WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG.
1855.
[[II]][[III]]
MEINEN LIEBEN GENOSSEN
FERDINAND HITZIG
IN ZÜRICH
KARL LUDWIG
IN WIEN.
1852. 1853. 1854.
[[IV]][[V]]
INHALT.
VIERTES BUCH.
Die Revolution.
- KAPITEL I.Seite
Die unterthänigen Landschaften bis zu der Gracchenzeit 3 - KAPITEL II.
Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus 62 - KAPITEL III.
Die Revolution und Gaius Gracchus 91 - KAPITEL IV.
Die Restaurationsherrschaft 119 - KAPITEL V.
Die Völker des Nordens 152 - KAPITEL VI.
Revolutionsversuch des Marius und Reformversuch des Drusus 180 - KAPITEL VII.
Die Empörung der italischen Unterthanen und die sulpicische Revo-
lution 209 - KAPITEL VIII.
Der Osten und König Mithradates 253 - KAPITEL IX.
Cinna und Sulla 292 - KAPITEL X.Seite
Die sullanische Verfassung 322 - KAPITEL XI.
Das Gemeinwesen und seine Oekonomie 360 - KAPITEL XII.
Nationalität. Religion. Erziehung 386 - KAPITEL XIII.
Litteratur und Kunst 410
VIERTES BUCH.
Die Revolution.
‘„Aber sie treiben's toll;
Ich fürcht', es breche“.
Nicht jeden Wochenschluſs
Macht Gott die Zeche.’
(Goethe.)
Röm. Gesch. II. 1
[[2]][[3]]
KAPITEL I.
Die unterthänigen Landschaften bis zu der Gracchenzeit.
Mit der Vernichtung des makedonischen Reichs war die
Oberherrlichkeit Roms eine Thatsache, die von den Säulen des
Hercules bis zu den Mündungen des Nil und des Orontes nicht
bloss anerkannt ward, sondern gleichsam als das letzte Wort des
Verhängnisses auf den Völkern lastete mit dem ganzen Druck der
Unabwendbarkeit und ihnen nur die Wahl zu lassen schien sich
in hoffnungslosem Widerstreben oder in hoffnungslosem Dulden
zu verzehren. Wenn nicht die Geschichte von dem ernsten Leser
es als ihr Recht fordern dürfte sie durch gute und böse Tage,
durch Frühlings- und Winterlandschaft zu begleiten, so möchte
der Geschichtschreiber versucht sein sich der trostlosen Aufgabe
zu entziehen diesem Kampf der dreisten Uebermacht mit der
kläglichen Ohnmacht sowohl in den schon zum römischen Reich
gezogenen spanischen Landschaften als in den noch nach Clien-
telrecht beherrschten africanischen, hellenischen, asiatischen Ge-
bieten in seinen mannigfaltigen und doch eintönigen Wendungen
zu folgen. So unbedeutend und untergeordnet aber auch die
einzelnen Kämpfe erscheinen mögen, eine tiefe geschichtliche
Bedeutung kommt ihnen in ihrer Gesammtheit dennoch zu; und
vor allem die italischen Verhältnisse dieser Zeit werden erst ver-
ständlich durch die Einsicht in den Rückschlag, der von den
Provinzen aus auf die Heimath traf.
Ausser in den naturgemäss als Nebenländer Italiens anzu-
sehenden Gebieten, wo übrigens auch die Eingebornen noch kei-
neswegs vollständig unterworfen waren und nicht eben zur Ehre
Roms Ligurer, Sarden und Corser fortwährend Gelegenheit zu
‚Dorftriumphen‘ lieferten, bestand eine förmliche Herrschaft
Roms zu Anfang dieser Periode nur in den beiden spanischen
1*
[4]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
Provinzen, die den gröſseren östlichen und südlichen Theil der
pyrenäischen Halbinsel umfaſsten. Es ist schon früher (I, 494 fg.)
versucht worden die Zustände der Halbinsel zu schildern: Iberer
und Kelten, Phöniker, Hellenen, Römer mischten sich hier bunt
durch einander; gleichzeitig und vielfach sich durchkreuzend be-
standen daselbst die verschiedensten Arten und Stufen der Civilisa-
tion, die altiberische Cultur neben vollständiger Barbarei, die
Bildungsverhältnisse phönikischer und griechischer Kaufstädte
neben der aufkeimenden Latinisirung, die namentlich durch die
in den Silberbergwerken zahlreich beschäftigten Italiker und
durch die starke stehende Besatzung gefördert ward. In dieser
Hinsicht erwähnenswerth ist die latinische Colonie Carteia (in
der Bai von Gibraltar), nächst Agrigentum (I, 442) die erste
überseeische Gemeinde latinischer Zunge und italischer Stadt-
verfassung. Ihre Gründung fällt in das Jahr 583 und ward ver-
anlaſst durch die Menge der von römischen Soldaten mit spani-
schen Sclavinnen erzeugten Lagerkinder, welche rechtlich als
Sclaven, thatsächlich als freie Italiker aufwuchsen und nun von
Staatswegen freigesprochen und in Verbindung mit den alten Ein-
wohnern von Carteia als latinische Colonie constituirt wurden. In
solcher friedlichen Entwickelung gediehen die spanischen Land-
schaften längere Zeit fast ungestört; beinahe dreiſsig Jahre nach
der Ordnung der Ebroprovinz durch Tiberius Sempronius Grac-
chus (575. 576; I, 499) genoſs das Land im Ganzen die Segnun-
gen des Friedens, obwohl ein paarmal der Kriege gegen Keltiberer
und Lusitaner gedacht wird. Der Friedensstand ward zuerst un-
terbrochen durch den Einfall der Lusitaner in das römische Gebiet
unter ihrem Führer Punicus im J. 600; sie schlugen die beiden
gegen sie vereinigten römischen Statthalter und tödteten ihnen eine
groſse Anzahl Leute. Die Vettonen (zwischen dem Tajo und dem
obern Duero) wurden hiedurch bestimmt mit den Lusitanern ge-
meinschaftliche Sache zu machen; so verstärkt vermochten diese
ihre Streifzüge bis an das mittelländische Meer auszudehnen und
das Gebiet der Bastulophöniker unweit der römischen Hauptstadt
Neukarthago (Cartagena) zu brandschatzen. Man nahm in Rom
die Sache ernst genug um die Absendung eines Consuls nach
Spanien zu beschlieſsen, was seit 559 nicht geschehen war, und
lieſs sogar zur Beschleunigung der Hülfleistung die neuen Con-
suln zwei Monate vor der gesetzlichen Zeit ihr Amt antreten —
es war dies die Ursache, weſshalb der Amtsantritt der Consuln
vom 1. März sich auf den 1. Januar verschob und damit der
Jahresanfang sich feststellte, dessen wir noch heute uns be-
[5]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
dienen. Allein ehe noch der Consul Quintus Fulvius Nobilior
mit seiner Armee eintraf, kam es zwischen dem Statthalter des
jenseitigen Spaniens, dem Prätor Lucius Mummius und den nach
Punicus Tode in der Schlacht jetzt von Kaesarus geführten Lu-
sitanern am rechten Ufer des Tajo zu einem sehr ernsthaften
Treffen (601). Das Glück war anfangs den Römern günstig;
das lusitanische Heer ward zersprengt, das Lager genommen.
Allein theils schon vom Marsch ermüdet, theils in der Unord-
nung des Nachsetzens sich auflösend wurden sie von den schon
besiegten Gegnern schlieſslich vollständig geschlagen und büſs-
ten zu dem feindlichen Lager das eigene so wie an Todten
9000 Mann ein. Weit und breit loderte jetzt die Kriegsflamme
auf. Die Lusitaner am linken Ufer des Tajo warfen sich unter
Anführung des Kaukaenus auf die den Römern unterthänigen
Keltiker (in Alentejo) und nahmen ihre Stadt Conistorgis ein.
Den Keltiberern sandten die Lusitaner die dem Mummius abge-
nommenen Feldzeichen zugleich als Siegesbotschaft und als Mah-
nung zu; und auch hier fehlte es nicht an Gährungsstoff. Zwei
kleine den mächtigen Arevakern (um die Quellen des Duero und
Tajo) benachbarte Völkerschaften Keltiberiens, die Beller und
Titther hatten beschlossen in eine ihrer Städte Segeda sich zu-
sammenzusiedeln. Während sie mit dem Mauerbau beschäftigt wa-
ren, kam ein Befehl von Rom, der ihnen diesen Bau untersagte,
da das sempronische Gesetz den unterworfenen Gemeinden jede
eigenmächtige Städtegründung verbiete, und der zugleich die ver-
tragsmäſsig schuldigen, aber seit längerer Zeit ruhenden Leistun-
gen an Geld und Mannschaft einforderte. Beiden Befehlen weiger-
ten die Spanier den Gehorsam, da es sich nur um Erweiterung,
nicht um Gründung einer Stadt handle, die Leistungen aber
nicht bloſs suspendirt, sondern von den Römern erlassen seien.
Darüber erschien Nobilior im diesseitigen Spanien mit einem fast
30000 Mann starken Heer, unter dem auch numidische Reiter
und zehn Elephanten sich befanden. Noch standen die Mauern
der neuen Stadt nicht vollständig; die meisten der Segedaner
unterwarfen sich, allein die entschlossensten Männer flüchteten
mit Weib und Kind zu den mächtigen Arevakern und forderten
sie auf mit ihnen gegen die Römer gemeinschaftliche Sache zu
machen. Die Arevaker, ermuthigt durch den Sieg der Lusitaner
über Mummius, gingen darauf ein und wählten einen der flüch-
tigen Segedaner Karus zu ihrem Feldherrn. Am dritten Tag
nach seiner Wahl war dieser tapfere Führer eine Leiche, aber
das römische Heer geschlagen; er hatte dasselbe in einen Hinter-
[6]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
halt zu locken gewuſst, in welchem bei 6000 römische Bürger
umkamen — der Tag des 23. August, das Fest der Vulcanalien,
blieb seitdem den Römern in schlimmer Erinnerung. Doch be-
wog der Fall ihres Feldherrn die Arevaker sich in ihre festeste
Stadt Numantia (Garray I Legua nördlich von Soria am Duero)
zurückzuziehen, wohin Nobilior ihnen folgte. Unter den Mauern
der Stadt kam es zu einem zweiten Treffen, in welchem die Rö-
mer anfänglich mittelst ihrer Elephanten die Oberhand erhielten
und die Spanier in die Stadt zurückdrängten, aber hierauf in
Folge der Verwundung eines der Thiere von denselben in Ver-
wirrung gebracht wurden und durch die abermals ausrückenden
Feinde eine zweite Niederlage erlitten. Die Vernichtung eines zur
Herbeirufung von Zuzugmannschaft ausgesandten römischen
Reitercorps und andere Unfälle gestalteten die Angelegenheiten
der Römer in der diesseitigen Provinz so ungünstig, daſs die
Festung Okilis, wo die Kasse und die Vorräthe der Römer sich
befanden, zum Feinde übertrat und die Arevaker daran denken
konnten, freilich ohne Erfolg, den Römern den Frieden zu dictiren.
Einigermaſsen wurden indeſs diese Nachtheile aufgewogen durch
die Erfolge, die Mummius in der südlichen Provinz erfocht. So
geschwächt auch durch die erlittene Niederlage sein Heer war,
gelang es ihm dennoch mit demselben den unvorsichtig sich zer-
streuenden Lusitanern am rechten Tajoufer eine Niederlage bei-
zubringen und übergehend auf das linke, wo die Lusitaner das
ganze römische Gebiet überrannt, ja bis nach Africa gestreift hat-
ten, die südliche Provinz von den Feinden zu säubern. In die
nördliche sandte das folgende Jahr (602) der Senat auſser be-
trächtlichen Verstärkungen einen andern Oberfeldherrn an die
Stelle des unfähigen Nobilior, den Consul Marcus Claudius Mar-
cellus, der schon als Prätor 586 sich in Spanien ausgezeichnet
und seitdem in zwei Consulaten sein Feldherrntalent bewährt
hatte. Seine geschickte Führung und mehr noch seine Milde än-
derte die Lage der Dinge schnell; Okilis ergab sich ihm sofort
und selbst die Arevaker, von Marcellus in der Hoffnung bestärkt,
daſs ihnen gegen eine mäſsige Buſse Friede gewährt werden
würde, schlossen Waffenstillstand und schickten Gesandte nach
Rom. Marcellus konnte sich nach der südlichen Provinz bege-
ben, wo die Vettonen und Lusitaner zwar dem Praetor Marcus
Atilius sich botmäſsig erwiesen hatten, so lange er in ihrem Ge-
biet stand, allein nach seiner Entfernung sofort wieder aufgestan-
den waren und die römischen Verbündeten heimsuchten. Die
Ankunft des Consuls stellte die Ruhe wieder her und während er
[7]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
in Corduba überwinterte, ruhten auf der ganzen Halbinsel die Waf-
fen. Inzwischen ward in Rom über den Frieden mit den Areva-
kern verhandelt. Es ist bezeichnend für die inneren Verhältnisse
Spaniens, daſs vornämlich die Sendlinge der bei den Arevakern
bestehenden römischen Partei in Rom die Verwerfung der Frie-
densvorschläge durchsetzten, indem sie vorstellten, daſs, wenn
man die römisch gesinnten Spanier nicht preisgeben wolle, nur
die Wahl bleibe entweder jährlich einen Consul mit entsprechen-
dem Heer nach der Halbinsel zu senden oder jetzt ein nach-
drückliches Exempel zu statuiren. In Folge dessen wurden die
Boten der Arevaker ohne entscheidende Antwort verabschiedet
und die energische Fortsetzung des Krieges beschlossen. Mar-
cellus sah sich demnach genöthigt im folgenden Frühjahr (603)
den Krieg gegen die Arevaker wieder zu beginnen. Indeſs sei es
nun, wie behauptet wird, daſs er den Ruhm den Krieg beendigt
zu haben, seinem bald zu erwartenden Nachfolger nicht gönnte,
sei es, was vielleicht wahrscheinlicher ist, daſs er gleich Gracchus
in der milden Behandlung der Spanier die erste Bedingung eines
dauerhaften Friedens sah — nach einer geheimen Zusammen-
kunft des römischen Feldherrn mit den einfluſsreichsten Män-
nern der Arevaker kam unter den Mauern von Numantia ein
Tractat zu Stande, durch den die Arevaker den Römern sich auf
Gnade und Ungnade ergaben, aber unter Verpflichtung zu Geld-
zahlung und Geiſselstellung in ihre bisherigen vertragsmäſsigen
Rechte wieder eingesetzt wurden. — Als der neue Oberfeldherr,
der Consul Lucius Lucullus bei dem Heere eintraf, fand er den
Krieg, den zu führen er gekommen war, bereits durch förmlichen
Friedensschluss beendigt und seine Hoffnungen Ehre und vor
Allem Geld aus Spanien heimzubringen schienen vereitelt. In-
deſs dafür gab es Rath. Auf eigene Hand griff Lucullus die
westlichen Nachbaren der Arevaker, die Vaccaeer an, eine noch
unabhängige keltiberische Nation, die mit den Römern im besten
Einvernehmen lebte. Auf die Frage der Spanier, was sie denn
gefehlt hätten, war die Antwort der Ueberfall der Stadt Cauca
(Coca 8 Leguas westlich von Segovia); und als die erschreckte
Stadt mit schweren Geldopfern die Capitulation erkauft zu haben
meinte, rückten römische Truppen in die Stadt und knechteten
oder mordeten die Einwohnerschaft ohne jeglichen Vorwand.
Nach dieser Heldenthat, die etwa 20000 Menschen das Leben ge-
kostet haben soll, ging der Marsch weiter. Weit und breit stan-
den die Dörfer und Ortschaften leer; oder schlossen, wie das
feste Intercatia und die Hauptstadt der Vaccaeer Pallantia (Pa-
[8]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
lencia) dem römischen Heere ihre Thore. Die Habsucht hatte in
ihren eigenen Netzen sich gefangen; keine Gemeinde fand sich,
die mit dem treubrüchigen Feldherrn eine Capitulation abzu-
schlieſsen gewagt hätte und die allgemeine Flucht der Bewohner
machte nicht bloſs die Beute karg, sondern auch das längere
Verweilen in diesen unwirthlichen Gegenden fast unmöglich.
Vor Intercatia gelang es einem angesehenen Kriegstribun, dem
leiblichen Sohn des Siegers von Pydna und Adoptivenkel des
Siegers von Zama, Scipio Aemilianus durch sein Ehrenwort, da
das des Feldherrn nichts mehr galt, die Bewohner zum Abschluſs
eines Vertrages zu bestimmen, in Folge dessen das römische
Heer gegen Lieferung von Vieh und Kleidungsstücken abzog.
Aber die Belagerung von Pallantia muſste wegen Mangel an Le-
bensmitteln aufgehoben werden und das römische Heer ward auf
dem Rückmarsch von den Vaccaeern bis zum Duero verfolgt.
Lucullus begab sich darauf nach der südlichen Provinz, wo der
Praetor Servius Sulpicius Galba in demselben Jahr von den Lu-
sitanern sich hatte schlagen lassen; beide überwinterten nicht
fern von einander, Lucullus im turdetanischen Gebiet, Galba bei
Conistorgis, und griffen im folgenden Jahr (604) gemeinschaft-
lich die Lusitaner an. Lucullus errang an der gaditanischen
Meerenge einige Vortheile über sie. Galba richtete mehr aus, in-
dem er mit drei lusitanischen Stämmen am rechten Ufer des
Tajo einen Vertrag abschloſs und sie in bessere Wohnsitze über-
zusiedeln verhieſs; worauf die Barbaren, die 7000 an der Zahl
sich der gehofften Aecker wegen bei ihm einfanden, in drei Ab-
theilungen getheilt, entwaffnet und theils als Sclaven weggeführt,
theils niedergehauen wurden. Kaum ist je mit gleicher Treulo-
sigkeit, Grausamkeit und Habgier Krieg geführt worden wie von
diesen beiden Feldherrn, die dennoch durch ihre verbrecherisch
erworbenen Schätze der eine der Verurtheilung, der andere sogar
der Anklage entging. Den Galba versuchte der alte Cato noch in
seinem fünfundachtzigsten Jahr, wenige Monate vor seinem Tode,
vor der Bürgerschaft zur Verantwortung zu ziehen; aber die
jammernden Kinder des Generals und sein heimgebrachtes Gold
erwiesen dem römischen Volke seine Unschuld.
Nicht so sehr die ehrlosen Erfolge, die Lucullus und Galba
in Spanien erreicht hatten, als der Ausbruch des vierten make-
donischen und des dritten karthagischen Krieges im J. 605 be-
wirkte, daſs man die spanischen Angelegenheiten zunächst wie-
der den gewöhnlichen Statthaltern überlieſs. So überschwemm-
ten denn die Lusitaner, durch Galbas Treulosigkeit mehr erbit-
[9]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
tert als gedemüthigt, sofort wieder das reiche turdetanische Ge-
biet. Gegen sie zog der römische Statthalter Gaius Vetilius
(605? *) und schlug sie nicht bloſs, sondern drängte auch das
ganze Heer auf einen Hügel zusammen, wo dasselbe rettungslos
verloren schien. Schon war die Capitulation so gut wie abge-
schlossen, als Viriathus, ein Mann geringer Herkunft, aber wie
einst als Bube ein tapferer Vertheidiger seiner Heerde gegen die
wilden Thiere und die Räuber, so jetzt in ernsteren Kämpfen ein
gefürchteter Guerillachef und einer der wenigen Spanier, die dem
treulosen Ueberfall Galbas zufällig entronnen waren, seine Lands-
leute warnte auf römisches Ehrenwort zu bauen und ihnen Ret-
tung verhieſs, wenn sie ihm folgen wollten. Sein Wort und sein
Beispiel wirkten; das Heer übertrug ihm den Oberbefehl. Viria-
thus bildete aus den bestberittenen Leuten eine zuverlässige Rei-
terschaar von 1000 Pferden und gab dem Rest der Armee den
Befehl nach allen Seiten hin sich zu verlaufen und sich auf ver-
schiedenen Wegen nach dem bestimmten Sammelplatz zu bege-
ben. Die Römer, denen es an leichter Reiterei fehlte, wagten
nicht unter den Augen des geschlossenen feindlichen Reitercorps
sich zur Verfolgung zu zerstreuen; nachdem Viriathus zwei volle
Tage hindurch mit seinen Reitern das ganze römische Heer auf-
gehalten hatte, verschwand auch er plötzlich in der Nacht und
eilte dem allgemeinen Sammelplatz zu. Der römische Feldherr
folgte ihm, fiel aber in einen geschickt gelegten Hinterhalt, in
dem er die Hälfte seines Heeres verlor und selber gefangen und
getödtet ward; kaum rettete der Rest der Truppen sich an die
Meerenge nach der Colonie Carteia. Die schleunigst von den
Spaniern am Ebro herbeigerufenen Hülfsvölker wurden, 5000
an der Zahl, von Viriathus auf dem Marsch vernichtet und in
dem ganzen carpetanischen Binnenland gebot derselbe unum-
schränkt, ohne daſs die Römer auch nur ihn dort aufzusuchen
wagten. Viriathus, jetzt als Herr und König der sämmtlichen
[10]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
Lusitaner anerkannt, verstand es das volle Gewicht seiner fürst-
lichen Stellung mit dem schlichten Wesen des Hirten zu vereini-
gen. Kein Abzeichen unterschied ihn von dem gemeinen Solda-
ten; von der reichgeschmückten Hochzeittafel seines Schwieger-
vaters, des Fürsten Astolpa im römischen Spanien, stand er auf
ohne das goldene Geschirr und die kostbaren Speisen berührt
zu haben, hob seine Braut auf das Roſs und ritt mit ihr zurück
in seine Berge. Nie nahm er von der Beute mehr als den glei-
chen Theil, den er jedem seiner Kameraden zuschied. Nur an
der hohen Gestalt und an dem treffenden Witzwort erkannte der
Soldat den Feldherrn, vor allem aber daran, daſs er es in Mäſsig-
keit wie in Mühsal jedem der Seinigen zuvorthat, nie anders als
in voller Rüstung schlief und in der Schlacht allen voran focht.
Es schien, als sei in dieser gründlich prosaischen Zeit einer
der homerischen Helden wiedergekehrt; weit und breit erscholl
in Spanien der Name des Viriathus und die tapfere Nation meinte
endlich in ihm den Mann gefunden zu haben, der die Ketten der
Fremdherrschaft zu brechen bestimmt sei. Ungemeine Erfolge
im nördlichen wie im südlichen Spanien bezeichneten die näch-
sten Jahre seiner Feldherrnschaft (606-608). Gaius Laelius
zwar behauptete das Feld gegen ihn; den Praetor Gaius Plautius
aber wuſste er, nachdem er dessen Vorhut vernichtet hatte, hin-
über auf das rechte Tajoufer zu locken und ihn dort so nach-
drücklich zu schlagen, daſs der römische Feldherr mitten im
Sommer in die Winterquartiere ging — später ward dafür ge-
gen ihn die Anklage wegen Entehrung der römischen Gemeinde
vor dem Volk erhoben und er gezwungen das Land zu meiden
—; deſsgleichen wurde das Heer des Statthalters Claudius Uni-
manus vernichtet, das des Gaius Negidius überwunden und weit-
hin das platte Land gebrandschatzt. Auf den spanischen Bergen
erhoben sich Siegeszeichen, die mit den Insignien der römischen
Statthalter und den Waffen der Legionen geschmückt waren; in
Rom war man bestürzt und beschämt durch die Siege des Bar-
barenkönigs. Zwar übernahm jetzt ein zuverlässigerer Offizier
den Oberbefehl in Spanien, der zweite Sohn des Siegers von
Pydna, der Consul Quintus Fabius Maximus Aemilianus (609).
Allein die krieggewohnten eben von Makedonien und Africa heim-
gekehrten Veteranen aufs Neue in den verhaſsten spanischen
Krieg zu senden wagte man schon nicht mehr; die beiden Legio-
nen, die Maximus mitbrachte, waren neu geworben und nicht viel
minder unzuverlässig als das alte gänzlich demoralisirte spanische
Heer. Nachdem die ersten Gefechte wieder für die Lusitaner
[11]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
günstig ausgefallen waren, hielt der einsichtige Feldherr seine
Truppen in dem Lager bei Urso (Osuna südostlich von Sevilla)
zusammen ohne die angebotene Feldschlacht anzunehmen. So
vermochte er, nachdem im kleinen Krieg seine Truppen kampf-
fähig geworden waren, im nächsten Feldzug (610) gegen seinen
Gegner das Feld mit Ueberlegenheit zu behaupten und nach
glücklichen Waffenthaten in Corduba zu überwintern. Als aber
an Maximus Stelle der feige und ungeschickte Prätor Quinctius
den Befehl übernahm, erlitt derselbe wiederum eine Niederlage
über die andere und schloſs sich mitten im Sommer in Corduba
ein, während Viriathus Schaaren die südliche Provinz über-
schwemmten (611). Sein Nachfolger, des Maximus Aemilianus
Adoptivbruder Quintus Fabius Maximus Servilianus erschien mit
zwei frischen Legionen und zehn Elephanten; er versuchte in
das lusitanische Gebiet einzudringen, allein nach einer Reihe nichts
entscheidender Gefechte und einem mühsam abgeschlagenen Sturm
auf das römische Lager sah er sich genöthigt, auf das römische
Gebiet zurückzugehen. Viriathus folgte ihm in die Provinz, da
aber seine Truppen nach dem Brauch spanischer Insurgenten-
heere plötzlich sich verliefen, muſste auch er nach Lusitanien
zurückkehren (612). Im nächsten Jahr (613) ergriff wieder
Servilianus die Offensive, durchzog die Gegenden am Baetis und
Anas, und sodann in Lusitanien einrückend besetzte er eine
Menge Ortschaften. Eine groſse Zahl der Insurgenten fiel in
seine Hand; die Führer — es waren deren gegen 500 — wurden
hingerichtet, den aus römischem Gebiet zum Feind Uebergegan-
genen die Hände abgehauen, die übrige Masse in die Sclaverei
verkauft. Aber der spanische Krieg bewährte auch hier seine
tückische Unbeständigkeit. Das römische Heer ward nach all
diesen Erfolgen bei der Belagerung von Erisane von Viriathus
angegriffen, geworfen und auf einen Felsen gedrängt, wo es
gänzlich in der Gewalt der Feinde war. Viriathus indeſs be-
gnügte sich, wie einst der Samnitenfeldherr in den caudinischen
Pässen, mit Servilianus einen Frieden abzuschlieſsen, worin die
Gemeinde der Lusitaner als souverän und Viriathus als König
derselben anerkannt ward. Wie die Macht der Römer gestie-
gen, so war das nationale Ehrgefühl gesunken; man war in
der Hauptstadt froh des lästigen Krieges entledigt zu sein
und Senat und Volk gaben dem Vertrage die Ratification. Allein
Servilianus leiblicher Bruder und Amtsnachfolger, der Consul
Quintus Servilius Caepio war mit dieser Nachgiebigkeit wenig
zufrieden und der Senat war schwach genug anfangs den Consul
[12]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
zu heimlichen Machinationen gegen den König Viriathus zu be-
vollmächtigen und bald den offenen unbeschönigten Bruch des
gegebenen Treuworts wenigstens zu gestatten. So drang Caepio
in Lusitanien ein und durchzog das Land bis zu dem Gebiet der
Vettonen und Gallaeker; Viriathus vermied den Kampf mit der
Uebermacht und entzog sich durch geschickte Bewegungen dem
Gegner (614). Als aber im folgenden Jahr (615) nicht bloſs
Caepio den Angriff erneuerte, sondern auch das in der nördli-
chen Provinz inzwischen disponibel gewordene Heer unter Mar-
cus Popillius in Lusitanien eindrang, bat Viriathus um Frieden
unter jeder Bedingung. Wie ihm geheiſsen ward, lieferte er alle
aus dem römischen Gebiet zu ihm übergetretenen Leute, darun-
ter seinen eigenen Schwiegervater aus an die Römer, die diesel-
ben hinrichten oder ihnen die Hände abhauen lieſsen. Allein es
war damit nicht genug; nicht auf einmal enthüllten die Römer
ihre Forderungen, sondern ein Befehl nach dem andern und im-
mer der folgende unerträglicher als die vorhergehenden erging
an die Besiegten. Als aber endlich die Auslieferung der Waffen
begehrt ward, brach Viriathus die Verhandlungen ab; abermals
gedachte er des Schicksals seiner Landsleute, die Galba hatte
entwaffnen lassen, und griff aufs Neue zum Schwert. Allein es
war bereits zu spät. Sein Schwanken hatte in seiner nächsten
Umgebung die Keime des Verraths gesäet; drei seiner Vertrauten,
Audas, Ditalko und Minucius aus Urso, verzweifelnd an der Mög-
lichkeit jetzt noch zu siegen, erwirkten von dem König die Er-
laubniſs noch einmal mit Caepio Friedensunterhandlungen an-
zuknüpfen und benutzten sie gegen Zusicherung persönlicher
Amnestie und weiterer Belohnungen das Leben des lusitanischen
Helden den Fremden zu verkaufen. Zurückgekehrt in das Lager
versicherten sie den König des günstigsten Erfolgs ihrer Ver-
handlungen und erdolchten die Nacht darauf den Schlafenden in
seinem Zelte. Die Lusitaner ehrten den herrlichen Mann durch
eine Todtenfeier, deren gleichen noch im Lande nicht war gesehen
worden und bei der zweihundert Fechterpaare die Leichenspiele
fochten; höher noch dadurch, daſs sie den Kampf nicht aufga-
ben, sondern an die Stelle des gefallenen Helden den Tautamus
zu ihrem Oberfeldherrn ernannten. Der Plan, den dieser ent-
warf, den Römern Sagunt zu entreiſsen, war kühn genug; allein
die Nation hatte es schwer zu büſsen, daſs der neue Feldherr
weder seines Vorgängers weise Mäſsigung noch sein Kriegs-
geschick besaſs. Die Expedition scheiterte völlig und auf der
Rückkehr ward das Heer bei dem Uebergang über den Baetis
[13]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
angegriffen und genöthigt sich unbedingt zu ergeben. Also,
durch Verrath und Mord der Fremden wie der Eingebornen, nicht
durch ehrlichen Krieg ward Lusitanien bezwungen.
Während die südliche Provinz durch Viriathus und die Lu-
sitaner heimgesucht ward, war in der nördlichen nicht ohne Vi-
riathus Zuthun bei den keltiberischen Nationen ein zweiter nicht
minder ernster Krieg ausgebrochen. Die glänzenden Erfolge, die
Viriathus gewonnen hatte, bewogen im J. 610 die Arevaker
gleichfalls gegen die Römer sich zu erheben und es war dies die
Ursache, weſshalb der zur Ablösung des Maximus Aemilianus
nach Spanien gesandte Consul Quintus Caecilius Metellus nicht
nach der südlichen Provinz ging, sondern gegen die Keltiberer
sich wandte. Auch gegen sie bewährte er, namentlich während
der Belagerung der für unbezwinglich gehaltenen Stadt Contre-
bia, dieselbe Tüchtigkeit, die er bei der Ueberwindung des make-
donischen Pseudophilipp bewiesen hatte; nach zweijähriger Ver-
waltung (611. 612) war die nördliche Provinz zum Gehorsam
zurückgebracht. Nur die beiden Städte Termantia und Numantia
hatten noch die Thore den Römern nicht geöffnet; auch mit die-
sen aber war die Capitulation fast schon abgeschlossen und der
gröſste Theil der Bedingungen von den Spaniern erfüllt. Allein
als es zur Ablieferung der Waffen kam, ergriff auch sie eben wie
den Viriathus jener echt spanische Stolz auf den Besitz des
wohlgeführten Schwertes und es ward beschlossen unter dem
kühnen Megaravicus den Krieg fortzusetzen. Es schien eine Thor-
heit; das consularische Heer, dessen Befehl 613 der Consul
Quintus Pompeius übernahm, war viermal so stark als die ge-
sammte waffenfähige Bevölkerung von Numantia. Allein der völ-
lig kriegsunkundige Feldherr erlitt unter den Mauern beider
Städte so harte Niederlagen (613. 614), daſs er endlich es vor-
zog, den Frieden, den er nicht erzwingen konnte, durch Unter-
handlungen zu erwirken. Mit Termantia muſs ein definitives
Abkommen getroffen sein; auch mit den Numantinern schien
die Sache zu Ende. Er gab die gefangenen Numantiner frei und
überredete die Gemeinde unter dem geheimen Versprechen gün-
stiger Bedingungen sich ihm auf Gnade und Ungnade zu ergeben.
Die Numantiner, des Kriegs müde, gingen darauf ein und der
Feldherr beschränkte in der That seine Forderungen auf das mög-
lichst geringe Maſs. Die Gefangenen, Ueberläufer, Geiſseln wa-
ren abgeliefert und die bedungene Geldsumme gröſstentheils ge-
zahlt, als im J. 615 der neue Feldherr Marcus Popillius Laenas
im Lager eintraf. So wie Pompeius die Last des Oberbefehls auf
[14]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
fremde Schultern gewälzt sah, ergriff er, um sich der in Rom
seiner wartenden Verantwortung für den nach römischen Be-
griffen ehrlosen Frieden zu entziehen, den Ausweg sein Wort
nicht etwa bloſs zu brechen, sondern zu verleugnen, und als die
Numantiner kamen um die letzte Zahlung zu machen, ihren und
seinen Offizieren ins Gesicht den Abschluſs des Vertrags einfach in
Abrede zu stellen. Die Sache kam zur rechtlichen Entscheidung
an den Senat zu Rom; während dort darüber verhandelt ward,
ruhte vor Numantia der Krieg und beschäftigte sich Laenas mit
einem Zug nach Lusitanien, wo er die Katastrophe des Viriathus
beschleunigen half, und mit einem Streifzug gegen die den Nu-
mantinern benachbarten Lusonen. Endlich kam die Entschei-
dung vom Senat; sie lautete auf Fortsetzung des Krieges — man
betheiligte sich also von Staatswegen an dem Bubenstreich des
Pompeius. Mit ungeschwächtem Muth und erhöhter Erbitterung
nahmen die Numantiner den Kampf wieder auf; Laenas focht un-
glücklich gegen sie und nicht minder sein Nachfolger Gaius Ho-
stilius Mancinus (617). Die Demoralisation des Heeres nahm
unter den schlaffen und elenden Feldherrn in einer entsetzlichen
Weise zu; die Liederlichkeit, Zuchtlosigkeit, Feigheit der Sol-
daten stand in üppigster Blüthe und führte endlich weit
mehr als die Numantiner eine Katastrophe herbei. Das bloſse
überdies falsche Gerücht, daſs die Cantabrer und Vaccaeer
zum Ersatz von Numantia heranrückten, bewog das römische
Heer ungeheiſsen in der Nacht das Lager zu räumen und sich in
die sechszehn Jahre zuvor von Nobilior angelegten Verschanzun-
gen (S. 6) zu flüchten. Die Numantiner, von dem Aufbruch in
Kenntniſs gesetzt, drängten der fliehenden Armee nach und um-
zingelten sie; es blieb nur die Wahl mit dem Schwert in der
Hand sich durchzuschlagen oder auf die von den Numantinern ge-
stellten Bedingungen Frieden zu schlieſsen. Mehr als der Consul,
der persönlich ein Ehrenmann, aber schwach und wenig bekannt
war, bewirkte Tiberius Gracchus, der als Quaestor im Heere
diente, durch sein von dem Vater, dem weisen Ordner der Ebro-
provinz, auf ihn vererbtes Ansehen bei den Keltiberern, daſs die
Numantiner sich mit einem billigen von allen Stabsoffizieren be-
schworenen Friedensvertrag genügen lieſsen. Allein der Senat
rief nicht bloſs den Feldherrn sofort zurück, sondern lieſs auch
nach langer Berathung bei der Bürgerschaft darauf antragen
den Vertrag zu behandeln wie einst den caudinischen, das heiſst
ihm die Ratification zu verweigern und die Verantwortlichkeit
dafür auf diejenigen abzuwälzen, die ihn geschlossen hatten.
[15]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
Von Rechtswegen hätten dies sämmtliche Offiziere sein müssen,
die den Vertrag beschworen hatten; allein Gracchus und die
übrigen wurden durch ihre Verbindungen gerettet; Mancinus
allein, der nicht den Kreisen der höchsten Aristokratie angehörte,
ward bestimmt für eigene und fremde Schuld zu büſsen. Seiner
Insignien entkleidet ward der römische Consular zu den feindli-
chen Vorposten geführt und da die Numantiner ihn anzunehmen
verweigerten, um nicht auch ihrerseits den Vertrag als nichtig
anzuerkennen, stand der ehemalige Oberfeldherr im Hemd und
die Hände auf den Rücken gebunden einen Tag lang vor den
Thoren von Numantia, Freunden und Feinden ein klägliches
Schauspiel. Jedoch für Mancinus Nachfolger, seinen Collegen im
Consulat Marcus Aemilius Lepidus schien die bittere Lehre völ-
lig verloren. Während die Verhandlungen über den Vertrag mit
Mancinus in Rom schwebten, griff er unter nichtigen Vorwänden,
eben wie sechszehn Jahr zuvor Lucullus, das freie Volk der Vac-
caeer an und begann in Gemeinschaft mit dem Feldherrn der
jenseitigen Provinz Pallantia zu belagern (618). Ausdrücklich
befahl ihm ein Senatsbeschluſs von dem Krieg abzustehen; nichts-
destoweniger setzte er, unter dem Vorwand, daſs die Umstände in-
zwischen sich geändert hätten, die Belagerung fort. Allein Lepidus
war als Soldat nicht besser denn als Bürger; nachdem er lange
vor der groſsen und festen Stadt gelagert hatte und ihm in dem
rauhen feindlichen Land die Zufuhr ausgegangen war, muſste er
mit Zurücklassung aller Verwundeten und Kranken den Rückzug
beginnen, auf dem die verfolgenden Pallantiner die Hälfte seiner
Soldaten aufrieben und, wenn sie die Verfolgung nicht zu früh
abgebrochen hätten, das schon in voller Auflösung begriffene rö-
mische Heer wahrscheinlich ganz vernichtet haben würden. Da-
für ward denn dem hochgebornen General bei seiner Heimkehr
eine Geldbuſse auferlegt. Seine Nachfolger Lucius Furius Philus
(618) und Gaius Calpurnius Piso (619) hatten wieder gegen
die Numantiner Krieg zu führen und da sie eben gar nichts
thaten, kamen sie glücklich ohne Niederlage heim. Selbst die rö-
mische Regierung fing endlich an einzusehen, daſs man so nicht
länger fortfahren könne; man entschloſs sich die Bezwin-
gung der kleinen spanischen Landstadt auſserordentlicher Weise
dem ersten Feldherrn Roms, Scipio Aemilianus zu übertragen.
Allein selbst ihm wurden die Geldmittel zur Kriegsführung nur in
sehr knapper Weise verwilligt, die verlangte Erlaubniſs aber Sol-
daten auszuheben geradezu verweigert, wobei Coterieintriguen
und die Furcht der souveränen Bürgerschaft lästig zu werden
[16]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
zusammengewirkt haben mögen. Indeſs begleitete ihn freiwillig
eine groſse Anzahl von Freunden und Clienten, unter ihnen sein
Bruder Maximus Aemilianus, der vor einigen Jahren mit Aus-
zeichnung gegen Viriathus commandirt hatte. Gestützt auf diese
zuverlässige Schaar, die als Feldherrnwache constituirt ward, be-
gann Scipio das tief zerrüttete Heer zu reorganisiren (620).
Vor allen Dingen muſste der Troſs das Lager räumen — es fan-
den sich bis 2000 Dirnen und eine Unzahl Wahrsager und Pfaf-
fen von allen Sorten — und da der Soldat zum Fechten un-
brauchbar war, muſste er wenigstens schanzen und mar-
schiren. Den ersten Sommer vermied der Feldherr jeden Kampf
mit den Numantinern; er begnügte sich die Vorräthe in der Um-
gegend zu vernichten und die Vaccaeer, die den Numantinern
Korn verkauften, zu züchtigen und zur Anerkennung der Ober-
hoheit Roms zu zwingen. Erst gegen den Winter zog Scipio sein
Heer um Numantia zusammen; auſser dem numidischen Contin-
gent von Reitern, Fuſssoldaten und zwölf Elephanten unter An-
führung des Prinzen Iugurtha und den zahlreichen spanischen
Zuzügen waren es vier Legionen, überhaupt eine Heermasse von
60000 Mann, die eine Stadt einschlossen mit einer waffenfähigen
Bürgerschaft von höchstens 8000 Köpfen. Dennoch boten die
Belagerten oftmals den Kampf an; allein Scipio, wohl erkennend,
daſs die vieljährige Zuchtlosigkeit nicht mit einem Schlag sich
ausrotten lasse, verweigerte jedes Gefecht, und wo es dennoch
bei den Ausfällen der Belagerten dazu kam, rechtfertigte die feige
kaum durch das persönliche Erscheinen des Feldherrn gehemmte
Flucht der Legionarier diese Taktik nur zu sehr. Nie hat ein
Feldherr seine Soldaten verächtlicher behandelt als Scipio die
numantinische Armee, der er nicht bloſs mit bitteren Reden,
sondern vor allem durch die That bewies, was er von ihr
halte. Zum ersten Mal führten die Römer, wo es nur an ihnen
lag das Schwert zu brauchen, den Kampf mit Hacke und Spaten.
In dem ganzen Umfang der Stadtmauern von reichlich einer hal-
ben deutschen Meile ward eine doppelt so ausgedehnte, mit
Mauern, Thürmen und Gräben versehene zwiefache Umwallungs-
linie aufgeführt und auch der Duerofluſs, auf dem den Belagerten
anfangs noch durch kühne Schiffer und Taucher einige Vorräthe
zugekommen waren, endlich abgesperrt. So muſste die Stadt,
die zu erstürmen man nicht wagte, durch Hunger erdrückt wer-
den, um so mehr als es der Bürgerschaft nicht möglich gewesen
war sich während des letzten Sommers zu verproviantiren. Bald
litten die Numantiner Mangel an Allem. Einer ihrer kühnsten
[17]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
Männer Retogenes schlug sich mit wenigen Begleitern durch die
feindlichen Linien durch und seine rührende Bitte die Stamm-
genossen nicht hülflos untergehen zu lassen war wenigstens in
einer der Arevakerstädte, in Lutia von groſser Wirkung. Bevor
aber die Bürger von Lutia sich entschlossen hatten, erschien
Scipio, benachrichtigt von den römisch Gesinnten in der Stadt,
mit Uebermacht vor ihren Mauern und zwang die Behörden ihm
die Führer der Bewegung, vierhundert der trefflichsten Jüng-
linge auszuliefern, denen auf Befehl des römischen Feldherrn
sämmtlich die Hände abgehauen wurden. Die Numantiner, also
der letzten Hoffnung beraubt, sandten an Scipio um über die
Unterwerfung zu verhandeln und riefen den tapfern Mann an der
Tapferen zu schonen; allein als die rückkehrenden Boten mel-
deten, daſs Scipio unbedingte Ergebung verlange, wurden sie
von der wüthenden Menge zerrissen und eine neue Frist verfloſs,
bis Hunger und Seuchen ihr Werk vollendet hatten. Endlich
kam in das römische Hauptquartier eine zweite Botschaft, daſs
die Stadt jetzt bereit sei auf Gnade und Ungnade sich zu unter-
werfen; als demnach die Bürgerschaft angewiesen wurde am fol-
genden Tag vor den Thoren zu erscheinen, bat sie um einige
Tage Frist, um denjenigen Bürgern, die den Untergang der Frei-
heit nicht zu überleben beschlossen hätten, Zeit zum Sterben zu
gestatten. Sie ward ihnen gewährt und nicht Wenige benutzten
sie. Endlich erschien der elende Rest vor den Thoren. Scipio las
funfzig der Ansehnlichsten aus um sie in seinem Triumphe auf-
zuführen; die übrigen wurden in die Sclaverei verkauft, die Stadt
dem Boden gleichgemacht, ihr Gebiet unter die Nachbarstädte
vertheilt. Das geschah im Herbst 621, funfzehn Monate nach-
dem Scipio den Oberbefehl übernommen hatte. — Mit Numan-
tias Fall war die hie und da noch sich regende Opposition gegen
Rom in der Wurzel getroffen; militärische Spaziergänge und
Geldbuſsen reichten aus um die römische Oberherrschaft im gan-
zen diesseitigen Spanien zur Anerkennung zu bringen.
Auch im jenseitigen ward durch die Ueberwindung der Lu-
sitaner die römische Herrschaft befestigt und ausgedehnt. Der
Consul Decimus Junius Brutus, der an Caepios Stelle trat, sie-
delte die kriegsgefangenen Lusitaner an in der Nähe von Sagunt
und gab ihrer neuen Stadt Valentia (Valencia) gleich Carteia la-
tinische Verfassung (616); er durchzog ferner (616-618) in
verschiedenen Richtungen die iberische Westküste und gelangte
zuerst von den Römern an das Gestade des atlantischen Meers.
Die von ihren Bewohnern, Männern und Frauen, hartnäckig
Röm. Gesch. II. 2
[18]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
vertheidigten Städte der Lusitaner wurden durch ihn bezwungen
und die bis dahin unabhängigen Gallaeker nach einer groſsen
Schlacht, in der ihrer 50000 gefallen sein sollen, mit der römi-
schen Provinz vereinigt. Nach Unterwerfung der Vaccaeer, Lu-
sitaner und Gallaeker war jetzt mit Ausnahme der Nordküste
die ganze Halbinsel wenigstens dem Namen nach den Römern
unterthan; es erschien eine senatorische Commission um im Ein-
vernehmen mit Scipio das neu gewonnene Provinzialgebiet rö-
misch zu ordnen, und Scipio that was er konnte um die Folgen
der ehr- und kopflosen Politik seiner Vorgänger zu beseitigen,
wie denn zum Beispiel die Kaukaeer, deren schmachvolle Miſs-
handlung durch Lucullus er neunzehn Jahre zuvor als Kriegs-
tribun mit hatte ansehen müssen, von ihm eingeladen wur-
den in ihre Stadt zurückzukehren und sie wieder aufzubauen.
Es begann wiederum für Spanien eine bessere Zeit. Die Un-
terdrückung des Seeraubes, der auf den Balearen gefährliche
Schlupfwinkel fand, durch Quintus Caecilius Metellus Besetzung
dieser Inseln im J. 631 war dem Aufblühen des spanischen
Handels ungemein förderlich und auch sonst waren die frucht-
baren und von einer dichten in der Schleuderkunst unüber-
troffenen Bevölkerung bewohnten Inseln ein werthvoller Be-
sitz. Wie zahlreich schon damals die lateinisch redende Bevölke-
rung auf der Halbinsel war, beweist die Ansiedlung von 3000
spanischen Lateinern in den Städten Palma und Pollentia (Pol-
lenza) auf den neugewonnenen Inseln. Trotz mancher schwerer
Miſsstände bewahrte die römische Verwaltung Spaniens im Gan-
zen den Stempel, den die catonische Zeit und zunächst Tiberius
Gracchus ihr aufgeprägt hatten. Das spanische Gebiet der Rö-
mer hatte zwar von den Ueberfällen der halb oder gar nicht be-
zwungenen Stämme des Nordens und Westens nicht wenig zu
leiden; bei den Lusitanern namentlich that die ärmere Jugend re-
gelmäſsig sich in Räuberbanden zusammen und brandschatzte in
hellen Haufen die Landsleute oder die Nachbarn, weſshalb noch
in viel späterer Zeit die einzeln gelegenen Bauerhöfe in dieser
Gegend festungsartig angelegt und im Nothfall vertheidigungs-
fähig waren. Es gelang den Römern nicht diesem Räuberwesen
in den unwirthlichen und schwer zugänglichen lusitanischen Ber-
gen ein Ende zu machen. Aber die bisherigen Grenzkriege nah-
men doch mehr und mehr den Charakter des Bandenunfugs an,
den jeder leidlich tüchtige Statthalter mit den gewöhnlichen Mit-
teln niederzuhalten vermochte, und trotz dieser Heimsuchung war
Spanien unter allen römischen Gebieten das blühendste und am
[19]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
besten organisirte Land; das Zehntensystem und die Mittelsmän-
ner warendaselbst unbekannt, die Bevölkerung zahlreich und die
Landschaft reich an Korn und Vieh.
In einem weit unleidlicheren Mittelzustand zwischen formel-
ler Souveränetät und thatsächlicher Unterthänigkeit befanden sich
die africanischen, griechischen und asiatischen Staaten, welche
durch die Kriege der Römer gegen Makedonien und Syrien und
deren Consequenzen in den Kreis der römischen Hegemonie ge-
zogen worden waren. Der freie Staat bezahlt den Preis seiner
Selbstständigkeit nicht zu theuer, indem er die Leiden des Krie-
ges auf sich nimmt; der Staat, der die Selbstständigkeit einge-
büſst hat, mag wenigstens einigen Ersatz darin finden, daſs der
Schutzherr ihm Ruhe schafft vor seinen Nachbarn. Allein diese
Clientelstaaten Roms hatten weder Selbstständigkeit noch Frie-
den. In Africa bestand zwischen Karthago und Numidien that-
sächlich ein ewiger Grenzkrieg. In Aegypten war zwar der Suc-
cessionsstreit der beiden Brüder Ptolemaeos Philometor und Pto-
lemaeos des Dicken durch römischen Schiedsspruch geschlichtet;
allein nichtsdestoweniger führten die neuen Herren von Aegypten
und von Kyrene Krieg um den Besitz von Kypros. In Asien waren
nicht bloſs die meisten Königreiche, Bithynien, Kappadokien, Sy-
rien, gleichfalls durch Erbfolgestreitigkeiten und dadurch hervor-
gerufene Interventionen der Nachbarstaaten innerlich zerrissen,
sondern es wurden auch vielfache und schwere Kriege geführt zwi-
schen den Attaliden und den Galatern, zwischen den Attaliden und
den bithynischen Königen, ja zwischen Rhodos und Kreta. Ebenso
glimmten im eigentlichen Hellas die dort landüblichen zwerghaf-
ten Fehden und selbst das sonst so ruhige makedonische Land
verzehrte sich in dem inneren Hader seiner neuen demokrati-
schen Verfassungen. Es war die Schuld der Herrscher wie der
Beherrschten, daſs die letzte Lebenskraft und der letzte Wohl-
stand der Nationen in diesen ziellosen Fehden vergeudet ward.
Die Clientelstaaten hätten einsehen müssen, daſs der Staat, der
nicht gegen jeden, überhaupt nicht Krieg führen kann und daſs,
da der Besitzstand und die Machtstellung all dieser Staaten that-
sächlich unter römischer Garantie stand, ihnen bei jeder Diffe-
renz nur die Wahl blieb entweder mit den Nachbarn in Güte sich
zu vergleichen oder die Römer zum Schiedsspruch aufzufordern.
Wenn die achäische Tagsatzung von Rhodiern und Kretern um
Bundeshülfe gemahnt ward und ernstlich über deren Absendung
berathschlagte (601), so war dies einfach eine politische Posse;
der Satz, den der Führer der römischgesinnten Partei da-
2*
[20]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
mals aufstellte, daſs es den Achäern nicht mehr freistehe ohne
Erlaubniſs der Römer Krieg zu führen, drückte, freilich mit übel-
klingender Schärfe, die einfache Wahrheit aus, daſs die formelle
Souveränetät der Dependenzstaaten eben nur eine formelle war
und jeder Versuch dem Schatten Leben zu verleihen nothwendig
dahin führen muſste auch den Schatten zu vernichten. Aber ein
Tadel schwerer als der gegen die Beherrschten ist gegen die
herrschende Gemeinde zu richten. Es ist für den Menschen wie
für den Staat eine schwere Aufgabe in die eigene Bedeutungslo-
sigkeit sich zu finden; des Machthabers Pflicht und Recht ist es
entweder die Herrschaft aufzugeben oder durch Entwickelung
einer imponirenden materiellen Ueberlegenheit die Beherrschten
zur Resignation zu nöthigen. Der römische Senat that kei-
nes von beiden. Von allen Seiten angerufen und bestürmt
unterlieſs der Senat nicht beständig in den Gang der africani-
schen, hellenischen, asiatischen, ägyptischen Angelegenheiten
einzugreifen; allein er that dies in einer so unsteten und schlaf-
fen Weise, daſs durch diese Schlichtungsversuche die Verwirrung
gewöhnlich noch ärger ward als sie schon war. Es war die Zeit
der Commissionen. Beständig gingen Beauftragte des Senats nach
Karthago und Alexandreia, an die achäische Tagsatzung und die
Höfe der vorderasiatischen Herren; sie untersuchten, inhibirten,
berichteten und dennoch ward in den wichtigsten Dingen nicht
selten ohne und gegen den Willen des Senats entschieden. Es
konnte geschehen, daſs Kypros, welches der Senat dem kyrenäi-
schen Reich zugeschieden hatte, nichts desto weniger bei Aegypten
blieb; daſs ein syrischer Prinz den Thron seiner Vorfahren bestieg
unter dem Vorgeben ihn von den Römern zugesprochen erhalten
zu haben, während ihm derselbe in der That vom Senate aus-
drücklich abgeschlagen und er selbst nur durch Bannbruch von
Rom entkommen war; ja daſs die offenkundige Ermordung eines
römischen Commissars, der im Auftrag des Senats vormundschaft-
lich das Regiment von Syrien führte, gänzlich ungeahndet hinging.
Die Asiaten wuſsten zwar sehr wohl, daſs sie nicht im Stande seien,
den römischen Legionen zu widerstehen; aber sie wuſsten nicht
minder, wie wenig der Senat geneigt war den Bürgern Marsch-
befehl nach dem Euphrat oder dem Nil zu ertheilen. So ging es
in diesen fernen Landschaften zu wie in der Schulstube, wenn
der Lehrer fern und schlaff ist; und Roms Regiment brachte die
Völker zugleich um die Segnungen der Freiheit und die einer
consequenten Hegemonie. Für die Römer selbst aber war die Lage
der Dinge im Osten insofern bedenklich, als an ihrer so gut wie
[21]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
preisgegebenen Nord- und Ostgrenze Reiche sich zu bilden ver-
mochten, welche, gestützt auf die auſserhalb des Bereiches der
römischen Hegemonie gelegenen Binnenlandschaften und im Ge-
gensatz gegen die schwachen römischen Clientelstaaten, zu einer
früher oder später mit der römischen rivalisirenden Machtent-
wickelung gelangten. Allerdings schirmte hiegegen einigermaſsen
der überall zerspaltene und nirgends einer groſsartigen staatli-
chen Entwickelung günstige Zustand der angrenzenden Nationen;
aber dennoch erkennt man namentlich in der Geschichte des
Ostens sehr deutlich, was die Folge davon war, daſs in dieser Zeit
nicht mehr die Phalanx des Seleukos und noch nicht die Legio-
nen des Augustus am Euphrat standen. — Diesem Zustand ein
Ende zu machen war hohe Zeit. Das einzig mögliche Ende aber
war die Verwandlung der Clientelstaaten in römische Aemter, was
um so eher geschehen konnte, als ja die römische Provinzialver-
fassung wesentlich nur die militärische Gewalt in der Hand des
römischen Vogts zusammenfaſste und Verwaltung und Gerichte in
der Hauptsache den Gemeinden blieben oder doch bleiben soll-
ten, also was von der alten politischen Selbstständigkeit über-
haupt noch lebensfähig war, sich in der Form der Gemeinde-
freiheit bewahren lieſs. Zu verkennen war die Nothwendigkeit
dieser administrativen Reform nicht wohl; es fragte sich nur, ob
der Senat das Nothwendige klar einzusehen und energisch durch-
zuführen den Muth und die Macht haben oder die Verwaltungs-
reform in der Ausführung verkümmern lassen werde.
Blicken wir zunächst auf Africa. Die von den Römern in
Libyen gegründete Ordnung der Dinge ruhte wesentlich auf dem
Gleichgewicht des Nomadenreiches Massinissas und der Stadt
Karthago. Während jenes unter Massinissas durchgreifendem
und klugem Regiment sich erweiterte, befestigte und civilisirte
(I, 493), ward auch Karthago durch die bloſsen Folgen des Frie-
densstandes wenigstens an Reichthum und Volkszahl wieder was
es auf der Höhe seiner politischen Macht gewesen war. Die Rö-
mer sahen mit übel verhehlter neidischer Furcht die wie es
schien unverwüstliche Blüthe der alten Nebenbuhlerin; hatten sie
bisher den beständig fortgesetzten Uebergriffen Massinissas
gegenüber derselben jeden ernstlichen Schutz verweigert, so fin-
gen sie jetzt an offen zu Gunsten des Nachbarn zu interveniren.
Der seit mehr als dreiſsig Jahren zwischen der Stadt und dem
König schwebende Streit über den Besitz der Landschaft Empo-
ria an der kleinen Syrte, einer der fruchtbarsten des karthagi-
schen Gebiets, ward endlich (um 593) von römischen Commis-
[22]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
sarien dahin entschieden, daſs die Karthager die noch in ihrem
Besitz verbliebenen Städte dieser Landschaft zu räumen und als
Entschädigung für die widerrechtliche Nutzung des Gebiets
500 Talente (860000 Thlr.) an den König zu zahlen hätten.
Die Folge war, daſs Massinissa sofort sich eines andern kartha-
gischen Bezirks an der Westgrenze des karthagischen Gebiets,
der Stadt Tusca und der groſsen Felder am Bagradas, bemäch-
tigte; den Karthagern blieb nichts übrig als abermals in Rom
einen hoffnungslosen Prozeſs anhängig zu machen. Nach lan-
gem und wahrscheinlich absichtlichem Zögern erschien in Africa
eine zweite Commission; als die Karthager von derselben eine
eingehende Erörterung verlangten und auf den ohne genaue vor-
gängige Untersuchung der Rechtsfrage von der Commission zu
fällenden Schiedsspruch nicht unbedingt compromittiren wollten,
kehrten die Commissare ohne die Sache erledigt zu haben wie-
der zurück nach Rom. Aber in einer andern Hinsicht war diese
Sendung von entscheidenden Folgen. An ihrer Spitze stand der
alte Marcus Cato, damals vielleicht der einfluſsreichste Mann im
Senat und als Veteran aus dem hannibalischen Kriege noch von
dem vollen Pönerhaſs und der vollen Pönerfurcht durchdrun-
gen. Betroffen und miſsgünstig sah er mit eigenen Augen den
blühenden Zustand der Erbfeinde Roms, die reiche Landschaft
und die wogenden Gassen, die gewaltigen Waffenvorräthe in den
Zeughäusern und das reiche Flottenmaterial; schon sah er im
Geiste einen zweiten Hannibal all diese Hülfsmittel gegen Rom
verwenden. In seiner ehrlichen und mannhaften, aber durchaus
bornirten Weise kam er zu dem Ergebniſs, daſs Rom nicht eher
gesichert sein werde, als bis Karthago vom Erdboden verschwun-
den sei, und entwickelte nach seiner Heimkehr diese Ansicht so-
fort im Senat. Dort widersetzten die freier blickenden Männer
der Aristokratie, namentlich Scipio Nasica, sich dieser kümmer-
lichen Politik mit groſsem Ernst und entwickelten die Blindheit
der Besorgnisse vor einer Kaufstadt, deren phönikische Bewoh-
ner mehr und mehr der kriegerischen Künste und Gedanken sich
entwöhnten, die vollkommene Verträglichkeit der Existenz dieser
reichen Handelsstadt mit der politischen Suprematie Roms. Selbst
die Umwandlung Karthagos in eine römische Provinzialstadt wäre
ausführbar, ja verglichen mit dem gegenwärtigen Zustand den
Phönikern selbst vielleicht nicht unwillkommen gewesen. Indeſs
Cato wollte eben nicht die Unterwerfung, sondern geradezu den
Untergang der verhaſsten Stadt. Seine Politik fand wie es scheint
Bundesgenossen theils an den Staatsmännern, die geneigt wa-
[23]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
ren, die überseeischen Gebiete in unmittelbare Abhängigkeit von
Rom zu bringen, theils und vor allem an dem mächtigen Einfluſs
der römischen Banquiers und Groſshändler, denen nach der Ver-
nichtung der reichen Geld- und Handelsstadt die Erbschaft der-
selben zufallen muſste. Die Majorität beschloſs bei der ersten pas-
senden Gelegenheit — eine solche abzuwarten forderte die Rück-
sicht auf die öffentliche Meinung — den Krieg mit Karthago oder
vielmehr die Zerstörung der Stadt durchzusetzen. — Eine Veranlas-
sung blieb nicht lange aus. Die erbitternden Rechtsverletzungen
von Seiten Massinissas und der Römer brachten in Karthago die
Patriotenpartei an das Regiment, welche ähnlich der achäischen
zwar nicht daran dachte gegen die römische Suprematie sich
aufzulehnen, aber wenigstens die den Karthagern vertragsmäſsig
zustehenden Rechte gegen Massinissa wenn nöthig mit den Waf-
fen zu vertheidigen entschlossen war. Geführt von Hamilkar
dem Samniten und Karthalo verbannte sie vierzig der entschie-
densten Anhänger Massinissas aus der Stadt und lieſs das Volk
schwören ihnen unter keiner Bedingung je die Rückkehr zu ge-
statten; zugleich bildete sie zur Abwehr gegen die von Massi-
nissa zu erwartenden Angriffe aus den freien Numidiern ein star-
kes Heer unter Arkobarzanes, dem Enkel des Syphax (um
600). Massinissa indeſs war klug genug jetzt nicht zu rüsten,
sondern sich wegen des streitigen Gebiets am Bagradas unbe-
dingt dem Schiedsspruch der Römer zu unterwerfen; und so
konnte man römischer Seits mit einigem Schein behaupten, daſs
die karthagischen Rüstungen gegen die Römer gerichtet sein
müſsten, und auf sofortige Entlassung des Heeres und Vernich-
tung der Flottenvorräthe dringen. Der karthagische Rath wollte
einwilligen, allein die Menge verhinderte die Ausführung des Be-
schlusses und die römischen Boten, die diesen Bescheid nach
Karthago überbracht hatten, schwebten in Lebensgefahr. Massi-
nissa sandte seinen Sohn Gulussa nach Rom um über die fort-
dauernden Vorbereitungen Karthagos für den Land- und den
Seekrieg zu berichten und die Kriegserklärung zu beschleunigen;
nachdem noch einmal eine Gesandtschaft von zehn Männern es
bestätigt hatte, daſs in Karthago in der That gerüstet werde (602),
verwarf der Senat zwar die unbedingte Kriegserklärung, die Cato
begehrte, beschloſs aber in geheimer Sitzung, daſs der Krieg er-
klärt sein solle, wenn die Karthager sich nicht dazu verstehen wür-
den ihr Heer zu entlassen und ihr Flottenmaterial zu verbrennen.
Inzwischen hatte in Africa der Kampf bereits begonnen. Massi-
nissa sandte die von den Karthagern verbannten Leute unter
[24]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
Geleitschaft seines Sohnes Gulussa nach der Stadt zurück. Da
die Karthager ihnen die Thore schlossen, auch von den heim-
kehrenden Numidiern einige erschlugen, begann Massinissa den
Krieg, und die karthagische Patriotenpartei nahm ihn auf. Indeſs
Hasdrubal der Samnite, der an die Spitze ihrer Armee trat, war
einer der gewöhnlichen Heerverderber, die die Karthager zu Feld-
herren zu machen pflegten; im Feldherrnpurpur einherstolzirend
wie ein Theaterkönig und seines stattlichen Bauches auch im La-
ger pflegend war der eitle und schwerfällige Mann wenig geeignet
den Helfer zu machen in einer Bedrängniſs, die vielleicht selbst
Hannibals Geist und Hannibals Arm nicht mehr hätten abwenden
können. Vor den Augen des Scipio Aemilianus, der als Kriegs-
tribun der spanischen Armee an Massinissa gesandt worden war,
um Elephanten nach Spanien zu führen und von einem Berge
herab ‚wie Zeus vom Ida‘ der Schlacht zuschaute, lieferten die Kar-
thager und die Numidier sich ein groſses Treffen, in welchem jene,
obwohl durch 6000 von unzufriedenen Hauptleuten Massinissas
ihnen zugeführte numidische Reiter verstärkt und an Zahl dem
Feinde überlegen, dennoch den Kürzern zogen. Scipio versuchte
auf Anrufen der Karthager den Frieden zu vermitteln; sie erbo-
ten sich zu Gebietsabtretungen und Geldzahlungen, allein an ihrer
Weigerung die Ueberläufer auszuliefern scheiterte das Friedens-
geschäft. Bald nachher sah Hasdrubal sich genöthigt auf jede von
Massinissa gestellte Bedingung zu capituliren: auf Auslieferung der
Ueberläufer, Rückkehr der Verbannten, Abgabe der Waffen, Ab-
zug unter dem Joch, Zahlung von jährlich 100 Talenten
(170000 Thlr.) für die nächsten funfzig Jahre ging er ein:
dennoch ward der Vertrag von den Numidiern nicht gehalten,
sondern der entwaffnete Rest des karthagischen Heeres auf der
Heimkehr von ihnen zusammengehauen. — Die Römer, die den
Krieg durch ihre Gesandten zu hemmen sich wohl gehütet hat-
ten, hatten jetzt was sie begehrten: einen brauchbaren Kriegsgrund
— denn die Bestimmungen des Vertrags nicht gegen römische
Bundesgenossen noch auſserhalb der eigenen Grenzen Krieg zu
führen (I, 478) waren jetzt allerdings von den Karthagern über-
treten worden — und einen bereits im Voraus geschlagenen Geg-
ner. Schon wurden die italischen Contingente nach Rom gemahnt
und die Schiffe zusammenberufen; jeden Augenblick konnte man
die Kriegserklärung erwarten. Die Karthager boten alles auf den
drohenden Schlag abzuwenden. Die Führer der Patriotenpartei,
Hasdrubal und Karthalo wurden zum Tode verurtheilt und eine
Gesandtschaft nach Rom geschickt um auf sie die Verantwortung
[25]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
zu wälzen. Allein zugleich trafen Boten von Utica, der zweiten
Stadt der libyschen Phöniker, dort ein, welche Vollmacht hatten
ihre Gemeinde den Römern völlig zu eigen zu geben — mit die-
ser zuvorkommenden Unterwürfigkeit verglichen schien es fast
Trotz, daſs die Karthager sich begnügt hatten die Hinrichtung
ihrer angesehensten Männer unverlangt anzuordnen. Der Senat
erklärte, daſs die Entschuldigung der Karthager unzureichend
befunden sei; auf die Frage, was denn genügen werde, hieſs es,
das sei den Karthagern ja bekannt. Freilich konnte man es wis-
sen, was die Römer wollten; allein es schien doch wieder un-
möglich zu glauben, daſs nun wirklich für die liebe Heimathstadt
die letzte Stunde gekommen sei. Noch einmal gingen karthagi-
sche Sendboten, diesmal ihrer dreiſsig und mit unbeschränkter
Vollmacht, nach Rom. Als sie ankamen, war bereits der Krieg er-
klärt (Anf. 605) und das doppelte Consularheer eingeschifft;
doch versuchten sie durch vollständige Unterwerfung den Sturm
noch jetzt zu beschwören. Der Senat beschied sie, daſs Rom be-
reit sei der karthagischen Gemeinde ihr Gebiet, ihre städtische
Freiheit und ihr Landrecht, ihr Gemeinde- und Privatvermögen
zu garantiren, wofern sie den so eben nach Sicilien abgegange-
nen Consuln binnen Monatfrist in Lilybaeon 300 Geiſseln aus
den Kindern der regierenden Familien stellen und die weiteren
Befehle erfüllen würden, die ihnen die Consuln nach ihrer In-
struction würden zugehen lassen. Man hat den Bescheid zwei-
deutig genannt; sehr verkehrt, wie schon damals klarblickende
Männer selbst unter den Karthagern hervorhoben. Daſs alles
was man nur begehren konnte, garantirt ward mit einziger Aus-
nahme der Stadt, und daſs keine Rede davon war die Einschif-
fung der Truppen nach Africa zu sistiren, zeigte sehr deutlich,
was man beabsichtigte; der Senat verfuhr mit fürchterlicher
Härte, aber er gab sich keineswegs den Anschein begnadigen zu
wollen. Indeſs man wollte in Karthago nicht sehen; es fand sich
kein Staatsmann, der die haltlose städtische Menge entweder
zum vollen Widerstand oder zur vollen Resignation zu begeistern
vermocht hätte. Als man zugleich das entsetzliche Kriegsdecret
und die erträgliche Geiſselforderung vernahm, fügte man zu-
nächst sich dieser und hoffte weiter, weil man den Muth nicht
hatte es auszudenken, was es heiſse einem Todfeinde sich auf
jede Bedingung zu ergeben. Die Consuln sandten die Geiſseln
von Lilybaeon zurück nach Rom und beschieden die karthagi-
schen Boten das Weitere in Africa zu vernehmen. Ohne Wider-
stand erfolgte die Landung und wurden die geforderten Lebens
[26]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
mittel verabfolgt. Als im Hauptquartier vor Utica die gesammte
Gerusia von Karthago erschien um die weiteren Befehle entgegen
zu nehmen, begehrten die Consuln zunächst die Entwaffnung der
Stadt. Auf die Frage der Karthager, wer sie sodann auch nur gegen
ihre eigenen Ausgewanderten, gegen die auf 20000 Mann ange-
schwollene Armee des dem Todesurtheil entronnenen Hasdrubal
beschützen solle, ward ihnen erwiedert, daſs dies die Sorge der
Römer sein werde. Mit allem Flottenmaterial, allen Kriegsvorrä-
then der öffentlichen Zeughäuser, allen im Privatbesitz befindli-
chen Waffen — man zählte 3000 Wurfgeschütze und 200000
volle Rüstungen — erschien demnach der Rath der Stadt gehor-
sam vor den Consuln und fragte an, ob noch Weiteres begehrt
werde. Da erhob sich der Consul Lucius Marcius Censorinus
und eröffnete dem Rath, daſs in Gemäſsheit der vom Senat erlas-
senen Instruction die bisherige Stadt der Karthager zerstört wer-
den müsse, den Bewohnern aber freistehen solle sich wo sie sonst
wollten auf ihrem Gebiet, jedoch mindestens zwei deutsche Mei-
len vom Meer entfernt, wiederum anzusiedeln. Dieser fürchter-
liche Befehl rüttelte in den Phönikern die ganze soll man sagen
hochherzige oder wahnwitzige Begeisterung auf, wie sie einst die
Tyrier gegen Alexander und später die Juden gegen Vespasian
bewiesen. Beispiellos wie die Geduld war, mit der diese Nation
Knechtschaft und Druck zu ertragen vermochte, ebenso beispiel-
los war jetzt, wo es sich nicht um Staat und Freiheit handelte,
sondern um den eigenen geliebten Boden der Vaterstadt und die
altgewohnte theure Meeresheimath, die rasende Empörung der
kaufmännischen und seefahrenden Bevölkerung. Von Hoffnung
und Rettung konnte nicht die Rede sein; der politische Verstand
gebot ohne Frage auch jetzt sich zu fügen — aber wie der Ruf
des Fährmannes im Orkan verscholl die Stimme der Wenigen,
welche mahnten das Unvermeidliche auf sich zu nehmen, in dem
brausenden Wuthgeheul der Menge, die in ihrem wahnsinnigen
Toben theils an den Beamten der Stadt sich vergriff, welche zur
Auslieferung der Geiſseln und Waffen gerathen hatten, theils die
unschuldigen Träger der Botschaft, so viele von ihnen überhaupt
heimzukehren gewagt hatten, die Schreckenskunde entgelten
lieſs, theils die zufällig in der Stadt verweilenden Italiker zerriſs,
um wenigstens an diesen Rache zu nehmen für die Vernichtung
der Heimath. Man beschloſs nicht, sich zu wehren; wehrlos wie
man war verstand sich dies von selbst. Die Thore wurden ge-
schlossen, auf die von Wurfgeschossen entblöſsten Mauerzinnen
Steine geschafft, der Oberbefehl an Hasdrubal den Tochtersohn
[27]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
Massinissas übertragen, die Sclaven sämmtlich frei erklärt. Das
Emigrantenheer unter Hasdrubal dem Samniten, das mit Aus-
nahme der von den Römern besetzten Städte an der Ostküste
Hadrumetum, Kleinleptis, Thapsus und Achulla und der Stadt
Utica das ganze karthagische Gebiet inne hatte und für die Ver-
theidigung eine unschätzbare Stütze bot, ward ersucht der Ge-
meinde seinen Beistand in dieser höchsten Noth nicht zu versa-
gen. Zugleich versuchte man, in echt phönikischer Weise die
grenzenloseste Erbitterung unter dem Mantel der Demuth ver-
steckend, den Feind zu täuschen. Es ging eine Botschaft an die
Consuln, um dreiſsigtägigen Waffenstillstand zur Absendung einer
Gesandtschaft nach Rom zu erbitten. Die Karthager wuſsten
wohl, daſs die Feldherren diese schon früher abgeschlagene Bitte
weder gewähren wollten noch konnten; allein die Consuln wur-
den dadurch bestärkt in der natürlichen Voraussetzung, daſs
nach dem ersten Ausbruch der Verzweiflung die gänzlich wehr-
lose Stadt sich fügen werde, und verschoben deſshalb den An-
griff. Die kostbare Zwischenzeit ward benutzt um Wurf-
geschütze und Rüstungen herzustellen; Tag und Nacht ward
ohne Unterschied des Alters und Geschlechts an Maschinen
und Waffen gezimmert und gehämmert; um Balken und Me-
tall zu erlangen wurden die öffentlichen Gebäude niedergeris-
sen; um die für die Wurfgeschütze unentbehrlichen Sehnen her-
zustellen schoren die Frauen sich das Haar; in unglaublich kur-
zer Zeit waren die Mauern und die Männer wieder bewehrt. Daſs
dies alles geschehen konnte, ohne daſs die wenigen Meilen entfern-
ten Consuln etwas davon erfuhren, ist nicht der am wenigsten
wunderbare Zug in dieser wunderbaren von einem wahrhaft
genialen, ja dämonischen Volkshaſs getragenen Bewegung. Als end-
lich des Wartens müde die Consuln aus dem Lager bei Utica auf-
brachen und bloſs mit Leitern die nackten Mauern ersteigen zu
können meinten, fanden sie mit Staunen und Schrecken die Zin-
nen aufs neue mit Katapelten gekrönt und die groſse volkreiche
Stadt, welche man gleich einem offenen Flecken zu besetzen ge-
hofft hatte, fähig und bereit sich bis auf den letzten Mann zu
vertheidigen.
Karthago war sehr fest durch die Natur seiner Lage *wie
[28]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
durch die Kunst seiner gar oft auf den Schutz ihrer Mauern an-
gewiesenen Bewohner. Im Innern des weiten tunesischen Golfs,
den westlich Cap Farina, östlich Cap Bon begrenzt, lag die Stadt
auf einer in den Golf vorspringenden Landspitze, die an drei Sei-
ten vom Meer umflossen war und nur gegen Westen durch einen
etwa eine halbe Meile breiten niedrigen Landstreifen mit dem Fest-
land zusammenhing. Der ziemlich steile Abfall der Halbinsel ge-
gen die See und deren zahlreiche Klippen und Untiefen deckten
nach Norden und Osten die Stadt sicherer als Mauern gegen je-
den Angriff. An der West- oder Landseite schloſs die Citadelle,
die Byrsa (syrisch Birtha=Burg) die Stadt, so daſs ihre Auſsen-
mauer zugleich die Stadtmauer bildete, ähnlich wie in Rom die
Felsenwand des Capitols. Auf diese Mauer, durch deren Thore
die ganze karthagische Landcommunication auf den beiden Haupt-
straſsen nach Utica und nach Tunis sich bewegte, war alles ver-
wandt, was die damalige Befestigungskunst vermochte: in drei
Terrassen, jede 40 Ellen hoch und 22 breit, erhob sie sich und
gewährte in ihren beiden Stockwerken zugleich Stallungen für
Elephanten und Pferde und Quartier für die Besatzung. Hinter
ihr stieg der steile Burgfelsen empor, dessen obere Fläche von
2000 Doppelschritten im Umfang den gewaltigen auf einem Un-
terbau von sechzig Stufen ruhenden Tempel des Heilgottes trug.
Endlich die Südseite der Stadt bespülte theils der seichte tune-
sische See im Südwesten, den eine von der karthagischen Halb-
insel südwärts auslaufende schmale und niedrige Landzunge *
fast gänzlich von dem Golfe schied, theils im Südosten der offene
Golf. An dieser letzten Stelle befand sich der Doppelhafen der
Stadt, ein Werk von Menschenhand: der äuſsere oder der Han-
delshafen, von dessen nur 70 Fuss breiter Mündung nach bei-
den Seiten breite Quais am Wasser sich hinzogen und der innere
oder der Kriegshafen (Kothon, d. h. ‚der kleine‘ Hafen genannt), in
den man durch den äuſseren gelangte. Zwischen beiden ging die
Stadtmauer durch, die von da wo die Byrsa den tunesischen See
berührte ostwärts sich wendend die Landzunge und den Auſsen-
hafen aus-, dagegen den Kriegshafen einschloſs, so daſs die Ein-
fahrt in den letzteren gleich einem Thor verschlieſsbar gedacht
werden muſs. Unweit des Kriegshafens lag der Marktplatz, der
durch drei enge Straſsen mit der nach der Stadtseite offenen
*
[29]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
Burg verbunden war. Auſserhalb dieser eigentlichen Stadt hatte
ein ziemlich beträchtlicher gröſsentheils mit Landhäusern und
wohlbewässerten Gärten gefüllter Raum im Norden der Halbinsel,
die Aussenstadt Magalia, eine eigene an die Stadtmauer sich an-
lehnende Umwallung. — Die schwierige Aufgabe eine so wohl-
befestigte Stadt zu bezwingen wurde noch dadurch erschwert,
daſs theils die Menge der hauptstädtischen Bevölkerung — sie
ward auf 700000 Köpfe angeschlagen — und das noch immer
800 Ortschaften umfassende und von der Emigrantenpartei gröſs-
tentheils beherrschte Gebiet, theils die zahlreichen mit Massinissa
verfeindeten Stämme der ganz oder halb freien Libyer den Kar-
thagern gestatteten sich nicht auf die Vertheidigung der Stadt zu
beschränken, sondern zugleich ein zahlreiches Heer im Felde zu
halten, welches bei der Verzweiflung der Menge und der Brauch-
barkeit der leichten numidischen Reiterei nicht auſser Acht ge-
lassen werden durfte. — Es hatten somit die Consuln eine kei-
neswegs leichte Aufgabe zu lösen, als sie sich nun doch genöthigt
sahen die Belagerung regelrecht zu beginnen. Marcus Manilius,
der das Landheer befehligte, schlug sein Lager vorwärts der Land-
zunge zwischen dem See und dem Golf, während Lucius Censori-
nus mit der Flotte an dem See sich aufstellte und auf der Land-
zunge selbst die Operationen begann. An dem andern Ufer des
Sees bei der Festung Nepheris lagerte die karthagische Armee
unter Hasdrubal und erschwerte den zum Holzfällen für den Ma-
schinenbau ausgeschickten römischen Soldaten ihre Arbeit; na-
mentlich der tüchtige Reiterführer Himilkon Phameas tödtete
den Römern viele Leute. Indeſs stellte Censorinus auf der Land-
zunge zwei grosse Sturmböcke her und brach mit ihnen Bresche
an der schwächsten Stelle der Mauer; der Sturm indeſs muſste,
da es Abend geworden, verschoben werden und in der Nacht ge-
lang es den Belagerten einen groſsen Theil der Bresche zu
füllen und durch einen Ausfall die römischen Maschinen so zu
beschädigen, daſs sie am nächsten Tage nicht weiter arbeiten
konnten. Dennoch wagten die Römer den Sturm; allein sie fan-
den die Bresche und die nächsten Mauerabschnitte und Häuser
so stark besetzt und gingen so unvorsichtig vor, daſs sie mit
starkem Verlust zurückgeschlagen wurden und noch weit gröſsere
Nachtheile erlitten haben würden, wenn nicht der Kriegstribun
Scipio Aemilianus, den Ausgang des tollkühnen Wagnisses vor-
hersehend, seine Leute vor den Mauern zusammengehalten und
mit ihnen die Flüchtenden aufgenommen hätte. Noch viel weni-
ger richtete Manilius gegen die unbezwingliche Burgmauer aus.
[30]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
So zog die Belagerung sich in die Länge. Die durch die Som-
merhitze im Lager erzeugten Krankheiten, die Abreise des fähi-
geren Feldherrn Censorinus, endlich die Verstimmung und Un-
thätigkeit Massinissas, der begreiflicher Weise die Römer sehr
ungern die längst begehrte Beute für sich selber nehmen sah,
und bald darauf (Ende 605) der Tod des neunzigjährigen Königs
brachten die Offensivoperationen der Römer völlig ins Stocken.
Sie hatten genug zu thun um ihre Schiffe gegen die karthagi-
schen Brander und ihr Lager gegen die nächtlichen Ueberfälle zu
schützen und durch Anlegung eines Hafencastells und Streifzüge
in die Umgegend Nahrung für Menschen und Pferde zu beschaf-
fen. Zwei gegen Hasdrubal gerichtete Expeditionen blieben beide
ohne Erfolg, ja die erste hätte bei der schlechten Führung auf
dem schwierigen Terrain fast mit einer förmlichen Niederlage
geendigt. So ruhmlos dieser Krieg für den Feldherrn wie für das
Heer verlief, so glänzend that der Kriegstribun Scipio darin sich
hervor. Er war es, der bei dem Nachtsturm der Feinde auf das
römische Lager, mit einigen Reiterschwadronen ausrückend und
den Feind in den Rücken fassend, ihn zum Umkehren nöthigte.
Auf dem ersten Zug nach Nepheris machte er nach dem Fluſs-
übergang, der wider seinen Rath stattgefunden hatte und fast
das Verderben des Heeres geworden wäre, durch einen verwege-
nen Seitenangriff dem rückkehrenden Heer Luft und befreite eine
schon verloren gegebene Abtheilung durch seinen aufopfernden
Heldenmuth. Während die übrigen Offiziere, der Consul vor
allem, durch ihre Wortlosigkeit die zum Uebertritt geneigten
Städte und Parteiführer zurückschreckten, gelang es Scipio einen
der tüchtigsten von diesen, Himilkon Phameas mit 2200 Reitern
zum Uebertritt zu bestimmen. Endlich, nachdem er, den Auftrag
des sterbenden Massinissa erfüllend, unter dessen drei Söhne,
die Könige Micipsa, Gulussa und Mastanabal das Reich getheilt
hatte, führte er in Gulussa einen seines Vaters würdigen Reiter-
führer dem römischen Heer zu und half damit dem bisher empfind-
lich gefühlten Mangel an leichter Reiterei ab. Sein feines und doch
schlichtes Wesen, das mehr an seinen leiblichen Vater erinnerte
als an den, dessen Namen er trug, bezwang selbst den Neid und
im Lager wie in der Hauptstadt war Scipios Name auf allen Lip-
pen. Selbst Cato, der nicht freigebig mit seinem Lobe war, wandte
wenige Monate vor seinem Tode — er starb am Ende des J. 605
ohne den Wunsch seines Lebens, die Vernichtung Karthagos er-
füllt gesehen zu haben — auf den jungen Offizier und seine un-
fähigen Kameraden die homerische Zeile an:
[31]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
Einzig er ist ein Mann, die andern sind wandelnde Schatten*.
Ueber diese Vorgänge war der Jahresschluſs und damit
der Commandowechsel herangekommen: ziemlich spät erschien
der Consul Lucius Piso (606) und übernahm den Oberbefehl des
Landheers so wie Lucius Mancinus den der Flotte. Indeſs hatten
die Vorgänger wenig geleistet, so geschah nun gar nichts. Statt
mit der Belagerung Karthagos oder der Vernichtung der Armee
Hasdrubals beschäftigte Piso sich damit die kleinen phönikischen
Seestädte anzugreifen und auch dies war meist ohne Erfolg, wie
zum Beispiel Clupea ihn zurückschlug und er von Hippo Diarrhy-
tos, nachdem er den ganzen Sommer davor verloren hatte und
das Belagerungsgeräth ihm zweimal verbrannt worden war, schimpf-
lich abziehen musste. Neapolis ward zwar genommen; aber
die Plünderung der Stadt gegen das gegebene Ehrenwort
war auch dem Fortgang der römischen Waffen nicht sonderlich
günstig. Der Muth der Karthager stieg. Ein numidischer Scheik
Bithyas ging mit 800 Pferden zu ihnen über; karthagische Ge-
sandte konnten es versuchen mit den Königen von Numidien und
Mauretanien, ja mit dem falschen Philippos von Makedonien Ver-
bindungen einzuleiten. Vielleicht mehr die inneren Intriguen —
Hasdrubal der Samnite verdächtigte den gleichnamigen Feldherrn,
der in der Stadt befehligte, wegen seiner Verwandtschaft mit
Massinissa und lieſs ihn im Rathhause erschlagen — als die Thä-
tigkeit der Römer verhinderten eine für Karthago noch günsti-
gere Wendung der Dinge. So griff man in Rom, um dem be-
sorglichen Stand der africanischen Angelegenheiten Wandel zu
schaffen, zu der auſserordentlichen Maſsregel dem einzigen Mann,
der bis jetzt von den libyschen Feldern Ehre heimgebracht hatte
und den sein Name selbst für diesen Krieg empfahl, dem Scipio
statt der Aedilität, um die er sich bewarb, mit Beseitigung der
Altersgesetze vor der Zeit das Consulat und durch besonderen
Beschluſs die Führung des africanischen Kriegs zu übertragen.
Er traf (607) in Utica in einem Augenblick ein, wo viel auf dem
Spiel stand. Der römische Admiral Mancinus, der von Piso mit
der nominellen Fortsetzung der Belagerung der Hauptstadt be-
auftragt war, hatte an der schwer zugänglichen Seeseite der
Auſsenstadt Magalia eine steile von dem bewohnten Bezirk weit
entlegene und kaum vertheidigte Klippe fast mit seiner gesamm-
[32]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
ten nicht zahlreichen Mannschaft besetzt, in der Hoffnung von
hier aus in die Auſsenstadt eindringen zu können. In der That
waren sie schon einen Augenblick innerhalb der Thore gewesen
und eine Masse Leute des Lagertrosses waren herbeigeströmt in
der Hoffnung auf Beute. Allein wieder auf die Klippe zurückge-
drängt fanden sie sich ohne Zufuhr und fast abgeschnitten. Kaum
angekommen entsandte Scipio die mitgebrachte Mannschaft und
die Miliz von Utica zu Schiff nach dem bedrohten Punkt und es
gelang dessen Besatzung zu retten und denselben zu behaupten.
Während Scipio hierauf abwesend war um das Heer des Piso
wieder nach Karthago zurückzuführen, verlegten Hasdrubal und
Bithyas ihr Lager unmittelbar an die Stadt; sie erneuerten den
Angriff auf die Besatzung der Klippe vor Magalia; indeſs auch
jetzt erschien Scipio zeitig genug mit dem Vortrab der Haupt-
armee um dem Posten Beistand zu leisten. So begann jetzt von
neuem und ernstlicher die Belagerung. Vor allen Dingen säuberte
Scipio das Lager von der Masse des Trosses und der Marketen-
der und zog die erschlafften Zügel der Disciplin wieder mit Strenge
an. Zunächst ward sodann ein nächtlicher Angriff auf die Auſsen-
stadt versucht; von einem Thurme aus, der den Mauern an Höhe
gleich vor denselben stand, gelangten die Römer auf die Zinnen
und öffneten ein Pförtchen, durch das das ganze Heer eindrang.
Die Karthager gaben die Auſsenstadt und das Lager vor den Tho-
ren auf; in der inneren Stadt übernahm Hasdrubal den Oberbe-
fehl über die auf 30000 Mann sich belaufende städtische Be-
satzung. Er bewies seine Energie zuvörderst dadurch, daſs er
sämmtliche römische Gefangenen auf die Mauerzinnen bringen
und sie vor den Augen des Belagerungsheers nach grausamen
Martern in die Tiefe stürzen lieſs; als hierüber Stimmen des Tadels
sich erhoben, wurde auch gegen die Bürger die Schreckensherr-
schaft eingeführt. Scipio inzwischen war zunächst darauf bedacht
der Stadt allen Verkehr nach auſsen hin abzuschneiden. Er selbst
nahm sein Hauptquartier auf dem Erdrücken, durch den die kar-
thagische Halbinsel mit dem Festland zusammenhängt und schlug
hier trotz der vielfachen Versuche der Karthager den Bau zu stö-
ren ein groſses diesen Rücken in seiner ganzen Breite schlieſsen-
des Lager, das die Stadt auf der Landseite vollständig absperrte.
Indeſs liefen noch immer Proviantschiffe in den Hafen ein, theils
kühne Kauffahrer, die der hohe Gewinn lockte, theils durch Bi-
thyas Veranstaltung, der von Nepheris am Ende des tunetaner
Sees aus bei jedem günstigen Fahrwind Lebensmittel nach der
Stadt zu bringen versuchte; wie auch daselbst die Bürgerschaft
[33]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
schon litt, die Besatzung war noch hinreichend versorgt. Scipio
zog deſshalb von der Landzunge zwischen See und Golf in den
letzteren hinein einen Steindamm von 96 Fuſs Breite, um damit
die Hafenmündung zu sperren. Die Stadt schien verloren, als
das Gelingen dieses anfangs von den Karthagern als unausführ-
bar verspotteten Unternehmens offenbar ward. Während die rö-
mischen Arbeiter drauſsen damit beschäftigt waren, wurde im
karthagischen Hafen zwei Monate lang Tag und Nacht gearbeitet,
ohne daſs selbst die Ueberläufer zu sagen wuſsten, was die Be-
lagerten beabsichtigten. Plötzlich, als eben die Römer mit der
Verbauung der Hafenmündung fertig waren, segelten aus dem-
selben Hafen funfzig karthagische Dreidecker und eine Anzahl
Böte und Kähne nach einer andern Seite hinaus in den Golf —
die Karthager hatten, während die Feinde die alte Hafenmündung
gegen Süden sperrten, durch einen in östlicher Richtung gezoge-
nen Kanal sich eine neue Hafenöffnung verschafft, welche bei der
Tiefe des Meeres an der Ostseite unmöglich gesperrt werden
konnte. Hätten die Karthager, statt mit dem Paradezug sich zu
begnügen, auf die halb abgetakelte und völlig unvorbereitete rö-
mische Flotte sofort sich entschlossen gestürzt, so war diese ver-
loren; nun fanden sie, als sie am dritten Tage wiederkehrten um
die Seeschlacht zu liefern, die Römer gerüstet. Der Kampf selbst
verlief ohne Entscheidung; bei der Rückfahrt aber stopften sich die
karthagischen Schiffe so sehr in und vor der Hafenmündung, daſs
der dadurch entstandene Schaden einer Niederlage gleichkam.
Scipio richtete nun seine Angriffe auf den äuſsern Hafenquai, wel-
cher auſserhalb der Stadtmauern lag und nur durch einen vor kur-
zem angelegten Erdwall nothdürftig geschützt war. Die Maschi-
nen wurden auf der Landzunge aufgestellt und eine Bresche war
leicht gemacht; aber mit beispielloser Unerschrockenheit griffen
die Karthager, die Untiefen durchwatend, das Belagerungszeug an,
verjagten die Besatzungsmannschaft, welche so ins Laufen kam,
daſs Scipio seine eigenen Reiter auf sie einhauen lassen muſste,
und zerstörten die Maschinen, wodurch sie Zeit gewannen die Bre-
sche zu schlieſsen. Scipio stellte indeſs die Maschinen wieder her
und schoſs die Holzthürme der Feinde in Brand, wodurch er den
Quai und damit den Auſsenhafen in seine Gewalt bekam. Ein der
Stadtmauer an Höhe gleichkommender Wall wurde hier aufge-
führt und es war jetzt endlich die Stadt von der Land- wie von
der Seeseite vollständig abgesperrt, da man in den inneren Hafen
nur durch den äuſseren gelangte. Um die Blokade vollständig zu
sichern, lieſs Scipio das Lager bei Nepheris, das jetzt Diogenes
Röm. Gesch. II. 3
[34]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
befehligte, von Gaius Laelius angreifen; durch eine glückliche
Kriegslist ward es erobert und die ganze dort versammelte zahl-
lose Menschenmasse getödtet oder gefangen. Darüber war der
Winter herangekommen und Scipio stellte die Operationen ein,
es dem Hunger und den Seuchen überlassend das Begonnene zu
vollenden. Wie furchtbar die Gewaltigen des Herrn inzwischen
an dem Vernichtungswerk gearbeitet hatten, zeigte sich, als im
Frühling 608 das römische Heer den Angriff wieder aufnahm.
Der innere Hafen, gegen den er zunächst gerichtet ward, wurde
von der durch Tod und Desertion decimirten Bürgerschaft kaum
noch vertheidigt; Hasdrubal, der noch während des Winters fort-
gefahren hatte zu prahlen und zu prassen, befahl diesen Stadt-
theil anzuzünden und zog sich mit der noch übrigen Mannschaft
auf den steilen Burgfelsen zurück. Scipio besetzte den Markt und
drang in den drei schmalen von diesem nach der Burg zu füh-
renden Straſsen langsam vor; langsam, denn von den gewaltigen
bis zu sechs Stockwerken hohen Häusern muſste eines nach dem
andern erstürmt werden; auf den Dächern oder auf über die Straſse
gelegten Balken drang der Soldat von einem dieser festungsähn-
lichen Gebäude in das benachbarte oder gegenüberstehende vor
und stieſs nieder was darin ihm vorkam. So verflossen sechs
Tage, schreckliche für die Bewohner der Stadt und auch für die
Angreifer voll Noth und Gefahr; endlich war das Burgplateau er-
reicht. Um einen breiteren Aufweg zu bekommen, befahl Scipio
die eroberten Straſsen anzuzünden und den Schutt zu planiren,
bei welcher Veranlassung eine Menge kampfunfähiger Personen,
die sich in die Häuser versteckt hatten, elend umkamen. Der Rest
der Bevölkerung rettete sich auf die Anhöhe, die den Tempel des
Heilgottes trug, und bat um Gnade; da das nackte Leben ihnen
zugestanden ward, erschienen sie vor dem Sieger, 30000 Män-
ner und 25000 Frauen, nicht der zehnte Theil der ehemaligen
Bevölkerung. Einzig die römischen Ueberläufer, 900 an der
Zahl, und der Feldherr Hasdrubal mit seiner Gattin und seinen
beiden Kindern waren im Tempel des Heilgottes selbst zu-
rückgeblieben; für sie alle, für die desertirten Soldaten wie für
den Mörder der römischen Gefangenen, gab es keinen andern
Ausgang als den freiwilligen Tod. Aber als nun die Entschlos-
sensten unter ihnen den Tempel anzündeten, ertrug Hasdrubal
es nicht dem Tode ins Auge zu sehen; einzeln entrann er zu dem
Sieger und bat kniefällig um sein Leben. Es ward ihm gewährt;
aber wie seine Gattin, die mit ihren Kindern unter den Uebrigen
auf dem Tempeldach sich befand, ihn zu den Füssen Scipios er-
[35]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
blickte, schwoll ihr das stolze Herz über diese Schändung der
theuren untergehenden Heimath und den Gemahl mit bitteren
Worten erinnernd seines Lebens sorglich zu schonen, stürzte sie
erst die Söhne und dann sich selber in die Flammen. Der Kampf
war zu Ende. Der Jubel im Lager wie in Rom war grenzenlos;
nur die edelsten des Volkes schämten im Stillen sich der neuesten
Groſsthat der Nation. Die Gefangenen wurden gröſstentheils zu
Sclaven verkauft; einzelne lieſs man im Kerker verkommen; nur
die vornehmsten, Bithyas und Hasdrubal wurden als römische
Staatsgefangene in Italien internirt und leidlich behandelt. Das
bewegliche Gut, so weit es nicht Gold und Silber war oder Weih-
geschenk, ward den Soldaten zur Plünderung preisgegeben; von
den Tempelschätzen ward die in Karthagos besseren Zeiten aus
den sicilischen Städten weggeführte Beute denselben zurückgege-
ben, wie zum Beispiel der Stier des Phalaris den Akragantinern.
Das Uebrige fiel an den römischen Staat. — Indeſs noch stand
die Stadt zum bei weitem gröſsten Theil. Es ist glaublich, daſs
Scipio die Erhaltung derselben wünschte; wenigstens richtete er
deſswegen noch eine besondere Anfrage an den Senat. Scipio
Nasica versuchte noch einmal die Forderungen der Vernunft und
der Ehre geltend zu machen; es war vergebens. Der Senat be-
fahl dem Feldherrn die Stadt Karthago und die Auſsenstadt Ma-
galia dem Boden gleich zu machen, deſsgleichen alle Ortschaften,
die es bis zuletzt mit Karthago gehalten; sodann aber über den
Boden Karthagos den Pflug zu führen, um der Existenz der Stadt
in Form Rechtens ein Ende zu machen, und Grund und Boden
auf ewige Zeiten zu verwünschen, also daſs weder Haus noch
Kornfeld je dort entstehen möge. Es geschah wie befohlen war;
siebzehn Tage brannten die Ruinen und wo die fleiſsigen Phö-
niker ein halbes Jahrtausend geschafft und gehandelt hatten, wei-
deten fortan römische Sklaven die Heerden ihrer fernen Herren.
Scipio aber, den die Natur zu einer edleren als zu dieser Hen-
kerrolle bestimmt hatte, sah schaudernd auf sein eigenes Werk;
und wenn schon den Sieger statt der Siegesfreude die Ahnung
der solcher Unthat unausbleiblich nachfolgenden Nemesis er-
faſste, so mögen wir Späteren uns erinnern, daſs diese fre-
velhafte Vernichtung der groſsen Stadt dereinst noch überbo-
ten werden sollte durch die noch freventlichere einer noch
gröſseren, der karthagische Brand durch die muthwillige Anzün-
dung Roms durch seinen eigenen Kaiser. — Es war noch übrig
für die künftige Organisation der Landschaft die Einrichtungen
zu treffen. Die frühere Weise mit den gewonnenen überseeischen
3*
[36]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
Besitzungen die Bundesgenossen zu belehnen ward nicht ferner
beliebt. Micipsa und seine Brüder behielten im Wesentlichen ihr
bisheriges Gebiet mit Einschluſs der kürzlich am Bagradas und
in Emporia den Karthagern entrissenen Districte; die lange ge-
nährte Hoffnung Karthago zur Hauptstadt zu erhalten ward für
immer vereitelt; dafür verehrte ihnen der Senat die karthagischen
Büchersammlungen. Die karthagische Landschaft, wie die Stadt
sie zuletzt besessen hatte, das heiſst der schmale zunächst Sici-
lien gegenüberliegende Küstenstrich von Africa vom Tuscafluſs
(Wadi Saine, der Insel Galita gegenüber) bis Thenae (der Insel
Karkenah gegenüber), ward eine römische Provinz. Im Binnen-
land, wo die Uebergriffe Massinissas die karthagische Herr-
schaft fortwährend zurückgedrängt hatten und schon Vacca,
Zama, Bulla zu Numidien gehörten, blieb den Numidiern, was sie
besaſsen. Allein eine sorgfältige Regulirung der Grenze zwischen
der römischen Provinz und dem auf drei Seiten dieselbe ein-
schlieſsenden numidischen Königreich zeugte davon, daſs Rom
gegen sich keineswegs dulden werde, was es gegen Karthago ver-
stattet hatte; wogegen der Name der neuen Provinz, Africa, an-
drerseits darauf hinzudeuten schien, daſs Rom die gegenwärtig
abgesteckte Grenze durchaus nicht als eine definitive betrachte.
Die Oberverwaltung der neuen Provinz übernahm ein römischer
Statthalter, der in Utica seinen Sitz nahm; einer regelmäſsigen
Grenzvertheidigung bedurfte dieselbe nicht, da das verbündete
numidische Reich sie überall von den Bewohnern der Wüste
schied. Hinsichtlich der Abgaben verfuhr man im Ganzen mit
Milde. Das Stadtgebiet Karthagos, mit Ausnahme eines an Utica
verschenkten Striches, und das der übrigen zerstörten Ortschaf-
ten ward römisches Domanialland, welches man durch Verpach-
tung verwerthete. Die übrigen Ortschaften, sowohl diejenigen,
denen man ihre Gemeindeverfassung und ihr Gebiet garantirte,
wie Utica nebst den benachbarten kleinen Städten Usalis und
Theudalis, ferner an der Ostküste Hadrumetum, Kleinleptis,
Thapsus, Achulla und die neugegründete Gemeinde der Ueber-
läufer, als auch die eigentlichen Unterthanenstädte zahlten jähr-
lich nach Rom wie bisher nach Karthago eine feste Summe (I,
315), welche Rom von den Gemeinden erhob und diese mit-
telst einer Vermögenssteuer von den einzelnen Abgabepflich-
tigen wieder einzogen. Die eigentlichen Gewinner aber bei
dieser Zerstörung der ersten Handelsstadt des Westens waren
die römischen Kaufleute, welche, so wie Karthago in Asche lag,
schaarenweise nach Utica strömten und von dort aus nicht bloſs
[37]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
die römische Provinz, sondern auch die bis dahin ihnen ver-
schlossenen numidischen und gaetulischen Landschaften auszu-
beuten begannen.
Um dieselbe Zeit wie Karthago verschwand auch Makedo-
nien aus der Reihe der Nationen. Die vier kleinen Eidgenossen-
schaften, in die die Weisheit des römischen Senats das alte König-
reich zerstückelt hatte, konnten in sich und unter einander nicht
zum Frieden kommen; wie es in dem Lande zuging, zeigt ein
einzelner zufällig erwähnter Vorfall in Phakos, wo der gesammte
Regierungsrath einer dieser Eidgenossenschaften auf Anstiften
eines gewissen Damasippos ermordet wurde. Weder die Com-
missionen, die der Senat abordnete (590), noch die nach grie-
chischer Sitte von den Makedoniern herbeigerufenen fremden
Schiedsrichter, wie zum Beispiel Scipio Aemilianus (603), ver-
mochten einen leidlichen Zustand herzustellen. Da erschien
plötzlich in Thrakien ein junger Mann, der sich Philippos
nannte, den Sohn des Königs Perseus, welchem er auffallend
glich, und der syrischen Laodike. Seine Jugend hatte er in dem
mysischen Adramyttion verlebt; allein in Kenntniſs gesetzt von
seiner hohen Geburt hatte er nach einem vergeblichen Versuch
in seinem Heimathland sich geltend zu machen sich an seiner
Mutter Bruder König Demetrios Soter von Syrien gewandt und in
der That in dessen Reich einige Anhänger gefunden, bis der König,
von desen gedrängt den Philippos entweder in sein angeerbtes
Reich wieder einzusetzen oder ihm die Krone Syriens abzutreten,
um den tollen Treiben ein Ende zu machen den Prätendenten
gefangen gesetzt und den Römern ausgeliefert hatte. Indeſs der
Senat achtete des Menschen so wenig, daſs er ihn in einer itali-
schen Stadt confinirte ohne ihn auch nur ernstlich zu bewachen.
So war er nach Milet entflohen, wo die städtischen Behörden ihn
wieder festsetzten und bei den römischen Gesandten anfragten,
was sie mit dem Gefangenen machen sollten. Diese riethen ihn
laufen zu lassen; es geschah. Jetzt versuchte er denn in Thra-
kien abermals sein Glück. Wunderbarer Weise fand der Präten-
dent hier Anerkennung und Unterstützung, nicht bloſs bei den
thrakischen barbarenfürsten Teres, dem Gemahl seiner Vater-
schwester, und Barsabas, sondern auch bei den klugen Byzanti-
nern; mit thrakischer Unterstützung drang er in Makedonien ein
und obwohl er anfangs geschlagen ward, erfocht er doch bald
darauf einen Sieg über das makedonische Aufgebot in der Odo-
mantike jenseits des Strymon und bald darauf einen zweiten dies-
seit des Flusses, der ihm den Besitz von ganz Makedonien ver-
[38]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
schaffte. So apokryphisch auch seine Erzählung klang und so
entschieden es auch feststand, daſs der ächte Philippos achtzehn
Jahre alt in Alba gestorben und dieser Mensch nichts weniger als
ein makedonischer Prinz, sondern der adramyttenische Walker
Andriskos sei, so war man doch in Makedonien der Königsherr-
schaft zu sehr gewohnt, um nicht mit der Legitimitätsfrage sich
wie es ging abzufinden und von selber in das alte Gleis wieder
einzulenken. Schon kamen Boten von den Thessalern, daſs der
Prätendent in ihr Gebiet eingerückt sei; dem römischen Com-
missar Nasica, der in der Erwartung, daſs es keiner Truppen
bedürfen werde um dem thörichten Beginnen ein Ende zu ma-
chen, vom Senat ohne Soldaten nach Makedonien gesandt wor-
den war, blieb nichts übrig als die achäische und pergamenische
Mannschaft aufzubieten und mit den Achäern Thessalien gegen
die Uebermacht so weit es anging zu schirmen. Endlich (605?)
erschien der Prätor Juventius mit einer Legion und griff die Ma-
kedonier an; allein er selber fiel, sein Heer ging fast ganz zu
Grunde und Thessalien gerieth zum gröſsten Theil in die Gewalt
des falschen Philippos, der sein Regiment hier und in Makedo-
nien in grausamer und übermüthiger Weise verwaltete, bis der
neue römische Feldherr Quintus Caecilius Metellus mit einem
stärkeren Heer auf dem Kampfplatz erschien und, unterstützt
durch eine pergamenische Flotte, in Makedonien eindrang.
Zwar behielten in dem ersten Reitergefecht die Makedonier die
Oberhand; allein bald traten Spaltungen und Desertionen im ma-
kedonischen Heer ein und der Fehler des Gegners sein Heer zu
theilen und die eine Hälfte nach Thessalien zu detachiren ver-
schaffte den Römern einen leichten und entscheidenden Sieg
(606). Der Prätendent flüchtete nach Thrakien zu den Häupt-
ling Byzes, wohin Metellus ihm folgte und nach einem zweiten
Sieg seine Auslieferung erlangte. — In Folge dieser Ereignisse
verloren die Makedonier auch den Schatten von Freiheit, der
nach der Schlacht von Pydna ihnen noch geblieben war. Die
vier Eidgenossenschaften verschwanden so rasch wie die entstan-
den waren, trotzdem daſs sie sich dem Prätendenten nicht frei-
willig unterworfen hatten, sondern einzig der Gewalt gewichen
waren. Ein ausreichender Grund die Gemeinden zu bestrafen
lag nach der bisher befolgten Politik nicht vor; man ging eben
in Rom über von dem Clientelsystem zu dem der Einverleibung,
weſshalb denn auch die Einziehung Makedoniens in dem ganzen
Kreise der Clientelstaaten als ein schwerer gegen alle gerichteter
Schlag empfunden ward. Das Reich Alexanders ward von Metel-
[39]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
lus als römische Provinz geordnet und die früher davon abge-
trennten altrömischen Besitzungen in Epeiros, die ionischen In-
seln und die Häfen Apollonia und Epidamnos (I, 370. 564),
welche bisher in Gemeinschaft mit dem cisalpinischen Gallien in
der Regel durch die in Italien den Oberbefehl führenden Beam-
ten verwaltet worden waren, wurden von jetzt an wieder mit Ma-
kedonien vereinigt, so daſs dasselbe wahrscheinlich schon um
diese Zeit im Nordosten bis jenseit Skodra reichte, wo Illyrien
begann. Ebenso fiel die Schutzherrlichkeit, die Rom über das
eigentliche Griechenland in Anspruch nahm, von selbst dem
neuen Statthalter von Makedonien zu. So empfing Makedonien
ungefähr die Grenzen wieder, wie es sie in seiner blühendsten
Zeit gehabt; aber es war nicht mehr ein einiges Reich, sondern
eine einige Provinz, mit communaler und selbst wie es scheint
landschaftlicher Organisation, jedoch unter einem italischen Vogt
und Schatzmeister, deren Namen fortan auf den Landesmünzen
neben dem der Landschaft erscheinen. Als Steuer blieb die alte
näſsige Abgabe, wie Paullus sie geordnet hatte (I, 586), eine
Summe von 100 Talenten (150000 Thlr.), die in festen Beträ-
ge auf die einzelnen Gemeinden umgelegt war. Daſs das Land
seier alten ruhmreichen Dynastie nicht vergaſs, zeigt die Wie-
derholung des Versuchs durch Aufstellung eines falschen Präten-
denten einen Aufstand zu erregen. Wenige Jahre nach der Be-
siegung des falschen Philippos pflanzte ein anderer Perseussohn
Alexander am Nestos (Karasu) die Fahne der Insurrection auf
und hatte in kurzer Zeit 16000 Mann vereinigt; allein der Quä-
stor Lucius Tremellius ward des Aufstandes ohne Mühe Herr
und verfolgte den fliehenden Alexander bis nach Dardanien
(612) Dies ist die letzte Regung des stolzen makedonischen
Nationalsinns, der zwei Jahrhunderte zuvor in Hellas und Asien
so grosse Dinge vollbracht hatte; seitdem ist von den Makedo-
niern kaum etwas Anderes zu berichten, als daſs sie fortfuhren
von dem Jahre der definitiven Provinzialorganisation der
Landschaft (608) anhebend ihre thatenlosen Jahre zu zäh-
len. — die Römer waren es, die zunächst zu militärischen
Zwecken die groſse egnatische Chaussee anlegten, welche schon
zu Polybis Zeit von den beiden Haupthäfen an der Westküste
Apollonia und Dyrrhachion quer durch das Binnenland nach
Thessalonike, später noch weiter bis an den Hebros (Maritza)
lief* und die Vertheidigung der Nord- und Ostgrenzen, wenn
[40]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
auch mit unzulänglichen Streitkräften und unzulänglicher Sorg-
falt übernahmen. Die neue Provinz ward zugleich die natürliche
Basis theils für die Züge gegen die unruhigen Dalmater, theils
für die zahlreichen Expeditionen gegen die nordwärts der grie-
chischen Halbinsel ansäſsigen illyrischen, keltischen und thraki-
schen Stämme, die später in ihrem geschichtlichen Zusammen-
hang darzustellen sein werden.
In dem eigentlichen Griechenland sah es immer noch wüst
genug aus. Das Land verödete, nicht durch Krieg und Pest, son-
dern durch die immer weiter um sich greifende Abneigung der hö-
heren Stände mit Frau und Kindern sich zu plagen; dafür strömte
wie bisher das verbrecherische oder leichtsinnige Gesindel dort-
hin um daselbst den Werbeoffizier zu erwarten. Der tiefe ökono-
mische Verfall war um nichts gebessert und es kam noch vor,
daſs einzelne Städte, namentlich Athen und Theben, in ihrer
finanziellen Bedrängniſs dazu griffen die Nachbargemeinden zu
plündern; auch der innere Hader in den Bünden, zum Beispiel
zwischen den freiwilligen und den gezwungenen Mitgliedern der
achäischen Eidgenossenschaft, war keineswegs beigelegt. Das
man den Römern, was sie auch thun mochten um den hellen-
schen Patriotismus zu versöhnen, dennoch gerade ebenso grosse
wie vorher, versteht sich von selbst; es ist bezeichnend, daſs K-
nig Eumenes II, der als Römerfreund in Griechenland im höch-
sten Grade verhaſst war (I, 578), nach der zwischen ihm und
den Römern eingetretenen Verstimmung plötzlich daselbst popu-
lär ward und der hellenische Euelpides statt von Makedonien
jetzt von Pergamon den Erlöser von der Fremdherrschaft er-
wartete. Indeſs schienen doch allmählich leidlichere Verhältnisse
sich anzubahnen und die Nachwehen des perseischen Krieges aus
den Gemüthern der Hellenen zu verschwinden. Die verbissen-
sten Anhänger Roms, Lykiskos der Aetoler, Mnasippos der Beöote,
Chrematas der Akarnane, der schandbare Epirote Charop, dem
selbst ehrenhafte Römer das Haus verboten, stiegen einer nach
dem andern ins Grab; ein anderes Geschlecht wuchs heran, in
dem die alten Erinnerungen und die alten Gegensätze erblaſst
*
[41]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
waren. Deſshalb meinte der Senat die Zeit gekommen, wo er
den unaufhörlich wiederholten Bitten des achäischen Bundes
um Rücksendung der in Italien confinirten Patrioten (I, 596)
statt geben und die noch übrigen entlassen könne. So kehrten
dieselben nach siebzehnjähriger Verbannung im J. 604 in ihre
Heimath zurück. Es charakterisirt die ganze Nation, daſs einer
der verständigsten dieser Achäer, Polybios des Lykortas Sohn,
ein vertrauter Genosse des Scipio Aemilianus und wohl in die
Lage gesetzt den Unterschied zwischen kleinstädtischer Rivalität
und politischem Antagonismus mit Händen zu greifen, sich es
nach seiner Entlassung noch förmlich vom Senat verbriefen lassen
wollte, daſs daheim den Verbannten der ehemalige Rang wieder
zustehen solle. Nicht unrichtig meinte Cato, das komme ihm vor,
als wenn Odysseus noch einmal umkehre nach der Höhle des Po-
lyphemos um sich Hut und Gürtel von ihm auszubitten. Bald
sollte man erfahren, daſs die jüngere Generation nur auf eine Ge-
legenheit wartete die Thorheiten der älteren zu wiederholen. Um
einen schmutzigen Handel zu bedecken warf um das J. 605 der
zeitige Vorstand der achäischen Eidgenossenschaft Diaeos auf
der Tagsatzung die Behauptung hin, daſs die den Lakedaemoniern
als Gliedern der achäischen Eidgenossenschaft zugestandenen
Sonderrechte, die Befreiung der Lakedämonier von der achäi-
schen Criminaljurisdiction und das Recht Sondergesandtschaften
nach Rom zu schicken, keineswegs ihnen von den Römern ge-
währleistet seien. Es war eine freche Lüge; allein die Tagsatzung
glaubte natürlich bereitwillig was sie wünschte, und da sich die
Achäer bereit zeigten ihre Behauptung mit den Waffen in der
Hand wahr zu machen, gaben die schwächeren Spartaner vor-
läufig nach oder vielmehr diejenigen, deren Auslieferung von den
Achäern begehrt ward, verlieſsen die Stadt um als Kläger im Se-
nat aufzutreten. Der Senat antwortete wie gewöhnlich, daſs er
eine Commission zur Untersuchung der Sache senden werde;
allein die Boten berichteten statt dessen, in Achaia wie in Sparta,
und beide falsch, daſs der Senat zu ihren Gunsten entschieden
habe. Die Achäer, die wegen der so eben in Thessalien geleiste-
ten Bundeshülfe gegen den falschen Philippos sich mehr als je
in bundesgenössischer Gleichheit und politischer Gewichtigkeit
fühlten, rückten im J. 606 unter ihrem Strategen Damokritos in
Lakonike ein; vergeblich mahnte, von Metellus aufgefordert, eine
nach Asien durchpassirende römische Gesandtschaft in Frieden
die Commissarien des Senats zu erwarten. Eine Schlacht ward
geliefert, in der bei 1000 Spartaner fielen und Sparta hätte ge-
[42]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
nommen werden können, wenn Damokritos nicht als Offizier
eben so untüchtig gewesen wäre wie als Staatsmann. Er ward
abgesetzt und sein Nachfolger Diaeos, der Anstifter all dieses
Unfugs, setzte den Krieg eifrig fort, während er gleichzeitig den
gefürchteten Commandanten in Makedonien der vollen Bot-
mäſsigkeit der achäischen Eidgenossenschaft versichern lieſs.
Darüber erschien die lange erwartete römische Commission, an
ihrer Spitze Aurelius Orestes; nun ruhten die Waffen und die
achäische Tagsatzung versammelte sich in Korinth um ihre Er-
öffnungen entgegenzunehmen. Sie waren unerwarteter und un-
erfreulicher Art. Die Römer hatten sich entschlossen die unna-
türliche und usurpirte (I, 565) Einreihung Spartas unter die
achäischen Staaten aufzulösen und überhaupt gegen die Achäer
durchzugreifen. Schon einige Jahre zuvor (591) hatten diesel-
ben die aetolische Stadt Pleuron (I, 565) aus ihrem Bund ent-
lassen müssen; jetzt wurden sie angewiesen auf sämmtliche von
dem zweiten makedonischen Krieg an gemachte Erwerbungen,
das heiſst auf Korinth, Orchomenos, Argos, Sparta im Pelopon-
nes und Herakleia am Oeta zu verzichten und ihren Bund wieder
auf den Bestand am Ende des hannibalischen Krieges zurückzu-
führen. Wie dies die achäischen Abgeordneten vernahmen,
stürmten sie sofort auf den Markt, ohne die Römer auch nur aus-
zuhören, und theilten die römischen Forderungen der Menge mit,
worauf der regierende und der regierte Pöbel einhellig beschloſs
zu allervörderst sämmtliche in Korinth anwesende Lakedaemonier
festzusetzen, da ja Sparta ihnen diese Noth zu Wege gebracht
habe. Die Verhaftung erfolgte denn auch in der tumultuarisch-
sten Weise, so daſs Lakonernamen oder Lakonerschuhe als hin-
reichende Einsperrungsgründe erschienen; ja man drang sogar
in die Wohnungen der römischen Gesandten, um die dorthin ge-
flüchteten Lakedaemonier festzunehmen, und es fielen gegen die Rö-
mer harte Reden, obgleich man sich an ihrer Person nicht vergriff.
Indignirt kehrten dieselben heim und führten bittere, selbst über-
triebene Beschwerde im Senat; dennoch beschränkte sich dieser
mit derselben Mäſsigung, die all seine Maſsregeln gegen die Grie-
chen bezeichnet, zunächst auf Vorstellungen. In der mildesten
Form und der Genugthuung für die erlittenen Beleidigungen
kaum erwähnend wiederholte Sextus Julius Caesar auf der Tag-
satzung in Aegion (Frühling 607) die Befehle der Römer. Aber
die weisen und politisch wohlunterrichteten Leiter der Dinge in
Achaia, an ihrer Spitze der neue Strateg Kritolaos (Strateg Mai
607 bis Mai 608), zogen daraus bloſs den Schluſs, daſs die rö-
[43]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
mischen Angelegenheiten gegen Karthago und gegen Viriathus
sehr schlecht stehen müſsten und fuhren fort die Römer zugleich
zu prellen und zu beleidigen. Caesar ward ersucht zur Ausglei-
chung der Sache eine Zusammenkunft von Abgeordneten der
streitenden Theile in Tegea zu veranstalten; es geschah, allein
nachdem Caesar und die lakedaemonischen Gesandten daselbst
lange vergeblich auf die Achäer gewartet hatten, erschien endlich
Kritolaos nur um anzuzeigen, daſs allein die allgemeine Volks-
versammlung der Achäer in dieser Sache competent sei und die-
selbe erst auf der Tagsatzung, das heiſst in sechs Monaten erledigt
werden könne. Caesar ging darauf nach Rom zurück; die nächste
Volksversammlung der Achäer aber erklärte auf Kritolaos Antrag
förmlich den Krieg gegen Sparta. Auch jetzt noch machte Me-
tellus einen Versuch den Zwist in Güte beizulegen und schickte
Gesandte nach Korinth; allein die lärmende Ekklesia, gröſsten-
theils bestehend aus dem Pöbel der reichen Handels- und Fa-
brikstadt, übertobte die Stimme der römischen Gesandten und
zwang sie die Rednerbühne zu verlassen. Kritolaos Erklärung,
daſs man die Römer wohl zu Freunden, aber nicht zu Herren
wünsche, ward mit unsäglichem Jubel aufgenommen, und als die
Mitglieder der Tagsatzung sich ins Mittel legen wollten, schützte
der Pöbel den Mann seines Herzens und beklatschte die Stich-
wörter von dem Landesverrath der Reichen und der nothwendi-
gen Militärdictatur so wie die geheimniſsvollen Winke über die
nahe bevorstehende Schilderhebung unzähliger Völker und Kö-
nige gegen Rom. Von welchem Geist die Bewegung beseelt war,
zeigen die beiden Beschlüsse, daſs bis zum hergestellten Frieden
alle Klubbs permanent sein und alle Schuldklagen ruhen sollten.
Man hatte also Krieg, ja sogar auch wirkliche Bundesgenossen:
die Thebaner und Böoter nämlich und die Chalkidenser. Schon
zu Anfang des J. 608 rückten die Achäer in Thessalien ein,
um Herakleia am Oeta, das in Gemäſsheit des Senatbeschlusses
sich von der achäischen Eidgenossenschaft losgesagt hatte, wie-
der zum Gehorsam zu bringen. Der Consul Lucius Mummius,
den der Senat nach Griechenland zu senden beschlossen hatte,
war noch nicht eingetroffen; demnach übernahm es Metellus mit
den makedonischen Legionen Herakleia zu schützen. Wie sein
Anrücken gemeldet ward, trat das achäisch-thebanische Heer
sofort den eiligsten Rückmarsch an, einzig rathschlagend, wie es
wohl gelingen möchte den sichern Peloponnes wieder zu errei-
chen; nicht einmal die Stellung bei den Thermopylen versuchte
man zu halten. Metellus indeſs beschleunigte die Verfolgung und
[44]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
erreichte und schlug das griechische Heer bei Skarpheia in Lo-
kris. Der Verlust an Gefangenen und Todten war beträchtlich;
von Kritolaos selbst ward nach der Schlacht nie wieder eine
Kunde vernommen. Die Trümmer der geschlagenen Armee irr-
ten in einzelnen Trupps in den hellenischen Landschaften um-
her und baten überall umsonst um Aufnahme; die Abtheilung
von Patrae ward in Phokis, das arkadische Elitencorps bei Chae-
roneia aufgerieben; ganz Nordgriechenland wurde geräumt und
von dem Achäerheer und der in Masse flüchtenden Bürgerschaft
von Theben gelangte nur ein geringer Theil in den Peloponnes.
Metellus suchte durch die möglichste Milde die Griechen zum Auf-
geben des nutzlosen Widerstandes zu bestimmen und befahl zum
Beispiel alle Thebaner mit Ausnahme eines Einzigen laufen zu
lassen; seine wohlgemeinten Versuche scheiterten nicht an
der Energie des Volkes, sondern an der Desperation der um
ihren eigenen Kopf besorgten Führer. Diaeos, der nach Krito-
laos Fall wieder den Oberbefehl übernommen hatte, berief alle
Waffenfähigen auf den Isthmos und befahl 12000 in Griechen-
land geborene Sclaven in das Heer einzustellen; die Reichen
wurden zu Vorschüssen angehalten und unter den Friedens-
freunden, soweit sie nicht durch Bestechung der Schreckensher-
ren ihr Leben erkauften, durch Blutgerichte aufgeräumt. Der
Kampf ward also fortgesetzt. Die achäische Vorhut, die 4000 Mann
stark unter Alkamenes bei Megara stand, verlief sich, so wie sie
die römischen Feldzeichen gewahrte. Die Hauptmacht auf dem
Isthmos wollte Metellus eben angreifen lassen, als der Consul
Lucius Mummius mit wenigen Begleitern im römischen Haupt-
quartier eintraf und das Commando übernahm. Inzwischen bo-
ten die Achäer, ermuthigt durch einen gelungenen Angriff auf die
allzu unvorsichtigen römischen Vorposten, mit ihrer der römi-
schen um das Doppelte überlegenen Armee bei Leukopetra auf
dem Isthmos die Schlacht an. Die Römer zögerten nicht sie an-
zunehmen. Gleich zu Anfang rissen die achäischen Reiter in
Masse aus vor der sechsfach stärkeren römischen Reiterei; die
Hopliten standen dem Angriff, bis eine Flankenattaque des römi-
schen Elitencorps auch in ihre Reihen Verwirrung brachte. Da-
mit war der Widerstand zu Ende. Diaeos floh in seine Heimath,
tödtete sein Weib und nahm selber Gift; die Städte unterwarfen
sich sämmtlich ohne Gegenwehr und sogar das unbezwingliche
Korinth, in das einzurücken Mummius drei Tage zauderte, weil er
einen Hinterhalt besorgte, ward ohne Schwertstreich von den
Römern besetzt. — Die neue Regulirung der griechischen Ver-
[45]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
hältnisse ward in Gemeinschaft mit einer Commission von zehn
Senatoren dem Consul Mummius übertragen, der sich in dem
eroberten Lande im Ganzen ein gesegnetes Andenken erwarb.
Zwar war es gelind gesagt eine Thorheit, daſs er seiner Kriegs-
und Siegesthaten wegen der Namen ‚des Achaikers‘ annahm
und dem Hercules Sieger dankerfüllt einen Tempel erbaute;
allein sonst erwies er, der nicht in aristokratischem Luxus und
aristokratischer Corruption aufgewachsen, sondern ein ‚neuer
Mann‘ und verhältniſsmäſsig unbemittelt war, sich als ein ge-
rechter, redlicher und milder Verwalter. Es ist eine rednerische
Uebertreibung, daſs von den Achäern bloſs Diaeos, von den
Boeotern bloſs Pytheas umgekommen seien; in Chalkis nament-
lich fielen arge Greuel vor; im Ganzen ward aber doch in den
Strafgerichten Maſs gehalten. Bezeichnend ist es, daſs der An-
trag die Statuen des Begründers der achäischen Patriotenpartei,
des Philopoemen umzustürzen von Mummius zurückgewiesen
ward; ebenso daſs die den Gemeinden auferlegten Geldbuſsen
nicht für die römische Kasse, sondern für die geschädigten grie-
chischen Städte bestimmt, groſsentheils auch später erlassen
wurden und das Vermögen derjenigen Hochverräther, die Aeltern
oder Kinder hatten, nicht von Staatswegen verkauft, sondern die-
sen überwiesen ward. Nur die Kunstschätze wurden aus Ko-
rinth, Thespiae und andern Städten weggeführt und gröſsten-
theils theils in der Hauptstadt, theils in den Landstädten Italiens
aufgestellt*, einzelne Stücke auch den isthmischen, delphischen
und olympischen Tempeln verehrt. Auch in der definitiven Orga-
nisation der Landschaft ward im Allgemeinen mit Milde verfahren.
Zwar wurden die Eidgenossenschaften, vor allem die achäische,
sämmtlich aufgelöst und zwischen den einzelnen Gemeinden, die
fortan jede für sich bestanden, der Verkehr gehemmt durch die
Bestimmung, daſs niemand in zweien derselben zugleich Grund-
besitz erwerben dürfe, ähnlich wie es einst für die vier make-
donischen Eidgenossenschaften verfügt worden war (I, 590).
Ferner wurden durchaus, wie es schon Flamininus versucht
hatte (I, 538), die demokratischen Stadtverfassungen beseitigt
und einem aus den Vermögenden gebildeten Rath das Gemeinde-
regiment in die Hand gegeben. Auch wurde jeder Gemeinde eine
[46]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
feste nach Rom zu entrichtende Abgabe auferlegt und sie sämmt-
lich dem Statthalter von Makedonien in der Art untergeordnet,
daſs er als oberster Militärchef auch in Verwaltung und Gerichts-
barkeit eine Oberleitung in Anspruch nahm und zum Beispiel
wichtigere Criminalprozesse zur Entscheidung an sich zog. Den-
noch blieb den griechischen Gemeinden die ‚Freiheit‘, das heiſst
eine, freilich durch die römische Hegemonie zum Namen zusam-
mengeschwundene, formelle Souveränetät, welche das Eigenthum
an Grund und Boden und das Recht eigener Verwaltung und Ge-
richtsbarkeit in sich schloſs*. Einige Jahre später ward sogar
[47]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
nicht bloſs ein Schatten der alten Eidgenossenschaften wieder
gestattet, sondern auch die drückende Beschränkung in der Ver-
äuſserung des Grundbesitzes beseitigt. — Strengere Maſsregeln
trafen dagegen die Gemeinden Theben, Chalkis und Korinth.
Die ersten beiden wurden entwaffnet und durch Niederreiſsung
ihrer Mauern in offene Flecken umgewandelt. Wenn diese Maſs-
regel durchaus gerechtfertigt erscheint, so bleibt dagegen die
durchaus unmotivirte Zerstörung der ersten Handelsstadt Grie-
chenlands, des blühenden Korinth ein düsterer Schandfleck in
den Jahrbüchern Roms. Auf ausdrücklichen Befehl des Senats
wurden die korinthischen Bürger aufgegriffen und was nicht um-
kam in die Sclaverei verkauft, die Stadt selbst nicht etwa bloſs
ihrer Mauern und ihrer Burg beraubt, was, wenn man einmal
dieselbe nicht dauernd besetzen wollte, nicht anders sein konnte,
sondern dem Boden gleich gemacht und in den üblichen Bann-
formen jeder Wiederanbau der öden Stätte untersagt, das Gebiet
derselben zum Theil an Sikyon gegeben gegen die Auflage anstatt
Korinths die Kosten des isthmischen Nationalfestes zu bestreiten,
gröſstentheils aber zu römischem Gemeinland erklärt. Also erlosch
‚der schöne Stern von Hellas‘, der letzte köstliche Schmuck des
einst so städtereichen griechischen Landes. Fassen wir aber die
ganze Katastrophe noch einmal ins Auge, so muſs die unpar-
teiische Geschichte es anerkennen, was die Griechen dieser Zeit
selbst unumwunden eingestanden, daſs an dem Kriege selbst
nicht die Römer die Schuld tragen, sondern daſs die unkluge
Treubrüchigkeit und die schwächliche Tollkühnheit der Griechen
die römische Intervention erzwangen. Die Beseitigung der Schein-
souveränetät der Bünde und alles damit verknüpften unklaren und
verderblichen Schwindels war ein Glück für das Land; das Re-
giment des römischen Oberfeldherrn von Makedonien, wie viel es
auch zu wünschen übrig lieſs, war immer noch bei weitem bes-
ser als die bisherige Wirr- und Miſsregierung der griechischen
Eidgenossenschaften und der römischen Commissionen. Der
Peloponnes hörte auf die groſse Söldnerherberge zu sein; es ist
*
[48]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
überhaupt bezeugt und begreiflich, daſs Sicherheit und Wohl-
stand einigermaſsen zurückkehrten. Das themistokleische Epi-
gramm, daſs der Ruin den Ruin abgewandt habe, wurde von den
damaligen Hellenen nicht ohne einen Kern von Wahrheit ange-
wandt auf den Untergang der griechischen Selbstständigkeit.
Die ungemeine Nachsicht, welche Rom auch jetzt noch gegen die
Griechen bewies, tritt erst recht in das Licht, wenn man sie mit
dem gleichzeitigen Auftreten derselben Behörden gegen die Spa-
nier und die Phöniker zusammenhält; Barbaren grausam zu be-
handeln schien nicht unerlaubt, aber wie später Kaiser Traianus
hielten es auch die Römer dieser Zeit ‚für hart und barbarisch
Athen und Sparta den noch übrigen Rest und Schatten von
Freiheit zu entreiſsen‘. Um so schärfer contrastirt mit dieser
allgemeinen Milde die empörende Behandlung von Korinth, welche
durch die auf den Gassen von Korinth gegen die römischen Ab-
geordneten ausgestoſsenen Schmähreden selbst nach römischem
Staatsrecht nichts weniger als gerechtfertigt ward und welche
selbst die Schutzredner der karthagischen und numantinischen
Katastrophe zu miſsbilligen nicht umhin konnten. Und doch ging
sie keineswegs hervor aus der Brutalität eines einzelnen Man-
nes, am wenigsten des Mummius, sondern war eine vom römi-
schen Rath erwogene und beschlossene Maſsregel. Man wird
nicht irren, wenn man darin das Werk der Kaufmannspartei er-
kennt, die in dieser Epoche schon neben der eigentlichen Aristo-
kratie anfängt in die Politik einzugreifen. Wenn die römischen
Grosshändler einen Handelsnebenbuhler zu beseitigen wünschten,
so erklärt es sich freilich, daſs das Strafgericht eben gegen Ko-
rinth vollstreckt ward und daſs man nicht bloſs die bestehende
Kaufstadt vernichtete, sondern auch die Ansiedelung an dieser
für den Handel so überaus günstigen Stätte für die Zukunft
verbot. Ein Hauptsitz der auch im Peloponnes sehr zahlreichen
römischen Kaufleute ward fortan das peloponnesische Argos.
Wichtiger aber für den römischen Groſshandel ward Delos, das,
schon seit 586 römischer Freihafen, einen guten Theil der Ge-
schäfte von Rhodos an sich gezogen hatte (I, 594) und nun in
ähnlicher Weise in die korinthischen eintrat. Diese Insel blieb für
längere Zeit der Hauptstapelplatz der vom Osten nach dem We-
sten gehenden Waaren.
[49]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
Unvollständiger als in der nur durch schmale Meere von
Italien getrennten africanischen und makedonisch-hellenischen
Landschaft entwickelte sich die römische Herrschaft in dem drit-
ten entfernteren Welttheil. — In Vorderasien war durch die Zu-
rückdrängung der Seleukiden das Reich von Pergamon die erste
Macht geworden. Nicht geirrt durch die Traditionen der Alexan-
dermonarchien, einsichtig und kühl genug um auf das Unmögliche
zu verzichten verhielten die Attaliden sich ruhig und strebten nicht
ihre Grenze zu erweitern oder der römischen Hegemonie sich zu
entziehen, sondern den Wohlstand ihres Reiches, so weit die
Römer es erlaubten, zu fördern und die Künste des Friedens zu
pflegen. Doch entgingen auch sie dem Argwohn Roms nicht
ganz. Im Besitz der europäischen Küste der Propontis, der
Westküste Kleinasiens und des kleinasiatischen Binnenlandes bis
zur kappadokischen und kilikischen Grenze, in enger Verbindung
mit den syrischen Königen, von denen Antiochos Epiphanes
(† 590) durch die Hülfe der Attaliden auf den Thron gelangt
war, hatte König Eumenes II durch seine bei dem immer tiefe-
ren Sinken Makedoniens und Syriens um so ansehnlicher er-
scheinende Macht selbst den Begründern derselben Bedenken
eingeflöſst; es ist schon erzählt worden (I, 591), wie der Senat
darauf bedacht war nach dem dritten makedonischen Krieg die-
sen Bundesgenossen durch unfeine diplomatische Künste zu de-
müthigen und zu schwächen. Durch diese Verstimmung der
Schutzherren wurden für den Herrn von Pergamon die Schwie-
rigkeiten noch gröſser, als sie es ohnehin schon waren in Folge
der unaufhörlichen Verwickelungen mit den ganz und halb
freien Handelsstädten innerhalb seines Reiches und den bar-
barischen Nachbarn an dessen Grenzen. Da es nicht klar war,
ob nach dem Friedensvertrag von 565 die Taurushöhen in der
pamphylischen und pisidischen Landschaft zum syrischen oder
zum pergamenischen Reich gehörten, leisteten die tapferen
Selger, es scheint unter nomineller Anerkennung der syrischen
Oberhoheit, den Königen Eumenes II und Attalos II langjäh-
rigen und energischen Widerstand in den schwer zugäng i-
chen Gebirgen Pisidiens. Auch die asiatischen Kelten hätten,
*
Röm. Gesch. II. 4
[50]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
wie es scheint, nach den Bedingungen des Friedens mit Antio-
chos von Pergamon abhängig sein sollen; indeſs sicherten die
Römer ihnen jetzt die Freiheit und andere Vorrechte zu und sa-
hen es nicht ungern, daſs sie an die daran geknüpfte Bedin-
gung Friede zu halten sich nicht kehrten, sondern im Einver-
ständniſs mit dem Erbfeind der Attaliden, dem König Prusias
von Bithynien, um 587 plötzlich das Reich des Eumenes über-
rannten, bevor dieser Zeit gehabt hatte Miethstruppen zu dingen.
Alle Einsicht und Tapferkeit des Königs konnte nicht verhindern,
daſs sie die asiatische Miliz schlugen und das Gebiet über-
schwemmten; indeſs wie er nur Zeit gefunden hatte mit Hülfe
seiner wohlgefüllten Kasse eine kampffähige Armee herzustellen,
trieb er die wilden Schaaren schnell zurück über die Grenze sei-
nes Reiches und hinterlieſs trotz aller offenen Angriffe und ge-
heimen Machinationen, die seine Nachbaren und die Römer
gegen ihn gerichtet hatten, bei seinem Tode (um 595) das Reich
in ungeschmälerter Macht seinem Bruder Attalos II Philadelphos
(† 616). Dieser wies den Versuch des Königs Pharnakes von
Pontos sich der Vormundschaft über Eumenes unmündigen
Sohn zu bemächtigen mit römischer Hülfe zurück und regierte
anstatt seines Neffen wie Antigonos Doson als Vormund auf Le-
benszeit. Gewandt, tüchtig, fügsam, ein echter Attalide verstand
er es den argwöhnischen Senat von der Nichtigkeit der früher
gehegten Besorgnisse zu überzeugen; weſshalb ihn denn freilich
die antirömische Partei beschuldigte, daſs er sich dazu hergebe
das Land für die Römer zu hüten und jede Beleidigung und Er-
pressung von ihnen sich gefallen lasse. Indeſs konnte er, des
römischen Schutzes sicher, in die syrischen, kappadokischen und
bithynischen Thronstreitigkeiten entscheidend eingreifen und
auch aus dem gefährlichen bithynischen Krieg, den König Pru-
sias II, der Jäger genannt (572?-605), ein Regent, der alle
barbarischen und alle civilisirten Laster in sich vereinigte, gegen
ihn begonnen hatte, rettete ihn die römische Intervention —
freilich erst nachdem er selbst in seiner Hauptstadt belagert und
eine erste Mahnung der Römer von Prusias unbefolgt gelassen,
ja verhöhnt worden war (598-600). Allein mit der Thron-
besteigung seines Mündels Attalos III Philometor (616-621)
trat an die Stelle des friedlichen und mäſsigen Bürgerkönigthums
ein asiatisches Sultanregiment, unter dem es zum Beispiel vor-
kam, daſs der König um des unbequemen Raths seiner väterli-
chen Freunde sich zu entledigen, sie im Palast versammeln und
erst sie, sodann ihre Frauen und Kinder von seinen Lanzknech-
[51]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
ten niedermachen lieſs; nebenher schrieb er Bücher über den
Gartenbau, zog Giftkräuter und bossirte in Wachs, bis ein plötz-
licher Tod ihn abrief. Mit ihm erlosch das Geschlecht der Atta-
liden. In solchem Fall konnte nach dem wenigstens für die
Clientelstaaten Roms gültigen Staatsrecht der letzte Regent testa-
mentarisch über die Succession verfügen. Ob der wahnwitzige
Groll gegen seine Unterthanen, der den letzten Attaliden bei sei-
nem Leben gepeinigt, ihm auch den Gedanken eingegeben hatte
in seinem Testament das Reich den Römern zu vermachen oder
ob hierin bloſs eine weitere Anerkennung der thatsächlichen
Oberlehnsgewalt Roms lag, ist nicht zu entscheiden. Das Testa-
ment lag vor; die Römer traten die Erbschaft an und die Frage
über das Land und den Schatz der Attaliden fiel in Rom als
neuer Erisapfel unter die hadernden politischen Parteien. Aber
auch in Asien entzündete dies Königstestament den Bürgerkrieg.
Im Vertrauen auf die Abneigung der Asiaten gegen die bevorste-
hende Fremdherrschaft trat ein natürlicher Sohn Eumenes II,
Aristonikos in Leukae, einer kleinen Hafenstadt zwischen
Smyrna und Phokaea, als Kronprätendent auf und Phokaea und
andere Städte fielen ihm zu; indeſs von den Ephesiern, die in
dem festen Anschluſs an Rom die einzige Möglichkeit erkannten
ihre Privilegien sich zu erhalten, zur See auf der Höhe von Kyme
geschlagen muſste er in das Binnenland flüchten. Schon glaubte
man ihn verschollen; da erschien er plötzlich wieder an der
Spitze der neuen ‚Bürger der Sonnenstadt‘*, das heiſst der von
ihm in Masse zur Freiheit gerufenen Sclaven, bemächtigte sich
der lydischen Städte Thyateira und Apollonis, so wie eines
Theils der attalischen Ortschaften und rief Schaaren thrakischer
Lanzknechte unter seine Fahnen. Der Kampf ward ernsthaft;
die asiatischen Freistädte und die Contingente der Clientelfürsten
von Bithynien, Paphlagonien, Kappadokien, Pontos, Armenien
konnten des Prätendenten sich nicht erwehren; er drang mit ge-
waffneter Hand in Kolophon, Samos, Myndos ein und gebot
schon fast über das gesammte väterliche Reich, als am Ende des
J. 623 ein römisches Heer in Asien landete. Der Feldherr, der
Consul und Oberpontifex Publius Licinius Crassus Mucianus,
4*
[52]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
einer der reichsten und gebildetsten Männer Roms und als Red-
ner wie als Rechtskenner gleich ausgezeichnet, schickte sich an
den Prätendenten in Leukae zu belagern; allein während der Vor-
bereitungen dazu lieſs er von dem allzu gering geschätzten Geg-
ner sich überraschen und schlagen. Er selbst ward von einem
thrakischen Haufen gefangen; aber er gönnte einem solchen
Feinde nicht den Triumph den Oberfeldherrn Roms als Gefan-
genen zur Schau zu stellen: ehe er erkannt worden war, reizte
er die Barbaren, die ihn ergriffen hatten, ihm den Tod zu geben
(Anf. 624). Mit ihm, wie es scheint, fiel König Ariarathes von
Kappadokien. Indeſs ward Aristonikos nicht lange nach diesem
Erfolg von Crassus Nachfolger Marcus Perpenna überfallen, sein
Heer zersprengt, er selbst in Stratonikeia belagert und gefangen
und bald darauf in Rom hingerichtet. Die Unterwerfung der letz-
ten noch Widerstand leistenden Städte und die definitive Reguli-
rung der Landschaft übernahm nach Perpennas plötzlichem
Tode Manius Aquillius (625). Man verfuhr ähnlich wie im kar-
thagischen Gebiet. Der östliche Theil des Attalidenreiches ward
den Clientelkönigreichen überwiesen, um die Römer von dem
Grenzschutz und damit von der Nothwendigkeit einer stehenden
Besatzung in Asien zu befreien; Telmissos (I, 562) kam an die
lykische Eidgenossenschaft; die europäischen Besitzungen in
Thrakien wurden zu der Provinz Makedonien geschlagen; das
übrige Gebiet ward als neue römische Provinz eingerichtet, der
gleich der karthagischen nicht ohne Absicht der Name des Welt-
theils beigelegt ward, in dem sie lag. Die Steuern, die nach Per-
gamon gezahlt worden waren, wurden dem Lande erlassen und
dasselbe mit gleicher Milde behandelt wie Hellas und Makedonien.
— So ward der ansehnlichste kleinasiatische Staat eine römische
Vogtei. Bei den zahlreichen andern Staaten und Städten Vorder-
asiens, dem Königreich Bithynien, den paphlagonischen und gal-
lischen Fürstenthümern, der lykischen, karischen, pamphylischen
Eidgenossenschaft, den Freistädten Kyzikos und Rhodos trat
eine wesentliche Umgestaltung nicht ein. Jenseit des Halys
folgte Kappadokien, nachdem König Ariarathes V Philopator
(591-624) hauptsächlich durch Hülfe der Attaliden sich gegen
seinen von Syrien unterstützten Bruder und Nebenbuhler Holo-
phernes behauptet hatte, wesentlich der pergamenischen Politik,
sowohl in der unbedingten Hingebung an Rom als in der Rich-
tung auf hellenistische Bildung. Durch ihn kam dieselbe in das
bis dahin fast barbarische Kappadokien, freilich auch sogleich
ihre Auswüchse, wie der Bakchosdienst und das wüste Treiben
[53]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
der wandernden Schauspielertruppen, der sogenannten ‚Künstler‘.
Zum Lohn der Treue gegen Rom, die dieser Fürst mit seinem
Leben bezahlt hatte, ward nicht nur der König von Pontos durch
die Römer gezwungen von der versuchten Occupation Kappado-
kiens abzustehen, sondern erhielt auch sein unmündiger Erbe
Ariarathes VI den südöstlichen Theil des Attalidenreiches, Ly-
kaonien nebst der östlich daran grenzenden in älterer Zeit zu
Kilikien gerechneten Landschaft. Endlich im fernen Nordosten
Kleinasiens gelangte ‚Kappadokien am Meer‘ oder kurzweg der
‚Meerstaat‘, Pontos zu steigender Ausdehnung und Bedeutung.
Nicht lange nach der Schlacht von Magnesia hatte König Phar-
nakes I sein Gebiet weit über den Halys bis nach Tios an der bi-
thynischen Grenze ausgedehnt und namentlich des reichen Sinope
sich bemächtigt, das aus einer griechischen Freistadt dieser Kö-
nige Residenz ward. Zwar hatten die durch diese Uebergriffe
gefährdeten Nachbarstaaten, König Eumenes II an ihrer Spitze,
deſswegen Krieg gegen ihn geführt (571-575) und unter rö-
mischer Vermittlung das Versprechen von ihm erzwungen Gala-
tien und Paphlagonien zu räumen; allein der Verlauf der Ereig-
nisse zeigt, daſs Pharnakes so wie sein Nachfolger Mithradates V
Euergetes (598?-634), die fortan als treue Bundesgenossen
Roms im dritten punischen Krieg so wie in dem gegen Aristoni-
kos erscheinen, nicht bloſs jenseit des Halys sitzen blieben, son-
dern auch die Schutzherrlichkeit über die paphlagonischen und
galatischen Dynasten behielten; nur unter dieser Voraussetzung
ist es erklärlich, daſs Mithradates, angeblich wegen seiner tapfern
Thaten im Kriege gegen Aristonikos, in der That für beträchtliche
an den römischen Feldherrn gezahlte Summen von demselben nach
Auflösung des attalischen Reiches Groſsphrygien empfing. Wie
weit andererseits gegen den Kaukasus und die Euphratquellen
das pontische Reich sich um diese Zeit erstreckte, ist nicht genau
zu bestimmen; der westliche Theil von Armenien um Enderes
und Diwirigi oder das sogenannte Kleinarmenien scheint als ab-
hängige Satrapie dazu gehört zu haben, während Groſsarmenien
und Sophene eigene unabhängige Reiche bildeten. — Wenn also
auf der kleinasiatischen Halbinsel wesentlich Rom das Regiment
führte und, so vieles auch ohne und gegen seinen Willen ge-
schah, doch den Besitzstand im Ganzen bestimmte, so blieben da-
gegen die weiten Strecken jenseit des Tauros und des obern
Euphrat bis hinab zum Nilthal in der Hauptsache sich selber
überlassen. Zwar der dem Frieden mit Syrien von 565 zu Grunde
gelegte Satz, daſs der Halys und der Tauros die Ostgrenze der
[54]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
römischen Clientel bilden solle (I, 561), ward keineswegs vom
Senat eingehalten und trug auch die Unhaltbarkeit in sich selber;
der politische Horizont ist Selbsttäuschung so gut wie der physische
und wenn dem Staate Syrien die Zahl der ihm gestatteten Kriegs-
schiffe und Kriegselephanten im Friedensvertrag normirt ward
(I, 561), wenn das syrische Heer auf Befehl des römischen Se-
nats das halb gewonnene Aegypten räumte (I, 595), so lag darin
die vollständigste Anerkennung der Hegemonie und der Clientel.
Allein eben hier zeigt es sich noch bestimmter als in den unmit-
telbarer von Rom beherrschten Landschaften, wie die Hand, die
so kraftvoll die Zügel ergriffen hatte, sie allmählich erschlaffen
und bald gänzlich fallen lieſs. Noch im J. 590 hatte der rö-
mische Senat die Angelegenheiten Syriens und Aegyptens in
letzter Instanz geordnet. Dort stritten nach Antiochos Epipha-
nes Tode (590) der als Geiſsel in Rom lebende Sohn Seleu-
kos IV, Demetrios und des letzten Königs Antiochos Epiphanes
unmündiger Sohn Antiochos Eupator um die Krone; hier war von
den beiden seit 584 gemeinschaftlichr egierenden Brüdern, Pto-
lemaeos Philometor (573-608) und Ptolemaeos Euergetes II
oder der Dicke († 637), der ältere durch den jüngeren aus dem
Lande getrieben worden (590) und um seine Herstellung zu er-
wirken persönlich in Rom erschienen. Beide Angelegenheiten
ordnete der Senat ohne andere als diplomatische Mittel anzu-
wenden und wesentlich im römischen Interesse. In Syrien ward
Antiochos Eupator mit Beseitigung des besser berechtigten De-
metrios als König anerkannt und mit der Führung der Vor-
mundschaft über den königlichen Knaben der römische Senator
Gnaeus Octavius vom Senat beauftragt, welcher wie begreiflich
durchaus im römischen Interesse regierte, die Kriegsflotte und
das Elephantenheer in Gemäſsheit des Friedensvertrags von 565
reducirte und im besten Zuge war den militärischen Ruin des
Landes zu vollenden. In Aegypten ward nicht bloſs Philometors
Herstellung bewirkt, sondern auch theils um dem Bruderzwist
ein Ziel zu setzen, theils um die noch immer ansehnliche Macht
Aegyptens zu schwächen. Kyrene vom Reich getrennt und Euer-
getes mit demselben abgefunden. ‚Könige sind, wen die Römer
wollen‘, schrieb nicht lange nachher ein jüdischer Mann, ‚und
wen sie nicht wollen, den verjagen sie von Land und Leuten‘.
Allein bald änderten sich die Dinge. Der vormundschaftliche
Regent von Syrien ward in Laodikeia ermordet; der zurückge-
wiesene Prätendent Demetrios entfloh aus Rom und bemächtigte
sich unter dem dreisten Vorgeben, daſs der römische Senat ihn
[55]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
gesendet habe, nach Beseitigung des königlichen Knaben der Zü-
gel der Regierung. Andererseits brach zwischen den Königen
von Aegypten und Kyrene Krieg aus über den Besitz der Insel
Kypros, welche der Senat zuerst dem ältern, sodann dem jün-
gern zugeschieden hatte, und im Widerspruch mit der neuesten
römischen Entscheidung blieb dieselbe schlieſslich bei Aegypten.
Es ist fast unglaublich, daſs der Senat diese kecke Verhöhnung
seiner Decrete, diese Ermordung seiner Commissare und seines
Mündels, diesen Miſsbrauch seines Namens in einer Zeit des tief-
sten inneren und äuſseren Friedens als vollendete Thatsachen hin-
nahm; daſs Kypros bei Aegypten blieb und man ferner zusah, als
nach Philometors Tode Euergetes II ihm nachfolgte und dadurch
Kyrene wieder zum Reich kam. Dem Gnaeus Octavius ward,
weil er sein Leben als Gesandter des Staats verloren, ein Denk-
mal auf dem Marktplatz errichtet, wie die Sitte der Väter es vor-
schrieb; was diese Väter, die einst die Ermordung römischer
Gesandten zu rächen Heere und Kriegsflotten ausgesandt hatten,
zu der Anerkennung des Demetrios als Königs von Syrien gesagt
haben würden, blieb im Senat schicklicher Weise unerörtert.
Daſs nach solchen Vorgängen der römische Einfluſs in diesen
Landschaften thatsächlich nichtig war und die Verhältnisse da-
selbst sich zunächst ohne Zuthun der Römer entwickelten, ist
begreiflich; doch ist des weiteren Verlaufs der Dinge wegen es
nothwendig auch den näheren und selbst den ferneren Osten nicht
völlig aus den Augen zu verlieren, da in dem allerseits abge-
schlossenen Aegypten zwar der Statusquo sich so leicht nicht
verschob, dagegen in Asien dies- und jenseit des Euphrat wäh-
rend und zum Theil in Folge dieser momentanen Stockung der
römischen Oberleitung die Völker und Staaten sich ganz anders
gruppirten. Noch nach dem Frieden von 565 hatte sich das Se-
leukidenreich von der kilikisch-syrischen Küste über das ganze
Stromgebiet des Euphrat und Tigris und über Medien und Per-
sien erstreckt bis an die groſse iranische Wüste, jenseit welcher
am Indus das Reich von Palimbothra unter Tschandragupta (San-
drokottos), am oberen Oxus der mächtige baktrische Staat, beide
nicht lange nach Alexander dem Groſsen aus einer Mischung der
nationalen Elemente und der östlichsten Ausläufer hellenischer
Civilisation sich gebildet hatten. Noch Antiochos der Groſse trug
seine Waffen bis jenseit der Wüste in das Gebiet der Parther und
Baktrier. Jetzt fing dieser immer noch ungeheure Staat an sich
aufzulösen. Nicht bloſs Vorderasien war in Folge der Schlacht
von Magnesia verloren worden, auch die gänzliche Lösung der
[56]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
beiden Kappadokien und der beiden Armenien, des eigentlichen
Armenien im Nordosten und der Landschaft Sophene im Süd-
westen, und ihre Verwandlung in selbstständige Königreiche aus
syrischen Lehnsfürstenthümern, gehört dieser Zeit an. Von
diesen Staaten gelangte namentlich Groſsarmenien, das unter
Artaxias zur Zeit Antiochos des Groſsen sich losriſs, bald zu
einer ansehnlichen Stellung. Vielleicht noch gefährlichere Wun-
den schlug dem Reiche seines Nachfolgers Antiochos Epiphanes
thörichte Nivellirungspolitik. So richtig es auch war, daſs sein
Reich mehr einem Länderbündel als einem Staate glich und daſs
die Verschiedenheit der Nationalitäten und Religionen seiner Un-
terthanen das wesentlichste Hinderniſs für die Regierung war, so
war doch der Plan römische Weise und römischen Cultus überall
in seinem Lande einzuführen und vor allem seine Völker in poli-
tischer wie in religiöser Hinsicht auszugleichen unter allen Um-
ständen eine Thorheit, auch abgesehen davon, daſs dieser karri-
kirte Joseph II persönlich einem solchen gigantischen Beginnen
nichts weniger als gewachsen war und durch Tempelplünderung
im groſsartigsten Maſsstab und die tollste Ketzerverfolgung seine
Reformen einzuleiten versuchte. Die eine Folge hievon war, daſs
die Bewohner der Grenzprovinz gegen Aegypten, die Juden,
sonst bis zur Demüthigkeit fügsame und äuſserst thätige und be-
triebsame Leute, durch den systematischen Religionszwang zur
offenen Empörung gedrängt wurden (um 587). Schon um 593
erkannte der römische Senat ohne Schwierigkeit die Freiheit
und Autonomie der insurgirten Nation an; da er eben damals
theils gegen Demetrios Soter mit gutem Grund erbittert war,
theils eine Verbindung der Attaliden und der Seleukiden besorgte,
überhaupt aber die Herstellung einer Mittelmacht zwischen Sy-
rien und Aegypten im Interesse Roms lag, war man im Senat den
Juden geneigt. Indeſs begünstigte man den Aufstand doch nur in-
soweit es geschehen konnte ohne sich selber zu bemühen; trotz
der Clausel des zwischen den Römern und den Juden abgeschlos-
senen Vertrags, die den Juden im Fall sie angegriffen würden den
Beistand Roms versprach, und trotz des an die Könige von Syrien
und Aegypten gerichteten Verbots ihre Truppen durch das jüdi-
sche Land zu führen blieb es natürlich lediglich den Juden selbst
überlassen der syrischen Könige sich zu erwehren. Mehr als die
Briefe ihrer mächtigen Verbündeten that für sie die tapfere und
umsichtige Leitung des Aufstandes durch das Heldengeschlecht
der Makkabaeer und die innere Zerrissenheit des syrischen Rei-
ches: während des Haders zwischen den syrischen Königen Try-
[57]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
phon und Demetrios Nikator ward der Makkabaeer Simon aus-
drücklich anerkannt als unabhängiger Fürst der Juden (611).
— Folgenreicher noch als diese Insurrection der Israeliten wa-
ren die gleichzeitig und wahrscheinlich aus gleicher Ursache ent-
standenen Bewegungen in den östlichen Landschaften, wo Antio-
chos Epiphanes die Tempel von Ekbatana nicht minder leerte
wie den von Jerusalem und dort den Anhängern des Ahuramazda
und des Mithra es nicht besser gemacht haben wird wie hier
denen des Jehovah. Das Ergebniſs war eben wie in Judaea, nur
in einem weiteren Umfang und in groſsartigeren Verhältnissen,
eine Reaction der einheimischen Weise und der einheimischen
Religion gegen die hellenische Sitte und die hellenischen Götter;
die Träger dieser Bewegung waren die Parther und ihnen entsprang
das groſse Partherreich. Die ‚Parthwa‘ oder Parther, die als eine
der zahllosen in das groſse Perserreich aufgegangenen Völkerschaf-
ten schon früh begegnen und im heutigen Khorasan südöstlich vom
kaspischen Meere ihre ältesten bekannten Sitze hatten, erscheinen
schon seit 500 d. St. unter dem skythischen, das heiſst turanischen
Fürstengeschlecht der Arsakes als ein selbstständiger Staat, der
indeſs erst ein Jahrhundert später aus seiner Dunkelheit hervor-
trat. Der sechste Arsakide, Mithradates I (579?-618?) griff
das baktrische Reich an, das, durch die Fehden mit den skythi-
schen Reiterschaaren von Turan und mit den Staaten am Indus und
durch innere Wirren bereits in allen Fugen erschüttert, dem viel
schwächeren Feinde erlag. Sodann wandte er sich zur Unter-
werfung der Landschaften westlich der groſsen Wüste und fast
mit gleichem Erfolg. Das syrische Reich war eben damals theils
in Folge der verfehlten Hellenisirungsversuche des Antiochos
Epiphanes, theils durch die nach seinem Tode eintretenden Suc-
cessionswirren aufs tiefste zerrüttet und die inneren Provinzen
im vollen Zuge sich von Antiocheia und der Küstenlandschaft zu
lösen; in Kommagene zum Beispiel, der nördlichsten Landschaft
Syriens an der kappadokischen Grenze, machte der Satrap Pto-
lemaeos, auf dem entgegengesetzten Ufer des Euphrat im nörd-
lichen Mesopotamien oder der Landschaft Osroene der Fürst
von Edessa, in der wichtigen Provinz Medien der Satrap Timar-
chos sich unabhängig; ja der letztere lieſs sich vom römischen
Senat seine Unabhängigkeit bestätigen und herrschte, gestützt
auf das verbündete Armenien, bis hinab nach Seleukeia am Ti-
gris. Es gelang wohl den einen oder den andern dieser Rebellen
noch einmal zur Ordnung zu bringen; aber die Unordnung blieb
darum nicht weniger in Permanenz. Die Lage der syrischen Kö-
[58]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
nige, unter denen einzelne persönliche Tapferkeit und Fähigkeit
bewiesen, war in der That beklagenswerth. Das Reich war in
ewigem Aufstand, sowohl die Provinzen unter ihren halb oder
ganz unabhängigen Satrapen als die Hauptstadt mit ihrem gleich
dem römischen und dem alexandrinischen zuchtlosen und wider-
spenstigen Pöbel. Die gesammte Meute der Nachbarkönige,
Aegypten, Kappadokien, Pergamon mengte unaufhörlich sich in
die Angelegenheiten Syriens und nährte die Erbfolgestreitigkei-
ten, so daſs der Bürgerkrieg und die factische Theilung der Herr-
schaft unter zwei oder mehr Prätendenten fast zur stehenden
Landplage ward. Die römische Schutzmacht, wenn sie die Nach-
barn nicht aufstiftete, sah unthätig zu. Zu allem diesen drängte
von Osten her das neue Partherreich, nicht bloſs mit seiner ma-
teriellen Macht, sondern auch mit dem ganzen Uebergewicht sei-
ner nationalen Sprache und Religion, seiner nationalen Heer-
und Staatsverfassung über den Staat der Fremdlinge. Es ist hier
noch nicht der Ort dies regenerirte Kyrosreich zu schildern; es
genügt im Allgemeinen daran zu erinnern, daſs, so mächtig auch
in ihm noch der Hellenismus auftritt, dennoch der parthische
Staat, verglichen mit dem der Seleukiden, auf einer nationalen
und religiösen Reaction beruht und die alte iranische Sprache,
der Magierstand und der Mithrasdienst, die orientalische Lehns-
verfassung, die Reiterei der Wüste und Pfeil und Bogen hier zu-
erst dem Hellenismus wieder übermächtig entgegentraten. Das
Ergebniſs war leicht vorauszusehen. Die östlichen Landschaften
Syriens unter ihren unbeschützten oder gar aufrührerischen Sa-
trapen geriethen unter parthische Botmäſsigkeit; Persien, Baby-
lonien, Medien wurden auf immer vom syrischen Reiche getrennt;
der neue Staat der Parther reichte zu beiden Seiten der groſsen
Wüste vom Oxus und Hindukusch bis zum Tigris und zur arabi-
schen Wüste, wiederum gleich all den vor Alexander blühenden
asiatischen Groſsstaaten eine reine Continentalmonarchie und
wiederum gleich dem Perserreich einerseits mit den Völkern von
Turan, andrerseits mit den Occidentalen in ewiger Fehde be-
griffen. Der syrische Staat umfaſste auſser der Küstenlandschaft
im besten Fall Mesopotamien und verschwand, mehr noch in
Folge seiner inneren Zerrüttung als seiner Verkleinerung, auf
immer aus der Reihe der Groſsstaaten. Wenn die mehrfach dro-
hende gänzliche Unterjochung des Landes durch die Parther un-
terblieb, so ist dies nicht der Gegenwehr der letzten Seleukiden,
noch weniger dem Einfluſs Roms zuzuschreiben, sondern vielmehr
den vielfältigen inneren Unruhen im Partherreich und vor allem
[59]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
den Einfällen der turanischen Steppenvölker in dessen östliche
Landschaften. — Diese Umwandlung der Völkerverhältnisse im
inneren Asien ist der Wendepunct in der Geschichte des Alter-
thums. Statt der Völkerfluth, die bisher von Westen nach Osten
sich ergossen und in dem groſsen Alexander ihren letzten und
höchsten Ausdruck gefunden hatte, beginnt die Ebbe. Seit der Par-
therstaat besteht, ist nicht bloſs verloren, was in Baktrien und am
Indus etwa noch von hellenischen Elementen sich erhalten haben
mochte, sondern auch das westliche Iran weicht wieder zurück
in das seit Jahrhunderten verlassene, aber noch nicht verwischte
Geleise. Der römische Senat opfert das erste wesentliche Ergeb-
niſs der Politik Alexanders und leitet damit jene rückläufige Be-
wegung ein, deren letzte Ausläufer im Alhambra von Granada
und in der groſsen Moschee von Constantinopel endigen. So
lange noch das Land von Ragae und Persepolis bis zum Mittel-
meer dem König von Antiocheia gehorchte, erstreckte auch
Roms Macht sich bis an die Grenze der groſsen Wüste; der Par-
therstaat, nicht weil er so gar mächtig war, sondern weil er fern
von der Küste, im innern Asien seinen Schwerpunct fand, konnte
niemals eintreten in die Clientel des Mittelmeerreiches. Seit
Alexander hatte die Welt den Occidentalen allein gehört und der
Orient schien für diese nur zu sein was später Amerika und
Australien für die Europäer wurden; mit Mithradates I trat er
wieder ein in den Kreis der politischen Bewegung. Die Welt
hatte wieder zwei Herren.
Wir haben die äuſsere geschichtliche Entwicklung von der
Schlacht bei Pydna bis auf die Gracchenzeit in ihren Umrissen vom
Tajo zum Nil und zum Euphrat begleitet. Es ist noch übrig auf die
maritimen Verhältnisse dieser Zeit einen Blick zu werfen, obwohl
darüber sich kaum etwas Anderes sagen läſst, als daſs es nir-
gends mehr eine Seemacht gab. Karthago war vernichtet, Sy-
riens Kriegsflotte vertragsmäſsig zu Grunde gerichtet, Aegyptens
einst so gewaltige Kriegsmarine unter seinen gegenwärtigen
schlaffen Regenten in tiefem Verfall. Die kleineren Staaten und
namentlich die Kaufstädte hatten wohl einige bewaffnete Fahr-
zeuge, aber sie genügten nicht einmal für die im Mittelmeer so
schwierige Unterdrückung des Seeraubs. Mit Nothwendigkeit
fiel diese Rom zu als der führenden Macht im Mittelmeer. So
entschieden wie ein Jahrhundert zuvor die Römer eben hierin
aufgetreten waren, wie sich ihre ganze Suprematie im Osten zu-
nächst eingeführt hatte durch die zum allgemeinen Besten ener-
gisch gehandhabte Seepolizei (I, 370), ebenso bestimmt be-
[60]VIERTES BUCH. KAPITEL I.
zeichnet die vollständige Nichtigkeit derselben schon im Beginn
dieser Periode den Verfall des aristokratischen Regiments. Eine
eigene Flotte besaſs Rom nicht mehr; man begnügte sich wenn
es nöthig schien von den italischen, den kleinasiatischen und
den sonstigen Seestädten Schiffe einzufordern. Die Folge war
natürlich, daſs das Flibustierwesen sich organisirte und con-
solidirte. Zwar so weit die unmittelbare Macht der Römer
reichte, geschah wenn nicht genug so doch etwas zu dessen Un-
terdrückung. Die gegen die dalmatischen und ligurischen Küsten
in dieser Epoche gerichteten Expeditionen bezweckten nament-
lich die Unterdrückung des Seeraubs in den beiden italischen
Meeren; aus gleichem Grunde wurden im J. 631 die balearischen
Inseln besetzt (S. 18). Dagegen in den mauretanischen und
den ostasiatischen Gewässern blieb es den Anwohnern und Schif-
fern überlassen mit den Corsaren auf eine oder die andere Weise
sich abzufinden, da die römische Politik daran festhielt sich um
diese entfernteren Gegenden so wenig wie irgend möglich zu
kümmern. Hätte in den also sich selbst überlassenen Uferstaa-
ten ein wohlgeordneter Zustand bestanden, so wäre dies erträg-
lich gewesen, allein natürlich bot sich hiedurch den Corsaren
eine Freistätte in jedem zerrütteten Gemeinwesen und an sol-
chen fehlte es namentlich in Asien nicht. An der Spitze von
allen stand Kreta, das durch seine glückliche Lage und die
Schwäche oder Schlaffheit der Groſsstaaten des Westens und
des Ostens allein unter allen griechischen Ansiedlungen seine
Unabhängigkeit sich bewahrt hatte; denn die römischen Com-
missionen, die freilich auch auf dieser Insel kamen und gingen,
hatten hier noch weniger zu bedeuten als selbst in Syrien und
Aegypten. Es schien fast, als habe das Schicksal den Kretern
die Freiheit nur gelassen um zu zeigen, was herauskomme bei
der hellenischen Unabhängigkeit; es war ein schreckliches Bild.
Die alte dorische Strenge der Gemeindeordnungen war ähnlich
wie in Tarent umgeschlagen in eine wüste Demokratie, der rit-
terliche Sinn der Bewohner in eine wilde Rauf- und Beutegier;
ein achtbarer Hellene selbst bezeugt es, daſs allein auf Kreta
nichts für schimpflich gelte, was einträglich sei, und noch der
Apostel Paulus führt billigend den Spruch eines kretischen Dich-
ters an:
‚Lügner sind all, Faulranzen, unsaubere Thiere die Kreter‘.
Die Bewohner durchstreiften als Räuber die Heimath und die
Fremde, die Länder und die Meere; die Insel ward der Werbe-
platz für die umliegenden Königreiche, seit im Peloponnes die-
[61]DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
ser Unfug nicht mehr geduldet ward, der Schauplatz ewiger Bür-
gerkriege, die trotz der römischen Vermittlungsversuche auf der
alten ‚Insel der hundert Städte‘ eine blühende Ortschaft nach
der andern in Ruinenhaufen verwandelten, vor allem aber der
rechte Sitz der Piraterie, wie denn zum Beispiel um diese Zeit
die Insel Siphnos durch eine kretische Corsarenflotte völlig aus-
geraubt ward. Rhodos, das ohnehin von dem Verlust seiner Be-
sitzungen und den seinem Handel zugefügten Schlägen (I, 593)
sich nicht zu erholen vermochte, vergeudete seine letzten Kräfte
in den Kriegen, die es zur Unterdrückung der Piraterie gegen die
Kreter zu führen sich genöthigt sah (um 600) und in denen die
Römer zwar zu vermitteln suchten, indeſs ohne Ernst und wie
es scheint ohne Erfolg. Neben Kreta fing bald auch Kilikien an
für diese Flibustierwirthschaft eine zweite Heimath zu werden;
es war nicht bloſs die Ohnmacht der syrischen Herrscher, die
ihr hier Vorschub that, sondern der Usurpator Diodotos Try-
phon, der sich vom Sclaven zum König Syriens aufgeworfen
hatte (608-615), förderte, um durch Corsarenhülfe seinen
Thron zu befestigen, in seinem Hauptsitz, dem rauhen oder
westlichen Kilikien mit allen Mitteln von oben herab die Pirate-
rie. Der ungemein gewinnbringende Verkehr mit den Piraten,
die zugleich die hauptsächlichsten Sclavenfänger und Sclaven-
händler waren, verschaffte ihnen bei dem kaufmännischen Publi-
cum, sogar in Alexandreia, Rhodos und Delos eine gewisse Dul-
dung, an der selbst die Regierungen wenigstens durch Passivität
sich betheiligten. Das Uebel ward so ernsthaft, daſs der Senat
um 611 seinen besten Mann Scipio Aemilianus nach Alexandreia
und Syrien sandte, um an Ort und Stelle zu ermitteln, was sich
thun lasse. Allein daſs die Vorstellungen der Römer die schwa-
chen Regierungen nicht stark machen konnten, war begreiflich;
es gab keine andere Abhülfe als geradezu eine Flotte in diesen Ge-
wässern zu unterhalten, wozu es wieder der römischen Regierung
an Energie und Consequenz gebrach. So blieb eben alles beim
Alten, die Piratenflotte die einzige ansehnliche Seemacht im Mit-
telmeere, der Menschenfang das einzige daselbst blühende Ge-
werbe. Die römische Regierung sah den Dingen zu, die römi-
schen Kaufleute aber standen als die besten Kunden auf dem
Sclavenmarkt mit den Piratencapitänen als den bedeutendsten
Groſshändlern in diesem Artikel auf Delos und sonst in regem
und freundlichem Geschäftsverkehr.
[[62]]
KAPITEL II.
Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus.
Ein volles Menschenalter nach der Schlacht von Pydna er-
freute der römische Staat sich der tiefsten kaum hie und da an
der Oberfläche bewegten Ruhe. Das Gebiet dehnte über die drei
Welttheile sich aus; der Glanz der römischen Macht und der
Ruhm des römischen Namens waren in dauerndem Steigen; aller
Augen ruhten auf Italien, alle Talente, aller Reichthum strömten
dahin: es schien dort eine goldene Zeit friedlicher Wohlfahrt und
geistigen Lebensgenusses beginnen zu müssen. Mit Bewunderung
erzählten sich die Orientalen dieser Zeit von der mächtigen Re-
publik des Westens, ‚die die Königreiche bezwang fern und nah
und wer ihren Namen vernahm, der fürchtete sich; mit den
Freunden und Schutzbefohlenen aber hielt sie guten Frieden.
Solche Herrlichkeit war bei den Römern, und doch setzte keiner
die Krone sich auf und prahlte keiner im Purpurgewand; son-
dern wen sie Jahr um Jahr zu ihrem Herrn machten, auf den
hörten sie und war bei ihnen nicht Neid noch Zwietracht.‘
So schien es in der Ferne; in der That war die Macht und
die Volkswohlfahrt Roms und Italiens seit der Schlacht von Pydna
in raschem und unverkennbarem Sinken. Es ist kein Organ, keine
Function des Staates, in der sich dieser Verfall nicht zeigte; er
macht in den feindlich sich gegenüberstehenden Parteien sich in
gleicher Weise geltend. Die Einführung der geheimen Abstimmung
in den Versammlungen der Bürgerschaft, zuerst für die Magistrats-
wahlen durch das gabinische (615), dann für die Volksgerichte
durch das cassische (617), endlich für die Abstimmung über
[63]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
Gesetze durch das papirische Gesetz (623), galt zwar der Fort-
schrittspartei dieser Zeit als die Emancipation des Mittelstandes
von dem drückenden Uebergewicht der Aristokratie und als der
Anfang einer Regeneration des Staates. In der That aber änderte
diese Panacee der römischen Demokratie nicht das Mindeste in
dem Stande der Dinge und war genau genommen nichts als ein
handgreiflicher Beweis für die bereits seit einem Jahrhundert
vorhandene (I, 604) Nichtigkeit und Unfreiheit des höchsten Or-
gans der römischen Gemeinde. Wie es andrerseits wesentlich die
regierende Aristokratie gewesen war, an der mehr als an dem
Feldherrngeschick der römischen Generale und dem Muth seiner
Bürger Hannibals Genie scheiterte, so war es wiederum diese
Aristokratie, deren kurzsichtiges, schlaffes, eigensüchtiges Regi-
ment nach auſsen wie nach innen vornämlich das eigene Werk
verdarb. Nicht als wären die Söhne und Enkel der Besiegten
von Cannae und der Sieger von Zama so völlig aus der Art ihrer
Groſsväter und Väter geschlagen; es waren weniger andere Men-
schen, die jetzt im Senat saſsen, als eine andere Zeit. Wo im-
mer, wie in Rom seit der Beendigung des Patricier- und Ple-
bejerhaders, eine geschlossene Zahl alter Familien festgegründeten
Reichthums und ererbter staatsmännischer Bedeutung das Regi-
ment führt, wird sie in dem Kampf um die Existenz eine ebenso
unvergleichliche zähe Folgerichtigkeit und heldenmüthige Opfer-
fähigkeit entwickeln wie in gewöhnlichen Zeitläuften alle Mängel
der Collegialität und der Coterie. Die vorhandenen Krankheits-
stoffe entwickelten sich rasch in der Sonne des Glückes. Die ari-
stokratische Politik dieser Zeit war eine arge Antwort auf Catos
Frage, was aus Rom werden solle, wenn es keinen Staat mehr
zu fürchten haben werde. Wie der Tod einen nach dem andern
die Männer abrief, welche die ernste Schule des hannibalischen
Krieges groſsgezogen hatte und in denen die Begeisterung jener
gewaltigen Zeit noch bis in das späteste Alter nachklang; wie
endlich auch die Stimme des letzten von ihnen, des alten Cato
im Rathhaus und auf dem Marktplatz verstummte, traten alle
Miſsbräuche der Cliquenregierung immer schroffer, immer wider-
wärtiger hervor. Die römische Nobilität, von Haus aus exclusiv
wie jede Aristokratie, verschloſs sich fast hermetisch gegen die
‚neuen Menschen‘ und je weniger die Regierung auf ernste Ge-
fahren traf, desto vollständiger gelang es jede Entweihung durch
gemeine Leute, deren Adelsbrief ihre Thaten waren, von den
lauteren Kreisen der Aristokratie abzuwehren und auszureichen
mit einem Regiment adlicher Nullitäten. Ein charakteristisches
[64]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
Zeichen dieses Cliquenregiments ist die leidige Sitte der Morgen-
besuche zur Aufwartung bei den vornehmen Freunden und des
öffentlichen Erscheinens in ihrem Gefolge, die von den Schutz-
befohlenen und Freigelassenen jetzt auf die höheren und höch-
sten Kreise sich zu übertragen begann; die politische Carriere
fing schon nicht mehr im Lager an oder in nützlicher Thätigkeit
für das gemeine Beste, sondern in den Vorzimmern der einfluſs-
reichen Männer. Nicht minder charakteristisch ist die der gegen-
wärtigen Zeit angehörende gesetzliche Bestimmung, daſs niemand
zum zweiten Mal das Consulat solle verwalten dürfen — eine
Verfügung, in der sich zwar auch die sinkenden Republiken
eigenthümliche Furcht vor der Uebermacht der Einzelnen aus-
spricht, aber vor allem doch die bezeichnende politische Auffas-
sung, daſs nicht der Staat ein Recht habe für sein höchstes Amt
auf den rechten und besten Mann, sondern daſs jedes Glied der
Camaraderie ein nicht durch unbillige Concurrenz zu verkürzen-
des Anrecht auf das höchste Staatsamt besitze. — Dies alles hätte
ertragen werden mögen, wenn diese thatsächliche Erblichkeit der
regierenden Aristokratie zu einer entsprechenden Aenderung der
Verfassung, das heiſst zur Beseitigung der freien Concurrenz zu
den Aemtern und der Volkswahlen geführt hätte, welche beide
dem Wesen der Nobilität schnurstracks entgegenliefen. Allein zu
politischen Neubildungen vermochte man jetzt weniger als je zu
gelangen und so bewahrte man in der alten jetzt inhaltlosen Ver-
fassungsform einen Deckmantel für die entsetzlichsten Miſs-
bräuche und eine stetig wirkende Hemmung jedes ernsten und
rechten Regiments. Die römische Aemterlaufbahn als Quaestor
oder Volkstribun zu betreten war verhältniſsmäſsig leicht, zum
Consulat aber oder gar zur Censur zu gelangen selbst dem ge-
wöhnlichen Adlichen nur durch groſse und jahrelange Anstren-
gungen möglich; der Preise waren viele, aber der lohnenden
wenig; die Kämpfer liefen, wie ein römischer Dichter einmal
sagt, wie in einer an den Schranken weiten, aber mehr und
mehr sich verengenden Rennbahn. Es war dies durchaus zweck-
mäſsig, so lange das Amt noch wirklich wie es hieſs eine ‚Ehre‘
war und militärische, politische, juristische Capacitäten im rech-
ten Wetteifer um die seltenen Kränze warben; jetzt aber war der
Nutzen der Concurrenz durch die Geschlossenheit der Nobilität
beseitigt und nur noch ihre Nachtheile übrig geblieben. Mit sel-
tenen Ausnahmen drängte jeder den regierenden Familien ange-
hörende junge Mann sich in die politische Laufbahn und der
hastige und unreife Ehrgeiz griff bald zu wirksameren Mitteln als
[65]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
die Heerführung und die Rechtweisung waren. Rascher zum
Ziel führte die Demagogie und um so sicherer, je mehr sie nicht
die Sache angriff, sondern die Person; also vor allem die crimi-
nelle Belangung eines hochstehenden und unbeliebten Mannes.
Es ward Sitte, daſs die bartlosen Jünglinge vornehmer Geburt,
um sich glänzend in das öffentliche Leben einzuführen, mit der
unreifen Leidenschaft ihrer knabenhaften Beredsamkeit die Rolle
Catos weiter spielten und sich aus eigener Machtvollkommenheit
zu Anwälten des Staats aufwarfen; man lieſs es geschehen, daſs
das ernste Institut der Criminaljustiz und der politischen Polizei
ein Mittel für den Aemterbewerb ward. Aber noch rascher als
auf solchen immer noch indirecten Wegen empfahl man sich der
Menge geradezu durch Liebäugeleien, Nachsichtigkeiten, Artig-
keiten von feinerer oder gröberer Qualität. Der entwürdigende
Aemterbettel begann zu floriren; der Janhagel fing an es als sein
Recht zu fordern, daſs der künftige Consul in jedem Lumpen
von der Gasse das souveräne Volk erkenne und ehre, wie ihm
denn auch durch die Verlegung der Gemeindeversammlungen
von der alten Dingstätte unter dem Rathhaus auf den Marktplatz
(um 609) eine förmliche Anerkennung seiner Unabhängigkeit
vom Senat und seiner vollständigen Freiheit zu Theil ward. Die
niederen Beamten, namentlich Aedilen und Praetoren, ja selbst
bloſse Privatmänner suchten durch Veranstaltung oder, was noch
schlimmer war, durch Verheiſsung prachtvoller Volkslustbarkei-
ten bei der Menge sich in Gunst zu setzen; ja es begannen schon,
wie das um 595 erlassene Gesetz bezeugt, für die höheren
Staatsämter die Stimmen der Wähler geradezu um Geld feil zu
werden, während die Subalternposten, namentlich die sehr
einträglichen Schreiber- und Gerichtsdienerstellen sogar von
Rechtswegen käuflich wurden. Diese Uebelstände waren sehr arg,
aber bei weitem noch nicht das Aergste. Indem die regierende
Aristokratie der Wahlen wegen sich genöthigt sah Rücksicht auf
die Menge zu nehmen, wurden Beamte und Senat gezwungen bei
allen ihren Maſsregeln wenn nicht die Masse der Regierten doch
mindestens die hauptstädtische Bürgerschaft in einer Weise zu
schonen, die mit dem Wesen der Herrschaft unverträglich ist.
Einst war der Beamte innerhalb der verfassungsmäſsigen Schran-
ken aufgetreten als Herr und Gebieter; jetzt wurden die Consuln,
als sie pflichtmäſsig für den verhaſsten spanischen Dienst
strenge Aushebungen veranstalteten, von den Volkstribunen ins
Gefängniſs geführt (603. 616). Einst hatte der Senat über Gut
und Blut der Bürger zum Besten des Vaterlandes unumschränkt
Röm. Gesch. II. 5
[66]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
verfügt; jetzt lieſs man die Bürgerschaft sich an den Gedanken
gewöhnen, daſs sie von allen directen Abgaben frei sei; und wozu
der Senat sich verstand, um nur nicht die Bürger durch die Con-
scription zum überseeischen Dienst zu verstimmen, zeigt unter
vielen andern Thatsachen das Stillschweigen zu der Ermordung
des Gnaeus Octavius in Syrien und die Weigerung dem Scipio für
den numantinischen Krieg die Aushebung zu gestatten. Das Co-
terienregiment in unleidlicher Vermischung mit einer formal ab-
soluten Demokratie trat durchaus an die Stelle der Herrschaft
der ‚besten Männer‘; die Nobilität war in vollem Zuge es zu ver-
gessen, daſs sie den Staat nur vertrat und nicht ausmachte und
damit sich selber den sittlichen und den politischen Boden unter
den Füſsen wegzuziehen.
Erwägen wir die Folgen in der äuſseren wie in der inneren
Staatsverwaltung. Die Aufgabe, welche die gewonnene Weltherr-
schaft an die herrschende Macht stellte, ward früher bezeichnet;
sie ward nicht völlig verkannt, aber keineswegs gelöst. Das Sy-
stem der älteren Generation den Staat auf Italien zu beschränken
und auſserhalb Italien nur durch Clientel zu regieren, ward wohl
als unhaltbar erkannt und aufgegeben. Es kam wohl ein anderer
Geist in das Regiment, welches nicht mehr das war des schützen-
den Vormundes, sondern das des strengen Herrn — bezeich-
nend dafür ist es zum Beispiel, daſs Publius Crassus Consul
623, kein schlechter Mann und ein strengrechtlicher Beamter,
als ihm die freie Stadt Mylasa in Karien zur Erbauung eines
Sturmbocks in bester Absicht einen andern Balken als den ver-
langten gesandt hatte, den Vorstand der Stadt deſswegen ent-
kleiden und auspeitschen lieſs. Aber die neue Aufgabe, an die
Stelle des Clientelregiments eine die Gemeindefreiheiten wah-
rende unmittelbare Herrschaft Roms zu setzen, ward nicht
durchgeführt. Wie eben Gelegenheit, Eigensinn, Nebenvortheil
und Zufall einwirkten, wurden einzelne Landschaften eingezogen,
wogegen der bei weitem gröſste Theil der Clientelstaaten entwe-
der in der unerträglichen Halbheit seiner bisherigen Stellung
verblieb oder gar, wie namentlich der fernere Osten, dem Ein-
flusse Roms gänzlich sich entzog. Man begnügte sich von heute
auf morgen zu regieren und in der Regierung nichts zu sehen
als die Erledigung der laufenden Geschäfte. Statt bei der stei-
genden Ausdehnung und Wichtigkeit der Provinzen die Zügel
des Provinzialregiments schärfer anzuziehen, lieſs die Central-
gewalt dieselben sich vollständig entschlüpfen und verzichtete auf
jede Oberleitung und Uebersicht, so daſs dem jedesmaligen Vogt
[67]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
nicht bloſs die Interessen der Unterthanen, sondern auch die des
Staats so gut wie vollständig preisgegeben waren. Statt den
Lohn der Herrschaft in der Herrschaft zu finden, lieſs man un-
gehörige und zum Theil niederträchtige Rücksichten in die Ent-
scheidung der wichtigsten Fragen eingreifen. Die politischen
Fragen verzweigten sich nicht bloſs mit den unter den Senats-
coterien bestehenden Sympathien und Rivalitäten, sondern es
gewann auch schon das Gold auswärtiger Dynasten Eingang
im römischen Rathe. Als der erste, der einen solchen Beste-
chungsversuch mit Erfolg durchführte, wird Timarchos genannt,
der Gesandte des Königs Antiochos IV von Syrien († 590); bald
wurde die Beschenkung einfluſsreicher Senatoren durch auswär-
tige Könige so gewöhnlich, daſs es auffiel, als Scipio Aemilianus
im Lager vor Numantia die Gaben des Königs von Syrien in die
Kriegskasse einwarf. Statt das Volk es fühlen zu lassen, daſs die
Herrschaft kein nutzbares Gut ist, sondern durch das Gut und
Blut der herrschenden Nation wie gewonnen so erhalten werden
muſs, wurden die Lasten des Regiments, die Bewachung der ma-
kedonischen, asiatischen, africanischen Grenzen entweder auf die
Unterthanen abgewälzt oder gänzlich vernachlässigt, wurden zum
Besten des römischen Kaufmanns die miſsliebigen Handelsrivalen
durch die Heere des Staats beseitigt und in der Provinzialverwal-
tung seinem rücksichtslosen Geldhunger mit frevelhafter Nach-
giebigkeit Spielraum gestattet. Endlich statt Heer und Wehr, auf
denen doch des römischen Staates Existenz allein beruhte, in
brauchbarem Stande zu halten, lieſs man die Flotte ganz ein-
gehen und das Landkriegswesen in der unglaublichsten Weise
verfallen. Die alte zweckmäſsige Sitte, daſs die Auswahl der Sol-
daten aus der dienstpflichtigen Mannschaft dem freien Ermessen
der Offiziere anheimgegeben war, hatte bei der Parteilichkeit der
aushebenden Beamten und dem steigenden Widerwillen nament-
lich gegen den spanischen Kriegsdienst aufgegeben werden müs-
sen; seit dem J. 602 fügte nicht die Wahl, sondern das Loos die
Abtheilungen zusammen, sicher nicht zum Vortheil des militäri-
schen Gemeingeistes und der Kriegstüchtigkeit der einzelnen Re-
gimenter. Es läſst sich deutlich erkennen, daſs die höheren
Stände mehr und mehr anfingen dem Dienst sich thatsächlich zu
entziehen; wozu auſser den allgemeinen Ursachen ohne Zweifel
namentlich auch das beitrug, daſs die Jugend des Capitalisten- und
Kaufmannsstandes von früh auf sich dem Groſshandel widmete.
Für die Offizierstellen war durchaus auf Freiwillige aus der besseren
Klasse gerechnet und einst hatte man eifrig um dieselben gewor-
5*
[68]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
ben; jetzt hielt es schwer für die spanischen Heere die erforder-
liche Zahl von Offizieren aufzutreiben. Schon erinnern die rö-
mischen Heere vor Karthago und Numantia an jene syrischen
Armeen, in denen die Bäcker, Köche, Schauspieler und so weiter
viermal zahlreicher waren als die sogenannten Soldaten; schon
geben die römischen Generale ihren karthagischen Collegen wenig
nach in der Heerverderbekunst und werden die Kriege gegen
Karthago wie gegen Viriathus, gegen die Makedonier wie gegen
die Asiaten regelmäſsig mit Niederlagen eröffnet; schon ist die
Eroberung von Numantia eine Groſsthat. Wohin man auch den
Blick wendet, erscheint Roms Macht und Einfluſs in unverkenn-
barem Sinken; trotz der durch die seltene Gunst des Geschickes
gewährten friedlichen Zeiten wird der in schweren Stürmen errun-
gene Boden nicht erweitert, ja nicht einmal behauptet. Das Welt-
regiment, schwer zu gewinnen, ist schwerer noch zu erhalten;
jenes hatte der Senat vermocht, an diesem ist er gescheitert.
Bedenklicher noch als die öffentlichen Verhältnisse gestalte-
ten sich die ökonomischen und die socialen; nicht eigentlich
durch offenbare Miſsregierung des Senats, wohl aber in Folge
der Schlaffheit und Unthätigkeit, welche auch auf diesem Gebiet
seine Verwaltung bezeichnet. Seit uralter Zeit beruhte die römi-
sche Oekonomie auf den beiden ewig sich suchenden und
ewig hadernden Factoren, der bäuerlichen und der Geldwirth-
schaft. Schon einmal hatte die letztere im engsten Bunde mit
dem groſsen Grundbesitz Jahrhunderte lang gegen den Bauern-
stand einen Krieg geführt, der mit dem Untergang zuerst der
Bauernschaft und demnächst des ganzen Gemeinwesens endigen
zu müssen schien, aber ohne eigentliche Entscheidung abgebro-
chen ward in Folge der glücklichen Kriege und der hiedurch mög-
lich gemachten umfänglichen und groſsartigen Domanialaufthei-
lung. Es ward schon früher gezeigt (I, 618-626), daſs in der-
selben Zeit, welche den Gegensatz zwischen Patriciern und
Plebejern unter veränderten Namen erneuerte, das unverhältniſs-
mäſsig anschwellende Capital einen zweiten Sturm gegen die
bäuerliche Wirthschaft vorbereitete. Zwar der Weg war ein an-
derer. Ehemals war der kleine Bauer ruinirt worden durch Vor-
schüsse, die ihn thatsächlich zum Meier seines Gläubigers herab-
drückten; jetzt ward er erdrückt durch die Concurrenz des über-
seeischen und insonderheit des Sclavenkorns. Man schritt fort
mit der Zeit; das Capital führte gegen die Arbeit, das heiſst
gegen die Freiheit der Person, den Krieg, natürlich wie immer in
strengster Form Rechtens, aber nicht mehr in der unziemlichen
[69]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
Weise, daſs der freie Mann der Schulden wegen Sclave ward,
sondern von Haus aus mit rechtmäſsig gekauften und bezahlten
Sclaven; der ehemalige hauptstädtische Zinsherr trat auf in zeit-
gemäſser Gestalt als industrieller Plantagenbesitzer. Allein das
letzte Ergebniſs war in beiden Fällen das gleiche: die Entwer-
thung der italischen Bauernstellen, die Verdrängung der Klein-
wirthschaft zuerst in einem Theil der Provinzen, sodann in Ita-
lien durch die Gutswirthschaft; die vorwiegende Richtung auch
dieser in Italien auf Viehzucht und auf Oel- und Weinbau;
schlieſslich die Ersetzung der freien Arbeiter in den Provinzen
wie in Italien durch Sclaven. Eben wie die Nobilität deſshalb
gefährlicher war als das Patriciat, weil jene nicht wie dieses
durch eine Verfassungsänderung sich beseitigen lieſs: so war
auch diese neue Capitalmacht darum gefährlicher als die des
vierten und fünften Jahrhunderts, weil mit Aenderungen des
Landrechts hiegegen schlechterdings nichts auszurichten war.
Ehe wir es versuchen den Verlauf dieses zweiten groſsen
Conflicts von Arbeit und Capital zu schildern, wird es nothwen-
dig über das Wesen und den Umfang der Sclavenwirthschaft hier
einige Andeutungen einzuschalten. Wir haben es hier nicht zu
thun mit der alten gewissermaſsen unschuldigen Feldsclaverei,
wonach der Bauer entweder zugleich mit seinem Knechte ackert
oder auch, wenn er mehr Land besitzt als er bewirthschaften
kann, denselben, unter Verpflichtung zur Rechnungslegung oder
auch zur Ablieferung eines Theils vom Ertrag, über einen abge-
theilten Meierhof setzt (I, 124); solche Verhältnisse bestanden
zwar zu allen Zeiten — um Comum zum Beispiel waren sie noch
in der Kaiserzeit die Regel —, allein als Ausnahmszustände be-
vorzugter Landschaften und milde verwalteter Güter. Hier ist
die Groſswirthschaft mit Sclaven gemeint, welche im römischen
Staat wie einst im karthagischen aus der Uebermacht des Capitals
sich entwickelte. Während für den Sclavenbestand der älteren Zeit
die Kriegsgefangenschaft und die Erblichkeit der Knechtschaft aus-
reichte, beruht diese Sclavenwirthschaft völlig wie die amerikani-
sche auf systematisch betriebener Menschenjagd, da ohne diese
bei der auf Leben und Fortpflanzung der Sclaven wenig Rück-
sicht nehmenden Weise der Exploitirung ein beständiges Deficit
in der Sclavenbevölkerung eingetreten sein würde, welches selbst
die stets neue Massen auf den Sclavenmarkt liefernden Kriege zu
decken nicht ausreichten. Kein Land, wo dieses jagdbare Wild
sich vorfand, blieb hievon verschont; selbst in Italien war es kei-
neswegs unerhört, daſs der arme Freie von seinem Brotherrn
[70]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
unter seine Sclaven eingestellt ward. Das Negerland jener Zeit
aber war Kleinasien, wo die kretischen und kilikischen Cor-
saren, die rechten gewerbmäſsigen Sclavenjäger und Sclaven-
händler, die Küsten Syriens und die griechischen Inseln aus-
raubten, und mit ihnen wetteifernd die römischen Zollpächter
in den Clientelstaaten Menschenjagden veranstalteten und die
Gefangenen unter ihr Sclavengesinde untersteckten — es geschah
dies in solchem Umfang, daſs um 650 der König von Bithynien
sich unfähig erklärte den verlangten Zuzug zu leisten, da aus sei-
nem Reich alle arbeitsfähigen Leute von den Zollpächtern weg-
geschleppt seien. Auf dem groſsen Sclavenmarkt in Delos, wo
die kleinasiatischen Sclavenhändler ihre Waare an die italischen
Speculanten absetzten, sollen an einem Tage bis 10000 Sclaven
des Morgens ausgeschifft und vor Abend alle verkauft gewesen
sein — ein Beweis zugleich, welche ungeheure Zahl von Sclaven
geliefert ward und wie dennoch die Nachfrage immer noch das
Angebot überstieg. Es war kein Wunder; solche Sclavenheerden
waren ein vortreffliches Werkzeug der mannigfaltigsten Specula-
tionen und wurden fast auf jedem Gebiet des Erwerbs verwandt.
Durch sie wurden groſsentheils die Handwerke betrieben, so daſs
der Ertrag dem Herrn zufiel. Durch die Sclaven der Steuer-
pachtgesellschaften wurde die Erhebung der öffentlichen Gefälle
in den untern Graden regelmäſsig beschafft. Ihre Hände besorg-
ten den Grubenbau, die Pechhütten und was der Art sonst vor-
kommt; schon früh kam es auf Sclavenheerden nach den spani-
schen Bergwerken zu senden, deren Vorsteher sie bereitwillig an-
nahmen und hoch verzinsten. Die Wein- und Olivenlese wurde
in Italien schon zu Catos Zeit nicht von den Leuten auf dem Gut
bewirkt, sondern einem Sclavenbesitzer in Accord gegeben.
Vor allem aber waren es die Weidewirthschaft und der Feldbau,
welche man durch Sclaven beschaffen lieſs. Die Hütung des
Viehs ward in Italien schon längst auf den groſsen zur Weide
liegenden Strecken durch bewaffnete, häufig berittene Hirten-
sclaven besorgt (I, 623); dieselbe Art der Weidewirthschaft
ward auch in den Provinzen ein beliebter Gegenstand der rö-
mischen Speculation — so war zum Beispiel Dalmatien kaum
erobert (599), als die römischen Capitalisten anfingen dort
die Viehzucht im Groſsen zu betreiben. Aber in jeder Bezie-
hung weit schlimmer noch war der eigentliche Plantagenbau,
die Bestellung der Felder durch eine Heerde mit dem Eisen ge-
stempelter Sclaven, welche mit Fuſsschellen an den Beinen unter
Aufsehern des Tags die Feldarbeit thaten und Nachts in den ge-
[71]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
meinschaftlichen häufig unterirdischen Arbeiterzwinger (ergastu-
lum) zusammengesperrt wurden. Diese Plantagenwirthschaft war
aus dem Orient nach Karthago gewandert (I, 314) und von dort zu
den Römern gekommen; es scheint über Sicilien, wo die Kartha-
ger nicht anders gewirthschaftet haben werden als in Libyen und
wo die Plantagenwirthschaft früher und vollständiger als in ir-
gend einem andern Gebiet der römischen Herrschaft durchgebil-
det erscheint*. Die leontinische Feldmark von etwa 30000 Ju-
gera urbaren Landes, die als römische Domäne von den Censoren
verpachtet wurde, finden wir einige Decennien später getheilt un-
ter nicht mehr als 84 Pächter, von denen also durchschnittlich
auf jeden 360 Jugera kamen und unter denen nur ein einzi-
ger Leontiner, die übrigen fremde, meistens römische Speculan-
ten waren. Man sieht hieraus, mit welchem Eifer die römischen
Speculanten hier in die Fuſsstapfen ihrer Vorgänger traten und
welche groſsartige Geschäfte mit sicilischem Vieh und sicilischem
Sclavenkorn die römischen und nichtrömischen Speculanten ge-
macht haben werden, die mit ihren Hutungen und Pflanzungen
die schöne Insel bedeckten. Dagegen blieb von dieser schlimm-
sten Form der Sclavenwirthschaft Italien für jetzt noch wesent-
lich verschont. Wenn gleich in Etrurien, wo diese Plantagen-
wirthschaft zuerst in Italien aufgekommen zu sein scheint und sie
wenigstens vierzig Jahre später in ausgedehntestem Umfange be-
stand, höchst wahrscheinlich schon jetzt es an Arbeiterzwingern
nicht fehlte, so ward doch die italische Ackerwirthschaft in die-
ser Zeit noch überwiegend durch freie Leute oder doch durch
ungefesselte Knechte, daneben durch Accordirung gröſserer Ar-
beiten an Unternehmer betrieben. Recht deutlich zeigt sich der
Unterschied des italischen Sclavenwesens von dem sicilischen
darin, daſs bei dem sicilischen Sclavenaufstand 619-622 allein
die Sclaven der nach italischer Weise lebenden mamertinischen
Gemeinde sich nicht betheiligten. — Das Meer von Jammer und
Elend, das in diesem elendesten aller Proletariate sich vor unsern
Augen aufthut, mag ergründen wer den Blick in solche Tiefen
wagt; es ist leicht möglich, daſs damit verglichen die Summe al-
ler Negerleiden ein Tropfen ist. Hier kommt es weniger auf den
Nothstand der Sclavenschaft selbst an als auf die Gefahren, die
sie über den römischen Staat brachte und auf das Verhalten der
[72]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
Regierung denselben gegenüber. Daſs dies Proletariat weder
durch die Regierung ins Leben gerufen war noch geradezu von
ihr beseitigt werden konnte, leuchtet ein; es hätte dies nur ge-
schehen können durch Heilmittel, die noch schlimmer gewesen
wären als das Uebel. Die Aufgabe der Regierung konnte nur
darin bestehen theils die unmittelbare Gefahr für Eigenthum und
Leben, womit das Sclavenproletariat die Staatsangehörigen be-
drohte, durch eine ernstliche Sicherheitspolizei abzuwenden,
theils auf die möglichste Beschränkung des Proletariats durch
Hebung der freien Arbeit hinzuwirken. Sehen wir, wie die römi-
sche Aristokratie diesen beiden Aufgaben nachkam.
Wie die Polizei gehandhabt ward, zeigen die allerorts aus-
brechenden Sclavenverschwörungen und Sclavenkriege. In Italien
schienen die wüsten Vorgänge, wie sie in den unmittelbaren
Nachwehen des hannibalischen Krieges vorgekommen waren (I,
623), sich zu erneuern; auf einmal muſste man in der Haupt-
stadt 150, in Minturnae 450, in Sinuessa gar 4000 Sclaven auf-
greifen und hinrichten lassen (621). Noch schlimmer stand es
begreiflicher Weise in den Provinzen. Auf dem groſsen Sclaven-
markt zu Delos und in den attischen Silbergruben muſsten um
dieselbe Zeit die aufständischen Sclaven mit den Waffen zur Ruhe
gebracht werden. Der Krieg gegen Aristonikos und seine klein-
asiatischen ‚Sonnenstädter‘ war wesentlich ein Krieg der Besitzen-
den gegen die empörten Sclaven (S. 51). Am ärgsten aber stand
es natürlicher Weise in dem gelobten Lande des Plantagensystems,
in Sicilien. Die Räuberwirthschaft war zumal im Binnenlande längst
ein stehendes Uebel; sie fing jetzt an sich zur Insurrection zu stei-
gern. Ein reicher und mit den italischen Herren an industrieller
Exploitirung seines lebendigen Capitals wetteifernder Pflanzer von
Enna, Damophilos ward von seinen erbitterten Feldsclaven über-
fallen und ermordet; worauf die wilde Schaar in die Stadt Enna
(Castrogiovanni) strömte und dort derselbe Vorgang in gröſse-
rem Maſsstab sich erneute. Alle Sclaven erhoben sich gegen ihre
Herren, tödteten oder knechteten sie und riefen an die Spitze des
schon ansehnlichen Insurgentenheeres einen Wundermann aus
dem syrischen Apameia, der Feuer zu speien und zu orakeln ver-
stand, bisher als Sclave Eunus genannt, jetzt als Haupt der In-
surgenten Antiochos der König der Syrier. Warum auch nicht?
Hatte doch wenige Jahre zuvor ein andrer syrischer Knecht, der
nicht einmal ein Prophet war, in Antiochia selbst das königliche
Stirnband der Seleukiden getragen. Der tapfere ‚Feldherr‘ des
neuen Königs, der griechische Sclave Achaeos, durchstreifte die
[73]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
Insel und nicht bloſs die wilden Hirten strömten von nah und
fern unter die seltsamen Fahnen — auch die besitzlosen Freien,
die den Pflanzern alles Ueble gönnten, machten mit den empör-
ten Sclaven gemeinschaftliche Sache. In einer andern Gegend
Siciliens folgte ein kilikischer Sclave, Kleon, einst in seiner Hei-
math ein dreister Räuber, dem gegebenen Beispiel und besetzte
Akragas, und da die Häupter mit einander sich vertrugen, gelang
es ihnen nach manchen geringeren Erfolgen zuletzt den Praetor
Lucius Hypsaeus selbst mit seiner gröſstentheils aus sicilischen Mi-
lizen bestehenden Armee gänzlich zu schlagen und sein Lager zu
erobern. Hiedurch kam fast die ganze Insel in die Gewalt der Auf-
ständischen, deren Zahl nach den mäſsigsten Angaben sich auf
70000 Waffenfähige belaufen haben soll; die Römer sahen sich
genöthigt drei Jahre nach einander (620-622) Consuln und
consularische Heere nach Sicilien abzusenden, bis nach manchen
unentschiedenen, ja zum Theil unglücklichen Gefechten endlich
mit der Einnahme von Tauromenion und von Enna der Aufstand
überwältigt ward. Vor der letzteren Stadt, in die sich die ent-
schlossenste Mannschaft der Insurgenten geworfen hatte um sich
in dieser unbezwinglichen Stellung zu vertheidigen, wie sich
Männer vertheidigen, die an Rettung wie an Begnadigung ver-
zweifeln, lagerten die Consuln Lucius Calpurnius Piso und Pu-
blius Rupilius zwei Jahre hindurch und bezwangen sie endlich
mehr durch den Hunger als durch die Waffen*. — So ward in
Italien und den Provinzen von dem römischen Senat und seinen
Beamten die Sicherheitspolizei gehandhabt. Wenn die Aufgabe
das Proletariat zu beseitigen die ganze Macht und Weisheit der
Regierung erfordert und nur zu oft übersteigt, so ist dagegen
die polizeiliche Niederhaltung desselben für jedes gröſsere Ge-
meinwesen verhältniſsmäſsig leicht. Es stände wohl um die
Staaten, wenn die besitzlosen Massen ihnen keine andere Ge-
fahr bereiteten als wie sie auch droht von Bären und Wöl-
fen; nur der Aengsterling und wer die alberne Angst der Menge
exploitirt prophezeiht aus Sclavenaufständen oder Proletariat-
insurrectionen den Untergang der bürgerlichen Ordnung. Aber
selbst dieser leichten Aufgabe ward von der römischen Regierung
trotz des tiefsten Friedens und der unerschöpflichen Hülfsquel-
len des Staats keineswegs genügt. Es war dies ein Zeichen ihrer
[74]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
Schwäche; aber nicht ihrer Schwäche allein. Von Rechtswegen
war der römische Statthalter verpflichtet die Landstraſsen rein
zu halten und die aufgegriffenen Räuber, wenn es Sclaven waren,
ans Kreuz schlagen zu lassen; natürlich, denn Sclavenwirthschaft
ist nicht möglich ohne Schreckensregiment. Allein in dieser Zeit
ward in Sicilien wohl auch mitunter, wenn es allzu arg herging,
eine Razzia veranstaltet, aber die Statthalter, um es mit den ita-
lischen Pflanzern nicht zu verderben, lieferten die gefangenen
Räuber an ihre Herren ab zu gutfindender Bestrafung und diese
Herren waren sparsame Leute, welche ihren Hirtenknechten,
wenn sie Kleider begehrten, mit Prügeln antworteten und mit
der Frage, ob denn die Reisenden nackt durch das Land zögen.
Die Folge solcher Connivenz war denn, daſs nach Ueberwälti-
gung des Sclavenaufstandes der Consul Publius Rupilius alles,
was lebend in seine Hände kam, es heiſst über 20000 Menschen,
ans Kreuz schlagen lieſs. Es war freilich nicht länger möglich
das Capital zu schonen.
Unendlich schwerer zu gewinnende, freilich auch unendlich
reichere Früchte verhieſs die Fürsorge der Regierung für Hebung
der freien Arbeit und folgeweise für Beschränkung des Sclaven-
proletariats. Leider geschah in dieser Beziehung schlechterdings
gar nichts. In der ersten socialen Krise hatte man gesetzlich dem
Gutsherrn vorgeschrieben eine nach der Zahl seiner Sclaven-
arbeiter abgemessene Anzahl freier Arbeiter zu verwenden. Jetzt
ward eine punische Schrift über den Landbau, ohne Zweifel eine
Anweisung zur Plantagenwirthschaft nach karthagischer Art, zu
Nutz und Frommen der italischen Speculanten auf Befehl des
Senats ins Lateinische übersetzt — das einzige Beispiel einer
von dem römischen Senat veranlaſsten litterarischen Unterneh-
mung! Dieselbe Tendenz offenbart sich in einer wichtigeren An-
gelegenheit oder vielmehr in der Lebensfrage für Rom, in dem
Colonisirungssystem. Es bedurfte nicht der Weisheit, nur der
Erinnerung an den Verlauf der ersten socialen Krise Roms um
zu begreifen, daſs gegen ein agricoles Proletariat die einzige
ernstliche Abhülfe in einem umfassenden und regularisirten Emi-
grationssystem bestand (I, 196), wozu die äuſseren Verhältnisse
Roms die günstigste Gelegenheit darboten. Bis gegen das Ende
des sechsten Jahrhunderts hatte man in der That fortgefahren
dem fortwährenden Zusammenschwinden des italischen Klein-
besitzes durch fortwährende Gründung neuer Bauerhufen zu be-
gegnen (I, 373. 378. 486. 488. 622). Es war dies zwar keines-
wegs in dem Maſse geschehen, wie es hätte geschehen können
[75]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
und sollen; man hatte nicht bloſs das seit alten Zeiten von Pri-
vaten occupirte Domanialland (I, 172) nicht eingezogen, sondern
auch weitere Occupationen neugewonnenen Landes gestattet;
dennoch hatte die Landanweisung segensreich gewirkt, indem
sie vielen der Nothleidenden Hülfe und allen Hoffnung gab.
Allein nach der Gründung von Luna (577) findet sich auſser der
vereinzelt stehenden Anlage der picenischen Colonie Auximum
(Osimo) im J. 597 von weiteren Landanweisungen auf lange
hinaus keine Spur. Die Ursache ist einfach. Da seit der Besie-
gung der Boier und Apuaner auſser den wenig lockenden liguri-
schen Thälern neues Gebiet in Italien nicht gewonnen ward,
war daselbst kein anderes Land zu vertheilen als das occupirte
Domanialland, dessen Antastung der Aristokratie begreiflicher
Weise jetzt ebensowenig genehm war wie vor dreihundert Jah-
ren. Das auſserhalb Italien gewonnene Gebiet zur Vertheilung zu
bringen schien aber vollends unzulässig, wenn Italien wie bisher
das herrschende Land bleiben sollte. Wenn man nicht solche
höhere Rücksichten der fundamentalen Politik oder gar der
Standesinteressen bei Seite setzen wollte, blieb der Regierung
nichts übrig als dem Ruin des italischen Bauernstandes zuzuse-
hen; und also geschah es. Die Capitalisten fuhren fort die klei-
nen Besitzer auszukaufen, auch wohl wenn sie eigensinnig blie-
ben, deren Besitz ohne Kaufbrief einzuziehen, wobei es begreif-
lich nicht immer gütlich abging. Eine besonders beliebte Weise
war es dem Bauer, während er im Felde stand, Weib und Kin-
der vom Hofe zu stoſsen und ihn mittelst der Theorie der voll-
endeten Thatsache zur Nachgiebigkeit zu bringen. Die Guts-
besitzer fuhren fort statt der freien Arbeiter sich vorwiegend
der Sclaven zu bedienen, schon deſshalb, weil diese nicht wie
jene zum Kriegsdienst abgerufen werden konnten, und dadurch
das freie Proletariat auf das gleiche Niveau des Elends mit der
Sclavenschaft herabzudrücken. Sie fuhren fort durch das spott-
wohlfeile sicilische Sclavenkorn das italische von dem hauptstä-
dtischen Markt zu verdrängen und dasselbe auf der ganzen Halb-
insel zu entwerthen. In Etrurien hatte die alte einheimische Ari-
stokratie im Bunde mit den römischen Capitalisten schon im
J. 620 es so weit gebracht, daſs es dort keinen freien Bauer
mehr gab. Es konnte auf dem Markt der Hauptstadt laut gesagt
werden, daſs die Thiere ihr Lager hätten, den Bürgern aber
nichts geblieben sei als Licht und Luft und daſs die, welche die
Herren der Welt hieſsen, keine Scholle mehr ihr eigen nennten.
Den Commentar zu diesen Worten lieferten die Zählungslisten
[76]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
der römischen Bürgerschaft. Vom Ende des hannibalischen
Krieges bis zum J. 595 ist die Bürgerzahl in stetigem Steigen,
wovon die Ursache wesentlich zu suchen ist in den fortdauern-
den und ansehnlichen Vertheilungen von Domanialland (I, 618);
nach 595, wo die Zählung 328000 waffenfähige Bürger ergab,
zeigt sich dagegen ein regelmäſsiges Sinken, wodurch sich die Liste
im J. 600 auf 324000, im J. 607 auf 322000, im J. 623 auf
319000 waffenfähige Bürger stellt — ein erschreckendes Ergeb-
niſs für eine Zeit tiefen inneren und äuſseren Friedens. Wenn
das so fortging, löste die Bürgerschaft sich auf in besitzende
Pflanzer und besessene Sclaven und konnte schlieſslich der rö-
mische Staat, wie es bei den Parthern geschah, seine Soldaten
auf dem Sclavenmarkt kaufen.
So standen die äuſseren und inneren Verhältnisse Roms, als
der Staat eintrat in das siebente Jahrhundert seines Bestandes. Wo-
hin man auch das Auge wandte, fiel es auf Miſsbräuche und Verfall;
jedem einsichtigen und wohlwollenden Mann muſste die Erwägung
nahe liegen, ob denn hier nicht zu helfen und zu bessern sei. Es
fehlte an solchen in Rom nicht; aber keiner schien mehr berufen
zu dem groſsen Werk der politischen und socialen Reform als
der Lieblingssohn des Aemilius Paullus, der den glorreichen Na-
men des Scipio Africanus nicht bloſs als Erbe von seinem Groſs-
vater, sondern auch seiner eigenen Thaten wegen trug, Publius
Cornelius Scipio Aemilianus Africanus (570-625). Gleich sei-
nem Vater war er ein maſsvoller durch und durch gesunder
Mann, nie krank am Körper und nie unsicher über den nächsten
und nothwendigen Entschluſs. Schon in seiner Jugend hatte er
sich fern gehalten von dem gewöhnlichen Treiben der politischen
Anfänger, dem Antichambriren in den Zimmern der vornehmen
Senatoren und den gerichtlichen Declamationen. Dagegen liebte
er die Jagd — als Siebzehnjähriger hatte er, nachdem er den Feld-
zug gegen Perseus unter seinem Vater mit Auszeichnung mitge-
macht hatte, dafür keine andere Belohnung erhalten als freie Pirsch
in dem seit vier Jahren unberührten Wildhag der Könige von Ma-
kedonien — und vor allen Dingen wandte er gern seine Muſse auf
wissenschaftlichen und litterarischen Genuſs. Durch die Fürsorge
seines Vaters hatte er eine so vollkommene hellenische Erziehung
erhalten, daſs er durch sie über das geschmacklose Hellenisiren
des gemeinen Schlags der Halbgebildeten hinaus gehoben ward;
dieser Römer imponirte durch seine ernste und treffende Würdi-
gung des Echten und des Schlechten in dem griechischen Wesen
und durch sein adliches Auftreten den Höfen des Ostens, ja so-
[77]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
gar den spottseligen Alexandrinern. Seinen Hellenismus er-
kannte man vor allem in der feinen Ironie seiner Rede und in
seinem klassisch reinen Latein. Obwohl nicht eigentlich Schrift-
steller, zeichnete er doch wie Cato seine politischen Reden auf, die
noch die späteste Zeit gleich den Briefen seiner Adoptivschwe-
ster, der Mutter der Gracchen, als Meisterstücke mustergültiger
Prosa geschätzt hat, und zog mit Vorliebe die besseren griechi-
schen und römischen Litteraten in seinen Umgang. Ein sittlich
fester und zuverlässiger Mann galt sein Wort bei Freund und
Feind; er mied Bauten und Speculationen und lebte einfach; da-
für handelte er in Geldangelegenheiten nicht bloſs ehrlich und
uneigennützig, sondern auch mit einer dem kaufmännischen
Sinn seiner Zeitgenossen seltsam dünkenden Zartheit und Libe-
ralität. Er war ein tüchtiger Soldat und Offizier: aus dem afri-
canischen Krieg brachte er wegen Rettung gefährdeter Bürger
mit eigener Lebensgefahr den Ehrenkranz heim und beendigte
den Krieg als Feldherr, den er als Offizier begonnen hatte; an
wirklich schwierigen Aufgaben sein Feldherrngeschick zu erpro-
ben boten die Umstände ihm keine Gelegenheit. Scipio war keine
geniale Natur so wenig wie sein Vater — davon zeugt schon
seine Vorliebe für Xenophon, den nüchternen Militär und cor-
recten Schriftsteller —, aber ein rechter und echter Mann, der
vor Andern berufen schien dem beginnenden Verfall durch orga-
nische Reform des Staats zu wehren. Um so bezeichnender ist
es, daſs er es nicht that. Zwar suchte er, wo und wie er konnte,
Miſsbräuche abzustellen und zu verhindern und arbeitete na-
mentlich hin auf Verschärfung der Gerichte. Die wichtige Maſs-
regel, an die Stelle der bisherigen durch den Senat kraft seiner
Administrativjuridsiction und gelegentlich durch auſserordentliche
senatorische Commissionen ausgeübten Controle über die Provin-
zialbeamten eine regelmäſsige gerichtliche Controle treten zu lassen
und zur Aburtheilung der Beschwerden der Provinzialen gegen die
römischen Provinzialverwalter wegen Gelderpressung eine stän-
dige Senatscommission niederzusetzen, war im J. 605 durch Lu-
cius Calpurnius Piso durchgebracht worden. Wenn Scipio auch
hiebei noch nicht mitgewirkt haben mag, so war doch haupt-
sächlich er es, der dem Lucius Cassius, einem tüchtigen Mann
von altväterischer Strenge und Ehrenfestigkeit, es möglich
machte gegen den heftigsten Widerstand der Optimaten sein
Stimmgesetz durchzubringen, wodurch in den noch immer den
wichtigsten Theil der Criminaljurisdiction umfassenden Volks-
gerichten die geheime Abstimmung eingeführt ward (S. 62).
[78]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
Ebenso zog er, der die Knabenanklagen nicht hatte mitmachen
mögen, in seinen reifen Jahren selbst mehrere der schuldigsten
Männer der Aristokratie vor die Gerichte. In gleichem Geiste
hatte er als Feldherr vor Karthago und Numantia die Weiber und
Pfaffen zu den Thoren des Lagers hinausgejagt und das Solda-
tengesindel wieder zurückgezwungen unter den eisernen Druck
der alten Heereszucht, als Censor (612) unter der vorneh-
men Welt der glattkinnigen Manschettenträger aufgeräumt und
mit ernsten Worten die Bürgerschaft ermahnt an den rechtschaf-
fenen Sitten der Väter treulich zu halten. Aber niemand und er
selber am wenigsten konnte es verkennen, daſs die Verschärfung
der Rechtspflege und das vereinzelte Dazwischenfahren nicht ein-
mal Anfänge waren zur Heilung der organischen Uebel, an denen
der Staat krankte. An diese hat Scipio nicht gerührt. Gaius
Laelius (Consul 614), Scipios väterlicher Freund und sein poli-
tischer Lehrmeister und Vertrauter, hatte den Plan gefaſst die
Einziehung des unvergebenen, aber vorläufig occupirten italischen
Domaniallandes vorzuschlagen und durch dessen Auftheilung
dem zusehenden Verfall der italischen Bauerschaft zu steuern;
allein er stand von dem Vorschlag ab, als er sah, welchen Sturm
er zu erregen im Begriff war, und ward fortan ‚der Verständige‘
genannt. Auch Scipio dachte also. Er war von der Gröſse des
Uebels völlig durchdrungen und scheute sich nicht, wo er nur
sich selber wagte, mit ehrenwerthem Muth ohne Ansehen der
Person rücksichtlos durchzugreifen; allein er hatte sich auch
überzeugt, daſs dem Lande nur zu helfen sei um den Preis der-
selben Revolution, die im vierten und fünften Jahrhundert aus
der Reformfrage sich entsponnen hatte, und mit Recht oder mit
Unrecht, das Heilmittel schien ihm schlimmer als das Uebel.
So stand er mit dem kleinen Kreis seiner Freunde zwischen den
Aristokraten, die ihm seine Befürwortung des cassischen Ge-
setzes nie verziehen, und den Demokraten, denen er doch auch
nicht genügte und nicht genügen wollte; während seines Lebens
einsam, nach seinem Tode gefeiert von beiden Parteien, bald als
Vormann der Aristokratie, bald als Begünstiger der Reform. Bis
auf seine Zeit hatten die Censoren bei der Niederlegung ihres
Amtes die Götter angerufen dem Staat gröſsere Macht und Herr-
lichkeit zu verleihen; Scipio betete, daſs sie geneigen möchten
den Staat zu erhalten. Sein ganzes Glaubensbekenntniſs liegt in
dem schmerzlichen Ausruf.
Aber wo der Mann verzagte, der zweimal das römische Heer
aus tiefem Verfall zum Siege geführt hatte, da getraute ein tha-
[79]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
tenloser Jüngling zum Retter Italiens sich aufzuwerfen. Er hieſs
Tiberius Sempronius Gracchus (591-621). Sein Vater war
der gleichnamige streng conservative Mann (Consul 577. 591;
Censor 585), dessen Andenken die Spanier, mit denen er gekriegt
(I, 499) wie die Bürger, deren Rechte er beschränkt hatte (I,
603), seines ernsten und gerechten Sinnes wegen noch lange
nach seinem Tode mit Liebe und Ehrfurcht bewahrten. Seine
Mutter Cornelia war die Tochter des Siegers von Zama, welcher
den ihm persönlich verfeindeten Gracchus wegen seines edel-
müthigen Dazwischentretens in dem leidigen Prozeſs seines
Bruders (I, 570) sich zum Schwiegersohn erkoren hatte; sie
selbst war eine hochgebildete und bedeutende Frau, die nach
dem Tode ihres viel älteren Gemahls die Hand des Königs von
Aegypten zurück gewiesen hatte und im Andenken an den Ge-
mahl und den Vater die drei ihr gebliebenen Kinder erzog. Der
ältere von den beiden Söhnen Tiberius war eine gute und sitt-
liche Natur, sanften Blicks und ruhigen Wesens, wie es schien
eher bestimmt zu allem andern als zum Agitator der Massen.
Mit allen seinen Beziehungen und Anschauungen gehörte er dem
scipionischen Kreise an, dessen feine griechische und nationale
Durchbildung er und seine Geschwister theilten. Scipio Aemi-
lianus war zugleich sein Vetter und seiner Schwester Gemahl;
unter ihm hatte Tiberius als Achtzehnjähriger die Erstürmung Kar-
thagos mitgemacht und durch seine Tapferkeit das Lob des stren-
gen Feldherrn und kriegerische Auszeichnungen erworben. Daſs
der tüchtige junge Mann die Anschauungen über den Verfall des
Staats an Haupt und Gliedern, wie sie in diesem Kreise gangbar
waren, die Gedanken an mögliche Reformen namentlich zur He-
bung des italischen Bauernstandes mit aller Lebendigkeit und
allem Rigorismus der Jugend in sich aufnahm und steigerte, ist
begreiflich; waren es doch nicht bloſs die jungen Leute, denen das
Zurückweichen des Laelius vor der Durchführung seiner Reform-
ideen nicht verständig erschien, sondern schwach. Appius Clau-
dius, der gewesene Consul (611) und Censor (618), einer der
angesehensten Männer des Senats, tadelte mit all der gewaltsa-
men Leidenschaftlichkeit, die in dem Geschlecht der Claudier
erblich war und blieb, daſs man den Plan der Domänenaufthei-
lung so rasch wieder habe fallen lassen; um so bitterer, wie es
scheint, weil er mit Scipio Aemilianus bei der Bewerbung um die
Censur in persönliche Conflicte gekommen war. Ebenso sprach
Publius Crassus Mucianus (S. 52) sich aus, der als Mensch und
Rechtsgelehrter im Senat wie in der Bürgerschaft hoch geachtet
[80]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
und oberster Pontifex war. Sogar sein Bruder Publius Mucius
Scaevola, der Begründer der wissenschaftlichen Jurisprudenz in
Rom, dessen Stimme von um so gröſserem Gewicht war, als er
gewissermaſsen auſserhalb der Parteien stand, schien dem Re-
formplan nicht abgeneigt; ähnlich dachte Quintus Metellus, der
Ueberwinder Makedoniens und der Achäer, mehr noch als sei-
ner Kriegsthaten halber hochgeachtet als ein Muster alter Zucht
und Sitte in seinem häuslichen wie in seinem öffentlichen Leben.
Tiberius Gracchus stand diesen Männern nah, namentlich dem
Claudius, dessen Tochter er, und dem Mucianus, dessen Tochter
sein Bruder zum Weib genommen hatte; es war kein Wunder,
daſs der Gedanke sich in ihm regte den Reformplan selber wie-
der aufzunehmen, sobald er sich in einer Stellung befinden
werde die ihm verfassungsmäſsig die Initiative gestatte. Persön-
liche Motive mochten hierin ihn bestärken. Der Friedensvertrag,
den Mancinus 617 mit den Numantinern abschloſs, war wesent-
lich Gracchus Werk; daſs der Senat ihn cassirt hatte, daſs der
Feldherr deſswegen den Feinden ausgeliefert worden und Grac-
chus mit den höheren Offizieren dem gleichen Schicksal nur
durch die gröſsere Gunst, deren er bei der Bürgerschaft genoſs,
entgangen war, konnte den jungen rechtschaffenen und stolzen
Mann nicht milder stimmen gegen die herrschende Aristokratie.
Die hellenischen Rhetoren, mit denen er gern philosophirte und
politisirte, der Mytilenaeer Diophanes, der Kumaner Gaius Blos-
sius, nährten in seiner Seele die Ideale, mit denen er sich trug;
als seine Absichten in weiteren Kreisen bekannt wurden, fehlte
es nicht an billigenden Stimmen und mancher öffentliche An-
schlag forderte den Enkel des Africaners auf des armen Volkes,
der Rettung Italiens zu gedenken.
Am 10 December 620 übernahm Tiberius Gracchus das
Volkstribunat. Es war die Zeit, wo die entsetzlichen Folgen der
bisherigen Miſsregierung, der politische, militärische, ökonomi-
sche, sittliche Verfall der Bürgerschaft nackt und bloſs Jeder-
mann vor Augen lagen. Von den beiden Consuln dieses Jahres
focht der eine ohne Erfolg in Sicilien gegen die aufständischen
Sclaven und war der andere, Scipio Aemilianus, seit Monaten
beschäftigt eine kleine spanische Landschaft nicht zu besiegen,
sondern zu erdrücken. Wenn es noch einer besonderen Auffor-
derung bedurfte um Gracchus zu bestimmen seinen Entschluſs
zur That werden zu lassen, sie lag in diesen jedes Patrioten
Gemüth mit unnennbarer Angst erfüllenden Zuständen. Sein
Schwiegervater versprach Beistand mit Rath und That; man
[81]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
durfte hoffen auf die Unterstützung des Juristen Scaevola, der
bald darauf zum Consul für 621 ernannt ward. So stellte Gra-
cchus gleich nach Antritt seines Amtes den Antrag auf Erlassung
eines Ackergesetzes, das im Wesentlichen nichts war als eine
Erneuerung des licinisch-sextischen vom J. 387 der Stadt (I,
192). Es sollten danach die sämmtlichen occupirten und von
Inhabern ohne Entgelt benutzten Staatsländereien — die ver-
pachteten wie z. B. das Gebiet von Capua berührte das Gesetz
nicht — von Staatswegen eingezogen werden, jedoch mit der
Beschränkung, daſs der einzelne Occupant für sich 500 und für
jeden Sohn 250, im Ganzen jedoch nicht über 1000 Morgen zu
bleibendem und garantirtem Besitz solle behalten oder dafür Er-
satz in Land in Anspruch nehmen dürfen. Für etwanige Verbes-
serungen, wie Gebäude und Pflanzungen, scheint man Entschädi-
gung bewilligt zu haben. Das also eingezogene Domanialland
sollte in Loose von 30 Morgen zerschlagen und diese theils an
Bürger, theils an italische Bundesgenossen vertheilt werden,
nicht als freies Eigen, sondern als unveräuſserliche Erbpacht,
deren Inhaber das Land zum Feldbau zu benutzen und eine mä-
ſsige Rente an die Staatskasse zu zahlen sich verpflichteten.
Eine Commission von drei Männern ward mit dem Einziehungs-
und Auftheilungsgeschäft beauftragt, wozu später noch der wich-
tige und schwierige Auftrag kam rechtlich festzustellen, was Do-
manialland und was Privateigenthum sei. Mit dem licinisch-
sextischen Gesetz hatte dies sempronische Ackergesetz das
Princip gemein; neu dagegen waren theils die Clausel zu Gun-
sten der beerbten Besitzer, theils die für die neuen Landstellen
beantragte Erbpachtgutsqualität und Unveräuſserlichkeit, theils
und vor allem die Executivcommission, deren Fehlen in dem äl-
teren Gesetz wesentlich bewirkt hatte, daſs dasselbe so gut wie
ganz ohne praktische Anwendung blieb. — Den groſsen Grund-
besitzern, die jetzt wie vor drei Jahrhunderten ihren wesentlichen
Ausdruck fanden im Senat, war also der Krieg erklärt; ein ein-
zelner Beamter stand wieder einmal in ernsthafter Opposition
gegen die aristokratische Regierung. Sie nahm den Kampf auf
in der seit langem für solche Fälle hergebrachten Weise die Aus-
schreitungen des Beamtenthums durch sich selber zu paralysi-
ren (I, 200). Ein College des Gracchus, Marcus Octavius, ein
entschlossener und von der Verwerflichkeit des beantragten Do-
manialgesetzes ernstlich überzeugter Mann, that Einspruch, als
dasselbe zur Abstimmung gebracht werden sollte; womit verfas-
sungsmäſsig der Antrag beseitigt war. Gracchus sistirte nun
Röm. Gesch. II. 6
[82]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
seinerseits die Staatsgeschäfte und die Rechtspflege und legte
seine Siegel auf die öffentlichen Kassen; man nahm es hin — es
war unbequem, aber das Jahr ging ja doch auch zu Ende. Gra-
cchus, rathlos, brachte sein Gesetz zum zweiten Mal zur Abstim-
mung; natürlich wiederholte Octavius seinen Einspruch und auf
die flehentliche Bitte seines Collegen und bisherigen Freundes,
ihm die Rettung Italiens nicht zu wehren, mochte er erwiedern,
daſs darüber, wie Italien gerettet werden könne, eben die An-
sichten verschieden seien. Der Senat machte jetzt den Versuch
Gracchus einen leidlichen Rückzug zu eröffnen; zwei Consulare
forderten ihn auf die Angelegenheit in der Curie weiter zu ver-
handeln und eifrig ging der Tribun hierauf ein. Er suchte in
diesen Antrag hineinzulegen, daſs der Senat die Domanialauf-
theilung im Princip zugestand; allein weder lag dies darin noch
war der Senat irgend geneigt in der Sache nachzugeben; die
Verhandlungen endigten ohne jedes Resultat. Die verfassungs-
mäſsigen Wege waren erschöpft. In früheren Zeiten hatte man
in solchen Fällen es sich nicht verdrieſsen lassen den gestellten
Antrag für diesmal ruhen zu lassen, aber Jahr für Jahr ihn wie-
der aufzunehmen, bis die Verhältnisse sich günstiger gestalteten.
Jetzt lebte man rascher. Gracchus schien sich auf dem Puncte
angelangt, wo er entweder auf die Reform überhaupt verzichten
oder die Revolution beginnen muſste; er that das letztere, indem
er mit der Erklärung vor die Bürgerschaft trat, daſs entweder er
oder Octavius aus dem Collegium ausscheiden müsse und die
Bürger darüber abstimmen möchten, welchen von ihnen sie ent-
lassen wollten. Eine Amtsentsetzung war nach der römischen
Verfassung eine constitutionelle Unmöglichkeit; Octavius weigerte
sich natürlich auf diesen die Gesetze und ihn selbst verhöhnen-
den Antrag einzugehen. Da brach Gracchus die Verhandlung mit
dem Collegen ab und wandte sich an das versammelte Volk mit
der Frage, ob nicht der Volkstribun, der dem Volke zuwider handle,
sein Amt verwirkt habe; und die Versammlung, längst gewohnt
zu allen an sie gebrachten Anträgen Ja zu sagen und gröſsten-
theils zusammengesetzt aus dem vom Lande hereingeströmten
und bei der Durchführung des Gesetzes persönlich interessirten
agricolen Proletariat, bejahte fast einstimmig die Frage. Marcus
Octavius ward auf Gracchus Befehl durch die Gerichtsdiener von
der Tribunenbank entfernt und hierauf unter allgemeinem Jubel
das Ackergesetz durchgebracht und die Auftheilungscommission
gebildet; die Wahl traf den Urheber des Gesetzes nebst seinem
erst zwanzigjährigen Bruder Gaius und seinem Schwiegervater
[83]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
Appius Claudius. Eine solche Familienwahl steigerte die Erbit-
terung der Aristokratie. Als die Commission sich wie üblich an
den Senat wandte um ihre Ausstattungs- und Taggelder ange-
wiesen zu erhalten, wurden jene verweigert und ein Taggeld an-
gewiesen von 24 Assen (13 Groschen). Die Fehde griff immer
weiter um sich und ward immer gehässiger und persönlicher.
Das schwierige und verwickelte Geschäft der Abgrenzung, Ein-
ziehung und Auftheilung der Domänen trug den Hader in jede
Bürgergemeinde, ja selbst in die verbündeten italischen Städte.
Die Aristokratie hatte es kein Hehl, daſs sie das Gesetz vielleicht
sich gefallen lassen werde, weil sie müsse, der unberufene Ge-
setzgeber aber ihrer Rache nimmermehr entgehen werde; es war
noch bei weitem nicht die schlimmste Drohung, daſs Quintus
Pompeius verhieſs an demselben Tage, wo Gracchus das Tribu-
nat niederlegen werde, ihn in Anklagestand zu versetzen. Grac-
chus glaubte, wahrscheinlich mit Recht, seine persönliche Sicher-
heit bedroht und erschien auf dem Markt nicht mehr ohne ein
Gefolge von 3-4000 Menschen, worüber er selbst von dem der
Reform an sich nicht abgeneigten Metellus bittere Worte im Se-
nat hören muſste. Ueberhaupt, wenn er gemeint hatte mit
Durchbringung seines Ackergesetzes am Ziele zu sein, so hatte
er jetzt zu lernen, daſs er erst am Anfang stand. Das ‚Volk‘ war
ihm zu Dank verpflichtet; aber er war ein verlorener Mann, wenn
er keinen andern Schirm mehr hatte als diese Dankbarkeit des
Volkes, wenn er demselben nicht unentbehrlich blieb und durch
andere und weiter greifende Maſsregeln neue und immer neue
Interessen und Hoffnungen an sich knüpfte. Eben damals war
durch das Testament des letzten Königs von Pergamon den Rö-
mern Reich und Vermögen der Attaliden zugefallen; Gracchus be-
antragte bei dem Volk die Vertheilung des pergamenischen Schatzes
unter die neuen Landbesitzer zur Anschaffung des erforderlichen
Beschlags und vindicirte überhaupt gegen die bestehende Uebung
der Bürgerschaft das Recht über die neue Provinz definitiv zu ent-
scheiden. Weitere populäre Gesetze, über Abkürzung der Dienst-
zeit, über Ausdehnung des Provocationsrechts, über die Aufhebung
des Vorrechts der Senatoren ausschlieſslich als Civilgeschworne
zu fungiren, sogar über die Aufnahme der italischen Bundesgenos-
sen in den römischen Bürgerverband, soll er vorbereitet haben;
wie viel von diesen angeblichen Plänen er wirklich entworfen hat,
läſst sich nicht entscheiden, aber gewiſs ist es, daſs Gracchus
seine einzige Rettung darin sah das Amt, das ihn schützte, von
der Bürgerschaft zur Durchbringung weiterer Reformgesetze ver-
6*
[84]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
fassungswidrig auf ein zweites Jahr verliehen zu erhalten. Hatte
er anfangs sich gewagt um das Gemeinwesen zu retten, so muſste
er jetzt schon um sich zu retten das Gemeinwesen aufs Spiel
setzen. Die Wahlversammlung begann und die ersten Bezirke
gaben ihre Stimmen für Gracchus; aber die Gegenpartei drang
mit ihrem Einspruch schlieſslich wenigstens insoweit durch, daſs
die Versammlung unverrichteter Sache aufgelöst und auf den fol-
genden Tag die Entscheidung verlegt ward. Gracchus setzte alle
Mittel in Bewegung, erlaubte und unerlaubte; er zeigte sich dem
Volke im Trauergewand und empfahl ihm seinen unmündigen
Knaben; für den Fall, daſs die Wahl abermals durch Einspruch
gestört werden würde, traf er Vorkehrungen den Anhang der
Aristokratie mit Gewalt von dem Versammlungsplatz vor dem
capitolinischen Tempel zu vertreiben. So kam der zweite Wahl-
tag heran; wieder erfolgte der Einspruch und der Auflauf be-
gann. Die Bürger zerstreuten sich; die Wahlversammlung war
factisch aufgehoben; der capitolinische Tempel ward geschlossen;
man erzählte sich in der Stadt, bald daſs Tiberius die sämmt-
lichen Tribunen abgesetzt habe, bald daſs er ohne Wiederwahl
sein Amt fortzuführen entschlossen sei. Der Senat versammelte
sich im Tempel der Treue hart bei dem Jupitertempel; die er-
bittertsten Gegner des Gracchus führten in der Sitzung das Wort;
als Tiberius die Hand nach der Stirn bewegte um in dem wil-
den Getümmel dem Volke zu erkennen zu geben, daſs sein Kopf
bedroht sei, hieſs es, er habe die Leute schon aufgefordert sein
Haupt mit der königlichen Binde zu schmücken. Der Consul
Scaevola ward angegangen den Hochverräther sofort tödten zu
lassen; als der gemäſsigte der Reform an sich keineswegs ab-
geneigte Mann das ebenso unsinnige als barbarische Begehren
unwillig zurückwies, forderte der Consular Publius Scipio Na-
sica, ein harter und leidenschaftlicher Aristokrat, die Gleichge-
sinnten auf sich zu bewaffnen, wie sie könnten, und ihm zu fol-
gen. Scheu wich das Stadtvolk aus einander, als es die vor-
nehmen Männer mit Stuhlbeinen und Knitteln in den Händen
zornigen Auges heranstürmen sah; von den Landleuten war zu
den Wahlen fast niemand in die Stadt gekommen; Gracchus ver-
suchte von wenigen begleitet zu entkommen. Aber er stürzte auf
der Flucht am Abhang des Capitols und ward von einem der
Wüthenden — Publius Satureius und Lucius Rufus stritten sich
später um die Henkerehre — vor den Bildsäulen der sieben Kö-
nige am Tempel der Treue durch einen Knittelschlag auf die
Schläfe getödtet; mit ihm dreihundert andre Männer, keiner
[85]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
durch Eisenwaffen. Als es Abend geworden war, wurden die
Körper in den Tiberfluſs gestürzt; vergebens hat Gaius ihm die
Leiche seines Bruders zur Bestattung zu vergönnen. Solch einen
Tag hatte Rom noch nicht erlebt. Der mehr als hundertjährige
Hader der Parteien während der ersten socialen Krise hatte zu
keiner Katastrophe geführt, wie diejenige war, mit der die zweite
begann. Selbst der bessere Theil der Aristokratie mochte schau-
dern; indeſs man konnte auch auf dieser Seite nicht mehr zu-
rück. Man hatte nur die Wahl eine groſse Zahl der zuverlässig-
sten Parteigenossen der Rache der Menge preiszugeben oder
die Verantwortun der Unthat solidarisch zu übernehmen; das
Letztere geschah. Man hielt daran fest, daſs Gracchus die Krone
habe nehmen wollen und rechtfertigte diesen neuesten Frevel
mit dem uralten Ahalas (I. 189); ja man überwies sogar die
weitere Untersuchung gegen Gracchus Mitschuldige einer be-
sondern Commission und lieſs den Consul Publius Popillius
dafür sorgen, daſs durch Blutsentenzen gegen eine groſse An-
zahl geringer Leute der Blutthat gegen Gracchus nachträglich
eine Art rechtlichen Gepräges aufgedrückt ward (622). Nasica,
gegen den vor allen andern die Menge Rache schnaubte und der
wenigstens den Muth hatte sich offen vor dem Volk zu seiner
That zu bekennen und sie zu rechtfertigen, ward unter ehrenvol-
len Vorwänden nach Asien gesandt und bald darauf (624) abwe-
send mit dem Oberpontificat bekleidet. Auch die gemäſsigte
Partei trennte sich hierin nicht von ihren Collegen. Gaius Lae-
lius betheiligte sich bei den Untersuchungen gegen die Graccha-
ner; Publius Scaevola, der die Ermordung zu verhindern gesucht
hatte, vertheidigte sie später im Senat; als Scipio Aemilianus
nach seiner Rückkehr aus Spanien (622) aufgefordert ward sich
öffentlich darüber zu erklären, ob er die Tödtung seines Schwa-
gers billige oder nicht, gab er die wenigstens zweideutige Ant-
wort, daſs, wofern er nach der Krone getrachtet habe, er mit
Recht getödtet worden sei.
Versuchen wir über diese folgenreichen Ereignisse zu einem
Urtheil zu gelangen. Die Auftheilung der Domänen war an sich
keine politische Parteifrage; sie konnte bis auf die letzte Scholle
durchgeführt werden, ohne daſs die bestehende Verfassung geän-
dert, das Regiment der Aristokratie irgend erschüttert ward. Es
war eine ernste Verwaltungsfrage, bei der, wie man auch ent-
schied, schwere Uebelstände sich herausstellten. Zwar das
Eigenthum ward nicht verletzt; anerkanntermaſsen war der Staat
Eigenthümer des occupirten Landes und gegen ihn lief nach römi-
[86]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
schem Landrecht die Verjährung nicht; alle Juristen waren sich
einig, daſs gegen die formelle Rechtbeständigkeit der Maſsregel
nichts einzuwenden sei. Allein es lieſs sich doch nicht leugnen,
daſs diese occupirten Domänen zum Theil seit dreihundert Jah-
ren in erblichem Privatbesitz sich befunden hatten und das Bo-
deneigenthum des Staats, das seiner Natur nach überhaupt leich-
ter als das des Bürgers den privatrechtlichen Charakter verliert,
an diesen Grundstücken groſsentheils so gut wie verschollen
war; es war eine Maſsregel ungefähr wie wenn heutzutage ein
Staat gegen seine grundsässigen Leute die von den feudalisti-
schen Zeiten her ihm zustehenden Ansprüche geltend machen
würde, ohne Verjährung anzuerkennen und ohne Entschädigung
zu gewähren. Der Jurist mochte sagen was er wollte, dem Ge-
schäftsmann erschien die Maſsregel als eine Expropriation der
groſsen Grundbesitzer zum Besten des agricolen Proletariats,
und ohne Frage hatte er Recht. Es war ferner nicht unbedenk-
lich, daſs für die neuen Landloose Erbpachtsqualität und Un-
veräuſserlichkeit festgestellt ward. Die liberalsten Grundsätze in
Bezug auf die Verkehrsfreiheit hatten Rom groſs gemacht und es
vertrug sich sehr wenig mit dem Geist der römischen Institutio-
nen, daſs diese neuen Bauern von oben herab angehalten werden
konnten ihr Grundstück in einer bestimmten Weise zu bewirth-
schaften und daſs für dasselbe Retractrechte und alle der Ver-
kehrsbeschränkung anhängenden Einschnürungsmaſsregeln fest-
gestellt wurden. Diese Uebelstände waren unleugbar und nicht
gering; allein wer den sichtlichen Ruin des italischen Bauern-
standes erwog, muſste zugestehen, daſs um diesem furchtbaren
Uebel zu wehren selbst jene sehr ernsten Bedenken bei Seite ge-
setzt werden konnten und muſsten, und dies ist der Grund,
weſshalb die ausgezeichnetsten und patriotischsten Männer auch
der conservativen Partei die Domanialauftheilung im Princip gut-
hieſsen. — Wohl zu unterscheiden von dem Ziel, nach dem Ti-
berius Gracchus strebte, ist der Weg, den er einschlug, von dem
sich umgekehrt behaupten läſst, daſs er keines einzigen nennens-
werthen und patriotischen Mannes Billigung gefunden hat noch
finden konnte. Rom wurde um diese Zeit regiert durch den Se-
nat. Wer gegen die Majorität des Senats eine Verwaltungsmaſs-
regel durchsetzte, der machte Revolution. Es war Revolution
gegen den Geist der Verfassung, als Gracchus die Domänenfrage
vor das Volk brachte; Revolution auch gegen den Buchstaben,
als er das Correctiv der Staatsmaschine, durch welches der Senta
die Eingriffe in sein Regiment verfassungsmäſsig beseitigte, die
[87]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
tribunicische Intercession durch die inconstitutionelle und mit
unwürdiger Sophistik gerechtfertigte Absetzung seines Collegen
nicht bloſs für jetzt, sondern für alle Folgezeit zerstörte. Indeſs
nicht hierin liegt die sittliche und politische Verkehrtheit von
Gracchus Thun. Für die Geschichte giebt es keine Hochver-
rathsparagraphen; wer eine Macht im Staat zum Kampf aufruft
gegen die andere, der ist gewiſs ein Revolutionär, aber vielleicht
zugleich ein einsichtiger und preiswürdiger Staatsmann. Der
wesentliche Fehler der gracchischen Revolution liegt in einer
nur zu oft übersehenen Thatsache: in der Beschaffenheit der da-
maligen Bürgerschaftsversammlungen. Das Ackergesetz des Spu-
rius Cassius (I. 180) und das des Tiberius Gracchus hatten in
der Hauptsache denselben Inhalt und denselben Zweck; dennoch
war das Beginnen beider Männer nicht weniger verschieden als
die ehemalige römische Bürgerschaft, welche mit den Latinern
und Hernikern die Volskerbeute theilte, und die jetzige, die die
Provinzen Asia und Africa einrichten lieſs. Jene war eine städ-
tische Gemeinde, die zusammentreten und zusammenhandeln
konnte; diese ein groſser Staat, dessen Angehörige in einer und
derselben Urversammlung zu vereinigen und diese Versammlung
entscheiden zu lassen ein ebenso klägliches wie lächerliches Re-
sultat gab. Es rächte sich hier der Grundfehler der Politie des
Alterthums, daſs sie nie vollständig von der städtischen zur staat-
lichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem System der
Urversammlungen zum parlamentarischen fortgegangen ist. Die
souveräne Versammlung Roms war was die souveräne Versamm-
lung in England sein würde, wenn statt der Abgeordneten die
sämmtlichen Wähler Englands zum Parlament zusammentreten
wollten: eine ungeschlachte von allen Interessen und allen Lei-
denschaften wüst bewegte Masse, in der die Intelligenz spurlos
verschwand; eine Masse, die weder die Verhältnisse zu übersehen
noch auch nur einen eigenen Entschluſs zu fassen vermochte;
eine Masse vor allem, in welcher von seltenen Ausnahmsfällen
abgesehen unter dem Namen der Bürgerschaft ein paar hundert
oder tausend von den Gassen der Hauptstadt zufällig aufgegrif-
fene Individuen handelten und stimmten. Die Bürgerschaft fand
sich in den Bezirken wie in den Hundertschaften durch ihre
factischen Repräsentanten in der Regel ungefähr ebenso genü-
gend vertreten wie in den Curien durch die daselbst von Rechts-
wegen sie repräsentirenden dreiſsig Gerichtsdiener und eben wie
der sogenannte Curienbeschluſs nichts war als ein Beschluſs des-
jenigen Beamten, der die Gerichtsdiener zusammenrief, so war
[88]VIERTES BUCH. KAPITEL II.
auch der Tribus- und Centurienbeschluſs in dieser Zeit wesent-
lich nichts als ein durch einige obligate Jaherren legalisirter Be-
schluſs des vorschlagenden Beamten. Wenn aber in diesen
Stimmversammlungen, den Comitien, im Ganzen noch bloſs die
Bürger zugelassen wurden, so wenig man es auch mit der Qua-
lification genau nahm; so war dagegen in den bloſsen Volksver-
sammlungen, den Contionen, platz- und schreiberechtigt wer nur
zwei Beine hatte, Aegypter und Juden, Sclaven und Gassenbuben.
In den Augen des Gesetzes bedeutete allerdings ein solches Mee-
ting nichts; es konnte nicht abstimmen noch beschlieſsen. Allein
thatsächlich beherrschte dasselbe die Gasse und schon war die
Gassenmeinung eine Macht in Rom; bald kam etwas darauf an,
ob diese wüste Masse bei dem was ihr mitgetheilt ward schwieg
oder schrie, ob sie klatschte und jubelte oder den Redner aus-
pfiff und anheulte. Nicht Viele hatten den Muth ihnen zuzurufen,
wie es Scipio Aemilianus that, als diese Bande wegen seiner
Aeuſserung über den Tod seines Schwagers ihn auszischte, daſs
solches Volk nicht mitzureden habe auf dem römischen Markt:
ihr da, sprach er, denen Italien nicht Mutter ist, sondern Stief-
mutter, ihr habt zu schweigen! und da sie noch lauter tobten:
ihr meint doch nicht, daſs ich die losgebunden fürchten werde,
die ich in Ketten auf den Sclavenmarkt geschickt habe? — Daſs
man der verrosteten Maschine der Comitien sich für die Wahlen
und für die Gesetzgebung bediente, war schon übel genug; aber
wenn man diesen Massen, zunächst den Comitien und factisch
auch den Contionen, den Eingriff in die Verwaltung gestattete
und dem Senat das Werkzeug zur Verhütung solchen Eingriffs
aus den Händen wand, wenn man gar diese Bürgerschaft aus
dem gemeinen Seckel sich selber Aecker sammt Zubehör decre-
tiren lieſs, wenn man einem Jeden, dem die Verhältnisse und
sein Einfluſs beim Proletariat es möglich machten die Gassen
auf einige Stunden zu beherrschen, die Möglichkeit eröffnete sei-
nen Projecten den legalen Stempel des souveränen Volkswillens
aufzudrücken, so war man nicht am Anfang, sondern am Ende
der Volksfreiheit, nicht bei der Demokratie angelangt, sondern
bei der Monarchie. In diesem Sinne ist der bittere Tadel des fla-
minischen Ackergesetzes von 522 (I. 373. 622) gerechtfertigt,
das nicht etwa die eigentliche Aristokratie, sondern die Männer
des scipionischen Kreises als den Anfang des Verfalls der römi-
schen Gröſse bezeichneten; in der That erscheint hier zuerst,
nachdem die Comitien aufgehört hatten ein städtisches Vogtding
[89]DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
zu sein, ein Eingriff derselben in die Administration zum eigenen
materiellen Gewinn der abstimmenden Bürger. In diesem Sinn
ist es begreiflich, warum Männer wie Scipio Aemilianus und
Laelius lieber die schreiendsten Miſsbräuche duldeten und von
den nothwendigsten Reformen abstanden als daſs sie die Domä-
nenfrage vor die Comitien gebracht hätten, und warum sie, als
dies dennoch geschehen war, wohl an der Domanialtheilung fest-
hielten, aber ihren Urheber fallen lieſsen und in seinem schreck-
lichen Ende zunächst einen Damm gegen künftige ähnliche Ver-
suche erblickten. In diesem Sinn faſsten die Gegner des Gra-
cchus sein Auftreten, als sie ihn beschuldigten nach der Krone zu
streben. Es ist für ihn vielmehr eine zweite Anklage, als eine
Rechtfertigung, daſs diese Beschuldigung wahrscheinlich nicht
gegründet war. Das aristokratische Regiment war so durchaus
verdorben und verderblich, daſs es wohl als ein Versuch gelten
konnte den Staat zu retten, wenn ein Bürger es wagte den Senat
ab und sich an dessen Stelle zu setzen. Allein dieser kühne
Spieler war Tiberius Gracchus nicht, sondern ein leidlich fähiger
durchaus wohlmeinender conservativ patriotischer Mann, der
eben nicht wuſste was er begann, der im besten Glauben das
Volk zu rufen den Pöbel beschwor und nach der Krone griff
ohne selbst es zu wissen, bis die unerbittliche Consequenz der
Dinge ihn unaufhaltsam drängte in die demagogisch-tyrannische
Bahn, bis mit der Familiencommission, den Eingriffen in das öf-
fentliche Kassenwesen, den durch Noth und Verzweiflung er-
preſsten weiteren ‚Reformen‘, der Leibwache von der Gasse und
den Straſsengefechten der bedauernswerthe Usurpator Schritt
für Schritt sich und Andern klarer hervortrat, bis endlich die
entfesselten Geister der Revolution den unfähigen Beschwörer
packten und verschlangen. Die ehrlose Schlächterei, durch die
er endigte, richtet sich selber wie die Adelsrotte, von der sie aus-
ging; allein die Märtyrerglorie, mit der sie Tiberius Gracchus
Namen geschmückt hat, kam hier wie so oft an den unrechten
Mann. Die besten seiner Zeitgenossen urtheilten anders. Als
Scipio Aemilianus die Katastrophe gemeldet ward, sprach er die
Worte Homers:
Also verderb' ein Jeder, der ähnliche Werke vollführt hat!
und als des Tiberius jüngerer Bruder Miene machte in gleicher
Weise aufzutreten, schrieb ihm die eigene Mutter: ‚Wird denn
unser Haus des Wahnsinns kein Ende finden? wo wird die
[90]VIERTES BUCH. KAP. II. DIE REFORMBEWEG. U. TI. GRACCHUS.
Grenze sein? haben wir noch nicht hinreichend uns zu schämen
den Staat verwirrt und zerrüttet zu haben?‘ So spricht nicht
die besorgte Mutter, sondern die Tochter des Ueberwinders der
Karthager, die noch ein gröſseres Unglück kennt als den Tod
ihrer Kinder.
[[91]]
KAPITEL III.
Die Revolution und Gaius Gracchus.
Tiberius Gracchus war todt; indeſs seine beiden Werke, die
Landauftheilung wie die Revolution, überlebten ihren Urheber.
Der Senat konnte dem verkommenden agricolen Proletariat gegen-
über wohl einen Mord wagen, aber nicht diesen Mord zur Auf-
hebung des sempronischen Ackergesetzes benutzen; durch den
wahnsinnigen Ausbruch der Parteiwuth war das Gesetz selbst
weit mehr befestigt als erschüttert worden. Die reformistisch
gesinnte Partei der Aristokratie, welche die Domanialtheilung of-
fen begünstigte, an ihrer Spitze Quintus Metellus, eben um diese
Zeit (623) Censor, und Publius Scaevola, gewann in Verbindung
mit der Partei des Scipio Aemilianus, die der Reform wenigstens
nicht abgeneigt war, selbst im Senat für jetzt die Oberhand und
ausdrücklich wies ein Senatsbeschluſs die Theilungscommission
an ihre Arbeiten zu beginnen. Für Tiberius Gracchus trat in die-
selbe ein der Schwiegervater seines Bruders Gaius, Publius Cras-
sus Mucianus, und nachdem dieser 624 gefallen (S. 52) und auch
Appius Claudius gestorben war, traten an ihre Stelle zwei der
thätigsten Führer der Bewegungspartei, Marcus Fulvius Flaccus
und Gaius Papirius Carbo. Schon die Namen dieser Männer
bürgen dafür, daſs das Geschäft der Einziehung und Auftheilung
des occupirten Domaniallandes von ihnen mit Eifer und Nach-
druck betrieben sein wird; und in der That fehlt es auch dafür
nicht an Beweisen. Zwar neue städtische Gemeinden entstanden
durch diese Landanweisungen nicht, da die zur Vertheilung ge-
brachten Domänen durch ganz Italien zerstreut lagen; aber schon
[92]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
der Consul des J. 622 Publius Popillius, derselbe der die Blut-
gerichte gegen die Anhänger des Gracchus leitete, vermerkte auf
einem seiner Denkmäler, daſs er ‚der erste gewesen sei, der auf
den Domänen die Hirten aus- und dafür die Bauern eingewiesen
habe‘, und auch sonst ist es überliefert, daſs sich die Auftheilung
über ganz Italien erstreckte und überall in den bisherigen Gemei-
nen die Zahl der römischen Bauerstellen vermehrt ward. Wie tief-
greifend und umfänglich diese Auftheilungen waren, bezeugen die
zahlreichen in der römischen Feldmesserkunst auf die gracchi-
schen Landanweisungen zurückgehenden Einrichtungen; wie denn
zum Beispiel eine gehörige und künftigen Irrungen vorbeugende
Marksteinsetzung zuerst durch die gracchischen Grenzgerichte und
Landauftheilungen ins Leben gerufen zu sein scheint. Am deut-
lichsten aber reden die Zahlen der Bürgerliste. Die Schätzung,
die im J. 623 veröffentlicht ward und thatsächlich wohl Anfang
622 stattfand, ergab nicht mehr als 319000 waffenfähige Bürger,
wogegen sechs Jahre später (629) statt des bisherigen Sinkens
(S. 76) eine beträchtliche Steigerung um 76000 waffenfähige
Bürger erscheint — ohne allen Zweifel lediglich in Folge der
Thätigkeit der Theilungscommission, deren Landanweisungen an
italische Bundesgenossen übrigens hierbei noch nicht in Ansatz
gebracht sind. Dieses groſse und segensreiche Resultat ward al-
lerdings nicht erreicht ohne vielfache Verletzung achtbarer Inter-
essen und bestehender Rechte. Die Theilungscommission, zusam-
mengesetzt aus den entschiedensten Parteimännern und durch-
aus Richterin in eigener Sache, ging mit ihren Arbeiten rück-
sichtslos und selbst tumultuarisch vor; öffentliche Anschläge for-
derten jeden der dazu im Stande war auf über die Ausdehnung
des Domaniallandes Nachweisungen zu geben; unerbittlich wurde
zurückgegangen auf die alten Erdbücher und nicht bloſs neue
und alte Occupationen ohne Unterschied wieder eingefordert,
sondern auch vielfältig wirkliches Privateigenthum, über das der
Inhaber sich nicht genügend auszuweisen vermochte, mit con-
fiscirt. Indeſs wie laut und groſsentheils begründet auch die
Klagen waren, lieſs der Senat dennoch die Theilungscommission
gewähren; es war einleuchtend, daſs, wenn man einmal die Do-
manialtheilung wollte, ohne solches rücksichtsloses Durchgreifen
schlechterdings nicht durchzukommen war. Allein es hatte dies
doch seine Grenze. Das italische Domanialland war nicht aus-
schlieſslich in den Händen römischer Bürger; groſse Strecken
desselben waren einzelnen bundesgenössischen Gemeinden durch
Volks- oder Senatsbeschlüsse zu ausschlieſsender Benutzung zu-
[93]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
gewiesen *, andere Stücke von latinischen Bürgern erlaubter und
unerlaubter Weise occupirt worden. Jetzt griff die Theilungs-
commission auch diese Besitzungen an. Nach formalem Rechte
war die Einziehung der von Nichtbürgern einfach occupirten
Stücke unzweifelhaft zulässig, nicht minder vermuthlich die Ein-
ziehung des durch Staatsverträge den italischen Gemeinden über-
wiesenen Domaniallandes, da der Staat damit keineswegs auf sein
Eigenthum verzichtete und allem Anschein nach an Gemeinden
eben wie an Private nur auf Widerruf verlieh; allein nichts desto
weniger konnte die Beschwerde dieser Bundes- oder Unter-
thanengemeinden, daſs Rom die mit ihnen abgeschlossenen Ver-
träge nicht einhalte, unmöglich ebenso unbeachtet bleiben wie
die Klagen der durch die Theilungscommission verletzten römi-
schen Bürger. Es handelte sich hier nicht um Privatrechte, son-
dern um die Frage, ob es politisch richtig sei die militärisch so
wichtigen und schon durch zahlreiche rechtliche und factische
Zurücksetzungen (I, 610-613) Rom mehr und mehr entfrem-
deten latinischen Gemeinden durch diese empfindliche Verletzung
ihrer materiellen Interessen aufs neue gegen Rom zu verstim-
men. Die Entscheidung lag in den Händen der Mittelpartei; sie
war es gewesen, die nach der Katastrophe des Gracchus im
Bunde mit seinen Anhängern seine Reform gegen die Oligarchie
geschützt hatte und sie allein vermochte jetzt in Vereinigung mit
der Oligarchie der Reform eine Schranke zu setzen. Die Latiner
wandten sich persönlich an den hervorragendsten Mann dieser
Partei, Scipio Aemilianus, mit der Bitte ihre Rechte zu schützen;
er sagte es zu und wesentlich durch seinen Einfluſs ** ward im
J. 625 der Theilungscommission die Gerichtsbarkeit durch
Volksschluſs entzogen und die Entscheidung, was Domanial-
und was Privatbesitz sei, an die Consuln gewiesen. Es war dies
[94]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
nichts anderes als eine Sistirung der weiteren Domanialaufthei-
lung in milder Form. Der Consul Tuditanus, keineswegs gra-
cchanisch gesinnt und wenig geneigt mit dieser bedenklichen
Grenzregulirung sich zu befassen, nahm die Gelegenheit wahr
zum Commando des illyrischen Heeres abzugehen und das ihm
aufgetragene Geschäft unvollzogen zu lassen; die Theilungscom-
mission bestand zwar fort, aber da die gerichtliche Regulirung
des Domaniallandes stockte, blieb auch sie nothgedrungen un-
thätig. Die Erbitterung der Reformpartei ist begreiflich. Selbst
Männer wie Publius Mucius und Quintus Metellus miſsbilligten
Scipios Auftreten. In andern Kreisen begnügte man sich nicht
mit der Miſsbilligung. Auf einen der nächsten Tage hatte Scipio
einen Vortrag über die Verhältnisse der Latiner angekündigt;
am Morgen dieses Tages ward er todt in seinem Bette gefun-
den. Daſs der sechsundfunfzigjährige in voller Gesundheit und
Kraft stehende Mann, der noch den Tag vorher öffentlich ge-
sprochen hatte und am Abend in vollem Wohlsein um seine
Rede für den nächsten Tag zu entwerfen sich früher als gewöhn-
lich in sein Schlafgemach zurückgezogen hatte, das Opfer eines
politischen Mordes geworden ist, ist nicht zu bezweifeln; er
selbst hatte kurz vorher der gegen ihn gerichteten Mordanschläge
öffentlich erwähnt. Welche meuchelnde Hand den ersten Staats-
mann und den ersten Feldherrn seiner Zeit in nächtlicher Weile
erwürgt hat, ist nie an den Tag gekommen und es ziemt der
Geschichte weder die aus dem gleichzeitigen Stadtklatsch über-
lieferten Gerüchte zu wiederholen noch den kindischen Versuch
anzustellen auf solche Acten hin Wahrheit zu ermitteln. Daſs
der Anstifter der That der Gracchenpartei angehört haben muſs,
ist einleuchtend; Scipios Ermordung war die demokratische
Antwort auf die aristokratische Blutscene am Tempel der Treue;
die Parteien schienen zu wetteifern im rücksichtslosen Frevel.
Die Gerichte schritten nicht ein. Die Volkspartei, mit Recht
fürchtend, daſs ihre Führer, Gaius Gracchus, Flaccus, Carbo,
schuldig oder nicht, in den Prozeſs möchten verwickelt werden,
widersetzte sich mit allen Kräften der Einleitung einer Untersu-
chung; und auch die Aristokratie, die an Scipio ebenso sehr
einen Gegner wie einen Verbündeten verlor, lieſs nicht ungern
die Sache ruhen. Die Menge und die gemäſsigten Männer stan-
den entsetzt; keiner mehr als Quintus Metellus, der Scipios Ein-
schreiten gegen die Reform gemiſsbilligt hatte, aber von solchen
Bundesgenossen schaudernd sich abwandte und seinen vier Söh-
nen befahl die Bahre des groſsen Gegners zur Feuerstätte zu tra-
[95]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
gen. Die Leichenbestattung ward beschleunigt; verhüllten Haup-
tes ward der letzte aus dem Geschlecht des Siegers von Zama
hinausgetragen, ohne daſs jemand zuvor des Todten Antlitz hätte
sehen dürfen, und die Flammen des Scheiterhaufens verzehrten
mit der Hülle des hohen Mannes die letzten Spuren des Verbre-
chens. — Die Geschichte Roms kennt manchen genialeren Mann
als Scipio Aemilianus war, aber keinen, der an sittlicher Reinheit,
an völliger Abwesenheit des politischen Egoismus, an edelster
Vaterlandsliebe ihm gleich kommt; vielleicht auch keinen, dem
das Geschick eine tragischere Rolle zugewiesen hat. Mit dem
besten Willen und mit nicht gemeinen Fähigkeiten war er dazu
verurtheilt den Ruin seines Vaterlandes vor seinen Augen sich
vollziehen zu sehen und jeden ernstlichen Versuch einer Ret-
tung, in der klaren Einsicht nur übel ärger zu machen, in
sich niederzukämpfen; dazu verurtheilt Unthaten wie die des
Nasica gutheiſsen und zugleich das Werk des Ermordeten gegen
seine Mörder vertheidigen zu müssen. Dennoch durfte er sich
sagen nicht umsonst gelebt zu haben. Er war es, wenigstens
ebenso sehr wie der Urheber des sempronischen Gesetzes, dem
die römische Bürgerschaft einen Zuwachs von gegen 80000
neuen Bauerhufen verdankt; er war es auch, der diese Domanial-
theilung hemmte, als sie genützt hatte, was sie nützen konnte.
Daſs es an der Zeit war damit abzubrechen, ward zwar damals
auch von wohlmeinenden Männern bestritten; aber die That-
sache, daſs auch Gaius Gracchus auf diese nach dem Gesetz sei-
nes Bruders zu vertheilenden und unvertheilt gebliebenen Be-
sitzungen nicht ernstlich zurückkam, spricht gar sehr dafür, daſs
Scipio im Wesentlichen den richtigen Moment traf. Beide Maſs-
regeln wurden den Parteien abgezwungen, die erste der Ari-
stokratie, die zweite den Reformfreunden; die letztere bezahlte
ihr Urheber mit seinem Leben. Es war ihm beschieden auf
manchem Schlachtfeld für sein Vaterland zu fechten und unver-
letzt heimzukehren, um dort den Tod von Mörderhand zu finden;
aber er ist in seiner stillen Kammer nicht minder für Rom ge-
storben, als wenn er vor Karthagos Mauern gefallen wäre.
Die Landauftheilung war zu Ende; die Revolution ging an.
Die revolutionäre Partei, die in der Theilungscommission gleich-
sam eine constituirte Vorstandschaft besaſs, hatte schon bei Sci-
pios Lebzeiten hie und dort mit dem bestehenden Regiment ge-
plänkelt; namentlich Carbo, eines der ausgezeichnetsten Redner-
talente dieser Zeit, hatte als Volkstribun 623 dem Senat nicht
wenig zu schaffen gemacht, die geheime Abstimmung in den
[96]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
Bürgerschaftsversammlungen durchgesetzt, soweit es nicht be-
reits früher geschehen war (S. 62), und sogar den bezeichnen-
den Antrag gestellt die Bekleidung des Volkstribunats während
mehrerer auf einander folgender Jahre zu gestatten, also das
Hinderniſs, an dem Tiberius Gracchus zunächst gescheitert war,
gesetzlich zu beseitigen. Der Plan war damals durch den Wider-
stand Scipios vereitelt worden; einige Jahre später, wie es scheint
nach dessen Tode, ging das Gesetz durch. Die hauptsächliche
Absicht der Partei ging indeſs auf Reactivirung der Theilungs-
commission; unter den Führern ward der Plan ernstlich bespro-
chen die Hindernisse, die die italischen Bundesgenossen dersel-
ben entgegenstellten, durch Ertheilung des Bürgerrechts an die-
selben zu beseitigen und vorwiegend nahm die Agitation diese
Richtung. Um ihr zu begegnen, lieſs der Senat 628 durch den
Volkstribun Marcus Junius Pennus die Ausweisung sämmtlicher
Nichtbürger aus der Hauptstadt beantragen und trotz des Wider-
standes der Demokraten, namentlich des Gaius Gracchus, und
der durch diese gehässige Maſsregel hervorgerufenen Gährung in
den latinischen Gemeinden ging der Vorschlag durch. Marcus
Fulvius Flaccus antwortete im folgenden Jahr (629) als Consul
mit dem Antrag, daſs es jedem Bundesgenossen verstattet sein
solle das römische Bürgerrecht zu erbitten und über diese Bitte
in den Comitien abstimmen zu lassen; allein er stand fast ein-
sam — Carbo hatte die Farbe gewechselt und war jetzt eifriger
Aristokrat, Gaius Gracchus abwesend als Quaestor in Sardinien
— und scheiterte an dem Widerstand nicht bloſs des Senats,
sondern auch der Bürgerschaft, die der Ausdehnung ihrer
Privilegien auf noch weitere Kreise sehr wenig geneigt war.
Flaccus verlieſs Rom um den Oberbefehl gegen die Kelten zu
übernehmen; auch so durch seine transalpinischen Eroberungen
den groſsen Plänen der Demokratie vorarbeitend zog er zugleich
sich aus der üblen Lage heraus gegen die von ihm selber agitir-
ten Bundesgenossen die Waffen tragen zu müssen. Fregellae, an
der Grenze von Latium und Campanien am Hauptübergang über
den Liris inmitten eines groſsen und fruchtbaren Gebiets gelegen,
war damals vielleicht die zweite Stadt Italiens; für die sämmtli-
chen latinischen Colonien führten ihre Abgeordneten in der Re-
gel das Wort. In Folge der Zurückweisung des von Flaccus
eingebrachten Antrags begann diese Stadt den Krieg gegen
Rom — seit hundertfunfzig Jahren der erste Fall einer ernstli-
chen nicht durch auswärtige Mächte herbeigeführten Schilderhe-
bung Italiens gegen die römische Hegemonie. Indeſs gelang es
[97]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
diesmal noch den Brand, ehe er andere bundesgenössische Ge-
meinden ergriff, im Keime zu ersticken; nicht durch die Ueber-
legenheit der römischen Waffen, sondern durch den Verrath eines
Fregellaners, des Quintus Numitorius Pullus ward der Praetor
Lucius Opimius rasch Meister über die empörte Stadt, die ihr
Stadtrecht und ihre Mauern verlor und gleich Capua ein Dorf
ward. Auf einem Theil ihres Gebiets ward 630 die Colonie Fa-
brateria gegründet; der Rest und die ehemalige Stadt selbst wur-
den unter die umliegenden Gemeinden vertheilt. Das schnelle
und furchtbare Strafgericht schreckte die Bundesgenossenschaft
und endlose Hochverrathsprozesse verfolgten nicht bloſs die
Fregellaner, sondern auch die Führer der Volkspartei in Rom,
die der Aristokratie begreiflicher Weise als an dieser Insurrection
mitschuldig galten. Inzwischen erschien Gaius Gracchus wieder
in Rom. Die Aristokratie hatte den gefürchteten Mann zuerst in
Sardinien festzuhalten gesucht, indem sie die übliche Ablösung
unterlieſs, und sodann, da er ohne hieran sich zu kehren den-
noch zurückkam, ihn als einen der Urheber des fregellanischen
Aufstandes vor Gericht gezogen (629-30). Allein die Bürger-
schaft sprach ihn frei und nun hob auch er den Handschuh auf
und bewarb sich um das Volkstribunat. In einer ungewöhnlich
zahlreich besuchten Wahlversammlung ward Gaius Gracchus zum
Volkstribun für das J. 631 erwählt. Der Krieg war also erklärt.
Die demokratische Partei, immer arm an leitenden Capacitäten,
hatte neun Jahre hindurch nothgedrungen so gut wie gefeiert;
jetzt war der Waffenstillstand zu Ende und es stand diesmal an
ihrer Spitze ein Mann, der redlicher als Carbo und talentvoller
als Flaccus in jeder Beziehung zur Führerschaft berufen war.
Gaius Gracchus (601-633) war sehr verschieden von
seinem um neun Jahre älteren Bruder. Wie dieser war er ge-
meiner Lust und gemeinem Treiben abgewandt, ein durchgebil-
deter Mann und ein tapferer Soldat; er hatte vor Numantia un-
ter seinem Schwager und später in Sardinien mit Auszeichnung
gefochten. Allein an Talent, Charakter und vor allem an Leiden-
schaft war er dem Tiberius entschieden überlegen. An der Klar-
heit und Sicherheit, mit welcher der junge Mann sich später in
dem Drang der verschiedenartigsten zur praktischen Durchführung
seiner zahlreichen Gesetze erforderlichen Geschäfte zu bewegen
wuſste, erkannte man das echte staatsmännische Talent, wie an
der leidenschaftlichen bis zum Tode getreuen Hingebung, mit
der seine näheren Freunde an ihm hingen, die Liebefähigkeit
dieses adlichen Gemüthes. Der Energie seines Wollens und
Röm. Gesch. II. 7
[98]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
Handelns war die durchgemachte Leidensschule, die nothgedrun-
gene Zurückhaltung während der letzten neun Jahre zu Gute ge-
kommen; nicht mit geminderter, nur mit verdichteter Gluth
flammte in ihm die tief in die innerste Brust zurückgedrängte
Erbitterung gegen die Partei, die das Land zerrüttet und ihm
den Bruder ermordet hatte. Durch diese furchtbare Leidenschaft
seines Gemüthes ist er der erste Redner geworden, den Rom je-
mals gehabt hat; ohne sie würden wir ihn wahrscheinlich den
ersten Staatsmännern aller Zeiten beizählen dürfen. Noch unter
den wenigen Trümmern seiner aufgezeichneten Reden sind man-
che* selbst in diesem Zustande von herzerschütternder Mächtig-
keit und wohl begreift man, daſs wer sie hörte oder auch nur
las, fortgerissen ward von dem brausenden Sturm seiner Worte.
Dennoch so sehr er der Rede Meister war, bemeisterte nicht sel-
ten ihn selber der Zorn, so daſs dem glänzenden Sprecher die
Rede trübe oder stockend floſs. Es ist das treue Abbild seines
politischen Thuns und Leidens. In Gaius Wesen ist keine Ader
jener gutmüthigen etwas sentimentalen und gar sehr kurzsichti-
gen und unklaren Art, die den politischen Gegner mit Bitten und
Thränen umstimmen möchte; mit voller Sicherheit betrat er den
Weg der Revolution und strebte er nach dem Ziel der Rache.
‚Auch mir‘, schrieb ihm seine Mutter, ‚scheint nichts schöner
und herrlicher als dem Feinde zu vergelten, wofern dies gesche-
hen kann, ohne daſs das Vaterland zu Grunde geht. Ist aber dies
nicht möglich, da mögen unsere Feinde bestehen und bleiben was
sie sind, tausendmal lieber als daſs das Vaterland verderbe.‘
Cornelia kannte ihren Sohn; sein Glaubensbekenntniſs war eben
das Gegentheil. Rache wollte er haben von der elenden Regie-
rung, Rache um jeden Preis, mochte auch er selbst, ja das Ge-
meinwesen darüber zu Grunde gehen. — Die Ahnung, daſs das
Verhängniſs ihn so sicher ereilen werde wie den Bruder, trieb
ihn nur sich zu hasten, dem tödtlich Verwundeten gleich, der
sich auf seinen Feind wirft. Die Mutter dachte edler; aber auch
den Sohn, diese tiefgereizte leidenschaftlich erregte durchaus ita-
[99]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
talienische Natur hat die Nachwelt mehr noch beklagt als getadelt
und sie hat Recht daran gethan.
Tiberius Gracchus war mit einer einzelnen Administrativ-
reform vor die Bürgerschaft getreten. Was Gaius in einer Reihe
gesonderter Vorschläge einbrachte, war nichts anderes als eine
vollständig neue Verfassung, als deren erster Grundstein die schon
früher durchgesetzte Neuerung erscheint, daſs es dem Volkstri-
bun freistehen solle sich für das folgende Jahr wiederwählen zu
lassen. Wenn hiemit für das Volkshaupt die Möglichkeit einer
dauernden und den Inhaber schützenden Stellung gewonnen war,
so galt es zunächst demselben die materielle Macht zu sichern,
das heiſst die hauptstädtische Menge — denn daſs auf das
nur von Zeit zu Zeit nach der Stadt kommende Landvolk
kein Verlaſs war, hatte sich sattsam gezeigt — mit ihren
Interessen fest an ihn zu knüpfen. Hiezu diente zuvörderst die
Einführung der hauptstädtischen Getreidevertheilung. Schon
früher war das dem Staat aus den Provinzialzehnten zukom-
mende Getreide nicht selten zu Schleuderpreisen an die Bürger-
schaft abgegeben worden (I, 619). Gracchus verfügte, daſs
fortan jedem persönlich in der Hauptstadt sich meldenden Bür-
ger monatlich eine bestimmte Quantität — es scheint 5 Modii
(⅚ preuſs. Scheffel) — aus den öffentlichen Magazinen verabfolgt
werden solle, der Modius zu 6⅓ As (3½ Gr.) oder kaum für die
Hälfte eines niedrigen Durchschnittspreises (I, 620 A.); zu wel-
chem Ende durch Anlage der neuen sempronischen Speicher die
Staatskornmagazine erweitert wurden. Diese Vertheilung, welche
folgeweise die auſserhalb der Hauptstadt lebenden Bürger aus-
schloſs und nothwendig die ganze Masse des Bürgerproletariats
nach Rom ziehen muſste, machte das hauptstädtische Bürger-
proletariat, das bisher wesentlich von der Aristokratie abgehangen
hatte, zum Clienten der Führer der Bewegungspartei; der neue
Herr des Staats erhielt in demselben zugleich eine Leibwache
und eine feste Majorität über die Comitien. Zu mehrerer Sicher-
heit hinsichtlich dieser wurde ferner die in den Centuriatcomitien
noch bestehende Stimmordnung, wonach die fünf Vermögens-
classen in jedem Bezirk nach einander ihre Stimmen abgaben
(I, 602), abgeschafft und dafür verfügt, daſs über die Reihen-
folge in der Abstimmung unter den einzelnen Centurien künftig
das Loos entscheiden solle. — Wenn diese Bestimmungen
wesentlich darauf hinzielten durch das hauptstädtische Proleta-
riat dem neuen Staatsoberhaupt die vollständige Herrschaft über
die Hauptstadt und damit über den Staat, die freieste Disposition
7*
[100]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
über die Maschine der Comitien und die Möglichkeit zu verschaf-
fen den Senat und die Beamten beliebig zu terrorisiren, so ver-
gaſs der Gesetzgeber doch auch keineswegs auf eine reellere Ab-
hülfe für die bestehenden socialen Schäden bedacht zu sein.
Zwar die italische Domänenfrage war wesentlich abgethan. Das
Ackergesetz des Tiberius und selbst die Theilungscommission be-
standen rechtlich noch fort; das von Gaius durchgebrachte Acker-
gesetz kann nur den Zweck gehabt haben der letzteren die ihr ent-
zogene Gerichtsbarkeit wieder zu verschaffen; allein daſs hiermit
nur das Princip gerettet werden sollte und die Ackervertheilung
wenn überhaupt nur in sehr beschränktem Umfang wieder auf-
genommen ward, zeigen die Zahlen der Bürgerliste, die für die
Jahre 629 und 639 genau dieselbe Kopfzahl ergiebt. Der Grund
war, wie schon gesagt, unzweifelhaft nur, daſs das Domanialland,
das verständiger Weise vertheilt werden konnte, wesentlich be-
reits vertheilt war, die Frage aber wegen der von den Latinern
benutzten Domänen nur in Verbindung mit der sehr schwierigen
über die Ausdehnung des Bürgerrechts wieder aufgenommen
werden konnte. Die zwei wahrscheinlich wenig bedeutenden Co-
lonien, die Gracchus in Italien gründete, Minervia an der Stelle
des alten Skylakion (Squillace), Neptunia an der Stelle von
Tarent, sind nicht auf occupirten und eingezogenen Domänen,
sondern auf Besitzungen, die ihren bisherigen Inhabern ab-
getauscht wurden und darum auch als eigene Stadtgemein-
den gegründet, was bei den Landanweisungen der Commission
nicht geschehen konnte (S. 91). Unendlich bedeutender und
folgenreicher war es, daſs Gaius Gracchus zuerst dazu schritt das
italische Proletariat in den überseeischen Gebieten des Staats
zu versorgen, indem er an die Stätte, wo Karthago gestanden,
6000 theils aus den römischen Bürgern, theils aus den itali-
schen Bundesgenossen erwählte Colonisten sendete und der
neuen Stadt Junonia das Recht einer römischen Bürgercolo-
nie verlieh. Die Anlage war wichtig, aber wichtiger noch das da-
mit festgestellte Princip der überseeischen Emigration, womit für
das italische Proletariat ein bleibender Abzugskanal und in der
That eine mehr als provisorische Hülfe eröffnet, freilich aber
auch der Grundsatz des bisherigen Staatsrechts aufgegeben ward,
Italien als das regierende, das Provinzialgebiet aber als das re-
gierte Land zu betrachten.
Zu diesen auf die groſse Frage hinsichtlich des Proletariats
unmittelbar bezüglichen Maſsregeln kam eine Reihe von Verfü-
gungen, die hervorgingen aus der allgemeinen Tendenz gegen-
[101]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
über der altväterischen Strenge der bestehenden Verfassung gelin-
dere und modernere Grundsätze zur Geltung zu bringen. Hieher
gehören die Milderungen im Militärwesen. Hinsichtlich der Länge
der Dienstzeit bestand nach altem Recht keine andere Grenze, als
daſs kein Bürger vor vollendetem siebzehnten und nach vollen-
detem sechsundvierzigsten Jahre zum ordentlichen Felddienst
pflichtig war. Als sodann in Folge der Besetzung Spaniens der
Dienst anfing stehend zu werden (I, 498), scheint zuerst gesetz-
lich verfügt zu sein, daſs wer sechs Jahre hinter einander im
Felde gestanden, dadurch zunächst ein Recht erhalte auf den
Abschied, wenn gleich nicht auf definitive Befreiung vom Kriegs-
dienst; später, vielleicht um den Anfang dieses Jahrhunderts,
kam der Satz auf, daſs zwanzigjähriger Dienst zu Fuſs oder
zehnjähriger zu Roſs überhaupt vom weiteren Kriegsdienst be-
freie *. Gracchus erneuerte die vermuthlich öfter gewaltsam ver-
letzte Vorschrift keinen Bürger vor dem vollendeten siebzehnten
Jahr in das Heer einzustellen und beschränkte auch, wie es
scheint, die zur vollen Befreiung von der Militärpflicht erforder-
liche Zahl von Feldzügen; überdies wurde den Soldaten die
Kleidung, deren Betrag bisher ihnen vom Solde gekürzt worden
war, fortan vom Staat unentgeltlich geliefert. — Hieher gehört
ferner die mehrfach in der gracchischen Gesetzgebung hervor-
tretende Tendenz die Todesstrafe wo nicht abzuschaffen doch
noch mehr als es schon geschehen war zu beschränken, die zum
Theil selbst in der Militärgerichtsbarkeit sich geltend macht.
Schon seit Einführung der Republik hatte der Beamte das Recht
verloren über den Bürger die Todesstrafe ohne Befragung der
Gemeinde zu verhängen auſser nach Kriegsrecht (I, 161. 290);
wenn bald nach der Gracchenzeit dies Provocationsrecht des
Bürgers auch im Lager anwendbar und das Recht des Feldherrn
Todesstrafen zu vollstrecken auf Bundesgenossen und Untertha-
nen beschränkt erscheint, so ist wahrscheinlich die Quelle hie-
von zu suchen in dem Provocationsgesetz des Gaius Gracchus.
Aber auch das Recht des Volkes den verurtheilten Verbrecher
[102]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
hinrichten zu lassen ward durch ihn indirect, aber sehr wesent-
lich beschränkt, indem er diejenigen gemeinen Verbrechen, die
am häufigsten zu Todesurtheilen Veranlassung gaben, Giftmi-
scherei und überhaupt Mord der Bürgerschaft entzog und an
ständige Commissionsgerichte überwies, welche nicht wie die
Volksgerichte durch Einschreiten eines Tribuns gesprengt wer-
den konnten und von denen nicht bloſs keine Appellation an
das Volk ging, sondern deren Wahrsprüche auch so wenig wie
die der althergebrachten Civilgeschwornen der Cassation durch
das Volk unterlagen. Bei den Bürgerschaftsgerichten war es, na-
mentlich bei den eigentlich politischen Prozessen, zwar auch
längst Regel, daſs der Angeklagte auf freiem Fuſs prozessirt und
ihm gestattet ward durch Aufgebung seines Bürgerrechts der
Strafe sich zu entziehen und Leben und Freiheit zu retten so
wie sein Vermögen zu behalten, natürlich so weit nicht Civil-
ansprüche gegen das letztere erhoben worden waren. Allein vor-
gängige Verhaftung und vollständige Execution blieben hier
wenigstens rechtlich möglich und wurden selbst gegen Vornehme
noch zuweilen vollzogen, wie zum Beispiel Lucius Hostilius Tu-
bulus Praetor 612, der wegen eines schweren Verbrechens auf
den Tod angeklagt war, unter Verweigerung des Exilrechts fest-
genommen und hingerichtet ward. Dagegen die aus dem Civil-
prozeſs hervorgegangenen Commissionsgerichte konnten von
Haus aus Freiheit und Leben des Bürgers nicht antasten und es
ward die Verbannung, bisher eine dem schuldigen Mann gestat-
tete Strafmilderung, dadurch zuerst zur förmlichen Strafe; auch
diese aber lieſs gleich dem freiwilligen Exil dem Verbannten das
Vermögen, so weit es nicht zur Befriedigung der Ersatzforderun-
gen und Geldbuſsen drauf ging. — Endlich hat Gaius Gracchus
um Schuldwesen zwar nichts geneuert; doch behaupten sehr
achtbare Zeugen, daſs er den verschuldeten Leuten auf Minde-
rung oder Erlaſs der Forderungen Hoffnung gemacht habe, was,
wenn es richtig ist, gleichfalls diesen radical populären Maſsre-
geln beizuzählen ist.
Während Gracchus also sich lehnte auf die Menge, die von
ihm eine materielle Verbesserung ihrer Lage theils erwartete,
theils empfing, arbeitete er mit gleicher Energie an dem Ruin
der Aristokratie. Wohl erkennend, wie unsicher jede bloſs auf
das Proletariat gebaute Herrschaft des Staatsoberhauptes ist, war
er vor allem darauf bedacht die Aristokratie zu spalten und
einen Theil derselben in sein Interesse zu ziehen. Die Elemente
einer solchen Spaltung waren vorhanden. Die Aristokratie der
[103]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
Reichen, die sich wie ein Mann gegen Tiberius Gracchus erhoben
hatte, bestand in der That aus zwei wesentlich ungleichen Mas-
sen, die man der Lords- und der Cityaristokratie Englands ver-
gleichen kann. Die eine umfaſste den thatsächlich geschlossenen
Kreis der regierenden Familien, die der unmittelbaren Specula-
tion sich fern hielten und ihre ungeheuren Capitalien theils in
Grundbesitz anlegten, theils als stille Gesellschafter bei den gro-
ſsen Associationen verwertheten. Den Kern der zweiten Klasse
bildeten die Speculanten, welche als Geranten dieser Gesellschaf-
ten oder auf eigene Hand die Groſs- und Geldgeschäfte im gan-
zen Umfang der römischen Hegemonie betrieben. Jene erste
Klasse ist wesentlich im Senat vertreten; diese zweite ward ge-
wöhnlich mit dem genau genommen miſsbräuchlichen Namen
der Ritter bezeichnet. Dieser Name, welcher ursprünglich nur
den aus den vermögendsten Bürgern zum Reiterdienst ausgeho-
benen Dienstpflichtigen zukam (I, 68), wurde späterhin auf alle
diejenigen ausgedehnt, die als Besitzer eines Vermögens von min-
destens 400000 Sesterzen (28600 Thlr.) im Allgemeinen zum
Roſsdienst pflichtig waren und es wurden die aus ihnen in die
Rittercenturien wirklich eingereihten als die ‚Ritter mit Staats-
pferden‘ von ihnen unterschieden. Insofern war jeder Senator
zugleich ein Ritter, wie denn auch viele Senatoren in den Ritter-
centurien dienten. Allein die Gegensätze, die theils zwischen
dem Kreis der regierenden Familien und der Speculanten-
schaft, theils zwischen dem Stadtrath und der Bürgerreiterei
thatsächlich immer bestanden, fanden ihre rechtliche Feststel-
lung, jener durch den von dem Vorläufer der Gracchen Gaius
Flaminius veranlaſsten Volksschluſs von 536, der den Senatoren
die Betreibung kaufmännischer Geschäfte untersagte (I, 621),
dieser durch das nicht lange vor 631 ergangene Gesetz, das die
Senatoren aus den Rittercenturien ausschloſs und sie anwies
beim Eintritt in den Senat ihr Ritterpferd abzugeben. So blie-
ben unter diesen sogenannten Rittern oder vielmehr Ritterfähigen
zwar immer noch die jüngeren noch nicht in den Senat eingetre-
tenen Mitglieder der senatorischen Familien zurück, allein Senat
und Ritterschaft schlossen doch seitdem sich aus. Andrerseits
schloſs nach unten hin die Ritterschaft auch durch ein äuſseres
Kennzeichen sich ab, indem der goldene Fingerreif statt des ge-
wöhnlichen eisernen oder kupfernen durch Gesetz oder Sitte ein
Vorrecht der Männer vom Rittercensus ward — eine Neuerung,
die so unwichtig sie an sich ist und so manche Ritterfähige auch
dieses Rechts ungeachtet fortfuhren den gewöhnlichen Ring zu
[104]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
tragen, doch ungemein viel dazu beigetragen hat der Ritterschaft
den Stempel eines Standes und zwar eines privilegirten zwischen
der senatorischen Klasse und dem gemeinen Volk stehenden auf-
zudrücken. — Dieser Stand der Ritter, das heiſst wesentlich der
vermögenden Kaufleute hatte vielfältig unsanfte Berührungen mit
dem regierenden Senat. Es war eine natürliche Antipathie zwi-
schen den vornehmen Adlichen und den Männern, denen mit
dem Gelde der Rang gekommen war. Die regierenden Herren,
vor allem die besseren von ihnen, standen den Speculationen
eben so fern wie die politischen Fragen und die Coteriefehden
den Männern der materiellen Interessen gleichgültig waren. In
den Provinzen namentlich hatten zwar die Provinzialen weit
mehr Grund sich über die Parteilichkeit der römischen Beamten
zu beschweren als die römischen Capitalisten; dennoch waren
auch diese mit den Beamten schon öfter hart zusammengesto-
ſsen, wenn die letzteren sich nicht dazu herbeilassen wollten den
Begehrlichkeiten und Unrechtfertigkeiten der Geldmänner auf Ko-
sten der Unterthanen so unbedingt die Hand zu leihen wie es von
ihnen begehrt ward. Trotz der Eintracht gegen einen gemein-
schaftlichen Feind, wie Tiberius Gracchus gewesen war, klaffte
zwischen der Adels- und der Geldaristokratie ein tiefgehender
Riſs; geschickter als sein Bruder erweiterte ihn Gracchus, bis
das Bündniſs gesprengt war und er die Kaufmannschaft auf
seine Seite zog. Die Partei der materiellen Interessen fällt
von Rechtswegen dem Meistbietenden zu; Gracchus warb sie
um den Preis der asiatischen Gefälle und der Geschwornen-
gerichte. — Die in den Aemtern bestehende Finanzverwaltung
gewährte bei den indirecten Steuern und der Domanialnutzung
durch das System der Mittelsmänner dem römischen Capita-
listenstand schon auf Kosten der Contribuablen die ausgedehn-
testen Vortheile. Die directen Abgaben indeſs bestanden entwe-
der, wie in den meisten Aemtern, in festen von den Gemeinden
zu entrichtenden Geldsummen, oder, wie in Sicilien und Sardi-
nien, in einem Bodenzehnten, dessen Erhebung für jede einzelne
Gemeinde in den Provinzen selbst verpachtet ward. Das erstere
System schloſs die Dazwischenkunft römischer Capitalisten ganz
aus; das zweite gestattete wenigstens den vermögenderen Provin-
zialen und namentlich den zehntpflichtigen Gemeinden selbst
den Zehnten ihrer Districte zu pachten und dadurch die gefährli-
chen römischen Mittelsmänner sich fern zu halten. Als sechs
Jahre zuvor die Provinz Asia an die Römer gefallen war, hatte der
Senat sie im Wesentlichen nach dem ersten System einrichten las-
[105]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
sen (S. 52). Gaius Gracchus* stieſs diese Verfügung durch einen
Volkschluſs um und belastete nicht bloſs die bis dahin fast steuer-
freie Provinz mit den ausgedehntesten indirecten und directen
Abgaben, namentlich dem Bodenzehnten, sondern er verfügte
auch, daſs diese Abgaben für die gesammte Provinz und in Rom
verpachtet werden sollten — eine Bestimmung, die thatsächlich
jede Betheiligung der Provinzialen ausschloſs und in dieser
Mittelsmännerschaft für Zehnten, Hutgeld und Zölle der Provinz
Asia eine Capitalistenassociation von colossaler Ausdehnung ins
Leben rief. Wenn hier dem Kaufmannsstand eine Goldgrube er-
öffnet und in den Mitgliedern der neuen Gesellschaft ein selbst
der Regierung imponirender Kern der hohen Finanz, ein ‚Senat
der Kaufmannschaft‘ constituirt ward, so ward demselben zu-
gleich in den Geschwornengerichten eine bestimmte öffentliche
Thätigkeit zugewiesen. Das Gebiet des Criminalprozesses, der
von Rechtswegen vor die Bürgerschaft gehörte, war bei den Rö-
mern von Haus aus sehr eng und ward, wie bemerkt (S. 101),
durch Gracchus noch weiter verengt; die meisten Prozesse, so-
wohl die wegen gemeiner Verbrechen als auch die Civilsachen, wur-
den entweder von Einzelgeschwornen oder stehenden und auſser-
ordentlichen Commissionen entschieden. Bisher waren jene und
diese ausschlieſslich aus dem Senat genommen worden; Grac-
chus überwies sowohl in den eigentlichen Civilprozessen als
bei den ständigen Commissionen die Geschwornenfunctionen an
den Ritterstand, indem er die Geschwornenliste nach Analo-
gie der Rittercenturien aus den sämmtlichen ritterfähigen Indi-
viduen jährlich neu formiren lieſs und die Senatoren geradezu,
die jungen Männer der senatorischen Familien durch Festsetzung
einer gewissen Altersgrenze von den Gerichten ausschloſs. Es
ist nicht unwahrscheinlich, daſs die Geschwornenwahl vorwie-
gend gelenkt ward auf dieselben Männer, die in den groſsen
kaufmännischen Associationen namentlich der asiatischen und
sonstigen Steuerpächter die erste Rolle spielten, eben weil diese
ein sehr nahes eigenes Interesse hatten in den Gerichten zu
sitzen; fielen also die Geschwornenliste und die Publicanensocie-
täten in ihren Spitzen zusammen, so begreift man um so mehr
die Bedeutung des also constituirten Gegensenats. Die wesent-
liche Folge hievon war, daſs, während bisher es nur zwei Gewal-
[106]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
ten im Staat gegeben hatte, die Regierung als verwaltende und
controlirende, die Bürgerschaft als legislative Behörde, die Ge-
richte aber zwischen beiden getheilt waren, jetzt die Geldari-
stokratie nicht bloſs auf der soliden Basis der materiellen Inter-
essen als eine fest geschlossene und privilegirte Klasse sich con-
solidirte, sondern auch als richtende und controlirende Gewalt
in den Staat eintrat und der regierenden Aristokratie sich fast
ebenbürtig zur Seite stellte. All die alten Antipathien der Kauf-
leute gegen den Adel muſsten fortan in den Wahrsprüchen der
Geschwornen einen nur zu praktischen Ausdruck finden; vor al-
len Dingen in den Rechenschaftsgerichten der Provinzialstatthal-
ter hatte der Senator nicht mehr wie bisher von seines Gleichen,
sondern von Groſshändlern und Banquiers die Entscheidung zu
erwarten über seine bürgerliche Existenz. Die Fehden zwischen
den römischen Capitalisten und den römischen Statthaltern ver-
pflanzten sich aus der Provinzialverwaltung auf den bedenklichen
Boden der Rechenschaftsprozesse. Die Aristokratie der Reichen
war nicht bloſs gespalten, sondern es war auch dafür gesorgt,
daſs der Zwist immer neue Nahrung und leichten Ausdruck finde.
Mit den also bereiteten Waffen, dem Proletariat und dem
Kaufmannsstand ging Gracchus an sein Hauptwerk, an den Sturz
der regierenden Aristokratie. Den Senat stürzen hieſs einerseits
durch gesetzliche Neuerungen seine wesentliche Competenz ihm
entziehen, andrerseits durch Maſsregeln mehr persönlicher und
transitorischer Art die bestehende Aristokratie zu Grunde richten;
Gracchus hat beides gethan. Vor allem die Verwaltung hatte bisher
dem Senat ausschlieſslich zugestanden; Gracchus nahm sie ihm
ab, indem er theils die wichtigsten Administrativfragen durch
Comitialgesetze, das heiſst thatsächlich durch Machtsprüche ent-
schied, theils in den laufenden Angelegenheiten den Senat mög-
lichst beschränkte, theils selbst in der umfassendsten Weise die
Geschäfte an sich zog. Die Maſsregeln der ersten Gattung sind
schon erwähnt; der neue Herr des Staats disponirte ohne den
Senat zu fragen über die Staatskasse, indem er durch die
Getreidevertheilung den öffentlichen Finanzen eine dauernde und
drückende Last aufbürdete, über die Domänen, indem er Colo-
nien nicht wie bisher nach Senats-, sondern nach Volksschluſs
aussandte, über die Provinzialverwaltung, indem er die vom Se-
nat der Provinz Asia gegebene Steuerverfassung durch ein Volks-
gesetz umstieſs und eine durchaus andere an deren Stelle setzte.
Eines der wichtigsten unter den laufenden Geschäften des Se-
nats, die willkürliche Feststellung der jedesmaligen Competenz
[107]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
der beiden Consuln wurde ihm zwar nicht entzogen, aber der
bisher dabei geübte indirecte Druck auf die höchsten Beamten
dadurch vernichtet, daſs der Senat angewiesen ward diese Com-
petenzen festzustellen, bevor die betreffenden Consuln gewählt
seien. Mit beispielloser Thätigkeit endlich concentrirte Gaius die
verschiedenartigsten und verwickeltsten Regierungsgeschäfte in
seiner Person, er selbst überwachte die Getreidevertheilung, er-
las die Geschwornen, gründete trotz des gesetzlich an die Stadt
ihn fesselnden Amtes persönlich die Colonien, regulirte das
Wegewesen und schloſs die Bauverträge ab, leitete die Senats-
verhandlungen, bestimmte die Consulwahlen — kurz er ge-
wöhnte das Volk daran, daſs in allen Dingen ein Mann der erste
sei und verdunkelte die schlaffe und lahme Verwaltung des sena-
torischen Collegiums durch sein kräftiges und gewandtes per-
sönliches Regiment. — Noch energischer als in die Verwaltung
griff Gracchus ein in die senatorische Jurisdiction. Daſs er die
ordentliche Gerichtsbarkeit der Senatoren beseitigte, ward schon
gesagt; dasselbe geschah mit der Jurisdiction, die der Senat als
oberste Verwaltungsbehörde sich in Ausnahmsfällen gestattete.
Bei scharfer Strafe untersagte er, wie es scheint in dem erneuer-
ten Provocationsgesetz *, die Niedersetzung auſserordentlicher
Hochverrathscommissionen durch Senatsbeschluſs, wie diejenige
gewesen war, welche nach seines Bruders Ermordung über des-
sen Anhänger zu Gericht gesessen hatte. Die Summe dieser
Maſsregeln ist, daſs der Senat die Controle ganz verlor und von
der Verwaltung nur behielt, was das Staatshaupt ihm zu lassen
für gut fand. Indeſs diese constituiven Maſsregeln genügten
nicht; es muſste auch der gegenwärtig regierenden Aristokratie
unmittelbar zu Leibe gegangen werden. Ein bloſser Act der
Rache war es, daſs dem zuletzt erwähnten Gesetz rückwirkende
Kraft beigelegt und dadurch derjenige Aristokrat, den nach Na-
sicas inzwischen erfolgtem Tode der Haſs der Demokraten haupt-
sächlich traf, Publius Popillius genöthigt ward das Land zu mei-
den. Merkwürdiger Weise ging dieser Antrag nur mit 18 gegen
17 Stimmen in der Bezirksversammlung durch — ein Zeichen,
was wenigstens in Fragen persönlichen Interesses noch der Ein-
fluſs der Aristokratie bei der Menge vermochte. Ein ähnliches,
aber weit minder zu rechtfertigendes Decret, den gegen Marcus
Octavius gerichteten Antrag, daſs wer durch Volksschluſs sein
[108]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
Amt verloren habe, auf immer unfähig sein solle einen öffentli-
chen Posten zu bekleiden, nahm Gaius zurück auf Bitten seiner
Mutter und ersparte sich damit die Schande an einem Ehren-
mann, der kein bitteres Wort gegen Tiberius gesprochen und nur
verfassungs- und, wie er die Pflicht verstand, pflichtgemäſs ge-
handelt hatte, niedrige Rache zu nehmen und durch solche Lega-
lisirung einer notorischen Verfassungsverletzung das Recht offen
zu verhöhnen. Aber von ganz anderer Wichtigkeit als diese
Maſsregeln war Gaius Plan, dessen Realisirung freilich zweifel-
haft ist, den Senat durch 300 neue Mitglieder, das heiſst unge-
fähr eben so viele als er bisher hatte, zu verstärken und diese
aus dem Ritterstand durch die Comitien wählen zu lassen —
eine Pairscreirung im umfassendsten Stil, die den Senat in die
vollständigste Abhängigkeit von dem Staatsoberhaupt gebracht
haben würde.
Dies ist die Staatsverfassung, welche Gaius Gracchus ent-
worfen und während der beiden Jahre seines Volkstribunats
(631. 632) in ihren wesentlichsten Puncten durchgeführt hat,
so weit wir sehen ohne auf irgend einen nennenswerthen Wider-
stand zu stoſsen und ohne zur Erreichung seiner Zwecke Gewalt
anwenden zu müssen. Die Reihenfolge, in der diese Maſsregeln
durchgebracht sind, läſst in der sehr zerütteten Ueberlieferung
sich nicht mehr erkennen und auf manche nahe liegende Frage
müssen wir die Antwort schuldig bleiben; es scheint indeſs nicht,
daſs uns mit dem Fehlenden sehr wesentliche Momente entgan-
gen sind, da über die Hauptsachen vollkommen sichere Kunde
vorliegt und Gaius keineswegs wie sein Bruder durch den Strom
der Ereignisse weiter und weiter gedrängt ward, sondern offen-
bar einen umfassenden wohl überlegten Plan in einer Reihe von
Specialgesetzen im Wesentlichen vollständig realisirte. — Daſs
diese Verfassung nun keineswegs, wie viele gutmüthige Leute in
alter und neuer Zeit gemeint haben, die römische Republik auf
neue demokratische Basen stellen, sondern vielmehr sie abschaf-
fen und in der Form eines durch stehende Wiederwahl lebens-
länglich und durch unbedingte Beherrschung des formellen Sou-
veräns absolut erklärten Amtes, eines unumschränkten Volkstri-
bunats auf Lebenszeit anstatt der Republik die Tyrannis, das heiſst
nach heutigem Sprachgebrauch die nicht feudalistische und nicht
theokratische, die napoleonische Monarchie einführen sollte, das
offenbart die sempronische Verfassung selbst mit voller Deut-
lichkeit einem jeden, der Augen hat und haben will. In der That,
wenn Gracchus, wie seine Worte deutlich und deutlicher seine
[109]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
Werke es sagen, den Sturz des Senatregiments bezweckte, welche
andere mögliche politische Ordnung blieb in einem Staat, der die
Urversammlungen hinter sich hatte und für den der Parlamenta-
rismus nicht existirte, nach dem Sturz des aristokratischen Re-
giments als die Tyrannis? Träumer, wie sein Vorgänger einer
war, und Schwindler, wie sie die Folgezeit heraufführte, mochten
dies in Abrede stellen; Gaius Gracchus aber war ein Staatsmann
und wuſste, was er that. So wenig die beabsichtigte Usurpation
der monarchischen Gewalt sich verkennen läſst, so wenig wird,
wer die Verhältnisse übersieht, den Gracchus deſswegen tadeln.
Eine absolute Monarchie ist ein groſses Unglück für die Nation,
aber ein minderes als eine absolute Oligarchie; und wer der Na-
tion statt des gröſseren das kleinere Leiden auferlegt, den darf
die Geschichte nicht schelten, am wenigsten eine so leidenschaft-
lich ernste und allem Gemeinen so fern stehende Natur wie Gaius
Gracchus. Allein nichts desto weniger darf sie es nicht ver-
schweigen, daſs durch die ganze Gesetzgebung desselben eine
Zwiespältigkeit verderblichster Art geht, indem sie einerseits das
gemeine Beste bezweckt, andrerseits den persönlichen Zwecken,
ja der persönlichen Rache des Herrschers dient. Gracchus war
ernstlich bemüht für die socialen Schäden eine Abhülfe zu finden
und dem einreiſsenden Pauperismus zu steuern; dennoch zog er
zugleich durch seine Getreidevertheilungen, die für alles arbeits-
scheue lungernde Bürgergesindel eine Prämie werden sollten und
wurden, ein hauptstädtisches Gassenproletariat der schlimmsten
Art absichtlich groſs. Gracchus tadelte mit den bittersten Wor-
ten die Feilheit des Senats und deckte namentlich den scandalö-
sen Schacher, den Manius Aquillius mit den kleinasiatischen Pro-
vinzen getrieben, mit schonungsloser und gerechter Strenge auf*;
aber derselbe Mann führte es durch, daſs der souveräne Pöbel
[110]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
der Hauptstadt für seine Regierungssorgen sich von der Unter-
thanenschaft alimentiren lieſs. Gracchus miſsbilligte lebhaft die
schändliche Ausplünderung der Provinzen und veranlaſste nicht
bloſs daſs in einzelnen Fällen mit heilsamer Strenge eingeschrit-
ten ward, sondern auch die Abschaffung der durchaus unzurei-
chenden senatorischen Gerichte, vor denen selbst Scipio Aemi-
lianus um die entschiedensten Frevler zur Strafe zu ziehen sein
ganzes Ansehen vergeblich eingesetzt hatte; dennoch überlieferte
er zugleich durch die Einführung der Kaufmannsgerichte die Pro-
vinzialen mit gebundenen Händen der Partei der materiellen In-
teressen und damit einer noch rücksichtsloseren Despotie als die
aristokratische gewesen war, und führte in Asia eine Besteue-
rung ein, gegen welche selbst die nach karthagischem Muster in
Sicilien geltende Steuerverfassung gelind und menschlich war —
beides weil er theils der Partei der Geldmänner, theils für seine
Getreidevertheilungen und die sonstigen den Finanzen neu auf-
gebürdeten Lasten neuer und umfassender Hülfsquellen bedurfte.
Gracchus wollte ohne Zweifel eine feste Verwaltung und eine ge-
ordnete Rechtspflege, wie zahlreiche durchaus zweckmäſsige An-
ordnungen bezeugen; dennoch beruht sein neues Verwaltungs-
system auf einer fortlaufenden Reihe einzelner nur formell legali-
sirter Usurpationen; dennoch zog er das Gerichtswesen, das jeder
geordnete Staat so weit immer möglich zwar nicht über, aber doch
auſserhalb der politischen Parteien zu stellen bemüht sein wird,
absichtlich mitten in den Strudel der Revolution. Allerdings fällt
die Schuld dieser Zwiespältigkeit in Gaius Gracchus Tendenzen
zu einem sehr groſsen Theil mehr auf die Stellung als auf die
Person. Gleich hier an der Schwelle der Tyrannis entwickelt
sich das verhängniſsvolle Dilemma, daſs derselbe Mann zugleich
man möchte sagen als Räuberhauptmann sich behaupten und als
der erste Bürger den Staat leiten soll; ein Dilemma, dem auch
Perikles, Caesar, Napoleon bedenkliche Opfer haben bringen
müssen. Indeſs ganz läſst sich Gaius Gracchus Verfahren aus
dieser Nothwendigkeit nicht erklären; es wirkt daneben in ihm
die verzehrende Leidenschaft, die glühende Rache, die den eige-
nen Untergang voraussehend den Feuerbrand schleudert in das
Haus des Feindes. Er selber hat es ausgesprochen, wie er über
seine Geschwornenordnung und ähnliche auf die Spaltung der
Aristokratie abzweckende Maſsregeln dachte; Dolche und Schwer-
ter nannte er sie, die er auf den Markt werfe, damit die Bürger
— die vornehmen, versteht sich — mit ihnen sich unter einan-
der zerfleischen möchten. Er war ein politischer Brandstifter;
[111]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
nicht bloſs die hundertjährige Revolution, die von ihm datirt, ist,
so weit sie eines Menschen Werk ist, das Werk des Gaius Gracchus,
sondern vor allem ist er der wahre Stifter jenes entsetzlichen von
oben herab besoldeten und beschmeichelten hauptstädtischen Pro-
letariats, das durch seine aus den Getreidespenden von selber fol-
gende Vereinigung in der Hauptstadt theils vollständig demorali-
sirt, theils seiner Macht sich bewuſst ward und mit seinen bald
pinselhaften bald bübischen Ansprüchen und seiner Fratze von
Volkssouveränetät ein halbes Jahrtausend hindurch wie ein Alp
lastete auf dem römischen Gemeinwesen und nur mit diesem zu-
gleich unterging. Und doch — dieser gröſste der politischen
Verbrecher ist doch auch wieder der Regenerator seines Landes.
Es ist kaum ein constructiver Gedanke in der römischen Monarchie,
der nicht zurückreichte bis auf Gaius Gracchus. Von ihm rührt
der dem älteren Staatsrecht fremde Satz her, daſs aller Grund und
Boden der unterthänigen Gemeinden als Privateigenthum des Staats
anzusehen sei — ein Satz, der zunächst benutzt ward um dem
Staat das Recht zu vindiciren diesen Boden beliebig zu besteuern,
wie es in Asien, oder auch zur Anlegung von Colonien zu ver-
wenden, wie es in Africa geschah, und der späterhin ein funda-
mentaler Rechtssatz der Kaiserzeit ward. Von ihm rührt die
Taktik der Demagogen und Tyrannen her auf die materiellen In-
teressen sich stützend die regierende Aristokratie zu sprengen,
überhaupt aber durch eine strenge und zweckmäſsige Admini-
stration anstatt des bisherigen Miſsregiments die Verfassungsän-
derung nachträglich zu legitimiren. Auf ihn gehen vor allem zu-
rück die Anfänge einer Ausgleichung zwischen Rom und den
Provinzen, wie sie die Herstellung der Monarchie unvermeidlich
mit sich bringen muſste; der Versuch das durch die italische Ri-
valität zerstörte Karthago wieder aufzubauen und überhaupt der
italischen Emigration den Weg in die Provinzen zu eröffnen ist
das erste Glied in der langen Kette dieser folgen- und segensrei-
chen Entwicklung. Es sind in diesem seltenen Mann und in die-
ser wunderbaren politischen Constellation Recht und Schuld,
Glück und Unglück so in einander verschlungen, daſs es hier
sich wohl ziemen mag, was der Geschichte nur selten ziemt, mit
dem Urtheil zu verstummen.
Als Gracchus die von ihm entworfene neue Staatsverfassung
wesentlich vollendet hatte, legte er Hand an an ein zweites und
schwierigeres Werk. Noch schwankte die Frage hinsichtlich der
italischen Bundesgenossen. Wie die Führer der demokratischen
Partei darüber dachten, hatte sich sattsam gezeigt (S. 96); sie
[112]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
wünschten natürlich die möglichste Ausdehnung des römischen
Bürgerrechts, nicht bloſs um die von den Latinern occupirten
Domänen zur Vertheilung bringen zu können, sondern vor allem
um mit der ungeheuren Masse der Neubürger ihre Clientel zu
verstärken, um die Comitialmaschine durch immer weitere Aus-
dehnung der berechtigten Wählerschaft immer vollständiger in
ihre Gewalt zu bringen, überhaupt um einen Unterschied zu be-
seitigen, der mit dem Sturz der republikanischen Verfassung
ohnehin jede ernstliche Bedeutung verlor. Allein hier stieſsen
sie auf Opposition bei ihrer eigenen Partei und vornämlich bei
derjenigen Bande, die sonst bereitwillig zu Allem was sie ver-
stand und nicht verstand ihr souveränes Ja gab; aus dem einfa-
chen Grunde, daſs diesen Leuten das römische Bürgerrecht so
zu sagen wie eine Actie erschien, die ihnen Anspruch gab auf al-
lerlei sehr handgreifliche directe und indirecte Vortheile, sie
also ganz und gar keine Lust hatten die Zahl der Actionäre zu
vermehren. Die Verwerfung des fulvischen Gesetzes im J. 629
und der daraus entsprungene Aufstand der Fregellaner waren
warnende Zeichen sowohl der eigensinnigen Beharrlichkeit der
die Comitien beherrschenden Fraction der Bürgerschaft als auch
des ungeduldigen Drängens der Bundesgenossen. Gegen das
Ende seines zweiten Tribunats (632) wagte Gracchus, wahr-
scheinlich durch übernommene Verpflichtungen gegen die Bun-
desgenossen gedrängt, einen zweiten Versuch; in Gemeinschaft
mit Marcus Flaccus, der, obwohl Consular, um das früher bean-
tragte Gesetz durchzubringen wiederum das Volkstribunat über-
nommen hatte, stellte er den Antrag den Latinern das volle Bür-
ger-, den übrigen italischen Bundesgenossen das bisherige Recht
der Latiner zu gewähren. Allein der Antrag stieſs auf die verei-
nigte Opposition des Senats und des hauptstädtischen Pöbels;
welcher Art diese Coalition war und wie sie focht, zeigt scharf
und bestimmt ein aus der Rede, die der Consul Gaius Fannius
gegen den Antrag an das Volk hielt, zufällig erhaltenes Bruch-
stück: ‚So meint ihr also‘, sprach der Optimat, ‚wenn ihr den
Latinern das Bürgerrecht ertheilt, eben wie ihr jetzt dort vor mir
steht, auch künftig in der Bürgerversammlung oder bei den Spielen
und Volkslustbarkeiten Platz finden zu können? glaubt ihr nicht
vielmehr, daſs jene Leute jeden Fleck besetzen werden?‘ Bei der
Bürgerschaft des fünften Jahrhunderts, die an einem Tage allen
Sabinern das Bürgerrecht verlieh, hätte ein solcher Redner wohl
mögen ausgezischt werden; die des siebenten fand seine Gründe
ungemein einleuchtend und den von Gracchus ihr gebotenen
[113]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
Preis der Assignation der latinischen Domänen weitaus zu nied-
rig. Schon daſs der Senat es durchsetzte die sämmtlichen Nicht-
bürger vor dem entscheidenden Abstimmungstag aus der Stadt
weisen zu dürfen, zeigte das Schicksal, das dem Antrag selbst
bevorstand. Als dann vor der Abstimmung ein College des Gra-
cchus Livius Drusus gegen das Gesetz intercedirte, nahm das
Volk diesen Einspruch in einer Weise auf, daſs Gracchus nicht
wagen konnte weiter zu gehen oder gar dem Drusus das Schick-
sal des Marcus Octavius zu bereiten. — Es war, wie es scheint,
dieser Erfolg, der dem Senat den Muth gab zum Sturz des sieg-
reichen Demagogen dieselbe Operation in gröſserem Maſsstab zu
wiederholen. Gracchus Macht ruhte auf der Kaufmannschaft und
dem Proletariat, zunächst auf dem letzteren, das in diesem
Kampf, in welchem militärischer Rückhalt beiderseits nicht vor-
handen war, gleichsam die Rolle der Armee spielte. Es war ein-
leuchtend, daſs der Senat weder der Kaufmannschaft noch dem
Proletariat ihre neuen Rechte abzuzwingen mächtig genug war;
jeder Versuch die Getreidegesetze oder die neue Geschwornen-
ordnung anzugreifen hätte in etwas plumperer oder etwas civili-
sirterer Form zu einem Straſsenkrawall geführt, dem der Senat
völlig wehrlos gegenüber stand. Allein es war nicht minder ein-
leuchtend, daſs Gracchus selbst und diese Kaufleute und Proleta-
rier einzig zusammengehalten wurden durch den gegenseitigen
Vortheil und daſs sowohl die Männer der materiellen Interessen
als der eigentliche Pöbel ihre Posten und ihr Brotkorn ebenso
von jedem andern zu nehmen bereit waren wie von Gaius Grac-
chus. Gracchus Institutionen standen, für den Augenblick
wenigstens, unerschütterlich fest mit Ausnahme einer einzigen:
seiner eigenen Oberhauptschaft. Die Schwäche dieser lag darin,
daſs in Gracchus Verfassung zwischen Haupt und Heer schlech-
terdings ein Treuverhältniſs nicht bestand und in der neuen Ver-
fassung wohl alle andern Elemente der Lebensfähigkeit vorhan-
den waren, nur ein einziges nicht: das sittliche Band zwischen
Herrscher und Beherrschten, ohne das jeder Staat auf thönernen
Füſsen steht. In der Verwerfung des Antrags die Latiner in den
Bürgerverband aufzunehmen war es mit schneidender Deutlich-
keit zu Tage gekommen, daſs die Menge in der That niemals
für Gracchus stimmte, sondern immer nur für sich; die Aristo-
kratie entwarf den Plan dem Urheber der Getreidespenden und
Landanweisungen auf seinem eigenen Boden die Schlacht anzu-
bieten. Es versteht sich von selbst, daſs der Senat dem Proleta-
riat nicht bloſs das Gleiche, was Gracchus ihm an Getreide und
Röm. Gesch. II. 8
[114]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
sonst zugesichert hatte, sondern noch mehr bot. Im Auftrag des
Senats schlug der Volkstribun Marcus Livius Drusus vor den
gracchischen Landempfängern den auferlegten Zins (S. 81) zu
erlassen und ihre Landloose für freies und veräuſserungsfähiges
Eigenthum zu erklären; ferner statt in den überseeischen das
Proletariat zu versorgen in zwölf italischen Colonien, jede von
3000 Colonisten, zu deren Ausführung das Volk die geeigneten
Männer ernennen möge; nur Drusus selbst verzichtete — im Ge-
gensatz gegen die gracchische Familiencommission — auf jegliche
Theilnahme an diesem ehrenvollen Geschäft. Als diejenigen, die
die Kosten dieses Plans zu tragen hätten, wurden vermuthlich
die Latiner genannt, denn anderes occupirte Domanialland als
das von ihnen benutzte scheint nicht mehr in Italien vorhanden
gewesen zu sein. Auch finden sich einzelne Verfügungen des
Drusus, wie die Bestimmung, daſs dem latinischen Soldaten nur
von seinem vorgesetzten latinischen, nicht von dem römischen
Offizier Stockprügel sollten zuerkannt werden dürfen, die allem
Anschein nach den Zweck hatten die Latiner für andere Verluste
zu beschwichtigen. Der Plan war nicht von den feinsten. Die
Concurrenzunternehmung war allzu deutlich, allzu sichtlich das
Bestreben das schöne Band zwischen Adel und Proletariat durch
weitere gemeinschaftliche Tyrannisirung der Latiner noch enger
zu ziehen, die Frage allzu nahe gelegt, wo denn auf der Halbinsel,
nachdem die italischen Domänen in der Hauptsache schon weg-
gegeben waren, das für 36000 neue Bauerhufen erforderliche
occupirte Domanialland eigentlich belegen sein möge, endlich
Drusus Erklärung, daſs er mit der Ausführung seines Gesetzes
nichts zu thun haben wolle, so verwünscht gescheit, daſs sie bei-
nahe herzlich albern war. Indeſs für das plumpe Wild, das man
fangen wollte, war die grobe Schlinge eben recht. Es kam hinzu
und war vielleicht entscheidend, daſs Gracchus, auf dessen per-
sönlichen Einfluſs alles ankam, eben in Africa war um die kar-
thagische Colonie einzurichten, und sein Stellvertreter in der
Hauptstadt Marcus Flaccus durch sein heftiges und ungeschick-
tes Auftreten den Gegnern in die Hände arbeitete. Das ‚Volk‘
ratificirte demnach die livischen Gesetze ebenso bereitwillig wie
früher die sempronischen. Es vergalt sodann dem neuesten
Wohlthäter wie üblich dadurch, daſs es dem früheren einen
mäſsigen Tritt versetzte und als dieser sich für das J. 633 zum
drittenmal um das Tribunat bewarb, ihn nicht wieder wählte;
wobei übrigens auch noch Unrechtfertigkeiten des von Gracchus
früher beleidigten wahlleitenden Tribuns vorgekommen sein sollen.
[115]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
Damit war das Fundament seiner Machthaberschaft zusammen-
gebrochen. Ein zweiter Schlag traf ihn durch die Consulwahlen,
die nicht bloſs im Allgemeinen gegen die Demokratie ausfielen,
sondern durch welche in Lucius Opimius der Mann, der als
Praetor 629 Fregellae erobert hatte, an die Spitze des Staates
gestellt ward, eines der entschiedensten und am wenigsten be-
denklichen Häupter der strengen Adelspartei und fest entschlos-
sen den gefährlichen Gegner bei erster Gelegenheit zu beseitigen.
Sie fand sich bald. Am 10 Dec. 632 hörte Gracchus auf Volks-
tribun zu sein; am 1 Jan. 633 trat Opimius sein Amt an. Der
erste Angriff traf wie billig die nützlichste und die unpopulärste
Maſsregel des Gracchus, die Wiederherstellung von Karthago.
Hatte man bisher indirect durch die lockenderen italischen Co-
lonien die überseeischen angegriffen, so wühlten jetzt africanische
Hyänen die Grenzsteine der neugesetzten Colonie auf und die rö-
mischen Pfaffen bescheinigten auf Verlangen, daſs solches Wun-
der und Zeichen ausdrücklich warnen solle vor dem Wiederanbau
der gottverfluchten Stätte; der Senat konnte nicht umhin ein
Gesetz vorschlagen zu lassen, das die Ausführung der Colonie
Junonia untersagte. Gracchus, der mit den andern zur Anle-
gung derselben ernannten Männern eben damals die Colonisten
auslas, erschien auf dem Capitol, wohin die Bürgerschaft beru-
fen war an dem Tag der Abstimmung, um mit seinem Anhang
die Verwerfung des Gesetzes zu bewirken. Gewaltthätigkeiten
wünschte er zu vermeiden, um den Gegnern nicht den Vorwand
den sie suchten selbst an die Hand zu geben; indeſs hatte er
nicht wehren können, daſs ein groſser Theil seiner Getreuen, der
Katastrophe des Tiberius sich erinnernd und wohl bekannt mit
den Absichten der Aristokratie, bewaffnet gekommen war und
bei der ungeheuren Aufregung auf beiden Seiten waren Händel
kaum zu vermeiden. In der Halle des capitolinischen Tempels
verrichtete der Consul Lucius Opimius das übliche Brandopfer;
einer der ihm dabei behülflichen Gerichtsdiener, Quintus Antul-
lius herrschte, die heiligen Eingeweide in der Hand, die ‚schlech-
ten Bürger‘ an die Halle zu räumen und schien sogar an
Gaius selbst Hand legen zu wollen; worauf ein eifriger Graccha-
ner das Schwert zog und den Menschen niederstieſs. Es ent-
stand ein furchtbarer Lärm. Gracchus versuchte vergeblich zum
Volk zu sprechen und die Verantwortung der gotteslästerlichen
Mordthat von sich abzulehnen; er lieferte den Gegnern nur einen
formalen Anklagegrund mehr, indem er ohne es in dem Getüm-
mel zu bemerken, einem eben zum Volk sprechenden Tribun in
8*
[116]VIERTES BUCH. KAPITEL III.
die Rede fiel, worauf ein verschollenes Statut aus der Zeit des
alten Ständehaders (I, 177) die schwerste Strafe gesetzt hatte.
Der Consul Lucius Opimius traf seine Maſsregeln, um den Auf-
stand zum Sturz der republikanischen Verfassung, wie man die
Vorgänge dieses Tages zu bezeichnen beliebte, mit gewaffneter
Hand zu unterdrücken. Er selbst durchwachte die Nacht im
Castortempel am Markte; mit dem frühesten Morgen füllte das
Capitol sich mit kretischen Bogenschützen, Rathhaus und Markt
mit den Männern der Regierungspartei, den Senatoren und der
ihnen anhängigen Fraction der Ritterschaft, welche auf Geheiſs
des Consuls sämmtlich bewaffnet und jeder von zwei bewaffneten
Sclaven begleitet sich eingefunden hatten. Es fehlte keiner von
der Aristokratie; selbst der ehrwürdige hochbejahrte und der
Reform wohlgeneigte Quintus Metellus war mit Schild und
Schwert erschienen. Ein tüchtiger und in den spanischen Krie-
gen erprobter Offizier, Decimus Brutus übernahm das Commando
der bewaffneten Macht; der Rath trat in der Curie zusammen.
Die Bahre mit der Leiche des Gerichtsdieners ward vor der
Curie niedergesetzt; der Rath, gleichsam überrascht, erschien in
Masse an der Thüre um die Leiche in Augenschein zu nehmen
und zog sich sodann wieder zurück um das Weitere zu beschlie-
ſsen. Die Führer der Demokratie hatten sich vom Capitol in ihre
Häuser begeben; Marcus Flaccus hatte die Nacht damit zuge-
bracht zum Straſsenkrieg zu rüsten, während Gracchus es zu
verschmähen schien mit dem Verhängniſs zu kämpfen. Als man
am andern Morgen die auf dem Capitol und dem Markt getroffe-
nen Anstalten der Gegner erfuhr, begaben sie sich auf den Aven-
tin, die alte Burg der Volkspartei in den Kämpfen der Patricier
und Plebejer. Schweigend und unbewaffnet ging Gracchus dort
hin; Flaccus rief die Sclaven zu den Waffen und verschanzte
sich im Tempel der Diana, während er zugleich seinen jüngeren
Sohn Quintus in das feindliche Lager sandte, um wo möglich
einen Vergleich zu vermitteln. Er kam zurück mit der Meldung,
daſs die Aristokratie unbedingte Ergebung verlange; zugleich
brachte er die Ladung des Senats an Gracchus und Flaccus vor
dem Senat zu erscheinen und wegen Verletzung der tribunici-
schen Majestät sich zu verantworten. Gracchus wollte der Vor-
ladung folgen, allein Flaccus hinderte ihn daran und wiederholte
statt dessen den ebenso albernen wie feigen Versuch mit solchen
Gegnern zu einem Vergleich zu gelangen. Als statt der beiden
vorgeladenen Führer bloſs der junge Quintus Flaccus abermals
sich einstellte, behandelte der Consul die Weigerung jener sich
[117]DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
zu stellen als den Anfang der offenen Insurrection gegen die Re-
gierung; er lieſs den Boten verhaften und gab das Zeichen zum
Angriff auf den Aventin, indem er zugleich in den Straſsen aus-
rufen lieſs, daſs dem, der das Haupt des Gracchus oder des
Flaccus bringe, die Regierung dasselbe buchstäblich mit Gold
aufwiegen werde, so wie daſs sie jedem, der vor dem Beginn des
Kampfs den Aventin verlasse, volle Straflosigkeit gewährleiste.
Die Reihen auf dem Aventin lichteten sich schnell; der tapfere
Adel im Verein mit den Kretern und den Sclaven erstürmte den
fast unvertheidigten Berg und erschlug wen er vorfand, bei 250
meist geringe Leute. Marcus Flaccus flüchtete mit seinem älte-
sten Sohn in einen Versteck, wo sie bald nachher aufgejagt und
niedergemacht wurden. Gracchus hatte als das Gefecht begann
sich in den Tempel der Minerva zurückgezogen und wollte hier
sich mit dem Schwerte durchbohren, als sein Freund Publius
Laetorius ihm in den Arm fiel und ihn beschwor wo möglich
sich für bessere Zeiten zu erhalten. Gracchus lieſs sich bewegen
einen Versuch zu machen nach dem andern Ufer der Tiber zu
entkommen; allein den Berg hinabeilend stürzte er und ver-
stauchte sich den Fuſs. Ihm Zeit zum Entrinnen zu geben, war-
fen seine beiden Begleiter Marcus Pomponius an der Porta Tri-
gemina unter dem Aventin, Publius Laetorius auf der Tiber-
brücke, da wo einst Horatius Cocles allein gegen das Etruskerheer
gestanden hatte, den Verfolgern sich entgegen und lieſsen sich
niedermachen; so gelangte Gracchus, nur von seinem Sclaven
Euporus begleitet, in die Vorstadt am rechten Ufer der Tiber.
Hier im Hain der Furrina fand man später die beiden Leichen;
es schien, als habe der Sclave zuerst dem Herrn und sodann sich
selber den Tod gegeben. Die Köpfe der beiden gefallenen Führer
wurden der Regierung wie befohlen eingehändigt; der Ueberbrin-
ger des Kopfes des Gracchus, ein vornehmer Mann, Lucius
Septumuleius erhielt den bedungenen Preis und darüber ausge-
zahlt, dagegen die Mörder des Flaccus, geringe Leute, wurden
mit leeren Händen fortgeschickt. Die Körper der Getödteten
wurden in den Fluſs geworfen, die Häuser der Führer der Plün-
derung der Menge preisgegeben. Gegen die Anhänger des Gra-
cchus begann der Prozeſskrieg im groſsartigsten Stil; bis 3000
derselben sollen im Kerker aufgeknüpft worden sein, unter ihnen
der achtzehnjährige Quintus Flaccus, der an dem Kampf nicht
theilgenommen hatte und wegen seiner Jugend und seiner Lie-
benswürdigkeit allgemein bedauert ward. Auf dem Freiplatz un-
ter dem Capitol, wo der nach wiederhergestelltem innerem Frie-
[118]VIERTES BUCH. KAP. III. DIE REVOL. U. G. GRACCHUS.
den von Camillus geweihte Altar (I, 194) und andere bei ähnli-
chen Veranlassungen errichtete Heiligthümer der Eintracht sich
befanden, wurden diese kleinen Kapellen niedergerissen und aus
dem Vermögen der getödteten oder verurtheilten Hochverräther,
das bis auf die Mitgift ihrer Frauen hin confiscirt ward, nach
Beschluſs des Senats von dem Consul Lucius Opimius ein neuer
glänzender Tempel der Eintracht mit dazu gehöriger Halle er-
richtet; es war allerdings zeitgemäſs die Zeichen der alten Ein-
tracht zu beseitigen und eine neue zu inauguriren über den Lei-
chen der drei Enkel des Siegers von Zama, die nun alle, zuerst
Tiberius Gracchus, dann Scipio Aemilianus, endlich der jüngste
und gewaltigste von ihnen Gaius Gracchus von der Revolution
verschlungen worden waren. Der Gracchen Andenken blieb of-
ficiell geächtet; nicht einmal das Trauergewand durfte Cornelia
um den Tod ihres letzten Sohnes anlegen; allein die leidenschaft-
liche Anhänglichkeit, die gar viele im Leben für die beiden edlen
Brüder und vornämlich für Gaius empfunden hatten, zeigte sich
in rührender Weise auch nach ihrem Tode in der fast religiösen
Verehrung, die die Menge ihrem Andenken und den Stätten, wo
sie gefallen waren, allen polizeilichen Vorkehrungen zum Trotz
fortfuhr zu zollen.
[[119]]
KAPITEL IV.
Die Restaurationsherrschaft.
Das neue Gebäude, das Gaius Gracchus aufgeführt hatte,
war mit seinem Tode eine Ruine. Wohl war sein Tod wie der
seines Bruders zunächst nichts als ein Act der Rache; allein es
war doch auch ein sehr wesentlicher Schritt zur Restauration der
alten Verfassung, wenn aus der Monarchie, eben da sie im Begriff
war sich zu begründen, die Person des Monarchen beseitigt
ward. Es schien eine Personenfrage, aber es war mehr; haupt-
sächlich deſshalb, weil eben damals schlechterdings Niemand
vorhanden war, der, sei es durch Blutsverwandtschaft mit dem
gefallenen Staatsoberhaupt, sei es durch überwiegende Capacität
auch nur zu einem Versuch den erledigten Platz einzunehmen
sich legitimirt gefühlt hätte. Gaius war ohne Kinder gestorben
und auch Tiberius hinterlassener Knabe starb, bevor er zu sei-
nen Jahren kam; die ganze sogenannte Volkspartei war buch-
stäblich ohne irgend einen auch nur namhaften Führer. Die gra-
cchische Verfassung glich einer Festung ohne Commandanten;
Mauern und Besatzung waren durchaus intact, aber der Feld-
herr fehlte und es war Niemand vorhanden, der an den leeren
Platz sich hätte setzen wollen als eben die gestürzte Regie-
rung. Auch Gaius Gracchus hatte den Satz im Allgemei-
nen gelten lassen, daſs die Regierungsgeschäfte zunächst vor
den Senat gehörten und nur durch eine Reihe von Ausnahms-
bestimmungen denselben thatsächlich zu nichte gemacht; es ver-
stand sich von selbst, daſs nach seinem erblosen Abgang das
[120]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
Regiment wiederum wie von selbst in die Hände des Senats zu-
rück kam.
Allein das neue Regiment des Senats war denn doch ein
wesentlich anderes geworden; es glich vielmehr dem Regiment,
wie es Gracchus zu führen gedacht hatte, als dem der älteren
Aristokratie. Die Oligarchie erschien neugerüstet in dem Heer-
zeug der gestürzten Tyrannis; wie der Senat den Gracchus mit
dessen eigenen Waffen aus dem Felde geschlagen hatte, so fuhr
er auch fort zunächst mit der Verfassung der Gracchen zu regie-
ren, allerdings mit dem Hintergedanken sie seiner Zeit wo nicht
ganz zu beseitigen, doch zu reinigen von den der regierenden
Aristokratie in der That feindlichen Elementen. Fürs erste
reagirte man wesentlich nur gegen die Personen, rief den Publius
Popillius nach Cassirung der ihn betreffenden Verfügungen aus
der Verbannung zurück (633) und machte den Gracchanern den
Prozeſskrieg; wogegen der Versuch der Volkspartei den Lucius
Opimius nach Niederlegung seines Amtes wegen Hochverrath zur
Verurtheilung zu bringen von der Regierungspartei vereitelt
ward (634). Es ist für den Charakter dieser Restaurationsregie-
rung bezeichnend, wie die Aristokratie an Gesinnungstüchtigkeit
fortschritt. Gaius Carbo war einst Bundesgenosse der Gracchen
gewesen, hatte aber seit langem sich bekehrt (S. 96) und noch
kürzlich als Vertheidiger des Opimius seinen Eifer und seine
Brauchbarkeit bewiesen. Aber er blieb der Ueberläufer; als gegen
ihn die gleiche Anklage wie gegen Opimius erhoben ward, lieſs
die Regierungspartei nicht ungern ihn fallen und Carbo, zwischen
beiden Parteien sich verloren sehend, gab sich mit eigener Hand
den Tod. So erwiesen die Männer der Reaction in Personenfra-
gen sich als lautere Aristokraten. Dagegen die Getreideverthei-
lungen, die Besteuerung der Provinz Asia, die gracchische Ge-
schwornen- und Gerichtsordnung griff die Reaction zunächst
nicht an und schonte nicht bloſs die Kaufmannschaft und das
hauptstädtische Proletariat, sondern fuhr fort, wie man bei Ein-
bringung der livischen Gesetze begonnen hatte, diesen Mächten
und vor allem dem Proletariat, noch weit entschiedener zu hul-
digen, als die Gracchen dies gethan hatten; um so mehr, als die
Hegung und Pflegung der Pöbelinteressen sich aufs vollkommenste
vertrug mit dem eigenen Vortheil der Aristokratie und dabei nichts
weiter geopfert ward als bloſs das gemeine Beste. Alle dieje-
nigen Maſsregeln, die von Gaius Gracchus zur Förderung des
öffentlichen Wohls getroffen waren, eben den besten, freilich be-
greiflicher Weise auch den unpopulärsten Theil seiner Gesetz-
[121]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
gebung, lieſs die Aristokratie fallen. Nichts wurde so rasch
und so erfolgreich angegriffen wie der groſsartigste seiner Ent-
würfe zunächst die römische Bürgerschaft und Italien, sodann
Italien und die Provinzen rechtlich gleichzustellen und indem
also der Unterschied zwischen bloſs herrschenden und zehren-
den und bloſs dienenden und arbeitenden Staatsangehörigen weg-
geräumt ward, zugleich durch die umfassendste und systema-
tischste Emigration, die die Geschichte kennt, die sociale Frage
zu lösen. Mit der ganzen Verbissenheit und dem ganzen gräm-
lichen Eigensinn der Altersschwäche drängte die restaurirte Oli-
garchie den Grundsatz der abgelebten Geschlechter, daſs Italien
das herrschende Land und Rom in Italien die herrschende Stadt
bleiben müsse, aufs neue der Gegenwart auf. Schon bei Leb-
zeiten des Gracchus war die Zurückweisung der italischen Bun-
desgenossen eine vollendete Thatsache und war gegen den gro-
ſsen Fundamentalsatz der überseeischen Colonisation ein sehr
ernsthafter Angriff gerichtet worden, der die nächste Ursache zu
Gracchus Untergang gewesen war. Nach seinem Tode wurde
der Plan einer Wiederherstellung Karthagos mit leichter Mühe
von der Regierungspartei beseitigt, wenn gleich die einzelnen
etwa schon vertheilten Landloose den Empfängern geblieben
sein mögen. Zwar daſs der demokratischen Partei auf einem
andern Puncte eine ähnliche Gründung gelang, konnte sie nicht
wehren: im Verlauf der Eroberungen jenseit der Alpen, welche
Marcus Flaccus begonnen hatte, wurde daselbst im J. 636 die
Colonie Narbo (Narbonne) gegründet, die älteste überseeische
Bürgerstadt im römischen Reiche, welche trotz der vielfachen
Anfechtungen der Regierungspartei, trotz des geradezu auf Auf-
hebung derselben vom Senat gestellten Antrags dennoch dauern-
den Bestand hatte. Indeſs abgesehen von dieser in ihrer Verein-
zelung nicht sehr bedeutenden Ausnahme gelang es der Regierung
die Landanweisung auſserhalb Italien durchgängig zu verhindern.
In gleichem Sinn wurde die italische Domanialfrage geordnet. Was
von den Domänen bereits vertheilt war, blieb den Empfängern; die
von Gracchus im Interesse des Gemeinwesens hinzugefügten Be-
schränkungen, Erbzins und Veräuſserungsverbot, hatte bereits
Marcus Drusus aufgehoben. Dagegen die noch nach Occupa-
tionsrecht besessenen Domänen, welche auſser dem von den La-
tinern genutzten Domanialland zum gröſsten Theil bestanden
haben werden in dem gemäſs des gracchischen Maximum
(S. 81) den bisherigen Inhabern gebliebenen Grundbesitz, war
man entschlossen den bisherigen Occupanten definitiv zu vindi-
[122]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
ciren und auch die Möglichkeit künftiger Auftheilung abzuschnei-
den. Freilich wären es zunächst diese Ländereien gewesen, aus
denen die 36000 von Drusus verheiſsenen neuen Bauerhufen
hätten gebildet werden sollen; allein man sparte sich die Unter-
suchung, wo denn unter dem Monde diese hunderttausende von
Morgen italischen Domaniallands belegen sein möchten, und legte
das livische Colonialgesetz, das seinen Dienst gethan, stillschwei-
gend zu den Acten. Dagegen wurde durch ein Gesetz, das im
Auftrag des Senats der Volkstribun Spurius Thorius durch-
brachte, die gesetzlich immer noch bestehende Landtheilungs-
commission im J. 635 aufgehoben und den Occupanten des Do-
maniallandes ein fester Zins auferlegt, dessen Ertrag dem haupt-
städtischen Pöbel zu Gute kam — es scheint, indem die
Kornvertheilung zum Theil darauf fundirt ward: noch weiter
gehende Vorschläge, vielleicht eine Steigerung der Getreidespen-
den, wehrte der verständige Volkstribun Gaius Marius ab. Acht
Jahre später (643) geschah der letzte Schritt, indem durch einen
neuen Volksschluſs* das occupirte Domanialland geradezu um-
gewandelt ward in zinsfreies Privateigenthum der bisherigen Oc-
cupanten. Man fügte hinzu, daſs in Zukunft Domanialland über-
haupt nicht occupirt, sondern entweder verpachtet werden oder als
gemeine Weide offen stehen solle; für den letzten Fall ward durch
Feststellung eines sehr niedrigen Maximum von zehn Stück
Groſs- und funfzig Stück Kleinvieh dahin gewirkt, daſs nicht
der groſse Heerdenbesitzer den kleinen thatsächlich ausschlieſse
— verständige Bestimmungen, in denen die Schädlichkeit des
Occupationssystems nachträglich officielle Anerkennung fand,
die aber leider erst getroffen wurden, als in Folge dieses Sy-
stems der Staat bereits wesentlich um seine Domanialbesitzun-
gen gekommen war. So war der Hauptzweck erreicht und die
Occupation in Eigenthum verwandelt. Indem die römische Ari-
stokratie also für sich selber sorgte, beschwichtigte sie zugleich
die italischen Bundesgenossen dadurch daſs sie denselben an dem
von ihnen und namentlich von ihrer municipalen Aristokratie
genutzten latinischen Domanialland zwar nicht das Eigenthum
verlieh, aber doch das ihnen durch ihre Privilegien verbriefte
Recht daran ungeschmälert wahrte. Die Gegenpartei war in der
üblen Lage, daſs in den wichtigsten materiellen Fragen die Inter-
[123]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
essen der italischen Opposition denen der hauptstädtischen
schnurstracks entgegenliefen; es war begreiflich, daſs jene mit
der römischen Regierung eine Art Bündniſs einging und gegen
die ausschweifenden Absichten mancher römischer Demagogen
bei dem Senat Schutz suchte und fand. Während also die re-
staurirte Regierung es sich angelegen sein lieſs die Keime zum
Bessern, die in der gracchischen Verfassung vorhanden waren,
gründlich auszureuten, blieb sie den nicht zum Heil des Ganzen
von Gracchus erweckten feindlichen Mächten gegenüber vollstän-
dig ohnmächtig. Das hauptstädtische Proletariat blieb bestehen
in anerkannter Thätigkeit und Zehrungsgerechtigkeit; die Ge-
schwornen aus dem Kaufmannsstand lieſs der Senat gleichfalls
sich gefallen, so widerwärtig auch dieses Joch eben dem besseren
und stolzeren Theil der Aristokratie fiel. Wohl versuchte sie,
wie die letzte lange noch in den Gemüthern der Zeitgenossen
nachzitternde Katastrophe allmählig in der Erinnerung der Men-
schen zurücktrat, sich ihrer unwürdigen Fesseln zu entledigen.
Das Gesetz des Marcus Aemilius Scaurus von 632, das wenig-
stens die verfassungsmäſsigen Beschränkungen des Stimmrechts
der Freigelassenen wieder einschärfte, war ein Versuch, freilich
ein sehr zahmer und für lange Jahre der einzige, der senatori-
schen Regierung ihren Pöbeltyrannen etwas wieder zu bändigen.
Gleicher Art ist der Antrag, den der Consul Quintus Caepio sieb-
zehn Jahre nach Einführung der Rittergerichte (648) einbrachte
auf Zurückgabe der Prozesse an senatorische Geschworne. Er
zeigte, was die Regierung wünschte, aber auch was sie ver-
mochte, wenn es sich nicht darum handelte Domänen einzuzie-
hen, sondern einem einfluſsreichen Stande gegenüber eine Maſs-
regel durchzusetzen: sie fiel damit durch*. Zu einer Emancipa-
tion der Regierung von ihren unbequemen Machtgenossen kam
es nicht; wohl aber trugen diese Maſsregeln dazu bei das niemals
aufrichtige Einverständniſs der regierenden Aristokratie mit der
Kaufmannschaft und dem Proletariat noch ferner zu trüben.
Beide wuſsten sehr genau, daſs der Senat alle Zugeständnisse
nur aus Angst und widerwillig gewährte; sie waren also auch
sehr bereit jedem andern Machthaber, der ihnen mehr oder auch
[124]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
nur das Gleiche bot, dieselben Dienste zu leisten, und hatten
nichts dagegen, wenn sich eine Gelegenheit gab, den Senat zu
chicaniren oder zu hemmen; sie waren weder durch Dankbar-
keits- noch durch Vortheilsrücksichten an die Herrschaft des
Senats dauernd gefesselt. So regierte die Restauration weiter
mit den Wünschen und Gesinnungen der legitimen Aristokratie
und mit der Verfassung und den Regierungsmitteln der Tyrannis.
Ihre Herrschaft ruhte nicht bloſs auf den gleichen Basen wie die
des Gracchus, sondern sie war auch gleich schlecht, ja noch
schlechter befestigt; sie war stark, wo sie mit dem Pöbel im
Bunde zweckmäſsige Institutionen umstieſs, aber den Gassenban-
den wie den kaufmännischen Interessen gegenüber vollkommen
machtlos. Sie saſs auf dem erledigten Thron mit bösem Gewis-
sen und getheilten Hoffnungen, den Institutionen des eigenen
Staates grollend und doch unfähig auch nur planmäſsig sie an-
zugreifen, unsicher im Thun und im Lassen auſser wo der eigene
materielle Vortheil sprach, ein Bild der Treulosigkeit gegen die
eigene wie die entgegengesetzte Partei, des inneren Wider-
spruchs, der kläglichsten Ohnmacht, des gemeinsten Eigen-
nutzes, ein unübertroffenes Ideal der Miſsregierung.
Es konnte nicht anders sein; die gesammte Nation war in
intellectuellem und sittlichem Verfall, vor allem aber die höchsten
Stände. Die Aristokratie vor der Gracchenzeit war wahrlich
nicht überreich an Talenten und die Bänke des Senats vollge-
drängt von feigem und verlottertem adlichen Gesindel; indeſs es
saſsen doch in demselben auch Scipio Aemilianus, Gaius Lae-
lius, Quintus Metellus, Publius Crassus, Publius Scaevola und
zahlreiche andere achtbare und fähige Männer, und wer einigen
guten Willen mitbrachte, konnte urtheilen, daſs der Senat in der
Unrechtfertigkeit ein gewisses Maſs und ein gewisses Decorum
einhalte. Diese Aristokratie war gestürzt und sodann wiederher-
gestellt worden; fortan ruhte auf ihr der Fluch der Restauration.
Hatte die Aristokratie früher regiert schlecht und recht und seit
mehr als einem Jahrhundert ohne jede fühlbare Opposition, so
hatte die durchgemachte Krise wie ein Blitz in dunkler Nacht
ihr den Abgrund gezeigt, der vor ihren Füſsen klaffte. War es
ein Wunder, daſs fortan der Groll immer und, wo sie es wagte,
der Schrecken das Regiment der altadlichen Herrenpartei be-
zeichnete? daſs die Regierenden noch unendlich schroffer und
gewaltsamer als bisher als festgeschlossene Partei zusammen-
standen gegen die nicht regierende Menge? daſs die Familien-
politik jetzt eben wie in den schlimmsten Zeiten des Patriciats
[125]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
wieder um sich griff und zum Beispiel die vier Söhne und
(wahrscheinlich) die zwei Neffen des Quintus Metellus, mit einer
einzigen Ausnahme lauter unbedeutende, zum Theil ihrer Einfalt
wegen berufene Leute, innerhalb funfzehn Jahre (631-645)
sämmtlich zum Consulat, mit Ausnahme eines Einzigen auch
zum Triumph gelangten, von den Schwiegersöhnen und so wei-
ter zu schweigen? daſs je gewalt- und grausamer einer der ihri-
gen gegen die Gegenpartei aufgetreten war, er desto entschiede-
ner von ihnen gefeiert, dem echten Aristokraten jeder Fvevel,
jede Schamlosigkeit verziehen ward? daſs die Regierenden und
die Regierten nur darin nicht zwei kriegführenden Parteien gli-
chen, daſs in ihrem Krieg kein Völkerrecht galt? Es war leider
nur zu begreiflich, daſs wenn die alte Aristokratie das Volk mit
Ruthen schlug, diese restaurirte es mit Skorpionen züchtigte.
Sie kam zurück; aber sie kam weder klüger noch besser. Nie
hat es bis auf diese Zeit der römischen Aristokratie so vollstän-
dig an staatsmännischen und militärischen Capacitäten gemangelt
wie in dieser Restaurationsepoche zwischen der gracchischen
und der cinnanischen Revolution. Bezeichnend dafür ist der
Koryphäe der senatorischen Partei dieser Zeit Marcus Aemilius
Scaurus. Der Sohn hochadlicher, aber unvermögender Aeltern
und darum genöthigt Gebrauch zu machen von seinen nicht ge-
meinen Talenten schwang er sich auf zum Consul und Censor,
war lange Jahre Vormann des Senats und das politische Orakel
seiner Standesgenossen und verewigte seinen Namen nicht bloſs
als Redner und Schriftsteller, sondern auch als Urheber einiger
der ansehnlichsten in diesem Jahrhundert ausgeführten Staats-
bauten. Indeſs wenn man näher zusieht, laufen seine vielgefeier-
ten Groſsthaten darauf hinaus, daſs er als Feldherr einige wohl-
feile Dorftriumphe in den Alpen, als Staatsmann mit seinem
Stimm- und Luxusgesetz einige ungefähr ebenso ernsthafte
Siege über den revolutionären Zeitgeist erfocht, sein eigentliches
Talent indeſs darin bestand ganz ebenso zugänglich und bestech-
lich zu sein wie jeder andere rechtschaffene Senator, aber mit
einiger Schlauheit den Augenblick, wo die Sache bedenklich zu
werden anfing, zu wittern und vor allem durch seine vornehme
und ehrwürdige Erscheinung vor dem Publicum den Fabricius
zu agiren. In militärischer Hinsicht finden sich zwar einige
ehrenvolle Ausnahmen tüchtiger Offiziere aus den höchsten Krei-
sen der Aristokratie; die Regel aber war, daſs die vornehmen
Herren, wenn sie an die Spitze der Armeen treten sollten, schleu-
nigst aus den griechischen Kriegshandbüchern und den römi-
[126]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
schen Annalen zusammenlasen was um einen militärischen Dis-
curs zu führen nöthig war und sodann im Feldlager im besten
Fall das wirkliche Commando einem Offizier von niedriger Her-
kunft und erprobter Bescheidenheit übergaben. In der That,
wenn ein paar Jahrhunderte zuvor der Senat einer Versammlung
von Königen glich, so spielten diese ihre Nachfahren nicht übel
die Prinzen. Aber der Unfähigkeit dieser restaurirten Adlichen
hielt völlig die Wage ihre politische und sittliche Nichtswürdig-
keit. Wenn nicht die religiösen Zustände, auf die zurückzukom-
men sein wird, von der wüsten Zerfahrenheit dieser Zeit ein
treues Spiegelbild böten und ebenso die äuſsere Geschichte in
dieser Epoche die vollkommene Schlechtigkeit der römischen
Adlichen als einen ihrer wesentlichsten Factoren aufwiese, so
würden die entsetzlichen Verbrechen, die in den höchsten Krei-
sen Roms Schlag auf Schlag zum Vorschein kamen, allein die-
selben hinreichend charakterisiren.
Die Verwaltung war nach innen und nach auſsen, was sie
sein konnte unter einem solchen Regiment. Der sociale Ruin
Italiens griff mit erschreckender Geschwindigkeit um sich; seit die
Aristokratie das Auskaufen der Kleinbesitzer sich gesetzlich hatte
erlauben lassen und in ihrem neuen Uebermuth das Austreiben
derselben immer häufiger sich selbst erlaubte, verschwanden die
Bauerstellen wie die Regentropfen im Meer. Wie mit der politi-
schen die ökonomische Oligarchie mindestens Schritt hielt, zeigt
die Aeuſserung, die ein gemäſsigt demokratischer Mann, Lucius
Marcius Philippus um 650 that, daſs es in der ganzen Bürger-
schaft kaum 2000 vermögende Familien gebe. Den praktischen
Commentar dazu lieferten abermals die Sclavenaufstände, welche
in den ersten Jahren des kimbrischen Krieges alljährlich in Ita-
lien ausbrachen, so in Nuceria, in Capua, im Gebiet von Thurii.
Diese letzte Zusammenrottung war schon so bedeutend, daſs
gegen sie der städtische Praetor mit einer Legion hatte marschi-
ren müssen und dennoch nicht durch Waffengewalt, sondern
durch tückischen Verrath der Insurrection Herr geworden war.
Auch das war eine bedenkliche Erscheinung, daſs an der Spitze
derselben kein Sclave gestanden hatte, sondern der römische
Ritter Titus Vettius, den seine Schulden zu dem wahnsinnigen
Schritt getrieben hatten seine Sclaven frei und sich zu ihrem
König zu erklären (650). Wie gefährlich die Anhäufung der
Sclavenmassen in Italien der Regierung erschien, beweist die
Vorsichtsmaſsregel hinsichtlich der um 611 erworbenen Gold-
wäschereien von Victumulae; die Pächter wurden zuerst ver-
[127]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
pflichtet nicht über 5000 Arbeiter darin anzustellen und sodann
der Betrieb durch Senatsbeschluſs gänzlich eingestellt. Unter
einem Regiment, wie das gegenwärtige, war in der That alles zu
fürchten, wenn wie sehr möglich das Heer der Transalpiner in
Italien eindrang und die groſsentheils ihnen stammverwandten
Sclaven zu den Waffen rief. — Verhältniſsmäſsig mehr noch lit-
ten die Provinzen. Man versuche sich vorzustellen, wie es in
Ostindien aussehen würde, wenn die englische Aristokratie wäre,
was in jener Zeit die römische war, und man wird eine Vorstel-
lung der Lage von Sicilien und Asia haben. Die Gesetzgebung,
indem sie der Kaufmannschaft die Controle der Beamten über-
trug, nöthigte diese gewissermaſsen gemeinschaftliche Sache mit
jener zu machen und durch unbedingte Nachgiebigkeit gegen die
Capitalisten in den Provinzen sich unbeschränkte Plünderungs-
freiheit und Schutz vor der Anklage zu erkaufen. Neben diesen
officiell und halbofficiell angestellten Räubern plünderten Land-
und Seepiraten die sämmtlichen Landschaften des Mittelmeers.
Vor allem in den asiatischen Gewässern trieben die Flibustier es
so arg, daſs selbst die römische Regierung sich genöthigt sah im
J. 652 eine wesentlich aus den Schiffen der abhängigen Kaufstädte
gebildete Flotte unter dem mit proconsularischer Gewalt beklei-
deten Praetor Marcus Antonius nach Kilikien zu entsenden. Sie
brachte nicht bloſs eine Anzahl Corsarenschiffe auf und nahm einige
Felsennester aus, sondern die Römer richteten hier sich sogar für
die Dauer ein und besetzten zur Unterdrückung des Seeraubs in
dem Hauptsitz desselben, dem rauhen oder westlichen Kilikien,
feste militärische Positionen, was der Anfang war zur Einrichtung
der seitdem unter den römischen Aemtern erscheinenden Provinz
Kilikien*. Die Absicht war löblich und der Plan zweckmäſsig
[128]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
entworfen; nur bewies leider der Fortbestand und die Steigerung
des Corsarenunwesens in den asiatischen Gewässern und speciell
in Kilikien, daſs die Expedition mit durchaus unzulänglichen
Mitteln unternommen worden war. Aber nirgends kam die Ohn-
macht und die Verkehrtheit der römischen Provinzialverwaltung
in so nackter Blöſse zu Tage, wie in den Insurrectionen des pro-
vinzialen Proletariats, welche mit der Restauration der Aristokra-
tie zugleich in den vorigen Stand wieder eingesetzt zu sein schie-
nen. In trauriger Einförmigkeit wiederholten sich jene aus Auf-
ständen zu Kriegen anschwellenden Schilderhebungen der Scla-
venschaft, eben wie sie um das J. 620 als eine und vielleicht die
nächste Ursache der ersten Revolution aufgetreten waren. Wie-
der gährte es wie dreiſsig Jahre zuvor in der gesammten Scla-
venschaft im römischen Reiche; der italischen Zusammenrottun-
gen ward schon gedacht; in den attischen Silberbergwerken
standen die Grubenarbeiter auf, besetzten das Vorgebirge Sunion
und plünderten längere Zeit hindurch von dort aus die Um-
gegend; an andern Orten zeigten sich ähnliche Bewegungen.
Aber vor allem Sicilien mit seinen Plantagen und den dort zu-
sammenströmenden kleinasiatischen Sclavenhorden war wieder
der Hauptsitz dieser fürchterlichen Vorgänge. Es ist charak-
teristisch für die Gröſse des Uebels, daſs ein Versuch der Regie-
rung den schlimmsten Auswüchsen zu steuern die nächste Ur-
sache der neuen Insurrection ward. Daſs das freie Proletariat in
Sicilien wenig besser daran war als die Sclavenschaft, hatte schon
in ihrem Verhalten zu dem ersten Aufstand sich gezeigt (S. 73);
nach der Besiegung desselben nahmen die römischen Speculan-
ten ihre Revanche und steckten massenweise die römischen Pro-
vinzialen unter ihre Sclavenschaft. In Folge einer hiegegen im
J. 650 vom Senat erlassenen scharfen Verfügung setzte der da-
malige Statthalter von Sicilien Publius Licinius Nerva in Syrakus
ein Freiheitsgericht nieder, das in der That mit Ernst durchgriff;
in kurzer Zeit war in achthundert Prozessen gegen die Sclaven-
besitzer entschieden und die Zahl der anhängig gemachten Sa-
chen beständig im Steigen. Die erschreckten Plantagenbesitzer
*
[129]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
stürmten nach Syrakus um von dem römischen Statthalter die Si-
stirung solcher unerhörten Rechtspflege zu erzwingen; Nerva war
schwach genug sich terrorisiren zu lassen und die prozeſsbittenden
Sclaven mit barschen Worten anzuweisen, daſs sie sich des lästigen
Verlangens von Recht und Gerechtigkeit zu begeben und augen-
blicklich zu ihren Herren zurückzukehren hätten. Die Abgewiese-
nen rotteten statt dessen sich zusammen und gingen in die Berge.
Der Statthalter war auf militärische Maſsregeln nicht gefaſst und
selbst der elende Landsturm der Insel nicht sogleich zur Hand;
weſshalb er ein Bündniſs abschloſs mit einem der bekanntesten
Räuberhauptleute auf der Insel und gegen das Versprechen ihn
selbst zu begnadigen ihn bewog die aufständischen Sclaven durch
Verrath den Römern in die Hand zu spielen. Dieses Schwarmes
ward man also Herr. Allein einer anderen Bande entlaufener Scla-
ven gelang es dafür eine Abtheilung der Besatzung von Enna (Ca-
strogiovanni) zu schlagen. Dieser erste Erfolg verschaffte den In-
surgenten, was sie vor allem bedurften, Waffen und Zulauf. Das
Heergeräth der gefallenen und flüchtigen Gegner gab die erste
Grundlage für ihre militärische Organisation und bald war die
Zahl der Insurgenten auf viele Tausende angeschwollen. Diese
Syrer in der Fremde schienen bereits gleich ihren Vorgängern
sich nicht unwürdig wie ihre Landsleute daheim einen König zu
besitzen und — den Lumpenkönig der Heimath bis auf den Namen
parodirend — stellten sie den Sclaven Salvius an ihre Spitze als
König Tryphon. In dem Strich zwischen Enna und Leontinoi (Len-
tini), wo diese Haufen ihren Hauptsitz hatten, war das offene Land
ganz in den Händen der Insurgenten und Morgantia und andere
ummauerte Städte schon von ihnen belagert, als mit den eiligst zu-
sammengerafften sicilischen und italischen Schaaren der römische
Statthalter das Sclavenheer vor Morgantia überfiel. Er besetzte
das unvertheidigte Lager; allein die Sclaven, obwohl überrascht,
hielten Stand und wie es zum Gefecht kam, wich der Landsturm
der Insel nicht bloſs beim ersten Anprall, sondern da die Scla-
ven jeden der die Waffen wegwarf ungehindert entkommen lies-
sen, benutzten die Milizen fast ohne Ausnahme die gute Gele-
genheit sich freien Rückzug zu verschaffen und das römische
Heer lief vollständig aus einander. Hätten die Sclaven in Morgan-
tia mit ihren Genossen vor den Thoren gemeinschaftliche Sache
machen wollen, so war die Stadt verloren; sie zogen es indeſs
vor von ihren Herren gesetzmäſsig die Freiheit geschenkt zu
nehmen und halfen ihnen durch ihre Tapferkeit die Stadt retten,
worauf sodann der römische Statthalter das den Sclaven feierlich
Röm. Gesch. II. 9
[130]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
gegebene Freiheitsversprechen als widerrechtlich erzwungen von
Rechtswegen cassirte. — Während also im Innern der Insel der
Aufstand in besorglicher Weise um sich griff, brach ein zweiter
aus auf der Westküste. An der Spitze stand hier Athenion. Er
war eben wie Kleon einst ein gefürchteter Räuberhauptmann in
seiner Heimath Kilikien gewesen und von dort als Sclave nach
Sicilien geführt worden. Ganz wie seine Vorgänger versicherte
er sich der Gemüther der Griechen und Syrer vor allem durch
Prophezeihungen und andern erbaulichen Schwindel; aber kriegs-
kundig und einsichtig wie er war, bewaffnete er nicht wie die übri-
gen Führer die ganze Masse der ihm zuströmenden Leute, son-
dern bildete aus der kriegslustigen Mannschaft ein organisirtes
Heer, bei dem er die strengste Mannszucht hielt und den Unbot-
mäſsigen und Schwankenden mit furchtbarer Strenge schreckte,
während er die Masse zu friedlicher Beschäftigung anwies und
gegen die Landschaft und selbst die Gefangenen mit Milde auf-
trat. Die Hoffnung, daſs die beiden Führer sich veruneinigen
würden, schlug den Römern auch diesmal fehl; freiwillig fügte
sich Athenion dem weit minder fähigen König Tryphon und er-
hielt damit die Einigkeit unter den Insurgenten. Bald herrschten
diese so gut wie unumschränkt auf dem platten Lande, wo die
freien Proletarier wieder mehr oder minder offen mit den Scla-
ven hielten; die römischen Behörden waren nicht im Stande
gegen sie das Feld zu nehmen und muſsten sich begnügen mit
dem sicilischen und dem eiligst herangezogenen africanischen
Landsturm die Städte zu schützen, welche in der beklagenswer-
thesten Verfassung sich befanden. Die Rechtspflege stockte auf
der ganzen Insel und es regierte einzig das Faustrecht. Da kein
Ackerbürger sich mehr vor das Thor, kein Landmann sich in die
Stadt wagte, brach die fürchterlichste Hungersnoth herein und
selbst die römischen Behörden fanden sich genöthigt die städti-
sche Bevölkerung dieser sonst Italien ernährenden Insel durch
Getreideunterstützungen vor dem Verhungern zu retten. Dazu
drohten überall im Innern die Verschwörungen der Stadtsclaven
und vor den Mauern die Insurgentenheere, wie denn selbst Mes-
sana um ein Haar von Athenion erobert worden wäre. So
schwer es der Regierung fiel während des ernsten kimbrischen
Krieges eine zweite Armee ins Feld zu stellen, so sah sie sich doch
unvermeidlich genöthigt im J. 651 ein Heer von 14000 Römern
und Italikern, ungerechnet die überseeischen Milizen, unter dem
Praetor Lucius Lucullus nach der Insel zu entsenden. Das ver-
einigte Sclavenheer stand in den Bergen oberhalb Sciacca und
[131]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
nahm die Schlacht an, die Lucullus anbot; allein die bessere mi-
litärische Organisation gab den Römern den Sieg: Athenion
blieb für todt auf der Wahlstatt, Tryphon muſste sich in die
Bergfestung Triokala werfen, die Insurgenten beriethen ernst-
lich, ob es möglich sei den Kampf länger fortzusetzen. In-
deſs die Partei, die entschlossen war auszuharren bis auf den
letzten Mann, behielt die Oberhand; Athenion, der in wunder-
barer Weise gerettet worden war, trat wieder unter die Seini-
gen und belebte den gesunkenen Muth; vor allem aber that Lu-
cullus unbegreiflicher Weise nicht das Geringste um seinen Sieg
zu verfolgen, ja er soll absichtlich die Armee desorganisirt und
sein Feldgeräth verbrannt haben, um die gänzliche Erfolglosig-
keit seiner Amtsführung zu bedecken und von seinem Nachfolger
nicht in Schatten gestellt zu werden. Mag dies wahr sein oder
nicht, sein Nachfolger Gaius Servilius (652) erlangte nicht bes-
sere Resultate und beide Generale sind später ihrer Amtsführung
wegen criminell belangt und verurtheilt worden, was freilich auch
durchaus kein sicherer Beweis für ihre Schuld ist. Athenion,
der nach Tryphons Tode (652) den Oberbefehl allein übernom-
men hatte, stand siegreich an der Spitze eines ansehnlichen Hee-
res, als im J. 653 Manius Aquillius, der das Jahr zuvor unter
Marius im Teutonenkrieg sich ausgezeichnet hatte, als Consul
und Statthalter die Führung des Krieges übernahm. Nach zwei-
jährigen harten Kämpfen — der römische Feldherr soll mit
Athenion persönlich gefochten und ihn im Zweikampf getödtet
haben — schlug dieser endlich die verzweifelte Gegenwehr nie-
der und überwand die Insurgenten in ihren letzten Schlupfwin-
keln durch Hunger. Den Sclaven auf der Insel wurde das
Waffentragen untersagt und der Friede zog wieder auf ihr ein,
das heiſst die neuen Peiniger wurden abgelöst von den bisheri-
gen; wie denn namentlich der Sieger selbst unter den zahlreichen
und energischen Räuberbeamten dieser Zeit eine hervorragende
Stelle einnimmt. Für wen es aber noch eines Beweises bedurfte,
wie das Regiment der restaurirten Aristokratie im Innern be-
schaffen war, den konnte man auf die Entstehung wie auf die
Führung dieses zweiten fünfjährigen sicilischen Sclavenkrieges
verweisen.
Wo man aber auch hinsehen mochte in dem weiten Kreis
der römischen Verwaltung, es traten dieselben Ursachen und
dieselben Wirkungen hervor. Wenn der sicilische Sclavenkrieg
zeigt, wie wenig die Regierung auch nur der einfachsten Auf-
gabe das Proletariat niederzuhalten gewachsen war, so offen-
9*
[132]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
barten die gleichzeitigen Ereignisse in Africa, wie man in Rom
jetzt es verstand Clientelstaaten zu regieren. Um dieselbe Zeit,
wo der sicilische Sclavenkrieg ausbrach, ward auch vor den
Augen der erstaunten Welt das Schauspiel aufgeführt, daſs gegen
die gewaltige Republik, die die Königreiche Makedonien und
Asien mit einem Schlag ihres schweren Armes zerschmettert
hatte, ein unbedeutender Clientelfürst nicht mittelst der Waffen,
sondern mittelst der Erbärmlichkeit ihrer regierenden Herren
eine vierzehnjährige Usurpation und Insurrection durchzuführen
vermochte.
Das Königreich Numidien dehnte vom Flusse Molochath
sich aus bis an die groſse Syrte (I, 493), so daſs es einerseits
grenzte an das mauretanische Reich von Tingis (das heutige Ma-
rocco), andrerseits an Kyrene und Aegypten, und den schmalen
Küstenstrich der römischen Provinz Africa westlich, südlich und
östlich umschloſs; es umfaſste auſser den alten Besitzungen der
numidischen Häuptlinge den bei weitem gröſsten Theil desjeni-
gen Gebiets, welches Karthago in den Zeiten seiner Blüthe in
Africa besessen hatte, darunter mehrere bedeutende altphöniki-
sche Städte wie Hippo regius (Bona) und Groſsleptis (Lebidah),
überhaupt den gröſsten und besten Theil des reichen nord-
africanischen Küstenlandes. Nächst Aegypten war ohne Frage
Numidien der mächtigste unter allen römischen Clientelstaaten.
Nach Massinissas Tode (605) hatte Scipio unter dessen drei
Söhne, die Könige Micipsa, Gulussa und Mastanabal die väter-
liche Herrschaft in der Art getheilt, daſs der erstgeborne die Re-
sidenz und die Staatskasse, der zweite den Krieg, der dritte die
Gerichtsbarkeit übernahm (S. 30). Jetzt regierte nach dem Tode
seiner beiden Brüder wieder allein Massinissas ältester Sohn
Micipsa*, ein schwacher friedlicher Greis, der lieber als mit
[133]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
Staatsangelegenheiten sich mit dem Studium der griechischen
Philosophie beschäftigte. Da seine Söhne noch nicht erwachsen
waren, führte thatsächlich die Zügel der Regierung ein illegitimer
Neffe des Königs, der Prinz Jugurtha. Jugurtha war kein un-
würdiger Enkel Massinissas. Er war ein schöner Mann und ein
gewandter und muthiger Reiter und Jäger; seine Landsleute
hielten den klaren und einsichtigen Verwalter in hohen Ehren
und seine militärische Brauchbarkeit hatte er als Führer des nu-
midischen Contingents vor Numantia unter Scipios Augen erwie-
sen. Seine Stellung im Königreich und der Einfluſs, dessen er
durch seine zahlreichen Freunde und Kriegskameraden bei der
römischen Regierung genoſs, lieſsen es König Micipsa rathsam
erscheinen ihn zu adoptiren (634) und in seinem Testament zu
verordnen, daſs des Königs beide älteste leibliche Söhne Ad-
herbal und Hiempsal und sein Adoptivsohn Jugurtha selbdritte,
ebenso wie er selbst mit seinen beiden Brüdern, zu gesammter
Hand das Reich erben und regieren sollten. Zu gröſserer Sicher-
heit wurde diese Verfügung unter die Garantie der römischen
Regierung gestellt. Bald nachher, im J. 636, starb König Mi-
cipsa. Das Testament trat in Kraft; allein die beiden Söhne Mi-
cipsas, und mehr noch als der schwache ältere Bruder der hef-
tige Hiempsal, geriethen bald mit ihrem Vetter, den sie als Ein-
dringling in die legitime Erbfolge ansahen, so heftig zusammen,
daſs der Gedanke an eine Gesammtregierung der drei Könige
aufgegeben werden muſste. Man versuchte eine Realtheilung
durchzuführen; allein die hadernden Könige vermochten über die
Landes- und Schatzquoten sich nicht zu einigen und die Schutz-
macht, der hier von Rechtswegen das entscheidende Wort zu-
stand, bekümmerte wie gewöhnlich sich um diese Angelegenhei-
ten gar nicht. Es kam zum Bruch; Adherbal und Hiempsal
mochten das Testament des Vaters als erschlichen bezeichnen
und Jugurthas Miterbrecht überhaupt bestreiten, wogegen Ju-
gurtha auftrat als Prätendent auf das gesammte Königreich.
Noch während der Verhandlungen über die Theilung ward Hiem-
psal durch gedungene Meuchelmörder aus dem Wege geschafft;
zwischen Adherbal und Jugurtha kam es zum Bürgerkriege, in
dem ganz Numidien Partei nahm. Mit seinen minder zahlreichen,
aber besser geübten und besser geführten Truppen siegte Jugur-
tha und bemächtigte sich des ganzen Gebiets unter den grausam-
sten Verfolgungen gegen die seinem Vetter anhängenden Häup-
ter. Adherbal rettete sich nach der römischen Provinz und ging
von da nach Rom um dort Klage zu führen; Jugurtha hatte es
[134]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
erwartet und sich darauf eingerichtet der drohenden Intervention
zu begegnen. Er hatte im Lager vor Numantia noch mehr von Rom
kennen gelernt als die römische Taktik: der numidische Prinz, ein-
geführt in die Kreise der römischen Aristokraten, war zugleich
eingeweiht worden in die römischen Coterieintriguen und hatte
an der Quelle studirt, was man römischen Adlichen zumuthen
könne; schon damals, sechzehn Jahre vor Micipsas Tode, hatte
er illoyale Unterhandlungen über die numidische Erbfolge mit
vornehmen römischen Kameraden gepflogen und Scipio hatte ihn
ernstlich erinnern müssen, daſs es fremden Prinzen anständiger
sei mit dem römischen Staat als mit einzelnen römischen Bür-
gern Freundschaft zu halten. Jugurthas Gesandte erschienen in
Rom, nicht bloſs mit Worten ausgerüstet; daſs sie die richtigen
diplomatischen Ueberzeugungsmittel gewählt hatten, bewies der
Erfolg. Die eifrigsten Vertreter von Adherbals gutem Recht
überzeugten sich in unglaublicher Geschwindigkeit, daſs Hiem-
psal seiner Grausamkeit halber von seinen Unterthanen umge-
bracht worden und daſs der Urheber des Erbfolgekrieges nicht
Jugurtha, sondern Adherbal sei. Selbst die leitenden Männer im
Senat erschraken vor dem Scandal; Marcus Scaurus suchte zu
steuern; es war umsonst. Der Senat überging das Geschehene mit
Stillschweigen und verfügte, daſs die beiden überlebenden Testa-
mentserben das Reich zu gleichen Theilen erhalten und zur Verhü-
tung neuen Haders die Theilung durch eine Commission des Senats
vorgenommen werden solle. Es geschah; der Consular Lucius
Opimius, bekannt durch seine Verdienste um die Beseitigung der
Revolution, nahm die Gelegenheit wahr den Lohn für seinen Pa-
triotismus einzuziehen und lieſs sich an die Spitze dieser Com-
mission stellen. Die Theilung fiel durchaus zu Jugurthas Gun-
sten und nicht zum Nachtheil der Commissarien aus; die Haupt-
stadt Cirta (Constantine) mit ihrem Hafen Rusicas (Philippeville)
kam zwar an Adherbal, allein eben dadurch ward ihm der fast
ganz aus Sandwüsten bestehende östliche Theil des Reiches, Ju-
gurtha dagegen die fruchtbare und bevölkerte Westhälfte (das
spätere caesariensische und sitifensische Mauretanien) zu Theil.
— Es war arg; bald kam es noch schlimmer. Um mit einigem
Schein im Wege der Vertheidigung Adherbal um seine Hälfte
bringen zu können, reizte Jugurtha denselben zum Kriege; indeſs
da der schwache Mann, durch die gemachten Erfahrungen ge-
witzigt, Jugurthas Reiter sein Gebiet ungehindert brandschatzen
lieſs und sich begnügte in Rom Beschwerde zu führen, begann
Jugurtha, ungeduldig über diese Weitläuftigkeiten, seinerseits ohne
[135]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
jeden Vorwand den Krieg. In der Gegend des heutigen Philippeville
ward Adherbal vollständig geschlagen und warf sich in seine nahe
Hauptstadt Cirta. Während die Belagerung ihren Fortgang nahm
und Jugurthas Truppen mit den in Cirta zahlreich ansässigen
und bei der Vertheidigung der Stadt lebhafter als die Africaner
sich betheiligenden Italikern täglich sich herumschlugen, erschien
die von dem römischen Senat auf Adherbals erste Beschwerden
abgeordnete Commission; natürlich junge unerfahrene Menschen,
wie die Regierung damals sie zu gewöhnlichen Staatsreisen regel-
mäſsig verwandte. Die Gesandten verlangten, daſs Jugurtha sie
als von der Schutzmacht an Adherbal abgeordnet in die Stadt
einlasse, überhaupt aber den Kampf einstelle und ihre Vermitte-
lung annehme. Jugurtha schlug beides kurzweg ab und die Ge-
sandten zogen schleunigst heim, wie die Knaben die sie waren,
um zu berichten an die Väter der Stadt. Die Väter hörten den
Bericht an und lieſsen ihre Landsleute in Cirta eben weiter fech-
ten, so lange es ihnen beliebte. Erst als im fünften Monat der
Belagerung ein Bote des Adherbal durch die Verschanzungen der
Feinde sich durchschlich und ein Schreiben des Königs voll der
flehentlichsten Bitten an den Senat kam, raffte der Senat sich auf
und faſste wirklich einen Beschluſs — nicht etwa den Krieg zu er-
klären, wie die Minorität es verlangte, sondern eine neue Gesandt-
schaft zu schicken, aber eine Gesandtschaft mit Marcus Scaurus
an der Spitze, dem groſsen Bezwinger der Taurisker und der
Freigelassenen, dem imponirenden Heros der Aristokratie, des-
sen bloſses Erscheinen genügen werde den ungehorsamen König
auf andere Gedanken zu bringen. In der That erschien Jugurtha,
wie geheiſsen, in Utica um mit Scaurus zu verhandeln; endlose
Debatten wurden gepflogen; als endlich die Conferenz geschlos-
sen ward, war nicht das geringste Resultat erreicht. Die Gesandt-
schaft ging ohne den Krieg erklärt zu haben nach Rom zurück
und der König wieder ab zur Belagerung von Cirta. Adherbal
sah sich aufs Aeuſserste gebracht und verzweifelte an der römi-
schen Unterstützung; die Italiker in Cirta, der Belagerung müde
und ihrer eigenen Sicherheit wegen fest vertrauend auf die
Furcht vor dem römischen Namen, drängten überdies zur
Uebergabe. So capitulirte die Stadt. Jugurtha gab Befehl seinen
Adoptivbruder unter grausamen Martern hinzurichten, die sämmt-
liche erwachsene männliche Bevölkerung der Stadt aber, Africa-
ner wie Italiker über die Klinge springen zu lassen (642).
Ein Schrei der Entrüstung ging durch ganz Italien. Die Mi-
norität des Senats selbst und alles was nicht Senat war ver-
[136]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
dammten einmüthig diese Regierung, für die die Ehre und das
Interesse des Landes nichts zu sein schienen als verkäufliche Ar-
tikel; am lautesten die Kaufmannschaft, die durch die Hinopfe-
rung der römischen und italischen Kaufleute in Cirta am näch-
sten getroffen worden war. Die Majorität des Senats sträubte
sich zwar auch jetzt noch und setzte alle Hebel der collegialischen
Geschäftsverschleppung und der Appellation an die Standesinter-
essen der Aristokratie in Bewegung um den lieben Frieden auch
ferner zu bewahren. Indeſs als der für das nächste Jahr bezeich-
nete Volkstribun Gaius Memmius, ein thätiger und beredter Mann,
den Handel öffentlich zur Sprache brachte und die schlimmsten
Sünder als Tribun zu gerichtlicher Verantwortung ziehen zu wol-
len drohte, lieſs der Senat es geschehen, daſs der Krieg an Ju-
gurtha erklärt ward (64⅔). Es schien Ernst zu werden. Ju-
gurthas Gesandte wurden ohne vorgelassen zu sein aus Italien
ausgewiesen; der neue Consul Lucius Calpurnius Bestia, der un-
ter seinen Standesgenossen wenigstens durch Einsicht und Thä-
tigkeit sich auszeichnete, betrieb die Rüstungen mit Energie;
Marcus Scaurus selbst übernahm eine Befehlshaberstelle in der
africanischen Armee; in kurzer Zeit stand ein römisches Heer auf
africanischem Boden und rückte am Bagradas (Medscherda)
hinaufmarschirend ein in das numidische Königreich, dessen von
dem Sitz der königlichen Macht entlegenste Städte, wie Groſs-
leptis, bereits freiwillig ihre Unterwerfung einsandten, während
König Bocchus von Mauretanien, obwohl seine Tochter mit Ju-
gurtha vermählt war, doch den Römern Freundschaft und Bünd-
niſs antrug. Jugurtha selbst verlor den Muth und sandte Boten
in das römische Hauptquartier um Waffenstillstand zu erbitten.
Das Ende des Kampfes schien nahe und kam noch schneller als
man dachte. Der Vertrag mit König Bocchus scheiterte daran,
daſs der König, unbekannt mit den römischen Sitten, diesen den
Römern vortheilhaften Vertrag umsonst abschlieſsen zu können
gemeint und deſshalb versäumt hatte seinen Boten den markt-
gängigen Preis römischer Bündnisse mitzugeben. Jugurtha
kannte allerdings die römischen Institutionen besser und hatte
nicht versäumt seine Waffenstillstandsanträge durch die gehöri-
gen Begleitgelder zu unterstützen; indeſs auch er hatte sich ge-
täuscht. Nach den ersten Verhandlungen ergab es sich, daſs im
römischen Hauptquartier nicht bloſs der Waffenstillstand feil sei,
sondern auch der Friede. Die königliche Schatzkammer war
noch von Massinissas Zeiten her wohlgefüllt; rasch war man
Handels einig. Der Vertrag ward abgeschlossen, nachdem der
[137]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
Form halber derselbe dem Kriegsrath vorgelegt und nach einer
unordentlichen und möglichst summarischen Verhandlung des-
sen Zustimmung erwirkt worden war. Jugurtha unterwarf sich
auf Gnade und Ungnade; der Sieger aber übte Gnade und gab
dem König sein Reich ungeschmälert zurück gegen eine mäſsige
Buſse und die Auslieferung der römischen Ueberläufer und der
Kriegselephanten (643), welche letztere der König groſsentheils
später wieder einhandelte durch Verträge mit den einzelnen rö-
mischen Platzcommandanten und Offizieren. — Auf die Kunde
davon brach in Rom abermals der Sturm los. Alle Welt wuſste,
wie der Friede zu Stande gekommen war; selbst Scaurus also
war zu haben, nur um einen höheren als den gemeinen senatori-
schen Durchschnittspreis. Die Rechtsbeständigkeit des Friedens
ward im Senat ernstlich angefochten; Gaius Memmius erklärte,
daſs der König, wenn er wirklich unbedingt sich unterworfen
habe, sich nicht weigern könne in Rom zu erscheinen und man
ihn demnach vorladen möge, um über die durchaus irregulären
Friedensverhandlungen durch Vernehmung der beiden pacisci-
renden Theile den Thatbestand festzustellen. Man fügte sich der
unbequemen Forderung; rechtswidrig aber, da der König nicht
als Feind kam, sondern als unterworfener Mann, ward demsel-
ben zugleich sicheres Geleit zugestanden. Darauf hin erschien
der König in der That in Rom und stellte sich zum Verhör vor
dem versammelten Volke, das mühsam bewogen ward das sichere
Geleit zu respectiren und den Mörder der cirtensischen Italiker
nicht auf der Stelle zu zerreiſsen. Allein kaum hatte Gaius
Memmius die erste Frage an den König gerichtet, als einer seiner
Collegen kraft seines Intercessionsrechts einschritt und dem Kö-
nig befahl zu schweigen. Auch hier also war das africanische
Gold mächtiger als der Wille des souveränen Volkes und seiner
höchsten Beamten. Inzwischen nahmen im Senat die Verhand-
lungen über die Gültigkeit des so eben abgeschlossenen Friedens
ihren Fortgang und der neue Consul Spurius Postumius Albinus
nahm eifrig Partei für den Antrag denselben zu cassiren, in der
Aussicht daſs dann der Oberbefehl in Africa an ihn kommen werde.
Dies veranlaſste einen in Rom lebenden Enkel Massinissas, den
Massiva seine Ansprüche auf das erledigte numidische Reich bei
dem Senat geltend zu machen; worauf Bomilkar, einer der Ver-
trauten des Königs Jugurtha, den Concurrenten seines Herrn, ohne
Zweifel in dessen Auftrag, meuchlerisch aus dem Wege schaffte und
da ihm dafür der Prozeſs gemacht ward, mit Hülfe Jugurthas aus
Rom entfloh. Dies neue unter den Augen der römischen Regierung
[138]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
verübte Verbrechen gab wenigstens insofern den Ausschlag, als
der Senat nun den Frieden cassirte und den König aus der Stadt
auswies (Winter 64¾). Der Krieg ging also wieder an und
der Consul Spurius Albinus übernahm den Oberbefehl (644).
Allein das africanische Heer war bis in die untersten Schichten
hinab in derjenigen Zerrüttung, wie sie einer solchen politischen
und militärischen Oberleitung angemessen ist. Nicht bloſs von
Disciplin war die Rede nicht mehr und die Plünderung der nu-
midischen Ortschaften, ja des römischen Provinzialgebiets wäh-
rend der Waffenruhe das Hauptgeschäft der römischen Solda-
tesca gewesen, sondern es hatten auch nicht wenige Offiziere
und Soldaten so gut wie ihre Generale heimliche Einverständnisse
angeknüpft mit dem Feinde. Daſs ein solches Heer im Felde
nichts ausrichten konnte, ist begreiflich, und wenn Jugurtha
auch diesmal vom römischen Obergeneral die Unthätigkeit kaufte,
wie dies später gegen denselben gerichtlich geltend gemacht ward,
so that er wahrlich ein Uebriges. Indeſs wenn Spurius Albinus
sich begnügt hatte nichts zu thun, so kam dagegen sein Bruder,
der nach seiner Entfernung interimistisch den Oberbefehl über-
nahm, der ebenso tolldreiste als unfähige Aulus Postumius, mit-
ten im Winter auf den Gedanken durch einen kühnen Hand-
streich sich der Schätze des Königs zu bemächtigen, die in der
schwer zugänglichen und schwerer zu erobernden Stadt Suthul
(später Calama, jetzt Guelma) sich befanden. Das Heer brach
dahin auf und erreichte die Stadt; allein die Belagerung war so
erfolglos, daſs der römische Feldherr es vorzog den König zu
verfolgen, als derselbe, nachdem er eine Zeitlang mit seinen Trup-
pen vor der Stadt gestanden, in die Wüste entwich. Dies eben
hatte Jugurtha beabsichtigt; durch einen nächtlichen Angriff, wo-
bei die Schwierigkeiten des Terrains und Jugurthas Einverständ-
nisse in der römischen Armee zusammenwirkten, eroberten die
Numidier das römische Lager und trieben die groſsentheils waf-
fenlosen Römer in der vollständigsten und schimpflichsten Flucht
vor sich her. Die Folge war eine Capitulation, deren Bedingun-
gen: Abzug des römischen Heeres unter dem Joch, sofortige
Räumung des ganzen numidischen Gebiets, Erneuerung des vom
Senat cassirten Bündniſsvertrages, von Jugurtha dictirt und von
den Römern angenommen wurden (Anfang 645).
Dies war denn doch zu arg. Während die Africaner jubel-
ten und die plötzlich sich eröffnende Aussicht auf den kaum
noch für möglich gehaltenen Sturz der Fremdherrschaft zahl-
reiche Stämme der freien und halbfreien Wüstenbewohner un-
[139]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
ter die Fahnen des siegreichen Königs führte, brauste in Italien
die öffentliche Meinung hoch auf gegen die ebenso verdorbene
als verderbliche Regierungsaristokratie und brach los in einem
Prozeſssturm, der, genährt durch die Erbitterung der Kaufmann-
schaft, zahlreiche Opfer aus den höchsten Kreisen des Adels
wegraffte. Auf den Antrag des Volkstribuns Gaius Mamilius Li-
metanus ward trotz der schüchternen Versuche des Senats das
Strafgericht abzuwenden eine auſserordentliche Geschwornen-
commission bestellt zur Untersuchung des in der numidischen
Successionsfrage vorgekommenen Landesverraths, und ihre Wahr-
sprüche sandten die beiden bisherigen Oberfeldherren, Gaius Be-
stia und Spurius Albinus, ferner den Lucius Opimius, das Haupt
der ersten africanischen Commission und nebenbei den Henker
des Gaius Gracchus, auſserdem zahlreiche andere weniger nam-
hafte schuldige und unschuldige Männer der Regierungspartei in
die Verbannung. Daſs indeſs diese Prozesse einzig darauf hin-
ausliefen die aufgeregte öffentliche Meinung namentlich der Capi-
talistenkreise durch Aufopferung einiger der am meisten compro-
mittirten Personen wieder zu beschwichtigen, und daſs von einer
Auflehnung gegen die Aristokratie und das aristokratische Regi-
ment selbst in diesen Bewegungen nicht die leiseste Spur vor-
handen war, zeigt sehr deutlich die Thatsache, daſs an den
Schuldigsten unter den Schuldigen, an den klugen und mächti-
gen Scaurus nicht bloſs Niemand sich wagte, sondern daſs er
eben um diese Zeit zum Censor, ja sogar unglaublicher Weise
zu einem der Vorstände der auſserordentlichen Hochverrathscom-
mission erwählt ward. Um so weniger ward auch nur der Ver-
such gemacht der Regierung in ihre Competenz einzugreifen und
es blieb lediglich dem Senat überlassen dem numidischen Scan-
dal in der für die Aristokratie möglichst gelinden Weise ein Ende
zu machen; daſs dies an der Zeit war, mochte wohl selbst der
adlichste Adliche anfangen zu begreifen.
Der Senat cassirte zunächst auch den zweiten Friedens-
vertrag — den Oberbefehlshaber, der ihn abgeschlossen, dem
Feinde auszuliefern, wie es noch vor dreiſsig Jahren geschehen
war, schien nach den neuen Begriffen von der Heiligkeit der Ver-
träge nicht ferner nöthig — und die Erneuerung des Krieges
ward diesmal allen Ernstes beschlossen. Man übergab den Ober-
befehl in Africa zwar wie natürlich einem Aristokraten, aber
doch einem der wenigen vornehmen Männer, die militärisch und
sittlich der Aufgabe gewachsen waren. Die Wahl fiel auf Quintus
Metellus. Er war wie die ganze mächtige Familie, der er ange-
[140]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
hörte, seinen Grundsätzen nach ein starrer und rücksichtsloser
Aristokrat, der es zwar sich zur Ehre rechnete zum Besten des
Staats Meuchelmörder zu dingen und was Fabricius gegen Pyr-
rhos that, vermuthlich als unpraktische Donquixoterie verlacht
haben würde, aber doch sich erwies als ein unbeugsamer, weder
der Furcht noch der Bestechung zugänglicher Mann und als ein
einsichtiger und erfahrener Militär. In dieser Hinsicht war er
auch von seinen Standesvorurtheilen so weit frei, daſs er sich zu
seinen Unterbefehlshabern nicht vornehme Leute aussuchte, son-
dern den trefflichen Offizier Publius Rutilius Rufus, der wegen
seiner musterhaften Mannszucht und als Urheber eines veränder-
ten und verbesserten Exercirreglements in militärischen Kreisen
geschätzt ward, und den tapferen von der Pike emporgedienten
latinischen Bauernsohn Gaius Marius. Von diesen und andern
fähigen Offizieren begleitet erschien Metellus im Laufe des J. 645
als Consul und Oberfeldherr bei der africanischen Armee, die er
in einem so zerrütteten Zustand antraf, daſs die Generale bisher
nicht gewagt hatten sie auf das feindliche Gebiet zu führen und
sie Niemand fürchterlich war als den unglücklichen Bewohnern
des römischen Gebiets. Streng und rasch wurde sie reorganisirt
und im Frühling des J. 646 * führte Metellus sie über die numi-
dische Grenze. Wie Jugurtha der veränderten Lage der Dinge
inne ward, gab er sich verloren und machte, noch ehe der Kampf
begann, ernstlich gemeinte Vergleichsanträge, indem er schlieſs-
[141]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
lich nichts weiter begehrte, als daſs man ihm das Leben zu-
sichere. Indeſs Metellus war entschlossen und vielleicht selbst
instruirt den Krieg nicht anders zu beendigen als mit der unbe-
dingten Unterwerfung und der Hinrichtung des verwegenen
Clientelfürsten; was auch in der That der einzige Ausgang war,
der den Römern genügen konnte. Jugurtha galt seit dem Sieg
über Albinus als der Erlöser Libyens von der Herrschaft der ver-
haſsten Fremden; rücksichtslos und schlau wie er und unbehol-
fen wie die römische Regierung war, konnte er jederzeit auch
nach dem Frieden wieder in seiner Heimath den Krieg entzün-
den; die Ruhe war nicht eher gesichert und die Entfernung der
africanischen Armee nicht eher möglich als wenn König Jugurtha
nicht mehr war. Offiziell gab Metellus ausweichende Antworten auf
die Anträge des Königs: insgeheim stiftete er die Boten desselben
auf ihren Herrn lebend oder todt an die Römer auszuliefern. In-
deſs wenn der römische General es unternahm mit dem Africa-
ner auf dem Gebiet des Meuchelmords zu wetteifern, so fand er
hier seinen Meister; Jugurtha durchschaute den Plan und rüstete
sich, da er nicht anders konnte, zur verzweifelten Gegenwehr.
Jenseit des völlig öden Gebirgszugs, über den die Römer auf
ihrem Marsch in das Innere der Weg führte, erstreckte sich in
der Breite von vier deutschen Meilen eine weite Ebene bis zu dem
dem Gebirgszug parallel laufenden Flusse Muthul, welche bis auf
die unmittelbare Nachbarschaft des Flusses wasser- und baum-
los war und nur durch einen mit niedrigem Gestrüpp bedeckten
Hügelrücken in der Quere durchsetzt ward. Auf diesem Hügel-
rücken erwartete Jugurtha das römische Heer. Seine Truppen
standen in zwei Massen: die eine, ein Theil der Infanterie und
die Elephanten, unter Bomilkar da wo der Rücken auslief gegen
den Fluſs, die andere, der Kern des Fuſsvolks und die gesammte
Reiterei, höher hinauf gegen den Gebirgszug verdeckt durch das
Gestrüpp. Wie die Römer aus dem Gebirg debouchirten, erblick-
ten sie den Feind in einer ihre rechte Flanke vollständig beherr-
schenden Stellung und da sie auf dem kahlen und wasserlosen
Gebirgskamm unmöglich verweilen konnten und den Fluſs noth-
wendig erreichen muſsten, hatten sie die schwierige Aufgabe zu
lösen durch die vier Meilen breite ganz offene Ebene unter den
Augen der feindlichen Reiter, selber ohne leichte Cavallerie, an den
Strom zu gelangen. Metellus entsandte ein Detachement unter
Rufus in gerader Richtung an den Fluſs, um daselbst ein Lager
zu schlagen; die Hauptmasse marschirte aus den Debouchés des
Gebirges in schräger Richtung durch die Ebene auf den Hügel-
[142]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
rücken zu um den Feind von demselben herunterzuwerfen. Indeſs
dieser Marsch in der Ebene drohte das Verderben des Heeres zu
werden; denn während numidische Infanterie im Rücken der Rö-
mer die Gebirgsdefileen besetzte, wie diese sie räumten, sah sich
die römische Angriffscolonne auf allen Seiten von den feindlichen
Reitern umschwärmt, die von dem Hügelrücken herab angriffen.
Das stete Anprallen der feindlichen Schwärme hinderte den Vor-
marsch und die Schlacht drohte sich in eine Anzahl verwirrter De-
tailgefechte aufzulösen; während gleichzeitig Bomilkar mit seiner
Abtheilung das Corps unter Rufus festhielt um es zu hindern der
schwer bedrängten römischen Hauptarmee zu Hülfe zu eilen. Je-
doch gelang es Metellus und Marius mit ein paar Tausend Soldaten
den Fuſs des Hügelrückens zu erreichen; und das numidische
Fuſsvolk, das die Höhen vertheidigte, lief trotz der Ueberzahl und
der günstigen Stellung fast ohne Widerstand davon, als die Legio-
nare den Berg hinauf chargirten. Ebenso schlecht hielt sich das
numidische Fuſsvolk gegen Rufus: es ward bei dem ersten Angriff
zerstreut und die Elephanten in dem durchschnittenen Terrain
alle getödtet oder gefangen. Spät am Abend trafen die beiden
römischen Heerhaufen, jeder für sich Sieger und jeder besorgt
um das Schicksal des andern, zwischen den beiden Wahlplätzen
zusammen. Es war eine Schlacht, die für Jugurthas ungemeines
militärisches Talent ebenso zeugte wie für die unverwüstliche
Tüchtigkeit der römischen Infanterie, welche allein die strategische
Niederlage in einen Sieg umgewandelt hatte. Jugurtha sandte nach
der Schlacht einen groſsen Theil seiner Truppen heim und be-
schränkte sich auf den kleinen Krieg, den er mit derselben Ge-
wandtheit leitete. Die beiden römischen Colonnen, die eine von
Metellus geführt, die andere von Marius, der, obwohl von Geburt
und Rang der geringste, seit der Schlacht am Muthul unter den
Corpschefs die erste Stelle einnahm, durchzogen das numidische
Gebiet, besetzten die Städte und machten, wo eine Ortschaft Wi-
derstand geleistet hatte, die erwachsene männliche Bevölkerung
derselben nieder. Allein in der wichtigsten Stadt im Thal des
Bagradas, in Zama stieſsen die Römer auf ernsthaften Wider-
stand, den der König lebhaft unterstützte und sogar mit Erfolg
einen Ueberfall des römischen Lagers ausführte; so daſs sich
Metellus endlich genöthigt sah die Belagerung aufzuheben. Der
Subsistenz wegen verlegte er mit Zurücklassung von Besatzun-
gen in den eroberten Städten das Winterquartier wieder in die
römische Provinz. Zugleich ward auch wieder statt der Waf-
fen das Rüstzeug der Intriguen von den Römern hervorge-
[143]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
sucht. Metellus zeigte sich geneigt einen erträglichen Frieden zu
bewilligen; schon hatte der König sich anheischig gemacht
200000 Pfund Silber zu entrichten und seine Elephanten und
300 Geiſseln abgeliefert, ebenso 3000 römische Ueberläufer, die
sofort niedergemacht wurden. Allein zu gleicher Zeit lieſs Me-
tellus sich ein mit dem vertrautesten Rathgeber des Königs, Bo-
milkar, der nicht mit Unrecht besorgte, daſs, wenn es zum Frie-
den käme, Jugurtha ihn wegen der Ermordung des Massiva den
römischen Gerichten überliefern werde und von Metellus durch
Zusicherung der Straflosigkeit gewonnen ward. Indeſs weder
die offizielle noch die geheime Verhandlung führte zu dem ge-
wünschten Resultat. Als Metellus mit dem Ansinnen heraus-
rückte, daſs der König persönlich sich als Gefangener zu stellen
habe, brach derselbe die Verhandlungen ab; Bomilkars Verkehr
mit dem Feinde ward entdeckt und derselbe festgenommen und
hingerichtet. Es soll keine Schutzrede sein für diese diplomati-
schen Kabalen niedrigster Art; aber die Römer hatten allen Grund
danach zu trachten sich der Person ihres Gegners zu bemächti-
gen. Der Krieg war auf dem Punct angelangt, wo man ihn weder
weiterführen noch aufgeben konnte. Wie die Stimmung in Nu-
midien war, beweist zum Beispiel der Aufstand der bedeutend-
sten unter den von den Römern besetzten Städten, Vaga * im Win-
ter 64\frac{6}{7}, wobei die gesammte römische Besatzung, Offiziere und
Gemeine, niedergemacht wurde mit Ausnahme des Commandan-
ten Titus Turpilius Silanus, welcher später wegen Einverständniſs
mit dem Feinde, ob mit Recht oder Unrecht läſst sich nicht sa-
gen, von dem römischen Kriegsgericht zum Tode verurtheilt und
hingerichtet ward. Die Stadt wurde von Metellus am zweiten
Tage nach dem Abfall überrumpelt und der ganzen Strenge des
Kriegsrechts preisgegeben; allein wenn die Gemüther der verhält-
niſsmäſsig leicht in Gehorsam zu erhaltenden Anwohner des Ba-
gradas also gestimmt waren, wie mochte es da aussehen weiter
landeinwärts und bei den schweifenden Stämmen der Wüste?
Jugurtha war der Abgott der Africaner, die in ihm den doppelten
Brudermörder gern über dem Retter und Rächer der Nation
übersahen. Zwanzig Jahre nachher muſste ein numidisches
Corps, das für die Römer in Italien focht, schleunigst nach Africa
zurückgesandt werden, als in den feindlichen Reihen Jugurthas
Sohn sich zeigte; man mag daraus schlieſsen, was er selber
über die Seinen vermochte. Wie war ein Ende des Krieges abzu-
[144]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
sehen in Landschaften, wo die vereinigten Eigenthümlichkeiten
der Bevölkerung und des Terrains einem Führer, der sich ein-
mal der Sympathien der Nation versichert hat, es gestatten den
Krieg in endlosen Detailkämpfen fortzuspinnen oder auch gar ihn
eine Zeitlang schlafen zu lassen, um ihn im rechten Augenblick
mit neuer Gewalt wieder zu erwecken? — Als Metellus im J.
647 wieder ins Feld rückte, hielt Jugurtha ihm nirgends Stand;
bald tauchte er da auf, bald an einem andern weit entfernten
Punct; es schien als würde man eben so leicht über die Löwen
als über diese Reiter der Wüste Herr werden. Eine Schlacht
ward geschlagen, ein Sieg gewonnen; aber was man mit dem
Sieg gewonnen hatte, war schwer zu sagen. Der König war ver-
schwunden in die unabsehliche Weite. Im Innern des heutigen
Beilek von Tunis, hart am Saum der groſsen Wüste und vom
Medscherdathal durch eine wasser- und baumlose Steppe von
zehn Meilen in der Breite geschieden, lagen in quelligen Oasen
zwei feste Plätze, nördlich Thala (später Thelepte, bei Husch el
Cheme), weiter südlich Capsa (Kafsa); in die erstere Stadt hatte
Jugurtha sich zurückgezogen mit seinen Kindern, seinen Schätzen
und dem Kern seiner Truppen, bessere Zeiten daselbst abzuwar-
ten. Metellus wagte es durch eine Einöde, in der das Wasser in
Schläuchen mitgeführt werden muſste, dem König zu folgen; Thala
ward erreicht und fiel nach vierzigtägiger Belagerung; allein nicht
bloſs vernichteten die römischen Ueberläufer mit dem Gebäude,
in dem sie nach Einnahme der Stadt sich selber verbrannten, zu-
gleich den werthvollsten Theil der Beute, sondern worauf mehr
ankam, es war dem König Jugurtha gelungen mit seinen Kindern
und seiner Kasse zu entkommen. So war zwar Numidien so gut
wie ganz in den Händen der Römer; aber statt daſs der Krieg
damit zu Ende gegangen wäre, schien er nur über ein immer
weiteres Gebiet sich ausdehnen zu wollen. Im Süden begannen
die freien gaetulischen Stämme der Wüste auf Jugurthas Ruf den
Nationalkrieg gegen die Römer. Im Westen schien König Bocchus
von Mauretanien, dessen Freundschaft die Römer in früherer Zeit
verschmäht hatten, nicht abgeneigt jetzt mit seinem Schwieger-
sohn gegen sie gemeinschaftliche Sache zu machen. Er nahm
ihn bei sich auf und mit den eigenen zahllosen Reiterschaaren
Jugurthas Haufen vereinigend rückte er in die Gegend von Cirta,
wo Metellus sich im Winterquartier befand. Man begann zu un-
terhandeln; Bocchus aber beeilte sich nicht aus seiner zweideu-
tigen Stellung herauszutreten. Es war klar, daſs er mit Jugur-
thas Person den eigentlichen Kampfpreis für Rom in Händen
[145]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
hielt; was er aber beabsichtige, ob den Römern den Schwieger-
sohn theuer zu verkaufen oder mit dem Schwiegersohn gemein-
schaftlich den Nationalkrieg aufzunehmen, wuſsten weder die
Römer noch Jugurtha und vielleicht der König selbst nicht. Dar-
über verlieſs Metellus die Provinz, die er durch Volksbeschluſs
genöthigt worden war seinem ehemaligen Unterfeldherrn, dem
jetzigen Consul Marius abzutreten und dieser übernahm für den
nächsten Feldzug 648 den Oberbefehl. Er verdankte ihn gewis-
sermaſsen einer Revolution. Im Vertrauen auf seine geleisteten
Dienste und nebenher auf ihm zu Theil gewordene Orakel hatte
er sich entschlossen als Bewerber um das Consulat aufzutreten.
Wenn die Aristokratie die ebenso verfassungsmäſsige wie sonst
vollkommen gerechtfertigte Bewerbung des tüchtigen durchaus
nicht oppositionell gesinnten Mannes unterstützt hätte, so würde
dabei nichts herausgekommen sein als die Verzeichnung eines
neuen Geschlechts in den consularischen Fasten; statt dessen be-
handelte sie das Begehren eines nicht adlichen Mannes nach dem
Consulat als eine unerhörte und frevelhafte Neuerung — voll-
kommen wie einst der plebejische Bewerber von den Patriciern
behandelt worden war, nur jetzt ohne jeden formalen Rechts-
grund — und gab dadurch den vielen erbitterten und miſswol-
lenden Leuten eine erwünschte Gelegenheit sich an der Aristo-
kratie zu rächen. Mit spitzen Reden von Metellus verhöhnt —
Marius möge mit seiner Candidatur warten, hieſs es, bis Metellus
Sohn, ein bartloser Knabe, mit ihm sich bewerben könne — und
kaum aufs Ungnädigste im letzten Augenblick entlassen, trat der
tapfere Offizier in der Hauptstadt auf als Consularcandidat für 647.
Hier vergalt er das erlittene Unrecht seinem Feldherrn reich-
lich, indem er vor der gaffenden Menge die Kriegführung und
Verwaltung seines Feldherrn in Africa in einer ebenso unmilitä-
rischen als schmählich unbilligen Weise kritisirte, ja sogar es
nicht verschmähte dem lieben ewig von geheimen höchst uner-
hörten und höchst unzweifelhaften Conspirationen der vorneh-
men Herren munkelnden Pöbel das platte Mährchen aufzutischen,
daſs Metellus den Krieg absichtlich verschleppe, um so lange wie
möglich Oberbefehlshaber zu bleiben. Den Gassenbuben leuch-
tete dies vollkommen ein und die gegen den Senat mit Recht er-
bitterte Kaufmannschaft erklärte sich einstimmig für Marius; so
ward er nicht bloſs mit ungeheurer Majorität zum Consul ge-
wählt, sondern ihm auch, da das Commando für 647 bereits
Metellus zugesichert war, wenigstens von 648 an der Oberbefehl
im africanischen Krieg durch Volksschluſs übertragen. Jetzt trat
Röm. Gesch. II. 10
[146]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
er denselben an; allein die zuversichtliche Verheiſsung es besser
zu machen als sein Vorgänger und den Jugurtha an Händen und
Füſsen gebunden schleunigst nach Rom abzuliefern war leichter
gegeben als erfüllt. Marius begann damit zu plänkeln mit den
Gaetulern; er unterwarf einzelne noch nicht besetzte Städte; er
unternahm eine Expedition nach Capsa, welche die von Thala an
Schwierigkeit noch überbot, nahm die Stadt durch Capitulation
und lieſs trotz des Vertrages alle erwachsenen Männer darin töd-
ten — freilich das einzige Mittel den Wiederabfall der fernliegen-
den Wüstenstadt zu verhüten; er griff ein am Fluſs Molochath,
der das numidische Gebiet vom mauretanischen schied, belegenes
Castell an, in das Jugurtha seine Kasse geschafft hatte und er-
oberte, eben als er an jedem Erfolg verzweifelnd von der Be-
lagerung des unbezwinglichen Felsennestes abstehen wollte,
durch den Handstreich einiger kühnen Kletterer glücklich die
Burg. Wenn es bloſs darauf angekommen wäre durch dreiste
Razzias das Heer abzuhärten und dem Soldaten Beute zu schaf-
fen oder auch Metellus Zug in die Wüste durch eine noch weiter
greifende Expedition zu verdunkeln, so konnte man diese Krieg-
führung gelten lassen; in der Hauptsache ward das Ziel worauf
alles ankam und das Metellus mit fester Consequenz im Auge be-
halten hatte, die Gefangennehmung des Jugurtha, dabei völlig zur
Seite gesetzt. Der Zug des Marius nach Capsa war ein ebenso
zweckloses wie der des Metellus nach Thala ein zweckmäſsiges
Wagniſs; die Expedition aber an den Molochath, welche an, wo
nicht in das mauretanische Gebiet streifte, war geradezu zweck-
widrig. König Bocchus, in dessen Hand es lag den Krieg zu
einem für die Römer günstigen Ausgang zu bringen oder ihn ins
Endlose zu verlängern, schloſs jetzt mit Jugurtha einen Vertrag
ab, in dem dieser ihm gegen das Versprechen des Beistandes gegen
Rom einen Theil seines Reiches abtrat. Das römische Heer, das
vom Fluſs Molochath wieder zurückkehrte, sah sich eines Abends
plötzlich umringt von ungeheuren Massen mauretanischer und
numidischer Reiterei; man muſste fechten, wo und wie die Ab-
theilungen eben standen, ohne daſs eine eigentliche Schlachtord-
nung und ein leitendes Commando sich hätten durchführen las-
sen, und sich glücklich schätzen die stark gelichteten Truppen
auf zwei von einander nicht weit entfernten Hügeln vorläufig für
die Nacht in Sicherheit zu bringen. Indeſs die arge Nachlässig-
keit der von ihrem Siege trunkenen Africaner entriſs ihnen die
Folgen desselben; sie lieſsen sich von den während der Nacht
einigermaſsen wieder geordneten römischen Truppen beim
[147]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
grauenden Morgen im tiefen Schlafe überfallen und wurden
glücklich zerstreut. So setzte das römische Heer in besserer
Ordnung und mit gröſserer Vorsicht den Rückzug fort; allein
noch einmal wurde es auf demselben von allen vier Seiten zu-
gleich angefallen, bis der Reiterführer Lucius Cornelius Sulla zu-
erst die ihm gegenüberstehenden Schwadronen aus einander
stäubte und von deren Verfolgung rasch zurückkehrend sich so-
fort auf Jugurtha und Bocchus warf, da wo sie persönlich das
römische Fuſsvolk im Rücken angriffen. Also ward auch dieser
Angriff glücklich abgeschlagen; Marius brachte sein Heer zurück
nach Cirta und nahm daselbst das Winterquartier (64\frac{8}{9}). Es
ist wunderlich, aber freilich begreiflich, daſs man römischer-
seits um die Freundschaft des Königs Bocchus, die man anfangs
verschmäht, sodann wenigstens nicht eben gesucht hatte, jetzt
nach diesen heftigen Angriffen anfing sich aufs eifrigste zu bemü-
hen; was insofern einigermaſsen thunlich war, als eine förmliche
Kriegserklärung nicht stattgefunden hatte. König Bocchus war
nicht abgeneigt in seine alte zweideutige Stellung zurückzutreten;
ohne den Vertrag mit Jugurtha aufzulösen oder diesen zu entlas-
sen, knüpfte er Unterhandlungen mit Marius an und erbat sich
endlich, daſs man zum Abschluſs des Vertrages und zur Ueber-
nahme des königlichen Gefangenen den Lucius Sulla an ihn absen-
den möge, der dem König bekannt und genehm sei theils von der
Zeit her, wo er als Gesandter des Senats am mauretanischen Hofe
erschienen war, theils durch Empfehlungen der nach Rom be-
stimmten mauretanischen Gesandten, denen Sulla unterwegs
Dienste geleistet hatte. Marius war in einer unbequemen Lage.
Lehnte er die Zumuthung ab, so führte dies wahrscheinlich zum
Bruche; nahm er sie an, so gab er seinen adlichsten und tapfer-
sten Offizier einem mehr als unzuverlässigen Mann in die Hände,
von dem es allbekannt war, daſs er mit den Römern und mit Ju-
gurtha zugleich unterhandle und der fast den Plan entworfen zu
haben schien an Jugurtha und Sulla sich nach beiden Seiten hin
vorläufig Geiſseln zu schaffen. Indeſs der Wunsch den Krieg zu
Ende zu bringen überwog jede andere Rücksicht und Sulla verstand
sich zu der bedenklichen Aufgabe, die Marius ihm ansann. Dreist
brach er auf, geleitet von König Bocchus Sohn Volux und seine
Entschlossenheit wankte selbst dann nicht, als sein Wegweiser ihn
mitten durch das Lager des Jugurtha führte. Er wies die kleinmü-
thigen Fluchtvorschläge seiner Begleiter zurück und zog, des Kö-
nigs Sohn an der Seite, unverletzt durch die Feinde. Dieselbe Ent-
schiedenheit bewährte der kecke Offizier in den Verhandlungen mit
10*
[148]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
dem Sultan und bestimmte ihn endlich ernstlich eine Wahl zu
treffen. Der Schwiegersohn ward aufgeopfert und unter dem
Vorgeben, daſs alle seine Begehren bewilligt werden sollten, von
dem eigenen Schwiegervater in einen Hinterhalt gelockt, wo Ju-
gurthas Gefolge niedergemacht und er selbst gefangen genommen
wurde. So fiel der groſse Verräther durch den Verrath seiner
Nächsten. Gefesselt brachte Lucius Sulla den listigen und rast-
losen Africaner mit seinen Kindern in das römische Hauptquar-
tier; damit war nach siebenjähriger Dauer der Krieg zu Ende.
Der Sieg knüpfte sich zunächst an den Namen des Marius; sei-
nem Triumphalwagen schritt König Jugurtha in königlichem
Schmuck und in Fesseln mit seinen beiden Söhnen vorauf, als
der Sieger am 1. Jan. 650 in Rom einzog; auf seinen Befehl
starb der Sohn der Wüste wenige Tage darauf in dem unterirdi-
schen Stadtgefängniſs, dem alten Brunnenhaus am Capitol, dem
‚kühlen Badgemach‘, wie der Africaner es nannte, als er die
Schwelle überschritt, um daselbst sei es erdrosselt zu werden,
sei es umzukommen durch Kälte und Hunger. Allein es lieſs sich
nicht leugnen, daſs Marius an den wirklichen Erfolgen den ge-
ringsten Antheil hatte, daſs Numidiens Eroberung bis an den
Saum der Wüste das Werk des Metellus, Jugurthas Gefangen-
nahme das des Sulla war und zwischen beiden Marius eine für
einen ehrgeizigen Emporkömmling einigermaſsen compromitti-
rende Rolle spielte. Vor allem Sullas glänzender Zug in die
Wüste, der seinen Muth, seine Geistesgegenwart, seinen Scharf-
blick, seine Macht über die Menschen vor dem Feldherrn selbst
und vor der ganzen Armee zur Anerkennung gebracht hatte,
stellte Marius Feldherrnschaft gar sehr in Schatten. Marius er-
trug es ungern, daſs sein Vorgänger den Namen des Siegers von
Numidien annahm; er brauste zornig auf, als König Bocchus
später ein goldenes Bildwerk auf dem Capitol weihte, welches
die Auslieferung des Jugurtha an Sulla darstellte. Es wäre auf
diese militärischen Rivalitäten wenig angekommen, wenn sie
nicht in den politischen Parteikampf eingegriffen hätten; wenn
nicht die Opposition durch Marius den senatorischen General
verdrängt, nicht die Regierungspartei Metellus und mehr noch
Sulla mit erbitternder Absichtlichkeit als die militärischen Ko-
ryphäen gefeiert und sie dem nominellen Sieger vorgezogen
hätte. — Im Uebrigen verlief diese Insurrection des numidischen
Clientelstaats, ohne weder in den Provinzial- noch in den allge-
meinen politischen Verhältnissen eine sehr wesentliche Verände-
rung hervorzubringen. Abweichend von der sonst in dieser Zeit
[149]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
befolgten Politik ward Numidien nicht in eine römische Provinz
umgewandelt; offenbar deſshalb, weil das Land nicht ohne eine
die Grenzen gegen die Wilden der Wüste deckende Armee zu
behaupten und man in Africa ein stehendes Heer zu unterhalten
keineswegs gemeint war. Man begnügte sich deſshalb die west-
lichste Landschaft Numidiens, wahrscheinlich den Strich vom
Fluſs Molochath bis zum Hafen von Saldae (Bougie) — das spä-
tere Mauretanien von Caesarea (Provinz Algier) — zu dem Reich
des Bocchus zu schlagen und das also verkleinerte Königreich
Numidien an den letzten noch lebenden legitimen Enkel Massi-
nissas, Jugurthas an Körper und Geist schwachen Halbbruder
Gauda zu übertragen, welcher bereits im J. 646 auf Veranlassung
des Marius seine Ansprüche bei dem Senat geltend gemacht
hatte *. Zugleich wurden die gaetulischen Stämme im inneren
Africa als freie Bundesgenossen unter die mit den Römern in Ver-
trag stehenden unabhängigen Nationen aufgenommen. — Wich-
tiger als diese Regulirung der africanischen Clientel waren die
politischen Folgen des jugurthinischen Krieges oder vielmehr der
jugurthinischen Insurrection, obgleich auch diese häufig zu hoch
angeschlagen worden sind. Allerdings waren darin alle Schäden
des Regiments in unverhüllter Nacktheit zu Tage gekommen; es
war nicht bloſs notorisch, sondern groſsentheils gerichtlich con-
statirt, daſs den regierenden Herren Roms alles feil war, der
Friedensvertrag wie das Intercessionsrecht, der Lagerwall und
das Leben der Soldaten; der Africaner hatte nicht mehr gesagt
als die einfache Wahrheit, als er bei seiner Abreise von Rom äus-
serte, wenn er nur Geld genug hätte, mache er sich anheischig
[150]VIERTES BUCH. KAPITEL IV.
die Stadt selber zu kaufen. Allein es waren dies Dinge, die man
nicht erst bei Gelegenheit des africanischen Krieges erfuhr; das
ganze äuſsere und innere Regiment dieser Zeit trug denselben
Stempel und nur der Zufall, daſs uns der Krieg in Africa durch
bessere Berichte näher gerückt ist als die anderen gleichzeitigen
mititärischen und politischen Ereignisse, verschiebt für uns die
richtige Perspective. Daſs man für die längst bekannte Thatsache,
daſs die Regierung ebenso unfähig als niederträchtig sei, jetzt
noch einige neue noch stärkere und noch unwiderleglichere Be-
weise in Händen hatte, hätte von Wichtigkeit sein können, wenn
es eine Opposition und eine öffentliche Meinung gegeben hätte,
mit denen die Regierung genöthigt gewesen wäre sich abzufin-
den; allein dieser Krieg hatte in der That nicht minder die Re-
gierung prostituirt als die vollständige Nichtigkeit der Opposition
offenbart. Es war nicht möglich schlechter zu regieren als die
Restauration in den Jahren 637-645 es that, nicht möglich
wehrloser und verlorener dazustehen als der römische Senat im
J. 645 stand; hätte es in der That eine Opposition in Rom ge-
geben, das heiſst eine Partei, die eine principielle Abänderung der
Verfassung wünschte und betrieb, so muſste nothwendig jetzt
wenigstens ein Versuch erfolgen, das restaurirte Senatsregiment
zu stürzen. Es geschah nicht; man machte aus der politischen
eine Personenfrage, wechselte die Feldherren und schickte ein
paar nichtsnutzige und unbedeutende Leute in die Verbannung.
Das heiſst, es stand fortan fest, daſs die sogenannte Popularpartei
als solche weder regieren konnte noch regieren wollte; daſs es in
Rom schlechterdings nur zwei mögliche Regierungsformen gab,
die Tyrannis und die Oligarchie; daſs, so lange es zufällig an
einer Persönlichkeit fehlte, die wo nicht bedeutend, doch bekannt
genug war, um sich zum Staatsoberhaupt aufzuwerfen, die ärgste
Miſswirthschaft höchstens einzelne Oligarchen, aber niemals die
Oligarchie gefährdete; daſs dagegen, so wie ein solcher Präten-
dent auftrat, nichts leichter war als die morschen curulischen
Stühle zu erschüttern. In dieser Hinsicht war das Auftreten des
Marius bezeichnend, eben weil es an sich so völlig unmotivirt
war. Wenn die Bürgerschaft nach Albinus Niederlage die Curie
gestürmt hätte, es wäre begreiflich, um nicht zu sagen in der
Ordnung gewesen; aber nach der Wendung, die Metellus dem
numidischen Kriege gegeben hatte, konnte von schlechter Ver-
waltung, geschweige denn von Gefahr für das Gemeinwesen
wenigstens in dieser Beziehung nicht mehr die Rede sein; und
dennoch gelang es dem ersten besten ehrgeizigen Offizier das
[151]DIE RESTAURATIONSHERRSCHAFT.
auszuführen was einst der ältere Africanus der Regierung gedroht
hatte (I, 606), und sich eines der vornehmsten militärischen
Commandos gegen den bestimmt ausgesprochenen Willen der
Regierung zu verschaffen. Die öffentliche Meinung, nichtig in den
Händen der sogenannten Popularpartei, ward zur unwidersteh-
lichen Waffe in der Hand des künftigen Königs von Rom. Es
soll damit nicht gesagt werden, daſs Marius beabsichtigte den
Prätendenten zu spielen, am wenigsten damals schon, als er um
den Oberbefehl in Africa bei dem Volke warb; aber mochte er
begreifen oder nicht begreifen, was er that, es war augenschein-
lich zu Ende mit dem restaurirten aristokratischen Regime, wenn
die Comitialmaschine anfing Feldherren zu machen oder, was un-
gefähr dasselbe war, wenn jeder populäre Offizier im Stande war
in legaler Weise sich selbst zum Feldherrn aufzuwerfen. Ein ein-
ziges neues Element trat in diesen vorläufigen Krisen auf; es
war das Hineinziehen der militärischen Männer und der militä-
rischen Macht in die politische Krise. Ob ein neuer Versuch die
Oligarchie durch die Tyrannis zu verdrängen sich hier vorbe-
reite oder ob Marius Auftreten wie so manches Aehnliche als
vereinzelter Eingriff in die Regierung ohne weitere Folge vor-
über gehen werde, lieſs sich noch nicht bestimmen; wohl aber
war es vorauszusehen, daſs wenn diese Keime einer zweiten Ty-
rannis zur Entwickelung gelangten, dieselbe nicht wie die des
Gaius Gracchus einen Staatsmann, sondern irgend einen Offizier
auf den Thron heben werde. Die gleichzeitige Reorganisation des
Heerwesens, indem zuerst Marius bei der Bildung seiner nach
Africa bestimmten Armee von der bisher geforderten Vermögens-
qualification absah und auch dem ärmsten Bürger, wenn er sonst
brauchbar war, als Freiwilligem den Eintritt in die Legion ge-
stattete, mag von ihrem Urheber aus rein militärischen Rück-
sichten durchgeführt worden sein; allein darum war es nichts
desto weniger ein folgenreiches politisches Ereigniſs, daſs das
Heer nicht mehr wie ehemals aus denen, die viel, nicht einmal
mehr wie in der jüngsten Zeit aus denen, die etwas zu verlieren
hatten, gebildet ward, sondern anfing sich zu verwandeln in einen
Haufen von Leuten, die nichts hatten als ihre Arme und was der
Feldherr ihnen verehrte. Die Aristokratie herrschte im J. 650
ebenso unumschränkt wie im J. 620; aber die Zeichen der her-
annahenden Katastrophe hatten sich gemehrt und am politischen
Horizont war neben der Krone das Schwert aufgegangen.
[[152]]
KAPITEL V.
Die Völker des Nordens.
Seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts beherrschte die
römische Gemeinde die drei groſsen von dem nördlichen Con-
tinent in das Mittelmeer hineinragenden Halbinseln. Indeſs
abgesehen von den ganz oder halbfreien Völkerschaften, die
innerhalb derselben im Norden und Westen Spaniens, in den
ligurischen Apenninen- und Alpenthälern, in den Gebirgen
Makedoniens und Thrakiens fortfuhren der schlaffen römischen
Regierung zu trotzen, war die continentale Verbindung zwischen
Spanien und Italien wie zwischen Italien und Makedonien nur
in der oberflächlichsten Weise hergestellt, und die Landschaften
jenseits der Pyrenäen, der Alpen und der Balkankette, die gros-
sen Stromgebiete der Rhone, des Rheins und der Donau lagen
vollständig auſserhalb des politischen Gesichtskreises der Römer.
Es ist hier darzustellen, was römischer Seits geschah, um nach
dieser Richtung hin das Reich zu sichern und zu arrondiren und
wie zugleich die groſsen Völkermassen, die hinter jenem gewal-
tigen Gebirgsvorhang ewig auf und nieder wogten, anfingen an
die Thore der nördlichen Gebirge zu pochen und die griechisch-
römische Welt wieder einmal unsanft daran zu mahnen, daſs sie
mit Unrecht meine die Erde für sich allein zu besitzen.
Fassen wir zunächst die Landschaft zwischen den Alpen
und den Pyrenäen ins Auge. Die Römer beherrschten diesen
Theil der Küste des Mittelmeers seit langem durch ihre Clientel-
stadt Massalia, eine der ältesten, treuesten und mächtigsten der
von Rom abhängigen bundesgenössischen Gemeinden, deren See-
[153]DIE VÖLKER DES NORDENS.
stationen, westlich Agathe (Agde) und Rhoda (Rosas), östlich
Tauroention (Ciotat), Olbia (Hyères?), Antipolis (Antibes) und
Nikaea (Nizza), die Küstenfahrt wie den Landweg von den Pyre-
näen zu den Alpen sicherten und deren mercantile und politische
Verbindungen weit ins Binnenland hinein reichten. Eine Expe-
dition in die Alpen oberhalb Nizza und Antibes gegen die liguri-
schen Oxybier und Dekieten ward im J. 600 von den Römern
theils auf Ansuchen der Massalioten, theils im eigenen Interesse
unternommen und nach heftigen und zum Theil verlustvollen
Gefechten dieser Theil des Gebirges gezwungen den Massalioten
fortan stehende Geiſseln zu geben und ihnen jährlichen Zins zu
zahlen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs um diese Zeit zu-
gleich in dem ganzen von Massalia abhängigen Gebiete jenseit
der Alpen der nach dem Muster des massaliotischen daselbst auf-
blühende Wein- und Oelbau im Interesse der italischen Gutsbe-
sitzer und Kaufleute untersagt ward*. Einen ähnlichen Cha-
rakter finanzieller Speculation trägt der Krieg, der wegen der
Goldgruben und Goldwäschereien von Victumulae (in der Ge-
gend von Vercelli und Bard und im ganzen Thal der Doria Baltea)
von den Römern unter dem Consul Appius Claudius im J. 611
gegen die Salasser geführt ward. Er ward veranlaſst durch die
groſse Ausdehnung der Wäschereien, welche den Bewohnern der
niedriger liegenden Landschaft das Wasser für ihre Aecker entzog
und erst einen Vermittlungsversuch, sodann die bewaffnete Inter-
vention der Römer hervorrief. Der Krieg, obwohl die Römer auch
ihn wie alle übrigen mit einer Niederlage begannen, führte endlich
die Unterwerfung der Salasser und die Abtretung des Goldbezir-
kes an das römische Aerar herbei. Einige Jahrzehende später
(654) ward auf dem hier gewonnenen Gebiet die Colonie Epo-
redia (Ivrea) angelegt, hauptsächlich wohl um durch sie den
westlichen wie durch Aquileia den östlichen Alpenpaſs zu be-
herrschen. Einen ernsteren Charakter nahm der alpinische Krieg
erst an, als Marcus Fulvius Flaccus, der treue Bundesgenosse des
Gaius Gracchus, als Consul 629 dessen Führung übernahm. Er
[154]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
zuerst betrat die Bahn der transalpinischen Eroberungspolitik.
In der vielgetheilten keltischen Nation hatte der Gau der Bituri-
gen seine wirkliche Hegemonie verloren und nur eine Ehrenvor-
standschaft behalten; der effectiv führende Gau war in dem Ge-
biet von den Pyrenäen bis zum Rhein und vom Mittelmeer bis
zum Ocean um diese Zeit der der Arverner*, wonach es nicht
gerade übertrieben erscheint, daſs er bis 180000 Mann ins Feld
zu stellen vermochte. Mit ihnen rangen die Haeduer (um Autun)
um die Hegemonie in diesem Gebiet als ungleiche Rivalen; wäh-
rend in dem nordöstlichen Gallien die Könige der Suessionen
(um Soissons) den bis nach Britannien hinüber sich erstrecken-
den Völkerbund der Belgen unter ihrer Schutzherrschaft vereinig-
ten. Griechische Reisende jener Zeit wuſsten viel zu erzählen
von der prachtvollen Hofhaltung des Arvernerkönigs Luerius, wie
derselbe umgeben von seinem glänzenden Clangefolge, den Jä-
gern mit der gekoppelten Meute und der wandernden Sänger-
schaar, auf dem silberbeschlagenen Wagen durch die Städte sei-
nes Reiches fuhr, das Gold mit vollen Händen auswerfend unter
die Menge, vor allem aber das Herz des Dichters mit dem leuch-
tenden Regen erfreuend — die Schilderungen von der offenen
Tafel, die er in einem Raume von 1500 Doppelschritten ins Ge-
vierte abhielt und zu der jeder des Weges Kommende geladen
war, erinnern lebhaft an die Hochzeitstafel Camachos. In der
That zeugen die zahlreichen, noch jetzt vorhandenen arverni-
schen Goldmünzen dieser Zeit dafür, daſs der Arvernergau zu
ungemeinem Reichthum und einer verhältniſsmäſsig hoch gestei-
gerten Civilisation gediehen war. Flaccus Angriff traf indeſs zu-
nächst nicht auf die Arverner, sondern auf die kleineren Stämme
in dem Gebiet zwischen den Alpen und der Rhone, wo die ur-
sprünglich ligurischen Einwohner mit nachgerückten keltischen
Schaaren sich vermischt hatten und eine der keltiberischen ver-
gleichbare keltoligurische Bevölkerung entstanden war. Er focht
(629. 630) mit Glück gegen die Salyer oder Salluvier in der
Gegend von Aix und im Thal der Durance und gegen ihre nörd-
lichen Nachbarn, die Vocontier (Dep. Vaucluse und Drome),
ebenso sein Nachfolger Gaius Sextius Calvinus (631. 632)
gegen die Allobrogen, einen mächtigen keltischen Clan in dem
reichen Thal der Isere, der auf die Bitte des landflüchtigen Kö-
nigs der Salyer Tutomotulus gekommen war, ihm sein Land wie-
[155]DIE VÖLKER DES NORDENS.
der erobern zu helfen, aber in der Gegend von Aix geschlagen
wurde. Da die Allobrogen indeſs nichts desto weniger sich wei-
gerten den Salyerkönig auszuliefern, drang Calvinus Nachfolger
Gnaeus Domitius Ahenobarbus in ihr eigenes Gebiet ein (632).
Bisher hatte der führende keltische Stamm dem Umsichgreifen
der italischen Nachbarn zugesehen; der Arvernerkönig Betuitus,
jenes Luerius Sohn, schien nicht sehr geneigt des losen Schutz-
verhältnisses wegen, in dem die östlichen Gaue zu ihm stehen
mochten, in einen bedenklichen Krieg sich einzulassen. Indeſs
als die Römer Miene machten die Allobrogen auf ihrem eige-
nen Gebiet anzugreifen, bot er seine Vermittlung an, deren Zu-
rückweisung zur Folge hatte, daſs er mit seiner gesammten
Macht den Allobrogen zu Hülfe erschien; wogegen wieder die
Haeduer Partei ergriffen für die Römer. Auch die Römer sandten
auf die Nachricht von der Schilderhebung der Arverner den Con-
sul des J. 633 Quintus Fabius Maximus, in Verbindung mit Ahe-
nobarbus dem drohenden Sturm zu begegnen. An der südlichen
Grenze des allobrogischen Cantons am Einfluſs der Isere in die
Rhone, die das Arvernerheer auf einer Schiffbrücke überschritt,
ward am 8. August 633 die Schlacht geschlagen, die über die
Herrschaft im südlichen Gallien entschied. König Betuitus, da er
die zahllosen Haufen der abhängigen Clans über die Brücke her-
anziehen und dagegen die dreimal schwächeren Römer sich auf-
stellen sah, soll ausgerufen haben, daſs ihrer ja nicht genug seien
um die Hunde des Keltenheeres zu sättigen. Allein Maximus, ein
Enkel des Siegers von Pydna, erfocht dennoch einen entschei-
denden Sieg, welcher, da die Schiffbrücke unter der Masse der
Flüchtenden zusammenbrach, mit der Vernichtung des gröſsten
Theils der arvernischen Armee endigte. Die Allobrogen, denen
ferner Beistand zu leisten der Arvernerkönig sich unfähig er-
klärte und denen er selber rieth mit Maximus ihren Frieden zu
machen, unterwarfen sich dem Consul, worauf derselbe, fortan
der Allobrogiker genannt, nach Italien zurückging und die nicht
mehr ferne Beendigung des arvernischen Krieges dem Ahenobar-
bus überlieſs. Dieser, auf König Betuitus persönlich erbittert,
weil er die Allobrogen veranlaſst sich dem Maximus und nicht
ihm zu ergeben, bemächtigte sich in treuloser Weise der Person
des Königs und sandte ihn nach Rom, wo der Senat den Bruch
des Treuworts zwar miſsbilligte, aber nicht bloſs den verrathenen
Mann festhielt, sondern auch befahl den Sohn desselben Congon-
netiacus gleichfalls nach Rom zu senden. Dies scheint die Ur-
sache gewesen zu sein, daſs der fast schon thatsächlich beendigte
[156]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
arvernische Krieg noch einmal aufloderte und es bei Vindalium
(oberhalb Avignon) am Einfluſs der Sorgue in die Rhone zu
einer zweiten Entscheidung durch die Waffen kam. Sie fiel nicht
anders aus als die erste; es waren diesmal hauptsächlich die africa-
nischen Elephanten, die das Keltenheer zerstreuten. Hierauf be-
quemten sich die Arverner zum Frieden, womit die Ruhe wieder
in das Keltenland zurückkehrte *. — Das Ergebniſs dieser mili-
tärischen Operationen war die Einrichtung einer neuen römi-
schen Provinz zwischen den Alpen und den Pyrenäen. Die
sämmtlichen Völkerschaften zwischen den Alpen und der Rhone
wurden von den Römern abhängig und vermuthlich, so weit sie
nicht nach Massalia zinsten, schon jetzt den Römern tributär.
In der Landschaft zwischen der Rhone und den Pyrenäen behiel-
ten die Arverner zwar die Freiheit und wurden nicht den Rö-
mern zinspflichtig; allein sie hatten den südlichsten Theil ihres
mittel- oder unmittelbaren Gebiets, den Strich südlich der Ce-
vennen bis an das Mittelmeer und den oberen Lauf der Garonne
bis nach Tolosa (Toulouse) an die Römer abzutreten. Da der
wesentliche Zweck dieser Occupationen die Herstellung einer
Landverbindung zwischen Spanien und Italien war, so wurde
unmittelbar nach der Besetzung gesorgt für die Chaussirung des
Küstenweges. Zu diesem Ende wurde von den Alpen zur Rhone
der Küstenstrich in der Breite von ⅕ bis \frac{3}{10} einer deutschen Meile
den Massalioten, die ja bereits eine Reihe von Seestationen an
dieser Küste besaſsen, überwiesen mit der Verpflichtung die
Straſse in gehörigem Stand zu halten; wogegen von der Rhone
bis zu den Pyrenaen die Römer selbst eine Militärchaussee an-
legten, die von ihrem Urheber Ahenobarbus den Namen der do-
mitischen Straſse erhielt. Wie gewöhnlich verband mit dem
Straſsenbau sich die Anlage neuer Festungen. Im östlichen Theil
fiel die Wahl auf den Platz, wo Gaius Sextius die Kelten geschla-
gen hatte und wo die Anmuth und Fruchtbarkeit der Gegend wie
die zahlreichen kalten und warmen Quellen zur Ansiedlung ein-
[157]DIE VÖLKER DES NORDENS.
luden; hier entstand eine römische Ortschaft, die Bäder des Sex-
tius, Aquae Sextiae (Aix). Westlich von der Rhone siedelten die
Römer in Narbo sich an, einer uralten Keltenstadt an dem schiff-
baren Fluſs Atax (Aude) in geringer Entfernung vom Meere,
die bereits Hekataeos nennt und die schon vor ihrer Besetzung
durch die Römer als lebhafter an dem britannischen Zinnhandel
betheiligter Handelsplatz mit Massalia rivalisirte. Aquae erhielt
nicht Stadtrecht, sondern blieb ein stehendes Lager *; dagegen
Narbo, obwohl gleichfalls wesentlich als Wach- und Vorposten
gegen die Kelten gegründet, ward als ‚Marsstadt‘ römische Bür-
gercolonie und der gewöhnliche Sitz des Statthalters der neuen
transalpinischen Keltenprovinz, die, wie die cisalpinische früher
nach dem Sitz des Statthalters Ariminum hieſs, gewöhnlich nach
dem Hauptort als Provinz Narbo bezeichnet ward. — Die Absicht,
in der die gracchische Partei diese transalpinischen Gebietserwer-
bungen begonnen, war offenbar hier ein neues und unermeſs-
liches Gebiet für ihre Colonisationspläne zu eröffnen, das nicht
bloſs besser gelegen war als Sicilien und Africa, sondern auch
leichter den Eingebornen entrissen werden konnte als die sicili-
schen und libyschen Aecker den italischen Capitalisten. Der
Sturz des Gaius Gracchus machte auch hier sich fühlbar in der
Beschränkung der Eroberungen und mehr noch der Stadtgrün-
dungen; indeſs wenn die Absicht nicht in vollem Umfang er-
reicht ward, so ward sie doch auch nicht völlig vereitelt. Das
gewonnene Gebiet und mehr noch die Gründung von Narbo,
welcher Ansiedlung der Senat vergeblich das Schicksal der kar-
thagischen zu bereiten suchte, blieben als unfertige, aber den
künftigen Nachfolger des Gracchus an die Fortsetzung des Baus
mahnende Ansätze stehen. Offenbar schützte die römische Kauf-
mannschaft, die mit Massalia in dem gallisch-britannischen Han-
del nur in Narbo zu concurriren vermochte, diese Anlage vor den
Angriffen der Optimaten.
Eine ähnliche Aufgabe wie im Nordwesten war auch gestellt
im Nordosten von Italien; sie ward gleichfalls nicht ganz ver-
nachlässigt, aber noch unvollkommener als jene gelöst. Mit der
Anlage von Aquileia (571) kam die istrische Halbinsel in römi-
[158]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
schem Besitz (I, 486); in Epirus und dem ehemaligen Gebiet
der Herren von Skodra geboten sie zum Theil bereits geraume
Zeit früher. Allein nirgends reichte ihre Herrschaft ins Binnen-
land hinein und selbst an der Küste heherrschten sie kaum dem
Namen nach den unwirthlichen Ufersaum zwischen Istrien und
Epirus, der in seinen wildverschlungenen weder von Fluſsthälern
noch von Küstenebenen unterbrochenen schuppenartig an einan-
der gereihten Bergkesseln und in der längs des Ufers sich hinzie-
henden Kette felsiger Inseln Italien und Griechenland mehr scheidet
als zusammenknüpft. Um die Stadt Delmion schloſs sich hier die
Eidgenossenschaft der Delmater oder Dalmater, deren Sitten rauh
waren wie ihre Berge: während die Nachbarvölker bereits zu rei-
cher Culturentwicklung gelangt waren, kannte man in Dalmatien
noch keine Münze und theilte den Acker, ohne daran ein Son-
dereigenthum anzuerkennen, von acht zu acht Jahren neu auf
unter die gemeindsässigen Leute. Land- und Seeraub waren die
einzigen bei ihnen heimischen Gewerbe. Diese Völkerschaften
hatten in früheren Zeiten in einem losen Abhängigkeitsverhält-
niſs zu den Herren von Skodra gestanden und waren insofern
mitbetroffen worden von den römischen Expeditionen gegen die
Königin Teuta (I, 369) und Demetrios von Pharos (I, 371);
allein bei dem Regierungsantritt des Königs Genthios hatten sie
sich losgemacht und waren dadurch dem Schicksal entgangen,
das das südliche Illyrien in den Sturz des makedonischen Rei-
ches verflocht und es von Rom dauernd abhängig machte (I,
589). Die Römer überlieſsen die wenig lockende Landschaft
gern sich selbst. Allein die Klagen der römischen Illyrier, na-
mentlich der Daorser, die an der Narenta südlich von den Dal-
matern wohnten, und der Bewohner der Insel Issa (Lissa), deren
continentale Stationen Tragyrion (Trau) und Epetion (bei Spa-
latro) von den Eingebornen schwer zu leiden hatten, nöthigten
die römische Regierung an die Dalmater eine Gesandtschaft ab-
zuordnen und, da diese die Antwort zurückbrachte, daſs die Dal-
mater um die Römer sich nicht gekümmert hätten noch küm-
mern würden, im J. 598 ein Heer unter dem Consul Gaius Mar-
cius Figulus dorthin zu senden. Er drang in Dalmatien ein,
ward aber wieder zurückgedrängt bis auf das römische Gebiet.
Erst sein Nachfolger Publius Scipio Nasica nahm 599 die groſse
und feste Stadt Delmion ein, worauf die Eidgenossenschaft sich
zum Ziel legte und sich bekannte als den Römern unterthänig.
Indeſs war die sehr oberflächliche Erwerbung nicht wichtig genug
um als eigenes Amt constituirt zu werden; man begnügte sich,
[159]DIE VÖLKER DES NORDENS.
wie man es auch für die wichtigeren Besitzungen in Epirus ge-
than, sie von Italien aus mit dem diesseitigen Keltenland zugleich
verwalten zu lassen, wobei es wenigstens als Regel auch dann
blieb, als im J. 608 die Provinz Makedonien eingerichtet und deren
nordöstliche Grenze nördlich von Skodra festgestellt worden war*.
— Gröſsere Bedeutung gewannen die Völkerverhältnisse im Nord-
osten erst, nachdem die Umwandlung Makedoniens in eine von
Rom unmittelbar abhängige Landschaft den Römern die Verpflich-
tung auferlegte die überall offene Nord- und Ostgrenze gegen die
angrenzenden barbarischen Stämme zu vertheidigen; wozu nicht
lange darauf (621) die Erwerbung des bisher zum Reich der At-
taliden gehörigen thrakischen Chersones (Halbinsel von Galli-
poli) kam, wodurch die bisher den Königen von Pergamon ob-
liegende Verpflichtung Lysimacheia gegen die Thraker zu schützen
gleichfalls auf die Römer überging. Von der zwiefachen Basis
aus, die das Pothal und die makedonische Landschaft darboten,
wäre es nun möglich gewesen ernstlich gegen das Quellgebiet des
Rheins und die Donau vorzugehen und der nördlichen Gebirge
wenigstens insoweit sich zu bemächtigen, als die Sicherheit der
südlichen Landschaften es erforderte. Auch in diesen Gegenden
war damals die mächtigste Nation das groſse Keltenvolk, welches
der einheimischen Sage (I, 209) zufolge aus seinen Sitzen am
westlichen Ocean sich um dieselbe Zeit südlich der Hauptalpen-
kette in das Pothal und nördlich derselben in die Landschaften
am oberen Rhein und an der Donau ergossen hatte. Oestlich
vom Rhein saſsen von ihren Stämmen nächst am Fluſs der
mächtige, reiche und, da er mit den Römern nirgends sich un-
mittelbar berührte, mit ihnen in Frieden und Vertrag lebende
Stamm der Helvetier, die damals vom Genfersee bis zum Main
sich erstreckend die heutige Schweiz, Schwaben und Franken
inne gehabt zu haben scheinen. Mit ihnen grenzten die Boier,
deren Sitze das heutige Baiern und Böhmen gewesen sein mö-
gen**. Südöstlich von ihnen begegnen wir einem andern Kelten-
[160]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
stamm, der in Steiermark und Kärnthen unter dem Namen der
Taurisker, später der Noriker, in Friaul, Krain, Istrien unter dem
der Karner auftritt. Ihre Stadt Noreia (unweit St. Veit nörd-
lich von Klagenfurt) war blühend und weitbekannt durch die
schon damals in dieser Gegend eifrig betriebenen Eisengruben;
mehr noch wurden eben in dieser Zeit die Italiker dorthin ge-
lockt durch die dort neu aufgefundenen reichen Goldlager, bis
die Eingebornen sie ausschlossen und dies Californien der dama-
ligen Zeit für sich monopolisirten. Diese zu beiden Seiten der Al-
pen sich ergieſsenden keltischen Schwärme hatten nach ihrer
Art vorwiegend nur das Flach- und Hügelland besetzt; dagegen
war die eigentliche Alpenlandschaft und ebenso das Gebiet der
Etsch und des untern Po von ihnen unbesetzt und in den Hän-
den der früher dort einheimischen Bevölkerung geblieben, welche,
ohne daſs über ihre Nationalität bis jetzt etwas Sicheres zu er-
mitteln gelungen wäre, unter dem Namen der Raeter in den Ge-
birgen der Ostschweiz und Tirols, unter dem der Euganeer und
Veneter um Padua und Venedig auftreten, so daſs an diesem
letzten Punct die beiden groſsen Keltenströme fast sich berühren
und nur ein schmaler Streif eingeborner Bevölkerung die kelti-
schen Cenomaner um Brescia von den keltischen Karnern in
Friaul scheidet. Die Euganeer und Veneter waren längst fried-
liche Unterthanen der Römer; dagegen die eigentlichen Alpenvöl-
ker waren nicht bloſs noch frei, sondern machten auch von ihren
Bergen herab regelmäſsig Streifzüge in die Ebene zwischen den
Alpen und dem Po, wo sie sich nicht begnügten zu brand-
schatzen, sondern auch in den eingenommenen Ortschaften mit
fürchterlicher Grausamkeit hausten und nicht selten die ganze
männliche Bevölkerung bis zum Kinde in den Windeln nieder-
**
[161]DIE VÖLKER DES NORDENS.
machten — vermuthlich die thatsächliche Antwort auf die Art,
wie bei den römischen Razzias in den Alpenthälern verfahren
ward. Wie gefährlich diese raetischen Einfälle waren, zeigt, daſs
einer derselben um das J. 660 die ansehnliche Ortschaft Comum
zu Grunde richtete. Wenn bereits diese auf und jenseit der Al-
penkette sitzenden keltischen und nicht keltischen Stämme viel-
fach sich gemischt haben mögen, so ist die Völkermengung wie
begreiflich noch in viel umfassenderer Weise eingetreten in den
Landschaften an der unteren Donau, wo nicht wie in den west-
licheren die hohen Gebirge als natürliche Scheidewände dienen.
Die ursprünglich illyrische Bevölkerung, deren letzter reiner
Ueberrest die heutigen Albanesen zu sein scheinen, war überall
wenigstens im Binnenland stark gemengt mit keltischen Elemen-
ten und die keltische Bewaffnung und Kriegsweise hier wohl
überall eingeführt. Zunächst an die Taurisker grenzten die Ja-
pyden, die auf den julischen Alpen im heutigen Kroatien bis
hinab nach Fiume und Zeng saſsen, ein ursprünglich wohl illyri-
scher aber stark mit Kelten gemischter Stamm. An sie grenzten
am Littoral die schon genannten Dalmater, in deren rauhe Ge-
birge die Kelten nicht eingedrungen zu sein scheinen; im Bin-
nenland dagegen waren die keltischen Skordisker, denen das
ehemals hier vor allen mächtige Volk der Triballer erlegen war
und die schon in den Keltenzügen nach Delphi eine Hauptrolle
gespielt hatten, an der untern Save bis zur Morawa im heutigen
Bosnien und Serbien um diese Zeit die führende Nation, die weit
und breit nach Moesien, Thrakien und Makedonien streifte und
von deren wilder Tapferkeit und grausamen Sitten man sich
schreckliche Dinge erzählte. Ihr Hauptwaffenplatz war das feste
Segestica oder Siscia an der Mündung der Kulpa in die Save.
Die Völker des heutigen Ungarns, der Wallachei und Bulgariens
blieben für jetzt noch auſserhalb des Gesichtskreises der Römer;
nur mit den Thrakern berührte man sich an der Ostgrenze Ma-
kedoniens in den Rhodopegebirgen. — Es wäre für eine kräfti-
gere Regierung, als die damalige römische es war, keine leichte
Aufgabe gewesen, gegen diese weiten und barbarischen Gebiete
eine geordnete und ausreichende Grenzvertheidigung durchzu-
führen; was unter den Auspicien der Restaurationsregierung für
den wichtigen Zweck geschah, konnte auch den mäſsigsten An-
forderungen nicht genügen. An Expeditionen gegen die Alpen-
bewohner scheint es nicht gefehlt zu haben; im J. 636 ward
triumphirt über die Stoener, die in den Bergen oberhalb Verona
gesessen haben dürften; im J. 659 lieſs der Consul Lucius Cras-
Röm. Gesch. II. 11
[162]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
sus die Alpenthäler weit und breit durchstöbern und die Einwoh-
ner niedermachen und dennoch gelang es ihm nicht derselben
genug zu erschlagen, um auch nur einen Dorftriumph feiern und
mit seinem Rednerruhm den Siegeslorbeer paaren zu können.
Allein da man es bei derartigen Razzias bewenden lieſs, die die
Eingebornen nur erbitterten ohne sie unschädlich zu machen,
und, wie es scheint, nach jedem solchen Ueberlauf die Trup-
pen wieder wegzog, so blieb der Zustand in der Landschaft jen-
seit des Po im Wesentlichen wie er war. — Auf der entgegenge-
setzten Grenze in Thrakien scheint man sich gar nicht um die
Nachbarn bekümmert zu haben; kaum daſs im J. 651 ein Kampf
mit den Thrakern, im J. 657 ein anderer mit den Maedern in
den Grenzgebirgen zwischen Makedonien und Thrakien erwähnt
wird. — Ernstlichere Kämpfe fanden statt im illyrischen Land,
wo über die unruhigen Dalmater von den Nachbarn und den
Schiffern auf der adriatischen See beständig Beschwerde geführt
ward und an der völlig offenen Nordgrenze Makedoniens, welche
nach dem bezeichnenden Ausdruck eines Römers so weit ging
als die römischen Schwerter und Speere reichten, die Kämpfe
mit den Nachbarn niemals ruhten. Im J. 619 ward ein Zug ge-
macht gegen die Ardyaeer oder Vardaeer und die Pleraeer oder
Paralier, eine dalmatische Völkerschaft in dem Littoral nördlich
der Narentamündung, die nicht aufhörte auf dem Meer und an
der gegenüberliegenden Küste Unfug zu treiben; auf Geheiſs der
Römer siedelten sie von der Küste weg im Binnenland, der heu-
tigen Herzegowina sich an und begannen den Acker zu bauen,
verkümmerten aber in der rauhen Gegend bei dem ungewohnten
Beruf. Gleichzeitig ward von Makedonien aus ein Angriff gegen
die Skordisker gerichtet, die vermuthlich mit den angegriffenen
Küstenbewohnern gemeinschaftliche Sache machten. Bald darauf
(625) demüthigte der Consul Tuditanus in Verbindung mit dem
tüchtigen Decimus Brutus, dem Bezwinger Galiciens, die Japyden
und trug, nachdem er anfänglich eine Niederlage erlitten, schlieſs-
lich die römischen Waffen tief nach Dalmatien hinein bis an den
Kerkafluſs, 25 deutsche Meilen abwärts von Aquileia; die Japyden
erscheinen fortan als eine befriedete und mit Rom in Freund-
schaft lebende Nation. Dennoch erhoben zehn Jahre später
(635) die Dalmater sich aufs Neue, abermals in Gemeinschaft
mit den Skordiskern; während der Consul Lucius Cotta gegen
die Bewohner des Binnenlandes kämpfte und wie es scheint bis
Segestica vordrang, zog gegen die Dalmater dessen College, der
ältere Bruder des Besiegers von Numidien, Lucius Metellus, seit-
[163]DIE VÖLKER DES NORDENS.
dem der Dalmatiker genannt, überwand sie und überwinterte in
Salonae (Spalatro), welche Stadt fortan als der Hauptwaffenplatz
der Römer in dieser Gegend erscheint. Es ist nicht unwahr-
scheinlich, daſs in diese Zeit auch die Anlage der gabinischen
Chaussee fällt, die von Salonae in östlicher Richtung nach An-
detrium (Clissa) und von da weiter landeinwärts geführt war.
Einen mehr offensiven Charakter trug die Expedition des Con-
suls des J. 639 Marcus Aemilius Scaurus gegen die Taurisker *;
er überstieg, der erste unter den Römern, die Kette der Ostalpen
an ihrer niedrigsten Senkung zwischen Triest und Laibach und
schloſs mit den Tauriskern Gastfreundschaft. wodurch zugleich
dafür gesorgt war, daſs der nicht unwichtige Handelsverkehr
ungestört blieb und daſs die Römer nicht, wie es durch eine
förmliche Unterwerfung geschehen wäre, in die Völkerbewegun-
gen nordwärts der Alpen mit hineingezogen wurden. Die um
dieselbe Zeit von Makedonien aus gegen die Donau zu gerichteten
Angriffe ergaben anfangs ein sehr ungünstiges Resultat: der
Consul des J. 640 Gaius Porcius Cato ward in den serbischen
Gebirgen von den Skordiskern überfallen und sein Heer voll-
ständig aufgerieben, während er selbst mit Wenigen schimpflich
entfloh; mühsam schirmte der Praetor Marcus Didius die römi-
sche Grenze. Glücklicher fochten seine Nachfolger, Gaius Metel-
lus Caprarius (641. 642), Marcus Drusus (642. 643), der erste
römische Feldherr, der die Donau erreichte, und Marcus Minu-
cius (644), der die Waffen längs der Morawa ** trug und die
Skordisker so nachdrücklich schlug, daſs sie seitdem zur Unbe-
deutendheit herabsinken und an ihrer Stelle ein anderer Stamm,
die Dardaner (in Serbien) in dem Gebiet zwischen der Nord-
grenze Makedoniens und der Donau die erste Rolle zu spielen
beginnt.
Indeſs diese Siege hatten eine Folge, welche die Sieger nicht
ahnten. Schon seit längerer Zeit irrte ein ‚unstetes Volk‘ an dem
nördlichen Saum der zu beiden Seiten der Donau von den Kel-
ten eingenommenen Landschaft. Sie nannten sich die Kimbrer,
das heiſst die Chempho, die Kämpen oder, wie ihre Feinde über-
setzten, die Räuber, welche Benennung indeſs allem Anschein
11*
[164]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
nach schon vor ihrem Auszug zum Volksnamen geworden war.
Sie kamen aus dem Norden und stieſsen unter den Kelten zuerst,
so weit bekannt, auf die Boier, wahrscheinlich in Böhmen.
Genaueres über die Ursache und die Richtung ihrer Heerfahrt
haben die Zeitgenossen aufzuzeichnen versäumt * und kann auch
durch keine Muthmaſsung ergänzt werden, da die derzeitigen
Zustände nördlich von Böhmen und dem Main und östlich vom
unteren Rheine unseren Blicken sich vollständig entziehen. Da-
gegen dafür, daſs die Kimbrer und nicht minder der gleichartige
ihnen später sich anschlieſsende Schwarm der Teutonen ihrem
Kerne nach nicht der keltischen Nation angehören, der die Rö-
mer sie anfänglich zurechneten, sondern der deutschen, sprechen
die bestimmtesten Thatsachen: das Erscheinen zweier kleiner
gleichnamiger Stämme, vielleicht in den Ursitzen zurückgebliebe-
ner Reste, der Kimbrer im heutigen Dänemark, der Teutonen
im nordöstlichen Deutschland in der Nähe der Ostsee, wo schon
Alexander des Groſsen Zeitgenosse Pytheas bei Gelegenheit des
Bernsteinhandels der Teutonen gedenkt; die Verzeichnung der
Kimbern und Teutonen in der germanischen Völkertafel unter den
Ingaevonen neben den Chaukern; das Urtheil Caesars, der zuerst
die Römer den Unterschied der Deutschen und der Kelten kennen
lehrte und die Kimbrer, deren er selbst noch manchen gesehen
haben muſs, den Deutschen beizählte; endlich die Völkernamen
selbst und die Angaben über ihre Körperbildung und ihr sonstiges
Wesen, die zwar auf die Nordländer überhaupt, aber doch vorwie-
gend auf die Deutschen passen. Andererseits ist es begreiflich, daſs
ein solcher Schwarm, nachdem er vielleicht Jahrzehnte auf der
Wanderschaft sich befunden und ohne Zweifel jeden Waffenbruder,
der sich anschloſs, willkommen geheiſsen hatte, auf seinen Zügen
an und in dem Keltenland eine Menge keltischer Elemente in
sich aufgenommen hatte; so daſs es nicht befremdet, wenn Män-
ner keltischen Namens an der Spitze stehen oder wenn die Rö-
mer sich keltisch redender Spione bedienen um bei ihnen zu
kundschaften. Es war ein wunderbarer Zug, dessen gleichen die
Römer noch nicht gesehen hatten; nicht eine Heerfahrt reisiger
Mannschaft, sondern ein wanderndes Volk, das mit Weib und
[165]DIE VÖLKER DES NORDENS.
Kind, mit Habe und Gut auszog eine neue Heimath sich zu su-
chen. Der Karren, der überall bei den noch nicht völlig seſshaft
gewordenen Völkern des Nordens eine andere Bedeutung hatte
als bei den Hellenen und den Italikern und namentlich auch von
den Kelten durchgängig ins Lager mitgeführt ward, war hier
gleichsam das Haus, wo unter dem übergespannten Lederdach
neben dem Geräth Platz sich fand für die Frau und die Kinder
und selbst für den Haushund. Die Südländer sahen mit Verwun-
derung diese hohen schlanken Gestalten mit den tiefblonden
Locken und den hellblauen Augen, die derben stattlichen Frauen,
die den Männern an Gröſse und Stärke wenig nachgaben, die
Kinder mit dem Greisenhaar, wie die Italiener verwundernd die
flachsköpfigen Jungen des Nordlandes bezeichneten. Das Kriegs-
wesen war wesentlich das der Kelten dieser Zeit, die nicht mehr
wie einst die italischen barhäuptig und bloſs mit Schwert und
Dolch fochten, sondern mit kupfernen oft reich geschmückten
Helmen und mit einer eigenthümlichen Wurfwaffe, der Materis;
daneben war das groſse Schwert geblieben und der lange schmale
Schild, neben dem man auch wohl noch einen Panzer trug. An
Reiterei fehlte es nicht; doch waren die Römer in dieser Waffe
ihnen überlegen. Die Schlachtordnung war wie früher eine rohe
angeblich eben so viel Glieder tief wie breit gestellte Phalanx,
deren erstes Glied in gefährlichen Gefechten nicht selten die me-
tallenen Leibgürtel mit Stricken unter einander verknüpfte. Die
Sitten waren rauh. Das Fleisch ward häufig roh verschlungen.
Heerkönig war der tapferste und wo möglich der längste Mann.
Nicht selten ward, nach Art der Kelten und überhaupt der Bar-
baren, Tag und Ort des Kampfes vorher mit dem Feinde ausge-
macht, auch wohl vor dem Beginn der Schlacht ein einzelner
Gegner zum Zweikampf herausgefordert. Die Einleitung zum
Kampf machten Verhöhnungen des Feindes durch unschickliche
Geberden und ein entsetzliches Gelärm, indem die Männer ihr
Schlachtgebrüll erhoben und die Frauen und Kinder durch Auf-
pauken auf die ledernen Wagendeckel nachhalfen. Der Kimbre
focht tapfer — galt ihm doch der Tod auf dem Bett der Ehre
als der einzige, der des freien Mannes würdig war —, allein nach
dem Siege hielt er sich schadlos durch die wildeste Bestialität:
das Geräth ward zerschlagen, die Pferde getödtet, die Gefangenen
aufgeknüpft oder nur aufbehalten um den Göttern geopfert zu
werden. Es waren die Priesterinnen, greise Frauen in weiſsen
linnenen Gewändern und unbeschuht, die wie Iphigeneia im Sky-
thenland diese Opfer vollzogen und aus dem rinnenden Blut des
[166]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
geopferten Kriegsgefangenen oder Verbrechers die Zukunft wie-
sen. Wie viel von diesen Sitten allgemeiner Brauch der Barba-
ren, wie viel von den Kelten entlehnt, wie viel deutsches Eigen
sei, wird sich nicht ausmachen lassen; nur die Weise nicht durch
Priester, sondern durch Priesterinnen das Heer geleiten und lei-
ten zu lassen, darf als unzweifelhaft deutsche Art angesprochen
werden. So zogen die Kimbrer hinein in das unbekannte Land,
ein ungeheures Knäuel mannigfaltigen Volkes, das um einen Kern
deutscher Auswanderer von der Ostsee sich zusammengeballt
hatte, nicht unvergleichbar den Emigrantenmassen, die in unsern
Zeiten ähnlich belastet und ähnlich gemischt und nicht viel minder
ins Blaue hinein übers Meer fahren; ihre schwerfällige Wagen-
burg mit der Gewandtheit, die ein langes Wanderleben giebt, hin-
überführend über Ströme und Gebirge, gefährlich den civilisirte-
ren Nationen wie die Meereswoge und die Windsbraut, aber wie
diese launisch und unberechenbar, bald rasch vordringend, bald
plötzlich stockend oder seitwärts und rückwärts sich wendend.
Wie ein Blitz kamen und trafen sie; wie ein Blitz waren sie ver-
schwunden, und es fand sich leider in der unlebendigen Zeit, in
der sie erschienen, kein Beobachter, der es werth gehalten hätte
das wunderbare Meteor genau festzustellen. Als man später an-
fing die Kette zu ahnen, von welcher diese Heerfahrt, die erste
deutsche, die den Kreis der antiken Civilisation berührte, ein
Glied ist, war längst die Kunde bis auf oberflächliche Aufzeich-
nungen verschollen.
Dieses heimathlose Volk der Kimbrer, das bisher von den
Kelten an der Donau, namentlich den Boiern verhindert worden
war nach Süden vorzudringen, durchbrach in Folge der von den
Römern gegen die Donaukelten gerichteten Angriffe die Schran-
ken, sei es nun daſs die letzteren sie zu Hülfe riefen gegen die
vordringenden Legionen oder daſs sie durch den Angriff der Rö-
mer verhindert wurden ihre Nordgrenzen so wie bisher zu schir-
men. Durch das Gebiet der Skordisker einrückend in das Tau-
riskerland näherten sie im J. 641 sich den krainer Alpenpässen,
zu deren Deckung der Consul Gnaeus Papirius Carbo auf den Hö-
hen unweit Aquileia sich aufstellte. Hier hatten siebzig Jahre zu-
vor keltische Stämme sich diesseit der Alpen anzusiedeln ver-
sucht, aber auf Geheiſs der Römer den schon occupirten Boden
ohne Widerstand geräumt (I, 486); auch jetzt erwies die Furcht
der transalpinischen Völker vor dem römischen Namen sich mäch-
tig. Die Kimbrer griffen nicht an; ja da Carbo sie das Gebiet der
Gastfreunde Roms, der Taurisker, räumen hieſs, wozu der Ver-
[167]DIE VÖLKER DES NORDENS.
trag mit diesen ihn keineswegs verpflichtete, fügten sie sich und
folgten den Führern, die ihnen Carbo gegeben hatte, um sie über
die Grenze zu geleiten. Allein diese Führer waren vielmehr an-
gewiesen die Kimbrer in einen Hinterhalt zu locken, wo der Con-
sul ihrer wartete. So kam es zum Kampf unweit Noreia im heu-
tigen Kärnthen, in dem die Verrathenen über den Verräther sieg-
ten und ihm beträchtlichen Verlust beibrachten; nur ein Unwetter,
das die Kämpfenden trennte, verhinderte die vollständige Ver-
nichtung der römischen Armee. Die Kimbrer hätten sogleich ihren
Angriff gegen Italien richten können; sie zogen es vor sich west-
wärts zu wenden. Mehr durch Vertrag mit den Helvetiern und den
Sequanern als durch Gewalt der Waffen eröffneten sie sich den Weg
auf das linke Rheinufer und über den Jura und bedrohten hier
einige Jahre nach Carbos Niederlage abermals in nächster Nähe
das römische Gebiet. Die Rheingränze und das zunächst gefähr-
dete Gebiet der Allobrogen zu decken erschien 645 im südlichen
Gallien ein römisches Heer unter Marcus Junius Silanus. Die Kim-
brer baten ihnen Land anzuweisen, wo sie friedlich sich nieder-
lassen könnten: eine Bitte, die sich allerdings nicht gewähren lieſs.
Der Consul griff statt aller Antwort sie an; er ward vollständig
geschlagen und das römische Lager erobert. Die Zahl der Gefal-
lenen war so groſs, daſs der Senat sich veranlaſst fand wie nach
der cannensischen Schlacht die Trauerzeit zu beschränken; zu-
gleich bewirkte er, da die Aushebung auf groſse Schwierigkei-
ten stieſs, die Aufhebung der vermuthlich von Gaius Gracchus
herrührenden Gesetze, die die Verpflichtung zum Kriegsdienst
der Zeit nach eingeschränkt hatten (S. 101). Indeſs die Kim-
brer, statt ihren Sieg gegen die Römer zu verfolgen, sandten
eine Botschaft an den Senat nach Rom, die dort die Bitte um
Anweisung von Land wiederholen sollte, und beschäftigten sich
inzwischen, wie es scheint, mit der Unterwerfung der umliegen-
den keltischen Cantone. So hatte die römische Provinz und die
neue römische Armee vor den Deutschen für den Augenblick
Ruhe; dagegen stand ihnen ein neuer Feind im westlichen Kel-
tenlande auf. Die Helvetier, die in den steten Kämpfen mit ihren
nordöstlichen Nachbarn viel auszustehen hatten, fühlten durch
das Beispiel der Kimbrer sich gereizt gleich ihnen im westlichen
Gallien sich ruhigere und fruchtbarere Sitze zu suchen und hat-
ten vielleicht schon bei dem Durchzug desselben sich dazu mit
ihnen verbündet; jetzt überschritten unter Divicos Führung die
Mannschaften der Toygener (unbekannter Lage) und der Ti-
[168]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
goriner (am See von Murten) den Jura *, und gelangten bis in das
Gebiet der Nitiobrogen (um Agen an der Garonne). Hier stieſsen
sie auf das römische Heer unter dem Consul Lucius Cassius Lon-
ginus. Es gelang den Helvetiern dasselbe in einen Hinterhalt zu
locken, wobei der Feldherr selber und sein Legat, der Consular
Gaius Piso, mit dem gröſsten Theil der Soldaten ihren Tod fan-
den; der interimistische Oberbefehlshaber Gaius Popillius der
Mannschaft, die sich in das Lager gerettet hatte, capitulirte auf
Abzug unter dem Joch gegen Auslieferung der Hälfte der Habe,
die die Soldaten mit sich führten, und Stellung von Geiſseln (647).
So bedenklich standen die Dinge für die Römer, daſs eine der
wichtigsten Städte in ihrer eigenen Provinz, Tolosa sich gegen
sie erhob und die römische Besatzung in Fesseln legte. — Indeſs
da die Kimbrer fortfuhren sich anderswo zu thun zu machen und
auch die Helvetier vorläufig die römische Provinz nicht weiter be-
lästigten, hatte der neue römische Oberfeldherr Quintus Servilius
Caepio volle Zeit, sich der Stadt Tolosa durch Verrath zu bemäch-
tigen und die in dem alten und berühmten Heiligthum des kelti-
schen Apollon aufgehäuften ungeheuren Schätze mit Muſse zu lee-
ren — ein erwünschter Gewinn für die bedrängte Staatskasse,
nur daſs leider auf dem Transport der Gold- und Silberfässer
von Tolosa nach Massalia die Bedeckung von Räubern überfallen
und das Gold geraubt ward; wie es hieſs, waren die Anstifter die-
ses Ueberfalles der Consul selbst und sein Stab (648). Inzwischen
beschränkte man sich gegen den Hauptfeind auf die strengste De-
fensive und hütete mit drei starken Heeren die römische Provinz,
bis es den Kimbrern gefallen würde den Angriff zu wiederholen. Sie
kamen wieder im J. 649 unter ihrem König Boiorix, diesmal ernst-
lich denkend an einen Einfall in Italien. Gegen sie befehligte am
rechten Rhoneufer der Proconsul Caepio, am linken der Consul
Gnaeus Mallius Maximus und unter ihm an der Spitze eines ab-
gesonderten Corps sein Legat, der Consular Marcus Aurelius Scau-
rus. Der erste Angriff traf diesen: er ward völlig geschlagen und
selbst gefangen in das feindliche Hauptquartier gebracht, wo der
kimbrische König, erzürnt über die stolze Warnung des gefan-
[169]DIE VÖLKER DES NORDENS.
genen Römers sich nicht nach Italien mit seinem Heer zu wagen,
ihn niederstieſs. Maximus befahl darauf seinem Collegen sein
Heer über die Rhone zu führen; widerwillig sich fügend erschien
dieser endlich bei Arausio (Orange) am linken Ufer des Flusses
wo die ganze vereinigte römische Streitmacht dem Kimbrerheer
gegenüber sich aufstellte und ihm durch ihre ansehnliche Zahl
so imponirt haben soll, daſs die Kimbrer anfingen zu unterhan-
deln. Allein die beiden Führer lebten im heftigsten Zerwürfniſs.
Maximus, ein geringer und unfähiger Mann, war als Consul sei-
nem stolzeren und besser gebornen, aber nicht besser gearteten
proconsularischen Collegen Caepio von Rechtswegen übergeordnet;
allein dieser weigerte sich ein gemeinschaftliches Lager zu beziehen
und gemeinschaftlich die Operationen zu berathen und behauptete
nach wie vor sein selbständiges Commando. Eine persönliche Zu-
sammenkunft der Feldherren, die die Offiziere erzwangen, erwei-
terte nur den Riſs. Als Caepio sodann den Maximus mit den Bo-
ten der Kimbrer verhandeln sah, meinte er diesen im Begriff die
Ehre ihrer Unterwerfung allein zu gewinnen und warf mit seinem
Heertheil allein schleunigst sich auf den Feind. Er ward völlig
vernichtet, so daſs auch sein Lager dem Feinde in die Hände fiel
(6. Oct. 649). Sein Untergang zog sodann die nicht minder voll-
ständige Niederlage der zweiten römischen Armee nach sich. Es
sollen 80000 römische Soldaten und halb so viel von dem unge-
heuren und unbehülflichen Troſs gefallen, nur zehn Mann ent-
kommen sein — so viel ist gewiſs, daſs es nur wenigen von den
beiden Heeren gelang sich zu retten, da die römischen Heere mit
dem Fluſs im Rücken gefochten hatten. Es war eine Niederlage,
die materiell und moralisch den Tag von Cannae weit überbot.
Durch Italien ging ein furchtbares Entsetzen, wie man es nicht
gekannt hatte seit den hannibalischen Zeiten. Man war es schon
so gewohnt jeden Krieg mit Unfällen zu eröffnen, daſs die Nie-
derlagen des Carbo, des Silanus, des Longinus ohne nachhalti-
gen Eindruck vorübergegangen waren; die Unüberwindlichkeit
der römischen Waffen stand so unerschütterlich fest, daſs es
überflüssig schien die ziemlich zahlreichen Ausnahmen zu beach-
ten. Die Schlacht von Arausio aber, die erschreckende Nähe, in
der das siegreiche Kimbrerheer gegen die unvertheidigten Alpen-
pässe stand, die sowohl in der römischen Landschaft jenseit der
Alpen als auch bei den Lusitanern aufs neue und verstärkt aus-
brechende Insurrection, der wehrlose Zustand Italiens rüttelten
furchtbar auf aus diesen Träumen und man gedachte wieder der
nie ganz vergessenen Keltenstürme des vierten Jahrhunderts, des
[170]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
Tags an der Allia und des Brandes von Rom. In Italien bemäch-
tigte der Gallierschreck mit der ganzen Gewalt zugleich ältester
Erinnerung und frischer Angst sich der Gemüther; im ganzen
Occident schien man es inne zu werden, daſs die Römerherr-
schaft anfange zu wanken. Es ist nicht zu sagen, was hätte kom-
men mögen, wenn die Kimbrer sogleich nach ihrem Doppelsieg
durch die Alpenpforten in Italien eingerückt wären. Indeſs sie
überschwemmten zunächst das Gebiet der Arverner, die mühsam
in ihren Festungen der Feinde sich erwehrten, und zogen von
da, der Belagerungen müde, weiter westlich gegen die Pyrenäen.
Wenn der erstarrte Organismus der römischen Politie noch
aus sich selber zu einer heilsamen Krise gelangen konnte, so
muſste sie jetzt eintreten, wo durch einen der wunderbaren
Glücksfälle, an denen die Geschichte Roms so reich ist, die Ge-
fahr nahe genug drohte um alle Energie und allen Patriotismus
in der Bürgerschaft in Bewegung zu bringen und doch nicht so
plötzlich hereinbrach, daſs diesen Kräften kein Raum geblieben
wäre sich zu entwickeln. Allein es wiederholten sich nur eben
dieselben Erscheinungen, die vier Jahre zuvor nach den africani-
schen Niederlagen eingetreten waren. In der That waren die
africanischen und die gallischen Unfälle wesentlich gleicher Art.
Es mag sein, daſs zunächst jene mehr der Oligarchie im Ganzen,
diese mehr einzelnen Beamten zur Last fielen; allein die öffent-
liche Meinung erkannte mit Recht in beiden vor allen Dingen den
Bankerott der Regierung, welcher in fortschreitender Entwicke-
lung zuerst die Ehre des Staats und jetzt bereits dessen Existenz
in Frage stellte. Man täuschte sich damals so wenig wie jetzt
über den wahren Sitz des Uebels, allein jetzt so wenig wie da-
mals brachte man es auch nur zu einem Versuch an der rechten
Stelle zu bessern. Man sah es wohl, daſs das System die Schuld
trug; aber man blieb auch diesmal dabei stehen einzelne Perso-
nen zur Verantwortung zu ziehen — nur entlud freilich über den
Häuptern der Oligarchie dies zweite Gewitter sich mit um so viel
schwereren Schlägen, als die Katastrophe von 649 die von 645
an Umfang und Gefährlichkeit übertraf. Zugleich zeigte das Publi-
cum abermals seinen sicheren Instinct, daſs es gegen die Oligarchie
kein Mittel gebe als die Tyrannis, in dem bereitwilligen Eingehen
auf jeden Versuch namhafter Offiziere der Regierung die Hand zu
zwingen und unter dieser oder jener Form das oligarchische Re-
giment durch eine Dictatur zu stürzen. — Zunächst war es Quintus
Caepio, gegen den die Angriffe sich richteten; mit Recht, insofern
die Niederlage von Arausio wesentlich durch seine Unbotmäſsig-
[171]DIE VÖLKER DES NORDENS.
keit herbeigeführt war, auch abgesehen von der wahrscheinlich
gegründeten, aber nicht erwiesenen Unterschlagung der tolosani-
schen Beute; indeſs trug zu der Wuth, die die Opposition gegen
ihn entwickelte, wesentlich auch das bei, daſs er als Consul einen
Versuch gewagt hatte den Capitalisten die Geschwornenstellen zu
entreiſsen (S. 123). Um seinetwillen ward der alte ehrwürdige
Grundsatz: auch im schlechtesten Gefäſs die Heiligkeit des Amtes
zu ehren, gebrochen und, während gegen den Urheber des can-
nensischen Unglückstages selbst der Tadel in die stille Brust ver-
schlossen worden war, der Urheber der Niederlage von Arausio
auf Antrag des Volkstribuns Gaius Norbanus durch Volksbeschluſs
verfassungswidrig des Proconsulats entsetzt (650). Aber dies
genügte keineswegs. Trotz der factischen Abschaffung der Un-
tersuchungshaft und der Todesstrafe für politische Vergehen
ward Caepio festgenommen und der Hochverrathsprozeſs gegen
ihn eingeleitet in der ausgesprochenen Absicht das unvermeid-
liche Todesurtheil vollstrecken zu lassen. Die Regierungspartei
widersetzte sich auf das Heftigste diesem Beginnen und versuchte
durch tribunicische Intercession dasselbe auf verfassungsmäſsige
Weise zu beseitigen; allein die einsprechenden Tribune wurden
mit Gewalt aus der Versammlung verjagt und bei dem heftigen
Auflauf die ersten Männer des Senats von Steinwürfen getroffen.
Mit Mühe gelang es einem mit Caepio befreundeten Volkstribun
durch Aufopferung seiner eigenen bürgerlichen Existenz dem An-
geklagten wenigstens das Leben zu retten; man konnte es nicht
wehren, daſs die Volksversammlung, zum ersten Mal seit der Ver-
bannung der Tarquinier, das Vermögen des ausgetretenen Man-
nes einzog und seine Rückkehr bei schwerster Strafe verpönte.
Wegen der in verdächtiger Weise verschwundenen tolosanischen
Kriegsbeute ward eine Specialcommission niedergesetzt; der Pro-
zeſskrieg ging im J. 650 * seinen Gang eben wie fünf Jahre zu-
vor. — Ernster als diese Maſsregeln der Rache war die Frage,
wie der gefährliche Krieg jenseit der Alpen ferner geführt und
zunächst wem darin die Oberfeldherrnschaft übertragen werden
sollte. Bei unbefangener Behandlung war es nicht schwer eine
[172]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
passende Wahl zu treffen. Rom war zwar in Vergleich mit frü-
heren Zeiten an militärischen Notabilitäten nicht reich; allein es
hatten doch Quintus Maximus in Gallien; Marcus Aemilius Scau-
rus und Marcus Minucius in den Donauländern, Quintus Metel-
lus, Publius Rutilius Rufus, Gaius Marius in Africa mit Auszeich-
nung commandirt; und es handelte sich ja nicht darum einen
Pyrrhus oder Hannibal zu schlagen, sondern den Barbaren des
Nordens gegenüber die oft erprobte Ueberlegenheit römischer
Waffen und römischer Taktik wieder in ihr Recht einzusetzen,
wozu es keines Helden bedurfte, sondern nur eines strengen und
tüchtigen Kriegsmanns. Allein es war eben eine Zeit, in der alles
eher möglich war als die unbefangene Erledigung einer Verwal-
tungsfrage. Schon der africanische Krieg hatte gezeigt, daſs die
Regierung in der öffentlichen Meinung so vollständig bankerot
war, daſs ihre tüchtigsten Feldherren in der vollen Siegeslauf-
bahn weichen muſsten, so wie es einem namhaften Offizier einfiel
sie vor dem Volk herunterzumachen und als Candidat der Oppo-
sition von dieser sich an die Spitze der Geschäfte stellen zu lassen.
Es war kein Wunder, daſs was nach den Siegen des Metellus ge-
schehen war, gesteigert sich wiederholte nach den Niederlagen
des Gnaeus Mallius und Quintus Caepio. Abermals trat Gaius
Marius trotz der Gesetze, die demselben Mann das Consulat mehr
als einmal zu bekleiden untersagten, auf als Bewerber um das
höchste Staatsamt und nicht bloſs ward er, während er noch in
Africa an der Spitze des dortigen Heeres stand, zum Consul er-
nannt und ihm der Oberbefehl in dem gallischen Krieg überge-
ben, sondern es ward ihm auch fünf Jahre hinter einander (650
-654) wieder und wieder das Consulat übertragen in einer
Weise, die ein berechneter Hohn schien gegen den eben diesem
Mann gegenüber in seiner ganzen Thorheit und Kurzsichtigkeit
bewährten exclusiven Geist der Nobilität, aber freilich auch in
den Annalen der Republik unerhört und in der That mit dem
Geiste der freien Verfassung Roms schlechterdings unverträglich
war. Namentlich in dem römischen Militärwesen, dessen im afri-
canischen Krieg begonnene Umgestaltung aus einer Bürgerwehr
in eine Söldnerschaar Marius fortsetzte und vollendete während
seines fünfjährigen durch die Noth der Zeit mehr noch als durch
die Clauseln seiner Bestallung unumschränkten Obercommandos,
sind die tiefen Spuren dieser inconstitutionellen Oberfeldherrn-
schaft des ersten demokratischen Generals für alle Zeiten sicht-
bar geblieben.
Der neue Oberfeldherr Gaius Marius erschien im J. 650 jen-
[173]DIE VÖLKER DES NORDENS.
seit der Alpen, gefolgt von einer Anzahl erprobter Offiziere, un-
ter denen der kühne Fänger des Jugurtha Lucius Sulla bald sich
abermals hervorthat, und von zahlreichen Schaaren italischer
und bundesgenössischer Soldaten. Zunächst fand er den Feind,
gegen den er geschickt war, nicht vor. Die wunderlichen Leute,
die bei Arausio gesiegt hatten, waren inzwischen, nachdem sie
die Landschaft westlich der Rhone ausgeraubt hatten, über die
Pyrenäen gestiegen und schlugen sich eben in Spanien mit den
tapfern Bewohnern der Nordküste und des Binnenlandes herum;
es schien als wollten die Deutschen ihr Talent nicht zuzugreifen
gleich bei ihrem ersten Auftreten in der Geschichte beweisen.
So fand Marius volle Zeit einestheils die abgefallenen Tektosagen
wieder zum Gehorsam zu bringen, die schwankende Treue der
unterthänigen gallischen und ligurischen Gaue wieder zu befesti-
gen und innerhalb wie auſserhalb der römischen Provinz von
den gleich den Römern durch die Kimbrer gefährdeten Bunds-
genossen, wie zum Beispiel von den Massalioten, den Allobrogen,
den Sequanern, Beistand und Zuzug zu erlangen; andrerseits
durch strenge Mannszucht und unparteiische Gerechtigkeit gegen
Vornehme und Geringe das ihm anvertraute Heer zu disciplini-
ren und durch Märsche und ausgedehnte Schanzarbeiten — na-
mentlich die Anlegung eines später den Massalioten überwiese-
nen Rhonekanals zur leichten Herbeischaffung der von Italien
dem Heer nachgesandten Transporte — die Soldaten für die
ernstere Kriegsarbeit tüchtig zu machen. Auch er verhielt sich in
strenger Defensive und überschritt nicht die Grenzen der römi-
schen Provinz. Endlich, es scheint im Laufe des J. 651, fluthete
der Kimbrenstrom wieder zurück über die Pyrenäen, nachdem
er jenseit derselben an dem tapfern Widerstand der spanischen
Völkerschaften, namentlich der Keltiberer sich gebrochen hatte.
Diesmal scheint der Zug am atlantischen Ocean hinauf gegangen
zu sein, wo alles den schrecklichen Männern sich unterwarf von
den Pyrenäen bis zur Seine. Erst hier, an der Landesgrenze der
tapfern Eidgenossenschaft der Belgen, trafen sie auf ernstlichen
Widerstand; allein eben auch hier, während sie im Gebiet der
Vellocasser (bei Rouen) standen, kam ihnen ansehnlicher Zuzug.
Nicht bloſs drei Quartiere der Helvetier, darunter die Tigoriner
und Toygener, welche früher an der Garonne mit den Römern
gefochten hatten, gesellten, wie es scheint um diese Zeit, sich zu
den Kimbrern, sondern es stieſsen auch zu ihnen die stammver-
wandten Teutonen unter ihrem König Teutobod, welche durch
uns nicht überlieferte Fügungen aus ihrer Heimath an der Ost-
[174]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
see an die Seine verschlagen waren *. Aber auch die vereinigten
Schaaren vermochten den tapfern Widerstand der Belgen nicht
zu überwältigen. Die Führer entschlossen sich daher mit der also
angeschwollenen Menge den schon mehrmals berathenen Zug nach
Italien nun allen Ernstes anzutreten. Um nicht mit dem bisher
zusammengeraubten Gut sich zu schleppen, wurde dasselbe hier
zurückgelassen unter dem Schutz einer Abtheilung von 6000
Mann, aus denen später nach mancherlei Irrfahrten die Völker-
schaft der Aduatuker an der Sambre erwachsen ist. Indeſs, sei
es wegen der schwierigen Verpflegung auf den Alpenstraſsen, sei
es aus andern Gründen, die Massen lösten sich wieder auf in
zwei Heerhaufen, von denen der eine, die Kimbrer und die Tigo-
riner, über den Rhein zurück und durch die schon im J. 641
erkundeten Pässe der Ostalpen, der andere, die neuangelangten
Teutonen, die Toygener und die schon in der Schlacht von
Arausio bewährte kimbrische Kernschaar der Ambronen, durch
das römische Gallien und die Westpässe nach Italien eindringen
sollte. Diese zweite Abtheilung war es, die im Sommer 652
abermals ungehindert die Rhone überschritt und am linken Ufer
derselben mit den Römern den Kampf nach fast dreijähriger
Pause wieder aufnahm. Marius erwartete sie in einem wohlge-
wählten und wohlverproviantirten Lager am Einfluſs der Isere
in die Rhone, in welcher Stellung er die beiden einzigen damals
gangbaren Heerstraſsen nach Italien, die über den kleinen Bern-
hard und die an der Küste, zugleich den Barbaren verlegte. Die
Teutonen griffen das Lager an, das ihnen den Weg sperrte; drei
Tage nach einander tobte der Sturm der Barbaren um die römi-
schen Verschanzungen, aber der wilde Muth scheiterte an der
Ueberlegenheit der Römer im Festungskrieg und an der Beson-
nenheit des Feldherrn. Nach hartem Verlust entschlossen sich
die dreisten Gesellen den Sturm aufzugeben und am Lager vor-
bei fürbaſs nach Italien zu marschiren. Sechs Tage hinter ein-
ander zogen sie daran vorüber, ein Beweis mehr noch für die
Schwerfälligkeit ihres Trosses als für ihre ungeheure Zahl. Der
[175]DIE VÖLKER DES NORDENS.
Feldherr lieſs es geschehen ohne sie anzugreifen; daſs er den
höhnischen Zuruf der Feinde, ob die Römer nicht Aufträge hät-
ten an ihre Frauen daheim, sich nicht irren lieſs, ist begreiflich,
aber daſs er dies verwegene Vorbeidefiliren der feindlichen Co-
lonnen vor der concentrirten römischen Masse nicht benutzte um
anzugreifen, zeigt, wie wenig er seinen ungeübten Soldaten ver-
traute. Auch er brach sein Lager ab und folgte dem Feinde auf dem
Fuſs, in strenger Ordnung und Nacht für Nacht sich sorgfältig
verschanzend. Die Teutonen, die der Küstenstraſse zustrebten,
gelangten längs der Rhone hinabmarschirend bis in die Gegend
von Aquae Sextiae, gefolgt von den Römern. Beim Wasserschö-
pfen stieſsen hier die leichten ligurischen Truppen der Römer
mit der keltischen Nachhut, den Ambronen zusammen; das Ge-
fecht ward bald allgemein; nach heftigem Kampf siegten die Rö-
mer und verfolgten den weichenden Feind bis an die Wagenburg.
Dieser erste glückliche Zusammenstoſs erhöhte dem Feldherrn wie
den Soldaten den Muth; am dritten Tage nach demselben ord-
nete Marius auf dem Hügel, dessen Spitze das römische Lager
trug, seine Reihen zur entscheidenen Schlacht. Die Teutonen,
längst ungeduldig mit ihren Gegnern sich zu messen, stürmten
sofort den Hügel hinauf und begannen das Gefecht. Es war
ernst und langwierig; bis zum Mittag standen die Deutschen wie
die Mauern; allein die ungewohnte Gluth der provencalischen
Sonne erschlaffte ihre Sehnen und ein blinder Lärm in ihrem
Rücken, wo ein Haufen römischer Troſsbuben aus einem waldi-
gen Versteck mit gewaltigem Geschrei hervorrannte, entschied
vollends die Auflösung der schwankenden Reihen. Der ganze
Schwarm ward gesprengt und wie begreiflich in dem fremden
Lande entweder getödtet oder gefangen; unter den Gefangenen
war König Teutobod, unter den Todten eine Menge Frauen,
welche, nicht unbekannt mit der Behandlung, die ihnen als Scla-
vinnen bevorstand, theils auf ihren Karren in verzweifelter Gegen-
wehr sich hatten niedermachen lassen, theils in der Gefangenen-
schaft, nachdem sie umsonst gebeten sie dem Dienst der Götter
und der heiligen Jungfrauen der Vesta zu widmen, sich selber den
Tod gegeben hatten (Sommer 652). So hatte Gallien Ruhe vor den
Deutschen; und es war Zeit, denn schon standen deren Waffenbrü-
der diesseits der Alpen. Mit den Helvetiern verbündet waren die
Kimbrer ohne Schwierigkeit von der Seine an den Rhein gelangt,
hatten die Alpenkette auf dem Brennerpaſs überschritten und wa-
ren von da durch die Eisack- und Etschthäler hinabgestiegen in die
italische Ebene. Hier sollte der Consul Quintus Lutatius Catulus
[176]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
die Pässe bewachen; allein der Gegend nicht völlig kundig und
fürchtend umgangen zu werden hatte er sich nicht getraut in die
Alpen selbst vorzurücken, sondern unterhalb Trient am linken
Ufer der Etsch sich aufgestellt und für alle Fälle den Rückzug
auf das rechte durch Anlegung einer Brücke sich gesichert.
Allein als nun die Kimbrer in dichten Schaaren aus den Bergen
hervordrangen, ergriff ein panischer Schreck das römische Heer
und Legionare und Reiter liefen davon, diese gerades Wegs nach
der Hauptstadt, jene auf die nächste Anhöhe, die Sicherheit zu
gewähren schien. Mit Mühe gelang es Catulus den gröſsten Theil
seines Heeres durch eine Kriegslist wieder an den Fluſs und über
die Brücke zu bringen, gegen welche die den oberen Lauf der
Etsch beherrschenden Feinde schon Bäume und Balken hinabtrei-
ben lieſsen, um sie zu zerstören und damit dem Heer den Rück-
zug abzuschneiden. Eine Legion indeſs hatte der Feldherr auf
dem andern Ufer zurücklassen müssen und bereits wollte der
feige Tribun, der sie führte, capituliren, als der Rottenführer
Gnaeus Petreius von Atina ihn niederstieſs und mitten durch die
Feinde auf das rechte Ufer der Etsch zu dem Hauptheer sich den
Weg bahnte. So war das Heer und einigermaſsen selbst die
Waffenehre gerettet; allein die Folgen der versäumten Besetzung
der Pässe und des übereilten Rückzugs waren dennoch sehr em-
pfindlich. Catulus muſste auf das rechte Ufer des Po sich zu-
rückziehen und die ganze Ebene zwischen dem Po und den Al-
pen in der Gewalt der Kimbrer lassen, so daſs man nur zur See
noch mit Aquileia die Verbindung unterhielt. Dies geschah im
Sommer 652, um dieselbe Zeit wo es zwischen den Teutonen
und den Römern bei Aquae Sextiae zur Entscheidung kam. Hät-
ten die Kimbrer ihren Angriff ununterbrochen fortgesetzt, so
konnte Rom in eine sehr bedrängte Lage gerathen; indeſs ihrer
Gewohnheit den Winter zu rasten blieben sie auch diesmal und
um so mehr getreu, als das reiche Land, die ungewohnten Quar-
tiere unter Dach und Fach, die warmen Bäder, die neuen und
reichlichen Speisen und Getränke sie einluden vorläufig es sich
wohl sein zu lassen. Dadurch gewannen die Römer Zeit ihnen
mit vereinigten Kräften in Italien zu begegnen. Es war keine
Zeit, was der demokratische General sonst wohl gethan haben
würde, den unterbrochenen Eroberungsplan des Keltenlandes,
wie Gaius Gracchus ihn mochte entworfen haben, jetzt wieder
aufzunehmen; von dem Schlachtfeld von Aix wurde das sieg-
reiche Heer an den Po geführt und nach kurzem Verweilen in
der Hauptstadt, wo er den ihm angetragenen Triumph bis nach
[177]DIE VÖLKER DES NORDENS.
völliger Ueberwindung der Barbaren zurückwies, traf auch Marius
selbst bei den vereinigten Armeen ein. Im Frühjahr 653 über-
schritten sie, 50000 Mann stark, unter dem Consul Marius und
dem Proconsul Catulus wiederum den Po und zogen gegen die
Kimbrer, welche ihrerseits fluſsaufwärts marschirt zu sein schei-
nen um den mächtigen Strom an seiner Quelle zu überschreiten.
Unterhalb Vercellae unweit der Mündung der Sesia in den Po*,
eben da wo Hannibal seine erste Schlacht auf italischem Boden
geschlagen hatte, trafen die beiden Heere auf einander. Die Kim-
brer wünschten die Schlacht und sandten ihrer Landessitte ge-
mäſs zu den Römern Zeit und Ort dazu auszumachen; Marius will-
fahrte ihnen und nannte den nächsten Tag — es war der 30. Juli
653 — und das raudische Feld, eine weite Ebene, auf der die
überlegene römische Reiterei einen vortheilhaften Spielraum fand.
Hier stieſs man auf den Feind, erwartet und doch überraschend;
denn in dem dichten Morgennebel fand sich die keltische Reiterei
im Handgemenge mit der stärkeren römischen, ehe sie es ver-
muthete, und ward von ihr zurückgeworfen auf das Fuſsvolk, das
eben im Begriff war zum Kampfe sich zu ordnen. Mit geringen
Opfern ward ein vollständiger Sieg erfochten und die Kimbrer
vernichtet. Glücklich mochte heiſsen, wer den Tod in der Schlacht
fand, wie die meisten, unter ihnen der tapfere König Boiorix;
glücklicher mindestens als die, die nachher verzweifelnd Hand an
sich selbst legten oder gar auf dem Sclavenmarkt in Rom den
Herrn suchen muſsten, der dem einzelnen Nordmannen die Drei-
stigkeit vergalt des schönen Südens begehrt zu haben, ehe denn
es Zeit war. Die Tigoriner, die auf den Vorbergen der Alpen zu-
rückgeblieben waren um den Kimbrern später zu folgen, verlie-
fen sich auf die Kunde von der Niederlage in ihre Heimath. Die
Menschenlawine, die dreizehn Jahre hindurch von der Donau bis
zum Ebro, von der Seine bis zum Po die Nationen allarmirt
hatte, ruhte unter der Scholle oder frohnte im Sclavenjoch; der
verlorene Posten der deutschen Wanderungen hatte seine Schul-
Röm. Gesch. II. 12
[178]VIERTES BUCH. KAPITEL V.
digkeit gethan; das heimathlose Volk der Kimbrer mit seinen Ge-
nossen war nicht mehr. Ueber den Leichen haderten die politi-
schen Parteien Roms ihren kümmerlichen Hader weiter, ohne um
das groſse Kapitel der Weltgeschichte sich zu bekümmern, davon
hier das erste Blatt sich aufgeschlagen hatte, ohne auch nur
Raum zu geben dem reinen Gefühl, daſs an diesem Tage Roms
Aristokraten wie Roms Demokraten ihre Schuldigkeit gethan
hatten. Die Rivalität der beiden Feldherren, die nicht bloſs poli-
tische Gegner, sondern auch durch den so verschiedenen Erfolg
der beiden vorjährigen Feldzüge militärisch gespannt waren, kam
sofort nach der Schlacht zum widerwärtigsten Ausbruch. Catu-
lus mochte mit Recht behaupten, daſs das Mitteltreffen, das er
befehligte, den Sieg entschieden habe und daſs von seinen Sol-
daten einunddreiſsig, von den Marianern nur zwei Feldzeichen
eingebracht seien — seine Soldaten führten sogar die Abgeord-
neten der Stadt Parma durch die Leichenhaufen um ihnen zu
zeigen, daſs Marius tausend geschlagen habe, Catulus aber zehn-
tausend. Nichts desto weniger galt Marius als der eigentliche
Besieger der Kimbrer, und mit Recht; nicht bloſs weil er kraft
seines höheren Ranges an dem entscheidenden Tage den Ober-
befehl geführt hatte und an militärischer Begabung und Erfahrung
seinem Collegen ohne Zweifel weit überlegen war, sondern vor
allem weil der zweite Sieg von Vercellae in der That nur möglich
geworden war durch den ersten von Aquae Sextiae. Allein in
der damaligen Zeit waren es weniger diese Erwägungen, die den
Ruhm von den Kimbrern und Teutonen Rom errettet zu haben
ganz und voll an Marius Namen knüpften, als die politischen
Parteirücksichten. Catulus war ein feiner und gescheiter Mann,
ein so anmuthiger Sprecher, daſs der Wohllaut seiner Worte fast
wie Beredsamkeit klang, ein leidlicher Memoirenschreiber und
Gelegenheitspoet und ein vortrefflicher Kunstkenner und Kunst-
richter; aber er war nichts weniger als ein Mann des Volkes und
sein Sieg ein Sieg der Aristokratie. Die Schlachten aber des gro-
ben Bauern, welcher von dem gemeinen Volke gegen die Regie-
rung auf den Schild gehoben war und das gemeine Volk zum
Siege geführt hatte, diese Schlachten waren nicht bloſs Nieder-
lagen der Kimbrer und Teutonen, sondern auch Niederlagen der
Regierung; es knüpften daran sich noch ganz andere Hoffnun-
gen als die, daſs man wieder ungestört jenseit der Alpen Geld-
geschäfte machen oder diesseit den Acker bauen könne. Zwanzig
Jahre waren verstrichen, seit Gaius Gracchus blutende Leiche die
Tiber hinabgetrieben war; seit zwanzig Jahren ward das Regi-
[179]DIE VÖLKER DES NORDENS.
ment der restaurirten Oligarchie ertragen und verwünscht; im-
mer noch war dem Gracchus kein Rächer, seinem angefangenen
Bau kein zweiter Meister erstanden. Es haſsten und hofften Viele,
viele von den schlechtesten und viele von den besten Bürgern
des Staats; war der Mann, der diese Rache und diese Wünsche
zu erfüllen verstand, endlich gefunden in dem Sohn des Tage-
löhners von Arpinum? stand man wirklich an der Schwelle der
neuen vielgefürchteten und vielersehnten zweiten Revolution?
12*
[[180]]
KAPITEL VI.
Revolutionsversuch des Marius und Reformversuch des
Drusus.
Gaius Marius ward, eines armen Tagelöhners Sohn, gebo-
ren im J. 599 in dem damals arpinatischen Dorfe Cereatae, das
später als Cereatae Marianae Stadtrecht erhielt und noch heute
den Namen ‚Mariusheimath‘ (Casamare) trägt. Beim Pfluge war
er aufgekommen, in so dürftigen Verhältnissen, daſs sie ihm
selbst zu den Gemeindeämtern von Arpinum den Zugang zu ver-
schlieſsen schienen; er lernte früh, was er später noch als Feld-
herr übte, Hunger und Durst, Sonnenbrand und Winterkälte er-
tragen und auf der harten Erde schlafen. So wie das Alter es
ihm erlaubte, war er in das Heer eingetreten und hatte in der
schweren Schule der spanischen Kriege sich rasch zum Offizier
emporgedient; in Scipios numantinischem Kriege zog er, damals
dreiundzwanzigjährig, des strengen Feldherrn Augen auf sich
durch die saubere Haltung seines Pferdes und seiner Waffen wie
durch seine Tapferkeit im Gefecht und sein ehrbares Betragen
im Lager. Er war heimgekehrt mit ehrenvollen Narben und rei-
chen Decorationen und mit dem lebhaften Wunsch in der rühm-
lich betretenen Laufbahn sich einen Namen zu gewinnen; allein
unter den damaligen Verhältnissen konnte zu den politischen
Aemtern, die allein zu höheren Militärstellen führten, auch der
verdienteste Mann nicht gelangen ohne Vermögen und ohne
Verbindungen. Beides ward dem jungen Offizier zu Theil durch
glückliche Handelsspeculationen und durch die Verbindung mit
einem Mädchen aus dem altadlichen Geschlecht der Julier; so ge-
[181]MARIUS UND DRUSUS.
lang es ihm unter groſsen Anstrengungen und nach vielfachen
Zurückweisungen im J. 639 bis zur Praetur zu gelangen, in wel-
cher er als Statthalter des jenseitigen Spaniens seine militärische
Tüchtigkeit aufs Neue zu bewähren Gelegenheit fand. Wie er
sodann der Aristokratie zum Trotz im J. 647 das Consulat und
als Proconsul die Führung des africanischen Krieges übernahm,
wie er nach dem Unglückstag von Arausio unter steter Erneuerung
des Consulats vom J. 650 an mit der Oberleitung des kimbri-
schen Krieges bis zu dessen Beendigung betraut ward, ist bereits
erzählt worden. In seinem Kriegsamt hatte er sich gezeigt als einen
braven und rechtschaffenen Mann, der unparteiisch Recht sprach,
über die Beute mit seltener Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit
verfügte und durchaus unbestechlich war; als einen geschickten
Organisator, der die einigermaſsen eingerostete Maschine des
römischen Heerwesens wieder in brauchbaren Stand gesetzt
hatte; als einen fähigen Feldherrn, der den Soldaten in Zucht
und doch bei guter Laune erhielt und zugleich im kamerad-
schaftlichen Verkehr seine Liebe gewann und der dem Feinde
kühn ins Auge sah und zur rechten Zeit sich mit ihm schlug.
Eine militärische Capacität im eminenten Sinn war er, so weit
wir urtheilen können, nicht; allein die sehr achtungswerthen
Eigenschaften, die er besaſs, genügten unter den damals beste-
henden Verhältnissen vollkommen um ihm den Ruf einer solchen
zu verschaffen und auf diesen gestützt war er in einer beispiellos
ehrenvollen Weise eingetreten unter die Consulare und die
Triumphatoren. Allein er paſste darum nicht besser in den
glänzenden Kreis. Seine Stimme blieb rauh und laut, sein Blick
wild, als sähe er noch Libyer oder Kimbrer vor sich und nicht
wohlerzogene und parfümirte Collegen. Daſs er abergläubisch
war wie ein echter Lanzknecht, daſs er zur Bewerbung um sein
erstes Consulat sich nicht durch den Drang seiner Talente, son-
dern zunächst durch die Aussagen eines etruskischen Einge-
weidebeschauers bestimmen lieſs und bei dem Feldzug gegen die
Teutonen eine syrische Prophetin Martha mit ihren Orakeln dem
Kriegsrath aushalf, war nicht eigentlich unaristokratisch; in solchen
Dingen begegneten sich damals wie zu allen Zeiten die höchsten
und die niedrigsten Schichten der Gesellschaft. Allein unverzeih-
lich war der Mangel an politischer Bildung; es war zwar löblich,
daſs er die Barbaren zu schlagen verstand, aber was sollte man
denken von einem Triumphator, der von der vorschriftsmäſsigen
Etikette so wenig wuſste um im Triumphalcostüm im Senat zu
erscheinen! Auch sonst hing die Roture ihm an. Er war nicht
[182]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
bloſs — nach aristokratischer Terminologie — ein armer Mann,
sondern was schlimmer war, genügsam und ein abgesagter Feind
aller Bestechung und Durchsteckerei. Er verstand keine Feste
zu geben und hielt einen schlechten Koch; nach Soldatenart
war er nicht wählerisch, aber becherte gern, besonders in spä-
teren Jahren. Ebenso übel war es, daſs der Consular nur la-
teinisch verstand und die griechische Conversation sich ver-
bitten muſste; es konnte Niemand etwas dagegen haben, daſs
er bei den griechischen Schauspielen sich langweilte — er war
vermuthlich nicht der Einzige — aber daſs er sich zu seiner Lan-
geweile bekannte, war naiv. So blieb er Zeit seines Lebens ein un-
ter die Aristokraten verschlagener Bauersmann und geplagt von
den empfindlichen Stichelworten und dem empfindlicheren Mitlei-
den seiner Collegen, das wie diese selber zu verachten er denn doch
nicht über sich vermochte. Nicht viel weniger wie auſserhalb der
damaligen Gesellschaft stand Marius auſserhalb der Parteien. Die
Maſsregeln, die er in seinem Volkstribunat (635) durchsetzte, eine
bessere Controle bei der Abgabe der Stimmtäfelchen zur Abstel-
lung der argen dabei stattfindenden Betrügereien, und die Verhin-
derung ausschweifender Anträge zu Spenden an das Volk (S. 122)
tragen nicht den Partei-, am wenigsten den demokratischen Cha-
rakter, sondern zeigen nur, daſs ihm Unrechtfertigkeit und Un-
vernunft verhaſst war; es konnte überhaupt ein Mann wie die-
ser, Bauer von Geburt und Soldat aus Neigung, unmöglich von
Haus aus revolutionär sein. Die Anfeindungen der Aristokratie
hatten ihn zwar später in das Lager der Gegner der Regierung
getrieben und rasch sah er sich hier auf den Schild gehoben zu-
nächst als Feldherr der Opposition und demnächst vielleicht be-
stimmt zu noch höheren Dingen. Allein es war dies weit mehr
durch die zwingende Gewalt der Verhältnisse und das allgemeine
Bedürfniſs der Opposition nach einem Haupte geschehen als
durch sein eigenes Zuthun; war er doch seit seinem Abgang
nach Africa 647/8 kaum einige Male auf kurze Zeit zurückgekehrt
nach der Hauptstadt. Als er jetzt in der zweiten Hälfte des
J. 653, Sieger wie über die Teutonen so über die Kimbrer, nach
Rom zurückkam und der verschobene Triumph nun zwiefach
gefeiert ward, war er entschieden der erste Mann in Rom und
doch zugleich politischer Debütant. Es war unwidersprechlich
ausgemacht, nicht bloſs daſs Marius Rom gerettet habe, sondern
daſs er der einzige Mann sei, der Rom habe retten können; sein
Name war auf allen Lippen; die Vornehmen erkannten seine ge-
leisteten Dienste an; bei dem Volk war er populär wie keiner vor
[183]MARIUS UND DRUSUS.
oder nach ihm, populär durch seine Tugenden wie durch seine
Fehler, durch seine unaristokratische Uneigennützigkeit nicht
minder wie durch seine bäurische Derbheit; er hieſs der Menge
der dritte Romulus und der zweite Camillus; gleich den Göttern
wurden ihm Trankopfer gespendet. Es war kein Wunder, wenn
dem Bauernsohn der Kopf mitunter schwindelte von all der Herr-
lichkeit, wenn er seinen Zug von Africa ins Keltenland den Sie-
gesfahrten des Dionysos von Erdtheil zu Erdtheil verglich und
einen Becher — keinen von den kleinsten — nach dem Muster
des bakchischen für seinen Gebrauch sich fertigen lieſs. Es war
eben so viel Hoffnung wie Dankbarkeit in dieser taumelnden Be-
geisterung des Volkes, die einen Mann von kälterem Blut und
gereifterer politischer Erfahrung zu irren vermocht hätte. Marius
Werk war nicht vollendet. Schwerer als die Barbaren lastete auf
dem Lande die elende Regierung; ihm, dem ersten Manne
Roms, dem Liebling des Volkes, dem Haupt der Opposition
kam es zu Rom zum zweitenmal zu retten. Zwar war ihm,
dem Bauer und Soldaten, das hauptstädtische politische Treiben
fremd und unbequem; er sprach so schlecht wie er gut comman-
dirte und bewies den Lanzen und Schwertern der Feinde gegen-
über eine weit festere Haltung als gegen die klatschende oder
zischende Menge; aber es kam darauf nicht an. Seine militäri-
sche und politische Stellung war von der Art, daſs, wenn er mit
seiner ruhmvollen Vergangenheit nicht brechen und auf seine
glänzende Zukunft nicht verzichten wollte, er nothwendig vor-
gehen muſste zum Kampfe gegen die Regierung.
Eine furchtbare Waffe dazu hielt er in der Hand in der neu
organisirten Armee. Das bisherige Bürgerheer ruhte gesetzlich
im Wesentlichen noch auf den Grundlagen der servianischen
Verfassung. Zwar hatte man von dem Grundsatz die Aushebung
lediglich auf die vermögenden Bürger zu beschränken und die Un-
terschiede der Waffengattungen allein nach den Vermögensclassen
zu ordnen (I, 67. 197) zum Theil schon nachlassen müssen; es
war das zum Eintritt in das Bürgerheer verpflichtende Minimal-
vermögen von 11000 Assen (786 Thlr.) herabgesetzt worden
auf 4000 (286 Thlr.); es waren die älteren sechs in den Waffen-
gattungen unterschiedenen Vermögensclassen beschränkt worden
auf drei, so daſs man zwar wie nach der servianischen Ordnung
die Reiter aus den vermögendsten, die Leichtbewaffneten aus den
ärmsten Dienstpflichtigen auslas, aber den Mittelstand, die eigent-
liche Linieninfanterie unter sich nicht mehr nach dem Vermögen,
sondern nach dem Dienstalter in die drei Treffen der Hastaten,
[184]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
Principes und Triarier ordnete. Man hatte andrerseits schon
längst die italischen Bundesgenossen in sehr ausgedehntem
Maſse zum Kriegsdienst mit herangezogen, indeſs auch hier ganz
wie bei der römischen Bürgerschaft die Militärpflicht vorzugs-
weise auf die besitzenden Klassen gelegt. Allein die ganze Ordnung
paſste nicht mehr für die bestehenden Verhältnisse. Die besseren
Klassen der Gesellschaft zogen theils vom Heerdienst mehr und
mehr sich zurück, theils schwand der römische und italische Mit-
telstand überhaupt zusammen; dagegen waren einestheils die be-
trächtlichen Streitmittel der auſseritalischen Bundesgenossen und
Unterthanen disponibel geworden, andrerseits bot das italische
Proletariat, richtig verwandt, ein militärisch wenigstens sehr
brauchbares Material. Die Bürgerreiterei, die aus der Klasse der
Wohlhabenden gebildet werden sollte, war im Felddienst schon
vor Marius thatsächlich eingegangen. Ihr Auftreten in dem spa-
nischen Feldzug von 614, wo sie den Feldherrn durch ihren Hohn
und ihre Unbotmäſsigkeit zur Verzweiflung bringt und zwischen
beiden ein von den Reitern wie vom Feldherrn mit gleicher Ge-
wissenlosigkeit geführter Krieg ausbricht, ist bezeichnend für ihren
Verfall. Im jugurthinischen Krieg erscheint sie schon nur noch
als eine Art Nobelgarde für den Feldherrn und fremde Prinzen:
von da an verschwindet sie ganz. Ebenso erwies sich die Er-
gänzung der Legionen mit gehörig qualificirten Pflichtigen schon
im gewöhnlichen Lauf der Dinge schwierig; so daſs Anstrengun-
gen, wie sie nach der Schlacht von Arausio nöthig waren, in der
That unter Beobachtung der bestehenden Vorschriften über die
Dienstpflicht wohl materiell unausführbar gewesen sein würden.
Andrerseits wurden schon vor Marius, namentlich in der Cavalle-
rie und der leichten Infanterie, die auſseritalischen Unterthanen,
die schweren Berittenen Thrakiens, die leichte africanische Rei-
terei, das vortreffliche leichte Fuſsvolk der behenden Ligurer, die
Schleuderer von den Balearen, in immer gröſserer Anzahl auch
auſserhalb ihrer Provinzen bei den römischen Heeren mit ver-
wendet; und zugleich drängten sich, während an qualificirten
Bürgerrecruten Mangel war, die nicht qualificirten ärmeren Bür-
ger ungerufen zum Eintritt in die Armee, wie denn bei der Masse
des arbeitlosen oder arbeitscheuen Bürgergesindels und bei den
ansehnlichen Vortheilen, die der römische Kriegsdienst abwarf,
die Freiwilligenwerbung nicht schwierig sein konnte. Es war
demnach nichts als eine nothwendige Consequenz der politischen
und socialen Umwandlung des Staats, daſs man im Militärwesen
überging von dem System des Bürgeraufgebots zu dem Zuzug-
[185]MARIUS UND DRUSUS.
und Werbsystem, für die Reiterei und die leichten Truppen
wesentlich sich stützte auf die Contingente der Unterthanen, wie
denn für den kimbrischen Feldzug schon bis nach Bithynien Zu-
zug angesagt ward, für die Linieninfanterie aber zwar die bis-
herige Dienstpflichtordnung nicht aufhob, allein daneben je-
dem freigeborenen Bürger den freiwilligen Eintritt in das Heer
gestattete, wie es Marius 647 that. — Hiezu kam die Nivellirung
innerhalb der Linieninfanterie, die gleichfalls auf Marius zurück-
geht. Die römische Weise aristokratischer Gliederung hatte bis
dahin auch geherrscht innerhalb der Legion. Die vier Treffen
der Leichten, der Hastaten, der Principes, der Triarier, oder, wie
man auch sagen kann, der Vorhut, der ersten, zweiten und drit-
ten Linie hatten bis dahin jedes seine besondere Qualification
nach Vermögen oder Dienstalter und groſsentheils auch verschie-
dene Bewaffnung, jedes seinen ein für allemal bestimmten Platz
in der Schlachtordnung, jedes seinen bestimmten militärischen
Rang und sein eigenes Feldzeichen gehabt. Alle diese Unter-
schiede fielen jetzt über den Haufen. Wer überhaupt qualificirt
war zum Eintritt als Legionar, bedurfte keiner weiteren Quali-
fication, um in jeder Abtheilung zu dienen; über die Einordnung
entschied einzig das Ermessen des Feldherrn. Alle Unterschiede
der Bewaffnung fielen weg und somit wurden auch alle Recruten
gleichmäſsig geschult. Ohne Zweifel in Verbindung damit stehen
die vielfachen Verbesserungen, die in der Bewaffnung, dem Tragen
des Gepäcks und ähnlichen Dingen von Marius herrühren und
ein rühmliches Zeugniſs ablegen von der Einsicht desselben in
das praktische Detail des Kriegshandwerks und seiner Fürsorge
für die Soldaten; vor allem aber das neue von dem Kameraden
des Marius im africanischen Krieg Publius Rutilius Rufus (Con-
sul 649) entworfene Exercierreglement; es ist bezeichnend, daſs
dasselbe die militärische Ausbildung des einzelnen Mannes be-
trächtlich steigerte und wesentlich sich anlehnte an die in den
damaligen Fechterschulen übliche Ausbildung der künftigen Gla-
diatoren. Die Gliederung der Legion ward eine gänzlich andere.
An die Stelle der 30 Fähnlein (manipuli) schwerer Infanterie, die
— jedes zu zwei Zügen (centuriae) von je 60 Mann in den bei-
den ersten und je 30 Mann im dritten Treffen — bisher die tak-
tische Einheit gebildet hatten, traten 10 Haufen (cohortes) jeder
zu 6, oft auch nur zu 5 Zügen von je 100 Mann; so daſs, ob-
gleich gleichzeitig durch Einziehung der leichten Infanterie der
Legion 1200 Mann erspart wurden, dennoch die Gesammtzahl
der Legion statt auf 4200 sich auf 6000 Mann stellte. Die Sitte
[186]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
in drei Treffen zu fechten blieb bestehen, allein wenn bisher je-
des Treffen einen eigenen Truppenkörper gebildet hatte, so blieb
es fortan dem Feldherrn überlassen die Cohorten, über die er
disponirte, in die drei Linien nach Ermessen zu vertheilen. Den
militärischen Rang bestimmte einzig die Ordnungsnummer der
Soldaten und der Abtheilungen. Die vier Feldzeichen der einzel-
nen Abtheilungen, der Wolf, der mannköpfige Stier, das Roſs,
der Eber, die bisher wahrscheinlich der Reiterei und den drei
Treffen der schweren Infanterie waren vorgetragen worden, ver-
schwanden; es blieben nur die Fähnlein der neuen Cohorten und
das neue Zeichen, das Marius der gesammten Legion verlieh, der
silberne Adler. Wenn also innerhalb der Legion jede Spur der
bisherigen bürgerlichen und aristokratischen Gliederung ver-
schwand und unter den Legionaren fortan nur noch rein solda-
tische Unterschiede vorkamen, so hatte dagegen schon einige Jahr-
zehende früher aus zufälligen Anlässen eine bevorzugte Heeresab-
theilung neben den Legionen sich entwickelt: die Leibwache des
Feldherrn. Sie geht zurück auf den numantinischen Krieg, wo
Scipio Aemilianus, von der Regierung nicht wie er es verlangte
mit neuen Truppen ausgerüstet und genöthigt einer völlig verwil-
derten Soldateska gegenüber auf seine persönliche Sicherheit be-
dacht zu sein, aus Freiwilligen eine Schaar von 500 Mann gebil-
det und in diese später zur Belohnung die tüchtigsten Soldaten
aufgenommen hatte (S. 16); diese Cohorte, die der Freunde oder
gewöhnlicher die des Hauptquartiers (praetoriani) genannt, hatte
den Dienst im Hauptquartier (praetorium), wofür sie vom Lager-
und Schanzdienst frei war, und genoſs höheren Sold und gröſse-
res Ansehen. — Diese vollständige Revolution der römischen
Heerverfassung scheint allerdings wesentlich nicht aus politi-
schen, sondern aus militärischen Motiven hervorgegangen und
überhaupt weniger das Werk eines Einzelnen, am wenigsten eines
berechnenden Ehrgeizigen, als die vom Drang der Umstände ge-
botene Reformation unhaltbar gewordener Einrichtungen gewe-
sen zu sein. Es ist wahrscheinlich, daſs die Einführung des in-
ländischen Werbesystems durch Marius ebenso den Staat militä-
risch vom Untergang gerettet hat wie manches Jahrhundert spä-
ter Arbogast und Stilicho durch Einführung des ausländischen
ihm noch auf eine Weile die Existenz fristeten. Nichts desto
weniger lag in ihr, wenn auch noch unentwickelt, zugleich eine
vollständige politische Revolution. Die republikanische Verfas-
sung ruhte wesentlich darauf, daſs der Bürger zugleich Soldat,
der Soldat vor allem Bürger war; es war mit ihr zu Ende, so wie
[187]MARIUS UND DRUSUS.
ein Soldatenstand sich bildete. Hiezu aber muſste schon das
neue Exercierreglement führen mit seiner dem Kunstfechter ab-
geborgten Routine; der Kriegsdienst ward allmählich Kriegshand-
werk. Indeſs weit rascher noch wirkte die wenn auch nur be-
schränkte Zuziehung des Proletariats zum Militärdienst in Ver-
bindung mit den uralten Satzungen, die dem Feldherrn ein nur
mit sehr soliden republikanischen Institutionen verträgliches ar-
biträres Belohnungsrecht seiner Soldaten einräumten und dem
tüchtigen und glücklichen Soldaten eine Art Anrecht gaben vom
Feldherrn einen Theil der beweglichen Beute, vom Staat ein
Stück des gewonnenen Ackers zu heischen. Wenn der ausgeho-
bene Bürger und Bauer in dem Kriegsdienst nichts sah als eine
für das gemeine Beste zu übernehmende Last und im Kriegs-
gewinn nichts als eine geringe Zubuſse für den ihm aus dem
Dienst erwachsenden weit ansehnlicheren Verlust, so war dagegen
der geworbene Proletarier nicht bloſs für den Augenblick allein
angewiesen auf seinen Sold, sondern auch für die Zukunft muſste
er, den nach der Entlassung kein Invaliden-, ja nicht einmal ein
Armenhaus aufnahm, wünschen zunächst bei der Fahne zu blei-
ben und diese nicht anders zu verlassen als mit Begründung sei-
ner bürgerlichen Existenz. Seine einzige Heimath war das Lager,
seine einzige Wissenschaft der Krieg, seine einzige Hoffnung der
Feldherr — was hierin lag, leuchtet ein. Als Marius nach dem
Treffen auf dem raudischen Feld zwei Cohorten italischer Bun-
desgenossen ihrer tapferen Haltung wegen in Masse auf dem
Schlachtfeld selbst das Bürgerrecht verfassungswidrig verlieh,
rechtfertigte er später sich damit, daſs er im Lärm der Schlacht
die Stimme der Gesetze nicht habe unterscheiden können. Wenn
einmal in wichtigeren Fragen das Interesse des Heers und des
Feldherrn in verfassungswidrigem Begehren sich begegnen sollte,
wer mochte dafür stehen, daſs nicht noch andere Gesetze über
dem Schwertergeklirr nicht würden vernommen werden? Man
hatte das stehende Heer, den Soldatenstand, die Garde; wie in
der bürgerlichen Verfassung so standen auch in der militärischen
bereits alle Pfeiler der künftigen Monarchie: es fehlte einzig an dem
Monarchen. Wie die zwölf Adler um den palatinischen Hügel kreis-
ten, da riefen sie dem Königthum; der neue Adler, den Gaius
Marius den Legionen verlieh, verkündete das Reich der Kaiser.
Es ist wohl keinem Zweifel unterworfen, daſs Marius ein-
ging auf die glänzenden Aussichten, die seine militärische und
politische Stellung ihm eröffnete. Es war eine trübe schwere
Zeit. Man hatte Frieden, aber man ward des Friedens nicht froh;
[188]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
es war nicht mehr wie einst nach dem ersten gewaltigen Anprall
der Nordländer auf Rom, wo nach überstandener Krise im fri-
schen Gefühl der Genesung alle Kräfte sich neu geregt, wo sie in
üppiger Entfaltung das Verlorene rasch und reichlich ersetzt hat-
ten. Alle Welt fühlte, daſs, mochten auch tüchtige Feldherren
noch aber und abermal das unmittelbare Verderben abwehren,
das Gemeinwesen darum nur um so sicherer zu Grunde gehe
unter dem Regiment der restaurirten Oligarchie; aber alle Welt
fühlte auch, daſs die Zeit nicht mehr war, wo in solchen Fällen
die Bürgerschaft sich selber half und daſs nichts besser ward, so
lange als des Gaius Gracchus Platz leer blieb. Wie tief die Menge
die nach dem Verschwinden jener beiden hohen Jünglinge, welche
der Revolution das Thor geöffnet hatten, zurückgebliebene Lücke
empfand, freilich auch wie kindisch sie nach jedem Schatten des
Ersatzes griff, beweist der falsche Sohn des Tiberius Gracchus,
welcher, obwohl die eigene Schwester der beiden Gracchen ihn
auf offenem Markt des Betruges zieh, dennoch einzig seines
usurpirten Namens wegen vom Volke für 655 zum Tribun ge-
wählt ward. In demselben Sinn jubelte die Menge dem Gaius
Marius entgegen; wie sollte sie nicht? Wenn irgend einer,
schien er der rechte Mann; war er doch der erste Feldherr und
der populärste Name seiner Zeit, anerkannt brav und rechtschaf-
fen und selbst durch seine von dem Parteitreiben entfernte Stel-
lung zum Regenerator des Staats empfohlen — wie hätte nicht
das Volk, wie hätte er selbst nicht sich dafür halten sollen! Die
öffentliche Meinung war so entschieden wie möglich oppositio-
nell; es ist bezeichnend dafür, daſs die factische Erstreckung der
Volkswahl auf die höchsten geistlichen Collegien, die die Regie-
rung noch im J. 609 durch Anregung der religiösen Bedenken
in den Comitien zu Fall gebracht hatte, im J. 650 auf den An-
trag des Gnaeus Domitius durchging, ohne daſs die Regierung
es hätte wagen können sich ernstlich dem zu widersetzen. Es
schien durchaus nur an einem Haupte zu fehlen, das der Oppo-
sition einen festen Mittelpunkt und ein praktisches Ziel gab;
und dies war jetzt in Marius gefunden. Zur Durchführung sei-
ner Aufgabe schien es einen doppelten Weg zu geben: Ma-
rius konnte die Oligarchie zu stürzen versuchen als Imperator
an der Spitze der Armee oder auf dem für constitutionelle Aen-
derungen verfassungsmäſsig bezeichneten Weg; dorthin schien
seine eigene Vergangenheit, hierhin der Vorgang des Gracchus
ihn zu weisen. Es ist sehr begreiflich, daſs er den ersteren Weg
nicht betrat, vielleicht nicht einmal die Möglichkeit dachte ihn zu
[189]MARIUS UND DRUSUS.
betreten. Der Senat war oder schien so macht- und rathlos, so
verhaſst und verachtet, daſs Marius gegen ihn kaum einer andern
Stütze zu bedürfen meinte als seiner ungeheuren Popularität, nö-
thigenfalls aber trotz der Auflösung des Heeres sie fand in den
entlassenen und ihrer Belohnungen harrenden Soldaten. Es ist
wahrscheinlich, daſs Marius, im Hinblick auf Gracchus leichten
und scheinbar fast vollständigen Sieg und auf seine eigenen denen
des Gracchus weit überlegenen Hülfsmittel, die Aufgabe eine vier-
hundertjährige Verfassung umzustürzen, die mit den mannigfal-
tigsten Gewohnheiten und Interessen eines nach complicirter Hier-
archie geordneten Staatskörpers innig verwachsen war, nicht eben
für sehr schwierig hielt. Aber selbst wer tiefer in die Schwierig-
keiten des Unternehmens hineinsah als es Marius wahrscheinlich
that, mochte erwägen, daſs das Heer, obwohl im Uebergang be-
griffen von der Bürgerwehr zur Söldnerschaar, während dieses
Uebergangszustandes noch keineswegs zum blinden Werkzeug
eines Staatsstreiches sich hergeben dürfte und daſs ein Versuch
die widerstrebenden Elemente durch militärische Mittel zu besei-
tigen die Widerstandsfähigkeit der Gegner wahrscheinlich nur ge-
steigert haben würde. Die organisirte Waffengewalt in den Kampf
zu verwickeln muſste auf den ersten Blick überflüssig, auf den
zweiten bedenklich erscheinen; man war eben am Anfang der
Krise und die Gegensätze von ihrem letzten, kürzesten und ein-
fachsten Ausdruck noch weit entfernt.
Marius entlieſs also sein Heer und schlug den von Gaius
Gracchus vorgezeichneten Weg ein vermittelst der Uebernahme
der verfassungsmäſsigen Staatsämter die Oberhauptschaft im
Staate zu gewinnen. Er fand sich damit angewiesen auf die so-
genannte Volkspartei und in deren dermaligen Führern um so
mehr seine Bundesgenossen, als der siegreiche General die zur
Gassenherrschaft erforderlichen Gaben und Erfahrungen durch-
aus nicht besaſs. So gelangte die demokratische Partei nach lan-
ger Nichtigkeit plötzlich wieder zu politischer Bedeutung. Sie
hatte in dem langen Interim von Gaius Gracchus bis auf Marius
sich wesentlich verschlechtert. Wohl war das Miſsvergnügen
über das senatorische Regiment jetzt nicht geringer als damals;
aber manche der Hoffnungen, die den Gracchen ihre treuesten
Anhänger zugeführt hatten, hatte inzwischen als Illusion sich
ausgewiesen und die Ahnung mochte sich bei Manchen einstellen,
daſs diese gracchische Agitation auf ein Ziel hinauslaufe, wohin
ein sehr groſser Theil der Miſsvergnügten keineswegs zu folgen
willig war; wie denn überhaupt in dem zwanzigjährigen Hetzen
[190]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
und Treiben gar viel verschliffen und vergriffen war von der fri-
schen Begeisterung, dem felsenfesten Glauben, der sittlichen
Reinheit des Strebens, die die Anfangsstadien der Revolutionen
bezeichnen. Aber wenn die demokratische Partei nicht mehr
war was sie unter Gaius Gracchus gewesen, so standen die Füh-
rer der Zwischenzeit jetzt ebenso tief unter ihrer Partei als Gaius
Gracchus hoch über derselben gestanden hatte. Es lag in der Na-
tur der Sache: bis wieder ein Mann auftrat, der es wagte wie Gaius
Gracchus nach der Staatsoberhauptschaft zu greifen, konnten die
Führer nur Lückenbüſser sein: entweder politische Anfänger,
die ihre jugendliche Oppositionslust austobten und sodann, als
sprudelnde Feuerköpfe und beliebte Sprecher legitimirt, mit
mehr oder minder Geschicklichkeit ihren Rückzug in das Lager
der Regierungspartei bewerkstelligten; oder auch Leute, die an
Vermögen und Einfluſs nichts zu verlieren, an Ehre gewöhnlich
weder zu gewinnen noch zu verlieren hatten, und die aus per-
sönlicher Erbitterung oder auch aus bloſser Lust am Lärmschla-
gen sich ein Geschäft daraus machten die Regierung zu geniren
und zu ärgern. Der ersten Gattung gehörten zum Beispiel an
Gaius Memmius (S. 136) und der bekannte Redner Lucius Cras-
sus, die ihre in den Reihen der Opposition gewonnenen oratori-
schen Lorbeern demnächst als eifrige Regierungsmänner verwer-
theten. Die namhaftesten Führer der Popularpartei um diese
Zeit aber waren Männer der zweiten Gattung; sowohl Gaius Ser-
vilius Glaucia, von Cicero der römische Hyperbolos genannt, ein
gemeiner Gesell niedrigster Herkunft und unverschämtester
Straſsenberedsamkeit, aber wirksam und selbst gefürchtet wegen
seiner drastischen Witze, als auch sein besserer und fähigerer
Genosse Lucius Appuleius Saturninus, der selbst nach den Be-
richten seiner Feinde ein feuriger und eindringlicherer Sprecher
war und wenigstens nicht von gemein eigennützigen Motiven ge-
leitetward. Ihm war als Quaestor die in üblicher Weise ihm zu-
gefallene Getreideverwaltung durch Beschluſs des Senats entzogen
worden, weniger wohl wegen fehlerhafter Amtsführung als um
das eben damals populäre Amt lieber einem der Häupter der
Regierungspartei, dem Marcus Scaurus als einem unbekannten
keiner der herrschenden Familien angehörigen jungen Manne zu-
zuwenden. Diese Kränkung hatte den aufstrebenden und lebhaf-
ten Mann in die Opposition gedrängt; und er vergalt als Volks-
tribun 651 das Empfangene mit Zinsen. Ein ärgerlicher Handel
hatte damals den andern gedrängt: er hatte die von den Gesand-
ten des Königs Mithradates in Rom vorgenommenen Bestechun-
[191]MARIUS UND DRUSUS.
gen auf offenem Markt zur Sprache gebracht; er hauptsächlich
hatte gegen die Regierung Marius Wiederwahl zum Consul für
652 durchgesetzt; er hatte gegen den Besieger Numidiens Quin-
tus Metellus, als derselbe sich für 652 um die Censur bewarb,
einen Auflauf erregt und ihn auf dem Capitol belagert gehalten,
bis die Ritter ihn nicht ohne Blutvergieſsen befreiten. Die Wuth
des Senats ist begreiflich; die mithradatischen Enthüllungen hät-
ten dem Volkstribun fast das Leben gekostet und die schimpf-
liche Ausstoſsung des Saturninus wie des Glaucia aus dem Senat
bei Gelegenheit der Revision des Senatorenverzeichnisses durch
die Censoren von 652 war nur gescheitert an der Schlaffheit des
dem Quintus Metellus zugegebenen Collegen. Saturninus war
entschieden der energischste Feind des Senats und der thätigste
und beredteste Führer der Volkspartei seit Gaius Gracchus, frei-
lich auch gewaltthätig und rücksichtslos wie keiner vor ihm, im-
mer bereit in die Straſse hinabzusteigen und statt mit Worten
den Gegner mit Knitteln zu widerlegen. — Solcher Art waren die
beiden Führer der sogenannten Popularpartei, die mit dem sieg-
reichen Feldherrn jetzt gemeinschaftliche Sache machten. Es
war natürlich; die Interessen und die Zwecke gingen zusammen
und auch schon bei Marius früheren Bewerbungen hatte wenig-
stens Saturninus aufs Entschiedenste und Erfolgreichste für
ihn Partei genommen. Jetzt wurde ausgemacht, daſs für 654
Marius um das sechste Consulat, Saturninus um das zweite Tri-
bunat, Glaucia um die Praetur sich bewerben sollten, um gestützt
auf diese Aemter die beabsichtigte Staatsumwälzung durchzufüh-
ren. Der Senat versuchte die gefährliche Verschwörung im Keim
zu ersticken, indem er zwar die Ernennung des minder gefähr-
lichen Glaucia geschehen lieſs, aber that was er konnte um Ma-
rius und Saturninus Wahl zu hindern oder doch wenigstens je-
nem an Quintus Metellus einen entschlossenen Gegner als Colle-
gen an die Seite zu setzen. Von beiden Parteien wurden alle
Hebel, erlaubte und unerlaubte, in Bewegung gesetzt; selbst Ma-
rius verschmähte es nicht Stimmenbettel, es heiſst sogar auch
Stimmenkauf zu betreiben; ja als in den tribunicischen Wahlen
neun Männer von der Liste der Regierungspartei bereits procla-
mirt waren und auch die zehnte Stelle einem achtbaren Mann
derselben Farbe Quintus Nunnius gesichert schien, ward dieser
von einem wüsten Haufen, der vorzugsweise aus entlassenen
Soldaten des Marius bestanden haben soll, angefallen und er-
schlagen. So gelangte man, freilich auf die gewaltsamste Weise,
zum Ziel. Marius wurde gewählt als Consul, Glaucia als Praetor.
[192]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
Saturninus als Volkstribun für 654; an Quintus Metellus Stelle
erhielt ein unbedeutender Mann Lucius Valerius Flaccus die
zweite Consulstelle; die verbündeten Männer konnten daran
gehen ihre weiter beabsichtigten Pläne ins Werk zu setzen und
das 633 unterbrochene Werk zu vollenden.
Erinnern wir uns, welche Ziele Gaius Gracchus und mit
welchen Mitteln er sie verfolgt hatte. Es galt die Oligarchie nach
innen wie nach auſsen zu brechen, also theils die vom Senat völ-
lig abhängig gewordene Beamtengewalt in ihre ursprünglichen
souveränen Rechte wieder einzusetzen und die Rathversammlung
aus der regierenden wieder in eine berathende Behörde umzu-
wandeln, theils der aristokratischen Gliederung des Staats in die
drei Klassen der herrschenden Bürger-, der italischen Bundes-
genossen- und der Unterthanenschaft durch allmählige Ausglei-
chung dieser mit einem nichtoligarchischen Regiment unverträg-
lichen Gegensätze ein Ende zu machen. Diese Gedanken nahmen
die drei verbündeten Männer wieder auf in den Colonialgesetzen,
die Saturninus als Volkstribun 654 einbrachte. Zufolge dersel-
ben wurde zunächst zu Gunsten der marianischen Soldaten, der
Bürger nicht bloſs sondern wie es scheint auch der italischen
Bundesgenossen, die unterbrochene Vertheilung des karthagi-
schen Gebiets wieder in Angriff genommen und jedem dieser Ve-
teranen ein Landloos von 100 Morgen oder etwa dem fünffachen
Maſs eines gewöhnlichen italischen Bauerhofs in der Provinz
Africa, so wie aus den unterschlagenen, aber von den schuldigen
Aristokraten zu erstattenden Tempelschätzen von Tolosa die zur
Anschaffung des Beschlags erforderliche Summe zugesichert.
Sodann ward für die römisch-italische Emigration nicht bloſs
das bereits zur Verfügung stehende Provinzialland in weitester
Ausdehnung, sondern auch durch die rechtliche Fiction, daſs den
Römern durch die Besiegung der Kimbrer das gesammte von
diesen besetzte Gebiet von Rechtswegen erworben sei, das ge-
sammte Land der noch unabhängigen Keltenstämme jenseit der
Alpen in Anspruch genommen. Zur Leitung der Landanweisun-
gen wie der zu diesem Behuf etwa nöthig erscheinenden weiteren
Maſsregeln ward Gaius Marius berufen. Dieses Gesetz nahm also
nicht bloſs die Eroberungspläne jenseit der Alpen und die trans-
alpinischen und überseeischen Colonisationsentwürfe, wie Gaius
Gracchus und Flaccus sie entworfen hatten, vollständig wieder
auf, sondern zugleich ward damit, daſs die Italiker neben den
Römern zur Emigration zugelassen und ohne Zweifel die sämmt-
lichen neuen Gemeinden bestimmt waren als Bürgercolonien ein-
[193]MARIUS UND DRUSUS.
gerichtet zu werden, ein Anfang gemacht die so schwer durch-
zubringenden und doch unmöglich auf die Länge abzuweisenden
Ansprüche der Italiker auf Gleichstellung mit den Römern zu
befriedigen. Zunächst aber wurde, wenn das Gesetz durchging
und Marius zur selbständigen Ausführung dieser ungeheuren Er-
oberungs- und Auftheilungspläne berufen ward, derselbe that-
sächlich Monarch von Rom und muſste es bleiben bis zur Reali-
sirung jener Pläne oder vielmehr bei der Unbestimmtheit und
Schrankenlosigkeit derselben auf Zeit seines Lebens; wozu denn
vermuthlich, wie Gracchus das Tribunat, so Marius das Consulat
alljährlich sich erneuern zu lassen gedachte. Ueberhaupt ist bei der
sonstigen Uebereinstimmung der für den jüngeren Gracchus und
für Marius entworfenen politischen Stellungen in allen wesentli-
chen Stücken doch zwischen dem landanweisenden Tribun und
dem landanweisenden Consul darin ein sehr wesentlicher Unter-
schied, daſs jener eine rein bürgerliche, dieser daneben eine mili-
tärische Stellung einnehmen sollte; ein Unterschied, der zwar mit,
aber doch keineswegs allein aus den persönlichen Verhältnissen
hervorging, unter denen die beiden Männer an die Spitze des Staa-
tes getreten waren. — Wenn also das Ziel beschaffen war, das Ma-
rius und seine Genossen sich vorgesteckt hatten, so fragte es sich
weiter um die Mittel, durch welche man den voraussichtlich hart-
näckigen Widerstand der Regierungspartei zu brechen gedachte.
Gaius Gracchus hatte seine Schlachten geschlagen mit dem Ca-
pitalistenstand und dem Proletariat. Seine Nachfolger versäumten
zwar nicht auch diesen entgegenzukommen. Den Rittern lieſs man
nicht bloſs die Gerichte, sondern ihre Geschwornengewalt wurde
ansehnlich gesteigert durch eine verschärfte Ordnung für die den
Kaufleuten vor allem wichtige stehende Commission wegen Er-
pressungen seitens der Staatsbeamten in den Provinzen, welche
Glaucia, und durch die Errichtung einer auſserordentlichen Com-
mission zur Untersuchung der während der kimbrischen Unru-
hen vorgekommenen Landesverräthereien, welche Saturninus,
beide wahrscheinlich in diesem Jahr, durchbrachten. Zum
Frommen des hauptstädtischen Proletariats ferner ward der bis-
her bei den Getreidevertheilungen für den Scheffel zu entrich-
tende Schleuderpreis von 6⅓ As herabgesetzt auf eine bloſse Re-
cognitionsgebühr von ⅚ As. Indeſs obwohl man das Bündniſs
mit den Rittern und dem hauptstädtischen Proletariat nicht ver-
schmähte, so ruhte doch die eigentlich zwingende Macht der Ver-
bündeten wesentlich nicht in ihnen, sondern in den entlassenen
Soldaten der marianischen Armee, welche eben deſshalb in dem
Röm. Gesch. II. 13
[194]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
Colonialgesetz selbst in so ausschweifender Weise bedacht wor-
den waren. Auch hierin tritt der vorwiegend militärische Charak-
ter hervor, der hauptsächlich diesen Revolutionsversuch von dem
voraufgehenden unterscheidet. — Man ging also ans Werk. Das
Getreide- und das Colonialgesetz stieſsen bei der Regierung wie
begreiflich auf die lebhafteste Gegenwehr. Man bewies im Senat
mit schlagenden Zahlen, daſs jenes die öffentlichen Kassen ban-
kerott machen müsse; Saturninus kümmerte sich nicht darum.
Man erwirkte gegen beide Gesetze tribunicische Intercession; Sa-
turninus lieſs weiter stimmen. Man zeigte an einen Donnerschlag
vernommen zu haben, durch welches Zeichen nach altem Glauben
die Götter befahlen die Volksversammlung zu entlassen; Saturninus
bemerkte den Abgesandten des Senats, man werde wohl thun bei
ihnen sich ruhig zu verhalten, sonst könne gar leicht nach dem
Donner der Hagel folgen. Endlich trieb der städtische Quaestor
Quintus Caepio, vermuthlich der Sohn des vier Jahre zuvor ver-
urtheilten Feldherrn * und gleich seinem Vater ein heftiger Geg-
ner der Popularpartei, mit einem Haufen ergebener Leute die
Stimmversammlung mit Gewalt aus einander. Allein die derben
Soldaten des Marius, die massenweise zu dieser Abstimmung
nach Rom geströmt waren, sprengten rasch zusammengerafft
wieder die städtischen Haufen und so gelang es auf dem wieder-
eroberten Stimmfeld die Abstimmung über die appuleischen Ge-
setze zu Ende zu führen. Der Scandal war arg; als es indeſs zur
Frage kam, ob der Senat der Clausel des Gesetzes genügen werde,
daſs innerhalb fünf Tagen nach dessen Durchbringung jeder vom
Rath bei Verlust seiner Rathsherrnstelle auf getreuliche Befolgung
des Gesetzes einen Eid abzulegen habe, leisteten diesen Eid die
sämmtlichen Senatoren mit einziger Ausnahme des Quintus Me-
tellus, der es vorzog die Heimath zu verlassen. Nicht ungern sa-
hen Marius und Saturninus den besten Feldherrn und den tüch-
tigsten Mann unter der Gegenpartei durch Selbstverbannung aus
dem Staate ausscheiden.
Man schien am Ziel; dem schärfer Sehenden muſste schon
jetzt das Unternehmen als gescheitert erscheinen. Die Ursache
des Fehlschlagens lag wesentlich in der ungeschickten Allianz
[195]MARIUS UND DRUSUS.
eines politisch unfähigen Feldherrn und eines fähigen, aber rück-
sichtslos heftigen und mehr von Leidenschaft, als von staats-
männischen Zwecken erfüllten Demagogen von der Gasse. Man
hatte sich vortrefflich vertragen, so lange es sich nur noch um
Pläne handelte; als es dann aber zur Ausführung kam, zeigte es
sich sehr bald, daſs der gefeierte Feldherr in der Politik nichts
war als eine Incapacität; daſs sein Ehrgeiz der des Bauern war,
der den Adlichen an Titeln erreichen und wo möglich überbieten
möchte, nicht aber der des Staatsmanns, der regieren will,
weil er dazu in sich die Kraft fühlt; daſs jedes Unternehmen,
welches auf seine politische Persönlichkeit gebaut war, trotz der
sonst günstigen Verhältnisse nothwendig an ihm selber schei-
tern muſste. Während die entscheidenden Anträge von seinen
Genossen gestellt, von seinen Soldaten durchgefochten wurden,
verhielt Marius sich vollständig passiv, gleich als ob der politi-
sche Führer nicht ebenso wie der militärische, wenn es zum
Hauptangriff geht, überall und vor allen einstehen müſste mit
seiner Person. Aber es war damit nicht genug; vor den Gei-
stern, die er selber gerufen, erschrak er und nahm Reiſsaus. Als
seine Genossen zu Mitteln griffen, die ein ehrlicher Mann nicht
billigen konnte, ohne die aber freilich das angestrebte Ziel sich
nicht erreichen lieſs, versuchte er in der üblichen Weise poli-
tisch-moralischer Confusionare seine Verbündeten zu desavoui-
ren und zugleich die von ihnen erlangten Resultate festzuhalten.
Es giebt ein Geschichtchen, daſs der General einst in zwei ver-
schiedenen Zimmern seines Hauses in dem einen mit dem Satur-
ninus und den Seinen, in dem andern mit den Abgeordneten der
Oligarchie geheime Unterhandlung gepflogen habe, dort über das
Losschlagen gegen den Senat, hier über das Einschreiten gegen
die Revolte, und daſs er unter Vorwänden, wie sie der Peinlich-
keit der Situation entsprachen, zwischen beiden Conferenzen ab
und zu gegangen sei — ein Geschichtchen so sicherlich erfun-
den und so sicher treffend wie nur irgend ein Einfall des Aristo-
phanes. Offenkundig ward die zweideutige Stellung des Marius
bei der Eidesfrage, wobei er anfangs den Schein annahm, als
gedenke er den durch die appuleischen Gesetze geforderten
Eid der vorgekommenen Formfehler halber zu verweigern; als
er dann dennoch den Eid schwor, dies that unter dem Vor-
behalt, wofern die Gesetze wirklich rechtsbeständig seien; ein
Vorbehalt, den natürlich sämmtliche Senatoren in ihren Schwur
gleichfalls aufnahmen, so daſs durch diese Weise der Beeidi-
gung die Gültigkeit der Gesetze nicht gesichert, sondern viel-
13*
[196]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
mehr erst recht in Frage gestellt ward. — Die Folgen dieses un-
vergleichlich kopflosen Auftretens des gefeierten Feldherrn ent-
wickelten sich rasch. Die Opposition gegen ihn und seine Ge-
nossen war an sich schon ansehnlich genug; denn nicht bloſs
die Regierungspartei in Masse gehörte dazu, sondern auch der
groſse Theil der Bürgerschaft, der mit eifersüchtigen Blicken den
Italikern gegenüber über seinen Sonderrechten Wache hielt; durch
den Gang aber, den die Dinge nahmen, wurde noch die gesammte
begüterte Klasse zu der Regierung hinübergedrängt. Saturninus
und Glaucia waren von Haus aus Herren oder Diener des Proleta-
riats und darum keineswegs auf gutem Fuſse mit der Geldaristo-
kratie, die zwar nichts dagegen hatte mittelst des Pöbels dem Se-
nat einmal Schach zu bieten, aber Straſsenaufläufe und arge Ge-
waltthätigkeiten nicht liebte. Schon in Saturninus erstem Tribunat
hatten dessen bewaffnete Rotten mit den Rittern sich herumge-
schlagen; die heftige Opposition, auf die seine Wahl zum Tribun
für 654 stieſs, zeigt deutlich, wie klein die ihm günstige Partei war.
Es wäre Marius Aufgabe gewesen der bedenklichen Hülfe dieser
Genossen sich nur mit Maſsen zu bedienen und männiglich zu
überzeugen, daſs sie nicht bestimmt seien zu herrschen, sondern
ihm, dem Herrscher, zu dienen. Da er das gerade Gegentheil da-
von that und die Sache ganz das Ansehen gewann, als handle es
sich nicht darum einen intelligenten und kräftigen Herrn, son-
dern die reine Canaille ans Regiment zu bringen, so schlossen
dieser gemeinsamen Gefahr gegenüber die Männer der materiel-
len Interessen, zum Tode erschrocken über das wüste Wesen,
sich wieder eng an den Senat an. Während Gaius Gracchus,
wohl erkennend, daſs mit dem Proletariat allein keine Regierung
gestürzt werden kann, vor allen Dingen bemüht gewesen war
die besitzenden Klassen auf seine Seite zu ziehen, fingen diese
seine Fortsetzer damit an die Aristokratie mit der Bourgeoisie zu
versöhnen. — Aber noch rascher als diese Versöhnung der Feinde
führte den Ruin des Unternehmens die Uneinigkeit herbei, welche
Marius mehr als zweideutiges Auftreten nothwendiger Weise un-
ter dessen Urhebern hervorrief. Saturninus und Glaucia hatten
nicht deſswegen die Revolution unternommen und Marius die
Staatsoberhauptschaft verschafft, um sich von ihm desavouiren
und aufopfern zu lassen; wenn Glaucia der spaſshafte Volksmann
bisher den Marius mit den lustigsten Blumen seiner lustigen
Beredsamkeit überschüttet hatte, so dufteten die Kränze, welche
er jetzt ihm wand, keineswegs nach Rosen und Violen. Es kam
zum vollständigen Bruch, womit beide Theile verloren waren;
[197]MARIUS UND DRUSUS.
denn weder stand Marius fest genug um allein das von ihm selbst
in Frage gestellte Colonialgesetz zu halten und der ihm bestimm-
ten Stellung sich zu bemächtigen, noch waren Saturninus und
Glaucia in der Lage das für Marius begonnene Geschäft auf
eigene Rechnung fortzuführen. Indeſs die beiden Demagogen
waren so compromittirt, daſs sie nicht zurückkonnten und nur
die Wahl hatten ihre Aemter in gewöhnlicher Weise niederzulegen
und damit ihren erbitterten Gegnern sich mit gebundenen Händen
zu überliefern oder nun selber nach dem Scepter zu greifen, des-
sen Gewicht sie freilich fühlten nicht tragen zu können. Sie ent-
schlossen sich zu dem Letzteren; Saturninus wollte für 655 aber-
mals um das Volkstribunat als Bewerber auftreten, Glaucia, ob-
wohl Praetor und erst nach zwei Jahren wahlfähig zum Consulat,
als Bewerber um dieses. In der That wurden die tribunicischen
Wahlen durchaus in ihrem Sinne entschieden und Marius Ver-
such den falschen Tiberius Gracchus an der Bewerbung um das
Tribunat zu hindern diente nur dazu dem gefeierten Mann zu
beweisen, was seine Popularität jetzt noch werth war; die Menge
sprengte die Thüren des Gefängnisses, in dem Gracchus einge-
sperrt saſs, trug ihn im Triumph durch die Straſsen und wählte
ihn mit groſser Majorität. Ebenso schien es mit der Consulnwahl
zu gehen, welche Saturninus und Glaucia durch das im vorigen
Jahre erprobte Mittel zur Beseitigung unbequemer Concurrenzen in
die Hand zu bekommen versuchten; der Gegencandidat der Regie-
rungspartei Gaius Memmius, derselbe der elf Jahre zuvor gegen sie
die Opposition geführt hatte (S. 136), wurde von einem Haufen
Gesindel überfallen und mit Knitteln erschlagen. Die Regierungs-
partei hatte nur auf ein eclatantes Ereigniſs der Art gewartet um
Gewalt zu brauchen. Der Senat forderte den Consul Gaius Ma-
rius auf einzuschreiten und diesem blieb keine andere Wahl als
das Schwert, das er von der Demokratie erhalten und für sie
zu führen versprochen hatte, nun zu ziehen für die conserva-
tive Partei. Die junge Mannschaft ward schleunigst aufgeboten,
mit Waffen aus den öffentlichen Vorräthen gerüstet und militä-
risch geordnet; der Senat erschien bewaffnet auf dem Markt, an
seiner Spitze sein greiser Vormann Marcus Scaurus. Die Gegen-
partei war wohl im Straſsenlärm überlegen, aber auf einen
solchen Angriff nicht vorbereitet; es blieb eben nichts übrig als
sich zu wehren wie es ging. Man erbrach die Thore der Ge-
fängnisse und rief die Sclaven zur Freiheit und unter die Waf-
fen; man rief — so heiſst es wenigstens — den Saturninus zum
König oder Feldherrn aus; an dem Tage, wo die neuen Volkstri-
[198]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
bune ihr Amt anzutreten hatten, am 10. Dec. 654, kam es zur
Schlacht auf dem groſsen Markte, der ersten, die seit Rom stand
innerhalb der Mauern der Hauptstadt geliefert ward. Der Aus-
gang war keinen Augenblick zweifelhaft. Die Popularpartei ward
geschlagen und hinaufgedrängt auf das Capitol, wo man ihnen
das Wasser abschnitt und sie dadurch nöthigte sich zu ergeben.
Marius, der den Oberbefehl führte, hätte gern seinen ehemaligen
Verbündeten und jetzigen Gefangenen das Leben gerettet; laut
rief Saturninus der Menge zu, daſs alles was er beantragt im Ein-
verständniſs mit dem Consul geschehen sei; selbst einem schlech-
teren Mann, als Marius war, muſste grauen vor der ehrlosen
Rolle, die er an diesem Tage spielte. Indeſs er war längst nicht
mehr Herr der Dinge. Ohne Befehl erklimmte die vornehme Ju-
gend das Dach des Rathhauses am Markt, in das man vorläufig
die Gefangenen eingesperrt hatte, deckte die Ziegel ab und stei-
nigte sie mit denselben. So kam Saturninus um mit den mei-
sten der namhafteren Gefangenen. Glaucia ward in einem Ver-
steck gefunden und gleichfalls getödtet. Ohne Urtheil und Recht
starben an diesem Tage vier Beamte des römischen Volkes, ein
Praetor, ein Quaestor, zwei Volkstribune und eine Anzahl ande-
rer bekannter und zum Theil guten Familien angehöriger Män-
ner. Man durfte trotz der schweren und blutigen Verschuldun-
gen, die die Häupter auf sich geladen hatten, dennoch sie be-
dauern; sie fielen wie die Vorposten, die das Hauptheer im Stich
läſst und sie nöthigt im verzweifelten Kampf zwecklos unterzu-
gehen.
Nie hatte die Regierungspartei einen vollständigeren Sieg
erfochten, nie die Opposition eine härtere Niederlage erlitten
als an diesem zehnten December. Es war das Wenigste, daſs
man sich einiger unbequemer Schreier entledigt hatte, die jeden
Tag durch Gesellen von gleichem Schlag ersetzt werden konnten;
schwerer fiel ins Gewicht, daſs der einzige Mann, der damals im
Stande war der Regierung gefährlich zu werden, sich selber öf-
fentlich und vollständig vernichtet hatte; am schwersten, daſs
die beiden oppositionellen Elemente, der Capitalistenstand und
das Proletariat, gänzlich entzweit aus dem Kampfe hervorgin-
gen. Zwar war dies nicht das Werk der Regierung; was Gaius
Gracchus gewandte Hand zusammengezwungen, hatte theils die
Macht der Verhältnisse, theils und vor allem die grobe Bauern-
faust seines unfähigen Nachtreters wieder aufgelöst; allein im
Resultat kam nichts darauf an, ob Berechnung oder Glück der
Regierung zum Siege verhalf. Eine kläglichere Stellung ist kaum
[199]MARIUS UND DRUSUS.
zu erdenken, als wie sie der Held von Aquae und Vercellae nach
jener Katastrophe einnahm — nur um so kläglicher, weil man
nicht anders konnte als sie mit dem Glanze vergleichen, der nur
wenige Monate zuvor denselben Mann umgab. Weder auf aristo-
kratischer noch auf demokratischer Seite gedachte weiter Jemand
des siegreichen Feldherrn bei der Besetzung der Consulatstellen;
ja der Mann der sechs Consulate konnte nicht einmal wagen sich
656 um die Censur zu bewerben. Er ging fort in den Osten, wie
er sagte um ein Gelübde dort zu lösen, in der That um nicht
von der triumphirenden Rückkehr seines Todfeindes, des Quin-
tus Metellus Zeuge zu sein; man lieſs ihn gehen. Er kam wie-
der zurück und öffnete sein Haus; seine Säle standen leer. Im-
mer hoffte er, daſs es wieder Kämpfe und Schlachten geben und
man seines erprobten Armes abermals bedürfen werde; allein es
blieb tiefer Friede. Selbst im Osten, wo die Römer Ursache
genug gehabt hätten energisch zu interveniren, Gelegenheit zu
einem Kriege zu machen schlug ihm fehl wie jeder andere seiner
Wünsche. Und dabei fraſs der einmal in ihm aufgestachelte
Hunger nach Ehren, je öfter er getäuscht ward, immer tiefer
sich ein in sein Gemüth; abergläubisch wie er war, nährte er in
seinem Busen ein altes Orakelwort, das ihm sieben Consulate
verhieſs und sann in finsteren Gedanken, wie es möglich werden
möge, daſs dies Wort seine Erfüllung und er seine Rache be-
komme, während er allen, nur sich selbst nicht, unbedeutend und
unschädlich erschien. — Folgenreicher noch als die Beseitigung
des gefährlichen Mannes war die tiefe Erbitterung, welche in der
Partei der materiellen Interessen seit der Schilderhebung des
Saturninus gegen die sogenannten Popularen bestand. Mit der
rücksichtslosesten Härte verurtheilten die Rittergerichte jeden,
der zu den oppositionellen Ansichten sich bekannte; so ward
Sextus Titius mehr noch als wegen seines Ackergesetzes deſs-
wegen verdammt, weil er des Saturninus Bild im Hause gehabt
hatte; so Gaius Appuleius Decianus, weil er als Volkstribun das
Verfahren gegen Saturninus als ein ungesetzliches bezeichnet
hatte. Es war der Aristokratie sogar möglich für ältere von den
Popularen ihr zugefügte Unbill nun vor den Rittergerichten Ge-
nugthuung zu erhalten; so ward von denselben jetzt (659) Gaius
Norbanus in die Verbannung gesandt, weil er neun Jahre zuvor
den Consular Quintus Caepio angegriffen hatte (S. 170). War
man auch der Regierung an sich nicht geneigter als früher, so er-
schien doch jetzt, seit man sich wenn auch nur einen Augenblick
am Rande der eigentlichen Herrschaft der Canaille gefunden hatte,
[200]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
jedem, der etwas zu verlieren hatte, das bestehende Regiment in
einem anderen Licht; es war notorisch elend und staatsverder-
berisch, aber die kümmerliche Furcht vor dem Regiment der
Proletarier, das noch elender, noch staatsverderblicher erschien,
hatte ihm einen relativen Werth verliehen. So ging jetzt die
Strömung, daſs die Menge einen Volkstribun zerriſs, der es ge-
wagt hatte die Rückkehr des Quintus Metellus zu verzögern, und
daſs die Demokraten anfingen ihr Heil zu suchen in dem Bünd-
niſs mit Mördern und Giftmischern, wie sie zum Beispiel des
verhaſsten Metellus durch Gift sich entledigten, oder gar durch
Bündniſs mit dem Landesfeind, wie denn einzelne von ihnen
schon flüchteten an den Hof des Königs Mithradates, der im Stil-
len zum Kriege rüstete gegen Rom. Auch die äuſseren Verhältnisse
gestalteten für die Regierung sich günstig. Die römischen Waffen
waren in der Zeit vom kimbrischen bis auf den Bundesgenos-
senkrieg nur wenig, überall aber mit Ehren beschäftigt. Nur in
Spanien, wo während der letzten für Rom so schweren Jahre
die Lusitanier (649 fg.) und die Keltiberer sich mit ungewohnter
Heftigkeit gegen die Römer aufgelehnt hatten, wurde ernstlich
gestritten; doch stellten auch hier in den J. 656-661 der Con-
sul Titus Didius in der nördlichen und der Consul Publius Cras-
sus in der südlichen Provinz mit Tapferkeit und Glück das
Uebergewicht der römischen Waffen wieder her und verpflanzten
die aufständischen Gemeinden, so weit sie nicht ein härteres
Loos traf, aus ihren festen Bergstädten in die Ebenen. Daſs um
dieselbe Zeit die römische Regierung auch wieder des lange
vernachlässigten Ostens gedachte und mit einer seit lan-
gem unerhörten Energie in Kyrene, Syrien, Kleinasien auftrat,
wird später darzustellen sein. Noch niemals seit dem Beginn
der Revolution war das Regiment der Restauration so festge-
gründet, so populär gewesen. Consularische Gesetze lösten die tri-
bunicischen, Freiheitbeschränkungen die Fortschrittsmaſsregeln
ab. Die Cassirung der Gesetze des Saturninus verstand sich von
selbst; die überseeischen Colonien des Marius schwanden zusam-
men zu einer einzigen winzigen Ansiedlung auf der wüsten Insel
Corsica. Als der Volkstribun Sextus Titius, ein karrikirter Alki-
biades, der im Tanz und Ballspiel stärker war als in der Politik
und dessen hervorragendstes Talent darin bestand Nachts auf
den Straſsen die Götterbilder zu zerschlagen, das appuleische
Ackergesetz im J. 655 wieder aufnahm, konnte der Senat das
neue Gesetz unter einem religiösen Vorwand cassiren, ohne daſs
Jemand dafür einzustehen auch nur versucht hätte; den Urheber
[201]MARIUS UND DRUSUS.
straften, wie schon erwähnt ward, die Ritter in ihren Gerichten.
Das Jahr darauf (656) machte ein von den beiden Consuln ein-
gebrachtes Gesetz die übliche siebzehntägige Frist zwischen Ein-
und Durchbringung eines Gesetzvorschlags obligatorisch und
verbot mehrere verschiedenartige Bestimmungen in einem Antrag
zusammenzufassen; wodurch die unvernünftige Ausdehnung der
legislatorischen Initiative wenigstens etwas beschränkt und of-
fenbare Ueberrumpelungen der Regierung durch neue Gesetze
abgewehrt wurden. Immer deutlicher zeigte es sich, daſs die
gracchische Verfassung, die den Sturz ihres Urhebers überdauert
hatte, jetzt in ihren Grundfesten schwankte, seit die Menge und
die Geldaristokratie nicht mehr zusammengingen. Wie diese
Verfassung geruht hatte auf der Spaltung der Aristokratie, so
schien sie mit der Zwiespältigkeit der Opposition stürzen zu
müssen. Wenn jemals so schien jetzt die Zeit gekommen um
das unvollkommene Restaurationswerk von 633 zu vollenden,
um dem Tyrannen endlich auch seine Verfassung nachzusenden
und die regierende Oligarchie in den Alleinbesitz der politischen
Gewalt wieder einzusetzen.
Es kam alles an auf die Wiedergewinnung der Geschwor-
nenstellen. Die Verwaltung der Provinzen, auf der die Gewalt
des Senats vorwiegend, ja fast allein beruhte, war namentlich
durch die Commission wegen Erpressungen von den Geschwor-
nengerichten vollständig abhängig geworden, so daſs der Statt-
halter die Provinz nicht mehr für den Senat, sondern für den
Capitalisten- und Kaufmannsstand zu verwalten schien. Wie
bereitwillig immer sie der Regierung entgegenkam, wenn es um
Maſsregeln gegen die Demokraten sich handelte, so unnachsicht-
lich ahndete die Geldaristokratie jeden Versuch sie in diesen ihren
wohlerworbenen Rechten zu beschränken. Es fehlte an solchen
Versuchen nicht ganz; die regierende Aristokratie fing wieder an
sich zu fühlen und eben ihre besten Männer hielten sich verpflich-
tet der entsetzlichen Miſswirthschaft in den Provinzen wenigstens
für ihre Person entgegenzutreten. Am entschlossensten that dies
Quintus Mucius Scaevola, gleich seinem Vater Publius Oberpon-
tifex und im J. 659 Consul, der erste Jurist und einer der vor-
züglichsten Männer seiner Zeit. In seiner Praetur (um 656) sta-
tuirte er als Statthalter von Asia, der reichsten und gemiſshan-
delsten unter allen Provinzen, in Gemeinschaft mit seinem äl-
teren, als Offizier, Jurist und Geschichtschreiber ausgezeichneten
Freunde, dem Consular Publius Rutilius Rufus ein ernstes und
abschreckendes Exempel. Ohne einen Unterschied zwischen Itali-
[202]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
kern und Provinzialen, Vornehmen und Geringen zu machen
nahm er jede Klage an und zwang nicht bloſs die römischen
Kaufleute und Staatspächter wegen erwiesener Schädigungen
vollen Geldersatz zu leisten, sondern da einige ihrer angesehen-
sten und rücksichtslosesten Agenten todeswürdiger Verbrechen
schuldig befunden wurden, lieſs er sie, taub gegen alle Beste-
chungsanträge, von Rechtswegen ans Kreuz schlagen. Der Senat
billigte sein Verfahren und lieſs seitdem den Statthaltern von Asia
es in die Instruction setzen, daſs sie sich die Verwaltungsgrund-
sätze Scaevolas zum Muster nehmen möchten; allein die Ritter,
wenn sie gleich an den hochadlichen und vielvermögenden Staats-
mann selber sich nicht wagten, zogen seine Gefährten vor Gericht,
zuletzt (um 662) sogar den angesehensten derselben, seinen Le-
gaten Publius Rufus, der nur durch seine Verdienste und aner-
kannte Rechtschaffenheit, nicht durch Familienanhang vertheidigt
war. Die Anklage, daſs dieser Mann sich in Asia habe Erpres-
sungen zu Schulden kommen lassen, brach zwar fast zusammen
unter ihrer eigenen Lächerlichkeit wie unter der Verworfenheit
des Anklägers, eines gewissen Apicius; allein man lieſs dennoch
die willkommene Gelegenheit den Consular zu demüthigen nicht
vorübergehen, und da dieser, die falsche Beredsamkeit, die Trauer-
gewänder, die Thränen verschmähend, sich kurz, einfach und sach-
lich vertheidigte und den souveränen Capitalisten die begehrte Hul-
digung stolz verweigerte, ward er in der That verurtheilt und sein
mäſsiges Vermögen zur Befriedigung erdichteter Entschädigungs-
ansprüche eingezogen. Der Verurtheilte begab sich in die angeb-
lich von ihm ausgeplünderte Provinz und verlebte daselbst, von
sämmtlichen Gemeinden mit Ehrengesandtschaften empfangen
und Zeit seines Lebens gefeiert und beliebt, in litterarischer Muſse
die ihm noch übrigen Tage. Diese schmachvolle Verurtheilung
war nur der ärgste, keineswegs der einzige Fall der Art. Kaum
war sie erfolgt, als der angesehenste aller Aristokraten, seit zwan-
zig Jahren der Vormann des Senats, der siebzigjährige Marcus
Scaurus wegen Erpressungen vor Gericht gezogen ward; selbst
wenn er schuldig war, nach aristokratischen Begriffen ein Sacri-
legium. Das Anklägeramt fing an von schlechten Gesellen gewer-
bemäſsig betrieben zu werden und nicht Unbescholtenheit, nicht
Rang, nicht Alter schützte mehr vor diesen frevelhaften und ge-
fährlichen Angriffen. Die Erpressungscommission ward aus einer
Schutzwehr der Provinzialen ihre schlimmste Geiſsel; der offen-
kundigste Dieb ging frei aus, wenn er nur seine Mitdiebe gewäh-
ren lieſs und sich nicht weigerte einen Theil der erpreſsten Sum-
[ 203[203]]MARIUS UND DRUSUS.
men den Geschwornen zuflieſsen zu lassen; der Versuch aber den
gerechten Forderungen der Provinzialen auf Recht und Gerech-
tigkeit zu entsprechen reichte hin zur Verurtheilung. Die römi-
sche Regierung schien in dieselbe Abhängigkeit von dem contro-
lirenden Gericht versetzt werden zu sollen, in der einst das Rich-
tercollegium in Karthago den dortigen Rath gehalten hatte. In
furchtbarer Weise erfüllte sich Gaius Gracchus ahnungsvolles
Wort, daſs mit dem Dolche seines Geschwornengesetzes die vor-
nehme Welt sich selber zerfleischen werde.
Ein Sturm auf die Rittergerichte schien unvermeidlich. Wer
in der Regierungspartei noch Sinn dafür hatte, daſs das Regie-
ren nicht bloſs Rechte sondern auch Pflichten in sich schlieſst,
ja wer nur noch edleren und stolzeren Ehrgeiz in sich em-
pfand, muſste sich auflehnen gegen diese erdrückende und
entehrende politische Controle, die jede Möglichkeit rechtschaffen
zu verwalten von vorn herein abschnitt. Die scandalöse Verur-
theilung des Rutilius Rufus schien eine Aufforderung den Angriff
sofort zu beginnen und Marcus Livius Drusus, der im J. 663
Volkstribun war, betrachtete dieselbe als an sich gerichtet. Der
Sohn des gleichnamigen Mannes, der dreiſsig Jahre zuvor zu-
nächst den Gaius Gracchus gestürzt (S. 114) und später auch
als Offizier durch die Unterwerfung der Skordisker sich einen
Namen gemacht hatte (S. 163), war Drusus gleich seinem Vater
streng conservativ gesinnt und hatte in dem Aufstand des Satur-
ninus bereits seine Gesinnung thatsächlich bewährt. Er gehörte
den Kreisen des höchsten Adels an und war Besitzer eines colos-
salen Vermögens; auch der Gesinnung nach war er ein ächter
Aristokrat — ein energisch stolzer Mann, der es verschmähte
mit den Ehrenzeichen seiner Aemter sich zu behängen, aber auf
dem Todbette es aussprach, daſs nicht bald ein Bürger wie-
derkommen werde, der ihm gleich sei; ein Mann, dem das schöne
Wort, daſs der Adel verpflichtet, die Richtschnur seines Lebens
ward und blieb. Mit der ganzen ernsten Leidenschaft seines Ge-
müthes hatte er sich abgewandt von der Eitelkeit und Feilheit
des vornehmen Pöbels; zuverlässig und sittenstreng war er bei
den geringen Leuten, denen seine Thür und sein Beutel immer
offen standen, mehr geachtet als eigentlich beliebt und trotz
seiner Jugend durch die persönliche Würde seines Charakters
von Gewicht im Senat wie auf dem Markte. Auch stand er
nicht allein. Marcus Scaurus hatte den Muth bei Gelegenheit sei-
ner Vertheidigung in dem Prozeſs wegen Erpressungen den Dru-
sus öffentlich aufzufordern Hand zu legen an die Reform der
[204]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
Geschwornenordnung; er so wie der berühmte Redner Lucius
Crassus waren im Senat die eifrigsten Verfechter, vielleicht die
Miturheber seiner Anträge. Indeſs die Masse der regierenden
Aristokratie dachte keineswegs wie Drusus, Scaurus und Cras-
sus. Es fehlte im Senat nicht an entschiedenen Anhängern der
Capitalistenpartei, unter denen namentlich sich bemerklich mach-
ten der derzeitige Consul Lucius Marcius Philippus, der wie
früher die Sache der Demokratie (S. 126) so jetzt die des Rit-
terstandes mit Eifer und Klugheit verfocht, und der verwegene
und rücksichtslose Quintus Caepio, den zunächst die persönliche
Feindschaft gegen Drusus und Scaurus zur Opposition bestimm-
ten. Allein gefährlicher als diese entschiedenen Gegner war die
feige und faule Masse der Aristokratie, die zwar die Provinzen
lieber allein geplündert hätte, aber am Ende auch nicht viel da-
wider hatte, mit den Rittern die Beute zu theilen, und statt den
Ernst und die Gefahren des Kampfes gegen die übermüthigen
Capitalisten zu übernehmen es viel billiger und bequemer fand
sich von ihnen durch gute Worte und gelegentlich durch einen
Fuſsfall oder auch eine runde Summe Straflosigkeit zu erkaufen.
Nur der Erfolg konnte zeigen, wie weit es gelingen werde, diese
Masse mit fortzureiſsen, ohne die es nun einmal nicht möglich
war zum Ziele zu gelangen.
Drusus entwarf den Antrag die Geschwornenstellen den
Bürgern vom Rittercensus zu entziehen und sie dem Senat zu-
rückzugeben, welcher zugleich durch Aufnahme von 300 neuen
Mitgliedern in den Stand gesetzt werden sollte den vermehrten
Obliegenheiten zu genügen; es sollte auſserdem eine eigene Cri-
minalcommission niedergesetzt werden, um die Richter, die der
Bestechlichkeit sich schuldig gemacht hätten oder schuldig ma-
chen würden, zur Verantwortung zu ziehen. Hiemit war der
nächste Zweck erreicht die Capitalisten ihrer politischen Sonder-
rechte zu berauben und sie für die erlittene Unbill zur Verant-
wortung zu ziehen. Indeſs Drusus Anträge und Absichten be-
schränkten sich hierauf keineswegs; seine Vorschläge waren keine
Gelegenheitsmaſsregeln, sondern ein umfassender und durch-
dachter Reformplan. Er beantragte ferner die Getreideverthei-
lungen zu erhöhen und die Mehrkosten zu decken durch die
dauernde Emission einer verhältniſsmäſsigen Zahl von kupfernen
neben den silbernen Denaren, sodann das gesammte noch unver-
theilte italische Ackerland, also namentlich die campanische Do-
mäne, und den besten Theil Siciliens zur Ansiedelung von Bür-
gercolonisten zu bestimmen; endlich ging er den italischen Bun-
[205]MARIUS UND DRUSUS.
desgenossen gegenüber die bestimmtesten Verpflichtungen ein
ihnen das römische Bürgerrecht zu verschaffen. So erschienen
denn hier von aristokratischer Seite eben dieselben Herrschafts-
stützen und eben dieselben Reformgedanken, auf denen Gaius
Gracchus Verfassung beruht hatte; ein seltsames und doch sehr
begreifliches Zusammentreffen. Es war nur in der Ordnung,
daſs wie die Tyrannis gegen die Oligarchie so diese gegen die
Geldaristokratie sich stützte auf das besoldete und gewisser-
maſsen organisirte Proletariat; hatte die Regierung früher die
Ernährung des Proletariats auf Staatskosten als ein unvermeid-
liches Uebel hingenommen, so dachte Drusus jetzt an dem Pro-
letariat wenigstens für den Augenblick eine Waffe gegen die
Geldaristokratie zu finden. Es war nur in der Ordnung, daſs der
bessere Theil der Aristokratie, eben wie ehemals auf das Acker-
gesetz des Tiberius Gracchus, so jetzt bereitwillig einging auf alle
diejenigen Reformmaſsregeln, die ohne die Oberhauptsfrage zu
berühren nur darauf ausgingen die alten Schäden des Staats aus-
zuheilen. In der Emigrations- und Colonisationsfrage konnte
man zwar so weit nicht gehen wie die Demokratie, da die Herr-
schaft der Oligarchie wesentlich beruhte auf dem freien Schalten
mit den Provinzen und jedes dauernde militärische Commando
sie gefährdete; die Gedanken Italien und die Provinzen gleichzu-
stellen und jenseit der Alpen zu erobern vertrugen mit den con-
servativen Principien sich nicht. Allein die latinischen und selbst
die campanischen Domänen so wie Sicilien konnte der Senat
recht wohl aufopfern um den italischen Bauernstand zu heben,
und dennoch die Regierung nach wie vor behaupten; wobei noch
hinzukam, daſs man künftigen Agitationen nicht wirksamer vor-
beugen konnte als dadurch, daſs alles irgend verfügbare Land
von der Aristokratie selbst zur Auftheilung gebracht und künf-
tigen Demagogen, nach Drusus eigenem Ausdruck, nichts zu ver-
theilen übrig gelassen ward als der Gassenkoth und das Morgen-
roth. Ebenso war es für die Regierung, mochte dies nun ein
Monarch sein oder eine geschlossene Anzahl herrschender Fami-
lien, ziemlich einerlei, ob halb oder ganz Italien zum römischen
Bürgerverband gehörte; und es war sehr begreiflich, daſs beider-
seits die reformirenden Männer sich in dem Gedanken begeg-
neten durch zweckmäſsige und rechtzeitige Erstreckung des Bür-
gerrechts die Gefahr abzuwenden, daſs die Insurrection von Fre-
gellae in gröſserem Maſsstab wiederkehre, nebenher auch an
den zahl- und einfluſsreichen Italikern sich Bundesgenossen
für ihre Plane zu verschaffen. So scharf in der Oberhauptsfrage
[206]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
die Ansichten und Absichten der beiden groſsen politischen Par-
teien sich schieden, so vielfach berührten sich in den Operations-
mitteln und in den reformistischen Tendenzen die besten Männer
aus beiden Lagern; und wie Scipio Aemilianus ebenso unter den
Widersachern des Tiberius Gracchus wie unter den Förderern
seiner Reformbestrebungen sich befand, war auch Drusus der
Nachfolger und Schüler nicht minder als der Gegner des Gaius.
Die beiden hochgebornen und hochsinnigen jugendlichen Refor-
matoren waren sich ähnlicher als es auf den ersten Blick schien
und beide nicht unwerth über dem trüben Nebel des befangenen
Parteitreibens in reineren und höheren Anschauungen sich mit
dem Kern ihrer patriotischen Bestrebungen zu begegnen.
Es handelte sich um die Durchbringung der von Drusus
entworfenen Gesetze, von denen übrigens der Antragsteller, eben
wie Gaius Gracchus, den bedenklichen Vorschlag den italischen
Bundesgenossen das römische Bürgerrecht zu verleihen vorläufig
zurückhielt und zunächst nur das Geschwornen-, Acker- und
Getreidegesetz vorlegte. Die Capitalistenpartei widerstand aufs
Heftigste und würde bei der Unentschlossenheit des gröſsten
Theils der Aristokratie und der Haltlosigkeit der Comitien ohne
Frage die Verwerfung des Geschwornengesetzes durchgebracht
haben, wenn es allein zur Abstimmung gekommen wäre. Drusus
faſste deſshalb seine sämmtlichen Anträge in einen einzigen zu-
sammen; und indem also alle die bei den Getreide- und Land-
vertheilungen interessirten Bürger genöthigt wurden auch für das
Geschwornengesetz zu stimmen, gelang es durch sie und durch
die Italiker, welche mit Ausnahme der in ihrem Domanialbesitz
bedrohten groſsen, namentlich umbrischen und etruskischen
Grundbesitzer fest zu Drusus standen, das Gesetz durchzu-
bringen — freilich erst nachdem Drusus den Consul Philippus,
der nicht aufhörte zu widerstreben, hatte verhaften und durch
den Büttel in den Kerker abführen lassen. Das Volk feierte den
Tribun als seinen Wohlthäter und empfing ihn im Theater mit
Aufstehen und Beifallklatschen; allein der Kampf war durch die
Abstimmung nur auf einen andern Boden verlegt, da die Gegen-
partei den Antrag des Drusus mit Recht als dem Gesetz von 656
(S. 201) zuwiderlaufend und deſshalb als nichtig bezeichnen
konnte. Die Majorität des Senats, erfreut die Rittergerichte los
zu sein, wies die Aufforderung des Consuls Philippus das Ge-
setz als formwidrig zu cassiren zurück; worauf der Consul auf
offenem Markte erklärte, daſs mit einem solchen Senat zu re-
gieren nicht möglich sei und er sich nach einem andern Staats-
[207]MARIUS UND DRUSUS.
rath umsehen werde. Es schien als beabsichtige Philippus
einen Staatsstreich; der Senat, von Drusus deſswegen berufen,
sprach nach stürmischen Verhandlungen gegen den Consul ein
Tadel- und Miſstrauensvotum aus; allein im Geheimen begann
sich in einem groſsen Theil der Majorität die Angst vor einer
Revolution zu regen, mit der sowohl Philippus als ein groſser
Theil der Capitalisten zu drohen schien. Andere Umstände ka-
men hinzu. Einer der thätigsten und angesehensten unter Dru-
sus Gesinnungsgenossen, der Redner Lucius Crassus starb plötz-
lich wenige Tage nach jener Senatssitzung (Sept. 663). Die von
Drusus mit den Italikern angeknüpften Verbindungen, die er an-
fangs nur wenigen seiner Vertrautesten mitgetheilt hatte, wurden
allmählich ruchbar und in das wüthende Geschrei über Landes-
verrath, das die Gegner erhoben, stimmten nicht wenige, viel-
leicht die meisten Männer seiner Partei mit ein; selbst die edel-
müthige Warnung, die er dem Consul Philippus zukommen lieſs,
bei dem Bundesfest auf dem Albanerberg vor den von den Ita-
likern ausgesandten Mördern sich zu hüten, diente nur dazu ihn
weiter zu compromittiren, indem sie zeigte, wie tief er ver-
wickelt war in die unter den Italikern gährenden Verschwörun-
gen. Immer heftiger drängte Philippus auf Cassation des livi-
schen Gesetzes; immer lauer ward die Majorität in der Verthei-
digung desselben. Bald erschien der Status quo ante der groſsen
Menge der Furchtsamen und Unentschiedenen im Senat als der
einzige Ausweg. Der Cassationsbeschluſs wegen formeller Mängel
erfolgte also; Drusus, nach seiner Art streng sich bescheidend,
begnügte sich daran zu erinnern, daſs der Senat also selbst die
verhaſsten Rittergerichte wieder herstelle, und begab sich seines
Rechtes den Cassationsbeschluſs durch Intercession ungültig zu
machen. Der Angriff des Senats auf die Capitalistenpartei war
vollständig abgeschlagen und willig oder unwillig fügte man sich
abermals in das bisherige Joch. Aber die hohe Finanz begnügte
sich nicht gesiegt zu haben. Als Drusus eines Abends auf seiner
Hausflur eben die wie gewöhnlich ihn geleitende Menge verab-
schieden wollte, stürzte er plötzlich vor dem Bilde seines Vaters
zusammen; eine Mörderhand hatte ihn getroffen, und so sicher,
daſs er wenige Stunden darauf den Geist aufgab. Der Thäter
war in der Abenddämmerung verschwunden, ohne daſs Jemand
ihn erkannt hatte und eine gerichtliche Untersuchung fand nicht
statt; aber es brauchte derselben nicht, um hier jenen Dolch zu
erkennen, mit dem die Aristokratie sich selber zerfleischte. Das-
selbe gewaltsame und grauenvolle Ende, das die demokratischen
[208]VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
Reformatoren weggerafft hatte, war auch dem Gracchus der Ari-
stokratie bestimmt; es lag darin eine tiefe und traurige Lehre.
An dem Widerstand oder an der Schwäche der Aristokratie schei-
terte die Reform, selbst wenn der Versuch zu reformiren aus ihren
eigenen Reihen hervorging. Seine Kraft und sein Leben hatte
Drusus daran gesetzt die Kaufmannsherrschaft zu stürzen, die
Emigration zu organisiren, den drohenden Bürgerkrieg abzu-
wenden; er sah noch selbst die Kaufleute unumschränkter regie-
ren als je, sah alle seine Reformgedanken vereitelt und starb mit
dem Bewuſstsein, daſs sein jäher Tod das Signal zu dem fürch-
terlichsten Bürgerkrieg sein werde, der je das schöne italische
Land verheert hat.
[[209]]
KAPITEL VII.
Die Empörung der italischen Unterthanen und die
sulpicische Revolution.
Fast zweihundert Jahre hatte jetzt das römische Principat
in Italien bestanden, ohne daſs es selbst unter den gefährlich-
sten Verhältnissen ein einziges Mal in seiner Grundlage ge-
schwankt hätte, seitdem mit Pyrrhos Ueberwindung der letzte
Krieg, den die Italiker für ihre Unabhängigkeit geführt hatten,
zu Ende gegangen war. Vergeblich hatte das Heldengeschlecht
der Barkiden, vergeblich die Nachfolger des groſsen Alexander
und der Achämeniden versucht die italische Nation zum Kampf
aufzurütteln gegen die übermächtige Hauptstadt; gehorsam war
dieselbe auf den Schlachtfeldern am Guadalquivir und an der
Medscherda, am Tempepaſs und am Sipylos erschienen und hatte
mit dem besten Blute ihrer Jugend ihren Herren die Unterthänig-
keit dreier Welttheile erfechten helfen. Ihre eigene Stellung in-
dessen hatte sich wohl verändert, aber eher verschlechtert als
verbessert. In materieller Hinsicht hatte sie sich im Allgemei-
nen nicht zu beklagen. Zwar der kleine und der mittlere Grund-
besitzer litt durch ganz Italien in Folge der unverständigen rö-
mischen Korngesetzgebung; aber die gröſseren Gutsbesitzer ge-
diehen und mehr noch der Kaufmanns- und Capitalistenstand,
da die Italiker hinsichtlich der finanziellen Ausbeutung der Pro-
vinzen im Wesentlichen denselben Schutz und dieselben Vor-
rechte genossen wie die römischen Bürger, so daſs die materiel-
len Vortheile des politischen Uebergewichts der Römer groſsen-
theils auch den Italikern zu Gute kamen. Ueberhaupt hing die
Röm. Gesch. II. 14
[210]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Verschiedenheit der wirthschaftlichen und socialen Zustände Ita-
liens nicht wesentlich ab von den politischen Unterschieden; es
gab vorzugsweise bundesgenössische Landschaften, wie Etrurien
und Umbrien, in denen der freie Bauernstand verschwunden,
andere, wie die Abruzzenthäler, in denen derselbe noch leidlich
und zum Theil fast unberührt erhalten war — ähnlich wie sich
die gleichen Unterschiede auch in der römischen Bürgerschaft
nachweisen lassen. Dagegen entwickelte der politische Gegensatz
sich in immer herberer, immer schrofferer Gestalt. Wohl fand
ein förmlicher unverhüllter Rechtsbruch wenigstens in Haupt-
fragen nicht statt. Die Communalfreiheit, welche unter dem Na-
men der Souveränetät den italischen Gemeinden vertragsmäſsig
zustand, wurde im Ganzen respectirt und auch den Angriff, der
im Anfang der agrarischen Bewegung auf die den besser gestell-
ten Gemeinden verbrieften römischen Domänen von der Re-
formpartei gemacht ward, hatte nicht bloſs die römische Re-
gierung zurückgewiesen, sondern auch die Opposition selbst
sehr bald aufgegeben. Allein die Rechte, welche Rom als der
führenden Gemeinde zustanden und zustehen muſsten, die
oberste Leitung des Kriegswesens und die Oberaufsicht über die
gesammte Verwaltung, wurden in einer Weise ausgeübt, die fast
ebenso schlimm war, als wenn man die Bundesgenossen geradezu
für rechtlose Unterthanen erklärt hätte. Die zahlreichen Milde-
rungen des furchtbar strengen römischen Kriegsrechts, welche
im Laufe des siebenten Jahrhunderts in Rom eingeführt wurden,
scheinen sämmtlich auf die römischen Bürgersoldaten beschränkt
geblieben zu sein; von der wichtigsten, der Abschaffung der stand-
rechtlichen Hinrichtungen (S. 101), ist dies gewiſs und der Ein-
druck leicht zu ermessen, wenn, wie dies im jugurthinischen Krieg
geschah, angesehene latinische Offiziere nach Urtheil des römischen
Kriegsraths enthauptet wurden, dem letzten Bürgersoldaten aber
im gleichen Fall das Recht zustand an die bürgerlichen Gerichte
Roms zu provociren. In welchem Verhältniſs die Bürger und die
italischen Bundesgenossen zum Kriegsdienst angezogen werden
sollten, war vertragsmäſsig wie billig unbestimmt geblieben; allein
während in früherer Zeit beide durchschnittlich die gleiche Zahl
Soldaten gestellt hatten (I, 283), wurden jetzt, obwohl das Bevöl-
kerungsverhältniſs wahrscheinlich eher zu Gunsten als zum Nach-
theil der Bürgerschaft sich verändert hatte, die Forderungen an die
Bundesgenossen allmählich unverhältniſsmäſsig gesteigert (I, 612),
so daſs man ihnen theils den schwereren und kostbareren Dienst
vorzugsweise aufbürdete, theils jetzt regelmäſsig auf einen Bürger
[211]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
zwei Bundesgenossen aushob. Aehnlich wie die militärische Ober-
leitung wurde die bürgerliche Oberaufsicht, welche mit Einschluſs
der davon kaum zu trennenden obersten Administrativjurisdiction
die römische Regierung stets und mit Recht über die abhängigen
italischen Gemeinden sich vorbehalten hatte, in einer Weise aus-
gedehnt, daſs die Italiker fast nicht minder als die Provinzialen
sich der Willkür eines jeden der zahllosen römischen Beamten
schutzlos preisgegeben sahen. In Teanum Sidicinum, einer der
angesehensten Bundesstädte, hatte ein Consul den Bürgermeister
der Stadt an dem Schandpfahl auf dem Markt mit Ruthen stäu-
pen lassen, weil seiner Gemahlin, die in dem Männerbad zu ba-
den verlangte, die Municipalbeamten nicht schleunig genug die
Badenden ausgetrieben hatten und ihr das Bad nicht sauber er-
schienen war. Aehnliche Auftritte waren in Ferentinum, gleich-
falls einer Stadt besten Rechts, ja in der alten und wichtigen la-
tinischen Colonie Cales vorgefallen. In der latinischen Colonie
Venusia war ein freier Bauersmann von einem durchpassirenden
jungen amtlosen römischen Diplomaten wegen eines Spaſses, den
er sich über dessen Sänfte erlaubt hatte, angehalten, niederge-
worfen und mit den Tragriemen der Sänfte zu Tode gepeitscht
worden. Dieser Vorfälle wird um die Zeit des fregellanischen
Aufstandes gelegentlich gedacht; es leidet keinen Zweifel, daſs
ähnliche Unrechtfertigkeiten häufig vorkamen und ebenso wenig,
daſs eine ernstliche Genugthuung für solche Missethaten nir-
gends zu erlangen war, wogegen das nicht leicht ungestraft
verletzte Provocationsrecht wenigstens Leib und Leben des rö-
mischen Bürgers einigermaſsen schützte. Es konnte nicht feh-
len, daſs in Folge dieser Behandlung der Italiker seitens der rö-
mischen Regierung die Spannung, welche die Weisheit der
Ahnen zwischen den latinischen und den sonstigen italischen
Gemeinden sorgfältig unterhalten hatte, wenn nicht verschwand,
so doch nachlieſs. Die Zwingburgen Roms und die durch die
Zwingburgen in Gehorsam erhaltenen Landschaften lebten jetzt
unter dem gleichen Druck; der Latiner konnte den Picenter daran
erinnern, daſs sie beide in gleicher Weise ‚den Beilen unterwor-
fen‘ seien; die Vögte und die Knechte von ehemals vereinigte
jetzt der gemeinsame Haſs gegen den gemeinsamen Zwingherrn.
— Wenn also der gegenwärtige Zustand der italischen Bundes-
genossen aus einem leidlichen Abhängigkeitsverhältniſs umge-
schlagen war in die drückendste Knechtschaft, so war zugleich
denselben jede Aussicht auf Erlangung besseren Rechts benom-
men worden. Schon mit der Unterwerfung Italiens hatte die rö-
14*
[212]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
mische Bürgerschaft sich abgeschlossen und die Ertheilung des
Bürgerrechts an ganze Gemeinden vollständig aufgegeben, die an
einzelne Personen sehr beschränkt (I, 609). Selbst das altlati-
nische Recht der vollen Freizügigkeit, die dem nach Rom über-
siedelnden latinischen Bürger daselbst das Passivbürgerrrecht
gewährte, war den betreffenden Communen in verletzender Weise
verkürzt worden (I, 610. 611). Jetzt ging man noch einen
Schritt weiter: bei Gelegenheit der die Erstreckung des römischen
Bürgerrechts auf ganz Italien bezweckenden Agitation in den
J. 628. 632 griff man das Uebersiedlungsrecht selbst an und
wies geradezu die sämmtlichen in Rom sich aufhaltenden Nicht-
bürger durch Volks- und Senatschluſs aus der Hauptstadt aus
(S. 96. 113); eine ebenso durch ihre Illiberalität gehässige als
durch die vielfach verletzten Privatinteressen gefährliche Maſs-
regel. Kurz, wenn die italischen Bundesgenossen zu den Römern
früher gestanden hatten theils als bevormundete Brüder, die
mehr beschützt als beherrscht und nicht zu ewiger Unmündig-
keit bestimmt waren, theils als leidlich gehaltene und der Hoff-
nung auf die Freilassung nicht völlig beraubte Knechte, so stan-
den sie jetzt sämmtlich ungefähr in gleicher Unterthänigkeit und
gleicher Hoffnungslosigkeit unter den Ruthen und Beilen ihrer
Zwingherrn und durften höchstens als bevorrechtete Knechte sich
es herausnehmen die von den Herren empfangenen Fuſstritte an
die armen Provinzialen weiter zu geben.
Es liegt in der Natur solcher Zerwürfnisse, daſs sie anfangs,
zurückgehalten durch das Gefühl der nationalen Einheit und die
Erinnerung gemeinschaftlich überdauerter Gefahr, leise und
gleichsam bescheiden auftreten, bis allmählich der Riſs sich er-
weitert und einerseits die Tyrannei, andrerseits der Groll un-
verholen sich offenbart. Bis zu der Empörung und Schleifung
von Fregellae im J. 629, die gleichsam officiell den veränderten
Charakter der römischen Herrschaft constatirte, trug die Gährung
unter den Italikern nicht eigentlich einen revolutionären Charakter.
Das Begehren nach Gleichberechtigung hatte allmählich sich gestei-
gert von stillem Wunsch zur lauten Bitte, um nur desto entschie-
dener, je bestimmter es auftrat, abgewiesen zu werden. Sehr bald
konnte man erkennen, daſs eine gutwillige Gewährung nicht zu hof-
fen sei und der Wunsch das Verweigerte zu ertrotzen wird nicht
gefehlt haben; allein bei Roms damaliger Stellung fehlte die Mög-
lichkeit ihn zu verwirklichen. Obwohl das Zahlenverhältniſs der
Bürger und Nichtbürger in Italien sich nicht genau ermitteln
läſst, so kann es doch als ausgemacht gelten, daſs die Zahl der
[213]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
Bürger geringer war als die der italischen Bundesgenossen und
auf ungefähr 400000 Bürger mindestens 500000 wahrscheinlich
600000 Bundesgenossen kamen*. Indeſs konnte bei einem
solchen Verhältniſs, so lange die Bürgerschaft einig und kein
nennenswerther äuſserer Feind vorhanden war, die in eine Un-
zahl einzelner Stadt- und Gaugemeinden zersplitterte und durch
tausendfache öffentliche und Privatverhältnisse mit Rom ver-
knüpfte italische Bundesgenossenschaft zu einem gemeinschaft-
lichen Handeln nimmermehr gelangen und mit mäſsiger Klug-
heit es der Regierung nicht fehlen die schwierigen und grollen-
den Unterthanenschaften theils durch die compacte Masse der
Bürgerschaft, theils durch die sehr ansehnlichen Hülfsmittel, die
die Provinzen darboten, theils eine Gemeinde durch die andere
zu beherrschen. Darum verhielten die Italiker sich ruhig, bis die
Revolution begann Rom zu erschüttern; so wie aber diese aus-
gebrochen war, griffen auch sie ein in das Treiben und Wogen
der römischen Parteien, um durch die eine oder die andere die
Gleichberechtigung zu erlangen. Sie hatten gemeinschaftliche
Sache gemacht erst mit der Volks-, sodann mit der Senatspartei
und bei beiden gleich wenig erreicht. Sie hatten sich überzeu-
gen müssen, daſs zwar die besten Männer beider Parteien die
Gerechtigkeit und Billigkeit ihrer Forderungen anerkannten, daſs
aber diese besten Männer, Aristokraten wie Populare, gleich we-
nig bei der Masse ihrer Partei diesen Forderungen Gehör zu ver-
schaffen vermochten. Sie hatten es mit angesehen, wie die be-
gabtesten, energischsten, gefeiertsten Staatsmänner in demselben
Augenblick, wo sie als Sachwalter der Italiker auftraten, sich von
[214]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
ihrer eigenen Partei verlassen gefunden hatten und deſshalb ge-
stürzt worden waren. In all den Wechselfällen der dreiſsigjäh-
rigen Revolution und Restauration waren Regierungen genug
ein- und abgesetzt worden, aber wie auch die Principien wandel-
bar sein mochten, die kurzsichtige Engherzigkeit saſs ewig am
Steuer. Es war längst zu sehen, daſs die Italiker vergeblich die
Berücksichtigung ihrer Ansprüche von den römischen Parteien
erwarteten; aber die letzten Jahre hatten dies mit so leidiger Klar-
heit herausgestellt, daſs jede Illusion weichen muſste. Lange hat-
ten sich die Begehren der Italiker gemischt mit denen der Revo-
lutionspartei und waren gescheitert an dem Unverstand der Mas-
sen; es konnte scheinen, als sei die Oligarchie nur den Antrag-
stellern, nicht dem Antrag selbst feindlich gesinnt gewesen, als
sei jetzt, wo sie wieder fast unbeschränkt regierte, noch eine
Möglichkeit vorhanden, daſs der intelligentere Senat die mit dem
Wesen der Oligarchie verträgliche und dem Staat heilsame Maſs-
regel seinerseits aufnehmen werde. Allein statt dessen erging im
J. 659 ein consularisches Gesetz, das den Nichtbürgern aufs
strengste untersagte des Bürgerrechts sich anzumaſsen und den
Contravenienten mit Untersuchung und Strafe bedrohte — ein
Gesetz, das eine groſse Anzahl der angesehensten und bei der
Gleichberechtigungsfrage am meisten interessirten Personen aus
den Reihen der Römer in die der Italiker zurückwarf und das
in seiner juristischen Unanfechtbarkeit und staaatsmännischen
Wahnwitzigkeit vollkommen auf einer Linie steht mit jener be-
rühmten Acte, welche den Grund legte zur Trennung Nordame-
rikas vom Mutterland, und denn auch eben wie diese die nächste
Ursache des Bürgerkrieges ward. Es war nur um so schlimmer,
daſs die Urheber dieses Gesetzes keineswegs zu den verstockten
und unverbesserlichen Optimaten gehörten, sondern keine an-
deren waren als der kluge allgemein verehrte Quintus Scaevola,
der freilich wie Georg Grenville von der Natur zum Rechtsge-
lehrten und vom Verhängniſs zum Staatsmann bestimmt war,
und durch seine ebenso ehrenwerthe als schädliche Redlichkeit
erst den Krieg zwischen Senat und Rittern und dann den zwi-
schen Römern und Italikern mehr als irgend ein Zweiter ent-
zünden half, und der Redner Lucius Crassus, der Freund und
Bundesgenosse des Drusus und überhaupt einer der gemäſsigt-
sten und einsichtigsten Optimaten. Inmitten der heftigen Gäh-
rung, die dies Gesetz und die daraus entstandenen zahlreichen
Prozesse in ganz Italien hervorriefen, schien den Italikern noch
einmal der Stern der Hoffnung aufzugehen in Marcus Drusus.
[215]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
Was fast unmöglich geschienen hatte, daſs ein Conservativer die
reformatorischen Gedanken der Gracchen aufzunehmen und die
Gleichberechtigung der Italiker durchzufechten sich entschlieſse,
war nun dennoch eingetreten; ein hocharistokratischer Mann
hatte sich entschlossen zugleich die Regierung und die Italiker
zu emancipiren und all seinen ernsten Eifer, all seine zuverlässige
Hingebung an diese hochherzigen Reformpläne zu setzen. Es
blieb nicht bei allgemeinen Verheiſsungen; er trat, wenn die Be-
richte nicht täuschen, an die Spitze eines Geheimbundes, dessen
Fäden durch ganz Italien liefen und dessen Mitglieder sich eid-
lich* verpflichteten zusammenzustehen für Drusus und die ge-
meinschaftliche Sache. Jubelnd vernahm man in Italien, daſs
Drusus an der Spitze des Senats seine ersten Anträge durchge-
setzt habe; mit noch gröſserem Jubel feierten alle Gemeinden
Italiens nicht lange darauf die Genesung des plötzlich schwer er-
krankten Tribuns. Aber wie Drusus weitere Absichten sich ent-
hüllten, wechselten die Dinge; er konnte nicht wagen den zuge-
sagten Antrag einzubringen; er muſste verschieben, muſste zö-
gern, muſste bald zurückweichen. Man vernahm, daſs die Majo-
rität des Senats anfange unsicher zu werden und von ihrem
Führer abzufallen drohe; in rascher Folge lief durch die Gemein-
den Italiens die Kunde, daſs das durchgebrachte Gesetz cassirt
sei, daſs die Capitalisten unumschränkter schalteten als je, daſs
der Tribun von Mörderhand getroffen, daſs er todt sei (Herbst 663).
Die letzte Hoffnung durch Vertrag die Aufnahme in den rö-
mischen Bürgerverband zu erlangen ward mit Marcus Drusus den
[216]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Italikern zu Grabe getragen. Wozu dieser conservative und ener-
gische Mann unter den günstigsten Verhältnissen seine eigene
Partei nicht hatte bestimmen können, dazu war überhaupt auf
dem Wege der Güte nicht zu gelangen. Den Italikern blieb nur
die Wahl entweder geduldig sich zu fügen oder den Versuch, der
vor fünfunddreiſsig Jahren durch die Zerstörung von Fregellae
im Keim erstickt worden war, noch einmal wo möglich mit
gesammter Hand zu wiederholen und mit den Waffen sei es Rom
zu vernichten und zu beerben, sei es wenigstens die Gleichbe-
rechtigung mit Rom zu erobern. Es war dieser letztere Ent-
schluſs freilich ein Entschluſs der Verzweiflung; wie die Sachen
lagen, mochte die Auflehnung der einzelnen Stadtgemeinden
gegen die römische Regierung gar leicht noch hoffnungsloser
erscheinen als der Aufstand der amerikanischen Pflanzstädte
gegen das brittische Imperium; mit mäſsiger Aufmerksamkeit
und Thatkraft konnte allem Anschein nach die römische Regie-
rung dieser zweiten Schilderhebung das Schicksal der früheren
bereiten. Allein war es etwa minder ein Entschluſs der Ver-
zweiflung, wenn man stillsaſs und die Dinge über sich kom-
men lieſs? Wenn man sich erinnerte, wie die Römer un-
gereizt in Italien zu hausen gewohnt waren, was war jetzt zu
erwarten, wo die angesehensten Männer in jeder italischen
Stadt mit Drusus in einem Einverständniſs gestanden hatten,
das geradezu gegen die jetzt siegreiche Partei gerichtet und
sehr leicht als Hochverrath zu qualificiren war? Allen denen,
die an diesem Geheimbund Theil gehabt, ja allen die nur der
Theilhaberschaft verdächtigt werden konnten, blieb keine an-
dere Wahl als den Krieg zu beginnen oder ihren Nacken unter
das Henkerbeil zu beugen. Es kam hinzu, daſs für eine allge-
meine Schilderhebung durch ganz Italien der gegenwärtige Augen-
blick noch die günstigsten Aussichten darbot. Wir sind nicht
genau darüber unterrichtet, in wie weit die Römer die Sprengung
der gröſseren italischen Eidgenossenschaften durchgeführt hat-
ten; es ist nicht unwahrscheinlich, daſs die Marser, die Paeligner,
vielleicht sogar die Samniten und Lucaner als Gemeindebünde,
wenn auch mit stark geschmälerten Rechten, noch damals fort-
bestanden. Die beginnende Insurrection fand noch an diesen Mas-
sen einen Stützpunct; wer aber mochte dafür bürgen, wie bald die
Römer eben darum dazu schritten diese gröſseren Verbände zu
sprengen? Der Geheimbund ferner, an dessen Spitze Drusus
gestanden, hatte sein Haupt verloren, aber er bestand und ge-
währte für die politische Organisation des Aufstandes einen
[217]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
schätzbaren Anhalt, während die militärische daran anknüpfen
konnte, daſs jede Bundesstadt ihr eigenes Heerwesen und er-
probte Soldaten besaſs. Andrerseits war man in Rom auf nichts
ernstlich gefaſst. Man vernahm wohl davon, daſs unruhige Be-
wegungen in Italien stattfänden und die bundesgenössischen Ge-
meinden mit einander in einem auffallenden Verkehr ständen;
aber statt schleunigst die Bürger unter die Waffen zu rufen, be-
gnügte das regierende Collegium sich damit in herkömmlicher
Art die Beamten zur Wachsamkeit zu ermahnen und Spione aus-
zusenden um etwas Genaueres zu erfahren. Die Hauptstadt war
so völlig unvertheidigt, daſs ein entschlossener marsischer Offi-
zier Quintus Pompaedius Silo, einer von den vertrautesten Freun-
den des Drusus, den Plan entworfen haben soll sich an der Spitze
einer Schaar zuverlässiger mit Schwertern unter den Gewändern
bewaffneter Männer in dieselbe einzuschleichen und durch einen
Handstreich derselben sich zu bemächtigen. Ein Aufstand berei-
tete sich vor; Verträge wurden geschlossen, die Rüstungen still
und thätig betrieben, bis endlich wie gewöhnlich die Insurrection
noch etwas früher, als die leitenden Männer beabsichtigt hatten,
durch einen Zufall zum Ausbruch kam. Der römische Praetor
mit proconsularischer Gewalt Gaius Servilius, durch seine Kund-
schafter davon benachrichtigt, daſs die Stadt Asculum (Ascoli)
in den Abruzzen an die Nachbargemeinden Geiſseln sende, begab
sich mit seinem Legaten Fonteius und wenigem Gefolge dorthin
und richtete an die eben zur Feier der groſsen Spiele im Theater
versammelte Menge eine donnernde Drohrede. Der Anblick der
nur zu bekannten Beile, die Verkündigung der nur zu ernst ge-
meinten Drohungen warf den Funken in den seit Jahrhunderten
aufgehäuften Zunder des erbitterten Hasses; die römischen Be-
amten wurden im Theater selbst von der Menge zerrissen und
sofort, gleich als gelte es durch einen furchtbaren Frevel jede
Brücke der Versöhnung abzubrechen, die Thore auf Befehl der
Obrigkeit geschlossen, die sämmtlichen in Asculum verweilenden
Römer niedergemacht und ihre Habe geplündert. Wie die Flamme
durch die Steppe lief die Empörung durch die Halbinsel. Voran
ging das tapfere und zahlreiche Volk der Marser in Verbindung
mit den kleinen aber kernigen Eidgenossenschaften in den Abruz-
zen, den Paelignern, Marrucinern, Frentanern und Vestinern; der
schon genannte tapfere und kluge Quintus Silo war hier die
Seele der Bewegung. Von den Marsern wurde zuerst den Rö-
mern förmlich abgesagt, wonach späterhin dem Krieg der Name
des marsischen blieb. Dem gegebenen Beispiel folgten zahl-
[218]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
reiche Gemeinden vom Liris und den Abruzzen bis hinab nach
Calabrien und Apulien; so daſs bald in ganz Mittel- und Süd-
italien gerüstet ward gegen Rom. Die Etrusker und Umbrer da-
gegen hielten zu Rom, wie sie bereits früher mit den Rittern
zusammengehalten hatten gegen Drusus (S. 206). Es ist be-
zeichnend, daſs in diesen Landschaften seit alten Zeiten die
Grund- und Geldaristokratie übermächtig und der Mittelstand
gänzlich verschwunden war, wogegen in und an den Abruzzen der
Bauernstand sich reiner und frischer als irgendwo sonst in Italien
bewahrt hatte; der Bauern- und überhaupt der Mittelstand also war
es, aus dem der Aufstand wesentlich hervorging, wogegen die
municipale Aristokratie auch jetzt noch Hand in Hand ging mit
der hauptstädtischen Regierung. Danach ist es auch leicht er-
klärlich, daſs in den aufständischen Districten einzelne Gemein-
den und in den aufständischen Gemeinden Minoritäten festhielten
an dem römischen Bündniſs; wie zum Beispiel die Vestinerstadt
Pinna für Rom eine schwere Belagerung aushielt und ein im Hir-
pinerland gebildetes Loyalistencorps unter Minatius Magius von
Aeclanum die römischen Operationen in Campanien unterstützte.
Endlich hielten fest an Rom die am besten gestellten bundesge-
nössischen Gemeinden, in Campanien Nola und Nuceria und die
griechischen Seestädte Neapolis und Rhegion, deſsgleichen wenig-
stens die meisten latinischen Colonien, wie zum Beispiel Alba
und Aesernia — eben wie im hannibalischen Kriege die latini-
schen und die griechischen Städte im Ganzen für, die sabelli-
schen gegen Rom Partei genommen hatten. Die Vorfahren hatten
Italiens Beherrschung auf die aristokratische Gliederung gegrün-
det und mit geschickter Abstufung der Abhängigkeiten die schlech-
ter gestellten Gemeinden durch die besseren Rechts, innerhalb
jeder Gemeinde aber die Bürgerschaft durch die Municipalaristo-
kratie in Unterthänigkeit gehalten. Der wohlgefügte Bau erwies
sich auch in dieser Sturmfluth als noch keineswegs verfallen; erst
jetzt unter dem unvergleichlich schlechten Regiment der Oligar-
chie erprobte es sich vollständig, wie fest und gewaltig die Staats-
männer des vierten und fünften Jahrhunderts ihre Werksteine
in einander gefugt hatten. Freilich war damit, daſs diese besser
gestellten Städte nicht auf den ersten Stoſs von Rom lieſsen,
noch keineswegs gesagt, daſs sie auch jetzt, wie im hannibali-
schen Kriege, auf die Länge und nach schweren Niederlagen
Roms ausdauern würden, ohne in ihrer Treue zu schwanken; die
Feuerprobe war noch nicht überstanden.
Das erste Blut war also geflossen und Italien in zwei groſse
[219]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
Heerlager auseinandergetreten. Zwar fehlte, wie wir sahen, noch
gar viel an einer allgemeinen Schilderhebung der italischen Bun-
desgenossenschaft; dennoch hatte die Insurrection eine viel-
leicht die Hoffnungen der Führer selbst übertreffende Ausdeh-
nung gewonnen und die Insurgenten konnten ohne Uebermuth
daran denken der römischen Regierung ein billiges Abkommen
anzubieten. Sie sandten Boten nach Rom und machten sich an-
heischig gegen Aufnahme in den Bürgerverband die Waffen nie-
derzulegen; es war vergebens. Der Gemeinsinn, der so lange in
Rom vermiſst worden war, schien plötzlich wiedergekehrt zu sein,
nun es sich darum handelte einem gerechten und jetzt auch mit
ansehnlicher Macht unterstützten Begehren mit starrer Bornirt-
heit in den Weg zu treten. Die nächste Folge der italischen In-
surrection war ähnlich wie nach den Niederlagen, die die Regie-
rungspolitik in Africa und Gallien erlitten hatte (S. 139. 171),
die Eröffnung eines Prozeſskrieges, mittelst dessen die Richterari-
stokratie Rache nahm an denjenigen Männern der Regierung,
in denen man mit Recht oder Unrecht die nächste Ursache die-
ser Miſsgeschicke sah. Auf den Antrag des Tribuns Quintus Va-
rius ward trotz des Widerstandes der Optimaten und der tribu-
nicischen Intercession eine besondere Hochverrathscommission,
natürlich aus dem mit offener Gewalt für diesen Antrag kämpfen-
den Ritterstand, niedergesetzt zur Untersuchung der auch in
Rom weitverzweigten Verschwörung des Drusus und seiner Ge-
nossen, aus der die Insurrection hervorgegangen war und die
jetzt, da halb Italien in Waffen stand, der gesammten erbitterten
und erschreckten Bürgerschaft als unzweifelhafter Hochverrath
erschien. Die Urtheile dieser Commission räumten stark auf
in den Reihen der senatorischen Vermittlungspartei; unter an-
dern namhaften Männern ward Drusus genauer Freund, der
junge talentvolle Gaius Cotta in die Verbannung gesandt und mit
Mühe entging der greise Marcus Scaurus dem gleichen Schicksal.
Der Verdacht gegen die den Reformen des Drusus geneigten Sena-
toren ging so weit, daſs bald nachher der Consul Lupus aus dem
Lager an den Senat berichtete über die Verbindungen, die zwischen
den Optimaten in seinem Lager und dem Feinde beständig unter-
halten würden; ein Verdacht, der sich freilich bald durch das
Aufgreifen marsischer Spione als unbegründet auswies. Insofern
konnte der König Mithradates nicht mit Unrecht sagen, daſs
der Hader der Factionen ärger als der Bundesgenossenkrieg selbst
den römischen Staat zerrütte. Zunächst indeſs stellte der Aus-
bruch der Insurrection und der Terrorismus, den die Hochver-
[220]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
rathscommission übte, wenigstens einen Schein her von Einig-
keit und Kraft. Für den Augenblick schwiegen die Parteifehden;
die fähigen Offiziere aller Parteien, Demokraten wie Gaius Marius,
Aristokraten wie Lucius Sulla, Freunde des Drusus wie Publius
Sulpicius Rufus stellten sich der Regierung zur Verfügung; die
Getreidevertheilungen wurden, wie es scheint um diese Zeit, durch
Volksbeschluſs wesentlich beschränkt um die finanziellen Kräfte
des Staates für den Krieg disponibel zu halten, was um so noth-
wendiger war, als bei der drohenden Stellung des Königs Mithra-
dates die Provinz Asia jeden Augenblick in Feindeshand gerathen
und damit eine der Hauptquellen des römischen Schatzes ver-
siegen konnte; die Gerichte stellten mit Ausnahme der Hochver-
rathscommission nach Beschluſs des Senats vorläufig ihre Thä-
tigkeit ein; alle Geschäfte stockten und man dachte an nichts als
an Aushebung von Soldaten und Anfertigung von Waffen. —
Während also der führende Staat in Voraussicht des bevorstehen-
den schweren Krieges sich straffer zusammennahm, hatten die
Insurgenten die schwierigere Aufgabe zu lösen sich während des
Kampfes politisch zu organisiren. Im Gebiet der Paeligner, das
in der Mitte der marsischen, samnitischen, marrucinischen und
vestinischen Gaue im Herzen der insurgirten Landschaften lag,
ward die Stadt Corfinium in der schönen Ebene unweit des Pe-
scarafluſses auserlesen zum Gegen-Rom oder zur Stadt Italia,
deren Bürgerrecht den Bürgern sämmtlicher insurgirter Gemein-
den ertheilt ward; hier wurden in entsprechender Gröſse Markt
und Rathhaus abgesteckt. Ein Senat von fünfhundert Mitgliedern
erhielt den Auftrag die Verfassung festzustellen und die Ober-
leitung des Kriegswesens. Nach seiner Anordnung erlas die Bür-
gerschaft aus den Männern senatorischen Ranges zwei Consuln
und zwölf Praetoren, die eben wie Roms zwei Consuln und sechs
Praetoren die höchste Amtsgewalt in Krieg und Frieden über-
nahmen. Die lateinische Sprache, die damals schon bei den Mar-
sern und Picentern die landübliche war, blieb in officiellem Ge-
brauch, aber es trat ihr die samnitische als die im südlichen Ita-
lien vorherrschende gleichberechtigt zur Seite und beider bediente
man sich abwechselnd auf den Münzen, die man nach römischen
Mustern und nach römischem Fuſs zu schlagen anfing. Es geht
aus diesen Bestimmungen hervor, was sich freilich schon von
selbst versteht, daſs die Italiker jetzt nicht mehr Gleichberech-
tigung mit den Römern zu erstreiten, sondern diese zu vernichten
oder zu unterwerfen und einen eigenen Staat zu bilden gedachten.
Aber es geht daraus auch hervor, daſs ihre Verfassung nichts
[221]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
war als ein reiner Abklatsch der römischen oder, was dasselbe
ist, eine abermalige Wiederholung der ganz Italien gemeinsamen
Politie: eine Stadtordnung statt einer Staatsconstitution, mit
Urversammlungen von gleicher Unbehülflichkeit und Nichtigkeit
wie die römischen Comitien es waren, mit einem regierenden
Collegium, das dieselben Elemente der Oligarchie in sich trägt
wie der römische Senat, mit einer in gleicher Art durch eine
Vielzahl concurrirender höchster Beamten ausgeübten Executive
— es geht diese Nachbildung bis in das kleinste Detail hinab,
wie zum Beispiel der Consul- oder Praetortitel des höchstcom-
mandirenden Magistrats nach einem Siege auch von dem Feld-
herrn der Italiker vertauscht wird mit dem Titel Imperator. Es
ändert sich eben nichts als der Name, ganz wie auf dem Münzen
der Insurgenten dasselbe Götterbild erscheint und nur die Bei-
schrift nicht Roma sondern Italia lautet. Nur darin unterscheidet
nicht zu seinem Vortheil sich dies Insurgenten-Rom von dem
ursprünglichen, daſs das letztere denn doch eine städtische Ent-
wickelung gehabt und seine unnatürliche Zwischenstellung zwi-
schen Stadt und Staat wenigstens auf natürlichem Wege sich ge-
bildet hatte, wogegen das neue Italia gar nichts war als der Con-
greſsplatz der Insurgenten und durch eine reine Legalfiction die
Bewohner der Halbinsel zu Bürgern dieser neuen Hauptstadt ge-
stempelt wurden. Bezeichnend aber ist es, daſs hier, wo die plötz-
liche Verschmelzung einer Anzahl einzelner Gemeinden zu einer
neuen politischen Einheit den Gedanken einer Repräsentativver-
fassung im modernen Sinn so nahe legte, doch von einer sol-
chen keine Spur, ja das Gegentheil sich zeigt* und nur die com-
munale Organisation in einer noch unnatürlicheren Weise als bis-
her reproducirt wird. Vielleicht nirgends zeigt es sich so deut-
lich wie hier, daſs dem Alterthum die freie Verfassung unzer-
trennlich ist von dem Auftreten des souveränen Volkes in eigener
[222]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Person in den Urversammlungen oder von der Stadt, und daſs
der groſse Gedanke die Volkssouveränetät auszudrücken durch
eine Repräsentantenversammlung, dieser Gedanke, ohne den der
freie Staat ein Unding wäre, ganz und vollkommen modern ist.
Selbst die italischen freien Städte, obwohl sie in den gewisser-
maſsen repräsentativen Senaten und in dem Zurücktreten der
Comitien dem freien Staat sich nähern, haben doch weder als
Rom noch als Italia jemals die Grenzlinie zu überschreiten ver-
mocht.
So begann wenige Monate nach Drusus Tode im Winter
663/4 der Kampf, wie eine der Insurgentenmünzen ihn darstellt,
des sabellischen Stiers gegen die römische Wölfin. Beiderseits
rüstete man eifrig; in Italia wurden groſse Vorräthe an Waffen,
Zufuhr und Geld aufgehäuft; in Rom bezog man aus den Pro-
vinzen, namentlich aus Sicilien, die erforderlichen Vorräthe und
setzte für alle Fälle die lange vernachlässigten Mauern in Verthei-
digungsstand. Die Streitkräfte waren einigermaſsen gleich ge-
wogen. Die Römer füllten die Lücken in den italischen Contin-
genten theils durch gesteigerte Aushebung aus der Bürgerschaft
und aus den schon fast ganz romanisirten Bewohnern der Kelten-
landschaften diesseit der Alpen, von denen allein bei der campa-
nischen Armee 10000 dienten*, theils durch die Zuzüge der Nu-
midier und anderer überseeischer Nationen, und brachten mit
Hülfe der griechischen und kleinasiatischen Freistädte eine Kriegs-
flotte zusammen**. Beiderseits wurden ohne die Besatzungen zu
rechnen bis 100000 Soldaten mobil gemacht*** und an Tüch-
tigkeit der Mannschaft, an Kriegstaktik und Bewaffnung standen
die Italiker hinter den Römern in nichts zurück. Die Führung
des Krieges war für die Insurgenten wie für die Römer deswegen
sehr schwierig, weil das aufständische Gebiet sehr ausgedehnt
und eine groſse Zahl zu Rom haltender Festungen in demselben
[223]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
zerstreut war; so daſs die Insurgenten sich genöthigt sahen einen
sehr zersplitternden und zeitraubenden Festungskrieg mit einer
ausgedehnten Grenzdeckung zu verbinden und ihrerseits die Rö-
mer nicht wohl anders konnten als die nirgends recht centralisirte
Insurrection in allen insurgirten Landschaften zugleich bekämpfen.
Militärisch zerfiel das insurgirte Land in zwei Hälften: in der nörd-
lichen, die von Picenum und den Abruzzen bis an die campani-
sche Nordgrenze reichte und die lateinisch redenden Districte um-
faſste, übernahm italischer Seits der Marser Quintus Silo, römischer
Seits Publius Rutilius Lupus, beide als Consuln den Oberbefehl; in
der südlichen, welche Campanien, Samnium und überhaupt die sa-
bellisch redenden Landschaften in sich schloſs, befehligte als
Consul der Insurgenten der Samnite Gaius Papius Mutilus, als rö-
mischer Consul Lucius Julius Caesar. Jedem der beiden Oberfeld-
herrn standen auf italischer Seite sechs, auf römischer fünf Unter-
befehlshaber zur Seite, so daſs ein jeder von ihnen in einem be-
stimmten Bezirk den Angriff und die Vertheidigung leitete, die
consularischen Heere aber die Bestimmung hatten freier zu agiren
und die Entscheidung zu bringen. Die angesehensten römischen Offi-
ziere, wie zum Beispiel Gaius Marius, Quintus Catulus und die beiden
im spanischen Krieg erprobten Consulare Titus Didius und Publius
Crassus, stellten für diese Posten den Consuln sich zur Verfügung;
und wenn man auf Seiten der Italiker nicht so gefeierte Namen
entgegenzustellen hatte, so bewies doch der Erfolg, daſs ihre
Führer den römischen militärisch in nichts nachstanden. — Die
Offensive in diesem durchaus decentralisirten Krieg war im Gan-
zen auf Seiten der Römer, tritt aber auch hier nirgends mit Ent-
schiedenheit auf. Es fällt auf, daſs weder die Römer ihre Trup-
pen zusammennahmen um einen überlegenen Angriff gegen die
Insurgenten auszuführen, noch die Insurgenten den Versuch
machten in Latium einzurücken und sich auf die feindliche Haupt-
stadt zu werfen; wir sind indeſs mit den beiderseitigen Verhält-
nissen zu wenig bekannt um beurtheilen zu können, ob und wie
man anders hätte handeln können und in wie weit die Schlaffheit
der römischen Regierung einer- und die lose Verbindung der
städtischen Conföderation andrerseits zu diesem Mangel an Ein-
heit in der Kriegführung beigetragen haben. Das ist begreif-
lich, daſs bei diesem System es wohl zu Siegen und Nieder-
lagen kam, aber sehr lange nicht zu einer wirklichen Entschei-
dung; nicht minder aber auch, daſs von einem solchen Krieg, der
in eine Reihe von Gefechten einzelner gleichzeitig, bald geson-
dert, bald combinirt, operirender Corps sich auflöste, aus unserer
[224]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
beispiellos trümmerhaften Ueberlieferung ein anschauliches Bild
sich nicht herstellen läſst.
Der erste Sturm traf, wie begreiflich, die in den insurgirten
Landschaften zu Rom haltenden Festungen, die schleunigst ihre
Thore schlossen und die bewegliche Habe vom Lande herein-
schafften. Silo warf sich auf die Zwingburg der Marser, das feste
Alba, Mutilus auf die im Herzen Samniums angelegte Latinerstadt
Aesernia; dort wie hier trafen sie auf den entschlossensten Wider-
stand. Aehnliche Kämpfe mögen im Norden um Firmum, Hatria,
Pinna, im Süden um Luceria, Benevent, Nola, Paestum getobt
haben, bevor und während die römischen Heere sich an den
Grenzen der insurgirten Landschaft aufstellten. Nachdem die
Südarmee unter Caesar in der gröſstentheils noch zu Rom hal-
tenden campanischen Landschaft sich im Frühjahr 664 gesam-
melt und Capua mit seinem für die Finanzen Roms so wichtigen
Domanialgebiet so wie die bedeutenderen Bundesstädte mit Be-
satzung versehen hatte, versuchte sie überzugehen zur Offensive
und den kleineren nach Samnium und Lucanien unter Marcus Mar-
cellus und Publius Crassus vorausgesandten Abtheilungen zu Hülfe
zu kommen. Allein Caesar ward von den Samniten und den Marsern
unter Publius Vettius Cato mit starkem Verlust zurückgewiesen und
die wichtige Stadt Venafrum trat hierauf über zu den Insurgenten,
denen sie die römische Besatzung in die Hände lieferte. Durch
den Abfall dieser Stadt, die auf der Heerstraſse von Campanien
nach Samnium lag, war Aesernia abgeschnitten, und die bereits
hart angegriffene Stadt sah sich jetzt ausschlieſslich auf den
Muth und die Ausdauer ihrer Besatzung und ihres Commandan-
ten Marcellus angewiesen. Zwar machte ein Streifzug, den Sulla
mit derselben kühnen Verschlagenheit wie den Zug zu Bocchus
glücklich zu Ende führte, der bedrängten Festung für einen Augen-
blick Luft; allein dennoch ward sie nach hartnäckiger Gegenwehr
gegen Ende des Jahrs durch die äuſserste Hungersnoth gezwungen
zu capituliren. Auch in Lucanien ward Publius Crassus von Marcus
Lamponius geschlagen und genöthigt sich in Grumentum einzu-
schlieſsen, das nach langer und harter Belagerung fiel. Apulien
und die südlichen Landschaften hatte man ohnehin gänzlich sich
selbst überlassen müssen. Die Insurrection griff um sich; wie
Mutilus an der Spitze der samnitischen Armee in Campanien ein-
rückte, übergab die Bürgerschaft von Nola ihm ihre Stadt und
lieferte die römische Besatzung aus, deren Befehlshaber auf Mu-
tilus Befehl hingerichtet, die Mannschaft in die siegreiche Armee
untergesteckt ward. Mit einziger Ausnahme von Nuceria, das fest
[225]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
an Rom hielt, ging ganz Campanien bis zum Vesuv den Römern
verloren; Salernum, Stabiae, Pompeii, Herculaneum erklärten sich
für die Insurgenten; Mutilus konnte in das Gebiet nördlich vom
Vesuv vorrücken und mit seiner samnitisch-lucanischen Armee
Acerrae belagern. Die Numidier, die in groſser Zahl bei Caesars
Armee standen, fingen an schaarenweise zu Mutilus überzugehen
oder vielmehr zu Oxyntas, dem Sohne Jugurthas, der bei der
Uebergabe von Venusia den Samniten in die Hände gefallen war
und nun im königlichen Purpur in den Reihen der Samniten er-
schien; so daſs Caesar sich genöthigt sah das ganze africanische
Corps in die Heimath zurückzuschicken. Mutilus wagte sogar einen
Sturm auf das römische Lager; allein er ward abgeschlagen und
die Samniten, denen bei dem Abzug die römische Reiterei in den
Rücken gefallen war, lieſsen bei 6000 Todte auf dem Schlacht-
feld. Es war der erste namhafte Erfolg, den in diesem Kriege die
Römer errangen; das Heer rief den Feldherrn zum Imperator
aus und in der Hauptstadt fing der tief gesunkene Muth wieder
an sich zu heben. Zwar ward nicht lange darauf die siegreiche
Armee bei einem Fluſsübergang von Marius Egnatius angegriffen
und vollständig geschlagen, so daſs sie bis Teanum zurückweichen
und dort wieder organisirt werden muſste; indeſs gelang es den
Anstrengungen des thätigen Consuls sein Heer noch vor Ein-
bruch des Winters wieder in kriegsfähigen Stand zu setzen und
seine alte Stellung wieder einzunehmen unter den Mauern von
Acerrae, das die samnitische Hauptarmee unter Mutilus fortfuhr
zu belagern. — Gleichzeitig hatten die Operationen auch in Mittel-
italien begonnen, wo der Aufstand von den Abruzzen und der
Landschaft am Fucinersee aus in gefährlicher Nähe die Haupt-
stadt bedrohte. Ein detachirtes Corps unter Gnaeus Pompeius
Strabo ward ins Picenische gesandt um, auf Firmum und Falerii
gestützt, gegen Asculum zu agiren; die Hauptmasse dagegen der
römischen Nordarmee stellte unter dem Consul Lupus sich auf
an der Grenze des latinischen und des marsischen Gebietes, wo
an der valerischen und salarischen Chaussee der Feind der Haupt-
stadt am nächsten stand; der kleine Fluſs Tolenus (Turano), der
zwischen Tibur und Alba die valerische Straſse schneidet und bei
Rieti in den Velino fällt, schied die beiden Heere. Ungeduldig
drängte der Consul Lupus zur Entscheidung und überhörte den
unbequemen Rath des Marius die des Dienstes ungewohnte Mann-
schaft erst im kleinen Krieg zu üben. Gleich zu Anfang ward ihm
das 10000 Mann starke Corps des Gaius Perpenna vollständig ge-
schlagen, worauf der Oberfeldherr den geschlagenen General seines
Röm. Gesch. II. 15
[226]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Commandos entsetzte und den Rest des Corps mit dem unter
Marius Befehl stehenden vereinigte, sich aber nicht abhalten lieſs
die Offensive zu ergreifen und den Tolenus auf zwei nicht weit
von einander geschlagenen Brücken in zwei theils von ihm selbst
theils von Marius geführten Abtheilungen zu überschreiten. Ihnen
gegenüber stand Publius Cato mit den Marsern; er hatte sein
Lager an der Stelle geschlagen, wo Marius überzugehen beab-
sichtigte, allein ehe der Uebergang stattfand, zog er sich mit
Hinterlassung der bloſsen Lagerposten von dort weg und nahm
weiter fluſsaufwärts eine verdeckte Stellung, in welcher er das
andere römische Corps unter Lupus unvermuthet während des
Uebergehens angriff und es theils niedermachte, theils in den
Fluſs sprengte (11. Juni 664). Der Consul selbst und 8000 der
Seinen blieben. Es konnte kaum ein Ersatz heiſsen, daſs Marius,
Catos Abmarsch zu spät gewahrend, über den Fluſs gegangen
war und nicht ohne Verlust der Feinde deren Lager besetzt hatte,
obwohl dieser Fluſsübergang und ein gleichzeitig erfochtener Sieg
des römischen Feldherrn Servius Sulpicius über die Paeligner die
Marser zwang ihre Vertheidigungslinie etwas zurückzunehmen.
Marius, der jetzt nach Beschluſs des Senats an Lupus Stelle den
Oberbefehl übernahm, verhinderte wenigstens, daſs der Feind wei-
tere Erfolge errang. Allein bald trat ihm gleichberechtigt Quintus
Caepio zur Seite, weniger wegen eines glücklich von ihm be-
standenen Gefechtes, als weil er den damals in Rom regierenden
Rittern durch seine heftige Opposition gegen Drusus sich em-
pfohlen hatte; und dieser, von Silo getäuscht durch die Vorspiege-
lung ihm sein Heer verrathen zu wollen, fiel in einen Hinterhalt
und ward mit einem groſsen Theil seiner Mannschaft von den
Marsern und Vestinern zusammengehauen. Marius, nach Caepios
Fall wiederum alleiniger Oberbefehlshaber, hinderte durch seinen
zähen Widerstand den Gegner die errungenen Vortheile zu be-
nutzen und drang allmählich tief in das marsische Gebiet. Als
er dann endlich die lange verweigerte Schlacht lieferte, überwand
er seinen stürmischen Gegner, der unter andern Todten den
Feldherrn der Marruciner Herius Asinius auf der Wahlstatt zu-
rücklieſs. In einem zweiten Treffen wirkten Marius Heer und das
zur Südarmee gehörige Corps des Sulla zusammen um den Mar-
sern eine noch empfindlichere Niederlage beizubringen, die ihnen
6000 Mann kostete; die Ehre des Tages aber blieb dem jüngeren
Offizier, denn Marius hatte zwar die Schlacht geliefert und ge-
wonnen, aber Sulla den Flüchtigen den Rückzug verlegt und sie
aufgerieben. — Während also am Fucinersee heftig und mit
[227]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
wechselndem Erfolg gefochten ward, hatte auch das picenische
Corps unter Strabo unglücklich und glücklich gestritten. Die In-
surgentenchefs Judacilius aus Asculum, Publius Vettius Cato und Ti-
tus Lafrenius hatten mit vereinten Kräften dasselbe angegriffen, es
geschlagen und gezwungen sich nach Firmum zu werfen, wo La-
frenius den Strabo belagert hielt, während Judacilius freie Hand
bekam um in Apulien einzurücken und Canusium, Venusia und
die sonstigen dort noch zu Rom haltenden Städte zum Uebertritt
zu bestimmen. Allein auf der entgegengesetzten Seite konnte
Servius Sulpicius nach seinem Sieg über die Paeligner sich nach
Picenum wenden um Strabo zu entsetzen. Lafrenius ward, wäh-
rend von vorn Strabo ihn angriff, von Sulpicius in den Rücken
gefaſst und sein Lager in Brand gesteckt; er selber fiel, der Rest
seiner Truppen warf sich in aufgelöster Flucht nach Asculum.
So vollständig hatte im Picenischen die Lage der Dinge sich ge-
ändert, daſs wie vorher die Römer auf Firmum, jetzt die Italiker
auf Asculum sich beschränkt sahen und der Krieg sich abermals
in eine Belagerung verwandelte. — Endlich war im Laufe des
Jahres zu den beiden schwierigen und vielgetheilten Kriegen im
südlichen und mittleren Italien noch ein dritter in der nördlichen
Landschaft gekommen, indem die für Rom so gefährliche Lage
der Dinge nach den ersten Kriegsmonaten einen groſsen Theil
der umbrischen und einzelne etruskische Gemeinden veranlaſst
hatte, sich für die Insurrection zu erklären, so daſs es nöthig
geworden war gegen die Umbrer den Aulus Plotius, gegen die Etrus-
ker den Lucius Porcius Cato zu entsenden. Hier indeſs stieſsen die
Römer auf einen weit minder energischen Widerstand als im
marsischen und samnitischen Land und behaupteten das ent-
schiedenste Uebergewicht im Felde.
So ging das schwere erste Kriegsjahr zu Ende, militärisch
wie politisch trübe Erinnerungen und bedenkliche Aussichten
hinterlassend. Militärisch waren beide Armeen der Römer, die
marsische und die campanische, durch schwere Niederlagen ge-
schwächt und entmuthigt, die Nordarmee genöthigt vor allem
auf die Deckung der Hauptstadt bedacht zu sein, die Südarmee
bei Neapolis in ihren Communicationen ernstlich bedroht, da die
Insurgenten ohne viele Schwierigkeit aus dem marsischen oder
samnitischen Gebiet hervorbrechen und zwischen Rom und Ne-
apel sich festsetzen konnten, so daſs man es nothwendig fand
wenigstens eine Postenkette von Cumae nach Rom zu ziehen.
Politisch hatte die Insurrection während dieses ersten Kampf-
jahres nach allen Seiten hin Boden gewonnen; der Uebertritt von
15*
[228]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Nola, die rasche Capitulation der festen und groſsen latinischen
Colonie Venusia, der umbrisch-etruskische Aufstand waren be-
denkliche Zeichen, daſs die römische Symmachie in ihren festesten
Fugen zu wanken beginne und daſs sie nicht mehr fähig sei eine
zweite Feuerprobe zu bestehen. Schon hatte man der Bürger-
schaft das Aeuſserste zugemuthet, schon um jene Postenkette an
der latinisch-campanischen Küste zu bilden gegen 6000 Frei-
gelassene in die Bürgermiliz eingereiht, schon von den noch treu
gebliebenen Bundesgenossen die schwersten Opfer gefordert; es
war nicht möglich die Sehne des Bogens noch schärfer anzu-
ziehen ohne alles aufs Spiel zu setzen. Die Stimmung der Bür-
gerschaft war unglaublich gedrückt. Nach der Schlacht am To-
lenus, als der Consul und die zahlreichen mit ihm gefallenen
namhaften Bürger von dem nahen Schlachtfeld nach der Haupt-
stadt als Leichen zurückgebracht und daselbst bestattet wurden,
als die Beamten zum Zeichen der öffentlichen Trauer den Purpur
und die Ehrenabzeichen von sich legten, als von der Regierung
an die hauptstädtischen Bewohner der Befehl erging in Masse
sich zu bewaffnen, hatten nicht wenige sich der Verzweiflung
überlassen und Alles verloren geglaubt. Zwar war die schlimmste
Entmuthigung gewichen nach den von Caesar bei Acerrae, von
Strabo im Picenischen erfochtenen Siegen; auf die Meldung des
erstern hatte man in der Hauptstadt den Kriegsrock wieder mit
dem Bürgerkleid vertauscht, auf die des zweiten die Zeichen der
Landestrauer abgelegt; aber es war doch nicht zweifelhaft, daſs
im Ganzen die Römer in diesem Waffengang den Kürzern gezo-
gen hatten, und von dem starren Eigensinn, der zähen Conse-
quenz, die vor hundert Jahren Senat und Bürgerschaft durch die
Gefahren des hannibalischen Krieges hindurch getragen hatten,
war in den Enkeln wenig mehr zu finden. Man hätte zunächst
wohl noch vermocht bei dem alten Trotz zu beharren; bei
dem herrschenden schlaffen und feigen Geiste aber war es kein
Wunder, daſs schon nach dem ersten Kriegsjahr die Stimmung
der Bürgerschaft vollständig umschlug, und es ist kaum zu be-
zweifeln, daſs man damit, wenn auch nicht aus Klugheit, doch
das Klügste that was man thun konnte. Die innere und äuſsere
Politik wurde plötzlich anders. Das Jahr 664 hatte begonnen
mit der schroffesten Zurückweisung des von den Insurgenten an-
gebotenen Vergleichs und mit der Eröffnung eines Prozeſskriegs,
in welchem die leidenschaftlichsten Vertheidiger des patriotischen
Egoismus, die Capitalisten, Rache nahmen an allen denjenigen
die im Verdacht standen der Mäſsigung und der rechtzeitigen
[229]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
Nachgiebigkeit das Wort geredet zu haben. Dagegen brachte der
Tribun Marcus Plautius Silvanus, der am 10. Dec. desselben Jahres
sein Amt antrat, ein Gesetz durch, nach welchem die Hochver-
rathscommission den Capitalistengeschwornen entzogen und an-
deren aus der freien nicht ständisch qualificirten Wahl der Di-
stricte hervorgegangenen Geschwornen anvertraut ward; wovon
die Folge war, daſs diese Commission aus einer Geiſsel der Mo-
derirten zu einer Geiſsel der Ultras ward und unter Andern ihr
eigener Urheber Quintus Varius, dem die öffentliche Stimme die
schlimmsten demokratischen Gräuelthaten, die Vergiftung des
Quintus Metellus und die Ermordung des Drusus, Schuld gab, von
ihr in die Verbannung geschickt ward. Wichtiger als diese seltsam
offenherzige politische Palinodie war die veränderte Richtung, die
man in der Politik gegen die Italiker einschlug. Genau dreihun-
dert Jahre waren verflossen, seit Rom zum letztenmal sich hatte
den Frieden dictiren lassen müssen; man konnte die bittere
Wahrheit sich nicht verhehlen, daſs Rom jetzt wieder unterlegen
und der Friede nur möglich war auf die Bedingungen der Geg-
ner. Zwar mit den Gemeinden, die bereits in Waffen sich er-
hoben hatten um Rom zu unterwerfen und zu zerstören, war die
Fehde zu erbittert geworden, als daſs man in Rom es über sich
gewonnen hätte ihnen die verlangten Zugeständnisse zu machen;
und hätte man es gethan, sie wären vielleicht jetzt von der andern
Seite zurückgewiesen worden. Indeſs wenn den bis jetzt noch
treugebliebenen Gemeinden die ursprünglichen Forderungen,
wenn auch unter gewissen Einschränkungen, gewährt wurden, so
ward damit theils der Schein freiwilliger Nachgiebigkeit gerettet,
theils die sonst unvermeidliche Consolidirung der Conföderation
verhindert und damit der Weg zu ihrer Ueberwindung gebahnt.
So thaten denn die Pforten des römischen Bürgerthums, die der
Bitte so lange verschlossen geblieben waren, jetzt plötzlich sich
auf, als die Schwerter daran pochten; jedoch auch jetzt nicht
voll und ganz, sondern selbst für die Aufgenommenen in wider-
williger und kränkender Weise. Ein von dem Consul Lucius Cae-
sar* durchgebrachtes Gesetz verlieh das römische Bürgerrecht den
Bürgern aller derjenigen italischen Bundesgemeinden, die bis da-
[230]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
hin noch nicht Rom offen abgesagt hatten; ein zweites der Volks-
tribunen Marcus Plautius Silvanus und Gaius Papirius Carbo setzte
jedem in Italien verbürgerten und domicilirten Mann eine zweimonat-
liche Frist, binnen welcher es ihm gestattet sein solle durch An-
meldung bei einem römischen Beamten das römische Bürgerrecht
zu gewinnen. Indeſs sollten diese Neubürger ähnlich den Frei-
gelassenen im Stimmrecht in der Art beschränkt sein, daſs von
den fünfunddreiſsig Bezirken sie nur in acht, wie die Freigelas-
senen nur in vier, eingeschrieben werden konnten; ob diese Be-
schränkung persönlich oder, wie es eher scheint, erblich war, ist
nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Diese Maſsregel bezog sich
zunächst auf das eigentliche Italien, das nördlich damals noch
wenig über Ancona und Florenz hinausreichte. In dem Kelten-
land diesseit der Alpen, das zwar Provinz war und blieb, aber in
der Administration wie in der Colonisirung längst als Theil Ita-
liens galt, wurden sämmtliche latinische Colonien und von den
übrigen bundesgenössischen Ortschaften die nicht sehr zahlrei-
chen diesseit des Po belegenen wie die italischen Gemeinden be-
handelt. Die Landschaft zwischen dem Po und den Alpen
ward in Folge eines von dem Consul Strabo im J. 665 ein-
gebrachten Gesetzes zwar nach italischer Stadtverfassung orga-
nisirt, so daſs die hiezu nicht sich eignenden Gemeinden, na-
mentlich die Dorfschaften in den Alpenthälern, einzelnen Städten
als abhängige und zinspflichtige Dörfer zugelegt wurden; diese
neuen Stadtgemeinden aber nicht mit dem römischen Bürger-
thum beschenkt, sondern durch die rechtliche Fiction, daſs sie
latinische Colonien seien, mit denjenigen Rechten bekleidet, welche
bisher den latinischen Städten geringeren Rechts zugestanden
hatten. Italien endigte also damals factisch am Po, während die
transpadanische Landschaft als Vorland behandelt ward; wovon
der Grund unzweifelhaft darin zu suchen ist, daſs die Landschaft
zwischen dem Apennin und Po längst nach italischem Muster or-
ganisirt war, in der nördlichen dagegen, wo es auſser Eporedia
und Aquileia keine Bürger- oder latinische Colonien gab und aus
der die einheimischen Stämme ja keineswegs verdrängt worden
waren, das keltische Wesen und die keltische Gauverfassung noch
groſsentheils bestand. — So ansehnlich diese Zugeständnisse
waren, wenn man sie vergleicht mit der seit mehr als hundert-
undfunfzig Jahren festgehaltenen starren Abgeschlossenheit der
römischen Bürgerschaft, so enthielten sie doch nichts weniger
als eine Capitulation mit den wirklichen Insurgenten, sondern
sollten theils die schwankenden und mit dem Abfall drohenden
[231]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
Gemeinden festhalten, theils möglichst viele Ueberläufer aus den
feindlichen Reihen herüberziehen. In welchem Umfang diese Ge-
setze, namentlich das wichtigste derselben, das des Caesar zur
Anwendung gekommen, läſst sich nicht genau sagen, da wir den
Umfang der Insurrection zur Zeit der Erlassung des Gesetzes nur
im Allgemeinen anzugeben vermögen. Die Hauptsache war auf
jeden Fall, daſs die bisher latinischen Gemeinden, sowohl die
Ueberreste der alten latinischen Eidgenossenschaft wie Tibur und
Praeneste, als auch besonders die latinischen Colonien mit Aus-
nahme der wenigen zu den Insurgenten übergegangenen dadurch
eintraten in den römischen Bürgerverband. Auſserdem fand das
Gesetz Anwendung auf die vereinzelten Bundesgenossenstädte
zwischen dem Po und dem Apennin wie z. B. Ravenna, auf eine
Anzahl etruskischer und auf die treugebliebenen Bundesstädte in
Süditalien wie Nuceria und Neapolis. Daſs einzelne bisher beson-
ders bevorzugte Gemeinden über die Annahme des Bürgerrechts
schwankten, Neapolis zum Beispiel Bedenken trug seinen bis-
herigen Vertrag mit Rom, der den Bürgern Freiheit vom Land-
dienst und ihre griechische Verfassung, vielleicht auch überdies
Domanialnutzungen garantirte, gegen das sehr beschränkte Neu-
bürgerrecht hinzugeben, ist begreiflich; es ist wahrscheinlich aus
den dieser Anstände wegen geschlossenen Vergleichen herzuleiten,
daſs diese Stadt, so wie auch Rhegion und vielleicht noch andere
griechische Gemeinden in Italien, selbst nach dem Eintritt in den
Bürgerverband ihre bisherige Communalverfassung und die grie-
chische Sprache als officielle unverändert beibehalten haben. Auf
alle Fälle ward in Folge dieser Gesetze theils der römische Bür-
gerverband in der Art erweitert, daſs zahlreiche und ansehnliche
von der sicilischen Meerenge bis zum Po zerstreute Stadtgemein-
den dadurch aufgingen in die römische Bürgerschaft, theils die
Landschaft zwischen dem Po und den Alpen durch die Verlei-
hung des besten bundesgenössischen Rechts gleichsam mit der
gesetzlichen Anwartschaft auf das volle Bürgerrecht beliehen.
Gestützt auf diese Concessionen an die schwankenden Ge-
meinden nahmen die Römer mit neuem Muthe den Kampf auf
gegen die aufständischen Districte. Man hatte von den bestehen-
den politischen Institutionen so viel niedergerissen als nothwen-
dig schien um die weitere Verbreitung des Brandes zu hindern;
die Insurrection griff fortan wenigstens nicht weiter um sich.
Namentlich in Etrurien und Umbrien, wo sie erst im Beginn war,
wurde sie wohl mehr noch durch das julische Gesetz als durch
den Erfolg der römischen Waffen so auffallend rasch überwältigt.
[232]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
In den ehemaligen latinischen Colonien, in der dichtbewohn-
ten Polandschaft eröffneten sich reiche und jetzt zuverlässige
Hülfsquellen; mit diesen und mit denen der Bürgerschaft selbst
konnte man daran gehen den jetzt isolirten Brand zu bewältigen.
Die beiden bisherigen Oberbefehlshaber gingen nach Rom zurück,
Caesar als erwählter Censor, Marius, weil man seine Kriegführung
als unsicher und langsam tadelte und den sechsundsechzigjähri-
gen Mann für altersschwach erklärte. Es ist sehr wahrscheinlich,
daſs dieser Vorwurf unbegründet war; Marius bewies, indem er
täglich in Rom auf dem Turnplatz erschien, wenigstens seine
körperliche Frische und auch als Oberfeldherr scheint er in dem
letzten Feldzug im Ganzen seine alte Tüchtigkeit bewährt zu ha-
ben; aber glänzende Erfolge, mit denen allein er nach seiner po-
litischen Katastrophe sich hätte in der öffentlichen Meinung re-
habilitiren können, hatte er nicht erfochten und so ward der ge-
feierte Degen zu seinem bittern Kummer wie als Staatsmann so
auch als Offizier bankerott erklärt und ohne Umstände zu dem
alten Eisen geworfen. An Marius Stelle trat bei der marsischen
Armee der Consul Lucius Porcius Cato, der mit Auszeichnung in
Etrurien gefochten hatte, an Caesars bei der campanischen der Unter-
feldherr Lucius Sulla, dem man einige der wesentlichsten Erfolge
des vorigen Feldzugs verdankte; Gnaeus Strabo behielt, jetzt als
Consul, sein mit so groſsem Erfolg geführtes Commando im pi-
cenischen Gebiet. — So begann der zweite Feldzug 665, den
gleich im Anfang des Jahres die Insurgenten eröffneten durch den
kühnen Versuch einen marsischen Heerhaufen von 15000 Mann
der in Norditalien gährenden Insurrection zu Hülfe nach Etrurien
zu senden. Allein Strabo, durch dessen Bereich er zu passiren
hatte, verlegte ihm den Weg und schlug ihn vollständig; nur
wenige gelangten zurück in die weit entfernte Heimath. Als dann
die Jahreszeit den römischen Heeren gestattete die Offensive zu
ergreifen, betrat Cato das marsische Gebiet und drang unter glück-
lichen Gefechten in demselben vor, allein er fiel in der Gegend
des Fucinersees bei einem Sturm auf das feindliche Lager, wo-
durch die ausschlieſsliche Oberleitung der Operationen in Mittel-
italien auf Strabo überging. Dieser beschäftigte sich theils mit
der fortgesetzten Belagerung von Asculum, theils mit der Unter-
werfung der marsischen, sabellischen und apulischen Landschaf-
ten. Zum Entsatz seiner bedrängten Heimathstadt erschien vor
Asculum Judacilius mit der picentischen Abtheilung und griff die
belagernde Armee an, während gleichzeitig die ausfallende Be-
satzung sich auf die römischen Linien warf. Es sollen an diesem
[233]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
Tage 75000 Römer gegen 60000 Italiker gefochten haben. Der
Sieg blieb den Römern, doch gelang es dem Judacilius mit einem
Theil des Entsatzheeres sich in die Stadt zu werfen. Die Bela-
gerung nahm ihren Fortgang; sie war langwierig * durch die Fe-
stigkeit des Platzes und die verzweifelte Vertheidigung der Be-
wohner, welche fochten in Erinnerung an die schreckliche Kriegs-
erklärung innerhalb ihrer Mauern. Als Judacilius endlich nach
mehr als jähriger Belagerung den Moment der Capitulation heran-
kommen sah, lieſs er die Häupter der römisch gesinnten Fraction
der Bürgerschaft unter Martern umbringen und gab sodann sich
selbst den Tod. So wurden die Thore geöffnet und die römischen
Executionen lösten die italischen ab: alle Offiziere und alle ange-
sehenen Bürger wurden hingerichtet, die übrigen mit dem Bet-
telstab ausgetrieben, sämmtliches Hab und Gut von Staatswegen
eingezogen. Während der Belagerung und nach dem Fall von
Asculum durchzogen zahlreiche römische Corps die benachbarten
aufständischen Landschaften und bewogen eine nach der andern
zur Unterwerfung. Die Marruciner fügten sich, nachdem Servius
Sulpicius sie bei Teate (Chieti) nachdrücklich geschlagen hatte.
In Apulien drang der Praetor Gaius Cosconius ein, nahm Sa-
lapia und Cannae und belagerte Canusium. Ein samnitischer
Heerhaufen unter Marius Egnatius kam der unkriegerischen Land-
schaft zu Hülfe und drängte die Römer zurück. Allein bei dem
Uebergang über den Aufidus gelang es dem römischen Feldherrn
die Feinde zu schlagen; Egnatius fiel und der Rest des Heeres
muſste in den Mauern von Canusium Schutz suchen. Die Römer
drangen wieder vor bis nach Venusia und Rubi und wurden Her-
ren von ganz Apulien. Auch am Fucinersee und am Majellagebirg,
in den Hauptsitzen der Insurrection gelang es den Römern die
Oberhand zu erringen; die Marser ergaben sich an die Unterfeld-
herrn Strabos Quintus Metellus Pius und Gaius Cinna, die Vestiner
und Paeligner im folgenden Jahr (666) an Strabo selbst; die Insur-
gentenhauptstadt Italia ward wieder die bescheidene paelignische
Landstadt Corfinium; die Reste des italischen Senats muſsten
flüchten auf samnitisches Gebiet. — Die römische Südarmee,
welche jetzt unter Lucius Sullas Befehlen stand, hatte gleichzeitig die
Offensive ergriffen und war eingedrungen in das vom Feind be-
setzte südliche Campanien. Stabiae ward von Sulla selbst erobert
[234]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
und zerstört (30. April 665), Herculaneum von Titus Didius, der
indeſs, es scheint bei diesem Sturm, selber fiel (11. Juni). Län-
ger widerstand Pompeii, das zu entsetzen der samnitische Feld-
herr Lucius Cluentius herbeikam; allein Cluentius ward von Sulla
zurückgewiesen und da er, durch Keltenschaaren verstärkt, sei-
nen Versuch wiederholte, hauptsächlich durch den Wankelmuth
dieser unzuverlässigen Gesellen so vollständig geschlagen, daſs
sein Lager erobert und er selbst mit dem gröſsten Theil der Sei-
nigen auf der Flucht nach Nola zu niedergehauen ward. Das
dankbare Heer verlieh dem Feldherrn den Graskranz, mit wel-
chem schlichten Zeichen nach italischem Lagerbrauch der Soldat
geschmückt wurde, der durch seine Tüchtigkeit eine Abthei-
lung seiner Kameraden gerettet hatte. Ohne mit der Belagerung
Nolas und der andern von den Samniten noch besetzten campa-
nischen Städte sich aufzuhalten, rückte Sulla sofort in das innere
Land ein, wo der Hauptheerd der Insurrection war. Die rasche
Eroberung und fürchterliche Bestrafung von Aeclanum verbrei-
tete Schrecken in der ganzen hirpinischen Landschaft; sie unter-
warf sich, noch ehe der lucanische Zuzug herankam, der zu ihrem
Beistand sich in Bewegung setzte, und Sulla konnte ungehindert
vordringen bis in das Gebiet der samnitischen Eidgenossenschaft.
Der Paſs, wo die samnitische Landwehr unter Mutilus ihn er-
wartete, wurde umgangen, die samnitische Armee im Rücken
angegriffen und geschlagen; das Lager ging verloren, der Feld-
herr rettete sich verwundet nach Aesernia. Sulla rückte vor die
Hauptstadt der samnitischen Landschaft Bovianum und zwang sie
durch einen zweiten unter ihren Mauern erfochtenen Sieg zu ca-
pituliren. Erst die vorgerückte Jahreszeit machte hier dem Feld-
zug ein Ende.
Es war der vollständigste Umschwung der Dinge. So ge-
waltig, so siegreich, so vordringend die Insurrection den Feld-
zug des J. 665 begonnen hatte, so tiefgebeugt, so überall ge-
schlagen, so völlig hoffnungslos ging sie aus demselben hervor.
Ganz Norditalien war beruhigt. In Mittelitalien waren beide Kü-
sten völlig in römischer Gewalt, die Abruzzen fast vollständig,
Apulien bis auf Venusia, Campanien bis auf Nola in den Händen
der Römer und durch die Besetzung des hirpinischen Gebietes
die Verbindung gesprengt zwischen den beiden einzigen noch in
offener Gegenwehr beharrenden Landschaften, der samnitischen
und der lucanisch-brettischen. Das Insurrectionsgebiet glich
einer erlöschenden ungeheuren Brandstätte; überall traf das Auge
auf Asche und Trümmer und verglimmende Brände, hie und da
[235]EMPÖRUNG DER ITALIKER.
noch loderte die Flamme zwischen den Ruinen empor, aber man
war des Feuers überall Meister und nirgends drohte noch Gefahr.
Es ist zu bedauern, daſs wir die Ursachen dieses plötzlichen Um-
schwunges in der oberflächlichen Ueberlieferung nicht mehr ge-
nügend wiederzuerkennen vermögen. So unzweifelhaft Strabos
und mehr noch Sullas geschickte Führung und namentlich die
energischere Concentrirung der römischen Streitkräfte, die ra-
schere Offensive wesentlich dazu beigetragen hat, so mögen doch
auch politische Ursachen neben den militärischen den beispiellos
raschen Sturz der Insurgentenmacht herbeigeführt haben; es
mag das Gesetz des Silvanus und Carbo seinen Zweck Abfall
und Verrath der gemeinen Sache in die Reihe der Feinde zu tra-
gen erfüllt haben, es mag wie so oft unter die lose verknüpften
aufständischen Gemeinden das Unglück als Apfel der Zwietracht
gefallen sein. Wir sehen nur — und es deutet auch dies auf eine
sicher unter heftigen Convulsionen erfolgte innerliche Auflösung
der Italia —, daſs die Samniten, vielleicht unter Leitung des Mar-
sers Quintus Silo, der von Haus aus die Seele des Aufstandes
gewesen und nach der Capitulation der Marser landflüchtig zu
dem Nachbarvolk gegangen war, jetzt sich eine andere rein land-
schaftliche Organisation gaben und, nachdem die ‚Italia‘ über-
wunden war, es unternahmen als Safinen oder Samniten den
Kampf noch weiter fortzusetzen *. Das feste Aesernia ward aus
der Zwingburg der letzte Hort der samnitischen Freiheit; ein Heer
sammelte sich von angeblich 30000 Mann zu Fuſs und 1000
zu Pferd und ward durch Freisprechung und Einordnung von
20000 Sclaven verstärkt; fünf Feldherren traten an dessen Spitze,
darunter als der erste Silo und neben ihm Mutilus. Mit Erstaunen
sah man nach zweihundertjähriger Pause die Samnitenkriege aufs
Neue beginnen und das entschlossene Bauernvolk abermals, ganz
wie im fünften Jahrhundert, nachdem die italische Conföderation
gescheitert war, noch einen Versuch machen seine landschaftliche
Unabhängigkeit auf eigene Faust von Rom zu ertrotzen. Allein
dieser Entschluſs der tapfersten Verzweiflung änderte in der
Hauptsache nicht viel; es mochte der Bergkrieg in Samnium und
Lucanien noch einige Zeit und einige Opfer fordern, die In-
surrection war nichts desto weniger schon jetzt wesentlich zu
[236]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Ende. — Allerdings war inzwischen eine neue Complication ein-
getreten, indem die asiatischen Verwicklungen es zu einer gebie-
terischen Nothwendigkeit gemacht hatten gegen König Mithrada-
tes von Pontos den Krieg zu erklären und für das nächste Jahr
(666) den einen Consul und eine consularische Armee nach
Kleinasien zu bestimmen. Wäre dieser Krieg ein Jahr früher
zum Ausbruch gekommen, so hätte die gleichzeitige Empörung
des halben Italiens und der wichtigsten Provinz dem römischen
Staat eine ungeheure Gefahr bereiten können; nachdem in dem
raschen Sturz der italischen Insurrection das wunderbare Glück
Roms sich abermals bewährt hatte, war dieser mit dem italischen
sich verschlingende asiatische Krieg nicht eigentlich bedrohlicher
Art, um so weniger, als Mithradates in seiner übermüthigen Art
die Aufforderung der Italiker ihnen unmittelbaren Beistand zu
leisten von der Hand wies, aber freilich immer noch in hohem
Grade unbequem. Die Zeiten waren nicht mehr wo man einen
italischen und einen überseeischen Krieg unbedenklich neben ein-
ander führte; die Staatskasse war nach zwei Kriegsjahren bereits
vollständig erschöpft, die Bildung einer neuen Armee neben den
bereits im Felde stehenden schien kaum ausführbar. Indeſs man
half sich wie man konnte. Der Verkauf der seit alter Zeit (I, 35)
auf und an der Burg freigebliebenen Plätze an die Baulustigen,
woraus 9000 Pfund Gold (2½ Mill. Thlr.) gelöst wurden, lieferte
die erforderlichen Geldmittel. Eine neue Armee ward nicht ge-
bildet, sondern die in Campanien unter Sulla stehende bestimmt
nach Asien sich einzuschiffen, sobald der Stand der Dinge im
südlichen Italien es ihr gestatten würde sich zu entfernen; was
mit Hülfe der im Norden unter Strabo operirenden Armee vor-
aussichtlich bald sich möglich machen lieſs. — So begann denn
der dritte Feldzug 666 unter günstigen Aussichten für Rom.
Strabo dämpfte den letzten Widerstand, der noch in den Abruzzen
geleistet ward. In Apulien machte Cosconius Nachfolger, Quin-
tus Metellus Pius, der Sohn des Ueberwinders von Numidien
und an energisch conservativer Gesinnung wie an militärischer
Begabung seinem Vater nicht ungleich, dem Widerstand ein Ende
durch die Einnahme von Venusia, wobei 3000 Bewaffnete ge-
fangen genommen wurden. In Samnium gelang zwar Silo die
Wiedereinnahme von Bovianum; allein in einer Schlacht, die er
dem römischen General Aemilius Mamercus lieferte, siegten die
Römer und, was wichtiger war als der Sieg selbst, unter den
6000 Todten, die die Samniten auf der Wahlstatt lieſsen, war
auch Silo. In Campanien wurden die kleineren Ortschaften, die
[237]EMPÖRUNG DER ITALIKER. SULPICISCHE REVOLUTION.
die Samniten besetzt hielten, von Sulla ihnen entrissen und Nola
umstellt. Auch in Lucanien drang der römische Feldherr Aulus
Gabinius ein und errang nicht geringe Erfolge; allein nachdem
er bei einem Angriff auf das feindliche Lager gefallen war,
herrschte der Insurgentenführer Lamponius mit den Seinen wie-
derum fast ungestört in der weiten und öden lucanisch-bretti-
schen Landschaft und machte sogar einen Versuch sich Rhegions
zu bemächtigen, den indeſs der sicilische Statthalter Gaius Nor-
banus vereitelte. Trotz einzelner Unfälle näherte man sich un-
aufhaltsam dem Ziel; der Fall von Nola, die Unterwerfung von
Samnium, die Möglichkeit ansehnliche Streitkräfte für Asien ver-
fügbar zu machen schienen nicht mehr fern, als die Wendung
der Dinge in der Hauptstadt der fast schon erstickten Insurrection
unvermuthet Luft machte.
Rom war in fürchterlicher Gährung. Drusus Angriff auf die
Rittergerichte und sein durch die Ritterpartei bewirkter jäher
Sturz, sodann der zweischneidige varische Prozeſskrieg hatten
die bitterste Zwietracht gesäet zwischen Aristokratie und Bour-
geoisie so wie zwischen den Gemäſsigten und den Ultras. Die
Ereignisse hatten der Partei der Nachgiebigkeit vollständig Recht
gegeben; was sie beantragt hatte freiwillig zu verschenken,
das hatte man mehr als halb gezwungen zugestehen müs-
sen; allein die Art, wie dies Zugeständniſs erfolgt war, trug
eben wie die Weigerung den Charakter des eigensinnigen und
kurzsichtigen Neides. Statt allen italischen Gemeinden das
gleiche Recht zu gewähren, hatte man die Zurücksetzung nur
etwas gemildert und geändert; man hatte eine groſse Anzahl ita-
lischer Gemeinden in der alten Lage gelassen unter dem Namen
der Bundesgenossenschaft in voller Unterthänigkeit zu leben und
von dem Begehren nach Aufnahme in den Bürgerverband ewig
sich gepeinigt zu fühlen; man hatte den Neubürgern was man
ihnen gab wieder mit einer ehrenrührigen Makel behaftet, die sie
neben die Altbürger ungefähr stellte wie die Freigelassenen stan-
den neben den Freigebornen. Die letzte Beschränkung verletzte
um so tiefer, als sie bei der damaligen Beschaffenheit der Co-
mitien politisch sinnlos war und die scheinheilige Fürsorge der
Regierung für die unbefleckte Reinheit der Comitien jedem Un-
befangenen lächerlich erscheinen muſste; beide Restrictionen
aber waren insofern gefährlich, als man in den Neubürgern so
wie in den noch nicht zum Bürgerrecht zugelassenen italischen
Gemeinden jedem Demagogen bequeme Hebel hinreichte um mit
Unterstützung dieser Klassen anderweitige Zwecke zu erlangen.
[238]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Wenn somit die heller sehende Aristokratie mit diesen halben und
miſsgünstigen Concessionen ebensowenig zufrieden sein konnte
wie die Neubürger und die Ausgeschlossenen selbst, so vermiſste
sie ferner schmerzlich in ihren Reihen die zahlreichen und vor-
züglichen Männer, die die varische Hochverrathscommission ins
Elend gesandt hatte und die zurückzuberufen deſswegen schwierig
war, weil sie nicht durch Volks-, sondern durch Geschwornen-
gerichte verurtheilt worden waren; denn so wenig man Bedenken
trug einen Volksschluſs auch richterlicher Natur durch einen zwei-
ten zu cassiren, so erschien doch die Cassation eines Geschwor-
nenverdicts durch das Volk eben der bessern Aristokratie als ein
sehr gefährlicher Vorgang. So waren weder die Ultras noch die
Gemäſsigten mit dem Ausgang der italischen Krise zufrieden. Aber
von noch tieferem Grolle schwoll das Herz des alten Mannes, der mit
neuen Hoffnungen in den italischen Krieg gezogen und daraus un-
freiwillig zurückgekommen war mit dem Bewuſstsein neue Dienste
geleistet und dafür neue schwerste Kränkungen empfangen zu ha-
ben, mit dem bittern Gefühle von den Feinden nicht mehr gefürch-
tet, sondern gering geschätzt zu werden, mit jenem Wurm der Rache
im Herzen, der sich aufnährt an seinem eigenen Gifte. Auch von
ihm galt, was von den Neubürgern und den Ausgeschlossenen:
unfähig und unbehülflich wie er sich erwiesen hatte, war doch
sein populärer Name in der Hand eines Demagogen ein furcht-
bares Werkzeug. — Mit diesen Elementen politischer Convulsionen
verband sich der rasch sich steigernde Verfall der ehrbaren Kriegs-
sitte und der militärischen Disciplin. Die Keime, welche die Ein-
stellung der Proletarier in das Heer in sich enthielt, entwickelten
sich mit erschreckender Geschwindigkeit während des demorali-
sirenden Insurgentenkriegs, der jeden waffenfähigen Mann ohne
Unterschied zum Dienst zuzulassen nöthigte und vor allem die
politische Propaganda unmittelbar in das Hauptquartier wie in
das Soldatenzelt trug. Bald zeigten sich die Folgen in dem Er-
schlaffen aller Bande der militärischen Hierarchie. Während der
Belagerung von Pompeii ward der Befehlshaber des sullanischen
Belagerungscorps, der Consular Aulus Postumius Albinus von
seinen Soldaten, die von ihrem Feldherrn dem Feinde sich ver-
rathen glaubten, mit Steinen und Knitteln erschlagen; und der
Oberbefehlshaber Sulla begnügte sich die Truppen zu ermahnen
durch tapferes Verhalten vor dem Feind die Erinnerung an die-
sen Vorgang auszulöschen. Die Urheber dieser That waren die
Flottensoldaten, von jeher die am mindesten achtbare Truppe:
bald folgte eine vorwiegend aus dem Stadtpöbel ausgehobene
[239]SULPICISCHE REVOLUTION.
Abtheilung der Legionare dem gegebenen Beispiel. Angestiftet
von einem der Helden des Marktes Gaius Titius vergriff sie sich
an dem Consul Cato und nur durch einen Zufall entging derselbe
diesmal dem Tode. Titius ward festgesetzt, aber nicht bestraft
und als Cato bald darauf wirklich in einem Gefechte umkam,
wurden seine eigenen Offiziere, namentlich der jüngere Gaius
Marius, ob mit Recht oder mit Unrecht ist nicht auszumachen,
als die Urheber seines Todes bezeichnet. — Zu dieser beginnen-
den politischen und militärischen kam die vielleicht noch entsetz-
lichere ökonomische Krise, die im Verfolg des Bundesgenossen-
krieges und der asiatischen Unruhen über die römischen Geld-
männer hereingebrochen war. Die Schuldner, unfähig auch nur
die Zinsen zu erschwingen und dennoch von ihren Gläubigern
unerbittlich gedrängt, hatten bei dem beikommenden Gericht, dem
Stadtpraetor Asellio, theils Aufschub erbeten, um ihre Besitzungen
verkaufen zu können, theils die alten verschollenen Zinsgesetze
(I, 195) wieder hervorgesucht und nach der vor Zeiten festgestell-
ten Vorschrift den vierfachen Betrag der dem Gesetz zuwider ge-
zahlten Zinsen von den Gläubigern eingeklagt. Asellio gab sich
dazu her das thatsächlich bestehende Recht durch dessen Buch-
staben zu beugen und instruirte in gewöhnlicher Weise die ver-
langten Zinsklagen; worauf die verletzten Gläubiger unter Leitung
des Volkstribuns Lucius Cassius sich auf dem Markt zusammen-
thaten und den Praetor, da er eben in priesterlichem Schmuck
ein Opfer darbrachte, vor dem Tempel der Eintracht überfielen
und erschlugen — eine Frevelthat, wegen deren nicht einmal
eine Untersuchung stattfand (665). Andrerseits ging in den
Schuldnerkreisen die Rede, daſs der leidenden Menge nicht an-
ders geholfen werden könne als durch ‚neue Rechnungsbücher‘,
das heiſst durch gesetzliche Vernichtung der Forderungen sämmt-
licher Gläubiger an sämmtliche Schuldner. Man stand genau wieder
wie während des Ständekrieges; wieder machten die Capitalisten im
Bunde mit der befangenen Aristokratie den Cassiern und Valeriern
den Krieg und den Prozeſs; wieder stand man an dem Rande
desjenigen Abgrundes, in den der verzweifelte Schuldner den
Gläubiger mit sich hinabreiſst; nur war seitdem an die Stelle der
einfach bürgerlichen und sittlichen Ordnung einer groſsen Acker-
stadt die sociale Zerrissenheit einer Capitale vieler Nationen und
diejenige Demoralisation getreten, in der der Prinz mit dem Bettler
sich begegnet; nur waren alle Verhältnisse breiter, schroffer, in
grauenhafter Weise groſsartiger geworden. Indem der Bundes-
genossenkrieg all die gährenden politischen und socialen Ele-
[240]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
mente in der Bürgerschaft gegen einander rüttelte, legte er den
Grund zu einer neuen Revolution. Zum Ausbruch brachte sie
ein Zufall.
Es war der Volkstribun Publius Sulpicius Rufus, der im
J. 666 bei der Bürgerschaft die Anträge stellte jeden Senator, der
über 2000 Denare schulde, seiner Rathstelle verlustig zu erklä-
ren; den durch unfreie Geschwornengerichte verurtheilten Bür-
gern die Rückkehr in die Heimath zu gestatten; die Neubürger
durch sämmtliche Districte zu vertheilen und imgleichen den
Freigelassenen Stimmrecht in allen Districten zu gestatten. Es
waren Vorschläge, die zum Theil wenigstens aus dem Munde die-
ses Mannes überraschten. Publius Sulpicius Rufus (geb. 630)
verdankte seine politische Bedeutung weniger seiner adlichen
Geburt, seinen bedeutenden Verbindungen und seinem angeerb-
ten Reichthum als seinem ungemeinen Rednertalent, worin von
den Altersgenossen keiner ihm gleichkam; die mächtige Stimme,
die lebhaften zuweilen an Theateraction streifenden Geberden, die
üppige Fülle seines Wortstroms imponirten den Hörern, wenn sie
auch nicht überzeugten. Seiner Parteistellung nach hing er von
Haus aus der Senatspartei an und sein erstes politisches Auftre-
ten (659) war die Anklage des der Regierungspartei tödtlich ver-
haſsten Norbanus gewesen (S. 199). Zwar gehörte er unter den
Conservativen zu der Fraction des Crassus und Drusus, hatte nach
dem Ausbruch des Krieges die Gefahren derselben getheilt und
war fast der einzige namhafte aus denselben unversehrt hervor-
gegangene Mann; nichts desto weniger dachte er auch jetzt noch
wie früher und war revolutionären Neuerungen abgeneigt. Indem
er so eben noch einen seiner Collegen durch sein Einschreiten
verhindert hatte die auf Grund des varischen Gesetzes ergangenen
Geschwornenurtheile durch Volksschluſs zu cassiren, hatte er be-
wiesen, daſs er, ganz im Sinne des Drusus, die Verfassung ein-
gehalten wissen wollte, auch wo sie ihm persönlich unbequem
fiel. Was von sich selbst forderte er denn auch von Andern: als
der gewesene Aedil Gaius Caesar verfassungswidrig sich mit
Ueberspringung der Praetur um das Consulat für 667 bewarb,
wie es heiſst in der Absicht sich später die Führung des asiati-
schen Krieges übertragen zu lassen, trat, entschlossener und
schärfer als irgend ein anderer, Sulpicius ihm entgegen. Der
Bruch mit der mächtigen Familie der Julier, unter denen na-
mentlich der Bruder des Gaius, der Consular Lucius Caesar im
Senat sehr einfluſsreich war, und mit der derselben anhängenden
Fraction der Aristokratie scheint für Rufus die nächste Veran-
[241]SULPICISCHE REVOLUTION.
lassung geworden zu sein mit seinen revolutionären Vorschlä-
gen vor der Bürgerschaft aufzutreten. Allem Anschein nach war
es zunächst Leidenschaft und persönliche Erbitterung, die zu die-
sen Anträgen ihn fortrissen; dennoch scheint der letzte Zweck
derselben mehr conservativ im Sinn des Drusus gewesen als auf
einen Umsturz der Verfassung, wie Gaius Gracchus und seine
Nachfolger ihn beabsichtigten, hinausgegangen zu sein. Es bürgt
hiefür sowohl die Persönlichkeit und die bisherige Parteistellung
ihres Urhebers als auch der Charakter der Gesetze selbst. Die
Gleichstellung der Neubürger mit den Altbürgern war nichts als
die theilweise Wiederaufnahme der von Drusus entworfenen An-
träge zu Gunsten der Italiker und wie diese nur die Erfüllung
der Vorschriften einer gesunden Politik. Die Zurückrufung der
durch die varischen Geschwornen Verurtheilten opferte zwar den
Grundsatz der Unverletzlichkeit des Geschwornenwahrspruchs,
für den Sulpicius früher selbst mit der That eingestanden hatte,
aber sie kam zunächst wesentlich den eigenen Parteigenossen
des Antragstellers, den gemäſsigten Conservativen zu Gute, und
es scheint die auffallende Inconsequenz des Rufus sich einfach
daraus zu erklären, daſs er die Frage in ruhiger Stimmung prin-
cipiell, in leidenschaftlich erregter persönlich faſste. Die Maſsre-
gel gegen die Ueberschuldung der Senatoren war ohne Zweifel
herbeigeführt durch die Bloſslegung der trotz alles äuſseren
Glanzes tief zerrütteten ökonomischen Lage der regierenden Fa-
milien bei Gelegenheit der letzten finanziellen Krise; es war zwar
peinlich, aber doch im wohlverstandenen Interesse der Aristo-
kratie, wenn, wie dies die Folge des sulpicischen Antrags sein
muſste, alle Individuen aus dem Senat ausschieden die ihre Pas-
siva rasch zu liquidiren nicht vermochten; wobei natürlich die
schroffe und gehässige Durchführung dieser Epuration und die
darin enthaltene Geiſsel für das aristokratische Coteriewesen, das
in der Ueberschuldung vieler Senatoren und ihrer dadurch her-
beigeführten Abhängigkeit von den reichen Collegen einen haupt-
sächlichen Halt fand, einzig auf Rechnung der persönlichen
Differenzen des Antragstellers mit der regierenden Aristokratie
zu bringen ist. Endlich die Bestimmung zu Gunsten der Frei-
gelassenen war, seitdem man angefangen hatte dieselben zum Mi-
litärdienst mit hinzuzuziehen, gewissermaſsen gerechtfertigt, da
Stimmrecht und Dienstpflicht Hand in Hand gingen, vor allen
Dingen aber politisch wesentlich indifferent, da bei der Nichtig-
keit der Comitien sehr wenig darauf ankam, ob in diesen Sumpf
noch eine Kloake mehr sich entleerte. Die Schwierigkeit für die
Röm. Gesch. II. 16
[242]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Oligarchie mit den Comitien zu regieren ward eher gemindert als
gesteigert durch die unbeschränkte Zulassung der Freigelassenen,
welche ja zu einem sehr groſsen Theil von den regierenden Fa-
milien persönlich und ökonomisch abhängig waren und richtig
verwandt eben ein Mittel für die Regierung abgeben konnten die
Wahlen gründlicher zu beherrschen. Wider die Tendenzen der
reformistisch gesinnten Aristokratie lief diese Maſsregel allerdings
wie jede andere politische Begünstigung des Proletariats; allein
sie war auch für Rufus schwerlich etwas anderes als was das
Getreidegesetz für Drusus gewesen war: ein Mittel um das Prole-
tariat auf seine Seite zu ziehen und mit dessen Hülfe den Wider-
stand gegen die beabsichtigten Reformen zu brechen. Es lieſs
sich leicht voraussehen, daſs dieser nicht gering sein, daſs die
bornirte Aristokratie und die bornirte Bourgeoisie eben densel-
ben stumpfsinnigen Neid wie vor dem Ausbruch der Insurrection
jetzt nach ihrer Ueberwindung bethätigen, daſs die groſse Majo-
rität aller Parteien die im Augenblick der furchtbarsten Gefahr
gemachten halben Zugeständnisse im Stillen oder auch laut als
unzeitige Nachgiebigkeit bezeichnen und jeder Ausdehnung der-
selben sich leidenschaftlich widersetzen werde. Drusus Beispiel
hatte gezeigt, was dabei herauskam, wenn man conservative Re-
formen mit Hülfe der Senatsmajorität durchzusetzen unternahm;
es war vollkommen erklärlich, daſs sein Freund und Gesinnungs-
genosse in entschiedenster Opposition gegen die Senatsmajorität
und in den Formen der Demagogie verwandte Absichten zu rea-
lisiren versuchte. Rufus gab demnach sich keine Mühe durch den
Köder der Geschwornengerichte die Senatsmajorität für sich zu
gewinnen. Besseren Rückhalt fand er an den Freigelassenen und
vor allem an dem bewaffneten Gefolg — dem Bericht seiner Geg-
ner zufolge bestand es aus 3000 gedungenen Leuten und einem
‚Gegensenat‘ von 600 jungen Männern aus der besseren Klasse
—, mit dem er in den Straſsen und auf dem Markte erschien.
Seine Anträge stieſsen denn auch auf den entschiedensten Wi-
derstand bei der Majorität des Senats, welche zunächst um Zeit
zu gewinnen die Consuln Lucius Cornelius Sulla und Quin-
tus Pompeius Rufus, beides entschiedene Gegner der Dema-
gogie, bewog auſserordentliche religiöse Festlichkeiten anzu-
ordnen, während deren die Volksversammlungen ruhten. Ru-
fus antwortete mit einem sehr heftigen Aufstand, bei welchem
unter andern Opfern der junge Quintus Pompeius, der Sohn
des einen und Schwiegersohn des andern Consuls, den Tod
fand und das Leben der beiden Consuln selbst ernstlich bedroht
[243]SULPICISCHE REVOLUTION.
ward — Sulla soll sogar nur dadurch gerettet worden sein, daſs
Marius ihm sein Haus öffnete. Man muſste nachgeben; Sulla
verstand sich dazu die angekündigten Festlichkeiten abzusagen
und die sulpicischen Anträge gingen nun ohne Weiteres durch.
Allein es war damit ihr Schicksal noch keineswegs gesichert.
Mochte auch in der Hauptstadt sich die Aristokratie geschlagen
geben, so gab es jetzt — zum ersten Mal seit dem Beginn der
Revolution — noch eine andere Macht in Italien, die nicht über-
sehen werden durfte: die beiden starken und siegreichen Armeen
des Proconsuls Strabo und des Consuls Sulla. War auch Stra-
bos politische Stellung zweideutig und derselbe, namentlich
seit seine Hoffnung für 666 wieder zum Consul gewählt zu wer-
den getäuscht worden war, mit der Aristokratie gespannt, so
stand dagegen Sulla mit der Senatsmajorität im besten Einver-
nehmen, und hatte nur der offenbaren Gewalt für den Augenblick
sich gefügt. Unmittelbar nachdem er die Festlichkeiten abgesagt
hatte, war er nach Campanien abgegangen und hatte den Ober-
befehl seiner Armee übernommen. Den unbewaffneten Consul
durch die Knittelmänner oder die wehrlose Hauptstadt durch die
Schwerter der Legionen zu terrorisiren lief am Ende auf dasselbe
hinaus; Sulpicius erwartete, daſs der Gegner, jetzt wo er es
konnte, Gewalt mit Gewalt vergelten und an der Spitze seiner
Legionen nach der Hauptstadt zurückkehren werde, um den con-
servativen Demagogen mitsammt seinen Gesetzen über den Hau-
fen zu werfen. Vielleicht irrte er sich. Sulla beschäftigte sich
damit die Belagerung von Nola und die Anstalten zur Einschif-
fung nach Asien zu betreiben; er wünschte den Krieg gegen Mi-
thradates ebenso sehr, wie ihm grauen mochte vor dem haupt-
städtischen politischen Brodel, und bei seinem originellen Indif-
ferentismus und seiner unübertroffenen politischen Nonchalance
hat es groſse Wahrscheinlichkeit, daſs er den Staatsstreich, den
Sulpicius erwartete, keineswegs beabsichtigte. Indeſs wie dem
auch sein mag, Sulpicius entwarf, um diesen vermutheten Streich
zu pariren, den Plan Sulla den Oberbefehl abzunehmen und lieſs
zu diesem Ende mit Marius sich ein, dessen Name noch immer
hinreichend populär war um einen Antrag den Oberbefehl im
asiatischen Kriege auf ihn zu übertragen der Menge plausibel er-
scheinen zu lassen und dessen militärische Stellung und Capaci-
tät für den Fall eines Bruches mit Sulla eine wichtige Stütze
werden konnte. Die Gefahr, die darin lag den alten ebenso un-
fähigen als rach- und ehrsüchtigen Mann an die Spitze der cam-
panischen Armee zu stellen, mochte Sulpicius nicht übersehen
16*
[244]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
und ebenso wenig die arge Abnormität, einem Privatmann ein
auſserordentliches Obercommando durch Volksschluſs zu über-
tragen; aber eben Marius erprobte staatsmännische Incapacität
gab eine Art Garantie dafür, daſs er die Verfassung nicht ernst-
lich würde gefährden können, und vor allem war Sulpicius eigene
Lage, wenn er Sullas Absichten richtig beurtheilte, eine so be-
drohte, daſs dergleichen Rücksichten kaum mehr in Betracht ka-
men. Daſs der abgestandene Held selbst bereitwillig jedem ent-
gegenkam, der ihn als Condottier gebrauchen wollte, versteht
sich von selbst; nach dem Oberbefehl nun gar in einem asiati-
schen Krieg gelüstete sein Herz seit vielen Jahren und nicht
weniger vielleicht danach einmal gründlich abzurechnen mit der
Senatsmajorität. Demnach erhielt auf Antrag des Sulpicius
durch Beschluſs des Volkes Gaius Marius mit auſserordentlicher
höchster oder sogenannter proconsularischer Gewalt das Com-
mando der campanischen Armee und den Oberbefehl in dem
Krieg gegen Mithradates und es wurden, um das Heer von Sulla
zu übernehmen, zwei Volkstribunen in das Lager von Nola ab-
gesandt.
Die Botschaft kam an den unrechten Mann. Wenn irgend je-
mand berufen war den Oberbefehl im asiatischen Kriege zu führen,
so war es Sulla. Er hatte wenige Jahre zuvor mit dem gröſsten Er-
folge auf demselben Kriegsschauplatz commandirt; er hatte mehr
als irgend ein anderer Mann beigetragen zur Ueberwältigung der
gefährlichen italischen Insurrection; ihm als Consul des Jahres, in
welchem der asiatische Krieg zum Ausbruch kam, war in der her-
gebrachten Weise und mit voller Zustimmung seines ihm befreun-
deten und verschwägerten Collegen das Commando in demselben
übertragen worden. Es war ein starkes Ansinnen einen unter sol-
chen Verhältnissen übernommenen Oberbefehl nach Beschluss der
souveränen Bürgerschaft von Rom abzugeben an einen alten mili-
tärischen und politischen Antagonisten, in dessen Händen die
Armee, Niemand mochte sagen zu welchen Gewaltsamkeiten und
Verkehrtheiten miſsbraucht werden konnte. Sulla war weder gut-
müthig genug um freiwillig einem solchen Befehl Folge zu leisten,
noch abhängig genug um es zu müssen. Sein Heer war, theils
durch die Folgen der von Marius herrührenden Umgestaltungen des
Heerwesens, theils durch die von Sulla gehandhabte sittlich lockere
und militärisch strenge Disciplin, wenig mehr als eine ihrem Füh-
rer unbedingt ergebene und in politischen Dingen indifferente
Lanzknechtschaar. Sulla selbst war ein blasirter, kalter und klarer
Kopf, dem die souveräne römische Bürgerschaft ein Pöbelhaufen
[245]SULPICISCHE REVOLUTION.
war, der Held von Aquae Sextiae ein bankerotter Schwindler, die for-
melle Legalität eine Phrase, Rom selbst eine Stadt ohne Besatzung
und mit halb verfallenen Mauern, die viel leichter erobert werden
konnte als Nola. In diesem Sinne handelte er. Er versammelte seine
Soldaten — es waren sechs Legionen oder etwa 35000 Mann — und
setzte ihnen die von Rom angelangte Botschaft auseinander, nicht
vergessend ihnen anzudeuten, daſs der neue Oberfeldherr ohne
Zweifel nicht dieses Heer, sondern andere neu gebildete Truppen
nach Kleinasien führen werde. Die höheren Offiziere hielten sich
zurück und folgten mit Ausnahme eines einzigen dem Feldherrn
nicht gegen die Hauptstadt; allein die Soldaten, die nach früheren
Erfahrungen (I, 643) in Asien einen bequemen Krieg und unend-
liche Beute zu finden hofften, brausten auf; in einem Nu waren
die beiden von Rom gekommenen Tribunen zerrissen und von
allen Seiten erscholl der Zuruf, daſs der Feldherr sie führen möge
auf Rom zu. Unverweilt brach der Consul auf, und unterwegs
seinen gleichgesinnten Collegen an sich ziehend, gelangte er in
raschen Märschen, wenig sich kümmernd um die von Rom ihm
entgegeneilenden Abgesandten, die ihn aufzuhalten versuchten,
bis unter die Mauern der Hauptstadt. Unerwartet sah man Sul-
las Heersäulen sich aufstellen an der Tiberbrücke und am collini-
schen und esquilinischen Thore, und sodann zwei Legionen in
Reih und Glied, ihre Feldzeichen voran, den gefriedeten Mauer-
ring überschreiten, jenseit dessen das Gesetz den Krieg gebannt
hatte. So viel schlimmer Hader, so viele bedeutende Fehden waren
innerhalb dieser Mauern zum Austrag gekommen, ohne daſs ein
römisches Heer den heiligen Stadtfrieden gebrochen hätte; jetzt
geschah es zunächst um der elenden Frage willen, ob dieser oder
jener Offizier berufen sei im Osten zu commandiren. Die ein-
rückenden Legionen gingen vor bis auf die Höhe des Esquilin;
allein die von den Dächern herabregnenden Geschosse und Steine
drängten die Soldaten wieder zurück. Da erhob Sulla hoch die
flammende Fackel und, mit Brandpfeilen und Anzündung der
Häuser drohend, konnten die Legionen bald wieder ihren Marsch
fortsetzen. Auf dem esquilinischen Marktplatz (unweit S. Ma-
ria Maggiore) wartete ihrer die eiligst von Marius und Sulpicius
zusammengeraffte Mannschaft und warf durch Ueberzahl die ein-
dringenden Colonnen zurück. Aber es kam denselben Verstär-
kung von den Thoren; eine andere Abtheilung der Sullaner
machte Anstalt sie auf der Suburastraſse zu umgehen; sie muſs-
ten zurück. Am Tempel der Tellus, wo der Esquilin anfängt
sich gegen den groſsen Marktplatz zu senken, versuchte Marius
[246]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
sich wieder zu setzen; er beschwor Senat und Ritter und die ge-
sammte Bürgerschaft den Legionen sich entgegenzuwerfen; es
war vergebens. Selbst als die Sclaven unter dem Versprechen
der Freiheit aufgefordert wurden sich zu bewaffnen, erschienen
deren nicht mehr als drei. Es blieb den Führern nichts übrig
als eiligst durch die noch unbesetzten Thore zu entrinnen; nach
wenigen Stunden war Sulla unbeschränkter Herr von Rom. Diese
Nacht brannten die Wachtfeuer der Legionen auf dem groſsen
Marktplatz der Hauptstadt.
Die erste militärische Intervention in den bürgerlichen Feh-
den hatte es zur vollen Evidenz gebracht, sowohl daſs die poli-
tischen Kämpfe auf dem Punct angekommen waren, wo nur noch
offene und unmittelbare Gewalt die Entscheidung giebt, als auch
daſs die Gewalt des Knittels nichts ist gegen die Gewalt des Schwer-
tes. Es war die conservative Partei, die zuerst das Schwert ge-
zogen hatte; die entgegenstehende, die, wenn gleich ausgehend
von reformistischen und im Grunde wahrhaft conservativen Ten-
denzen, doch zuerst die Bahn der Revolution betreten hatte, war
durch das Schwert der Verfassungspartei völlig und schmäh-
lich geschlagen. Von selbst verstand es sich, daſs die sulpici-
schen Gesetze als von Rechtswegen nichtig bezeichnet wurden.
Ihr Urheber und seine namhaftesten Anhänger hatten sich ge-
flüchtet; sie wurden, zwölf an der Zahl, von dem Senat als Vater-
landsfeinde bezeichnet und zur Fahndung und Hinrichtung aus-
geschrieben. Publius Sulpicius ward in Folge dessen bei Lau-
rentum ergriffen und niedergemacht und das an Sulla gesandte
Haupt des Tribuns nach dessen Anordnung auf dem Markt auf
eben derselben Rednerbühne zur Schau gestellt, wo er selbst
noch wenige Tage zuvor in voller Jugend- und Rednerkraft ge-
standen hatte. Die andern Geächteten wurden verfolgt; auch dem
alten Gaius Marius waren die Mörder auf den Fersen. Wie der
Feldherr auch die Erinnerung an seine glorreichen Tage durch
eine Kette von Erbärmlichkeiten getrübt haben mochte, jetzt, wo
der Retter des Vaterlandes um sein Leben lief, war er wieder der
Sieger von Vercellae und mit athemloser Spannung vernahm man
in ganz Italien die Ereignisse seiner wundersamen Flucht. In
Ostia hatte er ein Fahrzeug bestiegen um nach Africa sich ein-
zuschiffen; allein widrige Winde und Mangel an Vorräthen zwan-
gen ihn am circeischen Vorgebirg zu landen und auf gut Glück
in die Irre zu gehen. Von Wenigen begleitet und keinem Dach
sich anvertrauend gelangte der greise Consular zu Fuſs, oft vom
Hunger gepeinigt, in die Nähe der römischen Colonie Minturnae
[247]SULPICISCHE REVOLUTION.
an der Mündung des Garigliano. Hier zeigten sich in der Ferne
die verfolgenden Reiter; mit genauer Noth ward das Ufer erreicht
und ein dort liegendes Handelsschiff entzog ihn seinen Verfol-
gern; allein die ängstlichen Schiffer legten bald wieder an und
suchten das Weite, während Marius am Strande schlief. In dem
Strandsumpf von Minturnae, bis zum Gürtel im Schlamm ver-
sunken und das Haupt unter einem Schilfhaufen verborgen, fan-
den ihn seine Verfolger und lieferten ihn ab an die Stadtbehörde
von Minturnae. Er ward ins Gefängniſs gelegt und der Stadtbüt-
tel, ein kimbrischer Sclave, gesandt ihn hinzurichten; allein der
Deutsche erschrak vor den blitzenden Augen seines alten Besie-
gers und das Beil entsank ihm, als der General mit seiner ge-
waltigen Stimme ihn anherrschte, ob er der Mann sei den Gaius
Marius zu tödten. Als man dies vernahm, ergriff die Beamten
von Minturnae die Scham, daſs der Retter Roms gröſsere Ehr-
furcht finde bei den Sclaven, denen er die Knechtschaft, als bei
den Mitbürgern, denen er die Freiheit gebracht hatte; sie lösten
seine Fesseln, gaben ihm Schiff und Reisegeld und sandten ihn
nach Aenaria (Ischia). Die Verbannten mit Ausnahme des Sul-
picius fanden in diesen Gewässern sich allmählich zusammen;
sie liefen am Eryx und bei dem ehemaligen Karthago an, allein
die römischen Beamten wiesen sie in Sicilien wie in Africa zu-
rück. So entrannen sie nach Numidien, dessen öde Stranddünen
ihnen einen Zufluchtsort für den Winter gewährten; allein der
König Hiempsal, den sie zu gewinnen hofften und der auch eine
Zeitlang sich die Miene gegeben hatte mit ihnen sich verbinden
zu wollen, hatte es nur gethan, um sie sicherer zu verderben und
versuchte jetzt sich ihrer Personen zu bemächtigen. Mit genauer
Noth entrannen die Flüchtlinge seinen Reitern und fanden vor-
läufig eine Zuflucht auf der kleinen Insel Kerkina (Kerkena) an der
tunesischen Küste. Wir wissen es nicht, ob Sulla seinem Glücks-
stern auch dafür dankte, daſs es ihm erspart blieb den Kimbren-
sieger tödten zu lassen; wenigstens scheint es nicht, daſs er die
minturnensischen Beamten hat bestrafen lassen. — Wichtiger
indeſs als diese Maſsregeln der Reaction und der Rache war
eine Reihe von gesetzlichen Bestimmungen, die Sulla traf um
die vorhandenen Uebelstände zu beseitigen und künftige Umwäl-
zungen zu verhüten. Die bedrängte Lage der Schuldner wurde,
wahrscheinlich durch Erneuerung der Vorschriften über das
Zinsmaximum *, verbessert, ferner die Ausführung einer Anzahl
[248]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
von Colonien angeordnet. Es wurde der in den Schlachten und
Prozessen des Bundesgenossenkrieges sehr zusammengeschwun-
dene Senat ergänzt durch die Aufnahme von 300 neuen Senato-
ren, deren Auswahl natürlich im optimatischen Interesse getroffen
ward. Endlich wurden hinsichtlich des Wahlmodus und der le-
gislatorischen Initiative wesentliche Aenderungen vorgenommen.
Die im J. 513 eingeführte Stimmordnung der Centuriatcomitien
(I, 602), in der die fünf Vermögensclassen jede gleich viel Stim-
men besaſsen, wurde wieder vertauscht mit der alten serviani-
schen, nach der die erste Steuerklasse mit einem Vermögen
von 100000 Sesterzen (7150 Thlr.) oder mehr allein fast
die Hälfte der Stimmen inne hatte. Thatsächlich ward damit für
die Wahl der Consuln, Praetoren und Censoren ein Census ein-
geführt, der die nicht Wohlhabenden vom activen Wahlrecht
der Sache nach ausschloſs. Die legislatorische Initiative wurde
den einzelnen Beamten, namentlich den Volkstribunen, dadurch
beschränkt, daſs jeder Antrag fortan zunächst dem Senat vorge-
legt werden muſste und erst, wenn dieser ihn gebilligt hatte, vor
das Volk gelangen konnte. — Diese durch den sulpicischen Re-
volutionsversuch hervorgerufenen Verfügungen desjenigen Man-
nes, der darin als Schild und Schwert der Verfassungspartei auf-
getreten war, des Consuls Sulla, tragen einen ganz eigenthüm-
lichen Charakter. Sulla wagte es ohne die Bürgerschaft oder
Geschworne zu fragen, über zwölf der angesehensten Männer,
darunter den berühmtesten General seiner Zeit, das Todesurtheil
und die Acht auszusprechen und öffentlich zu diesen Hinrich-
tungen sich zu bekennen; eine Verletzung der altheiligen Provo-
cationsgesetze, die selbst von sehr conservativen Männern, wie
zum Beispiel von Quintus Scaevola, strengen Tadel erfuhr. Er
wagte es eine seit anderthalb Jahrhunderten bestehende Wahl-
ordnung umzustoſsen und den seit langem verschollenen und
verfehmten Wahlcensus wieder herzustellen. Er wagte es das
Recht der Legislation seinen beiden uralten Factoren, den Beam-
ten und den Comitien, thatsächlich zu entziehen und es auf eine
Behörde zu übertragen, die seit ältesten Zeiten kein anderes
Recht in dieser Hinsicht besessen hatte als das gefragt werden
zu können *. Kaum hatte je ein Demokrat in so tyrannischen
*
[249]SULPICISCHE REVOLUTION.
Formen Justiz geübt, mit so rücksichtsloser Kühnheit an den
Fundamenten der Verfassung gerüttelt und gemodelt wie dieser
conservative Reformator. Sieht man aber auf die Sache statt
auf die Form, so gelangt man zu sehr verschiedenen Ergebnis-
sen. Revolutionen sind nirgends und am wenigsten in Rom be-
endigt worden ohne eine gewisse Zahl von Opfern zu fordern,
welche in mehr oder minder der Justiz abgeborgten Formen die
Schuld überwunden zu sein gleichsam als ein Verbrechen büſsen.
Wer sich erinnert an die prozessualischen Consequenzen, wie
sie die siegende Partei nach dem Sturz der Gracchen und des
Saturninus gezogen hatte (S. 85. 117. 199), der fühlt sich ge-
neigt, dem Sieger vom esquilinischen Markt das relative Lob der
Offenheit und Mäſsigung zu ertheilen, indem er einmal ohne viele
Umstände das, was Krieg war, auch als Krieg nahm und die ge-
schlagenen Männer als rechtlose Feinde in die Acht erklärte;
zweitens die Zahl der Opfer möglichst beschränkte und wenig-
stens das widerliche Wüthen gegen die geringen Leute nicht ge-
stattete. Eine ähnliche Mäſsigung zeigt sich in den politischen
Organisationen. Die wichtigste und scheinbar durchgreifendste
Neuerung hinsichtlich der Gesetzgebung brachte in der That nur
den Buchstaben der Verfassung mit dem Geist derselben in Ein-
klang. Die römische Legislation, wo jeder Consul, Praetor oder
Tribun jede beliebige Maſsregel bei der Bürgerschaft beantragen
und ohne Debatte zur Abstimmung bringen konnte, war von Haus
aus absurd gewesen und mit der steigenden Nullität der Comitien es
immer mehr geworden; sie ward nur ertragen, weil factisch
der Senat sich das Vorberathungsrecht vindicirt hatte und regel-
mäſsig jeden ohne solche Vorberathung zur Abstimmung ge-
langenden Antrag durch politische oder religiöse Intercession
gewohnt war zu ersticken (I, 200). Diese Dämme hatte die Re-
volution fortgeschwemmt und in Folge dessen fing nun jenes ab-
surde System an seine Consequenzen vollständig zu entwickeln
und jedem muthwilligen Buben den Umsturz des Staats in
formell legaler Weise möglich zu machen. Was war unter sol-
chen Umständen natürlicher, nothwendiger, im rechten Sinne
conservativer als das thatsächliche und bisher auf Umwegen rea-
lisirte Legislationsrecht des Senats jetzt förmlich und ausdrück-
lich anzuerkennen? Etwas Aehnliches gilt von der Erneuerung
des Wahlcensus. Die ältere Verfassung ruhte durchaus auf dem-
*
[250]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
selben; auch die Reform von 513 hatte die Bevorzugung der Ver-
mögenden wohl beschränkt, aber doch streng daran festgehalten
den unter 11000 Sesterzen (786 Thlr.) abgeschätzten Bürgern
keinerlei Einfluſs auf die Wahlen zu gestatten. Schon wegen der
ungeheuren finanziellen Umwandlung, die inzwischen eingetreten
war und selbst eine nominelle Erhöhung des Minimalcensus ge-
rechtfertigt haben würde, konnte man auch von dieser Maſsregel
sagen, daſs sie den Buchstaben der Verfassung dem Geiste dersel-
ben opferte und dem schändlichen Stimmenkauf sammt allem was
daran hing in der möglichst milden Form zu wehren wenigstens
versuchte. Endlich die Bestimmungen zu Gunsten der Schuldner,
die Wiederaufnahme der Colonisationspläne gaben den redenden
Beweis, daſs Sulla, wenn er auch nicht gemeint war Sulpicius
leidenschaftlichen Anträgen beizupflichten, doch eben wie er und
wie Drusus, wie überhaupt alle heller sehenden Aristokraten, den
materiellen Reformen an sich geneigt war; wobei nicht überse-
hen werden darf, daſs er diese Maſsregeln nach dem Siege und
durchaus freiwillig beantragte. Wenn man hiemit verbindet, daſs
Sulla die hauptsächlichen Fundamente der gracchischen Verfas-
sung bestehen lieſs und weder an den Rittergerichten noch an
den Kornvertheilungen rüttelte, so wird man das Urtheil gerecht-
fertigt finden, daſs die sullanische Ordnung von 666 den seit dem
Sturz des Gaius Gracchus bestehenden Status quo wesentlich fest-
hielt und nur theils die der bestehenden Verfassung zunächst Gefahr
drohenden überlieferten Satzungen zeitgemäſs änderte, theils den
vorhandenen socialen Uebeln nach Kräften abzuhelfen suchte,
so weit beides sich thun lieſs ohne die tieferliegenden Schäden
zu berühren. Energische Verachtung des constitutionellen For-
malismus in Verbindung mit ernstem verfassungstreuem Sinn,
klare Einsichten und löbliche Absichten bezeichnen durchaus diese
Gesetzgebung; ebenso aber eine gewisse Leichtfertigkeit und
Oberflächlichkeit, wie denn namentlich sehr viel guter Wille dazu
gehörte um zu glauben, daſs das Vorberathungsrecht des Senats
gegen die künftige Demagogie sich widerstandsfähiger erweisen
werde als das Intercessionsrecht und die Religion.
In der That stiegen an dem reinen Himmel der Conserva-
tiven sehr bald neue Wolken auf. Die asiatischen Verhältnisse
nahmen einen immer drohenderen Charakter an. Schon hatte der
Staat dadurch, daſs die sulpicische Revolution den Abgang des
Heeres nach Asien verzögert hatte, den schwersten Schaden er-
litten; die Einschiffung konnte auf keinen Fall länger verschoben
werden. Inzwischen hoffte Sulla theils in den Consuln, die nach
[251]SULPICISCHE REVOLUTION.
der neuen Wahlordnung gewählt werden würden, theils beson-
ders in den mit der Bezwingung der Reste der italischen Insur-
rection beschäftigten Armeen Garantieen gegen einen neuen Sturm
auf die Oligarchie in Italien zurückzulassen. Allein in den Con-
sularcomitien fiel die Wahl nicht auf die von Sulla aufgestellten
Candidaten, sondern neben Gnaeus Octavius, einem allerdings
streng optimatisch gesinnten Mann, auf Lucius Cornelius Cinna,
der zur entschiedensten Opposition gehörte. Vermuthlich war
es hauptsächlich die Capitalistenpartei, die mit dieser Wahl dem
Urheber des Zinsgesetzes vergalt. Sulla nahm die unbequeme
Wahl mit der Erklärung hin, daſs es ihn freue die Bürger von
ihrer verfassungsmäſsigen Wahlfreiheit Gebrauch machen zu se-
hen, und begnügte sich beiden Consuln den Schwur abzuneh-
men auf treue Beobachtung der bestehenden Verfassung. Von
den Armeen kam es vornämlich auf die Nordarmee an, da die
campanische gröſstentheils nach Asien abzugehen bestimmt war.
Sulla lieſs durch Volksschluſs das Commando über jene auf sei-
nen treuergebenen Collegen Quintus Rufus übertragen und den
bisherigen Feldherrn Gnaeus Strabo in möglichst schonender
Weise zurückrufen, um so mehr als dieser der Ritterpartei an-
gehörte und seine passive Haltung während der sulpicischen Un-
ruhen der Aristokratie nicht geringe Bedenken erregt hatte. Ru-
fus traf bei dem Heer ein und übernahm an Strabos Stelle den
Oberbefehl; allein wenige Tage nachher ward er von den Solda-
ten erschlagen und Strabo trat wieder zurück in das kaum abge-
gebene Commando. Er galt als der Anstifter des Mordes; gewiſs
ist es, daſs er ein Mann war, zu dem man solcher That sich ver-
sehen konnte, der die Früchte der Unthat erntete und die wohl-
bekannten Urheber nur mit Worten strafte. Mehr hatte auch
Sulla nicht gethan, als seine Soldaten den Albinus erschlagen
hatten; er lieſs auch dies hingehen. Als sein Consulat zu Ende
ging, sah sich Sulla einerseits von seinem Nachfolger Cinna ge-
drängt endlich nach Asien abzugehen, wo seine Anwesenheit al-
lerdings dringend Noth that, andrerseits von einem der neuen Tri-
bune vor das Volksgericht geladen; es war dem blödesten Auge
klar, daſs ein neuer Sturm sich vorbereitete und daſs die Gegner
seine Entfernung wünschten. Sulla hatte die Wahl mit Cinna,
vielleicht mit Strabo es zum Bruche zu treiben und abermals auf
Rom zu marschiren oder die italischen Angelegenheiten gehen zu
lassen wie sie konnten und mochten und nach einem andern Welt-
theil sich zu entfernen. Sulla entschied sich — ob mehr aus Pa-
triotismus oder mehr aus Indifferenz, wird nie ausgemacht wer-
[252]VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
den — für die letztere Alternative, übergab das in Samnium
zurückbleibende Corps dem zuverlässigen und kriegskundigen
Quintus Metellus Pius, der an Sullas Stelle den proconsulari-
schen Oberbefehl in Unteritalien übernahm, die Leitung der Be-
lagerung von Nola dem Propraetor Appius Claudius, und schiffte
im Anfang des J. 667 mit seinen Legionen nach dem hellenischen
Osten sich ein.
[[253]]
KAPITEL VIII.
Der Osten und König Mithradates.
Die athemlose Spannung, in welcher die Revolution mit
ihrem ewig sich erneuernden Feuerlärm und Löschungsruf die
römische Regierung erhielt, war die Ursache, daſs dieselbe die
Provinzialverhältnisse überhaupt aus den Augen verlor, am mei-
sten aber die des asiatischen Ostens, dessen ferne und unkrie-
gerische Nationen nicht so unmittelbar wie Africa, Spanien und
die transalpinischen Nachbarn der Beachtung der Regierung sich
aufdrängten. Nach der Einziehung des attalischen Königreiches,
die mit dem Ausbruch der Revolution zusammenfällt, ist ein vol-
les Menschenalter hindurch kaum irgend eine ernstliche Bethei-
ligung Roms an den orientalischen Angelegenheiten nachzuwei-
sen, mit Ausnahme der durch die maſslose Dreistigkeit der kili-
kischen Piraterie den Römern abgedrungenen Einrichtung der
Provinz Kilikien im J. 652 (S. 127), welche der Sache nach
auch nichts weiter war als die Anordnung einer bleibenden Sta-
tion für eine kleine römische Heer- und Flottenabtheilung in den
östlichen Gewässern. Erst nachdem die marianische Katastrophe
im J. 654 die Restaurationsregierung einigermaſsen consolidirt
hatte, begann die römische Regierung aufs Neue den Ereignissen
im Osten einige Aufmerksamkeit zuzuwenden.
In vieler Hinsicht waren die Verhältnisse noch dieselben wie
ein Menschenalter zuvor. Das Reich Aegypten mit seinen beiden
Nebenländern Kyrene und Kypros löste mit dem Tode Euerge-
tes II. (637) theils rechtlich, theils factisch sich auf. Kyrene kam
an den natürlichen Sohn desselben Ptolemaeos Apion und trennte
[254]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
sich auf immer von dem Hauptland. Um die Herrschaft in die-
sem haderten die Wittwe des letzten Königs Kleopatra († 665)
und dessen beide Söhne Soter II. Lathyros († 673) und Alexan-
der I. († 666), was die Ursache ward, daſs auch Kypros auf längere
Zeit von Aegypten sich schied. Die Römer griffen in diese Wir-
ren nicht ein; ja als ihnen im J. 658 das kyrenische Reich durch
das Testament des kinderlosen Königs Apion anfiel, schlugen sie
diesen Erwerb zwar nicht geradezu aus, aber überlieſsen doch die
Landschaft im Wesentlichen sich selbst, indem sie die griechi-
schen Städte des Reiches, Kyrene Ptolemais Berenike zu Frei-
städten erklärten und denselben sogar die Nutzung der königli-
chen Domänen überwiesen. Die Oberaufsicht, die der Statthalter
von Africa über das Gebiet zu führen hatte, war bei dessen Ent-
legenheit noch weit mehr eine bloſs nominelle als die des Statt-
halters von Makedonien über die hellenischen Freistädte. Die
Folgen dieser Maſsregel, die nicht aus dem Philhellenismus, son-
dern ohne Zweifel lediglich aus der Schwäche und Nachlässigkeit
der römischen Regierung hervorging, waren wesentlich dieselben,
die unter gleichen Verhältnissen in Hellas eingetreten waren: Bür-
gerkriege und Usurpationen zerrissen die Landschaft so sehr,
daſs, als dort zufällig im J. 668 ein höherer römischer Offizier
erschien, die Einwohner ihn dringend ersuchten ihre Verhältnisse
zu ordnen und ein dauerhaftes Regiment bei ihnen zu begründen.
— Auch in Syrien war es in der Zwischenzeit nicht viel anders,
am wenigsten besser geworden. Während des zwanzigjährigen
Erbfolgekrieges der beiden Halbbrüder Antiochos Grypos († 658)
und Antiochos von Kyzikos († 659), der sich nach dem Tode
derselben auf ihre Söhne forterbte, ward das Reich, um das man
stritt, fast zu einem eitlen Namen, in dem die kilikischen See-
könige, die Araberscheiks der syrischen Wüste, die Fürsten der
Juden und die Magistrate der gröſseren Städte fast mehr zu sa-
gen hatten als die Träger des Diadems. Inzwischen setzten im
westlichen Kilikien die Römer sich fest, und ging das wichtige
Mesopotamien definitiv über an die Parther. — Die Monarchie
der Arsakiden hatte, hauptsächlich in Folge der Einfälle turani-
scher Stämme, um die Zeit der Gracchen eine gefährliche Krise
durchzumachen gehabt; erst der neunte Arsakide, Mithrada-
tes II. oder der Groſse (630?-667?) hatte dem Staat seine
überwiegende Stellung in Asien zurückgegeben, die Skythen zu-
rückgeschlagen und gegen Syrien und Armenien die Grenze des
Reiches vorgeschoben. Allein gegen das Ende seiner Regierung
lähmten neue Unruhen sein Regiment; während die Groſsen des
[255]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
Reiches, ja der eigene Bruder Orodes gegen den König sich auf-
lehnten und endlich dieser Bruder ihn stürzte und tödten lieſs,
gab der König von Armenien Tigranes (reg. seit 660) den asia-
tischen Verhältnissen eine ganz andere Gestalt. Armenien, das
seit seiner Selbstständigkeitserklärung in die nordöstliche Hälfte
oder das eigentliche Armenien, das Reich der Artaxiaden, und die
südwestliche oder Sophene, das Reich der Zariadriden, getheilt
gewesen war, wurde durch den Artaxiaden Tigranes zum ersten-
mal zu einem Königreich vereinigt, und theils diese Machtverdop-
pelung, theils die Schwäche der parthischen Herrschaft machten
es dem neuen König von ganz Armenien möglich nicht bloſs aus
der Clientel der Parther sich zu lösen und die früher an sie abgetre-
tenen Landschaften zurückzugewinnen, sondern sogar das Ober-
königthum von Asien, wie es von den Achämeniden auf die Se-
leukiden und von diesen auf die Arsakiden übergegangen war, an
Armenien zu bringen. — In Kleinasien endlich bestand die Län-
dertheilung, wie sie nach Auflösung des attalischen Reiches unter
römischer Einwirkung festgestellt worden war (S. 52), wesent-
lich ungeändert; auſser daſs Groſsphrygien, nachdem Gaius
Gracchus die Verhandlungen zwischen Mithradates Euergetes und
dem Consul Aquillius aufgedeckt hatte (S. 109), dem König von
Pontos wieder entzogen und als freie Landschaft mit der römi-
schen Provinz Asia, wie Hellas mit Makedonien, verbunden worden
war (um 634). In dem Zustande der Clientelstaaten, der Kö-
nigreiche Bithynien, Kappadokien, Pontos, der Fürstenthümer
Paphlagoniens und Galatiens, der zahlreichen Städtebünde und
Freistädte, war eine äuſserliche Umänderung zunächst nicht wahr-
zunehmen. Innerlich hatte dagegen der Charakter der römischen
Herrschaft allerdings überall sich wesentlich umgestaltet. Theils
durch die natürliche Steigerung des tyrannischen Regiments,
theils durch die mittelbare Einwirkung der römischen Revolution
— man erinnere sich an die Einziehung des Bodeneigenthums
in der Provinz Asien durch Gaius Gracchus, an die römischen
Zehnten und Zölle und an die Menschenjagden, die die Zöllner
daselbst nebenbei betrieben — ward der schon von Haus aus
schwere Druck der römischen Herrschaft in einer Weise erhöht,
daſs weder die Königskrone noch die Bauernhütte mehr sicher
war vor Confiscation, daſs jeder Halm für den römischen Zehnt-
herrn zu wachsen, jedes Kind freier Aeltern für die römischen
Sclavenzwinger geboren zu werden schien. Zwar ertrug der
Asiate in seiner unerschöpflichen Passivität auch diese Qual;
allein es war nicht Geduld und Ueberlegung, die ihn ruhig tragen
[256]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
hieſsen, sondern der eigenthümlich orientalische Mangel der Ini-
tiative und es konnten in diesen friedlichen Landschaften, unter
diesen weichlichen Nationen wunderbare, schreckhafte Dinge
sich ereignen, wenn einmal ein Mann unter sie trat, der es ver-
stand das Zeichen zu geben.
Es regierte damals in Kappadokien am schwarzen Meer oder
im Reiche Pontus König Mithradates VI. mit dem Beinamen Eu-
pator (geb. um 624, † 691), der sein Geschlecht von väterlicher
Seite im sechzehnten Glied auf den König Dareios Hystaspes
Sohn, im achten auf den Stifter des pontischen Reiches Mithra-
dates I. zurückführte, von mütterlicher den Alexandriden und
Seleukiden entstammte. Nach dem frühen Tode seines Vaters
Mithradates Euergetes, der in Sinope von Mörderhand fiel, war
er um 634 als elfjähriger Knabe König genannt worden; allein
das Diadem brachte ihm nur Noth und Gefahr. Die Vormünder,
ja wie es scheint die eigene durch des Vaters Testament zur Mit-
regierung berufene Mutter standen dem königlichen Knaben nach
dem Leben; es wird erzählt, daſs er, um den Dolchen seiner ge-
setzlichen Beschützer sich zu entziehen, in die Irre gegangen sei
und sieben Jahre hindurch Nacht für Nacht die Ruhestätte wech-
selnd, ein Flüchtling in seinem eigenen Reiche, ein heimathloses
Jägerleben geführt habe. Also ward der Knabe ein gewaltiger
Mann. Wenngleich unsere Berichte über ihn im Wesentlichen
auf die schriftlichen Aufzeichnungen der Zeitgenossen zurück-
gehen, so hat dennoch die im Orient blitzschnell sich bildende
Sage den mächtigen König früh geschmückt mit manchen der
Züge ihrer Simson und Rustem; aber auch diese gehören zum
Charakter eben wie die Wolkenkrone zum Charakter der höch-
sten Bergspitzen: die Grundlinien des Bildes erscheinen in bei-
den Fällen nur farbiger und phantastischer, nicht getrübt noch
wesentlich geändert. Die Waffenstücke, die dem riesengroſsen
Leibe des Königs Mithradates paſsten, erregten das Staunen der
Asiaten und mehr noch der Italiker. Als Läufer überholte er das
schnellste Wild; als Reiter bändigte er das wilde Roſs und ver-
mochte mit gewechselten Pferden an einem Tage bis 25 deutsche
Meilen zurückzulegen; als Wagenlenker fuhr er mit Sechszehn
und gewann im Wettrennen manchen Preis — freilich war es
gefährlich in solchem Spiel dem König obzusiegen. Auf der Jagd
traf er das Wild im vollen Galopp vom Pferde herab ohne zu
fehlen; aber auch an der Tafel suchte er seines Gleichen — er
veranstaltete wohl Wettschmäuse und gewann darin selber die
für den derbsten Esser und für den tapfersten Trinker ausge-
[257]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
setzten Preise — und nicht minder in den Freuden des Harem,
wie unter Anderm die zügellosen Billets seiner griechischen Kebs-
weiber bewiesen, die sich unter seinen Papieren fanden. Seine
geistigen Bedürfnisse befriedigte er im wüstesten Aberglauben —
Traumdeuterei und das griechische Mysterienwesen füllten nicht
wenige der Stunden des Königs aus — und in einer rohen An-
eignung der hellenischen Civilisation. Er liebte griechische Kunst
und Musik, das heiſst er sammelte Pretiosen, reiches Geräth,
alte persische und griechische Prachtstücke — sein Ringkabinet
war berühmt —, hatte stets griechische Geschichtsschreiber, Phi-
losophen, Poeten in seiner Umgebung und setzte bei seinen Hof-
festen neben den Preisen für Essen und Trinken auch welche aus
für den lustigsten Spaſsmacher und den besten Sänger. So war
der Mensch; der Sultan entsprach ihm. Im Orient, wo das Ver-
hältniſs des Herrschers und der Beherrschten mehr den Cha-
rakter des Natur- als des sittlichen Gesetzes trägt, ist der Unter-
than hündisch treu und hündisch falsch, der Herrscher grausam
und miſstrauisch. In beidem ist Mithradates kaum übertroffen
worden. Auf seinen Befehl starben oder verkamen in ewiger Haft
wegen wirklicher oder angeblicher Verrätherei seine Mutter, sein
Bruder, seine ihm vermählte Schwester, drei seiner Söhne und
ebensoviele seiner Töchter. Vielleicht noch empörender ist es,
daſs sich unter seinen geheimen Papieren im Voraus aufgesetzte
Todesurtheile gegen mehrere seiner vertrautesten Diener vor-
fanden. Ebenso ist es ächt sultanisch, daſs er späterhin, nur um
seinen Feinden die Siegstrophäen zu entziehen, seinen ganzen
Harem tödten lieſs und seine geliebteste Kebse, eine schöne
Ephesierin, dadurch auszeichnete, daſs er ihr die Wahl der Todes-
art freigab. Das experimentale Studium der Gifte und Gegengifte
betrieb er als einen wichtigen Zweig der Regierungsgeschäfte
und versuchte seinen Körper an einzelne Gifte zu gewöhnen.
Verrath und Mord hatte er von früh auf von Jedermann und zu-
meist von den Nächsten erwarten und gegen Jedermann und zu-
meist gegen die Nächsten üben gelernt; wovon denn die noth-
wendige und durch seine ganze Geschichte belegte Folge war,
daſs all seine Unternehmungen schlieſslich miſslangen durch die
Treulosigkeit seiner Vertrauten. Dabei begegnen wohl einzelne
Züge von hochherziger Gerechtigkeit; wenn er Verräther bestrafte,
schonte er in der Regel diejenigen, welche nur durch ihr persön-
liches Verhältniſs zu dem Hauptverbrecher mitschuldig geworden
waren; allein dergleichen Anfälle von Billigkeit fehlen bei keinem
rohen Tyrannen. Was Mithradates in der That auszeichnet unter
Röm. Gesch. II. 17
[258]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
der groſsen Anzahl gleichartiger Sultane, ist seine grenzenlose
Rührigkeit. Eines schönen Morgens war er aus seiner Hofburg
verschwunden und blieb Monate lang verschollen, so daſs man
ihn bereits verloren gab; als er zurückkam, hatte er unerkannt
ganz Vorderasien durchwandert und Land und Leute überall mi-
litärisch erkundet. Von gleicher Art ist es, daſs er nicht bloſs
überhaupt ein redefertiger Mann war, sondern auch den zwei-
undzwanzig Nationen, über die er gebot, jeder in ihrer Zunge
Recht sprach, ohne eines Dollmetschers zu bedürfen — ein be-
zeichnender Zug für den regsamen Herrscher des sprachenrei-
chen Ostens. Denselben Charakter trägt seine ganze Regenten-
thätigkeit. So weit wir sie kennen — denn von der inneren Ver-
waltung schweigt unsere Ueberlieferung leider durchaus — geht
sie auf wie die eines jeden anderen Sultans im Sammeln von
Schätzen, im Zusammentreiben der Heere, die wenigstens in
seinen früheren Jahren gewöhnlich nicht der König selbst, son-
dern irgend ein griechischer Condottier gegen den Feind führt,
in dem Bestreben neue Satrapien zu den alten zu fügen; von hö-
heren Elementen, Förderung der Civilisation, ernstlicher Führer-
schaft der nationalen Opposition, eigenartiger Genialität finden sich,
in unserer Ueberlieferung wenigstens, bei Mithradates keine be-
wuſsten Spuren, und wir haben keinen Grund auch nur mit den
groſsen Regenten der Osmanen, wie Muhamed II. und Suleiman
waren, ihn auf eine Linie zu stellen. Trotz der hellenischen Bil-
dung, die ihm nicht viel besser sitzt als seinen Kappadokiern die
römische Rüstung, ist er durchaus ein Orientale gemeinen Schlags,
roh, voll sinnlichster Begehrlichkeit, abergläubisch, grausam, treu-
und rücksichtslos, aber so kräftig organisirt, so gewaltig phy-
sisch begabt, daſs sein trotziges Umsichschlagen, sein unver-
wüstlicher Widerstandsmuth häufig wie Talent, zuweilen sogar
wie Genie aussieht. Wenn man auch in Anschlag bringt, daſs
nur die Verschlingung der asiatischen Ereignisse mit den inneren
Bewegungen Italiens es ihm möglich machte doppelt so lange als
Jugurtha den Römern zu widerstehen, so bleibt es darum doch
nicht minder wahr, daſs bis auf die Partherkriege er der einzige
Feind ist, der im Osten den Römern ernstlich zu schaffen ge-
macht und daſs er gegen sie sich gewehrt hat wie gegen den
Jäger der Löwe der Wüste. Aber nach dem was vorliegt sind wir
nicht berechtigt mehr als solchen naturkräftigen Widerstand
hier zu erkennen. — Wie man aber auch über die Individualität
des Königs urtheilen möge, seine geschichtliche Stellung bleibt
in hohem Grade bedeutsam. Die mithradatischen Kriege sind zu-
[259]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
gleich die letzte Regung der politischen Opposition von Hellas
gegen Rom und der Anfang einer auf sehr verschiedenen und
weit tieferen Gegensätzen beruhenden Auflehnung gegen die rö-
mische Suprematie, der nationalen Reaction der Asiaten gegen
die Occidentalen. Wie Mithradates selbst so war auch sein Reich
ein orientalisches, die Polygamie und das Haremwesen herr-
schend am Hofe und überhaupt unter den Vornehmen, die Re-
ligion der Landesbewohner wie die officielle des Hofes vorwie-
gend der alte Nationalcult; der Hellenismus daselbst war wenig ver-
schieden von dem Hellenismus der armenischen Tigraniden und
der Arsakiden des Partherreichs. Es mochten die kleinasiatischen
Griechen einen kurzen Augenblick für ihre politischen Träume
an diesem König einen Halt zu finden meinen; in der That ward
in seinen Schlachten um ganz andere Dinge gestritten, als wor-
über auf den Feldern von Magnesia und Pydna die Entscheidung
fiel. Es war nach langer Waffenruhe ein neuer Gang in dem un-
geheuren Zweikampf des Westens und des Ostens, welcher von
den Kämpfen bei Marathon auf die heutige Generation sich ver-
erbt hat und vielleicht seine Zukunft ebenso nach Jahrtausenden
zählen wird wie seine Vergangenheit.
Das Reich, dessen Zügel Mithradates zu seinen Jahren ge-
kommen mit fester Hand ergriff, war schon nicht unbedeutend,
wenngleich der Umfang desselben wohl übertrieben auf 500
deutsche Meilen angegeben wird. Die pontische Landschaft ist
noch heute eine der lachendsten der Erde; Getreidefelder wech-
seln mit Wäldern von wilden Obstbäumen. Allein mit Ausnahme
der Küste, wo mehrere ursprünglich griechische Ansiedlungen
bestanden, namentlich die bedeutenden Handelsplätze Trapezus,
Amisos und vor allem die Geburts- und Residenzstadt Mithradats
und die blühendste Stadt des Reiches, Sinope, war das Land
noch in einem sehr primitiven Zustand. Eigentliche Städte gab
es daselbst kaum, sondern nur Burgen, die den Ackersleuten als
Zufluchtstätten und dem König als Schatzkammern zur Aufbe-
wahrung der eingehenden Steuern dienten, wie denn allein in
Kleinarmenien 75 solcher kleiner königlicher Castelle gezählt
wurden. Wir finden nicht, daſs Mithradates wesentlich dazu ge-
than hätte das städtische Wesen in seinem Reiche emporzubrin-
gen; um so thätiger erscheint er bemüht sein Gebiet und seinen
Einfluſs nach allen Seiten hin auszudehnen: am schwarzen Meer
wie gegen Armenien und gegen Kleinasien finden wir seine Heere,
seine Flotten und seine Botschafter thätig. Nirgends aber bot
sich ihm ein so freier und so weiter Spielraum wie an den öst-
17*
[260]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
lichen und nördlichen Gestaden des schwarzen Meeres, auf deren
damalige Zustände hier einen Blick zu werfen nicht unterlassen
werden darf, so schwierig oder vielmehr unmöglich es ist ein
wirklich anschauliches Bild davon zu geben. An dem östlichen
Ufer des schwarzen Meeres, das bisher fast unbekannt erst durch
Mithradates der allgemeineren Kunde aufgeschlossen ward, wurde
die kolchische Landschaft am Phasis (Mingrelien und Imereti)
mit der wichtigen Handelsstadt Dioskurias den einheimischen
Fürsten entrissen und verwandelt in eine pontische Satrapie.
Folgenreicher noch waren seine Unternehmungen in den nörd-
lichen Landschaften*. Die weiten hügel- und waldlosen Steppen,
die sich nördlich vom schwarzen Meer, vom Kaukasus und von
der kaspischen See hinziehen, sind ihrer Naturbeschaffenheit zu-
folge, namentlich wegen der zwischen dem Klima von Stock-
holm und dem von Madeira schwankenden Temperaturdifferenz
und der nicht selten eintretenden und bis zu 22 Monaten und län-
ger anhaltenden absoluten Regen- und Schneelosigkeit, für den
Ackerbau und überhaupt für feste Ansiedlung wenig geeignet,
und waren dies immer, wenn gleich vor zweitausend Jahren die
klimatischen Verhältnisse etwas weniger ungünstig standen als
dies heutzutage der Fall ist**. Die verschiedenen Stämme, die der
Wandertrieb in diese Gegenden geführt hatte, fügten sich diesem
Gebot der Natur und führten und führen zum Theil noch jetzt
ein wanderndes Hirtenleben, indem sie mit ihren Rinder- oder
häufiger noch mit ihren Roſsheerden Wohn- und Weideplatz
wechselten und ihr Geräth auf Wagenhäusern sich nachführten.
Auch die Bewaffnung und Kampfweise richtete sich hiernach; die
Bewohner dieser Steppen fochten groſsentheils beritten und
immer aufgelöst, mit Helm und Panzer von Leder und leder-
überzogenem Schild gerüstet, gewaffnet mit Schwert, Lanze und
Bogen — die Vorfahren der heutigen Kosaken. Den ursprüng-
lich hier ansäſsigen Skythen, die mongolischer Race und in Sitte
[261]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
und Körpergestalt den heutigen Bewohnern Sibiriens verwandt
gewesen zu sein scheinen, hatten sich, von Osten nach Westen
vorrückend, sarmatische Stämme nachgeschoben, Sauromaten,
Roxolaner, Jazygen, die gemeiniglich für slavischer Abkunft ge-
halten werden, obwohl diejenigen Eigennamen, welche man ihnen
zuzuschreiben befugt ist, mehr mit medischen und persischen sich
verwandt zeigen und vielleicht den Schluſs auf eine Verwandt-
schaft mit dem groſsen Zendstamme gestatten. In entgegenge-
setzter Richtung flutheten thrakische Schwärme, namentlich die
Geten, die bis zum Dniester gelangten; dazwischen drängten sich,
wahrscheinlich als Ausläufer der groſsen germanischen Wande-
rung, deren Hauptmasse das schwarze Meer nicht berührt zu
haben scheint, sogenannte Kelten, die auch wohl germani-
schen Bastarner am Dnieper, Peukinen an der Donaumündung.
Ein eigentlicher Staat bildete sich nirgends; es lebte jeder Stamm
unter seinen Fürsten und Aeltesten für sich. Zu all diesen Bar-
baren in scharfem Gegensatz standen die hellenischen Ansied-
lungen, welche zur Zeit des gewaltigen Aufschwunges des grie-
chischen Handels namentlich von Miletos aus an diesen Gestaden
gegründet worden waren, theils als Emporien, theils als Stationen
für den wichtigen Fischfang und selbst für den Ackerbau, für wel-
chen die heutige Krim und überhaupt das nordwestliche Gestade
des schwarzen Meeres im Alterthum minder ungünstige Verhält-
nisse darboten als dies heutzutage der Fall ist; für die Benutzung
des Bodens zahlten hier die Hellenen wie die Phönikier in Libyen
den einheimischen Herren Schoſs und Grundzins. Die wichtigsten
dieser Ansiedlungen waren die Freistadt Chersonesos (unweit Se-
hastopol), auf dem Gebiet der Skythen in der taurischen Halbinsel
(Krim) angelegt und unter nicht vortheilhaften Verhältnissen
durch ihre gute Verfassung und den Gemeingeist ihrer Bürger in
mäſsigem Wohlstand sich behauptend; ferner auf der gegenüber-
stehenden Seite der Halbinsel an der Straſse von dem schwarzen
in das asowsche Meer Pantikapaeon (Kertsch), seit dem J. 457
Roms regiert von erblichen Bürgermeistern, später bosporanische
Könige genannt, den Archaeanaktiden, Spartokiden und Paeri-
saden. Der Getreidebau und der Fischfang im asowschen Meer
hatten die Stadt schnell zur Blüthe gebracht. Ihr Gebiet umfaſste
jetzt noch die kleinere Osthälfte der Krim mit Einschluſs der
Stadt Theodosia und auf dem gegenüberliegenden asiatischen
Continent die Stadt Phanagoria und die sindische Landschaft. In
besseren Zeiten hatten die Herren von Pantikapaeon zu Lande
die Völker an der Ostküste des asowschen Meeres und das Ku-
[262]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
banthal, zur See mit ihrer Flotte das schwarze Meer beherrscht;
allein Pantikapaeon war nicht mehr was es gewesen war. Nir-
gends empfand man tiefer als an diesen fernen Grenzposten den
traurigen Rückgang der hellenischen Nation. Athen in seiner
guten Zeit ist der einzige Griechenstaat gewesen, der hier die
Pflichten der führenden Macht erfüllte, die den Athenern aller-
dings auch durch ihren Bedarf pontischen Getreides besonders
nahe gelegt wurden. Von dem Sturz der attischen Seemacht an
blieben diese Landschaften im Ganzen sich selbst überlassen. Die
griechischen Landmächte sind nie dazu gelangt ernstlich hier ein-
zugreifen, obwohl Philippos der Vater Alexanders und Lysima-
chos einigemal dazu ansetzten; und auch die Römer, auf welche
mit der Eroberung Makedoniens und Kleinasiens die politische
Verpflichtung überging, hier, wo die griechische Civilisation
dessen bedurfte, ihr starker Schild zu sein, vernachlässigten
völlig das Gebot des Vortheils wie der Ehre. Der Fall von Si-
nope, das Sinken von Rhodos vollendete die Isolirung der Hel-
lenen am Nordgestade des schwarzen Meeres. Ein lebendiges Bild
ihrer Lage den schweifenden Barbaren gegenüber giebt uns eine
Inschrift von Olbia (unweit der Dniepermündung bei Oczakow),
die etwa um diese Zeit fallen mag. Die Bürgerschaft muſs dem
Barbarenkönig nicht bloſs jährlichen Zins an sein Hoflager
schicken, sondern ihm auch, wenn er vor der Stadt lagert oder
auch nur vorbeizieht, eine Verehrung machen, in ähnlicher Weise
auch geringere Häuptlinge, ja zuweilen den ganzen Schwarm der
Barbaren mit Geschenken abfinden, und es geht ihr übel, wenn
die Gabe zu geringfügig erscheint. Die Stadtkasse ist bankerott
und man muſs die Weihgeschenke zum Pfand setzen. Inzwischen
drängen drauſsen vor den Thoren sich die Stämme: das Gebiet
wird verwüstet, die Feldarbeiter in Masse weggeschleppt, ja was
das Aergste ist, die schwächeren der barbarischen Nachbarn, die
Skythen suchen, um vor dem Andrang der wilderen Kelten sich
selber zu bergen, der ummauerten Stadt sich zu bemächtigen, so
daſs zahlreiche Bürger dieselbe verlassen und man schon daran
denkt sie ganz aufzugeben. — Diese Zustände fand Mithradates
vor, als seine makedonische Phalanx den Kamm des Kaukasus
überschreitend hinabstieg in die Thäler des Kuban und Terek und
gleichzeitig seine Flotte in den Gewässern der Krim sich zeigte.
Es war kein Wunder, daſs die Hellenen, wie es schon in Dios-
kurias geschehen war, auch hier überall den pontischen König
mit offenen Armen empfingen und in dem Halbhellenen und sei-
nen griechisch gerüsteten Kappadokiern ihre Befreier sahen. Es
[263]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
zeigte sich, was Rom hier versäumt hatte. Den Herren von Pan-
tikapaeon waren eben damals die Tributforderungen zu uner-
schwinglicher Höhe gesteigert worden; die Stadt Chersonesos
sah sich von dem König der taurischen Skythen Skiluros und des-
sen funfzig Söhnen hart bedrängt; gern gaben jene ihre Erbherr-
schaft, diese die lange bewahrte Freiheit hin um ihr letztes Gut,
ihr Hellenenthum, zu retten. Es war nicht umsonst. Mithradates
tapfere Feldherrn Diophantos und Neoptolemos und seine disci-
plinirten Truppen wurden leicht mit den Steppenvölkern fertig.
Neoptolemos schlug sie in der Straſse von Pantikapaeon theils
zu Wasser, theils im Winter auf dem Eise; Chersonesos wurde
befreit, die Burgen der Taurier gebrochen und durch zweck-
mäſsig angelegte Festungen der Besitz der Halbinsel gesichert.
Gegen die Roxolaner (zwischen Dnieper und Don), die den Tau-
riern zu Hülfe herbeikamen, zog Diophantos; ihrer 80000 flohen
vor seinen 6000 Phalangiten und bis zum Dnieper drangen die
pontischen Waffen. So erwarb Mithradates hier sich ein zweites
mit dem pontischen verbundenes und gleich diesem wesentlich
auf eine Anzahl griechischer Handelsstädte gegründetes König-
reich, das bosporanische genannt, das die heutige Krim mit der
gegenüberliegenden asiatischen Landspitze umfaſste und jährlich
200 Talente (343000 Thlr.) und 180000 Scheffel Getreide in die
königlichen Kassen und Magazine lieferte. Die Steppenvölker
selbst vom Nordabhang des Kaukasus bis zur Donaumündung
traten wenigstens zum groſsen Theil ein in Clientel oder doch in
Vertrag mit dem pontischen König und boten ihm, wenn nicht
andere Hülfe, doch wenigstens einen unerschöpflichen Werbe-
platz für seine Armeen. — Während also gegen Norden die be-
deutendsten Erfolge gelangen, griff der König zugleich um sich
gegen Osten und Westen. Wichtiger als die Einziehung Klein-
armeniens, das durch ihn aus einer abhängigen Herrschaft zum
integrirenden Theil des pontischen Reiches ward, war die enge
Verbindung, in die er mit dem König von Groſsarmenien trat.
Er gab dem Tigranes nicht bloſs seine Tochter Kleopatra zur Ge-
mahlin, sondern er war es auch wesentlich, durch dessen Unter-
stützung Tigranes sich der Herrschaft der Arsakiden entwand
und ihre Stelle in Asien einnahm; es scheint zwischen beiden ein
Einverständniſs in der Art getroffen zu sein, daſs Tigranes Sy-
rien und das innere Asien, Mithradates Kleinasien und das
schwarze Meer zu besetzen übernahmen unter Zusage gegen-
seitiger Unterstützung, und ohne Zweifel war es der thätigere und
fähigere Mithradates, der dies Abkommen hervorrief, um sich
[264]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
den Rücken zu decken und einen mächtigen Bundesgenossen zu
sichern. — In Kleinasien endlich richtete der König die Blicke
auf Paphlagonien und Kappadokien *. Auf jenes machte man
pontischer Seits Ansprüche als durch Testament des letzten der
Pylaemeniden vermacht an den König Mithradates Euergetes;
wogegen freilich legitime oder illegitime Prätendenten und das
Land selbst protestirten. Was Kappadokien anlangt, so hatten
die pontischen Herrscher nicht vergessen, daſs dies Land und
Kappadokien am Meer einst zusammengehört hatten und trugen
sich fortwährend mit Reunionsideen. Paphlagonien ward von
Mithradates besetzt in Gemeinschaft mit König Nikomedes von
Bithynien, mit dem er das Land theilte und ihn dadurch völlig
in sein Interesse zog. Um die offenbare Rechtsverletzung eini-
germaſsen zu verdecken, ward von Nikomedes einer seiner Söhne
mit dem Namen Pylaemenes ausgestattet und als nomineller Re-
gent des Reiches bezeichnet. Noch schlimmere Wege ging die
pontische Politik in Kappadokien. König Ariarathes VI. ward er-
mordet durch Gordios, es hieſs im Auftrage, jedenfalls im In-
teresse des Schwagers des Ariarathes Mithradates Eupator; sein
junger Sohn Ariarathes sah sich genöthigt, um den Uebergriffen
des Königs von Bithynien zu begegnen, sich auf die zweideutige
Hülfe seines Oheims zu stützen, welcher sie ihm zwar gewährte,
dafür aber ihm ansann dem flüchtig gewordenen Mörder seines
Vaters die Rückkehr nach Kappadokien zu gestatten. Es kam
hierüber zum Bruch und zum Krieg; jedoch als beide Heere zur
Schlacht sich gegenüber standen, begehrte der Oheim eine Zu-
sammenkunft mit dem Neffen und stieſs dabei den unbewaffneten
Jüngling mit eigener Hand nieder. Gordios, der Mörder des Va-
ters, übernahm hierauf im Auftrag Mithradats die Regierung;
und obwohl die unwillige Bevölkerung sich gegen ihn erhob und
den jüngeren Sohn des letzten Königs zur Herrschaft berief, ver-
[265]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
mochte dieser doch gegen Mithradates überlegene Streitkräfte kei-
nen dauernden Widerstand zu leisten. Der baldige Tod des von
dem Volke auf den Thron gesetzten Jünglings gab dem pontischen
König um so mehr freie Hand, als mit diesem das kappadokische
Regentenhaus erlosch. Als nomineller Regent ward, eben wie in
Bithynien geschehen war, ein falscher Ariarathes proklamirt,
unter dessen Namen Gordios als Statthalter Mithradats das Reich
verwaltete. Gewaltiger als seit lange ein einheimischer Monarch
herrschte König Mithradates am nördlichen wie am südlichen Ge-
stade des schwarzen Meeres und weit in das innere Kleinasien
hinein. Die Hülfsquellen des Königs für den Krieg zu Lande und
zu Wasser schienen unermeſslich. Sein Werbeplatz reichte von
der Donaumündung bis zum Kaukasus und dem kaspischen Meer;
Thraker, Skythen, Sauromaten, Bastarner, Kolchier, Iberer (im
heutigen Georgien) drängten sich unter seine Fahnen; vor allem
rekrutirte er seine Kriegsschaaren aus den tapferen Bastarnern.
Für die Flotte lieferte ihm die kolchische Satrapie auſser Flachs,
Hanf, Pech und Wachs, das trefflichste vom Kaukasus herabge-
flöſste Bauholz; Steuermänner und Offiziere wurden in Phönikien
und Syrien gedungen. In Kappadokien, hieſs es, sei der König
eingerückt mit 600 Sichelwagen, 10000 Pferden und 80000 Mann
zu Fuſs; und er hatte für diesen Krieg bei weitem noch nicht
aufgeboten, was er aufzubieten vermochte. Bei dem Mangel einer
römischen oder sonst namhaften Seemacht beherrschte die pon-
tische Flotte, gestützt auf Sinope und die Häfen der Krim, das
schwarze Meer ausschlieſslich.
Diesen allseitigen Uebergriffen und dieser imposanten Macht-
bildung, deren Entwicklung vielleicht einen zwanzigjährigen Zeit-
raum ausfüllt, sah der römische Senat geduldig zu. Er lieſs es
geschehen, daſs einer seiner Clientelstaaten sich militärisch zu
einer Groſsmacht entwickelte, die über hunderttausend Bewaff-
nete gebot; daſs er in die engste Verbindung trat mit dem neuen
zum Theil durch seine Hülfe an die Spitze der innerasiatischen
Staaten gestellten Groſskönig des Ostens; daſs er die benach-
barten asiatischen Königreiche und Fürstenthümer unter Vor-
wänden einzog, die fast wie ein Hohn auf die schlecht berichtete
und weit entfernte Schutzmacht klangen; daſs er endlich sogar
in Europa sich festsetzte und als König auf der taurischen Halb-
insel, als Schutzherr fast bis an die makedonisch-thrakische
Grenze gebot. Wohl ward über diese Verhältnisse im Senat ver-
handelt; aber wenn diese Behörde in der paphlagonischen Erb-
angelegenheit sich dabei beruhigte, daſs Mithradates sich auf das
[266]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
Testament, Nikomedes auf seinen falschen Pylaemenes berief, so
war das hohe Collegium offenbar nicht so sehr getäuscht als
dankbar für jeden Vorwand, der ihm das Einschreiten ersparte.
Aber die Beschwerden wurden immer zahlreicher und dringen-
der. Die Fürsten der taurischen Skythen, die Mithradates aus
der Krim verdrängt hatte, wandten sich um Hülfe nach Rom;
wer von den Senatoren irgend noch der traditionellen Maximen
der römischen Politik gedachte, muſste sich erinnern, daſs einst
unter so ganz anderen Verhältnissen das Uebergehen des König
Antiochos nach Europa und die Besetzung des thrakischen Cher-
sones durch seine Truppen das Signal zu dem asiatischen Krieg
geworden war (I, 547) und muſste begreifen, daſs die Besetzung
des taurischen durch den pontischen König jetzt noch viel we-
niger geduldet werden konnte. Endlich gab die factische Reunion
des Königreichs Kappadokien den Ausschlag, wegen welcher
überdies Nikomedes von Bithynien, der auch seinerseits durch
einen andern falschen Ariarathes Kappadokien in Besitz zu neh-
men gehofft hatte und durch den pontischen Prätendenten den
seinigen ausgeschlossen sah, nicht ermangelt haben wird die rö-
mische Regierung zur Intervention zu drängen. Der Senat be-
schloſs, daſs Mithradates die skythischen Fürsten wieder einzu-
setzen habe — so weit war man durch die schlaffe Regierungs-
weise aus den Bahnen der richtigen Politik gedrängt, daſs man
jetzt statt die Hellenen gegen die Barbaren umgekehrt die Sky-
then gegen die halben Landsleute unterstützen muſste. Paphla-
gonien wurde unabhängig erklärt und der falsche Pylaemenes des
Nikomedes so wie Mithradates angewiesen die occupirten Lan-
destheile zu räumen. Ebenso sollte der falsche Ariarathes aus
Kappadokien weichen und, da die Vertreter des Landes die an-
gebotene Freiheit ausschlugen, durch freie Volkswahl ihm wie-
derum ein König gesetzt werden. Die Beschlüsse klangen ener-
gisch genug; nur war es übel, daſs man statt ein Heer zu senden
den Propraetor von Kilikien Lucius Sulla mit der Handvoll Leute,
die er daselbst gegen die Räuber und Piraten commandirte, an-
wies in Kappadokien zu interveniren. Zum Glück vertrat im
Osten die Erinnerung an die ehemalige Energie der Römer besser
ihr Interesse als ihr gegenwärtiges Regiment und ergänzte die
Energie und Gewandtheit des Statthalters die mangelhaften Maſs-
regeln des Senats. Mithradates hielt sich zurück und begnügte
sich den Groſskönig Tigranes von Armenien, der den Römern
gegenüber eine freiere Stellung hatte als er, zu veranlassen Trup-
pen nach Kappadokien zu senden. Sulla nahm rasch seine Trup-
[267]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
pen und die Zuzüge der asiatischen Bundesgenossen zusammen,
überstieg den Taurus und schlug den Statthalter Gordios sammt
seinen armenischen Hülfstruppen aus Kappadokien hinaus. Dies
wirkte. Mithradates gab in allen Stücken nach; Gordios muſste
die Schuld der kappadokischen Wirren auf sich nehmen und der
falsche Ariarathes verschwand; die Königswahl, die der pontische
Anhang vergebens auf Gordios zu lenken versucht hatte, fiel auf
den angesehenen Kappadokier Ariobarzanes. Bei dieser Gele-
genheit fand auch, als Sulla im Verfolg seiner Expedition in die
Gegend des Euphrat gelangte und römische Feldzeichen zum
ersten Mal in dessen Wellen sich spiegelten, die erste Berüh-
rung statt zwischen den Römern und den Parthern, die in Folge
der Spannung zwischen ihnen und Tigranes Ursache hatten den
Römern sich zu nähern. Beiderseits schien man zu fühlen, daſs
etwas darauf ankam bei dieser ersten Berührung der beiden
Groſsmächte des Westens und des Ostens dem Anspruch auf die
Herrschaft der Welt nichts zu vergeben; aber Sulla, kecker als
der parthische Bote, nahm und behauptete in der Zusammen-
kunft den Ehrenplatz zwischen dem König von Kappadokien und
dem parthischen Abgesandten. Mehr als durch seine Siege im
Osten mehrte Sullas Ruhm sich durch diese vielgefeierte Con-
ferenz am Euphrat; der parthische Gesandte büſste später seinem
Herrn mit dem Kopfe. Indeſs für den Augenblick hatte diese Be-
rührung keine weitere Folge und die Vollziehung der gegen Mithra-
dates gefaſsten Senatsbeschlüsse ging ungehindert ihren Gang.
Auch Paphlagonien ward geräumt, die Wiederherstellung der sky-
thischen Häuptlinge von Mithradates wenigstens zugesagt; der
Statusquo im Osten schien wieder hergestellt (662).
So hieſs es; in der That war von Herstellung des Statusquo
wenig zu verspüren. Kaum hatte Sulla Asien verlassen, als König
Tigranes von Groſsarmenien über den neuen König von Kappa-
dokien Ariobarzanes herfiel, ihn vertrieb und an seiner Stelle den
pontischen Prätendenten Ariarathes wieder einsetzte. In Bithy-
nien, wo nach dem Tode des alten Königs Nikomedes II. (um 663)
dessen Sohn Nikomedes III. Philopator vom Volk und vom rö-
mischen Senat als rechtmäſsiger König anerkannt worden war,
trat dessen jüngerer Bruder Sokrates als Kronprätendent auf und
bemächtigte sich der Herrschaft. Es war klar, daſs kein anderer
als Mithradates der eigentliche Urheber der kappadokischen wie
der bithynischen Wirren war, obwohl er officiell sich jeder Be-
theiligung enthielt. Jedermann wuſste, daſs Tigranes nur han-
delte auf seinen Wink; in Bithynien aber war Sokrates mit pon-
[268]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
tischen Truppen eingerückt und des rechtmäſsigen Königs Leben
durch Mithradates Meuchelmörder bedroht. In Paphlagonien be-
haupteten zwar im Innern sich die einheimischen Fürsten, da-
gegen beherrschte Mithradates die ganze Küste bis an die bithy-
nische Grenze, sei es nun, daſs er diese Striche bei Gelegenheit
der Unterstützung des Sokrates wieder besetzt, sei es, daſs er
sie nie ernstlich geräumt hatte. In der Krim gar und den benach-
barten Landschaften dachte der pontische König nicht daran zu-
rückzuweichen und trug vielmehr seine Waffen weiter und weiter.
— Die römische Regierung, von den Königen Ariobarzanes und
Nikomedes persönlich um Hülfe angerufen, schickte nach Klein-
asien den Consular Manius Aquillius, einen im kimbrischen und
im sicilischen Krieg erprobten Offizier, jedoch nicht als Feldherrn
an der Spitze einer Armee, sondern als Gesandten, und wies die
asiatischen Clientelstaaten und namentlich den Mithradates an
ihn nöthigenfalls mit gewaffneter Hand zu unterstützen. Es kam
eben wie zwei Jahre zuvor. Der römische Offizier vollzog den
ihm gewordenen Auftrag mit Hülfe des kleinen römischen Corps,
über das der Statthalter der Provinz Asia Lucius Cassius ver-
fügte, und des Aufgebots der freien Phryger und Galater; König
Nikomedes und König Ariobarzanes bestiegen wieder ihre schwan-
kenden Throne; Mithradates entzog sich zwar der Aufforderung
Zuzug zu gewähren unter verschiedenen Vorwänden, allein er lei-
stete nicht bloſs den Römern keinen offenen Widerstand, sondern
der bithynische Prätendent Sokrates wurde sogar auf sein Ge-
heiſs getödtet (664).
Es war eine sonderbare Verwickelung. Mithradates war voll-
kommen überzeugt gegen die Römer in offenem Kampfe nichts
ausrichten zu können und darum fest entschlossen es nicht zum
offenen Bruch und zum Kriege mit ihnen kommen zu lassen.
Wäre er nicht also entschlossen gewesen, so fand sich kein gün-
stigerer Augenblick den Kampf zu beginnen als der gegenwärtige:
eben damals, als Aquillius in Bithynien und Kappadokien ein-
rückte, stand die italische Insurrection auf dem Höhepunct ihrer
Macht und konnte selbst den Schwachen Muth machen gegen
Rom sich zu erklären; dennoch lieſs Mithradates das Jahr 664
ungenutzt verstreichen. Aber nichts desto weniger verfolgte er
so zäh wie rührig seinen Plan in Kleinasien sich auszubreiten.
Diese seltsame Verbindung der Politik des Friedens um jeden
Preis mit der der Eroberung war allerdings in sich unhaltbar
und beweist nur aufs Neue, daſs Mithradates nicht zu den
Staatsmännern rechter Art gehörte und weder zum Kampf zu
[269]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
rüsten wuſste wie König Pbilippos noch sich zu fügen wie König
Attalos, sondern in ächter Sultansart ewig hin und her gezogen
ward zwischen begehrlicher Eroberungslust und dem Gefühl sei-
ner eigenen Schwäche. Aber auch so läſst sich sein Beginnen
[nur] begreifen, wenn man sich erinnert, daſs Mithradates in zwan-
zigjährigen Erfahrungen die damalige römische Politik kennen
gelernt hatte. Er wuſste sehr genau, daſs die römische Regierung
nichts weniger als kriegslustig war, ja daſs sie, im Hinblick auf
die ernstliche Gefahr, die jeder berühmte General ihrer Herr-
schaft bereitete, in frischer Erinnerung an den kimbrischen Krieg
und Marius, den Krieg wo möglich noch mehr fürchtete als er
selbst. Darauf hin handelte er. Er scheute sich nicht in einer
Weise aufzutreten, die jeder energischen und nicht durch ego-
istische Rücksichten gefesselten Regierung hundertfach Ursache
und Anlaſs zur Kriegserklärung gegeben haben würde; aber er
vermied sorgfältig jeden offenen Bruch, der den Senat in die
Nothwendigkeit dazu versetzt hätte. So wie Ernst gezeigt ward,
wich er zurück, vor Sulla wie vor Aquillius; er hoffte unzweifel-
haft darauf, daſs nicht immer energische Feldherren ihm gegen-
überstehen, daſs auch er so gut wie Jugurtha auf seine Scaurus
und Albinus treffen würde. Es muſs zugestanden werden, daſs
diese Hoffnung nicht unverständig war, obwohl freilich eben Ju-
gurthas Beispiel auch wieder die Thorheit gezeigt hatte die Be-
stechung eines römischen Heerführers und die Corruption einer
römischen Armee mit der Ueberwindung des römischen Volkes
zu verwechseln. — So standen die Dinge zwischen Frieden und
Krieg und lieſsen ganz dazu an noch lange sich in gleicher Art
weiter zu schleppen. Selbst als König Nikomedes, der von dem
römischen Feldherrn wegen Ersatzes der Kriegskosten und wegen
der ihm persönlich zugesagten Summen aufs Aeuſserste gedrängt
ward und daher dem Ansinnen desselben an Mithradates den Krieg
zu erklären nachzugeben sich genöthigt sah, mit seinen Schiffen
den pontischen den Bosporus sperrte und seine Truppen in die
pontischen Grenzdistricte einrücken und die Gegend von Amastris
brandschatzen lieſs, blieb Mithradates unerschüttert bei seiner Frie-
denspolitik; statt die Bithyner über die Grenze zu werfen, führte er
Klage bei der römischen Gesandtschaft und bat dieselbe entweder
vermitteln oder ihm die Selbstvertheidigung gestatten zu wollen.
Allein er ward von Aquillius dahin beschieden, daſs er unter allen
Umständen sich des Krieges gegen Nikomedes zu enthalten habe.
Das freilich war die Einleitung zum Kriege. Genau dieselbe Politik
hatte man gegen Karthago angewendet; man lieſs das Schlacht-
[270]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
opfer von der römischen Meute überfallen und verbot ihm gegen
dieselbe sich zu wehren. Auch Mithradates erachtete sich ver-
loren, eben wie die Karthager es gethan hatten; aber wenn die
Phöniker sich aus Verzweiflung ergaben, so that dagegen der
König von Sinope das Gegentheil und rief seine Truppen und
Schiffe zusammen; — ‚wehrt nicht, so soll er gesagt haben, auch
wer unterliegen muſs, dennoch sich gegen den Räuber?‘ Sein
Sohn Ariobarzanes erhielt Befehl in Kappadokien einzurücken;
es ging noch einmal eine Botschaft an die römischen Gesandten
um ihnen anzuzeigen, wozu die Nothwehr den König gezwungen
habe und eine letzte Erklärung von ihnen zu fordern. Sie lautete
wie zu erwarten war. Obwohl weder der römische Senat noch
König Mithradates noch König Nikomedes den Bruch gewollt
hatten, Aquillius wollte ihn und man hatte Krieg (Ende 665).
Mit aller ihm eigenen Energie betrieb Mithradates die poli-
tischen und militärischen Vorbereitungen zu dem ihm aufge-
drungenen Waffengang. Vor allen Dingen knüpfte er das Bünd-
niſs mit König Tigranes von Armenien fester, und erlangte von
ihm das Versprechen eines Hülfsheeres, das in Vorderasien ein-
rücken und Grund und Boden daselbst für König Mithradates, die
bewegliche Habe für König Tigranes in Besitz nehmen sollte.
Der parthische König, verletzt durch das stolze Verhalten Sul-
las, trat wenn nicht gerade als Gegner, doch auch nicht als Bun-
desgenosse der Römer auf. Den Griechen war der König bemüht
sich in der Rolle des Philippos und des Perseus, als Vertreter
der griechischen Nation gegen die römische Fremdherrschaft
darzustellen. Pontische Gesandte gingen an den König von
Aegypten und an den letzten Ueberrest des freien Griechenlands,
den kretensischen Städtebund und beschworen sie, für die Rom
auch schon die Ketten geschmiedet, jetzt im letzten Augenblick
einzustehen für die Rettung der hellenischen Nationalität; es war
dies wenigstens auf Kreta nicht ganz vergeblich und zahlreiche
Kretenser nahmen Dienste im pontischen Heer. Man hoffte auf
die successive Insurrection der kleineren nnd kleinsten Schutz-
staaten, Numidiens, Syriens, der hellenischen Republiken, auf die
Empörung der Provinzen, vor allem des maſslos gedrückten
Vorderasiens. Man arbeitete an der Erregung eines thrakischen
Aufstandes, ja an der Insurgirung Makedoniens. Die schon vor-
her blühende Piraterie wurde jetzt als willkommenste Bundesge-
nossin überall entfesselt und mit furchtbarer Raschheit erfüllten
bald Corsarengeschwader, pontische Kaper sich nennend, weithin
das Mittelmeer. Man vernahm mit Spannung und Freude die
[271]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
Kunde von dem gährenden Zustande der Hauptstadt und von der
zwar überwundenen, aber doch noch lange nicht unterdrückten
italischen Insurrection. Unmittelbare Beziehungen indeſs mit
den Unzufriedenen und Insurgenten in Italien bestanden nicht;
nur wurde ein römisch bewaffnetes und organisirtes Fremden-
corps gebildet, dessen Kern römische und italische Flüchtlinge
waren. Streitkräfte gleich denen Mithradats waren seit den Per-
serkriegen in Asien nicht gesehen worden. Die Angaben, daſs er,
das armenische Hülfsheer ungerechnet, mit 250000 Mann zu
Fuſs und 40000 Reitern das Feld nahm, daſs 300 pontische Deck-
und 100 offene Schiffe in See stachen, scheinen nicht allzu über-
trieben bei einem Kriegsherrn, der über die zahllosen Steppen-
bewohner verfügte. Die Feldherrn, namentlich die Brüder Neo-
ptolemos und Archelaos, waren erfahrene und umsichtige grie-
chische Hauptleute; auch unter den Soldaten des Königs fehlte
es nicht an tapfern todverachtenden Männern und die gold- und
silberblinkenden Rüstungen und reichen Gewänder der Skythen
und Meder mischten sich lustig mit dem Erz und Stahl der grie-
chischen Reisigen. Aber kein einheitlicher militärischer Orga-
nismus hielt diese buntscheckigen Haufen zusammen und es
war auch die Armee des Mithradates nichts als eine jener unge-
heuerlichen asiatischen Kriegsmaschinen, wie sie bei Issos und
zuletzt, genau ein Jahrhundert vor ihm, bei Magnesia einer hö-
heren militärischen Organisation unterlegen waren. Immer aber
stand der Osten gegen die Römer in Waffen und es war dies um
so bedenklicher, als auch in der westlichen Hälfte des Reichs es
keineswegs friedlich aussah. So sehr es für Rom eine politische
Nothwendigkeit war an Mithradates den Krieg zu erklären, so war
doch gerade dieser Augenblick so übel gewählt wie möglich, und
auch aus diesem Grunde ist es sehr wahrscheinlich, daſs Manius
Aquillius zunächst nur aus egoistischen Rücksichten auf seinen
eigenen Vortheil den Bruch zwischen Rom und Mithradates eben
jetzt herbeigeführt hatte. Für den Augenblick hatte man in Asien
keine anderen Truppen zur Verfügung als die kleine römische
Abtheilung unter Lucius Cassius und die vorderasiatischen Mili-
zen, und bei der militärischen und finanziellen Klemme, in der
man sich in Folge des Insurrectionskrieges befand, konnte eine rö-
mische Armee im günstigsten Fall nicht vor dem Sommer 666 in
Asien landen. Bis dahin hatte man daselbst einen schweren Stand;
indeſs hoffte man die römische Provinz decken und sich behaup-
ten zu können wo man stand: das bithynische Heer unter König
Nikomedes in seiner im vorigen Jahr eingenommenen Stellung
[272]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
auf paphlagonischem Gebiet zwischen Amastris und Sinope,
weiter rückwärts in der bithynischen, galatischen, kappadoki-
schen Landschaft die Abtheilungen unter Lucius Cassius, Ma-
nius Aquillius, Quintus Oppius, während die bithynisch-römi-
sche Flotte fortfuhr den Bosporus zu sperren.
Mit dem Beginn des Frühjahres 666 ergriff Mithradates die
Offensive. An einem Nebenfluſs des Halys, dem Amnias (bei dem
heutigen Tesch köpri) stieſs der pontische Vortrab, Reiterei und
Leichtbewaffnete, auf die bithynische Armee und sprengte die-
selbe trotz ihrer sehr überlegenen Zahl im ersten Anlauf so voll-
ständig aus einander, daſs das geschlagene Heer sich auflöste und
Lager und Kriegskasse den Siegern in die Hände fielen. Es wa-
ren hauptsächlich Neoptolemos und Archelaos, denen der König
diesen glänzenden Erfolg verdankte. Die weiter zurück stehenden
noch viel schlechteren asiatischen Milizen gaben hierauf sich über-
wunden, noch ehe sie mit dem Feinde zusammenstieſsen; wo
Mithradates Feldherrn sich ihnen näherten, stoben sie aus ein-
ander. Eine römische Abtheilung ward in Kappadokien geschla-
gen; Cassius suchte in Phrygien mit dem Landsturm das Feld zu
halten, allein er entlieſs ihn wieder, ohne mit ihm eine Schlacht
zu wagen und warf sich mit seinen wenigen zuverlässigen Leu-
ten in die Ortschaften am obern Maeander, namentlich nach Apa-
meia; Oppius räumte in gleicher Weise Pamphylien und warf sich
in das phrygische Laodikeia; Aquillius ward im Zurückweichen
am Sangarios im bithynischen Gebiet eingeholt und so vollständig
geschlagen, daſs er sein Lager verlor und sich in die römische Pro-
vinz nach Pergamon retten muſste; bald war auch diese über-
schwemmt und Pergamon selbst in den Händen des Königs, ebenso
der Bosporus und die daselbst stehende Flotte. Nach jedem Sieg
hatte Mithradates sämmtliche Gefangene der kleinasiatischen Miliz
entlassen und nichts versäumt die von Anfang an ihm zugewandten
nationalen Sympathien zu steigern. Jetzt war die ganze Land-
schaft bis zum Maeander mit Ausnahme weniger Festungen in
seiner Gewalt; zugleich erfuhr man, daſs in Rom eine neue Re-
volution ausgebrochen, daſs der gegen Mithradates bestimmte
Consul Sulla statt nach Asien sich einzuschiffen gegen Rom mar-
schirt sei, daſs die gefeiertsten römischen Generale sich unter
einander Schlachten lieferten um auszumachen, wem der Ober-
befehl im asiatischen Kriege gebühre. Rom schien eifrigst be-
müht sich selber zu Grunde zu richten; es ist kein Wunder, daſs,
wenn gleich Minoritäten auch jetzt noch überall zu Rom hielten,
doch die groſse Masse der Kleinasiaten dem König zufiel. Die
[273]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
Hellenen und die Asiaten vereinigten sich in dem Jubel, der den
Befreier empfing; es ward üblich ihn zu verehren unter dem Na-
men des neuen Bakchos, in dem wie in dem göttlichen Indier-
sieger Asien und Hellas sich abermals begegneten. Die Städte und
Inseln sandten wo er hinkam ihm Boten entgegen ‚den rettenden
Gott‘ zu sich einzuladen und festlich gekleidet strömte die Bür-
gerschaft vor die Thore ihn zu empfangen. Einzelne Orte lieferten
die bei ihnen verweilenden römischen Offiziere gebunden an den
König ein, so Laodikeia den Commandanten der Stadt Quintus
Oppius, Mytilene auf Lesbos den Consul Manius Aquillius *. Die
ganze Wuth des Barbaren, der den, vor dem er gezittert hat, in
seine Macht bekommt, entlud sich über den unglücklichen Urheber
des Krieges. Bald zu Fuſs angefesselt an einen gewaltigen berit-
tenen Bastarner, bald auf einen Esel gebunden und seinen eigenen
Namen abrufend ward der bejahrte Mann durch ganz Kleinasien
geführt; als endlich das arme Schaustück wieder am königlichen
Hof in Pergamon anlangte, ward auf Befehl des Königs, um seine
Habgier, die eigentlich den Krieg veranlaſst habe, zu sättigen,
ihm geschmolzenes Gold in den Hals gegossen, bis er unter Qua-
len den Geist aufgab. Aber es blieb nicht bei diesem rohen Hohn,
der allein hinreicht seinen Urheber auszustreichen aus der Reihe
der adlichen Männer. Von Ephesos aus erlieſs König Mithradates
an alle von ihm abhängigen Statthalter und Städte den Befehl an
einem und demselben Tage sämmtliche in ihrem Bezirk sich auf-
haltende Italiker, Freie und Unfreie, ohne Unterschied des Ge-
schlechts und des Alters zu tödten und bei schwerer Strafe einem
der Verfehmten zur Rettung behülflich zu sein, die Leichen der Er-
schlagenen den Vögeln zum Fraſs hinzuwerfen, die Habe einzuzie-
hen und sie zur Hälfte an die Mörder, zur Hälfte an den König ab-
zuliefern. Die entsetzlichen Befehle wurden mit Ausnahme weniger
Bezirke, wie z. B. der Insel Kos, pünctlich vollzogen und achtzig,
nach andern Berichten hundert und funfzigtausend wenn nicht
unschuldige so doch wehrlose Männer, Frauen und Kinder mit kal-
tem Blut an einem Tage in Kleinasien geschlachtet — eine grauen-
volle Execution, welche durch die gute Gelegenheit der Schulden
sich zu entledigen und die Willfährigkeit einer dem Sultan zu jedem
Henkerdienst bereiten Nation wenigstens ebenso sehr hervorgeru-
fen ward wie durch das damit verglichen edle Gefühl der Rache.
Röm. Gesch. II. 18
[274]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
Politisch war diese Maſsregel nicht bloſs ohne jeden vernünftigen
Zweck — denn der finanzielle lieſs auch ohne diesen Blutbefehl
sich erreichen und die Kleinasiaten waren selbst durch das Be-
wuſstsein des ärgsten Frevels nicht zum nationalen Enthusias-
mus zu treiben —, sondern sogar zweckwidrig, indem sie einer-
seits den römischen Senat, so weit er irgend noch der Energie
fähig war, zur energischen Kriegführung zwang, andrerseits nicht
bloſs die Römer traf, sondern ebenso gut des Königs natürliche
Bundesgenossen, die nicht römischen Italiker. Es ist dieser ephe-
sische Mordbefehl durchaus nichts als ein zweckloser Act der
thierisch blinden Rache, welcher nur durch die kolossalen Pro-
portionen, in denen hier der Sultanismus auftritt, einen falschen
Schein von Groſsartigkeit erhält. — Ueberhaupt ging des Königs
Sinn hoch; aus Verzweiflung hatte er den Krieg begonnen, aber
der unerwartet leichte Sieg, das Ausbleiben des gefürchteten Sulla
lieſsen ihn übergehen zu den hochfahrendsten Hoffnungen. Er
richtete sich häuslich in Vorderasien ein; der Sitz des römischen
Statthalters Pergamon ward seine neue Hauptstadt, das alte Reich
von Sinope wurde als Statthalterschaft an des Königs Sohn Mi-
thradates zur Verwaltung übergeben: Kappadokien, Phrygien, Bi-
thynien wurden organisirt als pontische Satrapien. Die Groſsen
des Reichs und des Königs Günstlinge wurden mit reichen Gaben
und Lehen bedacht und sämmtlichen Gemeinden nicht bloſs die
rückständigen Steuern erlassen, sondern auch Steuerfreiheit auf
fünf Jahre zugesichert — eine Maſsregel, die ebenso verkehrt
war wie die Ermordung der Römer, wenn der König dadurch
sich die Treue der Kleinasiaten zu sichern meinte. — Freilich
füllte des Königs Schatz ohnehin sich reichlich durch die uner-
meſslichen Summen, die aus dem Vermögen der Italiker und an-
deren Confiscationen einkamen; wie denn z. B. allein auf Kos
800 Talente (1373000 Thlr.), welche die Juden dort deponirt
hatten, von Mithradates weggenommen wurden. Der nördliche
Theil von Kleinasien und die meisten dazu gehörigen Inseln wa-
ren in des Königs Gewalt; auſser den kleinen paphlagonischen
Dynasten gab es hier kaum einen Bezirk, der noch zu Rom hielt;
das gesammte aegaeische Meer ward beherrscht von seinen Flot-
ten. Nur der Südwesten, die Städtebünde von Karien und Ly-
kien und die Stadt Rhodos widerstanden ihm. In Karien ward
zwar Stratonikeia mit den Waffen bezwungen; Magnesia am Mae-
ander aber bestand glücklich eine schwere Belagerung, bei wel-
cher Mithradates bester Capitän Archelaos geschlagen und ver-
wundet ward. Rhodos, der Zufluchtsort der aus Asien entkom-
[275]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
menen Römer, unter ihnen des Statthalters Lucius Cassius, wurde
von Mithradates zu Wasser und zu Lande mit ungeheurer Ueber-
macht angegriffen. Aber seine Seeleute, so muthig sie unter
den Augen des Königs ihre Pflicht thaten, waren ungeschickte
Neulinge und es kam vor, daſs rhodische Geschwader vier-
fach stärkere pontische überwanden und mit erbeuteten Schiffen
heimkehrten. Auch zu Lande rückte die Belagerung nicht vor;
nachdem ein Theil der Arbeiten zerstört worden war, gab Mithra-
dates das Unternehmen auf und die wichtige Insel so wie das
gegenüberliegende Festland blieben in den Händen der Römer.
Wenn also die asiatische Provinz gröſstentheils in Folge
der zur ungelegensten Zeit ausbrechenden sulpicischen Revolu-
tion fast unvertheidigt von Mithradates besetzt ward, so richtete
sich zugleich schon sein Angriff gegen Europa. Schon seit dem
J. 662 hatten die Grenznachbarn Makedoniens gegen Norden und
Osten ihre Einfälle mit auffallender Heftigkeit und Stetigkeit er-
neuert; namentlich in den Jahren 664. 665 überrannten die Thra-
ker Makedonien und ganz Epeiros und plünderten den Tempel
von Dodona. Noch auffallender ist es, daſs damit noch einmal
ein Versuch verbunden ward einen gewissen Euphenes als Prä-
tendenten auf den makedonischen Thron aufzustellen. Es ist
sehr wahrscheinlich, daſs Mithradates, der von der Krim aus
Verbindungen mit den Thrakern unterhielt, all diesen Vorgängen
nicht fremd war. Zwar erwehrte sich der Praetor Gaius Sentius
mit Hülfe der thrakischen Dentheleten dieser Eingedrungenen;
allein es dauerte nicht lange, daſs mächtigere Gegner ihm kamen.
Mithradates hatte, fortgerissen von seinen Erfolgen, den kühnen
Entschluſs gefaſst wie Antiochos den Krieg um die Herrschaft
über Asien in Griechenland zur Entscheidung zu bringen und zu
Lande und zur See den Kern seiner Truppen dorthin dirigirt.
Sein Sohn Ariarathes drang von Thrakien aus in das schwach
vertheidigte Makedonien ein, unterwegs die Landschaft unter-
werfend und in pontische Satrapien eintheilend. Die pontische
Flotte, geführt von Mithradats bestem Feldherrn Archelaos, er-
schien im aegaeischen Meer, wo kaum ein römisches Segel zu
finden war. Delos, der Stapelplatz des römischen Handels in die-
sen Gewässern, ward besetzt und bei 20000 Menschen, gröſsten-
theils Italiker, daselbst niedergemetzelt; Euboea erlitt ein glei-
ches Schicksal; bald waren östlich vom malischen Vorgebirg alle
Inseln in Feindes Hand; man konnte weiter gehen zum Angriff
auf das Festland selbst. Zwar den Angriff, den die pontische
Flotte von Euboea aus auf das wichtige Demetrias machte, schlug
18*
[276]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
Bruttius Sura, der tapfere Unterfeldherr des Statthalters von
Makedonien mit seiner Handvoll Leute und wenigen zusammen-
gerafften Schiffen ab und besetzte sogar die Insel Skiathos; aber
er konnte nicht verhindern, daſs der Feind im eigentlichen Grie-
chenland sich festsetzte. Auch hier wirkte Mithradates nicht bloſs
mit den Waffen, sondern zugleich mit der nationalen Propaganda.
Sein Hauptwerkzeug für Athen war ein gewisser Aristion, seiner Ge-
burt nach ein attischer Sklave, seines Handwerkes ehemals Schul-
meister der epikurischen Philosophie, jetzt Günstling Mithradats;
ein vortrefflicher Peisthetaeros, der durch die glänzende Carriere,
die er bei Hof gemacht, zu blenden und mit Aplomb zu ver-
sichern verstand, daſs aus dem seit beiläufig sechzig Jahren in
Schutt liegenden Karthago schon für Mithradat die Hülfe unter-
wegs sei. Durch solche Reden des neuen Perikles und durch die
Zusage Mithradats den Athenern die früher besessene Insel Delos
wieder einzuräumen ward es erreicht, daſs die wenigen Verstän-
digen aus Athen entwichen, der Pöbel aber und ein paar tollge-
wordene Litteraten den Römern förmlich absagten. So ward aus
dem Exphilosophen ein Gewaltherrscher, der gestützt auf seine
pontische Escorte ein Schand- und Blutregiment begann, und
aus dem Peiraeeus ein pontischer Landungsplatz. So wie Mithra-
dates Truppen auf dem griechischen Continent standen, fielen
die meisten der kleinen Freistaaten ihnen zu, Achaeer, Lako-
ner, Boeoter, bis hinauf nach Thessalien. Sura, nachdem er aus
Makedonien einige Verstärkung herangezogen hatte, rückte in
Boeotien ein um dem belagerten Thespiae Hülfe zu bringen, und
schlug bei Chaeroneia in dreitägigen Gefechten mit Archelaos
und Aristion; aber sie führten zu keiner Entscheidung und Sura
muſste zurückgehen, als die pontischen Verstärkungen aus dem
Peloponnes sich näherten (Ende 666. Anf. 667). — So gebietend
war die Stellung Mithradats vor allem zur See, daſs eine Bot-
schaft der italischen Insurgenten ihn auffordern konnte einen
Landungsversuch in Italien zu machen; allein ihre Sache war
damals bereits verloren und der König wies das Ansinnen zurück.
Die Lage der römischen Regierung fing an bedenklich zu
werden. Kleinasien und Hellas waren verloren, Makedonien zum
guten Theil in Feindeshand. Die Seeherrschaft des pontischen
Königs war so entschieden, daſs im J. 667 seine Flotte schon
sich westlich vom malischen Vorgebirge blicken lieſs und auf Za-
kynthos Truppen ans Land setzte. Dazu kam die italische Insur-
rection, die zwar im Ganzen zu Boden geschlagen war, aber noch
in weiten Gebieten Italiens unbestritten die Herrschaft führte;
[277]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
dazu die kaum beschwichtigte Revolution, die jeden Augenblick
drohte wiederum und furchtbarer emporzulodern; dazu endlich
die fürchterliche Handels- und Geldkrise, indem die ungeheuren
Verluste der asiatischen Capitalisten zahllose Bankerotte nach sich
zogen. Vor allem war Mangel an zuverlässigen Truppen. Die Re-
gierung hätte dreier Armeen bedurft, um in Rom die Revolution
niederzuhalten, in Italien die Insurrection völlig zu ersticken und
in Asien Krieg zu führen; sie hatte ein einziges, das des Sulla;
denn die Nordarmee war unter der unzuverlässigen Leitung des
Gnaeus Strabo nicht viel als eine Verlegenheit mehr. Die Wahl
unter jenen drei Aufgaben stand bei Sulla; er entschied sich, wie
wir sahen, für den asiatischen Krieg. Es war nichts Geringes, man
darf vielleicht sagen eine groſse patriotische That, daſs in diesem
Conflict des allgemeinen vaterländischen und des besondern Par-
teiinteresses das erstere die Oberhand behielt und Sulla trotz der
Gefahren, die seine Entfernung aus Italien für seine Verfassung
und für seine Partei nach sich zog, dennoch im Frühling 667
landete an der Küste von Epeiros. Aber er kam nicht, wie sonst
römische Oberfeldherrn im Osten aufzutreten pflegten. Es war
das Wenigste, daſs sein Heer von 5 Legionen oder höchstens
30000 Mann * wenig stärker war als eine gewöhnliche Consular-
armee. Sonst hatte in den östlichen Kriegen eine römische
Flotte niemals gefehlt, ja ohne Ausnahme die See beherrscht;
Sulla, gesandt um zwei Continente und die Inseln des aegaeischen
Meeres wieder zu erobern, kam ohne ein einziges Kriegsschiff.
Sonst hatte der Feldherr eine volle Kasse mit sich geführt und
den gröſsten Theil seiner Bedürfnisse zur See aus der Heimath
bezogen; Sulla kam mit leeren Händen — denn die für den
Feldzug von 666 mit Noth flüssig gemachten Summen waren in
Italien draufgegangen — und sah sich ausschlieſslich angewiesen
auf Requisitionen. Sonst hatte der Feldherr seinen einzigen
Gegner im feindlichen Lager gefunden und hatten die politischen
Factionen dem Feinde gegenüber seit der Beendigung des Stän-
dekampfes ohne Ausnahme zusammengestanden; unter Mithra-
dates Feldzeichen fochten namhafte römische Männer, groſse
Landschaften Italiens begehrten mit ihm in Bündniſs zu treten
und es war wenigstens zweifelhaft, ob die demokratische Partei
das rühmliche Beispiel, das Sulla ihr gegeben, befolgen und mit
[278]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
ihm Waffenstillstand halten werde, so lange er gegen den asiati-
schen König focht. Aber der rasche General, der mit all diesen
Verlegenheiten zu ringen hatte, war nicht gewohnt vor Erledigung
der nächsten Aufgabe um die ferneren Gefahren sich zu beküm-
mern. So wie er gelandet war, rückte er von den epeirotischen
Häfen bis nach Boeotien vor, schlug hier am tilphossischen Berge
die Feldherren der Feinde Archelaos und Aristion und bemäch-
tigte sich nach diesem Siege fast ohne Widerstand des gesamm-
ten griechischen Festlandes mit Ausnahme der Festungen Athen
und des Peiraeeus, in die Aristion und Archelaos sich geworfen
hatten und die durch einen Handstreich zu nehmen miſslang.
Eine römische Abtheilung unter Lucius Hortensius besetzte
Thessalien; eine andere unter Munatius stellte vor Chalkis sich
auf, um das unter Neoptolemos auf Euboea stehende feindliche
Corps abzuwehren; Sulla selbst bezog ein Lager bei Eleusis und
Megara, von wo aus er Griechenland und den Peloponnes be-
herrschte und die Belagerung der Stadt und des Hafens von
Athen betrieb. Die hellenischen Städte, wie immer von der näch-
sten Furcht regiert, unterwarfen sich den Römern auf jede Be-
dingung und waren froh, wenn sie mit Lieferungen von Vor-
räthen und Mannschaft und mit Geldbuſsen schwerere Strafen
abkaufen durften. Minder rasch gingen die Belagerungen in At-
tika von Statten. Archelaos leitete die Vertheidigung ebenso kräf-
tig wie besonnen. Sulla sah sich genöthigt in aller Form das
schwere Belagerungszeug zu rüsten, wozu die Bäume der Aka-
demie und des Lykeion das Holz liefern muſsten; Archelaos be-
waffnete seine Schiffsmannschaft, schlug also verstärkt die An-
griffe der Römer mit überlegener Macht ab und machte häufige
und nicht selten glückliche Ausfälle. Zwar ward die zum Ent-
satz herbeirückende pontische Armee des Dromichaetes unter
den Mauern Athens nach hartem Kampf, bei dem namentlich
Sullas tapferer Unterfeldherr Lucius Licinius Murena sich her-
vorthat, von den Römern geschlagen; aber die Belagerung schritt
darum nicht rascher vor. Von Makedonien aus, wo die Kappa-
dokier inzwischen sich definitiv festgesetzt hatten, kam reichliche
und regelmäſsige Zufuhr zur See, die Sulla nicht im Stande war
der Hafenfestung abzuschneiden; in Athen gingen zwar die Vor-
räthe auf die Neige, doch konnte bei der Nähe der beiden Fe-
stungen Archelaos mehrfache Versuche machen Getreidetrans-
porte nach Athen zu werfen, die nicht alle miſslangen. So ver-
floſs in peinlicher Resultatlosigkeit der Winter. Wie die Jahres-
zeit es erlaubte, warf Sulla sich mit Ungestüm auf den Peiraeeus;
[279]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
in der That gelang es durch Geschütze und Minen einen Theil
der gewaltigen perikleischen Mauern in Bresche zu legen und so-
fort schritten die Römer zum Sturm; allein er ward abgeschlagen
und als er wiederholt ward, fanden sich hinter den eingestürzten
Mauertheilen halbmondförmige Verschanzungen errichtet, aus
denen die Eindringenden sich von drei Seiten beschossen und
zur Umkehr gezwungen sahen. Sulla hob darauf die Belagerung
auf und begnügte sich mit einer Blokade. In Athen waren indeſs
die Lebensmittel ganz zu Ende gegangen; die Besatzung ver-
suchte eine Capitulation zu Stande zu bringen, aber Sulla wies
ihre redefertigen Boten zurück mit dem Bedeuten, daſs er nicht
als Student, sondern als General vor ihnen stehe und nur unbe-
dingte Unterwerfung annehme. Als Aristion, wohl wissend, wel-
ches Schicksal dann ihm bevorstand, damit zögerte, wurden die
Leitern angelegt und die kaum noch vertheidigte Stadt erstürmt
(1. März 668), worauf Aristion in der Akropolis sich ergab. Der
römische Feldherr lieſs die Soldatesca morden und plündern
und die angeseheneren Rädelsführer des Abfalls hinrichten; die
Stadt selbst aber erhielt von ihm ihre Freiheit und ihre Besitzun-
gen, sogar das von Mithradates ihr geschenkte Delos zurück und
ward also noch einmal gerettet durch ihre herrlichen Todten. —
Ueber den epikureischen Schulmeister also hatte man gesiegt;
indeſs Sullas Lage blieb im höchsten Grade peinlich, ja verzwei-
felt. Mehr als ein Jahr stand er nun im Felde ohne irgend einen
nennenswerthen Schritt vorwärts gekommen zu sein; ein einzi-
ger Hafenplatz spottete all seiner Anstrengungen, während Asien
gänzlich sich selbst überlassen, die Eroberung Makedoniens von
Mithradats Statthaltern kürzlich durch die Einnahme von Amphi-
polis vollendet war. Ohne Flotte — dies zeigte sich immer deut-
licher — war es nicht bloſs unmöglich die Verbindungen und die
Zufuhr vor den feindlichen und den zahllosen Piratenschiffen zu
sichern, sondern auch nicht einmal den Peiraeeus, geschweige
denn Asien und die Inseln wiederzugewinnen; und doch lieſs
sich nicht absehen, wie man zu Kriegsschiffen gelangen wollte.
Schon im Winter 667/8 hatte Sulla einen seiner fähigsten und
gewandtesten Offiziere, Lucius Licinius Lucullus in die östlichen
Gewässer entsandt um dort wo möglich Schiffe aufzutreiben. Mit
sechs offenen Böten, die er von den Rhodiern und andern klei-
nen Gemeinden zusammengeborgt hatte, lief Lucullus aus; einem
Piratengeschwader, das die meisten seiner Böte aufbrachte, ent-
ging er selbst nur durch einen Zufall; mit gewechselten Schiffen
den Feind täuschend gelangte er über Kreta und Kyrene nach
[280]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
Alexandreia; allein der aegyptische Hof lehnte die Bitte um Un-
terstützung mit Kriegsschiffen ebenso höflich wie entschieden ab.
Kaum irgendwo zeigt sich so deutlich wie hier der tiefe Verfall
des römischen Staats, der einst das Angebot der Könige von
Aegypten mit ihrer ganzen Seemacht den Römern beizustehen
dankbar abzulehnen vermocht hatte und jetzt selbst den fernen
Aegyptern bankerott erschien. Zu allem dem kam die finanzielle
Bedrängniſs; schon hatte Sulla die Schatzhäuser des olympischen
Zeus, des delphischen Apollon, des epidaurischen Asklepios lee-
ren müssen, wofür die Götter entschädigt wurden durch Anwei-
sung der den Thebanern zur Strafe entzogenen Halbschied ihres
Gebiets. Aber weit schlimmer als all diese militärische und finan-
zielle Verlegenheit war der Rückschlag der politischen Umwäl-
zungen in Rom, deren rasche, durchgreifende, gewaltsame Voll-
endung die ärgsten Befürchtungen weit hinter sich gelassen
hatte. Die Revolution führte in der Hauptstadt das Regiment;
Sulla war abgesetzt, das asiatische Commando an seiner Stelle
dem demokratischen Consul Marcus Valerius Flaccus übertragen
worden, den man täglich in Griechenland erwarten konnte.
Zwar hatte die Soldatesca festgehalten an Sulla, der alles that um
sie bei guter Laune zu erhalten; aber was lieſs sich erwarten, wo
Geld und Zufuhr ausblieben, wo der Feldherr abgesetzt und ge-
ächtet, sein Nachfolger im Anmarsch war und zu allem diesem
der Krieg gegen den zähen seemächtigen Gegner aussichtslos
sich hinspann!
König Mithradates übernahm es den Gegner aus seiner be-
denklichen Lage zu befreien. Allem Anschein nach war er es,
der das Defensivsystem seiner Generale miſsbilligte und ihnen
Befehl schickte den Feind fördersamst zu überwinden. Schon
667 war sein Sohn Ariarathes aus Makedonien aufgebrochen um
Sulla im eigentlichen Griechenland zu bekämpfen; nur der plötz-
liche Tod, der den Prinzen auf dem Marsch am tisaeischen Vor-
gebirg in Thessalien ereilte, hatte die Expedition damals rück-
gängig gemacht. Sein Nachfolger Taxiles erschien jetzt (668),
das in Thessalien stehende römische Corps vor sich hertreibend,
mit einem Heer von angeblich 100000 Mann zu Fuſs und 10000
Reitern an den Thermopylen. Mit ihm vereinigte sich Dromi-
chaetes. Auch Archelaos räumte — es scheint weniger durch
Sullas Waffen als durch Befehle seines Herrn gezwungen — den
Peiraeeus erst theilweise, sodann ganz und stieſs in Boeotien zu
der pontischen Hauptarmee. Sulla, nachdem der Peiraeeus mit
all seinen vielbewunderten Bauwerken auf seinen Befehl zerstört.
[281]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
worden war, zog eben dahin in der Hoffnung vor dem Eintreffen
des Flaccus eine Hauptschlacht liefern zu können. Vergeblich
rieth Archelaos sich hierauf nicht einzulassen, sondern die See
und die Küsten besetzt und den Feind hinzuhalten; es blieb bei
der Weise der Orientalen, wie geängstete Thiere in die Feuers-
brunst, so mit ihren Massen sich rasch und blindlings in den
Kampf zu stürzen, wie es einst Dareios und Antiochos gethan.
Hier war dies Verfahren thörichter als je angewandt, wo die Asia-
ten vielleicht nur einige Monate hätten warten dürfen um bei
einer Schlacht zwischen Sulla und Flaccus die Zuschauer abzu-
geben. In der Ebene des Kephissos unweit Chaeroneia trafen
die Heere auf einander. Selbst mit Einschluſs der aus Thessalien
zurückgedrängten Abtheilung, der es geglückt war ihre Verbin-
dung mit der römischen Hauptarmee zu bewerkstelligen, und mit
Einschluſs der griechischen Contingente fand sich das römische
Heer einem dreifach stärkeren Feind gegenüber und namentlich
einer weit überlegenen und bei der Beschaffenheit des Schlachtfel-
des sehr gefährlichen Reiterei, gegen die Sulla seine Flanken durch
verschanzte Gräben zu decken sich genöthigt sah, so wie er in der
Fronte zum Schutz gegen die feindlichen Streitwagen zwischen
seiner ersten und zweiten Linie eine Pallisadenkette anbringen
lieſs. Als die Streitwagen den Kampf zu eröffnen heranrollten,
zog sich das erste Treffen der Römer hinter diese Pfahlreihe zu-
rück; die Wagen, an ihr abprallend und gescheucht durch die
römischen Schleuderer und Schützen, warfen sich auf die eigene
Linie und brachten Verwirrung sowohl in die makedonische
Phalanx wie in das Corps der italischen Flüchtlinge. Archelaos
zog eilig seine Reiterei von beiden Flanken herbei und warf sie
dem Feinde entgegen um Zeit zu gewinnen seine Infanterie wie-
der zu ordnen; sie griff mit groſsem Feuer an und durchbrach
die römischen Reihen; allein die römische Infanterie formirte
sich rasch in geschlossenen Massen und hielt den von allen Sei-
ten auf sie anstürmenden Reitern muthig Stand. Inzwischen
führte Sulla selbst auf dem rechten Flügel seine Reiterei in die
entblöſste Flanke des Feindes; die asiatische Infanterie wich,
ohne eigentlich zum Schlagen gekommen zu sein und ihr Wei-
chen brachte Unruhe auch in die Reitermassen. Ein allgemeiner
Angriff des römischen Fuſsvolks, das durch die schwankende
Haltung der feindlichen Reiter wieder Luft bekam, entschied den
Sieg. Die Schlieſsung der Lagerthore, die Archelaos anordnete
um die Flucht zu hemmen, bewirkte nur, daſs das Blutbad um
so gröſser ward und als die Thore endlich sich aufthaten die
[282]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
Römer mit den Asiaten zugleich eindrangen. Nicht den zwölften
Mann soll Archelaos nach Chalkis gerettet haben. Sulla folgte
ihm bis an den Euripos; den schmalen Meeresarm zu über-
schreiten war er nicht im Stande. — Es war ein groſser Sieg,
aber die Resultate waren geringfügig, theils wegen des Mangels
einer Flotte, theils weil der römische Sieger sich genöthigt sah
statt die Besiegten zu verfolgen zunächst vor seinen Landsleuten
sich zu schützen. Lucius Flaccus war inzwischen in der That
mit zwei Legionen in Epeiros gelandet, nicht ohne unterwegs
durch Stürme und durch die jetzt auch im adriatischen Meer
kreuzenden feindlichen Kriegsschiffe starken Verlust erlitten zu
haben; bereits standen seine Truppen in Thessalien; dorthin zu-
nächst muſste Sulla sich wenden. Bei Melitaea am nördlichen
Abhang des Othrysgebirges lagerten beide römische Heere sich
gegenüber; ein Zusammenstoſs schien unvermeidlich. Indeſs
Flaccus, nachdem er Gelegenheit gehabt hatte sich zu überzeu-
gen, daſs Sullas Soldaten keineswegs geneigt waren ihren sieg-
reichen Führer an den gänzlich unbekannten demokratischen
Oberfeldherrn zu verrathen, daſs vielmehr seine eigene Vorhut
anfing in das sullanische Lager zu desertiren, wich dem Kampfe
aus, dem er in keiner Hinsicht gewachsen war, und brach gen
Norden auf, um durch Makedonien und Thrakien nach Asien zu
gelangen und dort durch Ueberwältigung Mithradats sich den
Weg zu weiteren Erfolgen zu bahnen. Daſs Sulla den schwäche-
ren Gegner ungehindert abziehen lieſs, ist militärisch betrachtet
auffallend; vielleicht darf man annehmen, daſs auch hier politi-
sche Beweggründe ihn leiteten und er gemäſsigt und patriotisch
genug war einen Sieg über die Landsleute wenigstens so lange,
als man noch mit den Asiaten zu thun hatte, gern zu vermeiden
und die erträglichste Lösung der leidigen Verwickelung darin zu
finden, daſs die Revolutionsarmee in Asien, die der Oligarchie in
Europa mit dem gemeinschaftlichen Feinde stritt. — Inzwischen
gab es auch hier wieder für diese neue Arbeit. Mithradates, der
in Kleinasien seine Rüstungen unermüdlich fortsetzte, hatte eine
nicht viel geringere Armee, als die bei Chaeroneia aufgeriebene
gewesen, unter Dorylaos nach Euboea gesandt; von dort war die-
selbe in Verbindung mit den Ueberbleibseln der Armee des Ar-
chelaos, während Sulla in Thessalien beschäftigt war, über den
Euripos nach Boeotien gegangen. Der pontische König, der in
den Siegen über die bithynische und kappadokische Miliz den
Maſsstab fand für die Leistungsfähigkeit seiner Armee, begriff die
ungünstige Wendung nicht, die die Dinge in Europa nahmen;
[283]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
schon flüsterten die Kreise der Höflinge von Verrath des Arche-
laos; peremtorischer Befehl war gegeben mit der neuen Armee
sofort eine zweite Schlacht zu liefern und nun unfehlbar die Rö-
mer zu vernichten. Der Wille des Herrn geschah, wo nicht im
Siegen, doch wenigstens im Schlagen. Abermals in der Kephis-
sosebene, bei Orchomenos begegneten sich die Römer und die
Asiaten. Die zahlreiche und vortreffliche Reiterei der letzteren
warf sich ungestüm auf das römische Fuſsvolk, das zu schwan-
ken und zu weichen begann; die Gefahr ward so dringend, daſs
Sulla ein Feldzeichen ergriff und mit seinen Adjutanten und Or-
donnanzen gegen den Feind vorgehend mit lauter Stimme den
Soldaten zurief, wenn man daheim sie frage, wo sie ihren Feld-
herrn im Stich gelassen hätten, so möchten sie antworten: bei
Orchomenos. Dies wirkte; die Legionen standen wieder und
überwältigten die feindlichen Reiter, worauf auch die Infanterie
mit leichter Mühe geworfen ward. Am folgenden Tage wurde
das Lager der Asiaten umstellt und erstürmt; der weitaus gröſste
Theil derselben fiel oder kam um in den kopaischen Sümpfen;
nur wenige, unter ihnen Archelaos, gelangten nach Euboea. Die
boeotischen Gemeinden hatten den abermaligen Abfall von Rom
schwer, zum Theil bis zur Vernichtung zu büſsen. Am Ende
des dritten Kriegsjahrs war das europäische Festland von Fein-
den gereinigt und Sulla konnte Winterquartiere in Thessalien be-
ziehen, um im Frühjahr 670 * den asiatischen Feldzug zu begin-
nen, zu welchem Ende er Befehl gab in den thessalischen Häfen
Schiffe zu bauen.
Inzwischen hatte auch die Lage der kleinasiatischen Verhält-
nisse sich wesentlich umgestaltet. Wenn König Mithradates einst
aufgetreten war als der Befreier der Hellenen, wenn er mit För-
derung der städtischen Unabhängigkeit und mit Steuererlassen
seine Herrschaft eingeleitet hatte, so war auf diesen kurzen Tau-
mel nur zu rasch und nur zu bitter die Enttäuschung gefolgt.
[284]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
Sehr bald war er aufgetreten in seinem wahren Charakter und
hatte eine selbst die Tyrannei der römischen Vögte überbietende
Zwingherrschaft zu üben begonnen, die sogar die geduldigen
Kleinasiaten zu offener Auflehnung trieb. Der Sultan griff dage-
gen wieder zu den gewaltsamsten Mitteln. Seine Verordnungen
verliehen den zugewandten Ortschaften die Selbstständigkeit, den
Insassen das Bürgerrecht, den Schuldnern vollen Schuldenerlaſs,
den Besitzlosen Aecker, den Sclaven die Freiheit; an 15000 sol-
cher freigelassener Sclaven fochten im Heer des Archelaos. Die
fürchterlichsten Scenen waren die Folge dieser von oben herab
erfolgenden Umwälzung aller bestehenden Ordnung. Die ansehn-
lichsten Kaufstädte, Smyrna, Kolophon, Ephesos, Tralleis, Sar-
deis schlossen den Vögten des Königs die Thore oder brachten
sie um. Dagegen lieſs der königliche Vogt Diodoros, ein nam-
hafter Philosoph wie Aristion, von anderer Schule, aber gleich
brauchbar zur schlimmsten Herrendienerei, im Auftrag seines
Herrn den gesammten Stadtrath von Adramyttion niedermachen.
Die Chier, die der Hinneigung zu Rom verdächtig schienen, wur-
den zunächst um 2000 Talente (3½ Mill. Thlr.) gebüſst und da
die Zahlung nicht richtig befunden wurde, in Masse auf Schiffe
gesetzt und gebunden unter Aufsicht ihrer eigenen Sclaven an
die kolchische Küste deportirt, während ihre Insel mit pontischen
Colonisten besetzt ward. Die Häuptlinge der kleinasiatischen
Kelten befahl der König sämmtlich an einem Tage mit ihren Wei-
bern und Kindern umzubringen und ihr Land in eine pontische
Satrapie zu verwandeln. Die meisten dieser Blutbefehle wur-
den auch entweder an Mithradates eigenem Hoflager, oder im
galatischen Lande vollstreckt, allein die wenigen Entronnenen
stellten sich an die Spitze ihrer kräftigen Stämme und schlugen
den Statthalter des Königs, Eumachos, aus ihren Grenzen hinaus.
Es ist begreiflich, daſs die Dolche der Mörder den König verfolg-
ten; sechzehnhundert Menschen wurden als in solche Complotte
verwickelt von den königlichen Untersuchungsgerichten zum
Tode verurtheilt. — Wenn also der König durch dies selbstmör-
derische Wüthen seine zeitigen Unterthanen gegen sich unter die
Waffen rief, so ward er zugleich von den Römern auch in Asien
zu See und zu Lande gedrängt. Lucullus hatte, nachdem der
Versuch die aegyptische Flotte gegen Mithradates vorzuführen
gescheitert war, sein Bemühen sich Kriegsschiffe zu verschaffen
in den syrischen Seestädten mit besserem Erfolg wiederholt, und
seine werdende Flotte in den kyprischen, pamphylischen und
rhodischen Häfen verstärkt, bis er sich stark genug fand zum
[285]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
Angriff überzugehen. Gewandt vermied er es mit überlegenen
Streitkräften sich zu messen und errang dennoch nicht unbe-
deutende Erfolge. Die knidische Insel und Halbinsel wurden von
ihm besetzt, Samos angegriffen, Kolophon und Chios den Fein-
den entrissen. Inzwischen war auch Flaccus mit seiner Armee
durch Makedonien und Thrakien nach Byzantion und von dort,
die Meerenge passirend, nach Kalchedon gelangt (Ende 668).
Hier brach gegen den Feldherrn eine Militärinsurrection aus, an-
geblich weil er den Soldaten die Beute unterschlug; die Seele
derselben war einer der höchsten Offiziere des Heeres Gaius Fla-
vius Fimbria, dessen Name in Rom sprichwörtlich geworden war
für den rechten Pöbelredner und der, nachdem er mit seinem
Oberfeldherrn sich entzweit hatte, das auf dem Markt begonnene
Demagogen-Geschäft ins Lager übertrug. Flaccus ward von dem
Heer abgesetzt und bald nachher in Nikomedeia unweit Kalche-
don getödtet; an seine Stelle trat nach Beschluſs der Soldaten
Fimbria. Es versteht sich, daſs er seinen Leuten alles nachsah;
in dem befreundeten Kyzikos zum Beispiel ward der Bürger-
schaft befohlen ihre gesammte Habe an die Soldaten bei Todes-
strafe auszuliefern und zum warnenden Exempel zwei der ange-
sehensten Bürger sogleich vorläufig hingerichtet. Allein militä-
risch war der Wechsel des Oberbefehls dennoch ein Gewinn;
Fimbria war nicht wie Flaccus ein unfähiger General, sondern
energisch und talentvoll. Bei Miletopolis (am Rhyndakos west-
lich von Brussa) schlug er den jüngern Mithradates, der als
Statthalter der pontischen Satrapie ihm entgegen gezogen war,
vollständig in einem nächtlichen Ueberfall und öffnete sich durch
diesen Sieg den Weg nach der Hauptstadt sonst der römischen
Provinz, jetzt des pontischen Königs Pergamon, von wo er den
König vertrieb und ihn zwang sich nach dem wenig entfernten
Hafen Pitane zu retten, um von dort zur See zu entkommen.
Eben jetzt erschien Lucullus mit seiner Flotte in diesen Gewäs-
sern; Fimbria beschwor ihn durch seinen Beistand ihm die Ge-
fangennehmung des Königs möglich zu machen. Aber der Opti-
mat war mächtiger in Lucullus als der Patriot; er segelte weiter
und der König entkam nach Mytilene. Auch so aber war Mithra-
dates Lage bedrängt genug. Am Ende des Jahres 669 war
Europa verloren, Kleinasien gegen ihn theils im Aufstand begrif-
fen, theils von einem römischen Heer eingenommen. Die römi-
sche Flotte unter Lucullus hatte an der Küste der troischen
Landschaft durch zwei glückliche Seegefechte am Vorgebirg
Lekton und bei der Insel Tenedos ihre Stellung behauptet; sie
[286]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
zog daselbst die inzwischen nach Sullas Anordnung in Thessa-
lien erbauten Schiffe an sich und gewährte in ihrer den Helles-
pont beherrschenden Stellung dem Feldherrn der römischen Ar-
mee für das nächste Frühjahr den sicheren und bequemen
Uebergang nach Asien.
Mithradates versuchte zu unterhandeln. Unter anderen Ver-
hältnissen zwar hätte der Urheber des ephesischen Mordedicts
nie und nimmermehr hoffen dürfen zum Frieden mit Rom ge-
lassen zu werden; allein bei den inneren Convulsionen der rö-
mischen Republik, wo die herrschende Regierung den Mithrada-
tes gegenüberstehenden Feldherrn in die Acht erklärt hatte und
daheim gegen seine Parteigenossen in der grauenhaftesten Weise
wüthete, wo ein römischer General gegen den andern und doch
wieder beide gegen denselben Feind standen, hoffte er nicht bloſs
einen Frieden, sondern einen günstigen Frieden erlangen zu
können. Er hatte die Wahl sich an Sulla oder an Fimbria zu
wenden; mit beiden lieſs er unterhandeln, doch scheint seine Ab-
sicht von Haus aus gewesen zu sein mit Sulla abzuschlieſsen, der
wenigstens in dem Horizont des Königs als seinem Nebenbuhler
entschieden überlegen erschien. Sein Feldherr Archelaos erhielt
den Auftrag Sulla aufzufordern auf Asien zu verzichten und dafür
die Hülfe des Königs anzunehmen gegen die demokratische Partei
in Rom. Aber Sulla, kühl und klar wie immer, schlug die Vor-
theile der kappadokischen Allianz für den ihm in Italien bevor-
stehenden Krieg sehr niedrig an und war überhaupt viel zu sehr
Römer, um in eine so entehrende und so nachtheilige Abtretung
zu willigen. In den Friedensconferenzen, die im Winter 669/70
zu Delion an der boeotischen Küste Euboea gegenüber stattfanden,
weigerte er sich bestimmt auch nur einen Fuſsbreit Landes ab-
zutreten, ging aber übrigens bis an die äuſsersten Grenzen der
Nachgiebigkeit. Er bewilligte dem König den Besitzstand, den er
vor dem Kriege gehabt, und forderte nichts als Auslieferung der
Gefangenen und Ueberläufer, Rücksendung der nach dem schwar-
zen Meer weggeführten Chier, Uebergabe von 80 Kriegsschiffen
zur Verstärkung der immer noch geringen römischen Flotte, end-
lich Ersatz der Kriegskosten mit der sehr mäſsigen Summe von
3000 Talenten (5 Mill. Thlr.) * Archelaos, deutlich erkennend,
[287]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
daſs verhältniſsmäſsig unerwartet viel erreicht und mehr nicht zu
erreichen sei, schloſs auf diese Bedingungen die Präliminarien
und den Waffenstillstand ab und zog die Truppen aus den Plätzen
heraus, die die Asiaten noch in Europa inne hatten. Von Tigra-
nes, der streng genommen gleichfalls mit in den Frieden hätte
eingeschlossen werden sollen, schwieg man auf beiden Seiten, da
an den endlosen Weiterungen, die seine Beiziehung machen
muſste, keinem der contrahirenden Theile gelegen war. Allein
Mithradates verwarf den Frieden und begehrte wenigstens, daſs
die Römer auf die Auslieferung der Kriegsschiffe verzichten und
ihm Paphlagonien einräumen möchten; indem er zugleich geltend
machte, daſs Fimbria ihm weit günstigere Bedingungen zu ge-
währen bereit sei. Sulla, beleidigt durch dies Gleichstellen seiner
Anerbietungen mit denen eines amtlosen Abenteurers und bei
dem äuſsersten Maſs der Nachgiebigkeit bereits angelangt, brach
die Unterhandlungen ab. Er hatte die Zwischenzeit benutzt um
Makedonien wieder zu ordnen und die Dardaner, Sinter, Maeder
zu züchtigen, wobei er zugleich seinem Heer Beute verschaffte
und sich Asien näherte, wohin er auf jeden Fall zu gehen ent-
schlossen war, um mit Fimbria abzurechnen. Schon standen
seine Legionen in Thrakien; sofort gab er an Heer und Flotte
Befehl sich in Bewegung zu setzen nach dem Hellespont. Da end-
lich gelang es Archelaos seinem eigensinnigen Herrn die wider-
strebende Einwilligung zu dem Tractat zu entreiſsen; wofür er
später am königlichen Hofe als der Urheber des nachtheiligen
Friedens scheel angesehen, ja des Verraths bezüchtigt ward, so
daſs er einige Zeit nachher sich genöthigt sah das Land zu räu-
men und zu den Römern sich zu flüchten, die bereitwillig ihn
aufnahmen und ihn mit Ehren überhäuften. Auch das römische
Heer murrte; daſs die gehoffte asiatische Kriegsbeute ihm ent-
ging, mochte dazu freilich mehr beitragen als der an sich wohl
gerechtfertigte Unwille, daſs man den Barbarenfürsten, der acht-
zigtausend ihrer Landsleute ermordet und über Italien und Asien
unsägliches Elend gebracht hatte, mit dem gröſsten Theil der in
Asien zusammengeplünderten Schätze ungestraft abziehen lieſs
in seine Heimath. Sulla selbst mag es schmerzlich empfunden
haben, daſs die politischen Verwicklungen seine militärisch so
einfache Aufgabe in peinlichster Weise durchkreuzten und ihn
zwangen nach solchen Siegen sich mit einem solchen Frieden zu
begnügen. Indeſs zeigt sich die Selbstverleugnung und die Ein-
sicht, mit der er diesen ganzen Krieg geführt hat, nur aufs Neue
in diesem Friedensschluſs; denn der Krieg gegen einen Fürsten,
[288]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
dem fast die ganze Küste des schwarzen Meeres gehorchte und
dessen Starrsinn noch die letzten Verhandlungen deutlich zeigten,
nahm selbst im günstigsten Fall Jahre in Anspruch und die Lage
Italiens war von der Art, daſs es fast schon jetzt eine verzweifelte
Aufgabe schien mit den wenigen Legionen, die Sulla besaſs, der
dort regierenden Partei entgegenzutreten *. Indeſs bevor dies ge-
schehen konnte, war es schlechterdings nothwendig den kecken
Offizier niederzuwerfen, der jetzt in Asien an der Spitze der de-
mokratischen Armee stand, damit derselbe nicht wie Sulla jetzt
[289]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
auf Italien sich zu werfen gedachte, so dereinst dorthin der Re-
volution zu Hülfe sich wende. Bei Kypsela am Hebros erreichte
Sulla der Bote, der Mithradates Nachgiebigkeit zu melden beauf-
tragt war; allein der Marsch nach Asien ging weiter. Der König,
hieſs es, wünsche persönlich mit dem römischen Feldherrn zu-
sammenzutreffen und den Frieden mit ihm abzuschlieſsen; ver-
muthlich war dies nichts als ein schicklicher Vorwand um das
Heer nach Asien überzuführen und dort mit Fimbria ein Ende zu
machen. So überschritt Sulla, begleitet von seinen Legionen und
von Archelaos, den Hellespont; nachdem er am asiatischen Ufer
desselben in Dardanos mit Mithradates zusammengetroffen war
und mündlich den Vertrag abgeschlossen hatte, lieſs er den Marsch
fortsetzen, bis er bei Thyateira unweit Pergamon auf das Lager
des Fimbria traf und das seinige hart an demselben schlug. Die
sullanischen Soldaten, an Zahl, Zucht, Führung und Tüchtigkeit
den Fimbrianern weit überlegen, sahen mit Verachtung auf die
verzagten und demoralisirten Haufen und deren unberufenen
Oberfeldherrn. Die Desertionen unter den Fimbrianern wurden
immer zahlreicher. Als Fimbria anzugreifen befahl, weigerten die
Soldaten sich gegen ihre Mitbürger zu fechten, ja sogar den ge-
forderten Eid, treulich im Kampf zusammenzustehen, in seine
Hände abzulegen. Ein Mordversuch auf Sulla schlug fehl; zu der
von Fimbria erbetenen Zusammenkunft erschien Sulla nicht,
sondern begnügte sich ihm durch einen seiner Offiziere eine Aus-
sicht auf persönliche Rettung zu eröffnen. Fimbria war eine fre-
velhafte Natur, aber keine Memme; statt das von Sulla ihm an-
gebotene Schiff anzunehmen und zu den Barbaren zu fliehen,
ging er nach Pergamon und fiel im Tempel des Asklepios in sein
eigenes Schwert. Die Compromittirtesten aus seinem Heer bega-
ben sich zu Mithradates oder zu den Piraten, wo sie bereitwillige
Aufnahme fanden; die Masse stellte sich unter die Befehle Sullas.
— Sulla beschloſs diese beiden Legionen, denen er doch für den
bevorstehenden italischen Krieg nicht traute, in Asien zurückzulas-
sen, wo die entsetzliche Krise noch lange in den einzelnen Städten
und Landschaften nachzitterte. Das Commando über dieses Corps
und die Statthalterschaft im römischen Asien übergab er seinem
besten Offizier Lucius Licinius Murena. Die revolutionären Maſs-
regeln Mithradats, wie die Befreiung der Sclaven und die Cassa-
tion der Forderungen, wurden natürlich aufgehoben; eine Re-
stauration, die freilich an vielen Orten nicht ohne Waffengewalt
durchgesetzt werden konnte. Es ward ferner Gerechtigkeit geübt,
wie die Sieger sie verstanden. Die namhaftesten Anhänger Mi-
Röm. Gesch. II. 19
[290]VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
thradats und Urheber der an den Italikern verübten Mordthaten
traf die Todesstrafe. Die Steuerpflichtigen muſsten die sämmt-
lichen von den letzten fünf Jahren her rückständigen Zehnten
und Zölle sofort nach Abschätzung baar erlegen; auſserdem hatten
sie eine Kriegsentschädigung von 20000 Talenten (34 Mill. Thlr.)
zu entrichten, zu deren Eintreibung Lucius Lucullus zurückblieb.
Es waren dies Maſsregeln von furchtbarer Strenge und schreck-
lichen Folgen; wenn man sich indeſs des ephesischen Decrets und
seiner Execution erinnert, so fühlt man sich geneigt dieselben
als eine verhältniſsmäſsig noch gelinde Vergeltung zu betrachten.
Daſs die sonstigen Erpressungen nicht ungewöhnlich drückend
waren, beweist der Betrag der später im Triumph aufgeführ-
ten Beute, der an edlem Metall sich nur auf etwa 7 Mill. Thlr.
belief. Die wenigen treugebliebenen Gemeinden dagegen, nament-
lich die Insel Rhodos, die lykische Landschaft, Magnesia am
Maeander wurden reich belohnt; Rhodos erhielt wenigstens einen
Theil der nach dem Kriege gegen Perseus ihm entzogenen (I, 594)
Besitzungen zurück. Deſsgleichen wurden die Chier für die aus-
gestandene Noth, die Ilienser für die wahnsinnig grausame Miſs-
handlung, die ihnen Fimbria wegen der mit Sulla angeknüpften
Verhandlungen zugefügt hatte, nach Möglichkeit durch Freibriefe
und Vergünstigungen entschädigt. Die Könige von Bithynien und
Kappadokien hatte Sulla schon in Dardanos mit dem pontischen
König zusammengeführt und sie alle Frieden und gute Nachbar-
schaft geloben lassen; Gaius Scribonius Curio ward beauftragt in
den beiden von Mithradates geräumten Reichen die Wiederher-
stellung der gesetzlichen Zustände zu überwachen. — So war
man am Ziel. Nach vier Kriegsjahren war der pontische König
wieder ein Client der Römer und in Griechenland, Makedonien
und Kleinasien ein einheitliches und geordnetes Regiment wieder
hergestellt; die Gebote des Vortheils und der Ehre waren, wo
nicht zur Genüge, doch zur Nothdurft befriedigt; Sulla hatte nicht
bloſs als Soldat und Feldherr glänzend sich hervorgethan, son-
dern die schwere Mittelstraſse zwischen kühnem Ausharren und
klugem Nachgeben auf seinem von tausendfachen Hindernissen
durchkreuzten Gange einzuhalten verstanden. Fast wie Hannibal
hatte er gekriegt und gesiegt, um mit den Streitkräften, die der
erste Sieg ihm gab, alsbald zu einem zweiten und schwereren
Kampfe sich zu schicken. Nachdem er seine Soldaten durch die
üppigen Winterquartiere in dem reichen Vorderasien einiger-
maſsen für ihre ausgestandenen Strapazen entschädigt hatte, ging
er im Frühjahr 671 auf 1600 Schiffen von Ephesos nach dem
[291]DER OSTEN UND KÖNIG MITHRADATES.
Peiraeeus und von da auf dem Landweg nach Patrae, wo die
Schiffe wiederum bereit standen, um die Truppen nach Brundi-
sium zu führen. Ihm vorauf ging ein Bericht an den Senat über
seine Feldzüge in Griechenland und Asien, dessen Schreiber von
seiner Absetzung nichts zu wissen schien; es war die stumme
Ankündigung der bevorstehenden Restauration.
19*
[[292]]
KAPITEL IX.
Cinna und Sulla.
Die gespannten und unklaren Verhältnisse, in denen Sulla
bei seiner Abfahrt nach Griechenland im Anfang des Jahres 667
Italien zurücklieſs, sind früher dargelegt worden: die halb er-
stickte Insurrection, die Hauptarmee unter dem mehr als halb
usurpirten Commando eines politisch sehr zweideutigen Gene-
rals, die Verwirrung und die vielfach thätige Intrigue in der
Hauptstadt. Der Sieg der Oligarchie durch Waffengewalt hatte
trotz oder wegen seiner Mäſsigung vielfältige Miſsvergnügte ge-
macht. Die Capitalisten, von den Schlägen der schwersten Fi-
nanzkrise, die Rom noch erlebt hatte, schmerzlich getroffen,
grollten der Regierung wegen des Zinsgesetzes, das sie erlassen,
und wegen des italischen und asiatischen Krieges, die sie nicht
verhütet hatte. Die Neubürger und die Freigelassenen waren un-
zufrieden mit der Cassation der sulpicischen Gesetze. Der Stadt-
pöbel litt unter der allgemeinen Bedrängniſs und fand es uner-
laubt, daſs das Säbelregiment sich die verfassungsmäſsige Knit-
telherrschaft nicht ferner hatte wollen gefallen lassen. Der
hauptstädtische Anhang der nach der sulpicischen Umwälzung
Geächteten, der in Folge der ungemeinen Mäſsigung Sullas sehr
zahlreich geblieben war, arbeitete eifrig daran ihre Rückkehr
zu erwirken; namentlich einige reiche und angesehene Frauen
sparten für diesen Zweck keine Mühe und kein Geld. All diese
Verstimmungen waren eigentlich ziellos oder liefen hinaus auf
ziemlich gleichgültige Nebenfragen; aber sie nährten das allge-
meine Miſsbehagen und hatten schon mehr oder minder mitge-
[293]CINNA UND SULLA.
wirkt bei der Ermordung des Rufus, den wiederholten Mordver-
suchen gegen Sulla, dem zum Theil oppositionellen Ausfall der
Consulwahlen für 667. Der Name des Mannes, den die Miſsver-
gnügten an die Spitze des Staats berufen hatten, des Lucius Cor-
nelius Cinna, war bis dahin kaum genannt worden, auſser als
einer der Offiziere, die im Bundesgenossenkrieg sich hervorge-
than hatten. Ueber Cinnas Persönlichkeit und seine ursprüng-
lichen Absichten sind wir weniger unterrichtet als über die irgend
eines anderen Parteiführers in der römischen Revolution; die
Ursache ist allem Anschein nach keine andere als daſs er ein ganz
gemeiner und durch den niedrigsten Egoismus geleiteter Gesell
war. Es ward gleich bei seinem Auftreten behauptet, daſs er
gegen ein tüchtiges Stück Geld sich den Neubürgern und der
Coterie des Marius verkauft habe, und die Beschuldigung sieht
sehr glaublich aus; wäre sie aber auch falsch, so bleibt es nichts
desto weniger charakteristisch, daſs ein Verdacht, wie er nie
gegen Saturninus und Sulpicius geäuſsert worden war, an Cinna
haften konnte. In der That hat die Bewegung, an deren Spitze
er sich stellte, ganz den Anschein der Geringhaltigkeit sowohl
der Beweggründe wie der Ziele. Sie ging nicht so sehr von einer
Partei aus als von einer Anzahl Miſsvergnügter ohne eigentlich
politische Zwecke und nennenswerthen Rückhalt, die hauptsäch-
lich die Rückberufung der Verbannten in gesetzlicher oder un-
gesetzlicher Weise durchzusetzen sich vorgenommen hatte. Cinna
scheint in die Verschwörung nur nachträglich und deſshalb hinein-
gezogen zu sein, weil die Intrigue, die in Folge der Beschränkung
der tribunicischen Gewalt zur Vorbringung ihrer Anträge einen
Consul brauchte, unter den Consularcandidaten für 667 in ihm
das geeignetste Werkzeug ersah und dann als Consul ihn vor-
schob. Unter den in zweiter Linie erscheinenden Leitern der Be-
wegung fanden sich einige fähigere Köpfe; so der Volkstribun
Gnaeus Papirius Carbo, der durch seine stürmische Volksbered-
samkeit sich einen Namen gemacht hatte, und vor allem Quintus
Sertorius, einer der talentvollsten römischen Offiziere und in jeder
Hinsicht ein vorzüglicher Mann, welcher seit seiner Bewerbung
um das Volkstribunat mit Sulla persönlich verfeindet und durch
diesen Hader in die Reihen der Miſsvergnügten geführt worden
war, wohin er seiner Art nach keineswegs gehörte. Der Procon-
sul Strabo aber, obwohl mit der Regierung gespannt, war den-
noch weit entfernt mit dieser Faction sich einzulassen. Sie ver-
hielt aus guten Gründen sich leidend, so lange Sulla in Italien
stand. Als indeſs dieser, nicht den Mahnungen des Consuls Cinna,
[294]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
sondern dem dringenden Stand der Dinge im Osten nachgebend,
sich eingeschifft hatte, legte Cinna sofort die Gesetzentwürfe vor,
wodurch man übereingekommen war gegen die sullanische Re-
stauration von 666 theilweise zu reagiren; sie enthielten die po-
litische Gleichstellung der Neubürger und der Freigelassenen, wie
Sulpicius sie beantragt hatte, und die Wiedereinsetzung der in
Folge der sulpicischen Revolution Geächteten in den vorigen
Stand. In Masse strömten die Neubürger nach der Hauptstadt,
um dort mit den Freigelassenen zugleich die Gegner einzu-
schüchtern und nöthigenfalls zu zwingen, und beiderseits er-
schien man am Tage der Abstimmung groſsentheils bewaffnet auf
dem Stimmplatz. Als nun gegen die oligarchisch gesinnten Tri-
bunen, die Intercession einlegten, auf der Rednerbühne selbst
die Schwerter gezückt wurden, schritt Cinnas College, der oligar-
chisch gesinnte Gnaeus Octavius gegen die Gewaltthäter gewalt-
thätig ein; seine geschlossenen Haufen bewaffneter Männer säu-
berten nicht bloſs die heilige Straſse und den Marktplatz, son-
dern wütheten auch, der Befehle ihres milder gesinnten Führers
nicht achtend, in grauenhafter Weise gegen die versammelten
Haufen. Der Marktplatz schwamm in Blut an diesem ‚Octaviustag‘,
wie niemals vor- oder nachher — auf zehntausend schätzte man
die Zahl der Leichen. Cinna rief die Sclaven auf sich durch
Theilnahme an dem Kampf die Freiheit zu erkaufen; aber sein
Ruf war ebenso erfolglos wie der gleiche des Marius das Jahr zu-
vor und es blieb den Führern der Bewegung nichts übrig als zu
flüchten. Durch Beschluſs des Senats, der freilich verfassungs-
widrig, aber durch die Umstände gerechtfertigt war, ward der
Consul Cinna seines Amtes entsetzt, an seiner Stelle Lucius Cor-
nelius Merula gewählt und gegen die flüchtigen Häupter die Acht
ausgesprochen. Die ganze Bewegung schien damit endigen zu
sollen, daſs die Zahl der ausgetretenen Männer in Numidien um
einige Köpfe sich vermehrte.
Ohne Zweifel wäre auch bei der Bewegung nichts weiter
herausgekommen, wenn nicht theils der Senat in seiner gewöhn-
lichen Schlaffheit es unterlassen hätte gegen die Flüchtlinge die
erforderlichen Sicherheitsmaſsregeln zu ergreifen, theils diesen
die Möglichkeit gegeben wäre als Verfechter der Emancipation
der Neubürger gewissermaſsen den Aufstand der Italiker zu ihren
Gunsten zu erneuern. Ungehindert erschienen sie in Tibur, in
Praeneste, in allen bedeutenden Neubürgergemeinden Latiums
und Campaniens und forderten und erhielten zur Durchführung
der gemeinschaftlichen Sache überall Geld und Mannschaft. So
[295]CINNA UND SULLA.
unterstützt zeigten sie sich bei der Belagerungsarmee von Nola.
Die Heere dieser Zeit waren demokratisch und revolutionär ge-
sinnt, wo immer der Feldherr nicht durch seine imponirende
Persönlichkeit sie an sich selber fesselte; die Reden der flüchtigen
Beamten, die überdies zum Theil, wie namentlich Cinna und
Sertorius, aus den letzten Feldzügen in gutem Andenken bei den
Soldaten standen, machten tiefen Eindruck; die verfassungswi-
drige Absetzung des popularen Consuls, der Eingriff des Senats
in die Rechte des souveränen Volkes wirkten auf den gemeinen
Mann und den Offizieren machte das Gold des Consuls oder
vielmehr der Neubürger den Verfassungsbruch deutlich. Das
campanische Heer erkannte den Cinna als Consul an und schwor
ihm Mann für Mann den Eid der Treue; es diente als der Kern
um die von den Neubürgern und selbst den bundesgenössischen
Gemeinden herbeiströmenden Schaaren aufzunehmen und zu
formiren; bald bewegte eine ansehnliche, wenn auch meistens aus
Rekruten bestehende Armee sich von Campanien auf die Haupt-
stadt zu. Andere Schwärme nahten ihr von Norden. Auf Cinnas
Einladung waren die das Jahr zuvor Verbannten bei Telamon
an der etruskischen Küste gelandet. Es waren nicht mehr als
etwa 500 Bewaffnete, gröſstentheils Sclaven der Flüchtlinge und
angeworbene numidische Reiter; aber Gaius Marius, wie er das
Jahr zuvor mit dem hauptstädtischen Gesinde Gemeinschaft ge-
macht hatte, lieſs jetzt die Zwinghäuser erbrechen, in denen die
Gutsbesitzer dieser Gegend ihre Feldarbeiter zur Nachtzeit ein-
schlossen, und die Waffen, die er diesen bot um sich die Freiheit
zu erfechten, wurden nicht verschmäht. Durch diese Mannschaft
und die Zuzüge der Neubürger verstärkt zählte er bald 6000 Mann
unter seinen Adlern und konnte vierzig Schiffe bemannen, die sich
vor die [Tibermündung] legten und auf die nach Rom segelnden
Getreideschiffe Jagd machten. Mit diesen stellte er sich dem
‚Consul‘ Cinna zur Verfügung. Die Führer der campanischen
Armee schwankten; die einsichtigeren, namentlich Sertorius,
warnten ernstlich vor der allzuengen Gemeinschaft mit einem
Manne, der durch seinen Namen an die Spitze der Bewegung
geführt werden muſste und doch notorisch ebenso unfähig wie
von wahnsinnigem Rachedurst gepeinigt war; indeſs Cinna ach-
tete diese Bedenklichkeiten nicht und bestätigte dem Marius den
Oberbefehl in Etrurien und zur See mit proconsularischer Ge-
walt. — Während also sich das Gewitter um Rom zusammen-
zog, blieben die Heere des Metellus und des Strabo stehen, wo
sie standen. Metellus hatte keine andere Wahl, da er den Sam-
[296]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
niten feindlich gegenüberstand. Strabo dagegen, der keinen
Feind vor sich hatte, hätte mit seiner starken und ihm ergebe-
nen Armee wahrscheinlich den Brand im Beginnen zu ersticken
vermocht, wenn er gewollt hätte; allein er verhandelte mit beiden
Parteien und rührte sich nicht — es schien, als wolle er eine die
andere aufreiben lassen und dann als Schiedsrichter zwischen sie
treten. So kam es in der That zur Umstellung Roms durch
Cinna und Marius. Marius, jetzt an der Spitze von drei Legio-
nen, lief an den Küstenplätzen Latiums an und besetzte eine Ort-
schaft nach der andern, bis zuletzt sogar Ostia durch Verrath in
seine Gewalt kam und gleichsam zum Vorspiel des herannahen-
den Schreckenregiments der wilden Bande von dem Feldherrn
zu Mord und Plünderung preisgegeben ward. Cinna lieſs Arimi-
num besetzen und unterbrach dadurch die wichtige Verbindung
der Hauptstadt auf der flaminischen Straſse mit dem Pothal, von
wo die Regierung Mannschaft und Zufuhr erwartete. Er selbst
und ein anderes Corps unter Carbo stellten sich auf am rechten
Tiberufer dem Janiculum gegenüber, Sertorius am linken bei
dem servianischen Wall; Marius gelang es die Tiber durch eine
Schiffbrücke abzusperren. Die Hauptstadt schwebte in groſser
Gefahr; die Consuln Octavius und Merula lieſsen eiligst Mauern
und Thore in Vertheidigungszustand setzen und besetzten mit
dem Bürgeraufgebot das Janiculum. Der Senat entschloſs sich,
um den Uebertritt der Neubürger und der Italiker zu Cinna zu
hemmen und das Heer des Metellus aus Samnium wegziehen zu
können, den sämmtlichen italischen Gemeinden, so weit sie es
noch nicht hatten, das römische Vollbürgerrecht zu verleihen *.
So opferte die Regierung, um die Quelle zu verstopfen, die den
besiegten Straſsenkrawall zu einer furchtbaren Insurrection an-
geschwellt hatte, jetzt freiwillig auf, was in dem Bundesgenossen-
krieg um so fürchterlich theuren Preis errungen worden war; allein
als die von den einsichtigen Männern sofort verdammte Politik
der halben Concessionen jetzt verlassen ward, war es bereits zu
spät. Zwar erklärte sich in Folge dieses Beschlusses ein Theil der
noch schwankenden italischen Gemeinden für den Senat; allein
die Samniten stellten demselben Bedingungen, als wären sie Sie-
[297]CINNA UND SULLA.
ger: Auslieferung der den Samniten abgenommenen Gefangenen
und der Ueberläufer; Bewilligung des Bürgerrechts auch an die
zu den Samniten entwichenen Römer; Verzicht auf die Beute, die
die Samniten den Römern abgenommen hatten. Der Senat ver-
warf diese Anträge, die an das caudinische Joch erinnerten, selbst
in dieser Noth und so muſste man sich begnügen, statt des gan-
zen in Samnium beschäftigten Corps nur Metellus selbst mit den
allenfalls entbehrlichen Truppen der bedrängten Hauptstadt zu
Hülfe herbeizuziehen. Dagegen bewilligte Gaius Marius ohne Be-
denken, was die Samniten nur irgend begehrten — was lag ihm
noch an römischer Ehre! — und war es wohl zufrieden, als die
Samniten das schwache von Metellus in Samnium zurückgelas-
sene Corps unter Plautius angriffen und besiegten. Die Cinna-
ner fingen an ein solches Uebergewicht zu gewinnen und die
Hauptstadt so ernstlich zu bedrängen, daſs selbst Strabo es noth-
wendig fand heranzurücken und die Vertheidigung gegen Ser-
torius zu übernehmen. Militärisch war die Senatspartei jetzt
ihren Gegnern wieder wenigstens gewachsen; sie konnte wieder
ausrücken und am Albanergebirg gegen Marius, vor dem colli-
nischen Thor gegen Sertorius zum Kampf sich stellen; ein Ver-
such des Marius durch Einverständniſs mit einem der Offiziere
der Besatzung sich des Janiculums zu bemächtigen, ward von
Gnaeus Octavius vereitelt und die bereits durch die geöffnete
Pforte Eingedrungenen wieder hinausgeschlagen. Aber Hunger,
Seuchen und Zwiespalt erwiesen sich gefährlicher als der Feind
vor den Mauern. Daſs der groſsen volkreichen und stark mit Mi-
litär besetzten Stadt die Vorräthe rasch anfingen auf die Neige zu
gehen, versteht sich; das Abschneiden der Zufuhr lieſs nament-
lich Marius sich angelegen sein, indem er die noch offenen Stras-
sen durch die Eroberung von Antium, Lanuvium, Aricia und an-
deren Ortschaften in seine Gewalt brachte — wo er auf Gegen-
wehr stieſs, muſste die gesammte Bürgerschaft, mit Ausnahme
derer, die ihm die Stadt verrathen, über die Klinge springen.
Ansteckende Krankheiten lichteten fürchterlich die dicht um die
Hauptstadt zusammengedrängten Heere; es sollen von Strabos
Veteranenheer 11000, von den Truppen des Octavius 6000 Mann
denselben erlegen sein. Auch Strabo starb, nicht an der Pest,
sondern — angeblich wenigstens — vom Blitz erschlagen; die
erbitterte hauptstädtische Menge, die nicht mit Unrecht vor allen
ihm grollte, riſs seinen Leichnam von der Bahre und schleifte ihn
durch die Straſsen. Die Optimaten wurden selbst unsicher.
Während eine Partei, an ihrer Spitze der ehrenwerthe, aber stör-
[298]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
rige und kurzsichtige Consul Octavius, sich beharrlich gegen jede
Nachgiebigkeit setzte, versuchte der kriegskundigere und ver-
ständigere Metellus einen Vergleich zu Stande zu bringen; aber
seine Zusammenkunft mit Cinna erregte den Zorn der Ultras
beider Parteien: Cinna hieſs dem Marius ein Schwächling, Metel-
lus dem Octavius ein Verräther. Auch die Soldaten und die Bür-
gerschaft fingen an zu schwanken. Jene, der Führung des un-
erprobten Octavius miſstrauend, sannen Metellus an den Ober-
befehl zu übernehmen und begannen, da dieser sich weigerte,
haufenweise die Waffen wegzuwerfen oder gar zum Feind zu de-
sertiren. Die Stimmung der Bürgerschaft wurde täglich gedrück-
ter und schwieriger. Auf den Ruf der Herolde Cinnas, daſs den
überlaufenden Sclaven die Freiheit zugesichert sei, strömten die-
selben schaarenweise aus der Hauptstadt in das feindliche Lager.
Es ward vorgeschlagen, daſs die Regierung den Sclaven, die in
das Heer eintreten würden, die Freiheit zusichern solle, allein
Octavius widersetzte sich dieser Maſsregel entschieden. Die Re-
gierung konnte es sich nicht verbergen, daſs sie geschlagen war
und daſs nichts übrig blieb als mit den Führern der Bande wo
möglich ein Abkommen zu treffen, wie der überwältigte Wanderer
es trifft mit dem Räuberhauptmann. Boten gingen an Cinna,
allein da sie thörichter Weise Schwierigkeiten machten ihn als
Consul anzuerkennen und Cinna inzwischen sein Lager hart vor
die Stadtthore verlegte, so griff das Ueberlaufen so sehr um sich,
daſs der Senat es nicht mehr wagte irgend welche Bedingungen
zu stellen, sondern sich auf die Bitte beschränkte des Blutvergies-
sens sich zu enthalten. Cinna sagte es zu, aber weigerte sich sein
Versprechen eidlich zu bekräftigen; Marius, ihm zur Seite den
Verhandlungen beiwohnend, verharrte im finsteren Schweigen.
Die Thore der Hauptstadt öffneten sich. Der Consul zog ein
mit seinen Legionen; aber Marius, spöttisch erinnernd an das
Achtgesetz, weigerte sich die Stadt zu betreten, bevor das Gesetz
es ihm gestatte und eilig versammelten sich die Bürger auf dem
Markt um den cassirenden Beschluſs zu fassen. So kam er denn
und mit ihm die Schreckensherrschaft. Es war beschlossen
nicht einzelne Opfer auszuwählen, sondern die namhaften Män-
ner der Optimatenpartei sämmtlich niedermachen zu lassen und
ihre Güter einzuziehen. Die Thore wurden gesperrt; fünf Tage
und fünf Nächte währte unausgesetzt die Schlächterei; einzelne
Entkommene oder Vergessene wurden auch nachher noch täg-
lich erschlagen und Monate lang ging die Blutjagd durch ganz
Italien. Der Consul Gnaeus Octavius war das erste Opfer. Sei-
[299]CINNA UND SULLA.
nem oft ausgesprochenen Grundsatz getreu lieber den Tod zu
leiden als den rechtlosen Leuten das geringste Zugeständniſs zu
machen weigerte er auch jetzt sich zu fliehen und im consulari-
schen Schmuck harrte er auf dem Janiculum des Mörders, der
nicht lange säumte. Es starben Lucius Caesar (Consul 664),
der gefeierte Sieger von Acerrae; sein Bruder Gaius, dessen un-
zeitiger Ehrgeiz den sulpicischen Tumult heraufbeschworen hatte,
bekannt als Redner und Dichter und als liebenswürdiger Gesell-
schafter; Marcus Antonius (Consul 655), nach dem Tode des
Lucius Crassus unbestritten der erste Sachwalter seiner Zeit;
Publius Crassus (Consul 657), der im spanischen und im Bun-
desgenossenkrieg und noch während der Belagerung Roms mit
Auszeichnung commandirt hatte; überhaupt eine Menge der an-
gesehensten Männer der Regierungspartei, unter denen von den
gierigen Häschern namentlich die reichen mit besonderem Eifer
verfolgt wurden. Jammervoll vor allen schien der Tod des Lu-
cius Merula, der sehr wider seinen Wunsch Cinnas Nachfolger
geworden war und nun deſswegen peinlich angeklagt und vor die
Comitien geladen, um der unvermeidlichen Verurtheilung zuvor-
znkommen, sich die Adern öffnete und am Altar des höchsten
Jupiter, dessen Priester er war, nach Ablegung der priesterlichen
Kopfbinde, wie es die religiöse Pflicht des sterbenden Flamen
mit sich brachte, den Geist aushauchte; und mehr noch der Tod
des Quintus Catulus (Consul 652), einst in besseren Tagen in
dem herrlichsten Sieg und Triumph der Gefährte desselben Ma-
rius, der jetzt für die flehenden Verwandten seines alten Collegen
keine andere Antwort hatte als den einsilbigen Bescheid: ‚er
muſs sterben‘. Der Urheber all dieser Unthaten war Gaius Ma-
rius. Er bezeichnete die Opfer und die Henker — nur aus-
nahmsweise ward, wie gegen Merula und Catulus, eine Rechtsform
beobachtet —; nicht selten war ein Blick oder das Stillschwei-
gen, womit er die Begrüſsenden empfing, das Todesurtheil, das
stets sofort vollstreckt ward. Selbst mit dem Tode des Opfers
ruhte seine Rache nicht: er verbot die Leichen zu bestatten; er
lieſs — worin freilich Sulla ihm vorangegangen war — die Köpfe
der getödteten Senatoren an die Rednerbühne auf dem Markt-
platz heften; einzelne Leichen lieſs er über den Markt schleifen,
die des Gaius Caesar an der Grabstätte des vermuthlich einst von
ihm angeklagten Quintus Varius (S. 229) noch einmal durch-
bohren; er umarmte öffentlich den Menschen, der ihm, während
er bei der Tafel saſs, den Kopf des Antonius überreichte, den selber
in seinem Versteck aufzusuchen und mit eigener Hand umzu-
[300]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
bringen er kaum hatte abgehalten werden können. Hauptsäch-
lich seine Sclavenlegionen, namentlich eine Abtheilung Ardyäer
(S. 162), dienten ihm als Schergen und versäumten nicht in
diesen Saturnalien ihrer neuen Freiheit die Häuser ihrer ehema-
ligen Herren zu plündern und was ihnen darin vorkam zu schän-
den und zu morden. Seine eigenen Genossen waren in Verzweif-
lung über dieses wahnsinnige Wüthen; Sertorius beschwor den
Consul um jeden Preis demselben Einhalt zu thun und auch
Cinna war erschrocken. Aber in Zeiten wie diese sind wird der
Wahnsinn selbst eine Macht; man stürzt sich in den Abgrund,
um vor dem Schwindel sich zu retten. Es war nicht leicht dem
rasenden alten Mann und seiner Bande in den Arm zu fallen und
am wenigsten Cinna hatte den Muth dazu; er wählte den Ma-
rius vielmehr für das nächste Jahr zu seinem Collegen im Consu-
lat. Das Schreckensregiment terrorisirte die gemäſsigteren Sieger
nicht viel weniger als die geschlagene Partei; nur die Capitalisten
waren nicht unzufrieden damit, daſs eine fremde Hand sich dazu
herlieh die stolzen Oligarchen einmal gründlich zu demüthigen
und ihnen zugleich in Folge der umfassenden Confiscationen und
Versteigerungen der beste Theil der Beute zufiel — sie erwarben
in diesen Schreckenszeiten bei dem Volke sich den Beinamen der
‚Einsäckler‘. Dem Urheber dieses Terrorismus, dem alten Gaius
Marius hatte also das Verhängniſs seine beiden höchsten Wün-
sche gewährt. Er hatte Rache genommen an all dieser vorneh-
men Meute, die ihm seine Siege vergällt, seine Niederlagen ver-
giftet hatte; er hatte jeden Nadelstich mit einem Dolchstich ver-
gelten können. Er trat ferner das neue Jahr noch einmal an als
Consul; das Traumbild des siebenten Consulates, das der Ora-
kelspruch ihm zugesichert, nach dem er seit dreizehn Jahren ge-
griffen hatte, war nun wirklich geworden. Was er wünschte, hat-
ten die Götter ihm gewährt; aber auch jetzt noch wie in der al-
ten Sagenzeit übten sie die verhängniſsvolle Ironie den Menschen
durch die Erfüllung seiner Wünsche zu verderben. In seinen
ersten Consulaten der Stolz, im sechsten das Gespött seiner Mit-
bürger stand er jetzt im siebenten belastet mit dem Fluche aller
Parteien, mit dem Haſs der ganzen Nation; er, der von Haus aus
rechtliche, tüchtige, kernbrave Mann, gebrandmarkt als das wahn-
witzige Oberhaupt einer ruchlosen Räuberbande. Er selbst schien
es zu fühlen. Wie im Taumel vergingen ihm die Tage und des
Nachts versagte ihm seine Lagerstatt die Ruhe, so daſs er zum
Becher griff um nur sich zu betäuben. Ein hitziges Fieber ergriff
ihn; nach siebentägigem Krankenlager, in dessen wilden Phan-
[301]CINNA UND SULLA.
tasien er auf den kleinasiatischen Gefilden die Schlachten schlug,
deren Lorbeer Sulla bestimmt war, am 13. Jan. 668 war er eine
Leiche. Er starb über siebzig Jahre alt im Vollbesitz dessen, was
er Macht und Ehre nannte, und in seinem Bette; aber die Neme-
sis ist mannichfaltig und sühnt nicht immer Blut mit Blut. Oder
war es etwa keine Vergeltung, daſs Rom und Italien bei der
Nachricht von dem Tode des gefeierten Volkserretters jetzt auf-
athmeten wie kaum bei der Kunde von der Schlacht auf dem rau-
dischen Feld? — Auch nach seinem Tode zwar kamen einzelne
Auftritte vor, die an die Schreckenszeit erinnerten; so machte zum
Beispiel Gaius Fimbria, der wie kein anderer bei den mariani-
schen Schlächtereien sine Hand in Blut getaucht hatte, bei dem
Leichenbegräbniſs des Marius selbst einen Versuch, den allgemein
verehrten und selbst von Marius geschonten Oberpontifex Quin-
tus Scaevola (Consul 659) umzubringen und klagte dann, als
derselbe von der empfangenen Wunde genas, ihn peinlich an,
wegen des Verbrechens, wie er scherzhaft sich ausdrückte, daſs
er sich nicht habe wollen ermorden lassen. Aber die Orgien des
Mordens waren doch vorüber. Unter dem Vorwand der Sold-
zahlung rief Sertorius die marianischen Banditen zusammen,
umzingelte sie mit seinen zuverlässigen keltischen Truppen und
lieſs sie, nach den geringsten Angaben 4000 an der Zahl, sämmt-
lich niederhauen.
Mit dem Schreckensregiment zugleich war die Tyrannis ge-
kommen. Cinna stand nicht bloſs vier Jahre nach einander
(667-670) als Consul an der Spitze des Staats, sondern er er-
nannte auch regelmäſsig sich und seine Collegen ohne das Volk
zu befragen; es war als ob diese Demokraten die souveräne
Volksversammlung mit absichtlicher Geringschätzung bei Seite
schöben. Kein anderer Chef der Popularpartei vor- oder nach-
her hat eine so vollkommen absolute Gewalt in Italien wie in
dem gröſsten Theil der Provinzen so lange Zeit hindurch so gut
wie ungestört besessen wie sie Cinna zu Theil geworden ist; aber
es ist auch keiner zu nennen, dessen Regiment so vollkommen
nichtig und ziellos gewesen ist. Man stieſs natürlich die von
Sulla im J. 666 begründeten reactionären Institutionen um. Man
that einiges um dem Proletariat sich gefällig zu erweisen — so
wurden wahrscheinlich die vor einigen Jahren eingeführten Be-
schränkungen der Getreidevertheilung (S. 220) jetzt wiederum
beseitigt; so wurde nach dem Vorschlag des Volkstribuns Marcus
Junius Brutus im Frühjahr 671 eine demokratische Colonie auf
der ehemaligen capuanischen Domäne angesiedelt; so veranlaſste
[302]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
Lucius Valerius Flaccus der jüngere ein Schuldgesetz, das jede
Privatforderung auf den vierten Theil ihres Nominalbetrags her-
absetzte und drei Viertel zu Gunsten der Schuldner cassirte.
Man ernannte Censoren (668) um sämmtliche Italiker in die fünf-
unddreiſsig Bürgerbezirke zu vertheilen — eine seltsame Fügung
dabei war es, daſs in Folge des Mangels von fähigen Candidaten
zur Censur derselbe Philippus, der als Consul 663 hauptsäch-
lich den Plan des Drusus den Italikern das Stimmrecht zu verlei-
hen hatte scheitern machen (S. 204), jetzt als Censor sie in die
Bürgerrollen einzuschreiben ausersehen ward. In gleicher Weise
wurde der Senat veranlaſst den Italikern und den Freigelassenen
das volle und gleiche Stimmrecht noch einmal zu bestätigen
(670); wogegen es sich nicht findet, daſs man sich die Mühe
gab die Bürgerschaft in dieser Angelegenheit zu fragen. Diese
Maſsregeln aber, die einzigen constitutiven während des ganzen
cinnanischen Regiments, sind ohne Ausnahme vom Augenblick
dictirt; es liegt — und vielleicht ist dies das Entsetzlichste bei
dieser ganzen Katastrophe — derselben nicht etwa ein verkehr-
ter, sondern gar kein politischer Plan zu Grunde. Man liebkoste
den Pöbel und verletzte ihn zugleich in höchst unnöthiger Weise
durch zwecklose Miſsachtung der verfassungsmäſsigen Formen.
Man konnte an der Capitalistenpartei einen Halt finden und schä-
digte sie aufs Empfindlichste durch das Schuldgesetz. Die eigent-
liche Stütze des Regiments waren — durchaus ohne dessen Zu-
thun — die Neubürger; man lieſs sich ihren Beistand gefallen,
aber es geschah nichts um die seltsame Stellung der Samniten
zu regeln, die dem Namen nach jetzt römische Bürger waren,
aber offenbar thatsächlich ihre landschaftliche Unabhängigkeit als
den eigentlichen Zweck und Preis des Kampfes betrachteten und
diese gegen all und jeden zu vertheidigen in Waffen blieben.
Man schlug die angesehenen Senatoren todt wie tolle Hunde;
aber nicht das geringste ward gethan um den Senat im Interesse
der Regierung zu reorganisiren oder dauernd zu terrorisiren; so
daſs dieselbe auch seiner keineswegs sicher war. So hatte Gaius
Gracchus den Sturz der Oligarchie nicht verstanden, daſs der
neue Herr sich auf seinem selbstgeschaffenen Thron verhalten
könne, wie es legitime Nullkönige zu thun belieben. Aber diesen
Cinna hatte nicht sein Wollen, sondern der reine Zufall emporge-
tragen; war es ein Wunder, daſs er blieb, wo die Sturmfluth der
Revolution ihn hingespült hatte, bis eine zweite Sturmfluth kam
ihn wieder fortzuschwemmen?
[303]CINNA UND SULLA.
Dieselbe Verbindung der gewaltigsten Machtfülle mit der
vollständigsten Impotenz und Incapacität der Machthaber zeigte
die Kriegführung gegen die Oligarchie, von der denn doch zu-
nächst die Existenz der revolutionären Regierung abhing. In
Italien gebot sie unumschränkt. Unter den Altbürgern war ein
sehr groſser Theil grundsätzlich demokratisch gesinnt; die noch
gröſsere Masse der ruhigen Leute miſsbilligten zwar die mariani-
schen Greuel, sahen aber in einer oligarchischen Restauration
nichts als die Eröffnung eines zweiten Schreckensregiments der
entgegengesetzten Partei. Der Eindruck der Unthaten des J. 667
auf die Nation insgesammt war verhältniſsmäſsig gering gewesen,
da sie vorwiegend doch nur die hauptstädtische Aristokratie be-
troffen hatten, und ward überdies einigermaſsen ausgelöscht
durch ein dreijähriges leidlich ruhiges Regiment. Die gesammte
Masse der Neubürger endlich, vielleicht drei Fünftel der Italiker,
stand entschieden wo nicht für die gegenwärtige Regierung doch
gegen die Oligarchie. — Gleich Italien hielten zu jener die mei-
sten Provinzen: Sicilien, Sardinien, beide Gallien, beide Spanien.
In Africa machte Quintus Metellus, der den Mördern glücklich
entkommen war, einen Versuch diese Provinz für die Optimaten
zu halten; zu ihm begab sich aus Spanien Marcus Crassus, der
jüngste Sohn des in dem marianischen Blutbad umgekommenen
Publius Crassus, und verstärkte ihn durch einen in Spanien zu-
sammen gebrachten Haufen. Allein sie muſsten, da sie sich un-
ter einander entzweiten, dem Statthalter der revolutionären Re-
gierung Gaius Fabius Hadrianus weichen. Asien war in den
Händen Mithradats; somit blieb als einzige Freistatt der ver-
fehmten Oligarchie die Provinz Makedonien, so weit sie in Sul-
las Gewalt war. Dorthin retteten sich Sullas Gemahlin und Kin-
der, die mit Mühe dem Tode entgangen waren, und nicht wenige
entkommene Senatoren, so daſs bald in seinem Hauptquartier
eine Art von Senat sich bildete. An Decreten lieſs es hiegegen
die Regierung nicht fehlen. Sulla ward durch die Comitien seines
Commandos und seiner sonstigen Ehren und Würden entsetzt
und geächtet, wie das in gleicher Weise auch gegen Metellus, Ap-
pius Claudius und andere angesehene Flüchtlinge geschah; sein
Haus in Rom wurde geschleift, seine Landgüter verwüstet. Indeſs
damit freilich war die Sache nicht erledigt. Hätte Gaius Marius
länger gelebt, so wäre er ohne Zweifel selbst gegen Sulla dorthin
marschirt, wohin noch auf seinem Todtbette die Fieberbilder ihn
führten; welche Maſsregeln nach seinem Tode die Regierung er-
[304]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
griff, ward schon erzählt. Lucius Valerius Flaccus der jüngere *,
der nach Marius Tode das Consulat und das Commando im
Osten übernahm (668), war weder Soldat noch Offizier, sein
Begleiter Gaius Fimbria nicht unfähig aber unbotmäſsig, das
ihnen mitgegebene Heer schon der Zahl nach dreifach schwächer
als die sullanische Armee. Man vernahm nach einander, daſs
Flaccus, um nicht von Sulla erdrückt zu werden, an ihm vor-
über nach Asien abgezogen sei (668), daſs Fimbria ihn beseitigt
und sich selbst an seine Stelle gesetzt habe (Anf. 669), daſs
Sulla Frieden geschlossen habe mit Mithradates (669/70). Bis
dahin hatte Sulla den in der Hauptstadt regierenden Behörden
gegenüber geschwiegen; jetzt lief ein Schreiben von ihm an den
Senat ein, worin er die Beendigung des Krieges berichtete und
seine Rückkehr nach Italien ankündigte; die den Neubürgern er-
theilten Rechte werde er achten; Strafe und Rache seien zwar
unvermeidlich, allein sie würden nicht die Massen, sondern die
Urheber treffen. Diese Ankündigung schreckte Cinna aus seiner
Unthätigkeit auf; wenn bisher nichts von ihm gegen Sulla ge-
schehen war als daſs einige Mannschaft unter die Waffen ge-
stellt und eine Anzahl Schiffe im adriatischen Meere versam-
melt worden war, so beschloſs er jetzt schleunigst nach Grie-
chenland überzugehen. Aber andrerseits weckte Sullas Schrei-
ben, das den Umständen nach äuſserst gemäſsigt zu nennen war,
die Hoffnung der Mittelpartei auf eine friedliche Ausgleichung.
Die Majorität des Senats beschloſs nach dem Vorschlag des älteren
Flaccus einen Sühneversuch zu veranstalten und zu dem Ende
Sulla aufzufordern sich unter Zusicherung sicheren Geleits in
Italien einzufinden, die Consuln Cinna und Carbo aber zu veran-
lassen bis zum Eingang von Sullas Antwort die Rüstungen ein-
[305]CINNA UND SULLA.
zustellen. Sulla wies die Vorschläge nicht unbedingt von der
Hand; er kam zwar natürlich nicht selbst, aber er sandte Boten
um zu erklären, daſs er nichts fordere als Wiedereinsetzung der
Verbannten in den vorigen Stand und gerichtliche Bestrafung der
begangenen Verbrechen, Sicherheit übrigens nicht geleistet be-
gehre, sondern denen daheim zu bringen gedenke. Allein seine
Boten fanden den Stand der Dinge in Italien wesentlich verän-
dert. Cinna hatte, ohne um jenen Senatsbeschluſs sich weiter zu
bekümmern, sofort nach aufgehobener Sitzung sich zum Heer
begeben und die Einschiffung der Truppen zu betreiben begon-
nen. Aber die Aufforderung in der bösen Jahreszeit sich dem
Meer anzuvertrauen rief unter den schon schwierigen Truppen
im Hauptquartier zu Ancona eine Meuterei hervor, deren Opfer
Cinna ward (Anf. 670), worauf sein College Carbo sich genöthigt
sah die schon übergegangenen Abtheilungen zurückzuführen und
auf das Aufnehmen des Krieges in Griechenland verzichtend Win-
terquartiere in Ariminum zu beziehen. Von Unterhandlungen
konnte keine Rede sein: der Senat, jetzt wieder unter Carbos Ein-
fluſs, wies Sullas Vorschläge zurück ohne auch nur die Boten
nach Rom zu lassen und befahl ihm kurzweg die Waffen nieder-
zulegen. — Sulla war inzwischen nach Asien übergegangen, das
Heer des Fimbria zu ihm übergetreten, der Führer durch seine
eigene Hand gefallen: Ereignisse, die so ungünstig sie für die
Regierung an sich waren, doch ihr eine weitere Jahresfrist zu
Rüstungen verschafften. Sie ward nicht versäumt; es sollen bei
Sullas Landung 100000, später sogar die doppelte Zahl von Be-
waffneten in Italien gegen ihn gestanden haben. Die Nation
wollte, wie gesagt, in ihrer groſsen Majorität von Sulla nichts
wissen. Aber was gegen Sulla geschah, geschah am wenigsten
durch die herrschende Coterie der Marianer, die nicht so sehr
ihrer Unthaten wegen verabscheut, als ihrer Schwäche und Nich-
tigkeit wegen verachtet ward. Eben jetzt, wo es galt, muſste
diese Coterie die bisher usurpirte Besetzung des höchsten Amtes
abgeben und für das entscheidende Jahr 671 wieder Consulwah-
len veranstalten. Die Stimmen vereinigten hiebei sich nicht auf
den bisherigen Consul Carbo noch auf einen der fähigen Offiziere
der regierenden Clique, wie Quintus Sertorius oder Gaius Marius
den Sohn, sondern auf Lucius Scipio und Gaius Norbanus, zwei
Incapacitäten, von denen keiner zu schlagen, Scipio nicht einmal
zu sprechen verstand und von denen jener nur als der Urenkel
des Antiochossiegers, dieser als politischer Gegner der Oligarchie
(S. 199) sich der Menge empfahlen. Man wollte die Marianer
Röm. Gesch. II. 20
[306]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
nicht, aber noch weniger Sulla und eine oligarchische Restaura-
tion. — Gegen diese italische Macht hatte Sulla nichts in die Wag-
schale zu legen als seine fünf Legionen, die auch mit Einrechnung
einiger in Makedonien und im Peloponnes aufgebotener Zuzüge
kaum auf 40000 Mann sich belaufen mochten. Allerdings hatte
dies Heer in siebenjährigen Kämpfen in Italien, Griechenland und
Asien des Politisirens sich entwöhnt und hing seinem Feldherrn,
der den Soldaten Alles, Schwelgerei, Bestialität, sogar Meuterei
gegen die Offiziere nachsah, und nichts verlangte als Tapferkeit
und Treue gegen den Feldherrn, der ihnen für den Sieg die
verschwenderischsten Belohnungen in Aussicht stellte, mit allem
jenem soldatischem Enthusiasmus an, der um so gewaltiger ist,
als in ihm die edelsten und die gemeinsten Leidenschaften oft in
derselben Brust sich begegnen. Freiwillig schworen nach rö-
mischer Sitte die sullanischen Soldaten sich einander es zu fest
zusammenzuhalten und freiwillig brachte ein jeder dem Feldherrn
seinen Sparpfennig als Beisteuer zu den Kriegskosten. Allein so
ansehnlich diese geschlossene Kernschaar gegen die feindlichen
Massen ins Gewicht fiel, so erkannte doch Sulla sehr wohl, daſs
Italien nicht mit fünf Legionen bezwungen werden konnte, wenn
es im entschlossenen Widerstande einig zusammenhielt. Hätte
Sulla nichts zu besiegen gehabt, als den Widerstand der Popular-
partei und ihrer unfähigen Autokraten, so wäre seine Aufgabe
nicht schwierig gewesen; aber er sah sich gegenüber und mit
dieser vereinigt die ganze Masse derer, die keine oligarchische
Schreckensrestauration wollten, und vor allen Dingen die ge-
sammte Neubürgerschaft, sowohl diejenigen, die durch das ju-
lische Gesetz von der Theilnahme an der Insurrection sich hatten
abhalten lassen, als diejenigen, deren Schilderhebung vor wenigen
Jahren Rom an den Rand des Verderbens geführt hatte. Sulla
übersah vollkommen die Lage der Verhältnisse und war weit ent-
fernt von der blinden Erbitterung und der eigensinnigen Starrheit,
die die Majorität seiner Partei charakterisirten. Während das
Staatsgebäude in vollen Flammen stand, während man seine
Freunde ermordete, seine Häuser zerstörte, seine Familie ins
Elend trieb, war er ungeirrt auf seinem Posten verblieben, bis
der Landesfeind überwältigt und die römische Grenze gesichert
war. In demselben Sinne patriotischer und einsichtiger Mäſsi-
gung behandelte er auch jetzt die italischen Verhältnisse und that,
was er irgend thun konnte, um die Gemäſsigten und die Neubür-
ger zu beruhigen und um zu vermeiden, daſs nicht unter dem
Namen des Bürgerkrieges der weit gefährlichere Krieg gegen die
[307]CINNA UND SULLA.
italischen Bundesgenossen sich abermals entspinne. Schon das
erste Schreiben, das Sulla an den Senat richtete, hatte nichts als
Recht und Gerechtigkeit gefordert und eine Schreckensherrschaft
ausdrücklich zurückgewiesen; im Einklang damit stellte er nun
allen denen, die noch jetzt von der revolutionären Regierung sich
lossagen würden, unbedingte Begnadigung in Aussicht und ver-
anlaſste seine Soldaten Mann für Mann zu schwören, daſs sie den
Italikern durchaus als Freunden und Mitbürgern begegnen wür-
den. Die bündigsten Erklärungen sicherten den Neubürgern die
von ihnen erworbenen politischen Rechte; so daſs Carbo deſs-
halb von jeder italischen Stadtgemeinde sich Geiſseln wollte stel-
len lassen, was indeſs an dem Widerspruch des Senats scheiterte.
Die Hauptschwierigkeit der Lage Sullas bestand in der That darin,
daſs bei der eingerissenen Wort- und Treulosigkeit die Neubür-
ger allen Grund hatten wenn nicht an seinen persönlichen Ab-
sichten, doch daran zu zweifeln, ob er es vermögen werde die
Senatsmajorität nach dem Siege zum Worthalten zu bestimmen.
So erschien Sulla im Frühling 671 mit seinen Legionen an
der italischen Küste. Die revolutionäre Regierung fand sich trotz
der vierjährigen Vorbereitungsfrist dennoch überrumpelt: der
Senat erklärte auf die Nachricht von der Landung das Vaterland
in Gefahr und übertrug den Consuln unbeschränkte Vollmacht;
aber das Heer befand sich noch bei Ariminum und in dem ganzen
südöstlichen Littoral stand kein Mann unter den Waffen. Gleich
die erste Stadt, bei der Sulla landete, die ansehnliche Neubürger-
gemeinde Brundisium, öffnete ohne Widerstand dem oligarchi-
schen General die Thore und dem gegebenen Beispiel folgte ganz
Messapien und Apulien. Die Armee marschirte durch diese Ge-
genden wie durch Freundesland und hielt, ihres Eides eingedenk,
durchgängig die strengste Mannszucht. Von allen Seiten strömten
die versprengten Reste der Optimatenpartei in das Lager Sullas.
Aus den Bergschluchten Liguriens, wohin er von Africa sich ge-
rettet hatte, kam Quintus Metellus und übernahm wieder, als Col-
lege Sullas, das im J. 667 ihm übertragene und von der Revolution
ihm aberkannte proconsularische Commando; ebenso erschien
von Africa her mit einer kleinen Schaar Bewaffneter Marcus Cras-
sus. Die meisten Optimaten freilich kamen als vornehme Emi-
granten mit groſsen Ansprüchen und geringer Kampflust, so daſs
sie von Sulla selbst bittere Worte zu hören bekamen über die
adlichen Herren, die zum Heil des Staates sich wollten retten
lassen und nicht einmal dazu zu bringen seien ihre Sclaven zu
bewaffnen. Wichtiger war es, daſs schon Ueberläufer aus dem
20*
[308]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
demokratischen Lager sich einstellten. So erschien der feine
und angesehene Lucius Philippus, nebst ein paar notorisch un-
fähigen Leuten der einzige Consular, der mit der revolutionären
Regierung sich eingelassen und unter ihr Aemter angenommen
hatte; er fand bei Sulla die zuvorkommendste Aufnahme und er-
hielt den ehrenvollen und bequemen Auftrag die Provinz Sardi-
nien für ihn zu besetzen. Ebenso wurden Quintus Lucretius Ofella
und andere brauchbare Offiziere empfangen und sofort beschäf-
tigt; selbst Publius Cethegus, einer der nach der sulpicischen
Emeute von Sulla geächteten Senatoren, erhielt Verzeihung und
eine Stellung im Heer. Wichtiger noch als diese einzelnen Ueber-
tritte war der der Landschaft Picenum, der wesentlich dem Sohne
des Strabo, dem jungen Gnaeus Pompeius verdankt ward. Die-
ser, gleich seinem Vater von Haus aus kein Anhänger der Oligar-
chie, hatte die revolutionäre Regierung anerkannt und sogar in
Cinnas Heer Dienste genommen; allein es ward ihm nicht ver-
gessen, daſs sein Vater die Waffen gegen die Revolution getragen
hatte und er sah sich vielfach angefeindet, ja sogar durch die An-
klage auf Herausgabe der nach der Einnahme von Asculum von
seinem Vater wirklich oder angeblich unterschlagenen Beute mit
dem Verlust seines sehr beträchtlichen Vermögens bedroht.
Zwar wendete mehr als die Beredsamkeit des Consulars Lucius
Philippus und des jungen Lucius Hortensius der Schutz des ihm
persönlich gewogenen Consuls Carbo den ökonomischen Ruin
von ihm ab; aber die Verstimmung blieb. Auf die Nachricht von
Sullas Landung ging er nach Picenum, wo er ausgedehnte Be-
sitzungen und von seinem Vater und dem Bundsgenossenkriege
her die besten municipalen Verbindungen hatte und pflanzte in
Auximum (Osimo) die Fahne der optimatischen Partei auf. Die
Landschaft, die meistens von Altbürgern bewohnt war, fiel ihm zu;
die junge Mannschaft, welche groſsentheils mit ihm unter seinem
Vater gedient hatte, stellte sich bereitwillig unter den beherzten
Führer, der, noch nicht dreiundzwanzigjährig, ebenso sehr Sol-
dat wie General war, im Reitergefecht den Seinen voransprengte
und tüchtig mit in den Feind einhieb. Das picenische Freiwilli-
gencorps wuchs bald auf drei Legionen; den aus der Hauptstadt
zur Dämpfung der picenischen Insurrection ausgesandten Abthei-
lungen unter Cloelius, Gaius Albius Carrinas, Lucius Junius Bru-
tus Damasippus * wuſste der improvisirte Feldherr, die unter
[309]CINNA UND SULLA.
denselben entstandenen Zwistigkeiten geschickt benutzend, sich
zu entziehen oder sie einzeln zu schlagen und mit dem Haupt-
heer Sullas, wie es scheint in Apulien, die Verbindung herzustellen.
Sulla begrüſste ihn als Imperator, das heiſst als einen im eigenen
Namen commandirenden und ihm selbst an Rang gleichstehenden
Offizier und zeichnete den Jüngling durch Ehrenbezeugungen aus,
wie er sie keinem seiner vornehmen Clienten erwies — vermuth-
lich nicht ohne die Nebenabsicht der charakterlosen Schwäche
seiner eigenen Parteigenossen damit eine indirecte Züchtigung
zukommen zu lassen. — Also moralisch und materiell ansehn-
lich verstärkt wandten Sulla und Metellus aus Apulien durch die
immer noch insurgirten samnitischen Gegenden sich nach Cam-
panien. Hieher hatte auch die feindliche Hauptmacht sich be-
geben und es schien die Entscheidung hier fallen zu müssen.
Das Heer des Consuls Gaius Norbanus stand um Capua, wo eben
unter dessen Schutz die neue Colonie mit allem demokratischen
Pomp sich constituirte. Bevor die zweite auf der appischen
Straſse nachrückende Consulararmee unter Scipio herankam,
stand Sulla dem Heer des Norbanus gegenüber. Ein letzter Ver-
mittlungsversuch, den Sulla machte, führte nur dazu, daſs man
an seinen Boten sich vergriff; so warfen seine kampfgewohnten
Schaaren in frischer Erbitterung sich auf den Feind und ihr ge-
waltiger Stoſs, wie sie vom Berge Tifata herab den in der Ebene
aufgestellten Feind angriffen, zersprengte denselben im ersten
Anlauf. Norbanus war gezwungen mit dem Rest seiner Mann-
schaft sich in die revolutionäre Colonie Capua und die Neubür-
gerstadt Neapolis zu werfen und dort sich blokiren zu lassen.
Sullas Truppen, bisher nicht ohne Besorgniſs ihre schwache
Zahl mit den feindlichen Massen vergleichend, hatten durch die-
sen Sieg das Vollgefühl militärischer Ueberlegenheit gewonnen;
die Städte wurden umstellt und Sulla selbst rückte auf der appi-
schen Straſse vor gegen Teanum, wo Scipio stand. Auch ihm
bot er, ehe der Kampf begann, noch einmal die Hand zum Frie-
den; es scheint in gutem Ernste. Scipio, schwach wie er war,
ging darauf ein; ein Waffenstillstand ward geschlossen; zwischen
Cales und Teanum kamen die beiden Feldherren, beide Glieder
des gleichen Adelsgeschlechts, beide gebildet und feingesittet und
langjährige Collegen im Senat, persönlich zusammen; man lieſs
sich auf die einzelnen Fragen ein; schon war man so weit, daſs
Scipio einen Boten nach Capua absandte, um die Meinung seines
Collegen einzuholen. Inzwischen mischten sich die Soldaten bei-
der Lager; die Sullaner, von ihrem Feldherrn reichlich mit Gelde
[310]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
versehen, machten es den nicht allzu kriegslustigen Rekruten
beim Becher leicht begreiflich, daſs es besser sei sie zu Kamera-
den als zu Feinden zu haben; vergeblich warnte Sertorius den
Feldherrn diesem gefährlichen Verkehr ein Ende zu machen. Die
Verständigung, die so nahe geschienen, trat doch nicht ein; es
war Scipio, welcher den Waffenstillstand kündigte. Aber Sulla
behauptete, daſs es zu spät und der Vertrag bereits abgeschlos-
sen gewesen sei; worauf Scipios Soldaten, unter dem Vorwand,
daſs ihr Feldherr den Waffenstillstand widerrechtlich aufgesagt, in
Masse übergingen in die feindlichen Reihen. Die Scene schloſs mit
einer allgemeinen Umarmung, der die commandirenden Offiziere
der Revolutionsarmee zuzusehen hatten. Sulla lieſs den Consul
auffordern sein Amt niederzulegen, was er that, und ihn nebst sei-
nem Stab durch seine Reiter dahin escortiren, wohin sie begehrten;
allein kaum in Freiheit gesetzt legte Scipio die Abzeichen seiner
Würde wieder an und begann aufs neue Truppen zusammenzu-
ziehen, ohne indeſs weiter etwas von Belang auszurichten. Sulla
und Metellus nahmen Winterquartiere in Campanien und hielten,
nachdem ein zweiter Versuch mit Norbanus sich zu verständigen
gescheitert war, Capua den Winter über blokirt.
Die Ergebnisse des ersten Feldzugs waren für Sulla die Un-
terwerfung von Apulien, Picenum und Campanien, die Auflösung
der einen, die Besiegung und Blokirung der andern consulari-
schen Armee. Schon traten die italischen Gemeinden, genöthigt
jede für sich Partei zwischen ihren zwiefachen Drängern zu er-
greifen, zahlreich mit ihm in Unterhandlung und lieſsen sich die
von der Gegenpartei erworbenen politischen Rechte durch förm-
liche Separatverträge von dem Feldherrn der Oligarchie garanti-
ren; Sulla hegte die bestimmte Erwartung und trug sie absicht-
lich zur Schau die revolutionäre Regierung in dem nächsten
Feldzug niederwerfen und wieder in Rom einziehen zu können.
— Aber auch der Revolution schien die Angst und die Verzweif-
lung neue Kräfte zu geben. Das Consulat übernahmen zwei ihrer
entschiedensten Führer, Carbo zum dritten Mal und Gaius Ma-
rius der Sohn; daſs der letztere eben zwanzigjährige Mann ge-
setzmäſsig das Consulat nicht bekleiden konnte, achtete man so
wenig wie jeden andren Punct der Verfassung. Quintus Serto-
rius, der in dieser und in andern Angelegenheiten eine unbequeme
Kritik machte, wurde angewiesen, sich, um neue Werbungen vor-
zunehmen, nach Etrurien und von da in seine Provinz, das dies-
seitige Spanien zu begeben. Die Kasse zu füllen muſste der Se-
nat die Einschmelzung des goldenen und silbernen Tempelgeräths
[311]CINNA UND SULLA.
der Hauptstadt verfügen; wie bedeutend der Ertrag war, erhellt
daraus, daſs er sich nach mehrmonatlicher Kriegsführung noch
auf gegen 4 Mill. Thlr. (14000 Pfund Gold und 6000 Pfund Silber)
belief. In dem beträchtlichen Theile Italiens, der gezwungen oder
freiwillig noch zu der Revolution hielt, wurden die Rüstungen
lebhaft betrieben. Aus Etrurien, wo die Neubürgergemeinden
sehr zahlreich waren, und dem Pogebiet kamen ansehnliche neu
formirte Abtheilungen. Auf den Ruf des Sohnes stellten die ma-
rianischen Veteranen in groſser Anzahl sich in der Hauptstadt
ein. Aber nirgends ward zum Kampf gegen Sulla so leidenschaft-
lich gerüstet wie in dem insurgirten Samnium und einzelnen
Strichen von Lucanien. Es war nichts weniger als Ergebenheit
gegen die revolutionäre römische Regierung, daſs zahlreicher Zu-
zug aus den oskischen Gegenden ihre Heere verstärkte; wohl
aber begriff man daselbst, daſs eine von Sulla restaurirte Oligar-
chie sich die jetzt factisch bestehende landschaftliche Selbststän-
digkeit dieser Gegenden nicht so gefallen lassen werde wie die
schlaffe cinnanische Regierung; und darum erwachte in dem
Kampf gegen Sulla noch einmal die uralte Rivalität der Sabeller
gegen die Latiner. Für Samnium und Latium war dieser Krieg
so gut ein Nationalkampf wie die Kriege des fünften Jahrhun-
derts; man stritt nicht um ein Mehr oder Minder von politischen
Rechten, sondern um den lange verhaltenen Haſs durch Schädi-
gung und Vernichtung des Gegners zu befriedigen. Es war
darum kein Wunder, wenn dieser Theil des Krieges einen ganz
andern Charakter trug als die übrigen Kämpfe, wenn hier keine
Verständigung versucht, kein Quartier gegeben oder genommen,
die Verfolgung bis aufs Aeuſserste fortgesetzt ward. — So trat
man den Feldzug des J. 672 beiderseits mit verstärkten Streit-
kräften und gesteigerter Leidenschaft an. Vor allem die Revolu-
tion warf die Scheide weg: auf Carbos Antrag ächteten die römi-
schen Comitien alle in Sullas Lager befindlichen Senatoren.
Sulla schwieg; er mochte denken, daſs man im Voraus sich sel-
ber das Urtheil spreche.
Die Armee der Optimaten theilte sich. Der Proconsul Me-
tellus übernahm es, gestützt auf die picenische Insurrection, nach
Oberitalien vorzudringen, während Sulla von Campanien aus
gerades Wegs gegen die Hauptstadt marschirte. Jenem warf
Carbo sich entgegen; der feindlichen Hauptarmee wollte Marius
in Latium begegnen. Auf der latinischen Straſse heranrückend
traf Sulla unweit Signia auf den Feind, der vor ihm zurückwich
bis nach dem sogenannten ‚Hafen des Sacer‘ zwischen Signia
[312]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
und dem Hauptwaffenplatz der Marianer, dem festen Praeneste.
Hier stellte Marius sich zur Schlacht. Sein Heer war etwa
40000 Mann stark und er an wildem Grimme und persönlicher
Tapferkeit seines Vaters rechter Sohn; aber es waren nicht die
wohlgeübten Schaaren, mit denen dieser seine Schlachten ge-
schlagen hatte, und noch minder durfte der unerfahrene junge
Mann mit dem alten Kriegsmeister sich vergleichen. Bald wichen
seine Truppen; der Uebertritt einer Abtheilung noch während
des Gefechts beschleunigte die Niederlage. Ueber die Hälfte der
Marianer waren todt oder gefangen; die Hauptstadt, die zu ver-
proviantiren man versäumt hatte, unrettbar verloren. In Folge
dessen gab Marius dem daselbst befehligenden Praetor Lucius
Brutus Damasippus den Befehl sie zu räumen, vorher aber alle
bisher noch verschonten angesehenen Männer der Gegenpartei nie-
derzumachen. Der Auftrag, durch den der Sohn die Aechtungen
des Vaters noch überbot, ward vollzogen; Damasippus berief un-
ter einem Vorwand den Senat und die bezeichneten Männer wur-
den theils in der Sitzung selbst, theils auf der Flucht vor dem
Rathhaus niedergestoſsen. Trotz der vorhergangenen gründli-
chen Epurirung fanden sich doch noch einzelne namhaftere
Opfer: so der gewesene Aedil Publius Antistius, der Schwieger-
vater des Gnaeus Pompeius, und der gewesene Praetor Gaius
Carbo, der Sohn des bekannten Freundes und nachherigen Geg-
ners der Gracchen (S. 120), beide nach dem Tode so vieler aus-
gezeichneterer Talente die besten Gerichtsredner auf dem ver-
ödeten Markt; der Consular Lucius Domitius und vor allem der
ehrwürdige Oherpriester Quintus Scaevola, der dem Dolch des
Fimbria nur entgangen war um jetzt während der letzten Kräm-
pfe der Revolution in der Halle des seiner Obhut anvertrauten
Vestatempels zu verbluten. Mit stummen Entsetzen sah die
Menge die Leichen dieser letzten Opfer des Terrorismus durch
die Straſsen schleifen und sie in den Fluſs werfen. — Marius
vermochte nach der Schlacht am Hafen des Sacer nicht einmal
sich über die Tiber zurückzuziehen; seine aufgelösten Haufen
warfen sich in die nahen und festen Neubürgerstädte Norba und
Praeneste, er selbst mit der Kasse und dem gröſsten Theil der
Flüchtlinge in die letztere. Sulla begnügte sich eben wie er das
Jahr zuvor vor Capua es gemacht hatte, vor Praeneste einen
tüchtigen Offizier, den Quintus Ofella zurückzulassen mit dem
Auftrag seine Kräfte nicht an die Belagerung der festen Stadt zu
vergeuden, sondern sie mit einer weiten Blokadelinie einzuschlies-
sen und sie auszuhungern. Er selbst rückte von verschiedenen
[313]CINNA UND SULLA.
Seiten auf die Hauptstadt zu, welche er wie die ganze Umgegend
vom Feinde verlassen fand und ohne Gegenwehr besetzte. Kaum
nahm er sich die Zeit das Volk durch eine Ansprache zu beruhi-
gen und die nöthigsten Anordnungen zu treffen, sondern ging
sofort weiter nach Etrurien, um in Verbindung mit Metellus Ar-
mee die Gegner auch aus Norditalien zu vertreiben. Metellus
war inzwischen am Fluſs Aesis (Esino zwischen Ancona und
Sinigaglia), der die picenische Landschaft von der gallischen
Provinz schied, auf Carbos Unterfeldherrn Carrinas gestoſsen
und hatte diesen geschlagen; als Carbo selbst mit seiner überle-
genen Armee herbeikam, hatte er das weitere Vordringen aufge-
ben müssen. Allein auf die Nachricht von der Schlacht am Sa-
cerhafen war Carbo, um seine Communicationen besorgt, zurück-
gegangen bis auf die flaminische Chaussee, in deren Knotenpunct
Ariminum er sein Hauptquartier zu nehmen und von dort theils die
Pässe des Apennin, theils das Pothal zu behaupten gedachte; bei
welchem rückgängigen Marsch verschiedene Abtheilungen dem
Feinde in die Hände geriethen, Sena gallica von Pompeius er-
stürmt und von demselben Carbos Nachhut in einem glänzenden
Reitergefecht zersprengt ward. Vorläufig erreichte indeſs Carbo
im Ganzen seinen Zweck und konnte selbst nach Etrurien gehen,
während der Consular Norbanus im Pothal das Commando über-
nahm; bald aber sah er von drei Seiten zugleich sich bedroht.
Metellus ging mit der Flotte an Ariminum vorbei nach Ravenna
und schnitt bei Faventia die Verbindung ab zwischen Ariminum
und dem Pothal, in das er unter Marcus Lucullus, dem Quaestor
Sullas und dem Bruder seines Flottenführers im mithradatischen
Krieg, eine Abtheilung auf der groſsen Straſse nach Placentia
entsandte. Der junge Pompeius und sein Altersgenosse und Ne-
benbuhler Crassus drangen aus dem Picenischen auf Bergwegen
im Umbrien ein und gewannen die flaminische Straſse bei Spo-
letium, wo sie Carbos Unterfeldherrn Carrinas schlugen und in
die Stadt einschlossen; indeſs gelang es demselben in einer reg-
nerischen Nacht aus derselben zu entweichen und wenn gleich
nicht ohne Verlust zum Heer des Carbo durchzudringen. Sulla
selbst rückte von Rom aus in zwei Heerhaufen in Etrurien ein,
von denen der eine an der Küste vorrückend bei Saturnia (zwi-
schen den Flüssen Ombrone und Albegna) das ihm entgegen-
stehende Corps schlug, das zweite unter Sullas eigener Führung
im Clanisthal auf die Armee des Carbo traf und nach einem
glücklichen Gefecht mit dessen spanischer Reiterei ihm selbst in
der Gegend von Chiusi eine Hauptschlacht lieferte. Sie endigte
[314]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
ohne eigentliche Entscheidung, aber insofern doch zu Gunsten
Carbos, als Sullas siegreiches Vordringen gehemmt ward. Während
so die oligarchische Partei alle ihre Kräfte in Etrurien und im Po-
thal concentrirte, machte die revolutionäre aller Orten die äuſserste
Anstrengung um die Blokade von Praeneste zu sprengen. Selbst
Marcus Perpenna, der Statthalter von Sicilien machte sich dazu
auf; es scheint indeſs nicht, daſs er nach Praeneste gelangte.
Ebenso wenig glückte dies dem von Carbo detachirten sehr an-
sehnlichen Corps unter Marcius; von den bei Spoletium stehen-
den feindlichen Truppen überfallen und geschlagen, durch Unord-
nung, Mangel an Zufuhr und Meuterei demoralisirt ging ein Theil
zu Carbo, ein anderer zurück nach Ariminum, der Rest verlief
sich. Ernstliche Hülfe kam dagegen aus Süditalien. Hier bra-
chen die Samniten unter Pontius von Telesia, die Lucaner unter
ihrem erprobten Feldherrn Marcus Lamponius auf, ohne daſs
der Abmarsch ihnen gewehrt worden wäre, zogen in Campanien,
wo Capua noch immer sich hielt, eine Abtheilung der Besatzung
unter Gutta an sich und rückten also, angeblich 70000 Mann
stark, auf Praeneste zu. Sulla sah sich genöthigt, mit Zurücklas-
sung eines Corps gegen Carbo, selbst nach Latium zurückzukeh-
ren, wo er in den Engpässen vorwärts Praeneste * eine wohlge-
wählte Stellung nahm und dem Entsatzheer den Weg sperrte.
Vergeblich versuchte die Besatzung Ofellas Linien zu durchbre-
chen, vergeblich das Entsatzheer Sulla zu vertreiben; beide ver-
harrten unbeweglich in ihren festen Stellungen, selbst nachdem,
von Carbo gesendet, Damasippus mit zwei Legionen das Ent-
satzheer verstärkt hatte. Diese starken Entsendungen von der
Nordarmee verfehlten ihren Zweck in Latium, während zu-
gleich die Schwächung der Streitkräfte in Oberitalien schwer
empfunden ward. Hier war Marcus Lucullus von Gaius Norba-
nus mit überlegener Macht angegriffen und genöthigt worden
sich in Placentia einschlieſsen zu lassen. Norbanus wandte dar-
auf sich gegen Metellus selbst, auf den er bei Faventia traf, und
griff am späten Nachmittag mit seinen vom Marsch ermüdeten
Truppen sofort an; die Folge war eine vollständige Niederlage
[315]CINNA UND SULLA.
und die totale Auflösung seines Corps, von dem nur etwa
1000 Mann nach Etrurien zurückkamen. Auf die Nachricht von
dieser Schlacht fiel Lucullus aus Placentia aus und schlug die
gegen ihn zurückgebliebene Abtheilung bei Fidentia (zwischen
Piacenza und Parma). Das lucanische Corps des Albinovanus
trat in Masse über; der Führer machte seine anfängliche Zöge-
rung wieder gut, indem er die vornehmsten Offiziere der revolu-
tionären Armee zu einem Bankett bei sich einlud und sie dabei
niedermachen lieſs; überhaupt schloſs, wer irgend nur durfte,
jetzt seinen Frieden. Ariminum gerieth mit allen Vorräthen und
Kassen in Metellus Hand; Norbanus schiffte nach Rhodos sich
ein; das ganze Land zwischen Alpen und Apenninen erkannte
das Optimatenregiment an. Die bisher dort beschäftigten Trup-
pen konnten sich wenden zum Angriff auf Etrurien, die letzte
Landschaft, wo die Gegner noch das Feld behaupteten. Als
Carbo im Lager bei Clusium diese Nachrichten erhielt, verlor
er die Fassung; obwohl er eine noch immer ansehnliche Trup-
penmasse unter seinen Befehlen hatte, entwich er dennoch heim-
lich aus seinem Hauptquartier und schiffte nach Africa sich ein.
Die im Stich gelassenen Truppen befolgten theils das Beispiel,
mit dem der Feldherr ihnen vorangegangen war, und gingen
nach Hause, theils wurden sie von Pompeius aufgerieben; die
letzten Schaaren nahm Carrinas zusammen und führte sie nach
Latium zu der Armee vor Praeneste. Hier hatte nichts sich ver-
ändert. Auch Carrinas Corps vermochte nicht Sullas Stellung zu
erschüttern, und schon näherte sich die Vorhut der oligarchi-
schen Nordarmee unter Pompeius; in wenigen Tagen zog die
Schlinge um das samnitisch-römische Heer sich zusammen. Da
entschlossen sich die Führer desselben von Praeneste abzulassen
und mit gesammter Hand auf das nur einen starken Tagemarsch
entfernte Rom sich zu werfen. Militärisch waren sie damit verlo-
ren; ihre Rückzugslinie, die latinische Straſse, gerieth durch diesen
Marsch in Sullas Hand und in der Stadt, die der Vertheidigung
keinerlei Hülfsmittel darbot, eingekeilt zwischen Metellus und
Sullas weit überlegenen Armeen, wurden sie unfehlbar erdrückt.
Aber es handelte sich auch nicht mehr um Rettung, sondern ein-
zig um Rache bei diesem Zug nach Rom, dem letzten Wuthaus-
bruch der leidenschaftlichen Revolutionäre und vor allem der ver-
zweifelnden sabellischen Nation. Es war Ernst, was Pontius von
Telesia den Seinigen zurief: um der Wölfe, die Italien die Freiheit
geraubt hätten, los zu werden, müsse man den Wald vernichten,
in dem sie hausten. Nie hat Rom in einer furchtbareren Gefahr
[316]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
geschwebt als am 25. October 672, als Pontius, Lamponius,
Carrinas, Damasippus, auf der latinischen Straſse gegen Rom
herangezogen, etwa eine Viertelmeile vom collinischen Thor la-
gerten. Es drohte ein Tag wie der 20. Juli 364 d. St. und der
15. Juni 455 n. Chr., die Tage der Kelten und der Vandalen.
Die Zeiten waren nicht mehr, wo ein Handstreich gegen Rom ein
thörichtes Unternehmen war und den Anrückenden konnte es an
Verbindungen in der Hauptstadt nicht fehlen. Die Freiwilligen-
schaar, meist vornehme Jünglinge, die aus der Stadt ausrückte,
zerstob wie Spreu vor der ungeheuren Uebermacht. Die einzige
Hoffnung der Rettung beruhte auf Sulla. Dieser war auf die
Nachricht vom Abmarsch des samnitischen Heeres in der Rich-
tung auf Rom gleichfalls eiligst aufgebrochen der Hauptstadt zu
Hülfe. Den sinkenden Muth der Bürgerschaft belebte im Laufe
des Morgens das Erscheinen seiner ersten Reiter unter Balbus;
um Mittag erschien er selbst mit der Hauptmacht und ordnete
sofort am Tempel der erycinischen Aphrodite vor dem collini-
schen Thor (unweit Porta Pia) die Reihen zur Schlacht. Seine
Unterbefehlshaber beschworen ihn nicht die durch den Gewalt-
marsch erschöpften Truppen sofort in den Kampf zu schicken;
aber Sulla erwog, was die Nacht über Rom bringen könne, und
befahl noch am späten Nachmittag den Angriff. Die Schlacht
war hart bestritten und blutig. Der linke Flügel Sullas, den er
selbst anführte, wich zurück bis an die Stadtmauer, so daſs es
nothwendig ward die Stadtthore zu schlieſsen; schon brachten
Versprengte die Nachricht an Ofella, daſs die Schlacht verloren
sei. Allein auf dem rechten Flügel warf Marcus Crassus den Feind
und verfolgte ihn bis Antemnae, wodurch auch der andere Flügel
wieder Luft bekam und eine Stunde nach Sonnenuntergang auch
seinerseits zum Vorrücken übergehen konnte. Die ganze Nacht
und noch den folgenden Morgen ward gefochten; erst der Ueber-
tritt einer Abtheilung von 3000 Mann, die sofort die Waffen
gegen die früheren Kameraden wandten, setzte dem Kampf ein
Ziel. Rom war gerettet. Die Insurgentenarmee, für die es nir-
gends einen Rückzug gab, wurde vollständig aufgerieben. Die in
der Schlacht gemachten Gefangenen, 3-4000 an der Zahl, dar-
unter die Generale Damasippus, Carrinas und den schwer ver-
wundeten Pontius, lieſs Sulla am dritten Tage nach der Schlacht
in das städtische Meierhaus auf dem Marsfeld führen und da-
selbst bis auf den letzten Mann niederhauen, so daſs man in dem
nahen Tempel der Bellona, wo Sulla eben eine Senatssitzung ab-
hielt, deutlich das Klirren der Waffen und das Stöhnen der Ster-
[317]CINNA UND SULLA.
benden vernahm. Es war eine gräſsliche Execution und sie soll
nicht entschuldigt werden; aber es ist nicht gerecht zu ver-
schweigen, daſs diese selben Menschen, die dort starben, wie
eine Räuberbande hergefallen waren über die Hauptstadt und die
Bürgerschaft und sie, wenn sie Zeit gefunden hätten, so weit ver-
nichtet haben würden, als Feuer und Eisen eine Stadt und eine
Bürgerschaft zu vernichten vermögen. — Damit war der Krieg
in der Hauptsache zu Ende. Die Besatzung von Praeneste ergab
sich, als sie den Ausgang der Schlacht von Rom aus den über
die Mauer geworfenen Köpfen des Carrinas und anderer Offiziere
erfuhr. Die Führer, der Consul Gaius Marius und der Sohn des
Pontius stürzten, als ein Versuch zu entkommen ihnen vereitelt
war, sich einer in des andern Schwert. Die Menge gab der Hoff-
nung sich hin und ward durch Cethegus darin bestärkt, daſs der
Sieger für sie auch jetzt noch Gnade walten lassen werde. Aber
die Zeiten der Gnade waren vorbei. Je unbedingter Sulla bis
zum letzten Augenblick den Uebertretenden volle Verzeihung ge-
währt hatte, desto unerbittlicher erwies er sich gegen die Chefs
und die Gemeinden, die ausgehalten hatten bis zuletzt. Von den
praenestinischen Gefangenen, 12000 an der Zahl, wurden zwar
auſser den Kindern und Frauen die meisten Römer und einzelne
Praenestiner entlassen, aber die römischen Senatoren, fast alle
Praenestiner und sämmtliche Samniten wurden entwaffnet und
zusammengehauen, die reiche Stadt geplündert. Es ist begreif-
lich, daſs nach solchem Vorgang die noch nicht übergebenen
Neubürgerstädte den Widerstand in hartnäckigster Weise fort-
setzten. So wehrten sich in Etrurien Populonium und vor allem
das unbezwingliche Volaterrae, das aus den Resten der geschla-
genen Partei ein Heer von vier Legionen um sich sammelte und
erst nach zweijähriger von Sulla persönlich geleiteter Belagerung
capitulirte (673). So ward in Umbrien Tuder durch Marcus
Crassus erstürmt. So tödteten in der latinischen Stadt Norba,
als Aemilius Lepidus durch Verrath daselbst eindrang, die Bür-
ger sich unter einander und zündeten selbst ihre Stadt an, um
nur ihren Henkern die Rache und die Beute zu entziehen. In
Unteritalien war bereits früher Neapolis erstürmt und wie es
scheint Capua und Nola freiwillig geräumt worden. Dagegen
ward die letzte Burg der Samniten Aesernia * erst bezwungen,
als Sulla das Jahr darauf (673) selbst in die Landschaft ein-
[318]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
rückte. Der Dictator erklärte, daſs Rom nicht Ruhe finden
werde, so lange Samnium bestehe und machte, diese Gefahr zu
beseitigen, aus der bis dahin blühenden und bevölkerten Land-
schaft eine Einöde. Das siegreiche Heer wurde durch Italien ver-
theilt und alle unsicheren Ortschaften mit starken Besatzungen
belegt; unter der eisernen Hand der sullanischen Offiziere ver-
endeten langsam die letzten Zuckungen der revolutionären und
nationalen Opposition.
Noch gab es in den Provinzen zu thun. Zwar Sardinien war
dem Statthalter der revolutionären Regierung Quintus Antonius
rasch durch Lucius Philippus entrissen worden (672) und auch
das transalpinische Gallien leistete geringen oder gar keinen
Widerstand; aber in Sicilien, Spanien, Africa schien die Sache
der in Italien geschlagenen Partei noch keineswegs verloren. Si-
cilien regierte für sie der zuverlässige Statthalter Marcus Per-
penna. Quintus Sertorius hatte im diesseitigen Spanien die Pro-
vinzialen an sich zu fesseln und aus den in Spanien ansässigen
Römern eine nicht unansehnliche Armee sich zu bilden gewuſst,
mit der er zunächst die Pyrenäenpässe sperren lieſs; er hatte
auch hier wieder bewiesen, daſs, wo man ihn auch hinstellte, er
an seinem Platze und unter all den revolutionären Incapacitäten
der einzige praktisch brauchbare Mann war. In Africa war der
Statthalter Hadrianus zwar, da er das Revolutioniren allzu gründ-
lich betrieb und den Sclaven die Freiheit zu schenken anfing, bei
einem durch die römischen Kaufleute von Utica angezettelten
Auflauf in seiner Amtswohnung überfallen und mit seinem Ge-
sinde verbrannt worden (672); indeſs hielt die Provinz, in der
Cinnas Schwiegersohn, der junge fähige Gnaeus Domitius Aheno-
barbus, den Oberbefehl übernahm, nichts desto weniger zu der
revolutionären Regierung. Es war sogar von dort aus die Pro-
paganda auch in die Clientelstaaten Numidien und Mauretanien
getragen worden. Deren legitime Regenten Hiempsal II., des
Gauda und Bogud, des Bocchus Sohn, hielten zwar mit Sulla;
aber mit Hülfe der Cinnaner war jener durch den demokrati-
schen Prätendenten Hiarbas vom Thron gestoſsen worden und
ähnliche Fehden bewegten gleichfalls das mauretanische Reich.
Auch der aus Italien geflüchtete Consul Carbo verweilte auf der
Insel Kossyra (Pantellaria) zwischen Africa und Sicilien, un-
schlüssig, wie es scheint, ob er nach Aegypten sich flüchten oder
in einer der treuen Provinzen versuchen solle den Kampf zu er-
neuern. — Sulla sandte nach Spanien den Gaius Annius und zu-
nächst nach Sicilien den Gnaeus Pompeius, beide mit proconsu-
[319]CINNA UND SULLA.
larischer Gewalt. Jenem wurde das schwierige Geschäft die Py-
renäenpässe mit Gewalt sich zu eröffnen dadurch erspart, daſs
der von Sertorius ihm entgegengestellte General durch einen sei-
ner Offiziere ermordet ward und darauf die Truppen sich ver-
liefen. Sertorius, viel zu schwach um sich im gleichen Kampfe
zu behaupten, raffte eilig die nächststehenden Truppen zusammen
und schiffte in Neukarthago sich ein — wohin, wuſste er selbst
nicht, vielleicht an die africanische Küste oder nach den kana-
rischen Inseln, nur irgendwo hin, wohin Sullas Arm nicht reiche.
Spanien unterwarf hierauf sich willig den sullanischen Beamten
(um 673). — Sicilien ward, als Pompeius mit 120 Segeln und
sechs Legionen sich an der Küste zeigte, von Perpenna ohne
Gegenwehr geräumt. Pompeius schickte von dort ein Geschwader
nach Kossyra, das die daselbst verweilenden marianischen Offiziere
aufhob; Marcus Brutus und die übrigen wurden sofort hinge-
richtet, der Consul Carbo aber Pompeius Befehlen zufolge vor ihn
selbst nach Lilybaeon geführt, und uneingedenk des in gefährlicher
Zeit ihm von eben diesem Manne zu Theil gewordenen Schutzes
(S. 308) von ihm persönlich dem Henker überliefert (672).
Von hier weiter beordert nach Africa, überwand Pompeius die
von Ahenobarbus und Hiarbas gesammelten nicht unbedeutenden
Streitkräfte mit seinem weit zahlreicheren Heer in offener Feld-
schlacht und, die Begrüſsung als Imperator vorläufig ablehnend,
gab er sogleich das Zeichen zum Sturm auf das feindliche Lager.
So ward er an einem Tage der Feinde Herr; Ahenobarbus war
unter den Gefallenen; mit Hülfe des Königs Bogud ward Hiarbas
in Bulla ergriffen und getödtet und Hiempsal in sein angestamm-
tes Reich wieder eingesetzt; eine groſse Razzia gegen die Be-
wohner der Wüste, von denen eine Anzahl gaetulischer von Ma-
rius als frei anerkannter Stämme Hiempsal untergeben wurden,
stellte auch hier die gesunkene Achtung des römischen Namens
wieder her; in vierzig Tagen nach Pompeius Landung in Africa
war alles zu Ende. Der Senat wies ihn an sein Heer aufzulösen,
worin die Andeutung lag, daſs er nicht zum Triumph gelassen
werden solle, auf welchen er als auſserordentlicher Beamter dem
Herkommen nach keinen Anspruch machen durfte. Der Feldherr
grollte heimlich, die Soldaten laut; es schien einen Augenblick,
als werde die africanische Armee gegen den Senat revoltiren und
Sulla gegen seinen Tochtermann zu Felde ziehen. Indeſs Sulla
gab nach und lieſs den jungen Mann sich berühmen der einzige
Römer zu sein, der eher Triumphator als Senator geworden war;
ja bei der Heimkehr von diesen bequemen Groſsthaten begrüſste
[320]VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
der ‚Glückliche‘, vielleicht nicht ohne einige Ironie, den Jüngling
als den ‚Groſsen‘.
Auch im Osten hatten nach Sullas Einschiffung im Früh-
ling 671 die Waffen nicht geruht. Die Restauration der alten
Verhältnisse und die Unterwerfung einzelner Städte kostete wie
in Italien so auch in Asien noch manchen blutigen Kampf; na-
mentlich gegen die freie Stadt Mytilene muſste Lucius Lucullus,
nachdem er alle milderen Mittel erschöpft hatte, endlich Truppen
führen und selbst ein Sieg in freiem Felde machte dem eigen-
sinnigen Widerstand der Bürgerschaft kein Ende. — Ernster
waren die neuen Verwicklungen, in die der römische Statthalter
von Asien Lucius Murena mit dem König Mithradates gerieth.
Dieser hatte sich nach dem Frieden beschäftigt seine auch in den
nördlichen Provinzen erschütterte Herrschaft wieder zu befestigen;
er hatte die Kolchier beruhigt, indem er seinen tüchtigen Sohn
Mithradates ihnen zum Statthalter setzte, dann diesen selbst aus
dem Wege geräumt und rüstete nun zu einem Zug in sein bos-
poranisches Reich. Die Behauptung des Archelaos, der inzwischen
bei Murena eine Freistatt hatte suchen müssen (S. 287), daſs
diese Rüstungen gegen Rom gerichtet seien, bewog Murena sich
unter dem Vorgeben, daſs Mithradates noch kappadokische
Grenzdistricte in Besitz habe, mit seinen Truppen sich nach
dem kappadokischen Komana in Bewegung zu setzen und die
pontische Grenze zu verletzen (671). Mithradates begnügte sich
bei Murena und, da dies vergeblich war, bei der römischen Re-
gierung Beschwerde zu führen. In der That erschienen Beauf-
tragte Sullas den Statthalter abzumahnen; allein er fügte sich
nicht, sondern überschritt den Halys und betrat das unbestritten
pontische Gebiet, worauf Mithradates beschloſs Gewalt mit Ge-
walt zu vertreiben. Sein Feldherr Gordios muſste das römische
Heer festhalten, bis der König mit weit überlegenen Streitkräften
herankam und die Schlacht erzwang; Murena ward besiegt und
mit groſsem Verlust bis über die römische Grenze nach Phry-
gien zurückgeworfen, die römischen Besatzungen aus ganz Kap-
padokien vertrieben. Murena hatte zwar die Stirn wegen dieser
Vorgänge sich Sieger zu nennen und den Imperatorentitel anzu-
nehmen (672); indeſs die derbe Lection und eine zweite Mah-
nung Sullas bewogen ihn doch endlich die Sache nicht weiter zu
treiben: der Friede zwischen Rom und Mithradates ward erneu-
ert (673). — Ueber diese thörichte Fehde war die Bezwingung
der Mytilenaeer versäumt worden; erst Murenas Nachfolger gelang
es nach langer Belagerung zu Lande und zur See, wobei die bi-
[321]CINNA UND SULLA.
thynische Flotte gute Dienste that, die Stadt mit Sturm einzu-
nehmen (673).
Die zehnjährige Revolution und Insurrection war im Westen
und im Osten zu Ende; der Staat hatte wieder eine einheitliche
Regierung und Frieden nach auſsen und innen. Nach den fürch-
terlichen Convulsionen der letzten Jahre war schon diese Rast
eine Erleichterung; ob sie mehr gewähren sollte, ob der bedeu-
tende Mann, dem das schwere Werk der Bewältigung des Landes-
feindes, das schwerere der Bändigung der Revolution gelungen
war, auch dem schwersten von allen, der Wiederherstellung der
in ihren Grundfesten schwankenden socialen und politischen
Ordnung, zu genügen vermochte, muſste demnächst sich ent-
scheiden.
Röm. Gesch. II. 21
[[322]]
KAPITEL X.
Die sullanische Verfassung.
Um die Zeit, als die erste Feldschlacht zwischen Römern und
Römern geschlagen ward, in der Nacht des 6. Juli 671 war der
ehrwürdige Tempel, den die Könige errichtet, die junge Freiheit
geweiht, die Stürme eines halben Jahrtausend verschont hatten,
der Tempel des römischen Jupiter auf dem Capitol in Flammen
aufgegangen. Es war kein Anzeichen, aber wohl ein Abbild des
Zustandes der römischen Verfassung. Auch diese bedurfte eines
Neubaues. Die Revolution zwar war besiegt, aber es fehlte doch
viel, daſs damit von selber das alte Regiment wieder sich herge-
stellt hätte. Allerdings meinte die Masse der Aristokratie, daſs
jetzt nach dem Tode der beiden revolutionären Consuln es ge-
nügen werde die gewöhnliche Ergänzungswahl zu veranstalten
und es den neuen Consuln zu überlassen, was ihnen zur Beloh-
nung der siegreichen Armee, zur Bestrafung der schuldigsten
Revolutionäre, etwa auch zur Verhütung ähnlicher Ausbrüche
weiter erforderlich erscheinen werde. Allein Sulla, in dessen
Händen der Sieg für den Augenblick alle Macht vereinigt hatte,
täuschte sich weder über die Oligarchie noch über die Oligar-
chen. Die Aristokratie Roms war in ihrer besten Epoche nicht
hinausgekommen über ein halb groſsartiges halb bornirtes Fest-
halten an den überlieferten Formen; wie sollte das schwerfällige
collegialische Regiment dieser Zeit eine umfassende Staatsreform
energisch und consequent durchzuführen vermögen? Und eben
jetzt, nachdem die letzte Krise fast alle Spitzen des Senats weg-
gerafft hatte, war die zu einem solchen Beginnen erforderliche
[323]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Kraft und Intelligenz weniger als je im Senate zu finden. Wie un-
brauchbar durchgängig das aristokratische Vollblut und wie wenig
Sulla darüber im Unklaren war, beweist die Thatsache, daſs mit
Ausnahme des ihm verschwägerten Quintus Metellus er sich seine
Werkzeuge sämmtlich auslas aus der ehemaligen Mittelpartei und
den Ueberläufern aus dem demokratischen Lager — so Lucius
Flaccus, Lucius Philippus, Quintus Ofella, Gnaeus Pompeius. Sulla
war die Wiederherstellung der alten Verfassung so sehr Ernst wie
nur dem leidenschaftlichsten aristokratischen Emigranten; aber er
begriff wohl auch nicht in dem ganzen und vollen Umfang — wie
hätte er sonst überhaupt Hand ans Werk zu legen vermocht? —,
aber doch besser als seine Partei, welchen ungeheuren Schwie-
rigkeiten dieses Restaurationswerk unterlag. Als unumgänglich
betrachtete er theils umfassende Concessionen, so weit Nach-
giebigkeit möglich war, ohne das Wesen der Oligarchie anzu-
tasten, theils die Herstellung eines energischen Repressiv- und
Präventivsystems; und er sah es deutlich, daſs der Senat wie er
war jede Concession verweigern oder verstümmeln, jeden syste-
matischen Neubau parlamentarisch ruiniren werde. Hatte Sulla
schon nach der sulpicischen Revolution ohne viel zu fragen in
der einen und der andern Richtung durchgesetzt, was er für
nöthig erachtete, so war er auch jetzt unter weit schärferen und
gespannteren Verhältnissen entschlossen die Oligarchie nicht mit,
sondern trotz der Oligarchen auf eigene Hand zu restauriren.
Sulla aber war nicht wie damals Consul, sondern bloſs mit pro-
consularischer, das heiſst rein militärischer Gewalt ausgestattet;
deſshalb lieſs er jetzt nothgedrungen diejenige auſserordentliche
Gewalt, die es ihm möglich machte Freunden und Feinden seine
Reform zu octroyiren, unter möglichst strenger Einhaltung der
verfassungsmäſsigen Formen sich übertragen. In einem Schrei-
ben an den Senat eröffnete er demselben, daſs es ihm unum-
gänglich scheine die Ordnung des Staates in die Hände eines
einzigen mit unumschränkter Machtvollkommenheit ausgerüsteten
Mannes zu legen und daſs er sich für geeignet halte diese schwie-
rige Aufgabe zu erfüllen. Dieser Vorschlag, so unbequem er Vie-
len kam, war unter den obwaltenden Umständen ein Befehl. Im
Auftrag des Senats brachte der Vormann desselben, der Zwi-
schenkönig Lucius Valerius Flaccus der Vater, als interimistischer
Inhaber der höchsten Gewalt bei der Bürgerschaft den Antrag ein,
daſs dem Proconsul Lucius Cornelius Sulla für die Vergangenheit
die nachträgliche Billigung aller von ihm als Consul und Procon-
sul vollzogenen Amtshandlungen, für die Zukunft aber das Recht
21*
[324]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
ertheilt werden solle über Leben und Eigenthum der Bürger in
erster und letzter Instanz zu erkennen, mit den Staatsdomänen
nach Gutdünken zu schalten, die Grenzen Roms, Italiens, des
Staats nach Ermessen zu verschieben, in Italien Stadtgemeinden
aufzulösen oder zu gründen, über die Provinzen und die abhän-
gigen Staaten zu verfügen, das höchste Imperium anstatt des
Volkes zu vergeben und Proconsuln und Propraetoren zu er-
nennen, endlich durch neue Gesetze für die Zukunft den Staat
zu ordnen; daſs es in sein eigenes Ermessen gestellt werden solle,
wann er seine Aufgabe gelöst und es an der Zeit erachte dies
auſserordentliche Amt niederzulegen; daſs endlich während des-
selben es von seinem Gutfinden abhängen solle die ordentliche
höchste Magistratur daneben eintreten oder auch ruhen zu lassen.
Wie die Gesetze es vorschrieben, entfernte der Proconsul sich
aus der Stadt, während über diesen Antrag abgestimmt wurde;
es versteht sich, daſs die Annahme ohne Widerspruch stattfand
(Nov. 672). Den Namen und die äuſserlichen Insignien, wie zum
Beispiel die vierundzwanzig Lictoren, mit denen auſser seiner
bewaffneten Escorte Sulla sich umgab, entlehnte dies neue Amt
von der seit dem hannibalischen Kriege thatsächlich abgeschaff-
ten Dictatur (I, 607); in der That war diese neue ‚Dictatur zur
Abfassung von Gesetzen und zur Ordnung des Gemeinwesens‘,
wie die officielle Titulatur lautet, ein ganz anderes als jenes ehe-
malige der Zeit und der Competenz nach beschränkte, die Pro-
vocation an die Bürgerschaft nicht ausschlieſsende und die or-
dentliche Magistratur nicht annullirende Amt. Es glich dasselbe
viel mehr dem auſserordentlichen Amt der ‚Zehnmänner zur Ab-
fassung von Gesetzen, die ja auch als auſserordentliche Re-
gierung mit unbeschränkter Machtvollkommenheit unter Beseiti-
gung der ordentlichen Magistratur aufgetreten waren und that-
sächlich wenigstens ihr Amt als ein der Zeit nach unbegrenztes
verwaltet hatten. Oder vielmehr dies neue Amt mit seiner auf
gesetzlichen Basen ruhenden, durch keine Befristung und Colle-
gialität eingeengten absoluten Gewalt war nichts anderes als das
alte Königthum, das ja eben auch beruhte auf der freien Ver-
pflichtung der Bürgerschaft einem aus ihrer Mitte als absolutem
Herrn zu gehorchen; selbst von Zeitgenossen wird zur Rechtfer-
tigung Sullas es geltend gemacht, daſs ein König besser sei als
eine schlechte Verfassung* und vermuthlich ward auch der Dic-
tatortitel nur gewählt um anzudeuten, daſs, wie die ehemalige
[325]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Dictatur eine vielfach beschränkte (I, 162. 185), so diese neue
eine vollständige Wiederaufnahme der königlichen Gewalt war.
So fiel denn seltsamer Weise Sullas Weg auch hier zusammen
mit dem, den in so ganz anderer Absicht Gaius Gracchus einge-
schlagen hatte. Auch hier muſste die conservative Partei von
ihren Gegnern borgen, der Schirmherr der oligarchischen Ver-
fassung selbst auftreten als Tyrann, um die ewig drohende Ty-
rannis abzuwehren. Es war gar viel Niederlage in diesem letzten
Siege der Oligarchie.
Sulla hatte die schwierige und grauenvolle Arbeit des Re-
staurationswerkes nicht gesucht und nicht gewünscht; da ihm
aber keine andere Wahl blieb, als sie gänzlich unfähigen Händen
zu überlassen oder sie selber zu übernehmen, griff er sie an
mit rücksichtsloser Energie. Vor allen Dingen muſste eine Fest-
stellung hinsichtlich der Schuldigen getroffen werden. Sulla
war an sich zum Verzeihen geneigt. Sanguinischen Tempera-
ments wie er war, konnte er wohl zornig aufbrausen und der
mochte sich hüten, der sein Auge flammen und seine Wange
sich färben sah; aber die kaltblütige Rachsucht, wie sie Marius
in seiner greisenhaften Verbitterung eigen war, war seinem
leichten Naturell durchaus fremd. Nicht bloſs nach der Revo-
lution von 666 war er mit verhältniſsmäſsig groſser Milde auf-
getreten (S. 249); auch durch die zweite, die so furchtbare
Gräuel verübt und ihn persönlich so empfindlich getroffen hatte,
hatte er sein Gleichgewicht nicht verloren. In derselben Zeit,
wo der Henker die Körper seiner Freunde durch die Straſsen der
Hauptstadt schleifte, hatte er dem blutbefleckten Fimbria das
Leben zu retten gesucht und da dieser freiwillig den Tod nahm,
Befehl gegeben seine Leiche anständig zu bestatten. Bei der Lan-
dung in Italien hatte er ernstlich sich erboten zu vergeben und
zu vergessen und keiner, der seinen Frieden zu machen kam, war
zurückgewiesen worden. In diesem Sinn hatte noch nach den
ersten Erfolgen er mit Lucius Scipio verhandelt; die Revolutions-
partei war es gewesen, die diese Verhandlungen nicht bloſs ab-
gebrochen, sondern nach denselben, im letzten Augenblicke vor
ihrem Sturz, die Mordthaten abermals und grauenvoller als je
wieder aufgenommen, ja zur Vernichtung der Stadt Rom mit dem
uralten Landesfeind sich verschworen hatte. Nun war es genug.
Kraft seiner neuen Amtsgewalt erklärte Sulla unmittelbar nach
Uebernahme der Regentschaft als Feinde des Vaterlandes für vogel-
frei sämmtliche Civil- und Militärbeamte, welche nach dem, Sullas
Behauptung zufolge rechtsbeständig abgeschlossenen, Vertrag mit
[326]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
Scipio noch für die Revolution thätig gewesen wären, und von
den übrigen Bürgern diejenigen, die in auffallender Weise der-
selben Vorschub gethan hätten. Wer einen dieser Vogelfreien
tödtete, war nicht bloſs straffrei wie der Henker, der ordnungs-
mäſsig eine Execution vollzieht, sondern erhielt auch für die Hin-
richtung eine Vergütung von 12000 Denaren (3400 Thlr.); jeder
dagegen, der eines Geächteten sich annahm, selbst der nächste
Verwandte, unterlag der schwersten Strafe. Das Vermögen der
Geächteten verfiel dem Staat gleich der Feindesbeute; ihre Kin-
der und Enkel wurden von der politischen Laufbahn ausgeschlos-
sen, dennoch aber, in sofern sie senatorischen Standes waren, ver-
pflichtet die senatorischen Lasten für ihren Theil zu übernehmen.
Die letzten Bestimmungen fanden auch Anwendung auf die Güter
und die Nachkommen derjenigen, die im Kampfe für die Revo-
lution gefallen waren; was selbst über die im ältesten Recht ge-
gen diejenigen, die die Waffen gegen ihr Vaterland getragen hatten,
geordneten Strafen noch hinausging. Das Schrecklichste in diesem
Schreckenssystem war die Unbestimmtheit der aufgestellten Ka-
tegorien, gegen die sofort im Senat remonstrirt ward und der
Sulla selber dadurch abzuhelfen suchte, daſs er die Namen der
Geächteten öffentlich anschlagen lieſs und als letzten Termin für
den Schluſs der Aechtungsliste den 1. Juni 673 festsetzte. So
sehr diese täglich anschwellende und zuletzt bis auf 4700 Namen
steigende Bluttafel* das gerechte Entsetzen der Menge war, so
[327]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
war doch damit der reinen Schergenwillkür etwas gesteuert. Es
war wenigstens nicht persönlicher Groll des Regenten, dem diese
zahllosen Opfer fielen; sein grimmiger Haſs richtete sich einzig
gegen die Marier, die Urheber jener scheuſslichen Metzeleien
von 667 und 672. Auf seinen Befehl ward das Grab des Siegers
von Aquae Sextiae wieder aufgerissen und die Asche desselben in
den Anio gestreut, die Denkmäler seiner Siege über Africaner
und Deutsche umgestürzt, und, da ihn selbst so wie seinen Sohn
der Tod seiner Rache entrückt hatte, sein Adoptivneffe Marcus
Marius Gratidianus, der zweimal Prätor gewesen und bei der
römischen Bürgerschaft sehr beliebt war, an dem Grabe des be-
jammernswerthesten der marianischen Schlachtopfer, des Catu-
lus, unter den grausamsten Martern hingerichtet. Auch sonst
hatte der Tod schon die namhaftesten der Gegner hingerafft; von
den Führern waren nur noch übrig Gaius Norbanus, der in Rho-
dos Hand an sich selbst legte, während die Ekklesia über seine
Auslieferung berieth; Lucius Scipio, dem seine Bedeutungslosig-
keit und wohl auch seine vornehme Geburt Schonung verschafften
und die Erlaubniſs in seiner Zufluchtsstätte Massalia seine Tage
in Ruhe beschlieſsen zu dürfen; und Quintus Sertorius, der land-
flüchtig an der mauretanischen Küste umherirrte. Aber dennoch
häuften sich am servilischen Bassin, da wo die jugarische Gasse
in den Marktplatz einmündet, die Häupter der getödteten Sena-
toren, welche hier öffentlich auszustellen der Dictator befohlen
hatte, und vor allem unter den Männern zweiten und dritten
Ranges hielt der Tod eine furchtbare Ernte. Auſser denen, die für
ihre Dienste in oder für die revolutionäre Armee ohne viele Wahl,
zuweilen wegen eines einem der Offiziere derselben gemachten Vor-
schusses oder wegen der mit ihm geschlossenen Gastfreundschaft
in die Liste eingetragen wurden, traf namentlich jene Capitalisten,
die über die Senatoren zu Gericht gesessen und in marianischen
*
[328]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
Confiscationen speculirt hatten, ‚die Einseckler‘, die Vergeltung*;
etwa sechzehnhundert der sogenannten Ritter waren auf der
Aechtungsliste verzeichnet. Ebenso büſsten die gewerbmäſsi-
gen Ankläger, die schwerste Geiſsel der Vornehmen, die sich ein
Geschäft daraus machten die Männer senatorischen Standes vor
die Rittergerichte zu ziehen — ‚wie geht es nur zu, fragte bald
darauf ein Sachwalter, daſs sie uns die Gerichtsbänke gelassen
haben, da sie doch Ankläger und Richter todtschlugen?‘ Die wil-
desten und schändlichsten Leidenschaften rasten viele Monate
hindurch ungefesselt durch Italien. In der Hauptstadt war es ein
Keltentrupp, dem zunächst die Executionen aufgetragen wurden,
und zu gleichem Zweck durchzogen sullanische Soldaten und
Unteroffiziere die verschiedenen Districte Italiens; aber auch jeder
Freiwillige war ja willkommen und vornehmes und niederes Ge-
sindel drängte sich herbei nicht bloſs um die Mordprämie zu ver-
dienen, sondern auch um unter dem Deckmantel der politischen
Verfolgung ihre Rachsucht oder ihre Habsucht zu befriedigen. Es
kam wohl vor, daſs die Ermordung der Eintragung in die Aech-
tungsliste voranging. Ein Beispiel zeigt, in welcher Art diese Exe-
cutionen erfolgten. In Larinum, einer marianisch gesinnten Neu-
bürgerstadt, trat ein gewisser Statius Albius Oppianicus, der um
einer Anklage wegen Mordes zu entgehen in das sullanische Haupt-
quartier entwichen war, nach dem Sieg auf als Commissarius des
Regenten, setzte die Stadtobrigkeit ab und sich und seine Freunde
an deren Stelle und lieſs den, der ihn mit der Anklage bedroht
hatte, nebst dessen nächsten Verwandten und Freunden ächten
und tödten. So fielen Unzählige, darunter nicht wenige entschie-
dene Anhänger der Oligarchie, als Opfer der Privatfeindschaft
oder ihres Reichthums; die fürchterliche Verwirrung und die
sträfliche Nachsicht, die Sulla wie überall so auch hier gegen die
ihm näher Stehenden bewies, verhinderten jede Ahndung auch
der hiebei mit untergelaufenen gemeinen Verbrechen. — In ähn-
licher Weise ward mit dem Beutegut verfahren. Sulla wirkte aus
politischen Rücksichten dahin, daſs die angesehenen Bürger sich
bei dessen Ersteigerung betheiligten; ein groſser Theil drängte
übrigens freiwillig sich herbei, keiner eifriger als der junge Mar-
cus Crassus. Unter den obwaltenden Umständen war die ärgste
Schleuderwirthschaft nicht zu vermeiden, die übrigens zum Theil
schon aus der römischen Weise folgte die vom Staat eingezoge-
[329]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
nen Vermögen gegen eine Aversionalsumme zur Realisirung zu
verkaufen; es kam noch hinzu, daſs der Regent theils sich selbst
nicht vergaſs, theils besonders seine Gemahlin Metella und andere
ihm nahe stehende vornehme und geringe Personen, selbst Frei-
gelassene und Kneipgenossen, bald ohne Concurrenz kaufen lieſs,
bald ihnen den Kaufschilling ganz oder theilweise erlieſs — so
soll z. B. einer seiner Freigelassenen ein Vermögen von 6 Mill.
(429000 Thlr.) für 2000 Sesterzen (143 Thlr.) erstanden haben
und einer seiner Unteroffiziere durch derartige Speculationen zu
einem Vermögen von 10 Mill. Sesterzen (715000 Thlr.) gelangt
sein. Der Unwille war groſs und gerecht; schon während Sullas
Regentschaft fragte ein Advokat, ob der Adel den Bürgerkrieg
nur geführt habe um seine Freigelassenen und Knechte zu rei-
chen Leuten zu machen. Trotz dieser Schleuderei indeſs betrug
der Gesammterlös aus den confiscirten Gütern doch nicht weniger
als 350 Mill. Sest. (24 Mill. Thlr.), was von dem ungeheuren
Umfang dieser hauptsächlich auf den reichsten Theil der Bürger-
schaft fallenden Einziehungen einen ungefähren Begriff giebt. Es
war durchaus ein fürchterliches Strafgericht. Es gab keinen Pro-
zeſs, keine Begnadigung mehr; bleischwer lastete der dumpfe
Schrecken auf dem Lande und das freie Wort war auf dem Markte
der Haupt- wie der Landstadt verstummt. Das oligarchische
Schreckensregiment trug wohl einen andern Stempel als das re-
volutionäre; wenn Marius seine persönliche Rachsucht im Blute
seiner Feinde zu löschen getrachtet hatte, so schien Sulla den
Terrorismus zur Einführung der neuen Gewaltherrschaft noth-
wendig zu erachten und die Metzelei fast gleichgültig zu betrei-
ben und betreiben zu lassen. Aber nur um so entsetzlicher er-
schien der Terrorismus, da er von der conservativen Seite her
und gewissermaſsen ohne Leidenschaft auftrat; nur um so un-
rettbarer schien das Gemeinwesen verloren, weil der Wahnsinn
und der Frevel auf beiden Seiten gleich waren.
In der Ordnung der Verhältnisse Italiens und der Haupt-
stadt hielt Sulla, obwohl er sonst im Allgemeinen alle während
der Revolution vorgenommenen nicht bloſs die laufenden Ge-
schäfte erledigenden Staatshandlungen als nichtig erklärte, doch
fest an dem von ihr aufgestellten Grundsatz, daſs jeder Bürger
einer italischen Gemeinde damit von selbst auch Bürger von
Rom sei; die Unterschiede zwischen Bürgern und italischen Bun-
desgenossen, zwischen Altbürgern bessern und Neubürgern be-
schränkteren Rechts waren und blieben beseitigt. Nur den Frei-
gelassenen ward das unbeschränkte Stimmrecht abermals ent-
[330]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
zogen und für sie das alte Verhältniſs wiederhergestellt. Den ari-
stokratischen Ultras mochte dies als eine groſse Concession
erscheinen; Sulla sah, daſs es nothwendig sei den revolutionären
Führern jene mächtigen Hebel aus der Hand zu winden und daſs
die Herrschaft der Oligarchie durch die Vermehrung der Zahl der
Bürger nicht wesentlich gefährdet ward. Aber mit dieser Nach-
giebigkeit im Princip verband sich das härteste Gericht über
die einzelnen Gemeinden, das Sullas Beauftragte, gestützt auf
die überallhin vertheilten Besatzungen, in sämmtlichen Land-
schaften Italiens mit rücksichtsloser Strenge abhielten. Manche
Städte wurden belohnt, wie zum Beispiel die erste Gemeinde, die
sich an Sulla angeschlossen hatte, Brundisium, dafür jetzt die für
diesen Seehafen so wichtige Zollfreiheit erhielt; mehrere bestraft.
Den minder schuldigen wurden Geldbuſsen, Niederreiſsung der
Mauern, Schleifung ihrer Burgen dictirt; den hartnäckigsten Geg-
nern confiscirte der Regent einen Theil ihrer Feldmark, zum
Theil sogar das ganze Gebiet. In diesem Falle ward auch allen
aus dem Besitz gesetzten Bürgern, aber auch nur diesen ihr
Stadt- und zugleich das römische Bürgerrecht aberkannt, wo-
gegen sie das schlechteste latinische empfingen*. Man vermied
also an italischen Unterthanengemeinden geringeren Rechts der
Opposition einen Kern zu gewähren; die heimathlosen Expro-
priirten muſsten bald in der Masse des Proletariats sich ver-
lieren. In Campanien ward nicht bloſs, wie sich von selbst ver-
steht, die demokratische Colonie Capua aufgehoben und die Do-
mäne an den Staat zurückgegeben, sondern auch, wahrschein-
lich um diese Zeit, der Gemeinde Neapolis die Insel Aenaria
(Ischia) entzogen. In Latium wurde die gesammte Mark der
groſsen und reichen Stadt Praeneste und vermuthlich auch die
von Norba eingezogen. Sulmo in der paelignischen Landschaft
ward sogar geschleift. Aber vor allem schwer lastete des Regen-
ten eiserner Arm auf den beiden Landschaften, die bis zuletzt
[331]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
und noch nach der Schlacht am collinischen Thor ernstlichen
Widerstand geleistet hatten, auf Etrurien und Samnium. Dort
traf die Gesammtconfiscation eine Reihe der ansehnlichsten Com-
munen, zum Beispiel Florentia, Faesulae, Arretium, Volaterrae,
Spoletium. Von Samniums Schicksal ward schon gesprochen;
hier ward nicht confiscirt, sondern das Land für immer verwüstet,
seine blühenden Städte, selbst Aesernia, öde gelegt und die Land-
schaft der bruttischen und lucanischen gleichgestellt. Diese Maſs-
regeln, die weit schwerer und weit folgenreicher waren als die
persönlichen Proscriptionen, formell zu motiviren hielt nicht
schwer; hatten doch all diese Gemeinden staatsrechtlich bis da-
hin die Souveränetät gehabt und konnten deſshalb so gut wie die
Gemeinden, die sich Hannibal angeschlossen hatten, nach der
Ueberwindung nach Kriegsrecht behandelt werden. Der prakti-
sche Zweck aber dieser ungeheuren Confiscationen war die An-
siedlung der Soldaten des siegreichen Heeres, wozu theils die den
ehemaligen Bundesgenossengemeinden zugewiesenen jetzt durch
deren Aufnahme in den römischen Gemeindeverband disponibel
gewordenen Domanialländereien, theils die eingezogenen Feldmar-
ken der straffälligen Gemeinden verwandt wurden. Die meisten
dieser neuen Ansiedlungen kamen nach Etrurien, zum Beispiel
nach Faesulae und Arretium, andere nach Latium und Campanien,
wie unter andern Praeneste und Pompeii; Samnium wieder zu
bevölkern lag, wie gesagt, nicht in der Absicht des Regenten.
Ein groſser Theil dieser Assignationen erfolgte in gracchanischer
Weise, so daſs die Angesiedelten zu einer schon bestehenden
Stadtgemeinde hinzutraten. Wie umfassend die Ansiedlung war,
zeigt die Zahl der vertheilten Landloose, die auf 120000 angege-
ben wird; wobei dennoch einzelne Ackercomplexe anderweitig ver-
wandt wurden, wie zum Beispiel der Dianentempel auf dem Berg
Tifata mit Ländereien beschenkt ward, andere, wie die volaterra-
nische Mark und ein Theil der arretinischen, unvertheilt blieben,
andere endlich nach dem alten gesetzlich untersagten (S. 122),
aber jetzt wieder auftauchenden Miſsbrauch von Sullas Günstlin-
gen nach Occupationsrecht eingenommen wurden. Die Zwecke,
die Sulla bei dieser Colonisation verfolgte, waren mannigfacher
Art. Zunächst löste er damit seinen Soldaten die gegebene Zu-
sicherung. Ferner nahm er durch sie den Gedanken auf, in dem
die Reformpartei und die gemäſsigten Conservativen zusammen-
trafen und dem gemäſs er selbst schon im J. 666 die Gründung
einer Anzahl von Colonien angeordnet hatte: die Zahl der acker-
bauenden Kleinbesitzer in Italien zu vermehren; wie ernstlich ihm
[332]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
hieran gelegen war, zeigt das erneuerte Verbot des Zusammen-
schlagens der Ackerloose. Endlich und vor allem sah er in die-
sen angesiedelten Soldaten gleichsam stehende Besatzungen, die
mit ihrem Eigenthumsrecht zugleich seine neue Verfassung schir-
men würden; weſshalb auch, wo nicht die ganze Mark eingezo-
gen ward, wie z. B. in Pompeii, die Colonisten nicht mit der
Stadtgemeinde verschmolzen, sondern die Altbürger und die
Colonisten als zwei in demselben Mauerring vereinigte Bürger-
schaften constituirt wurden. Im Uebrigen erfolgten diese Colo-
nialgründungen auf dieselbe Rechtsgrundlage hin und in dersel-
ben militärischen Form wie die bisherigen; daſs sie nicht wie die
älteren direct, sondern nur mittelbar auf einem Gesetz beruh-
ten, insofern sie der Regent auf Grund der deſsfälligen Clausel des
valerischen Gesetzes constituirte, machte rechtlich keinen Unter-
schied. Nur in sofern, als der Gegensatz des Soldaten und des
Bürgers, der sonst eben durch die Colonisirung der Soldaten auf-
gehoben ward, bei den sullanischen Colonien noch nach ihrer
Ausführung lebendig bleiben sollte und blieb und als diese Colo-
nisten gleichsam das stehende Heer des Senats bildeten, läſst es
sich rechtfertigen, daſs man sie im Gegensatz gegen die älteren
als Militärcolonien bezeichnet. — Dieser factischen Constituirung
einer stehenden Armee des Senats verwandt ist die Maſsregel des
Regenten aus den Sclaven der Geächteten über 10000 der jüng-
sten und kräftigsten Männer auszuwählen und diese insgesammt
freizusprechen. Diese neuen Cornelier, deren bürgerliche Existenz
an die Rechtsbeständigkeit der Institutionen ihres Patrons ge-
knüpft war, sollten eine Art von Leibwache für die Oligarchie
sein und den städtischen Pöbel, auf den nun einmal in der Haupt-
stadt in Ermangelung einer Besatzung zunächst alles ankam, ihr
beherrschen helfen.
Dies waren die auſserordentlichen Stützen, auf die zunächst
der Regent die Oligarchie lehnte. Unzweifelhaft waren sie schwach
organisirt und ephemer; aber es waren die einzig möglichen
Schutzwehren, wenn man nicht zu Mitteln greifen wollte, wie die
förmliche Aufstellung eines stehenden Heeres in Rom und der-
gleichen Maſsregeln, die der Oligarchie noch weit eher ein Ende
gemacht haben würden, als die demagogischen Angriffe. Das
dauernde Fundament der ordentlichen Regierungsgewalt der Oli-
garchie muſste natürlich sein eine so gesteigerte und so concen-
trirte Gewalt des Senats, daſs er an jedem einzelnen Angriffs-
punct den nicht organisirten Gegnern überlegen gegenüberstand.
Das vierzig Jahre hindurch befolgte System der Transactionen
[333]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
war zu Ende. Die gracchische Verfassung, noch geschont in der
ersten sullanischen Reform von 666, ward jetzt von Grund aus
beseitigt. Seit Gaius Gracchus hatte die Regierung dem haupt-
städtischen Proletariat das Recht der Emeute gleichsam zugestan-
den und es abgekauft durch regelmäſsige Getreidevertheilungen
an die in der Hauptstadt domicilirten Bürger; Sulla schaffte die-
selben ab. Durch die Verpachtung der Zehnten und Zölle der
Provinz Asia in Rom hatte Gaius Gracchus den Capitalistenstand
organisirt und fundirt; Sulla hob das System der Mittelsmänner
auf und verwandelte die bisherigen Leistungen der Asiaten in
feste Abgaben, welche nach den zum Zweck der Nachzahlung
der Rückstände entworfenen Schätzungslisten auf die einzel-
nen Bezirke umgelegt wurden.* Gaius Gracchus hatte durch
Uebergabe der Geschworenenposten an die Männer vom Ritter-
census dem Capitalistenstand eine indirecte Mitverwaltung und
Mitregierung gestattet, die nicht selten sich stärker als die officielle
Verwaltung und Regierung erwies; Sulla schaffte die Ritter-
gerichte ab und stellte die senatorischen wieder her. Der Ritter-
stand, durch Gaius Gracchus politisch constituirt, verlor seine
politische Existenz durch Sulla. Unbedingt, ungetheilt und auf
die Dauer sollte der Senat die höchste Macht in Gesetzgebung,
Verwaltung und Gerichten überkommen.
Vor allem muſste zu diesem Ende die Regierungsbehörde
ergänzt und selber unabhängig gestellt werden. Nach der bishe-
rigen Verfassung saſsen von Rechtswegen im Senat alle diejenigen,
die eines der drei curulischen Aemter, Consulat, Prätur oder
Aedilität bekleidet hatten, auſserdem, da deren Zahl nicht aus-
reichte, die von den Censoren nach Ermessen in den Senat ge-
wählten Mitglieder, welche Wahl begreiflicher Weise vorzugsweise
auf die gewesenen niederen Beamten sich lenkte. Augenblicklich
war natürlich durch die letzten Krisen die Zahl der Senatoren
sehr zusammengeschwunden. Zwar stellte Sulla den durch die
[334]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
Rittergerichte Verbannten jetzt die Rückkehr frei, wie dem Con-
sular Publius Rutilius Rufus (S. 202), der übrigens von der Er-
laubniſs keinen Gebrauch machte, und dem Freunde des Drusus
Gaius Cotta (S. 219); allein es war dies ein geringer Ersatz für
die Lücken, die der revolutionäre wie der reactionäre Terroris-
mus in die Reihen des Senats gerissen hatte. Sulla verfügte zu-
nächst eine auſserordentliche Ergänzung des Senats durch etwa
300 neue Senatoren, welche die Districtversammlung aus den
Männern vom Rittercensus zu ernennen hatte und die sie wie be-
greiflich vorzugsweise theils aus den jüngeren Männern der sena-
torischen Häuser, theils aus sullanischen Offizieren und anderen
durch die letzte Umwälzung Emporgekommenen auslas. Ferner
ward für die Zukunft der gesetzliche Eintritt in den Senat statt
an die Aedilität geknüpft an die Quästur und zugleich die Zahl
der jährlich zu ernennenden Quästoren von acht auf zwanzig er-
höht. Durch diese Maſsregeln wurde die Gesammtzahl der Sena-
toren, die bis dahin vermuthlich noch immer die alte von 300
nicht oder nicht viel überstiegen hatte, beträchtlich, vielleicht um
das Doppelte erhöht *, was auch schon wegen der durch die
Uebertragung der Geschwornenfunctionen stark vermehrten Ge-
schäfte des Senats nothwendig war. Es ward ferner der Senat
durchaus auf directe Volkswahl gegründet, indem sowohl die
auſserordentlich eintretenden Senatoren als die Quästoren ernannt
wurden von den Tributcomitien; so daſs derselbe, wenn er schon
bisher mittelbar auf den Wahlen des Volkes geruht hatte (I, 199),
jetzt so weit einem repräsentativen Regiment sich näherte, als
dies mit dem Wesen der Oligarchie und den Begriffen des Alter-
thums überhaupt sich vertrug. Aus einem nur zum Berathen der
Beamten bestimmten Collegium war im Laufe der Zeit der Senat
eine den Beamten befehlende und selbstregierende Behörde ge-
worden; es war hiervon nur eine consequente Weiterentwicklung,
wenn das den Beamten ursprünglich zustehende Recht die Sena-
[335]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
toren zu ernennen und zu cassiren denselben entzogen und der Se-
nat auf dieselbe rechtliche Grundlage gestellt wurde, auf welcher
die Beamtengewalt selber ruhte. Die exorbitante Befugniſs der
Censoren von fünf zu fünf Jahren die Rathliste zu revidiren und
nach Gutdünken Namen zu streichen oder zuzusetzen vertrug
in der That sich nicht mit einer geordneten oligarchischen Ver-
fassung. Indem jetzt durch die Quästorenwahl für eine genügende
regelmäſsige Ergänzung gesorgt ward, wurden die censorischen
Revisionen überflüssig und das wesentliche Grundprincip jeder
Oligarchie, die Inamovibilität und Lebenslänglichkeit der zu Sitz
und Stimme gelangten Oligarchen, wurde consolidirt durch die
wenigstens factische Beseitigung der Censur.
Hinsichtlich der Gesetzgebung begnügte sich Sulla die im
J. 666 getroffenen Bestimmungen wieder aufzunehmen und die
legislatorische Initiative dem Senat zu überweisen. Die Bür-
gerschaft blieb der formelle Souverän; allein ihre Urversamm-
lungen wurden durchaus behandelt als eine Institution, deren
Name sorgfältig zu conserviren, die wirkliche Thätigkeit aber
noch sorgfältiger zu verhüten war. Sogar mit dem Bürger-
recht selbst ging Sulla in der geringschätzigsten Weise um; er
machte keine Schwierigkeit weder den Neubürgergemeinden es
zuzugestehen noch Spanier und Kelten in Masse damit zu be-
schenken; ja es geschah, wahrscheinlich nicht ohne Absicht,
schlechterdings gar nichts für die Feststellung der Bürgerliste,
die doch nach so gewaltigen Umwälzungen einer Revision drin-
gend bedurfte, wenn es überhaupt der Regierung noch Ernst war
mit den hieran sich knüpfenden Rechtsbefugnissen. Geradezu
beschränkt wurde die legislatorische Competenz der Comitien
übrigens nicht; es war auch nicht nöthig, da ja in Folge der Ini-
tiative des Senats das Volk ohnehin nicht wider den Willen des
Senats in die Verwaltung, das Finanzwesen und die Criminal-
jurisdiction eingreifen konnte und seine legislative Mitwirkung
wesentlich wieder zurückgeführt ward auf das Recht zu Aende-
rungen der Verfassung Ja zu sagen. — Wichtiger war die Be-
theiligung der Bürgerschaft bei den Wahlen, deren man nun ein-
mal nicht entbehren zu können schien, ohne mehr aufzurütteln
und zu zerrütten als Sullas obenhin sich haltende Restauration
aufrütteln konnte und wollte. Die Uebergriffe, welche die Revo-
lution sich hinsichtlich der Priesterwahlen erlaubt hatte, wurden
beseitigt; nicht bloſs das domitische Gesetz von 650, das die
Wahlen zu den höchsten Priesterämtern überhaupt dem Volke
übertrug (S. 188), sondern auch die älteren gleichartigen Ver-
[336]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
fügungen hinsichtlich des Oberpontifex und des Obercurio (I,
602) wurden von Sulla cassirt und den Priestercollegien das
Recht der Selbstergänzung in seiner ursprünglichen Unbe-
schränktheit zurückgegeben. Hinsichtlich der Staatsämter aber
blieb es im Ganzen bei der bisherigen Weise. Es scheint nicht
einmal, daſs Sulla die früher versuchte Restauration der servia-
nischen Stimmordnung (S. 248) jetzt wieder aufnahm, sei es
nun, daſs er es überhaupt als gleichgültig betrachtete, ob die
Stimmabtheilungen so oder so zusammengesetzt seien, sei es,
daſs diese ältere Ordnung ihm den gefährlichen Einfluſs der Ca-
pitalisten zu steigern schien. Nur die Qualificationen wurden
wiederhergestellt und theilweise gesteigert. Die zur Bekleidung
eines jeden Amtes erforderliche Altersgrenze ward aufs Neue ein-
geschärft; ebenso die Bestimmung, daſs jeder Bewerber um das
Consulat vorher die Prätur, jeder Bewerber um die Prätur vorher
die Quästur bekleidet haben müsse, wogegen es gestattet war die
Aedilität zu übergehen. Mit besonderer Strenge wurde, in Hin-
blick auf die jüngst mehrfach vorgekommene Tyrannis in der
Form des durch mehrere Jahre hindurch fortgesetzten Consulats,
gegen diesen Miſsbrauch eingeschritten und verfügt, daſs zwischen
der Bekleidung zweier ungleicher Aemter mindestens zwei, zwi-
schen der zweimaligen Bekleidung desselben Amtes mindestens
zehn Jahre verflieſsen sollten; mit welcher letzteren Bestimmung
die ältere Ordnung aufgenommen und die ultraoligarchische Vor-
schrift der jüngsten Zeit, die jede Wiederwahl zum Consulat
schlechthin untersagte (S. 64), wieder verlassen ward. Im Gan-
zen aber lieſs Sulla den Wahlen ihren Lauf wie bisher und be-
gnügte sich auf eine solche Beschränkung der Beamtengewalt hin-
zuarbeiten, daſs, wen auch immer die unberechenbare Laune der
Comitien zum Amte berief, der Gewählte auſser Stande sein würde
gegen die Oligarchie sich aufzulehnen.
Zur Beschränkung der Beamtengewalt diente zunächst die
allgemeine Bestimmung, daſs jede Verhandlung mit dem Volke,
sei es um dasselbe über ein Gesetz abstimmen zu lassen, sei es
um ihm bloſs eine Mittheilung zu machen, geknüpft ward an
die vorgängige Gestattung des Senats. Wie die Herrschaft des
Königs und später der republikanischen Beamten über die
Bürgerschaft kaum irgendwo so klar zu Tage tritt wie in dem
Satz, daſs sie ausschlieſslich das Recht haben öffentlich zum
Volke zu reden, so zeigt sich die neue Oberherrlichkeit des Se-
nats am bestimmtesten in dieser für jede Verhandlung mit dem
Volke von ihm zu erbittenden Erlaubniſs. — Besonderer Maſs-
[337]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
regeln bedurfte es hinsichtlich der höchsten Beamten, der Tribu-
nen, der Consuln und der diesen gleichartigen Volksvorsteher, end-
lich der Censoren. Die Tribunen behielten ihr Recht sowohl mit
dem Volke zu verhandeln als auch die Amtshandlungen der Magi-
strate durch ihr Einschreiten zu cassiren, eventuell zu brüchen und
die weitere Bestrafung zu veranlassen; in beiden Beziehungen aber
waren sie jetzt gesetzlich nichts als Werkzeuge des Senats, der ja
auch bisher schon regelmäſsig seine Anträge und Mittheilungen
durch sie an das Volk gebracht und Ausschreitungen der Beam-
ten durch die tribunicische Intercession beseitigt hatte. Auf den
Miſsbrauch des Intercessionsrechts wurde eine schwere Geldstrafe
gesetzt. Um endlich von diesem allein seines populären Namens
wegen in den Händen eines Demagogen immer gefährlichen Amte
alle Ehrgeizigen zu entfernen, wurde die Bestimmung getroffen, daſs
die Bekleidung des Tribunats in Zukunft zur Uebernahme eines hö-
heren Amtes unfähig machen solle. — Nach der Geschäftstheilung,
wie sie für die römischen Consuln und Prätoren alten Herkom-
mens war, fielen den beiden Consuln die städtischen Geschäfte
nebst der Verwaltung Italiens und des diesseitigen Galliens zu,
zweien der Prätoren die Leitung des städtischen Gerichtswesens,
den vier übrigen die Verwaltung der vier ältesten überseeischen
Aemter, Siciliens, Sardiniens und beider Spanien; auf die specielle
Vertheilung der Geschäfte unter diese acht höchsten Beamten
übte der Senat einen wesentlichen Einfluſs, übrigens aber griff
er in ihre Competenzen nicht weiter ein. Allein schon in älterer
Zeit gab es sehr häufig mehr Aemter als Beamte, da nicht selten
einer oder der andere der Beamten durch eine auſserordentliche
Competenz in Anspruch genommen ward. Die in diesem Fall
entstehenden Lücken ergänzte der Senat, gewöhnlich in der Art,
daſs einzelne zum Abgang stehende höchste Beamte von der Ver-
pflichtung abzutreten dispensirt und sei es in ihrem bisherigen,
sei es in einem neuen Wirkungskreis verwendet wurden; eine
Verfügung, die allerdings nach dem Buchstaben des Rechts der
Bestätigung durch die Bürgerschaft bedurft hätte, aber längst, wie
alle andern Dispensationen von den Gesetzen, auch ohne Bür-
gerschaftsbestätigung schon durch Senatsbeschluſs gültig ward
(I, 201). Im Laufe des siebenten Jahrhunderts wurden aber
nicht bloſs auſserordentliche Commissionen immer häufiger, son-
dern es traten auch als stehende höchste Aemter theils die fünf
neuen Statthalterschaften von Makedonien, Africa, Asia, Narbo
und Kilikien, theils die Vorsitzerstelle in dem stehenden Com-
missionsgericht wegen Erpressungen (S. 77) hinzu. Nichts
Röm. Gesch. II. 22
[338]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
desto weniger wurde die Zahl der jährlich vom Volke zu wäh-
lenden höchsten Beamten beibehalten, da die im Ganzen herr-
schende Optimatenpartei besser ihre Rechnung dabei fand die
jährlich entstehende ansehnliche Lücke durch den Senat aus-
füllen zu lassen als die Zahl der ordentlichen Beamten zu ver-
mehren. Die Folge war natürlich, daſs die gesetzlich auf ein Jahr
gewählten höchsten Beamten durchschnittlich jeder zwei Jahre
im Amte blieben und daſs die wichtigsten und lucrativsten Stel-
len im Staate thatsächlich von Jahr zu Jahr aus einer durch
die Volkswahlen gebildeten Candidatenliste vom Senate be-
setzt wurden. Ueblich ward es dabei die während ihres ge-
setzlichen Amtsjahres regelmäſsig in Italien festgehaltenen höch-
sten Beamten, namentlich die beiden Gerichtsherren und die
Consuln, nach Ablauf desselben in irgend eine der disponiblen
Provinzen zu entsenden, da die Statthalterschaften als die bei
weitem einträglichsten unter den höchsten Aemtern von allen
Concurrenten gewünscht wurden und es billig schien keinen
ganz davon auszuschlieſsen. Diese Verhältnisse fand Sulla vor.
Er regulirte sie dahin, daſs er die Zahl der jährlich zu ernen-
nenden höchsten Beamten von acht auf zehn und die Amts-
dauer von einem Jahre auf zwei erhöhte, so daſs die Beamten das
erste Jahr den hauptstädtischen Geschäften — die beiden Consuln
der Regierung und Verwaltung, die acht Prätoren der Civil- und
Criminaljustiz — das zweite der Verwaltung der zehn Provinzen
widmeten *.
Es ward hiedurch vor allem an die Stelle des bis-
[339]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
herigen unordentlichen und zu allen möglichen schlechten Ma-
növern und Intriguen einladenden Schaltens in der Theilung der
Aemter eine klare und feste Regel gesetzt; dann aber auch der
Einfluſs der obersten Regierungsbehörde wesentlich gesteigert.
Nach der bisherigen Ordnung war derselbe Mann sehr häufig zwei,
oft auch mehr Jahre in demselben Amte verblieben; die neue Ord-
nung beschränkte die hauptstädtischen Aemter wie die Statthal-
terposten durchaus auf ein Jahr und die specielle Verfügung, daſs
jeder Statthalter binnen dreiſsig Tagen, nachdem der Nachfolger
in seinem Sprengel eingetroffen sei, denselben unfehlbar zu ver-
lassen habe, zeigt sehr klar, namentlich wenn man damit noch das
früher erwähnte Verbot der Continuirung desselben Amtes durch
Volkswahl zusammennimmt, was die Tendenz dieser Einrichtun-
gen war: es war die alterprobte Maxime, durch die einst der Se-
nat das Königthum sich dienstbar gemacht hatte, daſs die Be-
schränkung der Magistratur der Competenz nach der Demokratie,
die der Zeit nach der Oligarchie zu Gute komme. Nach der bis-
herigen Ordnung war es ferner möglich gewesen die höchste po-
litische und militärische Macht in derselben Hand zu vereinigen;
Gaius Marius hatte als Consul zugleich an der Spitze des Staats
und an der Spitze der Armee gestanden und nur seiner eigenen
Ungeschicklichkeit es zuzuschreiben, daſs er mit diesen Mitteln
nicht die Oligarchie gestürzt hatte. Sulla beherzigte die Lehre und
trennte ein für allemal die politische Gewalt von der militärischen.
Künftig sollte der Consul und Prätor mit Senat und Volk verhan-
deln, der Proconsul und Proprätor die Armee commandiren, je-
nem aber jede militärische, diesem jede politische Thätigkeit ge-
setzlich abgeschnitten sein. Wenn indeſs dies vollständig durch-
geführt werden sollte, muſste der Consul auch der Verpflichtung
enthoben werden, die bisher ihm obgelegen hatte, die Nordgrenze
Italiens zu schirmen: dies hat zu der politischen Trennung der
norditalischen Landschaften von dem eigentlichen Italien geführt.
Bisher hatten dieselben wohl in einem nationalen Gegensatz ge-
standen, insofern Norditalien vorwiegend von Ligurern und Kelten,
Mittel- und Süditalien von Italikern bewohnt ward; allein politisch
und administrativ stand die ganze Landschaft von der südlichen
Meerenge bis an den Fuſs der Alpen sich gleich und im ordentli-
*
22*
[340]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
chen Lauf der Dinge unter der Verwaltung der in Rom eben fungi-
renden höchsten Beamten, wie denn ja auch die Colonialgründun-
gen durch dies ganze Gebiet sich erstrecken. Jetzt ward das Kel-
tenland diesseit der Alpen, dessen Südgrenze übrigens vom Aesis
an den Rubico verlegt ward, administrativ von Italien getrennt und
als eine eigene von einem Proconsul oder Proprätor zu verwal-
tende Statthalterschaft constituirt *. Nach der bisherigen Ordnung
ferner hatte auch der vom Volke unmittelbar ernannte Beamte eine
militärische Stellung haben können; nach der sullanischen dagegen
war diese ausschlieſslich vorbehalten den vom Senat durch Pro-
longation der Amtsfrist in ihrer Amtsgewalt bestätigten Beamten;
welche Prolongation zwar jetzt stehend geworden war, aber darum
dennoch in ihrem Wesen als auſserordentliche Fristerstreckung
festgehalten ward. Auch auf die Consuln wurde dies erstreckt, in-
dem die in dieser Weise dem älteren Recht fremde Bestimmung,
daſs in Italien regelmäſsig keine Truppen stehen dürften, durch
Sulla als Fundamentalsatz des Staatsrechts aufgestellt ward. Die
Consuln und Prätoren also übten fortan ausschlieſslich die bür-
gerliche, die Proconsuln und Proprätoren ausschlieſslich die
militärische Gewalt. Es war dies nicht gleichgültig. Den Consul
oder den Prätor konnte Niemand oder höchstens doch nur die
Bürgerschaft seines Amtes entsetzen; den Proconsul und den
Proprätor ernannte und entlieſs der Senat, so daſs durch diese
[341]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Verfügung die gesammte Militärgewalt, auf die denn doch zuletzt
alles ankam, formell wenigstens abhing vom Senat. — Daſs end-
lich das höchste aller Aemter, die Censur, nicht förmlich aufge-
hoben, aber in derselben Art beseitigt ward, wie ehemals die Dic-
tatur, ward schon bemerkt. Praktisch konnte man derselben
allenfalls entrathen. Für die Ergänzung des Senats war ander-
weitig gesorgt. Seit Italien thatsächlich steuerfrei war und das
Heer wesentlich durch Werbung gebildet ward, hatte das Ver-
zeichniſs der Steuer- und Dienstpflichtigen in der Hauptsache
seine Bedeutung verloren. Wenn in der Ritterliste und dem Ver-
zeichniſs der Stimmberechtigten Unordnung einriſs, so mochte
man diese nicht gerade ungern sehen. Es blieben nur die lau-
fenden Finanzgeschäfte, welche wie bisher in den häufigen Fällen,
wo die Censorenwahl unterblieben war, die Consuln als einen
Theil ihrer ordentlichen Staatsgeschäfte übernahmen. Gegen den
wesentlichen Gewinn, daſs der Magistratur in den Censoren ihre
höchste Spitze entzogen ward, kam nicht in Betracht und war für
die Alleinherrschaft des höchsten Regierungscollegiums vollkom-
men gleichgültig, daſs, um die Ambition der jetzt so viel zahlrei-
cheren Senatoren zu befriedigen, die Zahl der Pontifices von acht
(I, 194), die der Augurn von neun (I, 194), die der Orakel-
bewahrer von zehn (I, 192) auf je funfzehn, die der Schmaus-
herren von drei auf sieben vermehrt ward.
In dem Finanzwesen stand schon nach der bisherigen Ver-
fassung die entscheidende Stimme bei dem Senat; es handelte
sich demnach hier nur um Wiederherstellung einer geordneten
Verwaltung. Sulla hatte anfänglich sich in nicht geringer Geld-
noth befunden; die aus Kleinasien mitgebrachten Summen waren
für den Sold des zahlreichen und stets anschwellenden Heeres bald
verausgabt. Noch nach dem Siege am collinischen Thor hatte der
Senat, da die Staatscasse nach Praeneste entführt worden war, sich
zu Nothschritten entschlieſsen müssen. Verschiedene Bauplätze in
der Hauptstadt und einzelne Stücke der campanischen Domäne
wurden feilgeboten, die Clientelkönige, die befreiten und bun-
desgenössischen Gemeinden auſserordentlicher Weise in Contri-
bution gesetzt, zum Theil ihnen ihr Grundbesitz und ihre Zölle
eingezogen, anderswo denselben für Geld neue Privilegien zuge-
standen. Indeſs der bei der Uebergabe von Praeneste vorgefun-
dene Rest der Staatskasse von beiläufig 4 Mill. Thlr., die bald
beginnenden Versteigerungen und andere auſserordentliche Hülfs-
quellen halfen der augenblicklichen Verlegenheit ab. Für die Zu-
kunft aber ward gesorgt weniger durch die asiatische Abgaben-
[342]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
reform, bei der die Staatskasse wohl nur nicht verlor und vorzugs-
weise die Steuerpflichtigen gewannen, als durch die Rückgabe
der campanischen Domäne, wozu jetzt noch Aenaria gefügt ward
(S. 330), und vor allem durch die Abschaffung der Kornverthei-
lungen, die seit Gaius Gracchus wie ein Krebs an den römischen
Finanzen gezehrt hatten.
Dagegen ward das Gerichtswesen wesentlich umgestaltet,
theils aus politischen Rücksichten, theils um in die bisherige
sehr unzulängliche und unzusammenhängende rechtliche Legis-
lation gröſsere Einheit und Brauchbarkeit zu bringen. Auſser den
Gerichten, in denen die ganze Bürgerschaft auf Provocation von
dem Urtheil des Magistrats hin entschied, gab es in dieser Zeit
ein doppeltes Verfahren vor Geschwornen. Das ordentliche, wel-
ches in allen nach unserer Auffassung zu einem Criminal- oder
Civilprozeſs sich eignenden Fällen mit Ausnahme der unmittelbar
gegen den Staat gerichteten Verbrechen anwendbar war, bestand
darin, daſs der eine der beiden hauptstädtischen Gerichtsherren
die Sache instruirte und ein von ihm ernannter Geschworner auf
Grund dieser Instruction entschied. Der auſserordentliche Ge-
schwornenprozeſs trat ein in einzelnen besonders wichtigen Ci-
vil- oder Criminalfällen, wegen welcher durch besondere Gesetze
anstatt des Einzelgeschwornen ein besonderer Geschwornenhof
bestellt worden war. Dieser Art waren theils die für einzelne
Fälle constituirten Specialgerichtshöfe (z. B. S. 139. 171), theils
die stehenden Commissionalgerichtshöfe, wie sie für Erpressun-
gen (S. 77), für Giftmischerei und Mord (S. 102), vielleicht auch
für Wahlbestechung und andere Verbrechen im Laufe des sieben-
ten Jahrhunderts niedergesetzt worden waren; theils endlich der
Hof der Hundertundfünf- oder der Hundertmänner, auch von dem
bei dem Eigenthumsprozeſs gebrauchten Lanzenschaft das Schaft-
gericht (hasta) genannt, welches in den Prozessen über römi-
sches Erbe entschied — die Entstehungszeit und Veranlassung
des letzteren liegen im Dunkeln, werden aber vermuthlich ungefähr
dieselben sein wie bei den gleichartigen Criminalcommissionen.
Ueber die Leitung dieser verschiedenen Gerichtshöfe war in den
einzelnen Gerichtsordnungen verschieden bestimmt; so standen
dem Erpressungsgericht ein Prätor, dem Mordgericht ein aus
den gewesenen Aedilen besonders ernannter Vorstand, dem
Schaftgericht mehrere aus den gewesenen Quästoren genom-
mene Directoren vor. Die Geschwornen wurden für das ordent-
liche wie für das auſserordentliche Verfahren in Gemäſsheit der
gracchischen Ordnung aus den nicht senatorischen Männern von
[343]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Rittercensus genommen; nur für das Schaftgericht wurden von
jedem der fünfunddreiſsig Bezirke nach freier Wahl drei Ge-
schworne ernannt und aus diesen hundertundfünf Männern der Hof
zusammengesetzt. — Sullas Reformen waren hauptsächlich drei-
facher Art. Einmal vermehrte er die Zahl der Geschwornenhöfe
sehr beträchtlich. Es gab fortan besondere Geschwornencommis-
sionen für Erpressung; für Mord mit Einschluſs von Brandstiftung
und falschem Zeugniſs; für Wahlbestechung; ferner für Hochverrath
und jede Entehrung des römischen Namens; für Ehebruch; für
die schwersten Betrugsfälle: Testaments- und Münzfälschung;
für die schwersten Ehrverletzungen, namentlich Realinjurien und
Störung des Hausfriedens; vielleicht auch für Unterschlagung öf-
fentlicher Gelder, für Zinswucher und andere Vergehen; und für
jeden dieser alten oder neuen Gerichtshöfe ward von Sulla eine
besondere Criminal- und Criminalprozeſsordnung erlassen. Uebri-
gens blieb es den Behörden unbenommen vorkommenden Falls
für einzelne Gruppen von Verbrechen Specialhöfe zu bestellen.
Folgeweise wurden hiedurch theils die Volksgerichte, theils der
ordentliche Geschwornenprozeſs wesentlich beschränkt, indem
zum Beispiel jenen die Hochverrathsprozesse, diesem die schwe-
reren Fälschungen und Injurien entzogen wurden; hievon abge-
sehen indeſs ward an beiden Instituten nichts geändert. Was zwei-
tens die Oberleitung der Gerichte anlangt, so standen, wie schon
erwähnt ward, jetzt für die Leitung der verschiedenen Geschwor-
nenhöfe sechs Prätoren zur Disposition; die dennoch leer blei-
benden Posten wurden mit besonders ernannten Dirigenten oder
auf andere Weise besetzt. In die Geschwornenstellen traten drit-
tens statt der gracchischen Ritter wieder die Senatoren ein; nur
in dem Schaftgericht blieb, so viel wir wissen, durchaus die bis-
herige Ordnung. — Der politische Zweck dieser Verfügungen,
der bisherigen Mitregierung der Ritter ein Ende zu machen, liegt
klar zu Tage; aber ebenso wenig läſst es sich verkennen, daſs die-
selben nicht bloſs politische Tendenzmaſsregeln waren, sondern
hier der erste Versuch gemacht wurde dem seit den ständischen
Kämpfen gründlich verwilderten römischen Criminalprozeſs und
Criminalrecht wieder aufzuhelfen. Von dieser sullanischen Ge-
setzgebung datirt sich die dem ältern Recht wesentlich unbe-
kannte Scheidung von Criminal- und Civilsachen in dem Sinn,
den wir noch heute damit verbinden, und die Gesammtheit der
sullanischen Quaestionenordnungen läſst sich zugleich als das
erste römische Gesetzbuch nach den zwölf Tafeln und als das
erste überhaupt je besonders erlassene Criminalgesetzbuch be-
[344]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
zeichnen. Aber auch im Einzelnen zeigt sich ein löblicher und
liberaler Geist. So seltsam es von dem Urheber der Proscriptio-
nen klingen mag, so bleibt es darum nichts desto weniger wahr,
daſs er die Todesstrafe für politische Vergehen abgeschafft hat;
denn da nach römischer auch von Sulla unverändert festgehal-
tener Sitte nur das Volk, nicht die Geschwornencommission auf
Verlust des Lebens oder auf gefängliche Haft erkennen konnte
(S. 102), so kam die Uebertragung der Hochverrathsprozesse
von der Bürgerschaft an eine stehende Commission auf die Ab-
schaffung der Todesstrafe für solche Vergehen hinaus, während
andererseits in der Beschränkung der verderblichen Specialcom-
missionen für einzelne Hochverrathsfälle, wie die varische (S. 219)
im Bundesgenossenkrieg gewesen war, gleichfalls ein Fortschritt
zum Bessern lag. Die gesammte Reform ist von ungemei-
nem und dauerndem Nutzen gewesen und ein bleibendes Denk-
mal des praktischen, gemäſsigten, staatsmännischen Geistes, der
ihren Urheber wohl würdig machte gleich den alten Decemvirn
als souveräner Vermittler mit der Rolle des Gesetzes zwischen die
Parteien zu treten. — Als einen Nachtrag zu diesen Criminalge-
setzen mag man die polizeilichen Ordnungen betrachten, durch
welche Sulla, das Gesetz an die Stelle des Censors stellend, gute
Zucht und strenge Sitte wieder einschärfte und durch Feststel-
lung neuer Maximalsätze anstatt der alten längst verschollenen
den Luxus bei Mahlzeiten, Begräbnissen und sonst zu beschrän-
ken versuchte.
Endlich ist wenn nicht Sullas, doch das Werk der sullani-
schen Epoche die Entwicklung eines selbstständigen römischen
Municipalwesens. Dem Alterthum ist der Gedanke die Stadt als
ein untergeordnetes politisches Ganze dem höheren Staatsganzen
organisch einzufügen ursprünglich fremd; Stadt und Staat fällt
in der ganzen hellenisch-italischen Welt nothwendig zusammen
und anders ist es nur in der orientalischen Despotie. Insofern
giebt es in Griechenland wie in Italien von Haus aus ein eigenes
Municipalwesen nicht. Vor allem die römische Politik hielt mit
der ihr eigenen zähen Consequenz hieran fest; noch im sechsten
Jahrhundert wurden die abhängigen Gemeinden Italiens entweder,
um ihnen ihre municipale Verfassung zu bewahren, als formell
souveräne Nichtbürgerstaaten constituirt, oder, wenn sie römi-
sches Bürgerrecht erhielten, zwar nicht gehindert sich als Ge-
meinwesen zu constituiren, aber doch der eigentlich municipalen
Rechte beraubt, so daſs in allen Bürgercolonien und Bürgermu-
nicipien selbst die Rechtspflege und das Bauwesen von den rö-
[345]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
mischen Praetoren und Censoren verwaltet ward. Das Höchste,
wozu man sich verstand, war durch einen von Rom aus ernann-
ten Stellvertreter (praefectus) des Gerichtsherrn wenigstens die
dringendsten Rechtssachen an Ort und Stelle erledigen zu lassen
(I, 609). Nicht anders verfuhr man in den Provinzen, auſser
daſs hier an die Stelle der hauptstädtischen Behörden der Statt-
halter trat. In den freien, das heiſst formell souveränen Städten
ward die Civil- und Criminaljurisdiction von den Municipalbeam-
ten nach den Localstatuten verwaltet; nur daſs freilich wo nicht
ganz besondere Privilegien entgegenstanden, jeder Römer als Klä-
ger oder Beklagter verlangen konnte seine Sache vor italischen
Richtern nach italischem Recht entschieden zu sehen. Für die ge-
wöhnlichen Provinzialgemeinden war der römische Statthalter die
einzige regelmäſsige Gerichtsbehörde, der die Instruirung aller Pro-
zesse oblag. Es war schon viel, wenn, wie in Sicilien, in dem Fall,
daſs der Beklagte ein Siculer war, ein einheimischer Geschwor-
ner gegeben und nach Ortsgebrauch entschieden werden muſste;
in den meisten Provinzen scheint auch dies vom Gutfinden des
instruirenden Beamten abgehangen zu haben. — Im siebenten
Jahrhundert ward diese unbedingte Centralisation des öffentlichen
Lebens der römischen Gemeinde in dem einen Mittelpunct Rom
wenigstens für Italien aufgegeben. Seit dies eine einzige städtische
Gemeinde war und das Stadtgebiet vom Arnus und Rubico bis
hinab zur sicilischen Meerenge reichte (S. 329), muſste man wohl
sich entschlieſsen innerhalb dieser groſsen wiederum kleinere
Stadtgemeinden zu bilden. So ward Italien nach Vollbürger-
gemeinden organisirt und bei dieser Gelegenheit wurden wohl zu-
gleich die durch ihren Umfang gefährlichen gröſseren Gaue, so weit
dies nicht schon früher geschehen war, in mehrere kleinere Stadt-
bezirke aufgelöst (S. 216). Jede dieser Vollbürgergemeinden ver-
einigte so weit möglich die bisherigen Rechte der Nichtbürger- und
der Bürgergemeinden. Im Ganzen organisirte man sie nach dem
Muster der bisherigen formell souveränen latinischen, oder auch,
insofern deren Verfassung in den Grundzügen der römischen
gleich ist, nach dem Muster der römischen Gemeinde; nur daſs
darauf gehalten ward für dieselben verfassungsmäſsigen Institu-
tionen andere und geringere Namen zu verwenden als in der
Hauptstadt, das heiſst im Staat. Eine Bürgerversammlung tritt
an die Spitze mit der Befugniſs Gemeindestatute zu erlassen und
die Gemeindebeamten zu ernennen. Ein Gemeinderath von hun-
dert Mitgliedern übernimmt die Rolle des römischen Senats. Das
Gerichtswesen wird verwaltet von vier Gerichtsherren, zwei or-
[346]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
dentlichen Richtern, die den beiden Prätoren, zwei Marktrichtern,
die den curulischen Aedilen entsprechen. Die Censurgeschäfte,
die wie in Rom von fünf zu fünf Jahren sich erneuerten und
allem Anschein nach vorwiegend in der Leitung der Gemeinde-
bauten bestanden, wurden von den höchsten Gemeindebeamten,
also den beiden ordentlichen Gerichtsherren mit übernommen,
welche in diesem Fall den auszeichnenden Titel ‚der Gerichts-
herren mit censorischer oder Fünfjahrgewalt‘ annahmen. Die
Gemeindekasse verwalteten zwei Quästoren. Für das Sacral-
wesen sorgten zunächst die beiden der ältesten latinischen Ver-
fassung allein bekannten Collegien priesterlicher Sachverständigen,
die municipalen Pontifices und Augurn. — Was das Verhältniſs
dieses secundären politischen Organismus zu dem primären des
Staates anlangt, so standen im Allgemeinen alle politischen Be-
fugnisse jenem wie diesem zu und band also der Gemeindebe-
schluſs und das Imperium der Gemeindebeamten die Gemeinde-
glieder ebenso wie der Volksschluſs und das consularische Im-
perium den Römer; allein im Collisionsfall wich die Gemeinde
dem Staate, brach also der Volksschluſs den Stadtschluſs, hatte
bei der Volksschätzung und Volksbesteurung jeder Stadtbürger
von Rechtswegen sich zu melden und zu steuern, ohne daſs die
etwanigen städtischen Steuern und Schätzungen dabei berück-
sichtigt worden wären, durften öffentliche Bauten sowohl von
den römischen Beamten in ganz Italien als auch von den städti-
schen in ihrem Sprengel angeordnet werden und was dessen
mehr ist. Eine förmliche Competenztheilung fand wohl nur in
der Rechtspflege statt, wo das reine Concurrenzsystem zu der
gröſsten Verwirrung geführt haben würde; hier wurden im Cri-
minalprozeſs vermuthlich alle Capitalsachen, im Civilverfahren die
schwereren und ein selbstständiges Auftreten des dirigirenden
Beamten voraussetzenden Prozesse den hauptstädtischen Behör-
den und Geschwornen reservirt und die italischen Stadtgerichte
auf die geringeren und minder verwickelten oder auch sehr drin-
genden Rechtshändel beschränkt. — Die Entstehung dieses ita-
lischen Gemeindewesens ist nicht überliefert. Es ist wahrschein-
lich, daſs sie in einzelnen Anfängen und Ausnahmsbestimmun-
gen zurückgeht auf die groſsen Bürgercolonien, die am Ende des
sechsten Jahrhunderts gegründet wurden (I, 609), wenigstens deu-
ten einzelne an sich bedeutungslose formelle Differenzen zwischen
Bürgercolonien und Bürgermunicipien darauf hin, daſs die neue
damals praktisch an die Stelle der latinischen tretende Bürger-
colonie doch staatsrechtlich noch etwas anderes war als ein von
[347]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Rom aus gegründetes Bürgermunicipium. Bestimmt nachweisen
läſst sich die neue Ordnung zuerst für die revolutionäre Colo-
nie Capua (S. 301) und keinem Zweifel unterliegt es, daſs sie in
vollem Umfang erst eintrat, als sämmtliche italische Nichtbür-
gergemeinden in Folge des Bundesgenossenkriegs als Bürger-
gemeinden organisirt werden muſsten. Ob schon das julische
Gesetz, ob die Censoren von 668, ob erst Sulla das Einzelne ge-
ordnet hat, läſst sich nicht entscheiden; die Uebertragung der
censorischen Geschäfte auf die Gerichtsherren scheint zwar nach
Analogie der sullanischen Beseitigung der Censur eingeführt zu
sein, kann aber auch ebenso gut auf die älteste latinische Verfas-
sung zurückgehen, die ja auch die Censur nicht kannte. Auf alle
Fälle ist diese dem eigentlichen Staat sich ein- und unterordnende
Stadtverfassung eines der merkwürdigsten und folgenreichsten
Erzeugnisse der sullanischen Zeit und des römischen Staatslebens
überhaupt. Staat und Stadt in einander zu fügen hat allerdings
das Alterthum ebenso wenig vermocht als es vermocht hat das
repräsentative Regiment und andere groſse Grundgedanken un-
seres heutigen Staatslebens aus sich zu entwickeln; aber es hat
seine politische Entwicklung bis an die Grenze geführt, wo die-
selbe die gegebenen Maſse überwächst und sprengt, und vor allem
ist dies in Rom geschehen, das in jeder Beziehung an der Scheide
und an der Verbindung der alten und der neuen geistigen Welt
steht. In der sullanischen Verfassung ist die Urversammlung und
der städtische Charakter des Gemeinwesens Rom fast zur bedeu-
tungslosen Form zusammengeschwunden und dagegen in Italien
die innerhalb des Staates stehende Gemeinde schon vollständig
entwickelt; bis auf den Namen, der freilich in solchen Dingen die
Hälfte der Sache ist, sind in dieser letzten Verfassung der freien
Republik das Repräsentativsystem und der auf den Gemeinden
sich erbauende Staat durchgeführt. — Das Gemeindewesen in
den Provinzen ward hiedurch nicht geändert; die Gemeinde-
behörden der unfreien Städte blieben vielmehr, von besonderen
Ausnahmen abgesehen, beschränkt auf Verwaltung und Polizei,
wovon allerdings eine gewisse Jurisdiction, z. B. über verbreche-
rische Sclaven, nicht zu trennen war.
Dieses war die Verfassung, die Lucius Cornelius Sulla der
Gemeinde Rom gegeben hat. Senat und Bürgerschaft, Ritter-
schaft und Proletariat, Italiker und Provinzialen nahmen sie hin,
wie sie vom Regenten ihnen dictirt ward, wenn nicht ohne zu
grollen, doch ohne sich aufzulehnen; nicht so die sullanischen
Offiziere. Das römische Heer hatte seinen Charakter gänzlich ver-
[348]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
ändert. Es war allerdings durch die marianische Reform wieder
schlagfertiger und militärisch brauchbarer geworden als da es
vor den Mauern von Numantia nicht focht; aber es hatte zugleich
sich aus einer Bürgerwehr in eine Lanzknechtschaar verwandelt,
welche dem Staat gar keine und dem Offizier nur dann Treue be-
wies, wenn er persönlich sie an sich zu fesseln verstand. Diese
völlige Umgestaltung des Armeegeistes hatte der Bürgerkrieg in
gräſslicher Weise zur Evidenz gebracht: fünf Generale, Albinus
(S. 238), Cato (S. 239), Rufus (S. 251), Flaccus (S. 285) und
Cinna (S. 305), waren während desselben gefallen von der Hand
ihrer Soldaten; einzig Sulla hatte bisher es vermocht der gefähr-
lichen Meute Herr zu bleiben, freilich nur indem er allen ihren wilden
Begierden den Zügel schieſsen lieſs wie noch nie vor ihm ein
römischer Feldherr. Wenn deſshalb ihm der Verderb der alten
Kriegszucht Schuld gegeben wird, so ist dies nicht gerade un-
richtig, aber dennoch ungerecht; er war eben der erste römische
Beamte, der seiner militärischen und politischen Aufgabe nur da-
durch zu genügen im Stande war, daſs er auftrat als Condottier.
Aber er hatte die Militärdictatur nicht übernommen um den Staat
der Soldatesca unterthänig zu machen, sondern vielmehr um
alles im Staat, vor allem aber das Heer und die Offiziere, unter
die Gewalt der bürgerlichen Ordnung zurückzuzwingen. Wie
man dies sah, erhob sich gegen ihn eine Opposition in seinem
eigenen Stab. Mochte den übrigen Bürgern gegenüber die Oli-
garchie den Tyrannen spielen, aber daſs auch die Generale, die
mit ihrem guten Schwert den verlorenen Senat wieder eingesetzt
hatten, ihm jetzt unweigerlichen Gehorsam zu leisten aufgefor-
dert wurden, schien unerträglich. Eben die beiden Offiziere, denen
Sulla das meiste Vertrauen geschenkt hatte, widersetzten sich der
neuen Ordnung der Dinge. Als Gnaeus Pompeius, den Sulla mit
der Eroberung von Sicilien und Africa beauftragt und zu seinem
Tochtermanne erkoren hatte, nach Vollzug seiner Aufgabe vom
Senat den Befehl erhielt sein Heer zu entlassen, unterlieſs er es
zu gehorsamen und wenig fehlte an offenem Aufstand. Quintus
Ofella, dessen festem Ausharren vor Praeneste wesentlich der
Erfolg des letzten und schwersten Feldzugs verdankt ward, be-
warb sich in ebenso offenem Widerspruch gegen die neu erlas-
senen Ordnungen um das Consulat, ohne die niederen Aemter
bekleidet zu haben. Mit Pompeius kam, wenn nicht eine herz-
liche Aussöhuung, doch ein Vergleich zu Stande. Sulla, der sei-
nen Mann genug kannte um ihn nicht zu fürchten, nahm die Im-
pertinenz hin, die Pompeius ihm ins Gesicht sagte, daſs mehr
[349]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Leute sich um die aufgehende Sonne kümmerten als um die unter-
gehende, und bewilligte dem eitlen Hohlkopf die leeren Ehren-
bezeugungen, an denen sein Herz hing (S. 319). Wenn er hier
sich läſslich zeigte, so bewies er dagegen Ofella gegenüber, daſs
er nicht der Mann war sich von seinen Marschällen imponiren zu
lassen: so wie dieser verfassungswidrig als Bewerber aufgetreten
war, lieſs ihn Sulla auf öffentlichem Marktplatz niedermachen und
setzte sodann der versammelten Bürgerschaft auseinander, daſs
die That auf seinen Befehl und warum sie vollzogen sei. So ver-
stummte zwar für jetzt diese bezeichnende Opposition des Haupt-
quartiers gegen die neue Ordnung der Dinge; aber sie blieb be-
stehen und gab den praktischen Commentar zu Sullas Worten,
daſs das, was er gethan, sich nicht wiederholen lassen werde.
Eines blieb noch übrig — vielleicht das Schwerste von
allem: die Zurückführung der Ausnahmszustände in die neualten
gesetzlichen Bahnen. Sie ward dadurch erleichtert, daſs Sulla
diese letzte Aufgabe nie aus den Augen verloren hatte. Obwohl
das valerische Gesetz ihm absolute Gewalt und jeder seiner Ver-
ordnungen Gesetzeskraft gegeben, hatte er dennoch dieser exor-
bitanten Befugniſs sich nur bei Maſsregeln bedient, die von vor-
übergehender Bedeutung waren und wo die Betheiligung Rath und
Bürgerschaft bloſs nutzlos compromittirt haben würde, nament-
lich bei den Aechtungen. Regelmäſsig hatte er schon selbst die-
jenigen Bestimmungen beobachtet, die er für die Zukunft vor-
schrieb. Daſs das Volk befragt ward, lesen wir in dem Quä-
storengesetz, das zum Theil noch vorhanden ist, und von andern
Gesetzen, z. B. dem Aufwandgesetz und denen über die Confis-
cationen der Feldmarken, ist es bezeugt. Ebenso ward bei wich-
tigeren Administrativacten, wie die Entsendung und die Zurück-
berufung der africanischen Armee und die Ertheilung städtischer
Freibriefe waren, der Senat vorangestellt. In demselben Sinn
lieſs Sulla schon für 673 Consuln wählen, wodurch wenigstens
die gehässige officielle Datirung nach der Regentschaft vermieden
ward; doch blieb die Macht noch ausschlieſslich bei dem Re-
genten und ward die Wahl auf secundäre Persönlichkeiten ge-
leitet. Aber schon 674 lieſs Sulla die ordentliche Verfassung
wieder vollständig eintreten und verwaltete als Consul in Gemein-
schaft mit seinem Waffengenossen Quintus Metellus den Staat,
während er die Regentschaft zwar noch beibehielt, aber vorläufig
ruhen lieſs. Er sah es wohl, wie gefährlich es eben für seine
eigenen Institutionen war die Militärdictatur zu perpetuiren. Da
die neuen Zustände sich haltbar zu erweisen schienen und von
[350]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
den neuen Einrichtungen zwar manches, namentlich in der Co-
lonisirung, noch zurück, aber doch das Meiste und Wichtigste
vollendet war, so lieſs er den Wahlen für 675 freien Lauf, lehnte
die Wiederwahl zum Consulat als mit seinen eigenen Ordnungen
unvereinbar ab, und legte, bald nachdem die neuen Consuln Pu-
blius Servilius und Appius Claudius ihr Amt angetreten hatten,
im Anfang des J. 675 die Regentschaft nieder. Es ergriff selbst
starre Herzen, als der Mann, der bis dahin mit dem Leben und
dem Eigenthum von Millionen nach Willkür geschaltet hatte, auf
dessen Wink so viele Häupter gefallen waren, dem in jeder Gasse
der Capitale, in jeder Stadt Italiens Todtfeinde wohnten, und der
ohne einen ebenbürtigen Verbündeten, ja genau genommen ohne
den Rückhalt einer festen Partei sein tausend Interessen und
Meinungen verletzendes Werk der Reorganisation des Staates zu
Ende geführt hatte, als dieser Mann auf den Marktplatz der Haupt-
stadt trat, sich seiner Machtfülle freiwillig begab, seine bewaff-
neten Begleiter verabschiedete, seine Gerichtsdiener entlieſs und
die dichtgedrängte Bürgerschaft aufforderte zu reden, wenn einer
von ihm Rechenschaft begehre. Alles schwieg; Sulla stieg herab
von der Rednerbühne und zu Fuſs, nur von den Seinigen be-
gleitet, ging er mitten durch eben jenen Pöbel, der ihm vor acht
Jahren das Haus geschleift hatte, zurück nach seiner Wohnung.
Die Nachwelt hat weder Sulla selbst noch seinem Reorgani-
sationswerk volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, wie sie denn
unbillig zu sein pflegt gegen die Persönlichkeiten, die dem Strom
der Zeiten sich entgegenstemmen. In der That ist Sulla eine von
den wunderbarsten, man darf vielleicht sagen eine einzige Er-
scheinung in der Geschichte. Physisch und psychisch ein San-
guiniker, blauäugig, blond, von auffallend weiſser, aber bei jeder
leidenschaftlichen Bewegung sich röthender Gesichtsfarbe, übri-
gens ein schöner, feurig blickender Mann, schien er nicht eben
bestimmt dem Staat mehr zu sein als seine Ahnen, die seit sei-
nes Groſsvaters Groſsvater Publius Cornelius Rufinus (Consul
464. 477), einem der angesehensten Feldherrn und zugleich dem
prunkliebendsten Mann der pyrrhischen Zeit, in Stellungen zwei-
ten Ranges verharrt hatten. Er begehrte vom Leben nichts als
heiteren Genuſs. Aufgewachsen in dem Raffinement des gebil-
deten Luxus, wie er in jener Zeit auch in den minder reichen
senatorischen Familien Roms einheimisch war, bemächtigte er
rasch und behend sich der ganzen Fülle sinnlich geistiger Ge-
nüsse, welche die Verbindung hellenischer Feinheit und römi-
schen Reichthums zu gewähren vermochten. Im adlichen Salon
[351]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
und unter dem Lagerzelt war er gleich willkommen als ange-
nehmer Gesellschafter und guter Kamerad; vornehme und geringe
Bekannte fanden in ihm den theilnehmenden Freund und den be-
reitwilligen Helfer in der Noth, der sein Gold weit lieber seinem
bedrängten Genossen als seinem reichen Gläubiger gönnte. Lei-
denschaftlich huldigte er dem Becher, noch leidenschaftlicher den
Frauen; selbst in seinen späteren Jahren war er nicht mehr Re-
gent, wenn er nach vollbrachtem Tagesgeschäft sich zur Tafel
setzte. Ein Zug der Ironie, man könnte vielleicht sagen der Bouf-
fonerie, geht durch seine ganze Natur. Noch als Regent befahl
er, während er die Versteigerung der Güter der Geächteten lei-
tete, für ein ihm überreichtes schlechtes Gedicht zu seinem Preise
dem Verfasser eine Verehrung aus der Beute zu verabreichen unter
der Bedingung, daſs er gelobe ihn niemals wieder zu besingen.
Als er vor der Bürgerschaft Ofellas Hinrichtung rechtfertigte,
geschah es, indem er den Leuten eine Fabel erzählte von dem
Ackersmann und den Läusen. Es ist bezeichnend, daſs er seine
Gesellen gern unter den Schauspielern sich auswählte und es
liebte nicht bloſs mit Quintus Roscius, dem römischen Talma,
sondern auch mit viel geringeren Bühnenleuten beim Weine zu
sitzen, wie er denn auch selbst nicht schlecht sang und sogar zur
Aufführung für seinen Zirkel selber Possen schrieb. Doch ging in
diesen lustigen Bacchanalien ihm weder die körperliche noch die
geistige Spannkraft verloren; noch in der ländlichen Muſse seiner
letzten Jahre lag er eifrig der Jagd ob und daſs er aus dem er-
oberten Athen die aristotelischen Schriften nach Rom brachte,
beweist doch wohl für sein Interesse auch an ernsterer Lectüre.
Das specifische Römerthum stieſs ihn eher ab. Von der plumpen
Morgue, die die römischen Groſsen gegenüber den Griechen zu ent-
wickeln liebten, und von der Feierlichkeit beschränkter groſser Män-
ner hatte Sulla nichts, vielmehr lieſs er gern sich gehen und machte
sich nichts daraus zum Scandal mancher seiner Landsleute in
griechischen Städten in griechischer Tracht zu erscheinen oder
auch seine Freunde zu veranlassen bei den Spielen selber die
Rennwagen zu lenken. Noch weniger war ihm von den halb
patriotischen, halb egoistischen Hoffnungen geblieben, die in
Ländern freier Verfassung jede jugendliche Capacität auf den po-
litischen Tummelplatz locken; in einem Leben, wie das seine
war, schwankend zwischen leidenschaftlichem Taumel und mehr
als nüchternem Erwachen, verzetteln sich rasch die Illusionen.
Wünschen und Streben mochte ihm eine Thorheit erscheinen in
einer Welt, die doch unbedingt vom Zufall regiert ward und wo
[352]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
wenn überhaupt auf etwas, man ja doch auf nichts spannen
konnte als auf diesen Zufall. Dem allgemeinen Zuge der Zeit zu-
gleich dem Unglauben und dem Aberglauben sich zu ergeben
folgte auch er. Seine wunderliche Gläubigkeit ist nichts als der
gewöhnliche Glaube an das Absurde, der bei jedem von dem Ver-
trauen auf eine zusammenhängende Ordnung der Dinge durch
und durch zurückgekommenen Menschen sich einstellt. Sein
Glaube ist nicht der plebejische Köhlerglaube des Marius, der
von dem Pfaffen für Geld sich wahrsagen und seine Handlungen
durch ihn bestimmen läſst, noch weniger der finstere Verhäng-
niſsglaube des Fanatikers, sondern der Aberglaube des glückli-
chen Spielers, der sich vom Schicksal privilegirt erachtet jedes-
mal und überall die rechte Nummer zu werfen. In praktischen
Fragen verstand Sulla sehr wohl mit den Anforderungen der Re-
ligion ironisch sich abzufinden. Als er die Schatzkammern der
griechischen Tempel leerte, äuſserte er, daſs es demjenigen nim-
mermehr fehlen könne, dem die Götter selber die Kasse füllten.
Als die delphischen Priester ihm sagen lieſsen, daſs sie sich scheu-
ten die verlangten Schätze zu senden, da die Zither des Gottes
hell geklungen, als man sie berührt, lieſs er ihnen zurücksagen,
daſs man sie nun um so mehr schicken möge, denn offenbar
stimme der Gott seinem Vorhaben zu. Aber darum wiegte er
nicht weniger gern sich in dem Gedanken der auserwählte Lieb-
ling der Götter zu sein, vor allem jener, der er bis in seine spä-
ten Jahre vor allen den Preis gab, der Aphrodite. In seinen
Unterhaltungen wie in seiner Selbstbiographie rühmte er sich
vielfach des Verkehrs, den in Träumen und Anzeichen die Un-
sterblichen mit ihm gepflogen. Er hatte wie wenig Andere ein
Recht auf seine Thaten stolz zu sein; er war es nicht, wohl aber
stolz auf sein einzig treues Glück. Er pflegte wohl zu sagen, daſs
jedes improvisirte Beginnen ihm besser ausgeschlagen sei als das
planmäſsig angelegte, und eine seiner wunderlichsten Marotten, die
Zahl der in den Schlachten auf seiner Seite gefallenen Leute regel-
mäſsig als null anzugeben, ist doch auch nichts als die Kinderei
eines Glückskindes. Es war nur der Ausdruck der ihm natürlichen
Stimmung, als er auf dem Gipfel seiner Laufbahn angelangt und
all seine Zeitgenossen in schwindelnder Tiefe unter sich sehend,
die Bezeichnung des Glücklichen, Sulla Felix, als förmlichen Bei-
namen annahm und auch seinen Kindern entsprechende Benen-
nungen beilegte. — Nichts lag Sulla ferner als der planmäſsige
Ehrgeiz. Er war zu gescheit um gleich den Dutzendaristokraten
seiner Zeit die Verzeichnung seines Namens in die consularischen
[353]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Register als das Ziel seines Lebens zu betrachten; zu gleich-
gültig und zu wenig Ideolog um sich mit der Reform des mor-
schen Staatsgebäudes befassen zu mögen. Er blieb, wo Geburt
und Bildung ihn hinwiesen, in dem Kreis der vornehmen Gesell-
schaft und machte wie üblich die Aemtercarriere durch; Ursache
sich anzustrengen hatte er nicht und überlieſs dies den politi-
schen Arbeitsbienen, an denen es nicht fehlte. So führte ihn im
J. 647 bei der Verloosung der Quästorstellen der Zufall nach
Africa in das Hauptquartier des Gaius Marius. Der unversuchte
hauptstädtische Elegant ward von dem rauhen bäurischen Feld-
herrn und seinem erprobten Stab nicht zum besten empfangen.
Durch diese Aufnahme gereizt machte Sulla, furchtlos und anstellig
wie er war, im Fluge das Waffenhandwerk sich zu eigen und ent-
wickelte auf dem verwegenen Zug nach Mauretanien zuerst jene
eigenthümliche Verbindung von Keckheit und Verschmitztheit,
wegen deren seine Zeitgenossen von ihm sagten, daſs er halb
Löwe, halb Fuchs und der Fuchs in ihm gefährlicher als der Löwe
sei. Dem jungen hochgebornen brillanten Offizier, der anerkann-
termaſsen der eigentliche Beendiger des lästigen numidischen
Krieges war, öffnete jetzt sich die glänzendste Laufbahn; er nahm
auch Theil am kimbrischen Krieg und entwickelte dabei in der
Leitung des schwierigen Verpflegungsgeschäftes sein ungemeines
Organisationstalent; aber nichts desto weniger zogen ihn auch
jetzt die Freuden des hauptstädtischen Lebens weit mehr an als
Krieg oder gar Politik. In der Prätur, welches Amt er, nach-
dem er einmal sich vergeblich beworben hatte, im J. 661 über-
nahm, fügte es sich abermals, daſs ihm in seiner Provinz, der
unbedeutendsten von allen, der erste Sieg über König Mithradates
und der erste Vertrag mit den mächtigen Arsakiden so wie deren
erste Demüthigung gelang. Der Bürgerkrieg folgte. Sulla war es
wesentlich, der den ersten Act desselben, die italische Insurrec-
tion, zu Roms Gunsten entschied und dabei mit dem Degen
das Consulat sich gewann; er war es ferner, der als Consul
den sulpicischen Aufstand mit energischer Raschheit zu Boden
schlug. Das Glück schien sich ein Geschäft daraus zu machen
den alten Helden Marius durch diesen jüngeren Offizier zu ver-
dunkeln. Die Gefangennehmung Jugurthas, die Besiegung Mi-
thradats, die beide Marius vergeblich erstrebt hatte, wurden in
untergeordneter Rolle von Sulla vollführt; im Bundesgenossen-
krieg, in dem Marius seinen Feldherrnruhm einbüſste und abge-
setzt ward, gründete Sulla seinen militärischen Ruf und stieg em-
por zum Consulat; die Revolution von 666, die zugleich und vor
Röm. Gesch. II. 23
[354]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
allem ein persönlicher Conflict zwischen den beiden Generalen
war, endigte mit Marius Aechtung und Flucht. Fast ohne es zu
wollen war Sulla der berühmteste Feldherr seiner Zeit, der Hort
der Oligarchie geworden. Es folgten neue und furchtbarere Kri-
sen, der mithradatische Krieg, die cinnanische Revolution: Sul-
las Stern blieb immer im Steigen. Wie der Capitain, der das
brennende Schiff nicht löscht, sondern fortfährt auf den Feind
zu feuern, harrte Sulla, während die Revolution in Italien tobte,
in Asien unerschüttert aus, bis der Landesfeind bezwungen war.
Mit diesem fertig zerschmetterte er die Anarchie und rettete die
Hauptstadt vor der Brandfackel der verzweifelnden Samniten und
Revolutionäre. Der Moment der Heimkehr war für Sulla ein
überwältigender in Freude und in Schmerz; Sulla selbst erzählt
in seinen Memoiren, daſs er die erste Nacht in Rom kein Auge
habe zuthun können und wohl mag man es glauben. Aber im-
mer noch war seine Aufgabe nicht zu Ende, sein Stern in wei-
terem Steigen. Absoluter Selbstherrscher wie nur je ein König
und doch stets eingedenk den Boden des formellen Rechts nicht
zu verlassen, zügelte er die ultrareactionäre Partei, vernichtete
die seit vierzig Jahren die Oligarchie einengende gracchische Ver-
fassung und zwang die der Oligarchie Concurrenz machenden
Mächte der Capitalisten und des hauptstädtischen Proletariats und
endlich den im Schoſse seines eigenen Stabes erwachsenen Ueber-
muth des Säbels wieder unter das neu befestigte Gesetz. Selbst-
ständiger als je stellte er die Oligarchie hin, legte die Beamten-
macht als dienendes Werkzeug in ihre Hände, verlieh ihr die
Gesetzgebung, die Gerichte, die militärische und finanzielle Ober-
gewalt und gab ihr eine Art Leibwache in den befreiten Sclaven,
eine Art Heer in den angesiedelten Militärcolonisten. Endlich als
das Werk vollendet war, trat der Schöpfer zurück vor seiner
Schöpfung; freiwillig ward der absolute Selbstherrscher wieder
einfacher Senator. In dieser ganzen langen militärischen und po-
litischen Bahn hat Sulla nie eine Schlacht verloren, nie einen
Schritt zurückthun müssen und ungeirrt von Feinden und Freun-
den sein Werk geführt bis an das selbstgesteckte Ziel. Wohl
hatte er Ursache seinen Stern zu preisen. Die launenhafte Göt-
tin des Glücks schien hier einmal die Laune der Beständigkeit
angewandelt zu haben und darin sich zu gefallen auf ihren Lieb-
ling an Erfolgen und an Ehren zn häufen, was er begehrte und
nicht begehrte. Aber die Geschichte wird gerechter gegen ihn sein
müssen als er es gegen sich selber war und ihn in eine höhere
Reihe stellen als in die der bloſsen Favoriten der Fortuna. Nie
[355]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
wieder hat eine schlaffe und in stetigem Sinken begriffene Aristo-
kratie, wie die römische damals war, einen Vormund gefunden,
wie Sulla einer war, der ohne jede Rücksicht auf eigenen Macht-
gewinn für sie den Degen des Feldherrn und den Griffel des Ge-
setzgebers zn führen willig und fähig war. Aber nicht bloſs die
Aristokratie, das gesammte Land ward ihm mehr schuldig, als
die Nachwelt gern sich eingestand. Sulla hat die italische Revo-
lution, in soweit sie beruhte auf der Zurücksetzung einzelner
minder berechtigter gegen andere besser berechtigte Districte,
definitiv geschlossen und ist, indem er sich und seine Partei
zwang die Gleichberechtigung aller Italiker vor dem Gesetz anzu-
erkennen, der wahre und letzte Urheber der vollen staatlichen
Einheit Italiens geworden — ein Gewinn, der mit endloser Noth
und Strömen von Blut dennoch nicht zu theuer erkauft war.
Aber Sulla hat noch mehr gethan. Seit länger als einem halben
Jahrhundert war Roms Macht im Sinken und die Anarchie da-
selbst in Permanenz; denn das Regiment des Senats mit der
gracchischen Verfassung war Anarchie und gar das Regiment
Cinnas und Carbos eine noch weit ärgere Meisterlosigkeit, deren
grauenvolles Bild sich am deutlichsten in jenem eben so verwirr-
ten wie naturwidrigen Bündniſs mit den Samniten wiederspiegelt,
der unklarste, unerträglichste, heilloseste aller denkbaren politi-
schen Zustände, in der That der Anfang des Endes. Es ist nicht
zu viel gesagt, wenn man behauptet, daſs das lange unterhöhlte
römische Gemeinwesen nothwendig hätte zusammenstürzen müs-
sen, wenn nicht durch die Intervention in Asien und in Italien
Sulla die Existenz desselben gerettet hätte. Man kann darüber
streiten, wie gut oder wie schlecht das von Sulla aufgeführte Ge-
bäude angelegt war; aber es ist eine arge Gedankenlosigkeit dar-
über zu übersehen, daſs ohne Sulla höchst wahrscheinlich der
Bauplatz selbst von den Fluthen wäre fortgerissen worden. Was
nun jenes Gebäude selbst anlangt, so hat Sullas Verfassung frei-
lich so wenig Bestand gehabt wie die Cromwells und es war nicht
schwer zu sehen, daſs sein Bau kein solider war. Aber auch
dieser Tadel trifft zunächst nicht Sulla. Der Staatsmann baut
nur was er in dem ihm angewiesenen Kreise bauen kann. Das
Mögliche hat Sulla gethan um die alte Verfassung zu retten; und
geahnt hat er es selbst, daſs er wohl eine Festung, aber keine
Garnison zu schaffen vermöge und die grenzenlose Nichtigkeit
der Oligarchen jeden Versuch die Oligarchie zu retten vergeblich
machen werde. Seine Verfassung glich einem in das brandende
Meer hineingeworfenen Nothdamm; es ist kein Vorwurf für den
23*
[356]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
Baumeister, wenn ein Jahrzehend später die Fluthen den naturwi-
drigen und von den Geschützten selbst nicht vertheidigten Bau ver-
schlangen. Der Staatsmann wird nicht der Hinweisung auf höchst
löbliche Einzelreformen, zum Beispiel des asiatischen Steuerwe-
sens und der Criminaljustiz, bedürfen, um Sullas ephemere Re-
stauration nicht geringschätzig abzufertigen, sondern wird darin
eine richtig entworfene und unter unsäglichen Schwierigkeiten
im Groſsen und Ganzen consequent durchgeführte Reorganisa-
tion des römischen Gemeinwesens bewundern und den Retter
Roms, den Vollender der italischen Einheit unter, aber doch auch
neben Cromwell stellen. Freilich ist es nicht bloſs der Staats-
mann, der im Todtengericht Stimme hat; und der Mensch wird
in jene Bewunderung nicht einstimmen. Sulla hat seine Gewalt-
herrschaft nicht bloſs mit rücksichtsloser Gewaltsamkeit begrün-
det, sondern dabei auch mit einer gewissen cynischen Offenheit
die Dinge beim rechten Namen genannt, durch die er es unwie-
derbringlich verdorben hat mit der groſsen Masse der Schwach-
herzigen, die mehr vor dem Namen als vor der Sache sich ent-
setzte, durch die er aber allerdings auch dem sittlichen Urtheil
wegen der Kühle und Klarheit seines Frevels noch empören-
der erscheint als der leidenschaftliche Verbrecher. Aechtungen,
Belohnungen der Henker, Güterconfiscationen, kurzer Prozeſs
gegen unbotmäſsige Offiziere waren hundertmal vorgekommen
und die stumpfe politische Sittlichkeit der antiken Civilisation
hatte für diese Dinge nur lauen Tadel; aber das freilich war un-
erhört, daſs die Namen der vogelfreien Männer öffentlich ange-
schlagen und die Köpfe öffentlich ausgestellt wurden, daſs den
Banditen eine feste Summe ausgesetzt und dieselbe in die öffent-
lichen Kassebücher ordnungsmäſsig eingetragen ward, daſs das
eingezogene Gut gleich der feindlichen Beute auf offenem Markt
unter den Hammer kam, daſs der Feldherr den widerspenstigen
Offizier geradezu niedermachen lieſs und vor allem Volk sich
zu der That bekannte. Diese öffentliche Verhöhnung der Hu-
manität ist auch ein politischer Fehler, durch den Sulla nicht
wenig dazu beigetragen hat, spätere revolutionäre Krisen im
Voraus zu vergiften, und noch jetzt ruht deſswegen, und mit
Recht, ein finstrer Schatten auf dem Andenken des Urhebers
der Proscriptionen. — Mit Recht darf man ferner tadeln, daſs
Sulla, während er in allen wichtigen Fragen rücksichtslos
durchgriff, doch in untergeordneten, namentlich in Personen-
fragen sehr häufig von seinem sanguinischen Temperament
sich beherrschen lieſs und nach Neigung oder Abneigung ver-
[357]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
fuhr. Er hat, wo er wirklich einmal Haſs empfand, wie gegen die
Marier, ihm zügellos auch gegen Unschuldige den Lauf gelassen
und von sich selbst gerühmt, daſs Niemand besser als er Freun-
den und Feinden vergolten habe. Er verschmähte es nicht, bei
Gelegenheit seiner Machtstellung ein kolossales Vermögen zu sam-
meln. Der erste absolute Monarch des römischen Staats bewährte
er den Kernspruch des Absolutismus, daſs den Fürsten die Ge-
setze nicht binden, sogleich an den von ihm selbst erlassenen Ehe-
bruchs- und Verschwendungsgesetzen. Verderblicher aber als diese
Nachsicht gegen sich selbst ward dem Staat sein läſsliches Ver-
fahren gegen seine Partei und seinen Kreis. Schon seine schlaffe
Soldatenzucht, obwohl sie zum Theil durch politische Nothwen-
digkeit geboten war, läſst sich hieher rechnen; viel schädlicher
aber noch war die Nachsicht gegen seinen politischen Anhang.
Es ist kaum glaublich, was er gelegentlich hinnahm; so zum Bei-
spiel ward dem Lucius Murena für die durch die ärgste Verkehrt-
heit und Unbotmäſsigkeit erlittenen Niederlagen (S. 320) nicht
bloſs die Strafe erlassen, sondern auch der Triumph zugestan-
den; so wurde Gnaeus Pompeius, der sich noch ärger vergangen
hatte, noch verschwenderischer von Sulla geehrt (S. 319. 348).
Die Ausdehnung und die ärgsten Frevel der Aechtungen und
Confiscationen sind wahrscheinlich weniger Sullas unmittelbares
Werk, als aus diesem freilich in seiner Stellung kaum verzeih-
lichen Indifferentismus entstanden. Daſs Sulla bei seinem inner-
lich energischen und doch dabei gleichgültigen Wesen sehr ver-
schieden, bald unglaublich nachsichtig, bald unerbittlich streng
auftrat, ist begreiflich. Die tausendmal wiederholte Meinung, daſs
er vor seiner Regentschaft ein guter milder Mann, als Regent ein
blutdürstiger Wütherich gewesen sei, richtet sich selbst; wenn
er als Regent das Gegentheil der früheren Gelindigkeit zeigte, so
wird man vielmehr sagen müssen, daſs er mit demselben nach-
lässigen Gleichmuth strafte, mit dem er verzieh. Diese halb iro-
nische Leichtfertigkeit geht überhaupt durch sein ganzes politi-
sches Thun. Es ist immer, als sei dem Sieger, eben wie es ihm
gefiel sein Verdienst um den Sieg Glück zu schelten, auch der
Sieg selber nichts werth; als habe er eine halbe Empfindung von
der Nichtigkeit und Vergänglichkeit des eigenen Werkes und be-
handle die Reorganisation des Staates nicht wie der Hausherr,
der sein zerrüttetes Gewese und Gesinde in Ordnung bringt, son-
dern wie der zeitweilige Geschäftsführer, dem am Ende auch die
leidliche Uebertünchung der Schäden genügt. Wenn Mangel an
politischem Egoismus ein Lob ist, so verdient es Sulla neben
[358]VIERTES BUCH. KAPITEL X.
Washington genannt zu werden; aber es ist doch ein Unterschied,
ob man aus Bürgersinn nicht herrschen mag oder aus Blasirtheit
das Scepter wegwirft.
Wie er nun aber war, dieser Don Juan der Politik war ein
Mann aus einem Gusse. Sein ganzes Leben zeugt von dem inner-
lichen Gleichgewicht seines Wesens; in den verschiedensten La-
gen blieb Sulla unverändert derselbe. Es war derselbe Sinn, der
nach den glänzenden Erfolgen in Africa ihn wieder den haupt-
städtischen Müssiggang suchen und der nach dem Vollbesitz der
absoluten Macht ihn Ruhe und Erholung finden lieſs in seiner
cumanischen Villa. In seinem Munde war es keine Phrase, daſs
ihm die öffentlichen Geschäfte eine Last seien, die er abwarf, so
wie er durfte und konnte. Auch nach der Resignation blieb er
völlig sich gleich, ohne Unmuth und ohne Affectation, froh der
öffentlichen Geschäfte entledigt zu sein und dennoch hie und da
eingreifend, wo die Gelegenheit sich bot. Jagd und Fischfang
und die Abfassung seiner Memoiren füllten seine müssigen Stun-
den; dazwischen ordnete er auf Bitten der unter sich uneinigen
Bürger die inneren Verhältnisse der benachbarten Colonie Puteoli
ebenso sorgfältig und rasch wie früher die Verhältnisse der Haupt-
stadt. Seine letzte Thätigkeit auf dem Krankenlager bezog sich auf
die Beitreibung eines Zuschusses zu dem Wiederaufbau des capi-
tolinischen Tempels, den vollendet zu sehen ihm nicht mehr ver-
gönnt war. Wenig über ein Jahr nach seinem Rücktritt, im sech-
zigsten Lebensjahr, frisch an Körper und Geist ward er vom Tode
ereilt; nach kurzem Krankenlager — noch zwei Tage vor seinem
Tode schrieb er an seiner Selbstbiographie — raffte ein Blut-
sturz * ihn hinweg (676). Sein getreues Glück verlieſs ihn auch
im Tode nicht. Er konnte nicht wünschen noch einmal in den
widerwärtigen Strudel der Parteikämpfe hineingezogen zu werden
und seine alten Krieger noch einmal gegen eine neue Revolution
führen zu müssen; und nach dem Stande der Dinge bei seinem
Tode in Spanien und in Italien hätte bei längerem Leben ihm
dies kaum erspart bleiben können. Schon jetzt, da von seiner
feierlichen Bestattung in der Hauptstadt die Rede war, erhoben
sich dort zahlreiche Stimmen, die bei seinen Lebzeiten geschwie-
gen hatten, gegen die letzte Ehre, die man dem Tyrannen zu
erweisen gedachte. Aber noch war die Erinnerung zu frisch und
die Furcht vor seinen alten Soldaten zu lebendig: es wurde be-
[359]DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
schlossen die Leiche feierlichst beizusetzen und deſshalb sie nach
der Hauptstadt bringen zu lassen. Nie hat Italien eine groſsartigere
Trauerfeier gesehen. Ueberall wo der königlich geschmückte
Todte hindurchgetragen ward, ihm vorauf seine wohlbekannten
Feldzeichen und Ruthenbündel, da schlossen die Einwohner und
vor allem seine alten Lanzknechte an den Trauerzug sich an; es
schien als wolle das gesammte Heer um den Mann, der es im
Leben so oft und nie anders als zum Siege geführt hatte, noch
einmal im Tode sich vereinigen. So gelangte der endlose Lei-
chenzug in die Hauptstadt, wo zweitausend goldene Kränze als
letzte Ehrengaben der treuen Legionen, der Städte und der nä-
heren Freunde seiner harrten. Unter dem Geleit aller Beamten
und des gesammten Senats, der Priester und Priesterinnen in
ihrer Amtstracht und der ritterlich gerüsteten adlichen Knaben-
schaar ward die Bahre auf den groſsen Marktplatz getragen. Auf
diesem von seinen Thaten und fast von dem Klange noch seiner
gefürchteten Worte erfüllten Platz ward ihm die Leichenrede ge-
halten und von dort die Bahre auf den Schultern der Senatoren
nach dem Marsfeld getragen, wo der Scheiterhaufen errichtet war.
Während er in Flammen loderte, hielten die Ritter und die Sol-
daten den Ehrenlauf um die Leiche, die Asche aber des Regenten
ward auf dem Marsfeld neben den Gräbern der alten Könige bei-
gesetzt.
[[360]]
KAPITEL XI.
Das Gemeinwesen und seine Oekonomie.
Ein neunzigjähriger Zeitraum, vierzig Jahre tiefen Friedens,
funfzig einer fast permanenten Revolution liegen hinter uns. Es
ist diese Epoche die ruhmloseste, die die römische Geschichte
kennt. Zwar wurden in westlicher und östlicher Richtung die Alpen
überschritten (S. 154. 163) und die römischen Waffen gelangten
auf der spanischen Halbinsel bis zum atlantischen Ocean (S. 17),
auf der makedonisch-griechischen bis zur Donau (S. 163), aber
es waren im Ganzen wenig fruchtbare Lorbeeren. Der Kreis der
‚auswärtigen Gemeinden in der Willkür, der Botmäſsigkeit, der
Herrschaft oder der Freundschaft der römischen Bürgerschaft‘ *
ward nicht wesentlich erweitert; man begnügte sich den Erwerb
einer besseren Zeit zu realisiren und die in loseren Formen der
Abhängigkeit an Rom geknüpften Gemeinden mehr und mehr in
die volle Unterthänigkeit zu bringen. Hinter dem glänzenden Vor-
hang der Provinzialreunionen verbarg sich ein sehr fühlbares
Sinken der römischen Macht. Während die gesammte antike Ci-
vilisation immer bestimmter in dem römischen Staat zusammen-
gefaſst, immer allgemeingültiger in demselben formulirt ward,
fingen zugleich jenseit der Alpen und jenseit des Euphrat die von
ihr ausgeschlossenen Nationen an aus der Vertheidigung zum
[361]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
Angriff überzugehen. Auf den Schlachtfeldern von Aquae Sextiae
und Vercellae, von Chaeroneia und Orchomenos wurden die ersten
Schläge desjenigen Gewitters vernommen, das die germanischen
Stämme und die asiatischen Horden bestimmt waren über die
italisch-griechische Welt zu bringen und dessen letztes dumpfes
Rollen fast noch bis in die Gegenwart hineinreicht. Aber auch
in der inneren Entwicklung trägt diese Epoche denselben Cha-
rakter. Die alte Ordnung stürzt unwiederbringlich zusammen.
Das römische Gemeinwesen war angelegt als eine Stadtgemeinde,
welche durch ihre freie Bürgerschaft sich selber die Herren und
die Gesetze gab, welche innerhalb dieser gesetzlichen Schranken
von diesen wohlberathenen Herren mit königlicher Freiheit ge-
leitet ward, um welche theils die italische Eidgenossenschaft als
ein Complex freier der römischen wesentlich gleichartiger und
stammverwandter Stadtgemeinden, theils die auſseritalische Bun-
desgenossenschaft als ein Complex griechischer Freistädte und
barbarischer Völker und Herrschaften, beide von der Gemeinde
Rom mehr bevormundet als beherrscht, in zwiefachem Kreise sich
schlossen. Es war das letzte Ergebniſs der Revolution — und
beide Parteien, die sogenannte Verfassungs- wie die sogenannte
demokratische Partei, hatten dazu mitgewirkt und trafen darin
zusammen —, daſs von diesem ehrwürdigen Bau, der am An-
fang dieser Epoche zwar rissig und schwankend, aber doch noch
aufrecht stand, an ihrem Schluſs kein Stein mehr auf dem andern
geblieben war. Der souveräne Machthaber war jetzt entweder ein
einzelner Mann oder die geschlossene Oligarchie bald der Vor-
nehmen, bald der Reichen. Die Bürgerschaft hatte jeden wirk-
lichen Antheil am Regiment verloren. Die Beamten waren un-
selbstständige Werkzeuge in der Hand des jedesmaligen Macht-
habers. Die Stadtgemeinde Rom hatte durch ihre widernatürliche
Erweiterung sich selber zersprengt. Die italische Eidgenossen-
schaft war aufgegangen in die Stadtgemeinde. Die auſseritalische
Bundesgenossenschaft war im vollen Zug sich in eine Untertha-
nenschaft zu verwandeln. Die gesammte organische Gliederung
des römischen Gemeinwesens war zu Grunde gegangen und nichts
übrig geblieben als eine rohe Masse mehr oder minder disparater
Elemente. Der Zustand drohte in volle Anarchie und in innere
und äuſsere Auflösung des Staats überzugehen. Die politische
Bewegung lenkte durchaus nach dem Ziele der Despotie; nur
darüber noch ward gestritten, ob der geschlossene Kreis der vor-
nehmen Familien oder ein Capitalistensenat oder ein Monarch
Despot sein solle. Die politische Bewegung ging durchaus die
[362]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
zum Despotismus führenden Wege; der Grundgedanke des freien
Gemeinwesens, daſs die ringenden Mächte sich gegenseitig be-
schränken auf mittelbaren Zwang, ging allen Parteien verloren und
hüben und drüben fingen sie an zuerst mit Knitteln, bald auch mit
dem Schwert um die Herrschaft zu fechten. Die Revolution, inso-
fern zu Ende, als die alte Verfassung definitiv und von beiden Seiten
als beseitigt anerkannt und Ziel und Weg der neuen politischen
Entwicklung deutlich festgestellt war, hatte doch für diese Reorga-
nisation des Staates selbst bis jetzt nur provisorische Lösungen ge-
funden; weder die gracchische noch die sullanische Constituirung
der Gemeinde trugen einen abschlieſsenden Charakter. Das aber
war das Bitterste dieser bittern Zeit, daſs dem klarsehenden Patrio-
ten selbst das Hoffen und das Streben sich versagten. Die Sonne
der Freiheit mit all ihrer unendlichen Segensfülle ging unaufhalt-
sam unter und die Dämmerung senkte sich über die eben noch so
glänzende Welt. Es war keine zufällige Katastrophe, der Vater-
landsliebe und Genie hätten wehren können; es waren uralte so-
ciale Schäden, im letzten Kern der Ruin des Mittelstandes durch
das Sclavenproletariat, an denen das römische Gemeinwesen zu
Grunde ging. Auch der einsichtigste Staatsmann war in der Lage
des Arztes, dem es gleich peinlich ist die Agonie zu verlängern
und zu verkürzen. Die kühle Betrachtung konnte zwar sich
darüber nicht täuschen, daſs Rom um so besser berathen war,
je rascher und durchgreifender ein Despot auftrat und alle Reste
der alten freiheitlichen Verfassung beseitigte; und der innere Vor-
zug, der unter den gegebenen Verhältnissen der Monarchie gegen-
über jeder Oligarchie zukam, lag wesentlich eben darin, daſs ein
solcher energisch nivellirender Despotismus von einer collegiali-
schen Behörde nimmermehr geübt werden konnte. Allein diese
kühlen Erwägungen machen keine Geschichte; nicht der Ver-
stand, nur die Leidenschaft baut für die Zukunft. Man muſste
eben abwarten, wie lange das Gemeinwesen fortfahren werde
nicht leben und nicht sterben zu können und ob es schlieſslich
an einer mächtigen Natur seinen Meister und Neuschöpfer finden
oder in Elend und Schwäche zusammenstürzen werde.
Es bleibt noch übrig die ökonomische und sociale Seite
dieses Verlaufs hervorzuheben, insoweit dies nicht bereits frü-
her geschehen ist. — Der Staatshaushalt ruhte seit dem An-
fang dieser Epoche wesentlich auf den Einkünften aus den Pro-
vinzen. In der römischen Landschaft ward die Grundsteuer, die
stets nur neben den ordentlichen Domanial- und anderen Ge-
fällen als auſserordentliche Abgabe vorgekommen war, seit der
[363]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
Schlacht von Pydna nicht wieder erhoben, so daſs die unbedingte
Grundsteuerfreiheit als ein verfassungsmäſsiges Vorrecht des rö-
mischen Grundbesitzes betrachtet zu werden anfing. Die Rega-
lien des Staats, wie das Salzmonopol und das Münzrecht, wur-
den, wenn überhaupt je, so wenigstens jetzt nicht als Einnahme-
quellen behandelt. Auch die neue Erbschaftssteuer (I, 624) lieſs
man wieder schwinden oder schaffte sie vielleicht geradezu ab.
Demnach zog die römische Staatskasse aus Italien einschlieſslich
des diesseitigen Galliens nichts als theils die Domanialgefälle, na-
mentlich von dem campanischen Gebiet und den Goldgruben im
Lande der Kelten, theils die Abgabe von den Freilassungen und
den nicht zu eigenem Verbrauch des Einführers in das römische
Stadtgebiet zur See eingehenden Waaren, welche beide wesent-
lich als Luxussteuern betrachtet werden können und durch die
Ausdehnung des römischen Stadt- und zugleich Zollgebiets auf
ganz Italien, wahrscheinlich mit Einschluſs des diesseitigen Gal-
lien, ansehnlich gesteigert werden muſsten. — In den Provinzen
nahm der römische Staat zunächst als Privateigenthum in An-
spruch theils in den nach Kriegsrecht vernichteten Staaten die
gesammte Mark, theils in denjenigen Staaten, wo die römische
Regierung an die Stelle der ehemaligen Herrscher getreten war,
den von diesen innegehabten Grundbesitz, kraft welches Rechts
die Feldmarken von Leontinoi, Karthago, Korinth, das Doma-
nialgut der Könige von Makedonien, Pergamon und Kyrene, die
Gruben in Spanien und Makedonien als römische Domänen gal-
ten und ähnlich wie das Gebiet von Capua von den römischen
Censoren an Privatunternehmer gegen Abgabe einer Ertragsquote
oder einer bestimmten Geldsumme verpachtet wurden. Daſs
Gaius Gracchus noch weiter ging, das gesammte Provinzialland
als Domäne ansprach und zunächst für die Provinz Asia diesen
Satz insofern praktisch durchführte, als er den Bodenzehnten,
die Hut- und Hafengelder daselbst rechtlich motivirte durch das
Eigenthumsrecht des römischen Staats an Acker, Wiese und
Küste der Provinz, mochten diese nun früher dem König oder
Privaten gehört haben, ward bereits früher (S. 105. 111) ausge-
führt. — Nutzbare Staatsregalien scheint es in dieser Zeit auch
den Provinzen gegenüber noch nicht gegeben zu haben; die Un-
tersagung des Wein- und Oelbaues im transalpinischen Gallien
kam der Staatskasse als solcher nicht zu Gute. Dagegen wurden
directe und indirecte Steuern in groſsem Umfang erhoben.
Steuerfrei waren natürlich die als vollständig souverän anerkann-
ten Clientelstaaten, also zum Beispiel die Königreiche Numidien
[364]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
und Kappadokien, die Bundesstädte (civitates foederatae) Rho-
dos, Messana, Tauromenion, Massalia, Gades, welche nur ver-
pflichtet waren theils zu regelmäſsiger Stellung von Schiffen und
Mannschaft auf ihre Kosten, theils, wie natürlich, im Nothfall
zu auſserordentlicher Hülfleistung jeder Art. Das übrige Pro-
vinzialgebiet dagegen, selbst mit Einschluſs der Freistädte, galt
durchgängig als steuerpflichtig und es waren nur die mit römi-
schem Bürgerrecht beliehenen Städte wie Narbo und die speciell
mit der Steuerfreiheit beschenkten Gemeinden (civitates immunes)
wie Kentoripa in Sicilien hiervon ausgenommen. Die directen
Abgaben bestanden theils, wie in Sicilien und Sardinien, in einem
Anrecht auf die Zehnten * der Garben und sonstigen Feldfrüchte
wie der Trauben und Oliven, oder, wenn das Land zur Weide
lag, einem entsprechenden Hutgeld; theils, wie in Makedonien,
Achaia, Kyrene, dem gröſsten Theil von Africa, beiden Spanien,
nach Sulla auch in Asia, in einer von jeder einzelnen Gemeinde
jährlich nach Rom zu entrichtenden festen Geldsumme (stipen-
dium, tributum), welche z. B. für ganz Makedonien 600000
(170000 Thlr.), für die kleine Insel Gyaros bei Andros 150 De-
nare (43 Thlr.) betrug und allem Anschein nach im Ganzen niedrig
und geringer als die vor der römischen Herrschaft entrichtete Ab-
gabe war. Jene Bodenzehnten und Hutgelder verdang der Staat
gegen Lieferung fester Quantitäten Korn oder fester Geldsummen
an Privatunternehmer; dieser Geldabgaben wegen hielt er sich an
die einzelnen Gemeinden und überlieſs es diesen den Betrag nach
den von der römischen Regierung im Allgemeinen festgestellten
Principien auf die Steuerpflichtigen zu repartiren und von diesen
einzuziehen. ** Die indirecten Abgaben bestanden, abgesehen von
[365]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
den untergeordneten Chaussee-, Brücken- und Canalgeldern,
wesentlich in den Zöllen. Die Zölle waren jener Zeit wo nicht
ausschlieſslich doch sehr vorwiegend Hafen-, seltener Land-
grenzzölle auf die zur Feilbietung bestimmten ein- und ausgehen-
den Waaren und wurden ursprünglich von jeder Gemeinde in
ihrem Gebiet nach Ermessen erhoben. Die Römer beschränkten
sich anfangs darauf für den römischen Staat wohl in jeder Clien-
telgemeinde, häufig auch für die römischen Bürger Zollfreiheit
sich auszubedingen; bald aber fingen sie an zwar nicht an der
Reichsgrenze einen allgemeinen Reichszoll zu erheben, aber wohl
gröſsere Gebiete innerhalb des Reiches als besondere römische
Zolldistricte zu constituiren, in welchen die einzelnen mit Immu-
nität beliehenen Gemeinden als eigene kleinere Zollbezirke encla-
virt waren. So bildete Sicilien schon seit der karthagischen Zeit
einen geschlossenen Zollbezirk, an dessen Grenze von allen aus-
und eingehenden Waaren eine Abgabe von 5 Procent vom Werth
erhoben ward; so ward an den Grenzen von Asia in Folge des
sempronischen Gesetzes (S. 105) eine ähnliche Abgabe von 2½
Procent erhoben; so ward in ähnlicher Weise die Provinz Narbo,
ausschlieſslich der Feldmark der römischen Colonie, als römi-
scher Zollbezirk organisirt. Bei diesen Einrichtungen mag auſser
den fiscalischen Zwecken auch die löbliche Absicht mitgewirkt
haben der aus den mannigfaltigen Communalzöllen unvermeid-
lich entstehenden Verwirrung durch gleichmäſsige Grenzzollregu-
lirung zu steuern. Zur Erhebung wurden die Zölle gleich den
Zehnten ohne Ausnahme an Mittelmänner verdungen. — Die
Kosten der Civil- und Militärverwaltung trugen dagegen in den
steuerpflichtigen Districten nicht die Steuerpflichtigen, sondern
die römische Gemeinde. Sie lieferte in genügender, ja reichlicher
Weise den Provinzialstatthaltern Schiffe, Gespann und die übrige
**
[366]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
Ausrüstung, den in der Provinz stehenden Heeren den Sold und
die sonstigen Bedürfnisse; nur Dach und Fach, Holz, Heu und
ähnliche Gegenstände hatten die Provinzialgemeinden den Be-
amten und Soldaten unentgeltlich zu gewähren und die Frei-
städte waren sogar auch von der Wintereinquartierung — feste
Standlager kannte man noch nicht — regelmäſsig befreit. Zwar
konnte es dem Statthalter im Kriege gar nicht und selbst im Frie-
den kaum versagt werden nach Ermessen zu requiriren; er konnte
Geld, Getreide, Schiffe, Sclaven zu ihrer Bemannung, Leinwand,
Leder und was dessen mehr war im Nothfall von den Untertha-
nen so gut wie von den souveränen Clientelstaaten nach Bedürf-
niſs verlangen; allein es wurden diese Lieferungen der Regel nach
gleich der römischen Grundsteuer als Vorschüsse behandelt und
sogleich oder später von der Staatskasse nach einem von ihr
selbst bestimmten Preise vergütet. In Spanien, wo das starke
stehende Heer zu dergleichen Lieferungen oft Gelegenheit gab,
bestand die Vorschrift, daſs von eigentlichen Nothfällen abgesehen
dem Landmanne durch solchen Zwangskauf nicht mehr als die
zwanzigste Garbe entzogen werden dürfe. Anderswo, zum Bei-
spiel in Sicilien, wo die römischen Statthalter auſser dem für
ihre und ihres Gefolges Bedürfnisse erforderlichen durch Maxi-
malsätze ein für allemal regulirten Getreidequantum sehr häufig
im Auftrag ihrer Regierung Getreide für die Bedürfnisse der
Hauptstadt requirirten, war durch vorgängige Anordnung einer
fest bestimmten und hochgegriffenen Vergütung das Interesse der
Steuerpflichtigen einigermaſsen gewahrt. Um Unrechtfertigkeiten,
wie sie nur zu häufig vorkamen, möglichst vorzubeugen, wurde
jedes Geschenk, das der Statthalter nahm, gesetzlich als erpreſstes
Gut behandelt und selbst das Recht zu kaufen ihm durch Gesetz
beschränkt. — Der Gesammtbetrag der römischen Staatseinnah-
men war gering. Es findet sich eine Angabe, wonach dieselben,
vermuthlich mit Ausschluſs der italischen Einkünfte und des
Werthes des von den Zehntpächtern nach Rom in Natur abge-
lieferten Getreides, bis zum J. 691 nicht mehr betrugen als
200 Mill. Sesterzen (14300000 Rthlr.); also nur zwei Drittel
der Summe, die der König von Aegypten jährlich aus seinem
Lande zog. Nur auf den ersten Blick kann das Verhältniſs be-
fremden. Die Ptolemäer exploitirten das Nilthal wie groſse Plan-
tagenbesitzer und zogen ungeheure Summen aus dem von ihnen
monopolisirten Handelsverkehr mit dem Orient: die Römer be-
steuerten ihre Unterthanen keineswegs in dem Sinn, den wir jetzt
damit verbinden, sondern erhoben von dem bei weitem gröſsten
[367]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
Theil der abhängigen Gemeinden nur einen den attischen Tri-
buten vergleichbaren Beitrag, womit sie die Kosten des von ihnen
übernommenen Kriegswesens deckten und in gewöhnlichen Zeiten
noch einen Ueberschuſs herausschlugen, der es ihnen möglich
machte die Staats- und Stadtbauten reichlich zu bestreiten und
einen Nothpfennig aufzusammeln. Einen ansehnlichen Reinertrag
lieferten wohl nur Sicilien, wo das karthagische Besteurungs-
system galt, und vor allem Asia, auf welcher Provinz nach viel-
fältigen Zeugnissen die Staatsfinanzen wesentlich ruhten; die An-
gabe klingt ganz glaublich, daſs die übrigen Provinzen ungefähr
so viel kosteten wie sie einbrachten und diejenigen, welche eine
bedeutende Besatzung erforderten, wie beide Spanien, das jen-
seitige Gallien, Makedonien, mögen oft mehr gekostet als er-
tragen haben.
So ungefähr war das römische Steuerwesen geordnet. Fra-
gen wir weiter, wie bei diesem System theils die Steuerpflichti-
gen, theils die römischen Finanzen sich standen, so ist in ersterer
Beziehung nicht zu verkennen, daſs dasselbe zwar insofern für
die Besteuerten nachtheilig war, als die Steuern groſsentheils ins
Ausland flossen, es aber doch im Allgemeinen ausging von dem
alten ebenso ehrenwerthen als verständigen Grundsatz die politi-
sche Hegemonie nicht als nutzbares Recht zu behandeln und von
den Unterthanen nur zu erheben, was für ihren Schutz verausgabt
wird. Treu geblieben war man indeſs diesem Grundsatz schon von
vorn herein nicht. Es war damit im Widerspruch, daſs Italien von
allen directen Abgaben entbürdet und dieselben ausschlieſslich auf
die Provinzen geworfen wurden. Wo Rom in die karthagische Pro-
vinzialverfassung eingetreten war, beutete es die früher karthagi-
schen Landschaften ungefähr in gleicher Weise aus wie Karthago.
Die Einziehung der Hafenzölle war mit dem Grundsatz der un-
eigennützigen Hegemonie nicht vereinbar; mit Recht sagt Scipio
Aemilianus bei Cicero, daſs es der römischen Bürgerschaft nicht
wohl anstehe zugleich den Gebieter und den Zöllner der Nationen
zu machen. Bei der Höhe der Zollsätze und der vexatorischen
Erhebungsweise ist es überdies begreiflich, daſs keine Abgabe
widerwärtiger erschien als diese; es gehört wohl schon dieser
Zeit an, daſs der ‚Zöllner‘ bei den östlichen Völkerschaften als gleich-
bedeutend galt mit dem Räuber und dem Frevler. Viel schlimmer
aber ward es, als in Rom Gaius Gracchus ans Regiment kam und
die Getreidevertheilung an die hauptstädtische Bürgerschaft, die
Confiscation und Domanialbesteurung von Asia durchsetzte. Un-
umwunden ward die politische Herrschaft für ein Recht erklärt,
[368]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
das jedem der Berechtigten Anspruch gebe auf eine Anzahl
Scheffel Korn, geradezu die Hegemonie in Bodeneigenthum ver-
wandelt und das vollständigste Exploitirungssystem nicht bloſs
eingeführt, sondern mit unverschämter Offenherzigkeit rechtlich
motivirt und proclamirt. Es war dies das Werk derselben Partei,
die in Rom sich die populare nannte; und sicher war es kein Zu-
fall, daſs eben die beiden am wenigsten kriegerischen Provinzen
Sicilien und Asia das härteste Loos traf. Wenn also schon die
Steuer selbst schwer auf den Pflichtigen lastete und die groſse
ökonomische Ersparniſs, die in Folge der römischen Centralisi-
rung durch das Wegfallen so vieler Specialregierungen und Spe-
cialherrn von selber sich ergab, hiedurch vielleicht aufgewogen
ward, so darf ferner nicht übersehen werden, daſs die Lasten
der Contribuablen sich weit höher beliefen als auf den Betrag der
nach Rom flieſsenden Summen. Zunächst kamen die Erhebungs-
kosten in Anschlag, welche namentlich bei den Zöllen wahrschein-
lich höchst beträchtlich waren; denn wenn das System die Steuer
durch Generalpächter einzuziehen schon an sich das verschwen-
derischste von allen ist, so kam in Rom noch hinzu, daſs durch
die ungeheure Association des römischen Capitals die wirksame
Concurrenz sehr erschwert ward. Zweitens sind die auſseror-
dentlichen Lasten hinzuzurechnen, die bei jeder gröſseren Krise,
gewöhnlich wohl in der Form der erzwungenen freiwilligen Bei-
träge, unvermeidlich eintraten; wie denn zum Beispiel Sulla im
J. 670/1 die kleinasiatischen Provinzialen, die allerdings sich aufs
schwerste gegen Rom vergangen hatten, zwang jedem römischen
Gemeinen vierzigfachen (16 Denare = 4½ Thlr.), jedem Centurio
fünfundsiebzigfachen Sold zu gewähren, dazu freie Kleidung und
freien Tisch nebst dem Recht nach Belieben Gäste einzuladen, und
derselbe Sulla bald nachher eine allgemeine Umlage auf die Cli-
entel- und Unterthanengemeinden ausschrieb (S. 341), an deren
Erstattung natürlich nicht gedacht ward. Drittens kommen hinzu
die Gemeindelasten *, die um so ansehnlicher waren, als von
Rom auſser für das Militärwesen schlechterdings nichts für die
öffentlichen Angelegenheiten geschah, ja selbst von diesem Mili-
tärbudget beträchtliche Posten, z. B. die Ausgaben für die Flotte
[369]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
in den nichtitalischen Meeren und die Anlage- und Unterhal-
tungskosten der nichtitalischen Militärstraſsen, auf die städtischen
Budgets abgewälzt wurden. Ja sogar für den Militärdienst selbst
fing man an die Zuzüge der Clientelstaaten wie die Contingente
der Unterthanen nicht bloſs innerhalb ihrer Provinz aufzubieten,
was zu allen Zeiten geschehen war, sondern Thraker in Africa,
Africaner in Italien und so weiter alle an jedem beliebigen Ort zu
verwenden, wovon die Kosten natürlich mehr oder minder auf
die Heimathgemeinden fielen (S. 184). Endlich ist das groſse
Kapitel des Unrechts nicht zu vergessen, durch das die römischen
Beamten und Steuerpächter in der mannigfaltigsten Weise die
Steuerlast der Provinzen erschwerten. Die Einquartierung der
Truppen; die freie Wohnung der Beamten und des Schwarmes
von Adjutanten senatorischen oder Ritterranges, von Schrei-
bern, Gerichtsdienern, Herolden, Aerzten und Pfaffen; das den
Staatsboten zukommende Recht unentgeltlicher Beförderung; die
Approbirung und der Transport der schuldigen Naturallieferun-
gen; vor allem die Zwangsverkäufe und die Requisitionen gaben
den Beamten Anlaſs genug aus den Provinzen fürstliche Vermö-
gen heimzubringen; und das Stehlen ward immer allgemeiner, je
mehr die Controle der Regierung als null und die der Capitalisten-
gerichte sogar als allein für den ehrlichen Beamten gefährlich sich
erwies. Die durch die Häufigkeit der Klagen wegen Beamten-
erpressung in den Provinzen veranlaſste Einrichtung einer ste-
henden Commission für dergleichen Fälle im J. 605 (S. 77) und
die rasch sich folgenden und die Strafe stets steigernden Erpres-
sungsgesetze zeigen, wie die Fluthmesser den Wasserstand, die
immer wachsende Höhe des Uebels. — Unter all diesen Verhält-
nissen konnte selbst eine nominell sehr mäſsige Besteuerung ef-
fectiv äuſserst drückend werden. Uebrigens bleibt es dennoch
sehr zweifelhaft, ob nicht der ökonomische Druck, den die itali-
schen Kaufleute und Banquiers auf die Provinzen übten, weit
schwerer auf denselben lastete als die Besteuerung mit allen
daran hängenden Miſsbräuchen.
Wie glänzend in den ersten Decennien dieser Epoche der
Stand der römischen Finanzen war, zeigen am deutlichsten die
in gröſstem Umfang betriebenen öffentlichen Bauten, vor allem
die zu keiner Zeit so energisch geförderten Chausseeanlagen. In
Italien schloſs sich an die groſse vermuthlich schon ältere Süd-
chaussee, die als Verlängerung der appischen von Rom über Ca-
pua, Beneventum, Venusia nach den Häfen von Tarent und Brun-
disium lief, eine Seitenstraſse an von Capua bis zur sicilischen
Röm. Gesch. II. 24
[370]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
Meerenge, ein Werk des Publius Popillius Consul 622. An der
Ostküste, wo bisher nur die Strecke von Fanum nach Ariminum
als Theil der flaminischen Straſse chaussirt worden war (I, 378),
wurde die Küstenstraſse südwärts bis nach Brundisium, nord-
wärts über Hatria am Po bis nach Aquileia verlängert; wenig-
stens das Stück von Ariminum bis Hatria ward von dem eben ge-
nannten Popillius in dem gleichen Jahr angelegt. Auch die beiden
groſsen etrurischen Chausseen, die Küsten- oder aurelische Straſse
von Rom nach Pisa und Luna, an der unter anderm im J. 631
gebaut ward, und die über Sutrium und Clusium nach Arretium
und Florentia geführte cassische, die nicht vor 583 gebaut zu
sein scheint, dürften als römische Staatschausseen erst dieser
Zeit angehören. Um Rom selbst bedurfte es neuer Anlagen nicht;
doch ist erwähnenswerth, daſs die mulvische Brücke (Ponte
Molle), auf der die flaminische Straſse unweit Rom die Tiber
überschritt, im J. 645 von Stein hergestellt ward. Endlich in
Norditalien, das bis dahin keine andere als die bei Placentia endi-
gende flaminisch-aemilische Kunststraſse gehabt hatte, wurde im
J. 606 die groſse postumische Straſse erbaut, die von Genua über
Dertona, wo wahrscheinlich gleichzeitig eine Colonie gegründet
ward, weiter über Placentia, wo sie die flaminisch-aemilische
Straſse aufnahm, Cremona und Verona nach Aquileia geführt
wurde und also das tyrrhenische und das adriatische Meer mit
einander verband; wozu noch die im J. 645 durch Marcus Aemi-
lius Scaurus hergestellte Verbindung zwischen Luna und Genua
hinzukam, welche die postumische Straſse in directe Verbindung
mit Rom setzte. In einer andern Weise war Gaius Gracchus für
das italische Wegewesen thätig; er sicherte die Instandhaltung
der groſsen Landstraſsen, indem er bei der Ackervertheilung
längs derselben Grundstücke anwies, auf denen die Verpflichtung
der Wegebesserung als dingliche Last haftete; auf ihn ferner oder
doch auf die Ackertheilungscommission scheint, wie die Sitte die
Feldgrenze durch ordentliche Marksteine zu bezeichnen, so auch
die der Errichtung von Meilensteinen zurückzugehen; er sorgte
endlich für gute Vicinalwege, um auch hiedurch den Ackerbau zu
fördern. Aber weit folgenreicher noch war die ohne Zweifel eben
in dieser Epoche beginnende Anlage von Reichschausseen in den
Provinzen: die domitische Straſse stellte nach langen Vorberei-
tungen (I, 489) den Landweg von Italien nach Spanien sicher
und hing mit der Gründung von Aquae Sextiae und Narbo eng
zusammen (S. 156); die gabinische (S. 163) und die egnatische
(S. 39) führten von den Hauptplätzen an der Ostküste des adria-
[371]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
tischen Meeres, jene von Salonae, diese von Apollonia und Dyrrha-
chion, in das Binnenland hinein — Anlagen, über deren Entstehung
zwar in der trümmerhaften Ueberlieferung dieser Epoche keine An-
gabe zu finden ist, die aber nichts desto weniger mit den gallischen,
dalmatischen, makedonischen Kriegen dieser Zeit unzweifelhaft in
Zusammenhang standen und für die Centralisirung des Staats
und die Civilisirung der unterworfenen barbarischen Districte von
der gröſsten Bedeutung geworden sind. — Wie für die Straſsen
war man wenigstens in Italien auch für die groſsen Entsum-
pfungsarbeiten thätig. So ward im J.594 die Trockenlegung
der pomptinischen Sümpfe, diese Lebensfrage für Mittelitalien,
mit groſsem Kraftaufwand und wenigstens scheinbarem Erfolg
angegriffen; so im J. 645 in Verbindung mit den norditalischen
Chausseebauten zugleich die Entsumpfung der Niederungen zwi-
schen Parma und Placentia bewerkstelligt. Endlich that die Re-
gierung viel für die zur Gesundheit und Annehmlichkeit der Haupt-
stadt ebenso unentbehrlichen wie kostspieligen römischen Was-
serleitungen. Nicht bloſs wurden die beiden seit den J. 442 und
492 bereits bestehenden, die appische und die Anioleitung, im
J. 610 von Grund aus reparirt, sondern auch zwei neue Leitun-
gen angelegt: im J. 610 die marcische, die an Güte und Fülle des
Wassers auch später unübertroffen blieb, und neunzehn Jahre
nachher die sogenannte laue Quelle. Welche Operationen die rö-
mische Staatscasse, ohne vom Creditsystem Gebrauch zu machen,
mittelst reiner Baarzahlung auszuführen vermochte, zeigt nichts
deutlicher als die Art, wie die marcische Leitung angelegt ward:
die dazu erforderliche Summe von 180 Mill. Sesterzen (in Gold
fast 13 Mill. Thlr.) ward innerhalb dreier Jahre disponibel ge-
macht und verwandt. Es läſst dies schlieſsen auf eine sehr an-
sehnliche Reserve des Staatsschatzes, die ja auch schon im An-
fang dieser Periode fast 6 Mill. Thlr. betrug (I, 617) und ohne
Zweifel beständig im Steigen war. — Indeſs darf über dem Glanz
und der Bedeutung dieser groſsartigen Anlagen doch nicht über-
sehen werden, daſs die römische Finanzverwaltung den Anfor-
derungen, welche an einen Staat, wie der römische war, gestellt
werden konnten und muſsten, keineswegs entsprach. Für das
Militärwesen ward in der ungenügendsten Weise gesorgt; in den
Grenzlandschaften, selbst im Pothal (S. 160) plünderten die Bar-
baren, im Innern hausten selbst in Kleinasien, Sicilien, Italien
die Räuberbanden. Die Flotte gar ward völlig vernachlässigt; rö-
mische Kriegsschiffe gab es kaum mehr und die Kriegsschiffe, die
man durch die Unterthanenstädte bauen und erhalten lieſs, reich-
24*
[372]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
ten nicht aus, so daſs man nicht bloſs schlechterdings unfähig
war einen Seekrieg zu führen, sondern selbst den Piraten kaum zu
wehren vermochte. In Rom selbst unterblieben eine Menge der
nothwendigsten Verbesserungen und namentlich die Wasserbauten
wurden seltsam vernachlässigt. Immer noch besaſs die Hauptstadt
keine andere Brücke über die Tiber als den uralten hölzernen Steg,
der über die Tiberinsel nach dem Janiculum führte; immer noch
lieſs man die Tiber jährlich die Straſsen unter Wasser setzen und
Häuser, ja nicht selten ganze Quartiere niederwerfen, ohne etwas
für die Uferbefestigung zu thun; immer mehr lieſs man, wie ge-
waltig auch der überseeische Handel sich entwickelte, die an sich
schon schlechte Rhede von Ostia versanden. Eine Regierung, die
unter den günstigsten Verhältnissen und in einer Epoche vier-
zigjährigen Friedens nach auſsen und innen solche Pflichten ver-
säumt, kann vielleicht insofern ein glänzendes finanzielles Resultat
erzielen, als sie Steuern schwinden zu lassen und dennoch einen
jährlichen Ueberschuſs der Einnahme über die Ausgabe und einen
ansehnlichen Sparschatz nachzuweisen im Stande ist; aber nichts
desto weniger verdient eine derartige Finanzverwaltung dieselben
Vorwürfe der Schlaffheit, des Mangels an einheitlicher Leitung,
der verkehrten Volksschmeichelei, die auf jedem andern politi-
schen Gebiet gegen das senatorische Regiment dieser Epoche er-
hoben werden muſsten. — Weit schlimmer gestalteten sich na-
türlich die finanziellen Verhältnisse, als die Stürme der Revolu-
tion hereinbrachen. Die neue und, auch bloſs finanziell betrachtet,
höchst drückende Belastung, die dem Staat aus der durch Gaius
Gracchus ihm auferlegten Verpflichtung erwuchs den hauptstädti-
schen Bürgern das Getreide zu Schleuderpreisen zu verabfolgen
ward allerdings durch die in der Provinz Asia neu eröffneten Ein-
nahmequellen zunächst wieder ausgeglichen. Indeſs ist es nichts
desto weniger bemerkenswerth, daſs die öffentlichen Bauten seit-
dem fast gänzlich ins Stocken gekommen zu sein scheinen. So
zahlreich die erweislicher Maſsen von der Schlacht bei Pydna bis
auf Gaius Gracchus angelegten öffentlichen Werke sind, so kön-
nen wir dagegen aus der Zeit nach 632 kaum andere nachwei-
sen als die Brücken-, Straſsen- und Entsumpfungsanlagen, die
Marcus Aemilius Scaurus als Censor 645 anordnete. Es muſs
dahingestellt bleiben, ob dies die Folge der Kornvertheilungen
ist oder, wie vielleicht wahrscheinlicher, die Folge des gesteiger-
ten Sparschatzsystems, wie es sich schickt für ein immer mehr
zur Oligarchie erstarrendes Regiment und wie es angedeutet ist
in der Angabe, daſs der römische Reservefonds seinen höchsten
[373]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
Stand im J. 663 erreichte. Daſs der fürchterliche Insurrections-
und Revolutionssturm in Verbindung mit den fünf Jahre hin-
durch ausbleibenden kleinasiatischen Gefällen den Schatz rasch
leerte, ist begreiflich. Vielleicht zeichnet nichts so klar den
Unterschied der Zeiten, als daſs im hannibalischen Krieg erst im
zehnten Kriegsjahre, als die Bürgerschaft den Steuern fast erlag,
der Sparschatz angegriffen, dagegen der Bundesgenossenkrieg
gleich von Haus aus auf den Kassenbestand fundirt ward und, als
schon nach zwei Feldzügen derselbe bis auf den letzten Pfennig
ausgegeben war, man lieber die öffentlichen Plätze in der Haupt-
stadt versteigerte (S. 236) und die Tempelschätze angriff (S. 310),
als eine Steuer auf die Bürger ausschrieb. Indeſs der Sturm,
so arg er war, ging vorüber; Sulla stellte, freilich unter unge-
heuren namentlich den Unterthanen und den italischen Revolu-
tionären aufgebürdeten ökonomischen Opfern, die Ordnung in
den Finanzen wieder her und sicherte, indem er die Getreide-
spenden aufhob, die asiatischen Abgaben aber wenn auch gemin-
dert doch beibehielt, dem Gemeinwesen wenigstens in dem Sinn
einen befriedigenden ökonomischen Zustand, als die ordentlichen
Ausgaben weit unter den ordentlichen Einnahmen blieben.
Von der Privatökonomie ist schon vielfach die Rede gewesen
und es tritt hier überall kaum ein neues Moment hervor; die
früher dargelegten Vorzüge und Nachtheile der socialen Verhält-
nisse Italiens (I, 617-626) erscheinen nicht verändert, sondern
nur schärfer entwickelt. In der Bodenwirthschaft sahen wir be-
reits früher die steigende römische Capitalmacht den mittleren
und kleinen Grundbesitz in Italien sowohl wie in den Provinzen
allmählich verzehren, wie die Sonne die Regentropfen aufzehrt.
Die Regierung sah nicht bloſs zu ohne zu wehren, sondern för-
derte noch die schädliche Bodentheilung durch einzelne Maſs-
regeln (S. 74), vor allem durch das zu Gunsten der groſsen ita-
lischen Grundbesitzer und Kaufleute ausgesprochene Verbot der
transalpinischen Wein- und Oelproduction. Zwar wirkten sowohl
die Opposition als die in ihre Reformideen eingehende Minorität
der Conservativen energisch dem Uebel entgegen; indem die
beiden Gracchen die Auftheilung fast des gesammten Doma-
niallandes durchsetzten, gaben sie dem Staat 80000 neue ita-
lische Bauern; indem Sulla 120000 Colonisten in Italien ansie-
delte, ergänzte er wenigstens einen Theil der von der Revolution
und von ihm selbst in die Reihen der italischen Bauerschaft ge-
rissenen Lücken; allein dem durch stetigen Abfluſs sich leerenden
Gefäſs ist nicht durch Einschöpfen auch beträchtlicher Massen,
[374]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
sondern nur durch Herstellung eines stetigen Zuflusses zu helfen,
welche vielfach versucht ward, aber nicht gelang. In den Pro-
vinzen nun gar geschah nicht das Geringste, um den dortigen
Bauernstand vor dem Auskaufen durch die römischen Speculanten
zu retten; die Provinzialen waren ja bloſs Menschen und keine
Partei. Die Folge war, daſs mehr und mehr auch die auſserita-
lische Bodenrente nach Rom floſs. Uebrigens war die Plantagen-
wirthschaft, die in Sicilien und Etrurien um die Mitte dieser
Epoche bereits durchaus überwog, in ihrer Art zu hoher Blüthe
gelangt, wie sie das Zusammenwirken eines energischen und ra-
tionellen Betriebs und reichlicher Geldmittel nothwendig erzeugt.
Die italische Weinproduction vor allem, die theils die Eröffnung
gezwungener Märkte in einem Theil der Provinzen, theils das
z. B. in dem Aufwandsgesetz von 593 ausgesprochene Verbot der
ausländischen Weine in Italien auch künstlich förderten, erzielte
sehr bedeutende Erfolge; der Amineer und der Falerner fingen an
neben dem Thasier und Chier genannt zu werden und der ‚opi-
mische Wein‘ vom J. 633, der römische Elfer, blieb im An-
denken lange nachdem der letzte Krug geleert war. — Von Ge-
werben und Fabrication ist nichts zu sagen, als daſs die italische
Nation in dieser Hinsicht in einer an Barbarei grenzenden Passi-
vität beharrte. Man zerstörte wohl die korinthischen Fabriken,
die Depositare so mancher werthvollen gewerblichen Tradition,
aber nicht um selbst ähnliche Fabriken zu gründen, sondern um
zu Schwindelpreisen zusammenzukaufen, was die griechischen
Häuser an korinthischen Thon- oder Kupfergefäſsen und ähn-
lichen ‚alten Arbeiten‘ in sich schlossen. Was von Gewerken
noch einigermaſsen gedieh, wie zum Beispiel die mit dem Bau-
wesen zusammenhängenden, trug für das Gemeinwesen deſshalb
kaum einen Nutzen, weil auch hier bei jeder gröſseren Unter-
nehmung die Sclavenwirthschaft sich ins Mittel legte; wie denn
zum Beispiel die Anlage der marcischen Wasserleitung in der Art
erfolgte, daſs die Regierung mit 3000 Meistern zugleich Bau-
und Lieferungsverträge abschloſs, von denen dann jeder mit sei-
ner Sclavenschaar die übernommene Arbeit beschaffte. — Die
glänzendste oder vielmehr die allein glänzende Seite der römi-
schen Privatwirthschaft ist der Geldverkehr und der Handel. An
der Spitze stehen die Domanial- und die Steuerpachtungen, durch
die ein groſser, vielleicht der gröſsere Theil der römischen Staats-
einnahmen in die Tasche der römischen Capitalisten floſs. Der
Geldverkehr ferner war im ganzen Umfang des römischen Staats
von den Römern monopolisirt; jeder in Gallien umgesetzte Pfennig,
[375]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
heiſst es in einer bald nach dem Ende dieser Periode heraus-
gegebenen Schrift, geht durch die Bücher der römischen Kauf-
leute, und so war es ohne Zweifel überall. Wie das Zusammen-
wirken der rohen ökonomischen Zustände und der rücksichts-
losen Benutzung der politischen Uebermacht zu Gunsten der Pri-
vatinteressen eines jeden vermögenden Römers eine wucherliche
Zinswirthschaft allgemein machte, zeigt zum Beispiel die Behand-
lung der von Sulla der Provinz Asia 670 auferlegten Kriegssteuer,
die die römischen Capitalisten vorschossen: sie schwoll mit ge-
zahlten und nicht gezahlten Zinsen in vierzehn Jahren auf den
sechsfachen Betrag an. Die Gemeinden muſsten ihre öffentlichen
Gebäude, ihre Kunstwerke und Kleinodien, die Aeltern ihre er-
wachsenen Kinder verkaufen, um dem römischen Gläubiger ge-
recht zu werden; es war nichts Seltenes, daſs der Schuldner nicht
bloſs der moralischen Tortur unterworfen, sondern geradezu auf
die Marterbank gelegt ward. Hiezu kam endlich der Groſshandel.
Italiens Ausfuhr und Einfuhr waren sehr beträchtlich. Jene be-
stand vornämlich in Wein und Oel, womit Italien neben Griechen-
land fast ausschlieſslich — die Weinproduction in der massalio-
tischen und turdetanischen Landschaft kann damals nur gering
gewesen sein — das gesammte Mittelmeergebiet versorgte; itali-
scher Wein ging in bedeutenden Quantitäten nach den baleari-
schen Inseln und Keltiberien, nach Africa, das nur Acker- und
Weideland war, nach Narbo und in das innere Gallien. Bedeu-
tender noch war die Einfuhr nach Italien, wo damals aller Luxus
sich concentrirte und die meisten Luxusartikel, Speisen, Getränke,
Stoffe, Schmuck, Bücher, Hausgeräth, Kunstwerke über See ein-
geführt wurden. Vor allem aber der Sclavenhandel nahm in Folge
der stets steigenden Nachfrage der römischen Kaufleute einen
Aufschwung, dessen gleichen man im Mittelmeergebiet noch nicht
gekannt hatte und der mit dem Aufblühen der Piraterie im eng-
sten Zusammenhang steht. Obwohl zu diesem Ende alle Länder
und alle Nationen in Contribution gesetzt wurden, so waren doch
die Hauptfangplätze das innere Kleinasien und Syrien, der Haupt-
stapelplatz Delos (S. 70). In Italien concentrirte die überseeische
Einfuhr sich vorzugsweise in den beiden groſsen Emporien am
tyrrhenischen Meer Ostia und Puteoli; dorthin zog sich die für
die Hauptstadt bestimmte Korneinfuhr, hieher vorwiegend der
Luxushandel mit dem Osten. Schon vor der Katastrophe, die
Delos im mithradatischen Kriege betraf (S. 275) und von der es
sich nicht wieder erholte, war Puteoli, das durch seinen guten
Hafen für Schiffe mit werthvoller Ladung sich empfahl und in-
[376]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
der mehr und mehr mit Landhäusern sich füllenden Gegend von
Baiae den Kaufleuten einen dem hauptstädtischen wenig nach-
stehenden Markt in nächster Nähe darbot, nach Lucilius Aus-
druck das italische ‚Kleindelos‘; nach dem Ruin von Delos knüpf-
ten die Puteolaner directe Handelsverbindungen mit Syrien und
Alexandreia an und die Stadt entwickelte immer entschiedener
sich zu dem ersten überseeischen Handelsplatz Italiens. Aber
nicht bloſs der Gewinn, der bei der Aus- und Einfuhr Italiens
gemacht ward, fiel wesentlich den Italikern zu; in Narbo con-
currirten sie im keltischen Handel mit den Massalioten und auch
sonst leidet es keinen Zweifel, daſs die überall fluctuirend oder
ansässig anzutreffende römische Kaufmannschaft den besten Theil
aller Speculationen für sich nahm. — Fassen wir diese Erschei-
nungen zusammen, so erkennen wir als den hervorstechenden
Zug der Privatwirthschaft dieser Epoche die der politischen eben-
bürtig zur Seite gehende finanzielle Oligarchie der römischen Ca-
pitalisten. In ihren Händen vereinigt sich die Bodenrente fast
des ganzen Italiens und der besten Stücke des Provinzialgebiets,
die wucherliche Rente des von ihnen monopolisirten Capitals, der
Handelsgewinn aus dem gesammten Reiche, endlich in Form der
Pachtnutzung ein sehr beträchtlicher Theil der römischen Staats-
einkünfte. Die immer zunehmende Anhäufung der Capitalien zeigt
sich in dem Steigen des Durchschnittsatzes des Reichthums: 3 Mill.
Sest. (214000 Thlr.) war jetzt ein mäſsiges senatorisches, 2 Mill.
(143000 Thlr.) ein anständiges Rittervermögen; das Vermögen des
reichsten Mannes der gracchischen Zeit, des Publius Crassus Consul
623, ward auf 100 Mill. Sest. (7 Mill. Thlr.) geschätzt. Es ist kein
Wunder, wenn dieser Capitalistenstand die äuſsere Politik vorwie-
gend bestimmt, wenn er aus Handelsrivalität Karthago und Korinth
zerstört (S. 23. 48) wie einst die Etrusker Alalia, die Syrakusier
Caere zerstörten, wenn er dem Senat zum Trotz die Gründung von
Narbo aufrecht erhält (S. 157). Es ist ebenfalls kein Wunder, wenn
diese Capitalistenoligarchie in der inneren Politik der Adelsoligar-
chie eine ernstliche und oft siegreiche Concurrenz macht. Es ist
aber auch kein Wunder, wenn ruinirte reiche Leute sich an die
Spitze empörter Sclavenhaufen stellen (S. 126) und das Publicum
sehr unsanft daran erinnerten, daſs aus dem eleganten Bordell der
Uebergang zu der Räuberhöhle leicht gefunden ist. Es ist kein Wun-
der, wenn jener finanzielle Babelthurm mit seiner nicht rein öko-
nomischen, sondern der politischen Uebermacht Roms entlehnten
Grundlage bei jeder ernsten politischen Krise ungefähr in dersel-
ben Art schwankt wie unser sehr ähnlicher Staatspapierbau. Die
[377]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
ungeheure Finanzkrise, die im Verfolg der italisch-asiatischen
Bewegungen 664 fg. über den römischen Capitalistenstand her-
einbrach, die Bankerotte des Staats und der Privaten, die allge-
meine Entwerthung der Grundstücke und der Gesellschaftsparten
können wir im Einzelnen nicht mehr verfolgen, sondern nur ihre
Art und ihre Bedeutung im Allgemeinen erkennen an ihren Re-
sultaten: der Ermordung des Gerichtsherrn durch einen Gläubi-
gerhaufen (S. 239), dem Versuch alle nicht von Schulden freien
Senatoren aus dem Senat zu stoſsen (S. 240), der Erneuerung
des Zinsmaximum durch Sulla (S. 247), der Cassation von 75 %
aller Forderungen durch die revolutionäre Partei (S. 302).
Die Folge dieser Wirthschaft war natürlich in den Provinzen all-
gemeine Verarmung und Entvölkerung, wogegen die parasitische
Bevölkerung reisender oder auf Zeit ansässiger Italiker überall im
Steigen war. In Kleinasien sollen an einem Tag 80000 Menschen
italischer Abkunft umgekommen sein (S. 273). Wie zahlreich die-
selben auf Delos waren, beweisen die noch auf der Insel vorhan-
denen Grabsteine und die Angabe, daſs hier 20000 Fremde,
meistens italische Kaufleute, auf Mithradates Befehl getödtet wur-
den (S. 275). In Africa waren der Italiker so viele, daſs sogar
die numidische Stadt Cirta hauptsächlich durch sie gegen Ju-
gurtha vertheidigt werden konnte (S. 135). Auch Gallien, heiſst
es, war angefüllt mit römischen Kaufleuten; nur für Spanien
finden sich, vielleicht nicht zufällig, dergleichen Angaben nicht.
In Italien selbst ist dagegen der Stand der freien Bevölkerung in
dieser Epoche ohne Zweifel im Ganzen zurückgegangen. Allerdings
haben die Bürgerkriege hiezu wesentlich mitgewirkt, welche nach
allgemein gehaltenen und freilich wenig zuverlässigen Angaben
100000 bis 150000 Köpfe von der römischen Bürgerschaft,
300000 von der italischen Bevölkerung überhaupt weggerafft
haben sollen; aber schlimmer wirkten der ökonomische Ruin des
Mittelstandes und die maſslose Ausdehnung der kaufmännischen
Emigration, die einen groſsen Theil der italischen Jugend wäh-
rend ihrer kräftigsten Jahre im Ausland zu verweilen veranlaſste.
Einen Ersatz sehr zweifelhaften Werthes gewährte dafür die freie
parasitische hellenisch-orientalische Bevölkerung, die als könig-
liche oder Gemeindediplomaten, als Aerzte, Schulmeister, Pfaffen,
Bediente, Schmarotzer und in den tausendfachen Aemtern der
Industrieritter- und Gaunerschaft in der Hauptstadt, als Händler
und Schiffer namentlich in Ostia, Puteoli und Brundisium ver-
weilten. Noch bedenklicher war das enorme Steigen der Sclaven-
menge auf der Halbinsel. Die italische Bürgerschaft zählte nach
[378]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
der Schatzung des J. 684 910000 waffenfähige Männer, wobei,
um den Betrag der freien Bevölkerung auf der Halbinsel zu er-
halten, die in der Schätzung zufällig Uebergangenen, die Latiner
in der Landschaft zwischen den Alpen und dem Po und die auſser-
italischen in Italien domicilirten Insassen hinzu, die auswärts do-
micilirenden römischen Bürger dagegen abzurechnen sind. Es wird
danach kaum möglich sein die freie Bevölkerung der Halbinsel
höher als auf 6-7 Mill. Köpfe anzusetzen. Wenn die damalige
Gesammtbevölkerung derselben der gegenwärtigen gleichkam, so
hätte man danach eine Sclavenmasse von 13-14 Mill. Köpfen
anzunehmen. Es bedarf indeſs solcher trüglichen Berechnungen
nicht, um die gefährliche Spannung dieser Verhältnisse anschaulich
zu machen; laut genug reden die partiellen Sclaveninsurrectionen
und der seit dem Beginn der Revolution am Schlusse eines jeden
Aufstandes erschallende Aufruf an die Sclaven die Waffen gegen
ihre Herren zu ergreifen und die Freiheit sich zu erfechten. Wenn
man sich England vorstellt mit seinen Lords, seinen Squires
und vor allem seiner City, aber die Freeholders und Pächter in
Proletarier, die Arbeiter und Matrosen in Sclaven verwandelt, so
wird man ein ungefähres Bild der damaligen Bevölkerung der
Halbinsel gewinnen.
Wie im klaren Spiegel liegen die ökonomischen Verhältnisse
dieser Epoche noch heute uns vor in dem römischen Münzwesen.
Die Behandlung des Münzwesens zeigt durchaus den einsichtigen
Kaufmann. Seit langer Zeit standen Gold und Silber als allge-
meine Zahlmittel neben einander, so daſs zwar zum Zweck all-
gemeiner Kassebilanzen ein festes Werthverhältniſs zwischen
beiden Metallen gesetzlich normirt war (I, 617), aber doch regel-
mäſsig es nicht freistand ein Metall für das andere zu geben,
sondern je nach dem Inhalt der Verschreibung Gold- oder Sil-
berzahlung gefordert werden konnte. Auf diesem Wege wurden
die groſsen Uebelstände vermieden, die sonst an die Feststel-
lung eines doppelten Werthmetalls unvermeidlich sich knüpfen;
wenn der Goldwerth ins Schwanken kam, wie er denn zum
Beispiel um 600 in Folge der Entdeckung der tauriskischen Gold-
lager (S. 160) auf einmal in Italien um 33⅓ % abschlug, so
wirkte eine solche Krise wenigstens nicht direct auf die Silber-
münze und den Kleinverkehr. Es lag aber in der Natur der Sache,
daſs das Gold, je mehr der überseeische Verkehr sich ausdehnte,
desto entschiedener aus der zweiten in die erste Stelle eintrat,
was denn auch die Angaben über die Staatskassenbestände und
die Staatskassengeschäfte bestätigen. Aber nur um so mehr hielt
[379]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
man fest an dem weisen Satz das Gold nur ohne Legirung und in
Barren nach dem Gewicht, als Münze aber ausschlieſslich das Sil-
ber umlaufen zu lassen; so daſs die betrügliche Legirung des Gol-
des der Prägung falscher Silbermünzen als Münzvergehen gleich-
stand. Die in der Noth des hannibalischen Krieges eingeführte
Goldprägung (I, 464) hatte man längst wieder fallen lassen; die
wenigen Goldstücke, die Sulla als Regent schlug, sind kaum
mehr gewesen als Gelegenheitsmünzen für seine Triumphalge-
schenke und galten wahrscheinlich wie ausländische Goldmünzen
nur nach dem Gewicht. Man erreichte hiedurch den unermeſs-
lichen Vortheil bei dem wichtigsten Zahlmittel auch die Möglich-
keit der Münzdefraude und Münzveruntreuung abzuschneiden.
Die Münzprägung war ebenso reichlich wie musterhaft. Schrot
und Korn wurden so unwandelbar bewahrt, daſs mehr als drei
Jahrhunderte hindurch das Silberstück vollkommen gleich schwer
und gleich fein blieb; eine Legirung fand auch hier nicht statt;
die Kupferprägung blieb beschränkt auf die in Silber schlechter-
dings nicht herzustellenden Kleinwerthe von einem As (5 Pf.) und
darunter; die Münzsorten waren nach einem einfachen Princip ge-
ordnet und in der damals kleinsten Münze, dem Sextans (⅚ Pf.)
hinabgeführt bis an die Grenze der fühlbaren Werthe. Es war ein
Münzsystem, das an principieller Verständigkeit der Grundlagen
wie an eisern strenger Durchführung derselben im Alterthum
einzig dasteht und auch in der neuern Zeit nur selten erreicht
worden ist. Doch hat auch dies seinen wunden Fleck. Nach einer
im ganzen Alterthum gemeinen, in ihrer höchsten Entwickelung
in Karthago auftretenden (I, 324) Prägeweise gab auch die römi-
sche Regierung mit den guten silbernen Denaren zugleich kupferne
mit Silber plattirte aus, welche gleich jenen genommen werden
muſsten und nichts waren als ein unserm Papiergeld analoges
Zeichengeld mit Zwangscours und Fundirung auf die Staatskasse,
in sofern auch diese nicht befugt war die plattirten Stücke zu-
rückzuweisen. Eine officielle Falschmünzerei war dies so wenig
wie unsere Papiergeldfabrication, da man die Sache ganz offen
betrieb: Marcus Drusus beantragte 663, um die Mittel für seine
Kornspenden zu gewinnen, die Emission von einem plattirten
auf je sieben silberne neu aus der Münze hervorgehende Denare;
allein nichts desto weniger bot diese Maſsregel nicht bloſs der
privaten Falschmünzerei eine bedenkliche Handhabe, sondern sie
lieſs auch das Publikum absichtlich darüber im Ungewissen, ob
es Silber- oder Zeichengeld empfange und in welchem Gesammt-
betrag das letztere in Umlauf sei. In der bedrängten Zeit des Bür-
[380]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
gerkrieges und der groſsen finanziellen Krise scheint man der
Plattirung sich so über die Gebühr bedient zu haben, daſs zu der
Finanzkrise eine Münzkrise sich gesellte und die Masse der fal-
schen und factisch entwertheten Stücke den Verkehr höchst un-
sicher machten. Deſshalb wurde während des cinnanischen Re-
giments von den Prätoren und Tribunen, zunächst von Marcus
Marius Gratidianus (S. 327) beschlossen das sämmtliche Zei-
chengeld aufzurufen und durch Silbergeld einlösen zu lassen und
zu dem Ende ein Probirbureau einzurichten. In wie weit die
Aufrufung durchgeführt ward, ist nicht überliefert; die Sitte selbst
blieb bestehen. — Was die Provinzen anlangt, so ward in Gemäſs-
heit der grundsätzlichen Beseitigung der Goldmünze die Goldprä-
gung nirgends, auch in den Clientelstaaten nicht gestattet; so daſs
die Goldprägung in dieser Zeit nur vorkommt, wo Rom gar nichts
zu sagen hatte, wie namentlich bei den Kelten nordwärts von den
Cevennen. Die Silberprägung dagegen ward den Provinzialen
in der bisherigen Weise gelassen: die kleinasiatischen Freistädte
schlugen auch ferner die pergamenischen Cistophoren, Rhodos
und Massalia ihre Drachmen, Makedonien seine attischen Tetra-
drachmen, und selbst wenn, wie in Makedonien, die römischen
Beamten bei der Prägung sich betheiligten, so geschah darum
diese nicht weniger nach dem landüblichen Münzfuſs. Doch fing
auch hier das römische Silbergeld an sich Eingang zu verschaffen.
Zwar in den Osten, wo die Zahl der seit alter Zeit münzenden
Staaten und die Masse der Landesmünze sehr ansehnlich war,
drang der Denar nicht ein; nur an der seit langem mit Italien in
lebhaftem Verkehr stehenden dalmatisch-illyrischen Küste und
auf der von dort in das goldreiche Dacien führenden Straſse, im
Banat und Siebenbürgen, begegnen Denarfunde älterer Vergra-
bung, dagegen nicht in den westlich und östlich angrenzenden
Landschaften. Anders war es im Westen. In Sicilien hatte die
Prägung in edlen Metallen mit kaum nennenswerthen Ausnah-
men mit der Einziehung des syrakusanischen Reiches im J. 542
aufgehört: spätestens in dieser Epoche muſs daselbst die Landes-
münze aufgerufen und durch die römische ersetzt worden sein,
da im Beginn der nächsten nachweislich die letztere das einzige
in Sicilien geltende Courant ist. Aehnlich mag die römische
Münze in Sardinien und Africa früh alleinige Geltung erlangt
haben, um so mehr als in Folge des karthagischen Zeichengeld-
systems es hier kaum eine Landesmünze gab; doch läſst bis jetzt
sich die Epoche der Einführung des römischen Courants hier
noch nicht fixiren. In Spanien hatte der römische Denar theils
[381]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
selbst, theils in den spanischen auf römischen Fuſs geschlage-
nen Münzen schon im sechsten Jahrhundert sich eingebürgert
(I, 495). Auſser der nicht sehr bedeutenden emporitanisch-
rhodischen Münze, die in den Pyrenäen und in Aquitanien gang-
bar war, war die einzige im Münzwesen wie im Handel ernstlich
mit den Römern concurrirende Stadt im Westen Massalia, das
theils durch seine Münzen, theils durch seinen Münzfuſs westlich
bis nach Aquitanien, östlich über Ligurien und die Po- und
Etschthäler herrschte* und gegen Norden zu ohne Concurrenz
sich über das barbarische Land verbreitete. Die Römer selbst
muſsten, als sie in diesem Gebiet sich ansässig machten, dem
dort herrschenden System sich bequemen und, um eine für das
cisalpinische Gallien brauchbare römische Münze zu haben, die
massaliotische Drachme als Victoriatus oder ¾ Denar in ihr Münz-
system einfügen. Aber in dieser Epoche beschränkte Rom wie
den massaliotischen Handel durch die Gründung von Narbo, so
den massaliotischen Münzfuſs durch Wiederabschaffung des Vic-
toriatus (nach 637, etwa um 650), wodurch die norditalische
Landschaft dem römischen Münzfuſs unterworfen ward. Die
Romanisirung des unterworfenen Landes äuſsert fast zuerst sich
in der Ausbreitung der römischen Münze.
Wie bei solchen ökonomischen Zuständen die socialen Ver-
hältnisse sich gestalten muſsten, ist im Allgemeinen leicht zu er-
messen, im Besondern zu verfolgen weder sehr erfreulich noch
sehr lehrreich. Verschwendung und sinnlicher Genuſs war die
Losung überall, bei den Parvenus so gut wie bei den Liciniern
und Metellern; nicht der feine Luxus, der die Blüthe der Civili-
sation ist, sondern derjenige, der in der verkommenden helle-
nischen Civilisation in Kleinasien und Alexandreia sich entwickelt
hatte, der alles Schöne und Bedeutende zur Decoration entadelte
und auf den Genuſs studirte mit einer mühseligen Pedanterie,
einer zopfigen Diftelei, die ihn dem sinnlich wie dem geistig
frischen Menschen gleich ekelhaft macht. In den Spielen erlan-
gen die Thierhetzen eine steigende Bedeutung; um 651 erschei-
[382]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
nen in der römischen Arena zuerst mehrere Löwen, 655 die ersten
Elephanten; 661 lieſs Sulla als Prätor schon hundert Löwen auf-
treten. Dasselbe gilt von den Fechterspielen. Wenn die Altvor-
dern die Bilder groſser Schlachten öffentlich ausgestellt hatten,
so fingen die Enkel an dasselbe mit ihren Gladiatorenspielen zu
thun und mit solchen Haupt- und Staatsactionen der Zeit sich
selber vor den Nachkommen zu verspotten. Auch der Bau- und
Gartenluxus war im Steigen; das prachtvolle und namentlich
wegen der alten Bäume des Gartens berühmte Stadthaus des
Redners Crassus († 663) ward mit den Bäumen auf 6 Mill. Sest.
(428000 Thlr.), ohne diese auf die Hälfte geschätzt, während
der Werth eines gewöhnlichen Wohnhauses in Rom etwa auf
60000 Sesterzen (4300 Thlr.) angeschlagen werden kann*. Wie
rasch die Preise der Luxusgrundstücke stiegen, zeigt das Beispiel
der misenischen Villa, die Cornelia die Mutter der Gracchen für
75000 Sesterzen (5000 Thlr.), Lucius Lucullus Consul 680 um
den dreiunddreiſsigfachen Preis erstand. Die Villenbauten und das
raffinirte Land- und Badeleben machten Baiae und überhaupt die
Umgegend des Golfs von Neapel zum Eldorado des vornehmen
Müssiggangs. Die Hasardspiele, bei denen es keineswegs mehr
wie bei dem altitalischen Knöchelspiel um Nüsse ging, wurden
gemein und schon 639 ein censorisches Edict dagegen erlassen.
Gazestoffe, die die Formen mehr zeigten als verhüllten, und sei-
dene Kleider fingen an bei Frauen und selbst bei Männern die
alten wollenen Röcke zu verdrängen. Gegen die rasende Ver-
schwendung, die mit ausländischen Parfümerien getrieben ward,
stemmten sich vergeblich die Aufwandgesetze. Aber der eigent-
liche Glanz- und Brennpunkt dieses vornehmen Lebens war die
Tafel. Man bezahlte Schwindelpreise — bis 100000 Sesterzen
(7000 Thlr.) — für einen ausgesuchten Koch; man baute mit
Rücksicht darauf und versah namentlich die Landhäuser an der
Küste mit eigenen Salzwasserteichen, um Seefische und Austern
jederzeit frisch auf die Tafel liefern zu können; man nannte es
schon ein elendes Diner, wenn das Geflügel ganz und nicht bloſs
die erlesenen Stücke den Gästen vorgelegt wurden und wenn
[383]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
diesen zugemuthet ward von den einzelnen Gerichten zu essen
und nicht bloſs zu kosten; man bezog für schweres Geld auslän-
dische Delicatessen — das Fäſschen Sardellen aus dem schwar-
zen Meer ward mit 1600 Sesterzen (100 Thlr.) bezahlt — und
griechischen Wein, der bei jeder anständigen Mahlzeit wenigstens
einmal herumgereicht werden muſste. Vor allem bei Tafel
glänzte die Schaar der Luxussclaven, die Kapelle, das Ballet, das
elegante Mobiliar, die goldstrotzenden oder gemäldeartig gestick-
ten Teppiche, die Purpurdecken, das antike Bronzegeräth, das
reiche Silbergeschirr. Hiegegen vor allem richteten sich die Lu-
xusgesetze, die häufiger (593. 639. 665. 673.) und ausführlicher
als je ergingen: eine Menge Delicatessen und Weine wurden darin
gänzlich untersagt, für andere nach Gewicht und Preis ein Ma-
ximum festgesetzt, ebenso die Quantität des silbernen Tafelge-
schirrs gesetzlich beschränkt, endlich allgemeine Maximalbeträge
der gewöhnlichen und der Festtagsmahlzeiten vorgeschrieben,
zum Beispiel 593 von 10 und 100 (20 Gr. und 6⅔ Thlr.), 673
von 30 und 300 Sesterzen (2 Thlr. und 20 Thlr.). Zur Steuer
der Wahrheit muſs leider hinzugefügt werden, daſs von allen
vornehmen Römern nicht mehr als drei, und zwar keineswegs die
Gesetzgeber selber, diese stattlichen Gesetze befolgt haben sol-
len; auch diesen dreien aber beschnitt nicht das Gesetz des Staa-
tes den Küchenzettel, sondern das der Stoa. Es lohnt der Mühe
einen Augenblick noch bei dem trotz all dieser Gesetze steigenden
Luxus im Silbergeräth zu verweilen. Im sechsten Jahrhundert
war silbernes Tafelgeschirr mit Ausnahme des althergebrachten
silbernen Salzfasses eine Ausnahme; die karthagischen Gesand-
ten spotteten darüber, daſs sie in jedem Hause, wo man sie ein-
geladen, dasselbe silberne Tafelgeräth wiedergefunden hätten.
Noch Scipio Aemilianus besaſs nicht mehr als 32 Pfund (900 Thlr.)
an verarbeitetem Silber; sein Neffe Quintus Fabius (Consul 633)
brachte es zuerst auf 1000 (28000 Thlr.), Marcus Drusus (Volks-
tribun 663) schon auf 10000 Pfund (280000 Thlr.); in Sullas
Zeit zählte man in der Hauptstadt bereits gegen 150 hundert-
pfündige silberne Prachtschüsseln, von denen manche ihren Be-
sitzer auf die Proscriptionsliste brachte. Um die hiefür ver-
schwendeten Summen zu ermessen, muſs man sich erinnern,
daſs man auch die Arbeit schon mit ungeheuren Preisen be-
zahlte, wie denn für ausgezeichnetes Silbergeräth Gaius Gracchus
den funfzehn-, Lucius Crassus Consul 659 den achtzehnfachen
Metallwerth bezahlte, der letztere für ein Becherpaar eines nam-
haften Silberarbeiters 100000 Sesterzen (7150 Thlr.) gab. So
[384]VIERTES BUCH. KAPITEL XI.
war es verhältniſsmäſsig überall. — Wie es um die Ehe und
Kinderzucht stand, zeigen schon die gracchischen Ackergesetze,
die zuerst darauf eine Prämie setzten (S. 81). Die Scheidung,
einst in Rom fast unerhört, war jetzt ein alltägliches Ereig-
niſs; wenn bei der ältesten römischen Ehe der Mann die Frau
gekauft hatte, so hätte man den jetzigen vornehmen Römern vor-
schlagen mögen, um zu der Sache auch den Namen zu haben,
eine Ehemiethe einzuführen. Selbst ein Mann wie Metellus Mace-
donicus, der durch seine ehrenwerthe Häuslichkeit und seine
zahlreiche Kinderschaar die Bewunderung seiner Zeitgenossen
war, schärfte als Censor 623 den Bürgern die Pflicht im Ehe-
stande zu leben in der Art ein, daſs er denselben bezeichnete als
eine drückende, aber von dem Patrioten pflichtmäſsig zu über-
nehmende öffentliche Last *. — Allerdings gab es Ausnahmen.
In den landstädtischen Kreisen, namentlich in denen der gröſse-
ren Gutsbesitzer, war die alte ehrenwerthe latinische National-
sitte besser bewahrt geblieben. In der Hauptstadt aber war die
catonische Opposition zur Phrase geworden; der Hellenismus
herrschte souverän und, wenn auch einzelne fest und fein orga-
nisirte Naturen, wie Scipio Aemilianus, römische Sitte mit atti-
scher Bildung zu vereinigen wuſsten, war doch hei der groſsen
Menge der Hellenismus gleichbedeutend mit geistiger und sitt-
licher Verderbniſs. Den Rückschlag dieser socialen Uebelstände
auf die politischen Verhältnisse darf man niemals aus den Augen
verlieren, wenn man die römische Revolution verstehen will.
Es war nicht gleichgültig, daſs von den beiden vornehmen Män-
nern, die im J. 662 als oberste Sittenmeister der Gemeinde vor-
standen, der eine dem andern öffentlich vorrückte, daſs er
einer Muräne, dem Stolz seines Fischteichs, bei ihrem Tode
Thränen nachgeweint habe, und dieser wieder jenem, daſs er
drei Frauen begraben und keiner eine Thräne geweint habe.
Es war nicht gleichgültig, daſs im J. 593 auf offenem Markt ein
Redner folgende Schilderung eines senatorischen Civilgeschwor-
nen zum Besten geben konnte, den der angesetzte Termin
in dem Kreise seiner Zechbrüder findet. ‚Sie spielen Hasard,
‚fein parfümirt, die Mätressen um sie herum. Wie der Tag sich
[385]DAS GEMEINWESEN UND SEINE OEKONOMIE.
‚neigt, lassen sie den Bedienten kommen und heiſsen ihn auf der
‚Dingstätte sich umhören, was auf dem Markt vorgefallen sei, wer
‚für und wer gegen den neuen Gesetzvorschlag gesprochen, welche
.Districte dafür, welche dagegen gestimmt hätten. Endlich gehen
‚sie selbst auf den Gerichtsplatz, eben früh genug um sich den
‚Prozeſs nicht selbst auf den Hals zu ziehen. Unterwegs ist in
‚keinem Winkelgäſschen eine Gelegenheit, die sie nicht benutz-
‚ten, denn sie haben sich den Leib voll Wein geschlagen. Ver-
‚drossen kommen sie auf die Dingstätte und geben den Parteien
‚das Wort. Die, die es angeht, tragen ihre Sache vor. Der Ge-
‚schworne heiſst die Zeugen auftreten; er selbst geht bei Seite. Wie
‚er zurückkommt, erklärt er alles gehört zu haben und fordert die
‚Urkunden. Er sieht hinein in die Schriften; kaum hält er vor Wein
‚die Augen auf. Wie er sich dann zurückzieht das Urtheil aus-
‚zufällen, läſst er zu seinen Zechbrüdern sich vernehmen: „was
„gehen mich die langweiligen Leute an? warum gehen wir nicht
„lieber einen Becher Süſsen mit griechischem Wein trinken und
„essen dazu einen fetten Krammetsvogel und einen guten Fisch,
„einen veritablen Hecht von der Tiberinsel?“ Das alles war frei-
lich sehr lächerlich; aber war es nicht auch sehr ernsthaft, daſs
dergleichen Dinge belacht wurden?
Röm. Gesch. II. 25
[[386]]
KAPITEL XII.
Nationalität. Religion. Erziehung.
In dem groſsen Kampfe der Nationalitäten innerhalb des
weiten Umfangs des römischen Reiches erscheinen die secundä-
ren Nationen in dieser Zeit im Zurückweichen oder im Ver-
schwinden. Die bedeutendste unter allen, die phönikische, em-
pfing durch die Zerstörung Karthagos die Todeswunde, an der
sie sich langsam verblutet hat. Die Landschaften Italiens, die ihre
alte Sprache und Sitte bis dahin noch gewahrt hatten, Etrurien
und Samnium, wurden nicht bloſs von den schwersten Schlägen
der sullanischen Reaction getroffen, sondern die politische Nivel-
lirung Italiens nöthigte ihnen auch im öffentlichen Verkehr die
lateinische Sprache und Weise auf und drückte die alten Landes-
sprachen herab zu rasch verkümmernden Volksdialekten. Nir-
gends mehr erscheint im ganzen Umfang des römischen Staates
eine Nationalität als befugt mit der römischen und der griechi-
schen auch nur zu ringen. Dagegen ist extensiv wie intensiv die
latinische Nationalität im entschiedensten Aufschwung. Wie
seit dem Bundesgenossenkrieg jedes italische Grundstück jedem
Italiker zu vollem römischem Eigen zustehen, jeder italische
Tempelgott römische Gabe empfangen kann, wie in ganz Italien
mit Ausnahme der transpadanischen Landschaft seitdem das rö-
mische Recht mit Beseitigung aller anderen Stadt- und Land-
rechte ausschlieſslich gilt: so ist auch damals die römische
Sprache die allgemeine Geschäfts- und bald gleichfalls die allge-
meine Sprache des gebildeten Verkehrs auf der ganzen Halbinsel
von den Alpen bis zur Meerenge geworden. Aber sie beschränkte
[387]NATIONALITÄT.
sich schon nicht mehr auf diese natürlichen Grenzen. Die in Ita-
lien zusammenströmende Capitalmasse, der Reichthum seiner Pro-
ducte, die Intelligenz seiner Landwirthe, die Gewandtheit seiner
Kaufleute fanden keinen hinreichenden Spielraum auf der Halb-
insel; hiedurch und durch den öffentlichen Dienst wurden die Ita-
liker massenweise in die Provinzen geführt (S. 377). Ihre pri-
vilegirte Stellung daselbst privilegirte auch die römische Sprache
und das römische Recht, selbst wo nicht bloſs Römer mit ein-
ander verkehrten (S. 345); überall standen die Italiker zusam-
men als festgeschlossene und organisirte Massen, die Soldaten
in ihren Legionen, die Kaufleute jeder gröſseren Stadt als eigene
Gesellschaften, die in dem einzelnen provinzialen Gerichtsspren-
gel domicilirten oder verweilenden römischen Bürger als ‚Kreise‘
(conventus civium Romanorum) mit ihrer eigenen Geschwornen-
liste und gewissermaſsen mit Gemeindeverfassung; und wenn auch
diese provinzialen Römer regelmäſsig früher oder später nach
Italien zurückgingen, so bildeten sie dennoch allmählich den
Stamm einer festen theils römischen, theils an die römische sich
anlehnenden Mischbevölkerung der Provinzen. Daſs in Spanien,
wo das römische Heer zuerst stehend ward, auch zuerst eigene
Provinzialstädte italischer Verfassung, Carteia, 5S3 (S. 4), Va-
lentia 616 (S. 17), später Palma und Pollentia (S. 18) organi-
sirt worden sind, ward bereits erwähnt. Wenn das Binnenland
noch wenig civilisirt war, das Gebiet der Vaccaeer zum Beispiel
noch lange nach dieser Zeit unter den rauhesten und widerwär-
tigsten Aufenthaltsorten für den gebildeten Italiker genannt wird,
so bezeugen dagegen Schriftsteller und Inschriftsteine, daſs schon
um die Mitte des siebenten Jahrhunderts um Neukarthago und
sonst an der Küste die lateinische Sprache in gemeinem Gebrauch
war. In bewuſster Weise entwickelte zuerst Gaius Gracchus den
Gedanken die Provinzen des römischen Staats durch die italische
Emigration zu colonisiren, das heiſst zu romanisiren und legte
Hand an die Ausführung desselben; obgleich die conservative
Opposition gegen den kühnen Entwurf sich auflehnte, die ge-
machten Anfänge gröſstentheils zerstörte und die Fortführung
hemmte, so blieb doch die Colonie Narbo erhalten, schon an sich
eine bedeutende Erweiterung des lateinischen Sprachgebiets
und noch bei weitem wichtiger als der Merkstein eines groſsen
Gedankens, der Grundstein eines gewaltigen künftigen Baues.
Der antike Gallicismus, ja das heutige Franzosenthum sind von
dort ausgegangen und in ihrem letzten Grunde Schöpfungen
des Gaius Gracchus. Aber die lateinische Nationalität erfüllte
25*
[388]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
nicht bloſs die italischen Grenzen und fing an sie zu überschrei-
ten, sondern sie gelangte auch in sich zu tieferer geistiger Be-
gründung. Wir werden sie im Zuge finden eine klassische Litte-
ratur, einen eigenen höheren Unterricht sich zu schaffen; und
wenn man auch im Vergleich mit den hellenischen Klassikern und
der hellenischen Bildung sich versucht fühlen konnte die schwäch-
liche italische Treibhausproduction gering zu achten, so kam es
doch, namentlich in einer auch bei den Hellenen geistig tief herab-
gekommenen Zeit, für die geschichtliche Entwickelung zunächst
weit weniger darauf an, wie die lateinische klassische Litteratur
und die lateinische Bildung, als darauf, daſs sie neben der grie-
chischen stand — wohl durfte man das Wort des Dichters auch
hier anwenden, daſs der lebendige Tagelöhner mehr ist als der
todte Aias. — Wie rasch und ungestüm aber auch die lateinische
Sprache und Nationalität vorwärts dringt, sie erkennt zugleich
die hellenische an als durchaus gleich, ja früher und besser berech-
tigt und tritt mit dieser überall in das engste Bündniſs oder durch-
dringt sich mit ihr zu gemeinschaftlicher Entwickelung. Die ita-
lische Revolution, die sonst alle nichtlatinischen Nationalitäten
auf der Halbinsel nivellirte, rührte nicht an die Griechenstädte
Tarent, Rhegion, Neapolis, Lokroi (S. 231). Ebenso blieb Mas-
salia, obwohl jetzt umschlossen von römischem Gebiet, fortwäh-
rend eine griechische Stadt und eben als solche fest angeschlos-
sen an Rom. Mit der vollständigen Latinisirung Italiens ging die
steigende Hellenisirung Hand in Hand. In den höheren Schichten
der italischen Gesellschaft wurde die griechische Bildung zum
integrirenden Bestandtheil der eigenen. Der Consul des J. 623,
der Oberpontifex Publius Crassus erregte das Staunen selbst der
kleinasiatischen Griechen, da er als Statthalter von Asia seine ge-
richtlichen Entscheidungen, wie der Fall es erforderte, bald in
gewöhnlichem Griechisch abgab, bald in einem der vier zu Schrift-
sprachen gewordenen Dialekte. Und wenn die italische Litteratur
und Kunst längst unverwandt nach Osten blickte, so begann jetzt
auch die hellenische das Antlitz nach Westen zu wenden. Nicht
bloſs die griechischen Städte in Italien blieben fortwährend in re-
gem geistigem Verkehr mit Griechenland, Kleinasien, Aegypten und
gönnten den dort gefeierten griechischen Poeten und Schauspielern
auch bei sich den gleichen Verdienst und die gleichen Ehren; auch
in Rom wurden jetzt, zuerst 608 bei dem Triumph des Zerstörers
von Korinth, die musischen Spiele der Griechen, Wettkämpfe im
Ringen, Spielen, Recitiren und Declamiren gehalten. Die griechi-
schen Litteraten schlugen schon ihre Fäden bis in die vornehme
[389]NATIONALITÄT.
römische Gesellschaft, vor allem in den scipionischen Kreis, des-
sen hervorragende griechische Mitglieder, der Geschichtschreiber
Polybios, der Philosoph Panaetios bereits mehr der römischen
als der griechischen Entwickelungeschichte angehören. Aber auch
in anderen minder hoch stehenden Zirkeln begegnen ähnliche
Beziehungen; wir gedenken eines andern Zeitgenossen Scipios,
des Philosophen Kleitomachos, weil in seinem Leben zugleich
die gewaltige Völkermischung dieser Zeit sinnlich vor das Auge
tritt: ein geborner Karthager, sodann in Athen Zuhörer des Kar-
neades und später dessen Nachfolger in seiner Professur, ver-
kehrte er von Athen aus mit den gebildetsten Männern Italiens,
dem Historiker Aulus Albinus und dem Dichter Lucilius und
widmete theils dem römischen Consul, der die Belagerung Kar-
thagos eröffnete, Lucius Censorinus, ein wissenschaftliches Werk,
theils seinen als Sclaven nach Italien geführten Mitbürgern eine
philosophische Trostschrift. Hatten namhafte griechische Litte-
raten bisher wohl vorübergehend als Gesandte, Verbannte oder
sonst wie ihren Aufenthalt in Rom genommen, so fingen sie jetzt
schon an dort sich niederzulassen; wie zum Beispiel der schon
genannte Panaetios in Scipios Hause lebte und der Hexameter-
macher Archias von Antiochia im J. 652 sich in Rom niederlieſs
und von der Improvisirkunst und von Heldengedichten auf römi-
sche Consulare sich anständig ernährte. Sogar Gaius Marius, der
schwerlich von seinem Carmen eine Zeile verstand und überhaupt
zum Maecen möglichst übel sich schickte, konnte nicht umhin
den Verskünstler zu patronisiren. Während also das geistige und
litterarische Leben wenn nicht die reineren, doch die vornehme-
ren Elemente der beiden Nationen mit einander in Verbindung
brachte, flossen andererseits durch das massenhafte Eindringen
der kleinasiatischen und syrischen Sclavenschaaren und durch
die kaufmännische Einwanderung aus dem griechischen und halb-
griechischen Osten die rohesten und stark mit orientalischen
und überhaupt barbarischen Bestandtheilen versetzten Schichten
des Hellenismus zusammen mit dem italischen Proletariat und
gaben auch diesem eine hellenische Färbung. Die Bemerkung
Ciceros, daſs neue Sprache und neue Weise zuerst in den See-
städten aufkommt, dürfte zunächst auf das halbhellenische Wesen
in Ostia, Puteoli und Brundisium sich beziehen, wo mit der
fremden Waare auch die fremde Sitte zuerst Eingang und von
da aus weiteren Vertrieb fand. — Das unmittelbare Resultat dieser
vollständigen Revolution in den Nationalitätsverhältnissen war
allerdings nichts weniger als erfreulich. Italien wimmelte von
[390]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Griechen, Syrern, Phoenikiern, Juden, Aegyptern, die Provinzen
von Römern; die scharf ausgeprägten Volksthümlichkeiten rieben
sich überall und verschliffen zusehends sich an einander; es
schien nichts übrig bleiben zu sollen als der allgemeine Charak-
ter der Vernutzung. Was das lateinische Wesen an Ausdehnung
gewann, verlor es an Neuheit und Frische; vor allem Rom selbst,
in dem der Mittelstand am frühsten und vollständigsten ver-
schwand und nichts übrig blieb als die grossen Herren und die
Bettler, beide in gleichem Maſse Kosmopoliten. Cicero versichert,
daſs um 660 die allgemeine Bildung in den latinischen Städten
höher stand als in Rom selbst; dies bestätigt sich durch die Litte-
ratur dieser Zeit, deren erfreulichste, originellste und eigenthüm-
lichste Erzeugnisse, wie die nationale Komödie, das atellanische
Schauspiel und die lucilische Satire, in Latium oder in latinischen
Colonien zu Hause sind. Daſs der italische Hellenismus der
unteren Schichten den widerwärtigen Stempel eines zugleich mit
allen Auswüchsen der Cultur und mit oberflächlich übertünchter
Barbarei behafteten Kosmopolitismus trägt, versteht sich von
selbst; aber selbst in der bessern Gesellschaft war der maſshal-
tende Sinn des scipionischen Kreises eine vereinzelt stehende
Erscheinung. Statt zu dem edlen Hellenenthum griff die Masse
zu den modernsten und frivolsten Erzeugnissen des griechischen
Geistes; statt im hellenischen Sinn das römische Wesen zu ge-
stalten, begnügte man sich von dem Nachbar zu borgen und setzte
den eigenen Geist möglichst wenig in Thätigkeit. In diesem Sinn
äuſserte der arpinatische Gutsbesitzer Marcus Cicero, der Vater
des Redners, daſs von den Römern, eben wie von den syrischen
Sclaven, jeder um so weniger tauge, je mehr er griechisch ver-
stehe. — Diese nationale Decomposition ist unerquicklich wie die
ganze Zeit, aber auch eben wie diese ungemein bedeutsam und
folgenreich. Der Völkerkreis, den wir die alte Welt zu nennen ge-
wohnt sind, schreitet fort von der äuſserlichen Einigung unter der
Machtgewalt Roms zu der inneren unter der Herrschaft der mo-
dernen wesentlich auf hellenischen Elementen ruhenden Bildung.
Ueber den Trümmern der Völkerschaften zweiten Ranges vollzieht
sich zwischen den beiden herrschenden Nationen stillschweigend
das groſse geschichtliche Compromiſs; die griechische und die la-
teinische Nation schlieſsen mit einander Frieden. Auf dem Gebiete
der Bildung verzichten die Griechen, auf dem politischen die Römer
auf ihre Exclusivität; im Unterricht wird dem Latein eine freilich
beschränkte und unvollständige Gleichstellung mit dem Griechi-
schen eingeräumt; andrerseits gestattet zuerst Sulla den fremden
[391]NATIONALITÄT. RELIGION.
Gesandten vor dem römischen Senat ohne Dollmetscher griechisch
zu reden. Die Zeit kündigt sich an, wo das römische Gemein-
wesen in einen zwiesprachigen Staat übergehen und der rechte
Erbe des Thrones und der Gedanken Alexanders des Groſsen aus
dem Westen kommen wird, zugleich ein Römer und ein Grieche.
Was schon der Ueberblick der nationalen Verhältnisse also
zeigt, die Unterdrückung der secundären und die gegenseitige
Durchdringung der beiden primären Nationalitäten, das ist im Ge-
biete der Religion, der Volkserziehung, der Litteratur und der
Kunst noch im Einzelnen genauer darzulegen.
Die römische Religion war mit dem römischen Gemein-
wesen und dem römischen Haushalt so innig verwachsen, so
gar nichts anderes als die fromme Wiederspiegelung der römi-
schen Bürgerwelt, daſs die politische und sociale Revolution
nothwendiger Weise auch das Religionsgebäude über den Haufen
warf. Der alte italische Volksglaube stürzt zusammen; über sei-
nen Trümmern erheben sich wie über den Trümmern des poli-
tischen Gemeinwesens Oligarchie und Tyrannis, so auf der einen
Seite der Unglaube, die Staatsreligion, der Hellenismus, auf der
andern der Aberglaube, das Sectenwesen, die Religion der Orien-
talen. Allerdings gehen die Anfänge von beidem wie ja auch die
Anfänge der politisch-socialen Revolution bereits in die vo-
rige Epoche zurück (I, 637-640). Schon damals rüttelte die
hellenische Bildung der höheren Kreise im Stillen an dem Glau-
ben der Väter; schon Ennius bürgerte die Allegorisirung und
Historisirung der hellenischen Religion in Italien ein; schon da-
mals ward der Senat gezwungen die Uebersiedelung des klein-
asiatischen Kybelecults nach Rom gut zu heiſsen und gegen an-
deren noch schlimmeren Aberglauben, namentlich das bakchische
Muckerthum aufs ernstlichste einzuschreiten. Indeſs wie über-
haupt in der vorhergehenden Periode die Revolution mehr in
den Gemüthern sich vorbereitete als äuſserlich sich vollzog, so
ist auch die religiöse Umwälzung im Wesentlichen das Werk der
gracchischen und sullanischen Zeit.
Versuchen wir zunächst die an den Hellenismus sich anleh-
nende Richtung zu verfolgen. Die hellenische Nation, die weit
früher als die italische erblüht und abgeblüht war, hatte längst
die Epoche des Glaubens durchmessen und seitdem sich aus-
schlieſslich bewegt auf dem Gebiet der Speculation und Reflexion;
seit langem gab es dort keine Religion mehr, sondern nur noch
Philosophie. Aber auch die philosophische Thätigkeit des helle-
nischen Geistes hatte, als sie auf Rom zu wirken begann, die
[392]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Epoche der productiven Speculation bereits weit hinter sich und
war in dem Stadium angekommen, wo nicht bloſs keine wahr-
haft neuen Systeme mehr entstehen, sondern auch die Fassungs-
kraft für die vollkommensten der älteren zu schwinden und man
auf die erst schulmäſsige und bald scholastische Ueberlieferung
der unvollkommneren Philosopheme der Vorfahren sich zu be-
schränken anfängt; in dem Stadium also, wo die Philosophie
statt den Geist zu vertiefen und zu befreien ihn vielmehr verflacht
und in die schlimmsten aller Fesseln, die selbstgeschmiedeten
ihn schlägt. Der Zaubertrank der Speculation, immer gefährlich,
ist, verdünnt und abgestanden, sicheres Gift. So schal und ver-
wässert reichten die gleichzeitigen Griechen ihn den Römern,
und diese verstanden weder ihn zurückzuweisen noch von den
lebenden Schulmeistern auf die todten Meister zurückzugehen.
Platon und Aristoteles, um von der vorsokratischen Speculation
zu schweigen, sind ohne wesentlichen Einfluſs auf die römische
Bildung geblieben, wenn gleich die erlauchten Namen gern ge-
nannt, ihre faſslicheren Schriften auch wohl gelesen und über-
setzt wurden. So wurden denn die Römer in der Philosophie
nichts als schlechter Lehrer schlechtere Schüler. Auſser der
historisch-rationalistischen Auffassung der Religion, welche die
Mythen auflöste in Lebensbeschreibungen verschiedener in grauer
Vorzeit lebender Wohlthäter des Menschengeschlechtes, aus denen
der Aberglaube Götter gemacht habe — ein System, als dessen
litterarischer Vertreter der platte Reiseroman des Euhemeros von
Messene (um 450 d. St.) angesehen zu werden pflegt —, sind
hauptsächlich drei Philosophenschulen für Italien von Bedeutung
geworden: die beiden dogmatischen des Epikuros († 484) und
des Zenon († 491) und die skeptische des Arkesilas († 513)
und Karneades (541-625), oder mit den Schulnamen der Epi-
kureismus, die Stoa und die neuere Akademie. Die letzte dieser
Richtungen, welche von der Unmöglichkeit des überzeugten Wis-
sens ausging und an dessen Stelle nur ein für das praktische Be-
dürfniſs ausreichendes vorläufiges Meinen gestattete, bewegte
sich hauptsächlich polemisch, indem sie jeden Satz des positiven
Glaubens wie des philosophischen Dogmatismus in den Schlingen
ihrer Dilemmen fing. Sie steht in sofern ungefähr auf einer Linie
mit der ältern Sophistik, nur daſs die Sophisten begreiflicher Weise
mehr gegen den Volksglauben, Karneades und die Seinen mehr
gegen ihre philosophischen Collegen ankämpften. Dagegen tra-
fen Epikuros und Zenon überein sowohl in dem Ziel einer
rationellen Erklärung des Wesens der Dinge als auch in der
[393]RELIGION.
physiologischen von dem Begriff der Materie ausgehenden Me-
thode. Aus einander gingen sie, insofern Epikuros, der Atomen-
lehre Demokrits folgend, das Urwesen als starre Materie faſst
und diese nur durch mechanische Verschiedenheiten in die Man-
nigfaltigkeit der Dinge überführt, Zenon dagegen, sich anlehnend
an den Ephesier Herakleitos, schon in den Urstoff eine dynami-
sche Gegensätzlichkeit und eine auf und nieder wogende Bewe-
gung hineinlegt; woraus denn die weiteren Unterschiede sich
ableiten: daſs im epikureischen System die Götter gleichsam
nicht vorhanden und höchstens der Traum der Träume sind, die
stoischen Götter dagegen die ewig rege Seele der Welt, die als
Geist, als Sonne, als Gott mächtig ist über den Körper, die Erde,
die Natur; daſs Epikuros nicht, wohl aber Zenon eine Weltregie-
rung und eine persönliche Unsterblichkeit der Seele anerkennt;
daſs das Ziel des menschlichen Strebens nach Epikuros ist das
unbedingte weder von körperlichem Begehren noch von geisti-
gem Streiten aufgeregte Gleichgewicht, dagegen nach Zenon die
durch das stetige Gegeneinanderstreben des Geistes und Körpers
immer gesteigerte und zu dem Einklang mit der ewig streiten-
den und ewig friedlichen Natur aufstrebende menschliche Thä-
tigkeit. In einem Puncte aber stimmten der Religion gegenüber
alle diese Schulen zusammen: daſs der Glaube als solcher nichts
sei und nothwendig ersetzt werden müsse durch die Reflexion,
mochte diese übrigens mit Bewuſstsein darauf verzichten, zu
einem Resultat zu gelangen, wie die Akademie, oder die Vorstel-
lungen des Volksglaubens verwerfen, wie die Schule Epikurs,
oder dieselben theils motivirt festhalten, theils modificiren, wie
die Stoiker thaten. — Es war danach nur folgerichtig, daſs die
erste Berührung der hellenischen Philosophie mit der römischen
ebenso glaubensdurstigen als antispeculativen Nation durchaus
feindlicher Art war. Die Religion hatte vollkommen Recht von
diesen philosophischen Systemen sowohl die Befehdung wie die
Begründung sich zu verbitten, die beide ihr eigentliches Wesen
aufhoben. Der Staat, der in der Religion instinctmäſsig sich selber
angegriffen fühlte, verhielt sich billig gegen die Philosophen wie
die Festung gegen die Eclaireurs der anrückenden Belagerungs-
armee und wies schon 593 mit den Rhetoren auch die griechi-
schen Philosophen aus Rom aus. In der That war auch gleich
das erste gröſsere Debut der Philosophie in Rom eine förmliche
Kriegserklärung gegen Glaube und Sitte. Es ward veranlaſst
durch die Occupation von Oropos durch die Athener, mit deren
Rechtfertigung diese drei der angesehensten Professoren der
[394]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Philosophie, darunter der Meister den modernen Sophistik Kar-
neades beauftragten (599). Die Wahl war in sofern zweck-
mäſsig, als der ganz schandbare Handel jeder Rechtfertigung im
gewöhnlichen Verstand spottete; dagegen paſste es vollkommen
für den Fall, wenn Karneades durch Rede und Gegenrede bewies,
daſs sich gerade ebenso viele und ebenso nachdrückliche Gründe
zum Lobe der Ungerechtigkeit vorbringen lieſsen wie zum Lobe
der Gerechtigkeit und wenn er in bester logischer Form darthat,
daſs man mit gleichem Recht von den Athenern verlangen könne
Oropos herauszugeben und von den Römern sich wieder zu
beschränken auf ihre alten Strohhütten am Palatin. Die der grie-
chischen Sprache mächtige Jugend ward durch den Scandal wie
durch den raschen und emphatischen Vortrag des gefeierten Man-
nes schaarenweise angezogen; aber diesmal wenigstens konnte
man Cato nicht Unrecht geben, wenn er nicht bloſs die dialekti-
schen Gedankenreihen der Philosophen unhöflich genug mit den
langweiligen Psalmodien der Klageweiber verglich, sondern auch
im Senat darauf drang einen Menschen auszuweisen, der die
Kunst verstand Recht zu Unrecht und Unrecht zu Recht zu ma-
chen und dessen Vertheidigung in der That nichts war als ein
schamloses und fast höhnisches Eingeständniſs des Unrechts. In-
deſs dergleichen Ausweisungen reichten nicht weit, um so weniger,
da es doch der römischen Jugend nicht verwehrt werden konnte
in Rhodos oder Athen philosophische Vorträge zu hören. Man ge-
wöhnte sich die Philosophie zuerst wenigstens als nothwendiges
Uebel zu dulden, bald auch für die in ihrer Naivetät nicht mehr
haltbare römische Religion in der fremden Philosophie eine Stütze
zu suchen, die als Glauben zwar sie ruinirte, aber dafür doch dem
gebildeten Mann gestattete, die Namen und Formen des Volks-
glaubens anständiger Weise einigermaſsen festzuhalten. Indeſs
diese Stütze konnte weder der Euhemerismus sein noch die Sy-
steme des Karneades und des Epikuros. Die Mythenhistorisirung
trat dem Volksglauben allzu schroff entgegen, indem sie die Göt-
ter geradezu für gute Menschen erklärte; Karneades zog gar ihre
Existenz in Zweifel und Epikuros sprach ihnen wenigstens jeden
Einfluſs auf die Geschicke der Menschen ab. Zwischen diesen
Systemen und der römischen Religion war ein Bündniſs unmög-
lich; sie waren und blieben verfehmt. Noch in Ciceros Schriften
wird es für Bürgerpflicht erklärt dem Euhemerismus Widerstand
zu leisten, der dem Gottesdienst zu nahe trete und von den in
seinen Gesprächen auftretenden Akademikern und Epikureern
muſs jener sich entschuldigen, daſs er als Philosoph zwar ein
[395]RELIGION.
Jünger des Karneades, aber als Bürger und Pontifex ein recht-
gläubiger Bekenner des capitolinischen Jupiter sei, der Epikureer
sogar schlieſslich sich gefangen geben und sich bekehren. Keines
dieser drei Systeme ward eigentlich populär. Die platte Begreif-
lichkeit des Euhemerismus übte wohl eine gewisse Anziehungs-
kraft auf die Römer; Ennius hat den philosophisch-historischen
Reiseroman des Euhemeros übersetzt und auf die conventionelle
Geschichte Roms hat diese zugleich kindische und altersschwa-
che Historisirung der Fabel nur zu tief eingewirkt; auf die rö-
mische Religion blieb sie deſshalb ohne wesentlichen Einfluſs,
weil diese von Haus aus nur allegorisirte, nicht fabulirte und es
dort nicht wie in Hellas möglich war Biographien Zeus des ersten,
zweiten und dritten zu schreiben. Die moderne Sophistik konnte
nur gedeihen, wo wie in Athen die geistreiche Maulfertigkeit zu
Hause war und überdies die langen Reihen gekommener und ge-
gangener philosophischer Systeme hohe Schuttlagen geistiger
Brandstätten aufgeschichtet hatten. Gegen den epikurischen
Quietismus lehnte zwar auch alles sich auf, was in dem römi-
schen so durchaus auf Thätigkeit gerichteten Wesen tüchtig und
brav war; doch fand derselbe sein Publicum und es ist wohl dies
der Grund, weſshalb die Polizei dieser Secte länger als den übri-
gen den Krieg zu machen fortfuhr. Indeſs blieb auch der Epi-
kureismus in Italien in dieser Epoche wenigstens auf einen engen
Kreis beschränkt, in dem er nicht so sehr als philosophisches Sy-
stem, sondern als eine Art philosophischen Dominos diente,
unter dem — sehr gegen die Absicht seines streng sittlichen Ur-
hebers — der gedankenlose Sinnengenuſs für die gute Gesell-
schaft sich maskirte; wie denn einer der frühesten Bekenner
dieser Secte Titus Albucius in Lucilius Gedichten als das Proto-
typ des übel hellenisirten Römers figurirt. — Gar anders stand
und wirkte in Italien die stoische Philosophie, indem sie an die
Landesreligion so eng sich anschloſs, wie das Wissen sich dem
Glauben zu accommodiren überhaupt vermag. Der Stoiker hielt
grundsätzlich an dem Volksglauben mit seinen Göttern und Ora-
keln insofern fest, als er darin eine instinctive Erkenntniſs sah,
auf welche die wissenschaftliche Erkenntniſs Rücksicht zu neh-
men, ja in zweifelhaften Fällen sich ihr unterzuordnen verpflichtet
sei. Er glaubte mehr anders als das Volk als eigentlich ande-
res: der wesentlich wahre und höchste Gott zwar war ihm die
Weltseele, aber auch jede Manifestation des Urgottes war wie-
derum Gott, die Gestirne vor allem, aber auch die Erde, der
Weinstock, die Seele des hohen Sterblichen, den das Volk als
[396]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Heros ehrte, ja überhaupt jeder abgeschiedene Geist eines ge-
wordenen Menschen. Diese Philosophie paſste in der That bes-
ser nach Rom als in die eigene Heimath. Der Tadel des from-
men Gläubigen, daſs der Gott des Stoikers weder Geschlecht
noch Alter noch Körperlichkeit habe und aus einer Person in
einen Begriff verwandelt sei, hatte in Griechenland einen Sinn,
nicht aber in Rom. Die grobe Allegorisirung und sittliche Puri-
ficirung, wie sie der stoischen Götterlehre eigen war, verdarb den
besten Kern der hellenischen Mythologie; aber die auch in ihrer
naiven Zeit dürftige plastische Kraft der Römer hatte nicht mehr
erzeugt als eine leichte Hülle, deren Abstreifung ohne sonder-
lichen Schaden geschehen konnte und die Gottheit wieder zu-
rückführte auf die Anschauung oder den Begriff, aus dem sie
sich gestaltet hatte. Pallas Athene mochte zürnen, wenn sie sich
plötzlich in den Begriff des Gedächtnisses verwandelt fand; Mi-
nerva war auch bisher eben nicht viel mehr gewesen. Die supra-
naturalistische stoische und die allegorische römische Theologie
fielen in ihrem Ergebniſs im Ganzen zusammen. Selbst aber
wenn der Philosoph einzelne Sätze der Priesterlehre als zweifel-
haft oder als falsch bezeichnen muſste, wie denn zum Beispiel
die Stoiker die Vergötterungslehre verwerfend in Hercules, Ka-
stor, Pollux nichts als die Geister ausgezeichneter Menschen
sahen und ebenso das Götterbild nicht als Repräsentanten der
Gottheit gelten lassen konnten, so war es wenigstens nicht die
Art der Anhänger Zenons gegen diese Irrlehren anzukämpfen
und die falschen Götter zu stürzen; vielmehr bewiesen sie über-
all der Landesreligion Rücksicht und Ehrfurcht auch in ihren
Schwächen. Auch die Richtung der Stoa auf eine casuistische
Moral und auf die rationelle Behandlung der Fachwissenschaften
war ganz im Sinne der Römer, zumal der Römer dieser Zeit,
welche nicht mehr wie die Väter in unbefangener Weise Zucht
und gute Sitte übten, sondern deren naive Sittlichkeit auflösten
in einen Katechismus erlaubter und unerlaubter Handlungen;
deren Grammatik und Jurisprudenz überdies dringend eine me-
thodische Behandlung erheischten ohne doch die Fähigkeit zu
besitzen diese aus sich selber zu entwickeln. So incorporirte die
Stoa als ein zwar dem Ausland entlehntes, aber auf italischem
Boden acclimatisirtes Gewächs sich durchaus dem römischen
Staatshaushalt und wir begegnen ihrer Entwickelung auf den ver-
schiedenartigsten Gebieten. Ihre Anfänge reichen ohne Zweifel
weiter zurück; aber zur vollen Geltung in den höheren Schichten
der römischen Gesellschaft gelangte die Stoa zuerst durch den
[397]RELIGION.
Kreis, der sich um Scipio Aemilianus gruppirte. Panaetios von
Rhodos, der Lehrmeister Scipios und aller ihm nahestehender
Männer in der stoischen Philosophie und beständig in seinem
Gefolg, sogar auf Reisen sein gewöhnlicher Begleiter, verstand es
das System geistreichen Weltmännern nahe zu bringen, dessen
speculative Seite zurücktreten zu lassen und die Dürre der Ter-
minologie, die Flachheit des Moralkatechismus einigermaſsen zu
mildern, namentlich auch durch Herbeiziehung der älteren Philo-
sophen, unter denen Scipio selbst den xenophonteischen Sokra-
tes vorzugsweise liebte. Seitdem bekannten zur Stoa sich die
namhaftesten Staatsmänner und Gelehrten, unter andern die Be-
gründer der wissenschaftlichen Philologie und der wissenschaft-
lichen Jurisprudenz, Stilo und Quintus Scaevola. Der schul-
mäſsige Schematismus, der in diesen Fachwissenschaften seit-
dem wenigstens äuſserlich herrscht und namentlich anknüpft an
eine wunderliche charadenhaft geistlose Etymologisirmethode,
stammt aus der Stoa. Aber unendlich wichtiger ist die aus Ver-
schmelzung der stoischen Philosophie und der römischen Re-
ligion entstehende neue Staatsphilosophie und Staatsreligion.
Das speculative Element, von Haus aus in dem zenonischen Sy-
stem wenig energisch ausgeprägt und schon weiter abgeschwächt,
als dasselbe in Rom Eingang fand, nachdem bereits ein Jahrhun-
dert hindurch die griechischen Schulmeister sich beflissen hat-
ten diese Philosophie in die Knabenköpfe hinein und damit den
Geist aus ihr hinauszutreiben, trat weiter noch zurück in Rom,
wo Niemand speculirte als der Wechsler. Es war wenig mehr die
Rede von der idealen Entwickelung des in der Seele des Menschen
waltenden Gottes oder göttlichen Weltgesetzes. Die stoischen
Philosophen zeigten sich nicht unempfänglich für die recht ein-
trägliche Auszeichnung, ihr System zur halbofficiellen römischen
Staatsphilosophie erhoben zu sehen, und erwiesen sich über-
haupt geschmeidiger, als man es nach ihren rigorosen Princi-
pien hätte erwarten sollen. Ihre Lehre von den Göttern und vom
Staat zeigte bald eine seltsame Familienähnlichkeit mit den realen
Institutionen ihrer Brotherren; statt über den kosmopolitischen
Philosophenstaat stellten sie Betrachtungen an über die weise
Ordnung des römischen Beamtenwesens; und wenn die feineren
Stoiker wie Panaetios die göttliche Offenbarung durch Wunder
und Zeichen als denkbar, aber ungewiſs dahin gestellt, die Stern-
deuterei nun gar entschieden verworfen hatten, so verfochten
schon seine nächsten Nachfolger jene Offenbarungslehre, das
heiſst die römische Auguraldisciplin, so steif und fest wie jeden
[398]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
andern Schulsatz und machten sogar der Astrologie höchst un-
philosophische Zugeständnisse. Das Hauptstück des Systems
ward immer mehr die casuistische Pflichtenlehre. Sie kam dem
hohlen Tugendstolz entgegen, in welchem die Römer dieser
Zeit in der vielfach demüthigenden Berührung mit den Grie-
chen Entschädigung suchten, und formulirte den angemesse-
nen Dogmatismus der Sittlichkeit, der wie jede wohlerzogene
Moral mit herzerstarrender Rigorosität gelegentlich die höf-
lichste Nachsicht verbindet *. Ihre praktischen Resultate wer-
den kaum viel höher anzuschlagen sein als daſs, wie gesagt, in
zwei oder drei vornehmen Häusern der Stoa zu Liebe schlecht
gegessen ward. — Dieser neuen Staatsphilosophie eng ver-
wandt oder eigentlich ihre andere Seite ist die neue Staats-
religion, deren wesentliches Kennzeichen das bewuſste Fest-
halten der als irrationell erkannten Sätze des Volksglaubens aus
äuſseren Zweckmäſsigkeitsgründen ist. Schon einer der her-
vorragendsten Männer des scipionischen Kreises, der Grieche
Polybios spricht es unverhohlen aus, daſs das wunderliche und
schwerfällige römische Religionsceremoniell einzig der Menge
wegen erfunden sei, die freilich, da die Vernunft nichts über sie
vermöge, mit Zeichen und Wundern beherrscht werden müsse,
während verständige Leute allerdings der Religion nicht be-
dürften. Ohne Zweifel theilten Polybios römische Freunde im
Wesentlichen diese Gesinnung, wenn sie auch nicht in so cruder
und so platter Weise Wissenschaft und Religion sich entgegen
setzten. Weder Laelius noch Scipio Aemilianus konnten in der
Auguraldisciplin, an die auch Polybios zunächst denkt, etwas an-
deres sehen als eine politische Institution; doch war der Natio-
nalsinn in ihnen zu mächtig und das Anstandsgefühl zu fein, als
daſs sie mit solchen bedenklichen Erörterungen öffentlich hätten
auftreten mögen. Aber schon in der folgenden Generation trug
der Oberpontifex Quintus Scaevola (Consul 659; S. 201. 312)
wenigstens in seiner mündlichen Rechtsunterweisung unbedenk-
lich die Sätze vor, daſs es eine zwiefache Religion gebe, eine ver-
standesmäſsige philosophische und eine nicht verstandesmäſsige
traditionelle, daſs jene sich nicht eigne zur Staatsreligion, da sie
mancherlei enthalte was dem Volk zu wissen unnütz oder sogar
schädlich sei, daſs demnach die überlieferte Staatsreligion blei-
ben müsse wie sie sei. Nur eine weitere Entwickelung desselben
[399]RELIGION.
Grundgedankens ist die varronische Theologie, in der die römi-
sche Religion durchaus behandelt wird als ein Staatsinstitut. Der
Staat, wird hier gelehrt, sei älter als die Götter des Staats wie
der Maler älter als das Gemälde; wenn es sich darum handelte
die Götter neu zu machen, würde man allerdings wohlthun sie
zweckdienlicher und den Theilen der Weltseele principmäſsig
entsprechender zu machen und zu benennen, auch die nur irrige
Vorstellungen erweckenden Götterbilder * und das verkehrte Opfer-
wesen zu beseitigen; allein da diese Einrichtungen einmal bestän-
den, so müsse jeder gute Bürger sie kennen und befolgen und da-
zuthun, daſs ‚der gemeine Mann‘ die Götter vielmehr höher achten
als geringschätzen lerne. Daſs der gemeine Mann, zu dessen Besten
die Herren ihren Verstand gefangen gaben, diesen Glauben jetzt
verschmähte und sein Heil anderswo suchte, versteht sich von
selbst und wird weiterhin sich zeigen; und so war denn die rö-
mische Hochkirche fertig, eine scheinheilige Priester- und Levi-
tenschaft ohne gläubige Gemeinde. Die nothwendige Folge davon,
daſs man die Landesreligion für eine politische Institution erklärte,
war es, daſs die politischen Parteien anfingen auch das Gebiet
der Staatskirche als Tummelplatz für Angriff und Vertheidigung
zu betrachten; was namentlich der Fall war mit der Augural-
wissenschaft und mit den Wahlen zu den Priestercollegien. Die
alte und natürliche Uebung die Bürgerversammlung zu entlassen,
wenn ein Gewitter heraufzog, hatte unter den Händen der römi-
schen Augurn sich zu einem weitläufigen System verschiedener
Himmelszeichen und daran sich knüpfender Verhaltungsregeln
entwickelt; in den ersten Decennien dieser Epoche ward durch
das aelische und das fufische Gesetz dies so weit ausgedehnt, daſs
jede Volksversammlung auseinanderzugehen genöthigt war, wenn
es einem höheren Beamten einfiel nach Gewitterzeichen am Him-
mel zu schauen und die römische Oligarchie war stolz auf den
schlauen Gedanken fortan durch eine einzige fromme Lüge je-
dem Volksbeschluſs den Stempel der Nichtigkeit aufdrücken zu
können. Umgekehrt lehnte die römische Opposition sich auf
gegen die alte Uebung, daſs die vier höchsten Priestercollegien
bei entstehenden Vacanzen sich selber ergänzten und forderte die
Erstreckung der Volkswahl auch auf die Stellen selbst, wie sie
[400]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
für die Vorstandschaften dieser Collegien schon früher eingeführt
war (I, 602). Es widersprach dies allerdings dem Geiste dieser
Körperschaften, aber dieselben hatten kein Recht darüber sich
zu beklagen, nachdem sie ihrem Geiste selbst untreu geworden
waren und zum Beispiel der Regierung mit religiösen Cassa-
tionsgründen auf Verlangen an die Hand gingen. Diese Angele-
genheit ward ein Zankapfel der Parteien; den ersten Sturm
im J. 609 schlug der Senat ab, wobei namentlich der scipioni-
sche Kreis für die Verwerfung des Antrags den Ausschlag gab;
dagegen ging im J. 650 mit der früher bei der Wahl der Vor-
stände gemachten Beschränkung zum Besten bedenklicher Ge-
wissen, daſs nicht die ganze Bürgerschaft, sondern nur der klei-
nere Theil der Bezirke zu wählen habe, der Vorschlag durch
(S. 188); endlich stellte Sulla das Cooptationsrecht in vollem
Umfang wieder her (S. 335). Mit dieser Fürsorge der Conser-
vativen für die reine Landesreligion vertrug es natürlich sich
aufs Beste, daſs eben in den vornehmsten Kreisen mit der-
selben offen Spott getrieben und sie sehr häufig dazu be-
nutzt ward den Scandal pikanter zu machen. Es war ein
Lieblingsvergnügen vornehmer junger Herren zur Nachtzeit auf
den Straſsen die Götterbilder zu schänden oder zu verstümmeln
(S. 200). Gewöhnliche Liebeshändel waren längst gemein und
Verständnisse mit Ehefrauen fingen an es zu werden; aber ein
Verhältniſs zu einer Vestalin war so pikant wie in der Welt des
Decamerone die Nonnenliebschaft und das Klosterabenteuer.
Bekannt ist der arge Handel des J. 640 fg., in welchem drei Ve-
stalinnen, Töchter der vornehmsten Familien, und deren Lieb-
haber, junge Männer gleichfalls aus den besten Häusern, zuerst
vor dem Pontificalcollegium, und da dies die Sache zu vertuschen
suchte, vor einem durch eigenen Volksschluſs eingesetzten auſser-
ordentlichen Gericht wegen Unzucht zur Verantwortung gezogen
und sämmtlich zum Tode verurtheilt wurden. Solchen Scandal
nun konnten freilich gesetzte Leute nicht billigen; aber dagegen
war nichts einzuwenden, daſs man die positive Religion im Stil-
len und im vertrauten Kreis albern fand; die Augurn konnten,
wenn einer den andern fungiren sah, sich einander ins Gesicht
lachen unbeschadet ihrer religiösen Pflichten. Man gewinnt die
bescheidene Heuchelei verwandter Richtungen ordentlich lieb,
wenn man die crasse Unverschämtheit der römischen Priester
und Leviten damit vergleicht. Ganz unbefangen ward die officielle
Religion als ein hohles Gerüste behandelt, das nur noch den po-
litischen Maschinisten diente und mit seinen zahllosen Winkeln
[401]RELIGION.
und Fallthüren, wie es fiel, jeder Partei dienen konnte und ge-
dient hat. Zumeist sah allerdings die Oligarchie ihr Palladium in
der Staatsreligion, vornämlich in der Auguraldisciplin; aber
auch die Gegenpartei machte keine principielle Opposition gegen
ein Institut, das nur noch ein Scheinleben hatte, sondern be-
trachtete dasselbe im Ganzen als eine Schanze, die aus dem Be-
sitz des Feindes in den eigenen übergehen könne.
Im scharfen Gegensatz gegen dies eben geschilderte Reli-
gionsgespenst stehen die verschiedenen fremden, meistentheils
orientalischen Culte, welche diese Epoche hegte und pflegte
und denen wenigstens eine sehr entschiedene Lebenskraft nicht
abgesprochen werden kann. Sie begegnen überall, bei den vor-
nehmen Damen und Herren wie in den Sclavenkreisen, bei dem
General wie bei dem Lanzknecht, in Italien wie in den Provin-
zen. Es ist unglaublich, wie hoch hinauf dieser Aberglaube be-
reits reicht. Als im kimbrischen Krieg eine syrische Prophetin
Martha sich erbot die Wege und Mittel zur Ueberwindung der
Deutschen dem Senat an die Hand zu geben, wies dieser zwar sie
mit Verachtung zurück; aber die römischen Damen und nament-
lich Marius eigene Gemahlin expedirten sie dennoch nach dem
Hauptquartier, wo der Gemahl sie bereitwillig aufnahm und mit
sich herumführte, bis die Teutonen geschlagen waren. Die Füh-
rer der verschiedensten Parteien im Bürgerkrieg, Marius, Octa-
vius, Sulla trafen zusammen in dem Glauben an Zeichen und
Orakel. Selbst der Senat muſste während desselben in den Wir-
ren des J. 667 sich dazu verstehen den Faseleien einer verrückten
Prophetin gemäſs Anordnungen zu treffen. Für das Erstarren
der römisch-hellenischen Religion wie für das im Steigen be-
griffene Bedürfniſs der Menge nach stärkeren religiösen Stimu-
lantien ist es bezeichnend, daſs der Aberglaube nicht mehr, wie
in den Bakchenmysterien, anknüpft an die nationale Religion;
selbst die etruskische Mystik ist bereits überflügelt; durchaus in
erster Linie erscheinen die in den heiſsen Landschaften des Ostens
gezeitigten Culte. Sehr viel hat dazu beigetragen das massenhafte
Eindringen kleinasiatischer und syrischer Elemente in die Bevöl-
kerung theils durch die Sclaveneinfuhr, theils durch den gestei-
gerten Verkehr Italiens mit dem Osten. Die Macht dieser fremd-
ländischen Religionen tritt sehr scharf hervor in den Aufständen
der sicilischen gröſstentheils aus Syrien herstammenden Sclaven.
Eunus spie Feuer, Athenion las in den Sternen; die von den
Sclaven in diesem Krieg geschleuderten Bleikugeln tragen gros-
sentheils Götternamen, neben Zeus und Artemis besonders den der
Röm. Gesch. II. 26
[402]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
geheimniſsvollen von Kreta nach Sicilien gewanderten und da-
selbst eifrig verehrten Mütter. Aehnlich wirkte der Handelsver-
kehr, namentlich seitdem die Waaren von Berytos und Alexan-
dreia direct nach den italischen Häfen gingen: Ostia und Puteoli
wurden die groſsen Stapelplätze wie für die syrischen Salben und
die aegyptische Leinwand so auch für den Glauben des Ostens.
Ueberall ist mit der Völker- auch die Religionenmengung be-
ständig im Steigen. Von allen erlaubten Culten war der popu-
lärste der der pessinuntischen Göttermutter, der mit seinem Eu-
nuchencälibat, mit den Schmäusen, der Musik, den Bettelpro-
zessionen und dem ganzen sinnlichen Gepränge der Menge im-
ponirte. Schon finden sich (zuerst 653) römische Bürger, die
zu dem Eunuchenpriesterthum sich hergeben. In der gefährlich-
sten Zeit des kimbrischen Krieges erschien der Hohepriester Bat-
takes von Pessinus in eigener Person in Rom, um die Interessen
des dortigen angeblich entweihten Tempels seiner Göttin zu vertre-
ten, redete im speciellen Auftrag der Göttermutter zum römischen
Volk und that auch verschiedene Wunder. Die verständigen Leute
ärgerten sich, aber die Weiber und die groſse Menge lieſsen es
sich nicht nehmen dem Propheten beim Abzug in hellen Haufen
das Geleit zu geben. Aber weit populärer noch waren natürlich
die unerlaubten und die Geheimculte. Schon zu Catos Zeit hatte
der chaldäische Horoskopensteller angefangen dem etruskischen
Eingeweide-, dem marsischen Vogelschauer Concurrenz zu
machen (I, 639); bald war die Sternguckerei und Sterndeuterei
in Italien ebenso unentbehrlich wie in ihrem traumseligen Hei-
mathland. Schon 615 wies der römische Fremdenprätor die
sämmtlichen Chaldäer an binnen zehn Tagen Rom und Italien zu
räumen. Dasselbe Schicksal traf gleichzeitig die Juden, welche zu
ihrem Sabbath italische Proselyten zugelassen hatten. Ebenso hatte
Scipio das Lager von Numantia von Wahrsagern und frommen
Industrierittern jeder Art zu reinigen. Einige Jahrzehnte später
(657) sah man sogar sich genöthigt die Menschenopfer zu ver-
bieten. Man war irre geworden nicht bloſs an dem alten Glauben,
sondern auch an sich selbst; die entsetzlichen Krisen einer funf-
zigjährigen Revolution, das instinctmäſsige Gefühl, daſs der Bür-
gerkrieg noch keineswegs am Ende sei, steigerten die angstvolle
Spannung, die trübe Beklommenheit der Menge. Unruhig er-
klimmte der irrende Gedanke jede Höhe und versenkte sich in
jeden Abgrund, wo er neue Aus- und Einsichten in die drohen-
den Verhängnisse, neue Hoffnungen in dem verzweifelten Kampfe
gegen das Geschick oder vielleicht auch nur neue Angst zu finden
[403]RELIGION. ERZIEHUNG.
wähnte. Der ungeheuerliche Mysticismus fand in der allgemeinen
politischen, ökonomischen, sittlichen, religiösen Zerfahrenheit
den ihm genehmen Boden und gedieh mit erschreckender Schnelle;
es war als wären Riesenbäume über Nacht aus der Erde gewach-
sen, Niemand wuſste woher und wozu, und eben dieses wunder-
bar rasche Emporkommen wirkte neue Wunder und ergriff epi-
demisch alle nicht ganz befestigten Gemüther.
Eine dieser religiösen Revolution nahe verwandte Erschei-
nung begegnet auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung. Auch
hier hatte bisher der eine Grundgedanke des römischen Wesens
geherrscht, der Gedanke der bürgerlichen Gleichheit. Wie es im
Kreise der römischen Bürgerschaft in ihrer gesunden Zeit keine
Herren und keine Knechte, keine Millionäre und keine Pro-
letarier gegeben, wie derselbe Glaube alle Bürger umfaſst hatte,
so hatte es auch wesentlich nur einen Bildungsgrad gegeben.
Natürlich ward dies nur dadurch erreicht, daſs das allgemeine
Bildungsniveau sich sehr niedrig hielt. Noch im Anfang des sie-
benten Jahrhunderts stand der Jugendunterricht in Rom auf einer
so primitiven Stufe, daſs Polybios in dieser einen Hinsicht die
sträfliche Gleichgültigkeit der Römer gegenüber der verständigen
Sorgfalt seiner Landsleute tadelnd hervorhebt. Auſser dem Ele-
mentarunterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen und in dem
auswendig zu lernenden juristisch-politischen Katechismus der
Zwölftafeln, wofür es natürlich seit langem eigene Schullehrer
(litteratores) gab, bestanden allerdings für die Kenntniſs des Grie-
chischen, seit dies für jeden Staats- und Handelsmann prakti-
sches Bedürfniſs war, besondere Sprachmeister (grammatici*),
theils Hofmeistersclaven, theils in ihrer Wohnung oder in der
des Schülers Unterricht ertheilende Privatlehrer, welche zum
Uebersetzen wie zum Sprechen die erforderliche Anweisung ga-
ben. Indeſs diese bloſs durch das praktische Bedürfniſs hervor-
gerufene Kenntniſs des Griechischen gab in dem gewöhnlichen
bürgerlichen und geselligen Leben so wenig einen Vorzug wie
etwa heutzutage in einem Dorfe der deutschen Schweiz die Kennt-
niſs des Französischen; auch wer schlecht oder gar nicht grie-
chisch sprach, konnte ein vornehmer Mann sein und Prätor
und Consul werden. Selbst wenn einmal ein Einzelner zufällig
26*
[404]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
ein höheres Maſs von Kenntnissen sich erwarb, trat er darum
noch nicht heraus aus dem Kreise seiner Gleichen; Quintus Fa-
bius Pictor, der in griechischer Sprache eine Chronik von Rom
schrieb, mag unter seinen Standesgenossen etwa gestanden ha-
ben wie der holsteinische Marschbauer, der studirt hat und, wenn
er des Abends vom Pfluge nach Haus kommt, den Vergilius vom
Schranke nimmt. Wer mehr mit seinem Griechisch vorstellen
wollte, galt als schlechter Patriot und als Geck. Catos Encyclo-
pädie, eine populäre Unterweisung in der Pflichtenlehre, der
Redekunst, der Kriegswissenschaft, dem Feldbau, der Rechts-
lehre und der Heilkunst, zeigt ungefähr, was damals einem ge-
bildeten Römer zu wissen nöthig war. Allerdings ist dies dürftig
genug, wenn man es vergleicht mit dem, was damals durch pri-
vate und öffentliche Fürsorge für die musische Bildung der helle-
nischen Jugend geschah; aber man sollte darum nicht übersehen,
daſs diese Mangelhaftigkeit der römischen Jugendbildung eines
der wesentlichsten Elemente der bürgerlichen Gleichheit in Rom
war — in welchen Grundgedanken freilich kein Hellene, auch
Polybios nicht, sich zu finden vermocht hat. — Jetzt ward dies
anders. Wie aus dem naiven Volksglauben sich der aufgeklärte
stoische Supranaturalismus ausschied, so trat auch in der Er-
ziehung neben der alten schlichten Lese- und Schreibekunst eine
besondere Litteratura, eine exclusive Humanitas auf, welche der
alten geselligen Gleichheit ein Ende machte. Es geschah dies ver-
mittelst einer zwiefachen Neuerung, indem theils der Unterricht
im Griechischen von der elementaren auf die höhere Bildung sich
zu erstrecken anfing, theils zu der höheren griechischen Bildung
eine analoge lateinische sich hinzugesellte. Es wird nicht über-
flüssig sein auf beide Zweige dieses neuen höheren Jugendunter-
richts einen Blick zu werfen.
Es ist eine wundersame Fügung, daſs derselbe Mann, der
politisch die hellenische Nation definitiv überwand, Lucius Aemi-
lius Paullus, zugleich erscheint als derjenige, der zuerst oder als
einer der Ersten die hellenische Civilisation vollständig anerkannte
als das, was sie seitdem unwidersprochen geblieben ist, die Civi-
lisation der antiken Welt. Er selber zwar war ein Greis, bevor
es ihm gestattet wurde die homerischen Lieder im Sinn hinzu-
treten vor den Zeus des Pheidias; aber sein Herz war jung genug
um den vollen Sonnenglanz hellenischer Schönheit und die un-
bezwingliche Sehnsucht nach den goldenen Aepfeln der Hesperiden
in seiner Seele heimzubringen; Dichter und Künstler hatten an
dem fremden Mann einen ernsteren und innigeren Gläubigen
[405]ERZIEHUNG.
gefunden als irgend einer war von den klugen Leuten des dama-
ligen Griechenland. Er machte kein Epigramm auf Homeros oder
Pheidias, aber er lieſs seine Kinder einführen in die Reiche des
Geistes. Ohne die nationale Erziehung zu vernachlässigen, so weit
es eine gab, sorgte er wie die Griechen für die physische Ent-
wickelung seiner Knaben, zwar nicht durch die nach römischen
Begriffen unzulässigen Turnübungen, aber durch Unterweisung
in der durch die Griechen fast kunstmäſsig entwickelten Jagd, und
steigerte den griechischen Unterricht in der Art, daſs nicht mehr
bloſs die Sprache um des Sprechens gelernt und geübt, sondern
nach griechischer Art der Gesammtstoff allgemeiner höherer Bil-
dung an die Sprache geknüpft und aus ihr entwickelt ward — also
vor allem Kenntniſs der griechischen Litteratur mit der zu deren
Verständniſs nöthigen mythologischen und historischen Kunde,
sodann Rhetorik und Philosophie. Die Bibliothek des Königs
Perseus, das einzige Stück, das Paullus aus der makedonischen
Kriegsbeute für sich nahm, wurde von ihm seinen Söhnen ge-
schenkt. Sogar griechische Maler und Bildner befanden sich in
seinem Gefolge und vollendeten die musische Bildung seiner Kin-
der. Die Zeit war vorüber, wo man auf diesem Gebiet sich dem
Hellenismus gegenüber bloſs ablehnend verhalten konnte; die Bes-
seren mochten ahnen, daſs der edle Kern der römischen Weise
selbst durch den ganzen Hellenismus weniger gefährdet sei, als
durch dessen Verstümmelung und Miſsbildung; die Masse der
höheren Gesellschaft Roms und Italiens machte die neue Weise
mit. Schaarenweise strömten die griechischen Schulmeister nach
dem neueröffneten ergiebigen Absatzmarkt ihrer Weisheit. Grie-
chische Hofmeister und Lehrer der Philosophie, die freilich, auch
wenn sie nicht Sclaven waren, regelmäſsig wie Bediente * gehalten
wurden, wurden jetzt stehend in den Palästen Roms; man raf-
finirte darauf und es findet sich, daſs für einen griechischen Lit-
teratursclaven ersten Ranges 200000 Sesterzen (14300 Thlr.)
gezahlt worden sind. Schon 593 waren die griechischen Decla-
mationsübungen in der Hauptstadt so verbreitet, daſs dafür eine
Anzahl besonderer Lehranstalten bestanden. Schon begegnen
einzelne ausgezeichnete Namen unter diesen römischen Lehrern:
des Philosophen Panaetios ward bereits gedacht (S. 397); der an-
gesehene Grammatiker Krates von Mallos in Kilikien, Aristarchs
Zeitgenosse und ebenbürtiger Rival, fand um 595 in Rom ein
[406]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Publicum für die Vorlesung und sprachliche und sachliche Er-
läuterung der homerischen Gedichte. Zwar stieſs diese neue
Weise des Jugendunterrichts zum Theil auf den Widerstand der
Regierung; es war begreiflich, denn auch diese litterarische Be-
wegung war durch und durch revolutionär und für die nationale
Besonderheit Roms geradezu zerstörend; allein der Ausweisungs-
befehl, den die Behörden 593 gegen Rhetoren und Philosophen
schleuderten, war bei dem steten Wechsel der römischen Ober-
beamten wie alle ähnlichen Befehle ohne nennenswerthen Erfolg
und nach des alten Cato Tode ward in seinem Sinne wohl noch
öfters geklagt, aber nicht mehr gehandelt. Der höhere Unter-
richt im Griechischen und in den griechischen Bildungswissen-
schaften blieb fortan als anerkannt ein wesentlicher Theil der ita-
lischen Bildung. — Aber ihm zur Seite entwickelte sich ein hö-
herer lateinischer Unterricht. Es war natürlich, daſs derselbe
nicht an den uralten lateinischen Elementarunterricht sich an-
lehnte, sondern an den Unterricht im Griechischen; der Litterator
hatte Kinder vor sich, der griechische Sprachmeister dagegen
stand, wenngleich auch ihm die Ehre und der Ehrensold nur
knapp zugemessen wurde, dennoch beträchtlich über jenem und
lehrte Jünglinge oder doch heranreifende Knaben. Die Folge war,
daſs der erste höhere lateinische Unterricht in derselben Weise
und selbst von denselben Personen ertheilt ward, die die grie-
chische Sprache lehrten. So unterwiesen schon im sechsten Jahr-
hundert Andronicus und Ennius die römischen Jünglinge neben
der griechischen auch in der Muttersprache; so richtete auch in
dieser der Unterricht der reiferen Jugend sich auf das höhere
Verständniſs der Sprache und die kunstmäſsige Bildung des Vor-
trags, das heiſst auf die Anfänge einer wissenschaftlichen Gram-
matik und Rhetorik; so ward auch er ertheilt nach der Methode
die recitative Poesie zu Grunde zu legen und daran die Sprach-
kunde und den Vortrag zu bilden. Merkwürdiger Weise eilte das
Schulbedürfniſs der Entwicklung der Litteratur vorauf: da ein
höherer Unterricht im Lateinischen nicht möglich war ohne ein
als Textbuch zu Grunde liegendes Epos, übersetzte Andronicus
die Odyssee ins Lateinische, welche Uebersetzung das ganze sie-
bente Jahrhundert hindurch das gewöhnliche Anfangsbuch für
den höheren lateinischen Unterricht, wie Homer das Anfangsbuch
für den griechischen, blieb. Der höhere lateinische Unterricht ist
also genau genommen nicht erst in dieser Epoche entstanden;
allein es leuchtet ein, daſs er eine Bedeutung nicht gewinnen
konnte, so lange es nur noch eine auf und für die Schulbank ge-
[407]ERZIEHUNG.
machte lateinische Litteratur gab und der höhere Unterricht in
der Muttersprache ein Anhängsel des griechischen Cursus blieb.
Erst als die klassische Litteratur des sechsten Jahrhunderts in
einer gewissen Abgeschlossenheit vorlag, traten die Mutter-
sprache und die einheimische Litteratur wahrhaft ein in den
Kreis der höheren Bildungselemente; und die Emancipation von
den griechischen Sprachmeistern lieſs nun auch nicht lange
auf sich warten. Angeregt durch die homerischen Vorlesungen
des Krates begannen gebildete Römer die recitativen Werke auch
ihrer Litteratur, Naevius punischen Krieg, Ennius Chronik, spä-
terhin auch Lucilius Gedichte zuerst einem erlesenen Kreis, dann
öffentlich an festbestimmten Tagen und unter groſsem Zulauf vor-
zutragen, auch wohl nach dem Vorgang der homerischen Gram-
matiker sie kritisch zu bearbeiten. Diese litterarischen Vorträge,
die gebildete Dilettanten (litterati) unentgeltlich hielten, waren
zwar kein förmlicher Jugendunterricht, aber doch ein wesentliches
Mittel die Jugend in das Verständniſs und den Vortrag der klas-
sischen lateinischen Litteratur einzuführen. — Aehnlich wie der
Unterricht in der lateinischen Litteratur entwickelte sich in dieser
Epoche der lateinische Redeunterricht. Die vornehme römische
Jugend, die schon in frühem Alter mit Lob- und gerichtlichen
Reden öffentlich aufzutreten angehalten ward, wird es an Rede-
übungen nie haben fehlen lassen; indeſs von einer specifischen
Redekunst weiſs die ältere Zeit so wenig wie von einer specifi-
schen Bildung. Erst in dieser Epoche und in Folge der neuen ex-
clusiven Bildung entstand auch eine exclusive Redekunst: als der
erste römische Sachwalter, der Sprache und Stoff kunstmäſsig
behandelte, wird Marcus Lepidus Porcina (Consul 617) genannt;
die beiden berühmten Advocaten der marianischen Zeit, der männ-
liche und lebhafte Marcus Antonius (611-667) und der feine
gehaltene Redner Lucius Crassus (614-663) waren schon voll-
ständig Kunstredner. Die Uebungen der Jugend im Sprechen stie-
gen natürlich an Umfang und Bedeutung, aber blieben doch eben
wie die lateinischen Litteraturübungen wesentlich darauf be-
schränkt, daſs der Anfänger an den Meister der Kunst persönlich
sich anschloſs und unter ihm durch Beispiel und Lehre sich aus-
zubilden versuchte. Eigentliche Unterweisung sowohl in lateini-
scher Litteratur als in lateinischer Redekunst gab zuerst um 650
Lucius Aelius Praeconinus von Lanuvium, der Griffelmann
(stilo) genannt, ein angesehener streng conservativ gesinnter rö-
mischer Ritter, der mit einem auserlesenen Kreise jüngerer Män-
ner — darunter Varro und Cicero — den Plautus und Aehnli-
[408]VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
ches las, auch wohl Entwürfe zu Reden mit den Verfassern durch-
ging oder dergleichen seinen Freunden an die Hand gab. Dies
war ein Unterricht; aber ein gewerbmäſsiger Schulmeister war
Stilo nicht, sondern er lehrte Litteratur und Redekunst, wie in
Rom die Rechtswissenschaft gelehrt ward, als ein älterer Freund
der aufstrebenden jungen Leute, nicht als ein gedungener jedem
zu Gebote stehender Mann. Aber um seine Zeit begann auch der
schulmäſsige höhere Unterricht im Lateinischen, den bezahlte
Lehrmeister, in der Regel freigelassene Sclaven, in besonderen
Anstalten ertheilten und der bald sich schied in einen zwiefachen
Cursus, indem erstlich die lateinische Litteratur wissenschaftlich
vorgetragen, sodann zu Lob-, Staats- und Gerichtsreden kunst-
mäſsige Anleitung gegeben ward. Die erste römische Litteratur-
schule eröffnete um Stilos Zeit Marcus Postumius Saevius Nika-
nor, die erste besondere Schule für lateinische Rhetorik um 660
Lucius Plotius Gallus; doch ward in der Regel auch in den Litte-
raturschulen Anleitung zu lateinischer Redekunst gegeben. Dieser
neue lateinische Schulmeisterunterricht war von der tiefgreifend-
sten Bedeutung. Die Anleitung zur Kunde lateinischer Litteratur
und lateinischer Rede, wie sie bisher von hochgestellten Kennern
und Meistern ertheilt worden war, hatte den Griechen gegenüber
eine gewisse Selbstständigkeit sich bewahrt. Die Kenner der
Sprache und die Meister der Rede standen wohl unter dem Ein-
fluſs des Hellenismus, aber nicht unbedingt unter dem der grie-
chischen Schulgrammatik und Schulrhetorik. Namentlich die letz-
tere wurde entschieden perhorrescirt. Der Stolz wie der gesunde
Menschenverstand der Römer empörte sich gegen die griechische
Behauptung, daſs die Fähigkeit über Dinge, die der Redner ver-
stand und empfand, verständig und anregend in der Muttersprache
zu seines Gleichen zu reden in der Schule nach Schulregeln gelernt
werden könne. Dem tüchtigen praktischen Advocaten muſste das
gänzlich dem Leben entfremdete Treiben der griechischen Rhetoren
für den Anfänger schlimmer als gar keine Vorbereitung erschei-
nen; dem durchgebildeten und durch das Leben gereiften Manne
dünkte die griechische Rhetorik schal und widerlich; dem ernst-
lich conservativ gesinnten entging die Wahlverwandtschaft nicht
zwischen der gewerbmäſsig entwickelten Redekunst und dem de-
magogischen Handwerk. So hatte denn namentlich der scipio-
nische Kreis den Rhetoren die bitterste Feindschaft geschworen
und wenn die griechischen Declamationen bei bezahlten Meistern,
zunächst wohl als Uebungen im Griechischsprechen, geduldet wur-
den, so war doch die griechische Rhetorik weder in die lateinische
[409]ERZIEHUNG.
Rede noch in den lateinischen Redeunterricht eingedrungen. In
den neuen lateinischen Rhetorschulen aber wurden die römischen
Jungen zu Männern und Staatsrednern dadurch gebildet, daſs sie
paarweise den bei der Leiche des Aias mit dem blutigen Schwerte
desselben gefundenen Odysseus der Ermordung seines Waffen-
gefährten anklagten und dagegen ihn vertheidigten; daſs sie den
Orestes wegen Muttermordes angriffen oder in Schutz nahmen;
daſs sie vielleicht auch dem Hannibal nachträglich mit einem
guten Rath darüber aushalfen, ob er besser thue der Vorladung
nach Rom Folge zu leisten oder in Karthago zu bleiben oder die
Flucht zu ergreifen. Es ist begreiflich, daſs gegen diese wider-
wärtigen und verderblichen Wortmühlen noch einmal die cato-
nische Opposition sich regte. Die Censoren des J. 662 erlieſsen
eine Warnung an Lehrer und Aeltern die jungen Menschen nicht
den ganzen Tag mit Uebungen hinbringen zu lassen, von denen
die Vorfahren nichts gewuſst hätten; und der Mann, von dem
diese Warnung kam, war kein geringerer als der erste Gerichts-
redner seiner Zeit, Lucius Licinius Crassus. Natürlich sprach die
Kassandra vergebens; die lateinischen Declamirübungen über die
gangbaren griechischen Schulthemen wurden ein bleibender Be-
standtheil des römischen Jugendunterrichts und thaten das Ihrige
um schon die Knaben zu advocatischen und politischen Schau-
spielern zu erziehen und jede ernste und wahre Beredsamkeit im
Keime zu vernichten. — Als Gesammtergebniſs aber dieser mo-
dernen römischen Erziehung entwickelte sich der neue Begriff
der sogenannten ‚Menschlichkeit‘, der Humanität, welche be-
stand theils in der mehr oder minder oberflächlich angeeigneten
musischen Bildung der Hellenen, theils in einer dieser nachgebil-
deten oder nachgestümperten privilegirten lateinischen. Diese
neue Humanität sagte, wie schon der Name andeutet, sich los
von dem specifisch römischen Wesen, ja trat dagegen in Oppo-
sition und vereinigte in sich, eben wie unsere eng verwandte ‚all-
gemeine Bildung‘, einen nationell kosmopolitischen und social
exclusiven Charakter. Auch hier war die Revolution, die die
Stände schied und die Völker nivellirte.
[[410]]
KAPITEL XIII.
Litteratur und Kunst.
Das sechste Jahrhundert ist die Blüthezeit wie des römi-
schen Staats so auch der römischen Litteratur. Zwar begegnet
auf dem schriftstellerischen Gebiet so wenig wie auf dem politi-
schen ein Mann ersten Ranges; Naevius, Ennius, Plautus, Cato,
begabte und lebendige Schriftsteller von scharf ausgeprägter In-
dividualität, sind nicht im höchsten Sinn schöpferische Talente;
aber nichts desto weniger fühlt man dem Schwung, der Rührigkeit,
der Keckheit der dramatischen, epischen, historischen Bestrebun-
gen es an, daſs sie ruhen auf den Riesenkämpfen der punischen
Kriege. Es ist vieles nur künstlich verpflanzt, in Zeichnung
und Farbe vielfach gefehlt, Kunstform und Sprache unrein
behandelt, Griechisches und Nationales barock in einander ge-
fügt; die ganze Leistung verleugnet den Stempel des schulmäs-
sigen Ursprungs nicht und ist und bleibt unselbstständig und
unvollkommen; aber dennoch lebt in den Dichtern und Schrift-
stellern dieser Zeit wo nicht die volle Kraft das hohe Ziel zu er-
reichen doch der Muth und die Hoffnung mit den Griechen zu
wetteifern. Anders ist es in dieser Epoche. Die Morgennebel
sanken; was man im frischen Gefühl der im Kriege gestählten
Volkskraft begonnen hatte, mit jugendlichem Mangel an Einsicht
in die Schwierigkeit des Beginnens und in das Maſs der eigenen
Kräfte, aber auch mit jugendlicher Lust und Liebe zum Werke,
das vermochte man nicht weiter zu führen, als theils die dumpfe
Schwüle der heraufziehenden revolutionären Gewitter die Luft zu
erfüllen begann, theils den Einsichtigeren allmählich die Augen
[411]LITTERATUR UND KUNST.
aufgingen über die unvergleichliche Herrlichkeit der griechischen
Poesie und Kunst und über die sehr bescheidene künstlerische
Begabung der eigenen Nation. Die Litteratur des sechsten Jahr-
hunderts war hervorgegangen aus der Einwirkung der griechi-
schen Kunst auf halb gebildete, aber angeregte und empfängliche
Gemüther. Die gesteigerte hellenische Bildung des siebenten rief
eine litterarische Reaction hervor, welche die in jenen naiven
Nachdichtungsversuchen doch auch enthaltenen Blüthenkeime mit
dem Winterfrost der Reflexion verdarb und Kraut und Unkraut
der älteren Richtung mit einander ausreutete. Der Kreis, in dem
diese Reaction zunächst und hauptsächlich sich Geltung verschafft
hat, ist derjenige, der um Scipio Aemilianus sich schloſs und des-
sen hervorragendste Glieder unter der römischen vornehmen Welt
auſser Scipio dessen älterer Freund und Berather Laelius und Sci-
pios jüngere Genossen, Lucius Furius Philus (Consul 618) und
Spurius Mummius, der Bruder des Zerstörers von Korinth, unter
den römischen und griechischen Litteraten der Komiker Teren-
tius, der Satirenschreiber Lucilius, der Geschichtschreiber Poly-
bios, der Philosoph Panaetios waren. Wem die Ilias, wem
Menandros und Xenophon geläufig waren, dem konnte der rö-
mische Homer nicht imponiren und noch weniger die schlechten
Uebersetzungen euripideischer Tragödien, wie Ennius sie geliefert
hatte und Pacuvius sie zu liefern fortfuhr. Mochten auch patrio-
tische Rücksichten der Kritik gegen die vaterländische Chronik
Schranken stecken, so richtete doch Lucilius sehr spitzige Pfeile
gegen ‚die traurigen Figuren aus den geschraubten Expositionen
des Pacuvius‘; und ähnliche strenge aber nicht ungerechte Kritiken
des Ennius, Plautus, Pacuvius, all dieser Dichter, ‚die einen Frei-
brief zu haben scheinen, schwülstig zu reden und unlogisch zu
schlieſsen‘, begegnen bei dem feinen Verfasser der am Schluſs
dieser Periode geschriebenen dem Herennius gewidmeten Rhe-
torik. Man zuckte die Achseln über die Interpolationen, mit denen
der derbe römische Volkswitz die eleganten Komödien des Phi-
lemon und des Diphilos staffirt hatte. Halb lächelnd, halb nei-
disch wandte man sich ab von diesen unzulänglichen Versuchen
einer dumpfen Zeit, die diesem Kreise erscheinen mochten etwa
wie dem gereiften Mann die Gedichtblätter aus seiner Jugend;
auf die Verpflanzung des Wunderbaumes verzichtend lieſs man in
Poesie und Prosa die höheren Kunstgattungen wesentlich fallen
und beschränkte sich hier darauf der Meisterwerke des Auslan-
des einsichtig sich zu erfreuen. Die Productivität dieser Epoche
bewegt sich vorwiegend auf den untergeordneten Gebieten, der
[412]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
leichteren Komödie, der poetischen Miscelle, der politischen Bro-
schüre, den Fachwissenschaften. Das litterarische Stichwort wird
die Correctheit, im Kunststil und vor allem in der Sprache, welche
mit der Ausscheidung eines engeren Kreises von Gebildeten aus
dem gesammten Volke sich zu zersetzen beginnt in das klassische
Latein der höheren Gesellschaft und das vulgare des gemeinen
Mannes. ‚Reine Sprache‘ verheiſsen die terenzischen Prologe;
Sprachfehlerpolemik ist ein Hauptelement der lucilischen Satire;
und eben damit hängt es zusammen, daſs die griechische Schrift-
stellerei der Römer jetzt vollständig aufhört*. Insofern ist ein
Fortschritt zum Besseren allerdings vorhanden; es begegnen in
dieser Epoche weit seltener unzulängliche, weit häufiger in ihrer
Art vollendete und durchaus erfreuliche Leistungen als vorher
oder nachher; in sprachlicher Hinsicht nennt schon Cicero die
Zeit des Laelius und Scipio die goldene des reinen unverfälschten
Latein. Deſsgleichen steigt die litterarische Thätigkeit in der öf-
fentlichen Meinung allmählich vom Handwerk zur Kunst empor.
Noch im Anfang dieser Periode war die Anfertigung von Bühnen-
texten ein Handwerk und keines mit goldenem Boden; Pacuvius
und Terenz lebten von ihren Stücken und das dem letzteren für
seinen ‚Verschnittenen‘ gezahlte Bühnenhonorar von 8000 Se-
sterzen (572 Thlr.) wird als ein ungewöhnlich hohes bezeichnet;
damit hängt es zusammen, daſs es für vornehme Männer nicht
schicklich erschien für die Bühne zu schreiben. Am Ende der
Periode dagegen begegnen wir schon einem römischen ‚Dichter-
verein‘, in dem der adliche Lucius Caesar (Aedil 664, † 667)
sich geehrt fühlt neben dem ahnenlosen Accius zu sitzen; und
schon die Schauspielerhonorare dieser Zeit beweisen, daſs man
den angesehenen dramatischen Dichter jetzt entweder weit höher
als in der terenzischen Zeit oder auch schon gar nicht mehr ho-
norirt haben muſs. Aber der Schwung ist dahin im Leben wie
in der Litteratur; die nachtwandlerische Sicherheit, die den Dich-
ter zum Dichter macht und die vor allem bei Plautus sehr ent-
schieden hervortritt, kehrt bei keinem der Späteren wieder. Die
Epigonen der Hannibalskämpfer sind correct, aber matt.
Betrachten wir zuerst die römische Bühnenlitteratur und
die Bühne selbst. Das Trauerspiel tritt entschieden zurück, vor
allen Dingen die nationale Tragödie (praetexta), die Schöpfung
[413]LITTERATUR UND KUNST.
des Naevius, welcher wir nur noch bei einem Dichter begeg-
nen wie Pacuvius, der selber genau genommen einer früheren
Periode angehört; Marcus Pacuvius (535-c. 625) aus Brun-
disium fällt zwar der Entstehungszeit seiner Werke nach in
diese Epoche, da er in seinen früheren Jahren in Rom vom
Malen, erst im höheren Alter (c. 600-615) vom Tragödien-
dichten lebte; allein seinen Jahren wie seiner Art nach steht
er mehr in dem vorigen als in diesem Jahrhundert. Er dich-
tete im Ganzen in der ennianischen Weise, jedoch gefeilter und
schwungvoller, aber auch gesuchter und schwülstiger als sein
Oheim und Vorgänger. Günstigen Kunstkritikern galt er später
als Muster der Kunstpoesie und des reichen Stils; in den auf uns
gekommenen Bruchstücken fehlt es nicht an Belegen, die des Lu-
cilius strengeres Urtheil rechtfertigen*. Lesbarere und gewand-
tere Nachdichtungen der griechischen Tragödie lieferte des Pa-
cuvius jüngerer Zeitgenosse Lucius Accius, eines Freigelassenen
Sohn von Pisaurum (584-nach 651), auſser Pacuvius der einzige
namhafte tragische Dichter des siebenten Jahrhunderts. Ohne
Zweifel war er, ein auch litterarhistorisch und grammatisch thä-
tiger Schriftsteller, bemüht statt der cruden Weise seiner Vor-
gänger gröſsere Reinheit in Sprache und Stil in die lateinische Tra-
gödie einzuführen; doch ward auch seine Ungleichheit und In-
correctheit von den Männern der strengen Observanz, wie Luci-
lius, nachdrücklich getadelt.
Weit gröſsere Thätigkeit und weit bedeutendere Erfolge be-
gegnen auf dem Gebiete des Lustspiels. Gleich am Anfang dieser
[414]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
Periode trat gegen die gangbare Lustspieldichtung, wie sie durch
die volksmäſsige Behandlung und Miſshandlung der griechischen
Originale unter Plautus Händen sich gestaltet hatte, eine bemer-
kenswerthe Reaction ein. Ihr Vertreter Terentius (558-595)
ist eine der geschichtlich interessantesten Erscheinungen in der
römischen Litteratur. Geboren im phoenikischen Africa, in frü-
her Jugend als Sclave nach Rom gebracht und dort in die grie-
chische Bildung der Zeit eingeführt, schien er von Haus aus dazu
berufen die durch die derben Griffe des Plautus zur römischen
umgewandelte neuattische Komödie wieder zu denationalisiren
und den kosmopolitischen Charakter des Originals auch in Rom
zur Geltung zu bringen. Schon in der Wahl und der Verwen-
dung der Musterstücke zeigt sich der Gegensatz. Plautus hält
sich vorwiegend an die keckeren und populäreren Attiker, wie
Philemon, Terenz fast ausschlieſslich an Menandros, den zier-
lichsten, feinsten und züchtigsten unter allen Poeten der neueren
Komödie. Die Weise mehrere griechische Stücke zu einem latei-
nischen zusammenzuarbeiten, wie sie in Folge der nothwendigen
Weglassungen bei den römischen Copisten sich gebildet hatte und
bei diesen genreartigen in einem engen Kreis von Figuren und
Situationen sich bewegenden Stücken auch allenfalls ertragen
werden konnte, wird von Terenz zwar beibehalten, aber mit un-
vergleichlich mehr Geschicklichkeit und Sorgsamkeit gehandhabt.
Der plautinische Dialog entfernte sich ohne Zweifel sehr häufig
von seinen Mustern; Terenz rühmt sich des wörtlichen Anschlus-
ses seiner Nachbildungen an die Originale, wobei freilich nicht an
eine wörtliche Uebersetzung in unserm Sinn gedacht werden darf.
Die nicht selten rohe, aber immer drastische Auftragung römischer
Localtöne auf den griechischen Grund, wie Plautus sie liebte, wird
vollständig und absichtlich verbannt; nicht eine Anspielung er-
innert an Rom, nicht ein Sprichwort, kaum eine Reminiscenz*
selbst die lateinischen Titel werden durch griechische ersetzt. Der-
[415]LITTERATUR UND KUNST.
selbe Unterschied zeigt sich in der künstlerischen Behandlung.
Plautus schürzt und löst den Knoten leichtsinnig und lose, aber
seine Fabel ist drollig und oft frappant; Terenz, weit minder
drastisch, trägt überall, nicht selten auf Kosten der Spannung,
der Wahrscheinlichkeit Rechnung; wie er denn zum Beispiel ver-
meidet, was bei Plautus häufig ist, auf der Straſse alles was dahin
und nicht dahin gehört vorgehen zu lassen. Plautus malt seine
Charaktere mit breiten Strichen, oft schablonenartig, immer für
die Wirkung aus der Ferne und im Ganzen und Groben; Terenz
behandelt die psychologische Entwickelung mit einer sorgfältigen
und oft vortrefflichen Miniaturmalerei, wie zum Beispiel in den
‚Brüdern‘ die beiden Alten, der bequeme städtische Lebemann
und der vielgeplackte durchaus nicht parfümirte Gutsherr einen
meisterhaften Contrast bilden. In den Motiven wie in der Sprache
steht Plautus in der Kneipe, Terenz im guten bürgerlichen Haus-
halt. Die rüpelhafte plautinische Wirthschaft, die sehr ungenirten
aber allerliebsten Dirnchen mit den obligaten Wirthen dazu, die
säbelrasselnden Lanzknechte, die ganz besonders launig gemalte
Bedientenwelt, deren Himmel der Keller, deren Fatum die Peitsche
ist, sind bei Terenz verschwunden oder doch zum Bessern ge-
wandt. Man befindet bei ihm sich vielmehr regelmäſsig unter
lauter edlen Menschen; wird ja einmal ein Mädchenwirth ausge-
plündert oder ein junger Mensch ins Bordell geführt, so geschieht
es in moralischer Absicht, etwa aus brüderlicher Liebe oder um
den Knaben vom Besuch schlechter Häuser abzuschrecken. In den
plautinischen Stücken herrscht die Philisteropposition der Kneipe
gegen das Haus: überall werden die Frauen heruntergemacht zur
Ergötzung aller zeitweilig emancipirten und einer liebenswürdigen
Begrüſsung daheim nicht völlig versicherten Eheleute. Die teren-
zischen Komödien ruhen auf der zwar nicht sehr tiefen, aber doch
sittlichen Auffassung der Frauennatur und namentlich des ehe-
lichen Lebens, wie sie in den höheren Ständen dieser Zeit Regel
war: regelmäſsig schlieſsen sie mit einer tugendhaften Hochzeit
oder wo möglich mit zweien, eben wie von Menandros gerühmt
wird, daſs er jede Verführung durch eine Hochzeit wieder gut ge-
macht habe. Der Verliebte in seiner Pein, der zärtliche Ehemann
am Kindbett, die liebevolle Schwester auf dem Sterbelager werden
im ‚Verschnittenen‘ und im ‚Mädchen von Andros‘ gar anmuthig
geschildert; ja in der ‚Schwiegermutter‘ erscheint sogar am
Schluſs als rettender Engel ein tugendhaftes Freudenmädchen,
ebenfalls eine ächt menandrische Figur, die das römische Publi-
cum freilich wie billig auspfiff. Bei Plautus sind die Väter durch-
[416]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
aus nur dazu da um von den Söhnen gefoppt und geprellt zu
werden; bei Terenz wird im ‚Selbstquäler‘ der verlorene Sohn
durch väterliche Weisheit gebessert und wie er überhaupt voll
trefflicher Pädagogik ist, geht in dem vorzüglichsten seiner Stücke,
den ‚Brüdern‘, die Pointe darauf hinaus zwischen der allzu libe-
ralen Onkel- und der allzu rigorosen Vatererziehung die rechte
Mitte zu finden. Plautus erträgt sehr widerwillig die strenge rö-
mische Bühnencensur und haut ihr nicht selten über die Schnur;
Terenz bezeichnet vielmehr als seinen Zweck den Guten zu ge-
fallen und, wie Menandros, Niemand zu verletzen. Plautus liebt
den raschen, oft lärmigen Dialog und es gehört zu seinen Stücken
die lebhafteste Mimik der Schauspieler; Terenz beschränkte sich
auf ‚ruhiges Gespräch‘ und gab seinen Schauspielern Masken.
Plautus Sprache flieſst über von burlesken Wendungen und Wort-
witzen, von Allitterationen, von komischen Neubildungen, aristo-
phanischen Wörterverklitterungen, spaſshaft entlehnten griechi-
schen Schlagwörtern. Dergleichen Capricci kennt Terenz nicht:
sein Dialog bewegt sich im reinsten Ebenmaſs und die Pointen
sind zierliche epigrammatische und sententiöse Wendungen. Die
elegante Sprache war der Stolz des Dichters und ihrem unnach-
ahmlichen Reiz vor allem verdankte er es, daſs die feinsten Kunst-
richter der Folgezeit, wie Cicero, Caesar, Quintilian, unter allen
römischen Dichtern der republikanischen Zeit ihm den Preis
zuerkannten. Allerdings sind all seine Vorzüge und Fehler nichts
weniger als originell, sondern Zug für Zug copirt nach Menan-
dros; aber darum nicht minder ward durch diese erste künstle-
risch reine Nachbildung hellenischer Kunstwerke eine neue Aera
in der römischen Litteratur bezeichnet und zum Theil begründet.
Im entschiedensten litterarischen Krieg brach die moderne Ko-
mödie sich Bahn. Die plautinische Dichtweise hatte in dem rö-
mischen Bürgerstand Wurzel gefaſst; die terenzischen Lustspiele
stieſsen auf den lebhaftesten Widerstand bei dem Publicum, das
ihre ‚matte Sprache‘, ihren ‚schwachen Stil‘ unleidlich fand. Der
wie es scheint ziemlich empfindliche Dichter antwortete in den
eigentlich keineswegs hiezu bestimmten Prologen mit Antikriti-
ken voll defensiver und offensiver Polemik und stützte sich ge-
gen die Stimmung der Menge, die aus seiner ‚Schwiegermutter‘
zweimal weggelaufen war um einer Fechter- und Seiltänzerbande
zuzusehen, auf die gebildeten Kreise der vornehmen Welt. Er
erklärte nur nach dem Beifall der ‚Guten‘ zu streben, wobei
freilich die Andeutung selten fehlte, daſs es durchaus nicht an-
ständig sei Kunstwerke zu miſsachten, die den Beifall der ‚Weni-
[417]LITTERATUR UND KUNST.
gen‘ erhalten hätten. Er lieſs die Rede sich gefallen oder begün-
stigte sie sogar, daſs vornehme Leute ihn bei seinem Dichten mit
Rath und sogar mit der That unterstützten.* In der That drang
er durch; selbst in der Litteratur herrschte die Oligarchie und
verdrängte die kunstmäſsige Komödie der Exclusiven das volks-
thümliche Lustspiel: wir finden, daſs um 620 die plautinischen
Stücke vom Repertoire verschwanden. Es ist dies um so bezeich-
nender, als nach dem frühen Tod des Terenz durchaus kein her-
vorstechendes Talent weiter auf diesem Gebiet thätig war; über
die Komödien des Turpilius († 651 hochbejahrt), des ‚hölzernen
Poeten‘ Atilius, des Licinius Imbrex und all die sonst hier ein-
tretenden Lückenbüſser urtheilte schon am Ende dieser Periode
ein Kenner, daſs die neuen Komödien noch viel schlechter seien,
als die schlechten neuen Pfennige (S. 380).
Neben der griechisch-römischen Komödie (palliata) begann
die national-römische (togata), welche zwar auch wie jene auf der
gemeinsamen Grundlage des neuattischen Intriguenstücks ruht,
aber doch im Costüm und im Schauplatz sich auf römischem Bo-
Röm. Gesch. II. 27
[418]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
den bewegt. Ihr Ursprung liegt im Dunkel; es ist nicht ganz un-
wahrscheinlich, daſs Naevius wie der Begründer des nationalen
Schauspiels so auch der der Nationalkomödie gewesen ist; der
nachweislich älteste Verfasser von römischen Lustspielen ist Titi-
nius, dessen Zeitalter sich nur im Allgemeinen dahin bestimmen
läſst, daſs er dem Ende der vorigen oder dem Anfang dieser Epoche
angehören muſs. Auf alle Fälle ist er eine ungemein merkwürdige
Erscheinung; es ist in seinen Stücken etwas von der landschaft-
lichen Opposition gegen das hauptstädtische Wesen, wie sie in
früherer Zeit bei Cato, in späterer bei Varro begegnet. Das lati-
nische Leben und Treiben tritt hier in eigenthümlicher Frische
hervor. Die Stücke spielen groſsentheils in den Landstädten des
südlichen Latium, in Setia, Ferentinum, Velitrae und wurzeln in
deren bürgerlichem Leben, wie schon die Titel zeigen, zum Bei-
spiel ‚die Juristin‘, ‚die Walker‘, ‚die Harfenistin von Ferenti-
num‘, und manche einzelne Situationen, zum Beispiel der Spieſs-
bürger, der sich seine Schuhe nach dem Muster der albanischen
Königssandalen machen läſst. Sie sind voll von localen Schilde-
rungen und volksthümlichen Reminiscenzen: die Schlachten des
pyrrhischen und des hannibalischen Krieges werden erwähnt; in
ächt latinischer Weise gedenkt der Dichter an einem Ort der Nei-
gung der Ferentinaten für das griechische Wesen und sieht an
einem andern stolz herab auf die Nachbarn,
Welche oskisch und volskisch reden, da's nicht gehn will auf Latein.
Lebhaft wird man noch durch die wenigen Bruchstücke der Ko-
mödien dieses Dichters erinnert an das Zeugniſs Ciceros, daſs vor
dem Bundesgenossenkrieg die allgemeine Bildung in den latini-
schen Städten höher gestanden habe als in Rom selbst (S. 390).
Später bemächtigte sich der verfeinerte hauptstädtische Hellenis-
mus auch dieser Gattung; es war ganz in seinem Sinn die grie-
chische Komödie einerseits in getreuer Uebersetzung, andrerseits
in rein römischer Nachdichtung in Italien einzubürgern. Der
Hauptvertreter dieser Richtung ist Lucius Afranius (blüht um
660). Die Bruchstücke, die uns von ihm vorliegen, geben kei-
nen bestimmten Eindruck, aber sie widersprechen auch nicht
dem, was die römischen Kunstkritiker über ihn bemerken. Seine
zahlreichen Nationallustspiele waren der Anlage nach durchaus
dem griechischen Intriguenstück nachgebildet, nur daſs sie, wie
bei der Nachdichtung natürlich ist, einfacher und kürzer ausfie-
len. Auch im Einzelnen borgte er was ihm gefiel theils von Men-
andros, theils aus der ältern Nationalliteratur. Ein feiner Eklekti-
[419]LITTERATUR UND KUNST.
cismus und eine gewandte Kunstdichtung — litterarische An-
spielungen begegnen nicht selten — sind ihm eigen wie dem
Terenz; auch die sittliche Tendenz, die seine Stücke dem Schau-
spiel näherte, hat er mit diesem gemein. Als Geistesverwandten
des Menandros und des Terenz charakterisiren ihn hinreichend
das Urtheil der Späteren, daſs er die Toga trage wie Menandros
sie als Italiker getragen haben würde, und seine eigene Aeuſse-
rung, daſs ihm Terenz über alle anderen Dichter gehe.
Endlich trat in dieser Epoche auch die Posse ein in das
Gebiet der lateinischen Litteratur. Sie selbst war uralt (I, 148);
wohl lange bevor Rom stand, hatten in Latium lustige Gesellen
bei festlichen Gelegenheiten die ein für allemal feststehenden Cha-
raktermasken improvisirt. Einen festen localen Hintergrund er-
hielten diese Späſse an dem lateinischen Schildburg, wozu man
die im hannibalischen Kriege zerstörte und damit der Komik
preisgegebene ehemals oskische Stadt Atella ausersah; seitdem
ward für diese Aufführungen der Name der ‚oskischen Spiele‘
oder ‚Spiele von Atella‘ üblich*. Aber mit der Bühne** und mit
27*
[420]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
der Litteratur hatten diese Scherze nichts zu thun; sie wurden
von Dilettanten wo und wie es ihnen beliebte aufgeführt und die
Texte nicht geschrieben oder doch nicht veröffentlicht. Erst in
dieser Periode überwies man das Atellanenstück an eigentliche
Schauspieler und verknüpfte es, ähnlich wie das griechische Sa-
tyrdrama, als Nachspiel namentlich mit den Tragödien; wo es
denn nicht fern lag auch die schriftstellerische Thätigkeit hierauf
zu erstrecken. Als Begründer dieser neuen Litteraturgattung trat
in der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts* Lucius Pom-
ponius aus der latinischen Colonie Bononia auf, an den sich bald
ein anderer gleichfalls beliebter Atellanendichter Novius anschloſs.
So weit die nicht zahlreichen Trümmer und die Berichte der alten
Litteratoren uns hier ein Urtheil gestatten, waren es kurze regel-
mäſsig wohl einactige Possen, deren Reiz weniger auf der tollen
und locker geknüpften Fabel beruhte als auf der drastischen Ab-
conterfeiung einzelner Stände und Situationen. Gern wurden
Festtage und öffentliche Acte komisch geschildert: ‚die Hochzeit‘,
‚der erste März‘, ‚Pantalon Wahlcandidat‘; ebenso fremde Natio-
nalitäten, die transalpinischen Gallier, die Syrer; vor allem häufig
erschienen auf den Brettern die einzelnen Gewerbe. Der Küster,
der Wahrsager, der Vogelschauer, der Arzt, der Zöllner, der Ma-
ler, Fischer, Bäcker gingen über die Bühne; die Ausrufer hatten
viel zu leiden und mehr noch die Walker, die in der römischen
Narrenwelt die Rolle unserer Schneider gespielt zu haben schei-
nen. Wenn also dem mannigfaltigen städtischen Leben sein Recht
**
[421]LITTERATUR UND KUNST.
geschah, so ward auch der Bauer mit seinen Leiden und Freuden
nach allen Seiten dargestellt — von der Fülle dieses ländlichen
Repertoires geben eine Ahnung die zahlreichen derartigen Titel,
wie zum Beispiel ‚die Kuh‘, ‚der Esel‘, ‚das Zicklein‘, ‚die Sau‘,
‚das Schwein‘, ‚der kranke Eber‘, ‚der Bauer‘, ‚der Landmann‘,
‚Pantalon Landmann‘, ‚der Rinderknecht‘, ‚die Winzer‘, ‚das
Holzmachen‘, ‚das Behacken‘, ‚der Hühnerhof‘. Immer noch wa-
ren es in diesen Stücken die stehenden Figuren des dummen und
des pfiffigen Dieners, des guten Alten, des weisen Mannes, die das
Publicum ergötzten; namentlich der erste durfte nicht fehlen, der
Harlekin dieser Posse, der gefräſsige unflätige ausstaffirt häſsliche
und dabei ewig verliebte Maccus, immer im Begriff über seine
eigenen Füſse zu fallen, von Allen mit Hohn und mit Prügeln
bedacht und endlich am Schluſs der regelmäſsige Sündenbock —
die Titel ‚Harlekin Soldat‘ ‚Harlekin Wirth‘, ‚Jungfer Harlekin‘,
‚Harlekin in der Verbannung‘, ‚die beiden Harlekine‘ mögen dem
gutgelaunten Leser eine Ahnung davon geben, wie mannigfaltig es
auf der römischen Mummenschanz herging. Obwohl diese Pos-
sen, wenigstens seit sie geschrieben wurden, den allgemeinen
Gesetzen der Litteratur sich fügten und in den Versmaſsen zum
Beispiel der griechischen Bühne sich anschlossen, so hielten sie
doch sich natürlicher Weise bei weitem latinischer und volks-
thümlicher als selbst das nationale Lustspiel; nur in der Form
der trayestirten Tragödie begab sich die Posse in die griechische
Welt * und auch dies Genre scheint erst von Novius und über-
haupt nicht sehr häufig cultivirt worden zu sein. Daſs der Ton
nicht der feinste war, versteht sich; sehr unzweideutige Zweideu-
tigkeiten, grobkörnige Bauernzoten, kinderschreckende und ge-
legentlich fressende Gespenster gehörten hier einmal mit dazu
und persönliche Anzüglichkeiten, sogar mit Nennung der Na-
men, schlüpften nicht selten mit durch. Aber es fehlte auch nicht
an lebendiger Schilderung, an grotesken Einfällen, schlagenden
Späſsen, kernigen Sprüchen und die Harlekinade gewann sich
rasch eine nicht unansehnliche Stellung im Bühnenleben der
Hauptstadt und selbst in der Litteratur.
Was endlich die Entwickelung des Bühnenwesens anbelangt,
[422]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
so sind wir nicht im Stande im Einzelnen darzulegen, was im
Ganzen klar erhellt, daſs das allgemeine Interesse an den Büh-
nenspielen beständig im Steigen war und dieselben immer häu-
figer und immer prachtvoller stattfanden. Nicht bloſs wurde jetzt
wohl kaum ein ordentliches oder auſserordentliches Volksfest ohne
Bühnenspiele begangen und wurde bei denselben Tage lang hin-
durch ein Stück nach dem andern aufgeführt; auch in den Land-
städten und in Privathäusern wurden Vorstellungen gemietheter
Schauspieltruppen gewöhnlich. Zwar hatte seltsamer Weise Rom
immer noch kein steinernes Theater; im J. 599 hatte der Senat
auf Veranlassung des Publius Scipio Nasica den schon verdun-
genen Bau wieder inhibirt und eine Zeitlang hatten sogar die Zu-
schauer wieder nach alter Weise im Theater stehen müssen. Es
war das ganz im Geiste der scheinheiligen Politik dieser Zeit, daſs
man aus Respect vor den Sitten der Väter die Erbauung eines
stehenden Theaters verhinderte, aber nichts desto weniger die
Theaterspiele reiſsend zunehmen und Jahr aus Jahr ein unge-
heure Summen verschwenden lieſs, um Brettergerüste für diesel-
ben aufzuschlagen und zu decoriren. Der Decorationsluxus ent-
wickelte sich: 655 wurden zuerst die Bühnenwände bunt ange-
strichen, 675 die Bühne zum Umdrehen eingerichtet. Dem Ende
dieser Epoche gehört der gröſste römische Schauspieler an, der
Freigelassene Quintus Roscius Gallus († um 692 hochbejahrt),
Sullas Freund und gern gesehener Tischgenosse, auf den noch
später zurückzukommen sein wird.
In der recitativen Poesie fällt vor allem auf die Nichtigkeit
des Epos, das im sechsten Jahrhundert in der Litteratur ent-
schieden den ersten Platz eingenommen hatte, im siebenten zwar
zahlreiche Vertreter fand, aber nicht einen einzigen von auch nur
augenblicklichem Erfolg. Aus der gegenwärtigen Epoche ist kaum
etwas zu nennen als eine Anzahl roher Versuche den Homer zu
übersetzen, und einige Fortsetzungen der ennianischen Jahr-
bücher, wie des Hostius ‚istrischer Krieg‘ und des Aulus Fu-
rius (um 650) ‚Jahrbücher (vielleicht) des gallischen Krieges‘,
die allem Anschein nach unmittelbar da fortfuhren, wo Ennius in
der Beschreibung des istrischen Krieges von 576 und 577 auf-
gehört hatte. Auch in der didaktischen und elegischen Poesie er-
scheint nirgends ein hervorragender Mann. Die einzigen Erfolge,
welche die recitative Dichtkunst dieser Epoche aufzuweisen hat,
gehören demjenigen Gebiete an, das der Prosa am nächsten und
schon mehr als zur Hälfte auſserhalb der eigentlichen Litteratur
liegt, dem Gebiet der poetischen Correspondenz und der Bro-
[423]LITTERATUR UND KUNST.
schüre in Versen. Die launigen poetischen Episteln, die einer der
jüngeren Männer des scipionischen Kreises, Spurius Mummius,
der Bruder des Zerstörers von Korinth, aus dem Lager von Ko-
rinth an seine Freunde daheim gesandt hatte, wurden noch ein
Jahrhundert später gern gelesen; und es mögen dergleichen nicht
zur Veröffentlichung bestimmte poetische Scherze aus dem rei-
chen geselligen und geistigen Leben der besseren Zirkel Roms
damals zahlreich hervorgegangen sein. Ihr Vertreter in der Litte-
ratur ist Gaius Lucilius (606-651), einer angesehenen Familie
der latinischen Colonie Suessa entsprossen und gleichfalls ein
Glied des scipionischen Kreises. Auch seine Gedichte sind gleich-
sam offene Briefe an das Publicum, ihr Inhalt, wie ein geist-
reicher Nachfahre anmuthig sagt, das ganze Leben des gebildeten
unabhängigen Mannes, der den Ereignissen auf der politischen
Schaubühne vom Parket und gelegentlich von den Coulissen aus
zusieht, der mit den Besten seiner Zeit verkehrt als mit seines
Gleichen, der Litteratur und Wissenschaft mit Antheil und Ein-
sicht verfolgt, ohne doch selbst für einen Dichter oder Gelehrten
gelten zu wollen, und der endlich für alles, was im Guten und
Bösen ihm begegnet, für politische Erfahrungen und Erwartun-
gen, für grammatische Bemerkungen und Kunsturtheile, für eigene
Erlebnisse, Besuche, Diners, Reisen wie für vernommene Anek-
doten sein Taschenbuch zum Vertrauten nimmt. Insofern diese
Dichtform fähig war jeden Inhalt in sich aufzunehmen und jedes
Maſs gestattete, gleich dem Textgedichte, das vor dem Aufkom-
men des Schauspiels den Flötenstücken zu Grunde gelegt und
durch Ennius auch in die Litteratur eingeführt worden war, ward
der Name des letzteren, der Satura, auch auf die lucilische Dich-
tung angewandt; allein die Aehnlichkeit zwischen der älteren und
der lucilischen Satura beruhte doch mehr in negativen als in po-
sitiven Momenten und in Wahrheit mag die letztere mit ihrem
kaustischen, capriciösen, durchaus individuellen Charakter neben
der älteren Satura gestanden haben etwa wie Byrons Beppo und
Don Juan neben dem wirklichen komischen Epos. Die lucilische
Poesie hat eine scharf ausgeprägte oppositionelle und insofern
auch lehrhafte Tendenz, litterarisch sowohl wie moralisch und
politisch; auch in ihr ist etwas von der Auflehnung der Land-
schaft gegen die Hauptstadt, herrscht das Selbstgefühl des rein re-
denden und ehrenhaft lebenden Suessaners im Gegensatz gegen
das groſse Babel der Sprachmengerei und Sittenverderbniſs. Die
Richtung des scipionischen Kreises auf litterarische, namentlich
sprachliche Correctheit findet kritisch ihren vollendetsten und
[424]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
geistreichsten Vertreter in Lucilius. Er widmete gleich sein erstes
Buch dem Begründer der römischen Philologie Lucius Stilo
(S. 407) und bezeichnete als das Publicum, für das er schrieb,
nicht die gebildeten Kreise reiner und mustergültiger Rede, son-
dern die Tarentiner, die Brettier, die Siculer, das heiſst die halb-
griechischen Lateiner, deren Lateinisch allerdings eines Correctivs
wohl bedürfen mochte. Ganze Bücher seiner Gedichte beschäf-
tigen sich mit der Feststellung der lateinischen Orthographie und
Prosodie, mit der Bekämpfung praenestinischer, sabinischer,
etruskischer Provinzialismen, mit der Ausmerzung gangbarer
Solöcismen, woneben der Dichter aber keineswegs vergiſst den
geistlosen isokrateischen Wort- und Phrasenmechanismus zu
verhöhnen * und selbst dem Freunde Scipio die exclusive Feinheit
seiner Rede in sehr ernsthaften Scherzen vorzurücken **. Aber
weit ernstlicher noch als das reine einfache Latein predigt der
Dichter reine Sitte im Privat- und im öffentlichen Leben. Seine
Stellung begünstigte ihn hiebei in eigener Art. Obwohl durch
Herkunft, Vermögen und Bildung den vornehmen Römern seiner
Zeit gleichstehend war er doch nicht römischer Bürger, sondern
latinischer; selbst sein Verhältniſs zu Scipio, unter dem er in
seiner ersten Jugend den numantinischen Krieg mitgemacht hatte
und in dessen Hause er häufig verkehrte, mag damit zusammen-
hängen, daſs Scipio in vielfachen Beziehungen zu den Latinern
stand und in den politischen Fehden der Zeit ihr Patron war
(S. 93). Die öffentliche Laufbahn war ihm hiedurch verschlossen
und die Speculantencarriere verschmähte er — er mochte nicht,
wie er einmal sagt, ‚aufhören Lucilius zu sein um asiatischer
Steuerpächter zu werden‘. So stand er in der schwülen Zeit der
gracchischen Reformen und des sich vorbereitenden Bundesge-
nossenkrieges inmitten des römischen Palast- und Villenlebens,
zugleich mitten in den Wogen des politischen Coterien- und
Parteikampfes und doch nicht unmittelbar jenem und diesem an-
gehörig; ähnlich wie Beranger, an den gar vieles in Lucilius po-
[425]LITTERATUR UND KUNST.
litischer und poetischer Stellung erinnert. Von diesem Stand-
punct aus sprach er mit unverwüstlichem gesundem Menschen-
verstand, mit unversiegbar guter Laune und ewig sprudelndem
Witz hinein in das öffentliche Leben.
Jetzt aber am Fest- und Werkeltag
Den ganzen lieben langen Tag
Auf dem Markte von früh bis spat
Stoſsen die Bürger und die sich vom Rath
Und rühren und regen sich nicht von der Stell.
Dasselbe Handwerk lernt jeder Gesell:
Wie er prellen möge mit Verstand,
Berücke den Andern mit feiner Hand
Und im Schmeicheln und Heucheln werde gewandt.
All' unter einander belauern sie sich,
Als läge jeder mit jedem im Krieg*.
Die Erläuterungen zu diesem unerschöpflichen Text griffen scho-
nungslos, ohne die Freunde, ja ohne den Dichter selbst zu ver-
gessen, die Uebelstände der Zeit an, das Coteriewesen, den end-
losen spanischen Kriegsdienst und was dessen mehr war; gleich
die Eröffnung seiner Satiren war eine groſse Debatte des olym-
pischen Göttersenats über die Frage, ob Rom es noch ferner
verdiene des Schutzes der Himmlischen sich zu erfreuen. Kör-
perschaften, Stände, Individuen wurden überall einzeln mit Na-
men genannt; was die römische Bühne nicht wagen durfte, die
Poesie der politischen Polemik, das ist das rechte Element und
der Lebenshauch der lucilischen Gedichte, die mit einer selbst in
den auf uns gekommenen Trümmern noch entzückenden Macht
des schlagendsten bilderreichsten Witzes ‚gleich wie mit gezo-
genem Schwerte‘ auf den Feind eindringen und ihn zermalmen.
Hier, in dem sittlichen Uebergewicht und dem stolzen Freiheits-
gefühl des Dichters von Suessa, liegt der Grund, weſshalb der
feine Venusiner, der in der alexandrinischen Zeit der römischen
Poesie die lucilische Satire wieder aufnahm, trotz aller Ueber-
legenheit im Formgeschick mit richtiger Bescheidenheit dem äl-
teren Poeten weicht als ‚seinem Besseren‘. Die Sprache ist die
des griechisch und lateinisch durchgebildeten Mannes, der durch-
[426]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
aus sich gehen läſst; ein Poet wie Lucilius, der angeblich vor
Tisch zweihundert und nach Tisch wieder zweihundert Hexameter
machte, ist viel zu eilig um knapp zu sein; unnütze Weitläuftig-
keiten, schluderige Wiederholung derselben Wendung, arge Nach-
lässigkeiten begegnen häufig; das erste Wort, lateinisch oder
griechisch, ist immer das beste. Aehnlich sind die Maſse, na-
mentlich der sehr vorherrschende Hexameter behandelt; wenn
man die Worte umstellt, sagt sein geistreicher Nachahmer, so würde
kein Mensch merken, daſs er etwas anderes vor sich habe als ein-
fache Prosa; der Wirkung nach lassen sie sich nur mit unseren
Knittelversen vergleichen *. Die terenzischen und die lucilischen
Gedichte stehen auf demselben Bildungsniveau und verhalten sich
wie die sorgsam gepflegte und gefeilte litterarische Arbeit zu
[427]LITTERATUR UND KUNST.
dem mit fliegender Feder geschriebenen Brief. Aber die unver-
gleichlich höhere geistige Begabung und freiere Lebensanschau-
ung, die der Ritter von Suessa vor dem africanischen Sclaven
voraus hatte, machten seinen Erfolg ebenso rasch und glänzend
wie der des Terenz mühsam und zweifelhaft gewesen war; Lu-
cilius ward sofort der Liebling der Nation und auch er konnte
wie Beranger von seinen Gedichten sagen, ‚daſs sie allein unter
allen vom Volke gelesen würden‘. Die ungemeine Popularität
der lucilischen Gedichte ist auch geschichtlich ein bemerkens-
werthes Ereigniſs; man sieht daraus, daſs die Litteratur schon
eine Macht war und ohne Zweifel würden wir deren Spuren,
wenn es eine wirkliche Geschichte dieser Zeit gäbe, in dersel-
ben mehrfach antreffen. Die Folgezeit hat das Urtheil der Zeit-
genossen nur bestätigt; die antialexandrinisch gesinnten römi-
schen Kunstrichter sprachen dem Lucilius den ersten Rang un-
ter allen lateinischen Dichtern zu und seine Satire ist die einzige
originelle Kunstgattung geblieben, die Italien erzeugt und auf
die Nachwelt vererbt hat. — Von der an den Alexandrinismus
anknüpfenden Poesie ist in Rom in dieser Epoche noch im We-
sentlichen nichts zu verspüren; nicht ihrer selbst wegen, aber
als der erste geringe Keim dieser später so reich entwickelten
Schule sind erwähnenswerth die nach alexandrinischen Epigram-
men übersetzten oder nachgebildeten Gedichte des Quintus Ca-
tulus (Consul 652).
Die Geschichtschreibung dieser Epoche ist vor allen Dingen
bezeichnet durch einen Schriftsteller, der zwar weder durch Ge-
burt noch nach seinem geistigen und litterarischen Standpunct
der italischen Entwicklung angehört, der aber zuerst oder viel-
mehr allein die Weltstellung Roms zur schriftstellerischen Gel-
tung und Darstellung gebracht hat und dem alle späteren Ge-
schlechter und auch wir das Beste verdanken, was wir von der
römischen Entwickelung wissen. Polybios (c. 546-c. 627) von
Megalopolis im Peloponnes, des achäischen Staatsmannes Ly-
kortas Sohn, machte schon 565 wie es scheint den Zug der Römer
gegen die kleinasiatischen Kelten mit und ward später vielfach na-
mentlich während des dritten makedonischen Krieges von seinen
Landsleuten in militärischen und diplomatischen Geschäften ver-
wendet, ward sodann siebzehn Jahre (587-603) mit den an-
dern achaeischen Geiſseln in Italien confinirt und durch die Söhne
des Paullus in die vornehmen hauptstädtischen Kreise eingeführt
(I, 596), endlich nach Rücksendung der achaeischen Geiſseln
(II, 41) stehender Vermittler zwischen seiner Eidgenossenschaft
[428]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
und den Römern und war auch gegenwärtig bei der Zerstörung
von Karthago und von Korinth. Er schien vom Schicksal selber
dazu erzogen Roms geschichtliche Stellung deutlicher zu erfassen,
als die damaligen Römer selbst es vermochten. Auf dem Platze, wo
er stand, ein griechischer Staatsmann und ein römischer Gefan-
gener, seiner hellenischen Bildung wegen geschätzt und gelegent-
lich beneidet von Scipio Aemilianus und überhaupt den ersten
Männern Roms, sah er die Ströme, die so lange getrennt geflos-
sen waren, zusammenrinnen in dasselbe Bett und die Geschichte
der Mittelmeerstaaten zusammengehen in die Hegemonie der rö-
mischen Macht und der griechischen Bildung. So ward Polybios
der erste namhafte Hellene, der mit ernster Ueberzeugung auf die
Weltanschauung des scipionischen Kreises einging und die Ueber-
legenheit des Hellenismus auf dem geistigen, des Römerthums auf
dem politischen Gebiet als Thatsachen anerkannte, über die die
Geschichte in letzter Instanz gesprochen hatte und denen man
beiderseits sich zu unterwerfen berechtigt und verpflichtet war.
In diesem Sinne handelte er als praktischer Staatsmann wenig-
stens in seinen späteren Jahren; er hatte die engen Bande des
achaeischen Localpatriotismus abgestreift und vertrat nicht aus
Servilität, sondern in deutlicher Einsicht der unvermeidlichen
Nothwendigkeit in seiner Gemeinde die Politik des engsten An-
schlusses an Rom. In diesem Sinn schrieb er die Geschichte der
Gründung der Hegemonie Roms über die Mittelmeerstaaten,
welche vom ersten punischen Krieg bis zur Zerstörung von Kar-
thago und Korinth die Schicksale der sämmtlichen Culturstaaten,
das heiſst Griechenlands, Makedoniens, Kleinasiens, Syriens,
Aegyptens, Karthagos und Italiens, zusammenfaſst und deren
Eintreten in die römische Schutzherrschaft im ursachlichen Zu-
sammenhang darstellt. Insofern bezeichnet er es als sein Ziel die
Zweck- und Vernunftmäſsigkeit der römischen Hegemonie zu er-
weisen. In der Anlage wie in der Ausführung steht diese Ge-
schichtschreibung in scharfem und bewuſstem Gegensatz gegen
die gleichzeitige römische wie gegen die gleichzeitige griechische
Historiographie. In Rom stand man noch vollständig auf dem
Chronikenstandpunct; hier gab es wohl einen bedeutungsvollen
geschichtlichen Stoff, aber die sogenannte Geschichtschreibung
beschränkte sich mit Ausnahme der sehr achtbaren, aber rein in-
dividuellen Schriften Catos theils auf Ammenmährchen, theils auf
Notizenbündel. Die Griechen, das heiſst die Attiker dieser Zeit
wuſsten sehr wohl, was Forschung und Kritik war; aber ihre
zerfahrene politische Existenz bot keinen im höchsten Sinn ge-
[429]LITTERATUR UND KUNST.
schichtlichen Inhalt dar und ihre Arbeiten auf diesem Gebiet wa-
ren entweder durchaus specieller Art oder durchdrungen von
Phrasen und rhetorischen Lügen. Dort wie hier gab es nichts
als Stadt- oder Stammgeschichten. Zuerst Polybios, ein Pelo-
ponnesier, wie man mit Recht erinnert hat, und geistig den At-
tikern wenigstens ebenso fremd wie den Römern, überschritt
diese kümmerlichen Schranken, behandelte den römischen Stoff
mit hellenisch gereifter Kritik und gab, zwar nicht eine univer-
sale, aber doch eine von den Localstaaten losgelöste und dem im
Werden begriffenen römisch-griechischen Staat angepaſste Ge-
schichte. Vielleicht niemals hat ein Geschichtschreiber so voll-
ständig wie Polybios alle Vorzüge eines Quellenschriftstellers in
sich vereinigt. Der Umfang seiner Aufgabe ist ihm vollkommen
deutlich und jeden Augenblick gegenwärtig; durchaus haftet der
Blick auf dem wirklich geschichtlichen Hergang. Die Sage, die
Anekdote, die Masse der werthlosen Chroniknotizen wird bei
Seite geworfen; die Schilderung der Länder und Völker, die Dar-
stellung der staatlichen und mercantilen Verhältnisse, all die so
unendlich wichtigen Thatsachen, die dem Annalisten entschlüp-
fen, weil sie sich nicht auf ein bestimmtes Jahr aufnageln lassen,
werden eingesetzt in ihr lange verkümmertes Recht. In der Her-
beischaffung des historischen Materials zeigt Polybios eine Um-
sicht und eine Ausdauer, wie sie im Alterthum vielleicht nicht
wieder erscheinen; er benutzt die Urkunden, berücksichtigt um-
fassend die Litteratur der verschiedenen Nationen, macht von
seiner günstigen Stellung zum Einziehen der Nachrichten von
Mithandelnden und Augenzeugen den umfassendsten Gebrauch,
bereist endlich planmäſsig das ganze Gebiet der Mittelmeerstaaten
und einen Theil der Küste des atlantischen Oceans. Die Wahr-
haftigkeit ist ihm Natur; er hat kein Interesse für diesen oder
gegen jenen Staat, für diesen oder gegen jenen Mann, sondern
einzig und allein für den wesentlichen Zusammenhang der Dinge,
den im richtigen Verhältniſs der Ursachen und Wirkungen dar-
zulegen ihm nicht bloſs die erste, sondern die einzige Aufgabe
des Geschichtschreibers scheint. Die Erzählung endlich ist muster-
haft vollständig, einfach und klar. Aber alle diese ungemeinen
Vorzüge machen noch keineswegs einen Geschichtschreiber ersten
Ranges. Polybios faſst seine Aufgabe mit groſsartigem Verstand,
aber auch nur mit dem Verstande. Die Geschichte, der Kampf
der Nothwendigkeit und der Freiheit, ist ein sittliches Problem;
Polybios behandelt sie, als wäre sie ein mechanisches. Groſs ist
ihm nur das Ganze, in der Natur wie im Staat; das besondere Er-
[430]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
eigniſs, der individuelle Mensch, wie wunderbar sie auch erscheinen
mögen, sind in der That klein und gering, nichts als einzelne Mo-
mente, einzelne Räder in dem höchst künstlichen Mechanismus,
den man den Staat nennt. Insofern war Polybios allerdings wie
kein anderer geschaffen zur Darstellung der Geschichte Roms,
welche in der That das wunderbare Problem gelöst hat ein Volk
zu beispielloser innerer und äuſserer Gröſse heranzuführen, ohne
einen einzigen im höchsten Sinne genialen Staatsmann hervor-
zubringen und welche auf ihren einfachen Grundlagen mit wun-
derbarer fast mathematischer Folgerichtigkeit sich entwickelt hat.
Aber es rächte sich doch auch hier, wenn das Moment der Freiheit
in der Geschichte verkannt ward. Polybios Behandlung aller Fra-
gen, in denen Recht, Ehre, Religion zur Sprache kommen, ist
nicht bloſs platt, sondern auch gründlich falsch. Dasselbe gilt
überall, wo eine genetische Construction erfordert wird; die rein
mechanischen Erklärungsversuche, die Polybios an die Stelle setzt,
sind mitunter geradezu zum Verzweifeln, wie es denn kaum eine
thörichtere politische Speculation giebt als die treffliche Verfas-
sung Roms aus einer verständigen Mischung monarchischer, ari-
stokratischer und demokratischer Elemente her- und aus der Vor-
trefflichkeit der Verfassung die Erfolge Roms abzuleiten. Die Auf-
fassung der Verhältnisse ist überall bis zum Erschrecken nüch-
tern und phantasielos, die geringschätzige und superkluge Art
die religiösen Dinge zu behandeln geradezu widerwärtig. Die Dar-
stellung, in bewuſster Opposition gegen die übliche künstlerisch
stilisirte griechische Historiographie gehalten, ist wohl richtig
und deutlich, aber dünn und matt, öfter als billig in polemische
Excurse oder in memoirenhafte Schilderung der eigenen Erleb-
nisse sich verlaufend. Ein oppositioneller Zug geht durch die
ganze Arbeit; der Verfasser bestimmte seine Schrift zunächst für
die Römer und fand doch auch hier nur einen sehr kleinen Kreis,
der ihn verstand; er fühlte es, daſs er den Römern ein Fremder,
seinen Landsleuten ein Abtrünniger blieb und daſs er mit seiner
groſsartigen Auffassung der Verhältnisse mehr der Zukunft als
der Gegenwart angehörte. Darum blieb er nicht frei von einer
gewissen Verstimmtheit und persönlichen Bitterkeit, die in seiner
Polemik gegen die flüchtigen oder gar feilen griechischen und die
unkritischen römischen Historiker öfters zänkisch und kleinlich
auftritt und aus dem Geschichtschreiber- in den Recensententon
fällt. Polybios ist kein liebenswürdiger Schriftsteller; aber wie
die Wahrheit und Wahrhaftigkeit mehr ist als alle Zier und Zier-
lichkeit, so ist vielleicht kein Schriftsteller des Alterthums zu
[431]LITTERATUR UND KUNST.
nennen, dem wir so viele ernstliche Belehrung verdanken wie
ihm. Seine Bücher sind wie die Sonne auf diesem Gebiet; wo sie
anfangen, da heben sich die Nebelschleier, die noch die samniti-
schen und den pyrrhischen Krieg bedecken, und wo sie endigen,
beginnt eine neue wo möglich noch lästigere Dämmerung.
In einem seltsamen Gegensatz zu dieser groſsartigen Auf-
fassung und Behandlung der römischen Geschichte durch einen
Ausländer steht die gleichzeitige einheimische Geschichtslitteratur.
Die Chroniken wurden immer zahlreicher und immer weitläuftiger
— genannt werden zum Beispiel die des Lucius Cassius Hemina
(um 608), des Lucius Calpurnius Piso (Consul 621), des Gaius
Fannius (Praetor 617), des Gaius Sempronius Tuditanus (Con-
sul 625) —, aber auch immer elender und die Unwissenheit ihrer
vornehmen Verfasser um so unerträglicher, je mehr im Allgemei-
nen die Bildung stieg. Wenn wir zum Beispiel bei Piso lesen,
daſs Romulus sich gehütet habe dann zu poculiren, wenn er
den andern Tag eine Sitzung gehabt; daſs die Tarpeia die Burg
den Sabinern aus Vaterlandsliebe verrathen habe um die Feinde
ihrer Schilde zu berauben: so kann das Urtheil verständiger Zeit-
genossen über diese ganze Schreiberei nicht befremden, ‚daſs das
nicht heiſse Geschichte schreiben, sondern den Kindern Ge-
schichten erzählen‘. Weit vorzüglicher waren einzelne Werke über
die Geschichte der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart,
namentlich die Geschichte des hannibalischen Krieges von Lucius
Caelius Antipater (um 633) und des wenig jüngeren Publius Sem-
pronius Asellio Geschichte seiner Zeit. Hier fand sich wenigstens
schätzbares Material und ernster Wahrheitssinn, bei Antipater
auch eine kräftige, wenn gleich etwas hausbackene Darstellung;
doch reichte, nach allen Zeugnissen und Bruchstücken zu
schlieſsen, keines dieser Bücher weder in markiger Form noch
in Originalität an die ‚Ursprünge‘ Catos, der leider auf dem hi-
storischen Gebiet so wenig wie auf dem politischen Schule ge-
macht hat. — Stark vertreten sind die untergeordneten mehr
individuellen und ephemeren Gattungen der historischen Littera-
tur, die Memoiren, die Briefe, die Reden. Schon zeichneten die
ersten Staatsmänner Roms selbst ihre Erlebnisse auf: so Marcus
Scaurus Consul 639, Publius Rufus Consul 649, Quintus Catu-
lus Consul 652, selbst der Regent Sulla; doch scheint keine die-
ser Productionen anders als durch ihren stofflichen Gehalt in die
Litteratur eingegriffen zu haben. Die Briefsammlung der Cornelia,
der Mutter der Gracchen, ist bemerkenswerth theils durch die
musterhaft reine Sprache und den hohen Sinn der Schreiberin,
[432]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
theils als die erste in Rom publicirte Correspondenz und zu-
gleich die erste litterarische Production einer römischen Frau.
Die Redeschriftstellerei bewahrte auch in dieser Periode noch den
von Cato ihr aufgedrückten Stempel; Advocatenplaidoyers wur-
den noch nicht als litterarische Productionen angesehen und was
von Reden veröffentlicht ward, waren politische Pamphlete. Wäh-
rend der revolutionären Bewegung nahm diese Broschürenlitte-
ratur an Umfang und Bedeutung zu und unter der Masse ephe-
merer Producte fanden sich auch einzelne, die wie Demosthenes
Philippiken und Couriers fliegende Blätter durch die bedeutende
Stellung ihrer Verfasser und durch ihr eigenes Schwergewicht
einen bleibenden Platz in der Litteratur sich erwarben. So die
Staatsreden des Gaius Laelius und des Scipio Aemilianus, Muster-
stücke des trefflichsten Latein wie des edelsten Vaterlandsgefühls;
so die sprudelnden Reden des Gaius Titius, von deren drasti-
schen Local- und Zeitbildern — die Schilderung des senatori-
schen Geschwornen ward früher (S. 384) mitgetheilt — das na-
tionale Lustspiel manches entlehnt hat; so vor allem die zahl-
reichen Reden des Gaius Gracchus, deren flammende Worte den
leidenschaftlichen Ernst, die adliche Haltung und das tragische
Verhängniſs dieser hohen Natur im treuen Spiegelbild bewahrten.
In der wissenschaftlichen Litteratur begegnet gleich in dem
ersten eigentlich schriftstellerischen fachwissenschaftlichen Werk
eines Römers, der juristischen Gutachtensammlung des Marcus
Brutus (um 600), ein Versuch die dialogische Behandlung der Grie-
chen nach Rom zu verpflanzen und durch eine nach Personen, Zeit
und Ort bestimmte Scenerie des Gesprächs der Abhandlung eine
künstlerische halb dramatische Form zu geben. Indeſs die spä-
teren Gelehrten aller Fächer, sowohl der allgemeinen Bildungs- als
der specielleren Fachwissenschaften, namentlich der Philolog Stilo
und der Jurist Scaevola lieſsen sehr bald diese mehr poetische als
praktische Methode fallen. Der steigende Werth der Wissenschaft
als solcher und des stofflichen Interesses an derselben spiegelt
sich deutlich in diesem raschen Abwerfen der Fessel künstleri-
scher Form. — Im einzelnen ist von den allgemein humanen
Wissenschaften, der Grammatik oder vielmehr der Philologie, der
Rhetorik und der Philosophie insofern schon gesprochen wor-
den (S. 391 fg.), als dieselben jetzt wesentliche Bestandtheile der
gewöhnlichen römischen Bildung wurden. Auf dem litterarischen
Gebiet blüht die lateinische Philologie fröhlich auf, im engen An-
schluſs an die längst sicher gegründete philologische Behandlung
der griechischen Litteratur. Es ward bereits erwähnt, daſs um den
[433]LITTERATUR UND KUNST.
Anfang dieses Jahrhunderts auch die lateinischen Epiker ihre
Diaskeuasten fanden (S. 407); ebenso ward hervorgehoben, daſs
nicht bloſs der scipionische Kreis überhaupt vor allem andern
auf Correctheit drang, sondern auch einzelne der namhaftesten
Schriftsteller, zum Beispiel Accius und Lucilius, sich beschäftig-
ten mit Regulirung der Orthographie und der Grammatik. Gleich-
zeitig begegnen einzelne Versuche von der historischen Seite her
die Realphilologie zu entwickeln; freilich werden die Abhandlun-
gen der unbeholfenen Annalisten dieser Zeit, wie die des Hemina
‚über die Censoren‘, des Tuditanus ‚über die Beamten‘, schwer-
lich besser gerathen sein als ihre Chroniken. Interessanter sind
die Bücher über die Aemter von dem Freunde des Gaius Gracchus
Marcus Junius als der erste Versuch die Alterthumsforschung für
politische Zwecke nutzbar zu machen *, und die Didaskalien des
Tragikers Accius, ein Anlauf zu einer Litterargeschichte des la-
teinischen Dramas. Indeſs jene Anfänge einer wissenschaftlichen
Behandlung der Muttersprache tragen noch ein sehr unwissen-
schaftliches Gepräge, das lebhaft erinnert an unsere Orthogra-
phielitteratur der Bodmer-Klopstockischen Zeit; und auch die
antiquarischen Untersuchungen dieser Epoche wird man ohne
Unbilligkeit auf einen bescheidenen Platz verweisen dürfen. Der-
jenige Römer, der zuerst die lateinische Sprach- und Alterthums-
forschung im Sinne der alexandrinischen Meister wissenschaft-
lich begründete, war Lucius Aelius Stilo um 650 (S. 407). Er
zuerst ging zurück auf die ältesten Sprachdenkmäler und com-
mentirte die saliarischen Litaneien und das römische Stadtrecht.
Er wandte der Komödie des sechsten Jahrhunderts seine beson-
dere Aufmerksamkeit zu und stellte zuerst ein Verzeichniſs der
nach seiner Ansicht ächten plautinischen Stücke auf. Er suchte
nach griechischer Art die Anfänge einer jeden einzelnen Erschei-
nung des römischen Lebens und Verkehrs geschichtlich zu be-
stimmen und für jede den ‚Erfinder‘ zu ermitteln und zog zu-
gleich die gesammte annalistische Ueberlieferung in den Kreis
seiner Forschung. Von dem Erfolg, den er bei seinen Zeitge-
nossen hatte, zeugen die Widmungen des bedeutendsten dichte-
rischen und des bedeutendsten Geschichtswerkes seiner Zeit, der
Satiren des Lucilius und der Geschichtsbücher des Antipater;
und auch für die Zukunft hat dieser erste römische Philolog die
Röm. Gesch. II. 28
[434]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
Studien seiner Nation bestimmt, indem er seine zugleich sprach-
liche und sachliche Forschung auf seinen Schüler Varro vererbte.
— Mehr untergeordneter Art war begreiflicher Weise die littera-
rische Thätigkeit auf dem Gebiet der lateinischen Rhetorik; es
gab hier nichts zu thun als Hand- und Uebungsbücher nach
dem Muster der griechischen Compendien des Hermagoras und
Anderer zu schreiben, woran es denn freilich die Schulmeister
theils um des Bedürfnisses, theils um der Eitelkeit und des
Geldes willen nicht fehlen lieſsen. Von einem unbekannten Ver-
fasser, der nach der damaligen Weise (S. 408) zugleich latei-
nische Litteratur und lateinische Rhetorik lehrte und über beide
schrieb, ist uns ein solches unter Sullas Dictatur abgefaſstes
Handbuch der Redekunst erhalten; eine nicht bloſs durch die
knappe, klare und sichere Behandlung des Stoffes, sondern vor
allem durch die verhältniſsmäſsige Selbstständigkeit den griechi-
schen Mustern gegenüber bemerkenswerthe Lehrschrift. Obwohl
in der Methode gänzlich abhängig von den Griechen, weist der
Römer doch bestimmt und sogar schroff alles das ab, ‚was die
Griechen an nutzlosem Kram zusammengetragen haben, einzig
damit die Wissenschaft schwerer zu lernen erscheine‘. Der bit-
terste Tadel trifft die haarspaltende Dialektik, diese ‚geschwätzige
Wissenschaft der Redeunkunst‘, deren vollendeter Meister vor
lauter Angst sich zweideutig auszudrücken zuletzt nicht mehr
seinen eigenen Namen auszusprechen wagt. Die griechische Schul-
terminologie wird durchgängig und absichtlich vermieden. Sehr
ernstlich warnt der Verfasser vor der Viellehrerei und schärft die
goldene Regel ein, daſs der Schüler von dem Lehrer vor allem
dazu anzuleiten sei sich selber zu helfen; ebenso ernstlich erkennt
er es an, daſs die Schule Neben-, das Leben die Hauptsache ist
und giebt in seinen durchaus selbstständig gewählten Beispielen
den Wiederhall derjenigen Sachwalterreden, die während der
letzten Decennien in der römischen Advocatenwelt Aufsehen ge-
macht hatten. Es verdient Aufmerksamkeit, daſs die Opposition
gegen die Auswüchse des Hellenismus, die früher gegen das Auf-
kommen einer eigenen lateinischen Redekunst sich gerichtet hatte
(S. 408), nach deren Aufkommen in dieser selbst sich fortsetzt
und damit der römischen Beredsamkeit theoretisch und praktisch
im Vergleich mit der gleichzeitigen griechischen eine höhere
Würde und eine gröſsere Brauchbarkeit sichert. — Die Philoso-
phie endlich ist in der Litteratur noch nicht vertreten, da
weder sich aus innerem Bedürfniſs eine nationalrömische Philo-
sophie entwickelte noch äuſsere Umstände eine lateinische phi-
[435]LITTERATUR UND KUNST.
losophische Schriftstellerei hervorriefen. Mit Sicherheit als dieser
Zeit angehörig sind nicht einmal lateinische Uebersetzungen po-
pulärer philosophischer Compendien nachzuweisen; wer Philo-
sophie trieb, las und disputirte griechisch.
In den Fachwissenschaften ist die Thätigkeit gering. So
gut man auch in Rom verstand zu ackern und zu rechnen, so
fand doch die physikalische und mathematische Forschung dort
keinen Boden; der als mathematischer und astronomischer
Schriftsteller genannte Gaius Sulpicius Gallus Consul 588 ist
eine ganz vereinzelte Erscheinung. Die Folgen der vernachlässig-
ten Theorie zeigen sich praktisch in dem niedrigen Stande der
Arzneikunde und eines Theils der militärischen Wissenschaften.
Unter allen Fachwissenschaften blüht nur die Jurisprudenz. Wir
können ihre innerliche Entwicklung nicht chronologisch genau
verfolgen; im Ganzen trat das Sacralrecht mehr und mehr zu-
rück und stand am Ende dieser Periode ungefähr wie heut-
zutage das kanonische; die feinere und tiefere Rechtsauffas-
sung dagegen, welche an die Stelle der äuſserlichen Kennzeichen
die innerlich wirksamen Momente setzt, zum Beispiel die Ent-
wickelung der Begriffe der absichtlichen und der fahrlässigen
Verschuldung, des vorläufig schutzberechtigten Besitzes, war zur
Zeit der Zwölftafeln noch nicht, wohl aber in der ciceronischen
Zeit vorhanden und mag der gegenwärtigen Epoche ihre wesent-
liche Ausbildung verdanken. Die Rückwirkung der politischen
Verhältnisse auf die Rechtsentwickelung ist schon mehrfach an-
gedeutet worden. Sie war nicht immer vortheilhaft, wie zum
Beispiel durch die Einrichtung des Erbschaftsgerichtshofs der
Hundertmänner (S. 342) auch in dem Vermögensrecht ein Ge-
schwornencollegium auftrat, das gleich den Criminalbehörden
statt das Gesetz einfach anzuwenden sich über dasselbe stellte
und mit der sogenannten Billigkeit die rechtlichen Institutionen
untergrub; wovon unter Anderm eine Folge war die unvernünftige
Satzung, daſs es jedem, den ein Verwandter im Testament über-
gangen hat, freistehe auf Cassirung des Testaments vor dem Ge-
richtshof anzutragen und dem Gericht nach Ermessen zu ent-
scheiden. Bestimmter läſst die Entwickelung der juristischen
Litteratur sich erkennen. Sie hatte bisher auf Formularien-
sammlungen und Worterklärungen zu den Gesetzen sich be-
schränkt; in dieser Periode bildete sich zunächst eine Gutachten-
litteratur, die ungefähr unseren heutigen Präjudicatsammlungen
entspricht. Die Gutachten, die längst nicht mehr bloſs von Mit-
gliedern des Pontificalcollegiums, sondern von jedem, der Befra-
28*
[436]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
ger fand, zu Hause oder auch auf offenem Markt ertheilt wur-
den, und an die schon rationelle und polemische Erörterungen
und die der Rechtswissenschaft eigenthümlichen stehenden Con-
troversen sich anknüpften, fingen um den Anfang des siebenten
Jahrhunderts an aufgezeichnet und in Sammlungen bekannt ge-
macht zu werden; es geschah dies zuerst von dem jüngeren Cato
(† um 600) und von Marcus Brutus (etwa gleichzeitig) und schon
diese Sammlungen waren, wie es scheint, nach Materien geord-
net *. Bald schritt man fort zu einer eigentlich systematischen
Darstellung des Landrechts. Ihr Begründer war der Oberpontifex
Quintus Mucius Scaevola (Consul 659, † 672; S. 201. 312. 398),
in dessen Familie die Rechtswissenschaft wie das höchste Prie-
sterthum erblich war. Seine achtzehn Bücher ‚vom Landrecht‘,
welche das positive juristische Material: die gesetzlichen Bestim-
mungen, die Präjudicate und die Autoritäten theils aus den älte-
ren Sammlungen, theils aus der mündlichen Ueberlieferung in
möglichster Vollständigkeit zusammen faſsten, sind der Ausgangs-
punkt und das Muster der ausführlichen römischen Rechtssy-
steme geworden; ebenso wurde seine resumirende Schrift ‚Defi-
nitionen‘ die Grundlage der juristischen Compendien und na-
mentlich der Regelbücher. Obwohl diese Rechtsentwickelung
natürlich im Wesentlichen von dem Hellenismus unabhängig vor
sich ging, so hat doch die Bekanntschaft mit der philosophisch-
praktischen Systematisirung der Griechen im Allgemeinen un-
zweifelhaft auch zu der mehr systematischen Behandlung der
Rechtswissenschaft den Anstoſs gegeben. Daſs in einzelnen mehr
äuſserlichen Dingen die römische Jurisprudenz durch die Stoa
bestimmt ward, ward schon bemerkt (S. 397).
Die Kunst weist noch weniger erfreuliche Erscheinungen
auf. In der Architektur, Sculptur und Malerei breitete zwar das
dilettantische Wohlgefallen immer allgemeiner sich aus, aber die
eigene Uebung ging eher rück- als vorwärts. Immer gewöhn-
licher ward es bei dem Aufenthalt in griechischen Gegenden die
Kunstwerke sich mit anzusehen, wofür namentlich die Winter-
quartiere der sullanischen Armee in Kleinasien 670/1 epoche-
machend wurden. Die Kunstkennerschaft, zunächst von silber-
nem und bronzenem Geräth, entwickelte sich auch in Italien.
[437]LITTERATUR UND KUNST.
Um den Anfang dieser Epoche fing man an nicht bloſs Geräth
und Bildsäulen, sondern auch griechische Gemälde zu schätzen.
Das erste in Rom öffentlich aufgestellte Bild war der Bakchos
des Aristeides, den Lucius Mummius aus der Versteigerung der
korinthischen Beute zurücknahm, weil König Attalos bis zu
6000 Denaren (1716 Thlr.) darauf bot. Die Bauten wurden
glänzender und namentlich kam der überseeische, besonders der
hymettische Marmor (Cipollin) dabei in Gebrauch — die itali-
schen Marmorbrüche waren noch nicht in Betrieb. Der pracht-
volle noch in der Kaiserzeit bewunderte Säulengang, den der Be-
sieger Makedoniens Quintus Metellus (Consul 611) auf dem
Marsfelde anlegte, schloſs den ersten Marmortempel ein, den
die Hauptstadt sah; bald folgten ähnliche Anlagen auf dem Ca-
pitol durch Scipio Nasica (Consul 616), auf dem Rennplatz
durch Gnaeus Octavius (Consul 626). Das erste mit Marmor-
säulen geschmückte Privathaus war das des Redners Lucius Cras-
sus († 663) auf dem Palatin (S. 382). Aber wo man plündern
oder kaufen konnte, statt selber zu schaffen, da geschah es; es ist
ein schlimmes Armuthszeugniſs für die römische Architektur,
daſs sie schon anfing die Säulen der alten griechischen Tempel
zu verwenden, wie zum Beispiel mit denen des Zeustempels in
Athen das römische Capitol durch Sulla geschmückt ward. Was
dennoch in Rom gearbeitet ward, geschah durch die Hände von
Fremden; die wenigen römischen Künstler dieser Zeit, die na-
mentlich erwähnt werden, sind ohne Ausnahme eingewanderte
italische oder überseeische Griechen: so der Architekt Hermo-
doros aus dem kyprischen Salamis, der für Decimus Brutus Con-
sul 616 den Marstempel im flaminischen Circus baute; der Bild-
hauer Pasiteles (um 665) aus Groſsgriechenland, der für römi-
sche Tempel Götterbilder von Elfenbein lieferte; der Maler und
Philosoph Metrodoros von Athen, der verschrieben ward, um die
Bilder für den Triumph des Lucius Paullus (587) zu malen.
Es ist bezeichnend, daſs die Münzen dieser Epoche im Vergleich
mit denen der vorigen zwar eine gröſsere Mannigfaltigkeit der
Typen, aber im Stempelschnitt eher einen Rück- als einen Fort-
schritt zeigen. — Endlich Musik und Tanz siedelten in gleicher
Weise von Hellas über nach Rom, einzig um daselbst zur
Erhöhung des decorativen Luxus verwandt zu werden. Solche
fremdländische Künste waren allerdings nicht neu in Rom; der
Staat hatte seit alter Zeit bei seinen Festen etruskische Flöten-
bläser und Tänzer auftreten lassen und die Freigelassenen und
die niedrigste Klasse des römischen Volkes auch bisher schon
[438]VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
mit diesem Gewerbe sich abgegeben. Aber neu war es, daſs grie-
chische Tänze und musikalische Aufführungen die stehende Be-
gleitung einer vornehmen Tafel wurden: neu war eine Tanz-
schule, wie Scipio Aemilianus in einer seiner Reden sie voll Un-
willen schildert, in der über fünfhundert Knaben und Mädchen,
die Hefe des Volkes und Kinder von Männern in Amt und Wür-
den durch einander, von einem Balletmeister Anweisung erhiel-
ten in wenig ehrbaren Castagnettentänzen, in entsprechenden
Gesängen und in dem Gebrauch der verrufenen griechischen
Saiteninstrumente. Man schritt dagegen von oben herab ein: im
J. 639 wurden alle musikalischen Instrumente mit Ausnahme
der in Latium einheimischen einfachen Flöte von den Censoren
untersagt. Aber Rom war kein Sparta; das schlaffe Regiment
signalisirte mehr die Uebelstände durch solche Verbote als daſs
es ihnen durch scharfe und folgerichtige Anwendung derselben
abzuhelfen auch nur versucht hätte.
Werfen wir schlieſslich einen Blick zurück auf das Ge-
sammtbild, das die Litteratur und die Kunst Italiens von dem
Tode des Ennius bis auf den Anfang der ciceronischen Zeit vor
uns entfaltet, so begegnen wir auch hier in Vergleich mit der
vorher gehenden Epoche dem entschiedensten Sinken der Pro-
ductivität. Die höheren Gattungen der Litteratur sind abgestor-
ben oder im Verkümmern, so das Epos, das Trauerspiel, die
Geschichte. Was gedeiht, sind die untergeordneten Arten, die
Uebersetzung und die Nachdichtung des Intriguenstücks, die
Posse, die poetische und prosaische Broschüre; in diesen beiden
von der vollen Windsbraut der Revolution durchrasten Gebieten
der Litteratur begegnen wir den beiden gröſsten litterarischen
Talenten dieser Epoche, dem Gaius Gracchus und dem Gaius
Lucilius, die beide über eine Menge mehr oder minder mittel-
mäſsiger Schriftsteller emporragen, wie in einer ähnlichen Epoche
der französischen Litteratur über eine Unzahl anspruchsvoller
Nullitäten Courier und Beranger. Ebenso ist in den bildenden
und zeichnenden Künsten die immer schwache Productivität jetzt
völlig null. Dagegen gedeiht der receptive Kunst- und Litteratur-
genuſs; wie die Epigonen dieser Zeit auf dem politischen Gebiet
die ihren Vätern angefallene Erbschaft einziehen und ausnutzen,
so finden wir sie auch hier als fleiſsige Schauspielbesucher, als
Litteraturfreunde, als Kunstkenner und mehr noch als Sammler.
Die achtungswertheste Seite dieser Thätigkeit ist die gelehrte
Forschung, die vor allem in der Rechtswissenschaft und in der
Sprach- und Sachphilologie eine eigene geistige Anstrengung
[439]LITTERATUR UND KUNST.
offenbart. Mit der Begründung dieser Wissenschaften, welche
recht eigentlich in die gegenwärtige Epoche fällt, und zugleich
mit den ersten geringen Anfängen der Nachdichtung der alexan-
drinischen Treibhauspoesie beginnt bereits die Epoche des rö-
mischen Alexandrinismus sich anzukündigen. Alles, was diese
Epoche geschaffen hat, ist glatter, fehlerfreier, systematischer als
die Schöpfungen des sechsten Jahrhunderts; nicht ganz mit Un-
recht sahen die Litteraten und Litteraturfreunde dieser Zeit auf
ihre Vorgänger wie auf stümperhafte Anfänger herab. Aber wenn
sie die Mangelhaftigkeit jener Anfängerarbeiten belächelten oder
beschalten, so mochten doch auch eben die geistreichsten von
ihnen sich es gestehen, daſs die Jugendzeit der Nation vergan-
gen war, und vielleicht diesen oder jenen doch wieder im stillen
Grunde des Herzens die Sehnsucht beschleichen den lieblichen
Irrthum der Jugend abermals zu irren.
Appendix A
Druck von Carl Schultze in Berlin,
Neue Friedrichsstr. 47.
steht fest, daſs Viriathus Auftreten von dem Kampf mit Vetilius datirt
(Appian Hisp. 61; Justin 44, 2) und daſs er 615 umkam; die Dauer sei-
nes Regiments wird auf 8 (Appian Hisp. 63), 10 (Justin 44, 2), 11 (Dio-
dor S. 597) und 14 Jahre (Liv., Flor.) berechnet. Der dritte Ansatz hat
deſswegen einige Wahrscheinlichkeit, weil der Kampf sich eng an die Statt-
halterschaft Galbas anschlieſst. Dagegen ist für die folgende Zeit bis 608
die Reihenfolge der römischen Statthalter ganz ungewiſs, um so mehr als
Viriathus zwar vorwiegend in der südlichen, aber doch auch in der nörd-
lichen Provinz focht (Liv. 52) und seine römischen Gegner also nicht bloſs
einer Statthalterreihe angehören.
Der Zug der Küste ist im Lauf der Jahrhunderte so verändert wor-
den, daſs man an der alten Stätte die ehemaligen Localverhältnisse nur un-
vollkommen wiedererkennt. Den Namen der Stadt bewahrt das Cap Kar-
tadschena, auch von dem dort befindlichen Heiligengrab Ras Sidi bu Said ge-
Sie trägt jetzt das Fort Goletta.
höchster 393 F. über dem Meer gelegener Punct.
den merkwürdigen Dingen‘ als diejenige, in deren Mitte die korkyräi-
scheu Weinkrüge den thasischen und lesbischen begegnen; und auch heute
noch läuft dieselbe wesentlich in gleicher Richtung von Durazzo, die Berge
von Bagora (kandavisches Gebirge) am See von Ochrida (Lychnitis) durch-
schneidend, über Monastir nach Salonik.
die einst solche Beutegaben trugen und mit Mummius Namen bezeichnet
sind.
sei oder nicht, läuft in der Hauptsache auf einen Wortstreit hinaus. Dass
die griechischen Gemeinden durchgängig ‚frei‘ blieben (C. I. Gr. 1543, 15;
Caesar b. c. 3, 4; Appian Mithr. 58; Zonar. 9, 31), ist ausgemacht; aber
nicht minder ist es ausgemacht, daſs Griechenland damals von den Römern
‚in Besitz genommen ward‘ (Tae. ann. 14, 21; 1 Makkab. 8, 9. 10); daſs
von da an jede Gemeinde einen festen Zins nach Rom entrichtete (Pausan.
7, 16. 6, vgl. Cic. de prov. cons. 3, 5), die kleine Insel Gyaros zum Bei-
spiel jährlich 150 Drachmen (Strabon 10, 485); daſs die ‚Ruthen und Beile‘
des römischen Statthalters fortan auch in Griechenland schalteten (Polyb.
38, 1 c, vgl. Cic. Verr. l. 1, 21, 55) und derselbe die Oberaufsicht über die
Stadtverfassungen (C. I. Gr. 1543) so wie in gewissen Fällen die Criminal-
jurisdiction (C. I. Gr. 1543; Plut. Cim. 2) fortan so übte wie bisher der rö-
mische Senat; daſs endlich die makedonische Provinzialaera auch in Grie-
chenland in Gebrauch war. Zwischen diesen Thatsachen ist keineswegs ein
Widerspruch oder doch kein anderer als derjenige, welcher überhaupt in
der Stellung der freien Städte liegt, welche bald als auſserhalb der Provinz
stehend (z. B. Sueton Caes. 25), bald als der Provinz zugetheilt (z. B. Jo-
seph. ant. Iud. 14, 4, 4) bezeichnet werden. Der römische Domanialbesitz
in Griechenland beschränkte sich zwar auf den korinthischen Acker und
etwa einige Stücke von Euboea (C. I. Gr. 5879) und eigentliche Untertha-
nen gab es dort gar nicht; allein darum konnte dennoch, wenn man auf das
thatsächlich zwischen den griechischen Gemeinden und dem makedonischen
Statthalter bestehende Verhältniſs sieht, ebenso wie Massalia zur Provinz
Narbo, Dyrrhachion zur Provinz Makedonien, auch Griechenland zu der ma-
kedonischen Provinz gerechnet werden. Es finden sich sogar noch viel
weiter gehende Fälle: das cisalpinische Gallien bestand seit 665 aus lauter
Bürger- oder latinischen Gemeinden, ja in der caesarischen Zeit begeg-
nen Landschaften, die ausschlieſslich aus Bürgergemeinden bestehen
und die dennoch keineswegs aufhören Provinzen zu sein. Sehr klar tritt
hier der Grundbegriff der römischen provincia hervor; sie ist zunächst
nichts als das ‚Commando‘ und alle Verwaltungs- und Jurisdictionsthätig-
keit des Commandanten sind ursprünglich Nebengeschäfte und Corollarien
seiner militärischen Stellung. — Andrerseits muſs dagegen, wenn man die
formelle Souveränetät der freien Gemeinden ins Auge faſst, zugestanden
werden, daſs durch die Ereignisse des J. 608 Griechenlands Stellung staats-
rechtlich sich nicht änderte; es waren mehr factische als rechtliche Aende-
Gemeinden Achaias als tributäre Clientelstaaten neben Rom standen und
daſs seit Einrichtung der römischen Sonderverwaltung in Makedonien diese
anstatt der hauptstädtischen Behörden die Oberaufsicht über die griechi-
schen Clientelstaaten übernahm. Man kann demnach, je nachdem die that-
sächliche oder die formelle Auffassung überwiegt, Griechenland als Theil
des Commandos von Makedonien ansehen und auch nicht; indeſs wird der
ersteren Auffassung mit Recht das Uebergewicht eingeräumt.
schen Bronze- und Kupferwaaren, die in der ciceronischen Zeit ohne Un-
zeichnung ist in Italien begreiflicher Weise nicht von den Fabrications-,
sondern von den Exportplätzen hergenommen (Plin. n. h. 34, 2, 9); womit
natürlich nicht geleugnet wird, daſs dergleichen Gefäſse häufig in Korinth
und Delos selbst fabricirt wurden.
die befreiten Sclaven als Bürger einer sei es für jetzt nur gedachten, sei
es einer umgenannten Stadt Heliopolis sich constituirten, die ihren Namen
von dem in Syrien hochverehrten Sonnengott trug (Mittheilung eines
Freundes).
Einführung dieser Wirthschaftsweise nach griechischem Muster in einer
noch nicht hellenisch durchgebildeten Zeit.
wenigsten jäh ist, nicht selten römische Schleuderkugeln mit dem Namen
des Consuls von 621: L. Piso L. f. cos.
spruch zwischen der Gemeine Genua und einigen unter sie gelegten Dör-
fern, wodurch den letzteren an gewissen römischen Domanialländereien
das ausschlieſsliche Nutzungsrecht zugesprochen ward, gegen die Auflage
jährlich 400 Victoriati (= 300 Denare = 86 Thlr.) oder im Entstehungs-
fall \frac{1}{20} des davon gezogenen Getreides, ⅙ des Weins an die Stadt Genua
zu entrichten. Der Schiedsspruch ist vom J. 637, die Zuweisung des Do-
maniallandes aber älter.
womit nicht, wie man gemeint, ein Gesetz über Quaestionengerichte gemeint
ist, sondern das Supplementargesetz zu seiner Ackerrogation: ut triumviri
iudicarent, qua publicus ager, qua privatus esset (Liv. ep. 58; oben S. 81).
Worte: ‚Wenn ich zu euch redete und von euch begehrte, da ich von edler
Herkunft bin und meinen Bruder um euretwillen eingebüſst habe und nun
niemand weiter übrig ist von des Publius Africanus und des Tiberius Grac-
chus Nachkommen als nur ich und ein Knabe, mich für jetzt feiern zu las-
sen, damit nicht unser Stamm mit der Wurzel ausgerottet werde und ein
Spröſsling dieses Geschlechts übrig bleibe: so möchte wohl solches mir von
euch bereitwillig zugestanden worden sein‘.
berechtige den Abschied zu fordern, auszugleichen mit der bekannteren des
Polybios 6, 19, über welche Marquardt (Alterth. 3, 1, 286 A. 1580) rich-
tig urtheilt. Die Zeit, wo beide Neuerungen aufkamen, läſst sich nicht wei-
ter bestimmen, als daſs die erste schon im J. 603 bestanden zu haben
scheint (Nitzsch Gracchen S. 231), die zweite sicher schon zu Polybios
Zeit bestand. Daſs Gracchus die Zahl der Feldzüge herabsetzte, scheint
aus Asconus in Cornel. p. 68 zu folgen.
jetzt Fronto in den Briefen an Verus z. A. Vgl. Gracchus bei Gell. 11,
10; Cic. de rep. 3, 29; Verr. 3, 6, 12; Vellei. 2, 6.
tisch sein.
Einziehung des attalischen Reiches von Manius Aquillius den Königen von
Bithynien und von Pontos zu Kauf geboten und von dem letzteren erstanden
ward (S. 53), bezieht sich ein noch vorhandenes längeres Redebruchstück
des Gracchus. Er bemerkt darin, daſs von den Senatoren keiner umsonst sich
um die öffentlichen Angelegenheiten bekümmere und fügt hinzu: in Beziehung
auf das in Rede stehende Gesetz (über die Verleihung Phrygiens an König
Mithradates) theile der Senat sich in drei Klassen, solcher die dafür seien,
solcher die dagegen seien und solcher die stillschwiegen — die ersten
seien bestochen von König Mithradates, die zweiten von König Nikomedes,
die dritten aber seien die feinsten, denn diese lieſsen sich von den Gesand-
ten beider Könige bezahlen und jede Partei glauben, daſs in ihrem Inter-
esse geschwiegen werde.
dreihundert Jahren grundlos fortgepflanzten Namen des thorischen Acker-
gesetzes.
tend gemacht, daſs bei Valerius Maximus 6, 9, 13 Quintus Caepio Patron
des Senats genannt werde; allein was hier erzählt wird, paſst schlechter-
dings nicht auf den Consul des J. 648 und es muſs hier eine Irrung sein, sei
es nun im Namen oder in den berichteten Thatsachen.
kien erst erfolgte nach der kilikischen Expedition des Publius Servilius
676 fg., allein mit Unrecht; denn schon 662 finden wir Sulla (Appian Mithr.
57; Cic. I, 77; Victor 75), schon 674. 675 Gnaeus Dolabella (Cic. Verr.
I. I, 16, 44) als Statthalter von Kilikien, wonach nichts übrig bleibt als die
Einrichtung der Provinz in das J. 652 zu setzen. Hiefür spricht ferner,
daſs die römischen Expeditionen dieser Zeit gegen die Corsaren, wie z. B.
die balearischen, ligurischen, dalmatischen Feldzüge, regelmäſsig gerichtet
erscheinen auf Besetzung der Küstenpuncte, von wo der Seeraub ausging;
natürlich, denn da die Römer keine stehende Flotte hatten, war das einzige
Mittel dem Seeraub wirksam zu steuern die Besetzung der Küsten. Uebri-
gens ist daran zu erinnern, daſs der Begriff der provincia nicht unbedingt
Besitz der Landschaft in sich schlieſst, sondern an sich nichts ist als ein
selbstständiges militärisches Commando; es ist sehr möglich, daſs die Rö-
Schiffe und Mannschaft. — Das ebene Ostkilikien blieb bis auf den Krieg
gegen Tigranes bei dem syrischen Reich (Appian Syr. 48); die ehemals zu
Kilikien gerechneten Landschaften nördlich des Tauros, das sogenannte
kappadokische Kilikien und Kataonien gehörten jenes seit der Auflösung
des attalischen Reiches (Justin 37, 1; oben S. 52), dieses wohl schon seit
dem Frieden mit Antiochos zu Kappadokien.
- Massinissa 516-605.
- Micipsa
† 636 - Adherbal
† 642 - Hiempsal I
† c. 637 - Micipsa
(Diod. p. † 607)
- Micipsa
- Gulussa
† vor 636 - Massiva
† 643
- Gulussa
- Mastanabal
† vor 636 - Gauda
† vor 672 - Hiempsal II
- Juba I
- Juba II
- Gauda
- Jugurtha
† 650 - Oxyntas
- Jugurtha
- Mastanabal
Sallust ist die Chronologie mehr als billig vernachlässigt. Der Krieg ging
im Sommer 649 zu Ende; wenn also Marius als Consul 647 nach Nu-
midien ging, so führte er dort das Commando in drei Campagnen. Allein
die Erzählung schildert nur zwei. Wenn ferner der Beschluſs des Volkes
dem Marius den Oberbefehl zu übertragen zunächst ohne Erfolg blieb,
weil der Senat kurz vorher dem Metellus das Commando verlängert hatte
(c. 73), so kann dies nicht auf den Feldzug von 646 gehen, für den Marius
noch gar keinen Anspruch auf das Commando machen konnte, sondern nur
heiſsen, daſs er nicht als Consul 647, sondern erst 648 als Proconsul nach
Africa ging. Allem Anschein nach ging Metellus zwar schon 645 nach
Africa, aber da er spät eintraf (c. 37. 44) und die Reorganisation des Hee-
res Zeit kostete (c. 44), begannen die Operationen erst wieder im folgen-
den Jahr, so daſs also die beiden Feldzüge des Metellus 646. 647, die des
Marius 648. 649 fallen. Dazu paſst auch sehr wohl, daſs die Schlacht am
Muthul und die Belagerung von Zama nach dem Verhältniſs, in dem sie zu
Marius Bewerbung um das Consulat stehen, nothwendig in das Jahr 646
gesetzt werden müssen. Von Ungenauigkeiten ist freilich der Schriftsteller
auf keinen Fall freizusprechen; wie denn Marius sogar noch 649 bei ihm
Consul genannt wird.
midischen Reiches nach Jugurthas Katastrophe fehlt es. Daſs Gauda sein
Nachfolger ward, deuten Sallust c. 65 und Dio fr. 79, 4 Bekk. an und be-
stätigt eine Inschrift von Cartagena, die ihn König und Vater Hiempsals II
nennt. Daſs im Westen die zwischen Numidien einer- und dem römischen
Africa und Kyrene andrerseits bestehenden Grenzverhältnisse unverändert
blieben, zeigt Caesar b. c. 2, 38, b. Afr. 43. 77 und die spätere Provinzial-
verfassung. Dagegen liegt es in der Natur der Sache und wird auch von
Sallust c. 97. 102. 111 angedeutet, daſs Bocchus Reich bedeutend vergrös-
sert ward; womit es unzweifelhaft zusammenhängt, daſs Mauretanien, ur-
sprünglich beschränkt auf die Landschaft von Tingis (Marocco), in späterer
Zeit sich erstreckt auf die Landschaft von Caesarea (Provinz Algier) und
von Sitifis (westliche Hälfte der Provinz Constantine). Da Mauretanien
zweimal von den Römern vergröſsert ward, zuerst 649 nach Jugurthas
Auslieferung, sodann 708 nach Auflösung des numidischen Reiches, so ist
wahrscheinlich die Landschaft von Caesarea bei der ersten, die von Sitifis
bei der zweiten Vergröſserung hinzugekommen.
läſst (de rep. 3, 9), nicht einen Anachronismus sich hat zu Schulden kom-
men lassen, so bleibt wohl nur die im Text bezeichnete Auffassung möglich.
Auf Norditalien und Ligurien bezieht diese Verfügung sich nicht, wie schon
der Weinbau der Genuaten im J. 637 (S. 93 A.) beweist; ebensowenig auf
das unmittelbare Gebiet von Massalia (Just. 43, 4; Poseidon. fr. 25 Müll.;
Strabon 4, 179). Die starke Ausfuhr von Oel und Wein aus Italien nach
dem Rhonegebiet im siebenten Jahrh. der Stadt ist bekannt.
nicht weit von Clermont.
und Orosius vor die an der Isara; allein auf die entgegengesetzte Folge
führen Florus und Strabon 4, 191 und sie wird bestätigt theils dadurch,
daſs Maximus nach dem Auszug des Livius und Plinius h. n. 7, 50 sie als
Consul lieferte, theils besonders durch die capitolinischen Fasten, nach
denen nicht bloſs Maximus vor Ahenobarbus triumphirte, sondern auch je-
ner über die Allobrogen und den Arvernerkönig, dieser nur über die Ar-
verner. Es ist einleuchtend, daſs die Schlacht gegen Allobrogen und Ar-
verner früher stattgefunden haben muſs als die gegen die Arverner allein.
(Strabon 4, 180; Vellei. I, 15; Madvig opusc. I, 303). Aehnlich ist Vindo-
nissa rechtlich nie etwas anders gewesen als ein keltisches Dorf, aber da-
bei zugleich ein befestigtes römisches Lager und eine sehr ansehnliche Ort-schaft.
Makedonien, streiften aber hinüber in das benachbarte Illyricum (Caesar
b. G. 5, 1).
Alp), dem Rhein und dem Main wohnten die Helvetier‘, sagt Tacitus (Germ.
28), ‚weiter hin die Boier‘. Auch Poseidonios (bei Strabon 7, 293) giebt
an, daſs die Boier zu der Zeit, wo sie die Kimbrer abschlugen, den herky-
nischen Wald bewohnten, d. h. die Gebirge von der rauhen Alp bis zum
Böhmerwald. Wenn Caesar sie ‚jenseit des Rheines‘ versetzt(b. G. I, 5),
vetiern spricht, kann er sehr wohl die Landschaft nordöstlich vom Boden-
see meinen; womit vollkommen übereinstimmt, daſs Strabon (7, 292) die
ehemals boische Landschaft als dem Bodensee angrenzend bezeichnet, nur
daſs er nicht ganz genau daneben als Anwohner des Bodensees die Vin-
deliker nennt, welche ja eben diese von den Boiern geräumten Striche be-
setzten. Aus diesen ihren Sitzen waren die Boier von den Marcomannen
und andern deutschen Stämmen schon vor Poseidonios Zeit, also vor 650
vertrieben; Splitter derselben irrten zu Caesars Zeit in Kärnthen um-
her (Caesar b. G. I, 5) und kamen von da zu den Helvetiern und in das
westliche Gallien; ein andrer Schwarm fand neue Sitze am Plattensee, wo
er um 700 von den Geten vernichtet ward, die Landschaft aber, die ‚boi-
sche Einöde‘, den Namen dieses geplagtesten aller keltischen Völker be-
wahrte.
Galli Karniheiſsen sie in den Triumphalfasten, Ligures Taurisci
(denn so ist statt des überlieferten Ligures et Caurisci zu schreiben) bei
Victor.
die Skordisker nennen, so kann es nur ein Fehler von Florus sein, daſs er
statt des Margos (Morawa) den Hebros (die Maritza) nennt.
then groſse Landschaften weggerissen und dadurch die massenhafte Aus-
wanderung der Kimbrer veranlaſst worden sei (Strabon 7, 293), erscheint
zwar uns nicht, wie den griechischen Forschern, mährchenhaft; allein ob er
auf Sage oder Ueberlieferung sich gründet, ist nicht zu entscheiden.
Kimbrern zugleich in Gallien eingerückt seien, läſst sich auf Strabon 7,
293 nicht stützen und stimmt wenig zu dem gesonderten Auftreten der
Helvetier. Die Ueberlieferung über diesen Krieg ist übrigens in einer Weise
trümmerhaft, daſs eine zusammenhängende Geschichtserzählung, völlig wie
bei den samnitischen Kriegen, nur Anspruch machen kann auf ungefähre
Richtigkeit.
Caepio im J. 659, zehn Jahre nach der Schlacht von Arausio, stattgefunden
habe, beruht einzig auf Ciceros Angabe, daſs Crassus als Consul, also 659
für Caepio sprach. Allein er sprach damals für ihn nicht als sein Verthei-
diger, sondern bei Gelegenheit des Prozesses gegen Norbanus, welcher
wegen seines Auftretens gegen Caepio allerdings im J. 659 zur Verantwor-
tung gezogen ward.
zuverlässigsten livianischen Bericht in der Epitome (wo zu lesen ist: re-
versi in Galliam in V ellocassis se Teutonis coniunxerunt) und bei Obse-
quens, mit Beseitigung der geringeren Zeugnisse, die die Teutonen schon
früher, zum Theil schon, wie Appian Celt. 13, in der Schlacht von Noreia,
neben den Kimbrern auftreten lassen. Damit sind verbunden die Notizen
bei Caesar b. G. 1, 33. 2, 4. 29, da mit dem Zug der Kimbrer in die römi-
sche Provinz und nach Italien nur die Expedition von 652 gemeint sein kann.
Man hat nicht wohl gethan von der Ueberlieferung abweichend das
Schlachtfeld nach Verona zu verlegen; wobei übersehen ward, daſs zwi-
schen den Gefechten an der Etsch und dem entscheidenden Treffen ein
ganzer Winter und vielfache Truppenbewegungen liegen, und daſs Catulus
nach ausdrücklicher Angabe (Plut. Mar. 24) bis auf das rechte Po-Ufer zu-
rückgewichen war. Auch die Angaben, daſs am Po (Hier. chron.), und daſs
da, wo Stilicho später die Geten schlug, d. h. bei Cherasco am Tanaro die
Kimbrer geschlagen wurden, führen, obwohl beide ungenau, doch viel eher
nach Vercellae als nach Verona.
sul, der jüngere 650 Quaestor, also jener um 600, dieser um 623 geboren;
daſs jener starb ohne Söhne zu hinterlassen (Strabon 4, 188), widerspricht
nicht, denn der jüngere Caepio fiel 664 und der ältere, der im Exil zu
Smyrna sein Leben beschloſs, kann gar wohl ihn überlebt haben.
men; jener ergab 394336, dieser 910000 waffenfähige Bürger (nach Phle-
gon fr. 12 Müll., welchen Satz Clinton und dessen Ausschreiber fälschlich
auf den Census von 668 beziehen; nach Liv. ep. 98 wurden — nach der
richtigen Lesung — 900000 Köpfe gezählt). Der einzige zwischen diesen
beiden bekannte Census von 668, der nach Hieronymus 463000 Köpfe er-
gab, ist wohl nur deſshalb so gering ausgefallen, weil er mitten in der
Krise der Revolution stattfand. Da ein Steigen der Bevölkerung Italiens in
der Zeit von 639 bis 684 nicht angenommen werden kann und selbst die
sullanischen Landanweisungen die Lücken, die der Krieg gerissen, höch-
stens gedeckt haben können, so darf der Ueberschuſs von reichlich 500000
Waffenfähigen mit Sicherheit auf die inzwischen erfolgte Aufnahme der
Bundesgenossen zurückgeführt werden. Indeſs ist es möglich und sogar
wahrscheinlich, daſs in diesen verhängniſsvollen Jahren in der That der
Stand der italischen Bevölkerung vielmehr zurückging, so daſs nach einem
mäſsigen Ansatz für die Zeit des Bundesgenossenkrieges auf zwei Bürger
drei Nichtbürger in Italien gerechnet werden können.
ein Versehen des Auszugmachers die sinnlose Ueberschrift ‚Eid des Philip-
pus‘ trägt); sie lautet: ‚Ich schwöre bei dem capitolinischen Jupiter und
‚bei der römischen Vesta und bei dem angestammten Mars und bei der zeu-
‚genden Sonne und bei der nährenden Erde und bei den göttlichen Grün-
‚dern und Mehrern der Stadt Rom, daſs mir Freund sein soll und Feind
‚sein soll derselbe, der Freund und Feind ist dem Drusus; imgleichen daſs
‚ich weder meines eigenen noch des Lebens meiner Kinder und Aeltern
‚schonen will, auſser insoweit es dem Drusus frommt und den Genossen
‚dieses Eides. Wenn ich aber Bürger werden sollte durch das Gesetz des
‚Drusus, so will ich Rom achten als meine Heimath und Drusus als den
‚gröſsten meiner Wohlthäter. Diesen Eid will ich abnehmen so vielen mei-
‚ner Mitbürger als ich vermag; und schwöre ich recht, so gehe es mir wohl,
‚schwöre ich falsch, so gehe es mir übel.‘ — Indeſs wird man wohl thun
diesen Bericht mit Vorsicht zu benutzen; er rührt ohne Zweifel her aus
später über diese Verschwörung in Rom aufgenommenen Criminalprozeſs-
acten und es bleibt fraglich, ob diese Eidesformel aus den Inculpaten her-
aus oder in sie hinein inquirirt ward.
Strabon 5, 4. 2 noch das Beste geben, erhellt dies sehr bestimmt; wie denn
zum Beispiel der letztere ausdrücklich sagt, daſs die Bürgerschaft die Be-
amten wählte. Daſs der Senat von Italia in anderer Weise gebildet werden
und andere Competenz haben sollte als der römische, ist wohl behauptet,
aber nicht bewiesen worden. Man wird bei der ersten Zusammensetzung
natürlich für eine einigermaſsen gleichmäſsige Vertretung der insurgirten
Städte gesorgt haben; allein daſs die Senatoren regelmäſsig von den Ge-
meinden deputirt werden sollten, ist nirgends gesagt. Ebenso wenig schlieſst
der Auftrag an den Senat die Verfassung zu entwerfen die Promulgation
durch den Beamten und die Ratification durch die Volksversammlung aus.
Strabo die Gallier sehr zahlreich waren.
welcher dreien griechischen Schiffscapitänen von Karystos, Klazomenae
und Miletos für die seit dem Beginn des italischen Krieges (664) geleiste-
ten treuen Dienste bei ihrer Entlassung Ehren und Vortheile zuerkennt.
Gleichartig ist die Nachricht Memnons, daſs von Herakleia am schwarzen
Meer für den italischen Krieg zwei Trieren aufgeboten und dieselben im
elften Jahre mit reichen Ehrengaben heimgekehrt seien.
Schleuderbleie von Asculum, die die achtzehnte Legion nennen.
sein, da während der guten Jahreszeit Caesar im Felde stand; das plau-
tisch-papirische ist wahrscheinlich wie in der Regel die tribunicischen An-
träge unmittelbar nach dem Amtsantritt der Tribunen, also Dec. 664 oder
Jan. 665 durchgebracht worden.
wohl mit ‚Mars der Rächer‘ oder ‚Roma, triff!‘ finden sich von jener Zeit
her noch jetzt mitunter in der Gegend von Ascoli.
til in oskischer Schrift angehören; denn so lange die Italia von den Insur-
genten festgehalten ward, konnte kein einzelner Gau als souveräne Macht
Münzen mit dem eigenen Namen schlagen.
aber darin eine Erneuerung des Gesetzes von 397 (I, 195) zu sehen, so
daſs der höchste erlaubte Zinsfuſs wieder \frac{1}{12} des Capitals für das zehn-
monatliche oder 10% für das zwölfmonatliche Jahr ward.
Vorberathungsrecht des Senats durchaus verschieden.
schen den ersten und den zweiten Krieg mit Rom, zum Theil aber doch
schon vor den ersten Krieg mit Rom fallen (Memn. 30; Justin 38, 7 a. E.;
App. Mithr. 13; Eutrop. 5, 5) und eine Erzählung nach der Zeitfolge sich
hier nun einmal schlechterdings nicht durchführen läſst.
die vornämlich jetzt den Ackerbau in der Krim und in diesen Gegenden
überhaupt erschwert, sehr gesteigert worden ist durch das Schwinden der
Wälder des mittleren und südlichen Ruſsland, die ehemals bis zu einem ge-
wissen Grad die Küstenlandschaft gegen den austrocknenden Nordostwind
schützten.
stimmen. Um 640 etwa scheint Mithradates Eupator thatsächlich die Re-
gierung angetreten zu haben; Sullas Intervention fällt 662 (Livius epit. 70),
womit die Berechnung der mithradatischen Kriege auf einen Zeitraum von
dreiſsig Jahren (662-691) zusammenstimmt (Plinius h. n. 7, 26, 97). In
die Zwischenzeit fallen die paphlagonischen und kappadokischen Succes-
sionshändel, mit denen der Bestechungsversuch, den Mithradates wie es
scheint in Saturninus erstem Tribunat 651 (S. 190) in Rom versuchte
(Diod. 631), wahrscheinlich schon zusammenhängt. Marius, der 655 Rom
verlieſs und nicht lange im Osten verweilte, traf Mithradates schon in Kap-
padokien und verhandelte mit ihm wegen seiner Uebergriffe (Cic. ad Brut.
1, 5; Plut. Mar. 31); Ariarathes VI. war also damals schon ermordet.
traf fünfundzwanzig Jahre später die Vergeltung, indem sie nach Mithra-
dats Tode dessen Sohn Pharnakes an die Römer übergab.
Legion, da sie nicht mehr von italischen Contingenten begleitet ist, minde-
stens nur die halbe Mannszahl kommt wie vordem.
haupt in einem Dunkel, das die Forschung höchstens bis zur Dämmerung
zu zerstreuen vermag. Daſs die Schlacht von Chaeroneia wenn auch nicht
an demselben Tage wie die Erstürmung von Athen (Pausan. 1, 20), doch
bald nachher, etwa im März 668 stattfand, ist ziemlich sicher; daſs die
darauf folgende thessalische und die zweite boeotische Campagne nicht
bloſs den Rest des J. 668, sondern auch das ganze J. 669 ausfüllten, ist
an sich wahrscheinlich und wird es noch mehr dadurch, daſs Sullas Unter-
nehmungen in Asien nicht genügen um mehr als einen Feldzug auszufüllen.
Darum ist der Uebergang Sullas nach Asien nicht 669, sondern 670 gesetzt
worden.
hatten, im Frieden Straflosigkeit ausbedungen habe (Memnon 35), er-
scheint schon nach dem Charakter des Siegers wie des Besiegten wenig
glaublich. Die schriftliche Abfassung des Friedensvertrages ward versäumt,
was zu vielen Entstellungen benutzt ward.
Krieg. König Ardasches von Armenien, berichtet Moses von Khoren, be-
gnügte sich nicht mit dem zweiten Rang, der ihm im persischen (parthi-
schen) Reich von Rechts wegen zukam, sondern zwang den Partherkönig
Arschagan ihm die höchste Gewalt abzutreten, worauf er in Persien sich
einen Palast bauen und daselbst Münzen mit eigenem Bildniſs schlagen
lieſs und den Arschagan zum Unterkönig Persiens, seinen Sohn Dicran
(Tigranes) zum Unterkönig Armeniens bestellte, seine Tochter Ardaschama
aber vermählte mit dem Groſsfürsten der Iberer Mihrdates (Mithradates),
einem Nachkommen des Mihrdates Satrapen des Dareios und Statthalter
Alexanders über die besiegten Iberer, der in den nördlichen Bergen und
über das schwarze Meer befahl. Ardasches nahm darauf den König der
Lydier Kroesos gefangen, unterwarf das Festland zwischen den beiden
groſsen Meeren (Kleinasien) und ging über das Meer mit unzähligen Schif-
fen, um den Westen zu bezwingen. Da in Rom damals Anarchie war, fand
er nirgends ernstlichen Widerstand, aber seine Soldaten brachten einander
um und Ardasches fiel von der Hand seiner Leute. Nach Ardasches Tode
rückte sein Nachfolger Dicran gegen die Armee der Griechen (d. i. der
Römer), die jetzt ihrerseits in das armenische Land eindrangen; er setzte
ihrem Vordringen ein Ziel, übergab seinem Schwager Mihrdates die Ver-
waltung von Madschag (Mazaka in Kappadokien) und des Binnenlandes
nebst einer ansehnlichen Streitmacht und kehrte zurück nach Armenien.
Viele Jahre später zeigte man noch in den armenischen Städten Statuen
griechischer Götter von bekannten Meistern, Siegeszeichen aus diesem
Feldzug. — Man erkennt hier verschiedene Thatsachen des ersten mithra-
datischen Kriegs ohne Mühe wieder, aber die ganze Erzählung ist augen-
scheinlich durcheinandergeworfen, mit fremdartigen Zusätzen ausgestattet
und namentlich durch patriotische Fälschung auf Armenien übertragen.
Ganz ebenso wird später der Sieg über Crassus den Armeniern beigelegt.
Diese orientalischen Nachrichten sind mit um so gröſserer Vorsicht aufzu-
nehmen, als sie keineswegs reine Volkssage sind, sondern theils mit den
armenischen Traditionen die Nachrichten des Josephus, Eusebius und ande-
rer den Christen des fünften Jahrh. geläufiger Quellen darin verschmolzen,
theils auch die historischen Romane der Griechen und ohne Frage auch die
eigenen patriotischen Phantasien des Moses ansehnlich in Contribution ge-
setzt sind. So schlecht unsere occidentalische Ueberlieferung an sich ist, so
kann die Zuziehung der orientalischen in diesem und ähnlichen Fällen, wie
zum Beispiel der unkritische Saint-Martin sie versucht hat, doch nur dahin
führen sie noch stärker zu trüben.
Cic. Phil. 12, 11 hervor. Der Senat scheint sich der Form bedient zu
haben die Frist des plautisch-papirischen Gesetzes (S. 230) einfach zu
verlängern, was ihm nach Herkommen freistand und thatsächlich hinauslief
auf Ertheilung des Bürgerrechts an alle Italiker.
nicht der Consul des J. 654, sondern ein gleichnamiger jüngerer Mann,
vielleicht des Vorigen Sohn. Einmal wird nirgends, wo der eine oder der
andere genannt wird, eines doppelten Consulats gedacht, auch nicht wo es
nothwendig war wie Cic. pro Flacc. 32, 77. Zweitens kann der Lucius Va-
lerius Flaccus, der im J. 669 als Vormann des Senats, also als Consular in
Rom thätig war (Liv. 83), nicht der Consul des J. 668 sein, da dieser damals
bereits nach Asien abgegangen und wahrscheinlich schon todt war. Der
Consul 654, Censor 657 ist derjenige, den Cicero (ad Att. 8, 3, 6) unter
den 667 in Rom anwesenden Consularen nennt; er war 669 unzweifelhaft
der älteste lebende Altcensor und also geeignet zum Vormann des Senats;
er ist auch der Zwischenkönig und der Reiterführer von 672. Dagegen ist
der Consul 668, der in Nikomedeia umkam (S. 285), der Vater des von Ci-
cero vertheidigten Lucius Flaccus (pro Flacc. 25, 61 vgl. 23, 55. 32, 77).
ter des sogenannten Befreiers im J. 671 Volkstribun war, also nicht im
Felde commandiren konnte.
neste allein zugänglich war (App. 1, 90); wobei übrigens sowohl ihm als
dem Entsatzheer die Straſse nach Rom offen stand. Ohne Zweifel stand
Sulla auf der Querstraſse, die von der latinischen, auf der die Samniten
herankamen, bei Valmontone nach Palestrina abbiegt; in diesem Fall com-
municirte Sulla auf der praenestinischen, die Feinde auf der latinischen
oder labicanischen mit der Hauptstadt.
in Samnio sich verbergen; vgl. Strabon 5, 3, 10.
b. c. 1, 95 wurden von Sulla geächtet gegen 40 Senatoren, wozu nachträg-
lich noch einige hinzukamen, und etwa 1600 Ritter; nach Florus 2, 9 (dar-
aus Augustin de civ. dei 3, 28) 2000 Senatoren und Ritter. Nach Plutarch
Sull. 31 wurden in den ersten drei Tagen 520, nach Orosius 5, 21 in den
ersten Tagen 580 Namen in die Liste eingetragen. Zwischen all diesen
Berichten ist ein wesentlicher Widerspruch nicht vorhanden, da ja theils
nicht bloſs Senatoren und Ritter getödtet wurden, theils die Liste Monate
lang offen blieb. Wenn an einer andern Stelle Appian 1, 103 als von Sulla
getödtet oder verbannt aufführt 15 Consulare, 90 Senatoren, 2600 Ritter,
so sind hier, wie schon der Zusammenhang zeigt, die Opfer des Bürger-
kriegs überhaupt und die Opfer Sullas verwechselt. Die funfzehn Consu-
lare sind Quintus Catulus Consul 652, Marcus Antonius 655, Publius Cras-
sus 657, Quintus Scaevola 659, Lucius Domitius 660, Lucius Caesar 664,
Quintus Rufus 666, Lucius Cinna 667-670, Gnaeus Octavius 667, Lucius
Merula 667, Lucius Flaccus 668, Gnaeus Carbo 669. 670. 672, Gaius Nor-
banus 671, Lucius Scipio 671, Gaius Marius 672, von denen vierzehn ge-
tödtet, einer, Lucius Scipio, verbannt wurde. Wenn dagegen der liviani-
sche Bericht bei Eutrop 5, 9 und Orosius 5, 22 als im Bundesgenossen- und
Bürgerkrieg weggerafft (consumpti) angiebt 24 Consulare, 7 Prätorier,
60 Aedilicier, 200 Senatoren, so sind hier theils die im italischen Krieg ge-
Titus Didius 656, Publius Lupus 664, Lucius Cato 665, theils vielleicht
Quintus Metellus Numidicus (S. 200), Manius Aquillius, Gaius Marius der
Vater, Gnaeus Strabo, die man allenfalls auch als Opfer dieser Zeit ansehen
konnte, oder andere Männer, deren Schicksal uns nicht bekannt ist. Von
den vierzehn getödteten Consularen sind drei, Rufus, Cinna und Flaccus
durch Militärrevolten, dagegen acht sullanische, drei marianische Consu-
lare als Opfer der Gegenpartei gefallen. Nach der Vergleichung der oben
angegebenen Ziffern galten als Opfer des Marius 50 Senatoren und 1000
Ritter, als Opfer des Sulla 40 Senatoren und 1600 Ritter; es giebt dies
einen wenigstens nicht ganz willkürlichen Maſsstab zur Abschätzung des
Umfangs der beiderseitigen Frevel.
genannte Sextus Alfenus.
hinzu, daſs das latinische Recht sonst regelmäſsig eben wie das peregrini-
sche die Mitgliedschaft in einer bestimmten latinischen oder peregrinischen
Gemeinde in sich schloſs, hier aber — ähnlich wie bei den sogenannten
peregrini dediticii und den späteren junischen Latinern — ohne ein solches
eigenes Stadtrecht auftrat. Die Folge war, daſs diese Latiner die an die
Stadtverfassung geknüpften Privilegien entbehrten, genau genommen auch
nicht testiren konnten, da Niemand anders ein Testament errichten kann
als nach dem Recht seiner Stadt; wohl aber konnten sie aus römischen
Testamenten erwerben und unter Lebenden unter sich und mit Römern
oder Latinern in den Formen des römischen Rechts verkehren.
Kriegskosten auf die Gemeinden von Asia (Appian Mithr. 62 und sonst)
auch für die Zukunft maſsgebend war, zeigt schon die Zurückführung der
Eintheilung Asias in vierzig Districte auf Sulla (Cassiodor chron. 670) und
die Zugrundelegung der sullanischen Repartition bei späteren Ausschrei-
bungen (Cic. pro Flacc. 14, 32), ferner daſs bei dem Flottenbau 672 die
hiezu verwandten Summen an der Steuerzahlung (ex pecunia vectigali po-
pulo Romano) gekürzt werden (Cic. Verr. I. I, 35, 89). Geradezu sagt
endlich Cicero (ad Q. fr. I, 1, 11, 33), daſs die Griechen ‚nicht im Stande
waren von sich aus den von Sulla ihnen auferlegten Zins zu zahlen ohne
Steuerpächter‘.
haupt nicht die Rede sein, da dieselbe vor Sulla von der Willkür der Cen-
soren abhing, nach ihm davon, wie viel Quästorier jedesmal am Leben wa-
ren. Wohl aber ist anzunehmen, daſs die Censoren bis auf Sulla darauf
sahen den Senat bis zu ungefähr 300 Köpfen zu completiren und daſs Sulla
ihn auf 5-600 Köpfe zu bringen bedacht war. Wenn jährlich 20 neue
Mitglieder von durchschnittlich 30 Jahren eintraten, so ergiebt sich diese
Zahl, wenn man die durchschnittliche Dauer der senatorischen Würde auf
25-30 Jahre ansetzt. In einer stark besuchten Senatssitzung der cicero-
nischen Zeit waren 417 Mitglieder anwesend.
rührt, aber darum nicht minder gewiſs. Daſs seit Sulla die Prätoren wäh-
rend ihres Amtsjahrs in der Hauptstadt zu bleiben haben, ist bekannt; von
den Consuln ist wenigstens für das J. 711 dasselbe bezeugt (Dio 45, 20).
Umgekehrt finden wir seit Sulla in den Provinzen nur Proconsuln und Pro-
prätoren; schon in einer Schrift, die ein vor 680 gehaltenes Gespräch re-
ferirt (Cic. de n. d. 2, 3, 9), wird dies als der gesetzmäſsige Stand der
Dinge bezeichnet; ferner beweist der Eid, den Pompeius 684 schwor (Vell.
2, 31), daſs nicht der Consul, sondern der Consular einen rechtlichen An-
spruch auf einen Statthalterposten hatte, und ebenso werden schon 687 die
Aemter der Proconsuln und Proprätoren als ordentliche bezeichnet (Dio
36, 33), was dem älteren Recht zuwiderläuft. Die Ausnahmen bestätigen
die Regel. Die Sendungen der Consuln Lucius Lucullus und Marcus Cotta
nach Asien im J. 680 erklären sich aus dem plötzlichen Tod des Statthal-
ters von Kilikien (Plutarch Luc. 6) und der Dringlichkeit der Umstände
(vgl. Sueton Caes. 4); die letztere wird ziemlich geradezu als auſseror-
dentliche bezeichnet (Plutarch a. a. O.). Die Sendung des Consuls Glabrio
687 beruht auf speciellem Volksschluſs (Sallust hist. 5, 14 Kritz). Wenn
Gaius Piso bei Dio 36, 37 (20) als Consul Statthalter des jenseitigen Gal-
ordnung von Rom aus treffen läſst. — Es mag auſser andern Gründen, die
nicht schwer zu finden sind, nur das noch angeführt werden, daſs die Ver-
mehrung der Prätoren durch Sulla von sechs auf acht sich nicht aus der
Zahl der Quaestionen, wohl aber aus der der Provinzen erklären läſst.
italische Keltenland eine Provinz in dem Sinne, wo das Wort einen ge-
schlossenen und von einem jährlich erneuerten Statthalter verwalteten
Sprengel bedeutet, in den älteren Zeiten ebenso entschieden nicht ist wie
allerdings in der caesarischen es eine ist. — Nicht viel anders steht es mit
der Vorschiebung der Grenze; wir wissen, daſs ehemals der Aesis, zu Cae-
sars Zeit der Rubico das Keltenland von Italien schied, aber nicht, wann
die Vorrückung stattfand. Man hat zwar daraus, daſs Marcus Terentius
Varro Lucullus als Proprätor in diesem District eine Grenzregulirung vor-
nahm (Orelli inscr. 570), geschlossen, daſs derselbe wenigstens im Jahre
nach Lucullus Praetur 679 noch Provinzialland gewesen sein müsse, da
auf italischem Boden der Proprätor nichts zu schaffen habe. Allein es ist
dabei übersehen, daſs die letztere Regel nur für gewöhnliche Zeiten gilt
und daſs eben dieser Lucullus in dem Feldzug 672 als commandirender Of-
fizier in dieser Gegend beschäftigt war (S. 313); es ist wahrscheinlich, daſs
er schon damals die proprätorische Gewalt hatte und 672 oder 673 (vgl.
Appian 1, 95) die fragliche Grenze regulirte, so daſs hieraus auf die recht-
liche Stellung der Landschaft nicht geschlossen werden darf. Dagegen ist
es ein bemerkenswerther Fingerzeig, daſs Sulla das römische Pomerium
vorschob (Seneca de brev. vitae 14; Dio 43, 50), was nach römischem
Staatsrecht nur dem gestattet war, der nicht etwa die Reichs-, sondern
die Stadt-, d. h. die italische Grenze vorgerückt hatte (I, 39).
chen Grunde, daſs eine solche Krankheit nur in der Phantasie existirt.
Romani, die officielle Bezeichnung der nicht italischen Unterthanen und
Clienten im Gegensatz der italischen ‚Eidgenossen und Stammverwandten
(socii nominisve Latini).
erhebt, ist wohl zu unterscheiden von dem Eigenthümerzehnten, den er auf
das Domanialland legt. Jener ward in Sicilien verpachtet und stand ein
für allemal fest; diesen verpachteten die Censoren in Rom und regulirten
die zu entrichtende Ertragsquote und die sonstigen Bedingungen nach Er-
messen (Cic. Verr. 3, 6, 13. 5, 21, 53).
rung bestimmte zunächst den Betrag der Abgabe: so zum Beispiel ward in
Asien für Rom auch nach Sulla noch die zehnte Garbe erhoben (Appian
civ. 5, 4); so steuerten nach Caesars Verordnung die Juden jedes andere
Jahr ein Viertel der Aussaat (Joseph. 4, 10, 6 vgl. 2. 5); so ward in Kili-
kien und Syrien später 1 vom Hundert des Vermögens (Appian Syr. 50)
und auch in Africa eine wie es scheint ähnliche Abgabe erhoben, wobei
übrigens das Vermögen nach gewissen Präsumtionen, z. B. nach der Gröſse
des Bodenbesitzes, der Zahl der Thüröffnungen, der Kopfzahl der Kinder
ostiorum Cicero ad fam. 3, 8, 5 von Kilikien; φόϱος ἐπὶ τῇ γῇ ϰαὶ τοῖς
σώμασιν Appian Pun. 135 für Africa). Hienach wurde jeder Steuerpflich-
tige von den Gemeindebehörden unter Oberaufsicht des römischen Statt-
halters (Cic. ad Q. fr. 1, 1, 8; SC. de Asclep. 22. 23) zu einer gewissen
Summe angesetzt (imperata ἐπιϰεφάλιαCic. ad Att. 5, 16); wer nicht
rechtzeitig bezahlte, dessen Steuerschuld ward eben wie in Rom verkauft,
d. h. einem Unternehmer mit einem Zuschlag zur Einziehung übertragen
(venditio tributorum Cic. ad fam. 3, 8, 5; ὠνὰς omnium venditas, ders.
ad Att. 5, 16). Der Ertrag dieser Steuern floſs zunächst in die Kassen der
Hauptgemeinden, wie z. B. die Juden ihr Korn nach Sidon zu senden hat-
ten; von diesen Kassen wurde sodann der festgesetzte Geldbetrag nach
Rom abgeführt.
Joppe 26075 römische Scheffel Korn, die übrigen Juden die zehnte Garbe;
wozu dann noch der Tempelschoſs und die für die Römer bestimmte sido-
nische Abgabe kamen. Auch in Sicilien ward neben dem römischen Zehn-
ten eine sehr ansehnliche Gemeindeschatzung vom Vermögen erhoben.
massaliotischen, und Siebenbürgen, wo Münzen von Dyrrhachion und Apol-
lonia sich finden, scheinen weder jene, noch diese, noch altrömische vor-
zukommen; dagegen erscheinen merkwürdiger Weise hier, z. B. bei Hohen-
mauten in Steiermark, bei Kulla in der kroatischen Militärgrenze, ägypti-
sche Potinmünzen gemischt mit einzelnen sicilischen und unteritalischen
Kupferstücken. Bestand noch im siebenten Jahrhundert hier ein directer
Handelsverkehr mit Alexandreia?
das Erdgeschoſs 3000, der Miether des obern Stockes 2000 Sesterzen
Miethe (Plutarch Sull. 1), was zu ⅔ des gewöhnlichen Capitalzinses ca-
pitalisirt ungefähr den obigen Betrag ergiebt. Dies war eine wohlfeile
Wohnung. Wenn ein hauptstädtischer Miethzins von 6000 Sesterzen
(400 Thlr.) für das Jahr 629 ein hoher genannt wird (Vell. 2, 10), so müs-
sen dabei besondere Umstände obgewaltet haben.
‚den wir freilich alle von dieser Last uns befreien. Da aber die Natur es
‚so eingerichtet hat, daſs weder mit den Frauen sich bequem noch ohne die
‚Frauen überhaupt sich leben läſst, so ziemt es sich auf dauernde Wohl-
‚fahrt mehr zu sehen als auf kurze Wollust‘.
nachlesen.
dargestellt, wie die Urmenschen sich nicht hätten genügen lassen mit dem
Gott, den nur der Gedanke erkennt, sondern sich gesehnt hätten nach Göt-
terpuppen und Götterbilderchen.
Schullehrer und Maitre; die letztere Benennung kommt nach dem älteren
Sprachgebrauch nur dem Lehrer des Griechischen, nicht dem der Mutter-
sprache zu. Litteratus ist nicht der Schulmeister, sondern der gebildete Mann.
voller behandelt habe als Scipio den Panaetios.
faſste, erklärt sich daraus, daſs er als Verbannter in Smyrna sein Leben
beschloſs.
So heiſst es im Paulus, einem Originalstück, von einer unwegsamen
Gegend:
Qua vix caprigeno géneri gradilis gréssio est.
wo kaum ist
Dem bockgeschlechtigen Geschlecht gangbarer Gang.
Und in einem andern Stück wird ein Gegenstand in der folgenden prägnan-
ten Weise beschrieben:
Vierfüſsig, langsamwandelnd, ländlich, niedrig, rauh,
Kurzköpfig, schlangenhalsig, trotzig anzuschaun,
Und, ausgeweidet, leblos mit lebendigem Ton.
Worauf der Hörer natürlich erwiedert:
Mit gar verhülltem Worte schilderst du uns ab,
Was rathend schwerlich auch der kluge Mann durchschaut;
Wenn du nicht offen redest, wir verstehn dich nicht.
Es erfolgt nun das Geständniſs, daſs die Schildkröte gemeint ist. Uebri-
gens fehlten solche Räthselreden auch bei den attischen Trauerspieldich-
tern nicht, die deshalb von der mittleren Komödie oft und derb mitgenom-
men wurden.
Vielleicht die einzige Ausnahme ist im Mädchen von Andros (4, 5),
wo auf die Frage, wie sie leben, die Gefragten antworten:
Nun,
Wie wir können, heiſst's ja, da wie wir möchten es nicht geht;
mit Anspielung auf die freilich auch einem griechischen Sprichwort nach-
gebildete Zeile des Caecilius:
Geht's nicht so wie du magst, leb wie du kannst.
Das Lustspiel ist das älteste der terenzischen und ward auf Empfehlung
des Caecilius von dem Theatervorstand zur Aufführung gebracht. Der leise
Dank ist bezeichnend.
Im Prolog des Selbstquälers läſst er von seinen Recensenten sich
vorwerfen:
Er habe verlegt sich plötzlich auf die Poesie,
Der Freunde Geist vertrauend, nicht aus eignem Drang;
und in dem späteren (594) zu den Brüdern heiſst es:
Denn wenn Miſsgünstige sagen, daſs vornehme Herrn
Beim Werk ihm helfen und mitschreiben an jedem Stück,
So rechnet der Dichter solchen Tadels herbes Wort
Zum Ruhme sich: daſs jenen Männern er gefällt,
Die euch und allem Volke wohlgefällig sind,
Die in Kriegesläuften seiner Zeit mit Rath und That
Hülfreich erprobt ihr all' und ohne Uebermuth.
Schon in der ciceronischen Zeit war es allgemeine Annahme, daſs hier Lae-
lius und Scipio Aemilianus gemeint seien; man bezeichnete die Scenen, die
von denselben herrühren sollten; man erzählte von den Fahrten des armen
Dichters mit seinen vornehmen Gönnern auf ihre Güter bei Rom und fand
es unverzeihlich, daſs dieselben für die Verbesserung seiner ökonomischen
Lage gar nichts gethan hätten. Allein die sagenbildende Kraft ist bekannt-
lich nirgends mächtiger als in der Litteraturgeschichte. Es leuchtet ein und
schon besonnene römische Kritiker haben es erkannt, daſs diese Zeilen un-
möglich auf den damals 25jährigen Scipio und auf seinen wenig älte-
ren Freund Laelius gehen können; verständiger wenigstens dachte man
an die vornehmen Poeten Quintus Labeo (Consul 571) und Marcus Popil-
lius (Consul 581) und den gelehrten Consul des J. 588 Lucius Sulpicius
Gallus; doch ist auch dies offenbar nur Vermuthung. Daſs Terenz dem sci-
pionischen Hause nahe stand, ist übrigens nicht zu bezweifeln; es ist be-
zeichnend, daſs die erste Aufführung der ‚Brüder‘ und die zweite der
‚Schwiegermutter‘ stattfand bei den Begräbniſsfeierlichkeiten des Lucius
Paullus, die dessen Söhne Scipio und Fabius ausrichteten.
thümern. Die arge Verkehrtheit griechischer Berichterstatter, daſs diese
Possen in Rom in oskischer Sprache gespielt worden seien, wird mit Recht
jetzt allgemein verworfen; allein die ganze Beziehung dieser in der Mitte
des latinischen Stadt- und Landlebens stehenden Stücke zu dem national
oskischen Wesen stellt bei genauer Betrachtung sich als unmöglich heraus.
Die Benennung erklärt sich auf eine andere Weise. Die latinische Posse
mit ihren festen Rollen und stehenden Späſsen bedurfte einer festen Scene-
rie; die Narrenwelt sucht überall sich ein Schildburg. Natürlich konnte bei
der römischen Bühnenpolizei keine der römischen oder mit Rom verbün-
deten latinischen Gemeinden dazu genommen werden. Atella aber, das mit
Capua zugleich im J. 543 rechtlich vernichtet ward (I, 462. 480), thatsäch-
lich aber als ein von römischen Bauern bewohntes Dorf fortbestand, eignete
sich dazu in jeder Beziehung. Zur Gewiſsheit wird diese Vermuthung durch
die Wahrnehmung, daſs einzelne dieser Possen auch in andern nicht mehr
oder nicht mehr rechtlich existirenden Gemeinden des lateinisch redenden
Gebiets spielen: so des Pomponius Campani, vielleicht auch seine Adelphi
und seine Quinquatria in Capua, des Novius milites Pometinenses in Suessa
Pometia, während keine bestehende Gemeinde ähnlich gemiſshandelt wird.
Die wirkliche Heimath dieser Stücke ist also Latium, ihr poetischer Schau-
platz die latinisirte Oskerlandschaft; mit der oskischen Nation haben sie
nichts zu thun. — Daſs ein Stück des Naevius († 550) in Ermangelung
eigentlicher Schauspieler von ‚Atellanenspielern‘ aufgeführt ward und deſs-
halb personata hieſs (Festus u. d. W.), beweist hiegegen in keinem Fall;
die Benennung ‚Atellanenspieler‘ wird hier proleptisch stehen und man
könnte sogar danach vermuthen, daſs sie früher ‚Maskenspieler‘ (personati)
hieſsen.
des Lucius Crassus (614-663) und Marcus Antonius (611-667). Die
erste Angabe dürfte um ein Menschenalter zu hoch sein; die um 650 abge-
kommene Rechnung nach Victoriaten (S. 381) kommt in seinen ‚Malern‘
noch vor und um das Ende dieser Periode begegnen auch schon die Mimen,
welche die Atellanen von der Bühne verdrängten.
scheint, ist schlechterdings nicht haltbar. Zwischen dem Histrio und dem
Atellanenspieler war der Unterschied ungefähr eben so groſs wie heutzu-
tage zwischen dem, der auf der Bühne und dem, der auf den Maskenball geht;
anch zwischen dem Schauspiel, das bis auf Terenz keine Masken kannte,
und der Atellane, die wesentlich auf der Charaktermaske beruhte, besteht
ein ursprünglicher schlechterdings nicht auszugleichender Unterschied. Das
Schauspiel ging aus von dem Flötenstück, das anfangs ohne alle Recitation
bloſs auf Gesang und Tanz sich beschränkte, sodann einen Text (satura),
endlich durch Andronicus ein der griechischen Schaubühne entlehntes Li-
bretto erhielt, bei dem die alten Flötenlieder ungefähr die Stelle des grie-
chischen Chors einnahmen. Mit der Dilettantenposse berührt sich dieser
Entwicklungsgang in den früheren Stadien nirgends.
Dies, bitt' ich, wolle in den Busen dir, mein Sohn
Versenken also wie die Winzer in den Korb
und in dessen Phoenissen:
Auf! waffne dich! mit der Binsenkeule schlag ich dich todt!
ganz wie Menanders ‚falscher Herakles‘ auftritt.
Arte pavimento atque emblemate vermiculato!
Ei die niedliche Phrasenfabrik!
Geordnet zierlich Stück für Stück,
Wie die Stifte im bunten Mosaik.
Quo facetior videare et scire plus quam ceteri,
Daſs du gelehrter als die Andern heiſsest und ein feinerer Mann,
— nicht pertaesum, sondern pertisum zu sagen.
Toto itidem pariterque die populusque patresque
Iactare endo foro se omnes, decedere nusquam.
Uni se atque eidem studio omnes dedere et arti:
Verba dare ut caute possint, pugnare dolose,
Blanditia certare, bonum simulare virum se,
Insidias facere ut si hostes sint omnibus omnes.
Für die stilistische und metrische Behandlung charakteristisch ist
folgendes längere Bruchstück:
Virtus, Albine, est pretium persolvere verum
Queis in versamur, queis vivimu' rebu' potesse;
Virtus est homini scire id quod quaeque habeat res;
Virtus scire homini rectum, utile quid sit, honestum,
Quae bona, quae mala item, quid inutile, turpe, inhonestum;
Virtus quaerendae rei finem scire modumque;
Virtus divitiis pretium persolvere posse;
Virtus id dare quod re ipsa debetur honori,
Hostem esse atque inimicum hominum morumque malorum,
Contra defensorem hominum morumque bonorum,
Hos magni facere, his bene velle, his vivere amicum;
Commoda praeterea patriae sibi prima putare,
Deinde parentum, tertia iam postremaque nostra.
Tugend ist zahlen den rechten Preis
Zu können nach ihrer Art und Weis'
Für jede Sach' in unserm Kreis;
Tugend zu wissen, was jedes Ding
Mit sich für den Menschen bring';
Tugend zu wissen, was nützlich und recht,
Was gut und übel, unnütz und schlecht;
Tugend, wenn dem Erwerb und Fleiſs
Zu setzen die rechte Grenze man weiſs
Und dem Reichthum den rechten Preis;
Tugend dem Rang zu geben sein Recht,
Feind zu sein Menschen und Sitten schlecht,
Freund Menschen und Sitten gut und recht;
Vor solchen zu hegen Achtung und Scheu,
Zu ihnen zu halten in Lieb' und Treu';
Immer zu sehn am ersten Theil
Auf des Vaterlandes Heil,
Sodann auf das, was den Aeltern frommt,
Und drittens der eigene Vortheil kommt.
von der Bürgerschaft, nicht vom König ernannt seien, ist ebenso sicher
falsch als sie den Parteicharakter an der Stirn trägt.
(Gell. 13, 20), das des Brutus den de iure civili (Cic. pro
Cluent. 51, 141.
de or.2, 55, 223); daſs es wesentlich Gutachtensammlungen waren, zeigt
Cicero (de or. 2, 33, 142).
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- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Römische Geschichte. Römische Geschichte. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bncw.0