proficiunt. Saepius ta-
men aſſentiendum, quam repugnandum eſt;
paulatimque et non evidenter, ab his, quae ſtulte
dicuntur, ad meliora mens abducenda. Celſus;
Art. med. princ. T. VIII. p. 161.
ut in homine praedivite, famem timente, in-
cidit, cui ſubinde falſae haereditates nunciaban-
tur. Celſus Lib. III. c. 18.
Schenk Synopſis Lib. I. Sect. 5. c. 4.
Paris 1758
beim Wagner. l. c. 2 B. 8 S.
d. c. p. 60.
Leipzig 1785. S. 38.
Cedit amor rebus, res age tutus eris.
Ovidius.
borum remedio. Francof. ad Viadr. 1749.
S. 77.
Hydroleros der Griechen, von einem Fiſch,
der niemals in dem Waſſer, wo er wohnt, an
einer Stelle bleibt.
ceraſſe et nudum ſtramini incubuiſſe in loco
lapidibus ſtrato, dum asperrima ſaeviebat
hyems, per plures ſeptimanas; quandoque
quaevis ingurgitaſſe avidiſſime; immo et ſoe-
diſſimo ſpectaculo proprias faeces alvinas de-
voraſſe, licet optimi cibi ſuppeterent. Per
plures ſeptimanas noctes et dies pervigil hor-
rendis clamoribus totam replebat viciniam;
et tamen per plures annos ſupervixit, ſedato
quidem furore, ſed fatuus et omnium rerum
immemor. v. Swieten Comm. T. III. p. 521.
ſinns; aus dem Engl. Leipzig 1789. 194 S.
Chiarug. l. c. 325 S.
einige artige Bemerkungen über die antiphlo-
beſonders in Abſicht auf Reize, die das Ge-
ſichtsorgan afficiren.
nahe verwandt. Dieſer handelt nach gehäſſigen
Leidenſchaften, und wählt aus Mangel des Ver-
ſtandes zur Befriedigung derſelben ſolche Mittel,
die ihr ſchnurſtracks entgegen wirken. Der
aufgeblaſene Narr will geehrt ſeyn und zieht ſich
Spott der Welt zu. Der Thor handelt auch
nach Leidenſchaften, iſt aber nicht ohne Ver-
nunft, ſondern gefeſſelt durch ſeine Leidenſchaft.
Kants kleine Schriften von Rink, 39 S.
männlichen Alter iſt, doch ſo handelt und re-
det, als ein Kind, das noch nicht zu dem Ge-
brauch des Verſtandes gelangt iſt. Der Alberne
iſt thätig, lebhaft, geſchwätzig, aber auf eine
kindiſche und abgeſchmackte Art. Er iſt nicht
unempfindlich gegen alle Eindrücke, aber er
faſst ſie verkehrt auf, ſeine Augen ſind in Be-
wegung, aber in einer unſteten und abſichts-
loſen. Ihn rühren die Dinge, die ihn umge-
ben, verkehrt; er lacht, wo er weinen und
weint, wo er lachen ſoll; er ſchweigt, wo er re-
den und redet, wo er ſchweigen ſoll. Ade-
lung’s Wörterbuch, Eberhard’s Synonymik,
Kant’s Anthropologie.
Alters, niaiſerie, radoterie, Paranoia, fatuitas,
ſtoliditas ſcheinen Benennungen von Seelenzu-
ſtänden zu ſeyn, die der Narrheit nahe liegen.
133 S.
Aerzte, 19 B. 597 S.
Ohnmacht des Gedächtniſſes, der Vernunft und
gemeiniglich auch ſogar der ſinnlichen Empfin-
dungen. Dieſes Uebel iſt meiſtentheils unheil-
bar. Denn wenn es ſchwer iſt, die wilden Un-
ordnungen des geſtörten Gehirns zu heben, ſo
muſs es beinahe unmöglich ſeyn, in ſeine er-
Die Erſcheinungen dieſer Schwachheit, welche
den Unglücklichen niemals aus dem Stande der
Kindheit herausgehen läſst, ſind zu bekannt,
als daſs es nöthig wäre, ſich dabey lange auf-
zuhalten. Kant’s kleine Schriften, herausge-
geben von Rink, Königsberg 1800. 42 S.
pfe Kopf ermangelt des Witzes, der Dummkopf
des Verſtandes. In dem erſten Falle fehlt die
Behendigkeit etwas zu faſſen, die Ideen zu ver-
knüpfen, und die vorhandnen Gedanken ſchnell
in die paſslichſten Zeichen einzukleiden. Die
Anwendung des Verſtandes in der Beurtheilung
der Handgriffe, Ränke, Kunſtgriffe und Maxi-
men, nach denen ſich die Menſchen gewöhnlich
in der groſsen Welt behandeln, heiſst Ver-
ſchmitztheit, und ihr Gegentheil iſt Einfalt. Ein
Menſch, dem jene aus Mangel an Urtheilskraft
fehlt, heiſst ein Tropf, Pinſel. Allein auch dem
verſtändigen und redlichen Mann kann dieſe
Schlauigkeit fehlen. Er mag in dies verwickelte
Spiel nicht eindringen, weil es ihm verächtlich
iſt, oder es hat ihm an Gelegenheit gefehlt, die
Welt in der Masque kennen zu lernen, oder er
hat eine zu gute Meinung von den Menſchen, um
ſich einen ſo verächtlichen Begriff von ihnen
machen zu können. Er heiſst ein guter Mann,
und giebt zu lachen, wenn er in die Schlinge
der Intrigue und Weltpolitik gerathen iſt. Reils
Fieberlehre, 4 Band, 317 S.
XIV.
im Tollhauſe geweſen zu ſeyn, haben könne,
mag folgende Geſchichte lehren. Ein junger
Theologe wurde durch das eifrige Studium der
Apocalypſe toll. Er genas. Man nahm ihn
aus dem Tollhauſe weg, gab ihn in eine Pri-
vatpenſion, und verheimlichte ihm ſorgfältig
ſeine Krankheit und ſeinen ehemaligen Aufent-
haltsort. Als er wenigſtens dem Schein nach
vollkommen geneſen war, kam der Vater vom
Lande herein, das Geneſungsfeſt ſeines Sohnes
zu feiern. Nach Tiſche wurde ein Spatzier-
gang vorgeſchlagen in eine Allee, die vom
Tollhauſe ſichtbar war. Auf einmal blieb der
Reconvaleſcent tiefſinnig ſtehn. Mein Gott, rief
er aus, die Gegend iſt mir ſo bekannt, alles
umher mir ſo vertraut, ſo friſch und ſo leben-
dig in meiner Seele. Dieſen Baum da habe ich
oft Tage lang beobachtet. Er war meine Uhr.
Stund er im Volllichte und warf er ſeinen ein-
geſchrumpften Schatten quer durch die Allee,
ſo war es Zeit zum Mittagseſſen. Streckte er
Sonnenlicht nur noch ſchwach auf ſeinem
Wipfel, ſo war dies die Stunde zum Abend-
brodt. Sagen Sie doch, lieber Doktor! fuhr er
fort, wo war ich, als ich dieſe Gegend hier
zur Ausſicht hatte? Die Geſellſchaft ſuchte ihn
abzuleiten, aber umſonſt. Laut lachend wies
er mit dem Stock gerade auf das Zimmer des
Tollhauſes hin, wo er zwey Monathe geſeſſen
hatte. Iſt dies da drüben nicht die Jammer-
klauſe, ſagte er, wo ihr mich armen Schächer
ſo lange gefangen hieltet? Doch die Zeit iſt
vorüber; deſto ſchöner lacht die Zukunft. Ich
habe da drüben doch auch manche ſelige Stun-
de genoſſen. Wenn ich des Morgens zum Fen-
ſter hinausblickte und die Lerche hörte, wenn
ich Berg und Thal und Stadt und Feld im
Schimmer der Morgenröthe und die Sonne dort
hinter dem Rebenberg heraufzittern ſah, und
an die Millionen dachte, denen ſie leuchtete! O,
da war ich mitten in meinem Jammer glück-
lich. Ich dächte, Vater! ſagte er, wir be-
ſuchten auf ein halbes Stündchen das Zimmer,
wo ſein Franz ſolang in ſchauernder Einſam-
keit ſaſs. Alles Widerſtreben war umſonſt;
das Zimmer wurde geöffnet. Franz weinte,
wie ein Kind, als er hineintrat. Ach mein
Gott, rief er aus, da ſteht noch alles an dem
nemlichen Orte. Hier die Bettlade; dort das
hölzerne Tiſchgen und der Armen-Sünder-
ſtuhl; das Chriſtusbild hier an der Wand, dort
die
ſter, lieber Vater! und ſeh er, ob ich wahr ge-
ſprochen habe. Sieht er den Baum dort in der
Allee? und den Weinberg? und den Bach im
dämmernden Abendlichte? Hier muſste ſein
Franz am Gitter ſtehn wie ein Miſſethäter, hier
gebunden liegen wie ein Mörder. Nun ſchäum-
ten die Gedanken ſeiner empörten Seele über
ihre Ufer hin und aus Grabesnacht brach der
Entſchluſs zur ſchauderhafteſten That, zum
Vatermord, hervor. Hier, ſagte er, fütterten
ſie mich mit Waſſer und ſchimmlichem Brodt,
hier wälzte ich mich im Staube und rang mit
allen Schreckniſſen des Todes. Und du ver-
ſchworſt dich auch wider mich, Rabenvater!
Nun ergriff er ein zinnernes Waſſergefäſs vom
Tiſch. Dein Auge rief er aus, iſt vertrocknet,
du haſt keine Mitleidsthräne für deinen Sohn,
Kannibale? ha ſo ſoll Blut ſtatt der Thränen
flieſsen! und ſtieſs ihn vor die Stirn, daſs er
todt niederfiel. Moritz Magazin der Erfah-
rungs-Seelenkunde 6 B. 3 St. 90 S.
Staat, Bamberg 1790.
häuſern in Europa, Leipzig 1791.
tens lagen ein Paar dem Saturn geweihte Tem-
pel zur Kur Irrender, in welchen Kunſt und
Natur, Kitzel der Sinne und Zauber der Reli-
gion ſich vereinigten, durch kraftvolle Eindrücke
dem Kranken eine andere Richtung zu geben.
Leibesübungen aller Art, angenehme Geſänge,
komiſche Scenen, groteske Tänze, verführeri-
ſche Gemählde wechſelten mit einander, und
wurden durch religiöſe Anſtriche gewürzt. In
liche Gebüſche. Die Kranken fuhren auf ge-
putzten Schiffen den Nil herab, Muſik begleitete
ſie, ſie landeten auf lachenden Inſeln, wo ihnen
Schauſpiele gegeben wurden, die mit Rückſicht
auf ihre Krankheit entworfen waren. Es wur-
den Reiſen angeordnet zu heiligen Oertern, mit
eingeſtreuten Feſten, ſo daſs beides, Zerſtreuun-
gen der Sinne und eine durch Religion geſtärk-
te Hoffnung ſich vereinigten, die Bilder der
Schwermuth zu verſcheuchen. Se non e vero,
almeno ben trovato. Pinel l. c. 196 S.
- License
-
CC-BY-4.0
Link to license
- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Reil, Johann Christian. Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bncx.0