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DIE VOLKSWIRTSCHAFT,
DIE VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE
UND IHRE METHODE

1893
[figure]

VITTORIO KLOSTERMANNFRANKFURT AM MAIN:

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HERAUSGEGEBEN VON AUGUST SKALWEIT
Druck: Buchdruckerei Otto GmbH.,Heppenheim-Bergstr.
Printed in
Germany: 1949
[3]

VORWORT DES HERAUSGEBERS


Als im Jahr 1864 der ehemalige württembergische Finanz-Referendär
Schmoller seine erste Professur in Halle antrat, war er 26 Jahre alt.
Eigentlich hatte er wie sein Vater und seine Vorväter württembergischer
Verwaltungsbeamter werden wollen. Doch hatte er sich diese Karriere
verdorben, als es ruchbar wurde, daß aus seiner Feder eine Broschüre
stammte, die in dem Zollvereinskonflikt zwischen Preußen und den
süddeutschen Königreichen in einem für Württemberg höchst abträg-
lichen Sinne Stellung genommen hatte.


Auch in Halle geriet der junge Schmoller sofort in eine Kampf-
stellung, freilich diesmal nicht zum Staat, wohl aber — und das wurde
für ihn von nachhaltigerer Wirkung — gegen die Lehre und Lehr-
weise, die er vorfand und die er in jeder Hinsicht für so unzulänglich
hielt, daß er eine völlige Abkehr von ihr zu seiner mit Leidenschaft
vertretenen Forderung machte.


Wie sah die Lehre aus, die damals auf den deutschen Kathedern fast
allerorts vertreten wurde? Soweit sie nicht in der Polizeiwissenschaft
der alten Kameralistik stecken geblieben war, hatte sie sich gerade in
Deutschland unter dem Einfluß der Epigonen der englischen Klassiker,
der sogenannten Manchesterschule, einem auf die Spitze getriebenen
Rationalismus ergeben. „Die Zunahme teils an Scharfsinn, teils an
spekulierendem Gedankenreichtum“, so wurde diese Lehre von dem
jungen Schmoller gekennzeichnet, „konnte diese Epigonen nicht davor
bewahren, immer mehr den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen
zu verlieren, immer mehr zu gänzlich anschauungs- und farblosen,
spintisierenden, abstrakten, einteilenden, definie enden Stubengelehrten,
zu phantastischen Sozialisten, zu kalkulierenden Mathematikern, zu
doktrinären, breitspurigen Theoretikern naturrechtlicher Robinsonaden
zu werden. Es trat die geistige Schwindsucht eines von der Empirie
gänzlich losgelösten Rationalismus ein.“


Demgegenüber konnte nur eines helfen, die energische Rückwendung
zur empirischen Wirklichkeit. Nur so konnte „in die Adern des schwind-
süchtigen Körpers der Nationalökonomie wieder Blut und Leben ge-
bracht werden“. Das war geboten, erstens damit die Nationalökonomie
ihrer Zweckbestimmung als Universitätswissenschaft, ihrer Aufgabe,
einen volkswirtschaftlich gut vorbereiteten Beamtennachwuchs aus-
zubilden, gerecht werden konnte, und zweitens weil nur so sie den
großen volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Aufgaben gewachsen
war, die die damalige Zeit eindringlich stellte. In zu krassem Wider-
spruch mit der von der herrschenden Schule gepriesenen „Harmonie
der Interessen“ standen die tatsächlichen sozialen Gegensätze, die sich
1*
[4] damals mit der rasch emporstrebenden Industriewirtschaft in Deutsch-
land entwickelt hatten.


Was half es, wenn Prince-Smith, der Bannerträger des deutschen wissen-
schaftlichen Liberalismus, das Vorhandensein einer „sogenannten Ar-
beiterfrage“ leugnete und es für widersinnig hielt, daß die soziale
Frage, „wenn man annehme, es gebe eine solche Frage, durch irgend
etwas anderes als den natürlichen Lauf der Dinge“ gelöst werden
könne?


Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, wie sich demgegenüber
Schmoller, eben erst in Halle angekommen, zum Wortführer einer
entschlossenen Sozialpolitik machte, und wie es dann zur Gründung
des Vereins für Sozialpolitik kam, dessen Gründungsversammlung im
Oktober 1872 von Schmoller mit seiner berühmten Eisenacher Rede
eröffnet wurde.


Er war jetzt, 34 Jahre alt, in die erste Reihe der deutschen National-
ökonomen gerückt. Wiederhsolt war seine Berufung nach Berlin er-
wogen worden, doch ehe es im Jahre 1882 wirklich dazu kam, wirkte
er noch 10 Jahre lang an der wieder deutsch gewordenen Universität
Straßburg. Die in Straßburg verbrachten Jahre gehören zu den schön-
sten und mit zu den wissenschaftlich produktivsten seines Lebens. Schon
in Halle hatten sich die Hauptlinien abgezeichnet, auf denen sich seine
Forschungen bewegen sollten und die hier in Straßburg und später in
Berlin weiter verfolgt wurden. Es waren drei Hauptgebiete: 1. die so-
ziale Frage, 2. die historisch-realistische Einzelforschung auf den ver-
schiedensten Gebieten der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung
und 3. die Methodenlehre zur Begründung und Schaffung einer neuen
nationalökonomischen Doktrin.


Die von uns wiedergegebene Abhandlung gehört in das dritte Arbeits-
gebiet. Schon ehe er nach Halle kam, hatte Schmoller im Anschluß
an seine von der Tübinger wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät preis-
gekrönte Dissertation, die die zur Zeit der Reformation herrschenden
nationalökonomischen Ansichten zum Gegenstande hatte, geplant, ein
Buch über die Ethik und Methodologie in ihrem Verhältnis zur Na-
tionalökonomie zu schreiben. Von den Vorarbeiten hierzu sind nur we-
nige Stücke wie die über Schillers ethischen und kulturgeschichtlichen
Standpunkt und eine Studie über Johann Gottlieb Fichte später ge-
druckt und zusammen mit andern hierher gehörenden Studien über
Friedrich List, Carey, Lorenz v. Stein, Roscher, Knies, Schäffle, Hen-
ry George, Hertzka, Menger, Dilthey in dem Sammelband „Zur Lite-
raturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften“ (1888) veröf-
fentlicht worden. Im Jahre 1890 schrieb er dann die erste zusammen-
fassende Darstellung einer nationalökonomischen Ideenlehre und Me-
thodologie, eben jene von uns gebrachte Abhandlung. Sie war als Ar-
[5] tikel für das Handwörterbuch der Staatswissenschaften gedacht und
erschien als solcher 1893. In dem Sammelband „Grundfragen der
Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre“ (1898) wurde sie erneut
abgedruckt. Für die dritte Auflage des Handwörterbuchs wurde 1910
der Artikel einer Neubearbeitung unterzogen. Schmoller war, wie er in
einer Vorbemerkung zu dieser neuen Ausgabe schreibt, sich bewußt, er
werde zwar in diesen methodologischen Erörterungen seine Gegner nicht
befriedigen, ja zu weiterem Widerspruch veranlassen. „Andererseits reizte
mich die Neubearbeitung doch sehr, weil ich ein starkes Bedürfnis fühlte,
so am Ende meiner Tage gleichsam ein methodologisches Vermächtnis der
Zukunft zu übergeben, auf der einen Seite festzustellen, wieweit ich an
den Anschauungen von 1890 festhalte, wieweit ich in der seitherigen
Literatur einen Fortschritt, wieweit ich und andere darin Irrtum und
Einseitigkeit oder Übertreibung an sich berechtigter Tendenzen sehen.“
Vergleicht man die beiden Artikel miteinander, dann wird man fest-
stellen, daß es sich bei der zweiten Ausgabe nicht um eine ganz neue
Fassung, sondern um eine Ergänzung der alten handelt. Der alte Text
bleibt so gut wie unverändert stehen, die neuen Betrachtungen werden
eingeschoben oder einzelnen Abschnitten angehängt. Beschränken sich
die gemachten Zusätze im allgemeinen auf mehr oder weniger kürzere
Erörterungen, so wurde der ursprüngliche Abschnitt VI „Die Systeme
oder allgemeinen Theorien über Staat, Recht und Volkswirtschaft“ zu
einem 30 Spalten langen Abriß der Dogmengeschichte ausgebaut.


Bei unsrer Edition sind wir so vorgangen, daß wir die zusätzlichen
Auseinandersetzungen an den Stellen, wo sie gemacht wurden, in der
Form von Anmerkungen dem Text von 1890 angefügt haben. Nur auf
die Wiedergabe des dogmengeschichtlichen Abriß glaubten wir verzich-
ten zu können, weil er, nachdem seit seiner Niederschrift mehr als ein
Menschenalter vergangen ist, in manchen Punkten dem heutigen Leser
als antiquiert erscheinen muß.


Im allgemeinen wird man sagen können, daß Schmoller an seinen
1890 vorgetragenen Anschauungen 1910 festgehalten hat. Sie werden
durch die späteren Zusätze eher bestätigt als widerlegt. Nur in einem,
wie man erkennen wird, für ihn wesentlichen Punkte glaubt Schmol-
ler seine frühere Ansicht berichtigen zu müssen: in der Frage über die
Berechtigung des ethischen Werturteils in der Nationalökonomie. Hatte
er 1890 gefordert, so schreibt er 1910, die wissenschaftlichen Unter-
suchungen auf dem Boden strengerer Methoden möglichst auf das Sein
zu beschränken, so müsse er jetzt mit Marshall hinzusetzen: from the
”Sein“ we have to learn ”das Werden“. In einer ausführlichen Aus-
einandersetzung mit Max Weber und Sombart als den Wortführern der
„wertfreien Volkswirtschaftslehre“ wird dieser Standpunkt begründet.
(Vergl. Anm.)


[6]

Mag die neue Fassung seiner Methodenlehre Zeugnis für die tief-
gründige Arbeit ablegen, die der alte Schmoller auf diesen Stoff ver-
wandt hat, so wird man doch der alten Fassung in mancher Hinsicht
den Vorzug geben. Sie ist, da sie auf ins einzelne gehende literarische
Exkurse verzichtet und sich mehr auf das Grundsätzliche beschränkt,
abgerundeter und wirkt daher auch überzeugender.


Da wir den Text selber bringen, können wir verzichten, auf den Inhalt
näher einzugehen. Schmoller lehnt den Begriff einer von der Sozial-
wirtschaft losgelösten Volkswirtschaft ab. Er sieht in ihr ein einheit-
liches reales Ganzes, das trotz der Selbständigkeit der in ihr zusammen-
geschlossenen Einzel- und Korporationswirtschaften von einheitlichen
psychischen und materiellen Ursachen beherrscht wird, weil seine sämt-
lichen Teile in engster Wechselwirkung stehen und seine zentralen Or-
gane nachweisbare Wirkungen auf alle Teile ausüben. Dementsprechend
ist auch der Aufgabenkreis, den die Volkswirtschaftslehre zu erfüllen
hat, weit gefaßt. Sie soll die volkswirtschaftlichen Erscheinungen der
Kulturwelt in den Zusammenhang der natürlichen, biologischen und
technischen Entwicklung einerseits, der psychologischen, moralisch-
politischen und gesellschaftlich-historischen Entwicklung anderseits
hineinstellen und so das Werden der Volkswirtschaft erklären. Das
wirtschaftliche Handeln aber und die wirtschaftlichen Institutionen
sollen nicht mehr allein aus Wertvorgängen oder aus irgend einem
Triebe, sondern aus den psychologischen Kräften überhaupt abgeleitet
und im Rahmen von Moral, Sitte und Recht begriffen werden.


Eine Riesenaufgabe, die somit der Nationalökonomie gestellt wird! Sie
kann nach Schmollers Meinung nur bewältigt werden auf der Grund-
lage mühevoller historisch-realistischer Einzeluntersuchungen. Sie erst
können den rechten Boden dafür geben, die Geschichte volkswirtschaft-
lich und sozialpolitisch zu begreifen und die nationalökonomische Theo-
rie empirisch zu unterbauen. Was so erstrebt wird und was Schmoller
Wirklichkeit werden sieht, ist eine völlige Erneuerung der national-
ökonomischen Wissenschaft. „In der Zukunft“, so rief er schon 1883
Carl Menger zu, „wird für die Nationalökonomie eine neue Epoche
kommen, aber nur durch die Vermehrung historisch-deskriptiven Ma-
terials, das jetzt geschaffen wird, nicht durch weitere Destillation der
hundertmal destillierten abstrakten Sätze des alten Dogmatismus.“


Wiederholt lehnt Schmoller die Aufforderung ab, eine allgemeine
Volkswirtschaftslehre zu schreiben. Dazu sei es noch nicht an der Zeit,
dazu bedürfe es einer noch Jahrzehnte dauernden intensiven Ge-
lehrtenarbeit. Ohne das letzte große Ziel aus dem Auge zu lassen, ent-
stehen Einzeluntersuchungen zur Gewinnung eines gesicherten Erfah-
rungswissens. Teils schreibt er sie selbst, teils regt er sie an. In seinem
Jahrbuch erscheint kein Jahrgang ohne einen Beitrag aus seiner Feder.


[7]

Mit den „Staats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen“ schafft
er sich ein Publikationsorgan für die besten Arbeiten seiner zahl-
reichen Schüler und anderer junger Gelehrten. Kaum ist er in die
Doch läßt sich aus dem Viel der Einzelerkenntnisse eine allgemeine
Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt, so veranlaßt er diese
zur Herausgabe der „Acta Borussica“, einer Edition und Bearbeitung
von Urkunden und Aktenstücken der preußischen Verwaltung und
Wirtschaft des 18. Jahrhunderts. Die „Schriften des Vereins für Sozial-
politik“, deren Themen er bestimmend beeinflußt, liefern Untersuchun-
gen über Tatbestände der verschiedensten, gerade aktuellen Fragen
des Wirtschaftslebens; denn jede grundsätzliche Bevorzugung von hi-
storischem vor anderm Tatsachenmaterial liegt ihm fern. Und nicht
nur Schmoller und seine Schüler verrichten solche Arbeiten, an andern
Universitäten werden sie ebenfalls aufgenommen. Auf das Ausland
greift die Bewegung über. Auch hier entstehen volkswirtschaftliche
Werke historisch-realistischer Forschung von hohem Erkenntniswert.
So wird von allen Seiten her Material zusammengetragen. Neue Be-
reiche der Beobachtung werden der Nationalökonomie erschlossen. —
Doch läßt sich aus dem Viel der Einzelerkenntnisse eine allgemeine
Volkswirtschaftslehre gestalten? Schmoller wagt den Versuch. In 13
Jahre langer Arbeit schreibt er seinen „Grundriß der allgemeinen
Volkswirtschaftslehre“, ein Werk in zwei umfangreichen eng gedruck-
ten Großoktavbänden. Zum ersten Mal wird ein Lehrgebäude auf der
Grundlage geschichtlicher Auffassung errichtet. Die Erfahrungen wei--
ter neuer Wissensgebiete werden der Volkswirtschaftslehre eingefügt.
Das Sozial- und Wirtschaftsleben in seiner ganzen Vielgestaltigkeit wird
erfaßt und in einer neuen Beleuchtung, die von einer universalen
Bildung höchsten Ausmaßes zeugt, dargestellt.


Das war sicherlich eine Tat. Aber bei aller Bewunderung, die man die-
ser Leistung zollen mußte, hat sie doch nur wenige voll befriedigt.
Daß sie von den Vertretern der reinen Theorie abgelehnt wurde, war
ohne weiteres zu begreifen. Aber auch diejenigen, die von Schmoller
eine nach der von ihm aufgestellten Methode entwickelte allgemeine
Volkswirtschaftslehre erwartet hatten, waren enttäuscht. Denn moch-
ten auch für die Theorie manche neue Sätze entwickelt werden, —
— von einer wirklich historisch-volkswirtschaftlichen Theorie war der
Grundriß noch weit entfernt, ja es fragte sich, ob eine solche auf so
breiter Grundlage, wie sie von Schmoller gewählt, überhaupt zu gewin-
nen war.


Doch wäre es falsch, wollte man deshalb, weil diese Aufgabe nicht im
ersten Anlauf gelungen war, die von Schmoller empfohlene historische
Methode in Bausch und Bogen ablehnen. Arthur Spiethoff, der besten
einer unter Schmollers Schülern, hat in mehreren Aufsätzen dargelegt,
[8] wie diese Methode weiter entwickelt und angewandt werden muß, um
das erstrebte Ziel einer Theorie nach historischer Methode zu erreichen,
und hat in seiner Krisenlehre ein Musterbeispiel dafür gegeben, wie
sich Tatsachensammlung und theoretische Analyse miteinander verbin-
den lassen. Joseph Schumpeter hat in seinem weit ausholenden Auf-
satz „Gustav v. Schmoller und die Probleme von heute“ gezeigt, wie
Schmoller bestrebt gewesen ist, die Türen offen zu halten, um eine
Weiterentwicklung der Forschung nach historischer Methode zu er-
möglichen. So mag es zu verstehen sein, wenn Schmoller seine ver-
allgemeinernden Aussagen aufs vorsichtigste zu formulieren suchte,
eine Neigung, die bei Schmoller, je älter und je weiser er wurde, um
so stärker hervortritt. Das hat ihm den Vorwurf „eines müden rela-
tivistischen Historismus“ eingebracht. Wie ungerechtfertigt das ist, zei-
gen am besten seine Aufsätze, die überhaupt Schmollers Denkart besser
erkennen lassen als sein Grundriß, in dem er vom Standpunkt seiner
Führerstellung aus sich eine reservierte Haltung auferlegen zu müssen
glaubte.


Heute ist mehr als ein Menschenalter vergangen, daß Schmoller in ho-
hem Alter starb (1917). Wir haben den geschichtlichen Abstand ge-
wonnen, ihm und seinem Werk gerecht zu werden. Er hat eine wissen-
schaftliche Bewegung eingeleitet, die nötig war, um die National-
ökonomie aus einem Zustand steriler Stagnation, in die sie geraten war,
zu erlösen und zu einer neuen Entwicklung hinüberzuführen. Als Re-
präsentant dieser Bewegung ist er in die Geschichte der volkswirtschaft-
lichen Lehrmeinungen eingegangen und als solcher wird er in ihr
seinen Platz behaupten. Abfallen die Schlacken, die sich im Streit der
Meinungen an seinem Namen gehängt haben. Was geblieben, um mit
Schumpeter zu sprechen, ist das Bild „eines selbstverleugnenden Die-
ners am ewig unserer Kraft entwachsenden Werke der Erfüllung,
achtunggebietend für Freund und Feind, unerhöhbar durch Lob, un-
verwundbar durch Tadel.“ Sk.

[9]

I.
DIE VOLKSWIRTSCHAFT


Fragen wir zuerst, was wir unter Wirtschaft und Volkswirtschaft ver-
stehen? Der erstere Begriff ist sehr viel älter als der letztere. Seit
den griechischen Philosophen die Hauswirtschaft der Familie, der
daran sich knüpfenden Tausch- und Geldverkehr und die Wirtschaft
der Gemeinden als eigentümliche und einer besonderen Betrachtung
würdige Gegenstände erschienen, haben die von ihnen beeinflußten
Kulturvölker die einschlägigen Fragen unter dem Namen der wirt-
schaftlichen oder ökonomischen zusammengefaßt und von anderen
unterschieden. Der Haushalt und der Erwerb der Familie und der
Stadtgemeinde stand im Mittelpunkte der Vorstellungen, die man als
wirtschaftliche aussonderte. Das technische Handeln der Menschen für
ihre Ernährung, Bekleidung, Behausung wurde dabei mit gedacht, aber
trat doch in den Hintergrund gegenüber der sozialen Ordnung dieser
Handlungen durch Haus und Gemeinde, Markt und Verkehr. Soweit
uns aus älteren Zeiten eine Überlieferung wirtschaftlicher Erörte-
rungen erhalten ist, beziehen sie sich auf moralische und politische
Betrachtungen des wirtschaftlichen Handelns. Auch das deutsche Wort
Wirt, Wirtschaft bedeutet in erster Linie den Haushalt, wie die Öko-
nomie von οἶϰος, Haus, herstammt; der Wirt ist der Hauswirt, der
Landwirt, der Gastwirt. Die Wirtschaft können wir definieren als den
Inbegriff oder geschlossenen Kreis von Veranstaltungen und Beziehun-
gen, den eine oder mehrere zusammenlebende Personen durch ihre Ar-
beit, ihre Einwirkung auf die materielle Außenwelt, ihren Tausch-
verkehr zum Zwecke ihres Unterhaltes, erstens und hauptsächlich unter
sich selbst und dann gegenüber dritten Außenstehenden, hergestellt
haben. Jede einzelne Wirtschaft setzt andere neben ihr bestehende,
durch Rechtsschranken von ihr getrennte, durch Stamm, Gemeinde,
Staat und Völkerrecht mit ihr verbundene voraus, von welchen einzelne
in nähere, andere in entferntere Beziehung durch gemeinsame Arbeiten
oder Austausch von Gütern und Leistungen mit ihr kommen.


Die ganz auf sich ruhende, nicht für den Markt, sondern nur für den
eigenen Gebrauch arbeitende Hauswirtschaft der älteren Zeiten hatte
mit den Nachbarwirtschaften nur insofern Beziehungen, als meist die
Dorf- und Stammesgenossen in der Feldgemeinschaft, bei der Vertei-
digung, bei gemeinsamen Bauten, bei Nomaden- und Beutezügen zu-
sammenwirkten. Die spätere bäuerliche Wirtschaft, wie die des älteren
städtischen Händlers und Handwerkers hatte darüber hinaus schon die
Beziehungen eines lokalen Tausch- und Marktverkehrs. Aber man
sprach doch nicht von einer Volkswirtschaft. Der Tauschverkehr blieb
[10] tatsächlich und vermöge seiner politisch-rechtlichen Ordnung ein ganz
überwiegend lokaler. Und die zunehmenden wirtschaftlichen Ge-
meinde- und Staatseinrichtungen rückten erst später in den Mittel-
punkt der Betrachtung. Die großen Reiche des Altertums, selbst das
römische, blieben Bündnisse von Stadtbezirken oder Militärdiktaturen
über eine größere Zahl solcher. Und das ganze Mittelalter kam über
eine Mark-, Dorf-, Stadt- und Kreiswirtschaft, im Sinne einer wirt-
schaftlichen Zusammenfassung oder Verbindung einer Anzahl zusam-
menwohnender, nachbarlich verbundener und verkehrender Haushalte,
nicht wesentlich hinaus, auch wo Sprache, Militär-, Kirchen- und poli-
tische Verfassung schon etwas größere Gemeinwesen geschaffen, der
Handel etwas weiterreichende Verbindungen geknüpft hatte.


Erst die seit dem Ende des Mittelalters sich bildenden, in der Haupt-
sache heute vollendeten großen Nationalstaaten haben in sich und mit
ihrer Bildung das entstehen sehen, was wir Volkswirtschaft nennen;
wie die modernen Sprachen und Literaturen, die modernen Heeres-
und Finanz-, die Verwaltungs- und Verfassungsorganisationen die
Staatsbildung als Ursache und Wirkung begleiteten, so läßt sich Ähn-
liches von der Volkswirtschaft sagen. Es ist die wirtschaftliche Seite
der Entstehung dieser großen gesellschaftlichen Körper, die man meint,
wenn man von der Volkswirtschaft, der political economy, der éco-
nomie politique redet. Der Genius der Sprache hat hier wie so oft
das Richtige besser getroffen, als es Gelehrtenklüge[l]ei tut, wo sie neue
Begriffe schaffen will. Indem er das Wort Volk der Wirtschaft vor-
setzte, schuf er mit der „Volkswirtschaft“ einen Sammelbegriff, der
aber zugleich zum Individualbegriff wurde; indem er die Einzelwirt-
schaften eines Volkes zusammenfaßt, drückt er zugleich aus, daß diese
in einer Verbindung stehen, welche man so gut wie die Familie, die
Gemeinde, den Staat als ein reales Ganzes begreifen kann und muß.
Das Wort „Volk“ ist dabei gebraucht einerseits als der Inbegriff der
Vorstellungen über das, was die Glieder eines populus, einer natio eint,
andererseits als der Stellvertreter für alle Arten innerer psychisch-
moralischer Verbindung von Menschen. Die Volkswirtschaft will von
den wirtschaftlichen Erscheinungen die gesellschaftliche Seite aus-
sondern und für sich in Beschlag nehmen, die technische und haus-
wirtschaftliche Seite derselben Erscheinungen in den Hintergrund rük-
kend; und ebenso will das Wort die gesellschaftlichen und politischen
Erscheinungen in zwei Teile zerlegen und nur die wirtschaftlicher
Natur für sich in Anspruch nehmen. Man hat in Deutschland hierfür
zuerst den Begriff Staatswirtschaft gebraucht; es war sehr richtig, ihn
durch das Wort Volkswirtschaft zu ersetzen, da jener den schiefen
Nebensinn erwecken konnte, als ob die Staatsgewalt alle wirtschaft-
lichen Prozesse zu leiten hätte. Die aus dem Wort Volkswirtschaft her-
[11] auszulesende Deutung, daß das Volk wie ein Einzelsubiekt wirtschafte,
hat auch zu manchen schiefen Behauptungen und Angriffen Anlaß
gegeben. Aber mit Unrecht, sobald man die Worte richtig und nach
dem Kern der hierbei vorherrschenden Vorstellungen versteht.


Ein Volk ist eine durch Sprache und Abstammung, Sitte und Moral,
meist auch durch Recht und Kirche, Geschichte und Staatsverfassung
geeinte Vielheit von Personen, die in sich durch tausend- und millio-
nenfach engere Bande verbunden ist, als mit den Gliedern anderer
Völker. Diese Bande sind durch die modernen Nationalsprachen und
-Literaturen, durch die heutige Schulbildung, Presse und öffentliche
Meinung unendlich vervielfältigt worden. Wie es früher einen star-
ken inneren psychischen Zusammenhalt nur zwischen Familien-, Ge-
meinde- und Stammesgenossen gab, so ist heute ein solcher zwischen
den Gliedern des Volkes entstanden. Eine Summe einheitlicher Gefühle
beseelt das Volk, eine Summe einheitlicher Vorstellungen ist über die
Schwelle des nationalen Bewußtseins getreten und erzeugt das, was wir
den einheitlichen Volksgeist nennen; er drückt sich in einheitlichen
Sitten, Strebungen und Willensakten aus, beherrscht das Tun und
Treiben aller einzelnen, auch nach ihrer wirtschaftlichen Seite. Unter
den zahlreichen konzentrischen und exzentrischen Kreisen psychischer
Übereinstimmung, welche im Seelenleben der Gesellschaft einheitliche
Kräfte und Kraftzentren schafft, ist der Kreis, den wir mit dem Worte
Volk bezeichnen, der höchste und kräftigste; es stehen und wirken
neben ihm weitere, der Völkergemeinschaft angehörige und engere, die
er einschließt und beherrscht, die teilweise auch im Gegensatze zu ihm
stehen. Aber er ist zunächst der maßgebende, eine große geistige und
Willenseinheit unter den Volksgenossen schaffende; an diese halb un-
bewußte, halb bewußte, ohne einheitliches Kommando einheitlich wir-
kende Kraft denkt man, wo man vom Volke im höheren Sinne des
Wortes redet. In diesem Sinne ist auch die Volkswirtschaft eine auf
psychischen Kräften und ihrer Konzentration und Übereinstimmung
beruhende Einheit.


Aber nicht bloß dadurch. Die Einzelwirtschaften einer Gemeinde und
eines Kreises waren schon früher durch Tauschverkehr und Arbeits-
teilung verbunden; jetzt sind es ebenso die Einzelwirtschaften eines
ganzen Volkes und Staates: der freie, innere Markt für Waren und
Leistungen, der Freizügigkeit, die nationale Arbeitsteilung, die heutigen
Verkehrsmittel haben die Einzelwirtschaften desselben Staates jetzt in
einer Weise verbunden, wie es früher nur die Nachbarwirtschaften
waren. Reichen analoge Fäden heute schon weit über den Staat hinaus
und erzeugen eine Weltwirtschaft, so sind sie doch viel schwächer, als
die im Inneren vorhandenen; die Volkswirtschaft ist heute noch die
Hauptsache; ob es in späteren Jahrhunderten die Weltwirtschaft sein
[12] wird, steht dahin; vielleicht ändert sich dann auch der Sprachgebrauch.
Und zu dieser freien Verbindung durch Arbeitsteilung und Verkehr
kommt die rechtliche und organisatorische durch ein einheitliches wirt-
schaftliches Recht und staatliche Wirtschaftseinrichtungen: eine ein-
heitliche Handels-, Gewerbe- und Agrarpolitik, eine einheitliche Steuer-,
Zoll- und Finanzverfassung, ein staatliches Geld- und Kreditsystem,
ein staatliches und kommunales Schuldenwesen, ein staatliches Heer-,
Schul-, Erziehungs- und Armenwesen, ein staatliches Verkehrswesen
mit Eisenbahnen, Kanälen, Dampferlinien, staatliche Kolonien und
internationale Verträge — alle diese Einrichtungen beherrschen heute
jede Einzelwirtschaft in einer Weise wie niemals früher, machen aus
ihr ein abhängiges Glied der „Volkswirtschaft“.


So werden wir die Volkswirtschaft definieren können als den einheit-
lichen Inbegriff der in einem Staate vorhandenen, teils neben-, teils
übereinander stehenden und aufeinander angewiesenen Einzel- und
Korporationswirtschaften, einschließlich der staatlichen Finanzwirt-
schaft; wir sehen diesen Inbegriff als das einheitliche System der wirt-
schaftlich-sozialen Veranstaltungen und Einrichtungen des Volkes an;
wir betrachten das System insofern als ein einheitliches reales Ganzes
trotz der Selbständigkeit der Teile, als es von einheitlichen psychischen
und materiellen Ursachen beherrscht wird, als seine sämtlichen Teile
in engster Wechselwirkung stehen und seine zentralen Organe nach-
weisbare Wirkungen auf alle Teile ausüben, als die Gesamterscheinung
jeder Volkswirtschaft, wie die jedes anderen individuellen Wesens, trotz
des steten Wechsels der Teile für unsere Vorstellung im wesentlichen
unverändert fortdauert, als wir alle Veränderungen derselben Volks-
wirtschaft unter der Vorstellung der Entwickelung desselben Wesens
begreifen1.


Indem die Volkswirtschaft sich in den letzten zwei Jahrhunderten als
ein relativ selbständiges System von Einrichtungen und Veranstaltun-
gen entwickelte, teilweise eigene Organe mit selbständigen Interessen
erhielt, wurde sie für die Vorstellungen der Menschen mit Recht ein
selbständiges, von Staat, Kirche und anderen sozialen Kreisen und
menschlichen Lebensgebieten sich loslösendes System des individuellen
und gesellschaftlichen Handelns, wobei freilich nie zu vergessen ist,
daß diese Loslösung mehr in Gedanken als in der Realität vollzogen
ist. Die in der Volkswirtschaft handelnden Kräfte sind dieselben, die
die anderen Kulturzwecke verfolgen, den Staat, die Kirche bilden, die
gesellschaftlichen Kreise ausmachen, als Träger von Moral, Sitte und
Recht auftreten; eine große Zahl von Organen, wie Familie, Gemeinde,
Staatsgewalt, dient anderen Zwecken ebenso wie wirtschaftlichen. Die
Volkswirtschaft bleibt stets ein integrierender Teilinhalt des ganzen
gesellschaftlichen Lebens. Zu ihren Veranstaltungen gehört jetzt der
[13] Staat und die Staatsverwaltung mit. Ohne die modernen Staatseinrich-
tungen ist keine Volkswirtschaft zu denken. Und wenn wir die Volks-
wirtschaft dennoch im Gegensatz zum Staate und seiner Organisation
uns vorstellen als ein freieres System zusammenwirkender Einzel-
kräfte, wenn sie weniger als der Staat der zentralisierten Leitung vom
Mittelpunkte aus bedarf, so ist doch nicht zu übersehen, daß auch in
der Volkswirtschaft heute durch die Wirtschaftspolitik, durch die
Macht der großen Kredit- und Verkehrsorgane, der wirtschaftlichen
Vereinigungen schon eine weitgehende bewußte, einheitliche Leitung
stattfindet. Und daneben ist festzuhalten, daß gleichmäßig für Staat
und Volkswirtschaft die innere, rein psychisch vermittelte Einheit
infolge gemeinsamer Ordnung, kollektiver Kräfte, übereinstimmender
Strebungen vielleicht wichtiger ist, als die durch befehlende Zentral-
organe herbeigeführte.


Ob man die Volkswirtschaft nach dem Vorbilde des menschlichen Kör-
pers einen Organismus nennen wolle, erscheint als eine untergeord-
nete Frage, sobald man sich klar ist, daß es sich dabei um eine Ana-
logie, ein Bild handele, das mancherlei veranschaulichen, aber die Er-
klärung aus der Sache nicht ersetzen kann. Die Analogie kann mit
Recht betonen, daß im menschlichen Körper wie in der Volkswirtschaft
die Mehrzahl der inneren Vorgänge sich vollzieht, ohne daß die Zentral-
organe bewußte Kunde davon erhalten, daß aber deshalb die Einheit
und, sobald es nötig ist, auch die zentral bewußte Leitung nicht fehle.
Aber mehr als ein Gleichnis ist dies nicht. Und es ist daher stets der
Schwerpunkt, wenn man die Volkswirtschaft als ein Ganzes bezeich-
net, auf die realen Ursachen der Einheit zu legen. Es handelt sich
stets darum, zu verstehen, wie es komme, daß die Menschen mit ihren
zunächst und scheinbar rein individuellen Bedürfnissen und Trieben
immer mehr zu kleineren und größeren Gruppen verbunden, teils
direkt gemeinsam, teils indirekt gemeinsam in der Form des Tausch-
verkehrs für einander wirtschaften. So rückt die soziale und politische
Grundfrage, was verbindet und trennt Menschen, welche Ursachen be-
herrschen alle gesellschaftliche Gruppenbildung, auch in das Zentrum
der volkswirtschaftlichen Betrachtung, wie sie für alle Staats- und Ge-
sellschaftswissenschaft den Ausgangspunkt bildet.


II.
DIE VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE


In derselben Zeit, in welcher die Sprache zum Begriff der Volks-
wirtschaft kam, entstand im Systeme der menschlichen Erkenntnis, der
einzelnen Wissenschaften die besondere Wissenschaft der Volkswirt-
schaftslehre.


[14]

Jahrhunderte lang waren einzelne privat- und sozialwirtschaftliche
Tatsachen beobachtet und beschrieben, einzelne volkswirtschaftliche
Wahrheiten erkannt, in den Moral- und Rechtssystemen wirtschaftliche
Fragen erörtert worden. Zu einer besonderen Wissenschaft konnten
die einzelnen hierher gehörigen Teile sich erst vereinigén, als die volks-
wirtschaftlichen Fragen zu früher nie geahnter Bedeutung für die Lei-
tung und Verwaltung der Staaten im 17.—19. Jahrhundert gelang-
ten, zahlreiche Schriftsteller sich mit ihnen beschäftigten, eine Unter-
weisung der studierenden Jugend in ihnen nötig wurde und zugleich
der Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt dazu führte,
die gesammelten volkswirtschaftlichen Sätze und Wahrheiten zu einem
selbständigen, durch gewisse Grundgedanken, — wie Geld- und Tausch-
verkehr, staatliche Wirtschaftspolitik, Arbeit und Arbeitsteilung — ver-
bundenen Systeme zu verknüpfen, wie es die bedeutenden Schrift-
steller des 18. Jahrhunderts versuchten. Seither besteht die Volkswirt-
schaftslehre oder Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft. Sie
wird teilweise heute auch Nationalökonomik oder Lehre von der na-
tionalen Ökonomie genannt oder politische Ökonomie, wobei freilich
der letztere Ausdruck den Nebensinn hat, die aus der Volkswirtschafts-
lehre heraus entstandenen selbständigen Teile, wie Finanzwirtschaft
oder gar auch die Hilfswissenschaften, wie Statistik, mit zu umfassen.
J. St. Mill definierte sie als die Wissenschaft, welche die Natur des
Reichtums und die Gesetze seiner Produktion und Verteilung unter-
sucht. Aber die Natur des Reichtums ist wesentlich auch technischer
Art, und die Gesetze der Reichtumserzeugung und -verteilung er-
schöpfen das Problem nicht, ganz abgesehen von der Frage, ob wir
solche bereits besitzen. Rau definierte: „die Wissenschaft, welche die
Natur der Volkswirtschaft entwickelt oder welche zeigt, wie ein Volk
durch die wirtschaftlichen Bestrebungen seiner Mitglieder fortwährend
mit Sachgütern versorgt wird.“ Roscher „die Lehre von den Entwik-
kelungsgesetzen der Volkswirtschaft“, womit nur die dynamischen Ver-
änderungen, nicht die statischen Formen der Organisation, die dauern-
den gleichmäßigen Lebensäußerungen erfaßt sind. Mangoldt äußert
sich so: „wissenschaftliche Darlegung der der Wirtschaft zu Grunde
liegenden Kräfte, der Richtungen, in denen sie sich äußern, der Ge-
setze ihrer Wirksamkeit und der Bedingungen ihres Erfolges“. Das
gesellschaftliche Moment betonte Fr. J. Neumann zuerst scharf, indem
er unsere Wissenschaft „die Lehre von dem Verhalten der Einzelwirt-
schaften untereinander und zum Staatsganzen“ nennt. Doch genug der
Beispiele. Ich möchte sagen: sie ist die Wissenschaft, welche die volks-
wirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, definieren und aus Ur-
sachen erklären sowie als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen
will, wobei freilich vorausgesetzt ist, daß die Volkswirtschaft vorher
[15] richtig definiert sei. Im Mittelpunkte der Wissenschaft stehen die bei
den heutigen Kulturvölkern sich wiederholenden typischen Erschei-
nungen der Arbeitsteilung und -Organisation, des Verkehrs, der Ein-
kommensverteilung, der gesellschaftlichen Wirtschaftseinrichtungen,
welche an bestimmte Formen des privaten und öffentlichen Rechts an-
gelehnt, von gleichen oder ähnlichen psychischen Kräften beherrscht,
ähnliche oder gleiche Anordnungen und Bewegungen erzeugen, in ihrer
Gesamtbeschreibung eine Statik der gegenwärtigen wirtschaftlichen
Kulturwelt, eine Art durchschnittlicher Verfassung derselben darstel-
len. Von da aus hat die Wissenschaft dann die Abweichungen der ein-
zelnen Volkswirtschaften von einander, die verschiedenen Formen der
Organisation da und dort zu konstatieren gesucht, hat gefragt, in
welcher Verbindung und Folge die verschiedenen Formen vorkommen
und ist so zu der Vorstellung der kausalen Entwickelung der Formen
aus einander und der historischen Aufeinanderfolge wirtschaftlicher
Zustände gekommen; sie hat so zu der statischen die dynamische Be-
trachtung gefügt. Und wie sie in ihrem ersten Auftreten schon vermöge
sittlich-historischer Werturteile zur Aufstellung von Idealen kam, so
hat sie diese praktische Funktion stets bis auf einen gewissen Grad
beibehalten. Sie hat neben der Theorie stets praktische Lehren fürs
Leben aufgestellt.


Wie jeder Wissenschaft, so kann auch der Volkswirtschaftslehre nur
ihr Kern eigentümlich sein; auf ihrer Peripherie deckt sie sich mit
zahlreichen Nachbarwissenschaften, mit denen sie Stoff oder Methode
teilweise gemeinsam hat, von denen sie empfangend abhängt, die sie
gebend befruchtet. Um den Kern kann man daher vernünftigerweise
streiten, nicht um die Peripherie, die zumal in den Geisteswissen-
schaften eine sich stets verwischende und verschiebende Grenze, ein ge-
meinsames Herrschaftsgebiet verschiedener Wissenschaften darstellt.
Die Volkswirtschaftslehre steht mitten inne zwischen den angewandten
Naturwissenschaften, der Technologie, Maschinen-, Landwirtschafts-
Forstwirtschaftslehre, sowie der Anthropologie, Ethnographie, Klima-
tologie, der allgemeinen und der speziellen Pflanzen- und Tiergeogra-
phie auf der einen Seite, und zwischen den wichtigsten Geisteswissen-
schaften, der Psychologie, Ethik, Staats-, Rechts-, Gesellschaftslehre
auf der anderen. Denn die Volkswirtschaft ist stets zugleich ein Stück
Naturgestaltung durch den Menschen und ein Stück Kulturgestaltung
durch die fühlende, denkende, handelnde, organisierte Gesellschaft.


Die Stoffabgrenzung und Systematisierung jeder Wissenschaft hängt
von ihrem jeweiligen inneren Zustande und den praktischen Zwecken
ihrer Wirksamkeit und ihres Unterrichts ab. Was Ad. Smith und seine
ersten Nachfolger als einheitliche Lehre vom Volkswohlstande vor-
trugen, wurde in Deutschland zunächst für die Zwecke der süddeutschen
[16] kameralistischen Vorlesungen in drei Teile geteilt. Rau schied die Fi-
nanz als besonderen Teil aus, weil sie die größte und selbständigste
Einzelwirtschaft behandelt, eine Reihe ihr allein angehöriger Fragen
einschließt und er seinen Kameralisten nicht bloß einiges über Steuern
und Staatsschulden erzählen, sondern den ganzen Finanzhaushalt eines
deutschen Staates schildern wollte. Den übrigen Stoff zerlegte er dann
in eine rein abstrakte Theorie und in eine praktische Anwendung.
Diese letztere Scheidung entsprach einerseits der damaligen Mode-
vorstellung, die man den Engländern entnommen, daß es eine von
Staat und Verwaltung gänzlich unabhängige natürliche Volkswirtschaft
gebe, und sie gestattete die saubere logische, überwiegend abstrakte
Formulierung der Lehrsätze über Wert, Preis und Einkommensvertei-
lung; sie kam andererseits dem Bedürfnis entgegen, aus der alten ver-
waltungsrechtlichen und technologischen Kameralistik dem Studieren-
den das Nötige über Landwirtschaft und Gewerbe und ihre staatliche
Pflege gesondert und im Zusammenhange zu sagen. Die Loslösung der
Finanz- von der Volkswirtschaftslehre wurde bald auch in der Lite-
ratur der anderen Staaten anerkannt, die Scheidung in theoretische
und praktische Nationalökonomie, Volkswirtschaftstheorie und Volks-
wirtschaftspolitik blieb mehr eine deutsche Eigentümlichkeit. Sie hat
sich auch bis heute erhalten, nur sind nach und nach andere prinzi-
pielle Gesichtspunkte bei der Scheidung in den Vordergrund getreten.
Wir setzen heute eine allgemeine einer speziellen Volkswirtschaftslehre
entgegen, ziehen in beiden Teilen das Verhältnis von Staat, Recht,
Sitte und Moral zur Volkswirtschaft in Betracht; aber wir suchen das
eine Mal eine abstrakte Durchschnittsvolkswirtschaft vorzuführen oder
in theoretischer Begründung unser volkswirtschaftliches Wissen zusam-
menzufassen, und das andere Mal schildern wir eine bestimmte Zeit
oder vielmehr ein bestimmtes Volk, eine Völkergruppe nach ihrer wirt-
schaftlichen Seite in konkreter Einzelausführung.


Die allgemeine heutige Nationalökonomie ist philosophisch-soziolo-
gischen Charakters. Sie geht vom Wesen der Gesellschaft und den all-
gemeinen Ursachen des wirtschaftlichen Lebens und Handelns aus,
schildert die typischen Organe und Bewegungen, die wichtigsten Ein-
richtungen statisch und dynamisch. Sie sucht systematisch und prin-
zipiell aus den unvollkommenen Bruchstücken unserer Erkenntnis ein
Ganzes zu machen: sie schreitet vom Allgemeinen zum Speziellen vor-
an, zieht das Besondere mehr nur zur Illustration der Wahrheiten her-
an, die sie glaubt lehren zu können. Sie gibt dem Anfänger einen
Umriß; für den Gelehrten bildet sie den Versuch, das Spezielle zum
Range allgemeiner Wahrheiten zu erheben. Sie kann eine um so ge-
schlossenere Form annehmen, je mehr sie nur in abstrakt-theoretischer
Weise auf die Wert- und Einkommensfragen sich beschränkt; sie nähert
[17] sich einer ethischen und geschichtsphilosophischen Untersuchung, wenn
sie die gesamten volkswirtschaftlichen Erscheinungen im Zusammen-
hange mit ihren letzten gesellschaftlichen Ursachen vorführen will.


Umgekehrt ist die spezielle Nationalökonomie historisch und praktisch-
verwaltungsrechtlich; sie erzählt die neuere volkswirtschaftliche Ent-
wickelung Westeuropas oder eines einzelnen Landes nach Perioden
oder Hauptzweigen der Volkswirtschaft. Sie geht vom Konkreten, Ein-
zelnen aus und erörtert das Detail der Ursachen und Einrichtungen;
sie gestattet den Anfänger in die methodische Untersuchung der ein-
zelnen Probleme nach allen Seiten einzuführen; sie ist deskriptiv in
ihrer Grundlage, sie muß in ihren Erörterungen auf alle möglichen
Nachbargebiete und Nebenfolgen kommen; sie gibt einen festen Bo-
den unter die Füße, rekurriert aber natürlich stets auf die allgemeinen
Wahrheiten, die aus der allgemeinen Nationalökonomie sowie aus der
Ethik oder aus soziologisch-gesellschaftswissenschaftlichen Vorstellungs-
reihen stammen. Wie sie in erster Linie das einzelne aus seinen Ur-
sachen erklärt und aus dem bisherigen Gange der Ereignisse auf die
Zukunft schließt, so mischen sich in die letzteren Schlüsse stets als
leitende Motive ethische Wertvorstellungen und teleologische Welt-
bilder über den Gang der menschlichen Geschichte und das Schicksal
des betreffenden Staates ein.


Die beiden in Deutschland üblichen Teile der Volkswirtschaftslehre stel-
len so berechtigte Gegensätze dar; sie ergänzen sich im Stoff und in
der Methode; ihre Nebeneinanderstellung im Unterrichte und in den
Lehrbüchern hat sich bewährt. Es liegen keine Anzeichen vor, daß sie
einer anderen Behandlung und Abteilung Platz machen werden; sie er-
füllen ihren Zweck um so besser, je mehr der eine Teil auf breitester
philosophischer, der andere auf historischer und verwaltungsrecht-
licher Grundlage und praktischer Weltkenntnis ruht. Sie entsprechen
den verschiedenen Wegen menschlicher Erkenntnisgewinnung, die sich
stets ergänzen müssen2.


Wenn wir im folgenden nun von der Methode der Volkswirtschafts-
lehre reden, so könnte es angezeigt erscheinen, dabei immer wieder
diese beiden Teile zu unterscheiden. Und doch ist es nicht am Platze;
denn in beiden spielen die verschiedenen Hilfsmittel der Erkenntnis in-
einander über. Und der sachverständige Leser wird auch so bemerken,
welche Erörterung mehr auf die allgemeine, welche mehr auf die
spezielle Volkswirtschaft sich bezieht.



[18]

III.
WESEN DER METHODE ÜBERHAUPT


Wir verstehen unter Methode ein nach Grundsätzen geregeltes Ver-
fahren zur Erreichung eines bestimmten Zweckes. Die Methode der
Volkswirtschaftslehre ist das nach wissenschaftlichen Grundsätzen vor-
gehende Verfahren, das der fortschreitenden Erkenntnis der Volks-
wirtschaft dient und dienen soll, das ein vollständiges Bild der Volks-
wirtschaft nach Raum und Zeit, nach Maß und historischer Folge zu
entwerfen, die volkswirtschaftlichen Erscheinungen dem vergleichen-
den und unterscheidenden Denken zu unterwerfen, sie unter ein ein-
heitliches System von Begriffen zu ordnen, sie zu klassifizieren und in
der Form eines einheitlichen Zusammenhanges zu begreifen behilflich
sein soll.


Die Methode der einzelnen Wissenschaft wird bestimmt:
1. durch den Standpunkt, den die menschliche Erkenntnisgewinnung
überhaupt zur Zeit erreicht hat, d. h. durch die Erkenntnistheorie und
Methodenlehre der Zeit überhaupt, welche für alles menschliche Den-
ken und Erkennen in den Grundzügen nur eine einheitliche sein
kann; die Anwendung empirischer Beobachtung z. B., wie sie Bacon
zuerst energischer forderte, hat fast auf alle Wissenschaften einen
bedeutungsvollen Einfluß ausgeübt. Die Hegelsche Dialektik hat ihre
Wirkung fast auf alle Wissenschaften, jedenfalls auch auf die Wissen-
schaften vom Staate und von der Volkswirtschaft erstreckt.


2. Wird diese Methode bestimmt durch die spezielle Natur des zu er-
forschenden Gegenstandes: wie die Mathematik ein anderes Verfahren
hat als die Physik, diese als die Physiologie, so haben die Geistes-
wissenschaften im ganzen andere Methoden als die Naturwissenschaften,
in ihnen wieder die Psychologie andere als die Staats- und Gesellschafts-
wissenschaften3. Je komplizierter ein Wissensgebiet ist, je mehr es
die Erscheinungen einfacherer Art mit einschließt, desto häufiger ist
für dasselbe die Forderung aufgestellt worden, daß die Methoden zur
Erforschung der einfacheren, aber hier mit eingeschlossenen Er-
scheinungen zugleich zu partiellen Methoden dieses Gebietes werden
müßten. Das ist bis auf einen gewissen Grad wahr. Naturwissenschaft-
liche und mathematische Methoden sind z. B. für manche volkswirt-
schaftliche Fragen ein notwendiges Hilfsmittel; psychologische sind
unentbehrlich für alle Geisteswissenschaften. Aber da gleichmäßige
Herrschaft über alle Wissenschaften und ihre Methoden durch die Be-
schränktheit des menschlichen Geistes ausgeschlossen ist, so bleibt die
Einarbeitung in die eigentümlichen Methoden der eigenen Wissenschaft
doch stets die Hauptsache. Und speziell in den Gesellschafts- und
[19] Staatswissenschaften ist häufig dadurch Unheil angerichtet worden,
daß man einseitige naturwissenschaftliche Methoden auf sie anwen-
dete. Viel enger ist natürlich der Zusammenhang zwischen den Geistes-
wissenschaften. Speziell die Volkswirtschaftslehre wird ähnliche oder
gleiche Methoden, wie eine Reihe derselben, anwenden, da sie den-
selben oder einen ähnlichen Stoff zu bemeistern, aus gleichen Ur-
sachen zu erklären hat.


3. wird die in einer bestimmten Wissenschaft jeweilig angewandte
Methode abhängen von dem Grade der [Ausbildung], den sie zur Zeit
erreicht hat. — Die rohe Erkenntnis beginnt stets mit Halbwahrheiten
und raschen Generalisationen; erst nach und nach verfeinert sich das
Verfahren; zeitweise wird Beobachtung und Beschreibung zur Haupt-
sache, zeitweise die Klassifikation, zeitweise tritt die Kausalerklärung
in den Mittelpunkt. Man könnte auch sagen, in der großen historischen
Entwickelung alles menschlichen Erkennens habe es sich stets darum
gehandelt, daß ihre zwei Elemente, die Empirie und die rationale Be-
meisterung derselben (der Rationalismus) um den Vorrang gekämpft
hätten; einer Epoche verfeinerter Empirie mußte stets wieder eine Zeit
höherer rationaler Beherrschung des Empirischen folgen. So treten
wechselsweise die Operationen, die im Dienste des einen Elements
stehen, in den Vordergrund. Der vollendete Sieg des Rationalismus
wäre erst vorhanden, wenn eine Vollendung der Erkenntnis der Welt
erreicht wäre.


Die Methode der einzelnen Wissenschaft wird behandelt und vor-
getragen teils als ein Bestandteil der Erkenntnistheorie und Methoden-
lehre überhaupt, wie das für unser Gebiet von J. St. Mill, Sigwart,
Wundt geschehen ist, teils als ein einleitendes Kapitel der betreffen-
den Lehrbücher, wie z. B. von A. Wagner, oder als Gegenstand von
Abhandlungen, Reden und Monographien, gleich anderen speziellen
Teilen der Wissenschaft, wie das in den Arbeiten von Cairneß, Menger,
Rümelin, Keynes und anderen geschehen ist.


IV.
DIE REGELSAMMLUNGEN UND DIE RELIGIONSSYSTEME
ALS ANFÄNGE ALLER SOZIALEN WISSENSCHAFT


Der Zusammenhang der Generationen hat frühe dazu geführt, daß
der Vater dem Sohne die Regeln des Handelns einprägte, die er teils
übernommen, teils durch eigene Schicksale erprobt hatte. Je mehr
technische Kenntnisse sich ansammelten, Sitten und Gebräuche sich
bildeten, Ritualhandlungen und Rechtssatzungen Anspruch auf Be-
2*
[20] folgung erhoben, desto mehr wurden alle diese Regeln schon um der
leichteren Unterweisung willen in Spruch und Lied fixiert, in gereim-
ter und ungereimter Form überliefert, endlich mit der Ausbildung
des Schriftwesens verzeichnet. So entstanden erst in Priesterhänden,
später auch in Laienhänden jene Regelsammlungen verschiedenster
Art: Sammlungen von medizinischen Rezepten, von technischen Vor-
schriften, von Ritual-, Rechts- und Sittenregeln, wie sie der Dekalog
und andere antike Sammlungen, im Mittelalter die leges barbarorum,
die Bußbücher, die Weistümer, die technischen Regelsammlungen der
Klöster und der Zünfte, später die Kräuter- und Gartenbücher, und in
gewissem Sinne der größere Teil der ganzen älteren kameralistischen
Literatur darstellen. Die Erhaltung und Überlieferung von Regeln des
praktisch-technischen, wie des sozialen, sittlichen, gesellschaftlichen
Handelns ist der Zweck dieser Tätigkeit: es gehen religiöse, sitten-
ordnende, rechtliche und moralische wie praktisch-technische Sammel-
werke und Gesetzesbücher daraus hervor; sie werden immer wieder
abgeschrieben, modifiziert, auch nach und nach erklärt, interpretiert,
Sie stellen noch keine Wissenschaft dar, aber sie sind der Keim einer
solchen; ihr ausschließlicher Zweck ist, den Menschen ein Sollen nach
überlieferter Ordnung vorzuschreiben. Sie ruhen auf praktischer Er-
fahrung, freilich nicht auf ihr allein. Alles menschliche Handeln emp-
fängt seinen Anstoß durch Lust- und Schmerzgefühle und die daran
sich knüpfenden Triebe; unter der Einwirkung aber der Überlegung,
der Besonnenheit, der Selbstbeherrschung, der höheren Gefühle einer-
seits, der gesellschaftlichen Umgebung und ihrer Zwecke andererseits
entsteht die zeremoniöse Ordnung und Formung des Trieblebens, die
Sitte, der Begriff des Sollens, die Macht des Gewissens, die Vorstel-
lung von zu billigenden und zu mißbilligenden Handlungen; es ist ein
innerlicher Prozeß, dessen Resultate durch die Furcht vor den Gei-
stern und den Göttern, die Furcht vor gesellschaftlichem Tadel und
Ausschluß, vor Rache und Strafe äußerlich befestigt und so gleich-
sam unter einen gesellschaftlichen Druckapparat gestellt werden. Und
so enthalten schon diese ältesten Regeln, die ebenso das dem Indi-
viduum als das der Gesellschaft Heilsame bezwecken, empirische so-
wohl als rationale Elemente; sie beruhen auf den rohen Kausalitäts-
vorstellungen vom Eingreifen der Geister und Götter, von der Natur
und vom Himmel, von Leben und Sterben, von Tod und Schlaf, die
sie nach ihrer Art sich zusammenreimen, sowie auf den Werturteilen,
die sich an diese Vorstellungen knüpfen. Wahres und Falsches mischt
sich in ihnen, aber jedenfalls streben sie stets nach einer theoretischen
und praktischen Einheitlichkeit und Übereinstimmung.


Diese ist das Ergebnis des menschlichen Selbstbewußtseins. In dem
ewigen Wechsel von Gefühlen, Vorstellungen, Gedanken und Trieben
[21] ist das einheitliche der Beziehung aller dieser Vorgänge auf das Ich.
Wie in einem einheitlichen Brennpunkte sammeln und konzentrieren
sich die seelischen Ereignisse in ihm, verbinden sich zu einem Ganzen;
alles einzelne ordnet sich diesem Ganzen unter. Wie es das unabweis-
liche praktische Bedürfnis ist, alle praktischen Regeln unseres Han-
delns in Übereinstimmung zu bringen, um nicht in das peinliche Ge-
fühl des Widerspruchs mit uns selbst zu kommen, so entspringt aus
dem einheitlichen Selbstbewußtsein jener theoretische unwidersteh-
liche Einheitsdrang ‚der alles Beobachtete und Erlebte auf gewisse
oberste Vorstellungen zurückführen, es als Teile einem Ganzen ein-
fügen will. Unser Denken und unser Gewissen fühlt sich erst be-
ruhigt, wenn es einen solchen einheitlichen Punkt gefunden, der
theoretisch-praktischer Natur zugleich ist, der eine Vorstellung von der
Welt und ihrem Wesen und von den Zielen unseres Daseins gibt. Aus
dem einheitlichen Selbstbewußtsein folgt, daß jeder Mensch nach einer
einheitlichen Weltanschauung strebt, die durch die mit ihr gegebenen
Werturteile ein Lebensideal enthält.


Dies geschieht in älterer Zeit ausschließlich in der Form kosmogo-
nischer Vorstellungen, mit denen der Glaube an Geister und Götter
verknüpft ist, d. h. in der Form des religiösen Glaubens, der einheit-
lich das menschliche Dasein und die Natur begreiflich macht und alle
Regeln des Handelns als Gebote der Götter auffaßt. Die Vielheit der
Götter strebt wieder nach Einheit, zuletzt entsteht der Glaube an ein
oberstes allmächtiges und allwissendes Wesen, das als Ursache der Welt
wie als Inbegriff alles Guten und Idealen gedacht wird. Selbst die
äußeren Regeln des praktischen Handelns werden als Gebote Gottes auf-
gefaßt oder als Abteilungen aus seinen Geboten erklärt. Die religiösen
und kirchlichen Ordnungen dieser älteren Zeiten sind zugleich die
wichtigsten Instrumente der sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Organisation. In den relativ kleinen Gemeinwesen konnte es nur eine
einheitliche Religion geben, die alle Lebensgebiete beherrschte und
durchdrang.


Die religiöse Lehre erklärt alles und lenkt alles; sie ist ein erster Ver-
such rationaler Erklärung des Seienden und praktischer Lenkung alles
Geschehenden. Sie enthält kein Wissen und Erkennen im späteren
Sinne; aber sie gibt dem Menschen ein einheitliches Begreifen der
Dinge, einen Glauben, der das naive Nachdenken beruhigt, das Ge-
müt beherrscht, der das Gute finden lehrt, der ein klares und deut-
liches Sollen vorschreibt. Er ruht auf dunkeln Bildern der Welt, aber
mehr und mehr schon auf einer klaren Erfassung der Menschenseele,
ihrer Kräfte und Triebe. Denn diese innere Erfahrung ist der älteste
und sicherste Bestand menschlicher Erkenntnis4.


[22]

V.
DIE MORALSYSTEME


Jahrhunderte und Jahrtausende leben so die Völker: Die Träger des
Fortschrittes sind diejenigen, welche die höheren Religionssysteme aus-
bilden, mit welchen und durch welche die bessere soziale Ordnung und
die richtigere Regulierung des Trieblebens entstand, innerhalb deren
die steigende Erkenntnis der Natur und des Menschen sich entwickeln
konnte. Diese Erkenntnis ist darauf gerichtet, das einzelne für sich
zu nehmen, es abstrahierend aus Ursachen zu erklären. Aber der Vor-
gang hierbei war von Anfang an verschieden für das Naturerkennen
und für das Menschenleben. Der Natur steht der Mensch als ein Frem-
der gegenüber; er kann hier nur langsam vordringend beobachten,
untersuchen, die ihm unbegreiflichen Ursachen verstehen. Dem Seelen-
leben, dem Menschen, der Familie, dem Staate steht unser Intellekt
als ein gleicher gegenüber, der gleichsam von innen heraus die Vor-
kommnisse miterlebend versteht, der das Ganze stets mehr oder we-
niger überschaut, es besitzt, während er nun erkennend das einzelne
analysiert. Daher das bekannte von Dilthey mit Recht betonte histo-
rische Ergebnis, daß eine gewisse Höhe der Erkenntnis auf psycholo-
gischem, ethischem, politischem Gebiet eigentlich früher erreicht
wurde, als auf dem der Natur. Wenigstens steht, was die Griechen
auf diesen Gebieten lehrten, unseren heutigen Lehren viel näher, als
unser Naturerkennen dem ihrigen.


Die ersten großen Fortschritte aller empirischen Erkenntnis fallen in
die Epoche, in welcher die überlieferten Religionssysteme ins Wanken
kommen. Veränderte Lebensbedingungen erschüttern die alten ge-
heiligten Regeln des Handelns und Zusammenlebens. Mit dem Zweifel
an den alten kosmogonischen Vorstellungen kommt das Bedürfnis nach
einer tieferen oder anderen Erklärung der Welt und nach einer an-
deren Begründung des Sollens; man will die Vorschriften der Sitte,
des Rechts und der Moral nicht mehr bloß als Gebote Gottes ver-
stehen und erläutert sehen, sondern will sie aus Zwecken und Ur-
sachen erklärt haben. Es entstehen die philosophisch-physikalischen Sy-
steme der Welterklärung und die Moralsysteme; letztere als die ersten
eigentlichen Versuche einer Wissenschaft vom gesellschaftlichen Men-
schen. Aber die metaphysischen Systeme der Welterklärung und die
ethischen Systeme — in der Regel einheitlich verbunden — sind zu-
nächst doch weit entfernt, die charakteristischen Züge der alten Reli-
gionssysteme abzustreifen. Dazu reichte die dürftige Erkenntnis, auf
denen sie ruhen, nicht hin; noch weniger duldete der praktische Zweck
das. Die griechische Ethik und die meisten späteren ethischen Systeme
[23] wollten bis in die neuere Zeit vielmehr ein Sollen lehren, Ideale pre-
digen, als das Geschehende aus Ursachen zu erklären. Mögen sie daher
in steigendem Maße den empirischen Stoff der psychologischen, gesell-
schaftlichen und sonstigen Tatsachen in sich aufnehmen; es liegt ihnen
doch in erster Linie daran, einen einheitlichen Ausgangspunkt der Ver-
pflichtung, eine Erklärung des Sollens zu finden. Das können sie nur
durch ein Verfahren, das zwischen Glauben und Wissen die Mitte
hält. Sie suchen intuitiv, synthetisch, mit der Phantasie sich ein Bild
von der Welt und der Weltregierung, von den in ihr herrschenden
Prinzipien und Ideen, von ihrer Entwickelung und vom Zusammen-
hange alles Menschenschicksals mit der Welt und ihrem Mittelpunkte,
vom Zwecke des Menschenlebens und seiner Zukunft zu machen. Sie
benutzen dazu die empirische Kenntnis der Welt; soweit sie nicht
reicht, verfahren sie teleologisch, d. h. sie suchen von einem Bilde
des Ganzen aus das einzelne, als zweckmäßig diesem Ganzen dienend,
zu begreifen, durch reflektierende Urteile so den Stoff unter allgemei-
nen Gesichtspunkten zu ordnen, wie Kant uns das in der Kritik der
Urteilskraft näher auseinander gesetzt hat. Alle bedeutenden Philo-
sophen seither haben zugegeben, daß so die Teleologie als ein berech-
tigtes Reflexionsprinzip, als ein heuristisches Hilfsmittel benutzt wer-
den, als eine symbolisierende Ergänzung der empirischen Wissenschaft
zur Seite treten müsse und dürfe. Es ist der Versuch einer Ausdeutung
des Ganzen und seiner Zwecke. Die Vorstellung, daß die Welt eine
einheitliche sei, daß es ein Stufenreich der Natur und der Geschichte,
einen Fortschritt und eine Vervollkommnung, eine Entwickelung gebe,
ist in der Hauptsache nur so zu gewinnen.


Die teleologische Betrachtung ist die wichtigste Art, eine Summe von
Erscheinungen, deren inneren kausalen Zusammenhang wir noch nicht
kennen, als ein Ganzes zu begreifen. Sie ist mit der systematischen in-
sofern verwandt, als auch diese eine Summe von Erscheinungen oder
Wahrheiten einheitlich ordnen und begreifen will; aber der einheitlich
ordnende Gedanke muß hier nicht notwendig ein Zweckgedanke sein
und die systematische Anordnung schließt noch den weiteren Gedanken
ein, alle einzelnen Teile des Ganzen in der Reihenfolge vorzuführen,
wie es der inneren Zusammengehörigkeit entspricht.


Die ethischen Betrachtungen bedürfen der Teleologie deshalb in so
besonderem Maße, weil alle sittlichen Werturteile aus Gefühlen und
Vorstellungen hervorgehen, die sich auf den Gesamtinhalt und Ge-
samtzweck des menschlichen Lebens beziehen.


Die teleologischen Betrachtungen und die ethischen Systeme haben in
sich eine Geschichte, sie haben sich veredelt und geläutert; aber ihre
Sätze, wenigstens ein großer Teil derselben, stellen keine Wahrheit dar,
die bei allen Menschen in gleicher Weise durchdringen müßte. Es sind
[24] verschiedene Weltanschauungen stets nebeneinander möglich, die von-
einander abweichen, wie die verschiedenen Temperamente; schon die
optimistische und die pessimistische Anschauung wird stets zu verschie-
denem Resultate kommen. Realismus und Idealismus, antike und
christliche Denkungsart, aristokratische und demokratische Prinzipien
und wie die großen Gegensätze alle heißen, werden stets verschiedene
Weltbilder und Auffassungen und damit verschiedene Lebensideale er-
zeugen. Die verschiedenen möglichen Vorstellungen von Gott und dem
Leben nach dem Tode, von Fortschritt oder Rückschritt im Laufe der
Geschichte müssen stets auch zu verschiedenen Urteilen über alle
Pflichten und alles Handeln führen. So haben diese verschiedenen
Möglichkeiten, die Welt im ganzen zu verstehen, eine Reihe verschie-
dener philosophischer und ethischer, sich bekämpfender Systeme ge-
schaffen und sie bestehen auch heute getrennt nebeneinander fort und
werden künftig getrennt fortbestehen. Sie haben nur in ähnlichem
Maße sich einander genähert, wie es auch die höheren Religionssysteme
taten; die fortschreitende psychologische Erkenntnis des Menschen, die
fortschreitende Erkenntnis der Natur und der Geschichte haben die
extremen Anschauungen beseitigt, haben die Ethik immer mehr zu-
gleich zu einer Erfahrungswissenschaft des Seienden gemacht, aus der
heraus nun die einzelnen Teile als besondere Wissenschaften vom Staate,
vom Rechte, von der Volkswirtschaft sich loslösen konnten.


Aber in ihrem Grundcharakter blieben die ethischen Systeme doch et-
was ähnliches, wie die religiösen; sie ruhen auf einem Glauben, auf
einem Fürwahrhalten gewisser letzter Prinzipien. Dieses Fürwahrhalten
entsteht unter bestimmten realen und psychologischen Voraussetzungen
bei den gleichen oder ähnlichen Menschen mit ähnlicher Notwendigkeit,
wie das Wissen der Erfahrungswelt; es ist ein Fürwahrhalten der letz-
ten Dinge, dem der Materialist wie der Theist und der Christ gleich-
mäßig unterliegt. Eben weil es sich dabei um die letzten Dinge han-
delt, um die höchsten Prinzipien, so verleiht dieses Fürwahrhalten eine
Spannkraft des Willens, die eine empirische Erkenntnis nicht gibt.
Es ist eine Gewißheit, die zum Handeln befähigt, die den einzelnen
veranlaßt, für seine Prinzipien alles, unter Umständen sein Leben zu
opfern. Die Gewißheit, die der einzelne oder ganze Menschengruppen
durch neue zündende, praktische Systeme des religiösen oder mora-
lischen Glaubens erhalten, ist zwar eine subjektive, aber sie ist dafür
eine weltbewegende, teils erschütternde und auflösende, teils auf-
bauende und Neues schaffende. Die Prinzipien, die im Mittelpunkt
stehen, sind zur Zeit ihrer Entstehung und kräftigen Wirksamkeit
noch nicht begrenzt, noch nicht auseinandergesetzt mit anderen gleich-
berechtigten Prinzipien und dem Bestehenden. So wirken sie epoche-
machend und revolutionär, werden maßlos übertrieben und sind da-
[25] neben doch die Voraussetzung einer neuen Zeit und höherer Formen
der Gesellschaft.


Es sei gestattet, hieran noch zwei Bemerkungen zu knüpfen, die metho-
dologische Bedeutung haben.


Das, was man oberste Prinzipien in den ethischen Systemen nennt,
ihre letzten Ideale sind Vorstellungen über die Richtungen, in denen
sich der gute Wille, das Sollen, zu bewegen habe. Meist stehen nun
mehrere solcher Ideen nebeneinander, in einer gegenseitigen Über-
oder Unterordnung, Nebenordnung oder Begrenzung. Aber gar leicht
wird eine als die herrschende vorangestellt, man will ihre Konse-
quenzen auf alle Gebiete übertragen. Ich nenne als solche Ideen die
der persönlichen Freiheit und die der gesellschaftlichen Ordnung, die
der Gerechtigkeit und die der fortschreitenden Vervollkommnung des
einzelnen und der Gesellschaft, die der Gleichheit und die der hin-
gebenden Aufopferung für die Gesamtheit. Es sind abstrakte Ziel-
punkte, deren keiner im praktischen Leben einseitig für sich allein
ins Auge gefaßt werden kann, ohne zu Mißbrauch und zu Übertrei-
bung zu führen. Alle Freiheit setzt zugleich die Ordnung, alle Gleich-
heit eine Verschiedenheit im Interesse des Ganzen und des Fortschritts
voraus. Wer die Freiheit, oder die Gerechtigkeit, oder die Gleichheit,
wie es so oft heute in politischen und volkswirtschaftlichen Erörte-
rungen geschieht, als isoliertes oberstes Prinzip hinstellt, aus dem man
mit unerbittlicher strenger Logik das richtige Handeln deduktiv ab-
leiten könne, der verkennt gänzlich die wahre Natur dieser ethischen
Postulate; sie sind Leitsterne und Zielpunkte, die dem Handelnden vor-
schweben, die in richtiger Kombination das gute Handeln vorschreiben,
die Kraft und Leidenschaft zum richtigen Handeln geben, die zu habi-
tuellen Eigenschaften geworden, der Seele des einzelnen Würde und
Charakter geben, die aber nicht empirische Wahrheiten darstellen, aus
denen man syllogistisch weiter schließen könnte.


Ist so vor einem häufigen Mißbrauche zu warnen, der sich an die ethi-
schen Systeme anschließt, so ist andererseits zu betonen, daß, wenn
diese Systeme stets durch eine Synthese, durch eine einheitlich die
Elemente unserer Erkenntnis und unseres Glaubens verknüpfende An-
schauung entstehen, deshalb nicht jede einheitliche Verknüpfung von
einzelnen Erkenntnisstücken zu einem Ganzen problematisch ist und
bleibt. Gewiß, eine Synthese, welche die Welt und ihre Geschichte als
Ganzes erklären will, bleibt stets diskutabel. Aber eine Synthese, welche
ein Volk, eine Zeit, ein Menschenleben als Ganzes begreift, welche von
reicher Erfahrung ausgeht, in welcher sich vollendete Sachkenntnis
mit künstlerischer Intuition verbindet, kann sich der wirklichen Er-
kenntnis so nähern, daß sie für unsere Zwecke mit ihr zusammenfällt.
Wie in allen Geisteswissenschaften, so ist auch in der Volkswirtschafts-
[26] lehre ein Verfahren, das solche Synthesen versucht, unentbehrlich und
berechtigt.


VI.
DIE SYSTEME ODER ALLGEMEINEN THEORIEN ÜBER
STAAT, RECHT UND VOLKSWIRTSCHAFT


In dem Maße, als das gesellschaftliche Leben komplizierter wurde, die
Arbeitsteilung besondere Berufe schuf, in diesen besonderen Berufs-
kreisen ein spezielles Wissen sich sammelte und systematisch zusam-
mengefaßt oder stückweise von Spezialisten behandelt wurde, ent-
standen die besonderen Wissenschaften vom Staate, vom Rechte, von
der Volkswirtschaft. Diese Wissenschaften hatten von Anfang an ihren
konkreten Stoff, mit einer Summe einzelner Beobachtungen, Urteile,
Wahrheiten; sie suchten aber, zumal im Anfang und soweit ihre Be-
handlung in den Händen von Philosophen, Moralisten, Volksbeglückern
lag, zugleich und in erster Linie eine einheitliche systematische Form
und oberste letzte Prinzipien, aus denen die einzelnen Regeln des Han-
delns abzuleiten wären. Sie stellten sich insofern auch nach der Aus-
scheidung aus der Ethik als Teile der Moralsysteme, als basiert auf eine
bestimmte Weltanschauung dar. Und so bildeten sich die verschiedenen
Staats- und Rechtstheorien, die verschiedenen Volkswirtschaftstheorien,
die teils gleichzeitig nebeneinander entstanden und einander bekämpf-
ten, teils in ihrem historischen Wechsel, in ihrem bald steigenden, bald
sinkenden Einfluß einander ablösten. Sie sind in dem Punkte allen
Glaubens- und allen Moralsystemen gleich, daß keines dieser Systeme
für sich die volle Wahrheit und in seinen obersten Prinzipien unan-
fechtbare Erkenntnis darstellt. Sie nähern sich nur in ihrer Gesamt-
heit dieser an. Es sind die vorläufigen Versuche, aus den Bruchstücken
unserer Erkenntnis ein Ganzes zu machen, um so fähig zu werden, in
einheitlicher Weise Ideale aufzustellen und das praktische Leben zu
regulieren.


Daher haben entgegengesetzte Staatstheorien seit den Tagen der So-
phisten und seit den großen mittelalterlichen Streitigkeiten zwischen
Kaiser und Papst das politische und rechtliche Leben beherrscht; die
einen leiten den Staat aus einem Vertrage der Individuen, die anderen
aus einer göttlichen Ordnung und dem Einfluß objektiver Mächte ab.
So haben wir, seit es eine volkswirtschaftliche Literatur von Bedeutung
gibt, konservative, liberale, ultramontane und sozialistische Theorien,
die den verschiedenen prinzipiellen Standpunkten in der Staatsauffas-
sung, in der Ethik und in der Philosophie entsprechen; sie stellen
hauptsächlich verschiedene Ideale für die wirtschaftliche Moral, für die
[27] soziale und wirtschaftliche Politik auf und sind mit ihrem zeit-
weisen Hervortreten, ihrem periodischem Einfluß, ja ihrer Herr-
schaft selbst zu wichtigen Elementen und Verursachungssystemen der
Entwickelung geworden; sie haben um so mehr gewirkt, je mehr sie
verstanden, einerseits in den Dienst großer berechtigter Zeitinter-
essen und Strömungen zu treten und andererseits zugleich die Fort-
schritte der wirklichen, auf Erfahrung gestützten Erkenntnis der volks-
wirtschaftlichen Erscheinungen in sich aufzunehmen.


Die ökonomischen Theorien des Mittelalters haben ihre einheitlichen
Wurzeln im Christentume und in der christlichen Moral, in der Lehre
vom justum pretium und vom Wucher. Die staatswirtschaftlichen Theo-
rien des 16.—18. Jahrhunderts, die man unter dem Namen des Mer-
kantilismus zusammenfaßt, sind überwiegend einer Weltanschauung
entsprungen, die auf die Gedankenwelt des späteren römischen Im-
periums und des römischen Rechtes sich stützte; die absolutistischen
Gedanken von Machiavell, Bodinus, Hobbes, Pufendorf und Christian
Wolf stehen im Zentrum derselben5. Als höchster Zweck erscheint die
moderne Staatsbildung; wie die einzelnen Grundherrschaften, Städte,
Kreise, Territorien einem Herrscher, einem Gesetz, einer Verwaltung
unterworfen werden, so sollen die einzelnen Wirtschaften zu einem
Markte zusammenwachsen, durch Verkehr, Arbeitsteilung und einheit-
liche Geldzirkulation verbunden werden; ein gutes Münzwesen, eine
lebendige Geldzirkulation erscheint als das wichtigste Hilfsmittel hier-
für; Exportindustrien, Kolonien, auswärtiger Handel, Bergbau schaf-
fen Geldüberfluß und reichliche Geldzirkulation; das im Lande be-
findliche Geld soll nicht hinausgelassen werden; die ganze nationale
Volkswirtschaft soll durch Zollbarrieren, die Handel und Industrie in-
direkt beeinflussen und lenken, einheitlich zusammengefaßt werden;
dem Auslande steht man feindlich gegenüber, man kämpft mit ihm
um den Absatz, um die Kolonien, um die Handelsvorherrschaft; das
Volk erscheint als träge Masse, die vom Staatsmanne gelenkt, zum Fort-
schritte veranlaßt werden muß. In diesen Sätzen stecken viele richtige
und manche falsche Beobachtungen und Urteile; hauptsächlich aber
sehen wir in dieser Theorie große praktisch-historisch berechtigte Zeit-
strömungen; auf dem Boden einer einseitigen Weltanschauung und
Staatslehre wurde dem Handeln adäquate Zeitideale vorgehalten.


Die Naturlehre der Volkswirtschaft, wie sie von den Physiokraten und
Adam Smith begründet wurde, ging von naturwissenschaftlichen und
naturrechtlichen Ideen aus; sie betrachtet die Volkswirtschaft unter
dem Bilde eines natürlich harmonisch geordneten Systems individueller,
egoistisch handelnder Kräfte, aus dessen Spiel der theistische Optimis-
mus aber nur günstige Folgen abzuleiten vermochte. Es war eine Theo-
rie, welche die Ideale des Individualismus und Liberalismus predigte,
[28] den Staat für nahezu überflüssig, jeden Staatsmann für einen schlech-
ten Kerl erklärte, die Beseitigung aller mittelalterlichen Einrichtun-
gen auf ihre Fahne schrieb. Es waren große praktische Reformbedürf-
nisse, denen diese Theorie ebenso diente, wie einstens die merkan-
tilistische und wie neuerdings die sozialistische.


Diese baut sich auf einer materialistischen Überschätzung der äußeren
Güter und des äußerlichen Glückes, auf der Negation einer jen eitigen
Welt, auf der Verkennung des innersten Wesens der menschlichen
Natur auf. Aber sie kommt großen praktischen Bedürfnissen der Zeit,
dem Zuge nach demokratischer Gestaltung, nach Gleichheit, nach tech-
nischem Fortschritt, nach staatlicher Zentralisation entgegen. Die so-
zialistische Weltanschauung hat manche Elemente mit der Aufklärung
gemein — so den politischen Radikalismus, die Verherrlichung der Re-
publik, die Absicht, nach logischen Kategorien die Gesellschaftswelt
einzurenken — andere mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts —
ihre Geschichtsphilosophie ist Hegel und Feuerbach entnommen. Ihre
ganze Nationalökonomie ist den einseitigen Abstraktionen Ricardos ent-
lehnt. Ihr Ideal ist die Beseitigung der Vermögens- und Einkommens-
ungleichheit, die Aufhebung jeder Klassenherrschaft, womöglich aller
Klassengegensätze; die Hebung und Förderung der arbeitenden Klassen
ist das berechtigte Ziel, dem sie dient; sie hat auf diesem Wege schon
Großes erreicht. Ihre Lehren stellen einen natürlichen Rückschlag
gegen die Ein eitigkeit der Naturlehre der freien Konkurrenz dar; sie
dienen den Interessen des dritten Standes, wie jene dem Mittelstande
förderlich waren. Im ganzen sind sie aber nicht minder einseitig, ha-
ben zwar viele Untersuchungen angeregt, stehen in ihrem Kern aber
einer tieferen Erkenntnis mindestens so fern, als die ihnen voraus-
gegangenen Manchesterleute. Ja man könnte sagen, methodologisch
übertrieben sie die rationalistischen Irrtümer dieser.


Aber auch die weniger extremen Theorien und Systeme der Volkswirt-
schaftslehre und Sozialpolitik der Gegenwart sind stets bis auf einen
gewissen Grad, soweit sie zu einer geschlossenen Einheit gelangen und
von ihr aus Ideale für die Zukunft aufstellen, notwendig von einer
bestimmten Weltanschauung, von einem individuellen Bilde der Welt-
und Geschichtsentwickelung aus entworfen. Nur wer über die großen
Institutionen des Staates, des Privatrechts, der wirtschaftlichen Orga-
nisation sich ein konkretes Entwickelungsbild im ganzen macht, kann
sagen, wohin die Zukunft treiben werde und solle. Und dieses Bild
bleibt in gewissem Sinne ein subjektives, jedenfalls durch konstruk-
tive Phantasievorstellungen ergänztes, meist auf teleologischen Be-
trachtungen beruhendes. Mögen die einzelnen Theoretiker dabei noch
so hoch stehen, mögen sie sich frei wissen von allen Klassen- und
Parteiinteressen, welche ebenfalls ihre eigenen nationalökonomischen
[29] Theorien aufstellen, in eben dem Maße, als diese praktische Politik
treiben, praktische Ideale des Handelns aufstellen, gehen sie von einem
Glauben, einer individuellen Weltanschauung aus und sind ihre Lehren,
so viel wirkliche Wissenschaft darin stecken mag, nicht fähig, alle
Menschen von ihrer Wahrheit gleichmäßig zu überzeugen. Das gilt von
den staatssozialistischen Idealen A. Wagners ebenso, wie von den ge-
werkvereinlichen Brentanos, von den maßvollen Reformplänen des
Vereins für Sozialpolitik, wie von den radikalen der englischen Fa-
bier.


Und nicht bloß die Ideale der Zukunft und die Systeme unterliegen
dieser Schranke, auch alle Urteile über die großen historischen Er-
scheinungen, über Staatenbildung und Staatenuntergang, über soziale
Revolutionen, über wirtschaftlichen und sonstigen kulturellen Fort-
schritt oder Rückschritt stehen, so sehr sie daneben auf der genauesten
möglichen Kenntnis des einzelnen beruhen mögen, auf demselben
Boden, sind gefällt mit Hilfe von Deduktionen aus Prämissen teleo-
logischer Art, aus Welt- und Geschichtsbildern, die in verschiedener
Weise je nach Weltanschauung und Persönlichkeit sich bilden. Sie ent-
halten nie mehr als Annäherungswerte, als vorläufige Versuche; sie
enthalten in sich nicht dasjenige Kriterium der Wahrheit, das die voll-
endete Wissenschaft in Anspruch nehmen muß, daß jeder Untersuchende
zu demselben Ergebnis kommen müsse.


Die strengere Wissenschaft strebt nach diesem großen Ziele, sie sucht
unumstößliche Wahrheiten zu erhalten; sie hat es in den Gebieten
einfacherer Verwickelung der Erscheinungen erreicht. Sie kann das,
je mehr sie sich zunächst auf die Untersuchung des einzelnen be-
schränkt; je mehr sie das tut, desto mehr muß sie aber auch verzich-
ten Ideale aufzustellen, ein Sollen zu lehren. Denn dieses geht immer
nur aus dem Zusammenhange des Ganzen hervor. Wenn daher die
strengere Wissenschaft auch auf unserem Gebiete die Resignation zu
fordern anfängt, man solle zunächst nur erklären, wie die Dinge ge-
worden seien, so gibt sie darum die Hoffnung nicht auf, einer spä-
teren besseren Ordnung des menschlichen Lebens zu dienen, einer
höheren Art der Pflichterfüllung und des Sollens die Wege zu bahnen;
sie will nur vorläufig sich im Sinne einer berechtigten Arbeits-
teilung auf das Erkennen beschränken, zumal im Gebiete der Staats-
und Sozialwissenschaft stets zu beobachten war, daß hier noch mehr
als sonst wo die Hoffnung, durch bestimmte Untersuchungen irgend
welcher subjektiven Auffassung des Sollens eine Stütze zu bieten, im-
mer wieder die Objektivität des wissenschaftlichen Verfahrens getrübt
hat. Man kann deshalb prinzipiell zugeben, daß das letzte Ziel aller
Erkenntnis ein praktisches sei, daß das Wollen immer vor dem In-
tellekt da ist, ihn regiert und sein Herrscher bleibt; daß jeder Fort-
[30] schritt der Erkenntnis selbst eine Tat des Willens ist; man kann auch
zugeben, daß für bestimmte Lehrzwecke der Unterricht, zumal der
in der praktischen Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, die Er-
klärung des Bestehenden passenderweise verbinde mit Hinweisen auf
die wahrscheinliche künftige Entwickelung und auf die Vorzüge einer
bestimmten Art der Entwickelung. Und man kann trotzdem im Inter-
esse eben des rein wissenschaftlichen Fortschrittes es für richtiger hal-
ten, zunächst die wissenschaftlichen Untersuchungen auf dem Boden
strengerer Methoden möglichst darauf zu beschränken, die Erschei-
nungen 1. richtig zu beobachten, 2. sie zu definieren und zu klassi-
fizieren und 3. sie aus Ursachen zu erklären6.


Wenn wir diese drei geistigen Operationen im folgenden nach ein-
ander kurz besprechen, so geschieht es nicht in dem Sinne, als ob sie
ganz getrennt und stets in der angeführten Reihenfolge je für sich
vollzogen werden könnten; sie greifen stets ineinander über; der erste
Schritt der Beobachtung setzt schon richtige Namen und Klassifikation
voraus; jede gute Beobachtung gibt Kausalerklärungen. Aber immer
ist die rohe Beobachtung der Anfang, die vollendete Kausalerklärung
das Ende des wissenschaftlichen Verfahrens.


VII.
DIE BEOBACHTUNG UND BESCHREIBUNG IM ALLGEMEINEN7


Volkswirtschaftliche Erscheinungen beobachten heißt die Motive der
betreffenden wirtschaftlichen Handlungen und ihre Ergebnisse, deren
Verlauf und Wirkung feststellen. Der Motive unserer Handlungen
werden wir uns direkt durch Beobachtung unseres eigenen Seelenlebens
bewußt; von uns schließen wir auf andere. Was in der Welt vorgeht,
erfahren wir durch die Eindrücke unserer Sinne, die wir als ein ob-
jektives Geschehen deuten und begreifen. Alle unsere Erfahrung
stammt so aus diesen zwei Quellen der Wahrnehmung. Aber bis wir
uns, bis wir die Welt richtig beobachten lernten, brauchte es einer Er-
fahrungsentwickelung von Jahrtausenden. Und noch heute müssen
wir jeder Beobachtung mit dem Zweifel entgegentreten, ob sie richtig
sei, ob nicht subjektive Täuschung, unvollkommenes Sehen, voreiliges
sanguinisches Verfahren, Ungeübtheit, Vorurteile und Interessen uns
falsche Bilder vorführen. Wir werden nur dann glauben, richtig und
wissenschaftlich brauchbar beobachtet zu haben, wenn wir bei wieder-
holter Beobachtung desselben Gegenstandes, wenn verschiedene Beob-
achter immer wieder dasselbe Resultat finden, wenn jeder subjektive
Einfluß aus dem Ergebnis eliminiert ist.


[31]

Alle Beobachtung isoliert aus dem Chaos der Erscheinungen einen ein-
zelnen Vorgang, um ihn für sich zu betrachten. Sie beruht stets auf
Abstraktion; sie analysiert einen Teilinhalt. Je kleiner er ist, je iso-
lierter er sich darstellt, desto leichter ist das Geschäft. Die Beobachtung
soll erschöpfend, vollständig, genau sein, alle wahrnehmbaren Bezie-
hungen des Gegenstandes eruieren, eine genaue Größen-, Zeit-, Raum-
bestimmung enthalten; sie will die Gleichheit und Ähnlichkeit, wie
die Verschiedenheit gegenüber den verwandten oder entgegengesetzten
Erscheinungen feststellen. Die relative Einfachheit der elementaren
Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die
Beobachtung sehr; es kommt dazu, daß der Naturforscher es in seiner
Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Ursachen beliebig zu
ändern, d. h. zu experimentieren und so den Gegenstand von allen
Seiten her leichter zu fassen. Nicht bloß ist das bei volkswirtschaft-
lichen Erscheinungen nicht oft und nicht leicht möglich, sondern diese
sind stets — auch in ihrer einfachsten Form — sehr viel kompliziertere
Gegenstände, abhängig von den verschiedensten Ursachen, beeinflußt
durch eine Reihe mitwirkender Bedingungen8. Nehmen wir eine Stei-
gerung des Getreidepreises, des Lohnes, eine Kursveränderung oder
gar eine Handelskrisis, einen Fortschritt der Arbeitsteilung; fast jeder
solche Vorgang besteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen ge-
wisser Gruppen von Menschen, dann aus Massentatsachen der Natur
(z. B. einer Ernte) oder des technischen Lebens (z. B. der Maschinen-
einführung), er ist beeinflußt von Sitten und Einrichtungen, deren
Ursachen weit auseinander liegen. Es handelt sich also stets oder meist
um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerstreu-
ten, aber in sich zusammenhängenden Tatsachen. Und vollends wenn
typische Formen des volkswirtschaftlichen Lebens beobachtet werden
sollen, wie die Familienwirtschaft, die Unternehmung, die Aktien-
gesellschaft, der Gewerkverein, der Markt, die Börse, so steigert sich
die Schwierigkeit des Selbst- und des Richtigsehens ins Ungemessene.


Und doch — seit es eine höhere geistige Kultur mit Schulbildung,
Presse und Lektüre gibt, erreichen zahlreiche Geschäftsmänner und Be-
amte durch jahrelange praktische Lebenserfahrung und Übung eine ge-
wisse Fähigkeit, volkswirtschaftliche Erscheinungen im großen und
ganzen richtig zu beobachten. Und daneben hat die Wissenschaft und
der Unterricht in ihr, die regelmäßige Schulung im wissenschaftlichen
Beobachten, in der Beseitigung der wahrscheinlichen Täuschungen und
Fehlerquellen manche Praktiker und viele Theoretiker so weit gebracht,
daß die kritische vorsichtige Beobachtung heute weiter verbreitet ist,
als je früher. Diese Schulung hat es auch dahin gebracht, daß, wo wir
nicht selbst beobachten können, auf die Nachrichten und Beobachtun-
gen anderer angewiesen sind, wir doch mit scharfem Blick das Brauch-
[32] bare vom Unbrauchbaren zu sondern, aus der großen Masse des Be-
obachtungsmaterials, das uns die Presse, gesammelte Beschreibungen,
andere Wissenschaften darbieten, die richtige Auswahl zu treffen ge-
lernt haben.


Aber immer bleibt die Beobachtung der volkswirtschaftlichen Tatsachen
eine schwierige, von Fehlern um so leichter getrübte Operation, je
größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erscheinung ist. Die
an sich berechtigte Vorschrift, jeden zu untersuchenden Vorgang in
seine kleinsten Teile aufzulösen, diese für sich zu beobachten und aus
den gesammelten Beobachtungen erst ein Gesamtergebnis zusammen-
zusetzen, ist nur unter besonders günstigen Umständen restlos durch-
zuführen. In der Regel handelt es sich darum, aus gewissen, an einem
Vorgange festgestellten sicheren Daten die übrigen nicht oder nicht
genügend beobachteten schließend zu ergänzen und so sich ein Bild
von dem Ganzen desselben zu machen; das geschieht unter dem Ein-
flusse gewisser Gesamteindrücke durch einen produktiven Akt der
Phantasie, der irren kann, wenn nicht reiche Begabung und Schulung
den Geist auf die rechte Bahn lenken. Dabei ist, wenn es sich um die
weitere Verwertung des Beobachteten handelt, nie zu vergessen, wie
verschieden zunächst psychologisch das Erfahrungsmaterial wirkt, das
man selbst dem Leben abgelauscht, und jenes, welches man aus der
Hand Dritter empfängt. Das erstere hat stets Farbe, Leben, die volle
Deutlichkeit der Anschauung; es erscheint stets größer, wirkt kräftiger,
ist aber dem Umfange nach bei Gelehrten doch in der Regel das
beschränktere. Das andere aus Büchern, Nachrichten, Erzählungen
stammende stellt, je weniger der Aufnehmende eine produktive Phan-
tasie besitzt, desto mehr nur verblaßte Bilder, Schemen, ja bloße Na-
men und Begriffe dar, zu denen die Anschauung fehlt. Nur eine plan-
volle, mit Absicht stets sich wiederholende Anstrengung kann es dahin
bringen, daß das lebendige und das verblaßte Material sich zu ganz
gleichwertigen Stücken und damit zu einem der Wirklichkeit ent-
sprechenden Gesamtresultate verbindet.


Es wird sich jedem aufmerksamen Leser volkswirtschaftlicher Schriften
sofort die Erkenntnis eröffnen, ob und inwieweit sie auf guter oder
schlechter Beobachtung beruhen, ob selbständige eigene Beobachtung
oder die Benutzung der Beobachtung anderer im Vordergrunde steht,
ob sie auf Welt- und Menschenkenntnis oder auf Bücherkenntnis sich
aufbauen. A. Smith hat das wirtschaftliche Leben im kleinen gut be-
obachtet, im übrigen war er ein Stubengelehrter, der aber auch aus
abgeleitetem Material Bedeutsames zu machen wußte. Ricardo war ein
Mann ohne wissenschaftliche Bildung, aber mit reicher praktischer
Geschäftserfahrung. Wo im praktischen Leben geschulte Staatsmänner
und Geschäftsleute zugleich eine volle wissenschaftliche Bildung sich
[33] erwerben, da leisten sie, obwohl meist nur über Einzelheiten schrei-
bend, eben deshalb Vollendetes, weil sie die zwei Arten des Beobach-
tungsmaterials am richtigsten verbinden; ich erinnere an den Abbé
Galiani, an Necker, an J. G. Hoffmann, an Thünen, an G. Rümelin.
Von den eigentlichen Gelehrten zeigen diejenigen, welche es verstanden,
zugleich sich eine reiche praktische Lebenserfahrung zu erwerben, ähn-
liche Vorzüge, wie z. F. B. W. Hermann, G. Hanssen, Hildebrand.
Der Typus eines spekulierenden Büchergelehrten ohne eigene Beob-
achtung, ohne Welt- und Menschenkenntnis ist Karl Marx; mathe-
matische Spielereien waren seine Lieblingsbeschäftigung; sie verbinden
sich bei ihm mit ganz abstrakten Begriffen und mit allgemeinen ge-
schichtsphilosophischen Bildern. Er ist durch diese Eigenschaften trotz
aller Studien in den englischen Blaubüchern von dem Erfordernis
empirischer zuverlässiger Forschung, wie sie heute verlangt wird, viel-
leicht weiter entfernt, als irgend ein anderer bedeutender national-
ökonomischer Denker.


Die Fixierung der Beobachtung, so daß sie für andere verwertbar
wird, ist die Beschreibung. Sie schildert den aus dem übrigen Zu-
sammenhange des Geschehenden ausgesonderten Gegenstand, gibt ihm
den durch die wissenschaftliche Definition festgestellten Namen, ordnet
ihn unter die Arten und Klassen der verwandten Erscheinungen, stellt
Gleichheiten, Ähnlichkeiten, Koexistenzen, Folgen, Zusammenhänge
fest. Die Beschreibung gibt in der Regel schon deshalb viel mehr als
die Beobachtung, weil sie Folgerungen aus dem Beobachteten und aus
anderweiten anerkannten Wahrheiten einflicht; sie verbindet die ein-
zelnen Beobachtungen zu einem summarischen Ausdrucke; auch wo sie
nicht so weit geht, stellt sie zur Erläuterung die nächst vorhergehende
Beobachtung neben die neue, die gestrige Kursnotiz neben die heutige;
jede gute Beschreibung ist so vergleichend, wie in den meisten Hand-
büchern der Volkswirtschaftslehre mindestens englische, französische
und deutsche Dinge nebeneinander angeführt werden. Die Zusammen-
fassung mehrerer Beobachtungen und ihre Vergleichung, der Versuch,
so ausprobierend, Gesamtvorstellungen über größere Gebiete des volks-
wirtschaftlichen Lebens zu schaffen, ist ein Hauptmittel, in das Chaos
zerstreuter Einzelheiten Einheit zu bringen. Es liegt darin auch der
Ansatz zu induktiven Schlüssen, wie alle Beschreibung ihren Haupt-
zweck darin hat, die Induktion vorzubereiten; aber sie ist, wie Mill
immer wieder betont, noch nicht Induktion und dient ebenso der De-
duktion und ihrer Verifikation.


Soll die Volkswirtschaft eines ganzen Landes, die Entwickelung einer
ganzen Idustrie, das Bank- oder Geldwesen eines Staates, die Lage der
Arbeiter eines Gewerbes geschildert werden, so handelt es sich um so
komplizierte Gegenstände, daß zu einer genauen, erschöpfenden, nach
3
[34] Größe, nach Ursache und Folge ausreichenden Beschreibung vor allem
die Fähigkeit gehört, die Tausende von Einzeldaten zusammenzufassen,
zu komprimieren; es handelt sich um die Fähigkeit, das analytisch im
einzelnen Festgestellte in einer vollendeten Synthese zusammenzufas-
sen. Eine vollendete Beschreibung setzt einen vollendeten Sachkenner
voraus, der zugleich als vollendeter Künstler mit kurzen Strichen, mit
plastischer Anschaulichkeit und doch ganz wahrheitsgetreu zu schildern
weiß.


Je einfacher die Gegenstände einer Disziplin sind, eine desto geringere
Rolle spielt in der betreffenden Wissenschaft die Beschreibung; die
Erscheinungen sind typisch, wiederholen sich so gleichmäßig, daß Be-
schreibungen der verschiedenen Exemplare derselben Art nicht nötig
sind. Das gilt auch für die elementaren volkswirtschaftlichen Vorgänge,
wie Preisschwankungen; da kann ein Beispiel genügen. Alles Kom-
pliziertere hat seinen individuellen eigentümlichen Charakter, die Be-
schreibung der einen Hausindustrie macht die der anderen nicht über-
flüssig. In den komplizierteren Wissensgebieten hat daher stets mit
dem Siege strenger Wissenschaftlichkeit die Beschreibung, der deskrip-
tive Teil sich einen eigentümlichen selbständigen Platz erobert; einzeln
Hilfsmittel und Arten der Beobachtung, der Tatsachensammlung und
Beschreibung, wie z. B. die Mikroskopie und Statistik wurden zu be-
sonderen Wissenschaften.


Auf dem Gebiete der Staatswissenschaften und speziell der Volkswirt-
schaftslehre beobachten wir seit ihrer höheren Ausbildung zwei An-
läufe nach dieser Richtung. Erst erging sich die Kameralistik und der
Merkantilismus im ersten mühevollen, freilich oft recht oberflächlichen
Sammeln der Tatsachen, in Beschreibungen von Holland, England und
anderen Staaten; endlose Encyklopädien und Sammelwerke entstanden;
diese ältere Richtung konnte sich nicht genug des Materials erfreuen
und endete zuletzt in gedankenloser Polyhistorie. Die Naturlehre der
Volkswirtschaft war dem gegenüber eine Erlösung; sie stellte einen
vorläufigen Versuch der rationalen Bemeisterung des toten Stoffes dar;
für einige Menschenalter trat das Beobachten und Beschreiben zurück;
die Dinge für zu einfach haltend, glaubte man in der allgemeinen
Menschennatur den Schlüssel gefunden zu haben, der direkter und
müheloser zum Heiligtum der Erkenntnis führe, als die langweilige,
zeitraubende Empirie. Den Rückschlag gegen diese Einseitigkeit stellt
unsere Epoche dar. Wie man in England den Schlagworten Angebot
und Nachfrage nicht mehr allein glaubte, sondern in endlosen Enqueten
vor jedem Urteil über die Dinge die Tatsachen festzustellen sich be-
mühte, wie die Franzosen in Le Play einen neuen Apostel der Empirie
fanden, so hat vor allem die deutsche nationalökonomische Wissen-
schaft, die aus der Epoche der Kameralistik stets lebendigen Sinn für
[35] das Wirkliche sich gerettet hatte, mit großer Energie seit ein bis zwei
Menschenaltern den Realismus auf ihre Fahne geschrieben. Die besten
Geister anderer Staaten sind ihr hierin gefolgt, es sei z. B. nur an
Herbert Spencers Materialsammlungen und an Sir H. S. Maines Ar-
beiten erinnert. Auch diejenigen unter den deutschen National-
okonomen, welche am meisten für deduktives Verfahren eingetreten
sind, haben sich teilweise mit größtem Erfolge an den deskriptiven
Arbeiten beteiligt, wie z. B. A. Wagner. Der Unterschied der heutigen
deskriptiven Richtung der Nationalökonomie von der des vorigen Jahr-
hunderts besteht darin, daß heute nicht mehr zufällige Notizen ge-
sammelt, sondern nach strenger Methode wissenschaftlich vollendete
Beobachtungen und Beschreibungen gefordert werden.


Wenn vor allem die deutsche Wissenschaft in dieser Richtung vorging,
so hat sie sich nie eingebildet, daß das Beobachten und Beschreiben
allein Wissenschaft sei, daß das mehr sei, als die Vorbereitung, um zu
allgemeinen Wahrheiten zu kommen. Sie behauptete nur und mit
Recht, ohne diese empirische Grundlage und ohne strenge Schulung
und Gewöhnung nach dieser Seite gebe es keine brauchbare Induktion
und Deduktion; sie glaubte vor allem, daß hierin ein Unterricht mög-
lich und heilsam sei, daß hierin geschulte Anfänger noch etwas leisten
können, während die Spekulationen der Schüler über die letzten Fra-
gen der Wissenschaft meist ziemlich wertlos sind. Die deutsche Wissen-
schaft und die Leiter derjenigen staatswissenschaftlichen Seminare, aus
denen seit 30 Jahren überwiegend deskriptive Arbeiten hervorgingen,
waren sich bewußt, damit im Einklange zu stehen mit dem Gange, den
die Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre überhaupt genommen.
Sie konnten sich auf Lasalles Wort berufen: „Der Stoff hat ohne den
Gedanken immer noch relativen Wert, der Gedanke ohne den Stoff
nur die Bedeutung einer Chimäre“; oder auf Lotzes Ausspruch: „Die
Tatsache kennen, ist nicht alles, aber ein Großes; dies gering zu
schätzen, weil man mehr verlangt, geziemt nur jenen hesiodischen
Toren, die nie einsehen, daß halb oft besser ist, als ganz.“


Bei den verschiedenen Seiten der volkswirtschaftlichen Erscheinungen
kommen nun für Beobachtung und Beschreibung natürlich verschie-
dene Verfahrungsweisen in Betracht; sie sind teils anderen Wissen-
schaften entlehnt, teils mehr selbständig innerhalb der Staatswissen-
schaften ausgebildet worden. Es ist hier des Raumes wegen nicht mög-
lich, auf alle diese Methoden im einzelnen einzugehen. Dagegen muß
wenigstens davon besonders geredet werden, wie Statistik und Ge-
schichte sich als Hilfswissenschaften der Volkswirtschaftslehre neuer-
dings ausgebildet haben.



[36]

VIII.
DIE STATISTISCHE METHODE UND DIE ENQUETEN


Wenn wir fragen, wo die Beobachtung am ehesten subjektive Täu-
schung abstreifen, zu allgemein gültiger Wahrheit kommen konnte, so
ist es da, wo sie bestimmte Erscheinungen der Zahl und dem Maße
unterwerfen konnte. Für praktische Verwaltungszwecke hatte man seit
Jahrhunderten die Hufen, die Menschen, das Vieh, die Gebäude ge-
zählt; die italienischen Tyrannen der Renaissance, noch mehr die auf-
geklärten Despoten des 17. und 18. Jahrhunderts brauchten für Fi-
nanz-, Militär- und andere Zwecke immer häufiger solche Zählungen.
Die erwachende Wissenschaft bemächtigte sich dieses Materials. Petty
und Davenant sprachen von politischer Arithmetik, wenn sie wirt-
schaftliche Zahlenangaben zusammenstellten und verglichen. G. Achen-
wall und seine Nachfolger begannen, ihre Staatenbeschreibungen durch
Zahlen zu ergänzen und nannten das Statistik. Peter Süßmilch schuf
aus den Zahlenergebnissen der Kirchenbücher die Bevölkerungslehre.
Und da planmäßige Zählungen dieser Art Privaten nur sehr schwer
möglich sind, die gewöhnlichen Staatsbehörden nur nebenbei durch
ihre sonstige Verwaltungstätigkeit zu solchen Zahlenergebnissen kom-
men, so schuf man von 1800 ab erst die staatlichen, später auch be-
sondere lokale statistische Ämter, deren Aufgabe es ist, gesellschaft-
liche Tatsachen zu zählen und zu messen, das diesbezügliche Material
zu sammeln und zu bearbeiten. In ihren Händen liegt heute vornehm-
lich die Statistik, ohne daß es ausgeschlossen ist, daß Private und an-
dere Behörden ebenfalls statistische Erhebungen machen, noch we-
niger, daß sie statistisches Material verarbeiten.


Wir haben es hier mit der Statistik nur als Methode der systematischen
Massenbeobachtung zu tun. Sie sondert Gruppen von Individuen oder
von wirtschaftlichen Tatsachen und Ereignissen aus, zählt sie im gan-
zen und nach bestimmten Merkmalen, charakterisiert die Gruppen da-
durch, stellt Übereinstimmung und Abweichung, Veränderung und
Wechsel innerhalb derselben fest und leitet so unter Zuhilfenahme un-
seres übrigen Wissens von den Erscheinungen zu einer tieferen Er-
kenntnis derselben an. Sie ist nur anwendbar, wo man feste Gruppen
(nach Staat, Provinz, Gemeinde, nach Beruf, Stand, Geschlecht, Alter,
nach bestimmten Handlungen, Verbrechen, Schul- und Kirchenbesuch,
Steuerzahlen ect.) bilden, alle Glieder der Gruppe durch eine Frage
erreichen, diese Frage klar und deutlich stellen und Garantien schaf-
fen kann, daß sie beantwortet und richtig beantwortet werde. Die stei-
genden Kosten, welche der statistische Verwaltungsapparat verursacht,
hindern jede übergroße Ausdehnung; unvollkommene Fragestellung
[37] und ungenügende und falsche Antworten machen einen erheblichen
Teil des Materials wertlos. Erst langsam hat sich die Kunst der Zäh-
lung und Erhebung vervollkommnet; die Volkszählungen, die Zäh-
lungen des Gewichts und des Wertes der aus- und eingeführten Waren
und andere Teile der Statistik haben aber jetzt einen hohen Grad der
Zuverlässigkeit erreicht, während andere Teile des statistischen Mate-
rials noch sehr unvollkommen sind.


Die Bedeutung der statistischen Methode für den Fortschritt aller Er-
kenntnis auf dem Gebiete von Staat, Gesellschaft und Volkswirtschaft
war trotzdem eine ungeheuere. Die Ausbildung derselben war jeden-
falls einer der erheblichsten Fortschritte auf dem Gebiete der Sozial-
wissenschaften seit 150 Jahren. Die Statistik hat nach vielen Seiten das
hier fehlende Experiment ersetzt; sie hat vielfach erst den Sinn für
Genauigkeit und Präzision auf diesem Wissensgebiete geschaffen; sie
hat feste Größenvorstellungen an die Stelle lauter verschwommener
Anschauungen gesetzt; sie hat zuerst gestattet, die Massenerscheinungen,
die bisher nur einer vagen schätzenden Charakterisierung zugänglich
waren, einer festen Beobachtung zu unterwerfen, die zählbaren Merk-
male zu einer absolut sicheren Charakteristik zu verwerten; sie hat
durch ihre Tabellen, graphischen Darstellungen und andere Hilfsmittel
der Vergleichung die Veränderungen in der Entwickelung festgestellt,
auf die Erkenntnis der Ursachen hingelenkt, den Einfluß bestimmter
Haupt- und Nebenursachen zu messen gestattet. Indem man die sta-
tistischen Ergebnisse nach Raum und Zeit tabellarisch gliederte, die
Massenerscheinungen gleichsam als Funktionen von Raum und Zeit
auftreten ließ, erhielt man einen Einblick in die Abstufung der wir-
kenden Ursachen. Die Statistik hat die Bevölkerungslehre geschaffen,
der Völkerkunde und Finanz ihr festes Fundament gegeben; sie hat
die Geld- und Preislehre von groben Irrtümern gereinigt, die Schief-
heit so vieler voreiliger Generalisationen auf verschiedenen Gebieten
aufgedeckt; sie ist das Hauptinstrument der deskriptiven Volkswirt-
schaftslehre geworden. Ihre heutigen Fortschritte in der Lohnstatistik,
Berufsstatistik, Haushaltungsstatistik zeigen, wie sehr sie fähig ist,
auch fernerhin wichtige Teile der Wissenschaft zu verbessern und
gänzlich umzugestalten.


Über die Grenzen ihrer Wirksamkeit kann daneben doch kein Zweifel
sein. Fast ihr gesamtes Material gehört einer kurzen Spanne der neu-
eren Zeit und wenigen Kulturstaaten an. Sie liefert Wahrheiten immer
nur im Zusammenhange mit anderen Spezialwissenschaften, niemals
allein: nur der Nationalökonom, der Anthropolog, der Kriminalist,
der Mediziner, der ganz in seinem Fache zu Hause ist, kann mit die-
sem Meßinstrument richtig die Gegenstände seiner Untersuchung be-
handeln. Sie kann immer nur Quantitätsverhältnisse ergeben; die Qua-
[38] litäten, die jenseits dieser Grenze liegen, also vor allem die wichtigsten
sittlichen und geistigen Vorkommnisse, sind ihr unerreichbar, soweit
sie sich nicht in zählbaren Ereignissen, wie in Selbstmorden oder Stra-
fen darstellen. Von den zählbaren Dingen können wir häufig das
eigentlich Interessante nicht erfahren, weil die Fragestellungen zu kom-
pliziert, die Antworten zu falsch werden, zu schwierig summierbar
sind. Wir zählen, wie viele Milchkühe vorhanden sind, aber nicht wie
schwer sie sind, wie viel Milch sie geben; wir erfahren, wie viel Be-
triebe mit wie viel Arbeitern existieren, die Erhebung ihrer Ma-
schinen, ihres Kapitals, ihrer Jahresproduktion ist nicht in brauch-
barer Weise geglückt. Lexis führt aus, daß da, wo wir die Ursachen
einfach typisch sich wiederholender Vorgänge bereits kennen, die sta-
tistische Untersuchung überflüssig sei oder höchstens als Berichtigungs-
verfahren wirke, und daß sie d[a], wo es sich um historisch individua-
lisierte Massenerscheinungen handle, als Hilfswissenschaft in dem Maße
zurücktrete, als die Erscheinungen individueller werden. Bleibt zwi-
schen diesen zwei Gruppen ein großes und wichtiges Gebiet für die
Statistik, soweit sie durchführbar ist, die komplizierten Ursachen und
Ursachenkomplexe deckt sie nie direkt auf, sie erlaubt nur dem Sachken-
ner, durch den Vergleich der Zahlen die Zusammenhänge zu vermuten.


Verwandt mit der Statistik sind die sog. Enqueten, d. h. jene von
parlamentarischen Ausschüssen oder Regierungsbehörden und gelehrten
Gesellschaften neuerdings vielfach ausgeführten einmaligen Unter-
suchungen und Beschreibungen, die hauptsächlich auf volkswirtschaft-
liche, für die Gesetzgebung vorzubereitende Gegenstände sich beziehen.
Die betreffenden, zur Untersuchung amtlich eingesetzten oder frei-
willig zusammengetretenen Personen entwerfen zunächst einen Arbeits-
plan, stellen fest, was statistisch erhoben werden soll, ergänzen dann
aber das statistische Material durch schriftliche oder mündliche Be-
fragung einer möglichst großen Zahl sachverständiger Personen. Be-
sonders die mündliche Befragung unter einem gesetzlichen Zeugnis-
zwange und unter Anwendung eines Kreuzverhörs zwischen den ver-
schiedenen befragten Interessenten und unter Berechtigung jedes Mit-
gliedes der Kommission, Fragen zu stellen, hat zu sehr brauchbaren
und wahrheitsgetreuen Ergebnissen geführt; man hat häufig die ge-
samten Protokolle der Vernehmungen neben einem zusammenfassenden
Berichte der Kommission veröffentlicht. Näher ist hierauf hier nicht
einzugehen, die Enqueten waren nur zu erwähnen als ein wichtiges
Mittel, als eine besondere Art des Verfahrens, ein großes Tatsachen-
material planmäßig und wahrheitsgetreu festzustellen. Wenn einzelne
Gelehrte ihre Untersuchungen Enqueten nennen, so wollen sie damit
nur besagen, daß sie in ähnlich umfassender Weise wie Enquetenkom-
missionen Fragebogen ausgesandt und Erkundigungen angestellt haben.


[39]

IX.
DIE GESCHICHTE UND DIE HISTORISCHE METHODE


Die Statistik ist eine ebenso junge, als die Geschichte eine alte Wissén-
schaft ist. Die Statistik ist eine spezialisierte Hilfswissenschaft. Die Ge-
schichte ist neben der Philosophie die universalste aller Wissenschaften.
Und doch stehen beide zur Volkswirtschaftslehre in einem ähnlichen
Verhältnisse, beide sind für sie in erster Linie Hilfswissenschaften,
welche ihr ein gesichtetes, geprüftes, geordnetes Beobachtungsmaterial
liefern. Freilich ist damit die Einwirkung der Geschichte auf die Volks-
wirtschaftslehre nicht erschöpft.


Was will die Geschichte? Sybel sagt, sie wolle das Leben der Mensch-
heit, wie es sich in dem Zusammen- und Auseinandergehen der Völker-
individualitäten gestalte, in seiner Entwickelung begreifen. Bernheim
hat sie neuerdings als die Wissenschaft von der Entwickelung der
Menschen in deren Betätigung als soziale Wesen definiert. Ich möchte
lieber beschreibend sagen: sie will die gesamte Überlieferung von der
politischen und sonstigen kulturellen Entwickelung der Völker und der
Menschheit sammeln, prüfen und zu einem verständnisvollen, in sich
zusammenhängenden Ganzen verbinden. Ihre Tätigkeit hat zwei Ziele
im Auge: die Kritik und Ordnung der Überlieferung und die Benut-
zung derselben zur Erzählung und Darstellung. Das erstere ist ihr
eigenstes ausschließliches Gebiet; hier hat sie im Anschluß an die Philo-
logie, besonders in den letzten hundert Jahren, eine so strenge Me-
thode ausgebildet und hat so sichere Ergebnisse geliefert, daß sie den
höchsten Maßstäben der Erkenntnis entsprechen, den Resultaten alles
anderen Wissens gleichstehen; daher die Gepflogenheit der Historie,
sie nach dem Vorbilde der Naturwissenschaften als exakt zu bezeich-
nen; hier hat sie ihre eigentümlichsten Kunstgriffe ausgebildet, die
größten Triumphe gefeiert. Aber ihr idealer Wert, ihre große Wirk-
samkeit liegt auf dem Gebiete der Erzählung und Darstellung, sowie
der Werturteile, Schlüsse und allgemeinen Wahrheiten, die aus der
Erzählung und Darstellung sich ergeben. Indem sich die bloß refe-
riernde Geschichte zur pragmatisch-lehrhaften und diese zur ge-
netischen ausbildete, welche den inneren und kausalen Zusammenhang
der Ereignisse, den Einfluß der Natur und der Rasse, der überlieferten
Ideen und der neuen Kenntnisse, der großen Männer und der Insti-
tutionen erklären will, mußte sie alles menschliche Wissen, die Philo-
sophie und alle Spezialwissenschaft direkt oder indirekt heranziehen
und konnte naturgemäß doch dieses letzte und höchste Ziel nie voll
erreichen; sie muß sich häufig begnügen, die letzten Rätsel der Welt-
geschichte begreiflich und denkbar zu machen, teleologisch auszudeu-
[40] ten, statt mit wissenschaftlicher Strenge sie restlos kausal zu erklären.
So sind ihre Ergebnisse, methodologisch sehr weit auseinander liegend,
zur Weiterbenutzung für andere Wissenschaften von sehr verschiede-
nem Werte.


In ihrem Schoße haben sich mit der fortschreitenden Arbeitsteilung
die Spezialwissenschaften der Sprach-, Literatur-, Kirchen-, Kunst-,
Sitten-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte entwickelt, die man häufig
unter dem zusammenfassenden Namen der Kulturgeschichte der all-
gemeinen oder politischen Geschichte entgegensetzt. Sie sind in dem
Maße, als sie sich ausbildeten, aus bloßen Teilen der Geschichtswissen-
schaft zu selbständigen Mittelgliedern zwischen der Geschichte und den
betreffenden besonderen Wissenschaften der Sprache, Literatur etc.
geworden, haben in eigentümlicher Weise die Aufgaben und Methoden
der Geschichte mit denen der Philologie, der Rechtswissenschaft, der
politischen Ökonomie verbunden und so befruchtend nach rechts und
links gewirkt.


Sowohl die Ausbildung der allgemeinen Geschichte als die ihrer selb-
ständig gewordenen Tochterwissenschaften hat in den letzten hundert
Jahren die stärksten Impulse von Deutschland aus erhalten. In Niebuhr
und Ranke feiert man heute in der ganzen Welt die Begründer der
modernen Historie, in Savigny, Eichhorn und Waitz die der Rechts-
geschichte, in Böckh, Arnold, Maurer, Nitzsch die der Wirtschafts-
geschichte, während Fr. List, Roscher, Hildebrand und Knies die er-
sten Nationalökonomen waren, welche den Einfluß der ungeheuer ge-
wachsenen Bedeutung der Geschichte auf die Nationalökonomie zum
Ausdruck brachten. In den anderen Kulturstaaten konnte diese Wir-
kung erst viel langsamer eintreten, schon weil die höhere Ausbildung
der Geschichte dort eine viel spätere war, teilweise auch weil die
Geisteswissenschaften sich dort in einer gewissen Stagnation befanden.
Es gilt dies vor allem von England, das seine große wissenschaftliche
Zeit von Hobbes und Locke bis Hume und Ad. Smith gehabt, das von
1780 ab einige Menschenalter sterilen Epigonentums erlebte (vergl.
Jodl, Geschichte der Ethik II, S. 397 ff.), dessen spätere teilweise
platte nationalökonomische Bücher man im Auslande studierte, nicht
weil in England die Wissenschaft blühte, sondern die Praxis des Le-
bens wirtschaftlich den anderen Ländern voraus war. In Frankreich
war es Auguste Comte ‚der mit Nachdruck die Basierung aller sozialen
Studien auf die Geschichte verlangte, aber lange mit dieser Forderung
isoliert stand.


Fragen wir nun, was die allgemeine Geschichte und ihre speziellen
Teile, vor allem die Wirtschafts-, Rechts- und Sittengeschichte, den
Wissenschaften vom Staate und von der Volkswirtschaft bieten, so ist
die oben schon vorweggenommene prinzipielle Antwort einfach: ein
[41] Erfahrungsmaterial ohne gleichen, das den Forscher aus einem Bett-
ler zu einem reichen Manne macht, was die Kenntnis der Wirklichkeit
betrifft. Und dieses historische Erfahrungsmaterial dient nun, wie jede
gute Beobachtung und Beschreibung, dazu, theoretische Sätze zu illu-
strieren und zu verifizieren, die Grenzen nachzuweisen, innerhalb deren
bestimmte Wahrheiten gültig sind, noch mehr aber neue Wahrheiten
induktiv zu gewinnen. Zumal in den komplizierteren Gebieten der
Volkswirtschaftslehre ist nur auf dem Boden historischer Forschung
voranzukommen; z. B. über die Wirkung der Maschineneinführung auf
die Löhne, der Edelmetallproduktion auf den Geldwert ist jedes bloß
abstrakte Argumentieren wertlos. Noch mehr gilt dies in bezug auf die
Entwickelung der volkswirtschaftlichen Institutionen und Theorien, so-
wie auf die Frage des allgemeinen wirtschaftlichen Fortschrittes. Und
deshalb hat Knies recht, wenn er sagt, die Befragung der Geschichte
stehe mitten im eigensten Berufe der Nationalökonomie. Und der er-
heblichste Gegner der historischen Nationalökonomie, K. Menger, gibt
zu, daß die wichtigsten Erscheinungen der Wirtschaft, wie Eigentum,
Geld, Kredit, eine individuelle und eine Entwickelung ihrer Erschei-
nungsform aufweisen, so daß „wer das Wesen dieser Phänomene nur
in einer bestimmten Phase ihrer Existenz kennt, sie überhaupt nicht
erkannt hat“. Und wenn das vom Geld und Kredit gilt, so ist es noch
wahrer von der Familienwirtschaft, von der Arbeitsteilung, von der
sozialen Klassenbildung, von den Unternehmungsformen, von dem
Marktwesen, den sonstigen Handelseinrichtungen, dem Zunftwesen, der
Gewerbefreiheit, von den Formen des agrarischen Lebens, kurz von
allen jenen typischen Formen und partiellen Ordnungen, die als volks-
wirtschaftliche Institutionen bezeichnet werden, die in bestimmter Aus-
prägung von Sitte und Recht teils dauernd, teils jahrhundertelang in
gleicher Weise den Ablauf des wirtschaftlichen Lebens beherrschen.


Freilich wenn es wahr wäre, daß die Geschichte stets nur Konkretes
und Individuelles schildere, daß alles Generelle jenseits ihres Hori-
zontes liege, so könnte ihr Einfluß nur ein beschränkter sein. Aber so
sehr sie individuelle Personen, Schicksale, Völker in ihrem Werde-
gange erklärt, ebenso sehr kommt sie auf die psychischen und insti-
tutionellen, auf alle generellen Ursachen des sozialen Geschehens, deren
theoretische Zusammenfassung eben Sache der Staatswissenschaften ist.
Und so vieles in der Geschichte Staat und Volkswirtschaft gar nicht
berührt, so viele ihrer vorläufigen Resultate, zumal ihrer Werturteile,
ihrer Erklärungsversuche mehr der philosophischen Spekulation als der
exakt gesicherten Erkenntnis angehören und daher zu weiterer Ver-
wertung in anderen Wissenschaften nicht oder nur mit äußerster Vor-
sicht brauchbar sind, — die Tatsache bleibt, daß ein großer Teil alles
geschichtlichen Stoffes wirtschaftlicher und sozialer Art ist, von der
[42] Geschichte chronologisch und erzählend, von den Staatswissenschaften
theoretisch und zusammenfassend vorgeführt wird. Und wenn das
Überlieferte lückenhaft ist, von dem wirklich Geschehenen nur einen
bescheidenen kleinen Teil ausmacht, so ist doch das Wichtigste seit
Jahrtausenden aufgezeichnet worden und wächst die Kunde des Ge-
schehenen in dem Maße, als es sich der Gegenwart nähert. Was die
Geschichte uns berichtet, ist jedenfalls millionenfach mehr, als was der
Forscher heute selbst sehen und beobachten kann. Und alles, was er
aus der Gegenwart an Beobachtung indirekt aufnimmt, ist Überliefe-
rung, welche ebenso lückenhaft sein kann, welche auf ihre Glaub-
würdigkeit ebenso geprüft werden muß. Gewiß hat die Gegenwart
viele Hilfsmittel der Beobachtung, die für die Vergangenheit fehlen;
und gewiß werden wir sie benutzen und voll ausnützen, auch eventuell
auf sie uns beschränken, wo wir sicher annehmen können, daß auch in
der Vergangenheit sich die Vorgänge ganz ebenso abgespielt haben wie
heute; es kann dies z. B. von gewissen elementaren Vorgängen des
Marktes angenommen werden. Aber die Vorfrage ist immer, ob in der
Tat früher die Motive, die Handlungen, die Ergebnisse ganz dieselben
waren. Und zur Feststellung hiervon dienen uns nur das historische
Material, die überlieferte Sprach- und Literaturdenkmäler, die über-
lieferten Sitten und wirtschaftlichen Einrichtungen. Die wichtigsten
volkswirtschaftlichen Prozesse jedenfalls verlaufen in Jahrzehnten und
Jahrhunderten, haben ihre Wurzeln in einer fernen Vergangenheit, die
nur historisch aufzudecken ist.


Daß das historische Beobachtungsmaterial nur ein Teil des volkswirt-
schaftlich zu verwertenden sei, daß daneben geographisches, ethno-
logisches, statistisches, psychologisches und technisches ebenso in Be-
tracht komme, hat kein Vernünftiger je geleugnet. Und wenn K. Men-
ger neuerdings behauptet hat, es gebe „Einige“, die erklärten, „die
Geschichte der Volkswirtschaft sei die allein berechtigte empirische
Grundlage für die theoretische Forschung auf dem Gebiete der mensch-
lichen Wirtschaft“, so hat er keine Spur eines Beweises dafür anzufüh-
ren vermocht. Die psychologische und statistische Empirie ist gerade
von den historischen Nationalökonomen stets zugleich mit Nachdruck
gefordert worden.


Wenn neuerdings A. Wagner die Überlegenheit der statistischen über
die historische Methode mit Nachdruck behauptet hat und der ersteren
die Beobachtung der Massen, das systematische Vorgehen, den tieferen
Einblick in die Kausalverhältnisse nachrühmt, so ist die größere
Brauchbarkeit der Statistik für die Erfassung der Quantitäten selbst-
verständlich zugegeben; in der allseitigen Beschreibung der Massen-
erscheinungen aber ist die Geschichte doch wirksamer, ebenso in der
Erfassung typischer Formen des Gesellschaftslebens, im Eindringen in
[43] die feineren, besonders die psychischen, sittlichen und allgemeinen
Kausalitätsverhältnisse. Wagner rühmt der Statistik Vorzüge nach, die
nicht sowohl ihr als ihrer Verbindung mit Schlußfolgerungen anderer
Art und mit anderen Wissenschaften eigentümlich sind. Und wenn
man Ähnliches von der Geschichte sagen kann, so ist doch nicht zu
vergessen, daß ihr geistiger Gehalt und universaler Charakter eben viel
mehr generelle Früchte tragen und Ursachen aufdecken kann, und
daß, wenn die allgemeine Geschichte wesentlich die Überlieferung kri-
tisch prüft und zu einer Erzählung vereinigt, die Sprach-, die Rechts-,
die Wirtschaftsgeschichte notwendig weiter geht, Klassifikationen und
Reihenbildungen versucht, den Nachweis von Regelmäßigkeiten und
Ursachen mit übernimmt.


Wir haben damit die Erörterung der ersten und nächstliegenden Funk-
tion der Geschichte für unsere Wissenschaft schon überschritten, haben
das Weitere eigentlich den späteren Abschnitten zu überlassen. Da wir
dort aber nicht speziell auf die Historie und ihre Methoden zurück-
kommen wollen, so sei es erlaubt, hier gleich noch ein paar allgemeine
Worte der Würdigung anzufügen, die wir an den Gegensatz der Ge-
schichte als bloßer Methode und als Wissenschaft anknüpfen.


Die historische Methode im engeren Sinne begreift die Quellenkunde
und die kritischen Verfahrungsweisen, um die Überlieferung zu prü-
fen, festzustellen und zu ordnen; diese Methode ist der Wirtschafts-
geschichte unentbehrlich, sie kann auch direkt für bestimmte Teile der
Volkswirtschaftslehre nötig werden; aber im ganzen hat sie ihren Platz
nur als vorbereitende Hilfswissenschaft für die Ordnung des historischen
Tatsachenmaterials. Die Schilderungen der Wirtschaftsgeschichte wie
der allgemeinen Geschichte, sofern sie Volkswirtschaftliches erzählt,
sind nicht nationalökonomische Theorie, sondern Bausteine zu einer
solchen. Je vollendeter freilich die einzelne Schilderung ist, je mehr
sie die Entwickelung der Dinge erklärt, desto mehr können auch Er-
gebnisse der wirtschaftsgeschichtlichen Spezialschilderung zu Elementen
der Theorie werden, zu allgemeinen Wahrheiten führen. Die ältere sog.
historische Nationalökonomie hat vielfach zu rasch die Ergebnisse der
allgemeinen Geschichte theoretisch verwerten wollen; wir sehen heute
ein, daß mühevolle wirtschaftsgeschichtliche Spezialarbeiten erst den
rechten Boden geben, um die Geschichte volkswirtschaftlich und sozial-
politisch zu begreifen, die nationalökonomische Theorie genügend em-
pirisch zu unterbauen. Und eben deshalb datiert viel mehr von der
Epoche der wirtschaftsgeschichtlichen Monographien, als von den all-
gemeinen Wünschen Roschers und Hildebrands nach einer historischen
Behandlung der Nationalökonomie, eine neue Zeit der nationalöko-
nomischen Wissenschaft. Und dazu haben die Engländer Tooke,
Newmarch, Rogers, Ashley, die Franzosen Depping, Bourquelot, Le-
[44] vasseur, Pigeonneau, der Belgier Laveleye ebenso beigetragen wie dié
Deutschen Brentano, Bücher, Gothein, Held, Inama, Knapp, Lamp-
recht, Lexis, Meitzen, Miakowski, Schanz, Schönberg, Schmoller,
Schnapper-Arndt, Thun etc.


Neben dieser Wirkung der wirtschaftsgeschichtlichen Studien steht nun
aber eine viel allgemeinere, welche die zunehmende historische Bil-
dung überhaupt ausgeübt hat, je mehr sie in alle Gebiete der Geistes-
wissenschaften eindrang. Sie war es in erster Linie, welche die natur-
rechtliche Theorie der Aufklärung von einer egoistischen Tauschgesell-
schaft zerstörte; sie zeigte, daß die Menschen nicht immer gleich seien,
nicht in immer gleichen typischen wirtschaftlichen Formen und Gesell-
schaftseinrichtungen sich bewegen; sie schuf die Vorstellung einer hi-
storischen Entwickelung der Völker und der Menschheit, sowie der
volkswirtschaftlichen Institutionen; sie brachte die volkswirtschaftliche
Forschung wieder in den rechten Zusammenhang mit Sitte, Recht und
Staat, mit den allgemeinen Ursachen der Kulturentwickelung über-
haupt; sie lehrte die Untersuchung der Kollektiverscheinungen neben
die Schlüsse zu stellen, die vom Individuum und seinen egoistischen
Interesse ausgehen; sie lehrte neben die Analyse die rechte Synthese zu
stellen; sie gab der isolierenden Abstraktion vielfach erst die rechte
Ergänzung, indem sie deren Ergebnisse wieder als Teilinhalte eines
zusammenhängenden Ganzen zu behandeln lehrte; so bekam, was vor-
her hohle Abstraktion und totes Schema war, wieder Blut und Leben.
Die Einwirkung der historischen Studien hat so die allgemeinen
Grundlagen der volkswirtschaftlichen Theorie umgestaltet, wie sie in
der Wirtschaftspolitik vielfach zu brauchbareren Schlüssen anleitete.
Vor allem aber hat sie denjenigen praktischen realistischen Sinn be-
fördert, ohne welchen alles Schließen auf sozialem und politischem
Gebiete so leicht ins Irre führt, jenen Sinn für das Wirkliche und
Mögliche, der ebenso weit davon entfernt ist, jeden kühnen Fortschritt
für unmöglich zu halten, weil die Menschen sich nicht änderten, wie
davon, törichte Zukunftspläne zu acceptieren, in der Hoffnung, irgend
eine sozialistische Einrichtung schaffe plötzlich lauter tugendhafte un-
interessierte Menschen. —


Die vergleichende Methode ist an sich nichts der historischen For-
schung Eigentümliches. Alle psychologische, alle volkswirtschaftliche
Untersuchung beruht auf einem Vergleichen, wie schon alle tiefer-
gehende Beobachtung zur Vergleichung derselben und der ähnlichen
Erscheinungen, zur Feststellung der Identität, des Unterschiedes, der
Ähnlichkeit hinführt, wie alles Experimentieren auf Vergleichen be-
ruht. Aber allerdings hat die Anhäufung des historischen Beobachtungs-
materials ganz besonders Anlaß gegeben, die Sitten, die Rechts- und
Wirtschaftsinstitutionen, den Verlauf analoger sozialer und wirtschaft-
[45] licher Erscheinungen in verschiedener Zeit, bei verschiedenen Völkern
zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen. Es haben sich so fast
selbständige Disziplinen gebildet: die vergleichende Sitten-, Rechts-
und Wirtschaftsgeschichte. Ihre Bedeutung ist eine wachsende, obwohl
voreilige Eiferer durch Zusammenstellung von Unvergleichbarem und
nicht gehörig Untersuchtem das Verfahren teilweise in Mißkredit ge-
bracht haben. Aber wie die Vergleichung auf dem Gebiete der Psycho-
logie, der Sprachen, des Mythus, der Religionen trotz anfänglicher
Mißgriffe immer Größeres zu leisten im Begriffe steht, so wird es
auch auf dem des Rechts und der Volkswirtschaft geschehen. Die zu-
nehmende Vergleichung ähnlicher und identischer Erscheinungen er-
setzt das fehlende Experiment, läßt die Abstufung gradueller Zu-
nahme gewisser kausaler Faktoren erkennen, konstatiert die Wahr-
scheinlichkeit gleicher Ursachen, gibt allein das Mittel an die Hand, die
großen sozialen und wirtschaftlichen Bewegungen und Veränderungen
mit einiger Wahrscheinlichkeit vorauszusehen. Mögen dabei immer
wieder einzelne schiefe Analogieschlüsse mit unterlaufen, je vorsich-
tiger und kritischer auf der einen Seite verfahren, ein je größeres
Material auf der anderen dabei geistvoll benutzt wird, desto größer
wird doch die wissenschaftliche Ernte dieses aus der Geschichte ab-
geleiteten Verfahrens sein.


X.
DIE NAMEN UND BEGRIFFE, DIE KLASSIFIKATION


Ein Hauptmittel, richtig zu beschreiben, ist der Gebrauch richtiger
Namen und Begriffe. Ihre Herstellung ist daher immer eine wichtige
Aufgabe jeder Wissenschaft.


Die Volkswirtschaftslehre entnimmt, wie jede Wissenschaft, die Namen
und Worte, deren sie bedarf, dem reichen Sprachschatze der Kultur-
völker. Sie muß sich nur über das Wesen dieser gewöhnlichen Namen-
bildung klar sein: diese geht stets von anschaulichen konkreten Bil-
dern aus, gibt einer Summe gleicher oder ähnlicher Erscheinungen
denselben Namen; sie faßt dabei eine herrschende Vorstellung mit
einer Anzahl um sie gelagerter Nebenvorstellungen zusammen; der er-
steren ist das Wort entnommen, das nun in seiner Wiederholung den
Gebrauchenden selbst und seine Hörer an alle die Vorstellungen er-
innert, die zur Wortbildung geführt haben, und die um den Kern der
Hauptvorstellung gelagert sind. Um an ein oben schon gebrauchtes
Beispiel anzuknüpfen: der Wirt ist ursprünglich der Hauswirt, Land-
wirt, Gastwirt, d. h. der an der Spitze eines Haushaltes für Ernährung,
[46] Kleidung, Wohnung Sorgende. Das Wort geht nun stets leicht auf
Nebenvorstellungen über und nimmt so Nebenbedeutungen an; die herr-
schende Vorstellung wird von einer anderen verdrängt. Die Wirtschaft,
welche erst häusliche Eigenproduktion bedeutete, umschließt nun den
Nebensinn der tauschenden und Vermögen erwerbenden Tätigkeit; der
„wirtschaftlich“ Verfahrende ist der klug mit den geringsten Mitteln
den größten Erfolg Erzielende. Die Vorstellungen und die Gedanken
wachsen eben stets viel rascher und reicher als die verfügbaren Worte.
Und so haben vollends umfangreiche Sammelbegriffe und abstrakte
Worte, wie Arbeit, Gut, Kapital, Wert, einen fließenden vieldeutigen
Vorstellungsinhalt. Die Wissenschaft muß, wenn sie von ihnen Merk-
male, Folgen aussagen will ‚versuchen, ihnen möglichst Konstanz und
durchgängige Bestimmtheit zu geben; sie muß eine sichere und all-
gemeingültige Wortbezeichnung anstreben. Dieses Geschäft besorgt die
Definition, sie verwandelt Worte und Namen in Begriffe. Die Defi-
nition ist das wissenschaftlich begründete Urteil über die Bedeutung
der Worte, die wir gebrauchen; sie bezweckt die Umgrenzung des an
sich fließenden Vorstellungsinhaltes, der den gewöhnlichen Anschau-
ungen entnommen ist, die Säuberung des vulgären Sprachgebrauches
von seiner Vieldeutigkeit und Verschwommenheit. Die Wissenschaft
erreicht dadurch das große Ziel: für alle an ihrer Gedankenarbeit
Teilnehmenden eine gleiche Ordnung des mannigfaltigen Vorstellungs-
inhaltes herzustellen, eine gleiche Klassifikation der Erscheinungen
mit gleichen Grenzen zu erreichen.


Jede Definition gebraucht nun zu ihrem Geschäfte Worte, die sie
ihrerseits als definiert voraussetzt; am einfachsten ist ihre Tätigkeit,
wenn sie eine Erscheinung als Unterart einer feststehenden Klasse mit
der spezifischen Eigentümlichkeit der Art, z. B. den Personalkredit als
die Art des Kredits bezeichnet, wobei die persönliche Haft des Schuld-
ners das Vertrauen des Gläubigers erzeugt. Wo das nicht geht, löst sie
die Vorstellung in ihre Elemente und Merkmale auf und sucht durch
die Aufnahme der wesentlichen in die Definition den Begriff fest-
zulegen. In einen wie im anderen Falle ist vorausgesetzt, daß es eine
fertige wissenschaftliche Terminologie gebe, die man gebraucht. Da
dies nie ganz zutrifft, so ist jede Definition eine vorläufige, von dem
ganzen Stande der Wissenschaft und ihrer Begriffsbildung abhängige.
Zugleich ist klar, daß alle Definition eine Grenzziehung enthält, die
für verschiedene wissenschaftliche Zwecke verschieden gemacht werden
kann. Sie muß in erster Linie der Natur der Sache und der Gegen-
stände entsprechen; aber die Natur der Sache fordert bei einer Unter-
suchung, daß ich z. B. Grund und Boden zum Kapital rechne, bei
einer anderen, daß ich ihn davon ausschließe. So beruht die Begriffs-
bildung in erster Linie auf wissenschaftlicher Zweckmäßigkeit; nicht
[47] ob sie absolut richtig seien, wird man daher regelmäßig fragen, son-
dern ob die Begriffe den beabsichtigten wissenschaftlichen Zwecken
am entsprechendsten gebildet seien. —


Jede Begriffsbildung enthält eine Klassifikation der Erscheinungen.
Wenn ich die Volkswirtschaft definiere, bilde ich aus allen volkswirt-
schaftlichen Erscheinungen eine Klasse, aus allen nicht volkswirt-
schaftlichen eine andere, ohne mich aber um diese andere weiter viel
zu kümmern. Viel bedeutungsvoller wird die Klassifikation, wenn ich
eine Summe im Zusammenhang stehender Erscheinungen nach einem
bestimmten Gesichtspunkte oder Systeme so einteilen will, daß die ein-
zelnen Klassen gleiche Glieder einer Reihe bilden und die Gesamtheit
planvoll erschöpfen. Hier wird eine Anordnung und Verteilung er-
strebt, um eine Gruppe von Erscheinungen in unserem Geiste am
besten zu ordnen; es handelt sich um einen Kunstgriff, welcher die
Gewalt über unser Wissen mehren soll, um eine höchst wichtige wis-
senschaftliche Tätigkeit, die nur auf Grund genauester Kenntnis alles
einzelnen, auf Grund eines Überblickes über das Ganze, über alle Ur-
sachen und Folgen gut auszuführen ist. Da diese Voraussetzung aber
nicht leicht jemals vollständig zutrifft, so verfährt auch die klassi-
fikatorische Begriffsbildung hypothetisch und provisorisch und ist im-
mer wieder neuer Verbesserungen fähig; oft müssen neue Arten der
Einteilung an Stelle der bisher üblichen treten. Wenn man bisher Na-
tur, Arbeit und Kapital als sog. Produktionsfaktoren unterschied, so
lag dabei die Vorstellung zu Grunde, daß sie gleichwertige Ursachen-
kreise darstellen, was kaum haltbar sein dürfte, weshalb diese Klassi-
fikation künftig wohl wegfallen wird. Wenn man die Unternehmungs-
formen einteilt, so kann man nach verschiedenen Gesichtspunkten Rei-
hen bilden, wie Bücher und ich selbst es versucht haben. Man kann
unter den Klassifikationen die analytischen und genetischen unter-
scheiden. Wenn A. Wagner die gesamten volkswirtschaftlichen Erschei-
nungen in ein privatwirtschaftliches, gemeinwirtschaftliches und kari-
tatives System einteilt, so ist das eine analytische; wenn Hildebrand
Natural-, Geld- und Kreditwirtschaft trennt, wenn ich selbst Dorf-,
Stadt-, Territorial- und Volkswirtschaft als historische Reihenfolge
aufstellte, so sind das genetische Klassifikationen. Die zusammengehö-
rigen Erscheinungen bilden in der Regel von Natur Glieder einer
Reihe, die nur durch successive und unmerkliche Unterschiede getrennt
sind; zwischen den einzelnen Gliedern finden häufig so kleine Quan-
titätsunterschiede statt, daß sie erst bei einer gewissen Stärke als
Qualitätsdifferenzen erscheinen; daher ist so häufig die Grenzziehung
eine schwierige und willkürliche. Und Whewell hat nicht so unrecht.
wie Mill glaubt, wenn er sagt, man müsse die Klassen nach ausgespro-
chenen Typen bilden, alles zunächst um diesen Typus Liegende zur
[48] Klasse rechnen, aber zugeben, daß auf der Grenze zwischen den
zwei nächsten Typen stets Unsicherheit bleibe. —


Alle heutige strenge Wissenschaft geht davon aus, daß die Begriffe
Ergebnisse unserer Vorstellungen und ihrer Ordnung, daß sie nichts
Reales, keine eigenen selbständigen Wesen séien, wie die Alten es sich
dachten, wie im Mittelalter die Realisten im Gegensatz zu den Nomina-
listen es annahmen und auch heute noch einzelne Ideologen an Real-
definitionen (statt der Nominaldefinitionen) glauben und mit einer
solchen sich einbilden, das innerste Wesen der Sache durchschaut zu
haben. Es ist der Irrtum, der wähnt, mit dem rechten Begriffe des
Geistes die Psychologie, mit dem recht wirtschaftlichen Kern-
begriffe die Nationalökonomie erfaßt zu haben, aus diesem Begriffe
alles Weitere ableiten zu können; Lorenz v. Stein und andere Schüler
Hegels glaubten so verfahren zu können. Die mit reicher anschaulicher
Kraft der Phantasie Denkenden können freilich scheinbar aus solchen
Grund- und Kernbegriffen viel ableiten; aber es ist in Wahrheit nicht
der Begriff, sondern die Kraft ihrer anschaulichen Phantasie, die tätig
ist. Die abstraktesten obersten Begriffe, sagt Herbart, sind die leersten,
man wird richtiger sagen, die vieldeutigsten, die, je komplizierter eine
Wissenschaft ist, desto weniger in allgemeingültiger Weise fixiert wer-
den können9.


Wir kommen damit noch zu einem Worte der Würdigung aller Be-
griffsbildung. Wer sich erinnert, wie Jehring die Begriffsjurisprudenz
verhöhnt hat, oder wer sich die Frage vorlegt, ob in der medizinischen
Wissenschaft große Leistungen davon abhängen, ob der Betreffende
den Begriff der Krankheit richtig definiert habe, der hat sofort eine
klare Empfindung dafür, welch verschiedene Wertung der Begriffs-
bildung vorkomme und, daß diese Verschiedenheit ihre Ursachen haben
müsse. Ich glaube, man wird nun einfach sagen können: je einfachere
Gegenstände eine Wissenschaft behandelt, je weiter sie bereits in ihren
Resultaten gekommen ist, desto vollendetere Begriffe hat sie, desto
leichter kann sie ihre Gesetze und obersten Wahrheiten in ihre Be-
griffe und Definitionen aufnehmen und daraus alles Weitere ableiten.
Je komplizierter der Gegenstand einer Wissenschaft aber wird, desto
weiter ist sie von diesem Ideal entfernt. Sie bedarf natürlich stets der
Begriffe und der Klassifikation, kann in dem Gebiete der realen Einzel-
heiten da auch zu einer gewissen Übereinstimmung kommen und muß
dann ihre Wahrheiten mit ihren Begriffen in Verbindung bringen; je
allgemeiner und abstrakter aber die von ihr angewandten Begriffe wer-
den, desto weniger lassen sich von ihnen reale, genau begrenzte Fol-
gen und Wirkungen aussagen, desto mehr hat die Definition nur den
Sinn, gewisse Gruppen von Erscheinungen allgemein zu charakteri-
sieren und auszusondern, nicht den, alle wesentlichen Wahrheiten in
[49] die Definition hinein zu verlegen. In diesem Stadium befindet sich die
Volkswirtschaftslehre. Die Erörterung ihrer konkreteren Begriffe und
die Versuche der klassifikatorischen Begriffsbildung bleiben stets wich-
tig und dankenswert. Die Untersuchung ihrer allgemeinen Begriffe ist
zeitweise wichtig, um das Ziel und das Gebiet der Wissenschaft ab-
zustecken; sie war sprachlich unentbehrlich, als man in Deutschland
die englische und französische Terminologie mit der deutschen aus-
einandersetzen mußte; Hufeland, Lotz, Hermann besorgten dies Ge-
schäft. Heute ist es eine notwendige Aufgabe, die aus den Naturwissen-
schaften eindringenden Begriffe (wie z. B. Organismus, Kampf ums
Dasein, soziale Gewebezelle für Familie etc.) zu prüfen, zu fragen, ob
und wie wir sie in der Staatswissenschaft gebrauchen können, ob sie
dazu beitragen, den Bestand unserer Begriffe folgerichtig zu berei-
chern oder zu schädigen; wir müssen sie jedenfalls klar gestalten und
umgrenzen. Es ist eine Bereicherung, wenn Bücher die bisherige Hand-
werksunternehmung scheidet in Lohnwerk und Kaufwerk. Es ist auch
dankenswert, wenn ein scharfsinniger Kopf wie Fr. J. Neumann die
allgemeinen volkswirtschaftlichen Begriffe auf ihre Abweichung von
denen des Privat- und Verwaltungsrechts hin prüft. Aber dieselbe Rolle
wie in der praktischen Jurisprudenz werden die Begriffsuntersuchun-
gen bei uns doch nie spielen können; denn dort handelt es sich um die
tägliche Anwendung von Rechtssätzen, die auf Definitionen aufgebaut
sind; bei uns handelt es sich um die Erkenntnis realer Erscheinungen
und ihre kausale Erklärung. Als gänzlich verwerflich aber muß alles
erscheinen, was dem Mystizismus der Realdefinition sich nähert und
aus leeren Begriffsdefinitionen die Wahrheiten ableiten will, die uns
nur die Erfahrung bieten kann. Als nutzlose Begriffsspielerei muß es
erscheinen, wenn mit Aufwand großer Gelehrsamkeit Worte und Be-
griffe definiert werden, die im weiteren Aufbau der Wissenschaft keine
Verwendung finden. Als eine unheilvolle Verirrung endlich die Auf-
fassung, als ob die Nationalökonomie eine Wissenschaft sei, die nur
die logische Funktion weiterer Trennung der Begriffe oder bloßen
Schließens aus feststehenden Axiomen habe, wie z. B. Senior, Faucher
und Lindwurm behauptet haben, aber auch manche der neueren Theo-
retiker, z. B. Sax, sich einem solchen Standpunkte nähern.


Daß große wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiete der National-
ökonomie möglich sind, ohne daß der Autor sich viel mit Definitio-
nen abgibt, dafür ist A. Smith der beste Beweis. Daß aber viele, die
sich mit Vorliebe den Definitionen und abstrakten Begriffsunter-
suchungen hingeben, damit so wenig Ersprießliches leisten, liegt nicht
in einer Geringwertigkeit dieser Tätigkeit, sondern darin, daß vor allem
Leute ohne Weltkenntnis und ohne anschauliches Denken — das nach
Schopenhauer der Kern aller Erkenntnis ist — sich dieser Tätigkeit mit
4
[50] Vorliebe zuwenden und nun [auch] mit großer logischer Schärfe deshalb
nichts Wertvolles erreichen, weil der beste und schärfste Mühlstein aus
Spreu kein vollwertiges Weizenmehl machen kann.


XI.
DIE URSACHEN


Beobachten und Beschreiben, Definieren und Klassifizieren sind die
vorbereitenden Tätigkeiten. Was wir aber damit erreichen wollen, ist
eine Erkenntnis des Zusammenhanges der volkswirtschaftlichen Er-
scheinungen; wir wollen wissen, was stets zugleich vorkomme, welche
Erscheinungen sich stets folgen, wir wollen das Gemeinsame im Vie-
len erkennen, eine Einsicht in die Notwendigkeit der Erscheinungen
bekommen.


Diese Einsicht kann keine vollkommene sein. Das komplizierte Neben-
einander des Seienden geht auf frühere Kombinationen, auf letzte un-
erforschliche Ursachen zurück; und auch die Folge der uns nahe-
liegenden einzelnen Erscheinungen ist keineswegs immer eine erklär-
bare. Aber immerhin, je mehr wir uns darauf beschränken, das ein-
zelne aus dem unmittelbar Vorhergehenden zu deuten, desto mehr ge-
lingt uns das. Und jedenfalls steht uns als Ideal des Erkennens die Erklä-
rung aus Ursachen vor Augen. Die Naturwissenschaften haben uns ge-
wöhnt, alles Folgende aufzufassen als bedingt durch Ursachen, die wir
uns als Kräfte vorstellen. Die Welt der Erscheinungen ist uns zu einem
Prozeß geworden, der nirgend Zufall und Willkür, überall zureichende
Ursachen zeigt. Dabei handelt es sich, je komplizierter die Erschei-
nungen sind, desto häufiger nicht um eine Ursache, sondern um eine
Summe von Zuständen und Bedingungen, welche in ihrem einheit-
lichen Zusammentreffen eine bestimmte Folge haben; fehlt nur eine, so
tritt die Folge nicht ein; der vulgäre Sprachgebrauch nennt das mo-
mentane Ereignis, das zuletzt hinzutrat, Ursache, die vorhergehenden,
länger dauernden der mitwirkenden Zustände Bedingungen. Dabei ist
die Folge zwar sachlich, aber nicht logisch in der Ursache enthalten,
sie ist aus ihr nicht reduzierbar, sie ist häufig etwas ganz Neues; den
Zusammenhang stellen wir eben erst durch die Erfahrung fest. Und
nicht jedes regelmäßig Vorhergehende ist Ursache der Folge, wie die
Nacht nicht die Ursache des Tages ist, der Schutzzoll dieses oder jenes
Landes nicht notwendig die Ursache seines Wohlstandes. Nur einen
vorhergehenden Zustand, der unbedingt auf die Erzeugung einer be-
stimmten Folge hinwirkt, bezeichnen wir als Ursache10.


Als Ursachen der volkswirtschaftlichen Erscheinungen stehen sich nun
[51] die physischen und organischen einerseits und die psychischen anderer-
seits als zwei selbständige Gruppen gegenüber. Man mag über den Zu-
sammenhang des physischen und psychischen Lebens heute denken wie
man will, man mag noch so sehr betonen, daß unser geistiges Leben
vom Nervensysteme bedingt sei, man mag mit Recht alle unsere Ge-
fühle sich vorstellen als geknüpft an physiologische Vorgänge, so viel
ist sicher, daß wir aus Nervenzuständen die Koexistenz und Folge gei-
stiger Zustände nicht erklären können, daß der letzte erkennbare Zu-
stand materieller Elemente und die ersten Akkorde des Seelenlebens
sich bis jetzt und wahrscheinlich in aller Zukunft als selbständige Er-
scheinungen gegenüberstehen. Und daher sind jene Erklärungsversuche,
die aus bloßen physischen oder biologischen Elementen das Handeln
der Menschen direkt und allein ableiten wollen, sämtlich als verfehlt
oder unzulänglich zu erklären; nicht in gleichem Maße auch jene, die
z. B. aus dem Klima eine bestimmte Lebensweise, aus dieser einen
bestimmten körperlichen und geistigen Habitus, und aus diesem das
Vorwiegen bestimmter Gefühle, Überlegungen und Handlungsweisen
ableiten. Nur das muß bei allem Hinüber- und Herüberwirken natür-
licher und geistiger Ursachen auf einander festgehalten werden, daß
wir es mit zwei selbständigen Systemen der Verursachung zu tun ha-
ben, deren jedes, seinen eigenen Gesetzen folgend, selbständiger
Untersuchung der Zusammenhänge bedarf und fähig ist11.


Die Volkswirtschaft hat in Klima und Boden, in Reichtum und Ar-
mut an Mineralien, in der Lage des Landes, in Flüssen und Gebirgen,
in Flora und Fauna des Landes ein natürliches Ursachensystem unter
den Füßen; alles Tier- und Menschenleben ist bedingt durch die or-
ganischen Ursachen, ohne deren Heranziehung die einfachsten Vor-
kommnisse des Bevölkerungslebens unverständlich wären. Fast alle
wirtschaftliche Tätigkeit bezieht sich auf äußere Güter; alle Kapital-
bildung, alle Zunahme des Wohlstandes zeigt sich in Häusern, Fa-
briken und Maschinen, in Vieh und Werkzeugen, in Geld und Münze,
kurz in Objekten, welche den Naturgesetzen gehorchen, welche meist
in beschränkter Quantität vorhanden, zähl- und meßbar sind, durch
ihre Größenverhältnisse und ihre technisch physikalischen Eigen-
schaften bestimmte Wirkungen üben. Der jeweilige Stand der Tech-
nik, von geistigen Fortschritten abhängig, beherrscht doch mit äußer-
lichen Ergebnissen, mit Veranstaltungen natürlicher Art alles Wirt-
schaftsleben. Mag man in bezug auf alle diese Dinge sagen, die Volks-
wirtschaftslehre habe mehr die Ergebnisse der reinen und der an-
gewandten Naturwissenschaften anzuerkennen und zu verwerten; aber
jedenfalls muß sie diese Ursachen auch studieren, sie muß häufig die-
ses oder jenes aus diesen Gebieten auch selbständig untersuchen, schon
um überall die Grenzen der wirtschaftlichen Entwickelung zu ermes-
4*
[52] sen, z. B. festzustellen, inwieweit eine Bodenproduktion zu steigern
sei, ohne daß die Kosten zu sehr wachsen, das Plus an Rohertrag zu
sehr abnehme, inwieweit mit einem natürlichen Kohlenvorrate zu rei-
chen sei. An diese natürlichen Faktoren knüpft sich die ganze Vorstel-
lung der Volkswirtschaft als eines Systemes natürlicher Kräfte und
naturgesetzlicher Kausalität, eine Auffassung, die nicht sowohl falsch
als halbwahr ist, sofern sie nur die eine Hälfte der verursachenden
Kräfte im Auge hat.


Die in die Welt der Natur hineingebaute Welt der wirtschaftlichen
Kultur dankt ihre Entstehung doch in erster Linie den geistigen Kräf-
ten der Menschen, die sich uns zunächst als Gefühle und Triebe, als
Vorstellungen und Zwecke, weiter als Handlungen und habituelle Rich-
tungen des Willens darstellen. Sofern Psychologie und Ethik das
Ganze dieser Kräfte untersuchen und darlegen, hat man neuerdings
öfter die Nationalökonomie eine psychologische oder auch eine ethische
Wissenschaft genannt. J. St. Mill hat sie einmal als die Wissenschaft
definiert, relating to the moral and psychological laws of the pro-
duction and distribution of wealth; er hat an anderer Stelle eine Lehre
der menschlichen Charakterbildung, d. h. ein System von Folgesätzen
aus der Psychologie als Grundlage der sozialen Wissenschaften gefor-
dert. Und allenthalben tauchen ähnliche Forderungen auf. In Deutsch-
land betonte die historische Schule den ethischen Charakter der Na-
tionalökonomie. In Frankreich konstruierten die Sozialisten sich ihre
eigene Psychologie. In England hat Jevons durch Aufnahme Bentham-
scher Gedanken über das wechselnde Spiel von Lust- und Schmerz-
gefühlen der politischen Ökonomie eine freilich etwas schmale psycho-
logische Basis zu geben versucht. Und die Österreicher sind ihm in der
Ausbildung der subjektiven Wertlehre hierin gefolgt; aber wie man
auch über die von ihnen aufgestellten Sätze, daß jede Bedürfnis-
befriedigung für bestimmte Zeit das Bedürfnis in den Hintergrund
dränge, daß man mit demselben Gute Bedürfnisse verschiedener Ord-
nung befriedigen, also z. B. mit Getreide Menschen und Papageien
ernähren könne, wie man auch über die ganze Lehre vom Grenznutzen
denken mag, eine ausreichende psychologische Grundlage der National-
ökonomie ist Derartiges nicht. Ebenso wenig ist sie damit geschaffen,
daß man neben den Egoismus den Gemein- und Rechtssinn oder den
Altruismus (nach Comtes Benennung) setzt12.


Man muß einmal eine Reihe psychologisch-volkswirtschaftlicher Spe-
zialuntersuchungen anstellen und dann versuchen, die Lehre von den
wirtschaftlichen Motiven auf Grund der Psychologie und Ethik neu zu
gestalten. Anläufe dazu fehlen auch nicht. Schäffle hat versucht, die
Herbartsche Psychologie zu verwerten, Brentano hat die psychischen
Verhältnisse der heutigen und der Arbeiter älterer Zeit untersucht.


[53]

Fr. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden
Gerechtigkeit bei der Preisbildung und die Art der Betätigung des
Eigennutzes im Großverkehr einer fruchtbaren Analyse unterworfen.
Ich darf daneben meine Untersuchung über die Gerechtigkeit in der
Volkswirtschaft erwähnen, die psychologisch und sozial feststellen und
nachweisen will, wie die Gefühle der Gerechtigkeit sich zu festen Maß-
stäben verdichten und als solche zu konventioneller Herrschaft kom-
men, die volkswirtschaftlichen Einrichtungen mehr und mehr be-
einflussen und in ihrem Sinne umgestalten. Auch meine neueren
Untersuchungen über das kaufmännische Gesellschaftswesen haben ne-
ben dem Zwecke der Untersuchung gewisser Organisationsformen, den
die psychologischen Grundlagen dieser Erscheinungen klarzulegen. Mit
Hilfe zahlreicherer solcher Spezialuntersuchungen wird man dazu ge-
langen, die ganze psychologische Grundlage der Volkswirtschaft wissen-
schaftlich neu zu begründen.


Dazu gehört dann aber noch ein Allgemeineres; man muß den Er-
werbstrieb neben die anderen Triebe stellen, das Wesen der niedrigen
und der höheren Triebe überhaupt erörtern; man muß dem reinen
Triebleben seine Stelle im System psychologischer Verursachung an-
weisen, zeigen, wie die Triebe sämtlich durch die Herrschaft des In-
tellekts und der höheren Gefühle gebändigt werden. Man muß das Ver-
hältnis der Triebe zu den Tugenden und speziell zu den wirtschaft-
lichen Tugenden feststellen. Diese Fragen sind nur zu beantworten,
wenn man sich über das Wesen des Sittlichen und seine Normen, über
Sitte und Recht klar geworden ist. Und hierzu wieder ist nötig, sich
die psychischen Vorgänge in der Gesellschaft, die Entstehung überein-
stimmender Gefühle, Vorstellungen und Tendenzen des Handelns in
bestimmten Kreisen, die Wirkung von Sprache, Schrift und anderen
psycho-physischen Mitteln, durch welche geistige Kollektivkräfte ent-
stehen, klar zu machen. Das Stadium dieser Kollektivkräfte führt dann
zum Verständnis der gesellschaftlichen Kollektiverscheinungen: aus der
Übereinstimmung von Gefühlen, Trieben, Meinungen und Strebungen
innerhalb der einzelnen Rassen, Völker, Klassen, Gemeindeglieder
gehen die sozialen und staatlichen Einrichtungen hervor. Wir kom-
men so zu einer Art Stufenreihe erst einfacher individueller, dann
sammengesetzter, komplizierter psychisch-ethischer Ursachen, die alles
soziale Geschehen erklären, die für das volkswirtschaftliche Leben eben-
so maßgebend sind, wie für das rechtliche, politische, kirchliche, so-
ziale. Ihre Wirkungen sind zu einem großen Teile solche, daß sie, wie
z. B. Familie, Gemeinde, Vereinswesen, Genossenschaftswesen dem
wirtschaftlichen wie anderen Gebieten zugleich angehören. Auch die
volkswirtschaftlich und sozialpolitisch eigentlich wichtigste Tatsache,
die soziale Klassenbildung gehört diesem Gebiete an; sie ist nie wirt-
[54] schaftlich allein, sie ist nur psychologisch und im Zusammenhange mit
allen gesellschaftlichen Phänomenen zu erklären. Und so ist es auch
begreiflich, daß die psychologische und ethische Behandlung dieser
Fragen, je mehr sie sich auf empirische Beobachtung stützt, in das
mündet, was man heute Soziologie oder Sozialwissenschaft im all-
gemeinen nennt. Es ist daher, wenn man neuerdings die National-
ökonomie für einen Teil der allgemeinen Sozialwissenschaft erklärte,
im Grunde nichts anderes gemeint, als die Forderung einer Basierung
derselben auf psychologische, ethische, rechtsphilosophische Studien.
Praktisch wurde diese Forderung auch vielfach anerkannt.


Wie Aug. Comte und Herbert Spencer das volkswirtschaftliche Leben
nur ais einen Teil des sozialen behandelten, so haben die meisten neu-
eren Nationalökonomen — es sei nur an A. Marshall erinnert — sozio-
logische Elemente und Gedanken in ihre Darlegungen eingeflochten
oder sie haben, wie L. v. Stein, Schäffle, Wagner ethische, rechts-
philosophische und soziologische „Grundlegungen“ versucht. Und wenn
ich einmal sagte, die politische Ökonomie, als Sammelbegriff für eine
Reihe von Wissenschaften, werde sich umzuwandeln haben in die
Sozialwissenschaft, so konnte ich nichts anderes meinen, als daß alle
Staats- und Sozialwissenschaften gewisse gemeinsame Grundlagen und
einheitliche Ursachen soziologischer und psychisch-ethischer Art haben.
Nur unbegreiflicher Mißverstand konnte auf Grund hiervon oder ähn-
licher Aussprüche gerade denjenigen, die in Vorlesungen und Schrif-
ten stets eher für größere Spezialisierung eingetreten sind, den Vor-
wurf machen, sie wollten eine Universalwissenschaft aller volkswirt-
schaftlichen oder sozialen Disziplinen, einen Mischmasch aller Sozial-
wissenschaften unter Aufhebung der Spezialwissenschaften begründen.
Sie wollten das so wenig, als etwa Mill Psychologie und Ethik mit der
Nationalökonomie zusammenwerfen wollte, indem er letztere eine psy-
chologische und ethische Wissenschaft nannte. Meine Losung war stets:
Teilung der Wissenschaft in Spezialgebiete nach Stoff und Methode,
genaue Untersuchung einzelner Probleme, Isolierung einzelner Gegen-
stände, aber Herantreten an jeden mit einer universalen, historisch-
philosophischen und soziologischen Geistesbildung, die fähig ist, das
einzelne als integrierenden Teil des Ganzen zu begreifen Dies muß um
so mehr auf unserem Gebiete festgehalten werden, weil, wie H. Spen-
cer so überzeugend nachweist, die sämtlichen psychischen Ursachen
untrennbar in einander verwachsen sind und weil alle gesellschaft-
lichen Erscheinungen von den sozialen Trieben an bis zu den wirt-
schaftlichen und politischen Institutionen hinauf in untrennbarem Zu-
sammenhange stehen, einheitliche Ursachen haben, während die Er-
scheinungen der Natur leicht in Klassen zu scheiden sind, die getrennt
für sich untersucht werden können. —


[55]

Nach den vorstehenden Ausführungen werden wir auch zu der Kontro-
verse Stellung nehmen können, ob alle volkswirtschaftlichen Unter-
suchungen vom Individuum oder von den Kollektiverscheinungen aus-
zugehen haben. Ersteres war die Losung der älteren englischen Na-
tionalökonomie und ist neuerdings z. B. von John mit Nachdruck be-
hauptet worden, mit dem Argumente, daß nur der „Einzelfall“ der
Beobachtung zugänglich sei. Letzteres haben die Begründer der histo-
rischen Schule häufig verlangt. Aber die Fragestellung ist falsch, wenn
sie ein entweder — oder behauptet. So wenig es eine allgemeine Regel
darüber gibt, ob alle Untersuchung von der Ursache oder von der Wir-
kung auszugehen habe, so wenig darf in unserer Wissenschaft be-
hauptet werden, es sei stets vom Individuum oder stets von den Kol-
lektiverscheinungen auszugehen. Wir müssen stets vom Bekannten zum
Unbekannten fortschreiten und oft sind die psychischen Eigenschaften
und die Handlungen der Individuen, oft die bestimmter Menschen-
gruppen, oft sind Preiserscheinungen, Änderungen der wirtschaftlichen
Zustände, der Verfassung, oft andere gesellschaftliche Massenerschei-
nungen das zuerst sicher Beobachtete, von dem man dann wieder
rückwärts zu den Ursachen, vorwärts zu den weiteren Wirkungen geht.
Selbst wenn wir zugeben, daß zunächst stets der Einzelfall zu be-
obachten sei, wäre zu bestreiten, daß menschliche Individuen stets dies
seien; auch der Mensch ist ein zusammengesetztes Ganzes und Grup-
pen von Menschen, die in Übereinstimmung handeln, stellen sich auf
dem Schlachtfelde, auf dem Markte, in den sozialen und politischen
Kämpfen als „Einzelfälle“ dar. Alles einzelne ist ja bei näherer Be-
trachtung unendlich zusammengesetzt und ein Einzelfall ist stets das,
was unsere aussondernde Beobachtung durch unseren Denkprozeß als
ein Ganzes betrachtet.


Zu der obigen Behauptung von dem regelmäßigen Zusammenwirken so
vieler Ursachen haben wir ferner folgende Anmerkung beizufügen,
um nicht mißverstanden zu werden. So vorteilhaft es für den Forscher
ist, wenn er möglichst alle mitspielenden Ursachen kennt und über-
sieht, so wird doch nicht in jeder Einzeluntersuchung auf alle ein-
zugehen sein. Wir können bei vielen Spezialfragen volkswirtschaftlicher
Art ohne weiteres gewisse natürliche Komplexe von Ursachen, eine be-
stimmte Rechtsordnung und Klassenbildung, auch bestimmte psycho-
logische Typen voraussetzen und nun untersuchen, wie letztere unter
allen diesen Voraussetzungen in bestimmten Fällen und deren Modi-
fikationen handeln. Man kann z. B., wenn von Westeuropa und seinen
heutigen Großkaufleuten die Rede ist, ohne weiteres voraussetzen, diese
Leute handelten im Durchschnitt, als Klasse an der Börse und auf dem
Markte unter der Herrschaft eines Erwerbsbetriebes, wie er in einer
konkreten Schilderung definiert und beschrieben wurde. Damit wird
[56] freilich nicht vorausgesetzt, wie Mill meint, alle Handlungen aller Men-
schen flössen allein aus ihrem Verlangen nach Reichtum. Es wird
nicht, wie Rau will, vorausgesetzt, daß das Verhältnis der Menschen
zu den sachlichen Gütern ein unwandelbares sei. Auch darüber wird
man streiten können, ob es als Hypothese des privatwirtschaftlichen
Systems berechtigt sei zu sagen (wie A. Wagner es 1876 formulierte):
„Unvermeidlich muß dabei das Selbstinteresse, das Streben nach Ver-
mögen als eine konstante, selbst ganz gleich bleibende und immer
ganz gleich wirksame, also als eine absolute Größe und Kraft in allen
verkehrenden Personen angesehen werden.“ Ich glaube, man kommt
so gar zu leicht zu falschen Schlüssen; nur bestimmte Menschen haben
durchschnittlich zu bestimmter Zeit einen bestimmten Erwerbstrieb,
die Großkaufleute einen andern als die Krämer, diese als die Bauern,
Handwerker und Arbeiter; selbst innerhalb derselben Klasse bestehen
große Unterschiede; unter den zahlreichen Bankdirektoren, Kaufleuten,
Spekulanten, welche jetzt vor der deutschen Börsenenquetekommission
vernommen wurden, zeigten sich bei unzweifelhafter Übereinstimmung
in gewissen Grundzügen doch erhebliche Abstufungen in dem, was die
verschiedenen Gruppen der Vornehmeren und Feinfühligen und der
Rücksichtslosen als den natürlichen und berechtigten Erwerbstrieb, als
die selbstverständliche Ursache des geschäftlichen Handelns ansahen.
Jede Art und Abstufung des Erwerbstriebes ist so zu erklären als das
Gesamtergebnis bestimmter Gefühle, Sitten und Rechtsgewohnheiten,
die man als Klasseneigenschaft oder als Eigenschaft bestimmter Rassen
und Völker kennen und beschreiben muß. Alle Schlüsse aus dieser
Eigenschaft reichen so weit, als gleiche oder nahezu gleiche und ähn-
liche Menschen nachweisbar sind. Da diese aber in der Regel nach-
weisbar sind, so sind die Schlüsse ganz berechtigt, welche davon ab-
sehen, daß in einzelnen Fällen andere Motive mitspielen, daß kleine
Modifikationen des geschilderten psychologischen Typus vorkommen.
Man kann größere, kompliziertere Erscheinungen meist nur unter Ig-
norierung der Nebenursachen und mitspielenden Nebenbedingungen
untersuchen, muß auf die Hauptursachen sich konzentrieren. —


Wir müssen ferner noch mit einigen Worten auf den Gegensatz
der natürlichen und der psychischen Ursachen des wirtschaftlichen Ge-
schens zurückkommen. Die ersteren wirken mechanisch, die letzteren
nach den Gesetzen psychischer Motivation. Im einen wie im anderen
Falle nehmen wir eine strenge Kausalität an, sonst wäre keine Wis-
senschaft von der Gesellschaft und der Volkswirtschaft denkbar, wie
es keine Erziehung und keinen Fortschritt außerhalb der Annahme
gibt, daß durch bestimmte psychische Faktoren bestimmte Wirkungen
erzielt werden. Die unendliche Kompliziertheit aber alles psychi-
schen Geschehens, das Geheimnis, mit dem uns die Wirksamkeit gro-
[57] ßer Männer entgegentritt, das Gefühl der Freiheit, das von all unse-
rem Handeln untrennbar ist, das Dunkel, das noch über den spontanen
Willensakten herrscht, die uns so häufig ebenso als Produkte der
Vergangenheit wie als neue Kraftzentren und Ausgangspunkte höhe-
rer Entwicklung erscheinen, hat es notwendig zur Folge gehabt,
daß bis heute die Deterministen und die Verteidiger der Willensfrei-
heit in den verschiedensten Abstufungen einander gegenüberstehen.
Der Raum verbietet uns, auf diese Streitfrage hier einzugehen. Wir
können also nur sagen, außerhalb des allgemeinen Gesetzes der zu-
reichenden Ursachen gibt es keine Wissenschaft, auch nicht auf dem
Gebiete des geistigen Lebens. Aber die Ursachen der psychischen
Vorgänge sind wesentlich andere als die der mechanischen; ihre letzten
Prinzipien sind noch so wenig erklärt, daß die praktischen Wissen-
schaften wie die Volkswirtschaftslehre, diese Kontroverse der Ethik
und Psychologie überlassend, ihren Weg der psychologischen und
Detailuntersuchung unbeirrt hiervon fortsetzen müssen, nebeneinan-
der die Durchschnittsmenschen wie die außergewöhnlichen in ihrem
Wesen, in ihrer Bedingtheit und in ihren Wirkungen untersuchend.


Daß von den beiden Hauptgruppen von Ursachen bald die der physi-
schen und biologischen, bald die der psychischen je nach dem Gegen-
stand der Untersuchungen mehr in den Vordergrund tritt, ist klar.
Es ist vielleicht etwas schablonenhaft und einseitig, wenn Mill einmal
den Gegensatz so formulierte, die Produktion der Volkswirtschaft
hänge von den natürlichen, die Verteilung von den moralischen Ur-
sachen ab; jedenfalls ist auch die Produktion von den ethischen
Faktoren des Fleißes, der Arbeitsamkeit, der Unternehmungslust,
von dem Fortschritt unserer [Kenntnisse] und Ähnlichem abhängig. Ich
möchte daher lieber sagen, je höher die Kultur steigt, desto wichtiger
würden die psychisch-ethischen Ursachen, und die Unvollkommen-
heit der älteren Nationalökonomie hänge damit zusammen, daß sie
diese größere und wichtigere Hälfte der Ursachen vernachlässigt habe.
Wundt meint, wo er von dem steigenden Einflusse der sozialen Ethik
auf die Gesellschaftswissenschaften und auf den Zustand der Gesell-
schaft spricht, dieselbe werde in der Lehre von Recht und Staat schon
voll anerkannt, in der Nationalökonomie bereite sich der Umschwung
erst allmählich vor, werde aber um so gewaltiger in seinen Wirkungen
sein. Er meint damit offenbar, die Wissenschaft und das Leben werde
künftig stärkeren ethischen Einflüssen unterliegen. Eine Art Umkehr
dieses Gedankenganges ist es, wenn man mit Marx alle höhere gei-
stige Kultur, alles politische, religiöse Leben aus der Gestaltung des
wirtschaftlich-technischen Produktionsprozesses ableiten, z. B. das
Christentum oder die Reformation aus bestimmten wirtschaftlichen
Zuständen erklären will. Zusammenhänge und Wechselwirkungen
[58] zwischen den verschiedenen Lebensgebieten wird man nicht leugnen,
wohl aber die Möglichkeit einer erschöpfenden Kausalerklärung dieser
Art. Es ist erstaunlich, wie weit über die Kreise des sozialistischen
Denkens hinaus diese grob materialistische, auch schon von J. St. Mill
mit durchschlagenden Gründen in seiner Logik bekämpfte Gedanken-
richtung Anhänger gefunden hat. Sie steht methodisch kaum viel
höher als die Verirrungen Buckles und seiner Nachfolger, die aus
Nahrung, Stand der Sonne und ähnlichen Faktoren die psychischen
Eigenschaften der Menschen und die Gesellschaftsverfassung glaub-
ten direkt ableiten zu könnnen.


Als eine andere Verirrung muß es bezeichnet werden, wenn über-
haupt nicht die Frage nach Ursachen, sondern die nach Axiomen und
letzten Elementen den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erör-
terung bilden soll. Die Analogie mit der Mathematik und Geometrie
hat dazu verführt, man wollte, wie diese Wissenschaft, einige wenige
einfache Prämissen haben, aus ihnen deduzieren. In England haben
Senior, Cairneß und andere solche oberste „propositions“ aufgestellt,
ersterer bekanntlich vier Sätze, die er aber aus Erfahrung und Be-
wußtsein ableitet, Sätze, die wenigstens allgemeine Urteile über Kau-
salverhältnisse, über wirtschaftliches Handeln, Bevölkerungszunahme,
Wirkung des Kapitals und Beschränktheit der landwirtschaftlichen
Produktion enthalten. Ihre deutschen Nachfolger, hauptsächlich C.
Menger und Sax, drücken sich viel dunkler aus: ersterer behauptet,
seine letzten einfachen Elemente seien zum Teil durch empirisch-reali-
stische Analyse gewonnen, also müssen sie zum anderen Teil doch
wohl aprioristisch sein; er braucht das Wort „aprioristische Axiome“,
läßt aber nicht ganz deutlich erkennen, ob sie identisch seien mit
seinen letzten Elementen und Faktoren. Als solche bezeichnet er
die Bedürfnisse und das Streben nach vollständiger Befriedigung der-
selben. Sax nennt an einer Stelle als solche Egoismus, Mutualismus,
Altruismus, an anderer Bedürfnisgefühle, Güter, Arbeit. Es han-
delt sich also hier um möglichst abstrakte Allgemeinbegriffe, über
deren Kausalwirkung nicht einmal etwas Konkretes ausgesagt wird. Sie
sind alles eher als Axiome, d. h. von selbst jedem Menschen einleuch-
tende Wahrheiten. Es sind jedenfalls keine kausalen Urteile, die allein
die Basis einer Wissenschaft von realen Dingen bilden könnten. Die
übrige deutsche Wissenschaft (z. B. Leser, Neumann und ich) hat
daher derartige Gedanken auch durchaus abgelehnt und selbst ein
Verehrer von Menger, wie A. Wagner, hat nirgends sich in dieser
entscheidenden Grundthese mit ihm identifiziert.


Vielleicht der gelungenste Versuch, ein einheitliches Prinzip, eine
einheitliche Kraft als ausschließliche Ursache an die Spitze zu stellen,
ist der von H. Dietzel, der aus dem wirtschaftlichen Zweckstreben des
[59] Menschen nach stofflichen Gütern, das ohne weiteres mit dem Prin-
zip der Wirtschaftlichkeit im Handeln identifiziert wird, eine abstrakte
Sozialwirtschaftstheorie — im Gegensatze zur konkreten Volkswirt-
schaftslehre — abzuleiten verspricht, freilich nicht wirklich diese Ab-
leitung vollzogen hat. Aber entweder ist damit nur gemeint, man
könne bei einzelnen Preisuntersuchungen von gewissen Ursachen, die
in zweiter Linie stehen, absehen und könne eine bestimmte Art der
sozialen Klassenbildung, der Rechtsordnung, der Tauschgesellschaft
ohne Spezialuntersuchung als gegeben voraussetzen; dann ist damit
nur die Zulässigkeit eines methodologischen Kunstgriffes behauptet,
gegen den niemand etwas einzuwenden hat, sofern er richtig und
geschickt ausgeführt wird, sofern nicht durch Ignorierung des Wesent-
lichen Karikaturen der Wirklichkeit der Untersuchung zu Grunde
gelegt werden. Oder es ist die Meinung, mit dem vieldeutigen Be-
griffe der Wirtschaftlichkeit, der in Summa nichts heißt als rationales
Handeln, sei eine einheitliche, klare Ursache alles volkswirtschaft-
lichen Handelns und Geschehens aufgestellt, aus der die Klassenbildung
und Rechtsordnung sowie alle Produktion und aller Tauschverkehr ab-
geleitet werden könne. Dann handelt es sich auch bei Dietzel um einen
schiefen Rettungsversuch der älteren abstrakten Theorien, um eine
Verwechslung von Axiom und Ursache, um eine Verkennung der
wirklichen Ursachen wirtschaftlichen Handelns, um einen falschen
Analogieschluß aus Mathematik und Begriffsjurisprudenz. Diese Wis-
senschaften deduzieren aus wenigen einheitlichen logischen Prämis-
sen; die Volkswirtschaftslehre will, wie jede Wissenschaft von realen
Dingen, aus Ursachen erklären; sie kann stellenweise die Hauptur-
sachen allein berücksichtigen, die Nebenursachen beiseite lassen; aber
nie darf sie Ursache und logischen Grund verwechseln.


Die von Gossen, Walras, Launhardt, Jevons, endlich neuerdings von
R. Auspitz und R. Lieben gemachten Versuche, eine mathematische
Volkswirtschaftslehre zu begründen, fallen mit der Ableitung der
Preisgesetze aus Axiomen oder letzten Elementen insofern zusammen,
als es sich dabei stets darum handelt, mit Hilfe von graphischen Dar-
stellungen, algebraischen Formeln und Schlußreihen die Größenver-
hältnisse von Angebot und Nachfrage präzis darzustellen und aus den
möglichst einfachen Prämissen die Schlüsse in mathematischer Form
zu ziehen. Man wird nicht leugnen können, daß in dieser Form die
Ergebnisse der abstrakten Theorie sauber und präzis dargestellt wer-
den können, daß das Schlußverfahren oft ein sicheres ist, als bei ge-
wöhnlicher Darstellung, daß die Anschaulichkeit gewisser Vorgänge
dadurch erhöht wird, wenigstens für den mathematisch geschulten
Kopf. Neue bemerkenswerte Ergebnisse und Wahrheiten hat diese
ganze Methode aber nicht geliefert. Sie beruht, wenn sie mehr sein
[60] will, als eine eigentümliche Art der Illustration von Bekannten, auf
einer Verkennung der Natur volkswirtschaftlicher Erscheinungen und
ihrer Ursachen. Die Konstruktionen und Formeln verwenden Ele-
mente, die alle in Wirklichkeit nicht bestimmbar, einer Messung nicht
fähig sind, und erwecken durch Einsetzung von fiktiven Größen für
psychische Ursachen und unmeßbare Marktverhältnisse den Schein
einer Exaktheit, die nicht besteht.


XII.
DIE INDUKTIVE UND DIE DEDUKTIVE METHODE


Wie kommen wir nun aber zur Erkenntnis der einzelnen Ursachen?
Wenn B dem A regelmäßig in dem Gange der Erscheinungen folgt,
so verknüpfen sie sich als Ideenassoziation in unserer Einbildungs-
kraft; sobald ich etwas Gleiches oder Ähnliches wie B sehe, denke ich
an A, forsche nach, ob es vorhanden war. Und wenn ich eine Reibe
solcher Sequenzen richtig beobachtet habe, so nötigt mich „ein mäch-
tiger, überall wirksamer Trieb zur Generalisation“, wie Sigwart sagt,
die Verbindung für eine konstante zu halten; und wenn ich zur
festen Überzeugung von dem gleichmäßigen Gange der Erscheinungen
gelangt bin, so erkläre ich A für die Ursache von B, sobald ich A und
zwar A allein für das unbedingte und notwendige Antecedens halte.
Natürlich ist dabei die Ideenassoziation nur der Ausdruck für die
innere Zusammengehörigkeit, für die Tatsache, daß, wie Höffding
sagt, A und B Glieder desselben Prozesses, Teile derselben Totalität
sind. Das Kausalprinzip geht so nach Höffding auf das Prinzip der
Identität zurück. Das immer und notwendig in der Folge Verbundene
behandeln wir als Ursache und Wirkung. Unser Geist ist beruhigt,
wenn er die einzelne Erfahrung als einen Fall einer allgemeinen
Regel ansehen kann; er muß sich stets solche Regeln konstruieren,
die in dem Maße wahrer werden, als sie auf vollendeterer Beobach-
tung ruhen und als sie weiter angewendet in der aufgestellten Form
und Begrenzung immer wieder als wahr sich herausstellen.


Dies nennen wir das induktive Verfahren; es geht vom einzelnen aus,
von der Beobachtung und sucht dazu die Regel, die das Beobachtete
erklärt, die von einer Klasse von Erscheinungen das für wahr erklärt,
was von den beobachteten Fällen wahr ist. Je komplizierter eine Er-
scheinung ist und je unvollkommener noch unsere Beobachtung zumal
solcher zusammengesetzter Gegenstände, welche von einer Summe der
verschiedenartigsten Ursachen abhängen, desto schwieriger ist das
Geschäft, die rechte Regel zu finden, desto häufiger kommen wir nur
[61] zu Hypothesen, zu vorläufigen Vermutungen über die Regelmäßigkeit
der Folge. Aber auch sie verwenden wir nun zu weiteren Schlüssen.


In der weiteren Verwendung der durch Induktion gewonnenen Regeln
über Kausalverhältnisse besteht die Deduktion, die auf demselben
Triebe, demselben Glauben, demselben Bedürfnisse unseres Verstan-
des beruht, wie die Induktion. Was wahr in den richtig beobachteten
Fällen war, muß wahr in allen ganz gleichen Fällen sein; die Regel
wurde nur gesucht, um sie weiter anzuwenden; jede Regel sagt über
eine Klasse von Subjekten ein Prädikat, ein Handeln, eine Eigenschaft
aus; aus der Analyse des Subjekt- und Prädikatbegriffes ergibt sich,
was in der betreffenden Regel enthalten ist, wohin sie paßt, welche
Fälle ihr unterstehen, was sie erklären kann.


Es ist klar, daß das Ziel aller Wissenschaft die Gewinnung solcher
Regeln ist; über je mehr sie verfügt, desto besser. Jeder, selbst der
kleinste Schritt unseres Denkens, ist kontrolliert von den feststehenden
Wahrheiten und Regeln, über die wir verfügen, verknüpft sich mit
Folgerungen aus ihnen. Alle Beobachtung und Beschreibung und alle
neue Induktion ruht mit auf der Anwendung des gesicherten Wissens,
und jeder neuen nicht erklärten Beobachtung gegenüber ist es unser
erstes, daß wir eine Anzahl Obersätze, Regeln, Wahrheiten, die wir im
Kopfe haben, spielend probieren, ob sie das Problem erklären. Große
Fortschritte werden so in jeder Wissenschaft gemacht. Auch die letzte
Probe jedes induktiv gewonnenen Satzes liegt darin, daß er bei steter
deduktiver Verwendung sich immer wieder als wahr herausstellt.


Daraus ergibt sich, wie eng verbunden Induktion und Deduktion sind.
Das Schlußverfahren, das der Induktion zu Grunde liegt, ist, wie
Jevons, Sigwart und Wundt gezeigt, nichts als die Umkehrung des
in der Deduktion verwendeten Syllogismus. Seit Jahren pflege ich
den Studierenden zu sagen, wie der rechte und linke Fuß zum Gehen,
so gehöre Induktion und Deduktion gleichmäßig zum wissenschaft-
lichen Denken. Ich habe stets betont, daß, wenn wir schon alle
Wahrheit besäßen, wir nur deduktiv verführen, daß aller Fort-
schritt der Induktion uns deduktiv verwertbare Sätze bringe, daß
die vollendetsten Wissenschaften am meisten deduktiv seien. Wenn
daher neuerdings mehrfach behauptet wurde, diejenigen, welche heute
im Gegensatz zu Mill, Cairneß und Menger die stärkere Benutzung
der Induktion verlangten, wollten alle Deduktion ausschließen, so ist
das weder für mich noch für irgend einen anderen, der eine klare
Vorstellung über die Methoden der Logik hat, zutreffend. Der in der
Literatur über Gebühr aufgebauschte Streit dreht sich nur darum, in
welchem Maße die Deduktion in der Volkswirtschaftslehre ausreiche,
wie weit unsere Wissenschaft schon sei, welchen Schatz wahrer Kau-
salurteile sie schon besitze oder aus anderen Wissenschaften, haupt-
[62] sächlich aus der Psychologie, entlehnen könne. Wer die politische
Ökonomie für eine nahezu fertige hält, wie die englischen Epigonen
A. Smiths, für den ist sie natürlich eine rein deduktive Wissenschaft.
Buckle in seiner selbstzufriedenen Aufgeblasenheit erklärte: „Die
politische Ökonomie ist so wesentlich eine deduktive Wissenschaft als
die Geometrie.“ Überraschend ist nur, wenn Leute, die die geringe
Ausbildung unserer Wissenschaft einsehen, ähnlich sprechen. Sie den-
ken dann ausschließlich an die einfacheren Probleme und an die aus-
gebildeteren Teile unserer Wissenschaft, an die Tausch-, Wert- und
Geldlehre, wo die Deduktion aus einer oder einigen psychischen Prä-
missen die Haupterscheinungen erklären kann. Wer die komplizier-
teren Phänomene studiert, z. B. nur die sozialen Fragen, der wird klar
erkennen, wie sehr er hier noch der Induktion bedarf. Am einfachsten
ist der heute herrschende Streit zwischen den sog. Anhängern der
Deduktion und denen der Induktion aus der Geschichte unserer
Wissenschaft zu erklären. Es war natürlich, daß man im 18. Jahr-
hundert zunächst versuchte, von einzelnen beschränkten Erfahrungen
und unter Zuhilfenahme anerkannter psychologischer Tatsachen de-
duktiv soweit als möglich zu kommen; jede jugendliche Wissenschaft
verfährt zunächst so; erst nach und nach konnte die Erkenntnis der
unzureichenden Voraussetzungen sich Bahn brechen; und erst als man
das Falsche oder Schiefe der voreiligen Generalisationen einsah,
konnte die Forderung einer umfassenderen Anwendung der Induktion
entstehen. Oder vielmehr die Forderung umfassenderer und strenge-
rer Beobachtung und Beschreibung, wie sie für Induktion und Deduk-
tion gleich notwendig ist13.


Je nach persönlicher Anlage und Studium, je nach den behandelten
Problemen und Fragen, nach dem engeren oder weiteren Umkreise,
auf den sich die untersuchten Gegenstände erstrecken, stellen sich
die einzelnen Forscher auf die eine oder die andere, auf die Seite der
alten oder der neuen Richtung, oder suchen zwischen beiden zu ver-
mitteln. In eigentümlich widerstreitender und daher Verwirrung stif-
tender Weise hat letzteres schon J. St. Mill getan, auf den sich daher
die entgegengesetzten Parteien gleichmäßig berufen können. Der
feine, so sehr selten scharfsinnige und gebildete, aber ebenso anpas-
sungsfähige und schwankende, sich so häufig um die ganze Windrose
drehende Geist hatte, als 20—23-jähriger ganz von der abstrakten und
radikalen Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts und des unhistorischen
Bentham erfüllt, welt- und geschäftsunkundig die Losung ausgegeben,
die Nationalökonomie sei eine rein deduktive Wissenschaft, weil sie
keine Experimente machen und aus dem Wunsche nach Reichtum ihre
wesentlichen Sätze als hypothetische Wahrheiten ableiten könne.
Wenige Jahre nachher lernte er A. Comte kennen, der nur eine histo-
[63] rische und induktive Behandlung zulassen will. Auch sonst drangen die
Ideen des 19. Jahrhunderts, wie er es selbst nennt, mehr und mehr
auf ihn ein und modelten alle seine Vorstellungen trotz seines Wider-
strebens nach und nach um und in seinen Hauptschriften, hauptsäch-
lich in seiner Logik, ist nun eine wunderbare Mischung von sich
gänzlich widersprechenden Thesen über die Methode der National-
ökonomie und der Sozialwissenschaften. Jevons urteilt kaum zu hart,
wenn er sagt, in jedem Hauptpunkte habe er drei bis sechs miteinan-
der unverträgliche Meinungen zur selben Zeit. Seine ursprüngliche An-
schauungen liegen aber immer noch am auffälligsten zu Tage und an
sie halten sich wesentlich heute noch seine deutschen Verehrer, welche
glauben, die Deduktion gegen die Invasion der induktiven Schule ver-
teidigen zu müssen.


Nachdem er gegen Benthams Interessenphilosophie mit dem Satze
polemisiert, es sei unphilosophisch, aus einigen wenigen von den Agen-
tien, durch welche die Phänomene bestimmt werden, eine Wissenschaft
auszubauen, man müsse alle Einwirkungen in das Bereich der Wissen-
schaft zu bringen suchen, lehrt er wenige Seiten nachher, die Hand-
lungen in bezug auf Produktion und Verteilung wirtschaftlicher Gü-
ter seien hauptsächlich durch das Verlangen nach Reichtum bestimmt,
und auf dieser These baue sich daher die besondere Wissenschaft der
Nationalökonomie auf. Freilich muß er gleich beifügen, eine Reihe
anderer Ursachen müsse man eben in einigen der schlagendsten Fälle
an den betreffenden Stellen der Nationalökonomie selbst einschalten,
so die Scheu vor Arbeit, das Verlangen nach kostspieligen Genüssen,
die Ursachen der Bevölkerungsbewegung; der praktischen Nützlichkeit
wegen müsse man überhaupt von der Strenge der wissenschaftlichen
Anordnung in der Nationalökonomie abstehen. An anderer Stelle fügt
er bei, was von einem Engländer gelte, lasse sich natürlich nicht von
einem Franzosen behaupten, und wo er vom Nationalcharakter ver-
schiedener Völker spricht, erklärt er, sofern dieser eine Rolle spiele, sei
eine separate Wissenschaft (wie die Nationalökonomie) nicht angezeigt,
da müßte die allgemeine Gesellschaftswissenschaft eintreten, welche
alle Umstände erörtere, die ein Volk beeinflussen; es gelte dies vor
allem in bezug auf die Regierungsform. Aber sollte in bezug auf die
Frage der wirtschaftlichen Verfassung es sich nicht ähnlich verhalten?
Die Auseinandersetzung, daß es keine wahre Induktion gebe, wo es
sich bei der Volkswirtschaft um komplizierte Ursachen und Wirkungen
handle, wiederholt er öfter; er sucht sie mit dem groben Beispiele zu
beweisen, daß die generelle Untersuchung, ob ein Schutzzollsystem ein
Land reich mache, ergebnislos sei, er übersieht nur, daß seine Frage-
stellung falsch, d. h. zu allgemein ist; spezialisiertere Untersuchungen,
wie die Serings über die deutschen Eisenzölle, Sombarts über die
[64] italienische Handelspolitik und manche ähnliche neuere Arbeiten zei-
gen, daß auf das einzelne richtig eingehende Arbeiten uns ziemlich
sicher lehren, wo Schutzzölle wohlstandhebend wirken. Natürlich bleibt
es daneben wahr, daß die Induktion schwieriger wird, je komplizierter
der Gegenstand ist, daß der Mangel an Experimenten ein Nachteil ist.
Aber mit Recht hat Keynes neuerdings darauf hingewiesen, daß auch
im Wirtschaftsleben teils direkt durch Verwaltung und Regierung ex-
perimentiert wird, teils indirekt durch verschiedene Ereignisse inner-
halb sonst gleicher Zustände etwas dem Experiment Ähnliches zu be-
schaffen ist. Außerdem aber verkennt Mill, wo er die Möglichkeit der
Induktion leugnet, daß die möglichst spezialisierte Beobachtung einer
immer größeren Zahl von Fällen und die Vergleichung derselben oder
ähnlicher Erscheinungen immer einen Ersatz des Experimentes bildet,
nur viel langsamer und umständlicher zum Ziele führt. Und an ande-
rer Stelle gibt er dies auch wieder zu. Er betont mit Nachdruck, daß
seine deduktive Methode auf einer vorausgehenden Induktion beruhe
und nachher der verifizierenden Induktion bedürfe. Wenn er auseinan-
der setzt, daß in den Gesellschaftswissenschaften annähernde Genera-
lisationen (z. B. „die meisten Menschen eines Landes, einer Klasse,
eines Alters haben die oder jene Eigenschaften“) ausreichen, so sind
solche nach ihm selbst „durch hinreichende Induktionen“ gewonnen.
Bei der Erörterung der sog. umgekehrt deduktiven oder historischen
Methode, die er von Comte übernimmt, die nichts wesentlich anderes
ist als Induktion, gibt er zu, daß man die Gesamtzustände eines Vol-
kes beobachten und schildern und daraus Regeln über Koexistenz und
Folge ableiten könne, deren letzte Erklärung man dann allerdings wie-
der psychologisch versuchen müsse. Seine Lehren von der falschen In-
duktion, von der falschen Analogie und Ähnliches sind beherzigens-
werte Anweisungen, wie man die Induktion nicht brauchen dürfe, aber
sie beweisen nicht, daß die übertreibenden Zitate aus seinen Jugend-
schriften, welche er in bezug auf die ausschließliche Berechtigung
der Deduktion für die Nationalökonomie in der Logik stehen ließ,
noch berechtigt waren.


Eine Hauptstütze endlich seiner Vorliebe für Deduktion, der Satz,
daß alle psychischen Phänomene auch in ihrer Massenwirkung aus der
individuellen Psychologie abzuleiten seien, ist nur zum Teil wahr. Ge-
wiß ist das Individuum stets der Ausgangspunkt der psychologischen
Untersuchung. Aber das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der
psychischen Strebungen gleicher und verschiedener Menschen ist eine
Sache für sich, die sich nicht durch Addieren und Subtrahieren der
Kräfte abmachen läßt. Mit Recht sagt Rümelin: „Der Gesamteffekt
vieler Individualkräfte ist nicht wie in der Mechanik eine Summe oder
ein Produkt.“ Jeder weiß, wie die psychischen Kräfte durch das Be-
[65] wußtsein der Übereinstimmung in viel stärkerer Progression wachsen,
als der Zahl der Bekenner entspräche, wie 20 Versammlungen von je
50 verständigen Leuten, die getrennt Verständiges beschließen, in
eine Versammlung vereinigt, so leicht zu unverständigen Ergebnissen
kommen, wie jede Mehrheit von Willen sich teils steigert, teils neu-
tralisiert. Kurz, so wahr der Satz ist, daß eine bereits vollendete indi-
viduelle und Massenpsychologie der Nationalökonomie die Möglichkeit
biete, sich überwiegend der Deduktion zu bedienen, so wenig reichen
bei dem jetzigen Zustande der Psychologie die vorhandenen Wahr-
heiten aus; sie sind erst zu finden und zwar teilweise mit Hilfe
psychologisch-volkswirtschaftlicher Induktionen.


Die Auffassung Mills in bezug auf diese Fragen hängt endlich zu-
sammen mit einem schiefen Bilde, das ihm in seiner Jugend kam,
als sein Vater und Macaulay sich über politische Dinge stritten und
der Sohn beklemmt von diesem Konflikt nach einem Auswege suchte.
Er kam zu dem Schlusse, sein radikal doktrinärer Vater wolle gesell-
schaftliche Fragen geometrisch behandeln, der historisch auf die Er-
fahrung sich berufende Macaulay aber behandle sie chemisch, d. h. er
behaupte, daß aus der Verbindung zweier Ursachen gesellschaftliche
Folgen ganz neuer Art sich ergeben, wie in der Chemie aus zwei Ele-
menten ein neuer Stoff entstehe, dessen Eigenschaften mit denen
der Elemente nichts zu tun haben. Beides sei falsch; man müsse nicht
geometrisch oder chemisch, sondern physikalisch verfahren. Und an
diesem schiefen Bilde von der chemischen und physikalischen Metho-
de der Gesellschaftswissenschaften hat er nicht bloß zeitlebens festge-
halten, sondern er hat auch den kühnen Satz beigefügt, die Leube,
welche über Politik urteilten, würden nicht so oft irren, wenn sie
besser mit den Methoden der physikalischen Forschung vertraut wären.
Daß ausschließlich mathematisch-naturwissenschaftliche Studien in
der Regel zum politisch-volkswirtschaftlichen Urteilen verunfähigen,
ist für mich wenigstens eine Lebenserfahrung, die außer allem Zwei-
fel steht, die in der Verschiedenheit der zu beobachtenden Erschei-
nungen, der Methoden und der vorwiegenden Denkgewohnheiten ihre
einfache Ursache hat.


XIII.
DIE REGELMÄSSIGKEITEN UND DIE GESETZE.


Der unabänderlich gleichmäßige Verlauf der Natur im Großen, die
Wiederkehr von Tag und Nacht, von Sommer und Winter, von Mond
und Sternen, wie die Wiederkehr von Hunger und Durst, von Wa-
chen und Schlafen, von Jugend und Alter, sie sind es ohne Zweifel
5
[66] gewesen, welche in der menschlichen Seele das Erinnerungsvermögen
zu bilden halfen, welche die Menschen zum Vergleich und Unterschei-
den hinleiteten und endlich zur Erforschung der Ursachen dieser
Regelmäßigkeiten hinführten, wie ja auch dieser feste und rhythmische
Gang der sich wiederholenden Naturerscheinungen für den Menschen
zum Anlaß wurde, stets wieder zu gleicher Zeit dasselbe zu tun, die
Stunden des Tages und die Tage des Jahres planvoll einzuteilen, das
Leben darnach zu gestalten.


Auch die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre heftete sich zu-
erst an die Konstatierung der Wiederkehr gleicher Erscheinungen.
Man bemerkte dieselbe Hauswirtschaft, denselben Güteraustausch, die
gleiche Einrichtung des Geldes, dieselbe Arbeitsteilung, dieselben wirt-
schaftlichen Klassen, das gleiche Zusammenwirken von Unternehmern
und Arbeitern, man entdeckte dieselbe Wiederholung von Preisbe-
wegungen, dieselben Wirkungen guten und schlechten Geldes, reicher
und armer Ernten, dieselben Regelmäßigkeiten in den Zahlen der
Geburten, der Sterbefälle, der Ehen. Und je mehr ein noch wenig ge-
schulter Verstand schon das Ähnliche für gleich hält, desto mehr war
man zunächst geneigt, überwiegend auf diese gröberen Übereinstim-
mungen und Regelmäßigkeiten zu achten, sie zu registrieren und so
in einer beschränkten Summe sich regelmäßig begleitender oder sich
regelmäßig folgender Erscheinungen das Wesen der Wissenschaft zu
sehen. Die Zusammenstellung einiger typischen Formen gesellschaft-
licher Organisation und gesellschaftlichen Verkehrs nebst den regel-
mäßigen Veränderungen und Bewegungen innerhalb dieser Formen,
all das abstrahiert aus den westeuropäischen, hauptsächlich englisch-
französischen Zuständen von 1750—1850, das war der Gegenstand
der älteren Volkswirtschaftslehre. Die Formen erklärte man nicht
näher, sondern nahm sie als gegeben und selbstverständlich an, man
bildete sich ein, sie seien als eine direkte Folge der menschlichen
Natur stets vorhanden gewesen und bei allen Völkern zu treffen. Was
man aus Ursachen erklären wollte, war wesentlich die Preisbildung und
die Einkommensverteilung zwischen Grundeigentümern, Kapitalisten
(man dachte bei diesem Worte wesentlich an die Klasse der Unter-
nehmer) und Arbeitern. Und die Regeln, die man aus der angeblichen
allgemeinen Menschennatur über Preisbildung und Einkommensvertei-
lung abgeleitet, nannte man Gesetze, man sprach vom Gesetz von An-
gebot und Nachfrage, von dem Gesetz, daß bei freiem Mitbewerbe die
Preise nach den Kosten gravitieren, vom Gesetz der Grundrente, vom
ehernen Lohngesetz, ja von den „unzähligen Naturgesetzen“ der Volks-
wirtschaft; und bald darauf nannte man jede Regelmäßigkeit von
Zahlen, welche die Statistik ergab, ein statistisches Gesetz, z. B. die
Tatsache, daß auf 16 Mädchen 17 Knaben geboren werden, daß von
[67] 100 geborenen Menschen regelmäßig bestimmte Teile in dem und dem
Alter sterben. Aus der Beobachtung der zunehmenden heutigen Staats-
ausgaben abstrahierte A. Wagner „das Gesétz der wachsenden Ausdeh-
nung der Staatstätigkeit“, und die utopischen Schilderungen einer
sozialistischen Zukunft mit zinslosem Kredit für jedermann nannte
Hertzka „die Gesetze der sozialen Entwicklung“.


Es ist klar, was man mit diesem etwas lockeren Sprachgebrauche be-
zweckte, man wollte nachdrücklich damit die Notwendigkeit des Ein-
tretens und der Wiederholung gewisser Ereignisse und Folgen betonen;
teilweise schob sich daneben, wie z. B. bei Roscher und Knies, die Vor-
stellung unter, es handle sich um vom menschlichen Willen unab-
hängige Vorgänge, also um Naturgesetze im engeren Sinne im Gegen-
satze zur psychischen Kausalität oder zur Willensfreiheit; teilweise
waltete offenbar auch die Anschauung vor, man müsse speziell die-
jenigen durch Ursachen erklärbaren Regelmäßigkeiten als Ge[s]etze
bezeichnen, bei welchen es sich im Resultate um meßbare und zählbare
Quantitäten handle. Jedenfalls war der Mehrzahl derer, die von „un-
zähligen Gesetzen der Volkswirtschaft“ sprachen, der strengere Sprach-
gebrauch, wie er sich in der Logik ausgebildet hatte, nicht bekannt;
man freute sich, dutzendweise die Gesetze auf dem Wege auflesen
zu können, bedachte nicht, daß auch in den heute vollendetsten Wis-
senschaften nur wenige wirkliche Gesetze bis jetzt entdeckt wurden,
daß jede solche Entdeckung als eine seltene epochemachende Tat ge-
feiert wurde.


Freilich ist es in gewissem Sinne nur eine Sache der Konvention, ob
man die Konstatierung von Eigenschaften und Merkmalen, die Wie-
derholung bestimmter Regelmäßigkeiten und Formen ein Ge[s]etz nen-
nen will, ob man jeden vermuteten oder nachgewiesenen Kausalzu-
sammennhang so heißt, oder nur den, dessen kausale Kräfte eine
zahlenmäßige Messung ihrer Wirksamkeit gestatten. Aber sowohl im
Interesse eines festen Sprachgebrauches und des Anschlusses an die
heutige Logik und Wissenschaftslehre überhaupt, als im Interesse kla-
rer Vorstellungen über das Wesen volkswirtschaftlicher Kausalität und
Notwendigkeit ist es doch besser, diesen lockeren und verschwimmen-
den Sprachgebrauch aufzugeben. Man hängt durch das Mäntelchen des
„Gesetzes“ Behauptungen einen Schein der Notwendigkeit um, den
sie nicht besitzen, oder gibt niedriger stehenden Wahrheiten den Rang
höherer und täuscht dadurch denjenigen, der sie weiter anwendet14.


Allerdings ist nun die heutige Wissenschaftslehre auch nicht ganz
einig über die Frage, was ein Gesetz im strengen Sinne des Wortes
sei. Aber über vieles ist sie sich doch klar, was bislang in unserer
Wissenschaft häufig übersehen wurde. Wir wissen heute, daß ur-
sprünglich bei den Griechen der Begriff des Gesetzes dem mensch-
5*
[68] lichen Handeln und den sie regulierenden sozialen Satzungen entnom-
men wurde, daß man dann unter Vermittelung religiöser Vorstellungen
von göttlichen Gesetzen sprach, und daß endlich, indem man die Na-
tur als ein lebendiges Ganzes auffaßte, der Begriff des Gesetzes auf
ihre Regelmäßigkeiten übertragen wurde. Und als man in der neueren
Zeit nun alles Geschehen, das natürliche wie das geistige, als einen gro-
ßen einheitlichen Zusammenhang zu begreifen begann, der in strenger
allgemeingültiger Form von Ursachen beherrscht wurde, gelangte man
zu der heute vorherrschenden Fassung und Vorstellung des Gesetz-
begriffes: wir benennen nicht mehr empirisch ermittelte Regelmäßig-
keiten so, sondern nur diejenigen, deren Ursachen wir genau festge-
stellt; und diese Genauigkeit gilt uns vor allem gesichert, wenn wir
die Wirkungsweise der kausalen Kräfte zahlenmäßig gemessen haben.
Und allgemein nennen wir im Gegensatze zu wirklichen Gesetzen die
Regelmäßigkeiten der Folge, deren Erklärung wir noch nicht oder nur
vermutungs- und teilweise geben können, empirische Gesetze, wobei
freilich die Grenze zwischen beiden zweifelhaft ist, da die Erkenntnis
des Kausalzusammenhanges verschiedene Stadien durchlaufen kann.
Als exakte Gesetze haben die Naturforscher begonnen die zu bezeich-
nen, deren Wirksamkeit auf einen genauen numerischen Ausdruck
gebracht werden kann. Das Ziel aller Auffindung von Gesetzen ist die
[Zurückführung] alles Komplizierteren auf ein Einfacheres; aus je
weniger obersten Gesetzen er alles ableitet, desto stolzer darf sich der
menschliche Intellekt fühlen. Der praktische Zweck ist die Voraussa-
gung und die damit erreichte praktische Herrschaft über die Dinge.


Aber auch wo wir vollendete und exakte Gesetze besitzen, wie in der
Astronomie und der Physik, ist die Voraussagung keine absolute, da wir
häufig nicht in der Lage sind, alle Daten uns zu verschaffen, die
Reihen der Kausalität rückwärts nicht sehr weit zu verfolgen imstande
sind, die ursprüngliche Anordnung der Elemente nicht kennen. Auch
die vorherzusehende Regelmäßigkeit der Erscheinungen ist nie eine ab-
solute, wenigstens wo es sich um kompliziertere, vor allem um biologi-
sche Gegenstände handelt. Kein Tier, kein Baum wiederholt sich in
absolut gleicher Form; wie sollten sich da menschliche Ereignisse und
Zustände in vollendeter Genauigkeit wiederholen? Aber das schließt
die Regelmäßigkeiten in der typischen Form, in den entscheidenden
Grundzügen nicht aus, und eben die suchen wir zu erkennen und
durch Gesetze zu erklären. Und noch weniger schließt das aus, daß
dieselben Ursachen dieselben Folgen haben. Wenn Knies daher sagt,
so oft man volkswirtschaftliche Verhältnisse verschiedener Zeiten und
Länder vergleiche, so handle es sich nicht um Gesetze eines absolut
gleichen Kausalnexus, sondern um Gesetze der Analogie, so ist das
ein etwas schiefer Ausdruck für die einfache Wahrheit, daß die psychi-
[69] schen Ursachen in steter Entwickelung und Umbildung begriffen in
verschiedenen Zeiten und Ländern soweit verschiedene wirtschaftliche
Formen und Erscheinungen erzeugen müssen, als sie selbst sich ge-
ändert haben. Nicht die Wahrheit, die Knies aussprechen wollte, war
falsch, sondern sein Sprachgebrauch in bezug auf das Wort „Gesetz“.


Man hat überhaupt gezweifelt, ob es nicht richtig sei, auf dem Boden
des volkswirtschaftlichen und staatswissenschaftlichen Geschehens, noch
mehr auf dem der historischen Ereignisse, den Begriff des Gesetzes,
wie ihn die Naturwissenschaften formuliert haben, ganz fallen zu lassen.
Und das ist jedenfalls richtig; wenn man Gesetze nur da anerkennen
will, wo man meßbare Ursachen erkannt hat, so gibt es kaum wirt-
schaftliche und soziale Gesetze. Selbst wo relativ sehr konstante und
einfache psychische Ursachen in ihrem Zusammenwirken mit fest
umgrenzten Naturtatsachen Ergebnisse uns vorführen, die sich in
Zahlen ausdrücken, wie z. B. in den Preisen, da können wir doch nicht
davon reden, daß die das Gesellschaftsleben verursachenden Triebe
hiermit in ihrer Wirksamkeit gemessen seien; denn viel häufiger
sind wechselnde Ernte-, Produktions- und andere derartige Verhältnisse
die Ursache der Preisveränderung und nicht wechselnde psychische
Ursachen. Auch wer Gesetze ausschließt, wo nicht einfache letzte
Elemente als Ursachen erkennbar sind, wird leicht zu ähnlichem Re-
sultate kommen. Nur ist klar, daß, wer so echte und wirkliche Gesetze
leugnet, damit doch empirische zugeben kann; und daß, wer den Aus-
druck vermeidet, damit nicht leugnet, daß wir ein großes Gebiet von
Gesetzmäßigkeit, von erkannten Ursachen vor uns haben, daß eine
Summe von allgemeinen Wahrheiten und Urteilen, von Theorien hier
möglich sei; er wird auch zugeben, daß manche derselben weit über
das empirische Gesetz hinausgehen, sich wirklichen Gesetzen nähern,
und daß deshalb der gewöhnliche Sprachgebrauch, sofern er nicht zu
locker jede regelmäßige Tatsache ein Gesetz nennt, wohl begreiflich
und angebracht ist.


Wir haben oben schon erwähnt, daß man mit besonderer Vorliebe die
Theorien über die Preisbildung Preisgesetze nannte und bis heute ist
das üblich. Böhm-Bawerk klagt elegisch, daß einzelne diesen Sprach-
gebrauch aufgeben. Fr. J. Neumann hat in geistreicher und scharf-
sinniger Weise versucht, nachzuweisen, daß gewisse psychische Ur-
sachen — vor allem der Eigennutz — in der Zeit der ausgebildeten
Geld- und Verkehrswirtschaft bei großen Klassen der Gesellschaft so
gleichmäßig sich gestalten, in ihrer Wirksamkeit als gesellschaftliche
Macht die wirtschaftlichen Vorgänge so gleichmäßig und mechanisch
beherrschen, daß man deshalb hier wirtschaftliche Gesetze annehmen
könne „als den Ausdruck für eine infolge der Macht wirtschaftlicher
Zusammenhänge aus gewissen Motiven sich ergebende regelmäßige
[70] Wiederkehr wirtschaftlicher Erscheinungen.“ Die so sich ergebenden
Gesetze würden — sagt er — allem Erwarten nach lange die Basis
bleiben, auf die gestützt es wirtschaftlicher Einsicht gelingen könne,
die kommenden Dinge vorauszusehen und drohenden Gefahren die
Spitze zu bieten. Er hat gewiß recht; und wenn, was er so nennt,
keine exakten Gesetze sind, so sind sie doch wesentlich mehr als em-
pirische Gesetze im Sinne der bloßen Regelmäßigkeit. Es sind Genera-
lisationen mit einer Erklärung des Warum, die, aus einem bestimmten
Kulturzustande für bestimmte Klassen abgeleitet, für sie und ihre
Zeit unbedingte Gültigkeit haben. Aber das genügt zunächst und ist
von unendlichem Werte.


Je mehr man überhaupt die Untersuchung einschränkt auf einen be-
stimmten wirtschaftlichen Kulturzustand und diesen vorläufig, was
sicher ein erlaubter methodologischer Kunstgriff ist, als stabil an-
nimmt, desto leichter wird man dazu kommen, die wichtigsben und
vorherrschenden psychischen und anderweiten Ursachen richtig zu
fassen und aus ihnen typische Formen der Organisation abzuleiten und
die elementaren, typisch sich wiederholenden Vorgänge des wirtschaft-
lichen Prozesses zu erklären. Man wird auf diese Weise mit etwas
gröberen oder feineren, ungefähren Generalisationen ausreichen, wel-
che Nebenumstände und kleine Modifikationen beiseite lassen. Ob man
sie Gesetze oder hypothetische Wahrheiten nenne, sie sind, in richtiger
Begrenzung gebraucht, das große Instrument der Erkenntnis und die
Stützen jeder guten Staatspraxis und Verwaltung.


Aber sie sind nicht letzte Wahrheiten und sie ruhen auf der Fiktion
eines stabilen Kulturzustandes. Es gilt, neben ihnen nun die weitere
und tiefere Untersuchung der sich ändernden Ursachen und der Ver-
änderungen aller volkswirtschaftlichen Formen und Vorgänge durch-
zuführen. Dazu gehört jedenfalls dreierlei: 1. Man untersucht die
Umbildung der psychologischen Ursachen in Zusammenhang mit den
ethnologischen und Klassenunterschieden; man sucht festzustellen, wie
demgemäß auch das wirtschaftliche Handeln der Menschen ein ande-
res wird oder werden kann; was man so findet, wird man besser nicht
psychologische Gesetze nennen; man wird passender diesen Titel für
die elementaren psychologischen Wahrheiten aufsparen, aus denen
man die erwähnten psychologisch-historischen Änderungen ableitet.
2. Man sucht im einzelnen festzustellen, welche Formen der volkswirt-
schaftlichen Organisation vorkommen und wie sie auseinander ent-
stehen; man konstatiert, wie die Formen der Arbeitsteilung, die Unter-
nehmungsformen, die Verkehrsformen, die Formen der Finanz, der
Steuern sich folgen, wie sie regelmäßig bestimmten anderen Gestal-
tungen des politischen und sozialen Lebens parallel gehen; es sind zu-
nächst empirische Gesetze, die man so erhält; sie werden in dem Maße
[71] mehr wie das, als man die Ursachen der Umbildung teilweise oder
erschöpfend auffindet. Man nannte sie bisher häufig „Entwicklungs-
gesetze“. Die ältere historische Nationalökonomie hat das Ziel erkannt,
die neuere Wirtschaftsgeschichte hat begonnen das Material zu sam-
meln und zu interpretieren; je mehr es in Zusammenhang gebracht
wird mit den psychologischen und nationalökonomischen Wahrheiten,
die wir schon besitzen, desto wertvoller ist der Bestand der so er-
worbenen Sätze und Generalisationen. 3. Man kann endlich versuchen,
eine allgemeine Formel des wirtschaftlichen oder gar des allgemein
menschlichen Fortschrittes aufzustellen; man kommt damit in das
Gebiet der Geschichtsphilosophie, der Teleologie, der Hoffnungen
und Weissagungen; auf je breiterer Erkenntnis sich ein solcher Ver-
such aufbaut, desto Wertvolleres kann er bieten. Für das praktische
Handeln werden stets wieder solche kühne Synthesen notwendig sein
und man wird es den echten Propheten der Zeit nicht verwehren kön-
nen, wenn sie glauben, „das Entwickelungsgesetz“ gefunden zu haben.
Herbert Spencer und die Entwickelungstheoretiker, Mill und Aug.
Comte haben solche zu formulieren versucht, wie die Sozialisten und
die Manchestermänner. Von dem, was die Naturforscher echte Ge-
setze nennen, wird alles derartige stets weit entfernt bleiben. Und
auch unter die empirischen Gesetze wird man solche Versuche kaum
einrechnen können. Das, was man etwas voreilig Gesetze der Geschichte
genannt hat, waren entweder derartige, oft sehr zweifelhafte Genera-
lisationen, oder es waren einfache, uralte psychologische Wahrheiten,
aus denen man glaubte, große Reihen des geschichtlichen Geschehens
erklären zu können. Und daher ist der Zweifel ein so berechtigter, ob
wir heute schon von historischen Gesetzen sprechen können und
sollen.


Indem ich damit die kurzen Ausführungen über die Methode der
Volkswirtschaftslehre schließe, will ich nur mit zwei Worten kurz
meine Grundanschauungen resümieren und vorher noch die Entschul-
digung beifügen, daß der Raum, auf den sich diese Ausführungen be-
schränken sollten, hauptsächlich in Nebenpunkten zu summarischer
Kürze, ja zur Beschränkung auf Andeutungen und zu Behauptungen
nötigte, für welche ein eingehender Beweis nicht geliefert werden
konnte.


Auf zwei Wegen, die beide in ihrer Art gleich notwendig und heilsam
für uns sind, sucht das menschliche Denken die Welt zu begreifen: es
macht sich — natürlich auf Grund der zur Zeit möglichen Beobach-
tungen und Wahrnehmungen — ein Bild des Ganzen — des Ganzen
der Welt, der Geschichte, des Staates, der Volkswirtschaft, der Gesell-
[72] schaft, der Menschenseele; daraus entspringen unsere Ideale, von hier
aus empfängt unser Handeln seine Impulse und Zwecke; hier liegt
die Wurzel für alle religiösen, ethischen, politischen, nationalökono-
mischen Systeme; hier entspringt die Weltanschauung und das Lebens-
ideal, die jeden Menschen im Innersten beherrschen, die seinen Zu-
sammenhang mit dem All und der Gottheit bestimmen. Es ist der
Weg teleologischer und synthetischer Betrachtung und Ausdeutung,
der aber in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Menschen
je nach den wechselnden und sich vervollkommenden Weltbildern zu
verschiedenen Resultaten führen muß. Ist das die Schwäche dieses
Weges, so liegt seine Stärke darin, daß der Menschengeist in dieser
Weise sofort das Ganze und den großen Zusammenhang der Dinge
fassen kann; er ist dazu fähig, weil er alles geistige Geschehen von
innen her miterlebend dieses von Anfang an als ein Ganzes besitzt,
wenn auch zunächst nur in dunkeln Bildern und Ahnungen.


In die Umrisse des so begreiflich Gewordenen zeichnet nun der
trennende Verstand die Erkenntnis des einzelnen ein. Indem er die
Erscheinungen in ihre kleinen und kleinsten Teile auflöst, diese be-
obachtet und beschreibt, sie benennt und klassifiziert, kommt er mit
Hilfe der Induktion und Deduktion zur Erfassung der Ursachen, aus
denen alles einzelne entspringt. Die Ergebnisse dieser methodischen,
empirischen Einzelerkenntnis sind für jeden richtig Verfahrenden
dieselben; auf ihrem Gebiete gibt es keinen Zweifel und kein Schwan-
ken mehr. Je weiter der menschliche Geist auf diesem Wege vordringt,
desto mehr kann er auch in dem Begreifen des Ganzen zu feststehen-
den Ergebnissen kommen, desto geläuterter wird seine Weltanschauung,
werden seine Ideale werden, desto vollendeter wird er sein Handeln
einrichten können, desto richtiger sieht er in die Zukunft. Stets muß
er die beiden Wege der trennenden Analyse und der zusammenfassen-
den Synthese zu verbinden suchen. Es entspricht das seiner innersten
Geistesnatur, seinem Willen und seinem Triebe nach Erkenntnis.
„Fortschreitende Analysis eines von uns in unmittelbarem Wissen und
Verständnis von vornherein besessenen Ganzen“, sagt Dilthey, „das ist
der Charakter der Geschichte der Geisteswissenschaften.“


Das ist auch der Weg, den die Volkswirtschaftslehre zurückgelegt hat:
Von Vorstellungen und Zwecken der Familien-, Gemeinde- und
Staatswirtschaft ausgehend, ist sie auf dem Wege der Analyse des
Verkehrs und des arbeitenden Menschen, des Güterlebens und der
Ursachen des Reichtums zum Begriffe der Volkswirtschaft gekommen.
Sie ist eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes geworden,
hat sich als selbständiger Teil aus der Ethik losgelöst, seit die fort-
schreitende Einzelerkenntnis den vorläufigen Bildern des Ganzen, den
Idealforderungen und praktischen Lehren die Wage hielt. Sie ist
[73] dann der Einseitigkeit verfallen, in vorübergehenden Zeitforderungen
letzte Prinzipien, in abstrakten Teilvorstellungen das Ganze zu sehen;
in bloß logischen Schlußfolgerungen aus unvollkommenen Abstrak-
tionen wollte sie sich ergehen, während ihre Prämissen noch so
unvollkommen waren, wie ihre Erkenntnis der Wirklichkeit. Sie ist
nun auf dem rechten Wege, nachdem Geschichte und Philosophie sie
wieder zum Erfassen der Kollektiverscheinungen und des Ganzen
zurückgeführt haben, nachdem Statistik und Wirtschaftsgeschichte
ihr die Wege einer methodisch vollendeten Empirie gewiesen haben,
und die Psychologie ihr die Aufsuchung der eigentlich entscheidenden
Ursachen alles menschlichen Geschehens als unentbehrliches Ziel vor-
gesteckt hat15.


[74][106]

Appendix A Hauptwerke von Schmoller


  • 1. Zur Geschichte der nationalökonomischen Ansichten in Deutschland wäh-
    rend der Reformationsperiode. Dissertation. (Zeitschr. f. d. ges. Staatsw.
    Bd. 16, 1860)
  • 2. Die Lehre vom Einkommen in ihrem Zusammenhang mit den Grundprin-
    zipien der Steuerlehre. (Zeitschr. f. d. ges. Staatsw. Bd. 19, 1863)
  • 3. Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Stati-
    stische und nationalökonomische Untersuchungen. Halle 1870
  • 4. Die Straßburger Tucher- und Weberzunft. Urkunden und Darstellungen
    nebst Regesten und Glossar. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen
    Weberei und des deutschen Gewerberechts vom 13. bis 17. Jahrhundert.
    Straßburg 1879.
  • 5. Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften. Leipzig 1888
  • 6. Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze.
    Ebd. 1890
  • 7. Über Behördenorganisation, Amtswesen und Beamtentum im allgemeinen
    und speziell in Deutschland und Preußen bis zum Jahre 1713. (Acta Bo-
    russica, Behördenorganisation, Bd. 1). Berlin 1894
  • 8. Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre.
    Leipzig 1898. 2. Aufl. 1904
  • 9. Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirt-
    schaftsgeschichte besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahr-
    hundert. Ebd. 1904
  • 10. Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Tl. 1 ebd. 1900, Tl. 2
    ebd. 1904
  • 11. Über das Maschinenzeitalter in seinem Zusammenhang mit dem Volks-
    wohlstand und der sozialen Verfassung der Volkswirtschaft. Berlin 1903
  • 12. Charakterbilder. München und Leipzig 1913
  • 13. Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf. Heraus-
    gegeben von Luzie Schmoller. Ebd. 1918
  • 14. Zwanzig Jahre deutscher Politik 1897—1917. Aufsätze und Vorträge.
    Ebd. 1920
  • 15. Deutsches Städtewesen in älterer Zeit. Bonn und Leipzig 1922

Appendix B Schrifttum


  • 1. Heinrich v. Treitschke, Der Sozialismus und seine Gönner. Nebst einem
    Sendschreiben an Gustav Schmoller. Berlin 1875
  • 2. v. Inama-Sternegg, Schmollers Volkswirtschaftslehre. (Staatswiss. Abhand-
    lungen, Leipzig 1918).
  • 3. Reden und Ansprachen, gehalten am 24. Juni 1908 bei der Feier von
    Schmollers 70. Geburtstag. 1908
  • 4. Otto Hintze, Gustav Schmoller als Historiker. (Hist. u. polit. Aufsätze,
    Bd. IV, 1909)

[107]
  • 5. Ders., Gustav Schmoller. (Forschungen zur brandenb. u. preuß. Ge-
    schichte, 31. Bd. 1919)
  • 6. Ernst Francke, Schmoller und die Sozialreform. (Soziale Praxis, Jahrg.
    26, 1917)
  • 7. Arthur Spiethoff, Schmoller. (Schmollers Jahrbuch, Jahrg. 42, 1918)
  • 8. Ders., Die allgemeine Volkswirtschaftslehre als geschichtliche Theorie.
    (Schmollers Jahrbuch, Jahrg. 56, 1932)
  • 9. Heinrich Herkner, Gedächtnisrede auf Gustav von Schmoller. (Schriften
    des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 159, 1919)
  • 10. Ders., Zur Stellung Schmollers in der Nationalökonomie. Schmollers Jahr-
    buch, Jahrg. 47, 1924)
  • 11. Georg Friedrich Knapp, Gustav v. Schmoller (Einführung in einige
    Hauptgebiete der Nationalökonomie.) München und Leipzig 1925
  • 12. Joseph Schumpeter, Gustav von Schmoller und die Probleme von heute.
    (Schmollers Jahrbuch, Jahrg. 50, 1926)
  • 13. Carl Brinkmann, Gustav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre. Stutt-
    gart 1937
  • 14. Gustav v. Schmoller und die deutsche geschichtliche Volkswirtschafts-
    lehre, Festgabe zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages, dargebracht von
    Albrecht, E. v. Beckerath, Boese, Brinkmann, Clausing, Hartung, Kromp-
    hardt, Lütge, Menzer, Mönch, Ritschl, Roeßle, Rothacker, Sombart, Skal-
    weit, Spiethoff, Vleugels, Weippert, Wessels, v. Wiese, Zimmermann, v.
    Zwiedineck-Südenhorst (Schmollers Jahrbuch, Jahrg. 62, 1938). Berl. 1938
[[108]]

Appendix D

VITTORIO KLOSTERMANN FRANKFURT AM MAIN

[]
Notes
1.
Die wissenschaftliche Richtung, welche neuerdings an Stelle des Begriffs
Volkswirtschaft den der Sozialwirtschaft setzen oder neben der Volkswirtschaft
eine Sozialwirtschaft annehmen will (hauptsächlich Dietzel), verfolgt zwei
Zwecke: sie will mit dem Begriff andeuten, daß die wirtschaftlichen Be-
ziehungen der Einzelwirtschaften vielfach heute über die Grenzen der Staaten
hinausgehen, und sie will das Wirtschaftsleben ohne den Einfluß der Staats-
gewalt. der staatlichen und rechtlichen Institutionen sich vorstellen. Sie ope-
riert mit einer abstrakten vom Staat losgelösten Sozialwirtschaft, nimmt aber
dabei als Voraussetzung neben dem abstrakten sog. Wirtschaftsmenschen eine
fiktive Rechtsverfassung, d. h. absolute wirtschaftliche Freiheit, unbedingt
freie Konkurrenz an. Eine solch neue Begriffsbildung scheint mir nicht nötig,
nicht zweckmäßig, sie hat jedenfalls in Deutschland nicht viel Nachfolge ge-
funden. Und darin liegt für mich das Kriterium der Berechtigung oder Nicht-
berechtigung neuer von einzelnen Forschern vorgeschlagenen Begriffen.
Der bei den Amerikanern, teilweise auch bei den Engländern angenom-
mene Begriff „Economics“ an Stelle der Volkswirtschaft hat ähnlichen Ur-
sprung. Er wird von den abstrakt deduktiven Theoretikern bevorzugt, welche
nur den Mechanismus der Wertbildung und der Güterverteilung im Auge ha-
ben. Er scheint mir noch wesentlich unzweckmäßiger, weil er gleichsam auch
die handelnden Menschen, die Gesellschaft, die soziale Seite des wirtschaft-
lichen Prozesses ausscheiden will, indem er die Wirtschaft als bloßen Güter-
prozeß zur Bezeichnung verwendet. Es ist ein Rückfall auf Ricardo.
2.
Immer ist klar, daß in erster Linie praktische Unterrichtszwecke und das
Anwachsen des wissenschaftlichen Wissens zu der Teilung in den Büchern und
in den Vorlesungen geführt haben. Auch über die Frage, ob die Scheidung
häufig noch weiter gehen soll, wird in erster Linie das praktische Bedürfnis
und die Art entscheiden, wie die Vorschläge durchgeführt werden. Bis jetzt
fehlt es an Vorschlägen nicht, wohl aber an erfolgreichen Versuchen der Aus-
führung. Keynes z. B. will neben die theoretische eine normative und dann
noch eine praktische Nationalökonomie stellen; was er dafür anführt, ist fast
kindlich. Menger will vier Wissensgebiete unterschieden wissen: 1. die Wirt-
schaftsstatistik und -Geschichte; 2. die Morphologie der Wirtschaftserschei-
nungen; 3. die Theorie der Wirtschaftserscheinungen, die einerseits aus letz-
ten Prämissen (Egoismus, Bedürfnissen usw.) als allgemeingültige Gesetze ab-
strahiert, andererseits realistisch durch Beobachtung des Lebens der Gesamt-
erscheinungen der Wirtschaft gewonnen werden soll; beides will er verbinden,
während er auf die Trennung dieser beiden Methoden Wert legt; 4. die prak-
tische oder angewandte Wirtschaftswissenschaft. An anderer Stelle meint Menger
freilich noch weitergehend, neben eine Wirtschaftstheorie des Egoismus müß-
ten mehrere andere treten, die von den anderen psychologischen Ursachen
des Handelns ausgehen. Dietzel schlägt eine Einteilung in eine theoretische
und in eine praktische Sozialökonomie vor; die erstere will er scheiden in
Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie, die letztere in Wirtschaftsethik
und in Wirtschaftspolitik. Ich kann gegenüber all diesen weiteren Teilungsvor-
schlägen meine Meinung nur dahin aussprechen: Vorschläge, deren Ausfüh-
[75] rung man nicht übernimmt, sind wertlose Wechsel auf eine unbekannte Zu-
kunft.
Etwas ganz anderes und sehr wünschenswertes ist es, daß man, wo Lehrer
und Zuhörer dafür vorhanden sind, besondere Vorlesungen über Geschichte der
Volkswirtschaft, über Geschichte der Finanzen eines Staates, über Geschichte
und Methode der Wissenschaft halte, daß man aus der praktischen Natio-
nalökonomie zu groß gewordene Teile, wie Sozialpolitik, Verkehrswesen, Bank-
wesen, Agrarpolitik zu besonderen Vorlesungen ausscheide. Das geschieht schon
in umfassendem Maße z. B. in London und Paris, auf den amerikanischen
Universitäten, in Deutschland noch viel zu wenig.
3.
Neuerdings hat ein großer wissenschaftlicher Streit darüber Platz gegriffen,
ob die Naturwissenschaften einerseits, die Geistes- und Kulturwissenschaften
(wie sie Rickert nennen will) andererseits grundsätzlich ganz verschiedene
Methoden anzuwenden hätten. Da der Streit auch auf die Volkswirtschafts-
lehre, hauptsächlich aber auf die ihr so nahestehende Geschichtswissenschaft
übergriff, so muß er hier kurz geschildert werden, so wenig wir ihn auch
nach allen Seiten vorführen können.
Nachdem Dilthey dem methodologischen Gegensatz der Wissenschaften vom
Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte zu den Naturwissenschaften
scharf betont und aus der historischen Richtung der ersteren gefolgert hatte,
daß für sie die Auffassung des Individualen ebensogut einen letzten Zweck
bilde wie die Entwickelung abstrakter Gleichförmigkeiten, wurde diese Forde-
rung von Windelband und Rickert zur schroffsten Antithese erweitert. Sie
gehen von der nicht zu leugnenden Tatsache aus, daß seit zwei Jahrhunderten
die Erkenntnistheorie sich einseitig an die Naturwissenschaften angeschlossen
habe; und das habe die Folge gehabt, daß man auch die Geisteswissenschaften
nach einseitig naturwissenschaftlicher Methode habe ausbilden wollen. Sie for-
dern also eine getrennte Erkenntnistheorie für die beiden großen Gebiete der
Wissenschaften. Die Naturwissenschaften, sagt Windelband, suchen allge-
meine Gesetze, sind Gesetzeswissenschaften, die Geisteswissenschaften suchen
besondere geschichtliche Tatsachen, sind Ereigniswissenschaften; jene haben
nomothetische Denkformen und Untersuchungen, diese idiographische, noe-
tische (verstehende). Dort überwiegt die Abstraktion, hier die Anschaulichkeit.
Beide Methoden sind gleich notwendig, lassen sich aber nicht aufeinander
zurückführen.
Rickert geht im ganzen ähnliche Wege; auch ihm ist der Gegensatz zur Na-
turwissenschaft hauptsächlich die Geschichte, deren Begriff er bald in engerem
Sinne für sich, bald im Sinne der gesamten historischen Kulturwissenschaf-
ten anwendet. Über die Aufgabe der Naturwissenschaft sagt er: das Ideal
einer allgemeinen Theorie der Körperwelt ist, die anschauliche Mannigfaltig-
keit der Körper im Raume in ein übersehbares System von Begriffen zu ord-
nen. Die Welt ist im Grunde überall dieselbe. Alle Verschiedenheit und
aller Wechsel beruht auf der Bewegung eines unveränderlichen elementaren
Substrates im Raum. Diese Bewegung wird von einheitlichen Gesetzen be-
herrscht, die aufzusuchen, mathematisch zu formulieren und in ein System zu
bringen, Aufgabe der Wissenschaft ist. Die körperliche Natur ist also zu ver-
stehen als ein Mechanismus. Dagegen, sagt er, gibt es Dinge und Vor-
[76] gänge, die nicht unter der Rücksicht interessieren, in welchem Verhältnisse sie
zu einem allgemeinen Begriffe oder einem Systeme von Begriffen stehen, son-
dern die uns als anschauliche und individuelle Gestaltungen, als Wirklich-
keiten von Bedeutung sind. Es sind die geschichtlichen Vorgänge; das Material
der Geschichte können wir nie in ein System von allgemeinen Begriffen brin-
gen. Das Individuelle, Persönliche ist irrational. „Die Einteilung der Wissen-
schaften nach Natur und Geschichte ist unvollständig und erschöpfend, inso-
fern, als die empirischen Wissenschaften nur entweder mit Rücksicht auf das
Allgemeine oder mit Rücksicht auf das Besondere die Wirklichkeit betrach-
ten können.“ Die Geschichte hat eine gänzlich andere Begriffsbildung wie
die Naturwissenschaft, worauf wir unten § 15 zurückkommen. Die Idee des
Individuellen, Unteilbaren, Einzigartigen beherrscht die Geschichte. Nur die
Handlungen, die eine allgemeine Bedeutung haben, die Erscheinungen, welche
auf allgemein anerkannte Kulturzwecke bezogen werden, interessieren sie.
Ihre Begriffsbildung ist eine teleologische, gewisse bedeutsame Erscheinun-
gen als Einheit auffassende. — Rickert hat bei einer Anzahl jüngerer Sozio-
logen, Philosophen, Nationalökonomen Beifall gefunden; aber doch mit gewis-
sen Einschränkungen z. B. bei Simmel; fast leidenschaftlich ist ihm Max We-
ber gefolgt, vor allem in der schroffen Betonung, daß alle Geisteswissen-
schaft es nur mit Einzigartigem zu tun habe.
Windelband und Rickert haben nun aber selbst schon viel Wasser in ihren
Wein gegossen und sich so von ihrer ursprünglich schroffen Scheidung der
Methoden wieder merklich entfernt. Windelband erklärte 1894, er habe mit
dem Gegensatz nomothetischer und ideographischer Wissenschaften nur po-
lare Richtpunkte bezeichnen wollen, zwischen denen sich die methodische Ar-
beit zahlreicher Wissenschaften in der Mitte bewege. Rickert hält in seinem
Werke über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, an dem
er viele Jahre arbeitete, einerseits den obigen Standpunkt fest, gibt aber an-
dererseits zu, daß man die Gesellschaft und ihre Entwicklungsformen unter
allgemeine Begriffe, ihre kausale Entwickelung unter Gesetze bringen könne;
er gibt zu, daß hier oft typische Massenbewegungen und gerade nicht Einzig-
artiges den Ausschlag gebe; aber — so entschuldigt er seinen eigenen Wider-
spruch — das sei dann eben nicht Geschichte im höheren, absoluten Sinne.
Auch Weber macht einzelne solche Konzessionen. Damit ist zugestanden, daß
die Einteilung in Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaft (resp. Ge-
schichte) nicht zugleich eine Ausschließlichkeit der Methode bedinge, daß in
der letzteren neben den mit anderen Methoden anzufassenden individuellen Er-
scheinungen doch auch generelle vorhanden sind, die in ähnlicher Art, wie
die Naturwissenschaften es tun, zu behandeln sind. Das ist es, was Dilthey
immer sagte und neuestens wieder betonte.
Die Volkswirtschaftslehre gehört jedenfalls zu den Wissenschaften, welche je
am geeigneten Orte naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Me-
thoden anwenden muß. Das Falsche war, wie der Amerikaner Patten sagt,
daß die Physiokratie, die Ricardosche Schule, der neuere Materialismus sie zur
reinen Naturwissenschaft machen wollten, der Fortschritt bestand nach ihm
darin, daß A. Smith und die neuere deutsche Wissenschaft den Menschen und
die Gesellschaft in den Mittelpunkt derselben stellten; aber sie schlossen da-
mit naturwissenschaftliche Methoden, allgemeine Begriffe, Gesetzmäßigkeiten
[77] nicht aus, sie behaupteten nicht, alle Erscheinungen des wirtschaftlichen Le-
bens seien individuell und einzigartig.
4.
So verschiedene Formen der Weltanschauung und der Religion im Laufe der
Geschichte entstanden sind, so hat doch im Laufe der Jahrtausende die zu-
nehmende sprachliche und geistige, politische und wirtschaftliche Vergesell-
schaftung der Menschheit immer größere Kreise einheitlicher Religionen, zu-
letzt eine kleine Zahl Weltreligionen geschaffen, von denen alle in gewissen
Punkten, mehrere in den Hauptpunkten übereinstimmen. Freilich hat da-
neben jede große Weltanschauung und jede große Religion in ihren Anhän-
gerschaften zahlreiche individuelle Spielarten, Abweichungen, Mischformen.
Aber das hebt die Tatsache nicht auf, daß die einheitliche Natur des Men-
schen und die einheitlichen psychologischen Gesetze, die diese Prozesse be-
herrschen, immer wieder zu gleichen oder ähnlichen Lösungen der Welträtsel,
zu gleichen oder ähnlichen sittlichen Grundanschauungen je viele Millionen
von Menschen hingeführt haben. Ich komme im nächsten Paragraphen näher
darauf zurück.
5.
An dieser Stelle wird der im Vorwort erwähnte Abriß einer geschichtlichen
Darstellung der volkswirtschaftlichen Systeme angehängt. (vgl. 440—455).
6.
Freilich muß ich jetzt mit Marshall hinzusetzen: from the „Sein“, we have
to learn „das Werden“. Und: je mehr der Forscher das Werden der Ver-
gangenheit und der Gegenwart begriffen hat, desto fähiger ist er auch, über
die Zukunft und das Sollen etwas zu sagen. Aber das entschuldigt nicht
leichtfertiges Prophezeien, nicht falsche Hoffnungen, nicht die Aufstellung
unsicherer Ideale.
Hatte der Kampf zwischen der klassischen Nationalökonomie und dem Sozia-
lismus so schon früher eine Sehnsucht nach einer Wissenschaft erzeugt, die
über allen Tagesidealen stehe, so mußte das Wachsen der Partei- und Klassen-
gegensätze seit den letzten Dezennien das noch mehr tun. Fast ebenso wie die
objektive Wissenschaft nahm nämlich die Literatur zu, welche partei- und
klassengefärbt nur noch einseitige Ideale predigte, einseitigen Interessen
diente. Was war natürlicher, als daß in den letzten Jahren noch mehr als
früher der Ruf erklang: Weg mit allen Idealen aus unserer ganzen Wissen-
schaft; sie hat kein Sollen zu lehren; denn dieses muß subjektiv sein und
bleiben. Alle Weltanschauung, alles ethische Urteil, alles politische Ideal
ist aus der Volkswirtschaftslehre zu verbannen. Hauptsächlich M. Weber und
Sombart wurden die Bannerträger dieser extremen Richtung in den letzten
Jahren.
M. Weber verkündigte: „es kann niemals Aufgabe einer Erfahrungswissen-
schaft sein, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Pra-
xis Rezepte ableiten zu können. Werturteile sind subjektiven Ursprungs, daher
der wissenschaftlichen Diskussion entzogen“; und noch kräftiger erklärte er
in Wien: „das Hineinmengen eines Sollens in wissenschaftliche Fragen ist
eine Sache des Teufels.“ Und Sombart meinte, alle Entscheidung über Welt-
anschauung, Moralsystem, sittliche Werturteile stehe auf gleicher Linie wie
die Geschmacksbevorzugung der Blondinen oder der Brünetten durch die Män-
[78] ner. Warum dann nicht lieber gleich sagen, die Höherwertung edler Charaktere
gegenüber moralischen Lumpen sei dasselbe, wie Bevorzugung blauer Hals-
binden gegenüber schwarzen oder roten. Um den Bankerott unserer Wissen-
schaft durch Hineinziehung von Idealen zu beweisen, sagte Sombart: Niemand
glaube ihr mehr, weil sie gleichmäßig Freihandel und Schutzzoll lehre. Und
Sombart gehörte doch selbst zu denen, welche die wissenschaftlichen Ursachen
aufdeckten, warum in bestimmten Ländern und zu bestimmter Zeit freier
Handel und dann wieder Schutzzoll nötig und berechtigt sei.
Solche Übertreibungen können uns aber doch nicht abhalten, auch heute noch
wie 1890 zu erklären, daß in der Forderung der Bevorzugung der Unter-
suchung des Seienden gegenüber dem Predigen von Idealen ein berechtigter
Kern, zumal für bestimmte Teile unserer Wissenschaft, liege. Nur möchte
ich heute vorsichtiger als 1890 und eingeschränkter als Weber und Sombart
mich ausdrücken. Gegenüber M. Weber betone ich zunächst, daß ich ihm
recht geben würde, wenn ich — wie er — der Ansicht wäre, alle Werturteile
seien absolut subjektiv; sie können es sein, aber es gibt neben der subjektiven
objektive Werturteile, an denen nicht bloß einzelne Personen und Gelehrte,
sondern große Gemeinschaften, Völker, Zeitalter, ja die ganze Kulturwelt
teilnehmen. Wer nur an Klassen-, Partei-, Interessenurteile und -Ideale
denkt, wird Weber recht geben. Wer an den zunehmenden Sieg objektiver
Urteile über die einseitigen, sittlichen und politischen Ideale in der Wis-
senschaft und im Leben glaubt, wird nicht so verächtlich, wie er, von ihrem
Hineinragen in die Wissenschaft denken.
Wir haben damit schon angedeutet, wie Verschiedenes der gewöhnliche
Sprachgebrauch mit den Worten „sittliche Werturteile“, „Ideale“, „Seinsol-
len“ bezeichne. Wir müssen daher noch etwas weiter ausholen und fragen, wie
sittliche Werturteile im wissenschaftlichen Sinne entstehen und wie sie zu sitt-
lichen Normen werden.
Wir beginnen mit einer Bemerkung darüber, daß die sittlichen Werturteile
nur eine Art der Werturteile seien, daß die Werturteile aus den Wertgefüh-
len entstanden sind. Wertgefühle schließen sich an alle Vorgänge unseres
Seelenlebens; es sind erst Gefühle der Lust und der Unlust, dann der Billi-
gung und der Mißbilligung; sie deuten positiv und negativ das Lebensförder-
liche und das Lebensschädliche an. Sie wirken als Instinkt beim Tiere und
beim Naturmenschen; sie haben sich durch die Lebenserfahrung von Millio-
nen Jahren beim Menschen, unter Ausbildung der höheren neben den elemen-
taren Gefühlen und unter Einwirkung des denkenden beobachtenden Verstan-
des, zu Werturteilen erhoben. Die Wertgefühle wie die Werturteile können
irren; aber die Kulturentwickelung, die Arbeit aller Religionen und aller Wis-
senschaften, aller Sitte und alles Rechts hat die Wertgefühle und Werturteile
auf allen Lebensgebieten nach und nach immer mehr geläutert, zu immer
richtigeren Wegweisern des Lebens-, des Gesellschaftsförderlichen gemacht;
sie haben die Triebe und Lustgefühle in ihrem Zusammenwirken zu immer
größerer Harmonie, zu immer besserer systematischer Über- und Unter-
ordnung gebracht.
Auf allen Lebensgebieten entstanden, sind die Wertgefühle und Werturteile
die wegweisende, herrschende Macht geworden; der Mensch und die Gesellschaft
leben keine Stunde, ohne von einem Heer von Werten beeinflußt zu sein. Es
[79] gibt einen religiösen, einen sittlichen, einen rechtlichen, einen ästhetischen,
einen sozialen, einen politischen, einen wissenschaftlichen, einen wirtschaft-
lichen Wert; alle stehen in engster Wechselwirkung, alle zusammen können
wir als Kulturwerte bezeichnen; alle haben zuletzt ihren Mittelpunkt im sitt-
lichen Wert, der das für die Gesamtheit der Lebenszwecke und ihre Harmo-
nisierung zu Erstrebende andeutet, die hierfür nötigen Gefühle, Sitten, Nor-
men und Einrichtungen herbeizuführen strebt. — Der wirtschaftliche Wert
bringt das für wirtschaftliche Zwecke zu Erstrebende in die richtige schät-
zende und vergleichende Ordnung; alle wirtschaftlichen Mittel und Zwecke
sind aber zugleich die Diener und Exekutoren der höheren menschlichen indi-
viduellen und gesellschaftlichen Zwecke; und so reflektieren alle anderen Le-
bensgebiete mit ihren Werturteilen zugleich im wirtchaftlichen Wert- und
Preisurteil. Daher sagt Rickert mit Recht: „Die Jurisprudenz und die Na-
tionalökonomie werden ethische Bestandteile (er meint sittliche Werturteile)
im weitesten Sinne des Wortes entfalten.“
Das sittliche Werturteil sagt, daß eine Handlung gut sei; die Normen des
Sittlichen sind das in der Gesellschaft entstandene, in Regeln gefaßte Gute.
Das in Sitte, Recht und Moral als Durchschnittsregel gesellschaftlich fixierte
Gute entsteht, weil sonst die Mehrzahl der Menschen das Gute nicht leicht
finden und nicht leicht durchführen können. Die sittlich und geistig hoch-
stehenden Menschen bedürfen freilich solcher Regeln kaum; sie finden das
Gute in ihrer eigenen Brust; in ihrem Gewissen und haben damit innerlich
ein Recht, unter Umständen sich über die Regel wegzusetzen; nämlich dann,
wenn sie als sittliche Charaktere fest überzeugt sind, gerade mit dieser Miß-
achtung der Durchschnittsregel das Gute zu tun.
Die Völker haben je nach Rasse, erreichter Wirtschaftsstufe, geistig-sittlicher
Entwickelung Verschiedenes für gut gehalten und mit Recht. Das Gute ist
immer ein werdendes. Jede Zeit hat ihre Pflichten, ihre Tugenden, ihre
sittlichen Güter und Zwecke; auch für dei verschiedenen Volkskreise ist das
Gute nicht ein absolut Einheitliches, so wenig als für die sämtlichen Indivi-
duen. Das Gute, d. h. die vom sittlichen Werturteil verlangte Handlung ist
aber stets diejenige, welche nach Lage aller in Betracht kommenden Um-
stände, das Leben des Handelnden im ganzen mehr fördert, als das Glück
und den Vorteil der Stunde; es ist die Handlung, welche neben dem Ge-
deihen des Individuums das der Familie, der Gemeine, der Volksgenossen mit
in Rechnung zieht, ja welche zugleich Volk, Staat und Menschheit im Auge
hat. Das Werturteil stützt sich auf die höheren Gefühle neben den niedrigen,
ja auf den Sieg der höheren über die niedrigen. Das sittliche Werturteil ent-
wickelt sich historisch durch die geläuterte Einsicht in die Bedeutung und die
Folgen der Handlungen sowie der gesellschaftlichen Einrichtungen: das sitt-
liche Werturteil erwächst aus der zunehmenden empirischen Einsicht in alle
Kausalverhältnisse; die technische, hygienische, ökonomische, gesellschaftlich-
politische Erfahrung, wie die individuell-psychologische arbeitet unausgesetzt
an der Ausbildung der sittlichen Erkenntnis und damit an dem Siege des Gu-
ten und der steigenden Herrschaft der immer mehr sich läuternden, immer
nach den neuen Verhältnissen sich anpassenden Werturteile. Der Hauptinhalt
alles individuellen und alles gesellschaftichen Lebens ist sittliches Zweck-
setzen und sittlich-kulturelle Ausreifung der Urteile. Und soweit dabei die
[80] Zeitalter, die Völker, die Religions- und Moralsysteme, die Einzelindividuen
und ihre Temperamente von einander abweichen, alle haben doch gleich-
mäßig Teil an dem großen Prozess, der die sittlichen Pflichten, Tugenden
und Güter, nicht im Detail aber in den Grundzügen, zu wenigen überein-
stimmenden großen und letzten Idealen emporhebt. In allen Weltteilen und
bei allen Völkern, in allen Religionen und Moralsystemen predigt man mehr
und mehr die wenigen einfachen Sätze: Behaupte und vervollkommene dich
selbst, liebe deinen Nächsten als dich selbst, fühle dich als Glied des Ganzen,
dem du angehörst; sei demütig vor Gott, selbstbewußt aber bescheiden vor
den Menschen.
Die entscheidenden sittlichen Werturteile der heutigen Katholiken und Pro-
testanten, der Christen und Juden, ja auch vielfach der Realisten und Idealisten
weichen mehr in Nebenfragen als in der Hauptsache von einander ab. Die
Verschiedenheit der Individualität schließt gemeinsame sittliche Werturteile
in den Grundfragen nicht aus. Man mag sich über vieles Einzelne, über die
Ableitung der ethischen Wahrheiten, über den wissenschaftlichen Aufbau der
sittlichen Systeme streiten, über die wichtigsten praktischen Werturteile einigen
sich die guten, hochstehenden Menschen desselben Volkes, desselben Kultur-
zeitalters doch immer mehr. Und darum handelt es sich vor allem, wenn man
nach den sittlichen Werturteilen forscht, die für Wirtschaft, Gesellschaft,
Staatsordnung von Bedeutung sind.
Dabei ist uns wohl bewußt, 1. daß verschiedene Weltanschauung stets bis auf
einen gewissen Grad verschiedene sittliche Werturteile erzeugt und 2. daß
bei der historischen Umbildung eines Teils der sittlichen Werturteile gegen-
sätzliche und getrennte Ergebnisse vorkommen müssen. Wir fügen darüber
noch einige Worte bei.
1. M. Weber sagt: die Weltanschauungen sind niemals Produkt fortschrei-
tender Erfahrungswissenschaft; er meint damit: fortschreitende Erfahrung
modifiziere das sittliche Empfinden des ernst kirchlichen Mannes und des
naturalistischen Genußmenschen, des konservativen und des liberalen Partei-
mannes nicht ganz gleichmäßig. Und damit hat er recht. Und deswegen stehen
die Partei- und die Klassenideale meist nicht auf der Höhe der objektiven
Wissenschaft. Sie zielen auf die Förderung der Klasse und der Partei, nicht
auf die des Gemeinwohls; sie enthalten leicht egoistische Tendenzen, sehen
über die gleichberechtigten Interessen anderer Klassen und Parteien weg.
Freilich je höher stehende Führer sie haben, je mehr sie in großen Zeiten
sich zur Höhe des Gesamtinteresses erheben, desto mehr nähern auch die
Klassen- und Parteiideale sich dem absolut „Guten“, desto mehr treten die
Abweichungen von denen anderer Klassen und Parteien zurück. Und wir wer-
den behaupten können, je höher die sittliche und intellektuelle Bildung
eines Volkes überhaupt stehe, desto eher werde es möglich, daß die Parteien
und die Klassen sich nähern, so sehr der Tagesstreit sie immer wieder trennt.
Wir können heute z. B. sagen: Erfahrung, Wissenschaft und sittlicher Zeit-
geist haben es doch möglich gemacht, daß konservative Grundbesitzer, libe-
rale Fabrikanten und sozialistische Arbeiter in vielen Punkten der sozialen Re-
form sich nahe getreten seien.
Die allgemeine Behauptung, die Menschen würden im Laufe der Geschichte
immer individueller und subjektiver und das erzeuge eine wachsende Nicht-
[81] übereinstimmung in allen sittlichen Urteilen, halte ich nur in ganz beschränk-
tem Sinne für wahr; sie trifft nur für Zeiten starker gesellschaftlicher Um-
bildung oder allgemeiner Verhetzung, Verwilderung und Auflösung zu.
2. Die Tatsache der historischen Entwickelung und Veränderung der sittlichen
Werturteile schließt natürlich die Folge in sich, daß dabei die verschiedenen
Parteien und Klassen, die verschiedenen Weltanschauungen verschiedene Ideale
der Reform aufstellen. Die einen verteidigen das Bestehende, die anderen ver-
langen größere oder kleinere Änderungen, rasche oder langsame Reformen.
Aber dabei bleiben meist gewisse letzte und wichtige Ideale und Werte un-
berührt, wenn auch der große Haufen von einer Umwertung aller Werte
spricht. Auch die Reformen knüpfen meist an bestehende oder alte Wertvor-
stellungen an. Es wird kürzere oder längere Zeit unsicher sein, was sich
ändert, was möglich ist, was Dauer hat. Zuletzt siegen die Führer im Kampfe
der Geister, deren sittliche Werturteile das Richtige, das Gute und Förder-
liche am besten treffen; sie siegen zuerst durch die Überzeugungskraft ihrer
Werturteile; erst später durch die Zustimmung der Massen. Alle Werturteile
bei solchen Umbildungen ausschalten, heiße sich dem blinden Ungefähr über-
lassen. Und wie sie im Leben die Herrschaft haben, so müssen sie auch in
der Wissenschaft, in den Erörterungen der Umbildung eine Rolle spielen. —
Man wird uns einwenden, daß wir so die Unentbehrlichkeit sittlicher Wert-
urteile in den Staats- und Sozialwissenschaften behaupten, nicht mehr wie
1890 ihre Zurückdrängung verlangen und den größeren Wert der reinen Kau-
saluntersuchung betonen. Darauf erwidern wir Folgendes.
Wir werfen zuerst einen Blick auf die Vorfrage: welche Ideale, welche sitt-
lichen Werturteile sind gemeint, welche aus der Volkswirtschaftslehre auszu-
scheiden seien, und an welche Grenzen der Volkswirtschaftslehre ist dabei
gedacht?
Niemand, auch die neueren Fanatiker der Ausscheidung verlangen nicht, daß
volkswirtschaftliche Ideale, daß sittliche Urteile überhaupt nicht mehr dis-
kutiert werden sollen. M. Weber betont, die historische Macht der sittlichen
Ideale könnte nicht hoch genug geschätzt, nicht dringlich genug dem geisti-
gen Verständnis erschlossen werden: nur von der „Erfahrungswissenschaft“
will er sie ausschließen. Er gibt zu, daß bei aller Auswahl der von den ein-
zelnen Gelehrten ergriffenen und untersuchten Fragen Werturteile die Ent-
scheidung geben. Auch Sombart sagt, „daß bei einer totalen Erörterung der
wirtschaftlichen Zusammenhänge der ethische Faktor niemals außer acht ge-
lassen werde“. Im ganzen also kommt die Forderung dieser Kreise darauf
hinaus: wo empirische Erfahrung die sichere Grundlage für eine Erkenntnis
der Kausalzusammenhänge gebe, sollen nicht sittliche Ideale, politische Ge-
danken, die möglicherweise auf metaphysischem Gebiete, auf unempirischem
Boden gewachsen sind, als ausschlaggebend betrachtet werden. Das ist ganz
richtig und deckt sich mit dem Satze Riehls, den wir billigen: „was aus
wissenschaftlichen Gründen für falsch erklärt ist, daran kann man aus ethi-
schen Gründen nicht glauben“. Aber ganz falsch ist es, wenn man das Wort
„wissenschaftlich“ nun allgemein und ausschließlich für die exakte empi-
rische Erfahrung reservieren, aller Ethik oder gewissen Arten und Teilen der
Ethik diesen Namen absprechen will, wie es einige übereifrige Epigonen von
M. Weber tun. Die Ethik wird mehr und mehr auch zu einer Erfahrungs-
6
[82] wissenschaft und schon deshalb stehen sittliche Urteile vielfach anderen empi-
rischen Erfahrungen gleich: aber auch, wo die Ethik sich der Teleologie be-
dient, dürfen wir sie nicht als unwissenschaftlich bezeichnen. Und ebenso-
wenig dürfen wir die Volkswirtschaftslehre auf das Technisch-Ökonomische
und dessen empirische Untersuchungen beschränken: unsere Wissenschaft hat
es in erster Linie zu tun mit menschlichen Handlungen und ihren Ursachen
(d. h. mit gesellschaftlichen und sittlichen Zwecken) und mit der gesellschaft-
lichen sittlich-rechtlichen Ordnung des Wirtschaftslebens. Und daher bleibt,
wenn wir aus der Volkswirtschaftslehre die sittlichen Zecke, das psychisch-
sittliche Triebleben und seine Ordnung durch Moral, Sitte und Recht ausschei-
den, nicht sehr viel übrig.
1. Wir fragen, was können wir in unserer Wissenschaft erschöpfend behan-
deln, wenn wir die sittlichen Zwecke und Ursachen ausschalten. Die Ant-
wort ist: gewisse Wert- und Preisuntersuchungen können wir von den Grö-
ßenverhältnissen der Produktion und des Handels ausgehend unter der Fik-
tion gleichen Handelns aller Beteiligten wissenschaftlich, ich möchte sagen
nach dem Vorbild der Naturwissenschaften ohne Eingehen auf sittliche Ur-
sachen, sittliche Urteile behandeln. Aber in eine Menge tiefer greifender
Wertprobleme sowie in die meisten Steuerfragen schon greifen sittliche
Zwecke und sittliche Urteile ein: man denke nur an alle Fragen wirtschaft-
licher und sozialer Gerechtigkeit.
Und vollends alle Fragen über das wirtschaftliche Verhältnis von Staat, Fa-
milie, Unternehmung und Individuum, über die Umbildung der volkswirt-
schaftlichen Organisation, über Armen- und Versicherungswesen, Arbeiter-
verbände berühren die ethischen Grundfragen. Was kommt also heraus, wenn
man für diese Fragen einerseits eine theoretische Erörterung ohne Einmen-
gung sittlicher Urteile fordert und daneben eine praktisch-politische mit Heran-
ziehung dieser? Man verlangt damit die Zerreißung eines untrennbaren Zu-
sammenhanges; man verlangt, daß dieselben Personen mit zwei Zungen reden
oder mit zwei Tinten schreiben sollen, je nachdem sie als Wissenschaftler
oder Politiker tätig sind.
2. Das Berechtigte in der Forderung der Scheidung ist also auf diesen Ge-
bieten, wo psychologische und sittliche Ursachen ausschlaggebend sind, nur, daß.
wer darüber schreibt oder spricht, ein Bewußtsein habe, wie weit er empi-
rische Kausalitätsverhältnisse unter den Füßen habe oder nicht. Der Forscher
muß stets die empirische Forschung so weit treiben, als es irgend geht, auch
auf dem Gebiete der sittlichen Zwecke und sittlichen Urteile; er muß bei dieser
Forschung sich seiner persönlichen Ideale möglichst entledigen; er muß, wo er
sittliche Zwecke und sittliche Ideale als Ursachen findet, sie ebenso objektiv
behandeln wie andere. Er muß, wo er nebeneinander konkurrierende verschie-
dene sittliche Ideale und Urteile findet, wie vor allem im politischen Partei-
und Tagesstreit, sie als gleichberechtigte Kräfte behandeln, soweit er nicht aus
ihren Folgen den Schaden oder den Vorteil der einen oder anderen Art glaub-
haft nachweisen kann. Er wird, an zweifelhaften Punkten angekommen, über
Reformen, über die Durchführung strittiger Ideale stets vorsichtig urteilen.
Aber man wird auch in der wissenschaftlichen Abhandlung und Rede von ihm
nicht Schweigen verlangen können, wo er auf Grund seiner empirisch-exak-
ten Forschung, seiner psychologischen und historischen Erkenntnis, seiner teleo-
[83] logischen Schlüsse glaubt, sein Reden und Bekennen sei heilsamer und un-
schädlicher als ein zurückhaltendes Schweigen. Die Gefahr, daß jemand
subjektive Ideale für objektive Wissenschaft ausgebe, hat ihr Korrektiv in
der Widerlegung der Gegner; die Gefahr ist geringer als die, wenn wissen-
schaftliche Päpste aus aller staatswissenschaftlichen Diskussion das verbannen
wollen, was ihnen als sittliches Urteil, theologischer Schluß, als Äußerung einer
subjektiven Weltanschauung bei anderen vorkommt. Auch die für die Aus-
scheidung Streitenden wenden jeden Augenblick in der Diskussion Urteile an,
die andere für sittliche halten und antworten, darüber interpelliert: in dem
Moment hätten sie eben als Politiker, nicht als Männer der Wissenschaft ge-
sprochen. In Debatten, wie die des Vereins für Sozialpolitik sind, wäre die
volle Ausmerzung aller sittlichen Urteile eine Beseitigung der anziehendsten
und wichtigsten Debatten.
So kommen wir zu dem Schlusse: nicht gänzliche Beseitigung aller Ideale,
aller Erörterung des Seinsollenden ist in unserer Wissenschaft zu verlangen,
aber Takt, Objektivität, Zurückhaltung in der Anwendung. Möglichst muß
jeder Vertreter der Wissenschaft sich stets klar sein darüber, ob er von fest-
stehenden Resultaten oder von Hoffnungen, Hypothesen, Wahrscheinlichkeiten
spricht. Er muß sich stets bewußt bleiben, dass seine Ideale subjektiv sein
können, daß ihnen andere gleichberechtigte gegenüberstehen können. Max We-
ber hat ganz recht, wenn er sagt, jede Diskussion höre auf, wenn man
Leute mit anderen Idealen für erledigt erkläre. Aber man darf dann auch nicht
jeden, der für gewisse sittliche Ideale eintritt, den die Phantasten oder über-
eilige Neuerer für historisch überlebt halten, für einen Reaktionär erklären.
„Man darf nicht Puritaner sein, wenn man volkswirtschaftliche Fragen unter-
sucht“, rief einst ein genuß-fröhlicher ästhetisch angelegter Volkswirt, der die
Praktiken der Warenhäuser verteidigte. Natürlich hat er recht, daß man nicht
im Sinne einer grießgrämlichen alten Tante die sämtlichen Neuerungen und
Reklameeinrichtungen dieser Häuser verurteilen darf. Die Alten werden oft
veraltete, die Jungen aber dafür noch unerprobte Ideale haben. Die Alten
müssen eben die Jungen und diese jene in ihren Idealen zu verstehen suchen.
Und jedenfalls muß es erlaubt sein, auch wirtschaftliche Neuerungen auf
ihren möglichen sittlichen Schaden zu untersuchen. Soll es unerlaubt sein,
die ungeheueren sittlichen Verheerungen des Alkohols, die sich uns ja auch
als wirtschaftliche in ihren Folgen darstellen, zu untersuchen, um ja nicht als
Puritaner zu erscheinen?
Viele gegenseitige Vorwürfe der zwei Richtungen, die sich hier bekämpfen,
scheinen mir auf Mißverständnissen zu beruhen. Sö z. B. wenn M. We-
ber sagt: „Mit dem Erwachen des historischen Sinnes gewann in unserer
Wissenschaft eine Kombination von ethischem Evolutionismus und historischem
Relativismus die Herrschaft, welche versuchte, die ethischen Normen ihres
formalen Charakters zu entkleiden, durch Hineinbeziehung der Gesamtheit der
Kulturwerte in den Bereich des Sittlichen diese letzteren inhaltlich zu bestim-
men und so die Nationalökonomie zur Dignität einer ethischen Wissenschaft
zu erheben. Indem man die Gesamtheit aller möglichen Kulturideale mit dem
Stempel des Sittlichen versah, verflüchtigte man die spezifische Dignität des
ethischen Imperativs, ohne doch für die Objektivität der Geltung jener Ideale
irgend etwas zu gewinnen.“ Die Praktiker hätten daraus gefolgert, „daß die
6*
[84] Nationalökonomie Werturteile aus einer spezifisch wirtschaftlichen Weltan-
schauung heraus produziere und zu produzieren habe“.
Ich weiß nicht, ob M. Weber dabei mich hauptsächlich im Auge gehabt
hat. Wenn ja, so scheint es mir, er habe mich gründlich mißverstanden.
Allerdings ist mir die Ethik, wie die Nationalökonomie, eine realistische Wis-
senschaft; ich halte die transzendente, und die rein formale Ethik, wie sie M.
Weber hier als die allein berechtigte hinstellt, für verfehlt, stehe damit aber
in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der heutigen Philosophen. Die National-
ökonomie habe ich, wie viele Nationalökonomen von J. St. Mill bis heute,
eine ethische Wissenschaft genannt; auch A. Smith hielt sie für einen Teil der
Moralphilosophie; die meisten, die das taten, wollten weder Ethik und Na-
tionalökonomie zusammenwerfen noch die letztere zu einer höheren Dignität
erheben, noch weniger alle möglichen Kulturideale in sie einfügen. Am aller-
wenigstens lag mir nahe, aus einer spezifisch wirtschaftlichen Weltanschauung
heraus Werturteile zu produzieren; im Gegenteil, ich wollte nur nicht zugeben,
daß wirtschaftliches Handeln jenseits von Gut und Böse stehe. Wenn daneben
M. Weber das Höchste, was Menschenbrust bewegt, nämlich die Welt der
sittlichen Ideale nicht in das „Technisch-Ökonomische“ hineingetragen wissen
will, so ist das allerdings ein ethischer Purismus, dem ich nicht folgen kann.
Und jedenfalls hat es unsere Disziplin eben nicht bloß mit dem Technisch-
Ökonomischen, sondern mit der ökonomischen Gesellschaftsverfassung und da-
mit auch mit sittlichen und Rechtsfragen zu tun. Unsere Wissenschaft liegt
mindestens auf dem Grenzgebiet des Technisch-Ökonomischen und des Ethi-
schen. M. Weber hätte seine schönen Abhandlungen über die protestantische
Ethik und den Kapitalismus nicht schreiben können, wenn er nicht selbst den
engsten Zusammenhang zwischen Ökonomischem und Ethischem tief empfände.
7.
Noch heute schwankt der Kampf über die Frage, ob und inwieweit objektive
Erkenntnis der Welt möglich sei, ob die Erscheinungen uns die Wirklichkeit
enthüllen, ob nicht der absolute Skeptizismus und der Subjektivismus doch
Recht habe. Wir haben oben berührt, wie neuerdings die Einheit unserer Er-
kenntnismethoden geleugnet wird, die Methoden der Naturwissenschaft ganz
für die Geisteswissenschaften verworfen werden. Sigwart hatte gelehrt, alle Er-
kenntnis habe den Zweck, ein Abbild der wirklichen Welt zu geben, Rickert
leugnet dies als ganz unmöglich.
Wenn trotz alledem die Fortschritte der allgemeinen Erkenntnistheorie groß
sind, wenn aller Skeptizismus und Subjektivismus immer wieder in sich zer-
fällt, die Einheit unserer Denkgesetze, bei allen kleineren Unterschieden zwi-
schen Natur- und Geisteswissenschaften sich erhalten wird, so bleibt doch
speziell für die Methodologie der Volkswirtschaftslehre und ihre Ausbildung
die Schwierigkeit, daß die Fachphilosophen, welche die Erkenntnistheorie
pflegen, dem Spezialbetrieb unserer Wissenschaft meist so fern stehen, daß sie
bei allem guten Willen der Einbeziehung unserer Lehren in ihre Forschung
deren Bedürfnisse nicht leicht ganz gerecht werden und daß umgekehrt von
den Fachgenossen die meisten, auch viele, die über methologische Fragen
schreiben, nicht über die entsprechende philosophische Bildung verfügen. Da-
durch entsteht viel Verwirrung und Schwierigkeit. Von den deutschen Fach-
genossen der letzten zwei Generationen waren eigentlich nur G. Rümelin,
[85] Neumann und Hasbach, neuerdings M. Weber und Eulenburg nach meinem
Urteil voll ausgerüstet, um mit Autorität an den methodologischen Fragen zu
arbeiten; selbst von J. St. Mill kann man es bezweifeln, noch mehr von
Cairness, C. Menger, um von anderen zu schweigen. Von allen neueren Philo-
sophen übersieht Wundt etwas, Dilthey ziemlich viel von der Art der staats-
wissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Arbeit, Windelband und Rickert
sehr wenig.
Es ist so an sich kein Wunder, wenn Gothein den methodologisch arbeiten-
den Volkswirten zuruft, redet doch nicht ewig davon, wie man’s machen soll,
sondern macht etwas. Und ein anderer meinte gar, nur die zu wirklicher
Facharbeit ganz Unfähigen schrieben über Methode. Und doch ist solcher Pessi-
mismus gänzlich falsch. Steigende Klarheit über Methode ist die grundlegende
Bedingung für den Fortschritt in jeder, also auch in unserer Fachwissenschaft
selbst, wie schon aller tiefere Einblick in die Geschichte unserer Wissenschaft
zeigt. —
8.
In allen volkswirtschaftlichen Schriften des 18. und 19. Jahrh. spielen die
psychischen Ursachen des wirtschaftlichen Handelns und hauptsächlich die
Frage, ob man sie isoliert betrachten solle und könne, eine große Rolle. A.
Smith ging von dem durch Gerechtigkeit und Schicklichkeit gezügelten, sitt-
lich berechtigten Erwerbstrieb aus, Ricardo vom Erwerbstrieb des Geschäfts-
mannes seiner Zeit; beide glaubten damit das Seelenleben nicht gespalten son-
dern im ganzen erfaßt zu haben. Die Nachfolger Ricardos und besonders heute
Menger und Dietzel wollen absichtlich den Erwerbstrieb oder den wirt-
schaftlichen Sinn isoliert betrachten; aber sie haben ihn nicht speziell durch
psychologische Methoden beobachtet; ihre Isolierung ist eine bloß subjektiv
vollzogene Gedankenscheidung; daher die Zweifel und Einwürfe gegen diese
nicht durch die realistische Beobachtung verifizierte Isolierung. Die neueren
Vertreter dieser Richtung geben auch zu, daß andere psychische Ursachen mit-
wirken, machen aber keinen konkreten Versuch, das Maß dieser Mitwirkung
zu beobachten und zu bestimmen. Man wird die Möglichkeit solcher Isolie-
rung von Trieben, ja auch eine abstrakte Anwendung derselben wohl zuge-
ben können, wird aber über die Nützlichkeit und darüber streiten können, ob
und in wie weit man damit überhaupt noch auf dem Felde der empirischen
Beobachtung stehe.
Die objektiven Folgen des wirtschaftlichen Handelns der einzelnen wirt-
schaftenden Menschen, die sozialwirtschaftlichen Erscheinungen, z. B. die ein-
zelne wirtschaftende Familie, die Gemeinde, die Verbände, die Korporationen,
die einzelnen oder gesamten Vorgänge auf dem Markt, die Preisbildung wird
man natürlich auch isoliert für sich zu beobachten versuchen können. Aber
da entsteht sofort die Frage, wieweit das nach Zeit, Mitteln, Beobachtern
möglich sei. Die Statistik kann wohl alle einzelnen Fälle einer bestimmten Art
in einer menschlichen Gemeinschaft unter Stellung von ein paar Fragen durch-
zählen; eine ganze Beobachtung aber der Mehrzahl der Millionen und Milliarden
sonstiger Fälle ist auf gesellschaftlichem, volkswirtschaftlichem, historischem
Gebiete undenkbar. Die Vorschrift, jeden gesellschaftlichen Vorgang in seine
kleinsten Teile aufzulösen, diese je für sich zu beobachten und aus den ge-
sammelten Beobachtungen erst ein Gesamtergebnis zusammenzusetzen, ist auf
[86] unserem Gebiet, wenn je, nur in seltenen Fällen ausführbar. Man kommt in
der Regel stets zu Auswegen: man sucht sich typische Fälle zur Beobachtung
aus und nimmt an, sie könnten ganze Arten von Erscheinungen so vertreten,
daß man von ihnen aus schließen könne. Bei einem großen Teile unseres
Wissenschaftsgebietes geht die Beobachtung des gesellschaftlichen Lebens von
einem Erleben, einem Auffassen der Eindrücke aus, die man erfahren hat und
denen man mit überliefertem Wissen entgegentritt; die Eindrücke und Auffas-
sungen gestalten sich zu Bildern, wobei die sachlichen Wirkungszusammen-
hänge des in sich Verbundenen (z. B. der Zusammenhänge der Preis- und
Marktgestaltungen) an sich dahin wirken, daß von dem Gesehenen und Ge-
lesenen alles nicht Zugehörige ausschaltet, das Zusammengehörige, inner-
lich Verbundene, das Wichtige festgehalten, das Unwichtige gar nicht be-
merkt wird. So kommen wir zu dem Ergebnis, daß bei der unendlichen Kom-
pliziertheit der volkswirtschaftlichen Vorgänge, bei der großen Summe mit-
wirkender Ursachen und Personen die entstehenden Bilder, schon weil sie auf
Kondensierungs- und Ausleseprozessen beruhen, nicht leicht die Genauigkeit
naturwissenschaftlicher Beobachtung erreichen können.
9.
Rickert meinte neuerdings, das gelte nur von den naturwissenschaftlichen Be-
griffen und es sei umgekehrt von den geisteswissenschaftlichen historischen
zu behaupten, daß die umfassenderen Begriffe desto mehr Wirklichkeit ent-
halten, um so reicheren Inhalt hätten. Darin scheint mir ein Irrtum zu lie-
gen: auch die allgemein historischen Begriffe haben nur den Inhalt, den ein
Autor, den eine Schule, den ein Volk hineinlegt: der historische Begriff „das
Zeitalter Bismarcks“ z. B. erhält allerdings eine individuelle Farbe, aber im
übrigen nur den vom Historiker hineingelegten Inhalt, wie der Begriff der
Kraft oder der Materie das, was der Naturforscher hineinlegt.
Die ganze Unterscheidung von dem großen Gegensatz der naturwissenschaft-
lichen und der historischen Begriffsbildung, den Rickert und seine Schüler
so sehr betonen, scheint mir auf einer Verwechselung zu beruhen. Rickert
sagt, alle historische Begriffsbildung enthalte individuelle Bezeichnungen von
Völkern, Zeitaltern, Kulturepochen; die historischen Begriffe wollten stets das
erfassen, was an allgemein anerkannten Werten Bezug auf individuelle Einzel-
heiten habe. Gottl sagt mit Recht, damit sei das historische Verfahren im
Sinne der Darstellung, nicht die Begriffsbildung bezeichnet. Jedenfalls die
Volkswirtschaftslehre, die Rickert doch auch zu den Geisteswissenschaften rech-
net, arbeitet hauptsächlich mit Sammelbegriffen, Gruppenbegriffen, wie
Rickert selbst zugibt. Er fügt bei, solche Begriffe könnten das historisch We-
sentliche nicht erschöpfen. Gewiß tun dieses viele Sammelbegriffe nicht.
Aber z. B. die Begriffspaare von Naturalwirtschaft und Geldwirtschaft, Stadt-
wirtschaft und Volkswirtschaft wollen etwas historisch ganz Wesentliches er-
fassen; aber natürlich erfassen sie das einer einzelnen individuellen Geldwirt-
schaft oder Stadtwirtschaft Eigentümliche nicht.
Über die generellen oder Gattungsbegriffe, mit denen die Volkswirtschaftslehre,
das Recht und die Rechtsgeschichte sowie die allgemeine Geschichte notwendig
arbeiten, über ihre Entstehung, ihre Verwertung, ihren erlaubten und miß-
bräuchlichen Gebrauch hat neuerdings M. Weber in eindringlicher Unter-
suchung gehandelt; er hat diese Begriffe unter einer bestimmten Voraussetzung
[87] Idealtypen genannt, nämlich sofern sie nicht sowohl ein Abbild der Wirk-
lichkeit seien, eine Summe individueller Erscheinungen zusammenfaßten, son-
dern durch Weglassung des Unwichtigen, Steigerung der prägnantesten Merk-
male, Idealbilder sein wollten, um die Wirklichkeit zu messen, einzuteilen, Zu-
sammenhänge darzulegen, Hypothesen zu prüfen: an den Wertbegriff, wie an
die abstrakte Werttheorie, die im Markt und Tauschverkehr gleiches unter
ganz freier Konkurrenz und mit streng rationalem Handeln fingiert, hätten
sich solche Idealtypen angeknüpft; auch die Stadtwirtschaft, die Epoche des
Handwerks, die der kapitalistischen Produktion, der Merkantilismus, der Libera-
lismus, der Feudalismus, der Imperialismus usw. seien solche Idealtypen, die
um so brauchbarer seien, je schärfer und eindeutiger man sie begrifflich fasse,
deren Bedeutung man aber häufig mehr empfinde als klar durchdacht habe.
Jedenfalls müsse man sich hüten zu glauben, mit solchen Begriffen die Ideen
der handelnden Menschen oder gar Ideale des Seinsollenden erfaßt zu haben.
Letzteres ist selbstverständlich ganz richtig. Aber nicht ebenso zweifellos ist
die folgende Behauptung: die wesentliche Funktion solcher idealtypischer Be-
griffe sei die Messung und systematische Charakterisierung von individuellen,
einzigartigen großen bedeutungsvollen Erscheinungen; sie entständen, wenn man
aus der Zusammenfassung gattungsmäßiger Vorgäne einen, die Kulturbedeu-
tung des Individuellen zur Anschauung bringenden Begriff zu schaffen beab-
sichtige. So viel Wahres und Geistvolles Weber dabei vorbringt, so sehr er die
historisch-staatswissenschaftliche Begriffsbildung durch seine Erörterung be-
reichert hat, so möchte ich doch behaupten, daß Weber zu verschiedene Bei-
spiele von Sammelbegriffen unter seinen einen Hut des „Idealtypus“ sammelt,
und daß er Gattungsbegriff und Idealbegriff hier zu sehr zusammenwirft.
Wenn er alle seine Idealtypen für „Utopien“ erklärt, so werden Bücher und
ich, die den Begriff der Stadtwirtschaft geschaffen, dagegen protestieren, unse-
ren Begriff mit sozialistischer oder manchesterlicher Utopie zusammengeworfen
zu sehen. Wir wollten das Allgemeine und Typische der stadtwirtschaftlichen
Erscheinungen des Mittelalters mit dem Begriff erfassen, das Individuelle und
das Gleichgültige der Erscheinung dabei weglassen. Wir stellten sie in eine
historische Reihe mit Territorialwirtschaft und Volkswirtschaft. Soll nun auch
die „Volkswirtschaft“ ein bloß utopischer Begriff sein? Weber gibt freilich
selbst zu, daß seine Idealtypen und seine Gattungsbegriffe je nach ihrer For-
mulierung, Benutzung, Interpretierung ineinander übergehen. Daß sie Hilfs-
mittel des ordnenden Denkens seien, nicht volle Abbilder der Wirklichkeit,
darin stimme ich mit ihm ganz überein. Auch die historischen Allgemein-
begriffe sind keine vollen Abbilder, wie überhaupt die sämtlichen Begriffe es
nicht sein können.
Wir kommen damit zu einigen Schlußbemerkungen über den falschen Gebrauch
der Begriffe. Die Analyse der Begriffe ist ein wichtiges Unterrichtsmittel,
das dem Anfänger die Begriffe verdeutlichen, das ihm zeigen soll, aus welcher
Wirklichkeit die Begriffe abstrahiert sind, was hinter ihnen steht. Aber diese
Analyse darf nicht als die erste und Hauptaufgabe der Wissenschaft erschei-
nen. Menger sagt mit Recht: die Erscheinungen und nicht ihre Abbilder, die
Begriffe, sind das Objekt der Forschung. Keynes sagt: Mere definition carries
us a very little way. Hasbach meint, in Deutschland habe seit der Wolfschen
Philosophie die Universitätsverbindung von Nationalökonomie und Jurisprudenz
[88] die Begriffsscholastik erzeugt, sie habe das theoretische Interesse abgestumpft,
die Anfänger durch ein Heer von Definitionen, denen die Anschauung fehle,
abgeschreckt. Max Weber warnt vor dem Glauben an ein geschlossenes Sy-
stem von Begriffen, in denen angeblich die Wirklichkeit in endgültiger Gliede-
rung so zusammengefaßt sei, daß sie hieraus wieder deduziert werden könnte;
das sei schon durch den ewigen Wandel der Kulturprobleme ausgeschlossen.
10.
Die Entstehung der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft hängt im 17. und
18. Jahrh. mit den ersten ernsten Versuchen zusammen, wichtige wirtschaft-
liche Erscheinungen auf ihre Ursachen zu untersuchen. Man fragte, was sind
die Ursachen des allgemeinen Preissteigens von 1500—1700; man vermutete
und erörterte die Münzverschlechterung, die Monopole der Kaufleute, die ver-
mehrte Edelmetallproduktion als denkbare Ursachen. Man fragte ferner nach
den Ursachen der Lage der unteren Klassen, der Lohnhöhe: man sprach von
der notwendigen Lebenshaltung, von der Konkurrenz der Arbeiter um die Ar-
beitsstellen, von der zur Lohnzahlung verfügbaren Kapitalmenge. Man wollte
die Preisbewegungen überhaupt erklären; man untersuchte Angebot und Nach-
frage, die in den Waren steckende Arbeit, die Kaufkraft der Käufer, die Be-
dürfnisse und deren materielle Grundlagen, deren psychologisches Auftreten
usw. Wir werden sagen können: je mehr unsere Wissenschaft voranschritt,
desto mehr wurde die Kausaluntersuchung der Kern aller nationalökonomi-
schen Forschung. Dabei ist aber freilich großer Streit, bis zu welchem Punkte
man in unserer Wissenschaft selbst die Ursachen untersuchen soll.
So meint Cairness, die Nationalökonomie habe nicht alle Ursachen des Reich-
tums zu untersuchen; sie bekomme die wesentlichen aus anderen Wissenschaf-
ten und habe nur daraus zu deduzieren; stolz fügt er bei, den Naturforschern
sind die Ursachen unbekannt, uns sind sie bekannt. Besonders wichtig sei für
unsere Wissenschaft 1. der Wunsch nach Reichtum (also eine psychologische
Ursache), 2. die Bevölkerungsbewegung (also eine biologisch-psychologisch-
historische), 3. die physikalischen Bodeneigenschaften (also materiell natur-
wissenschaftliche Ursachenreihen). Er gibt dann allerdings zu, diese drei Ur-
sachen reichten nur für die haupttheoretischen Probleme; wolle man z. B.
über Markt-, Maß- und Gewichtswesen, über Geld-, Handels- und Verkehrs-
wesen handeln, so müsse man die Elemente dazu aus einer breiten Lebenserfah-
rung schöpfen. Überall finden wir so mit einer engeren oder weiteren Grenz-
ziehung für das Gebiet unserer Wissenschaft auch die Untersuchung der ein-
greifenden Ursachen ganz anders abgesteckt. Oder es werden einige wenige
Ursachen für die wesentlichen, alle anderen für unwesentlich (disturbing
causes) erklärt; J. St. Mill rechnet zu den letzteren 1848 sogar die Bevölke-
rungsbewegung. Die klassische Nationalökonomie von Quesnay bis Malthus
kannte die Einschränkung auf einige wenige Ursachen, wie sie seit Ricardo
üblich wurde und noch bei Cairness in dem eben angeführten Beispiel zutage
tritt, nicht. Erst die Epigonen der klassischen Schule bekannten sich zu dieser
Beschränkung der Untersuchung auf die Wirkung ganz weniger Ursachen;
man erstrebte ja jetzt nur noch eine Markt- und Einkommenslehre, wobei
man nur vom wirtschaftlichen Egoismus und seinen Folgen ausging, dabei
freilich diese einzige Ursache in Verbindung brachte mit der utopischen An-
nahme gleicher Menschen, unbeschränkter Gewerbe- und Handelsfreiheit und
[89] absoluter Stabilität der Bevölkerung, der Kapitalmenge, der Technik. Wir er-
wähnten (§ 11), daß die heutige abstrakte nordamerikanische Nationalökono-
mie noch so verfährt.
Dem verwandt ist es, wenn überhaupt nicht sowohl aus Ursachen, sondern aus
Axiomen, Prämissen, letzten Elementen, als Ausgangspunkten der wissenschaft-
lichen Erörterung geschlossen wird. Wahrscheinlich hat die Analogie mit der
Mathematik und Geometrie dazu verführt; man wollte, wie diese Wissen-
schaften, einige wenige einfache Prämissen haben und aus ihnen deduzieren.
In England haben Senior und andere solche oberste „propositions“ aufge-
stellt; ersterer bekanntlich vier Sätze, die er aber aus Erfahrung und Bewußt-
sein ableitet, Sätze, die wenigstens allgemeine Urteile über Kausalverhältnisse,
über wirtschaftliches Handeln, Bevölkerungszunahme, Wirkung des Kapitals
und Beschränktheit der landwirtschaftlichen Produktion enthalten. Ihre deut-
schen Nachfolger, hauptsächlich C. Menger und Sax, drücken sich viel dunkler
aus: ersterer behauptet, seine letzten einfachen Elemente seien zum Teil durch
empirisch-realistische Analyse gewonnen, also müssen sie zum anderen Teil
doch wohl aprioristisch sein; er braucht das Wort „aprioristische Axiome“,
läßt aber nicht ganz deutlich erkennen, ob sie identisch seien mit seinen letzten
Elementen und Faktoren. Als solche bezeichnet er die Bedürfnisse und das
Streben nach vollständiger Befriedigung derselben. Sax nennt an einer Stelle
als solche Egoismus, Mutualismus, Altruismus, an anderer Bedürfnisgefühle,
Güter, Arbeit. Es handelt sich also hier um möglichst abstrakte Allgemein-
begriffe, über deren Kausalwirkung nicht einmal etwas Konkretes ausgesagt
wird. Sie sind alles eher als Axiome, d. h. von selbst jedem Menschen ein-
leuchtende Wahrheiten. Es sind jedenfalls keine kausalen Urteile, die allein die
Basis einer Wissenschaft von realen Dingen bilden können. Die realistische
deutsche Wissenschaft (z. B. Leser, Neumann und ich) hat daher derartige
Gedanken auch durchaus abgelehnt, und selbst ein Verehrer von Menger, wie
A. Wagner, hat nirgends sich in dieser entscheidenden Grundthese mit ihm
identifiziert.
Vielleicht der gelungenste Versuch, ein einheitliches Prinzip, eine einheitliche
Kraft als ausschließliche Ursache an die Spitze zu stellen, ist der von A. Diet-
zel, welcher aus dem wirtschaftlichen Zweckstreben des Menschen nach stoff-
lichen Gütern, das ohne weiteres mit dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit im
Handeln identifiziert wird, eine abstrakte Sozialwirtschaftstheorie — im Ge-
gensatze zur konkreten Volkswirtschaftslehre oder Soziallehre, wie er es nennt
(vgl. oben S. 429) — abzuleiten verspricht, freilich nicht wirklich diese
Ableitung vollzogen hat. Aber entweder ist damit nur gemeint, man könne
bei einzelnen Preisuntersuchungen von gewissen Ursachen oder Bedingungen,
die in zweiter Linie stehen, absehen und könne eine bestimmte Art der sozialen
Klassenbildung, der Rechtsordnung, der Tauschgesellschaft ohne Spezialunter-
suchung als gegeben voraussetzen; dann ist damit nur die Zulässigkeit eines
methodologischen Kunstgriffes behauptet, gegen den niemand etwas einzuwenden
hat, sofern er richtig und geschickt ausgeführt wird, sofern nicht durch Igno-
rierung des Wesentlichen Karikaturen der Wirklichkeit der Untersuchung zu-
grunde gelegt werden. Oder es ist die Meinung, mit dem vieldeutigen Be-
griffe der Wirtschaftlichkeit, der in Summa nichts heißt als rationales Handeln,
sei eine einheitliche, klare Ursache alles volkswirtschaftlichen Handelns und
[90] Geschehens aufgestellt, aus der die Klassenbildung und Rechtsordnung sowie
alle Produktion und aller Tauschverkehr abgeleitet werden könne. Dann han-
delt es sich auch bei Dietzel um einen schiefen Rettungsversuch der älteren ab-
strakten Theorien, um eine Verwechselung von Axiom und Ursache, um eine
Verkennung der wirklichen Ursachen wirtschaftlichen Handelns, um einen
falschen Analogieschluß aus Mathematik und Begriffsjurisprudenz. Diese Wis-
senschaften deduzieren aus wenigen einheitlichen logischen Prämissen; die
Volkswirtschaftslehre will, wie jede Wissenschaft von realen Dingen, aus Ur-
sachen erklären; sie kann stellenweise die Hauptursachen allein berücksichtigen,
die Nebenursachen beiseite lassen, aber nie darf sie Ursache und logischen
Grund verwechseln. Außerdem ist Dietzel gegenüber der Einwand nicht zu
vergessen, den neuerdings Lexis gegen ihn erhoben hat; er sagt: die berech-
tigte isolierende Methode der Naturforscher, die die Folge einer Ursache iso-
liert beobachten, besteht darin, die anderen Ursachen durch das Experiment
auszuscheiden; so erkennen sie die Folge der einen untersuchten isolierten
Ursache klar. Die Verteidiger der Isolierungs- und Deduktionsmethode in den
Staatswissenschaften vergessen, daß sie nur in Gedanken, niemals in der Wirk-
lichkeit die Isolierung vornehmen; alle ihre Schlüsse ruhen also nicht auf
Beobachtung, sondern auf Vermutungen, resp. auf Beobachtungen von kompli-
zierten Wirkungen mehrerer Ursachen. Ihre Vermutungen bedürfen daher
stets der Berichtigung, jedenfalls sind sie nicht den naturwissenschaftlichen
Beobachtungen gleichzustellen.
So kommen wir zu dem einfachen Schlusse, daß die Volkswirtschaftslehre, in
ihrem breiteren Verstande (wie wir sie oben § 1 gegeben) aufgefaßt, notwendig
die Gesamtheit der natürlichen und geistigen Ursachen in Betracht zu ziehen
habe, daß sie da, wo andere Wissenschaften ihr schon für ihre Zwecek wissen-
schaftlich bearbeitete Ursachen liefern, diese benutze, wo das nicht der Fall
ist, die Untersuchung selbst vornehme, resp. da anknüpfe, wo die anderen Wis-
senschaften sie verlassen haben. Es handelt sich also um die schwierige Doppel-
aufgabe, die psychischen und organischen Ursachen des wirtschaftlichen Le-
bens einerseits und die psychischen andererseits als zwei selbständige Gruppen
von Ursachen heranzuziehen, und zwar jede für sich und dann beide in ihrem
Zusammenwirken.
11.
Damit sind alle einseitig materialistischen Volkswirtschafts- und Soziallehren
abgelehnt, ebenso alle direkte oder indirekte Einbeziehung der Volkswirtschafts-
lehre in die Naturwissenschaft abgewiesen, wie sie ein großer Teil des Sozialis-
mus sowie der modernen Soziologie erstrebt. Es kann aber hinzugefügt wer-
den, daß selbst die Schüler von Marx, ja sogar sein Freund Engels neuerdings
ihren materialistischen Erklärungen die Deutung geben, daß sie gemeint hät-
ten, resp. meinten, die Verursachung aus rein natürlichen Elementen gehe in
bezug auf menschliches Handeln durch das Mittelglied des menschlichen Ge-
hirns, der menschlichen Gefühls-, Trieb-, Willens- und Gedankentätigkeit.
Sie geben also zu, daß diese natürlichen Tatsachen nur auf Körper und Geist
des Menschen wirken, und daß so die psychologische Erklärung der Handlungen
nicht überflüssig sei. Sie wissen nur ebensowenig, als wir anderen Sterblichen,
die Kausalkette von Gehirnmolekülen zu menschlichen psychischen Eigenschaf-
ten und zu Handlungen irgendwie aufzuhellen.
[91] Auch die neueren halb biologischen, halb historischen Untersuchungen über
Rassen- und Vererbungsfragen, wie die über Psychophysik und über Ermü-
dungserscheinungen und Ähnliches überbauen, so wertvoll und willkommen
sie sind, die Kluft nicht, die Natur- und Geisteswissenschaft, die natürliche
und geistige Kausalerklärung scheidet.
Die Wirkung der Natur und ihrer Ursachen auf alles menschliche, also auch
auf alles wirtschaftliche Leben hat Dilthey neuerdings mit den Worten gekenn-
zeichnet: „Die Natur ist nicht nur der Schauplatz der Geschichte; die phy-
sischen Vorgänge, die Notwendigkeit, die in ihr liegen, und die Wirkungen,
die von ihr ausgehen, bilden die Grundlage für alle Verhältnisse von Tun
und Leiden, Aktion und Reaktion in der geschichtlichen Welt, und die phy-
sische Welt bildet auch das Material für das ganze Reich, in welchem der
Geist seine Zwecke, seine Werte, sein Wesen ausgedrückt hat: auf dieser
Grundlage erhebt sich nun aber die Wirklichkeit, in welche die Geisteswissen-
schaften sich immer tiefer von zwei Seiten her einbohren, vom Erleben der
eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten
Geistigen aus.“ Das ist doch wohl wahrer und tiefer, als wenn man die
Bevölkerungsbewegung oder die beschränkte Bodenfläche als zwei Natur-
tatsachen heranzieht, die „störend“ in die Wertbildung oder in die Produktion
eingriffen. Ich möchte konkret über das natürliche Ursachensystem der Volks-
wirtschaft nur noch folgende Worte hinzufügen.
12.
Wenn neuerdings die erheblichsten deutschen Philosophen, W. Wundt als
Führer der naturwissenschaftlichen, W. Dilthey als Führer der historischen
Philosophie, die Forderung aufstellten, es müsse eine beschreibende und zer-
gliedernde Psychologie als Grundlage aller Geisteswissenschaften geschaffen
werden, so haben sie damit das dringlichste Bedürfnis auch für den Fort-
schritt in unserer Wissenschaft ebenso ausgesprochen wie Sigwart mit dem
Satze: „Die fundamentalen Gesetze alles geschichtlichen Geschehens können nur
psychologische Gesetze sein“. Und wenn die Gegner dieser Männer glauben
diese Forderung mit Hohn abweisen zu können, indem sie sagen, man könne
sich doch nicht auf eine erst zu schaffende Wissenschaft vertrösten lassen, so
zeigen sie damit nur, wie wenig Bescheid sie wissen in bezug auf die um-
fangreichen Vorarbeiten und Anläufe, die wir in dieser Beziehung neben den
Ausführungen der eben Genannten selbst haben. Daß die Mehrzahl der wissen-
schaftlich-psychologischen Arbeiten der letzten Generation nicht dahin zielen,
ist wahr; und ebenso wahr, daß viele Juristen, Nationalökonomen, Historiker
sich noch einbilden, ohne eine solche Grundlage auszukommen. Aber das be-
weist nichts. Diltheys schöne Abhandlung „Ideen über eine beschreibende und
zergliedernde Psychologie“ zeigt klar den Gegensatz der bisherigen erklären-
den, wesentlich mit Hypothesen arbeitenden Psychologie zu der beschreibenden:
er fordert, daß diese letztere ihre bisherige Unsicherheit und Einseitigkeit
abstreife, indem sie ihre Resultate basiere auf Vergleichung und Entwicke-
lungsgeschichte, auf Experiment und Analyse der geistesgeschichtlichen Pro-
dukte, auf Analyse der Empfindungen und Gefühle, der Triebe, Willenshand-
lungen und Motive; sie muß, sagt er, die Menschenrassen, Nationen, gesell-
schaftlichen Klassen, Berufstypen, geschichtlichen Stufen unterscheiden, wie die
Individualitäten: „eine solche Psychologie bildet die Brücke zwischen der bis-
[92] herigen Psychologie und der geschichtlichen Welt“. Wundt betont noch 1908,
daß natürlich die Vertreter der Geisteswissenschaften aus der heutigen wissen-
schaftlichen Psychologie keinen Nutzen hätten ziehen können. Aber um so ener-
gischer fordert er die Ausbildung einer individuellen und gesellschaftlichen be-
schreibenden Psychologie neben den heute angebauten erklärenden Teilen dieser
Wissenschaft. Und hat nicht längst die Herbartsche Schule Beiträge dazu ge-
liefert; hat nicht Horwicz mit seinen psychologischen Analysen, hat nicht
Theodor Waitz mit seiner Anthropologie der Naturvölker, haben nicht Ratzel
und Andere wichtige Bausteine zu einer solchen geliefert. G. Rümelins Reden
und Aufsätze enthalten zahlreiche Beiträge zur beschreibenden Psychologie.
Ebenso die ganze neuere Soziologie; ich erinnere nur an Le Bon’s Psychologie
du socialisme (1902) und an Ch. Letourneau’s Psychologie éthnique (1901),
an der gewiß viel zu tadeln ist, die aber doch auf dem Wege sich bewegt,
auf dem die Zukunft der beschreibenden Psychologie liegt. Hugo Münster-
berg trägt sich mit der Absicht, eine Psychologie der sozialen Klassen zu schaf-
fen.
Auch die Mehrzahl der wissenschaftlichen Nationalökonomen hat sich mehr
und mehr auf diesen Boden gestellt und begonnen an den Vorarbeiten zu einer
beschreibenden Psychologie teilzunehmen. Sax sagt: nationalökonomische Theo-
rie ist angewandte Psychologie. Hasbach hat wertvolle Versuche gemacht, die
großen volkswirtschaftlichen Gelehrten, die er behandelt, auf das System ihrer
psychologischen Vorstellungen zu prüfen und den Zusammenhang desselben mit
deren volkswirtschaftlichen Lehren, Idealen und Forderungen nachzuweisen.
Ich habe Ähnliches versucht in bezug auf die drei großen führenden Schulen
der Nationalökonomie; ich habe in meinem Grundriß die Rassen und Haupt-
völker als psychologische Typen zu charakterisieren unternommen, nur zu dem
Zweck, um den Anfänger vor dem vorschnellen Generalisieren aus dem Typus
des sog. Wirtschaftsmenschen oder des egoistischen schottischen oder jüdi-
schen Geschäftsmannes zu bewahren. Knapp schrieb mir nach Erscheinen mei-
nes ersten Bandes des Grundrisses, in der Betonung des Psychologischen finde
er das Charakteristische mehr als in der des Historischen. Brentano hat in
glücklicher Weise die ältere und die neuere Arbeiterpsyche zu fassen gesucht.
F. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden Gerech-
tigkeit bei der Preisbildung sowie die Wirkung den Eigennutzes im Groß-
verkehr — abweichend vom Kleinverkehr — festzustellen gesucht. Unsere ganze
große wirtschaftlich beschreibende Literatur hat fast durchaus psychologische
Analysen zum Ausgangspunkt. Sombarts Aufsatz über den kapitalistischen Un-
ternehmer im Archiv f. Soz. W. und sein neuestes Buch über die Juden ruhen
in erster Linie auf psychologischer Analyse. Meine ganzen Untersuchungen
über Gesellschafts-, Genossenschafts-, Aktienwesen usw. gehen von den ver-
schiedenen psychologischen Voraussetzungen dieser Formen aus. A. Wagner
hat seiner Grundlegung eine psychologische Trieblehre eingefügt; ich habe
meinem Grundriß in der Einleitung einen Abriß der individualen und massen-
psychologischen Verursachung wirtschaftlichen Handelns einverleiben zu müs-
sen geglaubt. Und alle diese Ansätze werden siegreich weiter sich ausbilden,
so unvollkommen sie heute noch sein mögen.
13.
Am einfachsten ist der hauptsächlich 1880 bis 1900 herrschende Streit zwischen
[93] den sog. Anhängern der Deduktion und denen der Induktion aus der Ge-
schichte unserer Wissenschaft zu erklären.
Als im 18. Jahrh. die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre entstand, entnahm
sie den allgemeinen Rahmen dem Naturrecht und ihre Vorstellungswelt den
damaligen westeuropäischen Staaten. Man kannte außereuropäische Kultur und
Rassen fast noch nicht, man glaubte an die Gleichheit aller Menschen und aller
gesellschaftlichen Einrichtungen; so kam man zu der Vorstellung, aus der all-
gemeinen Menschennatur ergeben sich überall gleiches wirtschaftliches Han-
deln und gleiche Wirtschaftseinrichtungen. In diesen Rahmen zeichnete man
dann das volkswirtschaftliche Detail der Markt-, Wert- und Preiserscheinun-
gen, ferner die Arbeitsteilung der sozialen Klassen und die Einkommensvertei-
lung unter sie, die Grundrente, den Zins, den Arbeitslohn ein. Die Erkennt-
nis über diese Einzeldinge bildete sich aber wesentlich aus der Erfahrung,
aus Beobachtung und geprüften Hypothesen, aus der Induktion. Aber in den
systematischen Werken, die nun 1750—1800 entstanden, erschien dann all das
zusammen als ein fertiges Lehrgebäude, das man von den erkannten oder ver-
muteten psychologischen Ursachen ausgehend darstellte; die Folgen dieser Ur-
sachen wurden deduktiv vorgetragen. Es ist das große Verdienst Hasbachs,
darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß die Lehrbücher für den Unterricht
der Jugend stets so verfahren; sie zeigen nicht, wie die Resultate induktiv
gewonnen wurden, sondern wie sie, einmal gewonnen, deduktiv dargestellt
werden können. Neuerdings hat Lavasseur ganz ähnlich betont, die Unter-
suchung verfahre meist induktiv, die Darstellung gewonnener fertiger Resultate
mehr resp. überwiegend deduktiv.
Als dann im 19. Jahrh. Mill und Cairness nach dem Vorbilde der Naturwissen-
schaften die deduktive Methode für die Nationalökonomie als die wichtige
und ausschlaggebende glaubten hinstellen zu können, bildeten sie sich ein, die
Nationalökonomie sei so auch wesentlich durch Deduktion entstanden. Schon
Ad. Smith sei so verfahren, während doch erst von Ricardo an diese Vor-
stellung entstanden ist und dann sich als allgemeiner Glaube verbreitet hatte.
Schon Malthus hatte ihm deshalb voreilige Generalisation, „crude and prema-
ture theories“ vorgeworfen; aber das war schnell vergessen. Immer war, so-
lange die alte Gesellschaftsverfassung, die Arbeitsteilung, der Verkehr sich
noch in ähnlichen Bahnen bewegte, wie 1760—1850, eine starke Veränderung
in der Theorie und der Politik der Volkswirtschaft nicht dringend nötig und
konnte daher auch der Glaube an die allein seligmachende Deduktion herr-
schend bleiben. Erst von Mitte des 19. Jahrh. an wurde das Bedürfnis nach
einem Neubau der Volkswirtschaftslehre dringlich. Eine historische, geogra-
phische, wirtschaftliche und politische Erfahrungswelt von ungeheurem Umfang
stand jetzt der alten deduktiven Theorie und ihren Lehrsätzen gegenüber. Man
sah nun mehr und mehr das Falsche und Schiefe vieler älterer, voreiliger
Generalisationen ein. Neben dem Sozialismus begann die historisch-realistische
Schule den Kampf gegen die alten Methoden der Volkswirtschaftslehre, for-
derte strengere und umfassendere Beobachtung und Beschreibung, Gleich-
berechtigung der Induktion mit der Deduktion. Es war natürlich, daß man in
den Ländern stabilen wissenschaftlichen Lebens und geringer wirtschaftlicher
Entwickelung sich diesen Forderungen entgegensetzte; es wurde das Märchen
verbreitet, von Quesnay und A. Smith bis Ricardo hätten die Nationalökonomen
[94] alle ausschließlich deduktiv geforscht. Auch in Deutschland setzten sich Men-
ger, Sax, John, Dietzel und andere für die alten Methoden ein; A. Wagner
suchte zum mindesten die Gleichberechtigung der zwei streitenden Methoden
zu retten, wobei ihm die Deduktion noch näher stand. Der 1880—1900 ge-
führte Streit ist hier nicht näher zu schildern. Er ist heute zurückgetreten in
der Erkenntnis, daß je nach persönlicher Anlage und Studium, je nach den
behandelten Problemen und Fragen, je nach dem engeren oder weiteren Um-
kreise, auf den sich die untersuchten Gegenstände erstrecken, je nachdem Un-
tersuchung von ungelösten Problemen oder Darstellung von gelösten in Frage
steht, der einzelne Forscher naturgemäß mehr der Induktion oder mehr der
Deduktion oder beider Methoden nebeneinander sich bediene, daß überhaupt
von einem Vorzug der einen vor der anderen Methode nicht eigentlich die
Rede sein könne. Am besten hat Hasbach (Jahrb. f. Ges., „Zur Geschichte des
Methodenstreits 1895) die Frage erledigt. Er schließt mit den Worten: „ich
habe mich bemüht zu zeigen, daß die Deduktion aus dem Prinzip des Selbst-
interesses absolut unfruchtbar gewesen ist, daß gewöhnlich empirische Regel-
mäßigkeiten den Anfang der Erkenntnis gebildet haben, welche in einzelnen
Fällen zu allgemeinen empirischen Gesetzen verbunden wurden und daß die
kausale Erklärung aus psychologischen Prinzipien den Erkenntnisprozeß ab-
schloß.“ Er fügt bei: auf Gebieten gesicherter Erkenntnis muß die deduk-
tive, auf anderen die induktive Methode verwandt werden.
14.
Um zur Klarheit über diese wichtige Fragen zu kommen, scheint es nötig,
einen Blick auf die Entstehung des Sprachgebrauchs von wissenschaftlichen
Gesetzen, auf den Gegensatz der Naturgesetze und der Gesetze im Gebiete des
geistigen Lebens, auf den Unterschied der Preisgesetze, der anderen wirt-
schaftlichen Gesetze, die auf Ursachen psychologischer Massenwirkung be-
ruhen, die statistischen Gesetze, und der sog. wirtschaftlichen Entwickelungs-
gesetze einzugehen. Hauptsächlich Fr. J. Neumann hat auf diesem Gebiete
Klarheit geschaffen. Außerdem müssen wir dann ein Wort darüber sagen,
welche Bedeutung die Gesetze in der Volkswirtschaftslehre überhaupt haben.
Das Wort Gesetz (nomos, lex) bedeutete ursprünglich die gesellschaftliche
Zwangsordnung, die die Staatsgewalt erläßt und aufrecht erhält. Aber bald
wurde der Begriff auch auf die göttlichen Gesetze und die der Natur über-
tragen, ohne einen festen Unterschied zwischen diesen drei Arten der Gesetze
zu machen. In der jüdisch-christlichen Welt wurde hauptsächlich der gött-
liche Weltplan in der Geschichte, die göttliche Gesetzesmäßigkeit alles Ge-
schehens betont (Eulenburg). Bis ins 17. und 18. Jahrh. wurden vor allem die
leges naturae von vielen Schriftstellern zugleich als Gebote Gottes angesehen;
dabei war aber die vorherrschende Vorstellung von einer Notwendigkeit des
Geschehens in Natur und Geschichte die, daß der allmächtige Gott alles
Geschehen beliebig nach seinen unerforschlichen Plänen lenke. Der beginnende
Bruch mit dieser Anschauung setzt mit Baco ein, der statt der causae finales,
die im göttlichen Willen beruhen, die causae efficientes, die im wirklichen
Leben das Geschehen direkt herbeiführenden Ursachen zunächst in Physik und
Anthropologie suchen wollte; das gleiche erstrebte dann Hobbes in der Staats-
lehre, Locke in der Psychologie. Damit war man auf dem Wege zu Natur-
gesetzen, in die Gott nicht direkt eingreife. Newton suchte diesen Weg der
christlichen Auffassung durch die Erklärung annehmbar zu machen, daß er
[95] die Vollkommenheit der ursprünglichen göttlichen Schöpfung auseinander-
setzte, welche die Welt dann sich selbst und ihren Naturgesetzen habe über-
lassen können.
Immer sind bei Petty, Hobbes, Locke, Cantillon, bei Quesnay und Montesquieu
die Naturgesetze und die göttlichen und Moralgesetze noch mehr oder weniger
eins und dasselbe. Es lag dem Naturrecht und der Verherrlichung der mensch-
lich individualistischen Triebe nahe, die Gesetze des Sollens und des Seins zu-
sammenfallen zu lassen, man identifizierte Selbsterhaltungstrieb und Pflicht-
gefühl, deren Durchsetzung das Geschehen erklärte. Für Hobbes ist die Lehre
von der ungeteilten starken Staatsgewalt die lex naturalis prima et fundamen-
talis; sie ist ihm zugleich Moralgebot und göttliches Gesetz, so sehr er daneben
das Gesellschaftsleben aus den selbstischen Trieben ableitete. Aber wie bei
Hobbes, so drängt auch sonst die Vorstellung von Gesetzen als Zusammenhän-
gen von Ursache und Wirkung vor, in die Gott nicht eingreift. Wenn Locke
gelegentlich von den „rules und laws of value“ spricht, wenn Ricardo nach
„laws strebt, which determine the distribution of wealth,“ so schließen sie
sich dem Sprachgebrauch der Naturforscher an, die vor allem seit dem 18.
Jahrh. Naturgesetze suchten und fanden, welche auf eine strenge unabänder-
liche, von der Gottheit unberührte Wiederkehr der Koexistenz, noch mehr der
zeitlichen kausalen Folge der Erscheinungen zielten. Diese waren und blieben
aber bis auf den heutigen Tag in ihrem Charakter doch mannigfaltig verschieden.
Wir unterscheiden heute unter den Naturgesetzen kausale und empirische Ge-
setze; bei ersteren können wir im allgemeinen die Ursache der Wiederkehr
von Vorgängen, bei letzteren nicht; ferner unterscheidet man elementare und
abgeleitete Gesetze; Gesetze deren Folgen meß- und zählbare sind (d. h.
exakte) und solche, wo das nicht der Fall ist; einfache und komplexe Ge-
setze, je nachdem eine Ursache oder mehrere zusammenwirkende festge-
stellt sind; bei allen Naturgesetzen wird strenge ausnahmslose Wirkung an-
genommen, freilich mit der Einschränkung, daß überall Nebenumstände und
Gegenwirkungen auftreten können, welche den stets vorhandenen Druck der
Hauptursache aufheben oder modifizieren können. In den angewandten Natur-
wissenschaften handelt es sich hauptsächlich um solche komplexe Gesetze, die
scheinbar weniger streng sind, in ihrer sichtbaren Folge mehr nur Tendenzen
nach einer gewissen Richtung hin aufdecken, als vollständig gleiche Wirkungen
nach Art und Stärke.
Diese begriffliche Entwickelung der Naturgesetze, der Sprachgebrauch und
Sinn, der sich damit verband, übertrug sich nun auch auf die Geisteswissen-
schaften, vor allem auf die Volkswirtschaftslehre. Der glänzende Aufschwung
der Naturwissenschaft von 1750 bis 1900, die naheliegende Annahme, daß
die Denkgesetze und wissenschaftlichen Methoden einheitliche in gewissem
Sinne seien, trug dazu bei, wie die materialistischen Zeitströmungen. Man
übersah die Unterschiede, die im Stoffe liegen, man glaubte die einzelnen Gei-
steswissenschaften zu adeln, wenn man sie möglichst in naturwissenschaft-
liches Gewand steckte. Neuerdings trat dagegen eine sehr starke Reaktion ein,
die von Gesetzen in den Geisteswissenschaften überhaupt nichts wissen will
oder sie verächtlich als untergeordnete Hilfsmittel behandelt. Wir werden wei-
terhin sehen, wie das Berechtigte und das übers Ziel Hinausschießende in die-
ser Bewegung ist.
[96] Versuchen wir zunächst im Anschluß an Neumann festzustellen, welchen Sprach-
gebrauch unsere Wissenschaft in den maßgebenden Kulturländern in bezug auf
volkswirtschaftliche Gesetze ziemlich übereinstimmend heute hat. Neumann
führt als anerkannte Gesetze, die aus dem wirtschaftlichen Eigennutz sich er-
geben, folgende an:
1. Die Preisgesetze, a) daß bei steigender resp. sinkender Nachfrage, bei stel-
gendem, resp. sinkendem Angebot die Preise die Tendenz haben, sich in
umgekehrter Richtung zu bewegen, b) daß die Preise nach dem Betrage der
niedrigsten Kosten billigster Produktionsart gravitieren, sofern letztere nach Be-
darf auszudehnen ist, im anderen Falle aber, nach den niedrigsten Kosten der
zur Befriedigung solchen Bedarfs noch in Anspruch zu nehmenden teuersten
Produktionsart; c) daß die Preise weniger entbehrlicher Dinge stärker zu
schwanken neigen als die der entbehrlichen.
2. Gesetze, die als weitere Folgen des Eigennutzes erscheinen: a) daß ähn-
lich wie Preise und Löhne auch die Gewerbs- und Unternehmereinkünfte nach
gewissen Minimalbeträgen gravitieren; b) daß die großen die kleinen Betriebe
zu verdrängen tendieren und c) daß im Zusammenhang damit die größern
Einkommen und Vermögen stärker wachsen als die mittleren und kleineren,
d) daß die Intensität der Bodenbewirtschaftung mit der Entfernung des zu
bewirtschaftenden Bodens vom Marktort geringer zu werden tendiere; e) daß im
Münzverkehr das schlechte Geld das gute, f) im Banknotenverkehr die kleinen
Stücke die rascher Zurückströmenden größeren zu verdrängen tendieren.
3. Auf Gerechtigkeitsgefühle führt Neumann dann eine Reihe von Erscheinun-
gen im Gebiete der Steuern und der öffentlichen Beiträge zurück, die man
als Gesetze bezeichne.
4. Auf andere Ursachen und Motive führt er endlich zurück: a) das Gesetz
des abnehmenden Bodenertrags; b) das Malthussche Bevölkerungsgesetz, endlich
c) die sog. Entwickelungsgesetze, die teilweise schon Aristoteles erkannt hat,
wie den Übergang von der geschlossenen Hauswirtschaft zur chrematistischen,
auf Vermögensgewinn bedachten Wirtschaft; ferner gehören hierher der
Übergang der Natural- zur Geld- und Kreditwirtschaft, die Ausbildung der
Arbeitsteilung-, der Unternehmungs-, der Arbeitsentlohnungsformen, auch die
von Neumann freilich nicht erwähnte Entwickelung der Dorf- und Hauswirt-
schaft zur Stadt-, Territorial- und Volkswirtschaft.
Alle kausalen wirtschaftlichen unter 1 bis 3 genannten Gesetze seien „ein Aus-
druck für je eine aus bestimmten Ursachen als solchen sich im allgemeinen
ergebende Wiederkehr besonders wichtiger wirtschaftlicher Erscheinungen.“
Dieselben sind nach Neumann nirgends exakte Gesetze, d. h. in zähl- und
meßbarer Form sich durchsetzende; sie deuten alle immer nur Tendenzen an,
die sich an bestimmte psychologische Massenerscheinungen auf bestimmter
Kulturhöhe anknüpfen; sie haben also stets einen hypothetischen Charakter;
die Folgen treten ein, wenn und so fern die vorausgesetzten Motive der handeln-
den Menschen stark genug sind, nicht örtlich und zeitlich von entgegengesetzten
Motiven zurückgedrängt werden. Aber in den wirtschaftlich höher entwickelten
Kulturstaaten der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit mit ihrer dich-
ten Bevölkerung, mit ihren schweren Kämpfen um die wirtschaftliche Exi-
stenz, mit ihrer Wucht der sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge
treten — nach Neumann — die Unterschiede und Abweichungen der beobach-
[97] teten psychologischen Massenerscheinungen soweit zurück, daß einerseits der
wirtschaftliche Erwerbstrieb der Einzelnen, andererseits gewisse Arten seiner
Einschränkung durch genossenschaftliche, korporative, staatliche Maßnahmen
und durch die damit zusammenhängenden, höheren Gefühle der Gerechtigkeit
und Tendenzen des Interessenausgleiches so allgemein seien, daß für die in
Betracht kommenden Massenerscheinungen wohl von einer gesetzlichen Not-
wendigkeit gleicher Folgen aus gleichen Ursachen zu reden sei.
Und man wird sagen können, diese Notwendigkeit sei auf dem Gebiet des
volkswirtschaftlichen Handelns so viel größer als auf anderen geistigen Gebieten,
daß der Sprachgebrauch dazu gekommen sei, viel mehr von volkswirtschaft-
lichen als etwa von sozialen, ästhetischen, politischen, historischen Gesetzen zu
sprechen. Dieser Sprachgebrauch ist so allgemein, daß er nicht wohl zu be-
seitigen sein wird. Wir hätten kein anderes passendes Wort für die Charakteri-
sierung dieser Notwendigkeit. Auch der Hinweis auf die Andersartigkeit der
Naturgesetze nötigt deshalb nicht zur Aufgabe des Gesetzesbegriffs in unserer
Wissenschaft, weil auch viele Naturgesetze empirischer Natur sind, nur Ten-
denzen andeuten, keinen exakten Charakter haben, in der praktischen Wirk-
lichkeit meist nicht absolut strenge Gleichmäßigkeit der Erscheinungen er-
zeugen. Kein Tier, kein Baum wiederholt sich in absolut gleicher Form; wie
sollten sich da menschliche Individuen, Ereignisse und Zustände in vollendeter
Genauigkeit wiederholen? Aber Regelmäßigkeiten, Wiederkehr typischer For-
men finden wir in dem Gebiete unserer Wissenschaft in der allerumfassend-
sten Weise; unsere Denkgesetze nötigen uns diese Wiederkehr im Zusammen-
hang mit fest umschriebenen eindeutigen Ursachen dadurch anzuerkennen,
daß wir sie als Gesetze bezeichnen.
Nur dürfen wir, so wenig als die Naturforscher, die Verschiedenheit der
Naturgesetze und ihre Wirkung übersehen; wir dürfen nicht vergessen, daß
die Gesetze des natürlichen und des geistigen Lebens bei vieler Übereinstim-
mung doch auch wesentliche Unterschiede zeigen. Neumann glaubt das Ge-
meinsame und das Unterscheidende der Wirtschafts- und gewisser Natur-
gesetze so fassen zu können: a) Das Objekt dieser wie jener sei eine aus be-
stimmten Ursachen sich ergebende Wiederkehr von Erscheinungen; beidesmal
träten die Wirkungen jener Ursachen nur ein, wenn sie nicht durch andere
beeinträchtigt würden; beidesmal handele es sich um Ursachen von Bedeu-
tung, deren Erkenntnis für die Wissenschaft wie für die Beherrschung kom-
mender Dinge sehr wichtig sei. b) Der Unterschied liege in dem Gegensatz
der natürlichen und der psychologischen Ursachen; letztere seien nach Nation,
Ständen, Klassen, Individuen vielfach sehr verschieden, ließen sich also
schwer oder selten in scharf abgegrenzten Einheiten erfassen, gäben demnach
keine exakten Resultate, wenn auch der Eigennutz in den heutigen westeuro-
päischen Ländern mehr Einheitlichkeit zeige als andere Motive, wie etwa der
Sinn für Gerechtigkeit, Billigkeit, Gemeinnützigkeit. Zugleich liegt in der
Betonung der westeuropäischen Gegenwart und ihrer führenden wirtschaft-
lichen Schichten die selbstverständliche Einschränkung, wie sie jedem psycho-
logischen Gesetz eignet, daß die aus bestimmten Eigenschaften einer Zeit und
einer Klasse folgenden Handlungen und Institutionen nicht von anderen Zeiten
und Klassen zu erwarten sind. Doch hebt selbstverständlich diese Einschränkung
weder den Begriff der Gesetzmäßigkeit noch den des Gesetzes auf: nur gleiche
[98] Ursachen (hier gleiche Menschen) können die gleichen Folgen haben. Auch
darin hat Neumann recht, daß er zwischen den oben 1—3 genannten Gesetzen
und den historischen Entwickelungsgesetzen (4) einen großen Unterschied ma-
chen will; er schließt letztere von seiner Erörterung ganz aus. Wir werden
sagen können, die ersteren beruhten auf relativ umgränzten psychologischen
Motiven (wirtschaftlicher Eigennutz, Gerechtigkeitssinn) der heutigen geld-
wirtschaftlichen Völker resp. ihrer wirtschaftlich führenden Elemente; die
sog. Entwickelungs- und andere (sub 4 angeführten) Gesetze beruhen teilweise
auf Naturursachen, teilweise auf Motivengruppen viel komplizierterer Art und
ihrer zeitlichen Veränderung, wie sie durch Kulturfortschritt, Rassenmischung,
Rassenaufstieg und Rassendegeneration erfolgt. Wir kommen gleich darauf
zurück.
Vorher noch ein Wort über den Sprachgebrauch, der konstatierte Regelmäßig-
keiten ohne einigermaßen erfolgte Ursachenfeststellung als empirische Ge-
setze bezeichnet. Neumann rät von diesem Sprachgebrauch ab. Und auf
ähnlichem Boden stehen manche jüngere Nationalökonomen wie Diehl, Bo-
nar, M. Weber, Biermann. Es läßt sich dafür viel sagen, zumal für die Fälle,
wo die Ursachenforschung noch ganz fehlt oder noch ganz im Dunkeln tappt.
Aber wo sie begonnen und noch nicht zum vollen Ziele gelangt ist, wird
man das Wort „Gesetz“ nicht so leicht verbannen können und der Zusatz „em-
pirisch“ deutet dann nur die Unvollendetheit der Ursachenforschung an. Ich
denke dabei besonders an die statistischen Gesetze, die Neumann nicht in
seine Untersuchung einbezieht.
Wir verstehen unter statistischen Gesetzen die zahlenmäßige durch statistische
Massenbeobachtung konstatierten Regelmäßigkeiten von Geburten, Eheschlie-
ßungen, Todesfällen, Verbrechen und ähnliche soziale Einrichtungen. Wir
sehen hier eine bestimmte Konstanz und zeitweise Abweichungen; beides ver-
anlaßt uns, hier eine bestimmte Konstanz, wie dort eine bestimmte Veränderung
der sämtlichen in Betracht kommenden Ursachenreihen zu vermuten. Die Ur-
sachen liegen in Naturtatsachen, biologischen und Rassenverhältnissen, wirt-
schaftlich-technischen und psychologischen Zuständen, unter denen einheit-
liche Menschengruppen stehen; ihre Einheitlichkeit schließt örtliche und zeit-
liche Abweichungen nicht aus; aber wir bemerken, daß diese teils gering
sind, teils sich in den großen Zahlen gegenseitig neutralisieren, so daß die
statistischen Ergebnisse doch immer als Folgen relativ gleicher oder in er-
kennbarer Weise sich ändernden Ursachen erscheinen. Man nannte diese Regel-
mäßigkeiten eben deshalb Gesetze, weil viele in so überraschender Weise
durch Jahre hindurch konstant bleiben und man daneben die Abweichungen
nicht unschwer (z. B. Steigerung der Todesfälle durch Krankheiten, Kriege,
Hungersnot, Krisen) erklären konnte. Man wird sie nicht als Gesetze
schlechtweg, sondern nur als empirische Gesetze bezeichnen können, weil eben
über die unendliche Komplikation der Ursachen, über den Anteil, den die
einzelnen Gruppen derselben am Endergebnisse haben, fast nirgends eine ganz
zuverlässige Erkenntnis vorliegt, so unschwer im großen und ganzen die Ur-
sachen und Ursachengruppen erkennbar sind.
Die Resultate der Statistik waren zunächst so überraschend, erinnerten so
sehr an naturwissenschaftliche Beobachtungen, verblüfften durch die gleichen
Zahlenreihen vieler Forscher so, daß sie zu den extremsten materialistischen
[99] Schlüssen und Hoffnungen Anlaß gaben; die Zahlen erschienen Quetelet, Buckle
und Anderen als der vollendetste Schlüssel zur Lösung aller sozialen Erkenntnis-
probleme. Nun schien endlich klar, daß auch alle Geisteswissenschaften der
naturwissenschaftlichen Methode, der zahlenmäßigen Fassung zugänglich seien.
Man vergaß, auf wie wenige Fragen sich diese Massenzählung anwenden
läßt, wie roh und äußerlich die Fragestellung bleibt, wie die Statistik sich
überwiegend im Gebiete des Naturgeschehens bewegt.
Und so hat sich naturgemäß eine starke geisteswissenschaftliche, haupt-
sächlich historische Opposition gegen diese Übertreibungen gebildet. Sie schießt
nun aber ihrerseits übers Ziel hinaus, wenn sie sagt, wer historische Gesetze
leugne, müßte auch die statistischen verwerfen; hier wie dort schließe die
Unbestimmbarkeit der individuellen Entschließungen das Gesetz aus (Bernheim).
Darauf ist zu sagen, daß auch alle individuellen Entschließungen unter psycho-
logischen Ursachen stehen, daß nur die psychologischen Gesetze noch nicht für
alle historischen Erscheinungen voll erkannt sind; daß diese vielleicht niemals
soweit werden erkannt werden, um die Entschlüsse der großen Männer, die Ge-
setzgebung verschiedener Epochen, die großen Völkerschicksale ganz zu erklä-
ren. In der Statistik und ihren Gesetzen handelt es sich aber um das viel
bescheidenere Ziel, die in engen Schwankungen verlaufenden überwiegend
natürlichen Menschenschicksale in ihrem Durchschnitt und nach den Durch-
schnittseigenschaften gewisser fest abgegrenzter psychologisch erforschter Men-
schengruppen zahlenmäßig zu fassen und kausal zu erklären. Simmel sagt
nicht in bezug auf die Zahl der Todesfälle und Geburten, sondern in bezug auf
die der Selbstmörder (x Selbstmörder auf 10000 Menschen), also auf eine der
überwiegend auch durch geistige Ursachen bedingten statistischen Erscheinun-
gen: wenn wir von einem innerlich verbundenen Sozialwesen, einem Volke,
das als solches besondere Eigenschaften habe, aussagen: so und so viel Selbst-
mörder fallen jährlich auf 10000 Menschen, so nähere sich diese Aussage
„dem Sinne eines wirklichen Gesetzes“.
Ob man auch von einem Gesetz des abnehmenden Bodenertrags oder von
einem Malthusschen Bevölkerungsgesetz sprechen könne, möchte ich dagegen
meinerseits sehr bezweifeln. Doch versagt mir der Raum hierauf einzugehen.
Nur darüber, ob man von Entwickelungsgesetzen der Volkswirtschaft spre-
chen solle, möchte ich noch einige Worte sagen. Es wird leichter sein, wenn
ich vorher meine Stellung gegenüber den Philosophen und Volkswirten kurz
feststelle, die überhaupt alles Suchen nach Gesetzen in den Geisteswissenschaf-
ten ablehnen. Erst nachdem das geschehen, kann ich mich über wirtschaftliche
Entwicklungsgesetze und über historische Gesetze überhaupt definitiv aus-
sprechen.
Wir haben oben (§ 3) schon darauf aufmerksam gemacht, wie der an
sich berechtigte Kampf gegen das Vorherrschen naturwissenschaftlicher Me-
thoden in den Geisteswissenschaften bei Windelband und Rickert, noch mehr
bei einzelnen ihrer Schüler zur Verwerfung aller Gesetze in den Geisteswissen-
schaften geführt haben. Für Windelband sind nur die Naturwissenschaften
nomothetisch, d. h. gesetzaufstellend; die Geisteswissenschaften haben das
Individuelle idiographisch nachempfindend und anschaulich darzustellen; „das
Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte inkommensurable Größen unserer
Weltvorstellung nebeneinander bestehen“. Ähnlich Rickert: „historische Ge-
[100] setze sind eine contradictio in adjecto“. Max Weber sagt in bezug auf die
Geistes(Kultur)wissenschaften: „wir fragen nicht nach Gesetzen, sondern
nach konkreten Zusammenhängen“; Kenntnis von Gesetzen sei nicht Zweck,
sondern höchstens Mittel der Untersuchung; die Erkenntnis der Generellen,
die Bildung abstrakter Gattungsbegriffe, die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten
und der Versuch der Formulierung von gesetzlichen Zusammenhängen habe
wohl auch eine wissenschaftliche Berechtigung; aber das Wesentliche im
Gebiete der Kulturwissenschaften sei die Erfassung der stets individuell ge-
arteten Wirklichkeit des Lebens, ihre Beziehung auf universelle Kulturwerte;
die Zurückführung der ökonomischen Erscheinungen auf psychologische Ur-
sachen und Gesetze sei nicht möglich, weil alle hierher gehörige Wirklichkeit
individuell, einzigartig sei.
Wir haben aber schon erwähnt, daß die beiden erst genannten Gelehrten
ihren extremen Standpunkt nachher modifiziert haben; Weber war von
Anfang an etwas vorsichtiger. Gottl dagegen erklärt in fast burschikosem
Tone, die Einheit der wissenschaftlichen Methoden für Natur- und Geisteswis-
senschaft für ein nichtsnutziges Schlagwort, „das von der Ignoranz lebe und
sich dann erst noch von der Denkfaulheit aushalten lasse.“ „Ursachen, sagt
er, kennt die noetische Kausalität gar nicht; sie kennt nur Seelenvorgänge und
res gestae.“
In dieser lebhaften Protestbewegung steckt nun natürlich ein gutes Stück
Berechtigung, aber auch viel Übertreibung. Suchen wir das Wahre darin
zu präzisieren. Je komplizierter die geistigen, die sozialen, die wirtschaftlichen
Prozesse werden, desto weniger gelingt es, die Erscheinungen restlos kausal
zu erklären, sie auf Gesetze, psychologische oder andere zurückzuführen, sie
überhaupt in ihrer Totalität und allen Einzelheiten wissenschaftlich zu fassen,
Wir können von ihnen nur in einem Ausleseverfahren das Wichtigere erfas-
sen. Und das geschieht, wie Rickert und Weber mit Recht sagen, durch Be-
ziehung des Wichtigen auf Kulturwerte, auf sittliche Werte; es geschieht
durch Herausfinden des lange oder dauernd Fortwirkenden, des durch seine
Einzigartigkeit Hervorragenden. Was einzigartig sei, darüber wird immer
gestritten werden können; im gewissen Sinne ist jede Erscheinung, jedes
Ereignis, jede Person einzigartig; aber sie ist es häufig nur von einer teils
bedeutsamen, teils gleichgültigen Seite aus, in einem Punkte ihres Wesens
oder Wirkens. Wenn der Hirtenjunge von seiner Schafherde, die 300 Köpfe
zählt, jedes Gesicht individuell kennt, so ist für ihn jeder der Schafsköpfe in-
dividuell und einzigartig, für den Volkswirt ist der Einzelne aber nur eine
vertretbare Nummer. Jedes menschliche Individuum ist in gewisser seelisch-
moralischer Beziehung individuell, für die soziale und wirtschaftliche Be-
trachtung im ganzen aber sind viele, wenn nicht die meisten Menschen Num-
mern, wie jene Schafsköpfe. Dagegen sind natürlich die großen Staatsmänner
und wirtschaftlichen Gesetzgeber, die großen Volkswirte wie Ad. Smith und
Ricardo für uns einzigartige Erscheinungen, die nur durch gute Biographien
für die Wissenschaft zu erledigen sind. Die meisten Spezialuntersuchungen, die
wir heute über Industrieen, ihre Geschichte, ihre Verfassung, ihre Blüte an-
fertigen, werden eine Summe von kausalen Gesetzen, von gewöhnlichen volks-
wirtschaftlichen Begriffen nun dazu verwenden, um die Erscheinung generell zu
fassen, aber sie werden daneben auch das Einzigartige derselben, soweit es vor-
handen ist, intuitiv, anschaulich zu fassen suchen. Eine Untersuchung wie die
[101] von M. Weber über die wirtschaftliche Bedeutung des Calvinismus ist
in ihrer historisch-psychologischen Begründung ein Bild großer geistig-
individueller Prozesse, in dem kausale Glieder nicht fehlen, wobei aber das
nachempfindende Verständnis historischer Größe und ihrer Wirkung gewiß
bedeutungsvoller ist als die Zurückführung der Erscheinungen auf kausale Ge-
setze. So, scheint mir, ist die Kontroverse zwischen gesetzlicher Kausalerklä-
rung und idiographischem Erfassen der großen und der komplizierten volks-
wirtschaftlichen Erscheinungen wohl zu lösen. Wo der Weg der Kausalerklärung
wegen der Größe und Kompliziertheit des Problems versagt, gehen wir den
anderen. Wo wir individuelle Erscheinungen, einzelne große Geschäfte, die
Wirtschaft einer Stadt, eine Volkswirtschaft zu bestimmter Zeit schildern,
reihen wir sie in bekannte Begriffe ein und erklären wir das Einzelne so-
weit möglich kausal, aber wir fassen zugleich das Ganze einheitlich in sei-
ner Eigentümlichkeit zusammen, vergleichen es mit anderen ähnlichen eigen-
tümlichen Erscheinungen und bereiten so wieder Generalisierungen vor. So
können beide Wege zugleich gegangen werden; unter Umständen versa-
gen beide. Die Verachtung des einen Standpunktes für den andern ist wohl
aus der methodologischen Geschichte unserer Wissenschaft und der Tatsache
erklärbar, daß die wissenschaftlichen Richtungen stets zunächst ihre neuen
Gedanken übertreiben und sich im Kampfe auseinandersetzen, aber nicht in
der Sache auf die Dauer begründet.
Und nun zurück zu den volkswirtschaftlichen Entwicklungsgesetzen und
dann zu den historischen Gesetzen überhaupt.
Bei dem, was man neuerdings volkswirtschaftliche Entwicklungsgesetze
genannt hat, handelt es sich um die im Laufe der Jahrhunderte sich ent-
wickelnden Formen und Gestaltungen, die Institutionen des wirtschaftlichen
Lebens. Man kann sie in Spezialgruppen gesondert oder in ihrer Verbindung
als lebendige Bestandteile einer bestimmten Volkswirtschaft zu fassen suchen.
Im ersteren Falle fragen wir nach der Entwickelung der Marktorganisation,
des Münz- und Geldwesens, nach der des gesamten Zahlungs- und Abrechnungs-
wesens, nach den Formen, die die Arbeitsteilung und soziale Klassenbildung
zeitlich und örtlich gehabt hat oder heute hat, nach den Organisationen,
die wir als Unternehmungsformen zusammenfassen, nach den verschiedenen
Finanzeinrichtungen; jede Gruppe solcher Erscheinungen suchen wir in ihren
einzelnen wichtigeren, tatsächlich vorkommenden Exemplaren zu erfassen, zu
beschreiben, die Ursachen ihrer Verschiedenheit festzustellen und damit suchen
wir vorzudringen zu der Erkenntnis, wie sie in Raum und Zeit sich ver-
schieden gestalten und auseinander hervorgehen. Untersuchungen dieser Art
bildeten im letzten Menschenalter einen wichtigen Teil der Arbeit in unserer
Wissenschaft. Von einer Vollendung derselben sind wir noch sehr weit ent-
fernt. Viel schwieriger noch ist die andere Aufgabe, nicht bloß die Entwicke-
lung der einzelnen volkswirtschaftlichen Institutionen, sondern die der gan-
zen Volkswirtschaften in ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung und Auf-
einanderfolge und in ihrer Verursachung zu erfassen. Auch damit hat sich
unsere Wissenschaft seit 50—60 Jahren befaßt: Hildebrand’s Theorie von der
sich folgenden Natural-, Geld- und Kreditwirtschaft, meine und Büchers Theo-
rie von der sich folgenden Haus-(resp. Dorf-), Stadt-, Territorial-, Volks-
und Weltwirtschaft sind die bekanntesten Versuche dieser Art.
[102] Ob man sich nun mehr auf die Entwickelung einzelner Institutionen oder
auf das Zusammenwirken derselben in den einheitlichen Volkswirtschaften
konzentriere, im einen wie im anderen Falle handelt es sich um die Unter-
suchung sehr komplizierter, durch Jahrhunderte hindurch reichender Ursachen
und Entwickelungsprozesse, handelt es sich um natürliche, biologische, tech-
nisch-wirtschaftliche, rassenmäßige und völker-psychologische, wie individual-
psychologische Ursachenreihen und deren Gesamtergebnisse: es handelt sich bald
darum, von den äußeren objektiven Resultaten des menschlichen Geisteslebens
aus die psychischen Ursachen, bald umgekehrt aus diesen wieder, so weit wir
sie zu fassen glauben, die äußeren gesellschaftlichen Gestaltungen zu ver-
stehen. Die mannigfaltigsten Verfahrungsweisen, sagt Dilthey mit Recht, wer-
den da heute angewandt: von denen an, die ohne Psychologie auszukommen
streben, bis zu denen, welche der Psychologie die Stellung in den Geistes-
wissenschaften zuerkennen, welche die Mechanik in den Naturwissenschaften
einnimmt. Von einer ausreichenden beschreibenden Psychologie haben wir,
wie oben ausgeführt, nur Anfänge. So kann es nicht wundernehmen, daß wir
auf diesem Gebiete volkswirtschaftlicher Entwickelungserkenntnis mehr nur
Anfänge, Bruchstücke, Hypothesen als fertige Resultate haben. Wir haben
meist mit Beschreibungen einzelner Gruppen von volkswirtschaftlichen Erschei-
nungen begonnen, z. B. mit den Markt- und Börseneinrichtungen und Ver-
kehrsmitteln verschiedener Orte und Zeiten, mit den Unternehmungsformen der
Vergangenheit und der Gegenwart. Aus solchen Teiluntersuchungen stellen
wir Hypothesen auf, suchen die Zusammenhänge der jüngeren mit den älteren
Erscheinungen, die Wechselwirkung anderer Einrichtungen mit den untersuch-
ten, z. B. die des Geldwesens und der Arbeitsteilung mit den Unternehmungs-
formen kennen zu lernen, und wenn es hoch kommt, suchen wir dann auch
die Einflüsse der jeweiligen Technik und den Zusammenhang der jeweiligen
geistigen, moralischen und rechtlichen Entwickelung mit den betreffenden
Institutionen zu erkennen.
Auch die Untersuchung der Entwickelung solcher Teilgebiete der Volkswirt-
schaft ist außerordentlich schwer, weil immer neben den empirisch-historischen
Detailkenntnissen auf verschiedenen Gebieten weiter Überblick über Zeiten,
geographische Gebiete, über große Strecken der Natur- und der Geisteswissen-
schaften dazu gehören. Aber die Schwierigkeiten steigern sich noch ins Un-
gemessene, wenn wir den gesamten historischen Entwicklungsgang des volks-
wirtschaftlichen Lebens überhaupt erfassen wollen. Und doch können wir auch
das nicht lassen, denn derartiges ist eben das für unser Erkenntnisstreben Wich-
tigste. Und große einheitliche Entwicklungslinien und Regelmäßigkeiten haben
sich doch dort wie hier vor uns aufgetan.
Es ist nur die Frage, ob wir sie Gesetze nennen sollen. Und es ist — glaube
ich — in der Tat viel angemessener, hier das Wort zu meiden, weil wir
dazu noch nicht weit genug sind. Auch den Namen empirischer Gesetze,
die wir z. B. für gewisse Ergebnisse der heutigen Statistik noch gelten las-
sen, möchten wir hier nicht anwenden, weil wir uns bewußt sind, beim
Zurückgehen auf psychologische Ursachen und wirtschaftliche Einrichtungen
vergangener Jahrhunderte viel weniger als bei der Frage nach den Ursachen
heutiger Todes-, Geburten-, Selbstmordzahlen umgrenzte Personeneinheiten mit
fest erkannten psychologischen Eigenschaften vor uns zu haben. Den Ausweg,
[103] den Knies hierfür vorschlägt, nicht von Gesetzen der Kausalität, sondern von
solchen der Analogie zu sprechen, scheint mir kein glücklicher. Von gesetz-
mäßiger Entwickelung ähnlicher historischer Reihen können wir wohl spre-
chen, aber nicht von mehr. Wir verzichten natürlich nicht auf die Hoff-
nung, später noch sehr viel weiter zu kommen, als wir heute sind; wir lassen
damit unseren Glauben nicht fahren, daß alles auf der Welt nach Ursachen und
Gesetzen geschehe, noch weniger die Hoffnung, mit unserer Erkenntnis ge-
wisse Wahrscheinlichkeiten künftiger Entwickelungsreihen zu gewinnen.
Was wir hier von der Anwendung des Gesetzesbegriffs auf die zunehmende
Erkenntnis der Entwickelung einzelner Teile und der ganzen Volkswirtschaft
sagen, gilt natürlich noch mehr, wenn wir die Volkswirtschaft und ihre Teil-
gebiete nun als bloße Ausschnitte aus dem Gesamtgebiete des ganzen Volks-,
Gesellschafts- und Staatslebens betrachten, d. h. wenn wir die historische
Entwickelung der Staaten und der Menschheit als ein Ganzes erfassen, wenn
wir den Sinn und den Zusammenhang der Geschichte überhaupt uns klar ma-
chen wollen. Es bedeutet gewiß einen der größesten geistigen Fortschritte,
daß man über die älteren religiösen und metaphysischen Vorstellungen in
bezug auf diese letzten großen Fragen hinauskommen wollte zu realer wis-
senschaftlicher Erkenntnis der Geschichte. Und einzelne Optimisten glauben
ja nun auch auf diesem Gebiete schon zu Gesetzen, zu „historischen Ge-
setzen“ gekommen zu sein. Die Frage ist aber, wie weit das möglich sei, ob
das, was heute mannigfach so genannt wird, nicht bloß Versuche auf dem
Wege zu solchen sind, ob hier überhaupt je von Gesetzen in dem Sinne, wie
wir ihn begrenzt haben, zu sprechen sein werde, ob das, was man „Ge-
setze“ genannt hat, nicht bloß Begriffsbildungen sind, die wir uns als in einer
historischen Reihe sich folgend denken, oder Urteile und Erfahrungssätze,
deren Grenzen und Verursachungen wir nur ganz unvollkommen kennen.
Es kommt da natürlich auch wesentlich auf den Begriff an, den der einzelne
Gelehrte sich vom Wesen des „Gesetzes“ gemacht hat. Wer, wie Lamprecht,
jedes stichhaltige Urteil, das sich auf die Wirklichkeit eines qualitativ bestimm-
ten Gegenstandes — hier der Geschichte — bezieht, ein Gesetz nennt, wird ganz
anders urteilen, als der, welcher ein Gesetz nur die Erkenntnis nennt, welche
aus bestimmten Ursachen als solchen, die sich im allgemeinen ergebende Wie-
derkehr wichtiger Erscheinungen ableitet.
Das Untersuchungsgebiet der Geschichte schließt neben der Volkswirtschaft und
ihren Teilen alle Abhängigkeit menschlicher Gesellschaftsentwickelung von
Natur-, Rasse-, biologischen Verhältnissen, alle Entwickelung der Sprache,
der Sitte, des Rechts, der Religion, der gesamten Gesellschaftsverfassung und
der individual- und massenpsychologischen Kräfte in sich, also eine Summe
von halbfertigen, teilweise kaum begonnenen Wissenschaften. Wir müßten
über Vererbung und Degeneration, über die psychischen Ursachen und ihre
Gesetze, über die große Frage des relativen Anteils des Genies und der Massen
an der historischen Gesamtentwickelung und viele andere wissenschaftliche
Fragen nach meiner Ansicht viel weiter sein, wenn wir ernstlich von histo-
rischen Gesetzen sollten sprechen können. Wenn Sigwart betont, alles historische
Urteil komme heute aus dem Schwanken zwischen der überwiegenden Beto-
nung des Individuellen und der einseitigen Abteilung aus den Massenerschei-
nungen nicht heraus, wenn auch Wundt, wie Dilthey, Windelband und seine
[104] Schüler die große Wichtigkeit des Singulären, Irrationalen in aller Geschichte in
den Vordergrund rücken, das wir natürlich auch als gesetzmäßig verlaufend
zu denken haben, es aber nicht aus Ursachen ableiten können; und wenn
Wundt betont, daß Gesetze demnach auf allen Gebieten in dem Maße schwie-
riger werden, als der Spielraum singulärer Einflüsse wachse, so wird man
zwar mit den genannten Philosophen jeden Fortschritt in psychologisch-histori-
scher Erkenntnis mit Freude begrüßen, aber doch mit ihnen, mit Sigwart,
mit Rümelin, wie mit der Mehrzahl der Historiker mindestens für die Gegen-
wart die Erreichung historischer Gesetze ablehnen.
Was hat man nicht alles für ein historisches Gesetz erklärt: praktische Lebens-
erfahrungen, denen stets wie den Sprichwörtern entgegengesetzte gegenüber-
stehen; man sprach von einem Gesetz des Beharrens, wie von einem des Wech-
sels in der Geschichte der Völker. Man nannte die Analogie der Völkerent-
wickelung mit den Lebensaltern des Individuums ein Gesetz. Bückle nennt es
ein Gesetz, daß der Fortschritt des Menschengeschlechts auf dem Erfolg be-
ruhe, der sich an der Erforschung der Gesetze der materiellen Erscheinungen
knüpfe. Kant nennt es nicht ein Gesetz, sondern eine Maxime, einen Vernunft-
begriff, eine Idee, einen verborgenen Plan der Natur, daß der Streit zwischen
der Selbstsucht der Individuen durch die Vergesellschaftung, durch die Staats-
ordnung und ihre Gesetze mehr und mehr im Laufe der Geschichte ge-
schlichtet werde; es ist eine teleologische Vorstellung, wie die, welche den
Sinn der Geschichte in der Erziehung des Menschengeschlechts oder in dem
Siege des Geistes über die Natur findet. Solche Ideen gehen über die alten
stoisch-christlichen Vorstellungen von der Aufeinanderfolge einer Reihe von
Weltreichen, deren letztes das Gottesreich sein werde, wohl etwas, aber doch
nicht erheblich hinaus. Neuere materialistische Konstruktionen leiten aus den
Fortschritten der Technik alle Völkerschicksale ab; es handelt sich um Teil-
erkenntnisse, die das Ganze nicht erklären, so förderlich eine Geschichte der
Technik als Hilfsmittel für Geschichtserklärung sein mag.
Wenn Wundt und Dilthey für eine vertiefte Geschichtserklärung vor allem
auf die beschreibende Psychologie und ihre Gesetze hinweisen, so haben sie
sicher darin recht, daß jede vertiefte Geschichtserklärung diesen Weg neben
der Erforschung und Erfassung des Individuellen gehen müsse. Und wenn Lam-
precht Versuche in dieser Richtung angestellt hat, z. B. durch seine an-
ziehende Abhandlung über das deutsche Geistesleben der Ottonen und durch
seine deutschen Kulturzeitalter, die er sowohl jedes für sich als jedes im
Übergang von älteren zum neuen zu erfassen sucht, so liegt darin für mich
sicher der Versuch eines Fortschrittes auf dem rechten Wege. Aber doch nur
ein Versuch und nicht eine Aufdeckung von Gesetzen der Geschichte.
Er wie die meisten vor und nach ihm auf ähnlichen Wegen Wandelnden z. B.
auch Breysig sind bis jetzt über Periodisierung, über Begriffsbildung in bezug
auf die Perioden und über tastende Versuche der empirisch-historischen Ur-
sachenaufhellung nicht hinausgekommen. In dieser Beziehung ist gewiß nicht
Unbedeutendes geleistet worden; und was geleistet wurde, steht immer auf
etwas sicherem Boden als die älteren religiösen, teleologischen und spekulativen
Vorstellungen und Konstruktionen. Aber Lamprecht hätte mehr gewirkt, er
hätte größeren Einfluß errungen, wenn er nicht von seiner Größe und seinen
Erfolgen berauscht, die Gegner so sehr von oben herab verunglimpft hätte, zu
[105] sehr den eigenen Ruhm in immer breiterer Tagesschriftstellerei verkündet
hätte. Seine extremen Gegner wie v. Below haben freilich nicht minder durch
ihre Einseitigkeit und ihr Unverständnis in bezug auf den Wandel der Er-
kenntnismethoden gesündigt.
Ich möchte, um zu zeigen, warum ich Versuche wie die Lamprechts einer-
seits nicht so abweisen kann wie seine Gegner, andererseits aber große Be-
denken gegen sie nicht abzuwehren vermag, nur noch einige Worte sagen.
Man vergleiche, was Dilthey in seinem Buche über Schleiermacher und sonst,
neuestens vor allem in seinem „Aufbau der geschichtlichen Welt in der Gei-
steswissenschaft“ (S. 110 fg.) über historische Zeitalter, über ihre Führer,
über den Lebenhorizont der Massen, speziell über den geistig-psychologischen
Charakter der deutschen Aufklärungsperiode sagt, mit den entsprechenden
Ausführungen Lamprechts; der Unbefangene wird sicher den Eindruck haben,
wie dürftig die Ausführungen des letzteren darüber sind, daß Bismarck nicht
seine Zeit, sondern deren Massenbewegungen ihn beherrscht hätten, wieviel
tiefer und lebensvoller und doch wieviel anspruchsloser Dilthey die großen
geistigen Bewegungen als die Hauptursachen des geschichtlichen Lebens zu
fassen weiß. Von Gesetzen spricht er natürlich nicht. —
Wir schließen unsere Betrachtung über wirtschaftliche und historische Ge-
setze mit dem objektiven und gerechten Urteil Euckens ab: „Alles in allem
hat das Gesetz in der neuen Wissenschaft freilich oft zu voreiligen Abschlüssen
und dogmatischen Behauptungen geführt und uns die Dinge einfacher, unsere
Einsichten reifer erscheinen lassen, als sie in der Tat waren. Aber vornehm-
lich hat es doch als belebende Kraft zur Zusammenfassung und Gliederung
gewirkt, es hat der Forschung, wenn nicht Ergebnisse eröffnet, so doch
Probleme gestellt, es ist mit Arbeit und Kampf, mit Erfolg und Mißerfolg
der neueren Wissenschaft untrennbar verwachsen.“
15.
Ich lege die Feder weg, nicht mit befriedigtem Gefühl über den umgestalte-
ten Artikel, sondern mit der Empfindung erheblicher Unvollkommenheit; ich
habe mich jetzt wieder eben soweit in die Materie eingearbeitet, daß ich am
liebsten nochmal Jahr und Tag auf ihn verwendete und ihn dann von neuem
schreiben möchte. Aber das geht aus inneren und äußeren Gründen nicht. —
Ich habe drei Episoden meines Lebens, die Zeit von 1862—1865 fast ganz,
dann wieder viele Monate 1888—1891, jetzt endlich wieder fast ein Jahr
diesen methodologischen Studien gewidmet. Ich hoffe, es sei nicht ganz um-
sonst gewesen; aber ich weiß heute, daß um Vollendetes zu leisten, mein hal-
bes oder ganzes wissenschaftliches Leben dazu nötig gewesen wäre. Aber
dieses gehörte anderen Aufgaben, die mir doch zuletzt wichtiger waren. Wenn
ich nur die 22 jetzt vorliegenden Bände der Acta Borussica, die ich nicht allein
und nicht überwiegend geschaffen, aber doch veranlaßt, geleitet und mitge-
schaffen habe, ansehe und erwäge, was sie für die Bildungsgeschichte des preu-
ßischen Staates und der preußischen Volkswirtschaft an absolut zuverlässiger
künftiger wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeit bedeuten, so sage ich mir:
das war noch wichtiger als die Erledigung umstrittener methodologischer Vor-
fragen meiner Wissenschaft. Und daneben sage ich mir, ich hätte unzweifel-
haft auch in meinem eigentlichen Arbeitsgebiet Unvollkommeneres geleistet,
wenn ich nicht wenigstens versucht hätte, mir in diesen methodologischen
Fragen eine feste Überzeugung zu verschaffen.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnc4.0