Reiſe in die Aequinoktial-Gegenden
des neuen Kontinents.
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung
Nachfolger.
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Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.
[[V]]
Vorwort.
Einem wiſſenſchaftlichen Reiſenden kann es wohl nicht
verargt werden, wenn er eine vollſtändige Ueberſetzung ſeiner
Arbeiten jeder auch noch ſo geſchmackvollen Abkürzung der-
ſelben vorzieht. Bouguers und La Condamines mehr als
hundertjährige Quartbände werden noch heute mit großer
Teilnahme geleſen; und da jeder Reiſende gewiſſermaßen den
Zuſtand der Wiſſenſchaften ſeiner Zeit, oder vielmehr die
Geſichtspunkte darſtellt, welche von dem Zuſtande des Wiſſens
ſeiner Zeit abhängen, ſo iſt das wiſſenſchaftliche Intereſſe um
ſo lebendiger, als die Epoche der Darſtellung der Jetztzeit
näher liegt. Damit aber die lebendige Darſtellung des Ge-
ſchehenen weniger unterbrochen werde, habe ich das Material,
durch welches allgemeine kosmiſche Reſultate begründet werden,
in beſonderen einzelnen Zugaben über ſtündliche Barometer-
veränderungen, Neigung der Magnetnadel und Intenſität der
magnetiſchen Erdkraft zuſammengedrängt. Die Abſonderung
ſolcher und anderer Zugaben hat allerdings, und ohne großen
Nachteil, zu Abkürzungen in der Ueberſetzung des Original-
textes der Reiſe Anlaß geben können. Dieſe Betrachtung war
auch geeignet, mich bald mit dem Unternehmen zu verſöhnen,
einem größeren Kreiſe gebildeter Leſer, die bisher mehr mit
der Natur als mit ſcientifiſchem Wiſſen befreundet waren,
einen etwas abgekürzten Text der Reiſe in die Tropen-
gegenden des neuen Kontinents darzubieten. Die
Buchhandlung, welche aus edler, ich ſetze gern hinzu ange-
erbter Freundſchaft meinen Arbeiten eine ſo lange und ſorg-
fältige Pflege geſchenkt hat, hat mich aufgefordert, dieſe neue
Ausgabe, welche einem vielſeitig unterrichteten Gelehrten,
[VI] Herrn Bibliothekar Profeſſor Dr.Hauff anvertraut iſt, nicht
bloß, ſo viel mein Uralter und meine geſunkenen Kräfte es
erlauben, zu revidieren, ſondern auch mit Zuſätzen und Be-
richtigungen zu bereichern. Es iſt mir eine Freude, dieſer
Aufforderung zu entſprechen. Die Naturwiſſenſchaft iſt, wie
die Natur ſelbſt, in ewigem Werden und Wechſel begriffen.
Seit der Herausgabe des erſten Bandes der Reiſe ſind jetzt
fünfundvierzig Jahre verfloſſen. Die Berichtigungen müßten
alſo zahlreich ſein: in geognoſtiſcher Hinſicht wegen Bezeich-
nung der Gebirgsformationen und der metamorphoſierten Ge-
birge, des wohlthätigen Einfluſſes der Chemie auf die Geo-
gnoſie, wie in allem, was anbetrifft die Verteilung der Wärme
auf dem Erdkörper und die Urſache der verſchiedenen Krümmung
monatlicher Iſothermen (nach Doves meiſterhaften Arbeiten).
Die durch die neue Ausgabe veranlaßte Erweiterung des Kreiſes
wiſſenſchaftlicher Anregung kann ich nur freudig begrüßen;
denn in dem Entwickelungsgange phyſiſcher Forſchungen wie
in dem der politiſchen Inſtitutionen iſt Stillſtand durch un-
vermeidliches Verhängnis an den Anfang eines verderblichen
Rückſchrittes geknüpft.
Es würde mir dazu eine innige Freude ſein, noch zu er-
leben, wie die Unternehmer es hoffen, daß meine in den
Jahren freudig aufſtrebender Jugend ausgeführte Reiſe, deren
einer Genoſſe, mein teurer Freund, Aimé Bonpland, be-
reits, im hohen Alter, dahingegangen iſt, in unſerer eigenen
ſchönen Sprache von demſelben deutſchen Volke mit einigem
Vergnügen geleſen werde, welches mehr denn zwei Menſchen-
alter hindurch mich in meinen wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen
und meiner Laufbahn durch ein eifriges Wohlwollen beglückt
und ſelbſt meinen ſpäteſten Arbeiten durch ſeine parteiiſche
Teilnahme eine Rechtfertigung gewährt hat.
Berlin, 26. März 1859.
Alexander von Humboldt.
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Vorrede des Herausgebers.
Die in den Jahren 1799 bis 1804 in Geſellſchaft von
Bonpland unternommene Reiſe in das tropiſche Amerika hat
Humboldts Ruhm frühe begründet. Mit den überſchwenglich
reichen Ergebniſſen derſelben beginnt für zahlreiche Zweige der
Naturforſchung recht eigentlich eine neue Epoche. Das Reiſe-
werk, in dem er ſeine in der Neuen Welt geſammelten Beob-
achtungen niederzulegen gedachte, war aber in ſo großartigem
Maßſtab angelegt, daß es nur unter den glücklichſten äußeren
Umſtänden vollendet werden konnte. Dieſe Gunſt der Ver-
hältniſſe hat demſelben gefehlt, und mehrere Abteilungen des
großen Werkes konnten nicht zu Ende geführt werden. Das
erſtaunliche aſtronomiſche, hydrographiſche, geographiſche, me-
teorologiſche, geologiſche, ethnographiſche, zoologiſche, botaniſche
Material, das im Werk ſelbſt nicht mehr hatte an die Reihe
kommen können, iſt nun allerdings auf anderen Wegen in
die Wiſſenſchaft übergegangen, und ſo beſteht der Hauptverluſt,
der mehr die gebildete Welt im allgemeinen als die Wiſſen-
ſchaft ſelbſt betrifft, darin, daß auch derjenige Teil, der die
eigentliche Reiſebeſchreibung geben ſollte, die Relation histo-
rique, Bruchſtück geblieben iſt.
Dieſe Reiſebeſchreibung erſchien vom Jahre 1814 an in
drei Quartbänden in franzöſiſcher Sprache. Die Umſtände,
unter denen Humboldt dieſelbe in Paris ausarbeitete, machen
es begreiflich, daß er dazu die Sprache wählte, welche in
neuerer Zeit als Organ des wiſſenſchaftlichen wie des diplo-
matiſchen Verkehrs in gewiſſem Grade an die Stelle der latei-
niſchen getreten iſt. Dieſes vortreffliche Buch kann mit Recht
eines der ſchönſten Denkmale des deutſchen Geiſtes heißen,
[VIII] und jeder Deutſche, der dasſelbe kennt und zu ſchätzen weiß,
muß ſich wundern, daß es nicht längſt in einer ſeiner würdigen
Weiſe der deutſchen Litteratur einverleibt worden iſt, der es
trotz ſeines fremden Gewandes ſeinem innerſten Grunde nach
angehört. Dieſer auffallende Umſtand erklärt ſich aber aus
dem widrigen Schickſal, welches das Buch erfahren.
In den Jahren 1815 bis 1829 erſchien, ohne Humboldts
Dazuthun, eine vollſtändige deutſche Ueberſetzung jener drei
Bände der Relation historique in ſechs Bänden. Dieſelbe
iſt aber in ſprachlicher und materieller Beziehung in einem
Grade mangelhaft, wie er ſelbſt in dem um die Form leider
allzuwenig bekümmerten Deutſchland ſelten vorkommt, und
ſomit völlig unbrauchbar. Humboldt fühlte ſich dadurch in
hohem Grade abgeſtoßen; er mochte, wie er ſelbſt ſchreibt,
dieſes Buch niemals auch nur in die Hand nehmen, und es
konnte nicht dazu beitragen, ihn mit der deutſchen Geſtalt
ſeines ſchönen Werkes auszuſöhnen, daß ſeitdem verſchiedene
deutſche Auszüge und Bearbeitungen der Reiſebeſchreibung er-
ſchienen ſind, die bequemerweiſe nur jene Ueberſetzung zu
Grunde legten, und aus ihr zahlloſe Sprachſünden, Mißver-
ſtändniſſe und Irrtümer herübernahmen. So ſehen wir denn
hier aus einem nichtswürdigen Buche, das die Form des
Originals häßlich verunſtaltet, aber wenigſtens äußerlich voll-
ſtändig iſt, andere Bücher abgeleitet, welche dem Werke den
Hauptwert und den vornehmſten Reiz rauben, indem ſie die
Form ganz zerſtören, und eben damit auch die wahrhaft künſt-
leriſche Anordnung desſelben kaum noch in Spuren erkennen
laſſen. Humboldts Reiſebeſchreibung und ein poetiſches Werk,
nicht zu übertragen, ſondern auszuziehen und umzuarbeiten, iſt
ungefähr gleich verſtändig. Das Buch iſt ein der höheren
Litteratur angehörendes Werk, ein eigentliches Kunſtwerk.
Als der Herausgeber die Ehre hatte, mit A. v. Hum-
boldt über die Art der deutſchen Bearbeitung des Werkes zu
verhandeln, äußerte jener in einem Schreiben an dieſen unter
anderem folgendes:
„Neben Ihren großen Arbeiten über alle Zweige der
Naturwiſſenſchaft wird Ihre Reiſebeſchreibung für jeden Ge-
ſchichtſchreiber eines dieſer Zweige eine wichtige Quelle bleiben,
[IX] daneben aber die geſundeſte Nahrung, das trefflichſte An-
regungsmittel für die zum Studium irgend einer Erfahrungs-
wiſſenſchaft beſtimmte Jugend. Wenn ich mir vergegen-
wärtige, was ich ſelbſt als Jüngling dieſem Werke ſchuldig
geworden bin, ſo erkenne ich ſeinen Wert aufs lebhafteſte;
aber auf dem Standpunkt meiner gegenwärtigen litterariſchen
Erfahrung erkenne ich auch, in welchem Verhältnis es zu der
immer wachſenden Menge derjenigen ſteht, welche ſich dilet-
tantiſch mit der Wiſſenſchaft beſchäftigen, welche ſich gern
bilden mögen, wenn noch ein anderer Genuß dabei iſt, als
der ernſte, welcher aus dem Gefühl innerer Veredelung ent-
ſpringt. Werden dieſe vom großen Namen des Verfaſſers
noch ſo ſehr angezogen, ſo ſehen ſie ſich durch das bedeutende
Volumen des Werkes an der Schwelle abgewieſen, und wagen
ſie ſich dennoch hinein, ſo werden ſie bald gewahr, daß ſie
nur über Maſſen ſtrenger Wiſſenſchaft hinweg den Schritten
des Reiſenden durch die großartigſte Natur folgen könnten.
Und doch iſt nach meiner Ueberzeugung in dieſem Werke ein
allgemein zugängliches Buch enthalten, dem in unſerer Zeit,
die auf Diffuſion des Naturwiſſens durch den Körper der
Geſellſchaft ausgeht, an bildender Kraft kaum etwas gleich
käme. Die Zeiten ſind vorbei, wo ganze bisher unbekannte
Stücke Natur dem Seefahrer in die Hände fielen, wo ganze
Idyllen, wie Tahiti, entdeckt wurden, wo der Reiſende nur
zu erzählen brauchte, was er geſehen, um die Wißbegierde zu
vergnügen und die Einbildungskraft zu entzünden. Von der
Breite der Natur hat ſich der Geiſt der Tiefe zugewendet,
und da die unwiſſenſchaftliche Neugier der immer mehr ins
Detail dringenden Forſchung nicht folgen kann, ſo begreift
ſich, daß heutige Reiſebeſchreibungen nicht den Reiz haben und
den Einfluß üben können wie früher, wenn es der Reiſe-
beſchreiber nicht verſteht, durch das zu wirken, was in den
jetzigen Geiſtern an die Stelle der brennenden Neugier nach
neuen Naturprodukten, nach neuen Ländern und Völkern ge-
treten iſt. Seit es keine Naturwunder im früheren Sinne
mehr gibt, ſind es vor allem die Gedanken der Natur in
ihren Bildungen, die Geſetze in ihren Bewegungen, was die
produktiven und die rezeptiven Kräfte, die Forſcher und die
[X] Dilettanten, die das Wort Suchenden und die an das Wort
Glaubenden beſchäftigt. Alexander v. Humboldt iſt einer der
erſten, nach Rang und Zeit, welche die Naturwiſſenſchaft in
die ſo fruchtbare Laufbahn gewieſen haben, die ſie ſeit einigen
Menſchenaltern verfolgt. Und neben ſo Vielem und Großem
hat er auch ein Reiſewerk geſchaffen, wie es recht eigentlich
dem Weſen und Bedürfnis der heutigen Kultur entſpricht.
Es gewährt einerſeits wahren Kunſtgenuß durch die trefflichen
Schilderungen einer gewaltigen Natur und der Menſchheit in
einem ihrer merkwürdigſten Bruchſtücke; andererſeits feſſelt
und befreit es zugleich den Geiſt durch Ideen. Während der
Leſer auch im gemeinen Sinne Neues in Menge erfährt,
während es keineswegs an den kleinen und großen Vorfällen
fehlt, welche die Einbildungskraft beſchäftigen und die Neugier
reizen, ſieht er faſt bei jedem Schritt einen jener umfaſſenden
Gedanken, von welchen die heutige Wiſſenſchaft beherrſcht wird,
entſtehen oder ſich beſtätigen, und er lernt an hundert leben-
digen Beiſpielen, wie die wahre Naturwiſſenſchaft zuſtande
kommt. Ich wüßte nichts, was anregender und bildender
wäre. Für den „general reader“ iſt das Buch, wie es vor-
liegt, nicht beſtimmt; es ließe ſich ihm aber ſehr leicht zugäng-
lich machen, und müßte dann als treffliches Bildungsmittel
in den weiteſten Kreiſen wirken.“
Schon vor Jahren beſchäftigte A. v. Humboldt der Ge-
danke, dieſes ſein Buch, auf das er, neben dem Essai sur
l’état politique de la Nouvelle Espagne, ſelbſt ſehr viel
hielt, endlich in einer deutſchen Ausgabe aus dem hier ange-
deuteten Geſichtspunkt unter ſeinen Auſpizien erſcheinen zu
laſſen. Als aber die Sache ernſtlich zur Sprache kam, hatte
er, faſt ein Achtziger, bereits das große Unternehmen des
Kosmos begonnen, und ſo verſtand es ſich von ſelbſt, daß er
die Uebertragung fremden Händen überlaſſen mußte. Der
Plan der neuen Ausgabe wurde in den letzten Jahren zwiſchen
ihm und dem Herausgeber im allgemeinen und einzelnen feſt-
geſtellt; er konnte ſich noch ſelbſt von der Art der formellen
und materiellen Behandlung überzeugen, auch alle wünſchens-
werten Anordnungen treffen, indem ihm ein Teil des Manu-
ſkriptes gedruckt vorgelegt wurde, und er ſchrieb ſofort die
[XI] Vorrede, die eine ſeiner letzten Arbeiten, vielleicht die letzte war,
ſo daß er mit einer lebhaften Erinnerung an die erſten ſchönen
Zeiten ſeiner außerordentlichen Laufbahn aus dem Leben ſchied.
Das Buch iſt reich an allem, was die Einbildungskraft
feſſeln und ergötzen kann, an vortrefflichen Schilderungen
tropiſcher Landſchaften wie einzelner Gewächſe dieſer wunder-
vollen Länder, an den belebteſten Auftritten aus dem Tier-
leben, an den ſcharfſinnigſten Beobachtungen über die geiſtigen
und geſelligen Verhältniſſe der Raſſen, welche in Südamerika
neben- und durcheinander wohnen. Erſt durch Humboldt iſt
das eigentliche Weſen des eingeborenen Amerikaners nach
Körper und Seele den Europäern bekannt geworden, und die
Beſchreibung ihrer Körperbildung, ihres Charakters, ihrer
Sprachen und Gebräuche, die Würdigung ihrer Tugenden
und ihrer Laſter iſt in die ganze Reiſebeſchreibung mit großer
Kunſt eingeflochten. Humboldt wird ja gerade dadurch zu
einer ſo eigentümlichen und außerordentlichen Erſcheinung,
daß ſich in ihm mit der Schärfe und Unbeſtechlichkeit der
Urteilskraft eine ſo bedeutende künſtleriſche Begabung paart.
Durch dieſelbe Kunſt der Darſtellung, wodurch er uns mit
dem Antlitz und der Gebärdung der tropiſchen Natur ſo ver-
traut macht, werden auch ſeine wiſſenſchaftlichen Erörterungen
ſo klar und anſchaulich, daß ſie ſelbſt wie organiſche Natur-
bildungen erſcheinen, was ſie ja auch im Grunde ſind. Zu
allen Vorzügen des Buches kommt für den ernſten Leſer noch
der unſchätzbare Vorteil, daß er auf jedem Schritte den Ge-
danken und Thaten des Mannes folgt, der vielleicht mehr als
irgend einer die Natur in der Richtung gelichtet hat, in der
ſie unſeren Sonden zugänglich iſt, und daß er ſo, wie ſchon
oben ausgeſprochen worden, überall unmittelbar zuſieht, wie
die wahre Wiſſenſchaft zuſtande kommt. Nach meiner Er-
fahrung und Empfindung gibt es kaum etwas, das dem all-
gemein Unterrichteten das eigentliche Weſen, die Geneſis, die
Entwickelung und die Grenzen des Naturwiſſens klarer machte,
als die Art und Weiſe, wie Humboldt in ſeiner Reiſe-
beſchreibung ſo viele große und kleine, aber für das in einen
höheren Geſichtspunkt gerückte Auge gleich wichtige Erſchei-
nungen beſpricht, wie die Meeresſtrömungen, die Verteilung
[XII] der Gewächſe nach der Meereshöhe, die Erdbeben, die Theorie
des tropiſchen Regens, die Urſachen der Kontraſte zwiſchen
den Klimaten benachbarter Orte, die hydrographiſchen Ver-
hältniſſe des Landſtriches zwiſchen Orinoko und Rio Negro,
die Milch des Kuhbaumes und die Milch der Gewächſe, welche
das Kautſchuk geben, die ſchwarzen und die weißen Waſſer
in Guyana, die Plage der Moskiten, das Pfeilgift der Indianer,
die Wintervorräte erdeeſſender Otomaken, die Fabel vom „ver-
goldeten Mann“ (el dorado), und hundert andere Gegen-
ſtände, an denen der junge Forſcher ſeinen ungemeinen Scharf-
ſinn geübt, und die jetzt längſt in den Schatz der Wiſſenſchaft
aufgenommen ſind und vertraute Elemente unſerer Natur-
anſchauung bilden.
Sollte nun aber das zunächſt ohne Rückſicht auf das
größere Publikum geſchriebene Werk in den hier berührten
Beziehungen gemeinnützlich werden, ſo war es den Bedürf-
niſſen derer anzupaſſen, welche ſich im Sinne unſerer Zeit
über die Geſchichte des Kampfes zwiſchen Geiſt und Natur
im allgemeinen unterrichten möchten. So kamen denn der
Verfaſſer und der jetzige Herausgeber überein, das Buch als
litterariſches Produkt möglichſt unverſehrt zu erhalten, nirgends
auszugsweiſe zu verfahren, ſondern im ganzen überall dem
Texte treu zu bleiben und nur die kürzeren und längeren
ſtreng wiſſenſchaftlichen Exkurſe und Abhandlungen, die ins
einzelne gehenden mineralogiſchen und geologiſchen, chemiſchen,
phyſiologiſchen, pharmazeutiſchen, mediziniſchen, ſtatiſtiſchen,
nationalökonomiſchen u. ſ. w. Erörterungen abzulöſen und von
den Anmerkungen nur die beizubehalten, welche dem erwähnten
Zwecke förderlich ſein konnten.
Der Herausgeber.
Reiſe in die Aequinoktial-Gegenden.
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 1
[[2]][[3]]
Erſtes Kapitel.
Vorbereitungen. — Abreiſe von Spanien. — Aufenthalt auf den
Kanariſchen Inſeln.
Wenn eine Regierung eine jener Fahrten auf dem Welt-
meer anordnet, durch welche die Kenntnis des Erdballes erweitert
und die phyſiſchen Wiſſenſchaften gefördert werden, ſo ſtellt
ſich ihrem Vorhaben keinerlei Hindernis entgegen. Der Zeit-
punkt der Abfahrt und der Plan der Reiſe können feſtgeſtellt
werden, ſobald die Schiffe ausgerüſtet und die Aſtronomen
und Naturforſcher, welche unbekannte Meere befahren ſollen,
gewählt ſind. Die Inſeln und Küſten, deren Produkte die
Seefahrer kennen lernen ſollen, liegen außerhalb des Bereiches
der ſtaatlichen Bewegungen Europas. Wenn längere Kriege
die Freiheit zur See beſchränken, ſo ſtellen die kriegführenden
Mächte gegenſeitig Päſſe aus; der Haß zwiſchen Volk und
Volk tritt zurück, wenn es ſich von der Förderung des Wiſſens
handelt, das die gemeine Sache aller Völker iſt.
Anders, wenn nur ein Privatmann auf ſeine Koſten eine
Reiſe in das Innere eines Feſtlandes unternimmt, das Europa
in ſein Syſtem von Kolonieen gezogen hat. Wohl mag ſich
der Reiſende einen Plan entwerfen, wie er ihm für ſeine
wiſſenſchaftlichen Zwecke und bei den ſtaatlichen Verhältniſſen
der zu bereiſenden Länder der angemeſſenſte ſcheint; er mag
ſich die Mittel verſchaffen, die ihm fern vom Heimatland auf
Jahre die Unabhängigkeit ſichern; aber gar oft widerſetzen
ſich unvorhergeſehene Hinderniſſe ſeinem Vorhaben, wenn er
eben meint es ausführen zu können. Nicht leicht hat aber
ein Reiſender mit ſo vielen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt
als ich vor meiner Abreiſe nach dem ſpaniſchen Amerika. Gern
wäre ich darüber weggegangen und hätte meine Reiſebeſchrei-
bung mit der Beſteigung des Piks von Tenerifa begonnen,
[4] wenn nicht das Fehlſchlagen meiner erſten Pläne auf die Rich-
tung meiner Reiſe nach der Rückkehr vom Orinoko bedeuten-
den Einfluß geäußert hätte. Ich gebe daher eine flüchtige
Schilderung dieſer Vorgänge, die für die Wiſſenſchaft von
keinem Belang ſind, von denen ich aber wünſchen muß, daß
ſie richtig beurteilt werden. Da nun einmal die Neugier des
Publikums ſich häufig mehr an die Perſon des Reiſenden als
an ſeine Werke heftet, ſo ſind auch die Umſtände, unter denen
ich meine erſten Reiſepläne entworfen, ganz ſchief aufgefaßt
worden. 1
Von früher Jugend auf lebte in mir der ſehnliche Wunſch,
ferne, von Europäern wenig beſuchte Länder bereiſen zu dürfen.
Dieſer Drang iſt bezeichnend für einen Zeitpunkt im Leben,
wo dieſes vor uns liegt wie ein ſchrankenloſer Horizont, wo
uns nichts ſo ſehr anzieht als ſtarke Gemütsbewegungen und
Bilder phyſiſcher Fährlichkeiten. In einem Lande aufgewachſen,
das in keinem unmittelbaren Verkehr mit den Kolonieen in
beiden Indien ſteht, ſpäter in einem fern von der Meeresküſte
gelegenen, durch ſtarken Bergbau berühmten Gebirge lebend,
fühlte ich den Trieb zur See und zu weiten Fahrten immer
mächtiger in mir werden. Dinge, die wir nur aus den leben-
digen Schilderungen der Reiſenden kennen, haben ganz beſonderen
Reiz für uns; alles in Entlegenheit undeutlich Umriſſene be-
ſticht unſere Einbildungskraft; Genüſſe, die uns nicht erreichbar
ſind, ſcheinen uns weit lockender, als was ſich uns im engen
Kreiſe des bürgerlichen Lebens bietet. Die Luſt am Botani-
ſieren, das Studium der Geologie, ein Ausflug nach Holland,
England und Frankreich in Geſellſchaft eines berühmten Mannes,
Georg Forſters, dem das Glück geworden war, Kapitän Cook
auf ſeiner zweiten Reiſe um die Welt zu begleiten, trugen
dazu bei, den Reiſeplänen, die ich ſchon mit achtzehn Jahren
[5] gehegt, Geſtalt und Ziel zu geben. Wenn es mich noch immer
in die ſchönen Länder des heißen Erdgürtels zog, ſo war es
jetzt nicht mehr der Drang nach einem aufregenden Wander-
leben, es war der Trieb, eine wilde, großartige, an mannig-
faltigen Naturprodukten reiche Natur zu ſehen, die Ausſicht,
Erfahrungen zu ſammeln, welche die Wiſſenſchaften förderten.
Meine Verhältniſſe geſtatteten mir damals nicht, Gedanken
zu verwirklichen, die mich ſo lebhaft beſchäftigten, und ich
hatte ſechs Jahre Zeit, mich zu den Beobachtungen, die ich
in der Neuen Welt anzuſtellen gedachte, vorzubereiten, mehrere
Länder Europas zu bereiſen und die Kette der Hochalpen zu
unterſuchen, deren Bau ich in der Folge mit dem der Anden
von Quito und Peru vergleichen konnte. Da ich zu verſchie-
denen Zeiten mit Inſtrumenten von verſchiedener Konſtruktion
arbeitete, wählte ich am Ende diejenigen, die mir als die
genaueſten und dabei auf dem Transport dauerhafteſten er-
ſchienen; ich fand Gelegenheit, Meſſungen, die nach den ſtrengſten
Methoden vorgenommen worden, zu wiederholen, und lernte
ſo ſelbſtändig die Grenzen der Irrtümer kennen, auf die ich
gefaßt ſein mußte.
Im Jahre 1795 hatte ich einen Teil von Italien bereiſt,
aber die vulkaniſchen Striche in Neapel und Sizilien nicht
beſuchen können. Ungern hätte ich Europa verlaſſen, ohne
Veſuv, Stromboli und Aetna geſehen zu haben; ich ſah ein,
um zahlreiche geologiſche Erſcheinungen, namentlich in der
Trappformation, richtig aufzufaſſen, mußte ich mich mit den
Erſcheinungen, wie noch thätige Vulkane ſie bieten, näher
bekannt gemacht haben. Ich entſchloß mich daher im Novem-
ber 1797, wieder nach Italien zu gehen. Ich hielt mich lange
in Wien auf, wo die ausgezeichneten Sammlungen und die
Freundlichkeit Jacquins und Joſephs van der Schott mich in
meinen vorbereitenden Studien ausnehmend förderten; ich durch-
zog mit Leopold von Buch, von dem ſeitdem ein treffliches
Werk über Lappland erſchienen iſt, mehrere Teile des Salz-
burger Landes und Steiermark, Länder, die für den Geologen
und den Landſchaftsmaler gleich viel Anziehendes haben; als
ich aber über die Tiroler Alpen gehen wollte, ſah ich mich
durch den in ganz Italien ausgebrochenen Krieg genötigt, den
Plan der Reiſe nach Neapel aufzugeben.
Kurz zuvor hatte ein leidenſchaftlicher Kunſtfreund, der
bereits die Küſten Illyriens und Griechenlands als Altertums-
forſcher beſucht hatte, mir den Vorſchlag gemacht, ihn auf
[6] einer Reiſe nach Oberägypten zu begleiten. Der Ausflug ſollte
nur acht Monate dauern; geſchickte Zeichner und aſtronomiſche
Werkzeuge ſollten uns begleiten, und ſo wollten wir den Nil
bis Aſſuan hinaufgehen und den zwiſchen Tentyris und den
Katarakten gelegenen Teil des Saïd genau unterſuchen. Ich
hatte bis jetzt bei meinen Plänen nie ein außertropiſches Land
im Auge gehabt, dennoch konnte ich der Verſuchung nicht
widerſtehen, Länder zu beſuchen, die in der Geſchichte der
Kultur eine ſo bedeutende Rolle ſpielen. Ich nahm den Vor-
ſchlag an, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß ich
bei der Rückkehr nach Alexandrien allein durch Syrien und
Paläſtina weiterreiſen dürfte. Sofort richtete ich meine
Studien nach dem neuen Plane ein, was mir ſpäter zu gute
kam, als es ſich davon handelte, die rohen Denkmale der
Mexikaner mit denen der Völker der Alten Welt zu vergleichen.
Ich hatte die nahe Ausſicht, mich nach Aegypten einzuſchiffen,
da nötigten mich die eingetretenen politiſchen Verhältniſſe,
eine Reiſe aufzugeben, die mir ſo großen Genuß verſprach.
Im Orient ſtanden die Dinge ſo, daß ein einzelner Reiſender
gar keine Ausſicht hatte, dort Studien machen zu können,
welche ſelbſt in den ruhigſten Zeiten von den Regierungen
mit mißtrauiſchem Auge angeſehen werden.
Zur ſelben Zeit war in Frankreich eine Entdeckungsreiſe
in die Südſee unter dem Befehl des Kapitäns Baudin im
Werk. Der urſprüngliche Plan war großartig, kühn, und hätte
verdient, unter umſichtigerer Leitung ausgeführt zu werden.
Man wollte die ſpaniſchen Beſitzungen in Südamerika von
der Mündung des Rio de la Plata bis zum Königreich Quito
und der Landenge von Panama beſuchen. Die zwei Korvetten
ſollten ſofort über die Inſelwelt des Stillen Meeres nach Neu-
holland gelangen, die Küſten desſelben von Vandiemensland
bis Nuytsland unterſuchen, bei Madagaskar anlegen und über
das Kap der guten Hoffnung zurückkehren. Ich war nach
Paris gekommen, als man ſich eben zu dieſer Reiſe zu rüſten
begann. Der Charakter des Kapitäns Baudin war eben nicht
geeignet, mir Vertrauen einzuflößen; der Mann hatte meinen
Freund, den jungen Botaniker van der Schott, nach Braſilien
gebracht, und der Wiener Hof war dabei mit ihm ſchlecht
zufrieden geweſen; da ich aber mit eigenen Mitteln nie eine
ſo weite Reiſe unternehmen und ein ſo ſchönes Stück der Welt
hätte kennen lernen können, ſo entſchloß ich mich, auf gutes
Glück die Expedition mitzumachen. Ich erhielt Erlaubnis,
[7] mich mit meinen Inſtrumenten auf einer der Korvetten, die
nach der Südſee gehen ſollten, einzuſchiffen, und machte nur
zur Bedingung, daß ich mich von Kapitän Baudin trennen
dürfte, wo und wann es mir beliebte. Michaux, der bereits
Perſien und einen Teil von Nordamerika beſucht hatte, und
Bonpland, dem ich mich anſchloß, und der mir ſeitdem aufs
innigſte befreundet geblieben, ſollten die Reiſe als Naturforſcher
mitmachen.
Ich hatte mich einige Monate lang darauf gefreut, an
einer ſo großen und ehrenvollen Unternehmung teilnehmen
zu dürfen, da brach der Krieg in Deutſchland und in Italien
von neuem aus, ſo daß die franzöſiſche Regierung die Geld-
mittel, die ſie zu der Entdeckungsreiſe angewieſen, zurückzog
und dieſelbe auf unbeſtimmte Zeit verſchob. Mit Kummer
ſah ich alle meine Ausſichten vernichtet, ein einziger Tag hatte
dem Plane, den ich für mehrere Lebensjahre entworfen, ein
Ende gemacht; da beſchloß ich nur ſo bald als möglich, wie
es auch ſei, von Europa wegzukommen, irgend etwas zu unter-
nehmen, das meinen Unmut zerſtreuen könnte.
Ich wurde mit einem ſchwediſchen Konſul, Skiöldebrand,
bekannt, der dem Dei von Algier Geſchenke von ſeiten ſeines
Hofes zu überbringen hatte und durch Paris kam, um ſich in
Marſeille einzuſchiffen. Dieſer achtungswerte Mann war lange
auf der afrikaniſchen Küſte angeſtellt geweſen, und da er bei
der algeriſchen Regierung gut angeſchrieben war, konnte er
für mich auswirken, daß ich den Teil der Atlaskette bereiſen
durfte, auf den ſich die bedeutenden Unterſuchungen von Des-
fontaines nicht erſtreckt hatten. Er ſchickte jedes Jahr ein
Fahrzeug nach Tunis, auf dem die Pilger nach Mekka gingen,
und er verſprach mir, mich auf dieſem Wege nach Aegypten
zu befördern. Ich beſann mich keinen Augenblick, eine ſo gute
Gelegenheit zu benutzen, und ich meinte nunmehr den Plan,
den ich vor meiner Reiſe nach Frankreich entworfen, ſofort
ausführen zu können. Bis jetzt hatte kein Mineralog die
hohe Bergkette unterſucht, die in Marokko bis zur Grenze des
ewigen Schnees aufſteigt. Ich konnte darauf rechnen, daß
ich, nachdem ich in den Alpenſtrichen der Berberei einiges für
die Wiſſenſchaft gethan, in Aegypten bei den bedeutenden
Gelehrten, die ſeit einigen Monaten zum Inſtitut von Kairo
zuſammengetreten waren, dasſelbe Entgegenkommen fand, das
mir in Paris in ſo reichem Maße zu teil geworden. Ich
ergänzte raſch meine Sammlung von Inſtrumenten und ver-
[8] ſchaffte mir die Werke über die zu bereiſenden Länder. Ich
nahm Abſchied von meinem Bruder, der durch Rat und Bei-
ſpiel meine Geiſtesrichtung hatte beſtimmen helfen. Er billigte
die Beweggründe meines Entſchluſſes, Europa zu verlaſſen;
eine geheime Stimme ſagte uns, daß wir uns wiederſehen
würden. Dieſe Hoffnung hat uns auch nicht betrogen, und
ſie linderte den Schmerz einer langen Trennung. Ich verließ
Paris mit dem Entſchluß, mich nach Algier und Aegypten
einzuſchiffen, und wie nun einmal der Zufall in allem Men-
ſchenleben regiert, ich ſah bei der Rückkehr vom Amazonenſtrom
und aus Peru meinen Bruder wieder, ohne das Feſtland von
Afrika betreten zu haben.
Die ſchwediſche Fregatte, welche Skiöldebrand nach Algier
überführen ſollte, wurde zu Marſeille in den letzten Tagen
Oktobers erwartet. Bonpland und ich begaben uns um dieſe
Zeit dahin, und eilten um ſo mehr, da wir während der Reiſe
immer beſorgten, zu ſpät zu kommen und das Schiff zu ver-
ſäumen. Wir ahnten nicht, welche neuen Widerwärtigkeiten
uns zunächſt bevorſtanden.
Skiöldebrand war ſo ungeduldig als wir, ſeinen Beſtim-
mungsort zu erreichen. Wir beſtiegen mehrmals im Tage den
Berg Notre Dame de la Garde, von dem man weit ins
Mittelmeer hinausblickt. Jedes Segel, das am Horizont
ſichtbar wurde, ſetzte uns in Aufregung; aber nachdem wir
zwei Monate in großer Unruhe vergeblich geharrt, erſahen
wir aus den Zeitungen, daß die ſchwediſche Fregatte, die uns
überführen ſollte, in einem Sturm an den Küſten von Portugal
ſtark gelitten und in den Hafen von Cadiz habe einlaufen
müſſen, um ausgebeſſert zu werden. Privatbriefe beſtätigten
die Nachricht, und es war gewiß, daß der Jaramas — ſo
hieß die Fregatte — vor dem Frühjahr nicht nach Marſeille
kommen konnte.
Wir konnten es nicht über uns gewinnen, bis dahin in
der Provence zu bleiben. Das Land, zumal das Klima,
fanden wir herrlich; aber der Anblick des Meeres mahnte
uns fortwährend an unſere zertrümmerten Hoffnungen. Auf
einem Ausflug nach Hyères und Toulon fanden wir in letzterem
Hafen die Fregatte Boudeuſe, die Bougainville auf ſeiner
Reiſe um die Welt befehligt hatte. Ich hatte mich zu Paris,
als ich mich rüſtete, die Expedition des Kapitäns Baudin
mitzumachen, des beſondern Wohlwollens des berühmten See-
fahrers zu erfreuen gehabt. Nur ſchwer vermöchte ich zu
[9] ſchildern, was ich beim Anblick des Schiffes empfand, das
Commerſon auf die Inſeln der Südſee gebracht. Es gibt
Stimmungen, in denen ſich ein Schmerzgefühl in alle unſere
Empfindungen miſcht.
Wir hielten immer noch am Gedanken feſt, uns an die
afrikaniſche Küſte zu begeben, und dieſer zähe Entſchluß wäre
uns beinahe verderblich geworden. Im Hafen von Marſeille
lag zur Zeit ein kleines raguſaniſches Fahrzeug, bereit nach
Tunis unter Segel zu gehen. Dies ſchien uns eine günſtige
Gelegenheit; wir kamen ja auf dieſe Weiſe in die Nähe von
Aegypten und Syrien. Wir wurden mit dem Kapitän wegen
des Ueberfahrtspreiſes einig; am folgenden Tage ſollten wir
unter Segel gehen, aber die Abreiſe verzögerte ſich glücklicher-
weiſe durch einen an ſich ganz unbedeutenden Umſtand. Das
Vieh, das uns als Proviant auf der Ueberfahrt dienen ſollte,
war in der großen Kajütte untergebracht. Wir verlangten,
daß zur Bequemlichkeit der Reiſenden und zur ſicheren Unter-
bringung unſerer Inſtrumente das Notwendigſte vorgekehrt
werde. Allermittelſt erfuhr man in Marſeille, daß die tune-
ſiſche Regierung die in der Berberei niedergelaſſenen Franzoſen
verfolge, und daß alle aus franzöſiſchen Häfen ankommenden
Perſonen ins Gefängnis geworfen würden. Durch dieſe Kunde
entgingen wir einer großen Gefahr; wir mußten die Aus-
führung unſerer Pläne verſchieben und entſchloſſen uns, den
Winter in Spanien zuzubringen, in der Hoffnung, uns im
nächſten Frühjahr, wenn anders die politiſchen Zuſtände im
Orient es geſtatteten, in Cartagena oder in Cadiz einſchiffen
zu können.
Wir reiſten durch Katalonien und das Königreich Valencia
nach Madrid. Wir beſuchten auf dem Wege die Trümmer
Tarragonas und des alten Sagunt, machten von Barcelona
aus einen Ausflug auf den Montſerrat, deſſen hochaufragende
Gipfel von Einſiedlern bewohnt ſind, und der durch die Kon-
traſte eines kräftigen Pflanzenwuchſes und nackter, öder Fels-
maſſen ein eigentümliches Landſchaftsbild bietet. Ich fand
Gelegenheit, durch aſtronomiſche Rechnung die Lage mehrerer
für die Geographie Spaniens wichtiger Punkte zu beſtimmen;
ich maß mittels des Barometers die Höhe des Centralplateaus
und ſtellte einige Beobachtungen über die Inklination der
Magnetnadel und die Intenſität der magnetiſchen Kraft an.
Die Ergebniſſe dieſer Beobachtungen ſind für ſich erſchienen,
und ich verbreite mich hier nicht weiter über die Natur-
[10] beſchaffenheit eines Landes, in dem ich mich nur ein halbes
Jahr aufhielt, und das in neuerer Zeit von ſo vielen unter-
richteten Männern bereiſt worden iſt.
Zu Madrid angelangt, fand ich bald Urſache mir Glück
dazu zu wünſchen, daß wir uns entſchloſſen, die Halbinſel zu
beſuchen. Der Baron Forell, ſächſiſcher Geſandter am ſpaniſchen
Hofe, kam mir auf eine Weiſe entgegen, die meinen Zwecken
ſehr förderlich wurde. Er verband mit ausgebreiteten mine-
ralogiſchen Kenntniſſen das regſte Intereſſe für Unterneh-
mungen zur Förderung der Wiſſenſchaft. Er bedeutete mir,
daß ich unter der Verwaltung eines aufgeklärten Miniſters,
des Ritters Don Mariano Luis de Urquijo, Ausſicht habe,
auf meine Koſten im Inneren des ſpaniſchen Amerikas reiſen
zu dürfen. Nach all den Widerwärtigkeiten, die ich erfahren,
beſann ich mich keinen Augenblick, dieſen Gedanken zu ergreifen.
Im März 1799 wurde ich dem Hofe von Aranjuez vor-
geſtellt. Der König nahm mich äußerſt wohlwollend auf. Ich
entwickelte die Gründe, die mich bewogen, eine Reiſe in den
neuen Kontinent und auf die Philippinen zu unternehmen,
und reichte dem Staatsſekretär eine darauf bezügliche Denk-
ſchrift ein. Der Ritter d’Urquijo unterſtützte mein Geſuch
und räumte alle Schwierigkeiten aus dem Wege. Der Miniſter
handelte hierbei deſto großmütiger, da ich in gar keiner per-
ſönlichen Beziehung zu ihm ſtand. Der Eifer, mit dem er
fortwährend meine Abſichten unterſtützte, hatte keinen anderen
Beweggrund als ſeine Liebe zu den Wiſſenſchaften. Es wird
mir zur angenehmen Pflicht, in dieſem Werke der Dienſte,
die er mir erwieſen, dankbar zu gedenken.
Ich erhielt zwei Päſſe, den einen vom erſten Staats-
ſekretär, den anderen vom Rat von Indien. Nie war einem
Reiſenden mit der Erlaubnis, die man ihm erteilte, mehr
zugeſtanden worden, nie hatte die ſpaniſche Regierung einem
Fremden größeres Vertrauen bewieſen. Um alle Bedenken
zu beſeitigen, welche die Vizekönige oder Generalkapitäne, als
Vertreter der königlichen Gewalt in Amerika, hinſichtlich des
Zweckes und Weſens meiner Beſchäftigungen erheben könnten,
hieß es im Paß der primera secretaria de estado: „ich ſei
ermächtigt, mich meiner phyſikaliſchen und geodätiſchen Inſtru-
mente mit voller Freiheit zu bedienen; ich dürfe in allen
ſpaniſchen Beſitzungen aſtronomiſche Beobachtungen anſtellen,
die Höhen der Berge meſſen, die Erzeugniſſe des Bodens
ſammeln und alle Operationen ausführen, die ich zur Förde-
[11] rung der Wiſſenſchaft vorzunehmen gut finde“. Dieſe Befehle
von ſeiten des Hofes wurden genau befolgt, auch nachdem
infolge der Ereigniſſe Don d’Urquijo vom Miniſterium hatte
abtreten müſſen. Ich meinerſeits war bemüht, dieſe ſich nie
verleugnende Freundlichkeit zu erwidern. Ich übergab während
meines Aufenthaltes in Amerika den Statthaltern der Provinzen
Abſchriften des von mir geſammelten Materials über die
Geographie und Statiſtik der Kolonieen, das dem Mutterlande
von einigem Wert ſein konnte. Dem von mir vor meiner
Abreiſe gegebenen Verſprechen gemäß übermachte ich dem
naturhiſtoriſchen Kabinett zu Madrid mehrere geologiſche Samm-
lungen. Da der Zweck unſerer Reiſe ein rein wiſſenſchaftlicher
war, ſo hatten Bonpland und ich das Glück, uns das Wohl-
wollen der Koloniſten wie der mit der Verwaltung dieſer
weiten Landſtriche betrauten Europäer zu erwerben. In den
fünf Jahren, während deren wir den neuen Kontinent durch-
zogen, ſind wir niemals einer Spur von Mißtrauen begegnet.
Mit Freude ſpreche ich es hier aus: unter den härteſten Ent-
behrungen, im Kampfe mit einer wilden Natur haben wir
uns nie über menſchliche Ungerechtigkeit zu beklagen gehabt.
Verſchiedene Gründe hätten uns eigentlich bewegen ſollen,
noch länger in Spanien zu verweilen. Abbé Cavanilles, ein
Mann gleich geiſtreich wie mannigfaltig unterrichtet, Née,
der mit Hänke die Expedition Malaſpinas als Botaniker mit-
gemacht und allein eine der größten Kräuterſammlungen, die
man je in Europa geſehen, zuſammengebracht hat, Don Caſimir
Ortega, Abbé Pourret und die gelehrten Verfaſſer der Flora
von Peru, Ruiz und Papon, ſtellten uns ihre reichen Samm-
lungen zur unbeſchränkten Verfügung. Wir unterſuchten zum
Teil die mexikaniſchen Pflanzen, die von Seſſe, Mociño und
Cervantes entdeckt worden, und von denen Abbildungen an
das naturhiſtoriſche Muſeum zu Madrid gelangt waren. In
dieſer großen Anſtalt, die unter der Leitung Clavijos ſtand,
des Herausgebers einer gefälligen Ueberſetzung der Werke
Buffons, fanden wir allerdings keine geologiſchen Suiten aus
den Kordilleren; aber Prouſt, der ſich durch die große Ge-
nauigkeit ſeiner chemiſchen Arbeiten bekannt gemacht hat, und
ein ausgezeichneter Mineralog, Hergen, gaben uns intereſſante
Nachweiſungen über verſchiedene mineraliſche Subſtanzen Ameri-
kas. Mit bedeutendem Nutzen hätten wir uns wohl noch
länger mit den Naturprodukten der Länder beſchäftigt, die
das Ziel unſerer Forſchungen waren, aber es drängte uns zu
[12] ſehr, von der Vergünſtigung, die der Hof uns gewährt, Ge-
brauch zu machen, als daß wir unſere Abreiſe hätten verſchieben
können. Seit einem Jahre war ich ſo vielen Hinderniſſen
begegnet, daß ich es kaum glauben konnte, daß mein ſehn-
lichſter Wunſch endlich in Erfüllung gehen ſollte.
Wir verließen Madrid gegen die Mitte Mais. Wir
reiſten durch einen Teil von Altkaſtilien, durch das Königreich
Leon und Galicien nach Coruña, wo wir uns nach der Inſel
Cuba einſchiffen ſollten. Der Winter war ſtreng und lang
geweſen, und jetzt genoſſen wir auf der Reiſe der milden
Frühlingstemperatur, die ſchon ſo weit gegen Süd gewöhnlich
nur den Monaten Mai und April eigen iſt. Schnee bedeckte
noch die hohen Granitgipfel der Guadarrama; aber in den
tiefen Thälern Galiciens, welche an die maleriſchen Land-
ſchaften der Schweiz und Tirols erinnern, waren alle Felſen
mit Ciſtus in voller Blüte und baumartigem Heidekraut über-
zogen. Man iſt froh, wenn man die kaſtiliſche Hochebene
hinter ſich hat, welche faſt ganz von Pflanzenwuchs entblößt,
und wo es im Winter empfindlich kalt, im Sommer drückend
heiß iſt. Nach den wenigen Beobachtungen, die ich ſelbſt
anſtellen konnte, beſteht das Innere Spaniens aus einer weiten
Ebene, die 584 m über dem Spiegel des Meeres mit ſekun-
dären Gebirgsbildungen, Sandſtein, Gips, Steinſalz, Jurakalk
bedeckt iſt; das Klima von Kaſtilien iſt weit kälter als das
von Toulon und Genua; die mittlere Temperatur erreicht
kaum 15° der hundertteiligen Skale. Man wundert ſich, daß
unter der Breite von Kalabrien, Theſſalien und Kleinaſien
die Orangenbäume im Freien nicht mehr fortkommen. Die
Hochebene in der Mitte des Landes iſt umgeben von einer
tiefgelegenen, ſchmalen Zone, wo an mehreren Punkten Cha-
märops, der Dattelbaum, das Zuckerrohr, die Banane und
viele Spanien und dem nördlichen Afrika gemeinſame Pflanzen
vorkommen, ohne vom Winterfroſt zu leiden. Unter dem 36.
bis 40. Grad der Breite beträgt die mittlere Temperatur dieſer
Zone 17 bis 20°, und durch den Verein von Verhältniſſen,
die hier nicht aufgezählt werden können, iſt dieſer glückliche
Landſtrich der vornehmſte Sitz des Gewerbfleißes und der
Geiſtesbildung geworden.
Kommt man im Königreich Valencia von der Küſte des
Mittelmeeres gegen die Hochebene von Mancha und Kaſtilien
herauf, ſo meint man, tief im Lande, in weithin geſtreckten
ſchroffen Abhängen die alte Küſte der Halbinſel vor ſich zu
[13] haben. Dieſes merkwürdige Phänomen erinnert an die Sagen
der Samothraker und andere geſchichtliche Zeugniſſe, welche
darauf hinzuweiſen ſcheinen, daß durch den Ausbruch der
Waſſer aus den Dardanellen das Becken des Mittelmeeres
erweitert und der ſüdliche Teil Europas zerriſſen und vom
Mittelmeer verſchlungen worden iſt. Nimmt man an, dieſe
Sagen ſeien keine geologiſchen Träume, ſondern beruhen wirk-
lich auf der Erinnerung an eine uralte Umwälzung, ſo hätte
die ſpaniſche Centralhochebene dem Anprall der gewaltigen
Fluten widerſtanden, bis die Waſſer durch die zwiſchen den
Säulen des Herkules ſich bildende Meerenge abfloſſen, ſo daß
der Spiegel des Mittelmeeres allmählich ſank und einerſeits
Niederägypten, andererſeits die fruchtbaren Ebenen von Tarra-
gona, Valencia und Murcia trocken gelegt wurden. Was mit
der Bildung dieſes Meeres zuſammenhängt, deſſen Daſein von
ſo bedeutendem Einfluß auf die früheſten Kulturbewegungen
der Menſchheit war, iſt von ganz beſonderem Intereſſe. Man
könnte denken, Spanien, das ſich als ein Vorgebirge inmitten
der Meere darſtellt, verdanke ſeine Erhaltung ſeinem hochge-
legenen Boden; ehe man aber auf ſolche theoretiſche Vor-
ſtellungen Gewicht legt, müßte man erſt die Bedenken beſeitigen,
die ſich gegen die Durchbrechung ſo vieler Dämme erheben,
müßte man wahrſcheinlich zu machen ſuchen, daß das Mittel-
meer einſt in mehrere abgeſchloſſene Becken geteilt geweſen,
deren alte Grenzen durch Sizilien und die Inſel Kandia an-
gedeutet ſcheinen. Die Löſung dieſe Probleme ſoll uns hier
nicht beſchäftigen, wir beſchränken uns darauf, auf den auf-
fallenden Kontraſt in der Geſtaltung des Landes am öſtlichen
und am weſtlichen Ende Europas aufmerkſam zu machen.
Zwiſchen dem Baltiſchen und dem Schwarzen Meer erhebt ſich
das Land gegenwärtig kaum 97,5 m über den Spiegel des
Ozeans, während die Hochebene von Mancha, wenn ſie zwiſchen
den Quellen des Niemen und des Dnjepr läge, ſich als eine
Gebirgsgruppe von bedeutender Höhe darſtellen würde. Es
iſt höchſt anziehend, auf die Urſachen zurückzugehen, durch
welche die Oberfläche unſeres Planeten umgeſtaltet worden
ſein mag; ſicherer iſt es aber, ſich an diejenigen Seiten der
Erſcheinungen zu halten, welche der Beobachtung und Meſſung
des Forſchers zugänglich ſind.
Zwiſchen Aſtorga und Coruña, beſonders von Lugo an,
werden die Berge allmählich höher. Die ſekundären Gebirgs-
bildungen verſchwinden mehr und mehr, und die Uebergangs-
[14] gebirgsarten, die ſie ablöſen, verkünden die Nähe des Urgebirges.
Wir ſahen anſehnliche Berge aufgebaut aus altem Sandſtein,
den die Mineralogen der Freiberger Schule als Grauwacke
und Grauwackenſchiefer aufführen. Ich weiß nicht, ob dieſe
Formation, die im ſüdlichen Europa nicht häufig vorkommt,
auch in anderen Strichen Spaniens aufgefunden worden iſt.
Eckige Bruchſtücke von lydiſchem Stein, die in den Thälern
am Boden liegen, ſchienen uns darauf zu deuten, daß die
Grauwacke dem Uebergangsſchiefer aufgelagert iſt. Bei Coruña
ſelbſt erheben ſich Granitgipfel, die bis zum Kap Ortegal
fortſtreichen. Dieſe Granite, welche einſt mit denen in Bre-
tagne und Wales in Zuſammenhang geſtanden haben mögen,
ſind vielleicht die Trümmer einer von den Fluten zertrümmerten
und verſchlungenen Bergkette. Schöne große Feldſpatkriſtalle
ſind für dieſes Geſtein charakteriſtiſch, Zinnſtein iſt darin ein-
geſprengt, und von den Galiciern wird darauf ein mühſamer,
wenig ergiebiger Bergbau betrieben.
In Coruña angelangt, fanden wir den Hafen von zwei
engliſchen Fregatten und einem Linienſchiff blockiert. Dieſe
Fahrzeuge ſollten den Verkehr zwiſchen dem Mutterlande und
den Kolonieen in Amerika unterbrechen; denn von Coruña,
nicht von Cadiz lief damals jeden Monat ein Paketboot
(Correo maritimo) nach der Havana aus, und alle zwei
Monate ein anderes nach Buenos Ayres oder der Mündung
des La Plata. Ich werde ſpäter den Zuſtand der Poſten
auf dem neuen Kontinent genau beſchreiben; hier nur ſo viel,
daß ſeit dem Miniſterium des Grafen Florida Blanca der
Dienſt der „Landkuriere“ ſo gut eingerichtet iſt, daß einer
in Paraguay oder in der Provinz Jaen de Bracamoros nur
durch ſie ziemlich regelmäßig mit einem in Neumexiko oder
an der Küſte von Neukalifornien korreſpondiern kann, alſo
ſo weit, als es von Paris nach Siam oder von Wien an das
Kap der guten Hoffnung iſt. Ebenſo gelangt ein Brief, den
man in einer kleinen Stadt in Aragonien zur Poſt gibt, nach
Chile oder in die Miſſionen am Orinoko, wenn nur der Name
des Corregimiento oder Bezirkes, in dem das betreffende india-
niſche Dorf liegt, genau angegeben iſt. Mit Vergnügen verweilt
der Gedanke bei Einrichtungen, die für eine der größten
Wohlthaten der Kultur der neueren Zeit gelten können. Die
Einrichtung der Kuriere zur See und im inneren Lande hat
das Band zwiſchen den Kolonieen unter ſich und mit dem
Mutterlande enger geknüpft. Der Gedankenaustauſch wurde
[15] dadurch beſchleunigt, die Beſchwerden der Koloniſten drangen
leichter nach Europa und die Staatsgewalt konnte hin und
wieder Bedrückungen ein Ende machen, die ſonſt aus ſo weiter
Ferne nie zu ihrer Kenntnis gelangt wären.
Der Miniſter hatte uns ganz beſonders dem Brigadier
Don Rafael Clavijo empfohlen, der ſeit kurzem die Ober-
aufſicht über die Seepoſten hatte. Dieſer Offizier, bekannt
als ausgezeichneter Schiffsbauer, war in Coruña mit der Ein-
richtung neuer Werfte beſchäftigt. Er bot alles auf, um uns
den Aufenthalt im Hafen angenehm zu machen, und gab uns
den Rat, uns auf der Korvette 1Pizarro einzuſchiffen, die
nach der Havana und Mexiko ging. Dieſes Fahrzeug, das
die Poſt für Juni an Bord hatte, ſollte mit der Alcudia
ſegeln, dem Paketboot für den Mai, das wegen der Blockade
ſeit drei Wochen nicht hatte auslaufen können. Der Pizarro
galt für keinen guten Segler, aber durch einen glücklichen
Zufall war er vor kurzem auf ſeiner langen Fahrt vom Rio
de la Plata nach Coruña den kreuzenden engliſchen Fahrzeugen
entgangen. Clavijo ließ an Bord der Korvette Einrichtungen
treffen, daß wir unſere Inſtrumente aufſtellen und während
der Ueberfahrt unſere chemiſchen Verſuche über die atmoſphä-
riſche Luft vornehmen konnten. Der Kapitän des Pizarro erhielt
Befehl, bei Tenerifa ſo lange anzulegen, daß wir den Hafen
von Orotava beſuchen und den Gipfel des Piks beſteigen könnten.
Die Einſchiffung verzögerte ſich nur zehn Tage, dennoch
kam uns der Aufenthalt gewaltig lang vor. Wir benutzten
die Zeit, die Pflanzen einzulegen, die wir in den ſchönen,
noch von keinem Naturforſcher betretenen Thälern Galiciens
geſammelt; wir unterſuchten die Tange und Weichtiere, welche
die Flut von Nordweſt her in Menge an den Fuß des ſteilen
Felſens wirft, auf dem der Wachtturm des Herkules ſteht.
Dieſer Turm, auch „der eiſerne Turm“ genannt, wurde im
Jahre 1788 reſtauriert. Er iſt 30 m hoch, ſeine Mauern
ſind 1,46 m dick, und nach ſeiner Bauart iſt er unzweifelhaft
ein Werk der Römer. Eine in der Nähe der Fundamente
gefundene Inſchrift, von der ich durch Herrn de Labordes’
Gefälligkeit eine Abſchrift beſitze, beſagt, der Turm ſei von
Cajus Servius Lupus, Architekten der Stadt Aqua Flavia
(Chaves), erbaut und dem Mars geweiht. Warum heißt der
[16] eiſerne Turm der Herkulesturm? Sollten ihn die Römer auf
den Trümmern eines griechiſchen oder phöniziſchen Bauwerkes
errichtet haben? Wirklich behauptet Strabo, Galicien, das
Land der Galläci, ſei von griechiſchen Kolonieen bevölkert ge-
weſen. Nach einer Angabe des Asklepiades von Myrtäa in
ſeiner Geographie von Spanien hätten ſich nach einer alten
Sage die Gefährten des Herkules in dieſen Landſtrichen nie-
dergelaſſen. 1
Die Höhen von Ferrol und Coruña ſind an derſelben
Bai gelegen, ſo daß ein Schiff, das bei ſchlimmem Wetter
gegen das Land getrieben wird, je nach der Richtung des
Windes, im einen oder im anderen Hafen vor Anker gehen
kann. Ein ſolcher Vorteil iſt unſchätzbar in Strichen, wo die
See faſt beſtändig hoch geht, wie zwiſchen den Vorgebirgen
Ortegal und Finisterre, den Vorgebirgen Trileucum und Arta-
brum der alten Geographen. Ein enger, von ſteilen Granit-
felſen gebildeter Kanal führt in das weite Becken von Ferrol.
In ganz Europa findet ſich kein zweiter Ankerplatz, der ſo
merkwürdig weit ins Land hineinſchnitte. Dieſer enge, ge-
ſchlängelte Paß, durch den die Schiffe in den Hafen gelangen,
ſieht aus, als wäre er durch eine Flut oder durch wiederholte
Stöße ungemein heftiger Erdbeben eingeriſſen. In der Neuen
Welt, an der Küſte von Neuandaluſien, hat die Laguna del
Opisco, der „Biſchofsſee“, genau dieſelbe Geſtalt wie der
Hafen von Ferrol. Die auffallendſten geologiſchen Erſchei-
nungen wiederholen ſich auf den Feſtländern an weit entlegenen
Punkten, und der Forſcher, der Gelegenheit gehabt, verſchiedene
Weltteile zu ſehen, erſtaunt über die durchgehende Gleich-
förmigkeit im Ausſchnitt der Küſten, im krummen Zug der
Thäler, im Anblick der Berge und ihrer Gruppierung. Das
zufällige Zuſammentreffen derſelben Urſachen mußte allerorten
dieſelben Wirkungen hervorbringen, und mitten aus der Man-
nigfaltigkeit der Natur tritt uns in der Anordnung der toten
Stoffe, wie in der Organiſation der Pflanzen und Tiere eine
gewiſſe Uebereinſtimmung in Bau und Geſtaltung entgegen.
Auf der Ueberfahrt von Coruña nach Ferrol machten
wir über eine Untiefe beim „weißen Signal“, in der Bai,
die nach d’Anville der portus magnus der Alten war, mittels
[17] einer Thermometerſonde mit Ventilen einige Beobachtungen
über die Temperatur der See und über die Abnahme der
Wärme in den übereinander gelagerten Waſſerſchichten. Ueber
der Bank zeigte das Inſtrument an der Meeresfläche 12,5
bis 13,3° der hundertteiligen Skale, während ringsumher,
wo das Meer ſehr tief war, der Thermometer bei 12,8° Luft-
temperatur auf 15 bis 15,3° ſtand. Der berühmte Franklin
und Jonathan Williams, der Verfaſſer des zu Philadelphia
erſchienenen Werkes „Thermometric Navigation“, haben zu-
erſt die Phyſiker darauf aufmerkſam gemacht, wie abweichend
ſich die Temperaturverhältniſſe der See über Untiefen geſtalten,
ſowie in der Zone warmer Waſſerſtröme, die aus dem Meer-
buſen von Mexiko zur Bank von Neufundland und hinüber
an die Nordküſten von Europa ſich erſtreckt. Die Beobachtung,
daß ſich die Nähe einer Sandbank durch ein raſches Sinken
der Temperatur an der Meeresfläche verkündet, iſt nicht nur
für die Phyſik von Wichtigkeit, ſie kann auch für die Sicher-
heit der Schiffahrt von großer Bedeutung werden. Allerdings
wird man über dem Thermometer das Senkblei nicht aus der
Hand legen: aber Beobachtungen, wie ich ſie im Verlauf dieſer
Reiſebeſchreibung anführen werde, thun zur Genüge dar, daß
ein Temperaturwechſel, den die unvollkommenſten Inſtrumente
anzeigen, die Gefahr verkündet, lange bevor das Schiff über
die Untiefe gelangt. In ſolchen Fällen mag die Abnahme
der Meerestemperatur den Schiffer veranlaſſen, zum Senkblei
zu greifen in Strichen, wo er ſich vollkommen ſicher dünkte.
Auf die phyſiſchen Urſachen dieſer verwickelten Erſcheinungen
kommen wir anderswo zurück. Hier ſei nur erwähnt, daß
die niedrigere Temperatur des Waſſers über den Untiefen
großenteils daher rührt, daß es ſich mit tieferen Waſſerſchichten
miſcht, welche längs der Abhänge der Bank zur Meeresfläche
aufſteigen.
Eine Aufregung des Meeres von Nordweſt her unter-
brach unſere Verſuche über die Meerestemperatur in der Bai
von Ferrol. Die Wellen gingen ſo hoch, weil auf offener
See ein heftiger Wind geweht hatte, in deſſen Folge die eng-
liſchen Schiffe ſich hatten von der Küſte entfernen müſſen.
Man wollte die Gelegenheit zum Auslaufen benutzen; man
ſchiffte alsbald unſere Inſtrumente, unſere Bücher, unſer ganzes
Gepäck ein; aber der Weſtwind wurde immer ſtärker und
man konnte die Anker nicht lichten. Wir benutzten den Auf-
ſchub, um an unſere Freunde in Deutſchland und Frankreich
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 2
[18] zu ſchreiben. Der Augenblick, wo man zum erſtenmal von
Europa ſcheidet, hat etwas Ergreifendes. Wenn man ſich noch
ſo beſtimmt vergegenwärtigt, wie ſtark der Verkehr zwiſchen
beiden Welten iſt, wie leicht man bei den großen Fortſchritten
der Schiffahrt über den Atlantiſchen Ozean gelangt, der, der
Südſee gegenüber, ein nicht ſehr breiter Meeresarm iſt, das
Gefühl, mit dem man zum erſtenmal eine weite Seereiſe an-
tritt, hat immer etwas tief Aufregendes. Es gleicht keiner
der Empfindungen, die uns von früher Jugend auf bewegt
haben. Getrennt von den Weſen, an denen unſer Herz hängt,
im Begriff, gleichſam den Schritt in ein neues Leben zu thun,
ziehen wir uns unwillkürlich in uns ſelbſt zuſammen und
über uns kommt ein Gefühl des Alleinſeins, wie wir es nie
empfunden.
Unter den Briefen, die ich kurz vor unſerer Einſchiffung
ſchrieb, befand ſich einer, der für die Richtung unſerer Reiſe
und den Verlauf unſerer ſpäteren Forſchungen ſehr folgereich
wurde. Als ich Paris verließ, um die Küſte von Afrika zu
beſuchen, ſchien die Entdeckungsreiſe in die Südſee auf mehrere
Jahre verſchoben. Ich hatte mit Kapitän Baudin die Ver-
abredung getroffen, daß ich, wenn er wider Vermuten die
Reiſe früher antreten könnte und ich davon Kenntnis bekäme,
von Algier aus in einen franzöſiſchen oder ſpaniſchen Hafen
eilen wolle, um die Expedition mitzumachen. Im Begriff
in die Neue Welt abzugehen, wiederholte ich jetzt dieſes Ver-
ſprechen. Ich ſchrieb Kapitän Baudin, wenn die Regierung
ihn auch jetzt noch den Weg um Kap Horn nehmen laſſen
wolle, ſo werde ich mich bemühen, mit ihm zuſammenzutreffen,
in Montevideo, in Chile, in Lima, wo immer er in den
ſpaniſchen Kolonieen anlegen möchte. Treu dieſer Zuſage,
änderte ich meinen Reiſeplan, ſobald die amerikaniſchen Blätter
im Jahre 1801 die Nachricht brachten, die franzöſiſche Expe-
dition ſei von Havre abgegangen, um von Oſt nach Weſt die
Welt zu umſegeln. Ich mietete ein kleines Fahrzeug und
ging von Batabano auf der Inſel Cuba nach Portobelo und
von da über die Landenge an die Küſte der Südſee. Infolge
einer falſchen Zeitungsnachricht haben Bonpland und ich über
3600 km in einem Lande gemacht, das wir gar nicht hatten
bereiſen wollen. Erſt in Quito erfuhren wir durch einen
Brief Delambres, des beſtändigen Sekretärs der erſten Klaſſe
des Inſtitutes, daß Kapitän Baudin um das Kap der guten
Hoffnung gegangen und die Weſt- und Oſtküſte Amerikas gar
[19] nicht berührt habe. Nicht ohne ein Gefühl von Wehmut ge-
denke ich einer Expedition, die mehrfach in mein Leben ein-
greift, und die kürzlich von einem Gelehrten 1 beſchrieben
worden iſt, den die Menge der Entdeckungen, welche die
Wiſſenſchaft ihm dankt, und der aufopfernde Mut, den er auf
ſeiner Laufbahn unter den härteſten Entbehrungen und Leiden
bewieſen, gleich hoch ſtellen.
Ich hatte auf die Reiſe nach Spanien nicht meine ganze
Sammlung phyſikaliſcher, geodätiſcher und aſtronomiſcher Werk-
zeuge mitnehmen können; ich hatte die Dubletten in Mar-
ſeille in Verwahrung gegeben und wollte ſie, ſobald ich
Gelegenheit gefunden hätte, an die Küſte der Berberei zu
gelangen, nach Algier oder Tunis nachkommen laſſen. In
ruhigen Zeiten iſt Reiſenden ſehr zu raten, daß ſie ſich nicht
mit allen ihren Inſtrumenten beladen; man läßt ſie beſſer
nachkommen, um nach einigen Jahren diejenigen zu erſetzen,
die durch den Gebrauch oder auf dem Transport gelitten
haben. Dieſe Vorſicht erſcheint beſonders dann geboten, wenn
man zahlreiche Punkte durch rein chronometriſche Mittel zu
beſtimmen hat. Aber während eines Seekrieges thut man klug,
ſeine Inſtrumente, Handſchriften und Sammlungen fortwäh-
rend bei ſich zu haben. Wie wichtig dies iſt, haben traurige
Erfahrungen mir bewieſen. Unſer Aufenthalt zu Madrid und
Coruña war zu kurz, als daß ich den meteorologiſchen Apparat,
den ich in Marſeille gelaſſen, hätte von dort kommen laſſen
können. Nach unſerer Rückkehr vom Orinoko gab ich Auftrag,
mir denſelben nach der Havana zu ſchicken, aber ohne Erfolg;
weder dieſer Apparat, noch die achromatiſchen Fernröhren und
der Thermometer von Arnold, die ich in London beſtellt, ſind
mir in Amerika zugekommen.
Getrennt von unſeren Inſtrumenten, die ſich am Bord
der Korvette befanden, brachten wir noch zwei Tage in Coruña
zu. Ein dichter Nebel, der den Horizont bedeckte, verkündete
endlich die ſehnlich erwartete Aenderung des Wetters. Am
4. Juni abends drehte ſich der Wind nach Nordoſt, welche
Windrichtung an der Küſte von Galicien in der ſchönen Jahres-
zeit für ſehr beſtändig gilt. Am fünften ging der Pizarro
wirklich unter Segel, obgleich wenige Stunden zuvor die
Nachricht angelangt war, eine engliſche Eskadre ſei vom Wacht-
[20] poſten Siſarga ſignaliſiert worden und ſcheine nach der Mün-
dung des Tajo zu ſegeln. Die Leute, welche unſere Korvette
die Anker lichten ſahen, äußerten laut, ehe drei Tage ver-
gehen, ſeien wir aufgebracht und mit dem Schiffe, deſſen Los
wir teilen müßten, auf dem Wege nach Liſſabon. Dieſe Prophe-
zeiung beunruhigte uns um ſo mehr, als wir in Madrid
Mexikaner kennen gelernt hatten, die ſich dreimal in Cadiz
nach Veracruz eingeſchifft hatten, jedesmal aber faſt unmittel-
bar vor dem Hafen aufgebracht worden und über Portugal
nach Spanien zurückgekehrt waren.
Um zwei Uhr nachmittags war der Pizarro unter Segel.
Der Kanal, durch den man aus dem Hafen von Coruña fährt,
iſt lang und ſchmal; da er ſich gegen Nord öffnet und der
Wind uns entgegen war, mußten wir acht kleine Schläge
machen, von denen drei ſo gut wie verloren waren. Gewendet
wurde immer äußerſt langſam, und einmal, unter dem Fort
St. Amarro, ſchwebten wir in Gefahr, da uns die Strömung
ſehr nahe an die Klippen trieb, an denen ſich das Meer mit
Ungeſtüm bricht. Unſere Blicke hingen am Schloß St. Antonio,
wo damals der unglückliche Malaſpina als Staatsgefangener
ſaß. Im Augenblick, da wir Europa verließen, um Länder
zu beſuchen, welche dieſer bedeutende Forſcher mit ſo vielem
Erfolg bereiſt hat, hätte ich mit meinen Gedanken gern bei
einem minder traurigen Gegenſtande verweilt.
Um ſechs ein halb Uhr kamen wir am Turm des Herkules
vorüber, von dem oben die Rede war, der Coruña als Leucht-
turm dient, und auf dem man ſeit den älteſten Zeiten ein
Steinkohlenfeuer unterhält. Der Schein dieſes Feuers ſteht
in ſchlechtem Verhältnis mit dem ſchönen, ſtattlichen Bauwerk;
es iſt ſo ſchwach, daß die Schiffe es erſt gewahr werden,
wenn ſie bereits Gefahr laufen zu ſtranden. Bei Einbruch
der Nacht wurde die See ſehr unruhig und der Wind bedeu-
tend friſcher. Wir ſteuerten gegen Nordweſt, um nicht den
engliſchen Fregatten zu begegnen, die, wie man glaubte, in
dieſen Strichen kreuzten. Gegen neun Uhr ſahen wir das
Licht in einer Fiſcherhütte von Siſarga, das letzte, was uns
von der Küſte von Europa zu Geſicht kam. Mit der zu-
nehmenden Entfernung verſchmolz der ſchwache Schimmer mit
dem Licht der Sterne, die am Horizont aufgingen, und un-
willkürlich blieben unſere Blicke daran hängen. Dergleichen
Eindrücke vergißt einer nie, der in einem Alter, wo die Em-
pfindung noch ihre volle Tiefe und Kraft beſitzt, eine weite
[21] Seereiſe angetreten hat. Welche Erinnerungen werden in
der Einbildungskraft wach, wenn ſo ein leuchtender Punkt in
finſterer Nacht, der von Zeit zu Zeit aus den bewegten Wellen
aufblitzt, die Küſte des Heimatlandes bezeichnet!
Wir mußten die oberen Segel einziehen. Wir ſegelten
zehn Knoten in der Stunde, obgleich die Korvette nicht zum
Schnellſegeln gebaut war. Um ſechs Uhr morgens wurde
das Schlingern ſo heftig, daß die kleine Bramſtenge brach. Der
Unfall hatte indeſſen keine ſchlimmen Folgen. Wir brauchten
zur Ueberfahrt von Coruña nach den Kanarien dreizehn Tage,
und dies war lang genug, um uns in ſo ſtark befahrenen
Strichen wie die Küſten von Portugal der Gefahr auszuſetzen,
auf engliſche Schiffe zu ſtoßen. Die erſten drei Tage zeigte
ſich kein Segel am Horizont, und dies beruhigte nachgerade
unſere Mannſchaft, die ſich auf kein Gefecht einlaſſen konnte.
Am 7. liefen wir über den Parallelkreis von Kap
Finisterre. Die Gruppe von Granitfelſen, die dieſes Vor-
gebirge, wie das Vorgebirge Toriañes und den Berg Corcu-
bion bilden, heißt Sierra de Toriñona. Das Kap Finisterre
iſt niedriger als das Land umher, aber die Toriñona iſt auf
hoher See 76,5 km weit ſichtbar, woraus folgt, daß die höchſten
Gipfel derſelben nicht unter 582 m hoch ſein können.
Am 8. bei Sonnenuntergang wurde von den Maſten
ein engliſches Konvoi ſignaliſiert, das gegen Südoſt an der
Küſte hinſteuerte. Ihm zu entgehen, wichen wir die Nacht
hindurch aus unſerem Kurs. Damit durften wir in der großen
Kajütte kein Licht mehr haben, um nicht von weitem bemerkt
zu werden. Dieſe Vorſicht, die an Bord aller Kauffahrer
beobachtet wird und in dem Reglement für die Paketboote
der königlichen Marine vorgeſchrieben iſt, brachte uns tödliche
Langeweile auf den vielen Ueberfahrten, die wir in fünf
Jahren zu machen hatten. Wir mußten uns fortwährend der
Blendlaternen bedienen, um die Temperatur des Meerwaſſers
zu beobachten oder an der Teilung der aſtronomiſchen In-
ſtrumente die Zahlen abzuleſen. In der heißen Zone, wo
die Dämmerung nur einige Minuten dauert, iſt man unter
dieſen Umſtänden ſchon um ſechs Uhr abends außer Thätig-
keit geſetzt. Dies war für mich um ſo verdrießlicher, als ich
vermöge meiner Konſtitution nie ſeekrank wurde, und ſo oft
ich an Bord eines Schiffes war, immer großen Trieb zur
Arbeit fühlte.
Eine Fahrt von der ſpaniſchen Küſte nach den Kanarien
[22] und von da nach Südamerika bietet wenig Bemerkenswertes,
zumal in der guten Jahreszeit. Es iſt weniger Gefahr dabei
als oft bei der Ueberfahrt über die großen Schweizer Seen.
Ich teile daher hier nur die allgemeinen Ergebniſſe meiner
magnetiſchen und meteorologiſchen Verſuche in dieſem Meeres-
ſtriche mit.
Am 9. Juni, unter 39° 50′ der Breite und 16° 10′
weſtlicher Länge vom Meridian der Pariſer Sternwarte, fingen
wir an die Wirkung der großen Strömung zu ſpüren, welche
von den Azoriſchen Inſeln nach der Meerenge von Gibraltar
und nach den Kanariſchen Inſeln geht. Indem ich den Punkt,
den mir der Gang der Berthoudſchen Seeuhr angab, mit des
Steuermanns Schätzung verglich, konnte ich die kleinſten
Aenderungen in der Richtung und Geſchwindigkeit der Strö-
mungen bemerken. Zwiſchen dem 37. und 30. Breitengrade
wurde das Schiff in 24 Stunden zuweilen 81 bis 117 km
nach Oſt getrieben. Anfänglich war die Richtung des Stromes
Oſt ¼ Südoſt, aber in der Nähe der Meerenge wurde ſie
genau Oſt. Kapitän Macintoſh und einer der gebildetſten
Seefahrer unſerer Zeit, Sir Erasmus Gower, haben die Ver-
änderungen beobachtet, welche in dieſer Bewegung des Waſſers
zu verſchiedenen Zeiten des Jahres eintreten. Es kommt
nicht ſelten vor, daß Schiffer, welche die Kanariſchen Inſeln
beſuchen, ſich an der Küſte von Lancerota befinden, während
ſie meinten, an Tenerifa landen zu können. Bougainville
befand ſich auf ſeiner Ueberfahrt vom Kap Finisterre nach
den Kanarien im Angeſicht der Inſel Ferro um 4° weiter
nach Oſt, als ſeine Rechnung ihm ergab.
Gemeinhin erklärt man die Strömung, die ſich zwiſchen
den Azoriſchen Inſeln, der Südküſte von Portugal und den
Kanarien merkbar macht, daraus, daß das Waſſer des Atlan-
tiſchen Ozeans durch die Meerenge von Gibraltar einen Zug
nach Oſten erhalte. De Fleurieu behauptet ſogar in den An-
merkungen zur Reiſe des Kapitän Marchand, der Umſtand,
daß das Mittelmeer durch die Verdunſtung mehr Waſſer verliere,
als die Flüſſe einwerfen, bringe im benachbarten Weltmeer
eine Bewegung hervor, und der Einfluß der Meerenge ſei
2700 km weit auf offener See zu ſpüren. Bei aller Hoch-
achtung, die ich einem Seefahrer ſchuldig bin, deſſen mit Recht
ſehr geſchätzten Werken ich viel zu danken habe, muß es mir
geſtattet ſein, dieſen wichtigen Gegenſtand aus einem weit
allgemeineren Geſichtspunkte zu betrachten.
[23]
Wirft man einen Blick auf das Atlantiſche Meer, oder
das tiefe Thal, das die Weſtküſten von Europa und Afrika
von den Oſtküſten des neuen Kontinents trennt, ſo bemerkt
man in der Bewegung der Waſſer entgegengeſetzte Richtungen.
Zwiſchen den Wendekreiſen, namentlich zwiſchen der afrikani-
ſchen Küſte am Senegal und dem Meere der Antillen geht
die allgemeine, den Seefahrern am längſten bekannte Strö-
mung fortwährend von Morgen nach Abend. Dieſelbe wird
mit dem Namen Aequinoktialſtrom bezeichnet. Die mittlere
Geſchwindigkeit derſelben unter verſchiedenen Breiten iſt ſich
im Atlantiſchen Ozean und in der Südſee ungefähr gleich.
Man kann ſie auf 40 bis 45 km in 24 Stunden, ſomit auf
0,18 bis 0,21 m in der Sekunde ſchätzen. 1 Die Geſchwindig-
keit, mit der die Waſſer in dieſen Strichen nach Weſten
ſtrömen, iſt etwa ein Vierteil von der der meiſten großen
europäiſchen Flüſſe. Dieſe der Umdrehung des Erdballes ent-
gegengeſetzte Bewegung des Ozeans hängt mit jenem Phä-
nomen wahrſcheinlich nur inſofern zuſammen, als durch die
Umdrehung der Erde die Polarwinde, welche in den unteren
Luftſchichten die kalte Luft aus den hohen Breiten dem
Aequator zuführen, in Paſſatwinde umgewandelt werden. Der
Aequinoktialſtrom iſt die Folge der allgemeinen Bewegung,
in welche die Meeresfläche durch die Paſſatwinde verſetzt wird,
und lokale Schwankungen im Zuſtande der Luft bleiben ohne
merkbaren Einfluß auf die Stärke und die Geſchwindigkeit
der Strömung.
Im Kanal, den der Atlantiſche Ozean zwiſchen Guyana
und Guinea auf 20 bis 23 Längengrade, vom 8. oder 9. bis
zum 2. oder 3. Grad nördlicher Breite gegraben hat, wo die
Paſſatwinde häufig durch Winde aus Süd oder Süd-Süd-
Weſt unterbrochen werden, iſt die Richtung des Aequinoktial-
ſtromes weniger konſtant. Der afrikaniſchen Küſte zu werden
die Schiffe nach Südoſt fortgetrieben, während der Aller-
heiligenbai und dem Vorgebirge St. Auguſtin zu, denen die
[24] Schiffe, die nach der Mündung des La Plata ſteuern, nicht
gern nahe kommen, der allgemeine Zug der Waſſer durch
eine beſondere Strömung maskiert iſt. Letztere Strömung iſt
vom Kap St. Roch bis zur Inſel Trinidad fühlbar, ſie iſt
gegen Nordweſt gerichtet mit einer Geſchwindigkeit von 32 bis
48 cm in der Sekunde.
Der Aequinoktialſtrom iſt, wenn auch ſchwach, ſogar jen-
ſeits des Wendekreiſes des Krebſes unter 26 und 28° der
Breite fühlbar. Im weiten Becken des Atlantiſchen Ozeans,
3150 bis 3600 km von der afrikaniſchen Küſte, beſchleunigt
ſich der Lauf der europäiſchen Schiffe, welche nach den An-
tillen gehen, ehe ſie in die heiße Zone gelangen. Weiter
gegen Nord, unter dem 18. bis 35. Grad, zwiſchen den Pa-
rallelkreiſen von Tenerifa und Ceuta, unter 46 und 48° der
Länge, bemerkt man keine konſtante Bewegung; denn eine
655 km breite Zone trennt den Aequinoktialſtrom, der nach
Weſt geht, von der großen Waſſermaſſe, die nach Oſt ſtrömt
und ſich durch auffallend hohe Temperatur auszeichnet. Auf
dieſe Waſſermaſſe, bekannt unter dem Namen Golfſtrom
(Gulf-stream), ſind die Phyſiker ſeit 1776 durch Franklins
und Sir Charles Blagdens ſchöne Beobachtungen aufmerkſam
geworden. Da in neuerer Zeit amerikaniſche und engliſche
Seefahrer eifrig bemüht ſind, die Richtung desſelben zu er-
mitteln, ſo müſſen wir weiter ausholen, um einen allgemeinen
Geſichtspunkt für das Phänomen zu gewinnen.
Der Aequinoktialſtrom treibt die Waſſer des Atlantiſchen
Ozeans an die Küſten der Moskitoindianer und von Hon-
duras. Der von Süd nach Nord geſtreckte neue Kontinent
hält dieſe Strömung auf wie ein Damm. Die Gewäſſer er-
halten zuerſt die Richtung nach Nordweſt, gelangen durch die
Meerenge zwiſchen Kap Catoche und Kap St. Antonio in den
Meerbuſen von Mexiko, und folgen den Krümmungen der
mexikaniſchen Küſte von Veracruz zur Mündung des Rio
del Norte, und von da zur Mündung des Miſſiſſippi und
den Untiefen weſtwärts von der Oſtſpitze von Florida. Nach
dieſer großen Drehung nach Weſt, Nord, Oſt und Süd nimmt
die Strömung wieder die Richtung nach Nord und drängt
ſich mit Ungeſtüm in den Kanal von Bahama. Dort habe
ich im Mai 1804, unter 26 und 27° der Breite, eine Ge-
ſchwindigkeit von 360 km in 24 Stunden, alſo von 1,60 m
in der Sekunde beobachtet, obgleich gerade ein ſehr ſtarker
Nordwind wehte. Beim Ausgang des Kanals von Bahama,
[25] unter dem Parallel von Kap Cañaveral, kehrt ſich der Golf-
ſtrom oder Strom von Florida nach Nordoſt. Er gleicht hier
einem reißenden Strome und erreicht zuweilen die Geſchwindig-
keit von 22,5 km in der Stunde. Der Steuermann kann,
ſobald er den Rand der Strömung erreicht, mit ziemlicher
Sicherheit abnehmen, um was er ſich in ſeiner Schätzung ge-
irrt, und wie weit er noch nach New York, Philadelphia oder
Charlestown hat; die hohe Temperatur des Waſſers, ſein
ſtarker Salzgehalt, die indigoblaue Farbe und die ſchwimmen-
den Maſſen Tang, endlich die im Winter ſehr merkbare Er-
höhung der Lufttemperatur geben den Golfſtrom zu erkennen.
Gegen Norden nimmt ſeine Geſchwindigkeit ab, während ſeine
Breite zunimmt und die Gewäſſer ſich abkühlen. Zwiſchen
Cayo Biscaino und der Bank von Bahama iſt er nur 67,5 km,
unter 28½° Breite ſchon 76,5, und unter dem Parallel von
Charlestown, Kap Henlopen gegenüber, 180 bis 225 km breit.
Wo die Strömung am ſchmälſten iſt, erreicht ſie eine Ge-
ſchwindigkeit von 13,5 bis 18 km in der Stunde, weiter nach
Norden zu beträgt dieſelbe nur noch 4,5 km. Die Gewäſſer
des mexikaniſchen Meerbuſens behalten auf ihrem gewaltigen
Zuge nach Nordoſt ihre hohe Temperatur dermaßen, daß ich
unter 40 und 41° der Breite noch 22,5° beobachtete, während
außerhalb des Stromes das Waſſer an der Oberfläche kaum
17,5° warm war. Unter der Breite von New York und
Oporto zeigt ſomit der Golfſtrom dieſelbe Temperatur wie
die tropiſchen Meere unter 18° Breite, alſo unter der Breite
von Portorico und der Inſeln des grünen Vorgebirges.
Vom Hafen von Boſton an und unter dem Meridian
von Halifax, unter 41° 25′ der Breite und 67° der Länge,
erreicht der Strom gegen 148 km Breite. Hier kehrt er ſich
auf einmal nach Oſt, ſo daß ſein weſtlicher Rand bei der
Umbiegung zur nördlichen Grenze der bewegten Waſſer wird
und er an der Spitze der großen Bank von Neufundland
wegſtreicht, die Volney ſinnreich die Barre an der Mündung
dieſes ungeheuren Meerſtromes nennt. Höchſt auffallend iſt
der Abſtand zwiſchen der Temperatur des kalten Waſſers über
dieſer Bank und der Wärme der Gewäſſer der heißen Zone,
die durch den Golfſtrom nach Norden getrieben werden; jene
betrug nach meinen Beobachtungen 8,7 bis 10°, dieſe 21 bis
22,5°. In dieſen Strichen iſt die Wärme im Meere höchſt
ſonderbar verteilt, die Gewäſſer der Bank ſind um 9,4° kälter
als das benachbarte Meer, und dieſes iſt um 3° kälter als
[26] der Strom. Dieſe Zonen können ihre Temperaturen nicht
ausgleichen, weil jede ihre eigene Wärmequelle oder einen
Grund der Wärmeerniedrigung hat, und beide Momente be-
ſtändig fortwirken. 1
Von der Bank von Neufundland, oder vom 52. Grad
der Breite bis zu den Azoren bleibt der Golfſtrom nach Oſt
oder Oſt-Süd-Oſt gerichtet. Noch immer wirkt hier in den
Gewäſſern der Stoß nach, den ſie 4500 km von da in der
Meerenge von Florida, zwiſchen der Inſel Cuba und den Un-
tiefen der Schildkröteninſeln, erhalten haben. Dieſe Ent-
fernung iſt das Doppelte von der Länge des Laufes des
Amazonenſtromes von Jaen oder dem Paß von Manſeriche
zum Gran-Para. Im Meridian der Inſeln Corvo und Flores,
der weſtlichſten der Gruppe der Azoren, nimmt die Strömung
eine Meeresſtrecke von 720 km in der Breite ein. Wenn
die Schiffe auf der Rückreiſe aus Südamerika nach Europa
dieſe beiden Inſeln aufſuchen, um ihre Länge zu berichtigen,
ſo gewahren ſie immer deutlich den Zug des Waſſers nach
Südoſt. Unter 33° der Breite rückt der tropiſche Aequinoktial-
ſtrom dem Golfſtrom ſehr nahe. In dieſem Striche des Welt-
meeres kann man an einem Tage aus den Gewäſſern, die
nach Weſt laufen, in diejenigen gelangen, die nach Südoſt
oder Oſt-Süd-Oſt ſtrömen.
Von den Azoren an nimmt der Strom von Florida ſeine
Richtung gegen die Meerenge von Gibraltar, die Inſel Ma-
deira und die Gruppe der Kanarien. Die Pforte bei den
Säulen des Herkules beſchleunigt ohne Zweifel den Zug des
Waſſers gegen Oſt. Und in dieſem Sinne mag man mit Recht
behaupten, die Meerenge, durch welche Mittelmeer und Atlan-
tiſcher Ozean zuſammenhängen, äußere ihren Einfluß auf weite
Ferne; ſehr wahrſcheinlich würden aber, auch wenn die Meer-
enge nicht beſtünde, Fahrzeuge, die nach Tenerifa ſegeln, den-
[27] noch nach Südoſt getrieben, und zwar infolge eines An-
ſtoßes, deſſen Urſprung man an den Küſten der Neuen Welt
zu ſuchen hat. Im weiten Meeresbecken pflanzen ſich alle
Bewegungen fort, gerade wie im Luftmeere. Verfolgt man
die Strömungen rückwärts zu ihren fernen Quellen, gibt man
ſich Rechenſchaft von dem Wechſel in ihrer Geſchwindigkeit,
warum ſie bald abnimmt, wie zwiſchen dem Kanal von Ba-
hama und der Bank von Neufundland, bald wieder wächſt,
wie in der Nähe der Meerenge von Gibraltar und bei den
Kanariſchen Inſeln, ſo kann man nicht darüber im Zweifel
ſein, daß dieſelbe Urſache, welche die Gewäſſer im Meerbuſen
von Mexiko herumdreht, ſie auch bei der Inſel Madeira in
Bewegung ſetzt.
Südlich von letztgenannter Inſel läßt ſich die Strömung
in ihrer Richtung nach Südoſt und Süd-Süd-Oſt gegen die
Küſte von Afrika zwiſchen Kap Cantin und Kap Bojador ver-
folgen. In dieſen Strichen ſieht ſich ein Schiff bei ſtillem
Wetter nahe an der Küſte, wenn es ſich nach der nicht be-
richtigten Schätzung noch weit davon entfernt glaubt. Iſt
die Oeffnung bei Gibraltar die Urſache der Bewegung des
Waſſers, warum hat denn die Strömung ſüdlich von der
Meerenge nicht die entgegengeſetzte Richtung? Im Gegenteil
aber geht ſie unter dem 25. und 26. Grad der Breite erſt
gerade nach Süd und dann nach Südweſt. Kap Blanc, nach
Kap Verd das am weiteſten ſich hinausſtreckende Vorgebirge,
ſcheint Einfluß auf dieſe Richtung zu äußern, und unter der
Breite desſelben miſchen ſich die Waſſer, deren Bewegung
wir von der Küſte von Honduras bis zur afrikaniſchen verfolgt
haben, mit dem großen tropiſchen Strom, um den Lauf von
Morgen nach Abend von neuem zu beginnen. Wir haben
oben bemerkt, daß mehrere hundert Kilometer weſtwärts von
den Kanarien der eigentümliche Zug der Aequinoktialgewäſſer
ſchon in der gemäßigten Zone, vom 28. und 29. Breitengrad
an, bemerklich wird; aber im Meridian der Inſel Ferro
kommen die Schiffe ſüdwärts bis zum Wendekreiſe des Krebſes,
ehe ſie ſich nach der Schätzung oſtwärts von ihrer wahren
Länge befinden.
Wie nun aber die nördliche Grenze des tropiſchen Stromes
und der Paſſatwinde nach den Jahreszeiten ſich verſchiebt, ſo
zeigt ſich auch der Golfſtrom nach Stellung und Richtung
veränderlich. Dieſe Schwankungen ſind beſonders auffallend
vom 28. Breitengrad bis zur großen Bank von Neufundland,
[28] ebenſo zwiſchen dem 48. Grad weſtlicher Länge von Paris
und dem Meridian der Azoren. Die wechſelnden Winde in
der gemäßigten Zone und das Schmelzen des Eiſes am Nord-
pol, von wo in den Monaten Juli und Auguſt eine bedeutende
Maſſe ſüßen Waſſers nach Süden abfließt, erſcheinen als die
vornehmſten Urſachen, aus welchen ſich in dieſen hohen Breiten
Stärke und Richtung des Golfſtromes verändern.
Wir haben geſehen, daß zwiſchen dem 11. und 43. Grad
der Breite die Gewäſſer des Atlantiſchen Ozeans mittels
Strömungen fortwährend im Kreiſe umhergeführt worden.
Angenommen, ein Waſſerteilchen gelange zu derſelben Stelle
zurück, von der es ausgegangen, ſo läßt ſich nach dem, was
wir bis jetzt von der Geſchwindigkeit der Strömungen wiſſen,
berechnen, daß es zu ſeinem 17100 km langen Umlauf zwei
Jahre und zehn Monate brauchte. Ein Fahrzeug, bei dem
man von der Wirkung des Windes abſähe, gelangte in drei-
zehn Monaten von den Kanariſchen Inſeln an die Küſte von
Caracas. Es brauchte zehn Monate, um im Meerbuſen von
Mexiko herumzukommen und um zu den Untiefen der Schild-
kröteninſeln gegenüber vom Hafen von Havana zu gelangen,
aber nur 40 bis 50 Tage vom Eingang der Meerenge
von Florida bis Neufundland. Die Geſchwindigkeit der
rückläufigen Strömung von jener Bank bis an die Küſte von
Afrika iſt ſchwer zu ſchätzen; nimmt man ſie im Mittel auf
31,5 oder 36 km in 24 Stunden an, ſo ergeben ſich für
dieſe letzte Strecke zehn bis elf Monate. Solches ſind die
Wirkungen des langſamen, aber regelmäßigen Zuges, der die
Gewäſſer des Ozeans herumführt. Das Waſſer des Ama-
zonenſtromes braucht von Tomependa bis zum Gran-Para
etwa 45 Tage.
Kurz vor meiner Ankunft auf Tenerifa hatte das Meer
auf der Reede von Santa Cruz einen Stamm der Cedrela
odorata, noch mit der Rinde, ausgeworfen. Dieſer ameri-
kaniſche Baum wächſt nur unter den Tropen oder in den zu-
nächſt angrenzenden Ländern. Er war ohne Zweifel an der
Küſte von Terra Firma oder Honduras abgeriſſen worden.
Die Beſchaffenheit des Holzes und der Flechten auf der Rinde
zeigte augenſcheinlich, daß der Stamm nicht etwa von einem
der unterſeeiſchen Wälder herrührte, welche durch alte Erd-
umwälzungen in die Flözgebilde nördlicher Länder eingebettet
worden ſind. Wäre der Cedrelaſtamm, ſtatt bei Tenerifa
ans Land geworfen zu werden, weiter nach Süden gelangt,
[29] ſo wäre er wahrſcheinlich rings um den ganzen Atlantiſchen
Ozean geführt worden und mittels des allgemeinen tropiſchen
Stromes wieder in ſein Heimatland gelangt. Dieſe Ver-
mutung wird durch einen älteren Fall unterſtützt, deſſen Abbé
Viera in ſeiner allgemeinen Geſchichte der Kanarien erwähnt.
Im Jahre 1770 wurde ein mit Getreide beladenes Fahrzeug,
das von der Inſel Lancerota nach Santa Cruz auf Tenerifa
gehen ſollte, auf die hohe See getrieben, als ſich niemand von
der Mannſchaft an Bord befand. Der Zug der Gewäſſer
von Morgen nach Abend führte es nach Amerika, wo es an
der Küſte von Guyana bei Caracas ſtrandete.
Zu einer Zeit, wo die Schiffahrtskunſt noch wenig ent-
wickelt war, bot der Golfſtrom dem Geiſte eines Chriſtoph
Kolumbus ſichere Anzeichen vom Daſein weſtwärts gelegener
Länder. Zwei Leichname, die nach ihrer Körperlichkeit einem
unbekannten Menſchenſtamme angehörten, wurden gegen Ende
des 15. Jahrhunderts bei den Azoriſchen Inſeln ans Land
geworfen. Ungefähr um dieſelbe Zeit fand Kolumbus’ Schwa-
ger, Peter Borrea, Statthalter von Porto Santo, am Strande
dieſer Inſel mächtige Stücke Bamburohr, die von der Strö-
mung und den Weſtwinden angeſchwemmt worden waren.
Dieſe Leichname und dieſe Rohre machten den genueſiſchen
Seemann aufmerkſam; er erriet, daß beide von einem gegen
Weſt gelegenen Feſtlande herrühren mußten. Wir wiſſen jetzt,
daß in der heißen Zone die Paſſatwinde und der tropiſche
Strom ſich jeder Wellenbewegung in der Richtung der Um-
drehung der Erde widerſetzen. Erzeugniſſe der Neuen Welt
können in die Alte Welt nur in hohen Breiten und in der
Richtung des Stromes von Florida gelangen. Häufig werden
Früchte verſchiedener Bäume der Antillen an den Küſten der
Inſeln Ferro und Gomera angetrieben. Vor der Entdeckung
von Amerika glaubten die Kanarier, dieſe Früchte kommen
von der bezauberten Inſel St. Borondon, die nach den See-
mannsmärchen und nach gewiſſen Sagen weſtwärts in einem
Striche des Ozeans liegen ſollte, der beſtändig in Nebel ge-
hüllt ſei.
Mit dieſer Ueberſicht der Strömungen im Atlantiſchen
Meere wollte ich hauptſächlich darthun, daß der Zug der Ge-
wäſſer gegen Südoſt, von Kap St. Vincent zu den Kanari-
ſchen Inſeln eine Wirkung der allgemeinen Bewegung iſt, in
der ſich die Oberfläche des Ozeans an ſeinem Weſtende be-
findet. Wir erwähnen daher nur kurz des Armes des Golf-
[30] ſtromes, der unter dem 45. und 50. Grad der Breite, bei
der Bank Bonnet Flamand, von Südweſt nach Nordoſt gegen
die Küſten von Europa gerichtet iſt. Dieſe Abteilung des
Stromes wird ſehr reißend, wenn der Wind lange aus Weſt
geblaſen hat. Gleich dem, der an Ferro und Gomera vor-
überſtreicht, wirft er alle Jahre an die Weſtküſten von Ir-
land und Norwegen Früchte von Bäumen, welche dem heißen
Erdſtrich Amerikas eigentümlich ſind. Am Strande der He-
briden findet man Samen von Mimosa scandens, Dolichos
urens, Guilandina bonduc, und verſchiedener anderer Pflanzen
von Jamaika, Cuba und dem benachbarten Feſtlande. Die
Strömung treibt nicht ſelten wohl erhaltene Fäſſer mit fran-
zöſiſchem Wein an, von Schiffen, die im Meere der Antillen
Schiffbruch gelitten. Neben dieſen Beiſpielen von den weiten
Wanderungen der Gewächſe ſtehen andere, welche die Ein-
bildungskraft beſchäftigen. Die Trümmer des engliſchen Schiffes
Tilbury, das bei Jamaika verbrannt war, wurden an der
ſchottiſchen Küſte gefunden. In denſelben Strichen kommen
zuweilen verſchiedene Arten von Schildkröten vor, welche
das Meer der Antillen bewohnen. Hat der Weſtwind lange
angehalten, ſo entſteht in den hohen Breiten eine Strömung,
die von den Küſten von Grönland und Labrador bis nord-
wärts von Schottland gerade nach Oſt-Süd-Oſt gerichtet iſt.
Wie Wallace berichtet, gelangten zweimal, in den Jahren
1682 und 1684, amerikaniſche Wilde vom Stamme der Es-
kimo, die ein Sturm in ihren Kanoen aus Fellen auf die
hohe See verſchlagen, mittels der Strömung zu den orkadi-
ſchen Inſeln. Dieſer letztere Fall verdient um ſo mehr Auf-
merkſamkeit, als man daraus zugleich erſieht, wie zu einer
Zeit, wo die Schiffahrt noch in ihrer Kindheit war, die Be-
wegung der Gewäſſer des Ozeans ein Mittel werden konnte,
um die verſchiedenen Menſchenſtämme über die Erde zu ver-
breiten.
Das Wenige, was wir bis jetzt über die wahre Lage
und die Breite des Golfſtromes, ſowie über die Fortſetzung
desſelben gegen die Küſten von Europa und Afrika wiſſen,
iſt die Frucht der zufälligen Beobachtung einiger unterrichteter
Männer, welche in verſchiedenen Richtungen über das Atlan-
tiſche Meer gefahren ſind. Da die Kenntnis der Strömungen
zu Abkürzung der Seefahrten weſentlich beitragen kann, ſo
wäre es von ſo großem Belang für die praktiſche Seemanns-
kunſt, als wiſſenſchaftlich von Intereſſe, wenn Schiffe mit
[31] vorzüglichen Chronometern im Meerbuſen von Mexiko und
im nördlichen Ozean zwiſchen dem 30. und 54. Grad der
Breite kreuzten, ganz eigens zum Zweck, um zu ermitteln, in
welchem Abſtande ſich der Golfſtrom in den verſchiedenen
Jahreszeiten und unter dem Einfluß der verſchiedenen Winde
ſüdlich von der Mündung des Miſſiſſippi und oſtwärts von
den Vorgebirgen Hatteras und Codd hält. Dieſelben könnten
zu unterſuchen haben, ob der große Strom von Florida be-
ſtändig am öſtlichen Ende der Bank von Neufundland hin-
ſtreicht, und unter welchem Parallel zwiſchen dem 32. und
40. Grad weſtlicher Länge die Gewäſſer, die von Oſt nach
Weſt ſtrömen, denen, welche die umgekehrte Richtung haben,
am nächſten gerückt ſind. Die Löſung der letzteren Frage iſt
deſto wichtiger, als die meiſten Fahrzeuge, welche von den
Antillen oder vom Kap der guten Hoffnung nach Europa
zurückkehren, die bezeichneten Striche befahren. Neben der
Richtung und Geſchwindigkeit der Strömungen könnte ſich
eine ſolche Expedition mit Beobachtungen über die Meeres-
temperatur, über die Linien ohne Abweichung, die Inklination
der Magnetnadel und die Intenſität der magnetiſchen Kraft
beſchäftigen. Beobachtungen dieſer Art erhalten einen hohen
Wert, wenn der Punkt, wo ſie angeſtellt werden, aſtronomiſch
beſtimmt iſt. Auch in den von Europäern am ſtärkſten be-
ſuchten Meeren, weit von jeder Küſte, kann ein unterrichteter
Seemann der Wiſſenſchaft wichtige Dienſte leiſten. Die Ent-
deckung einer unbewohnten Inſelgruppe iſt von geringerem
Intereſſe, als die Kenntnis der Geſetze, welche um eine Menge
vereinzelter Thatſachen das einigende Band ſchlingen.
Denkt man den Urſachen der Strömungen nach, ſo er-
kennt man, daß ſie viel häufiger vorkommen müſſen, als man
gemeiniglich glaubt. Die Gewäſſer des Meeres können durch
gar mancherlei in Bewegung geſetzt werden, durch einen
äußeren Anſtoß, durch Verſchiedenheiten in Temperatur und
Salzgehalt, durch das zeitweiſe Schmelzen des Polareiſes, end-
lich durch das ungleiche Maß der Verdunſtung unter ver-
ſchiedenen Breiten. Bald wirken mehrere dieſer Urſachen zum
ſelben Effekt zuſammen, bald bringen ſie entgegengeſetzte
Effekte hervor. Schwache, aber beſtändig in einem ganzen
Erdgürtel wehende Winde, wie die Paſſatwinde, bedingen eine
Bewegung vorwärts, wie wir ſie ſelbſt bei den ſtärkſten
Stürmen nicht beobachten, weil dieſe auf ein kleines Gebiet
beſchränkt ſind. Wenn in einer großen Waſſermaſſe die Waſſer-
[32] teilchen an der Oberfläche ſpezifiſch verſchieden ſchwer werden,
ſo bildet ſich an der Fläche ein Strom dem Punkte zu, wo
das Waſſer am kälteſten iſt, oder am meiſten ſalzſaures Natron,
ſchwefelſauren Kalk und ſchwefelſaure oder ſalzſaure Bittererde
enthält. In den Meeren unter den Wendekreiſen zeigt der
Thermometer in großen Tiefen nicht mehr als 7 bis 8° der
hundertteiligen Skale. Dies ergibt ſich aus zahlreichen Be-
obachtungen des Kommodore Ellis und Perons. Da in dieſen
Strichen die Lufttemperatur nie unter 19 bis 20° ſinkt, ſo
kann das Waſſer einen dem Gefrierpunkt und dem Maximum
der Dichtigkeit des Waſſers ſo nahe gerückten Kältegrad nicht
an der Oberfläche angenommen haben. Die Exiſtenz ſolcher
kalten Waſſerſchichten in niederen Breiten weiſt ſomit auf
einen Strom hin, der in der Tiefe von den Polen zum
Aequator geht; ſie weiſt ferner darauf hin, daß die Salze,
welche das ſpezifiſche Gewicht des Waſſers verändern, im
Ozean ſo verteilt ſind, daß ſie die von der Verſchiedenheit im
Wärmegrad abhängigen Wirkungen nicht aufheben.
Bedenkt man, daß infolge der Umdrehung der Erde die
Waſſerteilchen je nach der Breite eine verſchiedene Geſchwindig-
keit haben, ſo ſollte man vorausſetzen, daß jede von Süd
nach Nord gehende Strömung zugleich nach Oſt, die Gewäſſer
dagegen, die vom Pol zum Aequator ſtrömen, nach Weſt ab-
lenken müßten. Man ſollte ferner glauben, daß dieſe Neigung
den tropiſchen Strom bis zu einem gewiſſen Grade einerſeits
verlangſamen, andererſeits dem Polarſtrome, der ſich im Juli
und Auguſt, wenn das Eis ſchmilzt, unter der Breite der
Bank von Neufundland und weiter nordwärts regelmäßig ein-
ſtellt, eine andere Richtung geben müßte. Sehr alte nautiſche
Beobachtungen, die ich zu beſtätigen Gelegenheit hatte, indem
ich die vom Chronometer angegebene Länge mit der Schätzung
des Schiffers verglich, widerſprechen dieſen theoretiſchen An-
nahmen. In beiden Hemiſphären weichen die Polarſtröme,
wenn ſie merkbar ſind, ein wenig nach Oſt ab, und nach
unſerer Anſicht iſt der Grund dieſer Erſcheinung in der Be-
ſtändigkeit der in hohen Breiten herrſchenden Weſtwinde zu
ſuchen. Ueberdies bewegen ſich die Waſſerteilchen nicht mit
derſelben Geſchwindigkeit wie die Luftteilchen, und die ſtärkſten
Meeresſtrömungen, die wir kennen, legen nur 2,5 bis 2,9 m
in der Sekunde zurück; es iſt demnach höchſt wahrſcheinlich,
daß das Waſſer, indem es durch verſchiedene Breiten geht,
die denſelben entſprechende Geſchwindigkeit annimmt, und daß
[33] die Umdrehung der Erde ohne Einfluß auf die Richtung der
Strömungen bleibt.
Der verſchiedene Druck, dem die Meeresfläche infolge der
wechſelnden Schwere der Luft unterliegt, erſcheint als eine
weitere Urſache der Bewegung, die beſonders ins Auge zu
faſſen iſt. Es iſt bekannt, daß die Schwankungen des Baro-
meters im allgemeinen nicht gleichzeitig an zwei auseinander
liegenden, im ſelben Niveau befindlichen Punkten eintreten.
Wenn am einen dieſer Punkte der Barometer einige Linien
tiefer ſteht als am anderen, ſo wird ſich dort das Waſſer in-
folge des geringeren Luftdruckes erheben, und dieſe örtliche
Anſchwellung wird andauern, bis durch den Wind das Gleich-
gewicht der Luft wiederhergeſtellt iſt. Nach Vauchers Anſicht
rühren die Schwankungen im Spiegel des Genfer Sees, die
ſogenannten „Seiches“, eben davon her. In der heißen Zone
können die ſtündlichen Schwankungen des Barometers kleine
Schwingungen an der Meeresfläche hervorbringen, da der
Meridian von 4 Uhr, der dem Minimum des Luftdruckes ent-
ſpricht, zwiſchen den Meridianen von 21 und 11 Uhr liegt,
wo das Queckſilber am höchſten ſteht; aber dieſe Schwingungen,
wenn ſie überhaupt merkbar ſind, können keine Bewegung in
horizontaler Richtung zur Folge haben.
Ueberall wo eine ſolche durch die Ungleichheit im ſpezi-
fiſchen Gewicht der Waſſerteile entſteht, bildet ſich ein doppelter
Strom, ein oberer und ein unterer, die entgegengeſetzte Rich-
tungen haben. Daher iſt in den meiſten Meerengen wie in
den tropiſchen Meeren, welche die kalten Gewäſſer der Polar-
regionen aufnehmen, die ganze Waſſermaſſe bis zu bedeutender
Tiefe in Bewegung. Wir wiſſen nicht, ob es ſich ebenſo ver-
hält, wenn die Vorwärtsbewegung, die man nicht mit dem
Wellenſchlage verwechſeln darf, Folge eines äußeren Anſtoßes
iſt. De Fleurieu führt in ſeinem Bericht über die Expedition
der Iſis mehrere Thatſachen an, die darauf hinweiſen, daß
das Meer in der Tiefe weit weniger ruhig iſt, als die Phy-
ſiker gewöhnlich annehmen. Ohne hier auf eine Unterſuchung
einzugehen, mit der wir uns in der Folge zu beſchäftigen
haben werden, bemerken wir nur, daß, wenn der äußere An-
ſtoß ein andauernder iſt, wie bei den Paſſatwinden, durch die
gegenſeitige Reibung der Waſſerteilchen die Bewegung not-
wendig von der Meeresfläche ſich auf die tieferen Waſſer-
ſchichten fortpflanzen muß. Eine ſolche Fortpflanzung nehmen
auch die Seefahrer beim Golfſtrom ſchon lange an; auf die
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 3
[34] Wirkungen derſelben ſcheint ihnen die große Tiefe hinzudeuten,
welche das Meer allerorten zeigt, wo der Strom von Florida
durchgeht, ſogar mitten in den Sandbänken an den Nordküſten
der Vereinigten Staaten. Dieſer ungeheure Strom warmen
Waſſers hat, nachdem er in 50 Tagen vom 24. bis
45. Grad der Breite 2025 km zurückgelegt, trotz der be-
deutenden Winterkälte in der gemäßigten Zone, kaum 3 bis
4° von ſeiner urſprünglichen Temperatur unter den Tropen
verloren. Die Größe der Maſſe und der Umſtand, daß das
Waſſer ein ſchlechter Wärmeleiter iſt, machen, daß die Ab-
kühlung nicht raſcher erfolgt. Wenn ſich ſomit der Golfſtrom
auf dem Boden des Atlantiſchen Ozeans ein Bett gegraben
hat, und wenn ſeine Gewäſſer bis in beträchtliche Tiefen in
Bewegung ſind, ſo müſſen ſie auch in ihren unteren Schichten
eine höhere Temperatur behalten, als unter derſelben Breite
Meeresſtriche ohne Strömungen und Untiefen zeigen. Dieſe
Fragen ſind nur durch unmittelbare Beobachtungen mittels
des Senkbleies mit Thermometer zu löſen.
Sir Erasmus Gower bemerkt, auf der Ueberfahrt von
England nach den Kanariſchen Inſeln gerate man in die Strö-
mung und dieſelbe treibe vom 39. Breitengrade an die Schiffe
nach Südoſt. Auf unſerer Fahrt von Coruña nach Süd-
amerika machte ſich der Einfluß dieſes Zuges der Waſſer noch
weiter nördlich merkbar. Vom 37. zum 30. Grad war die
Abweichung ſehr ungleich; ſie betrug täglich im Mittel 54 km,
das heißt unſere Korvette wurde in ſechs Tagen um 133 km
gegen Oſt abgetrieben. Als wir auf 655 km Entfernung den
Parallel der Meerenge von Gibraltar ſchnitten, hatten wir
Gelegenheit zur Beobachtung, daß in dieſen Strichen das
Maximum der Geſchwindigkeit nicht der Oeffnung der Meer-
enge ſelbſt entſpricht, ſondern einem nördlicher gelegenen
Punkte in der Verlängerung einer Linie, die man durch die
Meerenge und Kap Vincent zieht. Dieſe Linie läuft von der
Gruppe der Azoriſchen Inſeln bis zum Kap Cantin parallel
mit der Richtung der Gewäſſer. Es iſt ferner zu bemerken,
und der Umſtand iſt für die Phyſiker, die ſich mit der Be-
wegung der Flüſſigkeiten beſchäftigen, nicht ohne Intereſſe,
daß in dieſem Stück des rückläufigen Stromes, in einer Breite
von 540 bis 655 km, nicht die ganze Waſſermaſſe dieſelbe
Geſchwindigkeit, noch dieſelbe Richtung hat. Bei ganz ruhiger
See zeigen ſich an der Oberfläche ſchmale Streifen, kleinen
Bächen gleich, in denen das Waſſer mit einem für das Ohr
[35] des geübten Schiffers wohl hörbaren Geräuſch hinſtrömt. Am
13. Juni, unter 34° 36′ nördlicher Breite, befanden wir uns
mitten unter einer Menge ſolcher Strombetten. Wir konnten
die Richtung derſelben mit dem Kompaß aufnehmen, die einen
liefen nach Nordoſt, andere nach Oſt-Nord-Oſt, trotzdem,
daß der allgemeine Zug der See, wie die Vergleichung der
Schätzung mit der chronometriſchen Länge angab, fortwährend
nach Südoſt ging. Sehr häufig ſieht man eine ſtehende Waſſer-
maſſe von Waſſerfäden durchzogen, die nach verſchiedenen Rich-
tungen ſtrömen; ſolches kann man täglich an der Oberfläche
unſerer Landſeen beobachten, aber ſeltener bemerkt man ſolch
partielle Bewegungen kleiner Waſſerteile infolge lokaler Ur-
ſachen mitten in einem Meeresſtrome, der ſich über ungeheure
Räume erſtreckt und ſich immer in derſelben Richtung, wenn
auch nicht mit bedeutender Geſchwindigkeit fortbewegt. Die
ſich kreuzenden Strömungen beſchäftigen unſere Einbildungs-
kraft, wie der Wellenſchlag, weil dieſe Bewegungen, die den
Ozean in beſtändiger Unruhe erhalten, ſich zu durchdringen
ſcheinen.
Wir fuhren am Kap Vincent, das aus Baſalt beſteht,
auf mehr als 360 km Entfernung vorüber. Auf 67,5 km
erkennt man es nicht mehr deutlich, aber die Foya von
Monchique, ein Granitberg in der Nähe des Kaps, ſoll, wie
die Steuerleute behaupten, auf 117 km in See ſichtbar ſein.
Verhält es ſich wirklich ſo, ſo iſt die Foya 1363 m hoch, alſo
225 m höher als der Veſuv. Es iſt auffallend, daß die
portugieſiſche Regierung kein Feuer auf einem Punkte unter-
hält, nach dem ſich alle vom Kap der guten Hoffnung und
vom Kap Horn kommenden Schiffe richten müſſen; nach keinem
anderen Punkte wird mit ſo viel Ungeduld ausgeſchaut, bis
er in Sicht kommt. Die Feuer auf dem Turm des Herkules
und am Kap Spichel ſind ſo ſchwach und ſo wenig weit ſicht-
bar, daß man ſie gar nicht rechnen kann. Dazu wäre das
Kapuzinerkloſter, das auf Kap Vincent ſteht, ganz der ge-
eignete Platz zu einem Leuchtturm mit ſich drehendem Feuer,
wie zu Cadiz und an der Garonnemündung.
Seit unſerer Abfahrt von Coruña und bis zum 36. Breiten-
grad hatten wir außer Meerſchwalben und einigen Delphinen
faſt kein lebendes Weſen geſehen. Umſonſt ſahen wir uns
nach Tangen und Weichtieren um. Am 11. Juni aber hatten
wir ein Schauſpiel, das uns höchlich überraſchte, das wir aber
ſpäter in der Südſee häufig genoſſen. Wir gelangten in einen
[36] Strich, wo das Meer mit einer ungeheuren Menge Meduſen
bedeckt war. Das Schiff ſtand beinahe ſtill, aber die Weich-
tiere zogen gegen Südoſt, viermal raſcher als die Strömung.
Ihr Vorüberzug währte beinahe drei Viertelſtunden, und dann
ſahen wir nur noch einzelne Individuen dem großen Haufen,
wie wandermüde, nachziehen. Kommen dieſe Tiere vom Grunde
des Meeres, das in dieſen Strichen wohl mehrere tauſend
Meter tief iſt? oder machen ſie in Schwärmen weite Züge?
Wie man weiß, lieben dieſe Weichtiere die Untiefen, und
wenn die acht Klippen unmittelbar unter dem Waſſerſpiegel,
welche Kapitän Vobonne im Jahre 1832 nordwärts von der
Inſel Porto Santo geſehen haben will, wirklich vorhanden
ſind, ſo läßt ſich annehmen, daß dieſe ungeheure Maſſe von
Meduſen dorther kam, denn wir befanden uns nur 126 km
von jenen Klippen. Wir erkannten neben der Medusa aurita
von Baſter und der M. pelagica von Bosc mit acht Ten-
takeln (Pelagia denticulata, Peron) eine dritte Art, die ſich
der M. hysocella nähert, die Vandelli an der Mündung des
Tajo gefunden hat. Sie iſt ausgezeichnet durch die braun-
gelbe Farbe und dadurch, daß die Tentakeln länger ſind als
der Körper. Manche dieſer Meerneſſeln hatten 10 cm im
Durchmeſſer; ihr faſt metalliſcher Glanz, ihre violett und
purpurn ſchillernde Färbung hob ſich vom Blau der See
äußerſt angenehm ab.
Unter den Meduſen fand Bonpland Bündel der Dagysa
notata, eines Weichtieres von ſonderbarem Bau, das Sir
Joſeph Banks zuerſt kennen gelehrt hat. Es ſind kleine
gallertartige Säcke, durchſichtig, walzenförmig, zuweilen viel-
eckig, 3 mm lang, 0,5 bis 0,7 mm im Durchmeſſer. Dieſe
Säcke ſind an beiden Enden offen. An der einen Oeffnung
zeigt ſich eine durchſichtige Blaſe mit einem gelben Fleck. Dieſe
Cylinder ſind der Länge nach aneinander geklebt wie Bienen-
zellen und bilden 16 bis 21 cm lange Schnüre. Umſonſt
verſuchte ich die galvaniſche Elektrizität an dieſen Weichtieren;
ſie brachte keine Zuſammenziehung hervor. Die Gattung
Dagysa, die zur Zeit von Cooks erſter Reiſe zuerſt aufgeſtellt
wurde, ſcheint zu den Salpen zu gehören. Auch die Salpen
wandern in Schwärmen, wobei ſie ſich zu Schnüren anein-
ander hängen, wie wir bei der Dagysa geſehen.
Am 13. Juni morgens unter 34° 33′ Breite ſahen wir
wieder bei vollkommen ruhiger See große Haufen des letzt-
erwähnten Tieres vorbeitreiben. Bei Nacht machten wir die
[37] Beobachtung, daß alle drei Meduſenarten, die wir gefangen,
nur leuchteten, wenn man ſie ganz leicht anſtieß. Dieſe
Eigenſchaft kommt alſo nicht der von Forskael in ſeiner Fauna
Aegyptiaca beſchriebenen Medusa noctiluca allein zu, die
Gmelin mit der Medusa pelagica Löflings vereinigt, obgleich
ſie rote Tentakeln und braune Körperwarzen hat. Legt man
eine ſehr reizbare Meduſe auf einen Zinnteller und ſchlägt
mit irgend einem Metall an den Teller, ſo wird das Tier
ſchon durch die leichte Schwingung des Zinnes leuchtend. Gal-
vaniſiert man Meduſen, ſo zeigt ſich zuweilen der phosphoriſche
Schein im Moment, wo man die Kette ſchließt, wenn auch
die Excitatoren die Organe des Tieres nicht unmittelbar be-
rühren. Die Finger, mit denen man es berührt, bleiben ein
paar Minuten leuchtend, wie man dies auch beobachtet, wenn
man das Gehäuſe der Pholaden zerbricht. Reibt man Holz
mit dem Körper einer Meduſe und leuchtet die geriebene Stelle
nicht mehr, ſo erſcheint der Schimmer wieder, wenn man mit
der trockenen Hand über das Holz fährt. Iſt derſelbe wieder
verſchwunden, ſo läßt er ſich nicht noch einmal hervorrufen,
wenn auch die geriebene Stelle noch feucht und klebrig iſt.
Wie wirkt in dieſem Falle die Reibung oder der Stoß? Die
Frage iſt ſchwer zu beantworten. Ruft etwa eine kleine
Temperaturerhöhung den Schein hervor, oder kommt er wieder,
weil man die Oberfläche erneuert und ſo die Teile des Tieres,
welche den Phosphorwaſſerſtoff entbinden, mit dem Sauerſtoff
der atmoſphäriſchen Luft in Berührung bringt? Ich habe
durch Verſuche, die im Jahre 1797 veröffentlicht worden, dar-
gethan, daß Scheinholz in reinem Waſſerſtoff und Stickſtoff
nicht mehr leuchtet, und daß der Schein wiederkehrt, ſobald
man die kleinſte Blaſe Sauerſtoff in das Gas treten läßt.
Dieſe Thatſachen, deren wir in der Folge noch mehrere an-
führen werden, bahnen uns den Weg zur Erklärung des
Meerleuchtens und des beſonderen Umſtandes, daß das Er-
ſcheinen des Lichtſchimmers mit dem Wellenſchlag in Zuſammen-
hang ſteht.
Zwiſchen Madeira und der afrikaniſchen Küſte hatten
wir gelinde Winde oder Windſtille, wodurch ich mich bei den
magnetiſchen Verſuchen, mit denen ich mich bei der Ueberfahrt
beſchäftigte, ſehr gefördert ſah. Wir wurden nicht ſatt, die
Pracht der Nächte zu bewundern; nichts geht über die Klar-
heit und Heiterkeit des afrikaniſchen Himmels. Wir wunderten
uns über die ungeheure Menge Sternſchnuppen, die jeden
[38] Augenblick niedergingen. Je weiter wir nach Süden kamen,
deſto häufiger wurden ſie, beſonders bei den Kanariſchen Inſeln.
Ich glaube auf meinen Reiſen die Beobachtung gemacht zu
haben, daß dieſe Feuermeteore überhaupt in manchen Land-
ſtrichen häufiger vorkommen und glänzender ſind als in an-
deren. Nie ſah ich ihrer ſo viele als in der Nähe der Vulkane
der Provinz Quito und in der Südſee an der vulkaniſchen
Küſte von Guatemala. Der Einfluß, den Oertlichkeit, Klima
und Jahreszeit auf die Bildung der Sternſchnuppen zu haben
ſcheinen, trennt dieſe Klaſſe von Meteoren von den Aerolithen,
die wahrſcheinlich dem Weltraume außerhalb unſeres Luft-
kreiſes angehören. Nach den übereinſtimmenden Beobachtungen
von Benzenberg und Brandes erſcheinen in Europa viele
Sternſchnuppen nicht mehr als 58470 m über der Erde.
Man hat ſogar eine gemeſſen, die nur 27280 m hoch war.
Es wäre zu wünſchen, daß dergleichen Meſſungen, die nur
annähernde Reſultate ergeben können, öfters wiederholt würden.
In den heißen Landſtrichen, beſonders unter den Tropen,
zeigen die Sternſchnuppen einen Schweif, der noch 12 bis
15 Sekunden fortleuchtet; ein andermal iſt es, als platzten
ſie und zerſtieben in mehrere Lichtfunken, und im allgemeinen
ſind ſie viel weiter unten in der Luft als im nördlichen Eu-
ropa. Man ſieht ſie nur bei heiterem, blauem Himmel, und
unter einer Wolke iſt wohl noch nie eine beobachtet worden.
Häufig haben die Sternſchnuppen ein paar Stunden lang
eine und dieſelbe Richtung, und dies iſt dann die Richtung
des Windes. In der Bucht von Neapel haben Gay-Luſſac
und ich Lichterſcheinungen beobachtet, die denen, welche mich
bei meinem langen Aufenthalt in Mexiko und Quito be-
ſchäftigten, ſehr ähnlich waren. Das Weſen dieſer Meteore
hängt vielleicht ab von der Beſchaffenheit von Boden und
Luft, gleich gewiſſen Erſcheinungen von Luftſpiegelung und
Strahlenbrechung an der Erdoberfläche, wie ſie an den Küſten
von Kalabrien und Sizilien vorkommen.
Wir bekamen auf unſerer Fahrt weder die Inſeln De-
ſiertas noch Madeira zu Geſicht. Gerne hätte ich die Länge
dieſer Inſeln berichtigt und von den vulkaniſchen Bergen nord-
wärts von Funchal Höhenwinkel genommen. De Borda be-
richtet, man ſehe dieſe Berge auf 90 km, was nur auf eine
Höhe von 806 m hinwieſe; wir wiſſen aber, daß nach neueren
Meſſungen der höchſte Gipfel von Madeira 1573 m hoch iſt.
Die kleinen Inſeln Deſiertas und Salvages, auf denen man
[39] Orſeille und Mesembryanthemum crystallinum ſammelt,
haben nicht 390 m ſenkrechter Höhe. Es ſcheint mir von
Nutzen, die Seefahrer auf dergleichen Beſtimmungen hinzu-
weiſen, weil ſich mittels einer Methode, deren in dieſer Reiſe-
beſchreibung öfter Erwähnung geſchieht und deren ſich Borda,
Lord Mulgrave, de Roſſel und Don Cosme Churruca auf
ihren Reiſen mit Erfolg bedient haben, durch Höhenwinkel,
die man mit guten Reflexionsinſtrumenten nimmt, mit hin-
länglicher Genauigkeit ermitteln läßt, wie weit ſich das Schiff
von einem Vorgebirge oder von einer gebirgigen Inſel befindet.
Als wir 180 km oſtwärts von Madeira waren, ſetzte ſich
eine Schwalbe auf die Marsſtange. Sie war ſo müde, daß
ſie ſich leicht fangen ließ. Es war eine Rauchſchwalbe (Hi-
rundo rustica, Lin.). Was mag einen Vogel veranlaſſen,
in dieſer Jahreszeit und bei ſtiller Luft ſo weit zu fliegen?
Bei d’Entrecaſteaux’ Expedition ſah man gleichfalls eine Rauch-
ſchwalbe 270 km weit vom Weißen Vorgebirge; das war aber
Ende Oktobers, und Labillardière war der Meinung, ſie
komme eben aus Europa. Wir befuhren dieſe Striche im
Juni, und ſeit langer Zeit hatte kein Sturm das Meer auf-
gerührt. Ich betone den letzteren Umſtand, weil kleine Vögel,
ſogar Schmetterlinge zuweilen durch heftige Winde auf die
hohe See verſchlagen werden, wie wir es in der Südſee,
weſtwärts von der Küſte von Mexiko, beobachten konnten.
Der Pizarro hatte Befehl, bei der Inſel Lanzarote, einer
der ſieben großen Kanarien, anzulegen, um ſich zu erkundigen,
ob die Engländer die Reede von Santa Cruz auf Tenerifa
blockierten. Seit dem 15. Juni war man im Zweifel, welchen
Weg man einſchlagen ſollte. Bis jetzt hatten die Steuerleute,
die mit den Seeuhren nicht recht umzugehen wußten, keine
großen Stücke auf die Länge gehalten, die ich faſt immer
zweimal des Tages beſtimmte, indem ich zum Uebertrag der
Zeit morgens und abends Stundenwinkel aufnahm. Endlich
am 16. Juni, um 9 Uhr morgens, als wir ſchon unter
29° 26′ der Breite waren, änderte der Kapitän den Kurs
und ſteuerte gegen Oſt. Da zeigte ſich bald, wie genau Louis
Berthouds Chronometer war; um 2 Uhr nachmittags kam
Land in Sicht, das wie eine kleine Wolke am Horizont er-
ſchien. Um 5 Uhr, bei niedriger ſtehender Sonne, lag die
Inſel Lanzarote ſo deutlich vor uns, daß ich den Höhenwinkel
eines Kegelberges meſſen konnte, der majeſtätiſch die anderen
Gipfel überragt und den wir für den großen Vulkan hielten,
[40] der in der Nacht vom 1. September 1730 ſo große Ver-
heerungen angerichtet hat.
Die Strömung trieb uns ſchneller gegen die Küſte, als
wir wünſchten. Im Hinfahren ſahen wir zuerſt die Inſel
Fuerteventura, bekannt durch die vielen Kamele, 1 die darauf
leben, und bald darauf die kleine Inſel Lobos im Kanal zwiſchen
Fuerteventura und Lanzarote. Wir brachten die Nacht zum
Teil auf dem Verdeck zu. Der Mond beſchien die vulkaniſchen
Gipfel von Lanzarote, deren mit Aſche bedeckte Abhänge wie
Silber ſchimmerten. Antares glänzte nahe der Mondſcheibe,
die nur wenige Grad über dem Horizont ſtand. Die Nacht
war wunderbar heiter und friſch. Obgleich wir nicht weit
von der afrikaniſchen Küſte und der Grenze der heißen Zone
waren, zeigte der hundertteilige Thermometer nicht mehr als
18°. Es war, als ob das Leuchten des Meeres die in der
Luft verbreitete Lichtmaſſe vermehrte. Zum erſtenmal konnte
ich an einem zweizölligen Sextanten von Troughton mit ſehr
feiner Teilung den Nonius ableſen, ohne mit einer Kerze an
den Rand zu leuchten. Mehrere unſerer Reiſegefährten waren
Kanarier; gleich allen Einwohnern der Inſel prieſen ſie
enthuſiaſtiſch die Schönheit ihres Landes. Nach Mitternacht
zogen hinter dem Vulkan ſchwere Wolken auf und bedeckten
hin und wieder den Mond und das ſchöne Sternbild des
Skorpion. Wir ſahen am Ufer Feuer hin und her tragen.
Es waren wahrſcheinlich Fiſcher, die ſich zur Fahrt rüſteten.
Wir hatten auf der Reiſe fortwährend in den alten ſpaniſchen
Reiſebeſchreibungen geleſen, und dieſe ſich hin und her be-
wegenden Lichter erinnerten uns an die, welche Pedro Gutierez,
ein Page der Königin Iſabella, in der denkwürdigen Nacht,
da die Neue Welt entdeckt wurde, auf der Inſel Guanahani ſah.
Am 17. morgens war der Horizont neblig und der
Himmel leicht umzogen. Deſto ſchärfer traten die Berge von
Lanzarote in ihren Umriſſen hervor. Die Feuchtigkeit erhöht
[41] die Durchſichtigkeit der Luft und rückt zugleich ſcheinbar die
Gegenſtände näher. Dieſe Erſcheinung iſt jedem bekannt, der
Gelegenheit gehabt hat, an Orten, wo man die Ketten der
Hochalpen oder der Anden ſieht, hygrometriſche Beobachtungen
anzuſtellen. Wir liefen, mit dem Senkblei in der Hand, durch
den Kanal zwiſchen den Inſeln Alegranza und Montaña
Clara. Wir unterſuchten den Archipel kleiner Eilande nörd-
lich von Lanzarote, die ſowohl auf der ſonſt ſehr genauen
Karte von de Fleurieu, als auf der Karte, die zur Reiſe der
Fregatte Flora gehört, ſo ſchlecht gezeichnet ſind. Die auf Be-
fehl des Herrn de Caſtries im Jahre 1786 veröffentlichte Karte
des Atlantiſchen Ozeans hat dieſelben irrigen Angaben. Da
die Strömungen in dieſen Strichen ausnehmend raſch ſind,
ſo mag die für die Sicherheit der Schiffahrt nicht unwichtige
Bemerkung hier ſtehen, daß die Lage der fünf kleinen Inſeln
Alegranza, Clara, Gracioſa, Roca del Eſte und Infierno
nur auf der Karte der Kanariſchen Inſeln von Borda und im
Atlas von Tofiño genau angegeben iſt, welcher letztere ſich
dabei an die Beobachtungen von Don Joſe Varela hielt, die
mit denen der Fregatte Bouſſole ziemlich übereinſtimmen.
Inmitten dieſes Archipels, den Schiffe, die nach Tenerifa
gehen, ſelten befahren, machte die Geſtaltung der Küſten den
eigentümlichſten Eindruck auf uns. Wir glaubten uns in
die Euganeiſchen Berge im Vicentiniſchen oder an die Ufer
des Rheins bei Bonn verſetzt (Siebengebirge). Die Geſtal-
tung der organiſchen Weſen wechſelt nach den Klimaten, und
dieſe erſtaunliche Mannigfaltigkeit gibt dem Studium der Ver-
teilung der Pflanzen und Tiere ſeinen Hauptreiz; aber die
Gebirgsarten, die vielleicht früher gebildet worden, als die
Urſachen, von welchen die Abſtufung der Klimate abhängt,
in Wirkſamkeit getreten, ſind in beiden Hemiſphären die näm-
lichen. Die Porphyre, welche glaſigen Feldſpat oder Horn-
blende einſchließen, die Phonolithe (Werners Porphyrſchiefer),
Grünſteine, Mandelſteine und Baſalte zeigen faſt ſo konſtante
Formen wie die einfachen kriſtalliniſchen Körper. Auf den
Kanarien wie in der Auvergne, im böhmiſchen Mittelgebirge
wie in Mexiko und an den Ufern des Ganges erkennt man
die Trappformation am ſymmetriſchen Bau der Berge, an den
geſtutzten, bald einzeln ſtehenden, bald zu Gruppen vereinigten
Kegeln, an den Plateaus, die an beiden Enden mit einer
runden niedrigen Kuppe gekrönt ſind.
Der ganze weſtliche Teil von Lanzarote, den wir in der
[42] Nähe ſahen, hat ganz das Anſehen eines in neueſter Zeit
von vulkaniſchem Feuer verwüſteten Landes. Alles iſt ſchwarz,
dürr, von Dammerde entblößt. Wir erkannten mit dem Fern-
rohr Baſalt in ziemlich dünnen, ſtark fallenden Schichten.
Mehrere Hügel gleichen dem Monte Nuovo bei Neapel, oder
den Schlacken- und Aſchenhügeln, welche am Fuße des Vul-
kanes Jorullo in Mexiko in einer Nacht aus dem berſtenden
Boden emporgeſtiegen ſind. Nach Abbé Viera wurde auch
im Jahre 1730 mehr als die Hälfte der Inſel völlig um-
gewandelt. Der „Große Vulkan“, deſſen wir oben erwähnt,
und der bei den Eingeborenen der Vulkan von Temanfaya
heißt, verheerte das fruchtbarſte und beſtangebaute Gebiet;
neun Dörfer wurden durch die Lavaſtröme völlig zerſtört. Ein
heftiges Erdbeben war der Kataſtrophe vorangegangen, und
gleich ſtarke Stöße wurden noch mehrere Jahre nachher ge-
ſpürt. Letztere Erſcheinung iſt um ſo auffallender, je ſeltener
ſie nach einem Ausbruche iſt, wenn einmal nach dem Ausfluß
der geſchmolzenen Stoffe die elaſtiſchen Dämpfe durch den
Krater haben entweichen können. Der Gipfel des großen
Vulkanes iſt ein runder, nicht genau kegelförmiger Hügel. Nach
den Höhenwinkeln, die ich in verſchiedenen Abſtänden genom-
men, ſcheint ſeine abſolute Höhe nicht viel über 580 m zu
betragen. Die benachbarten kleinen Berge und die der Inſeln
Alegranza une Clara ſind kaum 95 bis 134 m hoch. Man
wundert ſich, daß Gipfel, die ſich auf hoher See ſo impoſant
darſtellen, nicht höher ſein ſollen. Aber nichts iſt ſo unſicher
als unſer Urteil über die Größe der Winkel, unter denen uns
Gegenſtände ganz nahe am Horizont erſcheinen. Einer Täu-
ſchung derart iſt es zuzuſchreiben, wenn vor den Meſſungen
de Churrucas und Galeanos am Kap Pilar die Berge an der
Magelhaensſchen Meerenge und des Feuerlandes bei den See-
fahrern für ungemein hoch galten.
Die Inſel Lanzarote hieß früher Titeroigotra. Bei
der Ankunft der Spanier zeichneten ſich die Bewohner vor
den anderen Kanariern durch Merkmale höherer Kultur aus.
Sie hatten Häuſer aus behauenen Steinen, während die
Guanchen auf Tenerifa, als wahre Troglodyten, in Höhlen
wohnten. Auf Lanzarote herrſchte zu jener Zeit ein ſeltſamer
Gebrauch, der nur noch bei den Tibetanern vorkommt. 1 Eine
[43] Frau hatte mehrere Männer, welche in der Ausübung der
Rechte des Familienhauptes wechſelten. Der eine Ehemann
ward als ſolcher nur während eines Mondumlaufs anerkannt,
ſofort übernahm ein anderer das Amt und jener trat in das
Hausgeſinde zurück. Es iſt zu bedauern, daß wir von den
Geiſtlichen im Gefolge Johanns von Béthencourt, welche die
Geſchichte der Eroberung der Kanarien geſchrieben haben, nicht
mehr von den Sitten eines Volkes erfahren, bei dem ſo
ſonderbare Bräuche herrſchten. Im 15. Jahrhundert be-
ſtanden auf der Inſel Lanzarote zwei kleine voneinander
unabhängige Staaten, die durch eine Mauer geſchieden waren,
dergleichen man auch in Schottland, in Peru und in China
findet, Denkmäler, die den Nationalhaß überleben.
Wegen des Windes mußten wir zwiſchen den Inſeln
Alegranza und Montaña Clara durchfahren. Da niemand
am Bord der Korvette je in dieſem Kanal geweſen war, ſo
mußte das Senkblei ausgeworfen werden. Wir fanden Grund
bei 45 und 60 m. Mit dem Senkblei wurde eine organiſche
Subſtanz von ſo ſonderbarem Bau aufgezogen, daß wir lange
nicht wußten, ob wir ſie für einen Zoophyten oder für eine
Tangart halten ſollten. Auf einem bräunlichen, 8 cm langen
Stiel ſitzen runde lappige Blätter mit gezahntem Rande. Sie
ſind hellgrün, lederartig und geſtreift wie die Blätter der
Adianten und des Ginkgo biloba. Ihre Fläche iſt mit ſteifen,
weißlichen Haaren bedeckt; vor der Entwickelung ſind ſie konkav
und ineinander geſchachtelt. Wir konnten keine Spur von
willkührlicher Bewegung, von Irritabilität daran bemerken,
auch nicht als wir es mit dem Galvanismus verſuchten. Der
Stiel iſt nicht holzig, ſondern beſteht aus einem hornartigen
Stoff, gleich der Achſe der Gorgonen. Da Stickſtoff und
Phosphor in Menge in verſchiedenen kryptogamiſchen Gewächſen
nachgewieſen ſind, ſo wäre nichts dabei herausgekommen, wenn
wir auf chemiſchem Wege hätten ermitteln wollen, ob dieſer
organiſche Körper dem Pflanzen- oder dem Tierreiche angehöre.
Da er einigen Seepflanzen mit Adiantenblättern ſehr nahe
kommt, ſo ſtellten wir ihn vorläufig zu den Tangen und
nannten ihn Fucus vitifolius. Die Haare, mit denen das
Gewächs bedeckt iſt, kommen bei vielen anderen Tangen vor.
Allerdings zeigte das Blatt, als es friſch aus der See unter
dem Mikroſkop unterſucht wurde, nicht die drüſigen Körper
in Häufchen oder die dunkeln Punkte, welche bei den Gat-
tungen Ulva und Fucus die Fruktifikationen enthalten; aber
[44] wie oft findet man Tange, die vermöge ihrer Entwickelungs-
ſtufe in ihrem durchſichtigen Parenchym noch keine Spur von
Körnern zeigen.
Ich hätte dieſe Einzelheiten, die in die beſchreibende Na-
turgeſchichte gehören, hier übergangen, wenn ſich nicht am Fukus
mit weinblattähnlichen Blättern eine phyſiologiſche Erſcheinung
von allgemeinerem Intereſſe beobachten ließe. Unſer Seetang
hatte, an Madreporen befeſtigt, 68 m tief im Meeresboden
vegetiert, und doch waren ſeine Blätter ſo grün wie unſere
Gräſer. Nach de Bouguers Verſuchen 1 wird das Licht, das
durch 58,5 m Waſſer hindurchgeht, im Verhältnis von 1 zu
1477,8 geſchwächt. Der Tang von Alegranza iſt alſo ein
neuer Beweis für den Satz, daß Gewächſe im Dunkeln vege-
tieren können, ohne farblos zu werden. Die noch in den
Zwiebeln eingeſchloſſenen Keime mancher Liliengewächſe, der
Embryo der Malven, der Rhamnoiden, der Piſtazie, der Miſtel
und des Zitronenbaums, die Zweige mancher unterirdiſcher
Pflanzen, endlich die Gewächſe, die man in Erzgruben bringt,
wo die umgebende Luft Waſſerſtoff oder viel Stickſtoff enthält,
ſind grün ohne Lichtgenuß. Dieſe Thatſachen berechtigen zu
der Annahme, daß der Kohlenwaſſerſtoff, der das Parenchym
dunkler oder heller grün färbt, je nachdem der Kohlenſtoff in
der Verbindung vorherrſcht, ſich nicht bloß unter dem Einfluß
der Sonnenſtrahlen im Gewebe der Gewächſe bildet.
Turner, der ſo viel für die Familie der Tange geleiſtet
hat, und viele andere bedeutende Botaniker ſind der Anſicht,
die Tange, die man an der Meeresfläche findet, und die unter
dem 23. und 25. Grad der Breite und dem 35. der Länge
ſich dem Seefahrer als eine weite überſchwemmte Wieſe dar-
ſtellen, wachſen urſprünglich auf dem Meeresgrunde und ſchwim-
men an der Oberfläche nur im ausgebildeten Zuſtande, nachdem
ſie von den Wellen losgeriſſen worden. Iſt dem wirklich ſo,
ſo iſt nicht zu leugnen, daß die Familie der Seealgen große
Schwierigkeiten macht, wenn man am Glauben feſthält, daß
Farbloſigkeit die notwendige Folge des Mangels an Licht iſt;
[45] denn wie ſollte man vorausſetzen können, daß ſo viele Arten
von Ulvaceen und die Diktyoteen mit grünen Stengeln und
Blättern auf Geſtein unmittelbar unter der Meeresfläche ge-
wachſen ſind?
Nach den Angaben eines alten portugieſiſchen Wegweiſers
meinte der Kapitän des Pizarro ſich einem kleinen Fort nördlich
von Teguiſe, dem Hauptort von Lanzarote, gegenüber zu
befinden. Man hielt einen Baſaltfelſen für ein Kaſtell, man
ſalutierte es durch Aufhiſſen der ſpaniſchen Flagge und warf
das Boot aus, um ſich durch einen Offizier beim Komman-
danten des vermeintlichen Forts erkundigen zu laſſen, ob die
Engländer in der Umgegend kreuzten. Wir wunderten uns
nicht wenig, als wir vernahmen, daß das Land, das wir für
einen Teil der Küſte von Lanzarote gehalten, die kleine Inſel
Gracioſa ſei und daß es auf mehrere Kilometer in der Runde
keinen bewohnten Ort gebe.
Wir benutzten das Boot, um ans Land zu gehen, das
den Schlußpunkt einer weiten Bai bildete. Ganz unbeſchreiblich
iſt das Gefühl des Naturforſchers, der zum erſtenmal einen
außereuropäiſchen Boden betritt. Die Aufmerkſamkeit wird
von ſo vielen Gegenſtänden in Anſpruch genommen, daß man
ſich von ſeinen Empfindungen kaum Rechenſchaft zu geben
vermag. Bei jedem Schritt glaubt man einen neuen Natur-
körper vor ſich zu haben, und in der Aufregung erkennt man
häufig Dinge nicht wieder, die in unſeren botaniſchen Gärten
und naturgeſchichtlichen Sammlungen zu den gemeinſten ge-
hören. An 200 m vom Ufer ſahen wir einen Mann mit
der Angelrute fiſchen. Man fuhr im Boot auf ihn zu, aber
er ergriff die Flucht und verſteckte ſich hinter einem Felſen.
Die Matroſen hatten Mühe, ſeiner habhaft zu werden. Der
Anblick der Korvette, der Kanonendonner am einſamen, jedoch
zuweilen von Kapern beſuchten Orte, das Landen des Bootes,
alles hatte dem armen Fiſcher Angſt eingejagt. Wir erfuhren
von ihm, die kleine Inſel Gracioſa, an der wir gelandet, ſei
von Lanzarote durch einen engen Kanal, el Rio genannt, ge-
trennt. Er erbot ſich, uns in den Hafen los Colorados zu
führen, wo wir uns hinſichtlich der Blockade von Tenerifa
erkundigen könnten; da er aber zugleich verſicherte, ſeit mehre-
ren Wochen kein Fahrzeug auf offener See geſehen zu haben,
ſo beſchloß der Kapitän, geradezu nach Santa Cruz zu ſteuern.
Das kleine Stück der Inſel Gracioſa, das wir kennen
gelernt, gleicht den aus Laven aufgebauten Vorgebirgen bei
[46] Neapel zwiſchen Portici und Torre del Greco. Die Felſen
ſind nackt, ohne Bäume und Gebüſche, meiſt ohne Spur von
Dammerde. Einige Flechten, Variolarien, Leprarien, Urceo-
larien, kamen hin und wieder auf dem Baſalt vor. Laven,
die nicht mit vulkaniſcher Aſche bedeckt ſind, bleiben Jahr-
hunderte ohne eine Spur von Vegetation. Auf dem afrika-
niſchen Boden hemmt die große Hitze und die lange Trocken-
heit die Entwickelung der kryptogamiſchen Gewächſe.
Mit Sonnenuntergang ſchifften wir uns wieder ein und
gingen unter Segel, aber der Wind war zu ſchwach, als daß
wir unſeren Weg nach Tenerifa hätten fortſetzen können. Die
See war ruhig; ein rötlicher Dunſt umzog den Horizont und
ließ alle Gegenſtände größer erſcheinen. In ſolcher Einſam-
keit, ringsum ſo viele unbewohnte Eilande, ſchwelgten wir
lange im Anblicke einer wilden, großartigen Natur. Die
ſchwarzen Berge von Gracioſa zeigten 160 bis 200 m hohe
ſenkrechte Wände. Ihre Schatten, die auf die Meeresfläche
fielen, gaben der Landſchaft einen ſchwermütigen Charakter.
Gleich den Trümmern eines gewaltigen Gebäudes ſtiegen
Baſaltfelſen aus dem Waſſer auf. Ihr Daſein mahnte uns
an die weit entlegene Zeit, wo unterſeeiſche Vulkane neue
Inſeln emporhoben oder die Feſtländer zertrümmerten. Alles
umher verkündete Verwüſtung und Unfruchtbarkeit; aber einen
freundlicheren Anblick bot im Hintergrunde des Bildes die
Küſte von Lanzarote. In einer engen Schlucht, zwiſchen zwei
mit zerſtreuten Baumgruppen gekrönten Hügeln, zog ſich ein
kleiner bebauter Landſtrich hin. Die letzten Strahlen der
Sonne beleuchten das zur Ernte reife Korn. Selbſt die Wüſte
belebt ſich, ſobald man den Spuren der arbeitſamen Menſchen-
hand begegnet.
Wir verſuchten aus der Bucht herauszukommen, und zwar
durch den Kanal zwiſchen Alegranza und Montaña Clara,
durch den wir ohne Schwierigkeit hereingelangt waren, um
an der Nordſpitze von Gracioſa ans Land zu gehen. Da der
Wind ſehr flau wurde, ſo trieb uns die Strömung nahe zu
einem Riff, an dem ſich die See ungeſtüm brach, und das
die alten Karten als „Infierno“ bezeichnen. Als wir das
Riff auf zwei Kabellängen vom Vorderteil der Korvette vor
uns hatten, ſahen wir, daß es eine 5,8 bis 7,8 m hohe
Lavakuppe iſt, voll Höhlungen und bedeckt mit Schlacken,
die den Koks oder der ſchwammigen Maſſe der entſchwefel-
ten Steinkohle ähnlich ſind. Wahrſcheinlich iſt die Klippe In-
[47] fierno, 1 welche die neueren Karten Roca del Oeste (weſtlicher
Fels) nennen, durch das vulkaniſche Feuer emporgehoben. Sie
kann ſogar früher weit höher geweſen ſein; denn die „neue
Inſel“ der Azoren, die zu wiederholten Malen aus dem Meere
geſtiegen, in den Jahren 1638 und 1719, war 115 m hoch 2
geworden, als ſie im Jahre 1728 ſo gänzlich verſchwand,
daß man da, wo ſie geſtanden, das Meer 146 m tief fand.
Meine Anſicht vom Urſprung der Baſaltkuppe Infierno wird
durch ein Ereignis beſtätigt, das um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts in derſelben Gegend beobachtet wurde. Beim
Ausbruch des Vulkanes Temanfaya erhoben ſich vom Meeres-
boden zwei pyramidale Hügel von ſteiniger Lava, und ver-
ſchmolzen nach und nach mit der Inſel Lanzarote.
Da der ſchwache Wind und die Strömung uns aus dem
Kanal von Alegranza nicht herauskommen ließen, beſchloß
man, während der Nacht zwiſchen der Inſel Clara und der
Roca del Oeste zu kreuzen. Dies hätte beinahe ſehr ſchlimme
Folgen für uns gehabt. Es iſt gefährlich, ſich bei Windſtille
in der Nähe dieſes Riffes aufzuhalten, gegen das die Strö-
mung ausnehmend ſtark hinzieht. Um Mitternacht fingen
wir an, die Wirkung der Strömung gewahr zu werden. Die
nahe vor uns ſenkrecht aus dem Waſſer aufſteigenden Fels-
maſſen benahmen uns den wenigen Wind, der wehte; die
Korvette gehorchte dem Steuer faſt nicht mehr und jeden
Augenblick fürchtete man zu ſtranden. Es iſt ſchwer begreiflich,
wie eine einzelne Baſaltkuppe mitten im weiten Weltmeer
das Waſſer in ſolche Aufregung verſetzen kann. Dieſe Er-
ſcheinungen, welche die volle Aufmerkſamkeit der Phyſiker
verdienen, ſind übrigens den Seefahrern wohl bekannt; ſie
treten in der Südſee, namentlich im kleinen Archipel der
Galapagosinſeln, in furchtbarem Maßſtabe auf. Der Tem-
peraturunterſchied zwiſchen der Flüſſigkeit und der Felsmaſſe
vermag den Zug der Strömung zu ihnen hin nicht zu er-
[48] klären, und wie ſollte man es glaublich finden, daß ſich das
Waſſer am Fuße der Klippen in die Tiefe ſtürzt, und daß
bei dieſem fortwährenden Zug nach unten die Waſſerteilchen
den entſtehenden leeren Raum auszufüllen ſuchen? 1
Am 18. morgens wurde der Wind etwas friſcher, und
ſo gelang es uns, aus dem Kanal zu kommen. Wir kamen
dem Infierno noch einmal ſehr nahe, und jetzt bemerkten wir
im Geſtein große Spalten, durch welche wahrſcheinlich die
Gaſe entwichen, als die Baſaltkuppe emporgehoben wurde.
Wir verloren die kleinen Inſeln Alegranza, Montaña Clara
und Gracioſa aus dem Geſicht. Sie ſcheinen nie von Guanchen
bewohnt geweſen zu ſein und man beſucht ſie jetzt nur, um
Orſeille dort zu ſammeln; dieſe Pflanze iſt übrigens weniger
geſucht, ſeit ſo viele andere Flechtenarten aus dem nördlichen
Europa koſtbare Farbſtoffe liefern. Montaña Clara iſt be-
rühmt wegen der ſchönen Kanarienvögel, die dort vorkommen.
Der Geſang dieſer Vögel wechſelt nach Schwärmen, wie ja
auch bei uns der Geſang der Finken in zwei benachbarten
Landſtrichen häufig ein anderer iſt. Auf Montaña Clara gibt
es auch Ziegen, zum Beweis, daß das Eiland im Inneren
nicht ſo öde iſt als die Küſte, die wir geſehen. Der Name
Alegranza kommt her von „La Joyeuſe“, wie die erſten Er-
oberer der Kanarien, zwei normänniſche Barone, Jean de
Béthencourt und Gadifer de Salle, die Inſel benannten. Es
war der erſte Punkt, wo ſie gelandet. Nach einem Aufent-
halt von einigen Tagen auf der Inſel Gracioſa, von der wir
ein kleines Stück geſehen, beſchloſſen ſie ſich der benachbarten
Inſel Lanzarote zu bemächtigen, und wurden von Guadarfia,
dem Häuptling der Guanchen, ſo gaſtfreundlich empfangen,
wie Cortez im Palaſt Montezumas. Der Hirtenkönig, der
keine anderen Schätze hatte als ſeine Ziegen, wurde ſo ſchmäh-
lich verraten, wie der mexikaniſche Sultan.
Wir fuhren an den Küſten von Lanzarote, Lobos und
Fuerteventura hin. Die zweite ſcheint früher mit den anderen
zuſammengehangen zu haben. Dieſe geologiſche Hypotheſe
[49] wurde ſchon im 17. Jahrhundert von einem Franziskaner,
Juan Galindo, aufgeſtellt. Er war ſogar der Anſicht,
König Juba habe nur ſechs Kanariſche Inſeln genannt, weil
zu ſeiner Zeit drei derſelben nur eine gebildet. Ohne auf
dieſe unwahrſcheinliche Hypotheſe einzugehen, haben gelehrte
Geographen den Archipel der Kanarien für die beiden Inſeln
Junonia, die Inſeln Nivaria, Ombrios, Canaria und Capraria
der Alten erklärt.
Da der Horizont dunſtig war, konnten wir auf der ganzen
Ueberfahrt von Lanzarote nach Tenerifa des Gipfels des Pik
de Teyde nicht anſichtig werden. Iſt der Vulkan wirklich
3712 m hoch, wie Bordas letzte trigonometriſche Meſſung an-
gibt, ſo muß ſein Gipfel auf 80 km zu ſehen ſein, das Auge
am Meeresſpiegel angenommen und die Refraktion gleich
0,079 der Entfernung. Man hat in Zweifel gezogen, ob der
Pik im Kanal zwiſchen Lanzarote und Fuerteventura, der nach
Varelas Karte 2° 20′ oder gegen 225 km davon entfernt iſt,
je geſehen worden ſei. Der Punkt ſcheint indeſſen durch einige
Offiziere der königlich ſpaniſchen Marine entſchieden worden
zu ſein; ich habe an Bord der Korvette Pizarro ein Schiffs-
tagebuch in Händen gehabt, in dem ſtand, der Pik von Tene-
rifa ſei in 250 km Entfernung beim ſüdlichen Vorgebirge von
Lanzarote, genannt Pichiguera, geſehen worden, und zwar er-
ſchien der Gipfel unter einem ſo großen Winkel, daß der
Beobachter, Don Manuel Bazuti, glaubt, der Vulkan hätte
noch 40,5 km weiter weg geſehen werden können. Das war
im September, gegen Abend, bei ſehr feuchtem Wetter. Rechnet
man 4,87 m als Erhöhung des Auges über der See, ſo finde
ich, daß man, um die Erſcheinung zu erklären, eine Refraktion
gleich 0,158 des Bogens anzunehmen hat, was für die ge-
mäßigte Zone nicht außerordentlich viel iſt. Nach den Beob-
achtungen des Generals Roy ſchwanken in England die Re-
fraktionen zwiſchen 1/20 und ⅓, und wenn es wahr iſt, daß
ſie an der Küſte von Afrika dieſe äußerſten Grenzen erreichen,
woran ich ſehr zweifle, ſo könnte unter gewiſſen Umſtänden
der Pik vom Verdeck eines Schiffes auf 113 km geſehen werden.
Seeleute, die häufig dieſe Striche befahren und über die
Urſachen der Naturerſcheinungen nachdenken, wundern ſich,
daß der Pik de Teyde und der der Azoren 1 zuweilen in ſehr
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 4
[50] großer Entfernung zum Vorſchein kommen, ein andermal in
weit größerer Nähe nicht ſichtbar ſind, obgleich der Himmel
klar erſcheint und der Horizont nicht dunſtig iſt. Dieſe Um-
ſtände verdienen die Aufmerkſamkeit des Phyſikers um ſo mehr,
als viele Fahrzeuge auf der Rückreiſe nach Europa mit Un-
geduld des Erſcheinens dieſer Berge harren, um ihre Länge
danach zu berichtigen, und ſie ſich weiter davon entfernt glauben,
als ſie in Wahrheit ſind, wenn ſie ſie bei hellem Wetter in
Entfernungen, wo die Sehwinkel ſchon ſehr bedeutend ſein
müßten, nicht ſehen können. Der Zuſtand der Atmoſphäre
hat den bedeutendſten Einfluß auf die Sichtbarkeit ferner
Gegenſtände. Im allgemeinen läßt ſich annehmen, daß der
Pik von Tenerifa im Juli und Auguſt, bei ſehr warmem,
trockenem Wetter, ziemlich ſelten ſehr weit geſehen wird, daß
er dagegen im Januar und Februar, bei leicht bedecktem
Himmel und unmittelbar nach oder einige Stunden vor einem
ſtarken Regen in außerordentlich großer Entfernung zu Geſicht
kommt. Die Durchſichtigkeit der Luft ſcheint, wie ſchon oben
bemerkt, in erſtaunlichem Maße erhöht zu werden, wenn eine
gewiſſe Menge Waſſer gleichförmig in derſelben verbreitet iſt.
Zudem darf man ſich nicht wundern, wenn man den Pik de
Teyde ſeltener ſehr weit ſieht als die Gipfel der Anden, die
ich ſo lange Zeit habe beobachten können. Der Pik iſt nicht
ſo hoch als der Teil des Atlas, an deſſen Abhang die Stadt
Marokko liegt, und nicht wie dieſer mit ewigem Schnee be-
deckt. Der Piton oder Zuckerhut, der die oberſte Spitze
des Piks bildet, wirft allerdings vieles Licht zurück, weil der
aus dem Krater ausgeworfene Bimsſtein von weißlicher Farbe
iſt; aber dieſer kleine abgeſtutzte Kegel mißt nur ein Zwanzigteil
der ganzen Höhe. Die Wände des Vulkanes ſind entweder
mit ſchwarzen, verſchlackten Lavablöcken oder mit einem kräf-
tigen Pflanzenwuchs bedeckt, deſſen Maſſe um ſo weniger Licht
1
[51] zurückwirft, als die Baumblätter voneinander durch Schatten
getrennt ſind, die einen größeren Umfang haben als die be-
leuchteten Teile.
Daraus geht hervor, daß der Pik von Tenerifa, abge-
ſehen von Piton, zu den Bergen gehört, die man, wie
Bouguer ſich ausdrückt, auf weite Entfernung nur negativ
ſieht, weil ſie das Licht auffangen, das von der äußerſten
Grenze des Luftkreiſes zu uns gelangt, und wir ihr Daſein
nur gewahr werden, weil das Licht in der ſie umgebenden
Luft und das, welches die Luftteilchen zwiſchen dem Berge
und dem Auge des Beobachters fortpflanzen, von verſchiedener
Intenſität ſind. 1 Entfernt man ſich von der Inſel Tenerifa,
ſo bleibt der Piton oder Zuckerhut ziemlich lange poſitiv
ſichtbar, weil er weißes Licht reflektiert und ſich vom Himmel
hell abhebt; da aber dieſer Kegel nur 156 m hoch und an der
Spitze 78 m breit iſt, ſo hat man neuerdings die Frage auf-
geworfen, ob er bei ſo unbedeutender Maſſe auf weiter als
180 km ſichtbar ſein kann, und ob es nicht wahrſcheinlicher
iſt, daß man in See den Pik erſt dann als ein Wölkchen
über dem Horizont gewahr wird, wenn bereits die Baſis des
Piton heraufzurücken beginnt. Nimmt man die mittlere Breite
des Zuckerhutes zu 200 m an, ſo findet man, daß der kleine
Kegel in 180 km Entfernung in horizontaler Richtung noch
unter einem Winkel von mehr als drei Minuten erſcheint.
Dieſer Winkel iſt groß genug, um einen Gegenſtand ſichtbar
zu machen, und wenn der Piton beträchtlich höher wäre, als
an der Baſis breit, ſo dürfte der Winkel in horizontaler
Richtung noch kleiner ſein, und der Gegenſtand machte doch
noch einen Eindruck auf unſere Organe; aus mikrometriſchen
Beobachtungen geht hervor, daß eine Minute nur dann die
Grenze der Sichtbarkeit iſt, wenn die Gegenſtände nach allen
Richtungen von gleichem Durchmeſſer ſind. Man erkennt in
einer weiten Ebene einzelne Baumſtämme mit bloßem Auge,
obgleich der Sehwinkel nicht 25 Sekunden beträgt.
Da die Sichtbarkeit eines Gegenſtandes, der ſich dunkel-
farbig abhebt, von der Lichtmenge abhängt, die auf zwei Linien
zum Auge gelangt, deren eine am Berge endet, während die
[52] andere bis zur Grenze des Luftmeeres fortläuft, ſo folgt daraus,
daß, je weiter man vom Gegenſtande wegrückt, deſto kleiner
der Unterſchied wird zwiſchen dem Lichte der umgebenden Luft
und dem Lichte der vor dem Berge befindlichen Luftſchichten.
Daher kommt es, daß nicht ſehr hohe Berggipfel, wenn ſie
ſich über dem Horizont zu zeigen anfangen, anfangs dunkler
erſcheinen als Gipfel, die man auf ſehr große Entfernung
ſieht. Ebenſo hängt die Sichtbarkeit von Bergen, die man
nur negativ gewahr wird, nicht allein vom Zuſtande der unteren
Luftſchichten ab, auf die unſere meteorologiſchen Beobachtungen
beſchränkt ſind, ſondern auch von der Durchſichtigkeit und der
phyſiſchen Beſchaffenheit der höheren Regionen; denn das Bild
hebt ſich deſto beſſer ab, je ſtärker das Licht in der Luft, das
von den Grenzen der Atmoſphäre herkommt, urſprünglich iſt,
oder je weniger Verluſt es auf ſeinem Durchgange erlitten hat.
Dieſer Umſtand macht es bis zu einem gewiſſen Grade er-
klärlich, warum bei gleich heiterem Himmel, bei ganz gleichem
Thermometer- und Hygrometerſtand nahe an der Erdoberfläche,
der Pik auf Schiffen, die gleich weit davon entfernt ſind, das
eine Mal ſichtbar iſt, das andere Mal nicht. Wahrſcheinlich
würde man ſogar den Vulkan nicht häufiger ſehen können,
wenn die Höhe des Aſchenkegels, an deſſen Spitze ſich die
Krateröffnung befindet, ein Vierteil der ganzen Berghöhe wäre,
wie es beim Veſuv der Fall iſt. Die Aſche, zu Pulver
zerriebener Bimsſtein, wirft das Licht nicht ſo ſtark zurück
als der Schnee der Anden. Sie macht, daß der Berg bei
ſehr großem Abſtand ſich nicht hell, ſondern weit ſchwächer
dunkelfarbig abhebt. Sie trägt ſo zu ſagen dazu bei, die An-
teile des in der Luft verbreiteten Lichtes, deren veränderliche
Unterſchiede einen Gegenſtand mehr oder weniger deutlich ſicht-
bar machen, auszugleichen. Kahle Kalkgebirge, mit Granit-
ſand bedeckte Berggipfel, die hohen Savannen der Kordilleren, 1
die goldgelb ſind, treten allerdings in geringer Entfernung
deutlicher hervor als Gegenſtände, die man negativ ſieht; aber
nach der Theorie beſteht eine gewiſſe Grenze, jenſeits welcher
dieſe letzteren ſich beſtimmter vom Blau des Himmels abheben.
Bei den koloſſalen Berggipfeln von Quito und Peru, die
über die Grenze des ewigen Schnees hinausragen, wirken alle
[53] günſtigen Umſtände zuſammen, um ſie unter ſehr kleinen
Winkeln ſichtbar zu machen. Wir haben oben geſehen, daß
der abgeſtumpfte Gipfel des Piks von Tenerifa nur gegen
580 m Durchmeſſer hat. Nach den Meſſungen, die ich im
Jahre 1803 zu Riobamba angeſtellt, iſt die Kuppe des Chim-
borazo 298 m unter der Spitze, alſo an einer Stelle, die
2533 m höher liegt als der Pik, noch 1312 m breit. Ferner
nimmt die Zone des ewigen Schnees ein Vierteil der ganzen
Berghöhe ein, und die Baſis dieſer Zone iſt, von der Südſee
geſehen, 6700 m breit. Obgleich aber der Chimborazo um
zwei Drittel höher iſt als der Pik, ſieht man ihn doch wegen
der Krümmung der Erde nur 172,5 km weiter. Wenn er
im Hafen von Guayaquil am Ende der Regenzeit am Horizont
auftaucht, glänzt ſein Schnee ſo ſtark, daß man glauben ſollte,
er müßte ſehr weit in der Südſee ſichtbar ſein. Glaubwürdige
Schiffer haben mich verſichert, ſie haben ihn bei der Klippe
Muerto, ſüdweſtlich von der Inſel Puna, auf 211,5 km ge-
ſehen. So oft er noch weiter geſehen worden, ſind die An-
gaben unzuverläſſig, weil die Beobachter ihrer Länge nicht ge-
wiß waren.
Das in der Luft verbreitete Licht erhöht, indem es auf
die Berge fällt, die Sichtbarkeit derer, die poſitiv ſichtbar
ſind; die Stärke desſelben vermindert im Gegenteil die Sicht-
barkeit von Gegenſtänden, die, wie der Pik von Tenerifa und
der der Azoren, ſich dunkelfarbig abheben. Bouguer hat auf
theoretiſchem Wege gefunden, daß nach der Beſchaffenheit
unſerer Atmoſphäre Berge negativ nicht weiter als auf
157 km geſehen werden können. Die Erfahrung — und
dieſe Bemerkung iſt wichtig — widerſpricht dieſer Rechnung.
Der Pik von Tenerifa iſt häufig auf 162, 171, ſogar auf
180 km geſehen worden. Noch mehr, auf der Fahrt nach
den Sandwichinſeln hat man den Gipfel des Mauna-Roa 1
[54] und zwar zu einer Zeit, wo kein Schnee darauf lag, dicht am
Horizont auf 238 km geſehen. Dies iſt bis jetzt das auf-
fallendſte bekannte Beiſpiel von der Sichtbarkeit eines Berges,
und was noch merkwürdiger iſt, es handelt ſich dabei von
einem Gegenſtand, der nur negativ ſichtbar iſt.
Ich glaubte dieſe Bemerkungen am Ende dieſes Kapitels
zuſammenſtellen zu ſollen, weil ſie ſich auf eines der wichtig-
ſten Probleme der Optik beziehen, auf die Schwächung der
Lichtſtrahlen bei ihrem Durchgang durch die Schichten der
Luft, und zugleich nicht ohne praktiſchen Nutzen ſind. Die
Vulkane Tenerifas und der Azoren, die Sierra Nevada von
St. Martha, der Pik von Orizaba, die Silla bei Caracas,
Mauna-Roa und der St. Eliasberg liegen vereinzelt in weiten
Meeresſtrecken oder auf den Küſten der Kontinente, und dienen
ſo dem Seefahrer, der die Mittel nicht hat, um den Ort des
Schiffes durch Sternbeobachtungen zu beſtimmen, gleichſam als
Bojen im Fahrwaſſer. Alles, was mit der Erkennbarkeit
dieſer natürlichen Bojen zuſammenhängt, iſt für die Sicherheit
der Schiffahrt von Belang.
[[55]]
Zweites Kapitel.
Aufenthalt auf Tenerifa. — Reiſe von Santa Cruz nach Orotava. —
Beſteigung des Piks.
Von unſerer Abreiſe von Gracioſa an war der Horizont
fortwährend ſo dunſtig, daß trotz der anſehnlichen Höhe der
Berge Canarias (Isla de la gran Canaria) die Inſel erſt
am 19. abends in Sicht kam. Sie iſt die Kornkammer des Ar-
chipels der „glückſeligen Inſeln“, und man behauptet, was
für ein Land außerhalb der Tropen ſehr auffallend iſt, in
einigen Strichen erhalte man zwei Getreideernten im Jahre,
eine im Februar, die andere im Juni. Canaria iſt noch nie
von einem unterrichteten Mineralogen beſucht worden; ſie ver-
diente es aber um ſo mehr, als mir ihre in parallelen Ketten
ſtreichenden Berge von ganz anderem Charakter ſchienen als
die Gipfel von Lanzarote und Tenerifa. Nichts iſt für den
Geologen anziehender als die Beobachtung, wie ſich an einem
beſtimmten Punkte die vulkaniſchen Bildungen zu den Ur-
gebirgen und den ſekundären Gebirgen verhalten. Sind ein-
mal die Kanariſchen Inſeln in allen ihren Gebirgsgliedern er-
forſcht, ſo wird ſich zeigen, daß man zu voreilig die Bildung
der ganzen Gruppe einer Hebung durch unterſeeiſche Feuer-
ausbrüche zugeſchrieben hat.
Am 19. morgens ſahen wir den Berggipfel Naga (Punta
de Naga, Anaga oder Nago), aber der Pik von Tenerifa
blieb fortwährend unſichtbar. Das Land trat nur undeutlich
hervor, ein dicker Nebel verwiſchte alle Umriſſe. Als wir uns
der Reede von Santa Cruz näherten, bemerkten wir, daß der
Nebel, vom Winde getrieben, auf uns zukam. Das Meer war
ſehr unruhig, wie faſt immer in dieſen Strichen. Wir warfen
Anker, nachdem wir mehrmals das Senkblei ausgeworfen;
denn der Nebel war ſo dicht, daß man kaum auf ein paar
Kabellängen ſah. Aber eben da man anfing den Platz zu
[56] ſalutieren, zerſtreute ſich der Nebel völlig, und da erſchien der
Pik de Teyde in einem freien Stück Himmel über den Wolken,
und die erſten Strahlen der Sonne, die für uns noch nicht
aufgegangen war, beleuchteten den Gipfel des Vulkanes. Wir
eilten eben aufs Vorderteil der Korvette, um dieſes herrlichen
Schauſpieles zu genießen, da ſignaliſierte man vier engliſche
Schiffe, die ganz nahe an unſerem Hinterteile auf der Seite
lagen. Wir waren an ihnen vorbeigeſegelt, ohne daß ſie uns
bemerkt hatten, und derſelbe Nebel, der uns den Anblick des
Piks entzogen, hatte uns der Gefahr entrückt, nach Europa
zurückgebracht zu werden. Wohl wäre es für Naturforſcher
ein großer Schmerz geweſen, die Küſte von Tenerifa von
weitem geſehen zu haben, und einen von Vulkanen zerrütteten
Boden nicht betreten zu dürfen.
Alsbald hoben wir den Anker und der Pizarro näherte
ſich ſo viel möglich dem Fort, um unter den Schutz desſelben
zu kommen. Hier auf dieſer Reede, als zwei Jahre vor
unſerer Ankunft die Engländer zu landen verſuchten, riß eine
Kanonenkugel Admiral Nelſon den Arm ab (im Juli 1797).
Der Generalſtatthalter der Kanariſchen Inſeln 1 ſchickte an den
Kapitän der Korvette den Befehl, alsbald die Staatsdepeſchen
für die Statthalter der Kolonieen, das Geld an Bord und die
Poſt ans Land ſchaffen zu laſſen. Die engliſchen Schiffe ent-
fernten ſich von der Reede; ſie hatten tags zuvor auf das
Paketboot Alcadia Jagd gemacht, das wenige Tage vor uns
von Coruña abgegangen war. Es hatte in den Hafen von
Palmas auf Canaria einlaufen müſſen, und mehrere Paſſagiere,
die in einer Schaluppe nach Santa Cruz auf Tenerifa fuhren,
waren gefangen worden.
Die Lage dieſer Stadt hat große Aehnlichkeit mit der
von Guayra, dem beſuchteſten Hafen der Provinz Caracas.
An beiden Orten iſt die Hitze aus denſelben Urſachen ſehr
groß; aber von außen erſcheint Santa Cruz trübſeliger. Auf
einem öden, ſandigen Strande ſtehen blendend weiße Häuſer
mit platten Dächern und Fenſtern ohne Glas vor einer
ſchwarzen ſenkrechten Felsmauer ohne allen Pflanzenwuchs.
Ein hübſcher Hafendamm aus gehauenen Steinen und der
öffentliche, mit Pappeln beſetzte Spaziergang bringen die ein-
zige Abwechſelung in das eintönige Bild. Von Santa Cruz
aus nimmt ſich der Pik weit weniger maleriſch aus als im
[57] Hafen von Orotava. Dort ergreift der Gegenſatz zwiſchen
einer lachenden, reich bebauten Ebene und der wilden Phy-
ſiognomie des Vulkanes. Von den Palmen- und Bananen-
gruppen am Strande bis zu der Region der Arbutus, der Lor-
beeren und Pinien iſt das vulkaniſche Geſtein mit kräftigem
Pflanzenwuchs bedeckt. Man begreift, wie ſogar Völker, welche
unter dem ſchönen Himmel von Griechenland und Italien
wohnen, im öſtlichen Teil von Tenerifa eine der glückſeligen
Inſeln gefunden zu haben meinten. Die Oſtküſte dagegen,
an der Santa Cruz liegt, trägt überall den Stempel der Un-
fruchtbarkeit. Der Gipfel des Piks iſt nicht öder als das
Vorgebirge aus baſaltiſcher Lava, das der Punta de Naga
zuläuft, und wo Fettpflanzen in den Ritzen des Geſteines eben
erſt den Grund zu einſtiger Dammerde legen. Im Hafen von
Orotava erſcheint die Spitze des Zuckerhutes unter einem Winkel
von mehr als 16½°, während auf dem Hafendamm von Santa
Cruz der Winkel kaum 4° 36′ beträgt. 1
Trotz dieſem Unterſchied, und obgleich am letzteren Orte
der Vulkan kaum ſo weit über den Horizont aufſteigt als der
Veſuv, vom Molo von Neapel aus geſehen, ſo iſt dennoch der
Anblick des Piks, wenn man ihn vor Anker auf der Reede
zum erſtenmal ſieht, äußerſt großartig. Wir ſahen nur den
Zuckerhut; ſein Kegel hob ſich vom reinſten Himmelsblau ab,
während ſchwarze dicke Wolken den übrigen Berg bis auf
3500 m Höhe einhüllten. Der Bimsſtein, von den erſten
Sonnenſtrahlen beleuchtet, warf ein rötliches Licht zurück, dem
ähnlich, das häufig die Gipfel der Hochalpen färbt. Allmäh-
lich ging dieſer Schimmer in das blendendſte Weiß über, und
es ging uns wie den meiſten Reiſenden, wir meinten, der
Pik ſei noch mit Schnee bedeckt und wir werden nur mit
großer Mühe an den Rand des Kraters gelangen können.
Wir haben in der Kordillere der Anden die Beobachtung
gemacht, daß Kegelberge, wie der Cotopaxi und der Tungu-
ragua, ſich öfter unbewölkt zeigen als Berge, deren Krone mit
vielen kleinen Unebenheiten beſetzt iſt, wie der Antiſana und
der Pichincha; aber der Pic von Tenerifa iſt, trotz ſeiner
Kegelgeſtalt, einen großen Teil des Jahres in Dunſt gehüllt,
und zuweilen ſieht man ihn auf der Reede von Santa Cruz
mehrere Wochen lang nicht ein einziges Mal. Die Erſchei-
[58] nung erklärt ſich ohne Zweifel daraus, daß er weſtwärts von
einem großen Feſtlande und ganz iſoliert im Meere liegt. Die
Schiffer wiſſen recht gut, daß ſelbſt die kleinſten, niedrigſten
Eilande die Wolken anziehen und feſthalten. Ueberdies er-
folgt die Wärmeabnahme über den Ebenen Afrikas und über
der Meeresfläche in verſchiedenem Verhältnis, und die Luft-
ſchichten, welche die Paſſatwinde herführen, kühlen ſich immer
mehr ab, je weiter ſie gegen Weſt gelangen. Die Luft, die
über dem heißen Wüſtenſande ausnehmend trocken war,
ſchwängert ſich raſch, ſobald ſie mit der Meeresfläche oder mit
der Luft, die auf dieſer Fläche ruht, in Berührung kommt.
Man ſieht alſo leicht, warum die Dünſte in Luftſchichten ſicht-
bar werden, die, vom Feſtland weggeführt, nicht mehr die
Temperatur haben, bei der ſie ſich mit Waſſer geſättigt hatten.
Zudem hält die bedeutende Maſſe eines frei aus dem Atlanti-
ſchen Meere aufſteigenden Berges die Wolken auf, welche der
Wind der hohen See zutreibt.
Lange und mit Ungeduld warteten wir auf die Erlaub-
nis von ſeiten des Statthalters, ans Land gehen zu dürfen.
Ich nutzte die Zeit, um die Länge des Hafendammes von
Santa Cruz zu beſtimmen und die Inklination der Magnet-
nadel zu beobachten. Der Chronometer von Louis Berthoud
gab jene zu 18° 33′ 10″ an. Dieſe Beſtimmung weicht um
3 bis 4 Bogenminuten von derjenigen ab, die ſich aus den
alten Beobachtungen von Fleurieu, Pingré, Borda, Vancouver
und La Peyrouſe ergibt. Guenot hatte übrigens gleichfalls
18° 33′ 36″ gefunden und der unglückliche Kapitän Blight
18° 34′ 30″. Die Genauigkeit meines Ergebniſſes wurde
drei Jahre darauf bei der Expedition des Ritters Kruſenſtern
beſtätigt; man fand für Santa Cruz 16° 12′ 45″ weſtlich von
Greenwich, folglich 18° 33′ 0″ weſtlich von Paris. Dieſe
Angaben zeigen, daß die Längen, welche Kapitän Cook für
Tenerifa und das Kap der guten Hoffnung annahm, viel zu
weit weſtlich ſind. Derſelbe Seefahrer hatte im Jahre 1799
die magnetiſche Inklination gleich 61° 52′ gefunden. Bon-
pland und ich fanden 62° 24′, was mit dem Reſultat über-
einſtimmt, das de Roſſel bei d’Entrecaſteaux’ Expedition im
Jahre 1791 erhielt. Die Deklination der Nadel ſchwankt um
mehrere Grade, je nachdem man ſie auf dem Hafendamm oder
an verſchiedenen Punkten nordwärts längs des Geſtades beob-
achtet. Dieſe Schwankungen können an einem von vulkani-
ſchem Geſtein umgebenen Orte nicht befremden. Ich habe mit
[59] Gay-Luſſac die Beobachtung gemacht, daß am Abhange des
Veſuvs und im Inneren des Kraters die Intenſität der magne-
tiſchen Kraft durch die Nähe der Laven modifiziert wird.
Nachdem die Leute, die zu uns an Bord gekommen waren,
um ſich nach politiſchen Neuigkeiten zu erkundigen, uns mit
ihren vielerlei Fragen geplagt hatten, ſtiegen wir endlich ans
Land. Das Boot wurde ſogleich zur Korvette zurückgeſchickt,
weil die auf der Reede ſehr gefährliche Brandung es leicht
hätte am Hafendamm zertrümmern können. Das erſte, was
uns zu Geſicht kam, war ein hochgewachſenes, ſehr gebräuntes,
ſchlecht gekleidetes Frauenzimmer, das die Capitana hieß.
Hinter ihr kamen einige andere in nicht anſtändigerem Auf-
zug; ſie beſtürmten uns mit der Bitte, an Bord des Pizarro
gehen zu dürfen, was ihnen natürlich nicht bewilligt wurde.
In dieſem von Europäern ſo ſtark beſuchten Hafen iſt die
Ausſchweifung diszipliniert. Die Capitana iſt von ihresgleichen
als Anführerin gewählt, und ſie hat große Gewalt über ſie.
Sie läßt nichts geſchehen, was ſich mit dem Dienſt auf den
Schiffen nicht verträgt, ſie fordert die Matroſen auf, zur
rechten Zeit an Bord zurückzukehren, und die Offiziere wenden
ſich an ſie, wenn man fürchtet, daß ſich einer von der Mann-
ſchaft verſteckt habe, um auszureißen.
Als wir die Straßen von Santa Cruz betraten, kam es
uns zum Erſticken heiß vor, und doch ſtand der Thermometer
nur auf 25°. Wenn man lange Seeluft geatmet hat, fühlt
man ſich unbehaglich, ſo oft man ans Land geht, nicht weil
jene Luft mehr Sauerſtoff enthält als die Luft am Lande, wie
man irrtümlich behauptet hat, ſondern weil ſie weniger mit
den Gasgemiſchen geſchwängert iſt, welche die tieriſchen und
Pflanzenſtoffe und die Dammerde, die ſich aus ihrer Zerſetzung
bildet, fortwährend in den Luftkreis entbinden. Miasmen,
welche ſich der chemiſchen Analyſe entziehen, wirken gewaltig
auf unſere Organe, zumal wenn ſie nicht ſchon ſeit längerer
Zeit denſelben Reizen ausgeſetzt geweſen ſind.
Santa Cruz de Tenerifa, das Añaza der Guanchen, iſt
eine ziemlich hübſche Stadt mit 8000 Einwohnern. Mir
iſt die Menge von Mönchen und Weltgeiſtlichen, welche die
Reiſenden in allen Ländern unter ſpaniſchem Zepter ſehen zu
müſſen glauben, gar nicht aufgefallen. Ich halte mich auch
nicht damit auf, die Kirchen zu beſchreiben, die Bibliothek der
Dominikaner, die kaum ein paar hundert Bände zählt, den
Hafendamm, wo die Einwohnerſchaft abends zuſammenkommt,
[60] um der Kühle zu genießen, und das berühmte 10 m hohe
Denkmal aus karrariſchem Marmor, geweiht unſerer lieben
Frau von Candelaria, zum Gedächtnis ihrer wunderbaren Er-
ſcheinung zu Chimiſay bei Guimar im Jahre 1392. Der
Hafen von Santa Cruz iſt eigentlich ein großes Karawanſerai
auf dem Wege nach Amerika und Indien. Faſt alle Reiſe-
beſchreibungen beginnen mit einer Beſchreibung von Madeira
und Tenerifa, und wenn die Naturgeſchichte dieſer Inſeln der
Forſchung noch ein ungeheures Feld bietet, ſo läßt dagegen
die Topographie der kleinen Städte Funchal, Santa Cruz,
Laguna und Orotava faſt nichts zu wünſchen übrig.
Die Empfehlungen des Madrider Hofes verſchafften uns
auf den Kanarien, wie in allen anderen ſpaniſchen Beſitzungen,
die befriedigendſte Aufnahme. Vor allem erteilte uns der
Generalkapitän die Erlaubnis, die Inſel zu bereiſen. Der
Oberſt Armiaga, Befehlshaber eines Infanterieregiments, nahm
uns in ſeinem Hauſe auf und überhäufte uns mit Höflichkeit.
Wir wurden nicht müde, in ſeinem Garten im Freien ge-
zogene Gewächſe zu bewundern, die wir bis jetzt nur in Treib-
häuſern geſehen hatten, den Bananenbaum, den Melonenbaum,
die Poinciana pulcherrima und andere. Das Klima der
Kanarien iſt indeſſen nicht warm genug, um den echten
Platano arton mit dreieckiger, 186 bis 212 mm langer Frucht,
der eine mittlere Temperatur von etwa 24° verlangt und
ſelbſt nicht im Thale von Caracas fortkommt, reif werden zu
laſſen. Die Bananen auf Tenerifa ſind die, welche die ſpa-
niſchen Koloniſten Camburis oder Guineos und Domi-
nicos nennen. Der Camburi, der am wenigſten vom Froſt
leidet, wird ſogar in Malaga mit Erfolg gebaut; 1 aber die
Früchte, die man zuweilen zu Cadiz ſieht, kommen von den
Kanarien auf Schiffen, welche die Ueberfahrt in drei, vier
Tagen machen. Die Muſa, die allen Völkern der heißen
Zone bekannt iſt, und die man bis jetzt nirgends wild ge-
funden hat, variiert meiſt in ihren Früchten, wie unſere Apfel-
und Birnenbäume. Dieſe Varietäten, welche die meiſten Bo-
taniker verwechſeln, obgleich ſie ſehr verſchiedene Klimate
verlangen, ſind durch lange Kultur konſtant geworden.
Am Abend machten wir eine botaniſche Exkurſion nach
dem Fort Paſo Alto längs der Baſaltfelſen, welche das Vor-
gebirge Naga bilden. Wir waren mit unſerer Ausbeute ſehr
[61] ſchlecht zufrieden, denn die Trockenheit und der Staub hatten
die Vegetation ſo ziemlich vernichtet. Cacalia Kleinia, Eu-
phorbia canariensis und verſchiedene andere Fettpflanzen,
welche ihre Nahrung vielmehr aus der Luft als aus dem
Boden ziehen, auf dem ſie wachſen mahnten uns durch ihren
Habitus daran, daß dieſe Inſeln Afrika angehören, und zwar
dem dürrſten Striche dieſes Feſtlandes.
Der Kapitän der Korvette hatte zwar Befehl, ſo lange
zu verweilen, daß wir die Spitze des Piks beſteigen könnten,
wenn anders der Schnee es geſtattete; man gab uns aber zu
erkennen, wegen der Blockade der engliſchen Schiffe dürften
wir nur auf einen Aufenthalt von vier, fünf Tagen rechnen.
Wir eilten demnach, in den Hafen von Orotava zu kommen,
der am Weſtabhang des Vulkanes liegt, und wo wir Führer
finden ſollten. In Santa Cruz konnte ich niemand auf-
finden, der den Pik beſtiegen gehabt hätte, und ich wunderte
mich nicht darüber. Die merkwürdigſten Dinge haben deſto
weniger Reiz für uns, je näher ſie uns ſind, und ich kannte
Schaffhauſer, welche den Rheinfall niemals in der Nähe ge-
ſehen hatten.
Am 20. Juni vor Sonnenaufgang machten wir uns auf
den Weg nach Villa de la Laguna, die 682 m über dem
Hafen von Santa Cruz liegt. Wir konnten dieſe Höhen-
angabe nicht verifizieren, denn wegen der Brandung hatten
wir in der Nacht nicht an Bord gehen können, um Barometer
und Inklinationskompaß zu holen. Da wir vorausſahen, daß
wir bei unſerer Beſteigung des Piks ſehr würden eilen müſſen,
ſo war es uns ganz lieb, daß wir Inſtrumente, die uns in
unbekannteren Ländern dienen ſollten, hier keiner Gefahr aus-
ſetzen konnten. Der Weg nach Laguna hinauf läuft an der
rechten Seite eines Baches oder Barranco hin, der in der
Regenzeit ſchöne Fälle bildet; er iſt ſchmal und vielfach ge-
wunden. Nach meiner Rückkehr habe ich gehört, Herr von
Perlasca habe hier eine neue Straße anlegen laſſen, auf der
Wagen fahren können. Bei der Stadt begegneten uns weiße
Kamele, die ſehr leicht beladen ſchienen. Dieſe Tiere werden
vorzugsweiſe dazu gebraucht, die Waren von der Douane in
die Magazine der Kaufleute zu ſchaffen. Man ladet ihnen
gewöhnlich zwei Kiſten mit Havanazucker auf, die zuſammen
450 kg wiegen, man kann aber die Ladung bis auf 13 Zentner
oder 52 kaſtiliſche Arrobas ſteigern. Auf Tenerifa ſind die
Kamele nicht ſehr häufig, während ihrer auf Lanzarote und
[62] Fuerteventura viele Tauſende ſind. Dieſe Inſeln liegen Afrika
näher und kommen daher auch in Klima und Vegetation mehr
mit dieſem Kontinent überein. Es iſt ſehr auffallend, daß
dieſes nützliche Tier, das ſich in Südamerika fortpflanzt, dies
auf Tenerifa faſt nie thut. Nur im fruchtbaren Diſtrikt von
Adexe, wo die bedeutendſten Zuckerrohrpflanzungen ſind, hat
man die Kamele zuweilen Junge werfen ſehen. Dieſe
Laſttiere, wie die Pferde, ſind im 15. Jahrhundert durch
die normänniſchen Eroberer auf den Kanarien eingeführt
worden. Die Guanchen kannten ſie nicht, und dies erklärt
ſich wohl leicht daraus, daß ein ſo gewaltiges Tier ſchwer auf
ſchwachen Fahrzeugen zu transportieren iſt, ohne daß man die
Guanchen als die Ueberreſte der Bevölkerung der Atlantis zu
betrachten und zu glauben braucht, ſie gehören einer anderen
Raſſe an als die Weſtafrikaner.
Der Hügel, auf dem die Stadt San Chriſtobal de la
Laguna liegt, gehört dem Syſtem von Baſaltgebirgen an, die,
unabhängig vom Syſtem neuerer vulkaniſcher Gebirgsarten,
einen weiten Gürtel um den Pik von Tenerifa bilden. Der
Baſalt von Laguna iſt nicht ſäulenförmig, ſondern zeigt nicht
ſehr dicke Schichten, die nach Oſt unter einem Winkel von 30
bis 40° fallen. Nirgends hat er das Anſehen eines Lava-
ſtromes, der an den Abhängen der Piks ausgebrochen wäre.
Hat der gegenwärtige Vulkan dieſe Baſalte hervorgebracht, ſo
muß man annehmen, wie bei den Geſteinen, aus denen die
Somma neben dem Veſuv beſteht, daß ſie infolge eines unter-
ſeeiſchen Ausbruches gebildet ſind, wobei die weiche Maſſe wirk-
lich geſchichtet wurde. Außer einigen baumartigen Euphorbien,
Cacalia Kleinia und Fackeldiſteln (Kaktus), welche auf den
Kanarien, wie im ſüdlichen Europa und auf dem afrikaniſchen
Feſtlande verwildert ſind, wächſt nichts auf dieſem dürren Ge-
ſtein. Unſere Maultiere glitten jeden Augenblick auf ſtark ge-
neigten Steinlagern aus. Indeſſen ſahen wir die Ueberreſte
eines alten Pflaſters. Bei jedem Schritt ſtößt man in den
Kolonieen auf Spuren der Thatkraft, welche die ſpaniſche
Nation im 16. Jahrhundert entwickelt hat.
Je näher wir Laguna kamen, deſto kühler wurde die Luft,
und dies thut um ſo wohler, da es in Santa Cruz zum Er-
ſticken heiß iſt. Da widrige Eindrücke unſere Organe ſtärker
angreifen, ſo iſt der Temperaturwechſel auf dem Rückweg von
Laguna zum Hafen noch auffallender; man meint, man nähere
ſich der Mündung eines Schmelzofens. Man hat dieſelbe
[63] Empfindung, wenn man an der Küſte von Caracas vom Berge
Avila zum Hafen von Guayra niederſteigt. Nach dem Geſetz
der Wärmeabnahme machen in dieſer Breite 682 m Höhe nur
3 bis 4° Temperaturunterſchied. Die Hitze, welche dem
Reiſenden ſo läſtig wird, wenn er Santa Cruz de Tenerifa
oder Guayra betritt, iſt daher wohl dem Rückprallen der
Wärme von den Felſen zuzuſchreiben, an welche beide Städte
ſich lehnen.
Die fortwährende Kühle, die in Laguna herrſcht, macht
die Stadt für die Kanarier zu einem köſtlichen Aufenthalts-
orte. Auf einer kleinen Ebene, umgeben von Gärten, am
Fuße eines Hügels, den Lorbeeren, Myrten und Erdbeerbäume
krönen, iſt die Hauptſtadt von Tenerifa wirklich ungemein
freundlich gelegen. Sie liegt keineswegs, wie man nach meh-
reren Reiſeberichten glauben ſollte, an einem See. Das Regen-
waſſer bildet hier periodiſch einen weiten Sumpf, und der
Geolog, der überall in der Natur vielmehr einen früheren
Zuſtand der Dinge als den gegenwärtigen im Auge hat,
zweifelt nicht daran, daß die ganze Ebene ein großes aus-
getrocknetes Becken iſt. Laguna iſt in ſeinem Wohlſtand herab-
gekommen, ſeit die Seitenausbrüche des Vulkanes den Hafen
von Garachico zerſtört haben und Santa Cruz der Haupt-
handelsplatz der Inſeln geworden iſt; es zählt nur noch
9000 Einwohner, worunter gegen 400 Mönche in ſechs Klöſtern.
Manche Reiſende behaupten, die Hälfte der Bevölkerung be-
ſtehe aus Kuttenträgern. Die Stadt iſt mit zahlreichen Wind-
mühlen umgeben, ein Wahrzeichen des Getreidebaus in dieſem
hochgelegenen Striche. Ich bemerke bei dieſer Gelegenheit,
daß die nährenden Grasarten den Guanchen bekannt waren.
Das Korn hieß auf Tenerifa tano, auf Lanzarote triffa; die
Gerſte hieß auf Kanaria aramotanoque, auf Lanzarote ta-
mosen. Geröſtetes Gerſtenmehl (gofio) und Ziegenmilch waren
die vornehmſten Nahrungsmittel dieſes Volkes, über deſſen Ur-
ſprung ſo viele ſyſtematiſche Träumereien ausgeheckt worden
ſind. Dieſe Nahrung weiſt beſtimmt darauf hin, daß die
Guanchen zu den Völkern der Alten Welt gehörten, wohl ſelbſt
zur kaukaſiſchen Raſſe, und nicht, wie die anderen Atlanten, 1 zu
[64] den Volksſtämmen der Neuen Welt; die letzteren kannten vor der
Ankunft der Europäer weder Getreide, noch Milch, noch Käſe.
Eine Menge Kapellen, von den Spaniern ermitas ge-
nannt, liegen um die Stadt Laguna. Umgeben von immer-
grünen Bäumen auf kleinen Anhöhen, erhöhen dieſe Kapellen,
wie überall, den maleriſchen Reiz der Landſchaft. Das Innere
der Stadt entſpricht dem Aeußeren durchaus nicht. Die
Häuſer ſind ſolid gebaut, aber ſehr alt, und die Straßen öde.
Der Botaniker hat übrigens nicht zu bedauern, daß die Häuſer
ſo alt ſind. Dächer und Mauern ſind bedeckt mit Semper-
vivum canariense und dem zierlichen Trichomanes, deſſen
alle Reiſende gedenken; die häufigen Nebel geben dieſen Ge-
wächſen Unterhalt.
Anderſon, der Naturforſcher bei Kapitän Cooks dritter
Reiſe, gibt den europäiſchen Aerzten den Rat, ihre Kranken
nach Tenerifa zu ſchicken, keineswegs aus der Rückſicht, welche
manche Heilkünſtler die entlegenſten Bäder wählen läßt,
ſondern wegen der ungemeinen Milde und Gleichmäßigkeit des
Klimas der Kanarien. Der Boden der Inſeln ſteigt amphi-
theatraliſch auf und zeigt, gleich Peru und Mexiko, wenn auch
in kleinerem Maßſtab, alle Klimate, von afrikaniſcher Hitze bis
zum Froſte der Hochalpen. Santa Cruz, der Hafen von
Orotava, die Stadt desſelben Namens und Laguna ſind vier
Orte, deren mittlere Temperaturen eine abnehmende Reihe dar-
ſtellen. Das ſüdliche Europa bietet nicht dieſelben Vorteile,
weil der Wechſel der Jahreszeiten ſich noch zu ſtark fühlbar
macht. Tenerifa dagegen, gleichſam an der Pforte der Tropen
und doch nur wenige Tagereiſen von Spanien, hat ſchon ein
gut Teil der Herrlichkeit aufzuweiſen, mit der die Natur die
Länder zwiſchen den Wendekreiſen ausgeſtattet. Im Pflanzen-
reich treten bereits mehrere der ſchönſten und großartigſten
Geſtalten auf, die Bananen und die Palmen. Wer Sinn für
Naturſchönheit hat, findet auf dieſer köſtlichen Inſel noch kräf-
tigere Heilmittel als das Klima. Kein Ort der Welt ſcheint
mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und einem ſchmerz-
lich ergriffenen Gemüte den Frieden wiederzugeben, als
Tenerifa und Madeira. Und ſolches wirkt nicht allein die
herrliche Lage und die reine Luft, ſondern vor allem das
Nichtvorhandenſein der Sklaverei, deren Anblick einen in
beiden Indien ſo tief empört, wie überall, wohin europäiſche
Koloniſten ihre ſogenannte Aufklärung und ihre Induſtrie ge-
tragen haben.
[65]
Im Winter iſt das Klima von Laguna ſehr neblig und
die Einwohner beklagen ſich häufig über Froſt. Man hat in-
deſſen nie ſchneien ſehen, woraus man ſchließen ſollte, daß die
mittlere Temperatur der Stadt über 18,7° (15° R.) beträgt,
das heißt mehr als in Neapel. Für ſtreng kann dieſer Schluß
nicht gelten; denn im Winter hängt die Erkältung der Wolken
weniger von der mittleren Temperatur des ganzen Jahres ab
als vielmehr von der augenblicklichen Erniedrigung der Wärme,
der ein Ort vermöge ſeiner beſonderen Lage ausgeſetzt iſt.
Die mittlere Temperatur der Hauptſtadt von Mexiko iſt z. B.
nur 16,8° (13,5° R.), und doch hat man in hundert Jahren
nur ein einziges Mal ſchneien ſehen, während es im ſüdlichen
Europa und in Afrika noch an Orten ſchneit, die über 19°
mittlere Temperatur haben.
Wegen der Nähe des Meeres iſt das Klima von Laguna
im Winter milder, als es nach der Meereshöhe ſein ſollte.
Herr Brouſſonet hat ſogar, wie ich mit Verwunderung hörte,
mitten in der Stadt, im Garten des Marquis von Nava,
Brotfruchtbäume (Artocarpus incisa) und Zimtbäume
(Laurus cinnamomum) angepflanzt. Dieſe köſtlichen Ge-
wächſe der Südſee und Oſtindiens wurden hier einheimiſch,
wie auch in Orotava. Sollte dieſer Verſuch nicht beweiſen,
daß der Brotfruchtbaum in Kalabrien, auf Sizilien und in
Granada fortkäme? Der Anbau des Kaffeebaumes iſt in La-
guna nicht in gleichem Maße gelungen, wenn auch die Früchte
bei Tegueſte und zwiſchen dem Hafen von Orotava und dem
Dorfe San Juan de la Rambla reif werden. Wahrſcheinlich
ſind örtliche Verhältniſſe, vielleicht die Beſchaffenheit des
Bodens und die Winde, die in der Blütezeit wehen, daran
ſchuld. In anderen Ländern, z. B. bei Neapel, trägt der
Kaffeebaum ziemlich reichlich Früchte, obgleich die mittlere Tem-
peratur kaum über 18° der hundertteiligen Skale beträgt.
Auf Tenerifa iſt die mittlere Höhe, in der jährlich Schnee
fällt, noch niemals beſtimmt worden. Solches iſt mittels
barometriſcher Meſſung leicht auszuführen, es iſt aber bis jetzt
faſt in allen Erdſtrichen verſäumt worden; und doch iſt dieſe
Beſtimmung von großem Belang für den Ackerbau in den
Kolonieen und für die Meteorologie, und ganz ſo wichtig als
das Höhenmaß der unteren Grenze des ewigen Schnees. Ich
ſtelle die Ergebniſſe meiner betreffenden Beobachtungen in
folgender Ueberſicht zuſammen.
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 5
[66]
Dieſe Tafel gibt nur das Durchſchnittsverhältnis, das
heißt die Erſcheinungen, wie ſie ſich im ganzen Jahre zeigen.
Beſondere Lokalitäten können Ausnahmen herbeiführen. So
ſchneit es zuweilen, wenn auch ſehr ſelten, in Neapel, Liſſa-
bon, ſogar in Malaga, alſo noch unter dem 37. Grad der
Breite, und wie ſchon bemerkt, hat man Schnee in der Stadt
Mexiko fallen ſehen, die 2286 m über dem Meere liegt. Dies
war ſeit mehreren Jahrhunderten nicht vorgekommen, und das
Ereignis trat gerade am Tage ein, da die Jeſuiten vertrieben
wurden, und wurde daher vom Volke natürlich dieſer Gewalt-
maßregel zugeſchrieben. Noch ein auffallenderes Beiſpiel bietet
das Klima von Valladolid, der Hauptſtadt der Provinz
Michoacan. Nach meinen Meſſungen liegt dieſe Stadt unter
19° 42′ der Breite nur 1950 m hoch; dennoch waren daſelbſt
wenige Jahre vor unſerer Ankunft in Neuſpanien die Straßen
mehrere Stunden lang mit Schnee bedeckt.
Auch auf Tenerifa hat man an einem Orte über Eſperanza
de la Laguna, dicht bei der Stadt dieſes Namens, in deren
Gärten Brotbäume wachſen, ſchneien ſehen. Dieſer außer-
ordentliche Fall wurde Brouſſonet von ſehr alten Leuten er-
zählt. Die Erica arborea, die Mirica Faya und Arbutus
callycarpa litten nicht durch den Schnee; aber alle Schweine,
die im Freien waren, kamen dadurch um. Dieſe Beobachtung
iſt für die Pflanzenphyſiologie von Wichtigkeit. In heißen
Ländern ſind die Gewächſe ſo kräftig, daß ihnen der Froſt
weniger ſchadet, wenn er nur nicht lange anhält. Ich habe
auf der Inſel Cuba den Bananenbaum an Orten angebaut
geſehen, wo der hundertteilige Thermometer auf 7°, ja zu-
weilen faſt auf den Gefrierpunkt fällt. In Italien und
[67] Spanien gehen Orangen- und Dattelbäume nicht zu Grunde,
wenn es auch bei Nacht zwei Grad Kälte hat. Im allge-
meinen macht man beim Garten- und Landbau die Bemerkung,
daß Pflanzen in fruchtbarem Boden weniger zärtlich und ſo-
mit auch für ungewöhnlich niedrige Temperaturgrade weniger
empfindlich ſind, als ſolche, die in einem Erdreich wachſen,
das ihnen nur wenig Nahrungsſäfte bietet. 1
Zwiſchen der Stadt Laguna und dem Hafen von Oro-
tava und der Weſtküſte von Tenerifa kommt man zuerſt durch
ein hügeliges Land mit ſchwarzer thoniger Dammerde, in der
man hin und wieder kleine Augitkriſtalle findet. Wahrſchein-
lich reißt das Waſſer dieſe Kriſtalle vom anſtehenden Geſtein
ab, wie zu Frascati bei Rom. Leider entziehen eiſenhaltige
Flözſchichten den Boden der geologiſchen Unterſuchung. Nur
in einigen Schluchten kommen ſäulenförmige, etwas gebogene
Baſalte zu Tag, und darüber ſehr neue, den vulkaniſchen
Tuffen ähnliche Mengſteine. In denſelben ſind Bruchſtücke
des unterliegenden Baſaltes eingeſchloſſen, und wie verſichert
wird, finden ſich Verſteinerungen von Seetieren darin; ganz
dasſelbe kommt im Vicentiniſchen bei Montechio maggiore vor.
Wenn man ins Thal von Tacoronte hinabkommt, betritt
man das herrliche Land, von dem die Reiſenden aller Nationen
mit Begeiſterung ſprechen. Ich habe im heißen Erdgürtel
Landſchaften geſehen, wo die Natur großartiger iſt, reicher in
der Entwickelung organiſcher Formen; aber nachdem ich die
Ufer des Orinoko, die Kordilleren von Peru und die ſchönen
Thäler von Mexiko durchwandert, muß ich geſtehen, nirgends
ein ſo mannigfaltiges, ſo anziehendes, durch die Verteilung
von Grün und Felsmaſſen ſo harmoniſches Gemälde vor mir
gehabt zu haben.
Das Meeresufer ſchmücken Dattelpalmen und Kokosnuß-
bäume; weiter oben ſtechen Bananengebüſche von Drachen-
bäumen ab, deren Stamm man ganz richtig mit einem Schlan-
genleib vergleicht. Die Abhänge ſind mit Reben bepflanzt,
[68] die ſich um ſehr hohe Spaliere ranken. Mit Blüten bedeckte
Orangenbäume, Myrten und Cypreſſen umgeben Kapellen,
welche die Andacht auf freiſtehenden Hügeln errichtet hat.
Ueberall ſind die Grundſtücke durch Hecken von Agave und
Kaktus eingefriedigt. Unzählige kryptogamiſche Gewächſe, zumal
Farne, bekleiden die Mauern, die von kleinen klaren Waſſer-
quellen feucht erhalten werden. Im Winter, während der
Vulkan mit Eis und Schnee bedeckt iſt, genießt man in dieſem
Landſtrich eines ewigen Frühlings. Sommers, wenn der Tag
ſich neigt, bringt der Seewind angenehme Kühlung. Die Be-
völkerung der Küſte iſt hier ſehr ſtark; ſie erſcheint noch größer,
weil Häuſer und Gärten zerſtreut liegen, was den Reiz der
Landſchaft noch erhöht. Leider ſteht der Wohlſtand der Be-
wohner weder mit ihrem Fleiße, noch mit der Fülle der Natur
im Verhältnis. Die das Land bauen, ſind meiſt nicht Eigen-
tümer desſelben; die Frucht ihrer Arbeit gehört dem Adel,
und das Lehnsſyſtem, das ſo lange ganz Europa unglücklich
gemacht hat, läßt noch heute das Volk der Kanarien zu keiner
Blüte gelangen.
Von Tegueſte und Tacoronte bis zum Dorfe San Juan
de la Rambla, berühmt durch ſeinen trefflichen Malvaſier, iſt
die Küſte wie ein Garten angebaut. Ich möchte ſie mit der
Umgegend von Capua oder Valencia vergleichen, nur iſt die
Weſtſeite von Tenerifa unendlich ſchöner wegen der Nähe des
Piks, der bei jedem Schritt wieder eine andere Anſicht bietet.
Der Anblick dieſes Berges iſt nicht allein wegen ſeiner impo-
ſanten Maſſe anziehend; er beſchäftigt lebhaft den Geiſt und
läßt uns den geheimnisvollen Quellen der vulkaniſchen Kräfte
nachdenken. Seit Tauſenden von Jahren iſt kein Lichtſchimmer
auf der Spitze des Piton geſehen worden, aber ungeheure
Seitenausbrüche, deren letzter im Jahre 1798 erfolgte, beweiſen
die fortwährende Thätigkeit eines nicht erlöſchenden Feuers.
Der Anblick eines Feuerſchlundes mitten in einem fruchtbaren
Lande mit reichem Anbau hat indeſſen etwas Niederſchlagen-
des. Die Geſchichte des Erdballes lehrt uns, daß die Vulkane
wieder zerſtören, was ſie in einer langen Reihe von Jahr-
hunderten aufgebaut. Inſeln, welche die unterirdiſchen Feuer
über die Fluten emporgehoben, ſchmücken ſich allmählich mit
reichem, lachendem Grün; aber gar oft werden dieſe neuen
Länder durch dieſelben Kräfte zerſtört, durch die ſie vom Boden
des Ozeans über ſeine Fläche gelangt ſind. Vielleicht waren
Eilande, die jetzt nichts ſind als Schlacken- und Aſchenhaufen,
[69] einſt ſo fruchtbar als die Gelände von Tacoronte und Sauzal.
Wohl den Ländern, wo der Menſch dem Boden, auf dem er
wohnt, nicht mißtrauen darf!
Auf unſerem Wege zum Hafen von Orotava kamen wir
durch die hübſchen Dörfer Matanza und Victoria. Dieſe
beiden Namen findet man in allen ſpaniſchen Kolonieen neben-
einander; ſie machen einen widrigen Eindruck in einem Lande,
wo alles Ruhe und Frieden atmet. Matanza bedeutet
Schlachtbank, Blutbad, und ſchon das Wort deutet an, um
welchen Preis der Sieg erkauft worden. In der Neuen Welt
weiſt er gewöhnlich auf eine Niederlage der Eingeborenen hin;
auf Tenerifa bezeichnet das Wort Matanza den Ort, wo die
Spanier von denſelben Guanchen geſchlagen wurden, die man
bald darauf auf den ſpaniſchen Märkten als Sklaven verkaufte.
Ehe wir nach Orotava kamen, beſuchten wir den bota-
niſchen Garten nicht weit vom Hafen. Wir trafen da den
franzöſiſchen Vizekonſul Legros, der oft auf der Spitze des
Piks geweſen war und an dem wir einen vortrefflichen Führer
fanden. Er hatte mit Kapitän Baudin eine Fahrt nach den
Antillen gemacht, durch die der Pariſer Pflanzengarten an-
ſehnlich bereichert worden iſt. Ein furchbarer Sturm, den
Ledru in ſeiner Reiſe nach Puertorico beſchreibt, zwang das
Fahrzeug, bei Tenerifa anzulegen, und das herrliche Klima der
Inſel brachte Legros zum Entſchluß, ſich hier niederzulaſſen.
Ihm verdankt die gelehrte Welt Europas die erſten genauen
Nachrichten über den großen Seitenausbruch des Piks, den
man ſehr uneigentlich den Ausbruch des Vulkanes von Cha-
horra nennt. 1
Die Anlage eines botaniſchen Gartens auf Tenerifa iſt
ein ſehr glücklicher Gedanke, da derſelbe ſowohl für die wiſſen-
ſchaftliche Botanik als für die Einführung nützlicher Gewächſe
in Europa ſehr förderlich werden kann. Die erſte Idee eines
ſolchen verdankt man dem Marquis von Nava (Marquis von
Villanueva del Prado), einem Manne, der Poivre an die Seite
geſtellt zu werden verdient und im Triebe, das Gute zu för-
dern, von ſeinem Vermögen den edelſten Gebrauch gemacht
hat. Mit ungeheuren Koſten ließ er den Hügel von Durasno,
der amphitheatraliſch aufſteigt, abheben, und im Jahre 1795
machte man mit den Anpflanzungen den Anfang. Nava war
der Anſicht, daß die Kanarien, vermöge des milden Klimas
[70] und der geographiſchen Lage, der geeignetſte Punkt ſeien, um
die Naturprodukte beider Indien zu akklimatiſieren, um die
Gewächſe aufzunehmen, die ſich allmählich an die niedrigere
Temperatur des ſüdlichen Europas gewöhnen ſollen. Aſiatiſche,
afrikaniſche, ſüdamerikaniſche Pflanzen gelangen leicht in den
Garten bei Orotava, und um den Chinabaum 1 in Sizilien,
Portugal oder Granada einzuführen, müßte man ihn zuerſt in
Durasno oder Laguna anbauen und dann erſt die Schößlinge
der kanariſchen China nach Europa verpflanzen. In beſſeren
Zeiten, wo kein Seekrieg mehr den Verkehr in Feſſeln ſchlägt,
kann der Garten von Tenerifa auch für die ſtarken Pflanzen-
ſendungen aus Indien nach Europa von Bedeutung werden.
Dieſe Gewächſe gehen häufig, ehe ſie unſere Küſten erreichen,
zu Grunde, weil ſie auf der langen Ueberfahrt eine mit Salz-
waſſer geſchwängerte Luft atmen müſſen. Im Garten von
Orotava fänden ſie eine Pflege und ein Klima, wobei ſie ſich
erholen könnten. Da die Unterhaltung des botaniſchen Gartens
von Jahr zu Jahr koſtſpieliger wurde, trat der Marquis den-
ſelben der Regierung ab. Wir fanden daſelbſt einen geſchickten
Gärtner, einen Schüler Aitons, des Vorſtehers des königlichen
Gartens zu Kew. Der Boden ſteigt in Terraſſen auf und
wird von einer natürlichen Quelle bewäſſert. Man hat die
Ausſicht auf die Inſel Palma, die wie ein Kaſtell aus dem
Meere emporſteigt. Wir fanden aber nicht viele Pflanzen
hier; man hatte, wo Gattungen fehlten, Etiketten aufgeſteckt,
mit Namen, die aufs Geratewohl aus Linnés Systema vegeta-
bilium genommen ſchienen. Dieſe Anordnung der Gewächſe
nach den Klaſſen des Sexualſyſtems, die man leider auch in
manchen europäiſchen Gärten findet, iſt dem Anbau ſehr hin-
derlich. In Durasno wachſen Proteen, der Gujavabaum, der
Jambuſenbaum, die Chirimoya aus Peru, 2 Mimoſen und
Helikonien im Freien. Wir pflückten reife Samen von meh-
reren ſchönen Glycinearten aus Neuholland, welche der Gou-
verneur von Cumana, Emparan, mit Erfolg angepflanzt hat
[71] und die ſeitdem auf den ſüdamerikaniſchen Küſten wild ge-
worden ſind.
Wir kamen ſehr ſpät in den Hafen von Orotava, 1 wenn
man anders dieſen Namen einer Reede geben kann, auf der
die Fahrzeuge unter Segel gehen müſſen, wenn der Wind
ſtark aus Nordweſt bläſt. Man kann nicht von Orotava
ſprechen, ohne die Freunde der Wiſſenſchaft an Cologan zu
erinnern, deſſen Haus von jeher den Reiſenden aller Nationen
offen ſtand. Mehrere Glieder dieſer achtungswerten Familie
ſind in London und Paris erzogen worden. Don Bernardo
Cologan iſt bei gründlichen, mannigfaltigen Kenntniſſen der
feurigſte Patriot. Man iſt freudig überraſcht, auf einer Inſel-
gruppe an der Küſte von Afrika der liebenswürdigen Geſellig-
keit, der edlen Wißbegierde, dem Kunſtſinn zu begegnen, die
man ausſchließlich in einem kleinen Teile von Europa zu
Hauſe glaubt.
Gern hätten wir einige Zeit in Cologans Hauſe ver-
weilt und mit ihm in der Umgegend von Orotava die herr-
lichen Punkte San Juan de la Rambla und Rialexo de Abaxo
beſucht. Aber auf einer Reiſe wie die, welche ich angetreten,
kommt man ſelten dazu, der Gegenwart zu genießen. Die
quälende Beſorgnis, nicht ausführen zu können, was man den
anderen Tag vorhat, erhält einen in beſtändiger Unruhe. Lei-
denſchaftliche Natur- und Kunſtfreunde ſind auf der Reiſe durch
die Schweiz oder Italien in ganz ähnlicher Gemütsverfaſſung;
da ſie die Gegenſtände, die Intereſſe für ſie haben, immer
nur zum kleinſten Teil ſehen können, ſo wird ihnen der Ge-
nuß durch die Opfer verbittert, die ſie auf jedem Schritt zu
bringen haben.
Bereits am 21. morgens waren wir auf dem Wege nach
dem Gipfel des Vulkanes. Legros, deſſen zuvorkommende Ge-
fälligkeit wir nicht genug loben können, der Sekretär des
franzöſiſchen Konſulats zu Santa Cruz und der engliſche
Gärtner von Durasno teilten mit uns die Beſchwerden der
Reiſe. Der Tag war nicht ſehr ſchön, und der Gipfel des
Piks, den man in Orotava faſt immer ſieht, von Sonnenauf-
gang bis zehn Uhr in dicke Wolken gehüllt. Ein einziger
Weg führt auf den Vulkan durch Villa de Orotava, die Ginſter-
ebene und das Malpays, derſelbe, den Pater Feullée, Borda,
[72] Labillardière, Barrow eingeſchlagen, und überhaupt alle Rei-
ſenden, die ſich nur kurze Zeit in Tenerifa aufhalten konnten.
Wenn man den Pik beſteigt, iſt es gerade, wie wenn man
das Chamounithal oder den Aetna beſucht: man muß ſeinen
Führern nachgehen und man bekommt nur zu ſehen, was ſchon
andere Reiſende geſehen und beſchrieben haben.
Der Kontraſt zwiſchen der Vegetation in dieſem Striche
von Tenerifa und der in der Umgegend von Santa Cruz
überraſchte uns angenehm. Beim kühlen, feuchten Klima war
der Boden mit ſchönem Grün bedeckt, während auf dem Wege
von Santa Cruz nach Laguna die Pflanzen nichts als Hülſen
hatten, aus denen bereits der Samen gefallen war. Beim
Hafen von Orotava wird der kräftige Pflanzenwuchs den
geologiſchen Beobachtungen hinderlich. Wir kamen an zwei
kleinen glockenförmigen Hügeln vorüber. Beobachtungen am
Veſuv und in der Auvergne weiſen darauf hin, daß dergleichen
runde Erhöhungen von Seitenausbrüchen des großen Vulkanes
herrühren. Der Hügel Montanita de la Villa ſcheint wirk-
lich einmal Lava ausgeworfen zu haben; nach den Ueber-
lieferungen der Guanchen fand dieſer Ausbruch im Jahre 1430
ſtatt. Der Oberſt Franqui verſicherte Borda, man ſehe noch
deutlich, wo die geſchmolzenen Stoffe hervorgequollen, und
die Aſche, die den Boden ringsum bedecke, ſei noch nicht
fruchtbar. 1 Ueberall, wo das Geſtein zu Tage ausgeht, fan-
den wir baſaltartigen Mandelſtein (Werner) und Bimsſtein-
konglomerat, in dem Rapilli oder Bruchſtücke von Bimsſtein
eingeſchloſſen ſind. Letztere Formation hat Aehnlichkeit mit
dem Tuff von Pauſilipp und mit den Puzzolanſchichten, die
ich im Thale von Quito, am Fuße des Vulkanes Pichincha,
gefunden habe. Der Mandelſtein hat langgezogene Poren,
wie die oberen Lavaſchichten des Veſuv. Es ſcheint dies darauf
[73] hinzudeuten, daß eine elaſtiſche Flüſſigkeit durch die geſchmol-
zene Materie durchgegangen iſt. Trotz dieſen Uebereinſtim-
mungen muß ich noch einmal bemerken, daß ich in der ganzen
unteren Region des Piks von Tenerifa auf der Seite gegen
Orotava keinen Lavaſtrom, überhaupt keinen vulkaniſchen Aus-
bruch geſehen habe, der ſcharf begrenzt geweſen wäre. Regen-
güſſe und Ueberſchwemmungen wandeln die Erdoberfläche um,
und wenn zahlreiche Lavaſtröme ſich vereinigen und über eine
Ebene ergießen, wie ich es am Veſuv im Atrio dei Cavalli
geſehen, ſo verſchmelzen ſie ineinander und nehmen das An-
ſehen wirklich geſchichteter Bildungen an.
Villa de Orotava macht ſchon von weitem einen guten
Eindruck durch die Fülle der Gewäſſer, die auf den Ort zu-
eilen und durch die Hauptſtraßen fließen. Die Quelle Aqua
mansa, in zwei großen Becken gefaßt, treibt mehrere Mühlen
und wird dann in die Weingärten des anliegenden Geländes
geleitet. Das Klima in der Villa iſt noch kühler als am
Hafen, da dort von morgens zehn Uhr an ein ſtarker Wind
weht. Das Waſſer, das ſich bei höherer Temperatur in der
Luft aufgelöſt hat, ſchlägt ſich häufig nieder, und dadurch wird
das Klima ſehr neblig. Die Villa liegt etwa 312 m über
dem Meere, alſo 390 m niedriger als Laguna; man bemerkt
auch, daß dieſelben Pflanzen an letzterem Orte einen Monat
ſpäter blühen.
Orotava, das alte Taoro der Guanchen, liegt am ſteilen
Abhang eines Hügels; die Straßen ſchienen uns öde, die
Häuſer, ſolid gebaut, aber trübſelig anzuſehen, gehören faſt
durchaus einem Adel, der für ſehr ſtolz gilt und ſich ſelbſt
anſpruchsvoll als dozo casas bezeichnet. Wir kamen an einer
ſehr hohen, mit einer Menge ſchöner Farne bewachſenen Waſſer-
leitung vorüber. Wir beſuchten mehrere Gärten, in denen
die Obſtbäume des nördlichen Europas neben Orangen, Granat-
bäumen und Dattelpalmen ſtehen. Man verſicherte uns,
letztere tragen hier ſo wenig Früchte als in Terra Firma an
der Küſte von Cumana. Obgleich wir den Drachenbaum in
Herrn Franquis Garten aus Reiſeberichten kannten, ſo ſetzte
uns ſeine ungeheure Dicke dennoch in Erſtaunen. Man be-
hauptet, der Stamm dieſes Baumes, der in mehreren ſehr
alten Urkunden erwähnt wird, weil er als Grenzmarke eines
Feldes diente, ſei ſchon im 15. Jahrhundert ſo ungeheuer dick
geweſen wie jetzt. Seine Höhe ſchätzten wir auf 16 bis 19,5 m;
ſein Umfang nahe über den Wurzeln beträgt 14,6 m. Weiter
[74] oben konnten wir nicht meſſen, aber Sir Georg Staunton hat
gefunden, daß 3,25 m über dem Boden der Stamm noch
3,66 m im Durchmeſſer hat, was gut mit Bordas Angabe
übereinſtimmt, der den mittleren Umfang zu 10,93 m angibt.
Der Stamm teilt ſich in viele Aeſte, die kronleuchterartig auf-
wärts ragen und an den Spitzen Blätterbüſchel tragen, ähnlich
der Yucca im Thale von Mexiko. Durch dieſe Teilung in
Aeſte unterſcheidet ſich ſein Habitus weſentlich von dem der
Palmen.
Unter den organiſchen Bildungen iſt dieſer Baum, neben
der Adanſonia oder dem Baobab am Senegal, ohne Zweifel
einer der älteſten Bewohner unſeres Erdballs. Die Baobab
werden indeſſen noch dicker als der Drachenbaum von Villa
d’Orotava. Man kennt welche, die an der Wurzel 11 m Durch-
meſſer haben, wobei ſie nicht höher ſind als 16 bis 20 m.1
Man muß aber bedenken, daß die Adanſonia, wie die Ochroma
und alle Gewächſe aus der Familie der Bombaceen, viel
ſchneller wächſt 2 als der Drachenbaum, der ſehr langſam zu-
nimmt. Der in Herrn Franquis Garten trägt noch jedes
Jahr Blüten und Früchte. Sein Anblick mahnt lebhaft an
[75] „die ewige Jugend der Natur“, 1 die eine unerſchöpfliche Quelle
von Bewegung und Leben iſt.
Der Drachenbaum, der nur in den angebauten Strichen
der Kanarien, auf Madeira und Porto Santo vorkommt, iſt
eine merkwürdige Erſcheinung in Beziehung auf die Wande-
rung der Gewächſe. Auf dem Kontinent von Afrika 2 iſt er
nirgends wild gefunden worden, und Oſtindien iſt ſein eigent-
liches Vaterland. Auf welchem Wege iſt der Baum nach
Tenerifa verpflanzt worden, wo er gar nicht häufig vorkommt?
Iſt ſein Daſein ein Beweis dafür, daß in ſehr entlegener
Zeit die Guanchen mit anderen, mit aſiatiſchen Völkern in
Verkehr geſtanden haben?
Von Villa de Orotava gelangten wir auf einem ſchmalen
ſteinigen Pfade durch einen ſchönen Kaſtanienwald (el Monte
de Castaños) in eine Gegend, die mit einigen Lorbeerarten
und der baumartigen Heide bewachſen iſt. Der Stamm der
letzteren wird hier ausnehmend dick, und die Blüten, mit denen
der Strauch einen großen Teil des Jahres bedeckt iſt, ſtechen
angenehm ab von den Blüten des Hypericum canariense,
das in dieſer Höhe ſehr häufig vorkommt. Wir machten unter
einer ſchönen Tanne Halt, um uns mit Waſſer zu verſehen.
Dieſer Platz iſt im Lande unter dem Namen Pino del Dor-
najito bekannt; ſeine Meereshöhe beträgt nach Bordas baro-
metriſcher Meſſung 1017 m. Man hat da eine prachtvolle
Ausſicht auf das Meer und die ganze Weſtſeite der Inſel.
Beim Pino del Dornajito, etwas rechts vom Wege, ſprudelt
eine ziemlich reiche Quelle; wir tauchten ein Thermometer
[76] hinein, es fiel auf 15,4°. An 200 m davon iſt eine andere
ebenſo klare Quelle. Nimmt man an, daß dieſe Gewäſſer
ungefähr die mittlere Wärme des Ortes, wo ſie zu Tage
kommen, anzeigen, ſo findet man als abſolute Höhe des Platzes
1013 m, die mittlere Temperatur der Küſte zu 21° und unter
dieſer Zone eine Abnahme der Wärme um einen Grad auf
181 m angenommen. Man dürfte ſich nicht wundern, wenn
dieſe Quelle etwas unter der mittleren Lufttemperatur bliebe,
weil ſie ſich wahrſcheinlich weiter oben am Pik bildet, und
vielleicht ſogar mit den kleinen unterirdiſchen Gletſchern zu-
ſammenhängt, von denen weiterhin die Rede ſein wird. Die
oben erwähnte Uebereinſtimmung der barometriſchen und der
thermometriſchen Meſſung iſt deſto auffallender, als im all-
gemeinen, wie ich anderwärts ausgeführt, 1 in Gebirgsländern
mit ſteilen Hängen die Quellen eine zu raſche Wärmeabnahme
anzeigen, weil ſie kleine Waſſeradern aufnehmen, die in ver-
ſchiedenen Höhen in den Boden gelangen, und ſomit ihre
Temperatur das Mittel aus den Temperaturen dieſer Adern
iſt. Die Quellen des Dornajito ſind im Lande berühmt; als
ich dort war, kannte man auf dem Wege zum Gipfel des
Vulkanes keine andere. Quellenbildung ſetzt eine gewiſſe Regel-
mäßigkeit im Streichen und Fallen der Schichten voraus.
Auf vulkaniſchem Boden verſchluckt das löcherige, zerklüftete
Geſtein das Regenwaſſer und läßt es in große Tiefen ver-
ſinken. Deshalb ſind die Kanarien größtenteils ſo dürr,
trotzdem daß ihre Berge ſo anſehnlich ſind und der Schiffer
fortwährend gewaltige Wolkenmaſſen über dem Archipel ge-
lagert ſieht.
Vom Pino del Dornajito bis zum Krater zieht ſich der
Weg bergan, aber durch kein einziges Thal mehr; denn die
kleinen Schluchten (Barrancos) verdienen dieſen Namen nicht.
Geologiſch betrachtet, iſt die ganze Inſel Tenerifa nichts als
ein Berg, deſſen faſt eiförmige Grundfläche ſich gegen Nordoſt
verlängert, und der mehrere Syſteme vulkaniſcher, zu ver-
ſchiedenen Zeiten gebildeter Gebirgsarten aufzuweiſen hat.
Was man im Lande für beſondere Vulkane anſieht, wie der
Chahorra oder Montaña Colorada und die Urca,
das ſind nur Hügel, die ſich an den Pik lehnen und ſeine
[77] Pyramide maskieren. Der große Vulkan, deſſen Seitenaus-
brüche mächtige Vorgebirge gebildet haben, liegt indeſſen nicht
genau in der Mitte der Inſel, und dieſe Eigentümlichkeit im
Bau erſcheint weniger auffallend, wenn man ſich erinnert,
daß nach der Anſicht eines ausgezeichneten Mineralogen (Cordier)
vielleicht nicht der kleine Krater im Piton die Hauptrolle bei
den Umwälzungen der Inſel Tenerifa geſpielt hat.
Auf die Region der baumartigen Heiden, Monte Verde
genannt, folgt die der Farne. Nirgends in der gemäßigten
Zone habe ich Pteris, Blechnum und Asplenium in ſolcher
Menge geſehen; indeſſen hat keines dieſer Gewächſe den Wuchs
der Baumfarne, die in Südamerika, in 975 bis 1170 m Höhe,
ein Hauptſchmuck der Wälder ſind. Die Wurzel der Pteris
aquilina dient den Bewohnern von Palma und Gomera zur
Nahrung; ſie zerreiben ſie zu Pulver und miſchen ein wenig
Gerſtenmehl darunter. Dieſes Gemiſch wird geröſtet und
heißt Gofio; ein ſo rohes Nahrungsmittel iſt ein Beweis
dafür, wie elend das niedere Volk auf den Kanarien lebt.
Der Monte Verde wird von mehreren kleinen, ſehr dürren
Schluchten (cañadas) durchzogen. Ueber der Region der Farne
kommt man durch ein Gehölz von Wacholderbäumen (cedro)
und Tannen, das durch die Stürme ſehr gelitten hat. An
dieſem Ort, den einige Reiſende la Caravela nennen, will
Edens 1 kleine Flammen geſehen haben, die er nach den phyſi-
kaliſchen Begriffen ſeiner Zeit ſchwefligen Ausdünſtungen
zuſchreibt, die ſich von ſelbſt entzünden. Es ging immer
aufwärts bis zum Felſen Gayta oder Portillo; hinter
dieſem Engpaß, zwiſchen zwei Baſalthügeln, betritt man die
große Ebene des Ginſters (los Llanos del Retama). Bei
Lapérouſes Expedition hatte Manneron den Pik bis zu dieſer
etwa 2730 m über dem Meere gelegenen Ebene gemeſſen, er
hatte aber wegen Waſſermangels und des üblen Willens der
Führer die Meſſung nicht bis zum Gipfel des Vulkanes fortſetzen
können. Das Ergebnis dieſer zu zwei Dritteilen vollendeten
Operation iſt leider nicht nach Europa gelangt, und ſo iſt
das Geſchäft von der Küſte an noch einmal vorzunehmen.
Wir brauchten gegen zwei und eine halbe Stunde, um
[78] über die Ebene des Ginſters zu kommen, die nichts iſt als
ein ungeheures Sandmeer. Trotz der hohen Lage zeigte hier
der hundertteilige Thermometer gegen Sonnenuntergang 13,8°,
das heißt 3,7° mehr als mitten am Tage auf dem Monte
Verde. Dieſer höhere Wärmegrad kann nur von der Strah-
lung des Bodens und von der weiten Ausdehnung der Hoch-
ebene herrühren. Wir litten ſehr vom erſtickenden Bimsſtein-
ſtaub, in den wir fortwährend gehüllt waren. Mitten in der
Ebene ſtehen Büſche von Retama, dem Spartium nubi-
genum d’Aitons. Dieſer ſchöne Strauch, den de Martinière 1
in Languedoc, wo Feuermaterial ſelten iſt, einzuführen rät,
wird 3 m hoch, er iſt mit wohlriechenden Blüten bedeckt,
und die Ziegenjäger, denen wir unterwegs begegneten, hatten
ihre Strohhüte damit geſchmückt. Die dunkelbraunen Ziegen
des Piks gelten für Leckerbiſſen; ſie nähren ſich von den
Blättern des Spartium und ſind in dieſen Einöden ſeit
unvordenklicher Zeit verwildert. Man hat ſie ſogar nach
Madeira verpflanzt, wo ſie geſchätzter ſind, als die Ziegen aus
Europa.
Bis zum Felſen Gayta, das heißt bis zum Anfang der
großen Ebene des Ginſters iſt der Pik von Tenerifa mit
ſchönem Pflanzenwuchs überzogen, und nichts weiſt auf Ver-
wüſtungen in neuerer Zeit hin. Man meint einen Vulkan
zu beſteigen, deſſen Feuer ſo lange erloſchen iſt, wie das des
Monte Cavo bei Rom. Kaum hat man die mit Bimsſtein
bedeckte Ebene betreten, ſo nimmt die Landſchaft einen ganz
anderen Charakter an; bei jedem Schritt ſtößt man auf un-
geheure Obſidianblöcke, die der Vulkan ausgeworfen. Alles
ringsum iſt öd und ſtill; ein paar Ziegen und Kaninchen
ſind die einzigen Bewohner dieſer Hochebene. Das unfrucht-
bare Stück des Piks mißt über 200 qkm, und da die unteren
Regionen, von ferne geſehen, in Verkürzung erſcheinen, ſo
ſtellt ſich die ganze Inſel als ein ungeheurer Haufen ver-
brannten Geſteins dar, um den ſich die Vegetation nur wie
ein ſchmaler Gürtel zieht.
Ueber der Region des Spartium nubigenum kamen wir
durch enge Schründe und kleine, ſehr alte, vom Regenwaſſer
ausgeſpülte Schluchten zuerſt auf ein höheres Plateau und
dann an den Ort, wo wir die Nacht zubringen ſollten. Dieſer
Platz, der mehr als 2982 m über der Küſte liegt, heißt
[79]Estancia de los Ingleses,1 ohne Zweifel, weil früher
die Engländer den Pik am häufigſten beſuchten. Zwei über-
hängende Felſen bilden eine Art Höhle, die Schutz gegen den
Wind bietet. Bis zu dieſem Orte, der bereits höher liegt
als der Gipfel des Canigou, kann man auf, Maultieren ge-
langen; viele Neugierige, die beim Abgang von Orotava den
Kraterrand erreichen zu können glaubten, bleiben daher hier
liegen. Obgleich es Sommer war und der ſchöne afrikaniſche
Himmel über uns, hatten wir doch in der Nacht von der
Kälte zu leiden. Der Thermometer fiel auf 5°. Unſere
Führer machten ein großes Feuer von dürren Zweigen der
Retama an. Ohne Zelt und Mäntel lagerten wir uns auf
Haufen verbrannten Geſteins, und die Flammen und der
Rauch, die der Wind beſtändig gegen uns hertrieb, wurden
uns ſehr läſtig. Wir hatten noch nie eine Nacht in ſo be-
deutender Höhe zugebracht, und ich ahnte damals nicht, daß
wir einſt in Städten wohnen würden, die höher liegen als
die Spitze des Vulkanes, den wir morgen vollends beſteigen
ſollten. Je tiefer die Temperatur ſank, deſto mehr bedeckte
ſich der Pik mit dicken Wolken. Bei Nacht ſtockt der Zug
des Stromes, der den Tag über von den Ebenen in die hohen
Luftregionen aufſteigt, und im Maße, als ſich die Luft ab-
kühlt, nimmt auch ihre das Waſſer auflöſende Kraft ab. Ein
ſehr ſtarker Nordwind jagte die Wolken; von Zeit zu Zeit
brach der Mond durch das Gewölk und ſeine Scheibe glänzte
auf tief dunkelblauem Grunde; im Angeſicht des Vulkanes
hatte dieſe nächtliche Szene etwas wahrhaft Großartiges. Der
Pik verſchwand bald gänzlich im Nebel, bald erſchien er un-
heimlich nahe gerückt und warf wie eine ungeheure Pyramide
ſeinen Schatten auf die Wolken unter uns.
Gegen drei Uhr morgens brachen wir beim trüben Schein
einiger Kienfackeln nach der Spitze des Piton auf. Man
beginnt die Beſteigung an der Nordoſtſeite, wo der Abhang
[80] ungemein ſteil iſt, und wir gelangten nach zwei Stunden auf
ein kleines Plateau, das ſeiner iſolierten Lage wegen Alta
Vista heißt. Hier halten ſich auch die Neveros auf, das
heißt die Eingeborenen, die gewerbsmäßig Eis und Schnee
ſuchen und in den benachbarten Städten verkaufen. Ihre
Maultiere, die das Klettern mehr gewöhnt ſind als die, welche
man den Reiſenden gibt, gehen bis zur Alta Viſta und die
Neveros müſſen den Schnee dahin auf dem Rücken tragen.
Ueber dieſem Punkte beginnt das Malpays, wie man in
Mexiko, in Peru und überall, wo es Vulkane gibt, einen
von Dammerde entblößten und mit Lavabruchſtücken bedeckten
Landſtrich nennt.
Wir bogen rechts vom Wege ab, um die Eishöhle
zu beſehen, die in 3367 m Höhe liegt, alſo unter der Grenze
des ewigen Schnees in dieſer Breite. Wahrſcheinlich rührt
die Kälte, die in dieſer Höhle herrſcht, von denſelben Urſachen
her, aus denen ſich das Eis in den Gebirgsſpalten des Jura
und der Pyrenäen erhält, und über welche die Anſichten der
Phyſiker noch ziemlich auseinander gehen. 1 Die natürliche
Eisgrube des Piks hat übrigens nicht jene ſenkrechten Oeff-
nungen, durch welche die warme Luft entweichen kann, während
die kalte Luft am Boden ruhig liegen bleibt. Das Eis ſcheint
ſich hier durch ſeine ſtarke Anhäufung zu halten, und weil
der Prozeß des Schmelzens durch die bei raſcher Verdunſtung
erzeugte Kälte verlangſamt wird. Dieſer kleine unterirdiſche
Gletſcher liegt an einem Orte, deſſen mittlere Temperatur
ſchwerlich unter 3° beträgt, und er wird nicht, wie die eigent-
lichen Gletſcher der Alpen, vom Schneewaſſer geſpeiſt, das
von den Berggipfeln herabkommt. Während des Winters
füllt ſich die Höhle mit Schnee und Eis, und da die Sonnen-
ſtrahlen nicht über den Eingang hinaus eindringen, ſo iſt die
Sonnenwärme nicht imſtande, den Behälter zu leeren. Die
Bildung einer natürlichen Eisgrube hängt alſo nicht ſowohl
ab von der abſoluten Höhe der Felsſpalte und der mittleren
[81] Temperatur der Luftſchicht, in der ſie ſich befindet, als von
der Maſſe des Schnees, der hineinkommt, und von der ge-
ringen Wirkung der warmen Winde im Sommer. Die im
Inneren eines Berges eingeſchloſſene Luft iſt ſchwer von der
Stelle zu bringen, wie man am Monte Teſtaccio in Rom
ſieht, deſſen Temperatur von der der umgebenden Luft ſo
bedeutend abweicht. Wir werden in der Folge ſehen, daß
am Chimborazo ungeheure Eismaſſen unter dem Sande liegen,
und zwar, wie auf dem Pik von Tenerifa, weit unter der
Grenze des ewigen Schnees.
Bei der Eishöhle (Cueva del Hielo) ſtellten bei Lapé-
rouſes Seereiſe Lamanon und Mongès ihren Verſuch über
die Temperatur des ſiedenden Waſſers an. Sie fanden dieſelbe
88,7°, während der Barometer auf 508 mm ſtand. Im
Königreich Neugranada, bei der Kapelle Guadeloupe in der
Nähe von Santa Fé de Bogota, ſah ich das Waſſer bei
89,9° unter einem Luftdruck von 510 mm ſieden. Zu Tam-
bores, in der Provinz Popayan, fand Caldas 89,5° für die
Temperatur des ſiedenden Waſſers bei einem Barometerſtand
von 505,6 mm. Nach dieſen Ergebniſſen könnte man ver-
muten, daß bei Lamanons Verſuch das Waſſer das Maximum
ſeiner Temperatur nicht ganz erreicht hatte.
Der Tag brach an, als wir die Eishöhle verließen. Da
beobachteten wir in der Dämmerung eine Erſcheinung, die
auf hohen Bergen häufig iſt, die aber bei der Lage des Vul-
kanes, auf dem wir uns befanden, beſonders auffallend her-
vortrat. Eine weiße, flockige Wolkenſchicht entzog das Meer
und die niedrigen Regionen der Inſel unſeren Blicken. Die
Schicht ſchien nicht über 1560 m hoch; die Wolken waren
ſo gleichmäßig verbreitet und lagen ſo genau in einer Fläche,
daß ſie ſich ganz wie eine ungeheure mit Schnee bedeckte
Ebene darſtellen. Die koloſſale Pyramide des Piks, die vul-
kaniſchen Gipfel von Lanzarote, Fuerteventura und Palma
ragten wie Klippen aus dem weiten Dunſtmeere empor. Ihre
dunkle Färbung ſtach grell vom Weiß der Wolken ab.
Während wir auf den zertrümmerten Laven des Malpays
emporklommen, wobei wir oft die Hände zu Hilfe nehmen
mußten, beobachteten wir eine merkwürdige optiſche Erſcheinung.
Wir glaubten gegen Oſt kleine Raketen in die Luft ſteigen
zu ſehen. Leuchtende Punkte, 7 bis 8° über dem Horizont,
ſchienen ſich zuerſt ſenkrecht aufwärts zu bewegen, aber all-
mählich ging die Bewegung in eine wagerechte Oszillation
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 6
[82] über, die acht Minuten anhielt. Unſere Reiſegefährten, ſogar
die Führer äußerten ihre Verwunderung über die Erſcheinung,
ohne daß wir ſie darauf aufmerkſam zu machen brauchten.
Auf den erſten Blick glaubten wir, dieſe ſich hin und
her bewegenden Lichtpunkte ſeien die Vorläufer eines neuen
Ausbruchs des großen Vulkanes von Lanzarote. Wir erinnerten
uns, daß Bouguer und La Condamine bei der Beſteigung des
Vulkanes Pichincha den Ausbruch des Cotopaxi mit angeſehen
hatten; aber die Täuſchung dauerte nicht lange, und wir
ſahen, daß die Lichtpunkte die durch die Dünſte vergrößerten
Bilder verſchiedener Sterne waren. Die Bilder ſtanden perio-
diſch ſtill, dann ſchienen ſie ſenkrecht aufzuſteigen, ſich zur
Seite abwärts zu bewegen und wieder am Ausgangspunkt
anzugelangen. Dieſe Bewegung dauerte eine bis zwei Sekun-
den. Wir hatten keine Mittel zur Hand, um die Größe der
ſeitlichen Verrückung genau zu meſſen, aber den Lauf des
Lichtpunktes konnten wir ganz gut beobachten. Er erſchien
nicht doppelt durch Luftſpiegelung und ließ keine leuchtende
Spur hinter ſich. Als ich im Fernrohr eines kleinen Trough-
tonſchen Sextanten die Sterne mit einem hohen Berggipfel
auf Lanzarote in Kontakt brachte, konnte ich ſehen, daß die
Oszillation beſtändig gegen denſelben Punkt hinging, nämlich
gegen das Stück des Horizontes, wo die Sonnenſcheibe er-
ſcheinen ſollte, und daß, abgeſehen von der Deklinations-
bewegung des Sternes, das Bild immer an denſelben Fleck
zurückkehrte. Dieſe ſcheinbaren ſeitlichen Refraktionen hörten
auf, lange bevor die Sterne vor dem Tageslicht gänzlich ver-
ſchwanden. Ich habe hier genau wiedergegeben, was wir in
der Dämmerung beobachteten, verſuche aber keine Erklärung
der auffallenden Erſcheinung, die ich ſchon vor zwölf Jahren
in Zachs aſtronomiſchem Tagebuch bekannt gemacht habe. Die
Bewegung der Dunſtbläschen infolge des Sonnenaufgangs,
die Miſchung verſchiedener, in Temperatur und Dichtigkeit
ſehr von einander abweichenden Luftſchichten haben ohne
Zweifel zu der Verrückung der Geſtirne in horizontaler Rich-
tung das Ihrige beigetragen. Etwas Aehnliches ſind wohl die
ſtarken Schwankungen der Sonnenſcheibe, wenn ſie eben den
Horizont berührt; aber dieſe Schwankungen betragen ſelten
mehr als zwanzig Sekunden, während die ſeitliche Bewegung
der Sterne, wie wir ſie auf dem Pik in mehr als 3507 m
Höhe beobachteten, ganz gut mit bloßem Auge zu bemerken
und auffallender war als alle Erſcheinungen, die man bis
[83] jetzt als Wirkungen der Brechung des Sternlichtes angeſehen
hat. Ich war bei Sonnenaufgang und die ganze Nacht in
4092 m Höhe auf dem Rücken der Anden, in Antiſana,
konnte aber nichts gewahr werden, was mit jenem Phänomen
übereingekommen wäre.
Ich wünſchte in ſo bedeutender Höhe wie die, welche wir
am Pik von Tenerifa erreicht hatten, den Moment des Sonnen-
aufganges genau zu beobachten. Kein mit Inſtrumenten ver-
ſehener Reiſender hatte noch eine ſolche Beobachtung angeſtellt.
Ich hatte ein Fernrohr und ein Chronometer, deſſen Gang
mir ſehr genau bekannt war. Der Himmelsſtrich, wo die
Sonnenſcheibe erſcheinen ſollte, war dunſtfrei. Wir ſahen
den oberſten Rand um 4 Uhr 48′ 55″ wahrer Zeit, und,
was ziemlich auffallend iſt, der erſte Lichtpunkt der Scheibe
berührte unmittelbar die Grenze des Horizontes; wir ſahen
demnach den wahren Horizont, das heißt einen Strich Meers
auf mehr als 152,5 km Entfernung. Die Rechnung ergibt,
daß unter dieſer Breite in der Ebene die Sonne um 5 Uhr
1 Minute 50 Sekunden, oder 11 Minuten 51,3 Sekunden
ſpäter als auf dem Pik hätte anfangen ſollen aufzugehen.
Der beobachtete Unterſchied betrug 12 Minuten 55 Sekunden,
und dies kommt ohne Zweifel von der Ungewißheit hinſichtlich
der Refraktionsverhältniſſe für einen Abſtand vom Zenith,
wofür keine Beobachtungen vorliegen. 1
Wir wunderten uns, wie ungemein langſam der untere
Rand der Sonne ſich vom Horizont zu löſen ſchien. Dieſer
Rand wurde erſt um 4 Uhr 56 Minuten 56 Sekunden ſichtbar.
Die ſtark abgeplattete Sonnenſcheibe war ſcharf begrenzt; es
zeigte ſich während des Aufganges weder ein doppeltes Bild
noch eine Verlängerung des unteren Randes. Der Sonnen-
aufgang dauerte dreimal länger, als wir in dieſer Breite
[84] hätten erwarten ſollen, und ſo iſt anzunehmen, daß eine ſehr
gleichförmig verbreitete Dunſtſchicht den wahren Horizont ver-
deckte und der aufſteigenden Sonne nachrückte. Trotz des
Schwankens der Sterne, das wir vorhin im Oſten beobachtet,
kann man die Langſamkeit des Sonnenaufganges nicht wohl
einer ungewöhnlich ſtarken Brechung der vom Meereshorizont
zu uns gelangenden Strahlen zuſchreiben; denn, wie Le Gentil
es täglich in Pondichéry und ich öfters in Cumana beobachtet
haben, erniedrigt ſich der Horizont gerade bei Sonnenaufgang,
weil die Temperatur der Luftſchicht unmittelbar auf der
Meeresfläche ſich erhöht.
Der Weg, den wir uns durch das Malpays bahnen
mußten, iſt äußerſt ermüdend. Der Abhang iſt ſteil und die
Lavablöcke wichen unter unſeren Füßen. Ich kann dieſes
Stück des Weges nur mit den Moränen der Alpen ver-
gleichen, jenen Haufen von Rollſteinen, welche am unteren
Ende der Gletſcher liegen; die Lavatrümmer auf dem Pik
haben aber ſcharfe Kanten und laſſen oft Lücken, in die man
Gefahr läuft bis zum halben Körper zu fallen. Leider trug
die Faulheit und der üble Wille unſerer Führer viel dazu
bei, uns das Aufſteigen ſauer zu machen; ſie glichen weder
den Führern im Chamounithal noch jenen gewandten Guanchen,
von denen die Sage geht, daß ſie ein Kaninchen oder eine
wilde Ziege im Laufe fingen. Unſere kanariſchen Führer
waren träg zum Verzweifeln; ſie hatten tags zuvor uns be-
reden wollen, nicht über die Station bei den Felſen hinauf-
zugehen; ſie ſetzten ſich alle zehn Minuten nieder, um aus-
zuruhen; ſie warfen hinter uns die Handſtücke Obſidian und
Bimsſtein, die wir ſorgfältig geſammelt hatten, weg, und es
kam heraus, daß noch keiner auf dem Gipfel des Vulkanes
geweſen war.
Nach dreiſtündigem Marſch erreichten wir das Ende des
Malpays bei einer kleinen Ebene, la Rambleta genannt;
aus ihrem Mittelpunkte ſteigt der Piton oder Zuckerhut empor.
Gegen Orotava zu gleicht der Berg jenen Treppenpyramiden
in Fajum und in Mexiko, denn die Plateaus der Retama
und die Rambleta bilden zwei Stockwerke, deren erſteres
viermal höher iſt als letzteres. Nimmt man die ganze Höhe
des Piks zu 3710 m an, ſo liegt die Rambleta 3546 m
über dem Meere. Hier befinden ſich die Luftlöcher, welche
bei den Eingeborenen Naſenlöcher des Piks (Narices
del Pico) heißen. Aus mehreren Spalten im Geſtein dringen
[85] hier in Abſätzen warme Waſſerdünſte; wir ſahen den Ther-
mometer darin auf 43,2° ſteigen; Labillardière hatte acht
Jahre vor uns dieſe Dämpfe 53,7° heiß gefunden, ein Unter-
ſchied, der vielleicht nicht ſowohl auf eine Abnahme der vul-
kaniſchen Thätigkeit als auf einen lokalen Wechſel in der
Erhitzung der Bergwände hindeutet. Die Dämpfe ſind ge-
ruchlos und ſcheinen reines Waſſer. Kurz vor dem großen
Ausbruch des Veſuvs im Jahre 1806 beobachteten Gay-Luſſac
und ich, daß das Waſſer, das in Dampfform aus dem Inneren
des Kraters kommt, Lackmuspapier nicht rötete. Ich kann
übrigens der kühnen Hypotheſe mehrerer Phyſiker nicht bei-
ſtimmen, wonach die Naslöcher des Piks als die Mün-
dungen eines ungeheuren Deſtillierapparates, deſſen Boden
unter der Meeresfläche liegt, zu betrachten ſein ſollen. Seit man
die Vulkane ſorgfältiger beobachtet und der Hang zum Wunder-
baren ſich in geologiſchen Büchern weniger bemerkbar macht,
fängt man an, den unmittelbaren beſtändigen Zuſammenhang
zwiſchen dem Meere und den Herden des vulkaniſchen Feuers
mit Recht ſtark in Zweifel zu ziehen. 1 Dieſe durchaus nicht
auffallende Erſcheinung erklärt ſich wohl ſehr einfach. Der
Pik iſt einen Teil des Jahres mit Schnee bedeckt; wir ſelbſt
fanden noch welchen auf der kleinen Ebene Rambleta; ja
Odonnell und Armſtrong haben im Jahre 1806 im Malpays
eine ſehr ſtarke Quelle entdeckt, und zwar 195 m über der
Eishöhle, die vielleicht zum Teil von dieſer Quelle geſpeiſt
wird. Alles weiſt alſo darauf hin, daß der Pik von Tenerifa,
gleich den Vulkanen der Anden und der Inſel Luzon, im
Inneren große Höhlungen hat, die mit atmoſphäriſchem Waſſer
gefüllt ſind, das einfach durchgeſickert iſt. Die Waſſerdämpfe
welche die Naslöcher und die Spalten im Krater ausſtoßen,
ſind nichts als dieſes ſelbe Waſſer, das durch die Wände,
über die es fließt, erhitzt wird.
[86]
Wir hatten jetzt noch den ſteilſten Teil des Berges, der
die Spitze bildet, den Piton, zu erſteigen. Der Abhang dieſes
kleinen, mit vulkaniſcher Aſche und Bimsſteinſtücken bedeckten
Kegels iſt ſo ſchroff, daß es faſt unmöglich wäre, auf den
Gipfel zu gelangen, wenn man nicht einem alten Lavaſtrom
nachginge, der aus dem Krater gefloſſen ſcheint und deſſen
Trümmer dem Zahn der Zeit getrotzt haben. Dieſe Trümmer
bilden eine verſchlackte Felswand, die ſich mitten durch die
loſe Aſche hinzieht. Wir erſtiegen den Piton, indem wir
uns an dieſen Schlacken anklammerten, die ſcharfe Kanten
haben und, halb verwittert, wie ſie ſind, uns nicht ſelten in
der Hand blieben. Wir brauchten gegen eine halbe Stunde,
um einen Hügel zu erſteigen, deſſen ſenkrechte Höhe kaum
175 m beträgt. Der Veſuv, der dreimal niedriger iſt als
der Vulkan von Tenerifa, läuft in einen faſt dreimal höheren
Aſchenkegel aus, der aber nicht ſo ſteil und zugänglicher iſt.
Unter allen Vulkanen, die ich beſucht, iſt nur der Jorullo in
Mexiko noch ſchwerer zu beſteigen, weil der ganze Berg mit
loſer Aſche bedeckt iſt.
Wenn der Zuckerhut mit Schnee bedeckt iſt, wie bei Ein-
tritt des Winters, ſo kann die Steilheit des Abhanges den
Reiſenden in die größte Gefahr bringen. Legros zeigte uns
die Stelle, wo Kapitän Baudin auf ſeiner Reiſe nach Tene-
rifa beinahe ums Leben gekommen wäre. Mutig hatte er
gegen Ende Dezembers 1797 mit den Naturforſchern Advenier,
Mauger und Riedlé die Beſteigung des Gipfels des Vul-
kanes unternommen. In der halben Höhe des Kegels fiel er
und rollte bis zur kleinen Ebene Rambleta hinunter; zum
Glück machte ein mit Schnee bedeckter Lavahaufen, daß er
nicht noch weiter mit beſchleunigter Geſchwindigkeit hinabflog.
Wie man mir verſichert, iſt ein Reiſender, der den mit feſtem
Raſen bedeckten Abhang des Col de Balme hinabgerollt war,
erſtickt gefunden worden.
Auf der Spitze des Piton angelangt, wunderten wir uns
nicht wenig, daß wir kaum Platz fanden, bequem niederzuſitzen.
Wir ſtanden vor einer kleinen kreisförmigen Mauer aus por-
phyrartiger Lava mit Pechſteinbaſis; dieſe Mauer hinderte
uns in den Krater hinabzuſehen. 1 Der Wind blies ſo heftig
aus Weſt, daß wir uns kaum auf den Beinen halten konnten.
[87] Es war acht Uhr morgens und wir waren ſtarr vor Kälte,
obgleich der Thermometer etwas über dem Gefrierpunkt ſtand.
Seit lange waren wir an eine ſehr hohe Temperatur ge-
wöhnt, und der trockene Wind ſteigerte das Froſtgefühl, weil
er die kleine Schicht warmer und feuchter Luft, welche ſich
durch die Hautausdünſtung um uns her bildete, fortwährend
wegführte.
Der Krater des Piks hat, was den Rand betrifft, mit
den Kratern der meiſten anderen Vulkane, die ich beſucht,
z. B. mit dem des Veſuvs, des Jorullo und Pichincha, keine
Aehnlichkeit. Bei dieſen behält der Piton ſeine Kegelgeſtalt
bis zum Gipfel; der ganze Abhang iſt im ſelben Winkel ge-
neigt und gleichförmig mit einer Schicht ſehr fein zerteilten
Bimsſteines bedeckt; hat man die Spitze dieſer drei Vulkane
erreicht, ſo blickt man frei bis auf den Boden des Schlundes.
Der Pik von Tenerifa und der Cotopaxi dagegen ſind ganz
anders gebaut; auf ihrer Spitze läuft kreisförmig ein Kamm
oder eine Mauer um den Krater; von ferne ſtellt ſich dieſe
Mauer wie ein kleiner Cylinder auf einem abgeſtutzten Kegel
dar. Beim Cotopaxi erkennt man dieſes eigentümliche Bau-
werk über 3900 m weit mit bloßem Auge, weshalb auch noch
kein Menſch bis zum Krater dieſes Vulkanes gekommen iſt.
Beim Pik von Tenerifa iſt der Kamm, der wie eine Bruſt-
wehr um den Krater läuft, ſo hoch, daß er gar nicht zur
Caldera gelangen ließe, wenn ſich nicht gegen Oſt eine Lücke
darin befände, die von einem ſehr alten Lavaerguß herzu-
rühren ſcheint. Durch dieſe Lücke ſtiegen wir auf den Boden
des Trichters hinab, der elliptiſch iſt; die große Achſe läuft
von Nordweſt nach Südoſt, etwa Nord 35° Oſt. Die größte
Breite der Oeffnung ſchätzten wir auf 97 m, die kleinſte auf
65 m. Dieſe Angaben ſtimmen ziemlich mit den Meſſungen
von Verguin, Verela und Borda; nach dieſen Reiſenden meſſen
die zwei Achſen 78 und 58 m.1
Man ſieht leicht ein, daß die Größe eines Kraters nicht
allein von der Höhe und der Maſſe des Berges abhängt,
deſſen Hauptöffnung er bildet. Seine Weite ſteht ſogar ſelten
im Verhältnis mit der Intenſität des vulkaniſchen Feuers
oder der Thätigkeit des Vulkanes. Beim Veſuv, der gegen
[88] den Pik von Tenerifa nur ein Hügel iſt, hat der Krater einen
fünfmal größeren Durchmeſſer. Bedenkt man, daß ſehr hohe
Vulkane aus ihrem Gipfel weniger Stoffe auswerfen als aus
Seitenſpalten, ſo könnte man verſucht ſein anzunehmen, daß,
je niedriger die Vulkane ſind, ihre Krater, bei gleicher Kraft
und Thätigkeit, deſto größer ſein müßten. Allerdings gibt
es ungeheure Vulkane in den Anden, die nur ſehr kleine Oeff-
nungen haben, und man könnte es als ein geologiſches Geſetz
hinſtellen, daß die koloſſalſten Berge auf ihren Gipfeln nur
Krater von geringem Umfang haben, wenn ſich nicht in den
Kordilleren mehrere Beiſpiele 1 des gegenteiligen Verhaltens
fänden. Ich werde im Verfolg Gelegenheit finden, zahlreiche
Thatſachen anzuführen, welche einſt auf das, was man den
äußeren Bau der Vulkane nennen kann, einiges Licht werfen
könnten. Dieſer Bau iſt ſo mannigfaltig als die vulkaniſchen
Erſcheinungen ſelbſt, und will man ſich zu geologiſchen Vor-
ſtellungen erheben, die der Größe der Natur würdig ſind, ſo
muß man die Meinung aufgeben, als ob alle Vulkane nach
dem Muſter des Veſuv, des Stromboli und des Aetna gebaut
wären.
Die äußeren Ränder der Caldera ſind beinahe ſenkrecht;
ſie ſtellen ſich ungefähr dar wie die Somma, vom Atrio dei
Cavalli aus geſehen. Wir ſtiegen auf den Boden des Kraters
auf einem Streif zerbrochener Laven, der zu der Lücke in der
Umfangsmauer hinaufläuft. Hitze war nur über einigen
Spalten zu ſpüren, aus denen Waſſerdampf mit einem eigen-
tümlichen Sumſen ſtrömte. Einige dieſer Luftlöcher oder
Spalten befinden ſich außerhalb des Kraterumfanges, am
äußeren Rand der Brüſtung, welche den Krater umgibt. Ein
in dieſelben gebrachter Thermometer ſtieg raſch auf 68 und 75°.
Er zeigte ohne Zweifel eine noch höhere Temperatur an, aber
wir konnten das Inſtrument erſt anſehen, nachdem wir es
herausgezogen, wollten wir uns nicht die Hände verbrennen.
Cordier hat mehrere Spalten gefunden, in denen die Hitze
der des ſiedenden Waſſers gleich war. Man könnte glauben,
dieſe Dämpfe, die ſtoßweiſe hervorkommen, enthalten Salz-
ſäure oder Schwefelſäure; läßt man ſie aber an einem kalten
Körper ſich verdichten, zeigen ſie keinen beſonderen Geſchmack,
[89] und die Verſuche mehrerer Phyſiker mit Reagentien beweiſen,
daß die Fumarolen des Piks nur reines Waſſer aushauchen;
dieſe Erſcheinung, die mit meinen Beobachtungen im Krater
des Jorullo übereinſtimmt, verdient deſto mehr Aufmerkſam-
keit, als Salzſäure in den meiſten Vulkanen in großer Menge
vorkommt und Vauquelin ſogar in den porphyrähnlichen Laven
von Sarcouy in der Auvergne Salzſäure gefunden hat.
Ich habe an Ort und Stelle die Anſicht des inneren
Kraterrandes gezeichnet, wie er ſich darſtellt, wenn man durch
die gegen Oſt gelegene Lücke hinabſteigt. Nichts merkwürdiger
als dieſe Aufeinanderlagerung von Lavaſchichten, die Krüm-
mungen zeigen, wie der Alpenkalkſtein. Dieſe ungeheuren
Bänke ſind bald wagerecht, bald geneigt und wellenförmig ge-
wunden, und alles weiſt darauf hin, daß einſt die ganze
Maſſe flüſſig war, und daß mehrere ſtörende Urſachen zu-
ſammenwirkten, um jedem Strom ſeine beſtimmte Richtung
zu geben. An der oben umlaufenden Mauer ſieht man das
ſeltſame Aſtwerk, wie man es an der entſchwefelten Stein-
kohle beobachtet. Der nördliche Rand iſt der höchſte; gegen
Südweſt erniedrigt ſich die Mauer bedeutend und am äußerſten
Rand iſt eine ungeheure verſchlackte Lavamaſſe angebacken.
Gegen Weſt iſt das Geſtein durchbrochen, und durch eine weite
Spalte ſieht man den Meereshorizont. Vielleicht hat die Ge-
walt der elaſtiſchen Dämpfe im Moment, wo die im Krater
aufgeſtiegene Lava überquoll, hier durchgeriſſen.
Das Innere des Trichters weiſt darauf hin, daß der
Vulkan ſeit Jahrtauſenden nur noch aus ſeinen Seiten Feuer
geſpieen hat. Dieſe Behauptung gründet ſich nicht darauf,
weil ſich am Boden der Caldera keine großen Oeffnungen
zeigen, wie man erwarten könnte. Die Phyſiker, die die Natur
ſelbſt beobachtet haben, wiſſen, daß viele Vulkane in der
Zwiſchenzeit zweier Ausbrüche ausgefüllt und faſt erloſchen
ſcheinen, daß ſich dann aber im vulkaniſchen Schlund Schichten
ſehr rauher, klingender und glänzender Schlacken finden. Man
bemerkt kleine Erhöhungen, Auftreibungen durch die elaſtiſchen
Dämpfe, kleine Schlacken- und Aſchenkegel, unter denen die
Oeffnungen liegen. Der Krater des Piks von Tenerifa zeigt
keines dieſer Merkmale; ſein Boden iſt nicht im Zuſtand ge-
blieben, wie ein Ausbruch ihn zurückläßt. Durch den Zahn
der Zeit und den Einfluß der Dämpfe ſind die Wände ab-
gebröckelt und haben das Becken mit großen Blöcken ſteiniger
Lava bedeckt.
[90]
Man gelangt gefahrlos auf den Boden des Kraters.
Bei einem Vulkan, deſſen Hauptthätigkeit dem Gipfel zu geht,
wie beim Veſuv, wechſelt die Tiefe des Kraters vor und nach
jedem Ausbruch; auf dem Pik von Tenerifa dagegen ſcheint
die Tiefe ſeit langer Zeit ſich gleich geblieben zu ſein. Edens
ſchätzte ſie im Jahre 1715 auf 37 m, Cordier im Jahre 1803
auf 35,5. Nach dem Augenmaß hätte ich geglaubt, daß der
Trichter nicht einmal ſo tief wäre. In ſeinem jetzigen Zu-
ſtand iſt er eigentlich eine Solfatara; er iſt ein weites Feld
für intereſſante Beobachtungen, aber impoſant iſt ſein Anblick
nicht. Großartig wird der Punkt nur durch die Höhe über
dem Meeresſpiegel, durch die tiefe Stille in dieſer hohen
Region, durch den unermeßlichen Erdraum, den das Auge auf
der Spitze des Berges überblickt.
Die Beſteigung des Vulkanes von Tenerifa iſt nicht nur
dadurch anziehend, daß ſie uns ſo reichen Stoff für wiſſen-
ſchaftliche Forſchung liefert; ſie iſt es noch weit mehr dadurch,
daß ſie dem, der Sinn hat für die Größe der Natur, eine
Fülle maleriſcher Reize bietet. Solche Empfindungen zu
ſchildern, iſt eine ſchwere Aufgabe; ſie regen uns deſto tiefer
auf, da ſie etwas Unbeſtimmtes haben, wie es die Unermeß-
lichkeit des Raumes und die Größe, Neuheit und Mannig-
faltigkeit der uns umgebenden Gegenſtände mit ſich bringen.
Wenn ein Reiſender die hohen Berggipfel unſeres Erdballes,
die Katarakten der großen Ströme, die gewundenen Thäler
der Anden zu beſchreiben hat, ſo läuft er Gefahr, den Leſer
durch den eintönigen Ausdruck ſeiner Bewunderung zu er-
müden. Es ſcheint mir den Zwecken, die ich bei dieſer Reiſe-
beſchreibung im Auge habe, angemeſſener, den eigentümlichen
Charakter zu ſchildern, der jeden Landſtrich auszeichnet. Man
lehrt die Phyſiognomie einer Landſchaft deſto beſſer kennen,
je genauer man die einzelnen Züge auffaßt, ſie unterein-
ander vergleicht und ſo auf dem Wege der Analyſis den
Quellen der Genüſſe nachgeht, die uns das große Natur-
gemälde bietet.
Die Reiſenden wiſſen aus Erfahrung, daß man auf der
Spitze ſehr hoher Berge ſelten eine ſo ſchöne Ausſicht hat
und ſo mannigfaltige maleriſche Effekte beobachtet als auf
Gipfeln von der Höhe des Veſuvs, des Rigi, des Puy de
Dome. Koloſſale Berge wie der Chimborazo, der Antiſana
oder der Montblanc haben eine ſo große Maſſe, daß man die
mit reichem Pflanzenwuchs bedeckten Ebenen nur in großer
[91] Entfernung ſieht und ein bläulicher Duft gleichförmig auf der
ganzen Landſchaft liegt. Durch ſeine ſchlanke Geſtalt und
ſeine eigentümliche Lage vereinigt nun der Pik von Tenerifa
die Vorteile niedrigerer Gipfel mit denen, wie ſehr bedeutende
Höhen ſie bieten. Man erblickt auf ſeiner Spitze nicht allein
einen ungeheuren Meereshorizont, der über die höchſten Berge
der benachbarten Inſeln hinaufreicht, man ſieht auch die
Wälder von Tenerifa und die bewohnten Küſtenſtriche ſo nahe,
daß noch Umriſſe und Farben in den ſchönſten Kontraſten
hervortreten. Es iſt, als ob der Vulkan die kleine Inſel, die
ihm zur Grundlage dient, erdrückte; er ſteigt aus dem Schoße
des Meeres dreimal höher auf, als die Wolken im Sommer
ziehen. Wenn ſein ſeit Jahrhunderten halb erloſchener Krater
Feuergarben auswürfe wie der Stromboli der äoliſchen Inſeln,
ſo würde der Pik von Tenerifa dem Schiffer in einem Um-
kreis von mehr als 1170 km als Leuchtturm dienen.
Wir lagerten uns am äußeren Rande des Kraters und
blickten zuerſt nach Nordweſt, wo die Küſten mit Dörfern
und Weilern geſchmückt ſind. Vom Winde fortwährend hin
und her getriebene Dunſtmaſſen zu unſeren Füßen boten uns
das mannigfaltigſte Schauſpiel. Eine ebene Wolkenſchicht
zwiſchen uns und den tiefen Regionen der Inſel, dieſelbe,
von der oben die Rede war, war da und dort durch die kleinen
Luftſtröme durchbrochen, welche nachgerade die von der Sonne
erwärmte Erdoberfläche zu uns heraufſandte. Der Hafen von
Orotava, die darin ankernden Schiffe, die Gärten und Wein-
berge um die Stadt wurden durch eine Oeffnung ſichtbar,
welche jeden Augenblick größer zu werden ſchien. Aus dieſen
einſamen Regionen blickten wir nieder in eine bewohnte Welt;
wir ergötzten uns am lebhaften Kontraſt zwiſchen den dürren
Flanken des Piks, ſeinen mit Schlacken bedeckten ſteilen Ab-
hängen, ſeinen pflanzenloſen Plateaus, und dem lachenden
Anblick des bebauten Landes; wir ſahen, wie ſich die Ge-
wächſe nach der mit der Höhe abnehmenden Temperatur in
Zonen verteilten. Unter dem Piton beginnen Flechten die
verſchlackten, glänzenden Laven zu überziehen; ein Veilchen, 1
das der Viola decumbens nahe ſteht, geht am Abhang des
Vulkanes bis zu 3390 m Höhe, höher nicht allein als die
anderen krautartigen Gewächſe, ſondern ſogar höher als die
Gräſer, welche in den Alpen und auf dem Rücken der Kor-
[92] dilleren unmittelbar an die Gewächſe aus der Familie der
Kryptogamen ſtoßen. Mit Blüten bedeckte Retamabüſche
ſchmücken die kleinen, von den Regenſtrömen eingeriſſenen und
durch die Seitenausbrüche verſtopften Thäler; unter der Re-
tama folgt die Region der Farne und auf dieſe die der baum-
artigen Heiden. Wälder von Lorbeeren, Rhamnus und Erd-
beerbäumen liegen zwiſchen den Heidekräutern und den mit
Reben und Obſtbäumen bepflanzten Geländen. Ein reicher
grüner Teppich breitet ſich von der Ebene der Ginſter und
der Zone der Alpenkräuter bis zu den Gruppen von Dattel-
palmen und Muſen, deren Fuß das Weltmeer zu beſpülen
ſcheint. Ich deute hier nur die Hauptzüge dieſer Pflanzen-
karte an; im folgenden gebe ich einiges Nähere über die
Pflanzengeographie der Inſel Tenerifa.
Daß auf der Spitze des Piks die Dörfchen, Weinberge
und Gärten an der Küſte einem ſo nahe gerückt ſcheinen,
dazu trägt die erſtaunliche Durchſichtigkeit der Luft viel bei.
Trotz der bedeutenden Entfernung erkannten wir nicht nur
die Häuſer, die Baumſtämme, das Takelwerk der Schiffe, wir
ſahen auch die reiche Pflanzenwelt der Ebenen in den leb-
hafteſten Farben glänzen. Dieſe Erſcheinung iſt nicht allein
dem hohen Standpunkt zuzuſchreiben, ſie deutet auf eine eigen-
tümliche Beſchaffenheit der Luft in heißen Ländern. Unter
allen Zonen erſcheint ein Gegenſtand, der ſich auf dem Meeres-
ſpiegel befindet und von dem die Lichtſtrahlen in wagerechter
Richtung ausgehen, weniger lichtſtark, als wenn man ihn vom
Gipfel eines Berges ſieht, wohin die Waſſerdämpfe durch
Luftſchichten von abnehmender Dichtigkeit gelangen. Gleich
auffallende Unterſchiede werden vom Einfluß der Klimate be-
dingt; der Spiegel eines Sees oder eines breiten Fluſſes
glänzt bei gleicher Entfernung weniger, wenn man ihn vom
Kamme der Schweizer Hochalpen, als wenn man ihn vom
Gipfel der Kordilleren von Peru oder Mexiko ſieht. Je reiner
und heiterer die Luft iſt, deſto vollſtändiger löſen ſich die
Waſſerdämpfe auf und deſto weniger wird das Licht bei
ſeinem Durchgang geſchwächt. Wenn man von der Südſee
her auf die Hochebene von Quito oder Antiſana kommt, ſo
wundert man ſich in den erſten Tagen, wie nahe gerückt
Gegenſtände erſcheinen, die 31 bis 36 km entfernt ſind. Der
Pik von Teyde genießt nun zwar nicht des Vorteils, unter
den Tropen zu liegen, aber die Trockenheit der Luftſäulen,
welche fortwährend über den benachbarten afrikaniſchen Ebenen
[93] aufſteigen und die die Weſtwinde raſch herbeiführen, verleiht
der Luft der Kanariſchen Inſeln eine Durchſichtigkeit, hinter
der nicht nur die Luft Neapels und Siziliens, ſondern viel-
leicht ſogar der klare Himmel Perus und Quitos zurückſtehen.
Auf dieſer Durchſichtigkeit beruht vornehmlich die Pracht der
Landſchaften unter den Tropen; ſie hebt den Glanz der Farben
der Gewächſe und ſteigert die magiſche Wirkung ihrer Har-
monieen und ihrer Kontraſte. Wenn eine große, um die Gegen-
ſtände verbreitete Lichtmaſſe in gewiſſen Stunden des Tages
die äußeren Sinne ermüdet, ſo wird der Bewohner ſüdlicher
Klimate durch moraliſche Genüſſe dafür entſchädigt. Schwung
und Klarheit der Gedanken, innerliche Heiterkeit entſprechen
der Durchſichtigkeit der umgebenden Luft. Man erhält dieſe
Eindrücke, ohne die Grenze von Europa zu überſchreiten; ich
berufe mich auf die Reiſenden, welche jene durch die Wunder
des Gedankens und der Kunſt verherrlichten Länder geſehen
haben, die glücklichen Himmelsſtriche Griechenlands und Italiens.
Umſonſt verlängerten wir unſeren Aufenthalt auf dem
Gipfel des Piks, des Momentes harrend, wo wir den ganzen
Archipel der glückſeligen Inſeln 1 würden überſehen können.
Wir ſahen zu unſeren Füßen Palma, Gomera und die große
Canaria. Die Berge von Lanzarote, die bei Sonnenaufgang
dunſtfrei geweſen waren, hüllten ſich bald wieder in dichte
Wolken. Nur die gewöhnliche Refraktion vorausgeſetzt, über-
ſieht das Auge bei hellem Wetter vom Gipfel des Vulkanes
ein Stück Erdoberfläche von 115000 qkm, alſo ſo viel als
ein Vierteil der Oberfläche Spaniens. Oft iſt die Frage auf-
geworfen worden, ob man von dieſer ungeheuren Pyramide
die afrikaniſche Küſte ſehen könne. Aber die nächſten Striche
dieſer Küſte ſind 2° 49′ im Bogen, oder 252 km entfernt;
da nun der Geſichtshalbmeſſer des Horizontes des Piks 1° 47,
beträgt, ſo kann Kap Bojador nur ſichtbar werden, wenn man
ihm 390 m Meereshöhe gibt. Wir wiſſen gar nicht, wie hoch
die Schwarzen Berge bei Kap Bojador ſind, ſowie der Pik
ſüdlich von dieſem Vorgebirge, den die Seefahrer Peñon grande
nennen. Wäre der Gipfel des Vulkanes von Tenerifa zu-
[94] gänglicher, ſo ließen ſich dort ohne Zweifel bei gewiſſen Wind-
richtungen die Wirkungen ungewöhnlicher Refraktion beob-
achten. Lieſt man die Berichte ſpaniſcher und portugieſiſcher
Schriftſteller über die Exiſtenz der fabelhaften Inſel San
Borondon oder Antilia, ſo ſieht man, daß in dieſen Strichen
vorzüglich der feuchte Weſt-Süd-Weſtwind Luftſpiegelungen
zur Folge hat; 1 indeſſen wollen wir nicht mit Viera glauben,
„daß durch das Spiel der irdiſchen Refraktion die Inſeln des
grünen Vorgebirges, ja ſogar die Appalachen in Amerika den
Bewohnern der Kanarien ſichtbar werden können“.
Die Kälte, die wir auf dem Gipfel des Piks empfanden,
war für die Jahreszeit ſehr bedeutend. Der hundertteilige
Thermometer 2 zeigte entfernt vom Boden und von den Fu-
marolen, die heiße Dämpfe ausſtoßen, im Schatten 2,7°.
Der Wind war Weſt, alſo dem entgegengeſetzt, der einen
großen Teil des Jahres Tenerifa die heiße Luft zuführt, die
über den glühenden Wüſten Afrikas aufſteigt. Da die Tem-
peratur im Hafen von Orotava, nach Herrn Savagis Beob-
achtung, 22,8° war, ſo nahm die Wärme auf 183 m Höhe
um einen Grad ab. Dieſes Ergebnis ſtimmt vollkommen mit
dem überein, was Lamanon und Sauſſure auf den Spitzen
des Piks und des Aetna, obwohl in ſehr verſchiedenen Jahres-
zeiten, beobachtet haben. 3 Die ſchlanke Geſtalt dieſer Berge
bietet den Vorteil, daß man die Temperatur zweier Luft-
ſchichten faſt ſenkrecht übereinander beobachten kann, und in
[95] dieſer Beziehung gleichen die Beobachtungen, die man bei der
Beſteigung des Vulkanes von Tenerifa macht, denen, die man
bei einer Auffahrt im Luftballon machen kann. Es iſt in-
deſſen zu bemerken, daß die See wegen ihrer Durchſichtigkeit
und wegen der Verdunſtung weniger Wärme den hohen Luft-
regionen zuſendet als die Ebenen; daher iſt es auf vom Meere
umgebenen Berggipfeln im Sommer kälter als auf Bergen
mitten im Lande; dieſes Moment hat aber nur geringen Ein-
fluß auf die Abnahme der Luftwärme, da die Temperatur
der tiefen Regionen in der Nähe des Meeres gleichfalls eine
niedrigere iſt.
Anders verhält es ſich mit dem Einfluſſe der Wind-
richtung und der Geſchwindigkeit des aufſteigenden Stromes;
letzterer erhöht nicht ſelten die Temperatur der höchſten Berge
in erſtaunlichem Grade. Am Abhang des Antiſana im König-
reich Quito ſah ich in 5530 m Höhe den Thermometer auf
19° ſtehen; Labillardière beobachtete am Kraterrand des Pik
von Tenerifa 18,7°, wobei er alle erdenkliche Vorſicht ge-
braucht hatte, um den Einfluß zufälliger Urſachen auszu-
ſchließen. Da die Temperatur der Reede von Santa Cruz
zur ſelben Zeit 28° war, ſo betrug der Unterſchied zwiſchen
der Luft an der Küſte und der auf dem Pik 9,3° ſtatt 20°,
die einer Wärmeabnahme von einem Grad auf 183 m ent-
ſprechen. Ich finde im Schiffstagebuch von d’Entrecaſteaux’
Expedition, daß damals in Santa Cruz der Wind Süd-Süd-
Oſt war. Vielleicht wehte derſelbe Wind ſtärker in den hohen
Luftregionen; vielleicht trieb er in ſchiefer Richtung die warme
Luft vom nahen Feſtlande der Spitze des Piton zu. Labil-
lardières Beſteigung fand zudem am 17. Oktober 1791 ſtatt,
und in den Schweizer Alpen hat man die Beobachtung ge-
macht, daß der Temperaturunterſchied zwiſchen Berg und Tief-
land im Herbſt geringer iſt als im Sommer. Alle dieſe
Schwankungen im Maß der Temperaturabnahme haben auf
die Meſſungen mittels des Barometers nur inſofern Einfluß,
als die Abnahme in den dazwiſchenliegenden Schichten nicht
gleichförmig iſt, und von der arithmetiſchen gleichmäßigen
Progreſſion, wie die angewandten Formeln ſie annehmen, ab-
weicht.
Wir wurden auf dem Gipfel des Piks nicht müde, die
Farbe des blauen Himmelsgewölbes zu bewundern. Ihre
Intenſität im Zenith ſchien uns gleich 41° des Cyanometers.
Man weiß nach Sauſſures Verſuchen, daß dieſe Intenſität
[96] mit der Verdünnung der Luft zunimmt, und daß dasſelbe
Inſtrument zur ſelben Zeit bei der Priorei von Chamouni
39° und auf der Spitze des Montblanc 40° zeigte. Dieſer
Berg iſt um 1052 m höher als der Vulkan von Tenerifa,
und wenn trotz dieſem Unterſchied auf erſterem das Himmels-
blau nicht ſo dunkel iſt, ſo rührt dies wohl von der Trocken-
heit der afrikaniſchen Luft und der Nähe der heißen Zone her.
Wir fingen am Kraterrand Luft auf, um ſie auf der
Fahrt nach Amerika chemiſch zu zerlegen. Die Flaſche war
ſo gut verſchloſſen, daß, als wir ſie nach zehn Tagen öffneten,
das Waſſer mit Gewalt hineindrang. Nach mehreren Ver-
ſuchen mit Salpetergas in der engen Röhre des Fontanaſchen
Eudiometers enthielt die Luft im Krater neun Hundertteile
weniger Sauerſtoff als die Seeluft; ich gebe aber wenig auf
dieſes Reſultat, da die Methode jetzt für ziemlich unzuver-
läſſig gilt. Der Krater des Piks hat ſo wenig Tiefe und
die Luft darin erneuert ſich ſo leicht, daß ſchwerlich mehr
Stickſtoff darin iſt als an der Küſte. Wir wiſſen überdem
aus Gay-Luſſacs und Theodor Sauſſures Verſuchen, daß die
Luft in den höchſten Luftregionen wie in den tiefſten 0,21
Sauerſtoff enthält. 1
Wir ſahen auf dem Gipfel des Piks keine Spur von
Pſora, Lecidium oder anderen Kryptogamen, kein Inſekt flatterte
in der Luft. Indeſſen findet man hier und da ein hautflüg-
liges Inſekt an den Schwefelmaſſen angeklebt, die von ſchwef-
liger Säure feucht ſind und die Oeffnungen der Fumarolen
auskleiden. Es ſind Bienen, die wahrſcheinlich die Blüten
des Spartium nubigenum aufgeſucht hatten und vom Winde
ſchief aufwärts in dieſe Höhe getrieben worden waren, wie
die Schmetterlinge, welche Ramond auf dem Gipfel des Mont
Perdu gefunden. Die letzteren gehen durch die Kälte zu Grunde,
während die Bienen auf dem Pik geröſtet werden, wenn ſie
unvorſichtig den Spalten, an denen ſie ſich wärmen wollten,
zu nahe kommen.
Trotz dieſer Wärme, die man am Rande des Kraters
unter den Füßen ſpürt, iſt der Aſchenkegel im Winter mehrere
[97] Monate mit Schnee bedeckt. Wahrſcheinlich bilden ſich unter
der Schneehaube große Höhlungen, ähnlich denen unter den
Gletſchern in der Schweiz, die beſtändig eine niedrigere Tem-
peratur haben als der Boden, auf dem ſie ruhen. Der heftige
kalte Wind, der ſeit Sonnenaufgang blies, zwang uns, am
Fuße des Piton Schutz zu ſuchen. Hände und Geſicht waren
uns erſtarrt, während unſere Stiefeln auf dem Boden, auf
den wir den Fuß ſetzten, verbrannten. In wenigen Minuten
waren wir am Fuß des Zuckerhutes, den wir ſo mühſam er-
klommen, und dieſe Geſchwiṅdigkeit war zum Teil unwillkür-
lich, da man häufig in der Aſche hinunterrutſcht. Ungern
ſchieden wir von dem einſamen Orte, wo ſich die Natur in
ihrer ganzen Großartigkeit vor uns aufthut; wir hofften die
Kanariſchen Inſeln noch einmal beſuchen zu können, aber aus
dem Plane wurde nichts, wie aus ſo vielen, die wir damals
entwarfen.
Wir gingen langſam durch das Malpays; auf loſen Lava-
blöcken tritt man nicht ſicher auf. Der Station bei den Felſen
zu wird der Weg abwärts äußerſt beſchwerlich; der dichte kurze
Raſen iſt ſo glatt, daß man ſich beſtändig nach hinten über-
beugen muß, um nicht zu ſtürzen. Auf der ſandigen Ebene
der Retama zeigte der Thermometer 22,5°, und dies ſchien
uns nach dem Froſt, der uns auf dem Gipfel geſchüttelt, eine
erſtickende Hitze. Wir hatten gar kein Waſſer; die Führer
hatten nicht allein den kleinen Vorrat Malvaſier, den wir
der freundlichen Vorſorge Cologans verdankten, heimlich ge-
trunken, ſondern ſogar die Waſſergefäße zerbrochen. Zum Glück
war die Flaſche mit der Kraterluft unverſehrt geblieben.
In der ſchönen Region der Farne und der baumartigen
Heiden genoſſen wir endlich einiger Kühlung. Eine dicke
Wolkenſchicht hüllte uns ein; ſie hielt ſich in 1170 m Höhe
über der Niederung. Während wir durch dieſe Schicht kamen,
hatten wir Gelegenheit, eine Erſcheinung zu beobachten, die
uns ſpäter am Abhang der Kordilleren öfters vorgekommen
iſt. Kleine Luftſtröme trieben Wolkenſtreifen mit verſchiedener
Geſchwindigkeit nach entgegengeſetzten Richtungen. Dies nahm
ſich aus, als ob in einer großen ſtehenden Waſſermaſſe kleine
Waſſerſtröme ſich raſch nach allen Seiten bewegten. Dieſe
teilweiſe Bewegung der Wolken rührt wahrſcheinlich von ſehr
verſchiedenen Urſachen her, und man kann ſich denken, daß
der Anſtoß dazu ſehr weit herkommen mag. Man kann den
Grund in kleinen Unebenheiten des Bodens ſuchen, die mehr
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 7
[98] oder weniger Wärme ſtrahlen, in einem auf irgend einem
chemiſchen Prozeß beruhenden Temperaturunterſchied, oder end-
lich in einer ſtarken elektriſchen Ladung der Dunſtbläschen.
In der Nähe der Stadt Orotava trafen wir große
Schwärme von Kanarienvögeln. 1 Dieſe in Europa ſo wohl-
bekannten Vögel waren ziemlich gleichförmig grün, einige auf
dem Rücken gelblich; ihr Schlag glich dem der zahmen Ka-
narienvögel, man bemerkt indeſſen, daß die, welche auf der
Inſel Gran Canaria und auf dem kleinen Eiland Monte Clara
bei Lanzarote gefangen werden, einen ſtärkeren und zugleich
harmoniſcheren Schlag haben. In allen Himmelsſtrichen hat
jeder Schwarm derſelben Vogelart ſeine eigene Sprache. Die
gelben Kanarienvögel ſind eine Spielart, die in Europa ent-
ſtanden iſt, und die, welche wir zu Orotava und Santa Cruz
de Tenerifa in Käfigen ſahen, waren in Cadiz und anderen
ſpaniſchen Häfen gekauft. Aber der Vogel der Kanariſchen
Inſeln, der von allen den ſchönſten Geſang hat, iſt in Europa
unbekannt, der Capirote, der ſo ſehr die Freiheit liebt, daß
er ſich niemals zähmen ließ. Ich bewunderte ſeinen weichen,
melodiſchen Schlag in einem Garten bei Orotava, konnte ihn
aber nicht nahe genug zu Geſicht bekommen, um zu beſtimmen,
welcher Gattung er angehört. Was die Papageien betrifft,
die man beim Aufenthalt des Kapitän Cook auf Tenerifa
geſehen haben will, ſo exiſtieren ſie nur in Reiſeberichten,
die einander abſchreiben. Es gibt auf den Kanarien weder
Papageien noch Affen, und obgleich erſtere in der Neuen Welt
bis Nordkarolina wandern, ſo glaube ich doch kaum, daß in der
Alten über dem 28. Grad nördlicher Breite welche vorkommen.
Wir kamen, als der Tag ſich neigte, im Hafen von
Orotava an und erhielten daſelbſt die unerwartete Nachricht,
daß der Pizarro erſt in der Nacht vom 24. zum 25. unter
Segel gehen werde. Hätten wir auf dieſen Aufſchub rechnen
können, ſo wären wir entweder länger auf dem Pik geblieben, 2
[99] oder hätten einen Ausflug nach dem Vulkan Chahorra gemacht.
Den folgenden Tag durchſtreiften wir die Umgegend von
Orotava und genoſſen des Umgangs mit Cologans liebens-
würdiger Familie. Da fühlten wir recht, daß der Aufenthalt
auf Tenerifa nicht bloß für den Naturforſcher von Intereſſe
iſt; man findet in Orotava Liebhaber von Litteratur und
Muſik, welche den Reiz europäiſcher Geſellſchaft in dieſe fernen
Himmelsſtriche verpflanzt haben. In dieſer Beziehung haben
die Kanariſchen Inſeln mit den übrigen ſpaniſchen Kolonieen,
Havana ausgenommen, wenig gemein.
Am Vorabend des Johannistages wohnten wir einem
ländlichen Feſte in Herrn Littles Garten bei. Dieſer Han-
delsmann, der den Kanarien bei der letzten Getreideteurung
bedeutende Dienſte erwieſen, hat einen mit vulkaniſchen Trüm-
mern bedeckten Hügel angepflanzt und an dieſem köſtlichen Punkt
einen engliſchen Garten angelegt, wo man eine herrliche Aus-
ſicht auf die Pyramide des Piks, auf die Dörfer an der Küſte
und die Inſel Palma hat, welche die weite Meeresfläche be-
grenzt. Ich kann dieſe Ausſicht nur mit der in den Golfen
von Neapel und Genua vergleichen, aber hinſichtlich der Groß-
artigkeit der Maſſen und der Fülle des Pflanzenwuchſes ſteht
Orotava über beiden. Bei Einbruch der Nacht bot uns der
Abhang des Vulkanes auf einmal ein eigentümliches Schauſpiel.
Nach einem Brauch, den ohne Zweifel die Spanier eingeführt
hatten, obgleich er an ſich uralt iſt, hatten die Hirten die
Johannisfeuer angezündet. Die zerſtreuten Lichtmaſſen, die
vom Winde gejagten Rauchſäulen hoben ſich an den Seiten
des Piks vom Dunkelgrün der Wälder ab. Freudengeſchrei
drang aus der Ferne zu uns herüber, und ſchien der einzige
Laut, der die Stille der Natur an jenen einſamen Orten
unterbrach.
Die Familie Cologan beſitzt ein Landhaus näher an der
2
[100] Küſte als das eben beſchriebene. Der Name, den ihm der
Eigentümer gegeben, bezeichnet den Eindruck, den dieſer Landſitz
macht. Das Haus La Paz hatte zudem noch beſonderes In-
tereſſe für uns. Borda, deſſen Tod wir bedauerten, hatte
hier bei ſeiner letzten Reiſe nach den Kanarien gewohnt. Auf
einer kleinen Ebene in der Nähe hat er die Standlinie zur
Meſſung der Höhe des Piks abgeſteckt. Bei dieſer trigono-
metriſchen Meſſung diente der große Drachenbaum von Oro-
tava als Signal. Wollte einmal ein unterrichteter Reiſender
eine neue genauere Meſſung des Vulkanes mittels aſtrono-
miſcher Repetitionskreiſe vornehmen, ſo müßte er die Stand-
linie nicht bei Orotava, ſondern bei Los Silos, an einem
Orte, Bante genannt, meſſen; nach Brouſſonet iſt keine Ebene
in der Nähe des Piks ſo groß wie dieſe. Wir botaniſierten
bei La Paz und fanden in Menge das Lichen roccella auf
baſaltiſchem, von der See beſpülten Geſtein. Die Orſeille
der Kanarien iſt ein ſehr alter Handelsartikel; man bezieht
aber das Moos weniger von Tenerifa als von den unbe-
wohnten Inſeln Salvage, Gracioſa, Alegranza, ſogar von
Canaria und Hierro.
Am 24. Juni morgens verließen wir den Hafen von
Orotava; in Laguna ſpeiſten wir beim franzöſiſchen Konſul.
Er hatte die Gefälligkeit, die Beſorgung der geologiſchen
Sammlungen zu übernehmen, die wir dem Naturalienkabinett
des Königs von Spanien übermachten. Als wir vor der
Stadt auf die Reede hinausblickten, ſahen wir zu unſerem
Schreck den Pizarro, unſere Korvette, unter Segel. Im Hafen
angelangt, erfuhren wir, er laviere mit wenigen Segeln, uns
erwartend. Die engliſchen bei Tenerifa ſtationierten Schiffe
waren verſchwunden, und wir hatten keinen Augenblick zu
verlieren, um aus dieſen Strichen wegzukommen. Wir ſchifften
uns allein ein; unſere Reiſegefährten waren Kanarier geweſen,
die nicht mit nach Amerika gingen.
Ehe wir den Archipel der Kanarien verlaſſen, werfen wir
einen Blick auf die Geſchichte des Landes.
Vergeblich ſehen wir uns im Periplus des Hanno und
dem des Scylax nach den erſten ſchriftlichen Urkunden über
die Ausbrüche des Piks von Tenerifa um. Dieſe Seefahrer
hielten ſich ängſtlich an die Küſten, ſie liefen jeden Abend in
eine Bai und ankerten, und ſo konnten ſie nichts von einem
Vulkan wiſſen, der 252 km vom Feſtland von Afrika liegt.
Hanno berichtet indeſſen von leuchtenden Strömen, die ſich in
[101] das Meer zu ergießen ſchienen; jede Nacht haben ſich auf der
Küſte viele Feuer gezeigt, und der große Berg, der Götter-
wagen genannt, habe Feuergarben ausgeworfen, die bis zu
den Wolken aufgeſtiegen. Aber dieſer Berg, nordwärts von
der Inſel der Gorilla, 1 bildete das Weſtende der Atlaskette,
und es iſt zudem ſehr zweifelhaft, ob die von Hanno bemerkten
Feuer wirklich von einem vulkaniſchen Ausbruch herrührten,
oder von dem bei ſo vielen Völkern herrſchenden Brauch, die
Wälder und das dürre Gras der Savannen anzuzünden. In
neueſter Zeit waren ja auch die Naturforſcher, welche die
Expedition unter Konteradmiral d’Entrecaſteaux mitmachten,
ihrer Sache nicht gewiß, als ſie die Inſel Amſterdam mit
dickem Rauch bedeckt ſahen. Auf der Küſte von Caracas ſah
ich mehrere Nächte hintereinander rötliche Feuerſtreifen von
brennendem Graſe, die ſich täuſchend wie Lavaſtröme aus-
nahmen, die von den Bergen herabkamen und ſich in mehrere
Arme teilten.
Obgleich in den Reiſetagebüchern des Hanno und des
Scylax, ſo weit ſie uns erhalten ſind, keine Stelle vorkommt,
die ſich mit einigem Schein von Recht auf die Kanariſchen
Inſeln beziehen ließe, iſt es doch ſehr wahrſcheinlich, daß die
Karthager und auch die Phönizier den Pik von Tererifa ge-
kannt haben. 2 Zu Platos und Ariſtoteles’ Zeit waren dunkle
Gerüchte davon zu den Griechen gedrungen, nach deren Vor-
ſtellung die ganze Küſte von Afrika jenſeits der Säulen des
Herkules von vulkaniſchem Feuer verheert war. 3 Die Inſeln der
[102] Seligen, die man anfangs im Norden, jenſeits der Riphäiſchen
Gebirge bei den Hyperboreern, 1 ſpäter ſüdwärts von Cyre-
naica geſucht hatte, wurden nach Weſten verlegt, dahin, wo
die den Alten bekannte Welt ein Ende hatte. Was man
glückſelige Inſeln nannte, war lange ein ſchwankender Begriff,
wie der Name Dorado bei den erſten Eroberern Amerikas.
Man verſetzte das Glück an das Ende der Welt, wie man
den lebhafteſten Geiſtesgenuß in einer idealen Welt jenſeits
der Grenzen der Wirklichkeit ſucht.
Es iſt nicht zu verwundern, daß vor Ariſtoteles die
griechiſchen Geographen keine genaue Kenntnis von den Kana-
riſchen Inſeln und ihren Vulkanen hatten. Das einzige Volk,
das weit nach Weſt und Nord die See befuhr, die Karthager,
fanden ihren Vorteil dabei, wenn ſie dieſe entlegenen Landſtriche
in den Schleier des Geheimniſſes hüllten. Der karthagiſche
Senat duldete keine Auswanderung einzelner und erſah dieſe
Inſeln als Zufluchtsort in Zeiten der Unruhe und politiſchen
Unfälle; ſie ſollten für die Karthager ſein, was der freie
Boden von Amerika für die Europäer bei ihren bürgerlichen
und religiöſen Zwiſtigkeiten geworden iſt.
Die Römer wurden erſt achtzig Jahre vor Octavians
Regierung näher mit den Kanariſchen Inſeln bekannt. Ein
bloßer Privatmann wollte den Gedanken verwirklichen, den
der karthagiſche Senat in weiſer Vorſicht gefaßt. Nach ſeiner
Niederlage durch Sylla ſucht Sertorius, müde des Waffen-
lärms, eine ſichere, ruhige Zufluchtsſtätte. Er wählt die
glückſeligen Inſeln, von denen man ihm an den Küſten von
Bätika eine reizende Schilderung entwirft. Er ſammelt ſorg-
fältig, was ihm von Reiſenden an Nachrichten zukommt; aber
in den wenigen Stücken dieſer Nachrichten, die auf uns ge-
kommen ſind, und in den umſtändlicheren Beſchreibungen des
Seboſus und des Juba iſt niemals von Vulkanen und vul-
kaniſchen Ausbrüchen die Rede. Kaum erkennt man die Inſel
3
[103] Tenerifa und den Schnee, der im Winter die Spitze des Piks
bedeckt, am Namen Nivaria, der einer der glückſeligen Inſeln
beigelegt wird. Man könnte danach annehmen, daß der Vul-
kan damals kein Feuer geſpieen habe, wenn ſich aus dem
Stillſchweigen von Schriftſtellern etwas ſchließen ließe, von
denen wir nichts beſitzen als Bruchſtücke und trockene Namen-
verzeichniſſe. Umſonſt ſucht der Phyſiker in der Geſchichte
Urkunden über die älteſten Ausbrüche des Piks; er findet
nirgends welche, außer in der Sprache der Guanchen, in der
das Wort „Echeyde“ 1 zugleich die Hölle und den Vulkan von
Tenerifa bedeutete.
Die älteſte ſchriftliche Nachricht von der Thätigkeit des
Vulkanes, die ich habe auffinden können, kommt aus dem An-
fang des 16. Jahrhunderts. Sie findet ſich in der Reiſe-
beſchreibung 2 des Aloyſio Cadamoſto, der im Jahre 1505 auf
den Kanarien landete. Dieſer Reiſende war nicht ſelbſt Zeuge
eines Ausbruches, er verſichert aber beſtimmt, der Berg brenne
fortwährend gleich dem Aetna und das Feuer ſei von Chriſten
geſehen worden, die als Sklaven der Guanchen auf Tenerifa
lebten. Der Pik befand ſich alſo damals nicht im Zuſtand
der Ruhe wie jetzt, denn es iſt ſicher, daß kein Reiſender und
kein Einwohner von Tenerifa der Mündung des Piks von
weitem ſichtbaren Rauch, geſchweige denn Flammen, hat ent-
ſteigen ſehen. Es wäre vielleicht zu wünſchen, daß der Schlund
[104] der Caldera ſich wieder öffnete, die Seitenausbrüche würden
damit weniger heftig und die ganze Inſelgruppe hätte weniger
von Erdbeben zu leiden.
Ich habe zu Orotava die Frage beſprechen hören, ob an-
zunehmen ſei, daß der Krater des Piks im Laufe der Jahr-
hunderte wieder in Thätigkeit treten werde. In einer ſo
zweifelhaften Sache kann man ſich nur an die Analogie halten.
Nun war nach Braccinis Bericht im Jahre 1611 der Krater
des Veſuvs im Inneren mit Gebüſch bewachſen. Alles ver-
kündete die tiefſte Ruhe, und dennoch warf derſelbe, der ſich
in ein ſchattiges Thal verwandeln zu wollen ſchien, zwanzig
Jahre ſpäter Feuerſäulen und ungeheure Maſſen Aſche aus.
Der Veſuv wurde im Jahre 1631 wieder ſo thätig, als er im
Jahre 1500 geweſen war. So könnte möglicherweiſe auch der
Krater des Piks ſich eines Tages wieder umwandeln. Er iſt
jetzt eine Solfatare, ähnlich der friedlichen Solfatare von
Pozzuoli; aber ſie iſt auf der Spitze eines noch thätigen
Vulkanes gelegen.
Die Ausbrüche des Piks waren ſeit zweihundert Jahren
ſehr ſelten, und ſolche lange Pauſen ſcheinen charakteriſtiſch
für ſehr hohe Vulkane. Der kleinſte von allen, der Strom-
boli, iſt faſt in beſtändiger Thätigkeit. Beim Veſuv ſind
die Ausbrüche ſchon ſeltener, indeſſen häufiger als beim
Aetna und dem Pik von Tenerifa. Die koloſſalen Gipfel der
Anden, der Cotopaxi und der Tunguragua ſpeien kaum ein-
mal im Jahrhundert Feuer. Bei thätigen Vulkanen ſcheint
die Häufigkeit der Ausbrüche im umgekehrten Verhältnis mit
der Höhe und der Maſſe derſelben zu ſtehen. So ſchien auch
der Pik nach zweiundneunzig Jahren erloſchen, als im Jahre
1792 der letzte Ausbruch durch eine Seitenöffnung im Berg
Chahorra erfolgte. In dieſem Zeitraum hat der Veſuv ſech-
zehnmal Feuer geſpieen.
Ich habe anderswo ausgeführt, daß der ganze gebirgige
Teil des Königreichs Quito anzuſehen iſt, als ein ungeheurer
Vulkan von 14175 qkm Oberfläche, der aus verſchiedenen
Kegeln mit eigenen Namen, Cotopaxi, Tunguragua, Pichincha,
Feuer ſpeit. Ebenſo ruht die ganze Gruppe der Kanariſchen
Inſeln gleichſam auf einem untermeeriſchen Vulkan. Das
Feuer brach ſich bald durch dieſe, bald durch jene der Inſeln
Bahn. Nur Tenerifa trägt in ſeiner Mitte eine ungeheure
Pyramide mit einem Krater auf der Spitze, die in jahr-
hundertlangen Perioden aus ihren Seiten Lavaſtröme ergießt.
[105] Auf den anderen Inſeln haben die verſchiedenen Ausbrüche
an verſchiedenen Stellen ſtattgefunden, und man findet dort
keinen vereinzelten Berg, an den die vulkaniſche Thätigkeit
gebunden wäre. Die von uralten Vulkanen gebildete Baſalt-
rinde ſcheint dort allerorten unterhöhlt, und die Lavaſtröme,
die auf Lanzarote und Palma ausgebrochen ſind, kommen
geologiſch durchaus mit dem Ausbruch überein, der im Jahre
1301 auf der Inſel Ischia durch die Tuffe des Epomeo erfolgte.
Es folgt hier die Liſte der Ausbrüche, deren Andenken
ſich bei den Geſchichtsſchreibern der Inſel ſeit der Mitte des
16. Jahrhunderts erhalten hat.
Jahr 1558. — Am 15. April. Zur ſelben Zeit wurde
Tenerifa zum erſtenmal von der aus der Levante eingeſchleppten
Peſt verheert. Ein Vulkan öffnet ſich auf der Inſel Palma,
nahe einer Quelle im Partido de los Llanos. Ein Berg
ſteigt aus dem Boden; auf der Spitze bildet ſich ein Krater,
der einen 195 m breiten und über 4,8 km langen Lavaſtrom
ergießt. Die Lava ſtürzt ſich ins Meer, und durch die Er-
hitzung des Waſſers gehen die Fiſche in weitem Umkreiſe
zu Grunde. 1
Jahr 1646. — Am 13. November thut ſich ein Schlund
auf der Inſel Palma bei Tigalate auf; zwei andere bilden
ſich am Meeresufer. Die Laven, die ſich aus dieſen Spalten
ergießen, machen die berühmte Quelle Foncaliente oder Fuente
Santa verſiegen, deren Mineralwaſſer Kranke ſogar aus
Europa herbeizog. Nach einer Volksſage wurde dem Aus-
bruch durch ein ſeltſames Mittel Einhalt gethan. Das Bild
unſerer lieben Frau zum Schnee wurde aus Santa Cruz an
den Schlund des neuen Vulkanes gebracht, und alsbald fiel
eine ſo ungeheure Maſſe Schnee, daß das Feuer dadurch er-
loſch. In den Anden von Quito wollen die Indianer die
Bemerkung gemacht haben, daß die Thätigkeit der Vulkane
durch vieles einſickerndes Schneewaſſer geſteigert wird.
Jahr 1677. — Dritter Ausbruch auf der Inſel Palma.
Der Berg Las Cabras wirft aus einer Menge kleiner Oeff-
nungen, die ſich nacheinander bilden, Schlacken und Aſche aus.
Jahr 1704. — Am 31. Dezember. Der Pik von Tenerifa
[106] macht einen Seitenausbruch in der Ebene Los Infantes, ober-
halb Icore, im Bezirk Guimar. Furchtbare Erdbeben gingen
dem Ausbruch voran. Am 5. Januar 1705 thut ſich ein
zweiter Schlund in der Schlucht Almerchiga, 4,5 km von
Icore auf. Die Lava iſt ſo ſtark, daß ſie das ganze Thal
Fasnia oder Areza ausfüllt. Dieſer zweite Schlund hört
am 13. Januar zu ſpeien auf. Ein dritter bildet ſich am
2. Februar in der Cañada de Arafo. Die Lava in drei
Strömen bedroht das Dorf Guimar, wird aber im Thal
Meloſar durch einen Felsgrat aufgehalten, der einen unüber-
ſteiglichen Damm bildet. Während dieſer Ausbrüche ſpürt
die Stadt Orotava, die nur ein ſchmaler Damm von den
neuen Schlünden trennt, ſtarke Erdſtöße.
Jahr 1706. — Am 5. Mai. Ein weiterer Seiten-
ausbruch des Piks von Tenerifa. Der Schlund bricht auf
ſüdlich vom Hafen von Garachico, damals dem ſchönſten und
beſuchteſten der Inſel. Die volkreiche, wohlhabende Stadt
hatte eine maleriſche Lage am Saum eines Lorbeerwaldes.
Zwei Lavaſtröme zerſtörten ſie in wenigen Stunden; kein
Haus blieb ſtehen. Der Hafen, der ſchon im Jahre 1645
gelitten hatte, weil ein Hochwaſſer viel Erdreich hineingeführt,
wurde ſo ausgefüllt, daß die ſich auftürmenden Laven in der
Mitte ſeines Umfangs ein Vorgebirge bildeten. Ueberall,
rings um Garachico, wurde das Erdreich völlig umgewandelt.
Aus der Ebene ſtiegen Hügel auf, die Quellen blieben aus,
und Felsmaſſen wurden durch die häufigen Erdſtöße der
Dammerde und des Pflanzenwuchſes beraubt und blieben
nackt ſtehen. Nur die Fiſcher ließen nicht vom heimatlichen
Boden. Mutig, wie die Einwohner von Torre del Greco,
erbauten ſie wieder ein Dörfchen auf Schlackenhaufen und
dem verglaſten Geſtein.
Jahr 1730. — Am 1. September. Eine der furcht-
barſten Kataſtrophen zerſtört den Landungsplatz der Inſel
Lanzarote. Ein neuer Vulkan bildet ſich bei Temanfaya. Die
Lavaſtröme und die Erdſtöße, welche den Ausbruch begleiten,
zerſtören eine Menge Dörfer, worunter die alten Flecken der
Guanchen Tingafa, Macintafe und Guatisca. Die Stöße
dauern bis 1736 fort, und die Bewohner von Lanzarote
flüchten ſich großenteils auf die Inſel Fuerteventura. Während
dieſes Ausbruches, von dem ſchon im vorigen Kapitel die
Rede war, ſieht man eine dicke Rauchſäule aus der See auf-
ſteigen. Pyramidaliſche Felſen erheben ſich über der Meeres-
[107] fläche, die Klippen werden immer größer und verſchmelzen
allmählich mit der Inſel ſelbſt.
Jahr 1798. — Am 9. Juni. Seitenausbruch des Piks
von Tenerifa, am Abhang des Berges Chahorra oder Venge, 1
an einem völlig unbebauten Orte, ſüdlich von Icod beim Dorfe
Guia, dem alten Iſora. Dieſer Berg, der ſich an den Pik
anlehnt, galt von jeher für einen erloſchenen Vulkan. Er
beſteht zwar aus feſten Gebirgsarten, verhält ſich aber doch
zum Pik wie der Monte Roſſo, der im Jahre 1661 aufſtieg,
oder die boche nueve, die im Jahre 1794 aufbrachen, zum
Aetna und zum Veſuv. Der Ausbruch des Chahorra währte
drei Monate und ſechs Tage. Die Lava und die Schlacken
wurden aus vier Mündungen in einer Reihe ausgeworfen.
Die 5,8 bis 7,8 m hoch aufgetürmte Lava legte 1 m in der
Stunde zurück. Da dieſer Ausbruch nur ein Jahr vor meiner
Ankunft auf Tenerifa erfolgt war, ſo war der Eindruck des-
ſelben bei den Einwohnern noch ſehr lebhaft. Ich ſah bei
Herrn Legros in Durasno eine von ihm an Ort und Stelle
entworfene Zeichnung der Oeffnungen des Chahorra. Don
Bernardo Cologan hat dieſe Oeffnungen, acht Tage nachdem
ſie aufgebrochen, beſucht und die Haupterſcheinungen bei dem
Ausbruch in einem Aufſatz beſchrieben, von dem er mir eine
Abſchrift mitteilte, um ſie meiner Reiſebeſchreibung einzu-
verleiben. Seitdem ſind dreizehn Jahre verfloſſen; Bory
St. Vincent iſt mir mit der Veröffentlichung des Aufſatzes
zuvorgekommen, und ſo verweiſe ich den Leſer auf ſein inter-
eſſantes Werk: Essai sur les îles fortunées. Ich beſchränke
mich hier darauf, einiges über die Höhe mitzuteilen, zu der
ſehr anſehnliche Felsſtücke aus den Oeffnungen des Chahorra
emporgeſchleudert wurden. Cologan zählte während des Falles
der Steine 12 bis 15 Sekunden, 2 das heißt er fing im Mo-
ment zu zählen an, wo ſie ihre höchſte Höhe erreicht hatten.
Aus dieſer intereſſanten Beobachtung geht hervor, daß die Fels-
ſtücke aus der Oeffnung über 975 m hoch geſchleudert wurden.
Alle in dieſer chronologiſchen Ueberſicht verzeichneten Aus-
brüche gehören den drei Inſeln Palma, Tenerifa und Lanzarote
[108] an. Wahrſcheinlich ſind vor dem 16. Jahrhundert die übrigen
Inſeln auch von vulkaniſchem Feuer heimgeſucht worden. Nach
mir mitgeteilten unbeſtimmten Notizen läge mitten auf der
Inſel Ferro ein erloſchener Vulkan und ein anderer auf der
großen Canaria bei Arguineguin. Es wäre aber wichtig
zu erfahren, ob ſich an der Kalkformation von Fuerteventura
oder am Granit und Glimmerſchiefer von Gomera Spuren
des unterirdiſchen Feuers zeigen.
Die rein ſeitliche vulkaniſche Thätigkeit die Piks von
Tenerifa iſt geologiſch um ſo merkwürdiger, als ſie dazu bei-
trägt, die Berge, die ſich an den Hauptvulkan anlehnen, iſoliert
erſcheinen zu laſſen. Allerdings kommen beim Aetna und beim
Veſuv die großen Lavaſtröme auch nicht aus dem Krater ſelbſt,
und die Maſſe geſchmolzener Stoffe ſteht meiſt im umgekehrten
Verhältnis mit der Höhe, in der ſich die Spalte bildet, welche
die Lava auswirft. Aber beim Veſuv und Aetna endet ein
Seitenausbruch immer damit, daß der Krater, das heißt die
eigentliche Spitze des Berges, Feuer und Aſche auswirft.
Beim Pik von Tenerifa iſt ſolches ſeit Jahrhunderten nicht
vorgekommen. Auch beim letzten Ausbruch im Jahre 1798
blieb der Krater vollkommen unthätig. Sein Grund hat ſich
nicht geſenkt, während nach Leopold von Buchs ſcharfſinniger
Bemerkung beim Veſuv die größere oder geringere Tiefe des
Kraters faſt ein untrügliches Zeichen iſt, ob ein neuer Aus-
bruch bevorſteht oder nicht.
Werfen wir jetzt einen Blick darauf, wie die einſt ge-
ſchmolzenen Felsmaſſen des Piks, wie die Baſalte und Mandel-
ſteine ſich allmählich mit einer Pflanzendecke überzogen haben,
wie die Gewächſe an den ſteilen Abhängen des Vulkanes ver-
teilt ſind, welcher Charakter der Pflanzenwelt der Kanariſchen
Inſeln zukommt.
Im nördlichen Teile des gemäßigten Erdſtrichs bedecken
kryptogamiſche Gewächſe zuerſt die ſteinige Erdrinde. Auf
die Flechten und Mooſe, deren Laub ſich unter dem Schnee
entwickelt, folgen grasartige und andere phanerogame Pflanzen.
Anders an den Grenzen des heißen Erdſtrichs und zwiſchen
den Tropen ſelbſt. Allerdings findet man dort, was auch
manche Reiſende ſagen mögen, nicht allein auf den Bergen,
ſondern auch an feuchten, ſchattigen Orten Funarien, Dicranum-
und Bryumarten; unter den zahlreichen Arten dieſer Gat-
tungen befinden ſich mehrere, die zugleich in Lappland, auf
dem Pik von Tenerifa und in den Blauen Bergen auf Jamaika
[109] vorkommen; im allgemeinen aber beginnt die Vegetation in
den Ländern in der Nähe der Tropen nicht mit Flechten und
Mooſen. Auf den Kanarien, wie in Guinea und an den
Felſenküſten von Peru ſind es die Saftpflanzen, die den
Grund zur Dammerde legen, Gewächſe, deren mit unzähligen
Oeffnungen und Hauptgefäßen verſehene Blätter der um-
gebenden Luft das darin aufgelöſte Waſſer entziehen. Sie
wachſen in den Ritzen des vulkaniſchen Geſteins und bil-
den gleichſam die erſte vegetabiliſche Schicht, womit ſich die
Lavaſtröme überziehen. Ueberall wo die Laven verſchlackt
ſind oder eine glänzende Oberfläche haben, wie die Baſalt-
kuppen im Norden von Lanzarote, entwickelt ſich die Vege-
tation ungemein langſam darauf, und es vergehen mehrere
Jahrhunderte, bis Buſchwerk darauf wächſt. Nur wenn die
Lava mit Tuff und Aſche bedeckt iſt, verliert ſich auf vul-
kaniſchen Eilanden die Kahlheit, die ſie in der erſten Zeit
nach ihrer Bildung auszeichnet, und ſchmücken ſie ſich mit
einer üppigen glänzenden Pflanzendecke.
In ſeinem gegenwärtigen Zuſtand zeigt die Inſel Tenerifa
oder das Chinerfe1 der Guanchen fünf Pflanzenzonen, die
man bezeichnen kann als die Regionen der Weinreben, der
Lorbeeren, der Fichten, der Retama, der Gräſer. Dieſe Zonen
liegen am ſteilen Abhang des Piks wie Stockwerke über-
einander und haben 1462 m ſenkrechte Höhe, während 15°
weiter gegen Norden in den Pyrenäen der Schnee bereits zu
2530 bis 2725 m abſoluter Höhe erreicht. Wenn auf Tenerifa
die Pflanzen nicht bis zum Gipfel des Vulkans vordringen,
ſo rührt dies nicht daher, weil ewiges Eis 2 und die Kälte
[110] der umgebenden Luft ihnen unüberſteigliche Grenzen ſetzen;
vielmehr laſſen die verſchlackten Laven des Malpays und der
2
[111] dürre, zerriebene Bimsſtein des Piton die Gewächſe nicht an
den Kraterrand gelangen.
Die erſte Zone, die der Reben, erſtreckt ſich vom
Meeresufer bis in 390 bis 580 m Höhe; ſie iſt die am
ſtärkſten bewohnte und die einzige, wo der Boden ſorgfältig
bebaut iſt. In dieſer tiefen Lage, im Hafen von Orotava
und überall, wo die Winde freien Zutritt haben, hält ſich
der hundertteilige Thermometer im Winter, im Januar und
Februar, um Mittag auf 15 bis 17°; im Sommer ſteigt die
Hitze nicht über 25 oder 26°, iſt alſo um 5 bis 6° geringer
als die größte Hitze, die jährlich in Paris, Berlin und
St. Petersburg eintritt. Dies ergibt ſich aus den Beobach-
tungen Savagis in den Jahren 1795 bis 1799. Die mittlere
Temperatur der Küſte von Tenerifa ſcheint wenigſtens 21°
(16,8° R.) zu ſein, und ihr Klima ſteht in der Mitte zwiſchen
dem von Neapel und dem des heißen Erdſtrichs. Auf der
Inſel Madeira ſind die mittleren Temperaturen des Januar
und des Auguſt, nach Heberden, 17,7° und 28,8°, in Rom
dagegen 5,6° und 26,1°. Aber ſo ähnlich ſich die Klimate
von Madeira und Tenerifa ſind, kommen doch die Gewächſe
der erſteren Inſel im allgemeinen in Europa leichter fort als
die von Tenerifa. Der Cheiranthus longifolius von Orotava
z. B. erfriert in Marſeille, wie de Candolle beobachtet hat,
während der Cheiranthus mutabilis von Madeira dort im
Freien überwintert. Die Sommerhitze dauert auf Madeira
nicht ſo lange als auf Tenerifa.
In der Region der Reben kommen vor acht Arten baum-
artiger Euphorbien, Meſembryanthemumarten, die vom Kap
der guten Hoffnung bis zum Peloponnes verbreitet ſind, die
Cacalia Kleinia, der Drachenbaum, und andere Gewächſe,
2
[112] die mit ihrem nackten, gewundenen Stamm, mit den ſaftigen
Blättern und der blaugrünen Färbung den Typus der Vege-
tation Afrikas tragen. In dieſer Zone werden der Dattel-
baum, der Bananenbaum, das Zuckerrohr, der indiſche Feigen-
baum, Arum colocasia, deſſen Wurzel dem gemeinen Volke
ein nahrhaftes Mehl liefert, der Oelbaum, die europäiſchen
Obſtarten, der Weinſtock und die Getreidearten gebaut. Das
Korn wird von Ende März bis Anfang Mai geſchnitten, und
man hat mit dem Anbau des Tahitiſchen Brotbaumes, des
Zimtbaumes von den Molukken, des Kaffeebaumes aus Arabien
und des Kakaobaumes aus Amerika gelungene Verſuche ge-
macht. Auf mehreren Punkten der Küſte hat das Land ganz
den Charakter einer tropiſchen Landſchaft. Chamärops und
der Dattelbaum kommen auf der fruchtbaren Ebene von
Murviedro, an der Küſte von Genua und in der Provence
bei Antibes unter 39 bis 44° der Breite ganz gut fort; einige
Dattelbäume wachſen ſogar innerhalb der Mauern von Rom
und dauern in einer Temperatur von 2,5° unter dem Ge-
frierpunkt aus. Wenn aber dem ſüdlichen Europa nur erſt
ein geringer Teil von den Schätzen zugeteilt iſt, welche die
Natur in der Region der Palmen ausſtreut, ſo iſt die Inſel
Tenerifa, die unter derſelben Breite liegt wie Aegypten, das
ſüdliche Perſien und Florida, bereits mit denſelben Pflanzen-
geſtalten geſchmückt, welche den Landſchaften in der Nähe des
Aequators ihre Großartigkeit verleihen.
Bei der Muſterung der Sippen einheimiſcher Gewächſe ver-
mißt man ungern die Bäume mit zartgefiederten Blättern und
die baumartigen Gräſer. Keine Art der zahlreichen Familie
der Senſitiven iſt auf ihrer Wanderung zum Archipel der
Kanarien gedrungen, während ſie auf beiden Kontinenten
bis zum 38. und 40. Breitegrad vorkommen. In Amerika
iſt die Schranckia uncinata Willdenows 1 bis hinauf in
die Wälder von Virginien verbreitet; in Afrika wächſt die
Acacia gummifera auf den Hügeln bei Mogador, in Aſien,
weſtwärts vom Kaſpiſchen Meer, hat v. Biberſtein die Ebenen
von Chyrvan mit Acacia stephaniana bedeckt geſehen. Wenn
man die Pflanzen von Lanzarote und Fuerteventura, die der
Küſte von Marokko am nächſten liegen, genauer unterſuchte,
könnten ſich doch unter ſo vielen Gewächſen der afrikaniſchen
Flora leicht ein paar Mimoſen finden.
[113]
Die zweite Zone, die der Lorbeeren, begreift den
bewaldeten Strich von Tenerifa; es iſt dies auch die Region
der Quellen, die aus dem immer friſchen, feuchten Raſen
ſprudeln. Herrliche Wälder krönen die an den Vulkan ſich
lehnenden Hügel. Hier wachſen vier Lorbeerarten, 1 eine der
Quercus Turneri aus den Bergen Tibets naheſtehende Eiche, 2
die Visnea Mocanera, die Myrica Faya der Azoren, ein
einheimiſcher Olivenbaum (Olea excelsa), der größte Baum
in dieſer Zone, zwei Arten Sideroxylon mit ausnehmend
ſchönem Laub, Arbutus callycarpa und andere immergrüne
Bäume aus der Familie der Myrten. Winden und ein vom
europäiſchen ſehr verſchiedener Epheu (Hedera canariensis)
überziehen die Lorbeerſtämme, und zu ihren Füßen wuchern
zahlloſe Farne, 3 von denen nur drei Arten 4 ſchon in der Region
der Reben vorkommen. Auf dem mit Mooſen und zartem Gras
überzogenen Boden prangen überall die Blüten der Campanula
aurea, des Chrysanthemum pinnatifidum, der Mentha
canariensis und mehrerer ſtrauchartiger Hypericumarten. 5
Pflanzungen von wilden und geimpften Kaſtanien bilden
einen weiten Gürtel um das Gebiet der Quellen, welches
das grünſte und lieblichſte von allen iſt.
Die dritte Zone beginnt in 1750 m abſoluter Höhe,
da, wo die letzten Gebüſche von Erdbeerbäumen, Myrica Faya
und des ſchönen Heidekrautes ſtehen, das bei den Eingeborenen
Texo heißt. Dieſe 780 m breite Zone beſteht ganz aus
einem mächtigen Fichtenwald, in dem auch Brouſſonets Juni-
perus Cedro vorkommt. Die Fichten haben ſehr lange, ziem-
lich ſteife Blätter, deren zuweilen zwei, meiſt aber drei in
einer Scheide ſtecken. Da wir die Früchte nicht unterſuchen
konnten, wiſſen wir nicht, ob dieſe Art, die im Wuchs der
ſchottiſchen Fichte gleicht, ſich wirklich von den achtzehn Fich-
tenarten unterſcheidet, die wir bereits in der Alten Welt
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 8
[114] kennen. Nach der Anſicht eines berühmten Botanikers, deſſen
Reiſen die Pflanzengeographie Europas ſehr gefördert haben,
de Candolle, unterſcheidet ſich die Fichte von Tenerifa ſowohl
von der Pinus atlantica in den Bergen bei Mogador, als
von der Fichte von Aleppo, 1 die dem Becken des Mittel-
ländiſchen Meeres angehört und nicht über die Säulen des
Herkules hinauszugehen ſcheint. Die letzten Fichten fanden
wir am Pik etwa in 2340 m Höhe über dem Meer. In
den Kordilleren von Neuſpanien, im heißen Erdſtrich, gehen
die mexikaniſchen Fichten bis zu 3900 m Höhe. So ſehr
auch die verſchiedenen Arten einer und derſelben Pflanzen-
gattung im Bau übereinkommen, ſo verlangt doch jede zu
ihrem Fortkommen einen beſtimmten Grad von Wärme und
Verdünnung der umgebenden Luft. Wenn in den gemäßigten
Landſtrichen und überall, wo Schnee fällt, die konſtante Boden-
wärme etwas höher iſt als die mittlere Lufttemperatur, ſo
iſt anzunehmen, daß in der Höhe des Portillo die Wurzeln
der Fichten ihre Nahrung aus dem Boden ziehen, in dem
in einer gewiſſen Tiefe der Thermometer höchſtens auf 9 bis
10° ſteigt.
Die vierte und fünfte Zone, die der Retama und
der Gräſer, liegen ſo hoch wie die unzugänglichſten Gipfel
der Pyrenäen. Es iſt dies der öde Landſtrich der Inſel, wo
Haufen von Bimsſtein, Obſidian und zertrümmerter Lava
wenig Pflanzenwuchs aufkommen laſſen. Schon oben war
von den blühenden Büſchen des Alpenginſters (Spartium
nubigenum) die Rede, welche Oaſen in einem weiten Aſchen-
meer bilden. Zwei krautartige Gewächſe, Scrophularia gla-
brata und Viola cheiranthifolia, gehen weiter hinauf bis
ins Malpays. Ueber einem von der afrikaniſchen Sonne aus-
gebrannten Raſen bedeckt die Cladonia paschalis dürre Strecken;
die Hirten zünden ſie häufig an, wobei ſich dann das Feuer
ſehr weit verbreitet. Dem Gipfel des Pik zu arbeiten Ur-
ceolarien und andere Flechten an der Zerſetzung des ver-
[115] ſchlackten Geſteines, und ſo erweitert ſich auf von Vulkanen
verheerten Eilanden Floras Reich durch die nie ſtockende
Thätigkeit organiſcher Kräfte.
Ueberblicken wir die Vegetationszonen von Tenerifa, ſo
ſehen wir, daß die ganze Inſel als ein Wald von Lorbeeren,
Erdbeerbäumen und Fichten erſcheint, der kaum an ſeinen
Rändern von Menſchen urbar gemacht iſt, und in der Mitte
ein nacktes ſteiniges Gebiet umſchließt, das weder zum Acker-
bau noch zur Weide taugt. Nach Brouſſonets Bemerkung
läßt ſich der Archipel der Kanarien in zwei Gruppen teilen.
Die erſte begreift Lanzarote und Fuerteventura, die zweite
Tenerifa, Canaria, Gomera, Ferro und Palma. Beide weichen
im Habitus der Vegetation bedeutend voneinander ab. Die
oſtwärts gelegenen Inſeln, Lanzarote und Fuerteventura, haben
weite Ebenen und nur niedrige Berge; ſie ſind faſt quellen-
los, und dieſe Eilande haben noch mehr als die anderen den
Charakter vom Kontinent getrennter Länder. Die Winde
wehen hier in derſelben Richtung und zu denſelben Zeiten;
Euphorbia mauritanica, Atropa frutescens und Sonchus
arborescens wuchern im loſen Sand und dienen wie in Afrika
den Kamelen als Futter. Auf der weſtlichen Gruppe der
Kanarien iſt das Land höher, ſtärker bewaldet, beſſer von
Quellen bewäſſert.
Auf dem ganzen Archipel finden ſich zwar mehrere Ge-
wächſe, die auch in Portugal, 1 in Spanien, auf den Azoren
und im nordweſtlichen Afrika vorkommen, aber viele Arten
und ſelbſt einige Gattungen ſind Tenerifa, Porto Santo und
[116] Madeira eigentümlich, unter anderen Mocanera, Plocama,
Bosea, Canarina, Drusa, Pittosporum. Ein Typus, der
ſich als ein nördlicher anſprechen läßt, der der Kreuzblüten, 1
iſt auf den Kanarien ſchon weit ſeltener als in Spanien und
Griechenland. Weiter nach Süden, im tropiſchen Landſtrich
beider Kontinente, wo die mittlere Lufttemperatur über 22°
iſt, verſchwinden die Kreuzblüten faſt gänzlich.
Eine Frage, die für die Geſchichte der fortſchreitenden
Entwickelung des organiſchen Lebens auf dem Erdball von
großer Bedeutung erſcheint, iſt in neuerer Zeit viel beſprochen
worden, nämlich, ob polymorphe Gewächſe auf vulkaniſchen Inſeln
häufiger ſind als anderswo? Die Vegetation von Tenerifa
unterſtützt keineswegs die Annahme, daß die Natur auf neu-
gebildetem Boden die Pflanzenformen weniger ſtreng feſthält.
Brouſſonet, der ſich ſo lange auf den Kanarien aufgehalten,
verſichert, veränderliche Gewächſe ſeien nicht häufiger als im
ſüdlichen Europa. Wenn auf der Inſel Bourbon ſo viele
polymorphe Arten vorkommen, ſollte dies nicht vielmehr von
der Beſchaffenheit des Bodens und des Klimas herrühren,
als davon, daß die Vegetation jung iſt?
Wohl darf ich mir ſchmeicheln, mit dieſer Naturſkizze
von Tenerifa einiges Licht über Gegenſtände verbreitet zu
haben, die bereits von ſo vielen Reiſenden beſprochen worden
ſind; indeſſen glaube ich, daß die Naturgeſchichte dieſes Archi-
pels der Forſchung noch ein weites Feld darbietet. Die Leiter
der wiſſenſchaftlichen Entdeckungsfahrten, wie ſie England,
Frankreich, Spanien, Dänemark und Rußland zu ihrem Ruhme
unternommen, haben meiſt zu ſehr geeilt, von den Kanarien
wegzukommen. Sie dachten, da dieſe Inſeln ſo nahe bei
Europa liegen, müßten ſie genau beſchrieben ſein; ſie haben
vergeſſen, daß das Innere von Neuholland geologiſch nicht
unbekannter iſt als die Gebirgsarten von Lanzarote und Go-
mera, Porto Santo und Terceira. So viele Gelehrte bereiſen
Jahr für Jahr ohne beſtimmten Zweck die beſuchteſten Länder
Europas. Es wäre wünſchenswert, daß einer und der andere,
den echte Liebe zur Wiſſenſchaft beſeelt und dem die Verhält-
niſſe eine mehrjährige Reiſe geſtatten, den Archipel der Azoren,
Madeira, die Kanarien, die Inſeln des grünen Vorgebirges
[117] und die Nordweſtküſte von Afrika bereiſte. Nur wenn man
die Atlantiſchen Inſeln und das benachbarte Feſtland nach
denſelben Geſichtspunkten unterſucht und die Beobachtungen
zuſammenſtellt, gelangt man zur genauen Kenntnis der geo-
logiſchen Verhältniſſe und der Verbreitung der Tiere und Ge-
wächſe.
Bevor ich die Alte Welt verlaſſe und in die Neue über-
ſetze, habe ich einen Gegenſtand zu berühren, der allgemeineres
Intereſſe bietet, weil er ſich auf die Geſchichte der Menſchheit
und die hiſtoriſchen Verhängniſſe bezieht, durch welche ganze
Volksſtämme vom Erdboden verſchwunden ſind. Auf Cuba,
St. Domingo, Jamaika fragt man ſich, wo die Ureinwohner
dieſer Länder hingekommen ſind; auf Tenerifa fragt man ſich,
was aus den Guanchen geworden iſt, deren in Höhlen ver-
ſteckte, vertrocknete Mumien ganz allein der Vernichtung ent-
gangen ſind. Im 15. Jahrhundert holten faſt alle Handels-
völker, beſonders aber die Spanier und Portugieſen, Sklaven
von den Kanarien, wie man ſie jetzt von der Küſte von
Guinea holt. 1 Die chriſtliche Religion, die in ihren An-
fängen die menſchliche Freiheit ſo mächtig förderte, mußte der
europäiſchen Habſucht als Vorwand dienen. Jedes Indi-
viduum, das gefangen wurde, ehe es getauft war, verfiel der
Sklaverei. Zu jener Zeit hatte man noch nicht zu beweiſen
geſucht, daß der Neger ein Mittelding zwiſchen Menſch und
Tier iſt; der gebräunte Guanche und der afrikaniſche Neger
wurden auf dem Markte zu Sevilla miteinander verkauft,
und man ſtritt nicht über die Frage, ob nur Menſchen mit
ſchwarzer Haut und Wollhaar der Sklaverei verfallen ſollen.
Auf dem Archipel der Kanarien beſtanden mehrere kleine,
einander feindlich gegenüber ſtehende Staaten. Oft war die-
ſelbe Inſel zwei unabhängigen Fürſten unterworfen, wie in
der Südſee und überall, wo die Kultur noch auf tiefer Stufe
ſteht. Die Handelsvölker befolgten damals hier dieſelbe arg-
liſtige Politik, wie jetzt auf den Küſten von Afrika: ſie
leiſteten den Bürgerkriegen Vorſchub. So wurde ein Guanche
Eigentum des anderen, und dieſer verkaufte jenen den Euro-
päern; manche zogen den Tod der Sklaverei vor und töteten
[118] ſich und ihre Kinder. So hatte die Bevölkerung der Kanarien
durch den Sklavenhandel, durch die Menſchenräuberei der Pi-
raten, beſonders aber durch lange blutige Zwiſte bereits ſtarke
Verluſte erlitten, als Alonſo de Lugo ſie vollends eroberte.
Den Ueberreſt der Guanchen raffte im Jahre 1494 größten-
teils die berühmte Peſt, die ſogenannte Modorra hin, die
man den vielen Leichen zuſchrieb, welche die Spanier nach der
Schlacht bei Laguna hatten frei liegen laſſen. Wenn ein halb
wildes Volk, das man um ſein Eigentum gebracht, im ſelben
Lande neben einer civiliſierten Nation leben muß, ſo ſucht
es ſich in den Gebirgen und Wäldern zu iſolieren. Inſel-
bewohner haben keine andere Zuflucht, und ſo war denn das
herrliche Volk der Guanchen zu Anfang des 17. Jahrhunderts
ſo gut wie ausgerottet; außer ein paar alten Männern in
Candelaria und Guimar gab es keine mehr.
Es iſt ein tröſtlicher Gedanke, daß die Weißen es nicht
immer verſchmäht haben, ſich mit den Eingeborenen zu ver-
miſchen; aber die heutigen Kanarier, die bei den Spaniern
ſchlechtweg Isleños heißen, haben triftige Gründe, eine ſolche
Miſchung in Abrede zu ziehen. In einer langen Geſchlechts-
folge verwiſchen ſich die charakteriſtiſchen Merkmale der Raſſen,
und da die Nachkommen der Andaluſier, die ſich auf Tenerifa
niedergelaſſen, ſelbſt von ziemlich dunkler Geſichtsfarbe ſind,
ſo kann die Hautfarbe der Weißen durch die Kreuzung der
Raſſen nicht merkbar verändert worden ſein. Es iſt That-
ſache, daß gegenwärtig kein Eingeborener von reiner Raſſe
mehr lebt, und ſonſt ganz wahrheitsliebende Reiſende ſind im
Irrtum, wenn ſie glauben, bei der Beſteigung des Piks
ſchlanke, ſchnellfüßige Guanchen zu Führern gehabt zu haben.
Allerdings wollen einige kanariſche Familien vom letzten Hirten-
könig von Guimar abſtammen, aber dieſe Anſprüche haben
wenig Grund; ſie werden von Zeit zu Zeit wieder laut, wenn
einer aus dem Volke, der brauner iſt als ſeine Landsleute,
Luſt bekommt, ſich um eine Offiziersſtelle im Dienſte des
Königs von Spanien umzuthun.
Kurz nach der Entdeckung von Amerika, als Spanien
den Gipfel ſeines Ruhmes erſtiegen hatte, war es Brauch,
die ſanfte Gemütsart der Guanchen zu rühmen, wie man in
unſerer Zeit die Unſchuld der Bewohner von Tahiti geprieſen
hat. Bei beiden Bildern iſt das Kolorit glänzender als wahr.
Wenn die Völker, erſchöpft durch geiſtige Genüſſe, in der
Verfeinerung der Sitten nur Keime der Entartung vor ſich
[119] ſehen, ſo finden ſie einen eigenen Reiz in der Vorſtellung,
daß in weit entlegenen Ländern, beim Dämmerlicht der Kultur,
in der Bildung begriffene Menſchenvereine eines reinen, un-
geſtörten Glückes genießen. Dieſem Gefühl verdankt Tacitus
zum Teil den Beifall, der ihm geworden, als er den Römern,
den Unterthanen der Cäſaren, die Sitten der Germanen
ſchilderte. Dasſelbe Gefühl gibt den Beſchreibungen der
Reiſenden, die ſeit dem Ende des verfloſſenen Jahrhunderts
die Inſeln des Stillen Ozeans beſucht haben, den unbeſchreib-
lichen Reiz.
Die Einwohner der zuletzt genannten Inſeln, die man
wohl zu ſtark geprieſen hat und die einſt Menſchenfreſſer
waren, haben in mehr als einer Beziehung Aehnlichkeit mit
den Guanchen von Tenerifa. Beide ſehen wir unter dem
Joche eines feudalen Regimentes ſeufzen, und bei den Guanchen
war dieſe Staatsform, welche ſo leicht Kriege herbeiführt und
ſie nicht enden läßt, durch die Religion geheiligt. Die Prieſter
ſprachen zum Volk: „Achaman, der große Geiſt, hat zuerſt
die Edlen, die Achimenceys, geſchaffen und ihnen alle Ziegen
in der Welt zugeteilt. Nach den Edeln hat Achaman das
gemeine Volk geſchaffen, die Achicaxnas; dieſes jüngere Ge-
ſchlecht nahm ſich heraus, gleichfalls Ziegen zu verlangen;
aber das höchſte Weſen erwiderte, das Volk ſei dazu da, den
Edeln dienſtbar zu ſein, und habe kein Eigentum nötig.“
Eine ſolche Ueberlieferung mußte den reichen Vaſallen der
Hirtenkönige ungemein behagen; auch ſtand dem Faycan oder
Oberprieſter das Recht zu, in den Adelſtand zu erheben, und
ein Geſetz verordnete, daß jeder Achimencey, der ſich herbei-
ließe, eine Ziege mit eigenen Händen zu melken, ſeines Adels
verluſtig ſein ſollte. Ein ſolches Geſetz erinnert keineswegs
an die Sitteneinfalt des homeriſchen Zeitalters. Es befremdet,
wenn man ſchon bei den Anfängen der Kultur die nützliche
Beſchäftigung mit Ackerbau und Viehzucht mit Verachtung
gebrandmarkt ſieht.
Die Guanchen waren berühmt durch ihren hohen Wuchs;
ſie erſchienen als die Patagonen der Alten Welt und die Ge-
ſchichtſchreiber übertrieben ihre Muskelkraft, wie man vor
Bougainvilles und Cordobas Reiſen dem Volksſtamm am
Südende von Amerika eine koloſſale Körpergröße zuſchrieb.
Mumien von Guanchen habe ich nur in den europäiſchen
Kabinetten geſehen; zur Zeit meiner Reiſe waren ſie auf Tene-
rifa ſehr ſelten; man müßte ſie aber in Menge finden, wenn
[120] man die Grabhöhlen, die am öſtlichen Abhang des Piks zwi-
ſchen Arico und Guimar in den Fels gehauen ſind, berg-
männiſch aufbrechen ließe. Dieſe Mumien ſind ſo ſtark ver-
trocknet, daß ganze Körper mit der Haut oft nicht mehr als
3 bis 3,5 kg wiegen, das heißt ein Dritteil weniger, als das
Skelett eines gleich großen Individuums, von dem man eben
das Muskelfleiſch abgenommen hat. Die Schädelbildung ähnelt
einigermaßen der der weißen Raſſe der alten Aegypter, und
die Schneidezähne ſind auch bei den Guanchen ſtumpf, wie
bei den Mumien vom Nil. Aber dieſe Zahnform iſt rein
künſtlich und bei genauerer Unterſuchung der Kopfbildung der
alten Guanchen haben geübte Anatomen 1 gefunden, daß ſie
im Jochbein und im Unterkiefer von den ägyptiſchen Mumien
bedeutend abweicht. Oeffnet man Mumien von Guanchen,
ſo findet man Ueberbleibſel aromatiſcher Kräuter, unter denen
immer das Chenopodium ambrosioides vorkommt; zuweilen
ſind die Leichen mit Schnüren geſchmückt, an denen kleine
Scheiben aus gebrannter Erde hängen, die als Zahlzeichen
gedient zu haben ſcheinen und die mit den Quippos der Perua-
ner, Mexikaner und Chineſen Aehnlichkeit haben.
Da im allgemeinen die Bevölkerung von Inſeln den um-
wandelnden Einflüſſen, wie ſie Folgen der Wanderungen ſind,
weniger ausgeſetzt iſt, als die Bevölkerung der Feſtländer, ſo
läßt ſich annehmen, daß der Archipel der Kanarien zur Zeit
der Karthager und Griechen vom ſelben Menſchenſtamm be-
wohnt war, den die normänniſchen und ſpaniſchen Eroberer
vorfanden. Das einzige Denkmal, das einiges Licht auf die
Herkunft der Guanchen werfen kann, iſt ihre Sprache; leider
ſind uns aber davon nur etwa hundertfünfzig Worte aufbe-
halten, die zum Teil dasſelbe in der Mundart der verſchiedenen
Inſeln bedeuten. Außer dieſen Worten, die man ſorgfältig
geſammelt, hat man in den Namen vieler Dörfer, Hügel und
Thäler wichtige Sprachreſte vor ſich. Die Guanchen, wie
Basken, Hindu, Peruaner und alle ſehr alten Völker, be-
nannten die Oertlichkeiten nach der Beſchaffenheit des Bodens,
den ſie bebauten, nach der Geſtalt der Felſen, deren Höhlen
ihnen als Wohnſtätten dienten, nach den Baumarten, welche
die Quellen beſchatteten.
[121]
Man war lange der Meinung, die Sprache der Guanchen
habe keine Aehnlichkeit mit den lebenden Sprachen; aber ſeit
die Sprachforſcher durch Hornemanns Reiſe und durch die
ſcharfſinnigen Unterſuchungen von Marsden und Ventura auf
die Berbern aufmerkſam geworden ſind, die, gleich den ſlavi-
ſchen Völkern, in Nordafrika über eine ungeheure Strecke ver-
breitet ſind, hat man gefunden, daß in der Sprache der
Guanchen und in den Mundarten von Chilha und Gebali
mehrere Worte gleiche Wurzeln haben.
Wir führen folgende Beiſpiele an:
| Himmel, | guanchiſch | Tigo, | berberiſch | Tigot. |
| Milch, | 〃 | Aho, | 〃 | Acho. |
| Gerſte, | 〃 | Temaſen | 〃 | Tomzeen. |
| Korb, | 〃 | Carinas | 〃 | Carian. |
| Waſſer, | 〃 | Aenum | 〃 | Anan. |
Ich glaube nicht, daß dieſe Sprachähnlichkeit ein Beweis
für gemeinſamen Urſprung iſt; aber ſie deutet darauf hin,
daß die Guanchen in alter Zeit in Verkehr ſtanden mit den
Berbern, einem Gebirgsvolk, zu dem die Numidier, Getuler
und Garamanten verſchmolzen ſind und das vom Oſtende des
Atlas durch das Harudjé und Fezzan bis zur Oaſe von
Siuah und Audſchila ſich ausbreitet. Die Eingeborenen der
Kanarien nannten ſich Guanchen, von Guan, Menſch, wie
die Tunguſen ſich Pye und Donky nennen, welche Worte
dasſelbe bedeuten, wie Guan. Indeſſen ſind die Völker, welche
die Berberſprache ſprechen, nicht alle desſelben Stammes, und
wenn Scylax in ſeinem Periplus die Einwohner von Cerne
als ein Hirtenvolk von hohem Wuchs mit langen Haaren be-
ſchreibt, ſo erinnert dies an die körperlichen Eigenſchaften der
kanariſchen Guanchen.
Je genauer man die Sprachen aus philoſophiſchem Ge-
ſichtspunkte unterſucht, deſto mehr zeigt ſich, daß keine ganz
allein ſteht; dieſen Anſchein würde auch die Sprache der
Guanchen 1 noch weniger haben, wenn man von ihrem Mecha-
[122] nismus und ihrem grammatiſchen Bau etwas wüßte, Elemente,
welche von größerer Bedeutung ſind als Wortform und Gleich-
laut. Es verhält ſich mit gewiſſen Mundarten wie mit den
organiſchen Bildungen, die ſich in der Reihe der natürlichen
Familien nirgends unterbringen laſſen. Sie ſtehen nur ſchein-
bar ſo vereinzelt da; der Schein ſchwindet, ſobald man eine
größere Maſſe von Bildungen überblickt, wo dann die ver-
mittelnden Glieder hervortreten.
Gelehrte, die überall, wo es Mumien, Hieroglyphen und
Pyramiden gibt, Aegypten ſehen, ſind vielleicht der Anſicht,
das Geſchlecht Typhons und die Guanchen ſtehen in Zu-
ſammenhang mittels der Berbern, echter Atlanten, zu denen
die Tibbu und Tuarik der Wüſte gehören. 1 Es genügt
hier aber an der Bemerkung, daß eine ſolche Annahme durch
keinerlei Aehnlichkeit zwiſchen der Berberſprache und dem Kopti-
ſchen, das mit Recht für ein Ueberbleibſel des alten Aegyptiſchen
gilt, unterſtützt wird.
Das Volk, das die Guanchen verdrängt hat, ſtammt von
Spaniern und zu einem ſehr kleinen Teil von Normannen
ab. Obgleich dieſe beiden Volksſtämme drei Jahrhunderte lang
demſelben Klima ausgeſetzt geweſen ſind, zeichnet ſich der
letztere durch weißere Haut aus. Die Nachkommen der Nor-
mannen wohnen im Thal Teganana zwiſchen Punta de Naga
und Punta de Hidalgo. Die Namen Grandville und Dam-
pierre kommen in dieſem Bezirke noch ziemlich häufig vor.
Die Kanarier ſind ein redliches, mäßiges und religiöſes Volk;
zu Hauſe zeigen ſie aber weniger Betriebſamkeit als in fremden
Ländern. Ein unruhiger Unternehmungsgeiſt treibt dieſe Inſu-
laner, wie die Biscayer und Katalanen, auf die Philippinen,
auf die Marianen und in Amerika überall hin, wo es ſpa-
niſche Kolonieen gibt, von Chile und dem La Plata bis nach
Neumexiko. Ihnen verdankt man großenteils die Fortſchritte
des Ackerbaues in den Kolonieen. Der ganze Archipel hat
kaum 160000 Einwohner, und der Isleños ſind vielleicht
in der Neuen Welt mehr als in ihrer alten Heimat.
[123]
An Wein werden auf Tenerifa geerntet 20000 bis
24000 Pipes, worunter 5000 Malvaſier; jährliche Ausfuhr
von Wein 8000 bis 9000 Pipes; Geſamtgetreideernte des
Archipels 54000 Fanegas zu 50 kg. In gemeinen Jahren
reicht dieſe Ernte aus zum Unterhalt der Einwohner, die
großenteils von Mais, Kartoffeln und Bohnen (Frijoles)
leben. Der Anbau des Zuckerrohrs und der Baumwolle iſt
von geringem Belang, und die vornehmſten Handelsartikel
ſind Wein, Branntwein, Orſeille und Soda. Bruttoeinnahme
der Regierung, die Tabakspacht eingerechnet, 240000 Piaſter.
Auf nationalökonomiſche Erörterungen über die Wichtig-
keit der Kanariſchen Inſeln für die Handelsvölker Europas
laſſe ich mich nicht ein. Ich beſchäftigte mich während meines
Aufenthaltes zu Caracas und in der Havana lange mit ſtati-
ſtiſchen Unterſuchungen über die ſpaniſchen Kolonieen, ich ſtand
in genauer Verbindung mit Männern, die auf Tenerifa be-
deutende Aemter bekleidet, und ſo hatte ich Gelegenheit, viele
Angaben über den Handel von Santa Cruz und Orotava zu
ſammeln. Da aber mehrere Gelehrte nach mir die Kanarien
beſucht haben, ſtanden ihnen dieſelben Quellen zu Gebot, und
ich entferne ohne Bedenken aus meinem Tagebuch, was in
Werken, die vor dem meinigen erſchienen ſind, genau ver-
zeichnet ſteht. Ich beſchränke mich hier auf einige Bemerkungen,
mit denen die Schilderung, die ich vom Archipel der Kanarien
entworfen, geſchloſſen ſein mag.
Es ergeht dieſen Inſeln, wie Aegypten, der Krim und
ſo vielen Ländern, welche von Reiſenden, welche in Kontraſten
Wirkung ſuchen, über das Maß geprieſen oder heruntergeſetzt
worden ſind. Die einen ſchildern von Orotava aus, wo ſie
ans Land geſtiegen, Tenerifa als einen Garten der Heſperiden;
ſie können das milde Klima, den fruchtbaren Boden, den
reichen Anbau nicht genug rühmen; andere, die ſich in Santa
Cruz aufhalten mußten, ſahen in den glückſeligen Inſeln nichts
als ein kahles, dürres, von einem elenden, geiſtesbeſchränkten
[124] Volke bewohntes Land. Wir haben gefunden, daß die Natur
auf dieſem Archipelagus, wie in den meiſten gebirgigen und
vulkaniſchen Ländern, ihre Gaben ſehr ungleich verteilt hat.
Die Kanariſchen Inſeln leiden im allgemeinen an Waſſermangel;
aber wo ſich Quellen finden, wo künſtlich bewäſſert wird oder
häufig Regen fällt, da iſt auch der Boden ausnehmend frucht-
bar. Das niedere Volk iſt fleißig, aber es entwickelt ſeine
Thätigkeit ungleich mehr in fernen Kolonieen als auf Tenerifa
ſelbſt, wo dieſelbe auf Hinderniſſe ſtößt, die eine kluge Ver-
waltung allmählich aus dem Wege räumen könnte. Die Aus-
wanderung wird abnehmen, wenn man ſich entſchließt, das
unangebaute Grundeigentum des Staates unter der Ein-
wohnerſchaft zu verteilen, die Ländereien, welche zu den Majo-
raten der großen Familien gehören, zu verkaufen und allmäh-
lich die Feudalrechte abzuſchaffen.
Die gegenwärtige Bevölkerung der Kanarien erſcheint
allerdings unbedeutend, wenn man ſie mit der Bevölkerung
mancher europäiſchen Völker vergleicht. Die Inſel Madeira,
deren fleißige Bewohner einen faſt von Pflanzenerde ent-
blößten Felſen bebauen, iſt ſiebenmal kleiner als Tenerifa,
und doch doppelt ſo ſtark bevölkert; aber die Schriftſteller, die
ſich darin gefallen, die Entvölkerung der ſpaniſchen Kolonieen
mit ſo grellen Farben zu ſchildern und den Grund davon in
der kirchlichen Hierarchie ſuchen, überſehen, daß überall ſeit
der Regierung Philipps V. die Zahl der Einwohner in mehr
oder minder raſcher Zunahme begriffen iſt. Bereits iſt auf
den Kanarien die Bevölkerung relativ ſtärker als in beiden
Kaſtilien, in Eſtremadura und in Schottland. Alle Inſeln
zuſammengerückt ſtellen ein Gebirgsland dar, das um ein
Siebenteil weniger Flächeninhalt hat als die Inſel Korſika
und doch gleich viel Einwohner zählt.
Obgleich die Inſeln Fuerteventura und Lanzarote, die am
ſchlechteſten bevölkert ſind, Getreide ausführen, während Tene-
rifa gewöhnlich nicht zwei Dritteile ſeines Bedarfes erzeugt,
ſo darf man doch daraus nicht den Schluß ziehen, daß auf
letzterer Inſel die Bevölkerung aus Mangel an Lebensmitteln
nicht zunehmen könnte. Die Kanariſchen Inſeln ſind noch auf
lange vor den Uebeln der Uebervölkerung bewahrt, deren Ur-
ſachen Malthus ſo ſicher und ſcharfſinnig entwickelt hat. Das
Elend des Volkes iſt um vieles gelindert worden, ſeit der
Kartoffelbau eingeführt iſt und man angefangen hat, mehr
Mais als Gerſte und Weizen zu bauen.
[125]
Die Bewohner der Kanarien ſind ihrem Charakter nach
ein Gebirgsvolk und ein Inſelvolk zugleich. Will man ſie
richtig beurteilen, muß man ſie nicht nur in ihrer Heimat
ſehen, wo ihr Fleiß auf gewaltige Hemmniſſe ſtößt; man muß
ſie beobachten in den Steppen der Provinz Caracas, auf dem
Rücken der Anden, auf den glühenden Ebenen der Philip-
pinen, überall wo ſie, einſam in unbewohnten Ländern, Ge-
legenheit finden, die Kraft und die Thätigkeit zu entwickeln,
welche der wahre Reichtum des Koloniſten ſind.
Die Kanarier gefallen ſich darin, ihr Land als einen
Teil des europäiſchen Spaniens zu betrachten, und ſie haben
auch wirklich die kaſtilianiſche Litteratur bereichert. Die Namen
Clavigo (Verfaſſer des Penſador), Viera, Yriarte und Be-
tancourt ſind in Wiſſenſchaft und Litteratur mit Ehren ge-
nannt; das kanariſche Volk beſitzt die lebhafte Einbildungs-
kraft, die den Bewohnern von Andaluſien und Granada eigen
iſt, und es iſt zu hoffen, daß die glückſeligen Inſeln, wo der
Menſch wie überall die Segnungen und die harte Hand der
Natur empfindet, dereinſt einen eingeborenen Dichter finden,
der ſie würdig beſingt.
[[126]]
Drittes Kapitel.
Ueberfahrt von Tenerifa an die Küſte von Südamerika. — Ankunft
in Cumana.
Am 25. Juni abends verließen wir die Rede von Santa
Cruz und ſchlugen den Weg nach Südamerika ein. Es wehte
ſtark aus Nordoſt und das Meer ſchlug infolge der Gegen-
ſtrömungen kurze gedrängte Wellen. Die Kanariſchen Inſeln,
auf deren hohen Bergen ein rötlicher Duft lag, verloren wir
bald aus dem Geſicht. Nur der Pik zeigte ſich von Zeit zu
Zeit in Blinken, wahrſcheinlich weil der in der hohen Luft-
region herrſchende Wind dann und wann die Wolken um den
Piton verjagte. Zum erſtenmal empfanden wir, welchen leb-
haften Eindruck der Anblick von Ländern an der Grenze des
heißen Erdgürtels, wo die Natur ſo reich, ſo großartig und
ſo wundervoll auftritt, auf unſer Gemüt macht. Wir hatten
nur kurze Zeit auf Tenerifa verweilt, und doch ſchieden wir
von der Inſel, als hätten wir lange dort gelebt.
Unſere Ueberfahrt von Santa Cruz nach Cumana, dem
öſtlichſten Hafen von Terra Firma, war ſo ſchön als je eine.
Wir ſchnitten den Wendekreis des Krebſes am 27., und ob-
gleich der Pizarro eben kein guter Segler war, legten wir
doch den 4050 km langen Weg von der Küſte von Afrika
zur Küſte der Neuen Welt in zwanzig Tagen zurück. Wir
fuhren auf 225 km weſtwärts am Vorgebirge Bojador, am
weißen Vorgebirge und an den Inſeln des grünen Vorgebirges
vorüber. Ein paar Landvögel, die der ſtarke Wind auf die
hohe See verſchlagen, zogen uns einige Tage nach. Hätten
wir nicht unſere Länge mittels der Seeuhren genau gekannt,
ſo wären wir verſucht geweſen zu glauben, wir ſeien ganz
nahe an der afrikaniſchen Küſte.
Unſer Weg war derſelbe, den ſeit Kolumbus’ erſter Reiſe
alle Fahrzeuge nach den Antillen einſchlagen. Vom Parallel
[127] von Madeira bis zum Wendekreis nimmt dabei die Breite raſch
ab, während man an Länge faſt nichts zulegt; hat man aber
die Zone des beſtändigen Paſſatwindes erreicht, ſo fährt man
von Oſt nach Weſt auf einer ruhigen, friedlichen See, die
bei den ſpaniſchen Seefahrern el Golfo de las Damas heißt.
Wie alle, welche dieſe Striche befahren, machten auch wir die
Beobachtung, daß, je weiter man gegen Weſten rückt, der
Paſſat, der anfangs Oſt-Nord-Oſt war, immer mehr Oſt-
wind wird.
Hadley 1 hat in einer berühmten Abhandlung die Theorie
des Paſſats entwickelt, wie ſie gemeiniglich angenommen iſt,
aber die Erſcheinung iſt eine weit verwickeltere, als die meiſten
Phyſiker glauben. Im Atlantiſchen Ozean iſt die Länge wie
die Abweichung der Sonne von Einfluß auf die Richtung und
die Grenzen der Paſſatwinde. Dem neuen Kontinent zu gehen
ſie in beiden Halbkugeln 8 bis 9° über den Wendekreis hinauf,
während in der Nähe von Afrika die veränderlichen Winde
weit über den 28. oder 27. Grad hinunter herrſchen. Es iſt
im Intereſſe der Meteorologie und der Schiffahrt zu bedauern,
daß die Veränderungen, denen die Luftſtrömungen unter den
Tropen im Stillen Ozean unterliegen, weit weniger bekannt
ſind als das Verhalten derſelben Ströme in einem engeren
Meeresbecken, wo die nicht weit auseinander liegenden Küſten
von Guinea und Braſilien ihre Einflüſſe geltend machen. Die
Schiffer wiſſen ſeit Jahrhunderten, daß im Atlantiſchen Ozean
der Aequator nicht mit der Linie zuſammenfällt, welche die
Paſſatwinde aus Nordoſt und die aus Südoſt ſcheidet. Dieſe
Linie liegt, nach Hadleys richtiger Beobachtung, unter dem
3. bis 4. Grad nördlicher Breite, und wenn ihre Lage daher
rührt, daß die Sonne in der nördlichen Halbkugel länger ver-
weilt, ſo weiſt ſie darauf hin, daß die Temperaturen der
[128] beiden Halbkugeln 1 ſich verhalten wie 11 zu 9. In der Folge,
wenn von der Luft über der Südſee die Rede iſt, werden
wir ſehen, daß weſtwärts von Amerika der Südoſtpaſſat nicht
ſo weit über den Aequator hinausreicht als im Atlantiſchen
Ozean. Der Unterſchied in der Luftſtrömung dem Aequator
zu vom einen und vom anderen Pol her kann ja nicht unter
allen Längengraden derſelbe ſein, das heißt auf Punkten der
Erdkugel, wo die Feſtländer ſehr verſchieden breit ſind und
ſich mehr oder minder weit gegen die Pole erſtrecken.
Es iſt bekannt, daß auf der Ueberfahrt von Santa Cruz
nach Cumana, wie von Acapulco nach den Philippinen, die
Matroſen faſt keine Hand an die Segel zu legen brauchen.
Man fährt in dieſen Strichen, als ginge es auf einem Fluſſe
hinunter, und es iſt zu glauben, daß es kein gewagtes Unter-
nehmen wäre, die Fahrt mit einer Schaluppe ohne Verdeck zu
machen. Weiter weſtwärts aber, an der Küſte von St. Marta
und im Meerbuſen von Mexiko weht der Wind ſehr ſtark und
macht die See ſehr unruhig. 2
Je weiter wir uns von der afrikaniſchen Küſte entfernten,
deſto ſchwächer wurde der Wind; oft blieb er einige Stunden
ganz aus, und dieſe Windſtillen wurden regelmäßig durch
elektriſche Erſcheinungen unterbrochen. Schwarze, dichte, ſcharf
umriſſene Wolken zogen ſich im Oſt zuſammen; man konnte
meinen, es ſei eine Bö im Anzug und man werde die Mars-
ſegel einreffen müſſen, aber nicht lange, ſo erhob ſich der Wind
wieder, es fielen einige ſchwere Regentropfen und das Ge-
witter verzog ſich, ohne daß man hatte donnern hören. Es
war intereſſant, währenddeſſen die Wirkung ſchwarzer Wolken
zu beboachten, die einzeln und ſehr tief durch den Zenith
liefen. Man ſpürte, wie der Wind allmählich ſtärker oder
ſchwächer wurde, je nachdem die kleinen Haufen von Dunſt-
bläschen ſich näherten oder entfernten, ohne daß die Elektro-
meter mit langer Metallſtange und brennendem Docht in den
unteren Luftſchichten eine Aenderung in der elektriſchen Span-
[129] nung anzeigten. Mittels ſolcher kleinen, mit Windſtillen
wechſelnden Böen gelangt man in den Monaten Juni und
Juli von den Kanariſchen Inſeln nach den Antillen oder an
die Küſten von Südamerika. Im heißen Erdſtrich löſen ſich
die meteorologiſchen Vorgänge äußerſt regelmäßig ab, und das
Jahr 1803 wird in den Annalen der Schiffahrt lange denk-
würdig bleiben, weil mehrere Schiffe, die von Cadiz nach
Cumana gingen, unter 14° der Länge und 48° der Breite
umlegen mußten, weil mehrere Tage lang ein heftiger Wind
aus Nord-Nord-Weſt blies. Welch bedeutende Störung im
regelmäßigen Lauf der Luftſtrömungen muß man annehmen,
um ſich von einem ſolchen Gegenwind Rechenſchaft zu geben,
der ohne Zweifel auch den regelmäßigen Gang des Baro-
meters in ſeiner ſtündlichen Schwankung geſtört haben wird!
Einige ſpaniſche Seefahrer haben neuerlich einen anderen
Weg nach den Antillen und zur Küſte von Terra Firma als
den von Chriſtoph Kolumbus zuerſt eingeſchlagenen zur Sprache
gebracht. Sie ſchlagen vor, man ſolle nicht gerade nach Süd
ſteuern, um den Paſſat aufzuſuchen, ſondern auf einer Dia-
gonale zwiſchen Kap St. Vincent und Amerika in Länge und
Breite zugleich vorrücken. Dieſer Weg, der die Fahrt abkürzt,
da man den Wendekreis etwa 20° weſtwärts vom Punkte
ſchneidet, wo ihn die Schiffe gewöhnlich ſchneiden, iſt von
Admiral Gravina mehreremal mit Glück eingeſchlagen worden.
Dieſer erfahrene Seemann, der in der Schlacht von Trafalgar
einen rühmlichen Tod fand, kam im Jahre 1802 auf dieſem
ſchiefen Wege mehrere Tage vor der franzöſiſchen Flotte nach
St. Domingo, obgleich er zufolge eines Befehls des Madrider
Hofes mit ſeinem Geſchwader im Hafen von Ferrol hatte ein-
laufen und ſich dort eine Zeitlang aufhalten müſſen.
Dieſes neue Verfahren kürzt die Ueberfahrt von Cadiz
nach Cumana etwa um ein Zwanzigteil ab; da man aber erſt
unter dem 40. Grad der Länge die Tropen betritt, ſo läuft
man Gefahr, länger mit den veränderlichen Winden zu thun
zu haben, die bald aus Süd, bald aus Südweſt blaſen. Beim
alten Verfahren wird der Nachteil, daß man einen längeren
Weg macht, dadurch ausgeglichen, daß man ſicher iſt, in den
Paſſat zu gelangen und ihn auf einem größeren Stück der
Ueberfahrt benutzen zu können. Während meines Aufenthaltes
in den ſpaniſchen Kolonieen ſah ich mehrere Kauffahrer an-
kommen, die aus Furcht vor Kapern den ſchiefen Weg ein-
geſchlagen hatten und ausnehmend raſch herübergekommen
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 9
[130] waren; nur nach wiederholten Verſuchen wird man ſich beſtimmt
über einen Punkt ausſprechen können, der zum mindeſten ſo
wichtig iſt als die Wahl des Meridians, auf dem man bei
der Fahrt nach Buenos Ayres oder Kap Horn den Aequator
ſchneiden ſoll.
Nichts geht über die Pracht und Milde des Klimas im
tropiſchen Weltmeer. Während der Paſſatwind ſtark blies,
ſtand der Thermometer bei Tage auf 23 bis 24°, bei Nacht
zwiſchen 22 und 22,5°. Um den Reiz dieſer glücklichen Erd-
ſtriche in der Nähe des Aequators voll zu empfinden, muß
man in rauher Jahreszeit von Acapulco oder von den Küſten
von Chile nach Europa geſegelt haben. Welcher Abſtand
zwiſchen den ſtürmiſchen Meeren in nördlichen Breiten und
dieſen Strichen, wo in der Natur ewige Ruhe herrſcht! Wenn
die Rückfahrt aus Mexiko oder Südamerika nach den ſpaniſchen
Küſten ſo kurz und ſo angenehm wäre als die Reiſe aus der
Alten in die Neue Welt, ſo wäre die Zahl der Europäer, die
ſich in den Kolonieen niedergelaſſen, lange nicht ſo groß, als
ſie jetzt iſt. Das Meer, in dem die Azoren und die Bermuden
liegen, durch das man kommt, wenn man in hohen Breiten
nach Europa zurückfährt, führt bei den Spaniern den ſelt-
ſamen Namen Golfo de las Yeguas.1 Koloniſten, die an
die See nicht gewöhnt ſind, und lange einſam in den Wäldern
von Guyana, in den Savannen von Caracas oder auf den
Kordilleren von Peru gelebt haben, fürchten ſich vor dem See-
ſtrich bei den Bermuden mehr als jetzt die Bewohner von
Lima vor der Fahrt um Kap Horn. Sie übertreiben in der
Einbildung die Gefahren einer Ueberfahrt, die nur im Winter
bedenklich iſt. Sie verſchieben es von Jahr zu Jahr, ein
Vorhaben auszuführen, das ihnen gewagt ſcheint, und meiſt
überraſcht ſie der Tod, während ſie ſich zur Rückreiſe rüſten.
Nördlich von den Inſeln des Grünen Vorgebirges ſtießen
wir auf große Bündel ſchwimmenden Tangs. Es war die
tropiſche Seetraube, Fucus natans, die nur bis zu 40° nörd-
licher und ſüdlicher Breite auf dem Geſtein unter dem Meeres-
ſpiegel wächſt. Dieſe Algen ſchienen hier, wie ſüdweſtlich von
der Bank von Neufundland, das Vorhandenſein der Strö-
mungen anzuzeigen. Die Seeſtriche, wo viel einzelner Tang
vorkommt, und die mit Seegewächſen bedeckten Strecken, welche
Kolumbus mit großen Wieſen vergleicht und die der Mann-
[131] ſchaft der Santa Maria unter 42° der Länge Schrecken ein-
jagten, ſind nicht miteinander zu verwechſeln. Durch die
Vergleichung vieler Schiffstagebücher habe ich mich überzeugt,
daß es im Becken des nördlichen Atlantiſchen Ozeans zwei
ſolcher mit Algen bedeckten Strecken gibt, die nichts mitein-
ander zu thun haben. Die größte derſelben 1 liegt etwas
weſtlich vom Meridian von Fayal, einer der Azoriſchen Inſeln,
zwiſchen 35 und 36° der Breite. Die Meerestemperatur be-
trägt in dieſem Strich 16 bis 20°, und die Nordoſtwinde,
die dort zuweilen ſehr ſtark ſind, treiben ſchwimmende Tang-
inſeln in tiefe Breiten, bis zum 24., ja bis zum 20. Grad.
Die Schiffe, die von Montevideo und vom Kap der guten
Hoffnung nach Europa zurückfahren, kommen über dieſe Fukus-
bank, die nach den ſpaniſchen Schiffern von den Kleinen An-
tillen und von den Kanariſchen Inſeln gleich weit entfernt
iſt; die Ungeſchickteſten können danach ihre Länge berichtigen.
Die zweite Fukusbank iſt wenig bekannt; ſie liegt unter 22
und 26° der Breite, 148 km weſtlich vom Meridian der
Bahamainſeln, und iſt von weit geringerer Ausdehnung. Man
ſtößt auf ſie auf der Fahrt von den Caycosinſeln nach den
Bermuden.
Allerdings kennt man Tangarten mit 260 m langen
Stengeln, 2 und dieſe Kryptogamen der hohen See wachſen
ſehr raſch; dennoch iſt kein Zweifel darüber, daß in den oben
beſchriebenen Strichen die Tange keineswegs am Meeresboden
haften, ſondern in einzelnen Bündeln auf dem Waſſer ſchwim-
men. In dieſem Zuſtand können dieſe Gewächſe nicht viel
länger fortvegetieren als ein vom Stamm abgeriſſener Baumaſt.
Will man ſich Rechenſchaft davon geben, wie es kommt, daß
[132] bewegliche Maſſen ſich ſeit Jahrhunderten an denſelben Stellen
befinden, ſo muß man annehmen, daß ſie vom Geſtein 73
bis 92 m unter der Meeresfläche herkommen und der Nach-
wuchs fortwährend wieder erſetzt, was die tropiſche Strömung
wegreißt. Dieſe Strömung führt die tropiſche Seetraube in
hohe Breiten, an die Küſten von Norwegen und Frankreich,
und die Algen werden ſüdwärts von den Azoren keineswegs
vom Golfſtrom zuſammengetrieben, wie manche Seeleute
meinen. Es wäre zu wünſchen, daß die Schiffer in dieſen
mit Pflanzen bedeckten Strichen häufiger das Senkblei aus-
würfen; man verſichert, holländiſche Seeleute haben mittels
Leinen aus Seidenfäden zwiſchen der Bank von Neufundland
und der ſchottiſchen Küſte eine Reihe von Untiefen gefunden.
Wie und wodurch die Algen in Tiefen, in denen nach
der allgemeinen Annahme das Meer wenig bewegt iſt, los-
geriſſen werden, darüber iſt man noch nicht im klaren. Wir
wiſſen nur nach den ſchönen Beobachtungen von Lamouroux,
daß die Algen zwar vor der Entwickelung ihrer Fruktifikationen
ausnehmend feſt am Geſtein hängen, dagegen nach dieſer Zeit
oder in der Jahreszeit, wo bei ihnen wie bei den Landpflanzen
die Vegetation ſtockt, ſehr leicht abzureißen ſind. Fiſche und
Weichtiere, welche die Stengel der Tange benagen, mögen
wohl auch dazu beitragen, ſie von ihren Wurzeln zu löſen.
Vom 22. Breitegrad an fanden wir die Meeresfläche mit
fliegenden Fiſchen 1 bedeckt; ſie ſchnellten ſich 4,5, ja 6 m in
die Höhe und fielen auf den Oberlauf nieder. Ich ſcheue
mich nicht, hier gleichfalls einen Gegenſtand zu berühren, von
dem die Reiſenden ſo viel ſprechen, als von Delphinen und
Haifiſchen, von der Seekrankheit und dem Leuchten des Meeres.
Alle dieſe Dinge bieten den Phyſikern noch lange Stoff genug
zu anziehenden Beobachtungen, wenn ſie ſich ganz beſonders
damit beſchäftigen. Die Natur iſt eine unerſchöpfliche Quelle
der Forſchung, und im Maß, als die Wiſſenſchaft vorſchreitet,
bietet ſie dem, der ſie recht zu befragen weiß, immer wieder
eine neue Seite, von der er ſie bis jetzt nicht betrachtet hatte.
Ich erwähnte der fliegenden Fiſche, um die Naturkundigen
auf die ungeheure Größe ihrer Schwimmblaſe aufmerkſam zu
machen, die bei einem 172 mm lange Fiſch 95 mm lang
und 25 mm breit iſt und 3½ Kubikzoll Luft enthält. Die
Blaſe nimmt über die Hälfte vom Körperinhalt des Tieres
[133] ein, und trägt ſomit wahrſcheinlich dazu bei, daß es ſo leicht
iſt. Man könnte ſagen, dieſer Luftbehälter diene ihm viel-
mehr zum Fliegen als zum Schwimmen, denn die Verſuche,
die Provenzal und ich angeſtellt, beweiſen, daß dieſes Organ
ſelbſt bei den Arten, die damit verſehen ſind, zu der Bewegung
an die Waſſerfläche herauf nicht durchaus notwendig iſt. Bei
einem jungen 13 cm langen Exocötus bot jede der Bruſt-
floſſen, die als Flügel dienen, der Luft bereits eine Oberfläche
von 26 qcm dar. Wir haben gefunden, daß die neun Nerven-
ſtränge, die zu den zwölf Strahlen dieſer Floſſen verlaufen,
faſt dreimal dicker ſind als die Nerven der Bauchfloſſen. Wenn
man die erſteren Nerven galvaniſch reizt, ſo gehen die Strahlen,
welche die Haut der Bruſtfloſſen tragen, fünfmal kräftiger
auseinander, als die der anderen Floſſen, wenn man ſie mit
denſelben Metallen galvaniſiert. Der Fiſch kann ſich aber auch
6,5 m weit wagerecht fortſchnellen, ehe er mit der Spitze ſeiner
Floſſen die Meeresfläche wieder berührt. Man hat dieſe Be-
wegung und die eines flachen Steines, der auffallend und
wieder abprallend ein paar Fuß hoch über die Wellen hüpft,
ganz richtig zuſammengeſtellt. So ausnehmend raſch die
Bewegung iſt, kann man doch deutlich ſehen, daß das Tier
während des Sprunges die Luft ſchlägt, das heißt, daß es
die Bruſtfloſſen abwechſelnd ausbreitet und einzieht. Dieſelbe
Bewegung beobachtet man am fliegenden Seeſkorpion auf den
japaniſchen Flüſſen, der gleichfalls eine große Schwimmblaſe
hat, während ſie den meiſten Seeſkorpionen, die nicht fliegen,
fehlt. 1 Die Exocötus können, wie die meiſten Kiementiere,
ziemlich lange und mittels derſelben Organe im Waſſer und
in der Luft atmen, das heißt der Luft wie dem Waſſer den
darin enthaltenen Sauerſtoff entziehen. Sie bringen einen
großen Teil ihres Lebens in der Luft zu, aber ihr elendes
Leben wird ihnen dadurch nicht leichter gemacht. Verlaſſen
ſie das Meer, um den gefräßigen Goldbraſſen zu entgehen,
ſo begegnen ſie in der Luft den Fregatten, Albatroſſen und
anderen Vögeln, die ſie im Fluge erſchnappen. So werden an
den Ufern des Orinoko Rudel von Cabiais, 2 wenn ſie vor
den Krokodilen aus dem Waſſer flüchten, am Ufer die Beute
der Jaguare.
Ich bezweifle indeſſen, daß ſich die fliegenden Fiſche allein
[134] um der Verfolgung ihrer Feinde zu entgehen, aus dem Waſſer
ſchnellen. Gleich den Schwalben ſchießen ſie zu Tauſenden
fort, gerade aus und immer gegen die Richtung der Wellen.
In unſeren Himmelsſtrichen ſieht man häufig am Ufer eines
klaren, von der Sonne beſchienenen Fluſſes einzeln ſtehende
Fiſche, die ſomit nichts zu fürchten haben können, ſich über
die Waſſerfläche ſchnellen, als machte es ihnen Vergnügen,
Luft zu atmen. Warum ſollte dieſes Spiel nicht noch häufiger
und länger bei den Exocötus vorkommen, die vermöge der
Form ihrer Bruſtfloſſen und ihres geringen ſpezifiſchen Ge-
wichtes ſich ſehr leicht in der Luft halten? Ich fordere die
Forſcher auf, zu unterſuchen, ob andere fliegende Fiſche, z. B.
Exocoetus exiliens, Trigla vocitans und T. hirundo auch
ſo große Schwimmblaſen haben wie der tropiſche Exocötus.
Dieſer geht mit dem warmen Waſſer des Golfſtromes nach
Norden. Die Schiffsjungen ſchneiden ihm zum Spaß ein
Stück der Bruſtfloſſen ab und behaupten, dieſe wachſen wieder,
was mir mit den bei anderen Fiſchfamilien gemachten Beob-
achtungen nicht zu ſtimmen ſcheint.
Zur Zeit, da ich von Paris abreiſte, hatten die Verſuche,
welche Dr. Brodbelt in Jamaika mit der Luft in der Schwimm-
blaſe des Schwertfiſches angeſtellt, einige Phyſiker zur An-
nahme veranlaßt, daß unter den Tropen dieſes Organ bei
den Seefiſchen reines Sauerſtoffgas enthalte. Auch ich hatte
dieſe Vorſtellung, und ſo war ich überraſcht, als ich in der
Luftblaſe des Exocötus nur 0,04 Sauerſtoffgas auf 0,94
Stickſtoff und 0,02 Kohlenſäure fand. Der Anteil des letzteren
Gaſes, der mittels der Abſorption durch Kalkwaſſer in gra-
duierten Röhren gemeſſen wurde, 1 ſchien konſtanter als der
des Sauerſtoffs, von dem einige Exemplare faſt noch einmal
ſo viel zeigten. Nach Biots, Configliachis und Delaroches
intereſſanten Beobachtungen muß man annehmen, daß der von
Brodbelt ſezierte Schwertfiſch in großen Meerestiefen gelebt
habe, wo manche Fiſche bis zu 94 % Sauerſtoff in ihrer
Schwimmblaſe zeigen.
Am 1. Juli, unter 17° 42′ der Breite und 34° 21′ der
Länge ſtießen wir auf die Trümmer eines Wrackes. Wir
konnten einen Maſtbaum ſehen, der mit ſchwimmendem Tang
überzogen war. In einem Strich, wo die See beſtändig ruhig
iſt, konnte das Fahrzeug nicht Schiffbruch gelitten haben.
[135] Vielleicht daß dieſe Trümmer aus den nördlichen ſtürmiſchen
Meeren kamen, und infolge der merkwürdigen Drehung,
welche die Waſſer des Atlantiſchen Meeres in der nördlichen
Halbkugel erleiden, wieder zum Fleck zurückwanderten, wo das
Schiff zu Grunde gegangen.
Am 3. und 4. fuhren wir über den Teil des Ozeans,
wo die Karten die Bank des Maalſtromes verzeichnen; mit
Einbruch der Nacht änderte man den Kurs, um einer Ge-
fahr auszuweichen, deren Vorhandenſein ſo zweifelhaft iſt,
als das der Inſeln Fonſeco und Santa Anna. 1 Es wäre
wohl klüger geweſen, den Kurs beizubehalten. Die alten
Seekarten wimmeln von ſogenannten wachenden Klippen, die
zum Teil allerdings vorhanden ſind, größtenteils aber ſich von
optiſchen Täuſchungen herſchreiben, die auf der See häufiger
ſind als im Binnenlande. Die Lage der wirklich gefährlichen
Punkte iſt meiſt wie aufs Geratewohl angegeben; ſie waren
von Schiffern geſehen worden, die ihre Länge nur auf ein
paar Grade kannten, und meiſt kann man ſicher darauf rechnen,
keine Klippen zu finden, wenn man den Punkten zuſteuert,
wo ſie auf den Karten angegeben ſind. Als wir dem vor-
geblichen Maalſtrom nahe waren, konnten wir am Waſſer keine
andere Bewegung bemerken, als eine Strömung nach Nord-
weſt, die uns nicht ſo viel in Länge zurücklegen ließ, als wir
[136] gewünſcht hätten. Die Stärke dieſer Strömung nimmt zu,
je näher man dem neuen Kontinente kommt; ſie wird durch
die Bildung der Küſten von Braſilien und Guyana abgelenkt,
nicht durch die Gewäſſer des Orinoko und des Amazonen-
ſtromes, wie manche Phyſiker behaupten.
Seit unſerem Eintritt in die heiße Zone wurden wir
nicht müde, in jeder Nacht die Schönheit des ſüdlichen Himmels
zu bewundern, an dem, je weiter wir nach Süden vorrückten,
immer neue Sternbilder vor unſeren Blicken aufſtiegen. Ein
ſonderbares, bis jetzt ganz unbekanntes Gefühl wird in einem
rege, wenn man dem Aequator zu, und namentlich beim Ueber-
gang aus der einen Halbkugel in die andere, die Sterne, die
man von Kindheit auf kennt, immer tiefer hinabrücken und
endlich verſchwinden ſieht. Nichts mahnt den Reiſenden ſo
auffallend an die ungeheure Entfernung ſeiner Heimat, als
der Anblick eines neuen Himmels. Die Gruppierung der
großen Sterne, einige zerſtreute Nebelflecke, die an Glanz mit
der Milchſtraße wetteifern, Strecken, die ſich durch ihr tiefes
Schwarz auszeichnen, geben dem Südhimmel eine ganz eigen-
tümliche Phyſiognomie. Dieſes Schauſpiel regt ſelbſt die
Einbildungskraft von Menſchen auf, die den phyſiſchen Wiſſen-
ſchaften ſehr fern ſtehen und zum Himmelsgewölbe aufblicken,
wie man eine ſchöne Landſchaft oder eine großartige Ausſicht
bewundert. Man braucht kein Botaniker zu ſein, um ſchon
am Anblick der Pflanzenwelt den heißen Erdſtrich zu erkennen,
und wer auch keine aſtronomiſchen Kenntniſſe hat, wer von
Flamſteads und Lacailles Himmelskarten nichts weiß, fühlt,
daß er nicht in Europa iſt, wenn er das ungeheure Stern-
bild des Schiffes oder die leuchtenden Magelhaensſchen Wolken
am Horizont aufſteigen ſieht. Erde und Himmel, allem in
den Aequinoktialländern drückt ſich der Stempel des Fremd-
artigen auf.
Die niedrigen Luftregionen waren ſeit einigen Tagen
mit Dunſt erfüllt. Erſt in der Nacht vom 4. zum 5. Juli,
unter 16° Breite, ſahen wir das ſüdliche Kreuz zum erſten-
mal deutlich; es war ſtark geneigt und erſchien von Zeit
zu Zeit zwiſchen den Wolken, deren Mittelpunkt, wenn das
Wetterleuchten dadurch hinzuckte, wie Silberlicht aufflammte.
Wenn es einem Reiſenden geſtattet iſt, von ſeinen perſönlichen
Empfindungen zu ſprechen, ſo darf ich ſagen, daß ich in dieſer
Nacht einen der Träume meiner früheſten Jugend in Er-
füllung gehen ſah.
[137]
Wenn man anfängt geographiſche Karten zu betrachten
und Schilderungen der Seefahrer zu leſen, ſo fühlt man für
gewiſſe Länder und gewiſſe Klimate eine Art Vorliebe, von
der man ſich in reiferem Alter keine Rechenſchaft zu geben
vermag. Eindrücke derart äußern einen nicht unbedeutenden
Einfluß auf unſere Entſchlüſſe, und wie inſtinktmäßig ſuchen
wir Gegenſtänden, die ſchon ſo lange eine geheime Anziehungs-
kraft für uns gehabt, wirklich nahe zu kommen. Als ich mich
mit dem Himmel beſchäftigte, nicht um Aſtronomie zu treiben,
ſondern nur um die Sterne kennen zu lernen, empfand ich
eine bange Unruhe, die Menſchen, die ein ſitzendes Leben
lieben, ganz fremd iſt. Der Hoffnung entſagen zu ſollen,
jemals jene herrlichen Sternbilder am Südpol zu erblicken,
das ſchien mir ſehr hart. Im ungeduldigen Drange, die
Aequatorialländer kennen zu lernen, konnte ich nicht die Augen
zum Sterngewölbe aufſchlagen, ohne an das ſüdliche Kreuz
zu denken und mir die erhabenen Verſe Dantes vorzuſagen,
welche ſich nach den berühmteſten Auslegern auf jenes Stern-
bild beziehen:
Unſere Freude beim Erſcheinen des ſüdlichen Kreuzes
wurde lebhaft von denjenigen unter der Mannſchaft geteilt,
die in den Kolonieen gelebt hatten. In der Meereseinſamkeit
begrüßt man einen Stern wie einen Freund, von dem man
lange Zeit getrennt geweſen. Bei den Portugieſen und
Spaniern ſteigert ſich dieſe gemütliche Teilnahme noch durch
[138] beſondere Gründe; religiöſes Gefühl zieht ſie zu einem Stern-
bild hin, deſſen Geſtalt an das Wahrzeichen des Glaubens
mahnt, das ihre Väter in den Einöden der Neuen Welt auf-
gepflanzt.
Da die zwei großen Sterne, welche Spitze und Fuß des
Kreuzes bezeichnen, ungefähr dieſelbe Rektaſzenſion haben, ſo
muß das Sternbild, wenn es durch den Meridian geht, faſt
ſenkrecht ſtehen. Dieſer Umſtand iſt allen Völkern jenſeits
des Wendekreiſes und in der ſüdlichen Halbkugel bekannt.
Man hat ſich gemerkt, zu welcher Zeit bei Nacht in den ver-
ſchiedenen Jahreszeiten das ſüdliche Kreuz aufrecht oder geneigt
iſt. Es iſt eine Uhr, die ſehr regelmäßig etwa vier Minuten
im Tage vorgeht, und an keiner anderen Sterngruppe läßt ſich
die Zeit mit bloßem Auge ſo genau beobachten. Wie oft
haben wir unſere Führer in den Savannen von Venezuela
oder in der Wüſte zwiſchen Lima und Truxillo ſagen hören:
„Mitternacht iſt vorüber, das Kreuz fängt an ſich zu neigen!“
Wie oft haben wir uns bei dieſen Worten an den rührenden
Auftritt erinnert, wo Paul und Virginie an der Quelle des
Fächerpalmenfluſſes zum letztenmal miteinander ſprechen und
der Greis beim Anblick des ſüdlichen Kreuzes ſie mahnt, daß
es Zeit ſei zu ſcheiden!
Die letzten Tage unſerer Ueberfahrt waren nicht ſo günſtig,
als das milde Klima und die ruhige See uns hoffen ließen.
Nicht die Gefahren der See ſtörten uns in unſerem Genuſſe,
aber der Keim eines bösartigen Fiebers entwickelte ſich unter
uns, je näher wir den Antillen kamen. Im Zwiſchendeck war
es furchtbar heiß und der Raum ſehr beſchränkt. Seit wir
den Wendekreis überſchritten, ſtand der Thermometer auf 34
bis 36°. Zwei Matroſen, mehrere Paſſagiere und, was ziem-
lich auffallend iſt, zwei Neger von der Küſte von Guinea und
ein Mulattenkind wurden von einer Krankheit befallen, die
epidemiſch zu werden drohte. Die Symptome waren nicht bei
allen Kranken gleich bedenklich; mehrere aber, und gerade die
kräftigſten, delirierten ſchon am zweiten Tage und die Kräfte
lagen völlig danieder. Bei der Gleichgültigkeit, mit der an
Bord der Paketboote alles behandelt wird, was mit der Füh-
rung des Schiffes und der Schnelligkeit der Ueberfahrt nichts
zu thun hat, dachte der Kapitän nicht daran, gegen die Ge-
fahr, die uns bedrohte, die gemeinſten Mittel vorzukehren.
Es wurde nicht geräuchert, und ein unwiſſender, phlegmatiſcher
galiciſcher Wundarzt verordnete Aderläſſe, weil er das Fieber
[139] der ſogenannten Schärfe und Verderbnis des Blutes zuſchrieb.
Es war keine Unze Chinarinde an Bord, und wir hatten
vergeſſen, beim Einſchiffen uns ſelbſt damit zu verſehen; unſere
Inſtrumente hatten uns mehr Sorge gemacht als unſere Ge-
ſundheit, und wir hatten unbedachterweiſe vorausgeſetzt, daß
es an Bord eines ſpaniſchen Schiffes nicht an peruaniſcher
Fieberrinde fehlen könne.
Am 8. Juli genas ein Matroſe, der ſchon in den letzten
Zügen lag, durch einen Zufall, der der Erwähnung wohl wert
iſt. Seine Hängematte war ſo befeſtigt, daß zwiſchen ſeinem
Geſicht und dem Deck keine 26 cm Raum blieben. In dieſer
Lage konnte man ihm unmöglich die Sakramente reichen; nach
dem Brauch auf den ſpaniſchen Schiffen hätte das Allerheiligſte
mit brennenden Kerzen herbeigebracht werden und die ganze
Mannſchaft dabei ſein müſſen. Man ſchaffte daher den Kranken
an einen luftigen Ort bei der Luke, wo man aus Segeln
und Flaggen ein kleines viereckiges Gemach hergeſtellt hatte.
Hier ſollte er liegen bis zu ſeinem Tode, den man nahe glaubte;
aber kaum war er aus einer übermäßig heißen, ſtockenden, mit
Miasmen erfüllten Luft in eine kühlere, reinere, fortwährend
erneuerte gebracht, ſo kam er allmählich aus ſeiner Betäubung
zu ſich. Mit dem Tage, da er aus dem Zwiſchendeck fort-
geſchafft worden, fing die Geneſung an, und wie denn in der
Arzneikunde dieſelben Thatſachen zu Stützen der entgegen-
geſetzteſten Syſteme werden, ſo wurde unſer Arzt durch dieſen
Fall von Wiedergeneſung in ſeiner Anſicht von der Entzün-
dung des Blutes und von der Notwendigkeit des Eingreifens
durch Aderläſſe, abführende und aſtheniſche Mittel aller Art
beſtärkt. Wir bekamen bald die verderblichen Folgen dieſer
Behandlung zu ſehen und ſehnten uns mehr als je nach dem
Augenblick, wo wir die Küſte Amerikas betreten könnten.
Seit mehreren Tagen war die Schätzung der Steuerleute
um 1° 12′ von der Länge abgewichen, die mir mein Chrono-
meter angab. Dieſer Unterſchied rührte weniger von der all-
gemeinen Strömung her, die ich den „Rotationsſtrom“ ge-
nannt habe, als von dem eigentümlichen Zuge des Waſſers
nach Nordweſt, von der Küſte von Braſilien gegen die Kleinen
Antillen, wodurch die Ueberfahrt von Cayenne nach der Inſel
Guadeloupe abgekürzt wird. 1 Am 12. Juli glaubte ich an-
[140] kündigen zu können, daß tags darauf vor Sonnenaufgang
Land in Sicht ſein werde. Wir befanden uns jetzt nach
meinen Beobachtungen unter 10° 46′ der Breite und 60° 54′
weſtlicher Länge. Einige Reihen Mondbeobachtungen be-
ſtätigten die Angabe des Chronometers; aber wir wußten
beſſer, wo ſich die Korvette befand, als wo das Land lag,
dem unſer Kurs zuging und das auf den franzöſiſchen, ſpani-
ſchen und engliſchen Karten ſo verſchieden angegeben iſt. Die
aus den genauen Beobachtungen von Churruca, Fidalgo und
Noguera ſich ergebenden Längen waren damals noch nicht be-
kannt gemacht.
Die Steuerleute verließen ſich mehr auf das Log als
auf den Gang eines Chronometers; ſie lächelten zu der Be-
hauptung, daß bald Land in Sicht kommen müſſe, und glaubten,
man habe noch zwei, drei Tage zu fahren. Es gereichte mir
daher zu großer Befriedigung, als ich am 13. gegen ſechs
Uhr morgens hörte, man ſehe von den Maſten ein ſehr
hohes Land, jedoch wegen des Nebels, der darauf lag, nur
undeutlich. Es windete ſehr ſtark und die See war ſehr un-
ruhig. Es regnete hier und da in großen Tropfen und alles
deutete auf ungeſtümes Wetter. Der Kapitän des Pizarro
hatte beabſichtigt, durch den Kanal zwiſchen Tabago und
Trinidad zu laufen, und da er wußte, daß unſere Korvette
ſehr langſam wendete, ſo fürchtete er, gegen Süden unter den
Wind und der Mündung des Dragon nahe zu kommen. Wir
waren allerdings unſerer Länge ſicherer als der Breite, da
ſeit dem 11. keine Beobachtung um Mittag gemacht worden
war. Nach doppelten Höhen, die ich nach Douwes Methode
am Morgen aufgenommen hatte, befanden wir uns in 11°
6′ 50″, ſomit 15 Minuten weiter nach Nord als nach der
Schätzung. Die Gewalt, mit der der große Orinokoſtrom
ſeine Gewäſſer in den Ozean ergießt, mag in dieſen Strichen
immerhin den Zug der Strömungen ſteigern; wenn man aber
behauptet, bis auf 270 km von der Mündung des Orinoko
habe das Meerwaſſer eine andere Farbe und ſei weniger ge-
ſalzen, ſo iſt dies ein Märchen der Küſtenpiloten. Der Ein-
fluß der mächtigſten Ströme Amerikas, des Amazonenſtromes,
1
[141] des La Plata, des Orinoko, des Miſſiſſippi, des Magdalenen-
ſtromes, iſt in dieſer Beziehung in weit engere Grenzen ein-
geſchloſſen, als man gemeiniglich glaubt.
Obgleich das Ergebnis der doppelten Sonnenhöhen hin-
länglich bewies, daß das hohe Land, das am Horizont auf-
ſtieg, nicht Trinidad war, ſondern Tabago, ſteuerte der Kapitän
dennoch nach Nord-Nord-Weſt fort, um letztere Inſel aufzu-
ſuchen, die ſogar auf Bordas ſchöner Karte des Atlantiſchen
Ozeans 5 Minuten zu weit ſüdlich geſetzt iſt. Man ſollte
kaum glauben, daß an Küſten, welche von allen Handels-
völkern beſucht werden, ſo auffallende Irrtümer in der Breite
ſich jahrhundertelang erhalten könnten. Ich habe dieſen Gegen-
ſtand anderswo beſprochen, und ſo bemerke ich hier nur, daß
ſogar auf der neueſten Karte von Weſtindien von Arrow-
ſmith, die im Jahre 1803, alſo lange nach Churrucas Beob-
achtungen erſchienen iſt, die Breiten der verſchiedenen Vor-
gebirge von Tabago und Trinidad um 6 bis 11 Minuten
falſch angegeben ſind.
Durch die Beobachtung der Sonnenhöhe um Mittag
wurde die Breite, wie ich ſie nach Douwes Verfahren er-
halten, vollkommen beſtätigt. Es blieb kein Zweifel mehr
über den Schiffsort den Inſeln gegenüber, und man beſchloß,
um das nördliche Vorgebirge von Tabago zu laufen, zwiſchen
dieſer Inſel und La Granada durchzugehen und auf einen
Hafen der Inſel Margarita loszuſteuern. In dieſen Strichen
liefen wir jeden Augenblick Gefahr, von Kapern aufgebracht
zu werden, aber zu unſerem Glück war die See ſehr unruhig,
und ein kleiner engliſcher Kutter überholte uns, ohne uns
nur anzurufen. Bonpland und mir war vor einem ſolchen
Unfall weniger bange, ſeit wir ſo nahe am amerikaniſchen Feſt-
land ſicher waren, daß wir nicht nach Europa zurückgebracht
wurden.
Der Anblick der Inſel Tabago iſt höchſt maleriſch. Es
iſt ein ſorgfältig bebauter Felsklumpen. Das blendende Weiß
des Geſteines ſticht angenehm vom Grün zerſtreuter Baum-
gruppen ab. Sehr hohe cylindriſche Fackeldiſteln krönen die
Bergkämme und geben der tropiſchen Landſchaft einen ganz
eigenen Charakter. Schon ihr Anblick ſagt dem Reiſenden,
daß er eine amerikaniſche Küſte vor ſich hat, denn die Kaktus
gehören ausſchließlich der Neuen Welt an, wie die Heidekräuter
der Alten. Der nordöſtliche Teil der Inſel Tabago iſt der
gebirgigſte, nach den Höhenwinkeln, die ich mit dem Sextanten
[142] genommen, ſcheinen indeſſen die höchſten Gipfel an der Küſte
nicht über 270 bis 290 m hoch zu ſein. Am ſüdlichen Vor-
gebirge ſenkt ſich das Land und läuft in die „Sandſpitze“
aus, die nach meiner Rechnung unter 10° 20′ 13″ der Breite
und 62° 47′ 30″ der Länge liegt. Wir ſahen mehrere Felſen
über dem Waſſerſpiegel, an denen ſich die See mit Ungeſtüm
brach, und beobachteten große Regelmäßigkeit in der Neigung
und dem Streichen der Schichten, die unter einem Winkel
von 60° nach Südoſt fallen. Es wäre zu wünſchen, daß ein
geübter Mineralog die Großen und Kleinen Antillen von der
Küſte von Paria bis zum Vorgebirge von Florida bereiſte
und die ehemalige, durch Strömungen, Erderſchütterungen und
Vulkane auseinander geriſſene Bergkette unterſuchte.
Wir waren eben um das Nordkap von Tabago und die
kleine Inſel St. Giles gelaufen, als man vom Maſtkorb ein
feindliches Geſchwader ſignaliſierte. Wir wendeten ſogleich
und die Paſſagiere wurden unruhig, da mehrere ihr kleines
Vermögen in Waren geſteckt hatten, die ſie in den ſpaniſchen
Kolonieen zu verwerten gedachten. Das Geſchwader ſchien ſich
nicht zu rühren, und es zeigte ſich bald, daß man eine Menge
einzelner Klippen für Segel angeſehen hatte.
Wir fuhren über die Untiefe zwiſchen Tabago und La
Granada. Die Farbe der See war nicht merkbar verändert,
aber ein paar Zoll unter der Oberfläche zeigte der Thermo-
meter nur 23°, während er oſtwärts auf hoher See unter
derſelben Breite und gleichfalls an der Meeresfläche auf 25,6°
ſtand. Trotz der Strömung zeigte die geringere Temperatur
des Waſſers die Untiefe an, die nur auf wenigen Karten an-
gegeben iſt. Nach Sonnenuntergang wurde der Wind ſchwächer,
und je näher der Mond zum Zenith rückte, deſto mehr klärte
ſich der Himmel auf. In dieſer und in den folgenden Nächten
fielen ſehr viele Sternſchnuppen; gegen Nord zeigten ſie ſich
nicht ſo häufig als gegen Süd, über Terra Firma, an deren
Küſte wir jetzt hinzufahren anfingen. Dieſe Verteilung weiſt
darauf hin, daß dieſe Meteore, über deren Weſen wir noch
ſo ſehr im unklaren ſind, zum Teil von örtlichen Urſachen ab-
hängig ſein mögen.
Am 14. bei Sonnenaufgang kam die Boca de Dragon
in Sicht. Wir konnten die Inſel Chacachacarreo ſehen, das
weſtlichſte der Eilande zwiſchen dem Vorgebirge Paria und
dem nordweſtlichen Vorgebirge von Trinidad. An 22 km von
der Küſte, bei der Punta de la Baca, wurden wir gewahr,
[143] daß eine eigentümliche Strömung die Korvette nach Süd trieb.
Durch den Zug des Waſſers, das aus der Boca de Dragon
kommt, und durch die Bewegung von Ebbe und Flut entſteht
eine Gegenſtrömung. Man warf das Senkblei aus und fand
66 bis 140 m Tiefe über einem Grunde von grünlichem, ſehr
feinem Thon. Nach Dampiers Grundſätzen hätten wir in der
Nähe einer von ſehr hohen, ſteil aufſteigenden Gebirgen ge-
bildeten Küſte keine ſo geringe Meerestiefe erwartet. Wir
loteten fort bis zum Cabo de tres puntas und fanden
überall erhöhten Meeresgrund, deſſen Umriß das Streichen
der ehemaligen Meeresküſte zu bezeichnen ſcheint. Die Tem-
peratur des Meeres war hier 23 bis 24°, ſomit 1,5 bis 2°
niedriger als auf hoher See, das heißt jenſeits der Ränder
der Bank.
Das Cabo de tres puntas, von Kolumbus ſelbſt ſo be-
nannt, 1 liegt nach meinen Beobachtungen unter 65° 4′ 5″
der Länge. Es erſchien uns um ſo höher, da ſeine gezackten
Gipfel in Wolken gehüllt waren. Das ganze Anſehen der
Berge von Paria, ihre Farbe und beſonders ihre meiſt runden
Umriſſe ließen uns vermuten, daß die Küſte aus Granit be-
ſtehe; die Folge zeigte aber, wie ſehr man ſich, ſelbſt wenn
man ſein Leben lang in Gebirgen gereiſt iſt, irren kann, wenn
man über die Beſchaffenheit der Gebirgsart aus der Ferne
urteilt.
Wir benutzten eine Windſtille, die ein paar Stunden an-
hielt, um die Intenſität der magnetiſchen Kraft beim Cabo
de tres puntas genau zu beſtimmen. Wir fanden ſie größer
als auf hoher See oſtwärts von Tabago, im Verhältnis von
257 zu 229. Während der Windſtille trieb uns die Strö-
mung raſch nach Weſt. Ihre Geſchwindigkeit betrug 13,5 km
in der Stunde; ſie nahm zu, je näher wir dem Meridian der
Teſtigos kamen, eines Haufens von Klippen, die aus der
weiten See aufſteigen. Als der Mond unterging, bedeckte
ſich der Himmel mit Wolken, der Wind wurde wieder ſtärker
und es ſtürzte ein Platzregen nieder, wie ſie dem heißen Erd-
ſtrich eigen ſind und wir auf unſeren Zügen im Binnenlande
ſie ſo oft durchgemacht haben.
Die am Bord des Pizarro ausgebrochene Seuche breitete
ſich raſch aus, ſeit wir uns nahe an der Küſte von Terra
Firma befanden; der Thermometer ſtand bei Nacht regelmäßig
[144] zwiſchen 22 und 23°, bei Tage zwiſchen 24 und 27°. Die
Kongeſtionen gegen den Kopf, die ausnehmende Trockenheit
der Haut, das Daniederliegen der Kräfte, alle Symptome
wurden immer bedenklicher; wir waren aber ſo ziemlich am
Ziele unſerer Fahrt, und ſo hofften wir alle Kranke geneſen
zu ſehen, wenn man ſie an der Inſel Margarita oder im
Hafen von Cumana, die für ſehr geſund gelten, ans Land
bringen könnte.
Dieſe Hoffnung ging nicht ganz in Erfüllung. Der
jüngſte Paſſagier bekam das bösartige Fieber und unterlag
ihm, blieb aber zum Glück das einzige Opfer. Es war ein
junger Aſturier von 19 Jahren, der einzige Sohn einer armen
Witwe. Mehrere Umſtände machten den Tod des jungen
Mannes, aus deſſen Geſicht viel Gefühl und große Gutmütig-
keit ſprachen, ergreifend für uns. Er war mit Widerſtreben
zu Schiffe gegangen; er hatte ſeine Mutter durch den Ertrag
ſeiner Arbeit unterſtützen wollen, aber dieſe hatte ihre Liebe
und den eigenen Vorteil dem Gedanken zum Opfer gebracht,
daß ihr Sohn, wenn er in die Kolonieen ginge, bei einem
reichen Verwandten, der auf Cuba lebte, ſein Glück machen
könnte. Der unglückliche junge Mann verfiel raſch in Be-
täubung, redete dazwiſchen irre und ſtarb am dritten Tage
der Krankheit. Das gelbe Fieber oder ſchwarze Erbrechen
rafft in Veracruz nicht leicht die Kranken ſo furchtbar ſchnell
dahin. Ein anderer, noch jüngerer Aſturier wich keinen Augen-
blick vom Bette des Kranken und bekam, was ziemlich auf-
fallend iſt, die Krankheit nicht. Er wollte mit ſeinem Lands-
mann nach San Jago de Cuba gehen und ſich dort von ihm
im Hauſe des Verwandten einführen laſſen, auf den ſie ihre
ganze Hoffnung geſetzt hatten. Es war herzzerreißend, wie
der, welcher den Freund überlebte, ſich ſeinem tiefen Schmerze
überließ und die unſeligen Ratſchläge verwünſchte, die ihn in
ein fernes Land getrieben, wo er nun allein und verlaſſen
daſtand.
Wir ſtanden beiſammen auf dem Verdeck in trüben Ge-
danken. Es war kein Zweifel mehr, das Fieber, das an
Bord herrſchte, hatte ſeit einigen Tagen einen bösartigen
Charakter angenommen. Unſere Blicke hingen an einer ge-
birgigen, wüſten Küſte, auf die zuweilen ein Mondſtrahl durch
die Wolken fiel. Die leiſe bewegte See leuchtete in ſchwachem
phosphoriſchem Schein; man hörte nichts als das eintönige
Geſchrei einiger großen Seevögel, die das Land zu ſuchen
[145] ſchienen. Tiefe Ruhe herrſchte ringsum am einſamen Orte;
aber dieſe Ruhe der Natur ſtand im Widerſpiel mit den
ſchmerzlichen Gefühlen in unſerer Bruſt. Gegen 8 Uhr wurde
langſam die Totenglocke geläutet; bei dieſem Trauerzeichen
brachen die Matroſen ihre Arbeit ab und ließen ſich zu kurzem
Gebet auf die Kniee nieder, eine ergreifende Handlung, die
an die Zeiten mahnt, wo die erſten Chriſten ſich als Glieder
einer Familie betrachteten, und die auch jetzt noch die Men-
ſchen im Gefühl gemeinſamen Unglückes einander näher bringt.
In der Nacht ſchaffte man die Leiche des Aſturiers auf das
Verdeck, und auf die Vorſtellung des Prieſters wurde er erſt
nach Sonnenaufgang ins Meer geworfen, damit man die
Leichenfeier nach dem Gebrauch der römiſchen Kirche vornehmen
konnte. Kein Mann an Bord, den nicht das Schickſal des
jungen Mannes rührte, den wir noch vor wenigen Tagen
friſch und geſund geſehen hatten.
Der eben erzählte Vorfall zeigte uns, wie gefährlich
dieſes bösartige oder ataktiſche Fieber ſei, und wenn die langen
Windſtillen die Ueberfahrt von Cumana nach Havana ver-
zögerten, ſo mußte man beſorgen, daß es viele Opfer fordern
könnte. An Bord eines Kriegsſchiffes oder eines Transport-
ſchiffes machen einige Todesfälle gewöhnlich nicht mehr Ein-
druck, als wenn man in einer volkreichen Stadt einem Leichen-
zug begegnet. Anders an Bord eines Paketbootes mit kleiner
Mannſchaft, wo zwiſchen Menſchen, die dasſelbe Reiſeziel
haben, ſich nähere Beziehungen knüpfen. Die Paſſagiere auf
dem Pizarro ſpürten zwar noch nichts von den Vorboten der
Krankheit, beſchloſſen aber doch, das Fahrzeug am nächſten
Landungsplatz zu verlaſſen und die Ankunft eines anderen
Poſtſchiffes zu erwarten, um ihren Weg nach Cuba oder Mexiko
fortzuſetzen. Sie betrachteten das Zwiſchendeck des Schiffes
als einen Herd der Anſteckung, und obgleich es mir keines-
wegs erwieſen ſchien, daß das Fieber durch Berührung an-
ſtecke, hielt ich es doch durch die Vorſicht geraten, in Cumana
ans Land zu gehen. Es ſchien mir wünſchenswert, Neuſpanien
erſt nach einem längeren Aufenthalt an den Küſten von Vene-
zuela und Paria zu beſuchen, wo der unglückliche Löffling nur
ſehr wenige naturgeſchichtliche Beobachtungen hatte machen
können. Wir brannten vor Verlangen, die herrlichen Ge-
wächſe, die Boſe und Bredemeyer auf ihrer Reiſe in Terra
Firma geſammelt und die eine Zierde der Gewächshäuſer zu
Schönbrunn und Wien ſind, auf ihrem heimatlichen Boden
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 10
[146] zu ſehen. Es hätte uns ſehr wehe gethan, in Cumana oder
Guayra zu landen, ohne das Innere eines von den Natur-
forſchern ſo wenig betretenen Landes zu betreten.
Der Entſchluß, den wir in der Nacht vom 14. auf den
15. Juli faßten, äußerte einen glücklichen Einfluß auf den
Verfolg unſerer Reiſen. Statt einige Wochen verweilten wir
ein ganzes Jahr in Terra Firma; ohne die Seuche an
Bord des Pizarro wären wir nie an den Orinoko, an
den Caſſiquiare und an die Grenze der portugieſiſchen Be-
ſitzungen am Rio Negro gekommen. Vielleicht verdanken wir
es auch dieſer unſerer Reiſerichtung, daß wir während eines
ſo langen Aufenthaltes in den Aequinoktialländern ſo geſund
blieben.
Bekanntlich ſchweben die Europäer in den erſten Monaten,
nachdem ſie unter den glühenden Himmel der Tropen verſetzt
worden, in ſehr großer Gefahr. Sie betrachten ſich als akkli-
matiſiert, wenn ſie die Regenzeit auf den Antillen, in Vera-
cruz oder Cartagena überſtanden haben. Dieſe Meinung
iſt nicht ungegründet, obgleich es nicht an Beiſpielen fehlt,
daß Leute, die bei der erſten Epidemie des gelben Fiebers
durchgekommen, in einem der folgenden Jahre Opfer der
Seuche werden. Die Fähigkeit ſich zu akklimatiſieren ſcheint
im umgekehrten Verhältnis zu ſtehen mit dem Unterſchied
zwiſchen der mittleren Temperatur der heißen Zone und der
des Geburtslandes des Reiſenden oder Koloniſten, der das
Klima wechſelt, weil die Lufttemperatur den mächtigſten Ein-
fluß auf die Reizbarkeit und die Vitalität der Organe äußert.
Ein Preuße, ein Pole, ein Schwede ſind mehr gefährdet, wenn
ſie auf die Inſeln oder nach Terra Firma kommen, als ein
Spanier, ein Italiener und ſelbſt ein Bewohner des ſüdlichen
Frankreichs. Für die nordiſchen Völker beträgt der Unter-
ſchied in der mittleren Temperatur 19 bis 21°, für die ſüd-
lichen nur 9 bis 10. Wir waren ſo glücklich, die Zeit, in
der der Europäer nach der Landung die größte Gefahr läuft,
im ausnehmend heißen, aber ſehr trockenen Klima von Cu-
mana zu verleben, einer Stadt, die für ſehr geſund gilt.
Hätten wir unſeren Weg nach Veracruz fortgeſetzt, ſo hätten
wir leicht das Los mehrerer Paſſagiere des Paketbootes
Alcudia teilen können, das mit dem Pizarro in die
Havana kam, als eben das ſchwarze Erbrechen auf
Cuba und an der Oſtküſte von Mexiko ſchreckliche Verheerungen
anrichtete.
[147]
Am 15. morgens, ungefähr gegenüber dem kleinen Berge
St. Joſeph, waren wir von einer Menge ſchwimmenden
Tanges umgeben. Die Stengel desſelben hatten die ſonder-
baren, wie Blumenkelche und Federbüſche geſtalteten Anhänge,
wie ſie Don Hypolito Ruiz auf ſeiner Rückkehr aus Chile
beobachtet und in einer beſonderen Abhandlung als die Ge-
ſchlechtsorgane des Fucus natans beſchrieben hat. Ein glück-
licher Zufall ſetzte uns in den Stand, eine Beobachtung zu
berichtigen, die ſich nur einmal der Naturforſchung darge-
boten hatte. Die Bündel Tang, welche Bonpland aufgefiſcht
hatte, waren durchaus identiſch mit den Exemplaren, die wir
der Gefälligkeit der gelehrten Verfaſſer der peruaniſchen Flora
verdankten. Als wir beide unter dem Mikroſkop unterſuchten,
fanden wir, daß dieſe angeblichen Befruchtungswerkzeuge, dieſe
Piſtille und Staubfäden eine neue Gattung Pflanzentiere aus
der Familie der Ceratophyten ſeien. Die Kelche, welche Ruiz
für Piſtille hielt, entſpringen aus hornartigen, abgeplatteten
Stielen, die ſo feſt mit der Subſtanz des Fukus zuſammen-
hängen, daß man ſie gar wohl für bloße Rippen halten könnte;
aber mit einem ſehr dünnen Meſſer gelingt es, ſie abzulöſen,
ohne das Parenchym zu verletzen. Die nicht gegliederten
Stiele ſind anfangs ſchwarzbraun, werden aber, wenn ſie ver-
trocknen, weiß und zerreiblich. In dieſem Zuſtande brauſen
ſie mit Säuren auf, wie die kalkige Subſtanz der Sertularia,
deren Spitzen mit den Kelchen des von Ruiz beobachteten
Fukus Aehnlichkeit haben. In der Südſee, auf der Ueberfahrt
von Guayaquil nach Acapulco, haben wir an der tropiſchen
Seetraube dieſelben Anhängſel gefunden, und eine ſehr ſorg-
fältige Unterſuchung überzeugte uns, daß ſich hier ein Zoo-
phyt an den Tang heftet, wie der Epheu den Baumſtamm
umſchlingt. Die unter dem Namen weiblicher Blüten be-
ſchriebenen Organe ſind über 4 mm lang, und ſchon dieſe
Größe hätte den Gedanken an wahrhafte Piſtille nicht auf-
kommen laſſen ſollen.
Die Küſte von Paria zieht ſich nach Weſt fort und bildet
eine nicht ſehr hohe Felsmauer mit abgerundeten Gipfeln und
wellenförmigen Umriſſen. Es dauerte lange, bis wir die hohe
Küſte der Inſel Margarita zu ſehen bekamen, wo wir ein-
laufen ſollten, um hinſichtlich der engliſchen Kreuzer, und ob
es gefährlich ſei, bei Guayra anzulegen, Erkundigung einzu-
ziehen. Sonnenhöhen, die wir unter ſehr günſtigen Umſtänden
genommen, hatten uns gezeigt, wie unrichtig damals ſelbſt die
[148] geſuchteſten Seekarten waren. Am 15. morgens, wo wir uns
nach dem Chronometer unter 66° 1′ 15″ der Länge befanden,
waren wir noch nicht im Meridian der Inſel St. Margarita,
während wir nach der verkleinerten Karte des Atlantiſchen
Ozeans über das weſtliche ſehr hohe Vorgebirge der Inſel,
das unter 66° 0′ der Länge geſetzt iſt, bereits hätten hinaus
ſein ſollen. Die Küſten von Terra Firma wurden vor Fi-
dalgos, Nogueras und Tiscars, und ich darf wohl hinzufügen,
vor meinen aſtronomiſchen Beobachtungen in Cumana, ſo un-
richtig gezeichnet, daß für die Schiffahrt daraus hätten Ge-
fahren erwachſen können, wenn nicht das Meer in dieſen
Strichen beſtändig ruhig wäre. Ja die Fehler in der Breite
waren noch größer als die in der Länge, denn die Küſte von
Neuandaluſien läuft weſtwärts vom Cabo de tres puntas 67
bis 90 km weiter nach Norden, als auf den vor dem Jahre
1800 erſchienenen Karten angegeben iſt.
Gegen 11 Uhr morgens kam uns ein ſehr niedriges Ei-
land zu Geſicht, auf dem ſich einige Sanddünen erhoben.
Durch das Fernrohr ließ ſich keine Spur von Bewohnern
oder von Anbau entdecken. Hin und wieder ſtanden cylind-
riſche Kaktus wie Kandelaber. Der faſt pflanzenloſe Boden
ſchien ſich wellenförmig zu bewegen infolge der ſtarken Brechung,
welche die Sonnenſtrahlen erleiden, wenn ſie durch Luft-
ſchichten hindurchgehen, die auf einer ſtark erhitzten Fläche
aufliegen. Die Luftſpiegelung macht, daß in allen Zonen
Wüſten und ſandiger Strand ſich wie eine bewegte See aus-
nehmen.
Das flache Land, das wir vor uns hatten, ſtimmte
ſchlecht zu der Vorſtellung, die wir uns von der Inſel Mar-
garita gemacht. Während man beſchäftigt war, die Angaben
der Karten zu vergleichen, ohne ſie in Uebereinſtimmung
bringen zu können, ſignaliſierte man vom Maſt einige kleine
Fiſcherboote. Der Kapitän des Pizarro rief ſie durch einen
Kanonenſchuß herbei; aber ein ſolches Zeichen dient zu nichts
in Ländern, wo der Schwache, wenn er dem Starken be-
gegnet, glaubt ſich nur auf Vergewaltigungen gefaßt machen
zu müſſen. Die Boote ergriffen die Flucht nach Weſten zu,
und wir ſahen uns hier in derſelben Verlegenheit, wie bei
unſerer Ankunft auf den Kanarien vor der kleinen Inſel
Gracioſa. Niemand an Bord war je in der Gegend am Land
geweſen. So ruhig die See war, ſo ſchien doch die Nähe
eines kaum ein paar Fuß hohen Eilandes Vorſichtsmaßregeln
[149] zu erheiſchen. Man ſteuerte nicht weiter dem Lande zu, und
da das Senkblei nur 5,5 bis 7,3 m Waſſer anzeigte, warf
man eilends den Anker aus.
Küſten, aus der Ferne geſehen, verhalten ſich wie Wolken,
in denen jeder Beobachter die Gegenſtände erblickt, die ſeine
Einbildungskraft beſchäftigen. Da unſere Aufnahmen und die
Angabe des Chronometers mit den Karten, die uns zur Hand
waren, im Widerſpruch ſtanden, ſo verlor man ſich in eitlen
Mutmaßungen. Die einen hielten Sandhaufen für Indianer-
hütten und deuteten auf den Punkt, wo nach ihnen das Fort
Pampatar liegen mußte; andere ſahen die Ziegenherden, welche
im dürren Thale von San Juan ſo häufig ſind; ſie zeigten
die hohen Berge von Macanao, die ihnen halb in Wolken
gehüllt ſchienen. Der Kapitän beſchloß, einen Steuermann
ans Land zu ſchicken; man legte Hand an, um die Schaluppe
ins Waſſer zu laſſen, da das Boot auf der Reede von Santa
Cruz durch die Brandung ſtark gelitten hatte. Da die Küſte
ziemlich fern war, konnte die Rückfahrt zur Korvette ſchwierig
werden, wenn der Wind abends ſtark wurde.
Als wir uns eben anſchickten, ans Land zu gehen, ſah
man zwei Piroguen an der Küſte hinfahren. Man rief ſie
durch einen zweiten Kanonenſchuß an, und obgleich man die Flagge
von Kaſtilien aufgezogen hatte, kamen ſie doch nur zögernd
herbei. Dieſe Piroguen waren, wie alle der Eingeborenen, aus
einem Baumſtamm, und in jeder befanden ſich achtzehn In-
dianer von Stamme der Guaykari (Guayqueries), nackt bis
zum Gürtel und von hohem Wuchs. Ihr Körperbau zeugte
von großer Muskelkraft und ihre Hautfarbe war ein Mittel-
ding zwiſchen braun und kupferrot. Von weitem, wie ſie
unbeweglich daſaßen und ſich vom Horizont abhoben, konnte
man ſie für Bronzeſtatuen halten. Dies war uns um ſo auf-
fallender, da es ſo wenig dem Begriff entſprach, den wir uns
nach manchen Reiſeberichten von der eigentümlichen Körper-
bildung und der großen Körperſchwäche der Eingeborenen ge-
macht hatten. Wir machten in der Folge die Erfahrung,
und brauchten deshalb die Grenzen der Provinz Cumana
nicht zu überſchreiten, wie auffallend die Guayqueries äußer-
lich von den Chaymas und den Kariben verſchieden ſind.
So nahe alle Völker Amerikas miteinander verwandt ſcheinen,
da ſie ja derſelben Raſſe angehören, ſo unterſcheiden ſich
doch die Stämme nicht ſelten bedeutend im Körperwuchs,
in der mehr oder weniger dunkeln Hautfarbe, im Blick,
[150] aus dem bei den einen Seelenruhe und Sanftmut, bei
anderen ein unheimliches Mittelding von Trübſinn und Wild-
heit ſpricht.
Sobald die Piroguen ſo nahe waren, daß man die
Indianer ſpaniſch anrufen konnte, verloren ſie ihr Mißtrauen
und fuhren geradezu an Bord. Wir erfuhren von ihnen, das
niedrige Eiland, bei dem wir geankert, ſei die Inſel Coche,
die immer unbewohnt geweſen und an der die ſpaniſchen
Schiffe, die aus Europa kommen, gewöhnlich weiter nördlich
zwiſchen derſelben und der Inſel Margarita durchgehen, um
im Hafen von Pampatar einen Lotſen einzunehmen. Unbe-
kannt in der Gegend, waren wir in den Kanal ſüdlich von
Coche geraten, und da die engliſchen Kreuzer ſich damals
häufig in dieſen Strichen zeigten, hatten uns die Indianer
für ein feindliches Fahrzeug angeſehen. Die ſüdliche Durch-
fahrt hat allerdings bedeutende Vorteile für Schiffe, die von
Cumana nach Barcelona gehen; ſie hat weniger Waſſertiefe
als die nördliche, weit ſchmälere Durchfahrt, aber man läuft
nicht Gefahr aufzufahren, wenn man ſich nahe an den Inſeln
Lobos und Moros del Tunal hält. Der Kanal zwiſchen Coche
und Margarita wird durch die Untiefen am nordweſtlichen
Vorgebirge von Coche und durch die Bank an der Punta de
Mangles eingeengt.
Die Guaykari gehören zum Stamm civiliſierter In-
dianer, welche auf den Küſten von Margarita und in den
Vorſtädten von Cumana wohnen. Nach den Kariben des
ſpaniſchen Guyana ſind ſie der ſchönſte Menſchenſchlag in
Terra Firma. Sie genießen verſchiedener Vorrechte, da ſie
ſeit der erſten Zeit der Eroberung ſich als treue Freunde der
Kaſtilianer bewährt haben. Der König von Spanien nennt
ſie daher auch in ſeinen Handſchreiben „ſeine lieben, edlen und
getreuen Guaykari“. Die Indianer, auf die wir in den
zwei Piroguen geſtoßen, hatten den Hafen von Cumana in
der Nacht verlaſſen. Sie wollten Bauholz in den Cedro-
wäldern 1 holen, die ſich vom Kap San Joſe bis über die
Mündung des Rio Carupano hinaus erſtrecken. Sie gaben
uns friſche Kokosnüſſe und einige Fiſche von der Gattung
Choetodon, deren Farben wir nicht genug bewundern konnten.
Welche Schätze enthielten in unſeren Augen die Kähne der
[151] armen Indianer! Ungeheure Vijaoblätter 1 bedeckten Bananen-
büſchel; der Schuppenpanzer eines Tatou, 2 die Frucht der
Crescentia cujete, die den Eingeborenen als Trinkgefäße
dienen, Naturkörper, die in den europäiſchen Kabinetten
zu den gemeinſten gehören, hatten ungemeinen Reiz für
uns, weil ſie uns lebhaft daran mahnten, daß wir uns im
heißen Erdgürtel befanden und das längſterſehnte Ziel er-
reicht hatten.
Der Patron einer der Piroguen erbot ſich an Bord
des Pizarro zu bleiben, um uns als Lotſe zu dienen. Der
Mann empfahl ſich durch ſein ganzes Weſen; er war ein
ſcharfſinniger Beobachter und hatte ſich in lebhafter Wißbegier
mit den Meeresprodukten wie mit den einheimiſchen Ge-
wächſen abgegeben. Ein glücklicher Zufall fügte es, daß der
erſte Indianer, dem wir bei unſerer Landung begegneten, der
Mann war, deſſen Bekanntſchaft unſeren Reiſezwecken äußerſt
förderlich wurde. Mit Vergnügen ſchreibe ich in dieſer Er-
zählung den Namen Carlos del Pino nieder, ſo hieß der
Mann, der uns 16 Monate lang auf unſeren Zügen längs
der Küſten und im inneren Lande begleitet hat.
Gegen Abend ließ der Kapitän der Korvette den Anker
lichten. Bevor wir die Untiefe oder den Placer bei Coche
verließen, beſtimmte ich die Länge des öſtlichen Vorgebirges
der Inſel und fand ſie 66° 11′ 53″. Weſtwärts ſteuernd
hatten wir bald die kleine Inſel Cubagua vor uns, die jetzt
ganz öde iſt, früher aber durch Perlenfiſcherei berühmt war.
Hier hatten die Spanier unmittelbar nach Kolumbus’ und
Ojedas Reiſen eine Stadt unter dem Namen Neucadiz
gegründet, von der keine Spur mehr vorhanden iſt. Zu An-
fang des 16. Jahrhunderts waren die Perlen von Cubagua
in Sevilla und Toledo, wie auf den großen Meſſen in Augs-
burg und Brügge bekannt. Da Neucadiz kein Waſſer hatte,
ſo mußte man es an der benachbarten Küſte aus dem Man-
zanaresfluſſe holen, obgleich man es, ich weiß nicht warum,
beſchuldigte, daß es Augenentzündungen verurſache. Die
Schriftſteller jener Zeit ſprechen alle vom Reichtum der erſten
Anſiedler und vom Luxus, den ſie getrieben; jetzt erheben
ſich Dünen von Flugſand auf der unbewohnten Küſte und
der Name Cubagua iſt auf unſeren Karten kaum verzeichnet.
[152]
In dieſem Striche angelangt, ſahen wir die hohen Berge
von Kap Macanao im Weſten der Inſel Margarita majeſtätiſch
am Horizont aufſteigen. Nach den Höhenwinkeln, die wir in
81 km Entfernung nahmen, mögen dieſe Gipfel 970 bis
1170 m abſolute Höhe haben. Nach Louis Berthouds Chro-
nometer liegt Kap Macanao unter 66° 47′ 5″ Länge. Ich
nahm die Felſen am Ende des Vorgebirges auf, nicht die
ſehr niedrige Landzunge, die nach Weſt fortſtreicht und ſich
in eine Untiefe verliert. Die Länge, die ich für Macanao
gefunden, und die, welche ich oben für die Oſtſpitze der Inſel
Coche angegeben, weichen von Fidalgos Beobachtungen nur
um 4 Zeitſekunden ab.
Der Wind war ſehr ſchwach; der Kapitän hielt es für
ratſamer, bis zu Tagesanbruch zu lavieren. Er ſcheute ſich,
bei Nacht in den Hafen von Cumana einzulaufen, und ein
unglücklicher Zufall, der vor kurzem eben hier vorgekommen
war, ſchien dieſe Vorſicht zu gebieten. Ein Paketboot hatte
Anker geworfen, ohne die Laternen auf dem Hinterteil anzu-
zünden; man hielt es für ein feindliches Fahrzeug und die
Batterien von Cumana gaben Feuer darauf. Dem Kapitän
des Poſtſchiffes wurde ein Bein weggeriſſen und er ſtarb
wenige Tage darauf in Cumana.
Wir brachten die Nacht zum Teil auf dem Verdeck zu.
Der indianiſche Lotſe unterhielt uns von den Tieren und
Gewächſen ſeines Landes. Wir hörten zu unſerer großen
Freude, wenige Meilen von der Küſte ſei ein gebirgiger, von
Spaniern bewohnter Landſtrich, wo empfindliche Kälte herrſche,
und auf den Ebenen kommen zwei ſehr verſchiedene Krokodile 1
vor, ferner Boa, elektriſche Aale 2 und mehrere Tigerarten.
Obgleich die Worte Bava, Cachicamo und Temblador
uns ganz unbekannt waren, ließ uns die naive Beſchreibung
der Geſtalt und der Sitten der Tiere doch alsbald die Arten
erkennen, welche die Kreolen ſo benennen. Wir dachten nicht
daran, daß dieſe Tiere über ungeheure Landſtriche zerſtreut
ſind und hofften, ſie gleich in den Wäldern bei Cumana
beobachten zu können. Nichts reizt die Neugierde des Natur-
kundigen mehr als der Bericht von den Wundern eines Landes,
das er betreten ſoll.
Am 16. Juli 1799, bei Tagesanbruch, lag eine grüne,
[153] maleriſche Küſte vor uns. Die Berge von Neuandaluſien
begrenzten, halb von Wolken verſchleiert, nach Süden den
Horizont. Die Stadt Cumana mit ihrem Schloß erſchien
zwiſchen Gruppen von Kokosbäumen. Um neun Uhr morgens,
41 Tage nach unſerer Abfahrt von Coruña, gingen wir im
Hafen vor Anker. Die Kranken ſchleppten ſich auf das Verdeck,
um ſich am Anblick eines Landes zu laben, wo ihre Leiden
ein Ende finden ſollten.
[[154]]
Viertes Kapitel.
Erſter Aufenthalt in Cumana. — Die Ufer des Manzanares.
Wir waren am 16. Juli mit Tagesanbruch auf dem
Ankerplatz, gegenüber der Mündung des Rio Manzanares,
angelangt, konnten uns aber erſt ſpät am Morgen ausſchiffen,
weil wir den Beſuch der Hafenbeamten abwarten mußten.
Unſere Blicke hingen an den Gruppen von Kokosbäumen, die
das Ufer ſäumten und deren über 20 m hohe Stämme die
Landſchaft beherrſchten. Die Ebene war bedeckt mit Büſchen
von Caſſien, Capparis und den baumartigen Mimoſen, die
gleich den Pinien Italiens ihre Zweige ſchirmartig ausbreiten.
Die gefiederten Blätter der Palmen hoben ſich von einem
Himmelsblau ab, das keine Spur von Dunſt trübte. Die
Sonne ſtieg raſch zum Zenith auf; ein blendendes Licht war
in der Luft verbreitet und lag auf den weißlichen Hügeln
mit zerſtreuten cylindriſchen Kaktus und auf dem ewig ruhigen
Meere, deſſen Ufer von Alcatras, 1 Reihern und Flamingo
bevölkert ſind. Das glänzende Tageslicht, die Kraft der
Pflanzenfarben, die Geſtalten der Gewächſe, das bunte Ge-
fieder der Vögel, alles trug den großartigen Stempel der
tropiſchen Natur.
Cumana, die Hauptſtadt von Neuandaluſien, liegt 4,5 km
vom Landungsplatz oder der Batterie de la Boca, bei der
wir ans Land geſtiegen, nachdem wir über die Barre des
Manzanares gefahren. Wir hatten über eine weite Ebene 2
zu gehen, die zwiſchen der Vorſtadt der Guaykari und der
Küſte liegt. Die ſtarke Hitze wurde durch die Strahlung des
zum Teil pflanzenloſen Bodens noch geſteigert. Der hundert-
[155] teilige Thermometer, in den weißen Sand geſteckt, zeigte 37,7°.
In kleinen Salzwaſſerlachen ſtand er auf 30,5°, während im
Hafen von Cumana die Temperatur des Meeres an der
Oberfläche meiſt 25,2 bis 26,3° beträgt. Die erſte Pflanze,
die wir auf dem amerikaniſchen Feſtland pflückten, war die
Avicennia tomentosa (Mangle prieto), die hier kaum 60 cm
hoch wird. Dieſer Strauch, das Seſuvium, die gelbe Gom-
phrena und die Kaktus bedecken den mit ſalzſaurem Natron
geſchwängerten Boden; ſie gehören zu den wenigen Pflanzen,
die, wie die europäiſchen Heiden, geſellig leben, und dergleichen
in der heißen Zone nur am Meeresufer und auf den hohen
Plateaus der Anden vorkommen. Nicht weniger intereſſant
iſt die cumaniſche Avicennia durch eine andere Eigentümlichkeit:
dieſe Pflanze gehört dem Geſtade von Südamerika und der
Küſte von Malabar gemeinſchaftlich an.
Der indianiſche Lotſe führte uns durch ſeinen Garten, der
viel mehr einem Gehölz als einem bebauten Lande glich. Er
zeigte uns als Beweis der Fruchtbarkeit des Klimas einen
Käſebaum (Bombax heptaphyllum), deſſen Stamm im vierten
Jahre bereits gegen 75 cm Durchmeſſer hatte. Wir haben
an den Ufern des Orinoko und des Magdalenenfluſſes die
Beobachtung gemacht, daß die Bombax, die Karolineen, die
Ochromen und andere Bäume aus der Familie der Malven
ausnehmend raſch wachſen. Ich glaube aber doch, daß die
Angabe des Indianers über das Alter des Käſebaumes etwas
übertrieben war; denn in der gemäßigten Zone, auf dem
feuchten und warmen Boden Nordamerikas zwiſchen dem
Miſſiſſippi und den Alleghanies werden die Bäume in zehn
Jahren nicht über 32 cm dick, und das Wachstum iſt dort
im allgemeinen nur um ein Fünfteil raſcher als in Europa,
ſelbſt wenn man zum Vergleich die Platane, den Tulpenbaum
und Cupressus disticha wählt, die zwiſchen 3 und 4,5 m
dick werden. Im Garten des Lotſen am Geſtade von Cumana
ſahen wir auch zum erſtenmal einen Guama1 voll Blüten,
deren zahlreiche Staubfäden ſich durch ihre ungemeine Länge
und ihren Silberglanz auszeichnen. Wir gingen durch die
[156] Vorſtadt der Indianer, deren Straßen geradlinig und mit
kleinen, ganz neuen Häuſern von ſehr freundlichem Anſehen
beſetzt ſind. Dieſer Stadtteil war infolge des Erdbebens,
das Cumana anderthalb Jahre vor unſerer Ankunft zerſtört
hatte, eben erſt neu aufgebaut worden. Kaum waren wir
auf einer hölzernen Brücke über den Manzanares gegangen,
in dem hier Bava oder Krokodile von der kleinen Art vor-
kommen, begegneten uns überall die Spuren dieſer ſchreck-
lichen Kataſtrophe; neue Gebäude erhoben ſich auf den Trüm-
mern der alten.
Wir wurden vom Kapitän des Pizarro zum Statthalter
der Provinz, Don Vicente Emparan, geführt, um ihm die
Päſſe zu überreichen, die das Staatsſekretariat uns ausgeſtellt.
Er empfing uns mit der Offenheit und edlen Einfachheit, die
von jeher Züge des baskiſchen Volkscharakters waren. Ehe
er zum Statthalter von Portobelo und Cumana ernannt
wurde, hatte er ſich als Schiffskapitän in der königlichen
Marine ausgezeichnet. Sein Name erinnert an einen der
merkwürdigſten und traurigſten Vorfälle in der Geſchichte der
Seekriege. Nach dem letzten Bruch zwiſchen Spanien und
England ſchlugen ſich zwei Brüder des Statthalters Emparan
bei Nacht vor dem Hafen von Cadiz mit ihren Schiffen, weil
jeder das andere Schiff für ein feindliches hielt. Der Kampf
war ſo furchtbar, daß beide Schiffe faſt zugleich ſanken. Nur
ein ſehr kleiner Teil der beiderſeitigen Mannſchaft wurde ge-
rettet, und die beiden Brüder hatten das Unglück, einander
kurz vor ihrem Tode zu erkennen.
Der Statthalter von Cumana äußerte ſich ſehr zufrieden
über unſeren Entſchluß, uns eine Zeitlang in Neuandaluſien
aufzuhalten, das zu jener Zeit in Europa kaum dem Namen
nach bekannt war, und das in ſeinen Gebirgen und an den
Ufern ſeiner zahlreichen Ströme der Naturforſchung das reichſte
Feld der Beobachtung bietet. Der Statthalter zeigte uns
mit einheimiſchen Pflanzen gefärbte Baumwolle und ſchöne
Möbel ganz aus einheimiſchen Hölzern; er intereſſierte ſich
lebhaft für alle phyſiſchen Wiſſenſchaften und fragte uns zu
unſerer großen Verwunderung, ob wir nicht glaubten, daß
die Luft unter dem ſchönen tropiſchen Himmel weniger Stick-
ſtoff (azotico) enthalte als in Spanien, oder ob, wenn ſich
das Eiſen hierzulande raſcher oxydiere, dies allein von der
größeren Feuchtigkeit herrühre, die der Haarhygrometer an-
zeige. Dem Reiſenden kann der Name des Vaterlandes,
[157] wenn er ihn auf einer fernen Küſte ausſprechen hört, nicht
lieblicher in den Ohren klingen, als uns hier die Worte
Stickſtoff, Eiſenoxyd, Hygrometer. Wir wußten, daß wir,
trotz der Befehle des Hofes und der Empfehlung eines mäch-
tigen Miniſters, bei unſerem Aufenthalt in den ſpaniſchen
Kolonieen mit zahlloſen Unannehmlichkeiten zu kämpfen haben
würden, wenn es uns nicht gelang, bei den Regenten dieſer
ungeheuren Landſtrecken beſondere Teilnahme für uns zu
wecken. Emparan war ein zu warmer Freund der Wiſſen-
ſchaft, um es ſeltſam zu finden, daß wir ſo weit hergekommen,
um Pflanzen zu ſammeln und die Lage gewiſſer Oertlichkeiten
aſtronomiſch zu beſtimmen. Er argwöhnte keine anderen Be-
weggründe unſerer Reiſe als die in unſeren Päſſen angegebenen,
und die öffentlichen Beweiſe von Achtung, die er uns
während unſeres langen Aufenthaltes in ſeinem Regierungs-
bezirke gegeben, haben Großes dazu beigetragen, uns überall
in Südamerika eine freundliche Aufnahme zu verſchaffen.
Am Abend ließen wir unſere Inſtrumente ausſchiffen und
fanden zu unſerer großen Befriedigung keines beſchädigt. Wir
mieteten ein geräumiges, für die aſtronomiſchen Beobachtun-
gen günſtig gelegenes Haus. Man genoß darin, wenn der
Seewind wehte, einer angenehmen Kühle; die Fenſter waren
ohne Scheiben, nicht einmal mit Papier bezogen, das in
Cumana meiſt ſtatt des Glaſes dient. Sämtliche Paſſagiere
des Pizarro verließen das Schiff, aber die vom bösartigen
Fieber Befallenen genaſen ſehr langſam. Wir ſahen welche,
die nach einem Monat, trotz der guten Pflege, die ihnen von
ihren Landsleuten geworden, noch erſchrecklich blaß und mager
waren. In den ſpaniſchen Kolonieen iſt die Gaſtfreundſchaft
ſo groß, daß ein Europäer, käme er auch ohne Empfehlung
und ohne Geldmittel an, ſo ziemlich ſicher auf Unterſtützung
rechnen kann, wenn er krank in irgend einem Hafen ans
Land geht. Die Katalonier, Galicier und Biscayer ſtehen
im ſtärkſten Verkehr mit Amerika. Sie bilden dort gleichſam
drei geſonderte Korporationen, die auf die Sitten, den Ge-
werbfleiß und den Handel der Kolonieen bedeutenden Einfluß
haben. Der ärmſte Einwohner von Siges oder Vigo iſt
ſicher, im Hauſe eines kataloniſchen oder galiciſchen Pulpero
(Krämer) Aufnahme zu finden, ob er nun nach Chile oder
nach Mexiko oder auf die Philippinen kommt. Ich habe die
rührendſten Beiſpiele geſehen, wie für unbekannte Menſchen
ganze Jahre lang unverdroſſen geſorgt wird. Man kann
[158] hören, Gaſtfreundſchaft ſei leicht zu üben in einem herrlichen
Klima, wo es Nahrungsmittel im Ueberfluß gibt, wo die
einheimiſchen Gewächſe wirkſame Heilmittel liefern, und der
Kranke in ſeiner Hängematte unter einem Schuppen das
nötige Obdach findet. Soll man aber die Ueberlaſt, welche
die Ankunft eines Fremden, deſſen Gemütsart man nicht
kennt, einer Familie verurſacht, für nichts rechnen? und die
Beweiſe gefühlvoller Teilnahme, die aufopfernde Sorgfalt der
Frauen, die Geduld, die während einer langen, ſchweren
Wiedergeneſung nimmer ermüdet, ſoll man von dem allen
abſehen? Man will die Beobachtung gemacht haben, daß,
vielleicht mit Ausnahme einiger ſehr volkreichen Städte, ſeit
den erſten Niederlaſſungen ſpaniſcher Anſiedler in der Neuen
Welt die Gaſtfreundſchaft nicht merkbar abgenommen habe.
Der Gedanke thut wehe, daß dies allerdings anders werden
muß, wenn einmal Bevölkerung und Induſtrie in den Kolo-
nieen raſcher zunehmen, und wenn ſich auf der Stufe geſell-
ſchaftlicher Entwickelung, die man als vorgeſchrittene Kultur zu
bezeichnen pflegt, die kaſtilianiſche Offenheit allmählich verliert.
Unter den Kranken, die in Cumana ans Land kamen,
befand ſich ein Neger, der einige Tage nach unſerer Ankunft
in Raſerei verfiel; er ſtarb in dieſem kläglichen Zuſtande,
obgleich ſein Herr, ein faſt ſiebzigjähriger Mann, der Europa
verlaſſen hatte, um in San Blas, am Eingang des Golfes
von Kalifornien, eine neue Heimat zu ſuchen, ihm alle er-
denkliche Pflege hatte zu teil werden laſſen. Ich erwähne
dieſes Falles, um zu zeigen, daß zuweilen Menſchen, die im
heißen Erdſtrich geboren ſind, aber in einem gemäßigten
Klima gelebt haben, den verderblichen Einflüſſen der tropiſchen
Hitze erliegen. Der Neger war ein junger Menſch von
achtzehn Jahren, ſehr kräftig und auf der Küſte von Guinea
geboren. Durch mehrjährigen Aufenthalt auf der Hochebene
von Kaſtilien hatte aber ſeine Konſtitution den Grad von
Reizbarkeit erhalten, der die Miasmen der heißen Zone für
die Bewohner nördlicher Länder ſo gefährlich macht.
Der Boden, auf dem die Stadt Cumana liegt, gehört
einer geologiſch ſehr intereſſanten Bildung an. Da mir aber
ſeit meiner Rückkehr nach Europa einige Reiſende mit der
Beſchreibung von Küſtenſtrichen, die ſie nach mir beſucht,
zuvorgekommen ſind, ſo beſchränke ich mich hier auf Bemer-
kungen, die außerhalb des Kreiſes ihrer Beobachtungen fallen.
Die Kette der Kalkalpen des Brigantin und Tataraqual ſtreicht
[159] von Oft nach Weſt vom Gipfel Impoſible bis zum Hafen
von Mochima und nach Campanario. In einer ſehr fernen
Zeit ſcheint das Meer dieſen Gebirgsdamm von der Felſen-
küſte von Araya und Maniquarez getrennt zu haben. Der
weite Golf von Cariaco iſt durch einen Einbruch des Meeres
entſtanden, und ohne Zweifel ſtand damals an der Südküſte
das ganze mit ſalzſaurem Natron getränkte Land, durch das
der Manzanares läuft, unter Waſſer. Ein Blick auf den
Stadtplan von Cumana läßt dieſe Thatſache ſo unzweifelhaft
erſcheinen, als daß die Becken von Paris, Oxford und Wien
einſt Meerboden geweſen. Das Meer zog ſich langſam zurück
und legte das weite Geſtade trocken, auf dem ſich eine Hügel-
gruppe erhebt, die aus Gips und Kalkſtein von der neueſten
Bildung beſteht.
Die Stadt Cumana legt ſich an dieſe Hügel, die einſt
ein Eiland im Golf von Cariaco waren. Das Stück der
Ebene nordwärts von der Stadt heißt „der kleine Strand“
(Playa chica); ſie dehnt ſich gegen Oſt bis zur Punta Delgada
aus, und hier bezeichnet ein enges mit Gomphrena flava
bedecktes Thal den Punkt, wo einſt der Durchbruch der Ge-
wäſſer ſtattfand. Dieſes Thal, deſſen Eingang durch kein
Außenwerk verteidigt wird, erſcheint als der Punkt, von wo
der Platz einem Angriff am meiſten ausgeſetzt iſt. Der Feind
kann in voller Sicherheit zwiſchen der Punta Arenas del
Barigon und der Mündung des Manzanares durchgehen,
wo die See 73 bis 91 und weiter nach Südoſt ſogar 159 m
tief iſt. Er kann an der Punta Delgada landen und
das Fort San Antonio und die Stadt Cumana im Rücken
angreifen, ohne daß er vom Feuer der weſtlichen Batterieen
auf der Playa chica an der Mündung des Stromes und beim
Cerro Colorado etwas zu fürchten hätte.
Der Hügel aus Kalkſtein, den wir, wie oben bemerkt,
als eine Inſel im ehemaligen Golf betrachten, iſt mit Fackel-
diſteln bedeckt. Manche davon ſind 10 bis 13 m hoch und
ihr mit Flechten bedeckter, in mehrere Aeſte kronleuchterartig
geteilter Stamm nimmt ſich höchſt ſeltſam aus. Bei Mani-
quarez an der Punta Araya maßen wir einen Kaktus, deſſen
Stamm über 1,54 m Umfang hatte. Ein Europäer, der nur
die Fackeldiſteln unſerer Gewächshäuſer kennt, wundert ſich,
daß das Holz dieſes Gewächſes mit dem Alter ſehr hart
wird, daß es jahrhundertelang der Luft und Feuchtigkeit
widerſteht, und daß es die Indianer von Cumana vorzugs-
[160] weiſe zu Rudern und Thürſchwellen verwenden. Nirgends
in Südamerika kommen die Gewächſe aus der Familie der
Nopaleen häufiger vor als in Cumana, Coro, Curaçao und
auf der Inſel Margarita. Nur dort könnte der Botaniker
nach langem Aufenthalt eine Monographie der Kaktus ſchreiben,
die nicht in Hinſicht auf Blüten und Früchte, aber nach der
Form des gegliederten Stammes, nach der Zahl der Gräten
und der Stellung der Stacheln ausnehmend viele Varietäten
bilden. Wir werden in der Folge ſehen, wie dieſe Gewächſe,
die für ein heißes, trockenes Klima, wie das Aegyptens und
Kaliforniens, charakteriſtiſch ſind, immer mehr verſchwinden,
wenn man von Terra Firma ins Innere des Landes kommt.
Die Kaktusgebüſche ſpielen auf dürrem Boden in Süd-
amerika dieſelbe Rolle wie in unſeren nördlichen Ländern die
mit Binſen und Hydrocharideen bewachſenen Brüche. Ein Ort,
wo ſtachlichte Kaktus von hohem Wuchs in Reihen ſtehen,
gilt faſt für undurchdringlich. Solche Stellen, Tunales
genannt, halten nicht allein den Eingeborenen auf, der bis
zum Gürtel nackt iſt, ſie ſind ebenſoſehr von den Stämmen
gefürchtet, die ganz bekleidet gehen. Auf unſeren einſamen
Spaziergängen verſuchten wir es manchmal in den Tunal
einzudringen, der die Spitze des Schloßberges krönt und durch
den zum Teil ein Fußweg führt. Hier ließe ſich der Bau
dieſes ſonderbaren Gewächſes an Tauſenden von Exemplaren
beobachten. Zuweilen wurden wir von der Nacht überraſcht,
denn in dieſem Klima gibt es faſt keine Dämmerung. Unſere
Lage war dann deſto bedenklicher, da der Cascabel oder
die Klapperſchlange, der Coral und andere Schlangen mit
Giftzähnen zur Legezeit ſolche heiße trockene Orte aufſuchen,
um ihre Eier in den Sand zu legen.
Das Schloß San Antonio liegt auf der weſtlichen Spitze
des Hügels, aber nicht auf dem höchſten Punkt; es wird
gegen Oſten von einer nicht befeſtigten Höhe beherrſcht. Der
Tunal gilt hier und überall in den ſpaniſchen Nieder-
laſſungen für ein nicht unwichtiges militäriſches Verteidigungs-
mittel. Wo man Erdwerke anlegt, ſuchen die Ingenieure
recht viele ſtachlichte Fackeldiſteln darauf anzubringen und ihr
Wachstum zu befördern, wie man auch die Krokodile in den
Waſſergräben der feſten Plätze hegt. In einem Klima, wo
die organiſche Natur eine ſo gewaltige Triebkraft hat, zieht
der Menſch fleiſchfreſſende Reptilien und mit furchtbaren
Stacheln bewehrte Gewächſe zu ſeiner Verteidigung herbei.
[161]
Das Schloß San Antonio, wo man an Feſttagen die
Flagge von Kaſtilien aufzieht, liegt nur 58,5 m über dem
Waſſerſpiegel des Meerbuſens von Cariaco. Auf ſeinem kahlen
Kalkhügel beherrſcht es die Stadt und liegt, wenn man in
den Hafen einfährt, höchſt maleriſch da. Es hebt ſich hell
von der dunkeln Wand der Gebirge ab, deren Gipfel bis zur
Schneeregion aufſteigen und deren duftiges Blau mit dem
Himmelsblau verſchmilzt. Geht man vom Fort San Antonio
gegen Südweſt herab, ſo kommt man am Abhang desſelben
Felſens zu den Trümmern des alten Schloſſes Santa Maria.
Dies iſt ein herrlicher Punkt, um gegen Sonnenuntergang
des kühlen Seewindes und der Ausſicht auf den Meerbuſen
zu genießen. Die hohen Berggipfel der Inſel Margarita
erſcheinen über der Felſenküſte der Landenge von Araya; gegen
Weſten mahnen die kleinen Inſeln Caracas, Picuito und
Boracha an die Kataſtrophe, durch welche die Küſte von Terra
Firma zerriſſen worden iſt. Dieſe Eilande gleichen Feſtungs-
werken, und da die Sonne die unteren Luftſchichten, die See
und das Erdreich ungleich erwärmt, ſo erſcheinen ihre Spitzen
infolge der Luftſpiegelung hinaufgezogen, wie die Enden der
großen Vorgebirge der Küſte. Mit Vergnügen verfolgt man
bei Tage dieſe wechſelnden Erſcheinungen; bei Einbruch der
Nacht ſieht man dann, wie die in der Luft ſchwebenden Ge-
ſteinmaſſen ſich wieder auf ihre Grundlage niederſenken, und
das Geſtirn, das der organiſchen Natur Leben verleiht, ſcheint
durch die veränderliche Beugung ſeiner Strahlen den ſtarren
Fels vom Fleck zu rücken und dürre Sandebenen wellenförmig
zu bewegen.
Die eigentliche Stadt Cumana liegt zwiſchen dem Schloſſe
San Antonio und den kleinen Flüſſen Manzanares und Santa
Catalina. Das durch die Arme des erſteren Fluſſes gebildete
Delta iſt ein fruchtbares Land, bewachſen mit Mammea, Achra,
Bananen und anderen Gewächſen, die in den Gärten oder
Charas der Indianer gebaut werden. Die Stadt hat kein
ausgezeichnetes Gebäude aufzuweiſen, und bei der Häufigkeit
der Erdbeben wird ſie ſchwerlich je welche haben. Starke
Erdſtöße kommen zwar im ſelben Jahre in Cumana nicht ſo
häufig vor als in Quito, wo doch prächtige, ſehr hohe Kirchen
ſtehen; aber die Erdbeben in Quito ſind nur ſcheinbar ſo
heftig, und infolge der eigentümlichen Beſchaffenheit des
Bodens und der Art der Bewegung ſtürzt kein Gebäude ein.
In Cumana, wie in Lima und mehreren anderen Städten, die
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 11
[162] weit von den Schlünden thätiger Vulkane liegen, wird die
Reihe ſchwacher Erdſtöße nach Ablauf vieler Jahre leicht durch
größere Kataſtrophen unterbrochen, die in ihren Wirkungen
denen einer ſpringenden Mine ähnlich ſind. Wir werden öfters
Gelegenheit haben, auf dieſe Erſcheinungen zurückzukommen,
zu deren Erklärung ſo viele eitle Theorieen erſonnen worden
ſind, und für die man eine Klaſſifikation gefunden zu haben
glaubte, wenn man ſenkrechte und wagerechte Bewegungen,
ſtoßende und wellenförmige Bewegungen annahm. 1
Die Vorſtädte von Cumana ſind faſt ſo ſtark bevölkert
als die alte Stadt. Es ſind ihrer drei: Die der Serritos
auf dem Wege nach der Playa chica, wo einige ſchöne Tama-
rindenbäume ſtehen, die ſüdöſtlich gelegene, San Francisco
genannt, und die große Vorſtadt der Guaykari oder der
Guaygueries. Der Name dieſes Indianerſtammes war vor der
Eroberung ganz unbekannt. Die Eingeborenen, die denſelben
jetzt führen, gehörten früher zu der Nation der Guaraunos,
die nur noch auf dem Sumpfboden zwiſchen den Armen des
Orinoko lebt. Alte Männer verſicherten mich, die Sprache
ihrer Vorfahren ſei eine Mundart der Guaraunoſprache ge-
weſen, aber ſeit hundert Jahren gebe es in Cumana und auf
Margarita keinen Eingeborenen vom Stamme mehr, der etwas
anderes ſpreche als kaſtilianiſch.
Das Wort Guaykari verdankt, gerade wie die Worte
Peru und Peruaner, ſeinen Urſprung einem bloßen Miß-
verſtändniſſe. Als die Begleiter des Kolumbus an der Inſel
Margarita hinfuhren, auf deren Nordküſte noch jetzt der am
höchſten ſtehende Teil dieſer Nation wohnt, ſtießen ſie auf
einige Eingeborene, die Fiſche harpunierten, indem ſie einen
mit einer ſehr feinen Spitze verſehenen, an einen Strick ge-
bundenen Stock gegen ſie ſchleuderten. Sie fragten ſie in
haytiſcher Sprache, wie ſie hießen; die Indianer aber meinten,
die Fremden erkundigen ſich nach den Harpunen aus dem
harten, ſchweren Holz der Macanapalme und antworteten:
[163]Guaike, Guaike, das heißt: ſpitziger Stock. Die Guaykari,
ein gewandtes, civiliſiertes Fiſchervolk, unterſcheiden ſich jetzt
auffallend von den wilden Guaraunos am Orinoko, die ihre
Hütten an den Stämmen der Morichepalme aufhängen.
Die Bevölkerung von Cumana iſt in der neueſten Zeit
viel zu hoch angegeben worden. Im Jahre 1800 ſchätzten
ſie Anſiedler, die in nationalökonomiſchen Unterſuchungen wenig
Beſcheid wiſſen, auf 20000 Seelen, wogegen königliche bei
der Landesregierung angeſtellte Beamte meinten, die Stadt
ſamt den Vorſtädten habe nicht 12000. Depons gibt in
ſeinem ſchätzbaren Werke über die Provinz Caracas der Stadt
im Jahre 1802 gegen 28000 Einwohner; andere geben im
Jahre 1810 30000 an. Wenn man bedenkt, wie langſam
die Bevölkerung in Terra Firma zunimmt, und zwar nicht
auf dem Lande, ſondern in den Städten, ſo läßt ſich bezweifeln,
daß Cumana bereits um ein Dritteil volkreicher ſein ſollte
als Veracruz, der vornehmſte Hafen des großen Königreiches
Neuſpanien. Es läßt ſich auch leicht darthun, daß im Jahre
1802 die Bevölkerung kaum über 18000 bis 19000 Seelen
betrug. Es waren mir verſchiedene Notizen über die ſtatiſtiſchen
Verhältniſſe des Landes zur Hand, welche die Regierung hatte
zuſammenſtellen laſſen, als die Frage verhandelt wurde, ob
die Einkünfte aus der Tabakspacht durch eine Perſonalſteuer
erſetzt werden könnten, und ich darf mir ſchmeicheln, daß meine
Schätzung auf ziemlich ſicheren Grundlagen ruht.
Eine im Jahre 1792 vorgenommene Zählung ergab für
die Stadt Cumana, ihre Vorſtädte und die einzelnen Häuſer
auf 4—5 km in der Runde nur 10740 Einwohner. Ein
Schatzbeamter, Don Manuel Navarrete, verſichert, daß man
ſich bei dieſer Zählung höchſtens um ein Dritteil oder ein
Vierteil geirrt haben könne. Vergleicht man die jährlichen
Taufregiſter, ſo macht ſich von 1792 bis 1800 nur eine geringe
Zunahme bemerklich. Die Weiber ſind allerdings ſehr frucht-
bar, beſonders die eingeborenen, aber wenn auch die Pocken
im Lande noch unbekannt ſind, ſo iſt doch die Sterblichkeit
unter den kleinen Kindern furchtbar groß, weil ſie in völliger
Verwahrloſung aufwachſen und die üble Gewohnheit haben,
unreife, unverdauliche Früchte zu genießen. Die Zahl der
Geburten beträgt im Durchſchnitt 520 bis 600, was auf eine
Bevölkerung von höchſtens 16800 Seelen ſchließen läßt. Man
kann verſichert ſein, daß ſämtliche Indianerkinder getauft und
in das Taufregiſter der Pfarre eingetragen ſind, und nimmt
[164] man an, die Bevölkerung ſei im Jahre 1800 26000 Seelen
ſtark geweſen, ſo käme auf 43 Köpfe nur eine Geburt, wäh-
rend ſich die Geburten zur Geſamtbevölkerung in Frankreich
wie 28 zu 100 und in den tropiſchen Strichen von Mexiko
wie 17 zu 100 verhalten.
Vermutlich wird ſich die indianiſche Vorſtadt allmählich
bis zum Landungsplatz ausdehnen, da die Fläche, auf der
noch keine Häuſer oder Hütten ſtehen, höchſtens 700 m lang
iſt. Dem Strande zu iſt die Hitze etwas weniger drückend
als in der Altſtadt, wo wegen des Zurückprallens der Sonnen-
ſtrahlen vom Kalkboden und der Nähe des Berges San Antonio
die Temperatur der Luft ungemein hoch ſteigt. In der Vor-
ſtadt der Guaykari haben die Seewinde freien Zutritt, der
Boden iſt Thon und damit, wie man glaubt, den heftigen
Stößen der Erdbeben weniger ausgeſetzt, als die Häuſer, die
ſich an die Felſen und Hügel am rechten Ufer des Manza-
nares lehnen.
Bei der Mündung des kleinen Fluſſes Santa Catalina
iſt der Saum des Ufers mit ſogenannten Wurzelträgern 1 be-
ſetzt; aber dieſe Manglares ſind nicht groß genug, um der
Salubrität der Luft in Cumana Eintrag zu thun. Im übrigen
iſt die Ebene teils kahl, teils bedeckt mit Büſchen von Sesu-
vium portulacastrum, Gomphrena flava, Gomphrena myrti-
folia, Talinum cuspidatum, Talinum cumanense und Por-
tulaca lanuginosa. Unter dieſen krautartigen Gewächſen
erheben ſich da und dort die Avicennia tomentosa, die
Scoparia dulcis, eine ſtrauchartige Mimoſe mit ſehr reizbaren
Blättern, beſonders aber Caſſien, deren in Südamerika ſo viele
vorkommen, daß wir auf unſeren Reiſen mehr als dreißig neue
Arten zuſammengebracht haben.
Geht man zur indiſchen Vorſtadt hinaus und am Fluß
gegen Süd hinauf, ſo kommt man zuerſt an ein Kaktusgebüſch
und dann an einen wunderſchönen Platz, den Tamarindenbäume,
Braſilienholzbäume, Bombax und andere durch ihr Laub und
ihre Blüten ausgezeichnete Gewächſe beſchatten. Der Boden
bietet hier gute Weide, und Melkereien, aus Rohr erbaut,
liegen zerſtreut zwiſchen den Baumgruppen. Die Milch bleibt
friſch, wenn man ſie nicht in der Frucht des Flaſchenkürbis-
baumes, die ein Gewebe aus ſehr dichten Holzfaſern iſt, ſondern
in poröſen Thongefäßen von Maniquarez aufbewahrt. Infolge
[165] eines in nördlichen Ländern herrſchenden Vorurteiles hatte ich
geglaubt, in der heißen Zone geben die Kühe keine ſehr fette
Milch; aber der Aufenthalt in Cumana, beſonders aber die
Reiſe über die weiten mit Gräſern und krautartigen Mimoſen
bewachſenen Ebenen von Calabozo haben mich belehrt, daß
ſich die Wiederkäuer Europas vollkommen an das heißeſte
Klima gewöhnen, wenn ſie nur Waſſer und gutes Futter
finden. Die Milchwirtſchaft iſt in den Provinzen Neuanda-
luſien, Barcelona und Venezuela ausgezeichnet, und häufig iſt
die Butter auf den Ebenen der heißen Zone beſſer als auf
dem Rücken der Anden, wo für die Alppflanzen die Tem-
peratur in keiner Jahreszeit hoch genug iſt und ſie daher
weniger aromatiſch ſind als auf den Pyrenäen, auf den Bergen
Eſtremaduras und Griechenlands.
Den Einwohnern Cumanas iſt die Kühlung durch den
Seewind lieber als der Blick ins Grüne, und ſo kennen ſie
faſt keinen anderen Spaziergang als den großen Strand. Die
Kaſtilianer, denen man nachſagt, ſie ſeien im allgemeinen keine
Freunde von Bäumen und Vogelſang, haben ihre Sitten und
ihre Vorurteile in die Kolonieen mitgenommen. In Terra
Firma, Mexiko und Peru ſieht man ſelten einen Eingeborenen
einen Baum pflanzen allein in der Abſicht, ſich Schatten zu
ſchaffen, und mit Ausnahme der Umgegend der großen Haupt-
ſtädte weiß man in dieſen Ländern ſo gut wie nichts von
Alleen. Die dürre Ebene von Cumana zeigt nach ſtarken
Regengüſſen eine merkwürdige Erſcheinung. Der durchnäßte,
von den Sonnenſtrahlen erhitzte Boden verbreitet jenen Biſam-
geruch, der in der heißen Zone Tieren der verſchiedenſten
Klaſſen gemein iſt, dem Jaguar, den kleinen Arten von Tiger-
katzen, dem Cabiaï, 1 dem Galinazogeier, 2 dem Krokodil, den
Vipern und Klapperſchlangen. Die Gaſe, die das Vehikel
dieſes Aroms ſind, ſcheinen ſich nur in dem Maße zu ent-
wickeln, als der Boden, der die Reſte zahlloſer Reptilien,
Würmer und Inſekten enthält, ſich mit Waſſer ſchwängert.
Ich habe indianiſche Kinder vom Stamme der Chaymas 4 cm
lange und 15 mm breite Scolopender oder Tauſendfüße aus
dem Boden ziehen und verzehren ſehen. Wo man den Boden
aufgräbt, muß man ſtaunen über die Maſſen organiſcher
Stoffe, die wechſelnd ſich entwickeln, ſich umwandeln oder zer-
[166] ſetzen. Die Natur erſcheint in dieſen Himmelsſtrichen kraft-
voller, fruchtbarer, man möchte ſagen mit dem Leben ver-
ſchwenderiſcher.
Am Strande und bei den Melkereien, von denen eben
die Rede war, hat man, beſonders bei Sonnenaufgang, eine
ſehr ſchöne Ausſicht auf eine Gruppe hoher Kalkberge. Da
dieſe Gruppe im Hauſe, wo wir wohnten, nur unter einem
Winkel von 3° erſcheint, diente ſie mir lange dazu, die Ver-
änderungen in der irdiſchen Refraktion mit den meteoro-
logiſchen Erſcheinungen zu vergleichen. Die Gewitter bilden
ſich mitten in dieſer Kordillere, und man ſieht von weitem,
wie die dicken Wolken ſich in ſtarken Regen auflöſen, während
in Cumana ſechs bis acht Monate lang kein Tropfen Regen
fällt. Der höchſte Gipfel der Bergkette, der ſogenannte Bri-
gantin, nimmt ſich hinter dem Brito und dem Tetaraqual
höchſt maleriſch aus. Sein Name rührt her von der Geſtalt
eines ſehr tiefen Thales an ſeinem nördlichen Abhang, das
dem Inneren eines Schiffes gleicht. Der Gipfel des Berges
iſt faſt ganz kahl und abgeplattet, wie der Gipfel des Mauna-
Roa auf den Sandwichinſeln; es iſt eine ſenkrechte Wand,
oder, um mich des bezeichnenderen Ausdruckes der ſpaniſchen
Schiffer zu bedienen, ein Tiſch, eine Meſa. Dieſe eigentüm-
liche Bildung und die ſymmetriſche Lage einiger Kegel, die
den Brigantin umgeben, brachten mich anfänglich auf die
Vermutung, daß dieſe Berggruppe, die ganz aus Kalkſtein
beſteht, Glieder der Baſalt- oder Trappformation enthalten
möchte.
Der Statthalter von Cumana hatte im Jahre 1797 mutige
Männer ausgeſchickt, die das völlig unbewohnte Land unter-
ſuchen und einen geraden Weg nach Neubarcelona über den
Gipfel der Meſa eröffnen ſollten. Man vermutete mit Recht,
dieſer Weg werde kürzer und für die Geſundheit der Reiſen-
den nicht ſo gefährlich ſein als der längs der Küſte, den die
Kuriere von Caracas einſchlagen; aber alle Bemühungen, über
die Bergkette zu kommen, waren fruchtlos. In dieſen Län-
dern Amerikas, wie in Neuholland 1 im Weſten von Sydney,
bietet nicht ſowohl die Höhe der Kordilleren als die Geſtal-
[167] tung des Geſteines ſchwer zu beſiegende Hinderniſſe. Durch
das von den Gebirgen im Inneren und dem ſüdlichen Abhang
des Cerro de San Antonio gebildete Längenthal fließt der
Manzanares. In der ganzen Umgegend von Cumana iſt dies
der einzige ganz bewaldete Landſtrich; er heißt die Ebene
der Charas,1 wegen der vielen Pflanzungen, welche die
Einwohner ſeit einigen Jahren den Fluß entlang verſucht
haben. Ein ſchmaler Pfad führt vom Hügel von San Fran-
cisco durch den Forſt zum Kapuzinerhoſpiz, einem höchſt an-
genehmen Landhauſe, das die aragoneſiſchen Mönche für alte
entkräftete Miſſionäre, die ihres Amtes nicht mehr walten
können, gebaut haben. Gegen Oſt werden die Waldbäume
immer kräftiger und man ſieht hier und da einen Affen, 2 die
ſonſt in der Gegend von Cumana ſehr ſelten ſind. Zu den
Füßen der Capparis, Bauhinien und des Zygophyllum mit
goldgelben Blüten breitet ſich ein Teppich von Bromelien 3
aus, deren Geruch und deren kühles Laub die Klapperſchlangen
hierher ziehen.
Der Manzanares hat ſehr klares Waſſer und zum Glück
nichts mit dem Madrider Manzanares gemein, der unter ſeiner
prächtigen Brücke noch ſchmäler erſcheint. Er entſpringt, wie
alle Flüſſe Neuandaluſiens, in einem Striche der Savannen
(Llanos), der unter dem Namen der Plateaus von Jonoro,
Amana und Guanipa bekannt iſt und beim indianiſchen Dorfe
San Fernando die Gewäſſer des Rio Juanillo aufnimmt.
Man hat der Regierung öfter, aber immer vergeblich, den
Vorſchlag gemacht, beim erſten Ipure ein Wehr bauen zu
laſſen, um die Ebene der Charas künſtlich zu bewäſſern, denn
der Boden iſt trotz ſeiner ſcheinbaren Dürre ausnehmend frucht-
bar, ſobald Feuchtigkeit zu der herrſchenden Hitze hinzukommt.
Die Landleute, die im allgemeinen in Cumana nicht wohl-
habend ſind, ſollten nach und nach die Auslagen für die
Schleuſe erſetzen. Bis das Projekt in Ausführung kommt,
hat man Schöpfräder, durch Maultiere getriebene Pumpen
und andere ſehr unvollkommene Waſſerwerke angelegt.
Die Ufer des Manzanares ſind ſehr freundlich, von
Mimoſen, Erythrina, Ceiba und anderen Bäumen von rieſen-
[168] haftem Wuchs beſchattet. Ein Fluß, deſſen Temperatur zur
Zeit des Hochwaſſers auf 22° fällt, während der Thermo-
meter an der Luft auf 30 bis 33° ſteht, iſt eine unſchätzbare
Wohlthat in einem Lande, wo das ganze Jahr eine furcht-
bare Hitze herrſcht und man den Trieb hat, mehrere Male des
Tags zu baden. Die Kinder bringen ſo zu ſagen einen Teil
ihres Lebens im Waſſer zu; alle Einwohner, ſelbſt die weib-
lichen Glieder der reichſten Familien, können ſchwimmen, und
in einem Lande, wo der Menſch dem Naturſtande noch ſo
nahe iſt, hat man ſich, wenn man morgens einander begegnet,
nichts Wichtigeres zu fragen, als ob der Fluß heute kühler
ſei als geſtern. Man hat verſchiedene Bademethoden. So
beſuchten wir jeden Abend einen Zirkel ſehr achtungswerter
Perſonen in der Vorſtadt der Guaykari. Da ſtellte man
bei ſchönem Mondſchein Stühle ins Waſſer; Männer und
Frauen waren leicht gekleidet, wie in manchen Bädern des
nördlichen Europas, und die Familie und die Fremden blieben
ein paar Stunden im Fluſſe ſitzen, rauchten Cigarren dazu
und unterhielten ſich nach Landesſitte von der ungemeinen
Trockenheit der Jahreszeit, vom ſtarken Regenfall in den be-
nachbarten Diſtrikten, beſonders aber vom Luxus, den die
Damen in Cumana den Damen in Caracas und Havana zum
Vorwurf machen. Durch die Bavas oder kleinen Krokodile,
die jetzt ſehr ſelten ſind und den Menſchen nahe kommen,
ohne anzugreifen, ließ ſich die Geſellſchaft durchaus nicht ſtören.
Dieſe Tiere ſind 1 bis 1,3 m lang; wir haben nie eines im
Manzanares geſehen, wohl aber Delphine, die zuweilen bei
Nacht im Fluſſe heraufkommen und die Badenden erſchrecken,
wenn ſie durch ihre Luftlöcher Waſſer ſpritzen.
Der Hafen von Cumana iſt eine Reede, welche die Flotten
von ganz Europa aufnehmen könnte. Der ganze Meerbuſen
von Cariaco, der 67 km lang und 11 bis 15 km breit iſt, bietet
vortrefflichen Ankergrund. Der Große Ozean an der Küſte von
Peru kann nicht ſtiller und ruhiger ſein als das Meer der
Antillen von Portocabello an, namentlich aber vom Vorge-
birge Codera bis zur Landſpitze von Paria. Von den Stürmen
bei den Antilliſchen Inſeln ſpürt man nie etwas in dieſem
Strich, wo man in Schaluppen ohne Verdeck das Meer be-
fährt. Die einzige Gefahr im Hafen von Cumana iſt eine
Untiefe, Baxo del Morro roxo, die von Weſt nach Oſt 1754 m
lang iſt und ſo ſteil abfällt, daß man dicht dabei iſt, ehe man
ſie gewahr wird.
[169]
Ich habe die Lage von Cumana etwas ausführlich be-
ſchrieben, weil es mir wichtig ſchien, eine Gegend kennen zu
lernen, die ſeit Jahrhunderten der Herd der furchtbarſten
Erdbeben war. Ehe wir von dieſen außerordentlichen Er-
ſcheinungen ſprechen, erſcheint es als zweckmäßig, die ver-
ſchiedenen Züge des von mir entworfenen Naturbildes zu-
ſammenzufaſſen.
Die Stadt liegt am Fuße eines kahlen Hügels und wird
von einem Schloſſe beherrſcht. Kein Glockenturm, keine Kuppel
fällt von weitem dem Reiſenden ins Auge, nur einige Tama-
rinden-, Kokosnuß- und Dattelſtämme erheben ſich über die
Häuſer mit platten Dächern. Die Ebene ringsum, beſonders
dem Meere zu, iſt trübſelig, ſtaubig und dürr, wogegen ein
friſcher, kräftiger Pflanzenwuchs von weitem den geſchlängelten
Lauf des Fluſſes bezeichnet, der die Stadt von den Vorſtädten,
die Bevölkerung von europäiſcher und gemiſchter Abkunft von
den kupferfarbigen Eingeborenen trennt. Der freiſtehende,
kahle, weiße Schloßberg San Antonio wirft zugleich eine
große Maſſe Licht und ſtrahlender Wärme zurück; er beſteht
aus Breccien, deren Schichten verſteinerte Seetiere einſchließen.
In weiter Ferne gegen Süden ſtreicht dunkel ein mächtiger
Gebirgszug hin. Dies ſind die hohen Kalkalpen von Neu-
andaluſien, wo dem Kalk Sandſteine und andere neuere Bil-
dungen aufgelagert ſind. Majeſtätiſche Wälder bedecken dieſe
Kordillere im inneren Lande und hängen durch ein bewaldetes
Thal mit dem nackten, thonigen und ſalzhaltigen Boden
zuſammen, auf dem Cumana liegt. Einige Vögel von bedeu-
tender Größe tragen zur eigentümlichen Phyſiognomie des
Landes bei. Am Geſtade und am Meerbuſen ſieht man
Scharen von Fiſchreihern und Alcatras, ſehr plumpen Vögeln,
die gleich den Schwänen mit gehobenen Flügeln über das
Waſſer gleiten. Näher bei den Wohnſtätten der Menſchen
ſind Tauſende von Galinazogeiern, wahre Schakale unter dem
Gefieder, raſtlos beſchäftigt, tote Tiere zu ſuchen. Ein Meer-
buſen, auf deſſen Grunde heiße Quellen vorkommen, trennt
die ſekundären Gebirgsbildungen vom primitiven Schiefer-
gebirge der Halbinſel Araya. Beide Küſten werden von einem
ruhigen, blauen, beſtändig vom ſelben Winde leicht bewegten
Meere beſpült. Ein reiner, trockener Himmel, an dem nur
bei Sonnenuntergang leichtes Gewölk aufzieht, ruht auf der
See, auf der baumloſen Halbinſel und der Ebene von Cumana,
während man zwiſchen den Berggipfeln im Inneren Gewitter
[170] ſich bilden, ſich zuſammenziehen und in fruchtbaren Regen-
güſſen ſich entladen ſieht. So zeigen denn an dieſen Küſten,
wie am Fuße der Anden, Himmel und Erde ſcharfe Gegen-
ſätze von Heiterkeit und Bewölkung, von Trockenheit und
gewaltigen Waſſergüſſen, von völliger Kahlheit und ewig neu
ſproſſendem Grün. Auf dem neuen Kontinent unterſcheiden
ſich die Niederungen an der See von den Gebirgsländern im
Inneren ſo ſcharf wie die Ebenen Unterägyptens von den
hochgelegenen Plateaus Abeſſiniens.
Zu den Zügen, welche, wie oben angedeutet, der Küſten-
ſtrich von Neuandaluſien und der von Peru gemein haben,
kommt nun noch, daß die Erdbeben dort wie hier gleich häufig
ſind, und daß die Natur für dieſe Erſcheinungen beidemal
dieſelben Grenzen einzuhalten ſcheint. Wir ſelbſt haben in
Cumana ſehr ſtarke Erdſtöße geſpürt, eben war man daran,
die vor kurzem eingeſtürzten Gebäude wieder aufzurichten, und
ſo hatten wir Gelegenheit, uns an Ort und Stelle über die
Vorgänge bei der furchtbaren Kataſtrophe vom 14. Dezember
1797 genau zu erkundigen. Dieſe Angaben werden um ſo
mehr Intereſſe haben, da die Erdbeben bisher weniger aus
phyſiſchem und geologiſchem Geſichtspunkt, als vielmehr nur
wegen ihrer ſchrecklichen Folgen für die Bevölkerung und für
das allgemeine Wohl ins Auge gefaßt worden ſind.
Es iſt eine an der Küſte von Cumana und auf der Inſel
Margarita ſehr verbreitete Meinung, daß der Meerbuſen von
Cariaco ſich infolge einer Zertrümmerung des Landes und
eines gleichzeitigen Einbruches des Meeres gebildet habe. Die
Erinnerung an dieſe gewaltige Umwälzung hatte ſich unter
den Indianern bis zum Ende des 15. Jahrhunderts erhalten,
und wie erzählt wird, ſprachen die Eingeborenen bei der
dritten Reiſe des Chriſtoph Kolumbus davon, wie von einem
ziemlich neuen Ereignis. Im Jahre 1530 wurden die Be-
wohner der Küſten von Paria und Cumana durch neue Erd-
ſtöße erſchreckt. Das Meer ſtürzte über das Land her, und
das kleine Fort, das Jakob Caſtellon bei Neutoledo gebaut
hatte, wurde gänzlich zerſtört. Zugleich bildete ſich eine un-
geheure Spalte in den Bergen von Cariaco, am Ufer des
Meerbuſens dieſes Namens, und eine gewaltige Maſſe Salz-
waſſer, mit Asphalt vermiſcht, ſprang aus dem Glimmer-
ſchiefer hervor. Am Ende des 16. Jahrhunderts waren die
Erdbeben ſehr häufig, und nach den Ueberlieferungen, die ſich
in Cumana erhalten haben, überſchwemmte das Meer öfter
[171] den Strand und ſtieg 30 bis 39 m hoch an. Die Einwohner
flüchteten ſich auf den Cerro de San Antonio und auf den
Hügel, auf dem jetzt das kleine Kloſter San Francisco ſteht.
Man glaubt ſogar, infolge dieſer häufigen Ueberſchwemmungen
habe man das an den Berg gelehnte Stadtviertel angelegt,
das zum Teil auf dem Abhang desſelben liegt.
Da es keine Chronik von Cumana gibt, und da ſich
wegen der beſtändigen Verheerungen der Termiten oder weißen
Ameiſen in den Archiven keine Urkunde befindet, die über
150 Jahre hinaufreicht, ſo weiß man nicht genau, wann dieſe
früheren Erdbeben ſtattgefunden haben. Man weiß nur, daß
näher unſerer Zeit das Jahr 1766 für die Anſiedler das ent-
ſetzlichſte und zugleich für die Naturgeſchichte des Landes merk-
würdigſte geweſen iſt. Seit 15 Monaten hatte eine Trocken-
heit geherrſcht, wie ſie zuweilen auch auf den Inſeln des
Grünen Vorgebirges beobachtet wird, als am 21. Oktober 1766
die Stadt Cumana von Grund aus zerſtört wurde. Das
Gedächtnis dieſes Tages wird alljährlich mit einem Gottes-
dienſt und einer feierlichen Prozeſſion begangen. In wenigen
Minuten ſtürzten ſämtliche Häuſer zuſammen. An verſchie-
denen Orten der Provinz that ſich die Erde auf und ſpie
nach Schwefel riechendes Waſſer aus. Dieſe Ausbrüche waren
beſonders häufig auf einer Ebene, die ſich gegen Caſanay,
9 km öſtlich von Cumana hinzieht, und die unter dem Namen
tierra hueca, hohler Boden, bekannt iſt, weil ſie überall
von warmen Quellen unterhöhlt zu ſein ſcheint. Während der
Jahre 1766 und 1767 lagerten die Einwohner von Cumana
in den Straßen und begannen mit dem Wiederaufbau ihrer
Häuſer erſt, als ſich die Erdbeben nur noch alle Monate
wiederholten. Hier auf der Küſte traten damals dieſelben
Erſcheinungen ein, die man auch im Königreich Quito un-
mittelbar nach der großen Kataſtrophe vom 4. Februar 1797
beobachtet hat. Während ſich der Boden beſtändig wellen-
förmig bewegte, war es, als wollte ſich die Luft in Waſſer
auflöſen. Durch ungeheure Regengüſſe ſchwollen die Flüſſe
an; das Jahr war ausnehmend fruchtbar, und die Indianer,
deren leichten Hütten die ſtärkſten Erdſtöße nichts anhaben,
feierten nach einem uralten Aberglauben durch feſtlichen Tanz
den Untergang der Welt und ihre bevorſtehende Wiedergeburt.
Nach der Ueberlieferung waren beim Erdbeben von 1766,
wie bei einem anderen ſehr merkwürdigen im Jahre 1794,
die Stöße bloße wagerechte, wellenförmige Bewegungen; erſt
[172] am Unglückstage des 14. Dezember 1797 ſpürte man in Cu-
mana zum erſtenmal eine hebende Bewegung von unten nach
oben. Ueber vier Fünfteile der Stadt wurden damals völlig
zerſtört, und der Stoß, der von einem ſtarken unterirdiſchen
Getöſe begleitet war, glich, wie in Riobamba, der Exploſion
einer in großer Tiefe angelegten Mine. Zum Glück ging
dem heftigen Stoß eine leichte wellenförmige Bewegung vor-
aus, ſo daß die meiſten Einwohner ſich auf die Straßen
flüchten konnten, und von denen, die eben in den Kirchen
waren, nur wenige das Leben verloren. Man glaubt in Cu-
mana allgemein, die verheerendſten Erdbeben werden durch
ganz ſchwache Schwingungen des Bodens und durch ein
Sauſen angekündigt, und Leuten, die an ſolche Vorfälle ge-
wöhnt ſind, entgeht ſolches nicht. In dieſem verhängnis-
vollen Augenblicke hört man überall den Ruf: Misericordia!
tembla, tembla!1 und es kommt ſelten vor, daß ein blinder
Lärm durch einen Eingeborenen veranlaßt wird. Die Aengſt-
lichſten achten auf das Benehmen der Hunde, Ziegen und
Schweine. Die letzteren, die einen ausnehmend ſcharfen Ge-
ruch haben und gewöhnt ſind im Boden zu wühlen, verkünden
die Nähe der Gefahr durch Unruhe und Geſchrei. Wir laſſen
es dahingeſtellt, ob ſie das unterirdiſche Getöſe zuerſt hören,
weil ſie näher am Boden ſind, oder ob etwa Gaſe, die der
Erde entſteigen, auf ihre Organe wirken. Daß letzteres mög-
lich iſt, läßt ſich nicht leugnen. Als ich mich in Peru auf-
hielt, wurde ein Fall beobachtet, der mit dieſen Erſcheinungen
zuſammenhängt und der ſchon öfters vorgekommen war. Nach
ſtarken Erdſtößen wurde das Gras auf den Savannen von
Tucuman ungeſund; es brach eine Viehſeuche aus und viele
Stücke ſcheinen durch die böſen Dünſte, die der Boden aus-
ſtieß, betäubt oder erſtickt worden zu ſein.
In Cumana ſpürte man eine halbe Stunde vor der
großen Kataſtrophe am 14. Dezember 1797 am Kloſterberg
von San Francisco einen ſtarken Schwefelgeruch. Am ſelben
Orte war das unterirdiſche Getöſe, das von Südoſt nach Süd-
weſt fortzurollen ſchien, am ſtärkſten. Zugleich ſah man am
Ufer des Manzanares, beim Hoſpiz der Kapuziner und im
Meerbuſen von Cariaco bei Mariguitar Flammen aus dem
Boden ſchlagen. Wir werden in der Folge ſehen, daß letztere
in nicht vulkaniſchen Ländern ſo auffallende Erſcheinung in
[173] den aus Alpenkalk beſtehenden Gebirgen bei Cumanacao, im
Thale des Rio Bordones, auf der Inſel Margarita und
mitten in den Savannen oder Llanos von Neuandaluſien
ziemlich häufig iſt. In dieſen Savannen ſteigen Feuergarben
zu bedeutender Höhe auf; man kann ſie ſtundenlang an den
dürrſten Orten beobachten, und man verſichert, wenn man
den Boden, dem der brennbare Stoff entſtrömt, unterſuche,
ſei keinerlei Spalte darin zu bemerken. Dieſes Feuer, das
an die Waſſerſtoffquellen oder Salſe in Modena und an die
Irrlichter unſerer Sümpfe erinnert, zündet das Gras nicht
an, wahrſcheinlich weil die Säule des ſich entbindenden Gaſes
mit Stickſtoff und Kohlenſäure vermengt iſt und nicht bis
zum Boden herab brennt. Das Volk, das übrigens hierzu-
lande nicht ſo abergläubiſch iſt als in Spanien, nennt dieſe
rötlichen Flammen ſeltſamerweiſe „die Seele des Tyrannen
Aguirre“; Lopez d’Aguirre ſoll nämlich, von Gewiſſensbiſſen
gefoltert, im Lande umgehen, das er mit ſeinen Verbrechen
befleckt. 1
Durch das große Erdbeben von 1797 iſt die Untiefe an
der Mündung des Rio Bordones in ihrem Umriß verändert
worden. Aehnliche Hebungen ſind bei der völligen Zerſtörung
Cumanas im Jahre 1766 beobachtet worden. Die Punta
Delgada an der Weſtküſte des Meerbuſens von Cariaco wurde
damals bedeutend größer, und im Rio Guarapiche beim Dorfe
Maturin entſtand eine Klippe, wobei ohne Zweifel der Boden
des Fluſſes durch elaſtiſche Flüſſigkeiten zerriſſen und empor-
gehoben wurde.
Wir verfolgen die lokalen Veränderungen, welche die ver-
ſchiedenen Erdbeben in Cumana hervorgebracht, nicht weiter.
Dem Plane dieſes Werkes entſprechend, ſuchen wir vielmehr
die Ideen unter allgemeine Geſichtspunkte zu bringen, und
alles, was mit dieſen ſchrecklichen und zugleich ſo ſchwer zu
erklärenden Vorgängen zuſammenhängt, in einen Rahmen
zuſammenzufaſſen. Wenn Naturforſcher, welche die Schweizer
Alpen oder die Küſten von Lappland beſuchen, unſere Kennt-
nis von den Gletſchern und dem Nordlicht erweitern, ſo läßt
[174] ſich von einem, der das ſpaniſche Amerika bereiſt hat, erwarten,
daß er ſein Hauptaugenmerk auf Vulkane und Erdbeben ge-
richtet haben werde. Jeder Strich des Erdballes liefert der
Forſchung eigentümliche Stoffe, und wenn wir nicht hoffen
dürfen, die Urſachen der Naturerſcheinungen zu ergründen, ſo
müſſen wir wenigſtens verſuchen, die Geſetze derſelben kennen
zu lernen und durch Vergleichung zahlreicher Thatſachen das
Gemeinſame und immer Wiederkehrende vom Veränderlichen
und Zufälligen zu unterſcheiden.
Die großen Erdbeben, die nach einer langen Reihe kleiner
Stöße eintreten, ſcheinen in Cumana nichts Periodiſches zu
haben. Man hat ſie nach achtzig, nach hundert, und manch-
mal nach nicht dreißig Jahren ſich wiederholen ſehen, während
an der Küſte von Peru, z. B. in Lima, die Epochen, die
jedesmal durch die gänzliche Zerſtörung der Stadt bezeichnet
werden, unverkennbar mit einer gewiſſen Regelmäßigkeit ein-
treten. Daß die Einwohner ſelbſt an einen ſolchen Typus
glauben, iſt auch vom beſten Einfluß auf die öffentliche Ruhe
und die Erhaltung des Gewerbfleißes. Man nimmt allge-
mein an, daß es ziemlich lange Zeit braucht, bis dieſelben
Urſachen wieder mit derſelben Gewalt wirken können; aber
dieſer Schluß iſt nur dann richtig, wenn man die Erdſtöße
als lokale Erſcheinungen auffaßt, wenn man unter jedem
Punkt des Erdballes, der großen Erſchütterungen ausgeſetzt
iſt, einen beſonderen Herd annimmt. Ueberall, wo ſich neue
Gebäude auf den Trümmern der alten erhoben, hört man
Leute, die nicht bauen wollen, äußern, auf die Zerſtörung
Liſſabons am 1. November 1755 ſei bald eine zweite, gleich
ſchreckliche gefolgt, am 31. März 1761.
Nach einer uralten, auch in Cumana, Acapulco und Lima
ſehr verbreiteten Meinung 1 ſtehen die Erdbeben und der Zu-
ſtand der Luft vor dem Eintreten derſelben ſichtbar in Zu-
ſammenhang. An der Küſte von Neuandaluſien wird man
ängſtlich, wenn bei großer Hitze und nach langer Trockenheit
der Seewind auf einmal aufhört und der im Zenith reine,
wolkenloſe Himmel ſich bis zu 6, 8° über dem Horizont mit
einem rötlichen Duft überzieht. Dieſe Vorzeichen ſind in-
deſſen ſehr unſicher, und wenn man ſich nachher alle Vorgänge
im Luftkreiſe zur Zeit der ſtärkſten Erderſchütterungen ver-
[175] gegenwärtigt, ſo zeigt ſich, daß heftige Stöße ſo gut bei
feuchtem als trockenem Wetter, ſo gut bei ſtarkem Winde als
bei drückend ſchwüler ſtiller Luft eintreten können. Nach den
vielen Erdbeben, die ich nördlich und ſüdlich vom Aequator,
auf dem Feſtland und in Meeresbecken, an der Küſte und
in 4870 m Höhe erlebt, will es mir ſcheinen, als ob die
Schwingungen des Bodens und der vorhergehende Zuſtand
der Luft im allgemeinen nicht viel miteinander zu thun hätten.
Dieſer Anſicht ſind auch viele gebildete Männer in den ſpa-
niſchen Kolonieen, deren Erfahrung ſich, wo nicht auf ein
größeres Stück der Erdoberfläche, ſo doch auf eine längere
Reihe von Jahren erſtreckt. In europäiſchen Ländern da-
gegen, wo Erdbeben im Verhältnis zu Amerika ſelten vor-
kommen, ſind die Phyſiker geneigt, die Schwingungen des
Bodens und irgend ein Meteor, das zufällig zur ſelben Zeit
erſcheint, in nahe Beziehung zu bringen. So glaubt man in
Italien an einen Zuſammenhang zwiſchen dem Sirocco und
den Erdbeben, und in London ſah man das häufige Vor-
kommen von Sternſchnuppen und jene Südlichter, die ſeitdem
von Dalton öfters beobachtet worden ſind, als die Vorläufer
der Erdſtöße an, die man vom Jahre 1748 bis zum Jahre
1756 ſpürte.
An den Tagen, wo die Erde durch ſtarke Stöße er-
ſchüttert wird, zeigt ſich unter den Tropen keine Störung in
der regelmäßigen ſtündlichen Schwankung des Barometers.
Ich habe mich in Cumana, Lima und Riobamba hiervon über-
zeugt; auf dieſen Umſtand ſind die Phyſiker um ſo mehr auf-
merkſam zu machen, als man auf San Domingo in der Stadt
Kap Français unmittelbar vor dem Erdbeben von 1770 den
Waſſerbarometer um 66 mm will haben fallen ſehen. 1 So
erzählt man auch, bei der Zerſtörung von Oran habe ſich ein
Apotheker mit ſeiner Familie gerettet, weil er wenige Minuten
vor der Kataſtrophe zufällig auf ſeinen Barometer geſehen
und bemerkt habe, daß das Queckſilber auffallend ſtark falle.
Ich weiß nicht, ob dieſer Behauptung Glauben zu ſchenken
iſt; da es faſt unmöglich iſt, während der Stöße ſelbſt die
Schwankungen im Luftdruck zu beobachten, ſo muß man ſich
begnügen, auf den Barometer vor und nach dem Vorfall zu
ſehen. Im gemäßigten Erdſtrich äußern die Nordlichter nicht
immer Einfluß auf die Deklination der Magnetnadel und die
[176] Intenſität der magnetiſchen Kraft; ſo wirken vielleicht auch
die Erdbeben nicht gleichmäßig auf die uns umgebende Luft.
Es iſt ſchwerlich in Zweifel zu ziehen, daß in weiter
Ferne von den Schlünden noch thätiger Vulkane der durch
Erdſtöße geborſtene und erſchütterte Boden zuweilen Gaſe in
die Luft ausſtrömen läßt. Wie ſchon oben angeführt, brachen
in Cumana aus dem trockenſten Boden Flammen und mit
ſchweflichter Säure vermiſchte Dämpfe hervor. An anderen
Orten ſpie ebendaſelbſt der Boden Waſſer und Erdpech aus.
In Riobamba bricht eine brennbare Schlammmaſſe, Moya
genannt, aus Spalten, die ſich wieder ſchließen, und türmt
ſich zu anſehnlichen Hügeln auf. 31 km von Liſſabon, bei
Colares, ſah man während des furchtbaren Erdbebens vom
1. November 1755 Flammen und eine dicke Rauchſäule aus
der Felswand bei Alvidras, und nach einigen Augenzeugen
aus dem Meere ſelbſt hervorbrechen. Der Rauch dauerte
mehrere Tage und wurde deſto ſtärker, je lauter das unter-
irdiſche Getöſe war, das die Stöße begleitete.
In die Atmoſphäre ausſtrömende elaſtiſche Flüſſigkeiten
können lokal auf den Barometer wirken, freilich nicht durch
ihre Maſſe, die im Verhältnis zur ganzen Luftmaſſe ſehr un-
bedeutend iſt, ſondern weil ſich, ſobald ein großer Ausbruch
erfolgt, wahrſcheinlich ein aufſteigender Strom bildet, der den
Luftdruck vermindert. Ich bin geneigt, anzunehmen, daß bei
den meiſten Erdbeben der erſchütterte Boden nichts von ſich
gibt, und daß, wenn wirklich Gaſe und Dämpfe ausſtrömen,
dies weit nicht ſo oft vor den Stößen als während derſelben
und hernach ſtattfindet. Aus dieſem letzteren Umſtand erklärt
ſich eine Erſcheinung, die ſchwerlich abzuleugnen iſt, ich meine den
rätſelhaften Einfluß, den die Erdbeben im tropiſchen Amerika
auf das Klima und den Eintritt der naſſen und der trockenen
Jahreszeit äußern. Wenn die Erde erſt im Moment der Er-
ſchütterung ſelbſt eine Veränderung in der Luft hervorbringt,
ſo ſieht man ein, warum ſo ſelten ein auffallender meteoro-
logiſcher Vorgang als Vorbote dieſer großen Umwälzungen in
der Natur erſcheint.
Für die Annahme, daß bei den Erdbeben in Cumana
elaſtiſche Flüſſigkeiten durch die Erdoberfläche zu entweichen
ſuchen, ſcheint das furchtbare Getöſe zu ſprechen, das man
während der Erdſtöße auf der Ebene der Charas am Rande
der Brunnen vernimmt. Zuweilen werden Waſſer und Sand
über 6,5 m hoch emporgeſchleudert. Aehnliche Erſcheinungen
[177] entgingen ſchon dem Scharfſinn der Alten nicht, die in den
Ländern Griechenlands und Kleinaſiens wohnten, wo es ſehr
viele Höhlen, Erdſpalten und unterirdiſche Ströme gibt. Das
gleichförmige Walten der Natur erzeugt allerorten dieſelben
Vorſtellungen über die Urſachen der Erdbeben und über die
Mittel, durch welche der Menſch, der ſo leicht das Maß ſeiner
Kräfte vergißt, die Wirkungen der Ausbrüche aus der Tiefe
mildern zu können meint. Was ein großer römiſcher Natur-
forſcher vom Nutzen der Brunnen und Höhlen ſagt, 1 wieder-
holen in der Neuen Welt die unwiſſendſten Indianer in Quito,
wenn ſie den Reiſenden die Guaicos oder Höhlen am Pi-
chincha zeigen.
Das unterirdiſche Getöſe, das bei Erdbeben ſo häufig
vorkommt, iſt meiſt außer Verhältnis mit der Kraft der Erd-
ſtöße. In Cumana geht es denſelben immer zuvor, während
man in Quito und neuerdings in Caracas und auf den An-
tillen, nachdem die Stöße längſt aufgehört haben, einen Donner
wie vom Feuer einer Batterie gehört hat. Eine dritte Klaſſe
dieſer Erſcheinungen, und die merkwürdigſte von allen iſt
das monatelang fortwährende unterirdiſche Donnerrollen,
ohne daß dabei die geringſte Wellenbewegung des Bodens zu
ſpüren wäre.
In allen den Erdbeben ausgeſetzten Ländern ſieht man
als die Veranlaſſung und den Herd der Erdſtöße den Punkt
an, wo, wahrſcheinlich infolge einer eigentümlichen Anordnung
der Geſteinſchichten, die Wirkungen am auffallendſten ſind.
So glaubt man in Cumana, der Schloßberg von San An-
tonio, beſonders aber der Hügel, auf dem das Kloſter San
Francisco liegt, enthalten eine ungeheure Maſſe Schwefel und
andere brennbare Stoffe. Man vergißt, daß die Geſchwindig-
keit, mit der ſich die Schwingungen auf große Entfernung,
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 12
[178] ſogar über das Becken des Ozeans fortpflanzen, deutlich dar-
auf hinweiſt, daß der Mittelpunkt der Bewegung von der
Erdoberfläche ſehr weit entfernt iſt. Ohne Zweifel aus dem-
ſelben Grunde ſind die Erdbeben nicht an gewiſſe Gebirgs-
arten gebunden, wie manche Phyſiker behaupten, ſondern alle
ſind vielmehr gleich geeignet, die Bewegung fortzupflanzen.
Um nicht den Kreis meiner eigenen Erfahrung zu überſchreiten,
nenne ich nur die Granite von Lima und Acapulco, den Gneis
von Caracas, den Glimmerſchiefer der Halbinſel Araya, den
Urgebirgsſchiefer von Tepecuacuilco in Mexiko, die ſekundären
Kalkſteine des Apennins, Spaniens und Neuandaluſiens, end-
lich die Trappporphyre der Provinzen Quito und Popayan.
An allen dieſen Orten wird der Boden häufig durch die
heftigſten Stöße erſchüttert; aber zuweilen werden in der-
ſelben Gebirgsart die obenauf gelagerten Schichten zu einem
unüberwindlichen Hindernis für die Fortpflanzung der Be-
wegung. So ſah man ſchon in den ſächſiſchen Erzgruben die
Bergleute wegen Bebungen, die ſie empfunden, erſchrocken aus-
fahren, während man an der Erdoberfläche nichts davon ge-
ſpürt hatte.
Wenn nun auch in den weitentlegenſten Ländern die Ur-
gebirge, die ſekundären und die vulkaniſchen Gebirgsarten an
den krampfhaften Zuckungen des Erdballes in gleichem Maße
teilnehmen, ſo läßt ſich doch nicht in Abrede ziehen, daß in
einem nicht ſehr ausgedehnten Landſtrich gewiſſe Gebirgsarten
die Fortpflanzung der Stöße hemmen. In Cumana z. B.
wurden vor der großen Kataſtrophe im Jahre 1797 die Erd-
beben nur längs der aus Kalk beſtehenden Südküſte des
Meerbuſens von Cariaco bis zur Stadt dieſes Namens ge-
ſpürt, während auf der Halbinſel Araya und im Dorfe Mani-
quarez der Boden an denſelben Bewegungen keinen Teil nahm.
Die Bewohner dieſer Nordküſte, die aus Glimmerſchieſer be-
ſteht, bauten ihre Hütten auf unerſchütterlichem Boden; ein
5,8 bis 7,8 km breiter Meerbuſen lag zwiſchen ihnen und
einer durch die Erdbeben mit Trümmern bedeckten und ver-
wüſteten Ebene. Mit dieſer auf die Erfahrung von Jahr-
hunderten gebauten Sicherheit iſt es vorbei; mit dem 14. De-
zember 1797 ſcheinen ſich im Inneren der Erde neue
Verbindungswege geöffnet zu haben. Jetzt empfindet man es
in Araya nicht nur, wenn in Cumana der Boden bebt, das
Vorgebirge aus Glimmerſchiefer iſt ſeinerſeits zum Mittel-
punkt von Bewegungen geworden. Bereits wird zuweilen
[179] im Dorfe Maniquarez der Boden ſtark erſchüttert, während
man an der Küſte von Cumana der tiefſten Ruhe genießt, und
doch iſt der Meerbuſen von Cariaco nur 110 bis 150 m tief.
Man will beobachtet haben, daß auf dem Feſtlande wie
auf den Inſeln die Weſt- und Südküſten den Stößen am
meiſten ausgeſetzt ſeien. Dieſe Beobachtung ſteht im Zu-
ſammenhang mit den Ideen hinſichtlich der Lage der großen
Gebirgsketten und der Richtung ihrer ſteilſten Abhänge, wie
ſie ſich ſchon lange in der Geologie geltend gemacht haben;
das Vorhandenſein der Kordillere von Caracas und die Häufig-
keit der Erdbeben an den Oſt- und Nordküſten von Terra
Firma, im Meerbuſen von Paria, in Carupano, Cariaco und
Cumana beweiſen, wie wenig begründet jene Anſicht iſt.
In Neuandaluſien, wie in Chile und Peru, gehen die
Erdſtöße den Küſten nach und nicht weit ins Innere des
Landes hinein. Dieſer Umſtand weiſt, wie wir bald ſehen
werden, darauf hin, daß die Urſachen der Erdbeben und der
vulkaniſchen Ausbrüche in engem Verbande ſtehen. Würde
der Boden an den Küſten deshalb ſtärker erſchüttert, weil dieſe
die am tiefſten gelegenen Punkte des Landes ſind, warum
wären dann in den Savannen oder Prairieen, die kaum 16 oder
20 m über dem Meeresſpiegel liegen, die Stöße nicht ebenſo
oft und ebenſo ſtark zu fühlen?
Die Erdbeben in Cumana ſind mit denen auf den kleinen
Antillen verkettet, und man hat ſogar vermutet, ſie könnten
mit den vulkaniſchen Erſcheinungen in den Kordilleren der
Anden in einigem Zuſammenhang ſtehen. Am 11. Februar
1797 erlitt der Boden der Provinz Quito eine Umwälzung,
durch die, trotz der ſehr ſchwachen Bevölkerung des Landes,
gegen 40000 Eingeborene unter den Trümmern ihrer Häuſer
begraben wurden, in Erdſpalten ſtürzten oder in den plötzlich
neu gebildeten Seen ertranken. Zur ſelben Zeit wurden die
Bewohner der öſtlichen Antillen durch Erdſtöße erſchreckt, die
erſt nach 8 Monaten aufhörten, als der Vulkan auf Guade-
loupe Bimsſteine, Aſche und Wolken von Schwefeldämpfen
ausſtieß. Auf dieſen Ausbruch vom 29. September, während-
deſſen man lange anhaltendes unterirdiſches Brüllen hörte,
folgte am 14. Dezember das große Erdbeben von Cumana.
Ein anderer Vulkan der Antillen, der auf St. Vincent, hat
ſeitdem ein neues Beiſpiel ſolcher auffallenden Wechſelbe-
ziehungen geliefert. Er hatte ſeit 1718 kein Feuer mehr ge-
ſpieen, als er im Jahre 1812 wieder auswarf. Die gänz-
[180] liche Zerſtörung der Stadt Caracas erfolgte 34 Tage vor
dieſem Ausbruch und ſtarke Bodenſchwingungen wurden ſo-
wohl auf den Inſeln als an den Küſten von Terra Firma
geſpürt.
Man hat längſt die Bemerkung gemacht, daß die Wirkun-
gen großer Erdbeben ſich ungleich weiter verbreiten als die
Erſcheinungen der thätigen Vulkane. Beobachtet man in
Italien die Umwälzungen des Erdbodens, betrachtet man die
Reihe der Ausbrüche des Veſuv und des Aetna genau, ſo
entdeckt man, ſo nahe auch dieſe Berge bei einander liegen,
kaum Spuren gleichzeitiger Thätigkeit. Dagegen unterliegt
es keinem Zweifel, daß bei den beiden letzten Erdbeben von
Liſſabon 1 das Meer bis in die Neue Welt hinüber in Auf-
[181] ruhr geriet, z. B. bei der Inſel Barbados, die über 5400 km
von der Küſte von Portugal liegt.
Verſchiedene Thatſachen weiſen darauf hin, daß die Erd-
beben und die vulkaniſchen Ausbrüche 1 in engem urſachlichen
Zuſammenhang ſtehen. In Paſto hörten wir, die ſchwarze
dicke Rauchſäule, die im Jahre 1797 ſeit mehreren Monaten
dem Vulkan in der Nähe dieſer Stadt entſtiegen war, ſei zur
ſelben Stunde verſchwunden, wo 270 km gegen Süd die
Städte Riobamba, Hambato und Tacunga durch einen unge-
heuren Stoß über den Haufen geworfen wurden. Setzt man
ſich im Inneren eines brennenden Kraters neben die Hügel,
die ſich durch die Schlacken- und Aſchenauswürfe bilden, ſo
fühlt man mehrere Sekunden vor jedem einzelnen Ausbruch
die Bewegung des Bodens. Wir haben dies im Jahre 1805
auf dem Veſuv beobachtet, während der Berg glühende Schlacken
auswarf; wir waren im Jahre 1802 Zeugen desſelben Vor-
ganges geweſen, als wir am Rande des ungeheuren Kraters
des Pichincha ſtanden, aus dem übrigens eben nur ſchweflig
ſaure Dämpfe aufſtiegen.
Alles weiſt darauf hin, daß das eigentlich Wirkſame
bei den Erdbeben darin beſteht, daß elaſtiſche Flüſſigkeiten
einen Ausweg ſuchen, um ſich in der Luft zu verbreiten. An
den Küſten der Südſee pflanzt ſich dieſe Wirkung oft faſt
1
[182] augenblicklich 2700 km weit, von Chile bis zum Meerbuſen
von Guayaquil, fort, und zwar ſcheinen, was ſehr merkwürdig
iſt, die Erdſtöße deſto ſtärker zu ſein, je weiter ein Ort von
den thätigen Vulkanen abliegt. Die mit Flözen von ſehr
neuer Bildung bedeckten Granitberge Kalabriens, die aus Kalk
beſtehende Kette des Apennins, die Grafſchaft Perigord, die
Küſten von Spanien und Portugal, die von Peru und Terra
Firma liefern deutliche Belege für dieſe Behauptung. Es iſt
als würde die Erde deſto ſtärker erſchüttert, je weniger die
Bodenfläche Oeffnungen hat, die mit den Höhlungen im
Inneren in Verbindung ſtehen. In Neapel und Meſſina,
am Fuß des Cotopaxi und des Tunguragua fürchtet man die
Erdbeben nur, ſolange nicht Rauch und Feuer aus der Mün-
dung der Vulkane bricht. Ja, im Königreich Quito brachte
die große Kataſtrophe von Riobamba, von der oben die Rede
war, mehrere unterrichtete Männer auf den Gedanken, daß
das unglückliche Land wohl nicht ſo oft verwüſtet würde,
wenn das unterirdiſche Feuer den Porphyrdom des Chimbo-
razo durchbrechen könnte und dieſer koloſſale Berg ſich wieder
in einen thätigen Vulkan verwandelte. Zu allen Zeiten
haben analoge Thatſachen zu denſelben Hypotheſen geführt.
Die Griechen, die, wie wir, die Schwingungen des Bodens
der Spannung elaſtiſcher Flüſſigkeiten zuſchrieben, führten zur
Bekräftigung ihrer Anſicht an, daß die Erdbeben auf der
Inſel Euböa gänzlich aufgehört haben, ſeit ſich auf der Ebene
von Lelante eine Erdſpalte gebildet.
Wir haben verſucht, am Schluß dieſes Kapitels die all-
gemeinen Erſcheinungen zuſammenzuſtellen, welche die Erd-
beben unter verſchiedenen Himmelsſtrichen begleiten. Wir
haben gezeigt, daß die unterirdiſchen Meteore ſo feſten Ge-
ſetzen unterliegen, wie die Miſchung der Gaſe, die unſeren
Luftkreis bilden. Wir haben uns aller Betrachtungen über
das Weſen der chemiſchen Agenzien enthalten, die als Urſachen
der großen Umwälzungen erſcheinen, welche die Erdoberfläche
von Zeit zu Zeit erleidet. Es ſei hier nur daran erinnert,
daß dieſe Urſachen in ungeheuren Tiefen liegen, und daß man
ſie in den Erdbildungen zu ſuchen hat, die wir Urgebirge
nennen, wohl gar unter der erdigen, oxydierten Kruſte, in
Tiefen, wo die halbmetalliſchen Grundlagen der Kieſelerde,
der Kalkerde, der Soda und der Pottaſche gelagert ſind.
Man hat in neueſter Zeit den Verſuch gemacht, die Er-
ſcheinungen der Vulkane und Erdbeben als Wirkungen des
[183] Galvanismus aufzufaſſen, der ſich bei eigentümlicher Anord-
nung ungleichartiger Erdſchichten entwickeln ſoll. Es läßt
ſich nicht leugnen, daß häufig, wenn im Verlauf einiger
Stunden ſtarke Erdſtöße aufeinander folgen, die elektriſche
Spannung der Luft im Augenblick, wo der Boden am ſtärkſten
erſchüttert wird, merkbar zunimmt; um aber dieſe Erſcheinung
zu erklären, braucht man ſeine Zuflucht nicht zu einer Hypotheſe
zu nehmen, die in geradem Widerſpruch ſteht mit allem, was
bis jetzt über den Bau unſeres Planeten und die Anordnung
ſeiner Erdſchichten beobachtet worden iſt.
[[184]]
Fünftes Kapitel.
Die Halbinſel Araya. — Salzſümpfe. — Die Trümmer des Schloſſes
Santiago.
Die erſten Wochen unſeres Aufenthaltes in Cumana ver-
wendeten wir dazu, unſere Inſtrumente zu berichtigen, in der
Umgegend zu botaniſieren und die Spuren des Erdbebens
vom 14. Dezember 1797 zu beobachten. Die Mannigfaltig-
keit der Gegenſtände, die uns zumal in Anſpruch nahmen,
ließ uns nur ſchwer den Weg zu geordneten Studien und
Beobachtungen finden. Wenn unſere ganze Umgebung den
lebhafteſten Reiz für uns hatte, ſo machten dagegen unſere
Inſtrumente die Neugier der Einwohnerſchaft rege. Wir
wurden ſehr oft durch Beſuche von der Arbeit abgezogen, und
wollte man nicht Leute vor den Kopf ſtoßen, die ſo ſeelen-
vergnügt durch einen Dollond die Sonnenflecken betrachteten,
oder zwei Gaſe in der Röhre des Eudiometers ſich verzehren,
oder auf galvaniſche Berührung einen Froſch ſich bewegen
ſahen, ſo mußte man ſich wohl herbeilaſſen, auf oft ver-
worrene Fragen Auskunft zu geben und ſtundenlang die-
ſelben Verſuche zu wiederholen.
So ging es uns fünf ganze Jahre, ſo oft wir uns an
einem Orte aufhielten, wo man in Erfahrung gebracht hatte,
daß wir Mikroſkope, Fernröhren oder elektromotoriſche Apparate
beſitzen. Dergleichen Auftritte wurden meiſt deſto angreifender,
je verworrener die Begriffe waren, welche die Beſucher von
Aſtronomie und Phyſik hatten, welche Wiſſenſchaften in den
ſpaniſchen Kolonieen den ſonderbaren Titel: „neue Philoſophie“,
nueva filosofia, führen. Die Halbgelehrten ſahen mit einer
gewiſſen Geringſchätzung auf uns herab, wenn ſie hörten,
daß ſich unter unſeren Büchern weder das Spectacle de la
nature vom Abbê Pluche, noch der Cours de physique von
[185] Sigaud la Fond, noch das Wörterbuch von Valmont de
Bomare befanden. Dieſe drei Werke und der Traité d’économie
politique von Baron Bielfeld ſind die bekannteſten und ge-
achtetſten fremden Bücher im ſpaniſchen Amerika von Caracas
und Chile bis Guatemala und Nordmexiko. Man gilt nur
dann für gelehrt, wenn man die Ueberſetzungen derſelben
recht oft citieren kann, und nur in den großen Haupt-
ſtädten, in Lima, Santa Fé de Bogota und Mexiko, fangen
die Namen Haller, Cavendiſh und Lavoiſier an jene zu ver-
drängen, deren Ruf ſeit einem halben Jahrhundert populär
geworden iſt.
Die Neugierde, mit der die Menſchen ſich mit den Himmels-
erſcheinungen und verſchiedenen naturwiſſenſchaftlichen Gegen-
ſtänden abgeben, äußert ſich ganz anders bei altciviliſierten
Völkern als da, wo die Geiſtesentwickelung noch geringe Fort-
ſchritte gemacht hat. In beiden Fällen finden ſich in den
höchſten Ständen viele Perſonen, die den Wiſſenſchaften ferne
ſtehen; aber in den Kolonieen und bei jungen Völkern iſt die
Wißbegier keineswegs müßig und vorübergehend, ſondern
entſpringt aus dem lebendigen Triebe, ſich zu belehren; ſie
äußert ſich ſo arglos und naiv, wie ſie in Europa nur in
früher Jugend auftritt.
Erſt am 28. Juli konnte ich eine ordentliche Reihe aſtro-
nomiſcher Beobachtungen beginnen, obgleich mir viel daran
lag, die Länge, wie ſie Louis Berthouds Chronometer angab,
kennen zu lernen. Der Zufall wollte, daß in einem Lande,
wo der Himmel beſtändig rein und klar iſt, mehrere Nächte
ſternlos waren. Zwei Stunden nach dem Durchgang der
Sonne durch den Meridian zog jeden Tag ein Gewitter auf
und es wurde mir ſchwer, korreſpondierende Sonnenhöhen zu
erhalten, obgleich ich in verſchiedenen Intervallen drei, vier
Gruppen aufnahm. Die vom Chronometer angegebene Länge
von Cumana differierte nur um 4 Sekunden Zeit von der,
welche ich durch Himmelsbeobachtungen gefunden, und doch
hatte unſere Ueberfahrt 41 Tage gewährt und bei der Be-
ſteigung des Piks von Tenerifa war der Chronometer ſtarken
Temperaturwechſeln ausgeſetzt geweſen.
Aus meinen Beobachtungen in den Jahren 1799 und
1800 ergibt ſich als Geſamtreſultat, daß der große Platz von
Cumana unter 10° 27′ 52″ der Breite und 66° 30′ 2″ der
Länge liegt. Die Beſtimmung der Länge gründet ſich auf
den Uebertrag der Zeit, auf Monddiſtanzen, auf die Sonnen-
[186] finſternis vom 28. Oktober 1799 und auf zehn Immerſionen
der Jupitertrabanten, verglichen mit in Europa angeſtellten
Beobachtungen. Sie weicht nur um ſehr weniges von der
ab, die Fidalgo vor mir, aber durch rein chronometriſche Mittel
gefunden. Unſere älteſte Karte des neuen Kontinentes, die
von Diego Ribeiro, Geographen Kaiſer Karls des Fünften,
ſetzt Cumana unter 9° 30′ Breite, was um 58 Minuten von
der wahren Breite abweicht und einen halben Grad von der,
die Jefferys in ſeinem im Jahre 1794 herausgegebenen
„Amerikaniſchen Steuermann“ angibt. Dreihundert Jahre
lang zeichnete man die ganze Küſte von Paria zu weit ſüd-
lich, weil in der Nähe der Inſel Trinidad die Strömungen
nach Norden gegen und die Schiffer nach der Angabe des
Logs weiter gegen Süd zu ſein glauben, als ſie wirklich ſind.
Am 17. Auguſt machte ein Hof oder eine Lichtkrone um
den Mond den Einwohnern viel zu ſchaffen. Man betrachtete
es als Vorboten eines ſtarken Erdſtoßes, denn nach der Volks-
phyſik ſtehen alle ungewöhnlichen Erſcheinungen in unmittel-
barem Zuſammenhang. Die farbigen Kreiſe um den Mond
ſind in den nördlichen Ländern weit ſeltener als in der Pro-
vence, in Italien und Spanien. Sie zeigen ſich, und dies
iſt auffallend, beſonders bei reinem Himmel, wenn das gute
Wetter ſehr beſtändig ſcheint. In der heißen Zone ſieht
man faſt jede Nacht ſchöne prismatiſche Farben, ſelbſt bei der
größten Trockenheit; oft verſchwinden ſie in wenigen Minuten
mehreremal, ohne Zweifel, weil obere Luftſtrömungen den
Zuſtand der feinen Dünſte, in denen das Licht ſich bricht,
verändern. Zuweilen habe ich zwiſchen dem 15. Grad der
Breite und dem Aequator ſogar um die Venus kleine Höfe
geſehen; man konnte Purpur, Orange, und Violett unter-
ſcheiden; aber um Sirius, Canopus und Achernar habe ich
niemals Farben geſehen.
Während der Mondhof in Cumana zu ſehen war, zeigte
der Hygrometer große Feuchtigkeit an; die Waſſerdünſte
ſchienen aber ſo vollkommen aufgelöſt, oder vielmehr ſo elaſtiſch
und gleichförmig verbreitet, daß ſie der Durchſichtigkeit der
Luft keinen Eintrag thaten. Der Mond ging nach einem
Gewitterregen hinter dem Schloſſe San Antonio auf. Wie
er am Horizont erſchien, ſah man zwei Kreiſe, einen großen,
weißlichen von 44° Durchmeſſer und einen kleinen, der
in allen Farben des Regenbogens glänzte und 1° 43′
breit war. Der Himmelsraum zwiſchen beiden Kronen war
[187] dunkelblau. Bei 40° Höhe verſchwanden ſie, ohne daß die
meteorologiſchen Inſtrumente die geringſte Veränderung in
den niederen Luftregionen anzeigten. Die Erſcheinung hatte
nichts Auffallendes außer der großen Lebhaftigkeit der Farben,
neben dem Umſtand, daß nach Meſſungen mit einem Ramsden-
ſchen Sextanten die Mondſcheibe nicht ganz in der Mitte der
Höfe ſtand. Ohne die Meſſung hätte man glauben können,
dieſe Exzentrizität rühre von der Projektion der Kreiſe auf
die ſcheinbare Konkavität des Himmels her. Die Form der
Höfe und die Farben, welche in der Luft unter den Tropen
beim Mondlicht zu Tage kommen, verdienen es, von den
Phyſikern von neuem in den Kreis der Beobachtungen ge-
zogen zu werden. In Mexiko habe ich bei vollkommen
klarem Himmel breite Streifen in den Farben des Regen-
bogens über das Himmelsgewölbe und gegen die Mondſcheibe
hin zuſammenlaufen ſehen; dieſes merkwürdige Meteor er-
innert an das von Cotes im Jahre 1716 beſchriebene.
Wenn unſer Haus in Cumana für die Beobachtung des
Himmels und der meteorologiſchen Vorgänge ſehr günſtig
gelegen war, ſo mußten wir dagegen zuweilen bei Tage
etwas anſehen, was uns empörte. Der große Platz iſt zum
Teil mit Bogengängen umgeben, über denen eine lange
hölzerne Galerie hinläuft, wie man ſie in allen heißen Län-
dern ſieht. Hier wurden die Schwarzen verkauft, die von
der afrikaniſchen Küſte herüberkommen. Unter allen euro-
päiſchen Regierungen war die von Dänemark die erſte und
lange die einzige, die den Sklavenhandel abgeſchafft hat, und
dennoch waren die erſten Sklaven, die wir aufgeſtellt ſahen,
auf einem däniſchen Sklavenſchiff gekommen. Der gemeine
Eigennutz, der mit Menſchenpflicht, Nationalehre und den
Geſetzen des Vaterlandes im Streite liegt, läßt ſich durch
nichts in ſeinen Spekulationen ſtören.
Die zum Verkauf ausgeſetzten Sklaven waren junge
Leute von fünfzehn bis zwanzig Jahren. Man lieferte ihnen
jeden Morgen Kokosöl, um ſich den Körper damit einzureiben
und die Haut glänzend ſchwarz zu machen. Jeden Augenblick
erſchienen Käufer und ſchätzten nach der Beſchaffenheit der
Zähne Alter und Geſundheitszuſtand der Sklaven; ſie riſſen
ihnen den Mund auf, ganz wie es auf dem Pferdemarkt
geſchieht. Dieſer entwürdigende Brauch ſchreibt ſich aus
Afrika her, wie die getreue Schilderung zeigt, die Cervantes
nach langer Gefangenſchaft bei den Mauren in einem ſeiner
[188] Theaterſtücke 1 vom Verkauf der Chriſtenſklaven in Algier
entwirft. Es iſt ein empörender Gedanke, daß es noch heu-
tigestags auf den Antillen ſpaniſche Anſiedler gibt, die
ihre Sklaven mit dem Glüheiſen zeichnen, um ſie wieder zu
erkennen, wenn ſie entlaufen. So behandelt man Menſchen,
die anderen Menſchen die Mühe des Säens, Ackerns und
Erntens erſparen. 2
Je tieferen Eindruck der erſte Verkauf von Negern in
Cumana auf uns gemacht hatte, deſto mehr wünſchten wir
uns Glück, daß wir uns bei einem Volke und auf einem
Kontinent befanden, wo ein ſolches Schauſpiel ſehr ſelten
vorkommt und die Zahl der Sklaven im allgemeinen höchſt
unbedeutend iſt. Dieſelbe betrug im Jahre 1800 in den
Provinzen Cumana und Barcelona nicht über 6000,
während man zur ſelben Zeit die Geſamtbevölkerung auf
110000 ſchätzte. Der Handel mit afrikaniſchen Sklaven,
den die ſpaniſchen Geſetze niemals begünſtigt haben, iſt jetzt
völlig bedeutungslos auf Küſten, wo im 16. Jahrhun-
dert der Handel mit amerikaniſchen Sklaven ſchauerlich
lebhaft war. Macarapan, früher Amaracapana genannt,
Cumana, Araya und beſonders Neucadiz, das auf dem Eiland
Cubagua angelegt worden war, konnten damals für Kontore
gelten, die zur Betreibung des Sklavenhandels errichtet waren.
Girolamo Benzoni aus Mailand, der im Alter von 22 Jahren
nach Terra Firma gekommen war, machte im Jahre 1542
an den Küſten von Bordones, Cariaco und Paria Raubzüge
mit, bei denen unglückliche Eingeborene weggeſchleppt wurden.
Er erzählt ſehr naiv und oft mit einem Gefühlsausdruck,
wie er bei den Geſchichtſchreibern jener Zeit ſelten vorkommt,
von den Grauſamkeiten, die er mit angeſehen. Er ſah die
Sklaven nach Neucadiz bringen, wo ſie mit dem Glüheiſen
auf Stirne und Armen gezeichnet und den Beamten der
Krone der Quint entrichtet wurde. Aus dieſem Hafen
wurden ſie nach Hayti oder San Domingo geſchickt, nachdem
ſie mehrmals die Herren gewechſelt, nicht weil ſie verkauft
wurden, ſondern weil die Soldaten mit Würfeln um ſie
ſpielten.
Unſer erſter Ausflug galt der Halbinſel Araya und jenen
ehemals durch den Sklavenhandel und die Perlenfiſcherei viel-
[189] berufenen Landſtrichen. Am 19. Auguſt gegen 2 Uhr nach
Mitternacht ſchifften wir uns bei der indiſchen Vorſtadt auf
dem Manzanares ein. Unſer Hauptzweck bei dieſer kleinen
Reiſe war, die Trümmer des alten Schloſſes von Araya zu
beſehen, die Salzwerke zu beſuchen und auf den Bergen,
welche die ſchmale Halbinſel Maniquarez bilden, einige geo-
logiſche Unterſuchungen anzuſtellen. Die Nacht war köſtlich
kühl, Schwärme leuchtender Inſekten 1 glänzten in der Luft,
auf dem mit Seſuvium bedeckten Boden und in den Mimoſen-
büſchen am Fluß. Es iſt bekannt, wie häufig die Leucht-
würmer in Italien und im ganzen mittäglichen Europa ſind;
aber ihr maleriſcher Eindruck iſt gar nicht zu vergleichen mit
den zahlloſen zerſtreuten, ſich hin und her bewegenden Licht-
punkten, welche im heißen Erdſtrich der Schmuck der Nächte
ſind, wo einem iſt, als ob das Schauſpiel, welches das
Himmelsgewölbe bietet, ſich auf der Erde, auf der ungeheuren
Ebene der Grasfluren wiederholte.
Als wir flußabwärts an die Pflanzungen oder Charas
kamen, ſahen wir Freudenfeuer, die Neger angezündet hatten.
Leichter, gekräuſelter Rauch ſtieg zu den Gipfeln der Palmen
auf und gab der Mondſcheibe einen rötlichen Schein. Es
war Sonntagnacht und die Sklaven tanzten zur rauſchenden,
eintönigen Muſik einer Guitarre. Der Grundzug im Charakter
der afrikaniſchen Völker von ſchwarzer Raſſe iſt ein uner-
ſchöpfliches Maß von Beweglichkeit und Frohſinn. Nachdem
er die Woche über hart gearbeitet, tanzt und muſiziert der
Sklave am Feiertage dennoch lieber, als daß er ausſchläft.
Hüten wir uns, über dieſe Sorgloſigkeit, dieſen Leichtſinn
hart zu urteilen; wird ja doch dadurch ein Leben voll Ent-
behrung und Schmerz verſüßt.
Die Barke, in der wir über den Meerbuſen von Cariaco
fuhren, war ſehr geräumig. Man hatte große Jaguarfelle
ausgebreitet, damit wir bei Nacht ruhen könnten. Noch waren
wir nicht zwei Monate in der heißen Zone, und bereits waren
unſere Organe ſo empfindlich für den kleinſten Temperatur-
wechſel, daß wir vor Froſt nicht ſchlafen konnten. Zu unſerer
Verwunderung ſahen wir, daß der hundertteilige Thermo-
meter auf 21,8° ſtand. Dieſer Umſtand, der allen, die lange
in beiden Indien gelebt haben, wohl bekannt iſt, verdient
von den Phyſiologen beachtet zu werden. Boucher erzählt,
[190] auf dem Gipfel der Montagne Pelée auf Martinique 1 haben
er und ſeine Begleiter vor Froſt gebebt, obgleich die Wärme
noch 21½° betrug. In der anziehenden Reiſebeſchreibung
des Kapitän Bligh, der infolge einer Meuterei an Bord des
Schiffes Bounty 5400 km in einer offenen Schaluppe zurück-
legen mußte, lieſt man, daß er zwiſchen dem 10. und
12. Grad ſüdlicher Breite weit mehr vom Froſt als vom
Hunger gelitten. 2 Im Januar 1803, bei unſerem Aufent-
halt in Guayaquil, ſahen wir die Eingeborenen ſich über
Kälte beklagen und ſich zudecken, wenn der Thermometer auf
23,8° fiel, während ſie bei 30,5° die Hitze erſtickend fanden.
Es brauchte nicht mehr als 7 bis 8 Grad, um die ent-
gegengeſetzten Empfindungen von Froſt und Hitze zu erzeugen,
weil an dieſen Küſten der Südſee die gewöhnliche Luft-
temperatur 28° beträgt. Die Feuchtigkeit, mit der ſich die
Leitungsfähigkeit der Luft für den Wärmeſtoff ändert, ſpielt
bei dieſen Empfindungen eine große Rolle. Im Hafen von
Guayaquil, wie überall in der heißen Zone auf tief gelegenem
Boden, kühlt ſich die Luft nur durch Gewitterregen ab, und
ich habe beobachtet, daß, während der Thermometer auf 23,8°
fällt, der Delucſche Hygrometer auf 50 bis 52° ſtehen bleibt;
dagegen ſteht er auf 37 bei einer Temperatur von 30,5°.
In Cumana hört man bei ſtarken Regengüſſen in den Straßen
ſchreien: „Que hielo! estoy emparamado!“3 und doch fällt
[191] der dem Regen ausgeſetzte Thermometer nur auf 21,5°. Aus
allen dieſen Beobachtungen geht hervor, daß man zwiſchen
den Wendekreiſen auf Ebenen, wo die Lufttemperatur bei
Tage faſt beſtändig über 27° iſt, bei Nacht das Bedürfnis
fühlt, ſich zuzudecken, ſo oft bei feuchter Luft der Thermometer
um 4 bis 5½° fällt.
Gegen 8 Uhr morgens ſtiegen wir an der Landſpitze
von Araya bei der „Neuen Saline“ ans Land. Ein einzelnes
Haus ſteht auf einer kahlen Ebene, neben einer Batterie von
drei Kanonen, auf die ſich ſeit der Zerſtörung des Forts
St. Jakob die Verteidigung dieſer Küſte beſchränkt. Der
Salineninſpektor bringt ſein Leben in einer Hängematte zu,
in der er den Arbeitern ſeine Befehle erteilt, und eine Lancha
del rey (königliche Barke) führt ihm jede Woche von Cumana
ſeine Lebensmittel zu. Man wundert ſich, daß bei einem
Salzwerk, das früher bei den Engländern, Holländern und
anderen Seemächten Eiferſucht erregte, kein Dorf oder auch
nur ein Hof liegt. Kaum findet man am Ende der Land-
ſpitze von Araya ein paar armſelige indianiſche Fiſcherhütten.
Man überſieht von hier aus zugleich das Eiland Cubagua,
die hohen Berggipfel von Margarita, die Trümmer des
Schloſſes St. Jakob, den Cerro de la Vela und das Kalk-
gebirge des Brigantin, das gegen Süden den Horizont be-
grenzt. Wie reich die Halbinſel Araya an Kochſalz iſt, wurde
ſchon Alonſo Niño bekannt, als er im Jahre 1499 in Kolumbus’,
Ojedas, und Amerigo Veſpuccis Fußſtapfen dieſe Länder be-
ſuchte. Obgleich die Eingeborenen Amerikas unter allen Völkern
des Erdballes am wenigſten Salz verbrauchen, weil ſie faſt
allein von Pflanzenkoſt leben, ſcheinen doch bereits die Guay-
3
[192] kari im Thon- und Salzboden der Punta Arenas ge-
graben zu haben. Selbſt die jetzt die neuen genannten
Salzwerke, am Ende des Vorgebirges Araya, waren ſchon in
der früheſten Zeit im Gange. Die Spanier, die ſich zuerſt
auf Cubagua und bald nachher auf der Küſte von Cumana
niedergelaſſen hatten, beuteten ſchon zu Anfang des 16. Jahr-
hunderts die Salzſümpfe aus, die ſich als Lagunen nordweſt-
lich vom Cerro de la Vela hinziehen. Da das Vorgebirge
Araya damals keine ſtändige Bevölkerung hatte, machten ſich
die Holländer den natürlichen Reichtum des Bodens zu nutze,
den ſie für ein Gemeingut aller Nationen anſahen. Heut-
zutage hat jede Kolonie ihre eigenen Salzwerke, und die
Schiffahrtskunſt iſt ſo weit fortgeſchritten, daß die Cadizer
Handelsleute mit geringen Koſten ſpaniſches und portugie-
ſiſches Salz 8500 km weit in die öſtliche Halbkugel ſenden
können, um Montevideo und Buenos Ayres mit ihrem Be-
darf für das Einſalzen zu verſorgen. Solche Vorteile waren
zur Zeit der Eroberung unbekannt; die Induſtrie in den
Kolonieen war damals noch ſo weit zurück, daß das Salz von
Araya mit großen Koſten nach den Antillen, nach Cartagena
und Portobelo verſchifft wurde. Im Jahre 1605 ſchickte der
Madrider Hof bewaffnete Fahrzeuge nach Punta Araya, mit
dem Befehl, daſelbſt auf Station zu liegen und die Holländer
mit Gewalt zu vertreiben. Dieſe fuhren nichtsdeſtoweniger
fort, heimlich Salz zu holen, bis man im Jahre 1622 bei
den Salzwerken ein Fort errichtete, das unter dem Namen
Castillo de Santiago oder Real Fuerza de Araya berühmt
geworden iſt.
Dieſe großen Salzſümpfe ſind auf den älteſten ſpaniſchen
Karten bald als Bucht, bald als Lagune angegeben. Laet,
der ſeinen Orbis novus im Jahre 1633 ſchrieb und ſehr
gute Nachrichten von dieſen Küſten hatte, ſagt ſogar aus-
drücklich, die Lagune ſei von der See durch eine über der
Fluthöhe gelegene Landenge getrennt geweſen. Im Jahre 1726
zerſtörte ein außerordentliches Ereignis die Saline von Araya
und machte das Fort, das über eine Million harter Piaſter
gekoſtet hatte, unnütz. Man ſpürte einen heftigen Windſtoß,
eine große Seltenheit in dieſen Strichen, wo die See meiſt
nicht unruhiger iſt als das Waſſer unſerer Flüſſe; die Flut
drang weit ins Land hinein und durch den Einbruch des
Meeres wurde der Salzſee in einen mehrere Meilen langen
Meerbuſen verwandelt. Seitdem hat man nördlich von der
[193] Hügelkette, welche das Schloß von der Nordküſte der Halb-
inſel trennt, künſtliche Behälter oder Kaſten angelegt.
Der Salzverbrauch war in den Jahren 1799 und 1800
in den beiden Provinzen Cumana und Barcelona zwiſchen
9000 und 10000 Fanegas, jede zu 16 Arrobas oder 4 Zent-
nern. Dieſer Verbrauch iſt ſehr beträchtlich, und es ergeben
ſich dabei, wenn man 50000 Indianer abrechnet, die nur
ſehr wenig Salz verzehren, 30 kg auf den Kopf. In Frank-
reich rechnet man, nach Necker, nur 6 bis 7 kg, und der
Unterſchied rührt daher, daß man ſo viel Salz zum Ein-
ſalzen braucht. Das geſalzene Ochſenfleiſch, Taſajo genannt,
iſt im Handel von Barcelona der vornehmſte Ausfuhrartikel.
Von 9000 bis 10000 Fanegas Salz, welche die beiden Pro-
vinzen zuſammen liefern, kommen nur 3000 vom Salzwerk
von Araya; das übrige wird bei Morro de Barcelona, Pozuelos,
Piritu und im Golfo triſte aus Meerwaſſer gewonnen.
In Mexiko liefert der einzige Salzſee Peñon Blanco
jährlich über 250000 Fanegas unreines Salz.
Die Provinz Caracas hat ſchöne Salzwerke bei den
Klippen los Roques; das früher auf der kleinen Inſel Tor-
tuga gelegene iſt auf Befehl der ſpaniſchen Regierung zerſtört
worden. Man grub einen Kanal, durch den das Meer zu den
Salzſümpfen dringen konnte. Andere Nationen, die auf den
Kleinen Antillen Kolonieen haben, beſuchen dieſe unbewohnte
Inſel, und der Madrider Hof fürchtete in ſeiner argwöhniſchen
Politik, das Salzwerk von Tortuga möchte Veranlaſſung zu
einer feſten Niederlaſſung werden, wodurch dem Schleichhandel
mit Terra Firma Vorſchub geleiſtet würde.
Die Salzwerke von Araya werden erſt ſeit dem Jahre
1792 von der Regierung ſelbſt betrieben. Bis dahin waren
ſie in den Händen indianiſcher Fiſcher, die nach Belieben
Salz bereiteten und verkauften, wofür ſie der Regierung nur
die mäßige Summe von 300 Piaſtern bezahlten. Der Preis
der Fanega war damals 4 Realen; 1 aber das Salz war ſehr
unrein, grau, und enthielt ſehr viel ſalzſaure und ſchwefel-
ſaure Bittererde. Da zudem die Ausbeutung von ſeiten
der Arbeiter äußerſt unregelmäßig betrieben wurde, ſo fehlte
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 13
[194] es oft an Salz zum Einſalzen des Fleiſches und der Fiſche,
das in dieſen Ländern für den Fortſchritt des Gewerbfleißes
von großem Belang iſt, da das indianiſche niedere Volk und
die Sklaven von Fiſchen und etwas Taſajo leben. Seit
die Provinz Cumana unter der Intendanz von Caracas ſteht,
beſteht die Salzregie, und die Fanega, welche die Guaykari
für einen halben Piaſter verkauften, koſtet anderthalb Piaſter.
Für dieſe Preiserhöhung leiſtet nur geringen Erſatz, daß das
Salz reiner iſt, und daß die Fiſcher und Koloniſten es das
ganze Jahr im Ueberfluß beziehen können. Die Salinen-
verwaltung von Araya brachte im Jahre 1799 dem Schatze
8000 Piaſter jährlich ein. Aus dieſen ſtatiſtiſchen Notizen
geht hervor, daß die Salzbereitung in Araya, als Induſtrie-
zweig betrachtet, von keinem großen Belang iſt.
Der Thon, aus dem zu Araya das Salz gewonnen wird,
kommt mit dem Salzthon überein, der in Berchtesgaden
und in Südamerika in Zipaquira mit dem Steinſalz vor-
kommt. Das ſalzſaure Natron iſt in dieſem Thon nicht in
ſichtbaren Teilchen eingeſprengt, aber ſein Vorhandenſein läßt
ſich leicht bemerklich machen. Wenn man die Maſſe mit
Regenwaſſer netzt und der Sonne ausſetzt, ſchießt das Salz
in großen Kriſtallen an. Die Lagune weſtlich vom Schloß
Santiago zeigt alle Erſcheinungen, wie ſie von Lepechin,
Gmelin und Pallas in den ſibiriſchen Salzſeen beobachtet
worden ſind. Sie nimmt übrigens nur das Regenwaſſer auf,
das durch die Thonſchichten durchſickert und ſich am tiefſten
Punkte der Halbinſel ſammelt. Solange die Lagune den
Spaniern und Holländern als Salzwerk diente, ſtand ſie mit
der See in keiner Verbindung; neuerdings hat man nun
dieſe Verbindung wieder aufgehoben, indem man an der
Stelle, wo das Meer im Jahre 1726 eingebrochen war, einen
Faſchinendamm anlegte. Nach großer Trockenheit werden
noch jetzt vom Boden der Lagune 3 bis 4 Kubikfuß große
Klumpen kriſtalliſierten, ſehr reinen ſalzſauren Natrons herauf-
gefördert. Das der brennenden Sonne ausgeſetzte Salzwaſſer
des Sees verdunſtet an der Oberfläche; in der geſättigten
Löſung bilden ſich Salzkruſten, ſinken zu Boden, und da
Kriſtalle von derſelben Zuſammenſetzung und der gleichen Ge-
ſtalt einander anziehen, ſo wachſen die kriſtalliniſchen Maſſen
von Tag zu Tage an. Man beobachtet im allgemeinen, daß
das Waſſer überall, wo ſich Lachen im Thonboden gebildet
haben, ſalzhaltig iſt. Im neuen Salzwerk bei den Batterien
[195] von Araya leitet man allerdings das Meerwaſſer in die Kaſten,
wie in den Salzſümpfen im mittäglichen Frankreich; aber
auf der Inſel Margarita bei Pampadar wird das Salz nur
dadurch bereitet, daß man ſüßes Waſſer den ſalzhaltigen
Thon auslaugen läßt.
Das Salz, das in Thonbildungen enthalten iſt, darf
nicht verwechſelt werden mit dem Salz, das im Sande am
Meeresufer vorkommt und das an den Küſten der Normandie
ausgebeutet wird. Dieſe beiden Erſcheinungen haben, aus
geologiſchem Geſichtspunkt betrachtet, ſo gut wie nichts mit-
einander gemein. Ich habe ſalzhaltigen Thon am Meeres-
ſpiegel, bei Punta Araya, und in 3900 m Höhe in den
Kordilleren von Neugranada geſehen. Wenn derſelbe am
erſtgenannten Orte unter einer Muſchelbreccie von ſehr neuer
Bildung liegt, ſo tritt er dagegen bei Iſchl in Oeſterreich
als mächtige Schicht im Alpenkalk auf, der, obgleich gleichfalls
jünger als die Exiſtenz organiſcher Weſen auf der Erde, doch
ſehr alt iſt, wie die vielen Gebirgsglieder zeigen, die ihm
aufgelagert ſind. Wir wollen nicht in Zweifel ziehen, daß
das reine 1 oder mit ſalzhaltigem Thon vermengte Steinſalz 2 der
Niederſchlag eines alten Meeres ſein könne, alles weiſt aber
darauf hin, daß es ſich unter Naturverhältniſſen gebildet hat,
die ſehr bedeutend abweichen mußten von denen, unter welchen
die jetzigen Meere infolge allmählicher Verdunſtung hier und
da ein paar Körner ſalzſauren Natrons im Uferſande nieder-
ſchlagen. Wie der Schwefel und die Steinkohle ſehr weit
auseinander liegenden Formationen angehören, kommt auch
das Steinſalz bald im Uebergangsgips, bald im Alpenkalk,
bald in einem mit ſehr neuem Muſchelſandſtein bedeckten
Salzthon (Punta Araya), bald in einem Gips vor, der jünger
iſt als die Kreide.
Das neue Salzwerk von Araya beſteht aus fünf Be-
hältern oder Kaſten, von denen die größten eine regelmäßige
Form und 87,4 a Oberfläche haben. Die mittlere Tiefe be-
trägt 21 cm. Man bedient ſich ſowohl des Regenwaſſers,
das ſich durch Einſickerung am tiefſten Punkt der Ebene ſam-
melt, als des Meerwaſſers, das durch Kanäle hereingeleitet
wird, wenn der Wind die See an die Küſte treibt. Dieſes
Salzwerk iſt nicht ſo günſtig gelegen wie die Lagune. Das
[196] Waſſer, das in die letztere fällt, kommt von ſtärker geneigten
Abhängen und hat ein größeres Bodenſtück ausgelaugt. Die
Indianer pumpen mit der Hand das Meerwaſſer aus einem
Hauptbehälter in die Kaſten. Leicht ließe ſich indeſſen der
Wind als Triebkraft benützen, da der Seewind fortwährend
ſtark auf die Küſte bläſt. Man hat nie daran gedacht, weder
die bereits ausgelaugte Erde wegzuſchaffen, noch Schachte im
Salzthon niederzutreiben, um Schichten aufzuſuchen, die reicher
an ſalzſaurem Natron ſind. Die Salzarbeiter klagen meiſt
über Regenmangel, und beim neuen Salzwerk ſcheint es mir
ſchwer auszumitteln, welches Quantum von Salz allein auf
Rechnung des Seewaſſers kommt. Die Eingeborenen ſchätzen
es auf ein Sechsteil des ganzen Ertrages. Die Verdunſtung
iſt ſehr ſtark und wird durch den beſtändigen Luftzug ge-
ſteigert; das Salz wird aber auch am 18. bis 20. Tage,
nachdem man die Behälter gefüllt, ausgezogen. Wir fanden
(am 19. Auguſt um 3 Uhr nachmittags) die Temperatur des
Salzwaſſers in den Kaſten 32,5°, während die Luft im
Schatten 27,2° und der Sand an der Küſte in 16 cm
Tiefe 42,5° zeigte. Wir tauchten den Thermometer in die
See und ſahen ihn zu unſerer Ueberraſchung nur auf 23°
ſteigen. Dieſe niedrige Temperatur rührt vielleicht von den
Untiefen her, welche die Halbinſel Araya und die Inſel Mar-
garita umgeben, und an deren Abfällen ſich tiefere Waſſer-
ſchichten mit den oberflächlichen vermiſchen.
Obgleich das ſalzſaure Natron auf der Halbinſel Araya
nicht ſo ſorgfältig bereitet wird als in den europäiſchen Salz-
werken, iſt es dennoch reiner und enthält weniger ſalzſaure
und ſchwefelſaure Erden. Wir wiſſen nicht, ob dieſe Reinheit
dem Anteil von Salz, den das Meer liefert, zuzuſchreiben iſt;
denn wenn auch die Menge der im Meerwaſſer gelöſten Salze
höchſt wahrſcheinlich unter allen Himmelsſtrichen dieſelbe iſt, 1
ſo weiß man doch nicht, ob auch das Verhältnis zwiſchen dem
ſalzſauren Natron, der ſalzſauren und ſchwefelſauren Bittererde
und dem ſchwefelſauren und kohlenſauren Kalk ſich gleich bleibt.
[197]
Nachdem wir die Salinen beſehen und unſere geodätiſchen
Arbeiten beendigt hatten, brachen wir gegen Abend auf, um
einige Meilen weiterhin in einer indianiſchen Hütte bei den
Trümmern des Schloſſes von Araya die Nacht zuzubringen.
Unſere Inſtrumente und unſeren Mundvorrat ſchickten wir
voraus; denn wenn wir von der großen Hitze und der Re-
verberation des Bodens erſchöpft waren, ſpürten wir in dieſen
Ländern nur abends und in der Morgenkühle Eßluſt. Wir
wandten uns nach Süd und gingen zuerſt über die kahle mit
Salzthon bedeckte Ebene, und dann über zwei aus Sandſtein
beſtehende Hügelketten, zwiſchen denen die Lagune liegt. Die
Nacht überraſchte uns, während wir einen ſchmalen Pfad ver-
folgten, der einerſeits vom Meer, andererſeits von ſenkrechten
Felswänden begrenzt iſt. Die Flut war im raſchen Steigen
und engte unſeren Weg mit jedem Schritt mehr ein. Am
Fuße des alten Schloſſes von Araya angelangt, lag ein Natur-
bild mit einem melancholiſchen, romantiſchen Anſtrich vor uns,
und doch wurde weder durch die Kühle eines finſteren Forſtes,
noch durch die Großartigkeit der Pflanzengeſtalten die Schön-
heit der Trümmer gehoben. Sie liegen auf einem kahlen,
dürren Berge, mit Agaven, Säulenkaktus und Mimoſen be-
wachſen, und gleichen nicht ſowohl einem Werke von Menſchen-
hand, als vielmehr Felsmaſſen, die in den älteſten Umwälzun-
gen des Erdballes zertrümmert worden.
Wir wollten Halt machen, um des großartigen Schau-
ſpieles zu genießen und den Untergang der Venus zu beob-
achten, deren Scheibe von Zeit zu Zeit zwiſchen dem Gemäuer
des Schloſſes erſchien; aber der Mulatte, der uns als Führer
diente, wollte verdurſten und drang lebhaft in uns, umzu-
kehren. Er hatte längſt gemerkt, daß wir uns verirrt hatten,
und da er hoffte, durch die Furcht auf uns zu wirken, ſprach
er beſtändig von Tigern und Klapperſchlangen. Giftige Rep-
tilien ſind allerdings beim Schloſſe Araya ſehr häufig, und
erſt vor kurzem waren beim Eingang des Dorfes Maniquarez
zwei Jaguare erlegt worden. Nach den aufbehaltenen Fellen
waren ſie nicht viel kleiner als die oſtindiſchen Tiger. Ver-
geblich führten wir unſerem Führer zu Gemüt, daß dieſe
Tiere an einer Küſte, wo die Ziegen ihnen reichliche Nahrung
bieten, keinen Menſchen anfallen; wir mußten nachgeben und
hingehen, woher wir gekommen waren. Nachdem wir drei
Viertelſtunden über einen von der ſteigenden Flut bedeckten
Strand gegangen, ſtieß der Neger zu uns, der unſeren Mund-
[198] vorrat getragen hatte; da er uns nicht kommen ſah, war er
unruhig geworden und uns entgegengegangen. Er führte
uns durch ein Gebüſch von Fackeldiſteln zu der Hütte einer
indianiſchen Familie. Wir wurden mit der herzlichen Gaſt-
freundſchaft aufgenommen, die man in dieſen Ländern bei
Menſchen aller Kaſten findet. Von außen war die Hütte, in
der wir unſere Hängematten befeſtigten, ſehr ſauber; wir
fanden daſelbſt Fiſche, Bananen u. dgl., und, was im heißen
Landſtrich über die ausgeſuchteſten Speiſen geht, vortreffliches
Waſſer.
Des anderen Tages bei Sonnenaufgang ſahen wir, daß
die Hütte, in der wir die Nacht zugebracht, zu einem Haufen
kleiner Wohnungen am Ufer des Salzſees gehörte. Es ſind
dies die ſchwachen Ueberbleibſel eines anſehnlichen Dorfes,
das ſich einſt um das Schloß gebildet. Die Trümmer einer
Kirche waren halb im Sand begraben und mit Strauchwerk
bewachſen. Nachdem im Jahre 1762 das Schloß von Araya,
um die Unterhaltungskoſten der Beſatzung zu erſparen, gänz-
lich zerſtört worden war, zogen ſich die in der Umgegend
angeſiedelten Indianer und Farbigen allmählich nach Mani-
quarez, Cariaco und in die indianiſche Vorſtadt von Cu-
mana. Nur wenige blieben aus Anhänglichkeit an den
Heimatsboden am wilden, öden Ort. Dieſe armen Leute
leben vom Fiſchfang, der an den Küſten und auf den Untiefen
in der Nähe äußerſt ergiebig iſt. Sie ſchienen mit ihrem Los
zufrieden und fanden die Frage ſeltſam, warum ſie keine
Gärten hätten und keine nutzbaren Gewächſe bauten. „Unſere
Gärten,“ ſagten ſie, „ſind drüben über der Meerenge; wir
bringen Fiſche nach Cumana und verſchaffen uns dafür Ba-
nanen, Kokosnüſſe und Manioc.“ Dieſe Wirtſchaft, die der
Trägheit zuſagt, iſt in Maniquarez und auf der ganzen Halb-
inſel Araya Brauch. Der Hauptreichtum der Einwohner be-
ſteht in Ziegen, die ſehr groß und ſchön ſind. Sie laufen
frei umher, wie die Ziegen auf dem Pik von Tenerifa; ſie
ſind völlig verwildert und man zeichnet ſie wie die Maul-
tiere, weil ſie nach Ausſehen, Farbe und Zeichnung nicht zu
unterſcheiden wären. Die wilden Ziegen ſind hellbraun und
nicht verſchiedenfarbig wie die zahmen. Wenn ein Koloniſt
auf der Jagd eine Ziege ſchießt, die er nicht als ſein Eigen-
tum erkennt, ſo bringt er ſie ſogleich dem Nachbar, dem ſie
gehört. Zwei Tage lang hörten wir als von einer ſelten
vorkommenden Niederträchtigkeit davon ſprechen, daß einem
[199] Einwohner von Maniquarez eine Ziege abhanden gekommen,
und daß wahrſcheinlich eine Familie in der Nachbarſchaft ſich
gütlich damit gethan habe. Dergleichen Züge, die für große
Sittenreinheit beim gemeinen Volke ſprechen, kommen häufig
auch in Neumexiko, in Kanada und in den Ländern weſtlich
von den Alleghanies vor.
Unter den Farbigen, deren Hütten um den Salzſee ſtehen,
befand ſich ein Schuhmacher von kaſtilianiſchem Blute. Er
nahm uns mit dem Ernſt und der Selbſtgefälligkeit auf, die
unter dieſen Himmelsſtrichen faſt allen Leuten eigen ſind, die
ſich für beſonders begabt halten. Er war eben daran, die
Sehne ſeines Bogens zu ſpannen und Pfeile zu ſpitzen, um
Vögel zu ſchießen. Sein Gewerbe als Schuſter konnte in
einem Lande, wo die meiſten Leute barfuß gehen, nicht viel
eintragen; er beſchwerte ſich auch, daß das europäiſche Pulver
ſo teuer ſei und ein Mann wie er zu denſelben Waffen greifen
müſſe wie die Indianer. Der Mann war das gelehrte Orakel
des Dorfes; er wußte, wie ſich das Salz durch den Einfluß
der Sonne und des Vollmondes bildet, er kannte die Vor-
zeichen der Erdbeben, die Merkmale, wo ſich Gold und Silber
im Boden finden, und die Arzneipflanzen, die er, wie alle
Koloniſten von Chile bis Kalifornien, in heiße und kalte1
einteilte. Er hatte die geſchichtlichen Ueberlieferungen des
Landes geſammelt, und gab uns intereſſante Notizen über die
Perlen von Cubagua, welchen Luxusartikel er höchſt weg-
werfend behandelte. Um uns zu zeigen, wie bewandert er in
der heiligen Schrift ſei, führte er wohlgefällig den Spruch
Hiobs an, daß Weisheit höher zu wägen iſt, denn Perlen.
Seine Philoſophie ging nicht über den engen Kreis der Lebens-
bedürfniſſe hinaus. Ein derber Eſel, der eine tüchtige Ladung
Bananen an den Landungsplatz tragen könnte, war das höchſte
Ziel ſeiner Wünſche.
Nach einer langen Rede über die Eitelkeit menſchlicher
Herrlichkeit zog er aus einer Ledertaſche ſehr kleine und trübe
Perlen und drang uns dieſelben auf. Zugleich hieß er uns,
es in unſere Schreibtafel aufzuzeichnen, daß ein armer Schuſter
von Araya, aber ein weißer Mann und von edlem kaſtiliſchem
Blute, uns etwas habe ſchenken können, das drüben über dem
Meer für eine große Koſtbarkeit gelte. Ich komme dem Ver-
[200] ſprechen, das ich dem braven Manne gab, etwas ſpät nach und
freue mich, dabei bemerken zu können, daß ſeine Uneigen-
nützigkeit ihm nicht geſtattete, irgend eine Vergütung anzu-
nehmen. An der Perlenküſte ſieht es allerdings ſo armſelig
aus, wie im „Gold- und Diamantenland“, in Choco und
Braſilien; aber mit dem Elend paart ſich hier nicht die zügel-
loſe Gewinnſucht, wie ſie durch Schätze des Mineralreiches
erzeugt wird.
Die Perlenmuſchel iſt auf den Untiefen, die ſich vom
Kap Paria zum Kap Vela erſtrecken, ſehr häufig. Die Inſel
Margarita, Cubagua, Coche, Punta Araya und die Mündung
des Rio la Hacha waren im 16. Jahrhundert berühmt, wie
im Altertum der Perſiſche Meerbuſen und die Inſel Ta-
probane. 1 Es iſt nicht richtig, was mehrere Geſchichtſchreiber
behaupten, daß die Eingeborenen Amerikas die Perlen als
Luxusartikel nicht gekannt haben ſollen. Die Spanier, die
zuerſt an Terra Firma landeten, ſahen bei den Wilden Hals-
und Armbänder, und bei den civiliſierten Völkern in Mexiko
und Peru waren Perlen von ſchöner Form ungemein geſucht.
Ich habe die Baſaltbüſte einer mexikaniſchen Prieſterin bekannt
gemacht, 2 deren Kopfputz, der auch ſonſt mit der Calantica
der Iſisköpfe Aehnlichkeit hat, mit Perlen beſetzt iſt. Las
Caſas und Benzoni erzählen, und zwar nicht ohne Ueber-
treibung, wie grauſam man mit den Indianern und Negern
umging, die man zur Perlenfiſcherei brauchte. In der erſten
Zeit der Eroberung lieferte die Inſel Coche allein 1500 Mark
Perlen monatlich. Der Quint, den die königlichen Beamten
vom Ertrag an Perlen erhoben, belief ſich auf 15000 Dukaten,
nach dem damaligen Wert der Metalle und in Betracht des
ſtarken Schmuggels eine ſehr bedeutende Summe. Bis zum
Jahre 1530 ſcheint ſich der Wert der nach Europa geſendeten
Perlen im Jahresdurchſchnitt auf mehr als 800000 Piaſter
belaufen zu haben. Um zu ermeſſen, von welcher Bedeutung
dieſer Handelszweig in Sevilla, Toledo, Antwerpen und Genua
ſein mochte, muß man bedenken, daß zur ſelben Zeit alle
Bergwerke Amerikas nicht zwei Millionen Piaſter lieferten
[201] und daß die Flotte Ovandos für unermeßlich reich galt, weil
ſie gegen 2600 Mark Silber führte.
Die Perlen waren deſto geſuchter, da der aſiatiſche Luxus
auf zwei gerade entgegengeſetzten Wegen nach Europa ge-
drungen war, von Konſtantinopel her, wo die Paläologen
reich mit Perlen geſtickte Kleider trugen, und von Granada
her, wo die mauriſchen Könige ſaßen, an deren Hof der ganze
aſiatiſche Prunk herrſchte. Die oſtindiſchen Perlen waren
geſchätzter als die weſtindiſchen; indeſſen kamen doch die letzteren
in der erſten Zeit nach der Entdeckung von Amerika in Menge
in den Handel. In Italien wie in Spanien wurde die Inſel
Cubagua das Ziel zahlreicher Handelsunternehmungen. Benzoni
erzählt, was einem gewiſſen Ludwig Lampagnano begegnete,
dem Karl der Fünfte das Privilegium erteilt hatte, mit fünf
„Caravelen“ an die Küſte von Cumana zu gehen und Perlen
zu fiſchen. Die Anſiedler ſchickten ihn mit der kecken Antwort
heim, der Kaiſer gehe mit etwas, das nicht ſein gehöre, allzu
freigebig um; es ſtehe ihm nicht das Recht zu, über Auſtern
zu verfügen, die auf dem Meeresboden leben.
Gegen das Ende des 16. Jahrhunderts nahm die Perlen-
fiſcherei raſch ab, und nach Laets Angabe 1 hatte ſie im Jahre
1633 längſt aufgehört. Durch den Gewerbfleiß der Venediger,
welche die echten Perlen täuſchend nachmachten, und den ſtarken
Gebrauch der geſchnittenen Diamanten 2 wurden die Fiſchereien
in Cubagua weniger einträglich. Zugleich wurden die Perlen-
muſcheln ſeltener, nicht, wie man nach der Volksſage glaubt,
weil die Tiere vom Geräuſch der Ruder verſcheucht wurden,
ſondern weil man im Unverſtand die Muſcheln zu Tauſenden
abgeriſſen und ſo ihrer Fortpflanzung Einhalt gethan hatte.
Die Perlenmuſchel iſt noch von zarterer Konſtitution als die
meiſten anderen kopfloſen Weichtiere. Auf der Inſel Ceylon,
wo in der Bucht von Condeatchy die Perlenfiſcherei ſechs-
[202] hundert Taucher beſchäftigt und der jährliche Ertrag über eine
halbe Million ſteigt, hat man das Tier vergeblich auf andere
Küſtenpunkte zu verpflanzen geſucht. Die Regierung geſtattet
die Fiſcherei nur einen Monat lang, während man in Cubagua
die Muſchelbank das ganze Jahr hindurch ausbeutete. Um
ſich eine Vorſtellung davon zu machen, in welchem Maße die
Taucher unter dieſem Tiergeſchlecht aufräumen, muß man
bedenken, daß manches Fahrzeug in zwei, drei Wochen über
35000 Muſcheln aufnimmt. Das Tier lebt nur neun bis zehn
Jahre und die Perlen fangen erſt im vierten Jahre an zum
Vorſchein zu kommen. In 10000 Muſcheln iſt oft nicht eine
wertvolle Perle. Nach der Sage öffneten die Fiſcher auf der
Bank bei der Inſel Margarita die Muſcheln Stück für Stück;
auf Ceylon ſchüttet man die Tiere auf und läßt ſie faulen,
und um die Perlen zu gewinnen, welche nicht an den Schalen
hängen, wäſcht man die Haufen tieriſchen Gewebes aus, gerade
wie man in den Minen den Sand auswäſcht, der Gold- oder
Zinngeſchiebe oder Diamanten enthält.
Gegenwärtig bringt das ſpaniſche Amerika nur noch die
Perlen in den Handel, die aus dem Meerbuſen von Panama
und von der Mündung des Rio de la Hacha kommen. Auf
den Untiefen um Cubagua, Coche und Margarita iſt die
Fiſcherei aufgegeben, wie an der kaliforniſchen Küſte. 1 Man
glaubt in Cumana, die Perlenmuſchel habe ſich nach zwei-
hundertjähriger Ruhe wieder bedeutend vermehrt, 2 und man
fragt ſich, warum die Perlen, die man jetzt in Muſcheln findet,
die an den Fiſchnetzen hängen bleiben, 3 ſo klein ſind und ſo
wenig Glanz haben, während man bei der Ankunft der Spanier
ſehr ſchöne bei den Indianern fand, die doch ſchwerlich da-
nach tauchten. Dieſe Frage iſt deſto ſchwerer zu beantworten,
da wir nicht wiſſen, ob etwa Erdbeben die Beſchaffenheit des
Seebodens verändert haben, oder ob Richtungsänderungen in
[203] untermeeriſchen Strömen auf die Temperatur des Waſſers
oder auf die Häufigkeit gewiſſer Weichtiere, von denen ſich die
Muſcheln nähren, Einfluß geäußert haben.
Am 20. morgens führte uns der Sohn unſeres Wirtes,
ein ſehr kräftiger Indianer, über den Barigon und Caney
ins Dorf Maniquarez. Es waren vier Stunden Weges. Durch
das Rückprallen der Sonnenſtrahlen vom Sand ſtieg der
Thermometer auf 31,3°. Die Säulenkaktus, die am Wege
ſtehen, geben der Landſchaft einen grünen Schein, ohne Kühle
und Schatten zu bieten. Unſer Führer ſetzte ſich, ehe er 5 km
weit gegangen war, jeden Augenblick nieder. Im Schatten
eines ſchönen Tamarindenbaumes bei den Caſas de la Vela
wollte er ſich gar niederlegen, um den Anbruch der Nacht ab-
zuwarten. Ich hebe dieſen Charakterzug hervor, da er einem
überall entgegentritt, ſo oft man mit Indianern reiſt, und zu
den irrigſten Vorſtellungen von der Körperverfaſſung der ver-
ſchiedenen Menſchenraſſen Anlaß gegeben hat. Der kupfer-
farbige Eingeborene, der beſſer als der reiſende Europäer an
die glühende Hitze des Himmelsſtriches gewöhnt iſt, beklagt ſich
nur deshalb mehr darüber, weil ihn kein Reiz antreibt. Geld
iſt keine Lockung für ihn, und hat er ſich je einmal durch
Gewinnſucht verführen laſſen, ſo reut ihn ſein Entſchluß, ſo-
bald er auf dem Wege iſt. Derſelbe Indianer aber, der ſich
beklagt, wenn man ihm beim Botaniſieren eine Pflanzenbüchſe
zu tragen gibt, treibt einen Kahn gegen die raſcheſte Strömung
und rudert ſo 14 bis 15 Stunden in einem fort, weil er ſich
zu den Seinigen zurückſehnt. Will man die Muskelkraft der
Völker richtig ſchätzen lernen, muß man ſie unter Umſtänden
beobachten, wo ihre Handlungen durch einen gleich kräftigen
Willen beſtimmt werden.
Wir beſahen in der Nähe die Trümmer des Schloſſes
Santiago, das durch ſeine ausnehmend feſte Bauart merk-
würdig iſt. Die Mauern aus behauenen Steinen ſind 1,6 m
dick; man mußte ſie mit Minen ſprengen; man ſieht noch
Mauerſtücke von 70, 80 qm, die kaum einen Riß zeigen.
Unſer Führer zeigte uns eine Ziſterne (el aljibe), die 10 m
tief iſt und, obgleich ziemlich ſchadhaft, den Bewohnern der
Halbinſel Araya Waſſer liefert. Dieſe Ziſterne wurde im
Jahre 1681 vom Statthalter Don Juan Padilla Guardiola
vollendet, demſelben, der in Cumana das kleine Fort Santa
Maria gebaut hat. Da der Behälter mit einem Gewölbe im
Rundbogen geſchloſſen iſt, ſo bleibt das Waſſer darin friſch
[204] und ſehr gut. Konferven, die den Kohlenwaſſerſtoff zerſetzen
und zugleich Würmern und Inſekten zum Aufenthalt dienen,
bilden ſich nicht darin. Jahrhundertelang hatte man geglaubt,
die Halbinſel Araya habe gar keine Quellen ſüßen Waſſers,
aber im Jahre 1797 haben die Einwohner von Maniquarez
nach langem vergeblichen Suchen doch ſolches gefunden.
Als wir über die kahlen Hügel am Vorgebirge Cirial
gingen, ſpürten wir einen ſtarken Bergölgeruch. Der Wind
kam vom Orte her, wo die Bergölquellen liegen, deren ſchon
die erſten Beſchreibungen dieſer Länder erwähnen. — Das
Töpfergeſchirr von Maniquarez iſt ſeit unvordenklicher Zeit
berühmt, und dieſer Induſtriezweig iſt ganz in den Händen
der Indianerweiber. Es wird noch gerade ſo fabriziert wie
vor der Eroberung. Dieſes Verfahren iſt einerſeits eine Probe
vom Zuſtand der Künſte in ihrer Kindheit, und andererſeits
von der Starrheit der Sitten, die allen eingeborenen Völkern
Amerikas als ein Charakterzug eigen iſt. In 300 Jahren
konnte die Töpferſcheibe keinen Eingang auf einer Küſte finden,
die von Spanien nur 30 bis 40 Tagereiſen zur See entfernt
iſt. Die Eingeborenen haben eine dunkle Vorſtellung davon,
daß es ein ſolches Werkzeug gibt, und ſie würden ſich des-
ſelben bedienen, wenn man ihnen das Muſter in die Hand
gäbe. Die Thongruben ſind 2,75 km öſtlich von Maniquarez.
Dieſer Thon iſt das Zerſetzungsprodukt eines durch Eiſenoxyd
rot gefärbten Glimmerſchiefers. Die Indianerinnen nehmen
vorzugsweiſe ſolchen, der viel Glimmer enthält. Sie formen
mit großem Geſchick Gefäße von 60 cm bis 1 m Durchmeſſer
mit ſehr regelmäßiger Krümmung. Da ſie den Brennofen
nicht kennen, ſo ſchichten ſie Strauchwerk von Desmanthus,
Caſſia und baumartiger Capparis um die Töpfe und brennen
ſie in freier Luft. Weiter weſtwärts von der Thongrube liegt
die Schlucht der Mina (Bergwerk). Nicht lange nach der
Eroberung ſollen venezianiſche Goldſchürfer dort Gold aus
dem Glimmerſchiefer gewonnen haben. Dieſes Metall ſcheint
hier nicht auf Quarzgängen vorzukommen, ſondern im Geſtein
eingeſprengt zu ſein, wie zuweilen im Granit und Gneis.
Wir trafen in Maniquarez Kreolen, die von einer Jagd-
partie auf Cubagua kamen. Die Hirſche von der kleinen Art
ſind auf dieſem unbewohnten Eilande ſo häufig, daß man
täglich drei und vier ſchießen kann. Ich weiß nicht, wie die
Tiere hinübergekommen ſind; denn Laet und andere Chroniſten
des Landes, die von der Gründung von Neucadiz berichten,
[205] ſprechen nur von der Menge Kaninchen auf der Inſel. Der
Venado auf Cubagua gehört zu einer der vielen kleinen
amerikaniſchen Hirſcharten, die von den Zoologen lange unter
dem allgemeinen Namen Cervus Americanus zuſammenge-
geworfen wurden. Er ſcheint mir nicht identiſch mit der
Biche des Savanes von Guadeloupe oder dem Guazuti
in Paraguay, der auch in Rudeln lebt. Sein Fell iſt auf
dem Rücken rotbraun, am Bauche weiß; es iſt gefleckt, wie
beim Axis. In den Ebenen am Cari zeigte man uns, als
eine große Seltenheit in dieſen heißen Ländern, eine weiße
Spielart. Es war eine Hirſchkuh von der Größe des euro-
päiſchen Rehes und von äußerſt zierlicher Geſtalt. Albinos
kommen in der Neuen Welt ſogar unter den Tigern vor.
Azara ſah einen Jaguar, auf deſſen ganz weißem Fell man
nur hier und da gleichſam einen Schatten von den runden
Flecken ſah.
Für den merkwürdigſten, man kann ſagen für den wun-
derbarſten aller Naturkörper auf der Küſte von Araya gilt
beim Volke der Augenſtein, Piedra de los ojos. Dieſes
Gebilde aus Kalkerde iſt in aller Munde; nach der Volks-
phyſik iſt es ein Stein und ein Tier zugleich. Man findet
es im Sande, und da rührt es ſich nicht; nimmt man es aber
einzeln auf und legt es auf eine ebene Fläche, z. B. auf einen
Zinn- oder Fayence-Teller, ſo bewegt es ſich, ſobald man es
durch Zitronenſaft reizt. Steckt man es ins Auge, ſo dreht ſich
das angebliche Tier um ſich ſelbſt und ſchiebt jeden fremden
Körper heraus, der zufällig ins Auge geraten iſt. Auf der
neuen Saline und im Dorfe Maniquarez brachte man uns
ſolche Augenſteine zu Hunderten und die Eingeborenen machten
uns den Verſuch mit dem Zitronenſaft eifrig vor. Man wollte
uns Sand in die Augen bringen, damit wir uns ſelbſt von
der Wirkſamkeit des Mittels überzeugten. Wir ſahen als-
bald, daß dieſe Steine die dünnen, poröſen Deckel kleiner ein-
ſchaliger Muſcheln ſind. Sie haben 2 bis 8 mm Durchmeſſer;
die eine Fläche iſt eben, die andere gewölbt. Dieſe Kalkdeckel
brauſen mit Zitronenſaft auf und rücken von der Stelle, indem
ſich die Kohlenſäure entwickelt. Infolge ähnlicher Reaktion
bewegt ſich zuweilen das Brot im Backofen auf wagerechter
Fläche, was in Europa zum Volksglauben an bezauberte Oefen
Anlaß gegeben hat. Die Piedras de los ojos wirken, wenn
man ſie ins Auge ſchiebt, wie die kleinen Perlen und ver-
ſchiedene runde Samen, deren ſich die Wilden in Amerika
[206] bedienen, um den Thränenfluß zu ſteigern. Dieſe Erklärungen
waren aber gar nicht nach dem Geſchmack der Einwohner von
Araya. Die Natur erſcheint dem Menſchen deſto größer, je
geheimnisvoller ſie iſt, und die Volksphyſik weiſt alles von
ſich, was einfach iſt.
Oſtwärts von Maniquarez an der Südküſte liegen nahe
aneinander drei Landzungen, genannt Punta de Soto, Punta
de la Brea und Punta Guaratarito. In dieſer Gegend be-
ſteht der Meeresboden offenbar aus Glimmerſchiefer, und aus
dieſer Gebirgsart entſpringt bei Punta de la Brea, aber 26 m
vom Ufer, eine Naphthaquelle, deren Geruch ſich weit in
die Halbinſel hinein verbreitet. Man mußte bis zum halben
Leibe ins Waſſer gehen, um die intereſſante Erſcheinung in der
Nähe zu beobachten. Das Waſſer iſt mit Zostera bedeckt,
und mitten in einer ſehr großen Bank dieſes Gewächſes ſieht
man einen freien runden Fleck von 1 m Durchmeſſer, auf dem
einzelne Maſſen von Ulva lactuca ſchwimmen. Hier kommen
die Quellen zu Tage. Der Boden des Meerbuſens iſt mit
Sand bedeckt, und das Bergöl, das, durchſichtig und von gelber
Farbe, der eigentlichen Naphtha nahe kommt, ſprudelt ſtoß-
weiſe unter Entwickelung von Luftblaſen hervor. Stampft
man den Boden mit den Füßen feſt, ſo ſieht man die kleinen
Quellen wegrücken. Die Naphtha bedeckt das Meer über 320 m
weit. Nimmt man an, daß das Fallen der Schichten ſich
gleich bleibt, ſo muß der Glimmerſchiefer wenige Meter unter
dem Sande liegen.
Der Salzthon von Araya enthält feſtes, zerreibliches
Bergöl. Dieſes geologiſche Verhältnis zwiſchen ſalzſaurem
Natron und Erdpech kommt in allen Steinſalzgruben und bei
allen Salzquellen vor, aber als ein höchſt merkwürdiger Fall
erſcheint das Vorkommen einer Naphthaquelle in einer Urge-
birgsart. Alle bis jetzt bekannten gehören ſekundären Forma-
tionen an, und dieſer Umſtand ſchien für die Annahme zu
ſprechen, daß alles mineraliſche Harz Produkt der Zerſetzung
von Pflanzen und Tieren oder des Brandes der Steinkohlen
ſei. Auf der Halbinſel Araya aber fließt die Naphtha aus
dem Urgebirge ſelbſt, und dieſe Erſcheinung wird noch bedeu-
tender, wenn man bedenkt, daß in dieſem Urgebirge der Herd
des unterirdiſchen Feuers iſt, daß man am Rande brennender
Krater zuweilen Naphthageruch bemerkt, und daß die meiſten
heißen Quellen Amerikas aus Gneis und Glimmerſchiefer
hervorbrechen.
[207]
Nachdem wir uns in der Umgegend von Maniquarez
umgeſehen, beſtiegen wir ein Fiſcherboot, um nach Cumana
zurückzukehren. Nichts zeigt ſo deutlich, wie ruhig die See
in dieſen Strichen iſt, als die Kleinheit und der ſchlechte Zu-
ſtand dieſer Kähne, die ein ſehr hohes Segel führen. Der
Kahn, den wir ausgeſucht hatten, weil er noch am wenigſten
beſchädigt war, zeigte ſich ſo leck, daß der Sohn des Steuer-
mannes fortwährend mit einer Tutuma, der Frucht der Cres-
centia cujete, das Waſſer ausſchöpfen mußte. Es kommt
im Meerbuſen von Cariaco, beſonders nordwärts von der
Halbinſel Araya, nicht ſelten vor, daß die mit Kokosnüſſen
beladenen Piroguen umſchlagen, wenn ſie zu nahe am Winde
gerade gegen den Wellenſchlag ſteuern. Vor ſolchen Unfällen
fürchten ſich aber nur Reiſende, die nicht gut ſchwimmen
können; denn wird die Pirogue von einem indianiſchen Fiſcher
mit ſeinem Sohne geführt, ſo dreht der Vater den Kahn wieder
um und macht ſich daran, das Waſſer hinauszuſchaffen, während
der Sohn ſchwimmend die Kokosnüſſe zuſammenholt. In
weniger als einer Viertelſtunde iſt die Pirogue wieder unter
Segel, ohne daß der Indianer in ſeinem unerſchöpflichen
Gleichmut eine Klage hätte hören laſſen.
Die Einwohner von Araya, die wir auf der Rückkehr vom
Orinoko noch einmal beſuchten, haben nicht vergeſſen, daß ihre
Halbinſel einer der Punkte iſt, wo ſich am früheſten Kaſtilianer
niedergelaſſen. Sie ſprechen gern von der Perlenfiſcherei, von
den Ruinen des Schloſſes Santiago, das, wie ſie hoffen, einſt
wieder aufgebaut wird, überhaupt von dem, was ſie den ehe-
maligen Glanz des Landes nennen. In China und Japan
gilt alles, was man erſt ſeit 2000 Jahren kennt, für neue
Erfindung; in den europäiſchen Niederlaſſungen erſcheint ein
Ereignis, das 300 Jahre, bis zur Entdeckung von Amerika
hinaufreicht, als ungemein alt. Dieſer Mangel an alter Ueber-
lieferung, der den jungen Völkern in den Vereinigten Staaten
wie in den ſpaniſchen und portugieſiſchen Beſitzungen eigen
iſt, verdient alle Beachtung. Er hat nicht nur etwas Pein-
liches für den Reiſenden, der ſich dadurch um den höchſten
Genuß der Einbildungskraft gebracht ſieht, er äußert auch
ſeinen Einfluß auf die mehr oder minder ſtarken Bande, die
den Koloniſten an den Boden feſſeln, auf dem er wohnt, an
die Geſtalt der Felſen, die ſeine Hütte umgeben, an die Bäume,
in deren Schatten ſeine Wiege geſtanden.
Bei den Alten, z. B. bei Phöniziern und Griechen,
[208] gingen Ueberlieferungen und geſchichtliches Bewußtſein des
Volkes vom Mutterlande auf die Kolonieen über, erbten dort
von Geſchlecht zu Geſchlecht fort und äußerten fortwährend
den beſten Einfluß auf Geiſt, Sitten und Politik der An-
ſiedler. Das Klima in jenen erſten Niederlaſſungen über dem
Meere war vom Klima des Mutterlandes nicht ſehr verſchieden.
Die Griechen in Kleinaſien und auf Sizilien entfremdeten
ſich nicht den Einwohnern von Argos, Athen und Korinth,
von denen abzuſtammen ihr Stolz war. Große Ueberein-
ſtimmung in Sitte und Brauch that das Ihrige dazu, eine
Verbindung zu befeſtigen, die ſich auf religiöſe und politiſche
Intereſſen gründete. Häufig opferten die Kolonieen die Erſt-
linge ihrer Ernten in den Tempeln der Mutterſtädte, und
wenn durch einen unheilvollen Zufall das heilige Feuer auf
den Altären von Heſtia erloſchen war, ſo ſchickte man von
hinten in Jonien nach Griechenland und ließ es aus den
Prytaneen wieder holen. Ueberall, in Cyrenaica wie an den
Ufern des Sees Mäotis, erhielten ſich die alten Ueberliefe-
rungen des Mutterlandes. Andere Erinnerungen, die gleich
mächtig zur Einbildungskraft ſprechen, hafteten an den Ko-
lonieen ſelbſt. Sie hatten ihre heiligen Haine, ihre Schutz-
gottheiten, ihren lokalen Mythenkreis; ſie hatten, was den
Dichtungen der früheſten Zeitalter Leben und Dauer verleiht,
ihre Dichter, deren Ruhm ſelbſt über das Mutterland Glanz
verbreitete.
Dieſer und noch mancher andern Vorteile entbehren die
heutigen Anſiedelungen. Die meiſten wurden in einem Land-
ſtrich gegründet, wo Klima, Naturprodukte, der Anblick des
Himmels und der Landſchaft ganz anders ſind als in Europa.
Wenn auch der Anſiedler Bergen, Flüſſen, Thälern Namen
beilegt, die an vaterländiſche Landſchaften erinnern, dieſe Namen
verlieren bald ihren Reiz und ſagen den nachkommenden Ge-
ſchlechtern nichts mehr. In fremdartiger Naturumgebung er-
wachſen aus neuen Bedürfniſſen andere Sitten; die geſchicht-
lichen Erinnerungen verblaſſen allmählich, und die ſich erhalten,
knüpfen ſich fortan gleich Phantaſiegebilden weder an einen
beſtimmten Ort, noch an eine beſtimmte Zeit. Der Ruhm
Don Pelagios und des Cid Campeador iſt bis in die Ge-
birge und Wälder Amerikas gedrungen; dem Volke kommen je
zuweilen dieſe glorreichen Namen auf die Zunge, aber ſie
ſchweben ſeiner Seele vor wie Weſen aus einer idealen Welt,
aus dem Dämmer der Fabelzeit.
[209]
Der neue Himmel, das ganz veränderte Klima, die phy-
ſiſche Beſchaffenheit des Landes wirken weit ſtärker auf die
geſellſchaftlichen Zuſtände in den Kolonieen ein, als die gänz-
liche Trennung vom Mutterlande. Die Schiffahrt hat in
neuerer Zeit ſolche Fortſchritte gemacht, daß die Mündungen
des Orinoko und Rio de la Plata näher bei Spanien zu
liegen ſcheinen, als einſt der Phaſis und Tarteſſus von den
griechiſchen und phöniziſchen Küſten. Man kann auch die
Bemerkung machen, daß ſich in gleich weit von Europa ent-
fernten Ländern Sitten und Ueberlieferungen desſelben im
gemäßigten Erdſtrich und auf dem Rücken der Gebirge unter
dem Aequator mehr erhalten haben als in den Tiefländern
der heißen Zone. Die Aehnlichkeit der Naturumgebung trägt
in gewiſſem Grade dazu bei, innigere Beziehungen zwiſchen den
Koloniſten und dem Mutterlande aufrecht zu erhalten. Dieſer
Einfluß phyſiſcher Urſachen auf die Zuſtände jugendlicher ge-
ſellſchaftlicher Vereine tritt beſonders auffallend hervor, wenn
es ſich von Gliedern desſelben Volksſtammes handelt, die ſich
noch nicht lange getrennt haben. Durchreiſt man die Neue
Welt, ſo meint man überall da, wo das Klima den Anbau
des Getreides geſtattet, mehr Ueberlieferungen, einem leben-
digeren Andenken an das Mutterland zu begegnen. In dieſer
Beziehung kommen Pennſylvanien, Neumexiko und Chile mit
den hochgelegenen Plateaus von Quito und Neuſpanien über-
ein, die mit Eichen und Fichten bewachſen ſind.
Bei den Alten waren die Geſchichte, die religiöſen Vor-
ſtellungen und die phyſiſche Beſchaffenheit des Landes durch
unauflösliche Bande verknüpft. Um die Landſchaften und
die alten bürgerlichen Stürme des Mutterlandes zu vergeſſen,
hätte der Anſiedler auch dem von ſeinen Voreltern über-
lieferten Götterglauben entſagen müſſen. Bei den neueren
Völkern hat die Religion, ſo zu ſagen, keine Lokalfarbe mehr.
Das Chriſtentum hat den Kreis der Vorſtellungen erweitert,
es hat alle Völker darauf hingewieſen, daß ſie Glieder einer
Familie ſind, aber eben damit hat es das Nationalgefühl
geſchwächt; es hat in beiden Welten die uralten Ueber-
lieferungen des Morgenlandes verbreitet, neben denen, die
ihm eigentümlich angehören. Völker von ganz verſchiedener
Herkunft und völlig abweichender Mundart haben damit ge-
meinſchaftliche Erinnerungen erhalten, und wenn durch die
Miſſionen in einem großen Teil des neuen Feſtlandes die
Grundlagen der Kultur gelegt worden ſind, ſo haben eben
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 14
[210] damit die chriſtlichen kosmogoniſchen und religiöſen Vorſtel-
lungen ein merkbares Uebergewicht über die rein nationalen
Erinnerungen erhalten.
Noch mehr: die amerikaniſchen Kolonieen ſind faſt durch-
aus in Ländern angelegt, wo die dahingegangenen Geſchlechter
kaum eine Spur ihres Daſeins hinterlaſſen haben. Nord-
wärts vom Rio Gila, an den Ufern des Miſſouri, auf den
Ebenen, die ſich im Oſten der Anden ausbreiten, gehen die
Ueberlieferungen nicht über ein Jahrhundert hinauf. In
Peru, in Guatemala und in Mexiko ſind allerdings Trümmer
von Gebäuden, hiſtoriſche Malereien und Bildwerke Zeugen der
alten Kultur der Eingeborenen; aber in einer ganzen Provinz
findet man kaum ein paar Familien, die einen klaren Begriff von
der Geſchichte der Inka und der mexikaniſchen Fürſten haben.
Der Eingeborene hat ſeine Sprache, ſeine Tracht und ſeinen
Volkscharakter behalten; aber mit dem Aufhören des Gebrauches
der Quippu und der ſymboliſchen Malereien, durch die Ein-
führung des Chriſtentums und andere Umſtände, die ich
anderswo auseinandergeſetzt, ſind die geſchichtlichen und reli-
giöſen Ueberlieferungen allmählich untergegangen. Anderer-
ſeits ſieht der Anſiedler von europäiſcher Abkunft verächtlich
auf alles herab, was ſich auf die unterworfenen Völker be-
zieht. Er ſieht ſich in die Mitte geſtellt zwiſchen die frühere
Geſchichte des Mutterlandes und die ſeines Geburtslandes,
und die eine iſt ihm ſo gleichgültig wie die andere; in einem
Klima, wo bei dem geringen Unterſchied der Jahreszeiten der
Ablauf der Jahre faſt unmerklich wird, überläßt er ſich ganz
dem Genuſſe der Gegenwart und wirft ſelten einen Blick in
vergangene Zeiten.
Aber auch welch ein Abſtand zwiſchen der eintönigen
Geſchichte neuerer Niederlaſſungen und dem lebensvollen Bilde,
das Geſetzgebung, Sitten und politiſche Stürme der alten
Kolonieen darbieten! Ihre durch abweichende Regierungsformen
verſchieden gefärbte geiſtige Bildung machte nicht ſelten die
Eiferſucht der Mutterländer rege. Durch dieſen glücklichen
Wetteifer gelangten Kunſt und Litteratur in Jonien, Groß-
griechenland und Sizilien zur herrlichſten Entwickelung. Heut-
zutage dagegen haben die Kolonieen weder eine eigene Ge-
ſchichte noch eine eigene Litteratur. Die in der Neuen Welt
haben faſt nie mächtige Nachbarn gehabt, und die geſellſchaft-
lichen Zuſtände haben ſich immer nur allgemach umgewandelt.
Des politiſchen Lebens bar, haben dieſe Handels- und Acker-
[211] bauſtaaten an den großen Welthändeln immer nur paſſiven
Anteil genommen.
Die Geſchichte der neuen Kolonieen hat nur zwei merk-
würdige Ereigniſſe aufzuweiſen, ihre Gründung und ihre
Trennung vom Mutterlande. Das erſtere iſt reich an Er-
innerungen, die ſich weſentlich an die von den Koloniſten
bewohnten Länder knüpfen; aber ſtatt Bilder des friedlichen
Fortſchrittes des Gewerbfleißes und der Entwickelung der
Geſetzgebung in den Kolonieen vorzuführen, erzählt dieſe Ge-
ſchichte nur von verübtem Unrecht und von Gewaltthaten.
Welchen Reiz können jene außerordentlichen Zeiten haben,
wo die Spanier unter Karls V. Regierung mehr Mut als
ſittliche Kraft entwickelten, und die ritterliche Ehre, wie der
kriegeriſche Ruhm durch Fanatismus und Golddurſt befleckt
wurden? Die Koloniſten ſind von ſanfter Gemütsart, ſie
ſind durch ihre Lage den Nationalvorurteilen enthoben, und
ſo wiſſen ſie die Thaten bei der Eroberung nach ihrem wahren
Werte zu ſchätzen. Die Männer, die ſich damals ausge-
zeichnet, ſind Europäer, ſind Krieger des Mutterlandes. In
den Augen des Koloniſten ſind ſie Fremde, denn drei Jahr-
hunderte haben hingereicht, die Bande des Blutes aufzulöſen.
Unter den „Konquiſtadoren“ waren ſicher rechtſchaffene und
edle Männer, aber ſie verſchwinden in der Maſſe und konnten
der allgemeinen Verdammnis nicht entgehen.
Ich glaube hiermit die hauptſächlichſten Urſachen ange-
geben zu haben, aus denen in den heutigen Kolonieen die
Nationalerinnerungen ſich verlieren, ohne daß andere, auf
das nunmehr bewohnte Land ſich beziehende würdig an ihre
Stelle träten. Dieſer Umſtand, wir können es nicht genug
wiederholen, äußert einen bedeutenden Einfluß auf die ganze
Lage der Anſiedler. In der ſtürmevollen Zeit einer ſtaat-
lichen Wiedergeburt ſehen ſie ſich auf ſich ſelbſt geſtellt, und
es ergeht ihnen wie einem Volke, das es verſchmähte, ſeine
Geſchichtsbücher zu befragen und aus den Unfällen vergan-
gener Jahrhunderte Lehren der Weisheit zu ſchöpfen.
[[212]]
Sechſtes Kapitel.
Die Berge von Neuandaluſien. — Das Thal von Cumanacoa. —
Der Gipfel des Cocollar. — Miſſionen der Chaymasindianer.
Unſerem erſten Ausflug auf die Halbinſel Araya folgte
bald ein zweiter längerer und lehrreicherer ins Innere des
Gebirges zu den Miſſionen der Chaymasindianer. Gegen-
ſtände von mannigfaltiger Anziehungskraft ſollten uns dort
in Anſpruch nehmen. Wir betraten jetzt ein mit Wäldern
bedecktes Land; wir ſollten ein Kloſter beſuchen, das im
Schatten von Palmen und Baumfarnen in einem engen Thale
liegt, wo man, mitten im heißen Erdſtrich, köſtlicher Kühle
genießt. In den benachbarten Bergen gibt es dort Höhlen,
welche von Tauſenden von Nachtvögeln bewohnt ſind, und
was noch lebendiger zur Einbildungskraft ſpricht als alle
Wunder der phyſiſchen Welt, jenſeits dieſer Berge lebt ein vor
kurzem noch nomadiſches Volk, kaum aus dem Naturzuſtand
getreten, wild, jedoch nicht barbariſch, geiſtesbeſchränkt, nicht
weil es lange verſunken war, ſondern weil es eben nichts
weiß. Zu dieſen ſo mächtig anziehenden Gegenſtänden kamen
noch geſchichtliche Erinnerungen. Am Vorgebirge Paria ſah
Kolumbus zuerſt das Feſtland; hier laufen die Thäler aus,
die bald von den kriegeriſchen, menſchenfreſſenden Kariben,
bald von den civiliſierten Handelsvölkern Europas verwüſtet
wurden. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts wurden die un-
glücklichen Einwohner auf den Küſten von Carupano, Maca-
rapan und Caracas behandelt, wie zu unſerer Zeit die Ein-
wohner der Küſte von Guinea. Bereits wurden die Antillen
angebaut und man führte dort die Gewächſe der Alten Welt
ein; aber in Terra Firma kam es lange zu keiner ordentlichen
und planmäßigen Niederlaſſung. Die Spanier beſuchten die
Küſte nur, um ſich mit Gewalt oder im Tauſchhandel Sklaven,
[213] Perlen, Goldkörner und Farbholz zu verſchaffen. Durch
den Schein gewaltigen Religionseifers meinte man dieſe
unerſättliche Habſucht in eine höhere Sphäre zu heben.
So hat jedes Jahrhundert ſeine eigene geiſtige und ſitt-
liche Farbe.
Der Handel mit den kupferfarbigen Eingeborenen führte
zu denſelben Unmenſchlichkeiten wie der Negerhandel; er hatte
auch dieſelben Folgen, Sieger und Unterworfene verwilderten
dadurch. Von Stunde an wurden die Kriege unter den Ein-
geborenen häufiger; die Gefangenen wurden aus dem inneren
Lande an die Küſte geſchleppt und an die Weißen verkauft,
die ſie auf ihren Schiffen feſſelten. Und doch waren die
Spanier damals und noch lange nachher eines der civiliſier-
teſten Völker Europas. Ein Abglanz der Herrlichkeit in der
in Italien Kunſt und Litteratur blühten, hatte ſich über alle
Völker verbreitet, deren Sprache dieſelbe Quelle hat wie die
Sprache Dantes und Petrarcas. Man ſollte glauben, in
dieſer mächtigen geiſtigen Entwickelung, bei ſolch erhabenem
Schwung der Einbildungskraft hätten ſich die Sitten ſänftigen
müſſen. Aber jenſeits der Meere, überall, wo der Golddurſt
zum Mißbrauch der Gewalt führt, haben die europäiſchen
Völker in allen Abſchnitten der Geſchichte denſelben Charakter
entwickelt. Das herrliche Jahrhundert Leos X. trat in der
Neuen Welt mit einer Grauſamkeit auf, wie man ſie nur
den finſterſten Jahrhunderten zutrauen ſollte. Man wundert
ſich aber nicht ſo ſehr über das entſetzliche Bild der Eroberung
von Amerika, wenn man daran denkt, was trotz der Seg-
nungen, einer menſchlicheren Geſetzgebung noch jetzt auf den
Weſtküſten von Afrika vorgeht.
Der Sklavenhandel hatte dank den von Karl V. zur
Geltung gebrachten Grundſätzen auf Terra Firma längſt auf-
gehört; aber die Konquiſtadoren ſetzten ihre Streifzüge ins
Land fort, und damit den kleinen Krieg, der die amerikaniſche
Bevölkerung herabbrachte, dem Nationalhaß immer friſche
Nahrung gab, auf lange Zeit die Keime der Kultur erſtickte.
Endlich ließen Miſſionäre unter dem Schutze des weltlichen
Armes Worte des Friedens hören. Es war Pflicht der Re-
ligion, daß ſie der Menſchheit einigen Troſt brachte für die
Greuel, die in ihrem Namen verübt worden; ſie führte für
die Eingeborenen das Wort vor dem Richterſtuhle der Könige,
ſie widerſetzte ſich den Gewaltthätigkeiten der Pfründenin-
haber, ſie vereinigte umherziehende Stämme zu den kleinen
[214] Gemeinden, die man Miſſionen nennt und die der Ent-
wickelung des Ackerbaues Vorſchub leiſten. So haben ſich all-
mählich, aber in gleichförmiger, planmäßiger Entwickelung jene
großen mönchiſchen Niederlaſſungen gebildet, jenes merkwürdige
Regiment, das immer darauf hinausgeht, ſich abzuſchließen,
und Länder, die vier- und fünfmal größer ſind als Frankreich,
den Mönchsorden unterwirft.
Einrichtungen, die trefflich dazu dienten, dem Blutver-
gießen Einhalt zu thun und den erſten Grund zur geſellſchaft-
lichen Entwickelung zu legen, ſind in der Folge dem Fortſchritt
derſelben hinderlich geworden. Die Abſchließung hatte zur
Folge, daß die Indianer ſo ziemlich blieben, was ſie waren,
als ihre zerſtreuten Hütten noch nicht um das Haus des Miſ-
ſionärs beiſammen lagen. Ihre Zahl hat anſehnlich zuge-
nommen, keineswegs aber ihr geiſtiger Geſichtskreis.
Sie haben mehr und mehr von der Charakterſtärke und
der natürlichen Lebendigkeit eingebüßt, die auf allen Stufen
menſchlicher Entwickelung die edlen Früchte der Unabhängigkeit
ſind. Man hat alles bei ihnen, ſogar die unbedeutendſten
Verrichtungen des häuslichen Lebens, der unabänderlichen
Regel unterworfen, und ſo hat man ſie gehorſam gemacht,
zugleich aber auch dumm. Ihr Lebensunterhalt iſt meiſt ge-
ſicherter, ihre Sitten ſind milder geworden; aber der Zwang
und das trübſelige Einerlei des Miſſionsregimentes laſtet auf
ihnen und ihr düſteres, verſchloſſenes Weſen verrät, wie un-
gern ſie die Freiheit der Ruhe zum Opfer gebracht haben.
Die Mönchszucht innerhalb der Kloſtermauern entzieht zwar
dem Staate nützliche Bürger, indeſſen mag ſie immerhin hier
und da Leidenſchaften zur Ruhe bringen, große Schmerzen
lindern, der geiſtigen Vertiefung förderlich ſein; aber in die
Wildniſſe der Neuen Welt verpflanzt, auf alle Beziehungen
des bürgerlichen Lebens angewendet, muß ſie deſto verderblicher
wirken, je länger ſie andauert. Sie hält von Geſchlecht zu
Geſchlecht die geiſtige Entwickelung nieder, ſie hemmt den Ver-
kehr unter den Völkern, ſie weiſt alles ab, was die Seele
erhebt und den Vorſtellungskreis erweitert. Aus allen dieſen
Urſachen zuſammen verharren die Indianer in den Miſſionen
in einem Zuſtande von Unkultur, der Stillſtand heißen müßte,
wenn nicht auch die menſchlichen Vereine denſelben Geſetzen
gehorchten, wie die Entwickelung des menſchlichen Geiſtes
überhaupt, wenn ſie nicht Rückſchritte machten, eben weil ſie
nicht fortſchreiten.
[215]
Am 4. September um 5 Uhr morgens brachen wir zu
unſerem Ausflug zu den Chaymasindianern und in die hohe
Gebirgsgruppe von Neuandaluſien auf. Man hatte uns
geraten, wegen der ſehr beſchwerlichen Wege unſer Gepäck
möglichſt zu beſchränken. Zwei Laſttiere reichten auch hin,
unſeren Mundvorrat, unſere Inſtrumente und das nötige Papier
zum Pflanzentrocknen zu tragen. In derſelben Kiſte waren
ein Sextant, ein Inklinationskompaß, ein Apparat zur Er-
mittelung der magnetiſchen Deklination, Thermometer und
ein Sauſſureſcher Hygrometer. Auf dieſe Inſtrumente be-
ſchränkten wir uns bei kleineren Ausflügen immer. Mit dem
Barometer mußte noch vorſichtiger umgegangen werden als
mit dem Chronometer, und ich bemerke hier, daß kein In-
ſtrument dem Reiſenden mehr Laſt und Sorge macht. Wir
ließen ihn in den fünf Jahren von einem Führer tragen, der
uns zu Fuß begleitete, aber ſelbſt dieſe ziemlich koſtſpielige
Vorſicht ſchützte ihn nicht immer vor Beſchädigung. Nachdem
wir die Zeiten von Ebbe und Flut im Luftmeere genau
beobachtet, das heißt die Stunden, zu denen der Barometer
unter den Tropen täglich regelmäßig ſteigt und fällt, ſahen
wir ein, daß wir das Relief des Landes mittels des Baro-
meters würden aufnehmen können, ohne korreſpondierende
Beobachtungen in Cumana zu Hilfe zu nehmen. Die größten
Schwankungen im Luftdruck betragen in dieſem Klima an der
Küſte nur 2 bis 2,6 mm, und hat man ein einziges Mal,
an welchem Orte und zu welcher Stunde es ſei, die Queck-
ſilberhöhe beobachtet, ſo laſſen ſich mit ziemlicher Wahrſchein-
keit die Abweichungen von dieſem Stande das ganze Jahr
hindurch und zu allen Stunden des Tages und der Nacht
angeben. Es ergibt ſich daraus, das im heißen Erdſtrich
durch den Mangel an korreſpondierenden Beobachtungen nicht
leicht Fehler entſtehen können, die mehr als 24 bis 30 m
ausmachen, was wenig zu bedeuten hat, wenn es ſich von
geologiſchen Aufnahmen, oder vom Einfluß der Höhe auf
das Klima und die Verteilung der Gewächſe handelt.
Der Morgen war köſtlich kühl. Der Weg oder vielmehr
der Fußpfad nach Cumanacoa führt am rechten Ufer des
Manzanares hin über das Kapuzinerhoſpiz, das in einem
kleinen Gehölze von Gayacbäumen und baumartigen Capparis
liegt. Nachdem wir von Cumana aufgebrochen, hatten wir
auf dem Hügel von San Francisco in der kurzen Morgen-
dämmerung eine weite Ausſicht über die See, über die mit
[216] goldgelb blühender Bava 1 bedeckte Ebene und die Berge des
Brigantin. Es fiel uns auf, wie nahe uns die Kordillere
gerückt ſchien, bevor die Scheibe der aufgehenden Sonne den
Horizont erreicht hatte. Das Blau der Berggipfel iſt dunkler,
ihre Umriſſe erſcheinen ſchärfer, ihre Maſſen treten deutlicher
hervor, ſolange nicht die Durchſichtigkeit der Luft durch die
Dünſte beeinträchtigt wird, die nachts in den Thälern lagern
und im Maße, als die Luft ſich zu erwärmen beginnt, in
die Höhe ſteigen.
Beim Hoſpiz Divina Paſtora wendet ſich der Weg nach
Nordoſt und läuft 9 km über einen baumloſen Landſtrich,
der früher Seeboden war. Man findet hier nicht nur Kaktus,
Büſche des ciſtusblätterigen Tribulus und die ſchöne purpur-
farbige Euphorbie, die in Havana unter dem ſeltſamen Namen
Dictamno real gezogen wird, ſondern auch Avicennia,
Allionia, Peruvium, Thalinum und die meiſten Portulaceen,
die am Golf von Cariaco vorkommen. Dieſe geographiſche
Verteilung der Gewächſe weiſt, wie es ſcheint, auf den Umriß
der alten Küſte hin und ſpricht dafür, daß, wie oben bemerkt
worden, die Hügel, an deren Südabhang wir hinzogen, einſt
eine durch einen Meeresarm vom Feſtlande getrennte Inſel
bildeten.
Nach zwei Stunden Weges gelangten wir an den Fuß der
hohen Bergkette im Inneren, die vom Brigantin bis zum
Cerro de San Lorenzo von Oſt nach Weſt ſtreicht. Hier be-
ginnen neue Gebirgsarten und damit ein anderer Habitus
des Pflanzenwuchſes. Alles erhält einen großartigeren, male-
riſcheren Charakter. Der quellenreiche Boden iſt nach allen
Richtungen von Waſſerfäden durchzogen. Bäume von rieſiger
Höhe, mit Schlinggewächſen bedeckt, ſteigen aus den Schluchten
empor; ihre ſchwarze, von der Sonnenglut und vom Sauer-
ſtoff der Luft verbrannte Rinde ſticht ab vom friſchen Grün
der Pothos und der Dracontien, deren lederartige glänzende
Blätter nicht ſelten mehrere Fuß lang ſind. Es iſt nicht
anders, als ob unter den Tropen die paraſitiſchen Mono-
kotyledonen die Stelle des Mooſes und der Flechten unſerer
nördlichen Landſtriche verträten. Je weiter wir kamen, deſto
mehr erinnerten uns die Geſteinsmaſſen ſowohl nach Geſtalt
als Gruppierung an Schweizer und Tiroler Landſchaften.
In dieſen amerikaniſchen Alpen wachſen noch in bedeutenden
[217] Höhen Helikonien, Coſtus, Maranta und andere Pflanzen
aus der Familie der Cannaarten, die in der Nähe der Küſte
nur niedrige, feuchte Orte aufſuchen. So kommt es, daß
die heiße Erdzone und das nördliche Europa die intereſſante
Eigentümlichkeit gemein haben, daß in einer beſtändig mit
Waſſerdampf erfüllten Luft, wie auf einem vom ſchmelzenden
Schnee durchfeuchteten Boden die Vegetation in den Gebirgen
ganz den Charakter einer Sumpfvegetation zeigt.
Wir kamen in der Schlucht Los Frailes und zwiſchen
Cueſta de Caneyes und dem Rio Guriental an Hütten vorbei,
die von Meſtizen bewohnt ſind. Jede Hütte liegt mitten in
einem Gehege, das Bananenbäume, Melonenbäume, Zucker-
rohr und Mais einfriedigt. Man müßte ſich wundern, wie
klein dieſe Flecke urbar gemachten Landes ſind, wenn man
nicht bedächte, daß ein mit Piſang angepflanzter Morgen
Landes gegen zwanzigmal mehr Nahrungsſtoff liefert, als die
gleiche mit Getreide beſtellte Fläche. In Europa bedecken
unſere nahrhaften Grasarten, Weizen, Gerſte, Roggen, weite
Landſtrecken; überall, wo die Völker ſich von Cerealien nähren,
ſtoßen die bebauten Grundſtücke notwendig aneinander. Anders
in der heißen Zone, wo der Menſch ſich Gewächſe aneignen
konnte, die ihm weit reichere und frühere Ernten liefern. In
dieſen geſegneten Landſtrichen entſpricht die unermeßliche
Fruchtbarkeit des Bodens der Gluthitze und der Feuchtigkeit
der Luft. Ein kleines Stück Boden, auf dem Bananenbäume,
Manioc, Yams, und Mais ſtehen, ernährt reichlich eine zahl-
reiche Bevölkerung. Daß die Hütten einſam im Walde zer-
ſtreut liegen, wird für den Reiſenden ein Merkmal der Ueber-
fülle der Natur; oft reicht ein ganz kleiner Fleck urbaren
Landes für den Bedarf mehrerer Familien hin.
Dieſe Betrachtungen über den Ackerbau in heißen Land-
ſtrichen erinnern von ſelbſt daran, welch inniger Verband
zwiſchen dem Umfang des urbar gemachten Landes und dem
geſellſchaftlichen Fortſchritt beſteht. So groß die Fülle der
Lebensmittel iſt, die dieſer Reichtum des Bodens, die ſtrotzende
Kraft der organiſchen Natur hervorbringt, dennoch wird die
Kulturentwickelung der Völker dadurch niedergehalten. In einem
milden, gleichförmigen Klima kennt der Menſch kein anderes
dringendes Bedürfnis als das der Nahrung. Nur wenn dieſes
Bedürfnis ſich geltend macht, fühlt er ſich zur Arbeit getrieben,
und man ſieht leicht ein, warum ſich im Schoße des Ueber-
fluſſes, im Schatten von Bananen- und Brotfruchtbäumen,
[218] die Geiſtesfähigkeiten nicht ſo raſch entwickeln als unter einem
ſtrengen Himmel, in der Region der Getreidearten, wo unſer
Geſchlecht in ewigem Kampfe mit den Elementen liegt. Wirft
man einen Blick auf die von ackerbautreibenden Völkern be-
wohnten Länder, ſo ſieht man, daß die bebauten Grundſtücke
durch Wald voneinander getrennt bleiben oder unmittelbar
aneinander ſtoßen, und daß ſolches nicht nur von der Höhe
der Bevölkerung, ſondern auch von der Wahl der Nahrungs-
gewächſe bedingt wird. In Europa ſchätzen wir die Zahl der
Einwohner nach der Ausdehnung des urbaren Landes; unter
den Tropen dagegen, im heißeſten und feuchteſten Striche von
Südamerika, ſcheinen ſehr ſtark bevölkerte Provinzen beinahe
wüſte zu liegen, weil der Menſch zu ſeinem Lebensunterhalt
nur wenige Morgen bebaut.
Dieſe Umſtände, die alle Aufmerkſamkeit verdienen, geben
ſowohl der phyſiſchen Geſtaltung des Landes als dem Charakter
der Bewohner ein eigenes Gepräge; beide erhalten dadurch in
ihrem ganzen Weſen etwas Wildes, Rohes, wie es zu einer
Natur paßt, deren urſprüngliche Phyſiognomie durch die Kunſt
noch nicht verwiſcht iſt. Ohne Nachbarn, faſt ohne allen Ver-
kehr mit Menſchen, erſcheint jede Anſiedlerfamilie wie ein
vereinzelter Volksſtamm. Dieſe Vereinzelung hemmt den Fort-
ſchritt der Kultur, die ſich nur in dem Maße entwickeln kann,
als der Menſchenverein zahlreicher wird und die Bande zwiſchen
den einzelnen ſich feſter knüpfen und vervielfältigen; die Ein-
ſamkeit entwickelt aber auch und ſtärkt im Menſchen das Ge-
fühl der Unabhängigkeit und Freiheit; ſie nährt jenen Stolz,
der von jeher die Völker von kaſtilianiſchem Blute ausge-
zeichnet hat.
Dieſelben Urſachen, deren mächtiger Einfluß uns weiter-
hin noch oft beſchäftigen wird, haben zur Folge, daß dem
Boden, ſelbſt in den am ſtärkſten bevölkerten Ländern des
tropiſchen Amerika, der Anſtrich von Wildheit erhalten bleibt,
der in gemäßigten Klimaten ſich durch den Getreidebau ver-
liert. Unter den Tropen nehmen die ackerbauenden Völker
weniger Raum ein; die Herrſchaft des Menſchen reicht nicht
ſo weit; er tritt nicht als unumſchränkter Gebieter auf, der
die Bodenoberfläche nach Gefallen modelt, ſondern wie ein
flüchtiger Gaſt, der in Ruhe des Segens der Natur genießt.
In der Umgegend der volkreichſten Städte ſtarrt der Boden
noch immer von Wäldern oder iſt mit einem dichten Pflanzen-
filz überzogen, den niemals eine Pflugſchar zerriſſen hat. Die
[219] wildwachſenden Pflanzen beherrſchen noch durch ihre Maſſe
die angebauten Gewächſe und beſtimmen allein den Charakter
der Landſchaft. Allem Vermuten nach wird dieſer Zuſtand
nur äußerſt langſam einem anderen Platz machen. Wenn in
unſeren gemäßigten Landſtrichen es beſonders der Getreidebau
iſt, der dem urbaren Lande einen ſo trübſelig eintönigen An-
ſtrich gibt, ſo erhält ſich, aller Wahrſcheinlichkeit nach, in der
heißen Zone ſelbſt bei zunehmender Bevölkerung die Groß-
artigkeit der Pflanzengeſtalten, das Gepräge einer jungfräu-
lichen, ungezähmten Natur, wodurch dieſe ſo unendlich an-
ziehend und maleriſch wird. So werden denn, infolge einer
merkwürdigen Verknüpfung phyſiſcher und moraliſcher Urſachen,
durch Wahl und Ertrag der Nahrungsgewächſe drei wichtige
Momente vorzugsweiſe beſtimmt: das geſellige Beiſammenleben
der Familien oder ihre Vereinzelung, der raſchere oder lang-
ſamere Fortſchritt der Kultur, und die Phyſiognomie der
Landſchaft.
Je tiefer wir in den Wald hineinkamen, deſto mehr zeigte
uns der Barometer, daß der Boden mehr und mehr anſtieg.
Die Baumſtämme boten uns hier einen ganz eigenen Anblick;
eine Grasart mit quirlförmigen Zweigen klettert, gleich einer
Liane, 2,6 bis 3,25 m hoch und bildet über dem Wege Ge-
winde, die ſich im Luftzuge ſchaukeln. Gegen 3 Uhr nach-
mittags hielten wir auf einer kleinen Hochebene an, Quetepe
genannt, die etwa 370 m über dem Meere liegt. Es ſtehen
hier einige Hütten an einer Quelle, deren Waſſer bei den
Eingeborenen als ſehr kühl und geſund berühmt iſt. Wir
fanden das Waſſer wirklich ausgezeichnet; es zeigte 22,5° der
hundertteiligen Skale, während der Thermometer an der Luft
auf 28,7° ſtand. Die Quellen, die von benachbarten höheren
Bergen herabkommen, geben häufig eine zu raſche Abnahme
der Luftwärme an. Nimmt man als mittlere Temperatur des
Waſſers an der Küſte von Cumana 26° an, ſo folgt daraus,
wenn nicht andere lokale Urſachen auf die Temperatur der
Quellen Einfluß äußern, daß die Quelle von Quetepe ſich
erſt in mehr als 680 m abſoluter Höhe ſo bedeutend abkühlt.
Da hier von Quellen die Rede iſt, die in der heißen Zone
in der Ebene oder in unbedeutender Höhe zu Tage kommen,
ſo ſei bemerkt, daß nur in Ländern, wo die mittlere Sommer-
temperatur von der durchſchnittlichen des ganzen Jahres be-
deutend abweicht, die Einwohner in der heißeſten Jahreszeit
ſehr kaltes Quellwaſſer trinken können. Die Lappen bei Umeo
[220] und Sörſele, unter dem 65. Breitegrad, erfriſchen ſich an
Quellen, deren Temperatur im Auguſt kaum 2 bis 3° über
dem Frierpunkt ſteht, während bei Tage die Luftwärme im
Schatten auf 26 oder 27° ſteigt. In unſeren gemäßigten
Landſtrichen, in Frankreich und Deutſchland, iſt der Abſtand
zwiſchen der Luft und den Quellen niemals über 16 bis 17°,
und unter den Tropen ſteigt er ſelten auf 6 bis 7°. Man
gibt ſich leicht Rechenſchaft von dieſen Erſcheinungen, wenn
man weiß, daß die Temperatur in der Tiefe des Bodens
und die der unterirdiſchen Quellen faſt ganz übereinkommt
mit der mittleren Jahrestemperatur der Luft, und daß dieſe
von der mittleren Sommerwärme deſto mehr abweicht, je
mehr man ſich vom Aequator entfernt. — Die magnetiſche
Inklination war in Quetepe 40,7° der hundertteiligen Skale,
der Cyanometer gab das Blau des Himmels im Zenith nur
zu 14° an, ohne Zweifel weil die Regenzeit ſeit mehreren
Tagen begonnen und die Luft bereits Waſſerdunſt aufge-
nommen hatte.
Auf einem Sandſteinhügel über der Quelle hatten wir
eine prachtvolle Ausſicht auf das Meer, das Vorgebirge Ma-
canao und die Halbinſel Maniquarez. Ein ungeheurer Wald
breitete ſich zu unſeren Füßen bis zum Ozean hinab; die
Baumwipfel mit Lianen behangen, mit langen Blütenbüſcheln
gekrönt, bildeten einen ungeheuren grünen Teppich, deſſen
tiefdunkle Färbung das Licht in der Luft noch glänzender
erſcheinen ließ. Dieſer Anblick ergriff uns um ſo mehr, da
uns hier zum erſtenmal die Vegetation der Tropen in ihrer
Maſſenhaftigkeit entgegentrat. Auf dem Hügel von Quetepe,
unter den Stämmen von Malpighia corolloboefolia mit ſtark
lederartigen Blättern, in Gebüſchen von Polygala montana,
brachen wir die erſten Melaſtomen, namentlich die ſchöne Art,
die unter dem Namen Melastoma rufescens beſchrieben wor-
den. Dieſer Ausſichtspunkt wird uns lange im Gedächtnis
bleiben; der Reiſende behält die Orte lieb, wo er zuerſt ein
Pflanzengeſchlecht angetroffen, das er bis dahin nie wild
wachſend geſehen.
Weiter gegen Südweſt wird der Boden dürr und ſandig;
wir erſtiegen eine ziemlich hohe Berggruppe, welche die Küſte
von den großen Ebenen oder Savannen an den Ufern des
Orinoko trennt. Der Teil dieſer Berggruppe, durch den der
Weg nach Cumanacoa läuft, iſt pflanzenlos und fällt gegen
Nord und Süd ſteil ab. Er führt den Namen Impoſible,
[221] weil man meint, bei einer feindlichen Landung würden die
Einwohner von Cumana auf dieſem Gebirgskamm eine Zu-
fluchtsſtätte finden. Wir kamen kurz vor Sonnenuntergang
auf dem Gipfel an, und ich konnte eben noch ein paar Stun-
denwinkel aufnehmen, um mittels des Chronometers die Länge
des Ortes zu beſtimmen.
Die Ausſicht auf dem Impoſible iſt noch ſchöner und
weiter als auf der Ebene Quetepe. Deutlich konnten wir
mit bloßem Auge den abgeſtutzten Gipfel des Brigantin, deſſen
geographiſche Lage genau zu kennen ſo wichtig wäre, den
Landungsplatz und die Reede von Cumana ſehen. Die Felſen-
küſte von Araya lag nach ihrer ganzen Länge vor uns. Be-
ſonders fiel uns die merkwürdige Bildung eines Hafens auf,
den man Laguna grande oder Laguna del Obispo
nennt. Ein weites, von hohen Bergen umgebenes Becken
ſteht durch einen ſchmalen Kanal, durch den nur ein Schiff
fahren kann, mit dem Meerbuſen von Cariaco in Verbindung.
In dieſem Hafen, den Fidalgo genau aufgenommen hat,
könnten mehrere Geſchwader nebeneinander ankern. Es iſt
ein völlig einſamer Ort, den nur einmal im Jahre die Fahr-
zeuge beſuchen, welche Maultiere nach den Antillen bringen.
Hinten in der Bucht liegen einige Weiden. Unſer Blick ver-
folgte die Windungen des Meeresarmes, der ſich wie ein Fluß
durch ſenkrechte kahle Felſen ſein Bett gegraben hat. Dieſer
merkwürdige Anblick erinnert an die phantaſtiſche Landſchaft,
die Leonardo da Vinci auf dem Hintergrunde ſeines berühmten
Bildniſſes der Joconda 1 angebracht hat.
Wir konnten mit dem Chronometer den Moment beob-
achten, in dem die Sonnenſcheibe den Meereshorizont berührte.
Die erſte Berührung fand ſtatt um 6 Uhr 8 Minuten 13 Sekun-
den, die zweite um 6 Uhr 10 Min. 26 Sek. mittlere Zeit.
Dieſe Beobachtung, die für die Theorie der irdiſchen Strahlen-
brechung nicht ohne Belang iſt, wurde auf dem Gipfel des
Berges in 577 m abſoluter Höhe angeſtellt. Mit dem Unter-
gang der Sonne trat eine ſehr raſche Abkühlung der Luft ein.
Drei Minuten nach der letzten ſcheinbaren Berührung der
Scheibe mit dem Meereshorizont fiel der Thermometer plötz-
lich von 25,2° auf 21,3°. Wurde dieſe auffallende Abkühlung
etwa durch einen aufſteigenden Strom bewirkt? Die Luft
war indeſſen ruhig und kein wagerechter Luftzug zu bemerken.
[222]
Die Nacht brachten wir in einem Hauſe zu, wo ein
Militärpoſten von acht Mann unter einem ſpaniſchen Unter-
offizier liegt. Es iſt ein Hoſpiz, das neben einem Pulver-
magazin liegt und wo der Reiſende alle Bequemlichkeit findet.
Dasſelbe Kommando bleibt 5 bis 6 Monate lang auf dem
Berge. Man nimmt dazu vorzugsweiſe Soldaten, die Chacras
oder Pflanzungen in der Gegend haben. Als nach der Ein-
nahme der Inſel Trinidad durch die Engländer im Jahre 1797
der Stadt Cumana ein Angriff drohte, flüchteten ſich viele
Einwohner nach Cumanacoa und brachten ihre wertvollſte
Habe in Schuppen unter, die man in der Eile auf dem Gipfel
des Impoſible aufgeſchlagen. Man war entſchloſſen, bei einem
plötzlichen feindlichen Ueberfall nach kurzem Widerſtand das
Schloß San Antonio aufzugeben und die ganze Kriegsmacht
der Provinz um den Berg zuſammenzuziehen, der als der
Schlüſſel der Llanos anzuſehen iſt. Die kriegeriſchen Ereig-
niſſe, deren Schauplatz nach der ſeitdem eingetretenen poli-
tiſchen Umwälzung dieſe Gegend wurde, haben bewieſen, wie
richtig jener erſte Plan berechnet war.
Der Gipfel des Impoſible iſt, ſo weit meine Beobachtung
reicht, mit einem quarzigen, verſteinerungsloſen Sandſtein
bedeckt. Die Schichten desſelben ſtreichen hier wie auf dem
Rücken der benachbarten Berge ziemlich regelmäßig von Nord-
Nord-Oſt nach Süd-Süd-Weſt. Dieſe Richtung iſt auch im
Urgebirge der Halbinſel Araya und längs der Küſte von
Venezuela die häufigſte. Am nördlichen Abhang des Impo-
ſible, bei Peñas Negras, kommt aus dem Sandſtein, der mit
Schieferthon wechſellagert, eine ſtarke Quelle zu Tage. Man
ſieht an dieſem Punkte von Nordweſt nach Südoſt ſtreichende,
zerbrochene, faſt ſenkrecht aufgerichtete Schichten.
Die Llaneros, das heißt die Bewohner der Ebenen, ſchicken
ihre Produkte, namentlich Mais, Leder und Vieh über den
Impoſible in den Hafen von Cumana. Wir ſahen raſch hinter-
einander Indianer oder Mulatten mit Maultieren ankommen.
Der einſame Ort erinnerte mich lebhaft an die Nächte, die
ich oben auf dem St. Gotthard zugebracht. Es brannte an
mehreren Stellen in den weiten Waldungen um den Berg.
Die rötlichen, halb in ungeheure Rauchwolken gehüllten Flam-
men gewährten das großartigſte Schauſpiel. Die Einwohner
zünden die Wälder an, um die Weiden zu verbeſſern und das
Unterholz zu vertilgen, unter dem das Gras erſtickt, das hier-
zulande ſchon ſelten genug iſt. Häufig entſtehen auch un-
[223] geheure Waldbrände durch die Unvorſichtigkeit der Indianer,
die auf ihren Zügen die Feuer, an denen ſie gekocht haben,
nicht auslöſchen. Durch dieſe Zufälle ſind auf dem Wege
von Cumana nach Cumanacoa die alten Bäume ſeltener ge-
worden; und die Einwohner machen die richtige Bemerkung,
daß an verſchiedenen Orten der Provinz die Trockenheit zu-
genommen habe, nicht allein weil der Boden durch die vielen
Erdbeben von Jahr zu Jahr mehr zerklüftet wird, ſondern
auch weil er nicht mehr ſo ſtark bewaldet iſt als zur Zeit
der Eroberung.
Ich ſtand nachts auf, um die Breite des Ortes nach dem
Durchgang Fomahaults durch den Meridian zu beſtimmen.
Es war Mitternacht; ich ſtarrte vor Kälte, wie unſer Führer,
und doch ſtand der Thermometer noch auf 19,7°. In Cu-
mana ſah ich ihn nie unter 21° fallen; aber das Haus auf
dem Impoſible, in dem wir die Nacht zubrachten, lag auch
503 m über dem Meeresſpiegel. Bei der Caſa de la Polvora
beobachtete ich die Inklination der Magnetnadel; ſie war
gleich 40,5°. Die Zahl der Schwingungen in 10 Minuten
Zeit betrug 233; die Intenſität der magnetiſchen Kraft hatte
ſomit zwiſchen der Küſte und dem Berge zugenommen, was
vielleicht von eiſenſchüſſigem Geſtein herrührte, das die auf
dem Alpenkalk gelagerten Sandſteinſchichten enthalten mochten.
Am 5. September vor Sonnenaufgang brachen wir vom
Impoſible auf. Der Weg abwärts iſt für die Laſttiere ſehr
gefährlich; der Pfad iſt meiſt nur 40 cm breit und läuft
beiderſeits an Abgründen hin. Im Jahre 1797 hatte man
ſehr zweckmäßig beſchloſſen, von San Fernando bis an den
Berg eine gute Straße anzulegen. Die Straße war ſogar
zu einem Dritteil bereits fertig; leider hatte man damit in
der Ebene am Fuße des Impoſible begonnen, und das ſchwie-
rigſte Stück des Weges wurde gar nicht in Angriff genommen.
Die Arbeit geriet aus einer der Urſachen ins Stocken, aus
denen aus allen Fortſchrittsprojekten in den ſpaniſchen Kolonieen
nichts wird. Verſchiedene Civilbehörden nahmen das Recht
in Anſpruch, die Arbeit mit zu leiten. Das Volk bezahlte
geduldig den Zoll für einen Weg, der gar nicht da war, bis
der Statthalter von Cumana den Mißbrauch abſtellte.
Wenn man vom Impoſible herabkommt, ſieht man den
Alpenkalk unter dem Sandſtein wieder zum Vorſchein kommen.
Da die Schichten meiſt nach Süd und Südoſt fallen, ſo
kommen am Südabhang des Berges ſehr viele Quellen zu
[224] Tage. In der Regenzeit werden dieſe Quellen zu reißenden
Bergſtrömen, die im Schatten von Hura, Cuspa und Cecropia
mit ſilberglänzenden Blättern niederſtürzen.
Die Cuspa, die in der Umgegend von Cumana und
Bordones ziemlich häufig vorkommt, iſt ein den europäiſchen
Botanikern noch unbekannter Baum. Er diente lange nur
als Bauholz und iſt ſeit dem Jahre 1797 unter dem Namen
Cascarilla oder Quinquina von Neuandaluſien berühmt ge-
worden. Sein Stamm wird kaum 5 bis 6,5 m hoch; ſeine
wechſelſtändigen Blätter ſind glatt, ganzrandig, eiförmig. Seine
ſehr dünne, blaßgelbe Rinde iſt ein ausgezeichnetes Fieber-
mittel; dieſelbe hat ſogar mehr Bitterkeit als die Rinden der
echten Cinchonen, aber dieſe Bitterkeit iſt nicht ſo unange-
nehm. Die Cuspa wird mit ſehr gutem Erfolg als wein-
geiſtiger Extrakt und als wäſſeriger Aufguß ſowohl in Wechſel-
fiebern als in bösartigen Fiebern gegeben. Emparan, der
Statthalter von Cumana, hat den Aerzten in Cadiz einen
anſehnlichen Vorrat davon geſchickt, und nach den kürzlichen
Mitteilungen Don Pedro Francos, Pharmazeuten am Militär-
ſpital zu Cumana, hat man in Europa die Cuspa für faſt
ebenſo wirkſam erklärt, als die Quinquina von Santa Fé.
Man behauptet, in Pulverform gereicht, habe ſie vor letzterer
den Vorzug, daß ſie bei Kranken mit geſchwächtem Unterleib
den Magen weniger angreife.
Als wir aus der Schlucht, die ſich am Impoſible hin-
abzieht, herauskamen, betraten wir einen dichten Wald, durch
den eine Menge kleiner Flüſſe laufen, die man leicht durch-
watet. Wir machten die Bemerkung, daß die Cecropia, die
durch die Stellung ihrer Aeſte und den ſchlanken Stamm an
den Palmenhabitus erinnert, je nachdem der Boden dürr oder
ſumpfig iſt, mehr oder weniger ſilberfarbige Blätter treibt.
Wir ſahen Stämme, deren Laub auf beiden Seiten ganz grün
war. Die Wurzeln dieſer Bäume waren unter Büſchen von
Dorſtenia verſteckt, die nur feuchte, ſchattige Orte liebt. Mitten
im Walde, an den Ufern des Rio Erdeño, findet man, wie
am Südabhang des Cocollar, Melonenbäume und Orangen-
bäume mit großen ſüßen Früchten wild wachſend. Es ſind
wahrſcheinlich Ueberbleibſel einiger Conucas oder indianiſchen
Pflanzungen; denn auch der Orangenbaum kann in dieſen
Landſtrichen nicht zu den urſprünglich hier heimiſchen Ge-
wächſen gerechnet werden, ſo wenig als der Piſang, der Me-
lonenbaum, der Mais, der Manioc und ſo viele andere nutz-
[225] bare Gewächſe, deren eigentliche Heimat wir nicht kennen,
obgleich ſie den Menſchen ſeit uralter Zeit auf ſeinen Wan-
derungen begleitet haben.
Wenn ein eben aus Europa angekommener Reiſender
zum erſtenmal die Wälder Südamerikas betritt, ſo hat er ein
ganz unerwartetes Naturbild vor ſich. Alles, was er ſieht,
erinnert nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte
Schriftſteller an den Ufern des Miſſiſſippi, in Florida und
in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen
haben. Bei jedem Schritte fühlt er, daß er ſich nicht an den
Grenzen der heißen Zone befindet, ſondern mitten darin, nicht
auf einer der Antilliſchen Inſeln, ſondern auf einem gewaltigen
Kontinent, wo alles rieſenhaft iſt, Berge, Ströme und Pflanzen-
maſſen. Hat er Sinn für landſchaftliche Schönheit, ſo weiß
er ſich von ſeinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechen-
ſchaft zu geben. Er weiß nicht zu ſagen, was mehr ſein
Staunen erregt, die feierliche Stille der Einſamkeit, oder
die Schönheit der einzelnen Geſtalten und ihre Kontraſte, oder
die Kraft und Fülle des vegetabiliſchen Lebens. Es iſt als
hätte der mit Gewächſen überladene Boden gar nicht Raum
genug zu ihrer Entwickelung. Ueberall verſtecken ſich die Baum-
ſtämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die
Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen
Heuſchreckenbaum oder amerikaniſchen Feigenbaum 1 wachſen,
ſorgſam verpflanzen, ſo würde ein ganzes Stück Land damit
bedeckt. Durch dieſe wunderliche Aufeinanderhäufung erweitern
die Wälder, wie die Fels- und Gebirgswände, das Bereich
der organiſchen Natur. — Dieſelben Lianen, die am Boden
kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und ſchwingen
ſich, mehr als 30 m hoch, vom einen zum anderen. So kommt
es, daß, da die Schmarotzergewächſe ſich überall durcheinander
wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub,
die verſchiedenen Arten angehören, zu verwechſeln.
Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieſer Wöl-
bungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen
Himmel ſieht. Er ſchien mir um ſo tiefer indigoblau, da das
Grün der tropiſchen Gewächſe meiſt einen ſehr kräftigen, ins
Bräunliche ſpielenden Ton hat. Zerſtreute Felsmaſſen waren
mit einem großen Baumfarn bewachſen, der ſich vom Poly-
podium arboreum der Antillen weſentlich unterſcheidet. Hier
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 15
[226] ſahen wir zum erſtenmal jene Neſter in Geſtalt von Flaſchen
oder kleinen Taſchen, die an den Aeſten der niedrigſten Bäume
aufgehängt ſind. Es ſind Werke des bewundernswürdigen
Bautriebes der Droſſeln, deren Geſang ſich mit dem heiſeren
Geſchrei der Papageien und Aras miſchte. Die letzteren, die
wegen der lebhaften Farben ihres Gefieders allgemein bekannt
ſind, flogen nur paarweiſe, während die eigentlichen Papageien
in Schwärmen von mehreren hundert Stücken umherfliegen.
Man muß in dieſen Ländern, beſonders in den heißen Thälern
der Anden gelebt haben, um es für möglich zu halten, daß
zuweilen das Geſchrei dieſer Vögel das Brauſen der Berg-
ſtröme, die von Fels zu Fels ſtürzen, übertönt.
Gute 5 km vor dem Dorfe San Fernando kamen wir
aus dem Walde heraus. Ein ſchmaler Fußpfad führt auf
mehreren Umwegen in ein offenes, aber ausnehmend feuchtes
Land. Unter dem gemäßigten Himmelsſtrich hätten unter
ſolchen Umſtänden Gräſer und Riedgräſer einen weiten Wieſen-
teppich gebildet; hier wimmelte der Boden von Waſſerpflanzen
mit pfeilförmigen Blättern, beſonders von Cannaarten, unter
denen wir die prachtvollen Blüten der Coſtus, der Thalien
und Helikonien erkannten. Dieſe ſaftigen Gewächſe werden
2½ bis 3½ m hoch, und wo ſie dicht beiſammen ſtehen,
könnten ſie in Europa für kleine Wälder gelten. Das herr-
liche Bild eines Wieſengrundes und eines mit Blumen durch-
wirkten Raſens iſt den niederen Landſtrichen der heißen Zone
faſt ganz fremd und findet ſich nur auf den Hochebenen der
Anden wieder.
Bei San Fernando war die Verdunſtung unter den
Strahlen der Sonne ſo ſtark, daß wir, da wir ſehr leicht
gekleidet waren, durchnäßt wurden wie in einem Dampfbade.
Am Wege wuchs eine Art Bamburohr, das die Indianer
Jagua oder Guadua nennen und das über 13 m hoch wird.
Nichts kann zierlicher ſein als dieſe baumartige Grasart. Form
und Stellung der Blätter geben ihr ein Anſehen von Leichtig-
keit, das mit dem hohen Wuchs angenehm kontraſtiert. Der
glatte, glänzende Stamm der Jagua iſt meiſt den Bachufern
zugeneigt und ſchwankt beim leiſeſten Luftzuge hin und her.
So hoch auch das Rohr 1 im mittäglichen Europa wächſt, ſo
gibt es doch keinen Begriff vom Ausſehen der baumartigen
Gräſer, und wollte ich nur meine eigene Erfahrung ſprechen
[227] laſſen, ſo möchte ich behaupten, daß von allen Pflanzenge-
ſtalten unter den Tropen keine die Einbildungskraft des Rei-
ſenden mehr anregt als der Bambu und der Baumfarn.
Die oſtindiſchen Bambu, die Calumets des hauts1 der
Inſel Bourbon, der Guadua Südamerikas, vielleicht ſogar
die rieſenhaften Arundinarien an den Ufern des Miſſiſſippi,
gehören derſelben Pflanzengruppe an. In Amerika ſind aber
die Bambuarten nicht ſo häufig, als man gewöhnlich glaubt.
In den Sümpfen und auf den großen unter Waſſer ſtehen-
den Ebenen am unteren Orinoko, am Apure und Atabapo
fehlen ſie faſt ganz, wogegen ſie im Nordweſten, in Neu-
granada und im Königreich Quito viele Kilometer lange dichte
Wälder bilden. Der weſtliche Abhang der Anden erſcheint
als ihre eigentliche Heimat, und was ziemlich auffallend iſt,
wir haben ſie nicht nur in tiefen, kaum über dem Meere ge-
legenen Landſtrichen, ſondern auch in den hohen Thälern der
Kordilleren bis in 1680 m Meereshöhe angetroffen.
Der Weg mit dem Bambugebüſch zu beiden Seiten
führte uns zum kleinen Dorfe San Fernando, das auf einer
ſchmalen, von ſehr ſteilen Kalkſteinwänden umgebenen Ebene
liegt. Es war die erſte Miſſion; die wir in Amerika betraten. 2
Die Häuſer oder vielmehr Hütten der Chaymasindianer ſind
weit auseinander gerückt und nicht von Gärten umgeben.
Die breiten geraden Straßen ſchneiden ſich unter rechten Win-
keln; die ſehr dünnen, unſoliden Wände beſtehen aus Letten
und Lianenzweigen. Die gleichförmige Bauart, das ernſte
ſchweigſame Weſen der Einwohner, die ausnehmende Rein-
lichkeit in den Häuſern, alles erinnert an die Gemeinden der
mähriſchen Brüder. Jede indianiſche Familie baut draußen
vor dem Dorfe außer ihrem eigenen Garten den Conuco
de la communidad. In dieſem arbeiten die Erwachſenen
beider Geſchlechter morgens und abends je eine Stunde. In
[228] den Miſſionen, die der Küſte zu liegen, iſt der Gemeinde-
garten meiſt eine Zucker- oder Indigoplantage, welcher der
Miſſionär vorſteht, und deren Ertrag, wenn das Geſetz ſtreng
befolgt wird, nur zur Erhaltung der Kirche und zur An-
ſchaffung von Paramenten verwendet werden darf. Auf dem
großen Platze mitten im Dorfe ſtehen die Kirche, die Woh-
nung des Miſſionärs und das beſcheidene Gebäude, das pomp-
haft Casa del Rey, „königliches Haus“, betitelt wird. Es
iſt ein förmliches Karawanſerai, wo die Reiſenden Obdach
finden, und, wie wir oft erfahren, eine wahre Wohlthat in
einem Lande, wo das Wort Wirtshaus noch unbekannt iſt.
Die Casas del Rey findet man in allen ſpaniſchen Kolonieen,
und man könnte meinen, ſie ſeien eine Nachahmung der nach
dem Geſetze Manco-Capacs errichteten Tambos in Peru.
Wir waren an die Ordensleute, die den Miſſionen der
Chaymasindianer vorſtehen, durch ihren Syndikus in Cumana
empfohlen. Dieſe Empfehlung kam uns deſto mehr zu ſtatten,
als die Miſſionäre, ſei es aus Beſorgnis für die Sittlichkeit
ihrer Pfarrkinder, oder um die mönchiſche Zucht der zudring-
lichen Neugier Fremder zu entziehen, oft an einer alten Ver-
ordnung feſthalten, nach welcher kein Weißer weltlichen Standes
ſich länger als eine Nacht in einem indianiſchen Dorfe auf-
halten darf. Will man in den ſpaniſchen Miſſionen ange-
nehm reiſen, ſo darf man ſich meiſt nicht allein auf den Paß
des Madrider Staatsſekretariates oder der Civilbehörden ver-
laſſen, man muß ſich mit Empfehlungen geiſtlicher Behörden
verſehen; am wirkſamſten ſind die der Guardiane der Klöſter
und der in Rom reſidierenden Ordensgenerale, vor denen die
Miſſionäre weit mehr Reſpekt haben als vor den Biſchöfen.
Die Miſſionen bilden, ich ſage nicht nach ihren urſprünglichen
kanoniſchen Satzungen, aber thatſächlich eine ſo ziemlich un-
abhängige Hierarchie für ſich, die in ihren Anſichten ſelten mit
der Weltgeiſtlichkeit übereinſtimmt.
Der Miſſionär von San Fernando war ein ſehr bejahrter,
aber noch ſehr kräftiger und munterer Kapuziner aus Aragon.
Seine bedeutende Körperrundung, ſein guter Humor, ſein
Intereſſe für Gefechte und Belagerungen ſtimmten ſchlecht zu
der Vorſtellung, die man ſich im Norden vom ſchwärmeriſchen
Trübſinn und dem beſchaulichen Leben der Miſſionäre macht.
So viel ihm auch eine Kuh zu thun gab, die des anderen
Tages geſchlachtet werden ſollte, empfing uns doch der alte
Ordensmann ganz freundlich und erlaubte uns, unſere Hänge-
[229] matten in einem Gange ſeines Hauſes zu befeſtigen. Er ſaß
den größten Teil des Tages über in einem großen Armſtuhle
von rotem Holz und beklagte ſich bitter über die Trägheit
und Unwiſſenheit ſeiner Landsleute. Er richtete tauſenderlei
Fragen an uns über den eigentlichen Zweck unſerer Reiſe,
die ihm ſehr gewagt und zum wenigſten ganz unnütz ſchien.
Hier wie am Orinoko wurde es uns ſehr beſchwerlich, daß
ſich die Spanier mitten in den Wäldern Amerikas für die
Kriege und politiſchen Stürme der Alten Welt immer noch
ſo lebhaft intereſſieren.
Unſer Miſſionär ſchien übrigens mit ſeiner Stellung
vollkommen zufrieden. Er behandelte die Indianer gut, er
ſah die Miſſion gedeihen, er pries in begeiſterten Worten das
Waſſer, die Bananen, die Milch des Landes. Als er unſere
Inſtrumente, unſere Bücher und getrockneten Pflanzen ſah,
konnte er ſich eines boshaften Lächelns nicht enthalten, und
er geſtand mit der in dieſem Klima landesüblichen Naivetät,
von allen Genüſſen dieſes Lebens, den Schlaf nicht ausge-
nommen, ſei doch gutes Kuhfleiſch, carne de vaca, der köſt-
lichſte; die Sinnlichkeit quillt eben überall über, wo es an
geiſtiger Beſchäftigung fehlt. Oft bat uns unſer Wirt, mit
ihm die Kuh zu beſuchen, die er eben gekauft hatte, und am
anderen Tage bei Tagesanbruch mußten wir ſie nach Landes-
ſitte ſchlachten ſehen; man machte ihr einen Schnitt durch die
Häckſe, ehe man ihr das breite Meſſer in die Halswirbel
ſtieß. So widrig dieſes Geſchäft war, ſo lernten wir dabei
doch die ausnehmende Fertigkeit der Chaymas kennen, deren
acht in weniger als 20 Minuten das Tier in kleine Stücke
zerlegten. Die Kuh hatte nur 7 Piaſter gekoſtet, und
dies galt für ſehr viel. Am ſelben Tage hatte der Miſ-
ſionär einem Soldaten aus Cumana, der ihm nach mehre-
ren vergeblichen Verſuchen endlich am Fuß die Ader ge-
ſchlagen, 18 Piaſter bezahlt. Dieſer Fall, ſo unbedeutend
er ſcheint, zeigt recht auffallend, wie hoch in unkultivierten
Ländern die Arbeit dem Wert der Naturprodukte gegenüber
im Preiſe ſteht.
Die Miſſion San Fernando wurde zu Ende des 17. Jahr-
hunderts an der Stelle gegründet, wo die kleinen Flüſſe
Manzanares und Lucasperez ſich vereinigen. Eine Feuers-
brunſt, welche die Kirche und die Hütten der Indianer in
Aſche legte, gab den Anlaß, daß die Kapuziner das Dorf an
dem ſchönen Punkte, wo es jetzt liegt, wieder aufbauten. Die
[230] Zahl der Familien iſt auf hundet geſtiegen, und der Miſſionär
machte gegen uns die Bemerkung, daß der Brauch, die jungen
Leute im 13. oder 14. Jahre zu verheiraten, zu dieſer raſchen
Zunahme der Bevölkerung viel beitrage. Er zog in Abrede,
daß die Chaymasindianer ſo früh altern, als die Europäer
gewöhnlich glauben. Das Regierungsweſen in dieſen india-
niſchen Gemeinden iſt übrigens ſehr verwickelt; ſie haben ihren
Gobernador, ihre Alguazils Majors und ihre Milizoffiziere,
und dieſe Beamten ſind lauter kupferfarbige Eingeborene.
Die Schützencompagnie hat ihre Fahnen und übt ſich mit
Bogen und Pfeilen im Zielſchießen; es iſt die Bürgerwehr des
Landes. Solch kriegeriſche Anſtalten unter einem rein mön-
chiſchen Regiment kamen uns ſehr ſeltſam vor.
In der Nacht vom 5. September und am anderen Morgen
lag ein dicker Nebel, und doch waren wir nur 195 m über
dem Meeresſpiegel. Bevor wir aufbrachen, maß ich geometriſch
den großen Kalkberg, der 1560 m ſüdlich von San Fernando
liegt und nach Norden ſteil abfällt. Sein Gipfel iſt nur
419 m höher als der große Dorfplatz, aber kahle Felsmaſſen,
die ſich aus der dichten Pflanzendecke erheben, geben ihm
etwas ſehr Großartiges.
Der Weg von San Fernando nach Cumana führt über
kleine Pflanzungen durch ein offenes feuchtes Thal. Wir
wateten durch viele Bäche. Im Schatten ſtand der Thermo-
meter nicht über 30°, wir waren aber unmittelbar den Sonnen-
ſtrahlen ausgeſetzt, weil die Bambu am Wege nur wenig
Schutz gewähren und wir hatten ſtark von der Hitze zu leiden.
Wir kamen durch das Dorf Arenas, das von Indianern des-
ſelben Stammes wie die von San Fernando bewohnt iſt;
aber Arenas iſt keine Miſſion mehr; die Eingeborenen ſtehen
unter einem Pfarrer und ſind nicht ſo nackt und kultivierter
als jene. Ihre Kirche iſt im Lande wegen einiger rohen
Malereien bekannt; auf einem ſchmalen Fries ſind Gürtel-
tiere, Kaimane, Jaguare und andere Tiere der Neuen Welt
abgebildet.
In dieſem Dorfe wohnt ein Landmann Namens Francisco
Lozano, der eine phyſiologiſche Merkwürdigkeit iſt, und der
Fall macht Eindruck auf die Einbildungskraft, wenn er auch
den bekannten Geſetzen der organiſchen Natur vollkommen
entſpricht. Der Mann hat einen Sohn mit ſeiner eigenen
Milch aufgezogen. Die Mutter war krank geworden, da
nahm der Vater das Kind, um es zu beruhigen, zu ſich ins
[231] Bett und drückte es an die Bruſt. Lozano, damals zweiund-
dreißig Jahre alt, hatte es bis dahin nicht bemerkt, daß er
Milch gab, aber infolge der Reizung der Bruſtwarze, an der
das Kind ſaugte, ſchoß die Milch ein. Dieſelbe war fett und
ſehr ſüß. Der Vater war nicht wenig erſtaunt, als ſeine
Bruſt ſchwoll, und ſäugte fortan das Kind fünf Monate lang
zwei-, dreimal des Tages. Seine Nachbarn wurden aufmerk-
ſam auf ihn, er dachte aber nicht daran, die Neugierde aus-
zubeuten, wie er wohl in Europa gethan hätte. Wir ſahen
das Protokoll, das über den merkwürdigen Fall aufgenommen
worden. Augenzeugen desſelben leben noch, und ſie verſicherten
uns, der Knabe habe während des Stillens nichts bekommen
als die Milch des Vaters. Lozano war nicht zu Hauſe, als
wir die Miſſionen bereiſten, beſuchte uns aber in Cumana.
Er kam mit ſeinem Sohne, der ſchon 13 bis 14 Jahre alt
war. Bonpland unterſuchte die Bruſt des Vaters genau und
fand ſie runzlig, wie bei Weibern, die geſäugt haben. Er
bemerkte, daß beſonders die linke Bruſt ſehr ausgedehnt war,
und Lozano erklärte dies aus dem Umſtande, daß niemals beide
Brüſte gleich viel Milch gegeben. Der Statthalter Don
Vicente Emparan hat eine ausführliche Beſchreibung des Falles
nach Cadiz geſchickt.
Es kommt bei Menſchen und Tieren nicht gar ſelten vor,
daß die Bruſt männlicher Individuen Milch enthält, und das
Klima ſcheint auf dieſe mehr oder weniger reichliche Abſon-
derung keinen merkbaren Einfluß zu äußern. Die Alten er-
zählen von der Milch der Böcke auf Lemnos und Corſica;
noch in neueſter Zeit war in Hannover ein Bock, der jahre-
lang einen Tag um den anderen gemolken wurde und mehr
Milch gab als die Ziegen. Unter den Merkmalen der ver-
meintlichen Schwächlichkeit der Amerikaner führen die Reiſen-
den auch auf, daß die Männer Milch in den Brüſten haben. 1
Es iſt indeſſen höchſt unwahrſcheinlich, daß ſolches bei einem
ganzen Volksſtamm in irgend einem der heutigen Reiſenden
unbekannten Landſtrich Amerikas beobachtet worden ſein ſollte,
und ich kann verſichern, daß der Fall gegenwärtig in der
Neuen Welt nicht häufiger vorkommt als in der Alten. Der
Landmann in Arenas, deſſen Geſchichte wir ſoeben erzählt,
[232] iſt nicht vom kupferfarbigen Stamm der Chaymas, er iſt ein
Weißer von europäiſchem Blut. Ferner haben Petersburger
Anatomen die Beobachtung gemacht, daß Milch in den Brüſten
der Männer beim niederen ruſſiſchen Volke weit häufiger vor-
kommt, als bei ſüdlicheren Völkern, und die Ruſſen haben
nie für ſchwächlich und weibiſch gegolten.
Es gibt unter den mancherlei Spielarten unſeres Ge-
ſchlechtes eine, bei der der Buſen zur Zeit der Mannbarkeit
einen anſehnlichen Umfang erhält. Lozano gehörte nicht dazu,
und er verſicherte uns wiederholt, erſt durch die Reizung der
Bruſt infolge des Saugens ſei bei ihm die Milch gekommen.
Dadurch wird beſtätigt, was die Alten beobachtet haben:
„Männer, die etwas Milch haben, geben ihrer in Menge,
ſobald man an den Brüſten ſaugt.“ 1 Dieſe ſonderbare Wir-
kung eines Nervenreizes war den griechiſchen Schäfern bekannt;
die auf dem Berge Oeta rieben den Ziegen, die noch nicht
geworfen hatten, die Euter mit Neſſeln, um die Milch her-
beizulocken.
Ueberblickt man die Lebenserſcheinungen in ihrer Ge-
ſamtheit, ſo zeigt ſich, daß keine ganz für ſich allein ſteht.
In allen Jahrhunderten werden Beiſpiele erzählt von jungen,
nicht mannbaren Mädchen oder von bejahrten Weibern mit
eingeſchrumpften Brüſten, welche Kinder ſäugten. Bei Männern
kommt ſolches weit ſeltener vor, und nach vielem Suchen
habe ich kaum zwei oder drei Fälle finden können. Einer
wird vom veroneſiſchen Anatomen Alexander Benedictus an-
geführt, der am Ende des 15. Jahrhunderts lebte. Er er-
zählt, ein Syrier habe nach dem Tode der Mutter ſein Kind,
um es zu beſchwichtigen, an die Bruſt gedrückt. Sofort ſchoß
die Milch ſo ſtark ein, daß der Vater ſein Kind allein ſäugen
konnte. Andere Beiſpiele werden von Santorellus, Feria und
Robert, Biſchof von Cork, berichtet. Da die meiſten dieſer
Fälle ziemlich entlegenen Zeiten angehören, iſt es von In-
tereſſe für die Phyſiologie, daß die Erſcheinung zu unſerer
Zeit beſtätigt werden konnte. Sie hängt übrigens genau mit
dem Streit über die Endurſachen zuſammen. Daß auch der
Mann Brüſte hat, iſt den Philoſophen lange ein Stein des
Anſtoßes geweſen, und noch neuerdings hat man geradezu
behauptet: „Die Natur habe die Fähigkeit zu ſäugen dem einen
[233] Geſchlecht verſagt, weil dieſe Fähigkeit gegen die Würde des
Mannes wäre.“
In der Nähe der Stadt Cumanacoa wird der Boden
ebener und das Thal nach und nach weiter. Die kleine Stadt
liegt auf einer kahlen, faſt kreisrunden, von hohen Bergen
umgebenen Ebene und nimmt ſich von außen ſehr trübſelig
aus. Die Bevölkerung iſt kaum 2300 Seelen ſtark; zur Zeit
des Paters Caulin im Jahre 1753 betrug ſie nur 600. Die
Häuſer ſind ſehr niedrig, unſolid und, drei oder vier ausge-
nommen, ſämtlich aus Holz. Wir brachten indeſſen unſere
Inſtrumente ziemlich gut beim Verwalter der Tabaksregie,
Don Juan Sanchez, unter, einem liebenswürdigen, geiſtig
ſehr regſamen Manne. Er hatte uns eine geräumige bequeme
Wohnung einrichten laſſen; wir blieben vier Tage hier und
er ließ ſich nicht abhalten, uns auf allen unſeren Ausflügen
zu begleiten.
Cumanacoa wurde im Jahre 1717 von Domingo Arias
gegründet, als er von einem Kriegszuge zurückkam, den er an
die Mündung des Guarapiche unternommen, um eine von
franzöſiſchen Freibeutern begonnene Niederlaſſung zu zerſtören.
Die Stadt hieß anfangs San Baltazar de las Arias, aber
der indiſche Name verdrängte jenen, wie der Name Caracas
den Namen Santiago de Leon, den man noch häufig auf
unſeren Karten ſieht, in Vergeſſenheit gebracht hat.
Als wir den Barometer öffneten, ſahen wir zu unſerer
Ueberraſchung das Queckſilber kaum 15,6 mm tiefer ſtehen
als an der Küſte und doch ſchien das Inſtrument in ganz
gutem Stande. Die Ebene, oder vielmehr das Plateau, auf
dem Cumanacoa ſteht, liegt nicht mehr als 204 m über dem
Meeresſpiegel, und dies iſt drei- oder viermal weniger, als
man in Cumana glaubt, weil man dort von der Kälte in
Cumanacoa die übertriebenſten Vorſtellungen hat. Aber der
klimatiſche Unterſchied zwiſchen zwei ſo nahen Orten rührt
vielleicht weniger von der hohen Lage des letzteren her als
von örtlichen Verhältniſſen, wozu wir rechnen, daß die Wälder
ſehr nahe, die niedergehenden Luftſtröme, wie in allen ein-
geſchloſſenen Thälern, häufig, die Regenniederſchläge und die
Nebel ſehr ſtark ſind, wodurch einen großen Teil des Jahres
hindurch die unmittelbare Wirkung der Sonnenſtrahlen ge-
ſchwächt wird. Da die Wärmeabnahme unter den Tropen
und Sommers in der gemäßigten Zone ungefähr gleich iſt,
ſo ſollte der geringe Höhenunterſchied von 195 m nur einen
[234] Unterſchied in der mittleren Temperatur von 1 bis 1½°
verurſachen; wir werden aber bald ſehen, daß derſelbe über
4° beträgt. Dieſes kühle Klima fällt um ſo mehr auf, da
es noch in der Stadt Cartago, in Tomependa am Ufer des
Amazonenſtromes und in den Thälern von Aragua, weſtwärts
von Caracas, ſehr heiß iſt, lauter Orte, die in 390 bis 935 m
abſoluter Meereshöhe liegen. In der Ebene wie im Gebirge
laufen die Linien gleicher Wärme (Iſothermen) nicht immer
dem Aequator oder der Erdoberfläche parallel, und darin
beſteht eben die große Aufgabe der Meteorologie, den Lauf
dieſer Linien zu ermitteln und durch alle von örtlichen Ur-
ſachen bedingte Abweichungen hierdurch die konſtanten Geſetze
der Wärmeverteilung zu erfaſſen.
Der Hafen von Cumana liegt von Cumanacoa nur etwa
11,5 km. Am erſteren Orte regnet es faſt nie, während
an letzterem die Regenzeit 6 bis 7 Monate dauert. Die
trockene Jahreszeit währt in Cumanacoa von der Winter-
bis zur Sommer-Tag- und Nachtgleiche. Strichregen ſind
im April, Mai und Juni ziemlich häufig; ſpäter wird es
wieder ſehr trocken, vom Sommerſolſtitium bis Ende Auguſt;
nunmehr tritt die eigentliche Regenzeit ein, die bis zum
November anhält und in der das Waſſer in Strömen vom
Himmel gießt. Nach der Breite von Cumanacoa geht die
Sonne das eine Mal am 16. April, das andere Mal am 27. Auguſt
durch den Zenith, und aus dem eben Angeführten geht her-
vor, daß dieſe beiden Durchgänge mit dem Eintreten der
großen Regenniederſchläge und der ſtarken elektriſchen Ent-
ladungen zuſammenfallen.
Unſer erſter Aufenthalt in den Miſſionen fiel in die
Regenzeit. Jede Nacht war der Himmel mit ſchweren Wolken
wie mit einem dichten Schleier umzogen, und nur durch Ritzen
im Gewölk konnte ich ein paar Sternbeobachtungen anſtellen.
Der Thermometer ſtand auf 18,5 bis 20°, und dies iſt in
der heißen Zone und für das Gefühl des Reiſenden, der von
der Küſte herkommt, bedeutend kühl. In Cumana ſah ich
die Temperatur bei Nacht niemals unter 21° ſinken. Der
Delucſche Hygrometer zeigte in Cumanacoa 85°, und, was
auffallend iſt, ſobald das Gewölk ſich zerſtreute und die
Sterne in ihrer ganzen Pracht leuchteten, ging das Inſtru-
ment auf 55° zurück. Gegen Morgen nahm die Temperatur
wegen der ſtarken Verdunſtung nur langſam zu und noch um
10 Uhr war ſie nicht über 21°. Am heißeſten iſt es von
[235] Mittag bis 3 Uhr, wo dann der Thermometer auf 26 bis
27° ſteht. Zur Zeit der größten Hitze, etwa zwei Stunden
nach dem Durchgang der Sonne durch den Meridian, zog
faſt regelmäßig ein Gewitter auf, das auch zum Ausbruch
kam. Dicke, ſchwarze, ſehr niedrig ziehende Wolken löſten
ſich in Regen auf; dieſe Güſſe dauerten 2 bis 3 Stunden,
und während derſelben fiel der Thermometer um 5 bis 6°.
Gegen 5 Uhr hörte der Regen ganz auf, die Sonne kam
aber bis zum Untergang nicht leicht zum Vorſchein und der
Hygrometer ging dem Trockenpunkte zu; aber um 8 oder
9 Uhr abends waren wir ſchon wieder in eine dicke Wolken-
ſchicht gehüllt. Dieſer Witterungswechſel erfolgt, wie man
uns verſicherte, durchaus geſetzmäßig monatelang einen Tag
wie den anderen, und doch läßt ſich nicht der geringſte Luft-
zug ſpüren. Nach vergleichenden Beobachtungen muß ich
annehmen, daß es in Cumanacoa bei Nacht um 2 bis 3,
bei Tage um 4 bis 5° kühler iſt als in Cumana. Dieſe
Unterſchiede ſind ſehr bedeutend, und wenn man ſtatt meteoro-
logiſcher Inſtrumente nur ſein Gefühl befragte, ſo würde man
ſie für noch bedeutender halten.
Die Vegetation auf der Ebene um die Stadt iſt ſehr
einförmig, aber infolge der großen Feuchtigkeit der Luft un-
gemein friſch. Ihre Haupteigentümlichkeiten ſind ein baum-
artiges Solanum, das 13 m hoch wird, die Urtica baccifera
und eine neue Art der Gattung Guettarda. Der Boden iſt
ſehr fruchtbar und er wäre auch leicht zu bewäſſern, wenn
man von den vielen Bächen, deren Quellen das ganze Jahr
nicht verſiegen, Kanäle zöge. Das wichtigſte Erzeugnis iſt
der Tabak, und nur dieſem verdankt es die kleine, ſchlecht
gebaute Stadt, wenn ſie einen gewiſſen Ruf hat. Seit der
Einführung der Pacht (Estanco real de Tabaco) im Jahre
1779 iſt der Tabaksbau in der Provinz Cumana faſt ganz
auf Cumanacoa beſchränkt, wie er in Mexiko nur in den zwei
Diſtrikten Orizaba und Cordova geſtattet iſt. Das Pacht-
ſyſtem iſt ein beim Volke äußerſt verhaßtes Monopol. Die
ganze Tabaksernte muß an die Regierung verkauft werden,
und um dem Schmuggel zu ſteuern, oder vielmehr nur ihn
einzuſchränken, ließ man geradezu nur an einem Punkte
Tabak bauen. Aufſeher ſtreifen durch das Land; ſie zerſtören
jede Anpflanzung, die ſie außerhalb der zum Bau angewieſenen
Diſtrikte finden, und geben die Unglücklichen an, die es wagen,
ſelbſtgemachte Cigarren zu rauchen. Dieſe Aufſeher ſind meiſt
[236] Spanier und faſt ebenſo grob wie die Menſchen, die in
Europa dieſes Handwerk treiben. Dieſe Grobheit hat nicht
wenig dazu beigetragen, den Haß zwiſchen den Kolonieen und
dem Mutterlande zu ſchüren.
Nach dem Tabak von der Inſel Cuba und dem vom
Rio Negro hat der von Cumana am meiſten Arom. Er über-
trifft allen aus Neuſpanien und der Provinz Varinas. Wir
teilen einiges über den Bau desſelben mit, weil er ſich weſent-
lich vom Tabaksbau in Virginien unterſcheidet. Schon der
Umſtand, daß im Thale von Cumanacoa die Gewächſe aus
der Familie der Solaneen ſo ausnehmend ſtark entwickelt
ſind, beſonders die vielen Arten von Solanum arborescens,
von Aquartia und Cestrum weiſen darauf hin, daß hier der
Boden für den Tabaksbau ſehr geeignet ſein muß. Die Aus-
ſaat wird im September vorgenommen; zuweilen wartet man
damit bis zum Dezember, was aber für den Ausfall der
Ernte nicht ſo gut iſt. Die Wurzelblätter zeigen ſich am
achten Tage; man bedeckt die jungen Pflanzen mit großen
Helikonien- und Bananenblättern, um ſie der unmittelbaren
Einwirkung der Sonne zu entziehen, und reutet das Unkraut,
das unter den Tropen furchtbar ſchnell aufſchießt, ſorgfältig
aus. Der Tabak wird ſofort einen und einen halben Monat,
nachdem der Samen aufgegangen, in einen fetten, gut ge-
lockerten Boden verſetzt. Die Pflanzen werden in geraden
Reihen 1 bis 1,3 m voneinander geſteckt; man jätet ſie
fleißig und köpft den Hauptſtengel mehrmals, bis bläulich
grüne Flecken auf den Blättern als Wahrzeichen der Reife
ſich zeigen. Im vierten Monat fängt man an ſie abzunehmen,
und dieſe erſte Ernte iſt in wenigen Tagen vorüber. Beſſer
wäre es, die Blätter nacheinander abzunehmen, ſo wie ſie trocken
werden. In guten Jahren ſchneiden die Pflanzer den Stock,
wenn er 1,3 m hoch iſt, ab, und der Wurzelſchoß treibt ſo
raſch neue Blätter, daß ſie ſchon am 13. oder 14. Tage ge-
erntet werden können. Dieſe haben ſehr lockeres Zellgewebe; ſie
enthalten mehr Waſſer, mehr Eiweiß und weniger von dem
ſcharfen, flüchtigen, im Waſſer ſchwer löslichen Stoff, an den
die eigentümlich reizende Wirkung des Tabaks gebunden ſcheint.
Der Tabak wird in Cumanacoa nach dem Verfahren
behandelt, das bei den Spaniern de cura seca heißt. Man
hängt die Blätter an Cocuizafaſern 1 auf, löſt die Rippen
[237] ab und dreht ſie zu Strängen. Der zubereitete Tabak ſollte
im Juni in die königlichen Magazine geſchafft werden, aber
aus Faulheit und weil ſie dem Bau des Mais und des
Manioc mehr Aufmerkſamkeit ſchenken, machen die Leute den
Tabak ſelten vor Auguſt fertig. Begreiflich verlieren die
Blätter an Arom, wenn ſie zu lange der feuchten Luft aus-
geſetzt bleiben. Der Verwalter läßt den Tabak 60 Tage
unberührt in den königlichen Magazinen liegen; dann ſchneidet
man die Bündel auf, um die Qualität zu prüfen. Findet
der Verwalter den Tabak gut zubereitet, ſo bezahlt er dem
Pflanzer für die Aroba von 12,5 kg 3 Piaſter. Dasſelbe
Gewicht wird auf Rechnung der Krone für 12½ Piaſter
wieder verkauft. Der faule (potrido) Tabak, d. h. der
noch einmal gegärt hat, wird öffentlich verbrannt, und der
Pflanzer, der von der königlichen Pacht Vorſchüſſe erhalten
hat, kommt unwiderruflich um die Früchte ſeiner langen
Arbeit. Wir ſahen auf dem großen Platze Haufen von 500
Arobas vernichten, aus denen man in Europa ſicher Schnupf-
tabak gemacht hätte.
Der Boden von Cumanacoa eignet ſich für dieſen Kul-
turzweig ſo ausgezeichnet, daß der Tabak überall, wo der
Same Feuchtigkeit findet, wild wächſt. So kommt er beim
Cerro del Cuchivano und bei der Höhle von Caripe vor. In
Cumanacoa, wie in den benachbarten Diſtrikten von Aricagua
und San Lorenzo, wird übrigens nur die Tabaksart mit
großen ſitzenden Blättern, der ſogenannte virginiſche Tabak, 1
gebaut. Ganz unbekannt iſt der Tabak mit geſtielten Blät-
tern, 2 der eigentliche Yetl der alten Mexikaner, den man
in Deutſchland ſonderbarerweiſe türkiſchen Tabak nennt.
Wäre der Tabaksbau frei, ſo könnte die Provinz Cumana
einen großen Teil von Europa damit verſehen; ja, andere
Diſtrikte ſcheinen ſich für die Erzeugung dieſer Kolonialware
ganz ſo gut zu eignen wie das Thal von Cumanacoa, wo
der übermäßige Regen nicht ſelten dem Arom der Blätter
Eintrag thut. Gegenwärtig, wo der Tabaksbau auf ein paar
Quadratkilometer beſchränkt iſt, beträgt der ganze Ertrag der
Ernte nur 6000 Arobas. Die beiden Provinzen Cumana
und Barcelona verbrauchen aber 12000, und der Ausfall
wird aus dem ſpaniſchen Guyana gedeckt. In der Gegend
[238] von Cumanacoa geben ſich im Durchſchnitt nur 1500 Perſonen
mit dem Tabaksbau ab, lauter Weiße; die Eingeborenen vom
Stamme der Chaymas laſſen ſich durch Ausſicht auf Gewinn
ſelten dazu verlocken, auch hält es die Pacht nicht für ge-
raten, denſelben Vorſchüſſe zu machen.
Beſchäftigt man ſich mit der Geſchichte unſerer Kultur-
pflanzen, ſo ſieht man mit Ueberraſchung, daß vor der Er-
oberung der Gebrauch des Tabaks über den größten Teil
von Amerika verbreitet war, während man die Kartoffel
weder in Mexiko, noch auf den Antillen kannte, wo ſie doch
in gebirgigen Lagen ſehr gut fortkommt. Ferner wurde in
Portugal ſchon im Jahre 1559 Tabak gebaut, während die
Kartoffel erſt am Ende des 17. und zu Anfang des 18. Jahr-
hunderts in den europäiſchen Ackerbau überging. Letzteres
Gewächs, das für das Wohl der menſchlichen Geſellſchaft
ſo bedeutſam geworden iſt, hat ſich auf beiden Kontinenten
weit langſamer verbreitet als ein Produkt, das nur für einen
Luxusartikel gelten kann.
Das wichtigſte Produkt nach dem Tabak iſt im Thale
von Cumanacoa der Indigo. Die Pflanzungen in Cumanacoa,
San Fernando und Arenas liefern eine Ware, die im Handel
noch geſchätzter iſt als der Indigo von Caracas; er kommt
an Glanz und Fülle der Farbe oft dem Indigo von Guate-
mala nahe. Aus letzterer Provinz iſt der Samen von Indigo-
fera Anil, die neben Indigofera tinctoria gebaut wird, zu-
erſt auf die Küſte von Cumana gekommen. Da im Thale
von Cumanacoa ſehr viel Regen fällt, ſo gibt eine 1,3 m
hohe Pflanze nicht mehr Farbſtoff als eine dreimal kleinere
in den trockenen Thälern von Aragua, weſtlich von der
Stadt Caracas.
Alle Indigofabriken, die wir geſehen, ſind nach demſelben
Plane eingerichtet. Zwei Weichküpen, in denen das Kraut
„faulen“ ſoll, ſtehen nebeneinander. Jede mißt 1,5 qm
und iſt 75 cm tief. Aus dieſen oberen Kufen läuft die
Flüſſigkeit in die Stampfkaſten, zwiſchen denen die Waſſer-
mühle angebracht iſt. Der Baum des großen Rades läuft
zwiſchen dieſen Kaſten durch, und an ihm ſitzen an langen
Stielen die Löffel zum Stampfen. Aus einer weiten Ab-
ſeiheküpe kommt der farbhaltige Bodenſatz in die Trocken-
kaſten und wird daſelbſt auf Brettern aus Braſilholz aus-
gebreitet, die mittels kleiner Rollen unter Dach gebracht
werden können, wenn unerwartet Regen eintritt. Dieſe
[239] geneigten, ſehr niedrigen Dächer geben den Trockenkaſten von
weitem das Anſehen von Treibhäuſern. Im Thale von
Cumanacoa verläuft die Gärung des Krautes, das man
„faulen“ läßt, ungemein raſch. Sie währt meiſt nicht länger
als 4 bis 5 Stunden. Dies kann nur von der Feuchtigkeit
des Klimas herrühren und daher, daß während der Entwicke-
lung der Pflanze die Sonne nicht ſcheint. Ich glaube auf
meinen Reiſen die Bemerkung gemacht zu haben, daß je
trockener das Klima iſt, die Kufe um ſo langſamer arbeitet
und die Stengel zugleich deſto mehr Indigo auf der niederſten
Oxydationsſtufe enthalten. In der Provinz Caracas, wo
562 Kubikfuß locker aufgeſchichteten Krautes 18 bis 20 kg
trockenen Indigo geben, kommt die Flüſſigkeit erſt nach 20,
30 oder 35 Stunden in die Stampfe. Wahrſcheinlich er-
hielten die Einwohner von Cumanacoa mehr Farbſtoff aus
dem Kraute, wenn ſie dasſelbe länger in der erſten Kufe weichen
ließen. Ich habe während meines Aufenthaltes in Cumana
den etwas ſchweren kupferfarbigen Indigo von Cumanacoa
und den von Caracas zur Vergleichung in Schwefelſäure
aufgelöſt, und die Auflöſung des erſteren ſchien mir weit
ſatter blau.
Trotz der ausgezeichneten Beſchaffenheit der Produkte
und der Fruchtbarkeit des Bodens iſt der Landbau in Cu-
manacoa noch völlig in der Kindheit. Arenas, San Fer-
nando und Cumanacoa bringen in den Handel nur 1500 kg
Indigo, der im Lande 4500 Piaſter wert iſt. Es fehlt an
Menſchenhänden und die ſchwache Bevölkerung nimmt durch
die Auswanderung in die Llanos täglich ab. Dieſe uner-
meßlichen Savannen nähren den Menſchen reichlich, weil ſich
das Vieh dort ſo leicht vermehrt, während der Indigo- und
Tabaksbau viel Sorge und Mühe macht. Der Ertrag des
letzteren iſt deſto unſicherer, da die Regenzeit bald länger,
bald kürzer dauert. Die Pflanzer ſind von der königlichen
Pacht, die ihnen Vorſchüſſe macht, völlig abhängig, und hier,
wie in Georgien und Virginien, baut man lieber Nahrungs-
gewächſe als Tabak. Man hatte neuerdings der Regierung
den Vorſchlag gemacht, auf königliche Koſten 500 Neger an-
zuſchaffen und ſie den Pflanzern abzugeben, die imſtande
wären, in 2 oder 3 Jahren den Ankaufspreis abzutragen.
Dadurch hoffte man die jährliche Tabaksernte auf 15000
Arobas zu bringen. Zu meiner Freude habe ich viele Grund-
eigentümer ſich gegen dieſes Projekt ausſprechen hören. Es
[240] ſtand nicht zu hoffen, daß man, nach dem Vorgang mancher
Provinzen der Vereinigten Staaten, nach einer gewiſſen Reihe
von Jahren den Schwarzen oder ihren Nachkommen die Frei-
heit ſchenken würde; deſto bedenklicher ſchien es, zumal nach
den entſetzlichen Vorgängen auf San Domingo, die Sklaven-
bevölkerung in Terra Firma zu vermehren. Weiſe Politik hat
nicht ſelten dieſelben Folgen, wie die edelſten und ſeltenſten
Regungen der Gerechtigkeit und Menſchenliebe.
Die mit Höfen und Indigo- und Tabakspflanzungen
bedeckte Ebene von Cumanacoa iſt von Bergen umgeben, die
beſonders gegen Süd höher anſteigen und für den Phyſiker
und den Geologen gleich intereſſant ſind. Alles weiſt darauf
hin, daß das Thal ein alter Seeboden iſt; auch fallen die
Berge, welche einſt das Ufer desſelben bildeten, dem See zu
ſenkrecht ab. Der See hatte nur Arenas zu einem Abfluß.
Beim Graben von Hausfundamenten ſtieß man bei Cumanacoa
auf Schichten von Geſchieben, mit kleinen zweiſchaligen Mu-
ſcheln darunter. Nach der Angabe mehrerer glaubwürdiger
Perſonen ſind ſogar vor mehr als 30 Jahren hinten in der
Schlucht San Juanillo zwei ungeheure Schenkelknochen ge-
funden worden, die 1,3 m lang waren und über 15 kg
wogen. Die Indianer hielten ſie, wie noch heute das Volk
in Europa, für Rieſenknochen, während die Halbgelehrten im
Lande, die das Privilegium haben, alles zu erklären, alles
Ernſtes verſicherten, es ſeien Naturſpiele und keiner großen
Beachtung wert. Dieſe Leute beriefen ſich bei ihrer Behaup-
tung auf den Umſtand, daß menſchliche Gebeine im Boden
von Cumanacoa ſehr raſch vermodern. Zum Schmuck der
Kirchen am Allerſeelentag läßt man Schädel aus den Kirch-
höfen an der Küſte kommen, wo der Boden mit Salzen ge-
ſchwängert iſt. Die vermeintlichen Rieſenknochen wurden nach
Cumana gebracht. Ich habe mich dort vergeblich danach um-
geſehen; aber nach den foſſilen Knochen, die ich aus anderen
Strichen Südamerikas heimgebracht und die von Cuvier genau
unterſucht worden, gehörten die rieſigen Schenkelknochen von
Cumanacoa wahrſcheinlich einer ausgeſtorbenen Elefantenart
an. Es kann befremden, daß dieſelben in ſo geringer Höhe
über dem gegenwärtigen Waſſerſpiegel gefunden worden; denn
es iſt ſehr merkwürdig, daß die foſſilen Reſte von Maſtodonten
und Elefanten, die ich aus den tropiſchen Ländern von
Mexiko, Neugranada, Quito und Peru mitgebracht, nicht in
tiefgelegenen Strichen (wo in gemäßigten Zonen Megatherien
[241] am Rio Luxan 1 und in Virginien, große Maſtodonten am
Ohio und foſſile Elefanten am Susquehanna vorkommen),
ſondern auf den in 195 bis 450 m Höhe gelegenen Hoch-
ebenen erhoben wurden.
Als wir dem ſüdlichen Rand des Beckens von Cumanacoa
zugingen, ſahen wir den Turimiquiri vor uns liegen. Eine
ungeheure Felswand, das Ueberbleibſel eines alten Küſten-
ſtrichs, ſteigt mitten im Walde empor. Weiter nach Weſt,
beim Cerro del Cuchivano, erſcheint die Bergkette wie durch
ein Erdbeben auseinander geriſſen. Die Spalte iſt über 290 m
breit und von ſenkrechten Felſen umgeben. Tief beſchattet
von den Bäumen, deren verſchlungene Zweige nicht Raum
haben, ſich auszubreiten, nahm ſich die Spalte aus wie eine
durch einen Erdfall entſtandene Grube. Ein Bach, der Rio
Juagua, läuft durch die Spalte, die ungemein maleriſch iſt
und Risco del Cuchivano heißt. Der kleine Fluß ent-
ſpringt 32 km weit gegen Südweſt am Fuße des Brigantin
und bildet ſchöne Fälle, ehe er in die Ebene von Cumanacoa
ausläuft.
Wir beſuchten öfters einen kleinen Hof, Conuco de Ber-
mudez, dem Erdſpalt von Cuchivano gegenüber. Man baut
hier auf feuchtem Boden Bananen, Tabak und mehrere Arten
von Baumwollenbäumen, beſonders die, deren Wolle nanking-
gelb iſt, und die auf der Inſel Margarita ſo häufig vorkommt.
Der Eigentümer ſagte uns, der Erdſpalt ſei von Jaguaren
bewohnt. Dieſe Tiere bringen den Tag in Höhlen zu und
ſchleichen bei Nacht um die Wohnungen. Da ſie reichliche
Nahrung haben, werden ſie bis 2 m lang. Ein ſolcher Tiger
hatte im verfloſſenen Jahre ein zum Hof gehöriges Pferd ver-
zehrt. Er ſchleppte ſeine Beute bei hellem Mondſchein über
die Savanne unter einen ungeheuer dicken Ceibabaum. Vom
Winſeln des verendenden Pferdes erwachten die Sklaven im
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 16
[242] Hofe. Sie rückten mitten in der Nacht aus, bewaffnet mit
Spießen und Machetes1. Der Tiger lag auf ſeiner Beute
und ließ ſie ruhig herankommen; er erlag erſt nach langem
hartnäckigem Widerſtand. Dieſer Fall und viele andere, von
denen wir an Ort und Stelle Kunde erhielten, zeigt, daß der
große Jaguar 2 von Terra Firma, wie der Jaguarete in
Paraguay und der eigentliche aſiatiſche Tiger, vor dem Men-
ſchen nicht fliehen, wenn ihm dieſer zu Leibe geht und die
Zahl der Angreifenden ihn nicht ſcheu macht. Die Zoologen
wiſſen jetzt, daß Buffon die größte amerikaniſche Katzenart
ganz falſch beurteilt hat. Was der berühmte Schriftſteller
von der Feigheit der Tiger der Neuen Welt ſagt, gilt nur
von den kleinen Oceloten, oder Pantherkatzen, und wir werden
bald ſehen, daß am Orinoko der echte amerikaniſche Jaguar
ſich zuweilen ins Waſſer ſtürzt, um die Indianer in ihren
Pirogen anzugreifen.
Dem Hofe Bermudez gegenüber liegen die Oeffnungen
zweier geräumigen Höhlen im Erdſpalt des Cuchivano; von
Zeit zu Zeit ſchlagen Flammen daraus empor, die man bei
Nacht ſehr weit ſieht. Die benachbarten Berge ſind dann
davon beleuchtet, und nach der Höhe der Felſen, über welche
dieſe brennenden Dünſte hinaufreichen, wäre man verſucht, zu
glauben, daß ſie mehrere hundert Fuß hoch werden. Beim
letzten großen Erdbeben in Cumana war dieſe Erſcheinung
von einem unterirdiſchen dumpfen, anhaltenden Getöſe be-
gleitet. Sie kommt vorzüglich in der Regenzeit vor, und die
Beſitzer der dem Berge Cuchivano gegenüber liegenden Pflan-
zungen verſichern, die Flammen zeigen ſich ſeit dem Dezember
1797 häufiger.
Auf einer botaniſchen Exkurſion nach Rinconada ver-
ſuchten wir vergeblich in die Spalte einzudringen. Wir hätten
die Felſen, die in ihrem Schoße die Urſachen dieſes merk-
[243] würdigen Feuers zu bergen ſchienen, gerne näher unterſucht;
aber die üppige Vegetation, die ineinander geſchlungenen
Lianen und Dornſträucher ließen uns nicht vorwärts kommen.
Zum Glück nahmen die Bewohner des Thals lebhaften An-
teil an unſeren Forſchungen, nicht ſowohl weil ſie ſich vor
einem vulkaniſchen Ausbruch fürchteten, als weil ſie ſich in
den Kopf geſetzt hatten, der Risco del Cuchivano enthalte
eine Goldgrube. Es half nichts, daß wir ihnen auseinander-
ſetzten, warum wir an Gold im Muſchelkalk nicht glauben
könnten; ſie wollten einmal wiſſen, „was der deutſche Berg-
mann vom Reichtum des Erzgangs halte“. Seit Karls V.
Zeit und ſeit die Welſer, die Alſinger und Sailer in Coro
und Caracas als Statthalter geſeſſen, hat ſich in Terra Firma
im Volk der Glaube an das beſondere bergmänniſche Ge-
ſchick der Deutſchen erhalten. Wohin ich in Südamerika kam,
überall, ſobald man erfuhr, wo ich her ſei, zeigte man mir
Muſter von Erzen. In den Kolonien iſt jeder Franzoſe ein
Arzt, jeder Deutſche ein Bergmann.
Die Pflanzer bahnten mit ihren Sklaven einen Weg
durch den Wald bis zum erſten Fall des Rio Juagua, und
am 10. September machten wir unſeren Ausflug nach dem
Risco del Cuchivano. Kaum hatten wir die Schlucht be-
treten, ſo merkten wir, daß Tiger in der Nähe waren, ſowohl
an einem friſch zerriſſenen Stachelſchwein, als am Geſtank
ihres Kotes, der dem der europäiſchen Katze gleicht. Zur
Vorſicht gingen die Indianer nach dem Hof zurück und brachten
Hunde von ſehr kleiner Raſſe mit. Man behauptet, wenn
man dem Jaguar auf ſchmalem Pfad begegne, ſpringe er
zuerſt auf den Hund los, nicht auf den Menſchen. Wir
ſtiegen nicht am Ufer des Baches, ſondern an der Felswand
über dem Waſſer hinauf. Man geht an einem 65 bis 100 m
tiefen Abgrund hin auf einem ganz ſchmalen Vorſprung, wie
auf dem Wege von Grindelwald am Mettenberg hin zum
großen Gletſcher. Wird der Vorſprung ſo ſchmal, daß man
nicht mehr weiß, wohin man den Fuß ſetzen ſoll, ſo ſteigt
man zum Bach hinunter, watet durch oder läßt ſich von einem
Sklaven hinübertragen und klimmt an der anderen Bergwand
weiter. Das Niederklettern iſt ziemlich mühſelig, und man
darf ſich nicht auf die Lianen verlaſſen, die wie große Stricke
von den Baumgipfeln niederhängen. Die Ranken- und
Schmarotzergewächſe hängen nur locker an den Aeſten, die ſie
umſchlingen; ihre Stengel haben zuſammen ein ganz anſehn-
[244] liches Gewicht, und wenn man auf abſchüſſigem Boden ſich
mit dem Körper an Lianen hängt, läuft man Gefahr, eine
ganze grüne Laube niederzureißen. Je weiter wir kamen,
deſto dichter wurde die Vegetation. An mehreren Stellen
hatten die Baumwurzeln, die in die Spalten zwiſchen den
Schichten hineingewachſen waren, das Kalkgeſtein zerſprengt.
Wir konnten kaum die Pflanzen fortbringen, die wir bei jedem
Schritte aufnahmen. Die Canna, die Helikonen mit ſchönen
purpurnen Blüten, die Coſtus und andere Gewächſe aus der
Familie der Amomeen werden hier 2,6 bis 3,25 m hoch.
Ihr helles, friſches Grün, ihr Seidenglanz und ihr ſtrotzendes
Fleiſch ſtechen grell ab vom bräunlichen Ton des Baumfarns
mit dem zartgefiederten Laub. Die Indianer hieben mit ihren
großen Meſſern Kerben in die Baumſtämme und machten uns
auf die Schönheit der roten und goldgelben Hölzer aufmerk-
ſam, die einſt bei unſeren Möbelſchreinern und Drehern ſehr
geſucht ſein werden. Sie zeigten uns ein Gewächs mit zu-
ſammengeſetzter Blüte, das 6,5 m hoch iſt (Eupatorium
laevigatum, Lamarck), die ſogenannte Roſe von Belveria
(Brownea racimosa), berühmt wegen ihrer herrlichen purpur-
roten Blüten, und das einheimiſche Drachenblut, eine noch
nicht beſchriebene Art Kroton, deren roter, adſtringierender
Saft zur Stärkung des Zahnfleiſches gebraucht wird. Sie
unterſchieden die Arten von dem Geruch, beſonders aber durch
Kauen der Holzfaſern. Zwei Eingeborene, denen man das-
ſelbe Holz zu kauen gibt, ſprechen, meiſt ohne ſich zu beſinnen,
denſelben Namen aus. Wir konnten übrigens von den ſcharfen
Sinnen unſerer Führer nicht viel Nutzen ziehen; denn wie
ſoll man zu Blättern, Blüten oder Früchten gelangen, die
auf Stämmen wachſen, deren erſten Aeſte 16,20 m über dem
Boden ſind? Mit Ueberraſchung ſieht man in dieſer Schlucht
die Baumrinde, ſogar den Boden mit Mooſen und Flechten
überzogen. Dieſe Kryptogamen ſind hier ſo häufig wie im
Norden. Die feuchte Luft und der Mangel an direktem
Sonnenlicht begünſtigen ihre Entwickelung, und doch beträgt
die Temperatur bei Tag 25, bei Nacht 19°.
Die angebliche Goldgrube von Cuchivano, die wir unter-
ſuchen ſollten, iſt nichts als ein Loch, das man in eine der
ſchwarzen, an Schwefelkies reichen Mergelſchichten im Kalk
zu graben angefangen. Das Loch liegt auf der rechten Seite
des Rio Juagua, an einem Punkt, wohin man vorſichtig
klettern muß, weil der Bach hier über 2,5 m tief iſt. Der
[245] Schwefelkies iſt hell goldgelb, und man ſieht ihm nicht an,
daß er Kupfer enthält. Die Mergelſchicht, in der er vor-
kommt, ſtreicht über den Bach hinüber. Das Waſſer ſpült
die metalliſch glänzenden Körner aus, und deshalb glaubt das
Volk, der Bach führe Gold. Man erzählt, nach dem großen
Erdbeben im Jahre 1766 habe das Waſſer des Juagua ſo
viel Gold geführt, daß Männer, „die weit hergekommen, und
von denen man nicht gewußt, wo ſie zu Hauſe ſeien“, Gold-
wäſchen angelegt hätten; ſie ſeien aber bei Nacht und Nebel
verſchwunden, nachdem ſie eine Menge Gold geſammelt. Es
braucht keines Beweiſes, daß dies ein Märchen iſt; die Kieſe
in den Quarzgängen des Glimmerſchiefers ſind allerdings ſehr
oft goldhaltig; aber nichts berechtigt bis jetzt zur Annahme,
daß der Schwefelkies im Mergelſchiefer des Alpenkalks gleich-
falls Gold enthalte. Einige direkte Verſuche auf naſſem Wege,
die ich während meines Aufenthaltes in Caracas angeſtellt,
thun dar, daß der Schwefelkies von Cuchivano durchaus nicht
goldhaltig iſt. Unſeren Führern behagte mein Unglaube ſehr
ſchlecht; ich hatte gut ſagen, aus dieſer angeblichen Goldgrube
könnte man höchſtens Alaun und Eiſenvitriol gewinnen; ſie
laſen nichtsdeſtoweniger heimlich jedes Stückchen Schwefelkies
auf, das ſie im Waſſer glänzen ſahen. Je ärmer ein Land
an Erzgruben iſt, deſto leichter wird es in der Einbildung
der Einwohner, die Schätze aus dem Schoße der Erde zu
holen. Wie viele Zeit haben wir auf unſerer fünfjährigen
Reiſe verloren, um auf das dringende Verlangen unſerer
Wirte Schluchten zu unterſuchen, in denen ſchwefelkieshaltige
Schichten ſeit Jahrhunderten den ſtolzen Namen Minas de
oro führen! Wie oft ſahen wir lächelnd zu, wenn Leute aller
Stände, Beamte, Dorfgeiſtliche, ernſte Miſſionäre mit un-
ermüdlicher Geduld Hornblende oder gelblichen Glimmer zer-
ſtießen, um mittels Queckſilber das Gold auszuziehen! Die
leidenſchaftliche Gier, mit der man nach Erzen ſucht, er-
ſcheint doppelt auffallend in einem Lande, wo man den
Boden kaum umzuwenden braucht, um ihm reiche Ernten zu
entlocken.
Nachdem wir den Schwefelkies am Rio Juagua unter-
ſucht, gingen wir weiter in der Schlucht hinauf, die ſich wie
ein enger, von ſehr hohen Bäumen beſchatteter Kanal fort-
zieht. Nach ſehr beſchwerlichem Marſche und ganz durch-
näßt, weil wir ſo oft über den Bach gegangen waren,
langten wir am Fuße der Höhlen des Cuchivano an, aus
[246] denen man vor einigen Jahren die Flammen hatte brechen
ſehen. 1560 m hoch ſteigt ſenkrecht eine Felswand auf. In
einem Landſtrich, wo der üppige Pflanzenwuchs überall den
Boden und das Geſtein bedeckt, kommt es ſelten vor, daß
ein großer Berg in ſenkrechtem Durchſchnitte ſeine Schichten
zeigt. Mitten in dieſem Durchſchnitte, leider dem Menſchen
unzugänglich, liegen die Spalten, die zu zwei Höhlen führen.
Sie ſollen von denſelben Nachtvögeln bewohnt ſein, die wir
bald in der Cueva del Guacharo bei Caripe werden kennen
lernen.
Wir ruhten am Fuße der Höhlen aus. Hier ſah man
die Flammen hervorkommen, welche in den letzten Jahren
häufiger geworden ſind. Unſere Führer und der Pächter, ein
verſtändiger, mit den Oertlichkeiten der Provinz wohlbekannter
Mann, verhandelten nach der Weiſe der Kreolen über die
Gefahr, der die Stadt Cumanacoa ausgeſetzt wäre, wenn der
Cuchivano ein thätiger Vulkan würde, se veniesse a re-
ventar. Es ſchien ihnen unzweifelhaft, daß ſeit dem großen
Erdbeben von Quito und Cumana im Jahre 1797 Neu-
Andaluſien vom unterirdiſchen Feuer immer mehr unterhöhlt
werde. Sie brachten die Flammen zur Sprache, die man in
Cumana hatte aus dem Boden ſchlagen ſehen, und die Stöße,
die man jetzt an Orten empfindet, wo man früher nichts von
Erdbeben wußte. Sie erinnerten daran, daß man in Maca-
rapan ſeit einigen Monaten öfters Schwefelgeruch ſpüre. Auf
dieſe und ähnliche Erſcheinungen, die uns damals in ihrem
Munde auffielen, gründeten ſie Prophezeiungen, die faſt ſämt-
lich in Erfüllung gegangen ſind. Entſetzliche Zerſtörungen
haben im Jahre 1812 in Caracas ſtattgefunden, zum Beweis,
welche gewaltige Unruhe im Nordoſten von Terra Firma in
der Natur herrſcht.
Was iſt wohl aber die Urſache der feurigen Erſcheinungen,
die man am Cuchivano beobachtet? Ich weiß wohl, daß man
zuweilen die Luftſäule, die über der Mündung brennender
Vulkane aufſteigt, in hellem Lichte glänzen ſieht. Dieſer
Lichtſchein, den man von brennendem Waſſerſtoffgas herleitet,
wurde von Chillo aus auf dem Gipfel des Cotopaxi zu einer
Zeit beobachtet, wo der Berg ziemlich ruhig ſchien. Ich weiß,
daß die Alten erzählen, auf dem Mons Albanus bei Rom,
dem heutigen Monte Cavo, ſei zuweilen bei Nacht Feuer ge-
ſehen worden; aber der Mons Albanus iſt ein erſt in neuerer
Zeit erloſchener Vulkan, der noch zu Catos Zeit Rapilli aus-
[247] warf, 1 während der Cuchivano ein Kalkberg iſt in einer
Gegend, wo weit und breit keine Trappbildungen vorkommen.
Kann man jene Flammen etwa daraus erklären, daß das
Waſſer, wenn es mit den Kieſen im Mergelſchiefer in Be-
rührung kommt, zerſetzt wird? Iſt das Feuer, das aus den
Höhlen des Cuchivano kommt, brennendes Waſſerſtoffgas?
Das Waſſer, das durch den Kalkſtein ſickert und durch die
Schwefelſchichten zerſetzt wird, und die Erdbeben von Cumana,
die Lager gediegenen Schwefels bei Carupano und die ſchweflig
ſauren Dämpfe, die man zuweilen in den Savannen ſpürt:
zwiſchen all dem ließe ſich leicht ein Zuſammenhang denken;
es iſt auch nicht zu bezweifeln, daß, wenn ſich bei der ſtarken
Affinität zwiſchen dem Eiſenoxyd und den Erden bei hoher
Temperatur Waſſer über Schwefelkieſen zerſetzt, die Entbindung
von Waſſerſtoffgas erfolgen kann, welche mehrere neuere Geo-
logen eine ſo wichtige Rolle ſpielen laſſen. Aber bei vul-
kaniſchen Ausbrüchen tritt weit konſtanter ſchweflichte Säure
auf als Waſſerſtoff, und der Geruch, den man zuweilen bei
ſtarken Erdſtößen verſpürt, iſt vorzugsweiſe der Geruch von
ſchweflichter Säure. Ueberblickt man die vulkaniſchen Er-
ſcheinungen und die Erdbeben im ganzen, bedenkt man, in
welch ungeheuren Entfernungen ſich die Stöße unter dem
Meeresboden fortpflanzen, ſo läßt man bald Erklärungen
fallen, die von unbedeutenden Schichten von Schwefelkies und
bituminöſem Mergel ausgehen. Nach meiner Anſicht können
die Stöße, die man in der Provinz Cumana ſo häufig ſpürt,
ſo wenig den zu Tag ausgehenden Gebirgsarten zugeſchrieben
werden, als die Stöße, welche die Apenninen erſchüttern, As-
phaltadern oder brennenden Erdölquellen. Alle dieſe Er-
ſcheinungen hängen von allgemeineren, faſt hätte ich geſagt,
tiefer liegenden Urſachen her, und der Herd der vulkaniſchen
Wirkungen iſt nicht in den ſekundären Gebirgsbildungen, aus
denen die äußere Erdrinde beſteht, ſondern in ſehr bedeutender
Tiefe unter der Oberfläche in den Urgebirgsarten zu ſuchen.
Je weiter die Geologie fortſchreitet, deſto mehr ſieht man ein,
wie wenig man mit den Theorieen ausrichtet, die ſich auf
wenige, rein örtliche Beobachtungen gründen.
Nach Meridianhöhen des ſüdlichen Fiſches, die ich in der
Nacht vom 7. September beobachtet, liegt Cumanacoa unter
[248] 10° 16′ 11″ der Breite; die Angabe der geſchätzteſten Karten
iſt alſo um ¼ Grad unrichtig. Die Neigung der Magnet-
nadel fand ich gleich 42,60° und die Intenſität der mag-
netiſchen Kraft gleich 228 Schwingungen in zehn Zeitminuten;
die Intenſität war demnach um neun Schwingungen oder 1/25
geringer als in Ferrol.
Am 12. ſetzten wir unſere Reiſe nach dem Kloſter Caripe,
dem Hauptort der Chaymasmiſſionen, fort. Wir zogen der
geraden Straße den Umweg über die Berge Cocollar und
Turimiquiri vor, die nicht viel höher ſind als der Jura. Der
Weg läuft zuerſt oſtwärts 13,5 km über die Hochebene von
Cumanacoa, den alten Seeboden, und biegt dann nach Süd
ab. Wir kamen durch das kleine indianiſche Dorf Aricagua,
das, von bewaldeten Hügeln umgeben, ſehr freundlich daliegt.
Von hier an ging es bergauf, und wir hatten über vier Stunden
zu ſteigen. Dieſes Stück des Weges iſt ſehr angreifend; man
ſetzt 22mal über den Pututucuar, ein reißendes Bergwaſſer
voll Kalkſteinblöcken. Hat man auf der Cueſta del Cocollar
650 m Meereshöhe erreicht, ſo ſieht man zu ſeiner Ueber-
raſchung faſt keine Wälder oder auch nur große Bäume mehr.
Man geht über eine ungeheure, mit Gräſern bewachſene Hoch-
ebene. Nur Mimoſen mit halbkugeliger Krone und 1 bis
1,3 m hohem Stamme unterbrechen die öde Einförmigkeit
der Savannen. Ihre Aeſte ſind gegen den Boden geneigt oder
breiten ſich ſchirmartig aus. Ueberall, wo Abhänge oder halb
mit Erde bedeckte Geſteinmaſſen ſich zeigen, breitet die Cluſia
oder der Cupey mit den großen Nymphäenblüten ſein herr-
liches Grün aus. Die Wurzeln dieſes Baumes haben zu-
weilen 24 cm Durchmeſſer und gehen oft ſchon 5 m über
dem Boden vom Stamme ab.
Nachdem wir noch lange bergan geſtiegen waren, kamen
wir auf einer kleinen Ebene zum Hato del Cocollar. Es
iſt dies ein Hof, der 793 m hoch ganz allein auf dem Plateau
liegt. In dieſer Einſamkeit blieben wir drei Tage, vortrefflich
verpflegt von dem Eigentümer, 1 der vom Hafen von Cumana
an unſer Begleiter geweſen war. Wir fanden daſelbſt bei
der reichen Weide Milch, vortreffliches Fleiſch und vor allem
ein herrliches Klima. Bei Tag ſtieg der hundertteilige Thermo-
meter nicht über 22 oder 23°, kurz vor Sonnenuntergang fiel
er auf 19, und bei Nacht zeigte er kaum 14°. Bei Nacht war
[249] es daher um 7° kühler als an der Küſte, was, da die
Hochebene des Cocollar nicht ſo hoch liegt als die Stadt
Caracas, wiederum auf eine ausnehmend raſche Wärmeabnahme
hinweiſt.
So weit das Auge reicht, ſieht man auf dem hohen Punkte
nichts als kahle Savannen; nur hin und wieder tauchen aus
den Schluchten kleine Baumgruppen auf, und trotz der ſchein-
baren Einförmigkeit der Vegetation findet man ausnehmend
viele ſehr intereſſante Pflanzen. Wir führen hier nur an eine
prachtvolle Lobelia mit purpurnen Blüten, die Brownea
coccinea, die über 30 m hoch wird, und vor allen den Pejoa,
der im Lande berühmt iſt, weil ſeine Blätter, wenn man ſie
zwiſchen den Fingern zerreibt, einen köſtlichen, aromatiſchen
Geruch von ſich geben. Was uns aber am meiſten am ein-
ſamen Orte entzückte, das war die Schönheit und Stille der
Nächte. Der Eigentümer des Hofes blieb mit uns wach.
Er ſchien ſich daran zu weiden, wie Europäer, die eben erſt
unter die Tropen gekommen, ſich nicht genug wundern konnten
über die friſche Frühlingsluft, deren man nach Sonnenunter-
gang hier auf den Bergen genießt. In jenen fernen Ländern,
wo der Menſch die Gaben der Natur noch voll zu ſchätzen
weiß, preiſt der Grundeigentümer das Waſſer ſeiner Quelle,
den geſunden Wind, der um den Hügel weht, und daß es
keine ſchädlichen Inſekten gibt, wie wir in Europa uns der
Vorzüge unſeres Wohnhauſes oder des maleriſchen Effektes
unſerer Pflanzungen rühmen.
Unſer Wirt war mit einer Mannſchaft, die an der Küſte
des Meerbuſens von Paria Holzſchläge für die ſpaniſche Marine
einrichten ſollte, in die Neue Welt gekommen. In den großen
Mahagoni-, Cedrela- und Braſilholzwäldern, die um das Meer
der Antillen her liegen, dachte man, die größten Stämme aus-
zuſuchen, ſie im Groben ſo zuzuhauen, wie man ſie zum Schiffs-
bau braucht, und ſie jährlich auf die Werfte von Caraques bei
Cadiz zu ſchicken. Aber weiße, nicht akklimatiſierte Männer
mußten der anſtrengenden Arbeit, der Sonnenglut und der
ungeſunden Luft der Wälder erliegen. Dieſelben Lüfte, welche
mit den Wohlgerüchen der Blüten, Blätter und Hölzer ge-
ſchwängert ſind, führen auch den Keim der Auflöſung in die
Organe. Bösartige Fieber rafften mit den Zimmerleuten der
königlichen Marine die Aufſeher der neuen Anſtalt weg und
die Bucht, der die erſten Spanier wegen des trübſeligen,
wilden Ausſehens der Küſte den Namen „Golfo triste“
[250] gegeben, wurde das Grab der europäiſchen Seeleute. Unſer
Wirt hatte das ſeltene Glück, dieſen Gefahren zu entgehen;
nachdem er den größten Teil der Seinigen hatte hinſterben
ſehen, zog er weit weg von der Küſte auf die Berge des
Cocollar. Ohne Nachbarſchaft, im ungeſtörten Beſitze eines
Savannenſtriches von 22 km, genießt er hier der Unabhängig-
keit, wie die Vereinzelung ſie gewährt, und der Heiterkeit des
Gemüts, wie ſie ſchlichten Menſchen eigen iſt, die in reiner,
ſtärkender Luft leben.
Nichts iſt dem Eindruck majeſtätiſcher Ruhe zu vergleichen,
den der Anblick des geſtirnten Himmels an dieſem einſamen
Ort in einem hinterläßt. Blickten wir bei Einbruch der Nacht
hinaus über die Prärieen, die bis zum Horizont fortſtreichen,
über die grün bewachſene, ſanft gewellte Hochebene, ſo war
es uns, gerade wie in den Steppen am Orinoko, als ſähen
wir weit weg das geſtirnte Himmelsgewölbe auf dem Ozean
ruhen. Der Baum, unter dem wir ſaßen, die leuchtenden
Inſekten, die in der Luft tanzten, die glänzenden Sternbilder
im Süden, alles mahnte uns daran, wie weit wir von der
Heimaterde waren. Und wenn nun, inmitten dieſer fremd-
artigen Natur, aus einer Schlucht herauf das Schellengeläute
einer Kuh oder das Brüllen des Stieres zu unſeren Ohren
drang, dann ſprang mit einmal der Gedanke an die Heimat
in uns auf. Es war, als hörten wir aus weiter, weiter
Ferne Stimmen, die über das Weltmeer herüberriefen und
uns mit Zauberkraft aus einer Hemiſphäre in die andere ver-
ſetzten. So wunderbar beweglich iſt die Einbildungskraft
des Menſchen, die ewige Quelle ſeiner Freuden und ſeiner
Schmerzen.
In der Morgenkühle machten wir uns auf, den Turimi-
quiri zu beſteigen. So heißt der Gipfel des Cocollar, der
mit dem Brigantin nur einen Gebirgsſtock bildet, welcher bei
den Eingeborenen früher Sierra de los Tageres hieß. Man
macht einen Teil des Weges auf Pferden, die frei in den
Savannen laufen, zum Teil aber an den Sattel gewöhnt ſind.
So plump ihr Ausſehen iſt, klettern ſie doch ganz flink den
ſchlüpfrigſten Raſen hinauf. Wir machten zuerſt bei einer
Quelle Halt, die nicht aus dem Kalkſtein, ſondern noch aus
einer Schichte quarzigen Sandſteines kommt. Ihre Temperatur
war 21°, alſo um 1,5° geringer als die der Quelle von
Quetepe; der Höhenunterſchied beträgt aber auch gegen 428 m.
Ueberall, wo der Sandſtein zu Tage kommt, iſt der Boden
[251] eben und bildet gleichſam kleine Plateaus, die wie Stufen
übereinander liegen. Bis zu 1365 m und ſogar darüber iſt
der Berg, wie alle in der Nachbarſchaft, nur mit Gräſern
bewachſen. In Cumana ſchreibt man den Umſtand, daß keine
Bäume mehr vorkommen, der großen Hitze zu; vergegen-
wärtigt man ſich aber die Verteilung der Gewächſe in den
Kordilleren der heißen Zone, ſo ſieht man, daß die Berg-
gipfel in Neu-Andaluſien lange nicht zu der oberen Baumgrenze
hinaufreichen, die in dieſer Breite mindeſtens 3120 m hoch
liegt. Ja, der kurze Raſen zeigt ſich auf dem Cocollar ſtellen-
weiſe ſogar ſchon bei 680 m über dem Meer, und man kann
auf demſelben bis zu 1950 m Höhe gehen; weiter hinauf,
über dieſem mit Gräſern bedeckten Gürtel, befindet ſich auf
dem Menſchen faſt unzugänglichen Gipfeln ein Wäldchen von
Cedrela, Javillo 1 und Mahagonibäumen. Nach dieſen lokalen
Verhältniſſen muß man annehmen, daß die Bergſavannen des
Cocollar und Turimiquiri ihre Entſtehung nur der verderb-
lichen Sitte der Eingeborenen verdanken, die Wälder anzu-
zünden, die ſie in Weideland verwandeln wollen. Jetzt, da
Gräſer und Alppflanzen ſeit dreihundert Jahren den Boden
mit einem dicken Filz überzogen haben, können die Baum-
ſamen ſich nicht mehr im Boden befeſtigen und keimen, ob-
gleich Wind und Vögel ſie fortwährend von entlegenen Wäl-
dern in die Savannen herübertragen.
Das Klima auf dieſen Bergen iſt ſo mild, daß beim
Hofe auf dem Cocollar der Baumwollenbaum, der Kaffeebaum,
ſogar das Zuckerrohr gut fortkommen. Trotz aller Behaup-
tungen der Einwohner an der Küſte iſt unter dem 10. Grad
der Breite auf Bergen, die kaum höher ſind als der Mont
Dore und der Puy de Dome, niemals Reif geſehen worden.
Die Weiden auf dem Turimiquiri nehmen an Güte ab, je
höher ſie liegen. Ueberall, wo zerſtreute Felsmaſſen Schatten
bieten, kommen Flechten und verſchiedene europäiſche Mooſe
[252] vor. Melastoma xanthostachis und ein Strauch (Palicourea
rigida), deſſen große, lederartige Blätter im Wind wie Perga-
ment rauſchen, wachſen hier und da in der Savanne. Aber
die Hauptzierde des Raſens iſt ein Liliengewächs mit gold-
gelber Blüte, die Marica martinicensis. Man findet ſie in
den Provinzen Cumana und Caracas meiſt erſt in 780—970 m
Höhe. Die Gebirgsarten des Turimiquiri ſind ein Alpen-
kalk, ähnlich dem bei Cumanacoa, und ziemlich dünne Schich-
ten Mergel und quarziger Sandſtein. Im Kalkſtein ſind
Klumpen von braunem Eiſenoxyd und Spateiſen eingeſprengt.
An mehreren Stellen habe ich ganz deutlich beobachtet, daß der
Sandſtein dem Kalk nicht nur aufgelagert iſt, ſondern daß
beide nicht ſelten in Wechſellagerung vorkommen.
Man unterſcheidet im Lande den abgerundeten Gipfel
des Turimiquiri und die ſpitzen Piks oder Cucuruchos, die
dicht bewaldet ſind, und wo es viele Tiger gibt, auf die man
wegen des großen und ſchönen Fells Jagd macht. Den run-
den begraſten Gipfel fanden wir 1378 m hoch. Von dieſem
Gipfel läuft nun nach Weſt ein ſteiler Felskamm aus, der
1,8 km von jenem durch eine ungeheure Spalte unterbrochen
iſt, die gegen den Meerbuſen von Cariaco hinunterläuft. An
der Stelle, wo der Kamm hätte weiter laufen ſollen, erheben
ſich zwei Bergſpitzen aus Kalkſtein, von denen die nördliche
die höhere iſt. Dies iſt der eigentliche Cucurucho de Tu-
rimiquiri, der für höher gilt als der Brigantin, der den
Schiffern, die der Küſte von Cumana zuſteuern, ſo wohl be-
kannt iſt. Nach Höhenwinkeln und einer ziemlich kurzen
Standlinie, die wir auf dem abgerundeten kahlen Gipfel
zogen, maßen wir den Spitzberg oder Cucurucho und fanden
ihn 680 m höher als unſeren Standort, ſo daß ſeine abſolute
Höhe über 2047 m beträgt.
Man genießt auf dem Turimiquiri einer der weiteſten
und maleriſchten Ausſichten. Vom Gipfel bis hinunter zum
Meer liegen Bergketten vor einem, die parallel von Oſt nach
Weſt ſtreichen und Längenthäler zwiſchen ſich haben. Da in
letztere eine Menge kleiner, von den Bergwaſſern ausgeſpülter
Thäler unter rechtem Winkel münden, ſo ſtellen ſich die Seiten-
ketten als Reihen gleich vieler bald abgerundeter, bald kegel-
förmiger Höhen dar. Bis zum Impoſible ſind die Berghänge
meiſt ziemlich ſanft; weiterhin werden die Abfälle ſehr ſteil
und ſtreichen hintereinander fort bis zum Ufer des Meer-
buſens von Cariaco. Die Umriſſe dieſer Gebirgsmaſſen er-
[253] innern an die Ketten des Jura, und die einzige Ebene, die
ſich darin findet, iſt das Thal von Cumanacoa. Es iſt, als
ſähe man in einen Trichter hinunter, auf deſſen Boden unter
zerſtreuten Baumgruppen das indianiſche Dorf Aricagua er-
ſcheint. Gegen Nord hob ſich eine ſchmale Landzunge, die
Halbinſel Araya, braun vom Meere ab, das, von den erſten
Sonnenſtrahlen beleuchtet, ein glänzendes Licht zurückwarf.
Jenſeits der Halbinſel begrenzte den Horizont das Vorgebirge
Macanao, deſſen ſchwarzes Geſtein gleich einem ungeheuren
Bollwerk aus dem Waſſer aufſteigt.
Der Hof auf dem Cocollar am Fuße des Turimiquiri
liegt unter 10° 9′ 32″ der Breite. Die Inklination der
Magnetnadel fand ich gleich 42° 10′. Die Nadel ſchwang
220mal in zehn Zeitminuten. Die im Kalk liegenden Braun-
eiſenſteinmaſſen mögen die Intenſität der magnetiſchen Kraft
um ein weniges ſteigern.
Am 14. September gingen wir vom Cocollar zur Miſſion
San Antonio hinunter. Der Weg führt anfangs über Sa-
vannen, die mit großen Kalkſteinblöcken überſät ſind, und dann
betritt man dichten Wald. Nachdem man zwei ſehr ſteile
Berggräte überſtiegen, hat man ein ſchönes Thal vor ſich, das,
22,5 km lang, faſt durchaus von Oſt nach Weſt ſtreicht. In
dieſem Thale liegen die Miſſionen San Antonio und Guana-
guana. Erſtere iſt berühmt wegen einer kleinen Kirche aus
Backſteinen, in erträglichem Stil, mit zwei Türmen und doriſchen
Säulen. Sie gilt in der Umgegend für ein Wunder. Der
Guardian der Kapuziner wurde mit dieſem Kirchenbau in nicht
ganz zwei Sommern fertig, obgleich er nur Indianer aus
ſeinem Dorfe dabei verwendet hatte. Die Säulenkapitäle,
die Geſimſe und ein mit Sonnen und Arabesken gezierter
Fries wurden aus mit Ziegelmehl vermiſchtem Thon model-
liert. Wundert man ſich, an der Grenze Lapplands Kirchen
im reinſten griechiſchen Stil 1 anzutreffen, ſo überraſchen einen
dergleichen erſte Kunſtverſuche noch mehr in einem Erdſtrich,
wo noch alles den Stempel menſchlicher Urzuſtände trägt und
von den Europäern erſt ſeit etwa vierzig Jahren der Grund
zukünftiger Kultur gelegt wurde. Der Statthalter der Provinz
mißbilligte es, daß in Miſſionen mit ſolchem Luxus gebaut
werde, und zum großen Leidweſen der Mönche wurde die
Kirche nicht ausgebaut. Die Indianer von San Antonio ſind
[254] weit entfernt, ſolches gleichfalls zu beklagen; ſie ſind insgeheim
mit dem Spruche des Statthalters vollkommen einverſtanden,
weil er ihrer natürlichen Trägheit behagt. Sie machen ſich
ebenſowenig aus architektoniſchen Ornamenten als einſt die
Eingeborenen in den Jeſuitenmiſſionen in Paraguay.
Ich hielt mich in der Miſſion San Antonio nur auf,
um auf den Barometer zu ſehen und ein paar Sonnenhöhen
zu nehmen. Der große Platz liegt 430 m über Cumana.
Jenſeits des Dorfes durchwateten wir die Flüſſe Colorado
und Guarapiche, die beide in den Bergen des Cocollar ent-
ſpringen und weiter unten, oſtwärts, ſich vereinigen. Der
Colorado hat eine ſehr ſtarke Strömung und wird bei ſeiner
Mündung breiter als der Rhein; der Guarapiche iſt, nachdem
er den Rio Areo aufgenommen, über 90 m tief. An ſeinen
Ufern wächſt eine ausnehmend ſchöne Grasart, die ich zwei
Jahre ſpäter, als ich den Magdalenenſtrom hinauffuhr, ge-
zeichnet habe. Der Halm mit zweizeiligen Blättern wird
5 bis 6,5 m hoch. Unſere Maultiere konnten ſich durch den
dicken Moraſt auf dem ſchmalen ebenen Weg kaum durch-
arbeiten. Es goß in Strömen vom Himmel; der ganze Wald
erſchien infolge des ſtarken anhaltenden Regens wie ein Sumpf.
Gegen Abend langten wir in der Miſſion Guanaguana
an, die ſo ziemlich in derſelben Höhe liegt wie das Dorf San
Antonio. Es that ſehr not, daß wir uns trockneten. Der
Miſſionär nahm uns ſehr herzlich auf. Es war ein alter
Mann, der, wie es ſchien, ſeine Indianer ſehr verſtändig be-
handelte. Das Dorf ſteht erſt ſeit dreißig Jahren am jetzigen
Fleck, früher lag es weiter nach Süden und lehnte ſich an
einen Hügel. Man wundert ſich, mit welcher Leichtigkeit man
die Wohnſitze der Indianer verlegt. Es gibt in Südamerika
Dörfer, die in weniger als einem halben Jahrhundert dreimal
den Ort gewechſelt haben. Den Eingeborenen knüpfen ſo
ſchwache Bande an den Boden, auf dem er wohnt, daß er
den Befehl, ſein Haus abzureißen und es anderswo wieder
aufzubauen, gleichmütig aufnimmt. Ein Dorf wechſelt ſeinen
Platz wie ein Lager. Wo es nur Thon, Rohr, Palmblätter
und Helikonenblätter gibt, iſt die Hütte in wenigen Tagen
wieder fertig. Dieſen gewaltſamen Aenderungen liegt oft
nichts zu Grunde als die Laune eines friſch aus Spanien
angekommenen Miſſionärs, der meint, die Miſſion ſei dem
Fieber ausgeſetzt oder liege nicht luftig genug. Es iſt vor-
gekommen, daß ganze Dörfer mehrere Stunden weit verlegt
[255] wurden, bloß weil der Mönch die Ausſicht aus ſeinem Hauſe
nicht ſchön oder weit genug fand.
Guanaguana hat noch keine Kirche. Der alte Geiſtliche,
der ſchon ſeit dreißig Jahren in den Wäldern Amerikas lebte,
äußerte gegen uns, die Gemeindegelder, d. h. der Ertrag der
Arbeit der Indianer, müßten zuerſt zum Bau des Miſſions-
hauſes, dann zum Kirchenbau und endlich für die Kleidung
der Indianer verwendet werden. Er verſicherte in wichtigem
Ton, von dieſer Ordnung dürfe unter keinem Vorwand ab-
gegangen werden. Nun, die Indianer, die lieber ganz nackt
gehen als die leichteſten Kleider tragen, können gut warten,
bis die Reihe an ſie kommt. Die geräumige Wohnung des
Padre war eben fertig geworden, und wir bemerkten zu
unſerer Ueberraſchung, daß das Haus, das ein plattes Dach
hatte, mit einer Menge Kaminen wie mit Türmchen geziert
war. Sie ſollten, belehrte uns unſer Wirt, ihn an ſein ge-
liebtes Heimatland, und in der tropiſchen Hitze an die ara-
goneſiſchen Winter erinnern. Die Indianer in Guanaguana
bauen Baumwolle für ſich, für die Kirche und für den Miſſionär.
Der Ertrag gilt als Gemeindeeigentum, und mit den Gemeinde-
geldern werden die Bedürfniſſe des Geiſtlichen und die Koſten
des Gottesdienſtes beſtritten. Die Eingeborenen haben höchſt
einfache Vorrichtungen, um den Samen von der Baumwolle
zu trennen. Es ſind hölzerne Cylinder von ſehr kleinem
Durchmeſſer, zwiſchen denen die Baumwolle durchläuft, und
die man wie Spinnräder mit dem Fuße umtreibt. Dieſe höchſt
mangelhaften Maſchinen leiſten indeſſen gute Dienſte, und
man fängt in den anderen Miſſionen an, ſie nachzuahmen.
Ich habe anderswo, in meinem Werke über Mexiko, ausein-
andergeſetzt, wie ſehr die Sitte, die Baumwolle mit dem
Samen zu verkaufen, den Transport in den ſpaniſchen Ko-
lonien erſchwert, wo alle Waren auf Maultieren in die See-
häfen kommen. Der Boden iſt in Guanaguana ebenſo frucht-
bar wie im benachbarten Dorfe Aricagua, das gleichfalls ſeinen
indianiſchen Namen behalten hat. Eine Almuda (7030 qm)
trägt in guten Jahren 25—30 Fanegas Mais, die Fanega
zu 50 kg. Aber hier wie überall, wo der Segen der Natur
die Entwickelung der Induſtrie hemmt, macht man nur ganz
wenige Morgen Landes urbar, und kein Menſch denkt daran,
mit dem Anbau der Nahrungspflanzen zu wechſeln. Die In-
dianer in Guanaguana erzählten mir als etwas Ungewöhn-
liches, im verfloſſenen Jahre ſeien ſie, ihre Weiber und Kinder
[256] drei Monate lang al monte geweſen, d. h. ſie ſeien in den
benachbarten Wäldern umhergezogen, um ſich von ſaftigen
Pflanzen, von Palmkohl, von Farnwurzeln und wilden Baum-
früchten zu nähren. Sie ſprachen von dieſem Nomadenleben
keineswegs wie von einem Notſtand. Nur der Miſſionär
hatte dabei zu leiden gehabt, weil das Dorf ganz verlaſſen
ſtand und die Gemeindegenoſſen, als ſie aus den Wäldern
wieder heimkamen, weniger lenkſam waren als zuvor.
Das ſchöne Thal von Guanaguana läuft gegen Oſt in
die Ebenen von Punzere und Terecen aus. Gerne hätten
wir dieſe Ebenen beſucht, um die Quellen von Bergöl zwiſchen
den Flüſſen Guarapiche und Areo zu unterſuchen; aber die
Regenzeit war förmlich eingetreten, und wir hatten täglich
vollauf zu thun, um die geſammelten Pflanzen zu trocknen
und aufzubewahren. Der Weg von Guanaguana nach dem
Dorfe Punzere führt entweder über San Felix, oder über
Caycara und Guayuta, wo ſich ein Hato (Hof für Viehzucht)
der Miſſionäre befindet. An letzterem Orte findet man, nach
dem Bericht der Indianer, große Schwefelmaſſen, nicht in
Gips oder Kalkſtein, ſondern in geringer Tiefe unter der
Fläche des Bodens in Thonſchichten. Dieſes auffallende Vor-
kommen ſcheint Amerika eigentümlich; wir werden demſelben
im Königreich Quito und in Neu-Granada wieder begegnen.
Vor Punzere ſieht man in den Savannen Säckchen von Seiden-
gewebe an den niedrigſten Baumäſten hängen. Es iſt dies
die seda silvestre oder einheimiſche wilde Seide, die einen
ſchönen Glanz hat, aber ſich ſehr rauh anfühlt. Der Nacht-
ſchmetterling, der ſie ſpinnt, kommt vielleicht mit denen in
den Provinzen Guanaxuato und Antioquia überein, die gleich-
falls wilde Seide liefern. Im ſchönen Walde von Punzere
kommen zwei Bäume vor, die unter den Namen Curucay
und Canela bekannt ſind; erſterer liefert ein von den Piajes
oder indianiſchen Zauberern ſehr geſuchtes Harz, der zweite
hat Blätter, die nach echtem Ceylonzimt riechen. Von Punzere
läuft der Weg über Terecen und Neu-Palencia, das eine
neue Niederlaſſung von Kanariern iſt, nach dem Hafen San
Juan, der am rechten Ufer des Rio Areo liegt, und man
muß in einer Piroge über dieſen Fluß ſetzen, wenn man zu
den berühmten Bergölquellen von Buen Paſtor gehen will.
Man beſchrieb ſie uns als kleine Schachte oder Trichter, die
ſich von ſelbſt im ſumpfigen Boden gebildet haben. Dieſe
Erſcheinung erinnert an den Asphaltſee oder Chapapote
[257] auf der Inſel Trinidad, der in gerader Linie von Buen Paſtor
nur 64 km entfernt iſt.
Nachdem wir eine Weile mit dem Verlangen gekämpft,
den Guarapiche hinunter in den Golfo triste zu fahren,
wandten wir uns gerade den Bergen zu. Die Thäler von
Guanaguana und Caripe ſind durch eine Art Damm oder
Grat aus Kalkſtein, der unter dem Namen Cuchilla de
Guanaguana weit und breit berühmt iſt, voneinander ge-
trennt. 1 Wir fanden den Uebergang beſchwerlich, weil wir
damals noch nicht in den Kordilleren gereiſt waren, aber ſo
gefährlich, als man ihn in Cumana ſchildert, iſt er keines-
wegs. Allerdings iſt der Weg an mehreren Stellen nur 38
oder 40 cm breit; der Bergſattel, über den er wegläuft, iſt
mit kurzem, ſehr glattem Raſen bedeckt, die Abhänge zu beiden
Seiten ſind ziemlich jäh, und wenn der Reiſende fiele, könnte
er auf dem Graſe 220 bis 260 m hinunterrollen. Indeſſen ſind
die Bergſeiten vielmehr nur ſtarke Böſchungen als eigentliche
Abgründe, und die Maultiere hierzulande haben einen ſo
ſicheren Gang, daß man ſich ihnen ruhig anvertrauen kann.
Ihr Benehmen iſt ganz wie das der Saumtiere in der Schweiz
und in den Pyrenäen. Je wilder ein Land iſt, deſto fein-
fühliger und ſchärfer witternd wird der Inſtinkt der Haus-
tiere. Spüren die Maultiere eine Gefahr, ſo bleiben ſie
ſtehen und wenden den Kopf hin und her, bewegen die Ohren
auf und ab; man ſieht, ſie überlegen, was zu thun ſei. Sie
kommen langſam zum Entſchluß, aber derſelbe fällt immer
richtig aus, wenn er frei iſt, das heißt, wenn ihn der Reiſende
nicht unvorſichtigerweiſe ſtört oder übereilt. Wenn man in
den Anden ſechs, ſieben Monate auf entſetzlichen Wegen durch
die von den Bergwaſſern zerriſſenen Gebirge zieht, da ent-
wickelt ſich die Intelligenz der Reitpferde und Laſttiere auf
wahrhaft erſtaunliche Weiſe. Man kann auch die Gebirgs-
bewohner ſagen hören: „Ich gebe Ihnen nicht das Maultier,
das den bequemſten Schritt hat, ſondern das vernünftigſte,
la mas racional.“ Dieſes Wort aus dem Munde des Volks,
die Frucht langer Erfahrung, widerlegt das Syſtem, das in
den Tieren nur belebte Maſchinen ſieht, wohl beſſer als alle
Beweisführung der ſpekulativen Philoſophie.
Auf dem höchſten Punkt des Kammes oder der Cuchilla
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 17
[258] von Guanaguana angelangt, hatten wir eine intereſſante Fern-
ſicht. Wir überſahen mit einem Blick die weiten Prärieen
oder Savannen von Maturin und am Rio Tigre, den Spitz-
berg Turimiquiri und zahlloſe parallel ſtreichende Bergketten,
die von weitem einer wogenden See gleichen. Gegen Nordoſt
öffnet ſich das Thal, in dem das Kloſter Caripe liegt. Sein
Anblick iſt um ſo einladender, als es bewaldet iſt und ſo
von den kahlen, nur mit Gras bewachſenen Bergen umher
freundlich abſticht. Wir fanden die abſolute Höhe der Cuchilla
gleich 1068 m; ſie liegt alſo 641 m über dem Miſſionshaus
von Guanaguana.
Steigt man auf ſehr krummem Pfade vom Bergkamme
nieder, ſo betritt man bald ein ganz bewaldetes Land. Der
Boden iſt mit Moos und einer neuen Art Droſera bedeckt,
die im Wuchs der Droſera unſerer Alpen gleicht. Je näher
man dem Kloſter Caripe kommt, deſto dichter wird der Wald,
deſto üppiger die Vegetation. Alles bekommt einen andern
Charakter, ſogar die Gebirgsart, in der wir von Punta Delgada
an geweſen waren. Die Kalkſteinſchichten werden dünner; ſie
bilden Mauern, Geſimſe und Türme wie in Peru, im Pappen-
heimſchen und bei Oicow in Galizien. Es iſt nicht mehr
Alpenkalk, ſondern eine Formation, welche jenem übergelagert
iſt, analog dem Jurakalk.
Der Weg von der Cuchilla herab iſt bei weitem nicht
ſo lang als der hinauf. Wir fanden, daß das Thal von
Caripe 390 m höher liegt als das Thal von Guanaguana.
Ein Bergzug von unbedeutender Breite trennt zwei Becken;
das eine iſt köſtlich kühl, das andere als furchtbar heiß ver-
rufen. Solchen Kontraſten begegnet man in Mexiko, in Neu-
Granada und Peru häufig, aber im Nordoſten von Süd-
amerika ſind ſie ſelten. Unter allen hochgelegenen Thälern
in Neu-Andaluſien iſt auch nur das von Caripe 1 ſehr ſtark
bewohnt. In einer Provinz mit ſchwacher Bevölkerung, wo
die Gebirge weder eine ſehr bedeutende Maſſe, noch ausge-
dehnte Hochebenen haben, findet der Menſch wenig Anlaß,
aus den Ebenen wegzuziehen und ſich in gemäßigteren Ge-
birgsſtrichen niederzulaſſen.
[[259]]
Siebentes Kapitel.
Das Kloſter Caripe. — Die Höhle des Guacharo. — Nachtvögel.
Eine Allee von Perſeabäumen führte uns zum Hoſpiz
der aragoneſiſchen Kapuziner. Bei einem Kreuze aus Braſil-
holz mitten auf einem großen Platze machten wir Halt. Das
Kreuz iſt von Bänken umgeben, wo die kranken und ſchwachen
Mönche ihren Roſenkranz beten. Das Kloſter lehnt ſich an
eine ungeheure, ſenkrechte, dicht bewachſene Felswand. Das
blendend weiße Geſtein blickt nur hin und wieder hinter dem
Laube vor. Man kann ſich kaum eine maleriſchere Lage
denken; ſie erinnerte mich lebhaft an die Thäler der Graf-
ſchaft Derby und an die höhlenreichen Berge von Muggen-
dorf in Franken. An die Stelle der europäiſchen Buchen und
Ahorne treten hier die großartigeren Geſtalten der Ceiba und
der Praga- und Iraſſepalmen. Unzählige Quellen brechen
aus den Bergwänden, die das Becken von Caripe kreisförmig
umgeben und deren gegen Süd ſteil abfallende Hänge 320 m
hohe Profile bilden. Dieſe Quellen kommen meiſt aus Spalten
oder engen Schluchten hervor. Die Feuchtigkeit, die ſie ver-
breiten, befördert das Wachstum der großen Bäume, und die
Eingeborenen, welche einſame Orte lieben, legen ihre Conucos
längs dieſer Schluchten an. Bananen und Melonenbäume
ſtehen hier um Gebüſche von Baumfarn. Dieſes Durch-
einander von kultivierten und wilden Gewächſen gibt dieſen
Punkten einen eigentümlichen Reiz. An den nackten Berg-
ſeiten erkennt man die Stellen, wo Quellen zu Tage kommen,
ſchon von weitem an den dichten Maſſen von Grün, die an-
fangs am Geſtein zu hängen ſcheinen und ſich dann den
Windungen der Bäche nach ins Thal hinunterziehen.
Wir wurden von den Mönchen im Hoſpiz mit der größten
Zuvorkommenheit aufgenommen. Der Pater Guardian war
nicht zu Hauſe; aber er war von unſerem Abgange von
[260] Cumana in Kenntnis geſetzt und hatte alles aufgeboten, um uns
den Aufenthalt angenehm zu machen. Das Hoſpiz hat einen
inneren Hof mit einem Kreuzgange, wie die ſpaniſchen Klöſter.
Dieſer geſchloſſene Raum war ſehr bequem für uns, um unſere
Inſtrumente unterzubringen und zu beobachten. Wir trafen
im Kloſter zahlreiche Geſellſchaft: junge, vor kurzem aus
Europa angekommene Mönche ſollten eben in die Miſſionen
verteilt werden, während alte, kränkliche Miſſionäre in der
ſcharfen, geſunden Gebirgsluft von Caripe Geneſung ſuchten.
Ich wohnte in der Zelle des Guardians, in der ſich eine ziemlich
anſehnliche Bücherſammlung befand. Ich fand hier zu meiner
Ueberraſchung neben Feijos Teatro critico und den „Erbau-
lichen Briefen“ auch Abbé Nollets „Traité de l’électricité“.
Der Fortſchritt in der geiſtigen Entwickelung iſt, ſollte man
da meinen, ſogar in den Wäldern Amerikas zu ſpüren. Der
jüngſte Kapuziner von der letzten Miſſion 1 hatte eine ſpaniſche
Ueberſetzung von Chaptals Chemie mitgebracht. Er gedachte
dieſes Werk in der Einſamkeit zu ſtudieren, in der er fortan
für ſeine übrige Lebenszeit ſich ſelbſt überlaſſen ſein ſollte.
Ich glaube kaum, daß bei einem jungen Mönche, der einſam
am Ufer des Rio Tigre lebt, der Wiſſenstrieb wach und rege
bleibt; aber ſo viel iſt ſicher und gereicht dem Geiſte des
Jahrhunderts zur Ehre, daß wir bei unſerem Aufenthalte in
den Klöſtern und Miſſionen Amerikas nie eine Spur von
Unduldſamkeit wahrgenommen haben. Die Mönche in Caripe
wußten wohl, daß ich im proteſtantiſchen Deutſchland zu Hauſe
war. Mit den Befehlen des Madrider Hofes in der Hand,
hatte ich keinen Grund, ihnen ein Geheimnis daraus zu
machen; aber niemals that irgend ein Zeichen von Mißtrauen,
irgend eine unbeſcheidene Frage, irgend ein Verſuch, eine
Kontroverſe anzuknüpfen, dem wohlthuenden Eindrucke der
Gaſtfreundſchaft, welche die Mönche mit ſo viel Herzlichkeit
und Offenheit übten, auch nur den geringſten Eintrag. Wir
werden weiterhin unterſuchen, woher dieſe Duldſamkeit der
Miſſionäre rührt und wie weit ſie geht.
[261]
Das Kloſter liegt an einem Orte, der in alter Zeit
Areocuar hieß. Seine Meereshöhe iſt ungefähr dieſelbe wie
die der Stadt Caracas oder des bewohnten Striches in den
Blauen Bergen von Jamaika. Auch iſt die mittlere Tem-
peratur dieſer drei Punkte, die alle unter den Tropen liegen,
ſo ziemlich dieſelbe. In Caripe fühlt man das Bedürfnis,
ſich nachts zuzudecken, beſonders bei Sonnenaufgang. Wir
ſahen den hundertteiligen Thermometer um Mitternacht zwiſchen
16 und 17½° ſtehen, morgens zwiſchen 19 und 20°. Gegen
ein Uhr nachmittags ſtand er nur auf 21 bis 22,5°. Es iſt
dies eine Temperatur, bei der die Gewächſe der heißen Zone
noch wohl gedeihen; gegenüber der übermäßigen Hitze auf den
Ebenen bei Cumana könnte man ſie eine Frühlingstemperatur
nennen. Das Waſſer, das man in poröſen Thongefäßen dem
Luftzuge ausſetzt, kühlt ſich in Caripe während der Nacht auf
13° ab. Ich brauche nicht zu bemerken, daß ſolches Waſſer einem
faſt eiskalt vorkommt, wenn man in einem Tage entweder
von der Küſte oder von den glühenden Savannen von Terezen
ins Kloſter kommt und daher gewöhnt iſt, Flußwaſſer zu
trinken, das meiſt 25 bis 26° warm iſt.
Die mittlere Temperatur des Thales von Caripe ſcheint,
nach der des Monats September zu ſchließen, 18,5° zu ſein.
Nach den Beobachtungen, die man in Cumana gemacht, weicht
unter dieſer Zone die Temperatur des Septembers von der
des ganzen Jahres kaum um einen halben Grad ab. Die
mittlere Temperatur von Caripe iſt gleich der des Monats
Juni zu Paris, wo übrigens die größte Hitze 10° mehr be-
trägt als an den heißeſten Tagen in Caripe. Da das Kloſter
nur 780 m über dem Meere liegt, ſo fällt es auf, wie raſch
die Wärme von der Küſte an abnimmt. Wegen der dichten
Wälder können die Sonnenſtrahlen nicht vom Boden abprallen,
und dieſer iſt feucht und mit einem dicken Gras- und Moos-
filz bedeckt. Bei anhaltend nebelichter Witterung iſt von
Sonnenwirkung ganze Tage lang nichts zu ſpüren und gegen
Einbruch der Nacht wehen friſche Winde von der Sierra del
Guacharo ins Thal herunter.
Die Erfahrung hat ausgewieſen, daß das gemäßigte
Klima und die leichte Luft des Ortes dem Anbau des Kaffee-
baumes, der bekanntlich hohe Lagen liebt, ſehr förderlich ſind.
Der Superior der Kapuziner, ein thätiger, aufgeklärter Mann,
hat in ſeiner Provinz dieſen neuen Kulturzweig eingeführt.
Man baute früher Indigo in Caripe, aber die Pflanze, die
[262] ſtarke Hitze verlangt, lieferte hier ſo wenig Farbſtoff, daß man
es aufgab. Wir fanden im Gemeindeconuco viele Küchen-
kräuter, Mais, Zuckerrohr und fünftauſend Kaffeeſtämme, die
eine reiche Ernte verſprachen. Die Mönche hofften in wenigen
Jahren ihrer dreimal ſo viel zu haben. Man ſieht auch hier
wieder, wie die geiſtliche Hierarchie überall, wo ſie es mit den
Anfängen der Kultur zu thun hat, in derſelben Richtung ihre
Thätigkeit entwickelt. Wo die Klöſter es noch nicht zum Reich-
tum gebracht haben, auf dem neuen Kontinente wie in Gallien,
in Syrien wie im nördlichen Europa, überall wirken ſie höchſt
vorteilhaft auf die Urbarmachung des Bodens und die Ein-
führung fremdländiſcher Gewächſe. In Caripe ſtellt ſich der
Gemeindeconuco als ein großer, ſchöner Garten dar. Die
Eingeborenen ſind gehalten, jeden Morgen von ſechs bis
zehn Uhr darin zu arbeiten. Die Alkaden und Alguazile von
indianiſchem Blute führen dabei die Aufſicht. Es ſind das
die hohen Staatsbeamten, die allein einen Stock tragen dürfen
und vom Superior des Kloſters angeſtellt werden. Sie legen
auf jenes Recht ſehr großes Gewicht. Ihr pedantiſcher,
ſchweigſamer Ernſt, ihre kalte, geheimnisvolle Miene, der
Eifer, mit dem ſie in der Kirche und bei den Gemeinde-
verſammlungen repräſentieren, kommt den Europäern höchſt
luſtig vor. Wir waren an dieſe Züge im Charakter des
Indianers noch nicht gewöhnt, fanden ſie aber ſpäter gerade
ſo am Orinoko, in Mexiko und Peru bei Völkern von ſehr
verſchiedenen Sitten und Sprachen. Die Alkaden kamen alle
Tage ins Kloſter, nicht ſowohl um mit den Mönchen über
Angelegenheiten der Miſſion zu verhandeln, als unter dem
Vorwande, ſich nach dem Befinden der kürzlich angekommenen
Reiſenden zu erkundigen. Da wir ihnen Branntwein gaben,
wurden die Beſuche häufiger, als die Geiſtlichen gerne ſahen.
Solange wir uns in Caripe und in den anderen Miſ-
ſionen der Chaymas aufhielten, ſahen wir die Indianer überall
milde behandeln. Im allgemeinen ſchien uns in den Miſſionen
der aragoneſiſchen Kapuziner grundſätzlich eine Ordnung und
eine Zucht zu herrſchen, wie ſie leider in der Neuen Welt
ſelten zu finden ſind. Mißbräuche, die mit dem allgemeinen
Geiſte aller klöſterlichen Anſtalten zuſammenhängen, dürfen
dem einzelnen Orden nicht zur Laſt gelegt werden. Der
Guardian des Kloſters verkauft den Ertrag des Gemeinde-
conuco, und da alle Indianer darin arbeiten, ſo haben auch
alle gleichen Teil am Gewinn. Mais, Kleidungsſtücke, Acker-
[263] geräte, und, wie man verſichert, zuweilen auch Geld werden
unter ihnen verteilt. Dieſe Mönchsanſtalten haben, wie ich
ſchon oben bemerkt, Aehnlichkeit mit den Gemeinden der
Mähriſchen Brüder; ſie fördern die Entwickelung in der Bil-
dung begriffener Menſchenvereine, und in den katholiſchen Ge-
meinden, die man Miſſionen nennt, wird die Unabhängigkeit
der Familien und die Selbſtändigkeit der Genoſſenſchaftsglieder
mehr geachtet als in den proteſtantiſchen Gemeinden nach
Zinzendorfs Regel.
Am berühmteſten iſt das Thal von Caripe, neben der
ausnehmenden Kühle des Klimas, durch die große Cueva
oder Höhle des Guacharo. In einem Lande, wo man ſo
großen Hang zum Wunderbaren hat, iſt eine Höhle, aus der
ein Strom entſpringt und in der Tauſende von Nachtvögeln
leben, mit deren Fett man in den Miſſionen kocht, natürlich
ein unerſchöpflicher Gegenſtand der Unterhaltung und des
Streites. Kaum hat daher der Fremde in Cumana den Fuß
ans Land geſetzt, ſo hört er zum Ueberdruſſe vom Augenſtein
von Araya, vom Landmanne in Arenas, der ſein Kind ge-
ſäugt, und von der Höhle des Guacharo, die mehrere Kilo-
meter lang ſein ſoll. Lebhafte Teilnahme an Naturmerk-
würdigkeiten erhält ſich überall, wo in der Geſellſchaft kein
Leben iſt, wo in trübſeliger Eintönigkeit die alltäglichen Vor-
kommniſſe ſich ablöſen, bei denen die Neugierde keine Nahrung
findet.
Die Höhle, welche die Einwohner eine „Fettgrube“ nennen,
liegt nicht im Thal von Caripe ſelbſt, ſondern etwa 13 km
vom Kloſter gegen Weſt-Süd-Weſt. Sie mündet in einem
Seitenthale aus, das der Sierra des Guacharo zuläuft.
Am 18. September brachen wir nach der Sierra auf, be-
gleitet von den indianiſchen Alkaden und den meiſten Ordens-
männern des Kloſters. Ein ſchmaler Pfad führte zuerſt
anderthalb Stunden lang ſüdwärts über eine lachende, ſchön
beraſte Ebene, dann wandten wir uns weſtwärts an einem
kleinen Fluſſe hinauf, der aus der Höhle hervorkommt. Man
geht drei Viertelſtunden lang aufwärts bald im Waſſer, das
nicht tief iſt, bald zwiſchen dem Fluß und einer Felswand,
auf ſehr ſchlüpfrigem, moraſtigem Boden. Zahlreiche Erd-
fälle, umherliegende Baumſtämme, über welche die Maultiere
nur ſchwer hinüber kommen, die Rankengewächſe am Boden
machen dieſes Stück des Weges ſehr ermüdend. Wir waren
überraſcht, hier, kaum 970 m über dem Meere, eine Kreuz-
[264] blüte zu finden, den Raphanus pinnatus. Man weiß, wie
ſelten Arten dieſer Familie unter den Tropen ſind; ſie haben
gleichſam einen nordiſchen Typus, und auf dieſen waren
wir hier auf dem Plateau von Caripe, in ſo geringer Meeres-
höhe, nicht gefaßt.
Wenn man am Fuß des hohen Guacharoberges nur noch
vierhundert Schritte von der Höhle entfernt iſt, ſieht man
den Eingang noch nicht. Der Bach läuft durch eine Schlucht,
die das Waſſer eingegraben, und man geht unter einem
Felſenüberhang, ſo daß man den Himmel gar nicht ſieht.
Der Weg ſchlängelt ſich mit dem Fluß und bei der letzten
Biegung ſteht man auf einmal vor der ungeheuren Mündung
der Höhle. Der Anblick hat etwas Großartiges ſelbſt für
Augen, die mit der maleriſchen Szenerie der Hochalpen ver-
traut ſind. Ich hatte damals die Höhlen am Pik von Derby-
ſhire geſehen, wo man, in einem Nachen ausgeſtreckt, unter
einem 60 cm hohen Gewölbe über einen unterirdiſchen Fluß
ſetzt. Ich hatte die ſchöne Höhle von Treſhemienſhiz in den
Karpaten befahren, ferner die Höhlen im Harz und in Fran-
ken, die große Grabſtätten ſind für die Gebeine von Tigern,
Hyänen und Bären, die ſo groß waren, wie unſere Pferde.
Die Natur gehorcht unter allen Zonen unabänderlichen Ge-
ſetzen in der Verteilung der Gebirgsarten, in der äußeren
Geſtaltung der Berge, ſelbſt in den gewaltſamen Verände-
rungen, welche die äußere Rinde unſeres Planeten erlitten
hat. Nach dieſer großen Einförmigkeit konnte ich glauben,
die Höhle von Caripe werde im Ausſehen von dem, was ich
derart auf meinen früheren Reiſen beobachtet, eben nicht
ſehr abweichen; aber die Wirklichkeit übertraf meine Erwar-
tung weit. Wenn einerſeits alle Höhlen nach ihrer ganzen
Bildung, durch den Glanz der Stalaktiten, in allem, was
die unorganiſche Natur betrifft, auffallende Aehnlichkeit mit-
einander haben, ſo gibt andererſeits der großartige tropiſche
Pflanzenwuchs der Mündung eines ſolchen Erdenlochs einen
ganz eigenen Charakter.
Die Cueva del Guacharo öffnet ſich im ſenkrechten Profil
eines Felſens. Der Eingang iſt nach Süd gekehrt; es iſt
eine Wölbung 26 m breit und 23 hoch, alſo bis auf ein
Fünfteil ſo hoch als die Kolonnade des Louvre. Auf dem
Fels über der Grotte ſtehen rieſenhafte Bäume. Der Mamei
und der Genipabaum mit breiten glänzenden Blättern ſtrecken
ihre Aeſte gerade gen Himmel, während die des Courbaril
[265] und der Erythrina ſich ausbreiten und ein dichtes grünes
Gewölbe bilden. Pothos mit ſaftigen Stengeln, Oxalis und
Orchideen von ſeltſamem Bau 1 wachſen in den dürrſten Fels-
ſpalten, während vom Winde geſchaukelte Rankengewächſe ſich
vor dem Eingange der Höhle zu Gewinden verſchlingen. Wir
ſahen in dieſen Blumengewinden eine violette Bignonie, das
purpurfarbige Dolichos und zum erſtenmal die prachtvolle
Solandra, deren orangegelbe Blüte eine über 10 cm lange
fleiſchige Röhre hat. Es iſt mit dem Eingange der Höhlen,
wie mit der Anſicht der Waſſerfälle; der Hauptreiz beſteht
in der mehr oder weniger großartigen Umgebung, die den
Charakter der Landſchaft beſtimmt. Welcher Kontraſt zwiſchen
der Cueva de Caripe und den Höhlen im Norden, die von
Eichen und düſteren Lärchen beſchattet ſind!
Aber dieſe Pflanzenpracht ſchmückt nicht allein die Außen-
ſeite des Gewölbes, ſie dringt ſogar in den Vorhof der Höhle
ein. Mit Erſtaunen ſahen wir, daß 6 m hohe prächtige
Helikonien mit Piſangblättern, Pragapalmen und baumartige
Arumarten die Ufer des Baches bis unter die Erde ſäumten.
Die Vegetation zieht ſich in die Höhle von Caripe hinein,
wie in die tiefen Felsſpalten in den Anden, in denen nur
ein Dämmerlicht herrſcht, und ſie hört erſt 30 bis 40 Schritte
vom Eingange auf. Wir maßen den Weg mittels eines
Strickes und waren gegen 140 m weit gegangen, ehe wir
nötig hatten die Fackeln anzuzünden. Das Tageslicht dringt
ſo weit ein, weil die Höhle nur einen Gang bildet, der
ſich in derſelben Richtung von Südoſt nach Nordweſt hinein-
zieht. Da wo das Licht zu verſchwinden anfängt, hört
man das heiſere Geſchrei der Nachtvögel, die, wie die Ein-
geborenen glauben, nur in dieſen unterirdiſchen Räumen zu
Hauſe ſind.
Der Guacharo hat die Größe unſerer Hühner, die Stimme
der Ziegenmelker und Proknias, die Geſtalt der geierartigen
Vögel mit Büſcheln ſteifer Seide um den krummen Schnabel.
Streicht man nach Cuvier die Ordnung der Picae (Spechte),
ſo iſt dieſer merkwürdige Vogel unter die Passeres zu ſtellen,
deren Gattungen faſt unmerklich ineinander übergehen. Ich
habe ihn im zweiten Band meiner Observations de zoologie
et d’anatomie comparée in einer eigenen Abhandlung unter
[266] dem Namen Steatornis (Fettvogel) beſchrieben. Er bildet
eine neue Gattung, die ſich von Caprimulgus durch den Um-
fang der Stimme, durch den ausnehmend ſtarken, mit einem
doppelten Zahn verſehenen Schnabel, durch den Mangel der
Haut zwiſchen den vorderen Zehengliedern weſentlich unter-
ſcheidet. In der Lebensweiſe kommt er ſowohl den Ziegen-
melkern als den Alpenkrähen 1 nahe. Sein Gefieder iſt dunkel
graublau, mit kleinen ſchwarzen Streifen und Tupfen; Kopf,
Flügel und Schwanz zeigen große weiße, herzförmige, ſchwarz
geſäumte Flecken. Die Augen des Vogels können das Tages-
licht nicht ertragen, ſie ſind blau und kleiner als bei den
Ziegenmelkern. Die Flügel haben 17 bis 18 Schwungfedern
und ihre Spannung beträgt 1,13 m. Der Guacharo verläßt
die Höhle bei Einbruch der Nacht, beſonders bei Mondſchein.
Es iſt ſo ziemlich der einzige körnerfreſſende Nachtvogel, den
wir bis jetzt kennen; ſchon der Bau ſeiner Füße zeigt, daß er nicht
jagt, wie unſere Eulen. Er frißt ſehr harte Samen, wie der Nuß-
häher (Corvus cariocatactes) und der Pyrrhocorax. Letzterer
niſtet auch in Felsſpalten und heißt der „Nachtrabe“. Die
Indianer behaupten, der Guacharo gehe weder Inſekten aus
der Ordnung der Lamellicornia (Käfern), noch Nachtſchmetter-
lingen nach, von denen die Ziegenmelker ſich nähren. Man
darf nur die Schnäbel des Guacharo und des Ziegenmelkers
vergleichen, um zu ſehen, daß ihre Lebensweiſe ganz verſchieden
ſein muß.
Schwer macht man ſich einen Begriff vom furchtbaren
Lärm, den Tauſende dieſer Vögel im dunkeln Inneren der Höhle
machen. Er läßt ſich nur mit dem Geſchrei unſerer Krähen
vergleichen, die in den nordiſchen Tannenwäldern geſellig leben
und auf Bäumen niſten, deren Gipfel einander berühren.
Das gellende durchdringende Geſchrei des Guacharo hallt
wider vom Felsgewölbe und aus der Tiefe der Höhle kommt
es als Echo zurück. Die Indianer zeigten uns die Neſter
der Vögel, indem ſie Fackeln an eine lange Stange banden.
Sie ſtaken 20 bis 23 m hoch über unſeren Köpfen in trichter-
förmigen Löchern, von denen die Decke wimmelt. Je tiefer
man in die Höhle hineinkommt, je mehr Vögel das Licht der
Kopalfackeln aufſcheucht, deſto ſtärker wird der Lärm. Wurde
es ein paar Minuten ruhiger um uns her, ſo erſchallte von
weither das Klagegeſchrei der Vögel, die in anderen Zweigen
[267] der Höhle niſteten. Die Banden löſten einander im Schreien
ordentlich ab.
Jedes Jahr um Johannistag gehen die Indianer mit
Stangen in die Cueva del Guacharo und zerſtören die meiſten
Neſter. Man ſchlägt jedesmal mehrere tauſend Vögel tot,
wobei die Alten, als wollten ſie ihre Brut verteidigen, mit
furchtbarem Geſchrei den Indianern um die Köpfe fliegen.
Die Jungen, die zu Boden fallen, werden auf der Stelle
ausgeweidet. Ihr Bauchfell iſt ſtark mit Fett durchwachſen,
und eine Fettſchicht läuft vom Unterleib zum After und bildet
zwiſchen den Beinen des Vogels eine Art Knopf. Daß körner-
freſſende Vögel, die dem Tageslicht nicht ausgeſetzt ſind und
ihre Muskeln wenig brauchen, ſo fett werden, erinnert an
die uralten Erfahrungen beim Mäſten der Gänſe und des
Viehs. Man weiß, wie ſehr dasſelbe durch Dunkelheit und
Ruhe befördert wird. Die europäiſchen Nachtvögel ſind mager,
weil ſie nicht wie der Guacharo von Früchten, ſondern vom
dürftigen Ertrag ihrer Jagd leben. Zur Zeit der „Fetternte“
(cosecha de la manteca), wie man es in Caripe nennt,
bauen ſich die Indianer aus Palmblättern Hütten am Ein-
gang und im Vorhof der Höhle. Wir ſahen noch Ueberbleibſel
derſelben. Hier läßt man das Fett der jungen, friſch getöteten
Vögel am Feuer aus und gießt es in Thongefäße. Dieſes
Fett iſt unter dem Namen Guacharoſchmalz oder -öl (manteca
oder aceite) bekannt; es iſt halbflüſſig, hell und geruchlos.
Es iſt ſo rein, daß man es länger als ein Jahr aufbewahren
kann, ohne daß es ranzig wird. In der Kloſterküche zu Caripe
wurde kein anderes Fett gebraucht als das aus der Höhle,
und wir haben nicht bemerkt, daß die Speiſen irgend einen
unangenehmen Geruch oder Geſchmack davon bekämen.
Die Menge des gewonnenen Oels ſteht mit dem Gemetzel,
das die Indianer alle Jahre in der Höhle anrichten, in keinem
Verhältnis. Man bekommt, ſcheint es, nicht mehr als 150 bis
160 Flaſchen (zu 44 Kubikzoll) ganz reine Manteca; das übrige
weniger helle wird in großen irdenen Gefäßen aufbewahrt.
Dieſer Induſtriezweig der Eingeborenen erinnert an das Sam-
meln des Taubenfetts 1 in Carolina, von dem früher mehrere
tauſend Fäſſer gewonnen wurden. Der Gebrauch des Guacharo-
fettes iſt in Caripe uralt und die Miſſionäre haben nur die
[268] Gewinnungsart geregelt. Die Mitglieder einer indianiſchen
Familie Namens Morocoymas behaupten von den erſten An-
ſiedlern im Thale abzuſtammen und als ſolche rechtmäßige
Eigentümer der Höhle zu ſein; ſie beanſpruchen das Monopol
des Fetts, aber infolge der Kloſterzucht ſind ihre Rechte
gegenwärtig nur noch Ehrenrechte. Nach dem Syſtem der Miſ-
ſionäre haben die Indianer Guacharoöl für das ewige Kirchen-
licht zu liefern; das übrige, ſo behauptet man, wird ihnen
abgekauft. Wir erlauben uns kein Urteil weder über die Rechts-
anſprüche der Morocoymas, noch über den Urſprung der von
den Mönchen den Indianern auferlegten Verpflichtung. Es
erſchiene natürlich, daß der Ertrag der Jagd denen gehörte,
die ſie anſtellen; aber in den Wäldern der Neuen Welt, wie
im Schoße der europäiſchen Kultur, beſtimmt ſich das öffent-
liche Recht danach, wie ſich das Verhältnis zwiſchen dem Starken
und dem Schwachen, zwiſchen dem Eroberer und dem Unter-
worfenen geſtaltet.
Das Geſchlecht des Guacharo wäre längſt ausgerottet,
wenn nicht mehrere Umſtände zur Erhaltung desſelben zu-
ſammenwirkten. Aus Aberglauben wagen ſich die Indianer
ſelten weit in die Höhle hinein. Auch ſcheint derſelbe Vogel
in benachbarten, aber dem Menſchen unzugänglichen Höhlen zu
niſten. Vielleicht bevölkert ſich die große Höhle immer wieder
mit Kolonieen, welche aus jenen kleinen Erdlöchern ausziehen;
denn die Miſſionäre verſicherten uns, bis jetzt habe die Menge
der Vögel nicht merkbar abgenommen. Man hat junge
Guacharos in den Hafen von Cumana gebracht; ſie lebten da
mehrere Tage ohne zu freſſen, da die Körner, die man ihnen
gab, ihnen nicht zuſagten. Wenn man in der Höhle den
jungen Vögeln Kropf und Magen aufſchneidet, findet man
mancherlei harte, trockene Samen darin, die unter dem ſelt-
ſamen Namen „Guacharoſamen“ (semilla del Guacharo) ein
vielberufenes Mittel gegen Wechſelfieber ſind. Die Alten
bringen dieſe Samen den Jungen zu. Man ſammelt ſie ſorg-
fältig und läßt ſie den Kranken in Cariaco und anderen tief
gelegenen Fieberſtrichen zukommen.
Wir gingen in die Höhle hinein und am Bache fort, der
daraus entſpringt. Derſelbe iſt 9 bis 10 m breit. Man ver-
folgt das Ufer, ſolange die Hügel aus Kalkinkruſtationen
dies geſtatten; oft, wenn ſich der Bach zwiſchen ſehr hohen
Stalaktitenmaſſen durchſchlängelt, muß man in das Bett ſelbſt
hinunter, das nur 60 cm tief iſt. Wir hörten zu unſerer
[269] Ueberraſchung, dieſe unterirdiſche Waſſerader ſei die Quelle
des Rio Caripe, der wenige Meilen davon, nach ſeiner Ver-
einigung mit dem kleinen Rio de Santa Maria, für Pirogen
ſchiffbar wird. Am Ufer des unterirdiſchen Baches fanden
wir eine Menge Palmholz; es ſind Ueberbleibſel der Stämme,
auf denen die Indianer zu den Vogelneſtern an der Decke
der Höhle hinaufſteigen. Die von den Narben der alten Blatt-
ſtiele gebildeten Ringe dienen gleichſam als Sproſſen einer
aufrecht ſtehenden Leiter.
Die Höhle von Caripe behält, genau gemeſſen, auf 472 m
dieſelbe Richtung, dieſelbe Breite und die anfängliche Höhe
von 20 bis 23 m. Ich kenne auf beiden Kontinenten keine
zweite Höhle von ſo gleichförmiger, regelmäßiger Geſtalt. Wir
hatten viele Mühe, die Indianer zu bewegen, daß ſie über das
vordere Stück hinausgingen, das ſie allein jährlich zum Fett-
ſammeln beſuchen. Es brauchte das ganze Anſehen der Patres,
um ſie bis zu der Stelle zu bringen, wo der Boden raſch
unter einem Winkel von 60° anſteigt und der Bach einen
kleinen unterirdiſchen Fall bildet. Dieſe von Nachtvögeln be-
wohnte Höhle iſt für die Indianer ein ſchauerlich geheimnis-
voller Ort; ſie glauben, tief hinten wohnen die Seelen ihrer
Vorfahren. Der Menſch, ſagen ſie, ſoll Scheu tragen vor
Orten, die weder von der Sonne, Zis, noch vom Monde,
Nuna, beſchienen ſind. Zu den Guacharos gehen, heißt ſo
viel, als zu den Vätern verſammelt werden, ſterben. Daher
nahmen auch die Zauberer, Piajes, und die Giftmiſcher,
Imorons, ihre nächtlichen Gaukeleien am Eingang der
Höhle vor, um den oberſten der böſen Geiſter, Ivorokiamo,
zu beſchwören. So gleichen ſich unter allen Himmelsſtrichen
die älteſten Mythen der Völker, vor allen ſolche, die ſich auf
zwei die Welt regierende Kräfte, auf den Aufenthalt der Seelen
nach dem Tod, auf den Lohn der Gerechten und die Strafe
der Böſen beziehen. Die verſchiedenſten und darunter die
roheſten Sprachen haben gewiſſe Bilder miteinander gemein,
weil dieſe unmittelbar aus dem Weſen unſeres Denk- und
Empfindungsvermögens fließen. Finſternis wird allerorten
mit der Vorſtellung des Todes in Verbindung gebracht. Die
Höhle von Caripe iſt der Tartarus der Griechen, und die
Guacharos, die unter kläglichem Geſchrei über dem Waſſer
flattern, mahnen an die ſtygiſchen Vögel.
Da wo der Bach den unterirdiſchen Fall bildet, ſtellt ſich
das dem Höhleneingang gegenüberliegende, grün bewachſene
[270] Gelände ungemein maleriſch dar. Man ſieht vom Ende eines
geraden, 467 m langen Ganges darauf hinaus. Die Stalak-
titen, die von der Decke herabhängen und in der Luft ſchweben-
den Säulen gleichen, heben ſich von einem grünen Hinter-
grunde ab. Die Oeffnung der Höhle erſcheint um die Mitte
des Tages auffallend enger als ſonſt, und wir ſahen ſie vor
uns im glänzenden Lichte, das Himmel, Gewächſe und Geſtein
zumal widerſtrahlen. Das ferne Tageslicht ſtach ſo grell ab
von der Finſternis, die uns in dieſen unterirdiſchen Räumen
umgab. Wir hatten unſere Gewehre faſt aufs Geratewohl ab-
geſchoſſen, ſo oft wir aus dem Geſchrei und dem Flügel-
ſchlagen der Nachtvögel ſchließen konnten, daß irgendwo recht
viele Neſter beiſammen ſeien. Nach mehreren fruchtloſen Ver-
ſuchen gelang es Bonpland, zwei Guacharos zu ſchießen, die,
vom Fackelſchein geblendet, uns nachflatterten. Damit fand
ich Gelegenheit, den Vogel zu zeichnen, der bis dahin den
Zoologen ganz unbekannt geweſen war. Wir erkletterten nicht
ohne Beſchwerde die Erhöhung, über die der unterirdiſche Bach
herunterkommt. Wir ſahen da, daß die Höhle ſich weiterhin
bedeutend verengert, nur noch 13 m hoch iſt und nordoſtwärts
in ihrer urſprünglichen Richtung, parallel mit dem großen
Thale des Caripe, fortſtreicht.
In dieſer Gegend der Höhle ſetzt der Bach eine ſchwärz-
lichte Erde ab, die große Aehnlichkeit hat mit dem Stoffe,
der in der Muggendorfer Höhle in Franken „Opfererde“ heißt.
Wir konnten nicht ausfindig machen, ob dieſe feine, ſchwam-
mige Erde durch Spalten im Geſteine, die mit dem Erd-
reiche außerhalb in Verbindung ſtehen, hereinfällt, oder ob
ſie durch das Regenwaſſer, das in die Höhle dringt, herein-
geflößt wird. Es war ein Gemiſch von Kieſelerde, Thonerde
und vegetabiliſchem Detritus. Wir gingen in dickem Kote
bis zu einer Stelle, wo uns zu unſerer Ueberraſchung eine
unterirdiſche Vegetation entgegentrat. Die Samen, welche die
Vögel zum Futter für ihre Jungen in die Höhle bringen,
keimen überall, wo ſie auf die Dammerde fallen, welche die
Kalkinkruſtationen bedeckt. Vergeilte Stengel mit ein paar
Blattrudimenten waren zum Teil 60 cm hoch. Es war un-
möglich, Gewächſe, die ſich durch den Mangel an Licht nach
Form, Farbe und ganzem Habitus völlig umgewandelt hatten,
ſpezifiſch zu unterſcheiden. Dieſe Spuren von Organiſation
im Schoße der Finſternis reizten gewaltig die Neugier der
Eingeborenen, die ſonſt ſo ſtumpf und ſchwer anzuregen ſind.
[271] Sie betrachteten ſie mit ſtillem, nachdenklichem Ernſte, wie er
ſich an einem Orte ziemte, der für ſie ſolche Schauer hat.
Dieſe unterirdiſchen, bleichen, formloſen Gewächſe mochten
ihnen wie Geſpenſter erſcheinen, die vom Erdboden hierher ge-
bannt waren. Mich aber erinnerten ſie an eine der glück-
lichſten Zeiten meiner frühen Jugend, an einen langen Auf-
enthalt in den Freiberger Erzgruben, wo ich über das Vergeilen
der Pflanzen Verſuche anſtellte, die ſehr verſchieden ausfielen,
je nachdem die Luft rein war oder viel Waſſerſtoff und Stick-
ſtoff enthielt.
Mit aller ihrer Autorität konnten die Miſſionäre die
Indianer nicht vermögen, noch weiter in die Höhle hinein-
zugehen. Je mehr die Decke ſich ſenkte, deſto gellender wurde
das Geſchrei der Guacharos. Wir mußten uns der Feigheit
unſerer Führer gefangen geben und umkehren. Man ſah auch
überall ſo ziemlich das Nämliche. Ein Biſchof von St. Thomas
in Guyana ſcheint weiter gekommen zu ſein als wir; er hatte
vom Eingange bis zum Punkte, wo er Halt machte, 812 m
gemeſſen, und die Höhle lief noch weiter fort. Die Erinnerung
an dieſen Vorfall hat ſich im Kloſter Caripe erhalten, nur
weiß man den Zeitpunkt nicht genau. Der Biſchof hatte ſich
mit dicken Kerzen aus weißem ſpaniſchen Wachs verſehen;
wir hatten nur Fackeln aus Baumrinde und einheimiſchem
Harze. Der dicke Rauch ſolcher Fackeln in engem, unter-
irdiſchem Raume thut den Augen weh und macht das Atmen
beſchwerlich.
Wir gingen dem Bache nach wieder zur Höhle hinaus.
Ehe unſere Augen vom Tageslichte geblendet wurden, ſahen
wir vor der Höhle draußen das Waſſer durch das Laub der
Bäume glänzen. Es war, als ſtünde weit weg ein Gemälde
vor uns und die Oeffnung der Höhle wäre der Rahmen
dazu. Als wir endlich heraus waren, ſetzten wir uns am
Bache nieder und ruhten von der Anſtrengung aus. Wir
waren froh, daß wir das heiſere Geſchrei der Vögel nicht
mehr hörten und einen Ort hinter uns hatten, wo ſich mit
der Dunkelheit nicht der wohlthuende Eindruck der Ruhe und
der Stille paart. Wir konnten es kaum glauben, daß der
Name Höhle von Caripe bis jetzt in Europa völlig unbekannt
geweſen ſein ſollte. Schon wegen der Guacharos hätte ſie
berühmt werden ſollen; denn außer den Bergen von Caripe
und Cumanacoa hat man dieſe Nachtvögel bis jetzt nirgends
angetroffen.
[272]
Die Miſſionäre hatten am Eingange der Höhle ein Mahl
zurichten laſſen. Piſang- und Vijaoblätter, die ſeidenartig
glänzen, dienten uns nach Landesſitte als Tiſchtuch. Wir
wurden trefflich bewirtet, ſogar mit geſchichtlichen Erinnerungen,
die ſo ſelten ſind in Ländern, wo die Geſchlechter einander
ablöſten, ohne eine Spur ihres Daſeins zu hinterlaſſen.
Wohlgefällig erzählten uns unſere Wirte, die erſten Ordens-
leute, die in dieſe Berge gekommen, um das kleine Dorf
Santa Maria zu gründen, haben einen Monat lang in der
Höhle hier gelebt und auf einem Steine bei Fackellicht das
heilige Meßopfer gefeiert. Die Miſſionäre hatten am ein-
ſamen Orte Schutz gefunden vor der Verfolgung eines Häupt-
lings der Tuapocan, der am Ufer des Rio Caripe ſein Lager
aufgeſchlagen.
So viel wir uns auch bei den Einwohnern von Caripe,
Cumanacoa und Cariaco erkundigten, wir hörten nie, daß
man in der Höhle des Guacharo je Knochen von Fleiſch-
freſſern oder Knochenbreccien mit Pflanzenfreſſern gefunden
hätte, wie ſie in den Höhlen Deutſchlands und Ungarns oder
in den Spalten des Kalkſteines bei Gibraltar vorkommen.
Die foſſilen Knochen der Megatherien, Elefanten und Maſto-
donten, welche Reiſende aus Südamerika mitgebracht, gehören
ſämtlich dem aufgeſchwemmten Lande in den Thälern und auf
hohen Plateaus an. Mit Ausnahme des Megalonyx, 1 eines
Faultieres von der Größe eines Ochſen, das Jefferſon be-
ſchrieben, kenne ich bis jetzt auch nicht einen Fall, daß in
einer Höhle der Neuen Welt ein Tierſkelett gefunden worden
wäre. Daß dieſe zoologiſche Erſcheinung hier ſo ausnehmend
ſelten iſt, erſcheint weniger auffallend, wenn man bedenkt,
daß es in Frankreich, England und Italien auch eine Menge
Höhlen gibt, in denen man nie eine Spur von foſſilen Knochen
entdeckt hat.
Die intereſſanteſte Beobachtung, welche der Phyſiker in
den Höhlen anſtellen kann, iſt die genaue Beſtimmung ihrer
Temperatur. Die Höhle von Caripe liegt ungefähr unter
10° 10″ der Breite, alſo mitten im heißen Erdgürtel und
986 m über dem Spiegel des Waſſers im Meerbuſen von
Cariaco. Wir fanden im September die Temperatur der Luft
[273] im Inneren durchaus zwiſchen 18,4° und 18,9° der hundert-
teiligen Skala. Die äußere Luft hatte 16,2°. Beim Ein-
gange der Höhle zeigte der Thermometer an der Luft 17,6°,
aber im Waſſer des unterirdiſchen Baches bis hinten in der
Höhle 16,8°. Dieſe Beobachtungen ſind von großer Be-
deutung, wenn man ins Auge faßt, wie ſich zwiſchen Waſſer,
Luft und Boden die Wärme ins Gleichgewicht zu ſetzen ſtrebt.
Ehe ich Europa verließ, beklagten ſich die Phyſiker noch, daß
man ſo wenig Anhaltspunkte habe, um zu beſtimmen, was
man ein wenig hochtrabend die Temperatur des Erd-
inneren heißt, und erſt in neuerer Zeit hat man mit einigem
Erfolge an der Löſung dieſes großen Problemes der unter-
irdiſchen Meteorologie gearbeitet. Nur die Steinſchichten,
welche die Rinde unſeres Planeten bilden, ſind der unmittel-
baren Forſchung zugänglich, und man weiß jetzt, daß die
mittlere Temperatur dieſer Schichten ſich nicht nur nach der
Breite und der Meereshöhe verändert, ſondern daß ſie auch
je nach der Lage des Ortes im Verlaufe des Jahres regel-
mäßige Schwingungen um die mittlere Temperatur der be-
nachbarten Luft beſchreibt. Die Zeit iſt ſchon fern, wo man
ſich wunderte, wenn man in anderen Himmelsſtrichen in Höhlen
und Brunnen eine andere Temperatur beobachtete als in den
Kellern der Pariſer Sternwarte. Dasſelbe Inſtrument, das
in dieſen Kellern 12° zeigt, ſteigt in unterirdiſchen Räumen
auf Madeira bei Funchal auf 16,2°, im St. Joſephsbrunnen
in Kairo auf 21,2°, in den Grotten der Inſel Cuba auf 22
bis 23°. Dieſe Zunahme iſt ungefähr proportional der Zu-
nahme der mittleren Lufttemperaturen vom 48. Grad der
Breite bis zum Wendekreis.
Wir haben eben geſehen, daß in der Höhle des Guacharo
das Waſſer des Baches gegen 2° kühler iſt als die umgebende
Luft im unterirdiſchen Raume. Das Waſſer, ob es nun durch
das Geſtein ſickert oder über ein ſteiniges Bette fließt, nimmt
unzweifelhaft die Temperatur des Geſteines oder des Bettes
an. Die Luft in der Höhle dagegen ſteht nicht ſtill, ſie
kommuniziert mit der Atmoſphäre draußen. Und wenn nun
auch in der heißen Zone die Schwankungen in der äuße-
ren Temperatur ſehr unbedeutend ſind, ſo bilden ſich den-
noch Strömungen, durch welche die Luftwärme im Inneren
periodiſche Veränderungen erleidet. Demnach könnte man
die Temperatur des Waſſers, alſo 16,8°, als die Boden-
temperatur in dieſen Bergen betrachten, wenn man ſicher wäre,
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 18
[274] daß das Waſſer nicht raſch von benachbarten höheren Bergen
herabkommt.
Aus dieſen Betrachtungen folgt, daß, wenn man auch
keine ganz genauen Reſultate erhält, ſich doch in jeder Zone
Grenzzahlen auffinden laſſen. In Caripe, unter den Tropen,
iſt in 975 m Meereshöhe die mittlere Temperatur der Erde
nicht unter 16,8°; dies geht aus der Meſſung der Temperatur
des unterirdiſchen Waſſers hervor. So läßt ſich nun aber
auch beweiſen, daß dieſe Temperatur des Bodens nicht höher
ſein kann als 19°, weil die Luft in der Höhle im September
18,7° zeigt. Da die mittlere Luftwärme im heißeſten Monat
19,5° nicht überſteigt, ſo würde man ſehr wahrſcheinlich zu
keiner Zeit des Jahres den Thermometer in der Luft der
Höhle über 19° ſteigen ſehen. Dieſe Ergebniſſe, wie ſo
manche andere, die wir in dieſer Reiſebeſchreibung mitteilen,
mögen für ſich betrachtet von geringem Belang ſcheinen; ver-
gleicht man ſie aber mit den kürzlich von Leopold von Buch
und Wahlenberg unter dem Polarzirkel angeſtellten Beob-
achtungen, ſo verbreiten ſie Licht über den Haushalt der Natur
im großen und über den beſtändigen Wärmeaustauſch zwiſchen
Luft und Boden zu Herſtellung des Gleichgewichtes. Es iſt
kein Zweifel mehr, daß in Lappland die feſte Erdrinde eine
um 3 bis 4° höhere, mittlere Temperatur hat als die Luft.
Bringt die Kälte, welche in den Tiefen des tropiſchen Meeres
infolge der Polarſtröme fortwährend herrſcht, im heißen Erd-
ſtriche eine merkbare Verminderung der Temperatur des Bodens
hervor? Iſt dieſe Temperatur dort niedriger als die der
Luft? Das wollen wir in der Folge unterſuchen, wenn wir
in den hohen Regionen der Kordilleren mehr Beobachtungen
zuſammengebracht haben werden.
[[275]]
Achtes Kapitel.
Abreiſe von Caripe. — Berg und Wald Santa Maria. — Die
Miſſion Catuaro. — Hafen von Cariaco.
Raſch verfloſſen uns die Tage, die wir im Kapuziner-
kloſter in den Bergen von Caripe zubrachten, und doch war
unſer Leben ſo einfach als einförmig. Von Sonnenaufgang
bis Einbruch der Nacht ſtreiften wir durch die benachbarten
Wälder und Berge, um Pflanzen zu ſammeln, deren wir nie
genug beiſammen haben konnten. Konnten wir des ſtarken
Regens wegen nicht weit hinaus, ſo beſuchten wir die Hütten
der Indianer, den Gemeindeconuco oder die Verſammlungen,
in denen die Alkaden jeden Abend die Arbeiten für den fol-
genden Tag austeilen. Wir kehrten erſt ins Kloſter zurück,
wenn uns die Glocke ins Refektorium an den Tiſch der Miſ-
ſionäre rief. Zuweilen gingen wir mit ihnen frühmorgens
in die Kirche, um der „Doctrina“ beizuwohnen, das heißt
dem Religionsunterricht der Eingeborenen. Es iſt ein zum
wenigſten ſehr gewagtes Unternehmen, mit Neubekehrten über
Dogmen zu verhandeln, zumal wenn ſie des Spaniſchen nur
in geringem Grade mächtig ſind. Andererſeits verſtehen gegen-
wärtig die Ordensleute von der Sprache der Chaymas ſo gut
wie nichts, und die Aehnlichkeit gewiſſer Laute verwirrt den
armen Indianern die Köpfe ſo ſehr, daß ſie ſich die wunder-
lichſten Vorſtellungen machen. Ich gebe nur ein Beiſpiel.
Wir ſahen eines Tages, wie ſich der Miſſionär große Mühe
gab, darzuthun, daß infierno, die Hölle, und invierno, der
Winter, nicht dasſelbe Ding ſeien, ſondern ſo verſchieden wie
Hitze und Froſt. Die Chaymas kennen keinen anderen Winter
als die Regenzeit, und unter der „Hölle der Weißen“ dachten
ſie ſich einen Ort, wo die Böſen furchtbaren Regengüſſen aus-
geſetzt ſeien. Der Miſſionär verlor die Geduld, aber es half
alles nichts; der erſte Eindruck, den zwei ähnliche Konſonanten
[276] hervorgebracht, war nicht mehr zu verwiſchen; im Kopfe der
Neophyten waren die Vorſtellungen Regen und Hölle, invierno
und infierno, nicht mehr auseinander zu bringen.
Nachdem wir faſt den ganzen Tag im Freien zugebracht,
ſchrieben wir abends im Kloſter unſere Beobachtungen und Be-
merkungen nieder, trockneten unſere Pflanzen und zeichneten
die, welche nach unſerer Anſicht neue Gattungen bildeten.
Die Mönche ließen uns volle Freiheit und wir denken mit
Vergnügen an einen Aufenthalt zurück, der ſo angenehm als
für unſer Unternehmen förderlich war. Leider war der
bedeckte Himmel in einem Thal, wo die Wälder ungeheure
Waſſermaſſen an die Luft abgeben, aſtronomiſchen Beobach-
tungen nicht günſtig. Ich blieb nachts oft lange auf, um
den Augenblick zu benutzen, wo ſich ein Stern vor ſeinem
Durchgang durch den Meridian zwiſchen den Wolken zeigen
würde. Oft zitterte ich vor Froſt, obgleich der Thermometer
nie unter 16° fiel. Es iſt dies in unſerem Klima die Tages-
temperatur gegen Ende Septembers. Die Inſtrumente blieben
mehrere Stunden im Kloſterhofe aufgeſtellt, und faſt immer
harrte ich vergebens. Ein paar gute Beobachtungen Foma-
haults und Denebs im Schwan ergaben für Caripe 10° 10′
14″ Breite, wonach es auf der Karte von Caulin um 18′,
auf der von Arrowſmith um 14′ unrichtig eingezeichnet iſt.
Der Verdruß, daß der bedeckte Himmel uns die Sterne
entzog, war der einzige, den wir im Thale von Caripe erlebt.
Wildheit und Friedlichkeit, Schwermut und Lieblichkeit, beides
zuſammen iſt der Charakter der Landſchaft. Inmitten einer ſo
gewaltigen Natur herrſcht in unſerem Inneren nur Friede und
Ruhe. Ja noch mehr, in der Einſamkeit dieſer Berge wundert
man ſich weniger über die neuen Eindrücke, die man bei jedem
Schritte erhält, als darüber, daß die verſchiedenſten Klimate
ſo viele Züge miteinander gemein haben. Auf den Hügeln,
an die das Kloſter ſich lehnt, ſtehen Palmen und Baumfarne;
abends, wenn der Himmel auf Regen deutet, ſchallt das ein-
tönige Geheul der roten Brüllaffen durch die Luft, das dem
fernen Brauſen des Windes im Walde gleicht. Aber trotz
dieſer unbekannten Töne, dieſer fremdartigen Geſtalten der
Gewächſe, alle dieſer Wunder einer Neuen Welt, läßt doch die
Natur den Menſchen allerorten eine Stimme hören, die in
vertrauten Lauten zu ihm ſpricht. Der Raſen am Boden,
das alte Moos und das Farnkraut auf den Baumwurzeln,
der Bach, der über die geneigten Kalkſteinſchichten niederſtürzt,
[277] das harmoniſche Farbenſpiel von Waſſer, Grün und Himmel,
alles ruft dem Reiſenden wohlbekannte Empfindungen zurück.
Die Naturſchönheiten dieſer Berge nahmen uns völlig
in Anſpruch, und ſo wurden wir erſt am Ende gewahr, daß
wir den guten gaſtfreundlichen Mönchen zur Laſt fielen. Ihr
Vorrat von Wein und Weizenbrote war nur gering, und wenn
auch der eine wie das andere dortzulande bei Tiſche nur
als Luxusartikel gelten, ſo machte es uns doch ſehr verlegen,
daß unſere Wirte ſie ſich ſelbſt verſagten. Bereits war unſere
Brotration auf ein Vierteil herabgekommen. und doch nötigte
uns der furchtbare Regen, unſere Abreiſe noch einige Tage
zu verſchieben. Wie unendlich lang kam uns dieſer Aufſchub
vor! Wie bange war uns vor der Glocke, die uns ins Re-
fektorium rief! Das Zartgefühl der Mönche ließ uns recht
lebhaft empfinden, wie ganz anders wir hier daran waren
als die Reiſenden, die darüber zu klagen haben, daß man
ihnen in den koptiſchen Klöſtern Oberägyptens ihren Mund-
vorrat entwendet.
Endlich am 22. September brachen wir auf mit Maul-
tieren, die unſere Inſtrumente und Pflanzen trugen. Wir
mußten den nordöſtlichen Abhang der Kalkalpen von Neu-
Andaluſien, die wir als die große Kette des Brigantin und
Cocollar bezeichnet, hinunter. Die mittlere Höhe dieſer Kette
beträgt nicht leicht über 1170 bis 1360 m, und ſie läßt ſich
in dieſer wie in geologiſcher Hinſicht mit dem Jura vergleichen.
Obgleich die Berge von Cumana nicht ſehr hoch ſind, ſo iſt
der Weg hinunter gegen Cariaco zu doch ſehr beſchwerlich, ja
ſogar gefährlich. Beſonders berüchtigt iſt in dieſer Beziehung
der Cerro de Santa Maria, an dem die Miſſionäre hinauf
müſſen, wenn ſie ſich von Cumana in ihr Kloſter Caripe be-
geben. Oft, wenn wir dieſe Berge, die Anden von Peru,
die Pyrenäen und die Alpen, die wir nacheinander beſucht,
verglichen, wurden wir inne, daß die Berggipfel von der
geringſten Meereshöhe nicht ſelten die unzugänglichſten ſind.
Als das Thal von Caripe hinter uns lag, kamen wir
zuerſt über eine Hügelkette, die nordoſtwärts vom Kloſter liegt.
Der Weg führte immer bergan über eine weite Savanne auf
die Hochebene Guardia de San Auguſtin. Hier hielten
wir an, um auf den Indianer zu warten, der den Barometer
trug; wir befanden uns in 1069 m abſoluter Höhe, etwas
höher als der Hintergrund der Höhle des Guacharo. Die Sa-
vannen oder natürlichen Wieſen, die den Kloſterkühen eine
[278] treffliche Weide bieten, ſind völlig ohne Baum und Buſch-
werk. Es iſt dies das eigentliche Bereich der Monokotyledo-
nen, denn aus dem Graſe erhebt ſich nur da und dort eine
Agave1 (Maguey), deren Blütenſchaft über 8,5 m hoch wird.
Auf der Hochebene von Guardia ſahen wir uns wie auf einen
alten, vom langen Aufenthalt des Waſſers wagerecht geebneten
Seeboden verſetzt. Man meint noch die Krümmungen des
alten Ufers zu erkennen, die vorſpringenden Landzungen, die
ſteilen Klippen, welche Eilande gebildet. Auf dieſen früheren
Zuſtand ſcheint ſelbſt die Verteilung der Gewächſe hinzu-
deuten. Der Boden des Beckens iſt eine Savanne, während
die Ränder mit hochſtämmigen Bäumen bewachſen ſind. Es
iſt wahrſcheinlich das höchſt gelegene Thal in den Provinzen
Cumana und Venezuela. Man kann bedauern, daß ein Land-
ſtrich, wo man eines gemäßigten Klimas genießt, und der ſich
ohne Zweifel zum Getreidebau eignete, völlig unbewohnt iſt.
Von dieſer Ebene geht es fortwährend abwärts bis zum
indianiſchen Dorfe Santa Cruz. Man kommt zuerſt über einen
jähen glatten Abhang, den die Miſſionäre ſeltſamerweiſe das
Fegefeuer nennen. Er beſteht aus verwittertem, mit Thon
bedecktem Schieferſandſtein und die Böſchung ſcheint furcht-
bar ſteil; denn infolge einer ſehr gewöhnlichen optiſchen
Täuſchung ſcheint der Weg, wenn man oben auf der Anhöhe
hinunterſieht, unter einem Winkel von mehr als 60° geneigt.
Beim Hinabſteigen nähern die Maultiere die Hinterbeine den
Vorderbeinen, ſenken das Kreuz und rutſchen aufs Geratewohl
hinab. Der Reiter hat nichts zu befahren, wenn er nur den
Zügel fahren läßt und dem Tiere keinerlei Zwang anthut.
An dieſem Punkte ſieht man zur Linken die große Pyramide
des Guacharo. Dieſer Kalkſteinkegel nimmt ſich ſehr maleriſch
aus, man verliert ihn aber bald wieder aus dem Geſicht, wenn
man den dicken Wald betritt, der unter dem Namen Mon-
taña de Santa Maria bekannt iſt. Es geht nun ſieben
Stunden lang in einem fort abwärts, und kaum kann man
ſich einen entſetzlicheren Weg denken; es iſt ein eigentlicher
„chemin des échelles“, eine Art Schlucht, in der während
der Regenzeit die wilden Waſſer von Fels zu Fels abwärts
ſtürzen. Die Stufen ſind 0,6 bis 1 m hoch, und die armen
Laſttiere meſſen erſt den Raum ab, der erforderlich iſt, um
die Ladung zwiſchen den Baumſtämmen durchzubringen, und
[279] ſpringen dann von einem Felsblock auf den anderen. Aus
Beſorgnis, einen Fehltritt zu thun, bleiben ſie eine Weile
ſtehen, als wollten ſie die Stelle unterſuchen, und ſchieben
die vier Beine zuſammen wie die wilden Ziegen. Verfehlt
das Tier den nächſten Steinblock, ſo ſinkt es bis zum halben
Leibe in den weichen ockerhaltigen Thon, der die Zwiſchenräume
der Steine ausfüllt. Wo dieſe fehlen, finden Menſchen- und
Tierbeine Halt an ungeheuren Baumwurzeln. Dieſelben ſind
oft 53 cm dick und gehen nicht ſelten hoch über dem Boden
vom Stamme ab. Die Kreolen vertrauen der Gewandtheit
und dem glücklichen Inſtinkt der Maultiere ſo ſehr, daß ſie
auf dem langen, gefährlichen Wege abwärts im Sattel bleiben.
Wir ſtiegen lieber ab, da wir Anſtrengung weniger ſcheuten
als jene, und gewöhnt waren, langſam vorwärts zu kommen,
weil wir immer Pflanzen ſammelten und die Gebirgsarten
unterſuchten. Da unſer Chronometer ſo ſchonend behandelt
werden mußte, blieb uns nicht einmal eine Wahl.
Der Wald, der den ſteilen Abhang des Berges von
Santa Maria bedeckt, iſt einer der dichteſten, die ich je ge-
ſehen. Die Bäume ſind wirklich ungeheuer hoch und dick.
Unter ihrem dichten dunkelgrünen Laube herrſcht beſtändig ein
Dämmerlicht, ein Dunkel, weit tiefer als in unſeren Tannen-,
Eichen- und Buchenwäldern. Es iſt als könnte die Luft trotz
der hohen Temperatur nicht all das Waſſer aufnehmen, das
der Boden, das Laub der Bäume, ihre mit einem uralten
Filz von Orchideen, Peperomien und anderen Saftpflanzen
bedeckten Stämme ausdünſten. Zu den aromatiſchen Ge-
rüchen, welche Blüten, Früchte, ſogar das Holz verbreiten,
kommt ein anderer, wie man ihn bei uns im Herbſt bei
nebligem Wetter ſpürt. Wie in den Wäldern am Orinoko
ſieht man auch hier, wenn man die Baumwipfel ins Auge
faßt, häufig Dunſtſtreifen an den Stellen, wo ein paar
Sonnenſtrahlen durch die dicke Luft dringen. Unter den
majeſtätiſchen Bäumen, die 40 bis 42 m hoch werden, machten
uns die Führer auf den Curucay von Terecen aufmerkſam,
der ein weißliches, flüſſiges, ſtarkriechendes Harz gibt. Die
indianiſchen Völkerſchaften der Cumanagotas und Tagires
räucherten einſt damit vor ihren Götzen. Die jungen Zweige
haben einen angenehmen, aber etwas zuſammenziehenden Ge-
ſchmack. Nach dem Curucay und ungeheuren, über 3 bis
3,25 m dicken Hymenäaſtämmen nahmen unſere Aufmerkſam-
keit am meiſten in Anſpruch: das Drachenblut (Croton san-
[280] guifluum), deſſen purpurbrauner Saft an der weißen Rinde
herabfließt; der Farn Calahuala, der nicht derſelbe iſt wie
der in Peru, aber faſt ebenſo heilkräftig, und die Iraſſe-,
Macanilla-, Corozo- und Pragapalmen. Letztere gibt einen
ſehr ſchmackhaften „Palmkohl“, den wir im Kloſter Caripe
zuweilen gegeſſen. Von dieſen Palmen mit gefiederten, ſtach-
ligen Blättern ſtachen die Baumfarne äußerſt angenehm ab.
Einer derſelben, Cyathea speciosa, wird über 11,5 m hoch,
eine ungeheure Größe für ein Gewächs aus dieſer Familie.
Wir fanden hier und im Thale von Caripe fünf neue Arten
Baumfarne; zu Linnés Zeit kannten die Botaniker ihrer nicht
vier auf beiden Kontinenten.
Man bemerkt, daß die Baumfarne im allgemeinen weit
ſeltener ſind als die Palmen. Die Natur hat ihnen ge-
mäßigte, feuchte, ſchattige Standorte angewieſen. Sie ſcheuen
den unmittelbaren Sonnenſtrahl, und während der Pumos,
die Corypha der Steppen und andere amerikaniſche Palmen-
arten die kahlen, glühend heißen Ebenen aufſuchen, bleiben
die Farne mit Baumſtämmen, die von weitem wie Palmen
ausſehen, dem ganzen Weſen kryptogamer Gewächſe treu.
Sie lieben verſteckte Plätze, das Dämmerlicht, eine feuchte,
gemäßigte, ſtockende Luft. Wohl gehen ſie hie und da bis
zur Küſte hinab, aber dann nur im Schutze dichten Schattens.
Dem Fuße des Berges von Santa Maria zu wurden
die Baumfarne immer ſeltener, die Palmen häufiger. Die
ſchönen Schmetterlinge mit großen Flügeln, die Nymphalen,
die ungeheuer hoch fliegen, mehrten ſich; alles deutete darauf,
daß wir nicht mehr weit von der Küſte und einem Landſtrich
waren, wo die mittlere Tagestemperatur 28 bis 30° der
hundertteiligen Skale beträgt.
Der Himmel war bedeckt und drohte mit einem der
Güſſe, bei denen zuweilen 2 bis 2,6 mm Regen an einem
Tage fällt. Die Sonne beſchien hin und wieder die Baum-
wipfel, und obgleich wir vor ihrem Strahl geſchützt waren,
erſtickten wir beinahe vor Hitze. Schon rollte der Donner
in der Ferne, die Wolken hingen am Gipfel des hohen
Guacharogebirges, und das klägliche Geheul der Araguatos,
das wir in Caripe bei Sonnenuntergang ſo oft gehört hatten,
verkündete den nahen Ausbruch des Gewitters. Wir hatten
hier zum erſtenmal Gelegenheit, dieſe Heulaffen in der Nähe
zu ſehen. Sie gehören zur Gattung Aluate (Stentor,
Geoffroy), deren verſchiedene Arten von den Zoologen lange
[281] verwechſelt worden ſind. Während die kleinen amerikaniſchen
Sapaju, die wie Sperlinge pfeifen, ein einfaches dünnes
Zungenbein haben, liegt die Zunge bei den großen Affen,
den Aluaten und Marimonda, auf einer großen Knochen-
trommel. Ihr oberer Kehlkopf hat ſechs Taſchen, in denen
ſich die Stimme fängt, und wovon zwei, taubenneſtförmige,
große Aehnlichkeit mit dem unteren Kehlkopf der Vögel haben.
Der den Araguaten eigene klägliche Ton entſteht, wenn die
Luft gewaltſam in die knöcherne Trommel einſtrömt. Ich
habe dieſe den Anatomen nur ſehr unvollſtändig bekannten
Organe an Ort und Stelle gezeichnet und die Beſchreibung
nach meiner Rückkehr nach Europa bekannt gemacht.1 Bedenkt
man, wie groß bei den Aluatos die Knochenſchachtel iſt und
wie viele Heulaffen in den Wäldern von Cumana und Guyana
auf einem einzigen Baume beiſammen ſitzen, ſo wundert man
ſich nicht mehr ſo ſehr über die Stärke und den Umfang
ihrer vereinigten Stimmen.
Der Araguato, bei den Tamanacasindianern Aravata,
bei den Maypures Marave genannt, gleicht einem jungen
Bären. Er iſt vom Scheitel des kleinen, ſtark zugeſpitzten
Kopfes bis zum Anfang des Wickelſchwanzes 1 m lang; ſein
Pelz iſt dicht und rotbraun von Farbe; auch Bruſt und Bauch
ſind ſchön behaart, nicht nackt wie beim Mono colorado oder
Buffons Alouate roux, den wir auf dem Wege von Cartagena
nach Santa Fé de Bogota genau beobachtet haben. Das Ge-
ſicht des Araguato iſt blauſchwarz, die Haut desſelben fein
und gefaltet. Der Bart iſt ziemlich lang, und trotz ſeines
kleinen Geſichtswinkels von nur 30° hat er in Blick und
Geſichtsausdruck ſo viel Menſchenähnliches als die Marimonda
(Simia Belzebuth) und der Kapuziner am Orinoko (S. chiro-
potes). Bei den Tauſenden von Araguaten, die uns in den
Provinzen Cumana, Caracas und Guyana zu Geſicht ge-
kommen, haben wir nie, weder an einzelnen Exemplaren noch
an ganzen Banden, einen Wechſel im Rotbraun des Pelzes
an Rücken und Schultern wahrgenommen. Durch die Farbe
unterſchiedene Spielarten ſchienen mir überhaupt bei den Affen
nicht ſo häufig zu ſein, als die Zoologen annehmen, und bei
den geſellig lebenden Arten ſind ſie vollends ſehr ſelten.
Der Araguato bei Caripe iſt eine neue Art der Gattung
Stentor, die ich unter dem Namen Simia ursina bekannt
[282] gemacht habe. Ich habe ihn lieber ſo benannt als nach der
Farbe des Pelzes, und zwar deſto mehr, da die Griechen be-
reits einen ſtark behaarten Affen unter dem Namen Arktopi-
thekos kannten. Derſelbe unterſcheidet ſich ſowohl vom
Uarino (Simia Guariba) als vom Alouate roux (S. Seni-
culus). Blick, Stimme, Gang, alles an ihm iſt trübſelig.
Ich habe ganz junge Araguaten geſehen, die in den Hütten der
Indianer aufgezogen wurden; ſie ſpielen nie wie die kleinen
Sagoine, und Lopez del Gomara ſchildert zu Anfang des
16. Jahrhunderts ihr ernſtes Weſen ſehr naiv, wenn er ſagt:
„Der Aranata de los Cumaneſes hat ein Menſchen-
geſicht, einen Ziegenbart und eine gravitätiſche Haltung
(honrado gesto).“ Ich habe anderswo die Bemerkung ge-
macht, daß die Affen deſto trübſeliger ſind, je mehr Menſchen-
ähnlichkeit ſie haben. Ihre Munterkeit und Beweglichkeit
nimmt ab, je mehr ſich die Geiſteskräfte bei ihnen zu ent-
wickeln ſcheinen.
Wir hatten Halt gemacht, um den Heulaffen zuzuſehen,
wie ſie zu dreißig, vierzig in einer Reihe von Baum zu Baum
auf den verſchlungenen wagerechten Aeſten über den Weg zogen.
Während dieſes neue Schauſpiel uns ganz in Anſpruch nahm,
kam uns ein Trupp Indianer entgegen, die den Bergen von
Caripe zuzogen. Sie waren völlig nackt, wie meiſtens die
Eingeborenen hierzulande. Die ziemlich ſchwer beladenen
Weiber ſchloſſen den Zug; die Männer, ſogar die kleinſten
Jungen, waren alle mit Bogen und Pfeilen bewaffnet. Sie
zogen ſtill, die Augen am Boden, ihres Weges. Wir hätten
gern von ihnen erfahren, ob es noch weit nach der Miſſion
Santa Cruz ſei, wo wir übernachten wollten. Wir waren
völlig erſchöpft und der Durſt quälte uns furchtbar. Die
Hitze wurde drückender, je näher das Gewitter kam, und wir
hatten auf unſerem Wege keine Quelle gefunden, um den Durſt
zu löſchen. Da die Indianer uns immer si Padre, no Padre
zur Antwort gaben, meinten wir, ſie verſtehen ein wenig
Spaniſch. In den Augen der Eingeborenen iſt jeder Weiße
ein Mönch, ein Pater; denn in den Miſſionen zeichnet ſich
der Geiſtliche mehr durch die Hautfarbe als durch die Farbe
des Gewandes aus. Wie wir auch den Indianern mit Fragen,
wie weit es noch ſei, zuſetzten, ſie erwiderten offenbar aufs
Geratewohl si oder no, und wir konnten aus ihren Antworten
nicht klug werden. Dies war uns um ſo verdrießlicher, da
ihr Lächeln und ihr Gebärdenſpiel verrieten, daß ſie uns gern
[283] gefällig geweſen wären, und der Wald immer dichter zu werden
ſchien. Wir mußten uns trennen; die indianiſchen Führer,
welche die Chaymasſprache verſtanden, waren noch weit zurück,
da die beladenen Maultiere bei jedem Schritt in den Schluchten
ſtürzten.
Nach mehreren Stunden beſtändig abwärts über zerſtreute
Felsblöcke ſahen wir uns unerwartet am Ende des Waldes
von Santa Maria. So weit das Auge reichte, lag eine Gras-
flur vor uns, die ſich in der Regenzeit friſch begrünt hatte.
Links ſahen wir in ein enges Thal hinein, das ſich dem
Guacharogebirge zu zieht und im Hintergrunde mit dichtem
Walde bedeckt iſt. Der Blick ſtreifte über die Baumwipfel
weg, die 260 m tief unter dem Wege ſich wie ein hingebreiteter,
dunkelgrüner Teppich ausnahmen. Die Lichtungen im Walde
glichen großen Trichtern, in denen wir an der zierlichen Ge-
ſtalt und den gefiederten Blättern Praga- und Iraſſepalmen
erkannten. Vollends maleriſch wird die Landſchaft dadurch,
daß die Sierra del Guacharo vor einem liegt. Ihr nörd-
licher, dem Meerbuſen von Cariaco zugekehrter Abhang iſt
ſteil und bildet eine Felsmauer, ein faſt ſenkrechtes Profil,
über 970 m hoch. Dieſe Wand iſt ſo ſchwach bewachſen, daß
man die Linien der Kalkſchichten mit dem Auge verfolgen kann.
Der Gipfel der Sierra iſt abgeplattet und nur am Oſtende
erhebt ſich, gleich einer geneigten Pyramide, der majeſtätiſche
Pik Guacharo. Seine Geſtalt erinnert an die Aiguilles und
Hörner der Schweizer Alpen (Schreckhörner, Finſteraarhorn).
Da die meiſten Berge mit ſteilem Abhange höher ſcheinen,
als ſie wirklich ſind, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß man
in den Miſſionen der Meinung iſt, der Guacharo überrage
den Turimiquiri und den Brigantin.
Die Savanne, über die wir zum indianiſchen Dorfe Santa
Cruz zogen, beſteht aus mehreren ſehr ebenen Plateaus, die
wie Stockwerke übereinander liegen. Dieſe geologiſche Er-
ſcheinung, die in allen Erdſtrichen vorkommt, ſcheint darauf
hinzudeuten, daß hier lange Zeit Waſſerbecken übereinander
lagen und ſich ineinander ergoſſen. Der Kalkſtein geht nicht
mehr zu Tage aus; er iſt mit einer dicken Schicht Dammerde
bedeckt. Wo wir ihn im Walde von Santa Maria zum letzten-
mal ſahen, fanden wir Neſter von Eiſenerz darin, und, wenn
wir recht geſehen haben, ein Ammonshorn; es gelang uns
aber nicht, es loszubrechen. Es maß 18 cm im Durchmeſſer.
Dieſe Beobachtung iſt um ſo intereſſanter, als wir ſonſt in
[284] dieſem Teile von Südamerika nirgends einen Ammoniten ge-
ſehen haben. Die Miſſion Santa Cruz liegt mitten in der
Ebene. Wir kamen gegen Abend daſelbſt an, halb verdurſtet,
da wir faſt acht Stunden kein Waſſer gehabt hatten. Der
Thermometer zeigte 26°; wir waren auch nur noch 370 m
über dem Meere. Wir brachten die Nacht in einer der Ajupas
zu, die man „Häuſer des Königs“ nennt, und die, wie ſchon
oben bemerkt, den Reiſenden als Tambo oder Karawanſerai
dienen. Wegen des Regens war an keine Sternbeobachtung
zu denken, und wir ſetzten des anderen Tages, 23. September,
unſeren Weg zum Meerbuſen von Cariaco hinunter fort. Jen-
ſeits Santa Cruz fängt der dichte Wald von neuem an. Wir
fanden daſelbſt unter Melaſtomenbüſchen einen ſchönen Farn
mit Blättern gleich denen der Osmunda, die in der Ordnung
der Polypodiaceen eine neue Gattung (Polybotria) bildet.
Von der Miſſion Catuaro aus wollten wir oſtwärts über
Santa Roſalia, Caſanay, San Joſef, Carupano, Rio Carives
und den Berg Paria gehen, erfuhren aber zu unſerem großen
Verdruß, daß der ſtarke Regen die Wege bereits ungangbar
gemacht habe und wir Gefahr laufen, unſere friſch geſammelten
Pflanzen zu verlieren. Ein reicher Kakaopflanzer ſollte uns
von Santa Roſalia in den Hafen von Carupano begleiten.
Wir hatten noch zu rechter Zeit gehört, daß er in Geſchäften
nach Cumana müſſe. So beſchloſſen wir denn, uns in Cariaco
einzuſchiffen und gerade über den Meerbuſen, ſtatt zwiſchen
der Inſel Margarita und der Landenge Araya durch, nach
Cumana zurückzufahren.
Die Miſſion Catuaro liegt in ungemein wilder Um-
gebung. Hochſtämmige Bäume ſtehen noch um die Kirche her
und die Tiger freſſen bei Nacht den Indianern ihre Hühner
und Schweine. Wir wohnten beim Geiſtlichen, einem Mönche
von der Kongregation der Obſervanten, dem die Kapuziner
die Miſſion übergeben hatten, weil es ihrem eigenen Orden
an Leuten fehlte. Er war ein Doktor der Theologie, ein
kleiner, magerer, faſt übertrieben lebhafter Mann; er unter-
hielt uns beſtändig von dem Prozeß, den er mit dem Guardian
ſeines Kloſters führte, von der Feindſchaft ſeiner Ordensbrüder,
von der Ungerechtigkeit der Alkaden, die ihn ohne Rückſicht
auf ſeine Standesvorrechte ins Gefängnis geworfen. Trotz
dieſer Abenteuer war ihm leider die Liebhaberei geblieben, ſich
mit metaphyſiſchen Fragen, wie er es nannte, zu befaſſen. Er
wollte meine Anſicht hören über den freien Willen, über die
[285] Mittel, die Geiſter von ihren Körperbanden frei zu machen, be-
ſonders aber über die Tierſeelen, lauter Dinge, über die er
die ſeltſamſten Ideen hatte. Wenn man in der Regenzeit ſich
durch Wälder durchgearbeitet hat, iſt man zu Spekulationen
derart wenig aufgelegt. Uebrigens war in der kleinen Miſſion
Catuaro alles ungewöhnlich, ſogar das Pfarrhaus. Es hatte
zwei Stockwerke und hatte dadurch zu einem hitzigen Streit
zwiſchen den weltlichen und geiſtlichen Behörden Anlaß ge-
geben. Dem Guardian der Kapuziner ſchien es zu vornehm
für einen Miſſionär und er hatte die Indianer zwingen wollen,
es niederzureißen; der Statthalter hatte kräftige Einſprache
gethan und auch ſeinen Willen gegen die Mönche durchgeſetzt.
Ich erwähne dergleichen an ſich unbedeutende Vorfälle nur,
weil ſie einen Blick in die innere Verwaltung der Miſſionen
werfen laſſen, die keineswegs immer ſo friedlich iſt, als man
in Europa glaubt.
Wir trafen in der Miſſion Catuaro den Corregidor des
Diſtriktes, einen liebenswürdigen, gebildeten Mann. Er gab
uns drei Indianer mit, die mit ihren Machetes vor uns
her einen Weg durch den Wald bahnen ſollten. In dieſem
wenig betretenen Lande iſt die Vegetation in der Regenzeit ſo
üppig, daß ein Mann zu Pferde auf den ſchmalen, mit Schling-
pflanzen und verſchlungenen Baumäſten bedeckten Fußſteigen
faſt nicht durchkommt. Zu unſerem großen Verdruß wollte
der Miſſionär von Catuaro uns durchaus nach Cariaco be-
gleiten. Wir konnten es nicht ablehnen; er ließ uns jetzt mit
ſeinen Faſeleien über die Tierſeelen und den menſchlichen freien
Willen in Ruhe, er hatte uns aber nunmehr von einem ganz
anderen, traurigeren Gegenſtande zu unterhalten. Den Unab-
hängigkeitsbeſtrebungen, die im Jahre 1798 in Caracas bei-
nahe zu einem Ausbruch geführt hätten, war eine große Auf-
regung unter den Negern zu Coro, Maracaybo und Cariaco
vorangegangen und gefolgt. In letzterer Stadt war ein armer
Neger zum Tode verurteilt worden, und unſer Wirt, der Seel-
ſorger von Catuaro, ging jetzt hin, um ihm ſeinen geiſtlichen
Beiſtand anzubieten. Wie lang kam uns der Weg vor, auf
dem wir uns in Verhandlungen einlaſſen mußten, „über die
Notwendigkeit des Sklavenhandels, über die angeborene Bös-
artigkeit der Schwarzen, über die Segnungen, welche der Raſſe
daraus erwachſen, daß ſie als Sklaven unter Chriſten leben!“
Gegenüber dem „Code noir“ der meiſten anderen Völker,
welche Beſitzungen in beiden Indien haben, iſt die ſpaniſche
[286] Geſetzgebung unſtreitig ſehr mild. Aber vereinzelt, auf kaum
urbar gemachtem Boden leben die Neger in Verhältniſſen, daß
die Gerechtigkeit, weit entfernt ſie im Leben kräftig ſchützen
zu können, nicht einmal imſtande iſt, die Barbareien zu be-
ſtrafen, durch die ſie ums Leben kommen. Leitet man eine
Unterſuchung ein, ſo ſchreibt man den Tod des Sklaven ſeiner
Kränklichkeit zu, dem heißen, naſſen Klima, den Wunden, die
man ihm allerdings beigebracht, die aber gar nicht tief und
durchaus nicht gefährlich geweſen. Die bürgerliche Behörde
iſt in allem, was die Hausſklaverei angeht, machtlos, und
wenn man rühmt, wie günſtig die Geſetze wirken, nach denen
die Peitſche die und die Form haben muß und nur ſo viel Streiche
auf einmal gegeben werden dürfen, ſo iſt das reine Täuſchung.
Leute, die nicht in den Kolonieen oder doch nur auf den Antillen
gelebt haben, ſind meiſt der Meinung, da es im Intereſſe
des Herrn liege, daß ſeine Sklaven ihm erhalten bleiben,
müſſen ſie deſto beſſer behandelt werden, je weniger ihrer ſeien.
Aber in Cariaco ſelbſt, wenige Wochen bevor ich in die Provinz
kam, tötete ein Pflanzer, der nur acht Neger hatte, ihrer ſechs
durch unmenſchliche Hiebe. Er zerſtörte mutwillig den größten
Teil ſeines Vermögens. Zwei der Sklaven blieben auf der
Stelle tot, mit den vier anderen, die kräftiger ſchienen, ſchiffte
er ſich nach dem Hafen von Cumana ein, aber ſie ſtarben
auf der Ueberfahrt. Vor dieſer abſcheulichen That war im
ſelben Jahre eine ähnliche unter gleich empörenden Umſtänden
begangen worden. Solche furchtbare Unthaten blieben ſo gut
wie unbeſtraft; der Geiſt, der die Geſetze macht, und der, der
ſie vollzieht, haben nichts miteinander gemein. Der Statt-
halter von Cumana war ein gerechter, menſchenfreundlicher
Mann; aber die Rechtsformen ſind ſtreng vorgeſchrieben und
die Gewalt des Statthalters geht nicht ſo weit, um Miß-
bräuche abzuſtellen, die nun einmal von jedem europäiſchen
Koloniſationsſyſtem untrennbar ſind.
Der Weg durch den Wald von Catuaro iſt nicht viel
anders als der vom Berge Santa Maria herab; auch ſind die
ſchlimmſten Stellen hier ebenſo ſonderbar getauft wie dort.
Man geht wie in einer engen, durch die Bergwaſſer aus-
geſpülten, mit feinem, zähem Thon gefüllten Furche dahin.
Bei den jähſten Abhängen ſenken die Maultiere das Kreuz
und rutſchen hinunter; das nennt man nun Saca-Manteca,
weil der Kot ſo weich iſt wie Butter. Bei der großen
Gewandtheit der einheimiſchen Maultiere iſt dieſes Hinabgleiten
[287] ohne alle Gefahr. Der Weg führt über die Felsſchichten herab,
die am Ausgehenden Stufen von verſchiedener Höhe bilden,
und ſo iſt es auch hier ein wahrer „chemin des échelles“.
Weiterhin, wenn man zum Walde heraus iſt, kommt man zum
Berge Buenaviſta. Er verdient den Namen, denn von hier
ſieht man die Stadt Cariaco in einer weiten, mit Pflanzungen,
Hütten und Gruppen von Kokospalmen bedeckten Ebene. Weſt-
wärts von Cariaco breitet ſich der weite Meerbuſen aus, den
eine Felsmauer vom Ozean trennt; gegen Oſt zeigen ſich,
gleich blauen Wolken, die hohen Gebirge von Areo und Paria.
Es iſt eine der weiteſten, prachtvollſten Ausſichten an der Küſte
von Neu-Andaluſien.
Wir fanden in Cariaco einen großen Teil der Einwohner
in ihren Hängematten krank am Wechſelfieber. Dieſe Fieber
werden im Herbſt bösartig und gehen in Ruhren über. Be-
denkt man, wie außerordentlich fruchtbar und feucht die Ebene
iſt, und welch ungeheure Maſſe von Pflanzenſtoff hier zerſetzt
wird, ſo ſieht man leicht, warum die Luft hier nicht ſo geſund
ſein kann wie über dem dürren Boden von Cumana. Nicht
leicht finden ſich in der heißen Zone große Fruchtbarkeit des
Bodens, häufige, lange dauernde Waſſerniederſchläge, eine
ungemein üppige Vegetation beiſammen, ohne daß dieſe Vor-
teile durch ein Klima aufgewogen würden, das der Geſundheit
der Weißen mehr oder weniger gefährlich wird. Aus denſelben
Urſachen, welche den Boden ſo fruchtbar machen und die Ent-
wickelung der Gewächſe beſchleunigen, entwickeln ſich auch Gaſe
aus dem Boden, die ſich mit der Luft miſchen und ſie ungeſund
machen. Wir werden oft Gelegenheit haben, auf die Ver-
knüpfung dieſer Erſcheinungen zurückzukommen, wenn wir den
Kakaobau und die Ufer des Orinoko beſchreiben, wo es Flecke
gibt, an denen ſich ſogar die Eingeborenen nur ſchwer akkli-
matiſieren. Im Thale von Cariaco hängt übrigens die Un-
geſundheit der Luft nicht allein von den eben erwähnten all-
gemeinen Urſachen ab; es machen ſich dabei auch lokale Ver-
hältniſſe geltend. Es wird nicht ohne Intereſſe ſein, den
Landſtrich, der die Meerbuſen von Cariaco und von Paria von-
einander trennt, näher zu betrachten.
Vom Kalkgebirge des Brigantin und Cocollar läuft ein
ſtarker Aſt nach Nord und hängt mit dem Urgebirge an der
Küſte zuſammen. Dieſer Aſt heißt Sierra de Meapire; der
Stadt Cariaco zu führt er den Namen Cerro grande de
Cariaco. Er ſchien mir im Durchſchnitt nicht über 290 bis
[288] 390 m hoch; wo ich ihn unterſuchen konnte, beſteht er aus
dem Kalkſtein des Uferſtriches. Mergel- und Kalkſchichten
wechſeln mit anderen, welche Quarzkörner enthalten. Wer
die Reliefbildung des Landes zu ſeinem beſonderen Studium
macht, muß es auffallend finden, daß ein quergelegter Gebirgs-
kamm unter rechtem Winkel zwei Ketten verbindet, deren eine,
ſüdliche, aus ſekundären Gebirgsbildungen beſteht, während die
andere, nördliche, Urgebirge iſt. Auf dem Gipfel des Cerro
de Meapire ſieht man das Gebirge einerſeits nach dem Meer-
buſen von Paria, andererſeits nach dem von Cariaco ſich abdachen.
Oſtwärts und weſtwärts vom Kamme liegt ein niedriger,
ſumpfiger Boden, der ohne Unterbrechung fortſtreicht, und
nimmt man an, daß die beiden Meerbuſen dadurch entſtanden
ſind, daß der Boden durch Erdbeben zerriſſen worden iſt und ſich
geſenkt hat, ſo muß man vorausſetzen, daß der Cerro de
Meapire dieſen gewaltſamen Erſchütterungen widerſtanden hat,
ſo daß der Meerbuſen von Paria und der von Cariaco nicht
zu einem verſchmelzen konnten. Wäre dieſer Felsdamm nicht
da, ſo beſtünde wahrſcheinlich auch die Landenge nicht. Vom
Schloſſe Araya bis zum Kap Paria würde die ganze Gebirgs-
maſſe an der Küſte eine ſchmale, Margarita parallel laufende,
viermal längere Inſel bilden. Dieſe Anſichten gründen ſich
nicht nur auf unmittelbare Unterſuchung des Bodens und die
Schlüſſe aus der Reliefbildung desſelben; ſchon ein Blick auf
die Umriſſe der Küſten und die geognoſtiſche Karte des Landes
muß auf dieſelben Gedanken bringen. Die Inſel Margarita
hat, wie es ſcheint, früher mit der Küſtenkette von Araya
durch die Halbinſel Chacopata und die Karibiſchen Inſeln
Lobo und Coche zuſammengehangen, wie die Kette noch jetzt mit
den Gebirgen des Cocollar und von Caripe durch den Gebirgs-
kamm Meapire zuſammenhängt.
Im gegenwärtigen Zuſtande der Dinge ſieht man die
feuchten Ebenen, die oſt- und weſtwärts vom Kamme ſtreichen
und uneigentlich die Thäler von San Bonifacio und Cariaco
heißen, ſich fortwährend in das Meer hinaus verlängern.
Das Meer zieht ſich zurück, und dieſe Verrückung der Küſte iſt
beſonders bei Cumana auffallend. Wenn die Höhenverhältniſſe
des Bodens darauf hinweiſen, daß die Meerbuſen von Cariaco
und Paria früher einen weit größeren Umfang hatten, ſo
läßt ſich auch nicht in Zweifel ziehen, daß gegenwärtig das
Land ſich allmählich vergrößert. Bei Cumana wurde im Jahre
1791 eine Batterie, die ſogenannte Boca, dicht am Meere
[289] gebaut, im Jahre 1799 ſahen wir ſie weit im Lande liegen.
An der Mündung des Rio Nevari, beim Morro de Nueva
Barcelona, zieht ſich das Meer noch raſcher zurück. Dieſe lokale
Erſcheinung rührt wahrſcheinlich von Anſchwemmungen her,
deren Zunahmeverhältniſſe noch nicht gehörig beobachtet ſind.
Geht man von der Sierra de Meapire, welche die Landenge
zwiſchen den Ebenen von San Bonifacio und von Cariaco
bildet, herab, ſo kommt man gegen Oſt an den großen See
Putacuao, der mit dem Rio Areo in Verbindung ſteht und
18 bis 23 km breit iſt. Das Gebirgsland um dieſes Becken
iſt nur den Eingeborenen bekannt. Hier kommen die großen
Boa vor, welche die Chaymasindianer Guainas nennen,
und denen ſie einen Stachel unter den Schwanze andichten.
Geht man von der Sierra de Meapire nach Weſt hinunter, ſo
betritt man zuerſt einen „hohlen Boden“ (tierra hueca), der
bei dem großen Erdbeben des Jahres 1766 in zähes Erdöl
gehüllten Asphalt auswarf; weiterhin ſieht man eine Unzahl
warmer ſchwefelwaſſerſtoffhaltiger Quellen aus dem Boden
brechen, und endlich kommt man zum See Campoma, deſſen
Ausdünſtungen zum Teil die Ungeſundheit des Klimas von
Cariaco veranlaſſen. Die Eingeborenen glauben, der Boden
ſei deshalb hohl, weil die warmen Waſſer ſich hier aufgeſtaut
haben, und nach dem Schall des Hufſchlags ſcheinen ſich die
unterirdiſchen Höhlungen von Weſt nach Oſt bis Caſanay,
5,8 bis 7,9 km weit zu erſtrecken. Ein Flüßchen, der Rio
Azul, läuft durch dieſe Ebenen. Sie ſind zerklüftet infolge
von Erdbeben, die hier einen beſonderen Herd haben und ſich
ſelten bis Cumana fortpflanzen. Das Waſſer des Rio Azul
iſt kalt und hell; er entſpringt am weſtlichen Abhange des
Meapire, und man glaubt, er ſei deshalb ſo ſtark, weil das
Gewäſſer des Putacuaoſees auf der anderen Seite des Ge-
birgszuges durchſickere. Das Flüßchen und die ſchwefelwaſſer-
ſtoffhaltigen Quellen ergießen ſich zuſammen in die Laguna
de Campona. So heißt ein weites Sumpfland, das in der
trockenen Jahreszeit in drei Becken zerfällt, die nordweſtlich
von der Stadt Cariaco am Ende des Meerbuſens liegen.
Uebelriechende Dünſte ſteigen fortwährend vom ſtehenden Sumpf-
waſſer auf. Sie riechen nach Schwefelwaſſerſtoff und zugleich
nach faulen Fiſchen und zerſetzten Vegetabilien.
Die Miasmen bilden ſich im Thale von Cariaco gerade
wie in der römiſchen Campagna; aber durch die tropiſche Hitze
wird ihre verderbliche Kraft geſteigert. Durch die Lage der
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 19
[290] Laguna von Campoma wird der Nordweſt, der ſehr oft nach
Sonnenuntergang weht, den Einwohnern der kleinen Stadt
Cariaco höchſt gefährlich. Sein Einfluß unterliegt deſto weniger
einem Zweifel, da die Wechſelfieber dem Sumpfe zu, der der
Hauptherd der faulen Miasmen iſt, immer häufiger in Nerven-
fieber übergehen. Ganze Familien freier Neger, die an der
Nordküſte des Meerbuſens von Cariaco kleine Pflanzungen
beſitzen, liegen mit Eintritt der Regenzeit ſiech in ihren Hänge-
matten. Dieſe Fieber nehmen den Charakter remittierender
bösartiger Fieber an, wenn man ſich, erſchöpft von langer
Arbeit und ſtarker Hautausdünſtung, dem feinen Regen aus-
ſetzt, der gegen Abend häufig fällt. Die Farbigen, beſonders
aber die Kreolenneger, widerſtehen den klimatiſchen Einflüſſen
mehr als irgend ein anderer Menſchenſchlag. Man behandelt
die Kranken mit Limonade, mit dem Aufguß von Scoparia
dulcis, ſelten mit Cuſpare, d. h. mit der Chinarinde von
Angoſtura.
Im ganzen iſt bei den Epidemieen in Cariaco die Sterb-
lichkeit geringer, als man erwarten ſollte. Wenn das Wechſel-
fieber mehrere Jahre hintereinander einen Menſchen befällt,
ſo greift es den Körper ſtark an und bringt ihn herunter;
aber dieſer Schwächezuſtand, der in ungeſunden Gegenden ſo
häufig vorkommt, führt nicht zum Tode. Auch iſt es merk-
würdig, daß hier, wie in der römiſchen Campagna, der Glaube
herrſcht, die Luft ſei in dem Maße ungeſünder geworden, je
mehr Morgen Landes man urbar gemacht. Die Miasmen,
die dieſen Ebenen entſteigen, haben indeſſen nichts gemein mit
jenen, die ſich bilden, wenn man einen Wald niederſchlägt
und nun die Sonne eine dicke Schicht abgeſtorbenen Laubes
erhitzt; bei Cariaco iſt das Land kahl und ſehr ſparſam be-
waldet. Soll man glauben, daß friſch aufgewühlte und vom
Regen durchfeuchtete Dammerde die Luft mehr verderbt als
der dichte Pflanzenfilz, der einen nicht bebauten Boden be-
deckt? Zu dieſen örtlichen Urſachen kommen andere, weniger
zweifelhafte. Das nahe Meeresufer iſt mit Manglebäumen,
Avicennien und anderen Baumarten mit adſtringierender Rinde
bedeckt. Alle Tropenbewohner ſind mit den ſchädlichen Aus-
dünſtungen dieſer Gewächſe bekannt, und man fürchtet ſie deſto
mehr, wenn Wurzeln und Stamm nicht immer unter Waſſer
ſtehen, ſondern abwechſelnd naß und von der Sonne erhitzt
werden. Die Manglebäume erzeugen Miasmen, weil ſie, wie
ich anderswo gezeigt habe, einen tieriſch-vegetabiliſchen, an
[291] Gerbſtoff gebundenen Stoff enthalten. Man behauptet, der
Kanal, durch den die Laguna de Campoma mit dem Meere
zuſammenhängt, ließe ſich leicht erweitern und ſo dem ſtehen-
den Waſſer ein Abfluß verſchaffen. Die freien Neger, die das
Sumpfland häufig betreten, verſichern ſogar, der Durchſtich
brauchte gar nicht tief zu ſein, da das kalte, klare Waſſer des
Rio Azul ſich auf dem Boden des Sees befindet und man
beim Nachgraben aus den unteren Schichten trinkbares, geruch-
loſes Waſſer erhält.
Die Stadt Cariaco iſt mehrere Male von den Kariben
verheert worden. Die Bevölkerung hat raſch zugenommen,
ſeit die Provinzialbehörden, den Verboten des Madrider Hofes
zuwider, nicht ſelten dem Handel mit fremden Kolonieen Vor-
ſchub geleiſtet haben. Sie hat ſich in zehn Jahren verdoppelt
und betrug im Jahre 1800 über 6000 Seelen. Die Ein-
wohner treiben ſehr fleißig Baumwollenbau; die Baumwolle
iſt ſehr ſchön und es werden mehr als 10000 Zentner er-
zeugt. Die leeren Hülſen der Baumwolle werden ſorgſam
verbrannt; wirft man ſie in den Fluß, wo ſie faulen, ſo er-
zeugen ſie Ausdünſtungen, die man für ſchädlich hält. Der
Bau des Kakaobaumes hat in letzter Zeit ſehr abgenommen.
Dieſer köſtliche Baum trägt erſt im achten bis zehnten Jahre.
Die Frucht iſt ſchwer in Magazinen aufzubewahren, und nach
Jahresfriſt „geht ſie an“, wenn ſie noch ſo ſorgfältig ge-
trocknet worden iſt. Dieſer Nachteil iſt für den Koloniſten
von großem Belang. Auf dieſen Küſten iſt je nach der Laune
eines Miniſteriums und dem mehr oder minder kräftigen
Widerſtande der Statthalter der Handel mit den Neutralen
bald verboten, bald mit gewiſſen Beſchränkungen geſtattet.
Die Nachfrage nach einer Ware und die Preiſe, die ſich nach
der Nachfrage beſtimmen, unterliegen daher dem raſcheſten
Wechſel. Der Koloniſt kann ſich dieſe Schwankungen nicht
zu nutze machen, weil ſich der Kakao in den Magazinen nicht
hält. Die alten Kakaoſtämme, die meiſt nur bis zum vierzigſten
Jahre tragen, ſind daher nicht durch junge erſetzt worden.
Im Jahre 1792 zählte man ihrer noch 254000 im Thale
von Cariaco und am Ufer des Meerbuſens. Gegenwärtig
zieht man andere Kulturzweige vor, welche gleich im erſten
Jahre einen Ertrag liefern und deren Produkte nicht nur
nicht ſo lange auf ſich warten laſſen, ſondern auch leichter auf-
zubewahren ſind. Solche ſind Baumwolle und Zucker, die
nicht der Verderbnis unterliegen wie der Kakao und ſich auf-
[292] bewahren laſſen, ſo daß man ſie im günſtigſten Zeitpunkte
losſchlagen kann. Die Umwandlungen, die infolge der fort-
ſchreitenden Kultur und des Verkehres mit Fremden Sitten
und Charakter der Küſtenbewohner erlitten, haben auch be-
ſtimmend mitgewirkt, wenn ſie jetzt dieſem und jenem Kultur-
zweige den Vorzug geben. Jenes Maß in der ſinnlichen Be-
gierde, jene Geduld, die lange warten kann, jene Gemütsruhe,
welche die trübſelige Eintönigkeit des einſamen Lebens ertragen
läßt, verſchwinden nach und nach aus dem Charakter der
Hiſpano-Amerikaner. Sie werden unternehmender, leichtſinniger,
beweglicher und werfen ſich mehr auf Unternehmungen, die
einen raſchen Ertrag geben.
Nur im Inneren der Provinz, oſtwärts von der Sierra
de Meapire, auf dem unbebauten Boden von Carupano an
durch das Thal San Bonifacio bis zum Meerbuſen von Paria
entſtehen neue Kakaopflanzungen. Sie werden dort deſto ein-
träglicher, je mehr die Luft über dem friſch urbar gemachten,
von Wäldern umgebenen Lande ſtockt, je mehr ſie mit Waſſer
und mephitiſchen Dünſten geſchwängert iſt. Hier leben Fa-
milienväter, welche, treu den alten Sitten der Koloniſten, ſich
und ihren Kindern langſam, aber ſicher Wohlſtand erarbeiten.
Sie behelfen ſich bei ihrer mühſamen Arbeit mit einem einzigen
Sklaven; ſie brechen mit eigener Hand den Boden um, ziehen
die jungen Kakaobäume im Schatten der Erythrina und der
Bananenbäume, beſchneiden den erwachſenen Baum, vertilgen
die Maſſen von Würmern und Inſekten, welche Rinde,
Blätter und Blüten anfallen, legen Abzugsgräben an, und
unterziehen ſich ſieben, acht Jahre lang einem elenden Leben,
bis der Kakaobaum anfängt, Ernten zu liefern. Dreißig-
tauſend Stämme ſichern den Wohlſtand einer Familie auf
anderthalb Generationen. Wenn durch die Baumwolle und
den Kaffee der Bau des Kakao in der Provinz Caracas und
im kleinen Thale von Cariaca beſchränkt worden iſt, ſo hat
dagegen letzterer Zweig der Kolonialinduſtrie im Inneren der
Provinzen Neubarcelona und Cumana zugenommen. Warum
die Kakaopflanzungen ſich von Weſt nach Oſt mehr und mehr
ausbreiten, iſt leicht einzuſehen. Die Provinz Caracas iſt die
am früheſten bebaute; je länger aber ein Land urbar gemacht
iſt, deſto baumloſer wird es in der heißen Zone, deſto dürrer,
deſto mehr den Winden ausgeſetzt. Dieſer Wechſel in der
äußeren Natur iſt dem Gedeihen des Kakaobaumes hinderlich,
und deshalb gehen die Pflanzungen in der Provinz Caracas
[293] ein und häufen ſich dafür weſtwärts auf unberührtem, erſt
kürzlich urbar gemachtem Boden. Die Provinz Neuandaluſien
allein erzeugte im Jahre 1799 18000 bis 20000 Fanegas
Kakao (zu 40 Piaſtern die Fanega in Friedenszeiten), wovon
5000 nach der Inſel Trinidad geſchmuggelt wurden. Der
Kakao von Cumana iſt ohne allen Vergleich beſſer als der von
Guayaquil.
Die in Cariaco herrſchenden Fieber nötigten uns zu
unſerem Bedauern, unſeren Aufenthalt daſelbſt abzukürzen.
Da wir noch nicht recht akklimatiſiert waren, ſo rieten uns
ſelbſt die Koloniſten, an die wir empfohlen waren, uns auf
den Weg zu machen. Wir lernten in der Stadt viele Leute
kennen, die durch eine gewiſſe Leichtigkeit des Benehmens,
durch umfaſſenderen Ideenkreis und, darf ich hinzuſetzen, durch
entſchiedene Vorliebe für die Regierungsform der Vereinigten
Staaten verrieten, daß ſie viel mit dem Auslande in Verkehr
geſtanden. Hier hörten wir zum erſtenmal in dieſem Himmels-
ſtriche die Namen Franklin und Waſhington mit Begeiſterung
ausſprechen. Neben dem Ausdrucke dieſer Begeiſterung be-
kamen wir Klagen zu hören über den gegenwärtigen Zuſtand
von Neuandaluſien, Schilderungen, oft übertriebene, des natür-
lichen Reichtumes des Landes, leidenſchaftliche, ungeduldige
Wünſche für eine beſſere Zukunft. Dieſe Stimmung mußte
einem Reiſenden auffallen, der unmittelbarer Zeuge der großen
politiſchen Erſchütterungen in Europa geweſen war. Noch gab
ſich darin nichts Feindſeliges, Gewaltſames, keine beſtimmte
Richtung zu erkennen. Gedanken und Ausdruck hatten die
Unſicherheit, die, bei den Völkern wie beim einzelnen, als ein
Merkmal der halben Bildung, der voreilig ſich entwickelnden
Kultur erſcheint. Seit die Inſel Trinidad eine engliſche
Kolonie geworden iſt, hat das ganze öſtliche Ende der Provinz
Cumana, zumal die Küſte von Paria und der Meerbuſen
dieſes Namens ein ganz anderes Geſicht bekommen. Fremde
haben ſich da niedergelaſſen und den Bau des Kaffeebaumes,
des Baumwollenſtrauches, des tahitiſchen Zuckerrohres ein-
geführt. In Carupano, im ſchönen Thale des Rio Caribe,
in Guire und im neuen Flecken Punta de Pietro gegenüber
dem Puerto d’Eſpaña auf Trinidad hat die Bevölkerung ſehr
ſtark zugenommen. Im Golfo triste iſt der Boden ſo frucht-
bar, daß der Mais jährlich zwei Ernten und das 380. Korn
gibt. Die Vereinzelung der Niederlaſſungen hat dem Handel
mit fremden Kolonieen Vorſchub geleiſtet, und ſeit dem Jahre
[294] 1797 iſt eine geiſtige Umwälzung eingetreten, die in ihren
Folgen dem Mutterlande noch lange nicht verderblich geworden
wäre, hätte nicht das Miniſterium fort und fort alle Intereſſen
gekränkt, alle Wünſche mißachtet. Es gibt in den Streitig-
keiten der Kolonieen mit dem Mutterlande, wie faſt in allen
Volksbewegungen, einen Moment, wo die Regierungen, wenn
ſie nicht über den Gang der menſchlichen Dinge völlig ver-
blendet ſind, durch kluge, fürſichtige Mäßigung das Gleich-
gewicht herſtellen und den Sturm beſchwören können. Laſſen
ſie dieſen Zeitpunkt vorübergehen, glauben ſie durch phyſiſche
Gewalt eine moraliſche Bewegung niederſchlagen zu können,
ſo gehen die Ereigniſſe unaufhaltſam ihren Gang und die
Trennung der Kolonieen erfolgt mit deſto verderblicherer Ge-
waltſamkeit, wenn das Mutterland während des Streites ſeine
Monopole und ſeine frühere Gewalt wieder eine Zeitlang
hatte aufrecht erhalten können.
Wir ſchifften uns morgens ſehr früh ein, in der Hoff-
nung, die Ueberfahrt über den Meerbuſen von Cariaco in
einem Tage machen zu können. Das Meer iſt hier nicht
unruhiger als unſere großen Landſeen, wenn ſie vom Winde
ſanft bewegt werden. Es ſind vom Landungsplatze nach Cu-
mana nur 22,5 km. Als wir die kleine Stadt Cariaco im
Rücken hatten, gingen wir weſtwärts am Fluſſe Carenicuar
hin, der ſchnurgerade wie ein künſtlicher Kanal durch Gärten
und Baumwollenpflanzungen läuft. Der ganze, etwas ſumpfige
Boden iſt aufs ſorgſamſte angebaut. Während unſeres Auf-
enthaltes in Peru wurde hier auf trockeneren Stellen der
Kaffeebau eingeführt. Wir ſahen am Fluſſe indianiſche Weiber
ihr Zeug mit der Frucht des Parapara (Sapindus saponaria)
waſchen. Feine Wäſche ſoll dadurch ſehr mitgenommen werden.
Die Schale der Frucht gibt einen ſtarken Schaum und die
Frucht iſt ſo elaſtiſch, daß ſie, wenn man ſie auf einen Stein
wirft, drei-, viermal 2 bis 3 m hoch aufſpringt. Da ſie
kugelicht iſt, verfertigt man Roſenkränze daraus.
Kaum waren wir zu Schiffe, ſo hatten wir mit widrigen
Winden zu kämpfen. Es regnete in Strömen und ein Ge-
witter brach in der Nähe aus. Scharen von Flamingos,
Reihern und Kormoranen zogen dem Ufer zu. Nur der Al-
katras, eine große Pelikanart, fiſchte ruhig mitten im Meer-
buſen weiter. Wir waren unſer achtzehn Paſſagiere, und auf
der engen, mit Rohrzucker, Piſangbüſcheln und Kokosnüſſen
überladenen Piroge (Fancha) konnten wir unſere Inſtrumente
[295] und Sammlungen kaum unterbringen. Der Rand des Fahr-
zeuges ſtand kaum über Waſſer. Der Meerbuſen iſt faſt
überall 82 bis 91 m tief, aber am öſtlichen Ende bei Cura-
guaca findet das Senkblei 22,5 km weit nur 5,5 bis 7,3 m.
Hier liegt der Baxo de la Cotua, eine Sandbank, die bei der
Ebbe als Eiland über Waſſer kommt. Die Pirogen, die
Lebensmittel nach Cumana bringen, ſtranden manchmal daran,
aber immer ohne Gefahr, weil die See hier niemals hoch geht
und ſcholkt. Wir fuhren über den Strich des Meerbuſens,
wo auf dem Boden der See heiße Quellen entſpringen. Es
war gerade Flut und daher der Temperaturwechſel weniger
merkbar; auch fuhr unſere Piroge zu nahe an der Südküſte
hin. Man ſieht leicht, daß man Waſſerſchichten von ver-
ſchiedener Temperatur antreffen muß, je nachdem die See
mehr oder minder tief iſt, oder je nachdem die Strömungen
und der Wind die Miſchung des warmen Quellwaſſers und
des Waſſers des Golfes befördern. Dieſe heißen Quellen,
die, wie behauptet wird, auf 380 bis 460 a die Temperatur
der See erhöhen, ſind eine ſehr merkmürdige Erſcheinung.
Geht man vom Vorgebirge Paria weſtwärts über Irapa,
Aguas calientes, den Meerbuſen von Cariaco, den Brigantin
und die Thäler von Aragua bis zu den Schneegebirgen von
Merida, ſo findet man auf einer Strecke von mehr als 675 km
eine ununterbrochene Reihe von warmen Quellen.
Der widrige Wind und der Regen nötigten uns, bei
Pericantral, einem kleinen Hofe auf der Südküſte des Meer-
buſens, zu landen. Dieſe ganze ſchön bewachſene Küſte iſt
faſt ganz unbebaut; man zählt kaum 700 Einwohner und
außer dem Dorfe Mariguitar ſieht man nichts als Pflanzungen
von Kokosbäumen, die die Oelbäume des Landes ſind. Dieſe
Palme wächſt in beiden Kontinenten in einer Zone, wo die
mittlere Jahrestemperatur nicht unter 20° beträgt. Sie iſt
wie der Chamärops im Becken des Mittelmeeres eine wahre
„Küſtenpalme“. Sie zieht Salzwaſſer dem ſüßen Waſſer vor
und kommt im Inneren des Landes, wo die Luft nicht mit
Salzteilchen geſchwängert iſt, lange nicht ſo gut fort als auf
den Küſten. Wenn man in Terra Firma oder in den Miſ-
ſionen am Orinoko Kokosnußbäume weit von der See pflanzt,
wirft man ein ſtarkes Quantum Salz, oft einen halben
Scheffel, in das Loch, in das die Kokosnüſſe gelegt werden.
Unter den Kulturgewächſen haben nur noch das Zuckerrohr,
der Bananenbaum, der Mammei und der Avocatier, gleich
[296] dem Kokosnußbaum, die Eigenſchaft, daß ſie mit ſüßem oder
mit Salzwaſſer begoſſen werden können. Dieſer Umſtand be-
günſtigt ihre Verpflanzung, und das Zuckerrohr von der Küſte
gibt zwar einen etwas ſalzigen Saft, derſelbe eignet ſich aber,
wie man glaubt, beſſer zur Branntweindeſtillation als der
Saft aus dem Binnenlande.
Im übrigen Amerika wird der Kokosnußbaum meiſt nur
um die Höfe gepflanzt, und zwar um der eßbaren Frucht
willen; am Meerbuſen von Cariaco dagegen ſieht man eigent-
liche Pflanzungen davon. Man ſpricht in Cumana von einer
Hacienda de coco, wie von einer Hacienda de caña oder
cacao. Auf fruchtbarem, feuchtem Boden fängt der Kokos-
baum im vierten Jahre an reichlich Früchte zu tragen; auf
dürrem Lande dagegen erhält man vor dem zehnten Jahre
keine Ernte. Der Baum dauert nicht über 80 bis 100 Jahre
aus, und er iſt dann im Durchſchnitt 21 bis 26 m hoch.
Dieſes raſche Wachstum iſt deſto auffallender, da andere
Palmen, z. B. der Moriche (Mauritia flexuosa) und die
Palma de Sombrero (Coripha tectorum), die ſehr lange
leben, im ſechzigſten Jahr oft erſt 4,5 bis 5,8 m hoch ſind.
In den erſten dreißig bis vierzig Jahren trägt am Meerbuſen
von Cariaco ein Kokosbaum jeden Monat einen Büſchel mit
10 bis 14 Früchten, von denen jedoch nicht alle reif werden.
Man kann im Durchſchnitt jährlich auf den Baum 100 Nüſſe
rechnen, die acht Flascos1 Oel geben. Der Flasco gilt zwei
einen halben Silberreal oder 32 Sous. In der Provence
gibt ein dreißigjähriger Oelbaum zwanzig Pfund oder ſieben
Flascos Oel, alſo etwas weniger als der Kokosbaum. Es
gibt im Meerbuſen von Cariaco Hacienden mit 8000 bis 9000
Kokosbäumen; ihr maleriſcher Anblick erinnert an die herr-
lichen Dattelpflanzungen bei Elche in Murcia, wo auf 20 qkm
über 70000 Palmſtämme bei einander ſtehen. Der Kokosbaum
trägt nur bis zum dreißigſten bis vierzigſten Jahre reichlich,
dann nimmt der Ertrag ab und ein hundertjähriger Stamm
iſt zwar nicht ganz unfruchtbar, bringt aber ſehr wenig mehr
ein. In der Stadt Cumana wird ſehr viel Kokosnußöl ge-
ſchlagen; es iſt klar, geruchlos und ein gutes Brennmaterial.
Der Handel damit iſt ſo lebhaft als auf der Weſtküſte von
Afrika der Handel mit Palmöl, das von Elays guineensis
kommt. Dieſes iſt ein Speiſeöl. In Cumana ſah ich mehr
[297] als einmal Pirogen ankommen, die mit 3000 Kokosnüſſen
beladen waren. Ein Baum von gutem Ertrag gibt ein jähr-
liches Einkommen von 2½ Piaſtern (14 Franken 5 Sous),
da aber auf den Haciendas de coco Stämme von verſchiede-
nem Alter durcheinander ſtehen, ſo wird bei Schätzungen durch
Sachverſtändige das Kapital nur zu 4 Piaſtern angenommen.
Wir verließen den Hof Pericantral erſt nach Sonnen-
untergang. Die Südküſte des Meerbuſens in ihrem reichen
Pflanzenſchmuck bietet den lachendſten Anblick, die Nordküſte
dagegen iſt felſig, nackt und dürr. Trotz des dürren Bodens
und des ſeltenen Regens, der zuweilen 15 Monate ausbleibt,
wachſen auf der Halbinſel Araya (wie in der Wüſte Canound
in Indien) 15 bis 25 kg ſchwere Patillas oder Waſſer-
melonen. In der heißen Zone iſt die Luft etwa zu 9/10 mit
Waſſerdunſt geſättigt und die Vegetation erhält ſich dadurch,
daß die Blätter die wunderbare Eigenſchaft haben, das in der
Luft aufgelöſte Waſſer einzuſaugen. Wir hatten auf der
engen, überladenen Piroge eine recht ſchlechte Nacht und be-
fanden uns um 3 Uhr morgens an der Mündung des Rio
Manzanares. Wir waren ſeit mehreren Wochen an den An-
blick der Gebirge, an Gewitterhimmel und finſtere Wälder ge-
wöhnt, und ſo fielen uns jetzt die Naturverhältniſſe von Cu-
mana, der ewig heitere Himmel, der kahle Boden, die Maſſe
des überall zurückgeworfenen Lichtes doppelt auf.
Bei Sonnenaufgang ſahen wir Tamurosgeier (Vultur
aura) zu vierzigen und fünfzigen auf den Kokosnußbäumen
ſitzen. Dieſe Vögel hocken zum Schlafen in Reihen zuſammen
wie die Hühner, und ſie ſind ſo träge, daß ſie, lange ehe
die Sonne untergeht, aufſitzen und erſt wieder erwachen, wenn
ihre Scheibe bereits über dem Horizont ſteht. Es iſt, als ob
die Bäume mit gefiederten Blättern nicht minder träge wären.
Die Mimoſen und Tamarinden ſchließen bei heiterem Himmel
ihre Blätter 25 bis 30 Minuten vor Sonnenuntergang, und
ſie öffnen ſie am Morgen erſt, wenn die Scheibe bereits eben-
ſo lange am Himmel ſteht. Da ich Sonnenauf- und Unter-
gang ziemlich regelmäßig beobachtete, um das Spiel der Luft-
ſpiegelung und der irdiſchen Refraktion zu verfolgen, ſo konnte
ich auch die Erſcheinungen des Pflanzenſchlafes fortwährend im
Auge behalten. Ich fand ſie gerade ſo in den Steppen, wo
der Blick auf den Horizont durch keine Unebenheit des Bodens
unterbrochen wird. Die ſogenannten Sinnpflanzen und andere
Schotengewächſe mit feinen zarten Blättern empfinden, ſcheint
[298] es, da ſie den Tag über an ein ſehr ſtarkes Licht gewöhnt
ſind, abends die geringſte Abnahme in der Stärke der Licht-
ſtrahlen, ſo daß für dieſe Gewächſe, dort wie bei uns, die
Nacht eintritt, bevor die Sonnenſcheibe ganz verſchwunden iſt.
Aber wie kommt es, daß in einem Erdſtriche, wo es faſt
keine Dämmerung gibt, die erſten Sonnenſtrahlen die Blätter
nicht um ſo ſtärker aufregen, da durch Abweſenheit des Lichtes
ihre Reizbarkeit geſteigert worden ſein muß? Läßt ſich viel-
leicht annehmen, daß die Feuchtigkeit, die ſich durch die Er-
kaltung der Blätter infolge der nächtlichen Strahlung auf
dem Parenchym niederſchlägt, die Wirkung der erſten Sonnen-
ſtrahlen hindert? In unſeren Himmelsſtrichen erwachen die
Schotengewächſe mit reizbaren Blättern ſchon ehe die Sonne
ſich zeigt, in der Morgendämmerung.
Bänden, das unter dem ſeltſamen Titel: „Reiſe um die Welt und
in Südamerika, von A. v. Humboldt, erſchienen bei Vollmer in
Hamburg,“ niemals Kenntnis genommen habe. Dieſe in meinem
Namen verfaßte Reiſebeſchreibung ſcheint nach in den Tageblättern
gegebenen Nachrichten und nach einzelnen Abhandlungen, die ich in
der erſten Klaſſe des franzöſiſchen Inſtitutes geleſen, zuſammen-
geſchrieben zu ſein. Um das Publikum aufmerkſam zu machen,
hielt es der Kompilator für angemeſſen, einer Reiſe in einige Länder
des neuen Kontinentes den anziehenderen Titel einer „Reiſe um
die Welt“ zu geben.
leichte Fregatte (Fregata lijera).
Galicien (Gallaecia) wegen des Handels mit Zinn, das ſie von
hier wie von den Kaſſiteridiſchen Inſeln bezogen.
der Wiſſenſchaft entriſſen wurde.
anzuſtellen Gelegenheit gehabt, mit denen zuſammengeſtellt, die in
den Werken von Cook, Lapérouſe, d’Entrecaſteaux, Vancouver, Ma-
cartney, Kruſenſtern und Marchand gegeben ſind, und danach
ſchwankt die Geſchwindigkeit der allgemeinen Strömung unter den
Tropen zwiſchen 22,5 und 81 km in 24 Stunden, ſomit zwiſchen
0,096 und 0,384 m in der Sekunde.
ſorgfältig vier ganz geſonderte Erſcheinungen zu unterſcheiden: 1) die
Temperatur des Waſſers an der Oberfläche unter verſchiedenen
Breiten, das Meer als ruhig angenommen; 2) die Abnahme der
Wärme in den übereinander gelagerten Waſſerſchichten; 3) den
Einfluß der Untiefen auf die Temperatur des Meeres; 4) die Tem-
peratur der Strömungen, die mit konſtanter Geſchwindigkeit die
Gewäſſer der einen Zone durch die ruhenden Gewäſſer der anderen
hindurchführten.
man im Lande zuweilen eingeſalzen ißt, lebten hier nicht vor der
Eroberung der Inſeln durch die Béthencourts. Im 16. Jahrhundert
hatten ſich die Eſel auf Fuerteventura dergeſtalt vermehrt, daß ſie
verwildert waren und man Jagd auf ſie machen mußte. Man ſchoß
ihrer mehrere tauſend, damit die Ernten nicht zu Grunde gingen.
Die Pferde auf Fuerteventura ſind von berberiſcher Raſſe und aus-
gezeichnet ſchön.
man glaubt, und von der Prieſterſchaft mißbilligt.
leuchtet geweſen ſein, das 203mal ſtärker iſt als das Mondlicht,
alſo gleich der Hälfte des Lichtes, das eine Talgkerze auf 32 cm
Entfernung verbreitet. Nach meinen direkten Verſuchen wird aber
das Lepidium saticum beim glänzenden Lichte zweier Argandſchen
Lampen kaum merkbar grün.
venezianiſchen Karte des Andrea Bianco angegeben iſt, daß aber
mit dem Namen Infierno, wie auch auf der älteſten Karte des Pici-
gano, Tenerifa bezeichnet iſt, wahrſcheinlich weil die Guanchen den
Pik als den Eingang der Hölle anſahen.
In denſelben Strichen iſt im Jahre 1811 wieder eine Inſel er-
ſchienen.
unter den Seeleuten ſehr verbreiteten Buche, in der neunten Aus-
gabe des Practical Navigator von Hamilton Moore, S. 200, in-
folge der Maſſenattraktion oder der allgemeinen Schwere komme ein
Fahrzeug ſchwer von der Küſte weg und werde die Schaluppe einer
Fregatte von dieſer ſelbſt angezogen.
nach Ferrer 2413, nach Tofiño 2457, aber dieſe Maße ſind nur
Cagigal, hat mir aus ſeinem Tagebuch bewieſen, daß er den Pik
der Azoren auf 166 km Entfernung geſehen hat, zu einer Zeit, wo
er ſeiner Länge wenigſtens bis auf 2 Minuten gewiß war. Der
Vulkan wurde in Süd 4° Oſt geſehen, ſo daß der Irrtum in der
Länge auf die Schätzung der Entfernung nur ganz unbedeutenden
Einfluß haben konnte. Indeſſen war der Winkel, unter dem der
Pik der Azoren erſchien, ſo groß, daß Cagigal der Meinung iſt,
der Vulkan müſſe auf mehr als 180 oder 190 km zu ſehen ſein.
Der Abſtand von 166 km ſetzt eine Höhe von 2789 m voraus.
wenn dieſer Unterſchied für unſere Organe merkbar werden und der
Berg ſich deutlich vom Himmel abheben ſoll, das eine Licht wenig-
ſtens um ein Sechzigteil ſtärker ſein muß als das andere.
der grasartigen Gewächſe, welche unter der Region des ewigen
Schnees liegt.
über 5063 m hoch, nach King 5022 m, aber dieſe Meſſungen ſind,
trotz ihrer zufälligen Uebereinſtimmung, keineswegs auf zuverläſſigem
Wege erzielt. Es iſt eine ziemlich auffallende Erſcheinung, daß ein
Berggipfel unter 19° Breite, der wahrſcheinlich über 4870 m hoch
iſt, von Schnee ganz entblößt wird. Die ſtarke Abplattung des
Mauna-Roa, der Meſa der alten ſpaniſchen Karten, ſeine vereinzelte
Lage im Weltmeer und die Häufigkeit gewiſſer Winde, die, durch
den aufſteigenden Strom abgelenkt, in ſchiefer Richtung wehen,
nehmen, daß ſich Kapitän Marchand in der Schätzung des Abſtandes,
in dem er am 10. Oktober 1791 den Gipfel des Mauna-Roa ſah,
bedeutend geirrt habe. Er hatte die Inſel Owaihi erſt am 7.
abends verlaſſen, und nach der Bewegung der Gewäſſer und den
Mondbeobachtungen am 19. betrug die Entfernung wahrſcheinlich
ſogar mehr als 238 km. Ueberdies berichtet ein erfahrener See-
mann, de Fleurieu, daß der Pik von Tenerifa ſelbſt bei nicht ganz
klarem Wetter auf 157 bis 162 km zu ſehen ſei.
Santa Cruz 44 km entfernt.
der Atlantis ein und erwähne nur, daß nach Diodor von Sizilien
die Atlanten die Cerealien nicht kannten, weil ſie von der übrigen
Menſchheit getrennt worden, bevor überhaupt Getreide gebaut wurde.
beerbäumen, die auf magerem ſandigen Boden in der Nähe des
Baltiſchen Meeres gezogen werden. Die Spätfröſte thun ihnen weit
weher als den Maulbeerbäumen in Piemont. In Italien bringt
ein Froſt von 5° unter dem Gefrierpunkt kräftige Orangenbäume
nicht um. Dieſe Bäume, die weniger empfindlich ſind als Zitronen,
erfrieren nach Galeſio erſt bei — 16° der hundertteiligen Skale.
Neugranada auf dem Rücken der Kordilleren, zwiſchen 1950 und
2925 m Meereshöhe an Orten wachſen, wo der Thermometer bei
Tag zwiſchen 9 und 10°, bei Nacht zwiſchen 3 und 4° ſteht. Die
orangegelbe Quinquina (Cinchona lancifolia) iſt weit weniger em-
pfindlich als die rote (C. oblongifolia).
iſt der von San Sebaſtiano auf der Inſel Gomera.
jetzt in Paris im Dépôt des cartes de la Marine aufbewahrt wird.
Sie führt den Titel: Résumé des opérations de la campagne
de la Boussole (1776), pour déterminer les positions géogra-
phiques des côtes d’Espagne et de Portugal sur l’Océan, d’une
partie des côtes occidentales de l’Afrique et des îles Canaries,
par le chevalier de Borda. Es iſt dies die Handſchrift, von der
de Fleurieu in ſeinen Noten zu Marchands Reiſe ſpricht und die
mir Borda zum Teil ſchon vor meiner Abreiſe mitgeteilt hatte. Ich
habe wichtige, noch nicht veröffentlichte Beobachtungen daraus aus-
gezogen.
Reiſenden beſchrieben worden ſeien. Ich finde in der Sammlung
des Grynäus, daß ſchon Aloyſio Cadomoſto vom hohen Alter dieſer
ungeheuren Bäume ſpricht, die er im Jahre 1504 geſehen, und von
denen er ganz richtig ſagt: „eminentia altitudinis non quadrat
magnitudini.“ Cadam. navig. c. 42. Am Senegal und bei Praya
auf den Kapverdiſchen Inſeln haben Adanſon und Staunton Adan-
ſonien geſehen, deren Stamm 18,2 bis 19,5 m im Umfang hatte.
Den Baobab mit 11 m Durchmeſſer hat Golberry im Thale der
zwei Gagnack geſehen.
dentalis), die Michaux zu Marietta am Ufer des Ohio gemeſſen
hat und die 6,5 m über dem Boden noch 5,1 m im Durchmeſſer
hatten. Die Taxus, die Kaſtanien, die Eichen, die Platanen, die
kahlen Cypreſſen, die Bombax, die Mimoſen, die Cäſalpinien, die
Hymenäen und die Drachenbäume ſind, wir mir ſcheint, die Ge-
wächſe, bei denen in verſchiedenen Klimaten Fälle von ſo außer-
ordentlichem Wachstum vorkommen. Eine Eiche, die zugleich mit
galliſchen Helmen im Jahre 1809 in den Torfgruben im Departe-
ment der Somme beim Dorfe Yſeux, 31,5 km von Abbeville, ge-
funden wurde, gibt dem Drachenbaum von Orovata in der Dicke
nichts nach. Nach der Angabe von Traullée hatte der Stamm der
Eiche 4,5 m Durchmeſſer.
unter den kultivierten Pflanzen, während er doch vom Kaktus, von
der Agave und der Yukka ſpricht. Die Geſtalt des Drachenbaumes
kommt verſchiedenen Arten der Gattung Dracäna am Kap der
guten Hoffnung, in China und auf Neuſeeland zu; aber in der
Neuen Welt vertritt die Yukka die Stelle derſelben; denn die
Dracaena borealis d’Aitons iſt eine Convallaria, deren Habitus
ſie auch hat. Der im Handel unter dem Namen Drachenblut be-
kannte adſtringierende Saft kommt nach unſeren Unterſuchungen an
Ort und Stelle von verſchiedenen amerikaniſchen Pflanzen, die nicht
derſelben Gattung angehören, unter denen ſich einige Lianen be-
finden. In Laguna verfertigt man in Nonnenklöſtern Zahnſtocher,
die mit dem Saft des Drachenbaumes gefärbt ſind, und die man
uns ſehr anpries, weil ſie das Zahnfleiſch konſervieren ſollten.
Quellen immer kälter gefunden, als ſie nach der Höhe, in der ſie
zu Tage kommen, ſein ſollten.
ein Fahrzeug mit lateiniſchen Segeln. Die Tannen vom Pik dienten
früher als Maſtholz und die königliche Marine ließ im Monte Verde
ſchlagen.
hunderts im Brauch. Edens, der alle ſpaniſchen Wörter verdreht,
wie noch heute die meiſten Reiſenden, nennt ſie Stancha; es iſt
Bordas Station des rochers, wie aus den daſelbſt beobachteten
Barometerhöhen hervorgeht. Dieſe Höhen waren nach Cordier im
Jahre 1803 527 mm, und nach Borda und Varela im Jahre 1776
528 mm, während der Barometer zu Orotava bis auf 2,22 mm
ebenſo hoch ſtand.
zwiſchen Niort und Rolle, bildet ſich an den Kalkſteinwänden ſelbſt
im Sommer eine dünne Schicht durchſichtigen Eiſes. Pictet hat
die Beobachtung gemacht, daß der Thermometer alsdann in der
Luft der Höhle nicht unter 2 bis 3° ſteht, ſo daß man das Frieren
des Waſſers einer örtlichen, ſehr raſchen Verdunſtung zuzu-
ſchreiben hat.
vom Zenith 57′ 7″ Refraktion angenommen. Die Sonne erſcheint
bei ihrem Aufgang auf dem Pik von Tenerifa um ſo viel früher,
als ſie braucht, um einen Bogen von 0° 54′ zurückzulegen. Für
den Gipfel des Chimborazo nimmt dieſer Bogen nur um 41′ zu.
Die Alten hatten ſo übertriebene Vorſtellungen von der Beſchleuni-
gung des Sonnenaufganges auf dem Gipfel hoher Berge, daß ſie
behaupteten, die Sonne ſei auf dem Berg Athos 3 Stunden früher
ſichtbar, als am Ufer des Aegeiſchen Meeres. (Strabo, Buch VII.)
Und doch iſt der Athos nach Delambre nur 1390 m hoch.
ſeiner Introduzzione alla Geologia erörtert. Der Cotopaxi und
der Popocatepetl, die ich im Jahre 1804 Rauch und Aſche aus-
werfen ſah, liegen weiter vom Großen Ozean und dem Meere der
Antillen als Grenoble vom Mittelmeer und Orléans vom Atlanti-
ſchen Meer. Man kann es allerdings nicht als einen bloßen Zufall
anſehen, daß man keinen thätigen Vulkan entdeckt hat, der über
74 km von der Meeresküſte läge; aber die Hypotheſe, nach der das
Meerwaſſer von den Vulkanen aufgeſogen, deſtilliert und zerſetzt
würde, ſcheint mir ſehr zweifelhaft.
an die Oules der Pyrenäen.
hat, ſchätzt die große Achſe auf 127 m. Lamanon gibt dafür 97 m
an, Odonnell aber gibt dem Krater 550 Varas (460 m) Umfang.
meinen Meſſungen Krater mit Diametern von mehr als 975 und
1365 m.
Eſte vom Pik auch bei hellem Wetter nicht zu ſehen. Sie liegt
3,5° ab, Salvage dagegen nur 2° 1′. Die Inſel Madeira, die
4° 29′ entfernt iſt, wäre nur dann zu ſehen, wenn ihre Berge über
5850 m hoch wären.
bemerkt, daß die amerikaniſchen Früchte, welche das Meer häufig
an die Küſten von Ferro und Gomera wirft, früher für Gewächſe
der Inſel San Borondon gehalten wurden. Dieſes Land, das nach
der Volksſage von einem Erzbiſchof und ſechs Biſchöfen regiert
wurde, und das, nach Pater Feijoos Anſicht, das auf einer Nebel-
ſchicht projizierte Bild der Inſel Ferro iſt, wurde im 16. Jahr-
hundert vom König von Portugal Ludwig Perdigon geſchenkt, als
dieſer ſich zur Eroberung desſelben rüſtete.
Piks am 2. Auguſt 1806 um 8 Uhr morgens der Thermometer im
Schatten auf 13,8°, in der Sonne auf 20,5°; Unterſchied oder
Wirkung der Sonne: 6,7°.
gleich die Temperatur des Piks um 9° von der von uns beob-
achteten abwich. Am Aetna fand Sauſſure die Abnahme gleich
175 m.
dem Mont Cenis in einer ſtark elektriſch geladenen Wolke Luft auf
und zerlegten ſie im Voltaſchen Eudiometer. Sie enthielt keinen
Waſſerſtoff und nicht um 0,002 weniger Sauerſtoff als die Pariſer
Luft, die wir in hermetiſch verſchloſſenen Flaſchen bei uns hatten.
beſchreibung nach dem Kap, auf der Inſel Salvage fänden ſich dieſe
Vögel in ſo ungeheurer Menge, daß man in einer gewiſſen Jahres-
zeit nicht umhergehen könne, ohne Eier zu zertreten.
legen, die Beſteigung des Piks unterlaſſen, weil ſie nicht wiſſen,
wie viel Zeit man dazu braucht, ſo ſind die folgenden Angaben
wohl nicht unwillkommen. Wenn man bis zum Haltpunkt der Eng-
zur Beſteigung des Piks und zur Rückkehr in den Hafen 21 Stunden;
nämlich von Orotava zum Pino del Dornajito 3 Stunden, von da
zur Felſenſtation 6, von da nach der Caldera 3½. Für die Rück-
kehr rechne ich 9 Stunden. Es handelt ſich dabei nur von der
Zeit, die man unterwegs zubringt, keineswegs von der, die man
auf die Unterſuchung der Produkte des Piks oder zum Ausruhen
verwendet. In einem halben Tage gelangt man von Santa Cruz
de Tenerifa nach Orotava.
mal eine große menſchenähnliche Affenart, die Gorilla. Er be-
ſchreibt ſie als durchaus behaarte Weiber, und als höchſt bösartig,
weil ſie ſich mit Nägeln und Zähnen wehrten. Er rühmt ſich, ihrer
drei die Haut abgezogen zu haben, um ſie mitzunehmen. Goſſelin
verlegt die Inſel der Gorilla an die Mündung des Fluſſes Nun,
aber nach dieſer Annahme müßte der Sumpf, in dem Hanno eine
Menge Elefanten weiden ſah, unter 35½° Breite liegen, beinahe
am Nordende von Afrika.
die glückſeligen Inſeln Diodors von Sizilien für Madeira und
Porto Santo.
vertex semper nivalis lucet nocturnis ignibus; aber dieſer Atlas
iſt gleich dem Berge Meru der Hindu ein aus richtigen Begriffen
und mythiſchen Fiktionen zuſammengeſetztes Ding, und lag nicht
Reichtum der Bewohner des Nordens hatten die Griechen, die indi-
ſchen Völker und die Mexikaner miteinander gemein.
verſchiedene Reiſende annehmen, die den Pik von Tenerifa be-
ſchreiben. Die folgenden Stellen laſſen keinen Zweifel hierüber:
Herodot IV, 184; Strabo XVII; Mela III, 10; Plinius V, 1;
Solinus I, 24, ſogar Diodor von Sizilien III.
(De Orig. Americ. p. 155 und 185) den alten Namen des Atlas
findet, der nach Strabo, Plinius und Solinus Dyris war. Dieſe
Ableitung iſt höchſt zweifelhaft; legt man auf die Vokale nicht mehr
Wert, als ſie bei den orientaliſchen Völkern haben, ſo findet man
Dyris faſt ganz in Daran, wie die arabiſchen Geographen den
öſtlichen Teil des Atlasgebirges nennen.
colitur et inter orbis insulas est eminentior. Nam coelo sereno
eminus conspicitur, adeo ut qui absunt ab ea ad leucas hi-
spanas sexaginta vel septuaginta, non difficulter eam intue-
antur. Quod cernatur a longe id efficit acuminatus lapis
adamantinus, instar pyramidis, in medio. Qui metiti sunt
lapidem ajunt altitudine leucarum quindecim mensuram ex-
cedere ab imo ad summum verticem. Is lapis jugiter flagrat,
instar Aetnae montis; id affirmant nostri Christiani qui capti
aliquando haec animadvertere. Al. Cadamusti, Navigatio
ad terras incognitas c. 8.
als der Vulkan Sabrina auf dem Meeresboden ausbrach. Das
kalcinierte Skelett eines Haifiſches wurde im erloſchenen, mit Waſſer
gefüllten Krater gefunden.
fand, heißt Chazajañe.
dauert, weil er den Stein mit dem Auge nicht verfolgen konnte,
bis er auffiel.
Tſchineriffe, Tenerifa gemacht.
monaten mit Schnee bedeckt, könnte der Vulkan doch die ſeiner
Breite entſprechende Schneegrenze erreichen, und wenn er Sommers
ganz ſchneefrei iſt, ſo könnte dies nur von der freien Lage des
Berges in der weiten See, von der Häufigkeit aufſteigender
ſehr warmer Winde oder von der hohen Temperatur der Aſche des
Piton herrühren. Beim gegenwärtigen Stand unſerer Kenntniſſe
laſſen ſich dieſe Zweifel nicht heben. Vom Parallel der Berge
Mexikos bis zum Parallel der Pyrenäen und der Alpen, zwiſchen
dem 20. und dem 45. Grad iſt die Kurve des ewigen Schnees
durch keine direkte Meſſung beſtimmt worden, und da ſich durch die
wenigen Punkte, welche uns unter 0°, 20°, 45°, 62° und 71° nörd-
kann die Beobachtung nur ſehr mangelhaft durch Rechnung ergänzt
werden. Ohne es beſtimmt zu behaupten, kann man als wahr-
ſcheinlich annehmen, daß unter 28° 17′ die Schneegrenze über
3700 m liegt. Vom Aequator an, wo der Schnee mit 4794 m,
alſo etwa in der Höhe des Montblanc beginnt, bis zum 20. Breite-
grad, alſo bis zur Grenze des heißen Erdſtriches, rückt der Schnee
nur 195 m herab; läßt ſich demnach annehmen, daß 8° weiter und
in einem Klima, das faſt noch durchaus als ein tropiſches er-
ſcheint, der Schnee ſchon 780 m tiefer ſtehen ſollte? Selbſt voraus-
geſetzt, der Schnee rückte vom 20. bis zum 45. Breitegrad in arith-
metiſcher Progreſſion herab, was den Beobachtungen widerſpricht,
ſo finge der ewige Schnee unter der Breite des Piks erſt bei 3995 m
über der Meeresfläche an, ſomit 1072 m höher als in den Pyre-
näen und in der Schweiz. Dieſes Ergebnis wird noch durch andere
Betrachtungen unterſtützt. Die mittlere Temperatur der Luftſchicht,
mit der der Schnee im Sommer in Berührung kommt, iſt in den
Alpen ein paar Grad unter, unter dem Aequator ein paar Grad
über dem Gefrierpunkt. Angenommen, unter 28½° ſei die Tem-
peratur gleich Null, ſo ergibt ſich nach dem Geſetz der Wärme-
abnahme, auf 191 m einen Grad gerechnet, daß der Schnee in
4011 m über einer Ebene mit einer mittleren Temperatur von 21°,
wie ſie der Küſte von Tenerifa zukommt, liegen bleiben muß. Dieſe
Zahl ſtimmt faſt mit der, welche ſich bei der Annahme einer arith-
metiſchen Progreſſion ergibt. Einer der Hochgipfel der Sierra de
Nevada de Granada, der Pico de Veleta, deſſen abſolute Höhe
3470 m beträgt, iſt beſtändig mit Schnee bedeckt; da aber die untere
Grenze des Schnees nicht gemeſſen worden iſt, ſo trägt dieſer Berg,
der unter 37° 10′ der Breite liegt, zur Löſung des vorliegenden
Problemes nichts bei. Durch die Lage des Vulkanes von Tenerifa
mitten auf einer nicht großen Inſel kann die Kurve des ewigen
Schnees ſchwerlich hinaufgeſchoben werden. Wenn die Winter auf
Inſeln weniger ſtreng ſind, ſo ſind dagegen auch die Sommer
weniger heiß, und die Höhe des Schnees hängt nicht ſowohl von
der ganzen mittleren Jahrestemperatur als vielmehr von der mitt-
leren Wärme der Sommermonate ab. Auf dem Aetna beginnt der
Schnee ſchon bei 2925 m oder ſelbſt etwas tiefer, was bei einem
unter 37½° der Breite gelegenen Gipfel ziemlich auffallend er-
ſcheint. In der Nähe des Polarkreiſes, wo die Sommerhitze durch
den fortwährend aus dem Meere aufſteigenden Nebel gemildert wird,
zeigt ſich der Unterſchied zwiſchen Inſeln oder Küſten und dem
inneren Lande höchſt auffallend. Auf Island z. B. iſt auf dem
Oſterjöckull, unter 65° der Breite, die Grenze des ewigen Schnees
1170 m Höhe, und doch ſind hier die Winter ungleich ſtrenger,
folglich die mittlere Jahrestemperatur geringer als in Island.
Nach dieſen Angaben erſcheint es als wahrſcheinlich, daß Bouguer
und Sauſſure im Irrtum ſind, wenn ſie annehmen, daß der Pik
von Tenerifa die untere Grenze des ewigen Schnees erreiche. Unter
28° 17′ der Breite ergeben ſich für dieſe Grenze wenigſtens 3800 m,
ſelbſt wenn man ſie zwiſchen dem Aetna und den Bergen von
Mexiko durch Interpolation berechnet. Dieſer Punkt wird voll-
ſtändig ins reine gebracht werden, wenn einmal der weſtliche Teil
des Atlas gemeſſen iſt, wo bei Marokko unter 31½° Breite ewiger
Schnee liegt.
ſchen dieſen Bäumen wachſen Ardisia excelsa, Rhamnus glandu-
losus, Erica arborea, Erica Texo.
riense, A. latifolium, Nothalaena subcordata, Trichomanes
canariensis, T. speciosus und Davallia canariensis.
losum.
dieſe Fichte, die in Portugal fehlt und am Abhang von Frankreich
und Spanien gegen das Mittelmeer, in Italien, in Kleinaſien und
in der Berberei vorkommt, beſſer Pinus mediterranea. Sie iſt
der herrſchende Baum in den Fichtenwäldern des ſüdöſtlichen Frank-
reichs, wo ſie von Gouan und Gérard mit der Pinus sylvestris
verwechſelt worden iſt.
Tenerifa das ſchöne Satyrium diphyllum (Orchis cordata, Willd.)
erkannt, die Link in Portugal gefunden. Die Kanarien haben nicht
die Dicksonia Culcita, den einzigen Baumfarn, der unter 39° der
Breite vorkommt, wohl aber Asplenium palmatum und Myrica
Faya mit der Flora der Azoren gemein. Letzterer Baum findet
ſich in Portugal wild, Hofmannsegg hat ſehr alte Stämme geſehen,
es bleibt aber zweifelhaft, ob er in dieſem Teil unſeres Kontinentes
einheimiſch oder eingeführt iſt. Denkt man über die Wanderungen
der Gewächſe nach und zieht man in Betracht, daß es geologiſch
möglich iſt, daß Portugal, die Azoren, die Kanarien und die Atlas-
kette einſt durch nunmehr im Meer verſunkene Länder zuſammen-
gehangen haben, ſo erſcheint das Vorkommen der Myrica Faya im
weſtlichen Europa zum mindeſten ebenſo auffallend, als wenn die
Fichte von Aleppo auf den Azoren vorkäme.
führen wir an: Cheiranthus longifolius, Ch. frutescens, Ch.
scoparis, Erysimum bicorne, Crambe strigosa, C. laevigata.
die Hugenotten von La Rochelle unternommen haben ſollen, um
Guanchenſklaven zu holen. Ich kann dies nicht glauben, da dieſe
Fahrten nach dem Jahre 1530 fallen müßten.
sarum gentium illustrium.
folgende Aehnlichkeiten mit den Sprachen weit auseinander ge-
legener Völker: Hund bei den Huronen in Amerika aguienon,
bei den Guanchen aguyan; Menſch bei den Peruanern cari,
bei den Guanchen coran; König bei den Mandingo in Afrika
monso, bei den Guanchen monsey. Der Name der Inſel
Gomera kommt im Worte Gomer zum Vorſchein, das der Name
S. 170.) Die guanchiſchen Worte alcorac, Gott, und almo-
garon, Tempel, ſcheinen arabiſchen Urſprunges, wenigſtens be-
deutet in letzterer Sprache almoharram heilig.
Polen und ein unterer von den Polen zum Aequator geht, dies
iſt, wie Arago dargethan hat, ſchon von Hooke erkannt worden.
Seine Ideen hierüber entwickelte der berühmte engliſche Phyſiker
in einer Rede vom Jahre 1686. „Ich glaube,“ fügt er hinzu,
„daß ſich mehrere Erſcheinungen in der Luft und auf dem Meere,
namentlich die Winde, aus Polarſtrömen erklären laſſen.“ Hadley
führt dieſe intereſſante Stelle nicht an; andererſeits nimmt Hooke,
wo er auf die Paſſatwinde ſelbſt zu ſprechen kommt, Galileis un-
richtige Theorie an, nach der ſich die Erde und die Luft mit ver-
ſchiedener Geſchwindigkeit bewegen ſollen.
um 1/14 kälter iſt als die nördliche, ſo ergibt die Rechnung für die
nördliche Grenze des Oſt-Süd-Oſt-Paſſats 1° 28′.
in Cartagena los brisotes de la Santa Marta und im Meer-
buſen von Mexiko las brizas pardas. Bei letzteren Winden iſt
der Himmel grau und umwölkt.
mit dem Oſtwind“ zum Grasmeer gekommen zu ſein, das bei
Spaniern und Portugieſen Mar de Sargazo heißt. Ich habe
anderswo dargethan, daß dieſe Stelle im Buche des Ariſtoteles „De
Mirabilibus“ ſich nicht wohl, wie eine ähnliche Stelle im Periplus
des Scylax, auf die Küſte von Afrika beziehen kann. Setzt man
voraus, daß das mit Gras bedeckte Meer, das die phöniziſchen
Schiffe in ihrem Laufe aufhielt, das Mar de Sargazo war, ſo
braucht man nicht anzunehmen, daß die Alten im Atlantiſchen Meer
über den 30. Grad weſtlicher Länge vom Meridian von Paris hin-
ausgekommen ſeien.
mouroux.
an, die nichts als eingebildete Gefahren ſind: die Inſeln Garca
und Santa Anna, weſtlich von den Azoren, die Grüne Inſel (unter
14° 52′ Breite, 28° 30′ Länge) und die Inſel Fonſeco (unter
13° 15′ Breite, 57° 10′ Länge). Wie kann man an die Exiſtenz
von vier Inſeln in von Tauſenden von Schiffen befahrenen Strichen
glauben, da von ſo vielen kleinen Riffen und Untiefen, die ſeit
hundert Jahren von leichtgläubigen Schiffern angegeben worden
ſind, ſich kaum zwei oder drei bewahrheitet haben? Was die all-
gemeine Frage betrifft, mit welchem Grade von Wahrſcheinlichkeit
ſich annehmen läßt, daß zwiſchen Europa und Amerika eine auf
4 bis 5 km ſichtbare Inſel werde entdeckt werden, ſo könnte man
ſie einer ſtrengen Rechnung unterwerfen, wenn man die Zahl der
Fahrzeuge kennte, die ſeit dreihundert Jahren jährlich das Atlan-
tiſche Meer befahren, und wenn man dabei die ungleiche Verteilung
der Fahrzeuge in verſchiedenen Strichen berückſichtigte. Befände
ſich der Maalſtrom, nach van Keulens Angabe, unter 16° Breite
und 39° 30′ Länge, ſo wären wir am 4. Juli darüber wegge-
fahren.
(Nach Kannegießers Ueberſetzung)
milchig erſcheint, obgleich die See dort ſehr tief iſt. Dieſe merk-
und etwa unter 57° der Länge. Sollte an dieſem Punkt, noch öſt-
licher als Barbados, ein verſunkenes vulkaniſches Eiland unter dem
Meeresſpiegel liegen?
canus fuscus, Linné.
Zahl, ſitzen an einer grünlichen Blumenkrone, haben Seidenglanz
und an der Spitze einen gelben Staubbeutel. Die Blüte der Guama
iſt 4 cm lang. Dieſer ſchöne Baum, der am liebſten an feuchten
Orten wächſt, wird zwiſchen 15,5 und 19,5 m hoch.
donius her. Es iſt die succussio und die inclinatio des Seneca
(Quaestiones naturales Lib. VI, c. 21). Aber ſchon der Scharf-
ſinn der Alten machte die Bemerkung, daß die Art und Weiſe der
Erdſtöße viel zu veränderlich iſt, als daß man ſie unter ſolche ver-
meintliche Geſetze bringen könnte. (Plato bei Plutarch, De placit,
Philos. L. III, c. 15.)
und Landsdown ſind bei hellem Wetter auf 67,5 km nicht mehr
ſichtbar. Nimmt man den Höhenwinkel zu einem halben Grad an,
ſo hätten dieſe Berge etwa 1200 m abſoluter Höhe.
umgebene Hütte.
von el tirano ſpricht, ſo iſt immer der ſchändliche Lopez d’Aguirre
gemeint, der im Jahre 1560 ſich am Aufſtand Fernandos de Guz-
man gegen den Statthalter von Omegua und Dorado, Pedro de
Urſua, beteiligte und ſich nachher ſelbſt traidor, Verräter, nannte.
Lib. VI, c. 12.
conceptum enim spiritum exhalant, quod in certis notatur
oppidis, quae minus quatiuntur, crebris ad eluviem cuniculis
cavata (Plin. L. II, c. 82). Noch gegenwärtig glaubt man in der
Hauptſtadt von St. Domingo, daß die Brunnen die Kraft der Erd-
ſtöße ſchwächen. Ich bemerke bei dieſer Gelegenheit, daß die Er-
klärung, die Seneca von den Erdbeben gibt (Natur. quaest. Lib.
VI, c. 4 bis 31), den Keim alles deſſen enthält, was in unſerer
Zeit über die Wirkung elaſtiſcher, im Inneren des Erdballes einge-
ſchloſſener Dämpfe geſagt worden iſt.
Erdbeben überſchwemmte das Meer in Europa die Küſten von
Schweden, England und Spanien, in Amerika die Inſeln Antigua,
Barbados und Martinique. Auf Barbados, wo die Flut gewöhn-
lich nur 640 bis 746 mm hoch ſteigt, ſtieg das Waſſer in der
Bucht von Carlisle 6,5 m hoch. Es wurde zugleich „tintenſchwarz“,
ohne Zweifel, weil ſich der Asphalt, der im Meerbuſen von Cariaco,
wie bei der Inſel Trinidad, auf dem Meeresboden häufig vor-
kommt, mit dem Waſſer vermengt hatte. Auf den Antillen und
auf mehreren Schweizer Seen wurde eine auffallende Bewegung
des Waſſers 6 Stunden vor dem erſten Stoß, den man in Liſſabon
ſpürte, beobachtet. In Cadiz ſah man auf 36 km weit aus der
offenen See einen 20 m hohen Waſſerberg anrücken; er ſtürzte ſich
auf die Küſte und zerſtörte eine Menge Gebäude, ähnlich wie die
56 m hohe Flutwelle, die am 9. Juni 1586 beim Erdbeben von
Lima den Hafen von Callao überſchwemmte. In Amerika hatte
man auf dem Ontarioſee ſeit Oktober 1755 eine ſtarke Aufregung
des Waſſers beobachtet. Dieſe Erſcheinungen weiſen darauf hin,
daß auf ungeheure Strecken hin unterirdiſche Verbindungen be-
ſtehen. Bei der Zuſammenſtellung der meiſt weit auseinander
liegenden Zeitpunkte, in denen Lima und Guatemala völlig zerſtört
wurden, glaubte man hin und wieder die Bemerkung zu machen,
als ob ſich eine Wirkung langſam den Kordilleren entlang geäußert
hätte, bald von Nord nach Süd, bald von Süd nach Nord. Ich
gebe hier vier dieſer auffallenden Zeitpunkte:
| Mexiko | Peru |
| (Breite 13° 32′ Nord) | (Breite 12° 6′ Süd) |
| 30. Nov. 1577, | 17. Juni 1578, |
| 4. März 1679, | 17. Juni 1678, |
| 12. Febr. 1689, | 10. Okt. 1688, |
| 27. Sept. 1717, | 8. Febr. 1716. |
kannten, beſchäftigte die Geiſter nach der Entdeckung von Amerika
wieder ſehr lebhaft. Dieſe Entdeckung vergnügte nicht allein die
Neugier der Menſchen durch neue Naturprodukte, ſie erweiterte auch
ihre Vorſtellungen von der phyſiſchen Beſchaffenheit der Länder,
von den Spielarten des Menſchengeſchlechtes und von den Wande-
rungen der Völker. Man kann die Beſchreibungen der älteſten
ſpaniſchen Reiſenden, namentlich die des Jeſuiten Acoſta, nicht
leſen, ohne jeden Augenblick freudig zu ſtaunen, wie mächtig der
Anblick eines großen Feſtlandes, die Betrachtung einer wunder-
vollen Natur und die Berührung mit Menſchen von anderer Raſſe
auf die Geiſtesentwickelung in Europa gewirkt haben. Der Keim
ſehr vieler phyſikaliſcher Wahrheiten iſt in den Schriften des
16. Jahrhunderts niedergelegt, und dieſer Keim hätte Früchte ge-
tragen, wäre er nicht durch Fanatismus und Aberglauben erſtickt
worden.
nacheinander erfolgen, ſo erſcheint die angebliche Fortpflanzung der
Bewegung ſehr zweifelhaft.
1435 m hoch.
durchnäßt; wir wiſſen aber, daß unter dieſer Breite die Temperatur
des Meerwaſſers nicht unter 23° ſein kann, und daß die durch Ver-
dunſtung entſtehende Abkühlung in Nächten, wo die Lufttemperatur
ſelten über 25° ſteigt, nur unbeträchtlich iſt.
der Berge!“ Das provinzielle Wort emparamarse läßt ſich nur
durch lange Umſchreibung wiedergeben. Paramo, peruaniſch
Puna, iſt ein Name, den man auf allen Karten des ſpaniſchen
Amerikas findet. Er bedeutet in den Kolonieen weder eine Wüſte
noch eine „lande“, ſondern einen gebirgigen, mit verkrüppelten
Bäumen bewachſenen, den Winden ausgeſetzten Landſtrich, wo es
beſtändig naßkalt iſt. In der heißen Zone liegen die Paramos ge-
wöhnlich 3120 bis 3900 m hoch. Es fällt häufig Schnee, der nur
ein paar Stunden liegen bleibt; denn man darf die Worte Pa-
ramo und Puna nicht, wie es den Geographen häufig begegnet,
was einen zur Linie des ewigen Schnees emporragenden Berg be-
deutet. Dieſe Begriffe ſind für die Geologie und die Pflanzen-
geographie ſehr wichtig, weil man in Ländern, wo noch kein Berg-
gipfel gemeſſen iſt, eine richtige Vorſtellung von der geringſten
Höhe erhält, zu der ſich die Kordilleren erheben, wenn man die
Worte Paramo und Nevado aufſucht. Da die Paramos faſt be-
ſtändig in kalten, dichten Nebel gehüllt ſind, ſo ſagt das Volk in
Santa Fé und Mexiko: cae un paramito, wenn ein feiner
Regen fällt und die Lufttemperatur bedeutend abnimmt. Aus Pa-
ramo hat man emparamarse gemacht, d. h. frieren, als
wäre man auf dem Rücken der Anden.
Piaſtern und Silberrealen, reales de plata, ausgedrückt. Acht
Realen gehen auf einen harten Piaſter oder 105 Sous franzöſiſchen
Geldes.
Polargletſcher bilden. Dieſes Sichgleichbleiben des Salzgehaltes des
Meeres erinnert an die noch weit größere Gleichförmigkeit der Ver-
teilung des Sauerſtoffes im Luftmeer. In beiden Elementen wird
das Gleichgewicht in der Löſung oder im Gemenge durch Strö-
mungen hergeſtellt und erhalten.
Browns Syſtem.
Solinus, Polyhistor. c. 68; beſonders Athenaeus, Deipnosoph.
Lib. III, c. 45.
dignitas, quum unionum captura floreret, nunc, illa deficiente,
obscura admodum fama. Laet. Nov. Orbis p. 669. Dieſer
ſorgfältige Kompilator ſagt, wo er von der Punta Araya ſpricht,
weiter, das Land ſei dergeſtalt in Vergeſſenheit geraten, „ut vix
ulla alia Americae meridionalis pars hodie obscurior sit“.
Ludwig de Berquen erfunden; in allgemeinen Gebrauch kam es
aber erſt im folgenden Jahrhundert.
haben, daß in Südamerika Perlen in Süßwaſſermuſcheln gefunden
worden wären, und doch kommen manche Arten der Gattung Unio
in den peruaniſchen Flüſſen in großer Menge vor.
worden, die Perlenfiſcherei wieder aufzunehmen.
Perlen an die Kaufleute von Cumana. Der gewöhnliche Preis iſt
ein Piaſter für das Dutzend.
de Mision eine Anzahl Wohnungen um eine Kirche herum, wo
ein Miſſionär, der Ordensgeiſtlicher iſt, den Gottesdienſt verſieht.
Die indianiſchen Dörfer, die unter der Obhut von Pfarrern ſtehen,
heißen Pueblos de Doctrina. Man unterſcheidet noch weiter
den Cura doctrinero, den Pfarrer einer indianiſchen Ge-
meinde, und den Cura rector, den Pfarrer eines von Weißen
oder Farbigen bewohnten Dorfes.
ſiliens werden die Kinder von den Männern, nicht von den Weibern
geſäugt.
Alle dieſe ungeheuren Knochen, die man auf den Ebenen der
Neuen Welt, nördlich oder ſüdlich vom Aequator gefunden, gehören
nicht der heißen, ſondern der gemäßigten Zone an. Andererſeits
macht Pallas die Bemerkung, daß in Sibirien, alſo auch nördlich
vom Wendekreis, foſſile Knochen in den gebirgigen Landesteilen
gar nicht vorkommen. Dieſe eng miteinander verknüpften That-
ſachen ſcheinen den Weg zur Auffindung eines wichtigen geologiſchen
Geſetzes zu bahnen.
meſſern. In der heißen Zone geht man nicht ohne Machete in
den Wald, ſowohl um die Lianen und Baumäſte abzuhauen, die
einem den Weg ſperren, als um ſich gegen wilde Tiere zu ver-
teidigen.
in Afrika zu Hauſe glaubt. Wir werden ſpäter Gelegenheit haben,
auf dieſen für die Zoologie und Tiergeographie wichtigen Punkt
zurückzukommen.
vius XXV, 7.
Baum wird ungeheuer dick; im Thal von Curiepe zwiſchen Kap
Codera und Caracas maß Bonpland Kufen aus Javilloholz, die
5 m lang und 2,5 m breit waren. Dieſe Kufen aus einem Stück
dienen zur Aufbewahrung des Guarapo oder Zuckerrohrſaftes und
der Melaſſe. Die Samen des Javillo ſind ein ſtarkes Gift, und
die Milch, die aus dem Blütenſtengel quillt, wenn man ihn abbricht,
hat uns oft Augenſchmerz verurſacht, wenn zufällig auch nur ein
ganz klein wenig davon zwiſchen die Augenlider kam.
klinge, einen Bergkamm mit ſehr ſteilen Abhängen.
eines Geiſtlichen ſtehen, nennt man in den ſpaniſchen Kolonieen
Miſſion auch die jungen Mönche, die miteinander aus einem
ſpaniſchen Hafen abgehen, um in der Neuen Welt oder auf den
Philippinen die Niederlaſſungen der Ordensgeiſtlichen zu ergänzen.
Daher der Ausdruck: „in Cadix eine neue Miſſion holen.“
langer Blüte.
migratoria.
Virginien gefunden, 6750 km vom Megatherium, dem er ſehr nahe
ſteht und das ſo groß war wie ein Nashorn.
- License
-
CC-BY-4.0
Link to license
- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Humboldt, Alexander von. Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bncs.0