[][][]
Patriotiſche
Phantaſien



Dritter Theil.


Herausgegeben
von ſeiner Tochter

J. W. J. v. Voigt, geb. Moͤſer.


Neue verbeſſerte und vermehrte Auflage.

Mit Koͤnigl. Preußiſcher, Churſaͤchſiſcher, und Churbrandenburgiſcher
allergnaͤdigſter Freyheit.

Berlin,:
bey Friedrich Nicolai,1778.
[][]
Patriotiſche
Phantaſien.


Dritter Theil.

[][]

Erinnerung des Verfaſſers.


Die Leſer dieſer Phantaſien muͤſſen ſich alle-
zeit erinnern, daß ſie aus woͤchentli-
chen Blaͤttern erwachſen ſind, welche in einem
kleinen Lande, worinn man den Verfaſſer der-
ſelben leicht erriethe, zu Befoͤrderung verſchiede-
ner politiſcher Verbeſſerungen bekannt gemacht
wurden. Hier erforderte manches, was man
nicht blos vorſchlagen, ſondern auch ausfuͤhren
wollte, eine beſondere Schonung der Perſonen
und eine eigne Behandlung der Sachen. Oft
nahm ich denjenigen, die ſich in ihre eigne
Gruͤnde verliebt hatten, und ſich blos dieſen zu
gefallen einer neuen Einrichtung widerſetzten,
die Worte aus dem Munde, und trug ihre Mei-
nung noch beſſer vor, als ſie ſolche ſelbſt vorge-
tragen haben wuͤrden; dieſe beruhigten ſich dann
entweder mit der ihnen erzeigten Aufmerkſam-
keit, oder verlohren etwas von der Liebe zu ih[r]
* 3ren
[]Erinnerung des Verfaſſers.
ren Meinungen, deren Eigenthum ihnen auf
dieſe Weiſe zweifelhaft gemacht wurde. Oft
durfte ich auch die Gruͤnde fuͤr eine Sache nicht
gerade zu heraus ſagen, um nicht da als Advo-
cat zu erſcheinen, wo ich als Richter mit meh-
rerm Vortheil ſprechen konnte, und bisweilen
muſte ich mich ſtellen, als wenn ich das Gegen-
theil von demjenigen glaubte, was ich wuͤrklich
fuͤr wahr hielt, um gewiſſe dreiſte Gruͤnde, die
in einer andern Stellung mir und meiner guten
Abſicht hoͤchſt nachtheilig geweſen ſeyn wuͤrden,
nur erſt als Zweifel ins Publicum zu bringen.
Mir war mit der Ehre, die Wahrheit frey ge-
ſaget zu haben, wenig gedienet, wenn ich nichts
damit gewonnen hatte; und da mir die Liebe
und das Vertrauen meiner Mitbuͤrger eben ſo
wichtig waren, als das Recht und die Wahrheit:
ſo habe ich, um jene nicht zu verlieren und die-
ſer nichts zu vergeben, manche Wendung neh-
men muͤſſen, die mir, wenn ich fuͤr ein groſſes
Publicum geſchrieben haͤtte, vielleicht zu klein
geſchienen haben wuͤrde.


Der
[]Erinnerung des Verfaſſers.

Der wahre Kenner wird ſich durch dieſe
Blendungen nicht irre machen laſſen; und die-
jenigen, welche die Originale kennen, die hie
und da in den Phantaſien geſpielet ſind, werden
z. E. die Klagen eines Edelmanns im
Stifte Oßnabruͤck
(Th. 1. S. 209.) welche
man auswaͤrts als ernſtlich gemeinet, aufge-
nommen hat, fuͤr nichts weiter als eine Ironie
halten. Das ſonderbarſte aber iſt, daß man
mich daheim als den groͤßten Feind des Leibei-
genthums, und auswaͤrts als den eifrigſten
Vertheidiger deſſelben angeſehen hat. So ſehr
dieſe Verſchiedenheit der Urtheile von meiner
Behutſamkeit zeuget: ſo gern wuͤrde ich derſel-
ben zuvor gekommen ſeyn, wenn es die Oeko-
nomie jener Einſchraͤnkungen erlaubt haͤtte.
Die entfernten Leſer einer Predigt urtheilen
ganz anders, als die Zuhoͤrer derſelben. Wo
dieſe lauter bekannte Perſonen zu ſehen glauben,
finden jene nur allgemeine Menſchen; und in
dem Reiche der Gelehrſamkeit kann der Pfarrer
weit freyer reden, als in ſeinem kleinen Spren-
gel.
[]Erinnerung des Verfaſſers.
gel. Ich erinnere dieſes ſo wohl um das Ur-
theil zu berichtigen, das auswaͤrts von dieſen
Phantaſien gefaͤllet iſt, als auch um andre ge-
ſchickten Maͤnner, welche nach dem jetzigen allge-
meinen Wunſche das politiſche Detail im klei-
nen Staate behandeln ſollen, zu warnen, ſich
durch die Forderungen des groſſen Publicums
nicht verleiten zu laſſen, es mit ihrem kleinen
zu verderben. Dies iſt immer meine erſte Sor-
ge, und die gluͤckliche Frucht davon, mein an-
genehmſter Lohn geweſen.



Moͤſer.



Innhalt
[]

Innhalt
dieſes dritten Theils.


  • I. Alſo kann man der Mode ohne Gewiſſensſerupel
    folgen: in einem Schreiben der Arabella an Ama-
    lien Seite 1
  • II. Antwort der Amalien 4
  • III. = = der Arabellen 6
  • IV. = = der Amalien 10
  • V. = = der Arabellen 14
  • VI. Schreiben der Eutalie an Amalien 17
  • VII. = = von Amaliens Kammerjungfer an den
    Gemahl derſelben 19
  • VIII. Die Politik im Ungluͤck, in Briefen: erſter Brief 24
  • IX. Zweyter Brief 25
  • X. Dritter Brief 28
  • XI. Vierter Brief 31
  • XII. Fuͤnfter Brief 36
  • XIII. Sechſter Brief 40
  • XIV. Schreiben einer Dame, an einen Liebhaber
    der Kotterien 42
  • XV. Das war der Kammerjungfer recht 45
  • XVI. Die arme Tante Lore 50
  • XVII. So mag man auch noch im Alter lieben 54
  • XVIII. Fuͤr die Empfindſamen 59
  • XIX. Sollte nicht in jedem Staate ein obrigkeitlich
    angeſetzter Gewiſſensrath ſeyn? 63
  • XX. Sollte man nicht jedem Staͤdtgen ſeine beſondre
    poliſche Verfaſſung geben? S. 66
  • XXI. Alſo ſollte man mit Verſtattung eines Begraͤb-
    niſſes auf dem Kirchhofe nicht zu gefaͤllig ſeyn 71
  • XXII. Die weiblichen Rechtswohlthaten ſind nicht zu
    verachten 76
  • XXIII Der Accuſations-Proceß verdient den Vor-
    zug vor dem Inquiſitions Proceß 80
  • XXIV. Ein neues Ziel fuͤr die deutſchen Wochenſchrif-
    ten; ein Schreiben eines Frauenzimmers 86
  • Antwort hierauf91
  • XXV. Die erſte Landeskaſſe 95
  • XXVI. Allerunterthaͤnigſtes Memorial 107
  • XXVII. Der Unterſchied zwiſchen der gerichtlichen
    und auſſergerichtlichen Huͤlfe 110
  • (XXVII.) Schreiben eines abweſenden Landmannes,
    uͤber die gerichtlichen Ladungen in den Intelli-
    genzblaͤttern 114
  • XXVIII. Keine Satyren gegen ganze Staͤnde 120
  • XXIX. Ueber das Spruͤchwort: wer es nicht noͤthig
    hat, der diene nicht 125
  • XXX. Alſo ſoll man das Studieren nicht verbie-
    ten 126
  • XXXI. Jeder Gelehrte ſollte ein Handwerk lernen 130
  • XXXII. Die Erziehung mag wohl ſclaviſch ſeyn 134
  • XXXIII. Sollte nicht auch ein Inſtitut fuͤr die Hand-
    werkspurſche noͤthig ſeyn? 136
  • XXXIV. Sollte man die Kinder nicht im Schwim-
    men ſich uͤben laſſen? 141
  • XXXV. Auch der Freund iſt ſchonend bey nnangeneh-
    men Wahrheiten 142
  • XXXVI. Die Haͤuſer des Landmanns im Oßna-
    bruͤckiſchen ſind in ihrem Plan die beſten S. 144
  • XXXVII. Die Klage eines Leibzuͤchters, als ein Bey-
    trag zur Geſchichte der deutſchen Kunſt 147
  • XXXVIII. Der erſte Jahrswechſel, eine Legende 149
  • XXXIX. Ueber die Feyerſtunde der Handwerker 153
  • XL Eine Erzaͤhlung, wie es viele giebt 154
  • XLI. Alſo ſollte man das Droͤſchen bey offenem Lichte
    nicht verbiethen 158
  • XLII. Das Pro und Contra bey einer Landesordnung,
    nach welcher ſich jedes Kirchſpiel eine Feuerſpruͤtze
    zulegen ſollte 160
  • XLIII. Antwort hierauf 161
  • XLIV. Von beſſerer Einrichtung des Laufs der Steckbriefe 164
  • XLV. Ein ſicheres Mittel, das gar zu haͤuſige Cof-
    feetrinken abzuſchaffen 166
  • XLVI. Von der Wirkung des Oels beym Ungeſtuͤm
    des Meers 168
  • XLVII. Von den erſten Anſtalten des Seitenbaues
    in Weſtphalen 169
  • XLVIII. Von den erſten Anſtalten zur Befoͤrderung
    der Bienenzucht daſelbſt 170
  • XLIX. Nachricht von den ehemaligen Streitigkei-
    ten der deutſchen und engliſchen Handels-Com-
    pagnie 173
  • L. Von dem Unterſchied zwiſchen der Hoͤrigkeit und
    der Knechtſchaft 187
  • LI. Alſo iſt die Anzahl der Advocaten nicht ſo ſchlech-
    terdings einzuſchraͤnken 199
  • LII. Vom Huͤten der Schweine 206
  • LIII. Alſo duͤrfen keine Plaggen aus einer Mark in
    die andre verfuͤhret werden 225
  • LIV. Schreiben einer Gutsfrau, die Freylaſſung ih-
    rer Einbehoͤrigen betreffend S. 230
  • LV. Ein weſtphaͤliſches Minnelied 240
  • LVI. Wie ein Vater ſeinen Sohn auf eine neue
    Weiſe erzog. Aus einer ungedruckten Chronik 246
  • LVII. Alſo ſollten die Koſten eines Concursproceſſes
    billig nicht auf ſaͤmmtliche Glaͤubiger vertheilet
    werden 251
  • LVIII. Ueber die verfeinerten Begriffe 256
  • LIX. Alſo behalten die Regeln immer ihren groſſen
    Werth. Eine Erzaͤhlung 259
  • LX. Gedanken uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum 261
  • LXI. Nichts iſt ſchaͤdlicher als die uͤberhand nehmende
    Ausheurung der Bauerhoͤfe. 278
  • LXII. Der Bauerhof als eine Actie betrachtet 298
  • LXIII. Die Abmeyerungen koͤnnen dem Hofesherrn
    nicht uͤberlaſſen werden 317
  • LXIV. Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs- oder
    Abmeyerungsurſachen 323
  • LXV. Alſo ſind die unbeſtimmten Leibeigenthumsfaͤlle
    zu beſtimmen 338
  • LXVI Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen der
    ſo genannten Hyen, Echten oder Hoden 347
  • LXVII. Vom Glaͤubiger und landſaͤßigen Schuldner 365
  • LXVIII. Gedanken uͤber den Stilleſtand der Leibeig-
    nen 374


I. Alſo[[1]]

Alſo kann man der Mode ohne Gewiſſens-
ſcrupel folgen.



Arabelle an Amalien.


Beruhigen Sie ſich meine Liebe; Ihre Beaͤngſtigun-
gen kommen aus dem Gebluͤt, das ſich vielleicht
auf dem letzten Ball zu ſehr erhitzt hat, und nicht
aus dem Gewiſſen. Wenigſtens ſehe ich in aller Welt nicht,
warum eine Haube à la Louis ſeize, mit Plumets à la
Reine
und Alonge à la D’artois das Gewiſſen mehr als
eine andere beſchweren ſollte. Ihre Furcht, daß die ploͤtz-
lichen und ſchnellen Veraͤnderungen der Mode, welche un-
ſere jetzige Zeiten ſo eigentlich charakteriſiren, einen uͤblen
Einfluß auf ihren Kopf haben moͤgten, iſt eben ſo unge-
gruͤndet. Etwas mehr Leichtfertigkeit, als unſere Groß-
muͤtter blicken lieſſen, ſcheinet zwar darin zu liegen, und
es wollte neulich eine alte Dame aus unſern ſeit Jahresfriſt
taͤglich veraͤnderten Huͤten ſchlieſſen, daß die Seele ihren
Sitz verlaſſen und ſich in die Gegend der Milz zuruͤckge-
zogen haͤtte. Ich gab ihr aber einen Blick, woraus ſie
voͤllig ſchlieſſen konnte, daß die meinige noch aus ihren bey-
den oberſten Fenſtern ſehe, und ſagte dabey, daß die Phi-
loſophen der Seele ihren Sitz laͤngſt im Magen angewieſen
haͤtten, daher es allenfalls kein Wunder waͤre, wenn ſie
zur Veraͤnderung einmal die Milz beſuchte. Dieſes mogte ſie
ſich merken; denn ſo wie ſie gut oder ſchlecht verdauet, denkt
und empfindet ſie auch. Eine andere wollte die Plumets
à la Reine
mit den Windfedern vergleichen, und daraus
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Adas
[2]Alſo kann man der Mode
das Wetter in unſern Koͤpfen prophezeyen; ich bewieß ihr
aber mit phyſiognomiſchen, pſychologiſchen und phyſiologi-
ſchen Gruͤnden, wie allenfalls auch dieſe Windfedern der
menſchlichen Geſellſchaft mehr Nutzen ſchaffen wuͤrden, als
eine eiſerne Haube, welche immer einerley Wetter anzeigte.
Sie verſetzte zwar ganz ſpitzig, unſere heutige ganze Ver-
nunft beſtuͤnde in der Wiſſenſchaft, mit jedem Winde zu
ſegeln. Allein wie ich ſie fragte: ob Sie denn immer nur
mit einem ſegelte? vergaß ſie ihren Spott, und erinnerte
ſich vermuthlich mit Betruͤbniß ihres Alters.


Doch was gehen uns die alten Matronen an? Wollen
dieſe ihre Moden nicht veraͤndern: ſo moͤgen ſie ihren Ei-
genſinn mit ins Grab nehmen. Sie, meine Theureſte!
haben von ihnen kein Exempel zu nehmen, ſo wenig als wir
verlangen ihnen eines zu geben; ſie haben ihr Gutes genoſ-
ſen, und die Reihe iſt jetzt an uns. Aber vor allen kein
Gewiſſen uͤber die vielen und groſſen Ausgaben. Dieſe
flieſſen den Fabrikanten und Kuͤnſtlern zu, und was iſt ed-
ler, patriotiſcher und chriſtlicher, als dieſe zu unterſtuͤtzen?
Laſſen Sie den Herrn Gemahl immerhin ein bisgen daruͤber
graͤmeln, daß ihm die oͤftern Veraͤnderungen der Moden
zu vieles koſten; eine zur rechten Zeit angewandte Liebko-
ſung wird ihn ſchon beſaͤnftigen, und die Sorgen der Nah-
rung gehn ihn allein an. Hat er eine Frau genommen:
ſo mag er auch ſehen, wie er ſie nach ihrem Stande un-
terhaͤlt; das iſt ſeine Sorge.


Alle Jahr einen neuen Wagen — Alle Jahr einen
neuen Wagen! — Nun der Herr Gemahl mag dieſes
zweymal oder hundertmal wiederholen; was ſeyn muß,
das muß doch ſeyn. Man kann ja nicht ewig in einerley go-
thiſchen Staatscaroſſe fahren; und der alte kann ja wieder
verkauft werden. Er iſt fuͤr einen Amtmann noch immer
gut
[3]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.
gut genug; aber in der Stadt! Ach kennen Sie den neueſten
Lack von Martin? Wer kann ihn ſehen und ſeinen Mann
lieben, der einem nicht ein unvermuthetes Geſchenk von
einem Wagen nach dieſer Art macht? Viele rechtliche Leute,
ſagen Sie, haͤtten Ihnen Vorwuͤrfe daruͤber gemacht Aber
ich wette, dieſe ſogenannten rechtlichen Leute ſprechen von
der Kinderzucht, und von allen was in den Predigten fuͤr
das Frauenzimmer ſteht. Haben Sie es aber nicht ein-
mal ſchon ſelbſt bemerkt, daß die Theologie und Moral
eben ſo veraͤnderlich in ihren Moden waͤren, wie andere
Dinge? Laſſen Sie alſo der Mode von Erziehung, Haushal-
tung und Ordnung zu ſchwatzen ihren Lauf, und ſtoͤren Sie
ſolche nicht; dieß iſt ein Recht was wir ſelbſt fordern, und
andern der Billigkeit nach auch goͤnnen muͤſſen. Ehe ein
Jahr voruͤber geht, wird die Moral aus einem andern To-
ne ſprechen, und immittelſt haben ſie doch immer ſchon
wieder einen andern neuen Wagen. Wie machen Sie es
mit ihren Pferden? Ich hoffe doch nicht, daß Sie wie un-
ſer General-Superintendent immer mit ſchwarzen fahren?
Sie muͤſſen Ihren Herrn Gemahl bitten, daß er klein Ge-
ſtuͤte fuͤr ſie anlege; ach wenn der meinige das thun wollte,
ich wuͤſte nicht, ob ich ihm nicht .... doch wir wollen
den Lauf der Mode abwarten; dieſe wird uns ja endlich
auch noch wohl dahin bringen … Leben Sie wohl mei-
ne Beſte, und beunruhigen ſich uͤber nichts.


Arabelle.



A 2Ama-
[4]Alſo kann man der Mode

II.
Amaliens Antwort.


Das heißt mir nun einmal Verſtand; ich ſchreibe Ihnen
ein bisgen philoſophiſch, und flugs ſoll ich ein unru-
higes Gewiſſen haben. O! mein liebes Kind, mein Gewiſſen
ſchlaͤft auf einem ſammtnen Kuͤſſen ſo ruhig wie mein jaͤh-
riges Maͤdgen, und ein Plumet à la Reine wird es nicht
beſchweren. Aber mein Mann hat mir ſeinen Beutel ver-
ſchloſſen, und dieſes war der Knote, der mir letzthin das
Herz abſchlang. Ich mogte Ihnen nur nicht alles ſo deut-
lich ſchreiben, weil ich mich vor ihnen ſchaͤmte; jetzt aber
zwingt mich die Noth, Ihnen meine ganze Verlegenheit zu
entdecken. Ich thue Ihnen alſo hiemit kund und zu wiſ-
ſen, wie mein Mann des Morgens, als ich Ihnen den
letzten Brief geſchrieben habe, geſtiefelt und geſpornt in
mein Cabinet gekommen ſey, und mir eine ganz unerwar-
tete aber recht feyerliche Erklaͤrung nachſtehenden woͤrtlichen
Inhalts gethan habe. Hier, fieng er an, liebe Amalie,
iſt die Rechnung von deinem neuen Wagen, ſie belaͤuft ſich
auf 1800 Livres; zugleich habe ich dir hiemit einen Aufſatz
von meiner jaͤhrlichen Einnahme und Ausgabe, wovon ſich
die erſtere nicht vermehren, und die andre, da ſie blos das
nothwendigſte enthaͤlt, nicht vermindern laͤßt, zur Nach-
richt vorlegen wollen, damit du ſelbſt darnach beſtimmen
muͤgeſt, was wir zu thun und zu laſſen haben. Dieſem
fuͤge ich noch einen Auszug von demjenigen bey, was du
ſeit den drey Jahren, die wir verheyrathet ſind, auf neue
Moden verwandt haſt; er wird dir zeigen, daß wir in ſo
kurzer Zeit fuͤnftauſend Thaler mehr ausgegeben als einge-
nommen haben.


Aber
[5]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.

Aber, fiel ich ihm hier in die Rede, wozu dieſer feyer-
liche Ernſt, Sie wiſſen ja, daß es nur von Ihnen abhaͤngt,
ob ich in einer Carrete oder in einer Caroſſe fahren ſoll? ..
Dieſe Antwort ſchien ihn zu verdrießen. Denn er drehete
ſich mit einer ſtolzen Mine um, und ſagte, indem er von
mir gieng, ich moͤgte es beſſer uͤberlegen, ſeine und meine
Ehre, die Wohlfart unſer Kinder, und unſre ganze zeitli-
che Gluͤckſeligkeit hienge von der kuͤnftigen Einrichtung ab.
Ich wollte antworten, aber er war ſchon fort, und ich mei-
nen Betrachtungen uͤberlaſſen.


In dieſem Zuſtande ſchrieb ich Ihnen meine Beſte;
und nun werden Sie leicht errathen, warum ich letzthin ſol-
che melancholiſche Grillen ausheckte; das ſchlimmſte dabey
iſt, daß ich noch uͤber dreytauſend Thaler heimliche Schul-
den habe, wovon mein Mann nichts weiß; und daß die
Kaufleute in Lyon und Paris alle Poſttage mich mit ihren
verzweifelten Rechnungen quaͤlen, gerade als ob ich bis uͤber
die Ohren im Gelde ſaͤße. Mein Mann iſt ein derber kno-
tiger und entſchloſſener Wirth, er hat mich lieb, aber nicht
bis zur Thorheit, und wenn ich ihm auch die ſuͤßeſten Na-
men gebe: ſo ſchuͤttelt er ſie ab, wie ein Reuter den Regen,
wenn ich mich nicht auch ein bisgen nach ſeinem Sinne rich-
te. Ich thue es auch gern, das weiß der Himmel, aber
der Stand, worinn ich lebe, hat doch auch ſein Recht,
und die Mode ihre Forderungen, die man nicht mit Sitten-
ſpruͤchen abweiſen kann; dieſes muͤßte er doch auch beden-
ken, und dann mein Schatz ſind ja mehrere Leute in der Welt,
die mehr ausgeben wie ſie einnehmen, wer kann alles ſo ge-
nau nach dem Maaßſtabe einrichten? und wer zehrt nicht
wohl ein bisgen vorauf, wenn man noch Hofnung hat ſeine
Einnahme dereinſt zu vergroͤſſern? Jetzt iſt die Zeit da wir
unſer Vermoͤgen genießen koͤnnen, uͤber zwanzig Jahr will
A 3ich
[6]Alſo kann man der Mode
ich gern alles zu erſparen ſuchen was nur irgend zu erſpa-
ren moͤglich iſt.


Nathen Sie mir indeſſen was ich thun ſoll, meine Liebe,
aber bald, bald; denn ich muß doch endlich wohl meinem
Manne etwas antworten. Er ſagt mir zwar nichts, und
wir gehen ganz hoͤflich mit einander um. Aber wenn doch
ein recht Vertrauen wieder unter uns kommen ſoll: ſo mer-
ke ich wohl, ich muß die Materie einmahl recht aus dem
Grunde, und ſo mit ihm durchgehen, daß wir in unſerm
Leben nicht noͤthig haben, ſie noch einmal zu behandeln …
Alſo, bald bald; und rein von der Leber weg. Sie kennen
mich, und wiſſen, wie eifrig ich bin ꝛc.


Amalie.



III.
Arabellens Antwort.


Wann Ihr lieber Herr Ihnen den Beutel verſchließen,
und der Kaufmann nicht mehr borgen will: ſo weiß
ich weiter keinen Rath. Ihr Fall iſt dann entſchieden, und
die Frage iſt nur blos, wie Sie mit Anſtand fallen koͤnnen?
Die ſterbenden Helden, ſagt man, wickeln ſich in ihren
Mantel ein, um kein verzogenes Geſicht im Tode zu zeigen;
aber wie ein Frauenzimmer den Mund halten muͤſſe, das
ſeinem Vergnuͤgen entſagen ſoll, hieruͤber haben die Gelehr-
ten noch wenig beſtimmtes geſagt.


Anfangs wollte ich Ihnen in dem Tone unſer pedanti-
ſchen Sittenlehrer rathen, Sie moͤgten ſich ganz ihren ehe-
lichen und muͤtterlichen Pflichten widmen, und der Mode
eine ſtolze Verachtung entgegen ſetzen. Wenn ich aber be-
dachte,
[7]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.
dachte, was die Welt dazu ſagen, und wie ein jeder be-
haupten wuͤrde: ſie ſpielten die Vernuͤnftige, oder machten
wohl gar die Andaͤchtige: ſo ſahe ich wohl, daß die Aus-
fuͤhrung dieſes Vorſchlags Ihnen nicht gelingen wuͤrde.
Denn welche Frau von Ehre in der Welt wuͤrde eine ſolche
Nachrede mit Gelaſſenheit ertragen? Es wuͤrde Ihnen ge-
wiß wie mir ergehen, da einmahl der Prinz von .... dem
ich meine Verachtung bezeugte, mich uͤberall in den Ruf
brachte, ich ſpielte die Grauſame. Um ihn voͤllig zu uͤber-
fuͤhren, daß ich ihn in Ernſt verachtete, begegnete ich ei-
nem andern mit verdoppelter Gefaͤlligkeit; und ſo wuͤrden
Sie auch, um ſich außer allen Verdacht zu ſetzen, auf eine
andre Art verſchwenden muͤſſen, wenn Sie ſich in Anſehung
der Moden einſchraͤnken, und ſich nicht in den Ruf ſetzen
wollen, daß Sie die kleine Philoſophin ſpielten.


Es wird Ihnen der haͤrteſte Stand ſeyn, wie Sie der
Graͤfin ..... begegnen wollen, wenn dieſe in einem neuen
Aufzuge koͤmmt, und Sie ſich in einem unveraͤnderten zei-
gen muͤſſen. Wollen Sie hier die Augen verſchließen, und
thun als wenn Sie ſolches nicht bemerken: ſo wird die loſe
Spoͤtterin dieſes Ihr Stillſchweigen ſchon zu erklaͤren wiſ-
ſen. Wollen Sie den neuen Anzug bewundern, ihn aller-
liebſt finden, und der gluͤcklichen Beſitzerin ein Compliment
daruͤber machen, wie gezwungen wird ſolches nicht ausſe-
hen, wie ſehr wird Ihr Herz dabey leiden, und wie gedemuͤ-
thiget werden Sie dabey in aller Welt Augen erſcheinen?
Sollte die Graͤfin gar die Boßheit haben, und aus Barm-
herzigkeit noch die vorige Mode ruͤhmen, worin Sie ſo dann
erſcheinen; ſo wuͤrden Sie gewiß Ihre ganze Haltung ver-
lieren, und zum erſtenmahl mit niedergeſchlagenen Augen
ihrem Triumphwagen folgen muͤſſen.


A 4Tugend
[8]Alſo kann man der Mode

Tugend, Vernunft und Muth haben unſtreitig ihren
großen Werth, und ich verehre ſie von ganzen Herzen.
Aber ſie muͤſſen im innerlichen bleiben, und ſich keiner Herr-
ſchaft uͤber die Mode anmaßen, ſie muͤſſen nicht in die Au-
gen fallen, nicht oͤffentlich herrſchen und ſich nicht in die
groſſe Oekonomie des brillanten, galanten und magnifiquen
Lebens miſchen wollen. Ihre ſtille Wohnung iſt die Seele,
welche ſich gar wohl in der Abend- und Morgenſtunde ei-
nem frommen Gedanken uͤberlaſſen kann, aber dieſe from-
men Gedanken nicht einmal mit an den Nachttiſch bringen
muß. Dieſes ſind ausgemachte Wahrheiten, wogegen eine
Perſon von feiner Erziehung nicht anſtoſſen kann, ohne
fuͤr eine offenbare Naͤrrin, oder, wenn man es fein ſagen
will, fuͤr eine Sproͤde gehalten zu werden, welche aus Noth
den kleinen Mund macht.


Haͤtten Sie ſo gewiß 30 Jahr als Sie zwanzig ha-
ben, ſo wuͤrde Ihnen einige Zuruͤckhaltung wohl anſtehen,
und zu einer Art von Verdienſt angerechnet werden; im
vierzigſten Jahre erlaubte man Ihnen auch durch Vernunft
und Verſtand zu glaͤnzen, und hoͤher hinauf gehoͤren auch
die Tugenden mit unter die erlaubten Mittel zu gefallen.
Allein in Ihrem Alter kann man ſo wenig Tugend als Ver-
ſtand zeigen, ohne daß die Welt ſolche nicht fuͤr Blendun-
gen, Verſtellungen und Behelfe anſehe. Der Contraſt zwi-
ſchen der Art der Auffuͤhrung in jungen Jahren und irgend
einer ausgehangenen Tugend iſt ſo erſchrecklich, daß ich
gar nicht abſehe, wie Sie ſich auf eine anſtaͤndige Weiſe
aus dieſem Labyrinthe herausziehen wollen.


Zwar giebt es auch einige feine Tugenden, die auf ge-
wiſſe Weiſe mit zum Colorit gehoͤren, und gezeiget werden
duͤrfen, als das edle Mitleid gegen Ungluͤckliche vom Stan-
de, die Furcht Gottes bey einem entſtehenden Gewitter, die
ſanfte
[9]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.
ſanfte Sittſamkeit bey ſchlecht gefuͤhrten Angriffen, eine
ſtille Beſcheidenheit bey ſtark hervorſcheinender eignen Groͤſ-
ſe, und was dergleichen huͤbſche Tugenden, die ſich der
Mode unterwerfen und mit ihr allemal Hand in Hand ge-
hen, mehr ſind. Aber mir faͤllt keine bey, womit ſich der
Mangel du bon ton bey einer Dame von ihren Umſtaͤnden
nur einiger maßen decken ließe. Ein Wagen aus der Mo-
de bleibt immer eine alte Caroſſe, man mag ihn mahlen
und vergulden, wie man will, und eine Frau von Stande
kann ſich darinn nicht auf den oͤffentlichen Spatziergaͤngen
zeigen, ohne mit Fingern gewieſen zu werden.


Muͤſſen Sie indeſſen in dieſe harte Nuß beiſſen: ſo rathe
ich Ihnen nur, weder Witz noch Verſtand zu zeigen, und
alle Anſpruͤche auf Bewunderung fahren zu laſſen. Denn
wemn Sie in einem altmodigen Kleide die geringſte Ver-
nunft haben, oder ſich gar beygehen laſſen wollten, Ihre
Verlegenheit hinter eine Tugend zu verbergen; ſo wuͤrden
Sie als die laͤcherlichſte, unertraͤglichſte und abgeſchmack-
teſte Creatur uͤberall ausgeziſchet werden. Dieſes iſt der
einzige Rath, den ich Ihnen geben kann, und nun moͤ-
gen Sie es mit Ihren Eheherrn uͤberlegen, was Sie in
dieſer wahrlich kritiſchen Lage thun ſollen? Der meinige be-
kuͤmmert ſich, Gott Lob! um die Haushaltung nicht, und
legt die Rechnungen meiner Kaufleute ungeleſen bey ſich nie-
der; weil er wohl weiß, daß ſie ihn nicht verklagen wer-
den — denn er koͤnnte ihnen bey Hofe leicht einen uͤblen
Dienſt thun — und dieſes koͤnnte der Ihrige auch thun,
wenn er nicht will, daß Sie ſich lebendig begraben ſollen.


Ich bin recht begierig darauf was er ſagen wird, und
bedaure Sie meine Beſte von ganzen Herzen, daß ſie nach
dem unerforſchlichen Willen Gottes in Ihren ſchoͤnſten Jah-
A 5ren
[10]Alſo kann man der Mode
ren ſchon ſo ſchwere Ungluͤcksfaͤlle zu ertragen haben. Sie
koͤnnen verſichert ſeyn, daß ich an dieſem ſchweren Verhaͤng-
niß den aufrichtigſten Antheil nehme und ꝛc.


Arabelle.



IV.
Amaliens Antwort.


Das haͤtten Sie mit anſehen ſollen! So wie mein Mann
eine Zeile, und wieder eine Zeile, von Ihrem freund-
ſchaftlichen Briefe las, kurrete und murrete er immer vor
ſich hin — „Ey verflucht! warum nicht gar? Nun! hat
die Hexe noch mehr? keine Vernunft und keine Tugend im
zwanzigſten Jahre zeigen zu duͤrfen, ohne den Namen zu
bekommen, daß man die Vernuͤnftige ſpiele oder die Tu-
gendhafte mache? Hat der boͤſe Feind jemals einen haͤmi-
ſchern und giftigern Angriff auf die junge furchtſame und
beſcheidene Tugend unſer auf bluͤhenden Kinder gemacht?
Nun — nun — noch weiter, das ſind mir Rathſchlaͤge;
welche alle darauf hinausgehen, daß man nicht allerliebſt
ſeyn kann, ohne alle Fehler ſeiner Jahre in ihrem beſten
Schmucke zu zeigen, und daß nichts abgeſchmackter ſey,
als ſich zu beſſern und nach den Geſetzen der Vernunft zu
handeln — wozu denn alle heutige Erziehung, Religion,
Moral? — beym tauſend„ — Hier ſprang er mit bey-
den Beinen auf einen Stuhl, zertruͤmmerte ihn aber auch
in tauſend Stuͤcken, und dieſer Zufall, der uns beyde in
das groͤßte Schrecken verſetzte, brachte uns endlich zu einer
angenehmen und vertraulichen Eroͤfnung unſerer Herzen.
Denn meine Beſorgniß, daß er Schaden genommen haben
moͤgte, und die ſeinige, daß er mich durch ſeinen Fall zu
ſehr
[11]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.
ſehr erſchreckt haͤtte, erzeugten ploͤtzlich ganz andere Em-
pfindungen, die ſich mit einer zaͤrtlichen Umarmung, und
mit Bitten um Vergebung von beyden Seiten endigten.


Aber, werden Sie, meine Theureſte, fragen, was war
denn nun endlich ihr gemeinſchaftlicher Entſchluß? Hier-
auf kann ich Ihnen vorerſt nur ſo viel ſagen, daß alle
Gruͤnde auf beyden Seiten, welche von dem geſchaͤtzten
Nichts der eiteln Ehre, von dem Raupenſtande, worinn
wir uns hier auf Erden befinden, von der Spanne Zeit


Worauf wir eben ſtehn,

Von der wir nichts, eh heute ward, geſehn,

Von der wir kaum die Spur, eh Morgen wird,

noch wiſſen:

Da von dem Augenblick, zu dem wir eben gehn,

Schon wieder unter unſern Fuͤſſen

Das Meer der Ewigkeit — das unſern Schritt

umringt,

Stets vor ihm Land enthuͤllt und hinter ihm

verſchlingt —

Den einen Theil hinabgeriſſen —

und andern dergleichen ſchoͤnen poetiſchen Bilder entlehnt
wurden, gar nichts verfangen wollten. Ich verſchanzte
mich blos, nachdem wir unſer moraliſches Pulver gegen
einander verſchoſſen hatten, hinter den Einwurf: aber
wenn es nun der Wohlſtand durchaus erfordert?
und
mein Mann blieb auf ſeiner Batterie: aber wenn ich es
nun nicht bezahlen kann?
In dieſer Stellung, worinn
wir uns als Perſonenfreunde und Sachenfeinde die Haͤnde
uͤber die Verſchanzungen reichten, ſtanden wir beyde eine
lange Zeit ohne einen Schritt zu weichen.


Ich
[12]Alſo kann man der Mode

Ich fragte meinen Mann endlich, ob ein Geiſtli-
cher, wenn es ihm an einem ſchwarzen Mantel und Klei-
de fehlte, mit Wohlſtand vor den Altar treten koͤnnte; und
ob er nicht dazu Rath ſchaffen muͤſte, er moͤgte es nun be-
zahlen koͤnnen oder nicht? Vergeblich behauptete er dage-
gen, daß dieſes einen alten hergebrachten und nothwendi-
gen Wohlſtand zum Grunde haͤtte, wovon ſich auf den
Conventions-Wohlſtand in den Modetrachten kein Schluß
machen lieſſe, denn ich bewieß ihm klar, daß es hiebey
nicht auf Alter und Herkommen, ſondern auf die allgemei-
ne Denkungsart unſerer Zeitgenoſſen ankaͤme, und daß der
Conventions-Wohlſtand bey den Moden, wenn er dieſe
allgemeine Uebereinſtimmung einmal vor ſich haͤtte, eben
ſo gegruͤndet waͤre wie jener. Aber wenn ich es nun
nicht bezahlen kann?
fiel er wieder ein. Aber wenn der
Geiſtliche nun nicht bezahlen kann, verſetzte ich? So jagt
man ihn fort, war ſeine Antwort, wenn er ein Verſchwen-
der iſt, oder zwingt die Gemeine ihm das noͤthige zu ver-
ſchaffen, wenn ſie vorher nicht davor geſorgt hat. Nun
gut, rief ich, eine Verſchwenderin bin ich nicht, ich ver-
lange nur den hoͤchſtnoͤthigen allgemein erforderlichen Ue-
berfluß. Alſo laß ihn bezahlen wer da will und kann, ſo
muß ich doch haben, was der Wohlſtand unentbehrlich
macht.


Das iſt doch erſchrecklich, fuhr mein Mann wieder
fort, daß wir in einer ſo offenbaren Sache nicht das Mit-
tel zu unſrer Vereinigung treffen koͤnnen; ich ſoll doppelt ſo
viel ausgeben, wie ich einzunehmen habe, nach einer noth-
wendigen Folge Banquerott machen, in meinem Leben oder
nach meinem Tode als ein Betruͤger verflucht werden —
und das ſoll ſich alles durch den Wohlſtand rechtfertigen
laſſen? Es thut mir leid, mein Engel! erwiederte ich, aber
ſage doch nur, wie es moͤglich iſt, daß ich in meinem
Stan-
[13]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.
Stande, in meinen Jahren und in der Lebensart, worin
ich mit allen meines Gleichen uͤbereinkomme, anders han-
deln ſoll, wie ich handle; wie du ſiehſt ich behelfe mich
ja hier in meinem Cabinet noch mit einem altmodigen Ca-
nape, da ich doch wenigſtens eine Ottomane, oder Lehn-
ſtuͤhle en Cabriolet, wo nicht a la Reine haben muͤſte.
Du ſieheſt ja alſo, daß ich im Verborgnen ſpare, und nur,
um deiner Ehre willen, meine Kleidungen und meine Equi-
page nach der neueſten Mode verlange, Kann ich weniger
thun: ſo ſprich, ich bitte dich.


Er rieb ſich die Stirn, ſtemmete ſeine Ellenbogen auf
die Knie, und ſeine beyden Faͤuſte vor die Augen ohne ein
Wort zu ſagen. Endlich ſtund er auf, kuͤßte mich, und
verließ mich mit den Worten: Wenn du mich lieb haſt;
ſo weißt du wohl, was du thun muſt.


Sehen Sie, meine Beſte! ſo ſtehn die Sachen; ver-
langte mein Mann eine heroiſche Verachtung des ſo noͤthi-
gen Ueberfluſſes, man moͤgte daruͤber ſagen was man woll-
te, oder wuͤnſchte er, daß ich mich als ein Original in der
aͤffenden Welt zeigen ſollte: ſo waͤre unſer Streit bald ent-
ſchieden; mit Freuden wollte ich mich dazu verſtehen. Al-
lein das iſt ſeine Meynung nicht, ich ſoll den Wohlſtand
nicht beleidigen, ich ſoll mich auch zu keinem abſtechenden
Original erheben, ich ſoll auf eine kluge und feine Weiſe
Sparſamkeit mit Groͤße, Anſtand mit Einſchraͤnkung, und
folglich das Feuer mit Waſſer vereinigen, das iſt der Kno-
te den ich nicht zu loͤſen weiß.


Helfen Sie mir, meine Theureſte! vielleicht faͤllt Ih-
nen etwas bey, was uns beyden entwiſcht iſt; aber wer-
den Sie nicht boͤſe, daß mein Mann Ihnen den Titel Hexe
gegeben hat. Ich will mich dafuͤr auch unterzeichnen, Ih-
re gehorſamſte arme Hexe


Amalie.


Ara-
[14]Alſo kann man der Mode

V.
Arabellens Antwort.


Was ſoll ich Ihnen weiter rathen? Die Worte: Wenn
du mich lieb haſt: ſo weiſt du wohl was du thun
muſt,
ſetzen die Sache in eine ganz andre Lage. Sie ha-
ben nun leider nicht mehr mit Ihrem Eheherrn, ſondern
mit ſich ſelbſt zu zanken, und das iſt eine Beſchaͤftigung,
wobey man ſich ohne Gefahr nicht lange aufhalten darf.
So machte ich es auch geſtern mit mir. Mein naſeweiſes
Cammermaͤdchen hatte ausgerechnet, daß ich im vorigen Jah-
re 15 Thaler fuͤr allerhand Calender und Allmanachs aus-
gegeben haͤtte, da doch meine Mutter niemahls mehr als
4 Pfennige hierauf verwandt haͤtte. Hin iſt hin, dachte ich,
um nicht mit mir ſelbſt zu rechten und eine Runzel mehr zu
bekommen, und damit flog ich in die Geſellſchaft.


Aber aller meiner Munterkeit ungeachtet, verſpielte ich
doch mehr als ich bezahlen konnte, und nichts fuͤhrt ſo ſehr
zu ernſthaften Betrachtungen als der Verluſt im Spiel,
wenn man auf keine Art zum Gelde gelangen kann. Es
waren nur elende 5 Louis d’or die mir fehlten, und ich dach-
te hundertmahl an Harlekin, wie er den Brief ſeiner Colom-
bine aus Mangel eines Gutengroſchens nicht von der Poſt
loͤſen konnte. Was fuͤr eine elende Summe iſt ein Guter-
groſchen! rief er; aber wenn man ihn braucht und nicht hat,
wie wichtig iſt er! … Es blieb mir endlich kein ander
Mittel uͤbrig als zu moraliſiren, und Sie glauben nicht,
wie das gut thut, wenn man kein Geld hat, und ſich zer-
ſtreuen muß.


Ich hatte mir des Tags vorher den Entwurf gemacht,
wie ich ein Paar Spanier oder Neapolitaner vor meine
Kut-
[15]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.
Kutſche, ein Paar Englaͤnder vor mein Berlingot, ein Paar
Barben vor meine Berutſche, und dabey einen huͤbſchen Poſt-
zug vor meine Volante haben muͤſte. Nichts ſchien mir ab-
geſchmackter als ein Paar Frieſen ohne Othem vor dem
Wagen der Venus, oder ein Paar Heiducken aͤhnlicher La-
kaien uͤberall bey ſich zu ſehen, wo nur ein Galopin, Mohr
oder Laͤufer ſich ſchickt.


Ich dachte, man wuͤrde ſich leicht daruͤber vereinigen
koͤnnen, daß die Berlingotten, Berutſchen, Imperialen, Vo-
lanten und Dolenten, wenigſtens zwey Jahr dauren, und
alle inzwiſchen einfallende Moden dabey uͤbergangen werden
ſollten, um auf der andern Seite doch auch wieder etwas
zu ſparen. Allein die verzweifelten 5 Louis d’or — der
verfluchte Jude — und meine Juwelen die man verkaufen
will, wenn ich ſie nicht in dreyen Tagen einloͤſe, haben mir
den Kopf ganz verruͤckt, ſo daß ich durchaus moraliſiren
muß, da ich aus guten Urſachen mit meinem Cammermaͤd-
gen nicht ſchmaͤhlen darf, und meine andern Leute, die ſchon
bey allen Juden geweſen, ihren Theil bereits empfangen
haben.


Aber moraliſiren iſt gut; nur hole der Kuckuck das Auf-
ſchreiben. Kurz, meine Liebe! ich ergrif den erſten neuen
Allmanach vom kuͤnftigen Jahr, dachte an Harlekin und
ſeinen Gutengroſchen, wollte mich aus Wielands Agathon
erbauen, und war ſo voll von ſchoͤnen Gedanken, Entſchluͤſ-
ſen und Critiken, daß ich es nicht alles aufs Papier ſetzen
kann. Es dauret mich recht; aber recht viel iſt doch auch
nicht dabey verlohren, denn das Reſultat war blos: alle
Dinge muͤſſen doch ihre Grenzen haben; aber das wo?
wo? wo?
… hier blieb ich ſtecken? und antwortete mir
wie Herr Euler, als ich ihn einmal bat, mir doch zu ſa-
gen, wie viel Kraft meine Uhrfeder haben muͤſte um richtig
zu
[16]Alſo kann man der Mode
zu wuͤrken — das weiß ich nicht. Alſo wird auch wohl
die Algeber nicht hinreichen das wo? auszufinden.


So viel kann ich Ihnen indeſſen doch ſagen. Verſpie-
len Sie nicht mehr als ſie bezahlen koͤnnen, ſtellen Sie ſich
die Spanier, Neapolitaner, Barben und Englaͤnder nicht
zu reitzend vor, verlieben Sie ſich nicht in Mohren und
Laͤufer — Aber wenn es doch nun die Mode wuͤrde? wenn
es der Wohlſtand durchaus erforderte dies alles zu haben,
wenn man zum Vergnuͤgen ſeiner Gaͤſte eine Bank, ein
Orcheſter, und eine kleine Truppe zur Operette halten muͤ-
ſte? koͤnnte man denn mit ein Paar Frieſen gegen der Graͤ-
fin ihre Barben erſcheinen, oder die Kuͤchenmagd zur Sou-
brette gebrauchen? Ich glaube doch, man muͤſte, wenn
einem der elende Gutegroſchen fehlte, und man wuͤrde ſei-
nen Frieſen die Maͤhnen ſo friſiren laſſen muͤſſen, daß ſie
auch ein air de barbet bekaͤmen.


Doch nein, das geht nicht; ich verachte den Bettel-
ſtolz, der mitmachen will und nicht kann. Lieber zu Hauſe
und in der Kinderſtube geblieben .... Aber dann waͤren
wir ja wieder bey dem heroiſchen Entſchluſſe oder bey dem
abſtechenden Original, und ſpielten die gute Mutter oder
oder machten die zaͤrtliche Frau — verzweifelter Cirkel,
der gar kein Ende nehmen will! Koͤnnte ich Ihnen, meine
Theureſte! die ganze Schelmerey meines Herzens, — aber
es iſt keine boͤſe Schelmerey — die Franzoſen nennen ſie
le ſavoir faire — ſo auf das Papier mahlen: ſo wuͤrde
ich Ihnen vielleicht noch einen guten Rath geben, und zei-
gen koͤnnen, wie man das Machen und Spielen, den
Mangel und die Verlegenheit, den Stolz und die Beſchei-
denheit, mit dem Pinſel jener Schelmerey ſo durch einan-
der vertiefen, vermiſchen, vertreiben und vereinigen koͤn-
ne, daß die Abſtiche gar nicht bemerkt, und ſo wenig der
diſpa-
[17]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.
diſparate Bettelſtolz, als die contraſtirende Tugend den
Dilettauten auffallend werden. Aber das laͤßt ſich ſo nicht
mahlen, nicht in Regeln faſſen, nicht vorſchreiben. — Bey
meiner Treu, ihr Mann hat Recht; es ſteckt alles in der
Regel, wenn du mich lieb haſt: ſo weiſt du wohl was du
thun muſt. — Eine Frau die da klug iſt — O Sie ſind
auch eine kluge Hexe; und ich brauche Ihnen weiter nichts
zu ſagen. Schicken Sie mir doch bey Ueberbringern die
kahlen 5 Louisd’or, wenn Sie eben bey Gelde ſind. Sollte
das Gluͤck ſich heut Abend wenden; ſo zahle ich ſie Morgen
um dieſe Minute wieder — unfehlbar. Sie koͤnnen mir
in dieſem Augenblick keinen groͤſſern Dienſt erweiſen; ich
bin auch ewig ⁊c.


Arabelle.



IV.
Eutalie an Amalien.


Haben Sie es auch gehoͤrt, wie der Frau Arabelle ihre
Juwelen geſtern auf dem Lombard verkauft, und ihre
Glaͤubiger daruͤber in der groͤſten Bewegung ſind? Die
ganze Stadt iſt voll davon, und man ſagt ſich einander ins
Ohr, daß es zum foͤrmlichen Concurs kommen werde. Der
gute Mann iſt zu bedauren, aber er haͤtte auch ein bisgen
mehr auf den Haushalt ſehen ſollen. Sie war gar nicht
dazu gebohren, und haͤtte gewiß eine Reichsgrafſchaft fri-
caßirt, wenn ſie eine zu beherrſchen gehabt haͤtte. In
meinem Leben habe ich ſo ein eitles Menſch nicht geſehen;
ſie wollte alles mitmachen, und dachte nicht, daß das En-
de die Laſt truͤge. Mich wundert nur, daß ſie geſtern noch
das Herz hatte in Geſellſchaft zu kommen; jeder ſahe hoch
auf, wie frech ſie daher ſtrozte, und man ſteckte uͤberall
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Bdie
[18]Alſo kann man der Mode
die Koͤpfe zuſammen; der eine wuſte noch mehr als der an-
dre, und wie ſie ſich nach ihrer gewoͤhnlichen Parthie zum
Spiele umſahe, ſtanden die Herrn, welche bisher ſo gut
geweſen ſind, ihr das bisgen Geld abzunehmen, vor ver-
ſchiedenen Fenſtern, und waren gar nicht eilfertig ihr ein
Compliment zu machen. Endlich erbarmte ſich noch der
Hauswirth uͤber ſie, und brachte fuͤr ſie ein Triſette qua-
drigliate
um 1 ggr. zuſammen. Alte Liebe roſtet nicht,
dachte ich, er war aber doch hiebey ſo verlegen, daß es
die ganze Geſellſchaft fuͤhlte, und nur ihren Spott daruͤber
hatte. Der Herr … und der Herr … die ihr ehe-
dem, und wie die Mediſance ſagt, nicht ganz vergeblich
die Cour gemacht haben, ſchienen den ganzen Abend auf
ſie keine Acht zu haben, ich neckte den letztern daruͤber ein
wenig, aber ſeine Mine gab mir zu verſtehen, daß er ſie
eben nicht ſehr bedaurete. Als der Wagen fortrollte,
ſagte die Graͤfin … ganz ſpitzig: Die Neapolitaner gehen
ſo langſam, als wenn ſie vor einem Leichenwagen zoͤgen,
und ein lautes Geraͤuſch zeigte, daß noch mehrere ſpotten-
de Anmerkungen gemacht wurden. Da ich aber keine Freun-
din davon bin, und die boͤſen Nachreden auf den Tod haſſe,
ob ich wohl eben nicht ſagen kann, daß ſie diesmal unver-
dient waren: ſo eilte ich nur fort nach Hauſe, um den
Himmel zu danken, daß ich nicht ſo bin wie dieſe. Wenn
ich Sie heute Abend ſehen ſollte, ſo koͤnnen Sie ſich nur
noch auf ein Paar recht allerliebſte Anecdoten von ihr ge-
faßt machen. Bis dahin …


Eutalie.



Von
[19]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.

VII.
Von Amaliens Kammerjungfer an den Ge-
mahl derſelben.


Hab ichs doch wohl gedacht, daß es ſo kommen wuͤrde;
die gnaͤdige Frau hat den ganzen Morgen nichts ge-
than als Grillen fangen, und ſich auch nicht einmal anzie-
hen laſſen wollen. Wenn eins die Treppe herauf kam:
ſo fuhr ſie in einander, als wenn ſie befuͤrchtete, es kaͤme
ſchon jemand ihre Juwelen abzuholen. Einige Thraͤngen
fielen dann und wann mit unter, aber wie es mir vor-
kam, aus herzlich boͤſem Sinn. Den letzten Brief von
Eutalien konnte ſie gar nicht aufkriegen. Ließ doch ein-
mal Louiſe, ſagte ſie zu mir, und ſieh wie impertinent bos-
haft die Welt iſt. Euer Gnaden koͤnnen leicht denken, daß
ich den Brief recht herunter predigte, wo es ſich ſchickte
pauſirte, und manches Da Capo machte. Wie wir an
die Worte kamen: in meinem Leben habe ich ſo ein eit-
les Menſch nicht geſehen,
wiederholten wir ſolche einmal
ums andre, und allemal mit einer neuen Anmerkung. Kei-
ne Perſon war ſo guͤtig, ſo beſcheiden, ſo gefaͤllig, ſo poli,
ſo artig, ſo freundſchaftlich und ſo wenig eitel geweſen, als
die … Wohlſelige haͤtte ich bald geſagt, aber nun daß ſie
gefallen waͤre, wollte jeder an ihr zum Ritter werden —
dies ſangen wir Duetto — ich laß weiter: wie frech ſie
daher ſtrotzte.
Himmel, ſagte die gnaͤdige Frau, ſie iſt
allezeit wegen ihres ſchoͤnen Ganges bewundert worden, und
die Augen der ganzen Geſellſchaft ſchienen ſich zu erheitern,
wenn ſie hereintrat! jetzt aber heißt das frech einher ſtro-
tzen; c’eſt affreux, c’eſt horrible, c’eſt criant Wie
ich endlich darauf kam, daß der und der, wie die Medi-
ſance ſagte, ihr nicht vergeblich die Cour gemacht haͤtte,

B 2ſprang
[20]Alſo kann man der Mode
ſprang ſie auf und rief: das iſt, ſo wahr ich lebe, nicht an-
dem; ich waͤre keinen Augenblick mit ihr umgegangen, wenn
ſie von der Art geweſen waͤre. Hier dachte ich, iſt es
Zeit, ein bisgen naͤher zu ruͤcken. Was dieſen Punkt an-
langt, ſagte ich alſo, ſo hat ihre Cammerjungfer die Deh-
wern doch eine ſo huͤbſche goldene Uhr und einen Ring mit
einem ſo ſchoͤnen Steine von dem Herrn … erhalten;
wo ich auch nicht irre, ſo ſchrieben die Frau Arabelle
von Ihnen letzt ſelbſt einmal in der Hitze eines boͤſen An-
falls, wie ſie mit ihrem Cammermaͤdgen aus guten Urſa-
chen nicht ſchmaͤlen duͤrfte, und dieſes iſt doch wohl ſo et-
was — hier ſchienen ſich die Augen der gnaͤdigen Frauen
etwas zu vergroͤſſern. Ach! ſagte ſie, der Neid ſieht im-
mer zu viel und die Freundſchaft zu wenig — Und was
duͤnkt Ihnen, fuhr ich fort, von einer Frau, die das ſo
hinſchreiben kann, daß ſie mit ihrem Cammermaͤdgen aus
guten Urſachen nicht ſchmaͤlen duͤrfe; ſollte die nicht ſchon
wohl ſo ein Huͤhngen im Salze haben! — Es iſt moͤg-
lich — und kann man es der boͤſen Welt, die nun einmal
ſo iſt, wie ſie iſt, verdenken, wenn ſie ſich die Augen nur
ſo lange verblenden laͤßt, als ihr die Sonne hineinſcheint —
Freylich ſo ganz und gar nicht — wenn ſie an einer Per-
ſon die auf alles Anſpruch macht, die auch denen von hoͤ-
hern Stande vordringen will, und durch Graß und Korn
geht, wenn ſie nur glaͤnzen kann, alle Fehler aufſucht. —
Ach Louiſe! — wenn ſie einer Perſon, welche mit der
groͤßten Unbedachtſamkeit ihre beſten Freundinnen zu glei-
chen Ausſchweiffungen mit ſich fortreißt, aus der Kunſt
zu gefallen zu prangen und zu herrſchen ihre einzige Beſchaͤf-
tigung macht, dabey die guten Leute, ſo ihr borgen, recht
vorſetzlich betruͤgt, einen ehrlichen Mann ins Ungluͤck ſtuͤrzt,
ihre Kinder mit Schande beladet, zuletzt mit voller Ver-
achtung begegnet — O! ſchweig Louiſe. —


Ich
[21]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.

Ich ſchwieg ſo gleich, als ich fuͤhlte, daß meine
Tropfen anfiengen zu wirken, und that als wenn ich aus
dem Cabinett gehen wollte, mittlerweile ſie, um ihre Be-
wegung zu verbergen, nach einem Buche langte, und ſtatt
des Buches, das Paket ergrif, was ich ihr, auf Befehl
Euer Gnaden, hinten auf ihrem Tiſch geleget hatte. Was
iſt dieſes, fragte ſie mich, und indem ſahe ſie auch ſchon
ſelbſt was es war, und las: Quittungen uͤber meiner
Frauen ihre bezahlten Schulden, ſo ſich bis jetzt auf drey-
tauſend ſiebenhundert drey und achtzig Thaler 12 Mgr.
belaufen.
Sie wollte es oͤfnen, aber vor zittern konnte
ſie es nicht, und nun loͤſete eine Fluth von Thraͤnen das
beklemmete Herz; ſie fuͤhlte auf einmal alles, was Ew.
Gnaden fuͤr ſie gethan hatten, und ſagte weiter nichts als,
wo iſt mein Mann? Der iſt, erwiederte ich, nach ſeiner
Gewohnheit ausgeritten, und wird wohl ſo fruͤh nicht wie-
der zu Hauſe kommen. Sie ſuchte mich hierauf durch al-
lerhand Fragen auszuholen, um zu wiſſen, ob Ew. Gna-
den auch recht boͤſe geweſen waͤren, wie ſie mir das Paket
gegeben haͤtten. Nein, ſagte ich, der Herr iſt dieſen Mor-
gen, wie Sie noch im Bette waren, ſelbſt geſtiefelt her-
ein gekommen, und hat das Paket da ſo hingelegt, mit ei-
nigem Eyfer, wie es ſchien, denn er ſtampfte es ſo dahin,
wo Sie es gefunden haben.


Sie blieb hierauf wohl eine halbe Stunde in tiefen Ge-
danken ſitzen; und man ſahe es ihr recht an, wie ſie in
der unruhigſten Erwartung bey jedem Geraͤuſche aufhoͤrte,
ob Ew. Gnaden auch kaͤmen. Endlich aber, wie es ihr
zu lange waͤhrete, klagte ſie uͤber Herzklopfen, und ich
muſte ihr erſt ein Glaß Waſſer, hernach aber ihr den klei-
nen Junker holen, mit welchem ſie nun ſchon zwey Stun-
den am Fenſter ſitzt, und recht peinlich auf den Augenblick
wartet, da Ew. Gnaden kommen werden.


B 3Ich
[22]Alſo kann man der Mode

Ich hoffe uͤbrigens, daß ich meine Commißion recht
gut ausgerichtet habe, und wuͤnſche, daß Ew. Gnaden bald
kommen moͤgen, die Betruͤbte zu troͤſten.


Louiſe.


N. S.


Arabelle hat ſich eben, und zwar nur auf eine Minute
recht nothwendig zu ſprechen, melden laſſen, iſt aber nicht
angenommen worden; ich denke doch nicht, daß ſie jetzt
noch mit neuen Moden aufgezogen koͤmmt! Die boͤſe Frau?
ſie taugt nicht, wie ich von der Jungfer Dehwern nur gar
zu wohl weiß. Aber ich mogte es meiner gnaͤdigen Frau
nicht ſagen; ſie denkt zu gut, und ihre Jugend hat kein
Mißtrauen. Meine vorige Herrſchaft dachte ganz anders;
ſie ſahe unter jedem Maybluͤmgen ſo gleich eine garſtige
Kroͤte, wann auch nur ein Kaͤfer ſo groß wie ein Nadel-
knopf daran war; ich bin ut in litteris, ſagen die Ge-
lehrten.


Bericht des Herausgebers vorſtehender Briefe.


Unſre Leſer werden vielleicht zu wiſſen verlangen, was
weiter zwiſchen Mann und Frau vorgefallen ſey. Al-
lein der Briefwechſel hat hier aufgehoͤrt, und das Geruͤchte
nichts davon erfahren. Wenn von ihr nachher geſprochen
wurde, ſagte man blos, es iſt eine kluge Frau, und legte
den vollen Ton auf das Wort klug; ſonſt kam ſie in kein
Geſpraͤch, als wenn ſie ſchwanger war. Einsmals traf
ich ſie in einem oͤffentlichen Garten an, als eben die Graͤ-
fin von … mit vollem Geraͤuſche in einem neuen Wa-
gen vorbey fuhr. Ach, ſagte ſie, wie gluͤcklich ſchaͤtzte ich
mich ehedem, als ich auch ſo hervorſtechen konnte; ich
glaubte nicht, daß es moͤglich waͤre, mit Anſtand in der
Welt zu leben, ohne die erſte in allen Moden zu ſeyn. Aber
wie
[23]ohne Gewiſſensſcrupel folgen.
wie der Beutel endlich mitſprach, und mich nur erſt zu ei-
niger Ueberlegung brachte: ſo erſtaunte ich uͤber meine Ver-
blendung; es war, als wenn mir auf einmal die Augen
aufgiengen, und ich ſahe, daß von ſechzig Perſonen, wor-
aus ungefehr mein Cirkel damals beſtand, nur drey wa-
ren, die ſo mit mir fortrauſchten, anſtatt daß ich vorhin
glaubte, jedermann ſuchte mit mir in die Wette zu galop-
piren, und ich koͤnnte nicht zuruͤck bleiben, ohne verſpot-
tet zu werden. Ich fragte endlich die vielen, welche ſo
langſam nachfolgten, ob ſie denn nicht mit wollten? O ja,
antworteten ſie mir, nach unſrer Bequemlichkeit, wer will,
kann vorlaufen, er wird gewiß deſto eher muͤde werden;
Himmel! dachte ich; iſt es ſo beſtellt: ſo verlohnt es ſich
wohl eben der Muͤhe nicht, das koſtbare Wettrennen mit
jenen fortzuſetzen, und wie ich erſt mit denen, die der Mode
ſo ganz gelaſſen folgten, vertraut wurde, erfuhr ich hundert
kleine Geſchichtgen von den drey Galopins, die ich mir nicht
umſonſt ſagen ließ. Mein Entſchluß ward bald gefaßt, wie
ſie denken werden, und ſeitdem bin ich nicht wieder in der
Verſuchung gekommen, einen ſo gefaͤhrlichen Triumph zu
ſuchen.


Man ſieht hieraus, daß Amalie ihre Denkungsart ſo
ziemlich nach ihres Mannes Wunſche geſtimmet habe; und
daß man am ſicherſten gehe, der Mode nicht weiter zu fol-
gen, als der Beutel reicht. Nachrede fuͤr Nachrede, oder
Mediſance fuͤr Mediſance: ſo iſt es doch immer beſſer, ſich
eine kluge Frau ſchelten zu laſſen, als die Ruthe zu verdienen,
womit die Welt den gefallenen Stolz ſtaͤupt. Blos unſre Em-
pfindlichkeit oder Thorheit leget jeder Nachrede ihren Werth
bey; und wenn wir dieſe einiger maßen in unſrer Macht
haben: ſo werden wir dieſes Schreckbild der kleinen Geiſter
minder fuͤrchterlich finden.



[24]

VIII.
Die Politik im Ungluͤck.



Briefe eines Frauenzimmers.



Verbrennen Sie geſchwind meinen letzten Brief, worin
ich uͤber den hohen Fall unſerer groſſen A ....
geſpottet habe. Wahr bleibt es zwar immer, ſie iſt eine
recht ſtolze Frau. Da ſie ſich aber durch das groͤſte Un-
gluͤck, was ihr begegnen konnte, nicht niederſchlagen laͤßt;
und in der Art, womit ſie ſolches ertraͤgt, ſo viele Klug-
heit als Standhaftigkeit zeigt: ſo ſoll ſie von nun an nicht
mehr der Gegenſtand meines Spottes, ſondern meiner groͤ-
ſten Hochachtung ſeyn. Auf einmal ein Vermoͤgen, was
man auf 500000 Mark ſchaͤtzte, zu verlieren; ein Haus,
was das praͤchtigſte in der Stadt war, mit einem kleinen
Stuͤbgen zu verwechſeln; Equipage und Livree, wenn man
von Jugend auf daran gewoͤhnt iſt, nicht mehr zu haben;
ſelbſt die Stelle der Hausmagd und der Cammerjungfer
vertreten zu muͤſſen; ſich von dem Vergnuͤgen, in allen Ge-
ſellſchaften zu glaͤuzen, hundert Bewundrer und Anbeter um
ſich zu haben, und den Ton in allen Moden zu geben, ploͤtz-
lich beraubt zu ſehen … und dieſen entſetzlichen Fall mit
Klugheit und Standhaftigkeit zu ertragen, ſich in alle die
traurigen Folgen deſſelben gelaſſen zu ſchicken, darin einen
neuen Muth zu faſſen, und der haͤmiſchen Freude aller Nei-
derinnen kein niedertraͤchtiges Opfer zu bringen … wenn
das keine Bewunderung verdient: ſo weiß ich nicht mehr,
was man bewundern ſoll. Des Tags vorher, wie der
Bankerott ihres Mannes ausbrach, war ſie noch in ihrem
voͤl-
[25]Die Politik im Ungluͤck.
voͤlligen Glanze bey mir; aber geſtern beſuchte ſie mich in
ihrem neuen Aufzuge, kam durch den tiefen Schnee zu Fuße,
und hatte ihr wollenes Roͤckgen ſo aufgehoben, als wenn
ſie beſorgt geweſen waͤre, daß etwas daran verderben moͤgte.
Ich habe nicht ermangeln wollen, ſagte ſie zu mir, mich Ih-
nen zu empfehlen; und ſie zu erſuchen, mir einige Arbeit
zu goͤnnen, wenn ſie mich dazu tuͤchtig halten. Sie ſagte
dieſes mit einem ſo freymuͤthigen und ungezwungnen An-
ſtande, und redete von ihrem Ungluͤcke mit ſo vieler Maͤßi-
gung, daß ich ohne alle Beſorgniß ſie zu kraͤnken, ganz
frey mit ihr daruͤber reden konnte. Wir philoſophirten
lange zuſammen, ohne daß ihr eine bittere Klage gegen ih-
ren Mann oder deſſen Glaͤubiger entfiel. Sie ließ ſich, ſie
ließ andern Gerechtigkeit wiederfahren; und das mit ſo vie-
ler Wuͤrde, daß ich es nicht wagen mogte, ihr einige Huͤlfe
anzubieten. Aber beym Weggehen konnte ich mich nicht
enthalten, ſie zu umarmen, und ihr ins Ohr zu ſagen:
ſie waͤre eine recht ſtolze Frau. Das bin ich, erwiederte
ſie, und jetzt noch mehr als jemals; ich will zeigen, daß
ich beſſere Anſpruͤche auf Hochachtung habe, als diejeni-
gen waren, die mir vorhin das Gluͤck geliehen hatte; und
ohne Knicks gieng ſie fort. Was ſagen Sie dazu, meine
Theureſte! verdient ein ſolches Beyſpiel nicht eine Stelle
in der buͤrgerlichen Geſchichte? Leben Sie wohl fuͤr heute.



IX.



In voriger Woche iſt man endlich mit dem oͤffentlichen
Verkaufe der A … iſchen Sachen zu Ende gekommen.
Die Frau war immer dabey, und ſorgte dafuͤr, daß alles
ordentlich vorgelegt, und zum theureſten verkauft wurde.
B 5Die
[26]Die Politik im Ungluͤck.
Die Neugierde hatte eine Menge von Leuten herbey gezogen,
um dieſes ſonderbare Schauſpiel mit anzuſehen; vielleicht
auch um ihre Augen an der gefallenen Schoͤne zu weiden.
Aber dieſe ſchien darauf nicht einmal Acht zu haben; ſie
brachte ihren Schmuck, ihre Kleidung und alle ihre beſten
Sachen, ſo wie ein Stuͤck nach dem andern verkauft wur-
de, ſelbſt hervor. Es war eine ungeheure Menge von al-
lerley zum we[i]blichen Putz gehoͤrigen Ueberfluͤßigkeiten und
darunter wuͤrklich ſehr viel koſibares was die vornehmſte
Dame ſich nicht beſſer haͤtte wuͤnſchen koͤnnen. Sie that
dieſes mit einer ſolchen Entſchloſſenheit, daß ſie von jeder-
mann bewundert wurde. Man bemerkte weder Verzweif-
lung noch Betruͤbniß in ihren Augen; ſondern hoͤchſtens
dann und wann ein kleines Laͤcheln, welches der vergaͤngli-
chen Ehre zu ſpotten ſchien. Nur wie ſie ihre Hemden her-
ein brachte, glaubte man, und ſagte es ſich einander ins
Ohr, daß ſie drauſſen geweinet haben muͤſte; und wuͤrklich
ihre Augen hatten eine etwas geſchwindere Bewegung, wie
man wohl zu haben pflegt, wenn man eine ausbrechende
Thraͤne in der Geſchwindigkeit verbergen will. Ein reicher
Kaufmann erſtand die Hemden, und wollte ihr ein Geſchenk
damit machen. Allein ſie wegerte ſich ſolche wieder anzu-
nehmen, unter dem Vorwande, daß ſie ſich kuͤnftig mit
g[a]nz andern behelfen muͤſte. Beyde wurden hieruͤber ver-
legen; der Kaufmann, weil ſeine Gabe oͤffentlich verſchmaͤ-
het wurde, und ſie, indem ſie aus der ploͤtzlichen Stille der
ganzen Geſellſchaft merkte, daß man ihr dieſen Stolz uͤbel
deutete. Sie, die es am erſten fuͤhlte, uͤberwand ſich aber
gleich, und nahm das Geſchenk unter der Bedingung an,
wenn es ihr erlaubt wuͤrde, die Hemden wieder zu verkau-
fen, und ſtatt derſelben das Geld anzunehmen. Der Stolz
des Kaufmanns ward hiedurch ſogleich auf die augenehmſte
Art beruhiget; er nahm ſelbſt ein Hemd nach dem andern,
bot
[27]Die Politik im Ungluͤck.
bot es den Anweſenden feil, und nun war keine Dame, die
nicht wenigſtens ein Hemde vierfach bezahlte, fuͤr das ſchlech-
teſte gab man hundert Mark. Hier konnte das edle Weib
den Thraͤnen nicht wiederſtehen; dieſe allgemeine Theilneh-
mung an ihrem Ungluͤck brach ihr das Herz; und die ganze
Geſellſchaft gab ſich die zaͤrtlichſte Muͤhe, ihr etwas troͤſtli-
ches und verbindliches zu ſagen. In meinem groͤſten Gluͤ-
cke, erwiederte die rechtſchaffene Frau, iſt mir nie ſo ſehr
geſchmeichelt worden, als heute. O Ungluͤck, wie vieles
lehrſt du mich! und wie vieles habe ich dir zu danken!


In dem Taumel der Dankbarkeit und zaͤrtlichen Em-
pfindungen riß ich ſie nach geſchloſſenem Verkauf mit fort
in meinem Wagen, und brachte ſie unvermuthet zur Ge-
ſellſchaft, worin ſie vordem die erſte Perſon geſpielet hatte.
Es ſchien ihr dieſes zwar nicht angenehm zu ſeyn; jedoch
fand ſie ſich ſogleich; und begegnete den jungen Herrn, die
ſich mit einem neugierigen Ungeſtuͤm um ſie verſammleten,
mit einer unnachahmlichen Beſcheidenheit. Der Kreis ver-
lohr ſich, ohne daß ſie ihn verſcheuchte oder aufzuhalten be-
muͤhet war. Sie fuͤhlte ihre Wuͤrde, ohne daraus eine
Rolle zu machen; und erweckte ſtilles Mitleid, ohne die
Ungluͤckliche zu ſpielen. Diejenigen, welche ſie zuerſt mit
einer haͤmiſchen Freude erblickt hatten, vertieften ſich in
heimliche Bewunderung, und verziehen ihrem Ungluͤck den
unbeleidigenden Stolz. Man wollte, ſie ſollte ſpielen;
aber ſie verbat durchaus die Charte, und wie die uͤbrige
Geſellſchaft ſich dieſem gewoͤhnten Vergnuͤgen uͤberließ, ſetzte
ſie ſich zu unſerm redlichen R … der auch nicht zu ſpielen
pflegt, und zog ihn, wie ich aus einigen Worten ſchloß,
uͤber verſchiedene Entwuͤrfe zu Rathe, welche ſie in Abſicht
auf ihren und ihrer Kinder kuͤnftigen Unterhalt gemacht hatte.
Er antwortete ihr nur immer mit Lebhaftigkeit: O alles
was
[28]Die Politik im Ungluͤck.
was ſie unternehmen, wird ihnen gerathen; meine Kaſſe
iſt ihnen zu Dienſte; mit einer ſo klugen Einſchraͤnkung,
mit einem ſo entſchloſſenen Muthe, mit ſo vieler Einſicht …
Aber ſie unterbrach ihn oft, und ſchien mit allen dieſen
treuherzigen Schmeicheleyen unzufrieden zu ſeyn, wie ich
aus der Bewegung ihrer Haͤnde wahrnahm, die, was mir
ins Lachen fiel, ſo eifrig gegen einander giengen, als wenn
ſie noch ihren Faͤchel mit Brillanten darin gehabt haͤtte.
Was endlich beſchloſſen wurde, hoͤrte ich nicht; ſie dankte
ihm aber auf die verbindlichſte Weiſe, und fuhr mit mir
zuruͤck, da ich ſie denn bey ihrer Wirthin, einer Handſchu-
macherin abſetzte, die ihr ſogleich entgegen flog, und ſie
auf das liebreichſte bewillkommete.


Gute Nacht meine Liebe, ſagte ſie zu mir! und dieſes
will ich auch jetzt zu Ihnen ſagen: Alſo gute Nacht meine
Liebe.



X.


Ich habe geſtern den ganzen Abend mit unſrer guten A ..
philoſophirt; es iſt ein allerliebſt vernuͤnftiges Weib.
Wir kamen auf die Schaam, welche eine ungluͤckliche Per-
ſon in ihrer Erniedrigung insgemein empfindet, und auf
die falſchen Mittel, die ſie denn ergreift, um ihre Bloͤſſe
zu bedecken. Dieſes merkte ich wohl, war eine Lieb-
lingsunterredung fuͤr ſie, weil ſie dadurch eine Gelegenheit
erhielt, den Plan ihres ganzen Betragens zu rechtfertigen,
und Ungluͤckliche, wie Sie wiſſen, thun nichts lieber, als
ſich rechtfertigen. Ich will ſehen, ob ich den Sinn ihrer
Worte wieder zuſammenbringen kann; denn ich wuͤnſchte
Ihnen auch ein recht vortheilhaftes Bild von ihr zu ma-
chen. Wenn Sie ihren Wagen zerbrechen, ſagte ſie zu
mir,
[29]Die Politik im Ungluͤck.
mir, ſo machen ſie ſich keinen Schimpf daraus, zu Fuße
und auch wohl ein bisgen durch den Koth zu gehen, wenn
es nicht anders ſeyn kann; bleibt irgend ein Schuh ſtecken,
nun ſo verſtehts ſich, man geht ſodann im Strumpfe, be-
ſonders wenn es kein Wetter iſt, ſich lange zu verweilen.
Unterwegens erzaͤhlen ſie denn allen die ihnen begegnen, ihr
kleines Ungluͤck, damit die Leute nicht glauben moͤgen, ſie
waͤren von den Leuten, die zu Fuſſe reiſeten; ſagen auch wohl
zu ſich ſelbſt, daß ſie dieſes nur um deswillen thaͤten, da-
mit man ſie nicht fuͤr eine Landſtreicherin anſehen moͤgte,
die irgendwo mit einem Schuhe fluͤchten muͤßen: denn man
will doch in ſeinen eignen Augen nicht gern eitel ſcheinen;
und wenn Sie dieſe kleine Ceremonie mit ſich und andern be-
obachtet haben: ſo ſchaͤmen Sie ſich ihres Zuſtandes, wenn
Sie in einem Schuhe zu Fuße gehen, nicht weiter. Die-
ſes iſt nun gerade mein Fall auch; nur mit dem Unterſchiede,
daß meine Reiſe zu Fuße vielleicht etwas laͤnger iſt, und
beſonders, daß ich die eitle Erzaͤhlung ſparen kann. Die
ganze Stadt weiß meinen Fall; habe ich ihn verdient: ſo
muß ich mich beſſern, wo ich nicht im Kothe ſtecken bleiben
will; und habe ich ihn nicht verdient, ſo muß ich auch lau-
fen, daß ich aufs Trockne komme. In beyden Faͤllen thut
meine Auffuͤhrung dasjenige, was ihre kleine Erzaͤhlung
thut. Sie ſagt den Leuten, zu welchen alle ich nicht ſelbſt
gehen moͤgte, daß ich nicht als eine Landſtreicherin zu Fuße
gehe. Meine Einſchraͤnkung bis aufs Nothwendigſte hat
die Wuͤrkung, daß mich niemand flieht, weil niemand be-
ſorgen darf, daß ich etwas von ihm bitten oder borgen will.
Je mehr ich in meinen Handlungen, Klugheit und Entſchloſ-
ſenheit zeige, deſto groͤßer iſt das Vertrauen, was ich mir
erwerbe, und die Achtung, die ich auf dieſe Weiſe erlange,
haͤlt mich fuͤr die Bewunderung ſchadlos, die man ehedem
meinem Aufzuge weihte. Ein bisgen Koketterie laͤuft hier
vielleicht
[30]Die Politik im Ungluͤck.
vielleicht mit unter; aber dieſes edle Ingredienz unſrer Natur
mag immer bleiben, wenn es ſo gut wuͤrkt. Wenn ich mich
in einem falſchen Staate erhalten, und in einem praͤchtigen
Elend leben wollte: ſo wuͤrden ſie mir nicht ſo freundſchaftlich
begegnen, ſie wuͤrden ſich vor meinen Klagen und Zumuthun-
gen fuͤrchten, mir aus dem Wege gehen, wohl gar meine
Redlichkeit in Zweifel ziehen, und mich fuͤr eine ſtolze Frau
halten. Dieſes iſt meiner Empfindung nach ſo klar, daß
ich keinen Menſchenverſtand haben muͤſte, wenn ich hier
in der Wahl der Mittel fehlte. Die falſche Schaam fin-
det ſich blos in dem Herzen einer Kokette ohne Verſtand,
die ihre eigenen Vortheile nicht kennet, und blos in einer
einzelnen Situation, wo ihr alles zu Huͤlfe koͤmmt, glaͤnzt,
ſo bald ihr aber die fremde Huͤlfe fehlt, ſich die Bewunde-
rung erbetteln will. Was koͤnnte mich reitzen, auf die Ge-
fahr laͤcherlich zu werden, eine ſo elende Figur zu machen,
da ich den ſichern Weg, im Ungluͤck groß zu bleiben, vor
mir habe? oder halten Sie es fuͤr etwas groſſes und Nach-
ahmungswerthes, daß die Frau eines Schuhflickers in
Rom nicht zur Kirche geht, ohne einen Dominichino hinter
ſich zu haben, den ſie ſich fuͤr einen Stuͤber miethet? Mir
gefaͤllt nichts, als was meinen Umſtaͤnden angemeſſen iſt;
hiemit verſoͤhne ich aller Welt Stolz und Neid, und man
ſteht mir dagegen die Hochachtung freywillig zu, die ich
vergeblich fordern, und noch vergeblicher erbetteln wuͤrde ..


Mich deucht, dieſes iſt eine ſehr vernuͤnftige Politik;
ich finde nun nicht, daß ſie ſich ihres wollenen Roͤckchens
zu ſchaͤmen habe, und verehre die Frau, die ihn mit ſo
vieler Ueberlegung angeleget hat. Vor acht Tagen ſahe
ich ſie bey dem franzoͤſiſchen Reſidenten, Es half nichts:
ſie muſte ſich in ihrem jetzigen Anzuge mahlen laſſen, und
der Mahler hat ſeitdem ſchon mehr als zehn Eopien davon
ma-
[31]Die Politik im Ungluͤck.
machen muͤſſen. So begierig iſt jederman ihr ſeine Hoch-
achtung zu zeigen. Es faͤllt mir hiebey ein, daß Sie mir
auch noch Ihr Bildniß ſchuldig ſind. O! laſſen Sie ſich
doch ja auch in Ihrem laͤndlichen Anzuge mahlen, die große
Draperie hat jetzt vieles von ihrem Werthe bey mir verloh-
ren; ich ſchaͤtze heute nichts als Vernunft und Herz; und
Sie, meine Theureſte! die beydes von der beſten Art be-
ſitzen.



XI.



Sie haben Recht, meine Liebe, es iſt nicht allen gege-
ben, oder beſſer, nicht alle verſtehen die Kunſt, ſich
ſo fein herabzulaſſen, wie es unſere A … thut; beſonders
wenn es ein Muß iſt. Allein beſſer iſt doch immer beſſer;
und jederman muß geſtehen, daß ſie in der Art, wie ſie
ihren Fall ertragen, einen groſſen Verſtand gezeigt habe.
Es iſt ihr aber auch ſo leicht nicht geworden, wie es jetzt
nach geſchehener Arbeit ausſieht. Ich wuͤnſche, daß Sie
es nur einmal aus ihrem eigenen Munde hoͤren moͤgten, wie
ſauer ihr der erſte Kirchgang nach ihren veraͤnderten Um-
ſtaͤnden geworden iſt, und was die Frau gelitten, wie ih-
res Vaters Bruder ihr den Antrag gethan hat, einen Am-
menplatz anzunehmen. Sie wuͤrden gewiß eben ſo laut mit
ihr heulen, wie ich gethan habe. ”Bey aller Entſchloſſen-
heit, und mit einem Muthe, worauf ich mich lange geuͤbt
hatte, ſagte ſie, ſtieg mir doch immer das Herz in die Hoͤ-
he, wie ich das erſtemal in die Kirche gieng, ich haͤtte kei-
nen Laut hervorbringen koͤnnen; und wie ich vor die Kir-
chenthuͤr kam, wo ſonſt mein Wagen gehalten, und ein Be-
dienter
[32]Die Politik im Ungluͤck.
dienter mir Platz gemacht hatte, preßte ſich eine wahrlich
recht bittere Zaͤhre aus meinen Augen, ſo heißtrocken ſie
auch waren. Im hingehen durch die Kirche zogen ſie ſich
feſt zu, und wie ich mich geſetzt und gebetet hatte, muſte
ich die Augenlieder mit dem Finger unvermerkt ein bisgen
in die Hoͤhe ſchieben, weil ſie nicht aufgehen wollten; und
ich konnte ſie nicht wenden, ohne uͤberall einem ſpoͤttiſchen
oder neugierigen Blicke zu begegnen. Unter dieſem druͤcken-
den und ſchadenfrohen Anſchauen habe ich wohl zehn Sonn-
tage zubringen muͤſſen, ehe die haͤmiſche Neugier ſich all-
maͤhlig zu einer mitleidigen Beſcheidenheit gewoͤhnen wollte.
Aber doch war dieſe Empfindung noch nichts gegen dasje-
nige, was ich bey der grauſamen Barmherzigkeit meines
Oheims empfand. Sie wiſſen, mein Kind, das nur acht
Wochen alt war als mich das Ungluͤck traf, ſtarb waͤhrend
dem erſten Schrecken; und ich hatte es ſelbſt geſaͤugt, weil
es eben damals Mode war, und die Prinzeßin von ....
ſich dieſer muͤtterlichen Pflicht unterzogen hatte. Mein
Oheim ließ mich ſo gleich rufen, und fragte mich ohne wei-
tere Umſtaͤnde, wie es mit der Milch ſtuͤnde, und ob ich
wohl das Kind der Amtmannin zu ..... die eben in den
Wochen geſtorben war, annehmen wollte; ich wuͤrde dort,
fuͤgte er, ohne meine Antwort zu erwarten, hinzu, gut ge-
halten werden, den Leuten hier aus den Maͤulern kommen,
und die Koſt beſſer haben, als ich ſie mir mit meiner Haͤn-
de Arbeit wuͤrde verſchaffen koͤnnen; meine beyden Kinder
wollte er indeſſen unterzubringen ſuchen ..... Sie koͤn-
nen denken, wie mir hiebey zu Muthe war, und was es
mir koſtete, einem jungen naſeweiſen Arzte, den mein Oheim
hatte rufen laſſen, und der mir als einer kuͤnftigen Amme
allerhand Fragen that, nicht eine Grobheit zu ſagen. Zu
meinem Gluͤcke erſtarben mir die Worte im Munde, ich
fieng an zu ſchluchſen, meine Beine wollten mich nicht hal-
ten,
[33]Die Politik im Ungluͤck.
ten, ich fiel auf einen Stuhl, und in dem Augenblick kam
ein Brief von dem Amtmann, worinn er meldete, daß er
aus Beſorgniß, das Schrecken moͤgte meine Milch ver-
dorben haben, ein gutes Landmenſch in meine Stelle ge-
nommen haͤtte, und mir alſo nicht dienen koͤnnte. Hier
fieng ich an Othem zu ſchoͤpfen, und mein Oheim war ſo
gut, mich mit dem zaͤrtlichen Troſte, wie er es ſehr bedau-
rete, daß die Gelegenheit fehl geſchlagen waͤre zu verab-
ſcheiden. Und fuͤr dieſe Guͤte muſte ich ihm denn noch
danken.„


O! waͤren Sie doch bey dieſer Erzaͤhlung gegenwaͤrtig
geweſen! die arme Frau ſaß neben mir auf dem Kanape,
voruͤbergebogen, den Ellenbogen auf das Knie geſtuͤtzt, die
Augen auf den Boden geheftet, und ſchlug ſich bey dem
Wort danken mit der zugemachten Hand vor die ſtolze
Stirne. Ich legte ihr meine Arme um den Ruͤcken, und
bat ſie freundſchaftlich, nicht wehmuͤthig zu werden. Aber
ſie fuͤhlte und hoͤrte es nicht; und war bey der bloſſen Er-
zaͤhlung dieſer grauſamen Erniedrigung ganz auſſer ſich ge-
rathen. Dennoch hat ſie ſich damals uͤberwunden, und ih-
ren Oheim nicht boͤſe gemacht, von dem ſie auch noch die beſte
Huͤlfe genießt. Ja ſie hat ihn durch ihre kluge Einſchraͤnkung,
und eben dadurch, daß ſie ihn von aller Furcht befreyet hat,
ihr einige Huͤlfe geben zu muͤſſen, nach und nach dergeſtalt
eingenommen, daß er ſehr vieles fuͤr ſie thut, und in ihrer
Geſellſchaft eine wahre Freude findet. Blos das erſte
Schrecken, daß ſie mit ihren Kindern ihm nur allein auf
den Hals fallen wuͤrde, hatte den guten Schoͤps dahin ge-
bracht, ſeine Nichte fuͤr Amme auszubieten.


Hier dachte ich meinen Brief zu ſchlieſſen, aus Furcht,
er moͤgte zu lang werden. Da ich aber eben Zeit und Luſt
zu ſchreiben habe, weil die Geſellſchaft abgeſagt iſt: ſo will
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Cich
[34]Die Politik im Ungluͤck.
ich Ihnen doch noch eins von meiner Heldin erzaͤhlen. Sie
koͤnnen es aber nach Ihrer Bequemlichkeit Morgen oder
Uebermorgen leſen.


Wie ſie Braut geweſen war, hatte ihr ein alter Bedien-
ter ihres Vaters heimlich tauſend Mark zu Taͤndelgelde ge-
liehen, was ſie auch in einigen Abenden gluͤcklich vermanſcht
hatte. Dieſes Geld war des armen Kerls ganzes Ver-
moͤgen, was er in ſeinem dreyßig jaͤhrigen Dienſte erſpa-
ret hatte. Bey dem Ausbruch des Concurſes hatte ſie ſich
dieſer Schuld nicht erinnert; der Glaͤubiger hatte ſie auch
aus Achtung vor ihr vaͤterliches Haus nicht gemahnt; und
ſo war der Concurs geendiget, ohne daß dieſer ehrliche
Mann etwas erhalten hatte. Auf einmal koͤmmt er vorige
Woche zu ihr, ſagt aber doch kein Wort von ſeiner For-
derung, ſondern begegnet ihr, wie der Tochter ſeines vor-
maligen Herrn. Allein ſie faͤllt vor Schrecken zur Erde;
und ”nie, ſagte ſie einige Tage nachher zu mir, habe ich
das Entſetzliche meines Zuſtandes ſo ſehr empfunden als in
dieſem Augenblicke. Meine ganze Habſeligkeit, fuhr ſie
fort, beſtand damals eben in drey Mark vier ß.; das Geld,
was ich fuͤr meine Hemden empfangen hatte, und mir ge-
ſchenkt wurde, hatte ich zur Befriedigung einiger geringen
und armen Glaͤubiger, die aus dem Concurs nichts em-
pfangen ſollten, angewandt, weil ich es nicht ertragen
konnte, daß dieſe Leute, die das Ihrige ſauer verdienet,
und ſelbſt kein Brod hatten, uͤber mich ſenfzen ſollten. Zu
verkaufen hatte ich nichts, weil ich weiter nichts behalten,
als was zur aͤuſſerſten Nothdurft gehoͤrete. Was ſollt ich
thun? … Der arme Kerl fieng an zu weinen, und
wollte mich troͤſten, indem er ſagte, er kaͤme ja nicht um
etwas von mir zu begehren, er wollte wohl ſehen, daß er
ſich noch behuͤlfe. Aber ich erinnerte mich jetzt, daß er
ſchon
[35]Die Politik im Ungluͤck.
ſchon zur Zeit, wie ich noch im Ueberfluß lebte, Noth gelitten,
und die Zinſen, die ich ihm damals bezahlt, aͤngſtlich be-
gehret hatte. Ich erinnerte mich, o meine Theureſte, wel-
che Erinnerungen! daß er Frau und Kinder hatte, die
mich zu Zeiten um einige Beyhuͤlfe angeſprochen, und nun
muſte ich hoͤren, daß dieſer Mann beſcheiden genug ſeyn
wolte, mir das Seinige zu laſſen .... O mein Freund,
rief ich ihm aͤngſtlich zu, komm er Morgen wieder, er ſoll
das Seinige bis auf den letzten Pfennig erhalten, wenn noch
Menſchen in der Welt ſind, die ein Herz haben. Mehr
konnte ich nichts ſagen, ein heimlicher Fluch auf mich ſelbſt
entwiſchte mir in einer Art von Wuth, ich gieng aber noch
deſſelben Tages in die Geſellſchaft bey dem Reſidenten; zog
ihn mit einer Lebhaftigkeit, die er, wie ich wohl merkte,
fuͤr eine halbe Verwirrung anſahe, auf die Seite, und er-
zaͤhlte ihm mein Ungluͤck. Ach er .... (das Wort wollte
nicht heraus, und ihr Geſicht gluͤhete) … ſammlete fuͤr
mich, und ich erhielt das Geld fuͤr den guten Menſchen, der
es des andern Tages durchaus mit mir theilen wollte, das ich
aber, dem Hoͤchſten ſey Dank! nicht angenommen habe ..”


Geſtehen Sie jetzt, meine Theureſte! daß die feine Her-
ablaſſung, wie Sie es nennen, die ganze Kraft einer ed-
len Seele, eine wahre Rechtſchaffenheit, und die groͤßte
Ueberwindung erfordere. Geſtehen ſie aber auch, daß man
einer ſolchen Perſon nicht zu viel Hochachtung erweiſen koͤn-
ne, und daß wir Recht haben, wenn wir uns um die Wette
beeifern, dieſer Ungluͤcklichen einige angenehme Stunden
zu verſchaffen. Geſtehen Sie endlich, daß es auch in dem
ſtaͤdtiſchen Zirkel bisweilen eine ſchoͤne Natur gebe, die eine
heilige Betrachtung verdient! ich bin davon ganz enthuſiaſ-
mirt … auch mir iſt dabey eine ſuͤſſe Thraͤne entfallen ..
koͤnnte ich Sie, meine Beſte, in einem gluͤcklichern Augen-
blicke verſichern, daß ich ganz die Ihrige ſey?


C 2XII.
[36]Die Politik im Ungluͤck.

XII.



Wie ich mein letzteres eben endigte, kam mein alter Li-
centiat F … zu mir; und von einer Thorheit zur
andern gieng ich endlich ſo weit, daß ich ihm meinen Brief,
den ich an Sie geſchrieben hatte, vorlas ”Habs lang ge-
ſagt, mags aber auch wohl wiederhol’n, fieng er an, wie
ich auf den Onkle Schoͤps kam, wir ſind alle ſolche Schoͤpſ’n.
Wenn ein’ ungluͤckliche Perſon die Mien’ hat, daß ſie uns
beſchwerlich fall’n wird, und dieſe Mien’ hat ein’ jede, ſo
lang’ ſie ein’n nicht fingerdeutlich vom Gegentheile uͤberfuͤhrt:
ſo will man ſie ſtracks zur Kinderwaͤrterin abwuͤrdigen; ’s
iſt hier keine Huͤlfe, denkt man, ein wenigs erkleckt nicht,
und nach vielem wird wiederum viel, und mehr erfordert
werden, als man geben kann. Beſſer alſo fluchs als
langſam gebroch’n, und ſich Undank erkauft. Mag ſie
’s doch ſich ſelbſt zurechnen, daß man ihr aus dem Gleiſe
weicht, koͤnnts ja geſcheuter anfangen; ’n mal auch wol
zweenmal hilft man ihr wol, aber dann iſts auch aus, ihr
Ungluͤck kuͤmmert ein’n weiter nicht. Wenn man aber weiß,
daß die Perſon ihre tauſend und ein Beduͤrfniſſe ſo gemin-
dert hat, daß ſie von dem Krautkopfe, den ſie noch uͤbrig
hat, ſatt wird: o ſo freut’s ein’n zu helfen; man laͤuft ihr
uͤberall entgeg’n, haͤlt ihr den ofnen Beutel zu, und iſt
bey meiner Treu ein großmuͤthiger Patron. Das Helfen
und Troͤſten iſt dann ſo ſuͤß, das Zutrauen ſo bequem, alles
was man thut wuͤrkt ſo a propos, Dankbarkeit und Wohl-
thun begegnen ſich ſo herzlich; daß es eine rechte Kraftſuppe
vor mich iſt, wenn ich die groͤſte Wohlthat in eine verfluchte
Schuldigkeit verwandeln kann …


Ich
[37]Die Politik im Ungluͤck.

Ich mag Ihnen das uͤbrige nicht herſchreiben; Sie ken-
nen ihn, meine Theureſte, und wiſſen, daß er zwar rich-
tig im Text, aber ſehr kauderwelſch in ſeinem Vortrage
iſt. Ich habe ſeit meinem letzten die A .. nicht geſehen;
indeſſen aber doch gehoͤrt, daß ihr Mann, der ſich, wie
man ihn beſchuldigte, mit ſeinem Hauptbuche, unſichtbar
gemacht hatte, in A .. angelangt iſt. Vermuthlich wird
er ſein Ungluͤck rechtfertigen koͤnnen; und ſolchergeſtalt ſei-
nem guten Weibe den einzigen Troſt verſchaffen, der ihr
fehlte. Es nagte ſie unaufhoͤrlich, daß er uͤberall fuͤr ei-
nen Betrieger gelten muſte; und uͤber dieſen Punkt habe
ich nie mit ihr ſprechen moͤgen, ſie auch nicht mit mir.


Gleich zu Anfang ihrer Ehe klagte ſie mir einmal, daß
ihr Mann die Gluͤcksſpiele, und beſonders das Lotto, ſo ſehr
liebte; und ich wollte wohl ſagen, daß dieſes, wiewol ganz
zufaͤlliger Weiſe, auch auf ihre Lebensart einen uͤbeln Ein-
fluß gehabt hat. Ich erwartete geſtern, ſagte ſie mir da-
mals, meinen Mann bey einem kleinen haͤuslichen Abend-
eſſen, und hatte mir eine kleine unſchuldige Freude daraus
gemacht, daß ich ihm ein Kinderhemdgen zeigen wollte, das
ich ſelbſt fertig gemacht hatte; ich rechnete auf ſein Lob,
als meine einzige Belohnung, und mein Herz ſchlug vor
ſanfter Freude bey dem Geraͤuſche eines jeden Wagens, der
durch unſre Gaſſe fuhr. Da wird er ſeyn, dachte ich …
aber er kam nicht; das Eſſen das ich bereitet hatte, ver-
darb am Feuer, und alle meine Erwartungen wurden ge-
taͤuſcht. Wie er endlich ſpaͤt kam, war ich unmuthig, hatte
keine Freude mehr, ihm meine Arbeit zu zeigen; und er
war ſo voll von einem Gewinnſte, den er gethan hatte, daß
ich mich ſchaͤmte ihm zu ſagen, wie ich heute acht Schilling
mit Naͤhen erſparet haͤtte.„


C 3Ich
[38]Die Politik im Ungluͤck.

Ich achtete damals auf dieſe ihre Klage ſo ſehr nicht;
und wir lieſſen es beyde, bey der allgemeinen Anmerkung
bewenden, daß ein Spieler, wenn er auch ſonſt nichts
uͤbels thaͤte ſchon aus dem einzigen Grunde ſtrafbar waͤre,
daß er den kleinen haͤuslichen Fleis, worauf doch ſo vieles
ankoͤmmt, und wovon das Gluͤck der mehreſten Haushaltun-
gen abhaͤngt, voͤllig erſtickte, und einem guten Weibe die
Gelegenheit raubte, ihm durch ihre Aufmerkſamkeit, Ord-
nung und ein ſelbſt gemachtes Gericht zu gefallen. Nach
der Zeit habe ich wohl gedacht, daß er eben durch die kalte
Gleichguͤltigkeit, womit er auf die ſtillen Tugenden ſeiner
Frau herab ſahe, durch die wenige Aufmerkſamkeit auf ihre
kleinen Liebesfeſte, womit ſie ihn bisweilen zu uͤberraſchen
wuͤnſchte, und durch das beſtaͤndige Geſpraͤch von Sum-
men die verlohren oder gewonnen waren, ſie endlich auch
dahin gebracht hat, taͤglich in Geſellſchaften zu gehen, im-
mer zu ſpielen, und ihre Haushaltung von ſelbſt gehen zu
laſſen.


Sie hatte zu vielen Stolz, um ſich vor eine zweyte
Rolle zu ſchicken. Sie wuͤrde als die beſte Haushaͤlterin,
als die zaͤrtlichſte Mutter, und als die vernuͤnftigſte Frau,
uͤberall die erſte geweſen ſeyn. Und wie ſie in dieſem Plan,
welchen ſie ſich gleich nach den verrauſchten Honigmonaten
ihres Eheſtandes gemacht hatte, von ihrem unvorſichtigen
Manne geſtoͤret wurde: ſo ſuchte Sie die erſte Rolle unter
unſern glaͤnzenden Prinzeßinnen zu erhalten; und die Per-
ſon, die ſich mit ihrem Kinderhemdgen eine Fuͤrſtin duͤnkte,
achtete hernach achthundert Mark nicht ſo viel, als ihre acht
Schillinge. Dieſes halte ich fuͤr den wahren Grund ihres
Verderbens; und ihre jetzige Auffuͤhrung zeugt von ihren
erſten Grundſaͤtzen. Auch in ihrem Ungluͤcke iſt ſie mit kei-
ner zweyten Rolle zufrieden. Man ſieht, ſie will auch
hier die einzige in ihrer Art ſeyn.


Wie
[39]Die Politik im Ungluͤck.

Wie gluͤcklich ſind Sie, meine Beſte, auf dem Lande,
wo der Mann die gefaͤhrlichen Reitzungen der Gluͤcksſpiele
nicht ſieht. Arbeit als eine Beduͤrfniß liebt, und dann auch
die nuͤtzlichen Eigenſchaften einer liebenswuͤrdigen Gehuͤlfin
verehrt. Jeder Abend bringt ſie zuſammen; jedes Gericht,
das Sie ihm vorſetzen, wird mit dankbarer Freude genoſ-
ſen; jede Erzaͤhlung von dem, was Sie des Tages wohl
ausgerichtet haben, heftet ihn an Ihren Blick, die Kinder-
gen empfangen den Segen von beyden; und eine ungeſtoͤrte
Ruhe erwartet ſie nach dem lieblichen Abend …


Ich darf heute nicht weiter ſchreiben, mir kocht das
Blut noch von einem naͤchtlichen Balle, und ich muß ein-
mal zu meinen Kindern gehen, die ich in drey Tagen nicht
geſehen habe. Kuͤſſen Sie meine Gevatterin, und wenn
Sie heute Abend ihrem Eheherrn meinen Brief vorleſen:
ſo laſſen Sie das aus, was ich von ihm geſagt habe; er wuͤr-
de ſonſt beyde Fluͤgel ſchlagen, und hoch krehen. Es iſt ge-
nug, daß ich euch Landleuten heute den Sieg laſſe; den
Triumph koͤnnt ihr ſparen; habt ja auch keine junge Herrn
die ihm zuſchauen und den Wagen ziehen koͤnnen. Der
Triumph mag alſo vor uns bleiben, und vor euch die ge-
rechte Sache und mein Herz. Koͤnnen ſie etwas mehrers
verlangen? … Nun ja, einen Kuß! .. den druͤcke ich in
die Stelle meines Namens.



C 4XIII.
[40]Die Politik im Ungluͤck.

XIII.



Die A .. hat ihren Mann gluͤcklich wieder. Die Stock-
jobberey *) hat auch ihn, wie viele andre, geſtuͤrzt.
In der Angſt war er nach England gereiſet, weil er glaubte,
daß ihn ſein dortiger Compagnon hintergangen haͤtte; und
wuͤrklich hat er durch ſeine geſchwinde Reiſe noch vieles ge-
rettet. Seine Glaͤubiger haben ſich mit 60 p. C. begnuͤgt,
nachdem er ihnen ſeinen Zuſtand aufrichtig eroͤfnet; und
nun hat er noch ſo viel uͤbrig, daß er bey Fleiß und Ord-
nung ein maͤßiges Auskommen finden wird. Der groſſe
Eindruck, den ſeine Frau durch ihr Betragen im Ungluͤck,
bey allen und jeden gemacht hat, iſt ihm ſehr zu ſtatten ge-
kommen. Jeder glaubte, ihr eine Gerechtigkeit zu thun,
indem er von ſeiner Forderung ſo viel nachließ. Man
haͤtte mehrers gethan, wann ſie gewollt haͤtte. Allein da
ſie auch dasjenige zu bezahlen gedenkt, was ihre Glaͤubi-
ger jetzt nicht fordern wollen, ſo bald ſie die Erbſchaft von
dem Oheim Schoͤps thut: ſo verlangte ſie nicht mehr,
als die gegenwaͤrtige Noth erforderte. Sie wohnet jetzt in
einem zwar kleinen, aber doch nicht ſchlechten Hauſe, und
hat ihre Haushaltung ſo nett eingerichtet, daß es ein Ver-
gnuͤgen iſt, ſie zu ſehen. Ich habe ſie neulich beſucht, und
ſie vergnuͤgter als jemals gefunden. Nichts, ſagte ſie,
gleicht dem haͤuslichen Vergnuͤgen, und beſonders dem Ver-
gnuͤgen, ſich in jedem Augenblick einen kleinen Gewinn zu
verſchaffen, es ſey durch Erſparen oder Erwerben. So
veraͤchtlich es auch den groſſen Geiſtern vorkommen mag,
ſo wahr iſt es doch, daß ein ſelbſterworbener Schilling das
Herz mit einer groſſen Freude erfuͤllen koͤnne. Jeder Au-
gen-
[41]Die Politik im Ungluͤck.
genblick, den ich mir zu Nutze mache, verſchafft mir dieſelbe,
und ich laſſe nicht viele ungenutzt voruͤber. Die Ordnung,
dieſe edle Freundin des Fleiſſes, macht alle dieſe kleinen
Gewinne beſtaͤndig ſichtbar, und ich gefalle darin mir ſelbſt
und meinem Manne ſo ſehr, daß wir uns nicht begegnen,
ohne einander daruͤber etwas verbindliches zu ſagen. Es
war eine Zeit, wo ich mich wunderte, wie die Leute in nie-
drigen Staͤnden, ohne Geſellſchaft und Spiel, ohne Ope-
ra und Comoͤdie, ohne Luſtfahrten und Lectuͤre einen Tag
wie den andern zubringen koͤnnten, da man doch bey jenen
groſſen Luſtbarkeiten oft die groͤſte Langeweile haͤtte, und
ein herzliches Vergnuͤgen ſehr oft vergeblich ſuchte. Ich
finde aber, daß der haͤusliche Trieb etwas zu erſparen und
zu gewinnen, und von dieſem Gewinnſte mit Ordnung wohl
zu thun, die Quelle des reinſten, ſtilleſten und dauerhafte-
ſten Vergnuͤgens ſey. Er erhaͤlt einen in beſtaͤndiger Be-
ſchaͤftigung, verbannet auch die kleinſte Langeweile, fuͤhret
ſeine Belohnung faſt immer mit ſich, verſuͤßt jede Muͤhe,
erweckt und befriediget wahre Beduͤrfniſſe, ſchmeichelt ei-
nem auf die unſchuldigſte Art, und macht jeden Morgen
nach einem ſorgenfreyen Schlafe heiter. Ein ſchoͤner Ap-
fel und ein friſch gelegtes weiſſes Ey ergoͤtzet mich laͤnger,
als alle Schoͤnheiten der Natur aus dem Kaſten der Dich-
ter; und eine Nadel, die ich finde, macht mir eine kleine
obgleich unvermerkte Freude. Jede Nath, die ich fertig
gemacht habe, iſt fuͤr mich eine Fruͤhlingsblume, und der
Beyfall, den ich daruͤber von meinem Manne erhalte, iſt
die ſuͤſſeſte Schmeicheley. Nuͤtzliche Arbeiten geben zugleich
mehr Stof zu Unterredungen, als alle Thorheiten der Stadt,
und das unſchuldige Spiel meiner Kinder naͤhrt meine Seele
mehr, als die beſte Operette. Habe ich vollends ein Braͤt-
gen mit einem Freunde zu theilen: ſo verachte ich alle Ta-
feln unſrer fuͤrſtlichen Verſchwender …


C 5Was
[24[42]]Schreiben einer Dame,

Was duͤnkt Ihnen, ſollte man nicht Luſt bekommen,
alles wegzuwerfen, um ſo klein und vergnuͤgt zu leben? Wir
handeln wahrlich thoͤricht, daß wir uns die vielen Vergnuͤ-
gungen der Wirthſchaft entziehen, und uns dafuͤr nichts
wie leere Stunden verſchaffen, die wir hernach nicht aus-
zufuͤllen wiſſen. Jedoch Sie, meine Beſte, machen ihre
Kaͤſe ſelbſt, und fuͤhlen das Leere unſrer glaͤnzenden Freu-
den nicht. O bleiben Sie immer dabey! bleiben Sie aber
auch immer meine zaͤrtliche Freundin, wie ich die Ihrige.



XIV.
Schreiben einer Dame, an einem Liebhaber
der Kotterien.


Ich nehme heute keine Entſchuldigungen von Ihnen an,
Sie muͤſſen kommen, es ſey nun mit guter oder boͤ-
ſer Laune; ich habe meinem Mann auf den Abend eine kleine
Ueberraſchung zubereitet, und dieſe wuͤrde ohne Sie gar zu
viel verlieren. Ich weiß zwar wohl, Sie haſſen alle feyerliche
Mahlzeiten und groſſe Geſellſchaften; Ihnen iſt eine Parthie
von Vieren zum Soupé, oder wie man in meiner Jugend
ſprach, un parti quarré de M. de Bouillon*) die ange-
nehmſte. Allein man wuͤrde noch erſt eine beſondere Einrich-
tung machen muͤſſen, wenn ſich die hieſigen Freunde nicht an-
ders als in ſo engen Zirkeln ſehen wollten; und ſo lange die-
ſes nicht geſchehen ſeyn wird, iſt es eine Unbilligkeit, daß Sie
ſich
[43]an einem Liebhaber der Kotterien.
ſich den groſſen entziehen, und fuͤr drey Freunde ihre gute
Laune ſparen wollen.


Sie haben mir oft geſtanden, daß Sie eine Einladung
mit Widerwillen angenommen, und doch ein wahres und
unerwartetes Vergnuͤgen in der groſſen Geſellſchaft genoſſen
haͤtten; und wann dieſes iſt: ſo koͤnnen Sie es auch wohl
einmal auf gut Gluͤck bey mir verſuchen. Zur andern Zeit
ſollen Sie denn auch einmal niemand als mich, meinen
Mann, und noch einen guten Freund, oder wenn Sie ſich
recht gut halten, die Gebieterin ihrer Freude bey mir ſehen.


Verſagen Sie mir aber meine Bitte: ſo machen Sie
ſich auch nur auf einen recht ernſtlichen Verweis von mir
gefaßt; und damit Sie wiſſen, worinn er beſtehen ſoll:
ſo vernehmen Sie ihn jetzt friſch, wie er aus der Feder
fließt. Der Grund ihres Verfahrens iſt eine bloſſe Selbſt-
ſucht, die andern zu Gefallen nicht das mindeſte von ihrer
Bequemlichkeit aufopfern, und ſich von ihrem Polſter nicht
anders erheben will, als wenn ihr die Luſt gerade mit der
Bruͤhe aufgetiſcht wird, welche Sie nun einmal fuͤr die
angenehmſte halten. Sie kommen mir darin gerade ſo vor,
wie der Philoſoph, der alles, was nicht mit ſeinem Sy-
ſtem uͤbereinkommt, abgeſchmackt findet, oder wie der
Dichter, welchem keine Proſe ſchmeckt. Iſt dieſes aber
nicht ein ſchielendes einſeitiges Verfahren, und koͤnnen Sie
den Mann groß finden, der niemals anders als auf ſeinen
eignen Stecken reiten will? Was wuͤrden Sie ſagen, wenn
alle ſo daͤchten, und ein jeder ſich blos auf ſeinen Klubb
einſchraͤnken wollte? Iſt es daher nicht der Billigkeit, und
dem allgemeinen Wohl, welches auch Freuden fordert, ge-
maͤß, daß Sie ſich eben ſowohl nach andern, als andre
nach Ihnen bequemen?


Je
[44]Schreiben einer Dame,

Je groͤſſer der Mann iſt, deſto mehr muß er von ſeiner
Bequemlichkeit aufopfern, der Koͤnig mehr als der Mini-
ſter, und dieſer mehr, als der Cammerdiener ⁊c. Blos
einem Pedanten erlaubt man es, fuͤr ſeinen eignen einge-
ſchraͤnkten Geſchmack zu leben, und wenn Sie nicht unter
der Zahl der letztern gehoͤren wollen; ſo muͤſſen Sie nicht
zu lange auf ihrem Polſter bleiben. Der Hang zum be-
ſondern nimmt mit den Jahren zu, wenn man ihm nicht
widerſteht, und mich duͤnkt, daß ein vernuͤnftiger Beobach-
ter ſeiner ſelbſt dieſem Hange immer entgegen arbeiten muͤße.


Ich hoffe nicht, daß Sie ſich damit entſchuldigen wer-
wie Ihnen die groſſen Mahlzeiten, wie Sie es zu nennen be-
lieben, nur Ekel und Langeweile machten. Sonſt werde ich
antworten, dieſes ſey Ihre Schuld, und Sie beſaͤſſen Herz
und Geiſt genug, beydes zu vertreiben. Was haͤlt Sie auch
ab, den Geiſt und den Ton der Freude zu verbreiten, jedem
Gaſte ein bisgen Zufriedenheit mit ſich ſelbſt, und dem guten
Wirthe einen freudigen Blick zu geben? Mangel an Geſchick-
lichkeit gewiß nicht; und Schade fuͤr Ihre ewige Laune, wenn
ſie immer ſaͤuert oder gaͤhret, und niemals geniesbar werden
will. Tragen Sie ihren Theil nur aufrichtig bey, und bezahlen
fuͤr ihre Perſon; die andern werden auch bald den Beutel
ziehen, und ſich nicht im Ruͤckſtande finden laſſen. In ei-
ner guten Geſellſchaft ſitzt man allezeit auf einem Boden, wo
man leicht electriſirt werden kann, und wenn nur einer erſt
den Strahl gefangen hat: ſo geht er von Hand zu Hand fort.


Sehen Sie, mein Freund! was ich Ihnen alles ſagen
werde, wenn Sie meine Einladung abſchlagen, und nun
biete ich Ihre ganzen Laune Trotz, mir das Vergnuͤgen zu
verſagen, Sie heute Abend bey mir zu ſehen. So wie
Ihre Kirchſpielsglocke fuͤnfe ſchlaͤgt, und keine Minute ſpaͤ-
ter, befehle ich Ihnen hier zu ſeyn.


Amalia.


Das
[45]

VX.
Das war der Cammerjungfer recht.


Es koͤmmt ſo mancher durch die Welt ....
Freylich mein gutes Kind! aber wie? wie? — das
iſt die Frage. Wenn du verhungerſt, koͤmmſt du auch durch
die Welt, und vielleicht ehrlicher, als wenn du an einer
Bratwurſt erſtickteſt; aber darum iſt es noch eben nicht noͤ-
thig, vor Hunger zu ſterben, oder eine Lebensart zu ergrei-
fen, wo man ja ſo kurz und gut durch die Welt kommen
kann. Ein kindiſcher Einfall iſt es, verſtehſt du mich Liſette,
mit allem durch die Welt zu kommen. Man bleibt doch
nicht darin, ſo gern man auch wollte, und Millionen kom-
men durch, ohne daß man dabey ſetzen kann gut! Ich
daͤchte du warteteſt auch noch ein bisgen, ehe du es verſuch-
teſt, in der Haube durch die Welt zu kommen.


Aber, gnaͤdige Frau, wenn es Gott doch ſo verſehen
haͤtte
… Nicht wahr, ſo helfen alle meine Ermahnungen
nichts, ſo iſt die menſchliche Klugheit uͤberfluͤßig. Weißt
du aber wohl, wie ich dieſen andaͤchtigen Schnoͤrkel ſchon
oft geheiſſen habe! Das Faulbette aller Thoͤrinnen, und
die Ausflucht verliebter Dinger, die mit ofnen Augen in
ihr Ungluͤck rennen. Gottes Verhaͤngniß iſt ſo, daß wir
eine vernuͤnftige Wahl der Mittel treffen, nicht aber auf
gerathe Wohl zuſammen laufen, ein halb Dutzend ungluͤck-
liche Kinder in die Welt ſetzen, und fuͤr dieſelben das Brod
vom Himmel erwarten ſollen.


Ach! erwiederte das gute Kind, Ew. Gnaden haben
zu leben, und einen Herrn Gemahl, der Ihnen dieſes Le-
ben ſo ſuͤß, ſo ſuͤß macht; mich deucht, o verzeihen Sie mir
meine
[46]Das war der Cammerjungfer recht.
meine Freyheit! Sie haben gut predigen, und wiſſen nicht,
wie einem armen Maͤdgen, das nun funfzehn Jahr gedient
hat, und auch wohl einmal ein bisgen eignes Brod mit
einem guten Mann theilen moͤgte, ſo recht zu Muthe iſt.
Waͤren Sie an meiner Stelle und ich an der Ihrigen …


Nun heraus damit, hier iſt ein Dukaten, wenn du mir
aufrichtig ſagſt, was ich gethan haben wuͤrde, wenn ich an
deiner Stelle geweſen waͤre?


Sie haͤtten unſern Johann ſchon fruͤher genommen; es
iſt ein gar zu huͤbſcher guter Mann.


Was, Menſch! du meinſt ich haͤtte deinen Kerl ge-
nommen? geh mir aus den Augen, und wiſſe, daß ich nun
und nimmermehr mich darum bekuͤmmern will, wie du durch
die Welt kommen wirſt; zaudere nur nicht lange, und
wenn du nun ein Neſt voll Kinder haſt, und dann Krank-
heit und Ungluͤcksfaͤlle, die natuͤrlichen Folgen ſolcher unbe-
ſonnenen Ehen, dich und deinen Kerl auſſer Stand ſetzen,
das Brod fuͤr ſo viele zu gewinnen, ſo denke an mich, komme
mir aber nicht, um dir ein Stuͤck Brod zu geben. Denn wer
ſich nicht rathen laſſen will, dem iſt auch nicht zu helfen.


Liſette gieng, ihre Noth ihrem lieben Braͤutigam zu
klagen, vielleicht auch um die Suͤßigkeit des Troſtes zu ge-
nieſſen, womit die Liebe in ſolchen Faͤllen gleich bey der
Hand iſt. Zu ihrem Gluͤcke aber begegnete ſie ihrem Herrn
in dem Vorzimmer, der ihre gluͤende Wangen bemerkte,
und ſahe, wie ſie eine bittere Thraͤne mit allen fuͤnfen aus
den Augen rieb. Nun Liſette, redete er ſie an … Aber
die gnaͤdige Frau, welche ſeine Tritte bereits vernommen
hatte, und an der Thuͤr horchte, kam ihm hier ganz feyer-
lich in den Weg, und noͤthigte ihn, ſich von ihr ſelbſt die
ſchreckliche Begegnung, welche ſie von dem dummen Ge-
ſichte, das aͤuſſerlich einer Heiligen gliche, im Herzen aber
voll Boßheit waͤre, erzaͤhlen zu laſſen.


Nun
[47]Das war der Cammerjungfer recht.

Nun das muͤſte ihm freylich angenehmer ſeyn, als al-
les, was die Cammerjungfer ihm auch noch ſo bitterlich
haͤtte klagen koͤnnen; und ſo hoͤrte er denn mit der Gedult
eines Ehemanns, die fuͤrchterliche Geſchichte von einem En-
de bis zum andern an, ohne ſie auch nur einmal mit einer
Anmerkung zu unterbrechen, jedoch nicht ohne einige, wel-
che der Leſer leicht hinzudenken wird, vor ſich zu machen.
Seiner Frauen Unrecht zu geben, war in dieſem Augen-
blick nicht rathſam, die arme Liſette zu bedauren, gefaͤhr-
lich, und die Sache doch ſo laufen zu laſſen, etwas hart.
Er wandte ſich alſo auf die Seite ſeines Cammerdieners,
und erzaͤhlte ihr, was ihm derſelbe nun ſeit vielen Jahren
fuͤr Dienſte geleiſtet haͤtte, wie ſehr er wuͤnſchte, demſelben
endlich ein bisgen eigenes Brod zu verſchaffen, und wie er
geglaubt haͤtte, daß Sie fuͤr Liſetten, die ihr nun funfzehn
Jahr treu gedient, gleiche Geſinnungen hegte. Inzwi-
ſchen, und da er dieſes nicht faͤnde: ſo wollte er fuͤr ſeinen
Bedienten auf eine andre Art ſorgen.


Das wuͤnſchte ich nun eben nicht, verſetzte ſie eifrigſt,
daß etwa die Cammerjungfer der uͤberklugen Frau Ober-
ſtallmeiſterin, durch Sie verſorget werden ſollte. Mich
deucht es ſteht einer Herrſchaft allemal wol an, wenn ſie
zunaͤchſt fuͤr die Ihrigen ſorgt, und Liſette mag ſeyn was
ſie will: ſo iſt ſie doch ſo lange Zeit bey mir geweſen, daß
ich ſie nicht auf die Gaſſe ſetzen will. Aber ſie kann noch
warten, und ihr Johann auch, wie mich duͤnkt …


Nun freylich, erwiederte der ſchalkhafte Mann, ſie
ſollen warten, ſo lange es Ihnen gefaͤllig iſt; ich dachte nur,
weil eben unſer Organiſt verſtorben iſt, und Johann recht
ſehr gut die Orgel ſchlaͤgt; ich wollte lieber ihn, als ei-
nen andern, den mir die Frau Priorin von .. empfohlen
hat, dazu nehmen.


Ich
[48]Das war der Cammerjungfer recht.

Ich weiß nicht, was die Priorin ſich immer unterſteht,
ihre Leute auf unſre Koſten zu verſorgen: hat ſie doch letzt-
hin meinen Bedienten, fuͤr welchen ich mir von ihr die
Stiſtsſchreiberſtelle ausbat, mit der kahlen Endſchuldigung
abgewieſen, daß er ſich zu ſpaͤt gemeldet haͤtte. Nein, Ihr
Johann muß Organiſt werden, und Liſette … ja, wenn
das Menſch nur nicht ſo viel Staat auf dem Leibe haͤtte.
Es iſt ein Ungluͤck mit den Cammerdienern und Cammer-
jungfern; ſie gewoͤhnen ſich ſo ſehr den Herrn und die Frau
zu ſpielen, daß ſie hernach in keinem Stande auskommen
koͤnnen, und bey aller Fuͤrſorge, die man fuͤr ſie traͤgt,
dennoch zuletzt betteln muͤſſen.


O! das iſt eine ſehr wahre Bemerkung, ſchlos endlich
der liebe Mann; und ich habe lange gedacht, daß Johann
nicht Organiſt, und Liſette nicht Frau Organiſtin werden
ſollte, ohne vorher beyde ihren jetzigen Flitterſtaat zu ver-
kaufen, und ſich ſo zu kleiden, wie Sie, meine Liebe, es
ihnen vorſchreiben wuͤrden. Was duͤnkt Ihnen, wenn wir
ihnen fuͤr ihre langjaͤhrige Dienſte ein kleines Gnadengehalt
unter der Bedingung dabey gaͤben, daß die Frau Organi-
ſtin nicht anders, als in einem Rock von Camelot zur Kir-
che kommen, widrigenfalls aber ſogleich ihr Gnadengehalt
verlieren ſollte?


Sie verſprach dieſes in naͤhere Ueberlegung zu nehmen;
und klingelte ſogleich, wie der Mann weg war, der be-
truͤbten Liſette, die nun in Erwartung ihres foͤrmlichen Ab-
ſchiedes mit Zittern herauf kam. Hoͤre, redete ſie dieſelbe
an, du haſt mich dieſen Morgen auf eine recht empfind-
liche Art beleidigt, aber ich war ſelbſt Schuld daran, und
hier haſt du den Dukaten, den ich dir verſprochen habe,
betrachte ihn alle Tage einmal, und — bleibe immer ſo
aufrichtig, wie du heute geweſen biſt.


Liſette,
[49]Das war der Cammerjungfer recht.

Liſette, welche ſich in dieſe Rede gar nicht finden konnte,
wuſte nicht, was ſie antworten ſollte, und die gnaͤdige
Frau fuhr fort: ich ſehe wohl, Johann iſt dir lieber als
ein Ducaten. Nimm ihn alſo, wie ich ihn genommen ha-
ben wuͤrde, wenn ich an deiner Stelle geweſen waͤre —
Noch hatte das Maͤdchen nicht das Herz, dieſe gute Laune
fuͤr Ernſt aufzunehmen — Aber wiſſe, daß er unter kei-
ner andern Bedingung Organiſt, und du nicht Frau Or-
ganiſtin werden wirſt, als bis ihr euch beyde ſchriftlich an-
heiſchig machet, daß du Zeit deines Lebens nicht anders als
in einem Rock von Camelot zur Kirche gehen wolleſt. Doch,
fuͤgte ſie etwas erweicht hinzu, magſt du auf hohen Feſtta-
gen den blauen taftenen Rock, welchen ich dir juͤngſt bey
einer gewiſſen Gelegenheit geſchenkt habe — Das Cammer-
maͤdgen weinte vor Freuden — und den gelben, und gruͤ-
nen, und ſchwarzen …


Es war Zeit, daß der gnaͤdige Herr herein trat, ſonſt
waͤre die gnaͤdige Frau gar zu weich geworden. Dieſer
machte alſo der barmherzigen Strenge ein Ende, und be-
ſtimmte dem jungen Brautpaar zu dem Dienſte, welchen er
ihm gab, ein jaͤhrliches Gnadengehalt unter der Bedingung
des Camelottenen Rocks. Jedoch wurde der blaue ſeidene
fuͤr die hohen Feſttage, der gnaͤdigen Frau zu Ehren, bey-
behalten.



Moͤſ. patr. Phant.III.Th.Die
[50]

XVI.
Die arme Tante Lore!


Man ſehe das Schreiben einer betagten Jungfer an
den Stifter der Wittwencaſſe zu **** im
II. Th. n. 39.


Nun will ich die weiſen Lehren von meines ſeligen Bru-
dern Tochter, und die haͤmiſchen Anmerkungen aller
meiner aufgeſchoſſenen Vettern uͤber meine zuſammengeſtop-
pelte Figur, wie es ihnen zu ſagen beliebt, mit chriſtlicher
Gedult ertragen, da ich endlich hoͤre, daß in Berlin auch
fuͤr uns arme Maͤdgen, die keine gluͤckliche Wittwen wer-
den koͤnnen, geſorgt wird *). Dank ſey es dem groſſen
Koͤnige, deſſen vaͤterlicher Aufmerkſamkeit auch das geringſte
nicht entwiſchet, und der unſer Herz, was die Liebe nur
gar zu leer gelaſſen hat, ganz mit Dankbarkeit ausfuͤllet.
Wie
[51]Die arme Tante Lore.
Wie feſt wird er nicht die Wohlfahrt ſeines Reichs gruͤnden,
wenn das Gluͤck unſer aller von deſſen Erhaltung abhaͤngt?
Und wie vollkommen muß diejenige Staatsmaſchine ſeyn,
wo wir als die geringſten Springfedern derſelben eine ſo
ſchmeichelhafte Aufmerkſamkeit verdienet haben! Nota:
Ich meyne die Springfedern in allen Ehren.


Aber nun — es iſt doch leider immer ein Aber in der
Welt — nun will niemand die Stelle eines Mannes bey
mir vertreten. Mein Bruder iſt tod, und alle die ich
darum anſpreche, ſehen hoch auf, als ob ſie fragen wollten:
Wie hoffeſt du ſchon daß ich vor dir ſterben ſoll? Unſer
alter Paͤchter ſagte mir ſogar ins Angeſicht, als ich ihn um
dieſe Gefaͤlligkeit anſprach: AchMademoiſelleſie wuͤrden
mich zu Tode ſeufzen;
und meine ſpitzigen Vettern, die
mich immer die eiſerne Tante nennen, weil ich von ihnen
als ein Inventarien Stuͤck auf dem Amthauſe angeſehen
werde, droheten, ſie wollten nach Berlin ſchreiben, daß
man mich nicht aufnehmen moͤgte, weil ich gewiß hundert
Jahr alt werden wuͤrde, da ſie mich aller ihrer Muͤhe un-
geachtet nicht haͤtten zu Tode aͤrgern koͤnnen. Der Anbeter
meiner Nichte, der Frau Oberamtmannin, rieth mir recht
ſpashaft, ich moͤgte es machen wie die Polly in der Bett-
D 2lers-
*)
[52]Die arme Tante Lore.
lersoper **), und mir einen Straßenraͤuber zum Manne
waͤhlen, der bald an den Galgen kommen wuͤrde.


Unſer Paſtor, ein wuͤrdiger Geiſtlicher, mit dem ich
die Sache mehrmals uͤberlegt, glaubt, ich wuͤrde taͤglich
in die Verſuchung gerathen, mich zu verſuͤndigen und bey
jedem Verdruſſe den ich litte, den Tod des Mannes wuͤn-
ſchen, wodurch ich in gluͤcklichere Umſtaͤnde gerathen koͤnnte.
Eine Ehefrau, fuͤgte er hinzu, haͤtte an ihrem Manne ihre
Krone, und ihr Auskommen durch ihn, ſie koͤnnte durch
ſeinen Tod nie gluͤcklicher werden als ſie waͤre, wofern der
Mann nicht ſo unvorſichtig geweſen waͤre, ihr eine gluͤckli-
chere Ausſicht in die Zukunft zu verſichern, als ſie gegen-
waͤrtig bey ihm genoͤſſe; wenn Kinder vorhanden waͤren:
ſo wuͤrde die Mutter die Erhaltung des Vaters noch eifri-
ger von Gott erflehen, und ihr Gebet mit dem Gebete ihrer
Kinder vereinigen; mithin ſey es ganz etwas anders, wenn
ein Mann fuͤr ſeine Frau, als wenn jemand fuͤr eine ledige
Perſon in die Wittwencaſſe ſetzte ....


Sehr richtig, antwortete ich ihm, aber wie gelange
ich nun zu einer baldigen Wittwenpenſion? Dieſes iſt die
Frage. Hier zuckte er die Achſeln, und huſtete aus voller
Bruſt, damit ich ſeinen Huſten, den er bereits eine Zeit-
lang gehabt, nicht fuͤr ſchwindſuͤchtig halten, und ihn um
ſein chriſtliches Mitleiden anſprechen moͤgte. Das fuͤhlte
ich ſo ſtark, daß ich mich der Thraͤnen nicht erwehren konnte.
Ich armes Kind! Sonſt dachte ich der Wittwenſtand ſey
ſo betruͤbt; ſo ſteht wenigſtens in fnufzig Trauerbriefen die
ich
[[53]]Die arme Tante Lore.
ich geſammlet habe — und doch haͤlt es ſo ſchwer auch nur
dem bloßen Namen nach, in dieſen unerwuͤnſchten Stand zu
kommen.


So viel ſehe ich endlich wohl ein, daß der gluͤcklichſte
und ruhigſte Weg um zu einer Wittwenpenſion zu gelangen,
fuͤr eine ledige Frauensperſon dieſer ſey, ſich einen Mann
zu waͤhlen, der ihr im Leben ſo viel gutes thut, daß ſie
durch ſeinen Tod nicht gluͤcklicher werden kann; und dieſes
iſt auch der Grund, worauf die Koͤnigl. Verordnung am
ſtaͤrkſten gebauet hat, da ſie einen Vater, einen Oheim und
einen Bruder zuerſt nennet; vielleicht wuͤrden auch dieſe
zu mehrer Wohlthaͤtigkeit verpflichtet, und wuͤrde uͤberhaupt
das Band der Liebe unter Verwandten feſter geknuͤpft,
wenn ſie durch ihr Wohlthun im Leben der Hofnung auf
ihren Tod zu begegnen haͤtten .... Aber ich habe kei-
nen Vater, keinen Oheim, keinen Bruder, und es iſt auch
kein großer Herr in der Welt, der mir bey ſeinem Leben
eine Penſion von zweyhundert Thaler geben will, damit
ich ihn zu meinem Manne in der Wittwencaſſe benennen,
und mich ſo von der Verſuchung wie von dem Verdachte
befreyen koͤnne, daß mir 100 Rthlr. nach ſeinem Tode lie-
ber ſeyn wuͤrden, als zweyhundert Thaler bey ſeinem Leben.


Schreckliche Verlegenheit! woraus ich mich nicht an-
ders zu helfen weiß, als daß ich hiemit oͤffentlich bekannt
mache: Wie ich einen Mann ſuche, wodurch ich hoͤchſtens
in zehn Jahren (ich bin jetzt ſechzig) Wittwe werden, und
ſo nur die letzten Tage meines kummervollen liebloſen Le-
bens auſſerhalb der Kinderſtube meiner Verwandtinnen zu-
bringen koͤnne? Ein Greiß von ſiebenzig oder achzig Jah-
ren — unter dieſen findet ſich ja noch wohl einer, der ſein
Leben nicht laͤnger als auf zehn Jahr rechnet — ſoll mir
der willkommenſte ſeyn, und da ihm mit meiner Liebe nichts
D 3gedie-
[54]Die arme Tante Lore.
gedienet ſeyn kann: ſo will ich den Himmel alle Morgen
und alle Abende bitten, daß er ihn dagegen vor alle Anfaͤlle
der Gicht, der Schlafloſigkeit und der Lehrſucht in Gna-
den bewahren wolle. Meine Adreſſe iſt, an Tante Lore,
abzugeben im Intelligenzcomtoir.


Schließlich bitte ich alle meine Leſer, die Vater, Oheim
und Bruder heiſſen, die Gelegenheit den Ihrigen gleichſam
einen Stiftsplatz zu verſchaffen, doch nicht zu verſaͤumen.
Sie werden ſich dadurch eine Krone auf ihr Grab erwer-
ben, und noch gute Werke nach ihrem Tode thun. Auch
bitte ich alle unverheyrathete Toͤchter, Schweſtern und Nich-
ten ihren vermuthlichen Wohlthaten alſo zu begegnen, daß
ſie nicht noͤthig haben, ſich dereinſt ins Publicum ſo auszu-
bieten, wie ich leider jetzt thun muß. Ach wenn ſie wuͤ-
ſten … aber ſie koͤnnen es nicht wiſſen; ſie muͤßten erſt
ſo wie ich bis ins ſechzigſte Jahr die Gnade ihrer Bluts-
verwandten als Kinderwaͤrterinnen genoſſen haben — ſie
wuͤrden gewiß keinen Augenblick verſaͤumen, ſich die Gele-
genheit die ihnen nun geboten, mir aber verſagt wird, ge-
ſchwind zu Nutze zu machen.



XVII.
So mag man auch noch im Alter lieben.


Stille! ſtille! mein Freund, verliebt moͤgte ich nun
eben nicht gern heiſſen; aber wenn Sie einen andern
Ausdruck haben, der einen liebenden Mann bezeichnet, und
minder anſtoͤßig iſt: ſo geben Sie ihn mir immer, ob ich
ſchon mein ſiebzigſtes Jahr zuruͤck gelegt habe. Denn ich
liebe in der That, und moͤchte es gern bis an mein ſeliges
Ende thun, wenn es der Vorſehung gefallen ſollte, ſolches
noch
[55]So mag man noch im Alter lieben.
noch einige Jahre hinauszuſetzen. Es wird einem ſo ſanft
ſo warm dabey, daß man alles Uebel daruͤber vergißt, und
wenn meine liebenswuͤrdige Freundin mich beſucht: ſo iſt
es, als wenn die Mittagsſonne im Winter, durchs Fen-
ſter auf meinen Fuß ſcheint, und die Gicht ſanfter ſtechen
macht. Meine Augen heitern ſich auf, der Huſten wird
wohlthaͤtiger, und die Runzeln dehnen ſich in lauter ſanfte
Wellenlinien aus. Ich werde munter und geſpraͤchig, und
wenn ſie mich beklagt, ſo verwandelt ſich der verſtockteſte
Gram in geduldiges Leiden.


Eine beſſere Arzeney vor die Beſchwerden des Alters
als die Liebe, kenne ich nicht. Das Alter iſt von Natur
kalt, die Leidenſchaften, welche unſer Herz in der Jugend
aufſchwellen, wuͤrken nur noch in die Fuͤſſe, das Blut
ſtockt in den verbeinerten Gefaͤſſen, die Nerven haben ihre
leichte Reizbarkeit, und alles hat ſeinen Ton verlohren.
Aber die Liebe bringt alles wieder in Gang, und erneuert
durch ihr ſanftes Feuer die erkaͤlteten Theile. Ihre Schmei-
cheleyen ſind doppelt kraͤftig, weil ſie unerwartet ſind, und
das Verdienſt derjenigen, die ſich zu uns herablaͤßt, waͤch-
ſet in unſern Augen: wir gefallen uns von neuen, und zu
einer Zeit, wo wir niemanden mehr zu gefallen glaubten.
Dieſes Gefallen an uns ſelbſt giebt uns gleichſam eine neue
Seele, und erzeugt einen Stolz, der dem Zittern wider-
ſteht, und das Fieber abwehrt, was uns ſonſt, wenn
wir einmal den Muth verliehren, minder ruͤſtig findet


Das alles, mein Freund, erwarte ich von meiner Liebe;
und ich darf ſagen, daß ich ihr noch ein mehreres zu verdan-
ken habe. Ein Zug vom Geize miſchte ſich in meine Ausga-
ben, ich floh die Menſchen als falſch und fluͤchtig, ich ward
muͤrriſch und andern uͤberlaͤſtig, ich vernachlaͤßigte den
Wohlſtand, tadelte jede Freude, litt mit Ungeduld, ſchwieg
wann ich reden konnte, und erzaͤhlte, wenn mich niemand
D 4hoͤren
[56]So mag man noch im Alter lieben.
hoͤren wollte. Das alles hat ſich verlohren, und die Be-
gierde zu gefallen hat mich ſo aufmerkſam gemacht, daß ich
faſt alle Fehler des Alters vermeide. Selbſt die Jugend,
welche doch ſonſt ein ausſchließliches Recht auf alle Freuden
der Schoͤpfung behauptet, und den verliebten Alten ſo gern
das Grab zeiget, erhaͤlt nicht ſo viel Bloͤſſe von mir, daß
ſie mich laͤcherlich machen koͤnnte. Aber ich habe auch mei-
ner liebenswuͤrdigen Freundin noch nie die Hand oder den
Mund gekuͤßt, ich habe ihr noch nie etwas von meiner Liebe
geſagt, nie ihr ſolche mit einem Blicke zugenickt oder mich
auf andere Art gegen ſie erklaͤrt; ich denke ſie auch nie zu
heyrathen, oder vom heyrathen abzuhalten; vielmehr bin
ich fuͤr ſie auf eine recht anſtaͤndige Parthie bedacht. Mei-
ne ganze Liebe geht nicht weiter, als ſie vollkommen gluͤck-
lich zu machen, und mein Herz an der Zufriedenheit zu wei-
den, die ich in dem ihrigen erſchaffen will … Doch die
Glocke ſchlaͤgt fuͤnf, dieſes iſt die Zeit ihres Beſuchs; ich
werde ſie bitten, dieſen Brief zuzumachen, und wenn ſie
unter der Verſuchung erliegt, ihn zu leſen; ſo wird ſie
mein ganzes Geheinmiß wiſſen …



Von Ihr.


Das Wort Geheimniß koͤnnte nur immer wegbleiben;
er liebt mich, und ich liebe ihn, deſſen bin ich mich
voͤllig bewuſt. Nur ſchaͤmt er ſich, es mir zu geſtehen.
Ich bin dagegen deſto dreiſter, und habe ihm ſchon hundert
mal meine Hand angeboten, wenn ſie ihn gluͤcklich machen
koͤnnte. Aber da ſpricht er, ich ſey ein naͤrriſches Maͤd-
gen, und er liebe mich zu ſehr, um mich zur Kruͤcke zu
gebrauchen. Jetzt ſoll ich durchaus ſeines Brudern einzi-
gen Sohn heyrathen. Dann will er uns ſein ganzes Ver-
moͤgen uͤbertragen, und ſeine Tage bey uns zubringen. Da
freuet
[57]So mag man noch im Alter lieben.
freuet er ſich dann ſchon im voraus uͤber unſre kuͤnftige
Freude, und ordnet wo wir des Morgens zuſammen trin-
ken und des Abends miteinander eſſen ſollen, und welche
Tage in der Woche er allein zubringen wolle, um uns nicht
immer mit ſeiner Geſellſchaft beſchwerlich zu fallen. In
dieſen Plan hat er ſich ſo verliebt, daß er mir keine Ruhe
laͤßt, um mich zu entſchlieſſen, und den Mann, welchen er
vor mich beſtimmet hat, von ſeiner Hand anzunehmen.
Was ſoll ich thun? ich zittre, wenn ich daran denke, daß
ſein guter Plan fehl ſchlagen koͤnne, und wollte es lieber auf
mich allein ankommen laſſen, ihn ſo gluͤcklich zu machen,
als er es um mich verdient. Aber da hilft kein zittern;
er iſt in dieſem Stuͤck unerbittlich und wird ordentlich boͤſe,
wenn ich ihm hieruͤber in allem Ernſt zuſetze: und doch iſt
er noch immer ſo heiter wie der juͤngſte Mann; aber das
macht das Vergnuͤgen gutes zu thun, welches er ſich taͤg-
lich und ſtuͤndlich verſchaft, und worinn er ſo ſinnreich iſt,
daß man ihm gar nicht entwiſchen kann, wenn er einem
wohl thun will. Er kann wohl ſchreiben, daß er mir nie
die Hand gekuͤſſet habe, aber er ſollte auch ſagen, wie oft
ich es ihm gethan, und wie oft er mich vor inniger Dank-
barkeit weinen mache. Ich glaube bisweilen, er habe ſein
Spiel mit meinem Herzen, und ſuche dem Danke eine Thraͤ-
ne abzulocken, die er der Liebe nicht ſchuldig ſeyn mag,
und die ich ihm ſo gern gebe, ohne zu unterſuchen, woher
ſie ruͤhrt. Indeſſen will ich ſeinem Willen folgen, und er
kann meine Hand ſeinem Vetter geben. Aber dieſer muß
nie von mir verlangen, daß ich ihn hoͤher achten ſoll, als
den Mann, den ich vor allen gluͤcklich zu machen wuͤnſche.
Hieraus mache ich kein Geheimniß, er und die ganze Welt
mag es wiſſen, und wenn mein Zukuͤnftiger ſo ungerecht
waͤre, mir dieſes zu verdenken, haſſen wollte ich ihn, recht
von Herzen haſſen …


D 5Von
[58]So mag man noch im Alter lieben.

Von Ihm.


Wie ſich das ſo artig gegen einander erklaͤrt, mein
Freund! wir ſind beyde allein, und ſchreiben Ih-
nen, was wir uns einander zu ſagen haben! In der That
ein ſonderbarer Einfall. Aber nichts uͤberwindet die Tu-
gend eines ſiebzigjaͤhrigen Mannes, der an beyden Fuͤſſen
gelaͤhmt iſt. Ich ſegne mein Alter und meine Gicht, die
mir die unverdaͤchtige Freyheit verſchafft, meine geliebte
Freundinn, woͤchentlich zweymal zu ſehen, und ſchmaͤhle
auf meinen Vetter, daß er ſo lange ausbleibt, um dem gu-
ten Kinde das zu ſagen, was ich ihm, wenn ich funfzig
Jahre weniger haͤtte, gern ſelbſt ſagte.


Nun erwarte ich aber auch von Ihnen, daß Sie mei-
ner Liebe Beyfall geben, und die Bewegungsgruͤnde recht-
fertigen, woraus ich handle. In unſerm ganzen Leben
haben wir keine getreuere Freunde als unſre Neigungen
und Leidenſchaften, und wer ſein theures Selbſt unterſucht,
wird finden, daß ſie der Tugend die groͤſten Dienſte leiſten.
Unter allen iſt die Liebe als Leidenſchaft diejenige, ſo unſer
Wohlwollen, unſre Großmuth und unſre Thaͤtigkeit aufs
angenehmſte unterhaͤlt, und ſich am beſten zu einem gicht-
bruͤchigen Koͤrper ſchickt, den der Ehrgeiz zu ſehr erſchuͤt-
tern und der Geiz auszehren wuͤrde. Sie fuͤhrt die ſchmei-
chelhafteſten Wuͤrkungen mit ſich, und Schmeicheleyen ſind
unſer Eigenliebe in jedem Alter willkommen. Unter dem
Schutze der Achtung, welche uns ein liebenswuͤrdiges Frauen-
zimmer erzeigt, gehn wir in Geſellſchaften noch ſo mit durch,
und die Jugend muß uns ehren, wenn ſie derjenigen gefal-
len will, die uns ihrer vorzuͤglichen Aufmerkſamkeit werth
haͤlt. Wie viel Bewegungsgruͤnde um auch im Alter zu
lieben! wie viel Beduͤrfnis! wie viel Klugheit! wie viele
gute
[59]So mag man noch im Alter lieben.
gute Folgen! wie viele ſchoͤne Tage in dem Winter, nach
welchem wir keinen Fruͤhling mehr zu erwarten haben!


Und wenn nun das junge Ehepaar gluͤcklich iſt? wenn
es gute Geſellſchaften hat die ich mit genieſſen, und verlaſ-
ſen kann, ſo bald es mir gefaͤllt? wenn ihre Freunde auch
die meinigen werden, und alle ſich vereinigen mir Leben
und Freuden zu erhalten? Sollte ich ſie dann nicht noch
zaͤrtlicher lieben! und ſollte ich nicht die Siege mit genieſ-
ſen, die ſie uͤber einander erhalten? Ich der Schoͤpfer ihres
Gluͤcks! und ſie meine dankbaren Geſchoͤpfe! O Freund!
meine Liebe ſchwaͤrmt: aber liebend will ich ſterben, und
nicht ungeliebt dahin ſcheiden!



XVIII.
Vor die Empfindſamen.


Sie geben ſo manchen guten Rath aus, und zwar oft
an Leute die es nicht einmahl verlangen, vielweni-
ger erkennen, daß Sie mir hoffentlich auch eine Prieſe da-
von nicht verſagen werden. Ich kann Ihnen dabey ſagen,
daß er fuͤr ein recht liebes junges Maͤdgen ſeyn ſoll, bey
welcher ich als Cammerjungfer manche gute und auch man-
che traurige Stunden habe. Das gute Kind laboriert,
wie es ſelbſt ſpricht, an der Empfindſamkeit, einer Krank-
heit, welche erſt ſeit wenigen Jahren in hieſigen Gegenden
bekannt geworden iſt, und in ſo kurzer Zeit ſo weit um ſich
gegriffen hat, daß man ſie faſt als epidemiſch anſehen muß.
Die Natur derſelben, werden Sie am beſten beurtheilen,
wenn ich Ihnen einige der haͤufigſten Zufaͤlle davon erzaͤhlet
haben werde. Sie iſt immer erſtaunend weinerlich; wie
vor zwey Jahren ihre Großmamma, eine ſteinalte Frau, die
im vorigen Jahrhundert ihr letztes Kindbette gehalten hatte,
in
[60]Vor die Empfindſamen.
in dem Herrn ſanft und ſelig entſchlief: ſo weinte ſie uͤber
ein ganzes Jahr, und noch rollen ihr die Thraͤnen von den
Wangen, wenn von der lieben Großmamma geſprochen wird.
So oft ich einem Taͤubgen den Hals umdrehe, oder einer
Endte den Kopf abhacke, girrt und winſelt ſie mir die Oh-
ren ſo voll, daß ich mir nicht getraue ihr unter die Augen
zu gehen. Dabey iſt ſie ſo ſchreckhaft, daß der geringſte
Schein eines Ungluͤcks ſie ganz auſſer ſich ſetzt Vorigen
Winter als das Feuer aus der Ofenroͤhre die Tapeten in
ihrem Schlafzimmer ergriffen hatte, waͤre ſie beynahe auf-
gebrannt. Sie lag ohnmaͤchtig in ihrem Bette, deſſen
Vorhaͤnge die Flammen bereits ergriffen hatten. Ihr juͤng-
ſter Bruder fiel unlaͤngſt in den Bach, der vor unſerm
Hauſe vorbeyfließt; und ſie ſtand dabey wie eine Saͤule,
ohne auch nur einmal ein Geſchrey zu ſeiner Rettung zu
machen. Ihr aͤlteſter Bruder iſt nach Amerika abgereiſet,
und nun wehet kein Wind, der ihr nicht durchs Herz ge-
het; ſie zittert bey jeder Poſt, und ließt auf jedem Geſichte
traurige Nachrichten. Aber ihre Zaͤrtlichkeit geht uͤber alles;
ihre Sinnen ſind ſo verfeinert, daß ſie aus der ganzen
Natur nichts wie den fluͤchtigſten Duft genießet. Gehe
ich mit ihr des Abends in den Mondenſchein: ſo hoͤrt ſie
nichts als das Saͤuſeln der Zephire, das Geliſpel der Blaͤt-
ter, und das Rieſeln unſers von ihr ſogenannten Silber-
bachs. Da ſingt ihr die Nachtigall ſo ſuͤß, die Aepfelbluͤ-
ten duͤften ihr ſo ſanft, und der Abend erſcheinet ihr ſo Won-
nevoll, daß ich oft befuͤrchte, ſie thauet mir unter den Haͤn-
den weg, und fließt mit dem Silberbach in die elyſeiſchen
Felder.


Mich ergoͤtzen der Geſang der Voͤgel, das Gruͤn der
Felder, und die Blumen der Baͤume zwar auch; aber mein
ganzes Herz wird dadurch geſtaͤrkt; es oͤfnet ſich dem maͤch-
tigen Danke fuͤr alles Gute was ich empfinde, fuͤr den Se-
gen
[61]Vor die Empfindſamen.
gen welchen uns ein gutes Fruͤhjahr verſpricht, fuͤr die all-
gemeine Freude aller Geſchoͤpfe, die auf dieſen Segen war-
ten — und dieſe maͤchtige Staͤrkung athme ich mit jeden
Luͤftgen und Duͤftgen ein; ich liebe die Kuͤhlung des Abends
als eine wohlthaͤtige Erfriſchung nach des Tages Laſt und
Hitze. Meine alte Mutter pflegte und wartete ich ſo lange
als ſie krank war, und wie Gott ſie zu ſich nahm, dankte
ich ihm freudig, daß er ſie vor mehrern Truͤbſalen in Gna-
den bewahret haͤtte; wo es brennet, da rette ich; und zu
meinem Bruder ſagte ich, als er zu Felde gieng, Junge
halte dich wohl, und komme geſund wieder; fiele er ins
Waſſer: ſo ſpruͤnge ich ihm fluchs nach und holte ihn her-
aus. Das ſind ſo meine Empfindungen, und dieſe finde
ich bey allen Menſchen auf dem Lande, wo die Natur noch
am wenigſten verdorben iſt. Aber ſo eine Empfindſamkeit,
wo man immer weint, bebt, zittert, erſtarrt, und weder
Hand noch Fuß ruͤhrt, wo man die Natur nur zum ſchoͤ-
nen Spielwerk gebraucht, die ſcheint mir ein Fieber der
Seele zu ſeyn, wogegen bey Zeiten etwas gebraucht wer-
den muß, wenn das gute Kind nicht fruͤhzeitig ins Grab
zittern ſoll. Gott ſey mir gnaͤdig, wann ſie einmal ver-
liebt werden ſollte. In Zaͤrtlichkeit aufgeloͤſt, wird ſie den
beſtaͤndigen Kreislauf in allen Adern ihres Geliebten haben
wollen. Unſer Leibarzt, ein geſchickter und trockner Mann,
ſagt, es kaͤme von nichts, als von dem vielen Leſen; und
ſie ſollte wohl beſſer werden, wenn ſie ſich allmaͤlig zur
Landarbeit gewoͤhnte. Aber das will die liebe Patientin
nicht, ſie iſt ohnehin echauffirt genug, wie ſie ſagt. Ey
was echauffirt, rief er juͤngſt; das Echauffement iſt
eine Aufforderung zur Arbeit, und eine huͤlfreiche Bemuͤ-
hung der Natur, diejenigen Theile zu ſtaͤrken, welche das
mehrſte bey der Arbeit verſchwenden muͤſſen. Das Echauf-
fement
iſt am ſtaͤrkſten in der Erndte, und die Zeit bezeich-
net
[62]Vor die Empfindſamen.
net hier die Abſicht der Natur deutlich; Flachs geranft,
Garben gebunden, und die Hitze, welche das Gebluͤt in
Wallung ſetzt, ausgedampft. — Hieruͤber wurde ſie ſo
empfindſam, daß wir ihr Tuͤcher mit Wein auf den Puls
binden mußten, um die arme Seele von der Ohnmacht zu-
ruͤck zu halten.


Der Magiſter darf ihr nicht mehr vor Augen kommen,
ſeitdem er unlaͤngſt gegen die empfindſamen Buͤcher gepre-
digt, und gezeigt hat, daß ſie die ganze menſchliche Natur
verſtimmten; und eine ſchleichende Schwaͤche durch alle Ner-
ven verbreiteten. Anſtatt einer wahren ſtarken Natur ent-
ſtuͤnde eine gemachte und gekuͤnſtelte; eine kranke Einbildung
traͤte an die Stelle einer richtigen Vorſtellung; wo die Re-
ligion Freude und Muth geboͤte, da winſelte das weichflieſ-
ſende Herzgen; die Huͤlfe die man von ihnen erwartete,
beſtuͤnde in unfruchtbaren Thraͤnen, und wo ſie mit Rath
und That erſcheinen ſollten, da verwirreten ſie nur andere
mit Stoͤhnen und Aechzen, und waͤren zu aller Entſchloſſen-
heit die in tauſend Faͤllen des menſchlichen Lebens erfordert
wuͤrde, ſchlechterdings ungeſchickt ....


Ihre Tante, die juͤngſt eine von unſern Viehmaͤgden,
die ſich das Bein auf dem Felde zerbrach, auf den Ruͤcken
nach Hauſe trug, und waͤhrend der Zeit, ich zu dem Wund-
arzt gieng, ihr alle Huͤlfe leiſtete, ſchrie vergebens dem zaͤrt-
lichen Kinde zu, ihr doch nur ein bisgen Wein aus dem
Keller zu bringen: ich fand ſie ganz ſteif vor Schrecken,
wie ich wieder kam.


Nun ſagen Sie mir aber, mein Herr, was man mit
einem ſolchen Milchmuͤsgen anfangen ſoll?



Ant-
[63]Vor die Empfindſamen.

Antwort.


Sey ſie ruhig, meine liebe Jungfer; der Brand iſt nicht
im Brodkorn, ſondern nur unter den Nelken, und von
dieſen wirft der Gaͤrtner doch immer einen Theil weg, ohne
Saamen und Ableger von ihnen zu verlangen. Wo wollte
es auch hinaus, wenn ſie ſich ſo ſtark, wie der Weitzen ver-
mehrten? Vielleicht hat die Natur ihre guten Abſichten da-
bey; daß ſie die zarteſten Blumen nicht wider die Nachtfroͤ-
ſte gehaͤrtet hat. Das Geſchlecht wird darum nicht verloh-
ren gehen, ſondern noch immer eine und die andere hinter
der Glasſcheibe bluͤhen, und damit ſind die Liebhaber auch
zufrieden. Alſo mache ſie nur, daß das gute Kind in dem
naͤchſten Maymonat einem ſuͤſſen jungen Herrn in die Au-
gen falle, und mit demſelben im Mondenſchein unter einem
bluͤhenden Apfelbaum an den Silberbach komme. Wird
ſie dann in ſanften Entzuͤckungen dahin ſchmelzen, ſo troͤſte
ſie ſich damit, daß ſo wie die verzaͤrtelten Gewaͤchſe aus-
ſterben, ſtaͤrkere an ihre Stette kommen, und Sie, meine
gute Jungfer, um eine Stuffe hoͤher ſteigen werde. Hiemit
Gott befohlen.



XIX.
Sollte nicht in jedem Staate ein Obrig-
keitlich angeſetzter Gewiſſensrath ſeyn?


Billig ſollte jeder Staat einen eignen von der Obrigkeit
verordneten Gewiſſensrath haben, an welchen man
ſich in ſchweren Faͤllen wenden, und bey deſſen Ausſpruche
man ſich foͤrmlich beruhigen koͤnnte. Vielleicht wuͤrde da-
durch mancher unnuͤtzer Proceß vermieden, und manche Un-
gerech-
[64]Sollte nicht in jedem Staate
gerechtigkeit in ihrer Geburt erſtickt. Viele begnuͤgen ſich
damit ein ſo genanntes rechtliches Bedenken einzuholen,
und ihr Gewiſſen darnach zu ſtimmen, ohne zu uͤberlegen,
daß ſie auf dieſe Weiſe ihren Beichtvater ſelbſt gewaͤhlt,
vielleicht nicht den ſtrengſten genommen, vielleicht manchen
kleinen Umſtand verſchwiegen, und ſo nach ihre Abſolution
erſchlichen haben. Andre tragen ihre Gewiſſensſcrupel, zu
deren Aufloͤſung oft die groͤßte Kenntniß der Rechte erfor-
dert wird, ſo gar einem Theologen vor, und dieſer der
blos nach der geſunden Vernunft und demjenigen was ihm
chriſtlich, billig und recht ſcheint, urtheilet, ſpricht einen
Zweifelnden los, der doch den Rechten nach verdammet
werden ſollte. Noch andre folgen ihrem eignen Urtheil
und einem gewiſſen innerlichen Gefuͤhle, was doch oft bey
geſunden Tagen, und in der Hitze der Leidenſchaft nicht ſo
ausfaͤllt, wie es zur andern Zeit ausfallen wuͤrde. Und
uͤberall ſchleicht ſich der Selbſtbetrug, worauf zuletzt eine
ſpaͤte Reue folgt, mit ein, wie nicht geſchehen wuͤrde, wenn
man ſich bey einem ordentlich dazu angeſetzten Gewiſſens-
rath mit ſeinen Zweifeln melden, und von demſelben eine
gewiſſenhafte Aufloͤſung fordern koͤnnte. Irrte ein ſolcher
Rath: ſo behielte man doch immer die Beruhigung in ſei-
nem Gewiſſen, daß man einen geſetzmaͤßigen Weg einge-
ſchlagen waͤre, und ſich, wenn man demſelben nichts ver-
ſchwiegen, auch nichts vorzuwerfen haͤtte.


Ich befinde mich jetzt in einem Falle, wo mir ein ſol-
cher Rath beſonders noͤthig iſt. Ich habe eine Forderung
an einen verſtorbenen Mann, uͤber deſſen Guͤter jetzt ein
Concurs entſtanden. Dieſe Forderung beſteht urſpruͤng-
lich aus Erbgeldern, womit ich allen andern Glaͤubigern
vorgehen wuͤrde. Ich habe aber ſpaͤter eine gemeine Ver-
ſchreibung darauf genommen, womit ich allen andern nach-
ſtehen werde. Beziehe ich mich lediglich auf mein Erb-
gelds-
[65]ein angeſetzter Gewiſſensrath ſeyn?
geldsrecht; ſo bekomme ich meine viertauſend Thaler, die
mir von Gott und Rechtswegen zukommen, richtig heraus.
Klage ich aber aus der Verſchreibung: ſo bekomme ich ge-
rade nichts. Niemand weiß daß ich die Verſchreibung
habe; ich habe auch dem Verſtorbnen nie eine Quittung
auf mein Erbgeld ertheilt, folglich kann ich ohne Gefahr
das erſte thun. Eine andre Frage aber iſt es, ob ich mit
guten Gewiſſen die Verſchreibung, welche ich einmahl an-
genommen habe, zuruͤck halten, und ſo nach die Glaͤubiger,
welche mir vorgehen wuͤrden, um das Ihrige bringen koͤnne!


Ich, mein ſelbſt erwaͤhlter Beichtvater, und mein ſelbſt
erwaͤhlter Conſulent, ſind einſtimmig der Meynung, daß ich
es thun koͤnne, da meine Forderung die gerechteſte von der
Welt iſt, und ich ſchlechterdings an den Bettelſtab gera-
then wuͤrde, wenn ich mit der bloßen Verſchreibung her-
ausgienge. Ein andrer aber, der vielleicht ein gegenthei-
liges Intereſſe hat, behauptet, ich habe mein Erbrecht durch
die Annehmung einer Verſchreibung einmal aufgegeben, und
koͤnne alſo daſſelbe zum Schaden andrer mit gutem Gewiſſen
nicht weiter geltend machen.


In dieſer mißlichen Lage befuͤrchte ich eine ſpaͤte Reue.
Ich denke die Noth, die ſtarke Empfindung meines Ver-
luſtes, und das Mitleid meiner zu Rath gezogenen Freunde
koͤnne mich in dieſem Augenblicke verblendet und mein Ge-
wiſſen unrichtig geſtimmt haben; aber ich denke auch, wenn
ich nun mich und meine Kinder um alles das Ihrige gebracht
habe, mich koͤnnte einſt der Vorwurf treffen, daß ich ſie
durch mein Verſchulden ins Ungluͤck geſtuͤrzt haͤtte. Wer
iſt nun der mir hier einen auf alle Faͤlle ſichern Rath er-
theilet, und wohin ſoll ich mich wenden?


Amalia.


Moͤſ. patr Phant.III.Th.Sollte
[66]Sollte man nicht jedem Staͤdtgen

XX.
Sollte man nicht jedem Staͤdtgen ſeine be-
ſondre politiſche Verfaſſung geben?


Den ſchaͤdlichen Einfluß unſer einfoͤrmigen philoſophi-
ſchen Theorien auf die heutige Geſetzgebung, haben
wir zu einer andern Zeit geſehen. Ihnen und der Bequem-
lichkeit der Herrn beym Generaldepartement haben wir es
allein zu danken, daß wir ſo viele allgemeine Verordnun-
gen haben, die entweder gar nicht, oder doch nur ſo in
Bauſch und Bogen befolget werden. Daß ſie aber auch
das ganze menſchliche Geſchlecht immer einfoͤrmiger machen,
ihm ſeine wahre Staͤrke rauben, und in den Werken der
Natur, wie in den Werken der Kunſt, manches Genie
erſticken, ſolches iſt, ſo wahr es auch iſt, noch von weni-
gen beherziget worden; und doch haͤtten diejenigen, welche
den Menſchen in ſeine erſte Wildheit zuruͤckwuͤnſchen, um
ihn in ſeiner Originalſtaͤrke zu ſehen, mehr als eine Gele-
genheit gehabt, dieſes zu bemerken.


Der Menſch iſt zur Geſellſchaft beſtimmt, und es fruch-
tet wenig, ihn in ſeinem einzelnen Zuſtande zu betrachten.
Der rohe Einſiedler mag mit der Keule in der Hand und
mit einer Loͤwenhaut bedeckt, noch ſo ſtark, gluͤcklich und
groß ſeyn; ſo bleibet er doch immer ein armſeliges Ge-
ſchoͤpf, in Vergleichung der groſſen Geſellſchaften, die ſich
uͤberall wider ihn verbunden haben, und ewig wider ihn
verbinden werden. Das Recht, nach ſeiner eignen Theo-
rie zu leben, dienet ihm alſo zu nichts. Allein, ob es nicht
eine groͤſſere Mannigfaltigkeit in den menſchlichen Tugenden,
und eine ſtaͤrkere Entwickelung der Seelenkraͤfte wuͤrken
wuͤrde
[67]ſeine politiſche Verfaſſung geben.
wuͤrde, wenn jede groſſe oder kleine buͤrgerliche Geſellſchaft
mehr ihre eigene Geſetzgeberin waͤre, und ſich minder nach
einem allgemeinen Plan formirte, das iſt eine Frage, die
noch immer eine Unterſuchung verdient.


Wenn wir auf den groſſen Ruhm der vielen kleinen
griechiſchen Republiken zuruͤckgehen, und nach der Urſache
forſchen, warum ſo manches kleines Staͤdtgen, was in der
heutigen Welt nicht einmal genannt werden wuͤrde, ein ſo
groſſes Aufſehen gemacht: ſo iſt es dieſe, daß jedes ſich
ſeine eigne religieuſe und politiſche Verfaſſung erſchaffen,
und mit Huͤlfe derſelben ſeine Kraͤfte zu einer auſſerordent-
lichen Groͤſſe gebracht habe. Man ſieht, daß ſie in ihren
Plan alles was ihnen die Natur gegeben, auf das ſchaͤrfſte
genutzt, und aus jeder Menſchenſehne ein Ankerſeil gemacht
haben. Dieſes thaten ſie ehe ſie philoſophiſche Theorien
hatten, und blos von ihren Beduͤrfniſſen geleitet, nach der
Richtung arbeiteten, welche zu ihrem Ziele fuͤhrte.


Der Eifer, womit jedes Volk in der Neuigkeit ſeinen
eigenen Erfindungen froͤhnet, erhielt die erſten Stifter in
ihrer patriotiſchen Schwaͤrmerey, eine dazu eingerichtete Er-
ziehung pflanzte ſolche auf die Nachkommenſchaft fort, und
jede Tugend erhielt ihren Werth nach dem Maaſſe des Nu-
tzens, welchen ſie dem gemeinen Weſen ſchafte. Die Groͤße
aller andern ſo beruͤhmten Nationen ſcheinet die Folge einer
aͤhnlichen Art zu handeln geweſen zu ſeyn, ehe allgemeine
Religionen, Sittenlehren und Syſteme, dieſe eigenen Fal-
ten jeder beſondern Voͤlkerſchaft ausgeglichen, und die Art
der Menſchen, zu denken und zu handeln, einfoͤrmiger ge-
macht haben. So wie die allgemeine Menſchenliebe faſt
alle Buͤrgerliebe, und die groſſe Nationalehre die beſondre
Ehre jedes Staͤdtgens verſchlungen hat; eben ſo ſcheinen
die allgemeinen Natur- und Voͤlkerrechte die ſtarken Ban-
de, welche aus jenen beſondern Verfaſſungen entſprungen,
E 2ver-
[68]Sollte man nicht jedem Staͤdtgen
verdrungen zu haben; daher ſie auch weniger wuͤrken,
und einen, wenn man ſie anwenden will, nicht ſelten
verlaſſen.


Mit leichter Muͤhe geriethen die Griechen auf den Schluß,
daß man die jungen Menſchen, wie die jungen Thiere ab-
richten muͤſſe, und die Abrichtung ihrer Kinder war ihre
erſte Sorge. Die gemeinen Beduͤrfniſſe beſtimmten die
Art derſelben, und alle ihre Kinder wuͤrden, wie die Haͤmpf-
linge, ein Lied gepfiffen, oder wie die Hunde den Ball ge-
holt haben, wenn das gemeine Wohl dieſes erfordert haͤtte.
Aber ſie wollten und bildeten Krieger, tapfre und dauer-
hafte Seelen, wie Harriſons Uhren, womit man die Welt
umfahren kann, ohne daß ſie einen Augenblick fehlen; und
Buͤrger, die ihr Vaterland uͤber alles liebten.


Nach unſrer jetzigen Verfaſſung brauchen wir derglei-
chen Kriegerſeelen nicht, ſo noͤthig es auch ſeyn moͤgte, daß
die mindermaͤchtigen Voͤlker die Zucht ihrer Jugend ver-
ſtaͤrkten, und ein neues Geſchlecht bildeten, das man nicht
durch Tractaten zu Sklaven machen koͤnnte. Wir wollen
jetzt lauter geſchickte, arbeitſame und maͤßige Leute, die viel
gewinnen und wenig verzehren muͤſſen. Dieſe ſuchen wir
zu erzielen, und auch dahin koͤnnte ſich die Abrichtung er-
ſtrecken, wenn jedes Staͤdtgen ſeine Policey darnach anlegte,
und ſolche auf ſeinen eignen Zweck richtete.


In allen unſern jetzigen Verfaſſungen liegt der Fehler,
daß ein Nachbar ſich um die Auffuͤhrung des andern nicht
weiter bekuͤmmert, als es die Neugierde erfordert. Was
geht es mich an? was geht es dich an? heißt es, wenn
einer den andern auf liederlichen Wegen antrift. Man
fuͤrchtet nur den Fiſcus, und was dieſer nicht ſieht, das
wird auch nicht geruͤgt. Keiner will Anbringer ſeyn, und
die Strafen werden als ein Zoll betrachtet, den man oͤffent-
lich verfahren kann, ohne von ſeinen Nachbaren verrathen
zu
[69]ſeine politiſche Verfaſſung geben.
zu werden. Mit einer ſolchen Denkungsart, werden wir
nie arbeitſame, fleißige und maͤßige Buͤrger ziehen.


Ich erinnere mich einer kleinen Colonie in Penſylva-
nien, die ſich vom Spinnen und Weben ernaͤhrte. Alle ihre
Kinder giengen mit bloſſen Koͤpfen und Fuͤßen, mit einem
kurzen Ueberzuge gekleidet. Im ſiebenden Jahre erhielten
ſie eine beſſere Art von Kleidung, wenn ſie bey einer an-
geſtelleten oͤffentlichen Pruͤfung die ihnen vorgeſchriebene
Stuͤcken Garn ſpinnen konnten. Diejenigen ſo dieſes nicht
konnten, durften ihren Ueberzug nicht ablegen, und muſten
ihn ſo lange tragen, bis ſie dieſe Geſchicklichkeit erlangt hat-
ten. Wer zugleich in dieſem Jahre fertig leſen konnte,
wurde zu gewiſſen fuͤr die Jugend eingeſetzten Spielen zu-
gelaſſen. Das Recht Struͤmpfe zu tragen erwarb man
ſich, ſo bald man ſolche ſelbſt knuͤtten konnte, und zur Hey-
rath wurden keine gelaſſen, als diejenigen, ſo den Preis
im Weben davon getragen hatten. Im ganzen Staͤdtgen
wurde auf einen Glockenſchlag und nur einerley ſchlechte
Koſt gegeſſen. Dieſe war auf jeden Tag vorgeſchrieben;
eben ſo auch die Kleidung. Der Kraͤmer durfte nichts an-
ders feil haben und verkaufen, als was zu genieſſen oder
zu tragen erlaubt war, und die Aufſicht hierauf war ſehr
ſcharf.


Um aber ſo viele Strenge zu verſuͤſſen, muſte jeden
Sonnabend auf den Glockenſchlag zwoͤlf alle Arbeit aufhoͤ-
ren, und nun verſammlete man ſich zu einem oͤffentlichen
Feſte. Hier ward Wein, und Coffee und Braten nach
Gefallen genoſſen; doch hatte man wenige Beyſpiele, daß
jemand dieſer Erlaubnis, unter den Augen des Publicums
mißbraucht haͤtte. Die Jugend hatte ihre Taͤnze und Spiele
und die Alten ſpielten auch, oder genoſſen ihre vorigen
Zeiten in dem frohen Anblick ihrer geſunden und raſchen
Kinder. Die ganze Woche freuete ſich ein jeder auf dieſen
E 3Tag
[70]Sollte man nicht jedem Staͤdtgen
Tag, und aß ſeinen ſchwarzen Rockenbrey mit Vergnuͤgen,
weil er ſchon den Sonnabendsbraten im Kopfe hatte. Die
Verſuchung heimlich Coffee zu trinken, verfuͤhrte die Wei-
ber nicht, weil ſie ihr Geluͤſtgen alle Woche einmal voͤllig ſtil-
len konnten; und wo ſie es dennoch thaten; oder wo der
Mann zu Hauſe etwas verbotenes genoſſen hatte, da hieß
es am Sonnabend: Der oder die iſt krank. Denn den
Kranken war nichts vorgeſchrieben; nur durften diejenigen,
ſo an einem Tage in der Woche, ſich des Privilegiums der
Kranken bedienet hatten, am Sonnabend nicht geſund ſeyn,
und bey den Luſtbarkeiten erſcheinen.


In allen Verbrechen dieſer Art hatte ein jeder auf das
heiligſte gelobt, des andern Anbringer zu ſeyn. Der Mann
konnte ſeine Frau mit lachenden Munde angeben, und ſa-
gen: ſie waͤre krank, ſo ein Freund den andern, und das
ohne Beweis, ſo lange er nicht kam und ihn forderte. Ins-
gemein ſchaͤmte ſich aber der Kranke und blieb traurig zu
Hauſe. Wer aber ein ganzes Jahr krank war, wurde fuͤr
unheilbar erklaͤrt, und als ein Ausſaͤtziger gemieden. Bey
hoͤhern Verbrechen aber, als z. E. wenn jemand ein Stuͤck *)
Garn verkauft hatte, wurde mehrere Form beobachtet, und
der uͤberwieſene Thaͤter vor dem Verſammlungshauſe mit
einem Stuͤcke Garn um den Hals eine Stunde lang zur
ſchimpflichen Schau geſtellt.


Dieſe Art zu denken und zu handeln war mit Huͤlfe der
Erziehung zu einer ſolchen Staͤrke gediehen, daß ſie ihre
voͤllige Wirkung that, und es iſt unglaublich, wie ſehr die
zugelaſſene oͤffentliche Luſtbarkeit die heimliche Schwelgerey
verhin-
[71]ſeine politiſche Verfaſſung geben.
verhinderte, und das Strenge milderte, was in der taͤgli-
chen ſchlechten Koſt und der regelmaͤßigen Kleidung herrſchte.
Die Einwohner genoſſen unendlich mehrere Freuden, als
diejenigen, die ſich ſolche durch taͤglichen Genuß unſchmack-
haft machen, und die Linnenweber Lieder klangen heller als
alle unſre Opernarien.


Dergleichen kleine Einrichtungen laſſen ſich im Großen
gar nicht machen. Sie ſind blos das gluͤckliche Spiel klei-
ner Staͤdte oder Kotterien; und ſo ſollte eine Landesobrig-
keit dieſen Geiſt zu erwecken, und durch dienliche Beguͤnſti-
gungen oder Belohnungen zu befoͤrdern ſuchen. Vielleicht
haͤtten wir denn auch unſre Solonen und Lycurgen. Wir
ſehen taͤglich was fuͤr große Dinge Innungen, Geſellſchaf-
ten, Bruͤderſchaften und dergleichen Verbindungen ſchaffen
koͤnnen. Was kann uns alſo abhalten die Menſchen mit
dieſem Faden zu ihrem Beſten zu leiten? Wie angenehm
wuͤrde es nicht fuͤr Reiſende ſeyn, auf jeder Station gleich-
ſam eine beſondere Art von Menſchen zu ſehen? und in je-
dem Hafen ein neues Otaheite zu finden? wie viele Philo-
ſophen wuͤrden nicht reiſen, um das mannigfaltige Kunſt-
werk, den Menſchen, zu ſehen?



XXI.
Alſo ſoll man mit Verſtattung eines Be-
graͤbniſſes auf dem Kirchhofe nicht zu
gefaͤllig ſeyn.


Es iſt ſchon ſo manches Ungluͤck daher entſtanden, daß
die Obrigkeit ſolchen Perſonen, die ſich ſelbſt ums Le-
ben gebracht, oder auf andre Art des Rechts, der chriſtli-
chen Gemeinſchaft, verluſtig gemacht haben, ein Begraͤbnis
E 4auf
[72]Alſo ſoll man mit Verſtattung
auf dem geweyhten Kirchhofe zugelaſſen hat, daß es wohl
eine Unterſuchung verdient, ob es beſſer ſey, hierunter ſtren-
gere als mildere Grundſaͤtze zu befolgen? Viele glauben die
Obrigkeit habe hierunter freye Macht; und die Gemeine
welche ſich ihr in ſolchen Faͤllen nur gar zu oft widerſetzt,
ſey durch die groͤbſten Vorurtheile verblendet. Allein ſo
wenig ich dieſes gegenwaͤrtig uͤberhaupt beſtreiten will: ſo
ſehr ſcheint mir ein ſolches Vorurtheil Schonung, und die
Macht der Obrigkeit Einſchraͤnkung zu verdienen.


In den mehrſten Faͤllen heißt es, der Menſch welcher
ſich ſelbſt entleibt, ſey nicht bey Verſtande geweſen; in
zweifelhaften Faͤllen muͤſſe man die Vermuthung zum Be-
ſten faſſen; durch die Verweigerung des chriſtlichen Be-
graͤbniſſes leide der Todte nichts, die unſchuldige und be-
truͤbte Familie aber deſto mehr, und der menſchliche Rich-
terſpruch muͤſſe dem gnaͤdigen Urtheil Gottes nicht vorgrei-
fen, der keinen, um deswillen, daß er ſich in dem Augen-
blick einer Verruͤckung das Leben verkuͤrzet, verdammen
werde.


Gegen alle dieſe Gruͤnde wende ich nichts ein; ich will
annehmen, daß ſich kein Menſch bey voͤllig geſundem Ver-
ſtande das Leben nehme, wenn er auch, wie unlaͤngſt ein
Deutſcher in London, ein eigenhaͤndiges Zeugniß in der Ta-
ſche hat, worauf geſchrieben ſtunde, daß er ſich mit dem uͤber-
legteſten und reiflichſten Entſchluſſe die Gurgel abgeſchnit-
ten haͤtte; ich will daher zugeben, daß man immer die Ver-
muthung dahin faſſen koͤnne, der Selbſtmoͤrder habe bey
allem aͤußerlichen Scheine der Vernunft und bey kalten
Blute geraſet — wer dieſes nicht glauben will, der ſetze
ſich das Meſſer an die Kehle, und verſuche es, ob er ſich
bey aller ſeiner Begierde mir hierin zu widerſprechen, nur
die halbe Gurgel abſchneiden koͤnne — ich will zugeben daß
die unſchuldige Familie, mehr als die ſchuldige, leide, und
Gott
[73]eines Begraͤbniſſes nicht zu gefaͤllig ſeyn.
Gott den zufaͤlligen Verluſt der Vernunft nicht als ein Ver-
brechen beſtrafen werde. Dem allen aber ungeachtet ſchei-
net mir doch hier wiederum die Menſchenliebe und natuͤrli-
che Weichherzigkeit in die buͤrgerlichen Rechte zu greifen,
oder unpolitiſch zu verfahren.


Wenn wir einen enthaupteten Straſſenraͤuber auf das
Rad legen, einen erhenkten Dieb am Galgen verfaulen,
oder den Rumpf eines Mordbrenners auf dem Scheiter-
haufen verbrennen laſſen: ſo leidet der getoͤdtete arme Suͤn-
der dadurch nichts, und dem ungeachtet halten wir derglei-
chen fuͤrchterliche Ceremonien noͤthig um andre von gleichen
Unternehmungen abzuſchrecken. Die Ruͤckſicht auf arme
unſchuldige Wittwen und Kinder, und auf eine eben ſo un-
ſchuldige als betruͤbte Familie bewegt uns nicht, den Ge-
haͤngten in die Erde zu verſcharren, und jenen zum Troſt
das Aergernis abzunehmen. Ja wir haben wohl gar die
Abſicht die Unſchuldigen zu bewegen, den Schuldigen in
Zeiten zu warnen und zu beſſern, ihn nicht in die aͤußerſte
Noth fallen zu laſſen und alles moͤgliche anzuwenden, eine
ſolche Beſchimpfung von der Familie abzuhalten. Und
wer mag zweifeln, wenn Kinder, Eltern und Verwandte
uͤber einen Ungluͤcklichen wachen, daß derſelbe nicht ſicherer
ſey, als wenn jene ihn ſeinem boͤſen Hange uͤberlaſſen, und
mit Ehren in die Grube bringen koͤnnen?


Von dieſer Seite hat alſo die bisherige chriſtliche Ge-
wohnheit einem Selbſtmoͤrder ein chriſtliches Begraͤbnis zu
verſagen, nichts widriges, ſondern vielmehr etwas ſehr
loͤbliches; ſie will den Todten nicht ſtrafen, ſondern den Le-
bendigen Eindruͤcke und Bewegungsgruͤnde zu ihrer Erhal-
tung und noͤthigen Aufmerkſamkeit geben, die Schwa-
chen befeſtigen und die Starken ſtaͤrken.


Und ſollte dann dieſer Eindruck nicht auch noch auf
Tiefſinnige, Melancholiſche und Halbverruͤckte wuͤrken?
E 5ſollte
[74]Alſo ſoll man mit Verſtattung
ſollte er die Gruͤnde gegen den Selbſtmord nicht verſtaͤrken?
ſollte er die Freunde und Angehoͤrige des Tiefſinnigen nicht
in der groͤßten Wachſamkeit halten? ich denke ja; und es
ſey nun wenig oder viel: ſo iſt es doch immer beſſer als
nichts, beſſer als gar eine Ehre nach dem Tode. Damit
wuͤrde denn aber auch jene chriſtliche Gewohnheit von der
andern Seite noch immer gerechtfertiget; nemlich gegen den
Einwurf, daß man vernunftloſen Menſchen ihre Thaten
nicht zurechnen koͤnne. Wo die Vernunftloſigkeit klar iſt,
und jemand ſich in der Raſerey eines hitzigen Fiebers, oder
in einer offenbaren Verruͤckung den Hals abſtuͤrzt, wird
die Ermaͤßigung ſich ohnehin von ſelbſt finden.


Dem Urtheil Gottes wird aber dadurch gar nicht vor-
gegriffen, daß man demjenigen, der ſich ſelbſt entleibt, den
Kirchhof verſchließt; und den Lebenden zu ihrem eignen Be-
ſten die unfehlbare Verdammniß auf einen vorſetzlichen
Selbſtmord verkuͤndigt. Man wuͤrde vielmehr dem Men-
ſchen einen ſchlechten Dienſt erweiſen, wenn man ihm dieſen
letzten Ankergrund zur Zeit des Sturms entziehen wollte.


Aber die Haupturſache, warum man hierin zu unſern
Zeiten milder iſt, als man ehedem war, liegt wohl in un-
ſer immer ſpeculirenden und raiſonnirenden Philoſophie.
Dieſe entweihet faſt alles; die Kirche oder das Haus wor-
in die Gemeine ſich zum oͤffentlichen Gottesdienſt verſamm-
let, iſt ihr nicht heiliger als der Berg worauf der Nomade
anbetet; die Kirchhoͤfe ſind ihr gemeine Aecker worauf man
die Todten verſcharret; ſie findet es ungroßmuͤthig, dieſe
letzte Ruheſtaͤtte einem armen hingefallenen Pilgrim zu ver-
ſagen, und lehret, daß was Gott im Himmel aufnehme,
wir arme kurzſichtige Geſchoͤpfe in der Gruft nicht trennen
ſollten.


Iſt dieſes nicht aber wiederum die Sprache der Men-
ſchenliebe, welche alle Hurkinder zunftfaͤhig macht, und
den
[75]eines Begraͤbniſſes nicht zu gefaͤllig ſeyn.
den Menſchen mit dem Buͤrger und Chriſten verwechſelt?
heißt dieſes nicht wiederum die Rechte der Menſchheit uͤber
die Buͤrgerlichen erheben, alle Staͤnde und geſchloſſene Ge-
ſellſchaften vernichtigen, und die Menſchen wie im Himmel,
alſo auch auf Erden, in gleiche Bruͤder und Erben verwan-
deln? Der Kirchhof iſt das geheiligte Eigenthum einer
chriſtlichen Geſellſchaft, und wer ſich nicht zum Mitglied
aufuehmen laͤßt, oder wenn er ſich hat aufnehmen laſſen,
ſeinen Verbindungen entſaget, hat daran nichts zu fordern.
Wer kein Buͤrger der Stadt Gottes iſt, hat auch keine buͤr-
gerliche Rechte in derſelben; die natuͤrlichen werden keinem
verſagt, und dem Menſchenfreunde ſteht es frey ſeinem
Freunde eine Nuheſtaͤtte in ſeinem Garten zu geben. Das
koͤnnte der naͤchſte Freund des Entleibten auch thun, wenn
alles Vorurtheil waͤre.


Zwar waͤre es gut, wenn jene allgemeine Freyheit und
Gluͤckſeligkeit, welche einer feurigen Einbildung ſo manches
ſchimmerndes und auch wuͤrklich ſchoͤnes Gemaͤhlde darbie-
tet, das Loos der Menſchheit waͤre, und das menſchliche Ge-
ſchlecht nur eine Geſellſchaft ausmachte. Da ſie aber die-
ſes nach der Natur des Menſchen nicht ſeyn kann, und die
chriſtlichen Policeygeſetze in Anſehung der Kirchhoͤfe einen
guten und vortreflichen Nutzen haben: ſo glaube ich, daß
wir wohl thun, uns daran zu halten, und diejenigen, wel-
che auf die gehoͤrige Weiſe fuͤr Unchriſten erklaͤrt ſind, mit-
hin keinen Theil an den buͤrgerlichen Einrichtungen einer
chriſtlichen Geſellſchaft haben, von dem ihr Ausſchlieſſungs-
weiſe zuſtehenden Kirchhofe auszuſchlieſſen.



Alſo
[76]Die weiblichen Rechtswohlthaten

XXII.
Alſo ſind die weiblichen Rechtswohlthaten
nicht zu verachten.


Das iſt recht, ſagte mein Mann, daß man es endlich
einſieht, wie wenig die ſogenannten weiblichen Wohl-
thaten dem ſchoͤnen Geſchlechte zur Ehre gereichen, und wie
uͤbel ſich ſolche vor unſre deutſchen Amazoninnen ſchicken,
die Laͤnder und Berutſchen mit gleicher Geſchicklichkeit re-
gieren, und oft an ihren Maͤnnern mehrere Schwachheiten
finden, als die roͤmiſchen Rechte bey ihnen vorausgeſetzet
haben *). Ich freue mich recht daruͤber, fuͤgte er hinzu,
aber meine liebe Louiſe ſey nun auch ſo gut, und uͤbernimm
fuͤr mich hundert Ducaten zu bezahlen, die ich heut Abend
an den Hern von ..... verlohren habe, und Morgen
Vormittag bezahlen muß, wenn ich ein Mann von Ehre
bleiben will. Bey dieſen Worten druͤckte er mich an ſeine
Bruſt, und ſagte mir ſo viel zaͤrtliches, daß ich ihm un-
moͤglich widerſtehen konnte. Mein baares Geld hatte ich
ihm ſchon einige Tage vorher gegeben; wir ſchickten alſo
gleich zu einem Kaufmann, und glaubten, es wuͤrde keine
Schwierigkeit mehr haben, die hundert Ducaten zu erhalten.
Allein zu meinem Gluͤck machte derſelbe ſo viel Umſtaͤnde
und forderte unter andern einen ſo feyerlichen Verzicht auf
alle dem weiblichen Geſchlechte zum beſten verordneten
Rechtswohlthaten, daß mein Mann daruͤber ungedultig
wurde, und wie er vollends vom Eyde und Gericht hoͤrte,
zum Hauſe hinaus lief, und des Nachts nicht wieder kam.
O! ſeufzete ich einſam, wie gluͤcklich haben die Geſetze vor
Uns
[77]ſind alſo nicht zu verachten.
Uns geſorgt, daß ſie uns eine beſſere Gegenwehr, als Bit-
ten und Flehen gegeben haben! Was wuͤrde aus mir ge-
worden ſeyn, wenn ich meinem Manne, welchem die un-
gluͤckliche Spielſucht taͤglich einen Schritt ſeinem Verderben
naͤher fuͤhrt, immer mit einem: ich will nicht, haͤtte be-
gegnen muͤſſen? oder wenn ich in dem Augenblicke, wo
ihm die Ehre lieber als ſeine Frau und Kinder war, ihn
mit Gruͤnden und Bitten haͤtte beruhigen wollen? Ver-
muthlich haͤtte er mir das erſtere nie vergeben; und ſo waͤ-
re der Hausfriede auf ewig gebrochen worden; und uͤber
meine Vorſtellungen haͤtte er ganz gewiß geſiegt.


Da ich die Nacht uͤber nicht ſchlafen konnte: ſo dachte
ich bey mir ſelbſt, daß unter Eheleuten, wie auch unter
Eltern und Kindern billig ganz eigne Rechte in allen Faͤl-
len ſeyn muͤßten, wo man entweder aus Ehrfurcht oder Lie-
be nichts verſagen duͤrfte; und nachher habe ich von einem
Rechtsgelehrten gehoͤrt, daß kluͤgere Leute, als ich, dieſe na-
tuͤrliche Forderung laͤngſt eingeſehen, und nicht allein aus
dieſem Grunde den Eheleuten alle unwiederruflichen Schen-
kungen, ſo bald es auf etwas Erhebliches ankaͤme, verbo-
ten, ſondern auch alle Contrakte der Eltern mit ihren Kin-
dern, ſo lange dieſe ſich in ihrer Gewalt befinden, fuͤr un-
verbindlich erklaͤret hatten. Jede Schmeicheley wuͤrde Gift,
jede Weigerung Gefahr, und die edle haͤusliche Zufrieden-
heit in tauſend Faͤllen geſtoͤret ſeyn, wenn die Geſetze hier-
in nicht fuͤr den ſchwaͤchern Theil geſorget haͤtten. Mit
Recht, ſetzte der Rechtsgelehrte hinzu, iſt in vielen Staa-
ten den Eheleuten unterſchiedener Religion, verboten, waͤh-
rend der Ehe die geſetzmaͤßige Erziehung ihrer Kinder in
der einen oder andern Religion, woruͤber ſie ſonſt vor der
Ehe ſich nach ihrem Gefallen vereinigen koͤnnen, zu veraͤn-
dern, weil der Haß und die Uneinigkeit, ſo hieraus entſte-
hen
[78]Die weiblichen Rechtswohlthaten
hen koͤnnte, um ſo viel dauerhafter und ſtaͤrker werden wuͤr-
de, je mehr jeder Ehegatte Froͤmmigkeit und Eifer haͤtte.


Eben dieſer Rechtsgelehrte erzaͤhlte mir, daß man zu
Rom, ſo lange Mann und Frau in haͤuslicher Einigkeit
gelebt, ihr Beſtes mit gemeinſchaftlichen Fleiſſe betrieben,
und ſich einander ihr Gut wie ihre Herzen anvertrauet, aber
gar nicht daran gedacht haͤtten, einer redlichen Frauen das
Verbuͤrgen fuͤr ihren Mann, zu verbieten; daß aber, wie
der Luxus mit ſeinem weitlaͤuftigen Gefolge angelangt waͤ-
re, und Noth und Verſuchung manchen ehrlichen Mann
zum Schelm gemacht haͤtten, der Kayſer Auguſtus zuerſt
den vernuͤnftigen Einfall gehabt hatte, die Buͤrgſchaften der
Ehefrauen fuͤr ihre Maͤnner kraftlos zu machen; da denn
manche tugendhafte Matrone, die wie billig die Schelme-
rey ihres Mannes zuletzt geglaubt haͤtte, vor dem Bettel-
ſtabe bewahret ſeyn moͤgte. Nachher und wie der Luxus
die Weiber auch weitlaͤuftiger gemacht, und ſie in mehrere
Haͤndel eingeflochten, haͤtte der Senat unter dem Nero alle
ihre Buͤrgſchaften fuͤr unguͤltig erklaͤrt, und ſolche nur in
dem Falle gelten laſſen, wo ſie dem ungeachtet, und nach-
dem ſie dieſes ihres Rechts wohl belehret worden, ſich deſ-
ſen ausdruͤcklich begeben haͤtten; der Kayſer Juſtinian aber
noch ganz weißlich hinzugeſetzt, es ſolle auch dieſer Verzicht
nicht gelten, wenn er nicht in Gegenwart dreyer Zeugen,
welche die vorhergegangene Belehrung und Warnung mit
angehoͤret haͤtten, geſchehen waͤren. Und dieſe Feyerlichkei-
ten, welche den Verzicht begleiten, moͤgten manchen Freund
und manche Freundin vom Buͤrgen abhalten.


Ich ließe es gelten, erwiederte ich ihm, wenn dieſes
Geſetze blos fuͤr verheyrathetes Frauenzimmer, dem der
Mann die Buͤrgſchaften ohnedem nicht leicht gut geheiſſen
haben wuͤrde, gemacht waͤre. Aber daß Wittwen, Vor-
muͤnderinnen und andre bejahrte verſtaͤndige Perſonen, die
mit
[79]ſind alſo nicht zu verachten.
mit dem Ihrigen freye Macht haben, ſo gebunden ſeyn ſol-
len, dieſes ...... Ach, verſetzte er, das Buͤrgen iſt
uͤberhaupt eine gefaͤhrliche Sache; ein Freund der etwas
borgen will, muß zufrieden ſeyn, ſo bald man mit Wahr-
heit ſagen kann, man habe dasjenige nicht, was er verlangt.
So bald er uns aber nur um eine kleine Unterſchrift unſers
Namens bittet, ſieht es ſchon ein bisgen verdaͤchtiger und
unfreundlicher aus, wenn man ſich mit einem Geluͤbde ent-
ſchuldigen will. Wie gluͤcklich waͤre es in dieſem Falle,
dann und wann mit unſern Leibeignen ſagen zu koͤnnen:
Freund du weißt, alle Buͤrgſchaft iſt unguͤltig. Dieſes
Gluͤck haben die Geſetze, dem Frauenzimmer, welches ge-
gen Liebe und Freundſchaft empfindlicher, und gegen unge-
ſtuͤmes Andringen furchtſamer ſeyn ſoll, erwieſen. War-
um ſollten ſie dieſes nicht mit Dank erkennen? und was
koͤnnen ſie ſelbſt mehr begehren, als daß ſie ſich deſſen im
Fall der Noth auf die von dem Kayſer Juſtinian vorge-
ſchriebene feyerliche Art begeben koͤnnen? Wenn ſie dieſe
feyerliche Art, welche bisweilen ſo wohl den Freund als
die Freundin auf andre Gedanken bringen wird, tadeln, ſo
muß ich annehmen, daß ſie ſich gern oft in die Gefahr wuͤn-
ſchen, heimlich ohne Zeugen uͤberliſtiget zu werden. Dem
Frauenzimmer ſagt Montesquieu, koͤmmt blos die Ver-
theidigung, wie den Maͤnnern der Angrif zu; und ich ſollte
denken, es ſchade nicht die Vertheidigung ein bisgen zu ver-
ſtaͤrken. Die Maͤnner ſind zwar oft groͤßern Verſuchun-
gen ausgeſetzt; und man hat auch wohl Exempel, daß ſie
an einem vergnuͤgten Abend mehr verſprochen haben, als
ſie des andern Morgens zu bezahlen wuͤnſchen. Aber ein
hoͤhers Geſetz, was ſie zu mehrern Geſchaͤften und Gefah-
ren fordert, hat ihre Buͤrgſchaften nicht ſo ſehr erſchweren
koͤnnen; und in den Faͤllen, wo die Frauen zu maͤnnlichen
Geſchaͤften berufen ſind, kommen ihnen die weiblichen
Wohl-
[80]Alſo verdient der Accuſationsproceß
Woblthaten auch minder zu ſtatten. Vielleicht ſind ſie
aber dann auch minder weich und mitleidig ......


Mein guter Rechtsgelehrte wollte mir noch weitlaͤuftig
erzaͤhlen, wie das deutſche Frauenzimmer weit mindre Frey-
heiten, als das roͤmiſche, gehabt; und wie ſie bey den Wiſe-
gothen ſich nicht einmahl ohne einen Beyſtand zur Ader
laſſen duͤrfen a); ich dankte ihm aber fuͤr ſeine Muͤhe, und
dachte, die Kirche, welche die boͤſen Ketzer, die einen Kuß
zur Todſuͤnde machen wollten b), ſo loͤblich verdammt,
wuͤrde auch diejenigen als boͤſe Ketzer verbannen, die uns
unſre einzigen Waffen, welche wir zur Erhaltung des unſ-
rigen haben, ſo liſtig rauben wollen.


Louiſe Z …



XXII.
Alſo verdient der Accuſations-Proceß den
Vorzug vor dem Inquiſitions-Proceß.


Man kann doch jetzt keinen Baͤrenhaͤuter einen Baͤren-
haͤuter heiſſen, ohne daß nicht gleich eine Strafe
darauf ſitzt; und theilt man vollends Rippenſtoͤſſe aus,
oder jagt ſeinem Feinde eine Kugel durch die Haar: ſo
grieſegrammet die heilige Criminal-Juſtitz gleich nicht anders,
als wenn ſie einen lebendig verſchlingen wollte. Wahrlich,
es iſt jetzt eine traurige Sache, ein braver Kerl zu ſeyn. Je-
de feige Femme macht die Obrigkeit zu ihrem Champion,
und wenn man einmahl denkt, nun ſey die Zeit, eine derbe
Wahr-
[81]den Vorzug vor den Inquiſitionsproceß.
Wahrheit an den Mann zu bringen: ſo ſteht der Anbringer
hinter der Thuͤr, und ſchreibt einen zur Ruͤge. Vordem
war es nicht alſo; man haßte die Anbringer und forderte
Klaͤger; und wo dieſe fehlten, da mußte der Herr ex offi-
cio,
oder wie er ſonſt heißt, ſeine Naſe ſo lange zuruͤck laſ-
ſen, bis derjenige auftrat, der die Rippenſtoͤſſe empfangen
hatte, oder wo dieſer bey ſolcher Gelegenheit den Hals ge-
brochen, bis ſein naͤchſter Verwandter kam, und fuͤr ihn
Genugthuung forderte.


Hoͤr er, ſagt ich juͤngſt zu einem Stubenſitzer, den die
Leute einen Philoſophen ſchelten, woher koͤmmt es doch in
aller Welt, daß die Obrigkeit ſich jetzt in alle Haͤndel miſcht,
und uͤberall Amtshalber verfaͤhret? und was bewegt ſie,
von dem alten deutſchen Grundſatze; wo kein Klaͤger iſt,
da iſt auch kein Richter,
abzugehen? Was geht es ſie
an, ob ein ſchlechter Kerl gepruͤgelt wird, wenn er damit
zufrieden iſt, und ſich das Empfangene zur guten Lehre
dienen laͤßt? Was geht es ſie an, wenn auch einem huͤb-
ſchen Maͤdchen Gewalt geſchieht; klagt die Dirne nicht: ſo
iſt das ja ein Zeichen, das ſie ſich nur ein bischen aus Ver-
ſtellung gewehrt, und gern hat berauben laſſen?


O! fuhr der Mann im Schlafrocke auf, wenn die
leidende Unſchuld zu ihrem Ungluͤck auch noch die Koſten ei-
nes ſchweren Proceſſes tragen, ſich einem maͤchtigen Un-
terdruͤcker entgegen ſtellen, und wo ſie dieſes nicht wagen
duͤrfte, das erlittene Unrecht verſchmerzen muͤſte; wenn
der Erſchlagene ohne Anverwandte und Freunde, ungero-
chen verſcharret werden ſollte; wenn der Raͤuber keinen
maͤchtigen Verfolger an der Obrigkeit zu befuͤrchten haͤtte;
wenn der Wucherer von keinem, als ſeinem bedraͤngten
Schuldner zur Verantwortung gezogen werden koͤnnte, wenn
die Obrigkeit nicht die Macht haͤtte, Leute, die zu dem Ver-
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Fbre-
[82]Alſo verdient der Accuſationsproceß
brechen ihrer Freunde gern ſchweigen, oder das Zeugniß
der Wahrheit ſcheuen, zum Reden zu bringen; und wenn
jeder Verbrecher nichts weiter als die ohnmaͤchtige Anklage,
und blos denjenigen Beweiß, welchen ein armer Klaͤger an-
ſchaffen koͤnnte zu fuͤrchten haͤtte: ſo wuͤrde mancher Schelm
ungeſtraft bleiben: ſo wuͤrde es um die oͤffentliche Sicherheit
ſehr ſchlecht ausſehen; und einen ehrlichen Kerl keine andre
Wahl offen ſeyn, als entweder ſelbſt zu ſchlagen, oder ſich
ſchlagen zu laſſen …


Iſt das alles, fragt ich ihn, und was meynen Sie
nun damit erwieſen zu haben? In der That nichts weiter,
als daß die Obrigkeit der unterdruͤckten Unſchuld, dem be-
draͤngten Schuldner, und dem armen geſchlagenen oder be-
raubten Mann ihren Anwald wie ihren Beutel leihen muͤſſe.
Allein dieſes habe ich gar nicht geleugnet. Mein Satz war
blos dieſer, daß uͤberall ein Klaͤger erfordert werden ſollte,
nicht aber, daß dieſer Klaͤger die Koſten eines langweiligen
und beſchwerlichen Proceſſes nothwendig zu tragen haͤtte,
Antworten ſie mir alſo auf meinen Punkt.


Verſchlaͤgt es denn ſo viel, verſetzte er, ob die Obrig-
keit eine Sache Amtshalber unterſucht und beſtraft, oder
dem Klaͤger ihren Anwald leiht, und demſelben ihren Beu-
tel oͤfnet?


Ob das viel verſchlage? Herr ich faſſe ihn beym Kra-
gen, und heiße ihn einen Erzſtuͤmper, wenn er nicht ſo-
fort einſieht, daß uͤberall, wo ein Klaͤger auftritt, niemals
auf die Folter erkannt werden koͤnne? Weiß er denn nicht,
daß der Englaͤnder eben ſo gut wie alle ſeine Nachbarn, die
Tortur eingefuͤhrt haben wuͤrde, wenn er nicht auf dem al-
ten deutſchen Satze, daß ohne Klaͤger nicht gerichtet wer-
den koͤnne, bis in die heutige Stunde geblieben waͤre. Ei-
nen Klaͤger fordert man um deswillen, daß er ſeine Klage
voll-
[83]den Vorzug vor dem Inquiſitionsproceß.
vollſtaͤndig beweiſen ſolle; und dieſes wird auch von dem
Anwalde erfordert, den die Obrigkeit einem armen gerin-
gen Klaͤger leihet. Je mehr Geld die Obrigkeit auwenden
kann, deſto leichter kann ſie auch den Beweis anſchaffen;
aber ſie muß ſo wenig als ein anderer Klaͤger auftreten und
bitten koͤnnen, daß der Richter, in Ermangelung eines voll-
ſtaͤndigen Beweiſes, den Beklagten ein klein bisgen peini-
gen laſſen ſolle. Nicht wahr, ſie wuͤrden eine ſolche unter-
thaͤnigſte rechtliche Bitte in dem Munde eines Klaͤgers ſehr
laͤcherlich finden? Und wenn ſie das thun, wie ich ihnen
hiemit wohlmeinend rathe, verſchlaͤgt es denn nichts, daß
man das Klagen faſt uͤberall, auſſer in England, abſchafft,
und der Obrigkeit zumuthet, jedes Verbrechen ſofort auf
bloſſe Anzeige zu unterſuchen? Es iſt bey meiner Treu eine
wunderliche Forderung eben dieſe Unterſuchung! da ſoll die
Obrigkeit auf die Gruͤnde vor und wider den Angeklagten
mit gleicher Unpartheylichkeit herabſehen, mit den ſcharf-
ſichtigſten Augen hier alles moͤgliche, was nur irgend zu
ſeiner Entſchuldigung dienen kann, dort alles, was ihm zur
Laſt faͤllt, aufſuchen; und wenn die Nothzucht ſich in eine
gemeine Hurerey, der Straſſenraub in ein Spolium, der
Diebſtal in eine Veruntreuung, und die Schlaͤgerey in eine
wohlverdiente Zuͤchtigung verwandelt, die Koſten von je-
der Thorheit ſtehen. Der Angeklagte ſoll, wenn er nicht
uͤberfuͤhret wird, bey der Entſchuldigung, daß man Amts-
halber gegen ihn verfahren habe, Schimpf und Schaden
verſchmerzen; oder wenn man alle ſcheinbare Umſtaͤnde wi-
der ihn aufgetrieben, Vermuthungen auf Vermuthungen
gehaͤuft, und die ſogenannten Anzeigen nach einem noch
unerfundenen Maaßſtabe berechnet hat, ſich mit dem Eyde
oder wohl gar mit der Marter reinigen; der Angeber ſoll
ungeſehn hinter dem Vorhange lauren, und ohne den Be-
weiß vollfuͤhrt zu haben, ſich hinter das obrigkeitliche Amt
F 2ver-
[84]Alſo verdient der Accuſationsproceß
verbergen; heißt dieſes nicht der feigen Verlaͤumdung die
Thuͤre oͤfnen, die Obrigkeit in unverantwortliche Koſten
ſtuͤrzen, und unmoͤgliche Dinge fordern? Denn eine Un-
moͤglichkeit iſt es doch wohl, daß einer einerley Grad von
Hitze, von Eifer, von Scharfſinn und von Leidenſchaft in
Aufſuchung der Gruͤnde fuͤr beyde Theile beweiſen ſoll?


Aber erwiederte mein Philoſoph, die Obrigkeit nimmt
nicht jede Augabe an; ſie unterſucht erſt wenigſtens eini-
germaſſen den Werth der Gruͤnde, und des Beweiſes; ſie
kann und wird den Angeber noͤthigen, hinlaͤngliche Sicher-
heit fuͤr den Beweiß zu beſtellen, und der Angeber kann
eben ſo gut als ein Klaͤger angewieſen werden, dem Ange-
ktagten Schimpf und Schaden zu erſetzen.


Das danke ihr ein andrer, daß ſie nicht auf jedes An-
geben einen Proceß anſtellet, rief ich ihm zu. Aber ſo
gut, wie ſie von dem Angeber dem Befinden nach Sicher-
heit fuͤr den Beweiß fordern kann; eben ſo gut koͤnnte ſie
ihn auch noͤthigen, ſeinen Namen zur Klage herzugeben:
ſo bliebe denn doch immer der Proceß in derjenigen Form
und Gleiſe, worinn alle Proceſſe ſeyn muͤſſen, und das
Endurtheil koͤnnte darinn nicht anders kommen, als daß
entweder der Angeklagte frey geſprochen oder verdammet
wuͤrde; anſtatt daß in unſern Inquiſitionsproceſſen, wo
dieſe Form auf die Seite geſetzt wird, der unuͤberwieſene
Beklagte nicht immer frey geſprochen, ſondern oft um des-
willen, daß er ſich eines Verbrechens ſehr verdaͤchtig ge-
macht hat, ein paar Maymonate nach einander ins Zucht-
hauß geſetzt werden kann. In England muß ſogar der Koͤ-
nig, wenn keiner fuͤr einen unſchuldig ermordeten um Ra-
che ſchreyt, die Klage wegen eines verlohrnen Unterthanen
anſtellen, damit kein Inquiſitionsproceß daraus entſtehe,
ſondern der Beklagte, wenn der Beweiß gegen ihn nicht
voll-
[85]den Vorzug vor den Inquiſitionsproceß.
vollfuͤhret wird, ſo wie in einer gemeinen Schuldſache frey-
geſprochen werden koͤnne. Eben ſo machten es unſre deut-
ſchen Vorfahren. Sie belohnten den Klaͤger mit dem
Wehrgelde der Erſchlagenen; ſie erkannten ihm den Werth
einer geſtohlnen Sache doppelt und vierfach zu; er konnte
fuͤr eine empfangene Ohrfeige einen fetten Ochſen fordern,
und ein Maͤdgen, der man wider ihren Willen das Strumpf-
band abgebunden hatte, verdiente ſich, wenn ſie klagte,
gewiß eine Schnur feiner Perlen … alles in der Abſicht,
um bey dem groſſen Abſcheu gegen die Inquiſitionsproceſſe,
den Accuſationsproceß zu beguͤnſtigen, und die Klaͤger auf-
zumuntern, ſich durch die Koſibarkeit eines Proceſſes und
die Macht des Verbrechers nicht zum Schweigen bringen
zu laſſen. Aber bey uns … bey uns, fieng mein Phi-
loſoph an, ſtehlen die Leute nicht, die vierfach bezahlen
koͤnnen, und die eine Schnur Perlen zu geben haben, brau-
chen keine Gewalt. Auch werden die Verwandten desje-
nigen, der in Duell erſtochen, nicht aufs Wehrgeld kla-
gen; und uͤberhaupt wird nie der Herausforderer oder der
Herausgeforderte ſich an den Richter wenden …


Der verzweifelte Kerl! daß er das Maul nicht halten
will; aber wenn gleich der alte Accuſationsproceß ſich mehr
fuͤr die alten Zeiten ſchickt, wo noch keine vermiſchte Be-
voͤlkerung uͤberhand genommen hatte, und ein Hofbeſitzer
gegen einen andern auftrat, ſo erfordert es doch die allge-
meine Freyheit, ihn nicht ohne die hoͤchſte Noth zu ver-
laſſen.




[86]Ein neues Ziel,

XXIII.
Ein neues Ziel
fuͤr die deutſchen Wochenſchriften,
von
einem Frauenzimmer.


Ich weiß nicht woran es liegt allein mit der ewigen Sit-
tenlehre, ſie mag nun aus einem harten oder weichen
Ton geſungen werden, wird doch in der That ſo vieles nicht
ausgerichtet, als ſich die Herru Verleger und ihre gelehrten
Tagloͤhner vorſtellen. Wenns recht hoch kommt: ſo ließt
und lobt man ſie, und duldet den neuen Noman ſo lange
auf der Toilette, bis ihn ein neuerer verdringt. Es geht
mir wenigſtens damit wie mit vielen andern Dingen, wor-
an die Vernunft den mehreſten Antheil nimmt. Dieſe
waͤrmt das Herz wohl ein bisgen in dem Augenblicke, wo-
rin man ihr Gehoͤr giebt; aber das geringſte Luͤftgen kuͤhlt
es auch wieder ab, und man genießt ihrer ſo nicht recht,
wie es die Beduͤrfniß erfordert.


Der Menſch ſcheint mir eine maͤchtigere Reitzung zum
Guten, als dieſe, zu erfordern, eine Reitzung die ihn in
Bewegung ſetzt, ihn hebt, erhitzt, und zu groſſen und
kuͤhnen Unternehmungen begeiſtert; eine Reitzung, die ei-
ner groſſen Gefahr, einem wichtigen Vortheile oder einer
Entſcheidung gleicht, wovon Ehre und Gut abhangt; die
alle ſeine Kraͤfte aufbietet, und ihm in ſich ſelbſt Entde-
ckungen von Eigenſchaften machen laͤßt, wovon er in ſei-
ner vorigen Stille kaum eine Vermuthung hatte. Nie habe
ich lebhafter gedacht und maͤchtiger empfundeu, als zu der
Zeit, wie mein erſter Geliebter, ein Officier, fuͤrs Va-
terland
[87]fuͤr die deutſchen Wochenſchriften.
terland auszog. Der Entſchluß, alles was mir theuer
und werth war, in einer ſo groſſen Sache aufzuopfern; die
Arbeit, womit ich jede Thraͤne erſtickte; der hohe Gedanke,
daß meine Liebe einen Helden erſchaffen haͤtte; der Stolz,
womit mich eine ſo gute That erfuͤllte; der Schauer, wo-
mit ich mir ihn in der blutigen Schlacht vorſtellete; der
Triumph, den ich in dem Kampfe der Angſt und der ſtol-
zen Liebe davon trug; die dankbare Thraͤne, die bey ſei-
nem Ruhme floß; das Feuer, womit ich ihn nach einem
gluͤcklichen Feldzuge in meine Arme ſchloß; haben mich
gluͤcklicher und groͤſſer gemacht, als alle Sittenlehrer, die
ich je gehoͤret oder geleſen habe. Nie wuͤrde ich ſo gut von
mir ſelbſt gedacht, nie dieſen Grad des edelſten Vergnuͤ-
gens erreichet haben, wenn ich mich blos an den Unter-
richt gehalten, und in meinen Pflichten keine andre Lehre-
rin als die Madame Begumont gehabt haͤtte.


Ich wollte hieraus gern die Folge ziehn, mein Herr,
daß man um ein Volk groß zu machen, daſſelbe nicht aus
einem bloſſen Vortrage belehren, ſondern es in einer groſ-
ſen Thaͤtigkeit und in einer ſolchen beſtaͤndigen Criſis un-
terhalten muͤſte, worinn es immerfort ſeine Kraͤfte anſpan-
nen, und durch den Gebrauch derſelben die Summe des
Guten in der Welt vermehren koͤnnte. Nicht ein Zehntel
der menſchlichen Kraͤfte wird in unſerm jetzigen Leyerſtande
genutzt. Wir tanzen wie Leute, die nichts dabey empfin-
den, und lieben ſo ſuͤß und ſanft, daß wir uns in einer Vier-
telſtunde ausgekuͤßt und ausgeplaudert haben, und uns ein-
ander auf der Ottomane dem Schein nach mit ſchmachten-
den, in der That aber mit unthaͤtigen Blicken anſehen.


Indeſſen iſt die Leidenſchaft der Liebe noch die einzige,
welche uns einigermaſſen thaͤtig macht, und die Summe
der augenehmen Tugenden vermehren hilft. Sie fuͤhret uns
F 4aber
[88]Ein neues Ziel
aber lange nicht mehr zu den heroiſchen Thaten, welche
die Ritterzeiten bezeichnen. Sie erhaͤlt im Trauerſpiele
nur noch die zweyte Rolle, und iſt nicht mehr das Sie-
gesroß, worauf man ſich zur Rettung der Unſchuld an
den ungeheuren Rieſen wagte, ſondern hoͤchſtens ein Ste-
ckenpferd, worauf man um die Toilette reitet. Aber die
Leidenſchaft der Ehre, die Patrioten, Helden und Red-
ner bildete, die in buͤrgerlichen Kriegen mit einem feſten
Auge das Ziel faßte, uͤber den Abgrund hinwegſetzte, und
etweder ſiegte oder ſtarb, findet zu wenig Arbeit. Die
Dichter moͤgen noch ſo ſehr in Dithyramben raſen, oder
uns in ihren Bardenliedern das warme Blut aus Hirnſchaͤ-
deln zutrinken, es bleibt immer ein muͤßiges Volk, und
unſre Ehrbegierde, wird dadurch nicht nach ihrem Verdien-
ſte genaͤhrt. Setzen ſie uns auch bisweilen in eine ange-
nehme Begeiſterung: ſo iſt es doch nur ein kurzer Nauſch,
und die Thaͤtigkeit gewinnet bey einer vorgebildeten Gefahr
dasjenige nicht, was ſie bey einer wuͤrklichen und anhalten-
den findet.


Sie werden mir ſagen, daß jeder rechtſchaffener und
fleißiger Menſch Nahrung genug fuͤr ſeine Thaͤtigkeit finde,
und hinlaͤngliche Reitzung habe, wenn er ſeine Geſchaͤfte ge-
hoͤrig abwartet, und ſich darin immer vollkommener macht;
ſie werden dann bey dieſer Vorausſetzung die Sittenlehrer
als kluge Aufſeher betrachten, die blos unterrichten, fuͤh-
ren und beſſern, aber die Leidenſchaften fuͤr den Haushalt
ſorgen laſſen ſollen; ſie werden weiter einwenden, daß man
die aͤuſſerſte Hoͤhe der menſchlichen Tugenden, die Patrioten,
Helden und Redner im hohen Stil zu theuer bezahle, wenu
man um ihrentwillen buͤrgerliche Kriege anfangen, Tyran-
nen und andere Ungeheuer naͤhren, und gleichſam eine
Stadt in Brand ſtecken ſolle, um den hoͤchſten Muth und
die groͤſte Geſchicklichkeit im Loͤſchen zu zeigen; ſie werden
endlich
[89]fuͤr die deutſchen Wochenſchriften.
endlich ſchlieſſen, es ſey gefaͤhrlich vielen Sturm zu wuͤn-
ſchen, um Gelegenheit zu haben, die Beſonnenheit und Ent-
ſchloſſenheit ſeiner Seeleute zu pruͤfen: indem man nicht
auch dem Sturme nach Gefallen gebieten, und eine buͤrger-
liche Empoͤrung ſogleich mit dem Scepter, oder mit dem
Faͤchel niederſchlagen kann.


Allein ſo wahr dieſes iſt: ſo ſehr fuͤhle ich doch, daß
der bohe Stand, worinn ich war, wie meine Liebe dem
Staate jenes groſſe Opfer brachte, mich tauſendmal gluͤck-
licher machte, als ich jetzt bin; und wenn ich mit einem mei-
ner Freunde ſpreche, der ſo wie ich die groſſen Ebentheuer
liebt: ſo klagt er beſtaͤndig, daß er ſeine Zeit ſo ruhig zu-
bringen muͤſſe, und keine Gelegenheit habe, ſich in der Hel-
dentugend zu zeigen. Er glaubt, die Maſſe des Staats
muͤſſe in einer beſtaͤndigen Gaͤhrung, und die Kraͤfte, wel-
che ſeine Erhaltung wuͤrken, in einer anhaltenden Arbeit
ſeyn, wofern ſeine Einwohner groß und gluͤcklich ſeyn ſoll-
ten. Er ſieht es als eine Folge des Deſpotiſmus an, die
als eine ungeheure Maſſe, alle untern Federkraͤfte nieder-
druͤckt, daß wir ſo ruhig und ordentlich leben, und glaubt,
je freyer und maͤchtiger alle Federkraͤfte in der Staatsma-
ſchine wuͤrkten, deſto groͤſſer ſey auch der Reichthum der
Mannigfaltigkeit, und der Privatgluͤckſeligkeit. Erfordere
es gleich mehr Klugheit und Macht, die Ordnung unter
tauſend Loͤwen und Loͤwinnen zu erhalten; ſo wolle er doch
lieber Futterknecht bey dieſen, als der oberſte Schaͤfer ſeyn,
und eine Heerde frommes Vieh ſpielend vor ſich her trei-
ben. Und wenn ich meinem Bruder, einem Manne der
den ganzen Tag mit Buchſtaben rechnet, trauen darf: ſo
iſt derjenige Staat, worinn der groͤſte Hebel zur kleinſten
Kraft wird, unendlich groͤſſer als ein andrer, der entweder
ſich gar nicht bewegt, oder mit einer ſehr leichten Hand in
der Bewegung erhalten wird.


F 5In-
[90]Ein neues Ziel

Indeſſen iſt es freylich wahr, daß der Sturm ein ge-
faͤhrliches Ding, und es eben nicht angenehm ſey, beſtaͤn-
dig darinn zu fahren. Ich daͤchte aber doch, es muͤſſe
noch ein bequemer Mittel, als die ewige Sittenlehre und
Oekonomie geben, um den Menſchen zu unterrichten und
zu beſſern; beſonders aber um demſelben Feuer im Bu-
ſen und eine maͤchtigere Seele zu geben. Ich kann mich
hieruͤber nicht deutlicher ausdruͤcken, als wenn ich Sie auf
das Exempel von Engelland verweiſe, wo immer eine auſ-
ſerordentiiche Menge von Seelenkraft in Bewegung iſt, und
Redner, Dichter und Schriftſteller nicht blos mit fluͤchtiger
Hand fuͤr den Unterricht und das Vergnuͤgen arbeiten, ſon-
deru mit ihrer Begeiſterung dem Staate zu Huͤlfe kommen,
und durch groſſe Bewegungsgruͤnde erhitzt, jede nuͤtzliche
Wahrheit in ihr hoͤchſtes Licht ſetzen. Der geringſte Mann
macht hier das allgemeine Wohl zu ſeiner Privatangelegen-
heit. Alle Satyren, Comoͤdien und Sittenlehren, ja oft-
mals auch die Predigten, ſtehen mit dem Staatsgeſchaͤfte
in der genaueſten Beziehung. Und dieſes hohe Intereſſe iſt
es, was dort die menſchlichen Kraͤfte ſpannt, und ihnen
ein hoͤher Ziel erreichen laͤßt, als andern, die mit kal-
tem Gebluͤte, und blos aus loͤblichen Bewegungsgruͤnden
ſchreiben.


So etwas ſollten Sie uns auch geben, und ihren Plan
in dieſen Blaͤttern kuͤnftig darnach anlegen ⁊c.


Polyxena von Toboſa.




[91]fuͤr die deutſchen Wochenſchriften.

Antwort
an Polyxena von Toboſa.


Sie haben mich, Ehr- und Tugendſame Polyxena von
Toboſa, durch Ihre unvermuthete Zuſchrift in ein
ſolches Feuer geſetzt, daß es wenig fehlt, oder ich ſchil-
derte ihn jetzt


Den Degen freyſſan,

Die Wuͤrmin ſchadeſan

Und die Magd wohlgethan;

Nebſt dem Recken geheure,

Der ſo mannich Abenteure

Mit Streiten und Hoffarten

Beym Koͤnig zu Lamparten

Im Heldenbuch gethan.

Allein ich beſorge, Sie kennen den kuͤhnen Kern, Herrebrand
nicht, der ſeiner minniglichen Ameye von Tarfis hofirte;
und wenn ich Ihnen etwas vom Roſengarten zu Worms,
und vom Koͤnig Laurin dem Gezwerge erzaͤhlen wollte, der
mit Mannheit und Zauherey des kuͤhnen Weigands Diet-
liebs Schweſter entfuͤhrte, dafuͤr aber der Helden Gaukel-
mann werden muſte: ſo wuͤrden ſie dieſe Halbgoͤtter unſrer
deutſchen Mythologie, in ihren neuen Bardenliedern ver-
geblich ſucheu; und vielleicht mehr vom Oßian, als von
unſern tapfern Wolf dieterich wiſſen, der doch auf dem
wilden Meere ſo tapfer gegen die Heyden ſtritt, und mau-
chen ſo uͤber Bord ſtieß, daß er durch dieſe Tanfe ein Chriſt
ward. Alſo weg mit dieſen romantiſchen Geſchoͤpfen unſ-
rer ungenutzten Heldenzeiten; und ernſthaft zu der Sache,
welche Sie ſowol empfnnden und vorgetragen haben.


Sie
[92]Ein neues Ziel

Sie haben ganz Recht, daß wir Verfaſſer der Wochen-
blaͤtter anſtatt bloſſe Schauſpiele zu liefern, uns wie die
Englaͤnder in die oͤffentlichen Staatsangelegenheiten einlaſ-
ſen, und die taͤgliche Geſchichte der Zeit, worin wir leben,
und woran wir ſelbſt Theil nehmen, vorzuͤglich behandeln,
und die guten Lehren, die wir vorzutragen haben, damit
nuͤtzlich und eifrig verknuͤpfen ſollten. Ich habe dieſes ſelbſt
ſchon mehrmals uͤberlegt, mehrmals verſucht, und meine
Meinung unpartheyiſch uͤber manches geſagt. Allein die
Sache hat mehrere Schwierigkeiten, wie Sie ſich vorzu-
ſtellen ſcheinen.


Gleich anfangs, wie ich die Feder einigemal in dieſen
Beytraͤgen anſetzte, gieng meine Abſicht dahin, durch den
Canal derſelben die Landtagshandlungen und andere oͤffent-
liche Staatsſachen dem Publicum mitzutheilen; und mei-
nen Landesleuten aus dem Ton, womit der Herr zu ſeinen
Staͤnden ſpricht, und dieſe ihm antworten; aus den Gruͤn-
den, warum jenes bewilliget, und dieſes verworfen wird;
aus der Sorgfalt, womit auch die kleinſten Sachen im
Staate behandelt werden; aus der Art und Weiſe, wie
man mit den gemeinen Auflagen verfaͤhrt, und uͤberhaupt
aus jeder Wendung der Landesregierung und Verfaſſung,
die vollſtaͤndigſte Kenntniß; und aus dieſer eine wahre Liebe
fuͤr ihren Herrn, und diejenigen, ſo ihm rathen und die-
nen; ein ſicheres Vertrauen auf ihre Geſchicklichkeit und
Redlichkeit, und einen edlen Muth beyzubringen. Jeder
Landmann ſollte ſich hierinn fuͤhlen, ſich heben und mit dem
Gefuͤhl, ſeiner eignen Wuͤrde, auch einen hohen Grad von
Patriotiſmus bekommen; jeder Hofgeſeſſener ſollte glauben,
die oͤffentlichen Anſtalten wuͤrden auch ſeinem Urtheil vor-
gelegt; der Staat gaͤbe auch ihm Rechenſchaft von ſeinen
Unternehmungen; und zu den Aufopferungen die er von
ihm fordere, wuͤrde auch ſeine Ueberzeugung erfordert; die
Geſetze
[93]fuͤr die deutſchen Wochenſchriften.
Geſetze und ihr Geiſt ſollten lebhaft in ſeine Seele dringen;
er ſollte die Graͤnzlinie, wo ſich ſein Eigenthum von dem
Obereigenthum des Staats ſcheidet, mit dem Finger nach-
weiſen koͤnnen; er ſollte ſein Auge auch bis zum Throne er-
heben, und mit einem fertigen Blick die Blendungen durch-
ſchauen koͤnnen, welche ein deſpotiſcher Rathgeber zum Nach-
theil ſeiner und der Deutſchen Freyheit, oft nur mit maͤßi-
gen Kraͤften wagt; ihre Kinder ſollten mit den zehn Gebo-
ten auch die Gebote ihres Landes lernen, und in allen Faͤl-
len, wo ſie einſt als Maͤnner geſtrafet werden koͤnnten,
auch ein Urtheil weiſen koͤnnen; es ſchien mir nicht genug,
daß ein Land mit Macht und Ordnung beherrſchet wird,
ſondern es ſollte dieſer groſſe Zweck auch mit der moͤglich-
ſten Zufriedenheit aller derjenigen, um derentwillen Macht
und Ordnung eingefuͤhrt ſind, erreichet werden; der wich-
tigſte und furchtbarſte Staat, der ſich auf Koſten der all-
gemeinen Zufriedenheit erhalten muͤſte, war mir dasjenige
nicht, was er nach der goͤttlichen und natuͤrlichen Ordnung
ſeyn ſollte …


Allein ſo gluͤcklich auch der Erfolg hievon in einem Lan-
de geweſen ſeyn moͤchte, deſſen Einwohner die eifrigſten
Verfechter ihrer Rechte ſind, und die ſich allemal beſſer be-
lehren als zwingen laſſen; ſo ſchien mir doch der Schauplatz
zu klein, und die Sache zu ſpitzig, um meinen Plan zu
verfolgen. Nichts duͤnkte mir leichter zu ſeyn, als die
Punkte, woruͤber ein Landesherr und ſeine Landſchaft un-
terſchiedener Meynung ſind, mit den beyderſeitigen Gruͤn-
den richtig und anſtaͤndig vorzutragen; aber auch nichts
ſchwerer, als die beſondern Abſichten, welche oft unter die-
ſen Gruͤnden ſpielen, und die Hauptſchwierigkeit ausma-
chen, zu beruͤhren und jene vorzutragen, dieſe aber zu ver-
helen, deuchte mir ein Luſtſpiel zu ſeyn, wovon keiner den
Knoten kennt.


Der
[94]Ein neues Ziel

Der Fall iſt bisweilen, daß die Obermacht nuͤtzliche
Anſtalten in der Abſicht macht, um eine beſondere Rache
zu vergnuͤgen, oder einen Feind zu ihren Nebenabſichten
geſchmeidig zu machen. So legt oft ein franzoͤſiſcher In-
tendant dem widerſpenſtigen Edelmanne die ſchoͤnſte und
nuͤtzlichſte Heerſtraſſe durch die Kuͤche; und ſo fuͤhrte Me-
aupon eine beſſere Verwaltung der Gerechtigkeit ein, um
ſeine Feinde damit zu ſtuͤrzen. Auf der andern Seite iſt
der Fall auch nicht ſelten, daß die Untermacht im Staat
Beſchwerden fuͤhrt, oder ſich einer Neuerung widerſetzt,
nicht mit der Abſicht ſolche gehoben zu ſehen, ſondern nur
um die Obermacht zu noͤthigen, ihr Privatvortheile einzu-
raͤumen. Hier bleibt man immer bey den wahren Gruͤn-
den, welche die Sache aufklaͤren konnten, gleichguͤltig;
und in jene Nebenabſichten hinein gehen, dem Patrioten
die Maske vom Geſichte reiſſen, oder dem Intendanten die
Wahrheit ins Geſicht ſagen zu ſollen, iſt eine unuͤberlegte
Forderung.


In England, worauf Sie mich verwieſen haben, lebt
man wie in einem groſſen Walde, wo man den Loͤwen bruͤl-
len, den Hengſt wiehern, die Kraͤhe kraͤchzen, den Heger
ſchreyen, und den Froſch quacken laͤßt, und ſich an dieſer
mannigfaltigen Stimme der Natur ergoͤtzt; dabey aber doch
nicht mehr erhaͤlt als man bezahlen kann. Allein in dem
kleinen Gartenzimmer, worin wir Nachbarskinder uns ver-
ſammlen, iſt auch das Geziſche einer Heime empfindlich.


Urtheilen Sie alſo Selbſt Ehr- und Tugendſame Po-
lyxena, ob es rathſam ſey, ſich hierauf einzulaſſen: und
ob auch wohl ein kleiner Staat einen Tummelplatz fuͤr die
Heldentugenden, wofuͤr Sie ſo groſſe Achtung zu haben
ſcheinen, abgeben koͤnne? Waͤren Sie uͤberdem mit dem
edlen Degen Wolf-Dieterich bekannt, und wuͤſten wie der
beder-
[95]fuͤr die deutſchen Wochenſchriften.
bederbe elendhafte Ritter zur Buſſe eine Nacht auf dem
Todtenbaum ſitzen, und was er dort von den Geiſtern al-
ler Weygandten und Thanen, die er in ſeinem Leben erſchla-
gen hatte, erleiden muͤſſen; ſo wuͤrden ſie gewiß nicht ver-
langen, daß ich auf ſolche Ebentheuer ausziehen ſolle.


Gehaben Sie ſich indeſſen wohl, Edle Polyxena; und
glauben Sie gewiß, daß ich bis in den Tod ſey ⁊c.


Ortwein von der Linde.



XXIV.
Die erſte Landeskaſſe.
An Dame Polyrena.


Omeine Theureſte! ich habe Ihren Vorſchlag noch ein-
mal uͤberlegt. Vielleicht waͤre Ihnen damit gedient,
wenn ich mich einigermaſſen auf die Landesverfaſſung ein-
lieſſe. Ich kenne ihren Eifer fuͤr das gemeine Beſte; und
in dieſer Abſicht waͤre es denn wohl beſſer, Ihnen heute et-
was von dem Fortgang unſrer Landeskaſſen, als von der
Mehrheit der Welten, oder den Wuͤrkungen, welche ein
gelbes Licht auf eine rothe Schminke hat, vorzuplaudern.
Zwar bin ich ſo wenig ein Fontenelle als ein Algarotti.
Allein Sie ſind auch keine Markiſe, die das Flitterhafte dem
Groſſen vorzieht; und unter uns Leute von Verſtande ge-
ſagt, das nuͤtzliche hat doch immer ſeinen eignen Werth.


Unſre mehrſten Gelehrten ſteigen ſelten hoͤher als zu
den Tuͤrkenſteuren hinauf, wenn ſie uns den Urſprung der
heutigen Landeskaſſen erklaͤren wollen. Dieſe, meinen ſie,
haͤtten den erſten Anlaß zu einer Steuerſammlung, und zu-
letzt
[96]Die erſte Landeskaſſe.
letzt zu einer beſtaͤndigen Steuerkaſſe gegeben. Das iſt nun
wohl ſo ganz unrecht nicht, wenn man auf das Wort
Landes-Kaſſe einen beſondern Nachdruck legt; und man
kann zugeben, daß Landes-Herrn, Land-Staͤnde,
Landes-Unterthanen und Landes-Kaſſen zuſammen von
keinem ſehr hohen Alter ſind. Sie ſchreiben ſich mit
einander hoͤchſtens von der Zeit her, wo man den Begrif
des Territoriums erzeugte, dadurch zuerſt ein Land ver-
ſtand, und dieſen Begrif mit jenen Woͤrtern verknuͤpfte;
und das wird ungefehr eine Periode von dreyhundert Jah-
ren ausmachen. Allein wenn man nun fraͤgt, wie es denn
vor dieſem Zeitpunkt gehalten worden: ſo verſchieben ſie
einem das Bild im Kaſten, und ſind wohl gar ſo boͤſe, zu
ſagen, daß der Deutſche urſpruͤnglich alle Steuren gehaſſet,
und ſich erſt ſpaͤt unter dieſes Joch gebeugt habe. An der
Redlichkeit des Haſſes unſrer Vorfahren gegen alle Steuren
zweifle ich nun zwar nicht, ob ſchon der Beweis, welcher
daruͤber gefuͤhrt wird, nicht ſo wohl die eigentlichen Steu-
ren, als die Grundzinſen und andre Arten von Gefaͤllen,
welche eines Mannes Freyheit und Eigenthum verdaͤchtig
machten, betrift. Aber, ſagte einſt ein Franzoſe zu mir,
„ihr Deutſchen habt einen ſo großen Kayſer, ihr habt ſo
„wichtige und maͤchtige Reichsbeamte, und doch keine be-
„ſtaͤndige Reichskaſſe; dienen dieſe Herrn alle blos fuͤr die
„Ehre, oder muͤſſen ſie vom Raube leben oder iſt der Erz-
„ſchatzmeiſter des Heiligen Roͤmiſchen Reichs zugleich ein
„Alchymiſt, der ohne einzunehmen bezahlen kann?„ Und
ſo moͤgte ich die Herrn Gelehrten auch wohl fragen, ob
denn vor dreyhundert Jahren, wie es ſo wenig Landeskaſ-
ſen gegeben, als es jetzt eine foͤrmliche Reichskaſſe giebt,
jeder Staat ein Perpetuum Mobile geweſen, das ſich ſo
von ſelbſt bewegt und erhalten haͤtte? Unbeantwortet wer-
den ſie die Frage nicht laſſen, das weiß ich gewiß, ſollten
ſie
[97]Die erſte Landeskaſſe.
ſie einen auch in die allzeit offnen Zeiten des Fauſtrechts
verweiſen. Aber ſchwerlich wird ihre Antwort ſo beſchaf-
fen ſeyn, daß ſich eine Dame von ihrer Wißbegierde, Hoch-
zuehrende Polyxena, damit befriedigen wird. Ich will
alſo ſehen, ob ich Ihnen die Sache ein wenig deutlicher
machen kann.


Die erſte bekannte gemeine Kaſſe, wovon ich mit Ge-
wißheit reden kann, war die Zehntkaſſe, welche Carl der
Groſſe in ſeinem ganzen Reiche einfuͤhrte, und die gerade
ſo war, wie ſie der Ritter Vauban in den neuern Zeiten
vorgeſchlagen hat. Schlechter konnte man ſie auch von
einem ſo groſſen Geine, als Carl der Groſſe war, nicht
erwarten. Insgemein glaubt man, der Carolingiſche
Zehnte ſey keine gemeine Steuer, ſondern nur ein geiſtli-
ches Opfer geweſen. Wenn ich aber zeigen werde, daß
alle damaligen oͤffentlichen Ausgaben eines Staats daraus
beſtritten wurden: ſo muß dieſer Zweifel, ſo fruͤh ſich auch
die Wahrheit verdunkelt hat, von ſelbſt wegfallen.


Ein Viertel des Zehntens erhielt der Biſchof; ein Vier-
tel jedes Orts der Pfarrer; und die uͤbrigen beyden Vier-
theile die Kirche, zu allerhand Ausgaben, oder fuͤr Arme,
Reiſende, und andere Beduͤrfniſſe.


Dieſe Kaſſe mag nun die Biſchoͤfliche, oder die geiſt-
liche
Kaſſe, oder auch die Gottes- und Kirchenkaſſe geheiſ-
ſen haben, daran liegt nichts; genug es war die wahre
Stifts- oder Sprengelskaſſe, ſo bald ich zeige, daß dieſe
eben dazu diente, wozu jetzt eine Landeskaſſe dienet. Es
liegt auch nichts daran, ob dieſe Kaſſe in jedem Kirchſpiele
oder in der Hauptſtadt war. Denn wir koͤnnten auch jetzt
eine Hauptſteuerkaſſe entbehren, wenn der Oberſteuerein-
nehmer jedem Empfaͤnger ſeine Hebung in Haͤnden lieſſe,
und ſich begnuͤgte Anweiſungen darauf zu ertheilen, und
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Gdie
[98]Die erſte Landeskaſſe.
die einzelnen Kaſſen werden ſolchergeſtalt immer nur eine
einzige idealiſche Hauptkaſſe ausmachen. Hier iſt aber
wohl zu merken: Man ſagte damals: gebt mir eine An-
weiſung auf die oder die Kirche;
in demſelben Verſtande,
worinn wir jetzt ſagen wuͤrden, gebt mir eine Anweiſung
auf dieſen oder jenen Steuereinnehmer.
Denn wofern
man dieſen Stil nicht kennet; ſo verſteht man hundert Ver-
ordnungen nicht, worinn die Kirchen gegen die Pluͤnderun-
gen der Fuͤrſten, Grafen und Ritter ſicher geſtellet werden
ſollen. Dieſe Herrn gedachten ſo wenig den armen Pfar-
rer als den Kuͤſter zu pluͤndern; ſondern ſie fielen, nach
unſrer Art zu reden, auf die Landeskaſſe; und der Kayſer
machte es oft nicht beſſer. Unſre heutigen Kirchen wuͤrden
keinen Huſaren, vielweniger einen groſſen Partiſan zur
Suͤnde reizen.


Es iſt weiter zu merken, daß Carl der Groſſe die
Landmacht den Grafen, und die damalige Landſteuer der
Geiſtlichkeit vertrauet habe: weil es ihm nicht ſicher ſchien,
beydes in einer Hand zu laſſen. Wie aber ſolchergeſtalt
die Steuer in der ſchwaͤchſten Hand war; ſo war kein an-
drer Rath uͤbrig, als ſie ſo viel mehr zu heiligen; und wohl
dem Lande, worinn die Steuer heilig, und die Religion
ſtark genug iſt, den Kaſten ſicher zu bewahren.


Jetzt will ich Ihnen nun zeigen, daß damals gar kei-
ne andere oͤffentliche Beduͤrfniſſe vorhanden waren, als
diejenigen, welche aus jener Kaſſe beſtritten wurden. Zur
Landesvertheidigung war zu der Zeit, ſo wie jetzt noch in man-
chen Laͤndern, jeder hofgeſeſſener Unterthan verbunden.
Dieſe muſten ſich ſelbſt voͤllig ausruͤſten, und ihren Unter-
halt bis zu der Mahlſtatt mit ſich fuͤhren. Wenn ſie hier
waren, ſo wurde eine Lieferung in dem Lande, wo das
Heer ſtand, ausgeſchrieben, und dieſe gieng oft bis auf
zwey
[99]Die erſte Landeskaſſe.
zwey Drittel aller Fruͤchte. Es gab groſſe Hoͤfe, die den
Heerwagen zur Fortbringung der Artillerie ſtellen muſten;
und es gab andre, die zuſammen einen geharniſchten ſtelle-
ten; mithin hatte man nicht noͤthig, auf Lehnung und Com-
miſſariat etwas zu verwenden.


Zum Unterhalt der Veſtungen, Landwehren, Heerwe-
ge, Bruͤcken und dergleichen, ſteurete jeder mit der Hand;
und die Reichsbeamte, als der Graf und Hauptmann hat-
ten ihre beſondre ihnen in den Graf- und Hauptmannſchaf-
ten angewieſenen Gefaͤlle, wovon noch die Gowgrafendien-
ſte, das Gowgrafenkorn, und beſonders verſchiedene Bruch-
faͤlle uͤbrig geblieben ſind. Reiſete einer von ihnen, oder
ein kayſerlicher Geſandte: ſo wurde er uͤberall frey gehal-
ten, und der Kayſer hatte jeden die ihm gebuͤhrende Ver-
pflegung bis auf Huͤhner und Eyer vorgeſchrieben. Wenn
der Biſchof jaͤhrlich ſeine Kirchen beſuchte: ſo muſte ihm
jedes Kirchſpiel hundert Muͤdde (modios) Haber, ſechzig
Bund Stroh, hundert und zwanzig Brodte, vier Schwei-
ne, drey Spanferken, acht Hammel, vier Gaͤnſe, acht Huͤh-
ner, zwanzig Eymer (ſitulas) Meth; zwanzig Eymer Ho-
nigbier, und eben ſo viel ander Vier darbringen, und der
Kayſer ſelbſt zog immer aus einer Provinz in die andere,
um einer einzigen mit ſeinem Aufenthalte nicht zu ſchwer
zu fallen. Denn auch ihm muſte, wenn er es verlangte,
aus der Provinz die Tafel gehalten werden. Dieſes vor-
ausgeſetzt, konnten ſchwerlich auf die damalige Sprengels-
kaſſe andere oͤffentliche Ausgaben als diejenigen fallen, wel-
che hier oben namentlich ausgedruckt worden.


Das Viertel was der Biſchof erhielt, gehoͤrte unſtrei-
tig in die idealiſche Hauptkaſſe, wenn er es auch gleich un-
mittelbar einzog, welches jedoch, wie ich gleich zeigen
werde, unmoͤglich war. Alſo erhielt der Biſchof damals
G 2ſeinen
[100]Die erſte Landeskaſſe.
ſeinen ganzen Unterhalt aus der Sprengelskaſſe; und
dieſer mogte nicht gering ſeyn, da der biſchoͤfliche Kir-
chenſprengel ſich auf einer Seite an die Emſe, auf der an-
dern an die Frieſen, und weiter uͤber die heutige Grafſchaft
Tecklenburg, auch einen Theil des jetzigen Ravenſpergiſchen
erſtreckte. Er mogte nicht gering ſeyn, da der Zehnte nicht
blos vom Felde und der Viehzucht, ſondern von allem
was der Menſch verdiente, erhoben werden ſollte. Er
mochte endlich nicht gering ſeyn, weil der Kaiſer wie der
Graf, und ſelbſt die Kirche von ihren Gruͤnden den Zehn-
ten zu geben, verpflichtet waren. Erwegt man hiebey,
daß der Biſchof von dieſer ſeiner Einnahme nichts zur Lan-
desvertheidigung, und nichts auf Landesbediente zu verwen-
den hatte, indem dafuͤr auf andere Art geſorget war: Er-
weget man weiter, daß er den freyen Brand, die Jagd,
und verſchiedene jetzt ſogenannte Domanialgefaͤlle hatte; be-
denkt man endlich, daß ihm alle Eingeſeſſene ſeines Spren-
gels zu einer Fuhr bey Graſe und einer bey Stroh ver-
pflichtet waren; und daß ihm, wenn er ſeine Kirchen be-
ſuchte, die freye Bewirthung uͤberall verſchaffet werden
muſte: ſo kann man auch dieſen Unterhalt gewiß ſtandes-
maͤßig nennen.


Der Unterhalt der Pfarrer, der Kirchen, der Armen,
und der Fremden, und andere gemeine Beduͤrfniſſe koͤnnten
eben ſo in die damalige Stiftsrechnung zur Einnahme und
Ausgabe gebracht werden; und wenn man dieſes in Ge-
danken thut: ſo zeiget es ſich von ſelbſt, daß die Rechnung
uͤber die Zehntkaſſe, eben die Eigenſchaften erhalte, welche
die neuern Landesrechnungen haben. Nur Schade, daß
die Unordnung in der Verwaltung, dieſe maͤchtige Kaſſe
voͤllig zu Grunde gerichtet habe! Um dieſes recht einzuſe-
hen, und um ſich einen deutlichen Begrif von der Art und
Weiſe zu machen, wie die Zehnten theils verdunkelt, theils
in
[101]Die erſte Landeskaſſe.
in weltliche und Privathaͤnde gekommen ſind, ohne daß die
Kirche und ihr Haupt mit allen ihren eifrigen Bemuͤhun-
gen das geheiligte gemeine Gut von ſeinem Untergange ret-
ten koͤnnen, muͤſſen Sie ſich die Sache folgendermaſſen vor-
ſtellen.


  • Erſtlich war es uͤberhaupt nicht wohl moͤglich, daß
    der Biſchof ſein Viertel, beſonders im Stroh zuſammen
    in eine Hauptkaſſe fuͤhren laſſen konnte; folglich entſtan-
    den viele beſondre Empfaͤnger.
  • Zweytens konnte jede Kirche die uͤbrigen drey Viertel
    nicht ordentlich und richtig empfangen, wenn der Zehnte
    des einen Kirchſpiels mit dem Zehnten eines andern in eine
    Scheure gefahren wurde. Natuͤrlicher Weiſe erfolgten alſo
    gerade ſo viel Empfaͤnger als Kirchſpiele vorhanden waren.
  • Drittens war der ganze Zehnte eines Kirchſpiels eine
    ſehr groſſe Einnahme; und es ſchickte ſich ſo wenig fuͤr den
    Pfarrer, die Hebung zu haben; als wenig man ſolche ei-
    nem gemeinem Mann ſo leicht anvertrauen konnte. Zudem
    muſte der Zehnte oft mit maͤchtiger Huͤlfe herbey geholet wer-
    den; dieſe war in den Haͤnden des Reichshauptmanns im
    Kirchſpiel; und ſo war es ſo natuͤrlich als nothwendig,
    daß dieſer die Zehntſcheure oder die Zehntkaſſe verwaltete,
    und die ganze Hebung hatte. Ob er etwas mehr als Stroh
    und den Abfall zur Beſoldung nahm, will ich jetzt nicht
    unterſuchen. Man nennte ihn aber uͤberall den Kaſtenvogt,
    und haͤtte ihn nach einem neuern Ausdruck den Reichs-Kirch-
    ſpielspfennigmeiſter heiſſen koͤnnen.
  • Viertens muſte ſolchergeſtalt ſowohl der Biſchof, als
    der Pfarrer und der Kirchenproviſor, wenn es damals ſchon
    dergleichen gab, und der Kaſtenvogt nicht ſelbſt die Kir-
    chen- und Armenrechnung fuͤhrte, dasjenige was ſie haben
    G 3wollten,
    [102]Die erſte Landeskaſſe.
    wollten, aus einer, zwar dem biſchoͤflichen Banne unterwor-
    fenen, jedoch im uͤbrigen dem Kayſer getreuen Hand erhal-
    ten; und wenn der Bann unkraͤftig war, vielleicht biswei-
    len mit einem ziemlichen Aufſchub vorlieb nehmen.
  • Fuͤnftens muſte der Biſchof bey dieſer Einrichtung noth-
    wendig viele Zahlungen durch Anweiſungen auf dieſe oder
    jene Kirche, oder welches einerley iſt, auf dieſen oder je-
    nen Kaſtenvogt verrichten; manchem aber mit einer ſolchen
    Anweiſung auf einen unrichtigen oder maͤchtigen Vogt ſchlecht
    gedient ſeyn. Ein kluger Glaͤubiger nahm daher, wenn
    es immer moͤglich war, lieber eine Anweiſung auf einen
    einzelnen Zehntpflichtigen, als auf den Kaſtenvogt und die
    Politik der Biſchoͤfe gieng von ſelbſt dahin, ſo bald die Ka-
    ſtenvoͤgte den Bann nicht mehr achteten, dieſe Art der An-
    weiſungen zu beguͤnſtigen, und damit den Kaſtenvogt nach
    und nach ſeine Einnahme zu entziehen; endlich und
  • Sechſtens mochten ſich zwar auch die Kaſtenvoͤgte die-
    ſer Politik widerſetzen; es koͤnnen aber doch auch viele Ur-
    ſachen eingetreten ſeyn, welche dieſe Art der Anweiſungen
    befoͤrderten.

Wenn man dieſe natuͤrliche Geſchichte der Zehntkaſſe,
welche in allen Laͤndern, und uͤberall, wo die Kunſt das
Rechnungsweſen nicht verfeinert hat, immer eben dieſelbe
ſeyn wird, nur mit einiger Aufmerkſamkeit erweget: ſo
ſieht man leicht ein, wie das Schickſal dieſer Kaſſe in einer
Zeit geweſen ſeyn muͤſſe, wo man wenig Geld hatte, und
die mehrſten Zahlungen in Naturalien verrichtete. Man
ſieht leicht ein, daß der Glaͤubiger, der eine Summe zu
fordern hatte, und fuͤr die Renten eine Anweiſung auf ei-
nen Zehntpflichtigen erhielt, ſolchen ſo leicht nicht wieder-
fahren ließ.


Das
[103]Die erſte Landeskaſſe.

Das Hauptungluͤck aber hat man der gleich unter Lu-
dewig dem Frommen eingetretenen Veraͤnderung in dem
Kriegesſtaat zu dauken. Alle Kayſer hatten zwar vor ihm
ſchon einige Liebe und beſonders Getreue in ihrem Gefolge un-
terhalten; auch mochten verſchiedene groſſe Reichsbeamten
dergleichen in ihrem Dienſte gehabt haben. Man hatte aber
doch immer, wenn es zum Kriege kam, den hofgeſeſſenen
Mann, oder den jetzt ſogenannten Arrierbann aufgeboten.
Jetzt fieng aber der Kayſer, und nach deſſen Beyſpiel auch
mancher maͤchtiger Fuͤrſt ſchon an, die Zahl ſeiner lieben
Getreuen zu vermehren, und damit zu Felde zu ziehen. Es
gieng damit eben wie mit unſerer heutigen Militz; da ein
Fuͤrſt, der vor zweyhundert Jahren blos eine Leibgarde
von funfzig Mann hatte, jetzt fuͤnftauſend haͤlt. Ein an-
deres Ungluͤck war dieſes, daß der liebe Getreue, ſo we-
nig als jetzt der Soldat, dem Hofgeſeſſenen zu Kampfe ſte-
hen wollte; und ſo mit dieſer zum Kriege nicht mehr wie
vorhin aufgeboten werden durfte.


Wie alſo der Krieg oder die Fehde blos mit ausgeſon-
derten geuͤbten und bald einen eignen Stand ausmachenden
Maͤnnern gefuͤhret werden muſte, trat auch nothwendig
eine Loͤhnung ein; und der Biſchof, der ſich von ſeinen
Nachbarn oder von einem kayſerlichen Grafen und Haupt-
mann nicht beeintraͤchtigen laſſen wollte, muſte ebenfalls
einige Getreue anwerben, und auf ihre Bezahlung denken.
Wo er konnte, wandte er ſich billig zuerſt an den Kaſten-
vogt, der als Reichshauptmann ſchon fuͤr ſich ein angeſehe-
ner Mann war, und ihm, wenn es nicht gegen den Kay-
ſer und das Reich gieng, mit Freuden diente, aber —
ſich auch ſogleich eine Anweiſung auf ſeinen Kaſten geben
ließ, und ſonach ſich ſelbſt bezahlt machte.


War die Noth, worinn der Biſchof war, groß: ſo
reichte das biſchoͤfliche Viertel zur Loͤhnung nicht hin; der
G 4Pfar-
[104]Die erſte Landeskaſſe.
Pfarrer, der die Gefahr des Biſchofen billig mit ihm theilte,
muſte ſein Viertel wohl auch hergeben; die Kirche mogte
verfallen, die Armen hungern, die Pilgrimme zu Hauſe
bleiben; die gemeine Gefahr forderte und rechtfertigte al-
lenfalls auch noch die Ausgabe der uͤbrigen beyden Viertel
in der Zehntkaſſe. Wie mit der Zeit der Kaſtenvogt wie-
derum andere Getreue zu ſeinen und des Biſchofes Dien-
ſten annahm, uͤberwieß er dieſen, um kurz davon zu kom-
men, einen Theil der Zehnten bey den Pflichtigen; und
weil man die Geworbenen aus allerhand Urſachen auch in
Friedenszeiten nicht wieder abdankt: ſo behielt jeder ſeine
ihm aus der Zehntkaſſe angewieſene Loͤhnung in Haͤn-
den; ließ ſie fuͤr geleiſtete und zu leiſtende Dienſte ſeinen
Nachfolgern, bis endlich dieſe groſſe Staatskaſſe zu nichts
weiter hinreichte, der Biſchof, ſo wie jetzt mancher Reichs-
fuͤrſt bey den vielen Soldaten ſich einſchraͤnken, der Pfar-
rer ſich an die Accidentien halten, und das Kirchſpiel ſeine
Kirche und Armen auf andre Weiſe unterhalten muſte.


In dem erſten Taumel, vielleicht auch in der groſſen
Gefahr, worinn die grauſamen Normaͤnner faſt ganz Eu-
ropa, und beſonders auch den untern Theil von Deutſch-
land ſetzten, fuͤhlte man bey der Freude der Rettung, den
groſſen Verluſt nicht, dachte auch vielleicht nicht daran,
daß die Dienſtleute ſich in eine beſtaͤndige Militz verwan-
deln wuͤrden. Wenn man die benachbarten Kirchen bren-
nen ſieht: ſo iſt man froh, die ſeinige mit Aufopferung
eines Theils der Einnahme erhalten zu haben. Wie aber
die Gefahr allmaͤhlig voruͤber war, erwachten Pabſt, Bi-
ſchoͤfe, Pfarrer und Kirche, und ſuchten ihr Heiligthum aus
dieſer entſetzlichen Unordnung zu retten; aber vergebens.
Die Sache war zu verwickelt; das Recht derjenigen, welche
ihre Loͤhnung verdient hatten, zu ſtark; ihre ploͤtzliche Abdan-
kung nicht moͤglich; andrer Rath ſie zu befriedigen nicht
vor-
[105]Die erſte Landeskaſſe.
vorhanden; und ſo war ſelbſt der hoͤchſte Bann ſo wenig
zureichend, als der Streit ſelbſt zu einer allgemeinen Ent-
ſcheidung (in petitorio) vorbereitet. Alle Kirchenverord-
nungen blieben alſo ohne Kraft, ſo ſehr auch zu wuͤnſchen
geweſen waͤre, daß durch ſie die Sprengelskaſſe waͤre wie-
der hergeſtellet worden; und dieſe erſte unter allen Kaſſen
gieng unwiederbringlich verlohren.


Das ſonderbarſte unter allen war, daß keiner auf die
wahre Urſache des Uebels zuruͤckgieng, und dieſe zu verſto-
pfen ſuchte. Augenſcheinlich lag der Fehler in dem veraͤn-
derten Kriegsſtaat. Dieſer hatte nach der Abſicht Carls
des Groſſen immer aus unbeſoldeten Landbeſitzern beſtehen
ſollen. Jetzt hatte man aber Dienſtleute geworben, die
beſoldet werden muſten. Diejenigen, welche alſo nicht
wollten, daß dieſe Beſoldung aus der Zehntkaſſe erfolgen
ſollte, haͤtten natuͤrlicher Weiſe darauf fallen ſollen, jeden
Hofgeſeſſenen ein Gewiſſes zum Unterhalt der Dienſtleute
auf bringen zu laſſen. Aber daran dachte niemand; und
ſo war es eine widerſinnige Bemuͤhung, auf einer Seite
die Nothwendigkeit der Dienſtleute zu erkennen, und auf
der andern Seite die einzige Steuerkaſſe verſchlieſſen zu wol-
len, woraus ſie beſoltet werden konnten und muſten, ſo
lange keine andre vorhanden war.


Indeſſen halfen doch die Bemuͤhungen der Kirche ſo
viel, daß man allmaͤhlig ſuchte, einen Zehnten nach dem
andern wieder an ſich zu bringena). Aber dieſe erhielten
G 5eben
[106]Die erſte Landeskaſſe.
eben dadurch einen ganz neuen Character. Die Zehnten,
die der Biſchof und ſein Domkapitel einloͤſete oder wieder
kaufte, waren nun nicht mehr gemeine Steuren, ſondern
wieder gekaufte Privatgefaͤlleb); wovon der Geiſtliche ſo
wenig als ein anderer Beſitzer die Laſt der gemeinen Ver-
theidigung zu ſtehen ſchuldig war. Es erwuchs alſo aus
dieſen Einloͤſungen und Wiederkaͤufen keine neue Steuer-
kaſſe; ſondern eine geiſtliche Kaſſe im engern Verſtande.


Der Hauptplan, nach welchem man hierbey verfuhr,
war dieſer, daß man den Kaſtenvoͤgten ihr Amt, oder ihre
alte Heerbannscompagnie, mit der dabey erblich geworde-
nen Zehnthebung abhandelte, und dann die Zehntpflichtigen,
welche der Kaſtenvogt theils ſeinen eignen Dienſtleuten zur
Loͤhnung angewieſen, theils in Erbpacht gegeben, theils
aber auch in der Noth fuͤr ein Stuͤck Geld frey gegeben
hatte, wieder herbey zu ziehen ſich bemuͤhte. Wo der Bi-
ſchof die Kaſtenvogtey hatte, gieng dieſes noch ſo ziemlich
von ſtatten, obwol er nicht alle Contrakte der Kaſtenvoͤgte
ſogleich vernichtigen, alle Verjaͤhrungen fuͤr unguͤltig er-
klaͤren, und jede Erbpacht in Zeitpacht umſchaffen konnte.
Wo er aber die Kaſtenvogtey nicht hatte, da gieng es ihm
wie dem Erzbiſchofe von Maynz, mit den Thuͤringern, der
aus bloſſer biſchoͤflicher Befugniſſe, ohne zufoͤrderſt die
Heerbannshauptleute oder Kaſtenvoͤgte auszukaufen, die
Zehnt-
a)
[107]Allerunterthaͤnigſtes Memorial.
Zehntkaſſe wieder herſtellen wollte, und daruͤber in einem
ſchweren Krieg verwickelt wurde; und man kann dreiſt an-
nehmen, daß die Ermahnung des Kayſers Henrich an alle
hohe und niedrige Dienſtleute in Weſtphalen c), ſo ſanft
dieſelbe auch gefaſſet war, wenige bewog, Dienſtleute oh-
ne Loͤhnung zu bleiben, oder welches einerley iſt, die Zehn-
ten wieder herzugeben. Denn dieſe Ermahnung wieß
dem Biſchofe nicht die Mittel an, ſeine Dienſtleute auf
andre Art zu beſolden; und dieſe abzudanken litten die
Umſtaͤnde nicht, wenn ſie auch ſonſt, da ſie immittelſt lan-
ge erblich geworden waren, ſich mit einem ehrlichen Ab-
ſchiede haͤtten nach Hauſe ſchicken laſſen wollen.


Dies waren, theureſte Polyxena! die Schickſale der
erſten Stiftskaſſe. Naͤchſiens will ich Ihnen die zweyte
Periode liefern.



XXV.
Allerunterthaͤnigſtes Memorial.

(Der Schutzjude Nathan zu S. bittet allerunterthaͤnigſt, daß dem
Pfarrer ſeines Orts die Lotteriecollection verboten werden moͤge.)


Euer K. M. geruhen ſich allerunterthaͤnigſt vortragen zu
laſſen, was maſſen der hieſige Curat ſeit einiger Zeit
eine Lotterie-Collection uͤbernommen hat, und um ſich ei-
nen deſto groͤſſern Abgang zu verſchaffen, fuͤr das Gluͤck
aller derjenigen oͤffentlich bittet, welche bey ihm einſetzen.
Ein
[108]Allerunterthaͤnigſtes Memorial.
Ein Verfahren dieſer Art verdienet um ſo mehr eine gerechte
Ahndung, da ich nicht allein dadurch voͤllig auſſer Stand
geſetzet werde, mein Brod zu gewinnen, und mein Schutz-
geld zu bezahlen, ſondern auch zu meinem groͤßten Herze-
leid ſehen muß, daß Ew. K. M. getreueſte Unterthanen
aufs empfindlichſte mitgenommen werden, weil keiner der
etwas gewinnet, die Fuͤrbitte umſonſt verlangt. Ich weiß
zwar wohl, die Accidentien des hieſigen Curaten ſind gering,
indem die alte Pfruͤnde ihm entzogen iſt; und er oft ſeine
Lunge Stundenweiſe verheuren muß, wenn eine Leichenpre-
digt zu halten iſt, um nur ehrlich durch die Welt zu kom-
men. Ich goͤnne es ihm auch von Herzen, daß er dem
Heuermann, wenn er mehr als der Meyer dafuͤr bezahlt,
einen naͤhern Weg zum Schoſſe Abrahams weiſet, als die-
ſem. Allein da mir bisher die Lotterie-Collection allein
anvertrauet geweſen, und ich ohne Ruhm zu melden, dem
Lotto jaͤhrlich mehr eingeliefert habe, als die hieſige Scha-
tzung betraͤgt: ſo hoffe ich, Ew. K. M. werden es gerech-
teſt nicht geſtatten, daß ſolchergeſtalt Dero allerhoͤchſtes
Intereſſe von meinen allerunterthaͤnigſten widerrechtlich ge-
trennet werde.


Ueberhaupt muß ich bey dieſer Gelegenheit demuͤthigſt
anzeigen, daß ſo wohl der hieſige Curat, als der Kuͤſter
und Schulmeiſter Dero allergetreueſten Unterthanen auf alle
Weiſe zu beſchweren ſuchen. Der Kuͤſter verpachtet den
Schall der Glocken, und laͤßt ſo oft eine Leiche iſt, die
Bauern, wenn ſie nur gut bezahlen, nach Gefallen laͤuten,
ſo daß mir der Glockengießer letzt geſtanden, es waͤren in
dieſer
c)
[109]Allerunterthaͤnigſtes Memorial.
dieſer kleinen Provinz ſeit 30 Jahren, daß er Glockengieſ-
ſer geweſen, 163 Glocken geborſten, und von ihm umge-
goſſen worden. Der Curat verpachtet den heiligen Sonn-
tag, und laͤßt diejenigen, ſo ihm eine friſche Butter brin-
gen, an demſelben ſo viel arbeiten wie ſie wollen. Der
Schulmeiſter hat auf jedes Lied, was er bey der Leiche
ſingt, eine Taxe geſetzt, und wer das laͤngſte und ſchoͤnſte
haben will, muß auch am meiſten dafuͤr bezahlen. Sogar
hat faſt jeder Bauer bey der letzten Viehſeuche fuͤr ſein Vieh
von den Canzeln bitten laſſen, und der Kuͤſter, um nicht
leer auszugehen, verkauft ein Mittel wider die blaue Milch,
und will die boͤſen Geiſter vertreiben koͤnnen, wenn die But-
ter nicht gerathen will. Ehe die Viehſeuche kam, gieng
beſtaͤndig ein Geruͤchte, dieſes oder jenes Haus, und bis-
weilen das ganze Dorf waͤre im Feuer geſehen worden, da
denn ein jeder ſich mit einem andaͤchtigen Mittel dawider
verſorgte. Ja wie neulich des Meyers Schaafſtall ab-
brannte, ſagte man oͤffentlich, und zwar in Gegenwart des
Curaten, es kaͤme von nichts, als von des Meyers Geitze,
der einen Gulden fuͤr die Fuͤrbitte geſparet, und nun auch
dafuͤr ſeine gerechte Strafe empfangen haͤtte.


Aller dergleichen Wendungen, worunter ich noch ver-
ſchiedene mitzaͤhlen koͤnnte, welche die Gewohnheit bereits
zu erlaubten Accidentien gemacht hat, gereichen aber Euer
K. M. zum groͤßten Nachtheil, indem die Unterthanen, was
ſie ſolchergeſtalt hingeben, nicht dem Steuereinnehmer hin-
bringen koͤnnen.


Zwar geht es in dem Kirchſpiele, worinn ich wohne,
noch beſſer zu, als in einigen benachbarten, wo die Bauer-
weiber bey den Curaten faſt taͤglich zuſammen kommen, und
beten und Caffee trinken; und wo die Weiber ihren Maͤn-
nern alles unter den Haͤnden wegſtehlen, um es zur Ehre
Gottes
[110]Der Unterſchied zwiſchen der gerichtlichen
Gottes und zum Vortheil des Curaten anzuwenden. Al-
lein ſo wenig dieſes gedultet, und ſo wenig es auch der
hieſiegen Frau Curatin nachgeſehen werden ſollte, daß ſie
den Leuten, welche ihr Eyer und Butter bringen, ein Bit-
ters, was doch weiter nichts iſt, als Brantewein auf wilde
Caſtanien geſetzt, ſchenkt: eben ſo wenig mag auch unter
Euer K. M. gerechteſten Regierung dem hieſigen Unfuge
nachgeſehen werden, wofern nicht ich und alle Schutzjuden,
denen ſolchergeſtalt der empfindlichſte Eingriff geſchiehet,
mit der Zeit das Land verlaufen ſollen.


An Allerhoͤchſtdieſelbe ergeht demnach meine allerunter-
thaͤnigſte Bitte, dieſem gemeinſchaͤdlichen Aergerniß von
Amtswegen allergerechteſt abhelfen zu laſſen.



XXIV.
Der Unterſchied zwiſchen der gerichtlichen
und auſſergerichtlichen Huͤlfe
*).


Das Recht des Staͤrkern iſt noch immer eine gute Sa-
che; und wenn ich zu meinem boͤſen Nachbar ſagen
kann: Kerl bleib mir mit deinen Schaafen von meinen
Ruͤben, oder ich laſſe ſie herunter pruͤgeln, daß die Wolle
davon
[111]und auſſergerichtlichen Huͤlfe.
davon fliegen ſoll: ſo kann er mir doch nicht darauf kom-
men, ohne ſich mit einem richterlichen Befehle zu verſehen,
und ehe er dieſen auf fuͤnf Meile Weges einholet; ſo be-
denkt er ſich vielleicht noch unterwegens und findet meine
Ruͤben fuͤr dasmal bitter.


Aber auf dieſe Weiſe moͤgte jemand denken, ſey der
arme geringe Unterthan, der doch immer am erſten gedruͤckt
werde, am uͤbelſten daran, beſonders wo er mit einem un-
mittelbaren Reichsſaſſen zu thun haͤtte, gegen welchen er
die richterliche Huͤlfe etwas weiter als auf fuͤnf Meilen ſu-
chen muͤſte. Nun freylich wer mit einem ſtaͤrkern zu kaͤm-
pfen hat, iſt allemal uͤbel daran. Allein es iſt denn doch
auch noch auſſer der richterlichen Huͤlfe uͤberall eine Macht
vorhanden, die dem bedruͤckten Schwaͤchern zur Stelle bey-
ſpringen, und den Staͤrkern noͤthigen kann, den gebahnten
Weg Rechtens einzuſchlagen. Dieſe heißt nach Beſchaffen-
heit der Umſtaͤnde Kayſers-Koͤnigs-Fuͤrſten oder Amts-
ſchutz; und beſteht in einer auſſergerichtlichen Huͤlfe, welche
dem Schwaͤchern im Staate zu dem Ende geleiſtet wird, da-
mit der Staͤrkere von Eigenthaten abſtehen, und ſich zu ſei-
nes Gegners Richter wenden ſolle. Es iſt die nemliche
Macht, deren jeder ſich ſelbſt bedienen koͤnnte, wenn er der
Staͤrkſte waͤre; es iſt die Vereinigung vieler Schwaͤchern un-
ter der Anfuͤhrung eines Obern. Es iſt das Gebot und
Verbot, was den Ruheſtand bis zur richterlichen Verfuͤ-
gung erhaͤlt.


Wollte es der Staͤrkere uͤbel nehmen, daß ſich ihm ſol-
chergeſtalt ein Schutzvogt entgegen ſtellt: ſo duͤrfte dieſer
nur ſeine Hand abziehen, und dem Schwaͤchern die Macht
ſich mit dem andern ſeines gleichen zu vereinigen und zu
wehren, erlauben, eine Macht, deren er ſich mit eben
dem Rechte bedienen koͤnnte, womit der Staͤrkere ſeine
eignen
[112]Der Unterſchied zwiſchen der gerichtlichen
eignen Kraͤfte gebraucht; und dann wuͤrde vermuthlich der-
jenige, der ſich anfaͤnglich fuͤr den Staͤrkſten gehalten, eben
den Schutz noͤthig finden und anflehen, deſſen ſeiner Mei-
nung nach die einzelnen Schwaͤchern nicht genieſſen ſollen.
Es iſt alſo auch der wahre Vortheil des einzelnen Staͤrkern,
daß ein ordentlicher Schutz vorhanden iſt, ohne deſſen Be-
willigung und Anfuͤhrung die vielen Schwaͤchern ſich nicht
zuſammen rotten, und ihm ihre Rache empfinden laſſen
duͤrfen.


Dem ungeachtet hoͤret man dieſen nicht ſelten klagen,
daß ein ſolcher Schutzherr oder Schutzvogt, ob er gleich
nicht mit der geringſten richterlichen Befugniß uͤber ihn ver-
ſehen waͤre, ihm etwas abſprechen wolle. Allerdings
ſpricht er ihm etwas ab, wann er aus Gefaͤlligkeit zuerſt
den Mund anſtatt der Hand gebraucht. Aber er ſagt doch
nichts weiter, als was jeder Privatmann, wenn er zu ſei-
ner Vertheidigung ſtark genug waͤre, ſagen koͤnnte: er ſagt
nemlich blos: Ich leide es nicht, und dieſer Ausſpruch,
er mag aus dem Munde eines Fuͤrſten, oder eines Privat-
mannes kommen, iſt kein Urtheil, ſondern eine bloſſe
eigne natuͤrliche auſſergerichtliche Vertheidigung.


Oft koͤnnte ein ſolcher den Schutzherrn oder Schutz-
vogt ſofort uͤberzeugen, daß er ſich des Schwaͤchern mit
Unrecht annehme, und einem Menſchen Beyſtand leiſte, der
es keinesweges verdiene. Allein, weil er ſich den Begriff
macht, daß dieſe Nachricht, welche ein Nachbar dem an-
dern unbedenklich geben wuͤrde, einer gerichtlichen Einlaſ-
ſung gleich gelte: ſo irret er gleich zum Richter, oder macht
es wie der Geiſtliche, der einen Layen pruͤgelte, und ſo oft
dieſer ſich wehren wollte, ihm zurief: er ſtuͤnde nicht unter
dem weltlichen Arm.


Nicht
[113]und auſſergerichtlichen Huͤlfe.

Nicht ſelten geſchieht es auch, wenn der Schutzherr
ein unmittelbarer Reichsſtand iſt, daß derjenige, dem er
ſeinen Willen nicht gelaſſen hat, ſich ſofort an die Reichs-
gerichte wendet, und ſeine Beſchwerde darin ſetzt, daß ihm
ohne alle vorhergegangene rechtliche Unterſuchung und Er-
kenntniß etwas abgeſprochen ſey. Aber ein bloſſes: ich
leide es nicht,
erfordert weiter nichts als meine eigne auf-
richtige Vorſtellung, und keinesweges ein gerichtliches Ver-
fahren. Nur dann hat er Urſache ſich daruͤber zu beſchwe-
ren, wenn der Schutzherr ſich wegert, die Sache zum rich-
terlichen Ausſpruch zu verweiſen, und ſich demjenigen, was
dieſer ſowohl uͤber den augenblicklichen als ordentlichen Be-
ſitzſtand verordnet, zu fuͤgen. Das bloſſe: ich leide es
nicht,
gilt nur ſo lange, als bis der Richter ein anders
erkennet.


Ein Schutzherr kann nie zugleich Richter ſeyn, weil die
Geſetzgebende und Rechtſprechende Macht nicht in einer Per-
ſon vereiniget ſeyn muß. Er koͤnnte in jedes Urtheil das
er faͤllete, ſofort eine Abaͤnderung des Geſetzes oder eine
Diſpenſation mit einflieſſen laſſen, zwey Befugniſſe, die mit
dem groͤſten Bedacht allen Richtern genommen ſind. Es
iſt alſo auch gar nicht zu fuͤrchten, daß er ſich mit einem
richterlichen Erkenntniß abgeben werde. Aber das Recht
der Selbſtvertheidigung kann ihm doch ſo wenig als einem
andern ehrlichen Manne abgeſprochen werden. Und ſeine
Selbſtvertheidigung tritt ſo oft ein, als ſeinen Schutzge-
noſſen auch nur ein Haar wider ihren Willen und ohne
Recht gekraͤnket werden will*).


Dage-
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. H
[114]Die gerichtlichen Vorladungen

Dagegen iſt es aber auch einem jeden, ohne ſich fuͤr
die Folgen einer gerichtlichen Einlaſſung fuͤrchten zu duͤrfen,
erlaubt ſeinen Schutzherrn beſſer zu unterrichten, und ihm
zu ſagen:


Quem ſua culpa premit

deceptus omitte tueri.

Ein Rechtsgelehrter, der dieſes bedenklich findet, und
bey jedem Worte ſehr feyerlich aber hoͤchſt widerſinnig pro-
teſtirt, daß er ſich nicht einlaſſen wolle, weiß nicht was
er ſagt. Jeder der mit ſeinem Nachbaren einen Proceß
vermeiden will, kann demſelben eine vollſtaͤndige und beur-
kundete Nachricht von ſeinen Gerechtſamen zuſchicken, und
ihn auf das inſtaͤndigſte bitten, ihm die Unkoſten eines ſonſt
nothwendigen Proceſſes zu erſparen, ohne daß dieſer da-
durch zum Richter erwaͤhlt, oder berechtiget wird, ihm ſei-
ne Sache rechtskraͤftig abzuſprechen.



XXVII.
Schreiben eines abweſenden Landesman-

nes, uͤber die gerichtlichen Ladungen in
den Intelligenzblaͤttern.


Sie wiſſen, mein Herr! ich bin kein Freund von Spott-
ſchriften, aber heiligen moͤchte ich doch die Geiſſel,
die einmal den Stil ihrer gerichtlichen Vorladungen und
Ankuͤn-
*)
[115]in den Intelligenzblaͤttern.
Ankuͤndigungen, womit ſich ihr und mein gutes Vaterland
in jedem Intelligenzblatt zum Hohngelaͤchter macht, weid-
lich zuͤchtigte. Ihre Geſchichtſchreiber moͤgen noch ſo viel
Gelehrſamkeit, obſonſtige Geſchicklichkeit beſitzen; ſo ma-
che ich ihnen ahndurch oͤffentlich bekannt; daß ſie in
dieſem Stuͤcke noch die groͤſten Barbaren ſind, welche
Deutſchland zu unſern Zeiten aufzuweiſen hat. Ich ver-
ehre die alten bekannten Formeln, und gebe es zu, daß
der Gerichtsſtyl bey allen Nationen ſeine eignen Ausdruͤ-
cke und Wendungen habe. Aber dieſe Wendungen nun der-
geſtalt zu verflechten, ſie mit Fleiß ſo zu ſchrauben, daß
ihnen oft der ganze Zuſammenhang fehlet, im Ausdrucke
ſich beſtaͤndig und ohne Noth von der gewoͤhnlichen Men-
ſchenſprache zu entfernen; eine Sache darin dreymal zu
wiederholen, und mit ſolchem Zeuge ein kleines oͤffentliches
Blatt zu fuͤllen, heißt die Barbarey mit Fleiß beybehalten,
und dem geſunden Menſchenverſtande aufs hartnaͤckigſte
entſagen. Auch der gothiſche Geſchmack iſt ſeiner eignen
Vollkommenheiten faͤhig, und ſelbſt der Palmyreniſche *)
macht Anſpruͤche darauf. — Warum ſollte denn nicht end-
H 2lich
*)
[116]Die gerichtlichen Vorladungen
lich auch der altvaͤteriſche Gerichtsſtyl, wenn er ja in ſei-
ner Eigenheit beſtehen ſoll, wenigſtens ſo geſchliffen werden
koͤnnen, daß das Schleppende abgeſchnitten, das Rauhe in
Staͤrke verwandelt, und das Kauderwelſche oder Lateiniſche
ganz darinn vermieden werde?


Unertraͤglich iſt es, ich will nicht ſagen in den oͤffent-
lichen Vorladungen, ſondern in der Anzeige Ihres Intelli-
genzblattes, weitlaͤuftig zu leſen.


Demnach N. N. um eine Ladung gebeten — darauf dieſe
Ladung erkannt — als werden alle — vorgeladen.


Wozu hier die dreymalige Wiederholung einer Sache, die
mit wenigen Worten alſo gefaſſet werden koͤnnte?


Auf Anſuchen des Schuldners und gerichtliches Erkennt-
niß werden die Glaͤubiger — auf den vorgeladen.


Eben ſo iſt es mit dem Generalarreſt. Wenn deſſen ein-
mal erwehnt iſt: ſo bedarf es der uͤberfluͤßigen Wieder-
holung,
daß der mit Arreſt und Kummer befangenen Guͤter An-
maß- und Verbringung maͤnniglichen ſub pœna nulli-
tat.s inſuperque arbitraria
bis auf weitere gerichtliche
Verordnung unterſagt ſeyn ſolle,

gar nicht, indem einem jeden die Wuͤrkung des General-
arreſts ſattſam bekannt iſt und bekannt ſeyn muß: Es iſt
nicht noͤthig zu ſagen,
daß
*)
[117]in den Intelligenzblaͤttern.
daß jeder ſeine anhabende Anſprachen ex quocunque
capite,
oder ſie haben Namen wie ſie wollen, zum Pro-
tocoll anzugeben, und die allenfalls in Haͤnden habende
Siegel und Briefe in originali produciren, fortan
ſeine Forderungen rechtserforderlich beweiſen ſolle.


Die Worte,
daß jeder ſeine Forderungen angeben und erweiſen ſolle,
reichen allein zu, und in den mehrſten Faͤllen iſt auch die
Warnung,
daß den nicht erſcheinenden ein ewiges Stillſchweigen
eingebunden, oder dieſelben pro conſentientibus gehal-
ten werden ſollen,

uͤberfluͤßig, weil ſie aus der Natur der Sache fließt, und
ſich ein jeder leicht die Rechnung machen kann, worin das
rechtliche Nachtheil bey einer Ladung beſteht; in beſondern
Faͤllen aber ſagen die Worte:
bey Strafe des ewigen Stillſchweigens, oder, bey Ver-
luſt des Rechts zu widerſprechen

eben ſo viel aber kuͤrzer.


Nichts iſt aber ſchleppender und unertraͤglicher als die
Erzaͤhlung desjenigen, was der Schuldner des breitern
ſchriftlich zu vernehmen gegeben, und wie er ahndurch und
anmitt
zu Lande und Waſſer ungluͤcklich geweſen. Hier
haͤufen und verwickeln ſich oft die Verbindungswoͤrter der-
maſſen, und die Erzaͤhlung, welche der Richter nicht etwa
aus einer vorhergegangenen Unterſuchung, ſondern aus dem
Klagliede des Schuldners abſingt, wird fuͤr den Leſer ſo
langweilig; ſie nimmt dabey in einem kleinen Blatte ſo vie-
len Raum ein, daß man ſolche billig als unnuͤtzes Geſchwaͤtz
brandmarken, und auf ewig daraus verweiſen ſollte.


Findet der Richter nach einer angemeſſenen Unterſuchung,
daß der Schuldner wegen erlittener Ungluͤcksfaͤlle Mitleid
H 3ver-
[118]Die gerichtlichen Vorladungen
verdiene: ſo will ich eben nicht ſagen, daß er ſolches unan-
gefuͤhrt laſſen ſolle. Es iſt aber weit wichtiger, wenn er
ſagt:
daß der Schuldner wegen verſchiedener erlittener betraͤcht-
licher und wohl bekannter oder hinlaͤnglich beſcheinigter
Ungluͤcksfaͤlle, Nachlaß und Stilleſtand verlange,

als wenn er deſſen bloſſe Klage der Ladung einverleibt, und
jedem muthwilligen Schuldner eine oͤffentliche Standrede
haͤlt. Er muntert durch ein ſo erbauliches Gepraͤnge nur
mehrere auf, ſich des Galgens wuͤrdig zu machen, um recht
andaͤchtig zu dem Orte ihrer traurigen Beſtimmung hin-
geſungen zu werden.


Die Abſicht und der Inhalt unſer mehrſten Ladungen
iſt dieſe:
Daß ein Landbeſitzer gern unter einem Richter ſtehen;
ſeinen Glaͤubigern vor demſelben ihre voͤllige Sicherheit
zeigen, und ſie bewegen wolle, ihn doch nicht an vier
Gerichte zu zerren, und ihre eigene Sicherheit nicht durch
Gerichtsſporteln zu erſchoͤpfen; ſondern jaͤhrlich nach der
Ordnung mit demjenigen zufrieden zu ſeyn, was ſein
unterhabender Hof auf bringen kann.


Dieſe Wohlthat, welche die Natur und die geſunde Ver-
nunft, oder die Vorſorge des Geſetzgebers jedem ehrlichen
Landbeſitzer geben ſollte, dem es unmoͤglich iſt, mehr Geld
aufzubringen, als die Fruͤchte ſeines Hofes gelden moͤgen,
und der gleichwol, wenn er uͤber viermal zwanzig Thaler
an vier Gerichtern beſprochen, und in Zeit von vier Mo-
naten gewiß in doppelt ſo viel Koſten geſtuͤrzt wird, ſich
niemals retten kann, erfordert weiter nichts, als
daß der Richter ihn mit einem Generalarreſt gegen die
andere Gerichte decke, hierauf ſeine Glaͤubiger auf einen
beſtimmten Tag vor ſich fordere, um ihre Forderungen
anzu-
[119]in den Intelligenzblaͤttern.
anzugeben und zu erweiſen, ſo dann ihnen die Umſtaͤnde
und Bedingungen des Schuldners eroͤfne, und folgends
ihre Erklaͤrung daruͤber vernehme.

und dieſes kann allemal in wenigen Zeilen hinlaͤnglich ge-
ſagt werden. Der Name des Schuldners oder desjenigen
der die Ladung ſucht, der Ort des Gerichts, der Tag der
Erſcheinung, die Abſicht, wozu die Ladung erkannt wor-
den, und der Nachtheil der den Ausbleibenden zuwaͤchſt,
nebſt der Ankuͤndigung des Arreſtes, macht immer das
Weſen derſelben aus.


Andere Arten von Ladungen leiden noch eine groͤſſere
Kuͤrze; als z. E.


  • 1) In Sachen — wird auf den 25. dieſes ein Urtheil
    eroͤfnet werden.
  • 2) Es iſt uͤber das Vermoͤgen des … der Concours
    eroͤffnet; und haben deſſen Glaͤubiger ihre Forderun-
    gen am 25 dieſes zum erſtenmal bey Strafe eines
    ewigen Stillſchweigen anzugeben und zu rechtfertigen.
  • 3) Es ſoll der Verkauf des dem N zuſtaͤndigen zu N.
    belegenen und auf 100 Thaler gerichtlich gewuͤrdig-
    ten Hauſes am 25. dieſes am Gerichte hieſelbſt vor-
    genommen werden, welches ſowohl den Glaͤubigern
    als Kaufluſtigen hiemit zur Nachricht bekannt ge-
    macht wird.
  • 4) Auf Anhalten des Gutsherrn iſt uͤber den zu …
    belegenen Hof General-Arreſt erkannt, und wer-
    den deſſen Glaͤubiger einmal fuͤr alle, auf den 25.
    dieſes vorgeladen, um ſich nach vorgaͤngigen Beweis
    ihrer Forderungen, uͤber die ihnen zu thuende guͤtliche
    Vorſchlaͤge, und bey deren Verwerfung uͤber die ein-
    gegebenen Abaͤuſſerungsurſachen zu erklaͤren;

H 4Man
[120]Keine Satyren

Man wird dieſe Formeln ſo wenig einer Undeutlichkeit, als
einer Unhinlaͤnglichkeit beſchuldigen, oder doch ſolche alle-
mal leicht ſo abaͤndern koͤnnen, daß mit uͤberfluͤßigen Weit-
laͤuftigkeiten das Papier nicht verdorben, und dem Leſer der
groͤſte Eckel verurſachet werde.


Stellen Sie doch dieſes ihren Herren Landsleuten, wel-
che dergleichen Ausfertigungen zu machen haben, recht
nachdruͤcklich vor, und ſagen Sie ihnen nur in meinem Na-
men, daß alle ihre Nachbarn in Weſtphalen ſich laͤngſt hier-
in dergeſtalt gebeſſert haͤtten, daß ſie allein fuͤr Barbaren
gehalten wuͤrden, und ich ohne zu erroͤthen ihr Intelligenz-
blatt auswaͤrtig niemals anſehen konnte. Vielleicht beſſern
ſie ſich, und fangen auch an zu fuͤhlen, daß die Gerech-
tigkeit ſich gar wohl mit Vernunft und Geſchmack vereini-
gen laſſe. Ich bin wie Sie wiſſen ⁊c.



XXVIII.
Keine Satyren gegen ganze Staͤnde.

Antwort an Bibulus.*)


Sie haͤtten ſich, mein lieber Herr Bibulus, fuͤr ihre
Perſon ſo weit herabſetzen moͤgen, wie es Ihnen
gefallen haͤtte; dieſes wuͤrde Ihnen niemand uͤbel genommen
haben, wenn ſie ſich auch ein bisgen in dem Kothe gewaͤl-
zet haͤtten. Allein ihr Amt, ein Amt was der Landesherr
rechtſchaffenen und angeſehenen Maͤnnern anvertrauet, haͤt-
ten ſie ſchonen, und kein Wort von dem jetzigen Vogte
ſagen ſollen. Denn was von Ihnen ſelbſt gilt, das gilt
zum hoͤchſten noch von Einem, aber ſonſt auch von keinem
andern,
[121]gegen ganze Staͤnde.
andern, ſo viel ich auch ihrer zu kennen die Ehre habe.
Was ehedem von dem ſeligen Vogte in dieſen Blaͤttern ge-
ſchrieben, zeigt die ganze Wuͤrde, und den groſſen Werth
des Amts, welches ein Vogt hieſelbſt bekleidet, den unend-
lichen Einfluß auf das gemeine Beſte, welchen er ſich ge-
ben kann, und die hohe Achtung ſo er verdient, wenn er
ſich durch Einſicht und Redlichkeit das noͤthige Anſehn er-
wirbt. Die Abſicht des Verfaſſers, der ſich in ſeinen pa-
triotiſchen Phantaſien zu dieſem Stuͤck bekannt hat, gieng
dahin, den Dienſt zu erheben, um groſſe Maͤnner zu ver-
moͤgen, denſelben anzunehmen, und unwuͤrdige davon aus-
zuſchlieſſen. So oft derſelbe die Satyre zur Beſſerung
eines Standes gebraucht, will er durch Liebe gewinnen, und
keine Abneigung gegen ſeine Lehren erwecken. Er macht
es wie der Capitaͤin, der auch mit einem ſchlechten Unter-
officier nicht anders als mit dem Hute in der Hand ſpricht,
um Leuten, welche die Seele des Regiments ſind, Achtung
gegen ihren Stand, und durch dieſe Achtung einen Geiſt
beyzubringen, der ſich unter der Beſchimpfung verlieret.
Er ſpricht mit Ehrfurcht von dem Landmanne, wenn er
gleich einem ſchlechten Wirthe die Geiſſel fuͤhlen laͤßt; er
macht den Handwerker zum erſten Patrioten, um ihn von
der Verſuchung abzuhalten, ein ſchaͤdlicher Kraͤmer zu wer-
den, und zieht den groſſen Kaufmann allen groſſen und
kleinen Maͤnnergen vor, damit derſelbe ſich nicht durch ei-
nen Adelbrief erniedrigen, oder ſeine Tochter zu unbuͤrger-
lichen Eher bereden moͤge. Dieſes iſt, wenn Sie es be-
merkt haben, immer ſeine Manier geweſen, und er glaubt,
daß dieſes noch der einzige Weg ſey, um etwas zur allge-
meinen Beſſerung beyzutragen. Wenn die Hohen dieſer
Welt einem Pfarrer nicht mit der gehoͤrigen Achtung be-
gegnen: ſo denkt er, ihre Nachkommen werden bey dem
Vorreuter zur Beichte gehen; und wenn er von Advocaten-
H 5ſtrei-
[122]Keine Satyren
ſtreichen ſprechen hoͤret, ſo fuͤrchtet er, daß ſich mit der
Zeit kein redlicher und groſſer Mann in einem Stand bege-
ben werde, welchem man auf eine ſo unwuͤrdige Art be-
gegnet. Er fuͤrchtet, Eigenthum und Freyheit ſey in der
aͤuſſerſten Gefahr, wenn ihre Vertheidigung Maͤnnern ob-
liegt, die einen ſolchen Vorwurf zu erleiden haben. Man
haſſe, man verfolge, man geiſſele den ſchlechten Kerl, ſagt
er, aber man ehre ſeinen Stand, nach dem Maaße, wie
er dem gemeinen Weſen noͤthig und nuͤtzlich iſt. Ein roͤmi-
ſcher Buͤrger ſtand nicht unter der Ruthe, und einer glei-
chen Ehre genieſſen in allen wohlgeordneten Staaten ver-
ſchiedene Staͤnde. Man entſetzt ſie erſt ihres Standes,
und peitſchet ſie hernach wie andre ſchlechte Miſſethaͤter.


Dieſes muß die Politik der Satyre ſeyn, wenn ſie als
ein oͤffentliches Strafamt gedultet werden ſoll; und Sie Herr
Bibulus, da ſie ſelbſt, obgleich unverdient, die Ehre ha-
ben, ein Vogt zu ſeyn, haͤtten ſolche nicht auſſer Augen ſe-
tzen ſollen. Es iſt ein ſchlechter Vogel, ſagten unſre deut-
ſchen Vorfahren, der ſein eignes Neſt verunreiniget; und
eben das gilt von der Entehrung ſeines eignen Standes.
Ich kenne einen Vogt im Lande, der ſein Hauß brennen
ließ, um die Rettungsanſtalten fuͤr das Dorf anzufuͤhren;
ich kenne einen andern, der die ihm fuͤr eine Kornausmeſ-
ſung bey der theuren Zeit zugebilligte Diaͤten verbat, weil
er das Geſchaͤfte zu ſeiner Pflicht rechnete; ich koͤnnte Ih-
nen einen nennen, der in ſeiner Vogtey keinen Streit zu
einem gerichtlichen Proceß kommen laͤßt, der ſeine Leute
in der ſtrengſten Zucht zu halten weiß, ohne ihre Liebe zu
verliehren, der nie eine Erinnerung abgewartet hat, um
ſeine Dienſtpflichten zu erfuͤllen, und der zu ſeinem Vergnuͤ-
gen ſeine ganze Vogtey mit den beſten Obſtbaͤumen unent-
geldlich verſorgt hat. Maͤnner von dieſer Art verdienen
nicht,
[123]gegenganze Staͤnde.
nicht, daß man ihren Stand angreife, und ſie dadurch
mit ſchlechtern vermiſche.


Die Gefahr, welche aus einer ſolchen Vermiſchung ent-
ſteht, iſt fuͤrchterlicher, wie Sie zu glauben ſcheinen. In
dem vorigen Kriege hoͤrte ein engliſcher Generalcommiſſarius,
ich will den redlichen Mann nennen, er hieß Elliot, daß ein
allgemeiner Verdacht der Betriegerey die Maͤnner ſeines
Standes druͤckte; ſogleich faßte er ſeinen Entſchluß, legte
ſein Amt nieder, und gieng nach England zuruͤck. Und
vielleicht hat die Krone durch ſeinen Abgang eine Million
mehr verlohren; vielleicht ſind hundert ehrliche Leute da-
durch um ihre Bezahlung gekommen, und gewiß iſt das Ge-
miſche von den damaligen Commiſſarien dadurch immer
ſchlechter geworden, daß ein ſolcher Mann ſich demſelben
entzog. Wie viel Muͤhe hat die Wundarzeney gehabt,
Genies und Maͤnner von Einſichten an ſich zu ziehen, weil
ſie mit der Baderey in Deutſchland vermiſcht und verach-
tet wurde! Und wie elend ſahe es um die Ehre des Militair-
ſtandes aus, als man noch ſagte, daß blos ungerathene
Soͤhne dem Kalbfelle nachliefen? Wer geht noch jetzt un-
ter ein Regiment, das im uͤblen Rufe ſteht? Wer giebt ſein
gutes Kind in eine Bauerſchaft die man diebiſch heißt?


Dieſes ſind aber die natuͤrlichen Folgen aller Satyren,
welche einen ganzen Stand, ein Regiment oder ein Dorf
angreifen; und wie ſoll man hernach Leute, denen man die
Reitzung der Ehre, die Achtung gegen ihren Dienſt, und
die hieraus flieſſende Empfindung aus dem Herzen ſchlaͤgt,
in Ordnung halten?


Derjenige Staat iſt gluͤcklich, der viele rechtſchaffene,
geliebte und geehrte Diener hat. Um dieſe zu erhalten ſpart
er gern das Geld, wozu der geringere Theil der Menſchen
das mehrſte auf bringen muß, und belohnt ſie mit der Ehre,
die
[124]Keine Satyren uͤber ganze Staͤnde.
die den Steuerbaren nichts koſtet. Allein durch jene Art
von Angriffen, welche einem ganzen Stande die Fehler
ſeiner Mitglieder, ſollten dieſelbigen auch noch ſo gegruͤn-
det ſeyn, aufruͤcken, verſchuͤttet man dieſe edle Quelle;
man zwingt diejenigen, die einen verachteten Stand ergrei-
fen, ſich wegen ihrer Verachtung aufs theureſte ſchadlos
zu halten, und nur blos um ſchnoͤden Gewinnſt zu dienen.
Man ſetzt den Staat in die Nothwendigkeit, ſcharfe Mittel
zu ergreifen, und ſich den Vorwurf eines deſpotiſchen Ver-
fahrens zuzuziehen; man faͤhrt bey dem allen mit hartmaͤu-
ligt gemachten Pferden ſchlechter wie mit muthigen und em-
pfindlichen, und beladet ſich endlich ſelbſt mit allen den
uͤblen Folgen, die aus dem daraus entſtehenden Verder-
ben Stromweiſe flieſſen. Die moraliſchen Staͤnde der
Menſchen, als den Stand der Geitzigen, der Verſchwen-
deriſchen und anderer Laſterhaften kann man immerhin an-
greifen, aber nicht den buͤrgerlichen.


Ohnfehlbar hatten Sie die gute Abſicht zu beſſern.
Urtheilen Sie aber jetzt ſeldſt, ob Sie gluͤcklich in der Wahl
der Mittel geweſen, da Sie den jetzigen Vogt, der eben
ſo gut, wie in benachbarten Landen, Amtmann heiſſen
koͤnnte, wenn man hier nicht mit der Ehre oͤkonomiſcher
umgehen muͤſte, von derjenigen Seite gezeigt haben, wel-
che der Ihrige Preiß giebt. Urtheilen Sie ſelbſt, ob nicht
auch ſo gar in dem Falle, da der groͤſte Theil, eben ſo
ſchlecht waͤre, ihr Verfahren ſo ungerecht als unpolitiſch
zu nennen ſey.



XXIX.
[125]

XXIX.
Ueber das Spruͤchwort:
wer es nicht noͤthig hat, der diene nicht.


Ich ſollte nicht dienen, weil ich es nicht noͤthig haͤtte?
Nein, mein Freund! dieſer Rath iſt uͤbereilt. Ein
Hof, deſſen ganze Dienerſchaft blos von Beſoldungen lebte,
die ohne Dienſt nicht das liebe Brod haͤtte, wuͤrde fuͤr den
Fuͤrſten, wie fuͤr das Land, woruͤber er regierte, eine ſehr
hungrige Geſtalt haben. Der Fuͤrſt kann allemal eine ſehr
ſchmeichelhafte Vermuthung fuͤr ſich daraus ziehen, wenn
er viele Diener hat, die auch ohne ihn leben koͤnnen, und
ich wollte wohl ſagen, daß er ſich auf dasjenige, was dieſe
ihm rathen und ſagen, am meiſten verlaſſen koͤnne. Wer
wollte nun aber ſo grauſam ſeyn ihm dieſe Sicherheit und
dieſe ſuͤſſe Belohnung zu entziehen? Wuͤrde das aber nicht
geſchehen, wenn Ihr Rath: Man ſollte nicht dienen, wenn
man es nicht noͤthig habe, gegruͤndet waͤre. Fuͤr ein Land
iſt es auch immer eine groſſe Beruhigung, wenn es ſieht,
das Maͤnner im Dienſte ſind, die nicht blos fuͤr Brod,
ſondern aus Liebe fuͤr ihr Vaterland und fuͤr denjenigen,
der es groß und gluͤcklich macht, dienen. Freylich kann
auch der ehrlichſte Mann fuͤrs Brod dienen. Allein ſeine
Lage iſt immer mißlich, und die Verſuchung, worin er
beſtaͤndig leben muß, faſt zu groß, um nicht wenigſtens
einmal zu wanken. Auch der beſte Fuͤrſt kann einen graͤm-
lichen Augenblick haben, wo er gegen einen ſolchen Bedien-
ten ungerecht wird, und ihn auf dem Wege der Wahrheit
ſchuͤchtern macht. Dieſes wird ihm aber nicht ſo leicht mit
einem unabhaͤngigen freyen Mann wiederfahren. Auch
in dem dunkelſten Gefuͤhl, und in der Hitze der Leidenſchaft,
wird
[126]Alſo ſoll man das Studiren
wird die Erinnerung wuͤrken, daß er dieſem dasjenige nicht
bieten duͤrfe, was er jenem zu bieten wagt. Alſo, mein
Wertheſter, muß er zu ſeinem und des Landes Beſten auch
Diener haben, die ihm nicht blos aus Noth ergeben ſind;
und ich wuͤrde mein Gewiſſen verletzen, wenn ich mich der
Verpflichtung, die hieraus hervorgeht, entzoͤge. Dieſes
ſagt mir:


Hic ſit alterius qui ſuus eſſe poteſt. ()


XXX.
Alſo ſoll man das Studiern nicht
verbieten.


Ey, zum Henker, mit den verzweifelten Studiren; Alle
meine Unterthanen wollen ihre Kinder ſtudiren laſſen,
und wann das ſo fort geht, ſo wird der Acker noch zuletzt
mit Federn gepfluͤgt werden. Hoͤre er, mein lieber Canz-
ler, ſetze er mir gleich eine Verordnung auf, daß kuͤnftig
niemand ohne meine Erlaubniß ſtudiren ſoll; die Rectoren
und Magiſtern ſollen mir keinen Burſchen annehmen, ohne
daß er nicht einen ſchriftlichen von mir ſelbſt unterſchriebe-
nen Paß vorzeigen kann, und dieſen will ich nie ertheilen,
als auf die genaueſte Unterſuchung, ob der Knabe zum ſtu-
diren Genie und Vermoͤgen habe. Wer kein Genie hat,
thut beſſer, daß er den Bauern die Schweine huͤtet, und
ohne Vermoͤgen iſt jetzt nichts rechts zu lernen, und nichts
auszufuͤhren. Ich laſſe es noch gelten, daß es mit Kin-
dern von guten Leuten, die Mittel haben, oder doch nicht
ſo ſchlechterdings in die Klaſſe der Tagloͤhner herabgeſetzet
werden koͤnnen, ſo genau nicht genommen werde, wiewol
ſie auch eine Muſkete auf die Schulter nehmen koͤnnten;
allein
[127]nicht verbieten.
allein daß jeder … haͤtte ich bald geſagt, aus ſeinem Jun-
gen einen Doktor oder Magiſter haben will, das iſt gar
nicht mehr auszuhalten. Das ganze Publicum leidet dar-
unter, und meine Officier klagen mir taͤglich, daß ſie kei-
ne Recruten mehr bekommen koͤnnen. Verſteht er mich
alſo? eine Verordnung, wodurch alles Studiren, ohne mei-
ne Erlaubniß, ſchlechterdings verboten wird …


Wie Ihro Durchlaucht befehlen, erwiederte der Canz-
ler; aber Hoͤchſtdieſelben haben mir geſtern noch geklagt,
daß ſie unter allen ihren Officieren keinen einzigen haͤtten,
dem ſie bey dem naͤchſten Marſch das Hauptcommando ih-
rer Truppen anvertrauen koͤnnten. Wenn nun unter vier-
hundert Officieren, von denen man doch mit Grunde ſa-
gen kann, daß es der Kern ihres Landes ſey, ſich kein ein-
ziger findet, dem ein Hauptwerk anvertrauet werden koͤnne:
wie wollen Hoͤchſtdieſelbe denn gerade fordern, daß aus
den wenigen, welchen Sie die Erlaubniß zum Studiren er-
theilen wollen, die Leute werden ſollen, die der Staat
gebraucht? O es muͤſſen hundert und vielleicht tauſend
das Klimpern lernen, ehe ein einziger Virtuoſe entſtehet,
und unter zehntauſend Rechtsgelehrten iſt noch kein Me-
vius, kein Strube.


Mit ſeinem Mevius … aber geſtehe er mir nur, daß
der Mißbrauch mit dem vielen Studiren offenbar ſey, und
daß viele Eltern beſſer thaͤten, ihren Kindern ein Handwerk
lernen zu laſſen …


O dieſes geſtehe ich unbedenklich. Aber das Mittel
dieſen Mißbrauch zu heben, iſt kein Verbot, deſſen Aus-
fuͤhrung zu den groͤſten Ungerechtigkeiten fuͤhren wuͤrde.
Ueberhaupt wuͤrde dieſes Verbot die Leute vom geringen
Stande am erſten treffen, und ich getraue mir doch zu ſa-
gen, daß aus dieſem Stande die dauerhafteſten, fleißigſten
und
[128]Alſo ſoll man das Studiren
und arbeitſamſten Maͤnner gezogen werden. Aus den ſo-
genannten Kindern von guter Familie, kommen jetzt faſt
nichts als Zaͤrtlinge oder Hypochondriſten, die, wenn es
zum Hauptwerke kommt, gemeiniglich in der Cur begrif-
fen ſind, und Ew. Durchlaucht moͤgen ſicher glauben, daß
in der Welt unendlich mehr durch Dauer, Fleiß und Ar-
beit, als durch das ſogenannte Genie bewuͤrket werde.
Hiernaͤchſt koͤnnen Hoͤchſtdieſelbe nicht ſelbſt unterſuchen, ob
dieſer oder jener Knabe Anlage zum Studiren habe; und
wenn dieſe Unterſuchung einem Bedienten uͤberlaſſen wird,
ſo kann man ſicher vorausſetzen, daß er, wenn auch gleich
Geld und Gaben nichts uͤber ihn vermoͤgen, dennoch ge-
gen Freundſchaften und Verbindungen nicht unempfindlich
ſeyn werde. Und wie weit hat mancher eiſerner Kopf, der
in der Jugend wenig verſprach, den lebhaften, witzigen
und geiſtvollen Knaben, von dem man alles hoffte, hinter
ſich zuruͤck gelaſſen? wie viele Keime entwickeln ſich erſt
ſpaͤt? und wie viele Beyſpiele koͤnnte ich anfuͤhren, daß
aus launigten, eigenwilligen, und dem Anſchein nach un-
gelehrigen Koͤpfen, gerade die Boͤcke geworden ſind, worauf
das ganze Geruͤſte einer Staatsverfaſſung geruhet hat*)?


Aber ſo ſage er mir doch nur ein Mittel …


Meiner Meynung nach, gnaͤdigſter Herr, liegt der
Fehler darinn, daß die wenigſten Eltern mit ihren Kindern
bis ins vierzehnte Jahr was anzufangen wiſſen, und ſie in
die lateiniſche Schule ſchicken, um ſie nur vom Muͤßiggan-
ge abzuhalten. Sie ſehen die Schulen wie einen Nothſtall
an,
[129]nicht verbieten.
an, worinn ſie die wilden Knaben alle Tage ſechs bis
acht Stunden ſicher aufſtallen koͤnnen, und denken, er hoͤrt
doch wohl noch eine gute Lehre, oder lernt ein Wort Latein,
was ihm doch immer minder ſchadet, als alles, was er
wie ein Gaſſenlauſer lernen wuͤrde. Nun treten die Jahre
heran, worinn die Knaben entweder zur Handlung oder
zum Handwerk beſtimmet werden ſollen; und da haͤlt es
denn, nachdem die Umſtaͤnde ſind, bey den Eltern und
Lehrern, ſo wie bey den jungen Studenten ſchwer, ihn aus
der Geſellſchaft ſeiner lateiniſchen Freunde in eine andere,
oder in eine Werkſiatt zu bringen. Dieſer uͤblen Folge
kann nicht anders als durch Realſchulen, deren Einrichtung
Ihnen bekannt iſt, vorgebeugt werden, und ich bin verſi-
chert, die Haͤlfte von den Kindern, welche von den Eltern
in den lateiniſchen Nothſtall geſchickt werden, werden mit
Freuden hieher gehen, und nachdem ſie die Vorerkenntniſſe
von andrer Art erhalten haben, ſich nachwaͤrts ohne Zwang
zu nuͤtzlichen Kuͤnſten und Handwerken beſtimmen, beſon-
ders wenn Ew. Durchlaucht dieſe Realſchulen Dero gnaͤ-
digſten Aufmerkſamkeit wuͤrdigen: und in denſelben nicht
blos den Kaufmann und Handwerker, ſondern auch, ſo wie
zu Berlin geſchieht, einen tuͤchtigen Officier, und einen ge-
ſchickten Cammerrath bilden laſſen wollten.


Nun mein lieber Canzler, ſo mache er die Anſtalt da
zu, und laſſe das Verbot erſt ruhen.


Ich werde ein Projekt entwerfen … (abgehend fuͤr
ſich) O, wenn ſich doch alles durch Befehle zwingen oder
durch Projecte ausfuͤhren lieſſe!



Moͤſ. patr. Phant.III.Th.Alſo
[130]Alſo ſollte jeder Gelehrter

XXXI.
Alſo ſollte jeder Gelehrter ein Hand-
werk lernen.


Die Italiaͤner ſprechen mit ſolchen Geſchmack und mit
einer ſo bedaͤchtlichen Mine von der groſſen Kunſt,
Nichts zu thun,
und wie noͤthig ſolche beſonders jedem
mit ganzer Seele arbeitenden Menſchen ſey, daß ich meine
wenige Uebung in derſelben mehrmals beklaget habe. Wahr-
ſcheinlich iſt es, wo nicht richtig, daß eine beſtaͤndige An-
ſtrengung der Seele, und zwar eine beſtaͤndige Anſtrengung
derſelben, nach einer gewiſſen jedem Menſchen eigenen Lieb-
lingsſeite, zuletzt eine Art von uͤblem Hange nach ſich zie-
hen muͤſſe; und es iſt vielleicht ein Hauptzug in dem Natio-
nalcharakter der deutſchen Gelehrten, daß ſie durch ihre
groſſe Unerfahrenheit in der Kunſt nichts zu thun, und
durch die immer gleiche Spannung ihrer Seele nach einer
beſtimmten Seite, zuletzt ganz einſeitig, oder welches ei-
nerley iſt, Pedanten werden. Man ſieht es ihnen eben ſo
gut an, daß ſie Gelehrte ſind, wie man es einem Hand-
werker anſieht, daß er lange mit untergeſchlagenen Beinen
auf dem Tiſche geſeſſen habe. Sie zeigen ſich links oder
rechts, nachdem der Hang ihrer Seele auf dieſe oder jene
Seite gewoͤhnt iſt. Gleichwohl ſollte die wahre Geſundheit
der Seele und des Koͤrpers darinn beſtehen, daß ihre bey-
derſeitigen Kraͤfte ein gewiſſes Ebenmaaß, und zu allem in
den ordentlichen Beruf eines jeden Menſchen einſchlagenden
Geſchaͤften, eine gleich vollkommene Faͤhigkeit behielten.


Ein Philoſoph, mit welchem ich mich einsmals hier-
uͤber unterredete, wandte mir zwar ein, daß eben dieſer
dem Anſchein nach fehlerhafte Hang nothwendig zu einem
groſſen
[131]ein Handwerk lernen.
einem groſſen Manne erfordert wuͤrde: und daß derſelbe,
wenn er ſtark und lebhaft wuͤrde, den gluͤcklichen Namen
des Enthuſiasmus verdiente; er ſagte ferner, daß von hun-
dert Menſchen immer einer ein Maͤrtyrer ſeiner Kunſt
werden muͤſte, um die uͤbrigen ſo vielmehr aufzuklaͤren,
und daß die Italiaͤner eben ſo gut Pedanten in der Mu-
ſik und Mahlerey haͤtten, wie wir Deutſchen in andern
Wiſſenſchaften, nur waͤren wir nach dem Unterſcheide un-
ſerer Gegenſtaͤnde traurige und ernſthafte, die Italiaͤner
aber luſtige Pedanten.


Allein wenn ich ihm gleich hierin nicht voͤllig Unrecht
geben konnte: ſo ſchien mir doch immer die Kunſt, nichts
zu thun, und die Seele dann und wann von ihrem ſtarken
Hange auf die entgegen geſetzte Seite zu wenden, eine be-
neidenswerthe Kunſt. Ruhe und Schlaf thun zwar zu die-
ſer Abſicht etwas; aber ſie reichen nicht hin, und der Schlum-
mer eines Gelehrten iſt ſo erquickend nicht, wie der Schlaf
eines Tageloͤhners. Ruht er mit dem Koͤrper ohne zu
ſchlafen, ſo verfolgen ihn ſeine Gedanken, und dieſe greifen
ihn oft ſtaͤrker an, als Leſen und Schreiben. Fuͤr ihn iſt
alſo keine ſolche Ruhe, wie fuͤr andre, die mit ihrem Koͤr-
per arbeiten, und wenn ſie ſich auf einen weichen Polſter
oder auch nur auf einen Stein ſetzen, einer noͤthigen Erho-
lung genieſſen.


Ich hoͤrte einmal, daß eine Braut ihren Geliebten ei-
nen verliebten Pedanten nennete, weil er von nichts als
Liebe ſprach, und auſſer ihr nichts ſahe und nichts hoͤrte.
Aber wie fange ich es an, antwortete er; um nur einen
Augenblick nicht zu lieben? Dieſes ſchien mir mit der Fra-
ge eines Gelehrten, wie fange ich es an, um Nichts zu
thun; ſo ſehr uͤbereinzukommen, daß ich recht aufmerkſam
darauf wurde, was ſie ihm auf ſeine Frage erwiedern wuͤr-
de. Allein die Schoͤne zog ſich mit einer Wendung her-
J 2aus,
[132]Alſo ſollte jeder Gelehrte
aus, und lenkte auf den Vorwurf ein, wie die Zeit bald
kommen duͤrfte, worinn er mehr als eine Antwort auf ſei-
he Frage finden wuͤrde. Dieſe Zeit kommt aber bey den
Gelehrten nicht, ihr Hang nimmt vielmehr mit der Ge-
wohnheit und dem Alter zu, und ihre Ungeſchicktheit ſich
auf andre Art zu vergnuͤgen, macht ihnen ihre Fehler zur
Beduͤrfniß.


Die Kunſt nichts zu thun, mag indeſſen auf zweyerley
Art ausgeuͤbet werden, als einmal auf dieſe, daß man
wuͤrklich die Seele voͤllig ruhen laͤßt, und ſich in dem Lau-
newinkel (boudoit) einſchließt: und dann auch auf dieſe,
daß man ſich entweder in Geſellſchaften oder auch durch ei-
ne koͤrperliche Bewegung zerſtreuet, wobey die Seele feyern
kann. Die erſte Art iſt, meiner Meynung nach, die ſchwer-
ſte; denn der Mathematiker wird auch im Launewinkel das
Rechnen nicht laſſen, und die andere hat die Erfahrung
nicht fuͤr ſich, indem die mehrſten jedes Vergnuͤgen, was
ihrer Hauptneigung keine Nahrung bietet, ungeſchmackt
finden. Wie manchen Gelehrten ſieht man in Geſellſchaf-
ten vor langer Weile erblaſſen, und wenn er ſolche verlaͤßt,
gleich einem befreyeten Sklaven ſeinen Buͤchern zufliegen?


Indeſſen erkennt man es doch immer fuͤr theoretiſch rich-
tig, daß es ein Gluͤck fuͤr die Geſundheit der wuͤrdigſten
Maͤnner ſeyn wuͤrde, wenn ſie einige Stunden des Tages, mit
Nichts zubringen koͤnnten. Dieſes Nichts iſt aber nur relativ;
und fuͤr einen Gelehrten iſt Holzſaͤgen Nichtsthun; ſo wie um-
gekehrt fuͤr einen Holzhacker das Denken eine Erholung iſt.
Ein ſolches Gluͤck koͤnnte man ihm verſchaffen, wenn wir die
Erziehung junger Gelehrte dahin einrichteten, daß jeden zu-
gleich die Faͤhigkeit zu einer koͤrperlichen Beſchaͤftigung, und
mit dieſer auch die Neigung dazu beygebracht wuͤrde. Eine
jede Kunſt, worinn man es zu einiger Geſchicklichkeit ge-
bracht
[133]ein Handwerk lernen.
bracht hat, hat ihre Reitzung; und eine ſolche Reitzung al-
lein iſt vermoͤgend, den einſeitigen Menſchen auf die andre
Seite zuruͤck zu ziehen.


Der allgemeine Grund, der immer mehr und mehr
uͤberhand nehmenden Hypochondrie liegt wahrſcheinlich dar-
in, daß wir nicht in dem Schweiſſe unſers Angeſichts unſer
Brod erwerben. Wenn man ſieht, wie viel ein Tageloͤh-
ntr Schweiß vergießt, und wie wenig nahrhaftes er dage-
gen genießt; ſo faͤllt einem leicht die Frage ein, wie ein
ſtillſitzender Mann bey wenigem Schweiſſe und ſtaͤrkerer
Nahrung geſund ſeyn koͤnne? Die Einrichtung unſers Koͤr-
pers beweißt, daß der Geiſt aller Nahrung in die Hoͤhe,
und die Haͤfen nach unten gehen ſollen; es iſt offenbar, daß
der Nahrungsgeiſt im Steigen immer mehr und mehr gelaͤu-
tert, und blos das lauterſte oder das rectificatiſſimum
dem Gehirn zu ſtatten kommen ſoll. Dieſe Stuffenweiſe
Laͤuterung erfolgt aber blos durch eine angemeſſeue koͤrper-
liche Arbeit. Und wie kann da, wo man immer auf dem
Stuhle verdauet, und durch eine ſtarke Anſtrengung der
Seele, die rohen Saͤfte nach dem Gehirn zieht, dieſe Laͤu-
terung gehoͤrig geſchehen?


Zu gehen, um zu gehen, zu reiten, um zu reiten, iſt
kein Mittel, was einen einſeitigen Mann zurecht bringt.
Die Noth wird ihm jenes zwar eine Zeitlang empfehlen, der
uͤble Haug zu einer gewohnten und zur Beduͤrfniß gewor-
denen Arbeit ihn aber bald wieder zuruͤck ziehen. Hat er
aber irgend eine koͤrperliche Arbeit lieb gewonnen; und die-
ſes wird allemal der Fall ſeyn, wenn er es darin zu eini-
ger Vollkommenheit gebracht hat: ſo bewegt er ſich nicht
blos, um ſich zu bewegen, ſondern um zu arbeiten, und
zwar an einer angenehmen Sache, die ihre Reitzungen dem
uͤblen Hange maͤchtig entgegen ſetzt, und ihn dauerhaft an
J 3ſich
[134]Die Erziehung
ſich zieht. Die Gelehrten des vorigen Jahrhunderts hatten
noch Ackerbau, aber in dieſem hat die Schreiberey ſo uͤber-
hand genommen, daß ſie von dem Morgen bis in den
Abend, wie angeſchmiedet auf einer Stelle ſitzen, und mit
der Feder rudern muͤſſen.


Was kann alſo fuͤr die kuͤnftige Nachkommenſchaft heil-
ſamer und noͤthiger ſeyn, als allen Kindern, die wir zum
Studiren verdammen, zugleich eine Kunſt, welche eine
koͤrperliche Uebung erfordert, lernen zu laſſen, und ihnen
dadurch fruͤh eine Neigung zu dem einzigen Mittel, ihre
Geſundheit zu erhalten, beyzubringen?



XXXII.
Die Erziehung mag wohl ſclaviſch ſeyn.


Es iſt wunderbar, wie weit uns oft eine glaͤnzende Theo-
rie verfuͤhren kann. Wenn einer das Laufen lernen
ſoll: ſo laͤßt man ihn in ſchweren Schuen und im gepfluͤgten
Lande laufen, dagegen aber ſollen Kinder, woraus man
groſſe Maͤnner ziehen will, alles ſpielend faſſen. Es wird
ihnen alles ſo ſuͤß und ſo leicht gemacht, ſie durchfliegen den
Kreis aller Wiſſenſchaften, oder die ſo beliebt gewordenen
Encyclopedien, ſo fruͤh und ſo kuͤhn, man bewundert die
Wiſſenſchaften, welche die Kinder auf ihren Rollwagen
fuͤhren, ſo ausnehmend, daß man denken ſollte, der roͤ-
miſche Redner, welcher ſeine Bruſt erſt lange Jahr unter
einer bleyernen Platte arbeiten ließ, um ſie hernach mit de-
ſto mehrerer Macht heben zu koͤnnen, ſey ein groſſer Narr
geweſen, und haͤtte beſſer gethan, die Wiſſenſchaft in ei-
nem Calender zu ſtudiren. Was kommt aber bey dieſen
unſerm ſpielenden Lernen heraus? Suͤßes Gewaͤſche, leichte
Phan-
[135]mag wohl ſclaviſch ſeyn.
Phantaſien, und ein leerer Dunſt. Der Geiſt bleibt
ſchwach, der Kopf hat weder Macht noch Dauer, und
alles ſieht ſo hungrig aus, wie die heiſſe Liebe eines ver-
lebten Greiſes. Der junge Menſch, der ſich nun als ein
groſſer Mann zeigen ſoll, gleicht einem Kaufmann, wel-
cher eine Handlung durch die ganze Welt anfangen will,
ohne irgend ein Kapital oder auch nur einmal einen maͤßi-
gen Vorrath von Producten zu haben.


Ganz anders verhaͤlt es ſich mit dem Knaben, der, ſo
viel es ohne Nachtheil ſeiner Leibes- und Seelenkraͤfte ge-
ſchehen koͤnnen, von Jugend auf zu einem eiſernen Fleiſſe,
und zur Einſammlung nuͤtzlicher Wahrheiten angeſtrenget
worden. In dem Augenblick da er anfaͤngt ſich zu zeigen,
hat er einen ganzen Vorrath von nuͤtzlichen Wahrheiten in
ſeiner Macht, und die Gewohnheit hat ihm eine zweyte Na-
tur zur Arbeit gegeben. Eine Wahrheit zeugt die andre,
und die Maſſe derſelben wuchert in ſeiner Seele mit fort-
gehendem Gluͤcke. Die ſchoͤnen Wiſſenſchaften machen bey
ihm ihr Gluͤck, wie Mahler und Bildhauer bey einem rei-
chen Bauherrn, der alles, was zu dem praͤchtigſten Ge-
baͤude erfordert wird, ſelbſt beſitzt und reichlich bezahlen
kann; anſtatt daß dieſe verſchoͤnerten Kuͤnſte jenen jungen
Herrn, weiter zu nichts dienen, als Puppen zu ſchnitzen.


Einen ſolchen Reichthum von Wahrheiten und Kennt-
niſſen, wird man aber nie ſpielend, und auf die Art er-
langen, wie viele Kinder jetzt erzogen werden. Die Vor-
ſicht hat den Menſchen nichts ohne groſſe Arbeit zugedacht,
und wenn das Kind auch hundertmal weint, und mit Stra-
fen zum Lernen und zu Fertigkeiten gezwungen werden muß,
ſo ſind dieſes wohlthaͤtige Strafen, und die Thraͤnen wird
er ſeinen Lehrern einſt verdanken.


J 4Woher
[136]Waͤre nicht auch ein Inſtitut

Woher kommt aber eigentlich dieſes Verderben? Von
dem Ton unſerer Zeiten, nach welchem der Lehrer ſich ent-
weder einen groben Pedanten ſchelten, oder mit dem Kinde
ſaͤuberlich verfahren muß. Da iſt kein groſſer Herr, keine
zaͤrtliche Mutter, welche nicht dieſen Ton fuͤhret, und der
Lehrer, der endlich auch die Kunſt zu ſchmeicheln lernt,
fuͤhrt ſeinen Untergebenen ſpielend zu der Geſchicklichkeit von
allen Dingen witzig zu ſprechen, und kein einziges aus dem
Grunde zu verſtehen; er laͤßt ihn auf einem gewaͤchſten Bo-
deu tanzen, und bekuͤmmert ſich nicht darum, ob er der-
einſt auf einem tiefen Steinpflaſter den Hals brechen werde!



XXXIII.
Sollte nicht auch ein Inſtitut fuͤr die
Handwerkspurſchen noͤthig ſeyn.


Ach mein theureſter Herr! ich haͤtte wohl eine recht groſſe
Bitte an Sie, oder an das Hochgeehrteſte Publicum;
ich habe nur einen einzigen Sohn, und dieſen habe ich vor
14 Tagen einem Schneidermeiſter uͤbergeben, damit er das
Handwerk erlerne. Nun iſt der Junge ein bisgen lang
aufgeſchoſſen, und es faͤllt ihm ſo entſetzlich ſchwer, mit
untergeſchlagenen Beinen auf dem Tiſche zu ſitzen; ſein noch
ungebeugter Nacken ſchmerzt ihn ſo abſcheulich von dem
beſtaͤndigen Buͤcken, daß ich beſorge, er verlieret ſeine ganze
Geſundheit in den Lehrjahren, oder er bekoͤmmt doch, wenn
er ſolche uͤberwindet, einen ſiechen Koͤrper. Sollte denn
nicht ein Mittel ſeyn, die Erziehung der Schneider ſo ein-
zurichten, daß ſie ihre Wiſſenſchaft ohne Nachtheil des Koͤr-
pers erlangen koͤnnten? und ſollte ſich nicht die ganze menſch-
liche Geſellſchaft zu einer Erziehungsanſtalt fuͤr die Hand-
werker vereinigen, wodurch dieſem Uebel abgeholfen wuͤrde?


Ich
[137]fuͤr die Handwerkspurſchen noͤthig?

Ich hoͤre, das Lernen und Studiren wird jetzt ſo leicht
gemacht, man ſieht dabey ſo viel auf die Erhaltung eines
geſunden Koͤrpers; es wird ſo ernſtlich dafuͤr geſorgt, daß
die Kinder in gewiſſen Stunden auch ſpielen muͤſſen, und
die ganze menſchliche Geſellſchaft ſcheinet dieſe Bemuͤhungen
auf einmal ſo groß zu finden, daß ich mir ſchmeichle die
Reihe der Aufmerkſamkeit werde auch endlich uns arme
Handwerker treffen, und der Mann mit dem eiſernen Zep-
ter, welcher uns allen Acker und Gartenbau entzogen, und
das grauſame Geſetz gegeben hat, daß ein Handwerksmann
ohne alle Abwechſelung ſeinem Geſchaͤfte obliegen ſoll, von
ſeinem Throne verſtoſſen werden.


Die Handwerksburſchen machen gewiß einen betraͤcht-
lichern Theil des menſchlichen Geſchlechts aus, als die
ſtudirenden Geſellen; und ich getraue mir zu ſagen, daß
die Welt jene noͤthiger als dieſe habe. Wie kann man es
dann mit gelaſſenen Augen auſehen, daß ſo viele huͤbſche
junge Leute aus den Stuben der Perukenmacher eine fruͤhe
Schwindſucht holen? oder in den Werkſtaͤtten krumm zu-
ſammen wachſen? und womit will die Verſchwendung ſo
groſſe Opfer vor Gott rechtfertigen? Sollte nicht jeder
Menſch ſo erzogen werden, daß er ſeine voͤllige Geſundheit
behielte? und ſollten ſich nicht alle Menſchenfreunde verei-
einigen, um einen ſolchem Uebel, was die Menſchheit in ih-
ren edelſten Theilen angreift, ein maͤchtiges Ziel zu ſetzen?


Ich erinnere mich zwar wohl, daß ſie mir ſchon ein-
mahl geantwortet haben, der Menſch ſey blos zum Saͤen
und Pflanzen erſchaffen; dieſes ſey ſein natuͤrlicher Beruf,
wobey er allein voͤllig geſund und ſtark bliebe; der Stand
aller gelehrten und ungelehrten Stubenſitzer ſey eben der-
jenige nicht, welchen man zur Zucht verlangte, und man
koͤnnte das Ackerbauende Geſchlecht immer mit einer klei-
J 5nen
[138]Waͤre nicht auch ein Inſtitut
nen Abgift fuͤr denſelben beſchweren; es liege alſo ſo viel
daran nicht, wenn es auch kruͤppelicht wuͤrde, oder im drit-
ten oder vierten Gliede ausgienge; jener wuͤrde ſich in dem
Verhaͤltniſſe vermehren, als dieſer ihm Raum machte; es
wuͤrden ſo viel weniger geſunde Kinder auf dem Lande ge-
bohren werden, wenn der Stand der Stubenſitzer eine eben
ſo dauerhafte Nachkommenſchaft als die Feldarbeiter erziel-
te; und ſo komme es endlich auf eines hinaus, ob die Hand-
werker ſich geſund oder krank arbeiteten.


Ja ich erinnere mich, daß Sie einmal den Einfall hat-
ten, keine andere als Verſchnittene zu irgend einem Amte
zu laſſen; daß Sie ſagten: auf dieſe Weiſe koͤnnten keine
vornehme Geſchlechter dem Staate zur Laſt fallen, und die
Soͤhne eines ehrbaren Landmannes wuͤrden eben ſo nahe
zum Amte eines Großoeziers als die Soͤhne eines Baſſa
ſeyn; daß ſie glaubten, die gemeine Freyheit koͤnne ſchlech-
terdings ohne eine ſolche nothwendige Aufopferung nicht be-
ſtehen; und diejenigen, welche auf dieſe Weiſe zu den hoͤch-
ſten Bedienungen des Staats gelaugten, koͤnnten ſich mit
Fuge nicht beſchweren, da ſie fuͤr den Mangel eines kleinen
Vergnuͤgens ſo reichlich ſchadlos gehalten wuͤrden. Deſ-
ſen erinnere ich mich, ſo wie ihrer Freude, daß ſodenn we-
der Koͤnigs noch Fuͤrſten Kinder, weder junge Grafen noch
Edelleute, weder Doctoren noch Paſtoren Soͤhne in der
Welt ſeyn wuͤrden, und das alles, was im Dienſte zuſam-
men geſcharret, gepluͤndert und erpreſſet wuͤrde, immer
an den Landmann zuruͤckfallen muͤſte, wovon jeder zu die-
ſem Preiſe gern einen Jungen dem Staate aufopfern wuͤrde.


Allein ich hoffe nicht, daß Sie ein gleiches Geſetz fuͤr
uns arme Handwerker billigen werden. Der Stand der
Vornehmen in der Welt iſt minder zahlreich als der unſe-
rige; viele unter ihnen koͤnnen, viele duͤrfen ſo ſchon nicht
heyra-
[139]fuͤr die Handwerkspurſchen noͤthig.
heyrathen; es wird fuͤr ihr Ausſterben auf mancherley Art
geſorgt; und ſo iſt das Opfer ſo groß nicht, vielleicht auch
der Ordnung der Welt gemaͤß, was ſie von ihm fordern.
Aber fuͤr uns? … doch ihr Einfall mag ſo viel gelten, als
er hat gelten ſollen, das wichtigſte was ſie mir ſagen koͤn-
nen, iſt dieſes, wie jemals ein Schneider ſich an das Buͤ-
cken und Sitzen gewoͤhnen werde, wenn deſſen Koͤrper nicht
in der Jugend dazu gebogen und gewoͤhnet worden, und
wie es uͤberhaupt mit allen Fertigkeiten ausſehen werde,
wenn man ſowohl den Koͤrper als den Geiſt des Juͤnglings
vollkommen geſund erhalten wolle?


Allein hieruͤber wollte ich eben belehret ſeyn; ich wollte
wiſſen, wie die ſo leicht ausgelernten gelehrten Geſellen,
wenn ſie dereinſt Meiſter werden, ſich an ihren Schreibti-
ſchen geberden werden, wenn ſie alles ſo leicht und ſpielend
lernen? Ob ſie, wenn ihre Jugend in einer beſtaͤndigen
Abwechſelung des angenehmen und nuͤtzlichen verfloſſen,
wenn ſie mit Huͤlfe einer lebhaften Einbildungskraft, alles
was ihnen vorgetragen worden, ſchnell gefaßt, und fruͤh
beurtheilet, und wenn ſie hiezu durch alle nur moͤgliche Auf-
munterung gereitzt worden, eben ſo anhaltend in ſchweren
und langweiligen Arbeiten, eben ſo dauerhaft in verdrieß-
lichen und unbewunderten oder unbelohnten Geſchaͤften, und
eben ſo geſchickt zur Anſtrengung ihrer Seelenkraͤfte ſeyn
werden, als diejenigen, welche in ihrer Jugend an Seele
und Leib paß geplaget worden? Und wenn dieſes, ob ich
es ſodann nicht wagen duͤrfte, meinen Jungen in irgend ei-
ner Realſchule, worinn man die leichteſte Methode hat,
das Handwerk lernen zu laſſen?


Die Fertigkeiten des Geiſtes und des Koͤrpers ſollen
zwar, wie ich hoͤre, ſehr verſchieden ſeyn. Aber mein
Nachbar, der alle Charten im Spiele behalten kann, iſt
nicht
[140]Waͤre nicht auch ein Inſtitut fuͤr ⁊c.
nicht im Stande, einen Spruch aus der Predigt wieder zu
erzaͤhlen; unſer Stadtmuſicant ſchreibt zu Hauſe ein gan-
zes Concert auf, was er nur einmal gehoͤret hat, und kann
doch das beſte Gedicht leſen, ohne den Inhalt davon ange-
ben zu koͤnnen; ich ſelbſt kann die ſchwerſten Bruͤche im
Kopfe ausrechnen, und bin doch nicht im Stande meine
Gedanken ordentlich vorzutragen. Es muß alſo doch eine
eigne Beſchaffenheit um die Fertigkeiten des Geiſtes haben,
und ſie muͤſſen durch die beſtaͤndige Uebung und Anſtren-
gung eben ſo gewandt und gewoͤhnet werden koͤnnen, als
die koͤrperlichen Faͤhigkeiten. Sollte dieſes aber mit jenen
leichter und ſpielender geſchehen koͤnnen als mit dieſen? oder
iſt es unnoͤthig, den Fertigkeiten des Geiſtes einen ſo ho-
hen Grad zu geben?


Mich duͤnkt, alle diejenigen, die ſolche einzelne Fertig-
keiten in einen hohen Grad beſitzen, haben keine voͤllig ge-
ſunde Seele; eine Menge ihrer natuͤrlichen Faͤhigkeiten iſt
gelaͤhmt und wohl gar weggeſchnitten; und dieſe Laͤhmung,
dieſe Beſchneidung muß fruͤh geſchehen, wenn ſie der Ab-
ſicht entſprechen ſoll. Aber wenn jetzt die groͤſten Maͤn-
ner das Gegentheil richtiger finden: ſo muß ich ſchweigen,
und nur fragen, ob nicht ein Mittel ſey, die Handwerker
eben ſo geſund zu erziehen? und ob nicht der Staat, wenn
er die Gelehrten von der Aufopferung ihrer Geſundheit frey
ſpricht, ein gleiches fuͤr uns thun koͤnne? die Kleider brauch-
ten ja nicht ſo kuͤnſtlich gemacht zu werden, und was ha-
ben wir noͤthig, ſo manchen Schuſter um ſeine Geſundheit
zu bringen, da wir in Holzſchuhen gehen koͤnnen?


Hieruͤber bitte ich mir Ihre Meynung aus, und bin ⁊c.



Ein
[141]

Ein Beyſpiel zur Nachahmung.


Der Schulmeiſter, in dem Oßnabruͤckiſchen Kirchſpiel
Langenberg, laͤßt alle Sonntage dasjenige, was ſei-
ne Schuͤler die Woche uͤber geſchrieben haben, vor der Kir-
che, auf einer Tafel woruͤber ein Gitter von Drath gezo-
gen, zur Schau ausſtellen. Die Eltern, wenn ſie in die
Kirche gehen, bemerken den Fortgang ihrer Kinder; der
eine Vater freuet ſich daß ſein Sohn der beſte ſey, und der
andre, daß der ſeinige nicht zuruͤck bleiben werde. Dieſe
Freude theilen ſie ihren Kindern mit, wenn ſie zu Hauſe
kommen, und jedes wird dadurch angeflammt, ſich am naͤch-
ſten Sonntage noch beſſer zu zeigen. Sollte dieſes nicht
Nachahmung verdienen? und iſt dieſe Erfindung nicht ſo
ſchoͤn und wohl angemeſſen, als ein Orden fuͤr das Ver-
dienſt?



XXXIV.
Sollte man die Kinder nicht im Schwim-
men ſich uͤben laſſen?


Mit Recht unterſagt man den Kindern das Baden in
Fluͤſſen und andern Gewaͤſſern, weil die Gefahr
dabey zu groß iſt. Aber man ſollte die Gefahr davon neh-
men, und dann immerhin baden laſſen. Man ſollte einen
eignen Schwimmermeiſter dazu halten, unter deſſen Auf-
ſicht die Jugend das Schwimmen lernen, und taͤglich baden
muͤßte; nicht ſowol in der Abſicht, damit ſie ſich in kuͤnftigen
Nothfaͤllen durch ſchwimmen retten koͤnnten, obgleich auch
dieſe Abſicht nicht ganz zu tadeln waͤre, ſondern um ihre
Geſundheit zu ſtaͤrken. Nichts findet ſich in gewiſſen Laͤn-
dern
[142]Der Freund iſt ſchonend
dern haͤufiger, als daß Kinder an doppelten Gliedern, Fi-
ſtelſchaden und Nervenkrankheiten leiden. Aber nichts iſt
auch gewiſſer, als daß dergleichen Uebel durch das Baden
in kalten Waſſer abgewandt und geheilet werden. Es fin-
det ſich kein Beyſpiel von Fiſtelſchaden in den Gegenden,
wo die Kinder fruͤh kalt baden, und die Beyſpiele, daß
Nervenkrankheiten und doppelte Glieder blos durch das taͤg-
liche Baden im Flußwaſſer geheilet worden, ſind unzaͤhlig.
Es iſt alſo das Baden eine ſehr heilſame Sache, und ein
Fehler, daß wir die Kinder dazu nicht zeitig anfuͤhren.
Sie ſollten taͤglich einmal, ſo wie ſie aus der Schule kaͤ-
men, in die Schwemme gejagt, und auf dieſe Weiſe ab-
gehaͤrtet werden. Vielleicht wuͤrden wir auch weniger von
Bruchſchaden, die man bey alten Leuten haͤufig antrift, hoͤ-
ren, wenn jedermann von Jugend auf an das Baden ge-
wohnt, und durch dieſes Mittel wider alle Erſchlaffungen
geſichert waͤre. Mit dem Baden iſt fuͤr diejenigen, ſo dar-
an gewohnt ſind, ein groſſes Vergnuͤgen verbunden; und
unſre Vorfahren, welche ſogar die Kinder gleich nach ihrer
Geburth uͤber und uͤber ins Waſſer tauchten, dachten nach
ihrer Erfahrung ganz anders hievon als ihre Enkel.



XXXV.
Auch der Freund iſt ſchonend bey unan-
genehmen Wahrheiten.


Damon iſt mein guter Freund, er hat ein redliches
Herz und viel Geſchicklichkeit; aber ich kann ihm
das freundſchaftliche Vertrauen nicht bezeigen, was er
wuͤnſcht. Warum? er wendet ſeine Gedanken nicht genug,
und traͤgt ſie gemeiniglich mit einer uͤblen Laune vor, die
an
[143]bey unangenehmen Wahrheiten.
an ſich wohl gemeint, aber doch fuͤr viele beleidigend iſt.
Wenn ich mich ſelbſt pruͤfe: ſo fuͤhle ich zwar wohl, daß
auch meine Eigenliebe ſich zu leicht beleidiget glaube. Aber
weil Damon weit juͤnger iſt, wie ich; ſo denke ich, er muͤſſe
ſich nach ſeinem aͤltern Freunde richten. Seine Abſicht iſt
mir eine nuͤtzliche Wahrheit zu ſagen, und ſein Wunſch,
daß ſie bey mir die groͤßte Wuͤrkung thun moͤge; warum
wendet er ſie denn nicht ſo, daß ſeine Abſicht und ſein Wunſch
erfuͤllet werde? Oft habe ich die Politik eines groſſen Welt-
mannes bewundert, der bey tauſend verdrießlichen Geſchaͤf-
ten, doch nimmer eine verdriesliche Miene zeigt, und auch
ſelbſt das unangenehme, was er einem aus Pflicht ſagen
muß, ſo ſanft und freundſchaftlich zu wenden weiß, daß
man ihn auch fuͤr das Boͤſe danken muß. Sollte ein Freund
minder ſchonend ſeyn, oder kann jene Politik mit der Red-
lichkeit nicht beſtehen?


Ey was, wird Damon ſagen, wer kann jedes Wort
auf die Wagſchale legen? Ein Freund muß kein Schmeich-
ler ſeyn, und alle dergleichen kleine Wendungen verrathen
doch im Grunde eine Falſchheit, ich rede wie ich denke, und
je mehr eine Wahrheit ſticht, je beſſer wird ſie gefuͤhlt.


Aber, mein Freund, wenn Sie mir eine betruͤbte Nach-
richt zu bringen haben: ſo wenden Sie doch alle Kunſt an,
meine Empfindlichkeit zu ſchonen; dieſe kleine Falſchheit,
wenn es eine iſt, haben Sie doch gebilliget, und aus dem
Umgang mit der groſſen Welt angenommen; warum wol-
len Sie mich dann in andern Faͤllen minder ſchonen und
mir ohne Noth die Galle ins Gebluͤt jagen? Dieſes iſt
ja ihre Abſicht nicht; und da ſie Verſtand genug haben,
um eine angenehme Wendung zu erfinden: ſo iſt es vielleicht
nichts als ein Eigenſinn, oder der Hang einer Laune, um
deren Richtung Sie ſich keine Muͤhe geben, wodurch ſie bey
dieſer
[144]Die Oßnabruͤckiſchen Bauerhaͤuſer
dieſer Art des Verfahrens geleitet werden. Sie haben ih-
ren gelehrten Vortrag uͤberaus verbeſſert, und befleißigen
ſich in demſelben des ſchoͤnſten Styls, warum wollen Sie
nicht einem redlichen Freunde zu gefallen Ihren uͤbrigen Styl
eben ſo verbeſſern? Warum wollen Sie ſich gerade diejeni-
gen zum Muſter waͤhlen, die fuͤr das Publicum glaͤnzen,
und fuͤr Ihre haͤuslichen Freunde Tyrannen ſind?



XXXVI.
Die Haͤuſer des Landmanns im Oßna-
bruͤckiſchen ſind in ihrem Plan die beſten.


Die Frage, ob die hieſigen Hausleute ihre Wohnungen
nicht bequemer einrichten koͤnnten, iſt oft aufgewor-
fen worden? Diejenige, welche ſolche zu entſcheiden haben,
moͤgen nachfolgende Vortheile der hieſigen Bauart nicht aus
der Acht laſſen.


Der Heerd iſt faſt in der Mitte des Hauſes, und ſo-
angelegt, daß die Frau, welche bey demſelben ſitzt, zu
gleicher Zeit alles uͤberſehen kann. Ein ſo groſſer und be-
quemer Geſichtspunkt iſt in keiner andern Art von Gebaͤu-
den. Ohne von ihrem Stuhle aufzuſtehen, uͤberſieht die
Wirthin zu gleicher Zeit drey Thuͤren, dankt denen die her-
ein kommen, heißt ſolche bey ſich niederſetzen, behaͤlt ihre
Kinder und Geſinde, ihre Pferde und Kuͤhe im Auge, huͤ-
tet Keller, Boden und Kammer, ſpinnet immerfoct und
kocht dabey. Ihre Schlafſtelle iſt hinter dieſem Feuer, und
ſie behaͤlt aus derſelben eben dieſe groſſe Ausſicht, ſieht ihr
Geſinde zur Arbeit aufſtehen und ſich niederlegen, das Feuer
anbrennen und verloͤſchen, und alle Thuͤren auf und zuge-
hen, hoͤret ihr Vieh freſſen, die Weberin ſchlagen, und
beob-
[145]ſind in ihrem Plan die beſten.
beobachtet wiederum Keller, Boden und Kammer. Wenn
ſie im Kindbette liegt, kann ſie noch einen Theil dieſer haͤus-
lichen Pflichten aus dieſer ihrer Schlafſtelle wahrnehmen.
Jede zufaͤllige Arbeit bleibt ebenfalls in der Kette der uͤbri-
gen. So wie das Vieh gefuͤttert und die Dreſche gewandt
iſt, kann ſie hinter ihrem Spinnrade ausruhen, anſtatt
daß in andern Orten, wo die Leute in Stuben ſitzen, ſo
oft die Hausthuͤr aufgeht, jemand aus der Stube dem
Fremden entgegen gehen, ihn wieder aus dem Hauſe fuͤh-
ren und ſeine Arbeit ſo lange verſaͤumen muß. Der Platz
bey dem Heerde iſt der ſchoͤnſte unter allen. Und wer den
Heerd der Feuersgefahr halber von der Ausſicht auf die
Deele abſondert, beraubt ſich unendlicher Vortheile. Er
kann ſodenn nicht ſehen, was der Knecht ſchneidet, und
die Magd futtert. Er hoͤrt die Stimme ſeines Viehes nicht
mehr. Die Einfurth wird ein Schleichloch des Geſindes,
ſeine ganze Ausſicht vom Stuhle hinterm Rade am Feuer
geht verlohren, und wer vollends ſeine Pferde in einem be-
ſondern Stalle, ſeine Kuͤhe in einem andern, und ſeine
Schweine im dritten hat; und in einem eigenen Gebaͤude
driſcht, der hat zehnmal ſo viel Waͤnde und Daͤcher zu un-
terhalten, und muß den ganzen Tag mit Beſichtigen und
Aufſicht haben zubringen.


Ein rings umher niedriges Strohdach ſchuͤtzt hier die
allezeit ſchwachen Waͤnde, haͤlt den Lehm trocken, waͤrmt
Haus und Vieh, und wird mit leichter Muͤhe von dem Wir-
the ſelbſt gebeſſert. Ein groſſes Vordach ſchuͤtzt das Haus
nach Weſten, und deckt zugleich die Schweinekoben, und
um endlich nichts zu verlieren, liegt der Miſtpfal vor der
Ausfahrt wo angeſpannet wird. Kein Vitruv iſt im Stan-
de, mehrere Vortheile zu vereinigen.


Moͤſ. patr. Phant.III.Th. KBey
[146]Die Oßnabruͤckiſchen Bauerhaͤuſer ⁊c.

Bey der Frage: Ob es nicht gut ſey, dem Landmanne
zu rathen, ſparſamer mit dem Bauholze umzugehen, kom-
men folgende Gruͤnde in Betracht.


Erſtlich hat jeder Menſch ſeinen Ehrgeitz, welchen er
auf eine oder die andre Art befriedigen will, und es iſt
uͤberaus bedenklich, ihn von einiger Verſchwendung in ein-
heimiſchen Produkten, auf auswaͤrtige zu fuͤhren. Die
ganze Kunſt des Geſetzgebers beſteht darin, den Ehrgeitz des
Menſchen wohl zu lenken.


Zweytens iſt es beſſer, daß das Bauholz theuer als
wohlfeil iſt. Das Geld dafuͤr geht nicht aus dem Lande.
Ein theurer Holzpreiß muntert die Leute auf, fleißig zu
pflanzen, und diejenigen Gegenden ſind nicht gluͤcklicher,
wo man das Holz gar nicht verkaufen kann, ſondern zu
Pottaſche und Glaßhuͤtten verſchwenden muß.


Drittens iſt es beſſer, daß die Leute zu viel als zu we-
nig Holz nehmen, weil ſie keine Baumeiſter bey ſich haben,
und durch die Staͤrke des Holzes ihre Fehler im Bauen er-
ſetzen muͤſſen.


Viertens iſt in den hieſigen Haͤuſern die allergroͤſte
Sparſamkeit bereits darin beobachtet, daß die Balken nicht
durchlaufen, ſondern nur den ſogenannten Stuhl bedecken.
Dadurch ſind bey jedem groſſen Hauſe nach dem jetzigen
Holzpreiſe 200 Thaler erſparet. Die Verſchwendung ge-
ſchieht alſo nur in Staͤnder- und Riegelholz, welches noch
genug vorhanden iſt, da es nur an Balken mangelt.


Fuͤnftens findet man keine Verſchwendung in den Ge-
genden, wo das Holz rar iſt.



XXXVII.
[147]

XXXVII.
Die Klage eines Leibzuͤchters,
als ein Beytrag
zur Geſchichte der deutſchen Kunſt.


Es iſt eine uralte Gewohnheit in Weſtphalen, daß bey
jedem Voll- oder Halbhofe eine Leibzucht ſeyn, und
wo ſolche fehlt, eine erbauet werden muͤſſe. Lange habe
ich den Geiſt dieſes Geſetzes nicht ſo lebhaft eingeſehen, als
bey folgendem Vorfall.


Ein Eigenbehoͤriger Mann kam unlaͤngſt zu mir, und
klagte mit vielen Thraͤnen, wie betruͤbt es ihm in ſeinen al-
ten Tagen gienge, da er mit einer Stieftochter in einem
Hauſe wohnen, und taͤglich aus jedem ihrer Blicke einem
heimlichen Fluch auf ſich leſen muͤſte; des Morgens fruͤh,
und des Abends ſpaͤt, wenn ſie ihm auch nur ein Stuͤck
Brod gebe, ſagte ihm jede ihrer Minen, daß er ſich zum
Heuker ſcheren moͤgte. O ſchloß er endlich, es iſt eine
ſchreckliche Sache, daß die Obrigkeit nicht beſſer darauf
haͤlt, daß bey jedem Hofe eine Leibzucht ſeyn muͤſſe.


Ich glaubte ihm recht vernuͤnftig zu rathen, da ich
ihm ſagte, er ſollte doch bey andern Leuten einziehen, oder
ſich eine beſondere kleine Wohnung miethen, ich wollte ſeine
Schwiegertochter durch den Weg Rechtens leicht zwingen,
daß ſie ihm jaͤhrlich fuͤr die Leibzucht ein gewiſſes an Gelde
bezahlen ſollte, und wenn ihm der Weg Rechtens zu ſauer
wuͤrde: ſo wollte ich ihn wohl fuͤr ihn gehen, und die Rei-
ſekoſten bezahlen. Der Mann dauerte mich von Herzen;
es war einer von den redlichen Greiſen, die man nicht an-
ders als mit Ehrfurcht anſehen kann.


K 2Ach!
[148]Die Klage eines Leibzuͤchters.

Ach! ſagte der gute Alte, das geht nicht an; denn
ich bin Leibeigen; ich habe es ſchon verſucht, und wollte
auf die adelichen Gruͤnde des Hauſes … ziehen. Aber
der gnaͤdige Herr ſagte, er wolle nicht, daß ein fremder
Gutsherr den Sterbefall aus ſeinen Haͤuſern holen ſollte;
und er geſtattete ihm auch dahin keine unmittelbare Folge.
Ich gieng hierauf zu einem benachbarten Leibeigenen, aber
der entſchuldigte ſich eben auch damit, wie ſein Gutsherr
es uͤbel nehmen wuͤrde, wenn er Leute, die einem fremden
Sterbfalle unterworfen waͤren, auf ſeine Gruͤnde nehmen,
und ſein Erbe dadurch in Verdacht ſetzen wollte.


Ein freyer Mann, zu dem ich mich in gleicher Abſicht
wandte, machte mir nicht allein faſt eine gleiche Entſchul-
digung, ſondern ſetzte auch ganz trocken hinzu, daß er keine
Leibeigene aufnehme, weil er, wenn ſie ſtuͤrben, fuͤr die
Heuergelder kein ſtillſchweigendes Unterpfand an Sachen
haben wuͤrde, die zum Sterbefalle gehoͤrten. Endlich er-
barmte ſich doch noch ein armer Koͤtter uͤber mich und mei-
ner ſeligen Frau, die ihn noch etwas verwandt war, und
uͤberließ uns ſein Backhaͤusgen. O wie froh, wie ruhig
war ich hier; allein wie lange! Meine ſelige Frau ſtarb,
und nun kam auf einer Seite der Gutsherr, und auf der
andern der Beamte; um mir beyde die Haͤlfte von allem
dem Meinigen zu nehmen. Was ſagte der Gutsherr zum
Beamten, gedenkt er meine Leibeigne Magd als Bieſterfrey
zu behandeln? und wie, antwortete der Beamte dem Guts-
herrn, geht der Gutsherrliche Schutz auch auſſer der Wehr?
Hieruͤber entſtand ein Proceß, welchen der Gutsherr ver-
lohr, und nun ſieht mich jeder als einen Ungluͤcksvogel an,
dem keiner eine Wohnung verheuren will. Der Beamte
ſagte ganz eifrig zu mir, es ſind hundert freye Kotten durch
die Nachlaͤßigkeit meiner Vorfahren verlohren gegangen,
weil
[149]Die Klage eines Leibzuͤchters.
weil ſie Leibeigne darauf gelaſſen haben, und wann man
nicht gleich die Leute als Bieſterfrey behandelt; ſo iſt gar
kein Mittel einen Kotten gegen dergleichen Eingriffe zu
retten. Denn die Bieſterfreyheit zwingt die Leute zur Hode,
und Hode redet wider den Leibeigenthum.


Ich bat hierauf meinen Gutsherrn mir meinen Sterb-
fall ſelbſt dingen zu laſſen, und mich ſo nach in Freyheit
zu ſetzen: er war auch wuͤrklich dazu nicht abgeneigt. Al-
lein meine Stieftochter hintertrieb es, aus der Urſache,
weil ich ſodann als ein freyer Mann das Meinige meinen
Kindern zweyter Ehe wuͤrde zugewandt haben …


Ich lernte hieraus, daß die praktiſche Einſicht des al-
ten Greiſes weiter gieng, wie meine Theorie; und bedau-
rete den Mann, der bey dem Mangel der Leibzucht die Hoͤlle
mit ſeinen Kindern bauen muͤſte, nachdem man das feine
Kunſtgewerbe der deutſchen Rechtsgelehrſamkeit, worin die
Nothwendigkeit der Leibzucht ſeine eigenthuͤmliche Stelle hat,
nicht mehr erkennen will.



XXXVIII.
Der erſte Jahrswechſel,
eine Legende.


Gott hatte die Thuͤr des Paradieſes noch kaum abge-
ſchloſſen, als Eva von fern einen ſchoͤnen weitglaͤn-
zenden Apfelbaum erblickte, und zu ihrem lieben Adam
ſagte: Siehſt du wohl, auch da ſind Aepfel. So wie ſie
dieſes ſagte, gieng ſie auch hinzu, und Adam voll tiefer
Wehmuth, wozu ihm noch der Ausdruck mangelte, hinter
ihr drein. Ich wuͤſte nicht, was den Aepfeln fehlte, daß
ſie nicht eben ſo gut, als im Paradieſe ſeyn ſollten, rief
K 3ſie
[150]Der erſte Jahreswechſel.
ſie nach dem erſten Biß aus; aber Adam ſchuͤttelte den Kopf,
und ſpuckte das abgebiſſene auf die Erde. So brachten
ſie eine Weile mit dem Koſten verſchiedener Fruͤchte zu, als
Nacht und Muͤdigkeit die beyden Vertriebenen zur Ruhe
lockte, und Adam zum erſtenmal einſchlief, ohne ſeiner
Eva eine gute Nacht zu wuͤnſchen. Sie muſte indeſſen wie
alle Schuldigen, den Schmerz verbeiſſen, ſo gern ſie auch
ihrem Mann noch einmal geſagt haͤtte, daß er es beſſer
verſtehen, und ſich von ſeinem ſchwachen Weibe nicht ver-
fuͤhren laſſen ſollen.


Es regnete die Nacht gewaltig, und dabey war es
ſchon etwas kalt, wie gemeiniglich in den Herbſtnaͤchten.
Ihre Pelze, welche ihnen Gott beym Abſchiede auf die
Reiſe gegeben hatte, waren durch und durch naß gewor-
den, und ein naſſer Pelz iſt eine elende Decke. Wir muͤſ-
ſen es machen wie die Thiere, und uns kuͤnftig des Nachts
in eine Hoͤhle oder unter dem Laube verbergen, ſagte Adam,
und noch hatte er ſich nicht dreymal umgeſehen, als er ei-
nige groſſe abgeſchlagene Zweige entdeckte, ſolche an einem
groſſen Baum ſtuͤtzte, und ſich darunter ein beſſeres Lager
bereitete. Sein Vergnuͤgen war, ſolches jeden Tag immer
mehr und mehr mit Schilfe und groſſen Blaͤttern gegen das
Wetter, welches jede Nacht unfreundlicher wurde, zu ver-
ſichern, und in der That hatte ihn die Noth recht ſinnreich
gemacht: denn die Huͤtte war ſo groß und geraͤumig, daß
ſie ſich beyde darin niederlegen, und vorn zur Thuͤr hinaus
ſehen konnten.


Wenn ſie hier des Morgens aufwachten, war ihr er-
ſter Blick nach der Sonne, und die erſte aſtronomiſche
Bemerkung die ſie machten, war, daß dieſes groſſe Licht
immer mehr und mehr zuruͤck blieb. O Gott, o Gott,
ſagte Adam, — die armen Leute hatten noch keinen Winter
geſe-
[151]Der erſte Jahreswechſel.
geſehn, und im Paradieſe lauter gleich lange ſchoͤne Tage
gehabt — ich befuͤrchte, es ſtirbt nun ſo alles nacheinan-
der aus. Man hoͤrt weder Froſch noch Vogel, die Fruͤchte
fallen uͤberall ab, die Baͤume verlieren ihre Blaͤtter, und
ſogar das Dach unſrer Huͤtte faulet, und faͤllt zuſammen
— ich fuͤrchte, ich fuͤrchte, Gottes Zorn folgt uns nach,
es gehet alles aus, und wir mit, meine liebe Eva; auch
du ſollteſt wieder zur Erde werden. Hier entfiel ihm die
erſte bitterliche Thraͤne, und Eva ſchluchzte an ſeinem Halſe:
Auch du.


Alle Morgen die Gott werden ließ, kam die Sonne
ſpaͤter, und der Abend, da ſie noch weder Feuer noch Licht
kannten, ſo fruͤh, die Tage wurden allmaͤhlig ſo kurz, daß
ſie nun ſchon nichts anders als eine lange ewige Nacht er-
warteten, und blos vom Hunger getrieben noch durch den
dicken Nebel herum liefen, um einige abgefallene Fruͤchte
zu ſammlen, wobey Eva immer gluͤcklicher war als Adam,
indem ſie noch oft einen Apfel entdeckte, den der Mann uͤber-
ſehen hatte, und ſich dann recht inniglich freuete. Aber
auch dieſe Huͤlfe hoͤrte bald auf, die Thiere auf dem Felde
ſammleten fleißiger wie ſie, und ein ſchoͤner Kuͤrbis, den
Eva einsmals im Triumph nach Hauſe gebracht, und uͤber
alle Aepfel im Paradieſe erhoben, Adam aber, um ihr kein
Recht zu laſſen, aus der Huͤtte geworfen hatte, lag, wie
ſie ihn jetzt aufſuchte, verfaulet da. Nun wuͤhlte Eva
mit ihren Haͤnden Wurzeln aus der Erde, bis der Froſt
kam, und ſich ihren noch nicht abgehaͤrteten Fingern wi-
derſetzte. Endlich bedeckte ein tiefer Schnee den ganzen Erd-
boden, und vergrub das einſame Paar unter ſeiner armſe-
ligen Huͤtte. Keine Sonne leuchtete mehr, die ganze Natur
war todt, kein Vogel ſang, kein Kraut wuchs, und der blaſſe
Schimmer des Schnees entdeckte ihnen nichts als ihr beyder-
ſeitiges Elend. Sie legten ſich hin um zu erſtarren, um
K 4mit
[152]Der erſte Jahreswechſel.
mit der ganzen Natur einzuſchlafen, um nie wieder zu er-
wachen; aber der Hunger verſtattete ihnen auch dieſe letzte
Ruhe nicht. Sie muſten wider ihren Willen die Rinde
von dem Laube ihrer Huͤtte nagen, Wurzeln unter ſich her-
vor wuͤhlen, und den Schnee auflecken. Eva fuͤhlte dann
und wann noch ein Herz unter dem ihrigen ſchlagen; ſollte
dieſes, ſagte ſie zu Adam, wohl das Kind ſeyn, was ich
mit Schmerzen gebaͤhren ſoll? ſollte dieſes wohl noch kom-
men, um unſer Elend zu vermehren, und mit uns zu ver-
hungern?


Bey dieſer und andern dergleichen traurigen Anmer-
kungen glaubte Adam zum erſtenmale die Sonne wieder zu
ſehen; der Schnee vor der Huͤtte war duͤnner geworden,
und er verſuchte es, ſich durch denſelben mehr Licht zu ver-
ſchaffen. Allein er konnte ſie nicht entdecken. Des an-
dern Tages hoffete er wiederum, und der erſte Stral fiel
in ſeine Huͤtte; doch war dieſes noch ein ſchwacher Troſt,
indem alles um ihn herum noch immer tod blieb. Nach und
nach aber merkte er, daß der Stral hoͤher herabfiel, und
mehrere Waͤrme mit ſich brachte. Er maß ihn einen Tag
und alle Tage, und fand alle Morgen mit einer Freude,
die ſich nicht ausdruͤcken laͤßt, daß er immer etwas hoͤher
fiel. Der Schnee fieng jetzt an zu ſchmelzen, und einige
Muͤcken tanzten vor dem Loche der Huͤtte. Siehſt du, ſagte
Eva, das Leben kommt wieder in die Natur, und wir
werden nicht ſterben. In dem Augenblick flog auch ein
Vogel bey ihrer Huͤtte voruͤber, und jeder Morgen zeigte
ihnen nun einen neuen Gegenſtand, der ſie entzuͤckte und
begeiſterte. Alle Geſchoͤpfe ſangen, huͤpften und bruͤteten
Leben; alles was Odem hatte im Walde und auf dem Ge-
filde frohlockte, und die lebloſe Natur fuͤhlte den lebendigen
Geiſt der Schoͤpfung. Auch Eva brachte im Mayen den
Erſtling ihrer Liebe, und ſahe nach uͤberſtandnem Schmerze
ihren
[153]Ueber die Feyerſtunde der Handwerker.
ihren Adam ſtolz an. Und nun rief Adam aus, indem er
ſeinen neugebohrnen Sohn aus der Huͤtte ans Licht brachte:
Ach Herr! wie wohl haſt du auch den Winter gemacht, da
du den Fruͤhling auf ihn folgen laͤßt! Wie gluͤcklich wird un-
ſer Leben ſeyn, wenn auch hierauf einſt ein anders folgt! —
Er bauete aber nun auch ſeine Huͤtte groͤſſer, ſorgte im Som-
mer fuͤr den Winter, und in der Zeit fuͤr die Ewigkeit.



XXXIX.
Ueber die Feyerſtunde der Handwerker.


Ich habe noch kein Jahr erlebt, worin alle Menſchen ſo
fleißig geweſen ſind, wie in dem vorigen. Meine
Umſtaͤnde erforderten es, daß ich ein neu Haus bauen mu-
ſte, und ob ich gleich eben ſo ſehr eilig nicht war: ſo be-
eiferte ſich doch ein jeder, mir auch in den Feyerſtunden
ſeine Kraͤfte zu ſchenken. Maurer, Zimmerleute, Tiſchler,
und ſogar die Tagloͤhner opferten mir die Stunden, welche
ſonſt zu ihrer Ruhe gewidmet waren, auf, und erwarte-
ten, wie billig, meinen Beyfall durch eine verhaͤltnismaͤßige
Verguͤtung.


Anfaͤnglich glaubte ich viel dabey zu gewinnen, aber
am Ende merkte ich doch, daß es auf eine Geldſchneiderey
hinaus lief, und daß ein jeder, der rechtſchaffen arbeitete,
auch ſeine Erholungsſtunden noͤthig haͤtte. Was ſollt ich
indeſſen thun? Mich mit den Arbeitsleuten, und beſonders
mit den Geſellen zu uͤberwerfen, das war nicht rathſam,
ſie konnten mir auf andre Art ſchaden. Ich ließ mich alſo
geruhig betruͤgen, um nicht noch aͤrger betrogen zu werden.
In der That aber ſollte die Obrigkeit hier ein Einſehen ha-
ben, und uͤberhaupt das Arbeiten der Geſellen in den Feyer-
K 5ſtun-
[154]Eine Erzaͤhlung,
ſtunden verbieten, weil es ſowohl ein Betrug fuͤr den Mei-
ſter als den Bauherrn iſt. Vor wenigen Jahren wuſte
man noch nichts von dieſer Mode des Betrugs; aber ſeit-
dem iſt ſie taͤglich allgemeiner worden.



XL.
Eine Erzaͤhlung, wie es viele giebt.


Die Kunſt in Geſellſchaften zu erzaͤhlen, erfordert eine
eigne Geſchicklichkeit; und ſie ſollte billig mehr als
andere ſtudirt werden, da ſie in der That wichtiger iſt, und
einem oͤfterer als andre freye Kuͤnſte zu ſtatten koͤmmt.
Gleichwol wird ſie jetzt ganz vernachlaͤßiget, ſeitdem ge-
wiſſe Leute ſie zum Handwerke herabgewuͤrdiget, und die
guten Geſellſchaften genoͤthiget haben, ihr den Abſchied zu
geben. Nur wenige denken daran, wie ſie zu einer Erzaͤh-
lung die Anlage machen ſollen; um die Erfindung der
Wahrheit, welche dadurch gelehrt werden ſoll, und deren
Wichtigkeit faſt ihren ganzen Werth entſcheidet, bekuͤmmern
ſie ſich am wenigſten; und die Art der Behandlung iſt ih-
nen faſt gleichguͤltig, da ſie nicht einmal vorher uͤberlegen,
ob die Wahrheit, ſo ſie vortragen wollen, eine luſtige oder
ernſthafte Einkleidung erfordere; und doch iſt nichts gewiſ-
ſers, als daß die groͤſte Wuͤrkung von der Art der Be-
handlung abhange. Oft fordert der Gegenſtand nur eine
leichte Anſpielung auf eine ſchon bekannte Geſchichte; oft
blos das Reſultat oder die Lehre einer Fabel, oft einen ſpi-
tzigen und treffenden Wink, oft eine ſanfte und verſteckte
Lehre, die man angenehmer errathen laͤßt, als ſagt; alle-
mal aber eine kurze Erwartung und voͤllige Befriedigung;
welche ſich beyde nicht erreichen laſſen, wo man nicht be-
ſtaͤn-
[155]wie es viele giebt.
ſtaͤndig ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf den Zweck richtet,
alles was nicht zu demſelben wuͤrket, vorbey laͤßt, dasje-
nige aber, was dazu dienet, wohl ordnet, den Hauptzuͤ-
gen mehreres Licht, als den Nebenzuͤgen giebt, und zuletzt
die Begierde des Zuhoͤrers mit einer wichtigen Wahrheit,
oder welches einerley iſt, mit einer vernuͤnftigen Freude,
ſo wie ſie von einer ſolchen kleinen Erzaͤhlung zu erwarten
iſt, ſaͤttiget. Der gewoͤhnliche Lauf unſrer Erzaͤhlungen
iſt insgemein wie in der folgenden, welche ich neulich mit
eigenen Ohren habe anhoͤren muͤſſen.


„Hiebey faͤllt mir ein, fieng jemand an, was mir
„einmal unterwegens begegnete, wie ich nach Muͤnſter
„fuhr. Ja ich glaube es war nach Muͤnſter, denn meine
„Frau war damals mit ihrem erſten Kinde ſchwanger, und
„ſie wollte noch gern vor ihrer Niederkunft das dortige
„neue Schloß beſehen. Wir waren auf der erſten Sta-
„tion von hier, ich meyne zu Lengerich, oder zu Latbergen,
„das kann ich eben ſo genau nicht ſagen, es liegt auch ſo
„viel nicht daran; und die Fruͤhjahrszeit war ſo angenehm,
„denn es war in der Woche nach Oſtern, und wir hatten
„Oſtern damals etwas ſpaͤt gehabt, ſo daß es beynahe zu
„Ende des Aprils eingefallen war, daß wir beyde, ich und
„meine Frau, welche damals noch nicht daran dachte, daß
„ihr der Tod das Kind, womit ſie zum erſtenmal geſeg-
„net war, ſo fruͤh wieder rauben wuͤrde, vor der Thuͤr
„ſtunden, und ſahen, wie die Leute im Mondenſchein ſpa-
„tzieren giengen. Denn, wo ich nicht irre, ſo war es ein
„Feſttag, und wohl gar der erſte May, der wo mir recht
„iſt, noch dazu auf einen Sonntag fiel, ſo daß man es
„wohl fuͤr einen doppelten Feſttag halten konnte. Auf ein-
„mal entſtand ein Geſchrey ganz aus der Ferne (das Haus,
„worin wir waren, lag nach dem Felde zu, und nicht weit
„da-
[156]Eine Erzaͤhlung,
„davon ſtand etwas Holz, ſo jedoch nur aus einigen alten
„pollſoren und zottigt bemooßten Eichen beſteht) und zwar
„aus der Gegend dieſes Holzes, ſo daß alle Spatzierende
„ihre Ohren wie ihre Fuͤſſe dahin richteten. Ich ſagte zu
„meiner Frauen, wollen wir auch hingehen, wir haben
„doch nichts beſſers zu thun, weil es noch wohl eine Stunde
„waͤhren ſoll, ehe der Poſtillion, der dem einen Pferde
„noch ein Eiſen unterlegen laſſen muß, und ſeine Futter-
„ſaͤcke noch nicht angefuͤllet hat, fertig ſeyn wird. Ja,
„ſagte meine liebe Frau, wie du willſt, ich bin bereit, und
„es ſoll mir recht angenehm ſeyn, mich noch ein bisgen
„zu vertreten. Denn von dem Fahren ſind mir die Fuͤſſe
„etwas angelaufen, und da wir die Nacht fahren wollen,
„ſo iſts vielleicht in meinen Umſtaͤnden geſund, daß ich ein
„bischen gehe. Wir folgten alſo den uͤbrigen nach, und
„meine Frau haͤtte bald den einen Pantoffel verlohren, weil
„ſie ihre Schuh, wegen des vorerwehnteu Umſtandes aus-
„gezogen hatte. Wie wir auf dem Felde waren, hoͤrten
„wir immer mehr ſchreyen; ich dachte, was Henker mag
„da zu thun ſeyn, es giebt doch in dem Holze wohl keine
„Raͤuber, dieſe koͤnnen ſich gewiß nicht darin aufhalten, da
„ſich kaum ein Haſe darin verbergen kann; und wenn es
„auch waͤre: ſo ſind unſer ſo viel, daß ſie uns nichts thun
„ſollen. Doch war mir Angſt, meine Frau moͤgte ſich in
„ihren Umſtaͤnden erſchrecken, und ſo entſchloß ich mich,
„eben mit ihr wieder zuruͤck zu kehren, als ich ein lautes
„Gelaͤchter hoͤrte. Nun ſprach ich zu meiner Frau, hier
„wird gewiß nichts ſchreckhaftes ſeyn, wir wollen in Got-
„tes Namen hingehen. Wirf aber meinen Ueberrock uͤber
„dich, damit du dich nicht verkaͤlteſt, denn es war doch et-
„was friſch geworden, und ich hatte meinen Ueberrock, den
„ich auf der Reiſe zu tragen pflege, anbehalten. Wir
„giengen alſo getroſt fort. Wie wir hinkamen, ſahen wir
eine
[157]wie es viele giebt.
„eine Menge Volks um einen groſſen Baum verſammlet, und
„indem alle ſprachen, hoͤrten wir nicht was einer ſagte.
„Was iſt hier zu thun, ſagte ich zu einem Manne der bey
„mir ſtund, und der, wie es ſchien, etwas mehr war als
„die andern? O! nichts, war ſeine Antwort, es iſt ſchon
„fort; und wie ich mich weiter erkundigte, denn ich konnte
„unmoͤglich glauben, daß man um nichts ein ſolches Ge-
„ſchrey gemacht haben wuͤrde, ſiehe da, was meynen ſie
„wohl, was es war? Ich will es ihnen nur kurz und gut
„ſagen, denn wozu dient die Weitlaͤuftigkeit, es hatte eine
„groſſe Eule da geſeſſen.


So wird der Faden unſrer mehrſten Erzaͤhlungen aus-
geſponnen, ſo die Erwartung gemartert, und ſo betrogen.
Wahrlich ein grauſames Verfahren, da nichts aufrichtiger
iſt, als die menſchliche Begierde, etwas neues und wun-
derbares zu hoͤren; und es in der That eine Suͤnde iſt, die-
ſen edlen und gutherzigen Trieb, da er jetzt die angenehm-
ſte Befriedigung ſeiner Muͤhe hofft, in einem kalten Schauer
zu erſticken. Geſchieht dieſes nun vollends bey einer Mahl-
zeit, wo man dem Erzaͤhlenden zu Ehren, und um ihm mit
einem unverwandten Auge ſeine Aufmerkſamkeit zu bewei-
ſen, den Braten kalt, und den Wein warm werden laͤßt:
ſo hat man die Urſache der oͤftern uͤblen Verdanungen, der
daraus folgenden Koliken, und anderer gefaͤhrlichen Zufaͤlle
lediglich einem ſolchen Erzaͤhler zuzuſchreibe;


Zwar leidet er dafuͤr ſeine Strafe, wenn die ganze
Geſellſchaft, deren Ohren er mit der Witterung ſeiner Ge-
ſchichte an ſich gezogen hat, auf einmal durch ihr kaltſinni-
ges Schweigen ihren Eckel zu erkennen giebt. Allein man
kommt nicht zuſammen, um ein verdruͤßliches Strafamt
auszuuͤben, ſondern um ſich zu erheitern, und auch wohl
durch eine lehrreiche und ſcherzhafte Erzaͤhlung zu ergoͤtzen.


Alſo
[158]Alſo ſollte man das Dreſchen

XLI.
Alſo ſollte man das Droͤſchen bey offnem
Lichte nicht verbieten.


Es iſt eine Erfindung des gegenwaͤrtigen Jahrhunderts,
daß der Landmann nicht anders als am Tage oder bey
der Leuchte droͤſchen ſoll. Allein wenn man bedenkt, daß


  • 1) ein guter Haushalter in den Morgenſtunden vor
    Anbruch des Tages, und zwar in den kuͤrzeſten Tagen droͤ-
    ſchen laͤßt,
  • 2) jedesmal einer von den Droͤſchern ohne Licht auf
    den Boden ſteigen und die Garben herunter werfen muß,
  • 3) der Droͤſcher beym ſchlagen alle Flecke des Getrei-
    des unterſcheiden, und wann die Droͤſche gewand wird, ei-
    nen dicken Nebel von Staub um ſich dulden muͤſſen, be-
    ſonders wenn das Korn nicht recht trocken unter das Dach
    gekommen iſt,
  • 4) die Doͤhle zum Droͤſchen in den gemeinen Haͤuſern
    45 bis 55 rheinlaͤndiſche Fuß lang iſt,
  • 5) Die Leuchten von Horn, welche in Blech gefaſſet
    ſind, groſſe Zwiſchenraͤume haben, deren Schatten ſo viel
    breiter faͤllt, je weiter das Licht reichen ſoll,
  • 6) das Horn auswendig vom Staube und inwendig
    vom Oeldampfe geſchwind verdunkelt wird,
  • 7) eine verſchloſſene Leuchte faſt noch einmal ſo ſtark
    zehret, und alſo noch eine oͤftere Nachfoͤrderung des Dachts
    erfordert, als eine ofne Lampe,
  • 8) Der Landmann, wo er noch einiges Licht davon
    haben will, anſtatt des Ruͤboͤls oder Rapſaatoͤls, was ihm
    zu-
    [159]bey offnem Lichte nicht verbieten.
    zuwaͤchſt, fremden Theer gebrauchen muͤſſe, indem erſte-
    rer mehr Dampf von ſich giebt als letzterer, und das Horn
    ganz verdunkelt, mithin im Stifte Oßnabruͤck jaͤhrlich fuͤr
    10000 Thlr. Theer mehr als ſonſt erfordert wird,
  • 9) die Leuchten mit Glaß mehrentheils eben denſelben
    Unbequemlichkeiten unterworfen, und dabey zerbrechlicher
    ſind, als die von Horn,
  • 10) in den Nebenhaͤuſern faſt durchgehends zwey Fa-
    milien wohnen, worin die eine bey demſelben Lichte ſpinnet,
    und die andre droͤſchet; dieſes aber wohl bey einem Lichte
    aber nicht bey einer Leuchte geſchehen kann; und
  • 11) kein Beyſpiel vorhanden iſt, daß von dem offnem
    Lichte, welches in den groſſen Haͤuſern, wo die Doͤhle 30
    bis 34 Fuß, und die Droͤſche nur 10 Fuß breit gemacht
    wird, an der Wand, in den Nebenhaͤuſern hingegen un-
    ter dem Feuer-Rahmen haͤngt, jemals ein Feuer ent-
    ſtanden ſey:
  • ſo wird man leicht erkennen, daß jene Policeyanſtalt
    aus dem Cabinet eines ſpeculirenden Cammerraths gekom-
    men ſey; und eine Leuchte die Forderungen, welche 1 2 3
    und 4 erwehnen, nicht befriedigen; wegen des bey 5 6 7
    8 entſtehenden Schadens aber zu verwerfen ſey.


Das
[160]Das Pro und Contra

XLII.
Das Pro und Contra bey einer Oßna-
bruͤckiſchen Landes-Ordnung, nach welcher je-
des Kirchſpiel ſich eine Feuerſpruͤtze
zulegen muſte.


Sagen Sie mir doch, ums Himmels willen, mein lieber
Herr! warum ſollen die Hausleute, welche hier,
wie bekannt nicht im Dorfe ſondern einzeln ganze Stunden
und weiter davon entfernt wohnen, zu den verordneten
Feuerſpruͤtzen und Feuergeraͤthſchaften etwas beytragen,
da ſie nicht die allermindeſte Huͤlfe davon zu erwarten ha-
ben? Denn wenn


  • 1) ein ſolches einzelnes entferntes Strohdach brennt:
    ſo wird die Spruͤtze aus dem Dorfe, wenn ſie anch auf
    Raͤdern ſteht, viel zu ſpaͤt kommen: Es werden
  • 2) die Zober mit Waſſer auf Schleiffen niemals in Ge-
    buͤrgen und auf der Heide gebraucht werden koͤnnen. Sie
    dienen nur an wohlgepflaſterten ebenen Orten. Die groſ-
    ſen Feuerleitern von 36 Fuß koͤnnen
  • 3) bey einem brennenden niedrigen Strohdache ſo we-
    nig gebraucht als angelegt, oder einige Stunden weit auf
    der Achſel fortgetragen werden. An den mehreſten Or-
    ten fehlt
  • 4) das Waſſer, um eine Spruͤtze zu fuͤllen; und da
  • 5) ſehr viele Kirchſpiele 4 bis 5 Stunden im Umkreis
    haben, kein Nachbar den andern abrufen, der Kuͤſter im
    Dorfe den Brand in der entlegenen Bauerſchaft ſelten ein-
    mal ſehen, und noch weniger den Klang ſeiner Glocke durchs
    ganze
    [161]bey einer Oßnabruͤck. Landesordnung.
    ganze Kirchſpiel, um die Leute zu verſammlen, erſchallen
    laſſen kann; warum ſollen denn die einzelnen Hausleute
    zu dieſen Anſtalten gezogen; warum ſollen ſie mit der Auf-
    ſicht der Feuergeraͤthſchaften belaſtet, warum ſollen ſie be-
    ſtrafet werden, wenn im Dorfe, worinn der Bauerrichter
    nichts zu ſagen hat, nicht alle Feuergeraͤthe in richtiger Ord-
    nung ſind? Und wie iſt es
  • 6) billig, daß die Unkoſten aus der Mark, worinn
    oft die Dorfgeſeſſene nicht einmal intereßiret ſind, genom-
    men werden? Koͤnnen endlich
  • 9) Beamte ermeſſen, ob es am dienſamſten ſey, die
    Koſten aus der Mark oder aus der Bauerrechnung zu neh-
    men? Wenn der Holzgrafe mit ſeinen Markgenoſſen es nicht
    dienlich findet, die Mark damit zu beſchweren: ſo bleibt den
    Beamten in hieſigem Stifte keine andere Ermaͤßigung oder
    Anordnung uͤbrig, als das Kirchſpiel zur Anſchaffung der
    Feuerſpruͤtzen aus der Kirchſpiels oder Bauerrechnung an-
    zuhalten. Alles dieſes iſt ſo klar, ſo gewiß und ſo unwi-
    derleglich, daß ich demjenigen hundert Ducaten verſpreche,
    der mir mit geſunder Vernunft ein Wort darauf antworten
    kann. Ich bin …


XLIII.
Antwort.


Nur geſchwind die hundert Ducaten ausgezahlt. Das
Publicum wird mir ſolche gewiß zuerkennen. Ha-
ben Sie denn nicht ihre Kirche, ihre Pfarr- und Schulhaͤu-
ſer im Dorfe? Liegt nicht auch mehrentheils das Vogtey-
Haus darin? Und iſt das ganze Kirchſpiel nicht ſchuldig,
wenn dieſe abbrennen, zu deren Wiederaufbauung zu Huͤlfe
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Lzu
[162]Antwort
zu kommen? Geſetzt nun auch, Spruͤtzen, Leitern und Zu-
ber dienten blos im Dorfe, und auf ebenen Pflaſter, wuͤr-
den denn nicht jene wichtige Gegenſtaͤnde allein hinreichen,
die Vorſorge der Obrigkeit zu rechtfertigen? Iſt nicht die
Leiter von 36 Sproſſen dem Kirchdache gerecht? Und ſind
nicht kuͤrzere Leitern, welche zu andern Haͤuſern dienen koͤn-
nen, uͤberall ſo haͤufig, daß man ihre Anſchaffung von
Obrigkeitswegen nicht erſt verordnen darf?


Wiſſen Sie auch wohl ferner, daß die einzelnen Haus-
leute mit den Dorfgeſeſſenen in der Brand-Societaͤt gleiche
Gefahr tragen? Der Feuerſchade im Dorfe, wo die Haͤu-
ſer an einander ſtehen, laͤuft gleich auf zehn und zwanzig
tauſend Thaler; in den letzten ſechs Jahren vor Errichtung
der Brandcaſſe, brannten neun Flecken und Doͤrfer ab;
und ſeit der Zeit iſt, dem Hoͤchſten ſey Dank! keinem ein
ſolches Ungluͤck wiederfahren. Was meynen Sie aber,
wenn wir nur ein oder zwey dergleichen Ungluͤcksfaͤlle er-
lebten; ſollte den einzelnen Hausleuten, als Societaͤtsgenoſ-
ſen, der Schade nicht hoͤher kommen, als der geringe Bey-
trag zu den Feuerſpruͤtzen?


Und wo iſt ein Kirchſpiel, das nicht groſſen Antheil
am Dorfe habe? Sind ihnen die Dorfgeſeſſenen nicht ins-
gemein ſchuldig? Verheuren ſie ihnen nicht ihre Laͤndereyen?
Verkaufen ſie ihnen nicht ihr Holz? Und wuͤrde es nicht
das ganze Kirchſpiel am mehrſten empfinden, wenn die
Haͤuſer der Dorfgeſeſſenen im Feuer aufgiengen? wenn ſie
keine Landheuer mehr bezahlen und kein Holz mehr kaufen
koͤnnten? Muß denn nicht auch der Hausmann einige Ach-
tung gegen die Schenke im Dorfe und gegen alle die Be-
quemlichkeiten haben, welche ihm aus dem Dorfe zu-
wachſen?


Die Zuber auf Schleiffen ſind nicht ſo ſtrenge verord-
net, daß ſie nicht auch unter Ermaͤßigung der Beamte, an
Or-
[163]auf vorher Stehendes.
Orten wo gar kein Pflaſter und die Gegend hoͤckericht iſt,
Waſſerfaͤſſer auf zwey Raͤdern dafuͤr anlegen moͤgen. So
viel Vernunft hat man einem jeden ſelbſt zugetrauet. An
den mehrſten Orten hat man dergleichen Waſſerfaͤſſer, wel-
che hinten am Boden ein groſſes Zapfloch haben. Dane-
ben haͤngt ein Hammer an einer eiſernen Kette; mit dieſem
ſchlaͤgt man das Zapfloch ein; und dieſes iſt gerade ſo hoch,
daß es auf die Spruͤtze paßt. Ein einzelner Mann fuͤhret
dieſen Waſſerkarrn geſchwinder fort, als ein Pferd den Zu-
ber mit der Schleiffe. Laſſen Sie in ihren Gegenden der-
gleichen auch machen. Der Beamte wird ihnen gewiß
nicht zuwider ſeyn; da der Endzweck der Verordnung er-
reicht wird.


Finden Sie es aber nunmehro noch unbillig, daß die
Koſten zu dieſem heilſamen Werke aus der Mark genommen
werden? Was iſt die Abſicht der Landesregierung hiebey
geweſen? Iſt es nicht dieſe, daß die Sache ſelbſt dadurch
erleichtert; die adlichen und andere Markgenoſſen, welche
zur Bauerrechnung nichts beytragen, auf eine anſtaͤndige
und billige Art mit dazu gezogen, und die Koſten, ohne
daß es jemand in ſeinem Beutel empfaͤnde, beſtritten wer-
den moͤchten? Darf man nicht auch hoffen, daß die Holz-
grafen billig genug ſeyn werden, bey einer ſolchen Gele-
genheit ihre Gebuͤhren und Aufkuͤnfte von dem gemeinen
Grunde, welcher dazu aus der Heide oder aus der Mark
verkauft wird, und wovon ihnen ſonſt der dritte Pfennig
gebuͤhret, gern zu ſchenken?


Bey dem allen iſt der Mark nichts aufgezwungen. Es
beruhet auf der Markgenoſſen ihren freyen Willen, ob ſie
es thun wollen, oder nicht. Sie koͤnnen dieſe ihnen den
ſtrengſten Rechten nach nicht obliegende Koſten, mit einem
Worte, von ſich ablehnen, und der Bauerrechnung zuwelzen.
Alsdenn aber koͤnnen diejenigen, ſo zur letzten nichts bey-
L 2tragen,
[164]Von beſſerer Einrichtung
tragen, auch ohne Huͤlfe brennen. Die ſchatzbaren Unter-
thanen ſind unverbunden, ihnen mit ihren Feuergeraͤthſchaf-
ten zu dienen.


Und wie koͤunen Sie einen Eingrif der Beamte in
Privatmarken fuͤrchten? Dieſe muͤſſen doch erſt die Kirch-
ſpielsleute verſammlen, und ſie befragen, ob ſie die Feuer-
geraͤthſchaften aus der Mark, oder aus der Bauerſchaft zu
nehmen wuͤnſchen. Erwaͤhlen ſie das erſtere: ſo verweiſet
ſie der Beamte zu ihrem Holzgrafen; und kommen ſie da-
her fruchtlos zuruͤck, oder bringen das Geld aus der Mark
mit, ſo macht der Beamte im erſten Fall dieſe Policeyan-
ſtalt aus der Kirchſpielsrechnung, und im letztern ſieht er
zu, daß die Gelder recht angewandt und alle Abſichten der
Verordnung gemaͤs erreichet werden. Anders kann die
Sache mit Ordnung nicht geſchehen. Dies iſt der Inhalt
der Verordnung, und wer kann oder wird bey den loͤblich-
ſten und billigſten Abſichten vermuthen, daß es darauf an-
geſehen ſey, die Holzgrafen den Beamten zu unterwerfen?


Ich erwarte die hundert Ducaten und bin



XLIV.
Von beſſerer Einrichtung des Laufs
der Steckbriefe.


Die Verſchiedenheit der Territorien im weſtphaͤliſchen
Kreiſe haͤlt die gemeine Kreisbeſtellung oft ſehr auf.
Wir haben aber doch noch im letztern Kriege ihren Nutzen
geſehen, wenn ohne Ruͤckſicht auf jene Verſchiedenheit die
Beſtellungen der Armee in einer Kette fortliefen. Von
Stunden zu Stunden waren Ordonnanzen, und die Befehle
durch-
[165]des Laufs der Steckbriefe.
durchliefen einen Kreis von zwanzig Meilen in der groͤßten
Geſchwindigkeit.


Auf gleiche Art ſollten die gemeinen Kreisbeſtellungen,
und beſonders die offnen Steckbriefe ihren Lauf haben. Es
iſt nicht genung, wenn ſelbige jetzt nur eine Linie gehen.
Selbige muͤßten ſich ſofort auf alle Kreuzſtraſſen und Neben-
wege verbreiten, und in ihrem Fortlauf vervielfaͤltigen koͤn-
nen. Wir wollen davon ein Beyſpiel geben:


Ein Steckbrief ſoll die Straſſe von Frankfurt hinaus-
laufen, ſo muͤßte


  • 1) derſelbe erſtlich ſeine einmal feſtgeſetzte und bekannte
    Route, ohne daß man eine Direction dabey zu geben ge-
    brauchte, halten; es muͤßte
  • 2) die Minute der Ankunft und des Ablaufs darauf
    notirt, und auf die geringſte Verſaͤumniß eine Strafe ge-
    ſetzt ſeyn, was ich aber hauptſaͤchlich vorzuſchlagen habe,
    iſt dieſes, daß
  • 3) auf jeder Station eine beſtaͤndige Vorſchrift ſeyn
    muͤßte, wie vielmal jeder dort ankommender Steckbrief co-
    piirt, und auf beyde Seiten abgeſchickt werden ſollte. Je-
    der Hauptnebenort muͤßte wieder ſeine Vorſchriften haben,
    wie vielmal er dort copiirt, und wiederum in kleinere Ne-
    benorte verſandt werden ſollte. Auf dieſe Art fiſchte man
    mit einem Garn von drey bis ſechs Meilen in die Breite;
    alle von der Franfurter Straſſe rechts und links abliegen-
    de Orte wuͤrden mit gleicher Schnelligkeit benachrichtiget,
    und es muͤßte erſchrecklich ſeyn, wenn ein Steckbrief der in
    der Zeit von 24 Stunden gewiß 8 Meilen laufen, und
    mehr als hundert mal copiirt ſeyn kann, (wenn auf jeder
    Station zuerſt nur eine Copey behalten, und ſolche immittelſt,
    daß die eine fortlaͤuft, von neuem abgeſchrieben wird), nicht
    L 3meh-
    [166]Ein ſicheres Mittel
    mehrentheils ſeinen Endzweck erreichen ſollte. Wenn auf
    dieſe Weiſe aus einem Hauptorte ein Steckbrief auf vier
    Hauptſtraſſen ausgeht, ſo muß er in 24 Stunden vierhun-
    dertmal copiirt, und der Kreis dieſes Hauptorts auf 16
    Meilen im Durchſchnitt berennet ſeyn.

Es waͤre dieſes vielleicht auch ein Mittel, deſſen ſich die
mit einauder Cartel habenden Kreisſtaͤnde gegen die Deſer-
teurs bedienen koͤnnten.



XLV.
Ein ſicheres Mittel, das gar zu haͤufige
Coffeetrinken, abzuſchaffen.


Die Erfahrung hat es gewieſen, daß alle bisherigen
Verordnungen *) und Anſtalten einzelner Reichsſtaͤn-
de gegen das Coffeetrinken wenig oder nichts gefruchtet ha-
ben, und man kann, ohne eben ein groſſer Prophet zu ſeyn,
wohl vorher ſagen, daß dieſelben kuͤnftig ein gleiches Schick-
ſal haben werden. Wenn aber ſaͤmtliche Reichsſtaͤnde, wel-
che die Handwerksmißbraͤuche ſo oft ihrer Aufmerkſamkeit
gewuͤrdiget haben, ſich dahin vereinigten, daß kuͤnftig der
Handel mit Coffee einzig und allein in den Haͤnden der
Obrigkeit ſeyn, und dieſe bey Strafe von hundert Mark
loͤthigen Goldes keinem andern dieſen Handel in ihrem Lande
geſtatten, und ſelbſt das Pfund nicht unter einen Gulden
verkaufen laſſen ſollte: ſo wuͤrde dieſes nicht allein ein groſ-
ſer
[167]das haͤufige Coffeetrinken abzuſchaffen.
ſer Vortheil fuͤr die Staͤdtiſchen Caͤmmereyen oder Steuer-
caſſen, ſondern auch ein ſicheres Mittel ſeyn, den gar zu
haͤufigen Gebrauch des Coffeetrinkens einzuſchraͤnken.


Daneben wuͤrde jeder Reichskreis aus dieſem Vortheile
leicht die noͤthigen Beſoldungen finden, um die auf allen
Graͤnzen zu beſtellenden Aufſeher zu belohnen, und es da-
mit in die Wege richten, daß kein Coffee fuͤr Privatperſo-
nen durchgelaſſen wuͤrde. Es verſtehet ſich dabey von
ſelbſt, daß in den deutſchen Seeſtaͤdten aller Coffee in des
Magiſtrats Magazin abgeliefert, und von demſelben an die
inlaͤndiſchen Magiſtraͤte ſpedirt, auch gar kein Coffee ins
Reich als aus deutſchen Seeorten zugelaſſen wuͤrde.


Bey dieſen Anſtalten brauchte man den gehaͤßigen Un-
terſchied zwiſchen Vornehmen und Geringern, Reichen und
Armen gar nicht zu machen; ſondern ein jeder, der ſeinen
Gulden fuͤr das Pfund bezahlte, haͤtte vor wie nach die
Freyheit, denſelben nach eigenem Belieben zu trinken; und
die Magiſtraͤte ſorgten dafuͤr, daß allezeit guter Coffee ver-
kaufet wuͤrde. Vielleicht folgten andre benachbarte Rei-
che, welche keine Coffeeplantagen haben, dieſem Exempel,
und legten durch ihre gemeinſchaftlichen Bemuͤhungen den
Grund zu Europens Gluͤckſeligkeit.



XLVI.
[168]

XLVI.
Von der Wuͤrkung des Oels, beym
Ungeſtuͤm des Meeres.


Es iſt jetzt den Naturkuͤndigern eine neue Erſcheinung,
daß das Oel ins Meer geſchuͤttet, die Wuth der Wellen
beſaͤnftige, und die See rings um das Schiff auch mitten
im Sturm eben mache. Die Kunſt ſelbſt iſt aber doch
ſchon lange bekannt. Denn es wird unter die Wundertha-
ten des heiligen Cudberts gerechnet, daß er einem Prieſter
Oel auf die See mitgegeben habe, womit derſelbe den Sturm
geſtillet. Cudbert ſagte zu ihm:


Petis æquor vt altum
Obvius adverſo inſurget ſeptentrio Flatu
Venti ſed fremitus tempeſtatesque ſonoras
Chriſmate quod dederim promptim lenire memento.
Vnguine tunc ſumto nautae praepinguis olivi
Aequora deſcendunt, velique patentibus alis.
Sulcabat medium puppis ſecura profundum
Cum ſubito gravis inſtat hiems furit undique pontus
Tardans abreptae veſtigia coepta carinae
Immiſſo tandem pinguis medicamine guttae
Manſuefacta feros componens unda tremores
Pandit iter laetum etc.

Beda de S. Cudberto Ep. Lindisfarnenſi
beym CANISIO Lect. ant. T. II.
p. 8. Ed. Baſn.


Es muß aber doch noch damals ein Geheimniß gewe-
ſen ſeyn, weil Cudbert das Oel weihete.


XLVII.
[169]

XLVII.
Von den erſten oͤffentlichen Anſtalten zum
Seidenbau im Hochſtifte Oßnabruͤck.


Man hat ſeit einigen Jahren ſehr viel Geraͤuſch vom
Seidenbau gemacht; ich glaube aber doch, daß hier
im Stifte eher als in einer andern Gegend Weſtphalens
eine groſſe Hand daran gelegt worden. Dafern wir aber
auch nicht die erſten geweſen ſeyn ſollten: ſo iſt doch alle-
mal billig, den Namen des ehrlichen Mannes der dankba-
ren Nachwelt aufzubewahren, der ſeine Zeiten mit einem
neuen Nahrungszweige bereichern wollen.


Weiland Ihro Koͤnigl. Hoheit Ernſt Auguſt der II.;
einer von den guten Landesvaͤtern, womit die goͤttliche Fuͤr-
ſehung noch dann und wann ein kleines Laͤndgen begluͤcket,
ſind es, welche zuerſt im hieſigen Stifte den Seidenbau
einzufuͤhren ſich bemuͤhet haben. Aus der daruͤber abgeleg-
ten Rechnung erhellet, daß Hoͤchſtdieſelbe im October 1727
den damals ſogenannten Biermanskampf vor dem Johan-
nisthor, nebſt einem Stuͤcke Landes vor 1575 Thaler zu
einer Maulbeerplantage haben kaufen, und ſolchen noch den-
ſelben Winter, nachdem die Pflanzung am 24. Nov. d. J.
ihren Anfang genommen, voͤllig bepflanzen laſſen. Die
daruͤber gefuͤhrte Taglohnsrechnung geht bis zum Aug. 1728,
und folglich bis an den Tod eines Herrn, der mehr ſeine
Liebe als ſeine Groͤſſe zu verewigen ſuchte.


Die Aufſicht daruͤber hatte einer Namens Fenoglio,
welchen der Herzog als Truͤffelnjaͤger aus Italien hattte
kommen laſſen; und da in deſſen Rechnung unterm 5ten
Aug. 1718 bereits einiges Haſpelgeld zur Ausgabe kommt:
L 5ſo
[170]Von den erſten oͤffentlichen Anſtalten
ſo mag damals die erſte Oßnabruͤckiſche Seide durch eine
oͤffentliche Anſtalt gewonnen ſeyn.


Vordem war es Mode die Biſchoͤfe auf Muͤnzen und
Siegeln mit einer ſegnenden Hand vorzuſtellen. Die neu-
ern Zeiten haben dieſen charakteriſiſchen Zug nicht du bon
ton
gefunden. Die Nachwelt wird ſich aber noch immer
vor Hoͤchſtgedachten Biſchof mit einer ſegnenden Hand ge-
denken.


So groß und edel indeſſen die damalige Abſicht mit dem
Seidenbaue geweſen: ſo duͤrfte dennoch in den hieſigen Ge-
genden allemal mit dem Flachsbau und der Spinnerey mehr
zu gewinnen ſeyn. Nur ſolchen Laͤndern, deren Einwoh-
ner des Tages von wenigen Caſtanien und einer Zwiebel
leben koͤnnen, thut er gut.



XLVIII.
Von den erſten oͤffentlichen Anſtalten zur
Befoͤrderung der Bienenzucht daſelbſt.


Nicht allein die Dankbarkeit, ſondern auch die Klugheit,
erfordert es, das Andenken ſolcher Handlungen, wo-
durch groſſe Herrn das Gluͤck ihrer Staaten in der Stille
zu befoͤrdern geſuchet haben, nicht untergehen zu laſſen.
Denn da ſie ſowol als andre Menſchen nach Ehre ſtreben,
und wenn man ihren nuͤtzlichen Handlungen nicht das ge-
buͤhrende Lob giebt, ſolche in glaͤnzenden und koſtbaren, ja
wohl gar in zerſtoͤrenden ſuchen muͤſſen: ſo iſt es eine noth-
wendige Politik der Unterthanen, Ihnen auch aus dem
Munde der Saͤuglinge ein Lob zu bereiten, damit ſie nicht
immer durch die Trommeln und Pfeiffen der Heldendichter
betaͤubt werden.


Man
[171]zur Befoͤrderung der Bienenzucht.

Man darf und muß es alſo zum Ruhme Ihrer Koͤnigl.
Hoheit Ernſt Auguſt II. noch erwehnen, daß Hoͤchſtdieſelbe
die jetzt noch in guter Aufnahme ſtehende Wachsbleiche vor
hieſtger Stadt ehedem angelegt, und zur Befoͤrderung der-
ſelben die Bienenzucht in hieſigem Hochſtift durch folgende
Verordnung zu verbeſſern gedacht haben.


Von Gottes Gnaden, Ernſt Auguſt, Herzog von York
und Albanien, Biſchof zu Oſnabruͤck, Herzog zu Braun-
ſchweig und Luͤneburg ꝛc. ꝛc. Unſere Gnade zuvor, Ed-
ler, liebe Getreue! Wir haben ſehr mißfaͤllig wahrge-
nommen, daß in dieſem Fuͤrſtenthum und Hochſtifte auf
die Bienenzucht gar wenig geleget werde, da dieſelbe je-
doch denen Unterthanen ein anſehnliches proſttiren kann;
wann wir nun, wie euch bereits bekannt, zu Befoͤrde-
rung des Commercii eine Wachsbleiche hieſelbſt anlegen
zu laſſen, gnaͤdigſt reſolvirt haben, und zu deren Eta-
blirung eine groſſe Quantitaͤt gelben Wachſes von Jah-
ren zu Jahren erfordert wird. Als ergehet an euch
hiemit Unſer gnaͤdigſter Befehl, daß ihr in dem euch
gnaͤdigſt anvertrautem Amte zu introduciren, damit, ſo
oft ein neuer Colonus auf die Staͤtte, es ſey ein voll-
oder halbes Erbe, ein Erb- oder Markkotte, gelaſſen
wird, derſelbe eine gewiſſe Anzahl Bienenſtoͤcke an- und
zuzulegen ſich verpflichten muͤſſe, und zwarn ein Voll-
ſpanner, oder ein Colonus ſo auf ein volles und auf
ein halbes Erbe zu wohnen koͤmmt (maſſen dieſe wohl
gleich tractiret werden koͤnnen) wenigſtens 12 Koͤrbe,
ein Erbkoͤtter 6, und ein Markkoͤtter 4, auch denen
Umſtaͤnden nach 3, zum wenigſten aber 2 Stoͤcke an-
lege, da dann der hieraus kommende Vortheil denen
Unterthanen zu ſtatten kommen, dieſelbe aber dabey ver-
pflichtet ſeyn ſollen, vor einen gewiſſen, hiernaͤchſt de-
ter-
[172]Von Befoͤrderung der Bienenzucht.
terminirenden billigen Preis das Wachs davon zu Un-
ſerer Hofſtadt anhero zu lieferen.


Auch habt ihr denen ſaͤmtlichen Voͤgten daſigen Amts
in Unſerm Namen ernſtlich anzubefehlen, daß ſie hieruͤber
ſtets ein wachſames Auge haben, und diejenigen, welche
ſich hierunter nachlaͤßig bezeigen, oder aber die Bienen
anfaͤnglich zwar zulegen und nachgehends dieſelbe nicht
conſerviren, beym Amte gebuͤhrend anmelden ſollen,
damit ſie deshalben nach eines jeden Vermoͤgen mit einem
proportionirten Bruͤchten beleget werden koͤnnen. Ihr
habt ſo viel an euch mit allem Nachdruck hieruͤber zu
halten, und Wir verbleiben euch mit Gnaden gewogen.
Geben in Unſerer Reſidenz-Stadt Oßnabruͤck den 9ten
May 1719.


Die Verordnung iſt bis zur Unterſchrift fertig, aber ſo
viel ich weiß, an die Beamte nicht abgeſchickt worden.
Vielleicht haben Hoͤchſtdieſelbe es bedenklich gefunden, den
Fleiß durch Strafen zu befoͤrdern; oder doch einen An-
ſtand genommen, neue Bruchfaͤlle fuͤr gemeine Unterthanen,
ohne Zuziehung der Landſtaͤnde einzufuͤhren. Der Vorſatz
an ſich bleibt immer groß und ſchoͤn, und waͤre es zu wuͤn-
ſchen, daß kein Gutsherr einen Anerben in den Gegenden
wo die Bienenzucht vortheilhaft iſt, zur Staͤtte laſſen moͤg-
te, wofern er nicht eine ſichere Anzahl Bienenſtoͤcke gezo-
gen, und ſich durch dieſe Probe als ein guter Haushalter
legitimiret baͤtte.



XLIX.
[173]

XLIX.
Nachricht von den Streitigkeiten der
ehemaligen deutſchen und engliſchen
Handels-Compagnie.


Die Streitigkeiten zwiſchen der deutſchen Hanſe und
der engliſchen Compagnie, welche zuerſt die Bruͤ-
derſchaft des H. Thomas Becket,
nachwaͤrts aber the
Societie of Marchants Adventurers
genannt wurde,
und wovon noch jetzt ein Reſt in Hamburg iſt, koͤnnen
noch manchen Patrioten zur Erbauung dienen; und ſind
auch nicht ganz unwichtig fuͤr die deutſche Staatsge-
ſchichte a). Ich glaube alſo nichts uͤberfluͤßiges zu thun,
und vielleicht manchem eine Neuigkeit zu ſagen, wenn ich
einiges davon aus der hierunten bemerkten Schrift b) bey-
bringe.


Der
[174]Nachricht von den Streitigkeiten

Der Verfaſſer dieſer Schrift, John Wheeler, Secre-
tair der engliſchen Geſellſchaft, ſchrieb bald nach dem Zeit-
punkte, worinn der Kayſer Rudolph der II. auf unablaͤßi-
ges Anhalten der deutſchen Hanſe jener engliſchen Compag-
nie in Deutſchland c); und die Koͤnigin Eliſabeth der Hanſe
zur Wiedervergeltung in England d) alle fernere Handlung
unterſagt hatte. Seine Abſicht iſt zu zeigen, daß England
ſeine ganze Wohlfahrt den Marchants Adventurers zu
danken, und folglich alle Urſache habe, ſich ihrer mit Macht
anzunehmen; ferner daß dieſelben wie ſie vom Kayſer und
der deutſchen Hanſe beſchuldiget wuͤrden, keine Monopoli-
ſten waͤren; und letztlich, daß die deutſcheu Kaufleute aus
der Hanſe der engliſchen Handlung uͤberall den groͤßten
Schaden zugefuͤgt haͤtten.


Der Handel wurde damals ſowohl in Deutſchland als
in England durch Compagnien getrieben, weil einzelne
Schiffe nicht ſicher waren, und die Kauffarthey-Flotten
durch Kriegesſchiffe, dergleichen nur eine Compagnie zu-
wege bringen konnte, begleitet werden mußten; und keinem
Kaufmanne wurde ein auswaͤrtiger Handel geſtattet, wo-
fern er nicht ein Mitglied der Compagnie war. Dieſes
veranlaſſete eine gewiſſe einfoͤrmige Handlungspolicey, nach
welcher ſich alle Mitglieder im Kaufen und Verkaufen rich-
ten muſten, ſo daß einer dem andern den Haudel durch
Vorkauf oder Vorverkauf e) nicht verderben konnte. Man
hatte zu ſolchem Ende gewiſſe Marktſtaͤdte, und in denſel-
ben
[175]der deutſch. und engl. Handelscompagnie.
ben gewiſſe Orte und Tage feſtgeſetzt, auſſer welchen keine
Handlung getrieben werden konnte. Die Hanſe hatte fuͤr
England in London, fuͤr Norwegen zu Bergen, fuͤr Ruß-
land zu Novogrod, und fuͤr die Niederlande, Frankreich,
Spanien, Italien, Portugall, Pohlen und Ober-Deutſch-
land zur gluͤcklichſten Zeit zu Antwerpen ihre Meſſe oder
ihreu Markt. Die engliſchen Kaufleute hingegen, welche
noch gar nicht das deutſche Meer und die Oſtſee befuhren,
hatten zur Zeit nur eine Marktſtadt in den Niederlanden,
und mehrentheils mit der Hanſe an einem Orte, erſt zu
Bruͤgge, dann zu Calais, hernach zu Antwerpen und zu-
letzt zu Middelburg, Berg-Opzoom, Emden, Hamburg,
Stade ꝛc.


Der Erfolg dieſer Policey, oder dieſes allein auf die
Marktſtaͤdte eingeſchraͤnkten Handels, war fuͤr die Orte,
wohin ein ſolcher Markt verlegt wurde, erſtaunlich, und
beruhete auf eben den Gruͤnden, worauf die ſpaͤtern Zeit-
meſſen, denn jenes waren beſtaͤndige Meſſen, beruhen.
Die ganze handelnde Welt fand ſich an demſelben zum Kau-
fen und Verkaufen ein; alle Nationen, oder vielmehr de-
ren Compagnien ſetzten in demſelben ihre Waare gegenein-
ander um. Die Fabriken kamen in den Gegenden, worin
eine ſolche Stadt lag, zum hoͤchſten Flor; und die Nieder-
lande, beſonders Flandern und Braband hatten ihre ganze
Aufnahme der Bequemlichkeit den Stapel von allen rohen
Materialien in der Naͤhe, und den Markt zum Abſatz gleich-
ſam vor der Thuͤr zu haben, einzig und allein dieſer Ein-
richtung zu danken. Man kann ſich davon ungefaͤhr eine
Vor-
e)
[176]Nachrichten von den Streitigkeiten
Vorſtellung machen, wenn man an den gluͤcklichen Einfluß
der Leipziger Meſſe, auf die umliegende Gegend, gedenket.


Der Verfaſſer merkt es von Antwerpen an, daß wie
die Marchants Adventurers zuerſt ihren Markt daſelbſt
errichtet haͤtten, die Haͤuſer daſelbſt noch mit Stroh ge-
deckt geweſen waͤren, und die Einwohner blos vom Acker-
bau und der Viehzucht gelebt haͤtten; ihre Schiffart haͤtte
aus ſechs Barken, die jedoch nur auf dem Strome waͤren
zu gebrauchen geweſen, und die ganze Kaufmannſchaft aus
vier Kraͤmern beſtanden. So bald aber die Compagnie
dieſe Stadt zum Marktplatze erwaͤhlt, waͤre ſie zu einem
bewundernswuͤrdigen Wohlſtande gediehen, und Haͤuſer,
die man anfangs vor 40 bis 60 Thaler gemiethet, waͤren
in der Zeit von 50 Jahren auf die jaͤhrliche Miethe von
400, 600, ja 800 Thaler geſtiegen. Zum Behuf ſeines
erſten Satzes, daß England jener Compagnie allein die
Groͤſſe ſeiner Handlung zu danken habe, fuͤhrt der Verfaſ-
ſer unter andern an: Es waͤren vorher, die Kriegesſchiffe
ausgenommen, nicht vier Schiffe auf der Themſe geweſen,
und keines davon haͤtte uͤber 120 Tonnen gehalten: die
Compagnie haͤtte zuerſt (1248) von dem Herzog Johann in
Braband einen freyen Stapel und die freye Handlung in
den Niederlanden erhalten; ſie haͤtte zuerſt die engliſche
Wolle auf den dortigen Markt, und den Handel damit zu
einer ſolchen Hoͤhe gebracht, daß der Ausgangszoll in Eng-
land auf die Wolle des Jahrs gemeiniglich zwiſchen 65 bis
70000 Pf. St., und im Jahr 1355, als das Parlament
dieſen Zoll dem Koͤnig auf 6 Jahr verwilliget, und jeden
Sack Wolle mit 50 ß. St. belegt, uͤber 250,000 Pf. St.
betragen, welches gewiß eine ungeheure Summe fuͤr die
damaligen Zeiten waͤre; man haͤtte damals die Ausfuhr der
Wolle auf 100000 Saͤcke gerechnet; als Koͤnig Eduard
der
[177]der deutſch. und engl. Handelscompagnie.
der Dritte die erſte Tuchweberey in England angelegt,
und zu ſolchem Ende den Zoll auf die Wolle erhoͤhet, das
Tuch hingegen ſehr leidlich belegt haͤtte, waͤren ſie diejeni-
gen geweſen, welche damit zuerſt die Niederlaͤndiſche Markt-
ſtadt beſucht; ſie haͤtten bald 60000 Stuͤck weiſſe Tuͤcher
und eine groſſe Menge von gefaͤrbten, von Boyen, Kyr-
ſeys, Norder und andern ſchlechtern Tuͤchern, wovon jene
uͤber 600,000 und dieſe uͤber 400,000 Pf. Sterling
werth geweſen, ausgefuͤhrt; damit die Niederlaͤndiſchen
Fabriken, welche vorhin die engliſche Wolle verarbeitet,
und denen zu Ehren die Koͤnige von Spanien das goldne
Fließ getragen, weil ſie von den dort fabricirten Wollen-
waaren ihre beſten Einkuͤnfte gehabt, geſtuͤrzt, und mit
ihren auf eine lange Erfahrung gebaueten Handlungspoli-
tik zuerſt ihren Koͤnigen und der Nation die Augen geoͤfnet,
indem ſie von den andern Nationen nur rohe Materialien,
und hoͤchſtens ſolche Waaren erhandelt, welche in England
nicht waͤren gemacht worden. Sie haͤtten in der Nieder-
laͤndiſchen Marktſtadt ihren eignen Oberrichter mit 24 Bey-
ſitzern gehabt, die auf Ordnung und Polizey, und in allen
groſſen Staͤdten wiederum Conſuls gehalten, um von dem
Laufe der Handlung und dem Beduͤrfniß der ganzen Welt
Nachricht zu haben. Ihre Handlungsrechte waͤren die be-
ruͤhmteſten in der Welt, und ſo beſchaffen geweſen, daß
ſich auch die fremden Kaufleute, wenn ſie mit der Compag-
nie Streit gehabt, denſelben freywillig unterworfen. Die
Marktſtadt waͤre zugleich die Akademie fuͤr die Kinder von
den vornehmſten Familien geweſen, wo ſie die Handlung
erlernt und ſich zu groſſen Maͤnnern im Staate gebildet;
die Deutſchen haͤtten ihr Kupfer, Stahl, Eiſen, Meßing,
Linnen, Hampf, Zwiebelſaat, Salpeter, und Schießpul-
ver, und ihre Rheinweine, Harniſche, Keſſel, Pfannen,
Zeuge von Linnen und Baumwolle und die Nuͤrnbergſchen
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. MWaa-
[178]Nachricht von den Streitigkeiten
Waaren dahin zu Kaufe gebracht, und ſich mit dem Preiſe
begnuͤgen muͤſſen, den man ihnen dort geſetzt haͤtte; die Ita-
liener haͤtten ihre Seidenwaaren, die Portugieſen ihre
Gewuͤrze, und die Oſtſeeiſchen ihre Produkte von Flachs,
Hampf, Wachs, Pech, Theer, Holz, Korn, Rauchwerk,
Talg, Pottaſche, Ankerſeilen ꝛc. entgegen gefuͤhrt; und
Frankreich und die Niederlande ihre Tapeten, Cammertuͤ-
cher und andre Waaren dahin geliefert, ſo daß ſich die
ganze handelnde Welt auf ihrer Marktſtadt eingefunden
haͤtte, ſie aber haͤtten alle in der Menge und Koſtbarkeit
der Waare uͤbertroffen.


Nun faͤhrt der Verfaſſer fort zu zeigen, daß die Mar-
chands Adventurers
keine Monopoliſten waͤren. Ihre
Compagnie, ſagt er, hat eine gleiche Einrichtung mit der
Hanſe. Beyde haben ihre ausſchließlichen Rechte ſo wohl
zum Einkauf als Verkauf, deren nur ſolche genieſſen, die
zu dieſen Geſellſchaften gehoͤren. Allein darum geſchieht
Einkauf und Verkauf nicht auf gemeine Rechnung, die
Mitglieder haben ſich nicht uͤber einen ſichern Preis unter-
einander vereiniget, zu welchen ſie die Waaren annehmen
und wieder losſchlagen wollen, jeder handelt auf ſeinen eig-
nen Verluſt oder Gewinnſt, er kann theuer oder wohlfeil
verkaufen, wie es ihm beliebt, die Compagnien ſind weiter
nichts als Gilden, die zwar andre von dem Gewerbe, was
ſie treiben, ausſchlieſſen, aber unter ſich keine gemeinſchaft-
liche Taxen haben, unter welche ſie nicht arbeiten oder ver-
kaufen wollen. Zum Ueberfluß bringt er Zeugniſſe von
der Stadt Antwerpen, von 28 italieniſchen, ſpaniſchen,
portugieſiſchen und deutſchen Kaufleuten, daſelbſt, von
der Stadt Emden, von 14 fremden Kaufleuten zu Stade,
und von der Stadt Middelburg bey, welche mit einander
dahin uͤbereinſtimmen, daß die engliſche Compagnie keinen
Alleinhandel fuͤhre.


Der
[179]der deutſch. und engl. Handelscompagnie.

Der groͤßte Vorwurf des Monopoliums wurde ihnen
aber in England ſelbſt gemacht, indem die dortigen Kauf-
leute die Ausfuhr der engliſchen Wollen Waaren frey ha-
ben wollten, und daruͤber ſo wohl bey dem Koͤnige als dem
Parlament die bitterſten Klagen fuͤhrten, daß ihnen ver-
wehret wuͤrde, ein Stuͤck Tuch auszufuͤhren. Sie wiegel-
ten die Wollenweber und andre Manufacturiſten auf, mit
der Hoffnung, daß ſie weit mehr fuͤr ihre Waaren bekom-
men wuͤrden, wenn mehrere zum Einkauf derſelben concur-
riren wuͤrden, und dieſes wuͤrde geſchehen, wenn ſo wie
jetzt, jedem erlaubt waͤre dergleichen auszufuͤhren. Allein
ſo ſcheinbar auch dieſe Gruͤnde waren, und ſo ſehr ſich die
Hanſe dieſes einheimiſchen Zwiſtes zu ihrem Vortheil zu
bedienen ſuchte: ſo uͤberwog doch das Gluͤck oder das Geld
der Geſellſchaft ſo wohl im Cabinet als im Parlament das
Geſchrey ihrer nicht ſo feſtgeſchloſſenen Gegner; und jene
behielt ihr Recht der alleinigen Ausfuhr nach den Markt-
ſtaͤdten, und in die Gegenden ſo davon natuͤrlicher Weiſe
reſſortirten. Auſſer deuſelben aber war kein betraͤchtlicher
Handel anzufangen. Der Hauptgrund der Compagnie
war, daß, wenn der Handel offen waͤre, viele ſchwache
Haͤnde denſelben verderben, und die Waaren verſchleudern
wuͤrden, wodurch die Nation um Ehre und Vortheil kom-
men wuͤrde. Der Bewegungsgrund im Cabinet, warum
man die Compagnie beguͤnſtigte, mogte aber darinn beſte-
hen, daß England in ſeinen damaligen Kriegen, alle ſeine
auswaͤrtigen Zahlungen durch dieſelbe verrichten ließ, und
ſich ihres groſſen Credits durch die ganze Welt bedienen
konnte. Die Compagnie war damals fuͤr ganz Europa,
was jetzt Amſterdam iſt. Alle Zahlungen geſchahen durch
ſie, wie jetzt durch die Amſterdammer und Rotterdammer.


Um aber die Klagen, welche der Verfaſſer uͤber die
Hanſe fuͤhrt, recht zu verſtehen, muß ich vorher einiges
M 2bemer-
[180]Nachricht von den Streitigkeiten
bemerken. Eduard der Dritte hatte zu Anfang des 14 ten
Jahrhunderts zuerſt die Wollenweberey aus dem untern
Theil von Deutſchland und den Niederlanden, wo ſolche in
dem groͤſten Flor war, nach England gebracht, und um
ſolche zu befoͤrdern, den Sack engliſcher Wolle mit 50 ß.,
ein Stuͤck engliſches Tuch hingegen nur mit 14 Pence
(etwa 14 mgr.) belegt. Dieſes wuͤrkte, wie wir oben
angefuͤhret haben, eine ſo erſtaunliche Revolution, daß
in kurzer Zeit alle andre Nationeu die Haͤnde davon abzie-
hen mußten, weil ſie ohne die engliſche Wolle nichts an-
fangen konnten. Die deutſche Hanſe, welche viele Wol-
lenwaaren in England nahm, und ſolche nach dem Norden
fuͤhrte, hatte alſo auch nicht mehr als 14 Pence fuͤr das
Stuͤck bezahlt, und glaubte, weil ſie ſolches einige hundert
Jahre gethan, auch in allen ihren Privilegien die Verſiche-
rung erhalten haͤtte, daß ſie mit keinen neuen Impoſten
belegt werden ſollte, ſich allen Erhoͤhungen widerſetzen zu
duͤrfen. Nun hatte der Zoll auf die Manufactur mit der
Zeit ungleich weniger eingebracht, als der alte urſpruͤngli-
che Zoll auf die ausgefuͤhrte rohe Wolle; und die Koͤnigin
Maria ſahe ſich genoͤthiget zu befehlen, daß die Einheimi-
ſchen von jedem Stuͤcke Tuch, was ſie ausfuͤhrten, 6 ß.
8 P., die Fremden, und ſo auch die hanſiſchen Kaufleute
hingegen 13 ß. 4 P. (*) bezahlen ſollten. Dieſer Neue-
rung widerſetzten ſie ſich aber, und wollten, ohnerachtet
die Einheimiſchen den erhoͤheten Zoll entrichteten, ſich kraft
ihrer Privilegien bey dem alten von 14 P. erhalten. Sechs
Jahr vorher hatte Eduard der Sechſte, welcher vermuth-
lich
[181]der deutſch. und engl. Handelscompagnie.
lich eben das ſchon im Sinne gehabt, was Maria ausge-
fuͤhrt hatte, die Privilegien der Hanſe unterſuchen, und
ihr ſolche foͤrmlich aberkennen zu laſſen; aus der Urſa-
che, (a) weil die Hanſe oder der Name Bund keine nahm-
hafte und beſtimmte Geſellſchaft, ſondern eine allgemeine
Benennung waͤre, die keiner Rechte in England genieſſen
koͤnnte. So dann naͤhme dieſelbe (b), unter dieſem ſon-
derbaren unbeſtimmten Namen, alle Staͤdte, Leute und Guͤ-
ter auf, wovon man nicht wiſſen koͤnnte, ob ſie darunter zur
Zeit der ertheilten Privilegien gehoͤrt haͤtten; dieſes ſey (c)
um ſo viel unbeſtaͤndiger, da eigentlich nur der urſpruͤng-
lichen Hanſe, oder dem aͤlteſten Bunde die Handelsfreyheit,
und zwar blos in der Maaße verliehen, daß ſie ihre eige-
nen
Waaren nach England bringen, und engliſche Waaren
blos in ihre eigne Heymath zuruͤckfuͤhren, nicht aber wie
bisher geſchehen, mit aller Welt Waaren nach England
kommen, und mit engliſchen Waaren aller Welt Maͤrkte
beſuchen ſollten. In dieſer Maaße gereichten jene Privi-
legien zum offenbaren Ruin der engliſchen Handlung, und
man ſey (d) auch allenfalls befugt ſolche einzuſchraͤnken,
da die Hanſe es nicht beſſer machte, und zu Danzig den
Englaͤndern die freye Handlung verboten, auch ihre Waa-
ren welche ſie dahin braͤchten, gegen alle Rechte und den
mit Eduard den Vierten geſchloſſenen Tractat, mit neuen
Impoſten beſchweret haͤtte.


Die Koͤnigin Maria hatte aber, weil ſie ſich die Freund-
ſchaft der Hanſe erwerben wollte, dieſes Erkenntniß im
Jahr 1563. aufgehoben, und war bereit, nachdem die
Hanſe ſich einiger maaßen erklaͤrt, daß ſie kuͤnftig mehr Maͤſ-
ſigung in dem Handel mit fremder Waare auf England ge-
brauchen, und keine engliſche Wollen Manufacturen in die
Niederlande, als den Haupthandelsdiſtrict der engliſchen
Compagnie, bringen wolle, ihre vorigen Freyheiten in die-
M 3ſer
[182]Nachricht von den Streitigkeiten
ſer Maaße zu beſtaͤtigen, wie ſie denn auch wuͤrklich im
Jahr 1556. eine darauf eingerichtete Verordnung erließ,
und der Hanſe eines Jahrs Friſt ſetzte, ſich desfalls naͤher
zu erklaͤren, in der Hoffnung wie es ſcheint, daß dieſelbe
von ihrer Forderung in Abſicht auf die 14 Pence abſtehen,
und ſich wenigſtens zu dem Zoll von 6 ß 8 P., welchen
die engliſche Compagnie von jedem Stuͤck Tuch erlegen
mußte, bequemen wuͤrde.


Allein die Hanſe, welche ſich auf den Beyſtand des
Kayſers und des Reichs, vielleicht auch auf ihr altes An-
ſehn, und noch mehr darauf verlaſſen mogte, daß die Eng-
laͤnder ihres eignen Vortheils wegen nachgeben muͤſten,
machte ſich die guten Geſinnungen der Koͤnigin Maria
nicht zu Nutze, ſondern beharrete darauf, daß ihren Kauf-
leuten kein neuer Zoll aufgebuͤrdet werden, ſondern der alte
von 14 Pence auf jedes Stuͤck Tuch, was ſie ausfuͤhrten,
ſtehen bleiben ſollte. Dieſes war in der That unbillig;
ſie haͤtte ſich wenigſtens zu eben demjenigen Impoſt beque-
men muͤſſen, welchen die Adventurers ſelbſt zu entrichten
hatten. Letztere zeigten, daß die Hanſe im Jahre 1551.
44000 Stuͤck Tuͤcher, ihre Compagnie hingegen nur 1100
ausgefuͤhrt haͤtte, welches einzig und allein daher ruͤhrte,
daß erſtere nur 14 Pence, ſie aber 6 ß. 8 P. zu bezahlen
haͤtten. Dieſe Rechnung und was ſolche beſtaͤrkte, der
große Ausfall im Zoll, der jetzt an die 10000 Pf. St.
weniger betrug, als er vorhin von der ausgefuͤhrten rohen
Wolle betragen hatte, redete zu ſtark wider alle Privilegien
der Hanſe, und es war gar nicht zu erwarten, daß die
Englaͤnder, welche um ihre Wollenmanufacturen in Auf-
nahme zu bringen, den Zoll auf die ausgehende Wolle
auſſerordentlich erhoͤhet, und auf die ausgehenden Tuͤcher
auſſerordentlich erniedriget hatten, dieſes, nachdem ſie ihre
Abſicht erreicht, ewig beſtehen laſſen ſollten. Kein Wun-
der
[183]der deutſch. und engl. Handelscompagnie.
der alſo, wenn die Koͤnigin Maria endlich das Urtheil,
was ihr Bruder Eduard der Sechſte im Jahr 1553.
gefaͤllet hatte, 1556. ſo weit in ſeine voͤllige Kraft gehen
ließ, daß die Hanſe keine englaͤndiſche Tuͤcher nach den Nie-
derlanden, und keine fremde Waaren in England bringen
ſollte, jedoch mit dem Erbieten, daß ihnen noch auf ein
Jahr der Weg zur naͤhern Behandlung offen ſeyn ſollte.


Die Hanſe verbot hierauf in einer Verſammlung zu
Luͤbeck allen Handel mit England, hob die beſtimmte Zu-
fuhr von Korn auf, und erklaͤrte zugleich, daß ſie wegen
ihrer Privilegien in England, wo alles, und die Koͤnigin
ſelbſt, partheyiſch waͤre, kein Recht nehmen konnte; und
auf dieſe Weiſe ſuchten ſich beyde Compagnien einander den
Handel zu erſchweren. Endlich ſtarb Maria, und ihre
Nachfolgerin, die Koͤnigin Eliſabeth, war ſo nachgebig
der Hanſe mit Vorbehalt beyderſeitigen Rechtens a), einen
ſehr billigen Vergleich anzubieten. Dieſe wies aber den-
ſelben von der Hand, und die Sachen blieben bis ins Jahr
1578. auf dieſen Fuß, waͤhrend welcher Zeit die Hanſe,
mit Huͤlfe der ſpaniſchen Politik und Macht, den Adven-
turers zu Danzig, Deventer, Campen, Zwoll, vielen
Schaden zufuͤgte, und wie dieſe endlich ihren Stapel auf
Antwerpen wieder einſchraͤnken muſten, ihnen auch dieſe
Stadt zu enge machte, wozu hauptſaͤchlich der zu einer un-
ermeßlichen Groͤße angewachſene Reichthum der Antwerper
das meiſte beytrug, als welche ſich nunmehro in lauter
Vorkaͤufer verwandelten, alle Waaren die dort zu Markte
M 4kamen,
[184]Nachricht von den Streitigkeiten
kamen, auf kauften, und ſolchergeſtalt einen jeden der dahin
zum Einkauf kam, noͤthigten, dasjenige was er gebrauchte,
von ihnen zu nehmen. Die Adventurers errichteten immit-
telſt 1567. auf 10 Jahr ihre Niederlage zu Hamburg, mit
der Bedingung, daß ihnen dieſes Recht von zehn zu zehn
Jahren erneuert werden und ſolchergeſtalt ewig waͤhren
ſollte. Allein die Hamburger muſten nach Ablauf der er-
ſten zehn Jahre auf einen zu Luͤbeck gemachten Schluß ihrer
Mitverbundenen, und aus Furcht fuͤr die kayſerliche und
ſpaniſche Macht, ihr Verſprechen zuruͤckziehen. Die Ham-
burger erklaͤrten dieſes unterm 20 Jun. 1578; und wie
die Koͤnigin Eliſabeth hierauf unterm 25 Jul. 1579. der
Hanſe gleichfalls alle Privilegien, welche ſie vor andern
Fremden in England hatte, abſagte: ſo belegte die Hanſe
in ihrer Verſammlung zu Luͤneburg, welche im Nov. 1579.
gehalten wurde, alle Waaren, welche durch Englaͤnder in
Deutſchland oder durch dieſelben herausgefuͤhrt werden
wuͤrden, mit einer Abgift von 7¾ pro Cent; und Eliſabeth
ſchraͤnkte zur Wiedervergeltung die deutſche Handlung auf
England in gleicher Maaße ein. In der Zwiſchenzeit
hatte ſich auch in England eine Moſkoviſche Compagnie
gebildet, die durch Beguͤnſtigung des rußiſchen Fuͤrſten
Johann Baſiliwiz 1569. große Freyheiten e[r]hielt, und ſo
nach die Hanſe, welche bis dahin die Oſtſee fuͤr ſich allein
behauptet hatte, in ihren Handlungsrevieren eben ſo viel
Schaden zufuͤgte, als die Hanſe den Adventuͤrers in den
Niederlanden.


Der Krieg, welchen Eliſabeth mit Spanien fuͤhrte,
vermehrte die Verwirrung; ſie ließ 1589. der Hanſe auf
einmal 60 Schiffe, die mit Korn nach Portugall giengen,
verbrennen, und obgleich die Hanſe ſich daruͤber beſchwer-
te, auch der Koͤnig von Pohlen ſich der Preußiſchen Staͤdte,
ſo zum deutſchen Bunde gehoͤrten, und die Handlung auf
Spanien
[185]der deutſch. und engl. Handelscompagnie.
Spanien frey behalten wollten, durch ſeinen Geſandten
Paul Dialien, welcher der Koͤnigin mit einer langen latei-
niſchen Rede die Ohren voll ſchrie, und daruͤber von ihr
einen derben Verweis erhielt b), annahm: ſo wollte ſie
ſich doch zu keiner Entſchaͤdigung verſtehen, ſondern blieb
feſt auf ihrem Entſchluß, und wieß ſie endlich, auſſer vie-
len andern wichtigen Gruͤnden, mit einem Geſetze aus den
Pandecten c) ab. So war die Lage der Sachen, als der
Kayſer Rudolf, auf Begehren der Hanſe, fuͤrnehmlich
aber auf Betrieb des ſpaniſchen Geſandten, Don Guilielmo
S. Clement, das gleich anfangs bemerkte Verbot vom
1 Aug. 1597. erlies; die Koͤnigin Eliſabeth demſelben das
ihrige vom 13 Jenner 1598. entgegen ſetzte, und der Ver-
faſſer, John Wheeler, woraus ich dieſe Umſtaͤnde genom-
men, ſeinen Aufſatz verfertigte.


In dem Befehle, welchen der Kayſer auslies, wird
es zuletzt als eine Hauptbeſchwerde angefuͤhrt, daß die Eng-
laͤnder ſich unterſtanden haͤtten, ihre Kauffahrteyſchiffe von
London nach Stade mit Kriegesſchiffen in die deutſche der
M 5Kayſerl.
[186]Nachricht von den Streitigkeiten
Kayſerl. und des Reichs Gerichtsbarkeit allein unterwor-
fene See begleiten zu laſſen. Bey dem Verfahren der
Koͤnigin aber iſt zu bemerken, daß ſie zwar ihr Gegenma-
nifeſt, worinn der Hanſe die Kaͤumung ihres Kauf hauſes
zu London (Steelyard), auf den 24 Maͤrz angeſetzt war,
ausgehen lies, gleichwohl aber zwey Geſandten an den
Kayſer und verſchiedene Reichsfuͤrſten abſchickte, und ſich
zur guͤtlichen Unterhandlung erbot, woraus man wohl
ſchlieſſen mag, daß durch das gegenſeitige Verbot die Eng-
laͤnder mehr als die Deutſchen beſchweret waren. Haͤtten
vollends die Hanſiſchen, ihren Willen, welcher dahin
gieng, den Gehrauch und Verkauf aller engliſchen Waaren
in Deutſchland zu verbieten, erreicht: ſo moͤgte ihnen der
Streich noch empfindlicher geweſen ſeyn.


Dadurch nun daß dieſes nicht geſchehen, haben ſich die
Sachen in der Folge alſo geaͤndert, daß auſſerdem was
die jetzige engliſche Compagnie in Hamburg noch thut, alle
engliſche Waaren, welche nur abzuſetzen ſind, entweder mit
deutſchen oder engliſchen Schiffen ohne beſondre von dem
Reiche oder einem deutſchen Handlungsbunde darauf geleg-
te Impoſten frey eingehen und verkaufet werden moͤgen,
und unſre Seeſtaͤdte ihnen dazu die Haͤnde bieten; dagegen
aber nach England aus Deutſchland nicht alles was dort
abgeſetzt werden kann, ſondern nur dasjenige, was die
daruͤber einverſtandene Nation zulaſſen, und nachdem es
ihr einheimiſcher Vortheil erfordert, bald mehr bald min-
der beſchwert, abgehen mag. Die Englaͤnder koͤnnen uns
ſo viel eigne und fremde Seiden- und Wollen- Holz- und
Eiſenwaaren zufuͤhren, als ſie abſetzen koͤnnen, wir hinge-
gen duͤrfen nur mit unſern eignen Producten, welche ſie
nicht entbehren koͤnnen, dahin handeln. Die Seeſtaͤdte
vertreten dabey die Stelle der Antwerper, die zuletzt den
ganzen
[187]der deutſch. und engl. Handelscompagnie.
ganzen Handel an ſich gezogen, und die uͤbrige Welt noͤ-
thigten, alles aus der zweyten Hand zu nehmen.


— Ob eine Aenderung hierinn zu erwarten oder je-
mals zu hoffen ſey, iſt eine Frage die wohl niemand ſo
gerade zu beantworten wird. In der jetzigen Lage iſt es
beſſer den Paßivhandel zu erhalten, als es durch gar zu
heroiſche Unternehmungen dahin zu bringen, daß die See-
ſtaͤdte ſo wenig fremde als einheimiſche Waaren vorkaufen
koͤnnen. Die Folge davon moͤgte leicht ſeyn, daß die Eng-
laͤnder uns alle ihre Waaren fuͤr die Thuͤr braͤchten, und
unſre deutſchen Producte gegen eine ihnen beliebige Provi-
ſion uͤberall an der Quelle auf kauften. Und dann …



L.
Von dem wichtigen Unterſcheide
zwiſchen der Hoͤrigkeit und Knechtſchaft.


Der Graͤnzſtein woran ſich der Hoͤrige Mann (litus
oder lito) von dem eigentlichen Leibeignen (ho-
mine proprio
) ſcheidet, wird zwar von allen erkannt,
aber nicht ſo deutlich angegeben, daß man ſich nicht immer
noch eine kleine Erlaͤuterung wuͤnſchen ſollte. Wenigſtens
habe ich dieſes oft und ſo lange gethan, bis ich mir die
Hoͤrigkeit unter der roͤmiſchen Suitaet gedachte. Nun
aber glaubte ich auch, wie es uns Gelehrten bisweilen zu
gehen pflegt, die Sache viel klaͤrer einzuſehen als alle meine
Vorgaͤnger; jedoch um verſichert zu ſeyn, ob ich darunter
meiner Einbildung zu viel eingeraͤumet habe, will ich den
Gang meiner Gedanken getreulich vorlegen.


Die Roͤmer kannten die Suitatem nur im Hausſtande,
und nach derſelben waren die Kinder, ſo lange ſie nicht frey
gelaſſen
[188]Von dem wichtigen Unterſchied
gelaſſen wurden, mit allen was von ihnen gebohren wurde,
dem Vater hoͤrig. Die Deutſchen hingegen hatten dieſen
Begriff aus dem Hausſtande in die Staatsverfaſſung uͤber-
tragen, und nach derſelben konnte auch ein Herr ein gan-
zes Gefolge von Suis halten, welche ihm eben ſo hoͤrig, wie
einem roͤmiſchen Vater ſeine ungefreyeten Kinder waren.
Sie nenneten dergleichen Leute gemeiniglich Liti oder Li-
tones.


Die Hoͤrigkeit bey den Roͤmern hinderte den Sohn
nicht an Ehren und Wuͤrden, nur die hoͤchſten Wuͤrden ver-
trugen ſich nicht damit, weil es fuͤr die gemeine Freyheit
gefaͤhrlich geweſen ſeyn wuͤrde, wenn z. E. Maͤnner, wel-
che die wichtigſten Aemter bekleideten, in eines andern Hoͤ-
rigkeit geblieben waͤren. Die Freylaſſung aus der Hoͤrig-
keit (emancipatio) machte keinen zum eigentlichen Freyge-
laſſenen (libertum), ſondern unmittelbar zum roͤmiſchen
Buͤrger. Ein roͤmiſcher Vater konnte ſeinen Sohn ver-
kaufen, nicht fuͤr Knecht, ſondern fuͤr einem Suum, und
der Kaͤufer erhielt uͤber ihn nicht die Rechte eines Herrn,
ſondern die Rechte der Suitaet.


Eben ſo waren die Rechte der deutſchen Hoͤrigkeit be-
ſchaffen. Ein hoͤriger Mann konnte zu ritterlichen Ehren
und Wuͤrden gelangen. Wenn er der Hoͤrigkeit entlaſſen
wurde, erhielt er freyer Landſaſſen Recht; und wann ſein
Dienſtherr ihn verkaufte oder verwechſelte, muſte ſolches
in eine gleiche Hoͤrigkeit geſchehn, er war nicht befugt ihn
in die Knechtſchaft, oder auch nur eine minder edle Hoͤrig-
keit hinzugeben.


Alles dieſes laͤßt ſich von dem roͤmiſchen Knechte und
deutſchen Leibeigenen nicht ſagen. Ehre und Wuͤrde vertra-
gen ſich mit ihrem Stande nicht; ſie erhielten, wenn ſie
freygelaſſen wurden, lange Zeit kein Buͤrgerrecht, und
man
[189]zwiſchen Hoͤrigkeit und Knechtſchaft.
man verkauft ſie wie man will, weil ihr Stand nicht ernie-
driget werden kann. Der Unterſchied zwiſchen der Hoͤrig-
keit und Knechtſchaft iſt alſo von der aͤuſſerſten Wichtigkeit,
und zwar ſo wichtig, daß wenn man ihn nicht beſtaͤndig
feſt im Auge haͤlt, die ganze Lehre von den Lehnen, dem
Dienſtadel und den hofhoͤrigen Leuten, welche doch einen
ſo ſtarken Einfluß auf unſre deutſche Geſchichte hat, gar
nicht verſtanden oder auseinander geſetzt werden kann. Ich
will nur einige wenige Beyſpiele davon anfuͤhren.


Der Urſprung der Lehne (feudorum) iſt manchem noch
nicht ſo handgreiflich, wie er nach dieſer Vorausſetzung
gemacht werden kann; er zeigt ſich aber gleich ſelbſt, und
geht aus der Natur der Sache hervor, wenn man nur auf
die Hoͤrigkeit Acht giebt. Zuerſt beſtanden die Gefolge
bey den Deutſchen aus hoͤrigen Leuten. Die Edlen, die
Fuͤrſten, die Kayſer, und nachher die kayſerlichen Fuͤrſten,
Grafen und edle Hauptleute hielten nach dem Unterſchiede
der Zeiten und ihrer Macht dergleichen ſtarke oder ſchwaͤ-
chere hoͤrige Gefolge, welche ſie zu ihren Hauskriegen und
Privatfehden, auch wohl zur gemeinen Landesvertheidigung,
wenn die Nation ſelbſt nicht ausziehen wollte, und ihnen
der Billigkeit nach dafuͤr begegnete, gebrauchten. In die-
ſer ganzen Hoͤrigkeit fand ſich aber kein Lehn (feudum)
ſondern nur eine Loͤhnung (beneficium), die freylich auch
in verliehenen Guͤtern beſtehen konnte, die aber darum
keine feuda wurden, ſondern beneficia blieben. Man-
cher wird vielleicht dieſen Unterſchied nicht fuͤhlen, und die-
ſem zu Gefallen will ich mich durch ein Beyſpiel erklaͤren.
Die Kirche giebt keinem eine Pfruͤnde (beneficium), er
habe ſich denn zuvor durch die erſte Tonſur ihrer Ge[w]alt
unterworfen, oder um in den vorigen Stil zu bleiben, hoͤ-
rig gemacht. Geſetzt aber, es erforderten Zeit und Um-
ſtaͤn-
[190]Von dem wichtigen Unterſchied
ſtaͤnde, wie z. E. die jetzige Verſchiedenheit der Religionen,
daß ſie einem Layen, ohne daß er die Tonſur nehmen duͤrfte,
eine Pfruͤnde geben muͤßte: ſo erhielte dieſer ſolche nicht
anders als gleichſam in feudum. Jener ſteht unter ihrer
Gewalt (poteſtate), dieſer aber kann nur auf ſeine gelei-
ſtete Treue gemahnet und vorgefordert werden. Jener iſt
treu und hoͤrig, dieſer blos treu, und wo ſolchergeſtalt
die Treue nicht aber die Hoͤrigkeit das Band zwiſchen dem
Dienſtherrn und ſeinen dienenden Manne ausmachte, da
ſuchte man dafuͤr einen eigenen Namen, und nannte dieſe
Art der Beſtallung auf Treue, mit Recht feudum, von
dem Italiaͤnſchen fe, oder dem Lateinſchen fide.


Dies vorausgeſetzt begreift man nun leicht, warum die
feuda ſo ſpaͤt entſtanden ſind. Zuerſt wurde der Natio-
nalkrieg mit dem Heerbann gefuͤhrt; und Fuͤrſten und Herrn
hatten nur wenige hoͤrige Leute fuͤr ſich in ihren Privatge-
folgen. Sie vermehrten ſolche immer nach dem Verhaͤlt-
niß, als der Heerbann weniger gebraucht wurde. Wie
aber die unruhigen Zeiten eine ſtaͤrkere Vermehrung derſel-
ben erforderten, als ſie aus hoͤrigen Leuten zuſammen brin-
gen konnten, und diejenigen Edlen, welche ihnen die beſten
Dienſte leiſten konnten, zwar wohl als Treue aber nicht als
Hoͤrige dienen wollten: ſo gaben ſie auch endlich dieſen be-
neficia
und nannten ſolche aus der vorhin angefuͤhrten Ur-
ſache, feuda. Sie thaten es jedoch nicht ohne die hoͤchſte
Noth, und forderten gern, daß ihre Kinder, wenn ſie das
Lehn erblich behalten wollten, ſich hoͤrig machen ſollten.
So mußte der Graf Walderich von Oldenburg, als ihm
von unſerm Biſchof Gerhard ein Lehn gereichet wurde, ge-
loben, daß ſein Sohn eines dem Stifte hoͤrigen Mannes
Tochter heurathen ſollte, und der Abt von Corvey forderte
in einem gleichen Falle von Alberten von der Lippe, ut
uxor
[191]zwiſchen Hoͤrigkeit und Knechtſchaft.
uxor ſua miniſterialis eccleſiae efficeretur alioquin
feudo careret
*). Eben wie ein Gutsherr in der Noth
zwar einen freyen Mann auf ſein Erbe nimmt, aber ſich
doch bedingt, daß ſeine Kinder eigen werden ſollen. Die
Geſchichte ſtimmt mit dieſem Gange der Nothwendigkeit,
zu den hoͤrigen Leuten, auch Edle und Freye als bloſſe
Getreue anzuwerben, auf das genaueſte uͤberein, und die
feuda ſind in demjenigen Lande erfunden worden, was ent-
weder zuerſt einem Mangel an hoͤrigen Leuten gehabt, oder
aber fruͤher in die Nothwendigkeit geſetzt worden, ſolche mit
unhoͤrigen Getreuen zu vermehren.


Es iſt unglaublich, wie oft der Redegebrauch dieſer
Tyrann oder die Unvollkommenheit der Sprache den hoͤrigen
Mann mit dem eigentlichen Knechte verwechſelt habe. So
gar der paͤbſtliche Titel, Servus Servorum, hat ſich nach
dem Redegebrauch bilden laſſen muͤſſen. Der Pabſt iſt
Suus Suorum, in dem oben angefuͤhrten roͤmiſchen Ver-
ſtande; und die geiſtliche Suitas, worinn ſich Fuͤrſten und
Herrn ohne Nachtheil ihres Standes begaben, und wel-
chen ſie verlaſſen koͤnnen, ohne Freygelaſſene zu heiſſen, iſt
von der Servitute, welche den Stand eines Mannes pe-
remtoriſch aufhebt, unendlich unterſchieden. Man glaube
nicht, daß dieſes bloſſe Wortſpiele ſind. Der Vorwurf
welchen man dem geiſtlichen Stande und dem Dienſtadel
macht, daß er in der Knechtſchaft geſtanden, beruhet auf
der gefaͤhrlichen Verwechſelung der Hoͤrigkeit mit der Knecht-
ſchaft, und wie mancher hof hoͤriger Mann wird zur Leib-
eigenſchaft herabgeſchloſſen, mithin auch nach der Freylaſ-
ſung aus der Hoͤrigkeit, an manchem Orten der Buͤrgerſchaft
und anderer Wohlthaten unfaͤhig gehalten, weil er aus
Mangel der Sprache Servus genannt worden. Freylich
tra-
[192]Von dem wichtigen Unterſchiede
traten auch Fuͤrſten und Herren, nicht gleich anfangs in
die geiſtliche Hoͤrigkeit; und wandten zuerſt die Andacht vor.
Freylich traten auch Fuͤrſten und Herren nicht gleich in die
weltliche Hoͤrigkeit ihres gleichen. Allein es lenkte ſich doch
bald ſo gut, wie es ſich im heutigen Militairſtande, wo-
rinn ein Fuͤrſt Hauptmann, und ſein geweſener Unterthan
Oberſt ſeyn kann, gelenkt hat; und man thut Unrecht, wenn
man den Begriff der Hoͤrigkeit nicht nach dem Unterſchied
der Zeiten nimmt, und dann noch gefaͤhrliche Folgen dar-
aus zieht. Die Verwandelung der beneficiorum in feu-
da
bleibt ohne die Hoͤrigkeit immer ein Geheimniß. Man
hebe aber die letztere auf, ſo wie ſie in ganz Deutſchland wuͤrk-
klich ſtillſchweigend aufgehoben iſt; ſo beſitzt jeder Belehnter
jetzt ſein beneficium unter dem alleinigen Bande der Treue,
und folglich nicht als beneficium ſondern als feudum.


Man erkennet ſchwerlich ohne dieſelbe die wahre Natur
des feudi ligiia), der feinſten Wendung, welche der
menſchliche Verſtand gegen die Hoͤrigkeit nehmen konnte.
Er legte nemlich einem Lehne die Kraft bey, demjenigen
der es annahm, und fuͤr ſeine Perſon noch nicht hoͤrig
(ligius) war, eben ſo feſt als einen hoͤrigen Mann zu
binden. Auf dieſe Weiſe ſchonte er der Empfindlichkeit,
die ſich fuͤr eine perſoͤnliche Hoͤrigkeit ſcheuete, und erhielt
doch denſelben Endzweck. Eben ſo giebt es Faͤlle, wo die
gleba die Kraft der Ligeitaet hat, das iſt, einen Men-
ſchen eigen macht, ohne daß dieſer noͤthig habe, ſich aus-
druͤck-
[193]zwiſchen Hoͤrigkeit und Knechtſchaft.
druͤcklich zu eigen zu ergeben; und wo er die Freyheit wie-
derum mit Verlaſſung der glebae erhalt.


Das Urtheil des roͤmiſchen Koͤnigs Wilhelm, vom
Jahr 1253.


Coram nobis pro tribunali ſedentibus ſententionatum
extitit et communiter ab omnibus approbatum quod
nullus in Epiſcopali curia et Sala ac ipſarum attinen-
tiis jus feudale, quod Volge vulgariter appellatur, de-
bet et poteſt habere.
()

was den Gelehrten ſo viele Muͤhe gemacht hat, weil die
Lehnsfolge damals ſchon laͤngſt erblich geweſen iſt, wird
durch die Hoͤrigkeit ſogleich klar. Die biſchoͤflichen Lehns-
leute ſollten nemlich damals mit einander hoͤrig ſeyn, und
kein Freyer der es blos auf Treue, das iſt in feudum em-
pfing, ſollte zur Folge gelaſſen werden. Es iſt eben dieſes
die Forderung der Roͤmer, welche den unhoͤrigen non ſuum
von der vaͤterlichen Erbſchaft ausſchloſſen. Bey der Abtey
zu Pruͤm hieß es: Si quis miniſterialis eccleſiae obierit, et
non filium ſed filiam de familia eccleſiae ſuperſtitem reli-
querit, dominus abbas de bona et pia conſuetudine poteſt
eum de feudo patris ſui infeudare
b). Man macht hier
offenbar einen Unterſchied zwiſchen hoͤrigen und unhoͤrigen
Toͤchtern, indem man nur die Tochter de familia oder die
hoͤrige, zur Lehnsfolge laͤßt, mithin diejenige,! ſo nicht
mehr de familia, das iſt gefreyet war, ausſchließt. In
gleicher Abſicht fordern die weſtphaͤliſchen Hofrechte, daß
jeder Erbfolger huldig und hoͤrig ſeyn ſollte, und der Guts-
herr geſtattet dem freygelaſſenen Sohne keine Folge am Hofe.


Die Geiſtlichen muͤſſen aus einem doppelten Grunde des
Lehnrechts darben, einmahl weil ſie die Hoͤrigkeit verlaſſen
Moͤſ. patr. Phant.III.Th Nhat-
[194]Von dem wichtigen Unterſchiede
hatten, und dann auch, weil ſie in eine andre Hoͤrigkeit
getreten waren. Die Hofrechte forderten: der Erbe ſollte
ſeyn huldig, hoͤrig und ledig, und durch die Ledigkeit
zeigten ſie an, daß einer ſich einem andern nicht hoͤrig ge-
macht haben ſollte. Dem erſten Anblick nach ſcheint die
Ledigkeit uͤberfluͤßig zu ſeyn, weil derjenige, der einem hoͤ-
rig iſt, keinem andern hoͤrig ſeyn kann, und folglich noth-
wendig auch ledig ſeyn muß. Allein ſo wie nemlich der
Praetor bey den Roͤmern den unhoͤrigen Sohn (emancipa-
tum
) nach der Billigkeit zur vaͤterlichen Erbſchaft rief, und
nur den unledigen (qui ſe alteri in arrogationem dederat)
ausſchloß: ſo ließ auch mit der Zeit die Billigkeit bey den
Deutſchen den unhoͤrigen Sohn zu, wenn er nur ledig
war, das iſt, wann er ſich keinem andern hoͤrig gemacht
hatte, und ſich folglich bey dem Empfang des Lehns ſei-
nem Lehnherrn ungehindert hoͤrig machen konnte. Eben
ſo verfaͤhrt auch jetzt der Gutsherr; er giebt dem freygelaſ-
ſenen Sohne ſein Erbe aus Gnaden; aber demjenigen, der
in eines andern Eigenthum ſteht, muß er nothwendig aus-
ſchließen.


Die Geiſtlichen erhielten zuerſt die Lehnsfolge in den
Reichslehnen, wo die Hoͤrigkeit nicht ſo lange uͤblich war,
wenn ſie ſich nur ledig machten, das iſt, ihre geiſtliche Hoͤ-
rigkeit
verließen; und ſie ſind mit Recht auch ſpaͤter in mit-
telbaren Lehnen zugelaſſen worden, wie die Hoͤrigkeit der
Dienſtleute aufgehoͤret hat. Der Gerichtsgebrauch hat hier
die richtigſte Wendung genommen, ohne die Urſache zu fuͤh-
len, und die deutſchen Rechte haben ſich wie die roͤmiſchen
gewandt, welche zuletzt in Abſicht der Erbfolge den Unter-
ſcheid zwiſchen hoͤrigen und unhoͤrigen,emancipatos et
non emancipatos,
ganz verließen.


Die
[195]zwiſchen Hoͤrigkeit und Knechtſchaft.

Die Toͤchter wurden urſpruͤnglich, jedoch mit Gnade
des Herrn, von den beneficiis ausgeſchloſſen, vermuthlich
nicht blos um deswillen, weil ſie in Perſon nicht fechten
oder dienen konnten, ſondern weil ſie freyeten, das iſt ihre
bisherige Hoͤrigkeit verließen, und dann in eine fremde Hoͤ-
rigkeit,
wovon die Muͤtze, welche ihr zuletzt anſtatt der
Krone aufgeſetzt wird, das Symbolum ſeyn mogte, uͤber-
giengen, wodurch ſie das Lehn einem fremden Herrn unter-
wuͤrfig gemacht haben wuͤrden. Eben dieſer Grund war es
vielleicht auch, warum die Roͤmer die Toͤchter als unhoͤrig
ausſchloſſen; und ſowohl der Praetor als der Hofesherr
hat beyde zugelaſſen, wenn keine Gefahr von einer fremden
Hoͤrigkeit, und der daraus folgenden Lehnsentfremdung zu
befuͤrchten war. So nimmt auch der Gutsherr noch wohl
aus Gnaden eine freygelaſſene und unledige Tochter zuruͤck,
wenn ſie ſich von der fremden Hoͤrigkeit wieder befreyen
kann. Nie wird er aber ſein Erbe einem Manne geben, der
in einem fremden Eigenthum ſteht, weil es ſonſt der fremde
Gutsherr durch den Sterbfall an ſich ziehen koͤnnte. So
haͤtte auch die Kirche die den Geiſtlichen angefallene Lehne
an ſich ziehen koͤnnen.


Die Hulde hat mit der Hoͤrigkeit etwas aͤhnliches; iſt
aber doch weſentlich von ihr unterſchieden. Denn es kann
einer hoͤrig ſeyn und nicht huldig, auch umgekehrt. Zum Bey-
ſpiel will ich ſetzen, daß ein hoͤriges Kind ſich außerhalb
Landes oder nur außer Hofrecht (extra curtem) beſetze und
einem andern Herrnhuldig mache Dieſes Kind kann das Recht
ſeiner Hoͤrigkeit dadurch bewahren, daß es jaͤhrlich gleich
den Buͤrgern, die aus einer Stadt in die andre ziehen, und
ihr verlaſſenes Buͤrgerrecht noch beybehalten wollen, auf
dem Pflichttag, an welchem die Hoͤrigen ihre Hofverſamm-
lung halten, eine hergebrachte Urkunde, ſie beſtehe nun in
N 2einem
[196]Von dem wichtigen Unterſchied
einem Pfennig oder Schilling, einſendet. Faͤllt dann dieſem
Kinde hiernaͤchſt ein Erbe zu: ſo muß es zuruͤck kommen, und
ſich auch huldig machen. Dann iſt es ein hoͤriger und
huldiger Erbe, wie es die Hofrechte nennen. Auch hievon
zeigt ſich die Wuͤrkung bey den Lehnen. Das Lehn (feu-
dum),
erforderte zuerſt weder Hoͤrigkeit noch Hulde, ſon-
dern blos Treue. Das Lehn (beneficium), hingegen erfor-
derte Hoͤrigkeit und Hulde, unter welchen beyden maͤchti-
gen Ausdruͤcken mehr als Treue begriffen war c). Die ge-
ſammte Hand
kann in gewiſſen Faͤllen eine Wahrung der
Hoͤrigkeit,
und der daraus fließenden Folge ad beneficia
ſeyn. Sie mogte alſo auch anfaͤnglich bey den Lehnen (feu-
dis),
nicht ſtatt finden, weil die Treue nicht wie die Hoͤ-
rigkeit
durch Urkunden gewahret werden konnte. In Leh-
nen (beneſiciis), konnte Huldigung erfordert werden, nicht
aber in eigentlichen feudis; und die jetzigen Lehnhoͤfe, wel-
che keinem ein Lehn reichen, der den Huldigungseyd nicht
ablegt, verfahren nach dem jure beneficiali nicht aber dem
eigentlichen feudali.


Man ſchließt weiter, daß blos der treue Mann eine
Felonie begehen konnte, nicht aber der huldige und hoͤrige.
Fuͤr die letztere wuͤrde es eine ganz unangemeſſene Strafe
geweſen ſeyn, wenn man ſie blos ihres Lehns verluſtig er-
klaͤret haͤtte. Sie ſind ſich ſelbſt dem Lehnsherrn ſchuldig,
und muſten als Diebe ihrer ſelbſt geſtraft werden, wenn ſie
ihn verließen. Der alte Bannaliſt, wenn er aus der ge-
meinen
Kriegerreihe zuruͤck blieb, begieng heerſchlitz; der
Freye und auf Treue dienende Mann Felonie; und der
huldige und hoͤrige, der ſich ſeinem Herrn entzog, ohn-
fehlbar ein weit groͤßers Verbrechen, wovon ſich der Name
nicht
[197]zwiſchen Hoͤrigkeit und Knechtſchaft.
nicht erhalten hat, vielleicht, weil es niemand wagte ſein
Gehoͤr zu brechen.


Wie man anfieng den Begriff der Hoͤrigkeit zu verlie-
ren, und ſolche mit der Knechtſchaft zu verwechſeln, ward
alles was den Namen beneficium und Beneficialrecht fuͤhrte,
verhaßt; und das Wort feudum behielt die Oberhand.
Jetzt nach dem die Hoͤrigkeit ganz verdunkelt, und blos
das Heergewedde, welches urſpruͤnglich nicht auf der
Treue, ſondern einzig und allein auf der Hoͤrigkeit haftete,
mithin nicht bey feudis ſondern nur bey beneficiis ſtatt fand,
als eine todte Urkunde davon uͤbrig iſt, weiß man von nichts
als von feudis.


Viele nahmen jedoch zuerſt Lehne an Dienſtmannſtatt;
das iſt, ſie verpflichteten ſich zu allem, wozu ein hoͤriger
Mann verbunden ſeyn konnte, ohne ſich jedoch foͤrmlich hoͤ-
rig zu machen. So wie aber der Unterſcheid zwiſchen hoͤ-
rigen
und nicht hoͤrigen aufhoͤrte: ſo verwandelte ſich
auch jene Art von Belehnungen in eine leere Formel. Wo-
zu die Veraͤnderungen im Militairweſen das ihrige mit
beytragen mogten. Blos in Rußland muſten die hoͤrigen
Strelitzen mit Gewalt aufgehoben werden. In den uͤbri-
gen Gegenden Europens, die Tuͤrkey ausgeſchloſſen, wo
die Janitſcharen noch hoͤrig ſind, hat die Zeit alle Hoͤrig-
keit aufgehoben, ſo daß jetzt die Erbfolge in fcudis wie in
beneficiis fuͤr ſich geht, und die Erbſchaften aus einer Hoͤ-
rigkeit in die andre folgen, außer daß hie und da der un-
huldige
Erbe ſolche noch mit dem Abzugsgelde loͤſen muß,
wie in den aͤlteſten Zeiten alle unhoͤrige thun muſten, wenn
man ſie aus Gnaden dazu ließ. Aus der Leibeigenſchaft oder
Knechtſchaft wird aber gar kein Erbe verabfolgt, und der
Freygelaſſene muß darauf, ehe er die Freyheit erlangt, Ver-
zicht thun. Die Erbfolge bey den Roͤmern hatte ſich durch
N 3die
[198]Von dem wichtigen Unterſchied ꝛc.
die beybehaltenen Begriffe der Hoͤrigkeit(Suitatis), und
durch die von dem Praetor dagegen erkannte poſſeſſiones
bonorum
dergeſtalt verwickelt, daß endlich Juſtinian dieſes
Recht ganz umſchaffen muſte. Was hier der Kayſer ge-
than, hat in Deutſchland die Gewohnheit nach und nach
verrichtet, und nur bey Hofhoͤrigen und mit Leibeignen be-
ſetzten Guͤtern zeigen ſich noch die aͤltern Begriffe, welche
auch nicht verlaſſen werden koͤnnen, ohne die ſonderbarſte
Verwirrung anzurichten.


Dieſe wenigen Erlaͤuterungen werden hoffentlich zurei-
chen, die Wichtigkeit des Unterſchiedes zwiſchen Hoͤrigkeit
und Knechtſchaft zu zeigen, und beſonders auch einen jeden
auf die Geſchichte der Hoͤrigkeit, welche ſich in der Art un-
ſrer Vorfahren zu denken und zu handeln uͤberall zeigt, auf-
merkſam zu machen. Man wird mir zwar in hundert ein-
zelnen Faͤllen zeigen koͤnnen, daß der Redegebrauch, ja ſo-
gar Urkunden und Geſetzgeber, Hoͤrigkeit und Knechtſchaft,
beneficium und feudum, miniſteriales und Vaſallos, und
alles worauf ich ſonſt jenen Unterſcheid gruͤnde, verwechſelt
haben. Allein die Begriffe von beyden werden in einigen
Faͤllen einander ſo aͤhnlich, der Unterſchied wird oft ſo fein,
und nach veraͤnderten Umſtaͤnden unerheblich, die Sprache
verlaͤßt einen dabey ſo ſehr, daß man ſich bey einzelnen Aus-
druͤcken gar nicht aufhalten, ſondern die Theorie im Groſ-
ſen befolgen muß.



LI.
[199]

LI.
Alſo iſt die Anzahl der Advocaten nicht ſo
ſchlechterdings einzuſchraͤnken.


Ihr Sohn will auch die Zahl der Advocaten vermehren,
ſagte juͤngſt mein Herr College zu mir, und zwar
mit einer ſo wiederbuͤrſtigen Mine, als wenn er mich
recht empfinden laſſen wollte, ihrer waͤren laͤngſt mehr
als zu viel geweſen, und man muͤßte eine Aenderung da-
runter machen. Freylich, antwortete ich ihm erſt ganz
nachlaͤßig, es iſt ja hier der allgemeine Anfang fuͤr junge
Leute, und ich denke nicht, daß man zu einer Zeit, wor-
inn man alle geſchloſſenen Zuͤnfte aufzuheben wuͤnſcht,
um jeden Genie die voͤllige Freyheit zu verſchaffen, ſeine
Faͤhigkeiten auszuuͤben, das edle Recht ſeines Naͤchſten
Rath und Beyſtand zu ſeyn, auf eine gewiſſe Zahl ein-
ſchraͤnken, und dieſer ein Bannrecht mittheilen werde.


Ey, verſetzte mein College, es iſt ein Unterſchied
unter Handwerkern und Fabricanten, die das Vermoͤgen
des Staats vermehren, und ſolchen die blos von dem
ſauren Schweiſſe andrer Leute leben wollen. Es iſt kein
einziger Advocat, der das natuͤrliche Vermoͤgen des Staats
auch nur um ein Korn vermehrt; keiner der davon das
allermindeſte veredelt; ſie leben alle wie die Raubbienen
von dem Fleiſſe der guten Bienen; zerſtoͤren ihre Stoͤcke,
und fliegen, wenn ſie den einen aufgefreſſen haben, zum
andern. Wie mancher frommer Mann wuͤrde ein kleines
Unrecht als ein Ungluͤck verſchmerzen; oder den Frieden
mit ſeinen Nachbaren, welcher wenn er mit Fleiß ge-
ſacht wird, leicht zu finden iſt, unterhalten, wenn nicht
N 4die-
[200]Alſo iſt die Anzahl der Advocaten
diejenigen, ſo einzig und allein von den Zaͤnkereyen an-
drer leben, und nachdem ſie daraus ihr ganzes Geſchaͤfte
gemacht haben, auch leben muͤſſen, ihm uͤberall auflau-
reten, und ſich ſeine erſten heftigen Leidenſchaften zu Nutze
machten. Unſre Vorfahren ſind groß und gluͤcklich ge-
weſen, ehe ſie Advocaten gekannt haben, und wenn wir
gleich ſeitdem die Menge von Geſetzen, und die Kunſt
zu richten einen gelehrten Mann erfordert, und ſeitdem
dieſer nicht mehr von den Partheyen gewillk[uͤ]hrt, ſondern
von der O[b]rigkeit angeſetzt wird, auch eigne dazu ausge-
lernte Leute haben muͤſſen, welche die Sachen vor Ge-
richte vortragen, dem Richter die Arbeit erleichtern und
darauf Acht haben, daß er nicht in das unrechte Fach
greife: ſo iſt es doch allezeit beſſer ihrer wenig, als viel, zu
haben. Man ſollte daher hier, eben ſo wie in andern
Staaten, wo man die Sache laͤngſt beſſer eingeſehen hat,
nur eine gewiſſe maͤßige Zahl annehmen, und nicht einem
jeden, der dazu geſchickt iſt, dieſe Freyheit goͤnnen. Auf
dieſe Weiſe wuͤrden die wenigen, welche ſich damit abgaͤ-
ben, ihr Auskommen dabey finden, ihrem Stande Ehre
machen, und nicht in die Verſuchung gerathen koͤnnen,
jede geringe Zaͤnkerey in einen koſibaren Proceß zu ver-
wandeln.


Das ſind allgemeine Saͤtze, erwiederte ich ihm, wo-
gegen ſich im allgemeinen auch wiederum vieles einwen-
den laͤßt, und hiebey halte ich mich nicht gern auf. Wir
wollen die Sache lieber ſo fort auf zwey Hauptfragen ſtel-
len: „entweder will der Staat den Stand der Advocaten
„in eine eigne abgeſonderte Zunft verwandeln, und dieje-
„nigen, ſo ſich darinn begeben, von fernern Befoͤrderun-
„gen ausſchließen; oder er ſieht ihn als eine bluͤhende
„Pflanzſchule an, worinn er die Maͤnner ziehen will,
„wel-
[201]nicht ſo ſchlechterdings einzuſchraͤnken.
„welche ihm dereinſt in wichtigen Ehrenſtellen dienen ſoll-
„ten?„ Im erſtern Falle bin ich voͤllig ihrer Meinung,
es iſt dann beſſer ihrer eine beſtimmte als unbeſtimmte
Zahl zu haben. Im andern aber, welche ich fuͤr den
gluͤcklichſten halte, kann ich ihnen nicht beypflichten.


Meiner Meinung nach ſind die Geſetzgeber allein
Schuld daran, wenn der Stand der Advocaten unter ſei-
ne Wuͤrde ſinket. Dadurch daß ſie denſelben von den
wichtigſten Bedienungen ausſchlieſſen, und ihre Raͤthe
durch die Auditorey ziehen, haben ſie denſelben um alle
Hoffnung, mit dieſer um die beſte Aufmunterung, und
nach einer natuͤrlichen Folge auch um allen Eifer gebracht,
ſich als groſſe und verdiente Maͤnner zu zeigen. Sie ha-
ben demſelben blos den Weg des Gewinnſtes uͤbrig ge-
laſſen, welcher immer gefaͤhrlicher wird, je weiter er ohne
Begleitung der Ehre fortgeht. Sie haben dem Staate
mit ſolchen Advocaten oft nur eine Laſt von ſchlechten Leuten
zugezogen, und ſich in die Nothwendigkeit geſetzt, dieſel-
ben mit Strafbefehlen in Ordnung zu halten; und den-
noch ſoll der Advocat ein groſſes Herz fuͤr Wittwen und
Wayſen; einen edlen Muth gegen maͤchtige Unterdruͤcker;
und alle Eigenſchaften eines geſchickten, redlichen und
feurigen Mannes haben; er ſoll unter einer empfindli-
chen Ausſchlieſſung von wichtigen Ehrenſtellen, auf nichts
als auf Ehre ſehen; unter bittern Verweiſen, die ihm
ein junger Rath bey der geringſten Gelegenheit giebt,
Liebe zu ſeinen Geſchaͤften, Eifer fuͤr die Unſchuld, und
Freyheit des Geiſtes behalten; er ſoll, von guten Ge-
ſellſchaften ausgeſchloſſen, den Ton des Hofmanns haben,
ſich kurz und groß faſſen, und Wahrheit mit Geſchmack
verbinden; … Das und viel mehrers ſoll er thun,
und dennoch beſtaͤndig auf den Fuß eines gerichtlichen
N 5Tag-
[202]Alſo iſt die Anzahl der Advocaten
Tagloͤhners oder Actenkraͤmers gehalten werden. Ich
zweifle ob ſich ein aͤhnlicher Fall angeben laſſe, worinn
die Geſetzgeber ſo viele widerſprechende Forderungen ver-
einigt haben.


Und was iſt denn der Vortheil von dieſen Anſtalten
geweſen, wodurch man die Advocaten von allen Befoͤr-
derungen abgeſchnitten, ſie auf den bloſſen Gewinnſt ein-
geſchraͤnkt, und ſich den Zwang uͤber Handlungen erlaubt
hat, die man nicht anders als von einer edlen wohlge-
naͤhrten Freyheit ſo erwarten kann, wie ſie das wahre
Wohl des Staats erfordert? Eine Menge von uͤberzaͤh-
ligen Raͤthen, Referendarien, Aſſeſſoren, Auſcultatorn,
Auditorn und andern Figuranten, die um dem ihnen ſo
fruͤhzeitig und ohne Gehalt ertheilten Range gemaͤß zu
leben, ihr beſtes Vermoͤgen verzehren, in langen Er-
wartungen oft ſtumpf, in ſichern auch wohl faul, und
wenn ſie bey den Collegien arbeiten, von einem alten
uͤberhaͤuften Conreferenten nicht immer aufs beſte zurecht
gewieſen werden, — eine lange Reihe von Hageſtolzen,
die allen guten Toͤchtern mit ihrem Range in die Augen
leuchten, und doch ihre zaͤrtlichen Wuͤnſche, weil der
Stand zu viel erfordert und das Gehalt noch fehlt, nicht
befriedigen koͤnnen; indeſſen aber manche abhalten, einem
ehrlichen untitulirten Manne die Hand zu geben, und
wenn ſie endlich zum wuͤrklichen Genuß eines Dienſtes ge-
langen, viel zu klug und bedachtſam geworden ſind, um
mit einem gutherzigen Kinde gluͤcklich zuzuplatzen, —
an manchen Orten eine ziemliche Vermehrung der Bedie-
nungen, welche durch die ungedultigen Erwartungen ti-
tulirter Perſonen, durch das ungeſtuͤme Anhalten dieſer
zu ſichern Hofnungen berechtigten jungen Maͤnnern, durch
ihren erlangten Zutritt, erhaltene naͤhere Bekanntſchaften,
und
[203]nicht ſo ſchlechterdings einzuſchraͤnken.
und andre Arten von gelernten Erſchleichungen zur groͤß-
ten Laſt des Staats erſchaffen ſind; — ſehr oft auch
eine minder ſcharfe Wahl und Pruͤfung eben dieſer jun-
gen Leute, die man zuerſt auf kuͤnftigen Zuwachs an Ge-
ſchicklichkeit, mit wenigerer Vorſicht annimmt, und doch
nachwaͤrts Ehrenhalber nicht verſtoſſen kann; — eine
gefaͤhrliche Erhoͤhung des aͤuſſerlichen Gepraͤges der Men-
ſchen in Verhaͤltniß ihres innern Werths, und ein daher
entſtandener ſchaͤdlicher Hunger nach Bedienungen —
uͤberall aber und hauptſaͤchlich eine unuͤberwindliche Ab-
neigung der vornehmſten und beſten Genies ſich dem Ad-
vocatenſtand zu widmen, und demſelben durch ihren Bey-
tritt den noͤthigen Grad von Ehre zu verſchaffen.


Nun ſtellen ſie ſich aber die Advocaten als eine Pflanz-
ſchule des Staats vor, worinn er diejenigen, die er der-
einſt zu den wichtigſten Geſchaͤften noͤthig hat, bilden will.


Was fuͤr ein maͤchtiger Trieb muß hier die Maͤnner
beſeelen, welche den Advocatenſtand waͤhlen muͤſſen, um
ſich den Weg zu den groͤßten Ehrenſtellen zu oͤfnen? Je-
der Bewegungsgrund, der einen Mann zu groſſen Hand-
lungen reitzen kann, kommt hier dem Stande wie dem
Staate zu ſtatten. Der Sohn des Praͤſidenten wird
ſich hier wie ehedem der Sohn eines Conſuls zu Rom,
eben ſo gut uͤben muͤſſen als ein andrer, und jeder wird
ſich in dem hohen Lichte zu erhalten ſuchen, worinn er
von dem Fuͤrſten, von den Edlen des Landes und von
den Patrioten bemerkt werden kann. Die geringſte Un-
redlichkeit wird ihm in dieſem Lichte ſchaden, und Unge-
ſchicklichkeit und Traͤgheit den oͤffentlichen Vorwurf eines
Stuͤmpers zuziehen. Er ſteht unter dem allgemeinen
Urtheil, und das Gepraͤge was er traͤgt, iſt nicht das
Werk eines Heckemuͤnzmeiſters, ſondern des redlichen ge-
mei-
[204]Alſo iſt die Anzahl der Advocaten
meinen Weſens. Da er durch ſeine Bemuͤhungen zu-
gleich fuͤr ſeinen Unterhalt und fuͤr ſeinen Ruhm arbeitet:
ſo hat er einen gedoppelten Grund zum Fleiſſe; und eig-
ner belohnter Fleiß iſt ein ganz andrer Lehrmeiſter als ein
graͤmlicher Conreferent, der uͤber die Verbeſſerung der
erſten Uebungen eines Auditors ermuͤdet. Von einem
beſtaͤndigen Wetteifer angereitzt, eher als andre, das vorge-
ſteckte Ziel zu erreichen, wird er oft einen Geldgewinnſt
verachten, und blos fuͤr die Ehre dienen; ſich ſchaͤmen
kleinen Zaͤnkereyen zu verewigen, oder groſſe und maͤch-
tige Familien in unnoͤthige Proceſſe zu verwickeln. Wann
dann der Staat ihn auf den oͤffentlichen unbefleckten und
unverdaͤchtigen Ruf, als einen erfahrnen und bewaͤhrten
Mann zu ſeinem Dienſte fordert: ſo wird er mit geſtaͤrk-
ten Auge die verwickelteſten Streitigkeiten durchſchauen,
ſolche mit der groͤßten Fertigkeit beurtheilen, und in einer
Stunde oft mehr thun, als viele von denjenigen, welche
auf andre Art gebildet ſind, in Tagen und Wochen thun
koͤnnen. Er wird das prakticable unter den verſchiede-
nen Meynungen der Rechtsgelehrten, ohne zu ſchwanken,
ergreifen; die Verfaſſung ſeines Landes aus einer ſchaͤr-
fern Erfahrung genauer kennen; die Wendungen ſchlech-
ter Advocaten mit einem halben Auge entdecken, und
fuͤr keine Arbeit, ſo ſchwer ſie auch immer ſeyn mag, er-
ſchrecken. Der Staat hat dabey den Vortheil, ſich be-
ſtaͤndig, wenn er eine Ehrenſtelle zu vergeben hat, eine
gluͤckliche und freye Wahl unter einer Menge von geſchick-
ten Leuten zu verſchaffen; dieſe Menge ohne ſeine Koſten,
und die gemeine Ehre, welche durch Tittel zu Grunde ge-
richtet wird in ihrem wahren Werthe zu erhalten. Der
Stand der Advocaten wird ſolchergeſtalt fuͤr ihn ein Eh-
renſtand werden; ein jeder der ſich darinn begiebt, den
Ton, welchen dieſer allezeit mit ſich fuͤhrt, und der in
der
[205]nicht ſo ſchlechterdings einzuſchraͤnken.
der heutigen Welt mehr als alle Sittenlehre wuͤrket, von
ſelbſt annehmen; kein Maͤdgen wird ſich in der Hofnung
dereinſt Frau Raͤthin zu heiſſen, ſchaͤmen eine Zeitlang
Frau Advocatußin oder um in unſern Stil zu ſprechen,
Frau Doctorin zu heiſſen …


Herr, fiel endlich mein College hier ein, ich glaube
Sie declamirten noch einen Monat ſo fort, wenn ich die
Gedult haͤtte ihnen zuzuhoͤren. Aber wiſſen Sie was?
einer unſrer groͤßten Fuͤrſten will jetzt die Advocaten ganz
abſchaffen, und dafuͤr bey jeder Regierung vier Raͤthe
einfuͤhren, welche die Sachen der Partheyen vortragen
und die Stellen der Advocaten vertreten ſollen …


Das hoͤre ich gern, erwiederte ich, daß man die Ad-
vocaten ſolchergeſtalt als Raͤthe in die groſſe Thuͤr wieder
einfuͤhren will, nachdem man ſie unter ihren vorigen Na-
men zur Hinterthuͤr hinausgeſchickt hat. Es beweiſet
dieſes ſo viel, daß man von der Ehre zunaͤchſt rechtſchaf-
fene Leute erwarten koͤnne; und daß man uͤbel gethan
habe ſolche den Advocaten zu entziehen. Nur zweifle ich
ſehr, daß dieſer Plan alle die vorhin beſchriebene Vor-
theile mit ſich fuͤhren werde; jener ſcheint mir weit leich-
ter, freyer und unendlich ergiebiger zu ſeyn; er hatte die
Maͤnner erzeugt, woraus der Großcanzler bey der er-
ſtern Einrichtung verſchiedene Raͤthe und Praͤſidenten
waͤhlte … und es ſcheint mir doch immer problematiſch
zu ſeyn, ob beſoldete Richter und beſoldete Advocaten ..


Nehmen Sie es nicht uͤbel, ſagte mein Herr College,
meine Frau erwartet mich, und gieng mit Angſt fort,
weil er beſorgte, ich wuͤrd ihn noch um ſeine Suppe brin-
gen, wenn ich meinen Text nach allen ſeinen Theilen voͤl-
lig ausfuͤhrte …


LII.
[206]

LII.
Vom Huͤten der Schweine.


Es kommen jaͤhrlich viele Klagen daruͤber ein, daß die
Schweine auf dem Lande hie und da ohne Hirten
herumlaufen, und beſonders den Gaͤrten ſehr vielen
Schaden zufuͤgen. So oft man aber dieſem Unweſen von
Policey-Amtswegen begegnen wollen, hat man gefunden,
daß ſich ſolches am wenigſten durch allgemeine Verord-
nungen zwingen laſſen wolle. Vielleicht iſt die Aufklaͤ-
rung der ſolcherhalb vorhandenen Geſetze und Gewohn-
heiten, eben ſo nuͤtzlich als irgend eine andre philoſophi-
ſche Betrachtung. Andre moͤgen von Liebe und Wein
ſingen; ich will einmal den Schweinen folgen, und die
Faͤlle, wo ſolche nach der Beſchaffenheit des hieſigen Landes
gehuͤtet werden muͤſſen oder nicht, zu beſtimmen ſuchen.


Darinn daß die Schweine von Maytag bis Bartho-
lomaͤus gehuͤtet und in Acht genommen werden muͤſſen,
iſt man faſt durchgehends einverſtanden. Der groͤſſere
Vortheil, nemlich die Erhaltung der Kornfruͤchte, wird
hier mit Recht auf Koſten des mindern geſucht; und man
nennt jene Zeit die beſchloſſene Zeit. Meiner Meinung
nach redet hier auch der Tag oder der Calender von ſelbſt,
und es bedarf ſolcherhalb jaͤhrlich keines beſondern neuen
Gebots. Wo aber die gute Witterung im Fruͤhjahr eine
fruͤhere Schonung der Felder, oder die ſich verſpaͤtende
Erndte eine ſpaͤtere Eroͤfnung derſelben erfordert, da iſt
ein beſonders Gebot noͤthig; und dieſes Gebot muß oͤf-
fentlich verkuͤndiget werden, wenn diejenigen, ſo vor
Maytag oder nach Bartholomaͤi ihre Schweine ungehuͤtet
laufen laſſen, beſtrafet werden ſollen. Ein ſolches Ge-
bot
[207]Vom Huͤten der Schweine.
bot kann aber wegen Verſchiedenheit des Bodens nicht
allgemein ſeyn, weil man auf dem warmen Sande und
in der Ebene fruͤher erndtet, wie auf kaͤltern Gruͤnden
oder in den Bergen. Am beſten wuͤrde ein ſolches Ge-
bot nach eigner Willkuͤhr der Feld- und Weidegenoſſen jedes
Orts von den Beamten gegeben, und man koͤnnte dabey
die Regel des Sachſenſpiegels B. II. Art. 55.


Was der Bauermeiſter um des Dorfes Frommen
willen mit Verwilligung der Menge ſetzt, das mag
der mindere Theil nicht widerſprechen,
()

gelten laſſen; ohne ſich jedoch auch dabey eben durch den
Vortheil eines Einzelnen, der ſeine Fruͤchte zu ſpaͤt im
Felde laͤßt, aufhalten zu laſſen, indem der Sachſenſpie-
gel B. II. Art. 48. ganz vernuͤnftig ſagt:


Laͤſſet ein Mann ſein Korn laͤnger drauſſen als an-
dre Leute ihr Korn einhaben gefuͤhrt, wird es ihm
gefretzet oder abgetreten, man gilt es ihm nicht.
()

wie wohl hier im Lande, wo der Heuermann keine Pferde
hat, und ſelten ſeine Fruͤchte ehender aus dem Felde ha-
ben kann, als bis der Bauer die ſeinigen zu Hauſe hat,
die ſpaͤtern Schnitter mehrere Achtung verdienen.


Sonſt iſt die Stoppelweide eine ſo groſſe und wich-
tige Sache, der Anger iſt nach der Erndte insgemein ſo
abgenagt, das Vieh hat ſich an der magern Weide ſo
muͤde gefreſſen, und alles hungert ſo ſehr nach den Stop-
peln und den darunter befindlichen, oder jetzt nach ent-
bloͤſſetem Boden aus der Ruhe friſch hervorſchieſſenden
wuͤrzhaften Kraͤutern, daß der Schaden eines einzelnen
Mannes, der ſeine Fruͤchte zu ſpaͤt im Felde laͤßt, gegen
jene allgemeine Beduͤrfniß nicht in Betrachtung koͤmmt.
So viel von den Huͤten zur beſchloſſenen Zeit.


Meh-
[208]Vom Huͤten der Schweine.

Mehrere Schwierigkeiten ſetzt es wegen des Huͤtens
zur unbeſchloſſenen Zeit, indem einige ihrer Gartenfruͤchte
halber verlangen, daß man das Vieh und beſonders die
Schweine das ganze Jahr durch huͤten oder verwahren
laſſen ſolle; andre aber die Schweinezucht und was ſolche
erleichtern kann, fuͤr ſo wichtig halten, daß ſie ſolche mit
dem koſtbaren Unterhalt eines Hirten zur unbeſchloſſenen
Zeit hier im Lande nicht erſchwert haben wollen.


Hier iſt meiner Meinung nach ein Unterſchied unter
beſchloſſenen und unbeſchloſſenen Oertern zu machen. Ein
ofnes Gehoͤlze, worinn das Jahr Maſt iſt, gehoͤrt un-
ter die beſchloſſenen Oerter, und vor denſelben muß gehuͤ-
tet oder das Vieh, was darinn lauft, kann gepfaͤndet
werden. Nur muß man nicht jeden Buſch, worinn ſich
einige Eichbaͤume befinden, fuͤr einen beſchloſſenen Ort
halten. Das Gehoͤlz muß groß, und die Maſt erkannt
ſeyn, wenn eine ganze Gemeine ihre Schweine dafuͤr huͤ-
ten laſſen ſoll; und ich ſollte glauben, daß nur diejenigen
Maſthoͤlzer fuͤr beſchloſſen geachtet werden koͤnnten, wo
es ſich der Muͤhe verlohnt, und Recht oder Gewohnheit
es mit ſich bringen, die Schweine ordentlich zur Maſt zu
mahlen oder einzubrennen; doch hat auch hiebey der Beſitz
ſein eignes Recht. Sonſt iſt es in verſchiedenen Marken
keinem Genoſſen erlaubt, auf der ofnen Mark neben ſei-
nen Gruͤnden, oder unter ſein Duſtholz Eichen Telgen zu
pflanzen, damit die Genoſſen nicht mit der Dienſtbarkeit
des Abhuͤtens zu leichtfertig beſchwert, oder die Schweine
von den Eignern der Baͤume, welche ſolche doch, wenn
Maſt darauf iſt, heimlich oder oͤffentlich ſchuͤtzen wollen,
zuruͤckgeſchlagen werden moͤgen.


Einen angelegten Eichelkamp kann man nicht fuͤr be-
ſchloſſen halten, ſondern er muß ſich ſelbſt ſchuͤtzen, weil
der
[209]Vom Huͤten der Schweine.
der Eigner deſſelben ſolchen leichter bewahren, als eine
ganze Gemeinheit ihre Schweine davor huͤten laſſen kann.
Das Groͤſſere uͤberwiegt hier das Kleinere.


Eine Stadt und ein Marktflecken aber kann ſich
durch eigne Willkuͤhr zu einem beſchloſſenen Ort machen:
und wenn es dieſes auf Gutbefinden ſeiner Obrigkeit, und
mit Bewilligung der Menge thut: ſo duͤrfen an einem
ſolchen Orte die Schweine auch zur unbeſchloſſenen Zeit
die Gaſſen nicht belaufen. In einem Staͤdtgen oder Fle-
cken hat die buͤrgerliche Nahrung den erſten Rang; und
man kann dieſer die Schweinezucht daſelbſt um ſo viel eher
aufopfern, weil der Buͤrger ſein Schwein insgemein erſt
auf Maytag kaͤuft, ſelbſt keine anzieht, und der Brauer
oder Branteweinsbrenner, der eine Menge haͤlt, ſolche
ſelten herumlaufen laͤßt.


So koͤnnen auch auf gleiche Weiſe die Genoſſen eines
gemeinſchaftlichen Feldes, in ſo weit es ohne Nachtheil
eines Dritten geſchehen kann, ſolches nach Ablauf der
gewoͤhnlich beſchloſſenen Zeit, weiter ſchlieſſen, mithin
zum Vortheil des Klafers, der Ruͤben, der Kartoffeln
und andrer in der Flur nach der Erndte gebaueten Gar-
tenfruͤchte, einen beſchloſſenen Ort daraus machen; doch
glaube ich, daß ſolches nicht nach der Mehrheit der Zahl
der Genoſſen, ſondern nach der Mehrheit der darinn be-
legenen Felder, und der dafuͤr beſtimmenden Eigner, ge-
ſchehen muͤſſe.


Wo aber nun weder eine beſchloſſene Zeit noch ein
beſchloſſener Ort iſt, da haben die Einwohner nicht noͤ-
thig mit vieler Beſchwerde und geringem Vortheil ihre
Schweine vor einem beſondern Hirten zu halten. Ein
Schwein bezahlt ſeine Sommerfuͤtterung und Wartung
insgemein gut; aber ſo wenig eine Winterfuͤtterung auf
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Odem
[210]Vom Huͤten der Schweine.
dem Stalle, wie einen Winterhirten, und wenn man die
Schweinezucht nicht zum allgemeinen Nachtheil des Lan-
des vermindern will: ſo muß man um kleinerer Vortheile
willen, den groͤſſern nicht verderben. Dennoch aber ſind
beyde Theile nemlich die Gartenbeſitzer im Dorfe, und
diejenigen ſo Schweine halten, ſelten daruͤber einverſtan-
den. Ein gewiſſer Mann ſtellte weiland Ihro Koͤnigl.
Hoheit Ernſt Auguſt dem Andern vor, wie die Schweine
nicht allein die Kirchhoͤfe entweyheten, ſondern auch ſo-
gar in die Kirche kaͤmen, und den Gottesdienſt ſtoͤrten;
und Hoͤchſtdieſelben lieſſen ſich dadurch bewegen unterm
2 Jan. 1718. eine Entſchlieſſung dahin zu faſſen,


daß die Eingeſeſſene des Dorfs ihre Schweine auch
zur Winterzeit entweder huͤten laſſen, oder auf dem
Stalle halten ſollten.
()

Dies brachte endlich die Frage hervor:


Ob nicht Dorfgeſeſſene ſchuldig waͤren ihre Gaͤrten
ſo zu verwahren, daß kein Schwein hinein kom-
men koͤnnte?
()

Diejenigen, welche ſolche bejaheten, ſagten oder konnten
ſagen: ‚Der Kirchhof muͤſſe ſich ſelbſt gegen den Anlauf
der Schweine wehren; dies bezeugeten die daran befind-
lichen Fallthuͤren und Roſten; Privatgaͤrten koͤnnten aber
kein mehrers Recht verlangen, als die geweyhte Kirchhoͤfe;
die Dorfgeſeſſenen, die insgemein aus Kraͤmern, Be-
ckern und Brauern, mithin aus vermoͤgenden Leuten be-
ſtuͤnden, koͤnnten mit mindrer Beſchwerde eine Mauer
oder ein Gelaͤnderwerk um ihre Gaͤrten, als die Gemeinde
einen beſtaͤndigen Hirten halten; ſie brauchten uͤberhaupt
nur mehrentheils die Gaſſenſeite ihrer Gaͤrten zu bewah-
ren, und an die Auſſenſeite wuͤrde kein Schwein kommen,
wenn das Dorf gegen das Feld mit einem Schutzwerk ge-
ſchloſ-
[211]Vom Huͤten der Schweine.
ſchloſſen wuͤrde. Ihre Gaͤrten aber koͤnnten uͤberhaupt
mit den Feldern nicht in Vergleichung gebracht werden;
es waͤren weit hoͤhere Gruͤnde, warum man die Schweine
vor den Feldern, als vor den Gaͤrten huͤten muͤßte, die
doch allemal einigermaſſen verwahret werden koͤnnten;
waͤre es gleich auſſerhalb des Dorfs nicht moͤglich ſo ſtark
zu zaͤunen, daß kein Schwein durchbrechen koͤnnte: ſo
waͤren doch einmal die Jochhecken, ſo man den Schwei-
nen umhienge, um ſie vom Durchbrechen abzuhalten,
ein beſſeres und leichters Mittel, als ein koſtbarer Hirte;
dann aber verſtuͤnde es ſich von ſelbſt, daß wenn ein her-
umlaufendes Schwein jemanden zu Schaden gienge, ſol-
ches nach dem Sachſenrecht gepfaͤndet, und der Eigner
des Schweins zur Erſetzung des Schadens, und der
dabey gewillkuͤhrten Strafe angehalten werden koͤnnte;
dieſes wuͤrde einen jeden ſchon bewegen ſeine herumlau-
fenden Schweine nicht ganz aus der Acht zu laſſen; und
es ſey ſolchemnach nicht noͤthig, das bloſſe Herumlaufen
derſelben ſo fort fuͤr ſtraffaͤllig zu erklaͤren, mithin jeden
durchaus zu zwingen, ſeine Schweine auf dem Stalle
oder beſtaͤndig vor dem Hirten zu halten; zu der Stall-
fuͤtterung koͤnne kein geringer Mann gelangen und ein
Hirte ſey zu koſtbar. Dieſer muͤſſe alſo ſein Schwein ab-
ſchaffen; und ſich ſeiner beſten Huͤlfe berauben; der Sach-
ſenſpiegel (B. II. Art. 47.) habe ebenfals nur auf den
Schaden, nicht aber auf das Herumlaufen geſehen; und
der Churfuͤrſt Carl habe unterm 28 Sept. 1702. mit einer
eben ſo billigen Ruͤckſicht auf das allgemeine Beſte ver-
ordnet:


Daß jeder Unterthan ſeine Schweine dergeſtalt huͤ-
ten ſolle, damit niemand dadurch einiger Schade
zugefuͤgt wuͤrde,

O 2nicht
[212]Vom Huͤten der Schweine.
nicht aber befohlen, daß ſo gleich jeder ſein Schwein auf
dem Stalle oder vor einem Hirten halten ſolle; das Her-
kommen rede fuͤr die Freyheit, wie die Roſten und Fall-
thuͤren an den Kirchhoͤfen zeugten, welche ihre Vorfah-
ren nicht gemacht haben wuͤrden, wenn die Schweine
nicht das Recht gehabt haͤtten, frey zu gehen.


Dieſe Gruͤnde bewogen auch wuͤrklich Ihro Koͤnigl.
Hoheit jenen Befehl wieder einzuziehen, und dagegen un-
term 2 May 1722. zu verabſchieden:


Daß die Supplicanten zwar ihre Schweine den
Winter uͤber wie bisher ohne Hirten laufen zu laſſen
berechtiget ſeyn, ſelbige aber doch des Nachts auf-
ſtallen und bewahren, auch den uͤberſteigenden
Schweinen ſogenannten Heckhoͤlzer umhangen, die
Unterthanen hingegen ihre Gaͤrten gehoͤrig befriedi-
gen ſollten,
()

wobey es auch mehrerer dagegen geſchehenen Vorſtellun-
gen ungeachtet, nachwaͤrts belaſſen wurde.


Noch weniger mag es mit Billigkeit den Genoſſen
eines gemeinſchaftlichen Feldes oder Eſches verarget wer-
den, wenn ſie zu der Zeit, wo das Schwein eine guͤldne
Schnautze haben ſoll, ihr Vieh in demſelben ohne Hirten
herumlaufen laſſen. Die Univerſitaͤt zu Jena erkannte
dieſes in Sachen der Heker und Waller Bauerſchaften ge-
gen den Landesfuͤrſtlichen Fiſcus folgendermaſſen:


Daß ſie wegen des Weidens, welches ſie zur Win-
terzeit, auf ihren eignen eingefriedigten Eſchen,
ohne jemandes Schaden, mit den Schweinen vor-
nehmen, mit aller Strafe billig zu verſchonen.
()

jedoch wurde dieſes Urtheil nachwaͤrts von der Univerſitaͤt
zu Rinteln dergeſtalt


daß
[213]Vom Huͤten der Schweine.
daß beſagte Bauerſchaften ihre Schweine auf ihren
Eſchen ungehuͤtet gehen zu laſſen nicht befugt, ſon-
dern ſolches wieder auf die unbeſaamten Felder, in
ihren Eſchen einzuſchraͤnken und ſie ihre Schweine
huͤten zu laſſen ſchuldig —
()

wieder aufgehoben, wobey es auch die Leute, welche ſich
durch eine andre Wendung helfen konnten, bewenden
lieſſen, und den Heuerleuten, welche die Klage dem Fiſcus
angebracht hatten, das Land nahmen.


Hiebey entſteht aber die wichtige Frage, in wie fern
der Fiſcus ſich in dergleichen Sachen miſchen, und wenn
ein Vieh zur beſchloſſenen Zeit oder an beſchloſſenen Oer-
tern zu Schaden geht, ſolchen Amts halber ruͤgen koͤnne,
wie nach vorſtehenden Erkenntniſſen zu urtheilen, der
Fiſcus nothwendig gethan haben mußte, weil alle Feld-
genoſſen daruͤber einig waren, daß ſie ihre Schweine des
Winters im Eſche frey und ungehuͤtet herumgehen laſſen
wollten, der Fiſcus aber behauptete, daß ſie auch zur
ofnen Zeit die Schweine huͤten laſſen muͤßten, eine Frage
die man, nachdem der Fiſcus mehr oder minder ſtrenge
geweſen, bald ſo, bald anders, entſchieden hat?


Nichts iſt gewiſſer, als daß alle Theilhaber eines
Eſches oder gemeinſchaftlichen Feldes uͤber verſchiedene
Dinge, als wegen der Sommer- und Winterſaat, der
Wucherblumen, des Huͤtens auf den Reinen, und ſo
auch der Feld- und Viehſchaden halber ſich vereinigen,
auch Strafen auf die Uebertretungen willkuͤhren, ſolche
mindern und mehren, und entweder vertrinken oder auf
andre Art verwenden koͤnnen, ſo lange dieſer Verein blos
die Einwilligenden verbinden ſoll. Dieſes ſcheinet die
natuͤrliche Freyheit mit ſich zu bringen, und der Sachſen-
ſpiegel (B. II. Art. 47.) nebſt der Gloſſe bauet auf dieſen
O 3Grund-
[214]Vom Huͤten der Schweine.
Grundſatz. Es iſt ferner eine uͤberaus billige und wahr-
ſcheinliche Vermuthung, daß ein Landesherr, der uͤber
dergleichen Dinge Verordnungen erlaͤßt, ſich lediglich
nach dem eigenen Verlangen der Intereſſenten gerichtet,
und blos dasjenige beſtaͤtiget habe, was ſie zu ihrem eig-
nen Beſten gut gefunden, und gewillkuͤhret haben.
Wann nun die Feldgenoſſen unter ſich daruͤber einig ſind,
daß z. E. auch zur beſchloſſenen Zeit im Felde auf den
Reinen, oder den dahier ſo genannten Anwenden gehuͤtet
werden moͤge; oder wenn ſie unter ſich beſchlieſſen, daß
die vorfallenden Feldſchaͤden nur alsdenn verguͤtet und be-
ſtrafet werden ſollen, wenn der beſchaͤdigte Theil ſelbſt
daruͤber klagt: ſo ſollte man glauben, daß der Fiſcus ſein
Amt ruhen laſſen koͤnne und muͤſſe. Nach dieſem Grund-
ſatze reſcribirte die hieſige Regierung in einem gewiſſen
Falle unterm 10 Sept. 1767. folgendermaſſen:


1. Ob zwar unterm 6 Febr. 1766. reſolvirt
worden, daß ihr vorerſt bis zu anderweiter Ver-
ordnung hinfuͤhro wegen des Viehhuͤtens im Felde,
keine Klagen von dem Fiſco anzunehmen haͤttet,
wann nicht derſelbe zugleich jemand, der ſich daruͤber
beſchweret, namhaft machen koͤnnte: ſo hat doch
dieſes die Meinung nicht gehabt, daß damit das
Viehhuͤten zwiſchen den Korn erlaubt ſeyn ſollte,
ſondern nur allein daß aus bewegenden Urſachen der
Fiſcus daruͤber keine Klagen ex officio anbrin-
gen ſolle.
()

und gab dadurch zu erkennen, wie die fiſcaliſchen Klagen
in dergleichen Faͤllen nicht leicht ſtatt finden moͤgten.


Gleichwohl mag dieſes nicht als eine allgemeine Ver-
ordnung angeſehen werden, indem ſich Localumſtaͤnde fin-
den koͤnnen, welche ein anders erfordern. Denn a) fin-
det
[215]Vom Huͤten der Schweine.
det man an vielen Orten Deutſchlandes ſo genannte Feld-
huͤter und Feldſchuͤtzen, welche das Vieh, was zu Scha-
den geht, ohne Erwartung einer Klage von dem Beſchaͤ-
digten, Amts halber zur Ruͤge bringen; es finden ſich
b) Gerichtsbarkeiten, welche den Feldſchuͤtzen zu ſetzen
und zu beſolden haben, mithin dafuͤr auch die Bruchfaͤlle
genieſſen; wir haben c) in der ofnen Mark hieſelbſt Mahl-
leute, welche Amts halber die Markbruͤche ruͤgen muͤſſen,
und es haͤngt nicht von den Markgenoſſen ab, ſich unter
einander den Schaden zu verzeihen, oder ſolchen nach
ihrem Gefallen zu beſtrafen, ob es gleich auch beſondre
Ausnahmen von dieſer Regel giebt. Geſetzt nun eine
Obrigkeit habe von langer Zeit die Feldſchaͤden durch einen
Fiſcus ruͤgen laſſen, ſollte denn nicht die rechtliche Ver-
muthung eintreten, daß derſelbe die Stelle des Feld-
ſchuͤtzen vertrete, und die Obrigkeit fuͤr deſſen Unterhaltung
die Bruchfaͤlle genieſſe?


Ich zweifle, daß man dieſer ſtarken Rechtsvermuthung
etwas anders mit Beſtande entgegen ſetzen koͤnne, als die-
ſes, daß es nemlich in dem Willkuͤhr der Feldgenoſſen be-
ruhen muͤſſe, ob ſie den alten Contrakt, wodurch die Obrig-
keit von ihnen um den Feldſchutz erſuchet worden, wieder
aufkuͤndigen wollen oder nicht. Allein ſo gern ich einraͤu-
me, daß eine Obrigkeit ihre Rechte nachgeben muͤſſe, ſo bald
es die gemeine Wohlfarth und ein groͤſſerer Zweck erfor-
dert, weil ihr Recht, wenn es auch die laͤngſte Verjaͤhrung
fuͤr ſich hat, dieſe Nachgebung zum unausloͤſchlichen Cha-
rakter hat:


So moͤgte ich es doch ungern einraͤumen, daß Feldge-
noſſen dergleichen alte Contrakte ſogleich ohne Unterſchied
aufkuͤndigen koͤnnten. Die hieſigen Holzgrafen, denen nach
getheilter Mark, die Natur ſelbſt ihr Richteramt aufkuͤn-
O 4digte,
[216]Vom Huͤten der Schweine.
digte, haben ſich wenigſtens dieſe Regel nicht gefallen laſſen,
ſo uͤbel auch die Folgen davon einſt ſeyn moͤgten; und ich
glaube, daß man hierbey lediglich auf dasjenige zu ſehen
habe, was das groͤßte Beſte jedes Orts erfordre.


Dieſes erfordert nun meines Ermeſſens an den meiſten
Orten ſchlechterdings, daß das Huͤten auf den Reinen oder
Streifen zwiſchen dem Korn, zur beſchloſſenen Zeit, ſo viel
als immer moͤglich verhuͤtet werde; die Spaniſch Lingiſche
Holzungsordnung von 1590, (Tit. 4. §. 49.) welche als ein
Meiſterſtuͤck ihrer Zeit angeſehen werden mag, verbietet die-
ſes bey ſchwerer Strafe, und belohnt den Anbringer beſon-
ders, zum ſichern Zeichen, daß man nicht die Klage eines
Beſchaͤdigten abgewartet, ſondern jeden, und mithin auch
den Fiſcus dazu aufgemuntert habe. Der Schade welchen
das Vieh anrichtet, was durch ſpielende Kinder oder bos-
hafte Leute im Felde zur beſchloſſenen Zeit auf den Reinen
und Grasſtreifen gehuͤtet wird, iſt ſo mannigfaltig und ſo
heimlich, daß es faſt in keinem Falle erlaubt ſeyn muß;
und wenn dieſes iſt: ſo kann nicht erſt der Beweis eines
wuͤrklichen Schadens oder die Klage eines frommen Man-
nes, der ſich einen boͤſen Nachbar nicht zum Unfreunde ma-
chen will, erwartet werden; ſondern der Fiſcus, der ſich
mit dem Haſſe gern beladet, und die Feindſchaften ſchlechter
Leute nicht fuͤrchten darf, muß Recht und Macht haben,
alle diejenigen anzuzeigen, welche zur beſchloſſenen Zeit mit
ihrem Viehe im Felde huͤtend betreten werden; es waͤre
denn, daß eine andre Einrichtung, wie bey dem Reſcript
vom 10 Sept. 1767. vorausgeſetzt iſt, von langen Jahren
her Platz gegriffen habe. Denn wo z. E. die Feldgenoſſen
einen eignen Feldſchuͤtzen oder einen beſondern Feldrichter
haben, da hat der Fiſcus nichts zu thun.


Ich verſtehe dieſes aber blos vom Huͤten, was mit
Vorſatz geſchieht, nicht aber von dem Falle, wo ein Stuͤck
Vieh
[217]Vom Huͤten der Schweine.
Vieh unverſehens ins Feld gelaufen iſt. Viele Bauerhoͤfe
ſind dergeſtalt gelegen, daß ſie unmittelbar an die Feldflur
ſtoſſen, und es kann aller Aufmerkſamkeit ungeachtet ge-
ſchehen, daß ein Reiſender oder nachlaͤßiges Geſinde, die
ſo genante Hake offen laͤßt, da denn die auf dem verſchloſ-
ſenen Hofe laurenden Schweine, welche vom Fruͤhjahr her
noch ins Feld gewoͤhnt ſind, ſich ſo gleich die Gelegenheit
zu Nutze machen, und ins Feld laufen. Der Mann, dem
die Schweine gehoͤren, empfindet den Schaden am mehr-
ſten, weil ſeine Laͤndereyen zunaͤchſt an der Hake liegen,
und das Vieh zuerſt hierauf fallen wird. Er wird alſo nicht
ſorglos ſeyn, und noch weniger aus einem boͤſen Vorſatze
die Schweine ins Feld laſſen. Soll nun hier der Fiſcus
auflauren, und die Unterthanen in unendliche Bruͤchten ſtuͤr-
zen: ſo wird kein einziger Feldgenoſſe von der Strafe frey
bleiben. Dieſes kann des Geſetzgebers Abſicht nicht ſeyn;
und ſo nach wuͤrde ich in dieſem Falle, wenn auch der Fiſcus
ſein Amt in demſelben ſeit langen Jahren ausgeuͤbt haͤtte,
einer Gemeinheit erlauben, den alten Contrakt, wodurch
derſelbe auch hieruͤber zum Feldhuͤter erbeten ſeyn moͤgte,
aufzukuͤndigen. Viele Gemeinheiten haben ſich daruͤber in
neuern Zeiten vereiniget, und die Regierung hat ſolche Ver-
einigungen als rechts beſtaͤndig gelten laſſen. Aber auch da,
wo ein ſolcher Verein nicht gemacht worden, kann er alle-
mal ſtillſchweigend angenommen werden. In dieſem Falle
alſo ſollte meiner Meinung nach keine Beſtrafung ſtatt fin-
den, als wenn daruͤber von dem Beſchaͤdigten geklagt wuͤrde.


So geſtattet und erfordert es auch die gemeine Wohl-
fart, daß nach eroͤfneten Feldern, die Feldgenoſſen ſich dar-
uͤber nach ihrem Gefallen vereinigen moͤgen, ob ſie das Vieh
auf den Stoppeln huͤten oder ungehuͤtet laufen laſſen wol-
len. In vorigen Zeiten gieng der Fiſcus, ſo bald die ge-
O 5ſchloſ-
[218]Vom Huͤten der Schweine.
ſchloſſene Zeit nach dem Calender zu Ende war, ins Feld,
und ſetzte alle diejenigen, welche ihr Vieh auf ihren eignen
abgeerndteten Feldern huͤten lieſſen, zur Klage, ſo lange
noch ein einziger Acker mit Fruͤchten in der Flur war. Alle
Theilhaber waren daruͤber eins, daß ſie ſich die Stoppel-
weide einander goͤnnen, und das Vieh vor dem noch un-
abgeerndteten oder mit Ruͤben und Klaver beſtelleten Fel-
dern huͤten wollten. Es half aber nicht; der Fiſcus gieng
ſeinen Gang. Der Fehler ruͤhrte unſtreitig daher, daß
man die Eroͤfnung des Feldes nach dem Calender rechnete,
und nicht vor den Beamten zuſammen trat, um durch die
Mehrheit die Eroͤfnung nach der Witterung entweder fruͤ-
her oder ſpaͤter eintreten zu laſſen. Der Fiſcus hielt das
Feld fuͤr geſchloſſen, ſo lange noch Korn darinn war; und
jeder Eigner hielt es zur Huͤtung nicht aber zum ungehuͤte-
ten Betreiben, fuͤr eroͤfnet, ſo bald Bartholomaͤi Tag vor-
bey und ſein Feld ledig war. Endlich befahl die Landes-
obrigkeit, nachdem ſich alle Genoſſen vereiniget hatten, der
Fiſcus ſolle ſein Amt ruhen laſſen; und wer den vernuͤnfti-
gen Geitz der Leute nach der Stoppelweide kennt, wird die-
ſes um ſo mehr der allgemeinen Wohlfart gemaͤs finden,
je weniger die in ſolchen Faͤllen eintretende Strafen ihren
Zweck erreichten, weil ſolche weiter nichts wuͤrkten, als daß
die Genoſſen die ihnen unentbehrliche Stoppelweide mit ei-
nem Bruͤchten erkaufen muͤßten.


In ſolchen Faͤllen alſo kann dem Fiſcus eine Aufkuͤndi-
gung des alten Contrakts, welchen der Zeitlauf vermuthen
laͤßt, mit allgemeiner Einſtimmung geſchehen, und die
Obrigkeit thut wohl ſelbige zuzulaſſen; wo aber das groͤßte
Beſte em anders erfordert, wie beym Huͤten im Felde zur
beſchloſſenen Zeit, kann man dem epidemiſchen Willen der
Genoſſen nicht immer nachgeben.


An
[219]Vom Huͤten der Schweine.

An einigen Orten duͤrfen auch nach beſondern Verord-
nungen die Schweine nicht anders als gekrampet auf die ge-
meine Weide kommen, und iſt die Krampe ein Drat der
ihnen durch den Ruͤſſel gezogen wird, und einen Schmerz
erregt, wenn ſie wuͤhlen wollen Es iſt dieſes vermuthlich
ein ſehr alter Gebrauch, weil die Roͤmer ſich dieſer Krampe
unter dem Namen Fibula, wiewohl ſo viel man lieſet, nicht
bey den Schweinen, bedienten Hiebey entſteht oft die
Frage, ob die Weidegenoſſen ſich dahin vereinigen moͤgen,
ihre Schweine ungekrampt herum laufen zu laſſen? So viel
ich weiß, iſt ſolches allemal ungeſtraft geſchehen, wenn
alle Intereſſenten der Weide darinn einig geweſen, und ihr
Bruch oder ihre Weide zum Schaden ihres uͤbrigen Viehes
zerwuͤhlen laſſen wollen. Da jedoch die hieſigen Bruͤcher
ſo liegen, daß das Vieh mehrer Bauerſchaften den gegen-
ſeitigen Weidegang haben: ſo mag eine Bauerſchaft allein
ihre Weide damit nicht verderben, und ſolchergeſtalt ihr
Hornvieh noͤthigen, den uͤbrigen Weiden deſto beſchwerli-
cher zu fallen; oder den von andern Bauerſchaften zu ihnen
heruͤber weidenden Vieh das reciprocum zu entziehen. Wo
jedoch eine Bauerſchaft ihre Weide gegen eine andre mit der
Pfandung vertheidigen mag, ſollte es auch jaͤhrlich nur
einmal zur Urkunde geſchehen, da kann ihr das Recht zu
einem ſolchen Verein, nach welchem ſie ihre Schweine un-
gekrampet gehen laſſen wollen, nicht abgeſagt werden.


Im Jahr 1732. den 25 May erlieſſen weiland Ihro
Churfuͤrſtl. Durchlaucht von Coͤlln folgendes Reſcriptum
an ſaͤmtliche Beamte:


Auch ſollen die Schweine das ganze Jahr hindurch
vor den Hirten getrieben werden, mithin den Einge-
ſeſſenen daſigen Amts erlaubt ſeyn, ihr Vieh zwiſchen
dem Korn huͤten zu laſſen: falls aber dadurch einem
oder
[220]Vom Huͤten der Schweine.
oder andern Schade zugefuͤgt werden wuͤrde, ſoll der-
jenige, welcher ſolchen verurſacht, nicht allein denſelben
erſetzen, ſondern auch deshalben mit einem convenablen
Bruͤchten belegt werden.


Dieſer Befehl wurde auf Andringen eben derjenigen erlaſ-
ſen, welche Ihro Koͤnigl. Hoheit, Ernſt Auguſt dem Andern,
zu der erſten hiebevor angezogenen Verordnung bewogen
hatten. Allein er hatte auch eben das Schickſal. Denn
auf Vorſtellung Loͤbl. Stiftsſtaͤnde erfolgte unterm 9 Dec.
1732. die gnaͤdigſte Reſolution:


Bey vorigen Jahrs Landtage und denen a ſtatibus ge-
horſamſt eingebrachten deſideriis, haben Se. Churfuͤrſtl.
Durchl. auf deren Staͤnden Geſuch dahin ſich gnaͤ-
digſt reſolvirend, willfahret, daß zwar die Stoppel-
weiden an ſich zu keiner Zeit verboten, die Untertha-
nen aber ihr Vieh, damit ſelbiges keinem andern zu
Schaden gehen, wohl zu huͤten ſchuldig, oder aber
bey daruͤber erfolgenden Klage, den Bruͤchten ſo wohl
als den Schaden des Beleidigten zu zahlen gehalten
ſeyn ſollen, ohne jedoch daß der Fiſcus, wann kein
Klaͤger iſt, zu agiren habe. Se. Churfuͤrſtl. Durchl.
ſeyn nicht deſtoweniger auch anjetzo (um den Staͤnden
in allen nur thunlichen Faͤllen die gnaͤdigſte Willfah-
rung bezeigen zu koͤnnen) gnaͤdigſt geneigt, das ge-
machte Deſiderium Fuͤrſtvaͤterlich einzuraͤumen, wes-
halben es denn mit dem Huͤten der Schweine, gleich-
wie es wegen der Stoppelbruͤchten reſolvirt, gehalten
werden ſoll.


und wie die Staͤnde darauf fernerweit antrugen, daß dieſe
gnaͤdigſte Erklaͤrung oͤffentlich bekannt gemacht, und zu-
gleich die Verordnung vom 18 Nov. 1712, worinn der
Churfuͤrſt Carl ſich alſo erklaͤret hatte,


dafern
[221]Vom Huͤten der Schweine.

dafern das Vieh nicht gebuͤhrend gehuͤtet, und denen
Benachbarten einiger Schade dadurch zugefuͤget wer-
den moͤgte, ſoll nicht allein ſothaner Schade erſetzt
ſondern auch die Nachlaͤßigkeit im Huͤten zum gerin-
gen Bruͤchten angeſetzet werden,


erneuert werden moͤgte, erklaͤrten Hoͤchſtdieſelben unterm
7 Jan. 1733, wie Sie die begehrte Abſtellung der Stop-
pel- und Schweinehuͤtens-Bruͤchten per edictum publicum
aufzuheben bedenklich faͤnden, gleichwohl an ſaͤmtliche Be-
amte ſo wohl wegen der Stoppelweide als auch wegen des
Schweinehuͤtens, in Conformitaͤt der denen Staͤnden die-
ſerhalb bereits ertheilten gnaͤdigſten Reſolution eine ſolche
zulaͤngliche Verordnung ergehen laſſen wollten, auf daß
Staͤnde ſich in ein ſo wenig als andern einigerley Geſtalt zu
beſchweren Fug und Urſache wuͤrden nehmen koͤnnen.


Dieſem allen nach wuͤrden in den von mir laͤngſt ge-
wuͤnſchten kurzen Unterricht vor die Landleute, in dem Ca-
pittel vom Schweinehuͤten, folgende Warnungen zu ſtehen
kommen:


  • a) Zur beſchloſſenen Zeit muſt du deine Schweine der
    Regel nach vor dem Hirten halten. Laͤßt du ſie frey herum
    laufen, und der Fiſcus oder ein andrer giebt dich an: ſo
    wirſt du dafuͤr gebruͤchtet, wenn auch die Schweine noch
    keinen Schaden gethan haben ſollten.
  • b) Auf den Rheinen oder Anewenden zwiſchen den Korn-
    feldern muſt du nicht huͤten; klagt jemand uͤber Schaden,
    oder der Fiſcus giebt dich an: ſo wirſt du gebruͤchtet.
  • c) Laͤuft dir zur beſchloſſenen Zeit dein Vieh vom Hofe
    ins Korn: ſo mag dich zwar der Fiſcus nicht angeben.
    Aber wenn dein Nachbar, dem das Vieh zu ſchaden geht,
    klagt: ſo muſt du den Schaden erſetzen und wirſt geſtraft.

d) Auf
[222]Vom Huͤten der Schweine.
  • d) Auf den Stoppeln mag dein Vieh frey und ungehuͤ-
    tet weiden, hat aber dein Nachbar noch Korn im Felde, und
    du willſt dein Vieh auf die Stoppeln treiben: ſo muſt du
    es huͤten laſſen: oder wenn dein Nachbar uͤber Schaden
    klagt, muſt du ihm ſolchen erſetzen, und wirſt noch dazu
    geſtraft. Der Fiſcus darf dich aber daruͤber nicht verklagen.
  • e) Die beſchloſſene Zeit geht nach dem Calender von
    Maytag bis Bartholomaͤi. Soll ſie wegen guter Witterung
    fruͤher anfangen, oder wegen uͤbler Witterung laͤnger waͤh-
    ren: ſo muß es dir verkuͤndiget werden.
  • f) Auſſer der beſchloſſenen Zeit kanſt du dein Vieh zwar
    ungehuͤtet gehen laſſen, und der Fiſcus kann dich nicht dar-
    uͤber verklagen. Thut es aber Schaden, und der Beſchaͤ-
    digte klagt: ſo mußt du den Schaden erſetzen und wirſt
    geſtraft.
  • g) Sind beſchloſſene Oerter in deiner Mark vor welchen
    entweder beſtaͤndig oder zu gewiſſen Zeiten gehuͤtet werden
    muß: ſo mußt du ſolche ſelbſt kennen, und dich davor in
    Acht nehmen, oder du wirſt auf Klage desjenigen, zu deſſen
    Vortheil der Ort beſchloſſen iſt, beſtraft, und muſt auch den
    Schaden erſetzen.

Es ſind dieſe Warnungen zwar nicht allen den erlaſſe-
nen bald aufgehobenen, bald abgeaͤnderten Verordnungen ge-
maͤs, und koͤnnen mithin auch nicht anders zureichen, als
wenn ein ſolcher Unterricht oͤffentlich beſtaͤtiget ſeyn wuͤrde.
Allein da jene Verordnungen in einigen Aemtern noch beſte-
hen, in andern aber laͤngſt vergeſſen, oder wie mehrere Ver-
ordnungen, die auf das Locale nicht paſſen, niemals befolgt
ſind, wie das hierunten angehaͤngte Zeugniß bewaͤhret: ſo
habe ich dieſen Vorſchlag blos nach dem allgemeinen wah-
ren Intereſſe thun wollen.


Das
[223]Vom Huͤten der Schweine.

Das Zeugniß, deſſen ich oben gedacht habe, iſt folgen-
den Inhalts:


Auf gebuͤhrendes Anſuchen verſchiedener Amts Unter-
thanen wird hiermit bezeuget daß


  • 1) die Schweine gleich denen Pferden und Kuͤhen in
    denen Marken dieſes Amts ungehuͤtet gehen und ihre Nah-
    rung ſuchen moͤgen, maſſen dann
  • 2) die Friedigungen an denen eingezaͤuneten oder binnen
    Gruͤnden von deren Eigenthuͤmern in einen dermaſſen unta-
    delhaften Stande erhalten werden muͤſſen, daß dadurch die
    Schweine ſowohl als die Pferde und Kuͤhe abgekehret wer-
    den koͤnnen, gleich dann
  • 3) in dem Falle die Friedigung mangelhaft befunden
    wird, dem Eigenthuͤmer des Grundes einige Schuͤttung ſo
    wenig zuſtehet oder erlaubet iſt, als wenig derſelbe von dem
    Eigener des durch ſothane mangelhafte Friedigung herein-
    getretenen Viehes die Erſtattung des verurſachten Schadens
    fordern mag, jedoch wird
  • 4) die Maſtzeit hierunter gar nicht verſtanden, ſondern
    es iſt ſodann ein jeder die Schweine vor des anderen Gruͤn-
    den oder Eichelfaͤllen zu huͤten, allerdings ſchuldig. Daß
    nun dieſes alles in hieſigem Amte dermaſſen von je her gehal-
    ten worden und geſprochen werde, ſolches haben wir hie-
    durch vermittelſt Unſerer eigenhaͤndigen Unterſchrift und Bey-
    druͤckung angebohrnen und reſpective gewoͤhnlichen Pett-
    ſchafts beglaubigen wollen. Geben aufm Amthauſe Fuͤrſte-
    nau den 21 Febr. 1754.
  • Churfuͤrſtlich-Coͤllniſche, Hochfuͤrſtlich-Oßna-
    bruͤckiſche Beamte des Amts Fuͤrſtenau.
    • (L. P.) C. H. von Böſclager mpr.
    • (L. P.) C. L. Balcke mpr.

Ich
[224]Vom Huͤten der Schweine.

Ich will dieſem zur Ergaͤnzung des Artikels noch ein an-
ders, das Huͤten zur Maſtzeit betreffend, beyfuͤgen.


Auf beſchehenes Anſuchen der benachbarten Dinniger
Mark Intereſſenten (wie es nemlich zu Maſtzeiten mit dem
Maſtvieh im Nortrupper Bruche, ſo dann auch in den naͤchſt
daran ruͤhrenden Suttrupper und Druchhorner Bruche
reſpective gehalten wuͤrde) wird hiemit der Wahrheit ge-
maͤs atteſtiret, daß nach uralter Obſervanz zu Maſtzeiten
das Maſtvieh im Nortrupper Bruche ohngehuͤtet gehe, und
wann ſelbiges auſſerhalb dem Bruche verſtreichet oder auch
in beſagten Suttrupper und Druchhorner Bruche unter der
Maſt befunden wird, ſolches keinesweges geſchuͤttet werden
doͤrfe, ſondern ohngekraͤnket wiederum zuruͤck gekehret wer-
den muͤſſe, auch von niemand dafuͤr Schuͤttegeld praͤtendi-
ret werden koͤnne, herentgegen aber im Suttrupper und
Druchhorner Bruche zu Maſtzeiten das Maſtvieh gehuͤtet
werden muͤſſe, und wann ſelbiges aus ebengemeldeten Bru-
che verſtreicht und im Nortrupper Bruche unter der Maſt
ertappet wird, daſſelbige gleich anderen fremden auch der
Nortrupper ihren eigenen unter der Maſt nicht gebrannten
und ſonſt der Maſt ſchaͤdliches Vieh ſaͤmtlich geſchuͤttet wer-
de und dafuͤr Schuͤttegeld erleget werden muͤſſe. Signatum



(L. P.)B. S. Witwe von Hammerſtein, geb.
von der Schulenburg, Erbholzgraͤ-
fin der Nortrupper, Suttrupper und
Druchhorner Mark.
Herman Nortrup, Mallman in der
Nortrupper Mark.
Gerd Engelke, Mallman in der Nor-
trupper Mark.



LIII.
[225]

LIII.
Alſo duͤrfen keine Plaggen aus einer
Mark in die andre verfahren werden.


Nein, Herr Holzgraf! das iſt nicht laͤnger auszuhalten.
Die ganze Mark iſt beynahe abgenarbet; und wenn
wir dem Plaggenmehen nicht ſteuren: ſo moͤgen wir unſer
Vieh nur an die Zaͤune binden. Wir muͤſſen hier eine an-
dre Ordnung haben, es muß eine Eintheilung gemacht wer-
den, wie viel ein jeder mehen ſoll, oder unſre Koͤtter und
Heuerleute ſchaben uns die Mark dergeſtalt ab, daß auch
eine Endte nicht mehr darauf weiden kann.


Nun dann, ſagte der Holzgraf, es ſollen drey Tage im
Fruͤhjahr und eben ſo viel im Herbſte ausgemacht werden,
woran ein jeder, der dazu berechtiget iſt, nach dem Verhaͤlt-
niß ſeines Erbes mit 6. 4. oder 2 Segeden *) erſcheinen und
ſeine Plaggen mehen kann; wer auſſer dieſer Zeit betroffen
wird, ſoll einen doppelten Bruͤchten bezahlen.


So iſt es recht, antworteten die Markgenoſſen, was
einer in dreyen Tagen davon reiſſen kann, das mag er dann
endlich haben; und unſre Koͤtter koͤnnen ſo dann nicht Jahr
aus Jahr ein auf dem gemeinen Anger liegen und ſolchem
die elende Narbe abſchaben. Kaum aber hoͤrten ſie auf zu
ſprechen: ſo ſchrien die Weiber der Koͤtter: Was, ihr wol-
let das Plaggenmehen an gewiſſe Tage binden, und zwar
an ſolche, woran unſre Maͤnner und Soͤhne in Holland
ſind? Das koͤnnen wir nimmer zugeben. Wir Weibsleute
koͤn-
Moͤſ patr. Phant.III.Th. P
[226]Keine Plaggen duͤrfen aus einer Mark
koͤnnen keine Plaggen mehen, und in den dreyen Tagen,
worinn jeder fuͤr ſich beſchaͤftiget iſt, wird er andern nicht
helfen koͤnnen. Man laſſe es alſo beym alten, da ein jeder
mehen konnte, wenn er Zeit hatte; geſetzt, unſere Maͤnner
ſcharreten bey muͤßigen Stunden ein paar Fuder mehr zu-
ſammen: ſo freſſen wir ſie doch nicht, und auf die Dauer
koͤnnen wir doch nicht mehr nehmen, als unſre Gruͤnde ver-
tragen koͤnnen. Es iſt alſo kein Uebermaaß zu beſorgen,
und der muͤßte ſein Fleiſch und Blut wohl recht ſehr haſſen,
der Plaggen zum Zeitvertreibe mehen ſollte. Schaufeln iſt
ja ſo ſchon verboten, damit der Narbe nicht zu viel ver-
ſchwendet werde, und der elenden Heyde iſt ſo viel, daß es
ja wohl auf ein paar Fuder weniger oder mehr nicht ankom-
men wird.


Das laͤßt ſich hoͤren, verſetzte der Holzgrafe; von den
Hollandsgaͤngern muͤſſen wir unſer beſtes Geld haben, und
da der eine fruͤh der andre ſpaͤter wieder kommt: ſo werden
ſich nicht wohl gewiſſe Tage feſtſetzen laſſen. Aber wenn wir
auch das ganze Jahr dazu offen laſſen: ſo iſt offenbar, daß
die Koͤtter und Heuerleute, die ſich wie das Ungeziefer ver-
mehren, und weniger Arbeit haben als die Erbmaͤnner,
dreymal mehr Plaggen zuſammen kruͤppeln werden, als die
vollwahrigen Erbleute. Was meinet ihr alſo wenn man
einem jeden nach Erbesgerechtigkeit einen gewiſſen Diſtrict
zum Plaggen anwieſe: ſo koͤnnte ein jeder fruͤh oder ſpaͤt
mehen, ſparen oder verſchwenden, ſchaufeln oder mehen,
und ſein Plaggenmatt ſo nutzen, wie es ihm am beſten
duͤnkte.


Auch damit ſind wir zufrieden, riefen die Erbmaͤnner,
und wir ſind bereit unſere Heuerleute nach dem Verhaͤltniß,
wie ſie Land von uns miethen, auch die nothduͤrftige Plaggen
aus unſern Theilen zu geſtatten. Jeder Wirth ſieht ſodann
wohl
[227]in die andre verfahren werden.
wohl zu, daß ihm ſein Heuermann nicht zu nahe an die
Zaͤune komme.


In Ewigkeit kann dieſes nicht geſchehen, verſetzten die
Weiber der Koͤtter. Wir liegen auf der Markgraͤnze, und muͤſ-
ſen unſere mehreſten Laͤndereyen auſſerhalb der Mark heuren.
Seit hundert und mehr Jahren haben wir ſolche aus dieſer
Mark mit Plaggen geduͤnget, und wenn wir kein groͤſſer
Plaggenmatt erhalten ſollten, als nach dem Verhaͤltniß
unſrer Kotten: ſo wuͤrden wir dieſe auswaͤrts angeheurete
Laͤndereyen ſchlechterdings liegen laſſen muͤſſen. Unſre
Nachbarn, von denen wir ſolche haben, wollen uns nicht
geſtatten dieſelben aus ihrer Mark zu duͤngen, weil wir das
Stroh in unſre Mark bringen, ſie ſelbſt auch eben deswe-
gen dieſe Laͤndereyen an auswaͤrtige verheuren, weil ſie zu
wenig Plaggenmatt, und die Laͤndereyen ſo wir geheuret,
blos uns zu gefallen, und weil wir in unſre Mark keine
Gelegenheit dazu hatten, urbar gemacht haben; dieſe wer-
den alſo zum allgemeinen Landesſchaden wieder verwildern
muͤſſen, wenn wir ſolche aus unſer Mark nicht duͤngen ſol-
len; oder wir werden das Stroh aus jener Mark gar nicht
heraus fahren duͤrfen, und uͤberhaupt wird kuͤnftig niemand
mehr auſſerhalb etwas heuren koͤnnen, wenn die eine Mark
keine Plaggen, und die andre kein Stroh folgen laſſen will.


Der Holzgraf, um die Weiber zu beſaͤnftigen, gab
ihnen zwar ſo weit recht, daß ihnen die Markgenoſſen in
dieſen Umſtaͤnden die Ausfuhr der Plaggen bisher nicht un-
billig gegoͤnnet haͤtten. Aber, ſagte er, als ein Recht
koͤnnt ihr es nie fordern. Wo wollte das hinaus, wenn
jeder nach dem Maaſſe ſeiner auswaͤrts geheureten Laͤnde-
reyen ein Plaggenmatt fordern wollte? Es kann auch nie-
mand wehren, ſo viele Laͤndereyen auswaͤrts zu heuren wie
ihr wollet; eure Nachbaren koͤnnen ihres Vortheils halben
P 2die
[228]Keine Plaggen duͤrfen aus einer Mark
die halbe Mark urbar machen, und euch dieſes Land ver-
heuren; auf dieſe Weiſe aber wuͤrde euer vermeintliches
Recht keine Graͤnzen haben, und das iſt eben ſo viel als
gar kein Recht. Wir ſelbſt widerſetzen uns allen neuen Zu-
ſchlaͤgen, und beſonders allen, welche zu Saͤelande ge-
macht werden ſollen, weil das Plaggenmatt dadurch ver-
mindert, und gleichwohl deſſen immer mehr erfordert wird,
nachdem mehr Zuſchlaͤge gemacht werden. Da wir nun
ſelbſt um unſer Plaggenmatt zu ſchonen, kein Saͤeland ma-
chen, wie koͤnnen wir euch denn in aller Welt geſtatten, daß
unſre Nachbarn den Vortheil, wir aber den augenſchein-
lichſten Schaden haben ſollen? Jede andre Sache kann zwar,
der Regel nach, aus der Mark, wenn ſie zufoͤrderſt in der-
ſelben zu Hauſe und Hofe gebracht iſt, verkaufet werden;
auch ſelbſt das Zehntſtroh, obgleich der Zehnte nicht vom
Felde aus der Mark gefahren werden darf, mag aus der
Scheune an Ausmaͤrker verkaufet werden; allein bey Plag-
gen, die nicht von der Heyde aufs Feld, ſondern allemal erſt
zu Hauſe gefahren werden muͤſſen, ehe ſie gebraucht wer-
den koͤnnen, faͤllt dieſe natuͤrliche und uͤberaus vernuͤnftige
Einſchraͤnkung weg. Indeſſen ſieht man doch aus eben der-
felben, wohin der Geiſt dieſer Geſetze gehe. Man ſieht fer-
ner leicht durch die Finger, wenn einer ein Fuder Dorf
vom Mohre verkauft; wenn aber ein geringer Genoſſe allen
Torf den er machen kann, auf dieſe Weiſe losſchlaͤgt, und
dem auswaͤrtigen Kaͤufer zugleich erlaubt, denſelben vom
Mohre abzuholen: ſo zwingt man den Koͤtter nicht mehr
zu verkaufen, als er ſelbſt vom Mohre zu Hauſe bringen
kann. Dieſe einzige Einſchraͤnkung hebt allen Mißbrauch;
indem einer gewiß viermal ſo viel auf dem Mohre verferti-
gen, und dort verkaufen, als mit ſeinen oder koſtbar ge-
dungenen Pferden nach Hauſe bringen kann.


Es
[229]in die andre verfuͤhret werden.

Es kann alles nichts helfen, fuhren die Weiber fort, wir
wollen und koͤnnen es nicht nachgeben; und wenn ihr uns
nicht helfen wollet: ſo gehn wir zum Richter.


Zum Richter? fragte der Holzgraf; was kann der er-
kennen? Wenn die Gruͤnde, ſo ihr auſſer der Mark bauet,
eure Erbgruͤnde waͤren; und ihr koͤnntet ſolche aus der
Mark, worinn ſie liegen, nicht duͤngen: ſo koͤnnte er euch
ein Nothrecht(ſervitutem neceſſariam) zubilligen. Wenn
wir die Verguͤnſtigung die Plaggen auszufuͤhren zur Unzeit
wiederrufen wollten, da ihr die auswaͤrtigen Laͤndereyen in
der Vorausſehung unſerer ſtillſchweigenden Genehmigung
geheuret hab.: ſo koͤnnte er uns hier ein billiges Ziel von
Jahren ſetzen; wenn alle Markgenoſſen damit einig waͤren,
daß ihr die Plaggen ausfuͤhrtet, ich aber allein darinn zu-
wider waͤre ſo koͤnnte er, nachdem er meinen Bericht hier-
uͤber erfordert, den Umſtaͤnden nach meine Einwilligung er-
ſetzen. Aber zu erkennen, daß ihr in dem Beſitze die auſſer-
halb angeheureten Laͤndereyen aus dieſer Mark zu duͤngen
ſchlechterdings geſchuͤtzet und daß ihr dadurch nach einer
nothwendigen Folge berechtiget werden ſolltet, euch der
Theilung des Plaggenmatts nach Erbesgerechtigkeit zu wi-
derſetzen, das leidet die Natur der Sache nicht, es waͤre
denn, daß den auswaͤrtigen Laͤndereyen, und nicht euch
als Heuerleuten derſelben dieſes Recht anklebt. In dem
letztern Falle iſt es eine bloſſe Verguͤnſtigung, und wird es
auch ewig bleiben muͤſſen, wofern wir nicht die Mark in
unendliche Verwirrung ſetzen, und alle Theilung derſelben,
die der Staat immer mehr und mehr wuͤnſchet, unuͤberſteig-
liche Hinderniſſe in den Weg legen wollen. Bisher iſt es
der allgemeine Markgebrauch geweſen, daß keine Plaggen
auſſerhalb der Mark gefahren werden duͤrfen. Die groſſen
Gruͤnde dieſes Gebrauchs eroͤfnen ſich aͤus demjenigen was
P 3ich
[230]Schreiben einer Gutsfrau,
ich geſagt habe; und ihr werdet auch ſchwerlich einen Rich-
ter finden, der die Ausfuhr der Plaggen zu den erlaubten
und freyen Handlungen rechne, worinn niemand geſtoͤret
werden duͤrfe. Dies erforderte ein beſonders Geſetze; oder
eine Gnade, wodurch ihr von jenem allgemeinen Landesge-
brauch aus hoͤhern Urſachen befreyet wuͤrdet, und beydes
kann euch der Richter nicht geden.


Die Weiber ſchwiegen dem ungeachtet nicht; allein da
der Holzgrafe hungrig war; ſo wurde das Gericht fuͤr das-
mahl aufgehoben.



LIV.
Schreiben einer Gutsfrau, die Freylaſſung
ihrer Eigenbehoͤrigen betreffend.


Endlich hat mein Mann es doch gewagt und allen ſeinen
Leibeignen die Freyheit geſchenkt. Ihr zu Ehren iſt
bereits das erſte Feſt gefeyert worden, und dieſes ſoll jaͤhr-
lich mit dem Dankfeſte, welches wir hier nach der Erndte
feyern, wiederholet werden. Ich denke jetzt nur darauf,
ob ich nicht auch ſo etwas vom Roſenmaͤdgen dabey anbrin-
gen koͤnne Der Baum der Freyheit, wozu ich eine ſchlan-
ke, glatte und wohlgekroͤnte junge Eiche erwaͤhlt habe, iſt
mit aller Feyerlichkeit gepflanzt Mein Mann hat ſie ge-
ſetzt, und jeder von den vormaligen Eigenbehoͤrigen zu ihrer
Befeſtigung geholfen. Gott gebe, daß ſie ewig gruͤne.
Amen. Bald haͤtte ich vergeſſen Ihnen zu ſagen, daß wir
den von unſern Freyen erwaͤhlten Obermann des Tages
mit uns ſpeiſen laſſen, und die jungen Maͤdgen einen Zaun
von wilden Roſen um den Baum der Freyheit gemacht ha-
ben, damit ihm das Vieh nicht ſchaden moͤge: Unter die-
ſem
[231]wegen Freylaſſung ihrer Einbehoͤrigen.
ſem Baum ſollen kuͤnftig alle Jahr die Freyheitsartikel in
oͤffentlicher Verſammlung abgeleſen, und die Ehrentaͤnze
gehalten werden.


Ehe mein Mann aber dieſen von mir ſo lange gewuͤnſch-
ten Schritt that, ließ er ſich von unſerm gnaͤdigſten Lan-
desherrn die Schutzgerechtigkeit uͤber alle ſeine Freygelaſſene,
weil er uͤber ſie vorhin keine Gerichtsbarkeit gehabt, erthei-
len, und auch die Freyheitsartikel beſtaͤtigen, welche er
vor ſie entworfen und mit ihnen verabredet hatte, weil er
nicht glaubt, daß einzelne Wohner, die in keinen Bezirken
unter einer geſchloſſenen Gerichtsbarkeit leben, ſich ohne
Schutzverein und Innungsartikel bey dem wahren Genuß
der Freyheit erhalten und vertheidigen moͤgen. Ich will
Ihnen doch einige davon herſetzen.


Vorher muß ich Ihnen aber ſagen, daß er ſie nach ih-
rem wahren Verhaͤltniſſe in ganze, halbe und viertel Leute
eingetheilt, und uͤberdem noch eine Klaſſe fuͤr geringere,
auch ſo viel immer moͤglich geweſen, die Pflichten jeder
Klaſſe gletchfoͤrmig gemacht, und zum Exempel den Halb-
mann
zu der Haͤlfte desjenigen verbunden habe, was der
ganze voͤllig zu entrichten ſchuldig iſt Hiernaͤchſt ſind alle
dieſe Pflichten in eine ofne Rolle geſchrieben worden, die
ſaͤmtlichen Freyen unter der Eiche vorgeleſen und von ihnen
als richtig anerkannt iſt. Von dieſer Rolle ſind zwey gleich-
lautende Exemplar auf Pergament geſchrieben worden, wo-
von das eine mit Glas bedeckt, zwiſchen zween Saͤulen hin-
ter dem Altar in der Kirche, das andre aber von meinem
Manne bewahret wird. Gegen dieſe Rolle gilt kuͤnftig we-
der Verjaͤhrung noch Beſitz. Sie ſoll jaͤhrlich auf dem
Freyheitstage von den drey aͤlteſten aus der Kirche geholet,
und oͤffentlich unter der Eiche vorgeleſen, ſo dann aber in
Begleitung aller Freyen wieder an ihren Ort getragen wer-
P 4den.
[232]Schreiben einer Gutsfrau,
den. Auf dieſe Art iſt es nicht leicht moͤglich, daß einiger
Streit uͤber ihre Pflichten entſtehen koͤnne; und die Bitte
die mein Mann ſich in gewiſſen Nothfaͤllen vorbehalten hat,
kann zu keiner Zeit in eine ordentliche und gewoͤhnliche
Pflicht uͤbergehen, weil das Bitten ſelbſt redet, und der
Nothfall ſo eingeſchraͤnkt iſt, daß dieſe Bitte nur alsdenn
gewaͤhret werden muß, wenn der Schutzherr ſein Haus
oder ſein vornehmſtes Oekonomiegebaͤude ganz neu bauet.
In dieſem Falle kommen ſie ihm mit Bittfuhren und Dien-
ſten zu Huͤlfe; aber auſſer demſelben entrichten ſie nichts da-
fuͤr. Jetzt zu den Artikeln.


Der erſte beſtimmte zu den Ablieferungen der Korn-
paͤchte einen gewiſſen Tag, an welchem ſich alle Pflichtigen,
in ſo fern ſie wegen erlittener Ungluͤcksfaͤlle keinen Nachlaß
zu rechter Zeit geſucht und erhalten haben, mit ihren
Pachtkorn zugleich einfinden muͤſſen. Wer dieſen verſaͤu-
met, darf das Jahr an dem Feſte der Freyheit nicht er-
ſcheinen; ſtirbt er vor dem naͤchſten Freyheitstage, ohne
ſich binnen den erſten vierzehn Tagen nach verfloſſenem Ter-
min, mit ſeiner Pacht eingeſtellet zu haben; ſo mag er als
ein Leibeigner beerbtheilt werden. Ueberdem mag ihn der
Schutzherr, wenn dieſe 14 Tage vorbey ſind, nach Guts-
herrn Recht pfaͤnden laſſen, und gegen ihn weiter zu Rechte
verfahren. Erſcheinet er aber das naͤchſte Jahr ordentlich:
ſo tritt er wieder in das vorige Freyenrecht, jedoch muß
er den Freyen eine halbe Tonne Bier geben; und der Ehren-
tanz wie der Ehrenbrecher koͤmmt an ihn zuletzt.


Der zweyte beſtimmt die ſchuldigen Dienſte. Mein
Mann war nicht der Meinung, daß es beſſer ſey, die Dien-
ſte auf ewig in Geld zu verwandeln Er hielt vielmehr da-
fuͤr, daß ſeine Freyen in hieſigen Gegenden manchen Tag
und manche Stunde Zeit von ihrer Arbeit uͤbrig haͤtten,
worinn
[233]wegen Freylaſſung ihrer Einbehoͤrigen.
worinn ſie nichts mit dem Spanne und der Hand verdie-
nen koͤnnten, und daß es eine doppelte Beſchwerde fuͤr ſie
ſeyn wuͤrde, wenn ſie dieſe muͤßigen Tage nicht allein fuͤr
ihre Rechnung behalten, ſondern ſie noch uͤberdem bezahlen
ſollten. Das Geld fuͤr 52 Dienſte am Ende des Pachtjahrs,
wolle ſchon etwas ſagen, und man koͤnne darauf wetten,
daß der Zehnte ſolches noch eine gute Weile ſchuldig blei-
ben, mancher aber gar nicht bezahlen wuͤrde. Daher hat
er den Naturaldienſt beybehalten, jedoch darinn eine Reihe
eingefuͤhrt daß einer vor dem andern damit nicht beſchweret
werden kann. Um indeſſen doch auch den Rath derjenigen,
welche wollten, daß er ihnen die Dienſte zu Gelde ſetzen ſollte,
nicht ganz zu verachten, hat er ihnen die Wahl gelaſſen, ob ſie
ein gewiſſes Dienſtgeld bezahlen, oder den Naturaldienſt
leiſten wollten, und wie ihrer mehrere, als er entrathen
konnte, das Geld waͤhlten, ſie alle darum looſen laſſen;
und nun giebt vorerſt die eine Haͤlfte auf vier Jahr das
Geld und die andre dient; hernach koͤnnen ſie wechſeln,
wenn ſie wollen, oder auch alle in Natur dienen. Wenn
ſie wechſeln: ſo dient die Haͤlfte, welche alſo beſtaͤndig be-
reit ſeyn und vielleicht einen Knecht oder ein Pferd mehr
halten muß, nicht auf den Kerbſtock, holen auch die Dien-
ſte die nicht gebraucht ſind, nicht nach. Wenn ſie aber alle
den Dienſt waͤhlen ſollten: ſo wuͤnſcht mein Mann, daß
ſie auf den Kerbſtock dienen, und dagegen lieber zwey und
zwey zuſammen ſpannen moͤgten. Uebrigens haben wir
ihnen verſprochen, die Dienſte nie an andre zu verpachten,
welches wir doch auch vordem, wie ſie noch Leibeigen wa-
ren, unbillig gefunden haben.


Der dritte beſtimmt die Lieferung der Pachtſchweine,
deren wir 24 zu empfangen haben. Da wir jaͤhrlich nur
ſechſe gebrauchen: ſo iſt die Ordnung ſo gemacht, daß im-
mer zwey unter den ſechſen, welche die beyden beſten liefern,
P 5auf
[234]Schreiben einer Gutsfrau,
auf acht Jahr von der Naturallieferung befreyet werden.
Diejenigen, ſo das Jahr kein Schwein liefern, entrichten
dafuͤr ein Malter Gerſten, oder bezahlen ſo viel als dieſes
zur Lieferungszeit gilt.


Der vierte betrift das Holz. Ihr Brand-Wagen- und
Zaunholz moͤgen ſie zu ihrer Nothdurft auf ihren Hoͤfen
ohne Anweiſung hauen und der Verkauf des Buchen Holzes
wird ihnen frey gelaſſen, jedoch nach Schlaͤgen, welche bey
allen nach der Beſchaffenheit des Holzes und Bodens ein-
mal fuͤr alle reguliret ſind Sieht man, daß ein abgeholz-
ter Ort nicht wieder gehoͤrig in Anwachs iſt: ſo wird ihm
der Verkauf auf die erforderliche Zeit ganz verhoten. Die-
jenigen aber, ſo Bauholz verlangen, muͤſſen es des Mor-
gens, wann das Freyen Feſt gehalten wird, bey uns an-
zeigen, und dann ſenden wir unſern Verwalter mit zweyen
der aͤlteſten Freyen herum, die es ihnen auf der Reihe aus-
zeichnen Auſſer dieſer Zeit darf ſich niemand darum mel-
den, wenn ihn nicht ein groſſes Ungluͤck dazu noͤthiget.
Auch vergoͤnnen wir denjenigen, die beſonders fleißig pflan-
zen, und uͤberfluͤßiges Holz haben, Bauholz, jedoch auf
vorherige Anweiſung zu verkaufen, und machen ihnen ſol-
ches nicht ſchwer, ſo bald wir ſehen, daß ſie kluge und red-
liche Holzbauer und Haushalter ſind.


Der fuͤnfte unterſagt ihnen ihre unterhabende Hoͤfe zu
zertheilen, und mit Schulden oder neuen Pflichten und
Dienſtbarkeiten zu beſchweren. So viel Geld als aus einem
vierjaͤhrigen Ertrage ihres Hofes wiederum bezahlt werden
kann, moͤgen ſie vor ſich aufleihen, damit ſie nicht ohne al-
len Credit ſind. Es muß aber doch mit Vorwiſſen des
Freyen Vogts, welcher die Schuld in ein beſonders Buch
traͤgt, das ein jeder einſehen kann, geſchehen. Iſt die
Noth groͤſſer und die Schuld ſoll weiter gehen: ſo laͤßt
mein
[235]wegen Freylaſſung ihrer Einbehoͤrigen.
mein Mann die Umſtaͤnde unterſuchen, und ertheilt nach
den Umſtaͤnden ſeine Bewilligung dazu, will aber ſo denn
auch fuͤr den richtigen Abtrag ſorgen. Die Landesgerichte,
denen ſie unterworfen ſind, koͤnnen zwar einen Freyen zur
Bezahlung verdammen: aber der Freyen Vogt, der die
Execution hat, verrichtet ſolche nicht weiter, als auf den
Ueberſchuß eines jaͤhrigen Ertrages. Wer mehr verlangt,
muß ihnen nicht borgen.


So oft ſechſtens der Wirth oder die Wirthin ſich ver-
heyrathen, erhaͤlt mein Mann eine doppelte Pacht; und
wenn ein Kind ausgeſteuret wird, oder das elterliche Haus
verlaͤßt, bekoͤmmt daſſelbe einen Taufſchein von dem Pfar-
rer, und darunter einen Schein ſeiner freyen Geburt von
meinem Manne. Iſt es ein Maͤdgen: ſo muß ſie drey Ta-
ge auf unſerm Hauſe ſeyn, und in demſelben ein Stuͤck
Garn ſpinnen, eine Elle Linnen weben, ein Strumpf knuͤt-
ten und ein Hemd nehen. Ein Sohn muß ein Stuͤck Garn
ſpinnen und einen vollſtaͤndigen Pflug machen. Verſtehen
ſie dieſes nicht, oder machen es nach dem Urtheil dreyer
andern Freyen nicht tuͤchtig: ſo muͤſſen ſie uns ſo lange
umſonſt dienen, bis ſie dieſes gelernt haben. Fuͤr den
Schein der freyen Geburt wird nach dem feſtgeſetzten Ver-
haͤltniß der Hoͤfe 5. 4. 3 2 und ein Scheffel Weitzen ent-
richtet.


Stirbt ſiebentens ein Wirth oder eine Wirthin vom
Hofe: ſo wird fuͤr das freye Gelaͤut, in der Patronalkirche
meines Mannes, nach einem gleichen Verhaͤltniß etwas be-
zahlt, und wenn Kinder verſterben, bezahlen ſie die Haͤlfte.
Dagegen wird ihnen der Freyen Kranz geſchickt, welchen
ſie bey der Leichenbegleitung auf den Sarg legen, und
dann zuruͤck in die [K]irche bringen muͤſſen. Eine geſchwaͤchte
Perſon, wenn ſie unverheyrathet ſtirbt, verlieret das Recht
zum
[236]Schreiben einer Gutsfrau,
zum Kranze, und ihre Verlaſſenſchaft ſteht unter meines
Mannes Gnade. Verheyrathet ſie ſich aber: ſo muß ſie
den Kranz vorher mit einem Scheffel Weitzen bezahlen, und
den Freyen eine Tonne Bie[r] geben. Das erſte iſt wohl ein
bisgen hart fuͤr die armen Hexen; aber ſie ſollen ſich auch
in Acht nehmen, und vor Schimpf und Schaden huͤten.
Jeder Braut, die mit Ehren aus einem freyen Hofe geht.
wird dagegen aber auch ein fliegendes Haar zu tragen er-
laubt, und ich als Schutzfrau ſetze ihr, wenn ſie ſich in
dieſem Schmucke bey mir einfindet, die Krone darauf.


Proceſſe duͤrfen ſie gar nicht fuͤhren, ohne es vorher
am Hauſe zu melden; und mein Mann haͤlt ihnen fuͤr ein
gewiſſes Jahrgeld einen gemeinſchaftlichen Advocaten, an
welchen ſie ſich einzig und allein wenden duͤrfen, und der
vorher, ehe die Sache ans Gerichte kommt, ſein rechtliches
Bedenken daruͤber abſtatten muß. Dieſes haͤlt mein Mann
fuͤr die wahre und heilige Pflicht eines jeden Schutz- oder
Gutsherrn, wofuͤr er ihre Paͤchte und Dienſte zu genieſſen
hat. Vordem, ſagt er, haͤtte der Schutzherr ſeine Leute
ſowohl zu Kampfe als Gerichte vertreten; und Schutzherr-
ſchaften waͤren darum aufgekommen, weil einzelne arme
Leute wider Unrecht und Gewalt nicht beſtehen koͤnnen,
ſondern ſich zu einer gemeinſamen Vertheidigung vereinigen
muͤſſen. Wenn ſie aber unter ſich Streit haben, muͤſſen
ſie ſich Schiedsfreunde unter den uͤbrigen Freyen waͤhlen,
und ſich deren Ausſpruch unweigerlich gefallen laſſen. Je-
der Theil erwaͤhlt dazu drey, und dieſe muͤſſen des Sonn-
tags Nachmittags ſich in ein beſonders Zimmer in der
Schenke begeben, und duͤrfen nicht eher trinken, bis ſie
ſich eines gemeinſchaftlichen Ausſpruchs vereiniget, oder
daruͤber verglichen haben. Dieſen muß ſich ein jeder Freyer
hernach gefallen laſſen.


Hier-
[237]wegen Freylaſſung ihrer Einbehoͤrigen.

Hieauf folgen die Rechte, welche die Freyen ſich ſelbſt
geſetzet haben, und mein Mann nur beſtaͤtigt hat. Ich will
auch hievon einige anfuͤhren. Was die Braut oder der
Braͤutigam in einen Hof bringt, faͤllt nie wieder zuruͤck.
Der uͤberlebende Ehegatte hat den Nießbrauch des ganzen
Hofes, und verliert ihn, ſo bald er ſich wieder verheyra-
thet. Doch kann mein Mann als Schirmherr ihnen ge-
wiſſe Jahre geben, wenn die Kinder erſter Ehe noch min-
derjaͤhrig ſind. Dieſes geſchieht nach dem Gutachten der
drey aͤlteſten Freyen, und gegen eine vorherbeſtellete Si-
cherheit, daß der Hof in dieſen Jahren nicht verſchlimmert
werden ſolle. Sind aber keine Kinder vorhanden: ſo muß
der fremd eingekommene Theil, welcher zur andern Ehe
ſchreitet, den Hof und das Hofgewehr dem naͤchſten Erben
raͤumen, was daruͤber iſt, mag er mitnehmen, und wenn
hieruͤber Streit entſteht, entſcheiden ihn die Schiedsmaͤn-
ner. Der letzte Wille einer kranken Perſon gilt fuͤr nichts,
wenn auch ein Notarius die Geſundheit des Gemuͤths noch
ſo deutlich erkannt haͤtte. Verlaſſungen und Vermaͤchtniſſe
koͤnnen nicht anders als bey geſunden Tagen in Perſon un-
ter der Eiche und vor gehegten Freyhofe geſchehen. Das
juͤngſte Kind erbt, damit die aͤltern aus dem Neſte ſind,
wenn der Erbe wieder bruͤten will; und wenn dieſen ſein
Erbrecht genommen werden ſoll, muͤſſen die Urſachen, wel-
che den Vater dazu bewegen, von den zwoͤlf aͤlteſten Freyen
unter der Eiche gebilligt ſeyn.


Die abgehenden Soͤhne erhalten Koſt und Kleidung in
ihrem elterlichen Hauſe bis ins 21 Jahr; und dann bekom-
men ſie zur Ausſteuer ſechs Hemde, ein vollſtaͤndiges Kleid,
und ein Malter Korn. Giebt ihnen der Vater mehr: ſo
iſt es ſein freyer Wille, der Sohn aber kann es mit Recht
nicht fordern. Die Toͤchter hingegen, welche bis in ihr 18
Jahr in dem elterlichen Hauſe frey unterhalten werden, be-
kom-
[238]Schreiben einer Gutsfrau,
kommen einen Brautwagen, ſo wie ihn drey der aͤlteſten
Freyen beſtimmen. Das unbewegliche Gut, die Gebaͤude
und alles was zum Hofgewehr gehoͤrt, darf dabey nicht in
Betracht gezogen werden; weil mein Mann es widerſinnig
findet, den Leuten zu verbieten ihre Hoͤfe und Gruͤnde mit
Schulden zu beſchweren, und dem ungeachtet nach dem
Werth derſelben etwas herauszugeben. Eine ſolche Abfin-
dung, wenn ſie auch auf mehrere Jahre vertheilet, und
nach dem jaͤhrlichen Ertrag ermaͤßiget wird, iſt zu vielen
Zufaͤllen unterworfen, und es findet ſich kein Exempel, daß
die Erfahrung hierinn mit der Vorſchrift uͤberein geſtimmt.
Zur Erbſchaft kommt nichts wie das vorhandene baare
Geld, das unangeſchnittene Linnen, und das vorraͤthige
Silbergeraͤthe. Der Hof mit allem was dazu gehoͤrt, faͤllt
auf den naͤchſten Erben, und wenn mehrere vorhanden ſind,
auf den aͤlteſten unter Ihnen; wenn der letzte Beſitzer ihn
in ſeinem Leben keinem andern unter der Eiche uͤbertragen
hat. Iſt der Erbe abweſend: ſo wartet man auf ihn, ein
Jahr und 6 Wochen. Laͤßt er in dieſer Zeit nichts von ſich
hoͤren: ſo wird er als tod angeſehen, und lebt zur Erbſol-
ge nie wieder auf. Seinen Miterben giebt der aͤlteſte Erbe
nichts heraus.


Das Hofgewehr iſt beſonders beſtimmt. Es wuͤrde
aber zu weitlaͤuftig ſeyn, wenn ich Ihnen dieſes nach dem
Verhaͤltniß eines jeden Hofes abſchreiben wollte. Sie wiſ-
ſen ohnedem, daß darunter Pferde und Vieh, Wagen und
Pflug, Boden und Keller mit dem was darauf und darinn
gehoͤrt, nach einer ſichern Zahl, begriffen ſind.


Einige unſrer Nachbarn, welche ihre Leibeigne auch in
Erbpaͤchter verwandelt haben, haben verſchiedenes von der
Knechtſchaft beybehalten, und unter andern auch die Er-
laubniß erhalten, ihre ſogenannten Freyen, wenn ſie etwas
ver-
[239]wegen Freylaſſung ihrer Einbehoͤrigen.
verbrechen, mit Gefaͤngniß auch wohl mit dem ſpaniſchen
Mantel beſtrafen zu duͤrfen. Allein Leute, die nach der Will-
kuͤhr eines Schutzherrn unter ſolchen Strafen ſtehen, ſind
keine wahre Freyen, ſondern Zwitter, die ſo wenig den Ton
als den Muth rechtlicher Leute bekommen werden; und wo
dieſer Endzweck verfehlt wird, da iſt es weit beſſer, die ganze
Leibeigenſchaft in ihrer voͤlligen Strenge beyzubehalten.
Meines Mannes Abſicht iſt den Seinigen ein richtiges Ge-
fuͤhl der Ehre beyzubringen, und ſie durch dieſes zu guten
Haushaͤltern und vermoͤgenden Paͤchtern zu machen, die
ihm das Seinige mit dankbarer Freude geben ſollen …


Schreiberin dieſes, meine aͤlteſte Tochter, welcher ich
den Anfang dieſes Briefes in die Feder gab, und ihr her-
nach das uͤbrige aus meines Mannes Papieren zuſammen
zu ſchreiben befohlen, iſt …


Denken Sie doch, liebſte Freundin! das naͤrriſche Maͤd-
gen iſt davon gelaufen, und wollte nicht ſchreiben, daß ſie
die Braut waͤre, ich muß es alſo wohl eigenhaͤndig hinzu-
ſetzen, daß ſie den Herrn von R .. heyrathet, und ich ſie
zur Strafe, weil ſie geſtern das Jawort nicht ausſprechen
wollte, dieſes entſetzliche Paket habe ſchreiben laſſen. Ich
wußte es aber auch nicht beſſer anzufangen, um ihnen die
verlangte Nachricht zu geben. In meinem Leben hatte ich
ſo viel nicht zuſammen gebracht ꝛc.



LIV.
[240]

LV.
Ein weſtphaͤliſches Minnelied.


Die Mode dient einem Kraͤmer oft eine alte Waare an
den Mann zu bringen. Mit dieſer kleinen Ent-
ſchuldigung ſey es mir erlaubt, ein altes weſtphaͤliſches
Minnelied, welches ich unlaͤngſt auf dem pergamenen
Umſchlage eines alten Regiſters entdeckt habe, dem Publi-
cum mitzutheilen. Denn daß jetzt die Mode der Minne-
lieder die Bardengeſaͤnge in Deutſchland verdrungen haben,
wird jedem bekannt ſeyn, ob es gleich nicht ſo bekannt ſeyn
mag, daß unſre neuen Minneſaͤnger eben nicht die Zeit er-
waͤhlet haben, wo ihnen die Sitte der Nation, das hohe
Gefuͤhl der Liebe und der Rittergeiſt die Vortheile verſchaf-
fen wird, welche dieſe vereinten Umſtaͤnde den alten Minne-
ſingern zu Anfang des dreyzehnten Jahrhunderts darboten.


Die Handſchrift, woraus ich dieſes Lied mittheile, iſt
aus dem dreyzehnten Jahrhundert, und das Blatt worauf
es ſteht, hat zu einer Sammlung von Minneliedern ge-
hoͤrt, welche von der Maneßiſchen, die ſich in der Koͤnigl.
Franzoͤſiſchen Bibliothek No. 7266 befindet, und bisher
fuͤr die einzige in der Welt gehalten worden, ganz unter-
ſchieden iſt. Ein Kenner wird gleich fuͤhlen, daß es aus
dem aͤchten Zeitalter der deutſchen Poeſie ſey, und ver-
muthlich iſt es das einzige alte Lied das wir von einem
weſtphaͤliſchen Minnedichter noch uͤbrig haben. Er verraͤth
ſich durch gewiſſe Eigenheiten eben ſo wie Heinrich von Vel-
dig, den man an dem Verſe
La mich weſen dyn und bis du myn ()
fuͤr einen Niederſachſen erkennet.


Twi-
[241]Ein weſtphaliſches Minnelied.
Twivel nicht du Leveſte myn.
Laz allen Twivel ane ſyn.
Hert Synne unde Mod is allend dyn.
Des ſchaltu wal gheloven my.

Ich will myn ſulves nemen war.
Queme alde Werlt an eynen Schar.
Nen ſchoner konde kommen dar.
Ich wolde vil lever ſyn by dy.

Darumb wes vrich und wolghemod.
Ich will myn ſulven haven hod.
Dat dyr nenes Twyvels Not en Dot.
Des ſulven ghelik is myn begher.

Alle Hote en helpet nicht.
War men ſülves nicht to en ſycht.
Blif ſtete als ik nu van dir ſchyd.
Ro kert myn Herte an Vroyden her.
a)

Het ſy Vrouwe eder Man.
De holde ſik vaſte an ſyn Gheſpan.
Nicht beters ik öme raten kan.
Und latet ſik neyman leiden.
b)

Darume wünſche ik öme al dat Heil.
Myn Hertzken ghans und nicht en Deyl.
Wer nu an Twyvel wyl weſen gheil.
Wo kan he des ghebeden.

Twyvel maket al dat Leyd.
Twyvel deet Unſtedicheit.
Wer echte Leve an Herten dreit.
(traͤgt)
Syn Vrowde ſchal ſik meren.

Myr
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Q
[242]Ein weſtphaͤliſches Minnelied
Myr ſal nemand leiden dyk.c)
Twyvel nicht ſo doen och ik.
Al Twyvel mot verberghen ſyk.
So mach uns nycht beſchweren.

Das ich öch ſegge das is war.
Schold ik leven duſend Jar.
An myr ſo en twyfle nicht en Har.
War ik myr henne bere.
d)

Alle Hote en helpet nicht. \&e.
Darume wes vrich un wolghemoth. \&c.

Das Da Capo al Segno oder die Wiederholung der beyden
zu Ende bemerkten Strophen iſt nicht uͤbel ausgedacht.


Das folgende Lied, das auf eben dieſem Blatte ſteht,
und worinn der Nachtwaͤchter einer jungen Frau den Tag
zu fruͤh verkuͤndiget, ſcheint von einem Dichter zu ſeyn, der
dem Rheine naͤher gewohnt hat. Das Lied ſelbſt aber muß
ſehr beruͤhmt geweſen ſeyn, weil ich mich ſehr irren muͤſte,
wenn der Koͤnig Wenzel von Boͤhmen nicht in folgender
Zeile e) darauf angeſpielet haͤtte.


Wan es iſt Zit und nicht ze fruo.

Das man ein Scheiden werbe.

Süs ſang der Wächter è das ſich geverbe.

Der Tag mit ſiner Roete.

Wol uf wol uf ich gan ia nicht ze beliben bi der
Noete.

Ich fürchte das der Minne ir Teil verderbe.

Hier
[243]Ein weſtphaͤliſches Minnelied.

Hier iſt das Lied


Ich ſynghe ich ſaghe.

Et is an deme Taghe.

Lat üch myn Wervent wal behaghen.

Trud Vrouwelyn her nu merke an dyn Ghebrechte.

Der Vöchlyn Schal man over al.

Hört uf den Berghen und in dem Tal.

Ghar luſtichligen … dorch Vruchten.

Ich ſtell eyn Horn an mynen Mund

Dar mede do ich des lichten Taghes Röten kund.

Ver nu eyn Tzund.

Vart up der Mynne Straten.

Der merke an my dat is myn Raten.

Ik ſee den lechten Sternen.

De dar irre gat.

Und des nicht lat.

He ne kundige was rechte Maten.

Dat Vrouwelyn war ververet.

Das mynnichliche Wyf.

Wächter dyn Sang uns leret.

Des rechten Taghes Tyt.

Des dünkſt du uns ſo ſchnelle.

Synt ik und myn Gheſelle.

Aldererſtén Schlaphen ſyt.

Ich fuͤge dieſem noch ein drittes Lied bey, das die Ueber-
ſchrift Henricus fuͤhrt, und dem Stile nach vom Kayſer Hein-
rich dem Sechſten iſt, wovon ſich auch eines in der Ma-
neßiſchen Sammlung befindet. Das feurige Gefuͤhl dieſes
gekroͤnten Dichters zeichnet ſich gar zu merklich vor an-
dern aus.


Henricus.
Owe’ hertzeliker Leyde.
De ik ſende traghen mutz.

Q 2Owe
[244]Ein weſtphaͤliſches Minnelied.
Owe lechter Oghen Weyde.
Wanner wird myr Sorghen butz.
Wenner ſol din roter Mund mich lachen an.
Und ſprechen ſelichman.
Watz du wilt dat ſy ghetan.

Ja meyn ik den Mund ſo loſen.
An dem al myn Troſten leghet.
Sprechent alle rote Roſen.
Dat eyn Mund myt roten Seghet.
Batz dem Munde tzimt eyn lilien witzes Ja.
Den eyn Neyn van Jamer bla
Dat wort myn Jughent maken gra.

Minne kannſtu Vroude borghen.
Des ghen ik dir number Tach.
When du lacheſt keghenſt den Morgen.
Twarn dem Wind dyn afon Slach
Dyne luſte Roſen heygent ſcarphen torn.
Leyt is Leben tzu geborn.
Sulken Wöher treyt dyn Korn.

Minne wilt tu ſollen jamer.
Uph mich erben myne Tzyt.
Dyner Laſte ſolden Amor
Myr de cleynen Ture gyt.
Ny. Den Heren ywane wers heyn Maghed thet.
Sam de ſeone Vorluvct.
Halp dat Leben der Troſt en het.

Ach ſold ik den Apel teylen.
Den Paris der Mynne gaf.
Tzwarn du moſtes jamer ſeylen.
Sold ik dardorch in myn Graph.
Pallas edde Juno moſten holden ir.
So roch ik myn Leyt an dir.
De du haſt gheerbet myr.

Die
[245]Ein weſtphaͤliſches Minnelied.

Die Verſe ſind, eben wie in der Maneßiſchen Sammlung,
am Ende nicht abgeſetzt, doch jedesmahl mit einem Punkt
geſchloſſen. Spracherklaͤrungen uͤber die unverſtaͤndlichen
Stellen ſind fuͤr dieſe Blaͤtter zu weitlaͤuftig.


Zum Beſchluß will ich aus einer Handſchrift des vier-
zehnten Jahrhunderts ein geiſtliches Trinklied mittheilen,
das die Ueberſchrift fuͤhret:


Carmen biblicum.
Sumus hic ſedentes

Sicut conferentes

In omnibus gaudentes

Nullum offendentes

Sed læti faceti concinentes.

Hoſpitem laudemus

Sibi decantemus

Tunc iterum potemus

Secundum convivemus

Honeſti modeſti jubilemus.

Ergo infundatur

Si cor jucundatur

Triſtitia fugatur

Plauſus innovatur

Et læti faceti concinentes:

Virgo generoſa

Dei ſpecioſa

Præ cæteris formoſa

Paradiſi roſa

Sit genti bibenti gratioſa.

Nach den Worten zu urtheilen, mag dieſes Lied recht hell
geklungen haben.


LVI.
[246]Wie ein Vater ſeinen Sohn

LVI.
Wie ein Vater ſeinen Sohn auf eine
neue Weiſe erzog.

Aus einer ungedruckten Chronick.


Zu dieſer Zeit war auch ein Mann, dem brachte ſeine
Frau einen gar huͤbſchen jungen Sohn, und er ließ
ihn ganz philoſophiſch erziehen; mit bloſſen Fuͤßen auf den
Steinen und ohne Hut im Regen. Und damit der Junge
fein wahr in ſeinen Reden, recht ſtark in ſeinem Vorſatze,
und in allen Ausfuͤhrungen unerſchrocken werden moͤgte:
ſo muſte er jede Sache ausdruͤcken, wie er ſie erkannte oder
empfand, und ſein Wille durfte gar nicht gebeuget werden.
Und der Knabe ward recht groß und ſtark, und hatte Mus-
keln die einen ganzen Kerl zeigten. Und der Vater brachte
den jungen Kerl, wie er ausgewachſen war, an den Hof
ſeines Koͤnigs, der ihn ſehr gnaͤdig aufnahm, und ſich ob der
Aufrichtigkeit und Staͤrke des Burſchen ſehr verwunderte;
auch freueten ſich alle Hofdamen ſeiner. Es waͤhrete aber
nicht lange: ſo kamen viele Klagen an den Koͤnig. Der
junge Kerl hatte die Gewohnheit, daß er allen Luͤgnern ins
Geſicht ſpie, und jedem Verlaͤumder auf der Stelle einen
Zahn ausſchlug, wodurch der Hof in kurzer Zeit gar er-
baͤrmlich verunſtaltet wurde. Da ließ der Koͤnig den Vater
kommen, und ſagte zu ihm: er haͤtte ihm da einen jungen
Loͤwen gebracht, der ſich zwiſchen die Hirſche im Hof-
Thiergarten nicht recht ſchickte, er moͤgte ihn alſo wieder
heim nehmen, und in den Wald verſetzen. Und als der
Vater ihn darauf in den Wald unter die andern Loͤwen
thaͤte, da war er ein Loͤwe wie andere Loͤwen, doch bruͤlle-
ten die andern noch treflicher als er. Indeſſen lieſſen
alle
[247]auf eine neue Weiſe erzog.
alle Hofleute ihre Jungen eben alſo erziehen, um ſie nicht
auch der Gefahr auszuſetzen, dereinſt ihre Zaͤhne zu verlie-
ren, oder ſich ins Geſicht ſpeyen zu laſſen. Und es war
eine Freude anzuſehen, was fuͤr baumſtarke Kerls um den
Koͤnig waren, und wie ſie wehneten, es mit allen Bauern
im Dorfe aufnehmen zu koͤnnen. Und die Hofdamen folg-
ten ihrem Beyſpiele und zogen Dirnen auf die mit einem
Malter Korn wie mit einem Federmuffe davon liefen. Und
der ganze Hof ward ſo ausgebildet, daß der Menſch am
Hofe, dem Menſchen auf dem Lande faſt voͤllig gleich wur-
de. Doch konnten ſie dieſen nicht ganz erreichen, weil er
der Mutter Natur, im Schooſſe ſaß, und ihr die beſten Leh-
ren vom Maule wegnahm.


Und der Gaͤrtner pflanzte dem Koͤnige lauter Eichen in
ſeinen Garten. Aber der Koͤnig ward zornig daruͤber, und
ſagte: er haͤtte ſeinen Hofgarten dazu, daß darinn Blumen
und Pfirſchen und Trauben wachſen ſollten; und verwies
es dem Gaͤrtner, daß er ihn mit lauter Eichen beſetzte.
Und wie der Gaͤrtner ihm hierauf eine lange Lobrede auf
die Schoͤnheit und Staͤrke der Eichen hielt; ſo antwortete
ihm der Koͤnig, er liebte die Eichen auch, aber nur im Walde,
und in ſeinem Garten waͤre ihm ein Spalierbaum lieber.
Und der Gaͤrtner gehorchte, und der Garten trug Roſen,
und Lilien und Tulipanen, und Zwergbaͤume von allerhand
Fruͤchten, die lieblich anzuſehen, und zu genieſſen waren.


Und der Koͤnig verſammlete alle Weiſen ſeines Landes,
und ſagte zu ihnen: er haͤtte einen Hund, eine Katze, eine
Maus und einen Vogel ſo erzogen, daß ſie miteinander in
ſeinem Zimmer ruhig herum giengen, und aus einem Ge-
ſchirre zuſammen fraͤſſen. Und nun wollten boͤſe Leute ſa-
gen, es waͤre dieſes eine ſchlechte Katze, weil ſie ihre Natur
ſo ſehr veraͤndert haͤtte. Aber die ſieben Weiſen, welche
gar wohl merkten, daß der Koͤnig von ſeinem Hofgeſinde
Q 4redete,
[248]Wie ein Vater ſeinen Sohn
redete, zankten ſich treflich und ſprachen, eine Katze, welche
ſich taͤglich ihre Maus hole, ſey beſſer als zehen andre, die
ſolches nicht thaͤten; dieſe waͤren bloſſe Heuchlerinnen und
Schmeichlerinnen, und bisweilen noch dazu ſehr falſch.
Aber der Koͤnig befahl ſeiner Katze taͤglich eine gebratene
Taube zu geben. Des war ſie ſehr froh, und lachte uͤber
die Katzen und uͤber die Weiſen, welche ihr fuͤr die gebrate-
nen Tauben rauhe Maͤuſe geben wollten.


Und die Dirnen, welche auf die neue Art erzogen waren,
kamen auch an Hof, und hatten breite Fuͤſſe, und hohe
Leiber. Und die Weiſen bewieſen es dem Koͤnige klar, daß
man den Kindern, ehe und bevor ſie voͤllig ausgewachſen
waͤren, keine Schuh anziehen duͤrfe, ſo daß es auch keiner
wagte ein Wort dagegen zu ſagen. Tauſend und aber tau-
ſend waͤren gefallen, und haͤtten ſich den Hals zerbrochen,
blos weil ſie nicht recht feſt geſtanden haͤtten. Und die Wei-
ſen zeigten eben ſo klar, daß nichts gefaͤhrlicher ſey, als den
Leib einzuſchnuͤren, und das mit ſo vielen Gruͤnden, daß es
langweilig werden wuͤrde, ſie alle zu erzaͤhlen. Und den
Dirnen platzten die Schuhe, welche ihnen der Hofſchuſter
gemacht hatte, von den Fuͤſſen, und ihre dicken Leiber gefie-
len dem Koͤnige nicht. Da das die Dirnen merkten, woll-
ten ſie ihm baß gefallen, und herzten ihn recht kraͤftig. Aber
dem Herrn Koͤnig war das nicht immer gelegen, er wollte
viel jagen und wenig ſchieſſen. Und darauf waren die Dir-
nen nicht abgerichtet; ſie hieſſen das eitel Verſtellung und
liebten die Wahrheit.


Und es begab ſich daß der Koͤnig einsmahls jagte in
der groſſen Senne, und die Jaͤger ſahen ein Thier laufen,
das glich einem Affen und ſchien doch kein Affe zu ſeyn,
und das lief nicht allein auf der Erden, ſondern auch auf
die Baͤume, und ſetzte durch die Stroͤme, ſo daß es weder
der Koͤnig, noch die Jaͤger, noch die Hunde einholen konnten.
End-
[249]auf eine neue Weiſe erzog.
Endlich aber wurden die liſtigen Leute des wunderbar ſchnel-
len Thiers Meiſter, und brachten es gen Hof. Und ſiehe
es war ein wildes Maͤdgen, das lief auf allen Vieren,
ſchneller wie ein Reh, und konnte allerley Thiere fongen im
Waſſer und auf Erden. Und das Maͤdgen brauchte keine
fuͤnf andere, um ſich zu putzen, und die Weiſen bewieſen
dem Herrn Koͤnige, daß die Menſchen gebohren waͤren auf
Haͤnden und Fuͤſſen zu laufen, und daß es der groͤſte Grad
der Freyheit waͤre, wenn man ſo wenig von einem Schnei-
der als einem Schuſter abhienge, ſondern ſich in allem ſelbſt
fertig machen koͤnnte. Und das Maͤdgen konnte die Weiſen
nicht leiden, und biß ihnen in die Waden; und der Koͤnig
ſprach: waͤhrt dem Maͤdgen nicht, denn es iſt Freyheit.


Darnach begab es ſich abermals daß der Koͤnig kam in
den Wald, und der Forſtmeiſter hatte denſelben ſehr aus-
gelichtet, ſo daß man nichts ſahe als groſſe ſtarke und ſchoͤne
Eichen. Und der Koͤnig ſprach: Lieber, warum haſt du
das gethan; brauchet mein Gaͤrtner doch auch Zaunholz
und mein Muͤller Kruͤmmlinge? laß kuͤnftig auch etwas
Dickigt ſtehen, damit das Wild ſich darinn verberge; und
er befahl ſeinem Forſtmeiſter, die jungen Baͤume aufzuſchnei-
teln, wo ihrer viele bey einander ſtehen muͤſten, oder ſie
doch an einigen Orten ſo zu ziehen, daß mehrere bey einan-
der Raum haͤtten. Und der Forſtmeiſter gehorchte, und
zog dem Koͤnige auch Stangen, die ihm in ſeinem Wein-
berge beſſere Dienſte thaͤten, als die Eichen. Und nun
gruͤnen in dem Walde, Eichen, Buͤchen und Erlen; und
allerley Voͤgel niſteten auf denſelben, daß der Koͤnig eine
große Freude daruͤber hatte.


Darnach zu Hand beriethen ſich die Weiſen unter ein-
ander, und dachten den Koͤnig zu fangen, und ſprachen zu
ihm: ob ein Adler in der Luft nicht beſſer waͤre als hundert
Canarienvoͤgel in der Hecke? Und der Koͤnig antwortete
Q 5ihnen
[250]Wie ein Vater ſeinen Sohn
ihnen und ſprach: fuͤr die Adler iſt die hohe Luft, wie fuͤr
die Wallfiſche das Meer; und die Erde iſt fuͤr die Finken,
wie mein Schloßgraben fuͤr die Karpen. Dieſe beſſer hier,
und jene beſſer dort.


Und ſie beriethen ſich abermals und fragten: ob nicht
ein Menſch der gerade gienge beſſer waͤre, als einer der
hinkte? er aber ſagte: wenn man nicht ſchreiben kann ohne zu
hinken, und nicht jagen kann ohne gerade zu gehen: ſo iſt
zum Schreiben der Hinkende beſſer als der beſte Trappenſchuͤtze.


Und die Weiſen wurden daruͤber uneins unter ſich, ob
ein Vater das Recht haͤtte ſeinem Sohne ein Bein zu laͤh-
men, um ihn zum Schreiber zu machen? und fragten dar-
uͤber ein Urtheil vom Koͤnige. Da erkannte der Koͤnig zu
Recht, daß der Vater die Macht haͤtte mit ſeinen Kindern
zu thun was er wollte, ſo weit er es ihm nicht verboͤte.
Und der Koͤnig erzaͤhlte ihnen, er habe es einmal gebieten
wollen, wie ein jeder Vater ſeine Kinder erziehen ſollt; aber
da ſey ihm das Ding ſo bunt geworden, daß er es daran
geben muͤſſen; ein Vater koͤnne ſich zwar hierinn leicht an
ſeinem Sohne verſuͤndigen, aber ein andrer noch mehr.


Und ſie fragten um ein anderes Urtheil: wenn der Va-
ter nun ſeinem Sohne alles das beybraͤchte, was er ſelbſt
glaubte, und irrig in ſeiner Meinung waͤre, ob es dann
nicht beſſer ſeyn wuͤrde, ihn ſo aufwachſen zu laſſen bis der
Sohn die Sachen ſelbſt pruͤfen koͤnnte? Und der Koͤnig
ward des eiteln Fragens muͤde, und ſagte, die Kinder wuͤr-
den nicht blos durch die Lehre, ſondern auch durch das Ex-
empel des Vaters unterrichtet, und da man dieſes nicht
hindern koͤnnte: ſo waͤre es beſſer, daß der Vater ihrem
Urtheile, die Urſachen, nach welchen er handelte, erklaͤrte,
als daß er es gar bleiben lieſſe; und wie die Weiſen hierauf
den Bart ſtrichen und ſagten; es waͤre nichts laͤppiſcher
als
[251]auf eine neue Weiſe erzog.
als das Urtheil eines Juͤnglings, fragte er ſie: ob ſie ſich
nie an einem Apfelbaum in der Bluͤte ergoͤtzt haͤtten?


Und die ſieben Weiſen giengen wieder zuruͤck, jeder in
ſeine Heymath; und jedermann ſagte am Hofe, daß wann
die Hunde, Katzen und Maͤuſe und Voͤgel zuſammen in
einem Korbe oder einer Kammer leben ſollte, wie denn die
Welt nicht groß genug waͤre, um einem jeden Thiere ſein
beſonders Revier zu geben, ſie ſo erzogen werden muͤſten,
wie ſie der alte weiſe Koͤnig erzogen haͤtte.



LVII.
Alſo ſollten die Koſten eines Concurs-
proceſſes billig nicht auf ſaͤmmtliche

Glaͤubiger vertheilet werden.


Die Abſicht Ihres Koͤnigs, mein Freund! iſt unſtrei-
tig, die Sicherheit der Glaͤubiger auf alle Weiſe zu
befoͤrdern, und wenn es moͤglich waͤre, ihnen ihre Forde-
rungen gegen jeden Zufall zu verſichern. Zu dieſem großen
Zwecke hat er eine neue Juſtitzverfaſſung erſchaffen, die be-
ſten Gerichtsordnungen gegeben, die redlichſten und geſchick-
teſten Maͤnner zu Richtern erwaͤhlt, die Sportuln aufs
ſchaͤrfſte beſtimmt, die Hypothekenbuͤcher eingefuͤhrt, dem
Zinslauf wie dem Concursproceſſe ein gemeſſenes Ziel ge-
ſetzt, und dem Glaͤubiger gleichſam bis auf eine Minute
und bis auf einen Pfennig geſagt, wie lange ihn ein un-
gluͤcklicher Schuldner hinhalten, und wie viel er bey ihm
verlieren koͤnne. Der geringe Reſt der Unſicherheit, wel-
cher ſich durch menſchliche Weisheit nicht zwingen laͤßt, iſt
dadurch aufs moͤglichſte verkleinert, und dergeſtalt zum An-
ſchlag gebracht, daß jeder der einem andern Geld leiht, ſei-
nen moͤglichen Verluſt in voraus berechnen, allenfalls die
Aſſecu-
[252]Die Koſten eines Concursproceſſes
Aſſecuranz dafuͤr in einem hoͤheren Zinsgenuß beziehen kann.
Wie laͤßt ſich aber dieſe große, und auf die Erhaltung des
innern und aͤuſſern Credits ſo deutlich gerichtete Abſicht,
mit dem Geſetze vereinigen, daß die Glaͤubiger nach Ver-
haͤltniß ihrer Forderungen zu den ungewiſſen Koſten eines
Concursproceſſes beytragen ſollen?


Urtheilen Sie ſelbſt, ich habe aus einer Concursmaſſe
vor zehn Jahren eintauſend Thaler Capital mit dreyjaͤhri-
gen Zinſen richtig erhalten; und nun ſoll ich hundert ſechzig
Thaler Koſten, welche nachher noch aufgegangen ſind, er-
ſtatten; aus einem andern ſoll ich nun ein gleiches Capital
empfangen, aber vorerſt 10 pro Cent fuͤr die kuͤnftigen Ko-
ſten zuruͤckſtehen laſſen: der Verluſt in dem letztern Falle
geht weit, und daß er unter allerhand Zufaͤllen noch weiter
gehen koͤnne, zeigt der erſte unwiderſprechlich; raubt mir
hier nicht der Geſetzgeber mit der einen Hand was er mir
mit der andern giebt? Und kann ich es als eine Wohlthat
anſehen, daß man mir auf alle Faͤlle dreyjaͤhrige Zinſen
verſichert, und dagegen mein Capital einer augenſcheinlichen
Unſicherheit ausſetzt? Scheint Ihnen hierinn nicht ein Wi-
derſpruch zu liegen?


Nie haben die gemeinen Rechte, nie die Roͤmer und
Griechen dieſe Meiſter in der Kunſt, dergleichen gebilliget.
Der Deutſche, welcher die Aeuſſerung nach Landrecht
erfunden, und darinn Natur und Kunſt auf das ſchaͤrfſte
vereiniget hat ſchiebt demjenigen Glaͤubiger die Koſten zu
der ſeine Mitglaͤubiger aͤuſſern will. Es war blos ein
Einfall einiger einzelnen Rechtsgelehrten, die Concursko-
ſten auf ſaͤmtliche Glaͤubiger zu vertheilen. Dieſe glaub-
ten man muͤſſe hier nach dem Rhodiſchen Geſetze verfah-
ren, welches die Erleichterung eines Schiffes in Gefahr,
auf die ganze Ladung vertheilt. Allein nicht alle Glaͤu-
biger ſind in gleicher Gefahr; die aͤlteſten waren ſchon im
Hafen,
[253]ſollten nicht gleich vertheilet werden.
Hafen, wie die jungen noch mit allen 32 Winden kaͤmpf-
ten. Noch ehe der junge Glaͤubiger, dem zu Gefallen
die Erleichterung geſchieht, ins Schiff kam, hatten ſie
ihre beſten Waaren ſo gut als gelandet; und dieſem der
mit ſeinem Gute das Schiff uͤberlud, der es zu ſinken
zwang, der an aller Unſicherheit Schuld iſt, ſollte das
Rhodiſche Geſetz zu ſtatten kommen?


Wie ſelten ſuchen oder verlangen uͤberdem die aͤltern
Glaͤubiger den Concurs oder den Verkauf eines Guts?
Der Tiſch des Schuldners iſt ihnen gedeckt, warum ſoll-
ten ſie mehr Gaͤſte dazu bitten als ſatt werden koͤnnen?
Wenn ſie ja ihre Capitalien zuruͤck haben wollen: ſo uͤber-
tragen ſie ſolche einem andern, der froh iſt eine alte und
ſichere Pfandverſchreibung einzuloͤſen, oder ſie laſſen ſol-
che ſtehen, wenn das dafuͤr verpfaͤndete Gut auf das Ge-
ſchrey eines jungen Glaͤubigers verkauft wird. Ihnen
iſt es eins, ob der Eigner des Guts Titius oder Cajus
heißt, ihre Zinſen folgen ihnen aus dem Gute, und ihr
Vorrecht bleibt ihnen unveraͤnderlich. Blos der junge
unvorſichtige Mann, der zu viel borgte, der vielleicht
ſeine Aſſecuranz in einem hoͤhern Zins bezogen, und zum
voraus die Unſicherheit genutzt hat, erregt den Concurs.
Ihm allein zu Gefallen geſchieht der Verkauf; um ihn zu
retten wird das Pfand ein, zwey oder dreymahl feil ge-
boten, ein Curator angeordnet, und ein Urtheil geſpro-
chen; und zu ſolchen Unkoſten ſoll der Glaͤubiger beytra-
gen, der vor hundert Jahren in der vollkommenſten Si-
cherheit borgte? Das Hypothekenbuch ruft einem jeden zu,
trau ſchau wem! Dieſer Zuruf iſt ſo gut wie eine oͤf-
fentliche Proteſtation der aͤltern Glaͤubiger gegen alle juͤn-
gere; und wenn dieſe ſich daran nicht kehren: ſo muͤſſen
ſie auch ihre Gefahr ſtehen.


Nur dann, wenn der Concurs uͤber bewegliches Gut,
uͤber ein Waarenlager, oder uͤber andre vergaͤngliche und
dem
[254]Die Koſten eines Concursproceſſes
dem Verbrennen unterworfene Guͤter erregt wird, ſind alle
Glaͤubiger in gleicher Gefahr, und jeder muß der Billig-
keit nach, zu den Concurskoſten beytragen. Aber das iſt
hier der Fall nicht; die Rede iſt von unbeweglichen Guͤ-
tern, und nicht von Koſten, ſo zu deren Erhaltung ge-
gen Einbruͤche der See oder gegen Anſpruͤche einiger Lehn-
und Fideicommisfolger angewandt ſind. Die aͤltern
Glaͤubiger ſind wider ihren Willen aufgeboten worden,
ihre Urkunden und Rechte vorzulegen, und den juͤngern
Nachrichten zu geben, die dieſe aus dem Hypothekenbuche
vorher haͤtten aufſuchen laſſen ſollen, ehe ſie unvorſichtig
borgten. Die juͤngern Glaͤubiger ſind es, welche die aͤl-
tern in ihrer geſetzmaͤßigen Ruhe ſtoͤren, und ihnen koſt-
bare Haͤndel machen; und um dieſe dafuͤr zu belohnen,
ſollen jene Schaden leiden? Um dieſe zu retten, ſollen
jene einen Theil ihres Capitals aufopfern? Ja wenn es
noch juͤngere Soͤhne waͤren, welche mit zu der aͤltern Erb-
ſchaft kaͤmen; allein es ſind wildfremde, die bey offnen
Hypothekenbuͤchern muthwillig geborgt, und wie geſagt,
die Aſſecuranz dafuͤr mit ein oder zwey pro Cent bezo-
gen haben.


Und wie ſehr hangen endlich dieſe Koſten, welche die
alten Glaͤubiger mit tragen muͤſſen, von dem Muthwillen
der juͤngern, und von dem Willkuͤhr der Richter ab?
Dieſe ſtiegen in dem Concursproceſſe, worinn ich 160
Thaler von tauſend zuruͤck bezahlen muſte, und worinn
ein ganz unbetraͤchtliches Lehnſtuͤck, das den juͤngern
Glaͤubigern zur Speculation gelaſſen werden konnte, auf
gemeinſame Koſten herbey gezogen werden ſollte, gewiß
uͤber dreytauſend Thaler, und ſchwerlich haben die Geſetze,
welche mir dreyjaͤhrige Zinſen gewiß verſichern wollten,
einen ſolchen Verluſt fuͤr moͤglich gehalten. Die zehn pro
Cent, ſo man mir in dem andern zum voraus abzieht,
ſind
[255]ſollten nicht gleich vertheilet werden.
ſind gewiß auch verlohren, und wenn ich ja noch ein
Quart herausbekomme: ſo will ich zufrieden ſeyn, wenn
der Agent, der die letzte Liquidation in meinem Namen
mit anſieht, ſolches und nicht mehr fuͤr ſeine Bemuͤhung
rechnet.


Ich habe lange nicht gewuſt, mein Freund! warum
die Zinſen in Ihrem Lande bey allen guten Anſtalten be-
ſtaͤndig um 1 oder 2 Rthlr. vom Hundert hoͤher ſtehen,
als in den benachbarten Laͤndern, worinn die Juſtitz noch
wenig verbeſſert, und wie eine Eiche im Walde aufge-
wachſen iſt; und warum der Canal von Murcia jetzt ſo
vieles Geld aus Weſtphalen zieht? Allein wenn ich die
Unſicherheit betrachte, worinn die aͤlteſten Glaͤubiger, die
dem Großvater geborgt, und den Glaͤubigern des Enkels
zu gefallen verlieren muͤſſen, ſolchergeſtalt verſetzt ſind;
wenn ich das allgemeine Schrecken ſehe, das ſich dadurch
in den Gemuͤthern ſolcher Menſchen verbreitet, die den
eigentlichen Zuſammenhang nicht einſehen, und ſich die
wunderbarſten Dinge davon vorſtellen, ſo brauche ich
nicht weiter zu fragen, warum die Leute lieber auf den
Canal von Murcia als auf Ihre beſten Verſchreibungen
trauen wollen.


Die Helmſtaͤdter Juriſten, waren auch einmahl, wie
Leyſer Spec. 481. m. 5. erzaͤhlt, der Meinung zugethan,
daß die Concurskoſten allen Glaͤubigern zur Laſt fallen
muͤſten. Sie ſchlugen aber geſchwind einen andern Weg
ein, und ich wuͤnſche von Herzen, daß bey Ihnen ein
gleiches erfolgen moͤge; ja ich wuͤnſche, daß man endlich
den ganzen verderblichen Concursproceß, der in Frank-
reich wie in England bey adlichen Guͤtern unbekannt iſt,
und den die Deutſchen nie gekannt haben, voͤllig abſchaf-
fen, und dafuͤr den alten ehrlichen Aeuſſerproceß, worinn
das Gut in banco liegt, und jeder Glaͤubiger ſein folio
hat,
[256]Ueber die verfeinerten Begriffe.
hat, wieder einfuͤhren moͤge. Dieſen hat die Natur
Landbeſitzern angewieſen, und die Hypothekenbuͤcher, wel-
che die banco vertreten, ſchicken ſich nicht einmahl fuͤr
den Concursproceß, ſondern ſind fuͤr den Aeuſſerproceß
gemacht. Dieſer allein kann die Landbeſitzer erhalten,
und die Verſchreibungen zur lebhaften Circulation bringen.
Aber der Concursproceß iſt fuͤr Kraͤmer.



LVIII.
Ueber die verfeinerten Begriffe.


Mein Muͤller ſpielte mir geſtern einen recht artigen
Streich, indem er zu mir ins Zimmer kam, und
ſagte: es muͤſſen vier Stuͤck metallene Nuͤſſe in die [P]oller
und Pollerſtuͤcke gegen die Kruke gemacht werden, auch
haben alle Scheiben, Buͤchſen, Bolten und Splinten
eine Verbeſſerung noͤthig, der eine eiſerne Pfalhacke mit der
Hinterfeder iſt nicht mehr zu gebrauchen und das Krey-
tau
— So ſpreche er doch deutſch mein Freund! ich hoͤre
wohl daß von einer Windmuͤhle die Rede iſt, aber ich bin
kein Muͤhlenbaumeiſter, der die tauſend Kleinigkeiten, ſo
zu einer Muͤhle gehoͤren, mit Namen kennet. Hier fieng
der Schalk an zu lachen und ſagte mit einer recht witzigen
Geberde: machte es doch unſer Herr Pfarrer am Sonntage
eben ſo, er redete in lauter Kunſtwoͤrtern, wobey uns ar-
men Leuten Hoͤren und Sehen vergieng; ich daͤch[t]e er thaͤte
beſſer, wenn er wie ich ſeiner Gemeine gutes Mehl lieferte
und die Kunſtwoͤrter fuͤr die Bauverſtaͤndigen ſparte.


Wie, mein Freund! fieng der Pfarrer laͤchelnd an,
der, ohne daß ihn der Muͤller geſehen hatte, im Fenſter
ſtand, — aber dieſer machte ſich geſchwind aus dem
Staube — und ſo gieng die Rede unter unsbeyden an
wor-
[257]Ueber die verfeinerte Begriffe.
worinn der Pfarrer, welcher ein ſehr vernuͤnftiger Mann
war, dem Muͤller wuͤrklich Recht gab, ob er gleich dafuͤr
hielt, daß er ſelbſt gegen die von demſelben angegebene
Regel nicht gefehlt, und ſeiner Gemeine etwas vorgetra-
gen haͤtte, das ihren Begriffen nicht angemeſſen geweſen
waͤre. Wie aber ein Wort ſo das andre holte: ſo kamen
wir endlich auf die jetzt allgemein herrſchende Verfeinerung
der Begriffe, und auf die Frage: ob ſolche nicht in ihrer
Art ein eben ſolches Uebel, als die weiland beliebte Em-
pfindſamkeit werden wuͤrde? Und Sie wollten es nicht
billigen, hob der Pfarrer an, wenn unſre Philoſophen in
das innerſte der Natur dringen, jeden Begriff bis in ſeine
Quelle verfolgen, hier die wuͤrkenden Kraͤfte aufſucher,
ſolche mit Namen bezeichnen und das Unſichtbare der Na-
tur gleichſam zum Anſchauen bringen? Sie wollten es
nicht gut finden, daß unſre Phyſiognomiſten in unendli-
chen bisher unbemerkten Zuͤgen die Abdruͤcke unſers Cha-
racters finden, und damit unſer Erkenntniß bereichern,
daß unſre Pſychologiſten alle Toͤne und Kraͤfte der Seele
unterſcheiden, und den Maaßſtab ans Unendliche legen,
und daß endlich unſre Sittenlehrer die unzaͤhligen Wen-
dungen des menſchlichen Herzens in Klaſſen ordnen, und
die chaotiſche Maſſe der dunkeln Begriffe zu lauter deutli-
chen erheben?


Das kann ich freylich wohl nicht mißbilligen, war mei-
ne Antwort, ſo lange ſolches fuͤr Bauverſtaͤndige und nicht
fuͤr ſolche geſchieht, die nun endlich das Mehl erwarten,
ohne ſich um die Nuͤſſe, Poller und Splinten zu bekuͤm-
mern. Aber mich duͤnkt, die wenigſten unter den Schrift-
ſtellern, welche jetzt fuͤr das Publicum ſchreiben, beweiſen
dieſe Maͤßigung. Auch die beſten unter ihnen ſchreiben
nicht mehr vor das gemeine Auge, ihre Worte ſind nach
ihrer zu ſcharfen Einſicht geſtimmt, ihre Begriffe ſind zu
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Rtief
[258]Ueber die verfeinerte Begriffe.
tief aus der Sache geſchoͤpft, ſie beziehen ſich auf Verhaͤlt-
niſſe, die nur den Baumeiſtern bekannt ſind, und es koͤmmt
mir oft ſo vor, als wenn ſie durch ein Vergroͤſſerungsglas
arbeiteten, und die Dinge in einem ganz andern Lichte, in
einem ſo auſſerordentlichen Verhaͤltniſſe ſaͤhen, worinn ſie
ſonſt niemand erblickt. Man kann doch, wenn man ſich
unterrichten, erbauen oder vergnuͤgen will, nicht immer
auch ſein Vergroͤſſerungsglas vor ſich haben, oder wenn
man krank iſt, den feinen Zergliederer dem nuͤtzlichen Arzte
vorziehen. Die natuͤrliche Folge jenes Verfahrens iſt, daß
ſie auch ihre Empfindungen erhoͤhen, und da jauchzen oder
heulen, wo ein andrer ehrlicher Mann, der das nicht ſie-
het was ſie ſehen, ganz gleichguͤltig bleibt. Ja ich kenne
ihrer viele, die durch die neu entdeckten Aehnlichkeiten und
Verhaͤltniſſe in dem Unendlichen der Natur in eine fuͤr den
gemeinen Leſer ganz unbegreifliche Schwaͤrmerey verſetzet
werden. Die Wiſſenſchaft ſollte meiner Meinung nach fuͤr
den Meiſter, und die Frucht derſelben fuͤr das allgemeine
Beſte ſeyn. Mir iſt das Reſultat einer groſſen Geiſtesar-
beit, und zum Beyſpiel der Gedanke, das Einweyhungs-
feſt der neuen catholiſchen Kirche in Berlin, mit dem Ge-
ſange: Wir glaͤuben alle an einen Gott ⁊c. anzufangen,
lieber, und lehrreicher, auch in ſeiner Stelle ſchoͤner und
beſſer, als die feinſte Zergliederung einer menſchlichen Tugend.


Wenn aber, fiel hier der Pfarrer ein, die feinſten Wahr-
heiten populaͤr gemacht werden koͤnnen! O, ſagte ich, wo
das geſchehen kann, da hoͤret mein Widerſpruch auf; aber
es iſt gegen die Natur der Sache unendlich kleinen Theilgen,
und unendlich feinen Unterſcheiden, Groͤſſe und Farbe zu
geben, daß ſie ein jeder ſehen und empfinden kann. Auſſer
dem engen Kreiſe der Wiſſenſchaften verwirret man nur da-
mit den geſunden Menſchenverſtand. Die ganze Behand-
lung einer Sache, und die zu deren Vortrag gewidmete
Spra-
[259]Ueber die verfeinerte Begriffe.
Sprache wird dadurch entweder zu ſcharf beſtimmt oder zu
mannigfaltig, um ſie zu ſeinen ordentlichen Beduͤrfniſſen zu
gebrauchen. Es geht derſelben wie unſern fuͤnf Sinnen,
wenn ſie ſchaͤrfer empfinden, als es fuͤr unſre Geſundheit
und Bequemlichkeit gut iſt. Das ganze Reich des Unendli-
chen, das vor unſre Sinnen verſteckt liegt, iſt uͤberdem
das Feld der Speculation und Syſteme. Jeder legt hier
ſein eignes an, beſtimmt darnach ſeine Worte, oder erfindet
fuͤr ſeine Hypotheſe beſondre Zeichen, und wann die gemeine
Menſchenſprache damit uͤberladen wird: ſo entſteht daraus
eben wie aus einer Menge zu vielerley Muͤnzen, Beſchwer-
de und Verwirrung; man unterſcheidet, wo man nicht un-
terſcheiden ſollte, und wird ſpitzfindig anſtatt brauchbar zu
werden; oder ein Menſch verſteht den andern nicht mehr;
und unſrer jetzigen Sprache wird es wie der ehmaligen ſcho-
laſtiſchen ergehen, die durch ihre Feinheit verungluͤckt iſt,
oder ſie wird der gothiſchen Schnitzeley aͤhnlich werden,
welche den Mangel der Groͤſſe erſetzen ſollte. Sehe ich nun
weiter auf die Menge derjenigen die in Raphaels Manier
arbeiten, ohne Raphaels Geiſt zu haben —


O! der Muͤller ſoll Recht haben, ſchloß mein Freund;
das Kreytau ſoll fuͤr die Kunſtverſtaͤndigen bleiben; wir
wollen uns an ſein Mehl halten.



LIX.
Die Regeln behalten immer ihren groſſen
Werth.

Eine Erzaͤhlung.


Vor einem gewiſſen weſtphaͤliſchen Dorfe ſtand eine hohe
Saͤule mit einer eiſernen Hand, welche ſeit vielen
Jahren den rechten Weg in die Stadt gewieſen hatte. Ne-
ben derſelben begegnete ein reiſe[n]der Seiltaͤnzer dem Dorf-
R 2ſchul-
[260]Die Regeln behalten ihren groſſen Werth.
ſchulzen, und fragte ihn: was ihn doch in aller Welt be-
wogen haͤtte, allen Leuten einerley Weg zu zeigen? ob nicht
jeder ſeinen eignen haͤtte? und ob man uͤberhaupt ſagen
koͤnnte, daß es richtige Wege gebe? er z. B. wollte auf dem
Seile uͤber Graben und Hecken nicht allein weit geſchwinder
und kuͤrzer, ſondern auch zu aller Menſchen Bewunderung
dahin kommen. O! antwortete der Schulze: unſer Weg-
weiſer zeigt nun einmahl den gemeinſten, ſicherſten und eben-
ſten Weg, und wenn derſelbe nicht gewieſen wuͤrde, ſo wuͤſte
man ja nicht einmal, wie viel kuͤrzer und geſchwinder ein an-
drer waͤre.


Indem kam ein Juͤngling auf einem raſchen Pferde,
und ſetzte, waͤhrend der Zeit daß der Seiltaͤnzer ſeine Linien
ſpannete, uͤber Zaͤune und Graben weg. Hier ſagte der
Schulze zum Seiltaͤnzer: ſeht guter Freund, der kommt
noch geſchwinder und kuͤrzer uͤber weg als ihr, und ich be-
wundre ihn eben ſo ſehr, was duͤnkt euch, wenn wir den
Wegweiſer ſo ſtelleten, daß alle, die in die Stadt wollen,
dieſem folgen muͤſten?


Ihr ſeyd ein einfaͤltiger Mann, verſetzte jener, wie viele
wuͤrden nicht den Hals brechen, oder in den tiefen Graͤben
ſtecken bleiben, wenn ihr dieſes thaͤtet? das meyne ich auch,
beſchloß der Schulze; und ſo iſt es wohl am beſten, daß
wir jedem einen ebnen richtigen und ſichern Weg zeigen,
und uns um diejenigen, die auf dem Seile tanzen, oder
mit ihren Pferden uͤber Hecken und Graben ſetzen koͤnnen,
nicht bekuͤmmern. Ein Philoſoph, der ihre Unterredung
mit angehoͤrt hatte, machte hieruͤber die Anmerkung, daß
die gemeinen Wege oder Regeln immer noͤthig blieben, wenn
die Genies ſich auch noch ſo weit davon entfernten.



LX.
[261]

LX.
Gedanken uͤber den weſtphaͤliſchen
Leibeigenthum.


Nicht wenige Gutsherrn und zwar ſolche, denen es ge-
wiß nicht an Einſicht mangelt, gerathen allmaͤhlig
auf die Gedanken, daß es weit beſſer fuͤr ſie ſeyn wuͤrde,
die Hoͤfe ihrer Leibeigenen mit Vorbehalt ihres Gutsherrli-
chen Rechts verkaufen, als ſolche, wie jetzt geſchieht, zum
beſten der Glaͤubiger ausheuren zu laſſen, wenn ſich ihre
Leibeigne mit Schulden a) beladen, und dadurch außer
Stand geſetzt haben, die ihnen anvertraueten Hoͤfe in Reihe
und Ordnung erhalten zu koͤnnen.


„Bey den jetzigen Ausheurungen, ſagen ſie, bekommen
„wir doch ſo nichts mehr als unſre Paͤchte und Dienſte.
„Denn wenn der von ſeinen Glaͤubigern ausgezogene Leib-
„eigne ſtirbt: ſo findet ſich nichts zu erben, und was ſoll
„man von Leuten, denen die Glaͤubiger außer der Haut,
„wenig gelaſſen haben und die insgemein aus Mismuth und
„Gram oder wegen ihrer liederlichen Gemuͤthsart auf kei-
„nen gruͤnen Zweig kommen, fuͤr Freybriefe fordern? Da-
„bey gehen die Gerechtigkeiten unſrer Hoͤfe bey den Verheu-
„rungen vielfaͤltig verlohren; jederman ſucht ſeinen Weg
„daruͤber; und waͤhrender Zeit andre ſich in der Mark aus-
„dehnen und ihre Hoͤfe verbeſſern, ſtehen die unſrigen in
„Gefahr, ſogar ihre alten Grenzen zu verlieren. Das Ge-
„hoͤlz auf dem Hofe wird vollends ein Raub. Die Gebaͤude,
R 3„da
[262]Gedanken
„da ſie auf Rechnung gebeſſert werden, verzehren entweder
„die Heuergelder oder fallen in wenigen Jahren zuſammen;
„und durch die vielen einzelnen Ausheurungen werden un-
„ſre eignen Gruͤnde zuletzt ſelbſt herunter ſinken.


„Mit dem Adel iſt es nun leider einmal ſo weit gekom-
„men, daß er ſeine Ehre im Dienſte ſuchen muß. Man
„will heut zu Tage keine Edelleute mehr, die ihren Haus-
„halt fuͤhren und ſelbſt auf den Acker gehen ſollen. Es
„geht auch hier im Stifte gar nicht mehr an, nachdem wir
„unſre Gruͤnde ſo hoch als moͤglich verheuret, unſern Staat
„darnach eingerichtet, und die Erbtheile unſrer Bruͤder und
„Geſchwiſter darnach beſtimmet haben. Wir wuͤrden dieſe
„und andre unſre hierauf gemachte Schulden nicht verzin-
„ſen koͤnnen, wenn wir unſern Acker ſelbſt unternehmen ſoll-
„ten. Denn dabey koͤmmt fuͤr uns, die wir kein Auge,
„keine Hand und keinen Fuß mehr dazu haben, nichts her-
„aus als Schade. Wir muͤſſen alſo durchaus darauf den-
„ken, die Heuer unſrer Aecker und Wieſen nicht ſinken zu
„laſſen; und dies werden wir wahrlich nicht verhindern, wo
„man nicht endlich der Verheurung unſrer mit Leibeignen
„beſetzten Hoͤfe ein vernuͤnftiges Ziel ſetzen, und wenigſtens
„deren Verheuerung an einzelne ſchlechterdings verbieten
„wird.


„Dies kann aber nicht beſſer geſchehen, ſchlieſſen ſie, als
„wenn wir den Glaͤubigern des Leibeignen erlauben, gegen
„ihren Schuldner eben ſo als gegen einen freyen Mann zu
„verfahren, und ſeinen Hof an einen andern verkaufen zu
„laſſen, ſo bald er nicht bezahlen kann. Wir koͤnnen uns
„10 pro Cent zum Weinkaufe von dem neuen Kaͤufer be-
„dingen, und denn moͤgen die Glaͤubiger unſere Hoͤfe ſo oft
„ſubhaſtiren laſſen als es ihnen gefaͤllt, wenn wir nur un-
„ſre Paͤchte und Dienſte behalten. Verfaͤhrt man doch mit
„den
[263]uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum.
„den Lehnen jetzt eben ſo. Und was ſind wir thoͤricht, daß
„wir mit den Glaͤubigern daruͤber koſtbarlich zanken: ob
„ein Leibeigener abgeaͤußert werden ſolle oder nicht? Wenn
„einer von uns nicht bezahlen kann: ſo verkauft man ihm
„ſein Gut uͤber dem Kopfe, und fraget nicht darnach, ob
„er gut oder ſchlecht gewirthſchaftet habe. Genug, daß er
„nicht bezahlen kann; und eben dies, oder doch wenigſtens
„der bloſſe Mangel des Hofgewehrs *), und das daraus
„hervorgehende Unvermoͤgen einer Pachtung vorzuſtehen,
„ſollte genug ſeyn, den Leibeignen vom Hofe zu ſetzen. Un-
„ſere Politik erfordert es mit den Glaͤubigern des Leibeignen
„einerley Intereſſe zu haben. Denn dieſe ſind es die den
„Leibeignen unterſtuͤtzen; und wir erlangen einerley Intereſſe
„mit ihnen, ſo bald wir den Verkauf gegen ſichere Procent-
„gelder zulaſſen. Wir bekommen einen freudigen Paͤchter
„an den Kaͤufer fuͤr den verarmten Quaͤler; und erhalten
„endlich, wenn unſere Leibeignen ſehen, daß ſie nicht feſter
„auf dem Hofe ſitzen als freye Eigenthuͤmer, die oft gerin-
„ger Schulden halben davon ſpringen muͤſſen, ein ſicheres
„Mittel ihrer uͤblen Wirthſchaft Ziel zu ſetzen.


„Es iſt eine große Frage, ob das Grundeigenthum nicht
„mehr ein philoſophiſcher Begriff als eine nuͤtzliche Wahr-
„heit ſey. In der Welt kommt alles auf die Erbnutzung an,
„und die Gruͤnde bleiben da liegen, wo ſie ſeit der Schoͤ-
„pfung gelegen haben. Den Verkauf freyer Guͤter kann
„man ebenfalls eine Abaͤußerung nennen. Ein Beſitzer geht
„davon ab und der andere wieder darauf. Hier nuͤtzen die
„Glaͤubiger das Geld; bey den Leibeignen nuͤtzen ſie den
„Grund; und in der That kommen beyde gleich weit. Die
„Sache bleibt nur in unſern Begriffen unterſchieden; und
R 4„wenn
[264]Gedanken
„wenn wir von dieſem philoſophiſchen Begriffe des Grund-
„eigenthums 10 oder 20 pro Cent ſo oft erhielten, als eine
„zufaͤllige Veraͤnderung mit der Erbnutzung vorgenommen
„wuͤrde: ſo duͤnkt mich koͤnnten wir wohl zufrieden ſeyn,
„und wenigſtens beſſer als jetzt ſtehen.„


Dies ſind die Klagen der Gutsherrn; und man kann
wuͤrklich gerade zu nicht in Abrede ſeyn, daß ſelbige nicht
vollkommen gegruͤndet waͤren. Dennoch aber iſt die Sache
ſo leicht nicht zu heben, wie ſie ſich ſolches vorſtellen:
und es gehoͤret eine muͤhſame Entwickelung verſchiedener Be-
griffe dazu, um auf den rechten Punkt zu kommen. Unſer
Leibeigenthum iſt aus lauter Widerſpruͤchen zuſammengeſetzt.
Es iſt das ſeltſamſte Gemiſche das ſich in der Rechtsgelehr-
ſamkeit findet; und wird durch neuere Begriffe noch immer
mehr und mehr verworren.


Der Gutsherr, ſagt man, hatte ehedem das hoͤchſte
Recht uͤber ſeinen Leibeignen; er konnte ihn toͤdten wenn er
wollte; der Leibeigne ſtellete keine Perſon vor; er hatte
nichts eignes; er war keines Rechts, keines Beſitzes, keiner
Erbnutzung faͤhig. Die Gutsherrliche Willkuͤhr war ſein
Geſetze. Heute muſte er dieſen Acker pfluͤgen, morgen einen
andern. Hatte er Pferde: ſo muſte er ſo weit damit fahren,
als der Gutsherr wollte, nicht woͤchentlich, ſondern taͤglich,
und ſo weit die Pferde ziehen wollten. Wenn der Gutsherr
etwas ſchenkte, verſprach oder bewilligte: ſo konnte er es
morgen wiederrufen. Der Leibeigne konnte gar nicht kla-
gen. Er war echt- und rechtlos, und nichts als das oͤf-
fentliche Mitleid oder die Religion bauete zuerſt eine Saͤule,
bey welcher der Leibeigne gegen eine uͤbertriebene Grauſam-
keit ſeines Herrn Schutz finden konnte. So war der Leib-
eigenthum bey den Roͤmern; ſo ſoll er noch im Mecklen-
burgiſchen und in Liefland ſeyn; und ſo muß er uͤberall nach
rechtlichen Begriffen zuerſt angenommen werden.


Aber
[265]uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum.

Aber nun koͤmmt der Gegenſatz: Dieſer Leibeigne ſaß
oder wohnte in Bezirken, ſo wie er noch jetzt im Mecklen-
burgſchen und Lieflaͤndiſchen darinn wohnt; nicht aber auf
Hoͤfen die zur gemeinen Vertheidigung ohne Mittel gezo-
gen werden, und deren Beſitzer dem Aufgebot der Landes-
obrigkeit folgen muͤſſen. Der Gutsherr iſt dort ſelbſt ſteuer-
bar, wo jene Art von Leibeigenthum eingefuͤhrt iſt. Das
iſt er in Maͤhren und Boͤhmen, in der Laußnitz und in Lief-
land, und das war er auch zu Rom. Dem Buͤrger und
freyen Mann lagen alle oͤffentliche Laſten auf; und dem
Staate war es ſehr gleichguͤltig, ob einer tauſend Zugſcla-
ven oder ſo viel Stuͤck Zugvieh hielt; eins war ſo gut als
das andre.


Vermuthlich iſt die Beſchaffenheit des weſtphaͤliſchen Bo-
dens, der nur lauter Flecke von Lande hat, und mit Heide,
Mohr, Sand und Gebuͤrgen untermiſcht iſt, Schuld daran
geweſen, daß man keine natuͤrliche Bezirke angelegt hat.
Es ſey aber dieſe oder eine andre Urſache: ſo wollen wir
ſetzen, daß anſtatt der viertauſend Hoͤfe woraus unſer Stift
zum Exempel beſtehen mag, fuͤnfhundert adeliche Bezirke
vorhanden waͤren: ſo iſt nichts gewiſſer, als


  • a) daß alle unſre Bauern, eben ſo gut wie im Meck-
    lenburgſchen und anderwaͤrts voͤllig leibeigen, und von der
    Willkuͤhr des Bezirksherrn abhaͤngig ſeyn wuͤrden;
  • b) daß gar keine Beamte, Gowgrafen, Voͤgte und ge-
    meine Bediente vorhanden ſeyn koͤnnten; und
  • c) daß wenn eine Steuer von hunderttauſend Thaler,
    oder eine Kriegsfuhr von zehntauſend Wagen erfordert
    wuͤrde, jene fuͤnfhundert Bezirksherrn fuͤr Haupts zwey-
    hundert Thaler dazu bezahlen und zwanzig wohlbeſpannete
    Wagen ſchicken muͤßten. Dies geht aus der Anlage her-
    vor; und wird durch die Verfaſſung andrer Laͤnder unwi-
    derſprechlich beſtaͤtigt.

R 5Im
[266]Gedanken

Im Stifte Oßnabruͤck befinden wir uns nun aber gerade
im Gegenſatze. Anſtatt jener Bezirke befinden ſich lauter
einzelne Hoͤfe; und wir koͤnnen es ſo wohl nach der Natur,
als nach der Geſchichte voraus ſetzen, daß jeder einzelner
Hof urſpruͤnglich mit einem freyen Eigenthuͤmer beſetzt ge-
weſen.


Es ſey nun geſchehen zu welcher Zeit es wolle; aus
Noth, von einem erwaͤhlten Heerfuͤhrer, oder von einem
Ueberwinder: ſo ſind einmal je zehn und zehn, oder hun-
dert und hundert Bauerhoͤfe in eine Compagnie zuſammen-
geſetzt und einem Hauptmann untergeben worden. Dieſer
Hauptmann hat den Meyerhof zum Eigenthum beſeſſen;
und hat


  • d) alle zu dieſem Hofe gehoͤrige Leute jaͤhrlich, oder ſo
    oft es die Noth erfordert, auf ſeinem Hofe verſammlet. Auf
    dieſem Meyerhofe iſt
  • e) die gemeine Burg geweſen, wohin alle Hofhoͤrige ſich
    mit dem Ihrigen, zur Zeit eines feindlichen Ueberfalls, bege-
    ben haben. Sie haben
  • f) dieſe Burg mit gemeiner Hand erbauet, die Steine
    dazu gefahren, das Dachſtroh dazu geliefert, die Graben
    umher geraͤumet und aufgeeiſet, und kurz alles was wir
    jetzt Burgfeſtendienſte nennen, als gemeine Dienſte dahin
    verrichtet. Da man noch nicht ſchreiben konnte, haben ſie
  • g) um ihr Recht zu dieſer Burg, und ihre Angehoͤrig-
    keit zu beurkunden, dem Hauptmann jaͤhrlich ein Ey, ein
    Huhn oder eine andre Sache geliefert. Sie haben, um ihn
  • h) fuͤr ſeine Muͤhe und Aufſicht zu belohnen, ihm
    zweymal im Jahr bey Graſe und bey Stroh einen Dienſt
    gethan; ihm einen Schutzpfennig gegeben, und es zu ihrer
    Sicherheit auf ſeine Vorſorge ankommen laſſen, welche
    Fremde
    [267]uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum.
    Fremde er aufnehmen und geleiten, oder ausſchaffen und
    wegweiſen wollte. Er war zugleich
  • i) ihr Richter in allen kleinen Zaͤnkereyen, gab demje-
    nigen der an einen andern etwas zu fordern hatte, ſeinen
    Schulzen zur Pfandung mit, und genoß fuͤr dieſe ſeine rich-
    terliche Muͤhe die Bruchfaͤlle, ſo ſie ihm verwilligten. Da
    es ihr allgemeines Beſte erforderte, daß jeder Hof im guten
    Stande mit einem handfeſten Wirth und gutem Spanne
    verſehen war; weil ſonſt bey einem feindlichen Ueberfalle,
    oder bey einem gemeinen Nothwerke die tuͤchtigen fuͤr den
    untuͤchtigen haͤtten dienen muͤſſen: ſo war
  • k) der Hauptmann verpflichtet dafuͤr zu ſorgen, daß
    keiner unter ihnen ſeinen Hof verwuͤſten, ſein Holz ver-
    hauen, ſein Spann verſaͤumen, oder ſich mit Alter und
    Leibesſchwachheit entſchuldigen moͤchte. Nach einer natuͤr-
    lichen Folge ſetzte alſo
  • l) der Hauptmann, ſo bald einer verſtorben und der
    Erbe minderjaͤhrig war, auf ſichere Jahre einen Wirth auf
    den Hof und forderte von ihm gegen die ganze Nutzung
    auch die ganze Vertheydigung; unterſuchte, ob der Erbe,
    wenn er den Hof antreten wollte, handfeſt zum gemeinen
    Dienſt ſey; gieng, wenn einer verſtarb, ins Sterbhaus,
    und ſahe darnach daß das Heergeraͤthe nicht vertheilet und
    verbracht, ſondern bey dem Hofe gelaſſen wurde; und zog
    dafuͤr bey der Einfuͤhrung des Erben eine Erkenntlichkeit,
    welches jetzt die Auffarth oder der Weinkauf genannt wird,
    ſo wie bey dem Sterbfalle, das beſte Pfand oder eine an-
    dre Urkunde.

Dies war ungefehr die aͤlteſte Anlage, welche ſo lange
dauerte als man den Heer- oder wie wir jetzt ſprechen,
den Arrierbann im Felde gebrauchte; und es in Weſtpha-
len ſo gehalten wurde, wie es unter den Croaten und Pan-
duren,
[268]Gedanken
duren, die noch jetzt von ihren Hoͤfen zu Felde dienen, ge-
halten wird.


Der Heerbann wich dem Lehndienſt, ſo wie der Lehn-
mann den heutigen geworbenen weichen muͤſſen. Jener be-
ſtand aus Leuten, die nur zu gemeiner Noth dienten; der
Lehnmann folgte auch nicht jedem Wink, und ſo war es
fuͤr große Herrn beſſer geworbene zu haben, die alle ihre
Abſichten bereitwillig erfuͤllen. Die Folge der letzten Ver-
aͤnderung ſehen wir noch. Sie iſt dieſe, daß der Lehnmann
ſeine Guͤter verpachtet und Dienſte nimmt. Eben das er-
folgte bey der erſten Veraͤnderung auch. Der Hauptmann
verachtete ſeine Landcompagnie und die Eigenthuͤmer gien-
gen vom Hofe und nahmen Lehn. Erſter ſetzte einen Meyer
oder Schulzen auf dem Meyerhof; und dieſe uͤberlieſſen ih-
ren Pflug einem Aftermann, beyde mit Vorbehalt ſicherer
Dienſte und Paͤchte. Die Eigenthuͤmer, ſo noch zuruͤck
blieben, wurden immer mehr geplagt, gedruͤckt und ver-
achtet, ſo daß ſie, wenn ſie auf dem Hofe blieben und Schutz
und Beyſtand haben wollten, ſich dem Biſchoffe und an-
dern maͤchtigen Herrn auf gewiſſe Bedingungen uͤbergeben,
oder empfehlen, und ihre Hoͤfe von dieſen zur Precarie oder
zum Leibzuchtsgenuß wieder annehmen mußten.


Wie ſolchergeſtalt nach und nach alle Eigenthuͤmer aus
der Landcompagnie traten und ihre Guͤter andern uͤberließen,
kam die Frage natuͤrlicher Weiſe vor: Ob ſie ſolche verpach-
ten, oder gegen einen Erbzins verleihen, Leibeigne oder
Freye darauf ſetzen, ein Meyerrecht oder Landſiedelrecht
ſtiften, und uͤberhaupt, ob ſie dieſen oder jenen Contrakt
mit ihren Afterleuten errichten wollten? Dem erſten An-
ſchein nach ſtanden ihnen alle dieſe Contrakte frey. Allein
eben ſo wie jetzt der ſpaniſche Oberfiſcal Campomanes for-
dert, daß alle ſchatztragende Gruͤnde im Koͤnigreich nicht
durch
[269]uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum.
durch Geſinde, Heuerleute, Leibeigne und ſolche Menſchen
beſtellet ſeyn ſollen, welche zur Zeit der Werbung nicht frey
und ohne Widerſpruch eines Halsherrn aufgefordert werden
koͤnnen: eben ſo forderte damals die gemeine Reichs- und
Landeswohlfart, und fordert es noch jetzt, daß die Hoͤfe
beſetzt, nicht aber verheuert oder auf eine ſolche Art aus-
gethan ſeyn ſollten, wodurch der Staat einen aͤchten Unter-
thanen verlieret. Wo Bezirke eingefuͤhret ſind, wendet
ſich der Staat an den Bezirksherrn, und fordert von ihm
eine Recrutenſtellung. Wo aber keine Bezirke ſind, und
der Staat ſich an jeden Hof ohne Mittel haͤlt, fordert er
den Mann vom Hofe, und duldet es nicht, daß ihm dieſer
durch Verbindungen vorenthalten werde, oder zur Zeit der
Noth als ein fluͤchtiger Heuerling zum Lande hinaus gehen
koͤnne.


Es iſt ein zwar ſcheinbarer aber doch im Grunde unrich-
tiger Schluß, daß unſre heutigen Bauern anfaͤnglich ins-
gemein Heuerleute oder Paͤchter geweſen; und ihre Heuern
oder Pachtungen mit der Zeit erblich geworden ſeyn. Von
einem Heuermann hat nie gefordert werden koͤnnen, daß er
zur Vertheidigung des Staats ſein Leben aufopfre; dieſe
Aufopferung geht einzig und allein aus dem Eigenthum,
welches einer im Staate beſitzt, hervor. Blos die Noth
kann es rechtfertigen, daß ein Heuermann mit Gewalt zum
Recruten ausgenommen werde. Denn da er alles was er
im Lande beſitzt, baar bezahlt: ſo hat er kein Eigenthum
zu verſteuern oder mit ſeinem Leibe zu vertheidigen. Kein
Buͤrger, kein Markkoͤtter, und uͤberhaupt niemand, der
nicht ſo viel als einen vollen Hof zum Eigenthum beſitzt,
braucht ſein ganzes Leben dem Staate aufzuopfern. Zwey
Halbhoͤfe, vier Viertelhoͤfe und acht Markkoͤtter ſind dem
Staate im Verhaͤltniß mit jenem, nur ein Leben oder einen
Mann zum Heerbann zu ſtellen ſchuldig; und der Heuer-
mann
[270]Gedanken
mann kann hoͤchſtens zum Sechzehntelmann angeſchlagen
werden. Die Folge, welche hieraus hervorgehet, iſt dieſe,
aß kein Heuermann oder Paͤchter der Regel nach jemals
hat auf einen Hof geſetzt werden koͤnnen.


Vielmehr iſt jeder Hof im Staate eine mit dem Dienſte
der gemeinen Vertheidigung behaftete Pfruͤnde, welche der
Eigenthuͤmer, als er davon gezogen, einem Vicar auf Le-
benszeit
conferirt; und dieſer mit der Zeit und aus oͤkonomi-
ſchen Gruͤnden auf ſein Gebluͤt vererbet hat. Ein gleiches
wuͤrde ſich mit allen geiſtlichen Pfruͤnden zugetragen haben,
wenn nicht zu der Zeit, als der geiſtliche Dienſt mit einer
Pfruͤnde (officium cum beneficio) verknuͤpft wurde, die
Kirche weislich zugetreten, und dem Geiſtlichen nicht allein
das Heyrathen verboten, ſondern auch die Kinder, welche
er vorher gezeugt, von aller Folge an der Pfruͤnde ausge-
ſchloſſen haͤtte.


Vielleicht, wird man ſagen, haͤtte es ſolchergeſtalt doch
dem Eigenthuͤmer als Patron frey geſtanden, ſeinen Hof
einem Leibeignen zu conferiren, und dieſen dem Heerbanns-
Hauptmann an ſeine Stelle darzuſtellen. Ich antworte
hierauf ja und nein, und will dieſes ſogleich naͤher erlaͤutern.


Schon zu der Carolinger Zeit konnten zwoͤlf Manſi da-
mit frey kommen, daß ſie anſtatt zwoͤlf Mann ins Feld zu
bringen, einen geharniſchten ſtelleten a). Die Folge davon
iſt, daß ein Eigenthuͤmer von zwoͤlf Actien, oder zwoͤlf
Naͤgeln, wie man im Bremiſchen ſpricht, (wo der Beſitzer
von zwoͤlf Naͤgeln eine Stimme in der Directionscompagnie
hat, oder zu Landtage gehet) eilf Manſos zur todten Hand
bringen, das iſt, mit Leibeignen beſetzen, und ſie mit ſeinem
Harniſche in der Heerbannsreihe vertreten konnte. Solche
eilf
[271]uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum.
eilf Manſi fielen alſo aus der Liſte des Reichshauptmanns
ganz weg; es brauchte ihm davon keiner praͤſentirt zu wer-
den; und da die Geharniſchten ihre eigne Compagnie aus-
machten, mithin dem Aufbote des Hauptmanns entgiengen:
ſo hatte er ſich um dieſe gar nicht mehr zu bekuͤmmern. Die
eilf Manſi konnten alſo nach Gefallen beſetzt werden; dies
geſchahe vielfaͤltig mit Leibeignen; und daher entſtand ver-
muthlich der noch jetzt ſogenannte Leibeigenthum nach
Ritterrechte.


Ganz anders verhielt es ſich mit denen Hoͤfen, die nicht
durch geharniſchte außerhalb des Hauptmannscompagnie
vertreten oder verdienet wurden. Dieſe blieben in der Rolle;
und der Eigenthuͤmer, wie er davon zog, muſte dem Haupt-
mann einen tuͤchtigen Mann praͤſentiren, der kein Leibeigner
ſeyn durfte, weil er im Heerbann mit ausziehen und folg-
lich ein Eigenthum zu verfechten haben mußte Dies gab
in der Folge Gelegenheit zu unſerm Eigenthum nach Ha-
ves-
oder, wie wir es zuſammen ziehen, Hausgenoſſen-
rechte;
und wir finden hierinn ſofort den Grund, warum
ſich im Hausgenoſſenrechte eine Heergewedde, worunter
Stiefel und Sporn, im Leibeigenthum nach Ritterrechte hin-
gegen dergleichen nicht, befindet. Denn das Heergewedde
der letztern ſteckt in dem Harniſche, wodurch zwoͤlf Manſi
diſpenſiret waren, ein eigenes Heergewedde zu haben. Un-
fehlbar liegt auch hierinn der Grund, warum die Leibeig-
nen nach Ritterrecht kein Hofgewehr, und alle unſre alten
Landesordnungen niemals eines Hofgewehrs bey Leibeignen
gedacht haben; da es doch hingegen im Hausgenoſſenrechte
und in allen Laͤndern bekannt iſt, wo die Ackerhoͤfe nicht
mit Leibeignen beſetzt ſind. Denn das Hofgewehr iſt dieje-
nige geheiligte Ruͤſtung, womit jeder Unterthan zum ge-
meinen Dienſt allezeit in dienſt- und marſchfertigem Stande
ſeyn muß, und wovon kein Stuͤck fehlen darf. Wo der
Pflug
[272]Gedanken
Pflug fehlt, da kann der Acker nicht gebauet werden; wo
der Acker nicht gebauet werden kann, da fehlen die Pferde;
und wo dieſe fehlen, da muß, wenn es zum Dienſte koͤmmt,
ein Nachbar des andern Laſt tragen. Es fordert alſo die
Wohlfart aller Mitpflichtigen, oder der Staat, ein voll-
kommenes und wider alle Angriffe, ſelbſt gegen die Beerb-
theilung, geſichertes Hofgewehr. Dies konnte er aber da
nicht fordern, wo mit dem Harniſch der ganze gemeine
Dienſt erfuͤllet wurde. Es hindert dagegen nicht, daß wir
in den ſpaͤtern Zeiten, nachdem ſich die Art zu kriegen ver-
aͤndert, andre Grundſaͤtze angenommen haben; und man,
ehe funfzig Jahr voruͤber gehen, dem Leibeignen von hoher
Landesobrigkeitswegen, ebenfalls e[in] Hofgewehr wird zule-
gen und heiligen muͤſſen. Ich rede jetzt nur von den aͤltern
Zeiten, und dieſe werden genug gerechtfertiget, wenn die
neuern nach fuͤnfhundert Jahren zu den alten Grundſaͤtzen
wieder zuruͤckkehren muͤſſen.


Mit Recht wird man aber hier einwerfen, daß diejeni-
gen Leute, welche die Eigenthuͤmer ſolchergeſtalt an ihre
Stelle ſetzten, keine freye Leute geweſen, oder bleiben koͤn-
nen. Die Ehre, welche nach dem alten Coſtume das voll-
kommene Eigenthum an unſrer Perſon und unſern Guͤtern,
und ſolchergeſtalt das Reſultat des Eigenthums ſelbſt iſt,
jetzt aber in unſrer niedertraͤchtiger gewordenen Sprache
Freyheita) genannt wird, konnte damit gar nicht beſtehen;
und ſchwerlich bequemte ſich ein freyer oder ehrenhafter
Mann, eines andern Zinnsmann oder Paͤchter zu werden;
oder wenn er es that: ſo ward er nicht viel beſſer als ein
Leib-
[273]uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum.
Leibeigner. Aber hier muͤſſen wir erſt die alte ſaͤchſiſche Ver-
faſſung naͤher betrachten.


Es iſt unglaublich, aber ein aufmerkſamer Leſer der deut-
ſchen Geſetze fuͤhlet es, wie ſehr der menſchliche Verſtand
gearbeitet habe, dieſe Sachen zu ordnen, ehe und bevor
man Unterthanen im heutigen Verſtande oder eine Hoheit
erfunden hat, die ſich auf den Boden des Landes und nicht
mehr auf die Koͤpfe der Eingeſeſſenen bezieht. Indeſſen ha-
ben es die Sachſen a) hierinn allen Nationen und ſelbſt
den Roͤmern zuvorgethan, daß ſie eine Art von Menſchen
erfunden haben, die zweydrittel Leibeigen und eindrittel Frey
ſeyn ſollten b). Sie hieſſen ſolche Litos und Litones, wo-
von die heutige Benennung von Leuten ihren Urſprung hat.
Man kann ſich ſchwerlich eine feinere Theorie gedenken.
Denn der Mann der ein drittel Freyheit hat, iſt doch nun-
mehr im Stande einen Contrakt zu ſchlieſſen; etwas Echt-
und Recht zu haben, fuͤr ein drittel Eigenthum c) zu be-
ſitzen, und ſolchergeſtalt auch fuͤr ein drittel ein Mitglied
des Staats zu ſeyn. Er hat zugleich ſeinen ganzen Leib ge-
gen die Willkuͤhr ſeines Herrn geſichert, weil man nicht auf
zwey drittel geſchlagen werden kann, ohne daß nicht das
dritte
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. S
[274]Gedanken
dritte Drittel, woruͤber der Herr nichts zu ſagen hat, mit
darunter leide. Auf der andern Seite aber konnte er auch
ſeinem Herrn nicht entlaufen, ihm ſeine Kinder ohne Frey-
brief nicht entziehen, und ſich ſonſt einer vollkommenen
Freyheit bedienen, wohingegen der Leibeigne nach der Theo-
rie ſeinem Herrn mit Gut und Blut unterworfen iſt. Das
peculium Servorum in Anſehung deſſen die roͤmiſchen Knech-
te contrahiren konnten, iſt lange ſo ſyſtematiſch und har-
moniſch nicht.


Dieſe Art von Knechtſchaft, welche hernach auch in der
Lehnsverfaſſung gebraucht wurde, und wie es ſcheinet, auch
noch dieſen feinen Vortheil a) hatte, daß ſie Ehre und Frey-
heit nicht peremtoriſch aufhob, wie der Leibeigenthum thut;
indem derjenige, der einmal Leibeigen geworden, durch die
Freylaſſung nicht wieder zu ſeiner vorigen Ehre gelangt;
anſtatt daß einer der Leut wird, als Freygelaſſener in ſein
voriges Recht trat: war es, welche die Sachſen bey Ver-
leihung ihrer Hoͤfe und Erbe vorzuͤglich in Betracht zogen,
und ſie iſt auch vielleicht die einzige, welche faſt allen Ab-
ſichten ein Genuͤgen thut, indem ein ſolcher Knecht einiges
Eigenthum im Staate zu vertheidigen hat, und kein fluͤch-
tiger Heuermann iſt, der zur Zeit der Noth den Spaden in
den Deich ſteckt und das Waſſer einbrechen laͤßt.


Jedoch wir muͤſſen nach allen dieſen Ausſchweifungen
endlich zur Eroͤrterung der anfaͤnglichen Frage, welche dar-
inn beſtand: ob nicht ein Gutsherr am beſten thaͤte, ſeine
Hoͤfe mit Vorbehalt Gutsherrlicher Paͤchte und Dienſte ge-
gen
[275]uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum.
gen ſichere Procentgelder verkaufen zu laſſen, ſo oft deren
Beſitzer ſich Schulden halber darauf nicht mehr erhalten
koͤnnen? zuruͤckkehren.


Den Rechten nach iſt hiebey kein Zweifel, indem mit
der Gnade
a) des Hauptmanns, des Schutzherrn und des
Gutsherrn alle dienſibare Gruͤnde, ſie ſeyn nun mit b)
Voll- oder Halb- oder Drittelfreyen oder Leibeignen beſetzt,
gar wohl verkaufet werden koͤnnen. Man kann auch kei-
nen Grund angeben, warum nicht das Erbrecht des Bauers
an dem Hofe eben ſo gut als das Erbrecht einer Familie
an einer Pfruͤnde zum Verkauf gezogen werden kann; in-
dem ſolches allemal mit der Clauſul, daß die Gruͤnde in ih-
rer Verpflichtung und Verbindung bleiben, und die Kaͤu-
fer faͤhig und willig zu allen erforderlichen Dienſten ſeyn
ſollen, geſchehen kann. Allein die Hauptſache iſt, daß der
Gutsherr bey einer ſolchen Zulaſſung die Auffahrts- oder
Weinkaufsgelder ſo wie die Freybriefe auf ein ſichers wuͤrde
ſetzen, und hiernaͤchſt auch den Sterbfall, wenigſtens nicht
anders als nach Hofrechte, das iſt blos von ſichern vorge-
ſchriebenen Stuͤcken wuͤrde ziehen koͤnnen, indem ſchwerlich
ein Kaͤufer ſich ohne alle Bedingung der Willkuͤhr eines
Gutsherrn uͤbergeben wuͤrde.


Geſchaͤhe nun dieſes: ſo erhielte der Gutsherr ein ſichers
und der Kaͤufer ebenfalls ein ſichers gleichſam zu ſeinem
wohlerworbenem Eigenthume; und weil ſolchergeſtalt ein
rechtsbeſtaͤndiger Contrakt zwiſchen dem Gutsherrn und ſei-
S 2nen
[276]Gedanken
nen Leibeignen entſtuͤnde: ſo verwandelte ſich der letzte we-
nigſtens in jenen alten ſaͤchſiſchen zweydrittel Knecht, und
es entſtuͤnde ein ganz neues Amalgama von Freyheit und
Eigenthum, worauf auch ein ganz neues Recht wuͤrde ge-
wieſen werden muͤſſen.


Jedoch dieſes iſt das wenigſte. Die Repraͤſentation der
Eigenthuͤmer bey allen Steuerbewilligungen, welche der
Geiſt der nordiſchen Verfaſſung und das erſte Geſetz der
Vernunft iſt, fiele ganz uͤber den Haufen. Die Gutsherrn
hoͤrten nicht allein auf Repraͤſentanten des ganzen zu ſeyn;
ſondern der Theil, oder dasjenige ſichere, was der Kaͤufer
erhielte, bliebe ſolchergeſtalt der einzige Gegenſtand der
Steuer, und das nicht unter ihrer eignen ſondern unter
einer fremden Bewilligung.


Gegenwaͤrtig muß der Gutsherr bey jeder neuen Steuer-
bewilligung, bey jedem neuen Bruͤchten denken, daß alles
was der ſchatzbare Leibeigne auf die eine oder andre Art
entrichten muß, auf ſichere Weiſe ihm ſelbſt entgehe. Dies
macht ihn vorſichtig in ſeinen Bewilligungen; aufmerkſam
auf die Bruͤchtenſatzungen; und geneigt, ſeinen Leibeignen
zu helfen, ihn zu ſchuͤtzen und zu vertheidigen.


Diejenigen Eigenthuͤmer, welche zuerſt unter einem
Hauptmann zuſammen traten, wuſten von keinen Steuren,
indem ihre Steuer im Heer- und im Burgfeſtendienſt, und
in dem feſtſtehenden Unterhalte des Hauptmanns beſtand.
Die Bruchfaͤlle bewilligten ſie ſelbſt; ſie repraͤſentirten ihr
Eigenthum zu Hauſe; und der Hauptmann repraͤſentirte ſie
in der Landesverſammlung. Der Lito oder zweydrittel-
Knecht war ebenfalls genug gedeckt, da er ſein bewilligtes
Hofrecht, und ſeine Hofverſammlung hatte, und in derſel-
ben von ſeinem Drittel Freyheit eine Perſon vorſtellete. Er
war
[277]uͤber den weſtphaͤliſchen Leibeigenthum.
war ſo weit von jenem nicht unterſchieden; nur daß er wie
unſer heutiger Soldat fuͤr ſeinen Leib gebunden war. Bey-
de waren alſo nach damaliger Art ihres Eigenthums halber
geſichert, und bey den damaligen gemeinen Anſtalten
genugſam repraͤſentirt. Allein dies wuͤrde der Leibeigne,
mit dem der Gutsherr ſich gleichſam voͤllig abfindet,
nicht ſeyn. Dieſer wuͤrde das Seinige von ihm fordern
und nehmen, und ihn fuͤr das uͤbrige ohne alle Repraͤ-
ſentation laſſen.


Noch eine Hauptſache iſt der Luxus, welchem ſich der
Leibeigne aus politiſchen Urſachen nicht uͤberlaͤßt, aus Bey-
ſorge, die Weinkaufs- und andre Gelder moͤgten ihm nach
der ſcheinbaren Groͤſſe, die er ſich in Kleidungen und ſonſt
geben wuͤrde, zugemeſſen werden. Er iſt alſo wider die
ſtaͤrkſte von allen Verſuchungen, nemlich den Ehrgeiz eini-
germaſſen gedeckt; und auch dieſem wuͤrde er ausgeſetzt wer-
den, wenn der Gutsherr nur ein gewiſſes erhielte.


Mehrere Gruͤnde koͤnnen wir hier nicht anfuͤhren.
Vielleicht lieſſen ſich auch noch ſehr ſtarke Gruͤnde fuͤr die
gegenſeitige Meinung entdecken, wenn man von einer Ma-
terie alles ſagen wollte, was davon geſagt werden
koͤnnte.



LXI.
[278]Nichts iſt ſchaͤdlicher

LXI.
Nichts iſt ſchaͤdlicher als die uͤberhandneh-
mende Ausheurung der Bauerhoͤfe.


Ich habe mich in meinen Gedanken mehrmalen ins kuͤnf-
tige Jahrhundert verſetzt, und mich in die Verſamm-
lungen unſrer Urenkel begeben, um zu hoͤren, woruͤber ſie
ſich am mehrſten beſchwerten, und was manche Sache nach
ihrem jetzigen Laufe fuͤr ein Ziel erreichet haͤtte. Das erſte,
was ich hoͤrete, war dieſes:


„Es iſt unbegreiflich, warum unſre Vorfahren die Ho-
fesbeſatzung ſo ſehr vernachlaͤßiget, und den Grund zu dem
verwuͤnſchten Heuerweſen gelegt haben. Anſtatt unſre
Paͤchte zu bekommen, werden wir durch Rechnungen ge-
pluͤndert. Da hat die Kriegesfuhr ſo vieles gekoſtet; hier
hat der Reuter ſo viel verfreſſen; das haben die Lieferungen
weggenommen; jenes die feindlichen Erpreſſungen oder die
Gerichtskoſten. Nun ſind die Haͤuſer eingefallen; die
Heuerleute haben zum Theil das Holz geſtohlen, zum Theil
aber nicht wieder nachgepflanzt; wo ſoll man die Koſten
hernehmen? Eine zehnjaͤhrige Aufopferung unſerer Paͤchte
verſchlaͤgt nichts; und wenn man einen Hof zur Erbpacht
austhun will, ſo iſt niemand, der ihn annehmen mag.
Den mehrſten fehlt es an Mitteln, einen Hof, worauf die
Gebaͤude den Einſturz drohen, und deſſen Aecker mit ſtar-
ker Hand angegriffen werden muͤſſen, anzufaſſen; und die-
jenigen, ſo es wohl thun koͤnnten, wollen ſich theils unſe-
rer Willkuͤhr nicht unterwerfen; theils aber finden ſie ſich
beſſer dabey, wenn ſie die Laͤndereyen zur Heuer nutzen und
uns die Laſten tragen laſſen. Die Gerichte und die Voͤgte
ſind faſt die einzigen Herrn unſerer Hoͤfe. Jene ſchuͤtzen
den
[279]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
den Heuermann, der nicht weichen will, bevor ihm ſeine
ganze Beſſerung bezahlet worden; und dieſer pfaͤndet im-
mer darauf los, ohne fuͤr unſre Paͤchte etwas uͤbrig zu
laſſen. Wo noch ein armer Eigenbehoͤriger iſt: da hat er ſo
viel Geſchwiſter von ſeinem Vater und Großvater, die ihre
Kindestheile von ihm fordern, daß er ſich gar nicht mehr
retten kann *). Kurz, wir muͤſſen darauf denken, entwe-
der die Verfaſſung ſo wie ſolche vor dreyhundert Jahren
war, wieder einzufuͤhren, oder dem Heuerweſen eine ganz
andre Form geben.


Das erſte wird ſchwer halten, bemerkte ein Moraliſt,
die ganze Nation iſt leichtfertig und fluͤchtig geworden. Es
iſt keiner mehr, der es fuͤhlt, was es ſey ein vaͤterliches
Erbe mit eignen Pferden
zu bauen. Der Heuerling zieht
von einem Erbe aufs andre, ohne einen zaͤrtlichen Blick
nach dem Verlaſſenen zu werfen. Jeder ſieht ſeine Woh-
nung als eine Herberge an, und denkt nicht an denjenigen,
der nach ihm koͤmmt. Ueberall fehlt die Liebe zu dem ge-
heuerten Grunde; mit ihr die Sorge fuͤr eine Nachkom-
menſchaft; und mit dieſer der edle Trieb zur dauerhaften
Verbeſſerung. Man rupft von den Hoͤfen was man kann,
und denkt: wann die Heuerjahre um ſind, ſo moͤgen Di-
ſteln und Dornen den Grund bedecken. Ich habe neulich
meinen Leibeignen abaͤuſſern muͤſſen. Himmel! wie quaͤlte
mich der Mann, ihn auf dem Hofe zu laſſen; er weinete
und heulete nicht anders, als wenn er Frau und Kinder
verlieren ſollte; ich mußte ihn mit Gewalt aus dem Hauſe
S 4fuͤh-
[280]Nichts iſt ſchaͤdlicher
fuͤhren laſſen. Nun, dachte ich, zu einer ſolchen Staͤtte,
die ſo ungern verlaſſen wird, ſollen ſich gewiß tauſend Lieb-
haber finden. Aber es fand ſich ſchlechterdings kein ein-
ziger. Die Liebe des Gebluͤts zu dem elterlichen Gute iſt
eine edle Leidenſchaft, aber unſre Vorfahren haben nicht
daran gedacht, ſie zu unterhalten. Sie haben ihre eignen
Guͤter zu Stamm- und Fideicommißgůtern gemacht, aber
die Fideicommiſſe des Staats zu Grunde gehen laſſen. Sie
haben ſich der Verſchuldung der Hoͤfe nicht kraͤftig genug
widerſetzt; ſie haben ſolche vielmehr durch ſchwere Auslo-
bungen beguͤnſtiget; ſie haben der Willkuͤhr von einigen
kein genugſames Ziel geſetzet, und nun muß der beſte gleich
dem ſchlechteſten darunter leiden. Vordem ſuchten die reich-
ſten Heuerleute Leibeigne zu werden, um nur auf einen
Hof zu kommen. Jetzt, da ſie ganze Hoͤfe zur Miethe er-
langen koͤnnen, finden ſie ihre Rechnung weit beſſer, wenn
ſie ſich zur Heuer ſetzen, und uns am Ende des Jahrs mit
Rechnungen bezahlen.


Wir thun wahrlich unrecht, verſetzte ein Alter, daß
wir uns uͤber unſre Vorfahren beſchweren; da wir ſelbſt
den Mißbraͤuchen kein Ziel ſetzen. Ich habe einen Hof,
wovon 9 Kinder auszuſteuren ſind: jedes erhaͤlt jaͤhrlich
den ganzen Ueberſchuß des Erbes, und dieſe Abgift wird
noch zwey und zwanzig Jahr waͤhren. Immittelſt iſt mei-
nem Bauren ſein beſtes Pferd gefallen; und er hat daher,
weil er ſich ein anders anſchaffen muͤſſen, in dieſem Jahre
den Ueberſchuß wie gewoͤhnlich nicht abliefern koͤnnen. Was
meynen Sie, daß der Richter gethan? Er hat ihm zwey
Pferde pfaͤnden und ſolche verkaufen laſſen, um den Ueber-
ſchuß zu ermaͤchtigen. Herr! ſagte ich zu ihm, und faßte
ihn beym Knopf, der Henker pfaͤnde ihm das Herz aus
dem Leibe, und dann gehe Er und richte. Er ſchwur
mir
[281]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
mir aber zu, daß er die beyden Pferde mit Rechta) ge-
nommen.


Ich fuͤhre vor eben dieſem Richter zween Proceſſe. In
dem einen fordert mein Leibeigner von ſeinen Geſchwiſtern,
die ihre Auslobung bey ſeines Vaters Leben erhalten ha-
ben, daß ſie ihm von dem empfangenen wieder zu Huͤlfe
kommen ſollen, nachdem der Vater nach der Auslobung
durch Ungluͤcksfaͤlle zuruͤckgekommen, und ſeinem Anerben
einen Hof verlaſſen hat, wovon nach Abzug der Abgiften
und Zinſen gar nichts uͤberſchießt; allein der Richter ſagt
mir: Mein Leibeigner werde mit Recht verlieren. In dem
andern fordern die Geſchwiſter eine verbeſſerte Auslobung,
nachdem der Vater reicher verſtorben, wie er bey der Aus-
lobung war; und der Richter ſagt mir: Auch dieſen wuͤrde
er mit Recht verlieren. Nun moͤchte ich gern noch einen
dritten anfangen. Einer von meinen Leibeignen der eine
reiche Erbſchaft aus Holland gethan, iſt damit auf die Leib-
zncht gezogen, und wird alles was er hat, heimlich den
abgehenden Kindern zuwenden. Immittelſt wollen dieſe
von dem Hofe ausgelobet ſeyn, und der Anerbe wird ihnen
ihren Erbtheil bey lebendigem Leibe der Eltern nach Ver-
haͤltniß des Hofes auszahlen muͤſſen. Sollte ich dieſes
nicht verhindern moͤgen? Allein ich ſcheue die Proceſſe; und
mein Leibeigner hat auch kein Geld dazu, weil ihm nur fuͤr
die ordentlichen Bauerlaſten bey der Theilung etwas weni-
ges zu gute gerechnet worden, und der Richter ſagt aber-
mal: Er koͤnnte verlieren, denn die Auslobung waͤre nach
unſerm Rechte heute Brautſchatz und morgen Erbſchaft.
Wo will das aber hinaus? und iſt es moͤglich, daß ſich
S 5ein
[282]Nichts iſt ſchaͤdlicher
ein Menſch auf einen Hof ſetzen kann, wenn er auf dieſe
Art gezerret wird? Wird ſich alſo unſre ganze Verfaſſung
nicht endlich voͤllig in das verderbliche Heuerweſen aufloͤſen?


Das hat ſie ſchon gethan, ſchloß ein andrer. In dem
Kirchſpiel, worinn ich wohne, ſind nur noch zwey beſetzte
Hoͤfe uͤbrig. Wenn gefahren werden muß: ſo faͤllt dieſen
alles zur Laſt. Die uͤbrigen Hoͤfe ſind alle ausgeheuret,
und mit kleinen Quaͤlern beſetzt, die ihren Acker nicht be-
ſtellen, ſondern nur umkratzen. Der Duͤnger fehlt ihnen,
da ſie keine rechte Spannung halten; das Korn, das ſie zie-
hen, iſt um eine Spanne kuͤrzer und unterſcheidet ſich durch
ſein elendes Anſehen unter allen. Der Abfall im Stroh
und Korn iſt uͤber ein Drittel gegen die Zeiten meiner Ju-
gend; und ich erinnere mich, wie wir vor zehn Jahren eine
ſchwere Theurung hatten, und Korn von Bremen geholet
werden ſollte, daß von den Pferden der Heuerleute kein ein-
ziges eine Meile gehen konnte. Auf dieſe Weiſe muͤſſen die
wenigen ſo noch gut ſtehen, und worauf man zur Zeit der
Noth doch greifen muß, nothwendig zu Grunde gehen, ſie
moͤgen ſich auch noch ſo lange wehren. Die Obrigkeit ſollte
darauf halten, daß jeder Hof nach Landſittlichem Gebrauch
beſetzet werden muͤßte; und dann auch den Beſitzer ſchuͤtzen,
daß ihm ſein Vieh und Feldgeraͤthe nicht gepfaͤndet werden
koͤnnte.


Hurry! Murry! unterbrach ſie hier ein Officier. Wenn
meine Soldaten ihren Tornuͤſter verſetzet haben: ſo laſſe ich
ihnen das Gewehr verkaufen, damit man ihre Tornuͤſter
wieder einloͤſen koͤnne; und gehts denn zum Marſch, Puf
ſo nimmt jeder einen Stecken in die Hand. Das iſt die
ganze Geſchichte eurer Heuerleute. Wenn der Kerl ein
Pferd ſchuldig iſt: ſo pfaͤndet ihm der Richter zur Bezah-
lung zween, und ihr guten Leute ſehet nicht ein, daß der
Hof
[283]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
Hof mit ſeinem Gewehre den der Leibeigne unterhat, die
Loͤhnung des Staats iſt, welche vermoͤge der urſpruͤngli-
chen Verbindung gegen allen Angriff geheiliget ſeyn muß.
Wenn meine Soldaten von ihrem Gewehr und ihrem Tor-
nuͤſter ihren Kindern nach dem Werth derſelben etwas aus-
kehren muͤßten: ſo werden dieſe zwar wenig erhalten, die
Vaͤter aber wahrhaftig mit Stecken zu Felde ziehen. Mit
dem Trommelſchlag bezahlen wir alles; und das muͤßten
eure Leibeignen auch thun.


Es iſt wahrlich keine Sache, woruͤber man ſpotten
ſollte, fieng hier der Moraliſt wieder an. Iſt es gleich
traurig und erſchrecklich, einem Landmanne zur Bezahlung
einiger Kuͤhe, ſein beſtes Pferd; zur Bezahlung eines an-
dern Pferdes ſeine Kornfruͤchte, und zur Bezahlung neuer
Kornfruͤchte Wagen und Pflug zu pfaͤnden, und zur Be-
friedigung des Wagenmachers wieder bey den Kuͤhen anzu-
fangen; mithin ihn in dieſem landverderblichen Spiele, wo-
bey zuletzt alles mit Cartengeldern fuͤr die Bediente aufgeht,
herumzujagen: ſo liegen doch die groſſen Mittel, wodurch
dieſen Uebeln abgeholfen werden koͤnnte, ſo tief in dem Ge-
birge, daß eine Art von Wunderwerk geſchehen, und die
groſſe Kaiſerin aller Reuſſen, Catharina die Andre, dieſe
weiſe und maͤchtige Geſetzgeberinn des vorigen Jahrhunderts,
aus der Erde wiederum aufſtehen muͤſte, um ſie heraufzu-
bringen, und vom rohen Geſtein zu ſaͤubern. Unſre aͤlte-
ſten Vorfahren, um ſich kurz zu helfen, ſchnitten den roͤmi-
ſchen Richtern und Advocaten die Zungen aus, und ich ſtelle
mir die wilden Fleiſcher mit der Zunge in der Hand noch
oftmals vor, wie ſie ſprachen:
Verdammt ſeyn alle geſchriebene Geſetze und ihre
Ausleger! Hervor du alter Druide, und halte deinen
Richterſt ab in die Hoͤhe; verſammle zu dir zwoͤlf, und
wenn
[284]Nichts iſt ſchaͤdlicher
wenn die Sache wichtig iſt, vier und zwanzig ehrliche
Maͤnner aus unſerm Mittel! Was dieſe fuͤr das ge-
meine Beſte gut und billig finden, das kann und ſoll
uns ein Recht ſeyn! Wer dann leidet, der leide als
durch Gottes Gericht. Allein andern Rechtſprechern
aber thue man, wie ich dieſem Roͤmer gethan!


So ſprachen ſie ohne Zweifel, und wann wir nach dieſem
Vorgange erſtlich alle Rechtsgelehrten, es ſey nun als ſo
viel Ariſtides, oder als ſo viel Verraͤther aus dem Lande
verbanneten, und hiernaͤchſt die Auslobungen der Kinder
durch drey oder fuͤnf ehrliche Vaͤter erkennen lieſſen; wenn
wir ferner jaͤhrlich in jedem Kirchſpiele einen Aeuſſertag
hielten, und auf demſelben durch drey Gutsherrn und durch
drey der aͤlteſten Gemeinen, unter dem Vorſitze eines von
beyden Theilen erwaͤhlten oder vorgeſetzten Obmanns, ge-
gen alle ſchlechte Wirthe ein Urtheil ohne Gnade finden
lieſſen; wenn bey dieſen Aeuſſertagen alle Schulden, die
einer im Jahre gemacht, angezeigt, gepruͤft und nach einer
Vorſchrift wieder bezahlt werden muͤſten; wenn endlich je-
desmal, wie ſolches geſchehen, bey dem naͤchſten Aeuſſer-
tage beſcheiniget, und ſonſt weder Schuld noch Pfandung
geſtattet wuͤrde: ſo ſollten unſere Hoͤfe gewiß nicht mit
Heuerleuten, ſondern mit guten tapfern Wirthen beſetzt
ſeyn. Allein wir wollen alles mit Verordnungen zwingen,
und dieſe beſſer machen als Gott ſein Wort, uͤber deſſen
Sinn die verſchiednen Partheyen nun ſchier uͤber achtzehn-
hundert Jahre ſtreiten. Die ganze Weisheit unſrer Vor-
fahren gieng auf den groſſen Grundſatz:
Daß man das Recht niemals mit der Schnur aus-
meſſen koͤnnte, ſondern vieles dem Ermeſſen ehrlicher
Maͤnner uͤberlaſſen muͤſſe.


Nach
[285]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.

Nach dieſem Grundſatze gieng ihre einzige Vorſorge auf
die Ausfindung ehrlicher Leute, welchen das Ermeſſen
anvertrauet werden koͤnnte, und in deren Ermange-
lung lieber auf ein paar Wuͤrfel oder auf ein ander
Gottes-Urtheil, als auf alles was Menſchenkoͤpfe von
Rechtswegen
ausſprechen wollen, und was niemals
einen ehrlichen Kerl ſo gut beruhigen wird, als ein
ungluͤcklicher Wurf.


Anſtatt daß wir immer an den Geſetzen flicken und ſolche zu
einer Vollkommenheit bringen wollen, wozu uns in der
Sprache der Ausdruck, und im Kopfe diejenige Weisheit
mangelt, welche alle moͤgliche Faͤlle uͤberſehen kann.


Ein andrer Pedant, denn einen Pedanten konnte man
dieſen Philoſophen doch wohl nennen, fiel ihm hier in die
Rede, und behauptete, die ganze Schuld der Veraͤnderung
laͤge allein in der entdeckten neuen Welt. Vorher, ſagte
er, und ehe dieſe uns zu unſerm Ungluͤck Geld und Silber
in zu groſſer Menge geſchickt hat, war es dem Landbeſitzer
nicht leicht moͤglich mehr als eine Erndte in einem Jahre
zu verzehren. Seine Geſchwiſter ſteurete er etwa mit einem
Fuͤllen, einem Rinde und einem Bunde Flachs aus; dem
Staate diente er mit der Fauſt, und dem Gutsherrn gab
er was der Boden und die Haushaltung vermogte. Schul-
den konnte er ſo viel nicht machen, und ſo blieb Ausgabe
und Einnahme ſich ſo ziemlich gleich. Wer einen Hof hat-
te, der blieb alſo darauf, und man wuſte nichts von Geld-
heuren, ſondern nur von Kornpaͤchten und andern Natio-
nallieferungen, die der Herr, wenn ſie nicht entrichtet wur-
den, vom Felde und vom Boden mit kurzer Hand ermaͤch-
tigen konnte. Allein durch die ſpaͤtere Einfuͤhrung des Gel-
des iſt dieſer gute Plan ganz veraͤndert. Durch Huͤlfe des
Geldes kann ein Landmann in einem Jahre die Erndte von
zwan-
[286]Nichts iſt ſchaͤdlicher
zwanzigen verzehren. Er nimmt tauſend Thaler auf, und
verſpricht ſolche nach einer halbjaͤhrigen Loͤſe zu bezahlen,
ein Verſprechen, daß er der Natur nach nicht anders hal-
ten kann, als unter der mißlichen Bedingung, wenn ein
andrer ſo thoͤricht iſt, ihm ſolche wieder vorzuſtrecken. Der
Richter, welcher die Unmoͤglichkeit und Eitelkeit dieſes Ver-
ſprechens einſehen ſollte, treibet ihn dem ungeachtet zur Be-
zahlung, und man nennet dieſes eine geſetzmaͤßige Gerech-
tigkeit, ohne auch nur einmal eine Ahndung zu haben, daß
es eine offenbare Grauſamkeit ſey; und daß man Unmoͤg-
lichkeiten fordere, wenn man von einem Landbeſitzer mehr
erwartet als was er am Ende des Jahrs uͤberſchuͤßig hat.
Kann nun der Schuldner nicht bezahlen, ſo pfaͤndet ihn
der Richter auf die tauſend Thaler, ſo lange er ein Pfand
im Hauſe hat; und dabey ſoll der Mann dem Staate von
ſeinem Hofe dienen, und — vermuthlich mit ſeinen Naͤ-
geln — den Acker beſtellen. Wenn die Sache irgend wie-
der in ein gutes Gleiſe gebracht werden ſoll: ſo muß entwe-
der das Geld ganz verbannet, oder der Ueberſchuß eines
verſchuldeten Hofes ein vor allemal feſtgeſtellet, und keine
Pfaͤndung weiter als auf den Ueberſchuß geduldet werden.


Ich mag das Gewaͤſche nicht laͤnger hoͤren, rief hier
der Officier. Kurz, der ganze Fehler liegt an dem Man-
gel der Kriegeszucht. Anſtatt Vieh und Pferde zu pfaͤnden,
ſollte man die ſchlechten Haushalter beſonders aber die Saͤu-
fer und Zaͤnker fleißig durch die Gaſſen laufen laſſen. Bey
meiner Ehre, ſie ſollten mir anders werden, oder vom Hofe
herunter. Ich habe in einem alten Buche geleſen, daß
vordem jedes Kirchſpiel unter einem eignen Oberſten oder
Landeshauptmann geſtanden, der ſeine untergebene Hoͤfe
und Leute alle Woche viſitirt, und uͤber die ſchlechten Wir-
the ſofort mit Zuziehung einiger Achtsleute Standrecht ge-
hal-
[287]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
halten. Geſchaͤhe dieſes wieder: ſo ſollte das Ding ſich
bald aͤndern. Aber ſo heißt es nichts, daß der Schuldner
jaͤhrlich nicht weiter als auf ſeinen Ueberſchuß gepfaͤndet
werden ſoll. Geſetzt, er haͤlt den Termin nicht, er bezahlt
auch nicht was verglichen, und der Ueberſchuß reicht nicht
zu den Koſten: ſo wird ihm doch der Richter, wenn der
Credit noch irgend auf eine Weiſe erhalten werden ſoll, in
Ermanglung andrer Sachen, Pferde und Kuͤhe nehmen muͤſ-
ſen; oder er wird eine weitlaͤuftige Unterſuchung anſtellen;
ob der Schuldner mit oder ohne ſein Verſchulden von neuem
auſſer Stand gerathen ſey zu bezahlen? Und dann kommen
die Rechtsgelehrten zur Nebenthuͤr wieder herein, wann
ihr ſie durch die groſſe ausgewieſen. Kurz, der Edelmann
zieht ſein Gehalt von der gemeinen Maſſe des Staats da-
fuͤr, daß er die Controlle uͤber die Wirthſchaft der Gemei-
nen fuͤhren ſollte; dieſen ſollte man an ſeine Pflicht erin-
nern, und die aus der Compagnie verſtreuten Hoͤfe, wo-
von jetzt ein jeder ſeinen eignen Capitain oder Gutsherrn
hat, bey hunderten und hunderten wiederum unter eine
Aufſicht bringen, und das Zerſtreuen ſolcher Compagnie-
hoͤfe fuͤrs kuͤnftige bey Verluſt der Landhauptmannſchaft
verbieten, ſo wie es wuͤrklich in den Reichsgeſetzen, nach
der Meynung unſers Auditeurs ſchon vor fuͤnfhundert Jah-
ren verboten geweſen. Bey einer ſolchen Compagnie waͤre
dann anſtatt des Richters blos ein Landauditeur, der das
Protocoll fuͤhrte, und weiter kein Gelehrter.


Ich denke, das beſte iſt, wir ſetzen einen Preis von hun-
dert Dukaten auf die Beantwortung der Frage:
Welches die beſte Art des Colonats ſey?
verſetzte ein andrer, der bis dahin in aller Stille den uͤbrigen
zugehoͤret hatte, und fuͤgen derſelben allenfalls noch die
zweyte Frage bey:
Was
[288]Nichts iſt ſchaͤdlicher
Was ein Staat in dem Falle, wo die Heuer vor der
Landſiedeley das Uebergewicht erhalten, fuͤr Maasre-
geln zu ergreifen habe?


Ueber die letzte will ich jetzo meine Meinung eroͤfnen, bis
einem andern der Preis wegen der erſten, deren Beantwor-
tung eine eigne Reiſe durch Europa und die Aufmerkſamkeit
aller philoſophiſchen Geſetzgeber verdienet, von Einſichts-
vollen Richtern zugeſprochen ſeyn wird.


Ehe ich aber hier weiter gehen kann, muß ich die ver-
ſchiedenen Arten von Verheurungen, worauf ich jetzt ziele, und
welche man ſonſt unter dieſem Namen gewoͤhnlich alle nicht
begreift, mit wenigem beruͤhren.


Ich nenne erſtlich denjenigen ſchatzbaren Landeigenthuͤ-
mer einen Heuermann, der jaͤhrlich ſo viel an Steuren und
Zinſen zu bezahlen hat, als ihm ſein Hof, wenn er ihn ver-
pachten wuͤrde, einbringen koͤnnte. Zweytens rechne ich
dahin, den gewoͤhnlichen Paͤchter oder Heuermann, der
einen ganzen Hof von andern geheuret hat: und drittens
die kleinen Heuerleute, deren oft zwanzig einen ſchatzbaren
Hof ſtuͤckweiſe unterhaben.


Alle dieſe Arten von Heuerleuten haben unſre Vorfah-
ren im Staate nicht geduldet; und zwar aus folgender
Haupturſache, weil in dem Falle, wo z. E. hundert Landei-
genthuͤmer und hundert ſolche Heuerleute mit einander einen
gleichen Strang ziehen ſollen, dieſe gegen jene zur Zeit der
Noth nicht aushalten koͤnnen; ſondern entweder davon ge-
hen, oder ſtecken bleiben, mithin die erſten die ganze Buͤrde
tragen laſſen muͤſſen. Der Feind, ſagten ſie, welcher ein
Land brandſchatzt, rechnet den Staat auf zweyhundert Hoͤ-
fe, die er auch wuͤrklich enthaͤlt, und richtet ſeine Forde-
rung an Geld, Fuhren und Lieferungen darnach ein.
Wenn es aber zur Bezahlung koͤmmt: ſo ſind diejenigen,
wel-
[289]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
welche nichts uͤbrig haben, weiter nichts als leere Namen
auf dem Papier, und die andern muͤſſen noch dazu fuͤr ſie
bezahlen. Fordert der Staat, zur Zeit einer gemeinen
Noth, in der Vorausſetzung, daß zweyhundert Wirthe da
ſind, eine Huͤlfe: ſo iſt die Haͤlfte davon blind; und ſteigt
die Noth zu einer gewiſſen Hoͤhe, ſo, daß die Heuerleute
nichts mehr zu verliehren haben: ſo entweichen ſie aus dem
Staat, und verlaſſen ihre Mitbuͤrger, mit denen ſie viel-
leicht mehrere Jahrhunderte alle Vortheile der Ruhe, des
Schutzes, und der Landnutzung getheilet haben. Die Ge-
ſetzgebung muß ferner zum Nachtheil der Eigenthuͤmer Leib-
und Lebensſtrafen einfuͤhren, weil die Landesverweiſung fuͤr
einen Heuerling keine Strafe bleibt; oder ſie muß wohl gar
auf Koſten der Eigenthuͤmer, fuͤr welche die Verweiſung
eine uͤberaus ſchwere Strafe iſt, ein Zuchthaus anlegen,
um die Fluͤchtlinge in Ordnung zu halten.


Aus dieſen und mehrern Gruͤnden, welche ich jetzt nicht
anfuͤhren will, litten ſie auf ſchatzbaren Hoͤfen keine Heuer-
leute, ſondern forderten bey ihrer Vereinigung, wie die oͤf-
fentliche Sicherheit nicht anders, als durch den Wirth vom
Hofe mit ſeinem ganzen Vermoͤgen behauptet werden konnte,
einen freyen wehrhaften Mann, ohne Schulden und Pri-
vatabgiften. Die Mitglieder des Staats rechneten ſich da-
mals gegen einander, wie Beſitzer von ganzen Actien die
baar zur gemeinſchaftlichen Caſſe erleget ſind. Wie aber
die Sicherheit gegruͤndet war, und die Vertheidigungsan-
ſtalten ſich aͤnderten oder verminderten, und gleichſam die
halbe Actie zuruͤck bezahlet werden konnte: ſo hatte auch
der Staat an dem halben Hofe Buͤrgſchaft genug, und nun
war es dem Eigenthuͤmer frey, dieſe dem Staate unver-
bundene Haͤlfte nach Gefallen zu gebrauchen; und ſo konnte
zuerſt ein Pacht- oder Erbpacht, ein Zins- oder Erbzins-
contract, oder eine andre Art von Colonat entſtehen, in
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. TGe-
[290]Nichts iſt ſchaͤdlicher
Gefolge deſſen der Eigenthuͤmer ſeinen Hof einem After-
mann uͤbergab, und der in die Reihe getretene Mann ſei-
nem Guts- oder Zinsherrn oder auch ſeinem Glaͤubiger ſo
viel jaͤhrlich entrichten moͤgte, als der halbe Hof zur Heuer
thun koͤnnte. Der Staat ſchien zwar dadurch ſeinen hal-
ben Fond zu verlieren. Es war aber in der That nichts,
weil auf der andern Seite der Guts- und Zinsherr fuͤrs
Vaterland focht, waͤhrender Zeit der Erbzinsmann ſeinen
Acker in Ruhe bauete.


Solchergeſtalt beſtand nun in ſpaͤtern Zeiten bie gemeine
Reihe noch aus halben Eigenthuͤmern; und ſie koͤnnte viel-
leicht bey ruhigen und gluͤcklichen Zeiten aus Vierteleigen-
thuͤmern beſtehen. Allein dieſelbe ohne alles Eigenthum be-
ſtehen zu laſſen, oder einen Staat aus hundert ganzen Ei-
genthuͤmern, und hundert Heuerleuten, die beyde zu glei-
chen Pflichten verbunden ſeyn ſollen, zuſammen zu ſetzen,
iſt, was das erſte betrift, gefaͤhrlich, und in Anſehung des
letztern, fuͤr die Eigenthuͤmer unverantwortlich. Dies ge-
ſchieht aber in allen obangezogenen Faͤllen der Verheurung,
und ich habe es noch vor wenigen Tagen geſehen, daß in
einer Reihefuhr der Hengſt eines Eigenthuͤmers, die ganze
Ladung, die darauf liegende Futterſaͤcke der zugeſpanneten
Heuerleute, und deren ihre ohnmaͤchtigen Pferde uͤberweg
zog, aber auch daruͤber ſtuͤrzte.


Ich glaube alſo den Satz annehmen zu koͤnnen, daß die
zu gleicher Reihe verpflichteten Unterthanen eigentlich ein
gleiches und allemal ein ziemliches Eigenthum im Staate
haben muͤſſen, welches demſelben auf den Nothfall zur Si-
cherheit verhaftet bleibt, und das Unterpfand ausmacht,
worauf er zur Zeit der zunehmenden oͤffentlichen Laſten grei-
fen koͤnne. Dieſes Eigenthum iſt in der Erbpacht, und in
andern Landſittlichen Beſetzungsarten immer einigermaſſen
vor-
[291]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
vorhanden, wenn es auch in keinem wahren Rechte am
Grunde, ſondern nur in den Gebaͤuden und der Beſſerung
deſſelben beſtehen ſollte, welche deren Beſitzer bey einer ge-
meinen Noth ſo leicht nicht verlaſſen werden. Es iſt aber
nicht vorhanden, wo dem Verpaͤchter ſowohl der Grund
als die Gebaͤude zugehoͤren, oder der Hof von ſeinem Be-
ſitzer in der Maaſſe beſchweret iſt, daß ſowohl Grund als
Gebaͤude nicht weiter als fuͤr das Capital der Abgiften und
Zinſen hinreichen; und es bleibt dem Staate gar keine Si-
cherheit uͤbrig, wenn eine Menge von kleinen Heuerleuten
den Reihepflichtigen Ort unter haben, die bey dem gering-
ſten Sturm mit ihrer Kuh am Stricke, und dem Spinn-
rade in der Hand uͤber die Grenze ziehen und beym erſten
Sonnenſchein wieder herein kommen koͤnnen. Dergleichen
geringe Leute haben als Nebenbewohner ihren Werth: ſie
moͤgen auch wohl von ſchatzbaren Hoͤfen heuren. Allein die
Hauptwirthſchaft auf einem Reihepflichtiger Hofe muß zum
Beſten und zur Sicherheit des Staats nicht geſchwaͤcht, und
auch nicht veraͤndert werden.


Die gerade Linie beſteht alſo darinn, daß jeder Reihe-
pflichtiger Unterthan ein fuͤr den Staat zulaͤngliches Eigen-
thum habe und ſicher behalte; und die Mittel, welche ſich
einem Staat, worinn das Heuerweſen zu ſehr uͤberhand
genommen hat, darbieten, muͤſſen dahin gehen, zu verhin-
dern, daß von dieſer geraden Linie ſo wenig als moͤglich
abgewichen und wo davon abgewichen iſt, ſolche wiederum
hergeſtellet werde. Beyde Abſichten werden ſich aber nicht
ploͤtzlich, ſondern nach und nach durch eine beſtaͤndige leb-
hafte Ueberzeugung von der Richtigkeit dieſer Linie, und
einer darauf gegruͤndeten Policey erreichen laſſen. Unter
die Mittel dazu zaͤhle ich


  • 1) ein Verbot, daß gar keine Hoͤfe weiter ausgeheuret
    werden ſollen.

T 22) Daß
[292]Nichts iſt ſchaͤdlicher
  • 2) Daß der ganze Hof zu einem oͤffentlichen Fideicom-
    miß erklaͤret werde, worauf der Staat und der Gutsherr
    zwar ihr Recht behalten, aber kein Glaͤubiger, und wenn
    es auch ein abgehendes Kind waͤre, jemals einigen An-
    ſpruch erhalten koͤnnen.
  • 3) Daß aus den Gebaͤuden auf dem Hofe, und dem
    Hofgewehr, welches nach einer vorgegangenen Beſtimmung
    vor allem richterlichen Angrif zu ſichern iſt, und beſtaͤndig
    vollzaͤhlig ſeyn muß, unter Gutsherrlicher Guarantie ein
    Freyſtamm in jedem Erbe errichtet und gerichtlich einge-
    tragen werde.
  • 4) Daß alle Schulden, welche der Hofes Beſitzer macht,
    ſo wie alle Pfandzettel, welche gegen ihn erkannt werden,
    in ſo fern des Schuldners uͤbriges zum Hofgewehr nicht
    gehoͤriges Vermoͤgen unzureichend iſt, anſtatt der Execution
    lediglich in jenes Buch geſchrieben werden.
  • 5) Daß ſo bald die Summe der Schulden die Summe
    jenes Freyſtamms erreicht, ſofort ohne weitere Urſachen
    zu erwarten, zur Abaͤuſſerung geſchritten, und der Hof dem
    Gutsherrn gegen Erlegung der Freyſtammgelder, welche
    unter die eingetragenen Glaͤubiger nach der Ordnung zu
    vertheilen ſind, zur freyen Beſetzung uͤberlaſſen werde.
  • 6) Daß dem Gutsherrn, welcher ſein ausgelegtes Geld
    nebſt einem billigen Weinkauf, von dem neuen Beſitzer wie-
    der fordern mag, eine ſichere Zeit geſetzet werde, binnen
    welcher er den Hof wieder beſetzen, oder gewaͤrtigen muß,
    daß ſolches von dem Landesherrn als oberſten Vertheidiger
    der gemeinen Reihe geſchehe.
  • 7) Daß der geringſte Mangel an dem vorgeſchriebenen
    Hofgewehr, und uͤberhaupt im Freyſtamm, worunter die
    Gebaͤude mit gehoͤren, wenn er auf dreymaliges Erinnern
    des
    [293]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
    des Gutsherrn nicht wieder ergaͤnzet wird, als eine hin-
    laͤngliche Urſache der Abaͤuſſerung angeſehen werde.
  • 8) Daß die Gerichtskoſten, welche die Abaͤuſſerung ko-
    ſtet, zu einer Summe beſtimmet, und gerichtlich mit einge-
    tragen, auch bey erfolgter Abaͤuſſerung, den Glaͤubigern
    nicht mehr als eines Jahres Zinſe verguͤtet werde.
  • 9) Daß alle Auslobungen ſich einzig und allein nach
    dem verſchuldeten Freyſtamm richten muͤſſen, dagegen aber
    den Eltern frey bleibe, ihren abgehenden Kindern, von
    demjenigen Vermoͤgen, was ſie uͤber den Freyſtamm haben,
    nach eigenen Gefallen bey lebendigem Leibe Gutes zu thun.
  • 10) Daß jeder Bauer jedesmal die gerichtlich eingetra-
    genen Schulden vorn in ſeinem Pachtbuche haben muͤſſe,
    damit der Gutsherr jaͤhrlich ſehen koͤnne, ob er zuruͤck oder
    vorwaͤrts gekommen.
  • 11) Daß keine Gutsherrliche Bewilligungen fernerhin
    beſonders ertheilet werden, ſondern die gerichtliche Eintra-
    gung auf den Freyſtamm die vollkommene und ofne Sicher-
    heit des Glaͤubigers ausmache.

Beym erſten Anblick ſcheinet es zwar, als wenn der
Gutsherr dabey verliere, daß er nicht allein einen Frey-
ſtamm
auf ſeinem Hofe erkennen, und ſolchen bey der Ab-
aͤuſſerung den Glaͤubigern bezahlen, ſondern auch fuͤr die
einmal beſtimmte und gerichtlich eingetragene unveraͤnderli-
che Taxe deſſelben einſtehen ſoll. Es ſcheinet auch mit den
Begriffen, welche wir vom Sterbefall haben, zu ſtreiten,
und die ſo leicht ausgeſprochene roͤmiſche Regel: quicquid
ſervus acquirit, acquirit Domino,
auf einmal umzuſtoſſen.
Es ſcheinet weiter hart zu ſeyn, dem Gutsherrn die Pflicht
aufzulegen, dafuͤr ſorgen zu ſollen, daß auf ſeinem ſchatzba-
ren Hofe jedesmal ein Hofgewehr, ſo wie es das gemeine
T 3Beſte
[294]Nichts iſt ſchaͤdlicher
Beſte erfordert und beſtimmet, vorhanden ſey. Mancher
moͤgte auch wohl nicht ohne Grund beſorgen, daß er ſol-
chergeſtalt, anſtatt eine Auffarth zu ziehen, noch wohl Geld
wuͤrde zugeben muͤſſen, um einen guten Wirth, der die
Pflicht eines Reihemanns gehoͤrig zu erfuͤllen und ſich mit
einem bey der jaͤhrlichen Muſterung beſtehenden Hofgewehr
zu verſehen, im Stande waͤre, auf ſeine Staͤtte zu be-
kommen.


Allein bey einer genauern Einſicht, und wenn man die
Sachen aus ihrem wahren Geſichtspunkte faßt, werden
dieſe Schwierigkeiten ſich entweder heben oder durch groͤſ-
ſere und dauerhaftere Vortheile uͤberwiegen laſſen, voraus-
geſetzt, daß dem Gutsherrn nur die gehoͤrige Macht gege-
ben werde, den Plan ohne fremde Verhinderungen ausfuͤh-
ren zu koͤnnen. Denn was den Freyſtamm betrift: ſo iſt
der Name zwar fremd, die Sache aber allezeit vorhanden
geweſen. Er ſteckt wuͤrklich in dem Erbrechte, was der
Leibeigne oder Hofhoͤrige an dem Hofe hat. Hausheuren
in den Staͤdten ſind gar nicht erblich geworden; Heuren
von Laͤndereyen ohne Gebaͤude ſelten; und vielleicht nur bey
ſolchen, die der Anbauer zuerſt roden oder urbar machen
muͤſſen. Aber ſo bald Gebaͤude auf oder neben den Laͤnde-
reyen errichtet worden, und der Bauer dieſe gebauet und
erhalten hat, iſt ſogleich Erbrecht entſtanden. Und woher
dieſes? Blos aus der Urſache, weil man den Sohn des
Vaters mit Billigkeit nicht vertreiben konnte, welcher die
Gebaͤude auf ſeine Koſten errichtet hatte. Wer haͤtte Laͤn-
dereyen annehmen, Haͤuſer darauf bauen und wenn ihn am
Rande ſeines Lebens ein ungluͤcklicher Brand heimſuchte,
ſein ganzes Vermoͤgen an neue Gebaͤude verwenden wollen,
wenn man ihm geſagt haͤtte: nach vier, acht oder zwoͤlf
Jahren oder mit deinem Tode muſt du dieſes alles einbuͤſſen?
Zwar finden ſich auch dergleichen Contrakte auf der Heyde
an
[295]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
an der Emſe und in einigen Gegenden im Bremiſchen, wo
der Bauer nach vollendeten Heuerjahren die Pfaͤhle ſeiner
Huͤtte aufziehet, und ſolche weiter ſetzt. Das giebt aber
armſelige Leute fuͤr den Staat, und geht nur in Gegenden
an, wo ein leichter Boden, ohne Holzungen dem Heuer-
ling untergeben wird. Hier im Stifte ſind die Haͤuſer dauer-
hafter gegruͤndet, und ſo lange in der Winnnottel oder dem
Heuercontrakt nicht ſteht oder bey der Auflaſſung nicht be-
dungen wird, wie man es am Ende der Heuerjahre mit
Bau- und Beſſerung halten wolle, iſt die Heuer, Pacht
oder das Colonat, in ſo fern der Heuermann oder Paͤchter
die Haͤuſer ohne Berechnung bauet und unterhaͤlt, erblich.


Hat das Erbrecht des Leibeignen alſo den vaͤterlichen
Bau und deſſen Beſſerung zum Grunde: ſo iſt die letztere
ein wuͤrklicher Freyſtamm; und fehlt ihm nichts als der
Name und die Beſtimmung. Nichts iſt aber feiner als das
Mittel, wodurch unſre Voreltern verhinderten, daß der
Freyſtamm nicht auf freye Erben fallen konnte. Da ſie
vorherſahen, daß bey Einraͤumung des Satzes vom Frey-
ſtamme,
ſich auch freye Erben beym Gutsherrn melden,
und eine Verguͤtung dafuͤr fordern koͤnnten: ſo machten ſie
das Geſetz, daß keiner als der naͤchſte Erbe im Gehoͤra)
T 4den
[296]Nichts iſt ſchaͤdlicher
den Hof erben konnte. Dadurch blieb allemal Land und
Gebaͤude unzertrennlich, und fiel auf den Erben des Hofes,
oder wenn dieſer ſtarb, an den Gutsherrn zuruͤck. Mel-
dete ſich ein Freyer als Erbe: ſo trieb ihn der Hoſes- oder
Gutsherr mit der Ausrede zuruͤck, du biſt nicht in meinem
Gehoͤr. Und ſo brauchte er niemals der Beſſerung halben
mit jemanden abzurechnen, eine Berechnung die ſonſt alles
Gute auf einmal umſtuͤrzen, und jene Einrichtung zu einer
Quelle unſterblicher Proceſſe machen wuͤrde.


Der Sterbfall leidet durch die vorgeſchlagene Einrich-
tung nicht, denn Gebaͤude und Beſſerungen gehoͤren eigent-
lich nicht darunter, oder das Erbrecht des Anerben muͤſte
auch dem Gutsherrn heimfallen, und dieſer jedesmal zum
Anerben ſagen koͤnnen: alles was dein Vater erworben und
hinterlaſſen, gehoͤret mir, folglich haſt du an nichts Erb-
recht. Da er aber dieſes nicht ſagen kann: ſo ſieht man
gleich, daß die Urſache, warum die Gebaͤude und Beſſerun-
gen dennoch wuͤrklich zum Sterbfall gerechnet werden, kei-
ne andre, als die Verdunkelung des alten Gehoͤrs ſey.
Waͤre dieſes nicht verdunkelt worden: ſo koͤnnte der Guts-
herr, weil er alle freye Erben und alle Glaͤubiger damit
zuruͤck weiſen koͤnnte, Bau und Beſſerung Sterbfallsfrey
erkennen. Nun aber und nachdem man den Begriff vom
Gehoͤr verlohren, muß er es nothwendig zum Sterbfall
rechnen, wo er ſich nicht allerley Anſpruͤchen blos ſtellen
ſoll; Anſpruͤche die einzig und allein dem naͤchſten Erben im
Gehoͤr zukommen, mag man der alten oder neuen Rechts-
gelehrſamkeit folgen.


Das aber bleibt allemal wahr, daß es ſchwerer halten
werde, ſolche Wirthe zu bekommen, die gleich mit einem
zulaͤnglichen Hofgewehr aufziehen und den Freyſtamm be-
zahlen koͤnnen, als kleine Heuerleute, die unbeſonnen auf
den
[297]als die Ausheurung der Bauerhoͤfe.
den groͤßten Hof ziehen, und ſich darauf ſo quaͤlen wie ſie
koͤnnen. Allein laßt uns nun einmal dasjenige, was wir
vor Augen ſehen, betrachten.


In dem Kirchſpiele worinn ich wohne, ſind zwanzig
Hoͤfe, ſo unter Hofrecht ſtehen, zu kauſen, und der Ho-
fesherr hat ſeine Einwilligung dazu ertheilet. Der Richter
hat ſie ſchon dreymal ausgeboten, und es findet ſich kein
Kaͤufer der ſich ins Hofrecht begeben will. Was ſoll nun
geſchehen? Das weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß
wenn die jetzt noch darauf hangende Gebaͤude auf dem Bo-
den liegen, man den Hof umſonſt ausbieten wird. Eben
ſo geht es mir mit den Hoͤfen verſchiedener Rittereignen.
Ich kann mit der Abaͤuſſerung nicht zu Stande kommen,
weil ich nicht weiß: ob ich zu viel oder zu wenig thue,
wenn ich dazu ſchreite, und der Richter in einer Sache, wo
es ſehr auf ſein Gewiſſen ankoͤmmt, eben ſo unſchluͤßig iſt.
Da nun immittelſt die Heuer fortgehet, und 54 kleine Heuer-
leute auf dem Lande herumwuͤhlen: ſo weiß ich wahrlich
nicht, was ich thun ſoll, wenn einmal die Gebaͤude fallen,
und ich einen Bauer noͤthig habe, der ſolche von neuen auf-
richten und den Hof in der oͤffentlichen Reihe vertheidigen ſoll.


Waͤre es nun aber bey ſolchen Umſtaͤnden nicht tau-
ſendmal beſſer, daß eine ſtandhafte Linie gezogen wuͤrde,
nach welcher den Eigenbehoͤriger ein gewiſſer beſtimmter
Freyſtamm ausgeſetzt, und dieſelben ſofort, wenn ſie dieſen
mit ihren Schulden erreichten, vom Hofe geſetzt wuͤrden.
Wenn ein freyer Eigner im Stifte nicht bezahlen kann: ſo
fragt man nicht darnach, ob er durch uͤble Wirthſchaft
oder auf andre Art zuruͤckgekommen ſey; ſondern verkauft
ihm ſein Gut. Der Leibeigne hingegen bleibt auf dem Hofe
hangen, wenn er ihn auch noch ſo ſehr verſchuldet hat,
weil man ſeinem Rechte am Hofe keinen beſtimmten Werth
T 5geſetzt
[298]Der Bauerhof,
geſetzt hat. Der eine Gutsherr macht ſich ein Gewiſſen
daraus ihn abzuaͤuſſern; der andre, ſo dazu ſchreitet, fin-
det keinen der den Hof wieder annehmen will, weil ſich jeder
im Kirchſpiel ein Gewiſſen daraus macht, auf einen Hof zu
ziehen, wovon das Gebluͤt entſetzet worden. So bald iſt
aber nicht der Freyſtamm erklaͤrt: ſo faͤllt das Gewiſſen
von beyden Seiten weg, und die Abaͤuſſerung wird gleich-
ſam ein gemeiner Verkauf des Freyſtamms, wodurch nie-
mand betruͤbt, verkuͤrzet oder betrogen werden kann, ſo lange
das Schuldbuch oͤffentlich und richterlich gehalten wird ..


So ſprachen unſre Urenkel. Was wir jetzt ſagen, weiß
ein jeder.



LXII.
Der Bauerhof, als eine Actie
betrachtet
*).


Wir haben alle einigen Begriff von den groſſen Com-
pagnien, welche nach Oſt- und Weſtindien han-
deln; wir wiſſen, daß dieſelben aus Leuten beſtehen, wovon
jeder ein ſichers Capital hergeſchoſſen hat; wir nennen die-
ſes
[299]als eine Actie betrachtet.
ſes Cavital eine Actie, und denken es uns ganz deutlich,
daß keiner zu dieſer Compagnie gehoͤre, er beſitze denn eine
ſolche Actie, und daß nur diejenigen, welche eine ſolche
Actie beſitzen, Schaden und Vortheil zu theilen haben; das
ſage ich, wiſſen wir deutlich, und zwar ſo deutlich, daß,
wenn jemand fragen wuͤrde: ob nicht auch billig alle und
jede Menſchen, welche zur chriſtlichen Kirche gehoͤren, als
Mitglieder der oſtindiſchen Compagnie anzuſehen waͤren?
der Einfaͤltigſte daruͤber lachen wuͤrde. So einleuchtend
dieſe Begriffe ſind, wann wir ſie uns unter einer ſo be-
kannten Geſtalt gedenken: ſo dunkel ſcheinen ſie manchem
zu werden, wann man ihm jede buͤrgerliche Geſellſchaft als
eine ſolche Compagnie ſchildert, jeden Buͤrger als den Be-
ſitzer einer gewiſſen Actie vorſtellet, und nun zu eben den
Folgerungen uͤbergeht, welche wir vorhin gemacht haben;
nemlich, daß Menſchenliebe und Religion keinen zum Mit-
gliede einer ſolchen Geſellſchaft machen koͤnnen, und daß
wir in die offenbarſten Fehlſchluͤſſe verfallen, ſo bald wir
den Actioniſten oder Buͤrger mit dem Menſchen oder Chri-
ſten verwechſeln. Hier ſtrauchelt oft der groͤßte Philoſoph,
und unter allen, ſo viel ihrer die geſellſchaftlichen Pflichten
und Rechte der Menſchen behandelt haben, iſt mir keiner
bekannt, der ſeine idealiſche Geſellſchaft auf gewiſſe Actien
errichtet, und aus dieſer naͤhern Beſtimmung, die Rechte
und Pflichten eines jeden Mitgliedes gefolgert habe. Gleich-
wol iſt es natuͤrlich und begreiflich, daß die Verſchiedenheit
der Actien auch ganz verſchiedene Rechte hervorbringen, und
der Mangel derſelben eine voͤllige Ausſchlieſſung nach ſich
ziehen muͤſſe.


Vielleicht findet mancher auch dieſes ſchon undeutlich,
oder fuͤhlet es doch nicht kraͤftig genug, was ich ſagen will;
ich will alſo gleich ein Beyſpiel zur Erlaͤuterung geben.
Viele Philoſophen und Juriſten ſind verlegen, wenn ſie
einen
[300]Der Bauerhof,
einen fruchtbaren Begriff von der Knechtſchaft geben ſollen;
ſie ſchwanken wenn ſie uns den Urſprung derſelben erklaͤren
wollen, und kommen mit aller ihrer Gelehrſamkeit in die-
ſem Stuͤcke nur ſelten zu genauen und beſtimmten Folge-
rungen. So bald nimmt man aber nur erſt an, daß der
Knecht ein Menſch im Staate ohne Actie ſey: ſo zeigt
ſich die Knechtſchaft in einem ganz neuem Lichte; man ſieht
gleich, warum der Knecht ſo wenig die Vortheile als die
Laſten eines Buͤrgers habe; warum er ſo wenig zur Lan-
desvertheidigung dienen, als zu Ehren gelangen koͤnne, ob
er gleich alle chriſtlichen und moraliſchen Tugenden im hoͤch-
ſten Grad beſitzt; man erkennet, daß die Knechtſchaft eben
ſo wenig gegen die Religion ſey, als es gegen die Religion
iſt, kein Mitglied der oſtindiſchen Compagnie zu ſeyn; man
ſthließt, daß das Buͤrgerrecht ſo wenig als das Kirchenrecht
die Befugniſſe der Menſchheit aufhebe; daß der Knecht ohne
einen beſonderen Vertrag nichts weiter zu fordern habe, als
was man ihm nach dem Rechte der Menſchheit, und in
den ſpaͤtern Zeiten, nach der chriſtlichen Liebe ſchuldig iſt;
und daß die groſſe Linie, welche den Buͤrger von dem Men-
ſchen, oder den Actioniſten von demjenigen der keine Actie
im Staate beſitzt, trennet, zu einer vollſtaͤndigen und
brauchbaren Theorie unumgaͤnglich nothwendig ſey.


Zu unſern Zeiten haben wir ſchon eine Daͤmmerung in
der Rechtsgelehrſamkeit, welche uns bald einen beſſern Tag
verkuͤndiget. Man faͤngt nemlich an, das Sachenrecht
eher als das Perſonenrecht vorzutragen. Allein es iſt noch
zur Zeit blos ein dunkeles Gefuͤhl der Wahrheit. Denn
noch keiner hat die Sache unter dem Begriffe der Actie vor-
geſtellet; ich muß mich hier wieder durch ein Beyſpiel er-
klaͤren. Ein Mann der z E. tauſend Thaler beſitzt, und
davon die Haͤlfte zu einer Compagniehandlung einſchießt,
beſitzt nur fuͤnfhundert Thaler als Actie, und die uͤbrigen
fuͤnf-
[301]als eine Actie betrachtet.
fuͤnfhundert Thaler ſind freyes natuͤrliches (allodial) Ver-
moͤgen, womit er nach ſeinem Gefallen handeln kann. We-
gen der erſtern iſt er ein Mitglied der Compagnie, und wer
das Recht der Sachen in einem Compagnierecht abhan-
deln wollte, wuͤrde blos die Pflichten beſtimmen, welche
auf der Actie haften, ſich aber durchaus nicht um das uͤbri-
ge Vermoͤgen des Actionairs bekuͤmmern. Gegen dieſen of-
fenbar richtigen Begriff ſtoſſen noch alle diejenigen an, wel-
che das buͤrgerliche Sachenrecht behandeln.


Man glaubt nicht, daß dieſes auf eine bloſſe Specula-
tion hinaus laufe, und daß in unſern Zeiten, wo jeder
Einwohner eines Staates mit ſeinem ganzen Vermoͤgen
fuͤr alle Ausgaben der buͤrgerlichen Compagnie zu haften
ſcheinet, jener Unterſchied voͤllig unnuͤtz ſey. Wahr iſt es
zwar, daß wir eben dadurch, daß wir nach und nach, da
wir Vermoͤgen- und Perſonenſteuren eingefuͤhret haben,
nicht allein unſre liegende Gruͤnde, ſondern auch unſern
Geldreichthum und ſelbſt unſre Leiber mit in die Compagnie
gelegt, folglich alles was wir haben und uns ſelbſt zu
Staatsactien gemacht haben. Allein eben dieſe Art der
Vorſtellung leitet uns doch zu einer beſſern Ordnung unſrer
Begriffe; ſie zeigt in der natuͤrlichen Geſchichte der Staats-
verfaſſung, wie zuerſt blos das Land, was einer beſeſſen,
und wovon allein gedienet oder geſteuret wurde, die ur-
ſpruͤngliche Einlage zur Compagnie geweſen; wie zu dieſer
Zeit der Mann, der Waaren zu verkaufen oder Schuh zu
machen gehabt, ohne Actie und folglich ein Knecht gewe-
ſen; wie derſelbe ſpaͤter als die Landactie zur Beſtreitung
der Compagnieauslagen nicht mehr zureichen wollen, und
er ebenfalls etwas von ſeinem baaren Vermoͤgen oder Ver-
dienſte zuſchieſſen muͤſſen, das Recht eines Actioniſten er-
halten; wie ſolches, ſo lange die Auslagen der Compagnie
in perſoͤnlichen Heerdienſten beſtanden, lange nicht fuͤglich
geſche-
[302]Der Bauerhof,
geſchehen koͤnnen, bis endlich der perſoͤnliche Heerdienſt von
ſichern ausgeſonderten Maͤnnern uͤbernommen worden, de-
ren Unterhalt und Ausruͤſtung mit Gelde oder Anweiſung
auf Fruͤchte beſtritten werden koͤnnen; wie nachwaͤrts, als
auch Verdienſt- und Vermoͤgenſteuren nicht zugereicht, Per-
ſonenſteuren aufgekommen, und dadurch zuletzt jeder Menſch
ein Mitglied der groſſen Staatscompagnie, oder wie wir
jetzt ſprechen, ein Territorialunterthan geworden, mithin
diejenige allgemeine Vermiſchung von buͤrgerlichen und
menſchlichen Rechten entſtanden, worinn wir mit unſrer
philoſophiſchen Geſetzgebung dermalen ohne Steuer und Ru-
der herumgefuͤhret werden. Dieſe und unzaͤhlige andre Fol-
gen, welche das wahre pragmatiſche in der Geſchichte aus-
machen, und hier nicht aus einander geſetzt werden koͤnnen,
zeigt uns obige Art der Vorſtellung, und um ihrentwillen
allein, wuͤrde das Recht der Sachen, in der Maaſſe als
Actien betrachtet, vor dem Perſonenrechte abzuhandeln
ſeyn; jedoch nicht unter Nationen, welche zu Fuſſe ziehen;
denn hier iſt der Leib die Actie; ſondern unter Voͤlkern, wel-
che Land beſitzen, und nach dem Verhaͤltniß ihrer Laͤndereyen
dienen. Unter Nationen die zu Pferde ziehen, ſaͤngt die Be-
handlung des buͤrgerlichen Rechts mit den Pferden und de-
ren Ruͤſtung an; denn das Pferd iſt ein groſſer Theil der
Actie, und wer kein Pferd hat, iſt auch kein Mitglied die-
ſer reitenden Voͤlkercompagnie.


Dieſe Art der Vorſtellung wird aber noch weit wichti-
ger, wenn wir in das beſondre Staats- und Landrecht hin-
eingehen. Alle unſre Weſtphaͤliſchen und Niederſaͤchſiſchen
ſogenannten Eigenthumsordnungen oder Hofrechte fangen
damit an, daß ſie den Urſprung des Leibeignen, die Pflich-
ten ſeiner Perſon, und die Rechte ſo aus ſeiner perſoͤnlichen
Verbindung folgen, zuerſt vortragen, und dann zuletzt auf
die Sachen kommen. So lange wir dieſen Plan verfolgen,
wer-
[303]als eine Actie betrachtet.
werden wir nie zu irgend einer guten Theorie gelangen; es
giebt lauter falſche Schluͤſſe und Spruͤnge: und ob gleich
das Reſultat was wir zuletzt durch viele Umwege heraus-
bringen, richtig iſt; ſo iſt das Syſtem doch immer falſch,
aus Truͤmmern zuſammen geſetzt, und unzulaͤnglich eine
wahre und groſſe Geſetzgebung zu unterſtuͤtzen.


Kein Wort koͤmmt in den Nordiſchen Urkunden haͤufiger
vor als das Wort Manſus, und noch hat es kein Gelehrter
vermogt davon einen richtigen Begriff zu geben. Ich muͤſte
mich aber ſehr irren, oder es hat eine Actie bedeutet, und
zwar eine Landactie. Nach dieſer Vermuthung kann ein
Manſus, nach der Verſchiedenheit der Staatsvereinigungen
aus 40, 80 oder hundert Morgen Landes beſtanden haben,
eben wie eine Actie aus groſſen und kleinen Summen beſte-
hen kann. Das Wort Actie laͤßt ſich nicht bequem uͤber-
ſetzen, das Wort Manſus auch nicht; aber wir kennen den
ganzen Begriff davon; man kann den Manſus ein ganzes
Wehrgut
nennen, hier zu Lande heißt es ein Vollerbe;
Halb- und Viertelerbe ſind Coupons, oder Theile des Loo-
ſes, Erbes, oder Manſus.


Vereinigte Landbeſitzer machen eine Compagnie aus,
und ſie moͤgen nun durch einen beſonders errichteten So-
cialcontract oder ſtillſchweigend, es ſey wie es wolle, ver-
einiget ſeyn: ſo iſt ein jeder nach dem Verhaͤltniß ſeines
Manſus zu gemeinem Vortheil und Schaden berechtiget und
verpflichtet. Er iſt ein ganzer, halber oder viertel Actioniſt,
nachdem er viel oder wenig Land beſitzt. Unſre nordiſchen
Vorfahren lieſſen es bey dieſer Eintheilung ſo lange bewen-
den, als die gemeine Auslagen oder Beſchwerden in per-
ſoͤnlichen Heerdienſten beſtanden; es war ihnen eine einfache
und leichte Rechnung, daß jeder ganzer Manſus ein Pferd
oder einen Mann, und zwey halbe eben ſo viel ſtellen muſten.
Wie
[304]Der Bauerhof,
Wie aber die Geldſteuren aufkamen, und mit Huͤlfe des
Geldes die Ausgleichung feiner und ſchaͤrfer gemacht werden
konnte, fieng man an die Manſus auszumeſſen, und die
Geldſteuren nach einem neuen Verhaͤltniß zu vertheilen.
Dem ungeachtet aber blieb die Stellung der Pferde- und
Mannzahl nach dem alten Socialcontract, weil die kleinen
Bruͤche im Naturaldienſte nicht fuͤglich berechnet werden
koͤnnen.


Vermuthlich waren auch dieſe Bruͤche Schuld daran,
daß man die Markkoͤtter, Brinkſitzer und andre geringere
Leute, ſo keine Viertel Actie, und oft kaum ein Vier und
zwanzigſtel derſelben beſitzen, damals nicht in die Compa-
gnie aufnahm, ſondern ihnen ihren Rang in der Claſſe von
Knechten anwies, jedoch ihren Stand einigermaſſen uͤber
andre Knechte erhoͤhete, wenn ſie eine Urkunde, als z. E.
ein Pfund Wachs an die Kirche der Compagnie, eine ge-
meine Brieftracht zum Dienſt derſelben, eine Flußraͤumung,
eine Galgenerrichtung oder ſo etwas uͤbernahmen, oder
auch ſich gegen den Director der Compagnie zu andern Ur-
kunden und Gefaͤlligkeiten verpflichteten, welche dieſer zur
Verguͤtung ſeiner Muͤhe in den Angelegenheiten der Com-
pagnie billig genieſſen mogte.


Es konnte aber bey jener Einrichtung keinen Unterſchied
machen, wie einer zum Beſitz eines Manſus gelanget war,
ob er ihn nemlich als erledigt von dem Director zum Ge-
ſchenk empfangen, oder ſolchen zuerſt frey beſeſſen, und ſich
mit demſelben in die Compagnie begeben hatte. Es konnte
in ſo weit nichts zur Sache thun, ob der Manſus mit ei-
nem urſpruͤnglich freyen Mann, mit einem Meyer, Erb-
paͤchter oder Leibeignen beſetzt wurde; denn die Verpflich-
tungen der Actie bleiben nach der Natur der Sache, oder
nach den urſpruͤnglichen und nothwendigen Anſpruͤchen der
Ge-
[305]als eine Actie betrachtet.
Geſellſchaft, immer dieſelben, es mag ſie ein Jude oder
Chriſt beſitzen; ſie mag verkauft, verſchenkt, verliehen, ver-
heuret oder verpachtet werden. Die Perſon des Beſitzers
hat bis dahin nicht den geringſten Einfluß, und ſo iſt auch
auf dieſe die letzte Ruͤckſicht zu nehmen, wenn ein dauerhaf-
tes und vollſtaͤndiges Buͤrger- Bauer- oder Landrecht ent-
worfen werden ſoll.


Allein der wahre Beſtand dieſer Actie oder dieſes Man-
ſus
erfordert eine deſto genauere und umſtaͤndlichere Be-
trachtung. Ihr wahres Maaß, ihre Erhaltung, die Ver-
huͤtung ihrer Verſplitterung, ihre Wiederergaͤnzung, wenn
ſie verſplittert worden, ihr Bau und Gewehr, ihre Ge-
rechtſame in der Mark, ihre Holzung, ihre Beſchwerden,
ihre Verbindlichkeit gegen den Staat, das Amt, das Kirch-
ſpiel und die Bauerſchaft, alles dieſes gehoͤrt zum Sachen-
recht, und muß beſtimmt und beurtheilet werden, ohne
die geringſte Einmiſchung der Perſon, welche die Actie be-
ſitzt. Wenn dieſes in dem erſten Buche eines Landrechts
nach den Localbeduͤrfniſſen und Abſichten jeder Staatscom-
pagnie gehoͤrig auseinander geſetzt worden: ſo kann im
zweyten Buche die Materie von Contracten abgehandelt
werden, und dieſes noch immer wiederum ohne alle Ruͤck-
ſicht auf die Perſon des Actioniſten. Daß von der Actie
nichts veraͤuſſert, nichts beſchweret oder verſetzt, und nichts
zum Brautſchatze mitgegeben werden duͤrfe; daß die Ge-
baͤude der Actie, die darauf erforderliche Viehzucht, und
alles was zum Beſtande derſelben gehoͤret, in gutem Stan-
de ſeyn muͤſſe, damit die gemeine Laſt der Compagnie ge-
tragen werden koͤnne, und der gute Actioniſt zur Zeit der
Noth nicht fuͤr den ſchlechten bezahlen oder dienen muͤſſe;
daß zu mehrerer Sicherheit der Director dahin ſehen muͤſſe,
daß die Holzung der Actie nicht verhauen oder verwuͤſtet,
und der Landbau mit dem gehoͤrigen Fleiſſe getrieben werde;
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Udaß
[306]Der Bauerhof
daß wenn eine gemeine Noth oder ein beſonders Ungluͤck
einen Actioniſten noͤthigt etwas zu verpfaͤnden oder zu ver-
aͤuſſern, dieſes mit Einwilligung des Directors und mit
Vorbewuſt der ganzen Compagnie, das iſt, vor gehegtem
Gerichte, geſchehe; daß hierunter ein gewiſſes gemein be-
ſtimmtes Maaß beobachtet, und jeder Actioniſt auf ſichere
Weiſe angehalten werde, ſeine Actie binnen einer gewiſſen
Zeit von den gemachten Schulden und Laſten wiederum zu
befreyen: dieſes folgt aus dem Weſen der Landactie, und
der Beſitzer derſelben mag frey oder eigen ſeyn, ſo bleiben
demſelben alle Contracte, wodurch dieſes Weſen veraͤndert
werden will, durchaus verboten, und mag auch ein Leib-
eigner mit Einſtimmung ſeines Gutsherrn dawider nichts
unternehmen. Zwar koͤnnen Localumſtaͤnde, und beſon-
ders wenn die zur Landactie gehoͤrigen Gruͤnde nicht in ei-
nem Bezirk, ſondern im gemeinen Felde mit andern ver-
miſcht liegen, gar wohl einige Ausnahmen, wobey auf die
Perſon mit geſehen werden muß, erfordern. So war es
z. E. bey den Roͤmern mit der Praͤſcription und Uſucapion.
Die letztere Art der Verjaͤhrung galt lediglich unter Actio-
niſten, ſo daß durch dieſelbe der Theil einer Actie an einen
andern Compagnon uͤbergehen konnte, wohingegen durch
die Praͤſcription der Theil der Actie aus den Verbindungen
der Compagnie an einen ganz Fremden uͤbergieng; ein Un-
terſchied den die allgemeine Vermiſchung der Menſchen, da
man nemlich den Buͤrger mit dem Einwohner vermengt,
und alles was auf dem Boden des Staats lebt, unter dem
Namen von Territorialunterthanen befaſſet, nachwaͤrts
verbannet hat, ob er gleich in Faͤllen, wo z. E. die zu einer
Hofrolle, oder zu einem Freygericht gehoͤrigen Gruͤnde aus
der Rolle fallen, oder ſchatzbare Gruͤnde durch die Verjaͤh-
rung fuͤr frey erklaͤret werden wollen, ſeinen feinen Nutzen
haben wuͤrde. Hier muß natuͤrlicher Weiſe der Unterſchied
der
[307]als eine Actie betrachtet.
der Perſon, welche etwas durch Verjaͤhrung erlangen will,
in Betracht kommen. Aber dieſes erfordert doch immer nur
noch einen Seitenblick auf dieſelbe, und noch keine Einmi-
ſchung des Perſonenrechts.


Dieſes Sachenrecht aber gehoͤrig zu finden und zu be-
ſtimmen, ſind nur zwey allgemeine Grundſaͤtze noͤthig, als
erſtlich, daß die Actie blos zu getreuer Hand gehalten wer-
de, und zweytens, daß die Geſchaͤfte der Compagnie mit der
mindeſten Aufopferung gefuͤhret werden muͤſſen. In eine
Handlungscompagnie legt man ein gewiſſes Capital entwe-
der baar oder in Credit ein, und erhaͤlt eine Obligation zu-
ruͤck. Bey der Staatscompagnie geht es umgekehrt; hier
legt der Actioniſt dieſe Obligation ein, und behaͤlt das Ca-
pital in Beſitz; dieſe Obligation ſey nun ausdruͤcklich oder
ſtillſchweigend geſchehen; ſie fließt allemal aus der Natur
der Sache. Der Actioniſt im Staat, beſitzt alſo dasjenige,
was die Actie ausmacht, unter einer gewiſſen Verpflichtung,
oder zu getreuer Hand eben wie ein Soldat, dem ein Hof
zur Loͤhnung angewieſen ſeyn wuͤrde; und es thut zur Sa-
che nichts, ob es aufgetragenes oder empfangenes Gut
ſey. Das Geſetz der mindeſten Aufopferung, nach wel-
chem es unerlaubt iſt einen Pfennig aus dem Vermoͤgen der
Compagnie zu verwenden, wenn man mit einem Heller das
Erforderliche beſtreiten kann, iſt das ewige Geſetz des
Staats wie der Natur, und bleibt allezeit die groſſe ideali-
ſche Scheidungslinie zwiſchen dem Directorium und der
Compagnie. Kein Actioniſt hat ſich je der Regel nach zu
einem mehrern verpflichtet, als die gemeine Noth des Staats
erfordert. Hierauf beruhet die groſſe Vermuthung fuͤr
Freyheit und Eigenthum, und was davon abgeht, gehoͤrt
zur Ausnahme die ſo weit ſie kann, auf Vertraͤgen und Be-
willigungen beruhen mag.


U 2Ich
[308]Der Bauerhof

Ich will mich bey den Folgen nicht aufhalten, welche
aus dieſen beyden allgemeinen Grundſaͤtzen flieſſen, aber
doch leicht herausgezogen werden koͤnnen. Der erſte bietet
einem jeden den ganzen Faden des Lehn- oder Beneficial-
rechts dar, und nirgends iſt das Recht der Sachen ſo or-
dentlich und zuſammenhangend vorgetragen, als in dieſem.
Der andre hingegen fuͤhret zu den groſſen Grundſaͤtzen,
worauf bey der Colliſion der gemeinen Laſten und Pachtge-
faͤlle zuruͤckgeſehen werden muß. Alles was das Directo-
rium der Compagnie nach dem Geſetze der mindeſten Auf-
opferung fordert, hat vor allem uͤbrigen den Vorgang:
hier muß der Altar nachſtehn, und die Steine von der Kir-
che muͤſſen das Loch ausfuͤllen, wenn das Meer einbricht
und Land und Leute nicht anders zu retten ſind.


Indeſſen will ich doch noch hier des Hauptcontracts,
worunter die Landactie jetzt in den mehrſten Laͤndern ſteht,
mit wenigen gedenken. Unſre groͤßten Rechtslehrer nen-
nen ſolchen einen Erbpacht, und es iſt nicht zu leugnen,
daß jener ſehr viel aͤhnliches mit dieſem habe. Wenn es
aber doch auf die Frage ankoͤmmt:
Kann denn nun der Verpaͤchter ſeinen Erbpaͤchter ſo
verbinden, wie es ihr beyderſeitiger guter Wille zu-
laſſen will?

eine Frage, die ohnſtreitig die wichtigſte unter allen iſt: ſo
verlaͤßt einen die ganze Lehre von der Erbpacht, nach wel-
cher jene Frage ſicher bejahet werden muͤßte, und man muß
ſich drehen und wenden, um den Schluͤſſen auszuweichen,
welche dieſe Lehre darbietet.


Unſre Vorfahren ſahen lange die Verpachtung der Actie
als eine Ausnahme von der Regel an, und der Zeitpunct
laͤßt ſich aus der Geſchichte beſtimmen, worinn dieſe Aus-
nahme zuerſt durch ſchriftliche Contracte eingefuͤhret wor-
den.
[309]als eine Actie betrachtet.
den. Vorher war alles Beſetzung zu Landrechte, Beſe-
tzung zu Hofrechte, Beſetzung zu Ritterrechte.
Es war
Leihe zu Landſiedelrechte, Behandung, Landſaßigkeit,
Erbesbeſatzung
und was dergleichen Ausdruͤcke mehr ſind,
welche im Grunde ſo viel ſagen wollten, daß der Hof- Land-
oder Gutsherr, die ihm eroͤfneten Guͤter ohne die geringſte
Neuerung und Steigerung der alten Abgiften, zu beſetzen
und zu verleihen ſchuldig ſey. In mehrern Hofrechten
heißt es:


item, da die Huisgenotten von den Gotherrn mit
hohre Pacht und nyn Uplagen beſchweret, aver dat
ſe ureltlick gegeven, dem bedorven ſe nicht to gehor-
ſamen;
()

und der Bauer hat durchgehends den ganz politiſchen und
auf eine kundbare alte Gewohnheit gegruͤndeten Aberglau-
ben, daß derjenige ewig ſpuͤken gehe, der neue Pflichten auf
ſeinen Hof nimmt. Dieſes laͤßt ſich nun mit der Erbpacht
nicht wohl reimen, als welche es nothwendig dem freyen
Willen beyder Partheyen uͤberlaͤßt, ſo viel Pacht auf den
Hof zu legen, als einer davon tragen kann und will.


So bald betrachtet man aber den Hof als eine Actie,
welche der Beſitzer dem Staate oder der Compagnie zu ge-
treuer Hand haͤlt; ſo folgt der Schluß von ſelbſt,
daß ſolche in ihrem Verhaͤltniß fuͤr die Ausgaben des Di-
rectoriums zulaͤnglich ſeyn, und ſo wenig durch Schulden
als durch einige Paͤchte dergeſtalt erſchoͤpfet werden muͤſſe,
daß die Compagnie bey ihm Gefahr laufe. Zwar kann
hierauf auch bey der Erbpacht Ruͤckſicht genommen wer-
den, und der Erbpaͤchter, der die gewiſſen Laſten mit uͤber-
nimmt, ſteht ſeine Gefahr. Allein dieſes gilt nur bey ſol-
chen Staatscompagnien, wo die gemeinen Ausgaben nach
dem ganzen Verhaͤltniß der Actie, nicht aber nach dem Ver-
U 3haͤlt-
[310]Der Bauerhof,
haͤltniß des freyen Ueberſchuſſes, welchen der Erbpaͤchter
behaͤlt, angelegt werden.


Um mich deutlicher zu erklaͤren, will ich den Fall ſetzen,
daß zwey ganze Actioniſten, wovon jeder von ſeiner Land-
actie jaͤhrlich hundert Thaler einzunehmen, der eine aber
funfzig Thaler Pacht, der andre hingegen nichts abzugeben
hat, zu einer gemeinen Ausgabe beytragen ſollen. Wie ſoll
hier die Anlage gemacht werden? Sollen ſie beyde gleich,
oder ſoll der Freye doppelt ſo viel als der Schuldner, bey-
tragen? Im erſten Fall kann es der Compagnie zur Noth
gleichguͤltig ſeyn, ob der letztere viel oder wenig Paͤchte
uͤbernehme. Sie haͤlt ſich an die Actie und laͤßt die Pacht
nicht folgen, wenn die gemeinen Beſchwerden es nicht ge-
ſtatten. Im andern Falle aber widerſetzt ſie ſich der will-
kuͤhrlichen Verpachtung, und findet den Willen des Paͤch-
ters und Verpaͤchters nicht hinlaͤnglich, um der Compagnie
den Werth der halben Actie oder doch wenigſtens ihre ein-
heimiſche Sicherheit zu entziehen.


Noch weiter; der Verpaͤchter hat insgemein ſeinen An-
theil an dem Directorium, der Erbpaͤchter aber nicht.
Geſetzt nun, jener koͤnne ſeine Pacht rein weg ziehen, und
dieſes geſchieht ſo oft die Paͤchte bey der Anlage der gemei-
nen Ausgaben vorabgezogen werden; dieſer aber muͤſſe
ſich alles gefallen laſſen, was ein ſolches Directorium be-
williget: ſo iſt die Erbpacht ein ſolcher Contrakt, wodurch
ſich der Paͤchter der Willkuͤhr des Verpaͤchters unterwirft,
und dieſem fehlt es an einer geſetzmaͤßigen Verbindlichkeit;
ſie iſt ein Contrakt, wo derjenige, der nichts zu verlieren
hat, die Handlung treibt, und derjenige, der fuͤr alles ſte-
hen muß, gar nichts zu handeln hat, ein Contrakt der den
letzten Grund aller buͤrgerlichen Freyheit aufhebt, und
wenn er gleich in der That nicht gefaͤhrlich ſeyn ſollte, den-
noch
[311]als eine Actie betrachtet.
noch immer ein theoretiſches Ungeheuer, ein vielkoͤpfiger Deſ-
potiſmus iſt.


In einigen Staaten hat man dieſes Ungeheuer erkannt,
und daher zur Regel angenommen, daß die Pacht dem
Pachtmanne nicht hoͤher als auf die Haͤlfte ſeines Einkom-
mens geſteigert werden ſolle; und man nennet dergleichen
Leute halben: die vorfallenden oͤffentlichen Laſten tragen
Verpaͤchter und Paͤchter zur Haͤlfte, und obgleich auch hier
der letztere weder Sitz noch Stimme in der Direction hat:
ſo iſt er doch auf ſichere Weiſe dabey repraͤſentirt, weil der
Verpaͤchter um ſeine eigne Haͤlfte zu ſchonen, die andre
nicht ohne die hoͤchſte Noth beſchweren wird. Ein ſolcher
Contrakt, ſo bald er zu einer allgemeinen Regel gemacht
iſt, hat nichts bedenkliches, indem es allenfalls jeder Com-
pagnie frey ſteht, die Actie auf 500 oder 1000 Rthlr. und
den Beytrag davon auf dieſe oder jene Art zu beſtimmen.
Allein wo er keine allgemeine Regel abgiebt, wo der eine
Verpaͤchter um die Haͤlfte, der andre um die dritte, vierte
oder zehnte Garbe mit ſeinem Paͤchter ſchließt, und dieſes
noch dazu ohne Vorwiſſen der Compagnie, da wuͤrde es
eine hoͤchſt unbeſtaͤndige Art der Handlung ſeyn, die Paͤchte
frey vorabgehen zu laſſen, und den gemeinen Beytrag nach
dem Verhaͤltniß des freyen Ueberſchuſſes auszuſchreiben.
Einer von beyden muß die Regel ſeyn, entweder haftet die
halbe Actie oder ein jeder andrer durch einen allgemeinen
Schluß beſtimmter Theil fuͤr die Ausgaben der Compagnie,
und uͤber die andre Haͤlfte moͤgen Paͤchter und Verpaͤchter
nach ihrem freyen Willen contrahiren; oder die ganze Actie
wird in das Compagniekataſter eingetragen, und der Ver-
paͤchter muß nachſtehn, ſo oft die nothwendigen gemeinen
Ausgaben ſo weit gehen, daß er ſeine Pacht nicht erhalten
kann. Wo es anders gehalten wird, da wird der billigſte
Verpaͤchter von dem unbilligen hintergangen. Jedoch wir
U 4muͤſſen
[312]Der Bauerhof,
muͤſſen noch etwas von den Perſonen ſagen, welche die
Actie beſitzen.


Die Abtheilung derſelben hat viele Schwierigkeiten,
weil es unſrer Sprache an geſchickten Ausdruͤcken mangelt,
und der Gebrauch ſo eigenſinnig iſt, daß er oft die wider-
ſinnigſten Dinge mit einander verknuͤpft; wie zum Exempel
in dem Worte: freyadlich, welches zwar mit Recht aufge-
bracht, aber doch ganz widerſinnig iſt. Denn die Benen-
nung adel ſoll den hoͤchſten Grad einer urſpruͤnglichen Frey-
heit erſchoͤpfen; und man konnte nicht freyadlich ſagen, als
bis man die, welche ſich zu Dienſte verpflichtet und ihren
Adel damit aufgegeben hatten, auch noch aus Gefaͤlligkeit
edle nannte. Auſſerdem iſt das Wort frey immer nur rela-
tiv, und bedeutet eine Ausnahme, und Leute die Leibeigen
ſind, koͤnnen Freye und Hochfreye genannt werden, wenn
ſie durch Privilegien von gemeinen Laſten befreyet ſind.
Dieſes macht die Eintheilung ſehr ſchwer.


Mir hat indeſſen allemal die Eintheilung in Wehren
und Leute die beſte zu ſeyn geſchienen. Erſtere gehoͤren fuͤr
ihre Perſonen keinen Menſchen an, letztere hingegen ſind
andern entweder von ihrer Geburt an oder durch Enrolle-
ment verpflichtet oder zugebohren. Nun theile ich erſtlich
die Wehren ab in edle und gemeine,nobiles et ingenuos,
und ob ſich gleich beyde in Dienſte begeben, folglich wuͤrk-
liche Diener ſeyn koͤnnen: ſo ſind es doch allemal edel- und
frey-gebohrne Leute.


Aber auch die Leute theile ich in edle und gemeine ab.
In der erſten Claſſe befinden ſich die Edlen, welche den
Leuteid freywillig abgelegt haben, ſo wie diejenigen, welche
von dieſen im Dienſte gebohren ſind. Die Claſſe der letz-
tern, iſt wie leicht zu erachten, ſehr mannigfaltig und ver-
miſcht, nachdem einer minder oder mehr angehoͤrig gewor-
den
[313]als eine Actie betrachtet.
den oder gebohren iſt. Indeſſen haben doch die deutſchen
Rechte alle Arten gemeiner Leute auf drey Hauptſtaͤmme zu-
ruͤckgebracht, wovon


Der erſte diejenigen enthaͤlt, ſo den kleinen Sterbfall,
als z. E. blos von dem vierfuͤßigen Gute, oder das beſte
Pfand geben;


Der zweyte diejenigen, ſo den groſſen Sterbfall, nem-
lich von ihrer ganzen Verlaſſenſchaft geben muͤſſen; und


Der dritte den Ueberreſt befaßt, der in ſogenannten
Hyen und Hoden ſteckt, und eine kleine Sterbfallsurkunde
entrichtet, es ſey nun daß er ſich dieſe Hode, um nicht von
dem Landesherrn als bieſterfrey gefangen und dem groſſen
Sterbfall unterworfen zu werden, ſelbſt erwaͤhlt hat, oder
ſeiner unterhabenden Gruͤnde halber zu waͤhlen genoͤthiget
worden, wovon die erſtern Churfreye, die letztern aber
Nothfreye genannt worden.


Alles was dem Sterbfalle nicht unterworfen iſt, iſt
auch nicht angehoͤrig oder leibeigen; und Auffarten (laude-
mia)
, Auslobungen, Bewilligungen auf Schulden, Ab-
aͤuſſerungen und andre Einſchraͤnkungen machen nicht die
geringſte Vermuthung gegen eines Mannes perſoͤnliche Frey-
heit, ſo wie hingegen auch die perſoͤnliche Freyheit keinen
Menſchen bey der Actie ſchuͤtzet, wenn er ſolche wider den
Socialcontract verſchuldet, verwuͤſtet oder verſplittert.
Der Sterbfall allein iſt durch die ganze nordiſche Welt die
Urkunde der perſoͤnlichen Angehoͤrigkeit, dieſe mag nun durch
Landgeſetze, Gewohnheit, Religion und Philoſophie in dem
einen Lande mehr oder weniger ſtrenger ſeyn als in dem
andern.


Insgemein hat jede Leibeigenthumsordnung ein Capit-
tel von dem Urſprunge des Leibeigenthums an der Spitze,
worinn oft ruͤhrende Sachen von der Kriegesgefangenſchaft,
U 5von
[314]Der Bauerhof
von den zu Sclaven gemachten Roͤmern, ja wohl gar alte
Hiſtorien aus der Bibel, wo nicht noch andre herzbrechende
Sachen vorkommen. Allein alle dieſe kleinen Unterlagen
tragen das weite Gebaͤude der perſoͤnlichen Angehoͤrigkeit,
das ſich durch die ganze alte Welt erſtreckt und aus der
Hand der Natur koͤmmt, nicht. Der Grund der Angehoͤ-
rigkeit liegt in einer wahren natuͤrlichen Staatsbeduͤrfniß,
die ſich aber von der Zeit an verlohren hat, wie der Be-
griff eines Territorialunterthanen bekannt geworden iſt,
fruͤh bey den Roͤmern, und ſehr ſpaͤt unter den nordiſchen
Voͤlkern. Die Ausfuͤhrung hievon duͤrfte vielen dunkel
ſeyn, und der Kenner wird leicht den Gang der Natur in
der Angehoͤrigkeit entdecken.


Alſo das Capittel in dem Perſonenrecht uͤbergeſchlagen,
und nur zu der Frage uͤbergegangen: Wie iſt die Perſon
beſchaffen welche die Actie beſitzt? iſt ſie angehoͤrig oder
nicht?


Die Unangehoͤrigen haben freye Macht mit ihrem na-
tuͤrlichen
Vermoͤgen, oder allem demjenigen, was ſie nicht
als Actie beſitzen, zu ſchalten und zu walten; die Compa-
gnie hat darauf kein Recht, ſo lange ſie nicht durch Noth
und ſchwere Auflagen gezwungen worden, Perſonen- und
Vermoͤgenſteuren einzufuͤhren, und ſo nach alles was ei-
ner hat, mit zur Actie zu ziehen, welches der hoͤchſte Grad
des Drucks, und der Grund iſt, warum man ſich gegen
alle Perſonen- und Vermoͤgenſteuren ſo lange als moͤglich
wehret.


Die Angehoͤrigen hingegen haben auſſer ihrer gemeinen
Verpflichtung noch eine beſondre, ſo wie Soldaten die zu-
gleich Wirthe auf einem Erbe ſind, und nicht allein zu ge-
meinen Laſten ſteuren, ſondern auch nebenher ihrem Dienſt-
eide genug thun muͤſſen. Vermoͤge der gemeinen Verpflich-
tung
[315]als eine Actie betrachtet.
tung kann dieſen obliegen, ihr Holz nicht zu verhauen;
vermoͤge der beſondern, gar nichts ohne Anweiſung zu faͤl-
len und was dergleichen Einſchraͤnkungen mehr ſind. Die
beſondre Verpflichtung gruͤndet ſich aber doch nicht auf den
willkuͤhrlichen Contract zwiſchen dem Capitain und ſeinen
Soldaten, ſondern auf das allgemeine Kriegsreglement,
oder das Landrecht.


Eine Hauptfrage koͤnnte es nun ſeyn: wie die Compag-
nie zulaſſen koͤnnen, daß dergleichen verpflichtete Perſonen
zu dem Beſitze der Landactie gelangt; und beſonders ſolche
verpflichtete, welche ihre Perſonen voͤllig abhaͤngig gemacht
haben? denn die beſondre Verpflichtung kann doch manchen
hindern im gemeinen Dienſte der Compagnie zu erſcheinen.
Aber man koͤnnte auf gleiche Weiſe fragen: wie koͤmmt es,
daß Soldaten als Wirthe auf dem Hofe geduldet werden,
da es ſich doch ebenfalls zutragen kann, daß der Soldat
im Feld ſeyn muß, wenn der Wirth die Heerſtraſſe beſſern
ſollte? Es ſind dieſes Fehler, welche ſich einſchleichen, je
nachdem die Zeiten ſolche minder oder mehr beguͤnſtigen.
In vielen Laͤndern hat ſich das Directorium der doppelten
Verpflichtung widerſetzt, und in dieſen giebt es keine Voll-
pflichtige oder Leibeigne auch keine Soldaten als Wirthe.


Der Leibeigne war anfaͤnglich ein Menſch ohne Actie;
nachdem aber von der Actie nicht mehr perſoͤnlich gedienet
wurde, und die mehrſten Dienſte in Geld verwandelt, oder
durch Vicarien verrichtet werden konnten, hat der Staat
nachgegeben, doch alſo, daß da, wo es das Geſetz der min-
deſten Aufopferung erfordert, die beſondern Verpflichtun-
gen den gemeinen nachſtehen muͤſſen. Den erſten Anlaß zu
jener Nachgebung gab vermuthlich der Dienſt im Harniſch.
Zwoͤlf Actien mußten einen Mann im Harniſch ſtellen; und
nun konnte es die Compagnie zulaſſen, daß der geharniſchte
Mann
[316]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
Mann nach und nach die eilf Actien, welche zu ſeiner Ruͤ-
ſtung ſteureten, an ſich brachte, und nach ſeinem Gefallen
oder nach Ritterrecht beſetzte. Dieſes mußte unvermeidlich
erfolgen, wenn der Dienſt im Harniſch zunftmaͤßig getrie-
ben, und keiner dazu gelaſſen wurde, ſein Vater haͤtte denn
auch ſchon einen Harniſch getragen; hiedurch blieben die
eilf Actien auf ewig dem Beſitzer der zwoͤlfen verpflichtet,
und die Compagnie wahrete blos den Geharniſchten, ohne
ſich um die eilf uͤbrigen weiter zu bekuͤmmern.


Der Dienſt im Harniſch hat aufgehoͤret, und ſeitdem
hat die Compagnie immer daran gearbeitet, das Recht der
zwoͤlften Actie zu ſchwaͤchen, und die eilfe wieder herzuſtel-
len, jene aber auch alles, was in ihrem Vermoͤgen gewe-
ſen, angewandt, um ihre einmal verjaͤhrten Rechte zu be-
haupten. Wie der Ausgang endlich ſeyn werde, lieſſe ſich
zwar wohl berechnen, jedoch nicht anders als mit Huͤlfe
mehrerer Formeln. So viel bleibt indeſſen gewiß, daß die
zwoͤlfte Actie bey ſteigenden, und die eilf uͤbrigen bey ſin-
kenden Ausgaben der Compagnie, verlieren, und dieſe ih-
ren Verluſt gluͤcklicher, als die erſtern, ertragen wer-
den. Plura latent.



LXIII.
[317]

LXIII.
Die Abmeyerungen koͤnnen dem Hofes-
herrn nicht uͤberlaſſen werden.


Nichts ſcheint dem erſten Anſehen nach unangenehmer
und unſchicklicher zu ſeyn, als daß ein Gutsherr ſei-
nen Leibeignen nicht ſelbſt vom Hofe ſtoſſen kann, ſondern
erſt den Richter darum angehen, demſelben die Urſachen der
Entſetzung anzeigen, und deſſen Urtheil daruͤber erwarten
muß. Man iſt geneigt zu glauben, daß der Gutsherr,
der ſeinem Leibeignen den Hof ohne alle Umſtaͤnde unter-
giebt, denſelben auch billig auf gleiche Art muͤſſe zuruͤck
nehmen koͤnnen; und daß alles was die Gewohnheit oder
das Geſetz dieſer natuͤrlichen Freyheit zuwider eingefuͤhret
hat, ein wahrer Eingrif in die Gutsherrlichen Rechte ſey.
Allein bey einer naͤhern Ueberlegung zeigt ſich bald, daß die
gerichtliche Form, welcher ein Gutsherr ſich unterworfen
hat, ihren ſichern und vortreflichen Grund habe, und daß
man wohl Urſache habe, ſolchen als ein Meiſterſtuͤck der
menſchlichen Ueberlegung zu bewundern.


Denn geſetzt, es koͤnnte der Gutsherr ſeinen Leibeignen
nach eignem Gefallen des Hofes entſetzen: ſo wuͤrde es kein
Freyer wagen, einen Hof unterzunehmen und anzubauen.
Zu welchem Ende, wuͤrde er ſagen, ſoll ich Gebaͤude errich-
ten, Pflanzungen anlegen und mein gutes Geld in fremde
Gruͤnde ſtecken, wenn ich dieſes meines Vermoͤgens durch
eine bloſſe Willkuͤhr beraubet werden kann? Wofuͤr ſoll ich
einen groſſen Weinkauf bezahlen und meine bewegliche Haa-
be dem Sterbfalle unterwerfen, wenn ich weiter keine Si-
cherheit als die leicht zu verſcherzende Gnade meines Herrn
habe?
[318]Die Abmeyerungen koͤnnen dem
habe? Wer wuͤrde mir in Noth und Ungluͤck einen Gro-
ſchen auf Gruͤnde leihen, die ich alle Augenblick verlieren
kann? — Der Gutsherr wuͤrde ſagen: ich wollte daß der
Leibeigenthum aus der Welt waͤre; alle Augenblick koͤmmt
mir der elende Kerl ohne Geld, ohne Credit, und will bald
ein Haus, bald ein Pferd, bald eine Kuh haben; ich muß
des Kerls dumme Streiche bezahlen, und alle ſeine Unvor-
ſichtigkeiten entgelten. Jage ich einen Bettler fort: ſo be-
komme ich einen andern wieder, und ich werde von ihm,
wie von dem vorigen, betrogen.


So wuͤrde allem Anſehen nach die Lage der Sache ſeyn,
wenn nicht die gerichtliche Form zwiſchen dem Gutsherrn
und ſeinem Leibeignen eingetreten waͤre, und dem einen wie
dem andern den Beſitz ſeiner Rechte oͤffentlich und feyerlich
gewaͤhret haͤtte. Durch dieſelbe iſt der Glaͤubiger, der dem
Leibeignen in der Noth ausgeholfen, in billiger Maaſſe ge-
ſichert; der Freye welcher ſich zum Leibeignen ergiebt, wird
dadurch aufgemuntert, den Hof anzunehmen und zu ver-
beſſern, da er weiß, daß ihm ſolcher nicht ohne ſeine eigne
groſſe Schuld entzogen werden koͤnne. Der Werth des
Hofes ſteigt unter der Guarantie des Staats; und der Guts-
herr erhaͤlt den Preis dieſes erhoͤheten Werths und den
Vortheil der gerichtlichen Form in dem Weinkaufe. Er
braucht endlich dem Leibeignen keinen ofnen Beutel zu hal-
ten, weil dieſer unter dem Schutze der gerichtlichen Form
ſelbſt einen billigen Credit findet.


Traurig iſt es nun freylich, wenn dieſe gerichtliche Form
zu einer Zuchtruthe fuͤr die Gutsherrn wird, und die Ent-
ſetzung eines ſchlechten Haushalters dermaſſen erſchweret,
daß auch auf der andern Seite nicht allein der Staat und
die Gutsherrn, ſondern auch der Glaͤubiger, der einem ſol-
chen ſchlechten Wirthe das Seinige aufgeopfert hat, in
groſſen
[319]Hofesherrn nicht uͤberlaſſen werden.
groſſen Verluſt geſtuͤrzet wird. Allein ſo vernuͤnftig und
nothwendig auch die Bemuͤhungen ſind, wodurch man die-
ſer Form eine verbeſſerte Geſtalt zu geben wuͤnſchet, eben
ſo nothwendig iſt auch die Politik, ſich von jenem Grund-
ſatze nicht zu weit zu entfernen, und den Richter zum bloſſen
Ausrichter der gutsherrlichen Willkuͤhr zu machen. So
bald dieſes geſchieht, treten alle obige zuerſt erwehnte Fol-
gen richtig ein: jeder Freyer wird ſich ſcheuen unter ſolchen
Bedingungen in den Leibeigenthum zu treten; aller Credit
faͤllt nothwendig weg; und der Gutsherr traͤgt am Ende
die Laſt eines jeden nichtswuͤrdigen Kerls.


Wenn aber gleich die Regeln, daß eine groͤſſere Stren-
ge der Abaͤuſſerungsurſachen dem wahren Intereſſe des
Gutsherrn zuwider laufe, und daß mildere Geſetze fuͤr bey-
de am zutraͤglichſten ſeyn, dadurch ausgefunden und auſſer
Streit geſetzet ſind: ſo muß ich doch aufrichtig bekennen,
daß man dadurch nur noch wenig gewonnen, und hoͤch-
ſtens den Punkt feſtgeſetzet habe, woraus man die Sache
uͤberſehen muͤſſe. Denn es liegt ſo wenig an der Milde als
an der Strenge der Urſachen, daß wir mit den Abaͤuſſe-
rungen nicht fortkommen koͤnnen, ſondern in der Mannig-
faltigkeit der Umſtaͤnde, welche eben und daſſelbe Verbre-
chen bald vergroͤſſern und bald verkleinern; es liegt auch
zum Theil mit an dem Richter, der ohne den Leibeignen
nach ſeinem wahren Charakter und Haushalt zu kennen,
blos nach demjenigen ſprechen kann und muß, was vor
ihm in den Acten angefuͤhret und erwieſen iſt, welches denn
wiederum nicht allemal in der Kuͤrze geſchehen kann, worinn
man es zu haben wuͤnſcht.


Mord und Raub ſind groſſe Verbrechen, und dennoch
treten oft fuͤr den Schuldigen ſolche beſondre groſſe und
ruͤhrende Umſtaͤnde ein, daß man Muͤhe hat ein Urtheil zu
faͤllen.
[320]Die Abmeyerungen koͤnnen dem
faͤllen. Die Geſetze koͤnnen auf dieſe Verbrechen die Strafe
leicht beſtimmen; aber die verſchiedene Moralitaͤt der Hand-
lungen bleibt immer unter dem vernuͤnftigen Ermeſſen des
Richters. Der menſchliche Verſtand hat hier noch kein
Maaß erfunden, wodurch der Geſetzgeber zu einer ganz
genauen Beſtimmung ſeiner Geſetze gelangen kann. Die
Verbrechen, wodurch ein Leibeigner ſich um den Hof bringt,
laſſen nothwendig noch eine groͤſſere richterliche Ermaͤßigung
zu, weil ſie nicht ſo ſchreyend ſind, wie jene, und folglich
auch den Richter nicht berechtigen koͤnnen, hier ſo wie in
jenen groͤſſern Verbrechen wohl geſchieht, die ganze Mora-
litaͤt bey Seite zu ſetzen und den Thaͤter des Exempels we-
gen die ganze Strenge des Geſetzes empfinden zu laſſen.


Wollte man auf gleiche Art die Moralitaͤt der Hand-
lungen bey den Abaͤuſſerungsurſachen auſſer Betracht ſetzen;
und z. E. den beſten Wirth, der ſich in dem hoͤchſten Grad
der Verſuchung, in einem ungluͤcklichen Augenblick, worinn
vielleicht der rechtſchaffenſte Mann gefehlet haͤtte, einen
Ehebruch zu ſchulden kommen laſſen, ſo fort mit Weib und
Kindern vom Hofe jagen: ſo wuͤrde man gegen alle Politik
handeln, und die Sicherheit der Glaͤubiger, die dem beſten
Wirthe, in den beſten Umſtaͤnden und in der groͤßten Noth
geborget, von einer Schwachheitsſuͤnde abhangen laſſen,
und jeden abſchrecken einem ſolchen Manne (vor einem lie-
derlichen Wirth kann ſich ein jeder huͤten) auszuhelfen.
Will man aber die Moralitaͤt mit in Betracht ziehen: wel-
cher Meiſter wird dann die Grenzlinie ziehen koͤnnen?


Wollte man ſagen: der Proceß ſoll ganz ſummariſch
ſeyn, und Ein Urtheil das Gluͤck oder Ungluͤck des Men-
ſchen entſcheiden; oder alle Verſchickung der Acten ſoll in
dieſem Falle verboten ſeyn: ſo erreichte die Sache freylich
ein kuͤrzers Ziel; aber wird ein Freyer ſich auf dieſen Wurf
eigen
[321]Hofesherrn nicht uͤberlaſſen werden.
eigen geben, oder ein Glaͤubiger darauf borgen? und wird
der Gutsherr ſo viel Vertrauen auf einen einzelnen Richter
oder einen von dieſem erwaͤhlten Referenten ſetzen, um es
auf deſſen Urtheil allein ankommen laſſen? Wuͤrde nicht in
einem ſolchen Falle wenigſtens das Urtheil eines Collegiums
noͤthig ſeyn? und kann man hoffen, wenn dieſes dazu an-
geſetzet, mithin alle fernere Appellation verboten wuͤrde,
daß die Reichsgerichte ſich dadurch die Haͤnde binden laſſen
wuͤrden?


Niemand kennet unſtreitig einen ſchlechten Wirth beſſer
als ſeine Nachbaren, und die Eingeſeſſenen des Kirchſpiels:
dieſe wiſſen es aufs genaueſte was er fuͤr ein Vogel ſey,
und ob man von ihm noch Beſſerung hoffen koͤnne Koͤnnte
man ſich ihre Entſcheidung ohne Eigennutz und ohne Ab-
ſichten gedenken: ſo wuͤrde ihr Urtheil das ſicherſte und ge-
ſchwindeſte ſeyn; man brauchte keine Entſcheidungsgruͤnde
von ihnen zu erfordern und kein Glaͤubiger wuͤrde ſich
fuͤrchten; die vollkommenſte Beruhigung wuͤrde auf allen
Seiten ſeyn koͤnnen: aber die Eingeſeſſene des Kirchſpiels
ſind mehrentheils unter einander verwandt; ſie haben an
dem Beklagten zu fordern und wollen nicht gern verlieren;
ſie ſind, wenn es zum Entſcheiden koͤmmt, furchtſam und
mitleidig; ſie ſind natuͤrlicher Weiſe mit einander gegen die
Gutsherrn; und ſo faͤllt auch dieſe Art des Verfahrens,
worauf ſich ſonſt ein jeder mit Sicherheit ſtuͤtzen koͤnnte,
auſſer Betracht. Die Eingeſeſſene eines andern Kirchſpiels
koͤnnen aber keine Urtheiler abgeben, weil ſie den ſchlechten
Wirth in ſeinem ganzen Umfange nicht genugſam kennen.


Bey ſo bewandten Umſtaͤnden verdienen hauptſaͤchlich
diejenigen Abaͤuſſerungsurſachen, welche der Augenſchein
darlegt, und die der Richter des Orts mit Zuziehung der
Churgenoſſen, ſo fort auſſer Zweifel ſetzen kann, allemal
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Xdie
[322]Die Abmeyerungen koͤnnen dem
die vorzuͤglichſte Aufmerkſamkeit. Wahr iſt es zwar, daß
ein Hagelſchlag, ein Mißwachs, ein Viehſterben, ein ſo
genanntes Ungluͤck am Vieh, ein gerechter aber ſchwerer
Proceß und viele andre Umſtaͤnde einen Leibeignen dergeſtalt
zuruͤck bringen koͤnnen, daß ſeine Gebaͤude und Zaͤune, den
Gebaͤuden und Zaͤunen eines liederlichen Wirths voͤllig aͤhn-
lich ſehen; wahr iſt es auch, daß dergleichen Strafen Got-
tes wohl einen ehrlichen Mann in die Verſuchung fuͤhren
koͤnnen, die Axt an eine heilige Eiche zu legen, oder ſein
Buͤchenholz etwas ſtaͤrker anzugreifen, als ein anderer.
Allein wenn doch der Augenſchein zuerſt geredet, und den
Leibeignen mit dem Beweiſe jener Ungluͤcksfaͤlle, in ſo fern
er etwas erhebt, beladen hat: ſo pflegt ſich die Sache doch
bald aufzuklaͤren, indem der Grund oder Ungrund jener
Ungluͤcksfaͤlle mit einiger Muͤhe leicht uͤberſehen werden kann.


Das ſicherſte Mittel unter allen wuͤrde ſeyn, die etwa-
nige Beſſerung, welche ein Leibeigner in dem Hofe hat,
meiſtbietend zu verkaufen, und ihn und die Glaͤubiger mit
dem daraus erhaltenen Gelde abzufinden; alsdenn beduͤrfe
es gar keiner beſondern Abaͤuſſerungsurſachen, ſondern man
verfuͤhre mit den Leibeignen wie mit den Freyen, wenn ſie
ihre Schulden nicht bezahlen koͤnnen. Dieſe Beſſerung
koͤnnte man durch Churgenoſſen (erwaͤhlte Achtsleute) ſchaͤ-
tzen, und wenn der Gutsherr die Schaͤtzung bezahlte, dem-
ſelben gegen deren Erlegung den Hof zur anderweiten Be-
ſetzung uͤberlaſſen. Der Gutsherr behielte von der Schaͤ-
tzung was er ſelbſt zu fordern haͤtte, und befetzte ſodann
den Hof mit andern nach ſeinem Gefallen. Wollten die
unbewilligten Glaͤubiger ſich dieſes nicht gefallen laſſen;
ſo muͤßten ſie einen beſſern Kaͤufer ſtellen, der ein mehrers
fuͤr die Beſſerung erlegte, ſo dann ſich zum Leibeignen uͤber-
gaͤbe. Von dem Uebergebot erhielte der Gutsherr die
Haͤlfte
[323]Hofesherrn nicht uͤberlaſſen werden.
Haͤlfte zum Weinkauf, und die uͤbrige Haͤlfte waͤre fuͤr die
Glaͤubiger.


Allein es iſt dieſes nur ein Vorſchlag, wogegen ein an-
drer leicht neue Bedenklichkeiten, beſonders, wenn man
erſt fragen wuͤrde: worinn die Beſſerung beſtehe? vorbrin-
gen wird. Mein heutiger Wunſch wird indeſſen erfuͤllet,
wenn man nur uͤberzeugt wird, daß das Ziel was man
ſucht, ſo leicht nicht zu erreichen ſey, wie viele wohl glau-
ben moͤgen.



LXIV.
Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs-
oder Abmeyerungsurſachen.


Es iſt ſchon lange eine allgemeine Klage der Gutsherrn
geweſen, daß ſie viele ſchlechte und liederliche Wirthe
auf ihren Hoͤfen dulden muͤßten, weil ihnen die Richter zu
viele Schwierigkeit machten, wenn ſie ſolche davon ſetzen,
oder wie man hier ſagt, abaͤuſſern wollten. Man glaubte
zwar derſelben durch die Eigenthumsordnung voͤllig abzu-
helfen, indem man die Faͤlle, worinn eine Abaͤuſſerung ſtatt
finden ſollte, namentlich beſtimmte, und den Richter an-
wies ohne alle Weitlaͤuftigkeit zu verfahren. Allein die Kla-
ge iſt immer noch dieſelbe, es ſey nun, daß der Menſchen
Witz, deſſen Erfindungen in allen Handlungen ſo buͤndig
ausgeſchloſſen werden, immer noch eine Luͤcke findet, wo-
durch er ſeinem alten Lehrmeiſter das: On ne penſe jamais
à tout
zuruft; oder daß der Geſetzgeber die Urſachen der
Abaͤuſſerung (weil von zween Perſonen, die ſich des nemli-
chen Verbrechens ſchuldig machen, die eine oft Mitleid,
die andre aber eine ſtrengere Strafe verdienet) nicht zu all-
X 2gemei-
[324]Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs
gemeinen Regeln fuͤr alle Faͤlle erheben kann. Dem ſey
nun aber wie ihm wolle: ſo iſt die Betrachtung der Ab-
aͤuſſerungsurſachen, womit ſich jetzt unter uns die groͤßten
Maͤnner beſchaͤftigen, eine der wichtigſten fuͤr den Staat,
deſſen Wohlfahrt nothwendig ſehr darunter leidet, wenn
ſchlechte Wirthe auf den Hoͤfen, ihren Ackerbau verſaͤumen,
ihr Gehoͤlze verderben, ihre Spannung vermindern, ihren
Viehſtapel ſchwaͤchen, und weder Muth noch Kraͤfte zu
neuen Unternehmungen und Verbeſſerungen beſitzen. Wie
mancher Hof wuͤrde doppelte Fruͤchte tragen, wenn ſtatt
des jetzigen faulen Gebluͤts, oder ſtatt der ſchwachen Heuer-
leute ein froher arbeitſamer und vermoͤgender Wirth darauf
geſetzet wuͤrde?


Allein dieſe Betrachtungen werden nie das rechte Ziel
treffen, ſo lange man blos bey dem Eigenbehoͤrigen ſtehen
bleibt, und ſich durch dieſe Einſchraͤnkung den ganzen Ge-
ſichtspunkt, worinn die Sache betrachtet werden muß, ver-
dirbt. Die Abaͤuſſerung hat mit der Leibeigenſchaft nicht
ſo viel gemein als man glaubt. Sie iſt die Verbannung
eines unwuͤrdigen Mitgliedes aus der Reihepflichtigen
Geſellſchaft
, und dieſes Mitglied mag Rittereigen oder
Hofhoͤrig, Churmuͤndig oder Nothfrey, ja es mag der ur-
ſpruͤngliche Eigenthuͤmer des unterhabenden Hofes ſeyn:
ſo muß es abgeaͤuſſert werden koͤnnen, ſo bald es den Be-
dingungen zuwider handelt, welche die reihepflichtige Ge-
ſellſchaft zu ihrer Erhaltung und Vertheidigung eingegan-
gen iſt, und eingehen muͤſſen.


Man ſetze nur einen Augenblick den Fall, daß hundert
Hoͤfe einen kleinen Staat ausmachen, der ſeine oͤffentliche
Laſten hat; und daß die Haͤlfte davon mit Leibeignen, die
andre Haͤlfte aber mit Freyen beſetzet ſeyn. Werden hier
die Leibeignen den Freyen geſtatten koͤnnen.


a) ihre
[325]oder Abmeyerungsurſachen.
  • a) ihre Hoͤfe mit Schulden zu beſchweren?
  • b) ſich bey Gelegenheit der Erbfaͤlle mit uͤbermaͤßigen
    Abſteuren zu entkraͤften?
  • c) ihr Spannwerk auſſer Stand zu ſetzen?
  • d) ihr Gehoͤlze zu verhauen?
  • e) ihre Staͤtten zu verſplittern?
  • f) ſolche zu verlaſſen und mit Heuerleuten zu beſetzen?

Werden ſie nicht ſo fort ihr Oberhaupt, dem ſie die Voll-
macht zur Erhaltung der Reihepflichten gegeben, angehen,
und ihn bitten, den Freyen dieſe dem gemeinſchaftlichen In-
tereſſe der Geſellſchaft nachtheilige Unternehmungen zu un-
terſagen? oder werden ſie, wenn Fuhren, Einquartierun-
gen und andre gemeine Werke vorfallen, wozu Futter,
Korn, Spann, Holz, Geld und andre Lieferungen erfor-
dert werden, fuͤr jene Freyen, die ihr Holz verdorben, ihre
Haͤuſer abgebrochen, ihre Staͤtten verſplittert und ſich in
Schulden vertieft haben, den Vorſchuß thun, und dennoch
geſchehen laſſen, daß jene Freyen ſich immer mehr zu Grun-
de richten? Dies wird ihnen gewiß nie angemuthet werden
koͤnnen, und ſo iſt es offenbar, daß es gar keine ſonderliche
Verſchiedenheit in Anſehung der Abaͤuſſerung mache, ob der
reihepflichtige Hof mit einem Leibeignen oder mit einem
Freyen beſetzet ſey.


Die ganze Blendung, welche man ſich bisher hieruͤber
gemacht hat, ruͤhrt einzig und allein davon her, daß die
mehrſten gemeinen Laſten in neuern Zeiten mit Gelde beſtrit-
ten und zu einer Generalcaſſe bezahlet worden, und der
Staat hierauf nicht ſo genau darnach geſehen, ob er dieſes
Geld aus eines Heuermanns, Paͤchters, Winners oder ei-
nes Wehrfeſters Haͤnden empfangen; folgends ſeine ganze
Auſmerkſamkeit auf die Ermaͤchtigung des Geldes gerichtet
X 3und
[326]Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs-
und ſich um die Wirthſchaft der Freyen zum groſſen Nach-
theil der reihepflichtigen Leibeignen faſt gar nicht mehr be-
kuͤmmert; ein Fehler, deſſen Folgen immer gefaͤhrlicher wer-
den muͤſſen, da viele, die ſich frey kaufen, ihre Holzungen
angreifen, Laͤndereyen veraͤuſſern, auch wohl ihr ganzes
Erbe ſtuͤckweiſe verheuren, und ihren ganzen Haushalt ein-
gehen laſſen; ohne daß der Beamte, der die Rechte der
reihepflichtigen Geſellſchaft zu vertheidigen hat, ſich in die-
ſem Stuͤcke um ihre Wirthſchaft bekuͤmmern und in die
Stelle der Gutsherrlichen Localcontrolle treten darf.


Nichts beweiſet den geringen Unterſchied unter Leibeig-
nen und Freyen, welche auf reihepflichtigen Hoͤfen ſitzen,
deutlicher, als die Bemuͤhungen der Rechtsgelehrten, wel-
che von der unvollkommenen Freyheit der Bauern ge-
handelt; und die Zeugniſſe der Beamten und Richter, wo-
durch ſie alle ſogenannten Freyen in Leibeigne umgeſchaffen
haben. Der Uebergang von der einen Art zur andern iſt in
dem Falle, wo ſie in einer Reihe ſtehen, faſt unmerklich;
aber der Grund davon keinesweges eine ehemalige Sclave-
rey, wie jene Gelehrte behaupten, und manche gern ſchlieſ-
ſen moͤgten, ſondern der ſimple Satz, welchen ich nicht beſ-
ſer als mit den Worten des Verfaſſers du Traité des vertus
et des recompenſes
ausdruͤcken kann. Dieſer ſagt: L’aſ-
ſemblage de toutes les portions de liberté que chaque par-
ticulier a ſacrifiées pour le bonheur public, forme les for-
ces et le treſor de chaque nation. Le Souverain en eſt le
depoſitaire et l’adminiſtrateur de droit
Das heißt unge-
ſehr ſo viel: Wenn Landbeſitzer eine Geſellſchaft zur gemein-
ſamen Vertheidigung errichten: ſo ſchlieſſen ſie ſo viel von ih-
rer Freyheit und von ihrem Vermoͤgen zuſammen, als zur
Erhaltung des Endzwecks noͤthig iſt; und vertrauen die
Aufſicht uͤber dieſes Zuſammengeſchoſſene einem Oberhaupte
an.
[327]oder Abmeyerungsurſachen.
an. Auf dieſe Weiſe haben alle Freyen ſich der natuͤrlichen
Freyheit ihr Holz zu verwuͤſten, ihre Hoͤfe zu verſplittern,
ihre Spannungen abzuſchaffen und ſich in Schulden zu
vertiefen, weil ſolches der gemeinſchaftlichen Reihe nach-
theilig iſt, urſpruͤnglich begeben; und der Beamte, der an
die Stelle des Oberhaupts ſteht, fordert im Namen der
ganzen Geſellſchaft mit Recht, daß ſie in vorkommenden
Nothfaͤllen ohne ſein Vorwiſſen, Ermeſſen und Bewilligen,
nichts zum Nachtheil des Erbes unternehmen ſollen. Ja
man kann ſagen, es giebt gar kein Eigenthum unterm
Amte
, weil der natuͤrliche Eigenthuͤmer ſolches beym An-
fang der Geſellſchaft nothwendig aufgeben muͤſſen. Moſes
in der Theocratie ſagte: Die Erde iſt des Herrn; und in
unſern Verfaſſungen heißt es: Die Erde iſt des Staats.
Eigenthum findet ſich blos im Stande der Natur und der
Exemtion. Die Sprache hat hier einen zu ſtarken Einfluß
auf unſre Begriffe gehabt; und ſie wuͤrde ſchon manches
Land um ſeine ganze Verfaſſung gebracht haben, wenn nicht
eine Menge von Leuten die Wahrheit im Gefuͤhl gehabt
haͤtten, und mit den undeutlichſten Begriffen auf richtige
Folgen gekommen waͤren.


Schade nur, daß man dieſe Begriffe uͤberhaupt nicht
eher philoſophiſch behandelt, und vielmehr die Schluͤſſe be-
guͤnſtiget hat, welche von dem Mangel des Grundeigen-
thums unter dem Amte, auf die wuͤrkliche Leibeigenſchaft
gemacht ſind: denn eben daher ruͤhret die beſtaͤndige Beſtre-
bung eines groſſen Theils der Menſchen, ſich, wo immer
moͤglich, den gemeinen Laſten oder dem Amte zu entziehen,
weil es einen Verdacht der Leibeigenſchaft erweckt; und wir
moͤgen es als die Haupthinderniß anſehen, warum wir in
Weſtphalen auf ſchatzpflichtigen Hoͤfen keine ſolche Land-
haͤuſer und Landmaͤnner haben, wie wir in England an-
treffen, daß alle diejenigen, die ſich fuͤhlen und Kraͤfte ha-
X 4ben,
[328]Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs-
ben, die reihepflichtige Hoͤfe fliehen und dieſelbe einem Leib-
eignen uͤbergeben; welches nicht geſchehen wuͤrde, wenn
die perſoͤnliche Freyheit unterm Amte mehr geſichert und
geehret worden waͤre.


Um aber wieder auf den Hauptſatz zu kommen: ſo glau-
be ich es ſattſam dargethan zu haben, daß die Abaͤuſſerung
uͤberhauvt ſo wohl gegen freye als leibeigne Beſitzer reihe-
pflichtiger Hoͤfe Statt finde. Zwar wird man mir hier
einwenden, daß ich gleichwohl hierinn den Gerichtsgebrauch
und den Mangel eines ausdruͤcklichen Geſetzes gegen mich
haͤtte. Allein ich antworte, daß die Abaͤuſſerung der Rit-
tereignen und Hofhoͤrigen auſſer allem Zweifel ſtehe; daß
ferner die moͤgliche Abaͤuſſerung der Ravensbergiſchen, Wet-
teriſchen und andern Freyen genugſam erwieſen; daß der
Schluß, welcher gegen dieſe gilt, auch gegen die Noth-
freyen gelte, und ſchon oft gegolten haben wuͤrde, wann
dergleichen Leute nur auf ſolchem reihepflichtigen Gute ſaͤſ-
ſen, wovon ſie Laͤndereyen verſplittern, Gehoͤlze verhauen,
und Spannung vernachlaͤßigen, mithin ſich in den Fall
einer Abaͤuſſerung verwickeln koͤnnten. Es bleiben alſo blos
die Sonderfreyen, welche ſchatzpflichtige Guͤter beſitzen,
und weder Rittereigen noch Hofhoͤrig, noch in einer Freyen-
rolle ſind, uͤbrig, und von dieſen behaupte ich, daß ſie ſich
insgeſamt in der Zeit von zweyhundert Jahren freygekauft,
und es blos der Nachlaͤßigkeit ihrer Unterbeamte zu danken
haben, daß ſie nicht zu einer oder andern Freyenrolle gezo-
gen und den Ravensbergiſchen und Wetteriſchen Freyen
gleich gemacht worden. Denn die Regel: ut liberi ſubſint
advocatiœ
, findet ſich durch ganz Deutſchland a), und in
allen
[129[329]]oder Abmeyerungsurſachen.
allen unſern alten Amtsregiſtern geht die Ordnung alſo:
daß zuerſt die Freyen und dann die Kloſterleute mit ihren
Schutzurkunden, Schatzungen und freyen Dienſten, zu-
letzt aber die Hof hoͤrige mit ihren Schulden und Paͤchten
vorkommen; und wuͤrden diejenigen, die ſich binnen den
letztern zweyhundert Jahren von einem Gutsherrn freyge-
kauft haben, und auf reihepflichtigen Hoͤfen ſitzen (denn
mindere haben Churmund oder die Wahl der Hode), ſich
hier gewiß eben ſo wie in andern Laͤndern unter die Zahl
der Freyen eingeſchrieben finden, wenn darauf ſofort waͤre
geachtet worden; nicht eben darum, weil es ein oder an-
der altes Recht ſo mit ſich bringt b), ſondern weil es die
Noth erfordert, und das vorangezogene Recht der reihe-
pflichtigen Geſellſchaft durchaus erheiſcht, daß ſie unter
einer beamtlichen Localcontrolle ſtehen. Der Landmann
muß ſich vom Hofe, wie der Soldat von ſeinem Solde
und mit der ihm anvertrauten Ruͤſtung wehren. Beyde
werden abgeaͤuſſert oder aus der Reihe geſtoſſen, wenn
ſie ihr Gewehr verſetzen, und ihren Sold zu geſchwind
verzehren, und macht es keinen Unterſchied, ob jener ſei-
nen Hof dem gemeinſchaftlichen Oberhaupt aufgetragen
oder von ihm empfangen habe. Der Landmann beſitzt die
Actie zu getreuen Haͤnden, wovon die Eompagnie den
Handel fuͤhret. Dieſe wuͤrde aber mit groſſer Unſicherheit
beſtehen, wenn der Actionair das Capital veruntreuen
wollte.


X 5Ich
[330]Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs-

Ich will jedoch hiermit gar nicht ſagen, daß gegen
Freye und Leibeigene aus einerley Urſachen zur Abaͤuße-
rung geſchritten werden koͤnne. Der Leibeigene ſteht ins-
gemein in einer doppelten Verbindung; wovon die erſte
ſich auf das Wohl des Staats, die andere aber auf ei-
nem Pachtcontrakt zwiſchen ihm und ſeinem Gutsherrn
gruͤndet. Die erſte verpflichtet zum Exempel den Freyen
nur, ſein Gehoͤlz nicht zu verhauen, die andere aber ver-
hindert den Leibeigenen uͤberhaupt, ſein Blumenholz ohne
Bewilligung anzugreifen und ſo verſteht es ſich von ſelbſt,
daß die Abaͤuſſerungsurſachen in allgemeine, welche ſo-
wol Freye als Leibeigene betreffen, und in beſondre, wo-
durch letztere allein verbunden werden, abgetheilet wer-
den muͤſſen.


Eben ſo hat die Gutsherrlichkeit einen doppelten
Grund, als einmal die vogteyliche Befugniß, kraft wel-
cher der Gutsherr gleichſam von obrigkeitlichen Amtswe-
gen dahin ſieht, daß ſein Leibeigener nicht gegen das Wohl
des Staats wirthſchafte, und dann das aus dem Pacht-
contrakte hervorgehende Recht, vermoͤge weſſen er von
ſeinem pachtpflichtigen Eigenbehoͤrigen fordert, ſich ſeinem
Contrakte gemaͤß zu verhalten. Beyde Befugniſſe koͤnnen
auch getrennet ſeyn. So hat zum Exempel der Gutsherr,
der ein Erbe auf Zeit- oder Erbwinn ausgethan hat, uͤber
den freyen Beſitzer deſſelben nicht die vogteylichen Gerecht-
ſame, und umgekehrt derjenige, ſo von einem Freyen nur
Schutzrinder, Schuldkoͤrner, oder Schuldſchweine, aber
keine Paͤchte zu erheben hat, blos die Vogtey, und er
kann im erſten Fall nur auf die Aeuſſerung klagen, wenn
der Freye ſeinen Pacht- oder Winncontrakt nicht erfuͤllet;
und im andern blos wenn er den urſpruͤnglichen Bedin-
gungen der reihepflichtigen Geſellſchaft zuwider handelt.
Wo
[331]oder Abmeyerungsurſachen.
Wo der Leibeigne Pachtpflichtig iſt, wird durch die Ab-
aͤuſſerung das Erbe dem Verpaͤchter erlediget; wo aber
der Freye blos unter der Gutsherrlichen Vogtey ſtehet, kann
es ihm dem Herkommen oder der Billigkeit nach verſtattet
ſeyn, ſein Erbe einem andern annehmlichen Manne zu
uͤbergeben, und ſich auf dieſe Weiſe als ein untuͤchtiger
der reihepflichtigen Geſellſchaft zu entziehen. Die Roͤmer,
welche blos die Gutsherrlichkeit ohne Vogtey kannten,
waren ſtrenge gegen jeden Pacht- oder Zinspflichtigen,
wenn er ſeinen Canon nicht bezahlte; die Deutſchen hin-
gegen, welche dem Gutsherrn mit der Vogtey die Macht
der Selbſthuͤlfe gegen ſeinen Leibeignen und Schutzfreyen
eingeraͤumet haben, waren gelinder, und legten es mehr
dem Gutsherrn zur Laſt, wenn er ſeine Gefaͤlle zuruͤckſte-
hen ließ. Dieſemnach iſt auch das gedoppelte und ein-
fache Recht des Gutsherrn wohl von einander zu unter-
ſcheiden.


Wird dieſer und jener Unterſcheid nicht zufoͤrderſt deut-
lich auseinander geſetzt: ſo wird die Klage des Gutsherrn
nie aus dem Grunde gehoben werden, und jeder Schritt,
den man zur Verbeſſerung thut, einen neuen Anſtoß fin-
den. Zum Exempel will ich nur den Satz aus der Eigen-
thumsordnung nehmen, wo es heißt:


Wenn ein Eigenbehoͤriger das Erbe mit ſo vielen Schul-
den beſchwert, daß ſie den Werth des Erbes nach Pro-
portion der Pachtlieferung zu 3 p. C. erreichen oder
gar uͤberſteigen: ſo ſoll es pro unica cauſa diſcuſſio-
nis
gehalten werden.
()

Dieſer iſt in der That ſo vernuͤnftig und ſo billig gewaͤhlet,
als es ein leibeigner Paͤchter verlangen kann. Wie will
man aber hier zu Rechte kommen, wenn man nicht weis,
ob
[332]Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs-
ob der Pflichtige blos unter der Gutsherrlichen Vogtey
oder auch zugleich unter einem urſpruͤnglichen Pachtcon-
trakt ſtehe? Schuldkorn iſt kein Pachtkorn. Ein Schuld-
oder Holzſchwein iſt kein Pachtſchwein. Das Dienſtgeld
was fuͤr die Vogteyfrohne bezahlet wird, iſt kein Pacht-
geld; Spanndienſte, ſo in der Stelle der Frohnen getre-
ten; Herbſt und Mayſchatzgelder, Schutzrinder, Zehnt-
korn und was dergleichen mehr ſind, die ſowohl Leibeigne
als Freye entrichten, ſetzen keinen Pachtcontrakt, ſondern
die vogteyliche Befugniß voraus, und die Verwechſelung
dieſer ganz unterſchiedenen Begriffe hat bisher jene fuͤr je-
den leibeigenen Paͤchter nicht unbillige Verordnung voͤllig
unbrauchbar gemacht, und mehrmalen die Frage veran-
laſſet: Ob dann ein Leibeigener, der von dem groͤßten
Hofe jaͤhrlich nur einen Schilling entrichtet, ſofort abge-
aͤuſſert werden koͤnne, wenn er mehrere Schulden gemacht,
als mit dem dritten Theil dieſes Schillings zu drey 3 p. C.
verzinſet werden konnten? Wo ſteht es aber geſchrieben,
daß dieſer Schilling eine Pacht ſey? Die Alten ſind keine
ſolche Narren geweſen, daß ſie einen Hof ſo wohlfeil ver-
pachtet haben ſollten. Wahre Paͤchte, ſind dem Ertrag
des Hofes, nach Abzug der oͤffentlichen Vertheidigung deſ-
ſelben, ziemlich angemeſſen, und ſie unterſcheiden ſich
durch ihre Groͤſſe leicht von vogteylichen Gefaͤllen.


Eine andere Urſach der Abaͤuſſerung in der Eigenthums-
ordnung, nemlich dieſe:


Wann eine eigenbehoͤrige Perſon ſich dem ſchaͤndlichen
Hurenleben ergiebt, imgleichen Ehebruch oder Diebſtal
begehet, oder ſonſt einer groben Miſſethat uͤberfuͤhret
wird, wodurch dem Erbe eine ſchwere Laſt zuwaͤchſt;
ſo iſt ſolches alleinig pro cauſa diſcuſſionis zu achten.
()

hat
[333]oder Abmeyerungsurſachen.

hat ſehr vieles von ihrem innerlichen Gehalte verlohren,
weil man hier blos auf das Verhaͤltniß zwiſchen den Leib-
eignen und Gutsherrn als Erbverpaͤchtern geſehen hat;
der allenfalls zufrieden iſt, einen ſchlechten Kerl, wenn
er ſonſt richtig bezahlt, auf dem Hofe zu laſſen, ſo lange
der Staat ihn nicht verbannet. In der That aber gehoͤrt
dieſe Urſache zu den allgemeinen, und die Beamte ſollten
jeden Freyen, und der Gutsherr, kraft der vogteylichen
Gerechtſame, jeden Leibeigenen, der ſich ſo ſchaͤndlich be-
traͤgt, des Hofes entſetzen koͤnnen. Ein Soldat mag noch
ſo ſchoͤn gewachſen und noch ſo tapfer ſeyn: ſo wird er vom
Regiment gejagt, ſo bald er etwas begeht, was mit der
Dienſtehre nicht beſtehen kann. Eine gleiche Denkungs-
art herrſchte unter den urſpruͤnglichen Reihepflichtigen bey
den Deutſchen, und dem Staat iſt daran gelegen, um
die gemeine Reihe bey Ehren folgends mit dieſer Ehre
Ackerbau und Amtsſaͤßigkeit in Anſehen zu erhalten, dieſe
Denkungsart nicht zu ſchwaͤchen. Daß der Mann oder
die Frau, welche in ſolchem Falle durch den ſchuldigen
Theil mit ins Ungluͤck gezogen wird, eine Auffahrt (lau-
demium
) bezahlet habe, iſt zwar ein hinlaͤnglicher Grund
fuͤr den Gutsherrn als Erbverpaͤchtern, um ſie nicht zu
verſtoſſen, aber nicht fuͤr den Gutsherrn, in ſo fern er
die Vogtey hat, oder fuͤr den Staat, der in vielen Faͤl-
len mit einer Dienſt und Hofeserlaſſung mehr als mit ei-
ner Landesverweiſung und Zuchthausſtrafe ausrichten
kann.


Ich wuͤrde zu weit gehen, wenn ich die Verwirrung,
welche daher, daß man entweder immer mit dem engen
Begriffe einer Erbpacht in die Sache hineingegangen, oder
ganz verſchiedene Menſchen unter Eine Regel zwingen wol-
len, entſtanden ſind, mit einander anzeigen wollte. Es
verlohnet ſich auch nicht der Muͤhe, und alles was aus
den
[334]Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs-
den Abaͤuſſerungsurſachen nach jenen Begriffen gemacht
werden kann, wird der Abſicht, die man hat, nie ent-
ſprechen. Um die Beſchwerden aus dem Grunde zu he-
ben, muß das ganze zuſammengeflickte Gebaͤude in die
Luft geſprenget und ein ganz neues dafuͤr aufgefuͤhret wer-
den, wovon die beyden Grundpfeiler folgende ſeyn muͤſſen:
„Jeder reihepflichtige Hof, er ſey beſetzt wie und von
„wem er wolle, iſt in Gefolge des geſellſchaftlichen
„Originalcontrakts eine Pfruͤnde des Staats, oder
„wenn man lieber will, ein Stammlehn oder Fideicom.
„mißgut, welches der Beſitzer auf Zeitlebens zu ver-
„theidigen und zu nutzen hat, und mit ſeinem Tode
„demjenigen eroͤfnet, der durch die Geſetze dazu geru-
„fen iſt; und ferner
„Kein Sohn oder Nachfolger am reihepflichtigen
„Hofe iſt verpflichtet, ſeines Vaters oder Vorgaͤngers
„Schulden zu bezahlen, in ſofern ſie nicht bewilligt ſind.


Iſt dieſes erſt feſtgeſetzt; wie es die wahren deutſchen
Rechte, Noth und Vernunft erfordern; ſo wird ſich das
uͤbrige leicht beſtimmen laſſen. Die Pflichten eines Pfruͤn-
deners oder Beneficanten ſind bekannt. Man weiß:


  • 1) In welcher Maaße er das Eichen- und Buͤchen-
    holz auf ſeinen Wehdumsgruͤnden angreifen darf;
  • 2) Wie er die Pfruͤnde mit keinen Schulden beſchwe-
    ren moͤge;
  • 3) Wie er in Nothfaͤllen, auf Erkenntniß und mit
    Vorwiſſen ſeiner Obern, Gelder darauf leihen kann, die
    ſein Nachfolger bezahlen muß;
  • 4) Wie ſeine Kinder und Erben aus der Pfruͤnde
    nicht ausgeſteuret und abgefunden werden;

5) Wie
[335]oder Abheuerungsurſachen.
  • 5) Wie ſein Nachfolger ſich nicht in ſeine Erbſchaft
    miſche;
  • 6) Wie er durch ein liederliches Leben ſeine Pfruͤnde
    verwuͤrke, ohne Ruͤckſicht, ob mit der Frauen Brautſchatz
    eine Simonie begangen worden oder nicht;
  • 7) Wie er auf eine Competenz oder die Leibzucht ge-
    ſetzt werde, wenn er ſeine Dienſte nicht mehr leiſten kann; ⁊c.
    Und die Sache ſelbſt, da von der geiſtlichen Pfruͤnde dem
    Staate am Altar, von der weltlichen im Gegentheil dem-
    ſelben im Felde, wenigſiens durch die von ihm in Sold
    und Kleidung zu unterhaltende Vicarien gedienet wird,
    leidet eine ſo vollkommene Vergleichung, daß ich nicht ſehe,
    warum dabey einiges Bedenken ſeyn koͤnne. Das einzige,
    was man ſagen moͤchte, waͤre dieſes, daß die weltlichen
    Pfruͤnden erblich beſeſſen wuͤrden. Allein ſind Erbpraͤ-
    benden, die ganzen Familien gehoͤren, andern Geſetzen
    unterworfen? ſteht es dem zeitigen Beſitzer frey, ſolche
    mit Schulden zu beſchweren? und iſt die Familie oder ſelbſt
    der Sohn des Erbpfruͤndeners verbunden, deſſen Schul-
    den aus der Pfruͤnde zu bezahlen?

Laͤngſt hat man dahier erkannt, daß der Sohn eines
Leibeignen ſich der vaͤterlichen Erbſchaft, die doch, weil
ſie zum Sterbfall gehoͤrt und von ihm geloͤſet werden muß,
gar nicht vorhanden iſt, entſchlagen, folgends das Erbe
aus der freyen Hand des Gutsherrn empfangen koͤnne.
Warum macht man aber dieſes nicht zum allgemeinen Ge-
ſetz? und ſetzt einmal fuͤr alle feſt, daß der Sohn eines
reihepflichtigen Leibeigenen wegen unbewilligter elterlicher
Schulden nie in gerichtlichen Anſpruch genommen werden
ſolle?


Vielleicht iſt dieſes zu ſirenge; und dem Credit nach-
theilig, welchen der Pfruͤnder doch dann und wann noth-
wen-
[336]Betrachtungen uͤber die Abaͤuſſerungs-
wendig haben muß. Gut, man verordne dann den un-
bewilligten Glaͤubigern zum Beſten ein Nach- und Gna-
denjahr; man ſetze deren allenfalls viere; oder nach dem
Exempel Moſes ſechſe, und laſſe das ſiebende ein Frey-
jahr ſeyn: ſo bleibt die Pfruͤnde ſo lange in des Anerbens
bloſſer Verwaltung (cuſtodia beneficii); und man weiß
doch endlich die Zeit, worinn der weltliche Pfruͤndener
zum ruhigen und freyen Beſitz des Hofes gelangen kann.
Iſt ihm nun aber dieſer einmal gewaͤhret: ſo kann man
mit der Abaͤuſſerung um ſo viel ſtrenger durchfahren, weil
er ſich ſodann nicht wie jetzt auf ſeiner Vorfahren Schul-
den berufen kann, das einzige was ſonſt die mehreſte
Schwierigkeit macht.


Man glaubt nicht, daß ich die Vergleichung der geiſt-
lichen und weltlichen Pfruͤnde nur obenhin gemacht habe.
Ich mache mich anheiſchig, jeden Punkt, auch ſelbſt das
Nach- und Gnadenjahr, die Verehrung des Patrons mit
Gold und Silber, das jus reſignandi, das jus devolu-
tionis,
wann der Gutsherr mit der Erbesbeſatzung nach-
laͤßig iſt, und ſehr viel andre Uebereinſtimmungen aus
den weſtphaͤliſchen Hofrechten buchſtaͤblich zu erweiſen,
und zugleich zu zeigen, daß das canoniſche Recht und nicht
das roͤmiſche bey unſerm Eigenthumsrechte zu Huͤlfe ge-
nommen werden ſollte. Auch dieſes, daß die Kinder aus
der weltlichen Pfruͤnde nicht ausgeſteuret, ſondern mit
einem Hute, einem Stocke und einem paar Klumpen in
die Welt geſchicket werden ſollen, iſt in jenem Hofrechte
deutlich verordnet.


Folgten wir nun dieſem Plan: ſo wuͤrden wir mit den
uͤbrigen Abaͤuſſerungsurſachen gar leicht zu rechte kommen.
Ein Freyer und ein Leibeigner darf ſo wenig ſeinen Hof
eigenmaͤchtig verheuren, als der Pfarrer fuͤr ſich einen
Vicar
[337]oder Abmeyerungsurſachen.
Vicar anſetzen; er darf ſein Spann ſo wenig ſchwaͤchen als
der Geiſtliche ſich auſſer Stand ſetzen, ſeinen Dienſt am Al-
tar zu thun: beyde duͤrfen ihre Haͤuſer oder Curien nicht
verfallen laſſen. Beyde duͤrfen ohne Vorwiſſen und Bewil-
ligung ihrer Obern nichts veraͤuſſern oder verſetzen; und der
Gutsherr kann ſo wenig als die untere geiſtliche Obrigkeit
in ihrer Einwilligung ſo weit gehen, daß der Dienſt der
ganzen Pfruͤnde daruͤber zu Grunde gehe. Alles dieſes
koͤnnte aufs genaueſte und deutlichſte beſtimmet, und dem
Eigenthumsrecht ſeine wahre alte aus dem urſpruͤnglichen
Contrakt unter Landesbeſitzern hervorgehende philoſophiſche
Geſtalt gegeben werden; aber nur blos in dem Falle, wo
die ſteuerbaren Hoͤfe als Erbpfruͤnden, die der Gutsherr aus
der Familie ſeines Leibeignen, und der Beamte mit dem
naͤchſten Erben des Freyen zu beſetzen hat, betrachtet, und
die Nachfolger nicht zu Erben ihrer Vorgaͤnger gemachet
wuͤrden. Diejenigen Contrakte die unter gehoͤriger Bewil-
ligung geſchloſſen ſind, behalten ohnehin ihre Verbindlich-
keit, der Nachfolger mag Erbe ſeyn oder nicht; ſo wie im
Gegentheil alle Nebenverbindungen zwiſchen dem Patron
und Beneficiaten unguͤltig ſind, wann ſie die Pfruͤnde mit
neuen Dienſten und Pflichten beſchweren.


Dieſes waͤre aber nur das Mittel, die allgemeinen
Abaͤuſſerungsurſachen feſtzuſetzen, nicht aber die beſondern,
ſo aus dem Erbpachtcontrakt zwiſchen dem Gutsherrn und
ſeinem Leibeignen hervorgehen. Aber dieſe ſind auch nicht
ſo ſchwer zu beſtimmen.



Moͤſ. patr. Phant.III.Th.LXV.
[338]Alſo ſind die unbeſtimmten

LXV.
Alſo ſind die unbeſtimmten Leibeigen-
thumsgefaͤlle zu beſtimmen?


Die Frage: ob es nicht gut ſeyn wuͤrde, die ungewiſſen
Eigenthumsgefaͤlle, auf ein gewiſſes Jahrgeld zu
ſetzen? muß meines Ermeſſens mit einem aufrichtigen Ja
beantworte[t] werden. Denn


  • 1) wird niemand leugnen, daß nicht jedem Schuldner
    die Bezahlung eines ziemlichen Capitals leichter in klei-
    nen jaͤhrlichen Terminen, als in einer Summe fallen
    muͤſſe; und ob man gleich einwenden moͤchte, daß
    wenn eine ſolche Einrichtung ſofort ihren Anfang naͤh-
    me, verſchiedene Leibeigne, dasjenige was ſie bey ei-
    nem ſich kuͤnftig erſt eraͤugendem Fall zu bezahlen haͤt-
    ten, in voraus bezahlen wuͤrden: ſo kann man doch
  • 2) mit Wahrſcheinlichkeit annehmen, daß wenn die eine
    Haͤlfte etwa einige Jahre im voraus bezahlen muͤßte,
    die andre Haͤlfte gewiß die Wohlthat der Nachbezah-
    lung genieſſen wuͤrde, indem es nicht fehlen koͤnnte,
    daß nicht ſehr viele Auffahrten und Sterbefaͤlle ſofort
    zu bedingen ſeyn wuͤrden. Zudem wird
  • 3) jeder Leibeigne es nicht auf die letzte Stunde ankom-
    men laſſen, ſondern wenn er erſt weiß, daß das Er-
    ſparte ſeinen Erben zu ſtatten koͤmmt, immer etwas zu
    Bezahlung kuͤnftiger Sterbfaͤlle und Auffahrten zuruͤck-
    legen; und da iſt es, wo nicht beſſer und ſicherer,
    doch gewiß gleichguͤltig, ob er ſolches in ſeinen Schrank
    legt, oder ſeinem Gutsherrn auf Abſchlag bezahlt.
    Es geht auch

4) einem
[339]Leibeigenthumsgefaͤlle zu beſtimmen.
  • 4) einem Gutsherrn nichts dabey verlohren. Denn da
    man annehmen kann, daß von 25 Leibeignen jaͤhrlich
    einer einen Sterbfall oder eine Anffahrt zu dingen ha-
    ben wuͤrde: ſo wird ihm nichts dadurch abgehen, wenn
    nach der neuen Einrichtung die 25 zuſammen eben ſo
    viel des Jahrs bezahlen, als jaͤhrlich einer aufgebracht
    haben wuͤrde. Fuͤr ſolche Gutsherrn aber, die
  • 5) ihre Leibeignen nur fuͤr ihre Perſon, und nicht fuͤr
    ihre Erben, auch wohl nur bey gewiſſen Commenden,
    Pfruͤnden und Beneficien beſitzen, wuͤrde die neue Ein-
    richtung unſtreitig beſonders gut ſeyn, weil ſie allemal
    ihr Gewiſſen frey haben, und den wahren oder fal-
    ſchen Vorwurf vermeiden koͤnnten, daß ſie ihre Leib-
    eignen, zum Nachtheil ihrer Dienſt- Lehn- oder Fidei-
    commißfolger, ausgepluͤndert haͤtten. Nicht zu ge-
    denken, daß auch
  • 6) dem zeitigen Beſitzer ſolcher Leibeignen die Gelegen-
    heit benommen wuͤrde, ſeinem Nachfolger zum Scha-
    den, Auffahrten, Sterbfaͤlle und Freybriefe in vor-
    aus dingen zu laſſen, und dieſem ſolchergeſtalt das
    Geld vor der Naſe wegzuziehen. Wenigſtens wuͤr-
    de man
  • 7) nie von einem ſolchen Proceſſe, wie vor einigen Jah-
    ren gefuͤhret wurde, wieder hoͤren, da die Erben ei-
    nes ſolchen Gutsherrn, welcher ſeinem Leibeignen be-
    fohlen hatte, binnen Jahresfriſt zu heyrathen, gegen
    den ſaͤumhaften Eigenbehoͤrigen den Caducitaͤtsproceß
    fortfuͤhrten, waͤhrender Zeit der neue Beſitzer der
    Pfruͤnde eben demſelben Leibeignen einen andern Ter-
    min zur Heyrath ſetzte, und wie er ſolchen verſaͤumte,
    gegen denſelben mit einem 2ten Caducitaͤtsproceß her-
    ausgieng. Und uͤberhaupt duͤrfte dieſe ſonderbare Art
    Y 2von
    [340]Alſo ſind die unbeſtimmten
    von Proceſſen ganz wegfallen, indem ein weltlicher
    Gutsherr, der einen Leibeignen fuͤr ſich und ſeine Er-
    ben beſitzt, ſeinen Leibeignen nicht leicht zum heyrathen
    zwingt, ſondern lieber deſſen Todesfall, wodurch ent-
    weder ihm oder ſeinen Erben das Gut erledigt wird,
    a wartet. Insbeſondre aber wuͤrden
  • 8) die geringen Pfruͤnder ihren Vortheil dabey finden,
    die wenn ſie einmal zur Erhaltung ihres Rechts eine
    Verhoͤhung der auſſerordentlichen Gefaͤlle vornehmen
    wollen, in weitlaͤuftige Proceſſe geſtuͤrzet werden, und
    wenn ſie ihre uͤbrigen Einkuͤnfte darauf zum Vortheil
    ihrer Nachfolgern nicht verwenden wollen, dem Leib-
    eignen nachgeben muͤſſen Zudem iſt
  • 9) der Sterbfall nach Ritterrecht, der zuerſt auf Sun-
    dergute
    a) eingefuͤhret worden, und welchen ehedem
    der Biſchof und ſeine Geiſtlichkeit nie gezogen haben,
    allezeit ein trauriges Recht. Denn was kann trauri-
    ger ſeyn, als Wittwen und Waiſen, ſofort in der groͤß-
    ten Betruͤbniß und wenn die Leiche noch im Hauſe ſteht,
    zu uͤberfallen; alles was ſie im Hauſe und Vermoͤgen
    haben, aufzuſchreiben und wegzunehmen, und ihnen
    von den Empfindungen der Vornehmen die allerunan-
    ſtaͤndigſten Begriffe beyzubringen? Welcher Gutsherr
    fuͤhlt es nicht, was eine ſolche Handlung fuͤr widrige
    Begriffe bey dem gemeinen Manne hervorbringen, und
    wie dieſer von dem Manne, der ins Sterbhaus koͤmmt,
    und gleich alle Winkel durchſchnauft, denken muͤſſe?
    Es giebt daher auch
  • 10) wenige Gutsherrn, die ſich dieſes traurigen Rechts
    der Strenge nach bedienen, und den armen Waiſen
    die ganze elterliche Erbſchaft entziehen; wenigſtens trei-
    ben
    [341]Leibeigenthumsgefaͤlle zu beſtimmen.
    ben ſie es ungern zu einer eidlichen Eroͤfnung, weil die
    Verſuchung zum Meineide zu ſtark wird, und ohne
    dieſe Eroͤfnung duͤrfte doch der Leibeigne die vorhan-
    dene Capitalien ſchwerlich anzeigen. Die mehreſten
    ſehen auch
  • 11) wohl ein, daß ein Gutsherr ohne ſich ſelbſt zu ſcha-
    den, das Erbe nicht von allem entbloͤſſen, oder auch
    nur fuͤr den Sterbfall eine gar zu ſtarke Summe auf
    einmal nehmen koͤnne, indem ſolchenfalls der Leibeigne
    ſelten wieder zu Kraͤften koͤmmt, ja ſich wohl gar,
    weil jeder Landhaushalt mit zureichender Fauſt gefuͤhret
    ſeyn will, in deren Ermangelung fruͤh zu Grunde ar-
    beitet, und eine muthloſe Nachkommenſchaft zeuget.
    Daher iſt
  • 12) der Sterbfall nach Ritterrecht, da chriſtliche und
    billige Gutsherrn ſolchen faſt nirgends ziehen, ein un-
    noͤthiges aber ſchaͤdliches Schreckbild, das die Leibeig-
    nen in beſtaͤndiger Furcht und vom Erwerben zuruͤck
    haͤlt. Denn die Vorſtellung, daß alles was ſie mit
    ihrem ſauren Schweiſſe erwerben, ihren Kindern nicht
    anders als in ſo fern ſie einen falſchen Eid daran wa-
    gen wollen, zu ſtatten kommen werde, muß die Leute
    nothwendig niederſchlagen und ihren Fleiß ſchwaͤchen.
    In Anſehung der Auffahrten iſt es
  • 13) ſo wohl der Gutsherrn als Leideignen wahren Vor-
    theil, daß die neue Einrichtung Platz greife, indem
    die Eigenthumsordnung keine Regel feſtgeſetzt hat,
    nach welcher ſolche gefordert oder bezahlt werden moͤ-
    ge; welches nothwendig zu unzaͤhligen Proceſſen An-
    laß geben muß, wobey ſo wenig der Gutsherr als der
    Leibeigne gewinnet, indem die Gerichtskoſten gewiß
    allezeit eben ſo viel, wo nicht ein mehrers, wegnehmen,
    Y 3als
    [342]Alſo ſind die unbeſtimmten
    als woruͤber beyde Theile ſtreiten. Der Gutsherr
    leidet
  • 14) doppelt dabey, da er, ſo lange ſeine Forderung kei-
    ne beſtimmte Graͤnzen hat, nach einer ganz natuͤrli-
    chen Folge alle Richter wider ſich haben muß; und
    hiernaͤchſt wenn ſein Leibeigner alles der Chicane auf-
    geopfert hat, entweder einen ſchlechten Wirth oder ei-
    nen elenden Sterbfall findet. Der Leibeigne hat aber
  • 15) auch keine Freude davon, wenn er endlich nach vie-
    len und ſchweren Koſten eine mildere Auffahrt erhal-
    ten hat; indem ihm der Gutsherr ſolches gewiß beym
    Sterbfall und bey andern Gelegenheiten wieder geden-
    ket. Ueberhaupt liegt es
  • 16) in der menſchlichen Natur, und zwar in dem edelſten
    Theile derſelben, daß man ſich der ſchwaͤchern und dem
    Scheine nach unterdruͤckten gern annimmt; und die
    gerechteſten Forderungen der Gutsherrn muͤſſen darun-
    ter leiden, ſo lange einige derſelben unbeſtimmet ſind.
    Die Eigenthumsordnung hat
  • 17) den Gutsherrn in Anſehung der Auffahrten die Bil-
    ligkeit empfohlen, und in deren Ermangelung, die
    richterliche Billigkeit zu Huͤlfe gerufen; die Begriffe
    der Billigkeit in dem fordernden, bezahlenden und
    richtenden Theile ſind aber ſo von einander unterſchie-
    den, daß man nie eine Einigkeit hoffen darf, ſondern
    allezeit eine Willkuͤhr befuͤrchten muß, und dieſe Will-
    kuͤhr, womit ſich das Mitleid und die natuͤrliche Nei-
    gung fuͤr den ſchwaͤchern Theil gern vermiſcht, ſucht
    leicht alles dasjenige auf, und haͤlt es fuͤr das wich-
    tigſte, das dem Leibeignen nur mit einigem Scheine
    zu ſtatten kommen kann. Da heißt es dann:

18) die
[343]Leibeigenthumsgefaͤlle zu beſtimmen.
  • 18) die Roͤmer haben den Erbgewinn auf den funfzigſten
    Pfennig beſtimmt; in dieſem und jenem Lande iſt der
    zwanzigſte oder zehnte Pfennig dafuͤr angenommen;
    dort iſt ein jaͤhriger Betrag der Staͤtte, hier ein zwey-
    jaͤhriger die hergebrachte Regel; dort wird nur ein
    neuer Meyerbrief, hier nur ein Saertuchen - Wamms
    bezahlt; und der auswaͤrtige oder einheimiſche Rechts-
    gelehrte, der ſelbſt nicht Gutsherr iſt, kann die ver-
    ſchiedenen Meinungen der Gelehrten in einen Gluͤcks-
    topf werfen und eine herausziehen, ohne daß man ihm
    mit Beſtande einen Vorwurf machen kann. Denn
    was ſollte er beſſer thun, als die bey dem menſchlichen
    Gluͤcke wachende Vorſehung da walten laſſen, wo
    ihm Geſetze und Rechte nichts vorgeſchrieben haben?
    Will man
  • 19) noch eine vernuͤnftige Regel annehmen: ſo iſt es
    dieſe, daß der Betrag des Erbes als eine Leibrente an-
    geſehen und demjenigen Theile, der die Auffahrt be-
    zahlet, verkaufet wird. Geſetzt, der Theil des Aner-
    ben am Hofe thue jaͤhrlich 90 Thaler nach Abzug aller
    Auflagen, Bauerlaſten, Gefaͤlle und Auslobungen;
    ſo erhalten der Wirth und die Wirthin gemeinſchaft-
    lich
    dieſe Einnahme. Die Haͤlfte derſelben iſt alſo das-
    jenige, was dem neu aufkommenden Theile verkauft
    wird. Das Drittel der Haͤlfte oder 15 Thaler bezahlt
    er mit ſeinem Leibe, indem er ſich eigen giebt. Er
    kauft alſo eine jaͤhrliche Leibrente von 30 Thaler; und
    bezahlt dafuͤr nachdem ſolche zu 5. 6. 7. 8. 9. oder 10.
    pro Cent verkauft wird, das Capital zur Auffahrt.
    Allein dieſe wenigſtens auf einen Rechnungsſatz zuruͤck-
    fuͤhrende Regel wird dem Gutsherrn hart ſcheinen,
    wenn die Zinſen der unbewilligten Schulden an dem
    jaͤhrlichen Ertrage vorabgezogen werden ſollen; indem
    Y 4er
    [344]Alſo ſind die unbeſtimmten
    er ſolchergeſtalt ſeiner Leibeignen Schuld mit entgelten
    muß; und ſollen dieſe nicht abgezogen werden: ſo er-
    haͤlt der neu aufkommende Theil, der mit dem Anerben
    in Gemeinſchaft der Schulden treten muß, die reine Leib-
    rente nicht, die ihm doch auf Treue und Glauben verkau-
    fet wird. Am Ende aber fuͤhren dergleichen Berechnun-
    gen und Anſchlaͤge zu Beweiſen und Gegenbeweiſen, und
    richterlichen Erkenntniſſen, welche im Gegentheil durch
    einen beſtaͤndigen jaͤhrlichen Satz vermieden werden.
    Sie fuͤhren auch wohl zu Betruͤgereyen, weil der Leib-
    eigne ſeine unbewilligte Schulden dem Gutsherrn ver-
    heelen und lieber ſeine Braut hintergehen als jene ent-
    decken wird.

Die Freybriefe, da ſie eben ſo wenig einen beſtimmten
Satz zum Grunde haben, koͤnnen


  • 20) ebenfalls leicht zu groſſen und koſtbaren Weitlaͤuf-
    tigkeiten fuͤhren, wobey fuͤr beyde Theile nichts als
    Schaden herauskoͤmmt; und dieſer Mangel eines be-
    ſtimmten Grundſatzes wird ſicher einmal zu demjeni-
    gen fuͤhren, nach welchem ein Hauptmann ſeinen Ge-
    meinen fuͤr ein feſtgeſetztes Geld verabſchieden muß,
    ohne auf deſſen Vermoͤgen eine Ruͤckſicht nehmen zu
    duͤrfen. Denn es arbeiten
  • 21) Religion, Sittenlehre, Mode, Ton, Satyre und
    was noch kraͤftiger als dieſes iſt, das Intereſſe aller
    Landesherrn gegen ein zu ſtrenges Leibeigenthum, ſo
    wie gegen alles was Privatgutsherrn von ſchatzbaren
    Unterthanen und Gruͤnden ohne Beſtimmung zu genieſ-
    ſen haben. Dieſem jetzigen Hange der menſchlichen
    Sachen, welchem alle beſoldete Lehrer und Richter
    frohnen, und alle empfindende Leute ſo lange opfern
    werden, als der Angriff gegen unbeſtimmte und
    ſchwan-
    [345]Leibeigenthumsgefaͤlle zu beſtimmen.
    ſchwankende Forderungen gerichtet bleibt, widerſteht
    am Ende eines kuͤnftigen Jahrhunderts nichts als ein
    feſter Satz. Man darf nur einen Blick in andre Laͤn-
    der thun, um die Wahrheit davon deutlicher zu em-
    pfinden, als ſolche dahier beſchrieben werden kann.
    Nichts iſt aber bey dem allen
  • 22) augenſcheinlicher als der eigne Vortheil der Leibeig-
    nen, welche nach jener neuen Einrichtung mit dop-
    peltem Fleiſſe und Muthe fuͤr ſich und ihre Kinder ar-
    beiten koͤnnen, ohne den Verluſt ihres ſauer erworbe-
    nen Vermoͤgens fuͤrchten zu duͤrfen; welche bey ihren
    ſich vermehrenden Kindern nicht an die Beſchwerde der
    Freybriefe; und bey der Verheyrathung derſelben nicht
    an den Verluſt des Brautſchatzes zu denken haben.
    Die Obrigkeit wird gegen einen uͤblen Wirth mit aller
    Strenge verfahren koͤnnen, wenn ihm einmal die Ent-
    ſchuldigung benommen iſt, daß er zu Bezahlung der
    ungewiſſen Gefaͤlle ſeinen Hof in Schulden ſtuͤrzen,
    ſein Land verſetzen, und ſein Holz verhauen muͤſſe.
    Wie wenige Wirthe werden ſich auf den Trunk legen,
    wenn ſie gewiß ſind, daß dasjenige was ſie verſau-
    fen, nicht dem Gutsherrn am Sterbfalle, ſondern
    ihren Kindern am Erbtheile abgehe? Wie wenige wer-
    den ungerechten und harten Glaͤubigern zum Raube
    werden, wenn ſie nicht zur Unzeit groſſe Summen bor-
    gen duͤrfen? Wie ſehr werden ſich ihre Proceſſe da-
    durch mindern? Und wie mancher reicher Freyer wird
    einen Gutsherrlichen Hof annehmen, wenn er nicht
    mehr befuͤrchten darf als ein Leibeigner behandelt zu
    werden?

Nie iſt auch die Zeit zu einer ſolchen neuen Einrichtung
guͤnſtiger geweſen als jetzt, wo


Y 523) der
[346]Alſo ſind die unbeſtimmten ⁊c.
  • 23) der groſſe Geld- und Creditmangel bey den Leibeig-
    nen eine ſolche Veraͤnderung nothwendig zu machen
    ſcheinet. Die Menge der verheureten Staͤtten iſt noch
    nichts in Vergleichung derjenigen, welche ſich uͤber
    funfzig Jahr finden wird, wenn die Auslobungen
    nach dem zum Verſuche und zur Verkuͤrzung der daruͤ-
    ber entſtandenen Proceſſe eingefuͤhrten Fuſſe beſtehen
    bleibt. Denn dadurch wird ſich alles mit der Zeit in
    Heuergut verwandeln und der jetzige Eigenthum voͤl-
    lig aufgeloͤſet werden a).


LXVI.
[347]

LXVI.
Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
der ſogenannten Hyen, Echten oder
Hoden.


Luft macht eigen, heißt es an manchen Orten Deutſch-
landes; und ich habe unſre Vorfahren oftmal in mei-
nen Gedanken einer Grauſamkeit beſchuldiget, daß ſie die
Luft gleichſam vergiftet, und die Sclaverey auf einen in der
ganzen Welt freyen Odemzug geſetzet haͤtten. Oft dachte
ich aber auch: Wie iſt es moͤglich, daß ſie, die mit Heeren
von hunderttauſenden zu Felde giengen, Gut und Blut fuͤr
die Freyheit aufopferten, und keinen leibeignen Knecht die
Waffen fuͤhren lieſſen, die Dienſtbarkeit dergeſtalt beguͤn-
ſtiget, und ganze Doͤrfer durch die Einfuͤhrung derſelben
von dem Heerzuge befreyet haben ſollten? Voll Zweifels
uͤber die Wahrheit und voll Unmuths uͤber die Ungerechtig-
keit der Sache ſelbſt, kam ich von ungefehr auf einen alten
Rechtshandel, woraus ſich dieſes Lufteigenthum auf einmal
als eine ſanfte Freyſtaͤdte zeigte: ich will ihn meinen Leſern
erzaͤhlen. Vielleicht nehmen ſie auch an der Ehre unſrer
Vorfahren einen patriotiſchen Antheil, und lernen, wie ge-
faͤhrlich es ſey, aus veralteten Worten neue Schluͤſſe zu
ziehen.


Die Koͤnigin von Pohlen Richezza, eine gebohrne Pfalz-
graͤfin beym Rhein, ließ ſich in der Stadt Coͤlln nieder,
und weil ſie nicht Luſt hatte das Buͤrgerrecht zu nehmen,
begab ſie ſich in die Hode der heiligen Jungfrau, wor-
inn der Sterbfall mit dem beſten Kleide geloͤſet werden
konn-
[348]Gedanken von dem Urſprung und Nutzen
konnte a): Ihre Cammerjungfer aber, welche aus dem
Dorfe Guͤtersloh, worinn noch jetzt die Luft eigen macht,
zu Hauſe war, verheyrathete ſich in unſer Stift und ſetzte
ſich auf ein o[f]nes Dorf, worinn ihr Mann ein freyes Haus
gekaufet hatte. Kaum hatte ſie ein Jahr in vergnuͤgter Ehe
gelebt: ſo entriß ihr der Tod den beſten Mann; und zur
Vermehrung ihres Schmerzens kamen die Beamte, um ihr
alles was er verlaſſen hatte, zu nehmen. Voll Schrecken
zeigte ſie ihr einziges Kind, den Erben ihres Mannes, und
bat mit Thraͤnen, wo nicht ihr, doch dieſem Unmuͤndigen
das vaͤterliche Erbtheil zu laſſen. Allein ihr Flehen war
vergebens. Die Beamte, ſo ſehr ſie auch ſelbſt uͤber dieſen
Vorfall bewegt waren, antworteten nach Landesrecht: Ihr
Mann ſey Bieſterfrey b) verſtorben, und ſeine Nachlaſſen-
ſchaft daher der Landesherrſchaft verfallen. Seine Schul-
digkeit ſey geweſen, ſich ſofort, als er ſich dahier niederge-
laſſen, in eine Hode einſchreibenc) zu laſſen; und da er
dieſes verſaͤumet, und daruͤber weggeſtorben: ſo waͤre nichts
als die Gnade der Landesherrſchaft uͤbrig, um ſich von den
Folgen der Bieſterfreyheit zu retten.


O Himmel, rief ſie aus, ich bin aus einem Dorfe zu
Hauſe, wo die Luft das Einſchreiben erſetzt; wo jedes
Haus in einer Hode ſteht, und diejenigen ſo darinn ziehen,
ſo bald als ſie die Schwelle betreten haben, nicht mehr zu
beſor-
[349]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.
beſorgen haben, daß ihre Erbſchaft der Landesherrſchaft,
gleich der Erbſchaft eines Wildfangs verfalle. Mein Mann
war aus dem Lippiſchen gebuͤrtig, wo alle Bieſterfreyheit
mit einem Groſchen abgewehret werden kann a), welchen
die Erben auf den Sarg legen, und die Landesherrſchaft
zur freyen Urkunde annimmt. Die Oßnabruͤckiſchen Rechte
ſind uns beyden unbekannt geweſen; wir haben nicht ge-
wuſt, daß wir uns eben einſchreiben laſſen muͤſten; ich ha-
be gedacht, die Luft, die ich als Unterthan genoſſen, erſetzte
die leere Ceremonie der Einſchreibung; und mein Mann iſt
ohne Zweifel in dem Glauben geſtorben, daß ich ſeine Ver-
laſſenſchaft mit dem traurigen Pfennig noch fruͤh genug loͤ-
ſen koͤnnte.


Alles dieſes, verſetzten die Beamte, kann die Landes-
herrſchaft, nicht aber uns bewegen, von unſerer Forde-
rung abzugehen. Jene kann Gnade thun; wir aber ſind
aufs Recht gewieſen. Wir muͤſſen alles was Ihr ſeliger
Mann verlaſſen hat, zu uns nehmen. Will ſie aber Gna-
de ſuchen: ſo wollen wir ihr einen Monat Zeit dazu geben,
und uns immittelſt begnuͤgen, den Nachlaß des Bieſter-
freyen aufzuſchreiben, und ihr ſolchen gegen genugſame
Buͤrgſchaft zur getreuen Verwahrung uͤberlaſſen. Der ar-
men Witwe blieb alſo nichts uͤbrig als ſich an den damali-
gen Biſchof zu wenden, und dasjenige unter neuen Thraͤ-
nen zu wiederholen, was ſie den Beamten vorgebracht hat-
te. Dieſer war weit entfernt, ſich mit einer ſo traurigen
Erbſchaft zu bereichern. Inzwiſchen reizte ihn doch ſeine
Wißbegierde ſich uͤber den Urſprung und den Nutzen der
Hoden,
[350]Gedanken von dem Urſprung und Nutzen
Hoden, Hyen oder Echten, und von der Urſache der
Bieſterfreyheit naͤher unterrichten zu laſſen.


Gnaͤdigſter Herr, berichteten dieſe, man hat ehedem
von Territorien und Territorialunterthanen nichts gewuſt a).
Man kannte den Grundſatz nicht, daß derjenige, der ſich
auf dieſen oder jenen Theil des deutſchen Reichsbodens ſetzte,
ſofort mit der Luft die Oberherrſchaft desjenigen Reichs-
beamten erkannte, in deſſen Amtsbezirk er ſich niederließ.
Es gieng damals auf dem Lande, wie noch jetzt in den
Staͤdten, worinn nicht alle ſo zwiſchen den Mauren woh-
nen, das Buͤrgerrecht haben, ſondern nur diejenigen, die
ſolches ausdruͤcklich nehmen und gewinnen. Die ſaͤmtlichen
Eingeſeſſene eines Landes theilten ſich alſo uͤberhaupt in ſol-
che welche das Unterthanenrecht genommen oder gewonnen,
und ſolche welche es nicht gewonnen hatten.


Diejenigen welche es gewonnen hatten, genoſſen der
Rechte und Wohlthaten, welche der Claſſe, worinn ſie ſich
begeben hatten, zukamen; und der oberſte dieſer Claſſe,
oder der Schutz- und Schirmherr genoß von ihrer Verlaſ-
ſenſchaft entweder das beſte Kleid, oder das beſte Pferd,
oder das beſte Pfand, oder eine andre Urkunde ſeiner
Schirmgerechtigkeit. Der Kaiſer genoß dieſes von allen
Reichsbeamten; der Biſchof von ſeinen Capitularen; der
Archidiacon von ſeinen belehnten Pfarrern; der Lehnsherr
von
[351]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.
von ſeinen Lehnsleuten, und der Reichsvogt von allen ein-
geſeſſenen ſeiner Vogtey.


Diejenigen aber ſo das Unterthanenrecht nicht in der
einen oder andern Claſſe, wozu ſie ihrer Geburt nach kom-
men konnten, gewonnen hatten, beerbte der Kaiſer als arg-
oder bieſterfreye Leute a), und, nachdem die Reichsfuͤrſten
an deſſen Stelle getreten, der Landesherr. Sie genoſſen
jedoch auch dagegen, ob wohl nicht als Buͤrger, doch als
Menſchen, des hoͤchſten Schutzes b), indem der Kaiſer ihr
Wehrgeld erhob, wenn ſie erſchlagen wurden, folglich von
oberſtrichterlichen Amtswegen ihr Raͤcher war.


Die Einziehung der Erbſchaft von allen ſolchen Leuten,
welche ſich in keine Klaſſe der Unterthanen begeben hatten,
beruhete in der hoͤchſten Billigkeit. Denn erſtlich hatte
man damals faſt keine Geldſteuren, ſondern jede Claſſe im
Staat hatte ihre angenommene oder angewieſene Verpflich-
tung. Wer ſich alſo nicht in die eine oder die andere ein-
ſchreiben ließ, der entzog ſich den oͤffentlichen Laſten.
Zweytens hatte man keine Territorialgeſetze, oder Ver-
ordnungen fuͤr Menſchen, ſondern die Geſetze und Verord-
nun-
[352]Gedanken von dem Urſprung und Nutzen
nungen bezogen ſich alle auf Claſſen; eben wie jetzt die
Kriegsartikel keine Territorialgeſetze ſind, ſondern nur die-
jenigen, ſo zum Kriegesſtaat gehoͤren, verbinden. Ein
Bieſterfreyer entzog ſich alſo auch den Geſetzen. Er hatte
folglich drittens auch kein Recht, keinen Richter, keinen
Advocaten nach damaliger Art, und keine Zeugen. Denn
dies waren derozeit buͤrgerliche Wohlthaten, welche einem
jeden umſonſt angediehen; und Richter, Advocaten und
Zeugen waren immindeſten nicht verpflichtet, ſolchen un-
holden, ungetreuen und ungewaͤrtigen Leuten ihre Dienſte
zu weihen. Er war viertens ohne Ehre, weil alle Ehre
nothwendig ganz allein fuͤr die Claſſe war; und uͤberall
mit der Laſt, welche einer fuͤr das gemeine Beſte uͤber-
nimmt, verknuͤpft iſt. Er konnte, wenn er ſtarb, ſo
wenig auf den Kirchhof kommen, als verlaͤutet und be-
gleitet werden. Denn der Kirchhof und die Glocke gehoͤrte
einzig und allein den Genoſſen; und die Leichenbegleitung
iſt uͤberall die Folge einer Vereinigung. Der Bieſterfreye
hatte ſich aber darinn nicht begeben. Da fuͤnftens das
roͤmiſche und canoniſche Recht noch nicht das Recht aller
derjenigen war, die gar keines hatten: ſo wuͤrde es hun-
dert Schwierigkeiten geſetzt haben, ihnen zu Rechte zu
helfen. Denn man wuſte nicht, ob ſie in Gemeinſchaft
der Guͤter lebten, ob der aͤlteſte oder juͤngſte erbte, ob die
Wittwe ein Witthum hatte ⁊c. ⁊c. Diejenigen aͤchten, wah-
ren und rechtmaͤßigen Einwohner eines Staats, handel-
ten alſo gar nicht unbillig, wenn ſie ſich dergleichen Wild-
faͤnge gar nicht annahmen, ihnen kein Recht, keinen Richter,
keine Ehre, keine Ehe, kein Witthum, keinen Contrakt geſtan-
den, ſondern ſie der bloſſen Willkuͤhr der Landesherrſchaft
uͤberlieſſen. War es doch ihre Schuld, daß ſie ſich nicht
hatten in eine privilegirte Claſſe einſchreiben laſſen.


Ganz
[353]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.

Ganz zu Anfang der deutſchen Verfaſſung mogten alle
freye Landeigenthuͤmer in einem gewiſſen Bezirk ſich vereini-
gen; jedem Hofe eine oder zwey Leibzuchten fuͤr die Alten
geſtatten, im uͤbrigen aber Fremde, welche nicht auf einen
Hof geheyrathet, und zugleich das gemeine Einwohnerrecht
erlangt hatten, als Knechte behandeln; ihre eignen abge-
henden Kinder aber, welche auf keinen Hof heyratheten,
ſich aber vor der Knechtſcyaft ſchaͤmten, zum Ausziehen ver-
moͤgen. So zeigt ſich wenigſtens die erſte Verfaſſung,
worinn keine Staͤdte, Doͤrfer und flecken geduldet wur-
den; und wo ſofort, wenn auf einem Hofe zwey Leibzuch-
ten fuͤr zwey Wittwen geſetzt waren, die eine niedergelegt
werden muſte, wenn eine Wittwe ſtarb. Der Plan dieſer
Verfaſſung gruͤndete ſich darauf, daß jeder Hofeigenthuͤmer
ſich auf eigne Koſten ausruͤſten und fuͤrs Vaterland fechten
muſte. Eine ſolche Beſchwerde konnte man den Koͤttern,
Brinkliegern und andern kleinen Leuten nicht anmuthen;
und da man keine Geldſteuren kannte, folglich dieſe Leute
auch ihren Antheil zu der gemeinen Vertheidigung in keine
Wege beytragen konnten; wovon und wofuͤr haͤtte man
ihnen denn gemeine Hut und Weide geben, ihnen den Brand
verſtatten und fuͤr ſie fechten ſollen?


Dieſe Verfaſſung, worinn zwiſchen der wahren Freyheit
und Knechtſchaft kein Mittel war, dauerte aber vermuth-
lich nicht lange. Und ſo entſtanden Schirme, Schuͤtzun-
gen, Hoden, Echten, Hyen, Buͤrgſchaften
und derglei-
chen Genoſſenſchaften, worinn diejenigen Freyen aufge-
nommen, geheget, geſchuͤtzet, vertheidigt und zu Rechte ge-
holfen wurden, welche nicht zu jenen alten Hofgeſeſſenen
Eigenthuͤmern gehoͤrten und ſich nicht in die vollkommene
Knechtſchaft begeben wollten. Eine ſolche Hode wurde nun
gleichſam eine vom Staate privilegirte Gilde, welche eine
Abrede unter ſich willkuͤhren und ſolchergeſtalt die Rechte
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. Zfreyer
[354]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
freyer Menſchen erhalten konnte. Sie erhielt folglich eig-
nes Recht, einen eignen Richter; ebengenoſſe Zeugen; ſie
erhielt ein Begraͤbniß; die Hodengenoſſen begleiteten einan-
der zur Leiche und waren fuͤr die Bieſterfreyheit, oder den
Verluſt ihrer Erbſchaft, ſicher.


Nur an der Ehre im Staat fehlte es ihnen, weil ſie
nicht zur gemeinen Landesvertheidigung kamen; ſondern
dafuͤr einen Pfennig- oder Wachszins, oder eine andre
Auflage uͤbernehmen, auch vermuthlich bey allen oͤffentli-
chen Arbeiten mit der Hand dienen muſten; daher ſie cen-
ſuales, denariales, cerocenſuales,
oder frey wachszinſige
Leute genannt, und den alten Landeigenthuͤmern in keinem
Stuͤcke gleich geſchaͤtzt werden. Ein ſchlimmer Umſtand
war es auch fuͤr ſie, daß die Erbſchaften nicht auſſerhalb
der Hoden giengen a). Daher ein Sohn der ſich aus der
einen Hode in die andre begeben hatte, ſeinen Vater nicht
beerben konnte. Jeder Erbe muſte mit dem Erblaſſer in
gleicher Hulde und Gehoͤr ſtehen Spaͤter ließ man jedoch
gegen einen gewiſſen Abzug die Erbſchaften folgen, wie wohl
auch nur auf gewiſſe Grade, deren jede Hode ihre eigne
hatte; denn in einigen erbte ſchon der Schirmherr, wenn
keine huldige und hoͤrige Kinder vorhanden waren; in an-
dern aber ſpaͤter. Aus eben dem Grunde, woraus ein Feld-
herr die Marketenter, Lieferanten, und den ganzen Troß,
welcher nicht zur Regimentsrolle gehoͤret, gern ſchuͤtzt;
ſchuͤtzten und beguͤnſtigten erſt die Kaiſer, hernach deren
Beamte, und zuletzt die Reichsfuͤrſten dieſe neue Art Leute
gern.
[355]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.
gern. Sie hatten nehmlich ihren Vortheil davon, an ſtatt
daß der Landeigenthuͤmer eben wie die Enregimentirten ih-
rem Oberſten und Hauptleuten nichts entrichteten. Daher
ward in allen Capitularien ſo wie in den ſpaͤtern Reichs-
und Landesgeſetzen ſo ſehr fuͤr die Armen, ſo hieſſen dieſe
zwiſchen den Hoͤfenern geſeſſene Schutzgenoſſen, geſorgt;
und denen die es bezahlen konnten, ein Paſſeport, eine
Salvaguardia, ein Privilegium uͤber das andre ertheilet.


Es laͤßt ſich nicht erweiſen, daß die Landeigenthuͤmer
ihren erſten Vorſtehern und Anfuͤhrern das beſte Kleid oder
ein anders Stuͤck ihrer Erbſchaft haben hinterlaſſen muͤſſen;
wiewohl ſie nicht umgehen konnten, ihnen ihre perſoͤnliche
Anhaͤnglichkeit, da der Boden noch nichts ſagte a), auf die
eine oder andre Art zu beurkunden. Denn da man noch
keine ſchriftliche Rollen und Steuren hatte; ſo wuͤrde es
oft beſonders nach einem langen Frieden, dem Vorſteher
ſchwer gefallen ſeyn zu erweiſen, daß dieſer oder jener zu
ſeiner Aufmahnung gehoͤrte, falls dergleichen Beweißthuͤ-
mer nicht eingefuͤhret waren. Allein erweislich und begreif-
lich iſt es, daß die Vorſteher ſo viel immer moͤglich trach-
teten, das Landeigenthum in die Haͤnde einiger lieben Ge-
treuen
zu ſpielen, oder die Eigner ſich allmaͤhlig zur beſon-
dern Treue zu verbinden: und alles was lieb, getreu, hold
und gewaͤrtig war, muſte ſich zu einer ſolchen Urkunde ver-
ſtehen. Man kann alſo dreiſt annehmen, daß die Urkunde
der Anhaͤnglichkeit wo nicht in die erſten doch in die aͤlte-
ſten Zeiten reiche.


Wir wollen jetzt derjenigen, die in des Kaiſers und der
Reichsfuͤrſten unmittelbarem und beſondern Schutze und
Dienſte ſtanden, nicht erwehnen. Der Kaiſer zog dieſen
Z 2Sterb-
[356]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
Sterbfall von allen Reichsfuͤrſten; auch von den Biſchoͤ-
fen a); die Biſchoͤfe zogen ihn wieder von ihren Capitularen
und Dienſtleuten; und war Unſer Biſchof Adolph der erſte
der davon abgieng Er ſagt in der desfalls erlaſſenen Ver-
ordnung vom Jahr 1217:


„Inde eſt quod ab antiquis anteceſſorum noſtrorum
temporibus conſuetudo fuit in eccleſia Oſnabrugenſi, quod
decedentibus eccleſiarum canonicis ab Epiſcopo imbenefi-
ciatis tam in eccleſia cathedrali quam in aliis conventuali-
bus eccleſiis, epiſcopi per executores ſuos laicos veſtes et
equitatus decedentium occaſione cuiusdam exactionis peſſi-
mæ quæ vulgo dieitur
Herewedde ſibi vendicabant — Nos
igitur benigniore quadam conſideratione libertatem cleri
ampliare potius quam reſtringere volentes, nolentes ut oc-
caſione modici quæſtus qui nobis vel ſucceſſoribus noſtris
ex eo poſſet provenire, clerus noſter tam oneroſa de cæ-
tero ſervitute prematur, præſenti ſeripto cum totiur eccle-
ſiæ noſtræ conſilio ſtatuimus, ut nullus de cætero Epiſco-
pus canonicorum ſuorum — decedentum per ſe ipſos aut
per alios exuvias recipiat; et quivis eorum tam de equitatis
et veſtibus quam de rebus aliis liberam habeat — diſpo-
nendi facultatem.„
()

Und der Pabſt Honorius III. beſtaͤtigte dieſe billige Ver-
ordnung im Jahr 1218 b). Die einzige Lehncammer und
der Archidiacon haben ſie unter jenen noch beybehalten.
Erſtere zieht das Heergewedde, oder das beſte Pferd von
dem
[357]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.
dem Sterbfalle des Lehnmanns, entweder in Natur oder
nach einer dafuͤr hergebrachten Geldſumme a); und letzter
hat ſich mit ſeinen belehnten Curatis dahin verglichen, daß
ſie ihren Sterbfall bey lebendigem Leibe verdingen, und da-
fuͤr jaͤhrlich den Exuvienthaler bezahlen. Wir wollen auch
jetzt der Kaiſerlichen Cammerhode, worinn die Juden ſtan-
den; noch der Keſſelfuͤhrerhode, welche der Pfalzgraf, in
deſſen Amtsbezirk die erſten Keſſel gemacht, und in Deutſch-
land verfuͤhret wurden, hatte, nicht gedenken, noch auf
die Verfaſſung zuruͤck gehen, wie Spieß- und Handwerks-
geſellen, ohne Gefahr der Verbieſterung reiſen konnten.
Die Frage ſchraͤnkt ſich blos auf den niedrigen Theil der
Einwohner, der insgemein unter den Beſchwerden ſtecken
bleibt, ein.


Von dieſen heißt es in einer Urkunde des Stifts Buͤken:


„Dat Stichte (und eben ſo jedes Amt) hefft drigerley Echte;
„de erſte de hettet Godeshus-luͤde, dat ſint de Hofener, de
„in de ſeven Meigerhoͤfe gehoͤrt. De andre Echte dat ſind
„Sunderluͤde, de werdet geboren und beſadet up Sunder-
„gude, dar en is nene Vogdy an, noch in Luͤden noch in
„Guden. De richtet ſick na den Heren de de Hove unter
„ſich hebbet. Wann de verſtervet, ſo mag de Here ſick rich-
„ten na allen oͤren nagelatenen Gude. De derde Echte dat
„ſind fryge Godesluͤde, und dat ſind ankommende und
„vryge Luͤde, de gevet ſick in Suͤnt Maternians Echte.
„Und wann de ſtervet: ſo gevet ſe in Suͤnt Maternians
„Ehre oͤre beſte overſte Kleid und oͤre beſte Hovet Quekes.
Z 3„Und
[358]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
„Und de gevet ſick darum in die Echte, dat ſe unde oͤre Kin-
„der den Heren des Landes nicht willet eigen weſen a).„


Die Leute ſo in die Meyerhoͤfe gehoͤren, ſind unſre Haus-
genoſſen, die einen Geſammtſchutz haben. Die Sunder-
leute ſind unſre Eigenbehoͤrige, welche in dem beſondern
Schutz ihrer Gutsherrn ſtehen; und die Freyen, welche ſich
in St. Maternins Echte begeben, damit ſie den Herrn
des Landes nicht eigen werden
, ſind diejenigen, welche
ſich bey uns in die eigentlichen Hoden einſchreiben laſſen.
Die erſtern beyden Arten ſitzen wie man ſieht auf dem Gute,
wovon ein alter Eigenthuͤmer mit zum Heere gezogen; und
ſie ſind von ihrem unterhabenden Gute entweder an die
Reichsvogtey oder Amtshode; oder ihrer Gutsherrn be-
ſondern Schutz gebunden. Dieſe verbieſtern dahero auch
nicht, wenn ſie die Einſchreibung verſaͤumen; ſie werden
aber Ballmuͤndig b). Die freyen hingegen verbieſtern, weil
vor ihrer Wahl kein Schutzherr einiges Recht uͤber ſie hat;
und dieſem folglich nichts entgeht, wenn der Landesherr
ihren Nachlaß zu ſich nimmt. Sie heiſſen daher Churmuͤn-
dige oder Churechten c), weil ſie ſich ihre Hodemundium,
oder
[359]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.
oder Echte nach Gefallen waͤhlen koͤnnen. Jedoch verhaͤlt
es ſich mit den Neceſſairſreyen anders, als welche Zwang-
muͤndig oder Zwangecht ſind, folglich an eine nahmhafte
Hode gebunden ſind. Dieſe wuͤrden auf den Fall, da ſie
die Einſchreibung verſaͤumeten, nicht verbieſtern, ſondern
verballmuͤnden, wenn ein anderer als der Landesherr eine
Zwanghode uͤber ſie haͤtte a). Es ſind aber hier im Stifte
Z 4keine
c)
[360]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
keine andre Neceſſairfreye als in der Amt Iburgiſchen Hode;
folglich iſt es einerley, ob ſie verbieſtern oder verballmuͤnden,
weil in beyden Faͤllen der Landesherr ihren Sterbfall zieht.


Dies

a)


[361]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.

Dies vorausgeſetzt, begreift man einer Seits leicht, wa-
rum die Bieſterfreyheit eingefuͤhret worden; und andrer
Seits, wie jede Hode oder Echte, es mag nun einer dieſelbe
erwaͤhlen, oder daran von ſeiner Geburt und ſeinen Gruͤn-
den gebunden, oder derſelben durch die Luft theilhaftig ſeyn,
einen ſichern und wohlthaͤtigen Schutz gegen die Knecht-
ſchaft verleihen ſollen; und daß unſre Vorfahren, die von
Territorialunterthanen nichts wußten, eben dadurch der
Knechtſchaft ausweichen, und verhindern wollen, daß die
geringen Leute dem Herrn des Landes nicht eigen werden
ſollten:
und wie konnten ſie witziger und vorſichtiger han-
deln, als daß ſie Churecht einfuͤhrten, und folglich ſolchen
Menſchen die Freyheit lieſſen, ſich nach eigner Wahl in den
Schutz der Heiligen zu begeben?


Das ſchlimmſte Loos das einer zu gewarten hatte, war
dieſes, daß ſeine ganze Erbſchaft zum Sterbfall gezogen
wurde. Wer alſo irgend eine Urkunde, ſie beſtehe nun in
dem beſten Pferde, oder in dem beſten Kleide, in dem beſten
Pfande, oder in dem vierten Fuſſe, in dem Exuvienthaler
oder in dem Exuvienpfennig, entrichtet, der hat dieſes
ſchlimme Loos nicht zu fuͤrchten, und wo die Luft eigen a)
Z 5macht,
a)
[362]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
macht, oder welches einerley iſt, wo die Luft die Stelle der
Einſchreibung vertritt und Schutz und Hode giebt, da kann
kenntlich niemand verwildern, oder als ein Leibeigner ſeine
ganze Erbſchaft verlieren, ob er gleich zu einer guͤtlichen
Behandlung derſelben berechtiget und verbunden iſt. Nur
da wo die Luft nichts wuͤrket, iſt die Verbieſterung oder die
voͤllige Knechtſchaft moͤglich; nur da wo keine Urkunde ent-
richtet wird, laͤßt ſich eine arge Freyheit oder die aͤrgſte
Knechtſchaft gedenken; denn jede angenommene Urkunde
ſetzet einen Vergleich mit dem Staate voraus; und niemand
hat ſich verglichen, um ſeinen ganzen Nachlaß zu verlie-
ren a). Dis konnte er ohne Vergleich.


Es iſt aber eine ganz andre Frage: Ob dergleichen Ein-
richtungen ſeitdem das Territorium einen zum Unterthanen
macht, und das ehmalige Band der perſoͤnlichen Anhaͤng-
lichkeit von den groſſen Herrn, welche ſich bey dem Satze:
Quicquid eſt in territorio eſt etiam de territorio, beſſer
ſtan-
a)
[363]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.
ſtanden, vernachlaͤßiget iſt, dermalen noch billig beyzube-
halten ſeyn?


In den mehrſten Laͤndern weiß man ſchon nichts mehr
davon, wohl aber von einem Schutzthaler. Dieſer aber
iſt in der That der Exuvienthaler, womit die Schutzgenoſ-
ſen ihren Sterbefall bey lebendigen Leibe loͤſen. Denn ein
ſolcher Thaler, wie uͤberhaupt alles Schutzgeld, wird in
keinem Lande zur Steuerkaſſe kommen, ſondern allezeit
als ein Cammergefaͤll berechnet werden. Die Cammer
aber, die von keinem Unterthanen Steuern zu erheben hat,
koͤnnte nie an dieſes Schutzgeld gekommen ſeyn, wenn die
Schutzgenoſſen nicht entweder als Cammerlinge oder Cam-
merhoͤrige Leute, die in der Amts- oder Cammerhode,
oder aber als Heiligen Schutzleute in der Kirchenvogtey-
lichen Hode ehedem geſtanden haͤtten, ſolches entrichteten.


Hier im Stifte hat man auch ſchon einmal angefangen,
mildere und der Territorialhoheit angemeſſenere Grundſaͤtze
einzufuͤhren. Denn ſo ſetzt die Canzley in einem Reſcripte
vom 13. Maͤrz 1680.


„Es ſind die Unterthanen fuͤr genugſam immatriculir[t]
„zu achten, welche Schatz und Steuer geben, auf
„Schatzregiſtern ſtehen, und billig Landesfuͤrſtl. Schirm
„und Schutz genieſſen.‟


Allein der Schluß war unrichtig, weil Schatz und Steuer
in die Landescaſſen flieſſen, und ein zeitiger Landesherr
nicht ſchuldig iſt, die auf die Verſaͤumniß des Schutzrechts
geſetzte Strafe um deswillen nachzugeben, weil die Unter-
thanen gemeine Steuer entrichten. Haͤtte man ſo ge-
ſchloſſen:
Diejenige ſo einen Pfennig ins Amtsregiſter, oder ei-
nen Pfennig vom Sarge an die Cammer; oder ein
Schutzgeld dahin entrichten, ſind fuͤr genugſam imma-
triculirt zu achten:

ſo
[364]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
ſo waͤre nichts dagegen zu erinnern geweſen, und jene
Meynung wuͤrde unfehlbar den Beyfall, woran es bis
dieſe Stunde ermangelt, erhalten haben. Auch in den
aͤltern Zeiten, wo der Reichsvogt die gemeinen Steuren,
als Herbſt- und Maybeden, Herbſt- und Maygeld, Herbſt-
und Mayſchatz, welche jetzt als Cammer oder auch wohl
als Gutsherrliche Gefaͤlle, nachdem ihr Urſprung verdun-
kelt iſt, angeſehen werden, erhoben haben, wuͤrde der
Schluß richtig geweſen ſeyn. Es hat ſich alſo dieſes alte
Recht durch jenen unrichtigen Schluß nicht verdraͤngen laſſen,
und kann auch nicht wohl anders dadurch aufgehoben wer-
den, als daß ein zeitiger Landesherr auf den Nachlaß aller
Bieſterfreyen Verzicht thut, mithin die Nothwendigkeit ſich
in eine Hode zu begeben aufhebt. Dieſer Verzicht kann
aber nicht ohne viele Schwierigkeit geſchehen, weil die
Neceſſairfreyheit, die Hausgenoſſenſchaft, das Heerge-
wedde, der vierte Fuß, und verſchiedene andere Freyheits-
urkunden, damit eine ganz widrige Bedeutung erhalten
wuͤrden, wann ihnen ihre vornehmſte Beziehung genom-
men wuͤrde a) ....


Der
[365]der ſogenannten Hyen, Echten oder Hoden.

Der Biſchof hatte nicht Luſt den Bericht ſeiner Raͤthe,
der gar zu lang gerathen war, weiter zu leſen, (vielleicht
geht es manchen unſrer Leſer auch ſo); und ſo begnuͤgte
er ſich, dem ehemaligen Cammermaͤdchen der Koͤniginn
Richezza ihres Mannes Nachlaß zu ſchenken, und im uͤbri-
gen die Sache a), da ſie ſich mit ſo vielen andern verwi-
ckelte, in dem vorigen Stande zu laſſen.



LXVII.
Vom Glaͤubiger und landſaͤßigen
Schuldner.


Der dreyßigjaͤhrige Krieg hatte ſo manchen ehrlichen
Mann arm gemacht, daß man in dem darauf er-
folgten weſtphaͤliſchen Frieden Art. VIII. §. 5. den un-
gluͤcklichen Schuldnern zum Beſten einen eignen Artikel ein-
ruͤcken muſte. Und alle Reichsſtaͤnde waren hierauf be-
muͤhet, den Punct ausfindig zu machen, worauf ſich Glaͤu-
biger und Schuldner ſcheiden ſollten.


Der Reichsabſchied vom Jahr 1654 verordnete zum
Beſten der durch den Krieg verdorbenen Schuldner, daß
ihnen
a)
[366]Vom Glaͤubiger
ihnen binnen drey Jahren kein Capital geloͤſet, der Ruͤck-
ſtand aller waͤhrend dem Kriege angelaufenen Zinſen bis
auf ein Viertel erlaſſen, und vorerſt uichts weiter als eine
alte und neue Zinſe jaͤhrlich zu bezahlen angemuthet wer-
den ſollte.


Es iſt dieſes das einzige Exempel in der Reichsgeſchich-
te, daß man ſich des hoͤchſten und aͤuſſerſten Obereigen-
thumsrechts auf eine ſo maͤchtige und allgemeine Weiſe be-
dienet habe. Die vorgaͤngige Zuziehung aller Landſtaͤnde,
die Einwilligung ſaͤmtlicher Reichsſtaͤnde; das Gutachten
beyder hoͤchſten Reichsgerichte; und die beyfaͤllige Mey-
nung der groͤſten Rechtsgelehrten der damaligen Zeit, ſind
aber auch ſolche feyerliche und weſentliche Umſtaͤnde, daß
man wohl einſehen kann, wie die Reichsſtaͤnde einen fuͤr
die Aufrechterhaltung des Eigenthumsrechts und der da-
von abhangenden Nationalfreyheit ſo bedenklichen Schritt
nicht anders als mit der reiflichſten und zaͤrtlichſten Ueber-
legung gewaget haben. Die damalige Noth, worin bin-
nen einer Zeit von drey Jahren alle Bauern dieſes Hoch-
ſtifts entweder von ihren Hoͤfen entſetzt, oder doch unter
eine gerichtliche Verfuͤgung geſtellet ſeyn ſollen, war auch
wuͤrklich ſehr groß; und ruͤhrte hauptſaͤchlich daher, daß
man im Jahr 1622 und 1623 die gar zu ſchlecht gewor-
dene Muͤnze ohne eine genugſame Menge beſſerer einzu-
fuͤhren, ploͤtzlich verrufen, und damit den Schuldnern
die Mittel genommen hatte, ſich noch einigermaſſen zu be-
freyen. Wer Gelegenheit gehabt hat, Geldregiſter von
ſolcher Zeit einzuſehen, wird finden, daß von 1623 bis 1648
alle Zinſen und Geldgefaͤlle ruͤckſtaͤndig geblieben ſeyn.


Der letztere Krieg hat zwar nicht ſo lange gedauret;
diejenigen Gegenden aber, welche er in einer beſtaͤndigen
Folge betroffen, nicht weniger ungluͤcklich gemacht. Gleich-
wohl iſt in dem darauf erfolgten Frieden fuͤr die verungluͤck-
ten
[367]und landſaͤßigen Schuldner.
ten Schuldner nicht geſorgt. Man hoͤrt auch nicht, daß
auf Reichs- oder Landtaͤgen ihrenthalben etwas beſchloſſen
werde. Was ſoll alſo ein Richter, der taͤglich von dem
Glaͤubiger um Huͤlfe und von dem Schuldner um Gedult
angeflehet wird, thun, um ſein Gewiſſen nicht zu verletzen?


Auf der einen Seite verpflichtet ihn ſein Amt, dem Glaͤu-
biger ohne allen Verzug zu helfen. Auf der Gewißheit
und Fertigkeit dieſer Huͤlfe beruhet aller Credit. Der ge-
ringſte Ordnungswidrige Verzug, womit er einem Schuld-
ner dienet, ſchadet hundert andern, denen kein Glaͤubi-
ger aushelfen will, ſo bald ſie Aufzuͤge zu befuͤrchten ha-
ben. Wo die Handlung bluͤhen ſoll, muß die richterli-
che Huͤlfe ſich weder durch die Thraͤnen der Wittwe noch
durch das Geſchrey der Waiſen aufhalten laſſen. In Lon-
don, Amſterdam, Hamburg und Bremen kennt man kei-
nen Stilleſtand, den Richter und Obrigkeit ertheilen. Es
iſt ein Raub, den der Richter begeht, wenn er einem Glaͤu-
biger das ſeinige vorenthaͤlt, oder Schuld daran iſt, daß
es ihm vorenthalten werde. Wenn Gott den Schuldner
mit Ungluͤcksſaͤllen heimſucht: ſo muß er und nicht der
Glaͤubiger leiden. Die Geſetze a) haben dem Glaͤubiger
das Seinige auf den Fall nicht abgeſprochen, wenn der
Schuldner ungluͤcklich werden wuͤrde. Die Geſetzgeber
wuſten die Moͤglichkeit der Ungluͤcksfaͤlle vorher. Sie ver-
aͤnderten aber das allgemeine Geſetz, daß jeder ohne Auf-
ent-
[368]Vom Glaͤubiger
enthalt zu ſeinem Rechte und Eigenthum verholfen wer-
den muͤſte, darum nicht. Sie lieſſen vielmehr dies Recht
gehen, ſo weit es konnte, und bis zur Knechtſchaft des
Schuldners. Die Kaiſer Gratian und Theodoſius erklaͤr-
ten ſich auf die gewiſſenhafte Art: daß ſie ſich nie der Voll-
kommenheit ihrer Macht bedienen wollten, einem Schuld-
ner Ausſtand zu geben; und wenn es ja geſchaͤhe, ihre
Reſcripte von dem einzigen Falle verſtanden haben wollten,
wo der Schuldner hinlaͤngliche Buͤrgſchaft ſtellen koͤnnte.
Es kann auch kein Reichsfuͤrſt nach den Reichsgeſetzen,
und ohne allen Credit aus ſeinen Laͤndern zu verbannen,
minder Vorſicht gebrauchen, als bey dem Reichsabſchied
von 1654 gebrauchet worden.


Auf der andern Seite duͤnkt es dem Richter oft grau-
ſam, die Kinder von ihrem vaͤterlichen Hofe um einer ge-
ringen Schuldforderung willen zu verdraͤngen. Er ſieht
faſt gewiß, daß das Gut, was er in einer geldloſen unbe-
quemen Zeit losſchlagen muß, uͤber einige Jahre weit mehr
gelten, und zur Sicherheit des Glaͤubigers voͤllig hinreichen
werde. Er denkt: Der Blitz der die Gruͤnde des Glaͤu-
bigers nicht ruͤhren koͤnnen, weil ſein Vermoͤgen in Schuld-
verſchreibungen beſteht, hat vielleicht nicht blos den Schuld-
ner, ſondern auch den Glaͤubiger heimſuchen wollen. Je-
ner hat ſich gegen die Kriegsbeſchwerden als ein treuer Un-
terthan gewehret, das Unterfand des Glaͤubigers mit Auf-
opferung ſeines uͤbrigen Vermoͤgens gerettet, und alles
Ungewitter uͤber ſich ergehen laſſen; dieſer hingegen iſt
mit ſeinem Schuldbuche in fremde Laͤnder gefluͤchtet, und
hat dem Sturm vom Ufer zugeſehen. Soll ich, ſchließt
er, dem ungluͤcklichen Landbeſitzer ſein Hofgewehr neh-
men: womit will er dann ſeinen Acker beſtellen; und will
ich den Hof verkaufen, wie groß ſind nicht auch die noth-
wendigſten Koſten? Ich weiß gewiß, ſagt er dem Glaͤu-
biger
[369]und landſaͤßigen Schuldner.
Glaͤubiger, der am eifrigſten auf ſeine Bezahlung dringt,
daß ihr doch am Ende nichts erhalten, und ein anderer
jetzt noch ſchlafender oder guͤtigerer Glaͤubiger damit durch-
gehen werde; ſoll ich alſo den Schuldner bloß um deswil-
len zu Grunde richten, um euch zu uͤberzeugen, daß nach
Abzug aller Koſten und Bezahlung aͤlterer Schulden nichts
uͤbrig ſey? Aber was ſoll nun der Richter thun?


Was der Richter thun ſolle? Wenn der Schuldner
ein freyer Mann iſt: ſo nehme er ihm alles was er hat,
und verkaufe es. Fuͤr den Staat iſt es vielleicht beſſer,
daß ein freudiger Kaͤufer als ein verarmter und muthloſer
Eigenthuͤmer auf dem Hofe liege. Und was kann man
in aller Welt fuͤr einen Grund angeben, warum der Glaͤu-
biger jetzt eher als der Schuldner verlieren ſolle? Hat der
Glaͤubiger nicht ſchon genung dadurch gelitten, daß er ſeinem
Schuldner die groſſe Wohlthat gethan, ihm waͤhrend des
Krieges alle Zinſen in leichter Muͤnze abzunehmen? Soll
er jetzo noch das Bisgen, was er vielleicht in dreyßig
ſchweren Jahren mit Aufopferung ſeiner Geſundheit bey
ſaurer Milch und trocknem Brodte in Holland erworben
hat a), und durch deſſen Huͤlfe er ſeinen kraͤnklichen Koͤr-
per bis an irgend ein nah gelegenes Grab zu ſchleppen
gedachte; ſoll er dies jetzt am Rande des Grabes miſſen?
ſoll er ſeine Kinder vor fremde Thuͤren ſchicken? ſoll er
ſein Weib unter der Laſt erſticken ſehen? blos darum, da-
mit ſein Schuldner und kein andrer ehrlicher Mann dieſen
oder jenen Hof bewohne? Nein. Die Sache iſt leicht
entſchieden. Man wuͤrge Buͤrgen und Schuldner, und
helfe dem Glaͤubiger.


Aber
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. A a
[370]Vom Glaͤubiger

Aber wie, wenn der Schuldner ein Leibeigner iſt,
und den Hof nur zum Bau unter hat? Wenn die Sache
auf dieſe Spitze zu ſtehen koͤmmt:
Daß der Glaͤubiger keinen Stilleſtand geben will; gleich-
wol aber der Leibeigne ohne ſolchen zu erhalten, kein
Vieh im Stalle, und kein Korn auf dem Felde behal-
ten kann? Was ſoll hier der Richter thun?

Dieſe Frage iſt freylich ſchwerer zu beantworten, ſo
leicht ſie auch manchem ſcheinen mag, der dem Gutsherrn
ſagen wuͤrde: er ſolle gegen die Glaͤubiger hervor treten,
und den Leibeignen, der ſich in ſolche Umſtaͤnde verſetzt, ſo
fort vom Erbe jagen. Allein geſetzt, die Glaͤubiger erwiedern:
„Der Gutsherr moͤge dieſes thun, wenn er es auf ſein
Gewiſſen nehmen, und vor Gott verantworten koͤnne.
Sie koͤnnten ihrer Seits keinen Stilleſtand geben, weil
ſie arme Leute waͤren, und ihres Geldes, ohne ſelbſt
Bettler zu werden, nicht entrathen koͤnnten„.


Geſetzt weiter, der Gutsherr habe ein zaͤrtliches Gewiſſen?
Er wiſſe oder glaube doch wohl, ſein Leibeigner habe im
Kriege oder ſonſt durch Ungluͤck ſeine Pferde, und durch die
Seuche ſein Vieh verlohren. Er wiſſe, der Schuldner habe
ſich mit dem geliehenen Gelde beydes wieder angeſchaffet;
und die Glaͤubiger, welche ihm damals in der Noth ausge-
holfen, haͤtten jetzt ſelbſt kein Vieh; er koͤnne alſo Kraft ſei-
ner Ueberzeugung, ſeinen Leibeignen, der zwar ein ungluͤck-
licher aber kein ſtraͤflicher Wirth geweſen, nicht vom Hofe
ſtoſſen; oder es eraͤugnen ſich andre Umſtaͤnde, wie dann de-
ren taͤglich viele vorkommen, weswegen der Gutsherr ſeinen
verſchuldeten Leibeignen nicht vom Hofe ſetzen koͤnne. Was
ſoll hier der Richter thun, wenn die Glaͤubiger oder die
mehrſten unter ihnen keinen Stilleſtand einwilligen wollen?


Auch hier, glaube ich, muͤſſe der Richter ſein Amt thun,
dem Leibeignen, bis der Glaͤubiger befriediget, alles nehmen,
und
[371]und landſaͤßigen Schuldner.
und den Hof ausheuren; ſo lange die Landesobrigkeit nicht
andre Geſetze macht. Denn der Richter iſt kein Geſetzgeber,
ſondern ein Knecht des Geſetzes.


Aber was ſoll denn der Geſetzgeber thun? Kann dieſer,
kann der Gutsherr leiden, daß kein Wirth, kein Spann,
kein Haushalt auf dem Hofe bleibe? Erfordert es nicht die
allgemeine Noth, daß jeder Hof ein taugliches Spann habe?
Und iſt der Gutsherr nicht berechtiget, ſeinen moͤchentlichen
Spanndienſt zu fordern? Allerdings. Die Sache ſelbſt re-
det ſo klar, daß man ſich wundern muß, warum der Ge-
ſetzgeber nicht hier im Stifte, ſo wie in benachbarten Laͤn-
dern wuͤrklich geſchehen, dem Bauer mit ſeinem ganzen Hof-
gewehr eiſern gemacht habe.


Doch jetzt faͤllt mir ein einziger kleiner Zweifel ein. Wie
ſoll es der Leibeigne machen, wenn er ſein Hofgewehr durch
Feuer, Krieg, Seuchen oder andre Ungluͤcksfaͤlle verlieret,
aber kein baar Geld hat? Woher nimmt alsdann der Guts-
herr den Spanndienſt und die gemeine Noth ihre Kriegs-
fuhr? Wird er hier nicht borgen muͤſſen? Und wenn er die-
ſes thun muß: hat er es denn nicht auch vorher in gleichen
Faͤllen thun koͤnnen? Freylich, wird man ſagen; allein dieſe
Faͤlle ſind nicht vorhanden geweſen. O! wenn der Proceß
nur erſt ſo weit koͤmmt, daß es auf den Beweis der Un-
gluͤcksfaͤlle ankoͤmmt: ſo gehts dem Gutsherrn mit ſeinem
Leibeignen wie der Schoͤnen mit ihrem Anbeter. So bald
ſie anfangen zu philoſophiren, ſind beyde halb verlohren.


Nun ſo mag der Leibeigne dann ſo viel borgen als die
hoͤchſte Noth immer erſordert; braucht doch der Gutsherr
um deswillen nicht zuzugeben, daß Pferde und Kuͤhe fuͤr den
Glaͤubiger vom Hofe gepfaͤndet werden? … Nein. Aber
die Frage iſt vorerſt noch, wie Kuͤhe und Pferde herauf
kommen, wenn ſie durch Ungluͤck abfallen? Ob ein Glaͤu-
biger im ganzen Lande ſey, der dem Leibeignen eine Klaue
A a 2leihen
[372]Vom Glaͤubiger
leihen werde, wenn ſie eiſern wird, ſo bald ſie auf den Hof
kommt? oder ob ihm jemand Geld zu einem Pferde leihen
werde, ohne ihm dieſes und was er ſonſt hat, wenn er nicht
bezahlt, pfaͤnden zu duͤrfen?


Hier wird wuͤrklich guter Rath theuer, und ich moͤchte
beynahe ſagen, man muͤſſe dem Leibeignen befehlen allezeit
baar Geld in Vorrath zu haben, oder die Glaͤubiger zwin-
gen, ihm ſo viel zu leihen, als er zur Anſchaffung und Er-
gaͤnzung ſeines Hofgewehrs noͤthig hat. Sonſt werde in
Ewigkeit weder Hof- noch Landdienſt vom Hofe erfolgen.
Doch mir faͤllt noch ein Mittel bey. Man verwandle den
weſtphaͤliſchen Eigenthum in den Mecklenburgiſchen, wo der
Gutsherr die Schatzungen bezahlt, die Krtegsfuhren ver-
richtet, und den Leibeignen auf den Fuß eines Tagloͤhners
oder Heuerknechts haͤlt; wo Pferde und Kuͤhe, Mauren
und Zaͤune, Haͤuſer und Scheuren dem Gutsherrn ſtehen
und fallen; und wo wenn der Leibeigne etwas verdirbt, ver-
ſaͤumet oder zu Grunde gehen laͤßt, die allezeit fertige Be-
zahlung durch den geradeſten Weg Rechtens — aus ſeiner
Haut erfolgt. Denn dis wird doch die nothwendige Folge
ſeyn muͤſſen, im Fall der Leibeigne, in Ermangelung alles
Credits, das verungluͤckte Hofgewehr nicht wieder anſchaf-
fen kann, und der Gutsherr ihm ſeine eigne Pferde und
Kuͤhe zur Ackerbeſtellung geben muß.


Allein dieſe Gluͤckſeligkeit, wobey die adlichen Guͤter zu
5-6 pro Cent verkauft werden, wuͤnſcht ſich der weſtphaͤli-
ſche Edelmann nicht Er verlangt ſeinem Leibeignen die
Zaͤune nicht zu beſſern, noch fuͤr ihn die Schatzungen zu ent-
richten; und die Pferde, die dem Bauren fallen, ſoll er
ſelbſt bezahlen. Folglich iſt ihm mit dem Mecklenburgiſchen
Eigenthum gar nicht gedient. Was iſt denn nun uͤbrig, um
ein Spann auf den Hof zu bringen? Soll ichs ſagen? Er
muß ſeinem Leibeignen Credit machen. Wieder Credit? Ja
nun:
[373]und landſaͤßigen Schuldner.
nun: ſo ſind wir ja wieder an dem Fleck wovon wir abge-
reiſet ſind. Und wodurch macht er dem Leibeignen Credit?
Dadurch daß er und ſein Hofgewehr eiſern wird? Ich zweifle
ſehr. Durch Bewilligungen? Nun wenn dieſe ſo oft er-
theilet werden muͤſſen, als der Bauer kein Vieh hat, ſeinen
Ackerbau gehoͤrig zu treiben: ſo bedaure ich den Gutsherrn,
der viele Leibeigne hat. Denn er wird entweder ihre Wirth-
ſchaften ſelbſt fuͤhren, oder alle Augenblick hoͤren muͤſſen,
daß eine Bewilligung noͤthig ſey, um dieſes und jenes an-
zuſchaffen. Noch mehr. Dieſe Art von Credit durch Be-
willigung kann nicht beſtehen, oder jedes Fohlen, jedes
Kalb, jeder Vortheil muß dem Gutsherrn wieder zu gute
kommen, oder doch zu Einloͤſung der Bewilligungen (welch
eine genaue Aufſicht wird hier noͤthig ſeyn?) angewandt
werden, weil er ſonſt die Gefahr des Schadens ganz allein
ſtehen wuͤrde. Und wo ſind wir alsdenn? bey dem Mei-
ſterſtuͤcke der roͤmiſchen Philoſophie, dem Knechte der gar
nichts eignes hatte; und der vermuthlich durch die Reihe
von obigen Schluͤſſen zur Welt gekommen iſt? Womit er-
halten wir aber dieſe Art von Knechten? Und koͤnnen dieſe
anders als auf roͤmiſche Art in Privatzuchthaͤuſern gehal-
ten werden?


Unſtreitig ſind unſre Vorfahren durch dieſe Bedenklich-
keit abgehalten worden, das Hofgewehr der Leibeignen eiſern
zu machen. Haͤtten ſie es gethan; ſo wuͤrden beym letztern
Kriege tauſend und abermal tauſend Befehle an die Guts-
herrn ergangen ſeyn, ihren verungluͤckten Bauern Pferde
zu verſchaffen, oder ihnen Bewilligung zu deren Ankauf zu
ertheilen. Es wuͤrden viele Hoͤfe ſo dann mit ſo vielen be-
willigten Schulden beſchweret ſeyn, als ſie mit unbewillig-
ten beſchweret ſind. Und haͤtte der bewilligte Glaͤubiger
nur im geringſten fuͤrchten duͤrfen, daß ihm der Richter we-
gen der eiſernen Beſchaffenheit des Hofgewehrs nicht helfen
A a 3wuͤr-
[374]Gedanken uͤber den Stilleſtand
wuͤrde: ſo haͤtte er gewiß auch in dieſem Falle nicht geborgt.
Woher waͤre ſodenn die Kriegsfuhr erfolgt? Blos von den
Hoͤfen, deren Spannung im guten Stand geweſen? Das
wuͤrden dieſe gewiß nicht lange ausgehalten, und die Guts-
herrn, denen ſie gehoͤrt, nicht mit Gedult ertragen haben.


Was iſt aber der Schluß von dieſem allen? einen Preis
fuͤr denjenigen auszuſetzen, der die Frage:


Was der Geſetzgeber in obigem Falle thun ſolle?
beſſer beantworten wird.



LXVIII.
Gedanken uͤber den Stilleſtand der
Leibeignen.


Der Stilleſtand iſt bekannter maſſen ein Mittel, einen
verſchuldeten leibeignen Unterthanen, deſſen unter-
habendes Gut die Glaͤubiger nicht angreifen koͤnnen, und
deſſen Hofgewehr ſie nie angreifen ſollten, auf einige Jahre
ſo zu ſetzen:
daß er jaͤhrlich ſo viel, als der Hof etwa zur Heuer
thun, oder als ein fleißiger Beſitzer deſſelben ohne Lot-
terien und Kuckſen darauf gewinnen kann, zum Behuf
ſeiner ſchuldigen Abgaben und der Glaͤubiger aufbrin-
gen muß.


Eigentlich ſollte man immer das letzte waͤhlen, weil die
Glaͤubiger ein Recht auf des Schuldners ganzes Vermoͤgen
und folglich auch auf ſeinen Fleiß und ſeine Kraͤfte haben;
wegen verſchiedener Zufaͤlle aber, die man nicht vorher ſe-
hen kann, wird das erſte als das ſicherſte dem letzten billig
vorgezogen. Die Abſicht dieſes Stilleſtandes iſt auf die Er-
haltung des Hofes, des Hofgewehres und eines ungluͤckli-
chen Unterthanen gerichtet, indem dem gemeinen Weſen dar-
an gelegen, daß alle Hoͤfe tuͤchtig beſetzt und zur Zeit der
Noth
[375]der Leibeignen.
Noth ſo wenig entbloͤſſet als ausgeſpannet ſeyn moͤgen. So
nothwendig und billig nun auch dieſe geſetzmaͤßige Vorſorge
iſt, beſonders in den Gegenden, wo nach einer vorgegan-
genen Abaͤuſſerung, ſich nicht ſogleich neue Wirthe finden,
die mit einem Feld- und Viehinventarium wieder aufziehen
und ſich eigen geben wollen: ſo haͤufig ſind dennoch die Faͤlle,
wo die desfalls vorhandenen heilſamen Verordnungen und
die beſten Abſichten nicht zum Zwecke wuͤrken.


Der erſte Fall iſt insgemein, daß zwey oder drey der
maͤchtigſten Glaͤubiger, welche die andern uͤberſtimmen koͤn-
nen, ſich mit dem Schuldner heimlich zuſammen ſetzen ihm
durch die Mehrheit ihrer Forderungen einen Stilleſtand ge-
gen alle uͤbrige verſchaffen, und hernach, wenn allen andern
die Haͤnde gebunden, den Schuldner allein rupfen. Dieſer
bringt ſodenn jaͤhrlich zum Schein nach der Mehrheit ge-
wonnener Stimmen ein gewiſſes auf, und die maͤchtigen
ziehen nebenher ihre voͤlligen und vielleicht gar wucherlichen
Zinſen.


Nun hat es zwar ſeine anſcheinende Richtigkeit, daß der
Schuldner ſich ſolchergeſtalt den maͤchtigern verbindlich ma-
chen koͤnne, indem ihm waͤhrend dem Stilleſtande die Ver-
waltung ſeines Hofes vertrauet wird, und er, wenn er das
verglichene richtig bezahlt, das uͤbrige verzehren, verſchen-
ken und folglich auch nach Gefallen einigen ihn beguͤnſtigen-
den Glaͤubigern bezahlen kann.


In der That liegt hier aber ein gedoppelter Betrug zum
Grunde: der eine, welchen der maͤchtigere Glaͤubiger in An-
ſehung ſeiner Mitglaͤubiger begeht; und der andre, deſſen
der Richter ſich ſelbſt mit ſchuldig macht, indem auf den Fall,
da der Schuldner noch nebenhin etwas aufbringen konnte,
der Stilleſtand ohne genugſame Unterſuchung beſtaͤtiget iſt.
Der Richter hat ſodann blos auf die Mehrheit der mit dem
Schuld-
[376]Gedanken uͤber den Stilleſtand
Schuldner unter einer Decke ſpielenden Glaͤubiger gebauet,
und ſelbſt keinen richtigen Ueberſchlag gemacht; dergleichen
Betruͤgereyen verdienen aber keine rechtliche Beguͤnſtigung;
und wenn es gleich nicht moͤglich iſt, ſie gaͤnzlich zu ver-
hindern: ſo ſollte doch kein Richter uͤber jene Nebenbedin-
gungen waͤhrend dem Stilleſtande jemals die Huͤlfe erkennen.


Der zweyte Fall iſt, wo der Schuldner einige gute
Freunde bittet, ſo gar falſche Forderungen gegen ihn auf-
zuſtellen, und durch deren Mehrheit die wahren Glaͤubiger
zum Stilleſtand zu noͤthigen. Hier iſt nun wiederum, ohne
eine Menge gefaͤhrlicher Eyde, zuzulaſſen, keine Huͤlfe; in-
deſſen ſollte doch, wenn ſich ein ſolcher Fall zutruͤge und
klar gemacht werden koͤnnte, der falſche Glaͤubiger verdam-
met werden, dem Richter, zum Beſten der uͤbrigen recht-
lichen Glaͤubiger ſo vieles zu bezahlen, als er faͤlſchlich an-
gegeben hat.


Der dritte Fall iſt, wenn der Richter nach der Mehr-
heit der Stimmen den Stilleſtand erkennet, und einen oder
andern, wegen eines habenden beſondern Rechts, davon
ausnimmt, mithin den Stilleſtand zum Theil beſtaͤtiget,
zum Theil aber nicht.


Dieſer Fall ſollte eigentlich nie eintreten, ohnerachtet er
ſich oft zutraͤgt. Denn hat der Schuldner mehr, als er
zur nothwendigen Vertheidigung des Hofes gebraucht: ſo
ſollte dieſes vor dem Stilleſtande verkauft, und das Geld
nach vorgaͤngiger Erkenntniß dem erſten Glaͤubiger in der
Ordnung zuerkannt werden. Hat er aber nicht mehr: ſo
iſt es der allgemeinen Abſicht, den Hof im Stande zu er-
halten, entgegen. Hat ein Glaͤubiger ferner allein ein Recht
dem Stilleſtande ſich zu widerſetzen: ſo muß dieſer gar nicht
erkannt, ſondern entweder der Abaͤuſſerung, oder dem Ver-
kauf aller auf dem Hofe vorhandenen Fruͤchten und Mobi-
lien,
[377]der Leibeignen.
lien, ſo lange ſolcher nicht durch Geſetze eingeſchraͤnkt wird,
der Lauf gelaſſen, mithin allen Glaͤubigern die Concurrenz
zugeſtanden, nicht aber einem geholfen und den uͤbrigen
durch Beſtaͤtigung des Stilleſtandes ihre Concurrenz abge-
ſchnitten werden. Ueberdem iſt es ſeltſam, daß der Rich-
ter den letztern die gerichtliche Verſicherung ertheilet, wie
der Schuldner zu ihrem Behuf jaͤhrlich ein gewiſſes aufbrin-
gen ſoll, und dieſen gleichwohl durch die Execution zur
Gunſt des einen privilegirten Glaͤubigers, auſſer allen
Stand ſetzt, den Vergleich mit ſeinen uͤbrigen Glaͤubigern
zu erfuͤllen.


Wie aber, wird man ſagen, wenn ein bewilligter Glaͤu-
biger vorhanden, und derſelbe ſeine Befriedigung auf ein-
mal verlangt? Hier muß entweder der Gutsherr, oder der
Schuldner Rath ſchaffen, oder die unbewilligten Glaͤubi-
ger, zu deren Beſten der Stilleſtand bewilliget wird, muͤſſen
den bewilligten Glaͤubiger ablegen, und ſich ſolchergeſtalt
ihren Schuldner erhalten. Wenn zu einem von dieſen dreyen
Mitteln nicht zu rathen iſt; und zum beſten des bewilligten
Glaͤubigers alles was auf dem Hofe an Fruͤchten und Vieh
vorhanden, verkauft werden muß: ſo wird dem Schuldner,
ohne daß die bisheriger Geſetze geaͤndert werden, auch gar
nicht zu helfen ſeyn.


Der vierte Fall zeigt ſich, wenn der Schuldner ſelbſt
uͤbernommen, die Steuren und Gutsherrlichen Gefaͤlle rich-
tig abzufuͤhren, und daneben jaͤhrlich ein Gewiſſes fuͤr ſeine
unbewilligte Glaͤubiger aufzubringen; die beyden erſtern
Bedingungen aber nicht erfuͤllet, und ſo dann durch die
natuͤrlicher Weiſe auf Steuren und Gutsherrliche Gefaͤlle
erfolgende Execution auſſer Stand geſetzt wird, das ver-
ſprochene aufzubringen.


Eine gleiche Bewandniß hat es damit, wenn er waͤh-
rend dem Stilleſtande die Zinſen zu berichtigen uͤbernimmt,
Moͤſ. patr. Phant.III.Th. B bund
[378]Gedanken uͤber den Stilleſtand
und weil er ſolches nicht erfuͤllet, auf Anrufen eines einzi-
gen Glaͤubigers gepfaͤndet und auſſer Stand geſetzet wird,
die uͤbrigen Bedingungen des Stilleſtandes zu erfuͤllen.
Hier muͤſſen oft zehn Glaͤubiger zuſehen und erleiden, daß
ihr gemeinſchaftlicher Schuldner einem einzigen zum Vor-
theil heruntergebracht, und deſſen fahrendes Vermoͤgen,
welches ſie ihm aus Gutheit gelaſſen und waͤhrend dem Stil-
leſtande gleichſam nur anvertrauet haben, einem einigen
Glaͤubiger zuerkannt wird, ohne daß ſie dagegen ſprechen
koͤnnen.


In beyden Faͤllen iſt keine rechtliche Huͤlfe vorhanden,
und man mag daraus dreiſt ſchlieſſen, daß das ganze Stil-
leſtandesweſen ein widerſinniges Gemiſche ſey, woran die
Geſetze nun und zu ewigen Tagen umſonſt flicken werden.


Aber nun was beſſers! wird man mir zurufen; was
hilft es die Fehler anzuzeigen, wenn keine Mittel dagegen
vorhanden ſind? Ihr erſter Vorſchlag, den Sie einmal ge-
than haben, alle Bauerhoͤfe wie weltliche Erbpfruͤnden an-
zuſehen, und dem zeitigen Beſitzer derſelben nicht mehr als
einem andern Pfruͤndner zu geſtatten, mithin deſſen Glaͤu-
bigern hoͤchſtens zwey Nach- und zwey Gnadenjahre zu
gute kommen zu laſſen, iſt zu heroiſch; und ſeitdem der
Pfruͤndner durch Geſetze gezwungen iſt, ſeinen Bruͤdern von
der Pfruͤnde ordentliche Kindestheile herauszugeben, wi-
derſinnig; man kann einem nicht Haͤnde und Fuͤſſe binden,
und zugleich von ihm fordern, daß er laufen ſoll. Vielleicht
hat der weltliche Pfruͤndner auch oft des allgemeinen Be-
ſtens wegen einen groͤſſern Credit noͤthig, als der geiſtliche.


Ihr anderer Vorſchlag, die zerſtreuten Gutsherrlichkei-
ten voͤllig aufzuheben, und dafuͤr kleine Bezirke zu machen,
uͤber dieſe Erbgerichtsherrn zu ſetzen, und von dieſen zu er-
warten, daß ſie ihre Gerichtsunterthanen in ſtrengerer
Zucht
[379]der Leibeignen.
Zucht halten, und ſo wohl uͤber ihre Anlehen als deren zei-
tige Wiederbezahlung wachen ſollen, mag zwar wohl der
Carolingiſchen Verfaſſung gemaͤs ſeyn; aber es wird ſo viel
dazu gehoͤren, um es wieder dahin zuruͤck zu bringen; es
ſtreiten ſo viel heimliche Ahndungen dawider, beſonders
wann die Paͤchte und Pflichten der Gerichtsunterthanen
nicht auf ehernen Tafeln eingegraben werden ſollten, daß
ich nicht weiß, ob es rathſam ſeyn moͤchte, ſich auf dieſe
Art zu helfen.


Ihr dritter Vorſchlag, die naͤrriſche Rechtsgelehrſam-
keit, nach welcher ein Landbeſitzer Capitalien aufnimmt, und
in der ungewiſſen Vorausſetzung, daß ihm ein andrer Narr
wieder borgen werde, ſolche nach einer halbjaͤhrigen Loͤſe zu
bezahlen verſpricht, zum Lande hinauszupeitſchen, und da-
fuͤr den alten Rentcontrakt wieder herzuſtellen, iſt ſchoͤn,
aber ſo leicht nicht auszufuͤhren; ohnerachtet der geſunde
Menſchenverſtand eben dieſen Contrakt in Italien, England
und Frankreich erhalten hat, und es unmoͤglich iſt auf die
Dauer jenen beyzubehalten.


Ihr ehmaliger vierter Vorſchlag, dem Beyſpiel der ver-
ſchuldeten Roͤmer zu folgen, die ihren Glaͤubigern und viel-
leicht ihren Patronen oder Gutsherrn auf einmal die ganze
Schuld abſagten, und ſolchergeſtalt das durch langjaͤhrige
Verpflichtungen zum Nachtheil des gemeinen Weſens er-
ſchoͤpfte Eigenthum befreyeten, iſt wiederum zu heroiſch,
ohnerachtet es ſchon einmal der Kaiſer mit allen Reichsfuͤr-
ſten durch ein oͤffentliches Reichsgeſetze befohlen hat a).


B b 2Und
[380]Gedanken uͤber den Stilleſtand

Und wenn man Ihren dritten und vierten Vorſchlag
vereinigen, mithin die Loͤsbarkeit aller auf ſchatzbaren Hoͤ-
fen haftenden Capitalien durch einen Machtſpruch, der ſich
doch, da die Geſetze wenigſtens den Leibeignen die unbe-
willigten Schulden verbieten, gar wohl in einen Rechts-
ſpruch verwandeln lieſſe, aufheben, und dafuͤr jedem Glaͤu-
biger eine ſichere nach der Menge der Schulden und dem
Ertrag des Hofes abgemeſſene jaͤhrliche Rente verſchreiben
wollte: ſo wuͤrde dennoch in jedem Kirchſpiel einmal eine
eigne oͤffentliche Anſtalt, oder eine Art von ofnem Renten-
buch, worinn dieſe Renten eingetragen wuͤrden; und hier-
naͤchſt ein naher Schulthets noͤthig ſeyn, der dieſe mit dem
jaͤhrlichen Ertrage des Hofes in einer moͤglichen Gleichheit
ſtehenden Renten zeitig und fuͤr eine kleine Gebuͤhr einmahn-
te, ſo dann aber die Schuldner von Zeit zu Zeit zur Ein-
loͤſung dieſer Renten anhielte, damit ſolche nicht in Ewig-
keit ſtehen blieben und vermehret wuͤrden. Wie vieles wuͤr-
de ohnedem noch erfordert werden, um dieſe Renten zu ei-
nem ſichern Gegenſtande des oͤffentlichen Handels zu ma-
chen, und ihnen den Credit wieder zu geben, den ſie vor
zweyhundert Jahren hatten? Man wuͤrde auch dabey die
Vorſicht gebrauchen muͤſſen, welche man in England bey
den Annuitaͤten gebraucht, ſo daß keiner mehr als die Haͤlfte
ſeiner reinen Einkuͤnfte in Renten verwandeln koͤnnte, und
das uͤbrige zu ſeiner Competenz und auf unſichere Zufaͤlle
behalten muͤßte. In Deutſchland ſcheint vordem bereits eine
gleiche Vorſicht geherrſcht zu haben, indem man eine alte
und neue Rente zugleich fordern und beytreiben laſſen mochte,
mit-
a)
[381]der Leibeignen.
mithin vorausſetzte, daß der Hof jedesmal zu einer gedop-
pelten Bezahlung der Renten hinreichen muͤßte …


So weit geht der Zuruf meiner Freunde; aber nun die
Antwort — nun beſſere Mittel! — dieſe weiß ich zwar
nicht anzugeben. Es bleibt aber doch allemal wahr, daß
es eine ſchlechte Mannszucht ſey, wenn der Hauptmann ei-
nen Soldaten lahm ſchlaͤgt um einen guten Kerl aus ihm zu
ziehen; und dis thut der Richter ſo oft er einem Leibeignen,
er ſtehe nun in einem Stilleſtande oder nicht, bey einer
Pfaͤndung nicht ſo viel an Vieh oder Fruͤchten laͤßt, als er
zur nothwendigen Vertheidigung ſeines Hofes in allen oͤf-
fentlichen Laſten noͤthig hat.


Es bleibt ferner gewiß, daß jeder Landbeſitzer einen na-
tuͤrlichen
Stilleſtand habe, der von dem gerichtlichen gar
nicht unterſchieden iſt, auſſer daß bey dieſem die jaͤhrliche
Abgift zum Behuf der Glaͤubiger ausgerechnet und beſtim-
met, bey jenem zwar eben ſo gewiß aber unbekannt iſt. Man
kann keinem von beyden mehr nehmen, als er jaͤhrlich uͤbrig
hat, oder der Richter muß jedem, dem er ein mehrers ab-
fordert, zugleich einen Narren anweiſen, der ihm borgt.
Da nun ein Leibeigner im gerichtlichen Stilleſtande ſo we-
nig, als der andere, der ſich im natuͤrlichen befindet, vor
Ungluͤcksfaͤllen ſicher iſt; ja, da die Ungluͤcksfaͤlle eben wie
Gicht und Fluͤſſe ſich eher auf die kranken als geſunden Glie-
der werfen; ſo iſt es beynahe unmoͤglich auf acht oder zwoͤlf
Jahre zu beſtimmen, daß dieſer jaͤhrlich die ganzen Heuer-
gelder ſeines Hofes zum Vortheil der Glaͤubiger aufbringen
ſoll; und wenn dieſes iſt: ſo muß derſelbe wenigſtens einmal
oder zweymal in den Stilleſtandsjahren einen gerichtlichen
Verkauf ſeiner Fruͤchte erleiden — und es giebt deren viele,
die ihn das erſte Jahr, ſodann aber alle Jahr hinter einan-
der erfahren, — auf ſolche Weiſe kann aber der wahre End-
zweck des Stilleſtandes faſt nie erreichet werden.


In-
[382]Gedanken uͤber den Stilleſtand ⁊c.

Indeſſen bleibt doch auch wiederum gewiß, daß wenn
nicht die ſtrengſten Executiones geſchehen, die liederlichen
Wirthe nie zur Ordnung zu bringen ſind, und gar kein Cre-
dit, der doch unentbehrlich iſt, zu erhalten ſteht. Ueber-
haupt ſcheint der Menſch dazu gebohren zu ſeyn, um unter
der Zucht zu leben. Den Vornehmen peitſcht die Ehre oder
die erſchreckliche fuͤrſtliche Gnade mit Scorpionen zur Scla-
venarbeit; der Soldat wuͤrde ohne Zucht ein Fluch des
menſchlichen Geſchlechts ſeyn; und wie ſollte denn der von
einer nahen und ſtrengen Aufſicht in der jetzigen Verfaſſung
beraubte Landmann in Ordnung erhalten werden, wenn
nicht entweder Noth, oder Geiz, oder ein pfaͤndender Rich-
ter ihn dazu noͤthigten?


Bey dem allen lernt man aber nur ſo viel, daß das Uebel
gewiß, die Arzney aber unbekannt iſt; beſonders bey uns,
wo jeder Bauer wenigſtens unter vier Gerichtsbarkeiten zu-
gleich ſteht, und ſeines natuͤrlichen Stilleſtandes nie genieſ-
ſen kann, weil alle vier Richter, wenn auch jeder von ihnen
das billigſte Maaß gebraucht, und die Execution nach dem
Ertrag des Hofes einſchraͤnkt, ihm dennoch zuſammen das-
jenige vierfach abnehmen, was er nur einmal zu bezahlen
im Stande iſt.


In den benachbarten Laͤndern muß ein leibeigner Schuld-
ner jaͤhrlich gewiſſe Scheffelſaat beſtellen. Dieſe werden un-
ter die Glaͤubiger meiſtbietend verſteigert; wer am erſten be-
zahlt ſeyn will, giebt das mehrſte dafuͤr. Dies ſcheint
mir noch das beſte Palliativmittel
zu ſeyn.


Ende des dritten Theils.


[[383]][[384]]
Notes
*)
Die Stockjobberey iſt eine Art von Actienkraͤmerey, die vor
zwey Jahren in England aufs hoͤchſte geſtiegen war.
*)
Madame de Bouillon pflegte zu ſagen: Eine Geſellſchaft von
zwey Mannsperſonen und zwey Frauenzimmern, erhaͤlt ein ge-
doppeltes Intereſſe, das die Einheit ſtoͤrt; es iſt [u]nſchicklich,
daß drey Frauenzimmer ihre Anfmerkſamkeit auf eine Mannsper-
ſon richten; und ſo iſt die beſte Geſellſchaft, worinn Einheit herr-
ſchen ſoll, diejenige, welche aus drey Mannsperſonen und einem
Frauenzimmer beſteht.
*)
Das Reglement fuͤr die Koͤnigl. Preußiſche allgemeine Wittwen-
Verpflegungsanſtalt vom 28. December 1775 enthaͤlt hieruͤber
§. 29 folgendes: Um aber dieſes Inſtitutum noch gemeinnuͤtziger
zu machen; und die Vortheile davon auch unverheyratheten
Frauensperſonen zufließen zu laſſen, welche oͤfters bey dem ein-
geſchraͤnkten Vermoͤgen der Familien ohne alle Verſorgung blei-
ben: Soll es auch einem Vater verſtattet ſeyn, fuͤr ſeine unver-
heyrathete Tochter, einem Oheim fuͤr ſeine Nichte, einem Bru-
der fuͤr ſeine Schweſter, einem jeden Verwandten fuͤr ſeine Ver-
wandtin, und uͤberhaupt einer jeden verheyratheten oder ledigen
Mannsperſon fuͤr eine jede unverheyrathete oder verwitwete
Frauensperſon eine Penſion verſichern zu laſſen, ja es kann dieſes
auch die Frauensperſon ſelbſt thun, und ſich eine Mannsperſon
erwaͤhlen, auf deren Todesfall die Verſicherung geſtellet werden
ſoll, jedoch darf dieſes niemals ohne ausdruͤckliche Einwilligung
der Mannsperſon geſchehen, als welche ohnehin die ſaͤmtlichen
erfor
*)
erforderlichen Atteſte herbeyſchaffen muß. In allen dieſen Faͤl-
len werden dergleichen zwo Perſonen in Abſicht auf die Societaͤt
und ihre Geſetze, wuͤrklich Eheleuten voͤllig gleich geachtet, nach
dem Tode der Mannsperſon genießet die Frauensperſon die ihr
verſicherte Penſion, und wenn ſie heyrathet, behaͤlt ſie gleich
den wieder heyrathenden Wittwen, nach der Beſtimmung des
§. 27. die Haͤlfte davon. Wir ſetzen aber hiebey ein fuͤr allemahl
feſt, daß keine Mannsperſon auf ihren eignen Todesfall mehr
als einer Frauensperſon, ſo lange ſelbige am Leben iſt, eine Pen-
ſion verſichern laſſen kann, und eben deshalb iſt die vorher be-
ſtimmte Einwilligung noͤthig.
**)
The Beggars opera. Sie fuͤhrt dieſen Namen vermuthlich um
deswillen, weil die darin vorkommenden Arien auf erborgte und
zuſammen geſuchte Melodien gemacht ſind. Alſo geht eine Arie
auf die Melodie: Ma commere quand je danſe etc. und eine an-
dre auf: Le printems rappelle aux armes.
*)
In der Oßnabr. Bauerſchaft Rieſte, haben die Eingeſeſſene ſich
ebenfalls vereiniget, daß keiner ein Stuͤck Garn verkaufen will,
um zu verhindern, daß liederliche Wirthe, Weiber und Geſinde
nicht einzelne Stuͤcke zum Kraͤmer verſchleifen und Brantwein,
Coffee oder Zucker dafuͤr holen koͤnnen.
*)
Es iſt dieſes gegen einen andern Aufſatz gerichtet, deſſen Verfaſ-
ſer die weiblichen Rechtswohlthaten abgeſchaffet wiſſen wollte.
a)
Quia difficillimum non eſt ut ſub tali occaſione ludibrium in-
terdum adhæreſcat. LL. Wiſig. XI.
1. 2.
b)
c. ult. Clement. de hæreticis.
a)
Der Pabſt Lucius ſchrieb dieſerhalb im Jahr 1182 an unſern
Biſchof: Sicut pro certo credimus quod cum decimae ſine pe-
riculo nequeant a laicis poſſideri, non ſunt eis ſub occaſione
aliqua concedendae. Ideoquae autoritatae tibi apoſtolica prohi-
bemus, ne decimas quae de manu laica ſunt ereptae vel libe-
rari poterunt, in futurum, cuiquam laicorum aſſignes, ſed

in
b)
Nur die ſcharfſichtigen Roͤmer wuͤrden hier ihr jus poſtliminii
angewandt haben.
a)
in reſectionem eccleſiarum et ſuſtentationem clericorum et pau-
perum ſtudioſe convertas;
und an das Domkapittel, das dieſe
Verordnung nachgeſuchet hatte; veſtris juſtis poſtulationibus
annuentes decimas ad eccleſiam ipſam ſpectantes, quibuscun-
que modis poteritis de manu redimere laicorum et eas nullius
contradictione obſtante veſtris uſibus applicare liberam vobis
impendimus facultatem.
c)
H. Dei G. R. I. Auguſtus. Omnibus de Weſtph. ſuis fidelibus
majoribus et minoribus gratiam dilectionem \& omne bonum.
Quia ad omnia nobis placita vos promtiſſiimos ſcimus, procul
dubio in his quae juſta decernimus tanto promptiores ſpera-
mus, quanto juſtitiae vos avidiores aeſtimamus. Unde ea quae
ſuper decimis et juſtitiis Oſnabr. eccleſiae decrevimus tanto fir-

miora
c)
miora volumus, quanto rectiora judicamus. Praecipimus quia
juſtum eſt, petimus quia vos diligimus, ut decimationes om-
nes in univerſo Epiſcopatu Oſnabr ficut jus canonicum exigit
annuatim exhibeatis et neminem in hoc timeatis. Nos enim
qui juſtitiam praecipimus, ut juſtitiam faciatis vos adjuvabi-
mus Valete.
*)
Im Stifte Oßnabruͤck haben die Regierung und die Beamte
keine Gerichtsbarkeit; auch iſt die geiſtliche Gerichtsbarkeit da-
ſelbſt von der weltlichen getrennet. Der Verfaſſer will alſo in
dieſem Stuͤcke zeigen, daß wenn gleich die weltliche Obrigkeit
ſich nicht als Richter in geiſtliche Sachen miſchen; und Regie-
rung und Beamte keine Sachen richterlich entſcheiden koͤnnne,
derſelben doch allemal das Vertheidigungs- und Widerſtandsrecht
gegen alle unbefugte Anmaſſungen gebuͤhre, und als eine Pflicht
obliegt. Man nennet dieſes in den Rechten: protentio regia vi
oppreſſorum.
*)
Protectio et ſubditorum defenſio, ſagt der beruͤhmte Salgado
de Somoza
in der Vorrede zu ſeinem vortreflichen Werke de re-
gia protectione) eſt proprium regis officium, attributum natu-

rale
*)
rale inhaerens viſceribus regiminis, et qualitas infixa oſſibus
ac ſubſtantiae diadematis, ita ut regimen ac protectio unum
ſit effectum continens, indiſcernibile et inſeparabile, quae nec
a rege tolli poſſunt, nec a regimine cuius eſt anima, ſeparari,
niſi ſimul et cum regno eradicetur — quam protectionem omni

jure
*)
Es erſchien unterm 20 Sept. 1771. zu London ein Werk unter
folgenden Tittel: A Book of ornaments in the Palmyrene Ta-
ſte containing upwards of ſixty new de ſigns for Ceilings Pan-
nels Paterns and Mouldings, with the Raffle Leaves at Large
by N. Wallis Architect.
Der Name des Baumeiſters, von
welchem man auch the complete modern Joiner auf 36 Kupfer-
platten hat, insbeſondere aber der angekuͤndigte palmyreniſche
Geſchmack
verfuͤhrten mich das Werk kommen zu laſſen. Ich
hoffte in demſelben ganz etwas eignes und beſonders, das ſich
von dem griechiſchen, roͤmiſchen, gothiſchen und chineſiſchen ⁊c.
Geſchmack,
*)
jure naturali divino et poſitivo tam Canonico quam civili Rex
ſupremus exhibere adſtringitur oppreſſis nonſolum laicis ſed
multo fortius clericis.
*)
Geſchmack, voͤllig unterſcheiden wuͤrde, zu ſinden; und ſiehe da,
es war weiter nichts, als ein ſehr leichtes fluͤchtiges Spielwerk,
womit die Italiaͤner im vorigen Jahrhundert die Decken in den
Zimmern, wie die erſte Stucco-Arbelt aufkam, verzierten; halb
gothiſches Schnitzwerk und dergleichen, ſo ſich zu dem von dem
Verfaſſer wieder angegebenen alten Kaminſtuͤcken mit Meerwei-
bern und Seehunden am beſten ſchicken: mit einem Worte, der
Palmyrenſche Geſchmack war Marktſchreyerey.
*)
Der in einem andern Aufſatze den Stand der Voͤgte angegrif-
fen, und ſich ſelbſt als Vogt unterſchrieben hatte.
*)
De dix enſans de neuf ans, voués à differentes voeations, je
voudrois que celui qu’ on voue aux Sciences fut le moins Sca-
vant: à douze ans Paſcal et Neuton ne ſavoient point encore
le latin. Tiſſot de la ſanté des gens de lettre.
So richtig der-
gleichen einzelne Faͤlle ſind, ſo wenig darf man ſie doch zur Re-
gel machen.
*)
Im Stifte Oßnabruͤck iſt die Verordnung, daß geborgter Coffee,
Zucker ꝛc. gegen einen ſteuerbaren Unterthanen nicht gerichtlich
eingeklagt werden kann, auch bey entſtehenden Concurſen nicht
bezahlet wird. Man hat dergleichen Schulden den Spielſchul-
den gleich geſetzt.
a)
Man lernt wenigſtens daraus, daß die Kayſerl. Verfuͤgungen
gegen die Monopoliſten ꝛc. im Reichsabſchied v. 1512. §. 6. 1524.
§. 27. und 1530. §. 130. ſodann in der Policeyordnung v. 1548.
tit. 18. v. 1577. §. 18. urſpruͤnglich verſteckte Angriffe auf die
Marchants Adventurers geweſen.
b)
An dem Exemplar welches ich habe, fehlt der Titel. Die Ue-
berſchrift des erſten Capitels heißt aber alſo: a Treatiſe of com-
merce where in are Shewed the commodities ariſing by a well
ordred and ruled Trade ſuch as that of the Societie of Mar-
chants Adventurers
is prooved to bee-Written principallie for
the better information of thoſe who doubt of the Neceſſarie-
nes of the ſaid Societie in the ſtate of the Realme of England.
By John Wheeler Secretarie of the Saide Societie.
Die Vor-
rede iſt datirt Middelburg den 6. Jun. 1601. und das Werkgen
enthaͤlt 178 Seiten in 4.
c)
Dieſes geſchahe durch ein Kayſerl. Mandat ſub dato Prag
den 1. Aug. 1597, wovon gedachter Wheeler eine engliſche Ue-
berſetzung liefert.
d)
Die Proclamation der Koͤnigin iſt vom 13. Jenner 1594, und
ebenfalls eingeruͤckt.
e)
Foreſtallung, wenn einer unterwegens, ehe er auf den Markt
koͤmmt, oder außerhalb dem Markte verkauft. Der Ort, wo
die
e)
die deutſchen Kaufleute von der Hanſe ſich aufhielten, iſt die
noch ſogenannte Guild-Hall. Die Englaͤnder hießen ſolche
vordem nur Steelyard, oder die Stahlniederlage, um damit
anzuzeigen, daß die Deutſchen urſpruͤnglich keinen Handelsplatz,
ſondern nur ein Eiſenlager in London gehabt haͤtten.
(*)
Die Beſchuldigung eines Monopoliums, welche der Verfaſſer
beſtaͤndig unrecht aufnimmt, muͤſſen die Hanſeatiſchen auf dieſe
Verſchiedenheit im Zolle gegruͤndet haben. Denn dadurch er-
hielt die engliſche Compagnie den Alleinhandel, und ſchloß alle
Fremde aus.
a)
Die Clauſel hieß eigentlich ſo: Neque tamen excellentiſſima
Regina propter hanc moderationem ab ullo ſuperiori jure le-
gitimo ulla ex parte recedi vuls; ſed ſalvum jus, ſalvas actio-
nes, ſalvam denique reliquorum omnem in hac cauſa mate-
riam, \& ſibi ex altera parte \& ex altera parte confœderatis
civitatibus \& eorum poſteris reſervat.
b)
Ihm wurde unter andern geſagt; der Brief ſeines Herrn ent-
enthielte nichts was mit deſſen Eingange, a rege fratre ad Re-
ginam ſororem cariſſimam,
uͤbereinſtimmte, und noch weniger
eine Vollmacht ihr eine lange lateiniſche Predigt, welche ſie
mit großer Gedult angehoͤrt hatte, zu halten, er ſollte ihr die-
ſelbe ſchriftlich geben, und ſeines unwuͤrdigen und Stentoriſchen
Betragens halber Genugthuung geben ꝛc. ꝛc. Dem Kayſer
nahm es die Koͤnigin auch ſehr uͤbel, daß er ihr in deutſcher
Sprache geſchrieben hatte, und ſagte in ihrer Antwort: Quod
ſane primo affectu, cum id genus idiomatis hactenus inter
nos haud uſitatum ſit, dubitationem commentetiæ eſſent, non
levem ingeſſit.
c)
Cotem ferro ſubigendo neceſſariam hoſtibus quoque venun-
dari, ut ferrum \& frumentum \& ſales non ſine periculo ca-
pitis licet l. 11. de publicanis.
*)
Beym Treuer in der Geſchlechtshiſtorie der von Muͤnchhauſen
in app. n. 6.
a)
Die Schreiber der Urkunden haben den hominem ligium durch
Ledigmann uͤberſetzt, welches gerade einen umgekehrten Be-
griff giebt. Liig-Mann, wie man ſprechen mogte, wuͤrde
freylich ein Weſtphaͤlinger durch Ledigmann ausdruͤcken. Aber
dann verwechſelt er ſein Lieg, was ledig bedeutet, mit dem
Liig, was von ligare gemacht iſt, und durch hoͤrig uͤberſetzt
werden muß.
b)
Beym Hontheim in Inſt. Trev. T. I. p. 668.
c)
Treue ſollte eigentlich nur ein freyer Mann geloben. Cum
res propria nemini ſerviat.
*)
Das Juſtrument, womit die Plaggen oder Raſen, die man
in den Heidelaͤndern, wo keine Brach zuruͤck gehalten wird,
ſo viel zum Dinger braucht, gehauen werden.
a)
Froh; er iſt recht, her ſagt man noch.
b)
Verdrieſſen, einem etwas verleiden, ſagt man auch noch.
c)
Mir ſoll doch niemand verleiden, oder zuwider machen.
d)
Bere, trage, wohin ich mich auch tragen oder wenden werde.
e)
S. Proben der alten ſchwaͤbiſchen Poeſie S. 6.
a)
Um dieſes in ſeinem voͤlligen Maaſſe zu verſtehen, muß man
bemerken, daß es in dem Stifte Oßnabruͤck Leibeigne giebet,
die ihre Hoͤfe mit zehn und zwanzig tauſend Thaler Schulden
beladen haben.
*)
Hofgewehr iſt in Weſtphalen das nothwendige Inventarium
eines Bauerhofes, welches hie und da durch Geſetze mit dem
Hofe in Verhaͤltniß geſetzt iſt.
a)
Omnis homo de XII manſis bruniam habeat Capit. ann. 805[.]
§. 8.
a)
Das engliſche Liberty and property iſt ſchielend. Beſſer waͤre
honor and property; oder ſchlechtweg property. Denn pro-
perty
oder dominium ſetzt in ſubiecto civem Romanum oder
einen vollmaͤchtigen Mann voraus.
a)
Die ſaͤchſiſche Nation iſt die einzige geweſen, welche die Men-
ſchen in vier Claſſen, nemlich in Edle, gemeine Eigenthuͤmer,
zweydrittel Knechte und ganze Knechte eingetheilet hat.
b)
De Lito occiſo duæ tertiæ compoſitionis cedunt domino, una
tertia propinquis. V. Lex. Friſ. Tit. I.
§. 3. Die Folge zieht
ſich von ſelbſt.
c)
Es iſt vermuthlich noch eine Folge hievon, daß man ſpaͤter
den Leibeignen indirecte zugeſtanden hat, ein Drittel ihres Guts
zu verſchulden, indem ſie nicht eher abgeaͤuſſert werden, als bis
ſie dieſes Drittel uͤberſchritten haben.
a)
Der heutige Soldatenſtand iſt ebenfalls eine Art von Knecht-
ſchaft; aber er hat eben das feine, daß ein Fuͤrſt als Musketier
dienen kann, ohne ſeiner Ehre zu ſchaden. In verſchiedenen Oß-
nabruͤckiſchen Urkunden vom Jahr 1000 heißt es: quidam liber-
tus
et miles.
Hier muß man einem libertum e ſtatu litonico
nicht aber e ſtatu ſe[r]vili annehmen.
a)
Unter dem Worte Gnade verſtanden die Deutſchen bisweilen
das nobile officium judicis; bisweilen das diſcretum arbitrium
domini;
bisweilen auch ipſum conſenſum; und giebt es auch
nothwendige Gnade als z. E in Lehnsveraͤuſſerungen zur Er-
loͤſung des Vaſallen aus der Gefangenſchaft ⁊c.
b)
Libertus homo qui full-freal (Vollfreyer) factus eſt, res
quas a patrono tenet, ipſi relinquat. Lex Rotharis regis
228.
*)
Mit den Abfindungen oder Auslobungen der Geſchwiſter von
einem Bauerhofe iſt es im Stift Oßnabruͤck eine beſondre Sache,
nachdem durch eine ungluͤckliche Folge roͤmiſcher Begriffe, der
Erbe zum Hofe vor ſeinen Geſchwiſtern nur eine doppelte Por-
tion voraus hat, und ihnen nach dieſem Verhaͤltniß herausge-
ben muß. Alle Hoͤfe muͤſſen dabey zu Grunde gehen.
a)
Es iſt dieſes Oßnabruͤckiſchen Rechtens, welches leyder mit
der Landesverfaſſung ſo verflochten iſt, daß man es durch Sa-
tyren und Predigen nicht ausrotten, und mit Verordnungen
nicht zwingen kann.
a)
Das Gut ſoll fallen an den naͤchſten Erben huldig und hoͤrig.
S. Eſſenſches Hofrecht beym von Steinen im VI Stuͤck ſei-
ner Weſtphaͤl. Geſch. p. 1754 ſq. Die Erben ſollen ſeyn ledig,
huldig
und Hofboͤrig an dem Gute. S. die Weſthofiſchen
Hofrechte beym von Senkenbergin corp. jur. Germ. T. I.
p. 115. poſt præfat.
Die Hoͤrigkeit ſchloß alle emancipatos,
clericos, cives,
und in genere alle diejenigen von der Hofes
Erbſchaft aus, die ſich entweder als Frey oder Eigne in an-
dern Schutz oder Hulde begeben hatten. Sie hat die Schick-
ſale der emancipation erlitten, die ſich auch ſpaͤter verdunkelt
hat. Man fuͤhlt es kaum mehr, daß ſie der Grund geweſen,
warum Geiſtliche des Lehnrechts darbten, und noch der Grund
der geſammten Hand als eines brieflichen Gehoͤrs iſt.
*)
Man muß es dem Verfaſſer nicht verdenken, daß er zu oft von
dieſer Materie redet. Sie iſt die wichtigſte fuͤr das Wohl der
Staaten, und in oͤffentlichen Schriften noch wenig behandelt.
Die Aufſaͤtze, ſo hier auf einander folgen, ſind in den Zeitraͤu-
men von mehrern Jahren geſchrieben, und enthalten oft einen
Gedanken mehrmals. Allein wer in einem Regierungscollegio
ſitzt, und taͤglich den verſchiednen Beſchwerden und Forderun-
gen, nach einer Theorie, welche auf die mindeſte Aufopferung
von Freyheit und Eigenthum gegruͤndet iſt, abhelfen ſoll, weiß
es am beſten, wie vieles daran gelegen, ſolche Grundſaͤtze auf-
recht zu erhalten.
a)
Item in liberis hominibus et eccleſiarum ſervis, qui nobis
ratione advocatiae ſubſunt intra diſtrictum et terminos praeno-
tatos. Docum. de 1259 ap. Eccard in orig. fam. Habsburgo
auſtriacae p.
243.
b)
In einer ganz neulich beym Reichstag uͤbergebenen Schrift wur-
de aus einem Schenkungsbrief Kaiſers Lothars l, worin es heißt:
Coloni et ſiſcalini tam de Fqueſtre quam pedeſtre ordine (beym
Eccard l. c. p. 108) behauptet, daß auch der Dienſtadel unterm
Amte geſtanden haͤtte. Allein in unſern Regiſtern heißt es freyen
Wagen- und freyen Fußdienſte, und das ſind bis in die heutige
Stunde keine von Adel, ſondern Pferde- und Fußkoͤtter de Eque-
ſtre et pedeſtre ordine.
a)
Bonis extra curtem vel a curte ſeparatis.
a)
Es iſt wider alle Wahrſcheinlichkeit und wider den Lauf der
menſchlichen Sachen, daß der Beſitzer eines Landgutes, wenn
es auch jaͤhrlich 10000 Thaler einbringt, ſeinen juͤngern Ge-
ſchwiſtern nur die Haͤlfte des Werths auszahlen und dabey be-
ſtehen kann. Nicht einer unter Hunderten gewinnet, wenn
man dreyßig Jahr fuͤr ſein Leben rechnet, dieſe Summe wie-
der, und wenn ſein Sohn abermal mit ſeinen Geſchwiſtern ge-
theilet hat, ſo geht der Enkel gewiß dabey zu Grunde. Weit
ſchwerer iſt der tand eines Leibeignen, der nur einen doppelten.
Kindestheil behalten und folglich in den mehrſten Faͤllen Drey-
viertel der Erbſchaft ausgeben ſoll. Dieſer muß nothwendig in
die Umſtaͤnde und in die Verſuchung gerathen, lieber der Heuer-
mann als der Colon ſeines Hofes zu ſeyn. Geſchieht dieſes,
wie man es vorher ſehen kann, ohne eben Prophet zu ſeyn: ſo
werden ſich die Eigenthumsfaͤlle immer mehr und mehr verlie-
ren. Wenigſtens wird der Leibeigne immer mehr und mehr ein
Sclave der abgehenden Geſchwiſter bleiben. Dieſe werden alles
wegnehmen, was er eruͤbrigen und borgen kann; das Anerb-
recht wird minder geſucht und beneidet werden; und ſo wird we-
der der Leibeigne zu groſſen Baarſchaften, noch der Gutsherr
zu einer billigen Auffahrt auf einmal gelangen.
a)
Die Urkunde ſteht beym Lunig in ſpec. eccl. Contin. I. p. 134.
b)
Bieſter heißt bey den Weſtphaͤlingern ſo viel als arg. Er iſt
bieſter krank, bieſter graͤmlich ⁊c. ſagt man. Die arge
reyheit
iſt aber, wenn einer ohne Schutz und Schirm ſo frey
als ein Vogel (doch muß es kein Auerhahn ſeyn, der Koͤnigs-
frieden hat) in der Luft iſt, den man herabſchieſſen kann.
c)
Dies iſt wie bekannt noch jetzt im ganzen Stifte Oßnabruͤck
gebraͤuchlich.
a)
Eben dergleichen Gewohnheiten gab es auch an verſchiedenen
Orten in Frankreich, als z. E. Et ſi aucun de ces Aubains
mourut et n’eut commandé à rendre 4 deniers au Baron, tous
les meubles ſeroient au Baron v. Stabilimenta S. Lodovici
L. I. c. 87. ap. du fresnev. Aubenæ.
a)
Dieſer Begrif haͤngt uns jetzt immer nach; und wir ſind zu
bekannt mit ihm geworden, um ihn gaͤnzlich zu vergeſſen. Allein
wer die alte Verfaſſung beurtheilen will, muß ſchlechterdings
an keine Laͤnder, Landesunterthanen und Landesordnung den-
ken. Wie eifrig war man in alten Zeiten auf die Huldigungen,
wie man noch eines jeden Menſchen Einwilligung in die Unter-
thanenpflicht fuͤr noͤthig hielt. Jetzt da der Boden Unterthanen
macht, haͤlt man die Huldigung der Bauern fuͤr eine uͤberfluͤßige
Ceremonie.
a)
De his qui a litterarum conſcriptione ingenui ſunt, ſi ſine
traditione (i. e. absque electione patrocinii) mortui fuerint,
hereditas eorum ad opus noſtrum recipiatur. capit. II. ann.

813 § 6.
b)
Qui per chartam ingenuitatis dimiſſi ſunt liberi, ubi nullum
patrocinium \& deſenſionem non elegerint, regi componantur
40 Solidis. Capit. Baj. anni
788. §. 7 Die manumiſſi in ec-
cleſia
traten ſofort aus der Knechtſchaft in das patrocinium
ſanctiſſimæ ſummæ eccleſiæ
und brauchten daher kein parroci-
nium
zu waͤhlen. v. LL. Rip. tit. 58. Auch diejenigen, ſo per
acceptionem denarii
freygelaſſen wurden, verbieſterten nicht,
wenn ſie ſich keinen patronum erwaͤhlten, weil ſie als denariales
in mundeburde regia
blieben.
a)
S. die Capitulat. Conradi de Ritberg. art. 17. beym Kreſs.
vom Archid. Weſen in app p. 7. Dieſes findet man in allen
Hofrechten beym Strodmannde jure curiali litonico. Und
noch verliert der leibeigne Sohn ſein Erbrecht an dem vaͤterli-
chen Hofe, wenn er aus der Gutsherrlichen Hulde tritt. Den
emancipatis gieng es zu Rom lange Zeit eben ſo.
a)
Jetzt ſchreyt der Boden aus vollem Halſe: Quicquid eſt [in]
territorio, eſt etiam de territorio.
a)
S. Coll. Concil. Germ. beym HarzheimT. I. p. 495. 505.
b)
Aus einem gleichen Grunde ſollte auch der Exuvienthaler, das
Heergewedde und die uͤbrigen Arten von Mortuariis, welche ih-
ren Grund in dem alten Coſtume haben, und unter der Terri-
torialhoheit nur zu allerhand widrigen Vermuthungen Anlaß
geben, ganz abgeſchaffet werden.
a)
Bey den hieſigen Lehnshoͤfen hat das Heergewedde ſeine feſt-
ſtehende Taxe; die Hausgenoſſen behaupten aus demſelben
Grunde ein gleiches Herkommen; und der alte Anſchlag wie
das Vieh im Sterbfall zu ſchaͤtzen, hat ein aͤhnliches Hofrecht
oder Hofesherkommen zum Grunde.
a)
S. Boͤhmer in præf. ad Strodtmanni jus curiale litonicum.
b)
Wenn von den Hausgenoſſen eines dem Domcapitul gehoͤrigen
Meyerhofes einer ſein Recht verſaͤumt: ſo wuͤrde ſein ganzer
Sterbfall zwar verfallen, aber nicht dem Landesherrn, ſondern
dem Domcapitul als Hofesherrn. Letzters iſt verballmuͤnden,
erſters aber verbieſtern. Die Urſache warum Hausgenoſſen
nicht verbieſtern, iſt offenbar dieſe, weil ſonſt der Hofesherr,
der ein jus quæſitum auf die Einſchreibung hatte, ſolches in-
juria \& incuria Coloni
verlieren wuͤrde.
c)
In der alten Mark Brandenburg giebt es Corecti, und Ger-
ken
ſchreibt davon in diplom. vet. March. Brand. S. 15. Die
Erklaͤrung des Worts
Corectihabe in denGloſſatoribus
ver-
a)
In Frankreich behauptet der Koͤnig, daß ſeineaubains auch
insgeſamt ſeine Neceſſairfreyen ſeyn; S. de Laurere in praef.
ad T. I. ordin. reg. p. XV.
und dieſes e ſtabilimentis Ludovi[c]i
S. L. I. c.
31. wo es heißt: Mes aubains ne püent faire autre
Seigneur que le Roy en ſon obieſſance, ne en autre Seigneu-
rie, ne en ſon reſſort qui vaille, ne qui ſoit ſtable ſelon l’Uſa-
ge de Paris d’Orleannois et de la Soleigne. Aubain
wird ins-
gemein von alibi natus hergeleitet; allein nicht alle aubains
ſind alibi nati, und nicht alle alibi nati aubains. Weit wahr-
ſcheinlicher, und ich moͤchte ſagen, wahr iſt es, daß man diejeni-
gen, welche im Heer- oder Arierban zu fechten nicht verpflich-
tet waren, albanos oder aubains genannt habe; Al zeigt extre-
mitatem
an, und ſo zeigt ſich die Bedeutung leicht. Eben ſo
muß einer bey der Armee entweder zur Fahne geſchworen haben,
oder doch im Schutze des Generals ſeyn, wofern er nicht als ein
Fremder, Feind, oder Spion behandelt werden will. Die
Schutzgenoſſen des Generals als z. E. Marketenter ⁊c. ſind hier
aubains
c)
vergeblich geſucht; vermuthlich aber ſind darunter Coſ-
ſanten gemeint, weil von Bauern die Rede iſt, und
dabey ſteht
, qui manſos non habuerunt. Sollte man wohl
glauben, daß die Wahlhode oder die Churecht, welche zur
erſten Kenntniß des ſtatus hominum in Deutſchland gehoͤrt,
und ſich durch ganz Europa erſtreckt hat, dermaſſen verdunkelt
werden koͤnnen? Si manſos habuiſſent: ſo wuͤrden ſie von die-
ſem Heerbannsgute in der Vogteyrolle, oder aber wenn dieſe
verdunkelt, als Sonderleute in dem beſondern Schutze ihrer dem
Vaterland fuͤr das Sundergut verpflichteten Gutsherrn geſtan-
den haben.
a)
aubains oder albani. Da bey den Deutſchen auſſer dem aller-
groͤßten Nothfalle keine andre aufgeboten wurden, als diejeni-
gen qui manſos habebant: ſo waren folglich die andern, qui
manſos non habebant, albani
oder aubains. Auf gleiche Art
ſind ganze Voͤlker albani genannt worden, weil ſie denjenigen,
ſo ihnen dieſen Namen gaben, ex[tr]a bannum lagen. Die Fran-
zoſen haben die Lehre von den a[u]b[a]ins zu keiner Deutlichkeit
bringen koͤnnen, weil ſie keine Woͤrter in ihrer Sprache haben,
um Churmuͤndige und Nothfreye, Ballmuͤndige und Bieſter-
freye aubains zu nnterſcheiden; ohne dieſe vier Hauptbegriffe
aber von einander abzuſondern, ſich nothwendig verwirren muͤſ-
ſen. Ihre Regaliſten ſchreiben aus dem oben angezogenen Sta-
bilimento Ludouici ſaucti
dem Koͤnige das droit d’Aubaine al-
lein zu, da ihm doch nur die Bieſterfreyen aubains verfallen
ſind; indem nach dem vorhin angefuͤhrten [s]tabilimento der Ba-
ron die Ballmuͤndigen aubains, qui ne lui paioient pas leurs
4 deniers
beerbte. In den Staͤdten ſind diejenigen ungefreyten
Einwohner aubains, ſo kein Buͤrgergut beſitzen, und folglich
im Buͤrgerbann nicht zu Walle gehen. Unter ſeinen aubains
verſteht der Koͤnig von Frankreich alle ſeine Freygelaſſenen, und
die von ſeinen gehegeten Leuten gebohrne Kinder, auch frem-
de; denen er nicht geſtattet, ſich in die Hode eines Barons zu
geben. Die Franken hielten ſchon ehedem ſehr ſtrenge darauf;
Nullus tabularius denarium ante regem præſumat jactare;
quod ſi fecerit, ducentis Solidis culpabilis judicetur;
heißt es
in LL. Ripuar. tit 58. Dies heißt in unſrer Sprache: Es ſoll
ſich keiner der in die Kirchenhode gehoͤrt, in des Koͤ-
nigshode begeben;
und in die Kirchenhode gehoͤrten nicht
allein die freygelaſſenen ihrer Leibeignen; ſondern auch alle die-
jenige, welche von Leyen in der Kirche freygelaſſen wurden.
Bey den Franken war alſo lauter Neceſſairfreyheit und faſt we-
nig Churmund; anſtatt daß in unſerm Stifte bis auf einige we-
nige alles Churmund iſt; doch kann auch manches verdunkelt
ſeyn,
a)
Das Wort: eigen entſcheidet fuͤr ſich nichts. Ein Herr wird
jetzt
a)
ſeyn, indem ſich in einigen Amtsregiſtern mehr als hundert
Freyen befinden, ſo die Pfennigsurkunde geben; und nach ob-
angefuͤhrten lege Ripuariorum wuͤrkte die projectio denarii ante
regem,
Koͤnigsſchutz; und ein homo denarialis war in des Koͤ-
nigs Zwanghode. Ueberhaupt ſcheinen die Gutsherrn, welche
keine Gerichtsbarkeit und folglich auch kein Recht hatten, au-
bains
aufzunehmen, die Wahl gehabt zu haben, ob ſie ihre
Freygelaſſene in des Koͤnigs oder eines ſpaͤter dazu privilegirten
Heiligen Schutz geben wollten; dis war eine reſignatio juris
patronatus ad manus competentes.
Nachwaͤrts aber hat man
dieſe freye Wahl den Freygelaſſenen ſelbſt uͤberlaſſen, und ſie
ſind corecti geworden.
a)
In einigen franzoͤſiſchen Orten hat die Sache eine ganz ver-
kehrte Wendung genommen. On arrache le ſerf à ſa mort de
la maiſon de ſon Epouſe deſolée, on le tranſporte dans une
terre étrange, mais libre, une famille en pleurs ſuit ſon Per[e]
expirani dans des lieux inconnus, et a ſouvent la douleur de
voir, qu’un transport perilleux pour le malade, mais dont la
liberté commune
eſt le prix, a abregé ſes jours.
S. Diſſerta-
tion ſur l’Abbaye de St. Claude,
im Anhang, p 35. Hier hat
die Fahrloſigkeit der Koͤnigl. Beamte gemacht, daß die Leute,
ſo ſich aus dem Bezirk der Abtey St. Claude tragen laſſen, frey
ſterben, anſtatt daß ihre Erbſchaft ſodann als Bieſterfrey dem
Koͤnige heimfallen ſollte. Dagegen hat die Abtey St. Claude
ihre Hode in eine Scl[a]verey verwandelt.
a)
jetzt leicht ſagen: Meine eigne Leute, meine eigne Untertha-
nen haben es gethan, ohne daraus ein Leibeigenthum zu ma-
chen. Wie viel weniger kann alſo aus dem Gebrauch des Worts
eigen in der Periode der perſoͤnlichen Anhaͤnglichkeit etwas ver-
faͤngliches geſchloſſen werden?
a)
Sobald der Landesherr auf den Sterbfall der Bieſterfreyen kein
Recht mehr hat: ſo braucht auch keiner ſeine Verlaſſenſchaft auf
den vierten Fuß, auf einen Exuvienthaler oder einen Todtenpfen-
nig zu accordiren. Denn wo das mortuarium ejusque redemtio
aufhoͤrt: da faͤngt ſo fort die reſtamentiſactio an; und das Geſetz:
Pater familias uti legaſſi[t] iſt eine groͤſſere Epoque der buͤrgerlichen
Freyheit in Rom, als man insgemein glaubt. Der Biſchof
Adolph verknuͤpfte die Freyheit der teſtamentifaction mit der
Aufhebung des juris exuviarum; und dieſe combination wird
man in tauſend Faͤllen finden. Faſt ſollte man auf den Gedan-
ken gerathen, bey der erſten rohen Vereinigung der Menſchen,
haͤtten die Vorſteher, um Zank, Mord und Todtſchlag unter
den Erben zu vermeiden, jedes Mitgliedes Nachlaß ad ſequeſtrum
genommen, und hernach jedem gegen einen gewiſſen Abzug das
Seinige
a)
Es iſt keine Stadt in Deutſchland, die nicht ein privilegium
gegen alle Beerbtheilungen habe, woraus viele die alte Leibeigen-
ſchaft ihrer Einwohner folgern wollen, und insgemein hat der
Stadtſchreiber noch ein gutes Pfand von jeder verſiegelten Erb-
ſchaft, eben wie der Meyer von der Erbſchaft eines verſtorbenen
Hausgenoſſen, welche er zum Behuf des Hofesherrn beſchreibt.
a)
Seinige loͤſen laſſen; da denn unaͤchte Erben (die nemlich in kei-
ner Echte geſtanden) kein Recht zur Abloͤſung gehabt. Das jus
ſpolii exuviarum \&c.
ſetzet eine ſolche Anſtalt voraus; und ſo
wie die cuſtodia hereditatis zuerſt dem patri familias nachgelaſſen
worden: ſo iſt ſie auch nachwaͤrts a comite ad Epiſcopum, ab
Epiſcopo ad Capitulares \&c
gekommen. Auf dieſe Weiſe er-
hielte man einen ſehr vernuͤnftigen Urſprung des juris mortuarii
vel ſpolii.
a)
Quid? tu tam imprudentes judicas fuiſſe majores noſtros, ut
non intelligerent iniquiſſimum eſſe eodem loco haberi eum, qui
pecuniam quam a creditore acceperat, libidine aut alea abſum-
ſit, et eum qui incendio aut latronico aut alio quodam caſu
triſtiori aliena cum ſuis perdidit? Nullam excuſationem recepe-
runt ut homines ſcitent fidem utique præſtandum. Satius enim
erat a paucis etiam juſtam exceptionem non accipi, quam ab
omnibus aliquam tentari, Seneca de benef. VII.
26.
a)
Der groſſe Credit der Oßnabruͤckiſchen Eigenbehoͤrigen ruͤhrt da-
her, daß die Menge Heuerleute, welche nach Holland zur Arbeit
gehen, ihnen ihr erworbenes Geld leihen, um etwas Land zur
Heuer zu bekommen.
a)
Das Beyſpiel der Roͤmer iſt gewiß tauſendmal erzaͤhlt. Aber
von Deutſchland hat es kein einziger Geſchichtſchreiber bemerkt;
ohnerachtet es eine groͤſſere Epoque fuͤr unſere Geſchichte, als
das Datum der Magna Charta fuͤr England ſeyn ſollte. Das
Geſetz iſt deutlich: omnes cenſus vini, pecuniæ, frumenti vel
alii
a)
alii, quos ruſtici conſtituerunt ſe ſolutoros, relaxentur \& ul-
terius non recipiantur.
S. die Reichstagsverordnung zu Utin
vom Jahr 1232. in der Senkenbergiſchen Sammlung der
Reichsabſchiede
T. I. p 18 Nur muß man das Wort cenſus
von den Advocatiegefaͤllen wohl unterſcheiden; dieſe wurden nicht
aufgehoben.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Patriotische Phantasien. Patriotische Phantasien. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnc1.0